Skip to main content

Full text of "Gesammelte Schriften Bd.2"

See other formats


Walter Benjamin 

Gesammelte Schriften 

ii- 1 

Herausgegeben von 
Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser 



Suhrkamp 



Die Editionsarbeiten wurden durch 

die Stiftung Volkswagenwerk, die Fritz Thyssen Stiftung 

und die Hamburger Stiftung zur Forderung 

von Wissenschaft und Kultur ermoglicht. 

Die vorliegende Ausgabe ist text- und seitenidentisch 

mit Band II der gebundenen Ausgabe 

der Gesammelten Schriften Walter Benjamins. 



CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek 

Benjamin, Walter: 

Gesammelte Schriften / Walter Benjamin. 

Unter Mitw. von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem 

hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser. - 

[Ausg. in Schriftenreihe »Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft«], - 

Frankfurt am Main : Suhrkamp. 

ISBN 3-518-09832-2 

NE: Tiedemann, Rolf [Hrsg.]; Benjamin, Walter: [Sammlung] 

[Ausg. in Schriftenreihe »Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft «] 

2. [Aufsatze, Essays, Vortrage] / 

hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser. 

(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ;932) 1. -(1991) 

ISBN 3-518-28532-7 

suhrkamp taschenbuch wissenschaft 932 

Erste Auflage 1991 

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1977 

Suhrkamp Taschenbuch Verlag 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das 

des offentlichen Vortrags, der Ubertragung 

durch Rundfunk und Fernsehen 

sowie der Ubersetzung, auch einzelner Teile. 

Druck: Wagner GmbH, Nordlingen 

Printed in Germany 

Umschlag nach Entwiirfen von 

Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 

1 2 3 4 5 6 - 96 95 94 93 92 91 



Inhaltsiibersicht 



Zweiter Band. Erster Teil 

Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik .... 7 

Metaphysisch-geschichcsphilosophisdieStudien .... 89 

Literarische und asthetische Essays 235 



Zweiter Band. Zweiter Teil 

Literarische und asthetische Essays (Fortsetzung) . . . 407 

Asthetische Fragmente 599 

Vortrage und Reden 633 

Enzyklopiidieartikel 703 

Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 741 

Anhang 

Juden in der deutschen Kultur 807 

Zweiter Band. Dritter Teil 

Anmerkungen der Herausgeber 815 

Inbaltsverzeichnis 1^23 



Friihe Arbeiten 
zur Bildungs- und Kulturkritik 



Das Dornroschen 

Wir leben im Zeitalter des Sozialismus, der Frauenbewegung, 
des Verkehrs, des Individualismus. Gehen wir nidit dem Zeit- 
alter der Jugend entgegen? 

Jedenfalls leben wir in einer Zeit, wo man keine Zeitschrift auf- 
schlagen kann, ohne dafi einem das Wort »Schule« in die Augen 
fallt, in einer Zeit, wo die Worte Koedukation, Landerziehungs- 
heim, Kind und Kunst durch die Luft sdiwirren. Die Jugend 
aber ist das Dornroschen, das schlaft und den Prinzen nicht ahnt, 
der naht, es zu befreien. Und dafi die Jugend erwache, dafi sie 
teilnehme an dem Kampfe, der um sie gefuhrt wird, dazu will 
ja unsere Zeitschrift nach Kraften beitragen. Sie will der Jugend 
zeigen, welchen Wert und Ausdruck sie erhalten hat im Jugend- 
leben der Grofien: eines Schiller, eines Goethe, eines Nietzsche. 
Sie will ihr Wege weisen, das Gemeinschaftsgefiihl, das Bewufit- 
sein ihrer selbst in sich zu wecken, als derjenigen, die in emigen 
Lustren die Weltgeschichte weben und gestalten wird. 
Dafi dieses Ideal einer sich selbst als eines kiinftigen Kultur- 
faktors bewufiten Jugend nicht von heute stammt, dafi es eine 
Anschauung ist, die schon die Grofien der Literatur deutlich aus- 
gesprochen haben, das beweist ein fliichtiger Blick auf die Welt- 
literatur. 

Wohl wenige Ideen gibt es, die unsere Zeit erfiillen und die nicht 
schon Shakespeare in seinen Dramen, vor allem in der Tragodie 
des modernen Menschen, in Hamlet, beriihrt hatte. Da sagt 
Hamlet die Worte: 

Die Zeit ist aus den Fugen, Schmach und Gram, 
Dafi ich zur Welt, sie einzurenken kam. 

Hamlets Herz ist verbittert. Seinen Oheim sieht er als Morder, 
seine Mutter in Blutschande leben. Und welches Gefuhl gibt 
ihm diese Erkenntnis? Wohl empfindet er Ekel vor der Welt, 
aber nicht in misanthropischem Eigenwillen kehrt er sich von ihr 
ab, sondern in ihm lebt das Gefuhl einer Mission: er kam zur 
Welt, sie einzurenken. Auf wen konnten diese Worte wohl bes- 
ser passen, als auf die heutige Jugend? Trotz aller Worte von 
Jugend, Lenz und Liebe liegt in jedem denkenden jungen Men- 
schen der Keim zum Pessimismus. Doppelt stark ist dieser Keim 



io Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

in unserer Zeit. Denn wie kann ein junger Mensch, vor allem 
der Grofistadter, den tiefsten Problemen, dem sozialen Elend 
gegeniiberstehen, ohne, wenigstens zeitweise, vom Pessimismus 
ubermannt zu werden? Da gibt es denn keine Gegenbeweise, 
da mufi und kann nur helfen das Bewufitsein: und mag die Welt 
noch so schlecht sein, so kamst du, sie zu erheben. Das ist nidit 
Hochmut, sondern nur Pflichtbewufitsein. 
Dieses hamletische Bewufitsein von der Schlechtigkeit der Welt 
und von der Berufung sie zu bessern, erfullt audi Karl Moor. 
Doch wenn Hamlet iiber die Schlechtigkeit der Welt nicht sich 
selbst vergifit, alle Rachegeliiste niederzwangt, um selbst rein zu 
bleiben, so verliert Karl Moor in seinem anarchistischen Frei- 
heitsrausch die Ziigel iiber sich selbst. So mufi er, der als Befreier 
auszog, sich selber unterliegen. Hamlet unterliegt der Welt und 
bleibt Sieger. 

Spater hat Schiller noch einmal einen Reprasentanten der Jugend 
geschaffen: Max Piccolomini; aber mag er auch sympathischer 
sein als Karl Moor, als Mensch steht er uns (uns Jungen) nicht 
so nahe; denn Karl Moors Kampfe sind unsere Kampfe, die 
ewige Auflehnung der Jugend, die Kampfe mit Gesellschaft, 
Staat, Recht. Max Piccolomini steht in einem engeren ethischen 
Konflikt. 

Goethe! Erwarten wir bei Goethe Sympathie fiir die Jugend? 
Wir denken an den Tasso, wir glauben sein strenges Gesicht oder 
sein ganz feines sarkastisches Lacheln hinter der Maske des 
Antonio zu gewahren. Und doch - Tasso. Da ist wieder die Ju- 
gend, allerdings auf ganz anderem Grunde; nicht umsonst ist 
ein Dichter der Held. Am Hofe von Ferrara sind Sitte und An- 
stand die strengeren Mafistabe. Nicht die »plumpe« Sittlichkeit. 
Jetzt erkennen wir - Tasso ist die Jugend. Er hiitet ein Ideal - 
das der Schonheit. Aber da er sein jugendliches Feuer nicht be- 
zahmen kann, da er tut, was kein Dichter tun diirfte, da er die 
Schranken der Sitte in seiner Liebe zur Prinzessin durchbricht, 
sein eigenes Ideal verletzt, so mufi er sich beugen vor dem Alter, 
dem Konvention »Sitte« geworden ist. Das ist die Ironie seiner 
letzten Worte: 

So klammert sich der Schiffer endlich noch 

Am Felsen fest, an dem er scheitern sollte, 

dafi er sich jetzt am Felsen der Konvention festklammert, er, 



Das Dornroschen 1 1 

der das Ideal der Schonheit geschandet. Karl Moor scheitert, in- 
dem er seinem sittlichen, Tasso indem er seinem asthetischen 
Ideal untreu wird. 

Der universellste Reprasentant der Jugend ist Faust, sein ganzes 
Leben ist Jugend, denn nirgends ist er beschrankt, stets sieht er 
neue Ziele, die er verwirklichen mufi; und jung ist ein Mensch, 
solange er sein Ideal nodi nicht vollig in die Wirklichkeit um- 
gesetzt hat. Das ist das sichere Zeichen des Alters: im Gegebenen 
das Vollkommene zu sehen. Daher mufi Faust sterben, daher en- 
det seine Jugend mit dem Augenblick, da er sich am Gegebenen 
freuen kann und nichts mehr iibrig sieht. Wiirde er weiter leben, 
so wiirden wir in ihm einen Antonio finden. An Faust zeigt es 
sich deutlich, warum diese Jugend-Helden es zu »nichts bringen« 
diirfen, warum sie im Augenblick der Erfiillung untergehen oder 
einen ewigen erfolglosen Kampf fur die Ideale fiihren mussen. 
Diese erfolglosen Kampfer fiir das Ideal hat besonders in zwei 
ergreifenden Typen Ibsen gezeichnet: in Dr. Stockmann im 
»Volksfeind« und noch stiller und ergreifender im Gregers 
Werle in der »Wildente«. Gregers Werle pragt besonders schon 
jenes eigentlich Jugendliche aus, jenen Glauben an das Ideal und 
jene Aufopferung, die unerschiitterlich bleibt audi wenn das 
Ideal ein vollig unerfiillbares, ja ein ungliickbnngendes ist. 
(Denn Gliick und Ideal sind oft Gegensatze.) Denn am Schlufi 
der »Wildente«, als Gregers die Folgen seines fanatischen Idea- 
lismus sieht, bleibt sein Entschlufi dem Ideal zu dienen, doch 
fest. Sollte es jedoch unerfiillbar sein, so ist das Leben fiir ihn 
wertlos; dann ist seine Lebensaufgabe »der Dreizehnte bei Tisch 
zu sein« - zu sterben. Noch ein anderes tritt in der »Wildente« 
hervor. Wie viele Ibsensche Stiicke, wird audi dieses von Pro- 
blemen bewegt - sie werden nicht gelost. Diese Probleme sind 
eben nur der Untergrund, die Zeitatmosphare, aus welcher der 
Charakter eines Gregers hervortritt, der durch sein eigenes Le- 
ben, den Willen, die Absicht seiner sittlichen Tat, die Kulturpro- 
bleme fiir sich lost. 

Die Jugend selbst hat Ibsen dargestellt in der Hilde Wangel des 
»Baumeister Solnefi«. Doch unser Interesse wendet sich dem 
Baumeister, nicht der Hilde Wangel zu, die nur das blasse 
Symbol der Jugend ist. 
Zuletzt komme ich zu dem jiingsten Dichter der Jugend. Zu- 



12 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

gleich zu einem Dichter der heutigen Jugend, vor alien genann- 
ten: zu Carl Spitteler. Wie Shakespeare in Hamlet, wie Ibsen in 
seinen Dramen, stellt audi Spitteler Helden dar, die fur das 
Ideal leiden. Nodi ausgesprochener als bei Ibsen fur ein univer- 
sales Menschheitsideal. Eine neue Menschheit des Wahrheits- 
mutes sehnt Spitteler herbei. Vor allem seine beiden grofien 
Schopfungen: die Epen »Prometheus und Epimetheus« und der 
»01ympische Friihling« sind der Ausdruck seiner Oberzeugung 
und hier, wie audi in seinem herrlichen Bekenntnis-Roman 
»Imago«, den ich fur das schonste Buch fiir einen jungen Men- 
schen halte, stellt er die Stumpfheit und Feigheit der Durch- 
schnittsmenschen bald tragisch, bald lacherlich oder sarkastisch 
dar. Audi er geht vom Pessimismus aus, um sidi zum Optimis- 
mus im Glauben an die sittliche Personlichkeit zu erheben (Pro- 
metheus, Herakles im »01ympischen Friihling<<). Macht ihn 
sdion sein universales Menschheits-Ideal und seine Oberwindung 
des Pessimismus zu einem Dichter fiir die Jugend und besonders 
fiir unsre Jugend, so vor allem sein herrliches Pathos, das er 
einer Sprachbeherrschung verdankt, die er wohl mit keinem Le- 
benden teilt. 

So steht die Erkenntnis, in der unsre Zeitschrift wirken will, 
schon fest begriindet da in den Werken der Grofiten der Litera- 
tur. 



Die Schulreform, eine Kulturbewegung 

Die erste propagatorische Tat aller, die im Dienste der Schulre- 
form wirken, mufi sein: die Schulreform zu erretten von dem 
Odium, als sei sie ein Interesse der Interessierten oder ein 
Dilettantensturm gegen den Handwerkerstand der Padagogen. 
»Die Schulreform ist eine Kulturbewegung«, das ist der erste 
Satz, der erfochten werden mufl. Nur er rechtfertigt es, wenn 
aus dem Publikum immer wieder der Ruf nach Schulreform 
erschailt, wenn er immer wieder ans Volk gerichtet wird. Und 
anderseits: nur aus dieser Devise klingt aller Ernst und alle 
Hoffnung derer, die sich dieser Aufgabe widmen. - Eins zuvor! 
Man wird uns entgegenhalten; »Sehr begreiflich, was Ihr wollt! 



Die Schulreform, eine Kulturbewegung 13 

Kein neuer Gedanke, kein neuer Einfall erwacht in unserer 
lauten, demokratischen Zeit, der nicht sofort dringend Eingang 
sucht in die breitesten Massen, jeder will eben eine >Kulturbe- 
wegung< sein, denn nicht nur einen Ehrentitel, sondern auch 
Macht bedeutet dieses Wort.« Und diesem Einwande gegeniiber 
ist zu zeigen, dafi die Schulreform jenseits spezieller wissenscbaft- 
licher Thesen steht, dafi sie eine Gesinnung, ein ethisches Pro- 
gramm unserer Zeit ist; gewifi nicht in dem Sinne, dafi jeder es 
vertreten miisse, doch mit der Forderung: jeder mufi zu ihm 
Stellung nehmen! - Kurz: in der Schulreformbewegung spre- 
chen sich klar und dringend Bedurfnisse unserer Zeit aus, die, 
wie wohl all ihre grofiten Note, auf ethisch-kulturellem Gebiete 
Hegen. Die Schulreform ist nicht weniger wichtig, als unser 
soziales und religioses Problem - vielleicht aber klarer. 
In vieler Hinsicht kann von der Schulreform als einer Kulturbe- 
wegung gesprochen werden. Man konnte in jeder Reformbestre- 
bung eine Kulturbewegung sehen: »In allemNeuen liegen lebens- 
volle Krafte, ungeformt und garend, aber verheifiungsvoll . . .« 
Mit diesen und ahnlichen Vorstellungen gilt es ein fur allemal 
zu brechen. Es ist ebenso sinnlos wie verwerflich, von Kultur- 
bewegungen zu reden, wenn man nicht weifi, welche Bewegun- 
gen die Kultur fordern oder hemmen. Jedem Mifibrauch des 
verheiftungsvollen und verfiihrerischen Wortes wollen wir durch 
Klarheit begegnen. In diesem Sinne und in ganz bewufiter, enger 
Beschrankung, die auch der Raum gebietet, sollen nur drei 
Elemente, diejenigen drei allerdings, die jedem aussichtsvollen 
schulreformatorischen Streben zugrunde liegen, als kulturell 
wertvoll und unersetzlich erwiesen werden. 
Was heifk und zu welchem Ende wollen wir Schulreform? so 
mochten wir Schillers bekanntes Thema variieren. Rudolf Pann- 
witz hat Erziehung einmal sehr treffend als »Fortpflanzung 
geistiger Werte« definiert. Das nehmen wir an und fragen nun: 
was heifk, sich mit der Fortpflanzung geistiger Werte beschaf- 
tigen? 

Das heifit erstens: wir wachsen hinaus iiber unsere Gegenwart. 
Nicht nur, daft wir sub specie aeternitatis denken - indem 
wir erziehen, leben und wirken wir sub specie aeternitatis. Wir 
wollen eine sinnvolle Kontinuitat in aller Entwicklung; da6 alle 
Geschichte nicht zerfalle in Sonderwillen einzelner Zeiten oder 



14 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

gar Individuen, dafi die Aufwartsentwicklung der Menschheit, 
an die wir glauben, nicht mehr in dumpfer biologischer Unbe- 
wufitheit vor sich gehe, sondern dem zielsetzenden Geiste folge: 
das wollen wir, d. h. Pflege der natiirlichen Aufwartsentwick- 
lung der Menschheit: Kultur. Der Ausdruck dieses unseres 
Wollens ist: Erziehung. 

Werte fortpflanzenj das heifit aber noch ein Zweites. Nicht nur 
die Fortpflanzung des Geistigen und in diesem Sinne Kultur 
wird Problem, sondern die Fortpflanzung des Geistigen, das ist 
die zweite Forderung. Es erhebt sich die Frage nach den Werten, 
die wir unsern Nachkommen als hochstes Verm'achtnis hinter- 
lassen wollen. Die Schulreform ist nicht nur Reform der Fort- 
pflanzung der Werte, sie wird zugleich Revision der Werte selbst. 
Das ist ihre zweite grundlegende Bedeutung fiir das kulturelle 
Leben. 

Im schulreformatorischen Leben unserer Tage offenbart sich klar 
genug diese doppelte Beziehung zur Kultur. Neue Methoden des 
Unterrichts und der Erziehung entstehen. Hier handelt es sich 
um die Art der Fortpflanzung und man kennt die Mannigfaltig- 
keit der Forderungen, die erhoben werden. Dringend mag man 
den Ruf nach Wahrhaftigkeit in den Erziehungsmethoden nen- 
nen. Man empfindet es als unwiirdig, wenn der Lehrer ein Wis- 
sen vermittelt, von dessen Notwendigkeit er nicht uberzeugt ist, 
wenn er das Kind, ja, noch den Jungling mit Mafinahmen (Ta- 
del, Arrest) erzieht, die er selber nicht ernst nimmt, oder wenn 
er gar mit innerlichem Lacheln - »geschieht ja zu seinem Besten« 
- ein moralisches Verdammungsurteil fallt. - Die Beziehung 
auf das Kulturproblem ist ganz klar. Es gilt einen Ausweg zu 
finden aus dem Widerstreit zwischen naturlicher wahrhaftiger 
Entwicklung einerseits und der Aufgabe, das natiirliche Indivi- 
duum zum kulturellen umzubilden anderseits, jener Aufgabe, 
die ohne Gewalt niemals losbar sein wird. 

Doch scheint es fast, als ob hier der Kampf noch ruhe, wenn wir 
nach dem anderen Schlachtfeld hiniiberblicken, wo um die Werte 
gekampft wird - die Werte, die der neuen Generation vermacht 
werden sollen. Es ist ein wiistes Getiimmel. Nicht die wenigen 
Heere weniger Gegner, sondern der erbitterte Kampf aller 
gegen alle. Neben Schild und Schwert (ev. noch einigen vergifte- 
ten Pfeilen) jeder geschmuckt mit einer Parteifahne. Die grofien 



Die Schulreform, eine Kulturbewegung 1 5 

Gegner, die im offentlichen Leben einander zu freierem und f ro- 
herem Kampfe gefunden haben, die Vertreter grofier entgegen- 
gesetzter religioser, philosophischer, sozialer, asthetischer An- 
schauungen - auf diesem Felde machen ihnen die Streiter urn 
einzelne Facher - »Griechisch«, »Englisch«, »Latein in Quarta«, 
»Latein in Tertia«, »Handfertigkeit«, »Burgerkunde«, »Tur- 
nen« - den Platz streitig. Alles sehr tiichtige, unersetzliche 
Krieger an sich; doch stiften sie nur Verwirrung, solange sie 
nicht ihren Platz im Heere eines der grofien Streiter gefunden 
haben - logisch verbunden eben mit den grofien Gegensatzen, 
deren frischer Kampfruf in den Mauern der Schule erstickt 
wird. 

Das engste Band aber zwischen Kultur und Schulreform - die 
Jugend bildet es. Die Schule ist die Institution, welche der 
Menschheit das Erworbene als Besitz verwahrt und stets von 
neuem entgegenbringt. Aber was audi die Schule leiste, es bleibt 
Verdienst und Leistung der Vergangenheit, wenn audi biswei- 
len der jiingsten. Der Zukunft kann sie nichts weiter entgegen- 
bringen als strenge Aufmerksamkeit und Ehrfurcht. Die Jugend 
aber, der die Schule dient, die sendet ihr gerade die Zukunft. Ein 
Geschlecht empfangt die Schule, in allem Realen und allem Ge- 
wissen unsicher, selbstsuchtig vielleicht und unwissend, natiirlich 
und unkultiviert (im Dienste der Schule mufi es sich bilden), ein 
Geschlecht aber zugleich voll der Bilder, die es mitbringt aus dem 
Lande der Zukunft. Die Kultur der Zukunft ist doch schliefilich 
das Ziel der Schule - und so mufi sie schweigen vor dem Zu- 
kiinftigen, das in der Jugend ihr entgegentritt. Selbst wirken 
lassen mufi sie die Jugend, sich begniigen damit, Freiheit zu ge- 
ben und zu fordern. Und so sehen wir, wie die dringendste 
Forderung moderner Padagogik nichts will als Raum fiir die 
werdende Kultur schafTen. In der Jugend, die allmahlich lernen 
soil zu arbeiten, sich selbst ernst zu nehmen, sich selbst zu er- 
ziehen, im Vertrauen zu dieser Jugend vertraut die Menschheit 
ihrer Zukunft, dem Irrationalen, das sie nur verehren kann, der 
Jugend, die nicht nur soviel mehr erfiillt ist vom Geiste der 
Zukunft — nein! — die iiberhaupt soviel mehr erfiillt ist vom 
Geiste, die die Freude und den Mut neuer Kulturtrager in sich 
fuhlt. Es erwacht immer mehr das Bewufitsein vom unbedingten 
Wert dieser neuen Jugend Froh- und Ernstsinn. Und die Forde- 



1 6 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

rung hat man ausgesprochen, die Gesinnung dieser Jugend solle 
eine offentliche Meinung, ein Kompafi des Lebens werden. 
Versteht Ihr nun, Kommilitonen, warum wir uns an Euch Kul- 
turtrager wenden? 

Jugend, neue Schule, Kultur - das ist der circulus egregius, den 
wir immer wiedef durchlauferi miissen in alien Richtungen. 



Dialog uber die Religiositat der Gegenwart 

Ich hatte einen Freund besucht, in der Absicht, in einem Ge- 
sprach Gedanken und Zweifel iiber die Kunst zu klaren, die mir 
die letzten Wochen gebraclit hatten. Es war schon kurz vor Mit- 
ternacht, als das Gesprach vom Zweck der Kunst die Wendung 
auf die Religion nahm. 

ich Ich ware Ihnen dankbar, wenn Sie mir diejenigen nennen 
wiirden, die in unserer Zeit ein gutes Gewissen im Kunstge- 
nufi haben. Die Naiven und die Kiinstler nehme ich aus. Naiv 
nenne ich die, die von Natur aus fahig sind, in einer augen- 
blicklichen Freude nicht einen Rausch zu empfinden - wie es 
uns so oft geht - sondern dehen eine Freude eine Sammlung 
des ganzen Menschen ist. Diese Leute haben nicht immer Ge- 
schmack, ich glaube fast, ihre Mehrzahl gehort zu den Unge- 
bildeten. Aber sie wissen, was anfangen mit der Kunst, und 
sie lassen sich nicht von den Kunstmoden verfolgen. Und 
dann die Kiinstler: nicht wahr - hier liegt kein Problem? 
Bei ihnen gehort die Kunstbetrachtung zum Fach. 
er Sie als Kulturmensch verraten ja alle Tradition. Wir sind er- 
zogen, nach dem Wert der Kunst nicht zu fragen. L'art pour 
l'art! 
ich Mit Recht sind wir so erzogen. Das l'art pour Tart ist die 
letzte Schranke, die die Kunst vor dem Philister schiitzt. Sonst 
wiirde jeder Schulze iiber das Recht der Kunst wie iiber die 
Fleischpreise verhandeln. Aber wir haben hier Freiheit. Sagen 
Sie mir: was halten Sie vom Tart pour Tart? Vielmehr: was 
verstehen Sie iiberhaupt darunter? Was heifk das? 
er Das heifk ganz einfach: die Kunst ist nicht die Dienerin des 
Staates, nicht die Magd der Kirche, sie ist nicht mal fur das 



Dialog uber die Religiositat der Gegenwart 17 

Leben des Kindes. Usw. L'art pour Tart heifit: man weifi nicht 
wohin mit ihr - mit der Kunst. 

ich Ich glaube Sie haben Recht, was die meisten betrifft. Aber 
wieder nicht fiir uns. Ich glaube, wir mussen uns von diesem 
Mysterium des Philisters, dem Tart pour Tart losmachen. Fiir 
den Kunstler und nur fiir den ist es gesagt. Fur uns hat es 
einen anderen Sinn. Naturlich soil man nicht an die Kunst 
gehen, urn seine eitlen Phantasien zu empfangen. Wir konnen 
uns aber doch nicht mit dem Staunen begniigen. Also »Part 
pour nous«! Entnehmen wir dem Kunstwerk Lebenswerte: 
Schonheit, Formerkenntnis und Gefuhl. »Alle Kunst ist der 
Freude gewidmet. Und es gibt keine hohere und wichtigere 
Aufgabe, als die Menschen zu begliicken«, sagt Schiller. 

er Die Halbgebildeten mit dem Tart pour Tart, mit ihrer ideo- 
logischen Begeisterung und personlichen Ratlosigkeit, mit ih- 
rem technischen Halbverstandnis konnen am allerwenigsten 
Kunst genieften. 

ich Das alles ist iiberhaupt von einem anderen Standpunkt aus 
nur Symptom. Wir sind irreligios. 

er Gott sei Dank! wenn Sie unter Religion gedankenlose Au- 
toritatsg^aubigkeit verstehen, ja auch nur Wunderglauben, 
auch nur Mystik. Religion ist mit dem Fortschritt unverein- 
bar. Ihre Art ist, alle drangenden, expansiven Krafte in der 
Innerlichkeit zu einem einzigen erhabenen Schwerpunkt an- 
zuhaufen. Religion ist die Wurzel der Tragheit. Ihre Heili- 
gung. 

ich Ich widerspreche Ihnen durchaus nicht. Religion ist Tragheit, 
wenn Sie Tragheit namlich die beharrende Innerlichkeit und 
das beharrende Ziel alles Strebens nennen. Irreligios sind 
wir, weil wir nirgends mehr das Beharren beachten. Bemerken 
Sie, wie man den Selbstzweck, diese letzte Heiligung eines 
Zieles herabreiftt? Wie jedes einzelne, das nicht klar und 
ehrlich erkannt wird, »Selbstzweck« wird. Weil wir jammer- 
lich arm an Werten sind, isolieren wir alles. Dann wird au.s 
der Not die obligate Tugend gemacht. Kunst, Wissenschaft, 
Sport, Geselligkeit - bis zum lumpigsten Individuum geht er 
hinunter, dieser gottliche Selbstzweck. Jeder stellt etwas dar, 
bedeutet etwas, ist der Einzige. 

der freund Was Sie hier nennen, sind nichts als Symptome 



1 8 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

einer stolzen, herrlichen Lebensfreude. Wir sind eben weltlich 
geworden, mein Lieber, und es wird Zeit, dafi audi die mit- 
telalterlichsten Kopf e das merken. Wir geben den Dingen ihre 
eigene Weihe, die Welt ist vollkommen in sich. 

ich Zugegeben! Was ist das mindeste, was wir von der Weltlich- 
keit verlangen? Freude an dieser neuen, modernen Welt. Und 
was hat aller Fortschritt, alleWeltlichkeit mit Religion zu tun, 
wenn sie uns nicht eine freudige Ruhe geben? Ich brauche 
Ihnen doch nicht zu sagen, dafi unsere Weltlichkeit ein auf- 
reibender Sport geworden ist? Wir sind gehetzt von Le- 
bensfreude. Es ist unsere verdammte Pflicht und Schul- 
digkeit, sie zu fuhlen. Kunst, Verkehr, Luxus, alles ist ver- 
pflichtend. 

der freund Ich verkenne das nicht. Aber betrachten Sie doch 
die Erscheinungen. Wir haben in unserem Leben jetzt einen 
Rhythmus, der zwar von Antike und klassischer Gelassen- 
heit wenig hat. Aber eine neue Art intensiver Freudigkeit ist 
es. Mag sie noch so oft gezwungen sich zeigen, sie ist da. Wir 
suchen das Freudige wagemutig. Wir haben alle eine selt- 
same Abenteuerlust nach dem iiberraschend Frohen und Wun- 
derbaren. 

ich Sie reden sehr unbestimmt, und doch halt uns etwas ab, Sie 
anzugreifen. Ich fuhle, dafi Sie imGrunde eineWahrheit sagen, 
eine unbanale Wahrheit, die so neu ist, dafi sie allein schon 
im Entstehen Religion vermuten liefie. Trotzdem - unser Le- 
ben ist nicht auf diesen reinen Ton gestimmt. Fur uns sind in 
den letzten Jahrhunderten die alten Religionen geborsten. 
Aber ich glaube nicht so folgenlos, dafi wir uns der Aufkla- 
rung harmlos freuen diirfen. Eine Religion band Machte, 
deren freies Wirken zu fiirchten ist. Die vergangenen Religio- 
nen bargen in sich die Not und das Elend. Die sind frei ge- 
worden. Wir haben vor ihnen nicht mehr die Sicherheit, die 
unsere Vorfahren dem Glauben an die ausgleichende Ge- 
rechtigkeit entnahmen. Das Bewufitsein eines Proletariats, 
eines Fortschritts, alles Machte, die die Friiheren in ihrem 
religiosen Dienste ordnungsgemafi befriedigen konnten, um 
Frieden zu erlangen, sie beunruhigen uns. Sie lassen uns nicht 
zur Ehrlichkeit kommen, wenigstens nicht in der Freude. 

der freund Mit dem Fall der sozialen Religion ist das Soziale 



Dialog iiber die Religiositat der Gegenwart 19 

uns naher gekommen. Es steht fordernder, zum mindesten 
gegenwartiger vor uns. Vielleicht unerbittlidier. Und wir er- 
fullen es nuchtern und vielleicht streng. 

ich . Aber bei alledem f ehlt uns vollkommen die Achtung vor 
dem Sozialen. Sie lacheln; ich weifi, dafi ich ein Paradoxon 
ausspreche. Wenn ich das sage, so meine ich, dafi unsere soziale 
Tatigkeit, so streng sie sein mag, an einem krankt: sie hat 
ihren metaphysischen Ernst verloren. Sie ist eine Sache der 
offentlichen Ordnung und der personlichen Wohlanstandigkeit 
geworden. Fast alien denen, die sich sozial betatigen, ist das 
nur eine Sache der Zivilisation, wie das elektrtsche Licht. Man 
hat das Leid entgottert, wenn Sie den poetischen Ausdruck 
verzeihen. 

der freund Ich hore Sie wieder der entschwundenen Wiirde, 
der Metaphysik nachtrauern. Aber nehmenwir doch die Dinge 
nuchtern ins Leben hinein! Verlieren wir uns nicht im Ufer- 
losen! Fiihlen wir uns doch nicht bei jedem Mittagessen be- 
rufen! Ist das keine Kultur, wenn wir etwas aus den Hohen 
pathetischer Freiwilligkeit zum Selbstverstandlichen herab- 
ziehen. Ich sollte meinen, alle Kultur beruhe darauf, daft 
Gottergebote zu menschlichen Gesetzen werden. Welch iiber- 
fliissige Kraftanstrengung, alles aus dem Metaphysischen zu 
beziehen! 

ich Wenn man noch das Bewufitsein ehrlicher Nuchternheit in 
unserem sozialen Leben hatte. Aber auch das nicht. Wir liegen 
in einem lacherlichen Zwischenstaat gefangen: die Toleranz 
soil soziale Betatigung von aller religiosen Ausschliefllichkeit 
befreit haben - und dieselben, die die soziale Tatigkeit der 
Aufgeklarten proklamieren, machen aus der Toleranz, aus 
der Aufklarung, der Indifferenz und sogar der Frivolitat eine 
Religion. Ich bin der letzte, gegen die schlichten Formen des 
taglichen Lebens zu reden. Wenn man aber diese nanirliche 
soziale Tatigkeit hinterriicks wieder zum heilig-tyrannischen 
Maftstab der Personen macht, weit liber die Notwendigkeit 
des staatlich Gebotenen hinaus, so ist eben der Sozialismus 
doch Religion. Und die »Aufgeklarten« heucheln, der Religion 
gegeniiber oder in ihren Forderungen. Ein Wort flir viele: 
Blumentage. 

der freund Sie denken hart, weil Sie unhistorisch denken. So 



20 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

viel bleibt wahr: wir sind in einer religiosen Krise. Und noch 
konnen wir den wohltatigen, aber eines freien Menschen un- 
wiirdigen Druck der religios-sozialen Verpflichtung nicht 
entbehren. Noch haben wir uns nicht vollig zur sittlichen Selb- 
standigkeit hochgerungen. Dies ist ja das Wesen der Krisis. 
Die Religion, die Huterin sittlicher Inhalte, wurde als Form 
erkannt, und wir sind dabei, unsere Sittlichkeit als ein Selbst- 
verstandliches zu erobern. Noch ist diese Arbeit nicht vollen- 
det, noch haben wir Obergangserscheinungen. 

ich Gott sei Dank! Mir graust vor dem Bild sittlicher Selbstan- 
digkeit, das Sie beschworen. Religion ist Erkenntnis unserer 
Pflichten als gottlicher Gebote, sagt Kant. D. h.: die Religion 
garantiert uns ein Ewiges in unserer taglichen Arbeit und das 
ist es, was vor allem not tut. Ihre geriihmte sittliche Selbstan- 
digkeit wiirde den Menschen zur Arbeitsmaschine machen, 
fiir Zwecke, von denen immer einer den anderen bedingt in 
endloser Reihe. Wie Sie es meinen, ist die sittliche Selbstandig- 
keit ein Unding, Erniedrigung aller Arbeit zum Technischen. 

der freund Entschuldigen Sie, aber man sollte glauben, Sie 
lebten so fern von der Moderne wie der reaktionarste ost- 
preufiische Gutsherr. GewiB, die technisch-praktische Auf- 
fassung hat in der ganzen Natur jede einzelne Lebenserschei- 
nung entseelt, sie hat zuletzt das Leid und die Armut entseelt. 
Aber im Pantheismus haben wir die gemeinsame Seele aller 
Einzelheiten, alles Isolierten gefunden. Wir konnen auf alle 
obersten gottlichen Zwecke verzichten, denn die Welt, die 
Einheit alles Mannigfaltigen, ist der Zweck der Zwecke. Es 
ist ja fast beschamend, hiervon noch zu reden. Schlagen Sie 
unsere groften lebenden Dichter auf, Whitman, Paquet, Rilke 
und zahllose andere, orientieren Sie sich in der frei-religiosen 
Bewegung, lesen Sie die liberalen Blatter, uberall haben Sie 
ein vehement pantheistisches Gefuhl. Vom Monismus, der 
Synthese aller unserer Form zu schweigen. Dies ist die trotz 
allem lebendige Kraft der Technik, dafi sie uns den Stolz der 
Wissenden gegeben hat und zugleich die Ehrfurcht derer, 
die das stolze Weltgebaude erkannten. Denn trotz alles 
Wissens - nicht wahr? - hat noch kein Geschlecht ehrfiirch- 
tiger das geringste Leben erkannt, als wir. Und was die 
Philosophen, von den ersten Ioniern bis zu Spinoza, und die 



Dialog uber die Religiosltat der Gegenwart 21 

Dichter bis zu dem Spinozisten Goethe beseelt hat, jenes all- 
gottliche Naturgefiihl ist unser Eigentum geworden. 

ich Wenn ich Ihnen widerspredie - und ich weifi, ich wider- 
spreche nicht nur Ihnen, sondern der Zeit von ihren simpel- 
sten bis zu manchen bedeutendsten Vertretern - dann fassen 
Sie das bitte nicht auf als die Sucht, interessant zu erscheinen. 
Es ist mir wahrhaftig ernst darum, wenn ich sage, dafi ich 
keinen anderen Pantheismus anerkenne als den Humanismus 
Goethes. Aus seiner Dichtung erscheint die Welt allgottlich, 
denn er war ein Erbe der Aufkarung, wenigstens darin, dafi 
nur das Gute ihm wesentlich war. Und was im Munde jedes 
anderen wesenlos, nicht nur erschienen ware, nein, wirklich 
nur inhaltlose Phrase gewesen ware, das wurde in seinem 
Munde, und wird in der Gestaltung der Dichter uberhaupt, 
Inhalt. 

Mifiverstehen Sie mich nicht, man kann niemandem sein Recht 
auf Gefiihle streitig machen, aber der Anspruch auf mafigeb- 
liche Gefiihle ist zu priifen. Und da sage ich: mag jeder einzel- 
ne noch so ehrlich seinen Pantheismus fiihlen, maftgeblich und 
mitteilbar machen ihn nur die Dichter. Und ein Gefiihl, das 
nur moglich ist auf dem Gipfel seiner Gestaltung, zahlt nicht 
mehr als Religion. Das ist Kunst, ist Erbauung, aber nicht das 
Gefiihl, was unser Gemeinschaftsleben religios griinden kann. 
Und das soil doch wohl die Religion. 

der freund Erlauben Sie. Ich will Sie nicht widerlegen, aber die 
Ungeheuerlichkeit dessen, was Sie sagen, mochte ich Ihnen an 
einem Beispiel zeigen: die hohere Schule. In welchem Geiste 
erzieht sie denn ihre Schuler? 

ich Im Geiste des Humanismus - wie sie sagt. 

der freund Ihrer Ansicht nach ware also unsere Schulbildung 
eine Erziehung fur Dichter und fur Menschen des starksten, 
gestaltungsfahigsten Gefiihlslebens? 

ich Sie sprechen mir vollkommen aus dem Herzen. Wirklich: ich 
frage, was soil ein normal veranlagter Mensch mit dem Hu- 
manismus? Ist diese reifste Ausgeglichenheit der Erkenntnisse 
und Gefiihle ein Bildungsmittel fur junge Menschen, die nach 
Werten diirsten? Ja, ist der Humanismus, der Pantheismus 
etwas anderes als die gewaltige Inkarnation der asthetischen 
Lebensauffassung? Ich glaube das nicht. Wir konnen im Pan- 



22 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

theismus die hochsten, ausgeglichensten Augenblicke des Gliik- 
kes erleben - nie und nimmer hat er Krafte, das sittliche Le- 
ben zu bestimmen. Man soil die Welt nicht belachen, nicht 
beweinen, sondern begreifen. In diesem spinozistischen Wort 
gipfelt der Pantheismus. NB da Sie mich nach der Schule 
fragten: die gibt ihren Pantheismus nicht einmal gestaltet. Wie 
selten geht man ehrlich auf die Klassiker zuriick? Das Kunst- 
werk, diese einzig ehrliche Erscheinung pamheistischen Ge- 
fiihls, ist verbannt. Und wenn Sie noch eine Ansicht von mir 
horen wollen, diesem arzneimafiigen Pantheismus, den uns 
unsere Schule verschrieben hat, verdanken wir die Phrase. 

der freund Also zuletzt werfen Sie dem Pantheismus noch Un- 
ehrlichkeit vor. 

ich Unehrlichkeit . . . nein, das mochte ich nicht sagen. Aber Ge- 
dankenlosigkeit, die werfe ich ihm vor. Denn die Zeiten sind 
nicht mehr die Goethes. Wir haben die Romantik gehabt und 
ihr verdanken wir die kraftige Einsicht in die Nachtseite des 
Naturlichen: es ist nicht gut im Grunde, es ist sonderbar, 
grauenhaft, furchtbar, scheufilich - gemein. Aber wir leben, 
als ware die Romantik nie gewesen, als ware es am ersten 
Tage. Darum nenne ich unseren Pantheismus gedankenlos. 

der freund Ich glaube fast, ich bin auf eine fixe Idee bei Ihnen 
gestofien. Offen gestanden, ich verzweifele, das Einfache und 
doch Elementare des Pantheismus Ihnen begreiflich zu ma- 
chen. Mit mifitrauischer logischer Scharfe werden Sie nie- 
^mals das Wunderbare des Pantheismus verstehen, dafi in ihm 
gerade das Hafiliche und Schiechte als Notwendiges und da- 
her Gottliches erscheint. Ein seltenes Heimatgefiihl gibt diese 
Uberzeugung, jenen Frieden, den Spinoza uniibertrerTlich 
Amor dei genannt hat. 

ich Ich gebe zu, dafi der Amor dei als Erkenntnis, als Einsicht 
mit meiner Vorstellung von Religion sich nicht vertragt. Der 
Religion liegt ein Dualismus zu Grunde, ein inniges Streben 
nach Vereinigung mit Gott. Ein einzelner Grofier mag auf 
dem Wege der Erkenntnis dahin gelangen. Die Religion 
spricht die machtigeren Worte, sie ist fordernder, sie kennt 
auch das Ungottliche, sogar den Haft. Eine Gottlichkeit, die 
allerorten ist, die wir jedem Erlebnis und jedem Gefiihl mit- 
teilen, ist Gefuhlsvergoldung und Profanation. 



Dialog iiber die Religiositat der Gegenwart 23 

der freund Sie irren, denn Sie meinen, der notwendige religiose 
Dualismus fehle dem Pantheismus. Durchaus nicht. Ich sagte 
schon vorher, dafi bei aller tiefen wissenschaftlichen Erkennt- 
nis ein Gefiihl der Demut vor dem kleinsten Lebenden, sogar 
vor dem anorganischen in uns wohnt. Nichts liegt uns ferner, 
als schiilermafiige Oberhebung. Sagen Sie doch selbst: sind 
wir nicht von tiefstem, mitfuhlendem Verstandnis fiir alles 
Geschehen? Denken Sie nur an moderne Stromungen im Straf- 
recht. Sogar den Verbrecher wollen wir als Menschen achten. 
Wir verlangen Besserung, nicht Strafe. Durch unser Gefuhls- 
leben zieht sich der wahrhafte religiose Antagonismus, von 
eindringendem Verstandnis und einer Demut, die ich fast re- 
signierend nennen mochte. 

ich In diesem Antagonismus sehe ich nur Skepsis. Eine Demut, 
die alle wissenschaftliche Erkenntnis verneint, weil sie mit 
Hume an der Geltung des Kausalgesetzes zweifelt, oder ahn- 
liche laienhafte Spekulation nenne ich nicht religios. Das ist 
einfach gefiihlsselige Schwachheit. Wenn unsere Demut wie- 
derum das Bewufksein unseres Wertvollsten, wie Sie das 
Wissen nennen, untergrabt, so gibt sie keinen lebendigen, reli- 
giosen Antagonismus, sondern skeptische Selbstzersetzung. 
Aber ich weifi genau, dafi gerade das den Pantheismus so un- 
geheuer behaglich macht, dafi man sich in Holle und Himmel, 
in Hochmut und Skepsis, in Obermenschentum und sozialer 
Demut gleich gemiitlich fiihlt. Denn natiirlich - ohne ein 
bifkhen unpathetisches, ich meine leidloses Obermenschentum 
geht es nicht ab. Wo Schopfung gottlich ist, da ist der Herr 
der Schopfung es natiirlich erst recht. 

der freund Eines vermisse ich doch bei allem was Sie sagen. Die 
Erhabenheit eines allbeherrschenden Wissens konnten Sie mir 
nicht beschreiben. Und das ist ein Grundpfeiler unserer Ober- 
zeugung. 

ich Was ist denn dieses unser Wissen fiir uns} Ich frage nicht, 
was es fiir die Menschheit bedeutet. Sondern welchen Erleb- 
niswert hat es fiir jeden Einzelnen? Nach dem Erlebnis miis- 
sen wir doch fragen. Und da sehe ich nur, dafi dieses Wissen 
uns eine Gewohnheits-Tatsache geworden ist, mit der wir vom 
sechsten Jahre an aufwachsen bis ans Ende. Wir wiegen uns 
immer in der Bedeutung dieses Wissens fiir irgendein Pro- 



24 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

blem, fiir die Menschheit - fur das Wissen selbst. Aber per- 
sonlich geht es uns nichts an, lafit es uns kiihl, wie alles Ge- 
wohnte.Was haben wir.gesagt, als man den Nordpol erreichte. 
Eine Sensation, die bald vergessen war. Als Ehrlich die Mittel 
gegen die Syphilis entdeckte, Skepsis und Zynismus der Witz- 
blatter. Eine russische Zeitung schrieb, es sei zu bedauern, dafl 
das Laster nun freies Spiel habe. Kurz gesagt: ich glaube ein- 
fach nicht an die religiose Erhabenheit des Wissens. 

der freund Mtissen Sie denn nicht verzweifeln? Glauben Sie 
an nichts? Sind Sie Skeptiker an Allem? 

ich Ich glaube an unsere eigene Skepsis, unsere eigene Verzwei- 
felung. Sie werden verstehen, was ich meine. Ich glaube nicht 
weniger als Sie an die religiose Bedeutung unserer Zeit. Ja, 
ich glaube audi an die religiose Bedeutung des Wissens. Ich 
verstehe den Schauer, den uns der Einblick in die Natur zu- 
riickgelassen hat, und vor allem empfinde ich, dafi wir alle 
noch tief in den Entdeckungen der Romantik leben. 

der freund Und was nennen Sie die Entdeckungen der Roman- 
tik? 

ich Es ist, was ich vorhin andeutete, das Verstandnis fiir alles 
Furchtbare, Unbegreifliche und Niedrige, das in unserem Le- 
ben verwoben ist. Aber all diese Erkenntnisse und tausend 
mehr sind kein Triumph. Sie haben uns uberfallen, wir sind 
einfach benommen und geknebelt. Es waltet ein tragikomisches 
Gesetz darin, dafi in dem Augenblick, wo wir uns der Auto- 
nomic des Geistes mit Kant, Fidite und Hegel bewufit wur- 
den, die Natur in ihrer unermefilichen Gegenstandlichkeit 
sich auftat; im Augenblick, da Kant die Wurzeln des mensch- 
lichen Lebens in der praktischen Vernunft entdeckte, mufite 
die theoretische Vernunft in unendlicher Arbeit die moderne 
Naturwissenschaft ausbauen. - So steht es jetzt um uns. Alle 
die soziale Sittlichkeit, die wir mit herrlichem, jugendlichem 
Eifer scharTen wollen, ist gefesselt durch die skeptische Tiefe 
unserer Einsichten. Und heute weniger als je verstehen wir 
das Kantische Primat der praktischen Vernunft iiber die 
theoretische. 

der freund Im Namen des religiosen Bediirfnisses reden Sie 
einer zugellosen, unwissenschaftlichen Reformerei das Wort. 
Sie scheinen sich mit der Niichternheit, die Sie vorhin anzu- 



Dialog uber die Religiositat der Gegenwart 25 

erkennen schienen, doch schlecht zu vertragen. Sie verkennen 
die Grofie, ja die Heiligkeit der entsagungsvollen sachlichen 
Arbeit, die nicht nur im Dienste der Wissenschaft, sondern in 
einem Zeitalter naturwissenschaftlicher Bildung auch auf 
sozialem Gebiete geleistet wird. Eine revolutionare Jugend- 
Hchkeit kommt dabei allerdings nicht auf die Kosten. 

ich Gewifi. Nach dem Stande unserer Kultur soil und muE auch 
die soziale Arbeit, statt heroisch-revolutionaren Strebungen, 
sich einem evolutionistischen Gange unterwerfen. Aber ich 
sage Ihnen das eine: Wehe, wenn man dariiber das Ziel ver- 
gifit, sich vertrauensvoll dem fast krebsartigen Gang der 
Evolution anheimgibt. Und das tut man. Deshalb kommen 
wir aus diesem Zustand nie und nimmer im Namen der 
Entwicklung heraus, sondern im Namen des Zieles. Und dies 
Ziel konnen wir nun einmal nicht aufterlich aufstellen. Der 
Kulturmensch hat nur einen Ort, den er sich rein erhalten 
kann, in dem er wirklich sub specie aeterni sein darf: das 
ist sein Inneres, er selbst. Und die alte und oft geplagte Not 
ist, dafi wir selber uns verlieren. Verlieren dutch all die 
glorreichen Fortschritte, die Sie riihmen: verlieren, fast mochte 
ich sagen, durch den Fortschritt. Religionen aber kommen aus 
der Not und nicht aus dem Gliick. Und wenn pantheistisches 
Lebensgefiihl diese reine Negativitat, das Sich-selbst-Verlie- 
ren und Sich-fremd-Werden als Aufgehen im Sozialen riihmt, 
so ist das unwahr. 

der freund Freilich - ich wufite nicht, dafi Sie Individualist 
seien. 

ich Das bin ich nicht, sowenig wie Sie. Individuallsten setzen 
ihr Ich als mafigeblichen Faktor ins Leben. Ich sagte schon, 
dafi der Kulturmensch, soweit fur ihn der Fortschritt der 
Menschheit als selbstverstandliche Maxime gilt, das nicht 
kann. Obrigens: diese Maxime ist so selbstverstandlich in die 
Kultur aufgenommen, daft sie als Grundlage der Religion 
fiir die Fortgeschrittenen schon deshalb inhaltslos, bequem 
und gleichgultig ware. Das nebenbei. - Es fallt mir nicht ein, 
Individualismus zu predigen. Nur dafi der Kulturmensch sein 
Verhaltnis zur Gesellschaft erfasse, will ich. Dafi man mit 
der unwiirdigen Luge breche, als erfiille der Mensch sich voll- 
kommen im Dienste der Gesellschaft, als sei das Soziale, in 



i6 Fruhe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

dem wir doch nun einmal leben, das audi die Personlichkeit 
letzthin Bestimmende. 

Man mache Ernst mit der sozialistischen Maxime, man gebe 
zu, dafi das Individuum gezwangt, in seinem Innenleben ge- 
zwangt und verdunkelt wird; und aus dieser Not gewinne 
man ein Bewufksein vom Reichtum, vom natiirlichen Sein 
der Personlichkeit wieder. Langsam wird ein neues Geschlecht 
wagen, sich wieder bei sich selbst umzusehen, nicht nur in 
seinen Kiinstlern. Man wird den Druck und die Unwahrheit, 
die uns jetzt zwingen, erkennen. Man wird den Dualismus 
von sozialer Sittlichkeit und Personlichkeit anerkennen. Aus 
dieser Not wird eine Religion wachsen. Und sie wird not- 
wendig, weil noch niemals die Personlichkeit derart horT- 
nungslos im sozialen Mechanismus verstrickt war. Aber ich 
furchte, Sie haben mich noch nicht ganz verstanden und ver- 
muten da Individualismus, wo ich lediglich Ehrlichkek ver- 
lange. Und damit einen ehrlichen Sozialismus gegen den heu- 
tigen konventionellen. Gegen einen Sozialismus, den jeder 
anerkennt, der bei sich selbst etwas nicht im Reinen fuhlt. 

der freund Wir geraten in ein fast undisputables Gebiet. Sie 
geben kaum Belege und berufen sich auf die Zukunft. Aber 
sehen Sie sich in der Gegenwart um. Sie haben den Indivi- 
dualismus. Ich weifi, dafi Sie ihn bekampfen. Aber Sie miissen 
gerade von Ihrem Standpunkt aus, meine ich, seine Ehrlich- 
keit anerkennen. Nirgends aber lauft der Individualismus auf 
Ihr Ziel hinaus. 

ich Es gibt viele Arten des Individualismus. Ich leugne nicht, 
dafi es sogar Menschen gibt, die ganz ehrlich im Sozialen auf- 
gehen konnen, es werden nicht die tiefsten und besten sein. 
Aber ob im Individualismus Keime zu meiner Anschauung, 
besser zu einer kiinftigen Religiositat liegen, kann ich gar 
nicht entscheiden. Jedenfalls erkenne ich in dieser Bewegung 
Anfange. Meinetwegen die Heroenzeit einer neuen Religion. 
Die Heroen der Griechen sind stark wie die Gotter, nur 
gottliche Reife, gottliche Kultur fehlt ihnen noch. So erschei- 
nen die Individualisten mir. 

der freund Ich verlange keine Konstruktion. Aber weisen Sie 
mir im Gefuhlsleben der Zeit diese neureligiosen Stromungen, 
diesen individualistischen Sozialismus nach, wie Sie in der Zeit 



Dialog uber die ReHgiositat der Gegenwart 27 

allerorten den Pantheismus in den Gemiitern erkennen. Ich 
sehe nichts, was Sie stiitzen konnte. Geistreicher Zynismus und 
blafiliches Asthetentum sind nicht die Keime kunftiger Reli- 
giositat. 

ich Ich hatte nicht geglaubt, dafi auch Sie unsere Literatur mit 
dem gewohnten BHck von der hohen Warte verwerfen. Mir 
sagt das alles anderes. Abgesehen davon, dafi geistreiches 
Asthetentum nicht unsere grofken Schopfungen stempelt. 
Aber verkennen Sie nicht das Bohrende, Verlangende, das im 
Geistreichen liegt. Diese Sucht, Abgriinde aufzureifien und zu 
iiberspringen. Ich weifi nicht, ob Sie mich verstehen, wenn ich 
sage, dafi dieses Geistreiche zugleich Vorbote und Feind 
religiosen Fiihlens ist. 

der freund Nennen Sie eine iibersattigte Sehnsucht nach Uner- 
hortem religios? Dann mochten Sie Recht haben. 

ich Sehen wir diese Sehnsucht doch etwas anders an! Entstammt 
sie nicht dem gewaltigen Willen, nicht alles so ruhig und 
selbstverstandlich im Ich verankert zu sehen, wie wir es ge- 
wohnt sind? Sie predigt eine mystisch-individualistische Feind- 
schaft dem Gewohnten. Das ist ihre Fruchtbarkeit. Allerdings, 
sie kann es bei ihrem letzten Wort niemals lassen und setzt 
den vorlauten Schlufi dazu. Die tragische Naivitat des 
Geistreichen. Wie ich schon sagte, es iiberspringt die Kllifte 
wieder, die es aufreifit. Ich fiirchte und liebe diesen Zynismus, 
der so mutig ist, und zuletzt nur ein wenig zu eigensiichtig, 
um nicht die eigene Zufalligkeit uber die historische Notwen- 
digkeit zu setzen. 

der freund Sie begriinden ein Gefuhl, das auch ich kenne. Die 
Neuromantik - Schnitzler,Hofmannsthal, auch Thomas Mann 
bisweilen - bedeutend, liebenswert, ja herzlich sympathisch 
und gefahrlich. 

ich Aber ich wollte gar nicht von diesen reden, sondern von an- 
dern, die offenbar die Zeit beherrschen. Oder zum mindesten 
die Zeit bedeuten. Was ich davon sagen kann, sage ich gern. 
Aber allerdings kommen wir ins Uferlose. 

der freund Die Gefuhle gehen ins Uferlose, und der Gegen- 
stand der Religion ist die Unendlichkeit. Soviel bringe ich von 
meinem Pantheismus mit. 

ich Bolsche sagt einmal, die Kunst nahme das allgemeine Be- 



28 Friihe Arbeiren zur BUdungs- und Kulturkritik 

wufksein und dieLebenssphare spatererZeiten vorahnend vor- 
aus. Und ich glaube nun, diejenigen Kunstwerke, die unsere 
Epoche beherrschen - nein, nicht einfach beherrschen - ich 
glaube, dafi die Werke, die am heftigsten in ihrer ersten Begeg- 
nung uns beriihren, daft vor allem Ibsen und der Naturalis- 
mus dieses neureligiose Bewufksein in sich tragen. Nehmen Sie 
Ibsens Dramen. Im Hintergrunde stets das soziale Problem - 
gewift. Aber das Treibende sind die Menschen, die ihre 
Personlichkeit der neuen gesellschaftlichen Ordnung gegeniiber 
orientieren musseri: Nora, Frau Alving, und wenn man tiefer 
geht: Hedda, Solnefi, Borkman, Gregers und viele andere. 
Und weiter die Art, wie diese Menschen sprechen. Der Natu- 
ralismus hat die individuelle Sprache entdeckt. Das ergreift 
uns so sehr, wenn wir unsern ersten Ibsen oder Hauptmann 
lesen, dafi wir mit unserer alltaglichsten und intimsten Aufie- 
rung ein Recht in der Literatur, in einer gultigen Weltordnung 
haben. Unser individuelles Gefiihl erhoht sich daran. - Oder 
nehmen Sie eine Auffassung von Individuum und Gesell- 
schaft, wie in Spittelers »Herakles' Erdenfahrt«! Das schwebt 
uns vor, da liegt unser Ziel und wieder ist das eine der 
ziindendsten, begeisterungsschwersten Stellen, die in der 
Moderne geschrieben sind. Herakles kann im Dienste der 
Menschheit als Erloser nicht seine Personlichkeit wahren, nicht 
einmal seine Ehre. Aber es ist eine schneidende und jubelnde 
Ehrlichkeit, in der er sich das zugesteht. Ehrlichkeit, die in 
allem Leid, durch dies Leid ihn hebt. - Das ist lebendiger 
und jaher Widerspruch zur sozialen Tragheit unserer Zeit. - 
Und hier liegt die tiefste, wirklich: ich sage die tiefste Ernied- 
rigung, der das moderne Individuum bei Strafe des Verlu- 
stes der gesellschaftlichen Moglichkeiten unterliegen mufi: in 
der Verschleierung der Individualitat, all dessen, was inner- 
lich umwlihlend und bewegend ist. Ich mochte Ihnen jetzt 
das Konkreteste sagen: hieran wird die Religion sich auf- 
richten. Sie wird wieder einmal vom Geknechteten ausgehen 
- der Stand aber, der heute diese historische, notwendige 
Knechtung tragt, das sind die Literaten. Sie wollen die Ehr- 
lichen sein, ihre Kunstbegeisterung, ihre »Fernsten-Liebe«, 
um mit Nietzsche zu reden, wollen sie darstellen, aber die 
Gesellschaft verstofk sie - sie selber mussen selber alles All- 



Dialog liber die Religiositat der Gegenwart 29 

zumenschliche, dessen der Lebende bedarf, in pathologischer 
Selbstzerstorung ausrotten. So sind die, welche die Werte ins 
Leben, in die Konventlon umsetzen wollen: und unsere 
Unwahrhaftigkeit verurteilt sie zum Outsidertum und zur 
Oberschwenglichkeit, die sie unfruchtbar macht. Niemals wer~ 
den wir die Konventionen durchgeistigen, wenn wir nicht 
diese Formen sozialen Lebens mit unserem personlichen Geiste 
erfullen wollen. Und dazu verhelfen uns die Lkeraten und 
die neue Religion. Religion gibt einen neuen Grund und einen 
neuen Adel dem taglichen Leben, der Konvention. Sie wird 
zum Kult. Dursten wir nicht nach geistiger, kultischer Kon- 
vention? 

der freund Wie Sie Menschen, die in Kaffeehausern ein unrei- 
nes, oft genug ungeistiges Leben fiihren, Menschen, die jede 
simpelste Verpflichtung in Grofienwahn und Tragheit leug- 
nen, Menschen, die die Schamlosigkeit selbst darstellen, ja - 
wie Sie von denen die neue Religion erwarten, das ist mir 
unklar, gelinde gesagt. 

ich Ich habe nicht gesagt, dafi ich die neue Religion von ihnen 
erwarte, sondern dafi ich sie als Trager religiosen Geistes 
in unserer Zeit ansehe. Und das behaupte ich, mogen Sie mir 
hundertmal vorwerfen, dafi ich konstruiere. Gewifi, diese 
Menschen fiihren zum Teil das lacherlichste, das verkommen- 
ste und ungeistigste Leben. Aber aus geistiger Not, nicht wahr, 
aus Sehnsucht nach einem ehrlichen personlichen Leben ist 
dieses Elend geflossen? Was tun denn die Leute anderes, als 
sich mit der hochst schwierigen eigenen Ehrlichkeit befassen? 
Aber natiirlich, was wir Ibsens Helden zubilligen, geht uns 
im Leben nichts an. 

der freund Sagten Sie vorhin nicht selbst, dafi diese fanatische, 
bohrende Ehrlichkeit dem Kulturmenschen versagt sei, dafi sie 
all unsere innere und aufiere Fahigkeit zersetzt. 

ich Ja, und deshalb ist nichts furchterlicher, als wenn das Li- 
teratentum um sich grifTe. Aber eine Hefe ist notig, ein Gar- 
stofT. Sowenig wir Literaten in diesem letzten Sinne sein 
wollen, sosehr sind sie als Vollstrecker des religiosen Willens 
zu achten. 

der freund Religion geht schamvoll vor sich, ist eine Reinigung 
und Heiligung in der Einsamkeit. Im Literatentum sehen Sie 



30 Fruhe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

das krasse Gegenteil. Deshalb 1st es schamvollen Menschen 
verfemt. 

ich Warum Sie nur gerade der Scham alle Heiligkeit zusprechen 
und so wenig von der Ekstase reden? Wir haben wirklich ver- 
gessen, dafi die religiosen Bewegungen durchaus nicht in inner- 
licher Stille die Generationen ergriffen haben. Nennen Sie die 
Scham eine notige Waffe des Selbsterhaltungstnebes; aber hei- 
ligen Sie sie nicht, sie ist restlos natiirlich. Niemals wird sie 
von einem Pathos, einer Ekstase, die sich dehnen und ausbrei- 
ten konnen, etwas zu fiirchten haben. Und nur das unreine 
Feuer des feigen unterdriickten Pathos, das kann sie vielleicht 
zerstoren. 

der freund Und wirklich steht der Literat im Zeichen dieser 
Schamlosigkeit. Daran geht er zugrunde, wie an innerlicher 
Faulnis. 

ich Darauf sollten Sie sich am wenigsten berufen, denn er 
unterliegt diesem aushohlenden Pathos, weil die Gesellschaft 
ihn gebannt hat, weil er kaum die jammerlichsten Formen 
hat, seine Gesinnung zu leben. Wenn wir wieder die Kraft 
haben, die Konvention ernst und wiirdig zu gestalten, anstatt 
unseres gesellschaftlichen Talmitums, dann haben wir fur die 
neue Religion das Symptom. Kultur des Ausdrucks ist die 
hochste und nur auf ihrer Grundlage zu denken. Aber unsere 
religiosen Gefuhle sind frei. - Und so versehen wir unwahre 
Konventionen und Gefuhlsverhaltnisse mit der nutzlosen 
Energie der Pietat. 

der freund Ich begluckwiinsche Sie zu ihrem Optimismus und 
Ihrer Konsequenz. Glauben Sie wirklich, daft bei dem herr- 
schenden sozialen Elend, bei dieser Flut ungeloster Probleme, 
noch eine neue Problematik, die Sie sogar Religion nennen, 
notig oder auch nur moglich sei? Denken Sie nur an ein unge- 
heures Problem, die Frage der Sexualordnung der Zukunft. 

ich Ein ausgezeichneter Gedanke! Gerade diese Frage ist, wie 
ich meine, nur auf dem Grunde personlichster Ehrlichkeit zu 
losen. Zum Komplex der sexuellen Probleme und der Liebe 
werden wir erst dann ofTen Stellung nehmen konnen, wenn 
wir sie von der verlogenen Verquickung mit unendlichen 
sozialen Gedanken losen. Die Liebe ist zunachst einmal eine 
personliche Angelegenheit zwischen zweien und durchaus kein 



Dialog iiber die Religiositat der Gegenwart . 31 

Mittel zum Zwecke der Kindererzeugung; lesen Sie dazu 
»Faustina« von Wassermann. Im iibrigen glaube ich tatsach- 
lich, dafi eine Religion aus einer tiefen und fast unerkannten 
Not geboren sein mufi, Dafi flir die geistigen Fiihrer also das 
soziale Element kein religioses mehr ist, wie ich schon sagte. 
Dem Volke soil seine Religion gelassen werden, ohne Zynis- 
mus. D. h. es bedarf noch, keiner neuen Erkenntnisse und 
Ziele. Ich hatte mit einem Menschen sprechen konnen, der 
ganz anders geredet hatte wie Sie. Fur ihn ware das Soziale 
ein Erlebnis gewesen, das ihn erst gewaltsam aus seiner naiv- 
sten, geschlossenen Ehrlichkeit hatte herausreifien miissen. Er 
hatte die Masse der Lebenden dargestellt, und er gehort im 
weitesten Sinne den historischen Religionen an. 

der freund Sie reden auch hier von Ehrlichkeit. Also sollen wir 
zu diesem Standpunkt des egozentrischen Menschen zuriick? 

ich Ich glaube, Sie mifiverstehen mich systematisch. Ich spreche 
von zwei Ehrlichkeiten. Der vor dem Sozialen und der, die 
ein Mensch nach der Erkenntms seiner sozialen Gebunden- 
heit hat. Ich verabscheue nur die Mitte: die verlogene Primi- 
tivitat des komplizierten Menschen. 

der freund Und nun glauben Sie wirklich, inmitten des religio- 
sen und kulturellen Chaos, in dem die Fiihrenden gebunden 
sind, die neue Ehrlichkeit aufzurichten? Trotz Decadence 
und Mystik, Theosophen, Adamiten und unendlicher Sek- 
ten? Denn auch in denen hat jede Religion erbitterte Feinde. 
Sie verdecken die Kluft zwischen Natur und Geist, Ehrlich- 
keit und Luge, Individuum und Gesellschaft - oder wie Sie es 
gruppieren wollen. 

ich Nun nennen Sie selbst die Mystik die Feindin der Religion. 
Nicht nur uberbriickt sie die Scharfe religioser Problematik - 
sie ist zugleich passend und sozial. Aber bedenken Sie, wie 
weit dies auf den Pantheismus treffen wiirde. - Das neu er- 
wachende, religiose Gefiihl aber trifft es nicht. So wenig, dafi 
ich in der Geltung und Ausbreitung der Mystik und Deca- 
dence sogar seine Symptome erblicke. Doch erlauben Sie, dafi 
ich es naher erklare: ich sagte schon, dafi ich den Augenblick 
dieser neuen Religion - ihrer Grundlegung - historisch fest- 
lege. Es war der Augenblick, da Kant die Kluft zwischen 
Sinnlichkeit und Verstand aufrifi und da er in allem Gesche- 



3 2 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

hen die sittliche, die praktische Vernunft waltend erkannte. 
Die Menschheit war aus ihrem Entwicklungsschlaf erwacht, 
zugleich hatte das Erwachen ihr ihre Einheit genommen. Was 
tat die Klassik? Sie vereinte noch einmal Geist und Natur: 
sie betatigte die Urteilskraft und schuf die Einheit, die immer 
nur eine Einheit des Augenblickes, der Ekstase, der grofien 
Schauenden sein kann. Ehrlich, grundlegend konnen wir sie 
nicht erleben. Grundlage des Lebens kann sie nicht werden. 
Sie bedeutet seine asthetische Hohe. Und wie die Klassik 
asthetische Reaktionserscheinung war, in dem schneidenden 
Bewufksein, dafi es den Kampf um die Totalitat des Men- 
schen gelte, so nenne ich auch Mystik und Decadence Reak- 
tionserscheinungen. Das Bewufitsein, das in zwolfter Stunde 
aus der Ehrlichkelt des Dualismus sich retten will; aus der 
Personlichkeit fliehen will. Aber Mystik und Decadence 
fiihren einen aussichtslosen Kampf: sie negieren sich selbst. 
Die Mystik durch die gesuchte scholastisch-ekstatische Art, mit 
der sie das Sinnliche als Geistiges fafit, oder beides als Er- 
scheinung des wahren Obersinnlichen. 2u diesen hoffnungs- 
losen Spekulationen zahle ich den Monismus. Ich nenne es 
unschadliche Denkerzeugnisse, die einen ungeheuern Auf- 
wand suggestiblen Gemiites brauchen und, wovon wir schon 
sprachen, das Geistreiche ist die Sprache der Mystik - schlim- 
mer die Decadence, aber fur mich das gleiche Symptom und 
die gleiche Unfruchtbarkeit. Sie sucht die Synthese im Natiir- 
lichen. Sie begeht die Todsiinde, den Geist natiirlich zu ma- 
chen, ihn als selbstverstandlich zu nehmen, nur kausal be- 
dingt. Sie leugnet die Werte (und damit sich selbst), um den 
Dualismus von Pflicht und Person zu bezwingen. 

der freund Sie wissen vielleicht, wie es so manchmal geht. 
Man denkt eine Zeitlang angestrengt, glaubt einem neuen 
Unerhorten auf der Spur zu sein und sieht sich plotzlich 
schaudernd vor einer ungeheuern Banalitat. Und so geht 
es mir. Ich frage mich eben unwillkurlich: was ist an dem, 
wovon wir reden? Ist es nicht eine Selbstverstandlichkeit, ein 
Nicht-Redenswertes, dafi wir in einem Zwiespalt von Indi- 
viduellem und Sozialem leben? Jeder hat ihn in sich erfahren, 
erfahrt ihn taglich. Gut, wir haben die Kultur und den So- 



Dialog iiber die Religiositat der Gegenwart 33 

zialismus zum Siege gebracht. Und damit ist alles entschieden. 
- Sie sehen - ich habe jeden Blick, jedes Verstandnis ver- 
loren. 

ich Und nach meiner Erfahrung wiederum steht man vor einer 
tiefen Wahrheit, wenn man eine Selbstverstandlichkek um 
einen Grad vertieft, vergeistigt, mbchte ich sagen. Und so ist 
es uns mit der Religion ergangen. Gewifi, Sie haben Recht 
in dem was Sie sagen. Aber machen Sie einen Zusatz. Dieses 
Verhaltnis sollen wir aber nicht als ein technisch-notwendiges 
fassen, das aus Aufierlichkeit und Zufall geboren wurde. 
Nehmen wir es als sittlich-notwendig, durchgeistigen wir 
wieder einmal die Not zur Tugend! Gewifi, wir leben in einer 
Not. Aber wertvoll wird unser Verhalten nur, indem es sich 
sittlich begreift. Hat man sich denn das Furchtbare, Unbe- 
dingte gesagt, das in der Ergebung der Person unter sozial- 
sittliche Zwecke steckt? Nein! Warum nicht? Weil man vom 
Reichtum und Schwergewicht der Individuality tatsachlich 
nichts mehr weifi. So wahr ich Menschen des taglichen Lebens 
kenne, sage ich Ihnen, dafi diese das Korpergefuhl ihrer geisti- 
gen Personlichkeit verloren haben. 

Im Augenblick, wo wir das von neuem finden und uns unter 
die kulturelle Sittlichkeit beugen, sind wir demiitig. Dann 
erst erhalten wir das Gefiihl der schlechthinnigen Abhangig- 
keit, von der Schleiermacher spricht, statt einer konventionel- 
len Abhangigkeit. - Aber ich kann Ihnen das vielleicht kaum 
sagen, weil es sich auf einem so neuen Bewufitsein personlicher 
Unmittelbarkeit grundet. 

der freund Nochmals, Ihre Gedanken haben einen steilen Flug. 
So, dafi sie sich von aller Problematik der Gegenwart reifiend 
schnell entfernen. 

ich Das erwartete ich am wenigsten zu horen; der ich den 
Abend, die Nacht lang von der Not der Fuhrenden sprach. 

der freund Und doch, Glauben und Wissen heifit die Parole 
unserer religiosen Kampfe. Kein Wort sprachen Sie davon. 
Ich fiige hinzu, von meinem Standpunkt eines Pantheismus 
oder Monismus gibt es diese Frage allerdings nicht. Aber Sie 
hatten sich damit abzufinden. 

ich Jawohl: indem ich sage, dafi das religiose Gefiihl in der 
Gesamtheit der Zeit wurzelt; zu der gehort das Wissen. 



34 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

Wenn nicht das Wissen selbst problematiscii ist, wird eine 
Religion, die bei dem Dringenden beginnt, sich um das Wissen 
nicht zu kummern haben. Und es hat wohl kaum Zeiten gege- 
ben, in denen das Wissen natiirlicherweise problematisch an- 
gefochten war. Soweit haben es erst historische Mifiverstand- 
nisse gebracht. - Und dieses modernste Problem, von dem die 
Blatter voll sind, entsteht, weil man sich nicht von Grund auf 
nach der Religion der Zeit fragt; sondern man fragt, ob eine 
der historischen Religionen in ihr noch Unterkunft finden 
konne, und wenn man ihr Arme und Beine abschnitte und 
den Kopf dazu. - Ich unterbreche mich hier - es ist ein weit- 
laufiges Lieblingsthema. 

derfreund Mir fallt ein Wort von Walter Cale ein. »Nach 
einer Aussprache glaubt man stets, das >Eigentliche< nicht ge- 
sagt zu haben. « Vielleicht haben Sie jetzt ein ahnliches Ge- 
fiihl. 

ich Das habe ich. Ich denke daran, dafi eine Religion letzthin 
niemals nur Dualismus sein kann - dafi die Ehrlichkeit und 
die Demut, von der wir sprachen, ihr sittlicher EinheitsbegrifT 
ist. Ich denke daran, dafi wir nichts uber den Gott und die 
Lehre dieser Religion und wenig uber ihr kultisches Leben 
sagen konnen. Dafi das einzig Konkrete das Gefuhl einer 
neuen und unerhorten Gegebenheit ist, unter der wir lei- 
den. Ich glaube audi, dafi wir schon Propheten gehabt haben: 
Tolstoi, Nietzsche, Strindberg. Dafi schliefilich unsere schwan- 
gere Zeit einen neuen Menschen finden wird. Neulich hone 
ich ein Lied. So wie dieses schelmische Liebeslied es sagt, 
glaube ich an den religiosen Menschen. 

Dafi doch gemalt all deine Reize waren 
Und dann der Heidenfurst das Bildnis fande: 
Er wiirde dir ein grofi* Geschenk verehren 
Und legte seine Kron' in deine Hande. 
Zum rechten Glauben miifite sich bekehren 
Sein ganzes Reich bis an sein fernstes Ende. 
Im ganzen Lande wiird' es ausgeschrieben: 
Christ soil ein jeder werden und dich lieben. 
Ein jeder Heide flugs bekehrte sich 
Und wiird* ein guter Christ und liebte dich. 



Unterricht und Wertung 3 j 

Mein Freund lachelte skeptisch aber liebenswiirdig und begleitete 
mich schweigend an die Hausture. 



Unterricht und Wertung 

</•> 

An zwei Stellen wird das Verhaltnis des Unterrichts zu Werten, 
zu lebendigen Gegenwartswerten besonders deutlich werden: im 
Deutschen und in der Geschichte. Im Deutschen wird es sich vor- 
wiegend um asthetische, im Geschichtsunterricht um ethische 
Werte handeln. Zunachst ist das gleichgiiltig. Gefragt wird: wer- 
tet der Unterricht (und damit die Schule) iiberhaupt, und an 
welchem Ziele ist dies Werten orientiert? Es soil nicht behauptet 
werden, daft jeder der folgenden Falle typisch sei. Aber es soil 
doch die Ansicht zugrunde gelegt werden, ein brauchbares 
System miisse gewisse auBerste Moglichkeiten ausschliefien. Im 
folgenden einige dieser Moglichkeiten ohne Kommentar: 
In einer Obersekunda werden eine Anzahl Gedichte Walthers 
von der Vogelweide in der Ursprache gelesen. Sie werden iiber- 
setzt und einige werden auswendig gelernt. Das alles nimmt eine 
Reihe von Unterrichtsstunden in Anspruch. Der Ertrag dieser 
Stunden fiir den Schuler in asthetischer Hinsicht ist die bestandig 
wiederkehrende Aufierung des Lehrers, im Gegensatz zu Homer 
verwende Walther keine Flickworter. 

Einige AuEerungen, die den asthetischen Standpunkt Goethe 
gegeniiber bezeichnen: » Goethe ist iiberhaupt ganz realistisch, 
man mufi nur verstehen, was er meint.« Oder: »Es ist das Eigen- 
tiimliche in Goethes Werken, dafi jedes Wort seinen Sinn hat, 
und zwar meist einen schonen, passenden.« 
Oder: In einer hoheren Klasse werden die Nibelungen in der 
Ubersetzung, darauf in der Ursprache gelesen; ein bis zwei 
Abschnitte bilden die hausliche Lektiire; sie werden im Unter- 
richte nacherzahlt. Nachdem so die Ubersetzung durchgenommen 
ist, wird das Lied vom Lehrer in der Ursprache aus dem Lese- 
buche, das audi die Schuler vor sich haben, vorgelesen und teil- 
weise iibersetzt, teils durch Ubersetzungsanleitungen kommen- 



36 Fruhe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

tiert. Solche Durchnahme dauert kaum unter einem halben 
Jahre; und damit ist dann die Lektiire dieser Dichtung durchaus 
erschopft. Auf den inneren Gehalt wird schlechterdings mit kei- 
nem Worte eingegangen. 

Entsprechend kann sich die Schulbehandlung von »Hermann 
und Dorothea« gestalten. Es werden im Unterricht Stunde fiir 
Stunde in gemeinsamer Arbeit Dispositionen angefertigt (die 
jedoch stets auf die vom Lehrer gewunschte hinauslaufen); eine 
dieser Dispositionen folgt: 

»4. Gesang: Euterpe. 

I. Die Mutter sucht den Sohn: 

a) auf der Steinbank, 

b) im Stall, 

c) im Garten, 

d) im Weinberg, 

e) imWald. 

II. Die Mutter findet den Sohn unter dem Birnbaum. 
III. Gesprach zwischen Mutter und Sohn. 
i. Hermanns EntschlufL 

a) Die Not der Mitmenschen, 

b) die Nahe des Feindes, 

c) Hermanns Entschlufi zu kampfen. 

2. Der Mutter Ermahnung. 

3. Hermanns Gestandnis. 

4. Vermittelnder Plan der Mutter. « 

Jede solche Disposition ist zu Hause auswendig zu lernen und 
mit verbindendem Text wiederzuerzahlen. Womoglich mehrere 
Male in einer Stunde. Die aufsatzmafiige Behandlung des Ge- 
dichtes ergab die Themen: »Inwiefern ist der erste Gesang von 
>Hermann und Dorothea< die Exposition des Gedichts?« (Man 
bemerke, wie in Ermanglung eines geistigen Eindringens die 
Dichtwerke in den Schulen so oft technisch zerfetzt werden!) 
Und: »Inwiefern ist das Gewitter in >Hermann und Dorothea< 
symbolisch?« In diesem Aufsatz wurde eine Darstellung des Ge- 
witters als symbolischer Ausgleich der Spannungen beim Epos, 
vor allem der erotisdien Spannung zwischen den Liebenden (!), 
verlangt. 



Unterridit und Wertung 37 

Eine Wertung des Gedichtes gibt der Unterridit nicht. Fur die 
meisten Schuler aber ist es gewertet; der Name der Dichtung 
schon verursacht ihnen Obelkeit. 
»Minna von Barnhelm« wird disponiert. 
»Egmont« wird disponiert. Eine Probe: 

»Egmont und der Secretar erledigen: 
I. Amtsgeschafte: 

a) politische, 

b) militarische. 
II. Kriminalgeschafte: 

a) Geldangelegenheiten, 

b) Warnung des Graf en 01iva.« 

Wir schliefien diese schwarze Liste, die wohl jeder Schuler belie- 
big verlangern konnte, mit einigen charakteristischen Worten 
eines Lehrers, die das Aufsatzwesen beleuchten. Der Schuler 
halt eine Ansicht, deren Beweis von ihm gefordert wird, fur un- 
richtig und begriindet dies dem Lehrer gegemiber zureichend. Die 
Antwort lautet, es handele sich in den Aufsatzen in erster Linie 
um Stilubung und die darin behandelten Stoffe seien nicht so 
wichtig, dafi die Schuler sich Gewissensbisse zu machen brauch- 
ten, wenn sie etwas schrieben, was sie fur unrichtig hielten. - 
Einer solchen Anschauung entspricht es, wenn bei der Ruckgabe 
von Aufsatzen der Lehrer schroff" entgegengesetzte Werturteile 
verschiedener Schuler regelmafiig mit den Worten begleitete: 
»Das konnen wir gel ten lassen.« 

Wir haben ohne Unterbrechung aufgezahlt. Und nur dies moch- 
ten wir bemerken: in einem solchen Unterrichte stelle man sich 
eine Anzahl Schiiler vor, denen es um Literaturfragen ernst ist. 
Der Unterridit beimiht sich nicht um ein ernsthaftes Verhaltnis 
zum Kunstwerk. Bis zur Erschopf ung wird es inhaltlich und viel- 
leicht formal analysiert, doch zu einer fruchtbar werdenden, d. h. 
vergleichenden Betrachtung kommt es nicht; es fehlen ja die 
Mafistabe. So ergibt es sich: die Dichtungen der Klassik - und 
sie vor allem kommen in Betracht - erscheinen der Mehrzahl 
der Schuler als vollig willkiirliche, jedes lebendigen Zusammen- 
hanges entbehrende Spielereien fiir Asthetiker; erscheinen un- 
endlich trocken jedem, der seine 2eit mit »Nutzlicherem« aus- 
fiillen kann. 



38 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

Wahrhaft verhangnisvoll aber wird dieser Zustand, wo es sich 
um moderne Kunst handelt. Vielleicht aber ist das schon zuviel 
gesagt. In den meisten Fallen handelt es sich gar nicht um mo- 
derne Kunst. Da dient denn zur Maxime etwa folgendes Wort 
eines in Oberprima unterrichtenden Lehrers: »Weiter als bis 
Kleist gehe ich mit Ihnen nicht. Modernes wird nicht gelesen.« 
Es sollte einmal ein deutscher Dichter oder Kunstler unserer Zeit 
dem deutschen Unterricht beiwohnen und horen, wie da von 
moderner Kunst gesprochen wird (iibrigens ist bei diesen Herren 
der Begriff »modern« ganz umfassend; grofie entgegengesetzte 
Stromungen bestehen nicht). Ein Herr kann vom Katheder her- 
ab lacherliches und grundloses Zeug iiber die Sezession sagen: 
»diese Leute wollen immer nur das Hafiliche malen und erstre- 
ben nichts, als moglichst grofie Ahnlichkeit« - es darf nicht 
widersprochen werden. Der Moderne gegeniiber steht, wenn sie 
einmal genannt wird, alles frei. » Ibsen - wenn ick schon det 
Schimpansengesicht sehe!« (Aufierung eines Lehrers.) 
Da gibt es keine iiberlieferten, will also sagen giiltigen Urteile. 
Die offentliche Meinung iibt noch keinen Zwang aus. Da ist alles 
»Geschmackssache«, die Schule kennt hier keine Verantwortung 
ihrer Zeit gegeniiber. Nirgends vielleicht wird es deutlicher als 
hier, wie unfahig die Schule ist, aus sich selbst heraus zu werten. 
So erzeugt die Schule eine offentliche Meinung der Gebildeten, 
deren literarisches Glaubensbekenntnis lautet: Goethe und 
Schiller sind die grofiten Dichter - die sich aber gelangweilt 
von ihren Dramen abwendet und der die moderne Kunst ein 
Gegenstand des Spottes oder verantwortungslosen Geredes 
wird. 

Entsprechendes ist im Geschichtsunterricht die Regel. Aus einem 
sehr einfachen Grunde kann hier nicht gewertet werden. Politi- 
sche Geschichte lafit sich nicht werten und Kulturgeschichte gibt 
es nicht. Denn innere Geschichte, die im Unterricht eine immer 
grofiere Rolle zu spielen beginnt, ist ja noch nicht Kulturge- 
schichte. Dazu macht sie erst der Gesichtspunkt. Der Blickpunkt 
aber auf unsere Kultur, als das Ergebnis der Jahrtausende, fehlt. 
Von der Entwickelung des Rechts, der Schule, der Kunst, der 
Ethik, der modernen Psyche schweigt, bis auf wenige Daten, 
dieser Unterricht. Der nuchterne Betrachter mag sich fragen, ob 
dieser Geschichtsunterricht ein Kulturbild gibt oder nicht vielmehr 



Unterricht und Wertung 39 

selbst eines darstellt! Ein einziger Punkt ist es, an dem der 
Geschichtsunterricht schliefilich wertet: das ist der Augenblick, 
wo am Horizonte die Sozialdemokratie auftaucht. Aber welche 
Oberzeugungskraft kann eine Wertung haben, die ganz ofTenbar 
nicht um der Erkenntnis willen (denn dann ware stets gewertet 
worden), sondern aus Zweckgriinden geschieht! 
Auf dieser Grundlage bietet der Geschichtsunterricht das uner- 
freulichste Bild. Entweder gilt es ein Vorbeten oder Wiederkauen 
zusammenhangloser oder oberflachlich verbundener Tatsachen 
aller Art - oder man sucht sich den »Kulturperioden« einmal 
bewufit zu nahern. Da paradieren denn die Schlagworte aus der 
Literaturgeschichte und ein paar beriihmte Namen, oder end- 
lich, es tritt zum Ersatz einer freien, grofien Wertung die klein- 
lichste Beurteilung irgendeiner historischen Tat ein. Da wird denn 
gefragt: ist Napoleons Bestreben, Rufiland zu unterwerfen, be- 
rechtigt gewesen oder nicht? - Und ahnliches wird gar in der 
Klasse uferlos debattiert. 

Damit waren die vorzugsweise zur Wertung berufenen Unter- 
richtsfacher der Realschule betrachtet. Aber das humanistische 
Gymnasium hat noch seine humanistischen Werte, die den gegen- 
wartigen Kulturwerten gleichberechtigt zur Seite treten sollen. 
Dariiber wird ein zweiter Artikel handeln. 

//. Vber das humanistische Gymnasium 

Es ist verhaltnismafiig leicht, gegen MifSstande und Verfehlun- 
gen im Unterricht zu polemisieren, gegen einen Gesichtspunkt 
zu kampfen, von dem aus unterrichtet wird, oder fiir eine Neu- 
einteilung der Lehrstoffe einzutreten. Sehr schwer ist es, gegen 
Gedankenlosigkeit zu Feld zu ziehen, Geistlosigkeit zu bekamp- 
fen. Eigentlich unmoglich, sie lafit sich nur nachweisen. Dies un- 
dankbare Geschaft versuchten wir im vorigen fiir den Deutsch- 
und Geschichtsunterricht zu leisten. Noch schwerer ist das gleiche 
fiir die humanistischen Lehrfacher. Wir wissen gar nicht, was 
dieser humanistische Unterricht bezweckt (wahrend wir vom Ziel 
eines Deutsch- und Geschichtsunterrichtes in einer modernen 
Schule immerhin einen Begriff haben). 

Wir gestehen, dafi wir im Grunde sehr viel Sympathie fiir die 
humanistische Bildung haben. Mit einer Art von verbissenem 



40 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

Trotz lieben wir sie, weil wir in ihr eine Sdiulgesinnung sehen, 
die eine edle Ruhe sich bewahrt hat und vom darwinistischen 
Zwecktaumel unserer iibrigen Padagogik verschont blieb. Da 
lesen wir den Sitzungsbericht der »Freunde des humanistischen 
Gymnasiums«, und mit Staunen horen wir, dafi unter allgemei- 
nem Beifall festgestellt wird, dem Mediziner und Juristen sei 
die Kenntnis der griechischen Spradie von grofiem Nutzen. Dafi 
der Vortragende iibrigens dankbar zuriickblicke auf die Jah- 
re, in denen . . ., und es folgen jene Phrasen, mit denen der, der 
es hinter sich hat, das dicke Fell sich streichelt und auf die 
»Jungen« herabblinzelt. 

Dieser Ton, mit dem ein Herr jene >>idealistische Gesinnung« 
zusamt der Kenntnis vieler Fremdworter, welche das Gymna- 
sium ihm »vermittelte«, gemachlich lobt, ist uns furchtbar. Pein- 
lich ist uns jene behabige Sentimentalitat, die noch nach vierzig 
Jahren an der Familientafel (zwischen Fisch und Braten) die 
ersten Verse der Odyssee ertonen lafit. Die noch jetzt die Gram- 
matik der Apodosis besser beherrscht als der Sohn, der schon in 
Prima sitzt. Die Intimitat zwischen Philisterium und dem hu- 
manistischen Gymnasium ist hochst verdachtig. Wir empfinden: 
weil unsere Vater so innig allerlei verstaubte Gefuhle mit Plato 
und Sophokles verbunden haben, darum miissen wir los von 
soldier Familienatmosphare des Gymnasiums. 
Und dennoch haben wir wohl eine Sehnsucht, manche vielleicht 
eine Vorstellung sogar von dem, was unset Gymnasium sein 
sollte. Kein Gymnasium sei es, in dem (giinstigstenfalles) Win- 
ckelmannsches Griechentum begriffen wird (denn schon lange ist 
die »edle Einfalt und stille Grofie« zum fatalen Inventar der 
hoheren Tochterbildung geworden). Unser Gymnasium sollte 
sich berufen auf Nietzsche und seinen Traktat »Vom Nutzen 
und Nachteil der Historie«. Trotzig, im Vertrauen auf eine 
Jugend, die ihm begeistert folgt, sollte es die kleinen modernen 
Reformpadagogen uberrennen. Anstatt modernistisch zu wer- 
den und aller Ecken eine neue, geheime Niitzlichkeit des Be- 
triebs zu riihmen. Das Griechentum dieses Gymnasiums sollte 
nicht ein fabelhaftes Reich der »Harmonien« und »Ideale« sein, 
sondern jenes frauenverachtende und mannerliebende Griechen- 
tum des Perikles, aristokratisch; mit Sklaverei; mit den dunklen 
Mythen des Aeschylos. All dem sollte unser humanistisches 



Unterricht und Wertung 41 

Gymnasium ins Gesicht sehen. In dem diirfte dann audi griechi- 
sdie Philosophic gelehrt werden, was jetzt so verboten sein 
miifite wie die Lektiire von Wedekind. Jetzt namlich lernt man 
nach einem Handbuch, dafi Thales das Wasser fiir den Urstoff 
hielt, Heraklit aber das Feuer, Anaxagoras jedoch den Nous, 
dagegen Empedokles Liebe und Hafi (und stiirzte sich in den 
Atna), Demokrit aber die Atome, und dafi die Sophisten den 
alten Glauben zersetzten. (2u dem, was die Philosophic am 
starksten diskreditiert, gehort solcher Unterricht.) 
Wie gesagt - wir kennen oder ahnen ein humanistisches Gym- 
nasium, das wir lieben wiirden. In dieser Schule ware griechische 
Plastik mehr als ein schmutziger Pappdruck, der gelegentlich fiir 
vier Wochen im Schulzimmer hangt. Solches Gymnasium konn- 
te uns zum mindesten helfen. Die Padagogen mogen sich fragen, 
ob sie uns diese Schule schaffen diirfen, die gegenwartsfeindlich, 
undemokratisch, hochgemut sein miifite und keine bequemen 
Kompromisse mit Oberrealschule, Realgymnasium, Reform- 
gymnasium eingehen wiirde! Wenn wir aber im Namen der 
beiden Jahrtausende nach Christus solche Schule nidit haben 
diirfen, dann nehmen wir einen schweren, gefafiten Abschied 
vom Gymnasium. 

Aber nicht langer dieser verwaschene Humanismus! Jetzt haben 
wir Asthetentum ohne asthetische Bildung in unseren Lektiiren- 
stunden. Geschwatz von acocppoa'uv'n, ohne die Mafilosigkeit des 
alten Asien zu ahnen. Platonische Dialoge ohne Lektiire des 
Symposion (vollstandig, meine Herren, vollstandig!). 
Das aber bekennen wir nochmals: wir wissen nicht, was man 
meint, wenn man diese heutige humanistische Bildung uns vor- 
setzt. Aus jedem klassischen Buche lesen wir die »besten Stellen«, 
nur der Primus kann Griechisch ohne »Klatschen« verstehen, 
nur die notorisch Streberhaftesten machen freiwillige humani- 
stische Arbeiten. Wir Schiiler, die drinnen stehen, haben iiber 
und iiber genug von jener Heuchelei, die Geistlosigkeit und Ur- 
teilslosigkeit mit dem Mantel »griechischer Harmonie« deckt! 
SchwarzeListe: 

Ober Horaz: »Wir haben hier Horaz zu lesen; ob er uns ge- 
fallt oder nicht, ist ja ganz gleich; er steht im Lehrplan.« Aufie- 
rung eines Lehrers. 
Bei einem Einwand gegen eine Beweisfiihrung bei Cicero: »Wir 



42 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

wollen hier ja nidit unsere Ansichten entwickeln, sondern wissen, 
was Cicero sagt.« 

Zum Kapitel »Klassische Kunst«: auf einem Gymnasium wird 
eines Tages kunstgescliichtlicher Unterricht eingefiihrt, der nach 
mehreren Wochen ebenso plotzlich, wie er kam, wieder ver- 
schwindet. Der Lehrer erklart: »Ja, ich habe in jeder Woche so 
und soviel Stunden zu geben; damals hatte ich noch eine Stunde 
pro Woche zu wenig, gab also Kunstgeschichte. Jetzt ist das 
wieder in Ordnung.« 

»Ach, glauben Sie doch nicht, dafi man Ihnen Ihre Begeisterung 
flir die An tike glaubt«, sagte zu einem Oberprimaner eines 
humanistischen Gymnasiums ein Lehrer. 



Romantik 
Eine nicht gehaltene Rede an die Schuljugend' 

Kameraden! Wenn wir schon irgendeinmal an uns gedacht haben, 
nicht an uns als Einzelne, sondern an uns als Gemeinschaft, als 
Jugend, oder wenn wir von der Jugend gelesen haben, - immer 
wieder dachten wir uns, dafi sie wohl romantisch sei. Tausende 
von guten und schlechten Gedichten sagen es, von Erwachsenen 
horen wir, dafi sie alles darum geben wiirden, noch einmal jung 
zu sein. Das ist doch alles Wirklichkeit, die wir wohl in Augen- 
blicken ganz iiberraschend und froh fuhlen, wenn wir eine gute 
Arbeit gemacht haben, eine Kletterpartie, etwas gebaut haben, 
oder eine mutige Erzahlung lesen. - Kurz und gut: ungefahr 
so, wie mir plotzlich einmal - ich weift nodi, es war auf einer 
Treppenstufe - zum Bewufttsein kam: ich bin doch noch jung 
(ich war wohl 14 Jahre alt, und was mich so froh machte, war, 
dafi ich von einem Luftschiff gelesen hatte). 
Jugend ist ganz umgeben von Hoffnung, Liebe und Bewunde- 
rung: derer, die noch nicht jung sind, der Kinder, und derer, die 
es nicht mehr sein konnen, weil sie ihren Glauben an ein Besseres 
verloren haben. Das fuhlen wir: daf$ wir Reprasentanten sind, 
jeder einzelne von uns steht fiir Tausende, so wie jeder Reiche 
fur Tausende von Proletariern, jeder Begabte fiir Tausende 
Unbegabter steht. Wir diirfen uns fuhlen als Jugend von Gottes 
Gnaden, wenn wir es so verstehen. 



Romantik 43 

Und nun denke ich mir, wir waren auf einem Jugendkongrefi 
mit Hunderten oder Tausenden junger Teilnehmer. Plotzlich 
hore ich Zwischenrufe: Phrase - Unsinn! und ich sehe auf die 
Banke, und neben ganz wenigen von Sturmischen, die mich 
unterbrechen, liegen da Hunderte fast schlafend. Einer oder der 
andere richtet sich ein wenig auf, scheint mich aber nicht ernst zu 
nehmen. 

Da fallt mir etwas ein: 

»Ich sprach von der Jugend von Gottes Gnaden, ich sprach von 
unserem Leben, wie es in der Tradition ist, der Literatur, bei 
den Erwachsenen. Aber die Jugend, zu der ich rede, schlaft oder 
ziirnt. Etwas mufi faul sein im Staate Danemark. Und ich danke 
Eurem Schlaf und Zorn, denn davon wollte ich reden. Ich woll- 
te fragen: was halten wir von der Romantik? Haben wir sie? 
Kennen wir sie? Glauben wir an sie? Tausendstimmiges Lachen 
und ein einzelstimmiges leidenschaftliches Nein.« 
»Also wir verzichten auf die Romantik, wir vielleicht als die 
erste Jugend wollen die nuchterne Jugend sein?« 
Wieder ertonte es »nein«, von dem nur drei oder vier ganz klare 
Stimmen mit ihrem »ja« sich abhoben. Da sagte ich weiter: 
»Ihr habt mir geantwortet, und ich selber antworte mit. Allen 
denen, die glauben eine zeitlose Jugend vor sich zu haben, 
eine ewig romantische, die ewig sichere, die den ewigen Weg ins 
Philisterium geht. Wir sagen ihnen: Ihr belugt uns und Euch. 
Mit Euren vaterlichen Gesten, mit Eurer weihrauchernden Ver- 
ehrung raubt Ihr uns das Bewufksein. Ihr erhebt uns in rosige 
Wolken, bis wir den Boden unter den Fiifien verloren haben. 
Dann gewartigt Euch immer mehr eine Jugend, die in narkoti- 
schem Individualismus schlaft. Das Philisterium lahmt uns, da- 
mit es allein die Zeit beherrsche; wenn wir uns aber lahmen 
lassen, von den idealischen Narkosen, dann sinken wir ihm 
schnell nach, und die Jugend wird die Generation der spateren 
Philister.« 

Ich weift nicht, Kameraden, aber ich fiirchte, damit bin ich bei 
der Romantik. Nicht bei der Romantik, bei keiner wahren, aber 
bei einer sehr machtigen und gefahrlichen. Es ist genau dieselbe, 
die uns Schillers keusche weltblirgerliche Klassik zersetzt in be- 
queme Gemutlichkeitspoesie fiir Biirgertreue und Partikularis- 
mus. Aber ich will der falschen Romantik etwas nachgehen. Sie 



44 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

klebt uns an auf Sdiritt und Tritt, und ist doch nichts, als das 
fettige Kleid, das ein besorgtes Philisterium uns umwarf, damit 
wir selber uns nicht recht erkennen sollten. 
Unsere Schule steckt voller falscher Romantik. Was man uns 
von Dramen gibt, oder von Geschichtshelden, von Siegen der 
Technik und der Wissenschaft, das ist unwahr. Wir erhalten es 
aufierhalb des geistigen Zusammenhangs.Diese Dinge, von denen 
man uns sagt, dafi sie uns bilden sollen, sind ewige Einzeltat- 
sachen und Kultur ein gliicklicher Zufall. Manche Schule mag 
nicht einmal weit genug sein, ihn einen glucklichen zu nennen. 
Denn wo erfahren wir je von der lebendigen Geschichte, die 
den Geist zum Siege fuhrt, in der der Geist seine Eroberungen 
erficht, die er selber bildet? Man lullt uns ein, macht uns ge- 
dankenlos und tatenlos, da man uns die Geschichte verschweigt. 
Das Werden der Wissenschaft, das Werden der Kunst, das Wer- 
den des Staates und des Rechtes. Damit wurde uns die Religion 
des Geistes, aller Glaube an ihn genommen. Das war die falsche 
Romantik, dafi wir in allem unendlich Einzelnen das Aufier- 
ordentliche sehen sollten, anstatt es im Werden des Menschen, 
in der Geschichte der Humanitat zu sehen. So macht man 
eine unpolitische Jugend, die ewig beschrankt ist auf Kunst, 
Literatur und Liebeserlebnisse, audi darin ungeistig und di- 
lettantisch. Die falsche Romantik, Kameraden, diese groteske 
Isoliertheit vom Werden, in die man uns setzte, hat viele von 
uns blasiert gemacht; solange mufiten sie an das Nichtige glau- 
ben, bis der Glaube selbst ihnen nichtig wurde. Die Ideallosig- 
keit unserer Jugend ist der letzte Rest ihrer Ehrlichkeit. 
So steht es urn die Bildung einer Jugend, Kameraden, die man in 
krampfhafter Bemuhung isoliert vom Wirklichen, die man umne- 
belt mit Objektivitats-Romantik, mit Ideal-Romantik, mit Un- 
sichtbarkeiten. Wir wollen nicht eher horen von Griechentum 
und Germanentum, von Moses und Christus, von Arminius und 
Napoleon, von Newton und Euler, bis man uns den Geist in ihnen 
zeigt, die fanatische tatige Wirklichkeit, in der diese Zeiten und 
Menschen lebten und in der sie ihre Gesinnung erfullten. 
So steht es um die Romantik der Schulbildung, die uns alles 
unwahr und unwirklich macht. 

Also, Kameraden, begannen wir uns stiirmisch uns selber zuzu- 
wenden. Wir wurden die viel gelasterte, individualistische und 



Romantik 45 

Obermenschen- Jugend. Das war wirklich kein Wunder, dafi wir 
dem Ersten jubelnd zufielen, der uns zu uns selber rief, zum 
Geist und zur Ehrlichkeit. Das war sicherlich Friedridi Nietzsches 
Mission unter der Schuljugend, dafi er ihr etwas uber das Mor- 
gen und Gestern und Heute von Schulaufgaben wies. Sie konnte 
es nicht mehr tragen. Und sie machte audi diese Idee zur Pose, 
wie man sie stets zu solchem Verf ahren gezwungen hatte. 
Jetzt rede ich vom Allertraurigsten. Wir, die wir mit Nietz- 
sche aristokratisch sein wollten, anders, wahr, schon, wir hatten 
ja keine Ordnung in der Wahrheit, keine Schule der Wahrheit. 
Noch weniger haben wir einen Platz der Schonheit. Wir haben 
gar keine Formen mehr, Du zueinander zu sagen, dafi es nicht 
schon gewohnlich klange. Wir sind so unsicher von der ewigen 
idealen Pose geworden, die die Schule uns aufzwingt, von ihrer 
murben Feierlichkeit, dafi wir zueinander gar nicht mehr edel 
und frei zugleich sein konnen. Sondern: Frei und unedel oder 
edel und unf rei. 

Wir brauchen eine schone und freie Gemeinschaft, damit das 
Allgemeine auszusprechen sei, ohne gemein zu werden. Diese 
Moglichkeit haben wir noch nicht und die wollen wir uns schaf- 
fen. Wir scheuen uns nicht, zu sagen, dafi wir noch trivial sein 
miissen, wenn wir von diesem JugendKchen reden. (Oder wir 
miissen eine weltfremde akademische oder eine asthetische Geste 
annehmen.) Noch sind wir so unkultiviert in unserm Gemein- 
schaftlichen, dafi Ehrlichkeit banal wirkt. 

Also sieht es so aus, wenn das Erotische, von dem wir alle fiih- 
len, wie sehr es der OfTenheit bedarf - wenn es sich einmal aus 
der verschwiegenen Dunkelheit hervorwagt: 
Dafi die Schuljugend sich in Kinos austobt (Oh, was niitzt es, 
die Kinos zu verbieten!), dafi Kabarettdarbietungen, gut genug, 
die iiberreizten Sexualgefuhle Fiinfzigjahriger zu beleben, jungen 
Studenten zugemutet werden! Im Erotischen, wo zum mindesten 
die reife Jugend zwischen 20 und 30 den Ton angeben sollte, 
lafit diese Jugend sich umgeben und ersticken von greisenhaften 
und perversen Gepflogenheiten. Langst ist man gewohnt, das 
empfindliche, wenn Ihr wollt priide, Sexualempfinden des 
jungen Menschen zu iibersehen. Die Grofistadt reitet taglich 
und nachtlich ihre Attacke gegen ihn. Aber man driickt lieber 
die Augen zu, als dafi man eine jugendliche Geselligkeit schaffte. 



46 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

Nachmittage, an denen junge Menschen zusammenkommen 
und in ihrer erotischen Atmosphare leben diirften, anstatt eine 
gedriickte und lacherliche Minderheit bei den Gastereien der 
Erwachsenen zu bilden. (Das Symposion wird auf der Schule 
nicht gelesen; aber wenn Egmont sagt, dafi er nachts sein Lieb- 
chen besuche - das wird gestrichen.) - 

Immerhin: eines ist trostlich, so verpont dergleichen zu sagen ist, 
so gestaltet es sich doch und entsteht, - verborgen jedoch, statt 
frei. 

Das ist die alte Romantik, genahrt nicht von uns, nicht von 
unseren Besten, sondern von denen, die uns zu einer tatenlosen 
Nachbetung des Bestehenden erziehen wollen. Und dagegen 
habe ich Euch, Kameraden, eine neue Romantik, ganz unbe- 
stimmt, ganz fern, dennoch, wie ich hoffe, gewiesen, Eine Ro- 
mantik, die in ihrer Haltung bezeichnet sein soil durch Offenheit, 
die wir am schwersten im Erotischen uns gewinnen werden und 
die doch von da aus unser tagliches Sein und Gehaben durch- 
dringen soil. Eine Romantik der Wahrheit, die geistige Zusam- 
menhange, die Geschichte der Arbeit, erkennen soil; diese Er- 
kenntnis sich zum Erlebnis werden lafit, um hochst unromantisch 
und nuchtern danach zu handeln. 

Das ist die neue Jugend, die Niichterne und Romantische. Aber 
wir glauben nicht, dafi dieses Romantische entbehrt werden 
kann, dafi es zopfig, jemals uberwunden sein konne. Dies ist das 
Uniiberwindliche: der romantische Wille zur Schonheit, der 
romantische Wille zur Wahrheit, der romantische Wille zur Tat. 
Romantisch und jugendlich: denn dieser Wille, der dem reifen 
Manne Notwendigkeit und anerzogene Tatigkeit sein mag, in 
uns erlebt ihn eine Zeit freiwillig, erstmalig, unbedingt und 
stiirmisch. Er pragt immer die Geschichte sittlich und gibt ihr 
ihr Pathos, wenn er auch ihren Inhalt ihr nicht gibt. 
Und wenn Ihr Euch hier am Schlusse noch einmal umseht, dann 
gewahrt Ihr vielleicht, fast iiberrascht, wo eigentlich" Ihr stent: 
an einer Stelle, wo die Romantik zuriickgegangen ist zu den 
Wurzeln alles Guten, Wahren und Schonen, die unbegriindbar 
sind. Wo der narkotische Imperativ »Wein, Weib, Gesang« nicht 
mehr sinnliche Phrase sein soil: wo Wein Abstinenz bedeuten 
kann, Weib eine neue Erotik, Gesang kein Bierlied, sondern ein 
neues Schiilerlied. 



Romantik - die Antwort des »Ungeweihten« 47 

Aber jetzt schliefie idi, denn ich erwarte die Beschuldigung, die 
ich nicht furchte: der Jugend ihre Ideale geraubt zu haben. 



Romantik - die Antwort des »Ungeweihten« 

Gegen eine Predigt zu argumentieren, ist mifilich. Demnach sei 
folgendes zur Scharfung des Friiheren gesagt: 
Wir wollen, dafi endlich der Weltschmerz gegenstandlich werde. 
Die Kunst soil kein Morphium gegen den Willen sein, der in 
einer schmerzlichen Gegenwart leidet. Dafiir steht uns die Kunst 
zu hoch (und Pubertat lafit sich nicht durch Lyrik schliditen). 
Der Oberlehrer zwar gesteht jene Romantik uns zu, der die 
Kunst ein Betaubungsmittel ist: mogen sie sich in eine harmlose 
und allgemeine Vergangenheit versenken (Schiller und Goethe, 
Holderlin und Lenau, Rembrandt, Bocklin und Beethoven); ein 
Strom von Gefuhlen soil sie entmannen. Aus dieser Schulro- 
mantik, die den Geist zum Genufimittel verknechtet, sind wir 
erwacht. Hyperion mag vielen aus der Seele sprechen - aber es 
sind schlafende Seelen. Helden und Dichter sind ihnen eine 
Schar von uberschonen Traumgestalten, an die sie sich klammern 
um nicht zu erwachen. 

Kein Schiller oder Holderlin hilft uns. Keine Jugend hilft uns, 
die iiber ihren Lieblingsdichtern sitzt und die Schule Schule sein 
lafit. Wenn sie sich endlich offenen Auges erkennt, wird sie sehen, 
wieviel Feigheit und endlose Mudigkeit in ihr war. Dann wird 
sie den Hohn empfinden, der sie romantisch nennt. In alien wird 
der Jugendgeist erwachen, sie werden nicht mehr als einzelne an 
der Schule vorbeileben. »Romantik« wird dann heifien der wir- 
kende Wille zu einer neuen Jugend und ihrer Schule. 
Eine geistige Wirklichkeit wird sich auftun. Nun erst glauben 
sie an Kunst und Geschichte; Dichter und Helden biirgen fiir 
die kiinftige Schule. Und diese Jugend, welche glaubig dient 
dem wirklichen Geiste, wird romantisch sein. 
Aber wir mifitrauen denen, die ihren Rausch von einem Geist 
empfangen, dem sie nicht dienen. Diese sind unglaubig. 



Der Moralunterricht 

Vielleicht ist man versucht, alle theoretischen Erorterungen iiber 
Moralunterricht von vornherein mit der Behauptung abzu- 
schneiden: moralische Beeinflussung ist eine durchaus personliche 
Angelegenheit, die sich jeder Schematisierung und Normierung 
entzieht. Mag dieser Satz richtig sein oder nicht; die Tatsache, 
dafi Moralunterricht als allgemein und notwendig gefordert 
wird, kummert sich jedenfalls nicht um ihn; und solange Moral- 
unterricht theoretisch gefordert wird, mufi die Forderung auch 
theoretisch gepriift werden. 

Im folgenden soil versucht werden, den Moralunterricht rein 
auf sich selbst zu stellen. Es soil nicht gefragt werden, inwieweit 
eine relative Besserung gegeniiber einem unzulanglichen Reli- 
gionsunterricht erreicht wird, sondern wie der Moralunterricht 
zu absoluten padagogischen Forderungen sich verhalt. 
Wir stellen uns auf den Boden der Kantischen Ethik (denn fiir 
diese Frage ist eine Verankerung im Philosophischen unent- 
behrlich). Kant unterscheidet Legalitat und Moralitat, ein 
Unterschied, der gelegentlich ausgedriickt wird: »Bei dem, was 
moralisch gut sein soil, ist es nicht genug, dafi es dem sittlichen 
Gesetze gemdfl sei, sondern es mufi auch um desselben willen 
geschehen.« Zugleich ist danut eine weitere Bestimmung des 
sittlichen Willens gegeben: er ist »motivfrei«, einzig bestimmt 
durch das Sittengesetz, die Norm: handle gut. 
Durch zwei paradoxe Satze Fichtes und des Konfuzius fallt ein 
helles Licht auf diese Gedankenreihe. 

Fichte leugnet die ethische Bedeutung des »Konflikts der Pflich- 
ten«. Augenscheinlich gibt er da nur eine Deutung unseres Ge- 
wissens; wenn wir in Erflillung einer Pflicht eine andere ver- 
nachlassigen miissen, so geraten wir wohl in eine - sozusagen - 
technische Bedrangnis, doch innerlich fiihlen wir uns nicht schul- 
dig. Denn das Sittengesetz verlangt nicht, dafi dies und jenes 
Materielle, sondern, dafi das Sittliche getan werde. Das Sitten- 
gesetz ist Norm des Handelns, aber nicht sein Inhalt. 
Nach Konfuzius birgt das Sittengesetz die doppelte Gefahr, dafi 
es dem Weisen zu hoch, dem Toren zu niedrig erscheine. Das be- 
sagt: der empirische Vollzug der Sittlichkeit ist niemals in der 
sittlichen Norm bezeichnet - und so ist es Uberschatzung, wenn 



Der Moralunterricht 49 

man in ihr schlechthin jedes empirische Gebot gegeben glaubt; 
gegen den Toren aber wendet sich Konfuzius, indem er meint, 
dafi jede noch so legale Tat sittlichen Wert nur erhalt, wenn sie 
sittlich gemeint war. - Damit kommen wir wieder zu Kant und 
seiner beriihmten Formulierung: »Es ist iiberall nidits in der 
Welt, ja uberhaupt auch aufler derselben zu denken moglich, was 
ohne Einschrankung fiir gut konnte gehalten werden, als allein 
ein guter Wille.« Dieser Satz, rich tig verstanden, enthalt die 
ganze Grundgesinnung der Kantischen Ethik, auf die allein es 
uns hier ankommt. »Wille« bedeutet in diesem Zusammenhang 
nichts Psychologisches. Der Psycholog konstruiert in seiner Wis- 
senschaft eine psychologische Tat, und bei deren Zustandekom- 
men bildet der Wille als Ursache hochstens einen Faktor. Dem 
Ethiker kommt es auf das Sittliche der Tat an, und sittlich ist 
sie nicht, sofern sie aus zahlreichen Griinden, sondern sofern sie 
aus der einen sittlichen Absicht hervorging; der Wille des Men- 
schen fafit seine Verpflichtung gegen das Sittengesetz auf; darin 
erschopft sich seine ethische Bedeutung. 

Wir stehen hier vor einer Oberlegung, die geeignet scheint, den 
Ausgangspunkt aller Erwagungen iiber sittliche Erziehung zu 
bilden. Denn die Einsicht in die Antinomie der sittlichen Er- 
ziehung, die vielleicht nur ein Einzelfall einer allgemeinen Anti- 
nomie ist, liegt vor uns: 

Ziel der sittlichen Erziehung ist Bildung des sittlichen Willens. 
Und doch ist nichts unzuganglicher, als eben dieser sittlicher Wille, 
da er als soldier keine psychologische Grofie ist, die man mit 
Mitteln behandeln konnte. In keiner einzelnen empirischen 
Beeinflussung haben wir die Gewahr, wirklich den sittlichen 
Willen als solchen zu trefTen. Der Hebel fiir die Handhabung 
der sittlichen Erziehung fehlt. So unzuganglich das reine und 
doch allein giiltige Sittengesetz ist, so unnahbar ist dem Erzieher 
der reine Wille. 

Diese Tatsache in ihrem ganzen Gewicht zu begreifen, ist Vor- 
aussetzung einer Theorie der sittlichen Erziehung. Sogleich mufi 
gefolgert werden: da der Vorgang der sittlichen Erziehung prin- 
zipiell jeder Rationalisierung und Schematisierung widerstreitet, 
so kann er nichts mit irgendeiner Art von Unterricht zu tun ha- 
ben. Denn im Unterricht besitzen wir das (prinzipiell) ratio- 
nalisierte Erziehungsmktel. - Wir begniigen uns hier mit dieser 



50 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

Deduktion, um unten diesen Satz in der Betrachtung des ge- 
gebenen Moralunterrichts lebendig zu machen. 
1st nun etwa der Bankerott der sittlichen Erziehung die Folge 
dieser Oberlegungen? Das ware nur dann der Fall, wenn Irra- 
tionalismus den Bankerott der Erziehung bedeutete. Irrationa- 
lismus bedeutet lediglich den Bankerott einer exakten Erzie- 
hungswissenscbaft. Und der Verzicht auf eine wissenschaftlich 
geschlossene Theorie der moralischen Erziehung scheint uns 
wirklich die Folge des Gesagten. Immerhin soil im folgenden 
versucht werden, die Moglichkek einer sittlichen Erziehung als 
eines Ganzen, wenn audi nicht in systematischer Geschlossenheit 
im einzelnen, zu entwerfen. 

Hier scheint das Prinzip der Freien Schulgemeinde, der sitt- 
lichen Gemeinschaft grundlegend. Die Form, in der in ihr die 
sittliche Erziehung vor sich geht, ist Religiositat. Denn diese 
Gemeinschaft erlebt immer aufs neue einen Prozefi in sich, der 
Religion erzeugt und religiose Betrachtung weckt, den Prozefi, 
den wir »Gestaltgewinnung des Sittlichen « nennen mochten. 
Wie wir schon sahen, steht das Sittengesetz jedem Empirisch- 
Sittlichen (als einem Empirischen) beziehungslos fern. Und doch 
erlebt die sittliche Gemeinschaft es immer wieder, wie die Norm 
sich umsetzt in eine empirische legale Ordnung. Bedingung eines 
solchen Lebens ist Freiheit, die dem Legalen seine Einstellung 
auf die Norm ermoglicht. Durch diese Norm aber wird der Be- 
griff der Gemeinschaft erst gewonnen. Das Ineinander von sitt- 
lichem Ernst im Bewufitsein gemeinschaftlicher Verpflichtung 
und von Bestatigung der Sittlichkeit in der Ordnung der Ge- 
meinschaft, scheint das Wesen der sittlichen Gemeinschaftsbil- 
dung zu sein. Aber es widerstrebt als ein religioser Prozefi jeder 
naheren Analyse. 

Damit stehen wir vor einer eigenartigen Umkehrung sehr ak- 
tueller Behauptungen. Wahrend sich heute allerorts die Stim- 
men mehren, die Sittlichkeit und Religion fur prinzipiell unab- 
hangig voneinander halten, scheint es uns, dafi erst in der Reli- 
gion, und nur in der Religion der reine Wille seinen Inhalt 
findet. Der Alltag einer sittlichen Gemeinschaft ist religios 
gepragt. 

Dies ist theoretisch und posidv iiber sittliche Erziehung zu sa- 
gen, bevor eine Kritik des bestehenden Moralunterrichtes gege- 



Der Moralunterricht 5 1 

ben werden kann. Und audi bei dieser Kritik werden wir uns 
stets die bezeichnete Gesinnung gegenwartig halten miissen. Rein 
dogmatisch gesagt liegt die tiefste Gefahr des Moralunterrichts 
in der Motivation und Legalisierung des reinen Willens, d. h. in 
. der Unterdriickung der Freiheit. Wenn der Moralunterricht 
wirklich die sittliche Bildung des Schiilers sich zum Ziel setzt, 
steht er vor einer unerfiillbaren Aufgabe. Wollte er bei dem 
Allgemeingultigen bleiben, so kame er nicht iiber das hier Ge- 
sagte oder gewisse Kantische Lehren hinaus. Naher lafit sich 
mit den Mitteln des Intellekts, d. h. allgemeingiiltig das Sitten- 
gesetz nicht erfassen. Denn wo es seine konkreten Inhalte erhalt, 
ist es bestimmt von der Religiositat des einzelnen. Und die hier- 
durch gesetzte Schranke zu iibertreten, in das noch ungestaltete 
Verhaltnis des einzelnen zur Sittlichkeit einzudringen, verwehrt 
Goethes Wort: »Das Hochste im Menschen ist gestaltlos und 
man soil sich hiiten, es anders als in edler Tat zu gestalten.« Wer 
erlaubt sich heute (aufierhalb der Kirche) noch die Mittlerrolle 
zwischen Mensch und Gott; oder wer mochte sie in die Erziehung 
einfuhren, da wir erwarten, dafi alle Sittlichkeit und Religiosi- 
tat aus dem Alleinsein mit Gott entspringe? 
Dafi der Moralunterricht kein System hat - dafi er sich eine 
unerfullbare Aufgabe gesetzt hat - es ist der zweifache Aus- 
druck der gleichen, verfehlbaren Grundlage. 
So bleibt ihm denn nichts weiter Ubrig, als anstatt der morali- 
schen eine seltsame Art von staatsbiirgerlicher Erziehung zu be- 
treiben, in der alles Notwendige noch einmal freiwillig und alles 
im Grunde Freiwillige notwendig sein soil. Man glaubt, die sitt- 
liche Motivierung durch rationalistische Beispiele ersetzen zu 
konnen, und sieht nicht, daft darin die Sittlichkeit schon wieder 
vorausgesetzt ist 1 . Etwa wenn man dem Kinde am Fruhstiicks- 
tisch die Nachstenliebe nahelegt, indem man ihm die Arbeit der 
Vielen schildert, denen es erst seinen Genufi verdankt. Es mag 
traurig sein, dafi das Kind derartige Einblicke ins Leben oft erst 
im Moralunterricht erhalt. Aber Eindruck ubt diese Ausfiihrung 

1 »Man konnte audi der Sittlichkeit nicht iibler raten, als wenn man sie von Bei- 
spielen entlehnen wollte. Denn jedes Beispiel, was mir davon vorgestellt wird, mufi 
selbst zuvor nach Prinzipien der Moralitat beurteilt werden, ob es auch wiirdig sei, 
zum ursprunglichen Beispiele, d. i. zum Muster zu dienen, keineswegs aber kann 
es den Begriff derselben zu oberst an die Hand geben.« (Kant) 



52 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

doch nur auf em Kind aus, das Sympathie und Nachstenliebe 
schon kennt. Nur in der Gemeinschaft, nicht im Moralunterricht 
wird es diese erfahren. 

Nebenbei sei bemerkt: die »spezifische Energie« des moralischen 
SinneSj moralisches Einfiihlungsvermogen wachst wohl nicht 
im Aufnehmen der Motivationen, des Stoffes, sondern nur in 
der Betatigung. Es besteht die Gefahr, dafi der Stoff bei weiterri 
die moralische Reizbarkeit iibersteige und sie abstumpfe. 
Eine gewisse Skrupellosigkeit der Mittel zeichnet den Moralun- 
terricht aus, da er ja iiber die eigentlich sittliche Motivierung 
nicht verfiigt. Nicht nur rationalistische Oberlegungen, mit Vor- 
liebe auch psychologische Erregungen miissen ihm dienen. Selten 
geht man wohl so weit, wie ein Redner auf dem Berliner Kon- 
grefi fiir Moralunterricht, der unter anderem riet, sogar an den 
Egoismus des Schulers zu appellieren (hier kann es sich nur noch 
um ein Mittel zur Legalitat, nicht mehr zur sittlichen Erziehung 
handeln). Aber auch die Berufung auf Heldenmut, jegliches 
Fordern und Loben des Auflerordentlichen, soweit es auf Ge- 
fuhlsexaltation hinauslauft, hat mit der Stetigkeit der morali- 
schen Gesinnung nichts zu tun. Kant wird nicht mude, solche 
Praktiken zu verurteilen. - Im Psychologischen liegt noch die 
besondere Gefahr einer sophistischen Selbstanalyse. In ihr 
erscheint alles notwendig, gewinnt genetisches Interesse, statt 
des moralischen. Wohin fiihrt es, wenn man etwa die Arten der 
Luge zerlegt und aufzahlt, wie ein Moralpadagog vorschlagt? 
Wie gesagt, wird das eigentlich Sittliche notwendigerweise urn- 
gangen. Dafiir noch ein bezeichnendes Beispiel, wie die vorheri- 
gen der »Jugendlehre« von Fderster entnommen. Ein Junge 
wird von seinen Kameraden geschlagen. Foerster argumentiert: 
Du schlagst zuruck, um deinem Selbstbehauptungstrieb zu ge- 
niigen; wer aber ist dein stetester Feind, gegen den Abwehr am 
notigsten ist? Deine Leidenschaft, dein Vergeltungstrieb. Also 
behauptest du dich im Grunde, indem du nicht zuruckschlagst, 
den inneren Trieb unterdriickst. Dies ein Beispiel fiir psycholo- 
gische Umdeutung. In einem ahnlichen Fall wird dem Knaben, 
den seine Kameraden schlagen, in Aussicht gestellt, er werde 
schliefilich doch siegen, wenn er sich nicht wehre, und die Klasse 
werde ihn in Ruhe lassen. Aber eine Berufung auf den Ausgang 
hat mit sittlicher Motivation nicht das geringste zu tun. Die 



Der Moralunterricht 53 

Grundstimmung des Sittlichen ist Abkehr, nicht Motivierung 
durch den eigenen, noch iiberhaupt einen Nutzen. 
Es wiirde den Raum iiberschreiten, in die minutiose und moralisch 
oft geradezu gefahrliche Praktik weitere Einblicke zu gewahren. 
Von den technischen Analogien zur Moral, von der moralisti- 
schen Behandlung der niichternsten Dinge wollen wir schwei- 
gen. Zum Schlufi folgende Szene aus einer Schreibstube. Der 
Lehrer fragt: »Welche schlimmen Dinge wird wohl derjenige 
tun, der sich nidit dazu zwingt, mit den Buchstaben ganz ge- 
nau die bezeichnete Linie einzuhalten, sondern stets dariiber 
hinausgleitet?« Die Klasse soil erne erstaunliche Fulle von Ant- 
worten geliefert haben. Ist das nicht schlimmste Kasuistik? 
Zwischen derartigen (graphologischen) Beschaftigungen und 
moralischem Gefiihl besteht keine Verbindung mehr. 
Diese Art des Moralunterrichtes ist librigens keineswegs, wie 
behauptet wird, unabhangig von den herrschenden Moralan- 
schauungen, eben von der Legalitat. Im Gegenteil: die Gefahr, 
die legale Konvention zu iiberschatzen, ist unmittelbar gegeben, 
da der Unterricht mit seiner rationalistischen und psychologi- 
schen Begriindung niemals die sittliche Gesinnung, sondern nur 
das Empirische, Vorgeschriebene treffen kann. Oft wird das 
selbstverstandliche Wohlverhalten auf dem Grunde soldier 
Uberlegungen dem Schuler auEerordentlich bedeutend erschei- 
nen. Der niichterne BegrifT der Pflicht droht verlorenzugehen. 
Will man aber trotz allem und wider bessere Oberlegung Moral- 
unterricht, so suche man die Gefahren auf. Gefahrlich sind 
heute nicht mehr die urchristlichen Gegensatze: »gut-bose« gleich 
»geistig-sinnlich«, sondern das »Sinnlich-Gute« und das»Geistig- 
B6se«, die beiden Formen des Snobismus. In diesem Sinne konn- 
te der »Dorian Gray« von Wilde einem Moralunterricht zu- 
grunde gelegt werden. 

Wenn so der Moralunterricht weit entfernt ist, einer absoluten 
padagogischen Forderung zu geniigen, so kann und wird er doch 
seine Bedeutung als Obergangsstadium haben. Nicht sowohl, 
indem er ein, wie wir sahen, hochst unvollkommenes Glied in der 
Entwicklung des Religionsunterrichtes darstellt, als dadurch, 
dafl er dem Mangel der jetzigen Bildung Ausdruck gibt. Der 
Moralunterricht bekampft das Peripherische, Oberzeugungslose 
unseres Wissens, die intellektuelle Isoliertheit der Schulbildung. 



54 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkntik 

Es wird sich darum handeln, desBildungsstoffes nicht von aufien, 
mit der Tendenz des Moralunterrichtes, Herr zu werden, son- 
dern die Geschichte des Bildungsmaterials, des objektiven Gei- 
stes selbst zu erfassen. In diesem Sinne mufi man hoffen, dafi 
der Moralunterricht den Obergang zu einem neuen Geschichts- 
unterricht darstelle, in dem dann audi die Gegenwart ihre kul- 
turhistorische Einordnung findet. 



»Erfahrung« 

Unseren Kampf um Verantwortlichkeit kampfen wir mit einem 
Maskierten. Die Maske des Erwachsenen heifit »Erfahrung«. 
Sie ist ausdruckslos, undurchdringlich, die immer gleiche. Alles 
hat dieser Erwachsene schon erlebt: Jugend, Ideale, Hoffnungen, 
das Weib. Es war alles Illusion. - Oft sind wir eingeschuchtert 
oder verbittert. Vielleicht hat er recht. Was sollen wir ihm er- 
widern? Wir erfuhren noch nichts. 

Aber wir wollen versuchen, die Maske zu heben. Was hat dieser 
Erwachsene erfahren? Was will er uns beweisen? Vor allem 
eins: audi er ist jung gewesen 3 auch er hat gewollt, was wir woll- 
ten, auch er hat seinen Eltern nicht geglaubt, aber auch ihn hat 
das Leben gelehrt, dafi sie recht hatten. Dazu lachelt er iiberle- 
gen: so wird es uns auch gehen - im voraus entwertet er die 
Jahre, die wir leben, macht sie zur Zeit der siiften Jugendeseleien, 
zum kindlichen Rausch vor der langen Nuchternheit des ernsten 
Lebens. So die Wohlwollenden, Aufgeklarten. Andere Padago- 
gen kennen wir, deren Bitterkeit gonnt uns nicht einmal die 
kurzen Jahre der »Jugend«; ernst und grausam wollen sie uns 
schon jetzt in die Fron des Lebens stellen. Beide aber entwerten, 
zerstoren unsere Jahre. Und immer mehr befallt uns das Ge- 
fiihl: deine Jugend ist eine kurze Nacht nur (erfiille sie mit 
Rausch!); dann kommt die grofie »Erfahrung«, Jahre der Kom- 
promisse, Ideenarmut und Schwunglosigkeit. So ist das Leben. 
Das sagen uns die Erwachsenen, das erfuhren sie. 
Ja! Das erfuhren sie, dieses Eine, niemals Anderes: die Sinn- 
losigkeit des Lebens. Die Brutalitat. Haben sie uns je schon zum 
Grofien ermutigt, zum Neuen, Zukunftigen? O nein, denn das 



»Erfahrung« 5 5 

kann man ja nicht erfahren. Aller Sinn, das Wahre, Gute, Schone 
ist in sich selbst gegriindet; was soil uns da die Erfahrung? - 
Und hier liegt das Geheimnis: weil er niemals zum Grofien und 
Sinnvollen emporblickt, darum wurde die Erfahrung zum Evan- 
gelium des Philisters. Sie wird ihm die Botschaft von der Ge- 
wohnlichkeit des Lebens. Aber er begriff nie, dafi es etwas An- 
deres gibt als Erfahrung, dafi es Werte gibt - unerfahrbare -, 
denen wir dienen. 

Warum also ist fur den Philister das Leben trost- und sinnlos? 
Weil er nur die Erfahrung kennt, nichts weiter. Weil er also 
selbst trostverlassen und geistlos ist. Und weil er zu nichts ein 
so innerliches Verhaltnis hat, als zum Gemeinen, zum Ewig- 
Gestrigen. 

Wir kennen aber Andres, was keine Erfahrung uns gibt oder 
nimmt: dafi es Wahrheit gibt, audi wenn alles bisher Gedachte 
Irrtum war. Oder: dafi Treue gehalten werden soil, audi wenn 
bisher niemand sie hielt. Solchen Willen kann uns Erfahrung 
nicht nehmen. Dennoch - in einem sollten die Altern Recht 
behalten mit ihren miiden Gesten und ihrer uberlegenen Hoff- 
nungslosigkeit? Was wir erfahren, das wird traurig sein und 
nur im Unerfahrbaren werden wir Mut und Sinn grunden kon- 
nen? Dann ware der Geist frei. Aber stets und stets wurde das 
Leben ihn niederziehen; denn das Leben, die Summe der Erfah- 
rungen, ware trostlos. 

Solche Fragen verstehen wir nun aber nicht mehr. Fuhren wir 
denn noch das Leben derer, die den Geist nicht kennen? Deren 
trages Ich vom Leben geworfen wird wie von Wellen an Klip- 
pen? Nein. Jede unserer Erfahrungen hat ja nun Inhalt. Wir 
selber aus unserm Geiste werden ihr Inhalt geben. - Der Ge- 
dankenlose beruhigt sich beim Irrtum. »Du wirst die Wahrheit 
nie finden«, ruft er dem Forscher zu, »ich hab's erlebt«. Fur 
den Forscher aber ist der Irrtum nur eine neue Hilfe zur Wahr- 
heit (Spinoza). Sinnlos und geistverlassen ist die Erfahrung nur 
fur den Geistlosen. Schmerzlich vielleicht kann sie dem Streben- 
den sein, aber kaum wird sie ihn verzweifeln lassen. 
Jedenfalls niemals wird er dumpfig resignieren und vom Rhyth- 
mus des Philisters sich einschlafern lassen. Denn der - das habt 
ihr bemerkt - bejubelt nur jede neue Sinnlosigkeit. Er behielt 
ja recht. Er vergewissert sich: es gibt wirklich keinen Geist. 



5 6 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkriuk 

Niemand aber verlangt strammere Unterwiirfigkeit, strengere 
»Ehrfurcht« vor dem »Geist« als er. Denn wiirde er Kritik 
uben - so miifite er ja mitschaffen. Das kann er nicht. Auch die 
Erfahrung des Geistes noch, die er widerwillig macht, wird ihm 

geistlos. 

Sagen Sie 
Ihm, dafi er fiir die Traume seiner Jugend 
Soil Achtung tragen, wenn er Mann sein wird. 

Nichts hafit der Philister mehr als die » Traume seiner Jugend«. 
(Und Sentimentalitat ist meist die Schutzfarbung dieses Hasses.) 
Denn was in diesen Traumen ihm erschien, war die Stimme des 
Geistes, die audi ihn einmal rief , wie jeden Menschen. Dessen ist 
die Jugend ihm die ewig mahnende Erinnerung. Darum be- 
kampfl er sie. Er erzahlt ihr von jener grauen, iibermachtigen 
Erfahrung und lehrt den Jiingling iiber sich selber lacheln. Zu- 
mal da »Erleben« ohne Geist bequem ist, wenn audi heillos. 
Nodimals: eine andere Erfahrung kennen wir. Sie kann geist- 
feindlich sein und viele Bliitentraume vernichten. Dennoch ist sie 
das Schonste, Unberiihrbarste, Unmitteilbarste, denn nie kann 
sie geistlos sein, wenn wir jung bleiben. Man erlebt immer nur 
sich selber, so sagt Zarathustra am Ende seiner Wanderung. Der 
Philister macht seine »Erfahrung«, es ist die ewig Eine der Geist- 
losigkeit. Der Jiingling wird den Geist erleben, und je weniger 
er Grofies miihelos erreichen wird, desto mehr wird er uberall 
auf seiner Wanderung und in alien Menschen den Geist finden. 
- Der Jiingling wird giitig sein als Mann. Der Philister ist into- 
lerant. 



Gedanken uber Gerhart Hauptmanns Festspiel 



/. Der »historische Sinn« 

Noch ist die Menschheit nicht zum standigen Bewufitsein ihres 
historischen Daseins erwacht. Nur zuzeiten befiel Einzelne und 
Volker die Erleuchtung, dafi sie im Dienste einer unbekannten 
Zukunft stiinden, und es ware wohl denkbar, solche Erleuch- 



Gedanken iiber Gerhart Hauptmanns Festspiel 57 

tung als historischen Sinn zu bezeichnen. Aber die Gegenwart 
versteht darunter etwas ganz Anderes, und denen, die am mach- 
tigsten vom Gefiihl einer zukiinftigen Aufgabe beseelt sind, 
wirft sie »Mangel an historischem Sinn« vor. Denn so nennt sie 
den Sinn fiir das Bedingte, nicht fur das Unbedingte, fiir das 
Gegebene, nicht fiir das Aufgegebene. So stark ist der »histori- 
sche Sinn« der Zeit, dieser Sinn fiir Fakten, Gebundenheit und 
Vorsicht, dafl sie vielleicht ganz besonders arm ist an eigentlich 
»historischen Ideen«. Diese nennt sie meist »Utopien« und lafit 
sie an den »ewigen Gesetzen« der Natur scheitern. Sie verwirft 
eine Aufgabe, die nicht in ein Reformprogramm gefafit werden 
kann, die eine neue Bewegung der Geister fordert und ein radi- 
kales Neu-Sehen. In einer solchen Zeit mufi die Jugend sich 
fremd fiihlen und audi machtlos. Denn ein Programm hat sie 
noch nicht. Da erstand Gerhart Hauptmann ihr als ein Befreier. 

//. Hauptmanns Festspiel 

Puppen agieren Deutschlands Befreiung. Sie sprechen in Knittel- 
versen. Die Buhne des Puppentheaters ist Europa; die Geschichte 
- nie gefalscht - ist oft zusammengestrichen. Der Krieg von 1806 
ist eine Kriegsfurie, Napoleons Untergang nur das Verblassen 
eines Bildes. Philistiades tritt auf und unterbricht die Geschichte. 
Was bedeutet das? Ist es eine »geistvolle Idee«? Nein, es ist 
tiefe, offenbarende Bedeutung. Nicht die Fakten machen 181 3 
grofi und audi nicht die Personen. Diese Puppen als Personen 
sind sicherlich nicht grofi, sondern primitiv. Ihre Sprache hat 
keine Weihe, nichts Jambisch-Ewiges. Sondern sie stofien ihre* 
Worte heraus oder suchen sie oder lassen sie fallen, wie die vor 
100 Jahren es taten. Also nicht Geschehnisse, nicht Personen, 
nicht Sprache tragen den Sinn in sich selbst. Aber die Fakten 
sind vom Geist geordnet, die Puppen aus dem Holze ihrer Idee 
geschnitzt, die Sprache voller Suchen nach der Idee. Nach wel- 
cher Idee? Fragen wir uns, ob wir nicht vor 100 Jahren zu jenen 
uberlegen lachelnden Biirgern gezahlt hatten, weil man uns nicht 
recht antworten konnte auf diese Frage. Denn der »neudeutsche 
Nationalstaat« war kein Programm, sondern er war nur der 
deutsche Gedanke. Dieser Gedanke, von keinem dieser Menschen 
ganz erfaftt, in keinem ihrer Worte klar gesprochen, gliihend 



5 8 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

gemeint in jeder ihrer Taten: er ist der Geist auch dieses Spiels. 
Vor ihm sind die Menschen Puppen (ohne private Charaktere 
und Mucken), Puppen in der Macht des Gedankens. Nach dieser 
Idee dehnen sich die Knittelverse: als sprachen die Menschen so 
lange, bis der Sinn aus ihrer Sprache erstunde. Unter diesen 
Tatigen aber war audi die Jugend, die sehr unklar war und 
sehr begeistert, wie ihre Fiihrer. 

Aber schon damals lebten die Uberschauenden und Reifen. Da 
sagt zu Blucher der »erste Burger «: 

Ist der Welteroberer einmal perdu, 

dann sing ich ganz gern Ihre Melodie. 

Und haben Sie ihn zur Strecke gebracht 

dann andert sich alles iiber Nacht, 

dann werde ich mich gewifi nicht strauben 

und etwa gar napoleonisch bleiben. 

Wie die Dinge jetzt liegen, werd' ich zuletzt 

immer wieder ins Recht gesetzt. 

Und mit der Jugend spricht man heute nicht anders wie damals: 

Grofimaulige, unreife Gymnasiasten. 
Nehmt eure Fibel und geht in die Klasse . . . 
Was, Fritz, Du hier? mein eigner Sohn? . . . 
Uberstiegenes Geschwatz! puerile Narrheiten. 

Einer antwortet ihnen: 

O ihr Knechtseelen! wie ich euch hasse. 

Unbewegliche, fuhllose, trage Masse. 

Ein dicker, schlammiger Most, ohne Garung, 

ohne Feuer und ohne Klarung. 

Kein Funke verfangt, kein Strahl durchdringt euch, 

kein Geist, doch jeder Fufitritt bezwingt euch. 

Beide, Burger und Studenten, die heute so reden, - hatten sie 
vor ioo Jahren gelebt, sie hatten nicht anders gesprochen. Denn 
nicht Erkenntnisse, sondern Gesinnung bestimmen ihr geschicht- 
liches Tun, und Gesinnungen sind durch alle Zeiten die gleichen. 
An das Ende des Kampfes stellte Hauptmann das Fest, und erst 
dort erhalt Form und Sprache, was die drangende Seele des tag- 
lichen Geschehens war. Die deutsche Mutter wird griechische 



Gedanken iiber Gerhart Hauptmanns Festspiel 59 

Gestalt annehmen, denn das Fest bedeutet den Eintritt in das 
Reich der Kultur, zu dem der Kampf nur den Weg bahnte. 
Athene Deutschland: 

Und darum lafk uns Eros feiern! Darum gilt 
der fleischgewordnen Liebe dieses Fest, die sich 
auswirkt im Geist! Und aus dem Geiste wiederum 
in Wort und Ton, in Bildnerei aus Erz und Stein, 
in Mafi und Ordnung, kurz in Tat und Tatigkeit. 

Im Kampfe wird nichts erkampft als Freiheit. Sie ist die erste 
Notwendigkeit in der Welt der Gewalten. Im Feste darf der Tag 
und die besinnungslose Tatigkeit zum Bewufitsein des Geistes 
gelangen. Das Fest feiert den Frieden als den verborgenen Sinn 
des Kampfes. Der erkampfte Friede wird die Kultur bringen. 

///. Die Jugend und die Geschichte 

Schule und Haus schieben unsere ernstesten Gedanken als Phrase 
beiseite. Unsere Furcht vor dem Oberlehrer ist fast symbolisch; 
er mifiversteht uns bestandig, erfafit nur unsere Buchstaben, 
nicht unsern Geist. Wir sind furchtsam vor vielen Erwachsenen, 
denn sie nehmen peinlich genau, was wir sagen, aber nie ver- 
stehen sie, was wir meinen. Sie schulmeistern die Gedanken, die 
noch kaum in uns selber entstanden. 

Nun wissen wir, dafi Unklarheit kein Vorwurf ist, daft noch 
niemand, der Ernstes wollte, ein Programm fur die Neugieri- 
gen und die Skeptiker bereit hatte. Zwar mangelt uns der 
»historische Sinn«. Aber doch fiihlen wir uns blutsverwandt mit 
der Geschichte, nicht mit der vergangenen, sondern mit der kom- 
menden. Wir werden nie die Vergangenheit verstehen, ohne die 
Zukunft zu wollen. 

Die Schule macht uns indifferent, sie will uns sagen, Geschichte 
sei der Kampf zwischen dem Guten und Bosen. Und fruher 
oder spater setzt sich doch das Gute durch. Da hat es keine Eile 
mit dem Handeln. Die Gegenwart, sozusagen, ist nicht aktuell 
- die Zek ist unendlich. Uns aber will scheinen, als sei Geschich- 
te ein strengerer und grausamerer Kampf . Nicht um Werte, die 
schon feststehen - um Gutes und Boses. Sondern wir kampfen 
fur die Moglichkeit der Werte uberhaupt, die standig bedroht 



6o Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

ist, fiir die Kultur, die in ewiger Krisis lebt: denn mit jeder 
Gegenwart werden die alten Werte alter; was Schwungkraft 
war wird Tragheit, Geist wird Dummkeit. Und uberdem geht 
das eine, grofite historische Gut verloren: die Freiheit. Freiheit 
aber ist kein Programm, sondern nur erst der Wille dazu, eine 
Gesinnung. 

Die Geschichte ist der Kampf zwischen den Begeisterten und 
den Tragen, den Zukiinftigen und den Vergangenen, den Freien 
und Unfreien. Die Unfreien werden stets den Kanon ihrer Ge- 
setze uns vorweisen konnen. Wir aber werden das Gesetz, unter 
dem wir stehen, noch nicht nennen konnen. Dafi es Pflicht ist, 
fuhlen wir. In diesem Gefuhl wird die Jugend Mut haben zu 
dem, was die andern Phrase nennen. Sie wird handeln und 
mogen andere sie verworren nennen. Sie ist verworren wie der 
Geist der Geschichte. Er erstrahlt erst im Fest. 
Gerhart Hauptmann danken wir einen jugendlichen Sinn des 
Kampfes und Festes. 



ZlELE UND WEGE DER STUDENTISCH-PADAGOGISCHEN GRUPPEN 
AN REICHSDEUTSCHEN UnIVERSITATEN 

(mit besonderer Berucksichtigung DER 
»Freiburger Richtung«) 

Aus eigner Arbeit kenne ich nur die gleichgerichteten Gruppen 
von Berlin und Freiburg. Ich werde also iiber die Praxis der 
ubrigen Gruppen nicht sprechen, sondern ich werde nur die 
grundlegenden Unterschiede der sog. Freiburger Richtung von 
den ubrigen, wie sie mir sich darstellen, ausfiihren und schliefi- 
lich einiges zur Praxis der Freiburger sagen. 
Die padagogische Studentenbewegung wurzelt in allgemein-stu- 
dentischen Verhaltnissen. Wir sind gewohnt, alle zukunftsrei- 
chen, reformfreudigen Strebungen in der Studentenschaft dem 
Einflufi der sozialen Erkenntnis und dem sozialen Pflichtgefuhl 
zuzuschreiben. Den bedeutendsten Ausdruck hat die soziale stu- 
dentische Gesinnung in der Freien Studentenschaft gefunden. 
Aber auch die abstinenten Studentenvereine, die Arbeiterkurse, 
die Wanderbuhne und viele andere wurzein in sozialer Erkennt- 



Ziele und Wege der studentisch-padagogischen Gruppen 61 

nis und sozialem Gefuhl. Das ist wohl audi die Grundlage der 
meisten studentischen Vereinigungen fur Schulreform oder fur 
Padagogik. In der Studentensdiaft stieg durch eigne Erfahrung 
oder Studium die Einsicht auf, da6 die Schule einer Reformie- 
rung bediirfe; dafl ferner diese Reform eine der wichtigsten Zu- 
kunftsfragen sei. Und damit ist fur den Studenten die Pflicht 
gegeben, sich mit der padagogischen Frage zu befassen: als Vater 
einer neuen Generation, vielleicht sogar als ihr Lehrer. Solche 
Teilnahme an der padagogischen Frage der Gegenwart bedeutet 
kein Hereinpfuschen in eine Praxis, die nur dem Padagogen 
zuganglich ist, vielmehr zunachst theoretische und praktische 
Orientierung, die als solche und als studentische parteilos ist. 
Gerade diese Einstellung der Studentenschaft auf die padagogi- 
sche Frage ist schon ausfuhrlich begriindet worden, vor allem auf 
der Breslauer Rede von Prof. Stern im vorigen Jahre 1 . In die- 
ser Richtung strebt wohl die Mehrzahl studentisch-padagogi- 
scher Gruppen, bis auf Berlin, Freiburg und Jena. 
Die Begriindung dieser unsrer studentischen Gemeinschaften 
ruht auf andern Gedanken und andern Gefiihlen. Neben dem 
sozialen Gedanken namlich beginnt allmahlich in der vorstre- 
benden Studentenschaft ein Neues Platz zu greifen, zwar nicht 
im Gegensatz zur sozialen Bewegung, aber doch im deutlichen 
Gefuhl des Unzureichenden, das die Sozialbetatigung bisher 
hatte. Heute steht neben der Freistudenrenschaft die Freischar. 
Zwar sind beide der Zahl nach nicht zu vergleichen, dennoch ist 
die Freischar der vorlaufige Typus einer neuen studentischen Ge- 
sinnung. Wir haben erfahren, dafi der Freien Studentenschaft - 
und von ihr spreche ich hier als Typus - bei aller Modernitat 
des Strebens eines fehlte, so dafi ihre Entwicklung bisher unend- 
lich gehemmt wurde: die Urspriinglichkeit. Jenes Arbeiten in 
und fur eine namenlose Masse ist Pflicht, das wissen wir. Aber 
die allgemeinen sozialen Ziele als: Vertretung der Nicht-Inkor- 
porierten, Amter, Arbeiterkurse, sowie auch ihre gesamte Bil- 
dungsarbeit, unter die auch die padagogische Gruppe als Typus 
fallt - ihnen fehlt eine innere, notwendige Verbindung mit dem 
studentischen Geiste. Man hat diese Verbindung theoretisch zu 
konstruieren gesucht: aber dabei setzte Behrens ein Ideal der 
Universitas voraus, das zwar Aufgabe ist, aber nicht den Boden 

1 Saemann-Sdiriften, Heft 6. 



6z Fruhe Arbeken zur Bildungs- und Kulturkritik 

heutiger studentischer Gemeinschaften bilden kann. Der einzelne 
Freistudent - nochmals: idi beziehe mich hier audi auf Gruppen, 
die der Freistudentenschaft organisatorisch nicht angeschlossen 
sind - widerlegt diese theoretischen Konstruktionen immer wie- 
der. Es handelt sidi in freistudentischer Arbeit immer, sei es um 
soziale Bedurfnisse der Studentenschaft als abstractum, sei es 
um Bedurfnisse einer noch abstraktern Offentlichkeit. Die unge- 
heure soziale Betriebsamkeit ist nichts aus studentischem Geiste 
urspriinglich Gewachsenes. Sie ist eine Kopie des offentlichen 
Lebens, in dem der einzelne sein Bewufitsein so oft verloren hat 
und in der allgemeinen Rastlosigkeit sich betaubt. Trotz allem 
gibt es wohl eine innerlich gegriindete und zugleich hochst soziale 
Betatigung der Studentenschaft. Aber uns scheint, als ware dieser 
studentische Geist erst zu entwickeln. Noch fehlen die Zusam- 
menhange zwischen Person und Arbeit. Das erklart vielleicht 
jene merkwiirdige Verschiedenheit in der Schatzung studentisch- 
sozialer Arbeit und des einzelnen sozial tatigen Studenten. 
Als Vertreter einer neuen Auffassung studentischen Lebens 
nannte ich die Freischar. Ich will hier keine Analyse ihres Gei- 
stes geben - obwohl auch das unserm Thema nicht allzu fern 
lage - sondern nur das eine betonen: sie hat, bewufit oder un- 
bewufit, zum ersten Male in unsern Tagen die Jugend in das 
Zentrum modernen studentischen Gefuhls gestellt. Noch hat 
sie diesen Gedanken der Jugend im eigentlichen studentischen 
Leben nicht fruchtbar machen konnen. Sie hat sich in Emzel- 
biinde abgeschlossen. Aber trotz allem: in dem Gegensatze von 
Freischar und Freistudentenschaft gewahren wir im grofien Le- 
ben der Studentenschaft die gleichen Gegensatze vorgebildet, 
wie sie zwischen der Freiburger und den iibrigen Richtungen 
waken. 

Nicht Schule und Schulreform, sondern Jugend steht im Zentrum 
des Freiburger Gedankenkreises. Und zwar nicht sowohl ein 
Verhaltnis zur Jugend als Objekt, sondern das Bewufksein 
studentischer Jugend selbst im einzelnen Studenten. Wir machen 
nicht die Voraussetzung eines Interessenkreises und wir sprechen 
nicht von einer abstrakten, allgemeinen Pflicht. Vielmehr vom 
Zustande des Studenten. Er, der heute nicht in dem engern Ar- 
beitskreise der Freistudentenschaft seine Stelle findet, dem auch 
die Exklusivkat der Freischar verboten ist, um von andern Ge- 



Ziele und Wege der studentisch-padagogischen Gruppen 63 

meinschaften zu schweigen, gehort in einen neuen Kreis. Wir 
schliefien uns der Freistudentenschaft an, denn sie ist der Boden, 
auf dem Arbeit fiir die ganze Studentenschaft geleistet wird, 
und wir haben keinen Grund zu statutenmafiiger Abschliefiung. 
Die Freiburger Richtung schliefit sich zunachst nicht zu einem 
Zwecke, sondern auf demGrunde der Notwendigkeit zusammen: 
sie ist zu verstehen aus der Leere und Jugendlosigkeit der 
ubrigen studentischen Gemeinschaften. Wiewohl sie eng mit der 
Freischar, eng mit der Freistudentenschaft verbunden sein konn- 
te, vermifit sie in der einen den Sinn fiir das studentische Ganze, 
in der andern die Jugend. 

So bezeichnen wir den Anspruch der Freiburger Richtung im 
studentischen Leben, so bezeichnen wir ihren Ursprung. Schul- 
reform ist nicht ihr Ausgangspunkt, sie ist zunachst nicht als 
Beteiligung an der heutigen padagogischen Arbeit gemeint und 
zunachst nicht auf die padagogische, vielmehr auf die studenti- 
sche Frage gerichtet. Wir finden uns aber im Sachg'ebiet der Pad- 
agogik, dort finden wir den Gegenstand, an dem wir, zunachst 
fast symbolisch und innerlich, unsere studentisch-jugendliche Ge- 
sinnung entwickeln. 

Es ist hier der Ort, auf den wesentlichen Vorwurf einzugehen, 
den man wohl der Freiburger Richtung gemacht hat. Sie degra- 
diere eine studentische Bewegung zur Partei im offentlichen 
Kampfe. Ware das richtig, so wiirde es tatsachlich gerade das 
widerlegen, worauf es uns ankommt: die Autonomic des stu- 
dentischen Geistes ware vernichtet. Aber es gibt einen Stand- 
punkt jenseits der Neutralitat, der, von innen heraus verstanden, 
dennoch nicht Partei ist. Ja, in der Frage, die wir hier von der 
Studentenschaft aus behandeln, scheint Neutralitat uns am ehe- 
sten Partei. - Ich sagte schon, wir sind keine Instanz zur Lb- 
sung der padagogischen Frage. Aber wir sind der Oberzeugung, 
dafi Wichtiges noch nicht gesagt, ja, noch nicht gefragt worden 
ist, dafi da, wo unsere erste Jugend war, haufig ein Triimmer- 
feld unbekannter Gewalten liegt. Also kann audi Orientierung 
nicht unsere Meinung sein. Und also ist es von vornherein eine 
falsche Fragestellung: Partei oder Nicht-Partei? Wir halten nicht 
Umschau unter heutigen Schulreformern, wem es zu folgen 
gelte. Denn wir sind durchaus damit beschaftigt, die Dinge aus 
uns selbst heraus zu entwickeln. Und da kann es geschehen, dafi 



6 A Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

einer empfindet wie wir, dafi audi er zu Fragestellungen aus dem 
Geiste der Jugend kommt - ja, mag sein, dafi er sie anregte. 
Dennoch, Kommilitonen, sind wir nicht die iibereifrigen Partei- 
ganger Gustav Wynekens, sondern wir wissen uns mit ihm in 
einer Front streitend und wissen ihn einen Fiihrer, aber nicht 
Fiihrer zu einem Ziele, das er uns vermittelt, sondern dem Ziele, 
das uns unmittelbar gegeben ist. Darum trifft uns der Vorwurf 
der Parteilichkeit nicht. 

Vielleicht allzulange mufite ich mich mit Abgrenzungen aufhal- 
ten. Sie werden jetzt ungeduldig nach Konkretem fragen. Ich 
will versuchen, einige Andeutungen zu geben. Aber Sie werden 
sich selbst sagen: waren meine Worte hier allzu sicher, allzu 
genau, sie wiirden dem, was ich sagte, widersprechen. Denn das 
Jugendbewufksein ist etwas Werdendes in uns. Man kann nur 
von Symptomen und hochstens von Symbolen reden. Denn 
jedes Denken und viele Erlebnisse bringen uns hier standige 
Erwekrung des Bewufitseins, und vieles, was wir in Gesprachen 
schon erreichten, ist uns in der Gemeinschaft zu gestalten noch 
nicht gelungen. 

Fur die Praxis ist zweierlei grundlegend: die studentische Ge- 
meinschaft selbst und die Art, wie sie den padagogischen Gegen- 
stand als ihr nachstes Objekt aus sich entwickelt, als einen Spie- 
gel ihrer eignen Bediirfnisse und Strebungen. Niemals werden 
unsere Gruppen den Versuch machen, vom Gesamtleben der 
Studentenschaft sich abzuschliefien. Wollen sie doch gerade in 
ihr wirken, durch ihre Gegenwart, den Ton und die Gesinnung, 
die in ihnen entsteht und mehr noch entstehen wird, tragen sie 
zur Durchdringung der Studentenschaft mit jugendlichem Geiste 
bei. Nur personlich wird die Zusammensetzung unsrer Gruppen, 
je naher sie ihrem Ziele stehen, ein besondres Bild bieten. Zah- 
lenmaftige Erfolge, Propaganda, Interessengewinnung erstreben 
wir zunachst nicht. Nur wo Studenten und Studentinnen die 
innere Meinung unsrer Arbeit verstehen, werden sie uns will- 
kommen sein. So wird durch personliche Zusammensetzung 
und nur durch diese unsere Gruppe sich von der Masse der Stu- 
dentenschaft absondern, und sie hofft, zunachst und zuallererst 
durch ihr Dasein wirken zu konnen. 

Endlich einige Worte uber die Art unsrer Arbeit. Sie dient der 
Auspragung jugendlichen Geistes vor allem in der padagogischen 



Ziele und Wege der studentisch-padagogischen Gruppen 65 

Fragestellung. Sie ist an technischen Fragen als solchen nicht 
interessiert, ebensowenig an der reinen Orientierung im Be- 
stehenden. Unser Interesse liegt da, wo Jugend und Kulturwerte 
sich auseinandersetzen, in einer neuen philosophischen Pad- 
agogik. Kunsterziehung, Religions- und Moralunterricht, politi- 
sche Erziehung, Koedukation - das sind die Fragen, die wieder 
und wieder bei uns diskutiert werden. Zwar behandeln wir dies 
theoretisch, dennoch pragt sich eine praktische Gesinnung hier 
aus: sowenig bei uns der junge Student prinzipielle Schwierig- 
keit hat, die Fragen, die die Geistesbildung des Schulers ange- 
hen, zu verstehen, da audi er jung ist und denselben unbeding- 
ten Zug zu den Werten und Wertungen fiihlt - sowenig soil 
bei uns z. B. das Lehrerproblem seine Peinlichkeit behalten. 
Wir haben noch selten iiber die Stellung des Lehrers zum Schiller 
diskutiert, weil uns in diesen Fragen die Grundlagen klar sind: 
die Erziehung, wenn sie im Geiste der Jugend geschieht, kennt 
kein isoliertes personliches Machtproblem: Lehrer - Schiiler; 
sondern der Lehrer erhalt den Wert durch seinen Ernst und 
seine Jugendlichkeit. 

Die theoretische Diskussion in den Gruppen ist nur ein Teil uns- 
rer Arbeit. Mit dem andern Teile stehen wir im Jugendkampfe 
selbst. Zunachst vor allem im Kampfe der Schuljugend. Durch 
ihre Zeitschrfft »Der Anfang«, durch die Sprechsale, in denen 
Schiiler und einige Studenten zusammenkommen, stehen wir in 
engster Verbindung mit der Schuljugend: wir wissen, dafi ihr 
Kampf der unsere ist. Hier ist naturlich hervorzuheben, daft 
die Schulreform nur ein sehr begrenztes Gebiet jugendlicher Be- 
tatigung ist. Wir suchen in unsern Gruppen sozusagen imma- 
nent Hochschulreform von innen heraus zu treiben. Hier sollen 
wiederum die Schiiler mit uns verbunden sein: in Berlin beginnt 
man, Schiiler zu sozial-studentischen Veranstaltungen (Marchen- 
vorlesung, Gruppenabende der Abteilung fur Schulreform) 
heranzuziehen. 

Es ist im Rahmen dieses Vortrages nicht moglich gewesen, den 
BegrifT der Jugendkultur zu entwickeln. Das scheint, nachdem 
die Schriften Dr. Wynekens, nachdem der »Anfang« dies von so 
verschiedenen Seiten getan haben, auch nicht unbedingt mehr 
notig zu sein. Er bildete die Voraussetzung des Gesagten. Ich 
suchte zu zeigen: es gibt zwei Moglichkeiten studentisch-pad- 



66 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

agogischer Arbeit. Aus dem sozialen Gedanken fliefit die eine, 
und es ist ihr nicht gelungen, innerliche Verbindung mit der Idee 
des Studententums zu gewinnen, eine solche Verbindung wiirde 
heute Erneuerung studentischen Geistes bedeuten miissen. Die 
andere Moglichkeit beruht in der Kultur jugendlichen Geistes, 
die notwendig die Studentenschaft der Schiilerschaft verbindet: 
es entsteht eine neue studentische Gesinnung, die ihren nachsten 
Gegenstand im Verhaltnis des Studenten zur P'adagogik findet. 



Die Jugend schwieg 

Der »Tagliciien Kundsdiau« gewidmet 

Jetzt heifit es stramm bleiben. Wir wollen uns keinesfalls von 
der Tatsache des freideutschen Jugendtages uberwaltigen lassen. 
Wir erlebten zwar eine neue Wirklichkeit: 2 000 junge moderne 
Menschen kommen zusammen, und auf dem Hohen Meifiner sah 
der Sehende eine neue korperliche Jugend, eine neue Spannung 
der Gesichter. Das ist uns nidits als Biirgschaft fur den Jugend- 
geist. Wanderungen, Festgewander, Volkstanze sind nichts Letz- 
tes und - im Jahre 19 13 - noch nichts Geistiges. 
Wir einzelne werden dem Jugendtage nicht eher unsern begei- 
sterten Grufi zollen, bis der Gesamtgeist so mit dem Willen zur 
Jugend sich erfiillte, wie heute nur erst einzelne. Bis dahin wird 
im Namen der Jugend immer wieder die geistige Forderung an 
den Jugendtag gestellt werden. 

Folgendes geschah auf der Vertreterversammlung auf dem 
Hanstein. Ein Redner ertdete: ». . . zum Heile der Freiheit und 
des Deutschtums!« Eine Stimme: »Und der Jugend !« Hastig 
verbessert sich der Redner: »Und der Jugend !« 
Es geschah Schlimmeres. Bei der Verteilung der Sportpreise 
wurde der Name Isaacsohn genannt. Das Gelachter einer Min- 
derheit erscholl darauf. Solange noch einer dieser Lacher einen 
Platz unter der freideutschen Jugend hat, wird sie ohne Adel 
und Jugendlichkeit sein. 

Dieser Jugendtag bewies es: nur wenige verstehen den Sinn des 
Wortes »Jugend«. DafS von ihr allein neuer Geist, der Geist 



Die Jugend schwieg 6j 

ausstrahlt. Noch suchten sie nach greisenhaften, vernunfthal- 
tigen Vorwanden ihres Sich-Findens, nach Rassenhygiene oder 
Bodenreform oder Abstinenz. Darum durften Machtsuchtige es 
wagen, durch Parteijargon das Fest der Jugend zu verunreini- 
gen. Prof. Dr. Keil rief: »Die Waffen hoch!« Zwei Manner tra- 
ten zum Schutze der Jugend ein. Wyneken und Luserke. Sie 
stammen beide von der freien Schulgemeinde. Wyneken ver- 
sprach mit den Seinen sich wie eine Mauer vor eine Jugend zu 
stellen, auf die man eindringt, wie auf eine Wahlversammlung. 
Den Wickersdorfern, die in ihren weifien Miitzen eine geschlos- 
sene Schar auf dem Meifiner waren, vertrauen wir fiir diesen 
Kampf. 

Die Jugend schwieg. Wenn sie »Heil« rief, so war es lauter bei 
der Rede des Chauvinisten Keil als bei den Worten Wynekens. 
Mit Schmerz bemerkte man, wie sie von den onkelhaften Wor- 
ten des Avenarius sich gekitzelt fiihlte. Daft diese Jugend jovia- 
le Bonhomie ertrug, ist das Schlimmste. Dafi sie sich von jedem 
»Abgeklarten« den heiligen Ernst rauben lafit, mit dem sie 
zusammen kam. Dafi sie lachelnde Leutseligkeit entgegennimmt, 
anstatt Distanz zu fordern. Diese Jugend hat den Feind, den 
geborenen, den sie hassen muft, noch nicht gefunden. Aber wer 
von denen auf dem Hohen Meiftner hat ihn erlebt? Wo blieb 
der Protest gegen Familie und Schule, den wir erwartet hatten? 
Hier hat keine politische Phrase den Weg des jugendlichen Fuh- 
lens geglattet. Blieb er deshalb unbeschritten? Hier war noch 
alles zu leisten. Und hier ist das Jugendliche zu offenbaren, die 
Emporung: gegen das Elternhaus, das die Gemiiter verdumpft, 
gegen die Schule, die den Geist auspeitscht. Die Jugend schwieg. 
- Sie hat noch nicht die Intuition gehabt, vor der der grofie 
Alterskomplex zusammenbricht. Jene gewaltige Ideologie: Er- 
fahrung - Reife - Autoritat - Vernunft - der gute Wille der 
Erwachsenen - sie wurde am Jugendtage nicht gesehen und nicht 
gestiirzt. 

Die Tatsache des Jugendtages bleibt das einzig Positive. Sie 
geniigt, um uns geriistet das nachste Jahr wieder zusammen zu 
fiihren, und so alle Jahre, bis auf einem freideutschen Jugend- 
tage die Jugend spricht. 



68 

Studentische Autorenabende 

Was an Dumpfheit, Geistesferne, Unzulanglichkeit der studen- 
tischen Gesellschaft einwohnt - niemand zweifelt, dafi es an der 
Kunst sich verraten wird. Diesem Verrat will ich Worte geben. 
Sie griinden sich auf die unvergefiliche Katastrophe des Autoren- 
abends vor einem Jahr, im iibrigen auf meine Anschauung von 
Studententum und Kunst. 

Ich werde den Autorenabend der Studenten kontrastieren gegen 
eine »Vorlesung aus eigenen Werken«, wie sie in den Lokalen 
Grofi-Berlins vor sich gehen. Ein zahlendes Publikum ist er- 
schienen, Neugierige, Ratlose, auch Inhaber von Freikarten - die 
meisten im Drang nach Freude. Man fand sich durch Geldver- 
mittlung zusammen; wieviel an Geist aufgebracht wird, zum 
mindesten vom Publikum, ist nicht die Frage. Die Masse klatscht, 
der einzelne mag andachtig fiihlen. Vom Geiste des Autors hangt 
der Abend ab: ist er Dilettant und will interessieren oder gar 
amiisieren, so hat alles seine gute Ordnung und die Kunst wird 
nicht bermiht. Vielleicht ist er ein Dichter. So wird er iiber diese 
Masse vor ihm hinweglesen - er samt der Kunst werden ent- 
riickt sein. Die Verziickung des einzelnen folgt ihm. Die Masse 
hat mit Kunst und die Kunst hier mit der Masse nichts zu tun. 
Das Geld wirkt desinfmerend. Als einzelner betritt der Geist 
die Statten orfentlicher Kunstbarkeit - wer neben ihm sitzt, 
mufke zahlen. 

Das hygienische Verfahren, das sauber die Kunst herausprapa- 
rierte aus unseren Theatern, Vortragsabenden, Konzerten - es 
ist das Zeichen furchterlicher Armut. Doch das Wort gilt: arm 
aber reinlich. 

Eine solche Hygiene der Armut, das letzte und niederste Lob, 
das zu geben ist (denn hier darf die Kunst noch auf unbetretenen 
Wegen mit ihren Jungern fliehen), es ist dem studentischen Au- 
torenabend abzusprechen. Der akademischen Gemeinschaft ist 
Heidentum, selbstgeniigsame Kunstfremdheit nicht zu entschul- 
digen. Gedankenlosigkeit ist Siinde. Hier ist das Reich der 
gcistigen Armut verschlossen. Taglicher Umgang mit dem Gei- 
stigen nimmt jedes Recht, vor der Kunst nach Art zahlender 
Burger zu erscheinen. 
Das bedeutet: ein studentischer Autorenabend kann sich das 



Studentisdie Autorenabende 69 

Mafl seiner Geistigkeit nicht fakultativ bestimmen. Er stent von 
Anfang an unter emem Gesetz, unter dem, das die Kunst vor- 
schreibt: sich zu einer Gemeinde vor ihr zusammenzufinden. 
Nicht das Geld fiihrt zusammen. 

Wir haben diese unentrinnbare Einsicht ernst zu nehmen. Ein 
studentischer Autorenabend hat von den beiden Moglichkeiten 
nur eine. Er setzt die Gemeinschaft voraus, die der Studenten, 
und er darf darauf nicht verzichten. Also heifk ein Autorenabend 
der Studenten: ein Abend, in dem der Gemeinschaftsgeist der 
Studenten sich mit der Kunst auseinandersetzt. Damit verwan- 
delt sich das Verhaltnis von Autor und Publikum. Ganz anders 
als im offentlichen Vortragssaal, der keinen Gemeinschafts- 
namen tragt, wird das Publikum wichtig. Und auch der Autor 
steht keineswegs mehr gleichgiiltig, im Namen der Kunst, iiber 
dem Publikum, noch weniger in einem wahllosen Publikum 
mitten innen, ohne andere Fiihlung als die gegenseitige Platt- 
heit. 

Es verbindet ihn vielmehr die Kunst selbst mit dem Publikum. 
Dieser Wille zur Kunst macht den Autorenabend aus. Die pre- 
tiose Unbestimmtheit der Kunsturteile verschwindet. Das Pu- 
blikum erwartet nicht den erleuchteten Dichter - was hatte der 
noch mit Studentenschaft und Autorschaft zu tun? Das Publi- 
kum gebardet sich keineswegs, weder erlebnis- noch literaturlli- 
stern; sondern es ist in Erwartung seiner selbst, des Dilettanten, 
den es zur Kunst sich bekennen hort. Damit ist das Ziel der 
Kunsterziehung, das Ziel also auch einer literarischen Studenten- 
abteilung im weitesten bestimmt. Erziehung zum Dilettanten, 
Erziehung zum Publikum. Nun aber wird der Dilettant nicht 
veredelt durch die Kunst, denn hier tragt er das Zeichen des 
Nichtkonners, sondern durch das Streben. Es ist wohl moglich, 
den Ernst und die Unbedingtheit des SchafTens auch auEerhalb 
der grofien Kunstlerschaft zu bewahren, so sich fur die Erkennt- 
nis des Genius zu stahlen, und dazu ist der Dilettant berufen. Er 
erscheint mit dem Bekenntnis der Schulerschaft. Den leidigen 
Absolutismus, dieses primitive Vor-der-Kunst-stehen und in sie 
Hineintappen wird er ablegen. Er wird Nachahmer sein, das 
Handwerk in den primitiven Anfangen erlernen. Dann wird er 
sich zum Mitlaufer einer Kunstrichtung ausbilden, ernsthaft; 
einer, die sein Lebensgefiihl, sein Wollen gebundener enthalt als 



70 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

andere. Mit ihr wird er lernen und arbeiten, er wird sie beden- 
ken und propagieren. Der Dilettant wird sich ansiedeln in einem 
Bezirke, von da mag er als Gebildeter rezeptiv in andere Gebiete 
sich wenden. Er wird das Publikum also zur Einsicht in die ar- 
beitsame Biirgerlichkeit des Genius erziehen. In das Geniale des 
Genius konnen, brauchen sie nicht eingefuhrt zu werden. 
Diesen Sinn hat studentische Autorschaft. Diese Bestimmung 
studentisches Publikum. Es muft sich einig sein in der Ablehnung 
des popular Gefiihlten, in der Verwerfung aller klaglichen Un- 
mittelbarkeiten, die aus privater Ahnungslosigkeit stammen. 
Es muf? bereit sein zum Anblick des Neuen, Unerhorten und 
Revolutionaren, das in ihren eigenen Reihen die Produktiven 
ergreift. Und einig in der Ablehnung, fest entschlossen in der 
Verneinung problemloser Klassik und tadelfreier Reimereien. 
Der Literat ist es, zu dem zunachst die Schar der Dilettanten 
sich wird bekennen miissen. Er als Legionar, beschmutzt und 
staubig von einem hoheren Dienste, den er glaubt, ohne ihn zu 
begreifen, geht voran. Er hat zuerst seine Kinderstube vergessen. 
Die Kunstkonvention in ihrer Feigheit hat er erkannt. Er scheu- 
te sich nicht, seine eigene private und audi so harmlose Existenz 
harmvoll und ofTentlich zu machen im Streite. Besessen von 
alien Noten der Zeit und der Erkenntnis kunstlerischer Uner- 
bittlichkeiten, verschrieb er sich dem Dienste des Genius, dem er 
todliche Beriihrungen mit dem Publikum ersparte. 
Von der Ethik des Kiinstlers ist zu sagen, dafi sie in schwer 
ergriindlichen Wegen in sein Werk eingesenkt wurde. Sie er- 
scheint in seiner kiinstlerischen Grofie. Dem Kiinstler gibt sein 
Werk das Recht, zu sprechen. Nicht so dem Dilettanten. Seine 
Personlichkeit, sein Ernst, seine sittliche Reinheit muE biirgen 
fiir die kiinstlerischen Versuche, die er vorlegt. Denn sie sind 
nicht als Kunst zu nehmen, als OfTenbarung. Sie sind Zeugnisse 
des Menschhch-Kampfenden, der in aller Verfluchtheit hinweist 
zu denen, die Formen fanden, der diesen Formen sich beugt. Er 
verkorpert das Menschlich-Bedingte der Kunst, ihr Zeitgebore- 
nes, ihre immanente Tendenz. Er wird als Erzieher die anderen 
den Weg aus ihrem menschlichen Bedingtsein, ihrer sittlichen 
Richtung zur Kunst und zum neuen Genius hin lehren. Diesen 
Weg zu sehen, muE immer von neuem die Menscrilichkeit er- 
blickt werden, deren Bandigung und Losung zugleich die Formen 



Erotische Erziehung 71 

sind. Der Dilettant ist der eigentliche Erzleher zu diesem Sehen. 
Und nichts als die hochste und reinste Bildung dieses Dilettanten 
ist der Literat, von dem wir sprachen. 

Ich schliefie: ein studentischer Autorenabend mufi Menschen 
sprechen lassen, deren sittliche Personlichkeit zwingt. Erst dann 
wird das Publikum wissen, was eigentlich der studentische Au- 
tor, das studentische Publikum selbst bedeutet. Unmoglich aber 
scheint es, Gedichte soldier zu horen, deren kunstlerischer Ernst 
unbekannt, deren Gefiihl fiir Tragik problematisch, deren Er- 
kenntnis der Zeit verschwindend bleibt. Unmoglich, solche, die 
wir nur von tatiger Geschaftigkeit her kannten, unleugbare Ge- 
fiihle besprechen zu horen. Unmoglich auch, ungewisse Talente 
ihren Fahigkeiten fronen zu sehen. Moglich nur: den zu verneh- 
men, dessen sittlicher Mensch der Kunst sich unterwirft, um sie 
zu ahnen. Dessen Unfahigkeit geadelt wird durch die eigene Not, 
die ihn mit der ringenden Kunst seiner Zeit verbindet. Dessen 
Werk Zeugnis vom Kampfe des Menschen ablegt, in dem die 
Form noch nicht siegen konnte. - 

Alle Fiihrenden der Studentenschaft mogen einmal im Jahre ein 
einziges Werk ihrer Produktion vorlesen. Dann wird eine Aus- 
lese der Produktion, ich fiirchte - eine noch strengere Auslese der 
wahrhaft Fiihrenden moglich sein. Denn wie wahrhaftes Dilet- 
tantentum den sittlichen Menschen voraussetzt, so fordert die 
Kultur auch von eben diesen sittlichen Menschen als Pflicht den 
Dienst im Kunstkampfe der Zeit: das Dilettantentum. 



Erotische Erziehung 
Anlafilich des letzten studentischen Autorenabends in Berlin 

Wichtiger als die Binsenwahrheit vom Mangel einer erotischen 
Kultur ist die Tatsache der doppelten erotischen Unkultur: der 
familialen und der Prostitution. Vergeblich der Versuch, diese 
beiden Geistlosigkeiten sich durchdringen zu lassen in der 
Gloriole jugendlichen Philisteriums: dem Verhaltnis. Was wir 
horten, war im wesentlichen Verbal tnispoesie. Das heiftt: Moder- 
nitaten der Vokabelwahl in geibeligen Rhythmen, oder - inhalt- 
lich: panerotische Exzesse mit Familienriickhalt. Man beschwor 



ji Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

byzantinisch-romanische Namen, wie Theodora, und kandierte 
sie mit siifier Madel-Poesie. Ein andrer sang Orpheuslieder, um 
poetische Blindheit in Griechentum zu hiillen und ungestort auf 
Meer und Liebe anzuspielen. Jemand verlegte die aufreizende 
Albernheit einer Vergewaltigung in eine romische Arena. Die 
klassischen Kulissen sind das Wahrzeichen der familialen Ge- 
bundenheit, und es wurden erotisdie Poesien zutage gefordert, 
die man jedem - wenn nicht Vater, so doch Onkel - prasentie- 
ren diirfte. 

Dazwischen - es soil nicht verschwiegen werden - hatten sich 
Fossilien aus der rein familialen Epoche erhalten, und man er- 
fuhr mit riickhaltloserri Interesse, dafi es so etwas noch gibt. 
Namlich »Jugend, Skizze al fresco«, die die Erotik ins traute 
Heim verlegt, und der Sohn liebt das »Weib« des Vaters. 
Ein einziger Autor wies den Weg vorwarts: A. E. Giinther, mit 
zielbewufiten, scharf orientierten und gedankenreichen Skizzen. 
Ein andrer bewahrte anstandige Neutralitat: Erich Kraufi. 
Solange aber die Studenten ihre Poesie derart familiar durch- 
fiihlen, nicht wagen werden, die Erotik der Dime, die ihnen 
zunachst ist, geistig zu sehen (anstatt mit graziosen Liistchen zu 
spielen), solange werden sie in dumpfer Verhaltnispoesie stecken 
bleiben und keine einzige geschaute und geformte Zeile produ- 
zieren. 



Die religiose Stellung der neuen Jugend 

Die Bewegung der erwachenden Jugend weist die Richtung jenes 
unendlich fernen Punktes, in dem wir Religion wissen. Und Be- 
wegung uberhaupt ist uns schon die tiefste Gewahr ihrer rechten 
Richtung. Die Jugend, die in Deutschland erwacht, steht alien 
Religionen und Weltanschauungsbunden gleich fern. Sie nimmt 
auch keine religiose Stellung ein. Aber fur die Religion bedeutet 
sie etwas und in ganz neuem Sinne beginnt ihr die Religion be- 
deutungsvoll zu werden. Die Jugend steht im Zentrum, wo das 
Neue wird. Ihre Not ist am grofken und die Hilfe des Gottes 
am nachsten ihr. 
Nirgends so wie in der Jugend kann die Religion die Gemein- 



Die religiose Stellung der neuen Jugend 73 

schaft ergreifen und nirgends kann der Drang nach ihr konkreter 
sein, innerlicher, durchdringender. Denn der Bildungsweg der 
jungen Generation ist sinnlos ohne sie. Er bleibt leer und qual- 
voll ohne die Stelle, an der er sich gabelt zum entsdieidenden 
Entweder-Oder. Diese Stelle soil einer ganzen Generation ge- 
meinsam sein und dort stent der Tempel ihres Gottes. 
Das religiose Sehnen der Alten iiberkam diese spat und verein- 
zelt. Es war ein Entschlufi im Verborgenen, an der einzelnen 
Wegscheide, nicht an der einzigen. Die Entscheidung trug keine 
Gewahr in sich, sie ermangelte der religiosen Objektivitat. So 
blieb immer der einzelne der Religion gegeniiber. 
Und nun ist eine Jugend zur Stelle, die mit der Religion ver- 
wachsen ist, die ihr Korper ist, an dem sie ihre eigenen Note 
erleidet. Eine Generation will wieder am Scheidewege stehen, 
aber nirgends ist die Wegscheide, Jede Jugend mufke wahlen, 
aber die Gegenstande ihrer Wahl waren ihr bestimmt. Die neue 
Jugend steht vor dem Chaos, in dem die Gegenstande ihrer Wahl 
(die heiligen) verschwinden. Kein »rein« und » unrein «, »heilig« 
und »verworfen« leuchtet ihr voran, sondern nur Schulmeister- 
worte »erlaubt-verboten«. Dafi sie sich vereinsamt fuhlt und 
ratios, biirgt fiir ihren religiosen Ernst, biirgt dafiir, dafi Reli- 
gion ihr nicht mehr irgendeine Form von Geist bedeutet oder 
einen gangbaren Weg, die zu Tausenden sich kreuzen und die 
sie jeden Tag betreten konnte. Sondern nach nichts verlangt sie 
dringender als nach der Wahl, Moglichkeit der Wahl, der heili- 
gen Entscheidung uberhaupt. Die Wahl schafft sich ihre Gegen- 
stande - dies ist ihr religionsnachstes Wissen. 
Die Jugend, die sich zu sich selbst bekennt, bedeutet Religion, 
die noch nicht ist. Umgeben vom Chaos der Dinge und Men- 
schen, deren keine geheiligt, keine verworfen sind, ruft sie nach 
Wahl. Und wird nicht eher aus tiefstem Ernst wahlen konnen, 
bis die Gnade das Heilige und Unheilige neu geschaffen hat. Sie 
vertraut, daft Heiliges und Verdammtes sich in dem Augenblick 
offenbaren, da ihr gemeinsamer Wille zur Wahl sich auf das 
hochste gespannt hat. 

So lange aber lebt sie ein schwer verstandliches Leben, voller 
Hingabe und Mifitrauen, Verehrung und Skepsis, Selbstaufopfe- 
rung und Ichsucht. Dieses Leben ist ihre Tugend. Kein Ding, 
keinen Menschen darf sie verwerfen, denn in jedem (in der Lit- 



74 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

fafisaule und im Verbrecher) kann das Symbol oder der Heilige 
erstehen. Und doch - an niemanden darf sie sich ganz ver- 
schenken, niemals ihr Inneres im Helden, den sie verehrt, und 
im Madchen, das sie liebt, ganz wiederfinden. Denn die Bezie- 
hung des Helden und der Geliebten zum Letzten, Wesent- 
lichen: zum Heiligen sind dunkel und ungewifi. Ungewifi 
unser eigenes Ich, das wir in der Wahl noch nicht fanden. Viele 
Zuge mag diese Jugend mit den ersten Christen teilen, denen 
audi die Welt so uberfliefiend schien von Heiligem, das in jedem 
erstehen konnte, dafi es ihnen das Wort und die Tat benahm. 
Die Lehre vom Nicht-Handeln steht dieser Jugend nahe. Und 
doch zwingt ihre grenzenlose Skepsis (die nichts andres ist, als 
grenzenlos vertrauen) sie, den Kampf zu lieben. Audi im 
Kampfe kann Gott erstehen. Kampfen heifit nicht den Feind 
verdammen. Sondern ihre Kampfe sind Gottesurteile. Kampfe," 
in denen diese Jugend gleich berek ist, zu siegen wie zu unter- 
liegen. Weil es einzig wichtig ist, dafi aus diesen Kampfen das 
Heilige in seiner Gestalt sich offenbare. Dieses Kampfen halt sie 
audi fern von der Mystik, die dem einzelnen nur Erlosung vor- 
tauschen wiirde, solange die religiose Gemeinschaft noch nicht 
besteht. Die Jugend weifi, dafi kampfen nicht hassen heifit, dafi 
es ihre eigene Unvollkommenheit ist, wenn sie noch Wider- 
stande findet, noch nicht alles mit Jugend durchdringt. Im Kamp- 
fe, im Siegen wie Unterliegen, will sie, wahlend zwischen dem 
Heiligen und Ungeweihten, sich finden. Sie weifi, dafi sie in 
diesem Augenblick keinen Feind mehr kennen wird, ohne dar- 
um quietistisch zu sein. 

Den Heutigen aber wird es langsam innewerden, dafi elne solche 
Jugend kein Gegenstand von Kultusdebatten, Disziplinarmafi- 
regeln und Prefihetze ist. Gegen ihre Feinde ficht sie in einer 
Tarnkappe. Wer sie bekampft, kann sie nicht kennen. Aber diese 
Jugend wird ihre schliefilich ohnmachtigen Gegner noch durch die 
Geschichte adeln. 



75 
Das Leben der Studenten 

Es gibt eine Geschichtsauffassung, die im Vertrauen auf die 
Unendlichkeit der Zeit nur das Tempo der Menschen und Epo- 
chen unterscheidet, die schnell oder langsam auf der Bahn des 
Fortschrittes dahinrollen. Dem entspricht die Zuammmenhang- 
losigkeit, der Mangel an Prazision und Strenge der Forderung, 
die sie an die Gegenwart stellt. Die folgende Betrachtung geht 
dagegen auf einen bestimmten Zustand, in dem die Historie als 
in einem Brennpunkt gesammelt ruht, wie von jeher in den 
utopischen Bildern der Denker. Die Elemente des Endzustandes 
liegen nicht als gestaltlose Fortschrittstendenz zutage, sondern 
sind als gefahrdetste, verrufenste und verlachte Schopfungen 
und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet. Den imma- 
nenten Zustand der Vollkommenheh rein zum absoluten zu ge- 
stalten, ihn sichtbar und herrschend in der Gegenwart zu machen, 
ist die geschichtliche Aufgabe. Dieser Zustand ist aber nicht mit 
pragmatischer Schilderung von Einzelheiten (Institutionen, 
Sitten usw.) zu umschreiben, welcher er sich vielmehr entzieht, 
sondern er ist nur in seiner metaphysischen Struktur zu erfas- 
sen, wie das messianische Reich oder die franzosische Revolu- 
tionsidee. Die jetzige historische Bedeutung der Studenten und 
der Hochschule, die Form ihres Daseins in der Gegenwart, 
verlohnt also nur als Gleichnis, als Abbild eines hochsten, 
metaphysischen, Standes der Geschichte beschrieben zu werden. 
Nur so ist sie verstandlich und moglich. Solche Schilderung ist 
kein Aufruf oder Manifest, die eines wie das andere wirkungslos 
gebiieben sind, aber sie zeigt die Krisis auf, die im Wesen der 
Dinge liegend zur Entscheidung fiihrt, der die Feigen unterlie- 
gen und die Mutigen sich unterordnen. Der einzige Weg, von 
der historischen Stelle des Studententums und der Hochschule 
zu handeln, ist das System. Solange mancherlei Bedingungen 
hierzu versagt sind, bleibt nur das Kiinftige aus seiner verbilde- 
ten Form im Gegenwartigen erkennend zu befreien. Dem allein 
dient die Kritik. 

An das Leben der Studenten tritt die Frage nach seiner bewufi- 
ten Einheit heran. Sie steht am Anfang, denn es fordert nicht, im 
Studentenleben Probleme zu unterscheiden - Wissenschaft, Staat, 
Tugend -, wenn ihm der Mut fehlt, sich iiberhaupt zu unter- 



y6 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

werfen. Das Auszeichnende im Studentenleben ist in der Tat der 
Gegenwille, sich einem Prinzip zu unterwerfen, mit der Idee 
sich zu durchdringen. Der Name der Wissenschaft dient vorziig- 
lich, eine tiefeingesessene, verbiirgerte Indifferenz zu verbergen. 
Das studentische Leben an der Idee der Wissenschaft messen, 
bedeutet keineswegs Panlogismus, Intellektualismus - wie man 
zu furchten geneigt ist - sondern das ist rechtskraftige Kritik, 
da zuallermeist die Wissenschaft als der eherne Wall der Stu- 
denten gegen »fremde« Anspriiche aufgefiihrt wird. Also es 
handelt sich um innere Einheit, nicht urn Kritik von aufien. Hier 
ist die Antwort gegeben mit dem Hinweis, daf$ fiir die aller- 
meisten Studenten die Wissenschaft Berufsschule ist. Weil 
» Wissenschaft mit dem Leben nichts zu tun hat«, darum mufi sie 
ausschliefilich das Leben dessen gestalten, der ihr folgt. Zu den 
unschuldig-verlogensten Reservaten vor ihr gehort die Erwartung, 
sie miisse X und Y zum Berufe verhelfen. Der Beruf folgt so 
wenig aus der Wissenschaft, dafi sie ihn sogar ausschliefien kann. 
Denn die Wissenschaft duldet ihrem Wesen nach keine Losung 
von sich, sie verpflichtet den Forschenden, in gewisser Weise im- 
mer als Lehrer, niemals zu den staatlichen Berufsformen des 
Arztes, Juristen, Hochschullehrers. Es fiihrt zu nichts Gutem, 
wenn Institute, wo Titel, Berechtigungen, Lebens- und Berufs- 
moglichkeiten erworben werden diirfen, sich Statten der Wis- 
senschaft nennen. Der Einwand, wie der heutige Staat zu seinen 
Arzten, Juristen und Lehrern kommen soil, beweist hiergegen 
nichts. Er zeigt nur die umwalzende Grofie der Aufgabe: eine 
Gemeinschaft von Erkennenden zu griinden an Stelle der Kor- 
poration von Beamteten und Studierten. Er zeigt nur, bis zu 
welchem Grade die heutigen Wissenschaften in der Entwicklung 
ihres Berufsapparates (durch Wissen und Fertigkeiten) von 
ihrem einheitlichen Ursprung in der Idee des Wissens abgedrangt 
sind, der ihnen ein Geheimnis, wenn nicht eine Fiktion gewor- 
den ist. Wem der heutige Staat das Gegebene ist und alles in der 
Linie seiner Entwicklung beschlossen, der mufi das verwerfen; 
wenn er nur nicht Protektion und Unterstiitzung der »Wissen- 
schaft« vom Staate zu fordern wagt. Denn nicht die Oberein- 
kunft der Hochschule mit dem Staate, die sich mit ehrlicher 
Barbarei nicht schlecht verstiinde, zeugt von Verderbnis, son- 
dern die Gewahrleistung und Lehre von der Freiheit einer Wis- 



Das Leben der Studenten 77 

senschaft, von der docii mit brutaler Selbstverstandlichkeit 
erwartet wird, dafi sie ihre Jiingcr zu sozialer Individuality und 
Staatsdienst fiihre. Keine Duldung freiester Anschauungen und 
Lehren fordert, solange das Leben, das diese - nicht minder 
als die strengsten - mit sich fUhren, nicht gewahrt ist und diese 
ungeheure Kluft naiv durch die Verbindung der Hochschule 
mit dem Staate geleugnet wird. Es ist mifiverstandlich, im ein- 
zelnen Forderungen zu entwickeln, solange der einzelnen in der 
Erfullung doch der Geist ihrer Gesamtheit versagt bliebe, und 
nur dies soil als bemerkenswert und erstaunlich hervorgehoben 
werden: wie in der Institution des Kollegs als in einem ungeheu- 
ren Versteckspiel die Gesamtheiten der Lehrer und Schuler sich 
aneinander voriiberschieben und nie erblicken. Immer bleibt 
hier die Schiilerschaft als unbeamtet hinter der Lehrerschaft zu- 
riick, und der rechtliche Grundbau der Universitat, verkorpert 
im Kultusminister, den der Souveran, nicht die Universitat 
ernennt, ist eine halb verhlillte Korrespondenz der akademi- 
schen Behorde iiber die Haupter der Schuler (und in seltenen 
und glucklichen Fallen auch der Lehrer) mit den staatlichen 
Organen. 

Die unkritische und widerstandslose Ergebung in diesen Zu- 
stand ist ein wesentlicher Zug im Studentenleben. Zwar haben 
die sogenannten freistudentischen Organisationen und andere 
sozial gerichtete einen scheinbaren Losungsversuch unternom- 
men. Dieser geht zuletzt auf vollige Verbiirgerung der Institu- 
tion, und nirgends hat sich deutlicher als an dieser Stelle gezeigt, 
dafi die heutigen Studenten als Gemeinschaft nicht fahig sind, 
die Frage des wissenschaftlichen Lebens iiberhaupt zu stellen 
und seinen unlosbaren Protest gegen das Berufsleben der Zeit zu 
erfassen. Weil sie uberaus scharf die chaotische Vorstellung der 
Studenten von wissenschaftlichem Leben erklart, darum ist die 
Kritik der »freistudentischen« und der ihr nahestehenden Ideen 
notwendig und soil mit Worten aus einer Rede geschehen, die 
vom Verfasser vor Studenten gehalten v/urde, als er fiir die 
Erneuerung zu wirken gedachte. »Es besteht ein sehr einfaches 
und sicheres Kriterium, den geistigen Wert einer Gemeinschaft 
zu priifen. Die Frage: findet die Totalitat des Leistenden in ihr 
einen Ausdruck, ist der ganze Mensch ihr verpflichtet, ist der 
ganze Mensch ihr unentbehrlich? Oder ist jedem in gleichem 



78 Fruhe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

Mafie die Gemeinschaft entbehrlich als er ihr? Es ist so einfadi, 
diese Frage zu stellen, so einfach, sie fur die jetzigen Typen 
sozialer Gemeinschaft zu beantworten, und diese Antwort ist 
entscheidend. Jeder Leistende strebt nach Totalitat, und der 
Wert einer Leistung liegt eben in ihr, also darin, dafi das ganze 
und ungeteilte Wesen eines Menschen zum Ausdruck komme. 
Die sozial begriindete Leistung aber enthalt, wie wir sie heute 
vorfinden, nicht die Totalitat, sie ist etwas vollig Bruch- 
stiickhaftes und Abgeleitetes. Nicht selten ist die soziale Ge- 
meinschaft der Platz, wo heimlich und in gleicher Gesellschaft 
gekampft wird gegen hohere Wunsche, eigenere Ziele, defer ein- 
geborene Entwicklung aber verdeckt wird. Die soziale Leistung 
des Durchschnittsmenschen dient in den allermeisten Fallen zur 
Verdrangung der urspriinglichen und unabgeleiteten Strebun- 
gen des inneren Menschen. Hier ist von Akademikern die Rede, 
Menschen, die von Berufs wegen jedenfalls in irgendeiner 
inneren Verbindung mit geistigen Kampfen, mit Skeptizismus 
und Kritizismus des Studierenden stehen. Diese Menschen be- 
machtigen sich eines vollig f remden, dem ihrigen weltweit abge- 
legenen Milieus als ihres Arbeitsplatzes, sie schaffen sich dort an 
entlegener Stelle eine begrenzte Tatigkeit, und die ganze Totali- 
tat solchen Tuns ist, dafi es einer oft abstrakten Allg^meinheit 
zugute kommt. Keine innere und urspriingliche Verbindung be- 
steht zwischen dem geistigen Dasein eines Studierenden und 
seinem fiirsorglichen Interesse fur Arbeiterkinder, ja selbst fur 
Studierende. Keine Verbindung als ein mit seiner eigenen und 
eigensten Arbeit unverbundener Pflichtbegriff, der ein mecha- 
nisiertes Gegeniiber: >hie Stipendiat des Volkes - da soziale 
Leistung< setzt. Hier ist das Pflichtgefiihl errechnet, abgeleitet 
und umgebogen, nicht aus der Arbeit selbst geflossen. Und jener 
Pflicht wird geniigt: nicht im Leiden fiir erdachte Wahrheit, 
nicht im Ertragen aller Skrupel eines Forschenden, iiberhaupt 
nicht in irgendwie mit dem eigenen geistigen Leben verbundener 
Gesinnung. Sondern in einem krassen und zugleich hochst ober- 
flachlichen Gegensatz, vergleichbar dem: ideell-materiell / theo- 
retisch-praktisch. Jene soziale Arbeit, mit einem Wort, ist nicht 
die ethische Steigerung, sondern die angstliche Reaktion eines 
geistigen Lebens. Nicht dies aber ist der eigentlichste und tiefste 
Einwand, dafi die soziale Arbeit im wesentlichen unverbunden, 



Das Leben der Studenten 79 

abstrakt der eigentlich studentischen Arbeit gegemibersteht, 
darin ein hochster und verwerflichster Ausdruck des Relativis- 
mus, der jedes Geistige vom Physischen, jede Setzung von ihrem 
Gegenteil angstlich und sorgsam begleitet sehen will - unver- 
mogend synthetischen Lebens - nicht dies ist das Entscheidende, 
daft ihre ganze Totalkat in Wirklichkek leere allgemeine Niitz- 
lichkeit ist, sondern: dafi sie trotz alledem die Geste und Hal- 
tung der Liebe fordert, wo nur mechanische Pflicht, ja oft nur 
ein Abbiegen stattfindet, um den Konsequenzen geistigen kriti- 
schen Daseins, dem der Student verpflichtet ist, auszuweichen. 
Denn wirklich ist er zu dem Zwecke Student, dafi ihm das 
Problem des geistigen Lebens mehr am Herzen liegt als die 
Praxis der sozialen Fiirsorge. Endlich - und dies ist ein untriig- 
liches Zeichen: es ist aus jener studentisch sozialen Arbeit keine 
Erneuerung des BegrifTs und der Schatzung sozialer Arbeit 
iiberhaupt erwachsen. Noch immer ist der OrTentlichkeit soziale 
Arbeit jenes eigentiimliche Gemenge von Pflicht- und Gnaden- 
akt des einzelnen geblieben. Studenten haben ihre geistige Not- 
wendigkeit nicht auspragen und daher nie eine wahrhaft ernst 
gesinnte Gemeinschaft in ihr griinden konnen, vielmehr nur eine 
pflichteifrige und interessierte. Jener Tolstoische Geist, der die 
ungeheuere Kluft zwischen dem Burger- und Proletarierdasein 
aufrift, der Begriff, dafi den Armen dienen eine Menschheitsauf- 
gabe, nicht Sache des Studenten im Nebenamt sei, der hier, ge- 
rade bier alles oder nichts forderte, jener Geist, der in den Ideen 
der tiefsten Anarchisten und in christlichen Klostergemeinschaf- 
ten erwuchs, dieser wahrlich ernste Geist einer sozialen Arbeit, 
der aber der kindlichen Versuche der Einfuhlung in Arbeiter- 
und Volkspsyche nicht bedurfte, ist in studentischen Gemein- 
schaften nicht erwachsen. An der Abstraktheit und Beziehungs- 
losigkeit des Objektes scheiterte der Versuch, den Willen einer 
akademischen Gemeinschaft zu einer sozialen Arbeitsgemeinschaft 
zu organisieren. Die Totalkat des Wollenden fand keinen Aus- 
druck, weil sein Wille in dieser Gemeinschaft nicht auf die Tota- 
litat gerichtet sein konnte.« Die symptomatische Bedeutung der 
freistudentischen Versuche, der christlich-sozialen und vieler 
andern ist, dafi sie den Zwiespalt, den die Universitat mit dem 
Staatsganzen bildet, mikrokosmisch innerhalb der Universitat 
wiederholen, im Interesse ihrer Staats- und Lebenstuchtigkeit. 



80 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

Sie haben nahezu alien Ego- und Altruismen, jedweder Selbst- 
verstandlichkeit des grofien Lebens eine Freistatt in der Univer- 
sitat erobert; nur dem radikalen Zweifel, der grundlegenden 
Kritik und dem Notwendigsten: dem Leben, das dem volligen 
Neuaufbau sich widmet, ist sie versagt. Es steht in diesen Dingen 
nicht der Fortschrittswille der freien Studenten gegen die reak- 
tionare Macht der Korps. Wie es zu zeigen versucht wurde und 
wie es zudem aus derUniformitat undFriedfertigkeit des gesam- 
ten Zustandes der Universitat hervorgeht, sind die freistuden- 
tischen Organisationen selbst weit entfernt, einen durchdachten 
geistigen Willen auf den Plan zu fiihren. In keiner der Fra- 
gen, die in dem vorliegenden Versuch zur Sprache kommen, hat 
sich bisher ihre Stimme entscheidend bemerkbar gemacht. Aus 
Unentschiedenheit bleibt sie unvernehmlich. Ihre Opposition 
verlauft in den geebneten Bahnen der liberalen Politik, die Ent- 
wicklung ihrer sozialen Prinzipien ist auf dem Niveau der 
liberalen Presse stehengeblieben. Die eigentliche Frage der Uni- 
versitat hat das freie Studententum nicht durchdacht, insofern 
ist es bittres historisches Recht, daf? bei den offiziellen Gelegen- 
heiten die Korps, die einst das Problem der akademischen 
Gemeinschaft durchlebten und durchkampften, als unwlirdige 
Reprasentanten der studentischen Tradition erscheinen. In den 
letzten Fragen bringt derFreistudent gar keinen ernsteren Willen, 
keinen hoheren Mut auf als das Korps, und seine Wirksamkeit 
ist fast gefahrlicher als die des Korps, weil tauschender und irre- 
fiihrender: indem diese bourgeoise, disziplinlose und kleinliche 
Richtung den Ruf des Kampfers und Befreiers im Leben der 
Universitat beansprucht. Das heutige Studententum ist keines- 
wegs an den Stellen zu finden, wo urn den geistigen Aufstieg der 
Nation gerungen wird, keineswegs auf dem Felde seines neuen 
Kampfes um die Kurist, keineswegs an der Seite seiner Schrift- 
steller und Dichter, keineswegs an den Quellen religiosen Le- 
bens. Namlich das deutsche Studententum als solches - das 
existiert nicht. Und dies nicht etwa, weil es nicht jeweils die 
neuesten, »modernsten« Stromungen mitmacht, sondern indem 
es als Studentenschaft all diese Bewegungen in ihrer Tiefe liber- 
haupt ignoriert, indem diese Studentenschaft standig und standig 
im Schlepptau der offentlichen Meinung, in ihrem breitesten 
Fahrwasser dahinzieht, indem sie das von alien Parteien und 



Das Leben der Studenten 8 1 

Biinden umschmeichelte und verdorbene Kind ist, von jedem ge- 
lobt, weil jedem irgendwie gehorig, aber ganz und gar ohne 
den Adel, der bis vor hundert Jahren deutsches Studententum 
sichtbar machte und es an sichtbare Stellen als Verteidiger des 
besten Lebens treten liefi. 

Jene Verfalschung des Schopfergeistes in Berufsgeist, die wir 
iiberall am Werke sehen, hat die Hochschule ganz ergriffen und 
sie vom unbeamteten schopferischen Geistesleben isoliert. Die 
kastenhafte Verachtung des staatsfremden, oft staatsfeindlichen 
freien Gelehrten- und Kunstlertums ist hiervon ein schmerzhaft 
deutliches Symptom. Einer der beriihmtesten deutschen Hoch- 
schullehrer sprach vom Katheder iiber »die Caf£hausliteraten, 
nadi denen das Christen turn schon lange abgewirtscliaftet habe«. 
Ton und Richtigkeit dieser Worte halten sich die Waage. Deut- 
licher als gegen die Wissenschaft, die durch »Anwendbarkek« 
unmittelbar staatliche Tendenzen vortauscht, mufi eine so orga- 
nisierte Hochschule ganz und gar mit baren Handen den Musen 
gegenuberstehen. Sie mufi, indem sie auf den Beruf hinlenkt, 
notwendig das unmittelbare Schaffen als Form der Gemeinschaft 
verfehlen. Wirklich ist die feindselige Fremdheit, die Verstand- 
nislosigkeit der Schule gegen das Leben, welches die Kunst ver- 
langt, deutbar als Ablehnung des unmittelbaren, nicht aufs Amt 
bezognen SchafTens. Ganz von innen heraus erscheint dies in der 
Unmiindigkeit und Schulerhaftigkeit des Studenten. Vom asthe- 
tischen Gefiihl aus ist vielleicht das Auffallendste und Peinigend- 
ste an der Erscheinung der Hochschule: die mechanische Reak- 
tion, mit der die Horerschaft dem Vortragenden folgt. Dies Mafi 
von Rezeptivitat konnte nur durch eine wahrhaft akademische 
oder sophistische Kultur des Gesprachs aufgewogen werden. Da- 
von sind auch die Seminarien durchaus entfernt, die sich haupt- 
sachlich ebenso der Vortragsform bedienen, wobei es wenig ver- 
schlagt, ob Lehrer oder Schiiler sprechen. Die Organisation der 
Hochschule beruht nicht mehr auf der Produktivitat der Stu- 
denten, wie es im Geiste ihrer Griinder lag. Sie dachten den 
Studenten wesentlich als Lehrer und Schiiler zugleich; als Lehrer, 
weil Produktivitat ganzliche Unabhangigkeit bedeutet, Hinblick 
auf die Wissenschaft, nicht mehr auf den Lehrenden. Wo die 
beherrschende Idee des Studentenlebens Amt und Beruf ist, 
kann sie nicht Wissenschaft sein. Sie kann nicht mehr in der Wid- 



82 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

mung an eine Erkenntnis bestehen, von der zu furchten ist, dafl 
sie vom Wege der biirgerlichen Sicherheit abfiihrt. Sie kann so- 
wenig in derWidmung an die Wissenschaft bestehen, wie in Hin- 
gabe des Lebens an eine jiingere Generation. Und doch ist dieser 
Beruf: zu lehren - wenn audi unter ganz anderen Formen als 
den heutigen - mit jeder eigensten Erfassung der Wissenschaft 
geboten. Solche gefahrvolle Hingabe an Wisenschaft und Jugend 
mufi als Fahigkeit zu lieben schon im Studenten leben und die 
Wurzel seines Schaffens sein. Dagegen steht sein Leben im Ge- 
folge der Alten, er lernt dem Lehrer seine Wissenschaft ab, ohne 
ihm im Beruf zu folgen. Er verzichtet leichten Mutes auf die 
Gemeinschaft, die ihn mit den Schaffenden verbindet und die 
ihre allgemeine Form allein von der Philosophic her erhalten 
kann. An einem Teil soil er zugleich Schaffender, Philosoph 
und Lehrer sein und dies in seiner wesentlichen und bestimmen- 
den Natur. Von hier aus ergibt sich Form des Berufes und Le- 
bens. Die Gemeinschaft schopferischer Menschen erhebt jedes 
Studium zur Universalitat: unter der Form der Philosophic 
Solche Universalitat gewinnt man nicht, indem man dem Juri- 
sten literarische, dem Mediziner juristische Fragen vortragt (wie 
manche Gruppe von Studenten versucht), sondern indem die 
Gemeinschaft sorgt und von selbst es bewirkt, dafi vor aller 
Besonderung des Fachstudiums (die sich doch nur mit Hinsicht 
auf den Beruf erhalten kann), iiber allem Betriebe der Fach- 
schulen, sie selbst, die Gemeinschaft der Universitat als solche, 
Erzeugerin und Hiiterin der philosophischen Gemeinschafts- 
form sei, wiederum nicht mit den Fragestellungen der begrenz- 
ten wissenschaftlichen Fachphilosophie, sondern mit den meta- 
physischen Fragen des Platon und d&s Spinoza, der Romantiker 
und Nietzsches. Dies namlich, nicht aber Fiihrungen durch Fiir- 
sorgeinstitute, wiirde tiefste Verbindung des Berufes mit dem 
Leben, allerdings einem tieferen Leben bedeuten. Wiirde die 
Erstarrung des Studiums zu einem Haufen von Wissen verhiiten. 
Es hatte diese Studentenschaft die Universitat, die den metho- 
dischen Bestand des Wissens samt den vorsichtigen kiihnen und 
doch exakten Versuchen neuer Methoden mitteilt, zu umgeben, 
gleichwie das undeutliche Wogen des Volkes den Palast eines 
Fursten, als die Statte der bestandigen geistigen Revolution, 
wo zuerst die neuen Fragestellungen weitausgreifender, unkla- 



Das Leben der Studenten 83 

rer, unexakter, aber manchmal yielleicht audi aus tieferer Ah- 
nung, als die wissenschaftlichen Fragen, sich vorbereiten. Die 
Studentenschaft ware in ihrer schopferischen Funktion als der 
grofie Transformator zu betrachten, der die neuen Ideen, die 
fruher in der Kunst, friiher im sozialen Leben zu erwachen 
pflegen als in der Wissenschaft, iiberzuleken hatte in wissen- 
schaftliclie Fragen durch philosophische Einstellung. 
Die heimliche Herrschaft der Berufsidee 1st nicht die innerlichste 
jener Verfalschungen, deren Furchtbarkeit es ist, dafi sie alle 
das Zentrum schopferischen Lebens treffen. Eine banale Lebens- 
einstellung handelt Surrogate gegen den Geist ein. Es gelingt 
ihr, immer dichter die Gefahrlichkeit des geistigen Lebens zu 
verschleiern und den Rest der Sehenden als Phantasten zu ver- 
lachen. Tiefer verbildet die erotische Konvention das unbewufke 
Leben der Studenten. Mit der gleichen Selbstverstandlichkeit, 
mit der die Berufsideologie das intellektuelle Gewissen fesselt, 
lastet die Vorstellung der Heirat, die Idee der Familie als eine 
dunkle Konvention auf dem Eros. Er scheint verschwunden aus 
einer Epoche, die zwischen dem Dasein des Familiensohnes 
und Familienvaters sich leer und unbestimmt erstreckt. Wo die 
Einheit im Dasein des Schaff enden und des Zeugenden liegt und 
ob diese Einheit in der Form der Familie gegeben ist, diese 
Frage durfte nicht gestellt werden, solange es die heimliche Er- 
wartung der Heirat gait, eine illegitime Zwischenzeit, in der 
man hochstens Widerstandsfahigkeit gegen Versuchungen treff- 
lich bewahren konne. Der Eros der Schaffenden - wenn iiber- 
haupt eine Gemeinschaft ihn zu erblicken und um ihn zu rin- 
gen vermochte, so ware es die studentische. Aber noch dort, wo 
alle aufieren Bedingungen der Burgerlichkeit fehlten, wo biir- 
gerliche Zustande, das heifit Familien, zu griinden aussichts- 
los war, wo in vielen Stadten Europas eine tausendkopfige 
Menge von Frauen ihre okonomische Existenz nur auf die Stu- 
dierenden grlindet - die Prostituierten -, noch da hat der 
Student sich nach dem Eros, der ihm ursphinglich eignet, nicht 
gefragt. Ihm mufke es fraglich werden, ob Zeugung und Schop- 
fung in ihm getrennt bleiben sollten, ob die eine der Familie, die 
andere dem Amte zukomme und, in ihrer Trennung beide ver- 
bildet, keines aus seinem eigentumlichen Dasein entspringen 
sollte. Denn so hohnvoll und schmerzhaft es ist, eine solche Fra- 



84 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

ge an das Leben heutiger Studenten heranzufiihren, so muE es 
geschehen, weil in ihnen - dem Wesen nach - diese beiden Pole 
menschlichen Daseins zeitlich beieinander liegen. Es handelt sich 
um die Frage, die keine Gemeinschaft ungelost lassen kann und 
die doch seit den Griechen und friihen Christen kein Volk mehr 
in der Idee gemeistert hat; immer lastete sie auf den grofien 
Schaffenden: wie sie dem Bilde der Menschheit geniigen sollten 
und Gemeinschaft mit Frauen und Kindern ermoglichten, deren 
Produktivitat anders gerichtet ist. Die Griechen, wie wir wis- 
sen, iibten Gewalt, indem sie den zeugenden Eros dem schaffen- 
den nachstellten, so dafi endlich ihr Staat, aus dessen InbegrifT 
Frauen und Kinder verbannt waren, zerfiel. Die Christen 
gaben die mogliche Losung fiir die civitas dei: sie verwarfen die 
Einzelheit in beiden. Die Studentenschaft hat es in ihren fortge- 
schrittensten Teilen immer bei unendlich asthetisierenden Be- 
trachtungen iiber Kameradschaftlichkeit und Studiengenossinnen 
gelassen; man scheute sich nicht, eine »gesunde« erotische Neutra- 
lisierung der Schuler und Schiilerinnen zu erhoffen. In der Tat 
ist mit Hilfe der Dirnen die Neutralisierung des Eros in der 
Hochschule gelungen. Und wo sie ausblieb, ist jene so ganz halt- 
lose Harmlosigkeit, jene schwiile Heiterkeit ausgebrochen, und 
die burschikose Studentin wird als Nachfolgerin der hafilichen 
alten Lehrerin jubelnd begrufk. Hier drangt sich die allgemeine 
Bemerkung auf, wieviel mehr furchtsamen Instinkt die katho- 
lische Kirche fiir die Macht und Notwendigkeit des Eros hat, 
als das Burgertum. Es liegt an den Hochschulen eine ungeheure 
Aufgabe verschuttet, ungelost, verleugnet: grofier als die 
zahllosen, an denen die soziale Geschaftigkeit sich reibt. Es ist 
diese: aus dem geistigen Leben heraus zur Einheit zu bilden, was 
an geistiger Unabhangigkeit des Schaffenden (im Korpsstu- 
dententum) und als ungemeisterte Naturmacht (in der Prosti- 
tution) verzerrt und zerstuckelt als Torso des einen geistigen 
Eros uns traurig ansieht. Die notwendige Unabhangigkeit des 
Schaffenden und die notwendige Einbeziehung der Frau, welche 
nicht produktiv im Sinne des Mannes ist, in eine einzige Ge- 
meinschaft Schaffender - durch Liebe - diese Gestaltung mufi 
allerdings vom Studenten verlangt werden, weil sie Form 
seines Lebens ist. Hier aber herrscht so morderische Konven- 
tion, daft nodi nicht einmal das Studententum sein Bekenntnis 



Das Leben der Studenten 8 5 

der Schuld vor der Prostitution abgelegt hat; dafi man diese 
ungeheure blasphemische Verwiistung mit Keuschheitsempfeh- 
lungen einzudammen denkt, weil man wiederum nicht den Mut 
hat, dem eigenen schoneren Eros ins Auge zu blicken. Diese Ver- 
stiimmelung der Jugend trifft ihr Wesen zu tief, als dafi mit 
vielen Worten auf sie gewiesen werden konnte. Sie ist dem 
Bewufitsein der Denkenden zu uberliefern und der Entschlossen- 
heit der Mutigen. Der Polemik ist sie nicht erreichbar. 

Wie sieht eine Jugend sich selbst an, welches Bild tragt sie von 
sich im Innern, die solche Verfinsterung ihrer eignen Idee, solche 
Beugung ihrer Lebensinhalte zulafit? Dieses Bild ist im Korps- 
geist ausgepragt, und er ist noch immer der sichtbarste Trager 
des studentischen JugendbegrifTes, dem die andern, voran frei- 
studentische Organisationen, ihre sozialen Schlagworte entgegen- 
schleudern. Das deutsche Studententum ist, bald mehr bald 
minder, von der Idee besessen, es miisse seine Jugend geniefien. 
Jene ganz irrationale Wartezeit auf Amt und Ehe mufite irgend- 
einen Inhalt aus sich herausgebaren, und das mufke ein spiele- 
rischer, pseudo-romantischer, zeitvertreibender sein. Es ist ein 
furchtbares Stigma auf aller geriihmten Heiterkeit der Kom- 
merslieder, auf der neuen Burschenherrlichkeit. Es ist Angst vor 
dem Kommenden und zugleich ein gemiitsruhiges Paktieren mit 
dem unvermeidlichen Philistertum, das man sich als »alten 
Herrn« sehr gerne vor Augen halt. Weil man dem Biirgertum 
die Seele verkauft hat, samt Beruf und Ehe, halt man streng auf 
jene paar Jahre biirgerlicher Ereiheiten. Dieser Tausch wird im 
Namen der Jugend eingegangen. Offen oder heimlich - auf der 
Kneipe oder in betaubenden Versammlungsreden wird der teuer 
erkaufte Rausch erzeugt, der ungestbrt bleiben soil. Es ist das 
Bewufksein verspielter Jugend und verkauften Alters, das nach 
Ruhe diirstet, und an ihm sind die Versuche der Beseelung des 
Studententums zuletzt gescheitert. Aber wie diese Lebensform 
jederGegebenheit spottet und von alien geistigen und natiir lichen 
Machten gestraft wird, von der Wissenschaft durch den Staat, 
vom Eros durch die Hure, also vernichtend von der Natur. Denn 
die Studenten sind nicht die jiingste Generation, sondern die 
Alternden. Es ist ein heroischer EntschlufS, das Alter zu erken- 
nen, fiir solche, die ihre Jiinglings jahre auf deutschen Schulen 



86 Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

verloren, und denen das Studium endlich das Leben des Jung- 
lings zu eroffnen schien, das sich von Jahr zu Jahr ihnen ver- 
sagte. Dennoch gilt es zu erkennen, dafi sie Schaffende, also Ein- 
same und Alternde sein miissen, daf? ein reicheres Geschlecht von 
Jiinglingen und Kindern schon lebt, dem sie sich nur als Lehren- 
de weihen konnen. Von alien Gefuhlen ist dies ihnen das frem- 
deste. Eben darum finden sie sich nicht in ihr Dasein und sind 
nicht bereit, von Anfang an mit den Kindern zu leben - denn 
das ist lehren -, weil sie nirgends in die Sphare der Einsamkeit 
hineinragen. Weil sie ihr Alter nicht erkennen, gehen sie miifiig. 
Nur die eingestandene Sehnsucht nach einer schonen Kindheit 
und wiirdigen Jugend ist die Bedingung des SchafTens. Ohne 
dies wird keine Erneuerung ihres Lebens moglich sein: ohne 
die Klage urn versaumte Grofie. Die Furcht vor Einsamkeit ist 
es, die ihre erotische Ungebundenheit verschuldet, Furcht vor 
Hingabe. Sie messen sich an den Vatern, nicht an den Nachge- 
borenen und retten den Schein ihrer Jugend. Ihre Freundschaft 
ist ohne Grofie und Einsamkeit. Jene expansive, auf das Unend- 
liche gerichtete Freundschaft der SchafTenden, die audi dann noch 
auf die Menschheit geht, wenn sie zu zweien oder ihre Sehnsucht 
allein bleibt, hat keine Stelle in der Jugend der Hochschulen. 
Ihre Statt hat die personlich zugleich beschrankte und ziigellose 
Verbriiderung, die sich gleich bleibt auf der Kneipe und bei der 
Vereinsgriindung im Cafe\ Diese Lebensinstitutionen alle sind 
ein Markt von Vorlaufigem, wie das Treiben in Kollegien und 
Cafes, Ausfiillungen leerer Wartezeit, Ablenkung vom Ruf der 
Stimme, ihr Leben aus dem einigen Geiste von Schaffen, Eros, 
Jugend aufzubauen. Es gilt eine keusche und verzichtende Ju- 
gend, die von der Ehrfurcht vor den Nachfolgenden erfiillt ist, 
von der Georges Verse zeugen: 

Erfinder rollenden gesangs und spriihend 
Gewandter zwiegesprache:.frist und trennung 
Erlaubt dass ich auf meine dachtnistaf el 
Den friihern gegner grabe - tu desgleichen! 
Denn auf des rausches und der regung leiter 
Sind beide wir im sinken- nie mehr werden 
Der knaben preis und jubel so mir schmeicheln* 
Nie wieder strofen so im ohr dir donnern. 



Das Leben der Studenten 87 

Aus Mutlosigkeit 1st das Leben der Studenten soldier Erkenntnis 
ferngeriickt. Es folgt aber jede Lebensform und ihr Rhythmus 
aus den Geboten, die das Leben Schaffender bestimmen. Solange 
sie sich dem entziehen, wird ihr Dasein sie mit HafUichkeit stra- 
fen, und noch den Stumpfen wird Hoffnungslosigkeit ins Herz 
treffen. 

Noch geht es urn die aufierste gefahrdete Notwendigkeit, es be- 
darf der strengen Richtung. Jeder wird seine eignen Gebote fin- 
den, der die oberste Forderung an sein Leben herantragt. Er 
wird das Kiinftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwarti- 
gen erkennend befreien. 



Metaphysisch-geschichtsphilosophische 
Studien 



Metaphysik der Jugend 



Das Gesprach 

Wo bist du, Jugendllches! das immer mich 
ZurStunde wedkt des Morgens,wo bist du,Licht? 

Holderlin 



I 

Taglich nutzen wir ungemessene Krafte wie die Schlafenden. 
Was wir tun und denken ist erfullt vom Sein der Vater und 
Ahnen. Eine unbegriffene Symbolik verknechtet uns ohne Feier- 
lichkeit. - Manchmal erinnern wir uns erwachend eines Trau- 
mes. So erleuditen selten Hellsichten die Triimmerhaufen un- 
serer Kraft, an denen die Zeit voniberflog. Wir waren Geist 
gewohnt wie den Herzschlag, durch den wir Lasten heben und 
verdauen. 

Jedes Gespraches Inhalt ist Erkenntnis der Vergangenheit als 
unserer Jugend und Grauen vor den geistigen Massen der Triim- 
merfelder. Wir sahen nodi niemals die Statte des lautlosen 
Kampfes, der das Ich gegen die Vater setzte. Nun erblicken wir, 
was wir ohne Wissen zerschlugen und hoben. Das Gesprach 
klagt um versaumte Grofie. 

II 

Das Gesprach strebt zum Schweigen und der Horende ist eher 
der Schweigende. Sinn empfangt der Sprechende von ihm, der 
Schweigende ist die ungefafke Quelle des Sinns. Das Gesprach 
hebt Worte zu ihm als die Fassenden, die Kriige. Der Sprechen- 
de senkt die Erinnerung seiner Kraft in Worte und sucht Formen, 
in denen der Horende sich offenbart. Denn der Sprechende 
spricht um sich bekehren zu lassen. Er versteht den Horenden 
trotz seiner eigenen Worte: daft einer ihm gegentiber ist, dessen 
Zuge unausloschlich ernst und gut sind, wahrend der Sprechen- 
de die Sprache lastert. 
Aber mag er auch eine leere Vergangenheit orgiastisch beleben, 



92 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

der Horende versteht nicht Worte sondern das Schweigen des 
Gegenwartigen. Denn der Sprediende ist trotz der Seelenflucht 
und Wortleerheit gegenwartig, sein Gesicht ist dem Horenden 
often und die Bemuhungen der Lippen sind sichtbar. Der Horen- 
de halt die wahre Sprache in Bereitschaft, in ihn gehen die 
Worte ein und er zugleich sieht den Sprecher. 
Wer spricht geht in den Lauschenden ein. Das Schweigen gebiert 
sich also selber aus dem Gesprache. Jeder Grofie hat nur ein 
Gesprach, an dessen Rande wartet die schweigende Grofie. Im 
Schweigen wurde die Kraft neu: der Horende fiihrte das Ge- 
sprach zum Rande der Sprache und der Sprechende erschuf das 
Schweigen einer neuen Sprache, er, ihr erster Lauscher. 



Ill 

Schweigen ist die innere Grenze des Gespraches. Niemals ge- 
rat der Unproduktive an die Grenze, er halt seine Gesprache fur 
Monologe. Aus dem Gesprach tritt er in das Tagebuch oder in 
das Cafe\ 

In den gepolsterten Raumen schwieg es schon lange. Hier darf 
er larmen. Er tritt unter die Huren und die Kellner wie der Pre- 
diger unter die Andachtigen - er, der Konvertit seines letzten 
Gespraches. Nun ist er zweier Sprachen kundig, der Frage 
und Antwort. (Ein Fragender ist einer, der sein Leben lang 
an die Sprache nicht dachte, und nun will er es ihr recht 
machen. Ein Fragender ist leutselig gegen Gotter.) Der Unpro- 
duktive fragt - hinein in das Schweigen, unter die Tatigen, 
Denker und Frauen - nach der OfTenbarung. Er ist am Ende 
erhoben, er blieb ungebeugt. Seine Wortfulle flieht ihn, er 
lauscht verziickt seiner Stimme; er vernimmt weder Worte noch 
Schweigen. 

Aber er rettet sich in die Erotik. Sein Blick entjungfert. Sich 
selber will er sehen und horen und also will er des Sehen- 
den und Horenden machtig werden. Daher verspricht er sich 
selbst und seine Grofie, er fliichtet sprechend. Aber immer 
sinkt er vernichtet vor der Menschheit im andern nieder; im- 
mer bleibt er unverstandlich. Und suchend gleitet der Blick 
der Schweigenden durch ihn hin zu dem, der schweigend 
kommen wird. - 



Metaphysik der Jugend 93 

Grofte ist das ewige Schweigen nach dem Gesprach. Es heifit den 
Rhythmus eigener Worte im Leeren vernehmen. Das Genie hat 
seine Erinnerung vollig verflucht in der Gestaltung. Es ist ge- 
dachtnisarm und ratios. Seine Vergangenheit wurde schon 
Schicksal und ist nimmer zu gegenwartigen. Im Genie spricht 
Gott und lauscht dem Widerspruch der Sprache. 
Dem Schwatzer scheint das Genie die Ausfludit vor Grofie. 
Kunst ist das beste Mittel gegen Unsal. Das Gesprach des Genius 
ist aber Gebet. Im Sprechen fallen die Worte von ihm nieder wie 
Mantel. Die Worte des Genius machen nackt, und sind Hiillen, 
in die der Lauschende sich gekleidet fuhlt. Wer lauscht ist die 
Vergangenheit des grofien Sprechers, sein Gegenstand und seine 
tote Kraft. Der sprechende Genius ist stiller als der Lauschende, 
wie der Betende stiller ist als Gott. 



IV 

Immer bleibt der Sprechende von der Gegenwart besessen. Also 
ist er verflucht: nie das Vergangene zu sagen das er doch meint. 
Und was er sagt, hat schon lange die stumme Frage der Schwei- 
genden in sich befafit, und ihr Blick fragt ihn, wann er endet. Er 
soil sich der Horenden vertrauen, damit sie seine Lasterung bei 
der Hand nimmt und sie bis an den Abgrund fuhrt, in dem die 
Seele des Sprechenden liegt, seine Vergangenheit, das tote Feld, 
zu dem er hinirrt. Da wartet aber die Dime schon lange. Denn 
jede Frau hat die Vergangenheit und jedenfalls keine Gegen- 
wart. Darum behutet sie den Sinn vor dem Verstehen, sie 
wehrt dem Mifibrauch der Worte und lafit sich nicht mifibrau- 
chen. 

Den Schatz der Alltaglichkeit hiitet sie, aber auch die Allnacht- 
lichkeit, das hochste Gut. Darum ist die Dime die Horende. Sie 
rettet das Gesprach vor Kleinheit, auf sie hat GroEe keinen 
Anspruch, denn Grofie endet vor ihr. Jede Mannheit ist schon 
vor ihr vergangen, nun verfliefk der Wortstrom in ihre Nachte. 
Die ewig gewesene Gegenwart wird wieder werden. Des 
Schweigens anderes Gesprach ist Wollust. 



94 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

V 

das genie Ich komme zu dir, um bei dir auszuruhen. 

die dirne So setze dich. 

das genie Ich will mich zu dir setzen - eben habe ich dich be- 

riihrt, und mir ist, als hatte ich schon Jahre geruht. 
die dirne Du machst mich unruhig. Wenn ich neben dir lage, 

konnte ich nicht schlaf en. 
das genie Jede Nacht sind Menschen bei dir im Zimmer. Mir 

ist, als hatte ich sie alle empf angen und sie hatten mich freud- 

los angesehen und waren gegangen. 
die dirne Gib mir deine Hand - an deiner schlafenden Hand 

fuhle ich, dafi du all deine Gedichte jetzt vergafiest. 
das genie Ich denke nur an meine Mutter. Darf ich dir von ihr 

erzahlen? Sie hat mich geboren. Sie hat geboren wie du: hun- 

dert tote Gedichte. Sie hat ihre Kinder nicht gekannt, wie du. 

Ihre Kinder haben mk fremden Menschen gehurt. 
die dirne Wie die meinen. 
das genie Meine Mutter hat mich immer angesehen, mich ge- 

fragt, mir geschrieben. Ich habe an ihr alle Menschen verlernt. 

Alle wurden mir Mutter. Alle Frauen hatten mich geboren, 

kein Mann hatte mich gezeugt. 
die dirne So klagen alle, die bei mir schlafen. Wenn sie mit mir 

in ihr Leben blicken, scheint es ihnen wie dicke Asche bis zum 

Halse emporzustehen. Niemand hat sie gezeugt und zu mir 

kommen sie, um nicht zu zeugen. 
das genie Alle Frauen, zu denen ich komme, sind wie du. Sie 

haben mich tot geboren und wollen von mir Totes empfangen. 
die dirne Aber ich bin die Todesmutigste. (Sie gehen schla- 
fen.) 



VI 

Die Frau hiitet die Gesprache. Sie empfangt das Schweigen und 
die Dirne empfangt den Schopfer des Gewesenen. Aber nie- 
mand wacht iiber die Klage wenn Manner sprechen. Ihr Ge- 
sprach wird Verzweiflung, es erschallt im tauben Raum, und la- 
sternd greift es in die Grofte. Zwei Manner sind bei einander 
immer Aufriihrer, am Ende greifen sie zu Feuer und Beil. Sie 



Metaphysik der Jugend 95 

vernichten die Frau durch die Zote, das Paradoxon notziichtigt 
die Grofie. Die Worte gleicher Geschlechter vereinigen sich und 
peitsdien sich auf durch ihre heimliche Zuneigung, ein seelenloser 
Doppelsinn steht auf, schlecht verhullt durch die grausame Dia- 
lektik. Lachend steht die OfFenbarung vor ihnen und zwingt sie 
zum Schweigen. Die Zote siegt, die Welt war aus Worten ge- 
zimmert. 

Nun miissen sie aufstehen und ihre Biicher erschlagen und sich 
ein Weib rauben, sonst werden sie heimlich ihre Seelen erwiir- 
gen. 

VII 

Wie sprachen Sappho und ihre Freundinnen? Wie kam es, dafi 
Frauen sprachen? Denn die Sprache entseelt sie. Die Frauen 
empfangen keine Laute von ihr und keine Erlosung. Die Worte 
wehen iiber die Frauen hin, die beieinander sind, aber dasWehen 
ist plump und tonlos, sie werden geschwatzig. Ihr Schweigen 
thront aber iiber ihrem Reden. Die Sprache tragt die Seele der 
Frauen nicht, denn sie vertrauten ihr nichts; ihr Vergangnes ist 
nie beschlossen. Die Worte fingern an ihnen herum, und irgend 
eine Fertigkeit antwortet ihnen geschwind. Aber nur im Spre- 
chenden erscheint ihnen die Sprache, der gequalt die Leiber der 
Worte prefk, in die er das Schweigen der Geliebten abbildete. 
Worte sind stumm. Die Sprache der Frauen blieb ungeschafTen. 
Sprechende Frauen sind von einer wahnwitzigen Sprache be- 
sessen. 

VIII 

Wie sprachen Sappho und ihre Freundinnen? - Die Sprache 1st 
verschleiert wie das Vergangene, zukiinftig wie das Schweigen. 
Der Sprechende fuhrt in ihr die Vergangenheit herauf, ver- 
schleiert von Sprache empfangt er sein Weiblich-Gewesenes im 
Gesprach. - Aber die Frauen schweigen. Wohin sie lauschen, 
sind die Worte ungesprochen. Sie nahern ihre Korper und Heb- 
kosen einander. Ihr Gesprach befreite sich vom Gegenstande und 
der Sprache. Dennoch hat es einen Bezirk erschritten. Denn erst 
unter ihnen und da sie bei einander sind, ist das Gesprach selbst 
vergangen und zur Ruhe gekommen. Nun erreichte es endlich 



$6 Metaphysisch-gesdiiditsphilosophisdie Studien 

sich selber: Grofie wurde es unter ihrem Blick, wie das Leben 
Grofie war vor dem vergeblichen Gesprache. Die schweigenden 
Frauen sind die Sprecher des Gesprochenen. Sie treten aus 
dem Kreise, sie allein sehen die Vollendung seiner Rundung. 
Sie alle bei einander klagen nicht, sie schauen bewundernd. Die 
Liebe ihrer Leiber ist ohne Zeugung, aber ihre Liebe ist schon 
anzusehen. Und sie wagen den Anblick an einander. Er macht 
eratmen, wahrend die Worte im Raum verhallen. Das Schwei- 
gen und die Wollust - ewig geschieden im Gesprach - sind eins 
geworden. Sdiweigen der Gesprache war zukiinftige Wollust, 
Wollust war vergangenes Schweigen. Unter den Frauen aber 
geschah der Anblick der Gesprache von der Grenze schweigen- 
der Wollust. Da erstand erleuchtend die Jugend der dunklen 
Gesprache. Es erstrahlte das Wesen. 



Das Tagebucb 

Nachbarlander mogen in Sehweke liegen 

Dafi man den Ruf der Hahne und Hunde 
gegenseitlg horen kann. 

Und doch sollten die Leute im Kodisten Al- 
ter sterben 

Ohne hin und her gereist zu sein. 

Lao-Tse 



Wir wollen auf die Quellen der unnennbaren Verzweiflung 
achten, die in alien Seelen fliefien. Die Seelen horchen angespannt 
nach der Melodie ihrer Jugend, deren man sie tausendfach ver- 
sichert. Aber je mehr sie in die ungewissen Jahrzehnte sich ver- 
senken und ihr Zukiinftigstes ihrer Jugend noch einbeziehen, 
desto verwaister atmen sie in der leeren Gegenwart. Eines Tages 
erwachen sie zur Verzweiflung: der Entstehungstag des Tage- 
buches. 

Es stellt mit hoffnungslosem Ernst die Frage, in welcher Zeit der 
Mensch lebt. Dafi er in keiner Zeit lebt haben die Denkenden 
immer gewufit. Die Unsterblichkeit der Gedanken und Taten 



Metaphysik der Jugend 97 

verbannt ihn in Zeitlosigkeit, in deren Mitte lauert der unbe- 
greifliche Tod. Zeitlebens umspannt ihn Leere der Zeit und den- 
noch Unsterblichkeit nicht. Gefressen von den mannigfaltigen 
Dingen entschwand die Zeit ihm, jenes Medium ward zerstort, 
in der die reine Melodie seiner Jugend schwellen sollte. Die er- 
fullte Stille in der seine spate Grofte reifen sollte wurde ihm 
entwendet. Ihm entwendete sie der Alltag, unterbrach mit Ge- 
schehnis, Zufall und Verpflichtung tausendfaltig jugendliche 
Zeit, unsterbliche, die er nicht ahnte. Drohender noch erhob 
hinter der Alltaglichkeit sich der Tod. Jetzt erscheint er noch im 
Kleinen und totet taglich, um weiter leben zu lassen. Bis eines 
Tages der grofie Tod aus Wolken fallt, wie eine Hand, die nicht 
mehr leben lafit. Von Tag zu Tag, Sekunde zu Sekunde selbst- 
erhalt sich das Ich, klammert sich an das Instrument: die Zeit, 
die es spielen sollte. 

Der also Verzweifelte entsann sich seiner Kindheit, damals war 
noch Zeit ohne Fluent und Ich ohne Sterben. Er sieht und sieht 
hinab in jene Stromung, aus der er aufgetaucht war, und er 
verliert langsam, endlich und erlosend sein Begreifen. In soldier 
Vergessenheit, unwissend was er meint und doch erloster Mei- 
nung entstand das Tagebuch. Dies unergriindliche Buch eines nie 
gelebten Lebens, Buch eines Lebens, in dessen Zeit alles, was 
wir unzulanglich erlebten, sich zum Vollendeten verwandelt. 
Das Tagebuch ist eine Befreiungstat, heimiich und schrankenlos 
in ihrem Siege. Kein Unfreier wird dieses Buch verstehen. Da 
das Ich verzehrt von Sehnsucht nach sich selbst, verzehrt vom 
Willen zur Jugend, verzehrt von Machtlust iiber die Jahrzehnte, 
die kommen werden, verzehrt von Sehnsucht, sich gesammelt 
durch die Tage hinzutragen, von Lust des Mufiigganges entziin- 
det zu dunklem Feuer - da es sich dennoch verflucht sah in die 
Zeit des Kalenders, der Uhren und Borsen und kein Strahl einer 
Zeit der Unsterblichkeit sich zu ihm senkte - da begann es sel- 
ber zu erstrahlen. Strahl, wufite es, bin ich selber. Nicht die 
triibe Innerlichkeit jenes Erlebenden, der mich Ich nennt und mit 
Vertrautheit martert, sondern Strahl des andern, das zu bedran- 
gen mich schien und das ich doch selbst bin: Strahl der Zeit. Zit- 
ternd steht ein Ich, das wir aus unsern Tagebuchern nur ken- 
nen, am Rande der Unsterblichkeit, in die es hinabstiirzt. Es ist 
ja Zeit. In ihm, dem Ich, dem Geschehnisse widerfahren, Men- 



98 Metaphysisch-gesdiichtsphilosophische Studien 

schen begegnen, Freunde, Feinde und Geliebte, in ihm verlauft 
die unsterbliche Zeit, die Zeit seiner Grofie selber lauft ab in ihm, 
ihre Erstrahlung ist er und nichts anderes. 

Dieser Glaubige schreibt sein Tagebuch. Und er schreibt es in 
Abstanden, und wird es nie beenden, denn er wird sterben. Was 
ist der Abstand im Tagebuche? Es handelt ja nicht in der Zeit 
der Entwicklung, die ist aufgehoben. Es handelt gar nicht in der 
Zeit, die ist versunken. Sondern es ist ein Buch von der Zeit: 
Tagebuch. Das sendet die Strahlen seiner Erkenntnis durch den 
Raum. Im Tagebuch verlauft die Kette der Erlebnisse nicht, 
dann ware es ohne Abstand. Sondern die Zeit ist aufgehoben 
und aufgehoben ein Ich, das in ihr handelt; ich bin ganz und gar 
in Zeit versetzt, sie strahlt mich aus. Diesem Ich, der Schopfung 
der Zeit, kann nichts mehr widerfahren. Ihm beugt sich alles 
andere, dem noch Zeit geschieht. Denn allem andern geschieht 
unser Ich als Zeit, alien Dingen widerfahrt das Ich im Tagebu- 
che, sie leben zum Ich dahin. Aber diesem, der Geburt der 
unsterblichen Zeit, geschieht Zeit nicht mehr. Das Zeitlose 
widerfahrt ihm, in ihm sind alle Dinge versammelt, ihm bei. 
Allmachtig lebt es im Abstand, im Abstand (dem Schweigen des 
Tagebuches) widerfahrt dem Ich seine eigene, die reine Zeit. Im 
Abstand ist es in sich selbst gesammelt, kein Ding drangt sich in 
sein unsterbliches Beieinander. Hier schopft es Kraft, den Dingen 
zu widerfahren, sie in sich zu reifien, sein Schicksal zu verkennen. 
Der Abstand ist sicher, und wo geschwiegen wird, kann nichts 
widerfahren. Keine Katastrophe findet in die Zeilen dieses Bu- 
ches Eingang. Also glauben wir nicht an Ableitungen und 
Quellen; nie erinnern wir uns dessen, was uns widerfahren. Die 
Zeit, die erstrahlte als Ich, das wir sind, widerfahrt alien Din- 
gen um uns als unser Schicksal. Jene Zeit, unser Wesen, ist das 
Unsterbliche, in dem andere sterben. Was diese totet, lafit uns 
im Tode (dem letzten Abstand) uns wesenhaft fuhlen. 

II 

Neigend erstrahlt in Zeit die Geliebte der Landschaft, 
Aber verdunkelt verharrt iiber der Mitte der Feind. 
Seine Fliigel schlafern. Der schwarze Erloser der Lande 
Haucht sein kristallenes: Nein und er beschliefit unsern Tod. 



Metaphysik der Jugend 99 

Zogernd tritt selten das Tagebuch heraus aus der Unsterblich- 
keit seines Abstandes und schreibt sich. Lautlos jubelt es auf und 
sieht iiber die Schicksale hin, die klar und zeitgewoben in ihm 
liegen. Durstend nach Bestimmtheit treten die Dinge auf ihn zu, 
erwartend Schicksal aus seiner Hand zu empfangen. Sie senden 
ihr Ohnmachtigstes der Hoheit entgegen, ihr Unbestimmtestes 
erfleht Bestimmung. Sie grenzen das menschliche Wesen ein 
durch ihr fragendes Dasein, vertiefen Zeit; und indem sie selber 
auf das Aufterste den Dingen geschieht, vibriert eine leise Unsi- 
cherheit in ihr, welche fragend der Frage der Dinge Antwort 
gibt. Im Wechsel soldier Vibrationen lebt das Ich. Dies ist der 
Inhalt unserer Tagebiicher: zu uns bekennt sich unser Schicksal, 
weil wir es auf uns schon langst nicht mehr bezogen - wir Ver- 
storbenen, die wir auferstehen in dern, was uns zustoftt. 
Es gibt aber einen Ort jener Auferstehungen des Ich, wenn die 
Zeit in immer weitere und weitere Wellen es hinaussendet. Das 
ist die Landschaft. Als Landschaft umgibt uns alles Geschehen, 
denn wir, die Zeit der Dinge, kennen keine Zeit. Nur Neigun- 
gen der Baume, Horizont und Scharfe der Bergriicken, die 
plotzlich voll Beziehung erwachen, indem sie uns in ihre Mitte 
stellen. Die Landschaft versetzt uns in ihre Mitte, es umzittern 
uns mit Frage Wipfel, umdunkeln uns mit Nebel Taler, bedran- 
gen uns mit Formen unbegreifliche Hauser. Diesem alien 
widerfahren wir, ihr Mittelpunkt. Es bleibt aber von aller Zeit, 
da wir erzittern, eine Frage uns im Innern: sind wir Zeit? Hoch- 
mut verlockt uns zum Ja - dann verschwande die Landschaft. 
Wir waren Burger. Aber der Bann des Buches laftt uns schweigen. 
Einzlge Antwort ist, daft wir einen Pfad beschreiten. Aber uns 
heiligt im Schreiten der gleiche Umkreis. Und wie wir antwort- 
los mit der Bewegung unseres Leibes die Dinge bestimmen, Mitte 
sind und uns wandernd fernen und nahern, losen wir Baume 
und Felder aus ihresgleichen, uberstromen sie mit der Zeit unse- 
res Daseins. Feld und Berge bestimmen wir in ihrer Willkiir: sie 
sind unser vergangenes Sein - so prophezeite die Kindheit. Wir 
sind zukiinftig sie. Die Landschaft empfangt in der Nacktheit 
der Zukiinftigkeit uns die Groften. Entbloftt erwidert sie die 
Schauer der Zeitlichkeit, mit der wir die Landschaft bestiirmen. 
Hier erwachen wir und haben am Morgenmahle der Jugend teil. 
Die Dinge sehen uns, ihr Blick schwingt uns ins Kommende, da 



ioo Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

wir ihnen nicht antworten sondern sie beschreiten. Urn uns ist 
Landschaft wo wir die Berufung verwarfen. Tausend Juchzer 
der Geistigkeit umtosten die Landschaft - da sandte lachelnd 
das Tagebuch den einzigen Gedanken ihnen entgegen. Durch- 
drungen von Zeit atmet sie vor uns, bewegt. Wir sind bei einan- 
der geborgen, die Landschaft und ich. Wir stiirzen von Nackt- 
heit in Nacktheit. Wir erreichen uns gesammelt. 
Die Landschaft entsendet uns die Geliebte. Uns begegnet nichts 
als in Landschaft und in ihr nichts als Zukunft. Sie kennt nur 
das einzige Madchen, das schon Frau ist. Denn es tritt in das 
Tagebuch mit der Geschichte seiner Zukunft. Wir starben schon 
einmal miteinander. Wir waren ihr schon einmal volHg gleich. 
Wenn wir ihr widerfuhren im Tode, so widerfahrt sie uns doch 
im Leben, abertausendmal. Vom Tode her ist jedes Madchen die 
geliebte Frau, die uns Schlafenden immer im Tagebuch begegnet. 
Und inre Erweckung geschieht zur Nacht - unsichtbar dem Ta- 
gebuche. Dies ist die Gestalt der Liebe im Tagebuche, dafi sie uns 
in der Landschaft begegnet, unter sehr hellem Himmel. Die In- 
brunst ist zwischen uns ausgeschlafen und die Frau ist Madchen, 
da sie unsere unverbrauchte Zeit, die sie sammelte in ihrem Tode, 
jugendlich zunickschenkt. Die stiirzende Nacktheit, die in der 
Landschaft uns iiberfallt, wird gleichgehalten von der nackten 
Geliebten. 

Als unsere Zeit uns aus dem Abstand verstiefi in Landschaft und 
auf der behiiteten Bahn des Gedankens uns die Geliebte ent- 
gegenschritt, fuhlten wir Zeit, die uns aussandte, gewaltig ge- 
gen uns wieder fluten. Einschlafernd ist dieser Rhythmus der 
Zeit, der von allerweltenwarts zu uns heimkehrt. Wer ein Tage- 
buch liest, schlaft darliber ein und erfullt, was das Schicksal 
dessen war, der es schrieb. Wieder und wieder beschwort das 
Tagebuch den Tod des Schreibers und sei es im Schlafe des Le- 
senden: Unser Tagebuch kennt nur einen Leser, der wird zum 
Erloser, indem das Buch ihn bezwingt. Wir selber sind der Leser 
oder unser Feind. Er fand keinen Eingang in das Konigtum, das 
um uns bliihte. Er ist nichts anderes als das vertriebene, gelauter- 
te Ich, unsichtbar in der unnennbaren Mitte der Zeiten verwei- 
lend. Er gab sich nicht dem Strom des Schicksals hin, das uns 
umflofi. Wie die Landschaft sich uns entgegenhob, sonderbar von 
uns beseeligt, wie die Geliebte uns voriiberfloh, ehmals von uns 



Metaphysik der Jugend 101 

gefraut, steht inmitten des Stroms, aufrecht wie sie, der Feind. 
Aber machtiger. Er sendet Landschaft und Geliebte uns entgegen 
und 1st der unermiidliche Denker der Gedanken, die uns nur 
kommen. Vollendet klar begegnet er uns, und wahrend die Zeit 
sich in die stumme Melodie der Abstande verbirgt, ist er am 
Werke. Plotzlich erhebt er sich im Abstand wie die Fanfare und 
sendet uns dem Abenteuer entgegen. Er ist nicht weniger als wir 
Erscheinung der Zeit, aber der gewaltigste Reflektor unsrer 
selbst. Blendend vom Wissen der Liebe und den Schauungen 
ferner Lande bricht er riickkehrend in uns ein und stort unsere 
Unsterblichkeit auf zu immer fernerer und fernerer Sendung. Er 
kennt die Reiche der hundert Tode, die die Zeit umgeben und 
will sie in Unsterblichkeit ertranken. Nach jedem Anblick und 
jeder Todesflucht kehren wir zu uns heim als unser Feind. Von 
keinem andern Feind sagt jemals das Tagebuch, weil vor der 
Feindschaft unsres erlauchten Wissens jeder Feind versinkt, 
stiimperhaft neben uns, die wir niemals unsere Zeit erreichen, 
immer hinter sie fluchten oder vorwitzig sie uberflugeln. Immer 
die Unsterblichkeit aufs Spiel setzend und sie verlierend. Dies 
weift der Feind, er ist das unermiidliche, mutige Gewissen, das 
uns stachelt. Unser Tagebuch schreibt das seinige, wahrend er 
tatig ist in der Mitte des Abstandes. In seiner Hand ruht die 
Waage unserer Zeit und der unsterblichen. Wann wird sie ein- 
stehen? Wir werden uns selbst widerfahren. 



Ill 

Die Feigheit des Lebenden, dessen Ich mannigfaltig alien Aben- 
teuern beiwohnt und standig sein Antlitz verbirgt im Kleid 
seiner Wiirde - sie mufee zuletzt unertraglich werden. So viele 
Schritte wir in das Konigreich des Schicksals taten, so oft wand- 
ten wir uns nickwarts - ob wir audi unbeobachtet wahrhaft 
seien: da ermiidete einmal die unendlich gekrankte, gekronte 
Hoheit in uns, sie wandte sich, grenzenlos fortan voll Verach- 
tung fur das Ich, das man ihr gegeben. Sie bestieg einen Thron 
im Imaginaren und wartete. Mit grofien Lettern schrieb der 
Griffel ihres schlafenden Geistes das Tagebuch. 
So handelt es sich denn in diesen Buchern um die Thronbestei- 
gung eines, der abdankt. Abdankte er dem Erlebnis, dessen er 



102 Metaphysisch-geschichtsphilosoprnsche Studien 

sein Ich nicht wiirdig befindet noch fahig, dem er sich endlich 
entzieht. Einst fielen die Dinge auf seinen Weg, statt ihm zu 
begegnen, von alien Seiten bedrangten sie einen, der standig 
fliichtete. Niemals kostete der Edle die Liebe der Unterlegnen. 
Er mifitraute, ob denn audi er gemeint sei von den Dingen. 
Meinst du mich? fragte er den Sieg der ihm zufiel. Meinst du 
mich? das Madchen, das sich an ihn schmiegte. Also rift er sich 
aus seiner Vollendung. Erschien er dem Sieg doch als Sieger, 
der Liebenden als der Geliebte. Aber ihm war Liebe widerfah- 
ren und Sieg war ihm zugestoEen, wahrend er den Penaten sei- 
ner Heimlichkeit Opfer brachte. Niemals war er dem Schicksal 
begegnet, an dem er vorbei lief. 

Als aber im Tagebuche die Hoheit des Ich sich zuriickzog und 
das Rasen gegen das Geschehen verstummte, zeigten die Ereig- 
nisse sich unbeschlossen. Die immer fernere Sichtbarkeit des Ich, 
welches mchts mehr auf sich bezieht, webt den immer naheren 
Mythos der Dinge, die hinsturmen in bodenloser Neigung zum 
Ich, als unberuhigte Frage, nach Bestimmung diirstend. 
Der neue Sturm erbraust im bewegten Ich. Ausgesandt ist es 
als Zeit, in ihm selber stiirmen die Dinge dahin, ihm entgegnend 
in ihrer fernenden, demiitigen Richtung, dahin zur Mine des 
Abstandes, zum Schofle der Zeit hin, von da das Ich erstrahlte. 
Und Schicksal ist: diese Gegenbewegung der Dinge in der Zeit 
des Ich. Und jene Zeit des Ich, in der die Dinge uns widerfahren, 
das ist dieGrofte. Ihr ist alle Zukunftvergangen. Der Dinge Ver- 
gangenheit ist die Zukunft der Ich-Zeit. Aber die Vergangenen 
werden zukiinftig. Von neuem entsenden sie die Zeit des Ich, 
wenn sie eingegangen sind in den Abstand. Mit den Geschehnis- 
sen schreibt das Tagebuch die Geschichte unseres zukiinftigen 
Seins. Und prophezeit uns also unser vergangenes Schicksal. Das 
Tagebuch schreibt die Geschichte unserer Grofte vom Tode an. 
Einmal ist ja die Zeit der Dinge aufgehoben in der Zeit des Ich, 
Schicksal ist aufgehoben in der Grofie, Abstande sind aufgeho- 
ben im Abstand. Einmal widerfahrt uns der erstarkte Feind in 
seiner grenzenlosen Liebe, der alle unsere geblendete Schwache 
sammelte in seiner Starke, all unsere Nacktheit bettete in seine 
Leiblosigkeit, all unser Schweigen iibertonte mit seiner Stumm- 
heit und alle Dinge heimbringt und alle Menschen endet - der 
grofie Abstand. Tod. Im Tode widerfahren wir uns selbst, es 



Metaphysik der Jugend 103 

lost sich unser Tot-sein aus den Dingen. Und die 2eit des Todes 
ist unsere eigene. Erlost gewahren wir die Erfiillung des Spieles, 
die Zeit des Todes war die Zeit unseres Tagebuches, der Tod der 
letzte Abstand, der Tod der erste liebende Feind, der Tod, der 
uns mit aller Grofie und den Schicksalen unserer breiten Flache 
in die unnennbare Mine der Zeiten tragt. Der fiir einen einzi- 
gen Augenblick uns Unsterblichkeit gibt. Tausendfach und ein- 
fach ist dies der Inhalt unserer Tagebiicher. Die Berufung, die 
unsere Jugend stolz abwies, tiberrascht uns. Aber sie ist nichts, 
als Berufung zur Unsterblichkeit. Wir gehen ein in die Zeit, die 
im Tagebuch war, dem Symbol der Sehnsucht, Ritus der Reini- 
gung. Mit uns versinken die Dinge zur Mitte, mit uns erwarten 
sie uns gleich die neue Erstrahlung. Denn Unsterblichkeit ist nur 
im Sterben und Zeit erhebt sich am Ende der Zeiten. 

Der Ball 

Um welches Vorspieles willen berauben wir uns unserer Trau- 
me? Denn mit leichter Hand drangen wir sie beiseit, in die Kis- 
sen, lassen sie zuriick, wahrend einige unser erhobenes Haupt 
lautlos umflattern. Wie wagen wir es, Wachende, diese hinein- 
zutragen ins Helle? O, in der Helle! Alle unter uns tragen die 
unsichtbaren Traume um sich, wie tief verschleiert sind die 
Haupter der Madchen, ihre Augen sind heimliche Nester der 
Unheimlichen, der Traume, ganz ohne Zugang, leuchtend vor 
Vollendung. Die Musik hebt uns alle zur Hohe jenes erleuch- 
teten Strichs - du kennst ihn - der unter dem Vorhange durch- 
bricht, wenn ein Orchester die Geigen stimmte. Der Tanz be- 
ginnt. Da gleiten unsere Hande alle aneinander ab, unsre 
Blicke fallen in einander, schwer, schiitten sich aus und lacheln 
aus dem letzten Himmel. Unsere Korper beriihren sich vorsich- 
tig, wir alle wecken einander nicht aus dem Traume, rufen ein- 
ander nicht heim in die Dunkelheit - aus der Nacht der Nacht, 
die nicht Tag ist. Wie wir uns lieben! Wie wir unsre Nacktheit 
behuten! Wir haben sie alle gefesselt in Buntes, Maskiertes, 
Nacktes-Versagendes, Nacktes-Versprechendes. Es ist in alien 
ein Ungeheures zu verschweigen. Aber wir werfen uns in die 
Rhythmen der Geigen, niemals war eine Nacht korperloser, 
un-heimlicher, keuscher als diese. 



io4 Metaphysisch-gesdrichtsphilosophische Studien 

Wo wir allein stehen, auf einem Fuder Fanfaren, allein in der 
hellen Nachte-Nacht, die wir beschworen, bittet unser fliichten- 
des Gemiit eine Frau noch zu sich, die - ein Madchen - steht in 
einer fernen Saalflucht. 

Sie schreitet iiber das Parkett, das so glatt liegt zwischen den 
Tanzern, als spiegele es die Musik, denn dieser glatte Boden, 
dem die Menschen nicht zugehoren, schafFt Raum fur das Elysi- 
sche, das die Einsamkeiten der Menschen zum Reigen schliefit. 
Sie schreitet und ihr Schritt ordnet die Tanzenden, einige drangt 
sie hinaus, die zerschellen an den Tischen, wo der Larm der Ein- 
samen waltet, oder wo in Gangen Menschen gehen wie auf 
hohen Drahtseilen durch die Nacht. 

Wann jemals gelangte Nacht zur Helle und ward ausgestrahlt, 
wenn nicht hier? Wann jemals ward Zeit iiberwunden? Wer 
weifi, wen wir zu dieser Stunde treffen? Sonst (gabe es ein 
»sonst«) waren wir eben hier, aber schon vollendet, sonst viel- 
leicht gossen wir die Neige des abgebrauchten Tages fort und 
schmeckten den neuen. Aber nun giefien wir den schaumenden 
Tag iiber in das purpurne Krystall der Nacht, er wird ruhig und 
funkelt. 

Die Musik entriickt die Gedanken, unsere Augen spiegeln die 
Freunde rings umher, wie sich alle bewegen, umflossen von 
Nacht. Wirklich sind wir in einem Hause ohne Fenster, in einem 
Saal ohne Welt. Treppen geleiten hinauf und hinunter, marmorn. 
Hier ist die Zeit eingefangen. In uns regt sie nur noch manch- 
mal widrig ihren ermudeten Atem und macht uns unruhig. Aber 
ein Wort, hineingesprochen in die Nadit, ruft einen Menschen zu 
uns, wir gehen mit einander, die Musik war uns schon entbehr- 
lich, ja im Dunklen konnten wir beieinander liegen, dennoch 
wiirden unsere Augen blitzen wie nur je ein blankes Schwert 
zwischen Menschen. Urn dieses Haus wissen wir alle gnaden- 
losen, ausgestofienen Wirklichkeiten flattern. Die Dichter mit 
ihrem bittern Lacheln, die Heiligen und die Polizisten und 
Autos, die warten. Manchmal dringt Musik hinaus, die sie ver- 
schuttet. 



10$ 

Zwei Gedichte von Friedrich Holderun 

»Dichtermut« — »Blodigkeit« 

Die Aufgabe der folgenden Untersudiung lafk sich in die Asthe- 
tik der Dichtkunst nicht ohne Erklarung einordnen. Diese Wis- 
senschaft als reine Asthetik hat ihre vornehmsten Krafte der 
Ergriindung der einzelnen Gattungen der Dichtkunst zugewen- 
det, unter ihnen am haufigsten der Tragodie. Einen Kommentar 
hat man fast nur den grofien Werken der Klassik angedeihen 
lassen, wo er aufterhalb der klassischen Dramatik auftrat ist er 
wohl in hoherem Grade philologisch als asthetisch gewesen. Es 
soil hier ein asthetischer Kommentar zweier lyrischer Dichtun- 
gen versucht sein, und diese Absicht verlangt einige Vorbemer- 
kungen iiber die Methode. Die innere Form, dasjenige, was 
Goethe als Gehalt bezeichnete, soil an diesen Gedichten aufge- 
wiesen werden. Die dichterische Aufgabe, als Voraussetzung 
einer Bewertung des Gedichts, ist zu ermitteln. Nicht danach 
kann die Bewertung sich richten, wie der Dichter seine Aufgabe 
gelost habe, vielmehr bestimmt der Ernst und die Grofie der 
Aufgabe selbst die Bewertung. Denn diese Aufgabe wird aus 
dem Gedichte selbst abgeleitet. Sie ist audi als Voraussetzung 
der Dichtung zu verstehen, als die geistig-anschauliche Struktur 
derjenigen Welt, von der das Gedicht zeugt. Diese Aufgabe, die- 
se Voraussetzung soil hier als der letzte Grund verstanden sein, 
der einer Analysis zuganglich ist. Nichts iiber den Vorgang 
des lyrischen Schaffens wird ermittelt, nichts iiber Person oder 
Weltanschauung des Schopfers, sondern die besondere und einzig- 
artige Sphare, in der Aufgabe und Voraussetzung des Gedichts 
liegt. Diese Sphare ist Erzeugnis und Gegenstand der Unter- 
suchung zugleich. Sie selbst kann nicht mehr mit dem Gedicht 
verglichen werden, sondern ist vielmehr das einzig Feststellbare 
der Untersudiung. Diese Sphare, welche fiir jede Dichtung eine 
besondere Gestalt hat, wird als das Gedichtete bezeichnet. In ihr 
soil jener eigentumliche Bezirk erschlossen werden, der dieWahr- 
heit der Dichtung enthalt. Diese »Wahrheit«, die gerade die 
ernstesten Kiinstler von ihren Schopfungen so dringend behaup- 
ten, soil verstanden sein als Gegenstandlichkeit ihres Schaffens, 
als die Erfiillung der jeweiligen kunstlerischen Aufgabe. »Jedes 
Kunstwerk hat ein Ideal a priori, eine Notwendigkeit bei sich, 



106 Metaphysisch-geschichtsphilosopliische Studien 

da zu sein.« (Novalis) Das Gedichtete ist in seiner allgemeinen 
Form synthetische Einheit der geistigen und anschaulichen Ord- 
nung. Diese Einheit erhalt ihre besondere Gestalt als innere 
Form der besonderen Schopfung. 

Der Begriff des Gedichteten ist ein Grenzbegriff in doppelter 
Hinsicht. Er ist Grenzbegriff zunachst gegen den Begriff des 
Gedichts. Das Gedichtete unterscheidet sich als Kategorie asthe- 
tischer Untersuchung von dem Form-Stoff-Schema entscheidend 
dadurch, daf5 es die fundamentale asthetische Einheit von Form 
und Stoff in sich bewahrt und anstatt beide zu trennen, ihre 
immanente notwendige Verbindung in sich auspragt. Dies kann 
im folgenden, da es sich urn das Gedichtete einzelner Gedichte 
handelt, nicht theoretisch, sondern nur am einzelnen Fall be- 
merkt werden. Und zu einer theoretischen Kritik des Form- und 
Stoff-Begriffs in der asthetischen Bedeutung ist audi hier nicht 
der Ort. In der Einheit von Form und Stoff teilt also das Ge- 
dichtete eines der wesentlichsten Merkmale mit dem Gedicht 
selbst. Es ist selbst nach dem Grundgesetz des kunstlerischen Or- 
ganismus gebaut. Vom Gedicht unterschieden ist es als ein 
Grenzbegriff, als Begriff seiner Aufgabe, nicht schlechthin noch 
durch ein prinzipielles Merkmal. Vielmehr lediglich durch seine 
grofiere Bestimmbarkeit: nicht durch einen quantitativen Man- 
gel an Bestimmungen, sondern durch das potentielle Dasein der- 
jenigen, die im Gedicht aktuell vorhanden sind und andrer. Das 
Gedichtete ist eine Auflockerung der festen funktionellen Ver- 
bundenheit, die im Gedichte selbst waltet, und sie kann nicht 
anders entstehen als durch ein Absehen von gewissen Bestim- 
mungen; indem hierdurch das Ineinandergreifen, die Funk- 
tionseinheit der iibrigen Elemente sichtbar gemacht wird. Denn 
es ist durch das aktuelle Dasein aller Bestimmungen das Gedicht 
derart determiniert, dafi es nur noch als solches einheitlich auf- 
fafibar ist. Die Einsicht in die Funktion setzt aber die Mannig- 
faltigkeit der Verbindungsmoglichkeiten voraus. So besteht 
die Einsicht in die Fiigung des Gedichts in dem Erfassen seiner 
immer strengeren Bestimmtheit. Auf diese hochste Bestimmtheit 
im Gedicht hinzufuhren, muE das Gedichtete von gewissen Be- 
stimmungen absehen. 

Durch dieses Verhaltnis zur anschaulichen und geistigen Funk- 
tionseinheit des Gedichts zeigt sich das Gedichtete als Grenz- 



Zwei Gedichte von Friedrich Holderlin 107 

bestimmung gegen dieses. Zugleich ist es aber GrenzbegrifT ge- 
gen eine andere Funktionseinheit, wie denn stets ein Grenzbe- 
griff als Grenze zwischen zwei BegrifTen nur moglich ist. Diese 
andere Funktionseinheit ist nun die Idee der Aufgabe, entspre- 
chend der Idee der Losung, als welche das Gedicht ist. (Denn 
Aufgabe und Losung sind nur in abstracto trennbar.) Diese Idee 
der Aufgabe ist fiir den Schb'pfer immer das Leben. In ihm liegt 
die andere extreme Funktionseinheit. Das Gedichtete erweist 
sich also als Obergang von der Funktionseinheit des Lebens zu 
der des Gedichts. In ihm bestimmt sich das Leben durch das Ge- 
dicht, die Aufgabe durch die Losung. Es liegt nicht die indivi- 
duelle Lebensstimmung des Kiinstlers zum Grunde, sondern ein 
durch die Kunst bestimmter Lebenszusammenhang. Die Kate- 
gorien, in denen diese Sphare, die Obergangssphare der beiden 
Funktionseinheiten, erfafibar ist, sind noch nicht vorgebildet 
und haben am nachsten vielleicht eine Anlehnung an die Be- 
grirTe des Mythos. Grade die schwachsten Leistungen der Kunst 
beziehen sich auf das unmittelbare Gefuhl des Lebens, die 
starksten aber, ihrer Wahrheit nach, auf eine dem Mythischen 
verwandte Sphare: das Gedichtete. Das Leben ist allgemein das 
Gedichtete der Gedichte - so liefte sich sagen; doch je unver- 
wandelter der Dichter die Lebenseinheit zur Kunsteinheit iiber- 
zufiihren sucht, desto mehr erweist er sich als Stumper. Diese 
Stumperei als »unmittelbares Lebensgefiihl«, »Herzenswarme«, 
als »Gemiit« verteidigt, ja gefordert zu finden, sind wir ge- 
wohnt. An dem bedeutenden Beispiel Holderlins wird deutlich, 
wie das Gedichtete die Moglichkeit der Beurteilung der Dichtung 
gibt, als durch den Grad der Verbundenheit und GroEe seiner 
Elemente. Beide Kennzeichen sind untrennbar. Denn je mehr 
eine schlaffe Ausdehnung des Gefiihls die innere Grofie und Ge- 
stalt der Elemente (die wir annahernd als mythisch bezeichnen) 
ersetzt, desto geringer wird die Verbundenheit, desto mehr ent- 
steht - sei es ein liebenswertes, kunstloses Naturerzeugnis, sei es 
ein kunst- und naturfremdes Machwerk. Das Leben liegt als 
letzte Einheit dem Gedichteten zum Grunde. Je friiher aber die 
Analyse des Gedichts, ohne auf Gestaltung der Anschauung und 
Konstruktion einer geistigen Welt zu stofien, auf das Leben 
selbst als sein Gedichtetes fiihrt, desto - im engeren Sinne - 
stofflicher, formloser, unbedeutender erweist sich die Dichtung. 



io8 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

Wahrend die Analysis der grofien Dichtungen nicht zwar auf 
den Mythos, aber auf eine durch die Gewalt der gegeneinander- 
strebenden mythischen Elemente gezeugte Einheit als eigentli- 
chen Ausdruck des Lebens stofien wird. 

Von dieser Natur des Gedichteten als Bezirkes gegen zwei 
Grenzen zeugt die Methode seiner Darstellung. Ihr kann es nicht 
um den Nachweis sogenannter letzter Elemente zu tun sein. 
Denn solche gibt es innerhalb des Gedichteten nicht. Vielmehr 
ist nichts andres als die Intensitat der Verbundenheit der an- 
schaulichen und der geistigen Elemente nachzuweisen und zwar 
zunachst an einzelnen Beispielen. Aber eben in diesem Nachweis 
mufi sichtbar sein, dafi es sich nicht um Elemente, sondern um 
Beziehungen handelt, wie ja das Gedichtete selbst eine Sphare 
der Beziehung von Kunstwerk und Leben ist, deren Einheiten 
selbst durchaus nicht erfafibar sind. Das Gedichtete wird sich so 
als die Voraussetzung des Gedichts, als seine innere Form, als 
kunstlerische Aufgabe zeigen. Das Gesetz, nach dem alle schein- 
baren Elemente der Sinnlichkeit und der Ideen sich als In- 
begriffe der wesentlichen, prinzipiell unendlichen Funktionen 
zeigen, wird das Identitatsgesetz genannt. Damit wird die syn- 
thetische Einheit der Funktionen bezeichnet. Sie wird in ihrer 
jeweils besonderen Gestalt als ein Apriori des Gedichts erkannt. 
Die Ermittelung des reinen Gedichteten, der absoluten Aufgabe, 
mufi nach allem Gesagten das rein methodische, ideelle Ziel 
bleiben. Das reine Gedichtete wiirde aufhoren Grenzbegriff zu 
sein: es ware Leben oder Gedicht. - Ehe die Anwendbarkeit 
der Methode fiir die Asthetik der Lyrik uberhaupt, vielleicht 
auch fur fernere Bezirke geprufl ist, verbieten sich weitere Aus- 
fiihrungen. Erst dann kann sich klar ergeben, was Apriori des 
einzelnen Gedichts, was ein solches des Gedichts uberhaupt oder 
gar andrer Dichtungsarten, oder selbst der Dichtung uberhaupt 
ist. Deutlicher aber wird sich zeigen, dafi iiber lyrische Dich- 
tung das Urteil, wenn nicht zu beweisen, so doch zu begriinden 
ist. 

Zwei Gedichte Holderlins, »Dichtermut« und »Blodigkeit«, wie 
sie uns aus der Reife- und Spatzeit uberkommen sind, werden 
nach dieser Methode untersucht. Sie wird im Verlaufe die Ver- 
gleichbarkeit der Gedichte erweisen. Eine gewisse Verwandt- 
schaft verbindet sie, sodafi man von verschiedenen Fassungen 



Zwei Gedichte von Friedrich Holderlin 109 

sprechen konnte. Eine Fassung, die zwischen die friiheste und 
spateste gehort (»Dichtermut« zweite Fassung) bleibt als unwe- 
sentlicher hier unbesprochen. 

Die Betrachtung ergibt fiir die erste Fassung eine betrachtliche 
Unbestimmtheit des Anschaulichen und Unverbundenheit im 
einzelnen. So ist der Mythos des Gedichts vom Mythologischen 
noch durchwuchert. Das Mythologische erweist sich als Mythos 
erst in dem Mafie seiner Verbundenheit. An der inneren Einheit 
von Gott und Schicksal ist der Mythos erkennbar. Am Waken 
der dvayxT]. Ein Schicksal ist Holderlin in der ersten Fassung 
seines Gedichtes Gegenstand: der Tod des Dichters. Er besingt 
die Quellen des Mutes zu diesem Tode. Dieser Tod ist die Mitte, 
aus der die Welt des dichterischen Sterbens entspringen sollte. 
Das Dasein in jener Welt ware der Mut des Dichters. Aber hier 
ist nur der wachsamsten Ahnung ein Strahl dieser Gesetzlichkeit 
aus einer Welt des Dichters fuhlbar. Schiichtern erhebt sich erst 
die Stimme, einen Kosmos zu singen, dem der Tod des Dichters 
den eignen Untergang bedeutet. Der Mythos bildet sich viel- 
mehr aus der Mythologie. Der Sonnengott ist der Ahn des 
Dichters und sein Sterben ist das Schicksal, an dem der Tod des 
Dichters, erst gespiegelt, wirklich wird. Eine Schonheit, deren 
innere Quelle wir nicht kennen, lost die Gestalt des Dichters - 
kaum minder die des Gottes - auf, anstatt sie zu formen. - 
Noch begriindet sich der Mut des Dichters seltsam aus einer an- 
dern, fremden Ordnung. Aus der Verwandtschaft der Lebendi- 
gen. Von ihr gewinnt er Verbundenheit mit seinem Schicksal. 
Was hat dem dichterischen Mut die Volksverwandtschaft zu be- 
deuten? Nicht fuhlbar wird im Gedicht das tiefere Recht, aus 
dem der Dichter seinem Volk, den Lebendigen, sich anlehnt und 
ihnen verwandt fiihlt. Wir wissen diesen Gedanken einen der 
trostenden der Dichter, wissen ihn besonders teuer Holderlin. 
Dennoch kann jene Naturverbundenheit allem Volke uns hier 
nicht begriindet sein als Bedingung dichterischen Lebens. Warum 
feiert - und mit hoherem Recht - der Dichter nicht das Odi 
profanum? Dies darf, mufi gefragt werden, wo die Lebendigen 
noch keine geistige Ordnung begriinden. - Hochst erstaunlich 
greift, mit beiden Armen, der Dichter in fremde Weltordnungen, 
nach Volk und Gott, seinen eignen, den Mut der Dichter in sich 
aufzurichten. Aber der Gesang, das Innerliche des Dichters, die 



no Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

bedeutende Quelle seiner Tugend, erscheint, wo er genannt ist, 
schwach, ohne Gewalt und Grofie. Das Gedicht lebt in der grie- 
chischen Welt, eine dem Griechischen angenaherte Schonheit 
belebt es und von der Mythologie der Griechen ist es beherrscht. 
Das besondere Prinzip griechischer Gestaltung ist aber nicht rein 
entfaltet. »Denn seitdem der Gesang sterblichen Lippen sich | 
Frledenatmend entwand, frommend in Leid und Gluck | Unsre 
Weise der Menschen | Herz erfreute . . .«. Diese Worte ent- 
halten die Ehrfurcht vor der Gestalt des Dichterischen, die 
Pindar - und mit ihm den spaten Holderlin - erfiillte, nur sehr 
geschwacht. Auch die »Sanger des Volks«, jedem »ho!d«, dienen, 
so gesehen, nicht, einen anschaulichen Weltgrund diesem Gedicht 
zu legen. In der Gestalt des sterbenden Sonnengottes bezeugt 
sich am deutlichsten eine in alien Elementen unbezwungene 
Zweiheit. Noch spielt die idyllische Natur entgegen der Gestalt 
des Gottes ihre besondere Rolle. Die Schonheit - anders ge- 
sprochen - ist noch nicht restlos Gestalt geworden. Es flieftt auch 
die Vorstellung des Todes nicht aus reinem gestalteten Zusam- 
menhang, Der Tod selbst ist nicht - wie er spater verstanden 
ist - Gestalt in ihrer tiefsten Bindung, er ist Verloschen des pla- 
stischen, heroischen Wesens in der unbestimmten Schonheit der 
Natur. Raum und Zeit dieses Todes sind noch nicht im Geiste 
der Gestalt als Einhek entsprungen. Die gleiche Unbestimmtheit 
des formenden Prinzips, die so stark sich gegen das beschworne 
Griechentum abhebt, bedroht das ganze Gedicht. Die Schonheit, 
die fast stimmungsmaftig die schone Erscheinung des Gesanges 
der Heiterkeit des Gottes verbindet, diese Vereinzelung des 
Gottes, dessen mythologisches Schicksal nur eine analogische 
Bedeutung fur den Dichter aufbringt, sie entspringen nicht der 
Mitte einer gestalteten Welt, deren mythisches Gesetz der Tod 
ware. Sondern eine nur schwach gef iigte Welt stirbt mit der 
sinkenden Sonne in Schonheit. Das Verhaltnis der Gotter und 
Menschen zur dichterischen Welt, zur raumzeidichen Einheit, 
in der sie leben, ist nicht intensiv, auch nicht rein griechisch, 
durchgestaltet. Es mufi vollig erkannt werden, dafi das Gefiihl 
des Lebens, eines ausgebreiteten und unbestimmten Lebens, das 
garnicht konventionsfreie Grundgefuhl dieser Dichtung ist, dafi 
also daher die stimmungsvolle Verbindung ihrer in Schonheit 
vereinzelten Glieder sich herschreibt. Das Leben als unbezweifel- 



Zwei Gedichte von Friedridi Holderlin 1 1 1 

te - liebliche vielleicht, vielleicht erhabene - Grundtatsache 
bestimmt nodi (Gedanken auch verschleiernd) diese Welt Hol- 
derlins. Davon zeugt auf seltsame Art auch die sprachliche Bil- 
dung des Titels, da eine eigentiimliche Unklarheit jene Tugend 
auszeichnet, der man den Namen ihres Tragers beigibt, uns so 
auf eine Triibung ihrer Reinheit durch allzugrofk Lebensnahe 
dieser Tugend hinweisend. (Vergl. die Sprachbildung: Wei- 
bertreue) Ein fast fremder Klang fallt der SchluE mit Ernst in 
die Kette der Bilder »Und dem Geiste sein Recht nirgend ge- 
bricht«, diese gewaltige Mahnung, die dem Mute entsprungen 
ist, steht hier allein, und nur die Grofie eines Bildes findet aus 
einer friihern Strophe sich zu ihr »uns . . . | Aufgerichtet an 
goldnen | Gangelbanden, wie Kinder, halt.« Die Verbunden- 
heit des Gottes mit Menschen ist nach starren Rhythmen in ein 
grofies Bild gezwungen. Aber in seiner Vereinzelung vermag es 
nicht, den Grund jener verbundenen Machte zu deuten und ver- 
liert sich. Erst die Gewalt der Umwandlung wird es deutlich 
und auszusprechen schicklich machen: das dichterische Gesetz 
hat sich dieser holderlinschen Welt noch nicht erfiillt. 
Was innerster Zusammenhang jener dichterischen Welt bedeutet, 
die angedeutet die erste Fassung enthalt, und wie Vertiefung 
die Umwalzung der Struktur bedingt, wie von der gestalteten 
Mitte her notwendig Gestaltung von Vers zu Vers dringt, dies 
ergibt die letzte Fassung. Die unanschauliche Lebensvorstellung, 
ein unmythischer, schicksalloser Lebensbegriff aus einer geistig 
unbetrachtlichen Sphare, wurde als bindende Voraussetzung des 
friiheren Entwurfes gefunden. Wo Vereinzelung der Gestalt, 
Beziehungslosigkeit des Geschehens war, tritt nun die anschau- 
lich-geistige Ordnung, der neue Kosmos des Dichters. Schwer ist 
es, einen moglichen Zugang zu dieser vollig einheitlichen und 
einzigen Welt zu gewinnen. Die Undurchdnnglichkeit der Be- 
ziehungen stellt jedem andern als fiihlenden Erfassen sich ent- 
gegen. Die Methode verlangt, von Verbundnem von Anfang an 
auszugehen, um Einsicht in die Fiigung zu gewinnen. Vom Ge- 
staltzusammenhange her vergleiche man den dichterischen Auf- 
bau belder Fassungen, so der Mitte der Verbundenheiten lang- 
sam zustrebend. Es wurde die unbestimmte Zugehorigkeit von 
Volk und Gott zu einander (wie auch zum Dichter) friiher schon 
erkannt. Dagegen steht die gewaltige Zugehorigkeit der einzel- 



ii2 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

nen Spharen im letzten Gedicht. Die Gotter und die Lebendigen 
sind im Schicksal des Dichters ehern verbunden. Aufgehoben ist 
die hergebrachte und einfache Oberordnung der Mythologie. 
Vom Gesang, der sie »der Einkehr zu« fiihrt, ist gesagt, dafS er 
»Himmlischen glekh« Menschen fiihre - und die Himmlisdien 
selbst. Aufgehoben ist also der eigentliche . Grund der Verglei- 
chung, denn der Fortgang sagt: audi die Himmlisdien, und sie 
nicht anders als die Menschen, fiihrt der Gesang. Die Ordnung 
der Gotter und Menschen ist hier - in der Mitte des Gedichts - 
seltsam gegen einander gehoben, die eine geglichen durch die 
andere. (Wie zwei Waagschalen: man belafit sie in ihrer Gegen- 
stellung, doch hebt sie vom Waagebalken.) Damit tritt sehr 
vernehmlich das formale Grundgesetz des Gedichteten auf, 
der Ursprung jener Gesetzlichkeit, deren Erfiillung der letzten 
Fassung das Fundament gibt. Dieses Gesetz der Identitat besagt, 
daft alle Einheiten im Gedicht schon in einer intensiven Durch- 
dringung erscheinen, niemals die Elemente rein erfafibar sind, 
vielmehr nur das Gefiige der Beziehungen, in dem die Identitat 
des einzelnen Wesens Funktion einer unendlichen Kette von 
Reihen ist, in denen das Gedichtete sich entfaltet. Das Gesetz, 
nach dem sich alle Wesenheiten im Gedichteten als Einheit der 
prinzipiell unendlichen Funktionen zeigen, ist das Identitats- 
gesetz. Kein Element kann irgend bezugsfrei sich aus der 
Intensitat der Weltordnung, die im Grunde gefiihlt ist, heraus- 
heben. An alien einzelnen Fugungen, der innern Form der Stro- 
phen und Bilder wird dies Gesetz sich erfullt zeigen, um 
schlieftlich in der Mitte aller dichterischen Beziehungen dies zu 
bewirken: die Identitat der anschaulichen und geistigen For- 
men unter- und miteinander - die raumzeitliche Durchdringung 
aller Gestalten in einem geistigen InbegrifT, dem Gedichteten, 
das identisch dem Leben ist. - Hier aber mufi nur die gegen- 
wartige Gestalt dieser Ordnung genannt sein: die vom Mytholo- 
gischen weitabliegende Ausgleichung der Spharen der Lebendi- 
gen und der Himmlischen (so nennt Holderlin sie meist). Und 
es erhebt sich nach den Himmlischen, sogar nach Nennung des 
Gesanges, nochmals »der Fiirsten | Chor nach Arten«. So dafi 
hier, um die Mitte des Gedichts, Menschen, Himmlische und 
Fiirsten, gleichsam abstiirzend aus ihren alten Ordnungen, zu 
einander gereiht sind. Dafi aber jene mythologische Ordnung 



Zwei Gedichte von Friedrich Holderlin 113 

nicht entscheidet, dafi ein ganz andrer Kanon der Gestalten 
dieses Gedicht durchzieht, liegt am erleuchtetsten in der Drei- 
teilung, in der Fiirsten noch einen Platz neben Himmlischen 
und Menschen behaupten. Diese neue Ordnung der dichterischen 
Gestalten - der Gotter und der Lebendigen - beruht in der 
Bedeutung, die beide fur das Schicksal des Dichters haben wie fur 
die sinnliche Ordnung seiner Welt. Gerade deren eigentlicher 
Ursprung, wie Holderlin ihn sah, kann sich erst am Ende als 
das Beruhende aller Beziehungen ergeben, und was friiher sicht- 
bar ist, ist nur die Verschiedenheit der Dimensionen dieser Welt 
und dieses Schicksals, die sie an Gottern und Lebendigen anneh- 
men, und eben: das vollige Leben dieser einst so abgesonderten 
Gestaltenwelten im dichterischen Kosmos. Das Gesetz, das for- 
mal und allgemein die Bedingung fur den Bau dieser dichteri- 
schen Welt zu sein schien, beginnt nun aber, fremd und gewaltig, 
sich zu entfalten. - Alle Gestalten gewinnen, im Zusammen- 
hang des dichterischen Schicksals Identitat, dafi sie darin mit 
einander aufgehoben in einer Anschauung sind, und so selbst- 
herrlich sie erscheinen, schlieftlich zuriickfallen in die Gesetztheit 
des Gesanges. Die wachsende Bestimmtheit gesteigerter Gestal- 
ten wird in den Anderungen gegen die erste Fassung am ein- 
dringlichsten erkannt. Es wird sich die Konzentration der 
poetischen Kraft an jeder Stelle Raum schaffen und der strenge 
Vergleich wird den Grund noch der geringsten Abweichung als 
den einheitlichen erkennen lassen. Dabei mufi sich denn iiber die 
innere Absicht, audi wo die erste Fassung nur schwachlich ihr 
folgte, das Wichtige ergeben. Das Leben im Gesange, im unwan- 
delbaren dichterischen Schicksal, das Gesetz der holderlinschen 
Welt ist, verfolgen wir am Gestaltzusammenhang. 
Es gehen in gewichtig sehr abgehobnen Ordnungen Gotter und 
Sterbliche in entgegengesetztem Rhythmus durch das Gedicht. 
Im Fortgang und im Zuriickgehen von der Mittelstrophe wird 
dies deutlich. Eine hochst geordnete, wenn schon verborgne Ab- 
folge der Dimensionen wird vollzogen. Die Lebendigen sind, 
jeweils deutlich, in dieser Welt Holderlins, die Erstreckung des 
Raumes, der gebreitete Plan, in dem (wie noch sichtbar werden 
wird) sich das Schicksal erstreckt. In Hoheit - oder an Orienta- 
lisches gemahnender Weitlaufigkeit - setzt der Anruf ein »Sind 
denn nicht dir bekannt viele Lebendigen ?« Welche Funktion 



ii4 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

hat der Eingangsvers der ersten Fassung? Die Verwandtschaft 
des Dichters mit alien Lebendigen war angerufen als Ursprung 
des Mutes. Und es blieb nichts, als ein Bekannt-Sein^ ein Ken- 
nen der Vielen. Die Frage nach dem Ursprung dieser Bestimmt- 
heit der Menge durdi den Genius, dem sie »bekannt« ist, fiihrt 
in die Zusammenhange des Folgenden. Viel, sehr viel iiber den 
Kosmos Holderlins ist in diesen folgenden Worten gesagt, die - 
wieder fremd wie aus ostlicher Welt und doch wieviel urspriing- 
licher als die griechische Parze - dem Dichter Hoheit geben. 
»Geht auf Wahrem dein Fufi nicht, wie auf Teppichen?« Die 
Umwandlung des Gedichtanfanges in seiner Bedeutung fiir die 
Art des Mutes setzt sich fort. Die Anlehnung an die Mythologie 
weicht dem Zusammenhang des eigenen Mythos. Denn hier 
hiefie es an der Oberflache bleiben, wollte man nur die Umset- 
zung der mythologischen Anschauung in eine nuchterne des 
Gehens erkennen; oder nur erkennen, wie die Abhangigkeit in 
der Urfassung (»Nahrt zum Dienste denn nicht selber die Parze 
dich?«) zu einer Setzung in der zweiten wird (»Geht auf Wah- 
rem dein Fufr nicht . . .?«). - Analog war das »verwandt« der 
ersten Fassung zu einem »bekannt« gesteigert: eine Aktivitat 
aus einem Abhangigkeitsverhaltnis geworden. - Sondern ent- 
scheidend ist die Umsetzung dieser Aktivitat selbst wiederum 
ins Mythische, aus dem die Abhangigkeit im friihern Gedicht 
flofi. Es griindet sich aber der mythische Charakter dieser Akti- 
vitat darin, dafi sie selbst gemafi dem Schicksal verlauft, ja sei- 
nen Vollzug schon in sich begreift. Wie alle Aktivitat des Dich- 
ters in schicksalgemafi bestimmte Ordnungen greift und so in 
diesen Ordnungen ewig aufgehoben ist und sie selber aufhebt, 
dafur zeugt die Existenz des Volkes, ihre Nahe zum Dichter. 
Sein Kennen der Lebendigen, ihr Dasein beruht auf der Ord- 
nung, die im Sinne des Gedichtes die Wahrheit der Lage zu nen- 
nen ist. Die Moglichkeit des zweiten Verses mit der unerhorten 
Spannkraft seines Bildes, setzt die Wahrheit der Lage als Ord- 
nungsbegriff der holderlinschen Welt notwendig voraus. Die 
raumliche und geistige Ordnung erweisen sich verbunden durch 
eine Identitat des Bestimmenden mit dem Bestimmten, die ihnen 
gemeinsam eignet. Diese Identitat ist in beiden Ordnungen nicht 
die gleiche sondern die identische und durch sie durchdringen 
sie sich zur Identitat miteinander. Denn entscheidend ist fiir das 



Zwei Gedichte von Friedrich Holderlin 1 1 5 

raumliche Prinzip: es erfiillt in der Anschauung die Identitat des 
Bestimmenden mit dem Bestimmten. Die Lage ist fur diese Ein- 
heit Ausdruck; der Raum ist zu fassen als Identitat von Lage 
und Gelegnem. Allem Bestimmenden im Raum ist immanent 
dessen eigne Bestimmtheit. Jede Lage ist im Raum allein be- 
stimmt und allein in ihm bestimmend. Wie nun im Bilde des 
Teppichs (da eine Ebene fur ein geistiges System gesetzt ist) zu 
erinnern ist an seine Musterhaftigkeit, die geistige Willkiir des 
Ornamentes im Gedanken zu sehen ist - und also das Orna- 
ment eine wahre Bestimmung der Lage ausmacht, sie absolut 
macht - so wohnt der beschreitbaren Ordnung der Wahrheit 
selbst die intensive Aktivitat des Ganges als innere plastisch 
zeitliche Form ein. Beschreitbar ist dieser geistige Bezirk, welcher 
gleichsam den Schreitenden mit jedem Willkiirschritte im Bereich 
des Wahren notwendig belafit. Diese geistig-sinnlichen Ordnun- 
gen machen in ihrem Inbegriff die Lebendigen aus, in denen alle 
Elemente dichterischen Schicksals in einer innern und besondern 
Form gelagert sind. Die zeitliche Existenz in der unendlichen 
Erstreckung, die Wahrheit der Lage, bindet die Lebendigen an 
den Dichter. Im gleichen Sinne erweist sich die Verbundenheit 
der Elemente in der Beziehung von Volk und Dichter noch in 
der Endstrophe. »Gut auch sind und geschickt einem zu etwas 
wir«. Nach einem (vielleicht allgemeinen) Gesetz der Lyrik er- 
reichen die Worte ihren anschaulichen Sinn im Gedicht, ohne 
den ubertragnen daran zu geben. So durchdringen sich in dem 
Doppelsinn des Wortes »geschickt« zwei Ordnungen. Bestim- 
mend und bestimmt erscheint der Dichter unter den Lebendigen. 
Wie in dem Partizipium »geschickt« eine zeitliche Bestimmung 
die raumliche Ordnung im Geschehen, die Eignung, vollendet, 
ist nochmals in der Zweckbestimmung: »einem zu etwas« diese 
Identitat der Ordnungen wiederholt. Als miifke durch die Ord- 
nung der Kunst die Belebung doppelt deutlich werden, ist alles 
andere ungewift gelassen und die Vereinzelung innerhalb grower 
Erstreckung in dem » einem zu etwas« angedeutet. Nun ist er- 
staunlich, wie an dieser Stelle, da doch das Volk auf das hochste 
abstrakt bezeichnet ist, aus dem Innern dieser Zeile eine fast 
Neugestalt des konkretesten Lebens sich erhebt. Wie als inner- 
stes Wesen des Sangers das Schickliche sich finden wird, als 
seine Grenze gegen das Dasein, so erscheint dies hier vor den 



u6 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

Lebendigen als das Geschickte; dafi die Identitat entsteht, in 
einer Form: Bestimmendes und Bestimmtes, Mitte und Erstrek- 
kung. Die Aktivitat des Dichters findet an den Lebendigen 
sich bestimmt, die Lebendigen aber bestimmen in ihrem konkre- 
ten Dasein - »einem zu etwas« - sich an dem Wesen des Dich- 
ters. Als Zeichen und Schrift der unendlichen Erstreckung seines 
Schicksals besteht das Volk. Dieses Schicksal selbst ist, wie spa- 
ter deutlich wird, der Gesang. Und so als Symbol des Gesanges 
hat das Volk den Kosmos Holderlins zu erfiillen. Das gleiche 
erweist die Verwandlung, die aus »Dichtern des Volks« »Zun- 
gen des Volks« schuf. Vorbedingung dieser Dichtung ist, immer 
mehr die einem neutralen »Leben« entlehnten Gestalten in Glie- 
der einer mythischen Ordnung zu verwandeln. Gleich stark sind 
in dieser Wendung Volk und Dichter dieser Ordnung einbezo- 
gen. Besonders fiihlbar wird in diesen Worten die Abkehr des 
Genius in seiner Herrschaft. Denn es ist der Dichter, mit ihm das 
Volk, aus dem er singt, ganz in den Kreis des Gesanges hinein 
versetzt, und eine flachenhafte Einheit des Volkes mit seinem 
Sanger (im dichterischen Schicksal) ist von neuem der Abschluft. 
Nun crscheint - diirfen wir es byzantinischen Mosaiken ver- 
gleichen? - entpersonlicht das Volk, wie in der Flache gedrangt 
um die flache grofte Gestalt seines heiligen Dichters. Dies Volk 
ist ein andres, wesensbestimmteres als das der ersten Fassung; 
eine andere Lebensvorstellung entspricht ihm: »Drum, mein 
Genius, tritt nur | Bar ins Leben und sorge nicht!« Das »Leben« 
liegt hier aufterhalb des dichterischen Daseins, es ist in der 
neuen Fassung nicht Voraussetzung, sondern Gegenstand einer 
mit machtiger Freiheit vollzognen Bewegung: der Dichter tritt 
ins Leben, er wandelt nicht in ihm fort. Die Einordnung des 
Volkes in jene Lebensvorstellung der ersten Fassung ist zu einer 
Schicksalverbundenheit der Lebendigen mit dem Dichter gewor- 
den. »Was geschiehet, es sei alles gelegen dir!« Die friihere Fas- 
sung hat an dieser Stelle »gesegnet«. Es ist der gleiche Vorgang 
einer Verlagerung des Mythologischen, der iiberall die innere 
Form der Umarbeitung ausmacht. »Gesegnet« ist eine vom Tran- 
szendenten, herkommlich Mythologischen abhangigeVorstellung, 
die nicht vom Zentrum des Gedichtes her (etwa dem Genius) 
verstanden ist. »Gelegen« greift vollig wieder ins Zentrum zu- 
riick, es bedeutet ein Verhaltnis vom Genius selbst, in dem das 



Zwei Gedichte von Friedrich Holderlin 117 

rhetorische »sei« dieser Strophe aufgehoben wird durch die Ge- 
genwart dieser »Gelegenheit«. Die raumliche Erstreckung ist 
von neuem gegeben und gleichen Sinnes wie vorher. Wieder geht 
es um die Gesetzlichkek der guten Welt, in der die Lage zu- 
gleich das Gelegene durch den Di enter ist, wie ihm das Wahre 
beschreitbar sein mu(i. Holderlin beginnt einmal ein Gedicht: 
»Sei froh! Du hast das gute Los erkoren«. Wo der Erkorne ge- 
meint ist; dem besteht nur das Los und also das gute. Gegen- 
stand dieser identischen Beziehung zwischen Dichter und Schick- 
sal sind die Lebendigen. Die Bildung »Sei zur Freude gereimt« 
legt die sinnliche Ordnung des Klanges zum Grunde. Und es 
ist im Reim auch hier die Identitat zwischen Bestimmendem und 
Bestimmtem gegeben, wie etwa die Struktur der Einheit er- 
scheint als halbe Doppelheit. Nicht substanziell sondern funktional 
ist die Identitat als Gesetz gegeben. Nicht die Reimworte selbst 
sind genannt. Denn selbstverstandlich bedeutet »zur Freude ge- 
reimt« auf Freude gereimt so wenig, »wie gelegen dir« das »du« 
selbst zu einem Gelagerten, Raumlichen macht. Wie das Gele- 
gene als ein Verhaltnis vom Genius erkannt wurde (nicht zu 
ihm), so ist der Reim eine Beziehung von der Freude (nicht zu 
ihr). Vielmehr hat jene Bilddissonanz, der in aufierstem Nach- 
druck eine lautliche anklingt, die Funktion, die innewohnende 
geistige Zeitordnung der Freude sinnbar, lautbar zu machen, in 
der Kette eines unendlich erstreckten Geschehens, das den un- 
endlichen Moglichkeiten des Reimes entspricht. So rief die 
Dissonanz im Bilde des Wahren und des Teppichs die Beschreit- 
barkeit als einende Beziehung der Ordnungen hervor, wie die 
»Gelegenheit« die geistig-zeitliche Identitat (die Wahrheit) der 
Lage bedeutete. Diese Dissonanzen heben im dichterischen Ge- 
fuge die aller raumlichen Beziehung einwohnende zeitliche Iden- 
titat und damit die absolut bestimmende Natur des geistigen 
Daseins innerhalbder identischen Erstreckung hervor. Trager die- 
ser Beziehung sind vorwiegend deutlich die Lebendigen. Eine 
Bahn und schickliches Ziel muft gerade nach den Extremen der 
Bildhaftigkeit jetzt anders sichtbar sein, als nach dem idylhschen 
Weltfuhlen, das in friiherer Zeit diesen Versen voranging: 
»oder was konnte denn j Dich beleidigen, Herz, was | Da begeg- 
nen, wohin du sol 1st? « An dieser Stelle darf, die wachsende Ge- 
walt, mit der die Strophe sich dem Ende zufiihrt, wahrzuneh- 



1 1 8 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

men, die Interpunktion beider Entwiirfe verglichen werden. Wie 
in der folgenden Strophe Sterbliche mit gleicher Bedeutung wie 
Himmlische dem Gesang genahert werden, ist nun erst ganz 
begreiflich, da sie sich erfiillt vom dichterischen Schicksal fan- 
den. Seiner Eindringlichkeit nach verstanden zu werden, mufi 
dies alles verglichen sein mit dem Grade von Gestalt, den in der 
ursprunglichen Fassung Holderlin dem Volke .verlieh. Da es er- 
freut wurde vom Gesang, verwandt dem Dichter war und von 
Dichtern des Volks gesprochen werden durfte. Allein hierin diirf- 
te die strengere Gewalt eines Weltbildes schon vermutet wer- 
den, das die friiher schon nur von fern erstrebte schicksalhafte 
Bedeutung des Volkes gefunden hat, in einer Anschauuhg, die 
es zur sinnlich-geistigen Funktion des dichterischen Lebens 
macht. 

Neue Bestimmtheit gewinnen diese Verhaltnisse, die besonders 
in Hinsicht der Funktion der Zeit noch dunkel geblieben sind, 
indem ihre eigentumliche Umwandlung an der Gestalt der Got- 
ter verfolgt wird. Durch die innere Gestalt, die in dem neuen 
Weltbau ihnen eignet, wird das Wesen des Volkes - als durch 
seinen Gegensatz - genauer ermittelt. So wenig die erste Fassung 
eine Bedeutung der Lebendigen kennt, dereri innere Form ihr 
Dasein als einbezogen in das dichterische Schicksal, bestimmt 
und bestimmend, wahr im Raum, ist - so wenig ist in ihr eine 
besondere Ordnung der Gotter erkennbar. Es geht aber durch 
die neue Fassung eine Bewegung in plastisch-intensiver Rich- 
tung, und diese lebt in den Gottern am starksten. (Neben der 
Richtung, die, im Volke dargestellt, die raumliche Richtung 
auf das unendliche Geschehen hat.) Es sind die Gotter zu hochst 
besondern und bestimmten Gestalten geworden, an denen das 
Gesetz der Identitat vollig neu gefafk ist. Die Identitat der 
gottlichen Welt und ihre Beziehung zum Schicksal des Sangers 
ist verschieden von der Identitat in der Ordnung der Lebendi- 
gen. Dort war ein Geschehen in seiner Bestimmtheit durch und 
fur den Dichter als ausein und derselben Quelle flieftenderkannt. 
Der Dichter erlebte das Wahre. So war das Volk ihm bekannt. 
In der gottlichen Ordnung aber liegt, wie sich zeigen wird, eine 
besuadere innere Identitat der Gestalt vor. Diese Identitat fand 
man angedeutet schon im Bilde des Raumes und etwa in der 
Bestimmung der Flache durch das Ornament. Aber zum Be- 



Zwei Gedichte von Friedrich Holderlin 119 

herrschenden einer Ordnung geworden fuhrt sie eine Versach- 
lichung des Lebendigen herauf. Es entsteht eine eigentumliche 
Verdopplung der Gestalt (die sie mit raumlichen Bestimmungen 
verbindet) indem eine jede in sich nochmals ihre Konzentration 
vorfindet, eine rein immanente Plastik als Ausdruck ihres 
Daseins in der Zeit in sich tragt. In dieser Richtung der Konzen- 
tration streben die Dinge zum Dasein als reine Idee und be- 
stimmen das Schicksal des Dichters in der reinen Welt der Ge- 
stalten. Die Plastik der Gestalt wird als das Geistige erwiesen. 
So ist der »denkende Tag« aus dem »frdhlichen« geworden. Der 
Tag ist durch ein Beiwort nicht in seiner Eigenschaft gekennzeich- 
net, sondern es wird ihm die Gabe beigelegt, welche gerade 
die Bedingung der geistigen Identitat des Wesens ist: das Den- 
ken. Es erscheint nun der Tag in dieser neuen Fassung auf das 
hochste gestaltet, ruhend, mit sich selbst einstimmend im Be- 
wufksein, als eine Gestalt von innerer Plastik des Daseins, der 
die Identitat des Geschehens in der Ordnung der Lebendigen 
entspricht. Von den Gottern her erscheint der Tag als gestalte- 
ter Inbegrifr" der Zeit. Von dem gewinnt es nun als gleichsam 
einem Beharrenden einen viel tieferen Sinn, dafi der Gott ihn 
gonnt. Diese Vorstellung, der Tag sei gegonnt, ist sehr streng zu 
trennen von einer hergebrachten Mythologie, die den Tag 
schenken lafit. Denn hier ist schon, was mit bedeutenderer 
Gewalt sich spater zeigt, angedeutet: dafi die Idee zur Versach- 
lichung der Gestalt fiihrt und daft die Gotter ganz ihrer eignen 
Plastik anheimgegeben sind, den Tag nur gonnen oder miEgon- 
nen konnen, da an Gestalt der Idee sie am nachsten sind. Wie- 
der darf hier auf die Steigerung der Absicht im rein Lautlichen: 
durch Alliteration hingedeutet werden. Die bedeutende Schon- 
heit, mit der hier der Tag zum plastischen und eben zugleich 
kontemplativen Prinzip erhoben wird, flndet im Anfang des 
»Chiron« sich gesteigert wieder: »Wo bist du, Nachdenkliches! 
das immer mu(! | Zur Seite gehn zu Zeiten, wo bist du, Licht?« 
Die gleiche Anschauung hat den zweiten Vers der fiinften Stro- 
phe sehr innerlich verwandelt und auf das hochste verfeinert 
gegen die entsprechende Stelle der friiheren Fassung. Ganz im 
Gegensatz zur »tliichtigen Zeit«, zu den »Verganglichen« ist in 
der Neufassung dieser Zeile das Beharrende, die Dauer in der 
Gestalt der Zeit und der Menschen entwickelt worden. Die 



iao Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

»Wende der 2eit« erfaik offenbar noch den Augenblick der 
Beharrung, gerade das Moment innerer Plastik in der Zeit. Und 
dafi dieses Moment innrer zeitlicher Plastik zentral ist, dies 
kann wie die zentrale Bedeutung der andern bisher erwiesenen 
Erscheinungen erst spater ganz deutlich werden. Den gleichen 
Ausdruck hat das folgende »uns die Entschlafenden«. Wieder 
ist der Ausdruck tiefster Identitat der Gestalt (im Schlafe) ge- 
geben. Es ist sdion hier an das heraklitische Wort zu erinnern: 
Im Wachen sehen wir zwar den Tod, im Schlafe aber den Schlaf. 
Um diese plastische Struktur des Gedankens in seiner Intensitat 
handelt es sich, wie hierfiir das kontemplativ erfullte Bewufit- 
sein den letzten Grund bildet. Die gleiche Identitatsbeziehung, 
die hier im intensiven Sinne zur zeitlichen Plastik der Gestalt 
fuhrt, mu6 im extensiven Sinne zu einer unendlichen Gestalt- 
form fuhren, zu einer gleichsam eingesargten Plastik, in der die 
Gestalt mit dem Gestaltlosen identisch wird. Die Versachlichung 
der Gestalt in der Idee bedeutet zugleich: ihr immer unbegrenz- 
teres und unendliches Umsichgreifen, die Vereinigung der Ge- 
stalten in der Gestalt schlechthin, zu der die Gotter werden. Es 
ist durch sle der Gegenstand gegeben, an dem das dichterische 
Schicksal sich begrenzt. Die Gotter bedeuten dem Dichter die 
unermefiliche Gestaltung seines Schicksals, wie die Lebendigen 
noch die weiteste Erstreckung des Geschehens als im Bereiche 
dichterischen Schicksals verbiirgen. Diese Bestimmung des Schick- 
sals durch Gestaltung macht die Gegenstandlichkeit des dichte- 
rischen Kosmos aus. Zugleich aber bedeutet sie die reine Welt 
zeitlicher Plastik im Bewufksein; die Idee wird in ihr herrschend; 
wo vordem das Wahre der Akdvitat des Dichters einbeschlossen 
war, tritt es nun beherrschend in sinnlicher Erfulltheit auf. In 
der Formung dieses Weltbildes wird immer strenger jede An- 
lehnung an konventionelle Mythologie getilgt. Fiir das entleg- 
nere »Ahne« tritt der »Vater« ein, der Sonnengott ist in einen 
Gott des Himmels verwandelt. Die plastische, ja architektoni- 
sche Bedeutung des Himmels ist unendlich viel groEer als die 
der Sonne. Zugleich aber ist hier deutlich, wie fortschreitend 
den Unterschied zwischen Gestalt und Gestaltlosem der Dichter 
aufhebt; und der p-Iimmel bedeutet so sehr eine Ausdehnung, 
als auch zugleich eine Verringerung der Gestalt, im Vergleich 
mit der Sonne. Die Gewalt dieses Zusammenhanges erhellt das 



Zwei Gedichte von Friedrich Holderlin 121 

folgende »Aufgerichtet an goldnen | Gangelbanden, wie Kin- 
der, halt.« Wieder mufi die Starrheit und Unzuganglichkeit 
des Bildes an orientalisches Sehen gemahnen. Indem mitten im 
ungestalteten Raume die plastische Verbindung mit dem Gott 
gegeben - ihrer Intensitat nach durch die Farbe betont, die ein- 
zige, die die neue Fassung enthalt - wirkt diese Zeile auf das 
seltsamste fremd und fast ertotend. Das ardiitektonische Ele- 
ment ist so stark, dafi es der Beziehung, die im Bilde des Him- 
mels gegeben war, entspricht. Die Gestalten der dichterischen 
Welt sind unendlich und doch begrenzend zugleich; es mufi dem 
inneren Gesetz zufolge die Gestalt eben so sehr im Dasein des 
Gesanges aufgehoben sein und in ihn eingehen, wie die beweg- 
ten Krafte der Lebendigen. Audi der Gott mufi am Ende dem 
Gesange zum Besten dienen und sein Gesetz vollstrecken, wie das 
Volk Zeichen seiner Erstreckung sein mufite. Dies erfiillt sich 
am Ende: »und von den Himmlischen | Einen bringen.« Die 
Gestaltung, das innerlich plastische Prinzip, ist so gesteigert, dafi 
das Verhangnis der toten Form iiber den Gott hereingebrochen 
ist, dafi - um im Bilde zu sprechen - die Plastik von innen 
nach aufien umschlug und nun vollig der Gott zum Gegenstande 
wurde. Die zeitliche Form ist von innen nach aufien gebrochen 
als Bewegtes. Der Himmlische wird gebracht. Hier liegt ein 
hochster Ausdruck von Identitat vor: der griechische Gott ist 
seinem eignen Prinzip, der Gestalt, ganz >anheimgefallen. Der 
hochste Frevel ist gedeutet: v$qi<;, die ganz nur dem Gott er- 
reichbar, bildet zur toten Gestalt ihn um. Sich selbst Gestalt 
geben, das heifit ijpoig. Der Gott hort auf, den Kosmos des 
Gesanges zu bestimmen, dessen Wesen vielmehr - mit Kunst - 
erwahh sich frei das Gegenstandliche: er bringt den Gott, da 
Goner schon zum versachlichten Sein der Welt im Gedanken 
geworden sind. Es ist schon hier die bewundrungswiirdige Fu- 
gung der letzten Strophe zu erkennen, in der das immanente 
Ziel aller Gestaltung dieses Gedichts sich zusammenfafit. Die 
raumliche Erstreckung der Lebendigen bestimmt sich in dem 
zeitlich innerlichen Eingreifen des Dichters: so erklarte sich das 
Wort »geschickt«; in der gleichen Vereinzelung, in der das Volk 
zu einer Reihe von Funktionen des Schicksals geworden ist. »Gut 
audi sind und geschickt einem zu etwas wir« - ist der Gott 
Gegenstand in seiner toten Unendlichkeit geworden, der Dichter 



1^2 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

ergreift ihn. Die Ordnung von Volk und Gott als aufgelost in 
Einheiten wird hier zur Einheit im dichterisciien Schicksal. Es ist 
die vielfache Identitat, in der Volk und Gott wie die Bedin- 
gungen sinnlichen Daseins aufgehoben sind, offenbar. Einem 
andern gebuhrt die Mitte dieser Welt. 

Die Durchdringung der einzelnen Anschauungsformen unter- 
einander und ihre Verbundenheit in und mit dem Geistigen, als 
Idee, Schicksal u.s.f. ist im einzelnen weit genug verfolgt. Nicht 
urn die Ermittlung der letzten Elemente kann es sich am Ende 
handeln, denn das letzte Gesetz dieser Welt ist eben die Ver- 
bundenheit:, als Einheit der Funktion von Verbindendem und 
Verbundenem. Aber ein besonders zentraler Ort dieser Ver- 
bundenheit mufi noch aufgewiesen werden, in dem die Grenze 
des Gedichteten gegen das Leben am weitesten vorgeschoben ist, 
an dem die Energie der innern Form sich um so machtiger er- 
weist, je flutender und formloser das bedeutete Leben ist. An 
diesem One wird die Einheit des Gedichteten sichtbar, am wei- 
testen werden die Verbundenheiten uberschaut und die Abwand- 
lung beider Gedichtfassungen, die Vertiefung der ersten in der 
letzten erkannt. - Von einer Einheit des Gedichteten in der 
ersten Fassung darf nicht gesprochen werden. Der Ablauf wird 
von der ausfuhrlichen Analogie des Dichters mit dem Sonnen- 
gott unterbrochen, danach aber kehrt er nicht wieder mit ganzer 
Intensitat zu dem Dichter zuriick. Es liegt in dieser Fassung, in 
ihrer ausfuhrlichen Sondergestaltung des Sterbens, auch ihrem 
Titel nach, noch die Spannung zwischen zwei Welten - der des 
Dichters und jener »Wirklichkeit«, in der der Tod droht, die hier 
nur eingekleidet als Gottlichkeit erscheint. Spater ist die Zwei- 
heit der Welten verschwunden, mit dem Sterben ist die Eigen- 
schaft des Mutes dahingefallen, im Ablauf ist nichts als das 
Dasein des Dichters gegeben. Die Frage, worauf die Vergleich- 
barkeit dieser in allem einzelnen wie im Ablauf so vollig unter- 
schiednen Entwiirfe beruht, ist also dringend. Wiederum kann 
nicht die Gleichheit eines Elementes, sondern nur die Verbun- 
denheit in einer Funktion die Vergleichbarkeit der Gedichte 
erweisen. Diese Funktion liegt in dem einzig aufweisbarenFunk- 
tionsinbegriff, dem Gedichteten. Das Gedichtete beider Fassun- 
gen - nicht in seiner Gleichheit, deren keine besteht, sondern in 
seiner »Vergleichheit« - soil verglichen werden. Beide Gedichte 



Zwei Gedichte von Friedrich Holderlin 123 

sind in ihrem Gedichteten verbunden und zwar in einem Verhal- 
ten zur Welt. Dieses 1st der Mut, der, je tiefer er verstanden ist, 
desto weniger eine Eigenschaft, sondern eine Beziehung von 
Mensch zu Welt und von Welt zu Mensch wird. Das Gedichtete 
der ersten Fassung kennt den Mut nur erst als Eigenschaft. 
Mensch und Tod stehen sich gegeniiber, beide starr, keine an- 
schauliche Welt ist ihnen gemeinsam. Zwar im Dichter, in sei- 
nem gottlich-naturlichen Dasein, war versucht, schon eine tiefe 
Beziehung zum Tode zu finden; doch nur mittelbar durch die 
Vermittelung des Gottes, dem der Tod - mythologisch - eigen 
war und dem der Dichter - mythologisch wiederum - angena- 
hert wurde. Es war das Leben noch Vorbedingung des Todes, 
die Gestalt entsprang der Natur. Die entschlossene Formung von 
Anschauung und Gestalt aus einem geistigen Prinzipwar vermie- 
den, so blieben sie ohne Durchdringung. Die Gefahr des Todes 
war in diesem Gedichte uberwunden durch Schonheit. Wahrend 
der spatern Fassung alle Schonheit herfliefk aus Oberwindung 
der Gefahr. Friiher endete Holderlin mit der Auflosung der 
Gestalt, wahrend der reine Grund der Gestaltung am Ende der 
neuen Fassung erscheint. Und diese ist nun aus einem geistigen 
Grunde gewonnen. Die Zweiheit: Mensch und Tod konnte 
so nur in einem laftlichen Lebensgefuhl beruhen. Sie blieb nicht 
bestehen, da das Gedichtete sich zu tiefrer Verbundenheit zu- 
sammenschlofi und ein geistiges Prinzip - der Mut - von sich 
aus das Leben gestaltete. Mut ist Hingabe an die Gefahr, wel- 
che die Welt bedroht. In ihm liegt eine besondere Paradoxic 
verborgen, von der aus erst das Gefiige des Gedichteten der 
beiden Fassungen ganz verstanden wird: dem Mutigen besteht 
die Gefahr und dennoch achtet er sie nicht. Denn er ware feige, 
wurde er sie achten; und bestiinde sie ihm nicht - er ware nicht 
mutig. Dieses seltsame Verhaltnis lost sich, indem dem Mutigen 
selbst die Gefahr nicht droht, jedoch der Welt. Mut ist das 
Lebensgefuhl des Menschen, der sich der Gefahr preisgibt, da- 
durch sie in seinem Tode zur Gefahr der Welt erweitert und 
iiberwindet zugleich. Die Grofie der Gefahr entspringt im Mu- 
tigen - erst indem sie ihn trifft, in seiner ganzen Hingabe an 
sie, trifft sie die Welt. In seinem Tode aber ist sie uberwun- 
den, hat die Welt erreicht, der sie nicht mehr droht; in ihm ist 
Freiwerden und Stabilierung zugleich der ungeheuren Krafte - 



124 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

die taglich als begrenzte Dinge den Leib umgeben. Im Tode 
sind schon diese Krafte umgesprungen, die dem Mutigen droh- 
ten als Gefahr, sind in ihm beruhigt. (Dies ist die Versach- 
lichung der Krafte, die schon das Wesen der Gotter dem Dichter 
naherte.) Die Welt des toten Helden ist eine neue mythische, 
mit Gefahr gesattigt: dies eben ist die Welt der zweiten Gedicht- 
fassung. In ihr durchaus ist ein geistiges Prinzip herrschend ge- 
worden: die Einswerdung des heldischen Dichters mit der 
Welt. Der Dichter hat den Tod nicht zu fiirchten, er ist Held, 
weil er die Mitte aller Beziehungen lebt. Das Prinzip des Ge- 
dichteten uberhaupt ist die Alleinherrschaft der Beziehung. In 
diesem besondern Gedicht als Mut gestaltet: als innerste Iden- 
titat des Dichters mit der Welt, deren Ausflufi alle Identitaten 
des Anschaulichen und Geistigen dieser Dichtung sind. Das ist 
der Grund, in dem immer wieder die gesonderte Gestalt sich 
aufhebt in der raumzeitlichen Ordnung, in der sie als gestaltlos, 
allgestalt, Vorgang und Dasem, zeitliche Plastik und raumliches 
Geschehen aufgehoben ist. Vereint sind im Tode, der seine Welt 
ist, alle erkannten Beziehungen. In ihm ist hochste unendliche 
Gestalt und Gestaltlosigkeit, zeitliche Plastik und raumliches 
Dasein, Idee und Sinnlichkeit. Und jede Funktion des Lebens in 
dieser Welt ist Schicksal, wahrend in der ersten Fassung her- 
kommlich das Schicksal das Leben bestimmte. Das ist das orien- 
talische, mystische, die Grenzen iiberwindende Prinzip, das in 
diesem Gedicht so offenbar immer wieder das griechische gestal- 
tende Prinzip aufhebt, das einen geistigen Kosmos schafft aus 
reinen Beziehungen der Anschauung, des sinnlichen Daseins, in 
dem das Geistige nur Ausdruck der Funktion ist, die zur Identi- 
tat strebt. Die Umwandlung der Zweiheit von Tod und Dich- 
ter in die Einheit einer toten dichterischen Welt, »mit Gefahr 
gesattigt«, ist die Beziehung, in der das Gedichtete der beiden 
Gedichte steht. An dieser Stelle erst ist nun die Betrachtung der 
dritten, mittleren Strophe moglich geworden. Offenbar ist, dafi 
der Tod in der Gestalt der »Einkehr« in die Mitte der Dichtung 
versetzt wurde, dafi in dieser Mitte der Ursprung des Gesanges 
ist, als des InbegrirTs aller Funktionen, dafi hier die Ideen der 
»Kunst«, des »Wahren« entspringen als Ausdruck der beruhen- 
den Einheit. Was iiber die Aufhebung der Ordnung von Sterb- 
lichen und Himmlischen gesagt war, erscheint in diesem Zusam- 



Zwei.Gedichte von Friedrich Holderlin 125 

menhang vollig gesichert. Zu vermuten ist, dafi die Worte »ein 
einsam Wild« die Menschen bezeichnen und dies stimmt sehr 
wohl zu dem Titel dieses Gedichtes. »Blodigkeit« - ist nun die 
eigentliche Haltung des Dichters geworden. In die Mitte des 
Lebens versetzt, bleibt ihm nichts, als das reglose Dasein, die 
vollige Passivitat, die das Wesen des Muugen ist; als sich 
ganz hinzugeben der Beziehung. Sie geht von ihm aus und auf 
ihn zuriick. So ergreift der Gesang die Lebendigen und so sind sie 
ihm bekannt - nicht mehr verwandt. Dichter und Gesang sind 
im Kosmos des Gedichts nicht unterschieden. Er ist nichts als 
Grenze gegen das Leben, die Indifferenz, umgeben von den 
ungeheuren sinnlichen Machten und der Idee, die in sich sein 
Gesetz bewahren. Wie sehr er die unberuhrbare Mitte aller 
Beziehung bedeutet, enthalten die beiden letzten Verse am 
machtigsten. Die Himmlischen sind zu Zeichen des unendlichen 
Lebens geworden, das aber gegen ihn begrenzt ist: »und von 
den Himmlischen | Einen bringen. Doch selber | Bringen schkk- 
liche Hande wir.« So ist der Dichter nicht mehr als Gestalt ge- 
sehen, sondern allein noch als Prinzip der Gestalt, Begrenzen- 
des, auch seinen eignen Korper noch Tragendes. Er bringt seine 
Hande - und die Himmlischen. Die eindringliche Zasur dieser 
Stelle ergibt den Abstand, den der Dichter vor aller Gestalt und 
der Welt haben soil, als ihre Einheit. Der Aufbau des Gedichts 
ist ein Beweis der Einsicht dieser Schillerschen Worte: »Darin 
. . . besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, dafi er 
den Stoff durch die Form vertilgt . . . Das Gemiit des Zuschauers 
und Zuhorers muE vollig frei und unverletzt bleiben, es mufi 
aus dem Zauberkreise des Kunstlers rein und vollkommen wie 
aus den Handen des Schopfers gehn.« 

Absichtlich war im Laufe der Untersuchung das Wort »Niich- 
ternheit« vermieden worden, das so oft zur Charakteristik nahe 
gelegen hatte. Denn erst jetzt sollen Holderlins Worte von dem 
»heilig nuchternen« genannt sein, deren Verstandnis nun be- 
stimmt ist. Man hat bemerkt, daft diese Worte die Tendenz 
seiner spaten Schopfungen enthalten. Sie entspringen der innigen 
Sicherheit, mit der diese im eignen geistigen Leben stehen, in 
dem nun die Nuchternheit erlaubt, geboten, ist, weil es in sich 
heilig ist, jenseits aller Erhebung im Erhabnen steht. Ist dieses 
Leben noch das des Griechentums? So wenig ist es das, wie das 



126 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

Leben eines reinen Kunstwerks iiberhaupt das eines Volkes sein 
kann, so wenig wie es das eines Individuums ist und keines als 
sein eignes, das wir im Gedichteten finden. Dies Leben ist in 
Formen des griechischen Mythos gebildet, aber - das ist ent- 
scheidend - nicht in ihnen allein; gerade das griechische Ele- 
ment ist in der letzten Fassung aufgehoben und ausgeglichen 
gegen ein andres, das (zwar ohne ausdriickliche Rechtfertigung) 
das onentalische genannt war. Fast alle Anderungen der spa- 
tern Fassung streben in dieser Richtung, in den Bildern wie auch 
in der Einfiihrung der Ideen und endlich einer neuen Bedeutung 
des Todes, die alle gegen die in sich ruhende geformt begrenzte 
Erscheinung sich als unbegrenzte erheben. Daft hierin, vielleicht 
nicht nur fiir die Erkenntnis Holderlins, eine entscheidende Frage 
sich verbirgt, kann in diesem Zusammenhang nicht erwiesen 
werden. Die Betrachtung des Gedichteten aber fuhrt nicht auf 
den Mythos, sondern - in den groftten Schopfungen - nur auf 
die mythischen Verbundenheken, die im Kunstwerk zu ein- 
ziger unmythologischer und unmythischer, uns naher nicht be- 
greiflicher Gestalt geformt sind. 

Aber gabe es ein Wort, das Verhaltnis jenes innern Lebens, aus 
dem das letzte Gedicht entsprang, zum Mythos zu erfassen, so 
ware es jenes Holderlinsche - einer noch spatern Zeit als dies 
Gedicht angehorig - »Die Sagen, die der Erde sich entfernen, | 
. . . I Sie kehren zu der Menschheit sich«. 



Das Gluck des antiken Menschen 

Der nachantike Mensch kennt vielleicht nur eine einzige seehsche 
Verfassung, in der er sein Inneres mit voller Reinheit und voller 
Grofte zugleich zum Ganzen der Natur, des Kosmos in Bezie- 
hung setzt, namlich den Schmerz. Der sentimentalische Mensch, 
wie Schiller ihn nennt, kann ein annahernd reines und grofies, 
das heifit annahernd naives Gefiihl seiner selbst nur um den 
hohen Preis gewinnen, daft er sein ganzes inneres Wesen zu einer 
von der Natur geschiedenen Einheit zusammenfafit. Noch seine 
hochste menschliche Einfachheit und Einfalt beruht auf dieser 
Scheidung von der Natur durch den Schmerz und in dieser Ent- 



Das Gliick des antiken Menschen 127 

gegensetzung tritt denn wieder zugleich ein sentimentalisches 
Phanomen und zugleich eine Reflexion in die Erscheinung. Es 
liegt geradezu der Gedanke nahe, als sei die Reflexion mit sol- 
dier Intensitat dem modernen Menschen verhaftet, dafi im 
schlichten, einfaltigen Gliick, das den Gegensatz zur Natur 
nicht kennt, der innere Mensch ihm allzu gehaltlos und uninter- 
essant erscheint, um im tiefsten frei nach aufien sich zu entfal- 
ten, um nicht vielmehr in einer Art von Scham im Verborgnen, 
Engen zu bleiben. Auch dem Modernen bedeutet das Gliick na- 
turgemaf? einen Zustand der naiven Seele xat' t^o/V* a her 
nichts ist bezeichnender, als sein Versuch, diese reinste Offenba- 
rung des Naiven ins Sentimentalische umzudeuten. Die Be- 
griffe der Unschuld und des Kindlichen mit ihrem Wust falscher 
und verdorbner Vorstellungen bestreiten diesen Prozefi der Um- 
deutung. Wahrend die naive Unschuld, die grofte, in unmittel- 
barer Beriihrung mit alien Kraften und Gestalten des Kosmos 
lebt, ihre Symbole in der Reinheit, Kraft und Schonheit der 
Gestalt findet, bedeutet sie dem Modernen die Unschuld des 
Homunkulus, eine mikroskopische Diminutivunschuld, in 
Form einer Seele die von der Natur nichts weifi, die durch und 
durch verschamt, auch vor sich selbst ihren Zustand nicht zu er- 
kennen wagt, gleichsam - um das zu wiederholen - als sei ein 
gliicklicher Mensch ein allzuleeres und ausgeblasenes Gehause, 
um nicht bei seinem eignen Anschauen in Scham zu versinken. 
Daher hat die moderne Empfindung des Gluckes das Kleinliche 
und Heimliche zugleich, und sie hat die Vorstellung der gliick- 
lichen Seele geboren, die ihr Gliick vor sich selbst in bestandi- 
ger Tatigkeit und kiinstlicher Gefiihlsverengerung verleug- 
net. Die gleiche Bedeutung hat die Vorstellung vom kindlichen 
Gliick, da sie auch im Kinde nicht das fuhlende, reine Wesen 
sieht, dem unmittelbarer als einem andern Gefiihl zum Aus- 
druck wird, sondern sie sieht ein egozentrisches Kind, eines das 
aus Unwissenheit und Verspieltheit die Natur umdeutet und 
verkleinert zu uneingestandenen Gefiihlen. In Biichners »Lenz« 
ist in einer Phantasie des Kranken, der sich nach Ruhe sehnt, 
das kleine Gliick der Sentimentalen Seele so geschildert: »>Sehen 
Sie<, ring er wieder an, >wenn sie so durchs Zimmer ging und so 
halb fur sich allein sang, und jeder Tritt war eine Musik, es war 
so eine Gliickseligkeit in ihr, und das stromte in mich iiber; ich 



128 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

war immer ruhig, wenn ich sie ansah oder sie so den Kopf an 
mich lehnte, . . . Ganz Kind; es war, als war ihr die Welt zu 
weit: sie zog sich so in sich zuriick, sie suchte das engste Platz- 
chen im ganzen Haus, und da safi sie, als ware ihre ganze Selig- 
keit nur in einem kleinen Punkt, und dann war mir's auch so; 
wie ein Kind hatte ich dann spielen konnen. <« 
Es ist entscheidend fiir das Bild, das der antike Mensch vom 
Gliick hat, dafi jene kleine Bescheidenheit, die im Individuum 
das Gliick begraben, es durch Reflexion unerreichbar tief in sei- 
nem Innersten verbergen will (als Talisman gegen das Ungluck), 
bei ihm zu ihrem furchtbarsten Gegenteil wird, zum Frevel des 
wahnwitzigen Hochmuts, zur ijpQtg. v$qi<; ist dem Griechen der 
Versuch, sich selbst - das Individuum, den innern Menschen - 
als Trager des Gliickes darzustellen, v$Qiq ist der Glaube, 
Gliick sei eine Eigenschaft, und gar noch die der Bescheidenheit, 
vfigig der Glaube, Gliick sei etwas anderes als ein Geschenk der 
Gotter, das diese jede Stunde nehmen konnen, die jede Stunde 
unerhortes Ungluck dem Sieger verhangen konnen (wie dem 
heimkehrenden Agamemnon). Damit ist es nun gesagt, dafi die 
Gestalt, in der das Gliick den antiken Menschen heimsucht, der 
Sieg ist. Sein Gliick ist ein Nichts, wenn nicht dies - dafi die 
Gotter es ihm verhangen, und sein Verhangnis ist es, wenn er 
glauben will, ihm und gerade ihm hatten die Gotter es gegeben. 
In dieser hochsten Stunde, die den Menschen zum Heroen macht, 
die Reflexion von ihm fernzuhalten, in dieser Stunde alle Wei- 
hen iiber ihn auszugiefien, die den Siegenden mit seiner Stadt, 
mit den Hainen der Gotter, mit der zvoifizia der Voreltern und 
endlich mit der Macht der Gotter selbst versohnen, sang Pindar 
die Siegeshymnen. Und so ist dem antiken Menschen am Gliick 
beides zugemessen; Sieg und Feier, Verdienst und Unschuld. 
Beides von der gleichen Notwendigkeit und Strenge. Denn 
keiner kann da mehr auf Verdienst pochen, wo er in den Wett- 
kampfen ein Kampfer ist, auch dem Vortrefflichsten konnen die 
Gotter den Herrlichern gesandt haben, der ihn in den Staub 
wirft. Und er - der Sieger wird umsomehr wieder den Gottern 
danken, die ihm Sieg iiber den Heldenhaftesten verliehen. Wo 
bleibt hier das starre Pochen auf Verdienst, die abenteurerhafte 
Erwartung des Gliicks, die dem Burger das Leben fristen? Der 
dycbv, und dies ist ein tiefer Sinn seiner Institution, fristet je- 



Sokrates 129 

dem das Mafi des Gliickes, das Gotter ihm verhangen. Wo aber 
bleibt audi die leere mufiige Unschuld des Unwissenden, mit 
der der Moderne sein Gliick vor sich selber verbirgt? Allen 
sichtbar, gepriesen von dem Volke stent der Sieger da, Unschuld 
tut ihm bitter not, der das Gefafi des Sieges wie eine Schale voll 
Weines in erhobenen Handen halt, von dem ein verschiitteter 
Tropfen auf ihn fallend ihn ewig befleckte. Verdienst hat er 
nicht zu verleugnen und nicht zu erschleichen, das die Gotter 
ihm gaben, und nicht Reflexion auf seine Unschuld tut ihr not, 
wie der kleinen, unruhigen Seele, sondern Erfiillung der Wei- 
hen, damit der gottliche Kreis, der ihn einmal erwahlt, den 
Fremdling bei sich halte als Heroen. 

Das Gliick des antiken Menschen ist beschlossen im Siegesfest: 
im Ruhm seiner Stadt, im Stolze seines Gaues und seiner Fami- 
lie, in der Freude der Gotter und im Schlafe, der ihn zu den 
Heroen entriickt. 



Sokrates 

I 

Das hochst Barbarische in der Gestalt des Sokrates ist, daft die- 
ser unmusische Mensch die erotische Mitte der Beziehungen des 
platonischen Kreises bildet. Wenn aber seine Liebe der allge- 
meinen Fahigkeit sich mitzuteilen: der Kunst entbehrt, wo- 
von bestreitet er ihr Wirken? Vom Willen. Sokrates bildet 
den Eros zum Diener seiner Zwecke. Dieser Frevel reflek- 
tiert sich im Kastratentum seiner Person. Denn darauf be- 
zieht sich doch zuletzt der Abscheu der Athener, ihr Empfin- 
den, wenn audi subjektiv gemein, ist historisch im Recht. Er 
vergiftet die Jugend, er verfiihrt sie. Seine Liebe zu ihr ist nicht 
>Zweck< noch reines Eidos, sondern Mittel. Das ist der Magier, 
der Maieutiker der die Geschlechter vertauscht, der unschuldig 
Verurteilte, der aus Ironie und zum Hohn seiner Gegner stirbt. 
Seine Ironie schopft aus dem Grausen, aber dabei bleibt er doch 
noch der Unterdriickte, Ausgestofiene, der Verachtliche. Ein 
wenig selbst ein Spafknacher. - Der sokratische Dialog will 



i jo Metaphysisch-ges&icksphilosophische Studien 

mit Beziehung auf den Mythos studiert sein. Was hat Plato 
damit gewollt? Sokrates: das ist die Gestalt, in der er den alten 
Mythos annihiliert und rezipiert hat. Sokrates: das ist das Opfer 
der Philosophic an die Gotter des Mythos, die Menschenopfer 
fordern. Mitten im furchterlichen Kampf sucht sich die junge 
Philosophic in Plato zu behaupten 1 . 



II 

Griinewald hat die Heiligen dadurch so grofi gemalt, dafi ihre 
Glorie aus dem gninsten Schwarz tauchte. Das Strahlende ist 
nur wahr, wo es sich im Nachtlichen bricht, nur da ist es grofi, 
nur da ist es ausdruckslos, nur da ist es geschlechtslos und 
doch von iiberweltlichem Geschlechte. Der So Strahlende ist 
der Genius, der Zeuge jeder wirklich geistigen Schopfung. Er 
bestatigt, er verburgt ihre Geschlechtslosigkeit. In einer Gesell- 
schaft aus Mannern gabe es nicht den Genius; er lebt durch das 
Dasein des Weiblichen. Es ist wahr: das Dasein des Weiblichen 
verburgt die Geschlechtslosigkeit des Geistigen in der Welt. Wo 
ein Werk, eine Tat, ein Gedanke ohne das Wissen um dieses 
Dasein entsteht, da entsteht etwas Boses, Totes. Wo es aus die- 
sem Weiblichen selbst entsteht, da ist es flach und schwach und 
durchbricht nicht die Nacht. Wo aber dieses Wissen um das Weib- 
liche in der Welt waltet, wird was dem Genius eignet gebo- 
ren. Jede tiefste Beziehung zwischen Mann und Weib ruht auf 
dem Grunde dieses wahren Schopferischen und steht unter dem 
Genius. Denn es ist soweit falsch, zwischen Mann und Weib die 
innerste Beriihrung als begehrende Liebe zu deuten, dafi unter 
alien Stufen jener Liebe sogar die mannweibliche die tiefste, die 
herrlichste und erotisch und mythisch hochst vollendete, ja fast 
strahlende (wenn sie nicht so ganz nachtig ware) die weib-weib- 
liche ist. Es ist noch das grofite Geheimnis, wie das blofie Dasein 
des Weibes die Geschlechtslosigkeit des Geistigen verburgt. Die 
Menschen haben es nicht losen konnen. Noch immer ist ihnen 
Genius nicht der Ausdruckslose, der aus der Nacht bricht, son- 
dern er ist ihnen ein Ausdriicklicher, der im Licht schwingt. 

1 S. a. Nietzsche: Die frohlidie Wissfinschaft (Aph.) 340. 



Sokrates 131 

Sokrates preist im Symposion die Liebe zwischen Mannern und 
Junglingen und riihmt sie als das Medium des schopferischen 
Geistes. Nach seiner Lehre geht der Wissende mit dem Wissen 
schwanger, und das Geistige kennt Sokrates iiberhaupt nur als 
Wissen und als Tugend. Der Geistige aber ist - vielleicht nicht 
der Zeugende - sicherlich aber der ohne schwanger zu werden 
empfangt. Wie fiir das Weib unbefleckte Empfangnis die iiber- 
schwengliche Idee von Reinheit ist, so ist Empfangnis ohne 
Schwangerschaft am tiefsten das Geisteszeichen des mannli- 
chen Genius. Es ist an seinem Teile ein Strahlen. Das vernichtet 
Sokrates. Das Geistige des Sokrates war ein durch und durch Ge- 
schlechtliches. Sein Begriff von geistiger Empfangnis ist: Schwan- 
gerschaft, sein Begriff von geistiger Zeugung: Entladung der Be- 
gierde. Das verrat die sokratische Methode, die eine ganz andere 
ist als die platonische. Die sokratische ist nicht die heilige Frage, 
die auf Antwort wartet und deren Resonanz erneut in der Ant- 
wort wieder auflebt, sie hat nicht wie die reine erotische oder 
wissenschaftliche Frage den Methodos der Antwort inne, sondern 
gewaltsam, ja frech, ein blofies Mittel zur Erzwingung der Rede 
verstellt sie sich, ironisiert sie - denn allzugenau weifi sie 
schon die Antwort. Die sokratische Frage bedrangt die Antwort 
von aufien, sie stellt sie wie die Hunde einen edlen Hirsch. Die 
sokratische Frage ist nicht zart und so sehr schopferisch als emp- 
fangend, nicht geniushaft. Sie ist gleich der sokratischen Ironie, 
die in ihr steckt - man gestatte ein furchtbares Bild fiir eine 
furchtbare Sache - eine Erektion des Wissens. Durch Hafi und 
Begierde verfolgt er das Eidos und sucht es objektiv zu machen, 
weil die Schau ihm versagt ist. (Und sollte platonische Liebe 
heifien: unsokratische Liebe?) Dieser furchtbaren Herrschaft 
sexueller Anschauungen im Geistigen entspricht - eben als Fol- 
ge davon - die unreine Vermischung dieser Begriffe im Natiir- 
lichen. Same und Frucht, Zeugung und Geburt nennt seine 
sympotische Rede in damonischer Ununterschiedenheit, und 
stellt im Redner selbst die fiirchterliche Mischung vor: Kastrat 
und Faun. In Wahrheit, ein Nicht-Menschlicher ist Sokrates, und 
unmenschlich, wie einer, der von menschlichen Dingen keine 
Ahnung hat, geht seine Rede uber den Eros. Denn so steht So- 
krates und sein Eros in der Stufenfolge der Erotik: die weib- 
weibliche, die mann-mannliche, die mann-weibliche, Gespenst, 



132 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

Damon, Genius. Es ist ihm ironisches Recht geschehen mit Xan- 
thippe. 



Ober das Mittelalter 

Friedrich Schlegel sieht in seiner Charakteristik des mittelalter- 
lichen Geistes das negative Moment dieser Epoche in der herr- 
schenden unbeschrankten Richtung auf das Absolute, die sich in 
der Kunst als gezierte Phantasie, in der Philosophie und Theo- 
logie der Scholastik als ein nicht minder gezierter Rationalis- 
ms geltend macht. Das soil durch den Kontrast gegen die asia- 
tische Geistesrichtung noch etwas ausgefiihrt werden. Audi der 
asiatische Geist ist durch eine hemmungslose Versenkung in 
das Absolute in Philosophie und Religion bezeichnet. Dennoch 
trennt ihn vom mittelalterlichen Geiste ein Abgrund. Ihm liegt 
bei aufierster Formgrofie nichts ferner als Geziertheit. Seine 
innerste Verschiedenheit vom Geiste des Mittelalters beruht 
darin, dafi er das Absolute, aus dem er die Sprache seiner For- 
men entfaltet, als gewaltigsten Inhalt gegenwartig hat. Der 
Geist des Orients verfugt iiber die wirklichen Inhalte des Abso- 
luten, was schon in der Einheit von Religion Philosophie 
Kunst, vor allem in der Einheit von Religion und Leben sich 
anzeigt. Man hat oft gesagt, dafi im Mittelalter die Religion das 
Leben beherrschte. Aber erstens war die Herrscherin die Ekklesia, 
und zweitens findet zwischen herrschendem und beherrschtem 
Prinzip stets eine Trennung statt. Es ist eben fur den Geist des 
Mittelalters iiber alles bezeichnend, dafi seine Tendenz aufs 
Absolute, je radikaler sie auftritt, zugleich desto formaler ist. 
Die ungeheure mythologische Hinterlassenschaft der Antike ist 
noch nicht verloren gegangen, aber der Mafistab fur ihren Real- 
grund fehlt, und es sind nur Impressionen von ihrer Macht zu- 
riickgeblieben: der Ring Salomonis, der Stein der Weisen, die 
sibyllinischen Biicher. Die formale Idee der Mythologie: das 
Machtverleihende, das Magische ist dem Mittelalter lebendig. 
Aber in ihm kann diese Macht nicht mehr legitim sein: die Kir- 
che hat ihre Lehnsherren, die Gotter, vernichtet. Hier ist nun 
ein Ursprung des formalistischen Geists der Epoche. Sie sucht 



Ober das Mittelalter • Trauerspiel und Tragodie 133 

die Macht iiber die entgotterte Natur auf einem Umwege zu 
erlangen, sie treibt Magie ohne mythologische Grundlage. Es 
entsteht ein magischer Schema tismus. Man vergleiche die magi- 
sche Praxis der Antike mit der des Mittelalters im Reich der 
Chemie: die antike Zauberei verwendet die Stoffe der Natur 
zu Tranken und Salben, die bestimmte Beziehung auf das mytho- 
logische Naturreich haben. Der Alchimist sucht - auf magischem 
Wege zwar - aber was? das Gold. - Analog verhalt es sich 
mit der Kunst.. Sie entspringt mit dem Ornament aus dem 
Mythischen. Das asiatische Ornament ist mythologisch gesattigt, 
das gotische Ornament ist rational-magisch geworden. Es 
wirkt, aber auf Menschen, nicht auf Gotter. Das Erhabene muft 
als Hohes und Hochstes erscheinen, die Gotik gibt die mechani- 
sche Quintessenz des Erhabenen, das Hohe, Schlanke, das po- 
tentiell unendlich Erhabene. Der Fortschritt ist automatisch. Die- 
selbe tiefe sehnsiichtige, entgotterte Aufterlichkeit liegt noch 
im malerischen Stil der deutschen Friihrenaissance und Botti- 
cellis. Das Gezierte dieser Phantastik entspringt aus dem For- 
malismus. Wo er den Zugang zum Absoluten eroffnen will, da 
verkleinert sich dieses gewissermafien im MafSstabe, und wie die 
Entfaltung des gotischen Stils nur in der drangvollen Enge mit- 
telalterlicher Stadte moglich war, so auch nur unter einer Weit- 
ansicht, die gewifl ihrem absoluten GrofienmaEstab nach kleiner 
gezirkelter als die der Antike, auch als die unsere, gewesen ist. 
Im hochsten Mittelalter war die antike Weltansicht endlich in 
hohem MaiSe vergessen, und in dieser verkleinerten Welt, die 
blieb, ist der scholastische Rationalismus und die sich selbst 
verzehrende Sehnsucht der Gotik entsprungen. 



Trauerspiel und Tragodie 

Die tiefere Erfassung des Tragischen hat vielleicht nicht nur und 
nicht sowohl von der Kunst als von der Geschichte auszugehen. 
Zum wenigsten aber ist zu vermuten, daft das Tragische nicht 
weniger eine Grenze des Reiches der Kunst bezeichnet, als des 
Gebiets der Geschichte. Die Zeit der Geschichte geht an bestimm- 
ten und hervorragenden Punkten ihres Verlaufs in die tragische 



134 Metaphysisch-geschichtsphilosophisdie Studien 

Zeit iiber: und zwar in den Aktionen der grofien Individuen. 
Zwischen Grofie im Sinn der Gesdiichte und Tragik besteht ein 
wesensnotwendiger Zusammenhang - der sich freilich nicht in 
Identitat auflosen lafit. Soviel aber kann bestimmt werden: Hi- 
storische Grofie ist in der Kunst nur tragisch zu gestalten. Die 
Zeit der Gesdiichte ist unendlich in jeder Richtung und unerfullt 
in jedem Augenblick. Das heifit es ist kein einzelnes empirisches 
Ereignis denkbar, das eine notwendige Beziehung zu der be- 
stimmten Zeitlage hatte, in der es vorfallt. Die Zeit ist fiir das 
empirische Geschehen nur eine Form, aber was wichtiger ist, 
eine als Form unerfullte. Das Geschehnis erfullt die formale 
Natur der Zeit in der es liegt nicht. Denn es ist ja nicht so zu 
denken, dafi Zeit nichts anderes sei als das Mafi, mit dem die 
Dauer einer mechanischen Veranderung gemessen wird. Diese 
Zeit ist freilich eine relatlv leere Form, deren Ausfiillung zu 
denken keinen Sinn bietet. Ein andres ist aber die Zeit der Ge- 
sdiichte als die der Mechanik. Die Zeit der Geschichte bestimmt 
weit mehr als die Moglichkeit von Raumveranderungen einer 
bestimmten Grofie und Regelmaftigkeit - namlich des Uhrzei- 
gerganges - wahrend simultaner Raumveranderungen kompli- 
zierter Struktur. Und ohne zu bestimmen, was Daruberhin- 
ausgehendes, was anderes die historische Zeit bestimme - ohne 
also ihren Unterschied von der mechanischen Zeit zu definieren 
- ist zu sagen, dafi die bestimmende Kraft der historischen Zeit- 
form von keinem empirischen Geschehen vollig erfafit und in 
keinem vollig gesammelt werden kann. Ein solches Geschehen, 
das im Sinne der Geschichte vollkommen sei, ist vielmehr durch- 
aus ein empirisches Unbestimmtes, namlich eine Idee. Diese 
Idee der erfullten Zeit heifk in der Bibel als deren beherrschen- 
de historische Idee: die messianische Zeit. In jedem Fall ist aber 
die Idee der erfullten historischen Zeit nicht zugleich als Idee 
einer individuellen Zeit gedacht. Diese Bestimmung, welche den , 
Sinn der Erfiilltheit naturlich ganz verwandelt, ist es, die die 
tragische Zeit von der messianischen unterscheidet. Die tragische 
Zeit verhalt sich zur letzteren, wie die individuell erfiillte zur 
gottlich erfullten Zeit. 

An ihrer unterschiedlichen Stellung zur historischen Zeit schei- 
den sich Trauerspiel und Tragodie. In der Tragodie stirbt der 
Held, da in der erfullten Zeit keiner zu leben vermag. Er stirbt 



Trauerspiel und Tragodie 1 3 j 

an Unsterblichkelt. Der Tod ist eine ironische Unsterblichkeit; 
das ist der Ursprung der tragisdien Ironic Der Ursprung der 
tragischen Schuld liegt im gleichen Bezirke. Sie beruht in jener 
eigenen, rein individuell erfiillten Zeit des tragisdien Helden. 
Diese eigene Zeit des tragischen Helden - die hier ebensowenig 
wie die historische Zeit definiert werden soil - zeichnet wie mit 
einem magischen Zirkel all seine Taten und sein ganzes Dasein. 
Wenn auf unbegreifliche Weise die tragische Verwicklung plotz- 
lich gegenwartig ist, wenn der kleinste Fehltritt zur Schuld fiihrt, 
wenn das kleinste Versehen, der unwahrscheinlichste Zufall den 
Tod bringt, wenn die scheinbar alien zuganglichen Worte der 
Verstandigung und Losung nicht gesprochen werden, so ist 
es jener eigentiimliche Einfluf?, den die Zeit des Helden auf alles 
Geschehen ausiibt, da in der erfiillten Zeit alles Geschehen deren 
Funktion ist. Fast paradox erscheint die Deutlichkeit dieser 
Funktion im Augenblick der volligen Passivitat des Helden, da 
gleichsam die tragische Zeit wie eine Blume aufbricht, aus deren 
Kelch der herbe Duft der Ironie steigt. Denn nicht selten sind es 
die volligen Ruhepausen, gleichsam der Schlaf des Helden, in 
dem sich das Verhangnis seiner Zeit erfiillt, und gleichermafien 
tritt die Bedeutung der erfiillten Zeit im tragischen Schicksal 
in den grofien Momenten der Passivitat hervor: im tragischen 
Entschlufi, im retardierenden Moment, in der Katastrophe. 
Shakespeares tragisches MafS beruht in der Grofk, mit der er die 
verschiednen Stadien der Tragik wie Wiederholungen eines 
Themas von einander abhebt und prazisiert. Dagegen zeigt die 
Tragodie der Alten ein immer gewaltigeres Anwachsen der tra- 
gischen Gewalten, sie kennen das tragische Schicksal, Shake- 
speare den tragischen Helden, die tragische Aktion. Goethe 
nennt ihn mit Recht romantisch. 

Der Tod der Tragodie ist eine ironische Unsterblichkeit; ironisch 
aus iibergroEer Determiniertheit; der tragische Tod ist iiberbe- 
stimmt, dies ist der eigentliche Ausdruck der Schuld des Helden. 
Hebbel war vielleicht auf dem rechten Wege mit der Auffassung 
der Individuation als der Urschuld; aber es kommt alles darauf 
an, wogegen die Schuld der Individuation verstofit. In dieser 
Form lafk sich die Frage nach dem Zusammenhang von Geschich- 
te und Tragik fassen. Es handelt sich nicht um eine Individua- 
tion, die mit Bezug auf den Menschen zu erfassen ist. Der Tod 



136 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

des Trauerspiels beruht nicht auf jener aufiersten Determiniert- 
heit, die die individuelle Zeit dem Geschehen erteilt. Er ist kein 
Abschluft, ohne Gewifiheit des hohern Lebens und ohne Ironie 
ist er die [xetdpaaig alien Lebens elg alio yevog. Das Trauer- 
spiel ist mathematisch vergleichbar dem einen Zweig der Hyper- 
bel, deren andrer im Unendlichen liegt. Es gilt das Gesetz eines 
hohern Lebens in dem beschrankten Raum des Erdendaseins, 
und alle spielen, bis der Tod das Spiel beendet, urn in einer an- 
dern Welt die grofiere Wiederholung des gleichen Spiels fortzu- 
treiben. Die Wiederholung ist es, auf der das Gesetz des Trauer- 
spiels beruht. Seine Geschehnisse sind gleichnishafte Schemen, 
sinnbildliche Spiegelbilder eines andern Spiels. In dieses Spiel 
entriickt der Tod. Die Zeit des Trauerspiels ist nicht erfullt und 
dennoch endlich. Sie ist unindividuell, ohne von historischer All- 
gemeinheit zu sein. Das Trauerspiel ist in jedem Sinne eine 
Zwischenform. DieAllgemeinheit seiner Zeit ist geisterhaft, nicht 
mythisch. Es hangt im Innersten mit jener eigentiimlichen Spie- 
gelnatur des Spiels zusammen, dafi die Zahl seiner Akte gerade 
ist. Hierfur ist, wie in alien andern gedachten Beziehungen, 
Schlegels Alarcos das Beispiel, wie es allgemein ein sehr her- 
vorragender Gegenstand der Analyse des Trauerspiels ist. Rang 
und Stand seiner Personen sind koniglich, wie es im vollendeten 
Trauerspiel, um seiner sinnbildlichen Bedeutung willen, nicht 
anders sein darf. Dieses Drama ist geadelt durch die Distanz, 
die uberall Bild und Spiegelbild, Bedeutendes und Bedeutetes 
trennt. So ist das Trauerspiel freilich nicht Bild eines hoheren 
Lebens, sondern nichts als das eine von zwei Spiegelbildern, 
und seine Fortsetzung ist nicht minder schemenhaft als es selbst. 
Die Toten werden Gespenster. Das Trauerspiel erschopft kiinst- 
lerisch die historische Idee der Wiederholung; es ergreift mi thin 
ein ganz anderes Problem als die Tragodie. Schuld und Grofie 
beanspruchen im Trauerspiel um so viel geringere Bestimmtheit 
- geschweige Uberbestimmtheit - als sie grofkre Ausdehnung, 
allgemeinste Erstreckung verlangen, nicht um der Schuld und 
Grofte willen, aber um der Wiederholung willen jener Verhalt- 
nisse. 

Es hangt aber mit dem Wesen der zeitlichen Wiederholung zu- 
sammen, dafi auf ihr keine Form geschlossen beruhen kann. 
Und wenn auch die Beziehung der Tragodie zur Kunst noch 



Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragodie 137 

problematisch bleibt, wenn audi sie vielleidit mehr und weni- 
ger als eine Kunstform ist, so ist sie doch in jedem Falle ge- 
schlossene Form. Ihr Zeitcharakter ist in der dramatisdien Form 
erschopft und gestaltet. Das Trauerspiel ist in sich ungeschlossen, 
audi Hegt die Idee seiner Auflosung nicht mehr innerhalb des 
dramatisdien Bezirks. Und dies ist der Punkt, an dem sieh - von 
der Analyse der Form aus - der Unterschied zwischen Trauer- 
spiel und Tragodie entscheidend ergibt. Der Rest des Trauer- 
spiels heifit Musik. Vielleidit steht ahnlich wie die Tragodie den 
Obergang historischer zu dramatisdier Zeit bezeichnet, das 
Trauerspiel am Obergang der dramatisdien Zeit in die Zeit der 
Musik. 



Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragodie 

Das Tragische beruht in einer Gesetzlidikeit der gesprochenen 
Rede zwischen Menschen. Es gibt keine tragische Pantomime. 
Es gibt audi kein tragisches Gedicht, keinen tragischen Roman, 
kein tragisches Ereignis. Das Tragische besteht nicht nur ausr 
schliefilich im Bereidl der dramatisdien menschlidien Rede; es 
ist sogar die einzige Form, die der menschlidien Wechselrede 
urspriinglich eignet. Das heifk es gibt keine Tragik aufter in 
der Wechselrede zwischen Menschen und es gibt keine Form einer 
solchen Wechselrede als die tragische. Uberall wo ein untragi- 
sches Drama erscheint, ist es nicht das Eigengesetz der Menschen- 
rede, das sich urspriinglich entfaltet, sondern es erscheint nur ein 
Gefiihl oder eine Beziehung in einem sprachlichen Zusammen- 
hang, einem sprachlichen Stadium. 

Die Wechselrede in ihren reinen Erscheinungen ist nicht traurig 
und audi nicht komisch, sondern tragisch. Insofern ist die Tra- 
godie die klassische und reine dramatische Form. Das Traurige 
hat sein Schwergewicht und seine tiefste und einzige Auspragung 
weder im dramatisdien Worte, noch im Wort iiberhaupt. Es 
gibt nicht nur Trauerspiele, und noch mehr: das Trauerspiel ist 
audi nicht das traurigste auf der Welt Sein, trauriger kann ein 
Gedicht sein, eine Erzahlung, ein Leben. Denn es ist Trauer 
nicht gleich der Tragik eine waltende Macht, das unauflosliche 



138 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

und unentrinnbare Gesetz von Ordnungen, die sich in der 
Tragodie besdiliefien, sondern sie ist ein Gefiihl. Welche me- 
taphysische Beziehung hat dies Gefiihl zum Worte, zur ge- 
sprochenen Rede? Das ist das Ratsel des Trauerspiels. Welche 
innere Beziehung im Wesen der Trauer lafit sie aus dem Dasein 
der reinen Gefiihle und in die Ordnung der Kunst treten? 
In der Tragodie entspringen Wort und Tragik zugleich, simul- 
tan, jeweils am selben Ort. Jede Rede in der Tragodie ist tra- 
gisch entscheidend. Es ist das reine Wort das unmittelbar tra- 
gisch ist. Wie Sprache iiberhaupt mit Trauer sich erfiillen mag 
und Ausdruck von Trauer sein kann, das ist die Grundfrage des 
Trauerspiels neben der ersten: wie Trauer als Gefiihl in die 
Sprachordnung der Kunst den Eintritt findet? Das Wort nach 
seiner reinen tragenden Bedeutung wirkend wird tragisch. Das 
Wort als reiner Trager seiner Bedeutung ist das reine Wort. 
Neben ihm aber besteht ein anderes, das sich verwandelt, von 
dem One seines Ursprungs nach einem andern, seiner Miindung 
gewandt. Das Wort in der Verwandlung ist das sprachhche Prin- 
zip des Trauerspiels. Es gibt ein reines Gefiihlsleben des Wor- 
tes, in dem es sich vom Laute der Natur zum reinen Laute 
des Gefiihls lautert. Diesem Wort ist die Sprache nur ein Durch- 
gangsstadium im Zyklus seiner Verwandlung und in diesem 
Worte spricht das Trauerspiel. Es beschreibt den Weg vom 
Naturlaut iiber die Klage zur Musik. Es legt sich der Laut im 
Trauerspiel symphonisch auseinander, und dies ist zugleich das 
musikalische Prinzip seiner Sprache und das dramatische seiner 
Entzweiung und seiner Spaltung in Personen.Es ist Natur, die nur 
um der Reinheit ihrer Gefiihle willen ins Fegefeuer der Sprache 
steigt, und das Wesen des Trauerspiels ist schon in der alten 
Weisheit beschlossen, da£ alle Natur zu klagen begonne, wenn 
Sprache ihr verliehen wiirde. Denn es ist das Trauerspiel nicht 
der spharische Durchgang des Gefiihls durch die reine Welt der 
Worte miindend in Musik zuriick zur befreiten Trauer des seli- 
gen Gefiihls, sondern mitten auf diesem Wege sieht sich die 
Natur von Sprache verraten und jene ungeheure Hemmung des 
Gefiihls wird Trauer. So ist mit dem Doppelsinn des Wortes, 
mit seiner Bedeutung y die Natur ins Stocken gekommen, und 
wahrend die Schopfung sich in Reinheit ergiefien wollte, trug 
der Mensch ihre Krone. Dies ist die Bedeutung des Konigs im 



Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragodie 139 

Trauerspiel und dieses ist der Sinn der Haupt- und Staatsaktio- 
nen. Sie stellen die Hemmung der Natur dar, gleichsam eine 
ungeheure Stauung des Gefuhls, dem im Worte plotzlich eine 
neue Welt aufgeht, die Welt der Bedeutung, der gefiihllosen 
historischen Zeit, und wiederum ist der Konig Mensch zugleich - 
ein Ende der Natur - und zugleich Konig - Trager und Symbol 
der Bedeutung. Geschichte wird zugleich mit Bedeutung in der 
Menschensprache, diese Sprache erstarrt in der Bedeutung, die 
Tragik droht und der Mensch, die Krone der Schopfung, wird 
dem Gefiihl allein erhalten, indem er Konig wird: Symbol als 
Trager dieser Krone. Und die Natur des Trauerspieles bleibt 
Torso in diesem erhabenen Symbol, Trauer erfullt die sinnliche 
Welt, in der Natur und Sprache sich begegnen. 
Es durchdringen sich die beiden metaphysischen Prinzipien der 
Wiederholung im Trauerspiel und stellen seine metaphysische 
Ordnung dar: Cyklik und Wiederholung, Kreis und zwei. Denn 
es ist der Kreis des Gefuhls, der in der Musik sich schliefk, und 
es ist die Zwei des Wortes und seiner Bedeutung, welche die 
Ruhe der tiefen Sehnsucht zerstort und Trauer iiber die Natur 
verbreitet. Das Widerspiel zwischen Laut und Bedeutung bleibt 
dem Trauerspiel ein Geisterhaftes, Furchterliches, seine Natur 
wird von Sprache besessen die Beute eines endlosen Gefuhls wie 
Polonius, den in den Reflexionen Wahnsinn fafk. Das Spiel mufi 
aber die Erlosung finden, und fur das Trauerspiel ist das erlo- 
sende Mysterium die Musik; die Wiedergeburt der Gefiihle in 
einer ubersinnlichen Natur. 

Die Notwendigkeit der Erlosung macht das Spielhafte dieser 
Kunstform aus. Denn verglichen mit der Unwiderruflichkeit 
der Tragik, die eine letzte Wirklichkeit der Sprache und ihrer 
Ordnung ausmacht, mufi jedes Gebilde, dessen belebende Seele 
Gefiihl (der Trauer) ist, ein Spiel genannt werden. Das Trauer- 
spiel ruht nicht auf dem Grunde der wirklichen Sprache, es be- 
ruht auf dem Bewufksein von der Einheit der Sprache durch Ge- 
fiihl, die sich im Wort entfaltet. Mitten in dieser Entfaltung 
erhebt das verirrte Gefiihl die Klage der Trauer. Sie mu£ sich 
aber auflosen; auf dem Grunde eben jener vorausgesetzten Ein- 
heit geht sie in die Sprache des reinen Gefiihles iiber, in Musik. 
Trauer beschwort sich selbst im Trauerspiel, erlost sich aber 
auch selber. Diese Spannung und Losung des Gefuhls in seinem 



140 Metaphysisdi-gesdiichtsphilosophische Studien 

eigenen Bereiche ist Spiel. In ihm ist die Trauer nur ein Ton in 
der Skala der Gefiihle, und so gibt es sozusagen kein reines 
Trauerspiel, da die mannigfachen Gefiihle des Komischen, Fiirch- 
terlichen, Scliauervollen und viele andere im Reigen stehen. Der 
Stil im Sinne der Einheit iiber Gefiihlen bleibt der Tragodie 
vorbehalten. Die Welt des Trauerspiels ist eine besondere, die 
ihre grofie und ebenbiirtige Geltung audi gegeniiber der Trago- 
die behauptet. Sie ist die Statte der eigentlichen Empfangnis des 
Wortes und der Rede in der Kunst, noch wiegen in gleichen 
Schalen Vermogen cier Sprache und des Gehors, ja endlich 
kommt alles auf das Ohr der Klage an, denn erst die tiefst ver- 
nommene und gehorte Klage wird Musik. Wo in der Tragodie 
die ewige Starre des gesprochenen Wortes sich erhebt, sammelt 
das Trauerspiel die endlose Resonanz seines Klanges. 



Ober Sprache uberhaupt und uber die Sprache des 
Menschen 

Jede Aufierung menschlichen Geisteslebens kann als eine Art 
der Sprache aufgefafk werden, und diese Auffassung erschliefit 
nach Art einer wahrhaften Methode iiberall neue Fragestellun- 
gen. Man kann von einer Sprache der Musik und der Plastik 
reden, von einer Sprache der Justiz, die niclits mit denjenigen, in 
denen deutsche oder englische Rechtsspriiche abgefafit sind, un- 
mittelbar zu tun hat, von einer Sprache derTechnik, die nicht die 
Fachsprache der Techniker ist. Sprache bedeutet in solchem 2u- 
sammenhang das auf Mitteilung geistiger Inhalte gerichtete Prin- 
zip in den betreffenden Gegenstanden: in Technik, Kunst, 
Justiz oder Religion. Mit einem Wort: jede Mitteilung geistiger 
Inhalte ist Sprache, wobei die Mitteilung durch das Wort nur 
ein besonderer Fall, der der menschlichen, und der ihr zugrunde 
liegenden oder auf ihr fundierten (Justiz, Poesie), ist. Das Da- 
sein der Sprache erstreckt sich aber nicht nur iiber alle Gebiete 
menschlicher Geistesaufkrung, der in irgendeinem Sinn immer 
Sprache innewohnt, sondern es erstreckt sich auf schlechthin 
alles. Es gibt kein Geschehen oder Ding weder in der belebten 
noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an 



t)ber Spradie iiberhaupt und iiber die Sprache des Menschen 141 

der Sprache teilhatte, denn es ist jedem wesentlich, seinen geisti- 
gen Inhalt mitzuteilen. Eine Metapher aber ist das Wort »Spra- 
che« in solchem Gebrauche durchaus nicht. Denn es ist eine voile 
inhaltliche Erkenntnis, dafi wir uns nichts vorstellen konnen, 
das sein geistiges Wesen nicht im Ausdruck mitteilt; der grofiere 
oder geringere Bewufkseinsgrad, mit dem solche Mitteilung 
scheinbar (oder wirklich) verbunden ist, kann daran nichts an- 
dern, daft wir uns vollige Abwesenheit der Sprache in nichts vor- 
stellen konnen. Ein Dasein, welches ganz ohne Beziehung zur 
Sprache ware, ist eine Idee; aber diese Idee laftt sich audi im Be- 
zirk der Ideen, deren Umkreis diejenige Gottes bezeichnet, nicht 
fruchtbar machen. 

Nur soviel ist richtig, daft in dieserTerminologie jeder Ausdruck, 
sofern er eine Mitteilung geistiger Inhalte ist, der Sprache beige- 
zahlt wird. Und allerdings ist der Ausdruck seinem ganzen und 
innersten Wesen nach nur als Sprache zu verstehen; andererseits 
mufi man, um ein sprachliches Wesen zu verstehen, immer fra- 
gen, fur welches geistige Wesen es denn der unmittelbare Aus- 
druck sei. Das heifit: die deutsche Sprache z. B. ist keineswegs 
der Ausdruck fur alles, was wir durch sie - vermeintlich - 
ausdriicken konnen, sondern sie ist der unmittelbare Ausdruck 
dessen, was sich in ihr mitteilt. Dieses »Sich« ist ein geistiges We- 
sen. Damit ist es zunachst selbstverstandlich, daft das geistige 
Wesen, das sich in der Sprache mitteilt, nicht die Sprache selbst, 
sondern etwas von ihr zu Unterscheidendes ist. Die Ansicht, daft 
das geistige Wesen eines Dinges eben in seiner Sprache besteht - 
diese Ansicht als Hypothesis verstanden, ist der grofte Abgrund, 
dem alle Sprachtheorie zu verfallen droht 1 , und iiber, gerade 
iiber ihm sich schwebend zu erhalten ist ihre Aufgabe. Die Un- 
terscheidung zwischen dem geistigen Wesen und dem sprach- 
lichen, in dem es mitteilt, ist die urspriinglichste in einer sprach- 
theoretischen Untersuchung, und es scheint dieser Unterschied 
so unzweifelhaft zu sein, daft vielmehr die oft behauptete Iden- 
titat zwischen dem geistigen und sprachlichen Wesen eine tiefe 
und unbegreifliche Paradoxic bildet, deren Ausdruck man in 
dem Doppelsinn des Wortes Aoyog gefunden hat. Dennoch hat 
diese Paradoxic als Losung ihre Stelle im Zentrum der Sprach- 

1 Oder ist cs vielmehr die Versuchung, die Hypothesis an den Anfang zu setzen, 
die den Abgrund alien Philosophierons macht? 



142 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

theorie, bleibt aber Paradoxic und da unlosbar, wo sie am An- 

fangsteht. 

Was teilt die Sprache mit? Sie teilt das ihr entsprechende geistige 
Wesen mit. Es ist fundamental zu wissen, dafi dieses geistige We- 
sen sich in der Sprache mitteilt und nicht durch die Sprache. Es gibt 
also keinen Sprecher der Sprachen, wenn man damit den meint, 
der durch diese Sprachen sich mitteilt. Das geistige Wesen teilt 
sich in einer Sprache und nicht durch eine Sprache mit - das heifit: 
es ist nicht von auSen gleich dem sprachlichen Wesen. Das geisti- 
ge Wesen ist mit dem sprachlichen identisch, nur sofern es mitteil- 
bar ist. Was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, das ist sein 
sprachliches Wesen. Die Sprache teilt also das jeweilige sprach- 
liche Wesen der Dinge mit, ihr geistiges aber nur, sofern es unmit- 
telbar im sprachlichen beschlossen liegt, sofern es mitteilW ist. 
Die Sprache teilt das sprachliche Wesen der Dinge mit. Dessen 
klarste Erscheinung ist aber die Sprache selbst. Die Antwort auf 
die Frage: was teilt die Sprache mit? lautet also: Jede Sprache 
teilt sich selbst mit. Die Sprache dieser Lampe z. B. teilt nicht 
die Lampe mit (denn das geistige Wesen der Lampe, sofern es 
mitteilbar ist, ist durchaus nicht die Lampe selbst), sondern: die 
Sprach-Lampe, die Lampe in der Mitteilung, die Lampe im 
Ausdruck. Denn in der Sprache verhalt es sich so: Das sprach- 
liche Wesen der Dinge ist ihre Sprache. Das Verstandnis der 
Sprachtheorie hangt davon ab, diesen Satz zu einer Klarheit zu 
bringen, die auch jeden Schein einer Tautologie in ihm vernich- 
tet. Dieser Satz ist untautologisch, denn er bedeutet: das, was 
an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, ist seine Sprache. Auf 
diesem »ist« (gleich »ist unmittelbar«) beruht alles. - Nicht, 
was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, erscheint am klar- 
sten in seiner Sprache, wie noch eben im Ubergange gesagt wur- 
de, sondern dieses Mitteil^re ist unmittelbar die Sprache selbst. 
Oder: die Sprache eines geistigen Wesens ist unmittelbar das- 
jenige, was an ihm mitteilbar ist. Was an einem geistigen Wesen 
mitteilbar ist, in dem teilt es sich mit; das heiftt: jede Sprache 
teilt sich selbst mit. Oder genauer: jede Sprache teilt sich in 
sich selbst mit, sie ist im reinsten Sinne das »Medium« der Mit- 
teilung. Das Mediale, das ist die Unmittelb&rkeit aller geistigen 
Mitteilung, ist das Grundproblem der Sprachtheorie, und wenn 
man diese Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist das Ur- 



Uber Sprache iiberhaupt und iiber die Sprache des Menschen 143 

problem der Sprache ihre Magie. Zugleich deutet das Wort von 
der Magie der Sprache auf ein anderes: auf ihre Unendlichkeit. 
Sie ist durch die Unmhtelbarkeit bedingt. Denn gerade, weil 
durch die Sprache sich nichts mitteilt, kann, was in der Sprache 
sich mitteilt, nicht von aufien beschrankt oder gemessen werden, 
und darum wohnt jeder Sprache ihre inkommensurable einzig- 
geartete Unendlichkeit inne. Ihr sprachliches Wesen, nicht ihre 
verbalen Inhalte bezeichnen ihre Grenze. 

Das sprachliche Wesen der Dinge ist ihre Sprache; dieser Satz 
auf den Menschen angewandt besagt: Das sprachliche Wesen des 
Menschen ist seine Sprache. Das heifit: Der Mensch teilt sein 
eignes geistiges Wesen in seiner Sprache mit. Die Sprache des 
Menschen spricht aber in Worten. Der Mensch teilt also sein 
eignes geistiges Wesen (sofern es mitteilbar ist) mit, indem er 
alle anderen Dinge benennt. Kennen wir aber noch andere 
Sprachen, welche die Dinge benennen? Man wende nicht ein, wir 
kennten keine Sprache aufter der des Menschen, das ist unwahr. 
Nur keine benennende Sprache kennen wir aufter der mensch- 
lichen; mit einer Identifizierung von benennender Sprache mit 
Sprache iiberhaupt beraubt sich die Sprachtheorie der tiefsten 
Einsichten. - Das sprachliche Wesen des Menschen ist also, daft 
er die Dinge benennt. 

Wozu benennt? Wem teilt der Mensch sich mit? - Aber ist diese 
Frage beim Menschen eine andere als bei anderen Mitteilungen 
(Sprachen)? Wem teilt die Lampe sich mit? Das Gebirge? Der 
Fuchs? - Hier aber lautet die Antwort; dem Menschen. Das ist 
kein Anthropomorphismus. Die Wahrheit dieser Antwort 
erweist sich in der Erkenntnis und vielleicht auch in der Kunst. 
Zudem: wenn Lampe und Gebirge und der Fuchs sich dem 
Menschen nicht mitteilen wiirden, wie sollte er sie dann benen- 
nen? Aber er benennt sie; er teilt sich mit, indem er sie benennt. 
Wem teilt er sich mit? 

Ehe diese Frage zu beantworten ist, gilt es noch einmal zu prii- 
fen: Wie teilt der Mensch sich mit? Es ist ein tiefer Unterschied 
zu machen, eine Alternative zu stellen, vor der mit Sicherheit 
die wesentlich falsche Meinung von der Sprache sich verrat. Teilt 
der Mensch sein geistiges Wesen durch die Namen mit, die er 
den Dingen gibt? Oder in ihnen? In der Paradoxic dieser Fra- 
gestellung liegt ihre Beantwortung. Wer da glaubt, der Mensch 



1 44 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

teile sein geistiges Wesen dutch die Namen mit, der kann wie- 
derum nicht annehmen, dafi es sein geistiges Wesen sei, das er 
mitteile, - denn das geschieht nicht durch Namen von Dingen, 
also durch Worte, durch die er ein Ding bezeichnet. Und er kann 
wiederum nur annehmen, er teile eine Sache anderen Menschen 
mit, denn das geschieht durch das Wort, durch das ich ein Ding 
bezeichne. Diese Ansicht ist die biirgerliche Auffassung der Spra- 
che, deren Unhaltbarkeit und Leere sich mit steigender Deut- 
lichkeit im folgenden ergeben soil. Sie besagt: Das Mittel der 
Mitteilung ist das Wort, ihr Gegenstand die Sache, ihr Adressat 
ein Mensch. Dagegen kennt die andere kein Mittel, keinen Ge- 
genstand und keinen Adressaten der Mitteilung. Sie besagt: im 
Namen teilt das geistige Wesen des Menschen sich Gott mit. 
Der Name hat im Bereich der Sprache einzig diesen Sinn und 
diese unvergleichlich hohe Bedeutung: dafi er das innerste Wesen 
der Sprache selbst ist. Der Name ist dasjenige, durch das sich 
nichts mehr, und in dem die Sprache selbst und absolut sich mit- 
teilt. Im Namen ist das geistige Wesen, das sich mitteilt, die 
Sprache. Wo das geistige Wesen in seiner Mitteilung die Sprache 
selbst in ihrer absoluten Ganzheit ist, da allein gibt es den Na- 
men, und da gibt es den Namen allein. Der Name als Erbteil der 
Menschensprache verburgt also, dafi die Sprache schlechthin das 
geistige Wesen des Menschen ist; und nur darum ist das geistige 
Wesen des Menschen allein unter alien Geisteswesen restlos 
mitteilbar. Das begriindet den Unterschied der Menschensprache 
von der Sprache der Dinge. Weil das geistige Wesen des Men- 
schen aber die Sprache selbst ist, darum kann er sich nicht durch 
sie, sondern nur in ihr mitteilen. Der InbegrifF dieser intensiven 
Totalitat der Sprache als des geistigen Wesens des Menschen 
ist der Name. Der Mensch ist der Nennende, daran erkennen 
wir, daft aus ihm die reine Sprache spricht. Alle Natur, sofern 
sie sich mitteilt, teilt sich in der Sprache mit, also letzten Endes 
im Menschen. Darum ist er der Herr der Natur und kann die 
Dinge benennen. Nur durch das sprachliche Wesen der Dinge 
gelangt er aus sich selbst zu deren Erkenntnis - im Namen. 
Gottes Schopfung vollendet sich, indem die Dinge ihren Namen 
vom Menschen erhalten, aus dem im Namen die Sprache allein 
spricht. Man kann den Namen als die Sprache der Sprache be- 
zeichnen (wenn der Genetiv nicht das Verhaltnis f des Mittels, 



Ober Sprache uberhaupt und iiber die Sprache des Menschen 145 

sondern des Mediums bezeichnet) und in diesem Sinne ist aller- 
dings, weil er im Namen spricht, der Menscb. der Sprecher der 
Sprache, eben darum auch ihr einziger. In der Bezeichnung 
des Menschen als des Sprechenden (das ist aber z. B. nach der 
Bibel ofTenbar der Namen-Gebende: »wie der Mensch allerlei 
lebendige Tiere nennen wiirde, so sollten sie heifien«) schKefien 
viele Sprachen diese metaphysische Erkenntnis ein. 
Der Name ist aber nicht allein der letzte Ausruf, er ist auch der 
eigentliche Anruf der Sprache. Damit erscheint im Namen das 
Wesensgesetz der Sprache, nach dem sich selbst aussprechen und 
alles andere ansprechen dasselbe ist. Die Sprache - und in ihr 
ein geistiges Wesen - spricht sich nur da rein aus, wo sie im 
Namen spricht, das heifk: in der universellen Benennung. So 
gipfeln im Namen die intensive Totalitat der Sprache als des 
absolut mitteilbaren geistigen Wesens und die extensive Totali- 
tat der Sprache als des universell mitteilenden (benennenden) 
Wesens. Die Sprache ist ihrem mitteilenden Wesen, ihrer Uni- 
versalitat nach, da unvollkommen, wo das geistige Wesen, das 
aus ihr spricht, nicht in seiner ganzen Struktur sprachliches, das 
heifit mitteilbares ist. Der Mensch allein hat die nach Universa- 
litat und Intensitdt vollkommene Sprache. 
Angesichts dieser Erkenntnis ist nun ohne Gefahr der Verwir- 
rung eine Frage moglich, die zwar von hochster metaphysischer 
Wichtigkeit ist, aber an dieser Stelle in aller Klarheit zunachst 
als eine terminologische vorgebracht werden kann. Ob namlich 
das geistige Wesen - nicht nur des Menschen (denn das ist not- 
wendig) - sondern auch der Dinge und somit geistiges Wesen 
uberhaupt in sprachtheoretischer Hinsicht als sprachliches zu 
bezeichnen ist. Wenn das geistige Wesen mit dem sprachlichen 
identisch ist, so ist das Ding seinem geistigen Wesen nach Me- 
dium der Mitteilung, und was sich in ihm mitteilt, ist - gemafi 
dem medialen Verhaltnis - eben dies Medium (die Sprache) 
selbst. Sprache ist dann das geistige Wesen der Dinge. Es wird 
das geistige Wesen also von vornherein als mitteilbar gesetzt, 
oder vielmehr gerade in die Mitteilbarkeit gesetzt, und die 
Thesis: das sprachliche Wesen der Dinge ist mit ihrem geistigen, 
sofern letzteres mitteilbar ist, identisch, wird in ihrem »sofern« 
zu einer Tautologie. Einen Inhalt der Sprache gibt es nicht; als 
Mitteilung teilt die Sprache ein geistiges Wesen, d. i. eine Mit- 



146 Metaphysisch-geschiditsphilosophische Studien 

teilbarkeit schlechthin mit. Die Unterschiede der Sprachen sind 
solche von Medien, die sich gleichsam nach ihrer Dichte, also 
graduell, unterscheiden; und das in der zwiefachen Hinsicht nach 
der Dichte des Mitteilenden (Benennenden) und des Mitteilbaren 
(Namen) in der Mitteilung. Diese beiden Spharen, die rein ge- 
schieden und doch vereinigt nur in der Namensprache des Men- 
schen, entsprechen sich natiirlich standig. 

Fur die Metaphysik der Sprache ergibt die Gleichsetzung des 
geistigen mit dem sprachlichen Wesen, welches nur graduelle 
Unterschiede kennt, eine Abstufung alien geistigen Seins in 
Gradstufen. Diese Abstufung, die im Inneren des geistigen We- 
sens selbst stattfindet, lafit sich unter keine obere Kategorie 
mehr fassen, sie fiihrt daher auf die Abstufung aller geistigen 
wie sprachlichen Wesen nach Existenzgraden oder nach Seins- 
graden, wie sie beziiglich der geistigen schon die Scholastik ge- 
wohnt war. Die Gleichsetzung des geistigen mit dem sprachlichen 
Wesen ist aber in sprachtheoretischer Hinsicht von so grower 
mctaphysischer Tragweite, weil sie auf denjenigen BegrifT hin- 
fiihrt, der sich immer wieder wie von selbst im Zentrum der 
Sprachphilosophie erhoben hat und ihre innigste Verbindung 
mit der Religionsphilosophie ausgemacht hat. Das ist der Be- 
griff der Offenbarung. - Innerhalb aller sprachlichen Gestal- 
tung waltet der Widerstreit des Ausgesprochenen und Aussprech- 
lichen mit dem Unaussprechlichen und Unausgesprochenen. In 
der Betrachtung dieses Widerstreites sieht man in der Perspek- 
tive des Unaussprechlichen zugleich das letzte geistige Wesen. 
Nun ist es klar, dafi in der Gleichsetzung des geistigen mit dem 
sprachlichen Wesen dieses Verhaltnis der umgekehrten Propor- 
tionality zwischen beiden bestritten wird. Denn hier lautet die 
Thesis: je tiefer, d. h. je existenter und wirklicher der Geist, 
desto aussprechlicher und ausgesprochener, wie es denn eben im 
Sinne dieser Gleichsetzung liegt, die Beziehung zwischen Geist 
und Sprache zur schlechthin eindeutigen zu machen, so dafi der 
sprachlich existenteste, d. h. fixierteste Ausdruck, das sprachlich 
Pragnanteste und Unverriickbarste, mit einem Wort: das Aus- 
gesprochenste zugleich das reine Geistige ist. Genau das meint 
aber der Begriff der Offenbarung, wenn er die Unantastbarkeit 
des Wortes fur die einzige und hinreichende Bedingung und 
Kennzeichnung der Gottlichkeit des geistigen Wesens, das sich 



Ober Sprache iiberhaupt und iiber die Sprache des Menschen 147 

in ihm ausspricht, nimmt. Das hochste Geistesgebiet der Religion 
ist (im Begriff der Offenbarung) zugleich das einzige, welches 
das Unaussprechliche nicht kennt. Denn es wird angesprochen 
im Namen und spricht sich aus als Offenbarung. Hierin aber 
kiindigt sich an, dafi allein das hochste geistige Wesen, wie es in 
der Religion erscheint, rein auf dem Menschen und der Sprache 
in ihm beruht, wahrend alle Kunst, die Poesie nicht ausgenom- 
men, nicht auf dem allerletzten Inbegriff des Sprachgeistes, 
sondern auf dinglichem Sprachgeist, wenn auch in seiner voll- 
endeten Schonheit, beruht. »Sprache, die Mutter der Vernunft 
und Offenbarungy ihr A und Q«, sagt Hamann. 
Die Sprache selbst ist in den Dingen selbst nicht vollkommen 
ausgesprochen. Dieser Satz hat einen doppelten Sinn nach der 
ubertragenen und der sinnlichen Bedeutung: Die Sprachen der 
Dinge sind unvollkommen, und sie sind stumm. Den Dingen ist 
das reine sprachliche Formprinzip - der Laut - versagt. Sie 
konnen sich nur durch eine mehr oder minder stoffliche Ge- 
meinschaft einander mitteilen. Diese Gemeinschaft ist unmittel- 
bar und unendlich wie die jeder sprachlichen Mitteilung; sie ist 
magisch (denn es gibt auch Magie der Matene). Das Unvergleich- 
liche der menschlichen Sprache ist, daft ihre magische Gemein- 
schaft mit den Dingen immateriell und rein geistig ist, und da- 
fur ist der Laut das Symbol. Dieses symbolisdie Faktum spricht 
die Bibel aus, indem sie sagt, dafi Gott dem Menschen den Odem 
einblies: das ist zugleich Leben und Geist und Sprache. - 
Wenn im folgenden das Wesen der Sprache auf Grund der ersten 
Genesiskapitel betrachtet wird, so soil damit weder Bibelinter- 
pretation als Zweck verfolgt noch auch die Bibel an dieser Stelle 
objektiv als offenbarte Wahrheit dem Nachdenken zugrunde ge- 
legt werden, sondern das, was aus dem Bibeltext in Ansehung 
der Natur der Sprache selbst sich ergibt, soil aufgefunden wer- 
den; und die Bibel ist zundchst in dieser Absicht nur darum 
unersetzlich, weil diese Ausftihrungen im Prinzipiellen ihr darin 
folgen, dafi in ihnen die Sprache als eine letzte, nur in ihrer Ent- 
faltung zu betrachtende, unerklarliche und mystische Wirklichkeit 
vorausgesetzt wird. Die Bibel, indem sie sich selbst als Offen- 
barung betrachtet, mufi notwendig die sprachlichen Grund- 
tatsachen entwickeln. - Die zweite Fassung der Schopfungs- 
geschichte, die vom Einblasen des Odems erzahlt, berichtet 



148 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

zugleich, der Mensch sei aus Erde gernacht worden. Dies ist in der 
ganzen Schopfungsgeschichte die einzige Stelle, an der von einem 
Material des Schopfers die Rede ist, in welchem dieser seinen 
Willen, der sonst doch wohl unmittelbar schaffend gedacht ist, 
ausdriickt. Es ist in dieser zweiten Schopfungsgeschichte die Er- 
schaffung des Menschen nicht durch das Wort geschehen: Gott 
sprach - und es geschah -, sondern diesem nicht aus dem Worte 
geschaffenen Menschen wird nun die Gabe der Sprache beigelegt, 
und er wird iiber die Natur erhoben. 

Diese eigentiimliche Revolution des Schopfungsaktes, wo er sich 
auf den Menschen richtet, ist aber nicht minder deutlich in der 
ersten Schopfungsgeschichte niedergelegt, und in einem ganz 
anderen Zusammenhange verburgt er mit gleicher Bestimmtheit 
den besonderen Zusammenhang zwischen Mensch und Sprache 
aus dem Akte der Schopfung heraus. Die mannigfache Rhyth- 
mik der Schopfungsakte des ersten Kapitels lafit doch eine Art 
Grundform zu, von der allein der den Menschen erschaffende 
Akt bedeutsam abweicht. Zwar handelt es sich hier nirgends 
weder bei Mensch noch Natur um eine ausdruckliche Beziehung 
auf das Material, aus dem sie geschaffen wurden; und ob jeweils 
in den Worten: »er machte« an ein SchafTen aus Materie etwa 
gedacht ist, mufi hier dahingestellt bleiben. Aber die Rhyth- 
mik, nach der sich die Schopfung der Natur (nach Genesis 1) 
vollzieht, ist: Es werde - Er machte (schuf) - Er nannte. - In 
einzelnen Schopfungsakten (1,3; 1,14) tritt allein das »Es wer- 
de« auf. In diesem »Es werde « und in dem »Er nannte« am An- 
fang und Ende der Akte erscheint jedesmal die tiefe deutliche 
Beziehung des Schopfungsaktes auf die Sprache. Mit der schaf- 
fenden Allmacht der Sprache setzt er ein, und am Schlufi einver- 
leibt sich gleichsam die Sprache das GeschafTene, sie benennt es. 
Sie ist also das SchafTende, und das Vollendende, sie ist Wort 
und Name. In Gott ist der Name schopferisch, weil er Wort ist, 
und Gottes Wort ist erkennend, weil es Name ist. »Und er sah, 
dafl es gut war«, das ist: er hatte es erkannt durch den Namen. 
Das absolute Verhaltnis des Namens zur Erkenntnis besteht 
allein in Gott, nur dort ist der Name, weil er im innersten mit 
dem scharTenden Wort identisch ist, das reine Medium der Er- 
kenntnis. Das heifk: Gott machte die Dinge in ihren Namen er- 
kennbar. Der Mensch aber benennt sie maften der Erkenntnis. 



Uber Sprache iiberhaupt und uber die Sprache des Menschen 149 

In der Schopfung des Menschen ist die dreifache Rhythmik der 
Naturschopfung einer ganz anderen Ordnung gewichen. In ihr 
hat also die Sprache eine andere Bedeutung; die Dreiheit des 
Aktes ist auch hier erhalten, aber um so machtiger bekundet sich 
eben im Parallelismus der Abstand: in dem dreifachen: »Er schuf « 
des Verses 1,27. Gott hat den Menschen nicht aus dem Wort 
geschaffen, und er hat ihn nicht benannt. Er wollte ihn nicht der 
Sprache unterstellen, sondern im Menschen entliefi Gott die 
Sprache, die ihm als Medium der Schopfung gedient hatte, frei 
aus sich. Gott ruhte, als er im Menschen sein Schopferisches 
sich selbst iiberliefL Dieses Schopferische, seiner gottlichen Ak- 
tualitat entledigt, wurde Erkenntnis. Der Mensch ist der Er- 
kennende derselben Sprache, in der Gott Schopfer ist. Gott 
schuf ihn sich zum Bilde, er schuf den Erkennenden zum Bilde 
des Schaffenden. Daher bedarf der Satz: Das geistige Wesen 
des Menschen ist die Sprache, der Erklarung. Sein geistiges We- 
sen ist die Sprache, in der geschaffen wurde. Im Wort wurde 
geschaffen, und Gottes sprachliches Wesen ist das Wort. Alle 
rnenschliche Sprache ist nur Reflex des Wortes im Namen. Der 
Name erreicht so wenig das Wort wie die Erkenntnis die Schaf- 
fung. Die -Unendlichkeit aller menschlichen Sprache bleibt im- 
mer eingeschrankten und analytischen Wesens im Vergleich 
mit der absoluten uneingeschrankten und schaffenden Unend- 
lichkeit des Gotteswortes. 

Das tiefste Abbild dieses gottlichen Wortes und der Punkt, an 
dem die Menschensprache den innigsten Anteil an der gottlichen 
Unendlichkeit des blofien Wortes erlangt, der Punkt, an dem 
sie nicht endliches Wort und Erkenntnis nicht werden kann: 
das ist der rnenschliche Namen. Die Theorie des Eigennamens 
ist die Theorie von der Grenze der endlichen gegen die unend- 
liche Sprache. Von alien Wesen ist der Mensch das einzige, das 
seinesgleichen selbst benennt, wie es denn das einzige ist, das 
Gott nicht benannt hat. Vielleicht ist es kiihn, aber kaum un- 
moglich, den Vers 2,20 in seinem zweiten Teile in diesem Zu- 
sammenhang zu nennen: daft der Mensch alle Wesen be- 
nannte, »aher fur den Menschen ward keine Gehilfin gefunden, 
die um ihn ware«. Wie denn auch Adam sein Weib, alsobald er 
es bekommen hat, benennt. (Mannin im zweiten Kapitel, Heva 
im dritten.) Mit der Gebung des Namens weihen die Eltern 



150 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

ihre Kinder Gott; dem Namen, den sie hier geben, entspricht - 
metaphysisch, nicht etymologisch verstanden - keine Erkenntnis, 
wie sie die Kinder ja auch neugeboren benennen. Es sollte im 
strengen Geist auch kein Mensch dem Namen (nach seiner 
etymologischen Bedeutung) entsprechen, denn der Eigenname ist 
Wort Gottes in menschlichen Lauten. Mit ihm wird jedem Men- 
schen seine Erschaffung durch Gott verbiirgt, und in diesem 
Sinne ist er selbst schaffend, wie die mythologische Weisheit 
es in der Anschauung ausspricht (die sich wohl nicht selten fin- 
det), dafi sein Name des Menschen Schicksal sei. Der Eigenname 
ist die Gemeinschaft des Menschen mit dem scbopferischen Wort 
Gottes. (Es ist dies nicht die einzige, und der Mensch kennt nocli 
eine andere Sprachgemeinschaft mit Gottes Wort.) Durch das 
Wort ist der Mensch mit der Sprache der Dinge verbunden. Das 
menschliche Wort ist der Name der Dinge. Damit kann die Vor- 
stellung nicht mehr aufkommen, die der burgerlichen Ansicht 
der Sprache entspricht, dafi das Wort zur Sache sich zufallig ver- 
halte, dafi es ein durch irgendwelche Konvention gesetztes Zei- 
chen der Dinge (oder ihrer Erkenntnis) sei. Die Sprache gibt 
niemals blofie Zeichen. MifJverstandlich ist aber auch die Ab- 
lehnung der burgerlichen durch die mystische Sprachtheorie. 
Nach ihr namlich ist das Wort schlechthin das Wesen der Sache. 
Das ist unrichtig, weil die Sache an sich kein Wort hat, geschaf- 
fen ist sie aus Gottes Wort und erkannt in ihrem Namen nach 
dem Menschenwort. Diese Erkenntnis der Sache ist aber nicht 
spontane Schopfung, sie geschieht nicht aus der Sprache absolut 
uneingeschrankt und unendlich wie diese; sondern es beruht 
der Name, den der Mensch der Sache gibt, darauf, wie sie 
ihm sich mitteilt. Im Namen ist das Wort Gottes nicht schaf- 
fend geblieben, es ist an einem Teil empfangend, wenn auch 
sprachempfangend, geworden. Auf die Sprache der Dinge selbst, 
aus denen wiederum lautlos und in der stummen Magie der 
Natur das Wort Gottes hervorstrahlt, ist diese Empfangnis 
gerichtet. 

Fur Empfangnis und Spontaneitat zugleich, wie sie sich in die- 
ser Einzigartigkeit der Bindung nur im sprachlichen Bereich fin- 
den, hat aber die Sprache ihr eigenes Wort, und dieses Wort 
gilt auch von jener Empfangnis des Namenlosen im Namen. Es 
ist die Obersetzung der Sprache der Dinge in die des Menschen. 



Uber Sprache tiberhaupt und uber die Sprache des Menschen 151 

Es 1st notwendig,. den Begriff der Obersetzung in der tiefsten 
Schicht der Sprachtheorie zu begriinden, denn er ist viel zu 
weittragend und gewaltig, um in irgendeiner Hinsicht nach- 
traglich, wie bisweilen gemeint wird, abgehandelt werden zu 
konnen. Seine voile Bedeutung gewinnt er in der Einsicht, dafi 
jede hohere Sprache (mit Ausnahme des Wortes Gottes) als 
Obersetzung aller anderen betrachtet werden kann. Mit dem 
erwahnten Verhaltnis der Sprachen als dem von Medien ver- 
schiedener Dichte ist die Obersetzbarkeit der Sprachen ineinan- 
der gegeben. Die Obersetzung ist die Oberfiihrung der einen 
Sprache in die andere durch ein Kontinuum von Verwandlun- 
gen, Kontinua der Verwandlung, nicht abstrakte Gleichheks- 
und Ahnlichkeitsbezirke durchmifit die "Obersetzung. 
Die Obersetzung der Sprache der Dinge in die des Menschen ist 
nicht nur Obersetzung des Stummen in das Lauthafte, sie ist die 
Obersetzung des Namenlosen in den Namen. Das ist also die 
Obersetzung einer unvollkommenen Sprache in eine vollkom- 
menere, sie kann nicht anders als etwas dazu tun, namlich die 
Erkenntnis. Die Objektivitat dieser Obersetzung ist aber in 
Gott verbiirgt. Denn Gott hat die Dinge geschaffen, das schaf- 
fende Wort in ihnen ist der Keim des erkennenden Namens, 
wie Gott auch am Ende jedes Ding benannte, nachdem es ge- 
schaffen war. Aber offenbar ist diese Benennung nur der Aus- 
druck der Identitat des schaffenden Wortes und des erkennenden 
Namens in Gott, nicht die vorhergenommene Losung jener Auf- 
gabe, die Gott ausdriicklich dem Menschen selbst zuschreibt: 
namlich die Dinge zu benennen. Indem er die stumme namen- 
lose Sprache der Dinge empfangt und sie in den Namen in 
Lauten iibertragt, lost der Mensch diese Aufgabe. Unlosbar ware 
sie, ware nicht die Namensprache des Menschen und die namen- 
lose der Dinge in Gott verwandt, entlassen aus demselben schaf- 
fenden Wort, das in den Dingen Mitteilung der Materie in magi- 
scher Gemeinschaft, im Menschen Sprache des Erkennens und 
Namens in seligem Geiste geworden ware. Hamann sagt: »Alles, 
was der Mensch am Anfange horte, mit Augen sah . . . und seine 
Hande betasteten, war . . . lebendiges Wort; denn Gott war 
das Wort. Mit diesem Worte im Mund und im Herzen war der 
Ursprung der Sprache so natiirlich, so nahe und leicht, wie ein 
Kinderspiel . . .«. Der Maler Muller in seiner Dichtung »Adams 



152 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

erstes Erwachen und erste selige Nachte« lafk Gott mit diesen 
Worten den Menschen zur Namengebung aufrufen: »Mann von 
Erde, tritt nahe, am Anschauen werde vollkommner, voll- 
kommner werde durchs WortU In dieser Verbindung von An- 
schauung und Benennung ist innerlich die mitteilende Stumm- 
heit der Dinge (der Tiere) auf die Wortsprache des Menschen zu 
gemeint, die sie im Namen aufnimmt. In demselben Kapitel der 
Dichtung spricht aus dem Dichter die Erkenntnis, dafi nur das 
Wort, aus dem die Dinge geschaffen sind, ihre Benennung dem 
Menschen erlaubt, indem es sich in den mannigfachen Sprachen 
der Tiere, wenn auch stumm, mitteilt in dem Bild: Gott gibt 
den Tieren der Reihe nach ein Zeichen, auf das hin sie vor den 
Menschen zur Benennung treten. Auf eine fast sublime Weise 
ist so die Sprachgemeinschaft der stummen Schopfung mit Gott 
im Bilde des Zeichens gegeben. 

Wie das stumme Wort im Dasein der Dinge so unendlich weit 
unter dem benennenden Wort in der Erkenntnis des Menschen 
zuriickbleibt, wie wiederum dieses wohl unter dem schaffenden 
Wort Gottes, so ist der Grund fiir die Vielheit menschlicher 
Sprachen gegeben. Die Sprache der Dinge kann in die Sprache 
der Erkenntnis und des Namens nur in der Obersetzung ein- 
gehen — soviel Obersemmgen, soviel Sprachen, sobald namlich 
der Mensch einmal aus dem paradiesischen Zustand, der nur 
eine Sprache kannte, gefallen 1st. (Nach der Bibel stellt diese 
Folge der Austreibung aus dem Paradiese allerdings erst spater 
sich ein.) Die paradiesische Sprache des Menschen mufi die voll- 
kommen erkennende gewesen sein; wahrend spater noch einmal 
alle Erkenntnis in der Mannigfaltigkeit der Sprache sich unend- 
lich diff erenziert, auf einer niederen . Stufe als Schopfung im 
Namen uberhaupt sich differenzieren mufite. Dafi namlich die 
Sprache des Paradieses vollkommen erkennend gewesen sei, 
vermag auch das Dasein des Baumes der Erkenntnis nicht zu 
verhehlen. Seine Apfel sollten die Erkenntnis verleihen, was 
gut und bose sei. Gott aber hatte schon am siebenten Tage mit 
den Worten der Schopfung erkannt. Und siehe, es war sehr gut. 
Die Erkenntnis, zu der die Schlange verfiihrt, das Wissen, was 
gut sei und bose, ist namenlos. Es ist im tiefsten Sinne nichtig, 
und dieses Wissen eben selbst das einzige Bose, das der para- 
diesische Zustand kennt. Das Wissen um gut und bose verlafk 



"Ober Sprache iiberhaupt und iiber die Sprache des Menschen 153 

den Namen, es ist eine Erkenntnis von aufien, die unschopfe- 
rische Nachahmung des schaffenden Wortes. Der Name tritt aus 
sich selbst in dieser Erkenntnis heraus: Der Siindenfall ist die Ge- 
burtsstunde des menschlichen Wortes, in dem der Name nicht 
mehr unverletzt lebte, das aus der Namensprache, der erkennen- 
den, man darf sagen: der immanenten eigenen Magie heraustrat, 
um ausdriicklidi, von aufien gleichsam, magisch zu werden. Das 
Wort soil etwas mitteilen (aufier sich selbst). Das ist wirklich 
der Siindenfall des Sprachgeistes. Das Wort als aufierlich mit- 
teilendes, gleichsam eine Parodie des ausdriicklich mittelbaren 
Wortes auf das ausdriicklich unmittelbare, das schaffende Got- 
teswort, und der Verfall des seligen Sprachgeistes, des adamiti- 
schen, der zwischen ihnen steht. Es besteht namlich in der Tat 
zwischen dem Worte, welches nach der Verheifiung der Schlange 
das Gute und Bose erkennt, und zwischen dem aufterlich mit- 
teilenden Worte im Grunde Identitat. Die Erkenntnis der Dinge 
beruht im Namen, die des Guten und Bosen ist aber in dem tie- 
fen Sinne, in dem Kierkegaard dieses Wort fafk, »Geschwatz« 
und kennt nur eine Reinigung und Erhohung, unter die denn 
auch der geschwatzige Mensch, der Siindige, gestellt wurde; das 
Gericht. Dem richtenden Wort ist allerdings die Erkenntnis von 
gut und bose unmittelbar. Seine Magie ist eine andere als die 
des Namens, aber gleich sehr Magie. Dieses richtende Wort ver- 
stofit die ersten Menschen aus dem Paradies; sie selbst haben es 
exzitiert, zufolge einem ewigen Gesetz, nach welchem dieses 
richtende Wort die Erweckung seiner selbst als die einzige, tief- 
ste Schuld bestraft - und erwartet. Im Siindenfall, da die ewige 
Reinheit des Namens angetastet wurde, erhob sich die strengere 
Reinhek des richtenden Wortes, des Urteils. Fur den Wesens- 
zusammenhang der Sprache hat der Siindenfall eine dreifache 
Bedeutung (ohne seine sonstige hier zu erwahnen). Indem der 
Mensch aus der reinen Sprache des Namens heraustritt, macht 
er die Sprache zum Mittel (namlich einer ihm unangemessenen 
Erkenntnis), damit auch an einem Teile jedenfalls zum bloflen 
Zeichen; und das hat spater die Mehrheit der Sprachen zur 
Folge. Die zweite Bedeutung ist, dafi nun aus dem Siindenfall 
als die Restitution der in ihm verletzten Unmittelbarkeit des 
Namens eine neue, die Magie des Urteils, sich erhebt, die nicht 
mehr selig in sich selbst ruht. Die dritte Bedeutung, deren. Ver- 



1 54 Metaphysisch-gescbichtsphilosophische Studien 

mutung sich vielleicht wagen lafit, ware, daf? audi der Ursprung 
der Abstraktion als eines Vermogens des Sprachgeistes im Sun- 
denfall zu suchen sei. Gut und bose namlich stehen als unbenenn- 
bar, als namenlos aufierhalb der Namensprache, die der Mensch 
eben im Abgrund dieser Fragestellung verlafit. Der Name bie- 
tet nun aber im Hinblick auf die bestehende Sprache nur den 
Grund, in dem ihre konkreten Elemente wurzeln. Die abstrak- 
ten Sprachelemente aber - so darf vielleicht vermutet werden - 
wurzeln im richtenden Worte, im Urteil. Die Unmittelbarkeit 
(das ist aber die sprachliche Wurzel) der Mitteilbarkeit der Ab- 
straktion ist im richterlichen Urteil gelegen.Diese Unmittelbarkeit 
in der Mitteilung der Abstraktion stellte sich richtend ein, als 
im Sundenfall der Mensch die Unmittelbarkeit in der Mitteilung 
des Konkreten, den Namen, verliefi und in den Abgrund der 
Mittelbarkeit aller Mitteilung, des Wortes als Mittel, des eitlen 
Wortes verfiel, in den Abgrund des Geschwatzes. Denn - noch 
einmal soil das gesagt werden - Geschwatz war die Frage nach 
dem Gut und Bose in der Welt nach der Schopfung. Der Baum 
der Erkenntnis stand nicht wegen der Aufschlusse uber Gut und 
Bose, die er zu geben vermocht hatte, im Garten Gottes, son- 
dern als Wahrzeichen des Gerichts uber den Fragenden. Diese 
ungeheure Ironie ist das Kennzeichen des mythischen Ursprungs 
des Rechtes. 

Nach dem Sundenfall, der in der Mittelbarmachung der Sprache 
den Grund zu ihrer Vielheit gelegt hatte, konnte es bis zur 
Sprachverwirrung nur noch ein Schritt sein. Da die Menschen 
die Reinheit des Namens verletzt hatten, brauchte nur noch die 
Abkehr von jenem Anschauen der Dinge, in dem deren Sprache 
dem Menschen eingeht, sich zu vollziehen, um die gemeinsame 
Grundlage des schon erschiitterten Sprachgeistes den Menschen 
zu rauben. Zeicben miissen sich verwirren, wo sich die Dinge 
verwickeln. Zur Verknechtung der Sprache im Geschwatz tritt 
die Verknechtung der Dinge in der Narretei fast als deren un- 
ausbleibliche Folge. In dieser Abkehr von den Dingen, die die 
Verknechtung war, entstand der Plan des Turmbaus und die 
Sprachverwirrung mit ihm. 

Das Leben des Menschen im reinen Sprachgeist war selig. Die . 
Natur aber ist stumm. Es ist zwar im zweiten Kapitel der Ge- 
nesis deutlich zu fiihlen, wie diese vom Menschen benannte 



Ober Sprache iiberhaupt und iiber die Sprache des Menschen 1 5 5 

Stummheit selbst Seligkeit nur niederen Grades geworden ist. 
Der Maler Miiller lafit Adam von den Tieren, die ihn verlassen, 
nachdem er sie benannt hat, sagen: »und sah an den Adel, wie 
sie von mir wegsprangen, darum dafi ihnen der Mann einen 
Namen gab.« Nach dem Siindenfall aber andert sich mit Gottes 
Wort, das den Acker verflucht, das Ansehen der Natur im tief- 
sten. Nun beginnt ihre andere Stummheit, die wir mit der tiefen 
Traurigkeit der Natur meinen. Es ist eine metaphysische Wahr- 
heit, dafi alie Natur zu klagen begonne, wenn Sprache ihr ver- 
liehen wiirde. (Wobei »Sprache verleihen« allerdings mehr ist 
als »machen, dafi sie sprechen kann«.) Dieser Satz hat einen 
doppelten Sinn. Er bedeutet zuerst: sie wiirde iiber die Sprache 
selbst klagen. Sprachlosigkeit: das ist das grofie Leid der Natur 
(und um ihrer Erlosung willen ist Leben und Sprache des 
Menschen in der Natur, nicht allein, wie man vermutet, des 
Dichters). Zweitens sagt dieser Satz: sie wiirde klagen. Die 
Klage ist aber der undifferenzierteste, ohnmachtige Ausdruck der 
Sprache, sie enthalt fast nur den sinnlichen Hauch; und wo auch 
nur Pflanzen rauschen, klingt immer eine Klage mit. Weil sie 
stumm ist, trauert. die Natur. Doch noch defer fiihrt in das 
Wesen der Natur die Umkehrung dieses Satzes ein: die Traurig- 
keit der Natur macht sie verstummen. Es ist in aller Trauer der 
tiefste Hang zur Sprachlosigkeit, und das ist unendlich viel mehr 
als Unfahigkeit oder Unlust zur Mitteilung. Das Traurige 
fuhlt sich so durch und durch erkannt vom Unerkennbaren. 
Benannt zu sein - selbst wenn der Nennende ein Gottergleicher 
und Seliger ist - bleibt vielleicht immer eine Ahnung von Trau- 
er. Wieviel mehr aber benannt zu sein, nicht aus der einen 
seligen Paradiesessprache der Namen, sondern aus den hunder- 
ten Menschensprachen, in denen der Namen schonwelkte, und die 
dennoch nach Gottes Spruch die Dinge erkennen. Die Dinge 
haben keine Eigennamen aufter in Gott. Denn Gott rief im 
schaffenden Wort freilich bei ihren Eigennamen sie hervor. In 
der Sprache der Menschen aber sind sie iiberbenannt. Im Ver- 
haltnis der Menschensprachen zu der der Dinge liegt etwas, was 
man als »Uberbenennung« annahernd bezeichnen kann: Uber- 
benennung als tiefster sprachlicher Grund aller Traurigkeit und 
(vom Ding aus betrachtet) alien Verstummens. Die Uberbe- 
nennung als sprachliches Wesen des Traurigen deutet auf ein 



156 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

anderes merkwiirdiges Verhaltnis der Sprache: auf die Oberbe- 
stimmtheit, die im tragischen Verhaltnis zwischen den Sprachen 
der sprechenden Menschen waltet. 

Es gibt eine Sprache der Plastik, der Malerei, der Poesie. So 
wie die Sprache der Poesie in der Namensprache des Menschen, 
wenn nicht allein, so doch jedenfalls mit fundiert ist, ebenso ist 
es sehr wohl denkbar, dafi die Sprache der Plastik oder Malerei 
etwa in gewissen Arten von Dingsprachen fundiert sei, dafi in 
ihnen eine Obersetzung der Sprache der Dinge in eine unendlich 
viel hohere Sprache, aber doch vielleicht derselben Sphare, vor- 
liegt. Es handelt sich hier um namenlose, unakustische Spra- 
chen, um Sprachen aus dem Material; dabei ist an die materiale 
Gemeinsamkeit der Dinge in ihrer Mitteilung zu denken. 
Obrigens ist die Mitteilung der Dinge gewifi von einer solchen 
Art von Gemeinschaftlichkeit, dafi sie die Welt iiberhaupt als 
ein ungeschiedenes Ganzes befafit. 

Fur die Erkenntnis der Kunstformen gilt der Versuch, sie alle 
als Sprachen aufzufassen und ihren Zusammenhang mit Natur- 
sprachen zu suchen. Ein Beispiel, das naheliegt, veil es der aku- 
stischen Sphare angehort, ist die Verwandtschaft des Gesanges 
mit der Sprache der Vogel. Andererseits ist gewifi, dafi die Spra- 
che der Kunst sich nur in tiefster Beziehung zur Lehre von den 
Zeichen verstehen lafit. Ohne diese bleibt iiberhaupt jede 
Sprachphilosophie ganzlich fragmentarisch, weil die Beziehung 
zwischen Sprache und Zeichen (wofiir die zwischen Menschen- 
sprache und Schrift nur ein ganz besonderes Beispiel bildet) ur- 
spriinglich und fundamental ist. 

Dies gibt Gelegenheit, einen anderen Gegensatz zu bezeichnen, der 
das gesamte Gebiet der Sprache durchwaltet und wichtige Be- 
ziehungen zu dem erwahnten von Sprache in engerem Sinne und 
Zeichen hat, die doch durchaus nicht ohne weiteres mit diesem zu- 
sammenfallt. Es ist namlich Sprache in jedem Falle nicht allein 
Mitteilung des Mitteilbaren, sondern zugleich Symbol des Nicht- 
Mitteilbaren. Diese symbolische Seite der Sprache hangt mit ihrer 
Beziehung zum Zeichen zusammen, aber erstreckt sich zum Bei- 
spiel in gewisser Beziehung auch iiber Name und Urteil. Diese ha- 
ben nicht allein eine mitteilende, sondern hochstwahrscheinlich 
auch eine mit ihr eng verbundene symbolische Funktion, auf die 
hier ausdrucklich wenigstens nicht hingewiesen wurde. 



Ober das Programm der kommenden Philosophic 157 

Demnach bleibt nach diesen Erwagungen ein gereinigter Begriff 
von Sprache zuriick, wenn der audi noch unvollkommen sein 
mag. Die Sprache eines Wesens ist das Medium, in dem sich sein 
geistiges Wesen mitteilt. Der ununterbrochene Strom dieser Mit- 
teilung fliefit durch die ganze Natur vom niedersten Existieren- 
den bis zum Menschen und vom Menschen zu Gott. Der Mensch 
teilt sich Gott durch den Namen mit, den er der Natur und 
seinesgleichen (im Eigennamen) gibt, und der Natur gibt er den 
Namen nach der Mitteilung, die er von ihr empfangt, denn auch 
die ganze Natur ist von einer namenlosen stummen Sprache 
durchzogen, dem Residuum des schaffenden Gotteswortes, wel- 
ches im Menschen als erkennender Name und iiber dem Menschen 
als richtendes Urteil schwebend sich erhalten hat. Die Sprache 
der Natur ist einer geheimen Losung zu vergleichen, die jeder 
Posten dem nachsten in seiner eigenen Sprache weitergibt, der 
Inhalt der Losung aber ist die Sprache des Postens selbst. Alle 
hohere Sprache ist Obersetzung der niederen, bis in der letzten 
Klarheit sich das Wort Gottes entfaltet, das die Einheit dieser 
Sprachbewegung ist. 



Ober das Programm der kommenden Philosophie 

Es ist die zentrale Aufgabe der kommenden Philosophie die 
tiefsten Ahnungen die sie aus der Zeit und dem Vorgefiihle 
einer grofSen Zukunft schopft durch die Beziehung auf das Kan- 
tische System zu Erkenntnis werden zu lassen. Die historische 
Kontinuitat die durch den Anschlufi an das Kantische System 
gewahrleistet wird ist zugleich die einzige von entscheidender 
systematischer Tragweite. Denn Kant ist von denjenigen Phi- 
losophen denen es nicht unmittelbar um den Umfang und die 
Tiefe, sondern vor Allem, und zu allererst, um die Rechtferti- 
gung der Erkenntnis ging der jiingste und nachst Platon auch 
wohl der Einzige. Diesen beiden Philosophen ist die Zuversicht 
gemeinsam, dafi die Erkenntnis von der wir die reinste Rechen- 
schaft haben zugleich die tiefste sein werde. Sie haben die For- 
derung der Tiefe aus der Philosophie nicht verbannt, sondern 
sie sind ihr in einziger Weise gerecht geworden indem sie sie mit 



1 5 8 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

der nach Rechtfertigung identifizierten. Je unabsehbarer und 
kiihner die Entfaltung der kommenden Philosophie sich ankiin- 
digt, desto tiefer mufi sie nach Gewiftheit ringen deren Krite- 
rium die systematische Einheit oder die Wahrheit ist. 
Die bedeutendste Hemmung welche dem Anschlufi einer wahr- 
haft zeit- und ewigkeitsbewufiten Philosophie an Kant sich 
bietet ist jedoch in Folgendem zu finden: diejenige Wirklichkeit 
deren Erkenntnis und mit der er die Erkenntnis auf Gewifiheit 
und Wahrheit griinden wollte, ist eine Wirklichkeit niedern, 
vielleicht niedersten Ranges. Das Problem der Kantischen wie 
jeder grofien Erkenntnistheorie hat zwei Seiten und nur der 
einen Seite hat er eine giiltige Erklarung zu geben vermocht. Es 
war erstens die Frage nach der Gewiftheit der Erkenntnis die 
bleibend ist; und es war zweitens die Frage nach der Dignitat 
einer Erfahrung die verganglich war. Denn das universale 
philosophische Interesse ist stets zugleich auf die zeitlose Giiltig- 
keit der Erkenntnis und auf die Gewifiheit einer zeitlichen Er- 
fahrung, die als deren nachster wenn nicht einziger Gegenstand 
betrachtet wird gerichtet. Nur ist den Philosophen diese Erfah- 
rung in ihrer gesamten Struktur nicht als eine singular zeitliche 
bewufk gewesen und sie war es audi Kant nicht. Hat Kant audi, 
vor Allem in den Prolegomena, die Prinzipien der Erfahrung 
aus den Wissenschaften und besonders der mathematischen Phy- 
sik abnehmen wollen, so war ihm doch zunachst und audi in der 
Kritik der reinen Vernunft die Erfahrung selbst und schlecht- 
hin nicht mit der Gegenstandswelt jener Wissenschaft identisch; 
und selbst wenn sie es ihm geworden ware so wie sie es den 
neukantischen Denkern geworden ist, so bliebe doch der so iden- 
tifizierte und bestimmte immer noch der alte Erfahrungsbegriff, 
dessen bezeichnendstes Merkmal seine Beziehung nicht nur auf 
das reine sondern zugleich audi auf das empirische Bewufitsein 
ist. Um eben das aber handelt es sich: um die Vorstellung von 
der nackten primitiven und selbstverstandlichen Erfahrung die 
Kant als Menschen der irgendwie den Horizont seines Zeitalters 
geteilt hat die einzig gegebene ja die einzig mogliche schien. 
Diese Erfahrung jedodi war, wie es schon angedeutet ist, eine 
singulare zeitlich beschrankte und iiber diese Form hinaus die 
sie in gewisser Weise mit jeder Erfahrung teilt, war diese Erfah- 
rung, die man audi im pragnanten Sinne Weltanschauung nen- 



Ober das Programm der kommenden Philosophic 159 

nen konnte, die der Aufklarung. Sie unterschied sich in den 
hier wesentlichsten Ziigen aber nicht allzusehr von der der iibri- 
gen Jahrhunderte der Neuzeit. Diese war eine der niedrigst 
stehenden Erfahrungen oder Anschauungen von der Welt. DaE 
Kant sein ungeheures Werk gerade unter der Konstellation der 
Aufklarung in Angriff nehmen konnte besagt, dafi dieses an 
einer gleichsam auf den Nullpunkt, auf das Minimum von 
Bedeutung reduzierten Erfahrung vorgenommen wurde. Ja man 
darf sagen, dafi eben die Grofie seines Versuches, der ihm eigene 
Radikalismus eine solche Erfahrung zur Voraussetzung hatte 
deren Eigenwert sich der Null naherte und die eine (wir diirfen 
sagen: traurige) Bedeutung nur durch ihre Gewifiheit hatte er- 
langen konnen.Kein vor-KantischerPhilosoph hat sich in diesem 
Sinne vor die erkenntnis-theoretische Aufgabe gestellt gesehen, 
keiner allerdings auch in dem Mafie freie Hand in ihr gehabt, da 
eine Erfahrung deren Quintessenz deren Bestes gewisse New- 
ton'sche Physik war derb und tyrannisch angefafk werden 
durfte ohne zu leiden. Autoritaten, nicht in dem Sinne daft 
man sich ihnen kritiklos hatte unterordnen miissen sondern als 
geistige Machte die der Erfahrung einen grofien Inhalt zu ge- 
ben vermocht hatten, gab es fur die Aufklarung nicht. Was das 
Niedere und Tiefstehende der Erfahrung jener Zeit ausmacht, 
worin ihr erstaunlich geringes spezifisch metaphysisches Gewicht 
liegt wird sich nur andeuten lassen in der Wahrnehmung wie 
dieser niedere Erfahrungsbegriff auch das Kantische Denken 
beschrankend beeinflufk hat. Es handelt sich dabei selbstver- 
standlich um denselben Tatbestand den man als die religiose 
und historische Blindheit der Aufklarung oft hervorgehoben hat 
ohne zu erkennen in welchem Sinne diese Merkmale der Auf- 
klarung der gesamten Neuzeit zukommen. 
Es ist von der hochsten Wichtigkeit fur die kommende Philoso- 
phic, zu erkennen und zu sondern welche Elemente des Kanti- 
schen Denkens aufgenommen und gepflegt welche umgebildet 
und welche verworfen werden miissen. Jede Forderung eines 
Anschliefiens an Kant beruht auf der Oberzeugung, da£ dieses 
System, welches eine Erfahrung vor sich fand deren metaphysi- 
scher Seite ein Mendelssohn und Garve gerecht geworden sind, 
aus der bis zum Genialen gesteigerten Nachforschung nach Ge- 
wifiheit und Rechtfertigung der Erkenntnis diejenige Tiefe ge- 



160 Metapliysisch-geschichtsphilosophische Studien 

schopft und entwickelt hat, die es einer nodi kommenden neuen 
und hohern Art der Erfahrung wird adaquat erscheinen lassen. 
Damit ist die Hauptforderung an die gegenwartige Philosophic 
aufgestellt und zugleich ihre Erfullbarkeit behauptet: unter 
der Typik des Kantischen Denkens die erkenntnistheoretische 
Fundierung eines hohern ErfahrungsbegrifFes vorzunehmen. Und 
das eben soil zum Thema der zu erwartenden Philosophic ge- 
macht werden, dafi eine gewisse Typik im Kantischen System 
aufzuzeigen und klar abzuheben ist die einer hohern Erfahrung 
gerecht zu werden vermag. Die Moglichkeit der Metaphysik hat 
Kant nirgends bestritten, nur die Kriterien will er aufgestellt 
haben an denen eine solche Moglichkeit im einzelnen Fall erwie- 
sen werden konnte. Die Erfahrung des Kantischen Zeitalters 
bedurfle keiner Metaphysik; zu Kants Zeit war es historisch das 
einzig Mogliche ihre Anspriiche zu vernichten, denn der An- 
spruch seiner Mitgenossen auf sie war Schwache oder Heuche- 
lei. Es handelt sich darum Prolegomena einer kiinftigen Meta- 
physik auf Grund der Kantischen Typik zu gewinnen und dabei 
diese kiinftige Metaphysik, diese hohere Erfahrung ins Auge 
zu fassen. 

Allein nicht nur von der Seite der Erfahrung und Metaphysik 
mufi der kiinftigen Philosophic die Revision Kants angelegen 
sein. Und methodisch, d. h. als eigentliche Philosophic liberhaupt 
nicht von dieser Seite sondern von Seiten des Erkenntnisbegriffes 
her. Die entscheidenden Irrtumer der Kantischen Erkenntnis- 
lehre sind wie nicht zu bezweifeln ist auch auf die Hohlheit der 
ihm gegenwartigen Erfahrung zuriickzufiihren, und so wird auch 
die Doppelaufgabe der SchafTung eines neuen Erkenntnisbegrif- 
fes und einer neuen Vorstellung von der Welt auf dem Boden 
der Philosophic zu einer einzigen werden. Die Schwache des 
Kantischen ErkenntnisbegrifTes ist oft gefiihlt worden indem 
der mangelnde Radikalismus und die mangelnde Konsequenz 
seiner Lehre gefiihlt worden ist. Kants Erkenntnistheorie er- 
schliefit das Gebiet der Metaphysik nicht weil sie selbst primitive 
Elemente einer unfruchtbaren Metaphysik in sich tragt welche 
jede andere ausschliefit. In der Erkenntnistheorie ist jedes 
metaphysische Element ein Krankheitskeim der sich in der Ab- 
schlieftung der Erkenntnis von dem Gebiet der Erfahrung in 
seiner ganzen Freiheit und Tiefe aufiert. Die Entwicklung der 



Ober das Programm der kommenden Philosophic 161 

Philosophic ist dadurch zu erwarten dafi jede Annihilierung 
dieser metaphysischen Elemente in der Erkenntnistheorie zu- 
gleich diese auf eine tiefere metaphysisch erfiillte Erfahrung 
verweist. Es besteht, und hier ruht der historische Keim der 
kommenden Philosophic, die tiefste Beziehung zwischen jener 
Erfahrung deren tiefere Erforschung nie und nimmer auf die 
metaphysischen Wahrheiten fiihren konnte und jener Theorie 
der Erkenntnis welche den logischen Ort der metaphysischen 
Forschung noch nicht ausreichend zu bestimmen vermochte; 
immerhin scheint der Sinn in dem Kant etwa den Terminus 
»Metaphysik der Natur« braucht durchaus in der Richtung der 
Erforschung der Erfahrung auf Grund erkenntnistheoretisch 
gesicherter Prinzipien zu liegen. Die Unzulanglichkeiten in Hin- 
sicht auf Erfahrung und Metaphysik auEern sich innerhalb der 
Erkenntnistheorie selbst als Elemente spekulativer (d. i. rudi- 
mentar gewordener) Metaphysik. Die wichtigsten dieser Ele- 
mente sind: erstens die bei Kant trotz aller Ansatze dazu nicht 
endgiiltig iiberwundene Auffassung der Erkenntnis als Bezie- 
hung zwischen irgendwelchen Subjekten und Objekten oder ir- 
gendwelchem Subjekt und Objekt; zweitens: die ebenfalls nur 
ganz ansatzweise iiberwundene Beziehung der Erkenntnis und 
der Erfahrung auf menschlich empirisches BewuEtsein. Diese bei- 
den Probleme hangen eng miteinander zusammen und selbst 
soweit Kant und die Neukantianer die Objektnatur des Dinges 
an sich als der Ursache der Empfindungen iiberwunden haben 
bleibt immer noch die Subjekt-Natur des erkennenden Bewuftt- 
seins zu eliminieren. Diese Subjekt-Natur des erkennenden Be- 
wufkseins riihrt aber daher dafi es in Analogie zum empirischen 
das dann freilich Objekte sich gegeniiber hat gebildet ist. Das 
Ganze ist ein durchaus metaphysisches Rudiment in der Erkennt- 
nistheorie; ein Stuck eben jener flachen »Erfahrung« dieser 
Jahrhunderte welches sich in die Erkenntnistheorie einschlich. 
Es ist namlich gar nicht zu bezweifeln dafi in dem Kantischen 
Erkenntnisbegriff die wenn auch sublimierte Vorstellung eines 
individuellen leibgeistigen Ich welches mittelst der Sinne die 
Empfindungen empfangt und auf deren Grundlage sich seine 
Vorstellungeh bildet die grofite Rolle spielt. Diese Vorstellung 
ist jedoch Mythologie und was ihren Wahrheitsgehalt angeht 
jeder andern Erkenntnismythologie gleichwertig. Wir wissen 



1 61 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

von Naturvolkern der sogenannten praanimistischen Stufe wel- 
che sich mit heiligen Tieren und Pflanzen identifizieren, sich 
wie sie benennen; wir wissen von Wahnsinnigen die ebenfalls 
sich zum Teil mit den Objekten ihrer Wahrnehmung identifizie- 
ren, die ihnen also nicht mehr Objecta, gegeniiberstehend sind; 
wir wissen von Kranken die die Empfindungen ihres Leibes 
nicht auf sich selbst sondern auf andere Wesen beziehen und von 
Hellsehern welche wenigstens behaupten die Wahrnehmungen 
anderer als ihre eigenen empfangen zu konnen. Die gemein- 
menschlicheVorstellung von sinnlicher (und geistiger) Erkenntnis 
sowohl unserer als der Kantischen als auch der vor-Kantischen 
Epoche ist nun durchaus eine Mythologie wie die genannten. 
Die Kantische »Erfahrung« ist in dieser Hinsicht, was die 
naive Vorstellung vom Empfangen der Wahrnehmungen angeht, 
Metaphysik oder Mythologie und zwar nur eine moderne und 
religios besonders unfruchtbare. Erfahrung, so wie sie mit Bezug 
auf den individuellen leibgeistigen Menschen und dessen Be- 
wufksein und nicht vielmehr als systematische Spezifikation 
der Erkenntnis gefafit wird ist wiederum in alien ihren Arten 
blofier Gegenstand dieser wirklichen Erkenntnis und zwar ihres 
psychologischen Zweiges. Diese gliedert das empirische Bewufit- 
sein systematisch in die Arten des Wahnsinns. Der erkennende 
Mensch, das erkennende empirische Bewufitsein ist eine Art des 
wahnsinnigen Bewufitseins. Damit soil nichts anderes gesagt 
sein als dafi innerhalb des empirischen Bewufitseins es zwischen 
seinen verschiedenen Arten nur gradueile Unterschiede gibt. Die- 
se Unterschiede sind zugleich solche des Wertes dessen Kriterium 
jedoch nicht in der Richtigkeit von Erkenntnlssen bestehen kann 
um die es sich in der empirischen, psychologischen Sphare nie- 
mals handelt; das wahre Kriterium des Wertunterschiedes der 
Bewufkseinsarten festzustellen wird eine der hochsten Aufgaben 
der kommenden Philosophic sein. Den Arten des empirischen 
Bewufkseins entsprechen ebensoviele der Erfahrung, welche mit 
Hinsicht auf ihre Beziehung aufs empirische BewuEtsein was 
die Wahrheit angeht lediglich den Wert der Phantasie oder Hal- 
luzination haben. Denn eine objektive Beziehung zwischen 
empirischem Bewufksein und dem objektlven Begriff von Er- 
fahrung ist unmoglich. Alle edite Erfahrung beruht auf dem 
reinen erkenntnis-theoretischen (transzendentalen) Bewufitsein 



Ober das Programm der kommenden Philosophic 163 

wenn dieser Terminus unter der Bedingung daft er alles Sub- 
jekthaften entkleidet sei noch verwendbar ist. Das reine tran- 
szendentale Bewufttsein ist artverschieden von jedem empiri- 
schen Bewufttsein und es ist daher die Frage.ob die Anwen- 
dung des Terminus Bewufttsein hier statthaft ist. Wie sich der 
psychologische BewufttseinsbegrifF zum Begriff der Sphare der 
reinen Erkenntnis verhalt bleibt ein Hauptproblem der Philo- 
sophic, das vielleicht nur aus der Zeit der Scholastik her zu resti- 
tuieren ist. Hier ist der logische Ort vieler Probleme die die 
Phanomenologie neuerdings wieder aufgeworfen hat. Die Philo- 
sophic beruht darauf daft in der Struktur der Erkenntnis die 
der Erfahrung liegt und aus ihr zu entfalten ist. Diese Erfah- 
rung umfafit denn audi die Religion, namlich als die wahre, 
wobei weder Gott noch Mensch Objekt oder Subjekt der Erfah- 
rung ist, wohl aber diese Erfahrung auf der reinen Erkenntnis 
beruht als deren Inbegriff allein die Philosophic Gott denken 
kann und mu(J, Es ist die Aufgabe der kommenden Erkennt- 
nistheorie fur die Erkenntnis die Sphare totaler Neutralitat in 
Bezug auf die BegrifTe Objekt und Subjekt zu finden; mit an- 
dern Worten die autonome ureigne Sphare der Erkenntnis 
auszumitteln in der dieser Begriff auf keine Weise mehr die Be- 
ziehung zwischen zwei metaphysischen Entitaten bezeichnet. 
Es ist als Programmsatz der kunftigen Philosophic aufzustel- 
len daft mit dieser Reinigung der Erkenntnistheorie die als 
radikales Problem Kant zu stellen ermoglicht und notwendig 
gemacht hat nicht mir ein neuer BegrifT der Erkenntnis sondern 
zugleich auch der Erfahrung aufgestellt ware, gemaE der Be- 
ziehung die Kant zwischen beiden gefunden hat. Freilich diirfte 
dabei wie gesagt die Erfahrung ebensowenig wie die Erkenntnis 
auf das empirische Bewufksein bezogen werden; aber auch hier 
wiirde es dabei bleiben, ja erst hier seinen eigentlichen Sinn ge- 
winnen daft die Bedingungen der Erkenntnis die der Erfahrung 
sind. Dieser neue Begriff der Erfahrung welcher gegriindet ware 
auf neue Bedingungen der Erkenntnis wiirde selbst der logische 
Ort und die logische Moglichkeit der Metaphysik sein. Denn aus 
welch anderm Grunde hatte Kant immer wieder die Metaphysik 
zum Problem und die Erfahrung zur einzigen Grundlage der 
Erkenntnis gemacht als weil von seinem Erfahrungsbegriff aus 
die Moglichkeit einer Metaphysik die von der Bedeutung der 



1 64 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

friiheren gewesen ware (wohlverstanden niciit einer Metaphy- 
sik uberhaupt) ausgeschlossen erscheinen miifite. Es liegt aber 
offenbar das Auszeichnende im Begriff der Metaphysik nicht, 
und jedenfalls nicht fur Kant der sonst keine Prolegomena zu 
ihr geschrieben hatte, in der Illegitimitat ihrerErkenntnisse, son- 
dern in ihrer universalen, die gesamte Erfahrung mit dem Got- 
tesbegrifl durch Ideen unmittelbar verkniipfenden Macht. So 
lafit sich also die Aufgabe der kommenden Philosophic fassen 
als die Auffindung oder SchafTung desjenigen Erkenntnisbegrif- 
fes der, indem er zugleich audi den Erfahrungsbegriff ausschliejl- 
lich auf das transzendentale Bewufitsein bezieht, nicht allein 
mechanische sondern auch religiose Erfahrung logisch ermog- 
liclit. Damit soil durchaus nicht gesagt sein dafi die Erkenntnis 
Gott, wohl aber durchaus dafi sie die Erfahrung und Lehre 
von ihm allererst ermoglicht. 

Von der hier geforderten und als sachgemafi betrachteten Ent- 
wicklung der Philosophie lafit sich als Neukantianismus ein 
• Anzeichen bereks betrachten. Ein Hauptproblem des Neukantia- 
nismus ist gewesen den Unterschied von Anschauung und Ver- 
stand, ein metaphysisches Rudiment wie die ganze Lehre von 
den Vermogen an der Stelle die sie bei Kant einnimmt, zu be- 
seitigen. Damit - also mit der Umbildung des Erkenntnisbe- 
griffes - hat sich denn sogleich eine des Erfahrungsbegriffes 
eingestellt. Es ist namlich nicht zu bezweifeln dafi die Reduktion 
aller Erfahrung auf die wissenschaftHche, wie sehr sie in man- 
cher Hinsicht die Ausbildung des historischen Kant ist, in dieser 
Ausschliefilichkeit bei Kant nicht gemeint ist. Es bestand sicher- 
lich bei Kant eine Tendenz gegen die Zerfallung und Aufteilung 
der Erfahrung in die einzelnen Wissenschaftsgebiete und wenn 
ihr auch die spatere Erkenntnistheorie den Rekurs auf die Er- 
fahrung im gewohnlichen Sinne, wie er bei Kant vorliegt, wird 
abschneiden miissen, so ist doch andrerseits im Interesse der 
Kontinuitat der Erfahrung ihre Darstellung als das System der 
Wissenschaften wie sie der Neukantianismus gibt noch mangel- 
haft und es mufi in der Metaphysik die Moglichkeit gefunden 
werden ein reines systematisches Erfahrungskontinuum zu bil- 
den; ja ihre eigentliche Bedeutung scheint hierin zu suchen zu 
sein. Es hat sich aber bei der neukantischen Rektifikation eines 
und zwar nicht des grundlegenden metaphysizierenden Gedan- 



Dber das Programm der kommenden Philosophic 165 

kens bei Kant sogleich eine Anderung des Erfahrungsbegriffes 
ergeben und zwar bezeichnenderweise zunachst in der extremen 
Ausbildung der mechanischen Seite des relativ leeren aufklare- 
rischen Erfahrungsbegriffes. Allerdings ist nicht zu ubersehen 
dafi in einer eigentumlichen Korrelation zum mechanischen Er- 
fahrungsbegriff der Freiheitsbegriff steht und demgemafi im 
Neukantianismus fortentwickelt worden ist. Aber auch hier ist 
zu betonen daE der gesamte Zusammenhang der Ethik in dem 
BegrifT den die Aufklarung Kant und die Kantianer von Sitt- 
lichkeit haben ebensowenig aufgeht wie der Zusammenhang 
der Metaphysik in dem was jene Erfahrung nennen. Mit einem 
neuen ErkenntnisbegrifT wird daher nidht nur der der Erfah- 
rung sondern auch der der Freiheit eine entscheidende Umbil- 
dung erfahren. 

Man konnte nun hier iiberhaupt die Meinung vertreten, dafi mit 
der Auffindung eines ErfahrungsbegrifFes der einen logischen Ort 
der Metaphysik abgeben wiirde iiberhaupt der Unterschied 
zwischen den Gebieten der Natur und der Freiheit aufgehoben 
ware. Indessen ist hier wo es sich nicht um Erweisen sondern nur 
um ein Programm der Forschung handelt soviel zu sagen: so 
notwendig und unvermeidlich auf dem Grunde einer neuen 
transzendentalen Logik die Umbildung des Gebietes der Dia- 
lektik, des Oberganges zwischen Erfahrungs- und Freiheits- 
lehre ist, so wenig darf diese Umbildung in eine Vermengung 
von Freiheit und Erfahrung einmiinden, mag auch der BegrifT 
der Erfahrung im metaphysischen von dem der Freiheit in einem 
vielieicht noch unbekannten Sinne verandert sein. Denn so un- 
absehbar auch die Veranderungen sein mogen die sich der For- 
schung hier erschlieEen werden: die Trichotomie des Kantischen 
Systems gehort zu den groften Hauptstucken jener Typik die zu 
erhalten ist und sie vor allem mufi erhalten werden. Es mag in 
Frage gestellt werden diirfen, ob der zweite Teil des Systems 
(von der Schwierigkeit des dritten zu schweigen) sich noch auf 
die Ethik beziehen muft oder ob die Kategorie der Kausalitat 
durch Freiheit etwa eine andere Bedeutung habe; die Trichoto- 
mie deren metaphysisch tiefste Beziehungen noch unentdeckt 
sind hat im Kantischen System schon an der Dreiheit der Rela- 
tionskategorien ihre entscheidende Begriindung. In der absoluten 
Trichotomie des Systems das sich eben in dieser Dreiteilung auf 



166 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

das ganze Gebiet der Kultur bezieht Hegt eine der weltgeschicht- 
lichen Oberlegenheiten des Kantischen Systems iiber das seiner 
Vorganger. Die formalistische Dialektik der nach-Kantischen 
Systeme jedoch ist nicht auf der Bestimmung der Thesis als kate- 
gorischer, der Antithesis als hypothetischer und der Synthesis als 
disjunktiver Relation gegriindet. Jedoch wird aufier dem Begriff 
der Synthesis audi der einer gewissen Nicht-Synthesis zweier 
Begriffe in einem andern systematisch hochst wichtig werden, 
da aufier der Synthesis noch eine andere Relation zwischen The- 
sis und Antithesis moglich ist. Dies wird jedoch kaum zu einer 
Vierheit der Relationskategorien fuhren konnen. 
Aber wenn die grofie Trichotomie fiir die Gliederung der Philo- 
sophic erhalten bleiben muft auch solange diese Glieder selbst 
noch fehlbestimmt sind, so gilt dies nicht ohne weiteres von alien 
einzelnen Schematen des Systems. Wie etwa die Marburger 
Schule bereits mit der Aufhebung des Unterschiedes zwischen 
transzendentaler Logik und Asthetik begonnen hat (wenn es 
auch fraglich ist ob ein Analogon dieser Scheidung nicht auf 
hoherer Stufe wiederkehren mufi), so ist dieTafel derKategorien 
wie es jetzt allgemein gefordert wird vollig zu revidieren. Ge- 
rade hierbei wird sich dann die Umformung des Erkenntnisbe- 
griffes in der Gewinnung eines neuen Begriffs von Erfahrung 
ankiindigen, da die aristotelischen Kategorien einerseits will- 
kiirlich aufgestellt, andrerseits aber durch Kant ganz einseitig 
im Hinblick auf eine mechanische Erfahrung ausgebeutet worden 
sind. Es wird vor allem zu erwagen sein ob die Kategorientafel 
in der Vereinzelung und Unvermitteltheit in der sie dasteht 
bleiben mull und ob sie nicht liberhaupt in einer Lehre von den 
Ordnungen sei es eine Stelle unter andern Gliedern emnehmen, 
sei es selbst zu einer solchen ausgebaut, auf logisch friihere 
UrbegrifFe gegriindet oder mit ihnen verbunden werden konne. 
In eine solche allgemeine Lehre von den Ordnungen wiirde dann 
auch dasjenige gehoren was Kant in der transzendentalen Asthe- 
tik erortert, ferner die samtlichen Grundbegriffe nicht nur der 
Mechanik sondern auch die der Geometrie, Sprachwissenschaft, 
Psychologie,beschreibenderNaturwissenschaft und vieler anderer, 
sofern sie unmittelbare Beziehung auf die Kategorien oder 
sonstigen hochsten philosophischen Ordnungsbegriffe hatten. Her- 
vorragende Beispiele sind hier die Grundbegriffe der Gramma- 



Uber das Programm der kommenden Philosophic 167 

tik. Ferner hat man sich zu vergegenwartigen, dafi mit der radi- 
kalen Ausschaltung aller derjenigen Bestandteile, welche in der 
Erkenntnistheorie die versteckte Antwort auf die versteckte 
Frage nach dem Werden der Erkenntnis geben das grofie Pro- 
blem des Falschen bzw. des Irrtums frei wird dessen logische 
Struktur und Ordnung nun genau so wie die des Wahren er- 
mittelt werden muf$. Der Irrtum darf nicht langer aus dem Ir- 
ren erklart werden, wie die Wahrheit nicht langer aus dem 
rechten Verstand. Auch fiir diese Erforschung der logischen Natur 
des Falschen und des Irrtums sind voraussichtlich in der Lehre 
von den Ordnungen die Kategorien aufzusuchen: iiberall in 
der modernen Philosophic regt sich die Erkenntnis, dafi die 
kategoriale und verwandte Ordnung von zentraler Wichtigkeit 
fiir die Erkenntnis mannigfach abgestufter und auch nicht 
mechanischer Erfahrung sei. Kunst, Rechtslehre und Geschichte, 
alle diese und andere Gebiete haben sich mit ganz andrer Inten- 
sitat als Kant es getan hat an der Kategorienlehre zu orientieren. 
Doch erhebt sich zugleich mit Beziehung auf die transzendentale 
Logik eines der grofken Probleme des Systems uberhaupt, nam- 
lich die Frage nach seinem dritten Teil, mit andren Worten 
nach denjenigen wissenschaftlichen Erfahrungsarten (den biolo- 
gisclien), die Kant auf dem Boden der transzendentalen Logik 
nicht behandelt hat und warum er es nicht tat. Ferner die Frage 
nach dem Zusammenhang der Kunst mit diesem dritten, der 
Ethik mit dem zweiten Teil des Systems. - Die Fixierung des 
bei Kant unbekannten Begriffes der Identitat hat voraussichtlich 
in der transzendentalen Logik eine grofte Rolle zu spielen, inso- 
fern er in der Kategorientafel nicht steht, dennoch vermutlich den 
obersten BegrifF der transzendentallogischen ausmacht und viel- 
leicht wahrhaft geeignet ist die Sphare der Erkenntnis jenseits der 
Subjekt-Objekt-Terminologie autonom zu begriinden. Die tran- 
szendentale Dialektik weist schon in der Kantischen Fassung die 
Ideen auf auf denen die Einheit der Erfahrung beruht. Fiir den 
vertieften BegrifT der Erfahrung ist aber, wie schon gesagt, Kon- 
tinuitat nachst der Einheit unerlafllich und in -den Ideen mufi 
der Grund der Einheit und der Kontinuitat jener nicht vulgaren 
und nicht nur wissenschaftlichen sondern metaphysischen Erfah- 
rung aufgewiesen werden. Die Konvergenz der Ideen auf den 
obersten Begriff der Erkenntnis ist nachzuweisen. 



1 68 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

Wie die Kantische Lehre selbst urn ihre Prinzipien zu finden 
sich einer Wissenschaft mit Beziehung auf die sie sie definieren 
konnte gegeniiber sehen mufite, ahnlich wird es auch der modernen 
Philosophic ergehen. Die grofie Umbildung und Korrektur die 
an dem einseitig mathematisch-mechanisch orientierten Erkennt- 
nisbegrifT vorzunehmen ist, kann nur durch eine Beziehung der 
Erkenntnis auf die Sprache wie sie schon zu Kants Lebzeiten 
Hamann versucht hat gewonnen werden. Ober dem Bewufit- 
sein dafi die philosophische Erkenntnis eine absolut gewisse und 
apriorische sei, iiber dem Bewufksein dieser der Mathematik 
ebenbiirtigen Seiten der Philosophic ist fiir Kant die Tatsache 
dafi alle philosophische Erkenntnis ihren einzigen Ausdruck in 
der Sprache und nicht in Formeln und Zahlen habe vollig zu- 
riickgetreten. Diese Tatsache aber durfte sich letzten Endes als 
die entscheidende behaupten und um ihretwillen ist die systema- 
tische Suprematie der Philosophie wie iiber alle Wissenschaft so 
auch iiber die Mathematik letzten Endes zu behaupten. Ein in 
der Reflexion auf das sprachliche Wesen der Erkenntnis gewon- 
nener Begnff von ihr wird einen korrespondierenden Erfah- 
rungsbegriff schaffen der auch Gebiete deren wahrhafte syste- 
matische Einordnung Kant nicht gelungen ist umfassen wird. Als 
deren Oberstes ist das Gebiet der Religion zu nennen. Und 
damit lafit sich die Forderung an die kommende Philosophie end- 
lich in die Worte fassen: Auf Grund des Kantischen Systems 
einen Erkenntnisbegriff zu schaffen dem der Begriff einer Er- 
fahrung korrespondiert von der die Erkenntnis Lehre ist. Eine 
solche Philosophie ware entweder in ihrem allgemeinen Teile 
selbst als Theologie zu bezeichnen oder ware dieser sofern sie 
etwa historisch philosophische Elemente einschliefit iibergeord- 
net. 

Erfahrung ist die einheitliche und kontinuierliche Mannigfaltig- 
keit der Erkenntnis. 

Nachtrag 

Im Interesse der Klarung der Beziehung der Philosophie zur 
Religion ist der Gehalt des vorigen sofern es das systematische 
Schema der Philosophie angeht zu wiederholen. Es handelt sidi 



Ober das Programm der kommenden Philosophic 169 

zunachst um das Verhaltnis der drei Begriffe Erkenntnistheo- 
rie, Metaphysik, Religion. Die ganze Philosophic zerfallt in 
Erkenntnistheorie und Metaphysik, oder mit Kant zu reden in 
einen kritiscfaen und einen dogmatischen Teil, diese Einteilung 
ist jedoch, nicht als Angabe des Gehalts, aber als Einteilungsprin- 
zip nicht von pnnzipieller Wichtigkeit. Mit ihr soil nur gesagt 
werden dafi auf aller kritischen Sicherung der Erkenntnisbegrif- 
fe und des Erkenntnisbegriffs nun eine Lehre von dem aufgebaut 
werden kann wovon zunachst allererst erkenntnis-kritisch der 
Begriff einer Erkenntnis festgesetzt ist. Wo das Kritische aufhort 
und das Dogmatische anfangt ist vielleicht nicht genau auf- 
zuzeigen weil der Begriff des Dogmatischen lediglich den 
Obergang von Kritik zu Lehre von allgemeinern zu besondern 
Grundbegriffen kennzeichnen soil. Die ganze Philosophic ist also 
Erkenntnistheorie, nur eben Theorie, kritische und dogmatische 
aller Erkenntnis. Beide Teile, der kritische wie der dogmatische 
fallen ganz ins Gebiet des Philosophischen. Und da das der 
Fall ist, da nicht etwa der dogmatische Teil mit dem ein- 
zelwissenschaftlichen zusammenfallt, so erhebt sich naturgemafi 
die Frage nach der Grenze zwischen Philosophic und Einzel- 
wissenschaft. Die Bedeutung des terminus des Metaphysischen 
wie er im vorigen eingefiihrt ist besteht nun eben darin diese 
Grenze als nicht vorhanden zu erklaren und die Umpragung der 
»Erfahrung« zu »Metaphysik« bedeutet daft im metaphysischen 
oder dogmatischen Teil der Philosophic, in den der oberste er- 
kenntnis-theoretische, d. i. der kritische Teil ubergeht, virtuell 
die sogenannte Erfahrung eingeschlossen ist. (Die Exemplifika- 
tion dieses Verhaltnisses fiir das Gebiet der Physik s. meinen 
Aufsatz iiber Erklarung und Beschreibung.) Wenn damit ganz 
allgemein das Verhaltnis zwischen Erkenntnistheorie, Metaphy- 
sik und Einzelwissenschaft umrissen ist so bleiben noch zwei 
Fragen iibrig. Erstens diejenige nach derBeziehung des kritischen 
zum dogmatischen Moment in Ethik und Asthetik, die wir hier 
auf sich beruhen lassen indem wir doch eine Losung im systema- 
tisch analogen Sinne wie etwa im Bezirk der Naturlehre postu- 
lieren miissen, zweitens diejenige nach dem Verhaltnis von 
Philosophic und Religion. Zunachst ist es nun klar dafi es sich 
im Grunde nicht um die Frage nach dem Verhaltnis zwischen 
Philosophic und Religion, sondern nach dem zwischen Philoso- 



17° Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

phie und Lehre von der Religion handeln mufi; mit andren 
Worten um die Frage nach dem Verhaltnis der Erkenntnis iiber- 
haupt zur Erkenntnis von der Religion. Audi die Frage nach 
dem Dasein der Religion Kunst u.s.w. kann philosophisch eine 
Rolle spielen aber nur im Wege der Fage nach der philosophi- 
schen Erkenntnis von solchem Dasein. Die Philosophic fragt 
durchaus immer nach der Erkenntnis wobei die Frage nach der 
Erkenntnis von ihrem Dasein nur eine wenn auch unvergleich- 
lich hervorragende Modifikation der Frage nach der Erkenntnis 
uberhaupt ist. Ja, es mufi gesagt werden: dafi die Philosophic 
uberhaupt in ihren Fragestellungen niemals auf die Daseinsein- 
heit sondern immer nur auf neue Einheiten von Gesetzlichkeiten 
stofien kann deren Integral »Dasein« ist. - Der erkenntnistheo- 
retische Stamm- oder Urbegriff hat eine doppelte Funktion. Ein- 
mal ist er es der durch seine Spezifikation, nach der allgemein 
logischen Begriindung von Erkenntnis uberhaupt zu den Begrif- 
fen von gesonderten Erkenntnisarten und damit zu besonderen 
Erfahrungsarten durchdringt. Dies ist seine eigentlich erkennt- 
nistheoretische Bedeutung und zugleich die eine, schwachere Sei- 
te seiner metaphysischen Bedeutung. Jedoch kommt der Stamm- 
und Urbegriff der Erkenntnis in diesem Zusammenhang nicht 
zu einer konkreten Totalitat der Erfahrung, ebensowenig zu 
irgend einem Begriff von Dasein. Es gibt aber eine Einheit der 
Erfahrung die keineswegs als Summe von Erfahrungen verstan- 
den werden kann, auf die sich der Erkenntnisbegriff als Lehre 
in seiner kontinuierlichen Entfaltung unmittelbar bezieht. Der 
Gegenstand und Inhalt dieser Lehre, diese konkrete Totalitat 
der Erfahrung ist die Religion, die aber der Philosophic zu- 
nachst nur als Lehre gegeben ist. Die Quelle des Daseins liegt 
nun aber in der Totalitat der Erfahrung und erst in der Lehre 
stoftt die Philosophic auf ein Absolutes, als Dasein, und damit 
auf jene Kontinuitat im Wesen der Erfahrung in deren Ver- 
nachlassigung der Mangel des Neukantianismus zu vermuten ist. 
In rein metaphysischer Hinsicht geht der Stammbegriff der 
Erfahrung in deren Totalitat in einem ganz anderen Sinne iiber 
als in seine einzelnen Spezifikationen, die Wissenschaften : nam- 
lich unmittelbar, wobei der Sinn dieser Unmittelbarkeit gegen- 
iiber jener Mittelbarkeit noch zu bestimmen bleibt. Eine Er- 
kenntnis ist metaphysisch heifit im strengen Sinne: sie bezieht 



Schicksal und Charakter 171 

sich durch den Stammbegriff der Erkenntnis auf die konkrete 
Totalitat der Erfahrung, d. h. aber auf Dasein. Der philosophi- 
sche DaseinsbegrifT mufi sich dem religiosen Lehrbegriff, dieser 
aber dem erkenntnistheoretischen Stammbegriff ausweisen. Dies 
alles ist nur skizzenhafte Andeutung. Die Grundtendenz dieser 
Bestimmung vom Verhaltnis zwischen Religion und Philosophic 
ist aber: gleichmafiig zu erfullen die Forderungen erstens der vir- 
tuellen Einheit von Religion und Philosophic, zweitens der Ein- 
ordnung der Erkenntnis von der Religion in die Philosophic, 
drittens der Integritat der Dreiteilung des Systems. 



Schicksal und Charakter 

Schicksal und Charakter werden gemeinhin als kausal verbun- 
den angesehen und der Charakter wird als eine Ursache des 
Schicksals bezeichnet. Der Gedanke, welcher dabei zugrunde 
liegt, ist folgender: ware einerseits der Charakter eines Men- 
schen, d. h. also audi seine Art und Weise zu reagieren, in alien 
Einzelheiten bekannt und ware andrerseits das Weltgeschehen 
bekannt in den Bezirken, in denen es an jenen Charakter heran- 
trate, so Kefte sich genau sagen, was jenem Charakter sowohl 
widerfahren als von ihm vollzogen werden wurde. Das heifk, 
sein Schicksal ware bekannt. Einen unmittelbaren gedanklichen 
Zugang zum Schicksalsbegriff ermoglichen die zeitgenossischen 
Vorstellungen nicht, daher moderne Menschen sich auch auf den 
Gedanken, den Charakter etwa aus den leiblichen Zugen eines 
Menschen zu lesen, einlassen, weil sie das Wissen um Charakter 
uberhaupt irgendwie in sich vorfinden, wahrend die Vorstellung, 
analog etwa das Schicksal eines Menschen aus den Linien seiner 
Hand zu lesen, ihnen unannehmbar erscheint. Dies scheint so 
unmoglich wie es unmbglich scheint, »die Zukunft vorauszusa- 
gen«; unter diese Kategorie wird namlich die Voraussage des 
Schicksals ohne weiteres subsumiert, und der Charakter erscheint 
demgegemiber als etwas in Gegenwart und Vergangenheit Vor- 
liegendes, was also erkennbar sei. Nun aber ist es gerade die 
Behauptung solcher, die sich anheischig machen, den Menschen 
aus welchen Zeichen auch immer ihr Schicksal vorherzusagen, 



172 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

dafi dieses fur denjenigen, der darauf zu merken wisse (der ein 
unmittelbares Wissen um Schicksal iiberhaupt in sich vorfindet) 
in irgendeiner Weise gegenwartig, oder vorsiditiger gesagt zur 
Stelle sei. Die Annahme, irgendein »zur Stelle sein« des zu- 
kunftigen Schicksals widersprache weder dem BegrifT desselben, 
nodi den menschlichen Erkenntniskraften dessen Voraussagung, 
ist, wie sich zeigen lafit, nicht widersinnig. Und zwar kann 
ebenso wie der Charakter audi das Schicksal nur in Zeichen, nicht 
an sich selbst iiberschaut werden, denn - mag audi dieser oder 
jener Charakterzug, diese oder jene Verkettung des Schicksals 
unmittelbar vor Augen liegen - es ist doch der Zusammenhang, 
den jene BegrifTe meinen, niemals anders als in Zeichen zur 
Stelle, weil er iiber dem unmittelbar Sichtbaren gelegen ist. 
Das System charakterologischer Zeichen wird im allgemeinen 
auf den Leib beschrankt, wenn man von der charakterologischen 
Bedeutung derjenigen Zeichen absieht, die das Horoskop unter- 
sucht, wahrend zum Zeichen des Schicksals der iiberlieferten An- 
schauung gemaE neben den leiblichen aile Erscheinungen des 
aufiern Lebens werden konnen. Der Zusammenhang zwischen 
Zeichen und Bezeichnetem aber bildet in beiden Spharen ein 
gleich verschlossenes und schweres, wenn audi im iibrigen ein 
verschiedenes Problem, weil, aller oberflachlichen Betrachtung 
und falschen Hypostasierung der Zeichen zum Trotz, sie in bei- 
den Systemen Charakter oder Schicksal nicht auf Grund kausa- 
ler Zusammenhange bedeuten. Ein Bedeutungszusammenhang ist 
nie kausal zu begriinden, mogen auch etwa im vorliegenden Falle 
jene Zeichen in ihrem Dasein kausal durch Schicksal und Cha- 
rakter hervorgerufen sein. Im folgenden wird nicht unter- 
sucht, wie ein solches Zeichensystem fur Charakter und Schick- 
sal aussehe, sondern lediglich auf die Bezeichneten selbst richtet 
sich die Betrachtung. 

Es zeigt sich, da£ die herkommliche Auffassung ihres Wesens 
und ihres Verhaltnisses nicht allein problematisch bleibt, insof ern 
sie nicht imstande ist, die Moglichkeit einer Vorhersagung des 
Schicksals rationell begreiflich zu machen, sondern dafi sie falsch 
ist, weil dieTrennung, auf der sie beruht, theoretisch unvollzieh- 
bar ist. Denn es ist unmoglich, einen widerspruchslosen Begriff 
vom Aufien eines wirkenden Menschen, als dessen Kern doch 
der Charakter in jener Anschauung angesprochen wird, zu 



Schicksal und Charakter 173 

bilden. Kein Begriff einer Aufienwelt lafit sich gegen die Grenze 
des Begriffs des wirkenden Menschen definieren. Zwischen dem 
wirkenden Menschen und der Aufienwelt vielmehr ist alles 
Wechselwirkung, ihre Aktionskreise gehen ineinander iiber; ihre 
Vorstellungen mogen noch so verschieden sein, ihre Begriffe sind 
nicht trennbar. Es ist nicht nur in keinem Falle anzugeben, was 
letzten Endes als Funktion des Charakters, was als Funktion des 
Schicksals in einem Menschenleben zu gelten hat (dies wiirde hier 
nichts besagen, wenn etwa beide nur in der Erfahrung inein- 
ander ubergingen), sondern das Aufien, das der handelnde 
Mensch vorfindet, kann in beliebig hohem Mafie auf sein Innen, 
sein Innen in beliebig hohem Mafie auf sein Aufien prinzipiell 
zuriickgefiihrt, ja als dieses prinzipiell angesehen werden. 
Charakter und Schicksal werden in dieser Betrachtung, weit ent- 
fernt theoretisch geschieden zu werden, zusammenfallen. So bei 
Nietzsche, wenn er sagt: »Wenn einer Charakter hat, so hat er 
audi ein Erlebnis, das immer wiederkehrt.« Das besagt: wenn 
einer Charakter hat, so ist sein Schicksal wesentlich konstant. 
Dies heifit freilich audi wieder: so hat er kein Schicksal - und 
diese Konsequenz haben die Stoiker gezogen. 
Soil also der Begriff des Schicksals gewonnen werden, so mufi 
dieser reinlich von dem des Charakters geschieden werden, was 
wiederum eher nicht gelingen kann, als der letzte eine genauere 
Bestimmung erfahren hat. Auf Grund dieser Bestimmung wer- 
den die beiden Begriffe durchaus divergent werden; wo Cha- 
rakter ist, da wird mit Sicherheit Schicksal nicht sein und im 
Zusammenhang des Schicksals Charakter nicht angetroff en wer- 
den. Dazu ist darauf Bedacht zu nehmen, jene beiden Begriffe 
solchen Spharen zuzuweisen, in denen sie nicht, wie es im ge- 
meinen Sprachgebrauch geschieht, die Hoheit oberer Spharen 
und Begriffe usurpieren. Der Charakter namlich wird ge- 
wohnlich in einen ethischen, wie das Schicksal in einen religiosen 
Zusammenhang eingestellt. Aus beiden Bezirken sind sie durch 
die Aufdeckung des Irrtums, der sie dorthin versetzen konnte, 
zu verbannen. Dieser Irrtum ist mit Beziehung auf den Begriff 
des Schicksals durch dessen Verbindung mit dem Begriff der 
Schuld veranlafit. So wird, um den typischen Fall zu nennen, 
das schicksalhafte Ungluck als die Antwort Gottes oder der Got- 
ter auf religiose Verschuldung angesehen. Dabei aber sollte es 



174 Metaphysisch-geschichtsphilosophisdie Studien 

nachdenklich machen, dafi eine entsprechende Beziehung des 
Schicksalsbegriffes auf den Begriff, welcher mit dem Schuld- 
begriff durch die Moral mitgegeben ist, auf den Begriff der 
Unschuld namlich, fehlt. In der griechischen klassischen Ausge- 
staltung des Schicksalsgedankens wird das Gliick, das einem 
Menschen zuteil wird, ganz und gar nicht als die Bestatigung 
seines unschuldigen Lebenswandels aufgefaftt, sondern als die 
Versuchung zu schwerster Verschuldung, zur Hybris. Beziehung 
auf die Unschuld ko'mmt also im Schicksal nicht vor. Und - die- 
se Frage trifft noch tiefer - gibt es denn im Schicksal eine Be- 
ziehung auf das Gliick? Ist das Gliick, so wie ohne Zweifel das 
Ungluck, eine konstitutive Kategorie fur das Schicksal? Das 
Gliick ist es vielmehr, welches den Glucklichen aus der Verket- 
tung der Schicksale und aus dem Netz des eignen herauslost. 
»Schicksallos« nennt nicht umsonst die seligen Gotter Holderlin. 
Gliick und Seligkeit fiihren also ebenso aus der Sphare des 
Schicksals heraus wie die Unschuld. Eine Ordnung aber, deren 
einzig konstitutive BegrifTe Ungluck und Schuld sind und inner- 
halb deren es keine denkbare Strafie der Befreiung gibt (denn 
soweit etwas Schicksal ist, ist es Ungliick und Schuld) - eine 
solche Ordnung kann nicht religios sein, so sehr auch der mifi- 
verstandene Schuldbegriff darauf zu verweisen scheint. Es gilt 
also ein anderes Gebiet zu suchen, in welchem einzig und allein 
Ungluck und Schuld gelten, eine Waage, auf der Seligkeit und 
Unschuld zu leicht befunden werden und nach oben schweben. 
Diese Waage ist die Waage des Rechts. Die Gesetze des Schicksals, 
Ungluck und Schuld, erhebt das Recht zu Mafien der Person; es 
ware falsch anzunehmen, dafi nur die Schuld allein im Rechts- 
zusammenhang sich fande; nachweisbar ist vielmehr, dafi jede 
rechtliche Verschuldung nichts ist als ein Ungluck. MiEverstand- 
lich, auf Grund ihrer Verwechslung mit dem Reiche der Ge- 
rechtigkeit, hat die Ordnung des Rechts, die nur ein Oberrest 
der damonischen Existenzstufe der Menschen ist, in der Rechts- 
satzungen nicht deren Beziehungen allein, sondern auch ihr Ver- 
haltnis zu den Gottern bestimmten, sich iiber die Zeit hinaus 
erhalten, welche den Sieg iiber die Damonen inaugurierte. Nicht 
das Recht, sondern die Tragodie war es, in der das Haupt des 
Genius aus dem Nebel der Schuld sich zum ersten Male erhob, 
denn in der Tragodie wird das damonische Schicksal durch- 



Schicksal und Charakter 175 

brochen. Nicht aber, indem die heidnisch unabsehbare Verket- 
tung von Schuld und Siihne durch die Reinheit des entsiihnten 
und mit dem reinen Gott versohnten Menschen abgelost wiirde. 
Sondern in der Tragodie besinnt sich der heidnische Mensch, dafi 
er besser ist als seine Gotter, aber diese Erkenntnis verschlagt 
ihm die Sprache, sie bleibt dumpf. Ohne sich zu bekennen 
sucht sie heimlich ihre Gewalt zu sammeln. Schuld und Siihne 
legt sie nicht abgemessen in die Waagschalen, sondern riittelt sie 
durcheinander. Es ist gar keine Rede davon, dafi die »sittliche 
Weltordnung« wieder hergestellt werde, sondern es will der 
moralische Mensch noch stumm, noch unmiindig - als solcher 
heifit er der Held - im Erbeben jener qualvollen Welt sich auf- 
richten. Das Paradoxon der Geburt des Genius in moralischer 
Sprachlosigkeit, moralischer Infantilkat ist das Erhabene der 
Tragodie. Es ist wahrscheinlich der Grund des Erhabenen iiber- 
haupt, in dem weit eher der Genius erscheint als Gott. - Das 
Schicksal zeigt sich also in der Betrachtung eines Lebens als eines 
Verurteilten, im Grunde als eines, das erst verurteilt und darauf 
schuldig wurde. Wie denn Goethe diese beiden Phasen in den 
Worten zusammenfafit: »Ihr lafit den Armen schuldig wer- 
den«. Das Recht verurteilt nicht zur Strafe, sondern zur Schuld. 
Schicksal ist der Schuldzusammenhang des Lebendigen. Dieser 
entspricht der natiirlichen Verfassung des Lebendigen, jenem 
noch nicht restlos aufgelosten Schein, dem der Mensch so ent- 
ruckt ist, dafi er niemals ganz in ihn eintauchen, sondern unter 
seiner Herrschafl nur in seinem besten Teil unsichtbar bleiben 
konnte. Der Mensch also ist es im Grunde nicht, der ein Schicksal 
hat, sondern das Subjekt des Schicksals ist unbestimmbar. Der 
Richter kann Schicksal erblicken wo immer er will; in jeder Stra- 
fe mufi er blindlings Schicksal mitdiktieren. Der Mensch wird 
niemals hiervon getroffen, wohl aber das blofie Leben in ihm, 
das an natiirlicher Schuld und dem Ungliick Anteil kraft des 
Scheins hat. Schicksalsmafiig kann dieses Lebendige so den Kar- 
ten wie den Planeten verkuppelt werden, und die weise Frau 
bedient sich der einfachen Technik, mit den nachst berechenba- 
ren, nachst gewissen Dingen (mit Dingen, welche unkeusch mit 
Gewifiheit geschwangert sind) dieses in den Schuldzusammen- 
hang zu riicken. Dadurch erfahrt sie in Zeichen etwas iiber ein 
natiirliches Leben im Menschen, das sie an Stelle des benannten 



ij6 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

Hauptes zu setzen sucht; wie andrerseits der Mensch, der zu ihr 
geht, zugunsten des verschuldeten Lebens in sich abdankt. Der 
Schuldzusammenhang ist ganz uneigentlich zeitlich, nach Art und 
Mafi ganz verschieden von der Zeit der Erlosung oder der 
Musikoder der Wahrheit. An der Fixierung der besondern Art 
der Zeit des Schicksals hangt die vollendete Durchleuchtung 
dieser Dinge. Der Kartenleger und der Chiromant lehrt jeden- 
falls, daft diese Zeit jederzeit gleichzeitig mit einer andern (nicht 
gegenwartig) gemacht werden kann. Sie ist eine unselbstandige 
Zeit, die auf die Zeit eines hohern, weniger naturhaften Lebens 
parasitar angewiesen ist. Sie hat keine Gegenwart, denn schick- 
salhafte Augenblicke gibt es nur in schlechten Romanen, und audi 
Vergangenheit und Zukunft kennt sie nur in eigentumlichen 
Abwandlungen. 

Es gibt also einen Begriff des Schicksals - und es ist der echte, 
der einzige, der das Schicksal in der Tragodie in gleicher Weise 
trifft, wie die Absichten der Kartenlegerin - welcher vollkom- 
men unabhangig von dem des Charakters ist und seine Be- 
griindung in einer ganz andern Sphare sucht. In den entspre- 
chenden Stand mufi auch der Begriff des Charakters gesetzt 
werden. Es ist kein Zufall, dafi beide Ordnungen mit deutenden 
Praktiken zusammenhangen und in der Chiromantie Charak- 
ter und Schicksal ganz eigentlich zusammentrerTen. Beide betref- 
fen den nauirlichen Menschen, besser: die Natur im Menschen, 
und eben diese kiindigt in den, sei es an sich selbst, sei es experi- 
mentell gegebenen Zeichen der Natur sich an. Die Begnindung 
des BegrifTs des Charakters wird sich also ebenfalls auf eine 
Natursphare zu beziehen haben und mit der Ethik oder der 
Moral genau so wenig zu tun haben, wie das Schicksal mit der 
Religion. Andrerseits wird der Begriff des Charakters sich auch 
derjenigen Ziige zu entschlagen haben, welche seine irrige Verbin- 
dung mit dem Schicksalsbegriff konstituieren. Diese Verbindung 
wird durch die Vorstellung eines durch Erkenntnis beliebig, bis 
zum festesten Gewebe, zu verdichtenden Netzes geleistet, als 
welches oberflachlicher Betrachtung der Charakter erscheint. Ne- 
ben den gro£en grundlegenden Ziigen soil namlich der gescharfte 
Blick desMenschenkenners feinere und enger zusammenhangende 
angeblich gewahren, bis das scheinbare Netz zu einem Tuch 
gedichtet sei. In den Faden dieses Gewebes hat endlich ein schwa- 



Schicksal und Charakter 177 

cher Verstand das moralische Wesen des betreffenden Charak- 
ters zu besitzen geglaubt und die guten und schlechten Eigen- 
schaften an ihm unterschieden. Wie aber der Moral zu erweisen 
obliegt, konnen Eigenschaften niemals, sondern allein Handlun- 
gen moralisch erheblich sein. Der Augenschein will es freilich 
anders. Nicht nur »diebisch« »verschwenderisch« »mutig« schei- 
nen moralische Wertungen mitzubedeuten (hier laflt sich noch 
von der scheinbar moralischen Farbung der Begriffe absehen), 
sondern vor allem Worte wie »aufopfernd« »tuckisch« »rach- 
siidbtig« »neidisch« scheinen Charakterziige anzuzeigen, bei 
denen sich von moralischer Wertung nicht mehr abstrahieren 
lafit. Dennoch ist solche Abstraktion in jedem Fall nicht allein 
vollziehbar, sondern notwendig, um den Sinn der Begriffe zu 
erfassen. Und zwar ist sie so zu denken, daft die Wertung an 
sich durchaus erhalten bleibt und nur ihr moralischer Akzent ihr 
entzogen wird, um jeweilen im positiven oder negativen Sinn 
so bedingten Schatzungen Platz zu machen, wie etwa die mora- 
lisch zweifellos indifferenten Bezeichnungen von Eigenschaften 
des Intellekts (als da sind »klug« oder »dumm«) sie ansprechen. 
Wo dabei jenen pseudomoralischen Eigenschaftsbenennungen ihre 
wahre Sphare angewiesen werden mu8, lehrt die Komodie. In 
ihrer Mine steht, als Hauptperson der Charakterkomodie, oft 
genug ein Mensch, den wir, wenn wir im Leben seinen Handlun- 
gen statt auf der Buhne ihm selber gegeniiber stehen miifiten, 
einen Schurken nennen wiirden. Auf der Biihne der Komodie 
aber gewinnen seine Handlungen nur dasjenige Interesse, das 
mit dem Lichte des Charakters auf sie fallt, und dieser ist in den 
klassischen Fallen der Gegenstand nicht moralischer Verurtei- 
lung sondern hoher Heiterkeit. Niemals an sich, niemals mora- 
lisch betrefTen die Handlungen des komischen Helden sein Pu- 
blikum; nur soweit sie das Licht des Charakters zuriickwerfen, 
interessieren seine Taten. Dabei gewahrt man, dafi der grofie 
Komodiendichter, etwa Moliere, nicht in der Vielfalt der Cha- 
rakterziige seine Person zu determinieren sucht. Vielmehr 
fehlt der psychologischen Analysis jeder Zugang zu seinem Wer- 
ke. Mit deren Interesse hat es gar nichts zu schaffen wenn Geiz 
oder Hypochondrie im »Avare« oder im »Malade imaginaire« 
hypostasiert und allem Handeln zugrunde gelegt werden. Ober 
Hypochondrie und Geiz lehren diese Dramen nichts, weit ent- 



178 Metaphysisdi-geschichtsphilosophische Studien 

fernt sie verstandlich zu machen, stellen sie sie mit steigender 
Krafiheit dar; wenn der Gegenstand der Psychologie das Innen- 
leben des empirisch vermeinten Menschen ist, so sind Moliere- 
sche Personen nicht einmal als Demonstrationsmittel fur sie 
brauchbar. Der Charakter entfaltet sich in ihnen sonnenhaft im 
Glanz seines einzigen Zuges, der keinen andern in seiner Nahe 
sichtbar bleiben lafk, sondern ihn iiberblendet. Die Erhabenheit 
der Charakterkomodie beruht auf dieser Anonymitat des Men- 
sthen und seiner Moralitat mitten in der hochsten Entfaltung 
des Individuums in der Einzigkeit seines Charakterzuges. Wah- 
rend das Schicksal die ungeheure Komplikation der verschul- 
deten Person, die Komplikation und Bindung ihrer Schuld 
aufrollt, gibt auf jene mythische Verknechtung der Person im 
Schuldzusammenhang der Charakter die Antwort des Genius. 
Die Komplikation wird Einfachheit, das Fatum Freiheit. Denn 
der Charakter der komischen Person ist nicht der Popanz der 
Deterministen, er ist der Leuchter, unter dessen Strahl die Frei- 
heit ihrer Taten sichtbar wird. - Dem Dogma von der natur- 
lichen Schuld des Menschenlebens, von der Urschuld, deren 
prinzipielle Unlosbarkeit die Lehre, und deren gelegentliche 
Losung den Kultus des Heidentums bildet, stellt der Genius die 
Vision von der natiirlichen Unschuld des Menschen entgegen. 
Diese Vision verharrt ihrerseits ebenfalls im Bezirk der Natur, 
dennoch steht sie moralischen Einsichten ihrem Wesen nach so 
nahe, wie die gegenteilige Idee allein in der Form der Tragodie, 
die nicht ihre einzige ist. Die Vision des Charakters aber ist 
befreiend unter alien Formen: mit der Freiheit hangt sie, wie 
hier nicht gezeigt werden kann, auf dem Wege ihrer Affinitat 
mit der Logik zusammen. - Der Charakterzug ist also nicht 
der Knoten im Netz. Er ist die Sonne des Individuums am farb- 
losen (anonymen) Himmel des Menschen, welche den Schatten 
der komischen Handlung wirft. (Dies fiihrt Cohens tiefes Wort, 
dafi jede tragische Handlung, so erhaben sie auch auf ihrem 
Kothurn schreite, einen komischen Schatten werfe, seinem eigen- 
sten Zusammenhang zu.) 

Die physiognomischen Zeichen mufiten, wie die ubrigen manti- 
schen, bei den Alten vornehmlich der Ergriindung des Schicksals 
dienen, gemafi der Herrschaft des heidnischen Schuldglaubens. 
Die Physiognomik wie die Komodie sind Erscheinungen des 



Zur Kritik der Gewalt 179 

neuen Weltalters des Genius gewesen. Ihren Zusammenhang nut 
der alten Wahrsagekunst zeigt die moderne Physiognomik nodi 
in dem unfruchtbaren moralischen Wertakzent ihrer Begriffe, 
wie auch in dem Streben nach analytischer Komplikation. Gerade 
in dieser Hinsicht haben alte und mittelalterliche Physiognomi- 
ker richtiger gesehen, welche erkannten, dafi der Charakter nur 
unter einigen wenigen moralisch indifferenten Grundbegriffen 
erfafk werden kann, wie z. B. die Lehre von den Tempera- 
menten sie festzustellen suchte. . 



Zur Kritik der Gewalt 

Die Aufgabe einer Kritik der Gewalt lafit sich als die Darstel- 
lung ihres Verhaltnisses zu Recht und Gerechtigkeit umschreiben. 
Denn zur Gewalt im pragnanten Sinne des Wortes wird eine 
wie immer wirksame Ursache erst dann, wenn sie in sittliche Ver- 
haltnisse eingreift. Die Sphare dieser Verhaltnisse wird durch die 
Begriffe Recht und Gerechtigkeit bezeichnet. Was zunachst den 
ersten von ihnen angeht, so ist klar, daE das elementarste Grund- 
verhaltnis einer jeden Rechtsordnung dasjenige von Zweck und 
Mittel ist. Ferner, dafi Gewalt zunachst nur im Bereich der Mit- 
tel, nicht der Zwecke aufgesucht werden kann. Mit diesen Fest- 
stellungen ist fiir die Kritik der Gewalt mehr, und freilich auch 
anderes, als es vielleicht den Anschein hat gegeben. Ist namlich 
Gewalt Mittel, so konnte ein Ma£stab fiir ihre Kritik ohne 
weiteres gegeben erscheinen. Er drangt sich in der Frage auf, ob 
Gewalt jeweils in bestimmten Fallen Mittel zu gerechten oder 
ungerechten Zwecken sei. Ihre Kritik ware demnach in einem 
System gerechter Zwecke impHzit gegeben. Dem ist aber nicht so. 
Denn was ein solches System, angenommen es sei gegen alle 
Zweifel sichergestellt, enthielte, ist nicht ein Kriterium der Ge- 
walt selbst als eines Prinzips, sondern eines fiir die Falle ihrer An- 
wendung. OfTen bliebe immer noch die Frage, ob Gewalt iiber- 
haupt, als Prinzip, selbst als Mittel zu gerechten Zwecken sittlich 
sei. Diese Frage bedarf zu ihrer Entscheidung denn doch eines 
naheren Kriteriums, einer Unterscheidung in der Sphare der Mit- 
tel selbst, ohne Ansehung der Zwecke, denen sie dienen. 



i8o Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

Die Ausschaltung dieser genaueren kritischen Fragestellung cha- 
rakterisiert eine grofie Richtung in der Rechtsphilosophie viel- 
leicht als ihr hervorstechendstes Merkmal: das Naturrecht. Es 
sieht in der Anwendung gewaltsamer Mittel zu gerechten Zwek- 
ken so wenig ein Problem, wie der Mensch eines im » Recht «, 
seinen Korper auf das erstrebte Ziel hinzubewegen, findet. Nach 
seiner Anschauung (die dem Terrorismus in der franzosischen 
Revolution zur ideologisdien Grundlage diente) ist Gewalt ein 
Naturprodukt, gleichsam ein RohstofT, dessen Verwendung kei- 
ner Problematik unterliegt, es sei denn, dafi man die Gewalt zu 
ungerechten Zwecken mifibrauche. Wenn nach der Staatstheorie 
des Naturrechts die Personen aller ihrer Gewalt zugunsten des 
Staates sich begeben, so geschieht das unter der Voraussetzung 
(die beispielsweise Spinoza im theologisch-politischen Traktat 
ausdriicklich feststellt), dafi der einzelne an und fiir sich und vor 
Abschlufi eines solchen vernunftgem'afien Vertrages jede beliebi- 
ge Gewalt, die er de facto innehabe, audi de jure ausiibe. Viel- 
leicht sind diese Anschauungen noch spat durch Darwins Biologie 
belebt worden, die in durchaus dogmatischer Weise neben der 
natiirlichen Zuchtwahl nur die Gewalt als urspriingliches und 
alien vitalen Zwecken der Natur allein angemessenes Mittel an- 
sieht. Die darwinistische Popularphilosophie hat oft gezeigt, wie 
klein von diesem naturgeschichtlichen Dogma der Schritt zu dem 
noch groberen rechtsphilosophischen ist, dafi jene Gewalt, welche 
fast allein natiirlichen Zwecken angemessen, darum auch schon 
rechtmafiig sei. 

Dieser naturrechtlichen These von der Gewalt als natiirlicher 
Gegebenheit tritt die positiv-rechtliche von der Gewalt als 
historischer Gewordenheit diametral entgegen. Kann das Natur- 
recht jedes bestehende Recht nur beurteilen in der Kritik seiner 
Zwecke, so das positive jedes werdende nur in der Kritik seiner 
Mittel. Ist Gerechtigkeit das Kriterium der Zwecke, so Recht- 
mafiigkeit das der Mittel. Unbeschadet dieses Gegensatzes aber 
begegnen beide Schulen sich in dem gemeinsamen Grunddogma: 
Gerechte Zwecke konnen durch berechtigte Mittel erreicht, be- 
rechtigte Mittel an gerechte Zwecke gewendet werden. Das Na- 
turrecht strebt, durch die Gerechtigkeit der Zwecke die Mittel zu 
»rechtfertigen«, das positive Recht durch die Berechtigung der 
Mittel die Gerechtigkeit der Zwecke zu »garantieren«. Die 



Zur Kritik der Gewalt 1 8 1 

Antinomie wiirde sich als unlosbar erweisen, wenn die gemein- 
same dogmatische Voraussetzung falsch ist, wenn berechtigte 
Mittel einerseits und gerechte Zwecke andrerseits in unverein- 
barem Widerstreit liegen. Die Einsicht hierein konnte sich aber 
keinesfalls ergeben, bevor der Zirkel verlassen und voneinan- 
der unabhangige Kriterien fiir gerechte Zwecke sowohl als fur 
berechtigte Mittel aufgestellt waren. 

Das Bereich der Zwecke und damit auch die Frage nach einem 
Kriterium der Gerechtigkeit schaltet fiir diese Untersuchung 
zunachst aus. Dagegen fallt in ihr Zentrum die Frage nach der 
Berechtigung gewisser Mittel, welche die Gewalt ausmachen. 
Naturrechtliche Prinzipien konnen sie nicht entscheiden, son- 
dern nur in eine bodenlose Kasuistik fiihren. Denn wenn das 
positive Recht blind ist fiir die Unbedingtheit der Zwecke, so das 
Naturrecht fiir die Bedingtheit der Mittel. Dagegen ist die positi- 
ve Rechtstheorie als hypothetische Grundlage im Ausgangspunkt 
der Untersuchung annehmbar, weil sie eine grundsatzliche Un- 
terscheidung hinsichtlich der Arten der Gewalt vornimmt, unab- 
hangig von den Fallen ihrer Anwendung. Diese findet zwischen 
der historisch anerkannten, der sogenannten sanktionierten und 
der nicht sanktionierten Gewalt statt. Wenn die folgenden Ober- 
legungen von ihr ausgehen, so kann das naturlich nicht heiften, 
daft gegebene Gewalten danach klassifiziert werden, ob sie 
sanktioniert sind oder nicht. Denn in einer Kritik der Gewalt 
kann deren positiv-rechtlicher Mafistab nicht seine Anwendung, 
sondern vielmehr nur seine Beurteilung erfahren. Es handelt 
sich um die Frage, was denn fiir das Wesen der Gewalt daraus 
folge, daE ein soldier Mafistab oder Unterschied an ihr iiber- 
haupt moglich sei, oder mit anderen Worten um den Sinn jener 
Unterscheidung. Denn dafi jene positiv-rechtliche Unterschei- 
dung sinnvoll, in sich vollkommen gegriindet und durch keine 
andere ersetzbar sei, wird sich bald genug zeigen,. zugleich aber 
damit ein Licht auf diejenige Sphare fallen, in der diese Unter- 
scheidung allein stattfinden kann. Mit einem Wort: kann der 
Maftstab, den das positive Recht fiir die Rechtmaftigkeit der 
Gewalt aufstellt, nur nach seinem Sinn analysiert, so mull die 
Sphare seiner Anwendung nach ihrem Wert kritisiert werden. 
Fiir diese Kritik gilt es dann den Standpunkt aufierhalb der 
positiven Rechtsphilosophie, aber auch auEerhalb des Natur- 



1 82 Metaphysisdi-geschichtsphilosophische Studien 

rechts zu finden. Inwiefern allein die geschichtsphilosophische 
Rechtsbetrachtung ihn abgeben kann, wird sich herausstellen. 
Der Sinn der Unterscheidung der Gewalt in rechtmaEige und 
unrechtmafiige liegt nicht ohne weiteres auf der Hand. Ganz 
entschieden ist das naturrechtliche MiEverstandnis abzuwehren, 
als bestehe er in der Unterscheidung von Gewalt zu gerechten 
und ungerechten Zwecken. Vielmehr wurde schon angedeutet, 
dafi das positive Recht von jeder Gewalt einen Ausweis iiber 
ihren historischen Ursprung verlangt, welcher unter gewissen 
Bedingungen ihre Rechtmafiigkeit, ihre Sanktion erhalt. Da die 
Anerkennung von Rechtsgewalten sich am greifbarsten in der 
grundsatzlich widerstandslosen Beugung unter ihre Zwecke be- 
kundet, so ist als hypothetischer Einteilungsgrund der Gewalten 
das Bestehen oder der Mangel einer allgemeinen historischen 
Anerkennung ihrer Zwecke zugrunde zu legen. Zwecke, welche 
dieser Anerkennung entbehren, mogen Naturzwecke, die ande- 
ren Rechtszwecke genannt werden. Und zwar ist die verschie- 
denartige Funktion der Gewalt, je nachdem sie Natur- oder 
Reditszwecken dient, am anschaulichsten unter Zugrundelegung 
irgendwelcher bestimmter Rechtsverhaltnisse zu entwickeln. Der 
Einfachheit halber mogen die folgenden Ausfuhrungen auf die 
gegenwartigen europaischen sich beziehen. 

Fur diese Rechtsverhaltnisse ist, was die einzelne Person als 
Rechtssubjekt betrifft, die Tendenz bezeichnend, Naturzwecke 
dieser einzelnen Personen in alien den. Fallen nicht zuzulassen, 
in denen solche Zwecke gegebenenfalls zweckmafiigerweise ge- 
waltsam erstrebt werden konnten. Das heifit: diese Rechtsord- 
nung drangt darauf, in alien Gebieten, in denen Zwecke von 
Einzelpersonen zweckmaftigerweise mit Gewalt erstrebt werden 
konnten, Rechtszwecke aufzurichten, welche eben nur die 
Rechtsgewalt auf diese Weise zu verwirklichen vermag. Ja, sie 
drangt darauf, auch Gebiete, fur welche Naturzwecke prinzipiell 
in weiten Grenzen freigegeben werden, wie das der Erziehung, 
durch Rechtszwecke einzuschranken, sobald jene Naturzwecke 
mit einem iibergrofien Maft von Gewalttatigkeit erstrebt wer- 
den, wie sie dies in den Gesetzen iiber die Grenzen der erziehe- 
risclien Strafbefugnis tut. Es kann als eine allgemeine Maxime 
gegenwartiger europaischer Gesetzgebung formuliert werden: 
alle Naturzwecke einzelner Personen miissen mit Rechtszwecken 



Zur Kritik der Gewalt 183 

in Kollislon geraten, wenn sie mit mehr oder minder grofier 
Gewalt verf olgt werden. . (Der Widerspruch, in welchem das 
Recht auf Notwehr hierzu steht, diirfte im Laufe der folgenden 
Betrachtungen von selbst seine Erklarung finden.) Aus dieser 
Maxime folgt, dafi das Recht die Gewalt in den Handen der 
einzelnen Person als eine Gefahr ansieht, die Rechtsordnung zu 
untergraben. Als eine Gefahr, die Rechtszwecke und die Rechts- 
exekutive zu vereiteln? Doch nicht; denn dann wiirde nicht 
Gewalt schlechthin, sondern nur die auf rechtswidrige Zwecke 
gewendete verurteilt werden. Man wird sagen, dafi ein System 
der Rechtszwecke sich nicht halten konne, wenn irgendwo Na- 
turzwecke noch gewaltsam erstrebt werden diirfen. Das ist aber 
zunachst ein blofies Dogma. Dagegen wird man vielleicht die 
uberraschende Moglichkeit in Betracht zu ziehen haben, dafi das 
Interesse des Rechts an der Monopolisierung der Gewalt gegen- 
uber der Einzelperson sich nicht durch die Absicht erklare, die 
Rechtszwecke, sondern vielmehr durch die, das Recht selbst zu 
wahren. Dafi die Gewalt, wo sie nicht in den Handen des je- 
weiligen Rechtes liegt, ihm Gefahr droht, nicht durch die 
Zwecke, welche sie erstreben mag, sondern durch ihr blofies 
Dasein aufierhalb des Rechts. Drastischer mag die gleiche Ver- 
mutung durch die Besinnung darauf nahegelegt werden, wie oft 
schon die Gestalt des »grofien« Verbrechers, mogen auch seine 
Zwecke abstofiend gewesen sein, die heimliche Bewunderung des 
Volkes erregt hat. Das kann nicht um seiner Tat, sondern nur 
um der Gewalt willen, von der sie zeugt, moglich sein. In diesem 
Fall trkt also wirklich die Gewalt, welche das heutige Recht 
in alien Bezirken des Handelns dem einzelnen zu nehmen sucht, 
bedrohlich auf und erregt noch im Unterliegen die Sympathie 
der Menge gegen das Recht. Durch welche Funktion die Ge- 
walt mit Grund dem Recht so bedrohlich scheinen, so sehr von 
ihm gefiirchtet werden kann, mufi sich gerade da zeigen, wo 
selbst nach der gegenwartigen Rechtsordnung ihre Entfaltung 
noch zulassig ist. 

Dies ist zunachst im Klassenkampf in Gestalt des garantierten 
Streikrechts derArbeiter der Fall. Die organisierteArbeiterschaft 
ist neben den Staaten heute wohl das einzige Rechtssubjekt, dem 
ein Recht auf Gewalt zusteht. Gegen diese Anschauung liegt 
freilich der Einwand bereit, dafi die Unterlassung von Handlun- 



184 . Metaphysisch-geschichtsphilosophisdie Studien 

gen, ein Nicht-Handeln, wie es der Streik letzten Endes doch 
ist, uberhaupt nidit als Gewalt bezeichnet werden diirfe. Solche 
Oberlegung hat audi wohl der Staatsgewalt die Einraumung des 
Streikrechts, als sie nicht mehr zu umgehen war, erleichtert. Sie 
gilt aber nicht uneingeschrankt, weil nicht unbedingt. Zwar 
kann das Unterlassen einer Handlung, auch eines Dienstes, wo 
es einfach einem »Abbruch von Beziehungen« gleichkommt, ein 
vollig gewaltloses, reines Mittel sein. Und wie nach Anschau- 
ung des Staates (oder des Rechts) im Streikrecht der Arbeiter- 
schaft uberhaupt nicht sowohl ein Recht auf Gewalt zugestanden 
ist, als eines sich derselben zu entziehen, wo sie vom Arbeitgeber 
mittelbar ausgeiibt werden sollte, so mag freilich hin und wieder 
ein Streikfall vorkommen, der dem entspricht und nur eine 
»Abkehr« oder »Entfremdung« vom Arbeitgeber bekunden soil. 
Das Moment der Gewalt aber tritt, und zwar als Erpressung, 
in eine solche Unterlassung unbedingt clann ein, wenn sie in der 
prinzipiellen Bereitschaft geschieht, die unterlassene Handlung 
' unter gewissen Bedingungen, welche, sei es uberhaupt nichts mit 
ihr zu tun haben, sei es nur etwas Aufierliches an ihr modifizie- 
ren, wieder so wie vorher auszuiiben. Und in diesem Sinne bil- 
det nach der Anschauung der Arbeiterschaft, welche der des 
Staates entgegengesetzt ist, das Streikrecht das Recht, Gewalt zur 
Durchsetzung gewisser Zwecke anzuwenden. Der Gegensatz in 
beiden Auffassungen zeigt sich in voller Scharfe angesichts des 
revolutionaren Generalstreiks. In ihm wird die Arbeiterschaft 
jedesmal sich auf ihr Streikrecht berufen, der Staat aber diese 
Berufung einen Miftbrauch nennen, da das Streikrecht »so« nicht 
gemeint gewesen sei, und seine Sonderverfugungen erlassen. Denn 
es bleibt ihm unbenommen zu erklaren, dafi eine gleichzeitige 
Ausiibung des Streiks in alien Betrieben, da er nicht in jedem 
seinen vom Gesetzgeber vorausgesetzten besonderen Anlaft 
habe, widerrechtlich sei. In dieser DirTerenz der Interpretation 
driickt sich der sachliche Widerspruch der Rechtslage aus, nach 
der der Staat eine Gewalt anerkennt, deren Zwecken er als Na- 
turzwecken bisweilen indifferent, im Ernstfall (des revolutiona- 
ren Generalstreiks) aber feindlich gegeniibersteht. Als Gewalt 
namlich ist, wiewohl dies auf den ersten Blick paradox 
scheint, dennoch auch ein Verhalten, das in Ausiibung eines 
Rechtes eingenommen wird, unter gewissen Bedingungen zu 



Zur Kritik der Gewalt 1 8 5 

bezeichnen. Und zwar wird ein solches Verhalten, wo es aktiv 
ist, Gewalt heifien diirfen, wenn es ein ihm zustehendes Recht 
ausiibt, urn die Rechtsordnung, kraft deren es ihm verliehen ist, 
zu stiirzen, wo es passiv ist, aber nichtsdestoweniger ebenso zu 
bezeichnen sein, wo es im Sinne der oben entwickelten Oberle- 
gung Erpressung ware. Daher zeugt es nur von einem sachlichen 
Widerspruch in der Rechtslage, nicht aber von einem logischen 
Widerspruch im Recht, wenn es den Streikenden als Gewalttati- 
gen unter gewissen Bedingungen mit Gewalt entgegentritt. Denn 
im Streik fiirchtet der Staat mehr als alles andere diejenige 
Funktion der Gewalt, deren Ermittlung diese Untersuchung 
als einzig sicheres Fundament ihrer Kritik sich vorsetzt. Ware 
namlich Gewalt, was sie zunachst scheint, das blofie Mittel, eines 
Beliebigen, das gerade erstrebt wird, unmittelbar sich zu ver- 
sichern, so konnte sie nur als raubende Gewalt ihren Zweck er- 
fiillen. Sie ware vollig untauglich, auf relativ bestandige Art 
Verhaltnisse zu begriinden oder zu modifizieren. Der Streik 
aber zeigt, dafi sie dies vermag, dafi sie imstande ist, Rechtsver- 
haltnisse zu begriinden und zu modifizieren, wie sehr das Ge- 
rechtigkeitsgefiihl sich audi dadurch beleidigt finden moge. 
Der Einwand liegt nahe, daft eine solche Funktion der Gewalt 
zufallig und vereinzelt sei. Die Betrachtung der kriegerischen 
Gewalt wird ihn zuriickweisen. 

Die Moglichkeit eines Kriegsrechts beruht auf genau denselben 
sachlichen Widerspriichen in der Rechtslage wie die eines Streik- 
rechts, namlich darauf, dafi Rechtssubjekte Gewalten sank- 
tionieren, deren Zwecke fiir die Sanktionierenden Naturzwecke 
bleiben und daher mit ihren eigenen Rechts- oder Naturzwek- 
ken im Ernstfall in Konflikt geraten konnen. Die Kriegsgewalt 
richtet allerdings zunachst ganz unmittelbar und als raubende 
Gewalt sich auf ihre Zwecke. Aber es ist doch hochst auffallend, 
dafi selbst - oder vielmehr gerade - in primitiven Verhaltnis- 
sen, die von staatsrechtlichen Beziehungen sonst kaum Anfange 
kennen, und selbst in solchen Fallen, wo der Sieger in einen 
nunmehr unangreifbaren Besitz sich gesetzt hat, ein Friede 
zeremoniell durchaus erforderlich ist, Ja, das Wort » Friede « be- 
zeichnet in seiner Bedeutung, in welcher es Korrelat zur Bedeu- 
tung »Krieg« ist (es gibt namlich noch eine ganz andere, eben- 
falls unmetaphorische und politische, diejenige, in welcher Kant 



1 86 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

von »Ewigem Frieden« spricht) geradezu eine solche a priori und 
von alien ubrigen Rechtsverhaltnissen unabhangige notwendige 
Sanktionierung eines jeden Sieges. Diese besteht eben darin, 
dafi die neuen Verhaltnisse als neues »Recht« anerkannt wer- 
den, ganz unabhangig davon, ob sie de facto irgendeiner Garan- 
tie fur ihren Fortbestand bediirfen oder nicht. Es wohnt also, 
wenn nach der kriegerischen Gewalt als einer urspriinglichen 
und urbildlichen fiir jede Gewalt zu Naturzwecken geschlossen 
werden darf, aller derartigen Gewalt ein rechtsetzender Cha- 
rakter bei. Auf die Tragweite dieser Erkenntnis wird spater 
zuriickzukommen sein. Sie erklart die genannte Tendenz des 
modernen Rechts, jede auch nur auf Naturzwecke gerichtete Ge- 
walt zumindest der Einzelperson als Rechtssubjekt zu nehmen. 
Im grofien Verbrecher tritt ihm diese Gewalt entgegen mit der 
Drohung: neues Recht zu setzen, vor der das Volk trotz ihrer 
Ohnmacht in bedeutenden Fallen noch heute wie in Urzeiten 
erschauert. Der Staat aber furchtet diese Gewalt schlechterdings 
als rechtsetzend, wie er sie als rechtsetzend anerkennen muE, wo 
auswartige Machte ihn dazu zwingen, das Recht zur Kriegfiih- 
rung, Klassen, das Recht zum Streik ihnen zuzugestehen. 
Wenn im letzten Kriege die Kritik der Militargewalt der Aus- 
gangspunkt fiir eine leidenschaftliche Kritik der Gewalt im all- 
gemeinen geworden ist, welche wenigstens das eine lehrt, dafi 
sie naiv nicht mehr ausgeiibt noch geduldet wird, so ist sie doch 
nicht nur als rechtsetzende Gegenstand der Kritik gewesen, 
sondern sie ist vernichtender vielleicht noch in einer anderen 
Funktion beurteilt worden. Eine Doppelheit in der Funktion der 
Gewalt ist namlich fiir den Militarismus, der erst durch die all- 
gemeine Wehrpflicht sich bilden konnte, charakteristisch. Mili- 
tarismus ist der Zwang zur allgemeinen Anwendung von Ge- 
walt als Mittel zu Zwecken des Staates. Dieser Zwang zur 
Gewaltanwendung ist neuerdings mit gleichem oder grofterem 
Nachdruck beurteilt worden, als die Gewaltanwendung selbst. 
In ihm zeigt sich die Gewalt in einer ganz andern Funktion als 
in ihrer einfachen Anwendung zu Naturzwecken. Er besteht 
in einer Anwendung von Gewalt als Mittel zu Rechtszwecken. 
Denn die Unterordnung der Burger unter die Gesetze - in ge- 
dachtem Falle unter das Gesetz der allgemeinen Wehrpflicht - 
ist ein Rechtszweck. Wird jene erste Funktion der Gewalt die 



Zur Kritik der Gewalt 187 

rechtsetzende, so darf diese zweite die rechtserhaltende genannt 
werden. Weil nun die Wehrpflicht ein durch nichts prinzipiell 
unterschiedener Anwendungsfall der rechtserhaltenden Gewalt 
ist, darum ist ihre wirklich durchschlagende Kritik bei weitem 
nicht so leicht, wie die Deklamationen der Pazifisten und Ak- 
tivisten sie sich machen. Sie fallt vielmehr mit der Kritik aller 
Rechtsgewalt, das heifit mit der Kritik der legalen oder exeku- 
tiven Gewalt zusammen und ist bei einem minderen Programm 
gar nicht zu leisten. Sie ist audi, will man nicht einen geradezu 
kindischen Anarchismus proklamieren, selbstverstandKch nicht 
damit geliefert, daft man keinerlei Zwang der Person gegeniiber 
anerkennt, und erklart »Erlaubt ist was gefallt«. Eine solche 
Maxime schaltet nur die Reflexion auf die sittlich-historische 
Sphare und damit auf jeden Sinn von Handlung, weiterhin aber 
auf jeden Sinn der Wirklichkeit iiberhaupt aus, der nicht zu 
konstituieren ist, wenn »Handlung« aus ihrem Bereich heraus- 
gebrochen ist. Wichtiger durfte sein, daft auch die so haufig ver- 
suchte Berufung auf den kategorischen Imperativ mit seinem 
wohi unbezweifelbaren Minimalprogramm: Handle so, daft Du 
die Menschheit sowohl in Deiner Person als in der Person eines 
jeden Anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloft als 
Mittel brauchest, zu dieser Kritik an sich nicht ausreicht 1 . Denn 
das positive Recht wird, wo es seiner Wurzeln sich bewuftt ist, 
durchaus beanspruchen, das Interesse der Menschheit in der Per- 
son jedes einzelnen anzuerkennen und zu fordern. Es erblickt 
dieses Interesse in der Darstellung und Erhaltung einer schick- 
salhaften Ordnung. So wenig dieser, die das Recht mit Grund zu 
wahren behauptet, eine Kritik erspart bleiben darf, so ohnmach- 
tig ist doch ihr gegeniiber jede Anfechtung, die nur im Namen 
einer gestaltlosen »Freiheit« auftritt, ohne jene hohere Ordnung 
der Freiheit bezeichnen zu konnen. Vollends ohnmachtig aber, 
wenn sie nicht die Rechtsordnung selbst an Haupt und Glie- 
dern anficht, sondern einzelne Gesetze oder Rechtsbrauche, wel- 
che denn freilich das Recht in den Schutz seiner Macht nimmt, 
die darin besteht, daft es nur ein einziges Schicksal gibt und daft 

1 Bezweifeln liefie sidi an dieser beriihnuen Forderung vielmehr, ob sie nicht zu 
wenig enthalt, namlich ob es erlaubt sei, seiner selbst oder eines andern in irgend- 
welcher Hinsicht auch als eines Mittcls sich bedtenen zu lassen oder zu bedienen. Die- 
sem Zweifel liefien sich sehr gute Griinde leihen. 



1 8 8 Metaphysisdi-gesdiiditsphilosophisdie Studien 

gerade das Bestehende und zumal das Drohende unverbruchlich 
seiner Ordnung angehort. Denn die rechtserhaltende Gewalt ist 
eine drohende. Und zwar hat ihre Drohung nicht den Sinn der Ab- 
schreckung, in dem ununterrichtete liberale Theoretiker sie inter- 
pretieren. Zur Abschreckung im exakten Sinn wiirde eine Be- 
stimmtheit gehoren,welche demWesen der Drohung widerspricht, 
audi von keinem Gesetz erreicht wird, da die Hoffnung besteht, 
seinem Arm zu entgehen. Um so mehr erweist es sich drohend wie 
das Schicksal, bei dem es ja stent, ob ihm der Verbrecher verfallt. 
Den tiefsten Sinn in der Unbestimmtheit der Rechtsdrohung wird 
erst die spatere Betrachtung der Sphare des Schicksals, aus der sie 
stammt, erschliefien. Ein wertvoller Hinweis auf sie liegt im Be- 
reich der Strafen. Unter ihnen hat, seitdem die Geltung des posi- 
tiven Rechts in Frage gezogen wurde, die Todesstrafe mehr als 
alles andere die Kritik herausgefordert. So wenig grundsatzlich 
auch in den meisten Fallen deren Argumente gewesen sind, so 
prinzipiell waren und sind ihre Motive. Ihre Kritiker ftihlten, 
vielleicht ohne es begriinden zu konnen, ja wahrscheinlich ohne es 
fiihlen zu wollen, dafi eine Anfechtung der Todesstrafe nicht ein 
Strafmafi, nicht Gesetze, sondern das Recht selbst in seinem Ur- 
sprung angreift. Ist namlich Gewalt, schicksalhafl: gekronte Ge- 
walt, dessen Ursprung, so liegt die Vermutung nicht fern, daft in 
der hochsten Gewalt, in der iiber Leben und Tod, wo sie in der 
Rechtsordnung auftritt, deren Urspriinge reprasentativ in das 
Bestehende hineinragen und in ihm sich furchtbar manifestieren. 
Hiermit stimmt uberein,daft die Todesstrafe in primitiven Rechts- 
verhaltnissen auch auf Delikte wie Eigentumsvergehen gesetzt ist, 
zu denen sie ganz aufier' »Verhaltnis« zu stehen scheint. Ihr 
Sinn ist denn auch nicht, den Rechtsbruch zu strafen, sondern 
das neue Recht zu statui^ren. Denn in der Ausiibung der Ge- 
walt iiber Leben und Tod bekraftigt mehr als in irgendeinem 
andern Rechtsvollzug das Recht sich selbst. Eben in ihr aber 
kundigt zugleich irgend etwas Morsches im Recht am vernehm- 
lichsten dem feineren Gefiihl sich an, weil dieses sich von Ver- 
haltnissen, in welchen das Schicksal in eigner Majestat in einem 
solchen Vollzug sich gezeigt hatte, unendlicli fern weift. Der 
Verstand aber muE diesen Verhaltnissen sich um so entschiedener 
zu nahern suchen, wenn er die Kritik der rechtsetzenden wie der 
rechtserhaltenden Gewalt zum Abschluft bringen will. 



Zur Kritik der Gewalt 189 

In einer weit widernatiirlicheren Verbindung als in der Todes- 
strafe, in einer gleichsam gespenstischen Vermischung, sind diese 
beiden Arten der Gewalt in einer andern Institution des mo- 
dernen Staates, der Polizei, gegenwartig. Diese ist zwar eine 
Gewalt zu Rechtszwecken (mit Verfugungsrecht), aber mit der 
gleichzeitigen Befugnis, diese in weiten Grenzen selbst zu setzen 
(mit Verordnungsrecht). Das Schmachvolle einer solchen Be- 
horde, das nur deshalb von wenigen gefuhlt wird, weil ihre 
Befugnisse zu den groblichsten Eingriffen nur selten ausreichen, 
desto blinder freilich in den verletzbarsten Bezirken und gegen 
Besonnene, vor denen den Staat nicht die Gesetze schiitzen, 
schalten diirfen, liegt darin, dafi in ihr die Trennung von recht- 
setzender und rechtserhaltender Gewalt aufgehoben ist. Wird 
von der ersten verlangt, dafi sie im Siege sich ausweise, so unter- 
liegt die zweite der Einschrankung, dafi sie nicht neue Zwecke 
sich setze. Von beiden Bedingungen ist die Polizeigewalt eman- 
zipiert. Sie ist rechtsetzende - denn deren charakteristische 
Funktion ist ja nicht die Promulgation von Gesetzen, sondern 
jedweder Erlafi, den sie mit Rechtsanspruch ergehen lafit - und 
sie ist rechtserhaltende, weil sie sich jenen Zwecken zur Verfli- 
gung stellt. Die Behauptung, dafi die Zwecke der Polizeigewalt 
mit denen des ubrigen Rechts stets identisch oder auch nur ver- 
bunden waren, ist durchaus unwahr. Vielmehr bezeichnet das 
»Recht« der Polizei im Grunde den Punkt, an welchem der 
Staat, sei es aus Ohnmacht, sei es wegen der immanenten Zu- 
sammenhange jeder Reclitsordnung, seine empirischen Zwecke, 
die er um jeden Preis zu erreichen wiinscht, nicht mehr durch die 
Rechtsordnung sich garantieren kann. Daher greift »der Sicher- 
heit wegen« die Polizei in zahllosen Fallen ein, wo keine klare 
Rechtslage vorliegt, wenn sie nicht ohne jegliche Beziehung auf 
Rechtszwecke den Burger als eine brutale Belastigung durch das 
von Verordnungen geregelte Leben begleitet oder ihn schlechtweg 
iiberwacht. Im Gegensatz zum Recht, welches in der nach Ort 
und Zeit fixierten »Entscheidung« eine metaphysische Kategorie 
anerkennt, durch die es Anspruch auf Kritik erhebt, trifft die 
Betrachtung des Polizeiinstituts auf nichts Wesenhaftes. Seine 
Gewalt ist gestaltlos wie seine nirgends fafibare, allverbreitete 
gespenstische Erscheinung im Leben der zivilisierten Staaten. 
Und mag Polizei auch im einzelnen sich iiberall gleichsehen, so 



190 Metaphysisch-geschichtspliilosophische Studien 

ist zuletzt doch nicht zu verkennen, dafi ihr Geist weniger ver- 
heerend ist, wo sie in der absoluten Monarchic die Gewalt des 
Herrschers, in welcher sich legislative und exekutive Machtvoll- 
kommenheit vereinigt, reprasentiert, als in Demokratien, wo ihr 
Bestehen durch keine derartige Beziehung gehoben, die denkbar 
grofite Entartung der Gewalt bezeugt. 

Alle Gewalt ist als Mittel entweder rechtsetzend oder rechts- 
erhaltend. Wenn sie auf keines dieser beiden Pradikate Anspruch 
erhebt, so verzichtet sie damit selbst auf jede Geltung. Daraus 
aber folgt, dafi jede Gewalt als Mittel selbst im giinstigsten Falle 
an derProblematik des Rechts uberhaupt teilhat. Und wenn auch 
deren Bedeutung an dieser Stelle der Untersuchung noch nicht 
mit Gewifiheit abzusehen ist, so erscheint doch nach dem Aus- 
gefuhrten das Recht in so zweideutiger sittlicher Beleuchtung, 
dafi die Frage sich von selbst aufdrangt, ob es zur Regelung 
widerstreitender menschlicher Interessen keine anderen Mittel 
als gewaltsame gebe. Vor allem notigt sie festzustellen, dafi 
eine vollig gewaltlose Beilegung von Konflikten niemals auf 
einen Rechtsvertrag hinauslaufen kann. Dieser namlich fiihrt, 
wie sehr er auch friedlich von den Vertragschliefienden einge- 
gangen sein mag, doch zuletzt auf mogliche Gewalt. Denn er 
verleiht jedem Teil das Recht, gegen den andern Gewalt in 
irgendeiner Art in Anspruch zu nehmen, falls dieser vertrags- 
briichig werden sollte. Nicht allein das: wie der Ausgang, so 
verweist auch der Ursprung jeden Vertrages auf Gewalt. Sie 
braucht als rechtsetzende zwar nicht unmittelbar in ihm gegen- 
wartig zu sein, aber vertreten ist sie in ihm, sofern die Macht, 
welche den Rechtsvertrag garantiert, ihrerseits gewaltsamen 
Ursprungs ist, wenn sie nicht eben in jenem Vertrag selbst 
durch Gewalt rechtmafiig eingesetzt wird. Schwindet das Be- 
wufttsein von der latenten Anwesenheit der Gewalt in einem 
Rechtsinstitut, so verfallt es. Dafur bilden in dieser Zek die 
Parlamente ein Beispiel. Sie bieten das bekannte jammervolle 
Schausplel, weil sie sich der revolutionaren Krafte, denen sie ihr 
Dasein verdanken, nicht bewufit geblieben sind. In Deutsch- 
land insbesondere ist denn auch die letzte Manifestation solcher 
Gewalten fur die Parlamente folgenlos verlaufen. Ihnen fehlt 
der Sinn fur die rechtsetzende Gewalt, die in ihnen reprasentiert 
ist; kein Wunder, daft sie zu Beschliissen, welche dieser Gewalt 



Zur Kritik der Gewalt 191 

wiirdig waren, nicht gelangen, sondern im Kompromifi eine 
vermeintlich gewaltlose Behandlungsweise politischer Angele- 
genheiten pflegen. Dieses aber bleibt ein »wenn audi noch so 
sehr alle offene Gewalt verschmahendes, dennoch in der Men- 
talitat der Gewalt liegendes Produkt, weil die zum Kompro- 
mifi fuhrende Strebung nicht von sich aus, sondern von aufien, 
eben von der Gegenstrebung, motiviert wird, weil aus jedem 
Kompromifi, wie freiwillig auch immer aufgenommen, der 
Zwangscharakter nicht weggedacht werden kann. >Besser ware 
es anders< ist das Grundempfinden jeden Kompromisses.« 2 
- Bezeichnenderweise hat der Verfall der Parlamente von dem 
Ideal einer gewaltlosen Schlichtung politischer Konflikte viel- 
leicht ebensoviele Geister abwendig gemacht, wie der Krieg ihm 
zugefuhrt hat. Den Pazifisten stehen die Bolschewisten und 
Syndikalisten gegenuber. Sie haben eine vernichtende und im 
ganzen trefTende Kritik an den heutigen Parlamenten geiibt. 
So wiinschenswert und erfreulich dennoch vergleichsweise ein 
hochstehendes Parlament sein mag, so wird man bei der Erorte- 
rung prinzipiell gewaltloser Mittel politischer Obereinkunft 
nicht vom Parlamentarismus handeln konnen. Denn was er in 
vitalen Angelegenheiten erreicht, konnen nur jene im Ursprung 
und Ausgang mit Gewalt behafteten Rechtsordnungen sein. 
Ist uberhaupt gewaltlose Beilegung von Konflikten moglich? 
Ohne Zweifel. Die Verhaltnisse zwischen Privatpersonen sind 
voll von Beispielen dafiir. Gewaltlose Einigung findet sich 
iiberall, wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel 
der Obereinkunft an die Hand gegeben hat. Den rechtmafiigen 
und rechtswidrigen Mitteln aller Art, die doch samt und sonders 
Gewalt sind, diirfen namlich als reine Mittel die gewaltlosen 
gegeniibergestellt werden. Herzenshoflichkeit, Neigung, Frie- 
densliebe, Vertrauen und was sich sonst hier noch nennen liefie, 
sind deren subjektive Voraussetzung. Ihre objektive Erscheinung 
aber bestimmt das Gesetz (dessen gewaltige Tragweite hier nicht 
zu erortern ist), dafi reine Mittel niemals solche unmittelbarer, 
sondern stets mittelbarer Losungen sind. Sie beziehen sich daher 
niemals unmittelbar auf die Schlichtung der Konflikte zwischen 
Mensch und Mensch, sondern nur auf dem Wege iiber die Sachen. 

2 Erich Unger: Politik und Metaphysik. (Die Theorie. Versuche zu philosophischer 
Politik, 1. Veroffentlichung.) Berlin 1921, p. 8. 



192 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

In der sachlichsten Beziehung menschlicher Konflikte auf Guter 
eroffnet sich das Gebiet der reinen Mittel. Darum ist Technik 
im weitesten Sinne des Wortes deren eigenstes Bereich. Ihr 
tiefgreifendstes Beispiel ist vielleicht die Unterredung als eine 
Technik ziviler Obereinkunft betrachtet. In ihr ist namlich ge- 
waltlose Einigung nicht allein moglich, sondern die prinzipielle 
Ausschaltung der Gewalt ist ganz ausdriicklich an einem bedeu- 
tenden Verhaltnis zu belegen: an der Straflosigkeit der Luge. 
Es gibt vielleicht keine Gesetzgebung auf der Erde, welche sie ur- 
spriinglich bestraft. Darin spricht sich aus, dafi es eine in dem 
Grade gewaltlose Sphare menschlicher Obereinkunft gibt, dafi 
sie der Gewalt vollstandig unzuganglich ist: die eigentliche 
Sphare der »Verstandigung«, die Sprache. Erst spat und in 
einem eigentiimlichen Verfallsprozefi ist die Rechtsgewalt den- 
noch in sie eingedrungen, indem sie den Betrug unter Strafe 
stellte. Wahrend namlich die Rechtsordnung an ihrem Ursprung 
im Vertrauen auf ihre siegreiche Gewalt sich begniigt, die rechts- 
widrige zu schlagen, wo sie sich gerade zeigt, und der Betrug, da 
er selbst nichts von Gewalt an sich hat, nach dem Grundsatz 
ius civile vigilantibus scriptum est bzw. Augen fiir Geld im ro- 
mischen und altgermanischen Recht straffrei war, fuhlte das 
Recht einer spateren Zeit, dem es an Vertrauen in seine eigene 
Gewalt gebrach, nicht mehr wie das friihere aller fremden sich 
gewachsen. Vielmehr bezeichnet Furcht vor ihr und Mifitrauen 
in sich selbst seine Erschiitterung. Es beginnt sich Zwecke in der 
Absicht zu setzen, der rechtserhaltenden Gewalt starkere Mani- 
festationen zu ersparen. Es wendet sich also gegen den Betrug 
nicht aus moralischen Erwagungen, sondern aus Furcht vor den 
Gewalttatigkeiten, die er im Betrogenen auslosen konnte. Da 
solche Furcht im Widerstrek mit der eigenen Gewaltnatur des 
Rechts aus seinen Urspningen her liegt, so sind derartige Zwecke 
den berechtigten Mitteln des Rechts unangemessen. In ihnen be- 
kundet sich nicht nur der Verfall seiner eigenen Sphare, sondern 
zugleich auch eine Minderung der reinen Mittel. Denn im Ver- 
bot des Betruges schrankt das Recht den Gebrauch vollig gewalt- 
loser Mittel ein, weil diese reaktiv Gewalt erzeugen konnten. 
Die gedachte Tendenz des Rechtes hat auch bei der Einraumung 
des Streikrechts, das den Interessen des Staates widerspricht, 
mitgewirkt. Das Recht gibt es frei, weil es gewaltsame Hand- 



Zur Kritik der Gewalt 193 

lungen, denen entgegenzutreten es furchtet, hlntan halt. Griffen 
doch vordem die Arbeker sogleidi zur Sabotage und steckten 
die Fabriken an. - Um Menschen zum friedlichen Ausgleich ihrer 
Interessen diesseits aller Rechtsordnung zu bewegen, gibt es 
abgesehen von alien Tugenden zuletzt ein wirksames Motiv, das 
auch dem sprodesten Willen jene reinen Mittel statt gewaltsamer 
oft genug in die Hand gibt, in derFurchtvor gemeinsamen Nach- 
teilen, die aus der gewaltsamen Auseinandersetzung zu entstehen 
drohen, wie auch immer sie ausfalle. Solche liegen beim Inter- 
essenkonflikt zwischen Privatpersonen in zahllosen Fallen klar 
zutage. Anders, wenn Klassen und Nationen im Streit liegen, 
wobei jene hoheren Ordnungen, welche den Sieger und den 
Besiegten gleichermafien zu tiberwaltigen drohen, den meisten 
dem Gefiihl und fast alien der Einsicht nach noch verborgen 
sind. Hier wiirde das Aufsuchen soldier hoheren Ordnungen 
und der ihnen entsprechenden gemeinsamen Interessen, welche 
das nachhaltigste Motiv fur eine Politik der reinen Mittel ab- 
geben, zu weit fiihren 3 . Daher moge nur auf reine Mittel der 
Politik selbst als Analogon zu denen, die den friedlichen Urn- 
gang zwischen Privatpersonen beherrschen, hingewiesen wer- 
den. 

Was die Klassenkampfe betrifft, so muf$ in ihnen der Streik 
unter gewissen Bedingungen als ein reines Mittel gelten. Zwei 
wesentlich verschiedene Arten des Streiks, deren Moglichkeit 
schon erwogen wurde, sind hier eingehender zu kennzeichnen. 
Sorel hat das Verdienst, sie - mehr auf Grund politischer als 
rein theoretischer Erwagungen - zuerst unterschieden zu haben. 
Er stellt sie als politischen und proletarischen Generalstreik 
einander gegenliber. Zwischen ihnen besteht auch in der Bezie- 
hung auf die Gewalt ein Gegensatz. Von den Parteigangern des 
ersteren gilt: »Starkung der Staatsgewalt ist die Grundlage ihrer 
Konzeptionen; in ihren gegenwartigen Organisationen bereiten 
die Politiker (sc. die gemafiigt sozialistischen) schon die Anlage 
einer starken zentralisierten und disziplmierten Gewalt vor, die 
durch die Kritik der Opposition sich nicht beirren lassen wird, 
die Schweigen aufzuerlegen wissen und ihre verlogenen Dekrete 
erlassen wird.« 4 »Der politische Generalstreik . . . demonstriert, 

3 Siehe aber Unger a. a, O. p. i8ff. 

4 Georges Sorel: Reflexions sur la violence, 5* Edition, Paris 19 19, p. 250. 



1 94 Metaphysisdi-geschichtsphilosophisdie Studien 

wie der Staat nichts von seiner Kraft verlieren wird, wie die 
Macht von Privilegierten auf Privilegierte ubergeht, wie die 
Masse der Produzenten ihre Herren wechseln wird.« 5 Diesem 
politischen Generalstreik gegeniiber (dessen Formel iibrigens die 
der verflossenen deutschen Revolution zu sein scheint), setzt 
der proletarische sich die eine einzige Aufgabe der Vernichtung 
der Staatsgewalt. Er »schaltet alle ideologischen Konsequenzen 
jeder moglichen Sozialpolitik aus; seine Parteiganger sehen audi 
die popularsten Reformen als biirgerlich an« 6 . »Dieser General- 
streik bekundet ganz deutlich seine Gleichgiiltigkeit gegen den 
materiellen Gewinn der Eroberung, indem er erklart, daft er 
den Staat aufheben will; der Staat war wirklich . . . der Daseins- 
grund der herrschenden Gruppen, die von alien Unternehmun- 
gen, deren Lasten die Gesamtheit tragt, den Nutzen haben.« 7 
Wahrend die erste Form der Arbeitseinstellung Gewalt ist, da 
sie nur eine aufierliche Modifikation der Arbeitsbedingungen 
veranlafit, so ist die zweite als ein reines Mittel gewaltlos. Denn 
sie geschieht nidit in der Bereitsdiaft, nach aufierlichen Konzes- 
sionen und irgendwelcher Modifikation der Arbeitsbedingungen 
wieder die Arbeit aufzunehmen, sondern im Entschlufi, nur eine 
ganzlich veranderte Arbeit, eine nicht staatlich erzwungene, wie- 
der aufzunehmen, ein Umsturz, den diese Art des Streikes nicht 
sowohl veranlafk als vielmehr vollzieht. Daher denn audi die erste 
dieser Unternehmungen rechtsetzend, die zweite dagegen anarchi- 
stisch ist. Im Anschlufi an gelegentliche Aufierungen von Marx 
weist Sorel jede Art von Programmen, Utopien, mit einem Wort 
von Rechtsetzungen fiir die revolutionare Bewegung zuruck: »Mit 
dem Generalstreik verschwinden alle diese schdnen Dinge; die 
Revolution erscheint als eine klare, einfache Revoke und es ist 
ein Platz weder den Soziologen vorbehalten noch den eleganten 
Amateuren von Sozialreformen, noch den Intellektuellen, die 
es sich zum Beruf gemacht haben, fiir das Proletariat zu den- 
ken. « 8 Dieser tiefen, sittlichen und edit revolutionaren Kon- 
zeption kann audi keine Erwagung gegeniibertreten, die wegen 
seiner mdglichen katastrophalen Folgen einen solchen General- 

5 Ebenda p. 265. 

6 Ebenda p. 195. 

7 Ebenda p. 249. 

8 Ebenda p. 200. 



Zur Kritik der Gewalt 195 

streik als Gewalt brandmarken mochte. Wenn man auch mit 
Recht sagen diirfte, dafi die heutige Wirtschaft als Ganzes an- 
gesehen viel weniger einer Maschine vergleichbar ist, die still- 
steht, wenn ihr Heizer sie verlafit, als einer Bestie, die rast, 
sobald ihr Bandiger ihr den Rticken gekehrt hat, so darf den- 
noch tiber die Gewaltsamkeit einer Handlung ebensowenig 
nach ihren Wirkungen wie nach ihren Zwecken, sondern allein 
nach dem Gesetz ihrer Mittel geurteilt werden. Die Staatsgewalt 
freilich, welche nur die Wirkungen ins Auge fafit, tritt gerade 
solchem Streik im Gegensatz zu den meist tatsachlich erpresse- 
rischen Partialstreiken als angeblicher Gewalt entgegen. Inwie- 
fern iibrigens eine so rigorose Konzeption des Generalstreiks 
als solche die Entfaltung eigentlicher Gewalt in den Revolutio- 
nen zu vermindern geeignet ist, hat Sorel mit sehr geistvollen 
Griinden ausgefuhrt. - Dagegen ist ein hervorragender Fall 
gewalttatiger Unterlassung, unsittlicher und roher als der politi- 
sche Generalstreik, verwandt der Blockade, der Streik der Arzte, 
wie mehrere deutsche Stadte ihn gesehen haben. In ihm zeigt 
sich aufs Abstofiendste skrupellose Gewaltanwendung, die ge- 
radezu verworfen ist bei einer Berufsklasse, die jahrelang 
ohne den leisesten Versuch eines Widerstandes »dem Tod 
seine Beute gesichert hat«, um danach bei der ersten Gelegenheit 
das Leben aus freien Stiicken preiszugeben. - Deutlicher als in 
den jungen Klassenkampfen haben in der jahrtausendealten Ge- 
scliichte von Staaten sich Mittel gewaltloser Obereinkunft her- 
ausgebildet. Nur gelegentlich besteht die Aufgabe der Diplo- 
maten im gegenseitigen Verkehr in der Modifikation von 
Rechtsordnungen. Im wesentlichen haben sie ganz nach Analo- 
gic der Obereinkunft zwischen Privatpersonen im Namen ihrer 
Staaten friedlich und ohne Vertrage von Fall zu Fall deren 
Konflikte beizulegen. Eine zarte Aufgabe, die resoluter von 
Schiedsgerichten gelost wird, eine Methode der Losung aber, 
welche grundsatzlich hoher steht als die schiedsgerichtliche, 
weil jenseits aller Rechtsordnung und also Gewalt. So hat denn 
wie der Umgang von Privatpersonen auch der der Diplomaten 
eigene Formen und Tugenden hervorgebracht, die, weil sie au- 
fierlich geworden, es darum nicht immer gewesen sind. 
Im ganzen Bereich der Gewalten, die Naturrecht wie positives 
Recht absehen, fmdet sich keine, welche von der angedeuteten 



1 96 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

schweren Problematik jeder Rechtsgewalt frei ware. Da den- 
noch jede Vorstellung einer irgendwie denkbarenLosung mensch- 
licher Aufgaben, ganz zu geschweigen elner Erlosung aus dem 
Bannkreis aller bisherigen weltgeschichtlichen Daseinslagen, 
unter yolliger und prinzipieller Ausschaltung jedweder Gewalt 
unvollziehbar bleibt, so notigt sich die Frage nach andern Arten 
der Gewalt auf, als alle Rechtstheorie ins Auge fafk. Zugleich 
die Frage nach der Wahrheit des jenen Theorien gemeinsamen 
Grunddogmas: Gerechte Zwecke konnen durch berechtigte 
Mittel erreicht, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke gewendet 
werden. Wie also, wenn jene Art schicksalsmafiiger Gewalt, wie 
sie berechtigte Mittel einsetzt, mit gerechten Zwecken an sich in 
unversohnlichem Widerstreit liegen wiirde, und wenn zugleich 
eine Gewalt anderer Art absehbar werden sollte, die dann frei- 
lich zu jenen Zwecken nicht das berechtigte noch das unberech- 
tigte Mittel sein konnte, sondern iiberhaupt nicht als Mittel zu 
ihnen, vielmehr irgendwie anders, sich verhalten wiirde? Damit 
wiirde ein Licht auf die seltsame und zunachst entmutigende 
Erfahrung von der letztlichen Unentscheidbarkeit aller Rechts- 
probleme fallen (welche vielleicht in ihrer Aussichtslosigkeit 
nur mit der Unmoglichkeit biindiger Entscheidung iiber » rich- 
tig « und »falsch« in werdenden Sprachen zu vergleichen ist). 
Entscheidet doch iiber Berechtigung von Mitteln und Gerechtig- 
keit von Zwecken niemals die Vernunft, sondern schicksal- 
hafte Gewalt iiber jene, iiber diese aber Gott. Eine Einsicht, die 
nur deshalb selten ist, weil die hartnackige Gewohnheit herrscht, 
jene gerechten Zwecke als Zwecke eines moglichen Rechts, d. h. 
nicht nur als allgemeingiiltig (was analytisch aus dem Merkmal 
der Gerechtigkeit folgt), sondern audi als verallgemeinerungs- 
fahig zu denken, was diesem Merkmal, wie sich zeigen liefie, 
widerspricht. Denn Zwecke, welche fur eine Situation gerecht, 
allgemein anzuerkennen, allgemeingiiltig sind, sind dies fiir 
keine andere, wenn auch in anderen Beziehungen noch so ahn- 
lidie Lage. - Eine nicht mittelbare Funktion der Gewalt, wie 
sie hier in Frage steht, zeigt schon die tagHche Lebenserfah- 
rung. Was den Menschen angeht, so fiihrt ihn zum Beispiel 
der Zorn zu den sichtbarsten Ausbriichen von Gewalt, die sich 
nicht als Mittel auf einen vorgesetzten Zweck bezieht. Sie ist 
nicht Mittel, sondern Manifestation. Und zwar kennt diese Ge- 



Zur Kritik der Gewalt 197 

wait durchaus objektive Manifestationen, in denen sie der Kri- 
tik unterworfen werden kann. Diese finden sich hochst bedeu- 
tend zunachst im Mythos. 

Die mythische Gewalt in ihrer urbildlichen Form ist blofie Mani- 
festation der Gotter. Nicht Mittel ihrer Zwecke, kaum Manife- 
station ihres Willens, am ersten Manifestation ihres Daseins. Die 
Niobesage enthalt von ihr em hervorragendes Beispiel. Zwar 
konnte es scheinen, die Handlung Apollons und der Artemis sei 
nur eine Strafe. Aber ihre Gewalt richtet viel mehr ein Recht 
auf, als fiir Obertretung eines bestehenden zu strafen. Niobes 
Hochmut beschwort das Verhangnis iiber sich herauf, nicht weil 
er das Recht verletzt, sondern weil er das Schicksal herausfor- 
dert - zu einem Kampf, in dem es siegen mufi und ein Recht 
erst allenfalls im Siege zutage fordert. Wie wenig solche gottliche 
Gewalt im antiken Sinne die rechtserhaltende der Strafe war, 
zeigen die Heroensagen, in denen der Held, wie z. B. Prome- 
theus, mit wiirdigem Mute das Schicksal herausfordert, wech- 
selnden Gluckes mit ihm kampft und von der Sage nicht ohne 
Hoffnung gelassen wird, ein neues Recht dereinst den Menschen 
zu bringen. Dieser Heros und die Rechtsgewalt des ihm einge- 
borenen Mythos ist es eigentlich, die das Volk noch heute, wenn 
es den grofien Missetater bewundert, sich zu vergegenwartigen 
sucht. Die Gewalt bricht also aus der unsicheren, zweideutigen 
Sphare des Schicksals iiber Niobe herein. Sie ist nicht eigentlich 
zerstorend. Trotzdem sie Niobes Kindern den blutigen Tod 
bringt, halt sie vor dem Leben der Mutter ein, welches sie durch 
das Ende der Kinder nur verschuldeter als vordem als ewigen 
stummen Trager der Schuld wie audi als Markstein der Grenze 
zwischen Menschen und Gottern zuriicklafk. Wenn diese unmit- 
telbare Gewalt in mythischen Manifestationen der rechtsetzen- 
den sich nachstverwandt, ja identisch erweisen mochte, so fallt 
von ihr aus eine Problematik auf die rechtsetzende zuriick, so- 
fern diese oben in der Darstellung der kriegerischen Gewalt als 
eine nur mittelartige charakterisiert wurde. Zugleich verspricht 
dann dieser Zusammenhang mehr Licht iiber das Schicksal, das 
der Rechtsgewalt in alien Fallen zugrunde liegt, zu verbreiten 
und deren Kritik in grofien Ziigen zu Ende zu fiihren. Die Funk- 
tion der Gewalt in der Rechtsetzung ist namlich zwiefach in 
dem Sinne, dafi die Rechtsetzung zwar dasjenige, was als Recht 



198 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt als Mittel er- 
strebt, im Augenblick der Einsetzung des Bezweckten als Recht 
aber die Gewalt nicht abdankc, sondern sie nun erst im stren- 
gen Sinne und zwar unmittelbar zur rechtsetzenden macht, in- 
dem sie nicht einen von Gewalt freien und unabhangigen, son- 
dern notwendig und innig an sie gebundenen Zweck als Recht 
unter dem Namen der Macht einsetzt. Rechtsetzung ist Macht- 
setzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation 
der Gewalt. Gerechtigkeit ist das Prinzip aller gottlichen Zweck- 
setzung, Macht das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung. 
Dieses letztere erfahrt eine ungeheuer folgenschwere Anwendung 
im Staatsrecht. In seinem Bereich namlich ist die Grenzsetzung, 
wie sie der »Friede« aller Kriege des mythischen Zeitalters 
vornimmt, das Urphanomen rechtsetzender Gewalt Uberhaupt. 
Auf das deutlichste zeigt sich in ihr, dafi Macht mehr als der 
uberschwenglichste Gewinn an Besitz von aller rechtsetzen- 
den Gewalt gewahrleistet werden soil. Wo Grenzen festgesetzt 
werden, da wird der Gegner nicht schlechterdings vernichtet, 
ja es werden ihm, auch wo beim Sieger die uberlegenste Gewalt 
stent, Rechte zuerkannt. Und zwar in damonisch-zweideutiger 
Weise »gleiche« Rechte: Fiir beide Vertragschliefknden ist es die 
gleiche Linie, die nicht iiberschritten werden darf. Hiermit tritt 
in furchtbarer Ursprlinglichkeit dieselbe mythische Zweideu- 
tigkeit der Gesetze, die nicht »ubertreten« werden diirfen, in 
Erscheinung, von der Anatole France satirisch spricht, wenn 
er sagt: Sie verbieten es Armen und Reichen gleichermafien, 
unter Bruckenbogen zu nachtigen. Auch scheint es, dafi Sorel an 
eine nicht nur kulturhistorische, sondern metaphysische Wahr- 
heit riihrt, wenn er vermutet, dafi in den Anfangen alles Recht 
»Vor«recht der Konige oder der Grofien, kurz der Machtigen 
gewesen sei. Das wird es namlich mutatis mutandis bleiben, so- 
lange es besteht. Denn unter dem Gesichtspunkt der Gewalt, 
welche das Recht allein garantieren kann, gibt es keine Gleich- 
heit, sondern bestenfalls gleich grofie Gewalten. Der Akt der 
Grenzsetzung aber ist fiir die Erkenntnis des Rechts noch in 
anderer Hinsicht bedeutungsvoll. Gesetzte und umschriebene 
Grenzen bleiben, wenigstens in Urzeiten, ungeschriebene Ge- 
setze. Der Mensch kann sie ahnungslos uberschreiteh und so der 
Siihne verfallen. Denn jener Eingriff des Rechts, den die Ver- 



Zur Kritik der Gewalt 199 

letzung des ungeschriebenen und unbekannten Gesetzes her- 
aufbeschwort, heifit zum Unterschied von der Strafe die Suhne. 
Aber so ungliicklich sie den Ahnungslosen treffen mag, ihr Ein- 
tritt ist im Sinne des Rechts nicht Zufall, sondern Schicksal, das 
sich hier nochmals in seiner planvollen Zweideutigkeit darstellt. 
Schon Hermann Cohen hat es in einer fluchtigen Betrachtung 
der antiken Schicksalsvorstellung eine »Einsicht, die unaus- 
weichlich wird,« genannt, dafi es seine »Ordnungen selbst sind, 
welche dieses Heraustreten, diesen Abfall zu veranlassen und 
herbeizufuhren scheinen.« 9 Von diesem Geiste des Rechts legt 
noch der moderne Grundsatz, dafi Unkenntnis des Gesetzes nicht 
vor Strafe schutzt, Zeugnis ab, wie auch der Kampf um das 
geschriebene Recht in der Friihzeit der antiken Gemeinwesen als 
Rebellion gegen den Geist mythischer Satzungen zu verstehen 
ist. 

Weit entfernt, eine reinere Sphare zu eroffnen, zeigt die mythi- 
sche Manifestation der unmittelbaren Gewalt sich im tiefsten 
mit aller Rechtsgewalt identisch und macht die Ahnung von 
deren Problematik zur Gewifiheit von der Verderblichkeit ihrer 
geschichtlichen Funktion, deren Vernichtung damit zur Aufgabe 
wird. Gerade diese Aufgabe legt in letzter Instanz noch einmal 
die Frage nach einer reinen unmittelbaren Gewalt vor, welche 
der mythischen Einhalt zu gebieten vermochte. Wie in alien Be- 
reichen dem Mythos Gott, so tritt der mythischen Gewalt die 
gottliche entgegen. Und zwar bezeichnet sie zu ihr der Gegen- 
satz in alien Stucken. Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, 
so die gottliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so ver- 
nichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und 
siihnend zugleich, so die gottliche entsiihnend, ist jene drohend, 
so diese schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal. 
Der Niobesage mag als Exempel dieser Gewalt Gottes Gericht 
an der Rotte Korah gegeniibertreten. Es trifft Bevorrechtete, 
Leviten, trifft sie unangekiindigt, ohne Drohung, schlagend und 
macht nicht Halt vor der Vernichtung. Aber es ist zugleich eben 
in ihr entsiihnend und ein tiefer Zusammenhang zwischen dem 
unblutigen und entsuhnenden Charakter dieser Gewalt nicht zu 
verkennen. Denn Blut ist das Symbol des blofien Lebens. Die 
Auslosung der Rechtsgewalt geht nun, wie hier nicht genauer 

9 Hermann Cohen: Ethik des reinen Willens, 2. rev. Aufl., Berlin 1907, p. 362. 



200 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

dargelegt werden kann, auf die Verschuldung des blofien natiir- 
lichen Lebens zuruck, welche den Lebenden unschuldig und un- 
gliicklich der Siihne iiberantwortet, die seine Verschuldung 
»suhnt« - und auch wohl den Schuldigen entsuhnt, nicht aber 
von einer Schuld, sondern vom Recht. Denn mit dem blofien 
Leben hort die Herrschaft des Rechtes iiber den Lebendigen auf. 
Die mythische Gewalt ist Blutgewalt iiber das blofie Leben um 
ihrer selbst, die gottliche reine Gewalt iiber alles Leben um des 
Lebendigen willen. Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt 
sie an. 

Diese gottliche Gewalt bezeugt sich nicht durch die religiose 
Oberlieferung allein, vielmehr findet sie mindestens in einer ge- 
heiligten Manifestation sich auch im gegenwartigen Leben vor. 
Was als erzieherische Gewalt in ihrer vollendeten Form aufier- 
halb des Rechtes steht, ist eine ihrer Erscheinungsformen. Diese 
definieren sich also nicht dadurch, dafi Gott selber unmittelbar 
sie in Wundern ausiibt, sondern durch jene Momente des unblu- 
tigen, schlagenden, entsiihnenden Vollzuges. Endlich durch die 
Abwesenheit jeder Rechtsetzung. Insofern ist es zwar berechtigt, 
diese Gewalt auch vernichtend zu nennen; sie ist dies aber nur 
relativ, in Riicksicht auf Giiter, Recht, Leben u. dgL, niemals 
absolut in Riicksicht auf die Seele des Lebendigen. - Eine solche 
Ausdehnung reiner oder gottlicher Gewalt wird freilich gerade 
gegenwartig die heftigsten AngrifTe herausfordern und man 
wird ihr mit dem Hinweis entgegentreten, dafi sie nach ihrer 
Deduktion folgerecht auch die letale Gewalt den Menschen be- 
dingungsweise gegeneinander freigebe. Das wird nicht einge- 
raumt. Denn auf die Frage »Darf ich toten?« ergeht die un- 
verriickbare Antwort als Gebot »Du sollst nicht toten«. Dieses 
Gebot steht vor der Tat wie Gott »davor sei«, dafi sie geschehe. 
Aber es bleibt freilich, so wahr es nicht Furcht vor Strafe sein 
darf, die zu seiner Befolgung anhalt, unanwendbar, inkommen- 
surabel gegeniiber der vollbrachten Tat. Aus ihm folgt iiber 
diese kein Urteil. Und so ist denn im vorhinein weder das gott- 
liche Urteil iiber sie abzusehen noch dessen Grund. Darum sind 
die nicht im Recht, welche die Verurteilung einer jeden gewalt- 
samen Totung des Menschen durch den Mitmenschen aus dem 
Gebot begriinden. Dieses steht nicht als Mafistab des Urteils, 
sondern als Richtschnur des Handelns fur die handelnde Per- 



Zur Kritik der Gewalt 201 

son oder Gemeinschaft, die mit ihm in ihrer Einsamkeit sidi 
auseinanderzusetzen und in ungeheuren Fallen die Verantwor- 
tung von ihm abzusehen auf sich zu nehmen haben. So verstand 
es audi das Judentum, welches die Verurteilung der Totung in 
der Notwehr ausdrikklich abwies. - Aber jene Denker gehen 
auf ein ferneres Theorem zuriick, aus dem sie vielleicht sogar 
das Gebot seinerseits zu begrunden gedenken. Dieses ist der 
Satz von der Heiligkeit des Lebens, den sie entweder auf alles 
animalische oder gar vegetabile Leben beziehen oder auf das 
menschliche einschranken. Ihre Argumentation sieht in einem ex- 
tremen Fall, der auf die revolutionare Totung der Unterdriicker 
exempliflziert, folgendermafien aus: »tote ich nicht, so ernchte 
ich nimmermehr das Weltreich der Gerechtigkeit ... so denkt 
der geistige Terrorist . . . Wir aber bekennen, dafi hoher noch 
als Gliick und Gerechtigkeit eines Daseins . . Dasein an sich 
steht« 10 . So gewifi dieser letzte Satz falsch, sogar unedel ist, so 
gewifi deckt er die Verpflichtung auf, nicht langer den Grund 
des Gebotes in dem zu suchen, was die Tat am Gemordeten, 
sondern in dem, was sie an Gott und am Tater selbst tut. Falsch 
und niedrig ist der Satz, dafi Dasein hoher als gerechtes Dasein 
stehe, wenn Dasein nichts als blofies Leben bedeuten soil - und 
in dieser Bedeutung steht er in der genannten Oberlegung. Eine 
gewaltige Wahrheit aber enthalt er, wenn Dasein (oder besser 
Leben) - Worte, deren Doppelsinn durchaus dem des Wortes 
Frieden analog aus ihrer Beziehung auf je zwei Spharen aufzu- 
losen ist - den unverriickbaren Aggregatzustand von »Mensch« 
bedeutet. Wenn der Satz sagen will, das Nichtsein des Menschen 
sei etwas Furchtbareres als das (unbedingt: blofie) Nochnicht- 
sein des gerechten Menschen. Dieser Zweideuugkeit verdankt der 
genannte Satz seine Scheinbarkeit. Der Mensch fallt eben um 
keinen Preis zusammen mit dem blofien Leben des Menschen, so 
wenig mit dem blofien Leben in ihm wie mit irgendwelchen an- 
dern seiner Zustande und Eigenschaften, ja nicht einmal mit der 
Einzigkeit seiner leiblichen Person. So heilig der Mensch ist (oder 
auch dasjenige Leben in ihm, welches identisch in Erdenleben, 
Tod und Fortleben liegt), so wenig sind es seine Zustande, so 
wenig ist es sein leibliches, durch Mitmenschen verletzliches Le- 

10 Kurt Hiller: Anti-Kain. Ein Nachwort [...]. In: Das Ziel. Jahrbiicher fur 
geistige Politik. Hrsg. von Kurt Hiller. Bd. 3, Mundien 1919, p. 1$. 



202 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

ben. Was unterscheidet es denn wesentlich von dem der Tiere 
und Pflanzen? Und selbst wenn diese heilig waren, konnten sie 
es doch nicht um ihres blofien Lebens willen, nicht in ihm sem. 
Dem Ursprung des Dogmas von der Heiligkeit des Lebens nach- 
zuforschen mochte sich verlohnen. Vielleicht, ja wahrscheinlich 
ist es jung, als die letzte Verirrung der geschwachten abendlandi- 
schen Tradition, den Heiligen, den sie verlor, im kosmologisch 
Undurchdrmglichen zu suchen. (Das Alter aller religiosen Ge- 
bote gegen den Mord besagt hiergegen nichts, weil diesen andere 
Gedanken als dem modernen Theorem zugrunde Hegen.) Zuletzt 
gibt es zu denken, daft, was hier heilig gesprochen wird, dem 
alten mythischen Denken nach der gezeichnete Trager der Ver- 
schuldung ist: das blofie Leben. 

Die Kritik der Gewalt ist die Philosophic ihrer Geschichte. Die 
»Philosophie« dieser Geschichte deswegen, weil die Idee ihres 
Ausgangs allein eine kritischej scheidende und entscheidende Ein- 
stellung auf ihre zeitlichen Data ermoglicht. Ein nur aufs Nach- 
ste gerichteter Blick vermag hochstens ein dialektisches Auf und 
Ab in den Gestaltungen der Gewalt als rechtsetzender und 
rechtserhaltender zu gewahren. Dessen Schwankungsgesetz be- 
ruht darauf, dafi jede rechtserhaltende Gewalt in ihrer Dauer 
die rechtsetzende, welche in ihr reprasentiert ist, durch die 
Unterdriickung der feindlichen Gegengewalten indirekt selbst 
schwacht. (Auf einige Symptome hiervon ist im Laufe der Un- 
tersuchung verwiesen worden.) Dies wahrt so lange, bis entwe- 
der neue Gewalten oder die fruher unterdriickten iiber die bisher 
rechtsetzende Gewalt siegen und damit ein neues Recht zu neuem 
Verfall begriinden. Auf der Durchbrechung dieses Umlaufs im 
Banne der mythischen Rechtsformen, auf der Entsetzung des 
Rechts samt den Gewalten, auf die es angewiesen ist wie sie auf 
jenes, zuletzt also der Staatsgewalt, begnindet sich ein neues 
geschichtliches Zeitalter. Wenn die Herrschaft des Mythos hie 
und da im Gegenwartigen schon gebrochen ist, so liegt jenes 
Neue nicht in so unvorstellbarer Fernflucht, dafi ein Wort gegen 
das Recht sich von selbst erledigte. Ist aber der Gewalt auch jen- 
seits des Rechtes ihr Bestand als reine unmittelbare gesichert, so 
ist damit erwiesen, dafi und wie auch die revolutionare Gewalt 
moglich ist, mit welchem Namen die hochste Manifestation 
reiner Gewalt durch den Menschen zu belegen ist. Nicht gleich 



Theologisch-politisches Fragment 203 

moglich noch audi gleich dringend ist aber fiir Menschen die 
Entscheidung, wann reine Gewalt in einem bestimmten Falle 
wirklich war. Denn nur die mythische, nidit die gottliche, wird 
sich als solche mit Gewifiheit erkennen lassen, es sei denn in 
unvergleichlichen Wirkungen, weil die entsuhnende Kraft der 
Gewalt fiir Menschen nicht zutage liegt. Von neuem stehen der 
reinen gottlichen Gewalt alle ewigen Formen frei, die derMythos 
mit dem Recht bastardierte. Sie vermag im wahren Kriege 
genau so zu erscheinen wie im Gottesgericht der Menge am Ver- 
brecher. Verwerflich aber ist alle mythische Gewalt, die recht- 
setzende, welche die schaltende genannt werden darf. Verwerf- 
lich auch die rechtserhaltende, die verwaltete Gewalt, die ihr 
dient. Die gottliche Gewalt, welche Insignium und Siegel, nie- 
mals Mittel heiliger Vollstreckung ist, mag die waltende heifien. 



(Theologisch-politisches Fragment) 

Erst der Messias selbst vollendet alles historische Geschehen, und 
zwar in dem Sinne, daE er dessen Beziehung auf das Messiani- 
sche selbst erst erlost, vollendet, schafft. Darum kann nichts Hi- 
storisches von sich aus sich auf Messianisches beziehen wollen. 
Darum ist das Reich Gottes nicht das Telos der historischen 
Dynamis; es kann nicht zum Ziel gesetzt werden. Historisch 
gesehen ist es nicht Ziel, sondern Ende. Darum kann die Ord- 
nung des Profanen nicht am Gedanken des Gottesreiches aufge- 
baut werden, darum hat die Theokratie keinen politischen son- 
dern allein einen religiosen Sinn. Die politische Bedeutung der 
Theokratie mit aller Intensitat geleugnet zu haben ist das grofke 
Verdienst von Blochs »Geist der Utopie«. 

Die Ordnung des Profanen hat sich aufzurichten an der Idee 
des Gliicks. Die Beziehung dieser Ordnung auf das Messianische 
ist eines der wesentlichen Lehrstiicke der Geschichtsphilosophie. 
Und zwar ist von ihr aus eine mystische Geschichtsauffassung 
bedingt, deren Problem in einem Bilde sich darlegen laftt. Wenn 
eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Pro- 
fanen wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung der messiani- 
schen Intensitat, so strebt freilich das Gliickssuchen der freien 



204 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

Mensdiheit von jener messianischen Richtung fort, aber wie eine 
Kraft durdi ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichte- 
tem Wege zu befordern vermag, so audi die profane Ordnung 
des Profanen das Kommen des messianischen Reiches. Das Pro- 
fane also ist zwar keine Kategorie des Reichs, aber eine Katego- 
rie, und zwar der zutreffendsten eine, seines leisesten Nahens. 
Denn im Gliick erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im 
Gliick aber ist ihm der Untergang zu finden bestimmt. - Wah- 
rend freilich die unmittelbare messianische Intensitat des Her- 
zens, des innern einzelnen Menschen durch Ungliick, im Sinne 
des Leidens hindurchgeht. Der geistlichen restitutio in integrum, 
welche in die Unsterblichkeit einfiihrt, entspricht eine weltliche, 
die in die Ewigkeit eines Unterganges fuhrt und der Rhythmus 
dieses ewig vergehenden, in seiner Totalitat vergehenden, in 
seiner raumlichen, aber auch zeitlichen Totalitat vergehenden 
Weltlichen, der Rhythmus der messianischen Natur, ist Gliick. 
Denn messianisch ist die Natur aus ihrer ewigen und totalen 
Vergangnis. 

Diese zu erstreben, auch fur diejenigen Stufen des Menschen, 
welche Natur sind, ist die Aufgabe der Weltpolitik, deren Me- 
thode Nihilismu5 zu heifien hat. 



Lehre vom Ahnlichen 

Die Einsicht in die Bereiche des »Ahnlichen« ist von grund- 
legender Bedeutung fiir die Erhellung grofier Bezirke des okkul- 
ten Wissens. 2u gewinnen ist aber solche Einsicht weniger im 
Aufweis angetroffener Ahnlichkeiten als durch die Wiedergabe 
von Prozessen, die solche Ahnlichkeit erzeugen. Die Natur er- 
zeugt Ahnlichkeiten; man braucht nur an die Mimikry zu den- 
ken. Die allerhochste Fahigkeit im Produzieren von Ahnlichkei- 
ten aber hat der Mensch. Ja, vielleicht gibt es keine seiner 
hoheren Funktionen, die nicht entscheidend durch mimetisches 
Vermogen mitbestimmt ist. Dieses Vermogen aber hat eine 
Geschichte, und zwar im phylogenetischen so gut wie im onto- 
genetischen Sinne. Was letzteres angeht, so ist das Spiel in vielem 



Lehre vom Xhnlichen 205 

seine Schule. Zunachst einmal sirid Kinderspiele iiberall durch- 
zogen von mimetischen Verhaltungsweisen, und ihr Bereich 1st 
keineswegs auf das beschrankt, was wohl ein Mensdi vom 
andern nachmacht. Das Kind spielt nidit nur Kaufmann oder 
Lehrer sondern audi Windmuhle und Eisenbahn. Die Frage 
aber, auf die es ankommt, ist nun die: was diese Schulung 
des mimetischen Verhaltens ihm eigentlich fur einen Nutzen 
bringt? 

Die Antwort setzt die deutliche Besinnung auf die phylo- 
genetische Bedeutung des mimetischen Verhaltens voraus. Um 
diese zu ermessen, ist es nicht genug, an das zu denken, was etwa 
heutzutage wir in dem Begriff von Ahnlichkeit erfassen. Be- 
kanntlich war der Lebenskreis, der ehemals von dem Gesetz 
der Ahnlichkeit durchwaltet schien, viel grofier. Es war der 
Mikro- und der Makrokosmos - um nur eine Fassung von vie- 
len, die die Ahnlichkeitserfahrung derart im Laufe der Geschich- 
te fand, zu nennen. Noch fiir die Heutigen lafit sich behaupten: 
die Falle, in denen sie im Alltag Ahnlichkeiten bewufit wahr- 
nehmen, sind ein winziger Ausschnitt aus jenen zahllosen, da 
Ahnlichkeit sie unbewufit bestimmt. Die mit Bewufitsein wahr- 
genommenen Ahnlichkeiten - z. B. in Gesichtern - sind ver- 
glichen mit den unzahlig vielen unbewufit oder auch garnicht 
wahrgenommenen Ahnlichkeiten wie der gewaltige untersee- 
ische Block des Eisbergs im Vergleich zur kleinen Spitze, welche 
man aus dem Wasser ragen sieht. 

Diese naturlichen Korrespondenzen aber erhalten die entschei- 
dende Bedeutung erst im Licht der Oberlegung, dafi sie alle, 
grundsatzlich, Stimulantien und Erwecker jenes mimetischen 
Vermogens sind, welches im Menschen ihnen Antwort gibt. Da- 
bei ist zu bedenken, dafi weder die mimetischen Krafte noch die 
mimetischen Objekte, ihre Gegenstande, im Zeitlauf unveran- 
derlich die gleichen blieben; dafi im Laufe der Jahrhunderte 
die mimetische Kraft, und damit spater die mimetische Auffas- 
sungsgabe gleichfalls, aus gewissen Feldern, vielleicht um sich in , 
andere zu ergiefien, geschwunden ist. Vielleicht ist die Vermu- 
tung nicht zu kiihn, dafi sich im ganzen eine einheitliche Rich- 
tung in der historischen Entwicklung dieses mimetischen Ver- 
mogens erkennen lafit. 
Die Richtung konnte, auf den ersten Blick, nur in der wachsen- 



206 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

den Hinfalligkeit dieses mimetischen Vermogens liegen. Denn 
offenbar scheint doch die Merkwelt des modernen Menschen sehr 
viel weniger von jenen magischen Korrespondenzen zu enthal- 
ten als die der alten Volker oder audi der Primitiven. Die Fra- 
ge ist nur die: ob es sich um ein Absterben des mimetischen 
Vermogens oder aber vielleicht um eine mit ihm stattgehabte 
Verwandlung handelt. In welcher Richtung eine solche jedoch 
liegen konnte, dariiber lafit sich, wenn auch indirekt, einiges 
der Astrologie entnehmen. Wir miissen namlich als Erforscher 
der alten Oberlieferungen damit rechnen, dafi sinnfallige Ge- 
staltung, mimetischer Objektcharakter bestanden habe, wo wir 
ihn heute nicht einmal zu ahnen fahig sind. Zum Beispiel in den 
Konstellationen der Sterne. 

Das zu erfassen, wird man vor allem einmal das Horoskop als 
eine originare Ganzheit, die in der astrologischen Deutung nur 
analysiert wird, begreifen miissen. (Der Gestirnstand stellt eine 
charakteristische Einheit dar und erst an ihrem Wirken im 
Gestirnstand werden die Charaktere der einzelnen Planeten 
erkannt.) Man muE, grundsatzlich, damit redmen, dafi Vor- 
gange am Himmel von friiherLebenden, und zwar sowohl durch 
Kollektiva als durch Einzelne, nachahmbar waren: ja, dafi diese 
Nachahmbarkeit die Anweisung enthielt, eine vorhandene 
Ahnlichkeit zu handhaben. In dieser Nachahmbarkeit durch 
den Menschen, bezw. dem mimetischen Vermogen, das dieser hat, 
mufi man wohl bis auf weiteres die einzige Instanz erblicken, 
welche der Astrologie ihren Erfahrungscharakter gegeben hat. 
Wenn aber wirklich das mimetische Genie eine lebensbestim- 
mende Kraft der Alten gewesen ist, dann ist es kaum anders 
moglich, als den Vollbesitz dieser Gabe, insbesondere die voll- 
endete Anbildung an die kosmische Seinsgestalt, dem Neuge- 
borenen beizulegen. 

Der Augenblick der Geburt, der hier entscheiden soil, ist aber 
ein Nu. Das lenkt den Blick auf eine andere Eigentiimlichkeit 
im Bereiche der Ahnlidikeit. Ihre Wahrnehmung ist in jedem 
Fall an ein Aufblitzen gebunden. Sie huscht vorbei, ist vielleicht 
wiederzugewinnen, aber kann nicht eigentlich wie andere Wahr- 
nehmungen festgehalten werden. Sie bietet sich dem Auge eben- 
so fliichtig, voriibergehend wie eine Gestirnkonstellation. Die 
Wahrnehmung von Ahnlichkeiten also scheint an ein Zeitmo- 



Lehre vom Ahnlidien 207 

ment gebunden. Es ist wie das Dazukommen des Dritten, des 
Astrologen zu der Konjunktion von zwei Gestirnen, die im 
Augenblick erfafit sein will. Im andern Fall kommt der Astro- 
nom trotz aller Scharfe seiner Beobachtungswerkzeuge hier um 
seinen Lohn. 

Der Hinweis auf Astrologie mag schon geniigen, den Begriff 
von einer unsinnlichen Ahnlichkeit verstandlich zu machen. Es 
ist, wie sich von selbst versteht, ein relativer: er besagt, dafi wir 
in unserer Wahrnehmung dasjenige nicht mehr besitzen, was es 
einmal moglich machte, von einer Ahnlichkeit zu sprechen, die 
bestehe zwischen einer Sternkonstellation und einem Menschen. 
Jedocli auch wir besitzen einen Kanon, nach dem die Unklarheit, 
die dem Begriff von unsinnlicher Ahnlichkeit anhaftet, sich einer 
Klarung naher bringen lafit. Und dieser Kanon ist die Sprache. 
Schon von jeher hat man einem mimetischen Vermogen einigen 
Einfluft auf die Sprache zugebilligt. Jedoch geschah das ohne 
Grundsatz und ganz ohne dafi dabei ernstlich an eine Bedeu- 
tung, geschweige denn Geschichte des mimetischen Vermogens 
ware gedacht worden. Vor allem aber blieben solche Oberlegun- 
gen aufs engste an den gelaufigen (sinnlichen) Bereich der Ahn- 
lichkeit gebunden. Immerhin hat man nachahmendem Verhalten 
in der Sprachentstehung als onomatopoetischem Element sei- 
nen Platz zugestanden. Wenn nun aber die Sprache, wie es fiir 
Einsichtige auf der Hand liegt, nicht ein verabredetes System von 
Zeichen ist, so wird man ja in dem Versuch sich ihr zu nahern 
immer wieder auf Gedanken zuriickgreifen miissen, wie sie in 
ihrer rohesten, primitivsten Form in der onomatopoetischen 
Erklarungsart vorliegen. Die Frage ist: kann diese ausgebildet 
und scharferer Einsicht angepafit werden? 

Mit andern Worten: lafit ein Sinn dem Satze sich unterlegen, wel- 
chen Leonhard in seiner aufschlufireichen Schrift »Das Wort« 
behauptet: »Jedes Wort ist - und die ganze Sprache ist - ono- 
matopoetisch.« Der Schliissel, welcher diese These eigentlich erst 
vollig transparent macht, liegt in dem Begriff einer unsinnlichen 
Ahnlichkeit versteckt. Ordnet man Worter der verschiedenen 
Sprachen, die ein gleiches bedeuten, um jenes Bedeutete als ihren 
Mittelpunkt, so ware zu erforschen, wie sie alle - die miteinan- 
der oft nicht die geringste Ahnlichkeit besitzen - ahnlich jenem 
Bedeuteten in ihrer Mitte sind. Eine solche Auffassung ist na- 



208 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

tiirlich mystisdien oder theologischen Sprachtheorien engstens 
verwandt, ohne darum jedodi empirischer Philologie fremd zu 
sein. Nun ist es aber bekannt, dafi die mystischen Sprachlehren 
sich nicht damit begniigen, das gesprochene Wort in ihren Ober- 
legungsraum hineinzuziehen. Sie haben es durchaus im gleichen 
Sinne audi mit der Schrift zu tun. Und da ist es beachtenswert, 
dafi diese, vielleicht noch besser als gewisse Lautzusammenstel- 
lungen der Sprache, im Verhaltnis des Schriftbildes von Wortern 
oder Lettern zu dem Bedeuteten bezw. dem Namengebenden 
das Wesen der unsinnlichen Ahnlichkeit erklaren. So hat der 
Buchstabe Beth den Namen von einem Haus. Es ist somit die 
unsinnliche Ahnlichkeit, die die Verspannung nicht zwischen 
dem Gesprochnen und Gemeinten sondern auch zwischen dem 
Geschriebnen und Gemeinten und gleichfalls zwischen dem Ge- 
sprochnen und Geschriebnen stiftet. Und jedesmal auf eine vollig 
neue, originare, unableitbare Weise. 

Die wichtigste von diesen Verspannungen diirfte jedoch die 
letzte, die zwischen dem Geschriebnen und Gesprochnen sein. 
Denn eben die hier waltende Ahnlichkeit ist die vergleichs weise 
unsinnlichste. Sie ist auch die am spatesten erreichte. Und der 
Versuch, ihr eigentliches Wesen sich zu vergegenwartigen, kann 
kaum ohne den Blick in die Geschichte ihres Zustandekommens 
unternommen werden, so undurchdringlich auch das Dunkel ist, 
das heut noch dariiber gebreitet ist. Die neueste Graphologie hat 
gelehrt, in den Handschriften Bilder, oder eigentlich Vexier- 
bilder zu erkennen, die das Unbewufite des Schreibers darinnen 
versteckt. Es ist anzunehmen, daft das mimetische Vermogen, 
welches dergestalt in der Aktivitat des Schreibenden zum Aus- 
druck kommt, in sehr entriickten Zeiten, als die Schnft entstand, 
von grojRter Bedeutung fur das Schreiben gewesen ist. Die Schrift 
ist so, neben der Sprache, ein Archiv. unsinnlicher Ahnlichkeiten, 
unsinnlicher Korrespondenzen geworden. 

Diese, wenn man so will, magische Seite der Sprache wie der 
Schnft lauft aber nicht beziehungslos neben der andern, der 
semiotischen, einher. Alles Mimetische der Sprache ist vielmehr 
eine fundierte Intention, die iiberhaupt nur an etwas Fremdem, 
eben dem Semiotischen, Mitteilenden der Sprache als ihrem Fun- 
dus in Erscheinung treten kann. So ist der buchstabliche Text der 
Schrift der Fundus, in dem einzig und allein sich das Vexier- 



Lehre vom Ahnlichen 209 

bild formen kann. So ist der Sinnzusammenhang, der in den 
Lauten des Satzes steckt, der Fundus, aus dem erst blitzartig 
Ahnliches mit einem Nu aus einem Klang zum Vorschein 
kommen kann. Da aber diese unsinnliche Ahnlichkeit in alles 
Lesen hineinwirkt, so eroffnet sich in dieser tiefen Schicht der 
Zugang zu dem merkwiirdigen Doppelsinn des Wortes Lesen als 
seiner profanen und audi magischen Bedeutung. Der Schiiler 
liest das Abcbuch und der Astrolog die Zukunft in den Ster- 
nen. Im ersten Satze tritt das Lesen nicht in seine beiden Kompo- 
nenten auseinander. Dagegen wohl im zweiten, der den Vorgang 
nach seinen beiden Schichten deutlich macht: der Astrolog liest 
den Gestirnstand von den Sternen am Himmel ab; er liest zu- 
gleich aus ihm die Zukunft oder das Geschick heraus. 
Wenn nun dieses Herauslesen aus Sternen, Eingeweiden, Zu- 
fallen in der Urzeit der Menschheit das Lesen schlechthin war, 
wenn es weiterhin Vermittlungsglieder zu einem neuen Lesen, 
wie die Runen es gewesen sind, gegeben hat, so liegt die Annah- 
me sehr nahe, jene mimetische Begabung, welche friiher das 
Fundament der Hellsicht gewesen ist, sei in jahrtausendlangem 
Gange der Entwicklung ganz allmahlich in Sprache und Schrift 
hineingewandert und habe sich in ihnen das vollkommenste 
Archiv unsinnlicher Ahnlichkeit geschaffen. Dergestalt ware die 
Sprache die hochste Verwendung des mimetischen Vermogens: 
ein Medium, in das ohne Rest die fruhern Merkfahigkeiten fiir 
das Ahnliche so eingegangen seien, dafi nun sie das Medium 
darstellt, in dem sich die Dinge nicht mehr direkt wie friiher in 
dem Geist des Sehers oder Priesters sondern in ihren Essenzen, 
fluchtigsten und feinsten Substanzen, ja Aromen begegnen und 
zu einander in Beziehung treten. Mit andern Worten: Schrift 
und Sprache sind es, an die die Hellsicht ihre alten Krafte im 
Laufe der Geschichte abgetreten hat. 

Das Tempo aber, jene Schnelligkeit im Lesen oder Schreiben, 
welche von diesem Vorgang sich kaum trennen lafit, ware dann 
gleichsam das Bemuhen, die Gabe, den Geist an jenem Zeitmafi 
teilnehmen zu lassen, in welchem Ahnlichkeiten, fluchtig und 
um sogleich wieder zu versinken, aus dem Flufl der Dinge her- 
vorblitzen. So teilt noch das profane Lesen - will es nicht 
schlechterdings um das Verstehen kommen - mit jedem magi- 
schen dies: dafi es einem notwendigen Tempo oder vielmehr 



210 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

einem kritischen Augenblicke untersteht, welchen der Lesende 
um keinen Preis vergessen darf, will er nicht leer ausgehen. 

Zusatz 

Die Gabe, Ahnlichkeit zu sehn, die wir besitzen, ist nichts als 
nur ein schwaches Rudiment des ehemals gewaltigen Zwanges, 
ahnlich zu werden und sich zu verhalten. Und das verschollene 
Vermogen, ahnlich zu werden, reichte weit hinaus iiber die 
schmale Merkwelt, in der wir noch Ahnlichkeit zu sehen im- 
stande sind. Was der Gestirnstand vor Jahrtausenden im Au- 
genblicke des Geborenwerdens in einem Menschendasein wirkte, 
wob sich auf Grund der Ahnlichkeit hinein. 



<2> 

Ober das mimetische Vermogen 

Die Natur erzeugt Ahnlichkeiten. Man braucht nur an die 
Mimikry zu denken. Die hochste Fahigkeit im Produzieren von 
Ahnlichkeiten aber hat der Mensch. Die Gabe, Ahnlichkeit zu 
sehen, die er besitzt, ist nichts als ein Rudiment des ehemals ge- 
waltigen Zwanges, ahnlich zu werden und sich zu verhalten. 
Vielleicht besitzt er keine hohere Funktion, die nicht entschei- 
dend durch mimetisches Vermogen mitbedingt ist. 
Dieses Vermogen hat aber eine Geschichte, und zwar im phylo- 
genetischen so gut wie im ontogenetischen Sinne. Was letzteren 
angeht, ist das Spiel in vielem seine Schule. Das Kinderspiel ist 
iiberall durchzogen von mimetischen Verhaltungsweisen; und 
ihr Bereich ist keineswegs auf das beschrankt, was wohl ein 
Mensch dem anderen nachmacht. Das Kind spielt nicht nur 
Kaufmann oder Lehrer sondern auch Windmuhle und Eisenbahn. 
Was bringt ihm diese Schulung des mimetischen Vermogens ei- 
gentlich fiir einen Nutzen? 

Die Antwort setzt die Einsicht in die phylogenetische Bedeutung 
des mimetischen Vermogens voraus. Dabei ist es nun nicht genug, 
an das zu denken, was wir heutzutage in dem Begrifif der Ahn- 
lichkeit erfassen. Bekanntlich war der Lebenskreis, der ehemals 
von dem Gesetz der Ahnlichkeit durch waltet schien, umfassend; 



Ober das mimetische Vermogen 211 

im Mikrokosmos wie im Makrokosmos regierte sie. Jene natiir- 
lidien Korrespondenzen aber erhalten erst ihr eigentliches Ge- 
wicht mit der Erkenntnis, dafi sie samt und sonders Stimulan- 
tien und Erwecker des mimetischen Vermogens sind, welches im 
Menschen ihnen Antwort gibt. Dabei ist zu bedenken, dafi we- 
der die mimetischen Krafte, noch die mimetischen Objekte, 
oder Gegenstande, im Laufe der Jahrtausende die gleichen blie- 
ben. Vielmehr ist anzunehmen, daft die Gabe, Ahnlichkeiten 
hervorzubringen - zum Beispiel in den Tanzen, deren alteste 
Funktion das ist - und daher audi die Gabe, solche zu erkennen, 
sich im Wandel der Geschichte verandert hat. 
Die Richtung dieser Anderung scheint durch die wachsende 
Hinfalligkeit des mimetischen Vermogens bestimmt zu sein. 
Denn oflenbar enthalt dieMerkwelt des modernen Menschen von 
jeneri magischen Korrespondenzen und Analogien, welche den 
alten Volkern gelaufig waren, nur noch geringe Ruckstande. Die 
Frage ist, ob es sich dabei um den Verfall dieses Vermogens 
oder aber um dessen Transformierung handelt. In welcher Rich- 
tung eine solche aber liegen konnte, dariiber lafit sich, wenn 
auch indirekt, einiges der Astrologie entnehmen. 
Man mufi grundsatzlich damit rechnen, dafi in einer entlegene- 
ren Vergangenheit zu den Vorgangen, die als nachahmbar be- 
trachtet wurden, auch die am Himmel zahlten. Im Tanz, in an- 
deren kultisclien Veranstahungen, konnte so eine Nachahmung 
erzeugt, so eine Ahnlichkeit gehandhabt werden. Wenn aber 
wirklich das mimetische Genie eine lebensbestimmende Kraft 
der Alten gewesen ist, dann ist es nicht schwer vorzustellen, daft 
im Vollbesitz dieser Gabe, insbesondere in vollendeter Anbil- 
dung an die kosmische Seinsgestalt, das Neugeborene gedacht 
wurde. 

Der Hinweis auf den astrologischen Bereich mag einen ersten 
Anhaltspunkt fur das gewahren, was unter dem BegrifT einer 
unsinnlichen Ahnlichkeit zu verstehen ist. In unserem Dasein 
findet sich zwar nicht mehr, was einmal moglich machte, von 
einer solchen Ahnlichkeit zu sprechen, vor allem: sie hervorzu- 
rufen. Jedoch auch wir besitzen einen Kanon, nach dem das, 
was unsinnliche Ahnlichkeit bedeutet, sich einer Klarung naher- 
fiihren lafit. Und dieser Kanon ist die Sprache. 
Von jeher hat man dem mimetischen Vermogen einigen Einflufi 



212 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

auf die Sprache zugebilligt. Jedoch geschah das ohne Grundsatz: 
ohne dafi dabei an eine fernere Bedeutung, geschweige denn 
Geschichte des mimetischen Vermogens ware gedacht worden. 
Vor allem aber blieben solche Uberlegungen aufs engste an den 
gelaufigen, sinnlichen Bereich der Ahnlichkeit gebunden. Im- 
merhin hat man nachahmendem Verhalten bei der Sprachent- 
stehung unterm Namen des Onomatopoetischen einen Platz ge- 
gegeben. Wenn nun die Sprache, wie es auf der Hand liegt, nicht 
ein verabredetes System von Zeichen ist, so wird man immer 
wieder auf Gedanken zuriickgreifen miissen, wie sie in ihrer 
primitivsten Form als onomatopoetische Erklarungsweise auf- 
treten. Die Frage ist: kann diese ausgebildet und einer besseren 
Einsicht angeglichen werden? 

»Jedes Wort ist - und die ganze Sprache«, so hat man wohl 
behauptet, »ist - onomatopoetisch.« Schwer, auch nur das 
Programm zu prazisieren, welches in diesem Satze liegen 
konnte. Indessen bietet der BegrirT der unsinnlichen Ahnlich- 
keit gewisse Handhaben. Ordnet man namlich Worter der 
verschiedenen Sprachen, die ein Gleiches bedeuten, um jenes 
Bedeutete als ihren Mittelpunkt, so ware zu erforschen, wie sie 
alle - die miteinander oft nicht die geringste Ahnlichkeit besit- 
zen mogen - ahnlich jenem Bedeuteten in ihrer Mitte sind. Je- 
doch ist diese Art von Ahnlichkeit nicht nur an den Verhaltnis- 
sen der Worter fiir Gleiches in den verschiedenen Sprachen zu 
erlautern. Wie sich denn iiberhaupt die Oberlegung nicht aufs 
gesprochene Wort beschranken kann. Sie hat es vielmehr ganz 
genau so sehr mit dem geschriebenen zu tun. Und da ist es beach- 
tenswert, dafi dieses - in manchen Fallen vielleicht pragnanter 
als das gesprochene - durch das Verhaltnis seines Schriftbildes 
zu dem Bedeuteten das Wesen der unsinnlichen Ahnlichkeit 
erhellt. Kurz, es ist unsinnliche Ahnlichkeit, die die Verspan- 
nungen nicht nur zwischen dem Gesprochenen und Gemeinten 
sondern auch zwischen dem Geschriebenen und Gemeinten 
und gleichfalls zwischen dem Gesprochenen und Geschriebenen 
stiftet. 

Die Graphologie hat gelehrt, in den Handschriften Bilder zu 
erkennen, die das Unbewufite des Schreibers darinnen versteckt. 
Es ist anzunehmen, dafi der mimetische Vorgang, welcher der- 
gestalt in der Aktivitat des Schreibenden zum Ausdruck kommt, 



Erfahrung und Armut 213 

in sehr entruckten Zeiten als die Schrift entstand, von grofiter 
Bedeutung fur das Schreiben gewesen ist. Die Schrift ist so, ne- 
ben der Sprache, ein Archiv unsinnlicher Ahnlichkeiten, unsinn- 
licher Korrespondenzen geworden. 

Diese Seite der Sprache wie der Schrift lauft aber nicht be- 
ziehungslos neben der anderen, der semiotischen einher. Alles 
Mimetische der Sprache kann vielmehr, der Flamme ahnlich, 
nur an einer Art von Trager in Erscheinung treten. Dieser Tra- 
ger ist das Semiotische. So ist der Sinnzusammenhang der Wor- 
ter oder Satze der Trager, an dem erst, blitzartig, die Ahnlichkeit 
in Erscheinung tritt. Denn ihre Erzeugung durch den Menschen 
ist - ebenso wie ihre Wahrnehmung durch ihn - in vielen und 
zumal den wichtigen Fallen an ein Aufblitzen gebunden. Sie 
huscht vorbei. Nicht unwahrscheinlich, daft die Schnelligkeit 
des Schreibens und des Lesens die Verschmelzung des Semioti- 
schen und des Mimetischen im Sprachbereiche steigert. 
»Was nie geschrieben wurde, lesen.« Dies Lesen ist das alteste: 
das Lesen vor aller Sprache, aus den Eingeweiden, den Sternen 
oder Tanzen. Spater kamen Vermittlungsglieder eines neuen 
Lesens, Runen und Hieroglyphen in Gebrauch. Die Annahme 
liegt nahe, dafi dies die Stationen wurden, uber welche jene 
mimetische Begabung, die einst das Fundament der okkulten 
Praxis gewesen ist, in Schrift und Sprache ihren Eingang fand. 
Dergestalt ware die Sprache die hochste Stufe des mimetischen 
Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ahn- 
lichkeit: ein Medium, in welches ohne Rest die friiheren Krafte 
mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert 
sind, bis sig so weit gelangten, die der Magie zu liquidieren. 



Erfahrung und Armut 

In unseren Lesebiichern stand die Fabel vom alten Mann, der 
auf dem Sterbebette den Sohnen weismacht, in seinem Weinberg 
sei ein Schatz verborgen. Sie sollten nur nachgraben. Sie gruben, 
aber kerne Spur von Schatz. Als jedoch der Herbst kommt, tragt 
der Weinberg wie kein anderer im ganzen Land. Da merken sie, 
der Vater gab ihnen eine Erfahrung mit: Nicht im Golde steckt 



214 Metaphysisch-gesdiichtsphilosophische Studien 

der Segen sondern im Fleifl. Solche Erfahrungen hat man uns, 
drohend oder begiitigend, so lange wir heranwuchsen entgegen- 
gehalten: »Griiner Junge, er will schon mitreden.« »Du wirst's 
schon noch erfahren.« Man wufite auch genau, was Erfahrung 
war: immer hatten die alteren Leute sie an die jiingeren gege- 
ben. In Kiirze, mit der Automat des Alters, in Sprichworterri; 
weitschweiflg mit seiner Redseligkeit, in Geschichten; manchmal 
als Erzahlung aus fremden Landern, am Kamin, vor Sohnen 
und Enkeln. - Wo ist das alles hin? Wer trifft noch auf Leute, 
die reclitschaffen etwas erzahlen konnen? Wo kommen von Ster- 
benden heute noch so haltbare Worte, die wie ein Ring von Ge- 
schlecht zu Geschlecht wandern? Wem springt heute noch ein 
Sprichwort hilfreich zur Seite? Wer wird auch nur versuchen, mit 
der Jugend unter Hinweis auf seine Erfahrung fertig zu wer- 
den? 

Nein, soviel ist klar: die Erfahrung ist im Kurse gefallen und 
das in einer Generation, die 19 14-19 1 8 eine der ungeheuersten 
Erfahrungen der Weltgeschichte gemacht hat. Vielleicht ist das 
nicht so merkwurdig wie das scheint. Konnte man damals nicht 
die Feststellung machen: die Leute kamen verstummt aus dem 
Felde? Nicht reicher, armer an mitteilbarer Erfahrung. Was 
sich dann zehn Jahre danach in der Flut der Kriegsbucher er- 
gossen hat, war alles andere als Erfahrung, die vom Mund zum 
Ohr stromt. Nein, merkwurdig war das nicht. Denn nie sind 
Erfahrungen grundlicher Liigen gestraft worden als die strategi- 
schen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die 
Inflation, die korperlichen durch den Hunger, die sittlichen durch 
die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn 
zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer 
Landschaft, in der nichts unverandert geblieben war als die 
Wolken, und in der Mitte, in einem Kraftfeld zerstorender 
Strome und Explosionen, der winzige gebrechliche Menschen- 
korper. 

Eine ganz neue Armseligkeit ist mit dieser ungeheuren Entfal- 
tung der Technik liber die Menschen gekommen. Und von die- 
ser Armseligkeit ist der beklemmende Ideenreichtum, der mit 
der Wiederbelebung von Astrologie und Yogaweisheit, Christian 
Science und Chiromantie, Vegetarianismus und Gnosis, Schola- 
stik und Spiritismus unter - oder vielmehr iiber - die Leute 



Erfahrung und Armut 215 

kam, die Kehrseite. Denn nicht echte Wiederbelebung findet hier 
statt, sondern eine Galvanisierung. Man mufi an die groflartigen 
Gemalde von Ensor denken, auf denen ein Spuk die StraiSen 
grofier Stadte erfiillt: karnevalistisch vermummte Spiefibiirger, 
mehlbestaubte verzerrte Masken, Flitterkronen iiber der Stirne, 
walzen sich unabsehbar die Gassen entlang. Diese Gemalde sind 
vielleicht nichts so sehr als Abbild der schauerlicheri und chaoti- 
schen Renaissance, auf die so viele ihre Hoffnungen stellen. 
Aber hier zeigt sich am deutlichsten: unsere Erfahrungsarmut 
ist nur ein Teil der grofien Armut, die wieder ein Gesicht - von 
solcher Scharfe und Genauigkeit wie das der Bettler im Mittel- 
alter - bekommen hat. Denn was ist das ganze Bildungsgut 
wert, wenn uns nicht eben Erfahrung mit ihm verbindet? Wohin 
es fiihrt, wenn sie geheuchelt oder erschlichen wird, das hat das 
grauenhafte Mischmasch der Stile und der Weltanschauungen 
im vorigen Jahrhundert uns zu deutlich gemacht, als dafi wir 
unsere Armut zu bekennen nicht fur ehrenwert halten miifiten. 
Ja, gestehen wir es ein: Diese Erfahrungsarmut ist Armut nicht 
nur an privaten sondern an Menschheitserfahrungen uberhaupt. 
Und damit eine Art von neuem Barbarentum. 
Barbarentum? In der Tat. Wir sagen es, um einen neuen, positi- 
ven Begriff des Barbarentums einzufuhren. Denn wohin bringt 
die Armut an Erfahrung den Barbaren? Sie bringt ihn dahin, 
von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen; mit Wenigem 
auszukommen; aus Wenigem heraus zu konstruieren und dabei 
weder rechts noch links zu blicken. Unter den grofien Schopfern 
hat es immer die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen 
Tisch machten. Sie wollten namlich einen Zeichentisch haben, sie 
sind Konstrukteure gewesen. So ein Konstrukteur war Descar- 
tes, der zunachst einmal fur seine ganze Philosophic nichts haben 
wollte als die eine einzige Gewifiheit: »Ich denke, also bin ich« 
und von der ging er aus. Audi Einstein war ein solcher Kon- 
strukteur, den plotzlich von der ganzen weiten Welt der Physik 
gar nichts mehr interessierte, als eine einzige kleine Unstimmig- 
keit zwischen den Gleichungen Newtons und den Erfahrungen 
der Astronomic Und dieses selbe Vonvornbeginnen hatten die 
Kiinstler im Auge, als sie sich an die Mathematiker hielten und 
die Welt wie die Kubisten aus stereometrischen Formen auf- 
bauten, oder als sie wie Klee sich an Ingenieure anlehnten. Denn 



2 1 6 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

Klees Figuren sind gleichsam auf dem Reifibrett entworfen und 
gehorchen, wie ein gutes Auto audi in der Karosserie vor allem 
den Notwendigkeiten des Motors, so im Ausdruck ihrer Mienen 
vor allem dem Innern. Dem Innern mehr als der Inner lichkeit: 
das macht sie barbarisch. 

Hie und da haben langst die besten Kopfe begonnen, sich ihren 
Vers auf diese Dinge zu machen. Ganzliche Illusionslosigkeit 
liber das Zeitalter und dennoch ein riickhaltloses Bekenntnis zu 
ihm ist ihr Kennzeichen. Es ist das Gleiche, ob der Dichter Bert 
Brecht feststellt, Kommunismus sei nicht diegerechte Verteilung 
des Reichtums sondern der Armut oder ob der Vorlaufer der 
modernen Architektur Adolf Loos erklart: »Ich schreibe nur fiir 
Menschen, die modernes Empfinden besitzen . . . Fiir Menschen, 
die sich in Sehnsucht nach der Renaissance oder dem Rokoko 
verzehren, schreibe ich nicht. « Ein so verschachtelter Kunstler 
wie der Maler Paul Klee und ein so programmatischer wie Loos 
- beide stofien vom hergebrachten, feieriichen, edlen, mit 
alien Opfergaben der Vergangenheit geschmiickten Menschen- 
bilde ab, urn sich dem nackten Zeitgenossen zuzuwenden, der 
schreiend wie ein Neugeborenes in den schmutzigen Windeln 
dieser Epoche liegt. Niemand hat ihn froher und lachender be- 
griifit als Paul Scheerbart. Von ihm gibt es Romane, die von 
weitem wie ein Jules Verne aussehen, aber sehr zum Unter- 
schied von Verne, bei dem in den tollsten Vehikeln doch immer 
nur kleine franzosische oder englische Rentner im Weltraum 
herumsausen, hat Scheerbart sich fiir die Frage interessiert, was 
unsere Teleskope, unsere Flugzeuge und Luftraketen aus den 
ehemaligen Menschen fiir ganzlich neue sehens- und Hebenswer- 
te Geschopfe machen. Obrigens reden auch diese Geschopfe be- 
reits in einer ganzlich neuen Sprache. Und zwar ist das Ent- 
scheidende an ihr der Zug zum willkiirlichen Konstruktiven; 
im Gegensatz zum Organischen namlich. Der ist das Unver- 
wechselbare in der Sprache von Scheerbarts Menschen oder viel- 
mehr Leuten; denn die Menschenahnlichkeit - diesen Grundsatz 
des Humanismus - lehnen sie ab. Sogar in ihren Eigennamen: 
Peka, Labu, Sofanti und ahnlich heifien die Leute in dem Buch, 
das den Namen nach seinem Helden hat: »Lesabendio«. Auch 
die Russen geben ihren Kindern gerne »entmenschte« Namen: 
sie nennen sie Oktober nach dem Revolutionsmonat oder »Pjati- 



Erfahrung und Armut 217 

letka«, nach dem Fiinfjahrplan, oder »Awiachim« nach einer 
Gesellschaft fiir Luftfahrt. Keine technische Erneuerung der 
Sprache, sondern ihre Mobilisierung im Dienste des Kampfes 
oder der Arbeit; jedenfalls der Veranderung der Wirklichkeit, 
nicht ihrer Beschreibung. 

Scheerbart aber, um wieder auf ihn zuriickzukommen, legt 
darauf den grofiten Wert, seine Leute - und nach deren Vor- 
bilde seine Mitbiirger - in standesgemafien Quartieren unterzu- 
bringen: in verschiebbaren beweglichen Glashausern wie Loos 
und Le Corbusier sie inzwischen auffiihrten. Glas ist nicht urn- 
sonst ein so hartes und glattes Material, an dem sich merits fest- 
setzt. Auch ein kaltes und niichternes. Die Dinge aus Glas haben 
keine »Aura«. Das Glas ist iiberhaupt der Feind des Geheimnis- 
ses. Es ist audi der Feind des Besitzes. Der grofte Dichter 
Andre Gide hat einmal gesagt: Jedes Ding, das ich besitzen 
will, wird mir undurchsichtig. Traumen Leute wie Scheerbart 
etwa darum von Glasbauten, weil sie Bekenner einer neuen Ar- 
mut sind? Aber vielleicht sagt hier ein Vergleich mehr als die 
Theorie. Betritt einer das burgerliche Zimmer der 8oer Jahre, 
so ist bei aller »Gemutlichkeit«, die es vielleicht ausstrahlt, der 
Eindruck »hier hast du nichts zu suchen« der starkste. Hier hast 
du nichts zu suchen - denn hier ist kein Fleck, auf dem nicht 
der Bewohner seine Spur schon hinterlassen hatte: auf den Ge- 
simsen durch Nippessachen, auf dem Polstersessel durch Deck- 
chen, auf den Fenstern durch Transparente, vor dem Kamin 
durch den Ofenschirm. Ein schones Wort von Brecht hilfb hier 
fort, weit fort: »Verwisch die Spuren!« heifit der Refrain im 
ersten Gedicht des »Lesebuch fiir Stadtebewohner«. Hier im 
biirgerlichen Zimmer ist das entgegengesetzte Verhalten zur 
Gewohnheit geworden. Und umgekehrt notigt das »Interieur« 
den Bewohner, das Hochstmafi von Gewohnheiten anzunehmen, 
Gewohnheiten, die mehr dem Interieur, in welchem er lebt, als 
ihm selber gerecht werden. Das versteht jeder, der die absurde 
Verfassung noch kennt, in welche die Bewohner solcher Pliisch- 
gelasse gerieten, wenn im Haushalt etwas entzweigegangen 
war. Selbst ihre Art sich zu argern - und diesen Affekt, der 
allmahlich auszusterben beginnt, konnten sie virtuos spielen 
lassen - war vor allem die Reaktion eines Menschen, dem man 
»die Spur von seinen Erdetagen« verwischt hat. Das haben nun 



2i 8 Metaphysisch-geschichtsphilosophisdie Studien 

Sdieerbart mit seinem Glas und das Bauhaus mit seinem Stahl 
zuwege gebracht: sie haben Raume geschaffen, in denen es 
schwer ist, Spuren zu hinterlassen. »Nach dem Gesagten«, 
erklart Sdieerbart vor nun zwanzig Jahren, »konnen wir wohl 
von einer >Glaskultur< sprechen. Das neue Glas-Milieu wird 
den Menschen vollkommen umwandeln. Und es ist nun nur zu 
wiinschen, daft die neue Glaskultur nicht allzu viele Gegner 
findet.« 

Erfahrungsarmut: das mufi man nicht so verstehen, als ob die 
Menschen sich nach neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen 
sich von Erfahrungen freizukommen, sie sehnen sich nach einer 
Umwelt, in der sie ihre Armut, die aufiere und schliefilich auch 
die innere, so rein und deutlich zur Geltung bringen konnen, dafi 
etwas Anstandiges dabei herauskommt. Sie sind auch nicht im- 
mer unwissend oder unerfahren. Oft kann man das Umgekehrte 
sagen: Sie haben das alles »gefressen«, »die Kultur« und den 
»Menschen« und sie sind iibersatt daran geworden und miide. 
Niemand fiihlt sich mehr als sie von Scheerbarts Worten betrof- 
fen: »Ihr seid alle so miide - und zwar nur deshalb, weil Ihr 
nicht alle Eure Gedanken urn einen ganz einfachen aber ganz 
grofiartigen Plan konzentriert.« Auf Miidigkeit folgt Schlaf, und 
da ist es denn gar nichts Seltenes, dafi der Traum fiir die Traurig- 
keit und Mutlosigkeit des Tages entschadigt und das ganz ein- 
fache aber ganz grofiartige Dasein, zu dem im Wachen die Kraft 
fehlt, verwirklicht zeigt. Das Dasein von Micky-Maus ist ein 
solcher Traum der heutigen Menschen. Dieses Dasein ist voller 
Wunder, die nicht nur die technischen iiberbieten, sondern sich 
iiber sie lustig machen. Denn das Merkwurdigste an ihnen ist 
ja, daft sie allesamt ohne Maschinerie, improvisiert, aus dem 
Korper der Micky-Maus, ihrer Partisanen und ihrer Verfolger, 
aus den alltaglichsten Mobeln genau so wie aus Baum, Wolken 
oder See hervorgehen. Natur und Technik, Primitivitat und 
Komfort sind hier vollkommen eins geworden und vor den 
Augen der Leute, die an den endlosen Komplikationen des 
Alltags miide geworden sind und denen der Zweck des Lebens 
nur als fernster Fluchtpunkt in einer unendlichen Perspektive 
von Mitteln auftaucht, erscheint erlosend ein Dasein, das in 
jeder Wendung auf die einfachste und zugleich komfortabelste 
Art sich selbst geniigt, in dem ein Auto nicht schwerer wiegt als 



Johann Jakob Bachofen 219 

ein Strohhut und die Frudit am Baum so schnell sich rundet wie 
die Gondel eines Luftballons. Und nun wollen wir einmal Ab- 
stand halten, zuriicktreten. 

Arm sind wir geworden. Ein Stuck des Menschheitserbes nach 
dem anderen haben wir dahingegeben, oft um ein Hundertstel 
des Wertes im Leihhaus hinterlegen miissen, um die kleine Mun- 
ze des »Aktuellen« dafur vorgestreckt zu bekommen. In der 
Tiir steht die Wirtschaftskrise, hinter ihr ein Schatten, der kom- 
mende Krieg. Festhalten ist heut Sadie der wenigen Machtigen 
geworden, die weifi Gott nicht menschlicher sind als die vielen; 
meist barbarischer, aber nicht auf die gute Art. Die anderen aber 
haben sich einzurichten, neu und mit Wenigem. Sie halten es 
mit den Mannern, die das von Grund auf Neue zu ihrer Sache 
gemacht und es auf Einsicht und Verzicht begriindet haben. In 
deren Bauten, Bildern und Geschichten bereitet die Menschheit 
sich darauf vor, die Kultur, wenn es sein muE, zu iiberleben. 
Und was die Hauptsache ist, sie tut es lachend. Vielleicht klingt 
dieses Lachen hie und da barbarisch. Gut. Mag doch der Einzelne 
bisweilen ein wenig Menschlichkeit an jene Masse abgeben, die 
sie eines Tages ihm mit Zins und Zinseszinsen wiedergibt. 



Johann Jakob Bachofen 



II existe des prophecies scientifiques. On pourrait facilement les 
distinguer des predictions scientifiques, constituant des provi- 
sions exactes dans Tordre naturel, par exemple, ou dans l*ordre 
economique. Les proprieties scientifiques meriteraient ce nom 
en cela qu'un sentiment plus ou moins prononce des choses a 
veriir inspire des recherches qui, par elles-memes, ne sortent 
guere des cadres g^neraux de la science. Aussi ces proprieties 
sommeillent-elles dans des etudes specialises, fermees au grand 
public et la plupart de leurs auteurs ne font meme pas figure de 
precurseurs - ni pour eux-memes, ni devant la posterite. Rare- 
ment, et tardivement, atteignent-ils la gloire comme cela vient 
de se produire pour Bachofen. 



220 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

lis n'ont pourtant manque a aucun mouvement intellectuel, y 
compris les plus recents qui aiment se reclamer plutot de leurs 
affinites litteraires et artistiques que de precurseurs scientifi- 
ques. Rappelons Pavenement de Pexpressionnisme. II eut vite fait 
de rassembler ses temoins artistiques: Griinewald et Greco, et 
ses parrains litteraires: Marlowe et Lenz. Mais qui se souvenait 
qu'au seuil du siecle deux savants s'etaient a. Vienne mis a 
Pceuvre pour arriver par un travail methodique, qui jamais ne 
devait sortir du cadre de leur science, a Pechaf audage des memes 
valeurs visuelles qui devaient inspirer une dizaine d'annees plus 
tard les plus hardis des expressionmstes avant le lettre. De ces 
savants Tun etait Alois Riegl qui - par son livre sur Les arts et 
metiers de la decadence romaine - refutait la pretendue barbarie 
artistique de Pepoque de Constantin le Grand; Pautre Franz 
WickhofT qui - avec son edition de la Genese Viennoise - 
attirait Pattention sur les premiers miniaturistes medievaux qui 
devaient connaftre par Pexpressionnisme une vogue enorme. 
Ce sont de tels exemples qu'il faut se rappeler pour comprendre 
le retour recent a Bachofen. Bien avant que les symboles archai- 
ques, le culte et la magie mortuaire, les rites de la terre eussent 
obtenu Pattention non seulement des explorateurs de la men- 
talite primitive, mais des psychologues freudiens et meme des 
lettr^s en general, un savant Suisse avait trace un tableau de la 
preliistoire qui ecartait tout ce que le sens commun du dix- 
neuvieme siecle imaginait sur les origines de la societe et de la 
religion. Ce tableau, mettant au premier plan les forces irra- 
tionnelles dans leur signification metaphysique et civique, devait 
un jour presenter un interet superieur pour les theoriciens fascis- 
tes; mais il devait sollicker presque autant les penseurs marxis- 
tes par Pevocation d'une societe communiste a Paube de Phis- 
toire. Ainsi Bachofen qui pendant toute sa vie et bien au dela 
n'a passe que pour un savant d*un merite plus ou moins sur a vu 
reveler ces derniers lustres le cote proph£tique de son ceuvre. 
Tel un volcan dont le cone puissant a £te souleve par des forces 
souterraines et qui des lors devaient longtemps sommeiller, elle 
a presente pendant un demi-siecle une masse imposante mais 
morne jusqu'a ce qu'une manifestation nouvelle des puissances 
qui Pavaient engendree parvint a en changer Paspect'et a attirer 
les curieux vers son massif. 



Johann Jakob Bachofen 221 

II 

Lorsqu'en 1859 parut a Bale Uessai sur la symboltque sepulcrale 
des Anciens Bachofen n'en £tait plus a ses debuts. Mais dans la 
dizaine d'ouvrages ayant precede* ce dernier il n'y avait guere 
qu'une trentaine de pages pour temoigner des int^rets qui des 
lors se manifestaient si impeVieusement. L'auteur de cet essai 
archeologique ne s'etait prononce que sur des questions de droit 
et d'histoire romaine; il n'£tait meme pas arch^ologue par for- 
mation. Ni ses etudes, ni ses frequentations mais un tournant de 
sa vie de voyageur solitaire Pavait mis sur le chemin qu'il ne 
devait plus quitter. C'est a ce tournant qu'il fait allusion des les 
premiers mots de son livre. Rappelant la decouverte d'un colum- 
barium antique en 1838, il relate la visite qu'il y fit lui-meme 
quatre ans plus tard: »L'impression que produisit sur moi 
Paspect de cet endroit du repos eternel fut d'autant plus pro- 
fonde que je ne connaissais, a deux exceptions pres . . . pas 
d'endroits semblables . . . C'est a ces visites que je dois la pre- 
miere impulsion vers P£tude du monde des anciens Tombeaux 
qui, depuis, m'ont ramene* deux fois encore en Italie et qui ont 
trouve* de nouveaux sujets en Grece . . . Sur les choses du Tom- 
beau et sur leur culte le cours de siecles avec toutes les nouveau- 
th qu'il amene n'a que peu de prise ... La signification puissante 
que le vieux monde des Tombeaux acquiert par ce caractere de 
stabilite immuable est encore augmented par ce qu'elle nous 
revele des plus beaux cotes de Pesprit antique. Si d'autres 
parties de Phistoire de la culture ancienne peuvent retenir la 
pens^e, Petude des necropoles, s'insinue au plus profond de notre 
cceur et n'augmente pas seulement notre savoir, mais s'adresse a 
des aspirations plus profondes. Autant que s'y pretait Poccasion 
j'ai retenu cet aspect des choses en rappelant les pensees 
dont la plenitude et la majest£ en ces endroits de la mort est 
accessible au seul symbole mais non a la parole.« 
La m^thode de ses investigations est done etablie d'emblee. Elle 
consiste a placer le symbole a la base de la pensee et de la vie 
antiques. »Ce qui importe, dira Bachofen plus tard dans son 
essai sur Uours dans les religions de I'antiquite, e'est d'envisager 
chaque symbole isolement. Meme si un jour il doit echouer pour 
devenir un attribut, ses origines le montrent comme fonde* en 



222 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

lui-meme et done d'une signification precise. Ainsi convient-il 
de Pexaminer comme tel; son entree dans le cuke et son attribu- 
tion a differentes deit^s ne doit etre considered qu'en second 
lieu.« Voila pour la religion. A plus forte raison tout ce par 
quoi Bachofen a contribue a la connaissance de Tart antique 
repose sur sa notion du symbole. On a pu le rapprocher de 
Winckelmann et dire: »C'est Winckelmann qui Pa initie au pres- 
tige muet de Pimage.« Mais combien Winckelmann n'est-il pas 
reste etranger au monde du symbole! »Peut-etre, ecrivit-il un 
jour, un siecle passera-t-il avant qu'un Allemand parvienne 
a suivre le chemin que j'ai suivi et a sentir les choses comme moi 
je les ai senties.« Si Bachofen devait accomplir cette prophetie, 
cela a ete de la f aeon la plus imprevue. 

Ill 

Bernoulli a prononce un mot particulierement heureux en par- 
lant du clair-obscur qui regne dans les recherches de Bachofen. 
On pourrait etre tente* de Pexpliquer par le d&lin du roman- 
tisme dont les dernieres manifestations luttent avec les pre- 
mieres du positivisme, situation de laquelle la philosophic de 
Lotze offre un aspect saisissant. Pourtant e'est a une autre 
interpretation que ce mot semble nous convier. Car si vastes et 
minutieuses que soient les demonstrations de Bachofen, il n'y a 
rien en elles qui rappelle les process positivistes. Le clair- 
obscur qui y accueille le lecteur est plutot celui qui regne dans 
l'antre platonicien aux parois duquel se desslnent les contours 
des idees ou bien encore la lumiere indistincte qui plane sur le 
royaume de Pluton. En verite il y a des deux. Car le culte de la 
mort qui donne leur signification ideelle aux objets pr£fer£s de 
Bachofen a impregne l'image de Pantiquite entiere; et les idees 
mythologiques eVoluent dans ses Merits, majestueuses et incolores 
comme les ombres. 

II en va de ces idees, du reste, comme des necropoles romaines 
sur lesquelles Bachofen a frappe ce mot, £galant une m£daille: 
»Quiconque les approche, croit les decouvrir.« Ainsi ce terme, 
defiant toute traduction, die unbeweinte Schopfung - la crea- 
tion dont la disparition n'est suivie d'aucune plainte. Elle releve 
de la matiere seule - mais le mot Stoff (cf. etoffe) veut dire la 



Johann Jakob Bachofen 223 

matiere touffue, dense et ramassee. Elle est l'agent de cette 
promiscuite generale dont la plus ancienne humanit£ porte 
l'empreinte dans sa constitution h£tairique. Et de cette pro- 
miscuity la vie et la mort elles-memes ne sont pas exemptes; elles 
se confondent en constellations ephemeres au gre du rythme qui 
berce cette creation toute entiere. Aussi dans cet ordre imme- 
morial la mort ne rappelle-t-elle aucunement une destruction 
violente. L'antiquit£ la considere toujours en relation d'un plus 
ou d'un moins en regard de la vie. L'esprit dialectique d'une telle 
conception a he au plus haut degre celui de Bachofen. On peut 
meme dire que la mort a etc* pour lui la cle de toute connais- 
sance, conciliant les principes opposes dans le mouvement dia- 
lectique. Ainsi est-il en fin de compte le mediateur prudent entre 
la nature et l'histoire: ce qui a ete historique par la mort retombe 
finalement au domaine de la nature; ce qui a ete naturel par la 
mort retombe finalement au domaine de l'histoire. Rien d'^ton- 
nant done de voir Bachofen les evoquer ensemble dans cette con- 
fession de foi goetheenne: »La science naturelle de ce qui est 
devenu est le grand principe sur lequel repose toute connaissance 
vraie et tout progres«. 

IV 

Patricien de vieille souche baloise Bachofen s'est senti tel toute 
sa vie. L'amour du sol natal se confondant avec ses predilections 
savantes l'a amen£ a cette belle etude sur la nation lycienne qui 
estcomme un hommage chaste et timide a la confederation helve- 
tique. L'independance que ces deux petits pays avaient sauvegar- 
d£e si jalousement au cours de leur histoire constituait a ses 
yeux l'analogie la plus reconfortante. C'etait la pi£t£ qu'il leur 
vbyait commune, et cet amour du terroir qui, »dans les confins 
des valines et des petits pays remplit les coeurs d'une force qui 
reste inconnue aux habitants des vastes plainest Cette conscience 
civique n'aurait, d' autre part, jamais pu atteindre en lui une 
telle vigueur si, elle aussi, n'avait pas et£ impregnee profonde- 
ment du sentiment chthonique. Rien de plus caract£ristique que 
la facon dont il relate Phistoire du miracle donne aux citoyens 
de Megare. »Lorsqu'ils eurent aboli la royaute et que l'Etat, 
par la, connut une periode inquiete, ils s'adresserent a Delphes 



224 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

pour savoir comment etablir les destins de la communaute. 
Qu'ils prennent conseil aupres de la majorite . . ., leur fut-il re- 
pondu. Et c'est en donnant Interpretation voulue a cette indi- 
cation qu'un heron fut sacrifie aux morts au milieu de leur 
prytanee. Voila une majority conclut Pauteur, qui ne con- 
viendrait guere a la democratic actuelle.« 

C'est tout a fait dans le meme sens qu'il insiste sur les origines 
de la propriete immobilize, temoignage sans prix de la con- 
nexion entre Pordre civique et la mort. »C'est par la pierre 
tombale que s'est forme le concept du Sanctum, de la chose im- 
mobile et inamovible. Ainsi constitue il vaut des lors aussi pour 
les poteaux de frontiere et les murs qui, partant, forment avec 
les pierres tombales Pensemble des Res Sanctae.« Bachofen 
a ecrit ces phrases dans son autobiographic Bien des annees plus 
tard, au sommet de sa vie, il se fit batir, a Bale, une grande 
maison ressemblant a une tour qui portait Pinscription: Mori- 
turosat! Comme il se maria peu de temps apres, cette maison ne 
fut jamais habitee par lui. Mais c'est precisement dans cette 
circonstance qu'on a voulu trouver une image de la polarite 
»vita et mors« qui dirigeait sa pens£e et qui regnait sur sa vie. 



Bachofen professait la science en grand seigneur. Le type du 
savant seigneurial, splendidement inaugure par Leibniz, meri- 
terait d'etre suivi jusqu'a nos jours ou il a encore engendre cer- 
tains esprits nobles et remarquables comme Aby Warburg, f onda- 
teur de la bibliotheque qui porte son nom et qui vient de quitter 
PAllemagne pour PAngleterre. Moins en vue que les grands 
seigneurs de la litterature dont le premier est Voltaire, cette 
lignee de savants a exerce une influence des plus considerables. 
C'est dans leur ordre, bien plus que dans celui de Voltaire, que 
s'est inscrit Goethe dont Pattitude representative et meme proto- 
colaire se reclamait beaucoup plus de ses aspirations scientifi- 
ques que de son etat de poete. L'activite de ces esprits, qui tou- 
jours offre quelque aspect »dilettantique«, aime a s'exercer dans 
les domaines limitrophes de plusieurs sciences. Elle est le plus 
souvent exempte de toute obligation professionnelle. Quant au 
cote doctrinal, on sait dans quelle posture difficile se trouvait 



Johann Jakob Bachofen 225 

Goethe en face des physiciens de son temps. Sur tous ces points 
Bachofen offre des analogies saisissantes. Meme attitude souve- 
raine, voir hautaine; meme mepris des demarcations convenues 
entre les sciences; meme resistance de la part des confreres. Cette 
ressemblance ne disparait meme pas a Pexamen des circonstan- 
ces secondaires, car tous les deux etaient en possession d'un puis- 
sant appareil scientiflque. Si Goethe prelevait de toutes parts des 
contributions a ses vastes collections, Bachofen mit ses grandes 
richesses au service non seulement d'une documentation, mais 
d'un musee prive qui le rendait, dans une large mesure, indepen- 
dant de Pappui d'autrui. 

Que cette situation privilegiee eut, pour Bachofen aussi, des 
revers, cela ne fait aucun doute. Goethe s'en prenant a Newton 
n^tait guere plus mal tombe que Bachofen declenchant vers la 
fin de son activite sa polemique contre Mommsen dont il chercha 
dans son My the de Tanaquil (1870) a refuter non seulement 
Pesprit positiviste - ce qu'il aurait pu faire victorieusement - 
mais la critique des sources ou Mommsen etait passe* maitre. On 
serait tente de voir en ce d£bat une sorte de prologue a. celui 
qui, quelques annees plus tard, devait dresser la science positi- 
viste, en la personne de Wilamowitz-Mollendorff , contre Nietz- 
sche comme auteur de Uorigine de la Tragedie. En tout cas, 
dans ces deux conflits, c'etait Pagresseur qui devait succomber: 
Bachofen a £te venge sur la science par Nietzsche. (Une relation 
directe ne semble pas avoir existe entre eux; ce qui a la rigueur 
pourrait se combiner a ce sujet a judicieusement et£ expose par 
Charles Andler.) L'independance seigneuriale de sa situation 
n'a pas d^dommage Bachofen de son isolement; la rancceur que 
recele sa polemique contre Mommsen est la meme qui, un jour, 
se reVela dans ces termes: »Personne n'est calomnie comme celui 
qui etablit les liens entre le droit et les autres formes de la vie et 
qui £carte de soi Pescabeau isolant sur lequel on aime placer 
chaque matiere et chaque peuple. On pretend approfondir les 
recherches en les limitant. C'est, au contraire, a une conception 
superficielle et denuee d'esprit qu'aboutit cette methode et c'est 
elle qui a engendre Pengouement pour une activite toute exte- 
rieure dont la photographie des manuscrits constitue le comble.« 



226 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

VI 

Bachofen a puis£ aux sources romantiques. Mais elles ne sont pas 
descendues jusqu'a lui sans avoir passe* par ce grand filtre que 
constitue la science historique. Son maitre Karl von Savigny, 
professeur de droit a Puniversite* de Gottingen, appartenait 
precisement a cette splendide equipe scientifique qui se plagait 
entre Pepoque de la pure speculation romantique et celle d'un 
positivisme content de soi. Dans les Notes autobiographiques 
qu'il ecrivit en 1854 pour son maitre il y a bien des accents 
romantiques et, avant tout, ce respect marque pour les origines 
qui lui fait dire: »Si autrefois le fondateur de Rome n'avait pas 
ere* presente comme un vrai Adam italique, je verrais maintenant 
(apres le s£jour romain) en lui une figure tres moderne et en 
Rome le terme et le declin d'une periode culturelle millenaire.« 
Le respect prononce pour Porigine des institutions etait un des 
traits les plus accuses de »Pecole historique du droit« dont 
Savigny etait Panimateur. Etant reste* etranger au mouvement 
heg&ien il a quand meme fonde les assises de sa propre doctrine 
dans un endroit celebre de Pintroduction a la Philosophie de 
Yhistoire de Hegel. II s'agit de la definition bien connue du 
Volksgeist, de l'esprit de chaque peuple, qui d'apres Hegel con- 
fere une empreinte commune a son art, a sa morale, a sa religion 
comme a sa science et a son systeme de droit. Cette conception 
dont la portee scientifique s'est ave'ree des plus douteuses a £te 
singulierement modifiee par Bachofen. Ses etudes juridiques et 
archeologiques lui ayant interdit d'envisager le droit des anciens 
comme unite derniere, irreductible, il croyait lui trouver une 
autre base que celle, trop indecise, d'un esprit du peuple. A 
cote* de la revelation de Pimage comme d'un message du pays des 
morts se place desormais pour Bachofen celle du droit comme 
une construction sur terre, dont les assises souterraines et de 
profondeur inexplor^e sont formees par les us et les coutumes 
religieuses du monde antique. La disposition, voire le style de 
cette construction e'taient bien connus mais personne encore ne 
semblait s'etre avise d'en etudier les sous-sols. C'est ce qu'entre- 
prit Bachofen avec son grand ouvrage sur le matriarcat. 



Johann Jakob Bachofen 227 

VII 

II y a bien longtemps qu'on a observe que ce sont rarement les 
livres les plus lus qui ont exerce* Pinfluence la plus grande. Per- 
sonne n'ignore qu'une infime partie de ceux qu'a passionnds, il 
y a cinquante ou soixante ans, le darwinisme ont lu Uorigine 
des especes ou que le Capital est bien loin d'avoir passe par les 
mains de tous les marxistes. La meme observation s'impose pour 
Poeuvre maitresse de Bachofen Le Matriarcat, Et cela n'a rien 
de surprenant, le livre volumineux ^tant d'un abord reche, 
abondant de citations grecques et latines, compulsant des auteurs 
dont la plupart sont inconnus meme du public lettre. Ses idees 
principales se sont r£pandues en dehors du texte, ce qui a ete 
facilite" par Pimage, romantique et precise, en meme temps, qu'il 
trace de Pere matriarcale. Done, pour Bachofen, Pordre fami- 
lial qui s'est etabli de Pantiquiti jusqu'a nos jours et qui est 
caracterise par la domination du pater familias a et£ pr£c£de par 
un autre qui conferait toute Pautorite familiale a la mere. Cet 
ordre differait foncierement de Pordre patriarcal du point de 
vue juridique aussi bien que du point de vue sexuel. Toute 
parente* et, partant, toute succession se trouvait £tablie par la 
mere qui accueillait chez elle, comme un hote, son mari ou bien, 
au debut de cette ere, en accueillit meme plusieurs. Bien que les 
preuves que le Matriarcat avance en faveur de ces theses s'adres- 
sent surtout aux historiens ou aux philologues, ce sont d'abord 
les ethnologues qui ont serieusement releve la question - ques- 
tion, soit dit en passant, qui pour la premiere fois avait £te* 
pos£e d'une facon divinatoire par Vico. Or si parmi les ethno- 
logues il ne s'en trouve guere pour nier certains cas de matriar- 
cat, ils sont tres reserves en ce qui concerne Pidee d'une ere 
matriarcale comme £poque bien caracterisee, comme ^tat social 
solidement installe. C'est pourtant la Pidee que s'en faisait Bach- 
ofen et qu'il soulignait meme en supposant une £poque d'avi- 
lissement et de servitude masculine. Cest en regard d*une telle 
decheance que PEtat des amazones qui, pour lui, constituait une 
realite historique, gagnait tout son relief. 

Quoiqu'il en soit, le debat, a Pheure actuelle, est loin d'etre clos. 
Ind^pendamment de ses dessous philosophiques, dont un mot 
sera dit tout a Pheure, ses donnees historiques elles-memes ont 



228 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

ete assez recemment reprises dans un nouveau sens. Certains 
savants, parmi lesquels le mexicaniste Walter Lehmann, ont 
cherche a etayer la construction de Bachofen en s'occupant des 
vestiges d'une immense evolution culturelle et sociale qui devrait 
avoir marque la fin du matriarcat. lis ont cru en reconnaitre 
dans la fameuse table des oppositions qui fait partie de la tra- 
dition pythagoricienne et dont ^opposition fondamentale est 
celle entre la gauche et la droite. Aussi sont-ils enclins a voir 
dans le sens de la swastika ou croix gammee - la vieille roue de 
feu aryenne - qui tourne a droite une innovation patriarcale 
qui aurait remplace le mouvement ancien de cette roue vers la 
gauche. 

Dans un chapitre des plus celebres Bachofen lui-meme s'est 
explique sur le choc entre ces deux mondes. Nous ne voyons 
aucun inconvenient a reproduire Papercu qu'en donne, dans 
son essai Sur les origines de la famille, Friedrich Engels - et en 
voyons d*autant moins que ce passage contient en meme temps 
ce jugement serieux et pondere sur Bachofen qui devait plus tard 
guider d'autres auteurs marxistes comme Lafargue. »Ce n'est 
pas, dit Engels, devolution des conditions reelles de la vie qui, 
d'apres Bachofen, a amene les changements historiques dans les 
relations sociales de Phomme et de la femme, mais bien leur 
reflet religieux dans le cerveau de ces memes gens. Suivant cette 
theorie Bachofen presente YOrestie d'Eschyle comme la descrip- 
tion dramatique de la lutte entre le matriarcat declinant et le 
patriarcat ascendant et finalement vainqueur . . . Cette explica- 
tion nouvelle mais foncierement juste ... est un des plus beaux 
endroits du livre, et des mieux reussis. N'empeche qu'elle prouve 
en meme temps que Bachofen croyait au moins autant en Apol- 
ion, Athena et les Erynnies que, de son temps, Eschyle; ce qu'il 
croyait c'est que c'etaient eux qui accomplirent du temps des 
heros le miracle de remplacer le matriarcat par le patriarcat. 11 
appert qu'une telle theorie qui considere la religion comme le levier 
cardinal de Thistoire mondiale doit aboutir au plus pur mysti- 



Johann Jakob Bachofen 229 

VIII 

L'aboutissement mystique des theories de Bachofen qu'avait 
souligne Engels a et^ paracheve au cours de sa »redecouverte« 
dont Thistoire embrasse le plus clair de cet esoterisme recent 
qui devait constituer un apport important au f ascisme allemand. 
Au debut de cette »decouverte« il y a la figure ex t remanent 
curieuse d'Alfred Schuler, dont le nom avait peut-etre frappe" 
quelques fervents de Stefan George comme destinataire d'un 
poeme singulierement hardi Porta Nigra, Schuler etait un 
petit bonhomme, Suisse comme Bachofen, qui passa presque 
toute sa vie a Munich. Que cet homme qui n'a ete qu'une fois a 
Rome mais dont la connaissance de la Rome antique et la fami- 
liarity avec la vie romaine de l'antiquite semblent avoir ete un 
prodige, ait ete doue* d'une comprehension hors ligne pour le 
monde chthonique, cela semble un fait acquis. Et peut-etre a-t- 
on eu raison de dire que ces facultes innees £taient nourries par 
les forces similaires qui appartiennent a cet endroit de la Ba- 
viere. Toujours est-il que Schuler qui n'a presque rien ecrit a hi 
consider^ dans le milieu de George comme une autorite* divina- 
toire. C'est lui qui a initie Ludwig Klages, qui fr^quentait ce 
meme monde, a la doctrine de Bachofen. 

Avec Klages cette doctrine est sortie de PesoteYisme pour faire 
valoir ses droits aupres de la philosophic ce a quoi Bachofen lui- 
meme n'eut jamais songe. Dans Eros Cosmogonos Klages trace 
le systeme naturel et anthropologique du chthonisme. En r£ali- 
sant les substances mythiques de la vie, en les arrachant a. 
Toubli qui les a f rappees, le philosophe s'avise des » images origi- 
naires« (Urbilder). Celles-la tout en se r^clamant du monde 
exterieur sont quand meme tres differentes des representations. 
C'est qu'aux representations se mele Tesprit avec ses vues uti- 
litaires et ses pretentions usurpatrices, tandis que l'image s'adres- 
se exclusivement a Tame qui, en Taccueillant de facon purement 
receptive, se voit gratified de son intelligence symbolique. La 
philosophic de Klages, tout en etant une philosophic de la dur£e, 
ne connait point devolution creatrice mais uniquement le berce- 
ment d'un reve dont les phases ne sont que des reflets nostalgi- 
ques d'ames et de formes depuis longtemps revolues. De la sa 
definition: Les images originaires sont l'apparition d'ames du 



230 Metaphysisch-geschiditsphilosophisdie Studien 

passe\ L'explication du chthonisme que Klages a donnee s'ecarte 
de Bachofen precis^ment par son caractere systimatique dont 
^inspiration se revele des le titre de son ouvrage principal: 
L'esprit comme adversaire de I'ame. Systeme sans issue du reste . 
et qui se perd dans une prophetie menacante a l'adresse des 
humains qui se sont laiss£ egarer par les insinuations de 
l'esprit. II est vrai que malgre' son c6te* provocant et sinistre cette 
philosophic est, par la finesse de ses analyses, la profondeur de 
ses vues et le niveau de ses discussions, infiniment supeVieure aux 
adaptations de Bachofen qu'ont essay£es les professeurs officiels 
du fascisme allemand. Baeumler, par exemple, declare que seule 
la metaphysique de Bachofen vaut la peine d'etre relevee, ses 
recherches prehistoriques comptant d'autant moins que meme un 
»ouvrage scientifiquement exact sur les origines de l'humani- 
te . . . n'aurait pas grand chose a nous dire.« 

IX 

Tandis qu'une nouvelle metaphysique c£l£brait la d£couverte 
de Bachofen, on oubliait volontiers que son ceuvre n'avait jamais 
cesse* d'etre presente dans les recherches des sociologues. Elle s'y 
rattache meme par une tradition directe en la personne d'Elis^e 
Reclus. Son suffrage dont la teneur devait etre on ne peut plus 
desagr^able au savant suisse n'a pourtant pas ete refuse* par 
celui-ci. Peut-etre que Bachofen &ait trop isol£ pour ne pas 
accueillir chaque assentiment d'ou qu'il vienne. Mais il y avait 
une raison plus serieuse. Bachofen avait scrute a une profondeur 
inexploree les sources qui, a travers les ages, alimentaient l'id£al 
libertaire dont Reclus se reclamait. II nous faut revenir ici sur 
la promiscuite ancienne dont parle le Matriarcat. A cet etat 
de choses correspond un certain ideal de droit. Le fait indis- 
cutable que certaines communaut^s matriarcales ont deVeloppe* 
a un tres haut degre* un ordre d^mocratique et des idees 
d'egaliti civique avait retenu l'attention de Bachofen. Le com- 
munisme lui semblait meme £tre inseparable de la gyn^cocratie. 
Et, chose curieuse, le jugement impitoyable qu'en tant que cito- 
yen et patricien balois il portait sur la democratic ne l'a point 
empeche de d&rire, dans des pages magnifiques, les benedictions 
de Dionysos qu'il considerait, lui, comme principe f&ninin. 



Johann Jakob Badiofen 231 

»La religion dionysienne est la confession de la democratic parce 
que la nature sensuelle a laquelle elle s'adresse est le patrimoine 
de tous les hommes« et »ne reconnait aucune des differences 
qu'etablit l'ordre civique ou la pre*cellence spirituelle«. 
De tels passages retinrent l'attention des theoriciens socialistes. 
En outre l'idee du matriarcat les occupa non seulement par la 
notion du communisme primitif qui s'y rattache mais aussi par 
le bouleversement du concept d'autorite* qu'elle amene. C'est 
ainsi que Paul Lafargue, gendre de Karl Marx et, Pun des rares 
maitres de sa methode, termine - en faisant allusion a la 
couvade - son essai sur le matriarcat par la consideration sui- 
vante: »Nous voyons que la famille paternelle est une institu- 
tion relativement r£cente; son entree dans le monde est caract£- 
ris^e par des discordes, des crimes et de viles niaiseries.« L 'accent 
qui n'est certes pas celui d'une recherche desintiressee laisse 
percevoir quelles couches profondes de Pindividu lui-meme sont 
mises en jeu par ces questions. Ce sont el les qui ont confere* leur 
ton passionne au debat qui s'est d^rouie autour de Bachofen et 
auquel les verdicts de la science elle-meme n'ont nullement 
echappe. Partout ces theories ont provoque une reaction dans 
laquelle la vie intime de Taffectivit^ et les convictions politiques 
semblent unies indissolublement. Dans une remarquable etude 
sur la Signification psycbologico-sociale des theories matriar- 
cales, Erich Fromm a tout recemment etudie cet aspect de la 
question. En eVoquant les filiations multiples entre la renais- 
sance de Bachofen et le fascisme, il d^nonce la perturbation 
serieuse qui, dans la societe" actuelle, menace les relations entre 
enfant et mere. Ainsi, dit-il, »Paspiration a Pamour maternel 
est remplacee par celle d'etre protecteur de la mere qui est 
ve^ree, plac£e au-dessus de tout. Ce n'est plus la mere a laquelle 
incombe le devoir de prot^ger, c'est elle qui a besoin de tutelle 
et de sauvegarde de sa purete. Et cette facon de reagir contre 
les troubles qui ont atteint Pattitude naturelle envers la mere 
a modifie de meme les symboles qui la figurent comme pays, 
peuple, terre«. 



232 Metaphysisch-gesdiichtsphilosophische Studien 

X 

Bachofen ne s'est jamais fait peindre. Le seul portrait que nous 
possedons de lui est posthume et execute d'apres une photo- 
graphic. II est neanmoins d'une etonnante profondeur d'expres- 
sion. Un buste majestueux porte la tete au front haut et bombe\ 
Des cheveux clairs, se prolongeant en favoris frisks couvrent les 
cot^s du crane dont la partie superieure est chauve. Une grande 
quietude ^mane des yeux et plane sur cette face dans laquelle la 
bouche semble etre la partie la plus mouvementee. Les levres 
sont closes et les commissures en accusent la fermete\ Malgre 
cela aucun trait de durete\ Une largesse presque maternelle re- 
partie dans Pensemble de la physiognomie lui confere une par- 
faite harmonic L'ceuvre entiere est la pour en temoigner. 
D'abord en ce sens qu'une vie sage et sereine devait etre a sa 
base. Et puis en ce sens que l'ensemble de l'oeuvre lui-meme est 
conditionne par un equilibre hors de pair. 

II s'avere sous trois aspects. Equilibre entre la veneration de 
Pesprit matriarcal et le respect pour l'ordre patriarcal. Equilibre 
entre la sympathie pour la democratic archai'que et les senti- 
ments de l'aristocrate balois. Equilibre entre la comprehension 
du symbolisme antique et la fidelite a la croyance chretienne. 
Retenons ce dernier. Car en regard des theories d'un Klages rien 
ne merite d'etre souligne autant que le manque de tout n^opaga- 
nisme chez Bachofen. Son protestantisme fortement enracin£ 
dans la lecture biblique est loin d'etre une fruit de sa vieillesse. 
Bachofen ne s'en est jamais departi, meme au plus profond de la 
speculation symbolique. Rien de plus edifiant, a cet e*gard, que 
la distance qu'il a toujours marquee envers cet eminent con- 
citoyen, l*ami de Nietzsche, Franz Overbeck, professeur de theo- 
logie, qui a une connaissance accomplie de la dogmatique m6di&- 
vale unissait un scepticisme parfait. 

Si les sentiments en Bachofen inclinent vers le matriarcat, son 
attention d'historien reste toujours tendue vers l'avenement du 
patriarcat dont la spiritualite chretienne lui represente la forme 
supreme. 11 ^tait profond^ment convaincu que »nul peuple dont 
les croyances se fondent sur la matiere n'a atteint la victoire de 
la paternite purement spirituelle . . . C'est la destruction, non 
le develpppement ni la purification du materialisme qui est a. 



Johann Jakob Bachofen 233 

la base de la spiritualite d'un dieu paternel et unique. « De ce 
chef la destruction de Carthage par Rome apparaissait comme 
le fait salutaire et sauveur par excellence de Phistoire mondiale. 
Mais ce que Scipion et Caton avaient commence, il le voyait 
termine* par Auguste. C'est sur ce developpement magistral 
(dans les Lettres concernant les antiquites 1880) que se ferme le 
cercle de ses recherches. Car il ne faut pas oublier qu'en d£mon- 
trant par quel recours a son propre g£nie PGccident assurait, 
sous Auguste, la victoire du patriarcat, Bachofen rejoignait le 
point de depart de ses investigations qui etait le droit romain. 
Et ce qu'il faut encore moins oublier, c'est que le pays de sa 
revelation avait £te Rome. Bachofen, dans sa conception su- 
preme, retrouvait ce sol ou - d'apres un mot de Pautobiogra- 
phie - »la roue de la vie . . . s'est creus^e une orniere plus 
profonde.« Le sol romain lui etait donne comme gage d'une 
harmonie que lui, grace a une complexion heureuse, £tait par- 
venu a vivre dans sa pensee, mais que Phistoire devra maintes 
fois refaire de nouveau. 



Literarische und asthetische Essays 



»Der Idiot « von Dostojewskij 



Das Schicksal der Welt stellt sich Dostojewskij im Medium des 
Schicksals seines Volkes dar. Das ist die typische Anschauungs- 
weise der grofien Nationalisten, nach der die Humanitat nur im 
Medium des Volkstums sich entfalten kann. Die Grofie des Ro- 
mans offenbart sich in der absoluten gegenseitigen Abhangigkeit, 
in der die metaphysischen Gesetze der Entfaltung der Mensch- 
heit und der Nation dargestellt werden. Es findet sich daher 
keine Regung des tiefen menschlichen Lebens, die nicht in der 
Aura des russischen Geistes ihren entscheidenden Ort fande. 
Diese menschliche Regung inmitten ihrer Aura, gelockert frei im 
Nationellen schwebend und doch untrennbar von ihm als von 
seinem Orte darzustellen ist vielleicht die Quintessenz der Frei- 
heit in der grofien Kunst dieses Dichters. Man kann das nur 
erkennen, wenn man sich der furchterlichen Zusammenstoppe- 
lung verschiedener Elemente bewufit wird, die schlecht und 
recht die Romanfigur des niedrigen Genres ausmachen. Da ist 
die nationelle Person, der Mensch der Heimat, die individuelle 
und die soziale Person kindisch miteinander verklebt und die 
widerliche Kruste des psychologisch Palpablen dariiber vervoll- 
standigt den Mannequin. Die Psychologie der Dostojewskij- 
schen Personen ist dagegen gar nicht das, wovon der Dichter 
wirklich ausgeht. Sie ist gleichsam nur die zarte Sphare, in der 
aus dem feurigen Urgas des Nationellen im. Obergange sich die 
reine Menschlichkeit erzeugt. Psychologie ist nur der Ausdruck 
des Grenzdaseins des Menschen. Wirklich ist alles das, was sich 
im Kopf unsrer Kritiker als psychologisches Problem darstellt, 
gerade ein solches nicht: als ob es sich urn die russische »Psyche« 
oder die »Psyche« des Epileptikers handle. Die Kritik weist ihr 
Recht an das Kunstwerk heranzutreten erst darin aus, dafi sie 
den ihm eigenen Boden respektiert, ihn zu betreten sich hiitet. 
Eine solche unverschamte Grenzuberschrekung ist das Lob, das 
man einem Autor um der Psychologie seiner Personen willen 
erteilt und nur darum sind Kritiker und Verfasser meistens 
einarider wiirdig, weil der durchschnittliche Romanschreiber jene 
verwaschenen Schablonen benutzt, die dann die Kritik freilich 
benennen kann und eben weil sie sie benennen kann, auch lobt. 



238 Literarische und asthetische Essays 

Gerade von dieser Sphare muS die Kritik sich fernhalten, es 
ware schamlos und falsch mit solchen Begriffen Dostojewskijs 
Werk zu messen. Dagegen gilt es die metaphysische Identitat 
des Nationellen wie des Humanen in der Idee der Schopfung 
Dostojewskijs zu erf assen. 

Denn dieser Roman wie jedes Kunstwerk beruht auf einer Idee, 
»hat ein Ideal a priori, eine Notwendigkeit bei sich, da zu sein«, 
wie Novalis sagt, und eben diese Notwendigkeit und nichts an- 
deres hat die Kritik aufzuzeigen. Das gesamte Geschehen des 
Romans erhalt seinen Grundcharakter indem es Episode ist. Es 
ist eine Episode im Leben der Hauptperson, des Fursten Mysch- 
kin. Sein Leben liegt im wesentlichen im Dunkel vor wie nach 
dieser Episode, sogar in dem Sinne, dafi er in den unmittelbar 
ihr vorhergehenden wie auch in den darauffolgenden Jahren im 
Ausland weilt. Welche Notwendigkeit fuhrt di'esen Menschen 
nach Rufiland? Sein russisches Leben hebt sich aus der diist- 
ren Zeit in der Fremde wie das sichtbare Band des Spektrums 
aus dem Dunkel steigt. Welches Licht aber zerlegt sich wahrend 
dieses seines russischen Lebens? Es ware unmoglich zu sagen, 
was auEer den vielen Irrtumern und mancherlei Tugenden sei- 
nes Verhaltens er eigentlich in dieser Zeit beginnt. Sein Leben 
verstreicht nutzlos, auch noch in seiner besten Zeit gleich dem 
eines untuchtigen krankelnden Menschen. Es versagt nicht allein 
am MaiSstab der Gesellschaft, auch sein nachster Freund - wenn 
es nicht so tief in dem Geschehen begriindet ware, dafi er keinen 
hat - konnte keine Idee und kein richtendes Ziel in seinem 
Leben finden. Dagegen umgibt 'ihn fast ohne daf5 es auffallt die 
volligste Einsamkeit: alle Beziehungen, die ihn betrerTen, schei- 
nen bald in das Feld einer Kraft einzutreten, die ihnen das 
Nahern verbietet. Bei volligster Bescheidenheit, ja Demut dieses 
Menschen ist er ganz unnahbar und sein Leben strahlt eine Ord- 
' nung aus, deren Mitte eben die eigene, bis zum Verschwinden 
reife Einsamkeit ist. In der Tat ist damit ganz Seltsames gege- 
ben: alle Geschehnisse, so entfernt sie audi von ihm verlaufen 
mogen, besitzen eine Gravitation auf ihn zu, und dieses Gravi- 
tieren aller Dinge und Menschen gegen den Einen macht den 
Inhalt des Buches aus. Dabei sind sie so wenig, ihn zu er- 
reichen, wie er geneigt, sich ihnen zu entziehen. Die Spannung 
ist eine gleichsam unausloschliclie und einfache, die des Lebens 



»Der Idiot« von Dostojewskij 239 

auf seine immer bewegtere Entfaltung ins Unendliche, die 
dennoch nicht zerfliefit. Warum ist das Haus des Fiirsten und 
nicht das der Epantschin der Mittelpunkt des Geschehens in 
Pawlowsk? 

Das Leben des Fiirsten Myschkin liegt als Episode vor nur um 
die Unsterblichkeit dieses Lebens symbolisch sichtbar zu machen. 
Sein Leben kann in der Tat nicht erloschen, so wenig - nein 
weniger als das natiirliche Leben selbst, zu dem es gleichwohl 
tief e Beziehung hat. Die Natur ist vielleicht ewig, das Leben des 
Fiirsten aber ganz gewifi - und dies ist innerlich und geistig 
zu verstehen - unsterblich. Sein Leben wie das Leben aller in 
seiner Gravitation auf ihn zu. Das unsterbliche Leben ist nicht 
das ewige der Natur, wie nahe es ihm audi zu stehen scheint, 
denn im BegrifTe der Ewigkeit ist die Unendiichkeit aufgehoben, 
in der Unsterblichkeit aber gelangt sie zum hochsten Glanze. 
Das unsterbliche Leben, von dem dieser Roman das Zeugnis 
ablegt, ist nichts weniger als die Unsterblichkeit im gewohnlichen 
Sinn. Denn in der ist gerade das Leben sterblich, unsterblich aber 
ist Fleisch, Kraft, Person, Geist in ihren verschiedenen Fassun- 
gen. So hat Goethe von einer Unsterblichkeit des Wirkenden in 
seinem Wort zu Eckermann gesprochen, wonach die Natur ver- 
pflichtet sei uns einen neuen Wirkungsraum zu geben wenn die- 
ser hier uns genommen sei. Das alles ist weit entfernt von der 
Unsterblichkeit des Lebens, von dem Leben, das seine Unsterb- 
lichkeit im Sinne unendlich fortschwingt, und dem die Unsterb- 
lichkeit die Gestalt gibt. Denn hier ist von Dauer nicht die Rede. 
Welches Leben aber ist das Unsterbliche, wenn es doch nicht das 
der Natur ist, audi nicht das der Person? Vom Fiirsten Mysch- 
kin darf man im Gegenteil sagen, daft seine Person hinter seinem 
Leben zuriicktritt wie die Blume hinter ihrem Duft oder der 
Stern hinter seinem Flimmern. Das unsterbliche Leben ist un- 
vergeftlich, das ist das Zeichen, an dem wir es erkennen. Es ist 
das Leben, das ohne Denkmal und ohne Andenken, ja vielleicht 
ohne Zeugnis unvergessen sein miifite. Es kann nicht vergessen 
werden. Dies Leben bleibt gleichsam ohne Gefaft und Form 
das unvergangliche. Und »unvergeftlich« sagt seinem Sinn nach 
mehr als daft wir es nicht vergessen konnen; es deutet auf etwas 
im Wesen des UnvergeftHchen selbst, wodurch es unvergeftlich 
ist. Selbst die Erinnerungslosigkeit des Fiirsten in seiner spatern 



240 Literarische und asthetische Essays 

Krankheit ist Symbol des Unvergefilichen seines Lebens; denn 
das liegt nun scheinbar im Abgrund seines Selbstgedenkens 
versunken aus dem es nicht mehr emporsteigt. Die andern be- 
suchen ihn. Der kurze Schlufibericht des Romans stempelt alle 
Personen fiir immer mit diesem Leben, an dem sie teilhatten, sie 
wissen nicht wie. 

Das reine Wort fiir das Leben in seiner Unsterblichkeit ist aber: 
Jugend. Das ist die grofie Klage Dostojewskijs in diesem Buche: 
das Scheitern der Bewegung der Jugend. Ihr Leben bleibt un- 
sterblich, aber es verliert sich ifn eigenen Licht: »der Idiot«. Do- 
stojewskij klagt, dafi Rufiland sein eigenes unsterbliches Leben 
- denn diese Menschen tragen das jugendliche Herz von Rufi- 
land in sich - nicht bei sich behalten, in sich aufsaugen kann. Es 
fallt auf fremdem Boden nieder, es tritt iiber seinen Rand und 
versandet in Europa, »in diesem windigen Europa«. Wie die 
politische Lehre Dostojewskijs immer wieder die Regeneration 
im reinen Volkstum fiir die letzte Hoffnung erklart, so erkennt 
der Dichter dieses Buches im Kinde das einzige Heil fiir die 
jungen Menschen und ihr Land. Das wiirde schon aus diesem 
Buche, in dem die Gestalt des Kolja wie des Fursten in dem 
kindlichen Wesen die reinsten sind, hervorgehen, audi ohne dafi 
Dostojewskij in den »Briidern Karamasoff« die unbegrenzte 
heilende Macht des kindlichen Lebens entwickelt hatte. Verletz- 
te Kindheit ist das Leid dieser Jugend, weil eben die verletzte 
Kindheit des russischen Menschen und des russischen Landes 
seine Kraft Jahmte. Es ist immer wieder bei Dostojewskij deut- 
lich, dafi nur im Geiste des Kindes die edle Entfaltung des 
menschlichen Lebens aus dem Leben des Volkes hervorgeht. An 
der fehlenden Sprache des Kindes zersetzt sich gleichsam das 
Sprechen der Dostojewskijschen Menschen und in einer iiberreiz- 
ten Sehnsucht nach Kindheic - im modernen Sprachgebrauch: 
in Hysterie - verzehren sich vor allem die Frauen dieses Ro- 
mans: Lisaweta Prokowjewna, . Aglaja und Nastassja Philip- 
powna. Die gesamte Bewegung des Buches gleicht einem 
ungeheuren Kratereinsturz. Weil Natur und Kindheit fehlen, 
ist das Menschentum nur in einer katastrophalen Selbstvernich- 
tung zu erreichen. Die Beziehung des menschlichen Lebens auf 
den Lebenden noch bis in seinen Untergang hinein, der uner- 
mefiliche Abgrund des Kraters, aus dem gewaltige Krafte sich 



Ankiindigung der Zeitschrift: Angelus Novus 241 

einmal menschlich grofi entladen konnten, ist die Hoff nung des 
russischen Volkes. 



Ankundigung der Zeitschrift; Angelus Novus 

Die Zeitschrift, deren Plan hiermit vorliegt, hofft, indem sie 
Reclienschaft von ihrer Form sucht, Vertrauen zu ihrem Inhalt 
mitzuteilen. Diese Form entspringt der Besinnung auf das Wesen 
einer Zeitschrift und mag ein Programm nicht sowohl entbehr- 
lich machen, denn als Anreiz triigerischer Produktivitat vermei- 
den. Nur fiir zielbewufites Wirken Einzelner oder Verbundener 
gelten Programme; eine Zeitschrift, weiche als Lebensaufterung 
einer bestimmten Geistesart immer sehr viel unberechenbarer 
und unbewufker, aber audi sehr viel zukunftsvoller und ent- 
faltungsreicher ist als jede Willensaufierung, verstiinde, in wel- 
chen Satzen immer sich erkennend, schlecht sich selbst. Soweit 
also Besinnung von ihr gefordert werden kann - und sie kann 
es im rechten Sinne unbegrenzt - hat sie sich weniger auf ihre 
Gedanken und Gesinnungen als auf ihre Grundlagen und Ge- 
setze zu beziehen; wie ja auch vom Menschen keineswegs das 
Bewufitsein seiner innersten Tendenzen, wohl aber das seiner 
Bestimmung standig erwartet werden darf . 
Die wahre Bestimmung einer Zeitschrift ist, den Geist ihrer 
Epoche zu bekunden. Dessen Aktualitat gilt ihr mehr als selber 
seine Einheit oder Klarheit und damit ware sie - gleich der Zei- 
tung - zur Wesenlosigkeit verurteilt, wenn nicht in ihr ein Le- 
ben sich gestaltete, machtig genug, auch das Fragwurdige, weil 
es von ihr bejaht wird, noch zu retten. In der Tat: eine Zeit- 
schrift, deren Aktualitat ohne historischen Anspruch ist, be- 
steht zu Unrecht. Dafi es diesen mit so unvergleichlichem Nach- 
druck erheben durfte, macht die Vorbildlichkeit des romanti- 
schen »Athenaums«. Und zugleich ware dieses - wenn es not 
tate - ein Beispiel, wie fiir die wahre Aktualitat der Mafistab 
ganz und gar nicht beim Publikum ruht. Jede Zeitschrift hatte 
wie diese, unerbittlich im Denken, unbeirrbar im Sagen und 
unter ganzlicher Nichtachtung des Publikums, wenn es sein 
mufi, sich an dasjenige zu halten, was als wahrhaft Aktuelles 



242 Literarische und asthetische Essays 

unter der unfruchtbaren Oberflache jenes Neuen oder Neuesten 
sich gestaltet, dessen Ausbeutung sie den Zekungen uberlassen 
soil. 

Audi blieb fiir jede Zeitschrift, die sich so versteht, die Kritik der 
Hiker der Schwelle. Hatte sie aber in ihrer Friihzeit es mit 
banaler Niedertracht allein zu tun, so sieht sie nun, da unter 
den Produkten nicht mehr das Rtickstandige und Fade, unter 
den Produzierenden nicht mehr Stiimperei und Einfalt das Feld 
behaupten, iiberall die talentvolle Falschung sich gegenliber. Da 
zudem seit fast hundert Jahren jedes ungewaschene Feuilleton 
fiir Kritik sich in Deutschland ausgeben darf, so ist, dem kriti- 
schen Wort seine Gewalt zuriickzugewinnen, doppelt geboten. 
Diktum und Verdikt sind zu erneuern. Nur der Terror wird 
jener Nachaflung grofien malerischen Schaffens Herr werden, 
die den literarischen Expressionismus ausmacht. Ist in soldier an- 
nihilierender Kritik die Darstellung grofier Zusammenhange 
geboten, - denn wie wollte sie anders zu Rande kommen? - so 
ist es Sache der positiven Kritik mehr als bisher, mehr auch als 
es den Romantikern gelang, die Beschrankung auf das einzelne 
Kunstwerk zu iiben. Denn die grofie Kritik hat nicht, wie man 
wohl meint, durch geschichtliche Darstellung zu unterrichten oder 
durch Vergleiche zu bilden, sondern durch Versenkung zu er- 
kennen. Sie hat von der Wahrheit der Werke jene Rechenschaft 
zu geben, welche die Kunst nicht weniger fordert als die Philo- 
sophic Mit der Bedeutung soldier Kritik vertragt es sich nicht, 
am Ende des Heftes einige Spalten, wie fiir ein pflichtmafiig 
zu fiillendes Schema, ihr vorzubehalten. Die Zeitschrift wird 
keinen »kritischenTeil« habenund durch keinerlei typographische 
Behelfe ihren kritischen Beitragen das Kainszeichen aufdruk- 
kem 

Gerade weil sie ebensosehr der Dichtung wie der Philosophic 
und Kritik sich zu widmen gedenkt, darf die letzte von dem 
nidus verschweigen, was ihr iiber die erste zu sagen obliegt. 
Tauscht nicht alles, so hat eine gefahrliche, in jedem Sinne ent- 
scheidende Zeit fiir die deutsche Dichtung seit der Jahrhundert- 
wende begonnen. Das Huttensche Wort vom Zeitalter und von 
der Lust, es zu leben, dessen Ton obligat schien in den Pro- 
grammen von Zeitschriften, will sich ebenso wenig von der 
Dichtkunst wie von andern Dingen des heutigen Deutschland 



Ankundigung der Zeitschrift: Angelus Novus 243 

aussprechen lassen. Sekdem Georges Wirken in seiner letzten 
Bereiclierung deutschen Sprachgutes historisch zu werden be- 
ginnt, scheint ein neuer Thesaurus deutscher Dichtersprache das 
Erstlingswerk jedes jiingern Autors zu bilden. Und so wenig von 
einer Schule erwartet werden darf, deren nachhaltigste Wirkung 
bald darin gesehen werden wird, aufdringlich eines groEen Mei- 
sters Grenzen dargetan zu haben, so wenig lafit die offenkundige 
Mechanik allerneuescer Produktion Zutrauen zu der Sprache 
ihrer Dichter fassen. Entschiedener als zur Zeit Klopstocks - 
von dem manche Gedichte lauten, als seien es die heute ge- 
suchten - restloser als seit Jahrhunderten fallt die Krisis der 
deutschen Dichtung zusammen mit der Entscheidung iiber die 
deutsche Sprache selbst, in deren Erwagung weder Kenntnis, 
Bildung noch Geschmack bestimmen, ja deren Ergriindung in 
gewissem Sinn moglich erst nach gewagtem Spruch wird. 1st 
demnach die Grenze erreicht, uber die hinaus eine vorlauflge 
Rechenschaft hierin sich nicht erstrecken kann, so eriibrigt die 
Feststellung, dafi alles, was die Zeitschrift an poetischer und 
prosaischer Dichtung bringen wird, des Gesagten eingedenk er- 
scheint und dafi insbesondere schon die Dichtungen des ersten 
Heftes als Entscheidungen im gedachten Sinne verstanden sein 
wollen. Neben diesen werden spater solche anderer Autoren 
sich finden, welche ihren Platz im Schatten, ja im Schutz der 
ersten suchend, frei jedoch von der schemenhaften Gewaltsam- 
keit unserer gefeierten Hymniker, ein Feuer, das sie selbst nicht 
entfacht haben, zu hiiten suchen. 

Von neuem ruft die Lage des deutschen Schrifhums eine Form 
hervor, welche seit jeher heilsam seine grofien Krisen begleitete: 
die Obersetzung. Freilich wollen die Obersetzungen der Zeit- 
schrift nicht sowohl als Vermittlung von Vorbildern verstanden 
werden, wie dies fruher Brauch war, denn als unersetzlicher 
und strenger Schulgang werdender Sprache selbst. Wo namlich 
dieser noch der eigene Inhalt nicht gegenwartig ist, an dem sie 
sich aufbaut, bietet der ihrer wiirdige verwandte anderer zu- 
gleich mit der Aufgabe sich dar, um seinetwillen abgestorbenes 
Sprachgut aufzugeben und das frische zu entfaken. Diesen for- 
malen Wert der wahren Obersetzung deutlicher zu machcn, wird 
jeder Arbeit, welche nach solcher Erwagung zuvorderst beur- 
teilt sein will, das Original zur Seite gestellt werden. Im iibri- 



244 Literarische und asthetische Essays 

gen wird audi hiervon das erste Heft ausfiihrlicher Rechenschaft 
geben. 

Die sachliche Universalitat, welche im Plan dieser Zeitschrift 
liegt, wird sie nicht mit einer stofflichen verwechseln. Und da 
sie einerseits sich gegenwartig halt, dafi die philosophische Be- 
handlung jedem wissenschaftlichen oder praktischen Gegenstand, 
einem mathematischen Gedankengang so gut wie einem politi- 
schen, universale Bedeutung verleiht, wird sie anderseits nicht 
vergessen, dafi audi ihre nachsten literarischen oder philosophi- 
schen Gegenstande nur um eben dieser Behandlungsweise und 
unter deren Bedingung ihr willkommen sind. Diese philoso- 
phische Universalitat ist die Form, in deren Auslegung am 
genauesten die Zeitschrift Sinn fur wahre Aktualitat wird 
erweisen konnen. Ihr muE die universale Geltung geistiger 
Lebensaufterungen an die Frage gebunden sein, ob sie auf einen 
Ort in werdenden religiosen Ordnungen Anspruch zu erheben 
vermogen. Nicht als ob solche Ordnungen absehbar waren. 
Wohl aber ist absehbar, dafi nicht ohne sie zum Vorschein kom- 
men wird, was in diesen Tagen als den ersten eines Zei takers 
nach Leben ringt. Eben darum aber scheint es an der Zeit, weni- 
ger denen ein Ohr zu leihen, die das arcanum selbst gefunden zu 
haben meinen, als denen, welche am sachlichsten, am ungeriihr- 
testen und unaufdringlichsten Drangsal und Not aussprechen 
und sei's audi nur, weil eine Zeitschrift nicht fur die Grofken 
der Ort ist. Weniger noch darf sie fur die Kleinsten es sein, vor- 
behalten also denjenigen, die nicht allein in ihrem Suchen der 
Seele, sondern zugleich in ihrem Denken den Dingen es ab- 
merken, dafi sie nur im Bekenntnis sich erneuern werden. Dieses 
aber soil nicht erschlichen werden: spiritualistischem Okkul- 
tismus, politischem Obskurantismus, katholischem Expressionis- 
mus wird man nur als Gegenstand schonungsloser Kritik in 
diesen Blattern begegnen. Wenn sie demnach auf die bequeme 
Dunkelheit der Esoterik verzichten, diirfen sie darum doch 
nicht grofiere Anmut und Zuganglichkeit fiir ihre Darlegungen 
versprechen. Diese werden vielmehr nur um soviel harter und 
nlichterner sich geben miissen. Goldene Friichte in silbernen 
Schalen wird man nicht erwarten. Statt dessen wird Rationali- 
tat bis ans Ende erstrebt werden und weil gerade von der Reli- 
gion hier nur freie Geister handeln sollen, darf in diesem Sinne 



Ankiindigung der Zeitschrift: Angelus Novus 245 

aus dem Umkreis ihrer Sprache, ja des Abendlandes hinaus die 
Zeitschrift auf die iibrigen Religionen sich richten. Grundsatzlich 
halt sie allein fiir die Dichtungen sich an die deutsche Rede ge- 
bunden. 

Selbstverstandlich verbiirgt nichts den vollen Ausdruck der er- 
strebten Universalitat. Denn wie die aufiere Form der Zeitschrift 
jede unmittelbare Manifestation bildender Kunst von ihr aus- 
schliefk, ebenso - und weniger offensichtlich - halt sie ihrem 
Wesen nach Abstand vom Wissenschaftlichen, weil in dessen 
Erscheinungen weit mehr als in der Kunst und Philosophic Ak- 
tuelles und Wesentliches fast immer auseinander zu fallen schei- 
nen. Damit bildet die Wissenschaft in der Reihe der Gegen- 
stande einer Zeitschrift den Obergang zu denen des praktischen 
Lebens, in welchen nur der seltensten philosophischen Konzen- 
tration das wahrhaft Aktuelle hinter seinem Anschein sich 
zeigt. 

Wenig wollen doch diese Einschrankungen gegeniiber der einen 
unvermeidlichen besagen, die beim Herausgeber liegt. Dariiber 
seien noch einige Worte erlaubt, die es auszusprechen haben, in- 
wiefern dieser sich der Schranken seines Blkkfelds bewufit ist 
und zu ihnen bekennt. Er erhebt in der Tat nicht den Anspruch, 
von hoher Warte aus den geistigen Horizont seiner Tage zu be- 
herrschen. Und wenn er im Bilde fortfahren darf, so wird er 
das eines Mannes vorziehen, der des Abends nach getaner Ar- 
beit und ehe er an sein Werk geht des Morgens, vor die Schwelle 
tretend, den gewohnten Horizont mit den Augen eher umfafk 
als absucht, urn, was in dieser Landschaft Neues ihn begriifite, 
festzuhalten. Als seine eigene Arbeit sieht der Herausgeber 
die philosophische an und jenes Gleichnis sucht es auszuspre- 
chen, dafi nichts schlechthin Fremdes in den folgenden Blat- 
tern als unmaEgebliche Anregung dem Leser begegnen soil, daE 
dem, was in ihnen sich findet, in irgendeinem Sinne der Heraus- 
geber sich verwandt fiihlen wird. Noch nachdrucklicher aber sei 
es jenem Bilde entnommen, dafi Art und Grad dieser Verwandt- 
schaft zu ermessen nicht beim Publikum liegt und da£ nichts in 
deren Gefiihl ist, was die Mitarbeiter jenseits ihres eigenen Wil- 
lens und Bewufkseins einander verbinden konnte. Denn wie 
von dieser Zeitschrift jedwede Buhlerei um die Gunst des Pu- 
blikums fernbleiben soil, so die ebenso unaufrichtige der Mit- 



2a6 Literarische und asthetische Essays 

arbeiter urn die gegenseitige Verstandigung, Begiinstigung, Ge- 
meinschaft. Nichts scheint dem Herausgeber wichtiger zu sein, 
als daft hierin, in der Abwesenheit jeden Scheins, die Zeitschrift 
ausspricht was ist, namlich dafi der reinste Wille, das geduldig- 
ste Bestreben unter den so Gesinnten keine Einheit, geschweige 
denn Gemeinschaft zu stiften vermogen, dafi also die Zeitschrift 
in der wechselseitigen Fremdheit ihrer Beitrage es bekunde, wie 
unaussprechlich in diesen Tagen jede Gemeinsamkeit - auf 
welche denn ihr Ort zuletzt doch deute - und wie sehr auf Pro- 
be diese Verbindung gestellt bleibt, deren Ausweis am Ende 
beim Herausgeber liegt. 

Hiermit ist das Ephemere dieser Zeitschrift beriihrt, das sie sich 
von Beginn an bewufit halt. Denn es ist der gerechte Preis, den 
ihr Werben urn die wahre Aktualitat so fordert. Werden doch 
sogar nach einer talmudischen Legende die Engel - neue jeden 
Augenblick in unzahligen Scharen - geschaffen, um, nachdem sie 
vor Gott ihren Hymnus gesungen, aufzuhoren und in Nichts 
zu vergehen. Dafi der Zeitschrift solche Aktualitat zufalle, die 
allein wahr ist, moge ihr Name bedeuten. 



»El mayor monstruo, los celos« von Calderon 

und »Herodes und Mariamne« von Hebbel 

Bemerkungen zum Problem des historischen Dramas 

»Es ist ein grofier, aber, so viel wir wissen, noch nirgends griind- 
lich berichtigter Irrtum der neueren unpoetischen Jahrhunderte, 
von den Dichtern in der Art Originalkat zu verlangen, dafi sie 
sich der Benutzung fremder Erfindungen und Gedanken enthal- 
ten sollen. In unserer Zeit, wo die Kunst aus ihrem organischen 
Zusammenhange gerissen ist, wo die Dichter isolirt und ohne 
lebendige Wechselwirkung dastehen, betrachtet man Dasjenige 
unter dem Gesichtspunkt des Plagiats, was sich in alien wahrhaft 
grofien Perioden der Poesie als allgemeiner Brauch nachweisen 
lafit. Durch die Isolirung von den Quellen, welche in den 
Werken Anderer fliefien, wird dem Dichter der Zusammenhang 
mit den Wurzeln abgeschnitten, aus denen er reichen und gesun- 
den Nahrungsstoff Ziehen kann; er auf eine afTectirte Eigen- 



»E1 mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 247 

thumlichkeit, auf das Hasdien nach Neuem und Originalem 
hingefiihrt, und gewifi haben wir hier, neben anderen mitwir- 
kenden Ursachen, einen Grund fiir die betriibende Erscheinung, 
dafi die Lkeraturen der Jetztzeit so ganz ohne innere Einheit 
und organische Fortbildung dastehen.« So Graf Schack im 
dritten Bande seiner »Geschichte der dramatischen Literatur und 
Kunst in Spanien«, welcher in Berlin 1846 erschien. Vier Jahre 
spater liegt die erste Ausgabe von Hebbels »Herodes und Ma- 
riamne« vor, jenem Drama, mit dem wie mit keinem andern der 
Dichter einen Stoff aufgreift, welcher der Weltliteratur in ausge- 
sprochnem Sinne angehort und den, in nie abreifiender Tradi- 
tion, das Abendland seit den geistlichen Spielen des Mittelalters 
und dem Drama der Jesuiten in den Dichtungen seiner grofiten 
Nationen, italienischen, spanischen, franzosischen, deutschen, 
englischen, umworben hatte. Eine Erscheinung, hinreichend den 
Worten des Grafen Schack Bedeutung zu geben, ja mehr als es 
gemeinhin geschieht, ihrem Gegenstand Nachdenken zuzuwen- 
den. Denn man wird es kaum leugnen wollen: so hoch die Flut 
stoffgeschichtlicher Untersuchungen ging, Einsicht in den Wert 
solcher Forschung hat sie selten mitgefuhrt. Erschopft sich doch 
dieser nicht darin, die Einflusse aufzuweisen, die dem Dichter ein 
oder die andere Wendung nahegelegt haben mochten oder ge- 
legentlich den Nachweis zu gestatten, welches Vorbild er abwies. 
Tiefere Probleme eignen der Stoffgeschichte, audi allgemeinere. 
Denn der allgemeinen Kunstwissenschaft gehort eine Frage wie 
die an: ob wirklich, wie man bisweilen versichern hort, in der 
Kunst es allein auf das Wie ankomme, nicht auf das Was? Oder 
anders gewendet: woher riihrt es, dafi Goethe, der eminente 
Kenner bildender Kunst, bei der Besprechung von Gemalden so 
oft mit der Beschreibung ihres Sujets sich genugtut? 1st das 
Kunstwerk anders die Einheit, als die es zu fassen alle astheti- 
schen Theorien iibereinkommen, so sind Wie und Was an ihm 
selbst grundsatzlich nicht unterscheidbar, geschweige denn eines 
wichtiger als das andere. Unterschieden aber bleiben sie als 
Methoden der Betrachtungsweise und gerade von diesen - den 
Fragen nach dem Wie und nach dem Was - gilt, dafi beide 
vollen Ertrag zu zeitigen vermdgen, wo sie nur rein, ausschlie- 
fiend, ohne Vermengung verfolgt werden. Das hat man selten 
fiir rein stoffkritische Betrachtungen gelten lassen wollen und 



248 Literarische und asthetische Essays 

dabei mag die Unentschiedenheit, mit der sie in den Anfangen 
und damit oft im Oberflachlichen steckenzubleiben pflegen, 
mitgesprochen haben. Fur den Vergleich von Dramen, deren 
Gemeinsames der Stoff ist, scheint gerade diese Untersuchungs- 
weise geboten und sie hatte ihr Recht bekraftigt, wenn die 
folgenden Betrachtungen, die von StofTlichem ihren Ausgang 
nehmen, Wesentliches zur Auffassung der in Rede stehenden 
Werke, ja zuletzt zur Einsicht in ihre Form, sollten beibringen 
konnen. 

Dem Stoff kommt fiir das einzelne Werk ebendieselbe Bedeu- 
tung zu, welche der Natur fiir die Kunst eignet. Dreierlei Theo- 
rien sind denkbar. Die Natur sei bedeutungslos fiir die Kunst; 
diese erste Losung wurde kaum je vertreten. Sie ist unhaltbar. 
Selbst eine Schule wie die des Kubismus kehrt sich von den Din- 
gen nur ab, um dem Raum, in welchem sie stehen, sich zu nahern. 
Weiterhin moglich ist, die Natur als das Arsenal der Kunste zu 
erfassen, aus dem diese mit Besonnenheit Stiicke und Bruch- 
stiicke zu neuen Kompositionen sich als Vorbild zusammenstelle. 
Es ist dies eben jener Eklektizismus, den man in die Kunsttheo- 
rie klassischer und klassizistischer Epochen nicht selten leicht- 
fertig hineininterpretiert hat. Die dritte Theorie, die alteste, ist 
die platonisch-aristotelische der ^11^01?. Sie lehrt, dafi die Kunst 
die Wirklichkeit nachbilde und ist recht verstanden der eklekti- 
zistischen entgegengesetzt. Gerade das Drama gait dem Aristote- 
les als ein Paradigma dieser nachbildenden Funktion der Kunst, 
wie er denn die Tragodie als die besonders geartete uiu'noic, 
eines Geschehens erklart. Man mufi es sich gegenwartig halten, 
dafi es die Sage war, die fiir den Griechen den StofTkreis der 
Tragodie bestimmte, um zu erkennen, wie wenig eine solche 
Definition den Naturalismus, den sie heutigen Lesern mit sich 
zu fiihren scheint, in Wahrheit behauptet. Gab doch die Sage 
dem Dichter nichts, als die allgemeinen Ziige eines Vorgangs, 
den jede Landschaft, jede Stadt auf ihre Weise ausgestaltete und 
verstand. Es ging daher in die utuirjaig dieses fundamentalen 
und wenn man so sagen darf zeremoniellen Geschehens, das die 
Sage darstellt (es mag der Zug der Sieben gegen Theben sein, der 
Tod der Antigone oder die Rettung Admets), mit jeder einzel- 
nen dichterischen Ausgestaltung oder gar Variante der Fabel 
ein Moment hochst wesentlicher Stellungnahme jener neuen 



»E1 mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 249 

Dichtung zum SagenstofF ein. Und es stent nodi dahin, ja es 
wird die Frage unten vorgreifend bejaht werden miissen, ob 
nicht jene uluirjaig viel weniger eine beredte Sanktion der in der 
Sage bekundeten Schicksalsordnung als ihf, oft noch unmiindiges, 
In-Frage-Stellen sei. 

Mag demnach die Bedeutung der uiii-naig fiir das griechische 
Drama feststehen, so bleibt die Frage, ob in diesem aristoteli- 
schen Begriff eine wahrhaft umfassende Kategorie stofFkritischer 
Betrachtung gegeben, ob als uauriaig insbesondere das neuere 
Drama zu verstehen sei. Der Zusammenhang dieser Erorterung 
gebietet die Beschrankung auf das historisdie Drama. Unver- 
kennbar ist seine Wesensversdriedenheit von der auf dem My- 
thos griindenden Tragodie. Jene Abfolge zeremonieller Bilder, 
die den Kern des Mythos bildet, um den die Tragodie kristalli- 
siert, ist in dem geschichtlichen Bereich nicht zu erwarten. Wcnn 
die Tragodie an der mythischen Weltordnung durch jede 
leichte und doch unberechenbar tiefgehende Interpretation des 
SagenstofTs Abbruch zu tun und mit unscheinbaren Worten sie 
prophetisch zu ersdiiittern vermag, so ist angesichts der Geschichte 
dem Dichter nichts als die Aufgabe gewift, in seiner Nachbil- 
dung deren Einheit heraustreten zu lassen. Der Mythos, in 
jedem seiner geschlossenen Sagenkomplexe ist sinnvoll an sich, 
nicht so die Geschichte. Urbild - denn das Urbild ist Gegenstand 
der nfyiTjaic;, nicht das Vorbild - der Kunst ist daher nie die 
Geschichte; sie kann es audi im historischen Drama nicht sein. 
Vielmehr liefie sich die Bedeutung gerade dieser Form, in der 
hier gebotnen Abbreviatur, aussprechen als die Darstellung der 
alle Wechselfalle des Historischen durchdringenden und zuletzt 
in ihnen triumphierenden Natur. Natur des Menschen, nein, 
Natur der Dinge ist das Fazit gerade des historischen Dramas. 
Wo die dementsprechende Intention mangelt, wird in der Hand 
des Dramatikers jeder historisdie StofF in unabsehbarer Szenen- 
folge als der ohnmachtige Versuch sich entrollen, die Bewegtheit 
der Geschichte zu geben statt der Natur, in deren Gestalt audi 
historisch Bezeugtes als vollendetes Faktum echter StofF des 
Dichters geworden ist. Die voliendete Faktizitat historischer 
Dinge stellt sie als Schicksal vor. Im Schicksal liegt der latente 
Widerstand gegen den unabsehbar verlaufenden Strom ge- 
schichtlichen Werdens. Wo Schicksal ist, da ist ein Stuck Ge- 



2 jo Literarisdbe und asthetische Essays 

schichte Natur geworden. Als Gestaltung des Schicksalhaften 
stellt sich daher dem neuern Dramatiker die Aufgabe dar, aus 
plausiblen Einzelheiten, die die historische Quelle ihm bieten 
mag, eine notwendige Totalitat hervorgehen zu lassen. Das Ge- 
wicht liegt in der antiken Tragodie auf der Auseinandersetzung 
mit dem Schicksal, im historischen Drama auf dessen Darstel- 
lung. Diese Erwagung, deren im folgenden zu gedenken sein 
wird, leitet zurUck zu den Satzen des Grafen Schack. Gibt es 
Stoffe, welche Formen schicksalhafter Bildung in sich erahnen 
lassen, so ware des Dramatikers allerdings die Hemmung un- 
wiirdig, die aus der blofien Tatsache fruherer Bearbeitungen bei 
ihm hervorginge. Und sie ware um so gefahrlicher, als es keines- 
wegs auszumachen ist, ob die hohe dramatische Eignung gewis- 
ser Stoffe mehr ihrem Alter oder eben der Reihe ihrer friiheren 
Gestaltungen verdankt wird. Denn diese letzte, je ansehnlicher 
sie ist, wird desto mannigfaltiger stumme Hinweise auf die 
eigentliche Aufgabe dem Dichter zukommen lassen. Der StorT, 
mit einem Worte, je alter und durchformter er ist, wird immer 
weniger zum Anlafi, immer mehr zum Gegenstande der Dich- 
tung. Sie geht nicht sowohl bildend von ihm aus, als nachbil- 
dend in ihn ein, bis audi hierin ein Extrem den Dichter verfiih- 
ren kann, wie es Goethe in der Achilleis geschah. Allein nicht 
nur als Vorbedingung fruherer Kultivierung hat das Alter der 
Stoffe seine Bedeutung. Es erscheint namlich ein Geschehen, je 
hoherer Vorzeit es angehort, desto inniger mit Schicksal tingiert, 
einem zeitlosen oder gegenwartigen darin hoch uberlegen. Denn 
es ist abgeschlossen, ja es bedingt die Welt in der wir leben. Und 
in allem was uns bedingt, geben wir Schicksal sehr viel williger 
zu als fur uns; ja fur unsere Vorbedingtheit suchen wir Schick- 
sal, fur unser Dasein lehnen wir es ab. Im Leben der Volker 
waltet dies Gesetz weit sichtbarer als in dem der einzelnen. Ist 
also der Stoff ein historisch denkwiirdiger, so tritt vollends das 
Interesse an seiner schicksalhaften Erscheinung offenkundig her- 
vor. Und vor andern geht es den Dramatiker an. Von Hebbel ist 
es bekannt, wie er anfangs fiir die Herodesgeschichte diesem 
Interesse durch die Darstellung des Josephus 1 , seiner Quelle, 
restlos Geniige getan glaubte. Dafi dabei ein grundsatzlicher Irr- 

1 Flavius Josephus: De bello judaico [Htgi xou *Ioi)6aC>to\i jto^ehov], libri VII 



»E1 mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 251 

turn mit unterlief, dafi Sdiicksal adaquat sich weder historisch 
noch iiberhaupt episch, sondern allein dramatisch darzustellen 
vermag, ist hier zu entwickeln nicht der Ort. Wohl aber mufi 
schon an dieser Stelle angedeutet werden, wie Hebbel durch eine 
derartige Mythisierung seiner Quelle, die fur das Drama die eng- 
ste Bindung an den gleichsam zur Sage erhobnen Bericht des 
Josephus zur Folge hatte, den Grund zu einer unheilvollen Stil- 
vermengung legte. In der Tat stellt dies Drama sich die doppelte 
Aufgabe: Schicksal zu entwickeln im Sinne der Neuern, Schick- 
sal zu richten im Sinne der Griechen, daher ihm die reine Losung 
fiir beides versagt geblieben. - Kommt derart die Ehe des Hero- 
des als ein nicht nur novellistisch bedeutender sondern durch 
Alter gesteigerter Stoff dem Dichter entgegen, so fiihrt er aller- 
dings die ungeheuere Anforderung mit sich, eben dem Hlstori- 
schen und nicht der Fabel allein zu geniigen: nicht zwar in exak- 
ter Beobachtung der Einzelziige, wohl aber im Stil des Ganzen, 
der, wenn nicht vom heutigen, so doch von irgendeinem denk- 
baren Standort aus als Stil romisch-jerusalemischen Lebens der 
ersten christlichen Zeit mufi gelten konnen, wenn anders nicht 
auch der grofiten Bearbeitung ein skurriler Zug anhaften soil. 
Dies bezeichnet den Punkt von Calderons Versagen. 
Darf die Bedeutung kritischer Untersuchungen zur StofTge- 
schichte als unverachtlich angesehen werden, so sind sie im vor- 
liegenden Falle um so eher am Platze, als in ihnen das sicherste 
Fundament fiir den Vergleich derart wesensverschiedener Wer- 
ke, wie es Hebbels und Calderons Herodesdramen sind, zu er- 
blicken ist.Gemeinsam bleibt beiden, selbst was die Fabel angeht, 
das wenigste, dariiber hinaus gar nur eins: die Beschrankung, 
man darf sagen die Durchsichtigkeit, die sie dem StofT im Gegen- 
satz zur Menge der iibrigen Bearbeiter gegeben haben. Gerade 
von dem, was dem Tetrarchen seinen Charakter sowohl in den 
geistlichen Spielen als in den meisten weltlichen Herodesdramen 
geliehen hat, vom Typus des Berserkers haben sie fast nichts 
und hat Calderon noch weniger als Hebbel gegeben. Dies ist 
um so bemerkenswerter als fiir Calderon gemeinhin ein Volks- 
buch als Quelle neben dem Josephus, ja als Hauptquelle ange- 



(I, 17-22); id.: Antiquitates judaicae ['IouSatx^ dpxaiokovia], libri XX (XV, 
2, 3. 6. 7). 



252 Literarische und asthetische Essays 

nommen wird, wiewohl Wurzbach in dem einzigen, welches aus 
dem damaligen Spanien bekannt ist, entscheidende Obereinstim- 
mung mit Calderonschen Ziigen vermifit. Wie dem audi sei, be- 
achtenswert bleibt die Mafiigung der Calderonschen Herodesge- 
stalt, deren Exzentrizitat so ganz allein aus einer einzigen tiefen 
Leidenschaft, der Liebe zur Mariamne, entwickelt ist, auf jeden 
Fall. Denn nicht nur in den Volksbuchern, audi im allgemeinen 
Bewufitsein war Herodes der smnlos Rasende von jeher. Dies 
bestimmt denn auch den Hohepunkt bereits in jenem Drama, 
das als Ahnherr der profanen Herodesdramen zu betrachten 
ist 2 . 1565, fiinfunddreifiig Jahre vor Calderons Geburt, erschien 
die Marianna des italienischen Tragikers Lodovico Dolce. Ahn- 
herr darf dieses Werk genannt werden, weil es ganz im Gegen- 
satz zu seinem einzigen Vorlaufer, dem »Wuterich Konig Hero- 
des « von Hans Sachs 3 , folgenreich fur den gesamten Kreis 
dieser Dramen geworden ist. Nicht zwar in seinem genialsten, 
wenn auch bei Dolce selbst nur unbeholfen entwickelten Zuge. 
Wahrend namlich Herodes, der in diesem Stiick auf ahnliche Art 
wie Othello einem Intrigenspiele zum Opfer fallt, in ungebro- 
chenem Vertrauen zu Mariamne, ihr Gelegenheit, vor ihm sich zu 
rechtfertigen, zu geben sucht, sieht diese, blitzartig vom Ge- 
danken an den Mord, den Herodes an Aristobul, ihrem Bruder 
beging, erfiillt, auch in dieser Veranstaltung nichts, als einen 
Vorwand sie zu beseitigen. Sie spricht das aus und mit einem 
Schlage waltet grenzenloser Hafi zwischen den Gatten. Dafi fur 
Calderon dieses Motiv nicht verwendbar war, liegt freilich auf 
der Hand. Ist es doch ihm, in dessen Werk unzweideutiger als 
in denen der andern Bearbeiter Herodes die erste Stelle behaup- 
tet, nicht nur gelungen, sondern wohl geradezu Problem gewe- 
sen, die entfesselte Eifersucht des Konigs nie in Hafi umschlagen, 
sie immer mit leidenschaftlicher Liebe gepaart erscheinen zu 
lassen. Dagegen hat Dolce dem Calderon nicht nur wie vielen 
andern Bearbeitern das Motiv des den Ausgang der Handlung 
spiegelnden Traumes bezw. der Wahrsagung sondern auch den 

2 Vgl. zu dem folgenden Marcus Landau: Die Dramen von Herodes und Mariamne. 
(Zeitschrift fur vergleichende Literaturgeschichte NF 8 [1895], S. 175-212 und S. 279 
bis 317 sowie NF 9 [1896], S. 185-223.) Die Arbeit handelt im ungebundensten 
Tone und nicht immer zuverlassig den Stoff zahireicher Herodesdramen ab. 

3 Hans Sachs: Tragedia mit 15 Personen zu agiren, Der Wuterich Konig Herodes, 
wie der sein drey Son und sein Gemahel umbbracht, unnd hat 5 Actus, 1552. 



»E1 mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 253 

Titel seines Dramas hergeliehen. Ein mythologischer Prolog 
namlich fiihrt bei Dolce die Eifersucht als das grofite Scheusal in 
Person ein. Dafi audi Shakespeare das Drama Dolces gekannt 
hat, hat Klein in seiner »Geschichte des Dramas « mit kaum 
ausreichenden Griinden wahrscheinlich zu machen gesucht. Mag 
aber der »Othello« selbst Einzelnes von Dolce ubernommen 
haben, vom Stoffkreis der Herodesdramen behauptet er die 
unverkennbarste Distanz. Denn in ihnen alien ist es das gegen- 
seitige Verhalten der Gatten, durch welches das Verhangnis sich 
vollzieht. Bei Shakespeare aber vereinigt im Tode sie die ge- 
meinsame Unschuld. Hier ist die Dialektik verlassen, die dort 
mitgesetzt ist. Die Subtilitat der Fabel, kraft welcher die Gatten 
beide »Recht haben«, wie Hebbel es ausdriickt, mufite unbedeu- 
tendern Bearbeitern, ja zuletzt Hebbel selbst, zum Verhangnis 
werden; wo die Darstellung der Eifersucht, die in Hafi sich 
verliert, ihren Ursprung aus Liebe nicht mehr zu bekunden 
vermag, da ist alles dramatische Interesse verloren. Diese Auf- 
gabe ist vielleicht im Kerodesdrama einzig von Calderon ge- 
meistert worden. Aber nicht sie ist es, welche in der Masse der 
Bearbeitungen das Problem bestimmt. Vielmehr sind es gerade 
zur Barockzeit viel altere und primitivere Motive, von denen 
sich die Dichter bestimmt zeigen. Der Herodesstoff ist am 
haufigsten im Barock behandelt worden. Vielleicht darf man 
behaupten, er mufite ein pradestinierter StofT des Zeitalters 
werden, wo es sich die Loslosung vom Schema der Martyrer- 
dramen einmal angelegen sein liefi. Er ist das Urbild einer 
Haupt- und Staatsaktion. Und er ist damals nicht als Dramen- 
stoff* allein verwendet worden. Gryphius' Jugendwerk, die He- 
rodesepen in lateinischer Sprache 4 , zeigen aufs deutlichste, 
wovon das Interesse jener Generation fasziniert wurde: der 
Souveran des siebzehnten Jahrhunderts, der Gipfel der Krea- 
tur, ausbrechend in der Raserei wie ein Vulkan und mit allem 
umliegenden Hofstaate sich selber vernichtend. Schauspiel und 
Bildnerei liebten es darzustellen, wie er, zwei Sauglinge in 
Handen haltend um sie zu zerschmettern, vom Wahnsinn be- 
fallen wird. Den bethlehemitischen Kindermord hat Marino zum 
besondern Gegenstande einer noch im achtzehnten Jahrhundert 

4 Andreas Gryphius: Herodis furiae et Radielis lacrymae, 1634; id.: Dei vindicis 
impetus et Herodis interims, 1635. 



254 Literarische und asthetische Essays 

durdi Brockes verdeutschten Dichtung gemacht. Es webte ein 
schreckliches Geheimnis nicht erst fiir dieses Zeitalter urn den 
Kdnig. Ehe er als wahnwitziger Selbstherrscher ein Emblem der 
verstorten Schopfung schlechthin wurde, war er noch grauenvol- 
ler, als eine Art Antichrist, dem friihen Christentum erschienen. 
Tertullian (er ist nicht der einzige) spricht von einer Sekte der 
Herodianer, welche den Herodes als Messias verehren. Die 
Aufierung bleibt als fruhester Beleg fiir das Leben dieser Ge- 
stalt in der geschichtlichen Erinnerung belangreich, wenn audi 
natiirlich ohne historischen Kern. Denn das Wort Herodianer 
hat aller Wahrscheinlichkeit nach die Anhanger der Dynastie 
des Herodes Antipater oder aber die der Romer bezeichnet. - 
Es lassen sich im siebenzehnten und zu Beginn des achtzehnten 
Jahrhunderts eine Anzahl relativ unabhangiger Dramenkreise 
um den Herodesstoff feststellen, zu deren naherer Charakteristik 
hier nicht der Ort ist. Die Italiener nach Dolce (Cicognini 5 , 
Reggioni 6 , Lalli 7 ) haben vorwiegend opernhafte Bearbeitun- 
gen, die wohl von Calderon mitbeeinflufk sind. Gozzi folgte 
spater dem Voltaireschen Mariamnendrama. Von einem spani- 
schen Dramenkreis um Herodes kann kaum gesprochen wer- 
den. In der Entstehungszeit der ersten Fassung von Calderons 
Drama erschien »La vida de Herodes « von Tirso de Molina 8 . 
Der Liebe des Octavian, die sich bei Calderon an einem Bilde 
entflammt, wie ahnlich bei Josephus die Liisternheit des Anto- 
nius, entspricht bei Molina die ganz exzentrische Wendung, 
wonach Herodes selber in der Bildergalerie des Konigs von 
Armenien Mariamnens Bild begegnet, um alsbald fiir die Dar- 
gestellte zu entbrennen. Das Motiv selbst, welches, nahegelegt 
durch Josephus, in fast alien Herodesdramen sich findet: die 
Begegnung der Geliebten im Bilde, ist wahrscheinlich orienta- 
lischer Herkunft. Bei Calderon gewinnt es eine ganz beson- 
dere Bedeutung. Das lebensgrofie Bildnis, welches von der ver- 
meintlich toten Schonheit Octavian nach einer Miniatur hat 
malen lassen, fallt, da in seinem Rucken Herodes den Dolch 
gegen ihn ziickt, von der Wand. Unheil verkiindend trifft der 

5 G, A, Cicognini: II maggior monstro del mondo. Opera tragica, Perugia 1656. 

6 J. B. Reggioni: La felonia d'Erode, Bologna 1672. 

7 Domenico Lalli: La Mariane, Auffuhrung Venedig 1724. 

8 Tirso de Molina: La vida de Herodes, 1636. 



»E1 mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 255 

Dolch nicht den Romer sondern das Bildnis der Mariamne. Die- 
ses Motiv fand Calderon im spanischen Drama (bei Tirso de 
Molina und Salustio del Poyo 9 ) vor, nicht aber im Zusammen- 
hange der Herodesgeschichte. Die erste Fassung des Calderon- 
schen Dramas erschien unter dem Titel »E1 mayor monstruo del 
mundo« 1636, gehort also zu den Jugendwerken des Dichters, 
wahrend die zweite, von ihm als die allein authentische mit 
Nachdruck hingestellte, gegen 1667 verfafk wurde. In dieser 
zweiten Fassung, an deren Ende der Dichter gegen die Biihnen- 
darstellung und den Druck der ersten protestiert, wurde es zum 
ersten Male 1667 in Madrid aufgefuhrt. Im Jahre 1700 sah man 
das Drama in Frankfurt am Main, friiher schon in Dresden. 
Man darf annehmen, dafi es auf einzelne, nur noch dem Titel 
nach bekannte Textbiicher deutscher Schauspielgesellschaften 
von Einflufi gewesen ist. Das erste deutsche Herodesdrama nach 
Hans Sachs, »Herodes der Kindermorder« von Johann Klaj, 
das 1645 in Nurnberg erschien, hangt nicht von Calderon, son- 
dern von dem »Herodes infanticida« des Heinsius ab. Es ist im 
ubrigen nicht so sehrdurch sich selbstzu einiger literarhistorischer 
Beruhmtheit gelangt, als durch seine gallige Kritik durch Jo- 
hann Elias Schlegel 10 , der in ihr zugleich mit Klajs Protektor 
HarsdorfTer abrechnet. Unter den englischen Bearbeitern sei 
Massinger, ein Dichter des siebzehnten Jahrhunderts, mit seinem 
»Herzog von Mailand« n genannt. Als dieses Drama, das die 
Fabel des Josephus an den Hof des Ludovico Sforza verpflanzt, 
im Jahre 1849 in Deinhardtsteins Bearbeitung gegeben wurde, 
hat bekanntlich Hebbel aus der geheimen Sicherheit heraus, die 
sein vollendetes Herodesdrama ihm gab, es vernichtend be- 
sprochen. - Die fliichtigste Obersicht bestatigt es: die Geschich- 
te des Herodes ist ein BarockstofT. Und dies wird in helles 
Licht geriickt durch das Faktum, dafi fast alle nachbarocken 
Herodesdramen sei es Entwiirfe geblieben sind bei Bedeuten- 

9 Damian Salustio del Poyo: La pr6spera fortuna del famoso Ruy L6pez de 
Avalos. 

10 Johann Elias Schlegel: Nadiricht und Beurtheilung von Herodes dem Kinder- 
morder einem Trauerspiele Johann Klajs. Beytrage 2ur kritischen Historie der 
deutsdien Sprache, Poesie und Beredsamkeit, VII. Band, 1741 (Joh. Elias Schlegels 
Werke. Dritter Theil, hrsg. von Johann Heinridi Schlegeln, Kopcnhagen, Leipzig 
1764, S. 1-26). 

11 Philip Massinger: The Duke of Millain, 1623, 



256 Literarisdie und asthetische Essays 

deren, wie Lessing und Grillparzer, sei es unwesentlich erschei- 
nen diirften wie die Ruckerts oder Stephen Phillipps'. Von 
dieser Erscheinung macht Hebbel die bemerkenswerteste Aus- 
nahme. Unter alien Dramen dieses Stoffkreises kann nur das 
seinige zu einer genauern Vergleichung mit dem des Calderon 
auffordern. 

Man hat davon bisher in Deutschland nicht Notiz genommen. 
Der Grund liegt, so selten man ihn deutlich herausgesagt haben 
mag, dennoch zu Tage. Calderons Drama schien bei dem Ver- 
gleiche so viel einbiifien zu miissen, dafi man vorzog, es aus 
dem Spiele zu lassen. Denn was vermifite man da nicht alles: die 
folgerecht entwickelte Handlung, die tiefgehende psycholo- 
gische Motivierung, das wiirdige, getreue Kolorit. Und was 
hatte man nicht gern vermifk von dem was man fand: Dolch 
und Bild als Requisiten der Schicksalstragodie, gongoristisclien 
Schwulst, hin und wieder in die Rede eingeschobene Sonette, 
Frauenchore, Musik. Freilich dies alles obligate Bestandstucke 
Calderonischer Dichtung, und wenn das Herodesdrama in ge- 
wisser Hinsicht eine Ausnahmestellung unter seinen Hervorbrin- 
gungen einnimmt, so nicht um dieser Momente willen. Die ge- 
dachte Ausnahmestellung aber, die Spanier ihm zubilligen, die 
vielleicht Gries, durch das Faktum seiner Ubersetzung ihm zu- 
schreibt, weit entfernt zum Vergleich es unwiirdig erscheinen 
zu lassen, erhebt es unter seine ersten Produktionen. Eine spani- 
sche Autoritat - der Herausgeber des »Tesauro de teatro 
espanol« - nennt es als erstes unter den vier Stucken, die die 
Gipfel spanischer Dramatik der Zukunft bezeichnen konnten. 
Soviel ist also deutlich: wenn die deutschen Autoren zogern, bei 
Gelegenheit der Wiirdigung Hebbels diesem Drama naherzu- 
treten, so liegt der Grund nicht in dessen Minderwertigkeit, 
sondern in dem hochst Befremdenden, das seine Gattung je und 
je fur Deutschland behielt. Ohne dies Befremdliche ins Auge zu 
fassen, wird daher keine Reflexion auf das einzelne Drama er- 
tragreich sich richten konnen. In hochster Intensitat hat Deutsch- 
land mit den in jeder Hinsicht so schwer zuganglichen Werken 
Calderons vielleicht nur in einem Manne sich auseinanderge- 
setzt: in Goethe. Goethes Auseinandersetzung mit Calderon, 
iiber die man nicht das wertlose Buch von Dorer 12 , sondern 

12 Goethe und Calderon. Gedenkblatter zur Calderonfeier, hrsg. von Edmund 
Dorer, Leipzig 1881, 



»El mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 257 

dessen reiche Rezension von Schuchardt 13 nachzulesen hat, kann, 
ganz abgesehen von ihrem selbstverstandlichen Wert, auch 
historisch gesehen noch heute von niemandem entbehrt werden, 
der vom Bereiche deutscher Dichtung aus Einblick in Calderon 
sucht. Goethes Auseinandersetzung, nicht A. W. Schlegels. Denn 
die beriihmte vierzehnte bezw. fiinfunddreifiigsteVorlesung iiber 
dramatische Kunst und Literatur ist, so bedeutende und so zu- 
treffende Formulierungen sie enthalt, alles andere als die un- 
umgangliche Auseinandersetzung mit diesem Geist. Vielmehr 
erhebt sie diesen mit einer gewissen Selbstherrlichkeit so schran- 
kenlos, dafi sie durch ihren Mangel an Urbanitat notwendiger- 
weise die Literatoren vor den Kopf stofien mufite. Wie denn 
Tieck, Graf Sciiack und Klein in ihren Arbeiten iiber das spani- 
sche Drama mit deutlicher Spitze gegen Schlegel sich zu Lope 
bekennen und mehr oder weniger den Dichter des politischen 
Verfalls in Calderon sehen. So fragwiirdig derlei Analogie- 
schlusse von Perioden der pragmatischen Geschichte auf solche 
der Literatur sein mogen - zu leugnen ist nicht, dafi gerade fiir 
Calderon in Deutschland Schlegel weniger begriindend als an- 
regend sich eingesetzt hat. Man ist versucht, von der Rolle eines 
Diplomaten zu reden. Und wirklich kann, wer naher dem Intri- 
genspiel um den Namen des grofien Spaniers zu Beginn des 
neunzehnten Jahrhunderts zusieht, sich aus dem Bereiche der 
Literatur in den der hohen Politik versetzt glauben. Schlegels 
suchte jeder, der mit Calderon beschaftigt war, sich zu versichern. 
Aber nicht nur Gries blieb auf die Obersendung der ersten Ban- 
de seiner Obersetzung ohne Antwort, sondern selbst in einer 
Angelegenheit, wie der beriihmte Streit es war, den Bohl von 
Faber, ein Deutscher, in Spanien gegen Joaquin de Mora um 
den dichterischen Wert Calderons und gegen das seichte franzo- 
sische Theater, das in Spanien eindrang, fiihrte, weigerte Schlegel 
sich stillschweigend, seine Stimme, wie man ihn ersucht hatte, 
zugunsten seines Landsmanns abzugeben 14 . So sehr betrachtete 
er es als die Domane seines Schrifttums allein, literarischen 
Ruhm zu vergeben. Hinzu kommt, dafi seine Calderoniiber- 

13 Hugo Sdiuchardt: Romanisdies und Keltisches. Gesammelte Aufsatze, Strafi- 
burg 1886, S. 120-149. 

14 Vgl. Camille Pitollet: La querelle calderonienne de Johan Nikolas Bohl von 
Faber et Jos£ Joaquin de Mora, Paris 1901. 



258 Literarische und asthetische Essays 

setzung durch die von Gries audi an Qualitat weit iiber- 
troffen wurde und daft er in die Rolle des Anregenden, zumin- 
dest bei Goethe, mit Wilhelm von Humboldt sich teilen mufite. 
Audi Humboldts Briefe aus Spanien wiesen Goethe auf Cal- 
deron. Bekannt ist der Bericht von jener Weimarer Vorlesung des 
»Standhaften Prinzen« durch Goethe, bei der gegen SchlufJ, da 
der tote Prinz als Geist seinen singenden Truppen voranschrei- 
tet, Goethe erschuttert das Buch auf den Tisch warf, und sehr 
schon hat Schuchardt hierbei an die Calderoneske Schlufiapo- 
theose des »Egmont« erinnert. Fiir Goethe war diese Begeiste- 
rung Beginn eines langjahrigen wechselvollen Ringens mit dem 
Ingenium des Spaniers. Darin hat er, wenn audi nur sehr an- 
deutend, Gedanken zutage gefordert, die fur die Auseinander- 
setzung der deutschen Kritik mit Calderon kanonische Bedeu- 
tung beanspruchen. Er brachte, wenn wir nlcht irren, drei hochst 
ausgebildete Gaben in dieses Ringen, in denen er dem Spanier 
nicht nur gewachsen erschien sondern verwandt. Sie erlaubten 
es ihm, dieses fremdartige Genie enger, als es je sonst einem 
deutschen Dichter gelang, zu umfassen: Phantasie, Noblesse, 
Artistentum. Hebbels Wesen fehlten die beiden letzten Momen- 
te durchaus; man begreift, warum ihm Calderon immer fremd 
geblieben ist. Insbesondere diirfte es wohl kaum einen neuern 
Dichter von Hebbels Rang gegeben haben, dem alles Artistische 
so fern lag. Man mag dies nun als Lob verstehen oder anders: 
ein Erfassen Calderons schliefk es aus. Fiir die dichterische Beur- 
teilung des Spaniers . ist dieses Moment wichtiger als die 
religiose Stellung des Urteilenden. Dem Katholizismus stand 
Goethe so fern wie Hebbel, aber als Artist wufke er bei sich 
und andern eine Stelle in der Okonomie des Dramas ihm gele- 
gentlich zuzugestehen. Von der ersten bedingungslos enthusiasti- 
schen Einstellung, da er behauptete, aus dem »Standhaften 
Prinzen« die Poesie wiederherstellen zu konnen, wenn sie aus 
der Welt verlorengegangen ware, ist Goethe zuruckgekommen. 
Aber noch 1812 kann er ihn in einer Bemerkung uber Shake- 
speare stellen. Die Bedenken setzten spater beim »Abstrusen« 
ein: beim Abstrusen des Gehalts, dem Katholizismus, und beim 
Abstrusen der Form, dem theatralischen Pomp. In diesem Sinne 
hat er gemeint, dz& er Schiller hatte gefahrlich werden konnen, 
ihn selber aber nie beeinflufit habe. Aber selbst in dieser Zeit, 



»El mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 259 

da er in der Rezension der »Tochter der Luft« sein Verhaltnis zu 
Calderon abschliefiend zu formulieren suchte, hat er auf die 
Kenntnis der Zeitverhaltnisse gedrungen, unter denen der Spa- 
rser schrieb, nicht, umwegen seiner Bedingtheit ihm nachzusehen, 
sondern um die Art seiner Unbedingtheit erfassen zu konnen. 
So heifit es in den Anmerkungen zur Obersetzung von »Ra- 
meaus Neffe«: »Man gedenke Shakespeares und Calderons! Vor 
dem hochsten asthetischen Richterstuhle bestehn sie untadelig, 
und wenn irgendein verstandiger Sonderer wegen gewisser 
Stellen hartnackig gegen sie klagen sollte, so wiirden sie ein 
Bild jener Nation, jener Zeit, fiir welche sie gearbeitet, lachelnd 
vorweisen und nicht etwa dadurch blofi Nachsicht erwerben, 
sondern deshalb, weil sie sich so gliicklich bequemen konnten, 
neue Lorbeern verdienen.« 

Wem sich Calderon eigentlich bequemt habe, will als Vorbedin- 
gung des Verstandnisses seiner Dramen beleuchtet sein. Zweier- 
lei wird man vor allem andern hier zu nennen haben: den 
Katholizismus und den Hof. Nicht die Drohung ihrer Zensur 
sondern dieGewalt der in ihnen lebendigen Ideen hat vonGrund 
aus das Drama Calderons, in dessen Person hohe geistliche und 
weltliche Wiirden sich vereinigten, bestimmt. In welchem Sinne 
dies vom Katholizismus gilt, hat Ulrici in seinem Werke »Uber 
Shakespeares dramatische Kunst und sein Verhaltnis zu Calde- 
ron und Goethe« vortrefTlich bezeichnet. Es heifk: Bei Calderon 
»mufi wegen der an sich schon vorhandenen und vorausgesetzten 
Versohnung der Gegensatze, bei der schon geschehenen Erlo- 
sung der Menschheit durch Gott, ... die Aktion in eine solche 
Verwickelung, das Wollen und Thun der Menschen durch beson- 
dere Umstande so in Widerspruch gegen die gottliche Ordnung 
gesetzt werden, dafi Gottes unmittelbares aufieres Eingreifen 
wenigstens einen Schein der Nothwendigkeit gewinnt«. Nun ist 
freilich nicht uberall, zumal nicht in dem Herodesdrama, das 
hier vorausgesetzte unmittelbare Eingreifen Gottes gegeben. So 
wohlfeil gibt die seltsame »Aufierlichkeit« Calderons ihr Ge- 
heimnis nicht her. Aber es bleibt Ulricis Frage in Kraft: Welche 
profanen Stoffe sind mit echt dramatischem Interesse in einer 
Welt noch verwertbar, deren tiefste sittliche Ordnungen (bis 
ins einzelne: man denke an die damalige Kasuistik) unverriick- 
bar transzendent bestimmt sind? Wie auch immer die Antwort 



z6o Literarische und asthetische Essays 

im einzelnen lauten mag, von vornherein ist klar, dafi in sol- 
chen Dramen weit ostentativer als sonst der Charakter des 
Spieles hervortreten wird. Zugleidi ist evident, wie unbedingt 
der Versuch, dies Drama als Tragodie anzusprechen, das Ver- 
standnis vereiteln mufi. Ulrici, der eine andere Moglichkeit 
nicht kannte, wendet doch, ratios, zuletzt ein: »Hier geht das 
menschlich Edle und Grofie nicht an seiner irdischen Schwache 
und Verkehrtheit unter, sondern gerade durcfa seine sittliche und 
religiose Grofie findet es den Tod im Kampfe mit der ihm ent- 
gegenstehenden Macht des Unheils und des B6sen.« Es liegt im 
»Standhaften Prinzen«, von dem dies gesagt ist, ein Marty rer- 
drama vor. Aber audi fur die iibrigen Dramen, fur das Hero- 
desdrama insbesondere, diirfte sich zeigen lassen, dafi da von 
einer echten tragischen Schuld (als welcher eine gewisse Parado- 
xic eignen mufi), von einer ecHten Wiederherstelluung der sittli- 
chen Weltordnung und dergleichen nicht die Rede sein kann. 
Trauer begleitet den Untergang der hochherzigen Gatten, eine 
Trauer die grenzenlos ware, wenn nicht in der Fiigung jene 
Absichtlichkeit, von der Goethe gesagt hat, dafi ihr Schein je- 
dem Kunstwerk eigne, mit einem Nachdruck hervortrate, wel- 
cher der Trauer wehrt. Ein Trauer-Spiel also. Und so hat es 
seinen guten Sinn, wenn das von Goethe unter dem intensiven 
Einflufi Calderons an einem Stoff aus der Zeit Karls des Grofien 
sich versuchende Dramenfragment unter dem apokryphen Na- 
men eines »Trauerspiels aus der Christenheit« geht. 
Die Dramatik des Spiels sieht, wo sie historischen Stoffen ge- 
geniibersteht, sich genotigt, Schicksal als Spiel zu entfalten. Eben 
dieser Zwiespalt ist es, der die »romantische Tragodie« konstitu- 
iert. Unter den neueren Dichtern hat keiner wie Schiller darum 
gerungen, das antike Pathos, den letzten Ernst der alten Trago- 
die eben in jenen Stoffen noch zu behaupten, die mit demMythos 
der Tragiker nichts mehr gemein haben. Wo Goethe zu bedeu- 
tenden und in der Sache sehr gegriindeten Vermittlungen geneigt 
war, hat das Drama von Schiller, als naturalistisches und als 
historisches, die beiden Moglichkeiten auszuschopfen gesucht, 
welche fur die Exposition antikischen Schicksals in der Moderne 
noch zu bestehen schienen. Beide sind spater versandet: die eine 
in den Hohenstaufendramen eines Raupach, die andere in 
Schicksalsdramen wie den »Gespenstern«. Es war die Bedeutung 



»E1 mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 261 

der Freiheitsidee fiir Schiller, dafi sie gleichsam durch Reflexe 
den Schicksalscharakter des Historischen in etwas hervorzuheben 
imstande schien. Und doch, wie wenig ist es ihm gelungen, anti- 
ken Ernst der » Maria Stuart « oder der »Jungfrau von Orleans « 
zu sichern; wie opernhaft ist der Anfang des »Tell«; und wie hat 
gerade der radikalste Versuch, nodi einmal des antiken Ver- 
hangnisses habhaft zu werden in der »Braut von Messina« wek 
von allem Griechentum ab in den Bereich des romantischen 
Schicksalsdramas gefiihrt. Von solchen Oberlegungen aus hat 
Goethes schon genanntes Wort, dafi Calderon Schiller hatte 
gefahrlich werden konnen, nichts Ratselhaftes mehr. Und mit 
Grund konnte er sich gesichert glauben, wenn er wie am Schlusse 
des Faust das bewufit und niichtern ergriff, wozu Schiller halb 
widerwillig sich gedrangt, halb unwiderstehlich gezogen fuhlte. 
Dafi dagegen auch Hebbel jemals in Calderons Nahe gestellt 
worden ist, mufi iiberraschen und kann durch den betreffenden 
Satz bei Treitschke 15 , der behauptet, dafi »ja ausschweifende 
Phantastik im Innersten verwandt ist mit den Verirrungen iiber- 
feinen Verstandes«, kaum als begriindet gelten. 
Durch die eminente Auspragung des romantischen Elements und 
- was darin mitgegeben - durch dessen eminente Bewufithek 
bleibt die Calderonsche Dramenform von der Schillerschen bei 
alien Analogien doch grundverschieden. Dagegen hat in ihr der 
Graf Schack den Ursprung der Schicksalstragodie der deutschen 
Romantiker, und zwar gerade in demHerodesdrama den »ersten 
Keim jener wiisten Gebilde« erkennen wollen. Wie dem nun sei, 
jedenfalls macht eine neuere Abhandlung iiber »Calderons 
Schicksalstragodien« von Berens 16 es sich zu leicht, wenn sie 
dem Problem der Schicksalstragodie alle grundsatzliche Bedeu- 
tung mit der Behauptung nehmen will, ihr Begriff als der 
einer eignen poetischen Gattung sei erst von der deutschen Kri- 
tik und Dichtung in die Literatur hineingetragen worden. Der 
Begriff durch die Kritik vielleicht; die Sache durch die Dichtung 
nicht. Mufi doch Berens selbst zugeben, dafi gerade Calderons 
Herodesdrama eine »Verwandtschaft mit der Schicksalstragodie 

15 [Heinrich von Treitschke:] Zeitgenossische Dichter. Ill: Friedrich Hebbel. (Preu- 
iJische Jahrbiidier, hrsg. von R[udolf] Haym, 5. Bd., Berlin 1860, S. 559 [6. Heft].) 

16 Peter Berens: Calderons Sdiidcsalstragbdien. (Romanische Forschungen 39 [1921 
bis 1926], S. 1-66 [r. Heft, November '21].) 



i6z Literarische und asthetische Essays 

der deutschen Romantik« zeigt. Und sie ist darum fur Calderon 
dodi um nidits weniger typisch. Ein Blick auf die Handlung 
begegnet alsbald den markanten Ziigen des Schicksalsdramas. 
Eine Wahrsagung steht am Anfang. Mariamne klagt dem Gat- 
ten den Spruch eines Zauberers. Er sagt doppeltes Unheil vor- 
aus: sie werde als Opfer des furchtbarsten Scheusals der Erde 
fallen und Herodes werde mit seinem Dolche toten, was ihm das 
liebste auf der Erde sei. Die Handlung ist so gefiihrt, dafi, sind 
diese Worte einmal gesprochen, der Dolch wahrend des ganzen 
Vorgangs der Aufmerksamkeit des Beschauers nicht mehr ent- 
geht. Herodes, durch die Prophezeiung wenig beunruhigt, wirft 
ihn, seine Freiheit zu bekunden, von sich ins Meer. Weheruf 
tont ihm von dort entgegen; der Dolch verletzte den Boten, der 
die Nachricht von Octavians Sieg iiber die dem Antonius ver- 
bundete Flotte des Herodes bringt. Dieser, von Octavian zur 
Verantwortung nach Memphis gerufen, erblickt iiber der Tur 
des koniglichen Audienzsaales das lebensgrofie Bild seiner Ge- 
mahlin. Den Romer hat ein Miniaturportrat, das mit der Sieges- 
beute ihm zufiel, in Liebe zu der Dargestellten, der Mariamne, 
entbrennen lassen. Ihr Bruder Aristobulus, Octavians Gefang- 
ner, der das Unheil ahnt, das sich aus dieser Leidenschaft entfal- 
ten konnte, nennt sie, ohne ihm ihren Namen zu verraten, eine 
Tote. Octavian lafit die Miniatur in einem lebensgrofien Por- 
trat wiederholen und in Eile wird dies iiber seiner Schwelle be- 
festigt. So tief der Anblick des Bildes den Herodes erregt, er 
findet in der Notigung, vor Octavian sich zu verteidigen, nicht 
Zeit, wie es dort hin kam, sich audi nur zu fragen. Aber kein 
Schatten von Verdacht fallt auf seine Gemahlin. Liefie unter der 
Fiille von Schonheiten in diesem Drama sich eine hervorheben, so 
ware es die Szene, in der der Tetrarch, entwaffnet durch die 
Anwesenheit des Gemaldes, dessen Gegenstand nur ihm be- 
kannt ist, ein Bild der Verstorung vor den Augen des hochmu- 
tigen Siegers dasteht, der dies miEdeutet. Zuletzt, da Octavian 
sich zum Gehen wendet, lafit er sich zu einer Beleidigung des 
Fiirsten hinreifien. Herodes stiirzt sich mit geziicktem Dolch 
in seinen Riicken. In diesem Augenblick fallt das Bild von 
der Wand und indem es zwischen die Gegner zu stehen kommt, 
sieht Herodes unversehens den Dolch in dem Bildnis Mariam- 
nens stecken. Im Kerker zu Memphis erteilt er dem Diener des 



»E1 mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 263 

Aristobulus den Mordbefehl, mit dem dieser nach Jerusalem 
entkommt. Dort entdeckt ihn Mariamne, nicht wie bei Josephus 
und Hebbel dank dem Verhalten des Eingeweihten, sondern in 
planvoll veraufierlichter Motivierung durch eine Zwistigkeit, 
die der Empfanger Ptolemaeus mit seiner Freundin hat, deren 
Eifersucht in dem Briefe ein Zeugnis verheimliciiter Liebschaft 
argwohnt. Mariamne wird Zeugin des Streites und erheischt den 
zerrifinen Brief. Von seinem Inhalt gibt sie in den folgenden 
Worten, die den Charakter der Dichtung auf einem Hohepunkt 
auspragen, sich Rechenschaft: 

Was enthalten denn die Blatter? 
Tod ist gleich das erste Wort, 
Das ich finde; hier stent: Ehre, 
Und dort les* ich: Mariamne. 
Was ist dieses? Himmel, rette! 
Denn sehr viel sagt in drei Worten 
Mariamne, Tod und Ehre. 
Hier steht: in der S title; hier: 
Wiirde; hier: heischt; und hier: Streben; 
Und hier: sterb* ich, fahrt es fort. 
Doch was zweifT ich? Schon belehren 
Mich die Falten des Papiers, 
Die, entfaltend solchen Frevel, 
Auf einander sich beziehen. 
Flur, auf deinem grunen Teppich, 
Lafi mich sie zusammen fiigen! 

Soweit die beiden ersten Akte. Der dritte zeigt den Einzug des 
Octavian in Jerusalem und dessen Begnadigung des Fursten auf 
die Bitten der Mariamne, in der er das Urbild des Portrats er- 
kennt. Angedeutet ist im Vortrag ihrer Bitte und im Dank, wie 
tief der Eindruck sie betrifTt, den die Achtung ihres Werts und 
ihrer Schonheit durch den Sieger im Gegensatz zur Mifiachtung 
durch den Besiegten in ihr hervorruft. Im Palaste sagt sie sich 
in einer sehr langen Ansprache, nach deren Schlufi sie verschwin- 
det, von dem Gatten los. Es findet in dem ganzen Drama zwi- 
schen den Gatten sich nur ein Dialog, er steht am Beginn und 
betrifft die Weissagung. Der verlassene Herodes zieht den, an 
dem Unheil unschuldigen Ptolemaeus zur Rechenschaft und will 



264 Literarische und asthetische Essays 

ihn toten. Der fliidhtet zu Octavian und beriditet ihm, um sein 
Erscheinen zu begriinden, falschlich, Herodes trachte der Mari- 
amne nach dem Leben. Octavian dringt daraufhin sogleich, am 
spaten Abend, in ihren Palast, findet sie, im Begriffe sich zu 
entkleiden, bei ihren Frauen und bestiirmt sie. Mariamne ent- 
flieht, er folgt ihr. Die verlassene Biihne betritt der Tetrarch; 
den Anblick, den sie ihm bietet, deutet er falsch. Am Boden 
liegt der Dolch, den Octavian nach dem Mordversuch des Te- 
trarchen an sich genommen, den Mariamne jenem entrissen, um 
sich zu toten, wenn er ihr zu nahe treten sollte. Da sie nun, 
weiter verfolgt von Octavian, von neuem eintritt, ergreift He- 
rodes den Dolch, stlirzt sich auf seinen Gegner, trifft in der 
Dunkelheit aber die Gattin. Er endet sein Leben, indem er sich 
ins Meer stiirzt. 

»Es ware«, so heifit es bei Berens, »das Natiirliche gewesen, den 
Tod der Mariene aus der Eifersucht des Herodes zu motivie- 
ren. Die Losung drangte sich sogar mit einer zwingenden Ge- 
walt auf, und die AbsichtHchkeit, mit der Calderon ihr entge- 
genarbeitete, um der >Schicksalstragodie< den ihr zukommenden 
Abschlufi zu geben, ist offenkundig.« Hiermit ist freilich das 
Zentrum der Calderonschen Dichtung getroffen, doch nur um, 
von diesem Beurteiler so gut wie von andern, als unbegreifliche 
Marotte, die dem Dichter das Konzept verdorben habe, beiseite 
geschoben zu werden. Und doch erschliefit sich nicht allein die 
Struktur sondern audi die grofie Schonheit dieser Dichtung nur 
dem, der Einblick in ihre Auffassung vom dramatischen Schick- 
sal zu gewinnen vermag. Nichts vermochte sie deutlicher klar- 
zustellen als ein Blick auf den »K6nig Odipus« des Sophokles. 
Im Mittelpunkt beider Dramen steht ein Orakel. In beiden voll- 
zieht dessen Spruch sich wider Willen der Helden. Blitzartig 
zeigt es sich Odipus, im Gesprach mit dem Hirten, als ein langst 
schon erfulltes. Im Gegensatz dazu bleibt das Geschehen bei 
Calderon magnetisch an die Prophezeiung gebannt, in keinem 
Stadium kann es sich von ihr ablosen. Diese Bindung des Ge- 
schehens an das Orakel vollzieht sich durch das Requisit. Es ist 
dies geradezu das unterscheidende Kriterium der echten, roman- 
tischen Schicksalsdramatik gegen die antike, im tiefsten der 
Schicksalsordnung sich versagenden Tragodie. Ja, nicht Dinge 
allein nehmen in jenem modernen Drama den Charakter des 



»E1 mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 265 

Requisits an. Nicht aus Eifersudit totet Herodes die Gattin, son- 
dern durch Eifersuciit kommt sie um. Durch Eifersudit ist 
Herodes dem Schicksal verhaftet und ihrer, als der gefahrlich 
entbrannten Natur des Menschen, bedient es sich in seiner Spha- 
re nicht anders als der toten Natur der Dolche und Bilder zu 
Unheil und Unheilszeichen. Nicht die sittliche Entfaltung eines 
mythisdien Vorgangs in der Tragodie sondern die Darstellung 
des spannungslosen schicksalhaften Naturablaufs im Trauer- 
spiel liegt in dem Calderonschen Herodesdrama vor. Aber ge- 
rade weil die sonderbare und wahrhaft monstrose Eifersudit 
des Tetrardien, aller sittlichen Problematik enthoben (da schon 
die Schicksalsverfallenheit ihr das Urteil spricht), als Requisit 
in die Verwicklung eingeht, gewinnt die Liebe neben ihr noch 
Raum zu der Entfaltung ihrer Herrlichkeit. In der Natur der 
Liebe ist im Fursten die der Eifersudit iiberwaltigt. So monstros 
die letzte ist, ihm selber haftet vom Monstrum nichts an. Cal- 
deron allein war es gegeben, die innigste Liebe mit der bren- 
nendsten Eifersudit vereinigt ersdieinen zu lassen. Herodes 
Zweifel an Mariamnens Treue ist doch kein Zweifel an Mariam- 
nens Liebe. Denn in unvergleichlicher, ja ersdiutternder Wen- 
dung hat Calderon die Mariamne gerade in den Augen des He- 
rodes als befangen in einem unaufloslidien Zwiespalt ersdieinen 
lassen. Nicht umsonst ist, in Anlehnung an Josephus, bei ihm mit 
fast opernhaftem Nachdruck die Schonheit der Gattin, die eine 
so geringe Rolle bei Hebbel spielt, betont worden. So gilt die 
Klage des Calderonschen Herodes nicht den Mannern wankel- 
mii tiger Frauen, sondern lautet ganz anders: 

Wehe dem unsel'gen Mann, 

Wen* ihm tausendmal und tausend, 

Der ein Weib von hochster Schonheit 

Sein zu nennen sich getrauet! 

Denn das eigne Weib, nicht nab* es 

Hohen Ruf ; zur Gniige tauget 

Ihm in alien Dingen Anmuth, 

Doch nicht iibermacht'ger Zauber. 

Denn ein Hermelin ist Schonheit, 

Ewig von Gefahr umlauert; 

Wehrt sich's nicht, so kommt es um, 

Wehrt sich's, wird sein Glanz geraubet. 



266 Literarisdie und asthetische Essays 

Mariamne ist - und hierin wie sonst ist spanische Sitte zur 
Handhabe der Entfaltung unverganglichen Gehalts geworden - 
die aufierste Treue nur dem Lebenden schuldig, wahrend nach 
dessen Tode der glUckliche Nachfolger mit dem Throne sie sel- 
ber beanspruchen konnte, dem sie dann vielleicht mit gleichem 
Pflichtgefiihl zu dienen vermochte. Erscheint damit die Passi- 
vitat der Konigin aufs Extremste betont, so trifft die Wucht 
seiner Eifersucht den Tetrarchen, ohne daft er audi nur in Ge- 
danken seine Frau zu kranken vermochte, ja ohne dafi er an 
ihrer Liebe auch im mindesten nur zweifelte. Deren ist er, wie 
der Dichter es in der unmittelbar der Ausfertigung des Mord- 
befehls vorhergehenden Szene betont, vollkommen sicher. An- 
ders krankend dahingegen ist die Folge, die er seiner Eifersucht 
gibt. Und doch, wie milde spricht selbst dariiber bisweilen 
Mariamne sich aus! 

Vielleicht ist es moglich, in dem Bestreben, den Schein des Ab- 
strusen von dieser Dichtung fernzuhalten, noch einen Schritt 
weiter zu tun. Immer wird dieser Versuch auf das Recht der 
Schicksals»tragodie« zuruckkommen. Auch ohne in ausfiihrliche 
Diskussion des Schicksalsbegriffs verwickelt zu werden, ist dies 
eine von vornherein festzuhalten: nicht der unentrinnbare Kau- 
salzusammenhang an sich ist ein schicksalhafter. Es wird, sooft 
man es auch wiederholen mag, niemals wahr werden, dafi dem 
Dramatiker die Aufgabe zufiele, ein Geschehen als ein im kau- 
salen Sinne notwendiges vor den Zuschauern zu entwickeln. Wie 
sollte auch die Kunst einer These Nachdruck verleihen konnen, 
die zu vertreten das eigenste Anliegen des Determinismus ist? 
Ein Kunstwerk, sofern philosophische Bestimmungen in seine 
Struktur eingehen, wird doch immer nur solche, die den Sinn des 
Daseins betreffen, in sich tragen. Lehrmeinungen iiber die Fak- 
tizitat des Weltgeschehens bleiben, und mogen sie auch dessen 
Totalitat betreffen, fiir ein Kunstwerk belanglos. Die determi- 
nistische Anschauung also, als eine Theorie iiber den Sachverhalt 
des Naturgeschehens, kann keine Kunstform bestimmen. Anders 
der echte Schicksalsgedanke, dessen entscheidendes Motiv in der 
Annahme des ewigen Sinnes solcher Determiniertheit liegt. Von 
ihm aus aber braucht diese Determinierung keineswegs durch 
Naturgesetze sich zu vollziehen; auch ein Wunder kann deren 
ewigen Sinn zur Erscheinung bringen. Nicht in der faktischen 



»E1 mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 267 

Unentrinnbarkeit liegt derselbe. Kern des SchicksalsbegrifTs ist 
vielmehr die Oberzeugung, dafi nur erst die Schuld, welche in 
diesem Zusammenhang stets kreatiirliche Schuld (ahnlich der 
Erbsiinde), nicht sittliche Verfehlung des Handelnden ist, die 
Kausalitat zum Instrument eines unaufhaltsam abrollenden 
Fatums macht. Schicksal ist die Entelechie eines Geschehens, in 
dessen Mitte der Schuldige steht. Aufierhalb des Bereiches der 
Schuld verliert es alle Kraft. Der Schwerpunkt, nach welchem 
die Schicksalsbewegung dergestalt abrollt, ist der Tod. Der Tod 
nicht als Strafe sondern als Siihne: als Ausdruck der Verfallen- 
heit des verschuldeten Lebens an das Gesetz des natiirlichen. In 
diesem Sinne also ist der Charakter des Todes im Schicksals- 
drama ganz verschieden von dem sieghaften Tode des tragischen 
Helden. Und eben diese Verfallenheit des verschuldeten Le- 
bens an die Natur ist es, die in der Hemmungslosigkeit seiner 
Leidenschaften sich kundgibt. Die Gewalt, welche die leblosen 
Dinge im Umkreis des schuldigen Menschen zu dessen Leb- 
zeiten schon gewinnen, ist der Vorbote des Todes. Die Leiden- 
schaft setzt die Requisiten in Bewegung; diese sind gleichsam nur 
die seismographische Nadel, welche die Erschiitterungen des 
Menschen verzeichnet. Im Schicksalsdrama spricht sich in den 
Leidenschaften die Natur des Menschen wie in dem Zufall die 
der Dinge unter dem gemeinsamen Gesetz des Schicksals aus. 
Dies Gesetz tritt um so deutlicher heraus, je bedeutungsvoller 
die Schwingungskurve der Nadel erscheint. In diesem Sinne ist 
es nicht gleichgiiltig, ob, wie in so vielen deutschen Schicksals- 
dramen, ein armseliges Instrument in mesquinen Verwicklungen 
dem Verfolgten sich aufnotigt, oder ob uralte Motive wie das 
des verschmahten Opfers im Dolche oder das des Zaubers im 
durchbohrten Bildnis sich aussprechen. In diesem Zusammen- 
hange tritt die ganze Wahrheit des Schlegelschen Satzes hervor: 
er wisse »keinen Dramatiker, der den Effekt so zu poetisiren 
gewufit hatte«. Calderon war in diesem Fache unvergleichlich, 
weil der Effekt innere Notwendigkeit fiir seine eigenste Form, 
das Schicksalsdrama gewesen ist. 

Diese Welt des Schicksals, noch einmal sei es hervorgehoben, war 
eine in sich geschlossene. Es war die sublunarische Welt im stren- 
gen Sinne, eine Welt der elenden oder prangenden Kreatur, 
in der immer wieder ad maiorem dei gloriam und zur Augen- 



268 Literarische und asthetische Essays 

weide der Beschauer die Regel des Schicksals fiir die Kreaturen 
virtuos und uberraschend sich bestatigen sollte. Audi Calderons 
theoretische Anschauungen, soweit sie aus FormuKerungen seiner 
Dramen sich vermutungsweise erschliefien lassen, scheinen auf 
diese Anschauung zu fuhren. Nicht umsonst hat ein Geist 
wie Zacharias Werner, ehe er in die katholische Kirche sich 
fluchtete, sich am Schicksalsdrama versucht. Dessen nur scheinbar 
heidnische Weltlichkeit ist letzten Endes das Komplement des 
kirchlichen Mysteriendramas in jenem Reiche Philipps des Vier- 
ten, in dem alles Weltliche viel zu hypertrophisch gediehen war, 
um nicht die Buhne sich zu eigen zu machen. Was aber audi die 
theoretisch gerichteten Romantiker so magisch an Calderon fes- 
selte, dafi man ihn, trotz Shakespeare, vielleicht ihren Dramati- 
ker xat' £|oxV nennen darf, ist, dafi in aufierstem Mafie bei 
ihm eines erfiillt war, das sie in ihrem eignen Schaffen erstreb- 
ten: die Unendlichkeit war gesichert durch blofie Reflexion. Das 
ganze Herodesdrama ist von den skurrilsten Debatten iiber 
Schicksalsmacht und Menschenwillen durchzogen. Spielerisch 
wird das Geschehen durch die Reflexion verkleinert, welche Cal- 
derons Helden jederzeit bei der Hand haben, um in ihr die 
ganze Schicksalsordnung wie einen Bail in Handen zu wenden, 
den man bald von dieser, bald von jener Seite betrachtet. Was 
anders hatten die Romantiker zuletzt ersehnt, als das in den 
goldnen Ketten der Autoritat verantwortungslos reflektierende 
Genie? 

Ist diese Auffassung des Calderonschen Schicksalsdramas ge- 
rechtfertigt, so schliefit sie freilidi etwas Befremdendes ein: die 
Natur, als InbegrirT der Kreaturen, miifite dramatisch belang- 
voll erscheinen. Fiir den, dessen BHck an das deutsche Drama 
der letzten zweihundert Jahre gefesselt bleibt, eine schwer voll- 
ziehbare Vorstellung; weniger unzuganglich freilich dem, der die 
Zeitgenossen Calderons unter den deutschen Dramatikern, ins- 
besondere etwa Gryphius, im Sinne hatte. Wie dem audi sei, 
gerade iiber die auffallende Betonung der Natur in den Dra- 
men des Spaniers waren die berufensten deutschen Kritiker sich 
einig. So heifit es bei A. W. Schlegel: »Seine Poesie, was audi 
scheinbar ihr Gegenstand seyn moge, ist ein unermiidlicher 
Jubel-Hymnus auf die Herrlichkeiten der Schopfung, darum 
feyert er mit immer neuem freudigem Erstaunen die Erzeugnisse 



»El mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 269 

der Natur und der menschlicheri Kunst, als erblickte er sie eben 
zum erstenmale in noch unabgenutzter Festpracht. Es ist Adams 
erstes Erwachen, gepaart mit einer Beredsamkeit und Gewandt- 
heit des Ausdrucks, mit einer Durchdringung der geheimsten 
Naturbeziehungen, wie nur hohe Geistesbildung und reife Be- 
schaulichkeit sie verschaffen kann. Wenn er das Entfern teste, 
das Grofite und Kleinste, Sterne und Blumen zusammenstellt, 
so ist der Sinn aller seiner Metaphern der gegenseitige Zug aller 
erschaffnen Dinge zu einander wegen ihres gemeinschaftlichen 
Ursprungs.« Ahnlich hat Goethe 1816 gestanden, dafi ihn die 
Ubersetzungen aus Calderon »in ein herrliches, meerumflosse- 
nes, blumen- und fruchtreiches, von klaren Gestirnen beschiene- 
nes Land« versetzten. Spater freilich heiflt es ganz anders, 
Calderon sei »bretterhaft«, eigentliche Naturanschauung gabe 
er durchaus nicht. An sich ist audi dieses Urteil wohl verstand- 
lich. Vergegenwartigt man sich etwa aus denxHerodesdrama die 
Schilderung der Seeschlacht, wo die Schopfung als solidarischer 
Trager des natiirlichen Lebens in alien Leidenschaften der Men- 
schen und in alien Zufalligkeiten des Geschehens hervorragend 
gegenwartig bleibt, so versteht man Goethes Befremden. (Wie- 
wohl es gesagt sein mag, da£ es vielleicht nicht eine Calderones- 
ke Extravaganz gibt, die man an der oder jener Stelle des 
zweiten Teiles des Faust nicht wiederfande.) Auch die gesell- 
schaflliche Ordnung und ihre Representation, der Hof, ist bei 
Calderon gleichsam ein Naturphanomen hochster Stufe. Die 
Ehre des Herodes ist ihr erstes Gesetz. Mit aufierordentlicher 
Kuhnheit bezeichnet im Herodesdrama der Dichter die Soli- 
daritat der staatlichen und natiirlichen Ordnung in der Schop- 
fung, wenn um seiner Liebe und nur um ihretwillen Herodes die 
Weltherrschaft sucht. In jedem andern Anschauungskreis wiirde 
dies seine Konigsehre mindern, hier steigert es sie, da durch die 
Einheit mit seiner Liebe sie sich als eines mit der Schopfung 
erweist. Ubrigens aber versaumt der Dichter kaum eine Gele- 
genheit, die Paradoxien des nationalen spanischen Ehrbegriffs 
absichtsvoll ins Ungeheure zu steigern, als Ausdruck einer un- 
heilvollen und unwiderstehlichen Manifestation des Schick- 
sals, dem das Geschopf unterliegt, wie der Baum dem Gewitter. 
Einzig in nimmermuden dialektischen Reflexionen vermag es 
sich zu salvieren. In diesem Sinne heiEt es bei Berens mit 



270 Literarische und asthetische Essays 

Recht: »Wenn die antike Schicksalstragodie durch die zermal- 
mende Wucht des Leidens und die deutsch-romantische durch 
die gespensterhafte Stimmung wirkt, so ist bei dem spanischen 
Dramatiker das entsprechende Merkmal die Geistigkeit, die 
Herrschaft des Gedankens.« Sehr fein sieht der Verfasser dieses 
geistige Moment darin bekundet, dafi Calderons Schicksals- 
tragodien gemeinhin bei Tage spielen. Gerade die Ausnahme, 
die das Herodesdrama von dieser Regel macht, hat durch die 
gesteigerte Drastik, die ihm damit verliehen ist, die deutsche 
Schicksalstragodie moglicherweise beeinflussen konnen. Zugleich 
bestatigt dies Faktum noch einmal, wie weit man von der Tra- 
godie in diesen Bereichen entfernt ist, wenn anders das feine 
Wort des Bossu (das Jean Paul in der »Asthetik« zitiert), es sei 
keine Tragodie in die Nacht zu verlegen, seine Richtigkeit hat. 
Es kann keine Oberlegung helleres Licht auf das Trauerspiel, 
genauer, das Schicksalsdrama (denn es ist natiirlich nicht jedes 
Trauerspiel ein solches) werfen, als das Calderons Herodes- 
stiick zu betrachten ist, als der Vergleich mit dem typisch histo- 
rischen Drama, das Hebbel in seiner Bearbeitung des Motivs ge- 
geben hat. Je weiter der Vergleich fiihrt, desto vollstandigere 
Einsicht ist der Gewinn. Andeutungen miissen hier gemigen. 
Eine vorab: Mit welchem Rechte die Bekanntschaft Hebbels mit 
Calderons Drama von den Autoren vorausgesetzt zu werden 
pflegt, ist nicht ersichtlich. Hebbel selbst spricht von dem Drama 
nicht. Die Calderon-Obersetzung, deren Kenntnis er bezeugt, ist 
die von Malsburg, in der das Snick nicht enthalten ist. Dafi Heb- 
bel sich die Gelegenheit, sein Problem in dem Herodesdrama 
gegen das Calderonsche abzuheben hatte entgehen lassen, ist in 
Anbetracht des reflektierenden Verhaltens zu seinen eignen 
Produkten zum mindesten nicht ganz wahrscheinlich. Calderon 
hatte ihn als Gegenstand der Kritik gefesselt; es hatte nahege- 
legen, dessen Herodesdrama in einem die friiheren Kritiken be- 
statigenden Sinne heranzuziehen. Denn dafi er durch dieses Dra- 
ma sein vernichtendes Diktum von 1845 bestatigt gefunden 
hatte, wird man nicht bezweifeln. Damals notierte er iiber die 
» Aurora von Copacabana« und die »Seherin des Morgens«: 
»Ich stelle mich, wie sich von selbst versteht, bei Beurtheilung 
dieser Stiicke, auf den christlichen und den christkatholischen 
Standpunct, da sie auf jedem anderen gar nicht in den Kreis 



»E1 mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 271 

der Betrachtung fallen. Aber audi von diesem aus scheinen sie 
mlr vollig nichtig und gehaltlos, denn die Poesie, wenn sie sich 
mit dem Mysterium zu schaffen macht, soil diefi zu begriinden, 
d. h. zu vermenschlichen suchen, sie soil sich aber keineswegs ein- 
bilden, etwas zu thun, wenn sie es gewissermafien wie einen Zau- 
ber-Ring an den Finger steckt und aus dem Wunder wieder 
Wunder ableitet. Die vorliegenden Stiicke geben freilich zu sol- 
chen Gedanken nicht einmal im negativen Sinn einen Anlafi, 
denn die darin niedergelegte Anschauung des Christentums ist 
so heidnisch-roh, so vollig ideenlos, dafi man nicht weifi, ob man 
sie als fratzenhaft beiseite schieben, oder als unsittlich ziichtigen 
soll.« Was man sonst an Hebbelschen Urteilen uber den Spanier 
dazu nehmen mag - sie sind iibrigens nicht zahlreich - andert 
das Bild nicht. Um mit einem Worte nochmals das anzudeuten, 
was vor allem andern Hebbel jedes Verstandnis der spanischen 
Dramatiker - denn er urteilt iiber Lope de Vega nicht anders - 
unmoglich machen mufite und seine Dichtungen im tiefsten 
bestimmte: er kannte im Drama, ja in der Kunst iiberhaupt, 
nichts Spielhaftes. Denn ein Spiel war selbst die Komodie fur 
ihn nicht. Es gibt nichts, was seiner Kunst so unzweideutig ihre 
Ausnahmestellung anweist, die keine bevorzugte ist, wie eben 
dies. Ein lastender Ernst ist zurnunveraufSerlichenMerkmal seiner 
Produktionen geworden. Er bestimmt seine Ideen vom histori- 
schen Drama wie seine Theorie vom Drama iiberhaupt. Denn 
eben dies war die im einsamen Gnibeln eines Autodidakten 
nur allzuleicht auftauchende Oberzeugung: im dramatischen 
Kunstwerk als solchem die adaquate Formel des Wirklichen 
schlechthin zu besitzen. Damit soil weder das berechtigte Be- 
wufksein des Kiinstlers, in seinem Werke das Wesen des Wirk- 
lichen erfafit zu haben, noch die etwaige Selbstiiberschatzung des 
Dramatikers Hebbel bezeichnet sein, sondern vielmehr seine 
schiefe, und, wenn man so sagen darf, begrifrslose und auf fal- 
sche Art monumentale Auffassung vom Drama selbst, das er 
gleichsam zum Fach, wenn auch zum vollig umfassenden mach- 
te. Hier liegt die schlechthinnige Verfehltheit des Pantragismus, 
jener als Wort wie als Sache gleich zweifelhaften, und, um es 
zu wiederholen, gleich beschrankten und autodidaktischen Pra- 
gung. Soviel jedoch ist gewiE durch den ihm eignen, von Scherz 
nicht nur sondern auch von Ironie unerhellten Ernst, mit dem 



272 Literarische und asthetische Essays 

die Hebbelsche Tragodie als eine dem historisdien Gehalte ad- 
equate Form sich a priori setzt, sie behauptet eine Sonderstellung 
in der neueren Literatur. Es wurde fiir Calderon angedeutet, 
wie er den grofien Stoff des Herod esdramas in einen streng 
begrenzten Raum hineinstellt, urn dort das Schicksal spielhaft 
zu entfalten. Und wie unvergleichlich erwies sich Schillers Kunst- 
verstand, wenn er in der » Jungfrau von Orleans« oder im 
»Wallenstein« jenen Momenten des Wunders oder des Ster- 
nenregiments in echt Calderonschem Sinne Eingang' gewahrte. 
Denn schlechthin real wird das Schicksal nur in den schlechten, 
den unromantischen Schicksalstragodien gesetzt. (Wobei freilich 
der Begriff der Romantik hier nicht historisch zu verstehen ist; 
die Romantik hat genug schlechte Schicksalstragodien hervorge- 
bracht, die von keinem uberlegnen Rahmen umfafit werden.) 
Wo aber andererseits, in der echten Tragodie, alle spielhaften 
Momente beiseite bleiben, da ist es nicht die Geschichte, in wel- 
cher sich Schicksal bekraftigt, sondern der Mythos, in dem seine 
eherne Ordnung sich prophetisch durch den Dramatiker erschiit- 
tert zeigt. Demgegentiber darf Hebbels historisches Drama als 
der Versuch angesprochen werden, die Geschichte aufgrund 
ihrer kausalen Bedingtheit dramatisch als schicksalhaften Ver- 
lauf einsichtig zu machen. Dafi Schicksal nicht im kausalen 
sondern im teleologischen Bereich beschlossen ist, also auch aus 
minutiosester Motivierung niemals, unvergleichlich viel sicherer 
aus dem Wunderbaren hervorgehen kann, das ist dem im Na- 
turalismus der Jahrhundertmitte befangenen Theoretiker nie 
deutlich geworden. So ist ihm denn als Theoretiker die Notwen- 
digkeit einer fundamentalen Umwendung des Stoffes durch die 
Form, welche auch durch die peinlichste Versenkung in den- 
selben nicht ersetzt werden kann, kaum aufgegangen. Indessen 
sind die Fehler in weit hoherem Grade solche des Theoretikers 
als des Dichters und keiner hat in sich selbst wohl einen ungliick- 
lichern Interpreten gefunden als Hebbel. Eine Bemerkung, die 
solange ihr Recht behaupten wird, als seine Bewunderer fortfah- 
ren, ihre Argumente den Tagebuchern des Meisters zu entneh- 
men. - Indessen hat an der von so vielen Beurteilern schmerz- 
haft empfundnen Sprodigkeit seines Herodesdramas die so tief 
problematische Theorie von dem Drama der historischen Not- 
wendigkeit doch wohl ihren Anteil. Als einer der ersten hat auf 



»El mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 273 

diese Sprodigkeit Emil Kuh in kaum bestreitbarer Ausfiihrung 
hingewiesen. Es heifit: »Die beiden leidenschaftlichen und ent- 
zweiten Naturen messen sich an einander, zwar in Obereinstim- 
mung mit der Charakterart einer jeden, aber denn doch trotz 
aller pathetisdien Akzente auf eine solche Weise, dafi unser An- 
teil aus einem das Gemiit bewegenden und bezwingenden in 
einen psychologisch beobachtenden iibergeht. Die blank ausge- 
spielten Griinde und Gegengriinde, wiewohl wir ihre Eindring- 
lidikeit nicht bestreiten konnen, kiihlen die poetisclie Sinnlich- 
keit ab. Herodes wie Mariamne rufen den Zustand an, nennen 
das tragische Motiv gleichsam beim Namen, und dies mufi all- 
zeit im Drama wie der trockene Ostwind wirken, unter welchem 
die heifien Blumen sich welkend kriimmen.« In der Tat, die 
Gabe des Sich-Gehen-Lassens, die eigenste Mitgift jeder Shake- 
speareschen Figur ist den Hebbelsclien selten verliehen. In dieser 
Hinsicht iiberragt die Gestalt des Joseph alle iibrigen in diesem 
Drama. Ware es Sache der Kritik, Ausstellungen zu haufen, so 
bliebe noch vieles hinzuzufiigen. Eines aber darf sie nicht iiber- 
gehen, wiewohl nur sehr eingehende Analyse den Beweis ihrer 
Behauptung zu erbringen vermochte. An der Aufgabe, den 
Adel seiner Gestalten und ihres Konflikts zu entwickeln, die un- 
umganglich war, ist Hebbel gescheitert. Unsaglich karg, wie das 
so rauschend gedachte Fest der Mariamne im Drama behandelt 
ist, sind nicht selten gerade die wesentlichsten Wendungen 
und Situationen. Die Komposition, welche sowohl dem Hero- 
des wie der Mariamne in den abschlieftenden Szenen zum Part- 
ner die durch nichts bezeichnete Figur des Titus gibt und derart 
eine Nivellierung des Standorts der fiirstlichen Personen gerade 
da herbeifiihrt, wo ihre Wiirde, ihre Distanz, die ja eben zur 
Katastrophe gefiihrt haben, am entscheidendsten zu wahren ge- 
wesen waren, iiberweist Aufgaben, denen der Dichter verpflich- 
tet war, der Regie. Nicht anders wird man den kurzatmigen 
Protest des Titus im Gerichtsverfahren ansehen konnen und die 
Frage stellen diirfen, welche Rede wohl Shakespeare, ohne der 
Situation Abbruch zu tun, an jene Stelie gesetzt hatte, wo es bei 
Hebbel heiftt: »Diefi nenn 5 ich kein Gericht! | Verzeih! (Er 
will gehen.)« Und sind irgend mit der Haltung des Dramas 
Verse wie die folgenden des Herodes zu vereinbaren: 



274 Literarische und asthetische Essays 

Bei Deinem starren Trotz, der auf der Erde, 
Wo Alles wankt, allein beharrlich scheint; 
Bei jedem schonen Tag, den ich mit Dir 
Verlebte . . . 

Verse, welche die Sprache eines biirgerlichen Ehezwists reden. Es 
durfte unverantwortlich scheinen, bei dergleichen Entgleisun- 
gen zu verweilen, wenn nicht eben der in ihnen bezeichnete 
Mangel an adliger Durchbildung der Gestalten und Reden auf 
ein Grundgebrechen des Werkes fiihrte. Nichts kann von dem 
Gestandnis, das Mariamne dem Titus abgibt: 

Nun noch ein Wort vor'm Schlafengeh'n, indefi 
Mein letzter Kamm'rer mir das Bette macht - 

nichts kann von ihm den Makel des Ieidenschaftslosen Rache- 
akts nehmen. Damit fallt auf ihren Tod der zweideutige Schim- 
mer des Ressentiments. Ja dessen Formel selbst ist Hebbel 
untergelaufen, wenn er auf die Worte des Titus 

D'rum fiihr ich tiefes Mitleid audi mit ihm 
Und Deine Rache finde ich zu streng 

jene im tiefsten unedle Antwort erteilen lafit: 

Auf meine eig'nen Kosten nehm' ich sie! 
Und dafi es nicht des Lebens wegen war, 
Wenn mich der Tod des Opferthiers emporte, 
Das zeige ich, ich werf das Leben weg! 

Genug! Hebbel ist Dichter genug gewesen, um seinem Kriti- 
ker die Verpflichtung aufzuerlegen, seine Verfehlungen als Ver- 
irrungen wahrer Konzeptionen zu verstehen. Unmoglich kann 
mit alien den Entstellungen, die eine dramatische Theorie wie 
die Hebbels selbst dem grofiten Ingenium gelegentlich wiirde 
aufzwingen konnen, das Drama von Anfang an vor ihm ge- 
standen haben. In der Tat trifft aufmerksame Priifung auf ein 
Motiv, das, so sehr es im vollendeten Werke zuriicktritt, wohl 
urspriinglich bestimmend fur des Dichters Interesse am Stoff 
gewesen sein kann, wenn anders dieses Motiv wirklich, wie es 
den Anschein hat, ein edit Hebbelsches ist. Es ist namlich durch- 



»E1 mayor monstruo, los celos« und »Herodes und Mariamne« 275 

aus in Frage zu stellen, ob fiir das Hebbelsche Drama die Eifer- 
sucht im Mittelpunkt steht, wie fiir Calderon. Ob nicht vielmehr 
diese durch den Mord an Aristobolos und spater durch die Auf- 
deckung des ersten Mordbefehls geweckte Eifersucht nur die 
Bedingung fiir die Exposition eines ganz andern und der Heb- 
belschen Anschauungsweise hochst entsprechenden Problems ist: 
namlich fiir die Frage, ob unter Liebenden eine Probe, die im 
Drama gar eine gegenseitige ist, iiberhaupt statthaben diirfe. 
Und angesichts dieser Frage scheint bei Hebbel selbst ein inneres 
Schwanken bestanden zu haben, da der unheilvolle Ausgang der 
Priifungen nicht sowohl dem Frevel des Versuchs als seinem 
bei beiden Gatten unmenschlichen Radikalismus zuzuschreiben 
zu sein scheint. Ferner aber wird die bedeutende dramatische 
Intention der verwerflichen Liebespriifung nicht wenig durch 
die begriindende Unsicherheit des Herodes als des Schuldigen am 
Tode des Aristobolos verdunkelt. Denn gerade diese Konstella- 
tion, die subjektiv die Versuchung der Gattin durch Herodes 
plausibel macht, lafit nicht nur ihr negatives Ergebnis objektiv 
voraussehen, sondern macht sie, als von einem Schuldigen aus- 
gehend, audi subjektiv fast indiskutabel. Gerade um dieses 
Motiv der Liebesprobe, ihrer notwendigen Unsittlichkeit und 
ihres notwendigen Scheiterns hat sich also Hebbel durch das 
Extreme der Charaktere und das Extreme der Situation betro- 
gen. Aus dem Versuche der Liebesprobe als solchem den unaus- 
loschlichen Hafi zwischen den Gatten hervorgehen zu lassen, 
dies Problem mag ihn an den besten Stellen bewegt haben. Eine 
solche, Shakespearsche Fiille und Strindbergsche Unerbittlichkeit 
bekundende, ist der Ausruf der Mariamne: 

Der Tod! Der Tod! Der Tod ist unter uns! 
Unangemeldet, wie er immer kommt! 

Diese Tragodie, deren Stoff dem Betrachter zuletzt als eine 
Fata Morgana der Dramatiker erscheinen kann, hat bei Hebbel 
ihre Hohe im blendenden Aufleuchten des Hasses. Es ist unab- 
sehbar, wohin es ihn hatte fuhren konnen ohne die Bindung an 
seine moderantistische Vorschrift, die ihn nach einer klassischen 
Schonheit streben lieft, deren Abklatsch den unfahigen Zeitge- 
nossen besser gelang, deren Erneuerung undenkbar war. 



276 Literarisdie und asthetische Essays 

Diesen Zeitgenossen 17 ist die vehemente Tendenz seiner Dra- 
matik nicht entgangen. »Geschlechtsschicksalspoesie« nenntTheo- 
dor Mundt sie. Und bei Gottschall ist die Rede von einer Zer- 
storung, »die sich unter dem Schein architektonisdier Arbeit ver- 
birgt. Hebbel ist der grofite sittliche Revolutionar von alien 
deutschen Poeten, aber er verbirgt diesen moralischen Jacobi- 
nismus unter der kunstvollen Maske des Tragikers.« Jede 
grofie Tendenz mufS ihre Form (jene, in welcher sie aufhort 
»Tendenzpoesie« zu heiflen) sich erst schaffen. Alle grofien For- 
men des Dramas sind vielleicht aus Tendenzen hervorgegangen, 
die mit der Kunst unmittelbar nichts gemein haben. Hebbel, der 
erfiillt war von solchen Tendenzen, hat doch kein Drama zu 
schreiben gewagt, dessen Kunstform ihm nicht garantiert gewe- 
sen ware. So hat er sich denn an das historische Drama gehalten, 
dem er aufierste Realitat zu geben bestrebt war. Wenn aber 
Geschichte nur als Schicksal dramatische Wahrheit beanspruchen 
kann, so ist der Versuch unromantischer historischer Dramen 
zum Scheitern verurteilt. Seine grofiten Tendenzen aber mogen 
dergestalt in etwas unausgesprochen geblieben sein. Schuchtern 
hat er es einmal Kuhne gestanden, worum es sich handelt: »Es 
lichtet sich jetzt schon bedeutend in mir, besonders, seit die Con- 
flicte, aus denen meine bisherigen Dramen hervor gingen, auf 
den Gassen verhandelt und geschichtlich gelos't werden, denn 
der morsche Weltzustand hat auf mir gelastet, als ob ich allein 
unter ihm zu leiden hatte und es schien mir der Kunst nicht un- 
wiirdig, seine Unhaltbarkeit durch ihre Mittel zur Anschauung 
zu bringen.« Weil er in seinen Jugenddramen weit iiber diese 
zahme Formulierung hinaus das gewagt hat, diirften die »Ju- 
dith« und »Genoveva« die lebendigsten bleiben. 



17 Vgl. Hebbel in der zeitgcnossischen Kritik. Hrsg. und mit Anmerkungen ver- 
sehen von H. "Wiitschke. (Deutsdie Literaturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts. 
Nr. 143; Dritte Folge, Nr. 23.) Berlin 1910. Daneben Konstantin von Wiglach: 
BiographUdies Lexikon des Kaisertums Osterreidi, Wien 1862; Artikel »Hebbel«. 



277 

Johann Peter Hebel <i) 
Zu seinem 100. Todestage 

Wenn man heute, an seinem hundertsten Todestag, J. P. He- 
bel nicht als »Verkannten« ausgraben und dem offentlichen 
Interesse empfehlen kann, ist das weit mehr sein eigenes Ver- 
dienst als das der Nachwelt. Verdienst der souverainen Beschei- 
denheit, die audi posthum in eine solche Rolle sich nicht schik- 
ken wurde und ein Jahrhundert um die Einsicht betrog, im 
»Schatzkastlein des rheinischen Hausfreundes« eines der lauter- 
sten Werke deutsdier Prosa-Goldschmiederei zu besitzen. Schuld 
aber dieses neunzehnten Jahrhunderts, dieser Nachwelt, wenn 
solche Einsicht neu oder gar paradox klingt - des schauerlichen 
Bildungshochmuts, der den Schliissel dieser Schatulle unter Bau- 
ern und Kinder verworfen hat, weil Volksschriftsteller nun ein- 
mal hinter jedem noch so gottverlassenen »Dichter« rangieren. 
Zumal wenn ihre Quelle im Dialekt fliefit. Und - zugegeben - 
eine triibe, im Fall daft sie verstockt sich selber genug sei, eitel 
gegen das Schrifttum der Nation, borniert gegen Gehalte der 
Menschheit sich abheben will. Doch Hebels aufgeklarter Hu- 
manismus schiitzte ihn davor. Nichts liegt der provinziell be- 
schrankten Heimatkunst ferner als der erklarte Kosmopolitis- 
mus seiner Schauplatze. Moskau und Amsterdam, Jerusalem 
und Mailand bilden den Horizont eines Erdkreises, in dessen 
Mitte - von Rechts wegen - Segringen, Brassenheim, Tuttlin- 
gen liegen. So steht es um alle echte, unreflektierte Volkskunst: 
sie spricht Exotisches, Monstroses mit der gleichen Liebe, in 
gleicher Zunge aus wie die Angelegenheiten des eigenen Haus- 
wesens. Das schauend aufgerissene Auge dieses Geistlichen und 
Philanthropen bezieht sogar das Weltgebaude selber der dorf- 
lichen Dkonomik noch ein und Hebel handelt von Planeten, 
Monden und Kometen nicht als Magister sondern als Chronist. 
Da heifit es etwa von dem Mond (der nun mit einemmal als 
Landschaft wie auf dem benihmten Bilde von Chagall vor 
einem steht): »Der Tag dauert dort an einem Ort so lange als 
ungefahr 2 von unsern Wochen und eben so lang die Nacht, und 
ein Nachtwachter mufi sich schon sehr in Acht nehmen, dafi er 
in den Stunden nicht irre wird, wenn es anfangt 223 zu schlagen 
oder 309. « 



278 Literarische und asthetische Essays 

Dafi dieses Mannes Lieblingsschriftsteller Jean Paul war, fallt 
nach solchen Satzen nicht schwer zu erraten. Versteht sich, dafi 
solche Manner, »zarte« Empiriker nach Goethes Wort, weil 
ihnen alles Faktische schon Theorie, zumal jedoch das anekdo- 
tische, das kriminelle, das possierliche, das lokale Faktum als 
solches schon moralisches Theorem war, einen hochst sprunghaf- 
ten, skurrilen, unableitbaren Kontakt mit der ganzen Breite 
des Wirklichen hatten. Jean Paul empfiehlt fiir Sauglinge in der 
»Levana« Branntwein und verlangt, dafi sie Bier kriegen. Viel 
unanfechtbarer aber stellt Hebel Verbrechen, Gaunereien, Bu- 
benstreiche in das Anschauungsmaterial seiner Volkskalender 
ein. Und hier wie sonst in alien seinen Sachen entspringt dann 
die Moral nie an der Stelle, wo man nach Konventionen sie er- 
wartet. Jeder weifi, wie der Barbierjunge von Segringen es sich 
getraut, dem »Fremden von der Armee« den Bart zu scheren, 
weil doch kein anderer den Mut hat. »Wenn Ihr mich aber 
schneidet, so stech ich Euch tot.« Und der dann am Schlufi: 
»Gnadiger Herr, Ihr hattet mich nicht erstochen, sondern, wenn 
Ihr gezuckt hattet, und ich hatt* Euch in's Gesicht geschmt- 
ten, so war ich Euch zuvorgekommen, hatt' Euch augenblicklich 
die Gurgel abgehauen und ware auf und davon gesprungen.« 
Das ist Hebels Art, die Moral zu machen. 

Zahlreiche Spitzbubengeschichten hat Hebel aus alteren Quellen 
geschopft; aber das* Gauner- und Vagantentemperament des 
Zundelfrieders und des Heiners und des roten Dieters ist sein 
eigenes gewesen. Als Junge war er fur seine Streiche beruchtigt 
und vom erwachsenen Hebel erzahlt man, Gall, der beruhmte 
erste Phrenologe, sei einmal ins Badische gekommen; da habe 
man audi Hebel ihm prasentiert und um ein Gutachten ge- 
beten. Aber unter undeutlichem Gemurmel habe Gall beim 
Befuhlen nichts als die Worte »ungemein stark ausgebildet« 
vernehmen lassen. Und Hebel selber, fragend: »Das Diebs- 
organ?« 

Wieviel Damonisches in diesem Hebelschen Schwankwesen um- 
geht, zeigen die grofien Steindrucke, die Dambacher im Jahre 
1842 einer Ausgabe der »Schwanke des rheinischen Hausfreun- 
des« beigab. Diese ungemein starken Illustrationen sind gleich- 
sam Zinken auf dem Pasch- und Schleichweg, auf welchem die 
sonnigeren Halunken von Hebel Verkehr mit den diisteren 



Johann Peter Hebel i 279 

schrecklichen Kleinburgern des Buchnerschen »Wozzeck« treiben. 
Denn dieser Pastor, der das Handeln zu schildern verstand wie 
keiner unter den deutschen Schriftstellern sonst und alle Register 
vom niedrigsten Schacher bis zur sdienkenden Grofimut zu Zie- 
hen wufke, war nicht der Mann, das Damonische im biirgerli- 
chen Erwerbsleben zu iibersehen. Die Schulung des Theologen 
brachte er dazu mit. Gradlinig aber wirkt protestantische Diszi- 
plin audi in Hebel dem Prosaiker fort. Sollte im allgemeinen es 
zu eng gegriffen sein - auf ihn trifft ohne jeden Zweifel zu, 
dafi neuere deutsche Prosa eine hochst gespannte, hochst dialek- 
tische Auseinandersetzung zwischen zwei Polen ist. Einem kon- 
stanten und einem variablen: der erste ist das Deutsch der Lu- 
therbibel und der zweite die Mundart. Wie sich bei Hebel beide 
durchdringen, das ist der Schlussel seiner artistischen Meister- 
schaft. Sie ist gewifi nicht einzig sprachlicher Natur. Wenn ihm 
im »Unverhofften Wiedersehen« die Sdiilderung eines Zeitver- 
laufs von funfzig Jahren, da eine Braut um ihren verungliickten 
Liebsten trauert, den Bergmann, diese unvergleichliche Stelle 
eingibt: »Unterdes$en wurde die Stadt Lissabon in Portugal 
durch ein Erdbeben zerstort, und der siebenjahrige Krieg ging 
voriiber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesuiten- 
Orden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaiserin 
Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, 
Amerika wurde frei, und die vereinigte franzosische und spa- 
nische Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Tiirken schlos- 
sen den General Stein in der Veteraner Hohle in Ungarn ein, 
und der Kaiser Joseph starb auch. Der Konig Gustav von 
Schweden eroberte russisch Finnland, und die franzosische Revo- 
lution und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der 
Zweite ging auch ins Grab. Napoleon eroberte Preuften, und die 
Englander borribardierten Kopenhagen, und die Ackerleute 
saeten und schnitten. Der Miiller mahlte, und die Schmiede ham- 
merten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer 
unterirdischen Werkstatt. Als aber die Bergleute in Falun im 
Jahr 1809 . . .« - wenn er so den Verlauf von funfzig Trauer- 
jahren darstellt, so spricht da eine Metaphysik, die erfahren ist 
und mehr zahlt als jede »erlebte«. 

In anderen Fallen aber beruht die grenzenlose kunstlerische 
Freiheit doch auf einer Sprache, die stellenweise diktatorisch, 



280 Literarische und asthetische Essays 

wie Goethesche im zweiten Teil des Faust sich vernehmen lafit. 
Solche Automat kommt ihr natiirlich nicht vom blofien Dialekt, 
der immer unmafigeblich und befangen bleibt, wohl aber aus 
der kritischen, gespannten Auseinandersetzung des uberkomme- 
nen Hochdeutsch mit der Mundart, wobei denn fiir den Wort- 
sdiatz (wie bei Luther) die krausen Kostbarkeiten Hobelspanen 
ahnlich abf alien. »Dann geht er (der verstandige Mann) mit 
guten Gedanken seines Weges weiter . . . und kann sich nicht 
genug erschauen an den bliihenden Baumen und farbigen Mat- 
ten umher.« Dergleichen Satze - und das »Schatzkastlein« ist 
deren fast ununterbrochene Folge - sollte man endlich in einer 
Gesamtausgabe bereit wissen, weder als Vorwand modischer 
Illustrationen noch als billige Schulpramie, sondern als Monu- 
ment deutscher Prosa gedacht. In soldier Ausgabe, welche noch 
fehlt, hatte man nachzuschlagen. Denn diesen Hebelschen Ge- 
schichten ist eigentiimlich, und ein Siegel ihrer Vollkommenheit, 
wie schnell sie vergessen werden. Glaubt man schon, eine im 
Sinne zu haben, so wird die Fulle dieser Texte immer eines 
Besseren belehren. Ein Schlufi, den man nie »kennen«, hoch- 
stens auswendig wissen kann, wiegt nicht selten alles auf, was 
vorherging. »Dies Stiicklein ist noch ein Vermaditnis von dem 
Adjunkt, der jetzt in Dresden ist. Hat er nicht dem Hausfreund 
einen schonen Pfeifenkopf von Dresden zum Andenken ge- 
schickt, und ist ein gefliigelter Knabe darauf und ein Magd- 
lein, und machen etwas miteinander. Aber er kommt wieder 
der Adjunkt.« Damit schliefit »Die Probe«. Wem Hebel nicht 
aus solchem Satze tief entgegen blickt, der wird ihn auch in 
anderen nicht finden. So als Erzahler sich in die Geschichte ein- 
zumischen, ist nicht romantische Art. Eher schon die des un- 
sterblichen Sterne. 



J. P. Hebel <2> 

Ein Bilderratsel zum 100. Todestage des Dichters 

Nicht jeder Schriftsteller vertragt, empfohlen zu werden. Schon 
von Hebel zu sprechen, ist schwer, ihn zu empfehlen, miifiig, und 
so wie es geschieht dem Volk ihn vorzusetzen, verwerflich. Nie 
wird er sich der Front von Kulturgrenadieren einfiigen, die der 



Johann Peter Hebel 2 281 

deutsche Schulmeister vor seinen ABC-Schiitzen vorbeiexerzie- 
ren lafit. Hebel ist Moralist; nicht aber der Moral, die das Ge- 
schaft des grofien Biirgertums besorgt. Dem - das zu Hebels 
Zeit gerade heraufkommen wollte - sieht er sehr streng auf die 
Finger, eben weil er sich auf Geschaftsmoral versteht. Als ver- 
eidigter Sachverstandiger einer Zeit, die mit ungeheurem Ge- 
schaftsrisiko arbeitete, taxierte er diese Moral. Derm als reifer 
Mann hat er die franzosische Revolution miterlebt und gewufit, 
was es heifit, wenn ein Volk en masse seiner herrschenden 
Klasse ihren Kredit aufkiindigt. Er mag es mit dieser herrschen- 
den Klasse in ihren besten Vertretern, kaufmannisch solidestem 
Kleinbiirgertum, gehalten haben; eben darum wollte er die 
rechte, die allein selig machende Buchfuhrung ihm beibringen. 
»Mit Gott« miifke auf der Folioausgabe seines »Rheinischen 
Hausfreundes« stehen, in dem sauber und in Rubriken geteilt 
Schulbeispiele soldi frommer Berechnung zum Hausgebrauche 
enthalten sind. Doppelte Buchfuhrung - und sie stimmt immer. 
Haben: der baurische, der burgerliche Alltag, Besitz der zins- 
tragenden Minuten, das eingezahlte Kapitai von Arbeit und 
Schlauheit. Und das Soil: der Gerichtstag, der eine, der nicht 
nach Minuten gezahlt wird, audi keine Glorie zu vergeben hat 
und keine Verdammnis, sondern die heimliche innige Ruhe, die, 
wie im Raume den Herd, so mit dem Zeitverlaufe den Ort in 
der Generation, die rechte, die geschichtliche Geborgenheit den 
Privatesten zurmfit. Rechts und links hat Hebel unweigerlich 
diese eine gleiche Bilanz, seine Moral predigt nicht, ist der 
schnurgerade Strich darunter mit dem langen Lineal. Ist man da 
angelangt, so kann man das Licht loschen und den Schlaf des 
Gerechten schlafen. Kein Autor hat in kurzen Geschichten 
»stimmungsloser« sein konnen. Die Gegenwart all seiner Ge- 
schopfe sind nicht die Jahre 1 760-1 826, die Zeit, in der seine 
Menschen leben, ist in Jahreszahlen nicht numeriert. Wie nam- 
lich Theologie (Hebel war Theolog und sogar Mitglied einer 
Kirchenkommission) Geschichte immer in Generationen denkt, 
so sieht Hebel im Tun und Lassen seiner Leute die Genera- 
tion in alien den Krisen sich herumschlagen, die als Revolution 
in Frankreich 1789 zum Ausbruch kamen. In seinen Halunken 
und Lumpen lebt Voltaire, Condorcet, Diderot nach, die unsag- 
bar schnode Verstandigkeit seiner Juden hat vom Talmud nicht 



282 Literarische und asthetische Essays 

mehr als von dem Geist des etwas spateren Vorlaufers der So- 
zialisten, Moses Hefi. Das Konspirative ist Hebel nicht fremd 
gewesen. Natiirlicli war der Geheimbund dieses Marines, dessen 
simplem, aber formlosem Leben man nicht auf den Grund schau- 
en kann, kein politischer. Eher erinnert seine »Proteuserei«, sein 
»Belchismus«, die ganze mit jungenhaften Geheimschreibereien 
durchsetzte Naturmystik, deren Altar der Belchen war, unci 
deren Priester er selber »Scheinkonig Peter I. von Aftmannshau- 
sen« war, an Spielereien vorrevolutionarer Rosenkreuzer. Dafi 
Hebel nicht imstande war, Grofies, Wichtiges anders zu sagen 
und zu denken als uneigentlich - diese Starke seiner Geschichten 
macht in seinem Leben das Planlose, Schwache. Sind doch selbst 
die Beitrage zum Kalender des »Rheinlandischen Hausfreundes« 
aus aufierer Notigung entstanden, iiber die er viel murrte. Das 
hat ihn aber nicht gehindert, fur Grofies und Kleines den rech- 
ten Sinn zu behalten, und wenn er audi niemals anders als im 
Tiefsten ineinander verschrankt und verschachtelt beides zu- 
gleich hat aussprechen konnen, so war sein Realismus darin im- 
mer stark genug, vor jenem Mystizismus des Kleinen und 
Kleinlichen ihn zu behuten, der manchmal Stifters Gefahr wur- 
de. Nicht nur Jean Paul, dem er sprachlich verwandt ist, auch 
Goethe hat er als Schriftsteller geliebt, Schiller nicht lesen konnen. 
Dieser lammfromme Verfasser von Dialektgedichten und Kate- 
chismen zeigt noch heute den Schulmeistern seinen Pferdefufi 
im » Andreas Hofer«, der am Schlufi des »Schatzkastleins« von 
1827 stent. Da wird das Unternehmen des Tiroler Aufstandes 
streng, ja sarkastisch besprochen. Der deutsche Literarhistoriker 
fuhlt etwas von der Gene, die Goethes patriotische Unzuver- 
lassigkeit ihm nach verlorenem Weltkrieg noch immer bereitet. 
In Wahrheit spricht aus beiden nur der unverbruchliche Respekt 
vor Machtverhaltnissen, denen gegeniiber Naivitat am aller- 
wenigsten in moralischen Dingen erlaubt ist. Nach diesem 
Grundsatz verbuchte Hebel den Alltag in Dorf und Stadt. In 
seinem Geschaftsverkehr gibt es nur Barzahlung. Den Scheck 
der Ironie erkennt er nicht an, aber sein Humor kassiert in Pfen- 
nigen die grofken Summen. Er ist nicht sowohl vorbildlich im 
Ganzen seines Geschichtenbuchs als unerschopflich in jeder 
seiner Einzelheiten. Wenn eine der Erzahlungen beginnt: »Be- 
kanntlich klagte einst ein alter Schulz von Wasselnheim seiner 



Gottfried Keller 283 

Frau, dafi ihn sein Franzosisch fast unter den Boden bringe«, 
so ist mit diesem einzigen Wort »Bekanntlich« die ode Kluft 
verschiittet, die ftir jeden Spiefier Geschichte und Privatleben 
trennt. Nicht zu reden von jenem zwanzigzeiligen historischen 
Exkurs im »Unverhofften Wiedersehen« - dem ganzen Hebel in 
nuce. Unscheinbar wie in jenen zwanzig Zeilen Weltgeschichte 
Kaiser und Siege ist Hebels Konnen. Schwer abschatzbar bis in 
das Sprachliche, iiber dessen Gewalt der Dialekt mehr als ge- 
heimnisvoller Schleier liegt, denn in ihm als Kraftquelle. Die 
Winzigkeit seines Werkes ist Biirgschaft von seinem Fortbe- 
stehen audi in fremdester Umwelt. Ein Bischofsstab, der im 
Familienbesitze sich forterbt, kann eines Tages so gut wie die 
Jakobinermiitze als peinliche Erinnerung verworfen werden. 
Nicht aber jene unscheinbare Brosche, auf der sich Bischofsstab 
und Jakobinermiitze kreuzen. 



Gottfried Keller 
Zu Ehren einer kritischen Gesamtausgabe seiner Werke 1 

Den LiebKabern sogenannter »guter 
Sachen« konnen wir unsers geringen 
Orts die Versicherung geben, dafi hier 
ernstlidi etwas derartiges vorhanden 
ist. 

Gottfried Keller 
iiber Leutholds Gedicbte 

Man erzahlt von Haydn, es habe ihm einst eine Symphonie 
sehr groEe Muhe gemacht. Da hatte er, um weiter zu kommen, 
eine Geschichte sich vorgestellt: ein Kaufmann, in finanziellen 
Sorgen, sucht vergeblich sich durchzukampfen, er macht Fallite 
- Andante -, entschlieftt sich - Allegro ma non troppo - nach 
Amerika auszuwandern, dort - Scherzo - reiissiert er und - 
Finale - heimkehrend wendet er sich strahlend zu den Seinen. 
Das ist nun ungefahr Vorgeschichte und Anfang des »Martin 

1 Gottfried Kellers samtlidie Werke. Auf Grund des Nadilasses herausgegeben von 
Jonas Frankel. Von der Verwakung des Gottfried Kellersdien Nadilasses auton- 
sierte Ausgabe. Eugen Rentsch Verlag, Erlenbach-Ziirich und Miindien. 



284 Literarische und asthetische Essays 

Salander«. Und gerne wollte man, um einen Ausdruck fur die 
namenlose Sufle des Kellerschen Stils und seine klingende Fiille 
zu haben, im umgekehrten Sinne diese Geschichte erfinden, er- 
zahlen, wie er bei dem Niedersdireiben seiner Prosa von Melo- 
dien sich leiten liefi. Da man dergleichen aber nicht vernimmt, 
ist man, um etwas von ihr auszusagen, noch immer auf spro- 
dere Mittel verwiesen. Es ist hier niclit der Ort es zu begriin- 
den, jedoch es mufi als Sachverhalt aufs aufierste frappieren, 
dafi vor zehn Jahren, als die aufhorchende Liebe der Deutschen 
sich endlich zu Stifter wandte, in die Sommer- und Winterstille 
von dessen Landschaft kein Ton aus Kellers Pansflote hiniiber- 
gedrungen ist. Aber die Deutschen hatten eben - gerade nach 
geendetem Kriege - politischen Tanzen, zu denen ganz leise bei 
Keller der Rhythmus mitklingt, auf einige Jahre abgeschworen, 
und suchten die edle Stiftersche Landschaft mehr als Heilstatte 
denn als Heimat auf. 

Wie dem nun sei - die neu-alte Wahrheit, die Keller unter die 
dreiodervier grofiten Prosaiker der deutschen Sprache aufnimmt, 
hat immer noch einen schweren Stand. Sie ist zu alt um die 
Leute zu interessieren, und zu neu um sie zu verpflichten. Damit 
geht es ihr eben ahnlich wie dem neunzehnten Jahrhundert, in 
dessen »sommerlicher Mitte« Seldwyla - eine civitas dei helve- 
tica - seine Turme errichtet. Erstmalige giiltige Einsicht in 
Kellers Werk ist an eine allgemach fallige Umwertung des 
neunzehnten Jahrhunderts gebunden, die allein mit den Verle- 
genheiten der Literarhistoriker aufzuraumen imstande sein wird. 
Wem miifite nicht heute schon der grundverschiedene Wertak- 
zent auffallen, den dies Jahrhundert in der burgerlichen und in 
der materialistischen Literatur hat? Und wem nicht sicher sein, 
dafi Kellers Werk einer Betrachtung aufbehalten bleibt, die den 
historischen Grund, auf dem es erbaut ist, fur ihr Erbe erkla- 
ren kann? Das kann die biirgerliche Literarhistorie fur den 
Materialismus und den Atheismus Kellers nicht tun. Nicht mehr 
tun. Denn allerdings war dieser Atheismus - der ihm bekannt- 
lich in den Heidelberger Jahren von Feuerbach uberkommen 
war - nicht subversiv. Er lag vielmehr im Sinne einer starken, 
siegreichen Bourgeoisie. Nicht aber auf ihrem Wege zum Impe- 
rialismus. Die Reichsgriindung bedeutet audi ideologisch in der 
Geschichte des deutschen Biirgertums einen Bruch. Der Ma- 



Gottfried Keller 285 

terialismus - der philistrose wie der dichterische - verschwin- 
det. Die Schweiz hat wohl am langsten in ihren oberen Schich- 
ten Ziige des vorimperialistischen Biirgertums festgehalten. (Und 
sie tut es nodi heute: so fehlt ihr das savoir vivre der Speku- 
lanten, mit dem die imperialistischen Staaten die Sowjetherr- 
schaft rechtlich anerkannt haben.) Audi hat der schweizerisdie 
Charakter vielleicht mehr Heimatliebe und weniger nationali- 
stischen Geist in sidi genahrt als irgendein anderer. Aus Basel 
sind gegen Ende von Kellers Leben Nietzsches helle Warnungen 
vor dem Geiste des neuen Reiches ergangen. Und Keller, der in 
seiner Munchner Zeit zu handwerklichem Nebenerwerb von 
Hause mehr als ihm lieb war sidi aufgefordert sah, reprasentiert 
eine Klasse, die, was sie mit dem handwerklichen Produktions- 
prozefi verband, nodi nicht vollig durdisdinitten hatte. Es ist 
erstaunlich, mit weldier Beharrlidikeit das Zuricher Patriziat 
diesen Mann in jahrelanger, opferreicher Veranstaltung zum 
angesehenen Mitblirger und schliefilich zu einem der hochsten 
Beamten - Staatsschreiber des Kantons - herangebildet hat. 
Jahre hindurch bestand etwas wie eine Aktiengesellschaft zur 
Ausbildung und Etablierung Gottfried Kellers, und seit den 
unergiebigen Anfangen seiner Laufbahn hatte oft und oft das 
Kapital vermehrt werden miissen, bis er es spater mit Zins und 
Zinseszins seinen Zeichnern zuriickgezahlt hat. Als er schliefilich 
uber Nacht zum Staatsschreiber war gemacht worden, da hat 
man diese Neuigkeit, deren sich niemand versah, ausfuhrlich in 
der stadtischen Presse glossiert. Am 20. September 1861 schreibt 
die »Zurchersche Freitagszeitung«: »Allgemein ist bekannt, dafi 
Herr Keller bis vor kurzer Zeit sich weder mit Politik im allge- 
meinen, noch viel weniger mit dem Detail der Administration 
vertraut gemacht hat . . . Seither scheint ihn allerdings das Be- 
diirfnis angewandelt zu haben, von Zeit zu Zeit als Korrespon- 
dent verschiedener Blatter, mit mehr Witz und Federgewandt- 
heit als mit Sachkenntms und unter ernstem Studium, die 
politischen Zustande im Kanton Zurich zu kritisieren und zu 
verhohnen.« Seiner Natur voll grundlicher Hemmungen und 
leidenschaftlicher Vorbehalte hat dieser hohe, burokratische 
Posten entsprochen. Padagogisches Wirken hat ihm so nahe wie 
den meisten grofien Autoren seines Volkes gelegen, und die 
Moglichkeit, es vermittelt und im Grofien zugleich zu entfalten, 



286 Literarische und asthetische Essays 

war seinem Wesen die gemafieste. Er konnte in dem, was er 
offent.lidi darstellte, nicht Lehrer sondern einzig Gesetzgeber 
sein. (Keller hat an einer neuen Verfassung des Kantons Zurich 
mitgearbeitet.) Man erzahlt, das Amt sei bei ihm gut aufgeho- 
ben gewesen. Ihn selber mufite die Arbeit in engeren Schranken 
vollends gegen die idealistische Bewegung im Reiche abriegeln. 
Darin verband sie sich seinem Materialismus. Es ist bekannt, 
dafi Keller dessen Thesen, besonders die der integralen Sterb- 
lichkeit des ganzen Menschen, nicht als rechthaberischer Ratio- 
nalist, sondern als leidenschaftlicher Hedoniker vertrat, der sich 
sein Rendezvous mit diesem Leben durch kein zweites hat lassen 
storen wollen. Sein Werk ist die Mole der burgerlichen Geistes- 
bewegung,.vor der sie noch einmal zuriickflutet und die Schatze 
ihrer und aller Vergangenheit hinterlafit, bevor sie als idealisti- 
sche Sturmflut Europa zu verwiisten sich anschickt. Man mufi 
sich namlich durchaus klar machen, wie nahe Keller einer tod- 
verfallenen, verodeten Generation schon steht - wie eigentlich 
ein Nichts der sprachlichen Formung, ein eigensinniges, ihm sel- 
ber dunkles Spinnen seine Novellen neben die verkommenen 
eines Auerbach oder Heyse als ratselhaft vollendete stellt. Dafi 
Thumann, Vautier und einige andere der Art damit beauftragt 
werden sollten, »Romeo und Julia auf dem Dorfe« zu illustrie- 
ren, besagt hier alles. Die strikte Weltlichkeit ist aber Keller 
nicht Anlafi einer freigeistigen Gesinnungsethik geworden. Da- 
vor bewahrte ihn sein Radikalismus. Dessen erstaunlichste Do- 
kumente finden sich in den Auseinandersetzungen mit Gotthelf. 
Wem es nur wenig sagt, wie Keller bei einer Besprechung der 
Gotthelfschen Schriften vom Biicherpreis ausgeht, der lese an 
einer andern Stelle: »Heute ist alles Politik und hangt mit ihr 
zusammen von dem Leder an unserer Schuhsohle bis zum ober- 
sten Ziegel am Dache, und der Rauch, der aus dem Schornsteine 
steigt, ist Politik und hiingt in verfanglichen Wolken iiber Hut- 
ten und Palasten, treibt hin und her iiber Stadten und D6rfern.« 
Er hat es insbesondere mit Gotthelfs weltlaufiger Erbaulichkeit 
zu tun, und da fallen die erstaunlichen Worte: »Das Volk, be- 
sonders der Bauer, kennt nur Schwarz und Weifi, Nacht und 
Tag, und mag nichts von einem tranen- und gefiihlsschwangeren 
Zwieliclite wissen, wo niemand weifi, wer Koch oder Kellner ist. 
Wenn ihm die uralte naturwiichsige Religion nicht mehr ge- 



Gottfried Keller • 287 

niigt, so wendet es sich ohne Obergang zum direkten Gegenteil, 
denn es will vor allem Mensch bleiben und nicht etwa ein Vogel 
oder ein Amphibium werden.« 

Kellers Liberalismus - mit dem der heutige natiirlich so wenig 
zu tun hat wie mit sonst einem durchdachten Verhalten - be- 
hielt die exaktesten Mafistabe des Gebotenen und des Verwerf- 
lichen. Und es klingt ungeheuerlich zu sagen, dafi es im ganzen 
die der burgerlichen Rechtsverfassung blieben. Man hat aber nur 
zuzusehen. Nicht anders als in den »Wahlverwandtschaften« 
aus dem erschutterten Ehebund geht in der unverganglichen 
Novelle »Romeo und Julia auf dem Dorfe« aus dem gebroche- 
nen Eigentumsrechte an einem Acker ein vernichtendes Schicksal 
hervor. Im Alter hat Keller an der Fabel des »Martin Salan- 
der« die allerstrengsteKommunikation burgerlich-rechtlicherund 
menschlich-sittlicher Daseinsformen verfolgt. Und damit ware 
ihm denn wohl sein Platz - etwa zwischen Dahn und der 
Marlitt - gesichert, den ihm im Innern ihres gebildeten Herzens 
heute - wieviele Deutsche nicht? — geben. Es ginge soweit alles 
noch mit rechten Dingen zu. Aber hier eben wolbt sich die 
Schwelle des »bedenklichen« Grotten- und Hohlensystems, 
welches, je tiefer es in Keller selbst hineingeleitet, desto unmerk- 
licher die Rhythmik des burgerlichen Stimmen- und Meinungs- 
larms verschrankt und endlich verdrangt mit den kosmischen 
Rhythmen, die es im Innern der Erde auffangt. Suchen wir fiir 
dies Grotten- und Hohlenwunder den Namen, so heifk es: Hu- 
mor. Das leiser und melodischer gestimmte Lachen Kellers ist 
in den irdischen Gewolben so gut zu Hause wie in den himm- 
lischen das des Homer. Man hat aber noch jedesmal erlebt, dafi 
man zu einem grofkn Autor sich den Zugang verbaut, wenn 
man davon ausgeht, er sei Humorist. So ist auch Kellers Hu- 
mor nicht goldne Politur der Oberflache, sondern der unbere- 
chenbare Anlageplan seines melancholisch-cholerischen Wesens. 
Dem folgt er in den bauchigenArabesken seines Vokabulars. Und 
wenn er vor den burgerlichen Satzungen Respekt bekundet, so 
hat er ihn in der Willkiirwelt des Innern erlernt, und Kellers 
leidenschaftlichster AfTekt, die Scham, liegt beiden zugrunde. 
In seiner Weise ist der Humor eine Rechtsordnung. Er ist die 
Welt der urteilslosen Vollstreckung, in der Verdikt und Gnade 
im Gelachter laut wird. Das ist der ungeheiiere Vorbehalt, aus 



288 Literarische und asthetische Essays 

dem Kellers Schweigen und Dichten beredt wird. Von Rede, 
Urteil und Verurteilung hat er wenig gehalten - wieviel erst 
von moralischer, das sagen die Schlufiworte jener Liebesnovelle. 
Dem zum Denkmal hat er Seldwyla erbaut am Sudabhange 
jener Hiigel und Walder, an deren nordlichem die Stadt Rue- 
chenstein liegt, deren Bewohner »zu ihren Hinrichtungen, Ver- 
brennungen und Schwemmungen ... ein windstilles, freundli- 
ches Wetter « liebten, daher dort »an recht schonen Sommertagen 
immer etwas vorging.« Es war ihm ausgemachte Sache, dafi 
wohl »eine ganze Stadt von Ungerechten oder Leichtsinnigen 
zur Not fortbestehen kann im Wechsel der Zeiten«, dafi aber 
»nicht drei Gerechte lang unter einem Dache leben konnen, ohne 
sich in die Haare zu geraten.« Die siifie, herzstarkende Skepsis, 
die unter angelegentlichem Schauen reift, und wie ein starkes 
Arom aus Menschen und Dingen des liebenden Betrachters sich 
bemachtigt, ist nie in eine Prosa wie in Kellers eingegangen. Sie 
ist von der Vision des Gliicks untrennbar, die diese Prosa reali- 
siert hat. In ihr - und das ist die geheime Wissenschaft des 
Epikers, der allein das Gliick mitteilbar macht - wiegt jede 
kleinste angeschaute Zelle Welt soviel wie der Rest aller Wirk- 
lichkeit. Die Hand, die in der Schenke so drohnend aufschlug, 
hat im Gewicht der zartesten Dinge sich nie vergriffen. Ab- 
wagend Laut- und Sachgewichte zu verteilen, ist noch das 
Werk des Kanzleideutsch, das hin und wieder sich umstandlich 
breit macht. Ein LorTel Suppe in der Hand des rechtschaffenen 
Mannes wiegt, wenn's darauf ankommt, das Tischgebet und 
Seelenheil im Munde des Gauners auf. »Martin Salander befolg- 
te in alien Lagen seines Lebens, wo eine Suppe vorkam, die An- 
gewohnung, ohne Verzug mit dem Genusse derselben zu begin- 
nen, sobald er sie im Teller hatte.« 

Wie Kellers Werk durchaus auf unromantischem Grunde erbaut 
ist, erweist nichts deutlicher als die unsentimentale, epische Ein- 
richtung seiner Schauplatze. Gliicklich lafit Conrad Ferdinand 
Meyer das Gefiihl davon anklingen, wenn er, mit einer fast 
biblischen Wendung, im Juli 1889, zum siebzigsten Geburtstag, 
dem Dichter schreibt: »Da Sie die Erde lieben, wird die Erde 
Sie audi so lange als moglich festhalten.« Kellers hedonischer 
Atheismus erlaubt ihm nicht, >Natur mit christlichen Glau- 
bensranken<, wie Gotthelf es tat, zu verzieren. »Die ihm am 



Gottfried Keller 289 

meisten Frucht liefert und ihn am wenigsten stort und beun- 
ruhigt, ist ihm die schonste.« So hat Hehn es vom alten Lateiner 
gesagt, so steht es fur Keller. Naturauslegung und Sonntags- 
predigt sind nicht sein Fall. Nur wirkend greift die Landschaft 
mit ihren Kraften in die Okonomie des Menschendaseins ein. 
Das gibt den Vorgangen etwas Antikes. Oft glaubten in der 
beginnenden Renaissance Maler und Dichter die Antike darzu- 
stellen und charakterisieren doch nur ihre Zeit. Fur Keller gilt 
beinahe das Umgekehrte. Er glaubte seine Zeit zu geben und in 
ihr gab er Antike. Es geht aber mit den Erfahrungen der 
Menschheit - und die Antike ist eine Menschheitserfahrung - 
nicht anders wie mit denen des einzelnen. Ihr Formgesetz ist ein 
Gesetz der Schrumpfung, ihr Lakonismus nicht der des Scharf- 
sinns sondern der eingezogenen Trockenheit alter Friichte, 
alter Menschengesichter. Das weissagende orphische Haupt ist 
zum hohlen Puppenkopfe geschrumpft, aus dem das Brummen 
der gefangenen Fliege tont - wie man in einer Kellerschen No- 
velle ihn findet. Von dieser echten und verhutzelten Antike sind 
Kellers Schriften randvolL Seine Erde hat zur »homerischen 
Schweiz« sich zusammengezogen, sie ist die Landschaft, aus der 
er die Gleichnisse nimmt. »Sie ward inne, dafi sie zunachst keine 
Kirche mehr hatte, und in ihrem Frauensinne, durch die Macht 
der Gewohnheit, wurde es ihr zumut wie einer verirrten Biene, 
welche in der kalten Herbstnacht iiber endlosen Meereswellen 
schwebt.« In Kellers Weh nach seiner Schweizer Heimat tont 
Sehnsucht in die Zeitenferne mit. Die Schweiz ist ihm sein hal- 
bes Leben lang ein femes Bild, wie Ithaka dem Odysseus, ge- 
wesen. Und als er heim kam, blieben immer noch die Alpen, 
die er nie bereist hat, schone, feme Bilder. Dem Dichter ist die 
Odyssee das geliebteste Werk gewesen, dem angehenden Maler 
tritt immer wieder eine phantastische Paraphrase der Heimat- 
landschaft seinen Naturstudien in den Weg. 
Der Geist, in welchem Keller diesen Raum des neunzehnten 
Jahrhunderts der Antike durchwaltet, ist greifbar in seinem 
Worte. Kellers bewufites Feilen an der Sprachform ist zwar be- 
fangen; bei der Lektiire seiner eigenen Sachen ist er schreckhaft 
gewesen. Am Apparat der Gesamtausgabe laftt sich verfolgen, 
wie meist das Muhen um das sprachlich Sittige, Korrekte, nur 
selten um das dichterisch Gepragtere ihn zum Verbessern be- 



290 Literarische und asthetische Essays 

wogen hat. Desto wesentlicher ist es, dafi nun das Gestrichene 
zuganglich wurde. Jedoch auch ohnedies verraten iiberall Wort- 
schatz und Wortgebrauch einen Einschlag barocken Wesens in 
seine hausbackene Fabelwelt. Die einzige Gestaltung seiner Pro- 
sa verdankt ja Keller gerade dem, daft kein andrer Deutscher 
seit Grimmelshausen so gut um die Rander der Sprache Bescheid 
wufite, so frei das urspriinglichste Dialekt- und das spateste 
Fremdwort handhabt. Der Sprachschatz der Dialekte ist Schei- 
demiinze, die in den Pragungen vieler Jahrhunderte umlauft. 
Und wenn der Dichter im Worte eine besonders innige, beseli- 
gende Anschauung begleichen will, so greift er instinktiv nach 
diesem ererbten Schatze. Er ist im Herzahlen desselben so nobel 
gewesen wie seine Schwester geizig mit dem metallenen - 
jene Regula, von der er gesagt hat, dafi sie in »punkto alte 
Jungfer auf die unglucklichere Seite dieser Nation zu stehen 
gekommen« sei. Demgegeniiber ist in seiner Prosa das Fremd- 
wort gleichsam der Wechsel, ein prekares Dokument von weit- 
her, das er mit Vorsicht und Spannung handhabt. Er legt 
es ubrigens in Briefe am liebsteri ein. Nach diesen Briefen kann 
gar nicht bezweifelt werden, dafi das Schonste und Wesentlichste 
diesem Schriftsteller mehr noch als andern unter dem Schreiben 
kam, weswegen er sich qualitativ immer weniger zutraute als 
er konnte, quantitativ immer mehr. Weswegen er sich auch der 
»Majestat der Faulheit« so oft gefiigt hat. Er glaubte gar nicht, 
dafi es viel zu sagen gabe; aber es lag wohl in seiner schreiben- 
den Hand ein Mitteilungsbedlirfnis, das der Mund nicht kannte. 
»Es ist sehr kalt heute; das Gartchen vor dem Fenster schlottert 
vorKiihle: siebenhundertundzweiundsechzigRosenknospen krie- 
chen beinahe in die Zweige zuriick.« Solche Stellen mit ihrem 
kleinen Bodensatz von Nonsens in der Prosa (den Goethe einmal 
fur den Vers obligat erklart hat) sind der sinnfalligste Beleg fur 
das ganz Unberechenbare seines Produzierens, das die Verlags- 
geschichte seiner Werke bestimmt hat. 

Was Kellers Biicher ganz und gar erfiillt, das ist die Sinnenlust 
nicht so des Schauens als des Beschreibens. Das Beschreiben ist 
namlich Sinnenlust, weil in ihm der Gegenstand den Blick des 
Schauenden zuriickgibt, und in jeder guten Beschreibung die 
Lust, mit der zwei Blicke, die sich suchen, aufeinander treffen, 
eingefangen ist. Durchdringung des Erzahlerischen und des 



Gottfried Keller 291 

Dichterischen - der wesentliche Zuwachs, den dem Deutschen 
die nachromantische Epoche gebracht hat - ist in Kellers be- 
schreibender Prosa am vollsten verwirklicht. In fast alien Ar- 
beiten der romantischen Schule treten die beiden Elemente aus- 
einander: auf der einen Seite stehen Werke wie die »Serapions- 
briider«, auf der andern Romane wie »Godwi«. Fur Keller 
ruhen audi diese Krafte im Gleichgewicht. Daher kommt der 
alltaglichsten Hantierung seiner Menschen die runde, kanonische 
Sinnfalligkeit, die sie fiir einen Romer gehabt haben. miissen. 
»In derselben Linie liegt auch,« sagt Walter Cale - einer von 
den ganz wenigen Autoren, die mit unverwechselbarem Akzent 
von Keller gesprochen haben - »daft sich oft iiberhaupt keine 
>Idee< seiner Erzahlungen angeben lafk: denn Idee ware Ein- 
schrankung auf Eine bestimmt ausgeweitete symbolische Bedeu- 
tung; er aber, . . . wahrer Abbildner der Natur, gibt diese wie- 
der wie sie ist, infinita infinitis modis: mit unzahligen, an jeder 
Stelle beunruhigend fast aufsprossenden Bedeutsamkeiten, die 
sich in kein Wort zwingen lassen und darum gerade alles und 
das Tiefste zu sagen scheinen.« Die Wirklichkeit zu spiegeln, das 
kann sich freilich nie theoretisch als Gehalt der Kunst erweisen. 
Aber das hindert es nicht, fiir das Streben grofier Dichter ein 
gultiger Ausdruck zu sein. Ja dieses Abspiegeln ist geradezu das 
besondere Verhalten des Epikers. Das Aufrollen des Naturplans 
in ganzer Breite ist ihm als bildnerische Geste ebenso urspriing- 
lich, wie dem Dramatiker der Querschnitt durch die Struktur 
des Geschehens und die unendliche Konzentration des Daseins 
dem Lyriker. Eine Spiegelwelt ist die Welt der Kellerschen 
Schriften - freilich auch darin, dafi irgend etwas in ihr von 
Grund auf verkehrt, rechts und links darinnen vertauscht ist. 
Wahrend das Tatige, Gewichtige in ihr scheinbar unangetastet 
seme Ordnung wahrt, wechselt das Mannliche ins Weibliche, 
das Weibliche ins Mannliche unmerklich himiber. Es hat schon 
zu Kellers Lebzeiten Leser gegeben, welchen in den fahlen Re- 
flexen seines Humors eine Scheinwelt, die ihnen unheimlich war, 
sich verriet. Storm schreibt ihm uber den Schlufi der »Armen 
Baronin«: »Wie zum Teufel, Meister Gottfried, kann ein so 
zart und schon empfindender Poet uns eine solche Roheit - ja, 
halten Sie nur hubsch still! - als etwas Ergotzliches ausmalen, 
dafi ein Mann seiner Geliebten ihren friiheren Ehemann nebst 



292 Literarische und asthetische Essays 

Briidern zur Erhohung ihrer Festfreude in so scheuftlicher pos- 
senhafter Herabgekommenheit vorfuhrt!« Etwas Flackerndes 
1st in dem Licht, wie es im »Landvogt von Greifensee« ver- 
sohnend iiber ein verfehltes Lebensgliick sich giefien soil, etwas 
Irres im Lachen des alten Mannes. Es ist nur dem Lyriker Keller 
beschieden gewesen, dieses trube, unstete Licht zu filtern in 
wenigen - doch wie vollendeten! - Gedichten. 

Langsam und schimmernd fiel ein Regen, 
In den die Abendsonne schien; 
Der Wandrer schritt auf schmalen Wegen 
Mit diistrer Seele drunter hin. 

In solcher Abendsonne stehen die fernen Bilder, die mit verzicht- 
durchfurchtem Lacheln, das seinesgleichen nur in den Huri- 
Liedern des »Divan« hat, der Dichter vor dem nahenden Tod 
mit der Sense beschwort: 

Doch die lieblichste der Dichtersunden 
Lafit nicht biiEen mich, der sie gepflegt: 
Siifie Frauenbilder zu erfinden, 
Wie die bittre Erde sie nicht hegt! 

Unter seinen Gestalten ist Judith, die begehrteste Frau, diesel- 
be, von der er gesagt hat, sie sei das »von keiner Wirklichkeit 
getnibte Phantasiegebilde«. Auch ist es nicht belanglos, dafi von 
den wenigen Frauen, die Keller liebte, eine im Irrsinn, eine 
andere durch Selbstmord geendet hat. Endlich jene beiden Zei- 
len der schweizerischen Nationalhymne, die wie nichts anderes 
Kellers Visionsraum kennzeichnen - diese Rose auf diesem 
Strande, die Schweiz, die darum, weil sie der Pedant nicht 
pfliicken kann, nichts weniger ist als ode Redeblume: 

Schonste Ros', ob jede mir verblich, 
Duftest noch an meinem oden Strand! 

Die »stille Grundtrauer«, die er bekennt, ist die Brunnentiefe, in 
welcher immer wieder der humor sich sammelt. Und um es 
graphologisch auszusprechen: die seltsamen Hohlen- und Ei- 
formen dieser Schrift sind - unbeschadet aller psychoanalyti- 
schen Enqueten - konkav, das Bild der »Gramspelunke«, die 
sein Inneres war, konvex, das anschauliche Aquivalent seiner 



Gottfried Keller 293 

Grillen und Schrullen. Das Bildnis Stauffer-Berns hat der Dich- 
ter nicht wahrhaben wollen. Aber der miide Keller, dessen 
sicb der Radierer in einer unbewachten Minute versicherte, war 
der wahre, das sonore, echohaltige Innere des Miiden das seine. 
»Oft, wenn ich in der Nacht so daliege,« hat Keller auf seinem 
Sterbebette zu Adolf Frey gesagt, »komme ich mir vor wie ein 
bereits Begrabener, iiber dem ein hohes Gebaude hervorragt, 
und dann tont es immer: ich schulde, ich dulde.« Wenn aber an 
vereinzelten Stellen der Werke selber dergleichen durchdringt, 
geschieht es vielsagend stets im Bilde des Weibes. Er sieht sich 
unter der Figur der Nixe zu, die in der Winternacht vergeblich 
an der Eisdecke tastet, welche sie einschliefk. Er kennt sich 
»in der Trauer« als die Danaide: 

Und wie die miide Danaide wohl, 
Das Sieb gesenkt, neugierig um sich blicket, 
So schau ich euch verwundert nach, 
Besorgt, wie ihr euch fiigt und schicket! 

Doch auch im Scherz, der ja mitunter der Trauer so nah stent, 
sind ihm dergleichen Wendungen moglich. »Ich wiirde mich 
bald getrauen,« heifit es in einem Berliner Brief e, »einem an- 
sehnlichen Putzmachergeschaft wiirdig vorzustehen vermittelst 
der genauen Studien, welche ich in den Zwischenakten an 
Haubchen und Halskrausen aller Art vornehme,« Und wer nun, 
solche Bilder im Sinn, den Satz wagt, daft Kellers traurige Ge- 
lassenheit an einem tiefen Gleichgewicht sich ausgerichtet hat, 
das Weibliches und Mannliches in ihm bewahrten, beriihrt da- 
mit zugleich die physiognomische Erscheinung des Mannes. Die 
Antike hat ja als mannweiblichen Typ durchaus nicht einzig den 
Hermaphroditen gekannt. Dessen gefallige Formen sind spaten 
Ursprungs und danken mehr romischer und alexandrinischer 
Willkiir als dem alten Griechentum selbst. Und wenn nun auch gar 
nicht daran gedacht werden kann, dafi die Antike einen gereif- 
ten mannweiblichen Typ aus physiognomischen Spekulationen 
gepragt hatte, und der Aphroditos - die bartige Aphrodite — 
so gut ein kultisches Bild ist, wie bei argivischen Frauen der 
Brauch, mit dem Bart in der Brautnacht sich auszustaffieren, ein 
kultischer war, so fuhrt die Vorstellung solcher Haupter doch 
nahe wie nichts anderes an dies Dichterhaupt heran. 



294 Literarische und asthetische Essays 

Die Innenwelt, in welche der Betrachter, der Schweizer Burger 
und Politiker auf Stromen guten Weins das Wirkliche verflofite, 
war kein besonntes Hieronymusstiibchen, sondern ein Bann- 
raum, wo von den beiden schleichenden Lebensstromen umkreist, 
immer wieder Gesichte sich bildeten. Sein »Traumbuch« ist ein 
Kodex solcher Gesichte. In seinen Schriften schieben sie dicht 
und wie wappenformig sich ineinander. fhrer Schreibart wohnt 
etwas Heraldisches bei. Sie setzt die Worte oft mit so barockem 
Trotz zusammen, wie ein Wappen die Halften der Dinge. In 
einem Altersbriefe, der fiir ein besticktes Kissen dankt, heifit 
es: »Ich kann . . . die Miihe fast nicht verantworten, welche Ihre 
kunstreichen Hande sich genommen haben, diesen zwei Initialen 
eine so schone Statte zu bereiten, wahrscheinlich im Hinblick 
darauf, daf? sie nicht mehr lang zusammenhalten werden.« 
Umstandlich scharen sich zum letzten Mai in seinem Werke, 
diesem Heroldsbuche der Kantone, die Sinnbilder des biirger- 
lichen Staats zusammen. Als junger Mann hat er einmal gedich- 
tet: 

Lafit fahren Mythos, Nibelungen, Bibel! 
Die alten Traume sind genug gedeutet, 
Der alte Drache ist genug gehautet . . . 
Malt nun der Freiheit eine Bilderfibel! 

Die sind seine Schriften geworden. Sie erschienen zu einer Zeit, 
da man ihre Sprache zu verlernen begann, und von demselben 
Amerika, das er so oft und so romanhaft beschworen hat, die 
Schweizertochter, in denen sein Blick Helena und Lukretia zu- 
gleich fand, die Buchfiihrung zu erlernen e begannen. 

Die bisher vorliegenden Bande der Ausgabe sind nadi Einrichtung 
und Ausstattung gleich bemerkenswert. Der Apparat bringt die Ab- 
weichungen der friiheren Fassungen von der letzten in einer gewissen 
Rubnzierung nach stilistischen Gesichtspunkten. Ob dieses, philolo- 
gisch betrachtet, kiihne Verfahren im wissenschaftlidien Gebrauch sich 
durchsetzen kann, ist schwer zu sagen. So viel ist sicher, daft der An- 
hang zu den wenigen zahlt, deren Studium an sich ein Vergniigen ist. 
Es herrscht darin eine Beschrankung auf das sa-chlich Erforderte, die 
sehr schon zu dem strengen Gesicht der Ausgabe pafit, der jede Kon- 
zession an den Snobismus aber auch jede Anbiederung an das Publi- 
kum fremd ist. Wieviele deutsche Gesamtausgaben gibt es, von denen 



Der Siirrealismus 295 

das gilt? Das bei Keller besonders schwierige Problem der Typen und 
der Satzanordnung scheint mir gelost. Der Einband zeugt vom glei- 
chen sicheren Geschmack wie die Druckanordnung. 



Der Surrealismus 
Die letzte Momentaufnahme der europaischen Intelligenz 

Geistige Stromungen konnen ein Gefalle erreichen, scharf genug, 
dafi der Kritiker seine Kraftstation an ihnen errichten kann. 
Solches Gefalle schafft fur den Surrealismus der Niveauunter- 
schied Frankreich-Deutschland. Was da im Jahre 19 19 in Frank- 
reich im Kreise einiger Literaten - wir nennen gleich hier die 
wichtigsten Namen: Andre Breton, Louis Aragon, Philippe 
Soupault, Robert Desnos, Paul Eluard - entsprungen ist, mag 
ein diinnes Bachlein gewesen sein, gespeist von der feuchten 
Langeweile des Nachkriegs-Europa und den letzten Rinnsalen 
der franzosischen Dekadenz. Die Neunmalweisen, die noch 
heute nicht iiber die »authentischen Urspriinge« der Bewegung 
hinauskommen, und auch noch heute nichts davon zu sagen 
wissen, als dafi hier wieder einmal eine Clique von Literaten 
die ehrwurdige Uffentlichkeit mystifiziere, sind ein wenig wie 
eine Expertenversammlung, die an einer Quelle nach reichlicher 
Oberlegung zur Uberzeugung kommt, der kleine Bach da werde 
niemals Turbinen treiben. 

Der deutsche Betrachter steht nicht an der Quelle. Das ist seine 
Chance. Er steht im Tal. Er kann die Energien der Bewegung 
abschatzen. Fur ihn, der als Deutscher langst mit der Krisis der 
Intelligenz, genauer gesagt, des humanistischen Freiheitsbegriffs 
vertraut ist, der weijR, welch frenetischer Wille in ihr erwacht 
ist, aus dem Stadium der ewigen Diskussionen heraus und um 
jeden Preis zur Entscheidung zu kommen, der ihre aufierst 
exponierte Stellung zwischen anarchistischer Fronde und revolu- 
tionarer Disziplin am eignen Leib hat erfahren miissen, fiir den 
gibt es keine Entschuldigung, wenn er auf oberflachlichsten Au- 
genschein die Bewegung fiir eine »kunstlerische«, »poetische« 
halten sollte. Wenn sie dies im Anfang gewesen ist, so hat doch 
eben im Anfang Breton schon erklart, mit einer Praxis brechen 



i<)6 Literarische und asthetische Essays 

zu wollen, die dem Publikum die literarischen Niederschlage 
einer bestimmten Existenzform vorlegt und diese Existenzform 
selber vorenthalt. Kiirzer und dialektischer gefafit aber heifSt 
das: Hier wurde der Bereich der Dichtung von innen gesprengt, 
indem ein Kreis von engverbundenen Menschen »Dichterisches 
Leben« bis an die aufiersten Grenzen des Moglichen trieb. Und 
man kann es ihnen aufs Wort glauben, wenn sie behaupten, 
Rimbauds »Saison en Enfer« habe keine Geheimnisse fur sie 
mehr gehabt. Denn dieses Buch ist in der Tat die erste Urkunde 
einer solchen Bewegung. (Aus neueren Zeiten. Von alteren Vor- 
gangern wird noch gesprochen werden.) Kann man, worum es 
hier geht, endgiiltiger und schneidender vorbringen als Rimbaud 
es in seinem Handexemplar des genannten Buches getan hat? 
Da schreibt er, wo es heifit: »auf der Seide der Meere und der 
arktischen Blumen«, spaterhin an den Rand: »Gibt's nicht« 
(»Elles n'existent pas«). 

In wie unscheinbare, abseitige Substanz der dialektische Kern, 
der sich im Siirrealismus entfaltet hat, urspriinglich eingebettet 
lag, hat, zu einer Zeit, da die Entwicklung sich noch nicht ab- 
sehen liefi, 1924, Aragon in seiner » Vague de Reves« gezeigt. 
Heute lafit sie sich absehen. Denn es ist kein Zweifel, daft das 
heroische Stadium, von dem dort Aragon den Heldenkatalog 
uns hinterlassen hat, beendet ist. Es gibt in solchen Bewegungen 
immer einen Augenblick, da die urspriingliche Spannung des 
Geheimbundes im sachlichen, profanen Kampf um Macht und 
Herrschaft explodieren oder als offentliche Manifestation zerfal- 
len und sich transformieren mufi. In dieser Transformations- 
phase steht augenblicklich der Siirrealismus. Damals aber, als er 
in Gestalt einer inspirierenden Traumwelle uber seine Stifter 
hereinbrach, schien er das Integralste, Abschliefiendste, Absolu- 
teste. Alles, womit er in Beriihrung kam, integrierte sich. Das 
Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die zwischen 
Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war, wie von 
Tritten massenhafter hin und wider flutender Bilder, die Sprache 
nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit auto- 
matischer Exaktheit derart gliicklich ineinandergriffen, dafi fur 
den Groschen »Sinn« kein Spalt mehr iibrigblieb. Bild und 
Sprache haben den Vortritt. Saint-Pol-Roux befestigt, wenn er 
gegen Morgen sich zum Schlafe niederlegt, an seiner Tiir ein 



Der Surrealismus 297 

Schild: Le poete travaille. Breton notiert: »Still. Ich will, wo 
keiner noch hindurchgegangen ist, hindurchgehen, still! - Nach 
Ihnen, liebste Sprache.« Die hat den Vortritt. 
Nicht nur vor dem Sinn. Audi vor dem Ich. Im V/eltgefiige 
lockert der Traum die Individualist wie einen hohlen Zahn. 
Diese Lockerung des Ich durch den Rausch ist eben zugleich die 
fruchtbare, lebendige Erfahrung, die diese Menschen aus dem 
Bannkreis des Rausches heraustreten liefi. Es ist hier nicht der 
Ort, die siirrealistische Erfahrung in ihrer ganzen Bestimmtheit 
zu umreifien. Wer aber erkannt hat, dafi es in den Schriften 
dieses Kreises sich nicht um Literatur, sondern um anderes: 
Manifestation, Parole, Dokument, Bluff, Falschung wenn man 
will, nur eben nicht um Literatur handelt, weifi damit auch, dafi 
hier buchstablich von Erfahrungen, nicht von Theorien, noch 
weniger von Phantasmen die Rede ist. Und diese Erfahrungen 
beschranken sich durchaus nicht auf den Traum, auf Stunden des 
Haschischessens oder des Opiumrauchens. Es ist ja ein so grofier 
Irrtum, zu meinen, von »siirrealistischen Erfahrungen « kennten 
wir nur die religiosen Ekstasen oder die Ekstasen der Drogen. 
Opium furs Volk hat Lenin die Religion genannt und damit 
diese beiden Dinge naher zusammengeruckt, als es den Siirrea- 
listen lieb sein durfte. Es wird noch von dem bitteren, leiden- 
schaftlichen Aufstand gegen den Katholizismus die Rede sein, 
als in welchem Rimbaud, Lautreamont, Apollinaire den Siirrea- 
lismus zur Welt brachten. Die wahre, schopferische Oberwin- 
dung religioser Erleuchtung aber liegt nun wahrhaftig nicht 
bei den Rauschgiften. Sie liegt in einer profanen Erleuchtung, 
einer materialistischen, anthropologischen Inspiration, zu der 
Haschisch, Opium und was immer sonst die Vorschule abgeben 
konnen. (Aber eine gefahrliche. Und die der Religionen ist 
strenger.) Diese profane Erleuchtung hat den Surrealismus 
nicht immer auf ihrer, seiner Hohe gefunden, und gerade die 
Schriften, die sie am kraftigsten bekunden, Aragons unvergleich- 
licher »Paysan de Paris« und Bretons »Nadja« zeigen da sehr 
storende Ausfallserscheinungen. So findet sich in der »Nadja« 
eine ausgezeichnete Stelle iiber die »hinreifienden Pariser Pliin- 
derungstage im Zeichen Saccos und Vanzettis«, und Breton 
schliefit daran die Versicherung, der Boulevard Bonne-Nou- 
velle habe an diesen Tagen das strategische Versprechen der 



298 Literansche und asthetische Essays 

Revoke eingelost, das sein Name schon immer gegeben habe. 
Es kommt aber audi Mme Sacco vor, und das ist nicht die Frau 
von Fullers Opfer, sondern eine voyante, eine Hellseherin, die 
3 Rue des Usines wohnt und Paul Eluard zu erzahlen weifi, dafi 
ihm von Nadja nichts Gutes bevorstehe. Nun gestehen wir dem 
halsbrecherischen Wege des SUrrealismus, der liber Dacher, Blitz- 
ableiter, Regenrinnen, Veranden, Wetterfahnen, Stukkaturen 
geht - dem Fassadenkletterer miissen alle Ornamente zum 
Besten dienen -, wir gestehen ihm zu, dafi er audi ins feuchte 
Hinterzimmer des Spirkismus hineinlange. Aber nicht gern 
horen wir ihn behutsam gegen die Scheiben klopfen, um wegen 
seiner Zukunft nachzufragen. Wer mochte nicht diese Adop- 
tivkinder der Revolution aufs genaueste von allem geschie- 
den wissen, was in den Konventikeln von abgetakelten Stifts- 
damen, pensionierten Majoren, emigrierten Schiebern sich ab- 
spielt? 

Im ubrigen ist Bretons Buch wohl geschaffen, einige Grundziige 
dieser »profanen Erleuchtung« daran zu erlautern. Er nennt 
» Nadja « ein »livre a porte battante«, ein »Buch, wo die Tiir 
klappt«. (In Moskau wohnte ich in einem Hotel, in dem fast alle 
Zimmer von tibetanischen Lamas belegt waren, die zu einem 
Kongrefi der gesamten buddhistischen Kirchen nach Moskau 
gekommen waren. Es fiel mir auf, wieviele Turen in den Gangen 
des Hauses stets angelehnt standen. Was erst ein Zufall schien, 
wurde mir unheimlich. Ich erfuhr: in solchen Zimmern wohnten 
Angehorige einer Sekte, die gelobt hatten, nie in geschlossenen 
Raumen sich aufzuhalten. Den Chock, den ich damals erfuhr, 
mufi der Leser von »Nadja« verspiiren.) Im Glashaus zu leben 
ist eine revolutionare Tugend par excellence. Audi das ist ein 
Rausch, ist ein moralischer Exhibitionismus, den wir sehr notig 
haben. Die Diskretion in Sachen eigener Existenz ist aus einer 
aristokratischen Tugend mehr und mehr zu einer Angelegenheit 
arrivierter Kleinbiirger geworden. »Nadja« hat die wahre, 
schopferische Synthese zwischen Kunstroman und Schliissel- 
roman gefunden. 

Man braucht iibrigens - und audi darauf fuhrt »Nadja« - nur 
mit der Liebe Ernst zu machen, um audi in ihr eine »profane 
Erleuchtung« zu erkennen. »Ich habe«, erzahlt der Verfasser, 
»mich gerade damals (d. h. zur Zeit des Umgangs mit Nadja) 



Der Sufrealismus 299 

viel mit der Epoche Ludwigs VII. beschaftigt, weil es die Zek 
der >Liebeshofe< war, und ich suchte mir mit grofier Intensitat 
zu vergegenwartigen, wie man damals das Leben angesehen 
hat.« t)ber die provencalische Minne wissen wir nun von einem 
neuen Autor einiges Genauere, das uberraschend nah an die 
siirrealistische Konzeption der Liebe heranfuhrt. »Alle Dichter 
des Neuen Stils besitzen« - so heifit es in Erich Auerbachs 
ausgezeichnetem »Dante als Dichter der irdischen Welt« - »eine 
mystische Geliebte, ihnen alien geschehen ungefahr die gleichen 
sehr sonderbaren Liebesabenteuer, ihnen alien schenkt oder ver- 
sagt Amore Gaben, die mehr einer Erleuchtung als einem sinn- 
lichen Genufi gleichen, sie alle sind einer Art geheimer Verbin- 
dung angehorig, die ihr inneres und vielleicht auch ihr aufkres 
Leben bestimmt.« Es ist ja eigentiimlich mit der Dialektik des 
Rausches bestellt. Ist nicht vielleicht jede Ekstase in einer Welt 
beschamende Nuchternheit in derkomplementaren? Worauf sonst 
will Minne - und sie, nicht Liebe, bindet Breton an das telepa- 
thische Madchen - hinaus, als daft Keuschheit auch eine Ent- 
riicktheit ist? In eine Welt, die nicht nur an Herz-Jesu-Gnifte 
oder Marien-Altare grenzt, sondern auch an den Morgen vor 
einer Schlacht oder nach einem Siege. 

Die Dame ist in der esoterischen Liebe das Unwesentlichste. So 
auch bei Breton. Er ist mehr den Dingen nahe, denen Nadja 
nahe ist, als ihr selber. Welches sind nun die Dinge, denen sie 
nahe ist? Deren Kanon ist fur den Surrealismus so aufschluEreich 
wie nur moglich. Wo beginnen? Er hat sich einer erstaunlichen 
Entdeckung zu ruhmen. Er zuerst stiefi auf die revolutionaren 
Energien, die im »Veralteten« erscheben, in den ersten Eisen- 
konstruktionen, den ersten Fabrikgebauden, den friihesten 
Photos, den Gegenstanden, die anfangen auszusterben, den 
Salonfliigeln, den Kleidern von vor fiinf Jahren, den mondanen 
Versammlungslokalen, wenn die vogue beginnt sich von ihnen 
zuriickzuziehen. Wie diese Dinge zur Revolution stehen - nie- 
mand kann einen genaueren Begriff davon haben, als diese 
Autoren. Wie das Elend, nicht nur das soziale sondern genauso 
das architektonische, das Elend des Interieurs, die versklavten 
und versklavenden Dinge in revolutionaren Nihilismus um- 
schlagen, das hat vor diesen Sehern und Zeichendeutern noch 
niemand gewahrt. Um von Aragons »Passage de POp£ra« zu 



300 Literarische und asthetische Essays 

schweigen: Breton und Nadja sind das Liebespaar, das alles, was 
wir auf traurigen Eisenbahnfahrten (die Eisenbahnen beginnen 
zu altern), an gottverlassenen Sonntagnachmittagen in den 
Proletariervierteln der groflen Stadte, im ersten Blick durchs re- 
gennasse Fenster einer neuen Wohriung erfuhren, in revolutio- 
narer Erf ahrung, wenn nicht Handiung, einlosen. Sie bringen die 
gewaltigen Krafte der »Stimmung« zur Explosion, die in diesen 
Dingen verborgen sind. Was glauben Sie wohl, wie sich ein Le- 
ben gestalten wiirde, das in einem entscheidenden Augenblick 
sich gerade durch den letzten beliebtesten Gassenhauer bestim- 
men liefie? 

Der Trick, der diese Dingwelt bewaltigt - es ist anstandiger hier 
von einem Trick als von einer Methode zu reden - besteht in 
der Auswechslung des historischen Blicks aufs Gewesene gegen 
den politischen. »Tut Euch auf, Graber, Ihr, Tote der Pinako- 
theken, Leichname hinter spanischen Wanden, in Palasten, 
Schlossern und Klostern, hier stent der fabelhafte Schliisselbe- 
wahrer, der einen Bund mit Schliisseln aller Zeiten in Handen 
halt, der weifi, wie man auf die verschlagensten Schlosser zu 
driicken hat und der Euch einladt, mitten hinein in die Welt von 
heute zu treten, Euch unter die Lasttrager, die Mechaniker zu 
mischen, die das Geld adelt, Euch hauslich in ihren Automobilen 
niederzulassen, die schon sind wie Rustungen aus der Ritterzeit, 
in den internationalen Schlafwagen Platz zu nehmen und Euch 
mit all den Leuten zusammenzuschweifien, die heut noch stolz 
auf ihre Vorrechte sind. Aber die Zivilisation wird kurzen Pro- 
zefi mit ihnen machen.« Diese Rede hat sein Freund Henri Hertz 
Apollinaire in den Mund gelegt. Von Apollinaire geht diese 
Technik aus. Er hat sie in seinem Novellenband »L'Heresiar- 
que« mit machiavellistischer Berechnung verwendet, um den 
Katholizismus (an dem er innerlich hing) in die Luft gehen zu 
lassen. 

Im Mittelpunkt dieser Dingwelt steht das Getraumteste ihrer 
Objekte, die Stadt Paris selbst. Aber erst die Revoke treibt ihr 
siirrealistisches Gesicht restlos heraus. (Menschenleere Strafien, 
in denen Pfiffe und Schusse die Entscheidung diktieren.) Und 
kein Gesicht ist in dem Grade siirrealistisch wie das wahre Ge- 
sicht einer Stadt. Kein Bild von Chirico oder Max Ernst kann 
mit den scharfen Aufrissen ihrer inneren Forts sich messen, die 



Der Siirrealismus 301 

erst erobert und besetzt sein miissen, um ihr Geschick und in 
lhrem Geschick, im Geschick ihrer Massen, das eigene zu mei- 
stern. Nadja ist ein Exponent dieser Massen und dessen, was sie 
revolutionar inspiriert: »La grande inconscience vive et sonore 
qui m'inspire mes seuls actes probants dans le sens cm toujours 
je veux prouver, qu'elle dispose a tout jamais de tout ce qui 
est a moi.« Hier also findet man das Verzeichnis dieser Befe- 
stigungen, angef angen von jener Place Maubert,wo wie nirgends 
sonst der Schmutz seine ganze symbolische Gewalt sich bewahrt 
hat, bis zu jenem » Theatre Moderne«, das ich untrostlich bin, 
nicht mehr gekannt zu haben. Aber in Bretons Schilderung der 
Bar im Obergeschofi - »ganz dunkel ist's, tunnelartige Lau- 
ben, durch die man nicht durchfindet - ein Salon auf dem Grund 
eines Sees« - ist etwas, was mir jenen unverstandensten 
Raum des alten Prinzefi-Cafes in Erinnerung bringt. Es war 
das Hinterzimmer im ersten Stock mit seinen Paaren im blauen 
Lichte. Wir nannten es »die Anatomie«; es war das letzte Lokal 
fur die Liebe. An solchen Stellen greift bei Breton auf sehr merk- 
wiirdige Weise die Photographie ein. Sie macht die Strafien, To- 
re, Platze der Stadt zu Illustrationen eines Kolportageromans, 
zapft diesen jahrhundertealten Architekturen ihre banale Evi- 
denz ab, um sie mit allerursprunglichster Intensitat dem darge- 
stellten Geschehen zuzuwenden, auf das genau wie in alten 
Dienstmadchenbuchern wortgetreue Zitate mit Seitenzahlen 
verweisen. Und all die Orte von Paris, die hier auftauchen, sind 
Stellen, an denen das, was zwischen diesen Menschen ist, sich 
wie eine Drehtiir bewegt. 

Audi das Paris der Surrealisten ist eine »kleine Welt«. Das heifk 
in der groEen, im Kosmos, sieht es nicht anders aus. Auch dort 
gibt es carrefours, an denen geisterhafte Signale aus dem Ver- 
kehr aufblitzen, unerdenkliche Analogien und Verschrankungen 
von Geschehnissen an der Tagesordnung sind. Es ist der Raum, 
von dem die Lyrik des Siirrealismus Bericht gibt. Und das ist 
anzumerken, ware es auch nur, um dem obligaten Mifiverstand- 
nis des »l'art pour Part« zu begegnen. Denn das Tart pour l'art 
ist ja fast niemals buchstablich zu nehmen gewesen, fast immer 
eine Flagge, unter der ein Gut segelt, das man nicht deklarieren 
kann, weil der Name noch fehlt. Es ware der Augenblick, an 
ein Werk zu gehen, das wie kein anderes die Krisis der Kiinste, 



302 Literarische und asthetische Essays 

von der wir Zeuge sind, erhellen wiirde: eine Geschichte der eso- 
terischen Dichtung. Audi ist es keineswegs Zufall, dafi sie noch 
fehlt. Denn sie zu schreiben, wie sie geschrieben zu werden ver- 
langt - also nicht als Sammelwerk, zu dem die einzelnen »Fach- 
leute«, em jeder auf seinem Gebiet »das Wissenswerteste bei- 
steuern« -, sondern als fundierte Schrift eines einzelnen, der aus 
innerer Notigung heraus weniger die Entwicklungsgeschichte als 
ein immer wieder erneutes urspriingliches Aufleben der esoteri- 
schen Dichtung darstellte - so geschrieben ware sie eine jener 
gelehrten Bekenntnisschriften, die in jedem Jahrhundert zu zah- 
len sind. Auf ihrem letzten Blatte miifke man das Rontgenbild 
des Surrealismus finden. Breton deutet in der introduction 
au Discours sur le peu de Realite« an, wie der philosophische Rea- 
lismus des Mittelalters der poetischen Erfahrung zugrunde liegt. 
Dieser Realismus aber - der Glaube also an eine wirkliche Son- 
derexistenz der BegrifTe, sei es aufterhalb der Dinge, sei es inner- 
halb ihrer - hat immer sehr schnell den Ubergang aus dem logi- 
schen BegrifTsreich ins magische Wortreich gefunden. Und 
magische Wortexperimente, nicht artistische Spielereien sind die 
passionierten phonetischen und graphischen Verwandlungsspiele, 
die nun schon f iinf zehn Jahre sichdurch die gesamteLiteratur der 
A vantgarde Ziehen, sie mogeFuturismus,Dadaismus oder Surrea- 
lismus heifien. Wie hier Parole, Zauberformel und BegrifT durch- 
einandergehen, das zeigen die folgenden Worte Apollinaires 
aus seinem letzten Manifest: »L'Esprit nouveau et les Poetes.« 
Da sagt er, 191 8: »Fur die Geschwindigkeit und die Einfach- 
heit, mit der wir alle uns daran gewohnt haben, durch ein einzi- 
ges Wort so komplexe Wesenheiten wie eine Menge, ein Volk, 
wie das Universum zu bezeichnen, gibt es nicht modernes Ent- 
sprechendes in der Dichtung. Die heutigen Dichter aber fiillen 
diese Liicke aus; ihre synthetischen Dichtungen schaffen neue 
Wesen, deren plastische Erscheinung ebenso komplex ist wie die 
der Worte fur Kollektiva.« Wenn nun freilich Apollinaire und 
Breton in gleicher Richtung noch energischer vorstoEen, und den 
Anschlu£ des Surrealismus an die Umwelt mit der Erklarung 
vollziehen: »Die Eroberungen der Wissenschaft beruhen viel 
mehr auf einem siirrealistischen als auf einem logischen Denken«, 
wenn sie mit andern Worten die Mystifikation, deren Gipfel 
Breton in der Poesie sieht (das lafit sich verteidigen), zur 



Der Surrealismus 303 

Grundlage audi wissenschaftlicher und technischer Entwicklung 
machen, so ist solche Integration zu sturmisch.Es istsehr lehrreich, 
den uberstiirzten Anschlufi dieser Bewegung an das unverstan- 
dene Maschinenwunder - Apollinaire: »Die alten Fabeln sind 
zum grofien Teil realisiert, nun ist es an den Dichtern, neue zu 
erdenken, die die Erfinder ihrerseits dann wieder verwirklichen 
mogen« -, diese schwiilen Phantasien mit den gut ventilierten 
Utopien eines Scheerbart zu vergleichen. 

»Der Gedanke an alle menschliche Aktivitat macht mich lachen«, 
diese Aufierung von Aragon bezeichnet recht deutlich, welchen 
Weg der Surrealismus von seinen Urspriingen bis zu seiner Poli- 
tisierung zu machen hatte. Mit Recht hat Pierre Naville, der die- 
ser Gruppe ursprunglich angehorte, in seiner ausgezeichneten 
Schrift »La Revolution et les Intellectuels« diese Entwicklung 
dialektisch genannt. Bei dieser Umwandlung einer extrem kon- 
templativen Haltung in die revolutionare Opposition spielt die 
Feindschaft der Bourgeoisie gegen jedwede Bekundung radika- 
ler geistiger Freiheit eine Hauptrolle. Diese Feindschaft drangte 
den Surrealismus nach links. Politische Ereignisse, vor allem der 
Marokkokrieg, beschleunigten diese Entwicklung. Mit dem Ma- 
nifest »Die Intellektuellen gegen den Marokkokrieg«, das in 
der »Humanite« erschien, war eine grundsatzlich andere Platt- 
form gewonnen, als etwa der beriihmte Skandal bei dem Bankett 
Saint-Pol-Roux sie bezeichnet. Damals, kurz nach dem Kriege, 
als die Siirrealisten, die die Feier eines von ihnen verehrten Dich- 
ters durch die Anwesenheit nationalistischer Elemente kom- 
promittiert fanden, in den Ruf »Es lebe Deutscbland« aus- 
brachen, blieben sie in den Grenzen des Skandals, gegen den die 
Bourgeoisie bekanntlich ebenso dickfellig wie empfindlich gegen 
jede Aktion ist. Merkwiirdig die Obereinstimmung, in der 
unter dem Einflufi soldier politischen Witterungen Apollinaire 
und Aragon die Zukunft des Dichters gesehen haben. Die Ka- 
pitel »Verfolgung« und »Mord« des »Poete assassine« bei 
Apollinaire enthalten die beriihmte Schilderung eines- Dichter- 
Pogroms. Die Verlagshauser werden gestiirmt, die Gedichtbucher 
ins Feuer geworfen, die Dichter erschlagen. Und die gleichen 
Szenen spielen zu gleicher Zeit auf der ganzen Erde sich ab. Bei 
Aragon ruft. in der Vorahnung soldier Greuel die » Imagination « 
ihre Mannschaft. zu einem letzten Kreuzzuge auf. 



304 Literarische und asthetische Essays 

Man mufi, um solciie Prophetien zu verstehen und die Linie, die 
vom Surrealismus erreicht wurde, strategist zu ermessen, sidi 
danach umsehen, welche Denkart in der sogenannten wohlge- 
sinnten linksburgerlichen Intelligenz verbreitet ist. Sie bekundet 
sich deutlich genug in der gegenwartigen Rufiland-Orientierung 
dieser Kreise. Wir reden hier natiirlich nicht von Beraud, der 
der Luge uber Rufiland die Bahn gebrochen hat, oder von 
Fabre-Luce, der ihm auf diesem gebahnten Wege als braver 
Esel, bepackt mit alien biirgerlichen Ressentiments, nachtrottet. 
Aber wie problematisch ist selbst das typische Vermittlerbuch 
Duhamels. Wie schwer ertraglich die forciert aufrechte, forciert 
beherzte und herzliche Sprache des protestantischen Theologen, 
die es durchzieht. Wie verbraucht die von Verlegenheit und 
Sprachunkenntnis diktierte Methode, die Dinge in irgendeine 
symbolische Beleuchtung zu riicken. Wie verraterisch sein 
Resiimee: »Die wahre, tiefere Revolution, die, welche in gewis- 
sem Sinne die Substanz der slawischen Seele selbst wandeln 
konnte, ist noch nicht erfolgt.« Es ist das Typische dieser linken 
franzosischen Intelligenz - genau wie der entsprechenden 
russischen audi -, dafi ihre positive Funktion ganz und gar aus 
einem Gefiihl der Verpflichtung, nicht gegen die Revolution, 
sondern gegen die uberkommene Kultur hervorgeht. Ihre kol- 
lektive Leistung, soweit sie positiv ist, nahert sich der von Kon- 
servatoren. Politisch und wirtschaftlich aber wird man bei ihnen 
mit der Gefahr der Sabotage immer rechnen miissen. 
Das Charakteristische dieser ganzen linksbiirgerlichen Position 
ist ihre unheilbare Verkupplung von idealistischer Moral mit 
politischer Praxis. Nur im Kontrast gegen die hilflosen Kom- 
promisse der »Gesinnung« sind gewisse Kernstiicke des Surrealis- 
mus, ja der siirrealistischen Tradition, zu verstehen. Viel ist fiir 
dies Verstandnis noch nicht geschehen. Zu verfuhrerisch war es, 
den Satanismus eines Rimbaud und Lautreamont als Pendant 
zum Tart pour Tart in einem Inventar des Snobismus zu fassen. 
Entschliefk man sich aber, diese romantische Attrappe zu 6rT- 
nen, so findet man darin etwas Brauchbares. Man findet den Kult 
des Bosen als einen wie audi immer romantischen Desinfek- 
tions- und Isolierungsapparat der Politik gegen jeden morali- 
sierenden Dilettantismus. In dieser Oberzeugung wird man, 
stoftt man bei Breton auf das Szenar von einem Schauerstiick, 



Der Surrealismus 305 

in dessen Mittelpunkt eine Kinderschandung steht, vielleiclit um 
ein paar Jahrzehnte zuriickgreifen. Es haben in den Jahren 
1865 bis 1875 einige grofie Anarchisten, ohne voneinander zu 
wissen, an ihren Hollenmaschinen gearbeitet. Und das Erstaun- 
liche ist: sie haben unabhangig voneinander deren Uhr genau 
auf die gleiche Stunde gestellt, und vierzig Jahre spater explo- 
dierten in Westeuropa die Schriften Dostojewskis, Rimbauds und 
Lautreamonts zu gleicher Zeit. Man konnte, um genauer zu 
sein, aus dem Gesamtwerk Dostojewskis die eine Stelle heraus- 
greifen, die wirklich erst um 191 5 veroffentlicht wurde: »Sta- 
vrogins Beichte« aus den »Damonen«. Dieses Kapitel, das sich 
aufs engste mit dem dritten Gesang der » Chants de Maldoror« 
beriihrt, enthalt eine Rechtfertigung des Bosen, die gewisse Mo- 
tive des Surrealismus gewaltiger auspragt als es irgendeinem 
seiner heutigen Wortfiihrer gelungen ist. Denn Stavrogin ist ein 
Surrealist avant la lettre. Es hat keiner so wie er begriflen, wie 
ahnungslos die Meinung der Spiefier ist, das Gute sei zwar bei 
aller mannlichen Tugend dessen, der es iibt, von Gott inspiriert; 
das Bose aber, das stamme ganz aus unserer Spontaneitat, darin 
seien wir selbstandig und ganz und gar auf uns gestellte Wesen. 
Keiner hat wie er audi in dem gemeinsten Tun und gerade in 
ihm die Inspiration gesehen. Er hat noch die Niedertracht 
als etwas so im Weltlauf, doch audi in uns selber Praformiertes, 
uns Nahgelegtes, wenn nicht Aufgegebenes erkannt, wie der 
idealistische Bourgeois die Tugend. Dostojewskis Gott hat nicht 
nur Himmel und Erde und Mensch und Tier geschafTen, sondern 
audi die Gemeinheit, die Rache, die Grausamkeit. Und auch hier 
lieft er sich nicht vom Teufel ins Handwerk pfuschen. Darum 
sind sie alle bei ihm ganz urspriinglich, vielleicht nicht »herr- 
Hch«, aber ewig neu »wie am ersten Tag«, und himmelweit 
entfernt von den Klischees, unter denen dem PhiKster die Siinde 
erscheint. 

Wie grofi die Spannung ist, die die erwahnten Dichter zu ihrer 
erstaunlichen Fernwirkung befahigt, belegt auf geradezu skur- 
rile Art der Brief, den Isidore Ducasse am 23. Oktober 1869 
an seinen Verleger richtet, um ihm sein Dichten plausibel zu 
machen. Da stellt er sich in eine Reihe mit Mickiewicz, Mil- 
ton, Southey, Alfred de Musset, Baudelaire und sagt: »Natiir- 
lich habe ich den Ton etwas voller genommen, um etwas Neues 



yo6 Literarische und asthetische Essays 

in diese Literatur einzufiihren, die doch die Verzweiflung nur 
singt, um den Leser niederzudriicken und auf dafi er dann das 
Gute als Heilmittel desto starker ersehne. So singt man also 
schliefilich doch immer nur das Gute, nur die Methode ist philo- 
sophischer und weniger naiv als die der alten Schule, von der 
nur Victor Hugo und einige andere sich noch am Leben befin- 
den.« Steht aber Lautreamonts erratisches Buch iiberhaupt in 
irgendeinem Zusammenhang, lafit es sich vielmehr in einen 
stellen, so ist es der der Insurrektion. Es war darum ein sehr 
begreiflicher und an sich nicht einsichtsloser Versuch, den Sou- 
pault 1927 in seiner Ausgabe der samtlichen Werke machte, 
Isidore Ducasse eine politische Vita zu schreiben. Leider gibt es 
keine Dokumente fur sie, und dafi Soupault welche heranzog, 
beruhte auf einer Verwechslung. Dagegen ist erfreulicherweise 
ein entsprechender Versuch bei Rimbaud gegliickt, und es ist das 
Verdienst von Marcel Coulon, sein wahres Bild gegen die katho- 
lische Usurpation durch Claudel und Berrichon verteidigt zu 
haben. Rimbaud ist Katholik, jawohl, aber er ist es, seiner 
Selbstdarstellung nach, an seinem elendesten Teil, den er nicht 
miide wird zu denunzieren, seinem und jedem Hafi, seiner und 
jeglicher Verachtung auszuliefern: dem Teil, der ihn zu dem 
Bekenntnis zwingt, die Revoke nicht zu verstehen. Aber das ist 
das Bekenntnis eines Kommunarden, der sich selbst nicht genug 
tun konnte, und als er der Dichtung den Riicken kehrte, der 
Religion schon langst in seiner friihesten Dichtung den Abschied 
gegeben hatte. »Hafi, dir habe ich meinen Schatz anvertraut«, 
schreibt er in der »Saison en Enfer«. Auch an diesem Wort konn- 
te eine Poetik des Stirrealismus sich hochranken und die wiirde 
sogar ihre Wurzeln tiefer als jene Theorie der »surprise«, des 
iiberraschten Dichtens, die von Apollinaire stammt, bis in die 
Tiefe Poescher Gedanken hinabsenken. 

Seit Bakunin hat es in Europa keinen radikalen Begriff von 
Freiheit mehr gegeben. Die Siirrealisten haben ihn. Sie sind die 
ersten, das liberale moralisch-humanistisch verkalkte Freiheits- 
ideal zu erledigen, weil ihnen feststeht, dafi »die Freiheit, die 
auf dieser Erde nur mit tausend hartesten Opfern erkauft 
werden kann, uneingeschrankt, in ihrer Fiille und ohne jegliche 
pragmatische Berechnung will genossen werden, solange sie 
dauert«. Und das beweist ihnen, »dafi der Befreiungskampf 



Der Siirrealismus -307 

der Menschheit in seiner schlichtesten revolutionaren Gestalt 
(die doch, und gerade, die Befreiung in jeder Hinsicht ist), die 
einzige Sache bleibt, der zu dienen sich lohnt«. Aber gelingt es 
ihnen, diese Erfahrung von Freiheit mit der anderen revolu- 
tionaren Erfahrung zu verschweifien, die wir doch anerkennen 
miissen, weil wir sie hatten: mit dem Konstruktiven, Diktato- 
rischen der Revolution? Kurz - die Revoke an die Revolution 
zu binden? Wie haben wir ein Dasein, das ganz und gar auf 
den Boulevard Bonne-Nouvelle sich ausrichtet, in Raumen von 
Le Corbusier und Oud uns vorzustellen? 

Die Krafte des Rausches fiir die Revolution zu gewinnen, darum 
kreist der Siirrealismus in alien Biichern und Unternehmen. Das 
darf er seine eigenste Aufgabe nennen. Fiir die ist's nicht da- 
mit getan, dafi, wie wir wissen, eine rauschhafte Komponente in 
jedem revolutionaren Akt lebendig ist. Sie ist identisch mit der 
anarchischen. Den Akzent aber ausschliefilich auf diese setzen, 
das hiefie die methodische und disziplinare Vorbereitung der 
Revolution vollig zugunsten einer zwischen Obung und Vorfeier 
schwankenden Praxis hintansetzen. Hinzu kommt eine allzu 
kurz gefaftte, undialektische Anschauung vom Wesen des Rau- 
sches. Die Asthetik des peintre, des poete »en etat de surprise«, 
der Kunst als Reaktion des Oberraschten ist in einigen sehr 
verhangnisvollen romantischen Vorurteilen befangen. Jede ernst- 
hafle Ergriindung der okkulten, siirrealistischen, phantasma- 
gorischen Gaben und Phanomene hat eine dialektische Ver- 
schrankung zur Voraussetzung, die ein romantischer Kopf sich 
niemals aneignen wird. Es bringt uns namlich nicht weiter, die 
ratselhafte Seite am Ratselhaften pathetisch oder fanatisch zu 
unterstreichen; vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur 
in dem Grade, als wir es im Alltaglichen wiederfinden, kraft 
einer dialektischen Optik, die das Alkagliche als undurchdring- 
lich, das Undurchdringliche als alltaglich erkennt. Die passio- 
nierteste Untersuchung telepathischer Phanomene zum Beispiel 
wird einen iiber das Lesen (das ein eminent telepathischer Vor- 
gang ist) nicht halb soviel lehren, wie die profane Erleuchtung 
des Lesens iiber die telepathischen Phanomene. Oder: die pas- 
sionierteste Untersuchung des Haschischrausches wird einen 
iiber das Denken (das ein eminentes Narkotikum ist) nicht halb 
soviel lehren, wie die profane Erleuchtung des Denkens iiber 



308 Literarische und asthetische Essays 

den Haschischrausch. Der Leser, der Denkende, der Wartende, 
der Flaneur sind ebensowohl Typen des Erleuchteten wie der 
Opiumesser, der Traumer, der Berauschte. Und sind profanere. 
Ganz zu schweigen von jener fiirchterlichsten Droge - uns 
selber -, die wir in der Einsamkeit zu uns nehmen. 
»Die Krafte des Rausches fiir die Revolution zu gewinnen« - 
mit andern Worten: Dichterische Politik? »Nous en avons 
soupe. Alles lieber als das!« Nun - es wird Sle um so mehr 
interessieren, wie sehr ein Exkurs in die Dichtung die Dinge 
klart. Denn: was ist das Programm der burgerlichen Parteien? 
Ein schlechtes Friihlingsgedicht. Mit Vergleichen bis zum Platzen 
gefullt. Der Sozialist sieht jene »schonere Zukunft unserer 
Kinder und Enkel« darin, dafi alle handeln, »als waren sie En- 
gel« und jeder so viel hat, »als ware er reich« und jeder so lebt, 
»als ware er frei«. Von Engeln, Reichtum, Freiheit keine Spur. 
Alles nur Bilder. Und der Bilderschatz dieser sozialdemokrati- 
sdien Vereinsdichter? Ihre »Gradus ad parnassum«? Der Op- 
timismus. Da spiirt man denn doch andere Luft in der Schrift 
von Naville, die die »Organisierung des Pessimismus« zur For- 
derung des Tages macht. Im Namen seiner literarischen Freunde 
stellt er ein Ultimatum, an dem unfehlbar dieser gewissenlose, 
dieser dilettantische Optimismus Farbe bekennen mu6: Wo 
liegen die Voraussetzungen der Revolution? In der Anderung 
der Gesinnung oder der aufieren Verhaltnisse? Das ist die Kar- 
dinalfrage, die das Verhaltnis von Politik und Moral bestimmt 
und die keine Vertuschung zulafit. Der Siirrealismus ist ihrer 
kommunistischen Beantwortung immer naher gekommen. Und 
das bedeutet: Pessimismus auf der ganzen Linie. Jawohl und 
durchaus. Mifitrauen in das Geschick der Literatur, Mifitrauen 
in das Geschick der Freiheit, Mifkrauen in das Geschick der euro- 
paischen Menschheit, vor allem aber Mifitrauen, MiBtrauen und 
MiEtrauen in alle Verstandigung: zwischen den Klassen, zwi- 
schen den Volkern, zwischen den Einzelnen. Und unbegrenztes 
Vertrauen allein in I. G. Farben und die friedliche Vervoll- 
kommnung der Luftwaffe. Aber was nun, was dann? 
Hier tritt die Einsicht in ihr Recht, die im »Traite du Style«, 
Aragons letztem Buche, die Unterscheidung von Vergleich und 
Bild verlangt. Eine gliickliche Einsicht in Stilfragen, die erweitert 
sein will. Erweiterung: nirgends treffen diese beiden - Ver- 



Der Siirrealismus 309 

gleich und Bild - so drastisch und so unversohnlich wie in der 
Politik aufeinander. Den Pessimismus organisieren heifit nam- 
lich nichts anderes als die moralische Metapher aus der Politik 
herausbefordern und im Raum des politischen Handelns den 
hundertprozentigen Bildraum entdecken. Dieser Bildraum aber 
ist kontemplativ iiberhaupt mcht mehr auszumessen. Wenn 
es die doppelte Aufgabe der revolutionaren Intelligenz ist, die 
intellektuelle Vorherrschaft der Bourgeoisie zu stiirzen und den 
Kontakt mit den proletarischen Massen zu gewinnen, so hat sie 
vor dem zweiten Teil dieser Aufgabe fast vollig versagt, weil 
er nicht mehr kontemplativ zu bewaltigen ist. Und doch hat das 
die wenigsten gehindert, sie immer wieder so zu stellen, als 
ware sie es, und nach proletarischen Dichtern, Denkern und 
Kiinstlern zu rufen. Dagegen muEte schon Trotzki - in »Lite- 
ratur und Revolution« - darauf verweisen, dafi sie nur aus 
einer siegreichen Revolution hervorgehen werden. In Wahrheit 
handelt es sich viel weniger darum, den Kiinstler biirgerlicher 
Abkunfl: zum Meister der » Proletarischen Kunst« zu machen, als 
ihn, und sei es auf Kosten seines kunstlerischen Wirkens, an 
wichtigen Orten dieses Bildraums in Funktion zu setzen. Ja, 
sollte nicht vielleicht die Unterbrechung seiner »Kiinstlerlauf- 
bahn« ein wesentlicher Teil dieser Funktion sein? 
Desto besser werden die Witze, die er erzahlt. Und desto besser 
erzahlt er sie. Denn auch im Witz, in der Beschimpfung, im 
MiEverstandnis, iiberall, wo ein Handeln selber das Bild aus 
sich herausstellt und ist, in sich hineinreifk und friftt, wo die 
Nahe sich selbst aus den Augen sieht, tut dieser gesuchte Bild- 
raum sich auf, die Welt allseitiger und integraler Aktualitat, 
in der die »gute Stube« ausfallt, der Raum mit einem Wort, in 
welchem der politische Materialismus und die physische Kreatur 
den inneren Menschen, die Psyche, das Individuum oder was 
sonst wir ihnen vorwerfen wollen, nach dialektischer Gerech- 
tigkeit, so dafi kein Glied ihm unzerrissen bleibt, miteinander 
teilen. Dennoch aber - ja gerade nach solch dialektischer Ver- 
nichtung - wird dieser Raum noch Bildraum, und konkreter: 
Leibraum sein. Denn es hilft nichts, das Eingestandnis ist fallig: 
Der metaphysische . Materialismus Vogtscher und Bucharin- 
scher Observanz la£t sich in den anthropologischen Materialis- 
mus, wie die Erfahrung der Siirrealisten und friiher eines Hebel, 



310 Literarische und asthetische Essays 

Georg Buchner, Nietzsche, Rimbaud ihn belegt, nicht bruchlos 
uberfuhren. Es bleibt ein Rest. Audi das Kollektivum ist leib- 
haft. Und die Physis, die sich in der Technik ihm organisiert, 
ist nach ihrer ganzen politischen und sachlichen Wirklichkeit 
nur in jenem Bildraume zu erzeugen, in welchem die profane 
Erleuchtung uns heimisch macht. Erst wenn in ihr sich Leib 
und Bildraum so tief durchdringen, dafi alle revolutionare Span- 
nung leibliche kollektive Innervation, alle leiblichen Innervatio- 
nen des Kollektivs revolutionare Entladung werden, hat die 
Wirklichkeit so sehr sich selbst iibertroffen, wie das kommuni- 
stische Manifest es fordert. Fiir den Augenblick sind die Surrea- 
listen die einzigen, die seine heutige Order begriffen haben. Sie 
geben, Mann fiir Mann, ihr Mienenspiel in Tausch gegen das 
Zifferblatt eines Weckers, der jede Minute sechzig Sekunden lang 
anschlagt. 



ZUM BlLDE PROUSTS 



Die dreizehn Bande von Marcel Prousts »A la Recherche du 
Temps perdu « sind das Ergebnis einer unkonstruierbaren Syn- 
thesis, in der die Versenkung des Mystikers, die Kunst des Pro- 
saisten, die Verve des .Satirikers, das Wissen des Gelehrten und 
die Befangenheit des Monomanen zu einem autobiographischen 
Werke zusammentreten. Mit Recht hat man gesagt, dafi alle 
grofien Werke der Literatur eine Gattung griinden oder sie 
auflosen, mit einem Worte, Sonderfalle sind. Unter ihnen ist 
aber dieser einer von den unf afllichsten. Vom Aufbau angefan- 
gen, welcher Dichtung, Memoirenwerk, Kommentar in einem 
darstellt, bis zu der Syntax uferloser Satze (dem Nil der Spra- 
che, welcher hier befruchtend in die Breiten der Wahrheit hin- 
ubertritt) ist alles aufierhalb der Norm. Dafi dieser grofie Ein- 
zelfall der Dichtung gleichzeitig ihre grofite Leistung in den 
letzten Jahrzehnten darstellt, das ist die erste, aufschlufireiche 
Erkenntnis, die an den Betrachter herantritt. Und ungesund im 



Zum Bilde Prousts 311 

hochsten Grade die Bedingungen, die ihm zugrunde lagen. Ein 
ausgefallenes Leiden, ungemeiner Reichtum und eine anormale 
Veranlagung. Nicht alles an diesem Leben ist musterhaft, exem- 
plarisch aber ist alles. Es weist der uberragenden schriftstelleri- 
schen Leistung dieser Tage ihren Ort im Herzen der Unmog- 
lichkeit, im Zentrum und freilich zugleich im Indifferenzpunkt 
aller Gefahren an und kennzeichnet diese grofie Realisierung 
des »Lebenswerks« als eine letzte auf lange. Prousts Bild ist 
der hochste physiognomische Ausdruck, den die unaufhaltsam 
wachsende Diskrepanz von Poesie und Leben gewinnen konnte. 
Das ist die Moral, die den Versudi rechtfertigt, es heraufzuru- 
fen. 

Man weifi, dafi Proust nicht ein Leben wie es gewesen ist in 
seinem Werke beschrieben hat, sondern ein Leben, so wie der, 
der's erlebt hat, dieses Leben erinnert. Und doch ist auch das 
noch unscharf und bei weitem zu grob gesagt. Denn hier spielt 
fur denerinnernden Autor die Hauptrolle gar nicht, was er erlebt 
hat, sondern das Weben seiner Erinnerung, die Penelopearbeit 
des Eingedenkens. Oder sollte man nicht besser von einem Pene- 
lopewerk des Vergessens reden? Steht nicht das ungewollte 
Eingedenken, Prousts memoire involontaire dem Vergessen 
viel naher als dem, was meist Erinnerung genannt wird? Und 
ist dies Werk spontanen Eingedenkens, in dem Erinnerung der 
Einschlag und Vergessen der Zettel ist, nicht vielmehr ein Ge- 
genstiick zum Werk der Penelope als sein Ebenbild? Denn hier 
lost der Tag auf, was die Nacht wirkte. An jedem Morgen hal- 
ten wir, erwacht, meist schwach und lose, nur an ein paar Fran- 
sen den Teppich des gelebten Daseins, wie Vergessen ihn in uns 
gewoben hat, in Handen. Aber jeder Tag lost mit dem zweck- 
gebundenen Handeln und, noch mehr, mit zweckverhaftetem 
Erinnern das Geflecht, die Ornamente des Vergessens auf. Dar- 
um hat Proust am Ende seine Tage zur Nacht gemacht, um im 
verdunkelten Zimmer bei kiinstlichem Lichte all seine Stunden 
ungestort dem Werk zu widmen, von den verschlungenen Ara- 
besken sich keine entgehen zu lassen. 

Wenn die Romer einen Text das Gewebte nennen, so ist es 
kaum einer mehr und dichter als Marcel Prousts. Nichts war 
ihm dicht und dauerhaft genug. Sein Verleger Gallimard hat 
erzahlt, wie Prousts Gepflogenheiten beim Korrekturlesen die 



3i2 Literarische und asthetische Essays 

Verzweiflung der Setzer machten. Die Fahnen kamen immer 
randvoll beschrieben zuriick. Aber kein einziger Druckfehler 
war ausgemerzt worden; aller verfugbare Raum war mit neuem 
Texte erfullt. So wirkte die Gesetzlichkeit des Erinnerns noch 
im Umfang des Werks sich aus. Denn ein erlebtes Ereignis ist 
endlich, zumindest in der einen Sphare des Erlebens beschlos- 
sen, ein erinnertes schrankenlos, weil nur Schliissel zu allem was 
vor ihm und zu allem was nach ihm kam. Und noch in anderem 
Sinne ist es die Erinnerung, die hier die strenge Webevorschrift 
gibt. Einheit des Textes namlich ist allein der actus 
purus des Erinnerns selber. Nicht die Person des Autors, 
geschweige die Handlung. Ja man kann sagen, deren Intermit- 
tenzen sind nur die Kehrseite vom Kontinuum des Erinnerns, 
das ruckwartige Muster des Teppichs. So wollte es Proust, so hat 
man ihn zu verstehen, wenn er sagte, er sahe am liebsten sein 
ganzes Werk zweispaltig in einem Bande und ohne jeden Ab- 
satz gedruckt. 

Was suchte er so frenetisch? Was lag diesen unendlichen Muhen 
zugrunde? Diirfen wir sagen, dafi alle Leben, Werke, Taten, 
welche zahlen, nie andres waren, als die unbeirrte Entfaltung 
der banalsten und fluchtigsten, sentimentalsten und schwachsten 
Stunde im Dasein dessen, dem sie zugehoren? Und als Proust 
an einer beriihmten Stelle diese seine eigenste Stunde geschildert 
hat, tat er's so, dafi jeder sie im eigenen Dasein wiederfindet. 
Nur wenig fehlt, und wir diirften sie eine alltagliche nennen. Sie 
kommt mit der Nacht, einem verlorenen Gezwitscher oder dem 
Atemzug an der Briistung des ofTenen Fensters. Und es ist nicht 
abzusehen, was fur Begegnungen uns bestimmt waren, wenn wir 
weniger willfahrig waren, zu schlafen. Proust willfahrte dem 
Schlafe nicht. Und dennoch, eben darum vielmehr, konnte Jean 
Cocteau in einem schonen Essay von dem Tonfall seiner Stimme 
sagen, dafi sie den Gesetzen von Nacht und Honig gehorsam 
war. Indem er unter ihre Herrschaft trat, besiegte er die hof-F- 
nungslose Trauer in seinem Innern (das was er einmal »Pimper- 
fection incurable dans Pessence meme du present « genannt 
hat), und baute aus den Waben der Erinnerung dem Bienen- 
schwarm der Gedanken sein Haus. Cocteau hat gesehen, was 
jeden Leser Prousts im hochsten Grade beschaftigen sollte: er sah 
das blinde, unsinnige und besessene Gliicksverlangen in diesem 



Zum Bilde Prousts 3 1 3 

Menschen. Es leuchtete aus seinen Blicken. Die waren nicht 
glucklich. Aber in ihnen safi das Gliick wie im Spiel oder in der 
Liebe. Es ist audi nicht schwer zu sagen, warum dieser herz- 
stockende, sprengende Gliickswille, der Prousts Dichten durch- 
dringt, seinen Lesern so selten eingeht. Proust selbst hat es ihnen 
an vielen Stellen erleichtert, auch dieses ceuvre unter der altbe- 
wahrten, bequemen Perspektive der Entsagung, des Heroismus, 
der Askese zu betrachten. Nichts leuchtet ja den Musterschiilern 
des Lebens so ein, als eine grofie Leistung sei die Frucht 
von nichts als Muhen, Jammer und Enttauschung. Denn dafi am 
Schonen auch das Gliick noch Anteil haben konnte, das ware zu- 
viel des Guten, dariiber wiirde ihr Ressentiment sich niemals 
trosten. 

Es gibt nun aber einen zwiefachen Gliickswillen, eine Dialektik 
des Gliicks. Eine hymnische und eine elegische Gliicksgestalt. Die 
eine: das Unerhorte, das Niedagewesene, der Gipfel der Selig- 
keit. Die andere: das ewige Nocheinmal, die ewige Restaura- 
tion des urspriinglichen, ersten Gliicks. Diese elegische Gliicks- 
idee, die man auch die eleatische nennen konnte, ist es, die fur 
Proust das Dasein in einen Bannwald der Erinnerung verwan- 
delt. Ihr hat er nicht allein im Leben Freunde und Gesellschaft, 
sondern im Werke Handlung, Einheit der Person, Flufi der Er- 
zahlung, Spiel der Phantasie geopfert. Es war nicht der Schlech- 
teste seiner Leser - Max Unold - der an die dergestalt bedingte 
»Langeweile« seiner Schriften anschlofi, um sie mit »Schaffner- 
Geschichten« zu vergleichen, und der die Formel fand: »Er 
hat es fertiggebracht, die Schaffner-Geschichte interessant zu 
machen. Er sagt: Denken Sie sich, Herr Leser, gestern tunk 
ich einen Biskuit in meinen Tee, da fallt mir ein, dafi ich als 
Kind auf dem Land war - dafiir verwendet er 80 Seiten, und 
das ist so hinreiftend, dafi man nicht mehr der Zuhdrende, son- 
dern der Wachtraumende selbst zu sein glaubt.« In solchen 
Schaffner-Geschichten - »alle gewohnlichen Traume werden, 
sobald man sie erzahlt, SchafTner-Geschichten« - hat Unold die 
Briicke zum Traum gefunden. An ihn mufi jede synthetische 
Interpretation von Proust anschliefien. Unscheinbare Pforten 
genug fiihren hinein. Da ist Prousts frenetisches Studium, sein 
passionierter Kultus der Ahnlichkeit. Nicht da, wo er sie in den 
Werken, Physiognomien oder Redeweisen, immer bestiirzend, 



314 Literarische und asthetische Essays 

unvermutet aufdeckt, lafit sie die wahren Zeichen ihrer Herr- 
schaft erkennen. Die Ahnlidikeit des Einen mit dem Andern, 
mit der wir rechnen, die im Wachen uns beschaftigt, umspielt 
nur die tiefere der Traumwelt, in der, was vorgeht, nie identisch, 
sondern ahnlich: sich selber undurchschaubar ahnlich, auftaucht. 
Kinder kennen ein Wahrzeichen dieser Welt, den Strumpf, der 
die Struktur der Traumwelt hat, , wenn er im Waschekasten, 
eingerollt, »Tasche« und »Mitgebrachtes« zugleich ist. Und wie 
sie selbst sich nicht ersattigen konnen, dies beides: Tasche und 
was drin liegt, mit einem Griff in etwas Drittes zu verwandeln: 
in den Strumpf, so war Proust unersattlich, die Attrappe, das 
Ich, mit einem Griffe zu entleeren, um immer wieder jenes Drit- 
te: das Bild, das seine Neugier, nein, sein Heimweh stillte, ein- 
zubringen. Zerfetzt von Heimweh lag er auf dem Bett, Heim- 
weh nach der im Stand der Ahnlidikeit entstellten Welt, in der 
das wahre surrealistische Gesicht des Daseins zum Durchbruch 
kommt. Ihr gehort an, was bei Proust geschieht, und wie behut- 
sam und vornehm es auftaucht. Namlich nie isoliert pathetisch 
und visionar, sondern angekundigt und vielfach gestiitzt eine 
gebrechliche kostbare Wirklichkeit tragend: das Bild. Es lost sich 
aus dem Gefuge der Proustschen Satze wie unter Franc,oisens 
Handen in Balbec der Sommertag, alt, unvordenklich, mu- 
mienhaft aus den Tiillgardinen. 



II. 

Das Wichtigste, was einer zu sagen hat, proklamiert er nicht 
immer laut. Und audi im stillen vertraut er es nicht immer dem 
Vertrautesten, Nachsten, nicht immer dem, der am ergebensten 
sich in Bereitschaft hielt, sein Gestandnis entgegenzunehmen. 
Wenn nun nicht Personen allein, sondern audi Zeitalter solche 
keusche, namlich soldi durchtriebene und frivole Art haben, ihr 
Eigenstes einem Beliebigen mitzuteilen, so ist es fur das neun- 
zehnte Jahrhundert nicht Zola oder Anatole France, sondern 
der junge Proust, der unbetrachtliche Snob, der verspielte Salon- 
lowe, der von dem gealterten Zeitlauf (wie von einem anderen, 
gleich sterbensmatten Swann) die erstaunlichsten Konfidenzen 
im Fluge auffing. Erst Proust hat das neunzehnte Jahrhundert 



Zum Bilde Prousts 315 

memoirenfahig gemacht. Was vor ihm ein spannungsloser 
Zeitraum war, ist zum Kraftfeld geworden, in dem die mannig- 
fadisten Strome von spateren Autoren erweckt wurden. Es ist 
audi gar kein Zufall, dafi das interessanteste Werk dieser Art 
von einer Verf asserin stammt, die Proust personlich als Bewund- 
rerin und Freundin nahegestanden hat. Bereits der Titel, un- 
ter dem die Furstin Clermont-Tonnerre den ersten Band ihres 
Memoirenwerks vorstellt - »Au Temps des Equipages « - ware 
vor Proust kaum denkbar gewesen. Im iibrigen ist es das Echo, 
das dem vieldeutigen, liebevollen und herausfordernden Zuruf 
des Dichters aus dem Faubourg Saint-Germain leise zuriicktont. 
Dazu ist diese (melodische) Darstellung vol! von direkten oder 
indirekten Beziehungen auf Proust in ihrer Haltung wie in 
ihren Figuren, unter denen er selber und manche seiner liebsten 
Studienobjekte aus dem Ritz sind. Damit sind wir freilich, das 
lajSt sich nicht abstreiten, in einem sehr feudalen Milieu und mit 
Erscheinungen wie Robert de Montesquiou, den die Furstin 
Clermont-Tonnerre meisterhaft darstellt, in einem sehr speziel- 
len dazu. Aber das sind wir bei Proust audi; und es fehlt audi 
bei ihm bekanntlich das Gegenstiick zu einem Montesquiou 
nicht. Das alles verlohnte die Diskussion nicht - zumal die Fra- 
ge der Modelle zweiten Ranges und fur Deutschland belanglos 
ist - liebte nicht die deutsche Kritik so sehr, sich's bequem zu 
machen. Und vor allem: sie konnte die Gelegenheit nicht vor- 
beigehen lassen, sich mit dem Mob der Leihbuchereien zu 
enkanaillieren. Ihren Routiniers lag also nichts naher, als vom 
snobistischen Milieu des Werkes auf den Verfasser zu schliefien 
und Prousts Werk als interne franzosische Angelegenheit, als 
Unterhaltungsbeilage zum Gotha zu kennzeichnen. Nun liegt 
es auf der Hand: die Probleme der proustischen Menschen ent- 
stammen einer saturierten Gesellschaft. Aber da ist nicht eins, 
das mit denen des Verfassers sich deckt. Diese sind subversiv. 
Mufite man sie auf eine Formel bringen, so ware sein Anliegen, 
den ganzen Aufbau der hoheren Gesellschaft in Gestalt einer 
Physiologie des Geschwatzes zu konstruieren. Es gibt im Schatze 
ihrer Vorurteile und Maximen keine, die seine gefahrliche 
Komik nicht annihiliert. Auf diese als erster hingewiesen zu ha- 
ben ist nicht das geringste der bedeutenden Verdienste, die Leon 
Pierre-Quint als der erste Interpret Prousts sich erworben hat. 



3 16 Literarische und asthetische Essays 

»Wenn von humoristischen Werken die Rede ist«, schreibt 
Quint, »denkt man gewohnlich an kurze, lustige Bticher in 
illustrierten Umschlagen. Man vergifit Don Quichote, Panta- 
gruel und Gil Bias, enggedruckte, unformige Walzer.« Die 
subversive Seite des Proustschen Werks erscheint in diesem Zu- 
sammenhange am biindigsten. Und hier ist weniger Humor als 
Komik das eigentliche Zentrum seiner Kraft; er hebt die Welt 
nicht im Gelachter auf, sondern schleudert sie im Gelachter nie- 
der. Auf die Gefahr, dafi sie in Scherben geht, vor denen er nur 
selber in Tranen ausbricht. Und sie gehen in Scherben: 
die Einheit der Familie und der Personlichkeit, der Sexual- 
moral und der Standesehre. Die Pratentionen der Bourgeoisie 
zerschellen im Gelachter. Ihre Riickflucht, ihre Reassimilation 
durch den Adel ist das soziologische Thema des Werkes. 
Proust wurde des Trainings nicht miide, den der Umgang in 
den feudalen Kreisen erforderte. Ausdauernd und ohne sich viel 
Zwang tun zu miissen, schmeidigte er seine Natur, um sie so 
undurchdringlich und findig, devot und schwierig zu machen, 
wie er um seiner Aufgabe willen es werden mufite. Spater wur- 
de die Mystifikation, die Umstandlichkeit ihm dermafien zur 
Natur, dafi seine Briefe manchmal ganze Systeme von Parenthe- 
sen - und nicht nur grammatischen - sind. Briefe, die trotz ihrer 
unendlich geistvollen, wendigen Abfassung bisweilen jenes legen- 
dare Schema in Erinnerung rufen: »Verehrte gnadige Frau, 
ich merke eben, dafi ich gestern meinen Stock bei Ihnen vergafl, 
und bitte Sie, dem Oberbringer dieses Schreibens ihn auszuhan- 
digen. P. S. Verzeihen Sie bitte die Stoning, ich habe ihn so- 
eben gefunden.« Wie erfinderisch ist er in Schwierigkeiten. Spat 
in der Nacht erscheint er bei der Furstin Clermont-Tonnerre, 
um sein Bleiben an die Bedingung zu kniipfen, dafi ihm die 
Medizin von Hause geholt werde. Und nun schickt er den Kam- 
merdiener, gibt ihm eine lange Beschreibung der Gegend, des 
Hauses. Zuletzt: »Sie konnen es nicht verfehlen. Das einzige 
Fenster auf dem Boulevard Haussmann, in dem noch Licht 
brennt.« Nur nicht die Nummer. Man versuche, in einer frem- 
den Stadt die Adresse eines Bordells zu erfahren, und hat man 
dann die langatmigste Auskunft bekommen - nur alles andere 
als Strafie und Hausnummer -, so wird man verstehen, was 
hier gemeint ist (und wie es mit Prousts Liebe zum Zeremonial, 



Zum Bilde Prousts 317 

seiner Verehrung fiir Saint-Simon und nicht zuletzt seinem 
intransigenten Franzosentume zusammenhangt). 1st nicht die 
Quintessenz der Erf ahrung : erf ahren, wie hochst schwierig 
Vieles zu erfahren ist, das doch anscheinend sich in wenig Wor- 
ten sagen liefie. Nur dafi solche Worte einem kasten- und stan- 
desmafiig festgelegten Rotwelsch angehoren und fiir Aufien- 
seiter nicht zu verstehen sind. Kein Wunder, dafi die Geheim- 
sprache der Salons Proust passionierte. Als er spater an die 
gnadenlose Schilderung des petit clan, der Courvoisier, des 
»esprit d'Oriane« herantrat, hatte er selber im Umgang mit 
den Bibesco die Improvisationen einer Schlusselsprache kennen- 
gelernt, in die auch wir inzwischen eingefuhrt worden sind. 
Proust hat in den Jahren seines Salonlebens nicht nur das 
Laster der Schmeichelei in einem eminenten - man mochte 
sagen: theologischen - Grade ausgebildet, auch das der Neugier. 
Auf seinen Lippen war ein Abglanz des Lachelns, das in der 
Leibung mancher von den Kathedralen, die er so liebte, wie ein 
Lauffeuer iiber die Lippen der torichten Jungfraun huscht. Es ist 
das Lacheln der Neugier. Hat Neugier ihn im Grunde zu soldi 
grofiem Parodisten gemacht? Wir wiifiten dann zugleich, was wir 
vom Worte »Parodist« an dieser Stelle zu halten hatten. Nicht 
viel. Denn wenn es auch seiner abgriindigen Malice gerecht wird, 
so geht es doch am Bittren, Wilden und Verbissenen der grofi- 
artigen Reportagen vorbei, die er im Stile Balzacs, Flauberts, 
Sainte-Beuves, Henri de Regniers, der Goncourts, Michelets, 
Renans und schliefilich seines Lieblings Saint-Simon verfafit und 
in dem Bande »Pastiches et M^langes« gesammelt hat. Es ist 
die Mimikry des Neugierigen, die der geniale Trick dieser Folge, 
zugleich aber ein Moment seines ganzen Schaffens gewesen ist, 
in welchem die Passion fiir das Vegetabilische nicht ernst genug 
genommen werden kann. Ortega y Gasset hat als erster die 
Aufmerksamkeit auf das vegetative Dasein der proustschen 
Figuren gelenkt, die in einer so nachhaltigen Weise an ihren 
sozialen Fundort gebunden, vom Stande der feudalen Gnaden- 
sonne bestimmt, vom Winde, der von Guermantes oder Mes£- 
glise weht, bewegt und undurchdringlich in dem Dickicht ihres 
Schicksals miteinander verschlungen werden. Diesem Lebens- 
kreise entstammt, als Verfahren des Dichters, die Mimikry. 
Seine genauesten, evidentesten Erkenntnisse sitzen auf ihren 



3 1 8 Literarische und asthetische Essays 

Gegenstanden wie auf Blattern, Bliiten und Asten Insekten, die 
nichts von ihrem Dasein verraten, bis ein Sprung, ein Fliigel- 
schlag, ein Satz dem erschreckten Betrachter zeigen, dafi hier ein 
unberechenbares eigenes Leben unscheinbar sich in eine fremde 
Welt geschlichen hatte. »Die Metapher, so unerwartet sie ist«, 
sagt Pierre-Quint, »bildet sich eng an den Gedanken an.« 
Den wahren Leser Prousts durchschuttern immerwahrend kleine 
Schrecken. Im iibrigen findet er in der Metaphorik den Nieder- 
schlag der gleichen Mimikry, die ihn als Kampf urns Dasein 
dieses Geistes im Laubdach der Gesellschaft frappieren mufite. 
Es ist ein Wort davon zu sagen, wie innig und befruchtend diese 
beiden Laster, die Neugier und die Schmeichelei, einander durch- 
drungen haben. Eine auschlufireiche Stelle bei der Fiirstin 
Clermont-Tonnerre heifit: »Und zum Schlufi konnen wir nicht 
verschweigen: Proust berauschte sich am Studium des Dienst- 
personals. War es, weil hier ein Element, dem er sonst nirgend 
begegnete, seinen Spursinn reizte, oder neidete er es ihnen, dafi 
sie die intimen Details von den Dingen, die sein Interesse erreg- 
ten, besser beobachten konnten? Wie dem nun sei - das Dienst- 
personal in seinen verschiedenen Figuren und Typen war seine 
Leidenschaft.« In den fremdartigen Abschattungen eines Jupien, 
eines Monsieur Aime, einer Celeste Albaret zieht deren Reihe 
von der Gestalt einer Francoise, die mit den derben, spitzigen 
Ziigen der heiligen Martha leibhaftig einem Stundenbuch ent- 
stiegen scheint, sich bis zu jenen grooms und chasseurs, denen 
nicht Arbeit sondern Miifiiggang bezahlt wird. Und vielleicht 
nimmt die Representation das Interesse dieses Kenners der 
Zeremonien nirgends gespannter als in diesen medersten Graden 
in Anspruch. Wer will ermessen, wieviel Bedientenneugier in 
Prousts Schmeichelei, wieviel Bedientenschmeichelei in seine 
Neugier einging, und wo diese durchtriebene Kopie der Bedien- 
tenrolle auf den Hohen des sozialen Lebens ihre Grenzen 
hatte? Er gab sie, und er konnte nicht anders. Denn wie er sel- 
ber einmal verrat: »voir« und »desirer imiter« waren ihm ein 
und dasselbe. Diese Haltung hat, souveran und subaltern wie 
sie war, Maurice Barres in einem der profiliertesten Worte, die 
je auf Proust gepragt worden sind, festgehalten: »Un poete 
persan dans une loge concierge. « 
Es war in Prousts Neugier ein detektivischer Einschlag. Die 



Zum Bilde Prousts 319 

i . 
oberen Zehntausend waren ihm ein Verbrecherclan, eine Ver- 
schworerbande, mit der sich keine andere vergleichen kann: die 
Kamorra der Konsumenten. Sie schliefit aus ihrer Welt alles 
aus, was Anteil an der Produktion hat, verlangt zumindest, 
dafi sich dieser Anteil grazios und schamhaft hinter einem 
Gestus birgt, wie die vollendeten Professionals der Konsumtion 
ihn zur Schau tragen. Prousts Analyse des Snobismus, die weit 
wichtiger ist als seine Apotheose der Kunst, stellt in seiner Ge- 
sellschaftskritik den Hohepunkt dar. Denn nichts anderes ist 
die Haltung des Snob als die konsequente, organisierte, ge- 
stahlte Betrachtung des Daseins vom chemisch-reirien Konsu- 
mentenstandpunkt. Und weil aus dieser satanischen Feerie die 
entfernteste so gut wie die primitivste Erinnerung an die Pro- 
duktivkrafte der Natur verbannt werden sollte, darum war 
ihm selbst in der Liebe die invertierte Bindung brauchbarer 
als die normale. Der reine Konsument aber ist der reine Aus- 
beuter. Er ist es logisch und theoretisch, er ist es bei Proust in 
der ganzen Konkretheit seines aktuellen historischen Daseins. 
Konkret weil undurchschaubar und nicht zu stellen. Proust 
schildert eine Klasse, die in alien Teilen auf Tarnung ihrer 
materiellen Basis verpflichtet und eben darum einem Feudalis- 
ms angebildet ist, der, ohne wirtschaftliche Bedeutung in sich, 
als Maske der Grofibourgeoisie um so verwendbarer ist. 
Dieser illusionslose, gnadenlose Entzauberer des Ich, der Liebe, 
der Moral, als welchen Proust sich zu sehen liebte, macht seine 
ganze grenzenlose Kunst zum Schleier dieses einen und lebens- 
wichtigsten Mysteriums seiner Klasse: des wirtschaftlichen. Nicht 
als ob er ihr damit zu Diensten ware. Er ist ihr nur voraus. Was 
sie lebt, beginnt bei ihm schon verstandlich zu werden. Doch vie- 
les von der Grofie dieses Werkes wird unerschlossen oder unent- 
deckt verbleiben, bis diese Klasse ihre scharfsten Zuge im End- 
kampf zu erkennen gegeben hat. 



III. 

Im vorigen Jahrhundert gab es in Grenoble - ich weifi nicht, 
ob heute noch - ein Wirtshaus »Au Temps perdu «. Audi bei 
Proust sind wir Gaste, die unterm schwankenden Schild eine 



320 Literarisdie und asthetische Essays 

Schwelle betreten, hinter der uns die Ewigkeit und der Rausdi 
erwarten. Mit Recht hat Fernandez ein theme de l'eternite bei 
Proust vom theme du temps unterschieden. Aber durchaus ist 
diese Ewigkeit keine platonische, keine utopische: sie ist rausch- 
haft. Wenn also »die Zeit fiir Jeden, der sich in ihren Verlauf 
vertieft, eine neue und bisher unbekannte Art der Ewigkeit ent- 
hiillt«, so nahert sich doch der Einzelne damit durchaus nicht 
»den hoheren Gefilden, die ein Plato oder Spinoza mit einem 
Flugelschlage erreichten«. Nein - denn es gibt zwar bei Proust 
Rudimente eines uberdauernden Idealismus. Aber nicht sie sind 
es, die die Bedeutung dieses Werks bedingen. Die Ewigkeit, in 
welche Proust Aspekte eroffnet, ist die verschrankte, nicht die 
grenzenlose Zeit. Sein wahrer Anteil gilt dem Zeitverlauf in 
seiner realsten, das ist aber verschrankten Gestalt, der nirgends 
unverstellter herrscht als im Erinnern, innen, und im Altern, 
aufien. Das Widerspiel von Altern und Erinnern verfolgen, 
heifit in das Herz der proustschen Welt, ins Universum der Ver- 
schrankung dringen. Es ist die Welt im Stand der Ahnlichkeit 
und in ihr herrschen die »Korrespondenzen«, die zuerst die 
Romantik und die am innigsten Baudelaire erfafite, die aber 
Proust (als Einziger) vermochte, in unserem gelebten Leben zum 
Vorschein zu bringen. Das ist das Werk der memoire involon- 
taire, der verjiingenden Kraft, die dem unerbittlichen Altern 
gewachsen ist. Wo das Gewesene im taufrischen »Nu« sich 
spiegelt, rafft ein schmerzlicher Chock der Verjiingung es noch 
einmal so unaufhaltsam zusammen, wie die Richtung von Guer- 
mantes mit der Richtung von Swann fiir Proust sich verschrank- 
te, da er (im dreizehnten Bande) ein letztes Mai die Gegend von 
Combray durchstreift und die Verschlingung der Wege entdeckt. 
Im Nu springt die Landschaft um wie ein Wind. »Ah! que le 
monde est grand a la clarte des lampes! | Aux yeux du souvenir 
que le monde est petit!« Proust hat dasUngeheure fertiggebracht, 
imNu die ganzeWelt um ein ganzesMenschenleben altern zu las- 
sen. Aber eben diese Konzentration, in der, was sonst nur welkt 
und dammert, blitzhaft sich verzehrt, heifk Verjiingung. »A la 
Recherche du Temps perdu« ist der unausgesetzte Versuch, ein 
ganzes Leben mit der hochsten Geistesgegenwart zu laden. Nicht 
Reflexion - Vergegenwartigung ist Prousts Verfahren. Er ist 
ja von der Wahrheit durchdrungen, dafi wir alle keine Zeit ha- 



Zum Bilde Prousts 321 

ben, die wahren Dramen des Daseins zu leben, das uns bestimmt 
ist. Das macht uns altern. Nichts andres. Die Runzeln und 
Falten im Gesicht, sie sind die Eintragungen der grofien Leiden- 
schaften, der Laster, der Erkenntnisse, die bei uns vorsprachen - 
doch wir, die Herrschaft, waren nicht zu Hause. 
Schwerlich gab es seit den geistlichen Ubungen des Loyola im 
abendlandisdien Schrifttum einen radikaleren Versuch zur 
Selbstversenkung. Audi diese hat in ihrer Mitte eine Einsam- 
keit, die mit der Kraft des Maelstroms die Welt in ihren Stru- 
del hinabreifit. Und das iiberlaute und tiber alle Begriffe hoh- 
le Geschwatz, das uns aus Prousts Romanen entgegenbraust, ist 
das Drohnen, mit welchem die Gesellschaft in den Abgrund die- 
ser Einsamkeit hinabstiirzt. Prousts Invektiven gegen die 
Freundschaft haben hier ihren On, Die Stille auf dem Grunde 
dieses Trichters - seine Augen sind die stillsten und saugendsten 
- wollte gewahrt sein. Was in so vielen Anekdoten irritierend 
und kaprizios in Erscheinung tritt, ist die Verbindung einer bei- 
spiellosen Intensitat des Gesprachs mit einer nicht zu uberbie- 
tenden Feme vom Partner. Nie gab es einen, der so wie er die 
Dinge uns zeigen konnte. Sein weisender Finger ist ohnegleichen. 
Aber es gibt eine andere Geste im freundschaftlichen Mitein- 
ander, im Gesprach: die Beriihrung. Diese Geste ist keinem 
fremder als Proust. Er kann audi seinen Leser nicht anriihren, 
konnte es urn nichts in der Welt. Wollte man die Dichtung um 
diese Pole - die weisende und die beriihrende - anordnen, so 
ware die Mitte der einen das Werk von Proust, der anderen 
Peguys. Es ist im Grunde dies, was Fernandez ausgezeichnet 
begriffen hat: »Die Tiefe oder besser die Eindringlichkeit ist 
immer auf seiner Seite, nie auf seiten des Partners. « Mit einem 
Einschlag von Zynismus und virtuos kommt das in seiner Li- 
terarkritik zum Vorschein. Ihr bedeutendstes Dokument ein 
Essay, auf der groften Hohe des Ruhms und der niedern des 
Totenbettes entstanden: »A Propos de Baudelaire«. Jesuitisch 
im Einverstandnis mit seinen eignen Leiden, mafilos in der 
Schwatzhaftigkeit des Ruhenden, erschreckend in der Indiffe- 
renz des Todgeweihten, der hier noch einmal sprechen will und 
gleichviel wovon. Was ihn hier dem Tode gegemiber inspi- 
rierte, bestimmt ihn audi im Umgang mit den Zeitgenossen: 
ein so stofihafter, harter Wechsel von Sarkasmus und Zartlich- 



322 Literarische und asthetische Essays 

keit, Zartlichkeit und Sarkasmus, daft sein Gegenstand dar- 
unter erschopft zusammenzubrechen droht. 
Das Aufreizende, Unstete des Mannes betrifft ja nodi den Leser 
der Werke. Genug, an die unabsehbare Kette der »soit que« 
zu denken, die eine Handlung auf erschopfende, deprimierende 
Art im Lichte der unzahligen Motive zeigen, die ihr zugrunde 
gelegen haben konnen. Und doch, in dieser paratak- 
tischen Abflucht kommt zum Vorschein, wo Schwache und 
Genie bei Proust nur noch eins sind: die intellektuelle Ent- 
sagung, die erprobte Skepsis, die er den Dingen entgegenbrach- 
te. Nach den siiffisanten romantischen Innerlichkeiten kam er 
und war, wie Jacques Riviere es ausdruckt, entschlossen, den 
»Sirenes interieures« nicht den mindesten Glauben zu schenken. 
»Proust tritt an das Erleben ohne das leiseste metaphysische 
Interesse, ohne den leisesten konstruktivistischen Hang, ohne 
die leiseste Neigung zum Trosten heran.« Nichts ist wahrer. 
Und so ist denn auch die Grundfigur dieses Werkes, von der 
Proust nicht miide wurde, das Planvolle zu behaupten, nichts 
weniger als konstruiert. Planvoll aber, das ist sie wie der Ver- 
lauf unserer Handlinien oder die Anordnung der Staubgefafie 
im Kelch. Proust, dieses greise Kind, hat, tief ermiidet, sich an 
den Busen der Natur zuriickfallen lassen, nicht, urn an ihm zu 
saugen, sondern um bei ihrem Herzschlag zu traumen. So 
schwach mufi man ihn sehen und begreift, mit welchem Gliick 
Jacques Riviere ihn aus der Schwache verstehen und sagen 
konnte: »Marcel Proust ist an derselben Unerfahrenheit gestor- 
ben, die ihm erlaubt hat, sein Werk zu schreiben. Er ist gestor- 
ben aus Weltfremdheit und weil er seine Lebensbedingungen, 
die fur ihn vernichtend geworden waren, nicht zu andern ver- 
stand. Er ist gestorben, weil er nicht wufite, wie man Feuer 
macht, wie man ein Fenster off net. « Und, freilich, an seinem 
nervosen Asthma. 

Die Arzte haben diesem Leiden machtlos gegeniibergestanden. 
Nicht so der Dichter, der es sehr planvoll in seinen Dienst ge- 
stellt hat. Er war - um mit dem Aufierlichsten zu beginnen - 
ein vollendeter Regisseur seiner Krankheit. Monatelang verbin- 
det er mit vernichtender Ironie das Bild eines Verehrers, der 
ihm Blumen gesandt hatte, mit deren ihm unertraglichen Duft. 
Und mit den Tempi und Gezeiten seines Leidens alarmiert er 



Zum Bilde Prousts 323 

Freunde, die den Augenblick fiirchteten und ersehnten, da der 
Dichter plotzlich, lange nach Muternacht, im Salon erschien - 
brise de fatigue und nur auf fiinf Minuten, wie er verkundete, 
- um dann bis in den grauenden Morgen zu bleiben, zu miide, 
um sich zu erheben, zu miide, um audi nur seine Rede zu unter- 
brechen. Selbst der Brief schreiber findet kein Ende, diesem Lei- 
den die entlegensten Effekte abzugewinnen. »Das Rasseln mei- 
ner Atemziige iibertont das meiner Feder und eines Bades, das 
man im Stockwerk unter mir einlafk.« Aber es ist nicht das 
allein. Audi nicht, dafi ihn die Krankheit dem mondanen Dasein 
entrifi. Dieses Asthma ist in seine Kunst eingegangen, wenn nicht 
seine Kunst es geschaffen hat. Seine Syntax bildet rhythmisch 
auf Schritt und Tritt diese seine Erstickungsangst nach. Und 
seine ironische, philosophische, didaktische Reflexion ist alle- 
mal das Aufatmen, mit welchem der Alpdruck der Erinnerun- 
gen ihm vom Herzen fallt. In grbfierem Mafistab ist aber der 
Tod, den er unablassig, und am meisten wenn er schrieb, gegen- 
wartig hatte, die drohende, erstickende Krise. So stand er 
Proust gegeniiber und lange, bevor sein Leiden kritische Formen 
annahm. Dennoch nicht als hypochondrische Grille, sohdern 
als »realite nouvelle«, jene neue Wirklichkeit, von der der 
Reflex auf Dingen und auf Menschen die Ziige des Alterns sind. 
Physiologische Stilkunde wiirde ins Innerste dieses Schaffens 
fiihren. So wird niemand, der die besondere Zahigkeit kennt, 
mit der Erinnerungen im Geruchssinn (keineswegs Geriiche in 
der Erinnerung!) bewahrt werden, Prousts Empfindlichkeit ge- 
geniiber Geriichen fur Zufall erklaren konnen. Gewifi treten 
die meisten Erinnerungen, nach denen wir forschen, als Gesichts- 
bilder vor uns hin. Und audi die freisteigenden Gebilde der m£- 
moire involontaire sind noch zum guten Teil isolierte, nur rat- 
selhaft prasente Gesichtsbilder. Eben darum aber hat man, um 
dem innersten Schwingen in dieser Dichtung sich wissend an- 
heimzugeben, in eine besondere und tiefste Schicht dieses unwill- 
kurlichen Eingedenkens sich zu versetzen, in welcher die Mo- 
mente der Erinnerung nicht mehr einzeln, als Bilder, sondern 
bildlos und ungeformt, unbestimmt und gewichtig von einem 
Ganzen so uns Kunde geben wie dem Fischer die Schwere des 
Netzes von seinem Fang. Der Geruch, das ist der Gewichtssinn 
dessen, der im Meere der temps perdu seine Netze auswirft. 



324 Literarische und asthetische Essays 

Und seine Satze sind das ganze Muskelspiel des intelligiblen 
Leibes, enthalten die ganze, die unsagliche Anstrengung, diesen 
Fang zu heben. 

Im iibrigen: wie innig die Symbiose dieses bestimmten Schaffens 
und dieses bestimmten Leidens gewesen ist, erweist am deutlich- 
sten, dafi nie bei Proust jenes heroische Dennoch zum Durch- 
bruch kommt, mit dem sonst schopferische Menschen sich gegen 
ihr Leiden erheben. Und daher darf man, von der andern Seite, 
sagen: eine so tiefe Komplizitat mit Weltlauf und Dasein, wie 
die von Proust es gewesen ist, hatte unfehlbar in ein gemeines 
und trages Geniigen auf jeder anderen Basis als so tiefen, unaus- 
gesetzten Leidens fuhren miissen. So aber war dies Leiden be- 
stimmt, von einem wunsch- und reuelosen furor seine Stelle in 
dem grofien Werkprozesse sich weisen zu lassen. Zum zweiten- 
mal erhob sich ein Geriist wie Michelangelos, auf dem der 
Kiinstler, das Haupt im Nacken, an die Decke der Sixtina die 
Schopfung make: das Krankenbett, auf welchem Marcel Proust 
die ungezahlten Blatter, die er in der Luft mit seiner Hand- 
schrift bedeckte, der Schopfung seines- Mikrokosmos gewidmet 
hat. 



Robert Walser 

Man kann von Robert Walser viel lesen, iiber ihn aber nichts. 
Was wissen wir denn liberhaupt von den wenigen unter uns, die 
die feile Glosse auf die rechte Weise zu nehmen wissen: namlich 
nicht wie der Schmock, der sie adeln will, indem er sie zu sich 
»emporhebt«, sondern, ihre verachtliche, unscheinbare Bereit- 
schaft nutzend, um ihr Belebendes, Reinigendes abzugewinnen. 
Was es mit dieser »kleinen Form«, wie Alfred Polgar sie nannte, 
auf sich hat und wieviel Hoffnungsfalter von der frechen Fels- 
stirn der sogenannten grofien Literatur in ihre bescheidenen 
Kelche fluchten, wissen eben nur wenige. Und die andern ahnen 
gar nicht, was sie einem Polgar, einem Hessel, einem Walser 
an ihren zarten oder stachligen Bliiten in der Ode des Blat- 
terwaldes zu danken haben. Sie wiirden sogar auf Robert Wal- 
ser zuletzt kommen. Denn die erste Regung ihres kiimmer- 



Robert Walser 325 

lichen Bildungswissens, das in den Dingen des Schrifttums ihr 
einziges ist, rat ihnen, fur das, was sie die Nichtigkek des 
Inhalts nennen, an der »gepflegten«, »edlen« Form sich 
schadlos zu halten. Und da fallt denn gerade bei Robert Walser 
zunachst eine ganz ungewohnliche, schwer zu beschreibende Ver- 
wahrlosung auf. Dafi diese Nichtigkeit Gewicht, die Zerfahren- 
heit Ausdauer ist, darauf kommt die Betrachtung von Walsers 
Sachen zuletzt. 

Leicht ist sie nicht. Denn wahrend wir gewohnt sind, die Rat- 
sel des Stils uns aus mehr oder weniger durchgebildeten, absichts- 
vollen Kunstwerken entgegentreten zu sehen, stehen wir hier 
vor einer, zumindest scheinbar, vollig absichtslosen und dennoch 
anziehenden und bannenden Sprachverwilderung. Vor einem 
Sichgehenlassen dazu, das alle Formen von der Grazie bis zur 
Bitternis aufweist. Scheinbar, sagten wir, absichtslos. Man hat 
manchmal dariiber gestritten, ob wirklich. Aber das ist ein tau- 
ber Disput, und man merkt es, wenn man an das Eingestandnis 
von Walser denkt, er habe in seinen Sachen nie eine Zeile ver- 
bessert. Man braucht ihm das gewifi nicht zu glauben, tate aber 
doch gut daran. Denn man wird sich dann bei der Einsicht be^ 
ruhigen: zu schreiben und das Geschriebene niemals zu verbes- 
sern, ist eben die vollkommene Durchdringung aufierster Ab- 
sichtslosigkeit und hochster Absicht. 

Soweit gut. Aber gewifi kann das gar nicht hindern, dieser Ver- 
wahrlosung auf den Grund zu gehen. Wir sagten schon: sie hat 
alle Formen. Nun fugen wir hinzu:mit Ausnahme einer einzigen. 
Namlich dieser einen gelaufigsten, der es auf den Inhalt an- 
kommt, und sonst auf nichts. Walsern ist das Wie der Arbeit so 
wenig Nebensache, dafi ihm alles, was er zu sagen hat, gegen die 
Bedeutung des Schreibens vollig zuriicktritt. Man mochte sagen, 
dafi es beim Schreiben draufgeht. Das will erklart sein. Und 
dabei stofit man auf etwas sehr Schweizerisches an diesem Dich- 
ter: die Scham. Von Arnold Bocklin, seinem Sohn Carlo und 
Gottfried Keller erzahlt man diese Geschichte: Sie safien eines 
Tages wie des oftern im Wirtshaus. Ihr Stammtisch war durch 
die wortkarge, verschlossene Art seiner Zechgenossen seit langem 
beriihmt. Audi diesmal safi die Gesellschaft schweigend beisam- 
men. Da bemerkte, nach Ablauf einer langen Zeit, der junge 
Bocklin: »Heifi ist's«, und nachdem eine Viertelstunde vergan- 



326 Literarische und asthetische Essays 

gen war, der altere: »Und windstill«. Keller seinerseits wartete 
eine Weile; dann erhob er sich mit den Worten: »Unter Schwat- 
zern will ich nicht trinken.« Die baurische Sprachscham, die hier 
von einem exzentrischen Witzwort getroffen wird, ist Walsers 
Sadie. Kaum hat er die Feder zur Hand genommen, bemachtigt 
sich seiner eine Desperadostimmung. Alles scheint ihm verloren, 
ein Wortschwall bricht aus, in dem jeder Satz nur die Aufgabe 
hat, den vorigen vergessen zu machen. Wenn er in einem Virtuo- 
senstiick den Monolog: »Durch diese hohle Gasse muE er kom- 
men« in Prosa verwandelt, so beginnt er mit den klassischen 
Worten: »Durch diese hohle Gasse «, aber da packt seinen Tell 
schon der Jammer, da scheint er sich schon haltlos, klein, ver- 
loren, und er fahrt fort: »Durch diese hohle Gasse, glaube ich, 
mufi er kommen.« 

Gewifi war Ahnliches da. Dies keusche, kunstvolle Ungeschick 
in alien Dingen der Sprache ist Narrenerbteil. Wenn Polonius, 
das Urbild der Geschwatzigkeit, ein Jongleur ist, kranzt Walser 
sich bacchisch mit Sprachgirlanden, die ihn zu Fall bringen. Die 
Girlande ist in der Tat das Bild seiner Satze. Der Gedanke aber, 
der in ihnen daherstolpert, ist ein Tagedieb, Strolch und 
Genie wie die Helden in Walsers Prosa. Er kann iibrigens nichts 
anderes als »Helden« schildern, kommt von den Hauptfiguren 
nicht los und hat es bei drei fruhen Romanen bewenden lassen, 
um fortan einzig und allein den Briiderschaften mit seinen hun- 
dert Lieblingsstrolchen zu leben. 

Es gibt bekanntlich gerade im germanischen Schrifttum einige 
grofie Pragungen des windbeutligen, nichtsnutzigen, tagediebi- 
schen und verkommenen Helden. Ein Meister soldier Figuren, 
Knut Hamsun, ist erst kurzlich gefeiert worden. Eichendorff, der 
den Taugenichts, Hebel, der den Zundelfrieder geschaffen hat, 
sind andere. Wie machen sich Walsers Figuren in dieser Gesell- 
schaft? Und wo stammen sie her? Woher der Taugenichts, das 
wissen wir. Aus den Waldern und Talern des romantischen 
Deutschland. Der Zundelfrieder aus dem rebellischen, aufge- 
klarten Kleinburgertum rheinischer Stadte um die Jahrhundert- 
wende. Hamsuns Figuren aus der Urwelt der Fjorde - es sind 
Menschen, die ihr Heimweh zu Trollen zieht. Walsers? Viel- 
leicht aus den Glarner Bergen? Den Matten von Appenzell, wo 
er herstammt? Nichts weniger. Sie kommen aus der Nacht, wo 



Robert Walser 327 

sie am schwarzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, 
von diirftigen Lampions der HofTnung erhellten, mit etwas 
Festglanz im Auge, aber verstort und zum Weinen traurig. 
Was sie weinen, ist Prosa. Denn das Schluchzen ist die Me- 
lodie von Walsers Geschwatzigkeit. Es verrat uns, woher seine 
Lieben kommen. Aus dem Wahnsinn namlich und nirgend- 
her sonst. Es sind Figuren, die den Wahnsinn hinter sich haben 
und darum von einer so zerreifienden, so ganz unmenschlichen, 
unbeirrbarren Oberflachlichkeit bleiben. Will man das Begluk- 
kende und Unheimliche, das an ihnen ist, mit einem Worte 
nennen, so darf man sagen: sie sind alle geheilt. Den Pro- 
zefi dieser Heilung erfahren wir freilich nie, es sei denn, 
wir wagen uns an sein >>Schneewittchen<< - eines der tiefsinnig- 
sten Gebilde der neueren Dichtung -, das allein hinreichen 
wiirde, verstandlich zu machen, warum dieser scheinbar ver- 
spielteste aller Dichter ein Lieblingsautor des unerbittlichen 
Franz Kafka gewesen ist. 

Ganz ungewdhnlich zart sind diese Geschichten, das begreift 
jeder. Nicht jeder sieht, daft nicht die Nervenspannung des 
dekadenten, sondern die reine und rege Stimmung des genesen- 
den Lebens in ihnen liegt. »Midi entsetzt der Gedanke, ich 
konnte Erfolg in der Welt haben«, heifit es bei Walser in einer 
Paraphrase von Franz Moors Dialog. All seine Helden teilen 
dies Entsetzen. Warum aber? Durchaus nicht aus Abscheu vor 
der Welt, sittlichem Ressentiment oder Pathos, sondern aus ganz 
epikuraischen Griinden. Sie wollen sich selber geniefien. Und 
dazu haben sie ein ganz ungewohnliches Geschick. Sie haben 
auch darin einen ganz ungewohnlichen Adel. Sie haben audi da- 
zu ein ganz ungewohnliches Recht. Denn niemand geniefit wie 
der Genesende. Alles Orgiastische ist ihm fern: das Stromen 
seines erneuerten Blutes klingt ihm aus Bachen und der reinere 
Atem der Lippen aus Wipfeln entgegen. Diesen kindlichen Adel 
teilen die Menschen Walsers mit den Marchenfiguren, die ja 
auch der Nacht und dem Wahnsinn, dem des Mythos namlich, 
enttauchen. Man meint gewohnlich, es habe sich dies Erwachen 
in den positiven Religionen vollzogen. Wenn das der Fall ist, 
dann jedenfalls in keiner sehr einfachen und eindeutigen Form. 
Die hat man in der grofien profanen Auseinandersetzung mit 
dem Mythos zu suchen, die das Marchen darstellt. Naturlich 



328 Literarisdie und asthetische Essays 

haben seine Figuren nicht einfadi Ahnlichkeit mit den Walser- 
schen. Sie kampfen nodi, sicii von dem Leiden zu befreien. Wal- 
ser setzt ein, wo die Marchen aufhoren. »Und wenn sie nicht 
gestorben sind, dann leben sie heme noch.« Walser zeigt, wie sie 
leben. Seine Sachen,und hiermit will ich schliefien wie er beginnt, 
heifien: Geschichten, Aufsatze, Dichtungen, kleine Prosa und 
ahnlich. 



Julien Green 

»Nous qui sommes born^es en tout, comment le sommes-nous si 
peu lorsqu'il s'agit de souffrir?« Diese Frage von Marivaux 
war eine jener glanzenden Formulierungen, mit denen das De- 
tachement von der Sache, der Abstand manchmal den Geist 
beschenkt. Denn keiner Epoche lag die Kontemplation des Lei- 
dens ferner als der franzosischen Aufklarung. Aus diesem Ab- 
stand heraus formulierte Marivaux so uberzeugend. Julien 
Green aber, der diese Worte als Motto vor seine »Adrienne 
Mesurat« stellte, weifi, worum es hier geht. Namlich urn den 
Passionsgedanken. Und damit nicht nur um diesen Roman, son- 
dern um sein gesamtes ceuvre, in dem das Leiden durchaus 
der herrschende, ja der einzige Vorwurf ist. Wer aber nachzufor- 
schen beginnt, auf welche Weise uberhaupt das Leiden in dieser 
Ausschliefilichkeit zum Gegenstand des dichterischen Schaffens 
werden kann, stofit bald darauf, wie fremd Julien Green nicht 
nur der analytischen Psychologie eines Marivaux, sondern jeder 
psychologischen Ansicht vom Menschen sein mufi. Wer vom 
humanen, humanistischen Standpunkt - fast mochte man 
sagen: vom Standpunkt des Laien - den Menschen studieren 
will, der hatte ihn gewift in seiner sogenannten Fulle, gewifi 
auch als geniefienden, gesunden und herrschenden darzustellen. 
Dem theologischen Ingenium aber erschliefit allerdings und seit 
jeher das Menschenwesen sich an der passio am tiefsten. Nicht 
freilich ohne den gewaltigen Doppelsinn des Lateinischen in An- 
spruch zu nehmen: jene Verschrankung von Leiden und Leiden- 
schaft, mit welcher die passio zum welthistorischen Massiv, zur 
Wasserscheide der Religionen sich auftiirmt. In dieser unwirt- 



Julien Green 329 

lichen Hohe hat das bestiirzende, sprode Werk von Green seinen 
Ursprung. Hier entsprang der tragische wie der katholische My- 
thos, die fromme heidnische passio des Konig Odipus, der Elek- 
tra, des Aias, wie die fromme, christliche Jesu. Hier geht, im 
Indifferenzpunkt, auf der Pafthohe der Mythen, der Dichter 
daran, den Stand des gegenwartigen Menschen in den Spuren 
seiner passio zu zeichnen. 

Das kreatiirliche Leiden als solches ist zeitlos. Nicht aber sind es 
die Leidenschaften, an denen die passio sich nahrt. Geiz, Herrsch- 
sucht, Tragheit des Herzens, Stolz - jedes von diesen Lastern 
stent in Figuren von allegorischer Scharfe in diesem Werk auf, 
und doch ist, was seine Menschen im Innersten peitscht, im alten 
christlichen Kanon der Todsiinden nicht zu finden. Wohl aber 
stiefte, wer Genie und Fluch der Lebenden in theologischen Be- 
grifFen umreifien wollte, auf dieses neueste und im hollischen 
Sinne moderne Laster: die Ungeduld. Emily Fletcher, Adrienne 
Mesurat, Paul Gueret - Stichflammen der Ungeduld, die im 
Windzug des Schicksals ziingeln. Will Green - so konnte man 
seine Werke apologetisch ausdeuten - zeigen, was aus diesem 
Geschlechte geworden ware, wenn es nicht an ungeheuren Ge- 
schwindigkeiten der Bewegung, der Mitteilung, des Genusses 
seine zehrende Ungeduld hatte ersattigen konnen? Oder will er 
vielmehr die gefahrlichen Energien beschworen, die im Innern 
dieses Geschlechts seinen stolzesten Errungenschaften entspre- 
chen und nur auf die Gelegenheit warten, in Zerstorungspro- 
zessen von nie geahnter Geschwindigkeit dieses Tempo noch zu 
vertausendfachen? Denn die Leidenschaft - das ist ein Grund- 
motiv der passio - vergeht sich nicht nur wider die Gebote Got- 
tes, sie frevelt wider die naturliche Ordnung. Darum weckt sie 
die zerstorenden Krafte des ganzen Kosmos. Was dem Leiden- 
schaftlichen zustofit, ist nicht so sehr Strafgericht Gottes, als 
Aufruhr der Natur gegen den, der ihren Frieden stort und ihr 
Antlitz entstellt. Dies profane Verhangnis vollzieht sich an der 
Leidenschaft durch sie selbst. Und zwar ist es das Werk des Zu- 
falls. In seinem letzten und reifsten Buche, dem »Leviathan«, 
hat Green die Vernichtung des Leidenden weniger innerlich, 
scharfer in der Verstrickung vollzogen. Er hat damit diesem 
Aufiersten, Aufierlichsten mit demselben Rechte die Ehre ge- 
geben wie Calderon, der Meister der dramatischen Passion, in 



330 Literarische und asthetische Essays 

seinen Dramen die barockste Verwicklung, die maschinellste 
Schicksalsfiigung dem Aufbau zugrunde legt. Zufall ist die gott- 
verlassene Figur der Notwendigkeit. Darum steht bei Green das 
verworfene Innen der Leidenschaft in Wahrheit so vollig unter 
der Herrschaft des Aufien, dafi Leidenschaft im Grunde gar 
nichts anderes als der Agent des Zufalls in der Kreatur ist. Von 
ihm ist die Geschwindigkeit ein Teil, die die Verzweiflung den 
Geschicken mitteilt. Die Hoffnung ist das Ritardando des Schick- 
sals. Seine Menschen sind aufierstande zu hoffen; sie nehmen sich 
nicht die Zeit. Sie sind exaspiriert. 

Geduld, das ist das Wort, das alle Tugenden dieses Autors und 
zugleich alles in sich schliefit, was seinen Menschen fehlt. Der 
Mann, der so viel von diesen Rasenden weifi, blickt unver- 
wandt und aus grofien Augen. Sein Gesicht hat das Ebenmafi 
und den blassen Olivton des Spaniers. Im unbeschpltenen Adel 
der Stimme ist etwas, das vielen Worten zu wehren scheint, und 
genauso wie sie, auf leisen Sohlen, kommt die Handschrift mit 
ihren transparenten, schmucklosen Zeichen. Man mochte von 
Buchstaben sprechen, die gelernt haben zu verzichten. Am 
schwersten aber lafit sich ein Begriff von der kindlichen Fassung 
geben, wie sie sich in solchem Gestandnis bekundet: Es sei ihm 
nicht gegeben, hat er einmal gesagt, auch nur den allereinfach- 
sten Vorfall zu schildern, den er selber erlebt habe. Nichts un- 
verstandlicher fiir jeden, der hier noch irgendeine Briicke zum 
landlaufigen Begriff des Romans sucht, diesem zusammengestop- 
pelten Unding aus Erlebtem und Ausgedachtem. Green steht 
jenseits von dieser tauben, unfruchtbaren Zweiheit. Er schreibt 
nichts Erlebtes. Sein Erlebnis heifk Schreiben. Er denkt aber 
auch nichts aus. Denn was er schreibt, das duldet keinen Spiel- 
raum. Nichts sei ihm, fahrt er fort, im Verlaufe seiner Arbeit 
fragwlirdiger als die einfache Handlung, der Gang der FabeL 
Sie lafk sich nicht ausdenken. Er geht ans Manuskript, um das 
Leben seiner Personen weiter, so weit zu fiihren, wie es die 
nachsten Seiten erfordern. Und ohne in der Zwischenzeit es 
bedenken oder ergriinden zu konnen, kehrt er am nachsten Tag 
dahin, wo er abbrach, zuriick. Das ist, man darf es ohne Fahr- 
lassigkeit so nennen, ein visionares Verfahren und der Ursprung 
der iibermafiig strengen, halluzinatorischen Deutlichkeit, mit 
der sich seine Menschen bewegen. Greens Abstand vom ublichen 



Julien Green 331 

Typus des Romanciers ist in der Kluft zwischen Vergegenwarti- 
gung und Schilderung einbegriffen. 

Vergegenwartigung - nicht das magische Element dieses Worts, 
sondern sein zeitliches sei zuerst angesprochen. Zweierlei Na- 
turalismus zwingt es zu unterscheiden: Zolas, der die Menschen 
und Verhaltnisse schildert, wie nur der Zeitgenosse sie sehen 
konnte; und Greens, welcher sie vergegenwartigt, wie sie sich 
nie einem Zeitgenossen hatten darstellen konnen. Wo er es tut? 
- In unserer Phantasie? - Das sagt wenig. In unserm Zeitraum 
tut er's, der ihnen fremd ist und sie wie ein Gewolbe hohler 
Jahre einschliefit, in dem das Echo ihre Flusterworte und ihre 
Schreie ihnen wiedergibt. Erst diese zweite Gegenwart verewigt 
was war; und darum ist Vergegenwartigung ein Akt der Magie. 
Green schildert die Menschen nicht, er vergegenwartigt sie in 
schicksalhaften Momenten. Das heifit: sie gebarden sich ganz so, 
wie wenn sie Erscheinungen waren. Adrienne Mesurat, die am 
Fenster haftet, um einen Blick auf Maurecourts Villa zu tun; der 
alte Mesurat, der sich den Bart streicht; Madame Legras, die mit 
Adriennes Kette das Weite sucht - so und nicht anders waren 
jede ihrer Gebarden, miifiten sie als arme Seelen jenseits des 
Grabes diese Augenblicke von neuem durchleben. In der trost- 
losen Stereotypic aller wahrhaft schicksalhaften Momente ste- 
hen sie vor dem Leser wie die Figuren der danteschen Holle in 
der Unwiderruflichkeit eines Daseins nach dem Jiingsten Gericht. 
Diese Stereotypic ist das Signum des Hollenstadiums. Geht man 
ihr auf den Grund, enthullt sich was Schicksal heifit als die voll- 
kommene, gnadenlose Form, in der der Zufall sein Regiment 
fiihrt. Und zwar als die trostloseste. Denn die vollkommene 
Trostlosigkeit ist die Trostlosigkeit in der Vollkommenheit. 
Wie Pascal aus dem gestirnten Himmel, dem Urbild mathe- 
matischer Vollkommenheit, nichts als die Dde ewigen Schwei- 
gens entgegenschlug, so tritt dem grofien Schicksalskundigen, 
diesem Dichter, in der vollkommenen Verkettung der Geschicke, 
die er ergriindet, nur die desolate Verlassenheit aller Kreaturen 
entgegen. 

Nun aber ist die visionare Aura, in der sie stehen, nichts weniger 
als »plastische, lebenswahre Gestaltung«. Solch schablonenhafte 
Vorstellung von Vision liebt die Berufung auf den Traum, auf 
die Evidenz und Bildkraft der Gesichte. Gesetzt aber, einer liege 



332 Literarische und asthetische Essays 

im Alptraum und erleide eines der Schreckensbilder, an denen 
die Biicher dieses Autors so reich sind. Was wird er tun, wenn er 
aufwacht? Licht machen und aufatmen. Ganz anders, wem eine 
Vision wird. Sie mag so furchtbar sein, wie sie wolle, der Hohe- 
punkt, der Schrecken der Schrecken, fiir ihn wird er stets im 
Augenblick des Erwachens aus seinem Schauen liegen. Denn das 
Diesseits ist das Echtheitssiegel, das an jeder Vision hangt, das 
Diesseits, das wir nun auf einmal, auf immer, von ihren Gesich- 
ten besiedelt, bevolkert, erobert finden. Ein phasisches Versinken 
und Aufwachen, so hat man die Arbeit dieses Autors sich vorzu- 
stellen; ein Durchschiittertwerden von tausend Schrecken, und 
ihrer jeder ist ein Geburtsschrecken. In einem unwillkommenen 
Lichte liegt mit zerrifinen, tiefen Schatten die Umwelt da. Ein 
»Tal der Tranen« offnet sich dem Erwachenden. Und vielleicht 
heifk das: wenn langst der Mensch schon keine Trane hat, dann 
netzt die Welt ringsum sich im Schweifie oder im Tau des Jam- 
mers. Da liegen auf dem Stapelplatze einer Kohlenhandlung, 
auf den Gueret sich liber eine Mauer fluchtet, drei gewaltige 
Haufen Kohle. Von diesen schwarzen, im Mondschein schim- 
mernden Bergen gibt Green eine sehr genaue Beschreibung. Ich 
kannte sie, als ich eines Tages den Dichter fragte, ob er vom 
Ursprung seiner Werke etwas wisse. Ein Charakter? Eine Er- 
fahrung? Eine Idee? Er erwiderte aber nur: »Von meinem letz- 
ten Buche kann ich Ihnen den Ursprung ganz genau sagen. Es 
war ein Haufen Kohle, auf den ich eines Tages gestoften bin.« 
Alles ist ihm um solche Bilder gruppiert, wie sie fiir immer 
vor dem erschreckten Blick des Erwachenden stehen. Nirgends 
sichtbarer als im Anfang der Werke. Die erste Figur, mit welcher 
der Leser Bekanntschaft macht, ist in alien seinen Romanen die 
Hauptperson. Sie ist vertieft, Gueret im Blick auf seine Uhr, 
Adrienne in die Betrachtung der Daguerreotypien ihrer Vorel- 
tern, Emily in die Landschaft vor ihrem Fenster. Es ist der Au- 
genblick einer seltsamen Geistesabwesenheit, einer banalen Ver- 
sunkenheit, da an seinen Figuren das Schicksal auftritt wie eine 
Krankheit. So sieht er sie, wie wir uns selber nach vielen Jah- 
ren in der Erinnerung - die audi ein Erwachen ist - in Be- 
schaftigungen, an denen nichts Rechtes scheint bemerkbar zu 
sein. Das sind die Augenblicke fiir immer. An sie, und nur an 
sie, schliefit Green an. »Toujours, semblait-il, murmura la ri- 



Julien Green 333 

viere, toute la vie de meme, toute la vie.« Das ist das Lebenslied 
dieser Menschen, denen ihre schicksalhaften Momente bis an ihr 
Ende gelten. Entwicklung kennen sie nicht. Wenn man nicht dies 
Entwicklung nennen will, dafi sie von Mifigeschkk zu MiEge- 
schick stiirzen, wie ein Korper im Fallen von den Steinstufen 
einer Treppe nicht eine auslafit. 

So fallen sie sich zu Tode. Und es vollzieht sich an ihnen das 
irdische Verhangnis der passio: die Zerstorung von Leib und 
Leben. Ohnmacht, Schlaf und endlich der Tod - immer wieder 
ist es die Antwort des Leibes, die hier am aufiersten Ende des 
Leidens steht. Das Bett ist diesem Romancier der angestammte 
Platz, der Thron der Kreatur. »Une passion par personne, cela 
suffit« - das geniigt, weil die Leidenschaft audi der Leidensweg 
und die geregelte Abfolge seiner Stationen schon in ihr vorbe- 
stimmt ist. Ist aber diese Regel auszusprechen? Betrifft sie den 
gegenwartigen Menschen wirklich? Greens Figuren sind gar 
nicht modern. Starr wie die maskenhafte persona der Tragiker 
tonen sie sich im Interieur der franzosischen Kleinstadt aus. 
Tracht und Alltag an ihnen sind verkiimmert und altmodisch; in 
ihren Gebarden aber leben uralte Herrscher, Frevler, Besessene. 
Zwischen Schnitzwerk und Pliisch sind in ihren Stuben Ahnen 
sefthaft wie im Baumstrunk oder im Schilf. Die Verschmelzung 
des Altmodischen mit der Urgeschichte, das Trauma des Eltern- 
anblicks in seiner doppelten Figur als urgeschichtliches und ge- 
schichtliches Phanomen ist das bleibende Motiv dieses Dichters. 
Der Zwienacht, in die die Welt hier gebettet ist, enttauchen die 
Hauser und Zimmer, in denen die Generation unserer Vater hin- 
ging. Ja die drei Hauptwerke spielen, recht betrachtet, alle im 
gleichen Hause, mag es Frau Fletcher, dem alten Mesurat oder 
Frau Grosgeorges gehoren; so spielen die Dramen der Tragiker 
vor dem gleichen Palastprospekt, der einmal Agamemnons, ein 
andermal Kreons oder des Theseus ist. Wohnen - das ist hier 
noch immer ein Hausen, ein Geschehen voller Angst und Magie, 
das vielleicht niemals verzehrender war als unter der Decke des 
zivilisierten Daseins und der burgerlich-christlichen Kleinwelt. 
Das Haus der Vater, das in der zwiefachen Finsternis des kaum 
Vergangenen und des Unvordenklichen dasteht, ist hier, von 
Schicksalsblitzen auf Sekunden ganz erhellt, durchsichtig wie ein 
Gewitterhimmel und eine Abflucht von Hohlen, Kammern und 



334 Literarische und asthetische Essays 

Galerien geworden, die sich in die Urzeit der Menschheit ver- 
lieren. Gewifi ist, dafi ein Stuck Urgeschichte fiir jedes Geschlecht 
mit dem Dasein, den Lebensformen des ihm unmittelbar vorher- 
gehenden verschmolzen ist, fiir die Lebenden also mit der Mitte 
und dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts. Green ist nicht der 
einzige, der es fuhlt. Cocteaus »Enfants terribles« sind eine mit 
alien technischen Mitteln ausgeriistete Expedition in die unter- 
seeischen Tiefen der Kinderstube, ganz zu schweigen vom Werke 
Prousts, das der verlorenen Zeit und ihren Zellen, in denen wir 
Kinder waren, gewidmet ist. Proust ruft die Zauberstunde der 
Kindheit herauf. Green bringt Ordnung in unsere friihesten 
Schrecken. Im ausgeraumten Domizil der Kindheit kehrt er die 
Spuren, die das Dasein unserer Eltern Hefi, zusammen. Und 
aus dem Berg von Leid und Grauen, den er hauft, trifft uns ihr 
unbegrabener Leichnam plbtzlich so durchbohrend wie vor 
Jahrhunderten der Leib den Frommen, den er stigmatisierte. 



Karl Kraus 

Gustav Gliick gewidmet 

/ 
Allmensch 

Wie laut wird alles. 
Worte in Versen II 

Alte Stiche haben den Boten, der schreiend, mit gestraubten 
Haaren, ein Blatt in seinen Handen schwingend, herbeieilt, 
ein Blatt, das voll von Krieg und Pestilenz, von Mordgeschrei 
und Weh, von Feuer- und Wassersnot, allerorten die »Neueste 
Zeitung« verbreitet. Eine Zeitung in solchem Sinn, in der Be- 
deutung, die das Wort bei Shakespeare hat, ist die »Fackel«. Voll 
von Verrat, Erdbeben, Gift und Brand aus dem mundus 
intelligibilis. Der Hafi, mit dem sie das unabsehbar wimmelnde 
Prefigeschlecht verfolgt, ist mehr als ein sittlicher ein vitaler, wie 



KarlKraus 335 

ihn der Urahn auf ein Geschlecht entarteter Zwergenschlingel 
geworfen hat, die aus seinem Samen gekommen sind. Der Name 
»Offentliche Meinung« schon ist ihm ein GreueL Meinungen sind 
Privatsache. Die Offentlichkeit hat ein Interesse nur an Urteilen. 
Sie ist richtende oder iiberhaupt keine. Aber das ist ja gerade der 
Sinn der offentlichen Meinung, die die Presse herstellt, die Of- 
fentlichkeit unfahig zum Richten zu machen, die Haltung des 
Unverantwortlichen, Uninformierten ihr zu suggerieren. In der 
Tat, was sind selbst die praziseren Informationen der Tages- 
zeitungen im Vergleich zu der haarstraubenden Akribie, die die 
»Fackel« an die Darstellung rechtlicher, sprachlicher und politi- 
scher Fakten wendet. Die orfentliche Meinung braucht sie nicht 
zu kiimmern. Denn die bluttriefenden Neuigkeiten dieser »2ei- 
tung« fordern ihren Richtspruch heraus. Und gegen keinen mit 
ungestiimerem Drangen als gegen die Presse selbst. 
Ein Hafi, wie Kraus ihn auf die Journalisten geworfen hat, 
kann niemals so schlechthin in dem, was sie tun, fundiert sein - 
es mag so verwerflich sein wie es will; dieser HaS mufi Griinde 
in ihrem Sein haben, mag es nun dem seinen so entgegengesetzt 
oder so verwandt sein wie immer. In der Tat ist aber beides 
der Fall Die jungste Darstellung des Journalisten charakteri- 
siert ihn sogleich mit ihrem ersten Satze als »einen Menschen, der 
fur sich selbst und seine Existenz, wie iiberhaupt fur die blofie 
Existenz der Dinge, wenig Interesse hat, sondern die Dinge erst 
in ihren Beziehungen spiirt, vor allem dort, wo diese in Ereig- 
nissen aufeinandertreffen - und der in diesem Moment selbst 
erst zusammengeschlossen, wesenhaft und lebendig wird.« Was 
man mit diesem Satz in Handen halt, ist nichts anderes als das 
Negativ des Bildes von Kraus. In der Tat: wer hatte fur sich 
selbst und seine Existenz ein brennenderes Interesse gezeigt als 
er, der nie von diesem Thema loskommt, wer fiir die blofie Exi- 
stenz der Dinge, ihren Ursprung, ein aufmerksameres, wen 
jenes Aufeinandertreffen des Ereignisses mit dem Datum, dem 
Augenzeugen oder der Kamera in hellere Verzweiflung versetzt 
als ihn? Endlich hat er seine gesamten Energien im Kampfe 
gegen die Phrase zusammengefafit, die der sprachliche Ausdruck 
der Willkiir ist, mit der die Aktualitat im Journalismus sich 
zur Herrschaft iiber die Dinge aufwirft. 
Das hellste Licht fallt auf diese Seite seines Kampfes gegen die 



336 Literarische und asthetische Essays 

Presse aus dem Lebenswerk seines Mitstreiters Adolf Loos. Loos 
fand seine providenziellen Gegner in den Kunstgewerblern und 
Architekten, die sich im Kreise der »Wiener Werkstatten« um 
eine neue Kunstindustrie bemuhten. Seine Parolen hat er in 
zahlreichen Auf satzen, in bleibenderFormulierung zumal in dem 
Artikel »Ornament und Verbrechen« niedergelegt, der 1908 in 
der »Frankfurter Zeitung« erschienen ist. Der leuchtende Blitz, 
der in diesem Aufsatz gezundet hat, beschrieb den sonderbarsten 
Zickzackweg. »Beim Lesen der Worte von Goethe, worin die 
Art der Banausen und so mancher Kunstkenner, Kupferstiche 
und Reliefs abzutasten, geriigt wird, ist ihm die Erkenntnis auf- 
gestiegen, dafi, was beriihrt werden soil, kein Kunstwerk sein 
darf, und was ein Kunstwerk ist, dem Zugriff entzogen sein 
mufi.« Das erste Anliegen von Loos war es demnach, Kunst- 
werk und Gebrauchsgegenstand zu trennen, und so ist es das 
erste Anliegen von Kraus gewesen, Information und Kunstwerk 
auseinanderzuhalten. Der Schmock ist im Herzen eins mit dem 
Ornamentiker. Als Ornamentiker, als Verschleierer der Grenzen 
zwischen Journalismus und Dichtung, als Schopfer des Feuille- 
tons in Poesie und Prosa ist Kraus nicht rnude geworden, Heine 
zu denunzieren, ja spaterhin, als den Verrater des Aphorismus 
an die Impression, selbst Nietzsche ihm zur Seite zu stellen. 
»Meine Auffassung«, heifit es von diesem, »ist, dafi er zur 
Mischung aus Elementen . . . der zersetzten europaischen Stile 
aus dem letzten Halbjahrhundert noch die Psychologie hinzuge- 
bracht hat, und dafi das neue Niveau der Sprache, das er ge- 
schafTen hat, das Niveau des Essayismus ist, wie das Heinesche 
das des Feuilletonismus.« Beide Formen erscheinen als Sympto- 
me der chronischen Krankheit, von welcher alle Einstellungen, 
alle Standpunkte nur die Fieberkurve bestimmen: der Unecht- 
beit. Die Entlarvung des Unechten ist es, aus der dieser Kampf 
gegen die Presse entstand. »Wer nur diese grofie Entschuldigung: 
zu konnen, was man nicht ist, in die Welt gebracht hat?« 
Die Phrase. Sie ist aber eine Ausgeburt der Technik. »Der 
Zeitungsapparat verlangt, wie eine Fabrik, Arbeit und Absatz- 
gebiete. Zu bestimmten Zeiten am Tage - zwei- bis drei- 
mal in groften Zeitungen - mufi fiir die Maschinen ein 
bestimmtes Quantum Arbeit beschafft und vorbereitet sein. Und 
nicht aus irgendwelchem Material: alles, was in der Zwischen- 



Karl Kraus 337 

zeit irgendwo und auf irgendeinem Gebiete des Lebens, der 
Politik, der Wirtschaft, der Kunst usw. geschah, mufi inzwischen 
erreicht und journalistisch verarbeitet sein.« Oder, in grofiarti- 
ger Abbreviatur, bei Kraus: »Es sollte Aufschlufi iiber die 
Technik geben, dafi sie zwar keine neue Phrase bilden kann, 
aber den Geist der Menschheit in dem Zustand belafit, die alte 
nicht entbehren zu konnen. In diesem Zweierlei eines verander- 
ten Lebens und einer mitgeschleppten Lebensform lebt und 
wachst das Weltiibel.« Mit einem Ruck schiirzt Kraus in diesen 
Worten den Knoten, zu dem Technik und Phrase sich ver- 
bunden haben. Die Losung freilich folgt einer anderen Schlinge: 
ihr ist der Journalismus durchweg Aiisdruck der veranderten 
Funktion der Sprache in der hochkapitalistischen Welt. Die 
Phrase in dem von Kraus so unablassig verfolgten Sinne ist 
das Warenzeichen, das den Gedanken verkehrsfahig macht so 
wie die Floskel, als Ornament, ihm den Liebhaberwert ver- 
leiht. Aber gerade darum ist die Befreiung der Sprache identisch 
mit der der Phrase - ihrer Verwandlung aus einem Abdruck in 
ein Instrument der Produktion - geworden. Die »Fackel« 
selbst enthalt davon Modelle, wenn schon nicht die Theorie; 
ihre Formeln sind von der schurzenden, niemals von der losen- 
den Art. Die Versdirankung eines biblischen Pathos mit der 
halsstarrigen Fixierung an die Anstofiigkeiten des Wiener Le- 
bens - das ist ihr Weg, sich den Phanomeneri zu nahern. Es 
geniigt ihr nicht, die Welt zum Zeugen fiir das schledlte Be- 
nehmen eines Zahlkellners aufzurufen, sie mulS die Toten aus 
ihren Grabern holen. - Mit Recht. Denn die mesquine, penetrato- 
te Fiille dieser Wiener Cafehaus-, Prefi- und GeseHschaflis- 
skandaleistnur die unscheinbare Bekundung eines Vorherwissens, 
das dann plotzlich, schneller als irgendwer es gewartigen konnte, 
an seinen eigentlichen, friihesten Gegenstand kam, um zwei 
Monate nach Kriegsausbruch ihn mit jener Rede »In dieser 
grofien Zeit« beim Namen zu nennen, mit der alle Damonen, 
die diesen Besessenen bevolkert hatteh, in die Sauherde seiner 
Zeitgenossenschaft hineinfuhren. 

»In dieser grofien Zeit, die ich noch gekannt habe, wie sie so 
klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch 
Zeit bleibt; und die wir, weil im Bereich organischen Wachs- 
tums derlei Verwandlung nicht moglich ist, lieber als eine dicke 



338 Literarische und asthetische Essays 

Zeit und wahrlich audi schwere Zeit ansprechen wollen; in dieser 
Zeit, in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen 
konnte, und in der geschehen mufi, was man sich nicht mehr 
vorstellen kann, und konnte man es, es geschahe nicht -; in 
dieser ernsten Zeit, die sich zu Tode gelacht hat vor der Mog- 
lichkeit, dafi sie ernst werden konnte; von ihrer Tragik iiber- 
rascht, nach Zerstreuung langt, und sich selbst auf frischer Tat 
ertappend nach Worten sucht; in dieser lauten Zeit, die da 
drohnt von der schauerlichen Symphonie der Taten, die Be- 
richte hervorbringen, und der Berichte, welche Taten ver- 
schulden: in dieser da mogen Sie von mir kein eigenes Wort er- 
warten. Keines aufier diesem, das eben noch Schweigen vor 
Mifideutung bewahrt. Zu tief skzt mir die Ehrfurcht vor der 
Unabanderlichkeit, Subordination der Sprache vor dem Un- 
gluck. In den Reichen der Phantasiearmut, wo der Mensch an 
seelischer Hungersnot stirbt, ohne den seelischen Hunger zu 
spiiren, wo Federn in Blut tauchen und Schwerter in Tinte, mufi 
das, was nicht gedacht wird, getan werden, aber ist das, was nur 
gedacht wird, unaussprechlich. Erwarten Sie von mir kein 
eigenes Wort. Weder vermochte ich ein neues zu sagen; denn im 
Zimmer, wo einer schreibt, ist der Larm so grofi, und ob er von 
Tieren kommt, von Kindern oder nur von Morsern, man soil 
es jetzt nicht entscheiden. Wer Taten zuspricht, schandet Wort 
und Tat und ist zweimal verachtlich. Der Beruf dazu ist nicht 
ausgestorben. Die jetzt nichts zu sagen haben, weil die Tat das 
Wort hat, sprechen weiter. Wer etwas zu sagen hat, trete vor 
und schweige!« 

Diese Bewandtnis hat es mit allem, was Kraus schrieb: es ist ein 
gewendetes Schweigen, ein Schweigen, dem der Sturm der Ereig- 
nisse in seinen schwarzen Umhang fahrt, ihn aufwirft und das 
grelle Futter nach aufien kehrt. Der Fiille seiner Anlasse unge- 
achtet, scheint jeder einzelne iiberraschend mit der Plotzlichkeit 
eines Windstofies auf ihn hereingebrochen. Alsbald tritt ein 
praziser Apparat zu seiner Bewaltigung in Tatigkeit: mit dem 
Ineinandergreifen von mundlicher und schriftlicher Ausdrucks- 
form wird jede Situation in ihren polemischen Moglichkeiten 
bis auf den Grund ausgeschopft. Mit welchen Kautelen Kraus 
sich dabei umgibt, ist aus dem Stacheldraht redaktioneller Be- 
kanntmachungen, der jedes Heft der »Fackel« umzaunt, genau 



Karl Kraus 339 

so ersichtlich wie aus den messersdiarfen Definitionen und 
Vorbehalten in den Programmen und den Konferencen seiner 
Vorlesungen »aus eigenen Schriften«. Die Dreiheit: Schweigen, 
Wissen, Geistesgegenwart konstituiert die Figur des Polemikers 
Kraus. Sein Schweigen ist ein Stauwerk, vor dem das spiegelnde 
Bassin seines Wissens sich standigvertieft. Seine Geistesgegenwart 
lafit sich keine Frage stellen, sie ist niemals willens, Grundsatzen, 
die einer ihr entgegenhalt, 2u entprechen. Ihr erstes ist vielmehr, 
die Situation abzumontieren, die wahre Fragestellung, welche 
sie enthalt, zu entdecken und sie statt aller Antwort dem Geg- 
ner zu prasentieren. Wenn man bei Johann Peter Hebel die 
konstruktive, schopferische Seite des Takts in ihrer hochsten 
Entfaltung findet, so bei Kraus die destruktive und kritische. 
Fur beide aber ist der Takt moralische Geistesgegenwart - 
Stoessl sagt »in Dialektik verfeinerte Gesinnung« - und Aus- 
druck einer unbekannten Konvention, die wichtiger ist als die 
anerkannte. Kraus lebt in einer Welt, in der die argste Schand- 
tat noch ein faux-pas ist; im Monstrosen unterscheidet er noch 
und zwar gerade darum, weil sein MajRstab nie der der burger- 
lichen Wohlanstandigkeit ist, der oberhalb der Grenzlinie haus- 
backener Schurkerei so schnell der Atem ausgeht, dafi sie zu 
keiner Auffassung weltgeschichtlicher mehr imstande ist. 
Kraus hat diesen Mafistab schon immer gekannt und im 
iibrigen gibt es fiir wahren Takt keinen andern. Es ist ein 
theologischer. Denn Takt ist nicht etwa - wie nach der Vor- 
stellung Befangener - die Gabe, jedem unter Abwagung aller 
Verhaltnisse das ihm gesellschaftlich Gebiihrende werden zu 
lassen. Im Gegenteil: Takt ist die Fahigkeit, gesellschaftliche Ver- 
haltnisse, doch ohne von ihnen abzugehen, als Naturverhalt- 
nisse, ja selbst als paradiesische zu behandeln und so nicht nur 
dem Konig, als ware er mit der Krone auf der Stirne geboren, 
sondern auch dem Lakaien wie einem livrierten Adam ent- 
gegenzukommen. Diese Noblesse hat Hebel in seiner Priester- 
haltung besessen, Kraus besitzt sie im Harnisch. Sein Kreatur- 
begriff enthalt die theologische Erbmasse von Spekulationen, 
die zum letzten Mai im 17. Jahrhundert aktuelle, gesamteuro- 
paische Geltung besessen haben. Am theologischen Kern dieses 
BegrifTs aber hat sich eine Wandlung vollzogen, die ihn ganz 
zwanglos in dem allmenschlichen Kredo osterreichischer Welt- 



340 Literarische und asthetische Essays 

lichkeit aufgehen liefi, das die Schopfung zur Kirche machte, 
in der nun nichts mehr als hin und wieder ein leises Weihrauch- 
aroma der Nebel an den Ritus gemahnt. Dieses Kredo hat am 
giiltigsten Stifter gepragt und sein Widerhall wird iiberall da 
vernehmlich, wo Kraus mit Tieren, Pflanzen, Kindern sich be- 
fafk. »Das Wehen der Luft,« schreibt Stifter, »das Rieseln des 
Wassers, das Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das 
Grunen der Erde, das Glanzen des Himmels, das Schimmern der 
Gestirne halte ich fiir grofi: das prachtig einherziehende Ge- 
witter, den Blitz, welcher Hauser spaltet, den Sturm, der die 
Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, wel- 
ches Lander verschiittet, halte ich nicht fiir grofier als obige 
Erscheinungen, ja ich halte sie fiir kleiner, weil sie nur Wirkun- 
gen viel hoherer Gesetze sind . . . Da die Menschen in der 
Kindheit waren, ihr geistiges Auge von der Wissenschaft noch 
nicht beriihrt war, wurden sie von dem Nahestehenden und 
Auffalligen ergriffen und zu Furcht und Bewunderung hinge- 
rissen: aber als ihr Sinn geoffnet wurde, da der Blick sich auf 
den Zusammenhang zu richten begann, so sanken die einzelnen 
Erscheinungen immer tiefer, und es erhob sich das Gesetz immer 
hoher, die Wunderbarkeiten horten auf, das Wunder nahm 
zu . . . So wie in der Natur die allgemeinen Gesetze still und 
unaufhorlich wirken, und das Auffallige nur eine einzelne 
Aufierung dieser Gesetze ist, so wirkt das Sittengesetz still und 
seelenbelebend durch den unendlichen Verkehr der Menschen 
mit Menschen, und die Wunder des Augenblickes bei vorgefalle- 
nen Taten sind nur kleine Merkmale dieser allgemeinen Kraft.« 
Stillschweigend ist in diesen beriihmten Satzen das Heilige dem 
bescheidenen, doch bedenklichen Begriff des Gesetzes gewichen. 
Aber transparent genug ist diese Natur Stifters und seine 
Sittenwelt, um mit der kantischen ganz unverwechselbar und 
in ihrem Kern als Kreatur erkennbar zu bleiben. Und jene 
schnode sakularisierten Gewitter und Blitze, Stiirme, Bran- 
dungen und Erdbeben - der Allmensch hat sie der Schopfung 
wieder zuriickgewonnen, indem er sie zu deren weltgericht- 
licher Antwort auf das frevelhafte Dasein der Menschen ge- 
macht hat. Nur dafi die Spanne zwischen Schopfung und Welt- 
gericht hier keine heilsgeschichtliche Erfiillung, geschweige denn 
geschichtliche Oberwindung findet. Denn wie die Landschaft 



Karl Kraus 34$ 

Osterreichs schwellenlos die begluckende Breite der stifterschen 
Prosa erfiillt, so sind ihm, Kraus, die Schreckensjahre seines 
Lebens nicht Geschichte, sondernNatur, ein FluS,verurteiltdurch 
eine Hollenlandschaft sich zu winden. Es ist die Landschaft, in 
der taglich 50 000 Baumstamme fur 60 Zeitungen fallen. Kraus 
hat diese Information unter dem Titel »Das Ende« gebracht. 
Denn dafi die Menschheit im Kampfe gegen die Kreatur den 
kiirzeren zieht, das ist ihm so gewifi wie dafi die Technik, ein- 
mal gegen die Schopfung ins Feld gefiihrt, auch vor ihrem Herrn 
nicht haltmachen wird. Sein Defaitismus ist von iibernationaler, 
namlich planetarischer Art und die Geschichte fiir ihn nur die 
Einode, die sein Geschlecht von der Schopfung trennt, deren 
letzter Aktus der Weltbrand ist. Als Oberlaufer in das Lager 
der Kreatur - so durchmifit er diese Einode. »Und nur das Tier, 
das Menschlichem erliegt, | ist Held des Lebens«: nie hat das 
altvaterische Kredo Adalbert Stifters eine so finstere, heraldi- 
sche Pragung erfahren. 

Die Kreatur ist es, in deren Namen Kraus immer wieder dem 
Tier und »dem Herzen aller Herzen, jenem des Hundes« sich 
zuneigt, fiir ihn der wahre Tugendspiegel der Schopfung, in 
welchem Treue, Reinheit, Dankbarkeit uns aus verlorener 
Zeitenferne heriiberlacheln. Wie beklagenswert, dafi sich Men- 
schen an dessen Stelle setzen! Das sind die Anhanger. Mehr und 
lieber als um den Meister scharen sie sich mit unschonem Wit- 
tern um den zu Tode getroffenen Gegner. Gewifi, der Hund ist 
nicht umsonst das emblematische Tier dieses Autors: der Hund, 
der ideale Fall des Anhangers, der nichts ist aufier ergebene 
Kreatur. Und je personlicher und unbegriindeter diese Ergeben- 
heit, um so besser. Kraus hat recht, sie auf die harteste Probe zu 
stellen. Wenn aber etwas das unendlich Fragwiirdige dieser 
Geschopfe zum Ausdruck bringt, so ist es, dafi sie allein aus 
denen sich rekrutieren, die Kraus selber geistig erst ins Leben 
gerufen, die er in ein und demselben Akt zeugte und uberzeugte. 
Bestimmen kann sein Zeugnis nur die, denen es Zeugung nie 
werden kann. 

Hochst folgerecht, wenn der verarmte, reduzierte Mensch die- 
ser Tage, der Zeitgenosse, nur noch in jener verkiimmertsten 
Form: als Privatmann, im Tempel der Kreatur eine Freistatt 
verlangen darf. Wieviel Verzicht und wieviel Ironie liegt in 



342 Literarische und asthetische Essays 

dem sonderbaren Kampfe fiir die »Nerven«, die letzten Wur- 
zelfaserchen des Wieners, an denen Kraus noch Muttererde ent- 
decken konnte. »Kraus«, schreibt Robert Scheu, »hatte einen 
groSen Gegenstand entdeckt, der nie zuvor die Feder eines 
Publizisten in Bewegung gesetzt hat: Die Rechte der Nerven. 
Er fand, dafi sie ein ebenso wiirdiger Gegenstand einer begei- 
sterten Verteidigung seien wie Eigentum, Haus und Hof, Par- 
tei und Staatsgrundgesetz. Er wurde der Anwalt der Nerven 
und nahm den Kampf gegen die kleinen Belastiger des Alltags 
auf, aber der Gegenstand wuchs ihm unter den Handen, er wur- 
de zum Problem des Privatlebens. Es ist zu verteidigen gegen 
Polizei, Presse, Moral und BegrifTe, schliefilich iiberhaupt gegen 
den Nebenmenschen, immer neue Feinde zu entdecken, wurde 
sein Beruf.« Wenn irgendwo, tritt hier das seltsame Wechselspiel 
zwischen reaktionarer Theorie und revolutionarer Praxis zu- 
tage, dem man bei Kraus allerorten begegnet. In der Tat, das 
Privatleben gegen Moral und Begriffe zu sichern in einer Ge- 
sellschaft, die die politische Durchleuchtung von Sexualitat und 
Familie, von wirtschaftlicher und physischer Existenz unternom- 
men hat, in einer Gesellschaft, die sich anschickt, Hauser mit 
glasernen Wanden zu bauen, deren Terrassen sich tief in die Stu- 
ben hineinziehen, die nun schon keine Stuben mehr sind - diese 
Parole ware die reaktionarste, ware es nicht gerade dasjenige 
Privatleben, das im Gegensatze zum biirgerlichen dieser gesell- 
schaftlichen Umwalzung streng entspricht, mit einem Worte, 
das sich selber abmontierende, sich selber offenkundig gestalten- 
de Privatleben der Armen, wie Peter Altenberg, der Aufwiegler, 
wie Adolf Loos einer war, dessen Schutz Kraus zu seiner Sache 
gemacht hat. In diesem Kampfe - und nur in ihm - haben 
denn audi die Anhanger ihren Nutzen, indem namlich gerade 
sie iiber die Anonymitat, in die der Satiriker seine Privatexistenz 
zu schliefien versuchte, am selbstherrlichsten sich hinwegsetzen, 
und nichts gebietet ihnen Einhalt als der Entschluft, mit dem 
Kraus selber vor die Schwelle tritt, um die Honneurs der Ruine 
zu machen, in der er »Privatmann« ist. 

So entschieden er dann, wenn der Kampf es fordert, sein eigenes 
♦Dasein zur offentlichen Sache zu machen weifi, so riicksichtslos 
ist er seit jeher jener Unterscheidung personlicher von sachlicher 
Kritik entgegengetreten, mit deren Hilfe die Polemik diskredi- 



Karl Kraus 343 

tiert wird und die ein Hauptinstrument der Korruption in 
unseren Hterarischen und politischen Verhaltnissen ist. Dafi 
Kraus sich an Personen, dem, was sie sind mehr als was sie tun, 
dem, was sie sagen mehr als dem, was sie schreiben und an ihren 
Buchern am wenigsten ausrichtet, das ist die Voraussetzung sei- 
ner polemischen Automat, die die Geisteswelt eines Autors, 
und je nichtiger diese ist um so sicherer, im Vertrauen auf eine 
wahrhaft prastabilierte, versohnende Harmonie voll und intakt 
aus einem einzigen Satzstiick, einem einzigen Worte, einer einzi- 
gen Intonation zu heben versteht. Wie aber Personliches und 
Sachlidies nicht nur im Gegner, sondern vor allem in ihm selber 
zusammenfallt, beweist am besten, dafi er nie eine Meinung ver- 
tritt. Denn Meinung ist die falsche Subjektivitat, die sich von 
der Person abheben, dem Warenumlauf einverleiben lafit. Nie 
hat Kraus eine Argumentation gegeben, die ihn nicht mit seiner 
ganzen Person engagiert hatte. So verkorpert er das Geheimnis 
der Autoritat: nie zu enttauschen. Es gibt kein Ende der Autori- 
tat als dieses: sie stirbt oder sie enttauscht. Ganz und gar nicht 
wird sie von dem, was alle anderen meiden rmissen, angefochten: 
der eigenen Willkiir, Ungerechtigkeit, Inkonsequenz. Im Ge- 
genteil, enttauschend ware, feststellen zu konnen, wie sie zu 
ihren Spriichen kommt - etwa durch Billigkek oder gar Konse- 
quenz. »Fiir den Mann «, hat Kraus einmal gesagt, »ist dasRecht- 
haben keine erotische Angelegenheit, und er zieht das fremde 
Recht dem eigenen Unrecht gut und gern vor.« Darin sich mann- 
lich zu bewahren, ist Kraus versagt; sein Dasein will es, dafi 
bestenfalls die fremde Rechthaberei sich seinem eigenen Unrecht 
entgegensetzt, und wie recht hat er dann, an ihm festzuhalten. 
»Viele werden einst Recht haben. Es wird aber Recht von dem 
Unrecht sein, das ich heute habe.« Das ist die Sprache echter 
Autoritat. Der Einblick in ihr Wirken darf nur auf Eines stofien: 
den Befund, dafi sie sich selbst im gleichen Grad verbindlich, 
gnadenlos verbindlich ist wie den andern, dafi sie nicht mude 
wird, vor sich - vor andern niemals - zu zittern, dafi sie kein 
Ende findet, sich selber zu gemigen,vor sich selber sich zuverant- 
worten und dafi diese Verantwortung niemals aus der privaten 
Konstitution, ja selbst den Grenzen menschlichen Vermogens 
ihre Griinde nimmt, sondern immer nur aus der Sache, sie mag 
so ungerecht, privat betrachtet sein, wie sie wolle. 



344 Literarische und asthetische Essays 

Kennzeicben soldier unumschrankten Autoritat ist seit jeher 
die Vereinigung legislativer und exekutiver Gewalt. Sie ist aber 
nirgends inniger als in der »Sprachlehre«. Daher ist diese bei 
Kraus der entschiedenste Ausdruck seiner Autoritat. Unerkannt 
wie Harun al Raschid durchstreift er bei Nacht die Satzbauten 
der Journale und hinter der starren Fassade der Phrasen spaht 
er ins Innere, entdeckt er in den Orgien der »schwarzen Magie« 
die Schandung, das Martyrium der Worte: »Ist die Presse ein 
Bote? Nein: das Ereignis. Eine Rede? Nein, das Leben. Sie er- 
hebt nicht nur den Anspruch, dafi die wahren Ereignisse ihre 
Nachriditen iiber die Ereignisse seien, sie bewirkt audi diese un- 
heimliche Identitat, durch welche immer der Schein entsteht, dafi 
Taten zuerst berichtet werden, ehe sie verrichtet werden, oft 
audi die Moglichksit davon, und jedenfalls der Zustand, dafi 
zwar Kriegsberichterstatter nidit zusdiauen diirfen, aber Krie- 
ger zu Berichterstattern werden. In diesem Sinne lasse ich 
mir gern nachsagen, dafi ich mein Lebtag die Presse iiber- 
schatzt habe. Sie ist kein Dienstmann - wie konnte ein Dienst- 
mann auch so viel verlangen und bekommen -, sie ist das Ereig- 
nis. Wieder ist uns das Instrument iiber den Kopf gewachsen. 
Wir haben den Menschen, der die Feuersbrunst zu nielden hat 
und der wohl die untergeordnetste Rolle im Staat spielen miifite, 
iiber die Welt gesetzt, iiber den Brand und iiber das Haus, iiber 
die Tatsadie und iiber unsere Phantasie.« Autoritat und Wort 
gegen Korruption und Magie - so sind in diesem Kampf die 
Parolen verteilt. Es ist nicht mufiig, ihm die Prognose zu stellen. 
Niemand, und Kraus amwenigsten, kann derUtopie einer »sach- 
lichen« Zeitung, dem Hirngespinst einer »unparteiischen Nach- 
richteniibermittlung« sich iiberlassen. Die Zeitung ist ein Instru- 
ment der Macht. Sie kann ihren Wert nur von dem Charakter 
der Macht haben, die sie bedient; nicht nur in dem, was sie 
vertritt, auch in dem, wie sie es tut, ist sie ihr Ausdruck. Wenn 
aber der Hochkapitalismus nicht nur ihre Zwecke, sondern audi 
ihre Mittel entwiirdigt, so ist eine neue Bliite paradiesischer 
Allmenschlichkeit von einer ihm obsiegenden Macht so wenig zu 
gewartigen, wie eine Nachblute goethescher oder claudiusscher 
Sprache. Von der herrschenden wird sie zu allererst darin sich 
unterscheiden, dafi sie Ideale, die jene entwiirdigte, aufier Kurs 
setzt. Genug, um zu ermessen, wie wenig Kraus bei solchem 



Karl Kraus 345 

Kampf zu gewinnen oder zu verlieren, wie unbeirrt die »Fackel« 
ihn zu erleuchten hatte. Den immer gleidien Sensationen, mit 
denen die Tagespresse ihrem Publikum dient, stellt er die ewig 
neue »Zeitung« gegeniiber, die von der Geschichte der Schopfung 
zu melden ist: die ewig neue, die unausgesetzte Klage. 



// 
Damon 

Hab' idi gesdilafen? Eben sdilaP idi ein. 
Worte in Versen IV 

Es ist tief in der Erscheinung von Kraus begriindet und ist das 
Stigma jeder ihn betreffenden Debatte, dafl alle apologetischen 
Argumente fehlgreifen. Das grofSe Werk von Leopold Liegler 
ist aus apologetischer Haltung erwachsen. Kraus als »ethisdie 
Personlichkeit« zu beglaubigen, ist sein erstes Vorhaben. Das 
geht nicht. Der dunkle Grund, von dem sein Bild sich abhebt, ist 
nicht die Zeitgenossenschaft, sondern die Vorwelt oder die Welt 
des Damons. Das Licht vom Schopfungstage fallt auf ihn, und 
so taucht er aus dieser Nacht. Doch nicht an alien Teilen, und 
es bleiben andere, die sind ihr tiefer als man ahnt verhaftet. 
Ein Auge, das sich ihr nicht akkommodieren kann, wird den 
Umrifi dieser Gestalt nie gewahr werden. Ihm werden alle 
Winke verschwendet sein, die Kraus, in seinem unbezwinglichen 
Bediirfnis, gewahrt zu werden, zu vergeben nicht miide wird. 
Denn wie im Marchen hat der Damon in Kraus die Eitelkeit zu 
seinem Wesensausdruck gemacht. Audi die Einsamkeit des Da- 
mons ist seine, der da auf dem versteckten Hiigel sich toll ge- 
bardet: »Gott sei Dank, daE niemand weifi, dafi ich Rumpel- 
stilzchen heifi.« Wie dieser tanzende Damon niemals zur Ruhe 
kommt, so unterhalt in Kraus exzentrische Reflexion den be- 
standigsten Aufruhr. »Patienten seiner Gaben« hat ihn Viertel 
genannt. In der Tat, seine Fahigkeiten sind Leiden, und iiber die 
wahren hinaus macht seine Eitelkeit ihn zum Hypochonder. 
Spiegelt er sich nicht in sich selber, so tut er's im Gegner, den 
er zu seinen Fiifien hat. Seine Polemik ist ja von jeher die innig- 
ste Verschrankung einer, mit den vorgeschrittensten Mitteln 
arbeitenden, Entlarvungstechnik und einer, mit archaischen 



346 Literansche und asthetische Essays 

operierenden, Kunst des Selbstausdrucks. Audi in dieser Zone 
aber bekundet, durch Zweideutigkeit, sich der Damon: Selbst- 
ausdruck und Entlarvung gehen in ihr als Selbstentlarvung in- 
einander iiber. Wenn Kraus gesagt hat: »Antisemitismus heifit 
jene Sinnesart, die etwa den zehnten Teil der Vorwurfe aufbie- 
tet und ernst meint, die der Borsenwitz gegen das eigene Blut 
parat hat«, so gibt er das Schema, nach dem auch das Verhaltnis 
seiner Gegner zu ihm selbst sich gestaltet. Es gibt keinen Vor- 
wurf gegen ihn, keine Schmahung seiner Person, deren legitimste 
Formulierung sie nicht seinen eigenen Schriften, und in ihnen 
den Stellen entnehmen konnten, da die Selbstbespiegelung zur 
Selbstbewunderung sich steigert. Kein Preis ist ihm zu hoch, 
von sich reden zu machen, und immer gibt der Erfolg dieser 
Spekulation ihm recht. Wenn Stil die Macht ist, in den Langen 
und Breiten des Sprachdenkens sich zu ergehen, ohne darum ins 
Banale zu fallen, so erwirbt ihn zumeist die Herzkraft grofier 
Gedanken, welche das Sprachblut durchs Geader der Syntax in 
die abgelegensten Glieder treibt. Ohne dafi bei Kraus nun solche 
Gedanken sich einen Augenblick lang verkennen lieften, ist doch 
die Herzkraft seines Stils das Bild, wie er es selbst von sich im 
Innern tragt, urn es aufs schonungsloseste zu exponieren. Ja, er 
ist eitel. So hat ihn, wie er huschend, mit unsteten Satzen, das 
Podium einer Vorlesung zu gewinnen, den Raum durchmifk, 
Karin Michaelis geschildert. Und wenn er dann seiner Eitelkeit 
opfert - er miifite nicht der Damon sein, der er ist, ware es nicht 
zuletzt er selber, sein Leben und sein Leiden, die er mit alien 
Wunden, alien Blofien preisgibt. So kommt sein Stil zustande 
und mit ihm der typische Fackelleser, dem noch im Nebensatz, 
in der Partikel, ja im Komma stumme Fetzen und Fasern von 
Nerven zucken, am abgelegensten und trockensten Faktum noch 
ein Snick des geschundenen Fleischs hangt. Die Idiosynkrasie als 
hochstes kritisches Organ - das ist die verborgene Zweckmafiig- 
keit dieser Selbstbespiegelung und der Hollenzustand, den nur 
ein Schriftsteller kennt, fur den jeder Akt der Befriedigung zu- 
gleich zu einer Station des Martyriums wird und welchen neben 
Kraus kein einziger so durchlebt hat wie Kierkegaard. 
»Ich bin«, hat Kraus gesagt, »vielleicht der erste Fall eines 
Schreibers, der sein Schreiben zugleich schauspielerisch erlebt« 
und weist mit diesem Wort der eigenen Eitelkeit den legitimsten 



Karl Kraus 347 

Ort an; den im Mimen. Das mimische Genie, das in der Glosse 
nachmacht, in der Polemik Fratzen schneidet, entfesselt sich 
festlich in den Vorlesungen von Dramen, deren Urheber nicht 
umsonst eine eigentiimliche Mittelstellung einnehmen: Shake- 
speare und Nestroy, Dichter und Schauspieler; Offenbach, Kom- 
ponist und Dirigent. Es ist, als suchte der Damon des Mannes 
die bewegte, von alien Blitzen der Improvisation durchzuckte 
Atmosphare dieser Dramen, weil nur sie ihm die tausend 
Chancen bietet, neckend, qualend, drohend hervorzuschiefien. 
Die eigene Stimme macht darin die Probe auf den damonischen 
Person enreich turn des Vortragenden - persona: das, wohindurch 
es hallt - und urn die Fingerspitzen schiefien die Gebarden der 
Gestalten, welche in seiner Stimme wohnen. Aber audi im Ver- 
haltnis zu den Gegenstanden seiner Polemik spielt das Mimische 
eine entscheidende Rolle. Er macht den Partner nach, um in den 
feinsten Fugen seiner Haltung das Brecheisen des Hasses anzu- 
setzen. Dieser Silbenstecher, der zwischen die Silben sticht, holt 
Larven, die da nisten, zu Klumpen heraus, die Larven der Kauf- 
lichkeit und der Geschwatzigkeit, der Niedertracht und der 
Bonhomie, der Kinderei und der Habsucht, der Verfressenheit 
und der Hinterlist. In der Tat, die Blofistellung des Unechten - 
schwieriger als die des Schlechten - kommt hier behavioristisch 
zustande. Die Zitate der »Fackel« sind mehr als Belegstellen: 
Requisiten von mimischen Entlarvungen durch den Zitierenden. 
Freilich gerade in diesem Zusammenhang tritt zutage, wie eng 
verbunden mit der Grausamkeit des Satirikers die zweideutige 
Demut des Interpreten ist, die sich im Vorleser bis zum Unfafi- 
lichen steigert. In einen hineinkriechen - so bezeichnet man 
nicht umsonst die niederste Stufe der Schmeichelei, und eben das 
tut Kraus: namlich um zu vernichten. Ist Hoflichkeit hier Mimi- 
kry des Hasses, Hafi Mimikry der Hoflichkeit geworden? Wie 
dem auch sei, beide sind auf der Stufe der Vollendung, der 
chinesischen angelangt. Die »Qual«, von der so viel und in so 
undurchsichtigen Anspielungen bei Kraus die Rede ist, hat hier 
ihren Sitz. Seine Proteste gegen Zuschriften, Materialien, Doku- 
mente sind nichts als die Abwehrreaktion eines Mannes, der in 
Komplizitaten verstrickt werden soil. Was ihn dergestalt ver- 
strickt, ist aber mehr noch als das Tun und Lassen die Sprache 
seiner Mitmenschen. Seine Leidenschaft, sie zu imitieren, ist 

/ 



348 Literarische und asthetische Essays 

Ausdruck fur und Kampf gegen diese Verstrickung zugleich, 
auch Grund und Folge jenes immer wachen Schuldbewufitseins, 
in dem allein der Damon sein Element hat. 
Der Haushalt seiner Irrtiimer und seiner Schwachen - mehr 
Wunderbau als die Gesamtheit seiner Gaben - ist von so feiner 
und praziser Organisation, dafi jede Bestatigung von aufien ihn 
nur erschuttert. Nun gar, wenn dieser Mann als »Vorbild eines 
harmonisch durchgebildeten Menschentypus« beglaubigt wer- 
den, wenn er - mit einer stilistisdi und gedanklich gleich 
absurden Wendung - als Philanthrop erscheinen soil, so dafi, 
wer seiner »Harte mit den Ohren der Seele« lausche, in 
Mitgefiihl ihren Grund finde. Nein! diese unbestechliclie, ein- 
greifende, wehrhafte Sicherheit kommt nicht aus jener edlen, 
dichterischen oder menschenfreundlichen Gesinnung, der die An- 
hanger sie gern zuschreiben. Wie hochst banal und wie grund- 
falsch zugleich ihre Herleitung seines Hasses aus Liebe, da doch 
auf der Hand liegt, wieviel Urspriinglicheres am Werke ist: eine 
Menschlichkeit, die nur der Ubergang von Bosheit in Sophistik, 
von Sophistik in Bosheit, eine Natur, die die hohe Schule des 
Menschenhasses, und ein Mitleid, das nur verschrankt mit Rache 
lebendig ist: »0 hatte man mir nur die Wahl gelassen, | den 
Hund oder den Schlachter zu tranchieren, | ich hatt* ge- 
wahlt!« Nichts widersinniger, als nach dem Bilde dessen, was 
er liebt, ihn formen zu wollen. Mit Recht hat man den »zeitent- 
bundenen Weltverstorer« Kraus dem »ewigen Weltverbesserer« 
konfrontiert, den hin und wieder wohlgefallige Blicke streifen. 
»Als das Zeitalter Hand an sich legte, war er diese Hand«, hat 
Brecht gesagt. Weniges behauptet sich neben dieser Erkenntnis 
und sicher nicht das Freundeswort von Adolf Loos. »Kraus«, so 
erklart er, »steht an der Schwelle einer neuen Zeit«. Ach, durch- 
aus nicht. - Er steht namlich an der Schwelle des Weltgerichts. 
Wie auf den Prunkstiicken barocker Altarmalerei die hart an 
den Rahmen gedrangten Heiligen abwehrend gespreizte Han- 
de gegen die atemraubenden Verkiirzungen vor ihnen schweben- 
der Extremitaten der Engel, der Verklarten, der Verdammten 
strecken, so drangt auf Kraus die ganze Weltgeschichte in den 
Extremitaten einer einzigen Lokalnotiz, einer einzigen Phrase, 
eines einzigen Inserats ein. Das ist das Erbe, das ihm aus der 
Predigt von Abraham a Santa Clara uberkommen ist. Von 



Karl Kraus 349 

daher jene Nahe, die sich iiberschliigt, jene Schlagfertigkeit des 
ganz und gar nicht kontemplativen Nu und die Verschrankung, 
welche seinem Wollen einzig den theoretischen, seinem Wissen 
einzig den praktischen Ausdruck erlaubt. Kraus ist kein histori- 
scher Genius. Er steht nicht an der Schwelle einer neuen Zeit. 
Kehrt er der Schopfung je den Riicken, bricht er ab mit Klagen, 
so ist es nur, um vor dem Weltgericht anzuklagen. 
Man versteht nichts von diesem Manne, solange man nicht er- 
kennt, dafi mit Notwendigkeit alles, ausnahmslos alles, Sprache 
und Sache, fur ihn sich in der Sphare des Rechts abspielt. Seine 
ganze feuerfressende, degenschluckende Philologie der Journale 
geht ja ebensosehr wie der Sprache dem Recht nach. Man be- 
greift seine »Sprachlehre« nicht, erkennt man sie nicht als Bei- 
trag zur Sprachprozefiordnung, begreift das Wort des anderen in 
seinem Munde nur als corpus delicti und sein eigenes nur als das 
richtende. Kraus kennt kein System. Jeder Gedanke hat seine 
eigene Zelle. Aber jede Zelle kann im Nu, und scheinbar durch 
ein Nichts veranlafit, zu einer Kammer, einer Gerichtskammer 
werden, in welcher dann die Sprache den Vorsitz hat. Man hat 
von Kraus gesagt, er habe »das Judentum in sich niederringen« 
miissen, gar »den Weg vom Judentum zur Freiheit« zuruckge- 
legt - nichts widerlegt das besser, als dafi auch ihm Gerechtig- 
keit und Sprache ineinander gestiftet bleiben. Das Bild der gott- 
lichen Gerechtigkeit als Sprache - ja in der deutschen selber - 
zu verehren, das ist der echt jiidische Salto mortale, mit dem er 
den Bann des Damons zu sprengen sucht. Denn dies ist die letzte 
Amtshandlung dieses Eiferers: die Rechtsordnung selbst in An- 
klagezustand zu versetzen. Und nicht mit kleinburgerlichem 
Aufbegehren wider die Knechtung des »freien Individuums« 
durch »tote Formeln«. Noch weniger mit der Haltung jener 
Radikalen, die Paragraphen suirmen, ohne je sich einen Augen- 
blick Rechenschaft von der Justiz gegeben zu haben. Kraus 
stellt das Recht in seiner Substanz, nicht in seiner Wirkung 
unter Anklage. Sie lautet auf Hochverrat des Rechtes an der 
Gerechtigkeit. Genauer, des Begriffs am Worte, aus dem er sein 
Dasein hat: vorsatzliche Totung der Phantasie, die schon am 
Mangel einer einzigen Letter stirbt und der er in seiner »Elegie 
auf den Tod eines Lautes« die ergreifendste Klage gesungen 
hat. Denn iiber der Rechtsprechung steht die Rechtschreibung, 



350 Literarisdie und asthetische Essays 

und wehe der ersten, wenn die zweite zu leiden hat. So begegnet 
er denn audi hier der Presse, ja gibt in diesem Bannkreis sich 
sein liebstes Stelldichein mit den Lemuren. Er hat das Recht 
durchschaut wie wenige. Wenn er es dennoch anruft, geschieht 
es gerade, weil sich sein eigener Damon so gewaltig von dem 
Abgrund gezogen fuhlt, den es darstellt. Von jenem Abgrund, 
den er nicht umsonst am gahnendsten, wo Geist und Sexus sich 
zusammenfinden - im Sittlichkeitsprozefi - erfahren und in den 
beriihmten Worten erlotet hat: »Ein Sittlichkeitsprozefi ist die 
zielbewufite Entwicklung einer individuellen zur allgemeinen 
Unsittlichkeit, von deren diisterem Grunde sich die erwiesene 
Schuld des Angeklagten leuchtend abhebt.« 
Geist und Sexus bewegen sich in dieser Sphare in einer Solidari- 
tat, deren Gesetz Zweideutigkeit ist. Die Besessenheit des da- 
monischen Sexus ist das Ich, das, umgaukelt von so siiflen 
Frauenbildern, »wie die bittre Erde sie nicht hegt«, sich geniefit. 
Und nicht anders die lieblose und selbstgenugsame Figur des 
besessenen Geistes: der Witz. Zu ihrer Sache kommen sie beide 
nicht; das Ich zum Weib so wenig wie der Witz zum Wort. Das 
Zersetzende ist an Stelle des Zeugenden, das Grelle an Stelle des 
Geheimen getreten; nun aber changieren sie in den einschmei- 
chelndsten Nuancen: im Witzwort kommt die Lust und in der 
Onanie die Pointe zu ihrem Recht. Als hoffnungslos dem Damon 
Verhafteten hat Kraus sich selbst portratiert; im Pandamoni- 
um der Zeit hat er sich den traurigsten, vom Flammenwider- 
schein beglanzten Ort in der Eiswiiste vorbehalten. Da steht er 
am »Letzten Tage der Menschheit« - der »N6rgler«, der die 
vorangehenden beschrieben hat. »Ich habe die Tradogie, die in 
die Szenen der zerfallenden Menschheit zerfallt, auf mich ge- 
nommen, damit sie der Geist hore, der sich der Opfer erbarmt, 
und hatte er selbst fur alle Zukunft der Verbindung mit einem 
Menschenohr entsagt. Er empfange den Grundton dieser Zeit, 
das Echo meines blutigen Wahnsinns, durch den ich mitschuldig 
bin an diesen Gerauschen. Er lasse es als Erlosung gelten!« 
»Mitschuldig . . .« - weil das an die Manifeste der Intelligenz 
anklingt, welche einer Epoche, die Miene machte, sich von ihr 
abzukehren, ins Gedachtnis sich zurlickrufen wollte, und sei es 
auch durch eine Selbstbezichtigung, ist liber dieses Schuldgefiihl, 
in dem so sichtbar sich das privateste Bewufitsein mit dem histo- 



Karl Kraus 351 

rischen begegnet, ein Wort zu sagen. Es wird immer auf jenen 
Expressionismus fiihren, aus dem die Reife seines Werks mit Wur- 
zeln, die ihren Boden sprengten, sich genahrt hat. Man kennt 
die Stichworte - mit welchem Hohn hat nicht Kraus selber sie 
registriert: geballt, gestuft und gesteilt komponierte manBiihnen- 
bilder, Satze, Gemalde. - Unverkennbar - und die Expressioni- 
sten proklamierten ihn selbst - ist der Einflufi friihmittelalter- 
licher Miniaturen auf ihre Vorstellungswelt. Wer aber nun 
deren Gestalten - etwa am Beispiel der Wiener Genesis - mu- 
stert, dem tritt nicht nur in den weitgeoffneten Augen, nicht nur 
in den unergriindlichen Falten ihrer Gewandung, vielmehr im 
ganzen Ausdruck etwas sehr Ratselhaftes entgegen. Als hatte sie 
die fallende Sucht ergriffen, so neigen sie in ihrem Lauf, der 
immer tiberstiirzt ist, sich einander zu. Die »Neigung« kann, 
vor allem andern, als der tiefe menschliche Affekt erscheinen, der 
die Welt dieser Miniaturen sowohl wie die Manifeste jener 
Dichtergeneration durchzittert. Aber das ist nur der eine, gewis- 
sermaften konkave Aspekt dieses Sachverhalts, der Blick ins 
Angesicht dieser Figuren. Ganz anders ist die gleiche Erscheinung 
dem, welcher ihre Riicken ins Auge fafit. Diese Riicken stafTeln 
sich in den Heiligen der Adorationen, in den Knechten der 
Gethsemaneszene, in den Augenzeugen des Einzugs in Jerusalem 
zu Terrassen menschlicher Nacken, menschlicher Schultern, die, 
wirklich zu steilen Stufen geballt, weniger in den Himmel als 
abwarts, auf und selbst unter die Erde fiihren. Unmoglich, fur 
ihr Pathos einen Ausdruck zu finden, der davon absieht: sie 
sind besteigbar wie aufeinandergewalzte Felsblocke oder grob 
behauene Stufen. Welche Gewalten immer den Geisterkampf 
auf diesen Schultern mogen gekampft haben - eine von ihnen 
erlaubt die Erfahrung, die wir von der Verfassung der geschla- 
genen Massen unmittelbar nach Kriegsende machen konnten, 
uns beim Namen zu nennen. Was dem Expressionismus, in dem 
ein urspriinglich menschlicher Impuls sich fast restlos in einen 
modischen umsetzte, am Ende zuruckblieb, war die Erfahrung 
und der Name jener namenlosen Macht, der sich die Riicken der 
Menschen entgegenkrummten: dieSchuld. »Nicht da£ einegehor- 
same Masse von einem ihr unbekannten Willen, aber dafi sie von 
einer ihr unbekannten Schuld in Gefahr gefiihrt wird, macht sie 
mitleidswurdig«, hat Kraus schon 1912 geschrieben. Als »Norg- 



352 Lkerarisdie und asthetische Essays 

ler« hat er an ihr teil, um sie zu denunzieren, denunziert er sie, 
um an ihr teilzuhaben. Durdi das Opfer ihr zu begegnen, hat 
er sich eines Tages in die Arme der katholischen Kirche gewor- 
fen. 

In jenen schneidenden Menuetten, die Kraus dem chassez-croisez 
von Justitia und Venus gepfiffen hat, ist das Leitmotiv - daft 
der Philister von der Liebe nichts weifi - mit einer Scharfe und 
Beharrlichkeit vorgetragen, die einzig in der entsprechenden 
Haltung der Decadence, in der Proklamation des Tart pour 
Tart ihr Gegenstiick hat. Denn eben das Part pour Part, das 
der Decadence audi fur die Liebe gilt, hat das Sachverstandnis 
aufs engste an das handwerkliche Wissen, die Technik, gebun- 
den und hat die Dichtung in ihrem hellsten Lichte nur von der 
Folie des Literaten turns wie die Liebe von der der Unzucht sich ab- 
heben lassen. »Not kann jeden Mann zum Journalisten machen, 
aber nicht jede Frau zur Prostituierten.« In dieser Formulierung 
hat Kraus den doppelten Boden seiner Polemik gegen den Jour- 
nalismus verraten. Das ist viel weniger der Philanthrop, der 
aufgeklarte Menschen- und Naturfreund, der diesen unerbitt- 
lichen Kampf entfesselt hat, als der geschulte Literat, Artist, ja 
Dandy, der seinen Ahnen in Baudelaire hat. Nur Baudelaire hat 
so wie Kraus die Saturiertheit des gesunden Menschenverstan- 
des und so wie er den Kompromifi gehafit, den die Geistigen 
mit ihm schlossen, um im Journalismus ein Unterkommen zu 
finden. Der Journalismus ist Verrat am Literatentum, am Geist, 
am Damon. Das Geschwatz ist seine wahre Substanz und 
jedes Feuilleton stellt von neuem die unlosbare Frage nach dem 
Krafteverhaltnis von Dummheit und von Bosheit, deren Aus- 
druck es ist. Es ist im Grunde die vollkommene Entsprechung 
dieser Daseinsformen: des Lebens unterm Zeichen bloften Gei- 
stes oder blofter Sexualitat, die jene Solidaritat des Literaten 
mit der Hure begrundet, deren unverbnichlichstes Zeugnis 
wiederum Baudelaires Existenz ist. So kann Kraus die Gesetze 
des eigenen Handwerks verschrankt mit denen des Sexus beim 
Namen nennen, wie er es in der »Chinesischen Mauer« getan 
hat. Der Mann »hat tausendmal mit dem Anderen gerungen, 
der vielleicht nicht lebt, aber dessen Sieg liber ihn sicher ist. Nicht 
weil er bessere Eigenschaften hat, aber weil er der Andere ist, der 
Spatere, der dem Weib die Lust der Reihe bringt und der als 



Karl Kraus 353 

Letzter triumphieren wird. Aber sie wischen es von ihrer Stirn 
wie einen bosen Traum; und wollen die Ersten sein.« 1st nun 
die Sprache - das legen wir zwischen die Zeilen - ein Weib, wie 
weit entriickt ein unbetriiglicher Instinkt den Autor jenen, die 
sich beeilen, bei ihr die Ersten zu sein, wie vielfach macht er den 
Gedanken, der sie nur immer mehr mit Ahnung stachelt als 
mit Wissen sattigt, wie lafit er ihn in Hafi, Verachtung, Bosheit 
sich verstricken, wie halt er seinen Schritt hintan und sucht den 
Umweg des Epigonentums, um schliefilich ihr die Lust der 
Reihe mit dem letzten Stofie, den Jack fur Lulu in Bereitschaft 
halt, zu enden. 

Das Literatentum ist das Dasein im Zeichen des blofien Geistes 
wie die Prostitution das Dasein im Zeichen des blofien Sexus. 
Der Damon aber, der der Hure die Strafie anweist, verbannt 
den Literaten in den Gerichtssaal. Daher ist er fur Kraus das 
Forum, wie er es fur die grofien Journalisten - einen Carrel, 
Paul-Louis Courier, Lassalle - von jeher gewesen ist. Es zu 
umgehen: der echten und damonischen Funktion des blofien 
Geistes, Storenfried zu sein, sich zu entziehen, der Hure in den 
Riicken zu fallen - dies doppelte Versagen definiert fur Kraus 
den Journalisten. - Robert Scheu hat richtig gesehen, dafi fvir 
Kraus die Prostitution eine natiirliche Form, keine soziale Ver- 
bildung des weiblichen Sexus ist. Jedoch erst dafi und wie sich 
Sexual- und Tauschverkehr verschranken, macht den Charakter 
der Prostitution aus. Wenn sie ein Naturphanomen ist, so ist 
sie es genau so sehr von der natiirlichen Seite der Dkonomik, als 
Erscheinung des Tauschverkehrs, wie von der natiirlichen Seite 
des Sexus. » Verachtung der Prostitution? | Dirnen schlim- 
mer als Diebe? | Lernt: Liebe nimmt nicht nur Lohn, | Lohn 
gibt auch Liebe !« Diese Zweideutigkeit - diese Doppelnatur 
als doppelte Naturlichkeit - macht die Prostitution damonisch. 
Aber Kraus »ergreift die Partei der Naturmacht«. Dafi ihm 
der soziologische Bereich nie transparent wird - im Angriff auf 
die Presse so wenig wie in der Verteidigung der Prostitution - 
hangt mit dieser seiner Naturverhaftung zusammen. Dafi ihm 
das Menschenwurdige nicht als Bestimmung und Erfullung der 
befreiten - der revolutionar veranderten - Natur, sondern als 
Element der Natur schlechtweg, einer archaischen und geschichts- 
losen in ihrem ungebrochenen Ursein sich darstellt, wirft unge- 



354 Literarische und asthetische Essays 

wisse, unheimliche Reflexe nodi auf seine Idee von Freiheit und 
von Menschlichkeit zuriick. Sie ist nicht dem Bereidi der Schuld 
entriickt, den er von Pol zu Pol durchmessen hat: vom Geist 
zum Sexus. 

Dieser Realitat gegenuber, die Kraus blutiger als irgend einer 
durchlitten hat, enthullt nun aber jener »reine Geist«, den die 
Anhanger im Wirken des Meisters verehren, sicii als nichtswiir- 
dige Chimare. Darum ist unter alien Motiven seiner Entwick- 
lung keines wichtiger als dessen dauernde Einschrankung und 
Kontrolle. »Nachts« ist sein Kontrollbuch betitelt. Denn die 
Nadit ist das Schaltwerk, wo blofier Geist in blofie Sexualitat, 
blofie Sexualitat in blofien Geist umschlagt und diese beiden 
lebenswidrigen Abstrakta, indem sie einander erkennen, zur 
Ruhe kommen. »Ich arbeite Tage und Nachte. So bleibt mir viel 
freie Zeit. Um ein Bild im Zimmer zu fragen, wie ihm die 
Arbeit gefallt, um die Uhr zu fragen, ob sie miide ist, und die 
Nacht, wie sie geschlafen hat.« Opfergaben an den Damon 
sind diese Fragen, die er ihm unter der Arbeit hinwirft. Seine 
Nacht aber ist nicht die rmitterliche noch auch die monderhellte 
romantische; es ist die Stunde zwischen Schlaf und Wachen, die 
Nacht-Wache, das Mittelstiick seiner dreifach gestaffelten Ein- 
samkek: der des Caf^hauses, wo er mit seinem Feind, der des 
nachtlichen Zimmers, wo er mit seinem Damon, der des Vor- 
tragssaales, wo er mit seinem Werk allein ist. 

/// 
Unmensch 

Schon fallt der Sdinee. 
Worte in Versen III 

Die Satire ist die einzig rechtmafiige Form der Heimatkunst. So 
war es aber nicht gemeint, wenn man Kraus einen Wiener Sati- 
riker nannte. Vielmehr versuchte man, solange es angehen 
konnte, auf dieses tote Gleis ihn abzuschieben, um sein Werk 
dem grofien Speicher literarischer Konsumgiiter einverleiben zu 
konnen. Kraus als Satiriker dargestellt kann also den tiefsten 
Aufschlufi uber ihn so gut wie sein traurigstes Zerrbild ergeben. 
Von jeher war es ihm daher angelegen, den Satiriker echten 



Karl Kraus 355 

Schlages von jenen Schreibern zu trennen, die aus dem Hohn 
ein Gewerbe gemacht und nicht viel mehr bei ihren Invek- 
tiven im Sinne haben als dem Publikum etwas zu lachen zu 
geben. Demgegeniiber hat der grofie Typus des Satirikers nie 
festeren Boden unter den Fiifien gehabt als mitten in einem Ge- 
schlecht, das sich anschickt, Tanks zu besteigen und Gasmasken 
uberzuziehen, einer Menschheit, der die Tranen ausgegangen 
sind, aber nicht das Gelachter. In ihm bereitet sie sich vor, die 
Zivilisation, wenn es sein mufi, zu uberleben, und sie kom- 
muniziert mit ihm im eigentlichen Mysterium der Satire, als 
welches im Verspeisen des Gegners besteht. Der Satiriker ist 
die Figur, unter welcher der Menschenfresser von der Zivilisa- 
tion rezipiert wurde. Nicht ohne Pietat erinnert er sich seines 
Ursprungs und darum ist der Vorschlag, Menschen zu fressen, in 
den eisernen Bestand seiner Anregungen ubergegangen, von 
Swifts einschlagigem Projekt, betrefTend die Verwendung der 
Kinder in minderbemittelten Volksklassen bis zu Leon Bloys 
Vorschlag, Hauswirten insolventen Mietern gegeniiber ein Recht 
auf die Verwertung ihres Fleisches einzuraumen. In solchen An- 
weisungen haben die grofien Satiriker der Humanitat ihrer Mit- 
menschen Mafi genommen. »Humanitat, Bildung und Freiheit 
sind kostbare Giiter, die mit Blut, Verstand und Menschen- 
wiirde nicht teuer genug erkauft sind« - so schliefit bei Kraus 
die Auseinandersetzung des Menschenfressers mit den Menschen- 
rechten. Man vergleiche sie mit der Marxschen der »Juden- 
frage«, um zu ermessen, wie ganzlich diese spielerische Reaktion 
von 1909 - die Reaktion gegen das klassische Humanitatsideal - 
danach angetan war, bei der ersten besten Gelegenheit in das 
Bekenntnis des realen Humanismus umzuschlagen. Freilich hatte 
man die »Fackel« schon von der ersten Nummer an Wort flir 
Wort buchstabiich verstehen miissen, um abzusehen, dafi diese 
asthetizistisch ausgerichtete- Publizistik, ohne ein einziges ihrer 
Motive zu opfern, ein einziges zu gewinnen, die politische Prosa 
von 1930 zu werden bestimmt war. Das dankt sie ihrem Part- 
ner, der Presse, welche der Humanitat jenes Ende bereitete, auf 
das Kraus mit den Worten anspielt: »Die Menschenrechte sind 
das zerreiEbare Spielzeug der Erwachsenen, auf dem sie herum- 
treten wollen und das sie sich deshalb nicht nehmen lassen.« So 
ist die Grenzsetzung zwischen Privatem und Dffentlichem, die 



356 Literarische und asthetische Essays 

1789 die Freiheit verkiinden sollte, zum Gespott geworden. 
Durch die Zeitung, sagt Kierkegaard, »wird ... die Distinktion 
zwischen dem Privaten und dem Offentlichen in einer privat- 
offentlichen Schwatzhaftigkeit aufgehoben«. 
Die offentliche und private Zone, die im Geschwatz damonisch 
ineinanderliegen, zur dialektischen Auseinandersetzung zu brin- 
gen, reales Menschentum zum Sieg zu fiihren, das ist der Sinn 
der Operette, den Kraus entdeckt und in Offenbach zum inten- 
sivsten Ausdruck gebracht hat. Wie das Geschwatz die Knech- 
tung der Sprache durch die Dummheit besiegelt, so die Operette 
die Verklarung der Dummheit durch die Musik. Dafi man die 
Schonheit weiblicher Dummheit verkennen konne, gait Kraus 
von jeher als das finsterste Banausentum. Vor ihrer Strahlen- 
kraft verfliegen die Chimaren des Fortschritts. Und in der Ope- 
rette Offenbachs tritt nun die biirgerliche Dreieinigkeit des 
Wahren, Schonen, Guten, neu einstudiert zur grofien Nummer 
mit Musikbegleitung auf dem Trapez des Blodsinns zusammen. 
Wahr ist der Unsinn, schon die Dummheit, gut die Schwache. 
Das ist ja das Geheimnis Offenbachs: wie mitten in dem tiefen 
Unsinn offentlicher Zucht - es sei nun die der oberen Zehntau- 
send, eines Tanzbodens oder des Militarstaats -, der tiefe Sinn 
privater Unzucht ein traumerisches Auge aufschlagt. Und was 
als Sprache richterliche Strenge, Entsagung, scheidende Ge- 
walt gewesen ware, wird List und Ausflucht, Einspruch und 
Vertagung als Musik. - Musik als Platzhalterin der moralischen 
Ordnung? Musik als Polizei einer Freudenwelt? Ja, das ist der 
Glanz, der iiber die alten Pariser Ballsale, uber die »Grande 
Chaumiere«, die »C16serie des Lilas« mit dem Vortrag des 
»Pariser Lebens« sich ausgiefk. »Und die unnachahmliche Dop- 
pelziingigkeit dieser Musik, alles zugleich mit dem positiven und 
dem negativen Vorzeichen zu sagen, das Idyll an die Parodie, 
den Spott an die Lyrik zu verraten; die Fiille zu allem erbotiger, 
Schmerz und Lust verbindender Tonfiguren - hier erscheint 
diese Gabe am reichsten und reinsten entfaltet.« Die Anarchie als 
einzig moralische, einzig menschenwurdige Weltverfassung wird 
zur wahren Musik dieser Operetten. Die Stimme von Kraus sagt 
diese innere Musik mehr, als dafi sie sie singt. Schneidend um- 
pfeift sie die Grate des schwindelnden Blodsinns, erschlitternd 
hallt sie aus dem Abgrund des Absurden wider und summt, wie 



Karl Kraus 357 

der Wind im Kamin, in den Zeilen des Frascata ein Requiem 
auf die Generation unserer Grofivater. - Offenbachs Werk er- 
lebt eine Todeskrisis. Es zieht sich zusammen, entledigt sich 
alles Oberfliissigen, geht durch den gefahrlichen Raum dieses 
Daseins hindurch und kommt gerettet, wirklicher als vordem, 
wieder zum Vorschein. Denn wo diese wetterwendische Stimme 
laut wird, fahren die Blitze der Lichtreklamen und der Donner 
der M£tro durch das Paris der Omnibusse und Gasflammen. 
Und das Werk gibt ihm dies alles zuriick. Denn auf Augen- 
blicke verwandelt es sich in einen Vorhang, und mit den wilden 
Gebarden des Marktschreiers, die den ganzen Vortrag begleiten, 
reifit Kraus diesen Vorhang beiseite und gibt den Blick ins 
Innere seines Schreckenskabinetts auf einmal frei. Da stehen sie: 
Schober, Bekessy, Kerr und die andern Nummern, nicht mehr 
die Feinde, sondern Raritaten, Erbstiicke aus der Welt Offen- 
bachs oder Nestroys, nein, altere, seltenere, Penaten der Tro- 
glodyten, Hausgotter der Dummheit aus vorgeschichtlichen Zei- 
ten. Kraus, wenn er vortragt, spricht nicht Offenbach oder 
Nestroy: sie sprechen aus ihm heraus. Und dann und wann 
nur fallt ein atemraubender, halb stumpfer, halb glanzender 
Kupplerblick in die Masse vor ihm, ladt sie zu der verwunschten 
Hochzeit mit den Larven, in denen sie sich selber nicht erkennt, 
und nimmt zum letzten Male sich das bose Vorrecht der Zwei- 
deutigkeit. 

Hier kommt nun erst das wahre Antlitz, vielmehr die wahre 
Maske des Satirikers zum Vorschein. Es ist die Maske Timons, 
des Menschenfeindes. »Shakespeare hat alles vorausgewufit« - 
ja. Vor allem aber ihn selber. Shakespeare zeichnet unmenschliche 
Gestalten - und Timon, die unmenschlichste unter ihnen - und 
sagt: Soldi ein Geschopf brachte Natur hervor, wenn sie das 
schaffen wollte, was der Welt, wie euresgleichen sie gestaltet 
hat, gebuhrt; was ihr gewachsen, was ihr zugewachsen ware. 
So ein Geschopf ist Timon, so eins Kraus. Beide haben sie, 
wollen sie mit Menschen nichts mehr gemein haben. »Thierfehd 
ist hier: das sagt dem Menschsein ab«; aus einem abgelegenen 
Glarner Dorfe wirft Kraus diesen Fehdehandschuh der Mensch- 
heit hin, und Timon will an seinem Grabe nur das Meer in 
Tranen wissen. Wie Timons Verse steht die Kraussche Lyrik 
hinter dem Doppelpunkt der dramatis persona, der Rolle. Ein 



358 Literarische und asthetische Essays 

Narr,ein Caliban, einTimon - nicht sinniger, nicht wiirdiger und 
nicht besser - aber der sidti selber sein eigener Shakespeare ist. 
Man sollte alien den Figuren, wie sie sich um ihn scharen, ihren 
Ursprung in Shakespeare ansehen. Und immer ist er sein. 
Ausbund, ob er mit Weininger vom Manne oder mit Altenberg 
von der Frau, mit Wedekind von der Biihne oder mit Loos vom 
Essen, mit Else Lasker-Schuler vom Juden oder mit Theodor 
Haecker vom Christen spricht. Die Macht des Damons endet an 
diesem Reiche. Sein Zwischen- oder Untermenschliches wird von 
einem wahrhaft Unmenschlichen uberwunden. Kraus hat es in 
den Worten angedeutet: »In mir verbindet sich eine grofie 
Fahigkeit zur Psychologie mit der grofleren, iiber einen psycho- 
logischen Bestand hinwegzusehen.« Es ist das Unmenschliche 
des Schauspielers, das er mit diesen Worten fur sich in Anspruch 
nimmt: das Menschenfresserische. Denn mit jeder Rolle verleibt 
sich der Schauspieler einen Menschen ein, und in den barocken 
Tiraden Shakespeares - wenn sich der Menschenfresser als der 
bessere Mensch, der Held als ein Akteur entpuppen soil, Timon 
den Reichen, Hamlet den Irren spielt - ist es, als wenn seine 
Lippen von Blut trieften. So hat Kraus nach Shakespeares Vor- 
bild sich Rollen geschrieben, an denen er Blut geleckt hat. Die 
Beharrlichkek seiner Oberzeugungen ist Beharren in einer Rolle, 
mit ihren Stereotypien, auf ihren Stichworten. Seine Erlebnisse 
samt und sonders sind nichts als dies: Stichworte. Darum besteht 
er auf ihnen und verlangt sie vom Dasein wie ein Schauspieler, 
der es dem Partner niemals verzeiht, wenn er ihm das Stichwort 
nicht bringt. 

Die Offenbach- Vorlesungen, der Vortrag Nestroyscher Kuplets 
sind von alien musikalischen Mitteln verlassen. Das Wort dankt 
niemals zugunsten des Instruments ab; indem es aber seine 
Grenzen weiter und weiter hinausschiebt, geschieht es, dafi es am 
Ende sich depotenziert, in die blofie kreatiirliche Stimme sich 
auflost: ein Summen, das zum Worte sich so verhalt wie sein 
Lacheln zum Witz, ist das Allerheiligste dieser Vortragskunst. 
In diesem Lacheln, diesem Summen, wo wie in einem Kratersee 
zwischen den ungeheuerlichsten Schroffen und Schlacken die Welt 
sich friedlich und geniigsam spiegelt, bricht jene tiefe Kompli- 
zitat mit seinen Horern und Modellen durch, der Kraus im 
Worte niemals Raum gegeben hat. Sein Dienst an ihm erlaubt 



Karl Kraus 359 

ihm keinen Kompromifi. Kaum aber hat es den Riicken gekehrt, 
so findet er sich zu manchem bereit. Da macht denn der qualende, 
stets unerschopfte Reiz dieser Vorlesungen sich fiihlbar: die 
Scheidung zwischen fremden und verwandten Geistern zunichte 
werden und jene homogene Masse falscher Freunde sich bilden 
zu sehen, die in diesen Veranstaltungen den Ton angibt. Kraus 
tritt vor eine Welt von Feinden, will sie zur Liebe zwingen, und 
zwingt sie doch zu nichts als Heuchelei. Seine Wehrlosigkeit 
demgegeniiber steht in genauem Zusammenhang mit dem sub- 
versiven Dilettantismus, der zumal die Offenbach- Vorlesungen 
bestimmt. Kraus weist in ihnen die Musik in engere Schranken, 
als je die Manifeste der George-Schule sich's ertraumten. Das 
kann natiirlich uber den Gegensatz in beider Sprachgebarde 
nicht hinwegtauschen. Vielmehr besteht die genaueste Verbin- 
dung zwischen den Bestimmungsgrunden, die Kraus die beiden 
Pole des sprachlichen Ausdrucks - den depotenzierten des Sum- 
mens und den armierten des Pathos - zuganglich machen und 
denen, die seiner Heiligung des Worts verbieten, die Formen des 
Georgeschen Sprachkultus anzunehmen. Dem kosmischen Auf 
und Nieder, das fiir George »den Leib vergottet und den Gott 
verleibt«, ist die Sprache nur die Jakobsleiter mit den zehntau- 
send Wortsprossen. Demgegeniiber Kraus: seine Sprache hat alle 
hieratischen Momente von sich getan. Weder ist sie Medium der 
Seherschaft noch der Herrschaft. Daft sie der Schauplatz fiir die 
Heiligung des Namens sei - mit dieser judischen Gewiflheit setzt 
sie der Theurgie des »Wortleibs« sich entgegen. Sehr spat, mit 
einer Entschiedenheit, die in Jahren des Stillschweigens mufi 
gereift sein, ist Kraus dem grofien Partner gegeniibergetreten, 
dessen Werk zur gleichen Zeit mit dem eigenen, unter der Jahr- 
hundertschwelle, entsprungen war. Georges erster ofTentlich er- 
schienener Band und der erste Jahrgang der »Fackel« tragen 
die Jahreszahl 1899. Und erst im Ruckblick »Nach dreifiig Jah- 
ren«, 1929, unternahm Kraus ihn aufzurufen. Ihm als dem 
Eifernden tritt da George als der Gefeierte gegeniiber, 

der in dem Tempel wohnt, woraus es nie 
zu treiben gait die Handler und die Wechsler, 
nicht Pharisaer und die Schriftgelehrten, 
die drum den Ort umlagern und beschreiben. 



360 Literarische und asthetische Essays 

Prof anum vulgus lobt sich den Entsager, 
der nie ihm sagte, was zu hassen sei. 
Und der das Ziel noch vor dem Weg gefunden, 
er kam vom Ursprung nidit. 

»Du kamst vom Ursprung - Ursprung ist das Ziel« nimmt 
der »Sterbende Mensch« als Gottes Trost und Verheifiung 
entgegen. Auf sie spielt Kraus hier an und audi Viertel tut es, 
wenn er, im Sinn von Kraus, die Welt den »Irrweg, Abweg, 
Umweg zum Paradiese zuriick« nennt. »Und so«, fahrt er an 
dieser widitigsten Stelle seiner Schrift iiber Kraus fort, »versuche 
ich denn audi die Enwicklung dieser merkwiirdigen Begabung zu 
deuten: Intellektualitat als Abweg, der zur Unmittelbarkeit 
. . . zuruckfiihrt. Publizitat - ein Irrweg zur Sprache zuriick. 
Die Satire - ein Umweg zum Gedicht.« Dieser »Ursprung« - 
das Echtheitssiegel an den Phanomenen - ist Gegenstand einer 
Entdeckung, die in einzigartiger Weise sidi mit dem Wiederer- 
kennen verbindet. Der Schauplatz dieser philosophisciien Er- 
kennungsszene ist im Werk yon Kraus die Lyrik und ihre Spra- 
che der Reim: »Ein Wort, das nie am Ursprung lugt« und diesen 
seinen Ursprung wie die Seligkeit am Ende der Tage, so am 
Ende der Zeile hat. Der Reim - das smd zwei Putten, die den 
Damon zu Grabe tragen, Er fiel am Ursprung, weil er als Zwit- 
ter aus Geist und Sexus in die Welt kam. Seih Schwert und 
Schild - Begriff und Schuld - sind ihm entsunken, um zu 
Emblemen unterm Fufi des Engels zu werden, der ihn erschlagen 
hat. Das ist ein dichtender, martialischer, mit dem Florett in 
Handen, wie nur Baudelaire ihn gekannt hat: s'exercant,, 
seul a sa fantasque escrime, 

Flairant dans tous les coins les hasards de la rime, 
Tr^buchant sur les mots comme sur les paves, 
Heurtant parfois des vers depuis longtemps rev£s. 

Freilich audi ein zugelloser, »hier einer Metapher nachjagend, 
die eben um die Ecke bog, dort Worte kuppelnd, Phrasen per- 
vertierend, in Ahnlichkeiten vergafft, im seligen Mifibrauch 
diiastischer Verschlingung, immer auf Abenteuer aus, in Lust 
und Qual, zu vollenden, ungeduldig und zaudernd«. So findet 
endlich das hedonische Moment dieses Werkes den reinsten Aus- 



Karl Kraus 361 

druck in soldiem schwermutig-phantastischen Verhaltnis zum 
Dasein, in dem Kraus aus der Wiener Tradition der Raimund 
und Girardi zu einer ebenso resignierten wie sinnlichen Kon- 
zeption des Gluckes gelangt. Sie mulS man sich vergegenwarti- 
gen, wenn man die Notwendigkeit erfassen will, aus welcher er 
dem Tanzerischen bei Nietzsche entgegengetreten ist - um von 
dem Ingrimm ganz zu schweigen, mit dem der Unmensch auf 
den Obermenschen stofien mufite. 

Am Reime erkennt das Kind, dafi es auf den Kamm der Sprache 
gelangt ist, wo es das Rauschen aller Quellen im Ursprung ver- 
nimmt. Don oben ist sie zu Hause, die Kreatur, die nun nach so 
viel Stummheit im Tier und so viel Luge in der Hure im Kinde 
zu Wort kommt. »Ein gutes Gehirn mufi kapabel sein, jedes 
Fieber der Kindheit so mit alien Erscheinungen sich vorzustel- 
len, dafi erhohte Temperatur eintritt« - mit derlei Satzen zielt 
Kraus weiter, als es den Anschein hat. Er selbst jedenfalls hat 
die Forderung in solchem Mafie verwirklicht, dafi ihm das Kind 
niemals als Gegenstand, sondern, im Bilde seiner eigenen Fruh- 
zeit, als Gegner der Erziehung vor Augen steht, den diese 
Gegnerschaft erzieht, nicht der Erzieher. »Nicht der Stock war 
abzuschaffen, sondern der Lehrer, der ihn schlecht anwendet.« 
Kraus will nichts sein als der, der ihn besser anwendet. Seine 
Menschenfreundlichkeit, sein Mitleid haben an dem Stock ihre 
Grenze, den er in derselben Schulklasse zu spiiren bekam, in der 
seine besten Gedichte zustandig sind. 

»Ich bin nur einer von den Epigonen« - Kraus ist ein Epigone 
des Lesebuchs. »Des deutschen Knaben Tischgebet«, »Siegfrieds 
Schwert«, »Das Grab im Busento«, »Wie Kaiser Karl Schulvisi- 
tation hielt« - die waren seine Vorbilder, die haben in diesem 
aufmerksamen Schiiler, der sie lernte, sich umgedichtet. So ist aus 
den »Rossen von Gravelotte« das Gedicht »Zum ewigen Frie- 
den« geworden und noch die giiihendsten seiner Hafigedichte 
sind an'Holtys »Feuer im Walde« entziindet, das die Lese- 
biicher unserer Schulzeit durchstrahlte. Und wenn am Jungsten 
Tage nicht nur die Graber, sondern audi die Lesebiicher sich 
offnen, wird rrach der Melodie »Was blasen die Trompeten, 
Husaren heraus« der wahre Pegasus der Kleinen aus ihnen her- 
vorstiirmen und, eine verhutzelte Mumie, eine Puppe aus Stoff 
oder gelblichem Elfenbein, wird dieser einzige Verseschmied tot, 



362 Literarische und asthetische Essays 

ausgetrocknet iiber dem Bug seines Rosses hangend, auf ihm 
daherfahren, der zweischneidige Sabel in seiner Hand aber 
wird, blank wie seine Reime und schneidend wie am ersten Tag, 
durch den Blatterwald f ahren und Stilbluten werden den Boden 
decken. 

Vollendeter ist nie die Sprache vom Geist geschieden, nie inniger 
an den Eros gebunden worden, als Kraus es in der Einsicht ge- 
tan hat: »Je naher man ein Wort ansieht, desto ferner sieht es 
zuriick,« Das ist platonische Sprachliebe. Die Nahe aber, der das 
Wort nicht entfliehen kann, ist einzig der Reim. So wird das 
erotische Urverhaltnis von Nahe und Feme in seiner Sprache 
laut: als Reim und Name. Als Reim steigt die Sprache aus der 
kreatiirlichen Welt herauf, als Name zieht sie alle Kreatur zu 
sich empor. In den »Verlassenen« hat die innigste Durchdrin- 
gung von Sprache und von Eros, wie sie Kraus erfuhr, mit einer 
ungeriihrten GrofSe sich ausgesprochen, die an die vollkommenen 
griechischen Epigramme und Vasenbilder erinnert. »Die Verlas- 
senen« - voneinander sind sie es. Aber - das ist ihr grofier 
Trost - sie sind es auch miteinander. Auf der Schwelle zwischen 
Stirb und Werde halten sie inne. Ruckwarts gewandten Haup- 
tes nimmt die Lust »nach unerhorter Weise« ihren ewigen 
Abschied; ihr abgewandt betritt »nach ungewohnter Weise« die 
Seele ihre Fremde lautlos. So miteinander verlassen sind Lust 
und Seele, aber auch Sprache und Eros, auch Reim und Name. - 
»Den Verlassenen« ist der fiinfte Band der »Worte in Versen« 
gewidmet. Es erreicht sie ja nur noch die Widmung, welche nichts 
anderes als das Gestandnis der platonischen Liebe ist, die am 
Geliebten nicht ihre Lust btifit, sondern es im Namen besitzt 
und im Namen auf Handen tragt. Dieser Ichbesessene kennt 
keine andere Selbstentaufierung als Dank. Seine Liebe ist nicht 
Besitz, sondern Dank. Dank und Widmung; denn danken heifit 
Gefiihle unter einen Namen stellen. Wie die Geliebte fern und 
blinkend wird, wie ihre Winzigkeit und ihr Leuchten sich in den 
Namen Ziehen, das ist die einzige Liebeserfahrung, von der die 
»Worte in Versen« wissen. Darum also: »Leicht, ohne Frau zu 
leben. | Schwer, ohne Frau gelebt zu haben.« 
Aus dem Sprachkreis des Namens, und nur aus ihm, erschliefit 
sich das polemische Grundverf ahren von Kraus: das Zitieren. 
Ein Wort zitieren heifit es beim Namen rufen. So erschopft sich 



Karl Kraus 363 

auf ihrer hochsten Stufe die Leistung von Kraus darin, selbst 
die Zeitung zitierbar zu machen. Er versetzt sie in seinen Raum, 
und mit einem Mai mufi die Phrase es inne werden: im tiefsten 
Bodensatze der Journale ist sie nicht sicher vor dem Zustofi der 
Stimme, die auf den Schwingen des Wortes herabfahrt, um sie 
ihrer Nacht zu entreifien. Wunderbar, wenn sie nicht strafend, 
sondern rettend naht, wie, auf den Schwingen des Shakespeare- 
schen, jener Zeile, in welcher einer vor Arras nach Haus berich- 
tet, wie in der Friihe auf dem letzten zersdiossenen Baume vor 
seiner Stellung eine Lerche zu singen begonnen habe. Eine einzi- 
ge Zeile, und nicht einmal seine eigene, geniigt Kraus, um in dies 
Inferno rettend hinabzufahren, eine einzige Sperrung: »Es war 
die Nachtigall und nicht die Lerche, die dort auf dem Granat- 
baum safi und sang.« Im rettenden und strafenden Zitat erweist 
die Sprache sich als die Mater der Gerechtigkeit. Es ruft das 
Wort beim Namen auf, bricht es zerstorend aus dem Zusam- 
menhang, eben damit aber ruft es dasselbe auch zuriick an seinen 
Ursprung. Nicht ungereimt erscheint es, klingend, stimmig, in 
dem Gefiige eines neuen Textes. Als Reim versammelt es in 
seiner Aura das Ahnliche; als Name steht es einsam und aus- 
druckslos. Vor der Sprache weisen sich beide Reiche - Ursprung 
so wie Zerstorung - im Zitat aus. Und umgekehrt: nur wo sie sich 
durchdringen - im Zitat - ist sie vollendet. Es spiegelt sich in 
ihm die Engelsprache, in welcher alle Worte, aus dem idyllischen 
Zusammenhang des Sinnes aufgestort, zu Motti in dem Buch 
der Schopf ung geworden sind. 

Von ihren Polen aus - dem klassischen und dem realen Hu- 
manismus - umspannt bei diesem Autor das Zitat den ganzen 
Umkreis seiner Bildungswelt. Schiller steht, freilich ungenannt, 
neben Shakespeare: »Adel 1st auch in der sittlichen Welt. Ge- 
meine Naturen | Zahlen mit dem, was sie tun, edle mit dem, 
was sie sind« - dies klassische Distichon kennzeichnet in der 
Verschrankung von grundherrlichemEdel- und weltbiirgerlichem 
Gradsinn den utopischen Fluchtpunkt, in dem Weimars Hu- 
manitat zu Hause war und den zuletzt Stifter fixierte. Es ist 
fiir Kraus das Entscheidende, wie er genau in diesen Fluchtpunkt 
den Ursprung verlegt. Die biirgerlich-kapitalistischen Zustande 
zu einer Verfassung zunickzuentwickeln, in welcher sie sich nie 
befunden haben, ist sein Programm. Aber darum ist er nicht 



364 Literarische und asthetische Essays 

weniger der letzte Burger, der aus dem Sein zu gelten bean- 
sprucht, und der Expressionismus ist seine Schicksalsflgur gewor- 
den, weil hier sich diese Haltung erstmals vor einer revolutiona- 
ren Situation zu bewahren hatte. Eben daft der Expressionis- 
mus versucbte, ihr nicht durch Handeln, sondern durch das 
Sein gerecht zu werden, fiihrte ihn zu seinen Ballungen und 
Gesteiltheiten. So kam es, daft er zum letzten geschichtlichen 
Asyl der Personlichkeit wurde. Die Schuld, die ihn beugte, und 
die Reinheit, welche er proklamierte - beide gehoren dem Phan- 
tom des unpolitischen oder »naturlidien« Menschen an, wie er 
am Ende jener Regression auftaucht und von Marx entlarvt 
wurde. »Der Mensch, wie er Mitglied der burgerlichen Gesell- 
schaft ist,« schreibt Marx, »der unpolitische Mensch, erscheint 
aber notwendig als der naturliche Mensch . . . Die politische 
Revolution lost das burgerliche Leben in seine Bestandteile 
auf, ohne diese Bestandteile selbst zu revolutionieren und der 
Kritik zu unterwerfen. Sie verhalt sich zur burgerlichen Gesell- 
schaft, zur Welt der Bedurfnisse, der Arbeit, der Privatinteres- 
sen, des Privatrechts, als zur Grundlage ihres Bestehns . . . 
daher als zu ihrer Naturbasis . . . Der wirkliche Mensch ist erst 
in der Gestalt des egoistischen Individuums, der wahre Mensch 
erst in Gestalt des abstrakten Citoyen anerkannt . . . Erst wenn 
der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbiirger 
in sich zurucknimmt und als individueller Mensch in seinem 
empirischen Leben, in seiner individuellen Arbeit, in seinen 
individuellen Verhaltnissen, Gattungswesen geworden ist ... 
und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt 
der politischen Kraft von sich trennt, erst dann ist die mensch- 
liche Emanzipation vollbracht.« Der reale Humanismus, der hier 
bei Marx dem klassischen die Stirne bietet, ofFenbart sich fur 
Kraus am Kinde, und der werdende Mensch hebt sein Gesicht 
den Gotzenbildern des idealen, des romantischen Naturwesens 
ebenso wie des staatsfrommen Musterbiirgers entgegen. Im 
Sinne dieses Werdenden hat Kraus das Lesebuch revidiert, ging 
er insbesondere der deutschen Bildung nach und fand sie schwan- 
kend, dem Wellenspiele journalistischer Willkiir anheimgegeben. 
Daher die »Lyrik der Deutschen«: »Wer kann, ist ihr Mann und 
nicht einer, der mufi, | sie irrten vom Wesen zum Scheine. 1 
Ihr lyrischer Fall war nicht Claudius, | aber Heine. « Daft je- 



Karl Kraus 365 

doch der werdende Mensch nicht im Naturraum, sondern im 
Raum der Menschheit, dem Befreiungskampf, eigentlich Gestalt 
gewinnt, dafi man ihn an der Haltung erkennt, die der Kampf 
mit Ausbeutung und mit Not ihm aufzwingt, dafi es keine 
idealistische, sondern nur eine materialistische Befreiung vom 
Mythos gibt und nicht Reinheit im Ursprung der Kreatur stent, 
sondern die Reinigung, das hat in dem realen Humanismus von 
Kraus seine Spuren am spatesten hinterlassen. Erst der Ver- 
zweifelnde entdeckte im Zitat die Kraft: nicht zu bewahren, 
sondern zu reinigen, aus dem Zusammenhang zu reifien, zu zer- 
storen; die einzige, in der noch Hoffnung liegt, dafi einiges aus 
diesem Zeitraum uberdauert - weil man es namlich aus ihm 
herausschlug. 

So bestatigt sich: Burgertugenden sind alle Einsatzkrafte dieses 
Mannes von Haus aus; nur imHandgemenge haben sie ihr streit- 
bares Aussehen erhalten. Aber schon ist niemand mehr im- 
stande, sie zu erkennen; niemand imstande, die Notwendigkeit 
zu fassen, aus welcher dieser grofie biirgerliche Charakter zum 
Komodianten, dieser Wahrer goethischen Sprachgutes zum Pole- 
miker, dieser unbescholtene Ehrenmann zum Berserker gewor- 
den ist. Das mufke aber geschehen, da er die Anderung der Welt 
bei seiner Klasse, bei sich zu Hause, in Wien zu beginnen dachte. 
Und als er, die Vergeblichkeit seines Unternehmens sich einge- 
stehend, mitten darinnen abbrach, da legte er die Sache wieder 
in die Hande der Natur zuriick: diesmal der zerstorenden, nicht 
der schopferischen: 

Lasse stehen die Zeit! Sonne, vollende du! 
Mache das Ende grofi! Kiinde die Ewigkeit! 
Recke dich drohend auf, Donner drohne dein Licht, 
daf^ unser schallender Tod verstummt! 

Goldene Glocke du, schmilz in eigener Gluth, 
werde Kanone du gegen den kosmischen Feind! 
SchieE ihm den Brand ins Gesicht! Ware mir Josuas 
wisse, wieder war* Gibeon! Macht, 

Auf dieser, der entfesselten, Natur grundet sich das spatere 
politische Kredo von Kraus, gewifi ein Gegenstiick zu dem 
patriarchalischen Stifters, ein Bekenntnis, an dem alles erstaun- 



366 Literarische und asthetische Essays 

lich, unverstandlich aber allein das eine ist, dafi nicht die grofken 
Letter n der »Fackel« es aufbewahren, und dafi man diese stark- 
ste biirgerlkhe Prosa des Nachkriegs in einem verschollenen 
Hefte der »Fackel« - November 1920 - zu suchen hat: 
»Was ich meine, ist - und da will ich einmal mit dieser ent- 
menschten Brut von Guts- und Blutsbesitzern und deren An- 
hang, da will ich mit ihnen, weil sie ja nicht deutsch verstehen 
und aus meinen >Widerspriichen< auf meine wahre Ansicht nicht 
schliefien konnen, einmal deutsch reden ... - was ich meine, ist: 
Der Kommunismus als Realitat ist nur das Widerspiel ihrer 
eigenen lebensschanderischen Ideologic, immerhin von Gnaden 
eines reineren ideellen Ursprungs, ein vertracktes Gegenmittel 
zum reineren ideellen Zweck - der Teufel hole seine Praxis, 
aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung liber den 
Hauptern jener, so da Guter besitzen und alle andern zu deren 
Bewahrung und mit dem Trost, daf? das Leben der Guter 
hochstes nicht sei, an die Fronten des Hungers und der vater- 
landischen Ehre treiben mochten. Gott erhalte ihn uns, damit 
dieses Gesindel, das schon nicht mehr ein und aus weifi vor 
Frechheit, nicht noch frecher werde, damit die Gesellschaft der 
ausschliefilich Genufiberechtigten, die da glaubt, dafi die ihr 
botmafiige Menschheit genug der Liebe habe, wenn sie von ihnen 
die Syphilis bekommt, wenigstens doch auch mit einem Alpdruck 
zu Bette gehe! Damit ihnen wenigstens die Lust vergehe, ihren 
Opfern Moral zu predigen, und der Humor, iiber sie Witze zu 
machen!« 

Eine menschliche, natiirliche, edle Sprache - zumal im Lichte 
der denkwiirdigen Erklarung von Loos: »Wenn die mensch- 
liche Arbeit nur aus der Zerstorung besteht, dann ist es 
wirklich menschliche, natiirliche, edle Arbeit.« Allzulange lag 
der Akzent auf dem Schopferischen. So schopferisch ist nur, 
wer Auftrag und Kontrolle meidet. Die aufgegebene, kontrol- 
lierte Arbeit - ihr Vorbild: die politische und die technische 
- hat Schmutz und Abfall, greift zerstorend in den Stoff ein, 
verhalt sich abnutzend zum Geleisteten, kritisch zu ihren Be- 
dingungen und ist in alledem das Gegenstiick zu der des Dilet- 
tanten, der im Schaffen schwelgt. Dessen Werk ist harmlos 
und rein; das Meisterliche verzehrend und reinigend. Und darum 
steht der Unmensch als der Bote realeren Humanismus unter 



Karl Kraus 367 

uns. Er ist der Oberwinder der Phrase. Er solidarisiert sich 
nicht mit der schlanken Tanne, sondern mit dem Hobel, der sie 
verzehrt, nicht mit dem edlen Erz, sondern mit dem Schmelz- 
ofen, der es lautert. Der Durchschnittseuropaer hat sein Leben 
mit der Technik nicht zu vereinen vermocht, weil er am Fetisch 
schopferischen Daseins festhielt. Man mui? schon Loos im Kamp- 
fe mit dem Drachen »Ornament« verfolgt, mufi das stellare 
Esperanto Scheerbartscher Geschopfe vernommen oder Klees 
»Neuen Engel«, welcher die Menschen lieber befreite, indem er 
ihnen nahme, als begliickte, indem er ihnen gabe, gesichtet ha- 
ben, um eine Humanitat zu fassen, die sich an der Zerstorung 
bewahrt. 

Zerstorend ist denn auch die Gerechtigkeit, die destruktiv den 
konstruktiven Zweideutigkeiten des Rechtes Einhalt gebietet; 
zerstorend ist Kraus dem eigenen Werke gerecht geworden: 
»Zuriick als Fiihrer bleibt mein ganzes Irren.U Das ist die 
Sprache der Nuchternheit, die ihre Herrschaft in der Dauer 
begriindet, und schon haben die Schriften von Kraus zu dauern 
begonnen, und er konnte das Wort von Lichtenberg ihnen vor- 
ansetzen, der eine von seinen tiefsten »Ihrer Majestat der Ver- 
gessenheit« widmete. So sieht die Selbstbescheidung nun aus - 
kiihner als die einstige Selbstbehauptung, die in damonischer 
Selbstbespiegelung zerging. Nicht Reinheit und nicht Opfer 
sind Herr des Damons geworden; wo aber Ursprung und Zer- 
storung einander finden, ist es mit seiner Herrschaft voniber. 
Als ein Geschopf aus Kind und Menschenfresser steht sein Be- 
zwinger vor ihm: kein neuer Mensch; ein Unmensch; ein neuer 
Engel. Vielleicht von jenen einer, welche, nach dem Talmud, 
neue jeden Augenblick in unzahligen Scharen, geschaffen wer- 
den, um, nachdem sie vor Gott ihre Stimme erhoben haben, 
aufzuhoren und in Nichts zu vergehen. Klagend, bezichtigend 
oder jubelnd? Gleichviel - dieser schnell verfliegenden Stimme 
ist das ephemere Werk von Kraus nachgebildet. Angelus - das 
ist der Bote der alten Stiche. 



368 

Kleine Geschichte der Photographie 

Der Nebel, der iiber den Anfangen der Photographie liegt, ist 
nicht ganz so dicht wie jener, der iiber den Beginn des Buch- 
drucks sich lagert; kenntlicher vielleicht als fur diesen ist, dafi 
die Stunde fiir die Erfindung gekommen war und von mehr als 
einem verspiirt wurde; Mannern, die unabhangig voneinander 
dem gleichen Ziele zustrebten: die Bilder in der camera obscura, 
die spatestens seit Leonardo bekannt waren, festzuhalten. Als 
das nach ungefahr fiinfjahrigen Bemiihungen Niepce und Da- 
guerre zu gleicher Zeit gegliickt war, griff der Staat, begiinstigt 
durch patentrechtliche Schwierigkeiten, auf die die Erfinder 
stiefien, die Sache auf und machte sie unter deren Schadloshal- 
tung zu einer offentlichen. Damit waren die Bedingungen einer 
fortdauernd beschleunigten Entwicklung gegeben, die fiir lange 
Zeit jeden Riickblick ausschlofi. So kommt es, dafi die histori- 
schen oder, wenn man will, philosophischen Fragen, die Aufstieg 
und Verfall der Photographie nahelegen, jahrzehntelang un- 
beachtet geblieben sind. Und wenn sie heute beginnen, ins Be- 
wufitsein zu treten, so hat das einen genauen Grund. Die jiing- 
ste Literatur schliefit an den auffallendenTatbestand an, dafi die 
Bliite der Photographie - die Wirksamkeit der Hill und Came- 
ron, der Hugo und Nadar-in ihr erstes Jahrzehnt fallt.Das ist 
nun aber das Jahrzehnt, welches ihrer Industrialisierung vor- 
ausging. Nicht als ob nicht bereits in dieser Friihzeit Markt- 
schreier und Scharlatane der neuen Technik aus Erwerbsgriinden 
sich bemachtigt hatten; sie taten das sogar massenweise. Aber 
das stand den Kunsten des Jahrmarkts, auf dem die Photogra- 
phie ja bis heute heimisch gewesen ist, naher als der Industrie. 
Die eroberte sich das Feld erst mit der Visitkarten-Aufnahme, 
deren erster Hersteller bezeichnenderweise zum Millioniir wur- 
de. Es ware nicht zu verwundern, wenn die photographischen 
Praktiken, die heut zum erstenmal den Blick auf jene vorindu- 
strielle Bliitezeit zuriicklenken, in unterirdischem Zusammen- 
hang mit der Erschutterung der kapitalistischen Industrie stiin- 
den. Darum jedoch ist es urn nichts leichter, den Reiz der Bilder, 
die in den schonen jiingst erschienenen Publikationen alter Photo- 
graphie 1 vorliegen, fiir wirkliche Einsichten in deren Wesen 

1 Helmuth Th[eodor] Bossert und Heinrich Guttmann: Aus der Friihzeit der Pho- 



Kleine Geschichte der Photographie 369 

nutzbar zu machen. Oberaus rudimentar sind die Versuche, der 
Sadie theoretisch Herr zu werden. Und so viele Debatten im 
vorigen Jahrhundert iiber sie gefiihrt wurden, im Grunde haben 
sie sich nicht von dem skurrilen Schema freigemacht, mit dem 
ein chauvinistisches Blattchen, der »Leipziger Anzeiger«, glaub- 
te, beizeiten der franzosischen Teufelskunst entgegentreten 
zu miissen. »Fliichtige Spiegelbilder festhalten zu wollen, 
heifit es da, dies ist nicht blofi ein Ding der Unmoglichkeit, 
wie es sich nach griindlicher deutscher Untersuchung herausge- 
stellt hat, sondern schon der Wunsch, dies zu wollen, ist eine 
Gotteslasterung. Der Mensch ist nach dem Ebenbilde Gottes 
geschaffen und Gottes Bild kann durch keine menschliche Ma- 
schine festgehalten werden. Hochstens der gottliche Kunstler 
darf, begeistert von himmlischer Eingebung, es wagen, die gott- 
menschlichen Ziige, im Augenblick hochster Weihe, auf den 
hoheren Befehl seines Genius, ohne jede Maschinenhilfe wieder- 
zugeben.« Hier tritt mit dem Schwergewicht seiner Plumpheit 
der Banausenbegriff von der »Kunst« auf, dem jede technische 
Erwagung fremd ist und welcher mit dem provozierenden Er- 
scheinen der neuen Technik sein Ende gekommen fuhlt. Dem- 
ungeachtet ist es dieser fetischistische, von Grund auf antitech- 
nische BegrirT von Kunst, mit dem die Theoretiker der Photo- 
graphie fast hundert Jahre lang die Auseinandersetzung such- 
ten, natiirlich ohne zum geringsten Ergebnis zu kommen. Denn 
sie unternahmen nichts anderes, als den Photographen vor eben 
jenem Richterstuhl zu beglaubigen, den er umwarf. Da weht 
eine ganz andere Luft aus dem Expose, mit dem der Physiker 
Arago als Fursprecher der Daguerreschen Erfindung am 3. Juli 
1839 vor die Kammer der Deputierten trat. Es ist das Schone 
an dieser Rede, wie sie an alle Seiten menschlicher Tatigkeit den 
Anschlufi findet. Das Panorama, das sie entwirft, ist grofi genug, 
um die zweifelhafte Beglaubigung der Photographie vor der 
Malerei, die auch in ihm nicht fehlt, belanglos erscheinen, viel- 
mehr die Ahnung von der wirklichen Tragweite der Erfindung 
sich entfalten zu lassen. »Wenn Erfinder eines neuen Instru- 
mentes, sagt Arago, dieses zur Beobachtung. der Natur anwen- 

tographie. 1840-70. Ein Bildbuch nadi 200 Originalen. Frankfurt am Main 1930. - 
Heinridi S&warz: David Octavius Hill. Der Meister der Photographie. Mit 80 
Bildtafcln. Leipzig 193 1. 



370 Literarische und asthetische Essays 

den, so ist das, was sie davon gehofTt haben, immer eine Kleinig- 
keit im Vergleich zu der Reihe nachfolgender Entdeckungen, 
wovon das Instrument der Ursprung war.« In grofiem Bogen 
umspannt diese Rede das Gebiet der neuen Technik von der 
Astrophysik bis zur Philologie: neben dem Ausblick auf die 
Sternphotographie steht die Idee, ein corpus der agyptischen 
Hieroglyphen aufzunehmen. 

Daguerres Lichtbilder waren jodierte und in der camera obscura 
beiichtete Silberplatten, die hin- und hergewendet sein wollten, 
bis man in richtiger Beleuchtung ein zartgraues Bild darauf er- 
kennen konnte. Sie waren unica; im Durchschnitt bezahlte man 
im Jahre 1839 fiir eine Platte 25 Goldfrank. Nicht selten wur- 
den sie wie Schmuck in Etuis verwahrt. In der Hand mancher 
Maler aber verwandelten sie sich in technische Hilfsmittel. Wie 
siebzig Jahre spater Utrillo seine faszinierenden Ansichten von 
den Hausern der Bannmeile von Paris nicht nach der Natur, 
sondern nach Ansichtskarten verfertigte, so legte der geschatzte 
englische Portratmaler David Octavius Hill seinem Fresko der 
ersten Generalsynode der schottischen Kirche.im Jahre 1843 eine 
groKe Reihe von Portrataufnahmen zugrunde. Diese Aufnah- 
men aber machte er selbst. Und sie, anspruchslose, zum internen 
Gebrauch bestimmte Behelfe, sind es, die seinem Namen die 
historische Stelle- geben, wahrend er als Maler verschollen ist. 
Freilich fuhren tiefer noch als die Reihen dieser Portratkopfe 
in die neue Technik einige Studien ein: namenlose Menschen- 
bilder, nicht Portrats. Solche Kopfe gab es langst auf Ge- 
malden. Blieben sie im Familienbesitz, fragte man hin und wie- 
der noch nach den Dargestellten. Nach zwei, drei Generationen 
aber ist dies Interesse verstummt: die Bilder, soweit sie dauern, 
tun es nur als Zeugnis fiir die Kunst dessen, der sie gemalt hat. 
Bei der Photographie aber begegnet man etwas Neuem und 
Sonderbarem: in jenem Fischweib aus New Haven, das mit so 
lassiger, verfuhrerischer Scham zu Boden blickt, bleibt etwas, 
was im Zeugnis fiir die Kunst des Photographen Hill nicht 
aufgeht, etwas, was nicht zum Schweigen zu bringen ist, unge- 
bardig nach dem Namen derer veriangend, die da gelebt hat, die 
audi hier noch wirklich ist und niemals ganzlich in die »Kunst« 
wird eingehen wollen. »Und ich frage: wie hat dieser haare zier | 
Und dieses blickes die friiheren wesen umzingelt! | Wie 



Kleine Geschichte der Photographie 371 

dieser mund hier gekiifit zu dem die begier | Sinnlos hinan 
als raucli ohne flamme sich ringelt!« Oder man schlagt das Bild 
von Dauthendey, dem Photographen, auf, dem Vater des Dich- 
ters, aus der Zeit des Brautstands mit jener Frau, die er dann 
eines Tages, kurz nach der Geburt ihres sechsten Kindes, im 
Schlafzimmer seines Moskauer Hauses mit durchschnittenen 
Pulsadern liegen fand. Sie ist hier neben ihm zu sehen, er scheint 
sie zu halten; ihr Blick aber geht an ihm voruber, saugend an 
eine unheilvolle Feme geheftet. Hat man sich lange genug in so 
ein Bild vertieft, erkennt man, wie sehr auch hier die Gegensatze 
sich beriihren: die exakteste Technik kann ihren Hervorbrin- 
gungen einen magischen Wert geben, wie fur uns ihn ein gemal- 
tes Bild nie mehr besitzen kann. Aller Kunstfertigkeit des Pho- 
tographen und aller Planmafiigkeit in der Haltung seines Mo- 
dells zum Trotz fuhlt der Beschauer unwiderstehlich den Zwang, 
in solchem Bild das winzige Flinkchen Zufall, Hier und Jetzt, 
zu suchen, mit dem die Wirklichkeit den Bildcharakter gleich- 
sam durchgesengt hat, die unscheinbare Stelle zu finden, in 
welcher, im Sosein jener langstvergangenen Minute das Kiinfti- 
ge noch heut und so beredt nistet, dafi wir, ruckblickend, es ent- 
decken konnen. Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera 
als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, dafi an die 
Stelle eines vom Menschen mit Bewufitsein durchwirkten Raums 
ein unbewufit durchwirkter tritt. Ist es schon iiblich, dafi einer, 
beispielsweise, vom Gang der Leute, sei es auch nur im groben, 
sich Rechenschaft. gibt, so weifi er bestimmt nichts mehr von 
ihrer Haltung im Sekundenbruchteil des »Ausschreitens«. Die 
Photographie mit ihren Hilfsmitteln: Zeitlupen, Vergrofierun- 
gen erschliefit sie ihm. Von diesem Optisch-Unbewufiten erfahrt 
er erst durch sie, wie von dem Tnebhaft-Unbewufiten durch die 
Psychoanalyse. Strukturbeschaffenheiten, Zellgewebe, mit denen 
Technik, Medizin zu rechnen pflegen - all dieses ist der Kamera 
ursprunglich verwandter als die stimmungsvolle Landschafl 
oder das seelenvolle Portrat. Zugleich aber erofTnet die Photo- 
graphie in diesem Material die physiognomischen Aspekte, 
Bildwelten, welche im Kleinsten wohnen, deutbar und verbor- 
gen genug, um inWachtraumenUnterschlupf gefunden zu haben, 
nun aber, grofi und formulierbar wie sie geworden sind, die 
DifTerenz von Technik und Magie als durch und durch histori- 



372 Literarische und asthetische Essays 

sche Variable ersiditlich zu machen. So hat Blofifeldt 2 mit seinen 
erstaunlichen Pflanzenphotos in Schachtelhalmen alteste Sau- 
lenformen, im Straufifarn den Bischofsstab, im zehnfach ver- 
grofierten Kastanien- und Ahornsprofi Totembaume, in der 
Weberkarde gotisches Mafiwerk zum Vorschein gebracht. Darum 
sind wohl audi die Modelle eines Hill nicht weit von der Wahr- 
heit entfernt gewesen, wenn ihnen »das Phanomen der Photo- 
graphie« noch »ein grofies geheimnisvolles Erlebnis« war; mag 
das fur sie audi nichts als das Bewufitsein gewesen sein, »vor 
einem Apparat zu stehen, der in kiirzester Zeit ein Bild der 
sichtbaren Umwelt erzeugen konnte, das so lebendig und wahr- 
haft wirkte wie die Natur selbst.« Man hat von der Kamera 
Hills gesagt, dafi sie diskrete Zuriickhaltung wahre. Seine Mo- 
delle ihrerseits sind aber nicht weniger reserviert; sie behalten 
eine gewisse Scheu vor dem Apparat, und der Leitsatz eines 
spateren Photographen aus der Bliitezeit: »Sieh nie in die Ka- 
mera« konnte aus ihrem Verhalten abgeleitet sein. Doch war 
damit nicht jenes »sehen dich an« von Tieren, Menschen oder 
Babys gemeint, das den Kaufer auf so unsaubere Weise einmengt 
und dem nichts besseres entgegenzusetzen ist als die Wendung, 
mit welcher der alte Dauthendey von der Daguerreotypie 
spricht: »Man getraute sich . . . zuerst nicht, so berichtete er, die 
ersten Bilder, die er anfertigte, lange anzusehen. Man scheute 
sich vor der Deutlichkeit der Menschen und glaubte, dafi die 
kleinen winzigen Gesichter der Personen, die auf dem Bilde 
warea, einen selbst sehen konnten, so verbliiffend wirkte die 
ungewohnte Deutlichkeit und die ungewohnte Naturtreue der 
ersten Daguerreotypbilder auf jeden«. 

Diese ersten reproduzierten Menschen traten in den Blickraum 
der Photographie unbescholten oder besser gesagt unbeschriftet. 
Noch waren Zeitungen Luxusgegenstande, die man selten kauf- 
lich erwarb, eher in Cafehausern einsah, noch war das photo- 
graphische Verfahren nicht zu ihrem Werkzeug geworden, noch 
sahen die wenigsten Menschen ihren Namen gedruckt. Das 
menschliche Antlitz hatte ein Schweigen um sich, in dem der 
Blick ruhte. Kurz, alle Moglichkeiten dieser Portratkunst beru- 
hen darauf, dafi noch die Beriihrung zwischen Aktualitat und 

2 Karl Bloflfeldt: Urformen der Kunst. Photographische Pflanzenbilder. Hrsg. mit 
einer Einleitung von Karl Nierendorf. 120 Bildtafeln. Berlin 0. J. [1928]. 



Kleine Geschichte der Photographie 373 

Photo nidit eingetreten ist. Auf dem Edinburgher Friedhof von 
Greyfriars sind viele Bildnisse Hills entstanden - nichts ist fiir 
diese Friihzeit bezeichnender, es sei denn, wie die Modelle auf 
ihm zu Hause waren. Und wirklich ist dieser Friedhof nach 
einem Bilde, das Hill gemacht hat, selbst wie ein Interieur, ein 
abgeschiedener, eingehegter Raum, wo, an Brandmauern ge- 
lehnt, aus dem Grasboden Grabmaler aufsteigen, die, ausge- 
hohlt wie Kamine, in ihrem Inhern Sdiriftziige statt der Flam- 
menzungen zeigen. Nie aber hatte dies Lokal zu seiner grofien 
Wirkung kommen konnen, ware seine Wahl nicht technisch 
begriindet gewesen. Geringere Lichtempfindlichkeit der friihen 
Platten machte eine lange Belichtung im Freien erforderlich. 
Diese wiederum liefi es wiinschenswert sdieinen, den Aufzuneh- 
menden in moglichster Abgeschiedenheit an einem Orte unter- 
zubringen, wo ruhiger Sammiung nichts im V/ege stand. »Die 
Synthese des Ausdruckes, die durch das lange Stillhalten des Mo- 
dells erzwungen wird, sagt Orlik von der friihen Photographie, 
ist der Hauptgrund, weshalb diese Lichtbilder neben ihrer 
Schlichtheit gleich guten gezeichneten oder gemalten Bildnissen 
eine eindringlichere und langer andauernde Wirkung auf den 
Beschauer ausiiben als neuere Photographien.« Das Verfahren 
selbst veranlafite die Modelle, nicht aus dem Augenblick heraus, 
sondern in ihn hinein zu leben; wahrend der langen Dauer die- 
ser Aufnahmen wuchsen sie gleichsam in das Bild hinein und 
traten so in den entschiedensten Kontrast zu den Erscheinungen 
auf einer Momentaufnahme, die jener veranderten Umwelt ent- 
spricht, in der es, wie Kracauer treffend bemerkt hat, von dem- 
selben Bruchteil einer Sekunde, den die Belichtung dauert, ab- 
hangt, »ob ein Sportsmann so beriihmt wird, dafi ihn im 
Auftrag der Illustrierten die Photographen belichten«. Alles an 
diesen friihen Bildern war angelegt zu dauern; nicht nur die 
unvergleichlichen Gruppen, zu denen die Leute zusammentra- 
ten - und deren Verschwinden gewifi eins der prazisesten 
Symptome dessen war, was in der zweiten Halfte des Jahrhun- 
derts in der Gesellschaft vorging - selbst die Falten, die ein 
Gewand auf diesen Bildern wirft, halten langer. Man betrachte 
nur Schellings Rock; der kann recht zuversichtlich mit in die 
Unsterblichkeit hiniibergehen; die Formen, die er an seinem 
Trager annahm, sind der Falten in dessen Antlitz nicht unwert. 



374 Literarische und asthetische Essays 

Kurz, alles spricht dafiir, Bernard von Brentano habe mit seiner 
Vermutung recht, »dafi ein Photograph von 1850 auf der glei- 
chen Hohe mit seinem Instrument stand« - zum ersten- und 
fur lange zum letztenmal. 

Man mufi im iibrigen, urn sich die gewaltige Wirkung der Da- 
guerreotypie im Zeitalter ihrer Entdeckung ganz gegenwartig zu 
machen, bedenken, dafi die Pleinairmalerei damals den vorge- 
schrittensten unter den Malern ganz neue Perspektiven zu ent- 
decken begonnen hatte. Im Bewufitsein, dafi gerade in dieser 
Sache die Photographie von der Malerei die Stafette zu iiber- 
nehmen habe, heifk es denn auch bei Arago im historischen 
Riickblick auf die friihen Versuche Giovanni Battista Portas 
ausdriicklich: »Was die Wirkung betrifft, welche von der unvoll- 
kommenen Durchsichtigkeit unserer Atmosphare abhangt (und 
welche man durch den • uneigentlichen Ausdruck >Luftperspek- 
tive< charakterisiert hat), so hoffen selbst die geiibten Maler 
nicht, dafi die camera obscura« - will sagen das Kopieren der 
in ihr erscheinenden Bilder - »ihnen dazu behilflich sein konnte, 
dieselben mit Genauigkeit hervorzubringen.« Im Augenblick, da 
es Daguerre gegliickt war, die Bilder der camera obscura zu 
fixieren, waren die Maler an diesem Punkte vom Techniker ver- 
abschiedet worden. Das eigentliche Opfer der Photographie aber 
wurde nicht die Landschaftsmalerei, sondern die Portratminia- 
tur. Die Dinge entwickelten sich so schnell, dafi schon um 1840 
die meisten unter den zahllosen Miniaturmalern Berufsphoto- 
graphen wurden, zunachst nur nebenher, bald aber ausschliefi- 
lich. Dabei kamen ihnen die. Erfahrungen ihrer urspriinglichen 
Brotarbeit zustatten, und nicht ihre kunstlerische, sondern ihre 
handwerkliche Vorbildung ist es, der man das hohe Niveau 
ihrer photographischen Leistungen zu verdanken hat. Sehr all- 
mahlich verschwand diese Generation des Obergangs; ja es 
scheint eine Art von biblischem Segen auf jenen ersten Photo- 
graphen geruht zu haben: die Nadar, Stelzner, Pierson, Bayard 
sind alle an die Neunzig oder Hundert herangeruckt. Schlieft- 
lich aber drangen von uberallher Geschaftsleute in den Stand 
derBerufsphotographen ein, und als dann spaterhin dieNegativ- 
retusche, mit welcher der schlechte Maler sich an der Photogra- 
phie rachte, allgemein liblich wurde, setzte ein jaher Verfall des 
Geschmacks ein. Das war die Zeit, da die Photographiealben 



Kleine Geschidite der Photographie 375 

sich zu fiillen begannen. An den frostigsten Stellen derWohnung, 
auf Konsolen oder Gueridons im Besuchszimmer, fanden sie sich 
am liebsten: Lederschwarten mit abstofienden Metallbeschlagen 
und den fingerdicken goldumrandeten Blattern, auf denen nar- 
risch drapierte oder verschniirte Figuren - Onkel Alex und 
Tante Riekchen, Trudchen wie sie noch klein war, Papa im ersten 
Semester - verteilt waren und endlich, urn die Schande voll zu 
machen, wir selbst: als Salontiroler, jodelnd, den Hut gegen 
gepinselte Firnen schwingend, oder als adretter Matrose, Stand- 
bein und Spielbein, wie es sich gehdrt, gegen einen polierten 
Pfosten gelehnt. Noch erinnert die Staff age solcher Portrats mit 
ihren Postamenten, Balustraden und ovalen Tischchen an die 
Zeit, da man der langen Expositionsdauer wegen den Modellen 
Stiitzpunkte geben mufite, damit sie fixiert blieben. Hatte man 
anfangs mit »Kopfhalter« oder »Kniebrille« sich begniigt, so 
folgte bald »weiteres Beiwerk, wie es in beriihmten Gemalden 
vorkam und darum >kiinstlerisch< sein mufite. Zunachst war 
es die Saule und der Vorhang«. Gegen diesen Unfug mufiten sich 
f ahigere Manner schon in den sechziger Jahren wenden. So heifit 
es damals in einem englischen Fachblatt: »In gemalten Bildern 
hat die Saule einen Schein von Moglichkeit, die Art aber, wie sie 
in der Photographie angewendet wird, ist absurd; denn sie steht 
gewohnlich auf einem Teppich. Nun wird aber jedermann uber- 
zeugt sein, dafi Marmor- oder Steinsaulen nicht mit einem Tep- 
pich als Fundament aufgebaut werden.« Damals sind jene Ate- 
liers mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien 
entstanden, die so zweideutig zwischen Exekution und Represen- 
tation, Folterkammer und Thronsaal schwankten und aus denen 
ein erschutterndes Zeugnis ein friihes Bildnis von Kafka bringt. 
Da steht in einem engen, gleichsam demutigenden, mit Posa- 
menten iiberladenen Kinderanzug der ungefahr sechsjahrige 
Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft. Palmenwedel 
starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten 
Tropen noch stickiger und schwiiler zu machen, tragt das Modell 
in der Linken einen unmaftig grofien Hut mit breiter Krempe, 
wie ihn Spanier haben. Gewifi, dafi es in diesem Arrangement 
verschwande, wenn nicht die unermefilich traurigen Augen diese 
ihnen vorbestimmte Landschaft beherrschen wiirden. 
Dies Bild in seiner uferlosen Trauer ist ein Pendant der friihen 



376 Literarisdie und asthetische Essays 

Photographic auf welcher die Menschen nodi nicht abgesprengt 
und gottverloren in die Welt sahen wie hier der Knabe. Es war 
eine Aura um sie, ein Medium, das ihrem Blick, indem er es 
durchdringt, die Fiille und die Sicherheit gibt. Und wieder liegt 
das tedinische Aquivalent da von auf der Hand; es besteht in 
dem absoluten Kontinuum von hellstem Licht zu dunkelstem 
Schatten. Audi hier bewahrt sich im ubrigen das Gesetz der 
Vorverkundung neuerer Errungenschaften in alterer Technik, 
indem die ehemalige Portratmalerei vor ihrem Niedergange eine 
einzigartige Bliite der Schabkunst heraufgefiihrt hatte. Freilich 
handelte es sich in diesem Schabkunstverfahren um eine Repro- 
duktionstechnik, wie sie sich mit der neuen photographisdien 
erst spater vereinigte. Wie auf Schabkunstblattern ringt sich bei 
einem Hill miihsam das Licht aus dem Dunkel: Orlik spricht 
von der durch die lange Expositionsdauer veranlafiten »zusam- 
menfassenden Lichtfuhrung«, die »diesen friiheren Lichtbildern 
ihre Grofie« gibt. Und unter den Zeugenossen der Erfindung 
bemerkte schon Delaroche den friiher »nie erreichten, kostlichen, 
in nichts die Ruhe der Massen storenden« allgemeinen Eindruck. 
Soviel vom technischen Bedingtsein der auratischen Erscheinung. 
Besonders manche Gruppenaufnahmen halten ein beschwingtes 
Miteinander noch einmal fest, wie es hier fur eine kurze Spanne 
auf der Platte erscheint, be vor es an der »Originalaufnahme« 
zugrunde geht. Es ist dieser Hauchkreis, der schon und sinnvoll 
bisweilen durch die nunmehr altrriodische ovale Form des Bild- 
ausschnitts umschrieben wird. Darum heifit es diese Inkunabeln 
der Photographie mifideuten, in ihnen die »kunstlerische Voll- 
endung« oder den »Geschmack« zu betonen. Diese Bilder sind 
in Raumen entstanden, in denen jedem Kunden im Photogra- 
phen vorab ein Techniker nach der neuesten Schule entgegentrat, 
dem Photographen aber in jedem Kunden der Angehorige einer 
im Aufstieg befindlichen Klasse mit einer Aura, die bis in die 
Falten des Burgerrocks oder der Lavalliere sich eingenistet 
hatte. Denn das blofie Erzeugnis einer primitiven Kamera ist 
jene Aura ja nicht. Vielmehr entsprechen sich in jener Friihzeit 
Objekt und Technik genau so scharf, wie sie in der anschliefien- 
den Verfallsperiode auseinandertreten. Bald namlich verfugte 
eine fortgeschrittene Optik iiber Instrumente, die das Dunkel 
ganz uberwanden und die Erscheinungen spiegelhaft aufzeichne- 



Kleine Geschichte der Photographie 377 

ten. Die Photographen jedoch sahen in der Zeit nach 1880 ihre 
Aufgabe vielmehr darin, die Aura, die von Hause aus mit der 
Verdrangung des Dunkels durch lichtstarkere Objektive aus dem 
Bilde genau so verdrangt wurde wie durch die zunehmende 
Entartung des imperialistischen Burgertums aus der Wirklich- 
keit - sie sahen es als ihre Aufgabe an, diese Aura durch alle 
Kunste der. Retusche, insbesondere jedoch durch sogenannte 
Gummidrucke vorzutauschen. So wurde, zumal im Jugendstil, 
ein schummeriger Ton, von kiinstlichen Reflexen unterbrochen, 
Mode; dem Zwielicht zum Trotz aber zeichnete immer klarer 
eine Pose sich ab, deren Starrheit die Ohnmacht jener Genera- 
tion im Angesicht des technischen Fortschritts verriet. 
Und doch ist, was iiber die Photographie entscheidet, immer 
wieder das Verhaltnis des Photographen zu seiner Technik. Ca- 
mille Recht hat es in einem hubschen Bilde gekennzeichnet. »Der 
Geigenspieler, sagt er, mufi den Ton erst bilden, mufi ihn 
suchen, blitzschnell finden, der Klavierspieler schlagt die Taste 
an: der Ton erklingt. Das Instrument steht dem Maler wie dem 
Photographen zur Verfugung. Zeichnung und Farbengebung 
des Malers entsprechen der Tonbildung des Geigenspiels, der 
Photograph hat mit dem Klavierspieler das Maschinelle voraus, 
das einschrankenden Gesetzen unterworfen ist, die dem Geiger 
lange nicht den gleichen Zwang auferlegen. Kein Paderewski 
wird jemals den Ruhm ernten, den beinahe sagenhaften Zau- 
ber ausiiben, den ein Paganini geerntet, den er ausgeiibt hat.« Es 
gibt aber, um im Bilde zu bleiben, einen Busoni der Photogra- 
phie, und der ist Atget. Beide waren Virtuosen, zugleich aber 
Vorlaufer. Das beispiellose Aufgehen in der Sache, verbunden 
mit der hochsten Prazision, ist ihnen gemeinsam. Sogar in ihren 
Ziigen gibt es Verwandtes. Atget war ein Schauspieler, der, an- 
gewidert vom Betrieb, die Maske abwischte und dann daran 
ging, audi die Wirklichkeit abzuschminken. Arm und unbe- 
kannt lebte er in Paris, seine Photographien schlug er an Lieb- 
haber los, die kaum weniger exzentrisch sein konnten als er, 
und vor kurzem ist er, unter Hinterlassung eines ceuvre von 
mehr als viertausend Bildern, gestorben. Berenice Abbot aus 
New York hat diese Blatter gesammelt, und eine Auswahl von 
ihnen erscheint soeben in einem hervorragend schonen Bande 3 , 

3 E[ug£ne] Atget: Liditbilder. Eingeleitet von Camille Reclit. Paris u. Leipzig 1930. 



378 Literarische und asthetische Essays 

den Camille Recht herausgegeben hat. Die zeitgenossische Pu- 
blizistik »wufite nichts von dem Mann, der mit seinen Bildern 
zumeist in den Ateliers herumzog, sie fur wenige Groschen ver- 
schleuderte, oft nur fur den Preis einer dieser Ansichtskarten, wie 
sie um 1900 herum die Stadtebilder so schon zeigten, in blaue 
Nacht getaucht, mit retuschiertem Mond. Er hat den Pol hochster 
Meisterschaft erreicht; aber in der yerbissenen Bescheidenheit 
eines grofien Konners, der immer im Schatten lebt, hat er es 
unterlassen, seine Fahne dort aufzupflanzen. So kann mancher 
glauben, den Pol entdeckt zu haben, den Atget schon vor ihm 
betreten hat.« In der Tat: Atgets Pariser Photos sind die 
Vorlaufer der surrealistischen Photographie; Vortrupps der ein- 
zigen wirklich breiten Kolonne, die der Surrealismus hat in Be- 
wegung setzen konnen. Als erster desinfiziert er die stickige 
Atmosphare, die die konventionelle Portratphotographie der 
Verfallsepoche verbreitet hat. Er reinigt diese Atmosphare, ja 
bereinigt sie: er leitet die Befreiung des Objekts von der Aura 
ein, die das unbezweifelbarste Verdienst der jiingsten Photo- 
graphenschule ist. Wenn »Bifur« oder »Variete«, Zeitschriften 
der Avantgarde, unter der Beschriftung »Westminster«, »Lille«, 
»Antwerpen« oder »Breslau« nur Details bringen, einmal ein 
Snick von einer Balustrade, dann einen kahlen Wipfel, dessen 
Aste vielfaltig eine Gaslaterne uberschneiden, ein andermal 
eine Brandmauer oder einen Kandelaber mit einem Rettungs- 
ring, auf dem der Name der Stadt stent, so sind das nichts als 
literarische Pointierungen von Motiven, die Atget entdeckte. Er 
suchte das Verschollene und Verschlagene, und so wenden audi 
solche Bilder sich gegen den exotischen, prunkenden, romanti- 
schen Klang der Stadtnamen; sie saugen die Aura aus der Wirk- 
lichkeit wie Wasser aus einem sinkenden Schiff. - Was ist 
eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: 
einmalige Erscheinung einer Feme, so nah sie sein mag. An einem 
Sommermittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder 
einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter 
wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Er- 
scheinung hat - das heifk die Aura dieser Berge, dieses Zweiges 
atmen. Nun ist, die Dinge sich, vielmehr den Massen »naher- 
zubringen«, eine genau so leidenschaftliche Neigung der Heuti- 
gen, wie die Oberwindung des Einmaligen in jeder Lage durch 



Kleine Geschichte der Photographie 379 

deren Reproduzierung. Tagtaglich macht sich unabweisbarer 
das Bediirfnis geltend, des Gegenstands aus nachster Nahe im 
Bild, vielmehr im Abbild habhaft zu werden. Und unverkenn- 
bar unterscheidet sich das Abbild, wie illustrierte Zeitung und 
Wochenschau es in Bereitschaft halten, vom Biide. Einmaligkeit 
und Dauer sind in diesem so eng verschrankt wie Fliichtigkeit 
und Wiederholbarkeit in jenem. Die Entschalung des Gegen- 
stands aus seiner Hulle, die Zertnimmerung der Aura ist die 
Signatur einer Wahrnehmung, deren Sinn fiir alles Gleichartige 
auf der Welt so gewachsen ist, dafi sie es mittels der Reproduk- 
tion audi dem Einmaligen abgewinnt. Atget ist »an den grofien 
Sichten und an den sogenannten Wahrzeichen« fast immer vor- 
ubergegangen; nicht aber an einer langen Reihe von Stiefellei- 
sten; nicht an den Pariser Hofen, wo von abends bis morgens 
die Handwagen in Reih und Glied stehen; nicht an den abge- 
gessenen Tischen und den unaufgeraumten Waschgeschirren, wie 
sie zu gleicher Zeit zu Hunderttausenden da sind; nicht am Bor- 
dell rue ... no j, dessen Fiinf an vier verschiedenen Stellen der 
Fassade riesengrofi erscheint. Merkwiirdigerweise sind aber fast 
alle diese Bilder leer. Leer die Porte d'Arcueil an den fortifs, 
leer die Prunktreppen, leer die Hof e, leer die Cafehausterrassen, 
leer, wie es sich gehort, die Place du Tertre. Sie sind nicht ein- 
sam, sondern stimmungslos; die Stadt auf diesen Bildern ist 
ausgeraumt wie eine Wohnung, die noch keinen neuen Mieter 
gefunden hat. Diese Leistungen sind es, in denen die surrealisti- 
sche Photographie eine heilsame Entfremdung zwischen Umwelt 
und Mensch vorbereitet. Sie macht dem politisch geschulten 
Blick das Feld frei, dem alle Intimkaten zugunsten .der Erhel- 
lung des Details fallen. 

Auf der Hand liegt, dafi dieser neue Blick am wenigsten da 
einzuheimsen hat, wo man sich sonst am lafilichsten erging: in 
der entgeltlichen, reprasentativen Portrataufnahme. Anderer- 
seits ist derVerzicht auf den Menschen fiir die Photographie der 
unvollziehbarste unter alien. Und wer es nicht gewufk hat, den 
haben die besten Russenfilme es gelehrt, dafi auch Milieu und 
Landschafl unter den Photographen erst dem sich erschlieEen, der 
sie in der namenlosen Erscheinung, die sie im Antlitz haben, 
aufzufassen weiE. Jedoch die Moglichkeit davon ist wieder in 
hohem Grad bedingt durch den Aufgenommenen. Die Genera- 



380 Literarische und asthetische Essays 

tion, die nicht darauf versessen war, in Aufnahmen auf die 
Nachwelt zu kommen, eher im Angesicht soldier Veranstal- 
tungen sich etwas scheu in ihren Lebensraum zuriickzog - wie 
Scliopenhauer auf dem Frankfurter Bilde um 1850 in die Tiefen 
des Sessels - eben darum aber diesen Lebensraum mit auf die 
Platte gelangen liefi: diese Generation hat ihre Tugenden nicht 
vererbt. Da gab zum erstenmal seit Jahrzehnten der Spielfilm 
der Russen Gelegenheit, Menschen vor der Kamera erscheinen 
zu lassen, die fur ihr Photo keine Verwendung haben. Und 
augenblicklich trat das menschliche Gesicht mit neuer, unermefi- 
licher Bedeutung auf die Platte. Aber es war kein Portrat mehr. 
Was war es? Es ist das eminente Verdienst eines deutschen 
Photographen, diese Frage beantwortet zu haben. August San- 
der 4 hat eine Reihe von Kopfen zusammengestellt, die der 
gewaltigen physiognomischen Galerie, die ein Eisenstein oder 
Pudowkin eroffnet haben, in gar nichts nachsteht, und er tat es 
unter wissenschaftlichem Gesichtspunkt. »Sein Gesamtwerk ist 
aufgebaut in sieben Gruppen, die der bestehenden Gesellschafts- 
ordnung entsprechen, und soil in etwa 45 Mappen zu je 12 Licht- 
bildern veroffentlicht werden.« Bisher liegt davon ein Auswahl- 
band mit 60 Reproduktionen vor, die unerschopflichen Stoff 
zur Betrachtung bieten. »Sander geht vom Bauern, dem erdge- 
bundenen Menschen aus, fiihrt den Betrachter durch alle Schich- 
ten und Berufsarten bis zu den Reprasentanten der hochsten 
Zivilisation und abwarts bis zum Idioten.« Der Autor ist an 
diese ungeheure Aufgabe nicht als Gelehrter herangetreten, 
nicht von Rassentheoretikern oder Sozialforschern beraten, 
sondern, wie der Verlag sagt, »aus der unmittelbaren Beobach- 
tung«. Sie ist bestimmt eine sehr vorurteilslose, ja kiihne, zu- 
gleich aber auch zarte gewesen, namlich im Sinn des Goethi- 
schen Wortes: »Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem 
Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen 
Theorie wird.« Demnach ist es ganz in der Ordnung, daf$ ein 
Betrachter wie Doblin gerade auf die wissenschaftlichen Mo- 
mente in diesem Werk gestofien ist und bemerkt: »Wie es eine 
vergleichende Anatomie gibt, aus der man erst zu einer Auffas- 
sung der Natur und der Geschichte der Organe kommt, so hat 

4 August Sander: Antlitz der Zeit. Sechzig Aufnahmen deutscher Mensdien des 20. 
Jahrhunderts. Mit einer Einleitung von Alfred Doblin. Munchen o. J. [1929]. 



Kleine Gesdiichte der Photographie 381 

dieser Photograph vergleichende Photographie getrieben und 
hat damit einen wissenschaftlichen Standpunkt oberhalb der 
Detailphotographen gewonnen.« Es ware ein Jammer, wenn 
die wirtschaftlichen Verhaltnisse die weitere Veroffentlichung 
dieses aufierordentlichen corpus verhinderten. Dem Verlag aber 
kann man neben dieser grundsatzlichen noch eine genauere 
Aufmunterung zuteil werden lassen. Uber Nacht konnte Wer- 
ken wie dem von Sander eine unvermutete Aktualitat zuwach- 
sen. Machtverschiebungen, wie sie bei uns fallig geworden sind, 
pflegen die Ausbildung, Scharfung der physiognomischen Auf- 
fassung zur vitalen Notwendigkeit werden zu lassen. Man mag 
von rechts kommen oder von links - man wird sich daran 
gewohnen miissen, darauf angesehen zu werden, woher man 
kommt. Man wird es, seinerseits, den andern anzusehen haben. 
Sanders Werk ist mehr als ein Bildbuch: ein Obungsatlas. 
»Es gibt in unserem Zeitalter kein Kunstwerk, das so aufmerk- 
sam betrachtet wiirde, wie die Bildnisphotographie des eigenen 
Selbst, der nachsten Verwandten und Freunde, der Geliebten«, 
hat schon im Jahre 1907 Lichtwark geschrieben und damit die 
Untersuchung aus dem Bereich asthetischer Distinktionen in den 
sozialer Funktionen geriickt. Nur von hier aus kann sie welter 
vorstofien. Es ist ja bezeichnend, dafi die Debatte sich da am 
meisten versteift hat, wo es um die Asthetik der » Photographie 
als Kunst« ging, indes man beispielsweise dem soviel fragloseren 
sozialen Tatbestand der »Kunst als Photographie« kaum einen 
Blick gonnte. Und doch ist die Wirkung der photographischen 
Reproduktion von Kunstwerken fiir die Funktion derKunst von 
sehr viel grofierer Wichtigkeit als die mehr oder minder kiinst- 
lerische Gestaltung einer Photographie, der das Erlebnis zur 
»Kamerabeute« wird. In der Tat ist der heimkehrende Ama- 
teur mit seiner Unzahl kunstlerischer Originalaufnahmen nicht 
erfreulicher als ein Jager, der vom Anstand mit Massen von 
Wild zuruckkommt, die nur fiir den Handler verwertbar sind. 
Und wirklich scheint der Tag vor der Tur zu stehen, da es mehr 
illustrierte Blatter als Wild- und Geflugelhandlungen geben 
wird. Soviel vom »Knipsen«. Doch die Akzente springen 
vollig um, wendet man sich von der Photographie als Kunst zur 
Kunst als Photographie. Jeder wird die Beobachtung haben 
machen konnen, wieviel leichter ein Bild, vor allem aber eine 



382 . Llterarische und asthetische Essays 

Plastik, und nun gar Architektur, im Photo sich erfassen lassen 
als in der Wirklichkeit. Die Versuchung liegt nahe genug, das 
schlechterdings auf den Verfall des Kunstsinns, auf ein Versa- 
gen der Zeitgenossen zu schieben. Dem aber stellt sich die Er- 
kenntnis in den Weg, wie ungefahr zu gleicher Zeit mit der 
Ausbildung reproduktiver Techniken dieAuffassung von grofien 
Werken sich gewandelt hat. Man kann sie nicht mehr als Her- 
vorbringungen Einzelner ansehen; sie sind kollektive Gebilde 
geworden, so machtig, daE, sie zu assimilieren, geradezu an die 
Bedingung gekniipft ist, sie zu verkleinern. Im Endeffekt sind die 
mechanischen Reproduktionsmethoden eine Verkleinerungstech- 
nik und verhelfen dem Menschen zu jenem Grad von Herr- 
schaft iiber die Werke, ohne welchen sie gar nicht mehr zur Ver- 
wendung kommen. 

W'enn eins die heutigen Beziehungen zwischen Kunst und Photo- 
graphic kennzeichnet, so ist es die unausgetragene Spannung, 
welche durch die Photographie der Kunstwerke zwischen den 
beiden eintrat. Viele von denen, die als Photographen das heu- 
tige Gesicht dieser Technik bestimmen, sind von der Malerei 
ausgegangen. Sie haben ihr den Riicken gekehrt nach Versu- 
chen, deren Ausdrucksmittel in einen lebendigen, eindeutigen 
Zusammenhang mit dem heutigen Leben zu riicken. Je wacher 
ihr Sinn fur die Signatur der Zeit war, desto problematischer 
ist ihnen nach und nach ihr Ausgangspunkt geworden. Denn 
wieder wie vor achtzig Jahren hat die Photographie von der 
Malerei die Stafette sich geben lassen. »Die schopferischen 
Moglichkeiten des Neuen, sagt Moholy-Nagy, werden meist 
langsam durch solche alten Formen, alten Instrumente und Ge- 
staltungsgebiete aufgedeckt, welche durch das Erscheinen des 
Neuen im Grunde schon erledigt sind, aber unter dem Druck 
des sich vorbereitenden Neuen sich zu einem euphorischen Auf- 
bliihen treiben lassen. So lieferte z. B. die futuristische (statische) 
Malerei die spater sie selbst vernichtende, festumrissene Proble- 
matik der Bewegungssimultaneitat, die Gestaltung des Zeitmo- 
mentes; und zwar dies in einer Zeit, da der Film schon bekannt, 
aber noch lange nicht erfafit war . . . Ebenso kann man - mit 
Vorsicht - einige von den heute mit darstellerisch-gegenstand- 
lichen Mitteln arbeitenden Malern (Neoklassizisten und Veri- 
sten) als Vorbereiter einer neuen darstellerischen optischen 



Kleine Geschichte der Photographie 383 

Gestaltung, die sich bald nur mechanisch technischer Mittel be- 
dienen wird, betrachten.« Und Tristan Tzara, 1922: »Als alles, 
was sich Kunst nannte, gichtbriichig geworden war, entziindete 
der Photograph seine tausendkerzige Lampe und stufenweise 
absorbierte das lichtempfindliche Papier die Schwarze einiger 
Gebrauchsgegenstande. Er hatte die Tragweite eines zarten, un- 
beriihrten Aufblitzens entdeckt, das wichtiger war als alle Kon- 
stellationen, die uns zur Augenweide gestellt werden.« Die 
Photographen, die nicht aus opportunistischen Erwagungen, 
nicht zufallig, nicht aus Bequemlichkeit von der bildenden Kunst 
zum Photo gekommen sind, bilden heute die Avantgarde unter 
den Fachgenossen, weil sie durch ihren Entwicklungsgang gegen 
die grofite Gefahr der heutigen Photographie, den kunstgewerb- 
lichen Einschlag, einigermafien gesichert sind. » Photographie 
als Kunst, sagt Sasha Stone, ist ein sehr gefahrliches Gebiet.« 
Hat die Photographie sich aus Zusammenhangen herausbegeben, 
wie sie ein Sander, eine Germaine Krull, ein Blofifeldt geben, 
vom physiognomischen, politischen, wissenschaftlichen Interesse 
sich emanzipiert, so wird sie »schopferisch«. Angelegenheit des 
Objektivs wird die »Zusammenschau«; der photographische 
Schmock tritt auf. »Der Geist, iiberwindend die Mechanik, deu- 
tet ihre exakten Ergebnisse zu Gleichnissen des Lebens um.« Je 
mehr die Krise der heutigen Gesellschaftsordnung urn sich greift, 
je starrer ihre einzelnen Momente einander in toter Gegensatz- 
lichkeit gegeniibertreten, desto mehr ist das Schopferische - 
dem tiefsten Wesen nach Variante; der Widerspruch sein Vater 
und die Nachahmung seine Mutter - zum Fetisch geworden, 
dessen Zuge ihr Leben nur dem Wechsel modischer Beleuchtung 
danken. Das Schopferische am Photographieren ist dessen Ober- 
antwortung an die Mode. »Die Welt ist schon« - genau das ist 
ihre Devise. In ihr entlarvt sich die Haltung einer Photographie, 
die jede Konservenbiichse ins All montieren, aber nicht einen 
der menschlichen Zusammenhange fassen kann, in denen sie auf- 
tritt, und die damit noch in ihren traumverlorensten Sujets 
mehr ein Vorlaufer von deren Verkauflichkeit als von deren 
Erkenntnis ist. Weil aber das wahre Gesicht dieses photographi- 
schen Schopfertums die Reklame oder die Assoziation ist, darum 
ist ihr rechtmafiiger Gegenpart die Entlarvung oder die Kon- 
struktion. Denn die Lage, sagt Brecht, wird »dadurch so kom- 



3S4 Literarisdie und asthetische Essays 

pliziert, dafi weniger denn je eine einfache >Wiedergabe der 
Realitat< etwas liber die Realitat aussagt. Eine Photographie 
der Kruppwerke oder der A.E.G. ergibt beinahe nidits uber 
diese Institute. Die eigentliche Realitat ist in die Funktionale ge- 
rutscht. Die Verdinglicliung der mensdilichen Beziehungen, also 
etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also 
tatsachlich, >etwas aufzubauen<, etwas >Kunstliches<, >Gestell- 
tes<.« Wegbereiter einer solchen photographischen Konstruktion 
herangebildet zu haben, ist das Verdienst der Surrealisten. 
Eine weitere Etappe in dieser Auseinandersetzung zwischen 
schopferischer und konstruktiver Photographie bezeichnet der 
Russenfilm. Es ist nicht zuviel gesagt: die grofien Leistungen 
seiner Regisseure waren nur moglich in einem Lande, wo die 
Photographie nicht auf Reiz und Suggestion, sondern auf Ex- 
periment und Belehrung ausgeht. In diesem Sinne, und nur in 
ihm, lafit sich der imposanten Begriifiung, mit der im Jahre 1855 
der ungeschlachte Ideenmaler Antoine Wiertz der Photographie 
entgegenkam, auch heut noch ein Sinn abgewinnen. »Vor eini- 
gen Jahren ist uns, der Ruhm unseres Zeitalters, eine Maschine 
geboren worden, die tagtaglich das Staunen unserer Gedanken 
und der Schrecken unserer Augen ist. Ehe noch ein Jahrhundert 
um ist, wird diese Maschine der Pinsel, die Palette, die Farben, 
die Geschicklichkeit, die Erfahrung, die Geduld, die Behendig- 
keit, die Treffsicherheit, das Kolorit, die Lasur, das Vorbild, 
die Vollendung, der Extrakt der Malerei sein . . . Glaube man 
nicht, dafi die Daguerreotypie die Kunst tote . . . Wenn die 
Daguerreotypie, dieses Riesenkind, herangewachsen sein wird; 
wenn all seine Kunst und Starke sich wird entfaltet haben, 
dann wird der Genius es plotzlich mit der Hand am Genick 
packen und laut rufen: Hierher! Mir gehorst du jetzt! Wir wer- 
den zusammen arbeiten.« Wie nuchtern, ja pessimistisch dagegen 
die Worte, in denen vier Jahre spatef im » Salon von i8j9« 
Baudelaire die neue Technik seinen Lesern ankundigt. Sie lassen 
sich so wenig wie die eben angefuhrten heute ohne eine leise 
Akzentverschiebung mehr lesen. Aber indem sie von jenen das 
Gegenstiick sind, haben sie ihren guten Sinn behalten als scharf- 
ste Abwehr aller Usurpationen kunstlerischer Photographie. »In 
diesen klaglichen Tagen ist eine neue Industrie hervorgetreten, 
die nicht wenig dazu beitrug, die platte Dummheit in ihrem 




Der Photograph Karl Dauthendey, der Vater des Dichters, und seine Braut 
Photo Karl Dauthendey 

Abbildung i 




Fischweib aus Newhaven 
Photo David Octavius Hill 

Abbildung 2 












i. 




Der Philosoph Schelling 
Unbekannter deutscher Photograph, um 1850 

Abbildung 3 




Bildnis Robert Bryson 
Photo David Octavius Hill 



Abbildung 4 




Photo Germaine Krull 
Abbildung 5 




Photo Germaine Krull 
Abbildung 6 



Konditor 

Photo August Sander 

Abbildung 7 




Abgeordneter (Demokrat) 
Photo August Sander 

Abbildung 8 



Kleine Geschichte der Photographie 385 

Glauben zu bestarken . . ., dafi die Kunst nidits anderes ist und 
sein kann als die genaue Wiedergabe der Natur . . . Ein racheri- 
scher Gott hat die Stimme dieser Menge erhort. Daguerre ward 
sein Messias.« Und: »Wird es der Photographie erlaubt, die 
Kunst in einigen ihrer Funktionen zu erganzen, so wird diese 
alsbald vollig von ihr verdrangt und verderbt sein, dank der 
nauirlichen Bundesgenossenschaft, die aus der Menge ihr erwach- 
sen wird. Sie mufi daher zu ihrer eigentlichen Pflicht zuriick- 
kehren, die darin besteht, der Wissenschaften und der Kiinste 
Dienenn zu sein«. 

Ems aber ist damals von beiden - Wiertz und Baudelaire - 
nicht erfafit worden, das sind die Weisungen, die in der Authen- 
tizitat der Photographie liegen. Nicht immer wird es gelingen, 
mit einer Reportage sie zu umgehen, deren Klischees nur die 
Wirkung haben, sprachliche im Betrachter sich zu assoziieren. 
Immer kleiner wird die Kamera, immer mehr bereit, fliichtige 
und geheime Bilder festzuhalten^ deren Chock im Betrachter 
den Assoziationsmechanismus zum Stehen bringt. An dieser 
Stelle hat die Beschriftung einzusetzen, welche die Photographie 
der Literarisierung aller Lebensverhaltmsse einbegreifr, und ohne 
die alle photographische Konstruktion im Ungefahren stecken 
bleiben muK. Nicht umsonst hat man Aufnahmen von Atget 
mit denen eines Tatorts verglichen. Aber ist nicht jeder Fleck 
unserer Stadte ein Tatort? nicht jeder ihrer Passanten ein 
Tater? Hat nicht der Photograph - Nachfahr der Augurn und 
der Haruspexe - die Schuld auf seinen Bildern aufzudecken 
und den Schuldigen zu bezeichnen? »Nicht der Schrift-, sondern 
der Photographieunkundige wird, so hat man gesagt, der Anal- 
phabet der Zukunft sein.« Aber mufi nicht weniger als ein Anal- 
phabet ein Photograph gelten, der seine eigenen Bilder nicht 
lesen kann? Wird die Beschriftung nicht zum wesentlichsten 
Bestandteil der Aufnahme werden? Das sind die Fragen, in 
welchen der Abstand von neunzig Jahren, der die Heutigen von 
der Daguerreotypie trennt, seiner histonschen Spannungen sich 
entladt. Im Scheine dieser Funken ist es, dafi die ersten Photo- 
graphien so schon und unnahbar aus dem Dunkel der Grofi- 
vatertage heraustreten. 



386 



Paul Valery 
Zu seinem 60. Geburtstag 



O langage charge* de sel, et pa- 
roles veritablement marines! 

Seeoffizier hat Valery einmal werden wollen. In dem, der er 
geworden ist, sind die Zlige dieses Jugendtraumes noch immer 
kenntlich. Da ist zum ersten seine Dichtung, von der gehaltenen 
Formenfiille, die die Sprache dem Denken abgewinnt wie das 
Meer der Windstille; und zweitens ist da dieses Denken, ein 
durch und durch mathematisch gerichtetes, das sich iiber die 
Sachverhalte wie iiber Seekarten beugt und ohne im Anblick 
von »Tiefen« sich zu gefallen schon gliicklich ist, einen ungefahr- 
deten Kurs zu halten. Das Meer und die Mathematik: sie treten 
an einer der schonsten Stellen, die er geschrieben hat, im erzah- 
lenden Sokrates, der der Phaedra von dem Funde berichtet, den 
er am Ufer machte, in bestrickende Ideenverbindung. Es ist ein 
zweifelhaftes Gebilde - Elfenbein oder Marmor oder ein Tier- 
knochen -, das da, fast wie ein Haupt mit Ziigen des Apollon, 
die Brandung ans Ufer spulte. Und Sokrates fragt sich, ob das 
das Werk der Wellen sei oder des Kunstlers; er wagt es ab: wie 
lange der Ozean wohl braucht, bis unter Milliarden Formen 
ein Zufall diese eine bilden mag, wie lange der Kunstler, und er 
kann wohl sagen, »dafi ein Kunstler tausend Jahrhunderte wert 
ist oder hunderttausend oder noch sehr viel mehr . . . £)a liegt 
ein sonderbarer Mafistab flir Werke.« Hatte man am sechzigsten 
Geburtstag den Verfasser dieses grofiartigen Werks, des »Eupali- 
nos oder der Architekt«, mit einem Exlibris zu iiberraschen: es 
konnte einen gewaltigen Zirkel darstellen, den einen Schenkel 
fest in den Meeresboden gerammt, den andern weit zum Hori- 
zont ausgespannt. Es ware ein Gleichnis audi fur die Spannweite 
dieses Mannes. Spannung ist der beherrschende Eindruck seiner 
korperlichen Erscheinung, Spannung der Ausdruck seines Haup- 
tes, dessen tiefgelegene Augen eine Entrucktheit von irdischen 
Bildern andeuten, die es dem Mann erlaubt, den Kurs seines 
Innenlebens nach diesen wie nach den von Sternen zu bestim- 
men. Einsamkeit ist die Nacht, aus der solche Bilder strahlen, 
und von ihr hat Valery eine lange Erfahrung. Als er mit 



Paul Valery 387 

funfundzwanzig Jahren seine ersten Gedichte und die beiden 
ersten Essays herausgegeben hatte, begann die zwanzlgjahrige 
Pause seiner ofTentlichen Wirksamkeit, aus der er 1917 mit dem 
Gedicht »Die junge Parze« so glanzend hervortrat. Acht Jahre 
spater hatte eine F^eihe hervorragender Werke und sinnreicher 
Manover in der Gesellschaft ihm die Aufnahme in die Academie 
Franchise erwirkt. Nicht ohne feine Bosheit bestimmte man ihn 
dort fiir den Fauteuil von Anatole France. Valery parierte den 
Hieb mit einer ungemein eleganten Ansprache - dem obligaten 
Lob seines Vorgangers -, in welcher der Name France kein 
einziges Mai genanntwurde. Im iibrigen enthalt dieseRede einen 
Ausblick auf die Schriftstellerei, der ungewohnlich genug ist, 
um den Verfasser zu kennzeichnen. Es ist die Rede von einem 
»Tale Josaphat«, in dem die Menge der Schreibenden, einstiger 
und jetziger, sich drangt: »Alles Neue verliert sich in anderm 
Neuen. Jede Illusion, orginal zu sein, schwindet. Die Seele wird 
betriibt und wendet in Gedanken, zwar mit Schmerz, jedoch 
mit sonderbarem, der mit tiefem Mitleid und Ironie versetzt ist, 
jenen Millionen federbewehrter Geschopfe sich zu, jenen zahl- 
losen Agenten des Geistes, deren jeder zu seiner Stunde sich als 
freier Schopfer, als erste bewegende Ursache, als Besitzer einer 
unumstofilichen GewiEheit, als einziger unverwechselbarer 
Quell vorkam, und er, der seine Tage so mit Miihsal zugebracht 
und die besten Stunden darauf verwandt hatte, in Ewigkeit ein 
Unterschiedener zu bleiben, ist nun durch die Vielzahl zunichte 
geworden und von der immerwachsenden Schar ihm Gleicher 
verschlungen.« Bei Valery ist an die Stelle dieses ganz und gar 
vergeblichen Willens, sich zu unterscheiden, ein anderer getreten 
- der Wille zur Dauer, zu der Dauer des Geschriebenen. Dauer 
des Geschriebenen jedoch ist etwas durchaus anderes als Unsterb- 
lichkeit des Schreibers, hat in vielen Fallen ohne sie bestanden. 
Dauer, nicht Originalitat ist es, die das Klassische im Schrifttum 
kennzeichnet, und Valery ist nicht miide geworden, ihren Be- 
dingungen nachzugehen. »Ein klassischer Schriftsteller«, sagt 
er, »ist ein Sch rifts teller, der seine Ideenassoziationen verbirgt 
oder absorbiert.« An jenen Stellen, wo der Schwung den Autor 
aufs Ganze gehen lieft, wo er sich der Fiigung uberhoben glaub- 
te, keine Fugen sah, und weil er sie nicht sah, sie audi nicht 
fullte - an jenen Stellen setzt der Schimmel des Veraltens an. 



388 Literarische und asthetische Essays 

Um Fugen, Grenzen des Gedankens zu erkennen, braucht es 
Selbstkritik. Valery geht der Intelligenz des Schreibenden, 
zumal des Dichters, inquisitorisch nach, verlangt den Bruch mit 
der weitverbreiteten Auffassung, dafi sie beim Schreibenden 
sich von selbst verstehe, geschweige mit der noch viel weiter ver- 
breiteten, dafi sie beim Dichter nichts zu sagen habe. Er selbst 
hat eine und von einer Art, die sich durchaus nicht von selbst 
versteht. Nichts kann befremdender sein als ihre Verkorperung, 
Herr Teste. Immer wieder, vom friihesten Schaffen bis zum 
spaten, greift er auf die sonderbare Gestalt zuriick, um welche 
so sich^ein ganzer Kreis kleiner Schriften - ein Abend mit Mon- 
sieur Teste, ein Brief seiner Frau, eine Vorrede und, wie es sich 
versteht, audi ein Logbuch - gruppiert hat. Monsieur Teste - zu 
deutsch: Herr Kopf - ist eine Personifikation des Intellekts, 
die sehr an den Gott erinnert, von dem die negative Theologie 
des Nicolaus Cusanus handelt. Auf Negation lauft alles, was 
man von Teste erfahren kann, hinaus. Das iiberaus Reizvolle 
seiner Darstellung hegt denn auch nicht in Theoremen, sondern 
in den Tricks einer Verhaltungsweise, die dem Nichtsein sowenig 
Abbruch wie moglich und der Maxime Genii ge tut: »Jede Er- 
regung, jedes Gefiihl ist Anzeichen eines Fehlers in der Kon- 
struktion und der Anpassung.« Mag Herr Teste sich von Hause 
aus Mensch fuhlen - er hat sich Valerys Weisheit zu Herzen 
genommen, die wichtigsten Gedanken seien die, die unserm Ge- 
fiihl widersprechen. Er ist denn auch die Negation des »Mensch- 
lichen«: »Sieh, die Dammerung des Ungefahr bricht herein, und 
vor der Tiir steht die Herrschaft des Entmenschten, welche her- 
vorgehen wird aus der Genauigkeit, der Strenge und der Rein- 
heit in den Angelegenheiten der Menschen.« Nichts Ausladen- 
des, Pathetisches, nichts »Menschliches« geht in den Umkreis 
dieses Valeryschen Sonderlings ein, dem der Gedanke die 
einzige Substanz darstellt, aus welcher das Vollkommene sich 
bilden lafit. Von dessen Attributen eines ist die Kontinuitat. So 
sind auch Wissenschaft und Kunst im reinen Geiste ein Kon- 
tinuum, durch welches die Methode Leonardos - der im Erst- 
lingswerk des Dichters, der »Einleitung in die Methode Leonar- 
do da Vincis«, als ein Vorlaufer des Herrn Teste auftritt - 
Wege bahnt, welche in keinem Fall als Grenzen mifiverstanden 
werden diirfen. Die Methode ist es, die in ihrer Anwendung auf 



Paul ValeYy 389 

die Dichtung Valery zum beriihmten BegrifF der poesie pure 
gefiihrt hat, welcher gewifi nicht dazu geschaffen war, von einem 
schongeistigen Abbe monatelang durdi die literarischen Zeit- 
schriften Frankreichs gesdileift zu werden, um ihm das Einge- 
standms seiner Identitat mit dem Begriff des Gebets abzuno- 
tigen. Immer wieder, und mit erstaunlichem Gelingen, hat 
Valery selbst die einzelnen Stationen in der Geschichte der poe- 
tischen Theorien - die Thesen Poes und Baudelaires und Mallar- 
mes - bezeichnet, in denen das Konstruktive und das Musika- 
lische der Lyrik ihre Kompetenzen gegeneinander abzugrenzen 
suchten, bis sie bei ihm selber in Reflexionen, deren Mitte seine 
lyrischen Meisterwerke - »Le cimetiere marin«, »La jeune 
parque«, »Le serpent« - bilden, sich selbst als das vollendete 
Ineinanderspiel von Intelligenz und Stimme begreift. Die 
Ideen seiner Gedichte heben sich wie Inseln aus dem Meer 
der Stimme. Das ist es, was diese Gedankenlyrik von allem 
trennt, was wir im Deutschen so nennen: nirgends stofit die 
Idee in ihr mit dem »Leben« zusammen oder der »Wirklich- 
keit«. Der Gedanke hat es mit nichts zu tun als der Stimme: das 
ist die Quintessenz der poesie pure. »Die Lyrik ist diejenige 
Dichtungsart, welche die Stimme in Aktion zu ihrer Voraus- 
setzung hat, - die Stimme, wie sie unmittelbar ausgeht oder 
erweckt wird von den Dingen, die man sieht oder die man in 
ihrer Gegenwart fuhlt.« Und: »Die Forderungen einer stren- 
gen Prosodie sind der Kunstgriff, kraft dessen die natiirliche 
Redeweise die Eigenschaften eines Widerstand leistenden Ma- 
terials bekommt, das unserer Seele f remd und unseren V/iinschen 
wie taub gegeniibersteht.« Und eben dies ist das Eigentumliche 
der reinen Intelligenz. Diese intelligence pure aber, die bei Va- 
lery auf den unwirtlichen Gipfeln einer esoterischen Dichtung 
Winterquartiere bezogen hat, ist doch dieselbe, unter deren Fuh- 
rung das europaische Burgertum im Zeitalter der Entdeckungen 
auf seine Eroberungen ausging. Der cartesianische Zweifel am 
Wissen hat sich bei ValeVy fast abenteuerlich und dennoch 
methodisch vertieft zu einem Zweifel an den Fragen selbst: 
»Nichts anderes als unsere geistigen Ausfallserscheinungen sind 
der Bereich der Machte des Zufalls, der Gotter und des Schick- 
sals. BesaEen wir auf alles eine Antwort - will sagen eine exakte , 
Antwort - so wiirden diese Machte nicht existieren . . . Wir f uhlen 



390 Literarische und asthetische Essays 

das auch genau, und dies ist der Grund, warum wir uns am Ende 
gegen unsere eigenen Fragen wenden. Das miifite aber den An- 
fang darstellen, Man mufi im Innern bei sich selber eine Frage 
formen, die alien andern vorhergeht und ihrer jeder abfragt, was 
sie taugt.« Die strikte Riickbeziehung soldier Gedanken auf die 
heroische Periode des europaischen Biirgertums gestattet es, 
der Oberraschung Herr zu werden, mit der wir hier auf einem 
vorgeschobensten Punkte des alten europaischen Humanismus 
noch einmal der Idee des Fortschritts begegnen. Und zwar ist es 
die stichhaltige und echte: die des ubertragbaren in den Metho- 
den, welche dem Begriff der Konstruktion bei Valery so hand- 
greiflich korrespondiert, wie sie der Zwangsvorstellung der In- 
spiration zuwiderlaufL »Das Kunstwerk«, hat einer seiner In- 
terpreter! gesagt, »ist keine Schopfung: es ist eine Konstruktion, 
in der die Analyse, die Berechnung, die Planung die Hauptrolle 
spielen.« Die letzte Tugend des methodischen Prozesses, den 
Forschenden uber sich selbst hinauszufiihren, hat sich dabei an 
Valery bewahrt. Denn wer ist Monsieur Teste, wenn mcht 
das Individuum, welches, schon bereit die Schwelle des geschicht- 
lichen Verschwindens zu uberschreiten, noch einmal, schattenhaft, 
auf den Appell sich einstellt, urn sogleich unterzutauchen, wo es, 
von keinem mehr betroffen, in eine Ordnung eingeht, deren 
Nahen Valery folgendermafien umschreibt: »Im Zeitalter Na- 
poleons hatte die Elektrizkat ungefahr die Bedeutung, die man 
zur Zeit des Tiberius dem Christentum beimessen konnte. All- 
mahlich wurde es offenkundig, dafi diese allgemeine Innervation 
der Welt folgenschwerer und besser imstande war, das kunftige 
Leben zu andern als alle >politischen< Ereignisse von Ampere bis 
auf den heutigen Tag.« Der Blick, den er auf diese kommende 
Welt wirft, ist nicht mehr der des Offiziers, sondern nur noch der 
des wetterkundigen Seemanns, der den grofien Sturm nahen 
fiihlt und die veranderten Bedingungen des Weltgeschehens - 
»zunehmende Prazision und Genauigkeit, zunehmende Wir- 
kungsstarke« - zu gut erkannt hat, um nicht zu wissen, daft 
ihnen gegeniiber selbst »die tiefsten Gedanken eines Machiavell 
oder Richelieu heute nur die Zuverlassigkeit und den Wert von 
Borsentips« haben. So steht er »aufrecht da, der Mann auf dem 
Kap des Denkens, Ausschau haltend, so scharf ef kann, nach 
den Grenzen der Dinge oder der Sehkraft«. 



39 1 
Oedipus oder Der vernunftige Mythos 

Es diirfte kurz nach dem Kriege gewesen sein, dafi man von dem 
englischen Buhnenexperiment »Hamlet im Frack« horte. Man 
hat damals viel iiber diesen Versuch debattiert; vielleicht geniigt 
es hier, das Paradoxon festzuhalten, das Stuck sei zu modern, 
um modernisiert zu werden. Fraglos hat es Epochen gegeben, die 
Entsprechendes, ohne bewufite Zwedke damit zu verfolgen, 
unternehmen konnten; es ist bekannt, dafi in den Mysterien- 
spielen des Mittelalters genau wie auf den gleichzeitigen Bildern 
die Figuren in Kostiimen der Zeit auftraten. Aber gewifi ist, dafi 
dergleichen heute der genauesten kiinstlerischen Besinnung ent- 
stammen mufi, um mehr zu sein als snobistischer Scherz. In der 
Tat hat man nun aber verfolgen konnen, wie in den letzten 
Jahren grofie oder zumindest besonnene Kiinstler dergleichen 
»Modernisierungen« und zwar so gut in der Dichtung wie in der 
Musik und Malerei ins Werk gesetzt haben. Der Richtung, die 
Picasso mit den Bildern um 1927, Strawinsky mit dem »Odi- 
pus Rex«, Cocteau mit dem »Orpheus« reprasentieren, hat man 
den Namen Neoklassizismus gegeben. Nun steht dieser Name 
hier nicht, um Gide an diese Richtung anzuschliefien (wogegen 
er mit Recht Einspruch erheben wiirde), sondern um anzudeuten, 
wie die verschiedensten Kiinstler dazu kamen, grade am Grie- 
chentum jene Entkleidung oder, wenn man will, Verkleidung im 
Sinne der Gegenwart vorzunehmen. Einmal konnten sie sich 
davon den Vorteil versprechen, bekannte, aber doch dem aktuel- 
len Stoffkreis entriickte Gegenstande fiir ihre Versuche zu ge- 
winnen. Denn um ausgesprochene Versuche konstruktiver Art, 
gewissermafien Studio- Werke, handelt es sich in alien diesen 
Fallen. Zweitens aber konnte grade der konstruktivistischen 
Absicht nichts angelegener sein als den Wettbewerb mit den 
durch Jahrhunderte als Kanon des Organischen, Gewachsenen 
in Geltung stehenden Werken des Griechentums aufzunehmen. 
Und drittens ist da die geheime oder orTentliche Absicht im Spiel 
gewesen, eine echte geschichtsphilosophische Probe auf die Ewig- 
keit - will sagen immer von neuem sich bewahrende Aktua- 
litat - des Griechentums zu machen. Mit dieser dritten Oberle- 
gung aber befindet sich der Betrachter bereits im Mittelpunkt 
von Andre Gides letztem Werk. Ohnehin wird es ihm bald 



392 Literarische und asthetische Essays 

aufgehen, dafi es mit der Umwelt dieses Oedipus seine Bewandt- 
nis hat. Da ist die Rede vom Sonntag, von Verdrangung, von 
Lothringern, Decadents und Vestalinnen. Der Dichter macht es 
seinem Publikum unmoglich, an Einzelheiten des Lokals, der 
Lage sich zu klammern; er nimmt ihm selbst die Illusion, nennt 
gleich mit den ersten Worten die Biihne bei ihrem Namen. Kurz, 
wer ihm folgen will, der mufi sich »freischwimmen«, die Wogen- 
kamme und die Wellentaler des seit zweitausend Jahren beweg- 
ten Sagenmeers nehmen wie sie kommen, sich tragen und sich 
fallen lassen. Nur so wird er zu spiiren bekommen, was dieses 
Griechentum ihm, er diesem Griechentum sein kann. Was? Das 
ist im Oedipus selbst zu finden und von alien tiefsinnigen oder 
spielerischen Abwandlungen, die die Sage bei Gide erfahrt, ist 
es die seltsamste. »Aber ich begreife, ich allein habe begriffen, 
dafS das einzige Losungswort, das einen vor den Klauen der 
Sphinx bewahren konnte, der Mensch hiefi. Wohl gehorte ein 
gewisser Mut dazu, dieses Wort auszusprechen, aber ich hatte 
es schon in Bereitschaft, ehe ich das Ratsel vernommen hatte, 
und meine Starke lag darin, dafi ich von keiner anderen Antwort 
wissen wollte, wie immer die Frage ware.« 
Vorher hat Oedipus das Wort gewufit, an dem die Macht der 
Sphinx sich brechen mufite; so hat auch Gide das Wort, kraft 
dessen sich das Grausen der sophokleischen Tragodie lichtete, 
vorher gewufit. Mehr als zwolf Jahre sind es, da erschienen seine 
»Gedanken iiber die griechische Mythologie« und dort heifit 
es: »Wie hat man nur dergleichen glauben konnen? ruft Vol- 
taire. Und dennoch: an erster Stelle ist es die Vernunft und nur 
die Vernunft ist es, an die jeder Mythos sich wendet und keinen 
hat man verstanden, wenn nicht zuerst die Vernunft ihn an- 
nimmt. Die griechische Sage ist von Grund auf verniinftig und 
eben daher darf man, ohne ein schlechter Christ zu sein, sagen, 
dafi sie viel leichter zu fassen ist als die Lehre des Paulus.« Nun 
verstehe man recht: nirgends behauptet der Dichter, es sei die 
ratio, die die griechische Sage gewoben, noch auch, dafi nur in 
ihr der griechische Sinn des Mythos gelegen habe. Das Wichtige 
ist vielmehr, welchen Abstand der heutige von jenem alten 
Sinn gewinnt und wie der Abstand von der alten Deutung nur 
neue Nahe zur Sage selber ist, aus der der neue Sinn sich un- 
erschopflich immer neuem Finden bietet. Darum ist die Grie- 



Oedipus oder Der vernunftige Mythos 393 

chensage wie der Krug Philemons, »den kein Durst leert, wenn 
man in Jupiters Gesellschaft trinkt«. Der rechte Augenblick ist 
auch ein Jupiter und somit kann der Neoklassizismus heute in 
der Sage entdecken, was noch niemals in ihr gefunden wurde: 
die Konstruktion, die Logik, die Vernunft. 
Wir halten ein, um uns entgegnen zu lassen, anstelle der Erkla- 
rung sei nunmehr ein wahrhaft schwindelerregendes Paradoxon 
getreten. Da, wo der Palast des Oedipus gestanden hat, das 
Haus, das wie kein anderes von Nacht und Grauen, Blutschan- 
de, Vatermord, Verhangnis, Schuld umwittert war, soil heute 
sich der Tempel der Gottin der Vernunft erheben? Wie kann 
das sein? Was ist dem Oedipus in den dreiundzwanzig Jahrhun- 
derten, da Sophokles ihn zuerst auf die GriechenbUhne stellte, 
bis zu dem heutigen Tage, da ihn Gide von neuem auf die 
Frankreichs stellt, geschehen? Wenig. Was bewirkt dies Wenige?. 
Viel. Oedipus hat die Sprache gewonnen. Der sophokleische 
Oedipus namlich ist stumm, fast stumm. Spiirhund auf seiner 
eigenen Spur, Schreiender unter der Mifihandlung seiner eige- 
nen Hande, kann Denken, ja Besinnung keine Stelle in seinen 
Reden finden. Zwar ist er unersattlich, das Fiirchterliche von 
neuem immer wiederholend, auszusprechen: 

O Ehe, Ehe! 
Du pflanztest mich. Und da du mich gepflanzt, 
So sandtest du denselben Saamen aus, 
Und zeigtest Vater, Briider, Kinder, ein 
Verwandtes Blut, und Jungf raun, Weiber, Mutter, 
Und was nur schandlichstes entstehet unter Menschen! 

Aber eben diese Rede ist es, die sein Inneres verstummen lafit, 
wie er denn auch der Nacht ganz ahnlich werden mochte: 

Sondern ware fiir den Quell, 
Der in dem Ohre tont, ein Schlofi, ich hielt es nicht, 
Ich schlosse meinen miiheseelgen Leib, 
Dafi blind ich war* und taub. 

Und wie sollte er nicht verstummen, wie sollte das Denken die 
Verstrickung jemals losen, die es ganz unentscheidbar macht, 
was ihn zugrunde richtet: das Verbrechen selbst, der Spruch des 
Apollon oder der Fluch, den er selber dem Morder des Laios 



394 Literarische und asthetische Essays 

anheftet? Obrigens aber kennzeichnet diese Stummheit nicht den 
Oedipus allein sondern den Helden der griechischen Tragodie 
iiberhaupt. Darum ist sie es, bei welcher immer wieder neuere 
Forsdier verweilen. »Der tragische Held hat nur eine Sprache, 
die ihm vollkommen entspricht: eben das Sdiweigen.« Oder 
ein anderer Autor: Die tragischen »Helden spreciien gewisser- 
mafien oberflachlicher, als sie handeln«. Oder ein Dritter: »In 
der Tragodie besinnt sich der heidnische Mensch, dafi er besser 
ist als seine Gotter, aber diese Erkenntnis verschlagt ihm die 
Sprache, sie bleibt dumpf. Ohne sich zu bekennen sucht sie 
heimlich ihre Gewalt zu sammeln . . . Es ist gar keine Rede da- 
von, dafi die >sittliche Weltordnung< wieder hergestellt werde, 
sondern es will der moralische Mensch noch stumm, noch unmiin- 
dig - als soldier heifit er der Held - im Erbeben jener qualvollen 
Welt sich aufrichten. Das Paradoxon der Geburt des Genius in 
moralischer Sprachlosigkeit, moralischer InfantiHtat ist das Er- 
habene der Tragodie. « 

Von hier aus nun erst ist die Kiihnheit des Versuchs zu iiber- 
blicken, den Helden der Tragodie mit der Sprache zu begaben. 
Nun tritt ins Licht, was die grofiartigen Worte iiber das »Schick- 
sal« zu sagen haben, die der Dichter im schon erwahnten Zu- 
sammenhange, lange bevor er im » Oedipus « sie einloste, nieder- 
schrieb: »Mit diesem widerwarugen Wort gesteht man dem 
Zufall sehr viel mehr zu als ihm gebiihrt; es treibt sein Unwesen 
iiberall, wo man auf eine Erklarung verzichtet. Nun aber be- 
haupte ich, je mehr man in der Sage das Schicksal zunickdrangt 
desto lehrreicher wird sie.« Am Ende des zweiten Akts ist im 
sophokleischen Drama (das deren fiinf hat) die Rolle des Sehers 
Tiresias beendet. Zweitausend Jahre hat Oedipus gebraucht, um 
ihm bei Gide in jener grofien Debatte entgegenzutreten, in der 
er ausspricht, was er bei Sophokles nicht einmal zu denken ge- 
wagt hatte: »Dieses Verbrechen hatte Gott mir auferlegt. Er 
hatte es auf meinem Wege verborgen. Schon vor meiner Geburt 
war die Falle gestellt, iiber die ich straucheln sollte, denn entwe- 
der log dein Orakel oder ich konnte mich nicht retten. Ich war 
umstellt.« 

Dank solcher ungesuchten Oberlegenheit des Helden siedelt nun 
bei Gide am Ort oder doch im Weichbild des alten Grauens das 
Satyrspiel sich an, wie es durch Kreons Worte, hin und wieder 



Chnstoph Martin Wieland " 395 

auch durch die des Chors hindurchscheint. Nie iiberlegener als in 
der Ermahnung, die Oedipus den Kindern, die er im Gesprach 
belauscht, erteilt. Ein Stammgast der Rotonde hatte sich nicht 
unbefangener zu der Frage aufiern konnen. Es ist, als lagen in 
den unentwirrbaren Verhaltnissen seines Hauses alle kleinbiir- 
gerlichen hauslichen Miseren (ins Ungeheure gesteigert) vor 
ihm. Er wendet ihnen den Riicken, um den Spuren der Emanzi- 
pierten zu folgen, die vorangegangen sind: des jiingeren Bru- 
ders aus dem »Verlorenen Sohn« und des Wanderers aus den 
»Nourritures Terrestres«. Oedipus 1st der alteste der grofien 
Aufbrechenden, die ihren Wink von dem bekamen, der ge- 
schrieben hat: »Il faut toujours sortir n'importe d'ou.« 



Christoph Martin Wieland 

Zum zweihundertsten Jahrestag seiner Geburt 

Wieland wird nicht mehr gelesen. Es hiefie ihm und seinem 
Jubilaum wenig Ehre machen, an dieser Tatsache vorbeizu- 
gehen oder Hinweise von zweifelhaftem Wert auf die »Stellen« 
zu geben, die heute noch lesbar sind. Das fiihrt bestimmt nicht 
auf das Wesentliche. Wesentlich ist das geschichtliche Eingebet- 
tetsein Wielands in die Epoche zwischen Barock und der Roman- 
tik, und wesentlicher noch, dafi dort sein Werk so eng in der 
Umklammerung der Zeitumstande liegt, dafi es nicht ohne seine 
wertvollsten Partien zu verletzen sich herauslosen liefte. Da- 
gegen kann es kein gewissenhaftes Studium jener deutschen 
Zeitumstande geben, das nicht zugleich ins Innerste von Wie- 
lands Figur hineingriffe. »Die Zahl derer,« sagt mit Recht 
Theodor Heufi, »denen die Begegnung mit Wieland eine unmit- 
telbare Auseinandersetzung mit menschlichem Wesen und schop- 
ferischem Dichtertum aufzwingt, mag heute gering geworden 
sein. Aber er bleibt wichtig und wird fast immer interessanter, 
wenn man ihn in seinem geschichtlichen Raum sieht.« Das ist 
nun allerdings leichter gesagt als getan. Das Werk von Wie- 
land machte offensichtlich so wenig Anspriiche auf Tiefe, dafi 
der Fehlschlufi nahelag, auch seine Darstellung konne auf sie 
verzichten. So ist es schwerlich. Vielmehr ist der geschichtliche 



39*> e Literarische und asthetische Essays 

Gehalt und Sinn von Wielands Oberflachlichkeit noch heute 
kaum gesichtet und »bietet wirklich geistige Probleme, die man 
durchdenken mufi, nicht nur literarhistorisdie Aufgaben, die 
man abarbeiten kann.« Da diese Probleme ihrerseits viel auf- 
merksame Versenkung ins Detail erfordern, so ist, je weniger 
Wieland vom breiten Publikum gelesen wird, umso erheblicher 
das Interesse der Forschung an der grofien, auf ungefahr 50 
Bande veranschlagten Wieland-Ausgabe, welche die PreuEische 
Akademie der Wissenschaften seit 1909 erscheinen lafit. Es hat 
seinen guten geschichtlichen Sinn, wenn eines - hoffentlich nicht 
allzuspaten - Tages Wieland in dieser Ausgabe mit alien 
Ehren und aller Sorgfalt an den Tag gebracht wird, weldie er 
selber einem Aristophanes und Lukian, einem Cicero und Horaz 
gewidmet hat. 

Wieland wurde am 5. September 1733 in Oberholzheim, einem 
Dorf in der Nahe von Biberach geboren. Dieses Biberach, in 
dem Wielands Vorfahren seit zwei Jahrhunderten ansassig 
waren, war freie Reichsstadt. Unter den vielen ihresgleichen 
besafi sie eine Eigentumlichkeit. Der Westfalische Frieden hatte 
ihr »Paritat« verliehen. Nicht in jeder Hinsicht zu ihrem Segen. 
Alle Amter namlich waren seitdem zweifach besetzt, jeweils mit 
einem Angehorigen der beiden streitenden Konfessionen. So 
ging es vom Burgermeister herab bis zu den Hebammen und 
Totengrabern. Dies Privileg, das okonomisch schwer genug auf 
der Stadt lastete, hat ihr doch auch eine gewisse WeltofTenheit 
verschafft. Und jedenfalls hat Wieland noch in spateren Jah- 
ren, ruckblickend, in dieser Besonderheit eine Chance gesehen. 
Sein Vater gab ihn mit 13 Jahren auf die Klosterschule Klo- 
sterbergen bei Magdeburg. Um diese Zeit - in die auch die erste 
Ausgabe von Klopstocks »Messias« fallt - scheinen die pietisti- 
schen Einflusse in Wielands Jugendbildung den Hohepunkt er- 
reicht und den Ruckschlag vorbereitet zu haben. Zum vollen 
Durchbruch kam er freilich erst drei Jahre spater, als Wieland 
von seinem Vater der Obhut Bodmers in dessen Landhaus am 
ZuricherSee anvertraut wurde, »War dasDichten unausrottbar,« 
sagt Bernhardt SeufTert, »so sollte der Sohn es wenigstens 
regelrecht lernen. Dabei schrieb dieser fllissigere Verse als der 
grundgescheite Ziiricher Professor. Bald war er Gehilfe des Mei- 
sters, lernte urteilen und verurteilen, Streitschriften schreiben, 



Christoph Martin Wieland 397 

literarischen Witz und Sinn fiir das Wunderbare der Epik«. Die 
Anwendung jedoch, die er nach seiner Riickkehr aus der Schweiz 
von alledem machte, ging offenbar weit iiber das hinaus, was 
sich von einem Schiiler Bodmers erwarten liefi. Wieland war 
mit der Wiirde eines Senators zuriickberufen worden, wurde 
sodann zum Kanzleiverwalter bestellt, und wie ein Posten den 
anderen mit sich brachte, war er 1761 Vorsteher der »evangeli- 
schen biirgerlichen Kom6diantengesellschaft«. In dieser Eigen- 
schaft veranstaltete er im gleichen Jahr eine Vorstellung von 
Shakespeares »Sturm«. Sie hatte einen aufierordentlichen Er- 
folg und war in Deutschland die erste, auf deren Theaterzettel 
Shakespeares Name nicht - wie einst auf denen der englischen 
Komodianten - zu Unrecht stand. 

Der Obersetzung des »Sturms« folgte die von 21 weiteren 
Shakespeare-Dramen. Den rechten Ausblick auf sie zu ge- 
winnen, der fiir die Heutigen versteckt liegt, hat man sich 
des Wortes zu erinnern, mit dem Goethe in »Dichtung und 
Wahrheit« dieser Obersetzungen gedenkt.Es ist ein Wort, durch- 
aus in dem kristallnen und niichternen Verstande jener Zeit, fiir 
welche Wieland gewirkt hat, und bei aller Schmucklosigkeit und 
Trockenheit von viel aufrichtigerem Vertrauen zur Dichtung 
erfiilit, als rein asthetische Betrachtung es erzeugt. Es heifk: »Das 
eigentlich tief und grundlich Wirksame, das wahrhafl Ausbil- 
dende und Fordernde ist dasjenige,was vom Dichter iibrig bleibt, 
wenn er in Prosa iibersetzt wird. Dann bleibt der reine voll- 
kommene Gehalt.« Shakespeare, wie Wieland ihn in deutsche 
Prosa iibersetzte, war nicht das Originalgenie, das Goethe spater 
begeistern sollte. Nie hatte dieser an ihm bewundert, was auf 
Wieland wirkte, will sagen, »das moralisch Schone, . . . das 
Anstandige, das Liebenswiirdige in Empfindungen und morali- 
schen Handlungen«. Jedoch der deutsche Text des so gestimm- 
ten Wieland war es, zwischen dessen Zeilen die Spateren fan- 
den, was sie zu Bewunderern Shakespeares - und zu Verachtern 
Wielands werden lieE. 

Fiir Wielands Ruf und Laufbahn waren denn auch Werke wie 
der »Agathon« und die »Musarion«, die in der Zeit von Biberach 
entstanden, bedeutungsvoller. Den Ausschlag aber gaben hier, 
wie schon seit langem und noch auf lange hin, die Bindungen,' 
die zwischen einem deutschen Dichter und dem Feudalismus 



398 Literarische und asthetische Essays 

bestehen konnten. Fiir Wieland wurden richtunggebend die 
zum Grafen Friedrich Stadion, dessen Geschlecht seit ungefahr 
200 Jahren in der Biberacher Gegend ansassig war. 

»Ein gewisses bezaubertes Schlofi, wohin der Maynzische Grofi- 
hofmeister Graf v. Stadion seit 8 Jahren seine Retraite genom- 
men hat, und welches durch einen besonderen Tik der Alquifs 
und Urganden dazu verwiinscht scheint, die aufierordentlichsten 
Personen zu beherbergen und die seltsamsten Abenteuer hervor 
zu bringen, ist einige Jahre lang mein bestandiger Aufenthalt 
gewesen.« Das Seltsamste von diesen Abenteuern war das Zu- 
sammentrefTen, das Wieland - fast 9 Jahre nach der Tren- 
nung - auf diesem Schlosse mit seiner Jugendgeliebten er- 
wartete. Die Anfange der Liebe zu Sophie Gutermann geho- 
ren der pietistischen Zeit des Dichters an. Die erste Liebeserkla- 
rung, die er wagte, kleidete sich in die Auslegung einer Predigt. 
Aber das Verhaltnis, in dem die Stimmung jener friihesten Epo- 
che zu so vollkommenem Ausdruck kam, war vorbestimmt, sein 
Ende an eben deren Schranken zu finden. Kleinburgerliche 
Intrigen, private Mifiverstandnisse trennten die Liebenden. 
Dennoch scheint keine spatere erotische Erfahrung den Dichter 
in gleicher Tiefe erfaEt zu haben. Sie ist - nicht nur im zeit- 
lichen, sondern nicht weniger im inneren Sinn - der umfassende 
Ausdruck seiner Beziehung zur Frau geworden und in diesem 
Sinn bedeutungsvoli. 

Im zeitliehen: die Freundschaft Wielands mit Sophie umspannt 
fast 60 Jahre. Im inneren: diese Beziehung geleitet ihn von 
einem Frauenbild, das in so manchen Zugen den unnahbaren, 
seraphischen Heiligen und Martyrerinnen der Barockaltare 
ahnelt, bis zu dem sehr gegensatzlichen, jedoch nicht minder 
reprasentativen Typ der selbstherrlichen, produktiven Frau der 
Romantik. Sophie La Roche - das ist ihr Name nach der Ehe 
mit La Roche, dem Sekretar des Grafen Stadion - ist durch 
Wieland selbst zur Schrifktellerin geworden. Ihre »Geschichte 
des Frauleins von Sternheim« war eins der gelesensten Bucher 
der Zeit. In der Enkelin seiner Freundin aber, Sophie Bren- 
tano, die mit 24 Jahren in den Armen des fast siebzigjahrigen 
Wieland gestorben ist, hat dieser noch eine der vollendetsten 
Erscheinungen der romantischen Frauen an sich ziehen konnen. 



Christoph Martin Wieland 399 

Die Grabschrift, die in Ofimannstedt der Stein tragt, der die 
gemeinsamen Graber Wielands, seiner Frau und der Sophie 
Brentano deckt, beschreibt die schonste Rokoko-Arabeske um 
sein Leben: 

Liebe und Freundsdiaft umschlang die verwandten Seelen im 

Leben, 
Und ihr Sterbliches deckt dieser gemeinsame Stein. 

Wieland hat diesen Vers am letzten Geburtstag seiner Jugend- 
freundin geschrieben. . 

In dem Denkmal, das Goethe im »Maskenzug des Jahres 1 8 1 8 « 
Wieland errichtet hat, heifit es: 

Wieland hiefi er! Selbst durchdrungen 
Von dem Wort, das er gegeben, 
War sein wohlgefiihrtes Leben 
Still, ein Kreis von Maftigungen. 

Keine gliicklichere Wendung steht zur Kennzeichnung von Wie- 
lands erotischem Leben bereit. In dieser Mafiigung jedoch war 
keinerlei Mittelmafiigkeit. Es ist wiederum Goethe, der iiber 
Wieland die hochst bemerkenswerte Erkenntnis ausgesprochen 
hat, er habe keinerlei auream mediocritatem besessen, vielmehr 
»sein ganzes Leben in extremis « zugebracht. Die Mafiigung, 
die so sein Leben im Gesamtaspekt darbietet, verdankt er der 
Entschiedenheit, mit welcher dessen einzelne Epochen bis an ein 
Auflerstes gegangen sind. »Wer in seinen Wunschen«, schreibt 
er mit 19 Jahren, » iiber einen HandkuJR hinausgeht, darf nicht 
sagen, dafi er liebe.« Es ist bekannt, wie heftig die Reaktion 
gegen die geistige Verfassung, die aus solchem Satz spricht, in 
spateren Werken Wielands zum Ausdruck kam, und welchen 
Anstofi seine frivolen Erzahlungen, wie vor allem die »Ge- 
sdiichte des Prinzen Biribinker«, beim Erscheinen verursachten. 
Dafi bei ihrer Abfassung die Absicht mitgesprochen habe, durch 
dergleidien Texte beim deutschen Adel ein naheres Interesse 
fur die deutsche Literatur zu wecken, mochte man zu dessen 
Ehre nicht fur glaubhaft halten. 

Wie dem auch sei-fiir seine schwarmerische wie seine materiali- 
stische Epoche hat er sich an das Wort von Fielding gehalten, 
bei dem es heifit: »Fur dieses Leben war niemals ein System 



400 Literarische und asthetische Essays 

riditiger als das der alten Epikuraer, keins torichter als ihrer 
Antipoden, der modernen Epikuraer, die Gliickseligkeit in der 
schrankenlosen Befriedigung jeder sinnlichen Begierde suchen.« 
Die himmlische Liebe mied der gereifte Dichter im Namen der 
alten, die irdische imGegensatz zur modernen Philosophenschule, 
um - nadi einem Wort, das zu seinen liebsten gehorte - »unbe- 
reut« sterben zu konnen. 

Sehr richtig hat man bemerkt, dafi Wieland nicht dem Kreise 
der rationalistischen, sondern der sensualistisdien Aufklarer an- 
gehorte. Die Englander und mehr noch die Franzosen - Montes- 
quieu, Bonnet, Helvetius - waren seine Lehrmeister. Audi 
ihnen aber entnahm er weniger die sprengenden, gefahrlichen 
Gedankenelemente, die der Revolution gewidmet waren, als 
Stoffe, die es ihm erlaubten, seinen Skeptizismus in weltlaufigen 
Formen auszupragen. Er hat das in erfolgreichster Gestalt mit 
seinem grofien Staatsroman »Der goldne Spiegel oder die 
Konige von Scheschian« getan. 

»Irre ich nicht, so ist die Geschichte der Konige von Scheschian, 
welche ich hier zu Ihrer Majestat Fiifien lege, nicht ganz un- 
wiirdig, unter die ernsthaften Ergotzungen aufgenommen zu 
werden, bei welchen Ihr niemals untatiger Geist von der Ermii- 
dung hoherer Geschafte auszuruhen pflegt.« Der wirkliche Kai- 
ser, welcher - unter der Maske des chinesischen Tai-tsus - in 
dieser Zueignung des »Goldnen Spiegels« visiert war, ist Jo- 
seph II. gewesen. Das Werk ist ein Nachfahr der barocken 
Staatsromane, doch mit der sehr erheblichen Verschiebung, dafi 
die Handlung selbst nur noch ein abgeblafites Leben in jenem 
bunten, reich ornamentierten Rahmen fiihrt, den die Konver- 
sation fiir sie abgibt. 

Die Geschichte der Konige von Scheschian wird am Hofe des 
Schach-Gebal verlesen, der in einer Geliebten Nurmahal und 
seinem Philosophen, dem Doktor Danischmend, die beiden 
Rasoneure um sich hat, deren er bedarf , um alle moglichen Nutz- 
anwendungen aus dem erdichteten Geschichtswerk zu ziehen. 
Wieland hat darin sein politisches Credo um so unaufdringlicher 
darstellen konnen, als es eines war, das an den auFgeklarten 
Hofen des 18. Jahrhunderts auf Verstandnis stofien konnte. 
Eben dem aufgeklarten Staats-Absolutismus gehoren Wielands 



Christoph Martin Wieland 401 

Sympathies Theoretisdi ihn zu fundieren hat er freilich nicht 
einmal den Versuch gemacht. Alles beschrankt sich vielmehr 
auf eine mehr oder minder liebenswiirdige argumentatio ad 
hominem oder — wie man hier besser sagen wiirde - ad popu- 
lum. Bei der Demokratie scheinen ihm dessen Interessen ganz 
genau so schlecht aufgehoben wie spater die der Abderiten, die 
sich von ihm sagen lassen miissen, dafi, was in ihrer »Staats- 
einrichtung demokratisch schien, blofies Schattenwerk und poli- 
tisches Gaukelspiel« gewesen sei. Ohne dafi seine Zeitkritik sich 
irgend durch Originalitat hervortut, kann man mit Bernhard 
Luther sagen, dafi er der einzige grofie (deutsche) Dichter des 
18. Jahrhunderts ist, »der ein lebhaftes politisches Interesse hat- 
ter Diesem verdankt er denn audi wohl denRuf nach Erfurt, wo 
eine gallikanische, Rom sich widersetzende, nationale Richtung 
im Katholizismus sich nach Dozenten umsah, die ihr an Ruf 
und Geltung einbringen konnten, was ihr an Orthodoxie ab- 
ging. Durch Stadion war man in Erfurt auf Wieland aufmerk- 
sam geworden, und dieser setzte nun seine Ehre darein, mit dem 
»Goldnen Spiegel« und Vorlesungen zur Geschichtsphiiosophie 
seine Position zu rechtfertigen. Mit seinem grofien Staatsroman 
hat er in der Tat das Interesse des habsburgischen Kaisers zu 
erwecken vermocht. Doch eine eingreifendere Wirkung fand 
das Buch weniger am Wiener Hofe als an dem zu Weimar. Es 
verschafFte dem Dichter eine - zunachst voriibergehende - Be- 
rufung dorthin, die sodann zu seiner dauernden Bindung an 
den Hof von Anna Amalia, den spateren von Karl August 
fiihrte. 

Mit einem reizenden Bild hat Wieland, in einem Brief vom Juni 
1779, die Stimmung festgehalten, welche in den ersten, gliick- 
lichsten Jahren ihres Weimarer Zusammenlebens zwischen ihm 
und Goethe herrschte. »Mit Goethen hab ich vergangene 
Woche einen gar guten Tag gehabt. Er und ich haben uns ent- 
schliefien miissen, dem Rat May zu sitzen, der uns ex voto der 
Herzogin von Wurttemberg fur Ihre Durchlaucht malen soil. 
Goethe safi vor- und nachmittags und bat mich, weil Serenissi- 
mus absens war, ihm bei der leidigen Session Gesellschaft zu 
leisten und zur Unterhaltung der Geister den Oberon vorzule- 
sen, Zum Gliick mufite sichs treffenj dafi der fast immer wiitige 



402 Literarisdie und asthetische Essays 

Mensch diesen Tag gerade in seiner besten rezeptivsten Laune 
und so amusable war, wie ein Madchen von sechzehn. Tag 
meines Lebens hab ich niemand iiber das Werk elnes andern so 
vergniigt gesehen, als er es mit dem Oberon durchaus, sonder- 
lich mit dem fiinften Gesang war«. Wir kennen das Bild, das 
May damals von Wieland gemalt hat. Der Dichter sieht nicht 
wie ein Sechsundvierzigjahriger auf ihm aus. Wohl aber tragen 
die ungemein sensiblen und sinnlichen, von Ironie durchwirkten 
Ziige schon den Ausdruck der Resignation. Bereits damals hiefi 
er in Weimar »der alte Wieland« und »fast 40 Jahre lang mufi- 
te er sich die gut und ungut gemeinte Bezeichnung . . . gefallen 
lassen.« 

Wieland hatte ein sehr ausgepragtes Gefiihl fiir die Figur, die 
er in anderer Augen machte. Daher seine selten diplomatische 
Begabung, daher aber auch seine friihzeitige Entsagung. »Ich 
habe das Ungliick - schreibt er im September 1776 an Christian 
Kaiser - unter die Lauen zu gehoren, die von Warmen und 
Kalten ausgespieen werden.« Von den Warmen war auch Goethe 
einer gewesen, und in der Farce »Gotter, Helden und Wieland« 
hatte er den alteren Dichter kraftig »ausgespieen«. Goethe stand, 
als er diesen Ausfall unternahm, am Anfang seiner Laufbahn, 
Wieland aber auf der Hohe der seinigen. Trotzdem, und unge- 
achtet dessen, dafi Goethes Vorgehen fiir die Kraftgenies zum 
Sturmsignal gegen Wieland wurde, verleugnete der Altere 
nicht die uberlegteste Reserve. So schwer diese Zuruckhaltung 
erklarlich ist, so aufierordentlich erscheint ihr beinahe hellsich- 
tiger Takt im Angesicht der 40 Jahre, in denen spater das 
engste Nachbarschaftsverhaltnis Goethe und Wieland aneinan- 
dersdilofi. 

Und es war nicht nur Nachbarschaft, es war - im dichterischen 
nicht, doch im politischen Sinn - eine Nachfolge, wie Wieland 
das sehr schon im Jahre 1776 gegen Lavater zum Ausdruck 
bringt. Er schreibt: »Aber - war ich nicht schon 38 Jahr alt, da 
ich mich noch durch eine magische Einbildung und die noch 
starkere Magie des verfuhrerischen Gedankens, viel Gutes, im 
grofien, auf Jahrhunderte zu tun, an diesen Hof ziehen, in 
dieses gefahrvolle, mit Precipicen umgebene - und beim Tages- 
licht besehen doch immer unmogliche Abenteuer verwickeln 
liefi? Goethe ist erst 26 Jahr alt.« Dem Unmoglichen des 



Chnstoph Martin Wieland 403 

Unternehmens freilidi hat Wieland memals soviel wie Goethe 
abgewinnen konnen. Denn diesem wurde es, je mehr er es zu 
meistern lernte, im Inneren nur stets ungemafier, wogegen Wie- 
land in seiner Position bei Hof, in seiner Freundschaft mit Anna 
Amalia, Karl Augusts Mutter, immer ausschliefilicher sein Ele- 
ment fand. So hat er in der Weimarer Epoche - von seinen 
Obersetzungen abgesehen - nur noch zwei grofiere Werke 
publiziert: die »Abderiten« und den »Oberon«. 
Der Nachdruck, mit dem Goethe stets von neuem auf diese 
letzte Dichtung zuriickkommt, ist, bei aller Anmut in deren 
Einzelheiten, nicht immer ganz verstandlich; es sei denn, man 
nimmt an, daE eine stille Genugtuung bei ihm im Spiel war, 
Wieland den Bereich des Griechischen, der Goethe inniger am 
Herzen lag und den er ungern als Spielplatz vager und unver- 
bindlicher Phantasien wiederfand, gegen den des altdeutschen 
vertauschen zu sehen. »Wieland«, sagt Goethe 10 Jahre nach 
dessen Tode dem Kanzler von Miiller, »hielt sich niemandem 
responsabel«. Und in keinem Fall mag ihm Goethe das schwerer 
verziehen haben, als griechischen Stoffen und Figuren gegeniiber. 
So ist aus seinem Lob des »Oberon« das freundliche Widerspiel 
jener friihen Polemik Goethes gegen den Verfasser einer ver- 
zierlichten »Alkestis« herauszuhoren. Daneben aber spricht aus 
dieser Anerkennung das Bediirfnis, keine Gelegenheit, den Ruhm 
von Wieland zu verbreiten, ungenlitzt zu lassen. Der Jiingere 
hat es Wieland nie vergessen, wie auf einer Schwelle, welche 
dieser als Alterer vor ihm betreten hatte, er selbst, der Jiingere, 
von ihm war begriiftt worden. Wer in »Goethes Gesprachen« 
jene Seiten nachliest, die es mit den ersten Weimarer Jahren zu 
tun haben, begegnet keinem Namen haufiger als dem von 
Wieland. Und keiner der Genossen der Sturm und Drang-Zeit 
ist der Siifie der Goetheschen Jugendlyrik naher gekommen als 
Wieland in den Versen, die er an Goethe gerichtet hat: 

So trat er unter uns, herrlich und hehr, 
Ein echter Geisterkonig, daher; 
Und nicmand fragte, wer ist denn der? 
Wir fuhlten beim ersten Blick, 's war er! 
Wir fuhlten's mit alien unsern Sinnen, 
Durch alle unsre Adern rinnen. 



404 Literarische und asthetische Essays 

So hat sich nie in Gottes Welt 
Ein Menschensohn uns dargestellt, 
Der alle Giite und alle Gewalt 
Der Menschheit so in sich vereinigt! 

Der so Begriifite ist es gewesen, der fiir Wielands Gesamtwerk 
den Augenblick heraufgefiihrt hat, den er in den »Abderiten« 
als den bestimmt, »wo diese Geschichte niemand mehr angehen, 
niemand mehr unterhalten, niemand mehr verdriefilich und 
niemand mehr erziirnt machen wird«. 

Dafi der geschichtliche Gehalt und Sinn von Wielands Ober- 
flachlichkeit noch heute, wie eingangs ausgesprochen, kaum ge- 
sichtet zu nennen ist, hat einen seiner Griinde darin, daf$ die 
Logenrede Goethes, in der gebieterischen Kraft, mit der sie 
auf der Schwelle zu Wielands Nachruhm sich erhebt, Versuche 
in verwandtem Sinne kaum ermutigen konnte. Schwerer begreif- 
lich ist, dafi einiges, was Goethe - weniger in der Logenrede als 
an entlegeneren Stellen - uber Wieland aussprach, kaum Spu- 
ren hinterlieft. Zwar ist das riickblickende Wort zu Eckermann 
bekannt: »Wielanden verdankt das ganze obere Deutschland 
seinen Stil.« Warum das aber so war, darauf hat Goethe einige 
uberaus bedeutsame Hinweise gegeben, deren Auslegung die 
Wieland-Forschung noch auf eine gute Strecke geleiten konnen. 
Um aber nochmals auf Bekannteres zuriickzugreifen - was ist 
im Grunde sonderbarer, befremdlicher als der Satz, mit welchem 
Goethe der Wielandschen »Musarion« gedenkt: »Hier war es, 
wo ich das Antike lebendig und neu wieder zu sehen glaubte.« 
Und doch entdeckt der heutige Leser in der »Musarion« nichts 
als die regelrechte, aller Krafte der Vergegenwartigung ent- 
blofke Rokokovignette des Griechendaseins. Was aber schwer 
begreiflich in der Isolierung erscheint, gewinnt ein anderes Ge- 
sicht in der Umgebung gle.ichgestimmter Betrachtungen. »Er 
hat auEerordentlich gewirkt,« heifit es in den Noten zum 
»West-6stlichen Divan«, »indem gerade das, was ihn anmutete, 
wie er sich's zueignete und es wieder mitteilte, auch seinen Zeit- 
genossen angenehm und genieftbar begegnete.« Goethe, wenn 
er von Wieland spricht, scheint es nur immer mit dessen Wir- 
kung auf die Zeitgenossen - sich selbst und andere - zu tun zu 



Christoph Martin Wieland 405 

haben. Das ist sehr aufschlufireich. Denn eben in der Wirkung 
auf die Zeitgenossen hat Wieland gegeben, was vor ihm nodi 
keiner vermocht hatte zu geben, nach ihm keiner zu geben 
mehr fur notig finden konnte. Und diese Gabe war die Ver- 
schmelzung einer idealen und antiquarischen Bildungswelt - 
vor allem der antiken - auf der einen Seite mit einem ganz und 
gar auf Aktualitat gestellten, den breiten Leserschichten zuge- 
wandten Literaturbetriebe auf der anderen. Es ist kein Zufall, 
dafi der »Teutsche Merkur« es auf 83 Bande gebracht hat. Wie- 
land war, kraft seines iiberschwenglichen Sinns fiir das Aktuelle, 
der vollendete Redakteur, Er redigierte das klassische Alter- 
tum fiir den gebildeten Biirgerstand seiner Tage. Und was das 
sagen will, ergibt ein Blick auf Klopstock, dessen Beschworungen 
des Altertums vom gleichen Pathos der Distanz erfiillt sind wie 
die ausschweifendsten Partien des »Messias«. Dagegen heifit es 
denn bei Goethe von den Wielandschen Obersetzungen aus 
Cicero: »Dieselben enthalten die hochste Verdeutlichung des da- 
maligen Zustandes der Welt, die sich zwischen den Anhangern 
des Casar und Brutus geteilt hatte; sie lesen sich mit derselben 
Frische, wie eine Zeitung aus Rom, indes sie uns iiber die Haupt- 
sache, worauf eigentlich alles ankommt, in volliger Ungewifiheit 
lassen.« 

Am 26. Januar 18 13 ist Wieland gestorben. An seine Grabstatte 
in Ofimannstedt schliefit die damonische Ailegorie sich an, die 
Goethe beim Anblick des Entwurfs einer Umzaunung zu diesem 
Grabe kam. Sie verbirgt nicht nur den tiefsten, sondern auch 
den gerechtesten Gedanken, den er dem langst Verstorbenen 
zuzueignen fand: »Da ich in Jahrtausenden lebe, sagte er, so 
kommt es mir immer wunderlich vor, wenn ich von Statuen 
und Monumenten hore. Ich kann nicht an eine Bildsaule denken, 
die einem verdienten Manne gesetzt wird, ohne sie im Geiste 
schon von kiinftigen Kriegern umgeworfen und zerschlagen zu 
sehen. Coudrays Eisenstabe um das Wielandsche Grab sehe ich 
schon als Hufeisen unter den Pferdefufien einer kiinftigen Ka- 
vallerie blinken«. Es gibt Autoren 1 , fiir deren Fortleben die 

1 Die Stadtgemeinde und der Kunst- und Altertumsverein Biberach (Rifi) haben 
zum 200. Geburtstag Wlelands eine Festschrift herausgegeben, die in vier Abteilun- 
gen eine Auswahl aus den Schriften des Dichters, eine Darstellung von Biberach und 
Wielands Lcben daselbst, eine Folge von Aufierungen schwabischer Autoren uber den 



406 Literarische und asthetische Essays 

Moglichkeit, wieder gelesen zu werden, nicht mehr als ein Stand- 
bild zu sagen hat. Ihre Fermente sind fiir immer in den Mutter- 
boden, in ihre Muttersprache eingegangen. Ein soldier Autor 
ist Chnstoph Martin Wieland gewesen. 



Landsmann und eine Reihe von Beitragen Gelehrter bringt. Diesem letzten Teil, der 
den neuesten Stand der Wieland-Forschung vermittelt, ist die obige Darstellung in 
mehreren Zitaten verpfliditet. 



Walter Benjamin 
Gesammelte Schriften 

II -2 

Herausgegeben von 
Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser 



Suhrkamp 



CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek 

Benjamin, Waiter: 

Gesammelte Schriften / Walter Benjamin. 

Unter Mitw. von Theodor W Adorno und Gershom Scholem 

hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser. - 

[Ausg. in Schriftenreihe »Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft«], - 

Frankfurt am Main : Suhrkamp. 

ISBN 3-518-09832-2 

NE: Tiedemann, Rolf [Hrsg.]; Benjamin, Walter: [Sammlung] 

[Ausg. in Schriftenreihe »Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft«] 

2. [Aufsatze, Essays, Vortragej / 

hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser. 

2.-(i99i) 

(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 932) 

ISBN 3-518-28532-7 

NE:GT 



suhrkamp taschenbuch wissenschaft 932 

Erste Auflage 1991 

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1977 

Suhrkamp Taschenbuch Verlag 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das 

des offenthchen Vortrags, der Ubertragung 

durch Rundfunk und Fernsehen 

sowie der Ubersetzung, auch'einzelner Teile. 

Druck: Wagner GmbH, Nordlingen 

Printed in Germany 

Umschlag nach Entwiirfen von 

Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 

1 2 3 4 j 6 - 96 95 94 93 92 91 



Inhaltsiibersicht 



Zweiter Band. Erster Teil 

Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik .... 7 

Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien .... 89 

Literarische und asthetische Essays 235 



Zweiter Band. Zweiter Teil 

Literarische und asthetische Essays (Fortsetzung) . . . 407 

Asthetische Fragmente 599 

Vortrage und Reden 633 

Enzyklopadieartikel 703 

Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 741 

Anhang 

Juden in der deutschen Kultur 807 

Zweiter Band. Dritter Teil 

Anmerkungen der Herausgeber 815 

Inhaltsverzeicbnis 1523 



Literarische und asthetische Essays 

Fortsetzung 



Franz Kafka 
Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages 

Potemkin 

Es wird erzahlt: Potemkin litt an schweren mehr oder weniger 
regelmafiig wiederkehrenden Depressionen, wahrend deren sich 
niemand ihm nahern durfte und der Zugang zu seinem Zimmer 
aufs strengste verboten war. Am Hofe wurde dieses Leiden 
nicht erwahnt, insbesondere wufite man, dafi jede Anspielung 
darauf die Ungnade der Kaiserin Katharina nadi sich zog. Eine 
dieser Depressionen des Kanzlers dauerte aufiergewohnlich lan- 
ge. Ernste Mifistande waren die Folgen; in den Registraturen 
hauften sich Akten, deren Erledigung, die ohne Unterschrift 
Potemkins unmoglich war, von der Zarin gefordert wurde. Die 
hohen Beamten wufiten sich keinen Rat. In dieser Zeit geriet 
durch einen Zufall der unbedeutende kleine Kanzlist Schuwal- 
kin in die Vorzimmer des Kanzlerpalais, wo die Staatsrate wie 
gewohnlich jammernd und klagend beisammen standen. »Was 
gibt es, Excellenzen? Womit kann ich Excellenzen dienen?« 
bemerkte der eilfertige Schuwalkin. Man erklarte ihm den Fall 
und bedauerte, von seinen Diensten keinen Gebrauch machen 
zu konnen. »Wenn es weiter nichts ist, meine Herren,« ant- 
wortete Schuwalkin, »uberlassen Sie mir die Akten. Ich bitte 
darum.« Die Staatsrate, die nichts zu verlieren hatten, liefien 
sich dazu bewegen, und Schuwalkin schlug, das Aktenbundel 
unterm Arm, durch Galerien und Korridore den Weg zum 
Schlafzimmer Potemkins ein. Ohne anzuklopfen, ja ohne halt- 
zumachen, driickte er die Turklinke nieder. Das Zimmer war 
nicht verschlossen. Im Halbdunkel safi Potemkin auf seinem 
Bett, nagelkauend, in einem verschlissenen Schlafrock. Schu- 
walkin trat zum Schreibtisch, tauchte die Feder ein und, ohne 
ein Wort zu verlieren, schob er sie Potemkin in die Hand, den 
erstbesten Akt auf seine Knie. Nach einem abwesenden Blick 
auf den Emdringling,wie im Schlaf vollzog Potemkin die Unter- 
schrift, dann eine zweite; weiter die samtlichen. Als die letzte 
geborgen war, verlieft Schuwalkin ohne Umstande, wie er ge- 
kommen war, sein Dossier unterm Arm, das Gemach. Trium- 
phierend die Akten schwenkend trat er in das Vorzimmer. Ihm 



410 Literarische und asthetische Essays 

entgegen stiirzten die Staatsrate, rissen die Papiere aus seinen 
Handen. Atemlos beugten sie sidi dariiber. Niemand sagte ein 
Wort; die Gruppe erstarrte. Wieder trat Schuwalkin naher, 
wieder erkundigte er sich eilfertig nach dem Grund der Be- 
stiirzung der Herren. Da fiel audi sein Blick auf die Unter- 
sdirift. Ein Akt wie der andere war unterfertigt: Schuwalkin, 
Schuwalkin, Schuwalkin . . . 

Diese Geschichte ist wie ein Herold, der dem Werke Kafkas 
zweihundert Jahre vorausstiirmt. Die Ratselfrage, die sich in 
ihr wolkt, ist Kafkas. Die Welt der Kanzleien und Registra- 
turen, der muf figen verwohnten dunklen Zimmer ist Kafkas Welt. 
Der eilfertige Schuwalkin, der alles so leicht nimmt und zuletzt 
mit leeren Handen da stent, ist Kafkas K. Potemkin aber, der 
halb schlafend und verwahrlost, in einem abgelegenen Raum, zu 
dem der Zugang untersagt ist, dahindammert, ist ein Ahn jener 
Gewalthaber, die bei Kafka als Richter in den Dachboden, 
als Sekretare im Schlofi hausen, und die, so hoch sie stehen 
mogen, immer Gesunkene oder vielmehr Versinkende sind, da- 
fur aber noch in den Untersten und in den Verkommensten - 
den Turhutern und den altersschwachen Beamten - auf einmal 
unvermittelt in ihrer ganzen Machtfulle auftauchen konnen. 
Woriiber dammern sie dahin? Vielleicht sind sie Nachkommen 
der Atlanten, die die Weltkugel in ihrem Nacken tragen? Viel- 
leicht halten sie darum den Kopf »so tief auf die Brust gesenkt, 
dafi man kaum etwas von den Augen« sieht, wie der Schlofi- 
kastellan auf seinem Portrat oder Klamm, wenn er mit sich 
allein ist? Die Weltkugel aber ist es nicht, die sie tragen; nur 
dafi schon das Alltaglichste ihr Gewicht hat: »Sein Ermatten ist 
das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit war das 
Weifitiinchen eines Winkels in einer Beamtenstube.« - Georg 
Lukacs hat einmal gesagt: urn heute einen anstandigen Tisch 
zu bauen, mufi einer das architektonische Genie von Michel- 
angelo haben. Wie Lukacs in Zeitaltern so denkt Kafka in 
Weltaltern. Weltalter hat der Mann beim Tunchen zu bewegen. 
Und so noch in der unscheinbarsten Geste. Vielfach und oft aus 
sonderbarem Anlafi klatschen Kafkas Figuren in die Hande. 
Einmal jedoch wird beilaufig gesagt, dafi diese Hande »eigent- 
lich Dampfhammer« sind. 
In standiger und langsamer Bewegung - versinkend oder stei- 



Franz Kafka 411 

gend - lernen wir diese Machthaber kennen. Furchtbarer aber 
sind sie nirgends, als wo sie aus der tiefsten Verkommenheit sich 
heben: aus den Vatern. Den stumpfen altersschwachen Vater, 
den er soeben sanft gebettet hat, beruhigt der Sohn: »>Sei nur 
ruhig, du bist gut zugedeckt.< - >Nein!< rief der Vater, dafi die 
Antwort an die Frage stiefi, warf die Decke zuriick mit einer 
Kraft, dafi sie einen Augenblick im Fluge sich ganz entfaltete, 
und stand aufrecht im Bett. Nur eine Hand hielt er leicht an den 
Plafond. >Du wolltest mich zudecken, das weifi icfa, mein 
Friichtchen, aber zugedeckt bin ich nodi nicht. Und ist es auch 
die letzte Kraft, genug fur dich, zuviel fur dich! . . . Den Vater 
mufi glucklicherweise niemand lehren, den Sohn zu durch- 
schauen.< ... - Und er stand vollkommen frei und warf die 
Beine. Er strahlte vor Einsicht. - . . . >Jetzt weifit du also, 
was es noch aufier dir gab, bisher wufitest du nur von dir! Ein 
unsciiuldiges Kind warst du ja eigentlidi, aber noch eigentlicher 
warst du ein teuflischer Mensch!<« Der Vater, der die Last des 
Deckbetts abwirft, wirft eine Weltlast mit ihr ab. Weltalter mufi 
er in Bewegung setzen, um das uralte Vater-Sohn-Verhaltnis 
lebendig, folgenreich zu machen. Doch reich an welchen Folgen! 
Er verurteilt den Sohn zum Tode des Ertrinkens. Der Vater ist 
der Strafende. Ihn zieht die Schuld wie die Gerichtsbeamten an. 
Viel deutet darauf hin, dafi die Beamtenwelt und die Welt der 
Vater fur Kafka die gleiche ist. Die Ahnlichkeit ist nicht zu 
ihrer Ehre. Stumpfheit, Verkommenheit, Schmutz macht. sie 
aus. Die Uniform des Vaters ist iiber und ilber fleckig; seine 
Unterwasche ist unsauber. Schmutz ist das Lebenselement der 
Beamten. »Es war ihr unverstandlich, wozu es iiberhaupt Par- 
teienverkehr gab. >Um vorn die Haustreppe schmutzig zu 
machen<, hatte ihr einmal ein Beamter auf ihre Frage, wahr- 
scheinlich im Arger, gesagt, ihr aber war das sehr einleuchtend 
gewesen«. In dem Grade ist Unsauberkeit das Attribut der Be- 
amten, dafi man sie geradezu als riesenhafte Parasiten ansehen 
konnte. Das betrifft naturlich nicht die wirtschaftlichen Zusam- 
menhange, sondern die Krafte der Vernunft und der Mensch- 
lichkeit, von denen diese Sippe ihr Leben fristet. So fristet aber 
auch der Vater in den sonderbaren Familien Kafkas von dem 
Sohn sein Leben, liegt wie ein ungeheurer Parasit auf ihm. Er 
zehrt nicht nur an seiner Kraft, er zehrt an seinem Rechte dazu- 



412 Literarische und asthetisdie Essays 

sein. Der Vater, der der Strafende ist, ist zugleich audi der An- 
klager. Die Siinde, deren er den Sohn bezichtigt, scheint eine 
Art von Erbsiinde zu sein. Denn wen trifft die Bestimmung, 
welche Kafka von ihr gegeben hat, mehr als den Sohn: »Die 
Erbsiinde, das alte Unrecht, das der Mensch begangen hat, be- 
steht in dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er 
nicht ablafit, dafi ihm ein Unrecht geschehen ist, dafi an ihm die 
Erbsiinde begangen wurde.« Wer aber wird dieser Erbsiinde - 
der Siinde einen Erben gemacht zu haben - bezichtigt wenn 
nicht der Vater durch den Sohn? Somit ware der Siindige der 
Sohn. Nicht aber darf man aus dem Satze Kafkas schliefien, 
dafi die Bezichtigung siindig sei, weil falsch. Nirgends steht bei 
Kafka, dafi sie zu Unrecht erfolgt. Es ist ein immerwahrender 
Prozefi, der hier anhangig ist, und es kann auf keine Sache ein 
schlechteres Licht fallen als auf die, fur die der Vater die Soli- 
darity dieser Beamten, dieser Gerichtskanzleien in Anspruch 
nimmt. An ihnen ist eine grenzenlose Korrumpierbarkeit nicht 
das Schlechteste. Denn ihr Kern ist von soldier Beschaffenheit, 
dafi ihre Bestechlichkeit die einzige HofFnung ist, die die Mensch- 
lichkeit in ihrem Angesicht hegen kann. Zwar verfiigen die Ge- 
richte iiber Gesetzbiicher. Man darf sie aber nicht sehen. »>. . . es 
gehort zu der Art dieses Gerichtswesens, dafi man nicht nur 
unschuldig, sondern audi unwissend verufteilt wird<«, mut- 
mafit K. Gesetze und umschriebene Normen bleiben in der Vor- 
welt ungeschriebene Gesetze. Der Mensch kann sie ahnungslos 
iiberschreiten und so der Siihne verfallen. Aber so ungliicklich 
sie den Ahnungslosen treffen mag, ihr Eintritt ist im Sinne des 
Rechts nicht Zufall sondern Schicksal, das sich hier in seiner 
Zweideutigkeit darstellt. Schon Hermann Cohen hat es in einer 
fliichtigen Betrachtung der alten Schicksalsvorstellung eine »Ein- 
sicht, die unausweichlich wird,« genannt, dafi es seine »Ordnun- 
gen selbst sind, welche dieses Heraustreten, diesen Abfall zu ver- 
anlassen und herbeizufuhren scheinen.« So steht es audi mit der 
Gerichtsbarkeit, deren Verfahren sich gegen K. richtet. Es fiihrt 
weit hinter die Zeit der Zwolf-Tafel-Gesetzgebung in eine Vor- 
welt zuriick, iiber die einer der ersten Siege geschriebenes Recht 
war. Hier steht zwar das geschriebene Recht in Gesetzbiichern, 
jedoch geheim, und auf sie gestutzt, iibt die Vorwelt ihre Herr- 
schaft nur schrankenloser. 



Franz Kafka 413 

Die Zustande in Amt und Familie beriihren sich bei Kafka 
mannigfaltig. Im Dorf am Schlofiberg kennt man eine Wendung, 
die darein leuchtet. »>Es ist hier die Redensart, vielleicht kennst 
du sie: Amtliche Entscheidungen sind scheu wie junge Mad- 
chen.< >Das ist eine gute Beobachtung<, sagte K., . . . >eine gute 
Beobachtung, die Entscheidungen mogen noch andere Eigen- 
schaften mit Madchen gemeinsam haben.<« Deren bemerkens- 
werteste ist wohl, zu allem sich zu leihen, wie die scheuen Mad- 
chen, die K. im »Schlofi« und im »Prozefi« begegnen, und die 
der Unzucht im Familienschofi sich wie in einem Bene anheim- 
geben. Er findet sie auf seinem Weg auf Schritt und Tritt; das 
weitere macht so wenig Umstande wie die Eroberung des Aus- 
schankmadchens. »Sie umfafiten einander, der kleine Korper 
brannte in K.s Handen, sie rollten in einer Besinnungslosigkeit, 
aus der sich K. fortwahrend, aber vergeblich zu retten suchte, 
paar Schritte weit, schlugen dumpf an Klamms Tiir und lagen 
dann in den kleinen Pf utzen Biers und dem sonstigen Unrat, 
von dem der Boden bedeckt war. Dort vergingen Stunden, ... in 
denen K. immerfort das Gefuhl hatte, er verirre sich oder er sei 
so weit in der Fremde, wie vor ihm noch kein Mensch, eine 
Fremde, in der selbst die Luft keinen Bestandteil der Heimatluft 
habe, in der man vor Fremdheit ersticken miisse und in deren 
unsinnigen Verlockungen man doch nichts tun konne als weiter 
gehen, weiter sich verirren.« Von dieser Fremde werden wir noch 
horen. Bemerkenswert ist aber, dafi diese hurenhaften Frauen 
nie schon erscheinen. Vielmehr taucht Schonheit in der Welt von 
Kafka nur an den verstecktesten Stellen auf: bei den Angeklag- 
ten zum Beispiel. »>Das allerdings ist eine merkwiirdige, gewis- 
sermaften naturwissenschaftliche Erscheinung . . . Es kann nicht 
die Schuld sein, die sie schon rriacht . . . es kann audi nicht die 
richtige Strafe sein, die sie jetzt schon schon macht . . . es kann 
also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das 
ihnen irgendwie anhaftet.<« 

Aus dem »Prozefi« lafk sich entnehmen, dafi dieses Verfahren 
hoffnungslos fur die Angeklagten zu sein pflegt — selbst dann 
hoffnungslos, wenn ihnen die HofTnung auf Freispruch bleibt. 
Diese HofFnungslosigkeit mag es sein, die an ihnen als den 
einzigen Kafkaschen Kreaturen Schonheit zum Vorschein bringt. 
Zumindest wiirde das sehr gut mit einem Gesprachsfragment 



414 Literarische und asthetische Essays 

iibereinstimmen, das durch Max Brod iiberliefert wurde. »Ich 
entsinne mich«, schreibt er, »eines Gesprachs mit Kafka, 
das vom heutigen Europa und dem Verfall der Mensdiheit 
ausging. >Wir sind<, so sagte er, >nihilistische Gedanken, Selbst- 
mordgedanken, die in Gottes Kopf aufsteigen.< Mich erinnerte 
das zuerst an das Weltbild der Gnosis: Gott als boser Demiurg, 
die Welt sein Sundenfall. >Oh nein<, meinte er, >unsere Welt 
ist nur eine schlechte Laune Gottes, ein schlechterTag.< - >So gabe 
es aufierhalb dieser Erscheinungsform Welt, die wir kennen, 
Hoffnung?< - Er lachelte: >Oh, HoflFnung genug, unendlich viel 
Hoffnung - nur nicht fiir uns.<« Diese Worte schlagen eine 
Briicke zu jenen sonderbarsten Gestalten Kafkas, die als einzige 
dem Schofie der Familie entronnen sind und fiir die es vielleicht 
Hoffnung gibt. Das sind nicht die Tiere, nicht einmal jene Kreu- 
zungen oder Gespinstwesen, wie das Katzenlamm oder Odradek. 
Alle diese vielmehr leben noch im Bann der Familie. Nicht um- 
sonst erwacht Gregor Samsa gerade in der elterlichen Wohnung 
als Ungeziefer, nicht umsonst ist das eigentumliche Tier, halb 
Katzchen, halb Lamm, ein Erbstuck aus des Vaters Besitz, nicht 
umsonst Odradek die Sorge des Haus vaters. Die »Gehilfen« 
aber fallen in der Tat aus diesem Ringe heraus. 
Diese Gehilfen gehoren einem Gestaltenkreis an, der das ganze 
Werk Kafkas durchzieht. Von ihrer Sippe ist so gut der Bauern- 
fanger, der in der »Betrachtung« entlarvt wird, wie der Stu- 
dent, der nachts auf dem Balkon als Nachbar Karl Rofimanns 
zum Vorschein kommt, wie auch die Narren, die in jener Stadt 
im Siiden wohnen und nicht miide werden. Das Zwielicht iiber 
ihrem Dasein erinnert an die schwankende Beleuchtung, in der 
die kleinen Stiicke Robert Walsers - Verfasser des Romans »Der 
Gehulfe«, den Kafka sehr geliebt hat - ihre Figuren erscheinen 
lassen. Indische Sagen kennen die Gandharwe, unfertige Ge- 
schopfe, Wesen im Nebelstadium. Von ihrer Art sind die Gehil- 
fen Kafkas; keinem der anderen Gestaltenkreise zugehorig, 
keinem fremd: die Boten, die zwischen ihnen geschaftig sind. 
Sie sehen, wie Kafka sagt, dem Barnabas ahnlich, und der ist 
ein Bote. Noch sind sie aus dem Mutterschofie der Natur nicht 
voll entlassen und haben darum »sich in einer Ecke auf dem Bo- 
den auf zwei alten Frauenrocken eingerichtet. Es war ... ihr 
Ehrgeiz, . . . mogiichst wenig Raum zu brauchen, sie machten in 



Franz Kafka 4 X 5 

dieser Hinsicht, immer freilich unter Lispeln und Kichern, ver- 
schiedene Versuche, verschrankten Arme und Beine, kauerten 
sich gemeinsam zusammen, in der Dammerung sah man in ihrer 
Ecke nur ein grofies Knauel.« Fiir sie und ihresgleichen, die Un- 
fertigen und Ungeschickten, ist die Hoffnung da. 
Was zart unverbindlicher am Waken dieser Boten erkennbar 
wird, das ist auf lastende und diistere Art Gesetz fiir diese ganze 
Welt von Kreaturen. Keine hat ihre feste Stelle, ihren festen, 
nicht eintausdibaren Umrifi: keine die nicht im Steigen oder 
Fallen begriffen ist; keine die nicht mit ihrem Feinde oder Nach- 
barn tauscht; keine welche nicht ihre Zeit vollbracht und den- 
noch unreif, keine welche nicht tief erschopft und dennoch erst 
am Anfang einer langen Dauer ware. Von Ordnungen und 
Hierarchien zu sprechen, ist hier nicht moglich. Die Welt des 
Mythos, die das nahelegt, ist unvergleichlich jiinger als Kafkas 
Welt, der schon der Mythos die Erlosung versprochen hat. Wis- 
sen wir aber eins, so ist es dies: dafi Kafka seiner Lockung nicht 
gefolgt ist. Ein anderer Odysseus, liefi er sie »an seinen in die 
Feme gerichteten Blicken« abgleiten, »die Sirenen verschwan- 
den formlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen 
am nachsten war, wufite er nichts mehr von ihnen. « Unter den 
Ahnen, die Kafka in der Antike hat, den jiidischen und den 
chinesischen, auf die wir noch stofien werden, ist dieser griechi- 
sche nicht zu vergessen. Odysseus steht ja an der Schwelle, die 
Mythos und Marchen trennt. Vernunft und List hat Finten in 
den Mythos eingelegt; seine Gewalten horen auf, unbezwing- 
lich zu sein. Das Marchen ist die Uberlieferung vom Siege iiber 
sie. Und Marchen fiir Dialektiker schrieb Kafka, wenn er sich 
Sagen vornahm. Er setzte kleine Tricks in sie hinein; dann las er 
aus ihnen den Beweis davon, »dafi auch unzulangliche, ja kin- 
dische Mittel zur Rettung dienen konnen«. Mit diesen Worten 
leitet er seine Erzahlung von dem »Schweigen der Sirenen« ein. 
Die Sirenen schweigen namlich bei ihm; sie haben »eine noch 
schrecklichere Waffe als den Gesang, . . . ihr Schweigen«. Dieses 
brachten sie bei Odysseus zur Anwendung. Er aber, uberlieferte 
Kafka, »war so listenreich, war ein solcher Fuchs, dafi selbst 
die Schicksalsgottin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Viel- 
leicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu 
begreifen ist, wirklich gemerkt, dafi die Sirenen schwiegen, und 



4i6 Literarisdie und asthetische Essays 

hat ihnen und den Gottern den« iiberlieferten »Scheinvorgang 
nur gewissermafien als Schild entgegengehalten.« 
Bei Kafka sdiweigen die Sirenen. Vielleicht audi darum, weil 
die Musik und der Gesang bei ihm ein Ausdruck oder wenigstens 
ein Pfand des Entrinnens sind. Ein Pfand der Hoffnung, das 
wir aus jener kleinen, zugleidi unfertigen und alltaglichen, zu- 
gleidi trostlichen und albernen Mittelwelt haben, in welcher die 
Gehilfen zu Hause sind. Kafka ist wie der Bursche, der auszog, 
das Furchten zu lernen. Er ist in Potemkins Palast geraten, 
zuletzt aber, in dessen Kellerlodiern, auf Josefine, jene singende 
Maus gestoflen, deren Weise er so beschreibt: » Etwas von der 
armen kurzen Kindheit ist darin, etwas von verlorenem, nie 
wieder aufzufindendem Gliick, aber audi etwas vom tatigen 
heutigen Leben ist darin, von seiner kleinen, unbegreiflichen 
und dennoch bestehenden und nicht zu ertotenden Munter- 
keit.« 

Ein Kinderbild 

Es gibt ein Kinderbild von Kafka, selten ist die »arme kurze 
Kindheit« ergreifender Bild geworden. Es stammt wohl aus 
einem jener Ateliers des neunzehnten Jahrhunderts, die mit ihren 
Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien so zweideutig 
zwischen Folterkammer und Thronsaal standen. Da stellt sidi 
in einem engen, gleichsam demiitigenden, mit Posamenten iiber- 
ladenen Kinderanzug der ungefahr sechsjahrige Knabe in einer 
Art von Wintergartenlandschaft dar. Palmenwedel starren im 
Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch 
stickiger und schwiiler zu madien, tragt das Modell in der 
Linken einen ubermafiig grofien Hut mit breiter Krempe, wie 
ihn Spanier haben. Unermefilich traurige Augen beherrschen die 
ihnen vorbestimmte Landschaft, in die die Muschel eines grofien 
Ohrs hineinhorcht. 

Der inbriinstige » Wunsch, Indianer zu werden« mag einmal diese 
grofie Trauer verzehrt haben: »Wenn man doch ein Indianer 
ware, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in 
der Luft, immer wieder kurz erzitterte iiber dem zitternden 
Boden, bis man die Sporen liefi, denn es gab keine Sporen, bis 
man die Ziigel wegwarf, denn es gab keine Zugel, und kaum das 



Franz Kafka 417 

Land vor sich als glatt gemahte Heide sah, schon ohne Pferde- 
hals und Pferdekopf.« Vieles ist in diesem Wunsche enthalten. 
Die Erfullung gibt sein Geheimnis preis. Er findet sie in Ameri- 
ka. Dafi es mit »Amerika« eine besondere Bewandtnis hat, geht 
aus dem Namen des Helden hervor. Wahrend in den friiheren 
Romanen der Autor sich nie anders als mit dem gemurmelten 
Initial ansprach, erlebt er hier mit vollem Namen auf dem 
neuen Erdteil seine Neugeburt. Er erlebt sie auf dem Natur- 
theater von Oklahoma. »Karl sah an einer Strafienecke ein Pla- 
kat mit folgender Aufschrift: Auf dem Rennplatz in Clayton 
wird heute von sechs Uhr f ruh bis Mitternacht Personal fiir das 
Theater in Oklahoma aufgenommen! Das grofie Theater von 
Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt 
die Gelegenheit versaumt, versaumt sie fiir immer! Wer an seine 
Zukunft denkt,gehort zu uns! Jeder ist willkommen! WerKiinst- 
ler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden 
brauchen kann, jeden an seinemOrt! Wer sich fiir uns entschieden 
hat, den begliickwiinschen wir gleich hier! Aber beeilt euch, 
damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwolf Uhr 
wird alles geschlossen und nicht mehr geoffnet! Verflucht sei, 
wer uns nicht glaubt! Auf nach Clayton!« Der Leser dieser 
Ankiindigung ist Karl Rofimann, die dritte und glucklichere 
Inkarnation des K., der der Held von Kafkas Romanen ist. Das 
Gliick erwartet ihn auf dem Naturtheater von Oklahoma, das 
eine wirkliche Rennbahn ist, wie das »Ungliicklichsein« ihn einst 
auf dem schmalen Teppich seines Zimmers befallen hatte, auf 
dem er »wie in einer Rennbahn « einherlief. Seitdem Kafka seine 
Betrachtungen »zum Nachdenken fiir Herrenreiter« geschrie- 
ben hatte, den »neuen Advokaten« »hoch die Schenkel hebend, 
mit auf dem Marmor aufklingendem Schritt« die Gerichtstrep- 
pen hatte hinaufsteigen und seine »Kinder auf der Landstrafie« 
in grofien Satzen mit verschrankten Armen ins Land hatte 
traben lassen, ist ihm diese Figur vertraut gewesen und in der 
Tat kann es auch Karl Rofimann geschehen, »zerstreut infolge 
seiner Verschlafenheit, oft zu hohe zeitraubende und nutzlose 
Spriinge« zu machen. Darum also kann es nur eine Rennbahn 
sein, auf der er ans Ziel seiner Wunsche gelangt. 
Diese Rennbahn ist zugleich ein Theater, und das gibt ein 
Ratsel auf. Der ratselhafte Ort und die ganz ratsellose durch- 



4i 8 Literarische und asthetische Essays 

sichtige und lautere Figur des Karl Rofimann gehoren aber zu- 
sammen. Durchsichtig, lauter, geradezu diarakterlos ist Karl 
Rofimann in dem Sinne namlich, in dem Franz Rosenzweig in 
seinem »Stern der Erlosung« sagt, in China sei der innere Mensch 
» geradezu diarakterlos; der Begriff des Weisen, wie ihn klas- 
sisch . . . Kongfutse verkorpert, wischt liber alle mogliche Be- 
sonderheit des Charakters hinweg; er ist der wahrhaft charak- 
terlose, namlich der Durchschnittsmensch . . . Etwas ganz andres 
als Charakter ist es, was den chinesischen Menschen auszeichnet: 
eine ganz elementare Reinheit des Gefuhls.« Wie immer man 
es gedanklich vermitteln mag - vielleicht ist diese Reinheit 
des Gefiihls eine ganz besonders feine Waagschale des gestischen 
Verhaltens - in jedem Fall weist das Naturtheater von Okla- 
homa auf das chinesische Theater zuriick, welches ein gestisches 
ist. Eine der bedeutsamsten Funktionen dieses Naturtheaters 
ist die Auflosung des Geschehens in das Gestische. Ja man darf 
weitergehen und sagen, eine ganze Anzahl der kleineren Studien 
und Geschichten Kafkas treten erst in ihr voiles Licht, indem 
man sie gleichsam als Akte auf das Naturtheater von Okla- 
homa versetzt. Dann erst wird man mit Sicherheit erkennen, 
dafi Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die 
keineswegs von Hause aus fur den Verfasser eine sichere symbo- 
lische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen 
Zusammenhangen und Versuchsanordnungen um eine solche 
angegangen werden. Das Theater ist der gegebene Ort soldier 
Versuchsanordnungen. In einem unveroffentlichten Kommentar 
zum »Brudermord« hat Werner Kraft scharfblickend das Ge- 
schehen dieser kleinen Geschichte als ein szenisches durchschaut. 
»Das Spiel kann beginnen, und es wird wirklich durch ein 
Glockenzeichen angekiindigt. Dieses entsteht auf die naturlich- 
ste Weise, indem Wese das Haus verlafit, in welchem sein Biiro 
liegt. Aber diese Tiirglocke, heifit es ausdriicklich, ist >zu laut 
fiir eine Turglocke<, sie tont >iiber die Stadt hin zum Himmel 
auf<.« Wie diese Glocke, fiir eine Tiirglocke zu laut, zum Him- 
mel auftont, so sind die Gesten Kafkascher Figuren zu durch- 
schlagend fiir die gewohnte Umwelt und brechen in eine ge- 
raumigere ein. Je weiter Kafkas Meisterschaft gedieh, desto 
ofter verzichtete er darauf, diese Gebarden viblichen Situationen 
anzupassen, sie zu erklaren. »>Es ist audi eine sonderbare Art,<« 



Franz Kafka 4*9 

heifit es in der »Verwandlung«, »>sich auf das Pult zu setzen 
und von der Hohe herab mit dem Angestellten zu reden, der 
uberdies wegen der Schwerhorigkeit des Chefs ganz nahe her- 
antreten mufi.<« Solche Begriindungen hat sdion der »Prozefi« 
weit hinter sich gelassen. »Bei den ersten Banken« macht K., im 
vorletzten Kapitel, »halt, aber dem Geistlichen schien die 
Entfernung noch zu grofi, er streckte die Hand aus und zeigte 
mit dem scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle knapp 
vor der Kanzel. K. folgte audi darin, er mufite auf diesem Platz 
den Kopf schon weit zuriickbeugen, um den Geistlichen noch zu 
sehn.« 

Wenn Max Brod sagt: »Unabsehbar war die Welt der fiir ihn 
wichtigenTatsachen«,so war fiir Kafka sicher am unabsehbarsten 
der Gestus. Jeder ist ein Vorgang, ja man konnte sagen ein 
Drama, fiir sich. Die Biihne, auf der dieses Drama sich abspieh, 
ist das Welttheater, dessen Prospekt der Himmel darstellt. 
Andererseits ist dieser Himmel nur Hintergrund; nach seinem 
eigenen Gesetz ihn zu durchforschen, hiefie den gemalten Hin- 
tergrund der Biihne gerahmt in eine Bildergalerie hangen. Kafka 
reifk hinter jeder Gebarde - wie Greco - den Himmel auf; 
aber wie bei Greco - der der Schutzpatron der Expressionisten 
war - bleibt das Entscheidende, die Mitte des Geschehens die 
Gebarde. Gebiickt vor Schrecken gehen die Leute, die den Schlag 
ans Hoftor vernommen haben. So wiirde ein chinesischer Schau- 
spieler den Schreck darstellen, aber niemand zusammenfahren. 
An anderer Stelle spielt K. selbst Theater. Halb ohne es zu 
wissen, nahm er »langsam . . . mit vorsichtig auf warts gedrehten 
Augen . . . vom Schreibtisch ohne hinzusehn eines der Papiere, 
legte es auf die flache Hand und hob es allmahlich, wahrend er 
selbst aufstand, zu den Herren hinauf. Er dachte hiebei an merits 
Bestimmtes, sondern handelte nur in dem Gefiihl, da& er sich so 
verhalten miiftte, wenn er einmal die grofie Eingabe fertigge- 
stellt hatte, die ihn ganzlich entlasten sollte.« Die groEte Ratsel- 
haftigkeit mit grofiter Schlichtheit verbindet dieser Gestus als 
tierischer. Man kann die Tiergeschichten Kafkas auf eine gute 
Strecke lesen, ohne iiberhaupt wahrzunehmen, dafi es sich gar 
nicht um Menschen handelt. Stoftt man dann auf den Namen 
des Geschopfs - des Affen, des Hundes oder des Maulwurfs - 
so blickt man erschrocken auf und sieht, daE man vom Konti- 



4 20 Literarisdie und asthetische Essays 

nent des Menschen sdion weit entfernt ist. Doch Kafka ist das 
immer; der Gebarde des Menschen nimiiit er die iiberkommenen 
Stiitzen und hat an ihr dann einen Gegenstand zu Oberlegungen, 
die kein Ende nehmen. 

Sie nehmen aber sonderbarerweise audi dann kein Ende, wenn 
sie von Kafkas Sinngeschichten ausgehen. Man denke an die 
Parabel »Vor dem Gesetz«. Der Leser, der ihr im »Landarzt« 
begegnete, stiefi vielleicht auf die wolkige Stelle in ihrem Innern. 
Aber hatte er die nichtendenwollende Reihe von Erwagungen 
angestellt, die diesem Gleichnis dort entspringen, wo Kafka 
seine Auslegung unternimmt? Das geschieht durch den Geist- 
lichen im »Prozefi« - und zwar an einer so ausgezeichneten 
Stelle, dafi man vermuten konnte, der Roman sei nichts als die 
entfaltete Parabel. Das Wort »entfaltet« ist aber doppelsinnig. 
Entfaltet sich die Knospe zur Blute, so entfaltet sich das aus 
Papier gekniffte Boot, das man Kindern zu machen beibringt, 
zum glatten Blatt. Und diese zweite Art »Entfaltung« ist der 
Parabel eigentlich angemessen, des Lesers Vergniigen, sie zu glat- 
ten, so dafi ihre Bedeutung auf der flachen Hand liegt. Kafkas 
Parabeln entfalten sich aber im ersten Sinne; namlich wie die 
Knospe zur Blute wird. Darum ist ihr Produkt der Dichtung 
ahnlich. Das hindert nicht, dafi seine Stiicke nicht ganzlich in die 
Prosaformen des Abendlandes eingehen und zur Lehre ahnlich 
wie die Haggadah zur Halacha stehen. Sie sind nicht Gleichnisse 
und wollen doch auch nicht fur sich genommen sein; sie sind 
derart bescharfen, dafi man sie zitieren, zur Erlauterung erzah- 
len kann. Besitzen wir die Lehre aber, die von Kafkas Gleichnis- 
sen begleitet und in den Gesten K.'s und den Gebarden seiner 
Tiere erlautert wird? Sie ist nicht da; wir konnen hochstens 
sagen, dafi dies und jenes auf sie anspielt. Kafka hatte vielleicht 
gesagt: als ihr Relikt sie iiberhefert; wir aber konnen ebensowohl 
sagen: sie als ihr Vorlaufer vorbereitet. In jedem Falle handelt 
es sich dabei urn die Frage der Organisation des Lebens und der 
Arbeit in der menschlichen Gemeinschaft. Diese hat Kafka umso 
stetiger beschaftigt, als sie ihm undurchschaubar geworden ist. 
Wenn im beriihmten Erfurter Gesprach mit Goethe Napoleon 
an die Stelle des Fatums die Politik gesetzt hat, so hatte Kafka 
- dieses Wort variierend - die Organisation als Schicksal defi- 
nieren konnen. Und nicht nur in den ausgebreiteten Beamten- 



Franz Kafka 4 21 

hierarchien des »Prozesses« und des »Schlosses« steht sie ihm 
vor Augen, sondern greifbarer noch in den sdiwierigen und 
unubersehbaren Bauvorhaben, deren ehrwiirdiges Modell er im 
»Bau der Chinesischen Mauer« behandelt hat. 
»Die Mauer sollte zum Schutz fiir die Jahrhunderte werden; 
sorgfaltigster Bau, Benutzung der Bauweisheit aller bekannten 
Zeiten und Volker, dauerndes Gefiihl der personlichen Verant- 
wortung der Bauenden waren deshalb unumgangliche Voraus- 
setzung fiir die Arbeit. Zu den niederen Arbeiten konnten zwar 
unwissende Taglohner aus dem Volke, Manner, Frauen, Kinder, 
wer sich fiir gutes Geld anbot, verwendet werden; aber sdion 
zur Leitung von vier Taglohnern war ein verstandiger, im Bau- 
fach gebildeter Mann notig . . . Wir - ich rede hier wohl im Na- 
men vieler - haben eigentlich erst im Nachbuchstabieren der 
Anordnungen der obersten Fiihrerschaft uns selbst kennenge- 
lernt und gefunden, daft ohne die Fiihrerschaft weder unsere 
Schulweisheit noch unser Menschenverstand fiir das kleine Amt, 
das wir innerhalb des grofien Ganzen hatten, ausgereicht hatte.« 
Diese Organisation ahnelt dem Fatum. MetschnikofT, der in sei- 
nem beriihmten Buch »Die Zivilisation und die groften histori- 
schen Fliisse« ihr Schema gezeichnet hat, tut dies mit Wendun- 
gen, die von Kafka sein konnten. »Die Kanale des Jangtse-Kiang 
und die Damme des Hoang-ho«, schreibt er, »sind aller Wahr- 
scheinlichkeit nach ein Resultat kunstvoll organisierter gemein- 
samer Arbeit von . . . Generationen . . . Die kleinste Unachtsam- 
keit beim Stechen dieses oder jenes Grabens oder beim Stiitzen 
irgendeinesDammes,die geringste Nachlassigkeit, ein egoistisches 
Auftreten seitens eines Menschen oder einer Gruppe von Men- 
schen in der Sache der Erhaltung des gemeinsamen Wasserreich- 
tums, wird unter so ungewohnlichen Verhaltnissen die Quelle 
sozialer Obel und weitreichenden geselischaftlichen Ungliicks. 
Demnach fordert ein Fluft-Ernahrer mit Todesdrohen eine 
enge und dauernde Solidaritat zwischen jenen Massen der Be- 
volkerung, welche oft einander fremd, ja feindlich sind; er 
verurteilt Jedermann zu solchen Arbeiten, deren gemeinsame 
Nutzlichkeit sich erst mit der Zeit offenbart, und deren Plan 
sehr oft einem gewohnlichen Menschen ganz unverstandlich 
bleibt.« 
Kafka wollte sich zu den gewohnlichen Menschen gerechnet 



422 Literarische und asthetische Essays 

wissen. Die Grenze des Verstehens hat sidi ihm auf Schritt und 
Tritt aufgedrangt. Und gern drangt er sie andern auf. Er sdieint 
manchmal nicht weit entfernt, mit Dostojewskis Grofiinquisitor 
zu sagen: »So haben wir denn ein Mysterium vor uns, das wir 
nicht begreifen konnen. Und eben weil es ein Ratsel ist, so hatten 
wir das Recht, es zu predigen, den Menschen zu lehren, dajS 
das, woran gelegen ist, weder die Freiheit, noch die Liebe, 
sondern das Ratsel, das Geheimnis, das Mysterium ist, dem sie 
sich unterwerfen mussen - ohne Nachdenken und auch gegen 
ihr Gewissen.« Den Versuchungen des Mystizismus ist Kafka 
nicht immer aus dem Wege gegangen. Von seiner Begegnung 
mit Rudolf Steiner haben wir eine Tagebuchnotiz, die mindestens 
in der Gestalt, in der sie publiziert ist, die Stellungnahme Kaf- 
kas nicht enthalt. Hat er sich ihr entzogen? Sein Verfahren den 
eigenen Texten gegenuber lafit das keinesfalls als unmoglich 
erscheinen. Kafka verfiigte iiber eine seltene Kraft, sich Gleich- 
nisse zu schaffen. Trotzdem erschopft er sich in dem, was deut- 
bar ist, niemals, hat vielmehr alle erdenklichen Vorkehrungen 
gegen die Auslegung seiner Texte getrorfen. Mit Umsicht, mit 
Behutsamkeit, mit Mifitrauen muS man in ihrem Innern sich 
vorwartstasten. Man mufi sich Kafkas Eigenart zu lesen vor 
Augen halten, wie er sie in der Auslegung der genannten Pa- 
rabel handhabt. Man darf auch an sein Testament erinnern. Die 
Vorschrift, mit der er die Vernichtung einer Hinterlassenschaft 
anbefahl, ist den naheren Umstanden nach ebenso schwer er- 
griindlich, ebenso sorgfaltig abzuwagen, wie die Antworten des 
Turhuters vor dem Gesetz. Vielleicht wollte Kafka, den jeder 
Tag seines Lebens vor unentratselbare Verhaltungsweisen und 
undeutliche Verlautbarungen gestellt hat, im Tode wenigstens 
seiner Mitwelt mit gleicher Miinze heimzahlen. 
Kafkas Welt ist ein Welttheater. Ihm steht der Mensch von 
Haus aus auf der Buhne. Und die Probe auf das Exempel ist: 
Jeder wird auf dem Naturtheater von Oklahoma eingestellt. 
Nach welchen Maftstaben die Aufnahme erfolgt, ist nicht zu 
entratseln. Die schauspielerische Eignung, an die man zuerst 
denken sollte, spielt scheinbar gar keine Rolle. Man kann das 
aber auch so ausdriicken: den Bewerbern wird iiberhaupt nichts 
anderes zugetraut, als sich zu spielen. Dafi sie im Ernstfall sein 
konnten, was sie angeben, schaltet aus dem Bereich der Moglich- 



Franz Kafka 423 

keit aus. Mit ihren Rollen suciien die Personen ein Unterkom- 
men im Naturtheater wie die sechs Pirandelloschen einen Autor. 
Beiden ist dieser Ort die letzte Zuflucht; und das schliefit nicht 
aus, dafi er die Erlosung ist. Die Erlosung ist keine Pramie auf 
das Dasein, sondern die letzte Ausflucht eines Menschen, dem, 
wie Kafka sagt, »sein eigener Stirnknochen . . . den Weg« verlegt. 
Und das Gesetz dieses Theaters ist in dem versteckten Satz ent- 
halten, den der »Bericht fur eine Akademie« enthalt; ». . . ich 
ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen 
Grund.« K. scheint vor dem Ende seines Prozesses eine Ahnung 
von diesen Dingen aufzugehen. Er wendet sich plotzlich den 
beiden Herren im Zylinder zu, welche ihn abholen und fragt: 
»>An welchem Theater spielen Sie.< >Theater?< fragte der eine 
Herr mit zuckenden Mundwinkeln den andern um Rat. Der 
andere gebardete sich wie ein Stummer, der mit dem wider- 
spenstigen Organismus kampft.« Sie beantworten die Frage 
nicht, aber manches deutet darauf hin, dafi sie von ihr betroffen 
werden. 

An einer langen Bank, die man mit einem weifien Tuch bedeckt 
hat, werden alle, welche von nun ab am Naturtheater sind, be- 
wirtet. »AlIe waren frohlich und aufgeregt«. Engel werden zur 
Feier von den Statisten gestellt. Sie stehen auf hohen Postamen- 
ten, die von wallenden Gewandern iiberdeckt in ihrem Innern 
eine Treppe haben. Die Zuriistungen einer landlichen Kirmes, 
vielleicht auch eines Kinderfests, bei dem der eingeschnurte, 
aufgeputzte Knabe, von dem wir sprachen, dieTraurigkeit seines 
Blicks verloren hatte. - Hatten sie nicht die umgebundenen 
Fliigel, so waren diese Engel vielleicht echte. Sie haben ihre Vor- 
laufer bei Kafka. Der Impresario gehort zu ihnen, der zu dem 
vom »ersten Leid« befallenen Trapezkiinstler ins Gepacknetz 
steigt, ihn streichelt und sein Gesicht an das eigene driickt, »so dafi 
er auch von des Trapezkiinstlers Tranen iiberflossen wurde.« Ein 
anderer, ein Schutz-Engel oder Schutz-Mann nimmt sich nach 
dem »Brudermorde« des Morders Schmar an, der »den Mund 
an die Schulter des Schutzmannes gedriickt« leichtfiifiig von ihm 
davongefiihrt wird. - In die landlichen Zeremonien von Okla- 
homa klingt der letzte Roman Kafkas aus. »Bei Kafka - hat 
Soma Morgenstern gesagt - herrscht Dorfluft wie bei alien 
grofien Religionsstiftern.« Hier darf man um so mehr an die 



424 Literarische und asthetische Essays 

Darstellung der Frommigkeit durdi Laotse erinnern, als Kafka 
in dem »nachsten Dorfe« ihr die vollkommenste Umschreibung 
gewidmet hat: »Nachbarlander mogen in Sehweite liegen, | Dafi 
man den Ruf der Hahne und Hunde gegenseitig horen kann: | 
Und doch sollten die Leute im hochsten Alter sterben, | Ohne 
hin und her gereist zu sein.« Soweit Laotse. Kafka war audi ein 
Paraboliker, aber ein Religionsstifter war er nicht. 
Betrachten wir das Dorf, das am Fufie des Schlofibergs liegt, 
von dem aus K.s vorgebliche Berufung als Landvermesser 
so ratselhaft und unerwartet bestatigt wird. Brod hat, im Nach- 
wort zu diesem Roman, erwahnt, dafi Kafka bei diesem Dorf 
am Fufie des Schlofibergs eine bestimmte Siedlung, Ziirau im 
Erzgebirge, vorgeschwebt habe. Wir diirfen aber nodi ein ande- 
res Dorf in ihm erkennen. Es ist das einer talmudisdien Legende, 
die der Rabbi als Antwort auf die Frage erzahlt, warum der 
Jude am Freitagabend ein Festmahl riistet. Sie berichtet von 
einer Prinzessin, die in der Verbannung, von ihren Landsleuten 
fern, und in einem Dorf, dessen Sprache sie nicht verstehe, 
schmachte. Zu dieser Prinzessin kommt eines Tages ein Brief, ihr 
Verlobter habe sie nicht vergessen, habe sich aufgemacht und sei 
unterwegs zu ihr. - Der Verlobte, sagt der Rabbi, ist der Messias, 
die Prinzessin die Seele, das Dorf aber, in das sie verbannt" ist, 
der Korper. Und weil sie dem Dorf, das ihre Sprache nicht kennt, 
anders von ihrer Freude nichts mitteilen kann, riistet sie ihm 
ein Mahl. - Mit diesem Dorf des Talmud sind wir mitten in 
Kafkas Welt. Denn so wie K. im Dorf am Schlofiberg lebt der 
heutige Mensch in seinem Korper; er entgleitet ihm, ist ihm 
feindlich. Es kann geschehen, dafi der Mensch eines Morgens 
erwacht, und er ist in ein Ungeziefer verwandelt. Die Fremde - 
seine Fremde - ist seiner Herr geworden. Die Luft von diesem 
Dorf weht bei Kafka, und darum ist er nicht in Versuchung 
gekommen, Religionsstifter zu werden. Zu diesem Dorf gehort 
audi der Schweinestall, aus dem die Pferde fur den Landarzt 
hervorkommen, das stickige Hinterzimmer, in welchem Klamm, 
die Virginia im Munde, vor einem Glas Bier sitzt, und das 
Hoftor, an das zu schlagen den Untergang mit sich bringt. 
Die Luft in diesem Dorf ist nicht rein von all dem Ungewor- 
denen und Uberreifen, das so verderbt sich ineinandermischt. 
Kafka hat sie sein Lebtag atmen miissen. Er war kein Man- 



Franz Kafka 4 2 5 

tiker und audi kein Religionsstifter. Wie hat er es in ihr ausge- 
halten? 



Das bucklicht Mannlein 

Knut Hamsun, so erfuhr man vor langerer Zeit, habe die Ge- 
pflogenheit, hin und wieder den Briefkasten des Lokalblatts der 
kleinen Stadt, in deren Nahe er wohnt, mit seinen Ansiciiten zu 
beschicken. Es fand vor Jahren in dieser Stadt ein Schwurge- 
richtsprozefi gegen eine Magd statt, die ihr neugeborenes Kind 
umgebradit hatte. Sie wurde zu einer Gefangnisstrafe verurteilt. 
Bald darauf erschien im Lokalblatt eine Meinungsaufierung von 
Hamsun. Er sagt an, er werde einer Stadt den Rucken kehren, 
welche fiir eine Mutter, die ihr Neugeborenes tote, eine andere 
Strafe kenne als die schwerste; wenn schon nicht den Galgen, 
dann das lebenslangliche Zuchthaus. Es vergingen einige Jahre. 
»Segen der Erde« erschien und darinnen die Geschichte einer 
Dienstmagd, die das gleiche Verbrechen begeht, die gleiche 
Strafe erleidet und, wie der Leser deutlich erkennt, gewifi keine 
schwerere verdient hatte. 

Die nachgelassenen Reflexionen Kafkas, die im »Bau der Chine- 
sischen Mauer« enthalten sind, geben Anlafi, sich dieses Hergangs 
zu erinnern. Denn kaum war dieser Nachlafiband erschienen, 
als sich, gestutzt auf seine Reflexionen, eine Deutung Kafkas 
hervortat, die sich in deren Auslegung gefiel, um mit seinen 
eigentlichen Werken desto weniger Umstande zu machen. Zwei 
Wege gibt es, Kafkas Schriften grundsatzlich zu verfehlen. Die 
natiirliche Auslegung ist der eine, die iibernaturlidie ist der 
andere; am Wesentlichen gehen beide - die psychoanalytische 
wie die theologische - in gleicher Weise vorbei. Die erste ist 
vertreten von Hellmuth Kaiser; die zweite von nun schon zahl- 
reichen Autoren, wie H. J. Schoeps, Bernhard Rang, Groethuy- 
sen. Zu ihnen ist audi Willy Haas zu rechnen, der freilich in 
ferneren Zusammenhangen, auf die wir noch stof5en werden, 
Aufschlufireiches iiber Kafka bemerkt hat. Das hat ihn nicht 
davor bewahren konnen, das Gesamtwerk im Sinne einer theo- 
logischen Schablone auszudeuten. »Die obere Macht,« so schreibt 
er iiber Kafka, »den Bereich der Gnade, hat er dargestellt in 
seinem grofien Roman >Das Schlofi<, die untere, den Bereich des 



416 Literarische und asthetische Essays 

Geridits und der Verdammnis, in seinem ebenso grofien Roman 
>Der Prozefi<. Die Erde zwischen beiden, . . . das irdische Schick- 
sal und seine schwierigen Forderungen hat er in strenger Stili- 
sierung zu geben versucht in einem dritten Roman >Amerika<.« 
Das erste Drittel dieser Interpretation kann man, seit Brod, 
wohl als Gemeingut der Kafka-Interpretation betrachten. In die- 
sem Sinne schreibt z. B. Bernhard Rang: »Sofern man das Schlofi 
als den Sitz der Gnade ansehen darf, so bedeutet, theologisch 
gesprochen, eben dieses vergebliche Bemiihen und Versuchen, 
dafi sich die Gnade Gottes nicht willkiirlich und willentlich 
vom Menschen herbeifiihren und erzwingen lafit. Die Un- 
ruhe und Ungeduld verhindert und verwirrt nur die erhabene 
Stille des G6ttlichen.« Bequem ist diese Deutung; dafi sie unhalt- 
bar ist, erscheint, je weiter sie sich vorwagt, desto klarer. Am 
klarsten daher vielleicht bei Willy Haas, wenn er erklart: »Kaf- 
ka kommt . . . von Kierkegaard wie von Pascal, man kann 
ihn wohl den einzigen legitimen Enkel Kierkegaards und Pas- 
cals nennen. Alle drei haben das harte, blutig harte religiose 
Grundmotiv: dafi der Mensch immer im Unrecht ist vor Gott.« 
Kafkas »Oberwelt, sein sogenanntes >Schlofi< mit seinem unab- 
sehbaren, kleinlichen verzwickten und recht liisternen Beamten- 
stab, sein merkwiirdiger Himmel treibt ein furchterliches Spiel 
mit den Menschen . . .; und doch ist der Mensch ganz tief im 
Unrecht sogar vor diesem Gott.« Diese Theologie fallt weit hin- 
ter die Rechtfertigungslehre Anselms von Canterbury in bar- 
barische Spekulationen zuriick, die im iibrigen nicht einmal mit 
dem Wortlaut des Kafkaschen Textes vereinbar erscheinen. 
»>Kann denn<«, heifit es gerade im »Schlofi«, »>ein einzelner Be- 
amter verzeihen? Das konnte doch hochstens Sache der Gesamt- 
behorde sein, aber selbst diese kann wahrscheinlich nicht verzei- 
hen, sondern nur richten.<« Der Weg, der so beschritten worden 
ist, hat sich schnell totgelaufen. »Das alles«,sagt Denis de Rouge- 
mont, »ist nicht der elende Stand des Menschen, der ohne Gott 
ist, sondern der Elendsstand des Menschen, der einem Gott ver- 
haftet ist, den er nicht kennt, weil er Christum nicht kennt.« ■ 
Es ist leichter, aus der nachgelassenen Notizensammlung Kafkas 
spekulative Schliisse zu ziehen, als audi nur eines der Motive zu 
ergriinden, die in seinen Geschichten und Romanen auftreten. 
Aber nur sie geben einigen Aufschlufi uber die vorweltlichen 



Franz Kafka 427 

Gewalten, von denen Kafkas Schaffen beansprucht wurde; Ge- 
walten, die man freilich mit gleichem Recht audi als weltliche 
unserer Tage betraditen kann. Und wer will sagen, unter wel- 
chem Namen sie Kafka selbst erschienen sind. Fest steht nur 
dies: er hat in ihnen sich nicht zurechtgefunden. Er hat sie 
nicht gekannt. Er hat nur in dem Spiegel, den die Vorwelt ihm 
in Gestalt der Schuld entgegenhielt, die Zukunft in Gestalt des 
Gerichtes erscheinen sehen. Wie man sich dieses aber zu denken 
hat - ist es nicht das Jungste? macht es nicht aus dem Richter 
den Angeklagten? ist nicht das Verfahren die Strafe? - dar- 
auf hat Kafka keine Antwort gegeben. Versprach er sich etwas 
von ihr? Oder war es ihm nicht vielmehr darum zu tun, sie 
hintanzuhalten? In den Geschichten, die wir von ihm haben, 
gewinnt die Epik die Bedeutung wieder, die sie im Mund Sche- 
herazades hat: das Kommende hinauszuschieben. Aufschub 
ist im »Prozefi« die Hoffnung des Angeklagten - ginge nur 
das Verfahren nicht allmahlich ins Urteil iiber. Dem Erzvater 
selbst soil Aufschub zugute kommen, und miifite er seinen Platz 
in der Tradition dafiir hergeben. »Ich konnte mir einen andern 
Abraham denken, der - freilich wiirde er es nicht bis zum Erz- 
vater bringen, nicht einmal bis zum Altkleiderhandler - der die 
Forderung des Opfers sofort, bereitwillig wie ein Kellner zu 
erfiillen bereit ware, der das Opfer aber doch nicht zustande- 
brachte, weil'er von zuhause nicht fort kann, er ist unentbehr- 
lich, die Wirtschaft benotigt ihn, immerfort ist noch etwas anzu- 
ordnen, das Haus ist nicht fertig, aber ohne dafi sein Haus fer- 
tig ist, ohne diesen Riickhalt kann er nicht fort, das sieht audi 
die Bibel ein, denn sie sagt: >er bestellte sein Haus<«. 
»Bereitwillig wie ein Kellner« erscheint dieser Abraham. Etwas 
war immer nur im Gestus fur Kafka fafibar. Und dieser Gestus, 
den er nicht verstand, bildet die wolkige Stelle derParabeln. Aus 
ihm geht Kafkas Dichtung hervor. Es ist bekannt, wie er mit 
ihr zuriickhielt. Sein Testament befiehlt sie der Vernichtung 
an. Dies Testament, das keine Befassung mit Kafka umgehen 
kann, sagt, dafi sie ihren Autor nicht zufrieden stellte; dafi er 
seine Bemuhungen als verfehlt ansah; dafi er sich selbst zu denen 
rechnete, die scheitern mufiten. Gescheitert ist sein grofiartiger 
Versuch, die Dichtung in die Lehre zu uberfiihren und als Para- 
bel ihr die Haltbarkeit und die Unscheinbarkeit zuriickzugeben, 



4 2 8 Literarische und asthetische Essays 

die im Angesicht der Vernunft ihm als die einzig geziemende 
erschienen ist. Kein Dichter hat das »Du sollst Dir kein Bildnis 
machen« so genau befolgt. 

»Es war, als sollte die Scham ihn iiberleben« - das sind die 
Worte, die den »Prozefi« beschliefien. Die Scham, die seiner 
»elementaren Reinheit des Gefiihls« entspricht, ist die starkste 
Gebarde Kafkas. Sie hat aber ein doppeltes Gesicht. Die Scham, 
die eine intime Reaktion des Menschen ist, ist zugleich eine 
gesellschaftlich anspruchsvolle. Scham ist nicht nur Scham vor 
den andern, sondern kann audi Scham fiir sie sein. So ist Kafkas 
Scham nicht personlicher, als das Leben und Denken, das sie 
regiert und von dem er gesagt hat: »Er lebt nicht wegen seines 
personlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines personlichen 
Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Notigung einer 
Familie . . . Wegen dieser unbekannten Familie . . . kann er nicht 
entlassen werden.« Wir wissen nicht, wie diese unbekannte Fa- 
milie - aus Menschen und aus Tieren - sich zusammensetzt. 
Nur soviel ist klar, dafi sie es ist, die Kafka zwingt, Weltalter 
im Schreiben zu bewegen. Dem Geheifi dieser Familie folgend, 
walzt er den Block des geschicht lichen Geschehens wie Sisyphos 
den Stein. Dabei geschieht es, dafi dessen untere Seite ans Licht 
gerat. Sie ist nicht angenehm zu sehen. Doch Kafka ist imstande, 
ihren Anblick zu ertragen. »An Fortschritt glauben heifit nicht 
glauben, dafi ein Fortschritt schon geschehen ist. Das ware 
kein Glauben. « Das Zeitalter, in dem Kafka lebt, bedeutet ihm 
keinen Fortschritt liber die Uranfange. Seine Romane spielen 
in einer Sumpfwelt. Die Kreatur erscheint bei ihm auf der 
Stufe, die Bachofen als die hetarische bezeichnet. Dafi diese Stufe 
vergessen ist, besagt nicht, dafi sie in die Gegenwart nicht hin- 
einragt. Vielmehr: gegenwartig ist sie durch diese Vergessen- 
heit. Eine Erfahrung, die tiefer geht als die des Durdischnitts- 
biirgers, trifft auf sie auf. »Ich habe Erfahrung, « lautet eine der 
friihesten Aufzeichnungen Kafkas, »und es ist nicht scherzend 
gemeint, wenn ich sage, dafi es eine Seekrankheit auf festem 
Lande ist.« Nicht umsonst erfolgt die erste »Betrachtung« von 
einer Schaukel aus. Und unerschopflich ergeht sich Kafka iiber 
die schwankende Natur der Erfahrungen. Jede gibt nach, jede 
vermischt sich mit der entgegengesetzten. »Es war im Sommer,« 
so beginnt der »Schlag ans Hoftor«, »ein heifier Tag. Ich kam auf 



Franz Kafka 429 

dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem Hoftor 
voriiber. Ich weifi nicht, schlug sie aus Mutwillen ans Tor oder 
aus Zerstreuthek oder drohte sie nur mit der Faust und schlug 
gar nicht.« Die blofie Moglichkeit des an der dritten Stelle er- 
wahnten Vorgangs lafit die vorangehenden, die zunachst harmlos 
erschienen, in ein anderes Licht treten. Es ist der Moorboden 
soldier Erfahrungen, aus denen die Kafkaschen Frauengestalten 
aufsteigen. Sie sind Sumpfgeschopfe wie Leni, die »den Mittel- 
und Ringfinger ihrer rechten Hand« auselnanderspannt, »zwischen 
denen das Verbindungshautchen fast bis zum obersten Gelenk der 
kurzen Finger « reicht. - »>Schone 2eiten,<« erinnert die zwei- 
deutige Frieda sich ihres Vorlebens, »>du hast mich niemals nach 
meiner Vergangenheit gefragt.<«Diesefuhrt eben in den finsteren 
Schofi der Tiefe zuriick, wo sich jene Paarung vollzieht, »deren 
regellose Oppigkeit«, urn mit Bachofen zu reden, »den reinen 
Machten des himmlischen Lichts verhafit ist und die Bezeichnung 
luteae voluptates, deren sich Arnobius bedient, rechtfertigt.« 
Von hier aus erst lafit sich die Technik, die Kafka als Erzahler 
hat, begreifen. Wenn andere Romanfiguren dem K. etwas zu 
sagen haben, so tun sie das - mag es das Wichtigste, mag es das 
Oberraschendste sein - beilaufig und auf eine Weise, als miifite 
er es im Grunde langst gewufit haben. Es ist als ware da nichts 
Neues, als ergehe nur unauffallig an den Helden die Auffor- 
derung, sich doch einfallen zu lassen, was er vergessen habe. In 
diesem Sinn hat Willy Haas mit Recht den Hergang des 
»Prozesses« verstehen wollen und ausgesprochen, »dafi der 
Gegenstand dieses Prozesses, ja der eigentliche Held dieses un- 
glaublichen Buches, das Vergessen ist, . . . dessen . . . Haupt- 
eigenschaft ja ist, dafi er sich selbst vergifit . . . Es ist hier selbst 
geradezu stumme Gestalt geworden in dieser Figur des Ange- 
klagten, und zwar Gestalt von grofiartigster Intensitat.« Dafi 
» dieses geheimnisvolle Zentrum . . . der jiidischen Religion « 
entstammt, ist wohl nicht von der Hand zu weisen. »Hier 
spielt das Gedachtnis als Frommigkeit eine ganz geheimnisvolle 
Rolle. Es ist . . . nicht eine, sondern die tiefste Eigenschaft sogar 
Jehovas, dafi er gedenkt, dafi er ein untriigliches Gedachtnis 
>bis ins dritte und vierte Geschlecht<, ja bis ins >hundertste< be- 
wahrt; der heiligste . . . Akt des ... Ritus ist die Ausloschung 
der Sunden aus dem Buch des Gedachtnisses.« 



430 Literarische und asthetische Essays 

Das Vergessene - mit dieser Erkenntnis stehen wir vor einer 
weiteren Sdiwelle von Kafkas Werk - ist niemals ein nur 
individuelles. Jedes Vergessene mischt sich mit dem Vergessenen 
der Vorwelt, geht mit ihm zahllose, ungewisse, wechselnde Ver- 
bindungen zu immer wieder neuen Ausgeburten ein. Verges- 
senheit ist das Behaltnis, aus dem die unerschopfliche Zwischen- 
welt in Kafkas Geschichten ans Licht drangt. »Ihm gilt grade 
die Fiille der Welt als das allein Wirkliche. Aller Geist muli 
dinglich, besondert sein, urn hier Platz und Daseinsrecht zu be- 
kommen . . . Das Geistige, insofern es noch eine Rolle spielt, 
wird zu Geistern. Die Geister werden zu ganz individuellen 
Individuen, selber benannt und dem Namen des Verehrers aufs 
besonderste verbunden . . . Unbedenklich wird mit ihrer Fiille 
die Fiille der Welt noch uberfiillt . . . Unbekummert mehrt sich 
hier das Gedrange der Geister; . . . immer neue zu den alten, 
alle eigennamentlich von einander geschieden.« Es ist nun freilich 
nicht Kafka, von dem hier die Rede ist - es ist China. So be- 
schreibt Franz Rosenzweig im »Stern der Erlosung« den chinesi- 
schen Ahnenkult. Unabsehbar wie die Welt der fur ihn wichtigen 
Tatsachen aber war fur Kafka auch die seiner Ahnen und gewifi 
ist, dafi sie, wie die Totembaume der Primitiven, zu den Tieren 
hinunterfiihrte. Obrigens sind die Tiere nicht allein bei Kafka 
Behaltnisse des Vergessenen. Im tiefsinnigen »Blonden Eckbert« 
Tiecks steht der vergessene Name eines Hiindchens - Strohmian - 
als Chiffre einer ratselhaften Schuld. So kann man verstehen, 
dafi Kafka nicht miide wurde, den Tieren das Vergessene abzu- 
lauschen. Sie sind wohl nicht das Ziel; aber ohne sie geht es 
nicht. Man denke an den »Hungerkiinstler«, der »genau genom- 
men, nur ein Hindernis auf dem Weg zu den Stallen war.« Sieht 
man das Tier im »Bau« oder den »Riesenmaulwurf« nicht grii- 
beln, wie man sie wiihlen sieht? Und doch ist auf der anderen 
Seite dieses Denken wiederum etwas sehr Zerfahrenes. Un- 
schlussig schaukelt es von einer Sorge zur anderen, es nippt an 
alien Angsten und hat die Flatterhaftigkeit der Verzweiflung. 
So gibt es denn bei Kafka audi Schmetterlinge; aus dem schuld- 
beladenen »Jager Gracchus«, der von seiner Schuld nichts wis- 
sen will, »>ist ein Schmetterling geworden<«. »>Lachen Sie nicht<, 
sagt der Jager Gracchus. « - Soviel ist sidier: unter alien Ge- 
schopfen Kafkas kommen am meisten die Tiere zum Nachden- 



Franz Kafka 43 l 

ken. Was die Korruption im Recht ist, das ist in ihrem Denken 
die Angst. Sie verpfuscht den Vorgang und ist doch das einzig 
Hoffnungsvolle in ihm. Weil aber die vergessenste Fremde wiser 
Korper - der eigene Korper - ist, versteht man, wie Kafka den 
, Husten, der aus seinem Innern brach, »das Tier« genannt hat. 
Er war der vorgeschobenste Posten der grofien Herde. 
Der sonderbarste Bastard, den die Vorwelt bei Kafka mit der 
Schuld gezeugt hat, ist Odradek. »Es sieht zunachst aus wie 
eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsachlich scheint es auch 
mit Zwirn bezogen; allerdings diirften es nur abgerissene, alte, 
aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirn- 
stiicke von verschiedenster Art und Farbe sein. Es ist aber nicht 
nur eine Spule, sondern aus der Mine des Sternes kommt ein 
kleines Querstabchen hervor und an dieses Stabchen fiigt sich 
dann im rechten Winkel noch eines. Mit Hilfe dieses letzteren 
Stabchens auf der einen Seite, und einer der Ausstrahlungen 
des Sternes auf der anderen Seite, kann das Ganze wie auf zwei 
Beinen aufrecht stehen.« Odradek »halt sich abwechselnd auf 
dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gangen, im Flur 
auf«. Es bevorzugt also die gleichen Orte wie das Gericht, wel- 
ches der Schuld nachgeht. Die Boden sind der Ort der ausran- 
gierten, vergessenen Effekten. Vielleicht ruft der Zwang, vor 
dem Gericht sich einzufinden, ein ahnliches Gefiihl hervor wie 
der, an jahrelang verschlossene Truhen auf dem Boden heran- 
zugehen. Gern wiirde man das Unternehmen bis ans Ende der 
Tage aufschieben so wie K. seine Verteidigungsschrift geeignet 
flndet, »einmal nach der Pensionierung den kindisch geworde- 
nen Geist zu beschaftigen«. 

Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit an- 
nehmen. Sie sind entstellt. Entstellt ist die »Sorge des Haus- 
vaters«, von der niemand weifi, was sie ist, entstellt das Unge- 
ziefer, von dem wir nur allzu gut wissen, daft es den Gregor 
Samsa darstellt, entstellt das grofie Tier, halb Lamm halb Katz- 
chen, fiir das vielleicht »das Messer des Fleischers eine Erlosung« 
ware. Diese Figuren Kafkas aber sind durch eine lange Reihe 
von Gestalten verbunden mit dem Urbilde der Entstellung, dem 
Buckligen. Unter den Gebarden Kafkascher Erzahlungen^ be- 
gegnet keine haufiger als die des Mannes, der den Kopf tief auf 
die Brust herunterbeugt. Das ist die Miidigkeit bei den Gerichts- 



432 Literarische und asthetische Essays 

herren, der Larm bei den Portiers in dem Hotel, die niedere 
Decke bei den Galeriebesuchern. In der »Strafkolonie« aber be- 
dienen sich die Gewalthaber einer altertumlichen Maschinerie, 
die verschnorkelte Lettern in den Rucken der Schuldigen ein- 
graviert, die Stiche mehrt, die Ornamente hauft solange, bis 
der Rucken der Schuldigen hellsehend wird, selber die Schrift 
entziffern kann, aus deren Lettern er den Namen seiner 
unbekannten Schuld entnehmen mufi. Es ist also der Rucken, 
dem es aufliegt. Und ihm liegt es bei Kafka seit jeher auf. So 
in der friihen Tagebuchnotiz: »Um moglichst schwer zu sein, 
was ich fiir das Einschlafen fur gut halte, hatte ich die Arme 
gekreuzt und die Hande auf die Schulter gelegt, so dafi ich dalag 
wie ein bepackter Soldat.« Handgreiflich geht hier das Beladen- 
sein mit dem Vergessen - des Schlafenden - zusammen. Im 
»Bucklichen Mannlein« hat das Volkslied das Gleiche versinn- 
bildlicht. Dies Mannlein ist der Insasse des entstellten Lebens; 
es wird verschwinden, wenn der Messias kommt, von dem ein 
grofier Rabbi gesagt hat, dafi er nicht mit Gewalt die Welt ver- 
andern wolle, sondern nur um ein Geringes sie zurechtstellen 
werde. 

»Geh ich in mein Kammerlein, | Will mein Bettlein machen; | 
Steht ein bucklicht Mannlein da, | Fangt als an zu lachen.« Das 
ist das Lachen Odradeks, von dem es heifit: »Es klingt etwa so, 
wie das Rascheln in gefallenen Blattern.« »Wenn ich an mein 
Banklein knie, | Will ein bifilein beten; | Steht ein bucklicht 
Mannlein da, | Fangt als an zu reden. | Liebes Kindlein, ach ich 
bitt, | Bet' fur's bucklicht Mannlein mit!« So endet das Volks- 
lied. In seiner Tiefe beriihrt Kafka den Grund, den weder das 
»mythische Ahnungswissen« noch die »existenzielle Theologies 
ihm gibt. Es ist der Grund des deutschen Volkstums so gut wie 
des jlidischen. Wenn Kafka nicht gebetet hat - was wir nicht 
wissen - so war ihm doch aufs hochste eigen, was Malebranche 
»das natiirliche Gebet der Seele« nennt - die Aufmerksam- 
keit. Und in sie hat er, wie die Heiligen in ihre Gebete, alle 
Kreatur eingeschlossen. 



Franz Kafka 433 

Sancbo Pansa 

In einem chassidischen Dorf , so erzahlt man, safien eines Abends 
zu Sabbath-Ausgang in einer armlichen Wirtschaft die Juden. 
Ansassige waren es, bis auf einen, den keiner kannte, einen ganz 
armlichen, zerlumpten, der im Hintergrunde im Dunkeln einer 
Ecke kauerte. Hin und her waren die Gesprache gegangen. Da 
brachte einer auf, was sich wohl jeder zu wunschen dachte, wenn 
er einen Wunsch frei hatte. Der eine wollte Geld, der andere 
einen Schwiegersohn, der dritte eine neue Hobelbank, und so 
ging es die Runde herum. Als jeder zu Worte gekommen war, 
blieb noch der Bettler in der dunklen Ecke. Widerwillig und 
zogernd gab er den Fragern nach: »Ich wollte, ich ware ein 
grofimachtiger Konig und herrschte in einem weiten Lande 
und lage nachts und schliefe in meinem Palast und von der 
Grenze brache der Feind herein und ehe es dammerte waren die 
Berittenen bis vor mein Schlofi gedrungen und keinen Wider- 
stand gabe es und aus dem Schlaf geschreckt, nicht Zeit mich 
audi nur zu bekleiden, und im Hemd, hatte ich meine Fluent 
antreten miissen und sei durch Berg und Tal und iiber Wald 
und Hugel und ohne Ruhe Tag und Nacht gejagt, bis ich hier 
auf der Bank in eurer Ecke gerettet angekommen ware. Das 
wiinsche ich mir.« Verstandnislos sahen die andern einander an. 
- »Und was hattest du von diesem Wunsch?« fragte einer. - 
»Ein Hemd« war die Antwort. 

Diese Geschichte fiihrt tief in den Haushalt von Kafkas Welt. 
Niemand sagt ja, die Entstellungen, die der Messias zurechtzu- 
riicken einst erscheinen werde, seien nur solche unseres Raums. 
Sie sind gewifi audi solche unserer Zeit. Bestimmt hat das Kafka 
gedacht. Und aus soldier Gewifiheit seinen Grofivater sagen las- 
sen: »>Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung 
drangt es sich mir so zusammen, dafi ich zum Beispiel kaum be- 
greife, wie ein junger Mensch sich entschliefien kann ins nachste 
Dorf zu reiten, ohne zu fiirchten, dafi - von ungliicklichen Zu- 
fallen ganz abgesehen - schon die Zeit des gewohnlichen, gllick- 
lich ablaufenden Lebens fiir einen soldien Ritt bei weitem nicht 
hinreicht.<« Ein Bruder dieses Alten ist der Bettler, der in 
seinem »gewohnlichen, glucklich ablaufenden« Leben nicht ein- 
mal Zeit zu einem Wunsche findet, dem ungewohnlichen, un- 



434 Literarische und asthetische Essays 

gliicklidien der Flucht aber, in die er sidi mit seiner Geschichte 
hineinbegibt, dieses Wunsches iiberhoben ist und ihn fur die Er- 
fiillung eintauscht. 

Es gibt nun unter den Geschopfen Kafkas eine Sippe, die auf 
eigentiimliche Weise mit der Kiirze des Lebens rechnet. Sie 
stammt aus der »Stadt im Siiden . . ., von der es . . . hiefi: - 
>Dort sind Leute! Denkt Euch, die schlafen nicht !< - >Und 
warum denn nicht ?< - >Weil sie nicht miide werden.< - >Und 
warum denn nicht?< - >Weil sie Narren sind.< - >Werden denn 
Narren nicht miide?< - >Wie konnten Narren miide werden!<« 
Man sieht, die Narren sind mit den nimmermuden Gehilfen 
verwandt. Es geht aber mit dieser Sippe noch hoher hinaus. Bei- 
laufig horte man von den Gesichtern der Gehilfen, sie liefien 
»>auf Erwachsene, ja fast auf Studenten schliefien<«. Und in der 
Tat sind die Studenten, die bei Kafka an den sonderbarsten 
Stellen zum Vorschein kommen, die Wortfiihrer und Regenten 
dieses Geschlechts. »>Aber wann schlafen Sie?< fragte Karl und 
sah den Studenten verwundert an. - >Ja, schlafen !< sagte der 
Student. > Schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium 
fertig bin.<« Man mufi an die Kinder denken: wie ungern gehen 
sie zu Bett! wahrend sie schlafen, konnte doch etwas vorkom- 
men, was sie beansprucht. »Vergifi das Beste nicht !« lautet 
eine Bemerkung, »die uns aus einer unklaren Fiille alter Erzah- 
lungen gelaufig ist, trotzdem sie vielleicht in keiner vorkommt.« 
Aber das Vergessen betrifft immer das Beste, denn es betrifft die 
Moglichkeit der Erlosung. »>Der Gedanke, mir helfen zu wol- 
len,<« sagt ironisch der ruhelos irrende Geist des Jagers Grac- 
chus, »>ist eine Krankheit und mufi im Bett geheilt werden.<« 

- Bei ihren Studien wachen die Studenten, und vielleicht ist es die 
beste Tugend der Studien, sie wachzuhalten. Der Hungerkiinst- 
ler fastet, der Turhiiter schweigt und die Studenten wachen. So 
versteckt wirken bei Kafka die grofien Regeln der Askese. 

Das Studium ist ihre Krone. Mit Andacht bringt Kafka sie aus 
den versunkenen Knabenjahren an den Tag. » Nicht viel anders 

- jetzt war es schon lange her - war Karl zu Hause am Tisch 
der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrieben, wah- 
rend der Vater die Zeitung las oder Bucheintragungen und 
Korrespondenzen fur einen Verein erledigte und die Mutter mit 
einer Naharbeit beschaftigt war und hoch den Faden aus dem 



Franz Kafka 435 

Stoffe zog. Um den Vater nicht zu belastigen, hatte Karl nur 
das Heft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, wahrend er 
die notigen Biicher rechts und links von sich auf Sesseln ange- 
ordnet hatte. Wie still war es dort gewesen! Wie selten war en 
fremde Leute in jenes Zimmer gekommen!<< Vielleicht sind diese 
Studien ein Nichts gewesen. Sie stehen aber jenem Nichts sehr 
nahe, das das Etwas erst brauchbar macht - dem Tao namlich. 
Ihm ging Kafka mit seinem Wunsch nach, »einen Tisch mit pein- 
lich ordentlicher Handwerksmafiigkeit zusammenzuhammern 
und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar nicht so, dafi man 
sagen konnte: >Ihm ist das Hammern ein Nichts<, sondern >Ihm 
ist das Hammern ein wirkliches Hammern und gleichzeitig 
audi ein Nichts<, wodurch ja das Hammern noch kiihner, 
noch entschlossener, noch wirklicher und, wenn du willst, noch 
irrsinniger geworden ware.« Und eine so entschlossene, so fana- 
tische Gebarde haben die Studierenden beim Studium. Sie kann 
nicht sonderbarer gedacht werden. Die Schreiber, die Studenten 
sind aufier Atem. Sie jagen nur so dahin. »>Oft diktiert der Be- 
amte so leise, daft der Schreiber es sitzend gar nicht horen kann, 
dann mufi er immer aufspringen, das Diktierte auffangen, 
schnell sich setzen und es aufschreiben, dann wieder aufspringen 
und so weiter. Wie merkwtirdig das ist! Es ist fast unverstand- 
lich.<« Vielleicht versteht man es aber besser, wenn man an die 
Schauspieler des Naturtheaters zuriickdenkt. Schauspieler miis- 
sen blitzschnell auf ihr Stichwort aufpassen. Und sie ahneln 
diesen Beflissenen auch sonst. Fiir sie ist in der Tat »>das Ham- 
mern ein wirkliches Hammern und gleichzeitig auch ein Nichts<« 
- wenn es namlich in ihrer Rolle steht. Diese Rolle studieren 
sie; der ware ein schlechter Schauspieler, der ein Wort oder 
einen Gestus aus ihr vergafie. Fiir die Glieder der Truppe von 
Oklahoma aber ist sie ihr friiheres Leben. Daher die »Natur« 
dieses Naturtheaters. Seine Schauspieler sind erlost. Der Student 
aber ist es noch nicht, dem Karl nachts auf dem Balkon stumm 
zusieht, wie er in seinem Buche liest, »die Blatter wendete, hie 
und da in einem andern Buche, das er immer mit Blitzesschnelle 
ergriff, irgend etwas nachschlug und ofters Notizen in ein Heft 
eintrug, wobei er immer uberraschend tief das Gesicht zu dem 
Hefte senkte.« 
Den Gestus derart zu vergegenwartigen ist Kafka unermud- 



43 6 Literarische und asthetische Essays 

lich. Aber das gesdiieht nie anders als mit Staunen. Man hat K. 
mit Recht dem Schweyk verglichen; den einen wundert alles, 
den andern nichts. Im Zeitalter der aufs Hochste gesteigerten 
Entfremdung der Menschen voneinander, der unabsehbar ver- 
mittelten Beziehungen, die ihre einzigen wurden, sind Film und 
Grammophon erfunden worden. Im Film erkennt der Mensch 
den eigenen Gang nicht, im Grammophon nicht die eigene Stim- 
me. Experimente beweisen das. Die Lage der Versuchsperson in 
diesen Experimenten ist Kafkas Lage. Sie ist es, die ihn auf das 
Studium anweist. Vielleicht stofit er dabei auf Fragmente des 
eigenen Daseins, welche noch im Zusammenhang der Rolle stehen. 
Er wiirde den verlorenen Gestus zu fassen bekommen wie Peter 
Schlemihl seinen verkauften Schatten. Er wiirde sich verstehen, 
aber wie riesenhaft ware die Anstrengung! Denn es ist ja ein 
Sturm, der aus dem Vergessen herweht. Und das Studium ein 
Ritt, der dagegen angeht. So reitet auf der Ofenbank der Bett- 
ler seiner Vergangenheit entgegen, um in der Gestalt des fliehen- 
den Konigs seiner selbst habhaft zu werden. Dem Leben, das fiir 
einen Ritt zu kurz ist, entspricht dieser Ritt, der lang genug fiir 
das Leben ist, ». . . bis man die Sporen liefi, denn es gab keine 
Sporen, bis man die Ziigel wegwarf, denn es gab keine Ziigel, 
und kaum das Land vor sich als glatt gemahte Heide sah, 
schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.« So geht die Phantasie 
vom seligen Reiter in Erfullung, der der Vergangenheit auf 
leerer, frohlicher Reise entgegenbraust und seinem Renner keine 
Last mehr ist. Unselig aber der Reiter, der an seine Mahre ge- 
kettet ist, weil er das Zukunftsziel sich vorgesetzt hat - und sei 
es audi das nachste: der Kohlenkeller. Unselig audi sein Tier, 
unselig beide: der Kiibel und der Reiter. »Als Kiibelreiter, die 
Hand oben am Griff, dem einfachsten Zaumzeug, drehe ich 
mich beschwerlich die Treppe hinab; unten aber steigt mein Kii- 
bel auf, prachtig, prachtig; Kamele, niedrig am Boden hinge- 
lagert, steigen, sich schiittelnd unter dem Stock des Fiihrers, nicht 
schoner auf.« Hoffnungsloser ofTnet sich keine Gegend als »die 
Regionen der Eisgebirge«, in denen der Kiibelreiter sich auf 
Nimmerwiedersehen verliert. Aus »den untersten Regionen des 
Todes« blast der Wind, der ihm giinstig ist - derselbe, der bei 
Kafka so oft aus der Vorwelt weht, und von dem auch der 
Kahn des Jagers Gracchus sich treiben lafit. »Oberall«, sagt 



Franz Kafka 437 

Plutarch, »wird bei Mysterien und Opfern, sowohl unter Grie- 
chen als unter Barbaren, gelehrt, . . . dafi es zwei besondere 
Grundwesen und einander entgegengesetzte Krafte geben musse, 
von denen das eine reenter Hand und geradeaus fiihrt, das an- 
dere aber umlenkt und wieder zuriicktreibt.« Umkehr ist die 
Richtung des Studiums, die das Dasein in Schrift verwandelt. Ihr 
Lehrmeister ist jener Bucephalus, der »neue Advokat«, der ohne 
den gewaltigen Alexander - und das heifit: des vorwartsstiir- 
menden Eroberers ledig - den Weg zuriick nimmt. »Frei, unbe- 
driickt die Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, 
fern dem Getose der Alexanderschlacht, Hest und wendet er die 
Blatter unserer alten Bucher.« - Diese Geschichte ist vor einiger 
Zeit durch Werner Kraft zum Gegenstand der Deutung gemacht 
worden. Nachdem der Interpret mit Sorgfalt jeder Einzelheit 
des Textes sich gewidmet hat, bemerkt er: »Nirgendwo in der 
Literatur gibt es eine so gewaltige, so durchschlagende Kritik des 
Mythos in seinem ganzen Umfang, wie hier.« Das Wort »Ge- 
rechtigkeit« - so meint der Ausleger - braucht Kafka nicht; 
trotzdem sei es die Gerechtigkeit, von der aus die Kritik am 
Mythos statt hat. - Sind wir aber so weit einmal gegangen, so 
geraten wir in Gefahr, Kafka zu verfehlen, indem wir hier 
haltmachen. Ist es denn wirklich das Recht, das so, im Namen 
der Gerechtigkeit, gegen den Mythos aufgeboten werden konn- 
te? Nein, als Rechtsgelehrter bleibt der Bucephalus seinem Ur- 
sprung treu. Nur scheint er - darin durfte im Sinne Kafkas das 
Neue fur den Bucephalus und fur die Advokatur liegen - nicht 
zu praktizieren. Das Recht, das nicht mehr praktiziert und nur 
studiert wird, das ist die Pforte der Gerechtigkeit. 
Die Pforte der Gerechtigkeit ist das Studium. Und doch wagt 
Kafka nicht, an dieses Studium die Verheifiungen zu kniipfen, 
welche die Oberlieferung an das der Thora geschlossen hat. 
Seine Gehilfen sind Gemeindediener, denen das Bethaus, seine 
Studenten Schuler, denen die Schrift abhanden kam. Nun halt 
sie nichts mehr auf der »leeren frohlichen Fahrt«. Kafka aber 
hat das Gesetz der seinen gefunden; ein einziges Mai zumindest, 
als es ihm gliickte, ihre atemraubende Schnelligkeit einem epi- 
schen Pafischritt anzugleichen, wie er ihn wohl sein Lebtag ge- 
sucht hat. Er hat es einer Niederschrift anvertraut, die nicht nur 
darum seine vollendetste wurde, weil sie eine Auslegung ist. 



43 ^ Literarische und asthetische Essays 

»Sancho Pansa, der sich iibrigens dessen nie geriihmt hat, gelang 
es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer Menge Ritter- 
und Rauberromane in den Abend- und Naditstunden seinen 
Teufel, dem er spater den Namen Don Quixote gab, derart von 
sich abzulenken, dafi dieser dann haltlos die verrucktesten Ta- 
ten auffuhrte, die aber mangels eines vorbestimmten Gegen- 
standes, der eben Sancho Pansa hatte sein sollen, niemandem 
schadeten. Saneho Pansa, ein freier Mann, folgte gleichmutig, 
vielleicht aus einem gewissen Verantwortlichkeitsgefiihl dem 
Don Quixote auf seinen Ziigen und hatte davon eine grofie 
und niitzliche Unterhaltung bis an sein Ende.« 
Gesetzter Narr und unbeholfener Gehilfe, hat Sancho Pansa 
seinen Reker vorangeschickt. Bucephalus hat den seinigen iiber- 
lebt. Ob Mensch, ob Pferd ist nicht mehr so wichtig, wenn nur 
die Last vom Riicken genommen ist. 



Der Erzahler 
Betraditungen zum Werk Nikolai Lesskows 



I. 

Der Erzahler - so vertraut uns der Name klingt - ist uns in 
seiner lebendigen Wirksamkeit keineswegs durchaus gegenwartig. 
Er ist uns etwas bereits Entferntes und weiter noch sich Entfer- 
nendes. Einen Lesskow 1 als Erzahler darstellen heiiSt nicht, 
ihn uns naher bringen, heifSt vielmehr den Abstand zu ihm ver- 
grofiern. Aus einer gewissen Entfernung betrachtet gewinnen die 
grofien einfachen Ziige, die den Erzahler ausmachen, in ihm 

1 Nikolai Lesskow wurde 1831 im Gouvernement Orjol geboren und starb 1895 
in Petersburg. Er hat seinen bauerlichen Interessen und Sympathien nadi gewisse 
Verwandtsdiaften mit Tolstoi, seiner religibsen Orientierung nacfa mit Dostojewski. 
Aber gerade diejenigen Schriften, die dem grundsatzlich und doktrinar Ausdruck 
geben, die Romane der Fruhzeit haben sich als der vergangliche Teil seines Werkes 
crwiesen. Lesskows Bedeutung Hegt in den Erzahlungen, und die gehoren einer 
spateren Schicht seiner Produktion an. Seit Kriegsende sind mehrere Versuche unter- 
nommen worden, diese Erzahlungen im deutschen Sprachkreis bekannt zu machen. 
Neben den kleineren Auslesebanden des Musarion-Verlags und des Verlags Georg 
Muller steht, an erster Stelle, die neunbandige Auswahl des Verlags C. H. Beck. 



Der Erzahler 439 

die Oberhand. Besser gesagt, sie treten an ihm in Ersdieinung 
wie in einem Felsen fur den Beschauer, der den rechten Abstand 
hat und den richtigen Blickwinkel, ein Menschenhaupt oder ein 
Tierleib ersdieinen mag. Diesen Abstand und diesen Blickwinkel 
schreibt uns eine Erfahrung vor, zu der wir fast taglich Gelegen- 
heit haben. Sie sagt uns, dafi es mit der Kunst des Erzahlens zu 
Ende geht. Immer seltener wird die Begegnung mit Leuten, wel- 
che rechtschaffen etwas erzahlen konnen. Immer haufiger ver- 
breitet sich Verlegenheit in der Runde, wenn der Wunsch nach 
einer Geschichte laut wird. Es 1st, als wenn ein Vermogen, das 
uns unveraufierlich schien, das Gesichertste unter dem Sicheren, 
von uns genommen wiirde. Namlich das Vermogen, Erfahrungen 
auszutauschen. 

Eine Ursache dieser Erscheinung liegt auf der Hand: die Erfah- 
rung ist im Kurse gefallen. Und es sieht aus, als fiele sie weiter 
ins Bodenlose. Jeder Blick in die Zeitung erweist, dafi sie einen 
neuen Tiefstand erreicht hat, dafi nicht nur das Bild der aufiern, 
sondern audi das Bild der sittlichen Welt iiber Nacht Verande- 
rungen erlitten hat, die man niemals fiir moglich hlelt. Mit dem 
Weltkrieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der 
seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht 
bei Kriegsende bemerkt, dafi die Leute verstummt aus dem Fel- 
de kamen? nicht reicher - armer an mitteilbarer Erfahrung. Was 
sich dann zehn Jahre spater in der Flut der Kriegsbucher er- 
gossen hatte, war alles andere als Erfahrung gewesen, die von 
Mund zu Mund geht. Und das war nicht merkwiirdig. Denn nie 
sind Erfahrungen griindlicher Liigen gestraft worden als die 
strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen 
durch die Inflation, die korperlichen durch die Materialschlacht, 
die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch 
mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem 
Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverandert geblie- 
ben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zer- 
storender Strome und Explosionen, der winzige, gebrechliche 
Menschenkorper. 



44° Literarische und asthetische Essays 

II. 

Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der 
alle Erzahler geschopft haben. Und unter denen, die Geschichten 
niedergesdirieben haben, sind es die Grofien, deren Nieder- 
schrift sich am wenigsten von der Rede der vielen namenlosen 
Erzahler abhebt. Im ubrigen gibt es unter den letzteren zwei, 
freilich vielfach einander durciidringende Gruppen. Audi be- 
kommt die Figur des Erzahlers ihre voile Korperlichkeit nur 
fur den, der sie beide vergegenwartigt. »Wenn einer eine Reise 
tut, so kann er was erzahlen«, sagt der Volksmund und denkt 
sich den Erzahler als einen, der von weither kommt. Aber nicht 
weniger gern hort man dem zu, der, redlich sidi nahrend, im 
Lande geblieben ist und dessen Geschichten und Oberlieferungen 
kennt. Will man diese beiden Gruppen in ihren archaischen 
Stellvertretern vergegenwartigen, so ist die eine im sefihaften 
Ackerbauer und die andere im handeltreibenden Seemann ver- 
korpert. In der Tat haben beider Lebenskreise gewissermafien 
ihren eigenen Stamm von Erzahlern hervorgebracht. Jeder von 
diesen Stammen wahrt einige seiner Eigenschaften noch in spa- 
ten Jahrhunderten. So gehen, unter den neueren deutschen Er- 
zahlern, die Hebel und Gotthelf aus dem ersten, die Sealsfield 
und Gerstacker aus dem zweiten hervor. Im ubrigen aber 
handelt es sich bei jenen Stammen, wie gesagt, nur um Grund- 
typen. Die reale Erstreckung des Reiches der Erzahlungen in 
seiner ganzen historischen Breite ist nicht ohne die innigste 
Durchdringung dieser beiden archaischen Typen denkbar. Eine 
solche Durchdringung hat ganz besonders das Mittelalter in 
seiner Handwerksverfassung zustande gebracht. Der sefihafte 
Meister und die wandernden Burschen werkten in den gleichen 
Stuben zusammen; und jeder Meister war Wanderbursche gewe- 
sen, bevor er in seiner Heimat oder in der Fremde sich nieder- 
liefi. Wenn Bauern und Seeleute Altmeister des Erzahlens ge- 
wesen sind, so war der Handwerksstand seine hohe Schule. In 
ihm verband sich die Kunde von der Feme, wie der Vielge- 
wanderte sie nach Hause bringt, mit der Kunde aus der Ver- 
gangenheit, wie sie am liebsten dem Seflhaften sich anvertraut. 



Der Erzahler 441 

III. 

Lesskow ist in der Feme des Raumes wie der Zeit zu Hause. Er 
gehorte der griechisch-orthodoxen Kirche an, und zwar als ein 
Mann mit aufrichtigem religiosen Interesse. Er war aber ein 
nicht minder aufrichtiger Gegner der kirchlichen Biirokratie. Da 
er mit derh weltlichen Beamtentum ebensowenig auskommen 
konnte, sind die offiziellen Positionen, in denen er sich befun- 
den hat, nicht von Dauer gewesen. Fiir seine Produktion war die 
Stellung, die er lange als russischer Vertreter einer grofien eng- 
lisdien Firma behauptet hat, unter alien vermutlich die niitz- 
lichste. Im Auftrag dieser Firma hat er Rufiland bereist, und 
diese Reisen beforderten ebensosehr seine Weltklugheit wie 
seine Kenntnis der russischen Zustande. Auf diese Weise hatte 
er Gelegenheit, das Sektenwesen im Lande kennen zu lernen. 
Das hat in den Erzahlungen seine Spur hinterlassen. In den 
russischen Legenden hat Lesskow Verbiindete in dem Kampf 
gesehen, den er gegen die orthodoxe Biirokratie gefuhrt hat. Es 
gibt von ihm eine Reihe legendarer Erzahlungen, deren Mitte 
der Gerechte darstellt, selten ein Asket, meist ein schlichter und 
tatiger Mann, der zum Heiligen anscheinend auf die natiirlichste 
Art von der Welt wird. Mystische Exaltation ist nicht Lesskows 
Sache. So gern er dem Wunderbaren bisweilen nachhing, so halt 
er es "audi in der Frommigkeit am liebsten mit einem hand- 
festen Naturell. Er sieht das Vorbild in dem Mann, der sich 
auf der Erde zurechtfindet, ohne sich allzutief mit ihr einzulas- 
sen. Eine entsprechende Haltung hat er auf weltlichem Gebiet 
an den Tag gelegt. Es pafit gut zu ihr, dafi er mit Schreiben spat, 
namlich mit 29 Jahren, begann. Das war nach seinen Handels- 
reisen. Seine erste gedruckte Arbeit hiefi »Warum sind in Kiew 
die Bucher teuer?«. Eine weitere Reihe von Schriften liber 
die Arbeiterklasse, liber Trunksucht, uber Polizeiarzte, uber 
stellungslose Kaufleute sind die Vorlaufer der Erzahlungen. 



IV. 

Die Ausrichtung auf das praktische Interesse ist ein charakteri- 
stischer Zug bei vielen geborenen Erzahlern. Nachhaltiger als 
bei Lesskow kann man ihn zum Beispiel bei einem Gotthelf er- 



44 2 Literarische und asthetische Essays 

kennen, der seinen Bauern landwirtschaftliche Ratschlage 
gab; man findet ihn bei einem Nodier, der sicii mit den Gefah- 
ren der Gasbeleuchtung beschaftigte; und ein Hebel, der seinen 
Lesern kleine naturwissenschaftliche Unterweisungen in das 
»Schatzkastlein« schob, steht gleichfalls in dieser Reihe. Das 
alles deutet auf die Bewandtnis, die es mit jeder wahren Erzah- 
lung hat. Sie fiihrt, offen oder versteckt,. ihren Nutzen mit 
sich. Dieser Nutzen mag einmal in einer Moral bestehen, ein 
andermal in einer praktischen Anweisung, ein drittes in einem 
Spridrwort oder in einer Lebensregel - in jedem Falle ist 
der Erzahler ein Mann, der dem Horer Rat weifi. Wenn aber 
»Rat wissen« heute altmodisch im Ohre zu klingen anfangt, so 
ist daran der Umstand schuld, dafi die Mitteilbarkeit der Erfah- 
rung abnimmt. Infolge davon wissen wir uns und andern keinen 
Rat. Rat ist ja minder Antwort auf eine Frage als ein Vorschlag, 
die Fortsetzung einer (eben sich abrollenden) Geschichte an- 
gehend. Um ihn einzuholen, miifite man sie zuvorderst einmal 
erzahlen konnen. (Ganz davon abgesehen, dafi ein Mensch einem 
Rat sich nur soweit offnet, als er seine Lage zu Wort kommen 
lafit.) Rat, in den Stoff gelebten Lebens eingewebt, ist Weisheit. 
Die Kunst des Erzahlens neigt ihrem Ende zu, weil die epische 
Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt. Das aber ist ein 
Vorgang, der von weither kommt. Und nichts ware torichter, 
als in ihm lediglich eine »Verfallserscheinung«, geschweige 
denn eine »moderne«, erblicken zu wollen. Vielmehr ist es nur 
eine Begleiterscheinung sakularer geschichtlicher Produktivkraf- 
te, die die Erzahlung ganz allmahlich aus dem Bereich der leben- 
digen Rede entriickt hat und zugleich eine neue Schonheit in 
dem Entschwindenden fiihlbar macht. 

V. 

Das friiheste Anzeichen eines Prozesses, an dessen Abschlufi der 
Niedergang der Erzahlung steht, ist das Aufkommen des 
Romans zu Beginn der Neuzeit. Was den Roman von der Er- 
zahlung (und vom Epischen im engeren Sinne) trennt, ist sein 
wesentliches Angewiesensein auf das Buch. Die Ausbreitung des 
Romans wird erst mit Erfindung der Buchdruckerkunst moglich. 
Das mundlich Tradierbare, das Gut der Epik, ist von anderer 



Der Erzahler 443 

BescharTenheit als das, was den Bestand des Romans ausmacht. 
Es hebt den Roman gegen alle iibrigen Formen der Prosadich- 
tung - Marchen, Sage, ja selbst Novelle - ab, dafi er aus 
miindlicher Tradition weder kommt noch in sie eingeht. Vor 
allem aber gegen das Erzahlen. Der Erzahler nimmt, was 
er erzahlt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. 
Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Ge- 
schichte zuhoren. Der Romancier hat sich abgeschieden. Die 
Geburtskammer des Romans ist das Individuum in seiner Ein- 
samkeit, das sich liber seine wichtigsten Anliegen nicht mehr 
exemplarisch auszusprechen vermag, selbst unberaten ist und 
keinen Rat geben kann. Einen Roman schreiben heiEt, in der 
Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable 
auf die Spitze treiben. Mitten in der Fulle des Lebens und durch 
die Darstellung dieser Fulle bekundet der Roman die tiefe 
Ratlosigkeit des Lebenden. Das erste grofie Buch der Gattung, 
der Don Quichote, lehrt sogleich, wie die Seelengrofie, die 
Kiihnheit, die Hilfsbereitschaft eines der Edelsten - eben des 
Don Quichote - von Rat ganzlich verlassen sind und nicht 
den kleinsten Funken Weisheit enthalten, Wenn im Laufe der 
Jahrhunderte hin und wieder - am nachhaltigsten vielleicht in 
»Wilhelm Meisters Wanderjahre« - versucht wurde, dem Roman 
Unterweisungen einzusenken, so laufen diese Versuche immer 
auf eine Abwandlung der Romanform selber hinaus. Der Bil- 
dungsroman dagegen weicht von der Grundstruktur des Romans 
in gar keiner Weise ab. Indem er den gesellschaftlichen Lebens- 
prozefi in der Entwicklung einer Person integriert, lafk er den 
ihn bestimmenden Ordnungen die denkbar bruchigste Recht- 
fertigung angedeihen. Ihre Legitimierung steht windschief zu 
ihrer Wirklichkeit. Das Unzulangliche wird gerade im Bil- 
dungsroman Ereignis. 

VI. 

Man mufi sich die Umwandlung von epischen Formen in 
Rhythmen vollzogen denken, die sich denen der Verwandlung 
vergleichen lassen, die im Laufe der Jahrhunderttausende die 
Erdoberflache erlitten hat.Schwerlich haben sich Formen mensch- 
licher Mitteilung langsamer ausgebildet, langsamer verloren. Der 



444 Literarische und asthetische Essays 

Roman, dessen Anfange in das Altertum zuriickgreifen, hat 
Hunderte von Jahren gebraudit, ehe er im werdenden Burger- 
turn auf die Elemente stiefi, die ihm zu seiner Bliite taugten. 
Mit dem Auftreten dieser Elemente begann sodann die Erzah- 
lung ganz langsam in das Archaische zuriickzutreten; sie be- 
machtigte sich zwar vielfach des neuen Inhalts, wurde aber nicht 
eigentlich von ihm bestimmt. Auf der anderen Seite erkennen 
wir, wie mit der durchgebildeten Herrschaft des Biirgertums, 
zu deren wichtigsten Instrumenten im Hochkapitalismus die 
Presse gehort, eine Form der Mitteilung auf den Plan tritt, die, 
soweit ihr Ursprung audi zuriickliegen mag, die epische Form 
nie vordem auf bestimmende Weise beeinflufit hat. Nun aber 
tut sie das. Und es zeigt sich, daf$ sie der Erzahlung nicht weni- 
ger fremd aber viel bedrohlicher als der Roman gegenubertritt, 
den sie iibrigens ihrerseits einer Knse zufiihrt. Diese neue Form 
der Mitteilung ist die Information. 

Villemessant, der Begriinder des »Figaro«, hat das Wesen der 
Information in einer beriihmten Formel gekennzeichnet. »Mei- 
nen Lesern, pflegte er zu sagen, ist ein Dachstuhlbrand im Quar- 
ter latin wichtiger als eine Revolution in Madrid. « Das stellt 
mit einem Schlage klar, dafi nun nicht mehr die Kunde, die von 
fernher kommt, sondern die Information, die einen Anhalts- 
punkt fur das Nachste liefert, am liebsten Gehor findet. Die 
Kunde, die aus der Feme kam - sei es die raumliche fremder 
Lander, sei es die zeitliche der Uberlieferung -, verfiigte iiber 
eine Autoritat, die ihr Geltung verschaffte, auch wo sie nicht der 
Kontrolle zugefiihrt wurde. Die Information aber macht den 
Anspruch auf prompte Nachpriifbarkeit. Da ist es das erste, dafi 
sie »an und fiir sich verstandlich« auftritt. Sie ist oft nicht exak- 
ter als die Kunde friiherer Jahrhunderte es gewesen ist. Aber 
wahrend diese gern vom Wunder borgte, ist es fiir die Informa- 
tion unerlafiiich, dafi sie plausibel klingt. Dadurch erweist sie 
sich mit dem Geist der Erzahlung unvereinbar. Wenn die Kunst 
des Erzahlens selten geworden ist, so hat die Verbreitung der 
Information einen entscheidenden Anteil an diesem Sachver- 
halt. 

Jeder Morgen unterrichtet uns iiber die Neuigkeiten des Erd- 
kreises. Und doch sind wir an merkwurdigen Geschichten arm. 
Das kommt, weil uns keine Begebenheit mehr erreicht, die nicht 



Der Erzahler 445 

mit Erklarungen schon durchsetzt ware. Mit andern Worten: 
beinah nichts mehr, was geschieht, kommt der Erzahlung, bei- 
nah alles der Information zugute. Es ist namlich schon die halbe 
Kunst des Erzahlens, eine Geschichte, indem man sie wiedergibt, 
von Erklarungen freizuhalten. Darin ist Lesskow Meister (man 
denke an Stiicke wie »Der Betrug«, »Der weifie Adler«). Das 
Aufierordentliche, das Wunderbare wird mit der grofken 
Genauigkeit erzahlt, der psychologische Zusammenhang des Ge- 
schehens aber wird dem Leser nicht aufgedrangt. Es ist ihm frei- 
gestellt, sich die Sache zurechtzulegen, wie er sie versteht, und 
damit erreicht das Erzahlte eine Schwingungsbreite, die der In- 
formation fehlt. 



VII. 

Lesskow ist in die Schule der Alten gegangen. Der erste Erzah- 
ler der Griechen war Herodot. Im vierzehnten Kapitel des 
dritten Buches seiner »Historien« findet sich eine Geschichte, aus 
der sich viel lernen lafit. Sie handelt von Psammenit. Als der 
Agypterkonig Psammenit von dem Perserkonig Kambyses ge- 
schlagen und gefangen genommen worden war, sah Kambyses 
es darauf ab, den Gefangenen zu demiitigen. Er gab Befehl, 
Psammenit an der Strafie aufzustellen, durch die sich der persi- 
sche Triumphzug bewegen sollte. Und weiter richtete er es so 
ein, dafi der Gefangene seine Tochter als Dienstmagd, die mit 
dem Krug zum Brunnen ging, vorbeikommen sah. Wie alle 
Agypter liber dieses Schauspiel klagten und jammerten, stand 
Psammenit allein wortlos und unbeweglich, die Augen auf den 
Boden geheftet; und als er bald darauf seinen Sohn sah, der zur 
Hinrichtung im Zuge mitgefuhrt wurde, blieb er gleichfalls un- 
bewegt. Als er danach aber einen von seinen Dienern, einen 
alten, verarmten Mann, in den Reihen der Gefangenen erkann- 
te, da schlug er mit den Fausten an seinen Kopf und gab alle 
Zeichen der tiefsten Trauer. 

Aus dieser Geschichte ist zu ersehen, wie es mit der wahren Er- 
zahlung stent. Die Information hat ihren Lohn mit dem Au- 
genblick dahin, in dem sie neu war. Sie lebt nur in diesem Au- 
genblick, sie mu6 sich ganzlich an ihn ausliefern und ohne Zeit 
zu verlieren sich ihm erklaren. Anders die Erzahlung; sie ver- 



446 Literarisdie und asthetische Essays 

ausgabt sich nicht. Sie bewahrt ihre Kraft gesammelt und ist 
noch nach langer Zeit der Entfaltung fahig. So ist Montaigne 
auf die vom Agypterkonig zuriickgekommen und hat sich ge- 
fragr.Warum klagt er erst beimAnblick des Dieners? Montaigne 
antwortet: »Da er von Trauer schon ubervoll war, brauchte es 
nur den kleinsten Zuwachs, und sie brach ihre Damme nieder.« 
So Montaigne. Man konnte aber audi sagen: »Den Konig riihrt 
nicht das Schicksal der Koniglichen, denn es ist sein eigenes.« 
Oder: »Uns riihrt auf der Biihne vieles, was uns im Leben nicht 
riihrt; dieser Diener ist nur ein Schauspieler fur den Konig. « 
Oder: »Grofier Schmerz staut sich und kommt erst mit der Ent- 
spannung zum Durchbruch. Der Anblick dieses Dieners war die 
Entspannung.« - Herodot erklart nichts. Sein Bericht ist der 
trockenste. Darum ist diese Geschichte aus dem alten Agypten 
nach Jahrtausenden noch imstande, Staunen und Nachdenken 
zu erregen. Sie ahnelt den Samenkornern, die jahrtausendelang 
luftdicht verschlossen in den Kammern der Pyramiden gelegen 
und ihre Keimkraft bis auf den heutigen Tag bewahrt haben. 

VIII. 

Es gibt nichts, was Geschichten dem Gedachtnis nachhaltiger 
anempfiehlt als jene keusche Gedrungenheit, welche sie psycho- 
logischer Analyse entzieht. Und je naturlicher dem Erzahlenden 
der Verzicht auf psychologische Schattierung vonstatten geht, 
desto grofier wird ihre Anwartschaft auf einen Platz im Ge- 
dachtnis des Horenden, desto vollkommener bilden sie sich seiner 
eigenen Erfahrung an, desto lieber wird er sie schliefilich eines 
naheren oder ferneren Tages weitererzahlen. Dieser Assimila- 
tionsprozefi, welcher sich in der Tiefe abspielt, bedarf eines Zu- 
standes der Entspannung, der seltener und seltener wird. Wenn 
der Schlaf der Hohepunkt der korperlichen Entspannung ist, 
so die Langeweile der geistigen. Die Langeweile ist der Traum- 
vogel, der das Ei der Erfahrung ausbriitet. Das Rascheln im 
Blatterwalde vertreibt ihn. Seine Nester - die Tatigkeiten, die 
sich innig der Langenweile verbinden - sind in den Stadten 
schon ausgestorben, verf alien audi auf demLande.Damit verliert 
sich die Gabe des Lauschens, und es verschwindet die Gemein- 
schaft der Lauschenden. Geschichten erzahlen ist ja immer die 



Der Erzahler 447 

Kunst, sie weker zu erzahlen, und die verliert sidi, wenn die 
Geschiditen nicht mehr behalten werden. Sie verliert sich, weil 
nidit mehr gewebt und gesponnen wird, wahrend man ihnen 
lauscht. Je selbstvergessener der Lauschende, desto tiefer pragt 
sich ihm das Gehorte ein. Wo ihn der Rhythmus der Arbeit 
ergriffen hat, da lauscht er den Geschiditen auf solche Weise, 
dafi ihm die Gabe, sie zu erzahlen, von selber zufallt. So also 
ist das Netz beschaffen, in das die Gabe zu erzahlen gebettet 
ist. So lost es sich heutzutage an alien Enden, nachdem es vor 
Jahrtausenden im Umkreis der altesten Handwerksformen ge- 
kniipft worden ist. 



IX. 

Die Erzahlung, wie sie im Kreis des Handwerks - des bauer- 
lichen, des maritimen und dann des stadtischen - lange gedeiht, 
ist selbst eine gleichsam handwerkliche Form der Mitteilung. Sie 
legt es nicht darauf an, das pure »an sich« der Sache zu iiberlie- 
fern wie eine Information oder ein Rapport. Sie senkt die Sache 
in das Leben des Berichtenden ein, um sie wieder aus ihm 
hervorzuholen. So haftet an der Erzahlung die Spur des Er- 
zahlenden wie die Spur der Topferhand an der Tonschale. Es 
ist die Neigung der Erzahler, ihre Geschichte mit einer Darstel- 
lung der Umstande zu beginnen, unter denen sie selber das, was 
nachfolgt, erfahren haben, wenn sie es nicht schlichtweg als 
selbsterlebt ausgeben. Lesskow beginnt den »Betrug« mit der 
Schilderung einer Eisenbahnfahrt, auf der er die Ereignisse, die 
er sodann nacherzahlt, von einem Mitreisenden gehort habe; 
oder er denkt an Dostojewskis Begrabnis, auf das er die Be- 
kanntschaft mit der Heldin seiner Erzahlung »Anlafilich der 
Kreutzersonate« versetzt; oder er ruft das Beisammensein in 
einem Lesezirkel herauf, in dem die Begebenheiten zur Sprache 
kamen, die er uns in den »Interessanten Mannern« wiedergibt. 
So liegt seine Spur im Erzahlten vielfach zu Tage, wenn 
nicht als die des Erlebenden so als die des Berichterstatters. 
Diese handwerkliche Kunst, das Erzahlen, hat Lesskow im 
ubrigen selbst als ein Handwerk empfunden. »Die Schriftstellerei, 
heifit es in einem seiner Briefe, ist fiir mich keine freie Kunst, 
sondern ein Handwerk. « Es kann nicht uberraschen, dafi er 



448 Literarische und asthetische Essays 

sich dem Handwerk verbunden gefuhlt hat, der industriellen 
Technik dagegen fremd gegenuberstand. Tolstoi, der dafiir 
Verstandnis gehabt haben mufl, beriihrt gelegentlich diesen Nerv 
der Erzahlergabe von Lesskow, wenn er ihn als den Ersten be- 
zeichnet, »der auf das Unzulangliche des okonomischen Fort- 
schrittes hinwies . . . Es ist seltsam, dafi man Dostojewski so 
viel liest . . . Hingegen begreife ich einfach nicht, warum 
Lesskow nicht gelesen wird. Er ist ein wahrheitsgetreuer Schrift- 
steller.« In seiner verschlagenen und ubermiitigen Geschichte 
»Der stahlerne Floh«, die zwischen Sage und Schwank die 
Mitte halt, hat Lesskow das heimische Handwerk an den 
Silberschmieden von Tula verherrlicht. Ihr Meisterwerk, der 
stahlerne Floh, kommt Peter dem Grofien vor Augen und 
uberzeugt ihn, dafi die Russen sich vor den Englandern nicht zu 
schamen brauchen. 

Das geistige Bild jener handwerklichen Sphare, der der Erzah- 
ler entstammt, ist vielleicht niemals auf so bedeutungs voile Weise 
umschrieben worden wie von Paul Valery. Er spricht von den 
vollkommenen Dingen in der Natur, makellosen Perlen, vollen, 
gereiften Weinen, wirklich durchgebildeten Geschopfen und 
nennt sie »das kostbare Werk einer langen Kette einander ahn- 
licher Ursachen«. Die Anhaufung solcher Ursachen aber habe 
ihre zeitliche Schranke nur an der Vollkommenheit. »Dieses ge- 
duldige Verfahren der Natur, sagt Paul Valery weiter, wurde 
vom Menschen einst nachgeahmt. Miniaturen, aufs vollendetste 
durchgearbeitete Elfenbeinschnitzereien, Steine, die nach Politur 
und Pragung vollkommen sind, Arbeiten in Lack oder Male- 
reien, in denen eine Reihe diinner, transparenter Schichten sich 
ubereinander legen ... - alle diese Hervorbringungen ausdau- 
ernder, entsagungsvoller Bemiihung sind im Verschwinden, und 
die 2eit ist vorbei, in der es auf Zeit nicht ankam. Der heutige 
Mensch arbeitet nicht mehr an dem, was sich nicht abkiirzen 
lafk.« In der Tat ist ihm gegliickt, selbst die Erzahlung abzu- 
kiirzen. Wir haben das Werden der short story erlebt, die sich 
der miindlichen Tradition entzogen hat und jenes langsame 
Einander-Oberdecken diinner und transparenter Schichten nicht 
mehr erlaubt, das das trefTendste Bild von der Art und Weise 
abgibt, in der die vollkommene Erzahlung aus der Schichtung 
vielfacher Nacherzahlungen an den Tag tritt. 



Der Erzahler 449 

Valery endet seine Betrachtung mit diesem Satz: »Es ist fast, 
als fiele der Schwund des Gedankens der Ewigkeit mit der 
wachsenden Abneigung gegen langdauernde Arbeit zusammen.« 
Der Gedanke der Ewigkeit hat von jeher seine starkste Quelle 
im Tod gehabt. Wenn dieser Gedanke schwindet, so folgern 
wir, mufi das Gesicht des Todes ein anderes geworden sein. Es 
erweist sich, dafi diese Veranderung die gleiche ist, die die Mit- 
teilbarkeit der Erfahrung in dem Grade vermindert hat, als es 
mit der Kunst des Erzahlens zu Ende ging. 
Seit einer Reihe von Jahrhunderten lafit sich verfolgen, wie im 
Gemeinbewufitsein der Todesgedanke an Allgegenwart und an 
Bildkraft Einbufie leidet. In seinen letzten Etappen spielt sich 
dieser Vorgang beschleunigt ab. Und im Verlauf des neunzehn- 
ten Jahrhunderts hat die biirgerliche Gesellschaft mit hygieni- 
schen und sozialen, privaten und offentlichen Veranstaltungen 
einen Nebeneffekt verwirkhcht, der vielleicht ihr unterbewufi- 
ter Hauptzweck gewesen ist: den Leuten die Moglichkeit zu 
verschaffen, sich dem Anblick von Sterbenden zu entziehen. 
Sterben, einstmals ein offentlicher Vorgang im Leben des Ein- 
zelnen und ein hochst exemplarischer (man denke an die Bilder 
des Mittelalters, auf denen das Sterbebett sich in einen Thron 
verwandelt hat, dem durch weitgeoffnete Tiiren des Sterbehau- 
ses das Volk sich entgegen drangt) - sterben wird im Verlauf 
der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter her- 
ausgedrangt. Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem 
nicht schon einmal jemand gestorben war. (Das Mittelalter 
empfand auch raumlich, was als Zeitgefiihl jene Inschrift auf 
einer Sonnenuhr von Ibiza bedeutsam macht: Ultima multis.) 
Heute sind die Burger in Raumen, welche rein vom Sterben 
geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, 
wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien 
oder in Krankenhausern verstaut. Nun ist es aber an dem, dafi 
nicht etwa nur das Wissen oder die Weisheit des Menschen 
sondern vor allem sein gelebtes Leben - und das ist der Stoff, 
aus dem die Geschichten werden - tradierbare Form am ersten 
am Sterbenden annimmt. So wie im Innern des Menschen mit 
dem Ablauf des Lebens eine Folge von Bildern sich in Bewe- 



45° Literarische und asthetisdie Essays 

gung setzt - bestehend aus den Ansichten der eigenen Person, 
unter denen er, ohne es inne zu werden, slch selber begegnet 
ist -, so geht mit einem Mai in seinen Mienen und Blicken das 
Unvergefiliche auf und teilt allem, was ihn betraf, die Autoritat 
mit, die audi der armste Schacher im Sterben flir die Lebenden 
um ihn her besitzt. Am Ursprung des Erzahlten steht diese 
Autoritat. 



XL 

Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzahler berichten 
kann. Vom Tode hat er seine Autoritat geliehen. Mit andern 
Worten: es ist die Naturgeschichte, auf welche seine Geschichten 
zuriickverweisen. Das ist in exemplarischer Form in einer der 
schonsten zum Ausdruck gebracht, die wir von dem unvergleich- 
lidien Johann Peter Hebel haben. Sie steht im »Schatzkastlein 
des rheinischen Hausfreundes«, heifit »UnverhofFtes Wieder- 
sehen« und beginnt mit der Verlobung eines jungen Burschen, 
der in den Bergwerken von Falun arbeitet. Am Vorabend der 
Hochzeit ereilt ihn in der Tiefe seines Stollens der Bergmanns- 
tod. Seine Braut halt ihm die Treue iiber den Tod hinaus, und 
sie lebt lange genug, um als uraltes Miitterchen eines Tages, da 
aus dem verlorenen Stollen eine Leiche zu Tage gefordert wird, 
die gesattigt mit Eisenvitriol von der Verwesung verschont 
geblieben ist, ihren Brautigam zu erkennen. Nach diesem Wie- 
dersehen wird audi sie vom Tod abberufen. Als nun Hebel im 
Verlauf dieser Erzahlung vor der Notwendigkeit stand, die 
lange Reihe von Jahren augenfallig zu machen, da hat er das 
mit den folgenden Satzen getan: »Unterdessen wurde die Stadt 
Lissabon in Portugal durch ein Erdbeben zerstort, und der 
siebenjahrige Krieg ging voriiber, und Kaiser Franz der Erste 
starb, und der Jesuiten-Orden wurde aufgehoben und Polen 
geteilt, und die Kaiserin Maria Theresia starb, und der Struen- 
see wurde hingerichtet, Amerika wurde frei, und die vereinigte 
franzosisdie und spanische Macht konnte Gibraltar nicht er- 
obern. Die Tiirken schlossen den General Stein in der Veteraner 
Hohle in Ungarn ein, und der Kaiser Joseph starb auch. Der 
Konig Gustav von Schweden eroberte russisch Finnland, und die 
franzosisdie Revolution und der lange Krieg fing an, und der 



Der Erzahler 451 

Kaiser Leopold der Zweite ging audi ins Grab. Napoleon er- 
oberte Preufien, und die Englander bombardierten Kopenhagen, 
und die Ackerleute saeten und schnitten. Der Miiller mahlte, 
und die Schmiede hammerten, und die Bergleute gruben nach 
den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt. Als aber 
die Bergleute in Falun im Jahr 1809 . . .«. Tiefer hat nie ein 
Erzahler seinen Bericht in die Naturgeschichte gebettet als Hebel 
es in dieser Chronologie vollzieht. Man lese sie nur genau: Der 
Tod tritt in ihr in so regelmafiigem Turnus auf wie der Sensen- 
mann in den Prozessionen, die um Mittag um die Mlinsteruhr 
ihren Umzug halten. 

XII. 

Jedwede Untersuchung einer bestimmten epischen Form hat es 
mit dem Verhaltnis zu tun, in dem diese Form zur Geschichts- 
schreibung steht. Ja, man darf weitergehen und sich die Frage 
vorlegen, ob die Geschichtsschreibung nicht den Punkt schop- 
ferischer IndifTerenz zwischen alien Formen der Epik darstellt. 
Dann wiirde die gesdiriebene Geschichte sich zu den epischen 
Formen verhalten wie das weifie Licht zu den Spektralfarben. 
Wie dem auch sei, unter alien Formen der Epik gibt es nicht 
eine, deren Vorkommen in dem reinen, farblosen Licht der ge- 
schriebenen Geschichte zweifelsfreier ist als die Chronik. Und im 
breiten Farbband der Chronik stufen die Arten, in denen erzahlt 
werden kann,sich wieSchattierungen ein und derselben Farbe ab. 
Der Chronist ist der Geschichts-Erzahler. Man denke an die 
Hebel-Stelle zuriick, die durchaus den Tonfall der Chronik hat, 
und ermesse ohne Muhe den Unterschied zwischen dem, der 
Geschichte schreibt, dem Historiker, und dem, der sie erzahlt* 
dem Chronisten. Der Historiker ist gehalten, die Vorfalle, mit 
denen er es zu tun hat, auf die eine oder andere Art zu erkla- 
ren; er kann sich unter keinen Umstanden damit begniigen, sie 
als Musterstiicke des Weltlaufs herzuzeigen. Genau das aber 
tut der Chronist, und besonders nachdrucklich tut er das in 
seinen klassischen Reprasentanten, den Chronisten des Mittel- 
alters, die die Vorlaufer der neueren Geschichtsschreiber waren. 
Indem jene ihrer Geschichtserzahlung den gottlichen Heilsplan 
zugrunde legen, der ein unerforschlicher ist, haben sie die Last 



4P Literarische und asthetische Essays 

beweisbarer Erklarung von vornherein von sich abgewalzt. An 
ihre Stelle tritt die Auslegung, die es nicht mit einer genauen 
Verkettung von bestimmten Ereignissen, sondern mit der Art 
ihrer Einbettung in den groften unerforschlichen Weltlauf zu 
tun hat. 

Ob der Weltlauf ein heilsgeschichtlich bedingter oder ein natiir- 
licher ist, das macht keinen Unterschied. Im Erzahler hat der 
Chronist in verwandelter, gleichsam sakularisierter Gestalt sich 
erhalten. Lesskow ist unter denen, deren Werk besonders klar 
von diesem Sachverhalt Zeugnis ablegt. Der Chronist mit seiner 
heilsgeschichtlichen Ausrichtung, der Erzahler mit seiner profa- 
nen haben beide an diesem Werk so sehr Anteil, dafi fiir manche 
Erzahlungen kaum zu entscheiden ist, ob der Webgrund, in 
dem sie auftreten, der goldene einer religiosen oder der bunte 
einer weltlichen Anschauung vom Laufe der Dinge ist. Man 
denke an die Erzahlung »Der Alexandria, die den Leser »in 
jene alte 2eit« versetzt, »da noch die Steine im Schofie der Erde 
und die Planeten in Himmelshohen sich um das Schkksal der 
Menschen kiimmerten, und nicht etwa heutzutage, da sowohl in 
den Himmeln als auch unter der Erde alles gegen das Schick- 
sal der Menschensohne gleichgiiltig geworden ist und ihnen von 
nirgendwoher mehr eine Stimme spricht oder gar Gehorsam 
wird. Alle die neuentdeckten Planeten spielen in den Horoskopen 
keinerlei Rolle rnehr, und es gibt auch eine Menge neuer Steine, 
alle gemessen und gewogen und auf ihr spezifisches Gewicht und 
ihre Dichte hin gepriift, aber sie verkiinden uns nichts mehr und 
bringen auch keinerlei Nutzen. Ihre Zeit mit den Menschen zu 
sprechen ist voriiber«. 

Es ist, wie man sieht, kaum moglich, den Weltlauf, wie er an die- 
ser Geschichte Lesskows sich illustriert, eindeutig zu kennzeich- 
nen. Ist er heilsgeschichtlich oder naturgeschichtlich bestimmt? 
Gewifi ist nur, dafi er,/eben als Weltlauf, aufierhalb aller eigent- 
lich historischen Kategorien steht. Die Epoche, sagt Lesskow, da 
der Mensch sich im,Einklang mit der Natur glauben konnte, ist 
abgelaufen. Schiller nannte diese Weltzeit die Zeit der naiven 
Dichtung. Der Erzahler wahrt ihr die Treue und sein Blick weicht 
nicht von jenem ZirTerblatt, vor dem die Prozession der Krea- 
turen sich hinbewegt, in der, je nachdem, der Tod als Anfiihrer 
oder als der letzte armselige Nachziigler seine Stelle hat. 



Der Erzahler 453 

XIII. 

Man hat sich selten dariiber Rechenschaft abgelegt, dafi das naive 
Verhaltnis des Horers zu dem Erzahler von dem Interesse, das 
Erzahlte zu behalten, beherrscht wird. Der Angelpunkt fur 
den unbefangenen Zuhorer ist, der Moglichkeit der Wiedergabe 
sich zu versichern. Das Gedachtnis ist das epische Vermogen vor 
alien anderen. Nur dank eines umfassenden Gedachtnisses kann 
die Epik einerseits den Lauf der Dinge sich zu eigen, anderer- 
seits mit deren Hinschwinden, mit der Gewalt des Todes ihren 
Frieden machen. Es ist nicht verwunderlich, dafi fiir einen ein- 
fachen Mann aus dem Volk, wie Lesskow sich ihn eines Tages 
ausgedacht hat, der Zar, der das Haupt des Weltkreises ist, in 
dem sich seine Geschichten ereignen, iiber das umfassendste Ge- 
dachtnis verfiigt. »Unser Kaiser, so heifit es da, und seine ganze 
Familie haben in der Tat ein ganz erstaunliches Gedachtnis. « 
Mnemosyne, die Erinnernde, war bei den Griechen die Muse 
des Epischen. Dieser Name geleitet den Betrachter zu einer welt- 
geschichtlichen Wegscheide zuriick. Wenn namlich das von der 
Erinnerung Aufgezeichnete - die Geschichtsschreibung - die 
schopferische IndirTerenz der verschiedenen episclien Formen 
darstellt (wie die grofie Prosa die schopferische Indifferenz 
zwischen den verschiedenen Mafien des Verses), so schliefk deren 
alteste Form, das Epos, kraft einer Art von Indifferenz die Er- 
zahlung und den Roman ein. Als dann im Verlauf der Jahr- 
hunderte der Roman aus dem Schoft des Epos herauszutreten 
begann, da zeigte sich, daft an ihm das musische Element des 
Epischen, die Erinnerung also, in ganz anderer Gestalt als in der 
Erzahlung zutage tritt. 

Die Erinnerung stiftet die Kette der Tradition, welche das Ge- 
schehene von Geschlecht zu Geschlecht weiterleitet. Sie ist das 
Musische der Epik im weiteren Sinne. Sie umgreift die musischen 
Sonderarten des Epischen. Unter diesen ist an erster Stelle die- 
jenige, welche der Erzahler verkorpert. Sie stiftet das Netz, wel- 
ches alle Geschichten miteinander am Ende bilden. Eine schlieftt 
an die andere an, wie es die groflen Erzahler immer und vor 
allem die orientalischen gern gezeigt haben. In jedem derselben 
lebt eine Scheherazade, der zu jeder Stelle ihrer Geschichten eine 
neue Geschichte einfallt. Dieses ist ein episches Gedachtnis und 



454 Literarische und asthetische Essays 

das Musische der Erzahlung. Ihm aber ist ein anderes, gleich- 
falls im engeren Sinn musisches Prinzip entgegenzusetzen, das 
als Musisches des Romans zunachst, das will sagen im Epos, noch 
ungeschieden von dem Musischen der Erzahlung verborgen liegt. 
Allenfalls lafit es in den Epen gelegentlich sich erahnen. So vor 
allem an feierlichen Stellen der homerischen, wie die Anrufun- 
gen der Muse zu deren Beginn es sind. Was an diesen Stellen 
sich ankiindigt, ist das verewigende Gedachtnis des Romanciers 
im Gegensatz zu dem kurzweiligen des Erzahlers. Das erste ist 
dem einen Helden geweiht, der einen Irrfahrt oder dem einen 
Kampf; das zweite den vielen zerstreuten Begebenheiten. Es 
ist, mit anderen Worten, das Eingedenken, das als das Musische 
des Romans dem Gedachtnis, dem Musischen der Erzahlung, zur 
Seite tritt, nachdem sich mit dem Zerfall des Epos die Einheit 
ihres Ursprungs in der Erinnerung geschieden hatte. 

XIV. 

»Niemand, sagt Pascal, stirbt so arm, dafi er mcht irgend et- 
was hinterlafit.« Gewifi audi an Erinnerungen - nur dafi diese 
nicht immer einen Erben finden. Der Romancier tritt diese 
Hinterlassenschaft an, und selten ohne tiefe Melancholic Denn 
wie es in einem Roman von Arnold Bennett der Toten nachge- 
sagt wird - »sie hatte uberhaupt nichts vom wirklichen Leben 
gehabt« -, so pflegt es um die Summe aus der Hinterlassen- 
schaft bestellt zu sein, die der Romancier antritt. Uber diese 
Seite der Sache verdanken wir den wichtigsten Aufschlufi Georg 
Lukacs, der im Roman »die Form der transzendentalen Hei- 
matlosigkeit« gesehen hat. Zugleich ist der Roman, nach Lukacs, 
die einzige Form, die die Zeit in die Reihe ihrer konstitutiven 
Prinzipien aufnimmt. »Die Zeit, heifit es in der „Theorie des 
Romans", kann erst dann konstitutiv werden, wenn die Ver- 
bundenheit mit der transzendentalen Heimat aufgehort hat . . . 
Nur im Roman . . . trennen sich Sinn und Leben und damit das 
Wesenhafte und Zeitliche; man kann fast sagen: die ganze 
innere Handlung des Romans ist nichts als ein Kampf gegen die 
Macht der Zeit . . . Und aus diesem . . . entsteigen die episch 
echtgeborenen . . . Zeiterlebnisse: die Hoffnung und die Erinne- 
rung . . . Nur in dem Roman . . . kommt eine schopferische, den 



Der Erzahler 455 

Gegenstand treffende und ihn umwandelnde Erinnerung vor . . . 
Die Dualitat von Innerlichkeit und Aufienwelt kann hier ftir 
das Subjekt« nur »aufgehoben werden, wenn es die . . . Einheit 
seines ganzen Lebens . . . aus dem, in der Erinnerung zusammen- 
gedrangten, vergangenen Lebensstrome erblickt ... die Einsicht, 
die diese Einheit erfafit, . . . wird das ahnend-intuitive Erfassen 
des unerreichten und darum unaussprechbaren Lebenssinnes«. 
Der »Sinn des Lebens « ist in der Tat die Mine, um welche sich 
der Roman bewegt. Die Frage nach ihm ist aber nichts anderes 
als der eingangliche Ausdruck der Ratlosigkeit, mit der sich sein 
Leser in eben dieses geschriebene Leben hineingestellt sieht. Hie 
»Sinn des Lebens« - da »Moral von der Geschichte«: mit diesen 
Losungen stehen Roman und Erzahlung einander gegenuber, 
und an ihnen laftt sich der ganzlich verschiedene geschichtliche 
Standindex dieser Kunstformen ablesen. - Wenn das friiheste 
vollkommene Muster des Romans der Don Quichote ist, so ist 
sein spatestes vielleicht die »Education Sentimentale«. In den 
letztenWorten dieses Romans hat der Sinn, der dem burgerlichen 
Zeitalter zu Beginn seines Niedergangs in seinem Tun und Las- 
sen begegnete, sich wie Hefe im Lebensbecher niedergeschlagen. 
Frederic und Deslauriers, die Jugendfreunde, denken an ihre 
Jugendfreundschaft zuriick. Da gab es eine kleine Geschichte: 
wie sie eines Tages verstohlen und bang sich im ofTentlichen 
Hause ihrer Heimatstadt prasentierten, nichts verrichtend als der 
patronne einen Blumenstraufi darzubringen, den sie bei sich im 
Garten gepfliickt hatten. »Von dieser Geschichte war noch drei 
Jahre spater die Rede. Und nun erzahlten sie sie weitlaufig ein- 
ander, jeder des anderen Erinnerungen erganzend. >Das war 
vielleicht<, sagte Frederic als sie fertig waren, >das Schonste 
in unserm Leben.< >Ja, du kannst recht haben<, sagte Deslauriers, 
>das war vielleicht das Schonste in unserm Leben.<« Mit sol- 
dier Erkenntnis steht der Roman am Ende, das ihm in strenge- 
rem Sinne als irgend einer Erzahlung eignet. In der Tat gibt es 
keine Erzahlung, an der die Frage: Wie ging es weiter? ihr Recht 
verlore. Der Roman dagegen kann nicht erhofTen, den kleinsten 
Schritt iiber jene Grenze hinaus zu tun, an der er den Leser, den 
Lebenssinn ahnend sich zu vergegenwartigen, dadurch einladt, 
dafi er ein » Finis « unter die Seiten schreibt. 



45^ Literarisdie und asthetische Essays 

XV. 

Wer einer Geschichte zuhort, der ist in der Gesellsdiaft des Er- 
zahlers; selbst wer liest, hat an dieser Gesellsdiaft teil. Der Leser 
eines Romans ist aber einsam. Er ist es mehr als jeder andere 
Leser. (Denn selbst wer ein Gedicht liest, ist bereit, den Worten, ' 
fiir den Horenden, Stimme zu leihen.) In dieser seiner Einsam- 
keit bemachtigt der Leser des Romans sich seines Stoffes eifer- 
siichtiger als jeder andere. Er ist bereit, ihn restlos sich zu eigen 
zu machen, ihn gewissermafien zu verschlingen. Ja, er vernichtet, 
er verschlingt den Stoff wie Feuer Scheiter im Kamin. Die 
Spannung, welche den Roman durchzieht, gleicht sehr dem Luft- 
zug, der die Flamme im Kamin ermuntert und ihr Spiel belebt. 
Es ist ein trockenes Material, an welchem sich das brennende 
Interesse des Lesers nahrt. - Was heifit das? »Ein Mann, der 
mit funfunddreifiig stirbt, hat Moritz Heimann einmal gesagt, 
ist auf jedem Punkt seines Lebens ein Mann, der mit funfund- 
dreifiig stirbt. « Nichts ist zweifelhafter als dieser Satz. Aber 
dies einzig und allein, weil er sich im Tempus vergreift. Ein 
Mann, so heifit die Wahrheit, die hier gemeint war, der mit fiinf- 
unddreifiig Jahren gestorben ist, wird dem Eingedenken an je- 
dem Punkte seines Lebens als ein Mann erscheinen, der mit fiinf- 
unddreifiig Jahren stirbt. Mit anderen Worten: der Satz, der 
fiir das wirkliche Leben keinen Sinn gibt, wird fiir das erinnerte 
unanfechtbar. Man kann das Wesen der Romanfigur besser nicht 
darstellen als es in ihm geschieht. Er sagt, dafi sich der »Sinn« 
von ihrem Leben nur erst von ihrem Tode her erschliefit. Nun 
aber sucht der Leser des Romans wirklich Menschen, an denen 
er den »Sinn des Lebens« abliest. Er mufi daher, so oder so, im 
voraus gewifi sein, dafi er ihren Tod miterlebt. Zur Not den 
iibertragenen: das Ende des Romans. Doch besser den eigen t- 
lichen. Wie geben sie ihm zu erkennen, dafi der Tod schon auf 
sie wartet, und ein ganz bestimmter, und das an einer ganz be- 
stimmten Stelle? Das ist die Frage, welche das verzehrende 
Interesse des Lesers am Romangeschehen nahrt. 
Nicht darum also ist der Roman bedeutend, weil er, etwa lehr- 
reich, ein fremdes Schicksal uns darstellt, sondern weil dieses 
fremde Schicksal kraft der Flamme, von der es verzehrt wird, 
die Warme an uns abgibt, die wir aus unserem eigenen nie 



Der Erzahler 457 

gewinnen. Das was den Leser zum Roman zieht, ist die Hoff- 
nung, sein frostelndes Leben an einem Tod, von dem er liest, zu 
warmen. 



XVI. 

»Lesskow, sdireibt Gorki, ist der am tiefsten im . . . Volke wur- 
zelnde Schriftsteller und von alien fremden Einflussen unbe- 
riihrt.« Der grofie Erzahler wird immer im Volk wurzeln, zu- 
vorderst in den handwerklichen Schichten. Wie diese aber das 
bauerliche, das maritime und das stadtische Element in den viel- 
faltigen Stadien ihres wirtschaftlichen und technischen Entwick- 
lungsgrades umfassen, so stufen sidi vielfaltig die Begriffe, in 
denen sich fiir uns ihr Erf ahrungsschatz niederschlagt. (Zu schwei- 
gen von dem keineswegs verachtlichen Anteil, den die Handel- 
treibenden an der Kunst des Erzahlens haben; sie mufken weniger 
deren belehrenden Inhalt mehren, als die Listen, mit denen die 
Aufmerksamkeit der Lauschenden gebannt wird, verfeinern. Im 
Geschichtenkreise der »Tausend und Eine Nacht« haben sie eine 
tiefe Spur hinterlassen.) Kurz, unbeschadet der elementaren 
Rolle, die das Erzahlen im Haushalt der Menschheit spielt, sind 
die Begriffe, in denen sich der Ertrag der Erzahlungen bergen 
lafit, die mannigfaclisten. Was bei Lesskow am handlichsten 
in religiosen zu fassen ist, scheint bei Hebel sich wie von selber 
in die padagogischen Perspektiven der Aufklarung einzufiigen, 
tritt bei Poe als hermetische Oberlieferung auf, findet ein letztes 
Asyl bei Kipling in dem Lebensraum britischer Seeleute und 
Kolonialsoldaten. Dabei ist alien grofien Erzahlern die Unbe- 
schwertheit gemein, mit der sie auf den Sprossen ihrer Erfah- 
rung wie auf einer Leiter sich auf und ab bewegen. Eine Leiter, 
die bis ins Erdinnere reicht und sich in den Wolken verliert, ist 
das Bild einer Kollektiverfahrung, fiir die selbst der tiefste 
Chock jeder individuellen, der Tod, keinerlei Anstofi und 
Schranke darstellt. 

»Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie heute noch«, 
sagt das Marchen. Das Marchen, das noch heute der erste Rat- 
geber der Kinder ist, weil es einst der erste der Menschheit ge- 
wesen ist, lebt insgeheim in der Erzahlung fort. Der erste wahre 
Erzahler ist und bleibt der von Marchen. Wo guter Rat teuer 



4$8 Literarische und asthetische Essays 

war, wufite das Marchen ihn, und wo die Not am hochsten 
war, da war seine Hilfe am nachsten. Diese Not war die Not 
des Mythos. Das Mardien gibt uns Kunde von den friihesten 
Veranstaltungen, die die Menschheit getroffen hat, um den Alp, 
den der Mythos auf ihre Brust gelegt hatte, abzuschiitteln. Es 
zeigt uns in der Gestalt des Dummen, wie die Menschheit sich 
gegen den Mythos »dumm stellt«; es zeigt uns in der Gestalt 
des jungsten Bruders, wie ihre Chancen mit der Entfernung von 
der mythischen Urzeit wachsen; es zeigt uns in der Gestalt 
dessen, der auszog das Furchten zu lernen, dafi die Dinge durch- 
schaubar sind, vor denen wir Furcht haben; es zeigt uns in der 
Gestalt des Klugen, dafi die Fragen, die der Mythos stellt, ein- 
faltig sind, wie die Frage der Sphinx es ist; es zeigt uns in der 
Gestalt der Tiere, die dem Marchenkinde zu Hilfe kommen, 
dafi die Natur sich nicht nur dem Mythos pflichtig, sondern viel 
lieber um den Menschen geschart weifi. Das Ratsamste, so hat 
das Marchen vor Zeiten die Menschheit gelehrt, und so lehrt es 
noch heut die Kinder, ist, den Gewalten der mythischen Welt 
mit List und mit Obermut zu begegnen. (So polarisiert das Mar- 
chen den Mut, namlich dialektisch: in Untermut [d. i. List] und 
in Obermut.) Der befreiende Zauber, iiber den das Marchen 
verfiigt, bringt nicht auf mythische Art die Natur ins Spiel, 
sondern ist die Hindeutung auf ihre Komplizitat mit dem be- 
freiten Menschen. Diese Komplizitat empfindet der reife Mensch 
nur bisweilen, namlich im Gluck; dem Kind aber tritt sie zuerst 
im Marchen entgegen und stimmt es gliicklich. 

XVII. 

Wenige Erzahler haben dem Marchengeist eine so tiefe Ver- 
wandtschaft entgegengebracht wie Lesskow. Es handelt sich 
dabei um Tendenzen, die von der Dogmatik der griechisch-ka- 
tholischen Kirche befordert wurden. In dieser Dogmatik spielt 
bekanntlich die von der romischen Kirche verworf ene Spekulation 
des Origenes iiber die Apokatastasis - das Eingehen samtlicher 
Seelen ins Paradies - eine bedeutende Rolle. Lesskow war von 
Origenes sehr beeinflufit. Er hatte vor, dessen Werk »Ober die 
Urgrunde« zu ubersetzen. Im Anschlufi an den russischen Volks- 
glauben hat er die Auferstehung weniger als eine Verklarung 



Der Erzahler 459 

denn (in einem dem, Marchen verwandten Sinn) als eine Ent- 
zauberung gedeutet. Solche Ausdeutung des Origenes liegt dem 
»Verzauberten Pilger« zugrunde. Hier wie in vielen anderen 
Geschichten Lesskows handelt es sichum ein Mischwesen zwischen 
Marchen und Legende, nicht unahnlich jenem Mischwesen zwi- 
schen Marchen und Sage, von dem Ernst Bloch in einem Zu- 
sammenhang spricht, in dem er sich unsere Scheidung von 
Mythos und Marchen auf seine Weise zu eigen macht. Ein 
»Mischwesen zwischen Marchen und Sage, heifit es da, ist un- 
eigentlich Mythisches in ihr, Mythisches, das durchaus bannend 
und statisch wirkt und trotzdem nicht aufierhalb der Menschen. 
So >mythisch< in der Sage sind die taohaften Gestalten, vor allem 
sehr alte, das Paar Philemon und Baucis etwa: marchenhaft ent- 
ronnen, obwohl naturhaft ruhend. Und gewift auch ist in dem sehr 
viel geringeren Tao Gotthelfs ein solches Verhaltnis; es entzieht 
streckenweise der Sage die Lokalitat des Banns, rettet das 
Lebenslicht, das menschlich eigene Lebenslicht, ruhig brennend 
drinnen wie draufien«. »Marchenhaft entronnen« sind die Ge- 
schopfe, die den Zug der Lesskowschen Kreaturen anfuhren: die 
Gerechten. Pawlin, Figura, der Toupetkiinstler, der Barenwar- 
ter, der hilfreiche Wachtposten - sie alle, die die Weisheit, die 
Giite, den Trost der Welt verkorpern, drangen sich um den 
Erzahlenden. Unverkennbar ist, daft sie von der Imago seiner 
Mutter durchzogen werden. »Sie war, so schildert sie Lesskow, 
so seelengut, daft sie keinem Menschen ein Leid zufugen konnte, 
nicht einmal den Tieren. Sie afi weder Fleisch noch Fische, weil 
sie mit den lebenden Geschopfen solches Mitleid hatte. Mein Va- 
ter pflegte ihr deswegen zuweilen Vorwiirfe zu machen . . . Aber 
sie antwortete: >. . . Ich habe die Tierchen selbst aufgezogen, 
sie sind mir wie meine Kinder. Ich kann doch nicht meine eige- 
nen Kinder essen!< Auch bei den Nachbarn afi sie kein Fleisch. 
>Ich habe sie<, sagte sie, >lebend gesehen; sie sind meine Be- 
kannten. Ich kann doch nicht meine Bekannten essen.<« 
Der Gerechte ist der Fiirsprech der Kreatur und zugleich ihre 
hochste Verkorperung. Er hat bei Lesskow einen mutterlichen 
Einschlag, der sich zuweilen ins Mythische steigert (und damit 
freilich die marchenhafte Reinheit gefahrdet). Bezeichnend da- 
fiir ist die Hauptfigur seiner Erzahlung »Kotin, der Nahrer und 
Platonida«. Diese Hauptfigur, ein Bauer, Pisonski, ist zweige- 



4*>o Literarische und asthetlsdie Essays 

schlechtlich. Zwolf Jahre lang bat ihn seine Mutter als Madchen 
aufgezogen. Zugleich mit seinem mannlichen reift sein weibliches 
Telly und seine Zweigeschlechtlichkeit »wird zum Symbol des 
Gottmenschen«. 

Lesskow sieht hiermit die Hohe der Kreatur erreidit und zu- 
gleich audi wohl eineBriicke zwischen irdischer und uberirdischer 
Welt geschlagen. Denn diese erdhaft gewaltigen, miitterlichen 
Mannergestalten, die immer wieder von Lesskows Fabulier- 
kunst Besitz ergreifen, sind der Botmafiigkeit des Geschlechts- 
triebes in der Bliite ihrer Kraft entriickt worden. Darin verkor- 
pern sie aber nicht eigentlich ein asketisches Ideal; vielmehr hat 
die Enthaltsamkeit dieser Gerechten so wenig privativen Cha- 
rakter, dafi sie zum elementaren Gegenpol der entfesselten 
Brunstwird, die derErzahler in der »Lady Macbeth ausMzensk« 
verkorpert hat. Wenn die Spannweite zwischen einem Pawlin 
und dieser Kaufmannsfrau die Breite der kreaturlichen Welt 
ermifit, so hat Lesskow in der Hierarchie seiner Kreaturen nicht 
minder deren Tiefe erlotet. 

XVIII. 

Die Hierarchie der kreaturlichen Welt, die in dem Gerechten 
ihre hochste Erhebung hat, reicht in vielfachen Stufungen in den 
Abgrund des Unbelebten herab. Dabei mufi eines besonderen 
Umstandes gedacht werden. Diese ganze kreaturliche Welt wird 
fiir Lesskow nicht sowohl in der menschlichen Stimme laut als 
in dem, was man mit dem Titel einer seiner bedeutungsvojlsten 
Erzahlungen »Die Stimme der Natur« nennen konnte. Diese 
Erzahlung handelt von dem kleinen Beamten Filipp Filippo- 
witsch, der alle Hebel in Bewegung setzt, um einen Feldmar- 
schall, der auf der Durchreise durch sein Stadtchen begrifTen ist, 
als Logiergast bei sich empfangen zu diirfen. Das gelingt ihm. 
Der Gast, den die dringliche Einladung des Beamten zunachst 
verwundert, glaubt mit der Zeit, jemanden, dem er friiher be- 
gegnet sein mufi, in ihm zu erkennen. Wen aber? darauf kann 
er sich nicht besinnen. Merkwurdig ist, daft der Gastgeber seiner- 
seits nicht gewillt ist, sich zu erkennen zu geben. Vielmehr ver- 
trostet er die hohe Personlichkeit Tag fiir Tag, »die Stimme der 
Natur« werde nicht verfehlen, eines Tages vernehmlich zu ihm 



Der Erzahler 461 

zu sprechen. Das geht so lange, bis schliefilich der Gast, kurz vor 
Fortsetzung seiner Reise, dem Gastgeber die, offentlich von dem 
letzteren erbetene, Erlaubnis gewahren mufi, die »Stimme der 
Natur« ertonen zu lassen. Daraufhin entfernt sich die Frau des 
Gastgebers. Sie »kam mit einem grofien, blank polierten kupfer- 
nen V/aldhorn zuriick und gab es ihrem Manne. Er nahm das 
Horn, setzte es an die Lippen und war im selben Augenblick 
wie umgewandelt. Kaum hatte er die Backen aufgeblasen und 
einen Ton, machtvoll wie Donnerrollen hervorgebracht, als der 
Feldmarschall rief: >Halt, ich hab's jetzt, Bruder, daran 
erkenne ich dich gleich wieder! Du bist der Musiker vom Jager- 
regiment, den ich wegen seiner Ehrenhaftigkeit zur Beaufsichti- 
gung eines spitzbiibischen Intendanturbeamten fortgeschickt 
haben.< - >So ist's, Euer Durchlaucht<, antwortete der Haus- 
herr. >Ich wollte Sie nicht selbst daran erinnern, sondern die 
Stimme der Natur sprechen lassen. <« V/ie sich der Tiefsinn 
dieser Geschichte hinter ihrer Albernheit versteckt halt, das gibt 
einen Begriff von Lesskows grofiartigem Humor. 
Dieser Humor bewahrt sich in der gleichen Geschichte auf noch 
hintergriindigere Art. Wir haben gehbrt, dafi der kleine Beamte 
»wegen seiner Ehrenhaftigkeit zur Beaufsichtigung eines spitz- 
biibischen Intendanturbeamten« delegiert worden sei. So heifit 
es am SchlufS, in der Erkennungsszene. Gleich zu Beginn der 
Geschichte aber horen wir iiber den Gastgeber das folgende: 
»Die Ortseinwohner kannten den Mann alle und wufken, dafi 
er keinen hohen Rang bekleidete, denn er war weder Staats- 
beamter noch Militar, sondern nur ein Aufseherchen bei dem 
kleinen Proviantamt, wo er gemeinsam mit den Ratten die 
staatlichen Zwiebacke und Stiefelsohlen benagte und sich . . . 
mit der Zeit ein hiibsches Holzhauschen ... ernagt hatte. « Es 
kommt, wie man sieht, in dieser Geschichte die traditionelle 
Sympathie zu ihrem Recht, die der Erzahler den Spitzbuben 
und Gaunern entgegenbringt. Die ganze Schwankliteratur 
legt von ihr Zeugnis ab. Sie verleugnet sich auch auf den Hohen 
der Kunst nicht: einen Hebel haben der Zundelfrieder, der 
Zundelheiner und der rote Dieter unter alien seinen Gestalten 
am treusten begleitet. Und doch ist auch fur Hebel der Gerechte 
die Hauptrolle auf dem theatrum mundi. Weil ihr aber eigent- 
lich keiner gewachsen ist, so wandert sie vom einen zum anderen. 



462 Literarische und asthetische Essays 

Bald ist es der Strolch, bald der Schacherjude, bald der Be- 
schrankte, der einspringt, um diesen Part durchzufuhren. Immer 
ist es ein Gastspiel von Fall zu Fall, eine moralische Improvi- 
sation. Hebel ist Kasuist. Er solidarisiert sich um keinen Preis 
mit irgend einem Prinzip, weist aber audi keines ab, denn jedes 
kann einmal Instrument des Gerechten werden. Man vergleiche 
die Haltung Lesskows. »Ich bin mir bewufit, schreibt er in der 
Geschichte „Anlafilich der Kreutzersonate", dafi meinen Gedan- 
kengangen viel mehr praktische Lebensauffassung als abstrakte 
Philosophic oder hohe Moral zugrunde liegt, aber nichtsdesto- 
weniger bin ich geneigt so zu denken, wie ich es tue.« Im iibrigen 
verhalten sich allerdings die moralischen Katastrophen, die in 
der Lesskowschen Welt auftreten, zu den moralischen Zwischen- 
fallen in der von Hebel wie die grofie schweigende Stromung 
der Wolga zu dem plaudernd sich uberstiirzenden kleinen Miihl- 
bach. Es gibt unter Lesskows historischen Erzahlungen mehrere, 
in denen Leidenschaften so vernichtend am Werk sind wie der 
Zorn des Achill oder der Haft des Hagen. Erstaunlich ist, wie 
furchtbar sich die Welt diesem Autor verdiistern kann und mit 
welcher Majestat das Bose in ihr sein Szepter zu erheben ver- 
mag. Lesskow - das diirfte einer der wenigen Ziige sein, in denen 
er sich mit Dostojewski beriihrt - hat offenbar Stimmungen 
gekannt, in denen er einer antinomistischen Ethik nahe war. Die 
Elementarnaturen seiner »Erzahlungen aus der alten Zeit« gehen 
in ihrer rucksichtslosen Leidenschaft bis ans Ende. Dieses Ende 
aber ist grade Mystikern gern als der Punkt erschienen, an 
welchem die ausgemachte Verworfenheit in Heiligkeit um- 
schlagt. 

XIX. 

Je tiefer Lesskow auf der kreatiirlichen Stufenreihe hernieder- 
steigt, desto offenkundiger nahert sich seine Anschauungsweise 
der mystischen. Im iibrigen spricht, wie sich zeigen wird, vieles 
dafur, dafi auch darin ein Zug sich abformt, der in der Natur 
des Erzahlers selbst liegt. Freilich haben nur wenige sich in die 
Tiefe der unbelebten Natur gewagt, und es gibt in der neueren 
Erzahlungsliteratur nicht vieles, in dem die Stimme des namen- 
losen Erzahlers, der vor allem Schrifttum gewesen ist, so ver- 



Der Erzahler 463 

nehmbar nachklingt, wie in der Lesskowschen Geschichte »Der 
Alexandrit«. Sie handelt von einem Stein, dem Pyrop. Die 
steinerne ist die unterste Schicht der Kreatur. Dem Erzahler ist 
sie jedoch an die oberste unmittelbar angeschlossen. Ihm ist es 
gegeben, in diesem Halbedelstein, dem Pyrop, eine nariirliche 
Prophezeiung der versteinerten, unbelebten Natur auf die ge- 
sdiiditliche Welt zu erblicken, in der er selber lebt. Diese Welt 
ist die Welt Alexanders II. Der Erzahler - oder vielmehr der 
Mann, dem er das eigene Wissen beilegt - ist ein Steinschneider, 
Wenzel mit Namen, der es in seinem Handwerk zu der erdenk- 
lichsten Kunst gebracht hat. Man kann ihn neben die Silber- 
schmiede von Tula stellen und sagen, dafi - im Sinn von Less- 
kow - der vollkommene Handwerker den Zugang zu der inner- 
sten Kammer des kreatiirlichen Reiches hat. Er ist eine Inkarna- 
tion des Frommen. Von diesem Steinschneider heifit es nun: »Er 
packte plotzlich meine Hand, an der der Ring mit dem Alexan- 
drit war, der bekanntlich bei kunstlicher Beleuchtung rot fun- 
kelt, und schrie: >. . . Schaut her, hier ist er, der prophetische 
russische Stein . . .! Oh, verschlagener Sibirier! immer war er grim 
wie die Hoffnung und erst gegen Abend uberstromte ihn das 
Blut. Vom Ursprung der Welt ab war er so, aber er versteckte 
sich lange und lag verborgen in der Erde und erlaubte erst, dafi 
man ihn am Tage der Volljahrigkeitserklarung des Zaren Alex- 
ander finde, als ein grofier Zauberer nach Sibirien gekommen war, 
ihn, den Stein, zu finden, ein Magier . . .< >Was sprechen Sie da 
fiir Unsinn<, unterbrach ich ihn. >Diesen Stein fand gar kein 
Zauberer, es war ein Gelehrter namens Nordenskjold!< >Ein 
Zauberer! Ich sage es Ihnen - ein Zauberer !< schrie Wenzel mit 
lauter Stimme. >Schauen Sie doch nur, was fiir ein Stein! Ein 
griiner Morgen ist in ihm und ein blutiger Abend . . . Dies ist 
das Schicksal, das Schicksal des edlen Zaren Alexander^ Und 
mit diesen Worten kehrte sich der alte Wenzel zur Wand, stiitzte 
seinen Kopf auf die Ellenbogen und . . . begann zu schluch- 
zen.« 

Man kann der Bedeutung dieser wichtigen Erzahlung kaum 
naher kommen als mit einigen Worten, welche Paul ValeVy in 
weit abliegenden Zusammenhangen geschrieben hat. 
»Die kunstlerische Beobachtung, sagt er in der Betrachtung eines 
Kiinstlers, kann eine beinahe mystische Tiefe erreichen. Die Ge- 



4^4 Literarische und asthetische Essayv > 

genstande, auf die sie fallt, verlieren ihren Namen: Schatten und 
Helligkeit bilden ganz besondere Systeme, stellen ganz eigene 
Fragen dar, die keiner Wissenschaft pfliditig sind, audi von kei- 
ner Praxis sich herschreiben, sondern Daseiri und Wert ausschliefi- 
lich von gewissen Akkorden erhalten, die sidi zwischen Seele, 
Auge und Hand bei jemandem einstellen, der im eigenen Innern 
sie aufzufassen und sie hervorzurufen geboren ist.« 
Seele, Auge und Hand sind mit diesen Worten in einen und 
denselben Zusammenhang eingebracht. Ineinanderwirkend be- 
stimmen sie eine Praxis. Uns ist diese Praxis nicht mehr gelaufig. 
Die Rolle der Hand in der Produktion ist bescheidener gewor- 
den und der Platz, den sie beim Erzahlen ausgefiillt hat, ist ver- 
odet. (Das Erzahlen ist ja, seiner sinnlichen Seite nach, keines- 
wegs ein Werk der Stimme allein. In das echte Erzahlen wirkt 
vielmehr die Hand hinein, die mit ihren, in der Arbeit erfahre- 
nen Gebarden, das was laut wird auf hundertfaltige Weise 
stiitzt.) Jene alte Koordination von Seele, Auge und Hand, die 
in Valerys Worten auftaucht, ist die handwerkliche, auf die 
wir stofien, wo die Kunst des Erzahlens zu Hause ist. Ja, man 
kann weiter gehen und sich fragen, ob die Beziehung, die der 
Erzahler zu seinem Stoff hat, dem Menschenleben, nicht selbst 
eine handwerkliche Beziehung ist? Ob seine Aufgabe nicht eben 
darin besteht, den RohstofF der Erfahrungen - fremder und 
eigener - auf eine solide, mitzliche und einmalige Art zu bear- 
beiten? Es handelt sich urn eine Verarbeitung, von der vielleicht 
am ehsten das Sprichwort einen Begriff gibt, wenn man es als 
Ideogramm einer Erzahlung auffafit. Sprichworter, so konnte 
man sagen, sind Trummer, die am Platz von alten Geschichten 
stehen und in denen, wie Efeu um ein Gemauer, eine Moral sich 
um einen Gestus rankt. 

So betrachtet geht der Erzahler unter die Lehrer und Weisen 
ein. Er weifi Rat - nicht wie das Sprichwort: fur manche Falle, 
sondern wie der Weise: fur viele. Denn es ist ihm gegeben, auf 
ein ganzes Leben zuriickzugreifen. (Ein Leben iibrigens, das 
nicht nur die eigene Erfahrung, sondern nicht wenig von fremder 
in sich schliefit. Dem Erzahler fiigt sich audi das, was er vom 
Horensagen vernommen hat, seinem Eigensten bei.) Seine Be- 
gabung ist: sein Leben, seine Wiirde: sein ganzes Leben erzahlen 
zu konnen. Der Erzahler - das ist der Mann, der den Docht 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 4^5 

seines Lebens an der sanften Flamme seiner Erzahlung sich 
vollkommen konnte verzehren lassen. Darauf beruht die unver- 
gleichliche Stimmung, die bei Lesskow so gut wie bei Hauff, bei 
Poe so gut wie bei Stevenson um den Erzahler ist. Der Erzahler 
ist die Gestalt, in welcher der Gerechte sich selbst begegnet. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 

I 

Das Lebenswerk von Eduard Fuchs gehort der jiingsten Ver- 
gangenheit an. Ein Ruckblick auf dieses Werk beinhaltet alle 
Schwierigkeiten, die der Versuch mit sich bringt, von der jiing- 
sten Vergangenheit Rechenschaft abzulegen. Es ist zugleich die 
jungste Vergangenheit der marxistischen Kunsttheorie, die hier in 
Rede stent. Und das erleichtert die Sadie nicht. Denn im Gegen- 
satz zur marxistischen Dkonomik hat diese Theorie noch keine 
Geschichte. Die Lehrer, Marx und Engels, haben nicht mehr ge- 
tan, als der materialistischen Dialektik ein weites Feld in ihr 
anzuweisen. Und die ersten, die es in Angriff genommen haben, 
ein Plechanow, ein Mehring, haben den Unterricht der Meister 
nur mittelbar oder zumindest erst spat empfangen. Die Tradi- 
tion, die von Marx iiber Wilhelm Liebknecht zu Bebel fuhrt, ist 
weit mehr der politischen als der wissenschaftlichen Seite des 
Marxismus zugute gekommen. Mehring ist durch den Nationa- 
lismus und sodann durch die Schule Lassalles gegangen; und als 
er zum ersten Male zur Partei kam, da herrschte, nach dem 
Gestandnis Kautskys, »theoretisch noch ein mehr oder weniger 
vulgarer Lassalleanismus. Von einem konsequenten marxisti- 
schen Denken war, auEer bei einigen vereinzelten Personlich- 
keiten, keine Rede.* 1 Erst spat, am Lebensabend von Engels, 
ist Mehring mit diesem in Beriihrung getreten. Fuchs seinerseits 
ist auf Mehring schon friih gestofien. In dem Verhaltnis der 
beiden zeichnet sich zum ersten Mai eine Tradition in den gei- 
stesgeschichtlichen Forschungen des historischen Materialismus 

1 Karl Kautsky, Franz Mehring. In: Die Neue Zeit. XXII. Stuttgart 1904, I, S. 103 
bis 104. 



466 Literarisdie und asthetische Essays 

ab. Aber das Arbeitsgebiet von Mehring, die Literaturgeschichte, 
hatte, im Geiste der beiden Forscher, mit dem Fuchsschen nur 
wenig Beriihrungspunkte. Und noch mehr fallt die Verschieden- 
heit ihrer Anlagen ins Gewicht. Mehring war eine Gelehrten- 
natur, Fuchs ein Sammler. 

Es gibt viele Arten von Sammlern; zudem sind in jeglichem eine 
Fulle von Impulsen am Werk. Fuchs ist als Sammler vor allem 
ein Pionier: der Begriinder eines einzig dastehenden Archivs 
zur Geschichte der Karikatur, der erotischen Kunst und des Sit- 
tenbildes. Wichtiger ist aber ein anderer und zwar komplemen- 
tarer Umstand: als Pionier wurde Fuchs zum Sammler. Nam- 
lich als Pionier der materialistischen Kunstbetrachtung. Was 
jedoch diesen Materialisten zum Sammler machte, war das mehr 
oder minder klare Gefuhl fiir eine geschichtliche Lage, in die er 
sich hineingestellt sah. Es war die Lage des historischen Materia- 
lismus selbst. 

Sie kommt in einem Briefe zum Ausdruck, den Friedrich En- 
gels an Mehring zur gleichen Zeit richtete, da in einem soziali- 
stischen Redaktionsbureau Fuchs seine ersten publizistischen Sie- 
ge erfocht. Der Brief stammt vom 14. Juli 1893 und fiihrt unter 
anderem aus: »Es ist dieser Schein einer selbstandigen Geschichte 
der Staatsverfassungen, der Rechtssysteme, der ideologischen 
Vorstellungen auf jedem Sondergebiete, der die meisten Leute 
vor allem blendet. Wenn Luther und Calvin die offizielle katho- 
lische Religion, wenn Hegel den Fichte und Kant, Rousseau in- 
direkt mit seinem Contrat Social den konstitutionellen Mon- 
tesquieu >iiberwindet<, so ist das ein Vorgang, der innerhalb der 
Theologie, der Philosophic, der Staatswissenschaft bleibt, eine 
Etappe in der Geschichte dieser Denkgebiete darstellt und gar 
nicht aus dem Denkgebiete herauskommt. Und seitdem die 
burgerliche Illusion von der Ewigkeit und Letztinstanzlichkeit 
der kapitalistischen Produktion dazugekommen ist, gilt ja sogar 
die Uberwindung der Merkantilisten durch die Physiokraten 
und Adam Smith als ein blofier Sieg des Gedankens, nicht als 
der Gedankenreflex veranderter okonomischer Tatsachen, son- 
dern als die endlich errungene richtige Einsicht in stets und 
uberall bestehende tatsachliche Bedingungen.« 2 

2 Zitiert von Gustav Mayer, Friedrich Engels. Eine Biographic Bd. II: Friedrich 
Engels und der Aufstieg der Arbeiterbewegung in Europa. Berlin, S. 450/451. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 467 

Engels wendet sich gegen zweierlei: einmal gegen die Gepflogen- 
heit, in der Geistesgeschichte ein neues Dogma als >Entwick- 
lung< eines friiheren, eine neue Dichterschule als >Reaktion< auf 
eine vorangegangene, einen neuen Stil als >Oberwindung< eines 
alteren darzustellen; er wendet sich aber offenbar implizit zu- 
gleich gegen den Brauch, solche neuen Gebilde losgelost von 
ihrer Wirkung auf die Menschen und deren sowohl geistigen 
wie okonomischen Produktionsprozefi darzustellen. Damit ist 
die Geisteswissenschaft als Geschichte der Staatsverfassungen 
oder der Naturwissenschaften, der Religion oder der Kunst zer- 
schlagen. Aber die Sprengkraft dieses Gedankens, den Engels ein 
halbes Jahrhundert mit sich getragen hat 3 , reicht defer. Sie 
stellt die Geschlossenheit der Gebiete und ihrer Gebilde in Fra- 
ge. So, was die Kunst betrifft, deren eigene unci die der Werke, 
welche ihr BegrifF zu umfassen beansprucht. Diese Werke inte- 
grieren fur den, der sich als historischer Dialektiker mit ihnen 
befafit, ihre Vor- wie ihre Nachgeschichte - eine Nachgeschichte, 
kraft deren auch ihre Vorgeschichte als in standigem Wandel 
begriffen erkennbar wird. Sie lehren ihn, wie ihre Funktion 
ihren Schopfer zu uberdauern, seine Intentionen hinter sich zu 
lassen vermag; wie die Aufnahme durch seine Zeitgenossen ein 
Bestandteil der Wirkung ist, die das Kunstwerk heute auf uns 
selber hat, und wie die letztere auf der Begegnung nicht allein 
mit ihm, sondern mit der Geschichte beruht, die es bis auf unsere 
Tage hat kommen lassen. Goethe hat dies, verschleiernd wie oft, 
bedeutet, als er im Gesprach iiber Shakespeare zu dem Kanz- 
ler von Miiller aufierte: »Alles, was eine groEe Wirkung getan 
hat, kann eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden«. Kein 
Wort ist gemafier, die Beunruhigung hervorzurufen, die den 
Anfang jeder Geschichtsbetrachtung macht, welche das Recht 
hat, dialektisch genannt zu werden. Beunruhigung liber die Zu- 
mutung an den Forschenden, die gelassene, kontemplative Hal- 
tung dem Gegenstand gegeniiber aufzugeben, um der kritischen 
Konstellation sich bewuEt zu werden, in der gerade dieses 
Fragment der Vergangenheit mit gerade dieser Gegenwart sich 

3 Er taudit in den ersten Feuerbadistudien auf und findet dabei durch Marx diese 
Pragung: »Es gibt keine Geschichte der Politik, des Rechts, der Wissenschaft . . ., der 
Kunst, der Religion, « (Marx-Engels Archiv. Zeitschrift des Marx-Engels-Instituts 
in Moskau. Hrsg. von D. Rjazanov. Bd. I. Frankfurt a. M. 1928, S. 301.) 



468 Literarische und asthetische Essays 

befindet. »Die Wahrheit wird uns nicht davon laufen« - dieses 
Wort, das bei Gottfried Keller steht, bezeichnet im Geschichts- 
bild des Historismus genau die Stelle, an welcher es vom histo- 
rischen Materialismus durchschlagen wird. Denn es ist ein unwie- 
derbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart 
zu verschwinden droht, welclie sich nicht als in ihm gemeint 
erkannte. 

Je besser man die Satze von Engels bedenkt, desto klarer wird, 
dafi jede dialektische Darstellung der Geschichte erkauft wird 
durch den Verzicht auf eine Beschaulichkeit, die fiir den Hi- 
storismus bezeichnend ist. Der historische Materialist mufi das 
epische Element der Geschichte preisgeben. Sie wird ihm Gegen- 
stand einer Konstruktion, deren Ort nicht die leere Zeit, son- 
dern die bestimmte Epoche, das bestimmte Leben, das bestimmte 
Werk bildet. Er sprengt die Epoche aus der dinghaften >ge- 
schichtlichen Kontinuitat< heraus, so auch das Leben aus der 
Epoche, so das Werk aus dem Lebenswerk. Doch der Ertrag 
dieser Konstruktion ist der, dafi im Werke das Lebenswerk, im 
Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der Geschichtsverlauf 
aufbewahrt ist und aufgehoben. 4 

Der Historismus stellt das ewige Bild der Vergangenheit dar; 
der historische Materialismus eine jeweilige Erfahrung mit ihr, 
die einzig dasteht. Der Entsatz des epischen Moments durch das 
konstruktive erweist sich als Bedingung dieser Erfahrung. In 
ihr werden die gewaltigen Krafte frei, die im >Es-war-einmal< 
des Historismus gebunden liegen. Die Erfahrung mit der Ge- 
schichte ins Werk zu setzen, die fiir jede Gegenwart eine ur- 
spriingliche ist - das ist die Aufgabe des historischen Materialis- 
mus. Er wendet sich an ein Bewufksein der Gegenwart, welches 
das Kontinuum der Geschichte auf sprengt. 

Geschichtliches Verstehen faEt der historische Materialismus als 
ein Nachleben des Verstandenen auf, dessen Pulse bis in die 
Gegenwart spiirbar sind. Dieses Verstehen hat bei Fuchs seine 
Stelle; jedoch keine unangefochtene. Eine alte, dogmatische und 

4 Es ist die dialektische Konstruktion, die das in der geschichtlichen Erfahrung 
urspriinglich uns BetrefTende gegen die zusammengestoppelten Befunde des Tatsach- 
lichen abhebt. »Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprung- 
Iiche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik 
offen. Sie . . . betrifft dessen Vor- und N ach geschichte. « (Walter Benjamin, Ursprung 
des deutschen Trauerspiels. Berlin 1928, S. 32.) 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 469 

naive Vorstellung von der Rezeption stent bei ihm neben ihrer 
neuen und kritischen. Die erste resiimiert sich in der Behauptung, 
mafigebend fiir unsere Rezeption eines Werkes musse die 
Rezeption sein, welche es bei seinen Zeitgenossen gefunden 
habe. Es 1st die genaue Analogie zu Rankes »Wie es denn 
wirklich gewesen sei«, auf die es »doch einzig und allein« an- 
komme. 5 Daneben aber steht unvermittelt die dialektische 
und den weitesten Horizont eroffnende Einsicht in die Bedeu- 
tung einer Geschichte der Rezeption. Fuchs bemangelt, dafi in 
der Kunstgeschichte die Frage nach dem Erfolg aufier acht 
bleibe. »Diese Unterlassung ist ... ein Defizit unserer gesam- 
ten . . . Kunstbetraditung . . . Und doch diinkt mich die Aufdek- 
kung der wirklichen Ursachen fiir den grofieren oder geringeren 
Erfolg eines Kiinstlers, fiir die Dauer seines Erfolges und eben- 
sosehr fiir das Gegenteil, eines der wichtigsten Probleme, die 
sich ... an die Kunst kniipfen.« 6 Nicht anders hatte Mehring 
die Sache verstanden, dessen »Lessing-Legende« die Rezeption 
des Dichters, so wie sie sich bei Heine und bei Gervinus, bei 
Stahr und bei Danzel, schlieElich bei Erich Schmidt vollzogen 
hatte, zum Ausgangspunkt ihrer Analysen macht. Und nicht 
umsonst tauchte wenig spater die, wenn nicht methodisch so 
doch ihrem Inhalt nach, schatzbare Untersuchung »Die Genesis 
des Ruhmes« von Julian Hirsch auf. Es ist die gleiche Frage, 
die Fuchs visiert hat. Ihre Losung gibt ein Kriterium fiir den 
Standard des historischen Materialismus ab. Dieser Umstand 
aber berechtigt nicht, den anderen: dafi sie noch aussteht, zu 
unterschlagen. Vielmehr ist riicksichtslos einzuraumen, da£ es 
nur in vereinzelten Fallen gelungen ist, den geschichtlichen 
Gehalt eines Kunstwerks so zu erfassen, dafi es als Kunstwerk 
fiir uns transparenter wurde. Alles Werben um ein Kunstwerk 
mufi eitel bleiben, wo nicht sein nuchterner geschichtlicher Gehalt 
vom dialektischen Erkennen betroffen wird. Das ist nur die erste 
der Wahrheiten, an denen das Werk des Sammlers Eduard Fuchs 
sich orientiert. Seine Sammlungen sind die Antwort des Prakti- 
kers auf die Aporien der Theorie. 



5 Erotisdie Kunst, Bd. I, S. 70. (Die Auflosung der in den Fufinoten benutzten 
Abkiirzungen fiir die Sdiriften von Fudis findet sich u. S. 471 f. D. Hg.) 

6 Gavarni, S. 13. 



47° Literarische und asthetische Essays 

II 

Fuchs ist im Jahre 1870 geboren. Er war von Hause aus nicht 
zum Gelehrten bestimmt worden. Und bei aller Gelehrsamkeit, 
zu der er im spateren Leben gekommen ist, hat er nie den Ge- 
lehrtentyp angenommen. Seine Wirksamkeit ist stets iiber die 
Rander hinausgeschossen, die dasBlickfeld desForsdiers umgren- 
zen. So ist es um seine Leistung als Sammler bestellt, so um seine 
Aktivitat als Politiker. Mitte der achtziger Jahre ist Fuchs ins 
Erwerbsleben eingetreten. Es war unter der Herrschaft des 
Sozialistengesetzes. Die Lehrstelle fiihrte Fuchs mit politisch 
interessierten Proletariern zusammen, und bald war er durch 
sie in den heute idyllisch anmutenden Kampf der damaligen 
Illegalen hineinbezogen. Diese Lehrjahre endeten 1887. Einige 
Jahre darauf forderte das bayrische Organ der Sozialdemokra- 
ten, die »Miinchener Post«, den jungen Buchhalter Fuchs von 
einer Stuttgarter Druckerei an; es glaubte, in ihm den Mann ge- 
funden zu haben, der die administrativen Mangel beheben 
konne, die sich bei dem Blatte ergeben hatten. Fuchs ging nach 
Miinchen, um dort neben Richard Calver zu arbeiten. 
Im Hause der »Miinchener Post« erschien ein politisches Witz- 
blatt der Sozialisten, der »Siiddeutsche Postillon«. Ein Zufall 
gab, dafi Fuchs aushilfsweise den Umbruch einer Nummer des 
» Postilion « in die Hand nehmen, und ein weiterer, daft er Liik- 
ken mit einigen eigenen Beitragen fiillen rhufite. Der Erfolg 
dieser Nummer war ungewohnlich. Im gleichen Jahre erschien 
sodann, bunt bebildert - die farbig illustrierte Presse stand eben 
in ihren Anfangen -, von Fuchs zusammengestellt, die Mai- 
nummer dieses Blattes. Sechzigtausend Exemplare wurden ver- 
kauft gegen zweieinhalbtausend im Jahresdurchschnitt. Damit 
war Fuchs Redakteur einer Zeitschrift geworden, die der politi- 
schen Satire gewidmet war. Er wandte sich zugleich der Ge- 
schichte seines Tatigkeitsfeldes zu, und es entstanden so, neben 
der Tagesarbeit, die illustrierten Studien iiber das Jahr 1848 in 
der Karikatur und iiber die Staatsaffare der Lola Montez. Das 
waren, im Gegensatz zu den von lebenden Zeichnern illustrier- 
ten Historienbuchern (z. B. den von Jentsch bebilderten volks- 
tiimlichen Revolutionsbiidiern von Wilhelm Bios), die ersten 
durch dokumentarische Bilder illustrierten Geschichtswerke. Auf 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 471 

Hardens Aufforderung zeigte Fuchs das zweite dieser Werke 
selbst in der »Zukunft« an, merit ohne zu bemerken, dafi es nur 
einen Ausschnitt aus dem umfassenden Werk darstelle, das er der 
Karikatur der europaischen Volker zu widmen vorhabe. Ein 
Gefangnisaufenthalt von zehn Monaten, den eine Majestats- 
beleidigung durch die Presse ihm eintrug, kam den Studien zu 
diesem Werk zugute. Dafi die Idee glucklich sei, erschien ein- 
leuchtend. Ein gewisser Hans Kraemer, der sich in der Herstel- 
lung illustrierter Hausbucher bereits einige Erfahrung gesichert 
hatte, trat an Fuchs mit der Nachricht heran, er habe die Ge- 
schichte der Karikatur schon in Arbeit; er schlug vor, seine Stu- 
dien einem gemeinschaftlichen Werk zuzufuhren. Seine Beitrage 
liefien jedoch auf sich warten. Und bald ergab sich, dafi die ge- 
samte sehr betrachtliche Arbeitsleistung Fuchs allein zu bewalti- 
gen blieb. Der Name des prasumptiven Mitarbeiters, der noch 
auf dem Tkel der ersten Auflage des Karikaturenwerks zu 
finden war, ist in der zweiten fortgef alien. Fuchs aber hatte von 
seiner Arbeitskraft wie audi von seiner Materialbeherrschung 
die erste uberzeugende Probe abgelegt. Die lange Reihe der 
Hauptwerke war erorTnet. 7 

• 7 Hauptwerke (bei Albert Langen in Miinchen) : 
Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. I: Renaissance, 
[1909]; Bd. II: Die galante Zeit, [19 10]; Bd. Ill: Das biirgerliche Zeitalter, 
[1911/12]. Dazu »Erganzungsbande« I-III [1909; 191 1; 1912]; neue Aufl. aller 
Bde. 1926 (zitiert »Sittengeschichte«). 

Geschichte der erotlschen Kunst. Bd. I: Das zeitgeschichtliche Problem, [1908], neue 
Aufl. 1922; Bd. II: Das individuelle Problem, [Erster Teil,] 1923; Bd. Ill: Das 
individuelle Problem, Zweiter Teil, 1926 (zitiert »Erotische Kunst*). 
Die Karikatur der europaischen Volker. Bd. I: Vom Altertum bis zum Jahre 1848, 
[1. Aufl., 1 901,] 4. Aufl., 1 921; Bd. II: Vom Jahre 1848 bis zum Vorabend des 
Weltkrieges, [1. Aufl., 1903,] 4. Aufl., 192 1 (zitiert »Karikatur«). 
Honore* Daumier, Holzschnitte und Lithographien, hrsg. von Eduard Fuchs. Bd. I: 
Holzschnitte 1833-1870, 191 8; Bd. II: Lithographien 1828-1851, 1920; Bd. Ill: 
Lithographien 1852-1860, 1921; Bd. IV: Lithographien 1861-1872, 1922 (zitiert 
»Daumier«). 

Der Maler Daumier, hrsg. von Eduard Fuchs, 1927 (zitiert ebenso). 

Gavarni, Lithographien, hrsg. von Eduard Fuchs, 1925 (zitiert »Gavami«). 

Die grofien Meister der Erotik. Ein Beitrag zum Problem des Schopferischen in der 

Kunst. Malerei und Plastik, 1931 (zitiert ebenso). 

Tang-Plastik. Chinesische Grabkeramik des 7. bis 10. Jahrhunderts. (Kultur- und 
Kunstdokumente. 1), 1924 (zitiert ebenso). 



47 2 Literarisdie und asthetische Essays 

Die Anfange von Fuchs fallen in die Epoche, da, wie es in der 
»Neuen Zeit« einmal heifit, »der Stamm der sozialdemokrati- 
sdien Partei allerorten im organischen Wachstum Ring um Ring« 
ansetzte. 8 Damit maditen sich neue Aufgaben in der Bildungs- 
arbeit der Partei geltend. Je grofiere Arbeitermassen ihr zu- 
stromten, desto weniger konnte sie sich mit deren blofi politischer 
und naturwissenschaftlicher Aufklarung, mit einer Vulgarisie- 
rung der Mehrwert- und Deszendenztheorie begniigen. Sie 
mufite ihr Augenmerk darauf richten, audi den historischen 
Bildungsstoff in ihr Vortragswesen und in das Feuilleton der 
Parteipresse einzubeziehen. Auf diese Weise stellte sich das Pro- 
blem der >Popularisierung der Wissenschaft< in seiner ganzen 
Breite. Es ist nicht gelost worden. Man konnte auch der Losung 
nicht naherkommen, solange man sich das Objekt dieser Bil- 
dungsarbeit als >Publikum< statt als Klasse dachte. 9 Ware die 
Klasse visiert worden, so hatte die Bildungsarbeit der Partei 
niemals die enge Fuhlung mit den wissenschaftlichen Aufgaben 
des historischen Materialismus verlieren konnen. Der historische 
Stoff ware, umgepfliigt von der marxistischen Dialektik, ein 
Boden geworden, in dem der Same, den die Gegenwart in ihn 
warf, hatte aufgehen konnen. Das geschah nicht. Der Parole 
>Arbeit und Bildung<, unter der die staatsfrommen Vereine von 
Schultze-Delitzsch die Arbeiterbildung betrieben hatten, stellte 
die Sozialdemokratie die Parole > Wissen ist Macht< entgegen. 
Aber sie durchschaute nicht deren Doppelsinn. Sie meinte, das 
gleiche Wissen, das die Herrschaft der Bourgeoisie iiber das Pro- 
letariat befestige, werde das Proletariat befahigen, von dieser 
Herrschaft sich zu befreien. In Wirklichkeit war ein Wissen, das 

Dachreiter und verwandte chinesische Keramik des 15. bis 18. Jahrhunderts. (Kultur- 
und Kunstdokumente. 2), 1924 (zitiert ebenso). 

Fuchs hat aufierdem der Frau, den Juden und dem Weltkrieg als Sujets der Kari- 
katur Sonderwerke gewidmet. 

8 A. Max, Zur Frage der Organisation des Proletariats der Intelligenz. In: Die 
Neue Zeit. XIII. Stuttgart 1895, I, S. 645. 

9 Nietzsche schrieb, und zwar schon 1874: »Als letztes . . . Resultat ergiebt sich 
das allgemein beliebte >Popularisieren< . . . der Wissensdiaft, das heifit das beruch- 
tigte Zuschneiden des Rockes der Wissensdiaft auf den Leib des >gemischten Publi- 
kums<; um uns hier einmal fiir eine schneidermafiige Thatigkeit auch ernes schneider- 
mafiigen Deutschen (sic!) zu befleifiigen.« (Friedrich Nietzsche, Unzeitgemafie 
Betrachtungen. Bd. I. Leipzig 1893, S. 168 [»Vom Nutzen und Nachtheil der Histo- 
rie fur das Leben*].) 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 473 

ohne Zugang zur Praxis war und das das Proletariat als Klasse 
uber seine Lage nichts lehren konnte, ungefahrlich fiir dessen 
Unterdriicker. Das gait von dem geisteswissenschaftlichen ganz 
besonders. Es lag weit von der Ukonomik ab; es blieb von deren 
Umwalzung unberiihrt. Man begniigte sich, in seiner Behand- 
lung >anzuregen<, >Abwedislung zu bieten<, >zu interessieren<. Man 
lockerte die Geschichte auf und erhielt die >Kulturgeschichte<. 
Hier hat das Werk von Fuchs seinen Ort: in der Reaktion auf 
diese Sachlage hat es seine Grofie, in der Teilhabe an ihr seine 
Problematik. Die Ausrichtung auf die Lesermassen hat sich 
Fuchs von Anfang an zum Prinzip gemacht. 10 
Nur wenige haben damals erkannt, wieviel von der materialisti- 
schen Bildungsarbeit in Wahrheit abhing. Es sind die Hoffnun- 
gen und noch mehr die Befiirchtungen dieser wenigen, die in 
einer Debatte zum Ausdruck kommen, deren Spuren sich in der 
»Neuen Zeit« finden. Die wichtigste unter ihnen ist ein Aufsatz 
von Korn, betitelt »Proletariat und Klassik«. Er befafit sich mit 
dem Begriff des Erbes, der auch heute wieder seine Bedeutung 
hat. Lassalle sah im deutschen Idealismus, sagt Korn, ein Erbe, 
das die Arbekerklasse antrat. Anders als Lassalle aber fafiten 
Marx und Engels die Sache auf. »Nicht ... als ein Erbe leiteten 
sie den sozialen Vorrang der Arbeiterklasse her, sondern aus 
ihrer ausschlaggebenden Stellung im Produktionsprozefi sel- 
ber. Wie braucht auch von Besitz, und sei es vom geistigen Be- 
sitz, . . . geredet zu werden bei einem Klassenparvenu, wie dem 
modernen Proletariat, das jeden Tag und jede Stunde durch . . . 
seine den gesamten Kulturapparat immer aufs neue reproduzie- 
rende Arbeit. sein >Recht< dartut ... So ist fiir Marx und Engels 
das Prunkstiick des Lassalleschen Bildungsideals, die spekulative 
Philosophic, kein Tabernakel, . . . und immer starker haben sich 
beide . . . zur Naturwissenschafl hingezogen gefuhlt . . ., die in 
der Tat fiir eine Klasse, deren Idee in ihrem Funktionieren be- 
steht, ebenso die Wissenschaft schlechtweg heifien darf, wie fiir 
die herrschende und besitzende Klasse alles Historische die ge- 
gebene Form ihrer Ideologic ausmacht . . . Tatsachlich vertntt 
die Historik fiir das Bewufksein ebenso die Besitzkategorie, 

10 »Der Kulturgesdiiditssdireiber, der es mit seiner Aufgabe ernst nimmt, mufi 
stets fiir die Massen sdireiben.* (Erotisdie Kunst, Bd. II, S. V.) 



474 Literarisdie und asthetische Essays 

wie im Ukonomischen das Kapital die Herrschaft iiber ver- 
gangene Arbeit bedeutet.« n 

Diese Kritik des Historismus hat ihr Gewicht. Ihr Hinweis auf 
die Naturwissenschaft jedoch - »die Wissenschaft schlechtweg« 
- gibt den Blick auf die gefahrliche Problematik der Bildungs- 
frage erst ganzlich frei. Das Prestige der Naturwissenschaften 
hatte seit Bebel die Debatte beherrscht. Sein Hauptwerk, »Die 
Frau und der Sozialismus«, hat in den dreifiig Jahren, die zwi- 
schen seinem Erscheinen und dem der Arbeit von Korn vergin- 
gen, eine Auflage von 200 000 Exemplaren erreicht. Die Ein- 
schatzung der Naturwissenschaften bei Bebel beruht nicht allein 
auf der rechnerischen Genauigkeit ihrer Ergebnisse, sondern vor 
allem auf ihrer praktischen Anwendbarkeit. 12 Ahnlich fungieren 
sie spater bei Engels, wenn er den Phanomenalismus von Kant 
durch den Hinweis auf die Technik zu widerlegen meint, die ja 
doch durch Hire Erfolge zeige, dafi wir die >Dinge an sich< er- 
kennen. Die Naturwissenschaft, die bei Korn als die Wissen- 
sdiaft schlechtweg auftritt, tut dies also vor allem als Funda- 
ment der Technik. Die Technik aber ist offenbar kein rein 
naturwissenschaftlicher Tatbestand. Sie ist zugleich ein geschicht- 
licher. Als soldier zwingt sie, die positivistische, undialektische 
Trennung zu iiberprufen, die man zwischen Natur- und Gei- 
stes wissenschaften zu etablieren suchte. Die Fragen, die die Mensch- 
heit der Natur vorlegt, sind vom Stande ihrer Produktion mit- 
bedingt. Das ist der Punkt, an dem der Positivismus scheitert. 
Er konnte in der Entwicklung der Technik nur die Fortschritte 
der Naturwissenschaft, nicht die Ruckschntte der Gesellschaft 
erkennen. Daft diese Entwicklung durch den Kapitalismus ent- 
scheidend mitbedingt wurde, iibersah er. Und ebenso entging 
den Positivisten unter den sozialdemokratischen Theoretikern, 
dafi diese Entwicklung den immer dringlicher sich erweisenden 
Akt, mit dem das Proletariat sich in den Besitz dieser Technik 
bringen sollte, zu einem immer prekareren werden liefi. Die 

11 Carl Korn, Proletariat und Klassik. In: Die Neue Zeit. XXVI. Stuttgart 1908, 
II, S. 414/415- 

12 Vgl. August Bebel, Die Frau und der Sozialismus, (Die Frau in der Vergangen- 
heit, Gegenwart und Zukunft.) 10. Auf!., Stuttgart 1891, S. 177-79 un ^ S. 333-36 
iiber die Umwalzung der Hauswirtschaft durch die Technik, S. 200/201 iiber die 
Frau als Erfinderin. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 475 

destruktive Seite dieser Entwicklung verkannten sie, weil sie der 
destruktiven Seite der Dialektik entfremdet waren. 
Erne Prognose war fallig, und sie blieb aus. Das besiegelte einen 
Verlauf, der fiir das vergangene Jahrhundert kennzeichnend ist: 
namlich die verungliickte Rezeption der Technik. Sie besteht in 
einer Folge schwungvoller, immer erneuter Anlaufe, die samt und 
sonders den Umstand zu iiberspringen suchen, dafi dieser Ge- 
sellschaft die Technik nur zur Erzeugung von Waren dient. 
Die Saint-Simonisten mit ihrer Industrie-Dichtung stehen am 
Anfang; es folgt der Realismus eines Du Camp, der in der Loko- 
motive die Heilige der Zukunft sieht; den Beschlufi macht ein 
Ludwig Pfau: »Es ist ganz unnotig«, schrieb er, »ein Engel zu 
werden, und die Eisenbahn ist mehr werth als das schonste 
Paar Fliigel!« 13 Dieser Blick auf die Technik fiel aus der »Gar- 
tenlaube«. Und man mag sich aus solchem Anlafi fragen, ob die 
>Gemutlichkeit<, deren sich das Burgertum des Jahrhunderts 
freute, nicht aus dem dumpfen Behagen stammt, niemals erfah- 
ren zu miissen, wie sich die Produktivkrafte unter seinen Han- 
den entwickeln mufken. Diese Erfahrung blieb denn auch wirk- 
lich dem Jahrhundert, das folgte, vorbehalten, Es erlebt, wie 
die Schnelligkeit der Verkehrswerkzeuge, wie die Kapazitat der 
Apparaturen, mit denen man Wort und Schrift vervielfaltigt, 
die Bedurfnisse iiberfliigelt. Die Energien, die die Technik jen- 
seits dieser Schwelle entwickelt, sind zerstorende. Sie fordern 
in erster Linie die Technik des Kriegs und die seiner publizisti- 
schen Vorbereitung. Von dieser Entwicklung, die durchaus eine 
klassenbedingte gewesen ist, darf man sagen, dafi sie sich im 
Riicken des vorigen Jahrhunderts vollzogen hat. Ihm sind die 
zerstorenden Energien der Technik noch nicht bewufk gewesen. 
Das gilt zumal von derSozialdemokratie der Jahrhundertwende, 
Wenn sie den Illusion en des Positivismus an dieser oder jener 
Stelle entgegentrat, so blieb sie im ganzen in ihnen befangen. 
Die Vergangenheit erschien ihr ein fiir allemal in die Scheuern 
der Gegenwart eingebracht; mochte die Zukunft Arbeit in 
Aussicht stellen, so doch die Gewifiheit des Erntesegens. 



13 Zitiert von David Bach, John Ruskin. In: Die Neue Zeit. XVIII. Stuttgart 
1900, I, S. 728. 



47^ Literarische und asthetische Essays 

III 

In dieser Epoche hat sich Eduard Fuchs gebildet, und entschei- 
dende Ziige seines Werkes entstammen ihr. Es nimmt, um das 
formelhaft auszusprechen, an der Problematik teil, die von der 
Kulturgeschichte untrennbar ist. Diese Problematik verweist 
auf den zkierten Engelsschen Text zuriick. Man konnte glauben, 
den locus classicus in ihm zu haben, der den historischen Ma- 
terialismus als Geschichte der Kultur definiert. Mufi nicht das 
der wahre Sinn dieser Stelle sein? Mufi nicht das Studium der 
einzelnen Disziplinen, denen der Schein ihrer Geschlossenheit 
nun genommen ist, in dem der Kulturgeschichte als demjenigen 
des Inventars zusammenfliefien, das die Menschheit sich bis heute 
gesichert hat? In Wahrheit wiirde der dergestalt Fragende an 
die Stelle der vielen und problematischen Einheiten, die die 
Geistesgeschichte (als Geschichte der Literatur und Kunst, des 
Rechts oder der Religion) umfafit, nur eine neue, problematisch- 
ste setzen. Die Abgehobenheit, in der die Kulturgeschichte ihre 
Inhalte prasentiert, ist flir den historischen Materialisten eine 
scheinhafte und von einem falschen Bewufitsein gestiftete. 14 Er 
steht ihr zuruckhaltend gegeniiber. Berechtigen zu solcher Zu- 
riickhaltung wiirde ihn die blofie Inspektion des Gewesenen 
selbst: was er an Kunst und an Wissenschaft iiberblickt, ist 
samt und senders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen 
betrachten kann. Es dankt sein Dasein nicht nur der Miihe der 
grofien Genien, die es geschaffen haben, sondern in mehr oder 
minderem Grade audi der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen. 

14 Charakteristischen Ausdruck hat dieses scheinhafte Moment in Alfred Webers 
BegriiBungsansprache auf dem deutschen Soziologentage von 19 12 gefunden. »Erst 
. . . wenn das Leben von seinen Notwendigkeiten und Niitzlichkeiten zu einem iiber 
diesen stehenden Gebilde geworden ist, erst dann gibt es Kultur. « In diesem Kul- 
turbegriff schlummerten Keime der Barbarei, die sich inzwischen entfaltet haben. 
Kultur erscheint als etwas »fiir die Fortexistenz des Lebens "Oberfliissiges, was wir 
doch gerade als ... dasjenige, wofiir es da ist, fiihlen«. Kurz, die Kultur existiert 
nach Art eines Kunstwerks, »das vielleicht ganze Lebensformen und Lebensgrund- 
satze in Verwirrung bringt, das zersetzend und zerbrechend wirken kann, und des- 
sen Existenz wir doch als hoher fiihlen als alles Gesunde und Lebendige, was da- 
durch zerstort wird«. (Alfred Weber, Der soziologisdie KulturbegrifF. In: Verhand- 
lungen des Zweiten Deutschen Soziologentages. Schriften der Deutschen Gesellschaft 
fur Soziologie. I. Serie, II. Band. Tubingen 1913, S. 11/12.) Fiinfundzwanzig Jahre, 
nachdem das gesagt wurde, haben Kulturstaaten es als ihre Ehre in Anspruch genom- 
men, solchen Kunstwerken zu gleichen, solche zu sein. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 477 

Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein sol- 
ches der Barbarei zu sein. Dem Grundsatzlichen dieses Tatbe- 
standes ist noch keine Kulturgeschichte gerecht geworden, und 
sie kann das audi schwerlich hoffen. 

Dennoch liegt nicht hier das Entscheidende. Ist der Begriff der 
Kultur fiir den historischen Materialismus ein problematischer, 
so ist ihr Zerfall in Giiter, die der Menschheit ein Objekt des Be- 
sitzes wiirden, ihm eine unvollziehbare Vorstellung. Das Werk 
der Vergangenheit ist ihm nicht abgeschlossen. Keiner Epoche 
sieht er es dinghaft, handhch in den Schofi fallen, und an keinem 
Teil. Als ein InbegrifT von Gebilden, die unabhangig, wenn nicht 
von dem Produktionsprozefi, in dem sie entstanden, so doch von 
dem, in welchem sie iiberdauern, betrachtet werden, tragt der 
Begriff der Kultur ihm einen fetischistischen Zug. Sie erscheint 
verdinglicht. Ihre Geschichte ware nichts als der Bodensatz, den 
die durch keinerlei echte, d. i. politische Erfahrung im Bewufit- 
sein der Menschen aufgestoberten Denkwiirdigkeiten gebildet 
haben. 

Im ubrigen kann man nicht aufier acht lassen, da6 noch keine 
Geschichtsdarstellung, die auf kulturhistorischer Grundlage un- 
ternommen wurde, dieser Problematik entronnen ist. Sie ist 
handgreiflich in der groE angelegten »Deutschen Geschichte« von 
Lamprecht, welche die Kritik der »Neuen 2eit« aus begreiflichen 
Griinden mehr als einmal beschaftigt hat. »Lamprecht«, schreibt 
Mehring, »ist bekanntlich unter den biirgerlichen Historikern 
derjenige, der sich am meisten dem historischen Materialismus 
genahert hat.« Jedoch »Lamprecht ist auf halbem Weg stehen ge- 
blieben . . . Jeder Begriff einer historischen Methode hort . . . auf, 
wenn Lamprecht die okonomische und kulturelle Entwicklung 
nach einer bestimmten Methode behandeln will, die politische 
Entwicklung derselben Zeit aber aus einigen anderen Histo- 
rikern kompilirt.« 15 Gewifi ist die Darstellung der Kulturge- 
schichte auf Basis der pragmatischen Historie ein Widersinn. 
Tiefer liegt aber der Widersinn einer dialektischen Kultur- 
geschichte an sich, da das Kontinuum der Geschichte, von der 
Dialektik gesprengt, an keinem Teil eine weitere Streuung erlei- 
det, als an dem, welchen man Kultur nennt. 

15 Franz Mehring, Akademisches. In: Die Neue Zeit. XVI. Stuttgart 1898, I, 

S. 195/196. 



47^ Literarische und asthetische Essays 

Kurz, nur scheinbar stellt die Kulturgeschichte einen Vorstofi 
der Einsicht dar, nicht einmal scheinbar einen der Dialektik. 
Denn es fehlt ihr das destruktive Moment, das das dialektische 
Denken wie die Erfahrung des Dialektikers als authentische 
sicherstellt. Sie vermehrt wohl die Last der Schatze, die sich auf 
dem RUcken der Menschheit haufen. Aber sie gibt ihr die Kraft 
nicht, diese abzuschutteln, um sie dergestalt in die Hand zu be- 
kommen. Das gleiche gilt von der sozialistischen Bildungsarbeit 
um die Jahrhundertwende, welche die Kulturgeschichte zum 
Leitstern hatte. 



IV 

Der geschichtliche Umrifi des Werkes von Fuchs profiliert sich 
vor diesem Hintergrund. Wo es Bestand und Dauer hat, da ist 
es einer geistigen Konstellation abgerungen, wie sie widriger 
selten erschienen ist. Und hier ist es der Sammler Fuchs, der 
den Theoretiker vieles erfassen lehrte, wozu seine Zeit ihm den 
Zugang sperrte. Es war der Sammler, der auf Grenzgebiete ge- 
riet - das Zerrbild, die pornographische Darstellung -, 
an denen eine Reihe Schablonen aus der uberkommenen Kunst- 
geschichte friiher oder spater zuschanden werden. Es ist zunachst 
zu bemerken, dafi Fuchs mit der klassizistischenKunstauffassung, 
deren Spur auch bei Marx noch erkennbar ist, auf der gan- 
zen Linie gebrochen hat. Die BegrifTe, in denen das Biirgertum 
diese Kunstauffassung entwickelt hatte, sind bei Fuchs nicht 
mehr im Spiele: nicht der schone Schein, nicht die Harmonie, 
nicht die Einheit des Mannigfaltigen. Und die gleiche robuste 
Selbstbehauptung des Sammlers, die den Autor den klassizisti- 
schen Theorien entfremdet hat, macht sich bisweilen, drastisch 
und briisk, der Antike selbst gegemiber geltend. Im Jahre 1908 
prophezeit er, gestiitzt auf das Werk der Rodin und Slevogt, 
eine neue Schonheit, »die in ihren schlieftlichen Resultaten noch 
unendlich grofier zu werden verspricht als die der Antike. Denn 
wo diese nur hochste animalische Form war, wird die neue Schon- 
heit ausgefiillt sein mit einem grandiosen geistig-seelischen In- 
halt.« 16 

16 Erotisdie Kunst, Bd. I, S. iz$. - Die stete Bezugnahme auf, die zeitgenossisdie 
Kunst gehort zu den wichtigsten Impulsen des Sammlers Fuchs. Auch sie kommt 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 479 

Kurz, die Wertordniing, die bei Winckelmann oder Goethe einst 
die Kunstbetrachtung bestimmte, hat bei Fuchs jeden EinfluS 
verloren. Freilich ware es irrig, darum zu meinen, dafi so die 
idealistische Kunstbetrachtung selber aus den Angeln gehoben 
sei. Das kann friiher der Fall nicht sein als die disiecta membra, 
welche der Idealismus als >geschichtliche Darstellung< einerseits 
und als >Wurdigung< andererseits in der Hand halt, eines gewor- 
den und als solche iiberholt worden sind. Das zu leisten, bleibt 
einer Geschiclitswissenschaft vorbehalten, deren Gegenstand nicht 
von einem Knauel purer Tatsachlichkeiten, sondern von der 
gezahlten Gruppe von Faden gebildet wird, die den Ein- 
schufi einer Vergangenheit in die Textur der Gegenwart dar- 
stellen. (Man wiirde fehlgehen, diesen Einschufi mit dem blofien 
Kausalnexus gleichzusetzen. Er ist vielmehr ein durchaus dia- 
lektischer, und jahrhundertelang konnen Faden verloren gewe- 
sen sein, die der aktuale Geschichtsverlauf sprunghaft und un- 
scheinbar wieder aufgreift.) Der geschichtliche Gegenstand, der 
der puren Faktizitat enthoben ist, bedarf keiner >Wurdigung<. 
Denn er bietet nicht vage Analogien zur Aktualitat, sondern 
konstituiert sich in der prazisen dialektischen Aufgabe, die ihr 
zu losen obliegt. Darauf ist es in der Tat abgesehen. Wenn an 
nichts anderem, so ware dies an dem pathetischen Zuge fuhlbar, 
der den Text oft dem Vortrag nahert. Doch ist andererseits dar- 
an kenntlich, da£ nicht weniges in der Absicht und im Anlauf 
befangen blieb. Das grundsatzlich Neue der Intention kommt 
zu ungebrochenem Ausdruck vor allem da, wo ihr der stoff- 
liche Vorwurf entgegenkommt. Das geschieht in der Deutung 
des Ikonographischen, in der Betrachtung der Massenkunst, in 
dem Studium der Reproduktionstechnik. Diese Teile des Fuchs- 
schen Werkes sind bahnbrechend. Sie sind Bestandteile einer 



ihm teilweise von den grofien Schopfungen der Vergangenheit. Seine unvergleidi- 
liche Kenntnis der alteren Karikatur erschliefit Fudis friih die Arbeiten eines 
Toulouse-Lautrec, eines Heartfield und eines George Grosz. Seine Passion fur 
Daumier fiihrt ihn zu Slevogts Werk, dessen Don Quichote-Konzeption ihm als 
die einzige vor Augen schwebt, die sich neben Daumier halten kann. Seine Studien 
iiber Keramik geben ihm alle Autoritat, einen Emil Pottner zu fordern. Sein Leben 
lang hat Fuchs mit bildenden Kiinstlern in freundschaftlichem Verkehr gestanden. 
Es ist daher nicht verwunderlich, dafi seine Art, Kunstwerke anzusprechen, oft mehr 
die des Kunstlers als des Historikers ist. 



480 Literarische und 'asthetische Essays 

jeden kiinftigen materialistisclien Betrachtung von Kunstwer- 
ken. 

Den drei genannten Motiven ist eines gemeinsam: sie enthalten 
eine Anweisung auf Erkenntnisse, die sich an der hergebrachten 
Kunstauffassung nicht anders erweisen konnen als destruktiv. 
Die Befassung mit der Reproduktionstechnik erschliefit, wie 
kaum eine andere.Forschungsrichtung, die entscheidende Bedeu- 
tung der Rezeption; sie gestattet damit, den Prozeft der Ver- 
dinglichung, der am Kunstwerk statthat, in gewissen Grenzen 
zu korrigieren. Die Betrachtung der Massenkunst fuhrt zur 
Revision des Geniebegriffs; sie legt nahe, liber der Inspira- 
tion, die am Werden des Kunstwerks teilhat, die Faktur nicht zu 
ubersehen, die allein ihr gestattet, fruchtbar zu werden. Endlich 
erweist sich die ikonographische Auslegung nicht allein unent- 
behrlich fiir das Studium der Rezeption und der Massenkunst; 
sie verwehrt vor allem die Obergriffe, zu denen jeder Formalis- 
mus alsbald verfiihrt. 17 

Fuchs hat sich mit dem Formalismus befassen mussen. Wolfflins 
Lehre war im Aufstieg zur gleichen Zeit als Fuchs die Funda- 
mente seines Werks griindete. In seinem »Individuellen Pro- 
blem* kniipft er an einen Grundsatz aus der »Klassischen Kunst« 
Wolfflins an. Dieser Grundsatz lautet: »So sind Quattrocento 
und Cinquecento als Stilbegriffe mit einer stofflichen Charak- 
teristik nicht zu erledigen. Das Phanomen . . . weist auf eine 
Entwicklung des kunstlerischen Sehens, die von einer besonderen 
Gesinnung und von einem besonderen Schonheitsideal imwesent- 
lichen unabhangig ist.« 18 Gewifi kann diese Formulierung dem 
historischen Materialisten Anstofi bieten. Aber sie enthalt doch 
auch Forderliches; denn gerade er ist nicht so sehr daran interes- 
siert, die Veranderung des kunstlerischen Sehens auf ein ge- 
wandeltes Schonheitsideal als auf elementarere Prozesse zuriick- 
zufiihren - Prozesse, wie sie durch okonomische und technische 
Wandlungen in der Produktion angebahnt werden. Was den 
gegebenen Fall betrifft, so wiirde der schwerlich leer ausgehen, 

17 Der Meister ikonographisdier Interpretation diirfte Emile Male sein. Seine Unter- 
suchungen beschranken sich auf die Plastik der franzosischen Kathedralen des 12. 
bis 15. Jahrhunderts und iiberschneiden sidi demnach nicht mit denen von Fuchs. 

18 Heinrich Wolfflin, Die klassische Kunst. Eine Einfuhrung in die italienische 
Renaissance. Munchen 1899, S. 27J. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 481 

der sich mit der Frage befassen wollte, welche wirtschaftlich 
bedingten Veranderungen im Wohnbau die Renaissance mit 
sich brachte und welche Rolle die Renaissancemalerei als Prospekt 
der neuen Architektur und als Illustration des durch sie ermog- 
lichten Auftretens denn gespielt habe. 19 Freilich streift Wolfflin 
diese Frage nur fliichtig. Wenn aber Fuchs gegen ihn geltend 
macht: »Gerade diese formalen Momente . . . sind es, die sich 
nirgends anders her erklaren lassen als aus derveranderten Stim- 
mung der Zeit« 20 , so weist das doch in erster Linie auf die er- 
wahnte Bedenklichkeit von kulturhistorischen Kategorien hin. 
Es ergibt sich an mehr als einer Stelle, dafi Polemik, audi Dis- 
kussion, auf dem Wege des Schriftstellers Fuchs nicht liegt. Die 
eristische Dialektik, die nach Hegels Definition »in die Kraft 
des Gegners eingeht, um ihn von innen her zu vernichten«, ist, 
so streitbar Fuchs erscheint, in seinem Arsenal nicht zu finden. 
Bei den Forschern, die auf Marx und Engels folgten, liefi die 
destructive Kraft des Gedankens nach, der nun nicht mehr das 
Jahrhundert in die Schranken zu fordern wagte. Schon bei 
Mehring hat sich ihr Tonus in der Fiille der Scharmutzel herab- 
gestimmt. Immerhin leistete er mit der »Lessing-Legende« Erheb- 
liches. Er zeigte, welcher Heerbann politischer, aber auch 
wissenschaftlicher und theoretischer Energien in den grofien 
Werken der Klassik aufgebracht worden war. Er bekraftigte so 
seine Abneigung gegen den belletristischen Schlendrian seiner 
Zeitgenossen. Er kam zu der mannlichen Erkenntnis, die Kunst 
habe ihre Wiedergeburt erst von dem okonomisch-politischen 
Siege des Proletariats zu erwarten. Und zu der unbestech- 
lichen: »In seinen Befreiungskampf vermag sie nicht tief einzu- 

19 Die altere Tafelmalerei gab dem Mensdien als Quartier nicht mehr als ein Sdiil- 
derhauschen. Die Maler der Fruhrenaissance haben zum ersten Mai Innenraume 
ins Bild gesetzt, in denen die dargestellten Figuren Spielraum haben. Das machte 
die Erfindung der Perspective durch Uccello den Zeitgenossen und ihm selber so 
iiberwaltigend. Die Malerei, die von nun ab ihre Schopfungen mehr als vordem den 
Wohnenden (statt wie einstmals den Betenden) widmete, gab ihnen Vorlagen ihres 
Wohnens, wurde nicht mude, Perspektiven der Villa vor ihnen aufzustellen. Die 
Hoch renaissance, sehr viel sparsamer in der Darstellung des eigentlichen Interieurs, 
baute doch auf diesen Grand auf. »Das Cinquecento hat ein besonders starkes 
Gefuhl fiir die Relation zwischen Mensch und Bauwerk, fiir die Resonanz eines 
schonen Raumes. Es kann sich fast keine Existenz denken ohne architektonische 
Fassung und Fundamentierung.« (Wolfflin, a. a. O., S. 227.) 

20 Erotische Kunst, Bd. II, S. 20. 



482 Literarische und asthetische Essays 

greifen.« 21 Die Entwicklung der Kunst hat ihm Recht gegeben. 
Seine Erkenntnisse verwiesen Mehring mit verdoppeltem Nach- 
druck auf das Studium der Wissenschaft. Er erwarb in ihm die 
Soliditat und Strenge, die ihn gegen den Revisionismus gefeit 
machten. So formten sich in seinem Charakterbild Ziige, die im 
besten Sinn biirgerliche zu nennen, doch weit entfernt sind, den 
Dialektiker zu gewahrleisten. Sie begegnen bei Fuchs nicht min- 
der. Und vielleicht stechen sie bei ihm mehr hervor, weil sie einer 
expansiveren und sensualistischer gearteten Veranlagung einver- 
leibt sind. Wie dem audi sei — man konnte sich sein Portrait 
wohl in eine Galerie burgerlicher Gelehrtenkopfe versetzt den- 
ken. Als Nachbarn mag man ihm Georg Brandes geben, mit 
dem er den rationalistischen Furor, die Leidenschaft teilt, uber 
weite geschichtliche Raume mit der Fackel des Ideals (des Fort- 
schritts, der Wissenschaft, der Vernunft) Licht zu verbreiten. 
Auf der anderen Seite mag man sich Adolf Bastian, den Ethno- 
logen denken. An ihn erinnert Fuchs vor allem in seinem uner- 
sattlichen Materialhunger. Und wie Bastian zu legendarem Ruf 
durch seine Bereitschaft gekommen war, jederzeit, wenn es eine 
Frage zu klaren gait, mit dem Handkofferchen aufzubrechen 
und eine Expedition anzutreten, die ihn monatelang von der 
Heimat fernhielt, so war audi Fuchs jederzeit den Impulsen 
horig, die ihn auf die Suche nach neuen Belegen trieben. Beider 
Werke werden unerschopfliche Fundgruben fiir die Forschung 
bleiben. 



Es mull fiir den Psychologen eine bedeutsame Frage sein, wie 
ein Enthusiast, eine dem Positiven zugekehrte Natur, zur Pas- 
sion fiir die Karikatur gelangen kann. Er beantworte sie nach 
Gefallen - der Tatbestand lafit, was Fuchs angeht, keinen Zwei- 
fel zu. Von vornherein unterscheidet sein Kunstinteresse sich 
von dem, was man wohl >Freude am Schonen< nennt. Von 
vornherein ist die Wahrheit ins Spiel gemischt. Fuchs wird nicht 
miide, den Quellenwert, die Autoritat der Karikatur zu be- 

21 Franz Mehring, Gesdiidite der deutschen Sozialdemokratie, Zweiter Teih Von 
Lassalles Offenem Antwortschreiben bis zum Erfurter Programm. (Geschichte des 
Sozialismus in Einzeldarstellungen. Ill, 2.) Stuttgart 1898, S. 546. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 483 

tonen. »Die Wahrheit liegt im Extreme formuliert er gelegent- 
lich. Er geht weiter: die Karikatur ist ihm »gewissermafien die 
Form . . ., von der alle objektive Kunst ausgeht. Ein einziger 
Blick in die ethnographischen Museen belegt diesen Satz.« 22 
Wenn Fuchs die prahistorischen Volker, die Kinderzeichnung 
heranzieht, so tritt vielleicht der Begriff der Karikatur in einen 
problematischen Zusammenhang - desto urspriinglicher bekun- 
det sich das vehemente Interesse, das er den drastischen Gehal- 
ten des Kunstwerks, mogen sie inhaltlicher 23 oder formaler Art 
sein, entgegenbringt. Dieses Interesse durchzieht sein Werk in 
der ganzen Breite. Noch in der spaten »Tang-Plastik« lesen 
wir: »Das Groteske ist die hodiste Steigerung des Sinnlich-Vor- 
stellbaren ... In diesem Sinne sind die grotesken Gebilde zu- 
gleich der Ausdruck der strotzenden Gesundheit einer Zeit . . . 
Gewift darf nicht bestritten werden, daft es hinsiehtlich der 
Triebkrafte des Grotesken audi einen krassen Gegenpol gibt. 
Audi dekadente Zeiten und kranke Gehirne neigen zu grotesken 
Gestaltungen. In solchen Fallen ist das Groteske das erschiittern- 
de Widerspiel der Tatsache, daft den betrefTenden Zeiten und 
Individuen die Welt- und Daseinsprobleme unlosbar erschei- 
nen . . . Welche von diesen beiden Tendenzen hinter einer grotes- 
ken Phantasie als schopferische Antriebskraft steht, ist auf den 
ersten Blick erkenntlich.« 24 

Die Stelle ist instruktiv. Es kommt in ihr besonders deutlich 
zum Vorschein, worauf die Wirkung ins Breite, die besondere 
Popularitat der Werke von Fuchs beruht. Das ist die Gabe, die 
Grundbegriffe, in denen seine Darstellung sich bewegt, alsbald 
mit Wertungen zu legieren. Das geschieht oft auf massive Art. 25 
Zudem sind diese Wertungen stets extrem. Sie treten polar auf 

22 Karikatur, Bd. I, S. 4. 

23 Vgl. die schone Bemerkung zu den Daumierschen Figuren von Proletarierinnen: 
»Wer solche Stoffe als blofie Bewegungsmotive ansieht, beweist, dalJ ihm die letzten 
Triebkrafte, die wirksam werden mussen, um erschutternde Kunst zu gestalten, ein 
versiegeltes Buch sind . . , Gerade deshalb, . . . weil es sich in diesen Bildern um 
etwas ganz anderes als um . . , >Bewegungsmotive< handelt, werden diese Werke 
ewig leben als ... erschutternde Denkmaler der Knechtung des mutterlichen Weibes 
im neunzehnten Jahrhundert.* (Der Maler Daumier, S. 28.) 

24 Tang-Plastik, S. 44. 

25 Vgl. die These iiber die erotische Wirkung des Kunstwerks: »Je intensiver diese 
Wirkung ist, um so grower ist die kunstlerische Qualitat,« (Erotische Kunst, Bd. I, 
S. 68.) 



484 Literarische und asthetische Essays 

und polarisieren derart den Begriff, mit dem sie verschmolzen 
sind. So in der Darstellung des Grotesken, so in der der eroti- 
schen Karikatur. IndenZeiten desNiedergangesist sie»Schmutz« 
und »kitzelnde Pikanterie«, in den Zeiten des Aufstiegs »Aus- 
druck iiberschaumender Lust und strotzender Kraft« 26 . Bald 
sind es die Wertbegriffe der Bliitezeit und des Niederganges, 
bald die des Gesunden und Kranken, die Fuchs heranzieht. 
Grenzfallen, an denen sich ihre Problematik erweisen konnte, 
geht er aus dem Wege. Mit Vorliebe halt er sich an das »ganz 
Grofie«, das das Vorrecht hat, »dem Hinreifienden im Ein- 
fachsten« Raum zu geben. 27 Gebrochene Kunstepochen, wie 
das Barock, wiirdigt er wenig. Die grofie Zeit ist auch ihm noch 
die Renaissance. Hier behalt sein Kultus des Schopfertums iiber 
seine Abneigung gegen die Klassik die Oberhand. 
Der Begriff des Schopferischen hat bei Fuchs einen starken Ein- 
schlag ins Biologische. Und wahrend das Genie mit Attributen 
auftritt, die bisweilen das Priapische streifen, erscheinen Kiinst- 
ler, von denen der Autor sich distanziert, gern geschmalert in 
ihrer Mannlichkeit. Es tragt den Stempel solcher biologistischen 
Anschauungsweise, wenn Fuchs sein Urteil iiber die Greco, 
Murillo, Ribera in der Konstatierung zusammenfafit: »Alle 
drei wurden speziell deshalb die klassischen Vertreter des Ba- 
rockgeistes, weil jeder in seiner Art zugleich ein >verkorkster< 
Erotiker ist.« 28 Man darf nicht aus dem Auge verlieren, dafi 
Fuchs seine Grundbegriffe in einer Epoche entwickelte, der die 
>Pathographie< den letzten Standard der Kunstpsychologie, Lom- 
broso und Mobius Autoritaten vorstellten. Und der Geniebe- 
griff, der durch die einfluflreiche »Kultur der Renaissance« von 
Burckhardt zur gleichen Zeit mit reichem Anschauungsmaterial 
erfiillt wurde, nahrte aus anderen Quellen die gleiche weitver- 
breitete Oberzeugung, Schopfertum sei vor allem anderen eine 
Manifestation iiberschaumender Kraft. Verwandte Tendenzen 
waren es, die Fuchs spater zu Konzeptionen fuhrten, die der 
Psychoanalyse verwandt sind; er hat sie als erster fur die Kunst- 
wissenschaft fruchtbar gemacht. 
Das Eruptive, Unmittelbare, das dem kunstlerischen Schaffen 

26 Karikatur, Bd. I, S. 23. 

27 Dachreiter, S. 39. 

28 Die grofien Meister der Erotik, S. 115. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 485 

nadi dieser Anschauung das Geprage gibt, beherrscht fur Fuchs 
nicht minder das Auffassen von Werken der Kunst. So ist es oft 
nicht mehr als ein Sprung, der bei ihm zwischen Apperzeption 
und Urteil liegt. In der Tat ist der >Eindruck< ihm nicht nur der 
selbstverstandliche Anstofi, den der Betrachter vom Werk er- 
fahrt, sondern Kategorie der Betrachtung selbst. Wenn Fuchs 
beispielsweise seine kritische Reserve gegen den artistischen 
Formahsmus der Ming-Epoche zu erkennen gibt, so fafit er das 
dahin zusammen, dafi deren Werke »schliefilich und endlich . . . 
nicht mehr, sondern sehr oft nicht einmal dasselbe an Eindruck 
. . . erreichen, was z. B. die Tang-Periode mit . . . ihrer grofien 
Linie erreicht hat« 29 . Derart kommt der Schrifts teller Fuchs zu 
dem besonderen und apodiktischen, um nicht zu sagen dem 
rustikalen Stil, dessen Pragung er meisterhaft formuliert, wenn 
er in der »Geschichte der Erotischen Kunst« erklart: »Vom 
richtigen Erfiihlen bis zum richtigen und restlosen Entziffern 
der in einem Kunstwerk wirkenden Krafte ist immer nur ein 
einziger Schritt.« 30 Nicht jedem ist dieser Stil erreichbar; Fuchs 
hat seinen Preis fur ihn zahlen miissen. Um den Preis mit einem 
Wort anzudeuten: die Gabe, Staunen zu erregen, ist dem 
Schriftsteller versagt geblieben. Kein Zweifel, daft dieser Aus- 
fall ihm fuhlbar gewesen ist. Er sucht ihn aufs mannigfachste zu 
kompensieren und spricht von nichts lieber als von Geheimnis- 
sen, denen er in der Psychologie des Schaff ens nachgeht, als von 
Ratseln des Geschichtsverlaufes, die ihre Losung im Materialis- 
mus finden. Aber der Drang nach unmittelbarster Bewaltigung 
der Tatbestande, der schon seine Konzeption des Schaffens be- , 
stimmt und die der Rezeption ebenso, setzt sich schliefilich auch 
in der Analyse durch. >Notwendig< erscheint der Verlauf der 
Kunstgeschichte, >organisch< erscheinen die Stilcharaktere, >lo- 
gisch< erscheinen noch die bef remdlichsten Kunstgebilde. Sie wer- 
den es seltener im Laufe der Analyse als sie es, dem Eindruck nach, 
schon zuvor waren, wie jene Fabelwesen der Tang-Epoche, die 
mit ihren Flammenflugeln und Hornern »absolut logisch«, »or- 
ganisch« wirken. »Logisch wirken selbst die riesigen Elefanten- 
ohren; logisch ist auch stets die Haltung . . . Es handelt sich nie 



29 Dachreiter, S. 40. 

30 Erotisdie Kunst, Bd. II, S. 1U. 



486 Literarische und asthetische Essays 

blofi um konstruierte Begriffe, sondern stets urn die zur leben- 
atmenden Form gewordene Idee.« 31 

31 Tang-Plastik, S. 30/31. - Problematisch wird diese intuitive, unmittelbare An- 
schauungsweise dann, wenn sie den Tatbestand einer materialistischen Analyse 
erfiillen will. Es ist bekannt, dafi Marx sich nirgends eingehender dariiber ausgelas- 
sen hat, wie man sich das Verhaltnis des Oberbaus zum Unterbau im einzelnen zu 
denken habe. Feststeht nur, dafi er eine Folge von Vermittlungen, gleichsam Trans- 
missionen, im Auge hatte, die sich zwisdien die materiellen Produktionsverhaltnisse 
und die entfernteren Domanen des Oberbaus, zu denen die Kunst zahlt, einschalten. 
So auch Plechanow: »Wenn die Kunst, die von den hoheren Klassen gesdiaffen wird, 
in keiner direkten Beziehung zu dem Produktionsprozefi steht, so ist dies in letzter 
Linie . . , aus okonomischen Ursachen zu erklaren. Die materialistische Geschichts- 
erklarung ist . . . audi fiir diesen Fall anwendbar; es ist jedoch selbstverstandlich, dafi 
'der unzweifelhafte kausale Zusammenhang zwisdien Sein und Bewufitsein, zwischen 
sozialen Verhaltnissen, welche die >Arbeit< als Grundlage haben, einerseits und der 
Kunst andererseits in diesem Falle nicht so leicht zutaga tritt. Hier entstehen . . . 
einige Zwischenstationen.« (Georgi Plechanow, Das franzosische Drama und die fran- 
zosische Malerei im achtzehnten Jahrhundert vom Standpunkt der materialistischen 
Geschichtsauffassung. In: Die Neue Zeit. XXIX. Stuttgart 191 1, I, S. 543/544.) So- 
viel ist deutlich, dafi die klassische Geschichtsdialektik von Marx hier kausale 
Abhangigkeiten fiir gegeben erachtet. In der spateren Praxis ist man laxer vorge- 
gangen und hat sich oft mit Analogien begniigt. Moglich, dafi das mit dem Anspruch 
zusammenhing, die burgerlichen Literatur- und Kunstgcschichten durch nicht minder 
grofiangelegte materialistische zu ersetzen. Dieser Anspruch gehort zur Signatur 
der Epoche; er ist von wilhelminischem Geist getragen. Er hat audi von Fuchs seinen 
Tribut gefordert. Ein Lieblingsgedanke des Autors, der in vielen Varianten zum 
Ausdruck kommt, statuiert realistische Kunstepochen fiir Handelsstaaten. So fiir 
das Holland des siebzehnten wie fiir das China des achten und neunten Jahrhun- 
derts. Ausgehend von der Analyse der chinesischen Gartenwirtschaft, an der viele 
Zuge des Kaiserreiches erlautert werden, wendet sich Fuchs der neuen Plastik zu, 
die unter der Herrschaft der Tang entsteht. Die monumentale Erstarrung des Han- 
Stiles lockert sich; das Interesse der anonymen Meister, die die Topferarbeiten bil- 
deten, gilt von nun an der Bewegung bei Mensch und Tier. »Die Zeit«, fiihrt Fuchs 
aus, »ist in jenen Jahrhunderten in China aus ihrer grofien Ruhe erwacht . . ., denn 
Handel bedeutet stets gesteigertes Leben und Bewegung. Also mufite in erster Linie 
Leben und Bewegung in die Kunst der Tang-Zeit kommen . . . Und dieses Merkmal 
ist auch das erste, das einem in die Augen springt. Wahrend zum Beispiel die Tiere 
der Han-Periode immer nodi schwer und wuchtig in ihrem ganzen Habitus sind . . ., 
ist bei denen der Tang-Zeit . . . alles Lebendigkeit, jedes Glied in Bewegung.* (Tang- 
Plastik, S. 41/42.) Diese Betrachtungsweise beruht auf blofier Analogie - Bewegung 
im Handel wie in der Plastik - und man konnte sie geradezu nominalistisch nennen. 
In der Analogie bleibt ebenfalls der Versuch, die Aufnahme der Antike in der Re- 
naissance durchsichtig zu machen, befangen. »Die wirtschaftliche Basis war in beiden 
Epochen dieselbe, nur dafi sie sich in der Renaissance auf einer hoheren Stufenleiter 
der Entwicklung befand. Beide basiertcn auf dem Warenhandel.« (Erotische Kunst, 
Bd. I, S. 42.) Am Ende erscheint der Handel selbst als Subjekt der Kunstubung, und es 
heifit: »Der Handel mufi mit den gegebenen Grofien rechnen, und er kann nur kon- 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 487 

Hier kommen Vorstellungsreihen zur Geltung, die mit den so- 
zialdemokratischen Lehren der Epoche aufs engste zusammen- 
hangen. Es ist bekannt, wie tief die Wirkung des Darwinismus 
auf die Entwicklung der sozialistischen Geschichtsauffassung 
gewesen ist. In der Zeit der Verfolgung durch Bismarck kam 
diese Wirkung der ungebrochenen Zuversicht der Partei und der 
Entsdiiedenheit ihres Kampfes zugute. Spater, im Revisionis- 
mus, biirdete die evolutionistisdie Geschichtsbetrachtung um so 
mehr der >Entwicklung< auf, je weniger die Partei das Errun- 
gene im Einsatz gegen den Kapitalismus aufs Spiel setzen wollte. 
Die Geschichte nahm deterministische Ziige an; der Sieg der 
Partei >konnte nicht ausbleiben<. Fuchs hat dem Revisionismus 
stets ferngestanden; sein politischer Instinkt, sein martialisches 
Naturell fiihrten ihn auf den linken Fliigel. Als Theoretiker 
aber hat er sich jenen Einfltissen nicht entziehen konnen. Man 
spurt sie iiberall am Werk. Damals fiihrte ein Mann wie Ferri 
nicht nur die Prinzipien, sondern auch die Taktik der Sozial- 
demokratie auf Naturgesetze zuriick. Fur die anarchistischen 
Abweichungen machte er mangelnde Kenntnisse in der Geologie 
und Biologic haftbar. Gewifi haben Fuhrer wie Kautsky sich 
mit solchen Abweichungen auseinandergesetzt. 32 Dennoch fan- 
den viele ihr Geniige an Thesen, die die geschichtlichen Vorgange 
nach >physiologischen< und >pathologischen< sonderten oder aber 
den naturwissenschaftlichen Materialismus in den Handen des 
Proletariats >selbsttatig< zum historischen erhoben zu sehen 



krete, nachprtifbare Groflen in Rechnung stellen. So mufi er der Welt und den Din- 
gen gegeniibertreten, wenn er sie wirtschaftlich bewaltigen will. Also ist auch seine 
kiinstlerische Anschauung von den Dingen eine in jeder Hinsicht reale.« (Tang- 
Plastik, S. 42.) Man mag davon absehen, dafi in der Kunst eine >in jeder Hinsicht 
reale< Darstellung nicht zu finden ist. Grundsatzlich ware zu sagen, dafi ein Zu- 
sammenhang, der in genau gleicher Weise fur die Kunst von Altchina und von Alt- 
holland Geltung beansprucht, problematisch erscheint. Er besteht in der Tat so nicht; 
es geniigt ein Blick auf die Republik Venedig. Sie bliihte durch ihren Handel; die 
Kunst Palma Vecchios, Tizians oder Veroneses war dennoch schwerlich eine >in jeder 
Hinsicht< realistische. Der Aspekt des Lebens, der uns in ihr entgegentritt, ist alleln 
der reprasentative und festliche. Auf der andern Seite erfordert das Erwerbsleben 
auf alien seinen Entwicklungsstufen einen betracht lichen Sinn fur die Realitat. Der 
Materialist kann daraus auf die Stilgebarung keinerlei Schliisse ziehen. 
32 Karl Kautsky, Darwinismus und Marxismus. In: Die Neue Zeit. XIII. Stutt- 
gart 1895, I, S. 709/710. 



488 Literarische und asthetische Essays 

meinten. 33 Ahnlich stellt sicii fiir Fudis der Fortsdiritt der 
menschlichen Gesellschaft als ein ProzeS dar, der sidi »ebenso- 
wenig eindammen lafit, wie man einen Gletscher in seinem steten 
Vorwartsdrangen aufhalten kann« 34 . Die deterministische 
Auffassung paart sich demnach mit einem handfesten Optimis- 
mus. Nun wird auf die Dauer ohne Zuversicht keine Klasse mit 
Erfolg politisch eingreifen konnen. Aber es macht einen Unter- 
schied, ob der Optimismus der Aktionskraft der Klasse gilt oder 
den Verhaltnissen, unter denen sie operiert. Die Sozialdemo- 
kratie neigte dem zweiten, fragwiirdigen Optimismus zu. Die 
Perspektive auf die beginnende Barbarei, die einem Engels in 
der »Lage der arbeitenden Klasse in England«, einem Marx in 
der Prognose der kapitalistischen Entwicklung aufgeblitzt war 
und heute selbst dem mittelmafiigen Staatsmann gelaufig ist, 
war den Epigonen der Jahrhundertwende verbaut. Als Con- 
dorcet die Lehre vom Fortsdiritt verbreitet hatte, da hatte das 
Burgertum vor dem Machtantritt gestanden; anders stand ein 
Jahrhundert spater das Proletariat. Ihm konnte sie Illusionen 
erwecken. Diese bilden in der Tat nodi den Hintergrund, in den 
die Gesdiidite der Kunst bei Fudis hin und wieder den Ausblick 
freigibt: »Die Kunst von heute«, so meint er, »hat uns hundert 
Erfiillungen gebracht, die in den verschiedensten Richtungen 
weit uber das hinausfiihren, was die Renaissancekunst erreicht 
hat, und die Kunst der Zukunft mufi wiederum unbedingt das 
Hohere bedeuten.« 35 

VI 

Das Pathos, das die Geschichtsauffassung von Fudis durchzieht, 
ist das demokratische Pathos von 1830. Dessen Echo ist der 
Redner Victor Hugo gewesen. Das Echo des Echos sind jene 
Bucher, in denen Hugo als Redner zur Nachwelt spricht. Die 
Geschichtsauffassung von Fuchs ist die von Hugo im »William 
Shakespeare « gefeierte: »Der Fortsdiritt ist der Schritt Gottes 

33 H. Laufenberg, Dogma und Klassenkampf. In: Die Neue Zeit. XXVII. Stutt- 
gart 1909, I, S. 574. - Der Begriff der Selbsttatigkeit ist hier traurig herabgekom- 
men. Seine grofie Zcit liegt im achtzehnten Jahrhundert, als der Ausgleich der Mark- 
te begann. Damals feierte er seinen Triumph ebensowohl bei Kant, in Gestalt der 
Spontaneitat, wie in der Tedinik, in Gestalt der Automaten. 

34 Karikatur, Bd. I, S. 312. 

35 Erotische Kunst, Bd. I, S. 3. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 489 

selbst.« Und das allgemeine Stimmredit ersdieint als die Welten- 
uhr, nach der das Tempo dieser Schritte bemessen wird. »Qui 
vote regne«, hat Victor Hugo geschrieben, und er hat damit 
die Tafeln des demokratischen Optimismus aufgerichtet. Dieser 
Optimismus hat noch spat sonderbare, Traumereien gezeitigt. 
Eine von ihnen gaukelte vor, dafi »alle geistigen Arbeiter, 
somit auch materiell wie sozial sehr hoch gestellte Personen als 
Proletarier« zu betrachten seien. Denn es sei »eine nicht zu leug- 
nende Thatsache, dafi von dem in goldstrotzender Uniform sich 
blahenden Hof rath bis herab zum abgehetzten Lohnarbeiter, 
alle, die fiir Geld ihre Dienste anbieten, . . . wehrlose Opfer 
des Kapitalismus sind« 36 . Die Tafeln, die Victor Hugo aufge- 
richtet hatte, stehen noch iiber dem Werk von Fuchs. Ubrigens 
bleibt Fuchs in der demokratischen Tradition, wenn er mit 
besonderer Liebe an Frankreich hangt: an dem Boden dreier 
grofier Revolutionen, an der Heimat der Exilierten, an dem Ur- 
sprung des utopischen Sozialismus, an dem Vaterland der Ty- 
rannenhasser Quinet und Michelet, an der Erde, in der die Kom- 
munarden liegen. So lebte das Bild von Frankreich in Marx 
und Engels, so ist es auf Mehring gekommen, und so, als »die 
Avantgarde der Kultur und der Freiheit« 37 , ist das Land auch 
noch Fuchs erschienen. Er vergleicht den gefliigelten Spott der 
Franzosen mit dem schwerfalligen der Deutschen; er vergleicht 
Heine mit den daheim Verbliebenen; er vergleicht den deutschen 
Naturalismus mit den satirischen Romanen von France. Und er 
ist auf diese Weise, wie Mehring, zu stichhaltigen Prognosen 
geleitet worden, ganz besonders im Falle von Gerhart Haupt- 
mann. 38 ^ 

Frankreich ist eine Heimat auch fur den Sammler Fuchs. Der 
Figur des Sammlers, die dem Betrachten den je langer desto 

36 A. Max, Zur Frage der Organisation des Proletariats der Intelligenz, a. a. O., 
S. 652. 

37 Karikatur, Bd. II, S. 238. 

38 Mehring hat den Prozefi, den »Die Weber« zur Folge hatten, in der »Neuen 
Zeit« kommentiert. Teile des Pladoyers des Verteidigers haben die Aktualitat zuriick- 
gewonnen, die sie 1893 besessen haben. »Er musse«, so fiihrte der Anwalt aus, 
»geltend madien, dafi den angezogenen, sciieinbar revolutionaren Stellen andere von 
abwiegelndem, besanftigendem Charakter entgegenstanden. Der Dichter stehe audi 
gar nidit auf Seiten des Aufruhrs, er lasse vielmehr die Ordnung durch das Ein- 
greifen einer handvoll Soldaten siegen.« (Franz Mehring, Entweder-Oder. In: 
Die Neue Zeit. XI. Stuttgart 1893, I, S. 780.) 



49° Literarisdie und asthetische Essays 

anziehender ersdieint, ist bisher das ihre nidit oft geworden. 
Man sollte meinen, den romantisdien Geschichtenerzahlern hatte 
niemand verlockender sicii bieten konnen als sie. Aber man sucht 
diesen von gefiihrlichen, wenn audi domestizierten Passionen 
bewegten Typ umsonst unter den Figurinen eines Hoffmann, 
Quincey oder Nerval. Romantisch sind die Figuren des Reisen- 
den, des Flaneurs, des Spielers, des Virtuosen. Die des Sammlers 
findet sich nicht. Und man sucht sie vergeblich in den »Phy- 
siologien«, die sonst vom Camelot zum Salonlowen keine Figur 
des Pariser Panoptikums unter Louis Philippe sich haben ent- 
gehen lassen. Desto bedeutsamer ist die Stelle, die der Sammler 
bei Balzac einnimmt. Balzac hat ihm ein Denkmal gesetzt, das 
ganz und gar nicht im romantisdien Sinne behandelt ist. Er ist 
der Romantik von jeher fremd gewesen. Audi gibt es wenige 
Stiicke in seinem Werk, in denen die antiromantische Position 
sich so uberraschend ihr Recht verschafft wie in der Skizze des 
» Cousin Pons«. Dies ist vor allem kennzeichnend: so genau wir 
mit den Bestanden der Sammlung, fur die Pons lebt, bekannt 
werden, so wenig erfahren wir von der Geschichte ihres Er- 
werbs. Es gibt keine Stelle im » Cousin Pons«, die man mit den 
Seiten vergleichen kbnnte, auf denen die Goncourts in ihren 
Tagebuchern die Bergung eines seltenen Fundes mit atemrauben- 
der Spannung schildern. Balzac stellt nicht den Jager in den 
Jagdgriinden des Inventars dar, als den man jeden Sammler 
betrachten kann. Das Hochgefuhl, von dem alle Fibern seines 
Pons, seines Elie Magus zittern, ist der Stplz - Stolz auf die 
unvergleichlichen Schatze, die sie mit nimmerimider Besorgnis 
hiiten. Balzac legt alien Akzent auf die Darstellung des >Be- 
sitzenden<, und das Wort >Millionar< lauft ihm als Synonym 
fur das Wort >Sammler< unter. Er spricht von Paris. »Man kann 
da oft«, heifit es, »einem Pons, einem Elie Magus begegnen, die 
sehr diirftig gekleidet sind ... Sie sehen aus, als wenn sie auf 
nichts hielten und sich um nichts kiimmerten; sie achten weder 
auf die Frauen noch auf die Auslagen. Sie gehen wie im Traum 
vor sich hin, ihre Taschen sind leer, ihr Blick ist gedankenlos, 
und man f ragt sich, zu welcher Sorte von Parisern sie eigentlich 
gehoren. - Diese Leute sind Millionaire. Sammler sind es; die 
leidenschaftlichsten Menschen, die es auf der Welt gibt.« 39 

39 Honor6 de Balzac, Le Cousin Pons. Paris 1925, S. 162. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 491 

Der Gestalt von Fuchs, ihrer Aktivitat und Fulle, kommt das 
Bild, das Balzac vom Sammler entworfen hat, naher als das, 
welches man von einem Romantiker zu gewartigen gehabt hatte. 
Ja man darf, auf den Lebensnerv des Mannes verweisend, sa- 
gen: Fuchs als Sammler ist edit balzacisch; er ist eine Balzac- 
sche Figur, die iiber die Konzeption des Dichters hinausgewach- 
sen ist. Was lage mehr in der Linie dieser Konzeption als ein 
Sammler, dessen Stolz, dessen Expansivitat ihn dahin fuhrt, dafi 
er, um nur vor aller Augen mit seinen Sammlungen zu erschei- 
nen, diese in Reproduktionswerken auf den Markt bringt und 
- eine nicht minder Balzacische Wendung - auf diese Weise ein 
reicher Mann wird. Es ist nicht nur die Gewissenhaftigkeit eines 
Mannes, der sich einen Konservator von Schatzen weifi, es ist 
audi der Exhibitionismus des grofien Sammlers, der Fuchs ver- 
anlafit hat, in jedem seiner Werke ausschliefilich unveroffentlich- 
tes Bildmaterial, fast ausschliefilich seinem eigenen Besitz ent- 
stammendes zu verofTentlichen. Allein fiir den ersten Band der 
»Karikatur der europaischen V6lker« hat er nicht weniger als 
68 000 Blatter kollationiert, um rund fiinfhundert davon auszu- 
wahlen. Kein Blatt hat er jemals ofter als an einer einzigen Stelle 
reproduzieren lassen. Die Fulle seiner Dokumentation und die 
Breite seiner Wirkung gehoren zusammen. Beide beglaubigen 
seine Abkunfl von dem biirgerlichen Riesengeschlecht um 1830, 
wie Drumont es kennzeichnet. »Beinahe alle Fiihrer der Schule 
von i830«, schreibt Drumont, »hatten die gleiche aufiergewohn- 
liche Konstitution, die gleiche Fruchtbarkeit und den gleichen 
Hang zum Grandiosen. Delacroix wirft Epen auf die Leinwand, 
Balzac schildert eine ganze Gesellschafl ab, Dumas umfafit in 
seinen Romanen eine viertausendjahrige Geschichte des Men- 
schengeschlechts. Sie verfiigen allesamt iiber einen Riicken, dem 
keine Last zu schwer ist.« 40 Als 1848 die Revolution kam, da 
verofTentlichte Dumas einen Appell an die Arbeiter von Paris, 
in dem er sich ihnen als ihresgleichen vorstellt. In zwanzig Jah- 
ren habe er vierhundert Romane und fiinfunddreiftig Dramen 
gemacht; 8 160 Leute habe er in Brot gesetzt: Korrektoren und 
Setzer, Maschinisten und Garderobieren; er vergifk audi die 
Claque nicht. Das Gefuhl, mit dem der Universalhistoriker 
Fuchs den okonomischen Unterbau seiner grofiartigen Samm- 

40 Edouard Drumont, Les heros et les pitres. Paris, S. 107/108. 



49 2 Literarische und asthetische Essays 

lungen sich geschaffen hat, ist dem Dumassdien Selbstgefiihl 
vielleidit nidit ganz unahnlich. Spater erlaubt ihm dieser Un- 
terbau, auf dem Pariser Markt fast ebenso souveran wie in 
seinen eigenen Bestanden zu schalten. Der Senior der Kunsthand- 
ler von Paris pflegte um die Jahrhundertwende von ihm zu 
sagen: »C'est le Monsieur qui mange tout Paris. « Fuchs gehort 
dem Typus des ramasseur an; er hat eine Rabelaisische Freude 
an Quantitaten, die sich bis in die uppigen Wiederholungen sei- 
ner Texte bemerkbar macht. 



VII 

Die franzosische Ahnentafel von Fuchs ist die des Sammlers, 
die deutsche die des Historikers. Die Sittenstrenge, die fur den 
Geschichtsschreiber Fuchs bezeichnend ist, gibt ihm die deutsche 
Pragung. Sie gab sie bereits Gervinus, dessen »Geschichte der 
poetischen Nationalliteratur« man einen der ersten Versuche zur 
deutschen Geistesgeschichte nennen konnte. Es ist fur Gervinus 
wie spater fur Fuchs kennzeichnend, dafi die grofien Schopfer 
in sozusagen martialischer Gestalt auftreten und das Aktive, 
Mannliche, Spontane ihrer Natur auf Kosten des Kontemplati- 
ven, Weiblichen, Rezeptiven sich geltend macht. Freilich geht 
das Gervinus leichter vonstatten. Als er sein Buch verfafite, 
befand die Bourgeoisie sich im Aufstieg; ihre Kunst war von 
politischen Energien erfiillt. Fuchs schreibt im Zeitalter des Im- 
perialisms; er stellt die politischen Energien der Kunst pole- 
misch einer Epoche dar, in deren Schaffen sie sich von Tag zu 
Tag minderten. Aber die Maftstabe von Gervinus sind noch die 
seinen. Ja, man kann sie weiter, bis ins achtzehnte Jahrhundert 
zuriickverfolgen. Und zwar an Hand von Gervinus selbst, dessen 
Gedenkrede auf F. C. Schlosser dem bewehrten Moralismus aus 
der revolutionaren Zeit des Burgertums grofiartigen Ausdruck 
gegeben hat. Man hat Schlosser »gramliche Sittenstrenge« vor- 
geworfen. »Was Schlosser«, so wendet Gervinus ein, »gegen jene 
Vorwiirfe sagen konnte und sagen wiirde, ware diefi: da£ man 
in dem Leben im Groften, in der Geschichte, anders als in Roman 
und Novelle, eine oberflachliche Freude am Leben bei aller 
Heiterkeit der Sinne und des Geistes nicht lerne; daft man aus 
ihrer Betrachtung zwar nicht menschenfeindliche Verachtung, 



Eduard Fudis, der Sammler und der Historiker 493 

wohl aber eine strenge Ansicht von der Welt und ernste Grund- 
satze iiber das Leben einsauge; dafi wenigstens auf die grofiten 
aller Beurtheiler von Welt und Menschen, die an einem eigenen 
inneren Leben das aufiere zu messen verstanden, auf einen 
Shakespear, Dante, Machiavelli das Weltwesen stets einen solchen 
zu Ernst und Strenge bildenden Eindruck gemacht habe.« 41 Das 
ist der Ursprung des Moralismus von Fuchs: ein deutsches Jako- 
binertum, dessen Denkstein die Weltgeschichte von Schlosser ist, 
mit der Fuchs in seiner Jugend bekannt wurde. 42 
Dieser biirgerliche Moralismus enthalt, wie das nicht uberraschen 
kann, Bestandteile, die mit den materialistischen bei Fuchs kol- 
lidieren. Ware sich Fuchs dariiber klar, so konnte es ihm viel- 
leicht gelingen, diesen Zusammenstofi abzudampfen. Er ist 
jedoch davon iiberzeugt, dafi seine moralistische Geschichtsbe- 
trachtung und der historische Materialismus miteinander voll- 
kommen harmonieren. Hier waltet eine Illusion. Ihr Substrat ist 
die weitverbreitete, sehr revisionsbediirftige Anschauung, die 
biirgerlichen Revolutionen stellten, so wie sie vom Biirgertum 
selbst gefeiert werden, den Stammbaum einer proletarischen 
dar. 43 Demgegenuber ist es entscheidend, den Blick auf den 
Spiritualismus zu lenken, der in diese Revolutionen eingewirkt 
ist. Seine Goldfaden hat die Moral gesponnen. Die Moral des 

41 Georg Gottfried Gervinus, Friedrich Christoph Schlosser. Ein Nekrolog. Leipzig 
1861, S. 30/31. 

42 Diese Ausrichtung seines CEuvres hat sich fur Fuchs niitzlich erwiesen, als die 
Anklagen wegen >Verbreitung unzuchtiger Schriften< durch die kaiserlichen Staats- 
anwalte einsetzten. Wir finden den Moralismus von Fuchs naturgemafi besonders 
nachdrucklich in einem Sachverstandigenvotum dargestellt, das im Zuge eines der 
samtlich mit Freispruch endenden Strafverfahren erstattet wurde. Es stammt von 
Fedor von Zobeltitz und lautet an seiner wichtigsten Stelle: » Fuchs fiihh sich ernst- 
haft als Moralprediger, als Erzieher, und diese tiefernste Lebensauffassung, dies 
innige Begreifen, dafi seine Arbeit im Dienst der Mensthheitsgeschichte von hochster 
SittUchkeit getragen sein mufi, schutzt allein ihn schon vor dem Verdacht geschafts- 
eifriger Spekulation, iiber den jeder lacheln miifite, der den Menschen kennt und 
seinen leuchtenden Idealismus.« 

43 Diese Revision ist von Max Horkheimer in dem Essay »Egoismus und Frei- 
heitsbewegung* (Zeitschrift f iir Sozialforschung, Jahrgang V [1936], S. 161 fT.) 
inauguriert worden. Zu den von Horkheimer versammelten Zeugnissen stimmen 
eine Reihe von interessanten Belegen, mit denen der Ultra Abel Bonnard seine 
Anklage gegen jene biirgerlichen Historiker der Revolution belegt, die von 
Chateaubriand als »l'ecole admirative de la terreur* zusammengefafit werden. (Vgl. 
Abel Bonnard, Les Moderns. Paris, S. 179 if.) 



494 Literarische und asthetische Essays 

Burgertums - davon tragt die ersten Anzeichen sdion die 
Schreckensherrschaft - steht im Zeichen der Innerlichkeit. Ihr 
Angelpunkt ist das Gewissen - sei es das des Robespierreschen 
citoyens, sei es das des Kantischen Weltbiirgers. Das Verhalten 
der Bourgeoisie, das ihren eigenen Interessen zutraglich, aber 
angewiesen auf ein ihm komplementares des Proletariats war, 
das den eigenen Interessen des letzteren nicht entsprach, pro- 
klamierte als moralische Instanz das Gewissen. Das Gewissen 
steht im Zeichen des Altruismus. Es rat dem Eigentiimer, so zu 
handeln, wie es Begriffen entspricht, deren Geltung mittelbar 
seinen Mit-Eigentiimern zugute kommt, und es rat den Nicht- 
Eigentiimern leicht das gleiche an. Wenn die letzteren sich die- 
sem Rat anbequemen, ist der Nutzen ihres Verhaltens fur die 
Eigentiimer um so unmittelbarer ersichtlich, je fragwiirdiger er 
fur die so sich Verhaltenden und ihre Klasse ist. Darum steht 
auf diesem Verhalten der Preis der Tugend. - So setzt die 
Klassenmoral sich durch. Aber sie tut es unbewuflt. Nicht so 
sehr hatte das Biirgertum Bewufitsein notig, um diese Klassen- 
moral aufzurichten, als das Proletariat Bewufitsein braucht, um 
sie zu stiirzen. Diesem Tatbestand wird Fuchs nicht gerecht, 
weil er glaubt, seine Angriffe gegen das Gewissen der Bourgeoisie 
richten zu miissen. Ihre Ideologic erscheint ihm als Ranke- 
spiel. »Das salbadernde Geschwatz«, sagt er, »das auch ange- 
sichts der schamlosesten Klassenurteile von der subjektiven 
Ehrlichkeit der betreffenden Richter faselt, beweist nur die 
eigene Charakterlosigkeit derer, die so reden oder schreiben, im 
besten Fall deren Borniertheit.« 44 Auf deri Gedanken, dem 
Begriff der bona fides (des guten Gewissens) selbst den Prozefi 
zu machen, kommt Fuchs nicht. Und doch wird das dem histori- 
schen Materialisten naheliegen. Nicht nur, weil er in diesem Be- 
griff einen Trager der burgerlichen Klassenmoral erkennt, son- 
dern auch weil ihm nicht entgehen wird, dafi dieser Begriff die 
Solidaritat der moralischen Unordnung mit der okonomisciien 
Planlosigkeit befordert. Jiingere Marxisten haben den Sach- 
verhalt wenigstens andeutungsweise beriihrt. So bemerkte man 
zur Politik Lamartines, der einen exzessiven Gebrauch von der 
bona fides machte: »Die burgerliche . . . Demokratie . . . braucht 
diesen Wert. Der Demokrat ... ist gewerbemafiig aufrichtig. 

44 Der Maler Daumier, S. 30, 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 49 J 

Damit fiihlt er sich der Notwendigkeit iiberhoben, dem wirkli- 
chen Tatbestand nachzugehen.« 45 

Die Betrachtung, die ihr Augenmerk mehr auf die bewufiten 
Interessen der Individuen lenkt als auf die Verhaltungsweise, 
zu der ihre Klasse oft unbewufit und durch ihre Stellung im Pro- 
duktionsprozefi veranlafk wird, fiihrt zu einer Oberschatzung 
des bewufiten Moments in der Ideologiebildung. Sie ist bei 
Fuchs handgreiflich, wenn er erklart: »Kunst ist in alien ihren 
wesentlichen Teilen die idealisierte Verkleidung des jeweiligen 
gesellschaftlidien Zustandes. Denn es ist ein ewiges Gesetz . . ., 
dafi jeder herrschende politische oder gesellschaftliche Zustand 
dazu drangt, sich zu idealisieren, urn auf diese Weise seine Exi- 
stenz sittlich zu rechtfertigen.« 46 Wir nahern uns hier dem 
Kern des Mifiverstandnisses. Es besteht in der Auffassung, 
die Ausbeutung bedinge ein falsches Bewufitsein, zumindest auf 
der Seite der Ausbeutenden, vor allem deswegen, weil ein 
richtiges ihnen moralisch lastig sei. Dieser Satz mag fiir die 
Gegenwart, in der der Klassenkampf das gesamte biirgerliche 
Leben in starkste Mitleidenschaft gezogen hat, eine einge- 
schrankte Geltung besitzen. Keinesfalls ist das >schlechte Ge- 
wissen< der Bevorrechteten fiir die friiheren Formen der Aus- 
beutung selbstverstandlich. Durch die Verdinglichung werden 
ja nicht nur die Beziehungen zwischen den Menschen unsichtig; 
es werden dariiber hinaus die wirklichen Subjekte der Relatio- 
nen selbst in Nebel gehullt. Zwischen die Machthaber des 
Wirtschaftslebens und die Ausgebeuteten schiebt sich eine Ap- 
paratur von Rechts- und Verwaltungsbiirokratien, deren Mit- 
glieder nicht mehr als voll verantwortliche moralische Subjekte 
fungieren; ihr >Verantwortungsbewufitsein< ist gar nichts ande- 
res als der unbewufite Ausdruck dieser Verkriippelung. 

VIII 

Den Moralismus, von dem Fuchs* historischer Materialismus 
die Spuren tragt, hat audi die Psychoanalyse nicht erschuttert. 
»Berechtigt«, so urteilt er von der Sexualitat, »sind alle For- 
men des sinnlichen Gebarens, in denen das Schopferische dieses 

45 Norbert Guterman et H. Lefebvre, La conscience mystified. Paris 1936, S. 151. 

46 Erotische Kunst, Bd. II, Erster Teil, S. 11. 



49^ Literarische und asthetische Essays 

Lebensgesetzes sich offenbart . . . Verwerf lich sind dagegen jene 
Formen, die diesen obersten Trieb zum blofien Mittel raffinier- 
ter Genufisucht herabwiirdigen.« 47 Ersichtlich ist die Signatur 
dieses Moralismus die burgerliche. Das redite Mifitrauen ge- 
gen die burgerliche Achtung der rein sexuellen Lust und der 
mehr oder minder phantastischen Wege ihrer Erzeugung ist 
Fuchs fremd geblieben. Grundsatzlich erklart er freilich, dafi 
man »stets nur relativ von Sittlichkeit und Unsittlichkeit« reden 
konne. Aber er statuiert sogleich an derselben Stelle eine Aus- 
nahme fiir die »absolute Unsittlichkeit«, bei der »es sich um 
Verstofie gegen die sozialen Triebe der Gesellschaft, also um 
Verstofie handelt, die sozusagen wider die Natur sind«. Kenn- 
zeichnend fiir diese Anschauung ist der nach Fuchs historisch 
gesetzmafiige Sieg der »immer entwicklungsfahigen Masse iiber 
die entartete Individualist « 48 . Kurz, von Fuchs gilt, dafi er 
»nicht etwa die Berechtigung eines Verdammungsurteils gegen 
die angeblich korrupten Triebe, sondern die Ansicht iiber ihre 
Geschichte und ihr Ausmafi angreift« 49 . 

Dadurch wird die Klarung des sexualpsychologischen Problems 
beeintrachtigt. Es ist seit der Herrschaft der Bourgeoisie beson- 
ders wichtig geworden. Die Tabuierung mehr oder minder wel- 
ter Bezirke der sexuellen Lust hat hier ihren Ort. Die durch sie 
in den Massen erzeugten Verdrangungen fordern masochisti- 
sche und sadistische Komplexe zutage, denen von den Macht- 
habern diejenigen Objekte geliefert werden, die sich ihrer 
Politik als die gelegensten darstellen. Ein Altersgenosse von 
Fuchs, Wedekind, hat in diese Zusammenhange hineingeblickt. 
Ihre gesellschaftliche Kritik hat Fuchs versaumt. Desto bedeu- 
tender ist die Stelle, an welcher er sie auf einem Umwege iiber 
die Naturgeschichte nachholt. Es handelt sich um sein glanzen- 
des Pladoyer der Orgie. Nach Fuchs »gehort die . . . Lust am 
Orgiastischen zu den wertvollsten Tendenzen der Kultur . . . 
Man mufi sich dariiber klar sein, dafi die Orgie zu dem . . . ge- 

47 Erotische Kunst, Bd. I» S. 43. - Die sittengeschichtliche Darstellung des Direkto- 
riums tragi geradezu die Ziige der Moritat. »Das entsetzliche Budi des Marquis de 
Sade mit seinen ebenso sdilediten wie infamen Kupfern lag aufgeschlagen in alien 
Schaufenstern.« Und »die verwiistete Phantasie des sdiamentwohnten Wustlings« 
spriciit aus Barras. (Karikatur, Bd. I, S. 202 u. 201.) 

48 Karikatur, Bd. I, S. 188. 

49 Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, a. a. O., S. 166. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 497 

hort, was uns vom Tier unterscheidet. Das Tier kennt im Ge- 
gensatze zum Mensdien die Orgie nicht . . . Das Tier wendet 
sich vom saftigsten Futter und von der klarsten Quelle ab, wenn 
sein Hunger und Durst gestillt sind, und sein Geschlechtsdrang 
ist meist auf ganz bestimmte kurze Perioden des Jahres be- 
schrankt. Ganz anders der Mensch, vor allem der schopferische 
Menscfa. Dieser kennt den Begriff des Genug iiberhaupt nicht. « 50 
In den Gedankengangen, in denen Fuchs sich kritisch mit den 
iiberkommenen Normen befafit, Hegt die Starke seiner sexual- 
psychologischen Feststellungen. Sie sind es, die ihn befahigen, 
gewisse kleinbiirgerliche Illusionen zu zerstreuen. So die der 
Nacktkultur, in der er »eine Revolution der Beschranktheit« 
mit Recht erkennt. »Der Mensch ist erfreulicherweise kein 
Waldtier mehr, und wir . . . wollen, dafi die Phantasie, auch 
die erotische, eine Rolle in der Kleidung spielt . . . Was wir da- 
gegen nicht wollen, das ist einzig jene soziale Organisation der 
Menschheit, die alles dies zum gemeinen Schachergeschaft de- 
gradiert.« 51 

Die psychologische und historische Anschauungsweise von Fuchs 
ist vielfach fur die Geschichte der Kleidung fruchtbar gewor- 
den. In der Tat gibt es kaum einen Gegenstand, der dem drei- 
fachen Interesse des Autors - dem geschichtlichen, dem gesell- 
schaftlichen und dem erotischen - mehr entgegenkame als die 
Mode. Das erweist sich bereits an ihrer Definition, die eine an 

50 Erotische Kunst, Bd. II, S. 283. - Fuchs ist hier auf der Spur eines bedeutsamen 
Tatbestandes, Sollte es iibereilt sein, die tiermenschliche Schwelle, die Fuchs in der 
Orgie sieht, in unmittelbaren Zusammenhang mit jener anderen Schwelle zu setzen, 
die der aufrechte Gang darstellt? Mit ihm tritt in die Naturgeschichte die vordem 
unerhorte Erscheinung ein, dafi die Partner im Orgasmus einander ins Auge schen 
konnen. Damit erst wird die Orgie moglich. Und nicht sowohl durch den Zuwachs 
an Reizen, auf die der Blick trifB. Entscheidend ist vielmehr, dafi der Ausdruck der 
Obersattigung, ja des Unvermogens nun selbst zu einem erotischen Stimulans werden 
kann. 

51 Sittengeschichte, Bd. Ill, S. 234. - Wenige Seiten spater findet sich dieses sichere 
Urteil nicht mehr - ein Beweis, mit welcher Kraft es der Konvention abgerungen 
sein wollte, Dort heifit es vielmehr: »Die Tatsache, dafi Tausende von Menschen 
sich am Anblick einer weiblichen oder mannlichen Aktphotographie geschlechtlich er- 
regen . . ., beweist, dafi das Auge nicht mehr das harmonische Ganze, sondern nur das 
pikante Detail zu sehen vermag.« (a. a. O., S. 269) Wenn hier etwas geschlechtlich 
erregend wirkt, so ist es viel mehr die Vorstellung von der Ausstellung des nacktcn 
Korpers vor der Kamera als der Anblick der Nacktheit selbst. Auf diese Vorstellung 
diirfte es denn auch wohl mit den meisten dieser Photographien abgesehen sein. 



498 Literarische und asthetische Essays 

Karl Kraus gemahnende sprachliche Pragung hat. Die Mode, so 
heifit es in der Sittengeschichte, gibt an, »wie man das Geschaft 
der offentlichen Sittlidikeit . . . zu betreiben gedenkt« 52 , Fuchs 
ist im iibrigen dem landlaufigen Fehler der Darsteller (man 
denke an einen Max von Boehn) nicht verfallen, die Mode le- 
diglich nach asthetischen und erotischen Gesichtspunkten zu 
durchforschen. Seinem Auge ist ihre Rolle als Herrschaftsin- 
strument nicht entgangen. Wie sie die feineren Unterschiede der 
Stande zum Ausdruck bringt, so wacht sie vor allem iiber die 
groben der Klassen. Im dritten Band seiner Sittengeschichte hat 
Fuchs ihr einen grofien Essay gewidmet, dessen Gedankengang 
der Erganzungsband mit der Aufstellung der fur die Mode ent- 
scheidenden Elemente zusammenfafit. Das erste wird von den 
»Interessen der Klassenscheidung« gebildet; das zweite stellt 
die »privatkapitalistische Produktionsweise«, die ihre Absatz- 
moglichkeiten durch vielfachen Wechsel der Mode zu steigern 
sucht; an dritter Stelle sind »die erotisch stimulierenden Zwecke 
der Mode« nicht zu vergessen. 53 

Der Kultus des Schopferischen, der das Gesamtwerk von Fuchs 
durchzieht, hat aus seinen psychoanalytischen Studien neue 
Nahrung gezogen. Sie haben seine ursprunglich biologisch be- 
stimmte Konzeption bereichert, freilich nicht darum auch schon 
berichtigt. Die Lehre von dem erotischen Ursprung der schopfe- 
rischen Impulse nahm Fuchs begeistert auf. Seine Vorstellung 
der Erotik aber haftete weiter eng an der drastischen, biologisch 
determinierten der Sinnlichkeit. Der Theorie der Verdrangung 
und der Komplexe, welche seine moralistische Auffassung der 
gesellschaftlichen und sexuellen Verhaltnisse vielleicht modi- 
fiziert hatte, ist er, soweit angangig, ausgewichen. Wie der 
historische Materialismus bei Fuchs eine Herleitung der Dinge 
mehr aus dem bewufiten okonomischen Interesse des einzelnen 
als aus dem in dem letzteren unbewufit wirkenden Interesse der 
Klasse gibt, so ist auch der schopferische Impuls mehr der be- 
wufiten sinnlichen Intention als dem bildschaffenden Unbe- 
wufiten von ihm genahert worden. 54 Die erotische Bilderwelt 

52 Sittengesdiidite, Bd. Ill, S. 189. 

53 Sittengeschichte, Erganzungsband III, S. 53/54. 

54 Kunst ist fiir Fuchs unmittelbare Sinnlichkeit wie die Ideologic unmittelbares 
Erzeugnis von Inter essen. »Das Wesen der Kunst ist: die Sinnlichkeit. Kunst ist Sinn- 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 499 

als eine symbolische, wie Freuds »Traumdeutung« sie erschlos- 
sen hat, kommt bei Fuchs da, und nur da, zur Geltung, wo 
seine innere Beteiligung die hochste ist. In diesem Fall erfullt 
sie seine Darstellung sogar dann, wenn jeder Hinweis auf sie 
vermieden ist. So in der meisterhaften Charakteristik von der 
Graphik des Revolutionszeitalters: »Alles ist starr, straff,, mili- 
tarisch. Die Menschen liegen nicht, denn der Exerzierplatz 
duldet kein >Riihrt Euch<, Selbst wenn sie sitzen, ist es, als 
ob sie aufspringen wollten. Ihr ganzer Korper ist in Spannung 
wie der Pfeil auf der Bogensehne . . . Wie die Linie, so die Far- 
be. Wohl wirken die Bilder kalt, blechern . . . gegeniiber denen 
des Rokoko . . . Die Farbe . . . mufite hart sein . . ., metallisch, 
sollte sie zum Inhalt der Bilder passen.« 55 Expliziter ist eine 
aufschluEreiche Bemerkung zum Fetischismus. Sie geht seinen 
historischen Aquivalenten nach. Es ergibt sich, da£ die »Zu- 
nahme des Schuh- und Beinfetischismus auf die Ablosung des 
Priapkultus durch den Vulvakultus« hinzuweisen scheint, die 
Zunahme des Busenfetischismus dagegen auf eine riicklaufige 
Tendenz. »Der Kultus des bekleideten Fufies und Beines spiegelt 
die Herrschaft des Weibes iiber den Mann; der Busenkultus 
spiegelt die Stellung des Weibes als Objekt der Lust des Man- 
nes.« 56 Die tiefsten Blicke in den Symbolbereich tat Fuchs an 
Daumiers Hand. Was er iiber die Baume bei Daumier sagt, ist 
einer der glucklichsten Funde des ganzen Werks. Er erkennt in 
ihnen »eine ganz eigenartige symbolische Form . . ., in der das 
soziale Verantwortlichkeitsgefuhl Daumiers zum Ausdruck 
kommt und seine Uberzeugung, dafi es Pflicht der Gesellschaft 
sei, den Einzelnen zu schiitzen . . . Die fur ihn typische Gestal- 
tung der Baume . . . stellt sie stets mit weitausgreifenden Asten 
dar, und zwar vor allem dann, wenn jemand darunter stent 
oder sich lagert. Die Aste recken sich besonders bei solchen 
Baumen wie die Arme eines Riesen, sie scheinen formlich ins 
Unendliche greifen zu wollen, sie formen sich zum undurch- 
dringlichen Dach, das jede Gefahr von alien denen fernhalt, die 

lichkeit. Und zwar Sinnlichkeit in potenziertester Form. Kunst ist Form gewordene, 
sichtbar gewordene Sinnlichkeit, und sie ist zugleich die hochste und edelste Form der 
Sinnlichkeit.* (Erotische Kunst, Bd. I, S. 61.) 

55 Karikatur, Bd. I, S. 223. 

56 Erotische Kunst, Bd. II, S. 390. 



500 Literarische und asthetische Essays 

sich in ihren Schutz begeben haben.« 57 Diese sdione Betrach- 
tung geleket Fuchs auf die mutterliche Dominante in Daumiers 
Schaffen. 



IX 

Keine Gestalt wurde fiir Fuchs lebendiger als Daumier. Sie hat 
ihn durch sein Arbeitsleben begleitet. Fast konnte man sagen, 
an ihr sei Fuchs zum Dialektiker geworden. Zumindest hat er 
sie in ihrer Fulle und in ihrem lebendigen Widerspruch konzi- 
piert. Wenn er das Miitterliche in seiner Kunst erfafk und in 
eindrucksvoller Weise umschrieben hat, so ist ihm nicht minder 
der andere Pol, das Mannliche, Streitbare der Gestalt vertraut 
gewesen. Mit Recht hat er darauf hingewiesen, da6 in Daumiers 
Werk der idyllische Einschlag fehlt; nicht allein die Landschaft, 
das Tierstlick und das Stilleben sondern auch das erotische Mo- 
tiv und das Selbstportrait. Was Fuchs bei Daumier eigentlich 
mitrifi, das ist das agonale Moment gewesen. Oder ware es zu 
gewagt, der grofien Karikatur von Daumier ihren Ursprung in 
einer Frage zu suchen? Wie nahmen, so scheint Daumier zu 
fragen, die biirgerlichen Menschen meiner Zeit sich aus, wollte 
man sich ihren Kampf urns Dasein gleichsam in einer Palastra 
denken? Daumier hat das private und ofTentliche Leben der 
Pariser in die Sprache des Agon ubersetzt. Seine hochste Begei- 
sterung gilt der athletischen Spannung des ganzen Korpers, 
seinen muskulareri Erregungen. Dem widerspricht es in keiner 
Weise, dafi vielleicht niemand packender als Daumier die tiefste 
Erschlaffung des Korpers gezeichnet hat. Daumiers Konzeption 
hat, wie Fuchs bemerkt, tiefe Verwandtschaft mit einer plasti- 
schen. Und so entfiihrt er die Typen, die seine Zeit ihm bietet, 
um sie, verzerrte Olympioniken, auf einem Sockel zur Schau 
zu stellen. Es sind vor allem die Richter- und Advokatenstu- 
dien, welche sich so betrachten lassen. Unmittelbarer deutet der 
elegische Humor, mit dem Daumier das griechische Pantheon 
zu umspielen liebt, auf diese Inspiration hin. Vielleicht stellt 
sie die Losung des Ratsels dar, das schon Baudelaire in dem 



57 Der Maler Daumier, S. 30. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 501 

Meister entgegentrat: wie seine Karikatur bei all ihrer Wucht 
und Durdischlagskraft von Rankune so frei sein konne. 
Spricht er von Daumier, so beleben sich bei Fuchs alle Krafte. 
Es gibt keinen anderen Gegenstand, der seiner Kennerschaft 
derart divinatorische Blitze entlockt hatte. Der kleinste Anstofi 
wird hier bedeutsam. Em Blatt, so fliichtig, dafi es unvollendet 
zu nennen ein Euphermsmus ware, reidit Fudis hin, einen tiefen 
Einblick in Daumiers produktive Manie zu geben. Es stellt nur 
die obere Halfte von einem Kopfe dar, an dem allein sprechend 
Nase und Auge sind. Dafi die Skizze sich auf diese Partie be- 
schrankt, einzig den Schauenden zum Objekt hat, das wird fur 
Fuchs zum Fingerzeig, dafi hier das zentrale Interesse des Malers 
im Spiele ist. Denn bei der Ausfuhrung seiner Bilder setze jeder 
Maler an eben der Stelle an, an der er triebhaft am meisten 
beteiligt sei. 58 »Unzahlige von Daumiers Gestalten«, so helfit 
es im Werke iiber den Maler, »sind mit dem konzentriertesten 
Schauen beschaftigt, sei es ein Schauen in die Weite, sei es ein 
Betrachten bestimmter Dinge, sei es ein ebenso konzentrierter 
Blick in das eigene Innere. Die Daumierschen Menschen schauen 
. . . formlich mit der Nasenspitze.« 59 



58 Hierzu ist folgende Reflexion zu vergleichen: »Nach meinen . . . Beobachtungen 
diinkt es mich, dafi die jeweiligen Dominanten der Palette eines Kunstlers in sei- 
nen pointiert erotischen Bildern immer besonders klar auftreten und dafi sie in 
diesen . . . ihre . . . hochste Leuchtkraft erleben.« (Die groflen Meister der Erotik, 
S. 14.) 

59 Der Maler Daumier, S. 18. - Zu den in Rede stehenden Gestalten zahlt audi 
der beriihmte »Kunstkenner« - ein Aquarell, das in mehreren Versionen vorkommt. 
Eine blsher nicht bekannte Fassung des Blattes wurde Fudis eines Tages vorgelegt: 
ob eine echte, war zu ermitteln. Fudis nahm die Hauptdarstellung dieses Motivs 
in einer guten Reproduktion zur Hand, und nun ging es an den uberaus instruk- 
tiven Vergleidi. Keine Abweidiung, nidit die kleinste, blieb unbeaditet, und von 
jeder gait es, Rediensdiaft abzulegen, ob sie unter einer Meisterhand entsprungen 
oder ein Erzeugnis der Ohnmadit sei. Immer wieder ging Fiicbs auf das Original 
zuriidc. Aber die Art und Weise, wie er das tat, sdiien zu zeigen, dafi er wohl 
davon hatte absehen konnen; sein BHdc erwies sidi in ihm so heimisdi, wie das 
nur bei einem Blatte der Fall sein.kann, das man jahrelang im Geist vor sich hatte. 
Unzweifelhaft war das fur Fuchs so gewesen. Und nur darum war er imstande, die 
verborgensten Unsicherheiten des Konturs, die uhscheinbarsten Fehlfarben in den 
Schatten, die kleinsten Entgleisungen in der Strichfiihrung aufzudecken, die das 
fragliche Blatt an seinen Platz stellten - iibrigens nicht den einer Falschung, sondern 
einer guten alten Kopie, die von einem Amateur stammen mochte. 



502 Lkerarisdie und asthetische Essays 

X 

Daumier ist der glucklichste Gegenstand fiir den Forscher ge- 
wesen. Nicht minder war er der gliicklichste Griff des Sammlers. 
Mit berechtigtem Stolz bemerkt Fuchs, dafl nicht staatliche 
Initiative, sondern seine eigene die ersten Mappen von Daumier 
(und Gavarni) in Deutschland angelegt habe. Er steht mit 
seiner Abneigung gegen Museen nicht allein unter den grofien 
Sammlern. Die Goncourts sind ihm darin vorangegangen; sie 
iiberbieten ihn darin an Heftigkeit. Wenn offentliche Sammlun- 
gen sozial minder problematisch, wissenschaftlich niitzlicher sein 
konnten als private, so entgeht ihnen doch deren grofite Chance. 
Der Sammler hat in seiner Leidenschaft eine Wiinschelrute, die 
ihn zum Finder von neuen Quellen macht. Das gilt von Fuchs, 
und darum mufke er sich im Gegensatz zu dem Geiste fiihlen, 
der unter Wilhelm II. in den Museen herrschte. Sie hatten es 
auf die sogenannten Glanzstiicke abgesehen. »Gewifi«, sagt 
Fuchs, »ist diese Art des Sammelns fiir das heutige Museum 
schon durch raumliche Griinde bedingt. Aber diese . . . Bedingt- 
heit vermag an der Tatsache nichts zu andern, dafi wir dadurch 
ganz unvollstandige . . . Vorstellungen von der Kultur der 
Vergangenheit bekommen. Wir sehen diese . . . im prunkvollen 
Festtagsgewand und nur sehr selten in ihrem meist diirftigen 
Werkeltagskleid.« 60 

Die grofien Sammler sind meist durch die Originalitat ihrer 
Objektwahl ausgezeichnet. Es gibt Ausnahmen: die Goncourts 
gingen weniger von den Objekten aus als von dem Ensemble, 
das diese zu bergen hatte; sie unternahmen die Verklarung des 
Interieurs, als es gerade eben verschieden war. In der Regel 
sind aber die Sammler vom Objekt selber geleitet worden. Ein 
grofies Beispiel sind an der Schwelle der Neuzeit die Humani- 
sten, deren griechische Erwerbungen und Reisen von der Ziel- 
strebigkeit Zeugnis geben, mit der sie sammelten. Mit Marolles, 
dem Vorbild des Damocede, ist der Sammler, von La Bruyere 
geleitet, in die Literatur eingefiihrt worden (und zwar sogleich 
auf unvorteilhafte Art). Marolles hat als erster die Bedeutung 
der Graphik erkannt; seine Sammlung von 125 000 Blattern 
bildet den Grundstock des Cabinet des Estampes. Der sieben- 

60 Dachreiter, S. 5/6. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Histonker 503 

bandige Katalog, den im folgenden Jahrhundert der Graf Cay- 
lus von seinen Sammlungen herausgebracht hat, ist die erste 
grofie Leistung der Archaologie. Die Gemmensammlung von 
Stosch ist im Auftrage des Sammlers von Winckelmann kata- 
logisiert worden. Selbst dort, wo der wissenschaftlichen Kon- 
zeption, die in solchen Sammlungen sich verkorpern wollte, 
keine Dauer beschieden war, war sie es doch bisweilen der 
Sammlung selbst. So der von Wallraf und Boisseree, deren 
Begriinder, von der romantisch-nazarenischen Theorie ausge- 
hend, die Kolnische Kunst sei die Erbin der alten romischen, 
mit ihren deutschen Gemalden des Mittelalters den Fond des 
Kolner Museums geschaffen haben. In die Reihe dieser grofien 
und planvollen, unablenkbar der einen Sache zugewandten 
Sammler ist Fuchs zu stellen. Sein Gedanke ist, dem Kunstwerk 
das Dasein in der Gesellschaft zuriickzugeben, von der es so 
sehr abgeschniirt worden war, dafi der Ort, an dem er es auf- 
fand, der Kunstmarkt war, auf dem es, gleich weit von seinen 
Verfertigern wie von denen, die es verstehen konnten, entfernt, 
zur Ware eingeschrumpft, iiberdauerte. Der Fetisch des Kunst- 
marktes ist der Meistername. Geschichtlich wird es vielleicht als 
das grofite Verdienst von Fuchs erscheinen, die Befreiung der 
Kunsthistorie von dem Fetisch des Meisternamens in die Wege 
geleitet zu haben. »Deshalb ist«, heifit es bei Fuchs von der 
Plastik der Tang-Periode, »die vollstandige Namenlosigkeit 
dieser Grab-Beigaben, die Tatsache, dafi man auch nicht in 
einem einzigen Falle den individuellen Schopfer eines solchen 
Werkes kennt, ein so wichtiger Beweis dafur, dafi es sich in dem 
alien niemals um einzelne kunstlerische Ergebnisse handelte, 
sondern um die Art und Weise, wie die Welt und die Dinge 
damals von der Gesamtheit angeschaut wurden.« 61 Als einer 
der ersten entwickelte Fuchs den besonderen Charakter der 
Massenkunst und damit Impulse, die er vom historischen Mate- 
rialismus erhalten hatte. 

Das Studium der Massenkunst fuhrt notwendig auf die Frage 
der technischen Reproduktion des Kunstwerks. »Jeder Zeit 
entsprechen ganz bestimmte Reproduktionstechniken. Sie repra- 
sentieren die jeweilige technische Entwicklungsmoglichkeit und 
sind . . . Resultat des betreffenden Zeitbedurfnisses. Aus diesem 

61 Tang-PIastik, S. 44. 



504 Literarische und asthetische Essays 

Grunde ist es eine gar nicht verwunderliche Erscheinung, dafi 
jede grofiere historisdie Umwalzung, die andere Klassen als die 
seither herrsdienden . . . zur Herrsdiaft . . . bringt, regelmafiig 
audi eine Veranderung der bildlichen Vervielfaltigungstechnik 
bedingt. Auf diese Tatsadie mufi mit ganz besonderer Deut- 
lidikeit hingewiesen werden.« 62 Mit soldien Einsichten ist 
Fuchs bahnbrediend gewesen. In ihnen hat er Gegenstande ge- 
wiesen, an deren Studium der historisdie Materialismus sich 
schulen kann. Der technische Standard der Kiinste ist einer 
von deren wichtigsten. Ihm nachzugehen macht manche Scha- 
digung wieder gut, die der vage Kulturbegriff in der landlaufi- 
gen Geistesgesdiidite (und bisweilen audi bei Fuchs selbst) 
anrichtet. Dafi »Tausende der simpelsten Topfer imstande ge- 
wesen sind, . . . technisch und kiinstlerisch gleich kiihne . . . 
Gebilde formlich aus dem Handgelenk zu formen« 63 , das er- 
scheint Fuchs mit Recht als eine konkrete Bewahrung der alt- 
chinesischen Kunst. Technische Erwagungen fiihren ihn hin und 
wieder zu lichtvollen, seiner Epoche vorauseilenden Aper^us. 
Nicht anders ist die Erklarung des Umstandes einzuschatzen, 
dafi das Altertum keine Karikaturen kennt. Welche idealisti- 
sche Geschichtsdarstellung sahe darin nicht eine Stiitze des 
klassizistischen Griechen-Bildes: seiner edlen Einfalt und stillen 
Grofie? Und wie erklart Fuchs sich die Sache? Die Karikatur, 
meint er, ist eine Massenkunst. Keine Karikatur ohne massen- 
weise Verbreitung ihrer Erzeugnisse. Massenweise Verbreitung 
heifit billige. Nun aber hatte »das Altertum . . . aufier derMiinze 
keine billige Reproduktionsform« 64 . Die Miinzflache ist zu 
klein, urn einer Karikatur Raum zu geben. Daher kannte das 
Altertum keine. 
Die Karikatur war Massenkunst, audi das Sittenbild. Dieser 

62 Honor6 Daumier, Bd. I, S. 13. - Man vergleicfae mit diesen Gedanken die 
allegorische Auslegung der Hochzeit von Kana durdi Victor Hugo: »Das Wunder 
der Brote bedeutet die Vermehrung der Leser um ein Vielfaches. An dem Tage, da 
der Christ auf dieses Symbol geraten war, hatte er die Erfindung der Buchdrucker- 
kunst geahnt.« (Victor Hugo, William Shakespeare. Zitiert von Georges Batault, 
Le pontife de la d^magogie: Victor Hugo. Paris 1934, S. 142.) 

63 Dachreiter, S. 46. 

64 Karikatur, Bd. I, S. 19. - Die Ausnahme bestatigt die Regel. Ein mechanisches 
Reproduktionsverfahren diente bei Herstellung der Terrakotta-Figuren. Unter ihnen 
finden sich viele Karikaturen. 



Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 50 j 

Charakter trat, diffamierend, fiir die ubliche Kunstgeschichte 
zu ihrem sonst schon bedenklichen. Anders fiir Fuchs; der Blick 
auf die verachteten, apokryphen Dinge macht seine eigentlidie 
Starke aus. Und den Weg zu ihnen, von welchem ihm der 
Marxismus kaum mehr als den Anfang gezeigt hatte, bahnte 
er sich als Sammler auf eigene Faust. Dazu bedurfte es einer 
an das Maniakalische grenzenden Leidensdiaft. Sie hat die Ziige 
von Fuchs gepragt, und in welchem Sinne erfahrt am besten, wer 
in Daumiers Lithographien die lange Reihe von Kunstfreunden 
und von Handlern, von Bewunderern der Malerei und von 
Kennern der Plastik durchgeht. Sie gleichen Fuchs bis in den 
Korperbau. Es sind hochaufgeschossene, hagere Figuren, und 
die Blicke schiefien aus ihnen wie Flammenzungen. Nicht mit 
Unrecht hat man gesagt, in ihnen habe Daumier die Nach- 
kommlinge jener Goldsucher, Nekromanten und Geizhalse kon- 
zipiert, die auf den Bildern der alten Meister zu finden sind. 65 
Ihrem Geschlecht gehort Fuchs als Sammler an. Und wie der 
Alchimist mit seinem >niederen< Wunsch, Gold zu machen, die 
Durchforschung der Chemikalien verbindet, in denen die Plane- 
ten und Elemente zu Bildern des spiritualen Menschen zusam- 
mentreten, so unternahm dieser Sammler, indem er den >nie- 
deren< Wunsch des Besitzes befriedigte, die Durchforschung 
einer Kunst, in deren Schopfungen die Produktivkrafte und 
die Massen zu Bildern des geschichtlichen Menschen zusammen- 
treten. Bis in die spaten Biicher ist der leidenschaftliche Anteil 
spiirbar, mit dem Fuchs diesen Bildern sich zugewandt hat. 
» Nicht der letzte Ruhm«, schreibt er, »der chinesischen Dach- 
reiter ist es, dafi es sich in ihnen um eine . . . namenlose Volks- 
kunst handelt. Es gibt kein Heldenbuch, das von ihren Schop- 
fern zeugt^ 66 Ob aber solche den Namenlosen und dem, was 
die Spur ihrer Hande bewahrte, zugewandte Betrachtung nicht 
mehr zur Humanisierung der Menschheit beitragt als der Ftih- 
rerkult, den man von neuem iiber sie verhangen zu wollen 
scheint, das mufi wie so manches, woriiber die Vergangenheit 
vergeblich belehrte, immer wieder die Zukunft lehren. 



65 Vgl, Eridi Klossowski, Honore Daumier. Munchen 1908, S. 113. 

66 Dadireiter, S. 45. 



jo6 

<[KOMMENTARE ZU WERKEN VON BrECHT) 

Aus dem Brecht-Kommentar 

Bert Brecht ist eine schwierige Erscheinung. Er lehnt es ab, seine 
grofien schriftstellerischen Talente >frei< zu verwerten. Und es 
gibt vielleicht keinen Vorwurf gegen sein literarisches Auftre- 
ten - Plagiator, Storenfried, Saboteur - den er nicht fur sein 
unliterarisches, anonymes, aber spurbares Wirken als Erzieher, 
Denker, Organisator, Politiker, Regisseur wie einen Ehrenna- 
men beanspruchen wiirde. Unstreitig jedenf alls, dafi er unter alien 
in Deutschland Schreibenden der einzige ist, der sich f ragt, wo er 
seine Begabung ansetzen mufi, ste nur da ansetzt, wo er von der 
Notwendigkeit es zu tun iiberzeugt ist, und bei jeder Gelegen- 
heit, die diesem Priifstein nicht entspricht, schlappmacht. »Ver- 
suche 1-3 « sind dergleichen Einsatzstellen seiner Begabung. Das 
Neue daran ist, dafi diese Stellen in ihrer ganzen Wichtigkeit 
hervortreten, der Dichter um ihretwillen sich von seinem >Wer- 
ke< beurlaubt und, wie ein Ingenieur in der Wuste mit Petro- 
leumbohrungen anfangt, in der Wiiste der Gegehwart an ge- 
nau berechneten Punkten seine Tatigkeit aufnimmt. Solche 
Stellen sind hier das Theater, die Anekdote, das Radio - andere 
werden spater in Angriff genommen werden. »Die Publika- 
tion der >Versuche<«, beginnt der Autor, »erfolgt zu einem 
Zeitpunkt, wo gewisse Arbeiten nicht mehr so sehr individuelle 
Erlebnisse sein (Werkcharakter haben) sollen, sondern mehr 
auf die Benutzung (Umgestaltung) bestimmter Institute und 
Institutionen gerichtet sind.« Nicht Erneuerung wird prokla- 
miert; Neuerungen sind geplant. Die Dichtung erwartet hier 
nichts mehr von einem Gefuhl des Autors, das nicht im Willen, 
diese Welt zu andern, sich mit der Niichternheit verbilndet hat. 
Sie weifi, die einzige Chance, die ihr blieb, ist: Nebenprodukt 
in einem sehr verzweigten Prozefi zur Anderung der Welt zu 
werden. Das ist sie hier und dazu ein unschatzbares. Hauptpro- 
dukt aber ist: eine neue Haltung. Lichtenberg sagt: »Nicht 
wovon einer iiberzeugt ist, ist wichtig. Wichtig ist, was seine 
Oberzeugungen aus ihm machen.« Dieses Was hei£t bei Brecht: 



Aus dem Bredit-Kommentar 507 

Haltung. Sie ist neu, und das Neueste an ihr, dafi sie erlernbar 
ist. »Der zweite Versuch >Geschichten vom Herrn Keuner<«, sagt 
der Verfasser, »stellen einen Versuch dar, Gesten zitierbar zu 
machen.« Wer diese Geschichten dann liest, merkt, es sind die 
Gesten der Armut, der Unwissenheit, der Ohnmacht, die hier 
zitiert werden. Nur kleine Neuerungen hat man angebracht; 
sozusagen Patente. Denn Herr Keuner, der ein Prolet ist, stent 
in sehr scharfem Gegensatz zum Proletarierideal der Menschen- 
freunde: er ist nicht verinnerlicht. Die Abschaffung des Elends 
erwartet er nur auf einem einzigen Wege, namlich durch die Ent- 
wicklung der Haltung, welche das Elend ihm aufzwingt. Aber 
zitierbar ist nicht nur Herrn Keuners Haltung, genauso ist es, 
durch Ubung, die der Schuler im »Flug der Lindberghs«, und 
die des Egoisten Fatzer ist es audi, und wiederum: was an ihnen 
zitierbar ist, das ist nicht nur Haltung, genauso sind es die Wor- 
te, die sie begleiten. Auch diese Worte wollen geubt, das heifit 
erst gemerkt, spater verstanden sein. Ihre padagogische Wir- 
kung haben sie zuerst, ihre politische sodann, ihre poetische 
ganz zuletzt. Die padagogische so sehr zu befordern, die poeti- 
sche so sehr hintanzuhalten wie moglich, ist der Zweck des Kom- 
mentars, aus dem im folgenden eine Probe gegeben wird. 

I. 
Verlafi deinen Posten. 

Die Siege sind erfocbten. Die »Die Niederlagen sind . . .« 

Niederlagen sind weniger von ihm, dem Fatzer, 

Erfocbten: als fur ihn. Der Sieger soil den 

Verlafi jetzt deinen Posten. Besiegten die Erfahrung der 

Niederlage nicht gonnen. Er 

soil sich auch diese noch zule- 

gen, er soil die Niederlage mit 

den Besiegten teilen. Dann 

wird er Herr der Lage gewor- 

den sein. 

Taucbe wieder unter in der »Tauche wieder . . .« - »Kein 

Tiefe, Sieger. Ruhm dem Sieger, kein Mit- 

Der Jubel dringt dortbin, wo leid dem Besiegten, « Inschrift 

das Gefecbt war, in Brandmalerei auf einem 

Sei nicht mebr dort. Holzteller, Sowjetruftland. 



yo8 



Literarisdie und asthetische Essays 



Erwarte das Geschrei der Nie- 
derlage dort, wo es am lau- 
testen ist: 

In der Tiefe. 

Verlafi den alien Post en. 

Ziehe deine Stimme ein, Red- 

ner. 
Dein Name wird ausgewischt 

auf den Tafeln. Deine Be- 

fehle 
Werden nicht ausgefuhrt. Er- 

laube 
Daji neue Namen auf der Ta- 

fel erscheinen und 
Neue Befehle befolgt werden, 
(Du, der nicht mehr befiehlt, 
Fordere nicht zum Ungehor- 

sam auf!) 
Verlafi den alien Posten. 



Du hast nicht ausgereicht 

Du hist nicht fertig 

Jetzt hast du die Erfahrung 

und reichst aus 
Jetzt kannst du beginnen: 
Verlafi den Posten. 



Du, der die Amter beherrscht 

hat 
Heize deinen Of en. 



»Erlaube . . .«-Durchdringung 
einer bis zum Grausamen ge- 
henden Harte mit Hoflichkeit. 
Diese Hofliclikeit ist bezwin- 
gend, weil man fuhlt, wozu sie 
da ist. Sie soil namlich den 
Schwachsten und Nichtswiir- 
digsten (den Menschen schlecht- 
weg, bei dessen Anblick man 
das eigne Herz merkt) zu dem 
Grofiten und Wichtigsten ver- 
anlassen. Es ist die Hoflich- 
keit, die in der Strick-Ober- 
sendung zum Harakiri enthal- 
ten ist, deren Stummheit noch 
Raum fur das Mitleid hat. 

» Jetzt kannst du beginnen . . .« 
- »Beginn« wird dialektisch 
erneuert. Er bekundet sich 
nicht im Aufschwung, sondern 
in einem Aufhoren. Die Tat? 
Dafi der Mann seinen Posten 
verlafit. Innerlicher Beginn = 
mit etwas Aufierem aufhoren. 
»Du, der die Amter . . .« - 
Hier kommt zum Vorschein, 
welche Krafte die Sowjetpra- 



Aus dem Brecht-Kommentar 



509 



Du, der nicht Zeit batte zu 

essen 
Koch dir Suppe. 
Du, ilber den vieles geschrie- 

ben ist 
Studiere das ABC. 
Beginne sofort damit: 
Beziehe den neuen Posten. 



Der Geschlagene entrinnt nicht 

Der Weisheit. 

Hake dich fest und sinke! 

Furchte dich! Sinke dock! 

Auf dem Grunde 
Erwartet dich die Lehre. 
Zu viel Gefragter 
Werde teilhaflig des unsch'dtz- 

baren 
Unterrichts der Masse: 
Beziehe den neuen Posten. 



xis, Funktionare in den ver- 
schiedensten Xmtern herum- 
zuwirbeln, in den Betroffenen 
freimacht. Der Befehl »Fange 
von vorn an« namlich heifit 
dialektisch: 1. Lerne, denn du 
kannst nichts ; 2. Beschiiftige 
dich mit den Grundlagen, denn 
du bist weise genug dazu (durch 
Erfahrung) geworden; 3. Du 
bist schwach, du bist deines 
Amtes entsetzt. Lafi es dir gut- 
gehen, damit du starker wirst, 
du hast Zeit dazu. 

» Sinke doch . . .« - Im Hoff- 
nungslosen soil Fatzer Fufi 
fassen. Fufi, nicht Hoffnung. 
Trost hat nichts mit Hoffnung 
zu schaffen. Und Trost gibt 
Brecht ihm: Der Mensch kann 
im Hoffnungslosen leben,wenn 
er weifij wie er dahin gekom- 
men ist. Dann kann er darin 
leben, weil sein hofFnungsloses 
Leben dann wichtig ist. Zu- 
grunde gehen heifit hier im- 
mer: auf den Grund der Dinge 
gelangen. 



II. 



Der Tisch ist fertig, Tischler. 
Gestatte, dafi wir ihn wegneh- 

men. 
Hoble jetzt nicht weiter daran 

herum 
Hore auf mit dem Anstrei- 

chen 



»Tischler . . .« - Hier hat man 
sich ein Original von einem 
Tischler vorzustellen, der mit 
seinem >Werk< nie zufrieden 
ist, sich nicht entschliefien kann, 
es aus der Hand zu geben. 
Wenn die Dichter schon vom 



$10 



Literarische und asthetische Essays 



Rede nicht davon gut noch 

iibel: 
So wie er ist nehmen wir ihn. 
Wir brauchen ihn. 
Gib ihn heraus. 

Du bist fertig, Staatsmann 
Der Staat ist nicht fertig. 
Gestatte, daft wir ihn verdn- 

dern 
Nach den Bedingungen unse- 

res Lebens. 
Gestatte, dafi wir Staatsmdn- 

ner sind, Staatsmann. 
Unter deinen Gesetzen steht 

dein Name. 
Vergiji den Namen 
Achte deine Gesetze t Gesetz- 

geber. 

Laji dir die Ordnung gefallen y 

Ordner. 
Der Staat braucht dich nicht 

mehr 
Gib ihn heraus. 



>Werk< Urlaub nehmen (siehe 
oben), so wird hier diese Hal- 
tung von den Staatsmannern 
gefordert. Brecht sagt ihnen: 
Ihr seid Bastler, ihr wollt aus 
dem Staat euer >Werk< ma- 
chen, statt euch klarzumachen: 
der Staat soil kein Kunstwerk, 
kein Ewigkeitswert, sondern 
etwas Brauchbares sein. 



»Gib ihn heraus . . .« - So sa- 
gen die Lindberghs von ihrem 
Apparat: »Was sie gemacht 
haben, das mufi mir reichen.« 
Knapp an die knappe Wirk- 
lichkeit heran, das ist die Lo- 
sung. Armut, lehren die Tra- 
ger des Wissens, ist eine Mi- 
mikry, die es erlaubt, naher an 
das Wirkliche heranzukommen, 
als irgendein Reicher es kann. 



5 11 

ElN FAMILIENDRAMA AUF DEM EPISCHEN THEATER 
Zur Urauffiihrung »Die Mutter « von Brecht 

Vom Kommunismus hat Brecht gesagt, er sei das Mittlere. »Der 
Kommunismus ist nicht radikal. Radikal ist der Kapitalismus.« 
Wie radikal er ist, wird an seinem Verhalten der Familie gegen- 
iiber wie an jedem anderen Punkt erkennbar. Er versteift sich 
auf sie, selbst unter Bedingungen, unter denen jede Intensivie- 
rung des Familienlebens die Qual menschenunwiirdiger Zustan- 
de verscharft. Der Kommunismus ist nicht radikal. Daher fallt 
es ihm nicht ein, die Familienbindungen emfach beseitigen zu 
wollen. Er priift sie nur auf ihre Eignung, abgeandert zu wer- 
den. Er fragt sich: Kann die Familie abmontiert werden, um in 
ihren Bestandstiicken sozial umfunktioniert zu werden? Diese 
ihre Bestandstiicke sind aber weniger deren Glieder, als ihre Be- 
ziehungen untereinander. Es ist klar, dafi da keine wichtiger ist 
als die zwischen Mutter und Kind. Die Mutter ist zudem unter 
alien Mitgliedern der Familie gesellschaftlich am eindeutigsten 
bestimmt: sie produziert den Nachwuchs. Die Frage des Brecht- 
schen Stucks ist: Kann diese soziale Funktion zu einer revolutio- 
naren werden und wie? Je unmittelbarer in der kapitalistischen 
Wirtschaftsordnung ein Mensch im Produktionszusammenhange 
stent, desto mehr ist er der Ausbeutung preisgegeben. Unter den 
heutigen Umstanden ist die Familie eine Organisation zur Aus- 
beutung der Frau als Mutter. Pelagea Wlassowa, »Witwe eines 
Arbeiters und Mutter eines Arbeiters«, ist also eine zweifach 
Ausgebeutete: als Angehorige der Arbeiterklasse einmal, als 
Frau und Mutter ein zweites Mai. Die zweifach ausgebeutete 
Gebarerin reprasentiert die Ausgebeuteten in ihrer tiefsten Er- 
niedrigung. Sind die Mutter revolutioniert, so bleibt nichts mehr 
zu revolutionieren. Brechts Gegenstand ist ein soziologisches 
Experiment uber die Revolutionierung der Mutter. Damit hangt 
eine Reihe von Vereinfachungen zusammen, die nicht agitatori- 
scher sondern konstruktiver Art sind. »Witwe eines Arbeiters, 
Mutter eines Arbeiters « - darin steckt die erste Vereinfachung. 
Pelagea Wlassowa ist Mutter nur eines Arbeiters und steht da- 
mit in einem gewissen Widerspruch zu dem urspriinglichen 
Begriff der Proletarierfrau. (Proles heiftt Nachkommenschaft.) 
Sie hat nur einen Sohn, diese Mutter. Er geniigt. Es stellt sich 



512 Literarische und asthetische Essays 

namlich heraus, dafi sie mit diesem einen Hebel schon das 
Schaltwerk bedienen kann, welches ihre miitterlichen Energien 
der ganzen Arbeiterklasse zuwendet. Von Haus aus ist es ihre 
Sache, zu kochen. Produzentin des Menschen wird sie Repro- 
duzentin seiner Arbeitskraft. Nun langt es zu dieser Reproduk- 
tion nicht mehr. Fur solches Essen hat der Sohn nur einen Blick 
der Verachtung. Wie leicht kann dieser Blick die Mutter strei- 
fen. Sie weifi sich nicht zu helfen, weil sie nicht weifi: »Uber 
das Fleisch, das euch in der Kuche fehlt | wird nicht in der Kiiche 
entschieden.« So oder ahnlich mufi es in den Flugblattern stehen, 
die sie verteilen geht. Nicht um dem Kommunismus zu helfen, 
sondern nur ihrem Sohn, auf den das Los, sie zu verteilen, ge- 
fallen ist. Das ist der Anfang ihrer Arbeit fur die Partei, Und 
so verwandelt sie die Feindschaft, welche zwischen ihr und 
ihrem Sohn sich zu entwickeln drohte, in Feindschaft gegen ihrer 
beider Feind. Das - namlich dies Verhalten einer Mutter - ist 
audi die einzig taugliche Gestalt der Hilfe, die hier bis in ihr 
eigentliches, ursprungliches Gehause — die Falten eines Mutter- 
rocks - verfolgt, zugleich - als Solidaritat der Ausgebeuteten - 
gesellschaftlich die Biindigkeit gewinnt, die sie von Haus aus 
animalisch hat. Es ist der Weg von soldier ersten zu der letzten 
Hilfe: der Solidaritat der Arbeiterklasse, den die Mutter geht. 
Ihre Rede an die Mutter vor der Kupferabgabe ist keine pazi- 
fistische, sie ist ein revolutionarer Appell an die Gebarenden, die 
mit der Sache der Schwachen audi die Sache ihrer Kinder, ihres 
»Wurfs« verraten. Vom Helfen also, erst in zweiter Linie von 
der Theorie her, kommt die Mutter an die Partei. Das ist die 
zweite konstruktive Vereinfachung. Diese Vereinfachungen ha- 
ben die Aufgabe, die Einfachheit ihrer Lehren zu unterstreichen. 
Es entspricht namlich der Natur des epischen Theaters, dafi 
der undialektische Gegensatz zwischen Form und Inhalt des 
Bewufitseins (der dahin fuhrte, dafi die dramatische Person sich 
nur in Reflexionen auf ihr Handeln beziehen konnte) abgelost 
wird durch den dialektischen zwischen Theorie und Praxis (der 
dahin fiihrt, dafi das Handeln an seinen Einbruchsstellen den 
Ausblick auf die Theorie freigibt). Daher ist das epische Theater 
das Theater des geprugelten Helden. Der nicht gepriigelte Held 
wird kein Denker - so liefie eine padagogische Maxime der Al- 
ten sich flir den epischen Dramatiker umschreiben. Mit den 



Ein Familiendrama auf dem epischen Theater 513 

Lehren nun, mit denen die Mutter als mit den Erlauterungen 
ihres eigenen Verhaltens die Niederlagen oder die Wartezeiten 
(fur das epische Theater ist da kein Unterschied) ausfiillt, hat es 
eine besondere Bewandtnis. Sie singt sie. Sie singt: Was spricht 
gegen den Kommunismus; sie singt: Lerne Sechzigjahrige; sie 
singt: Lob der dritten Sache. Und das singt sie als Mutter. Es 
sind namlidi Wiegenlieder. Wiegenlieder des kleinen und schwa- 
chen, aber unaufhaltsam wachsenden Kommunismus. Diesen 
Kommunismus hat sie als Mutter an sich genommen; nun zeigt 
sich aber, dafi der Kommunismus sie liebt, wie man nur eine 
Mutter liebt: namlidi nicht wegen ihrer Schonheit oder ihres 
Ansehens oder ihrer Vorziiglichkeit, sondern als die unerschopf- 
liche Hilfsquelle; weil sie die Hilfe an der Quelle darstellt, wo 
sie noch rein fliefit, wo sie noch praktisch ist und nicht verlogen 
und daher uneingeschrankt dem zugewandt werden kann, was 
uneingeschrankt der Hilfe bedarf, namlich dem Kommunismus. 
Die Mutter ist die fleischgewordene Praxis. Es zeigt sich beim 
Teekochen, und es zeigt sich beim Einwickeln der Piroggen, und 
es zeigt sich beim Besuch des gefangenen Sohnes, daft jeder 
Handgriff der Mutter dem Kommunismus dient, und es zeigt 
sich bei den Steinen, welche sie trefTen, und bei den Kolben- 
stofien, welche sie von den Polizisten bekommt, dafi alle Hand- 
greiflichkeiten gegen sie zu nichts fiihren. Die Mutter ist die 
fleischgewordene Praxis. Das heifit, es ist bei ihr nur Zuverlas- 
sigkeit zu finden, kein Enthusiasmus. Und die Mutter ware 
nicht zuverlassig, wenn sie nicht, anfangs, Einwande gegen den 
Kommunismus hatte. Aber - das ist das Entscheidende - ihre 
Einwande sind nicht die der Interessenten, sondern die des ge- 
sunden Menschenverstandes. »Es ist notig, also ist es nicht 
gefahrlich« - mit solchen Satzen kann man der Mutter nicht 
kommen. Mit Utopien kann man ihr ebensowenig kommen: 
»Gehort dem Herrn Suchlinow seine Fabrik oder nicht? Also?!« 
Aber daft sein Eigentum an ihr ein beschranktes ist, das kann 
man ihr klarmachen. Und so geht sie Schritt fur Schritt den 
Weg des gesunden Menschenverstandes - »Wenn ihr Streit 
mit Herrn Suchlinow habt, was geht das die Polizei an?« - und 
dieses Schritt-fur-Schritt des gesunden Menschenverstandes, das 
das Gegenteil von Radikalismus ist, fiihrt die Mutter an die 
Spitze der Maidemonstrationen, wo man sie niederschlagt. So- 



514 Literarische und asthetische Essays 

weit die Mutter. Nun ist es Zeit, den Tatbestand umzuwenden, 
zu fragen: Fuhrt die Mutter, wie steht es da mit dem Sohn? 
Denn der Sohn ist es, der die Biicher liest und sich auf das 
Fiihrertum vorbereitet. Da sind vier: Mutter und Sohn, Theorie 
und Praxis, die nehmen eine Umgruppierung vor; spielen »Ver- 
wechselt, verwechselt das Baumelein«. Ist der kritische Au- 
genblick einmal eingetreten, dafi der gesunde Menschenverstand 
sich der Fiihrung bemachtigt, dann ist die Theorie gerade gut 
genug, um die Hauswirtschaft zu besorgen. Dann mufi der Sohn 
Brot schneiden, wahrend die Mutter, die nicht lesen kann, 
druckt; dann hat die Notdurft des Lebens aufgehort, die Men- 
schen nach Geschlechtern zu kommandieren; dann steht in der 
Proletarierwohnung die Wandtafel und schafft Raum zwischen 
Kuche und Ben. Wo auf der Suche nach der Kopeke der 
Staat von unten nach oben gekehrt wird, mufi sich audi manches 
in der Familie andern, und da ist es nicht zu vermeiden, dafi 
an die Stelle der Braut, die die Ideale der Zukunft verkorpert, 
die Mutter tritt, die mit den Erfahrungen einer vierzigjahrigen 
Vergangenheit Marx und Lenin bestatigt. Denn die Dialektik 
braucht keine Nebelfernen: sie ist in den vier Wanden der 
Praxis zu Hause, und stehend auf der Schwelle des Augenblicks 
spricht sie die Worte, mit denen die »Mutter« schliefit: »Und 
aus Niemals wird: Heute noch!« 



Das Land, in dem das Proletariat 

NICHT GENANNT WERDEN DARF 

Zur Urauffiihrung von adit Einaktern Brechts 

Das Theater der Emigration kann nur ein politisches Drama zu 
seiner Sache machen. Von den Stiicken, die vor zehn oder fiinf- 
zehn Jahren in Deutschland ein politisches Publikum versam- 
melt hatten, sind die meisten durch die Ereignisse uberholt wor- 
den. Das Theater der Emigration mufi von vorn beginnen; nicht 
nur seine Biihne sondern auch sein Drama ist neu aufzubauen. 
Das Gefiihl dieser geschichtlichen Sachlage war fur das Publi- 
kum der pariser Urauffiihrung von Teilen eines neuen Dramen- 
zyklus von Brecht verbindlich. Es lernte sich als dramatisches 



Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf 5 1 5 

Publikum zum ersten Mai selber kennen. Diesem neuen Publi- 
kum und dieser neuen Situation des Theaters ins Auge blickend, 
hat Brecht seinerseits eine neue dramatische Form eingesetzt. Er 
ist ein Spezialist des Von-vorn-Anfangens. In den Jahren 1920 
bis 1930 ist er nicht miide geworden, die dramatische Probe auf 
das Exempel der Zeitgeschichte immer von neuem zu machen. 
Er nahm es dabei mit zahlreichen Formen der Buhne auf und 
mit den verschiedensten Formationen des Publikums. Er arbei- 
tete fiir das Podiumtheater wie fur die Oper und stellte seine 
Produkte vor den berliner Proletariern wie vor der biirgerlichen 
Avantgarde des Westens aus. 

Brecht ring also, wie kein anderer, immer von neuem an. Daran 
erkennt man, nebenhergesagt, den Dialektiker. (In jedem Mei- 
ster der Kunst steckt ein Dialektiker.) Sorge dafiir - so sagt 
Gide - dafi der einmal erreichte Schwung niemals deiner weite- 
ren Arbeit zugute kommt. Nach dieser Maxime ist Brecht ver- 
fahren - und besonders beherzt in den neuen Stucken, die der 
Buhne der Emigration gewidmet sind. 

In Kurze: es hatte sich aus den Versuchen der fniheren Jahre 
zuletzt ein bestimmter, fundierter Standard des Brechtschen 
Theaters herausgebildet. Es bezeichnete sich als das epische und 
setzte sich mit dieser Bezeichnung gegen das im engeren Sinne 
dramatische ab, dessen Theorie erstmals Aristoteles formulierte. 
Daher fiihrte Brecht seine Theorie als die »nichtaristotelische« 
ein - wie Riemann eine »nichteuklidische« Geometrie einfiihrte. 
Bei Riemann fiel das Parallelenaxiom fort; was in dieser neuen 
Dramatik wegfiel, das war die aristotelische »Reinigung«, die 
Abfuhr der Affekte durch Einfuhlung in das bewegte Geschick 
des Helden. Ein Geschick, das die Bewegung der Woge hat, die 
das Publikum mit sich fortreifit. (Die beriihmte »Peripetie« ist 
der Wellenkamm, der, vorniiberfallend, zum Ende rollt.) 
Das epische Theater seinerseits riickt, den Bildern des Filmstrei- 
fens vergleichbar, in StoEen vor, Seine Grundform ist die des 
Chocks, mit dem die einzelnen wohlabgehobenen Situationen 
des Stiicks aufeinandertreffen. Die Songs, die Beschriftungen im 
Biihnenbilde, die gestischen Konventionen der Spielenden heben 
die eine Situation von der andern ab. So entstehen iiberall 
Intervalle, die die Illusion des Publikums eher beeintrachtigen. 
Diese Intervalle sind seiner kritischen Stellungnahme, seinem 



Ji6 Literarische und asthetische Essays 

Nachdenken reserviert. (Ahnlich machte die klassische Biihne 
Frankreichs zwischen den Spielern den Standespersonen Platz, 
welche auf der offenen Szene ihre Fauteuils hatten.) 
Dieses epische Theater hatte entscheidende Positionen des biir- 
gerlichen mit Hilfe einer an Methode und Prazision ihm iiber- 
legenen Regie ausgeschaltet. Immerhin war das eine Eroberung 
von Fall zu Fall gewesen. So gefestigt war diese epische Biihne, 
so grofi der Kreis der von ihr Geschulten noch nicht, dafi sie 
in der Emigration hatte aufgebaut werden konnen. Diese Ein- 
sicht liegt der neuen Arbeit von Brecht zugrunde. 
»Furcht und Elend des Dritten Reiches« ist ein Zyklus, der von 
27 Einaktern gebildet wird, die nach den Vorschriften der tradi- 
tionellen Dramaturgic gebaut sind. Manchmal flammt das Dra- 
matische wie ein Magnesiumlicht am Ende eines scheinbar idyl- 
lischen Vorgangs auf. (Wer zur Kuchentur eintritt, das sind die 
Winterhelfer mit dem Sack Kartoffeln flir einen kleinen Haus- 
stand; wer sie verlafit, das sind die SA-Leute mit der verhaf- 
teten Tochter in ihrer Mitte.) Anderswo kommt eine ausgebil- 
dete Intrige zu ihrem Recht. (So im »Kreidekreuz«, in dem der 
Proletarier einem SA-Mann einen der Tricks ablistet, mit denen 
die Helfershelfer der Gestapo gegen die illegale Arbeit an- 
kampfen.) Bisweilen ist es der Widerspruch in den gesellschaft- 
lichen Verhaltnissen selbst, der sich fast ohne Transposition auf 
der Biihne in seiner dramatischen Spannung darstellt. (Wah- 
rend der Runde, die sie im Zuchthaushof unter dem Blick des 
Aufsehers machen miissen, fliistern zwei Strafgefangene mit- 
einander; beide Backer; der eine sitzt, weil er Kleie ins Brot 
getan hat; der andere ist ein Jahr spater verhaftet worden, weil- 
er keine Kleie in seinen Teig gemengt hat.) 

Diese und andere Stiicke wurden unter der wohldurchdachten 
Regie von S. Th. Dudow am 21. Mai (1938) vor einem Pu- 
blikum, das sie mit leidenschaftlichem Anteil begleitete, zum 
erstenmal aufgefuhrt. Es fand sich endlich, nach funfjahrigem 
Exil von einer Biihne herab in dem angesprochen, was ihm an 
politischer Erfahrung gemeinsam ist. Steffi Spira, Hans Alt- 
mann, Giinter Ruschin, Erich Schoenlank - die Schauspieler, 
die ihre Krafte bisher in Einzelnummern des politischen Kaba- 
retts nicht immer zur vollen Entfaltung hatten bringen konnen, 
hatten verstanden, sich aneinander auszurichten und zeigten, 



Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf 517 

wie gliicklich sie die Erfahrungen ausgewertet hatten, zu denen 
sie, ihrer Mehrzahl nach, dreiviertel Jahr vorher an Brechts 
»Gewehren der Frau Carrar« gekommen waren. 
Helene Weigel schaffte der Tradition ihr Recht, die trotz allem 
von dem Brechtschen Theater der friiheren Jahre bis in dieses 
hinein iiberdauert hat. Ihr gelang es, dem europaischen Stan- 
dard seiner Schauspielkunst die Autoritat zu wahren. Man hatte 
vieles darum gegeben, sie in dem letzten Akte des Zyklus sehen 
zu diirfen, der »Volksbefragung«, wo sie als Proletarierfrau in 
einer Rolle, die an ihre unvergefiliche in der »Mutter« anklingt, 
den Geist illegaler Arbeit in den Zeiten der Verfolgung am Le- 
ben halt. 

Der Zyklus stellt fur das Theater der deutschen Emigration 
eine politische und artistische Chance dar, die dessen Notwen- 
digkeit zum erstenmal greifbar macht. Beide Momente, das poli- 
tische und das artistische, sind hier eines. In der Tat ist es leicht 
zu erkennen, dafi die Darstellung eines SA-Mannes oder eines 
Mitglieds des Volksgerichts fiir einen emigrierten Schauspieler 
eine ganz andere Aufgabe bedeutet als z. B. die des Jago fiir 
einen herzensguten. Fiir die erstere ist die Einfiihlung gewift 
kein geeignetes Verfahren; wie es denn eine »Einfiihlung« in 
den Morder seiner Genossen fiir keinen politischen Kampfer 
geben kann. Einem anderen distanzierenden Modus der Dar- 
stellung - eben wohl einem epischen - konnte hier ein neues 
Recht und vielleicht ein neues Gelingen werden. 
Der Zyklus iibt - und audi hierin weist ein episches Element 
sich, verwandelt, aus - auf das lesende Publikum nicht gerin- 
gere Anziehung aus als auf das schauende. Die Biihne wird 
sich, stehen nicht Mittel ihr zur Verfugung, wie sie unter den 
auf ihr dargestellten Verhaltnissen schwerlich werden zu mobi- 
lisieren sein, mit einer mehr oder weniger reichen Auswahl aus 
dem Zyklus begmigen miissen. Solche kann kritischen Einwen- 
dungen unterliegen, und es gelten deren wohl auch der pariser. 
Nicht alien Zuschauern ist das klar geworden, was dem Leser 
als die entscheidende These in alien diesen Stiicken entgegentritt. 
Man kann sie mit einem Satze aus dem prophetischen »Prozefi« 
von Kafka so formulieren: »Die Liige wird zur Weltordnung 
gemacht.« 
Jeder dieser kurzen Akte weist eines auf: wie unabwendbar die 



5 1 8 Literarische und asthetische Essays 

Schreckensherrschaft, die sich als Drittes Reich vor den Volkern 
briistet, alle Verhaltnisse zwischen Menschen unter die Bot- 
mafiigkeit der Liige zwingt. Luge ist die eidliche Aussage vor 
Gericht (»Rechtsfindung«); Liige ist die Wissenschaft, welche 
Satze lehrt, deren Anwendung nicht gestattet ist (»Die Berufs- 
krankheit«); Liige ist, was der Offentlichkeit zugeschrieen wird 
(»Volksbefragung«), und Liige noch, was dem Sterbenden in 
die Ohren gefliistert wird (»Die Bergpredigt«). Liige ist es, die 
mit hydraulischem Druck in das geprefit wird, was sich in der 
letzten Minute ihres Zusammenlebens Gatten zu sagen haben 
(»Die jiidische Frau«); Liige ist die Maske, die selbst das Mit- 
leid anlegt, wenn es noch ein Lebenszeichen zu geben wagt 
(»Dienst am Volke«). Wir sind in dem Land, in dem der Name 
des Proletariats nicht genannt werden darf. In diesem Lande, 
zeigt Brecht, ist es so bestellt, dafi selbst der Bauer sein Vieh 
nicht mehr fiittern kann, ohne die »Sicherheit des Staates« aufs 
Spiel zu setzen (»Der Bauer fiittert die Sau«). 
Noch ist die Wahrheit, die als ein reinigendes Feuer diesen Staat 
und seine Ordnung einmal verzehren soil, erst ein schwacher 
Funke. Es nahrt ihn die Ironie des Arbeiters, der vor dem Mi- 
krophon Liigen straft, was der Sprecher ihm in den Mund legt; 
es hiitet diesen Funken das Schweigen derer, die dem Genossen, 
der durchs Martyrium ging, nicht ohne grofite Umsicht begeg- 
nen diirfen; und die Flugschrift zur Volksbefragung, deren 
ganzer Text »nein« lautet, ist nichts anderes als dieses glim- 
mende Fiinkchen selbst. 

Es ist zu hoffen, dafi das Werk bald in Buchform vorliegen 
wird. Die Biihne hat ein ganzes Repertoire an ihm. Der Leser 
empfangt ein Drama in jenem Sinn, in dem »Die letzten Tage 
der Menschheit« von Kraus es verwirklicht haben. Vielleicht ist 
es diesem Drama allein gegeben, die noch gluhende Aktualitat 
so in sich einzulassen, dafi sie als ein ehernes Zeugnis auf die 
Nachwelt gelangt. 



5i9 

Was ist das epische Theater? <i> 
Erne Studie zu Brecht 

Worum es heute im Theater geht, lafit sich genauer mit Bezie- 
hung auf die Biihne als auf das Drama bestimmen. Es geht um 
die Verschiittung der Orchestra. Der Abgrund, der die Spieler 
vom Publikum wie die Toten von den Lebendigen scheidet, der 
Abgrund, dessen Schweigen im Schauspiel die Erhabenheit, 
dessen Klingen in der Oper den Rausch steigert, dieser Abgrund, 
der unter alien Elementen der Biihne die Spuren ihres sakralen 
Ursprungs am unverwischbarsten tragt, ist funktionslos gewor- 
den. Noch liegt die Biihne erhoht, steigt aber nicht mehr aus 
einer unermeiSlichen Tiefe auf; sie ist Podium geworden. Auf 
diesem Podium gilt es, sich einzurichten. Das ist die Lage. Wie 
aber vielen Zustanden gegemiber, so hat sich audi bei diesem der 
Betrieb ihn zu verdecken vorgesetzt, statt ihm Rechnung zu tra- 
gen. Immer weiter werden Tragodien und Opern geschrieben, 
denen scheinbar ein altbewahrter Biihnenapparat zur Verfii- 
gung stent, wahrend sie in Wirklichkeit nichts tun als einen 
hinfalligen beliefern. »Diese bei Musikern, Schriftstellern und 
Kritikern herrschende Unklarheit iiber ihre Situation hat unge- 
heure Folgen, die viel zu wenig beachtet werden. Denn in der 
Meinung, sie seien im Besitz eines Apparates, der in Wirklichkeit 
sie besitzt, verteidigen sie einen Apparat, iiber den sie keine 
Kontrolle mehr haben, der nicht mehr, wie sie noch glauben, 
Mittel fur die Produzenten ist, sondern Mittel gegen die Pro- 
duzenten wurde.« Mit diesen Worten liquidiert Brecht die Illu- 
sion, es griinde sich das Theater heute auf Dichtung. Das gilt 
weder fur das marktgangige noch fiir das seine. Dienend ist 
der Text in beiden Fallen: dort dient er der Aufrechterhaltung 
des Betriebes, hier seiner Veranderung. Wie ist dies letzte mog- 
lich? Gibt es ein Drama furs Podium - denn Podium ist die 
Biihne geworden - oder wie Brecht sagt: »fiir Publikationsinsti- 
tute«? Und wenn es das gibt, welchen Charakter tragt es? Die 
einzige Moglichkeit, dem Podium gerecht zu werden, schien das 
»2eittheater« in Gestalt politischer Thesenstiicke gefunden zu 
haben. Wie immer aber dies politische Theater funktionierte, 
gesellschaftlich beforderte es nur das Einriicken proletarischer 
Massen in eben die Positionen, die der Theaterapparat fiir die 



520 Literarische und asthetisdie Essays 

biirgerlichen geschaffen hatte. Der Funktionszusammenhang 
zwischen Biihne und Publikum, Text und Auffiihrung, Regis- 
seur und Schauspieler blieb fast unverandert. Von dem Ver- 
such, sie grundlegend abzuandern, nimmt das epische Theater 
den Ausgang. Seinem Publikum stellt diese Biihne nicht mehr 
»die Bretter, die die Welt bedeuten« (also einen Bannraum), 
sondern einen gunstig gelegenen Ausstellungsraum dar. Seiner 
Biihne bedeutet ihr Publikum nicht mehr eine Masse hypnoti- 
sierter Versuchspersonen sondern eine Versammlung von Inter- 
essenten, deren Anforderungen sie zu geniigen hat. Seinem Text 
bedeutet die Auffiihrung nicht mehr virtuose Interpretierung 
sondern strenge Kontrolle. Seiner Auffiihrung ist der Text 
nicht mehr Grundlage sondern Gradnetz, in das, als Neuformu- 
lierungen, ihr Ertrag sich einzeichnet. Seinem Schauspieler gibt 
der Regisseur nicht mehr Anweisung auf Effekte sondern The- 
sen zur Stellungnahme. Seinem Regisseur ist der Schauspieler 
nicht mehr Mime, der eine Rolle sich einzuverleiben, sondern 
Funktionar, der sie zu inventarisieren hat. 
Dafi so veranderte Funktionen auf veranderten Elementen 
beruhen, ist klar. 2u ihrer Priifung gab eine Auffiihrung von 
Brechts Parabel »Mann ist Mann«, die kiirzlich in Berlin statt- 
fand, die besten Chancen. Denn dank der mutigen und einsichts- 
vollen Miihewaltung des Intendanten Legal stellte sie nicht nur 
eine der prazisesten Einstudierungen dar, die man seit Jahren in 
Berlin zu sehen bekam, sondern zugleich ein Muster epischen 
Theaters, bisher das einzige. Was die Berufskritik an dieser 
Feststellung hinderte, wird sich zeigen. Das Publikum fand sei- 
nen Zugang zu der Komodie, nachdem die schwiile Atmosphare 
der Premiere sich einmal entladen hatte, unabhangig von aller 
Berufskritik. Denn die Schwierigkeiten, denen eine Erkennt- 
nis des epischen Theaters begegnet, sind ja nichts anderes als 
der Ausdruck seiner Lebensnahe, indes die Theorie im babylo- 
nischen Exil einer Praxis schmachtet, die nichts mit unserem Da j 
sein zu tun hat, derart, dafi die Werte einer Kolloschen Operette 
sich in der schulgerechten Sprache der Asthetik leichter dar- 
stellen lassen als die eines Brechtschen Dramas. Zumal, da dieses 
Drama, um sich ganz dem Aufbau der neuen Biihne zu wid- 
men, der Dichtung gegeniiber sich freie Hand lafit. 



Was ist das epische Theater? (i) 521 

Das epische Theater 1st gestisch. Wie weit es dabei im herge- 
brachten Sinne dichterisch sein wird, ist eine Frage fur sich. Die 
Geste ist sein Material, und die zweckmafiige Verwertung die- 
ses Materials seine Aufgabe. Gegeniiber den durchaus triigeri- 
schen Aufierungen und Behauptungen der Leute auf der einen 
Seite, gegeniiber der Vielschichtigkeit und Undurchschaubarkeit 
ihrer Aktionen auf der anderen Seite hat die Geste zwei Vor- 
ziige. Erstens ist sie nur in gewissem Grade verfalschbar, und 
zwar je unauffalliger und gewohnheitsmafliger sie ist, desto 
weniger. Zweitens hat sie im Gegensatz zu den Aktionen und 
Unternehmungen der Leute einen fixierbaren Anfang und ein 
fixierbares Ende. Diese strenge rahmenhafte Geschlossenheit je- 
des Elements einer Haltung, die doch als ganze in lebendigem 
Flufi sich befindet, ist sogar eines der dialektischen Grundphano- 
mene der Geste. Es ergibt sich daraus ein wichtiger Schlufi: 
Gesten erhalten wir um so mehr, je haufiger wir einen Handeln- 
den unterbrechen. Fur das epische Theater steht daher die 
Unterbrechung der Handlung im Vordergrunde. In ihr be- 
steht die formale Leistung der Brechtschen Songs mit ihren 
riiden, herzzerreifienden Refrains. Ohne der schwierigen Unter- 
suchung iiber die Funktion des Textes im epischen Theater vor- 
zugreifen, kann festgestellt werden, dafi seine Hauptfunktion 
in gewissen Fallen darin besteht, die Handlung - weit ent- 
fernt, sie zu illustrieren oder zu fordern - zu unterbrechen. 
Und zwar nicht nur die Handlung eines Partners sondern ge- 
nauso die eigene. Der retardierende Charakter der Unterbre- 
chung, der episodische Charakter der Umrahmung sind es, wel- 
che das gestische Theater zu einem epischen machen. 
Dies epische Theater, erklarte man, hat nicht so sehr Handlun- 
gen zu entwickeln, als Zustande darzustellen. Und wahrend fast 
alle Losungen seiner Dramaturgic unbeachtet verhallten, hat 
diese letzte es immerhin bis zum Mifiverstandnis gebracht. Grund 
genug, an sie anzuschliefien. Die Zustande, von denen in ihr die 
Rede ist, schienen nichts andres sein zu konnen als das »Milieu« 
der friiheren Theoretiker. So verstanden, kam die Forderung, 
summarisch gesprochen, auf Wiederaufnahme des naturalisti- 
schen Dramas hinaus. Aber schliefilich kann niemand naiv ge- 
nug sein, das zu vertreten. Die natural istische Biihne, nichts 
weniger als Podium, ist eine durchaus illusionistische. Ihr eige- 



j 22 Literarische und asthetische Essays 

nes Bewufitsein, Theater zu sein, kann sie nicht fruchtbar 
machen, sie mufi es, wie jede dynamische Biihne, verdrangen, 
um sich ihrem Ziele, das Wirkliche abzubilden, unabgelenkt 
widmen zu konnen. Das epische Theater dagegen behalt davon, 
dafi es Theater ist, ununterbrochen ein lebendiges und produkti- 
ves Bewufitsein. Dieses Bewufitsein befahigt es, die Elemente 
des Wirklichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behan- 
deln und am Ende, nicht am Anfang dieses Versuchs stehen die 
Zustande. Sie werden also dem Zuschauer nicht nahegebracht 
sondern von ihm entfernt. Er erkennt sie als die wirklichen 
Zustande, nicht, wie auf dem Theater des Naturalismus, mit 
Suffisance sondern mit Staunen. Mit diesem Staunen bringt das 
epische Theater- auf harte und keusche Art eine sokratische 
Praxis zu Ehren. Im Staunenden erwacht das Interesse; in ihm 
allein ist das Interesse an seinem Ursprung da. Es ist nun fur 
Brechts Denkungsart nichts bezeichnender als der im epischen 
Theater unternommene Versuch, dieses urspriingliche Interesse 
unmittelbar zu einem fachmannischen zu machen. Das epische 
Theater richtet sich an Interessenten, die »ohne Grund nicht 
denken«. Das ist aber eine Haltung, die sie durchaus mit den 
Massen teilen. In dem Bestreben, diese Massen fachmannisch, 
aber ganz und gar nicht auf dem Wege iiber »Bildung« am 
Theater zu interessieren, setzt Brechts dialektischer Materialis- 
mus unzweideutig sich durch. »Sehr rasch hatte man so ein 
Theater voll von Fachleuten, wie man Sporthallen voll von 
Fachleuten hat.« 

Das epische Theater gibt also nicht Zustande wieder, es ent- 
deckt sie vielmehr. Die Entdeckung der Zustande vollzieht sich 
mittels der Unterbrechung von Ablaufen. Das primitivste Bei- 
spiel: eine Familienszene. Plotzlich tritt da ein Fremder ein. Die 
Frau war grade im BegrirT, ein Kopfkissen zu ballen, um es 
nach der Tochter zu schleudern; der Vater im Begriff, das Fen- 
ster zu ofFnen, um einen Schupo zu holen. In diesem Augenblick 
erscheint in der Tiir der Fremde. »Tableau«, wie man um 1900 
zu sagen pflegte. Das heifit: der Fremde stofit jetzt auf den Zu- 
stand: zerkniilltes Bettzeug, offenes Fenster, verwiistetes Mobi- 
liar. Es gibt aber einen Blick, vor dem audi die gewohnteren 
Szenen des biirgerlichen Lebens sich nicht viel anders ausnehmen. 
Je grofieres Ausmafi freilich die Verwiistungen unserer Gesell- 



Was ist das epische Theater? (i) 523 

schaftsordnung angenommen haben (je mehr wir selber und die 
Fahigkeit, von ihnen uns noch Rechenschaft zu geben, angegrif- 
fen sind), desto markierter wird der Abstand des Fremden sein 
miissen. Einen solchen Fremden kennt man aus Brechts Ver- 
suchen: einen schwabischen »Utis«, ein Gegenstiick zu dem 
griechischen »Niemand« Odysseus, der den einaugigen Polyphem 
in der Hohle aufsucht. So dringt Keuner - so heifit der Frem- 
de - in die Hohle des einaugigen Ungetiims »Klassenstaat«. 
Listenreich sind sie beide, ebenso leidgewohnt, viel bewandert; 
beide sind weise. Eine praktische Resignation, die von jeher 
allem utopischen Idealismus ausbiegt, lafit Odysseus auf nichts 
andres als Heimkehr sinnen, und dieser Keuner kommt gar 
nicht von seiner Schwelle. Er liebt die Baume, die in seinem Hof 
stehen, wenn er aus seiner Wohnung im vierten Stockwerk des 
Hinterhauses ins Freie kommt. »Warum gehst du nie in den 
Wald, wenn du - so fragen seine Freunde - doch Baume liebst?« 
»Sagte ich nicht, erwidert Herr Keuner, dafi ich die Baume in 
meinem Hof liebe?« Diesen Denkenden, Herrn Keuner, von 
welchem Brecht einmal vorschlug, er miisse liegend auf die 
Szene getragen werden (so wenig zieht es ihn dahin), zum 
Dasein auf der Biihne zu bewegen, das ist das Bestreben dieses 
neuen Theaters. Man wird nicht ohne Oberraschung feststellen, 
wie hoch hinauf sein geschichtlicher Ursprung reicht. Seit den 
Griechen hat namlich auf der europaischen Biihne die Suche 
nach dem untragischen Helden nie aufgehort. Allen Wiederge- 
burten der Antike zum Trotz haben die grofien Dramatiker von 
der authentischen Gestalt der Tragik, der griechischen, den 
grofiten Abstand gehalten. Wie dieser Weg im Mittelalter bei 
Hroswitha, im Mysteriendrama, spater bei Gryphius, Lenz und 
Grabbe sich abzeichnet, wie Goethe ihn im zweiten Faust ge- 
kreuzt hat - das darzustellen ist hier nicht der Ort. Wohl aber 
auszusprechen, daft dieser Weg der deutscheste war. Wenn nam- 
lich die Rede von einem Wege sein kann und nicht vielmehr von 
einem Pasch- und Schleichpfad, auf welchem quer durch das 
erhabene aber unfruchtbare Massiv der Klassik das Vermachtnis 
des mittelalterlichen und barocken Dramas auf uns gekommen 
ist. Dieser Saumpfad tritt heute - wie struppig und verwildert 
immer - in den Dramen von Brecht zu Tage. Ein Stuck von 
dieser deutschen Tradition ist der untragische Held. Dafi seine 



524 Literarische und asthetische Essays 

paradoxe Biihnen-Existenz von unserer eigentlichen einzulosen 
ist, das ist,gewifi nicht von derKritik, wohl aber von den Besten 
der Gegenwart - Denkern wie Georg Lukacs und Franz Rosen- 
zweig - friih erkannt worden. Schon Platon, sdirieb Lukacs 
vor zwanzig Jahren, hat das Undramatische des hochsten Men- 
schen, des Weisen, erkannt. Und doch hat er ihn in seinen Dia- 
logen an die Schwelle der Biihne gefiihrt. Will man das epische 
Theater fiir dramatischer als den Dialog ansehen (das ist es 
nicht immer), so braucht es darum nicht weniger philosophisch 
zu sein. 

Die Formen des epischen Theaters entsprechen den neuen tech- 
nischen Formen, dem Kino sowie dem Rundfunk. Es steht auf 
der Hohe der Technik. Hat sich bereits im Film mehr und mehr 
der Grundsatz durchgesetzt, es miisse dem Publikum jederzeit 
moglich sein, »einzusteigen«, verwickelte Voraussetzungen seien 
zu meiden, es miisse jeder Teil neben seinem Wert fiir das 
Ganze nodi einen eigenen, episodischen besitzen, so 1st das im 
Rundfunk einem Publikum gegenuber, das seinen Lautsprecher 
jederzeit willkurlich ein- und ausschaltet, strikte Notwendigkeit 
geworden. Das epische Theater fiihrt der Biihne die gleiche Er- 
rungenschaft zu. Es gibt in ihm grundsatzlich keine Zuspat- 
gekommenen. Dieser Zug verrat gleichzeitig, dafi weitaus grofier 
als der Abbruch, den es dem Theater als abendlichem Amiisier- 
betrieb tut, die Bresche ist, die es in das Theater als gesellschaft- 
liche Veranstaltung legt. Wenn im Kabarett sich das Burgertum 
mit der Boheme mischt, im Variete die Kluft zwischen Klein- 
und Grofibourgeoisie abendfiillend sich schliefit, so sind im 
projektierten Rauchtheater Brechts die Proletarier Stammgaste. 
Fiir sie werden seine Aufforderungen an einen Schauspieler, die 
Auswahl des Holzbeins durch den Bettler in der Dreigroschen- 
oper so zu geben, »dafi eigens dieser Nummer wegen Leute sich 
vornehmen, zu dem Zeitpunkt, wo sie stattfindet, noch einmal 
das Theater aufzusuchen«, nichts Befremdendes haben. Die Ne- 
herschen Projektionen sind viel mehr Plakate zu derartigen 
Nummern als Dekorationen zu einer Szene. Das Plakat gehort 
durchaus zu den Bestandteilen des »literarisierten Theaters«. 
»Die Literarisierung bedeutet das Durchsetzen des >Gestalteten< 
mit >Formuliertem<, gibt dem Theater die Moglichkeit, den 



Was ist das epische Theater? (i) 525 

Anschlufi an andere Institute fur geistige Tatigkeit herzustellen.« 
Zu Instkuten, ja zuletzt zum Buche selbst. »Auch in die Dra- 
matik ist die Fufinote und das vergleichende Blattern einzufiih- 
ren.« Was plakatieren aber Nehers Bilder? Brecht schreibt, sie 
»nehmen Stellung zu den Vorgangen auf der Buhne derart, dafi 
der wirkliche Vielfrafi« in Mahagonny »vor dem gezeichneten 
Vielfrafi sitzt«. Gut. Aber wer steht mir dafiir, dafi der gespiel- 
te vor dem gezeichneten die Wirklichkeit voraus hat? Nichts 
hindert uns, den gespielten vor dem wirklichen sitzen, also den 
gezeichneten hinten wirklicher sein zu lassen als den gespielten. 
Vielleicht ergibt sich dann erst der Schliissel fiir die starke und 
eigentumliche Wirkung der so inszenierten Stellen. Unter den 
Spielern erscheinen manche als Mandatare der grofieren Machte, 
die im Hintergrunde verbleiben. Von daher wirken wie es die 
Ideen des Platon tun, indem sie den Dingen Modelle stellen. So 
waren die Neherschen Projektionen materialistische Ideen, 
Ideen von echten »Zustanden«, und so nahe sie dem Vorgang 
geriickt sind, das Zittern ihrer Umrisse verrat immer noch, aus 
welcher sehr viel innigeren Nahe sie sich losgerissen haben, um 
sichtbar zu werden. 

Die Literarisierung des Theaters in Formulierungen, Plakaten, 
Titeln - deren Verwandtschaft mit chinesischen Praktiken 
Brecht gelaufig und einmal gesondert zu untersuchen ist - wird 
und soil »die Buhne ihrer stofTlichen Sensationen berauben«. 
Noch weiter in der gleichen Richtung dringt dann Brecht mit 
der Erwagung vor, ob nicht die Ereignisse, die der epische Schau- 
spieler darstellt, schon bekannt sein miifiten. »Dann waren 
geschichtliche Vorgange zunachst am geeignetsten.« Auch hier 
aber waren gewisse Freiheiten im Verlauf unumganglich, Ak- 
zente nicht auf die grofien Entscheidungen, die in den Flucht- 
linien der Erwartung liegen, sondern aufs Inkommensurable, 
Einzelne zu legen. »Es kann so kommen, aber es kann auch ganz 
anders kommen« - das ist die Grundhaltung dessen, der fur das 
epische Theater schreibt. Er verhalt sich zu seiner Fabel wie 
der Ballettmeister zu seiner Elevin. Es ist sein erstes, die Gelenke 
ihr bis an die Grenze des Moglichen aufzulockern. Er wird von 
der historischen und psychologischen Schablone so weit ent- 
fernt sein wie Strindberg in seinen Geschichtsdramen. Denn 
Strindberg hat sich mit bewufiter Kraft an einem epischen, un- 



$26 Literarische und asthetische Essays 

tragischen Theater versucht. Wenn er in Werken aus dem 
individuellen Daseinskreise noch auf das christliche Passions- 
schema zuruckgreift, so hat er in seinen Historien dem gestischen 
Theater mit der Vehemenz seines kritischen Denkens, seiner 
entlarvenden Ironie den Weg gebahnt. In diesem Sinn bezeich- 
nen der Kalvarienweg »Nach Damaskus« und die Moritat 
»Gustav Adolf« die Pole seines dramatischen Schaffens. Es 
bedarf nur dieser Blickrichtung, urn den produktiven Gegensatz 
zu erkennen, in welchem Brecht zur sogenannten »Zekdrama- 
tik« steht und den er in seinen »Lehrstiicken« zu iiberwinden 
trachtet. Sie sind der Umweg iibers epische Theater, zu dem das 
Thesenstuck sich bequemen mufi. Ein Umweg verglichen mit 
den Dramen eines Toller oder Lampel, die genau wie die deut- 
sche Pseudoklassik, »der Idee das Primat zuerteilend, den Zu- 
schauer ein immer bestimmteres Ziel wiinschen« machen, »sozu- 
sagen eine immer grofiere Nachfrage nach dem Angebot« schaffen. 
Anstatt, wie die Genannten, von aufien her unsre Zustande 
einzurennen, hat Brecht vermittelt, dialektisch sie sich kritisie- 
ren, ihre verschiedenen Elemente logisch gegeneinander sich 
ausspielen lassen, sein Packer Galy Gay in »Mann ist Mann« ist 
nichts als ein Schauplatz von Widerspriichen unsrer Gesell- 
schaftsordnung. Vielleicht ist es, im Sinne Brechts, nicht zu 
kiihn, den Weisen als den vollkommenen Schauplatz soldier 
Dialektik zu definieren. Jedenfalls ist Galy Gay ein Weiser. 
Er stellt sich als ein Packer vor, »der nicht trinkt, ganz wenig 
raucht und fast keine Leidenschaften hat«. Ihm leuchtet das 
Anerbieten der Witwe, der er ihren Korb getragen hat und die 
ihm seinen Lohn des Nachts abstatten will, nicht ein: »OrTen 
gestanden: ich mochte gern einen Fisch kaufen.« Dennoch wird 
er als ein Mann vorgestellt, »der nicht nein sagen kann«. Und 
audi das ist weise. Denn damit lafit er die Widerspriiche des 
Daseins da ein, wo sie zuletzt allein zu iiberwinden sind: im 
Menschen. Nur der »Einverstandene« hat Chancen, die Welt zu 
andern. So stimmt der weise Einzelganger und Prolet Galy Gay 
der AbscharTung seiner eigenen Weisheit und seiner Einreihung 
in die Berserker der englischen Kolonialarmee zu. Eben ist er aus 
der Haustiir gegangen, um auf Veranlassung seiner Frau einen 
Fisch einzukaufen. Da stofit er auf ein Peloton der anglo- 
indischen Armee, das bei der Pliinderung einer Pagode den 



Was ist das epische Theater? (i) 527 

vierten Mann, der zum Zuge gehort, verloren hat. Die drei 
anderen haben alles Interesse daran, sich schleunigst einen 
Stellvertreter zu verschaffen. Galy Gay ist der Mann, der nicht 
nein sagen kann. Er folgt den dreien, ohne zu wissen, was sie 
mit ihm vorhaben. Zug um Zug nimmt er Gedanken, Haltun- 
gen, Gewohnheiten an wie ein Mann im Kriege sie haben mufi; 
er wird vollstandig ummontiert, wird seine Frau, die ihn aus- 
findig gemacht hat, gar nicht mehr anerkennen und zuletzt ein 
gefurchteter Krieger und Eroberer der tibetanischen Bergfeste Sir 
El Dchowr werden. Mann ist Mann, Packer Soldner. Er wird mit 
seiner Soldnernatur nicht anders als vordem mit seinem Packer- 
turn umgehen. Mann 1st Mann, das ist nicht Treue zum eignen 
Wesen, sondern die Bereitschaft, ein neues in sich selbst zu 
empfangen. 

Nenne doch nicht so genau deinen Namen, wozu denn 
Wo du doch immer einen anderen damit nennst. 
Und wozu so laut deine Meinung. Vergifi sie. Welche 

war es denn gleich. 
Erinnere dich doch nicht eines Dinges langer als es 

selber dauert. 

Das epische Theater stellt den Unterhaltungscharakter des 
Theaters in Frage; es erschiittert seine gesellschaftliche Geltung, 
indem es ihm seine Funktion in der kapitalistischen Ordnung 
nimmt; es bedroht - das ist das dritte - die Kritik in ihren Pri- 
vilegien. Diese bestehen in einem Fachwissen, das den Kritiker 
zu gewissen Beobachtungen iiber Regie und Darstellung befa- 
higt. Die Mafistabe, die bei diesen Beobachtungen ins Spiel 
gesetzt werden, unterliegen in den seltensten Fallen seiner 
Kontrolle. Er kann sie sich im Vertrauen auf die »Asthetik des 
Theaters«, deren Einzelheiten niemand so genau wissen will, 
auch ersparen. Bleibt aber die Asthetik des Theaters nicht mehr 
im Hintergrunde, wird ihr Forum das Publikum und ihr Mafi- 
stab nicht Nervenwirkung auf Einzelne sondern Organisation 
einer Horermasse, so hat die Kritik in ihrer jetzigen Gestalt 
nichts mehr vor dieser Masse voraus sondern bleibt weit hinter 
ihr zuriick. In dem Augenblick, da die Masse in Debatten, in 
verantwortlichen Entschliefiungen, in Versuchen begrundeter 



528 Literarisdie und asthetische Essays 

Stellungnahme sich differenziert, in dem Augenblick, da die 
falsche, verschleiernde Totalitat »Publikum« sich zu zersetzen 
beginnt, um in ihrem Schofi den Parteiungen Raum zu geben, 
welche den wirklichen Verhaltnissen entsprechen - in diesem 
Augenblick stofit der Kritik das doppelte Mifigeschick zu, ihren 
Agentencharakter aufgedeckt und zugleich aufier Kurs geraten 
zu sehen. Sie wird - ganz einfach indem sie an ein »Publikum« 
appelliert - wie es in so und urch sich tiger Gestalt nur noch fiir 
das Theater, fiir das Kino bezeichnenderweise schon nicht mehr 
besteht - ob sie es wolle oder nicht, zum Anwalt dessen, was bei 
den Alten Theatrokratia geheifien hat: der auf Reflexe und Sen- 
sationen begriindeten Massenherrschaft, die als der eigentliche 
Gegensatz zur Stellungnahme verantwortlicher Kollektiva er- 
scheint, Mit diesem Verhalten des Publikums kommen »Neue- 
rungen« zur Geltung, die jedes andere Denken als das in der 
Gesellschaft realisierbare ausschliefien und damit in Gegensatz 
zu alien »Erneuerungen« treten. Denn was hier angegriffen 
wird, ist die Basis, die Anschauung, dafi Kunst nur »streifen« 
diirfe, und dafi die ganze Breite der Lebenserfahrung zu betref- 
fen nur dem Kitsch zukomme, obendrein so betroffen zu wer- 
den nur fiir die niederen Klassen sich gehore. Der AngrifT auf 
die Basis aber ist zugleich Anfechtung ihrer eigenen Privilegien 
- das hat die Kritik gespiirt. Sie ist im Streit urns epische Thea- 
ter nur als Partei zu horen. 

»Selbstkontrolle« der Biihne mufi allerdings mit Schauspielern 
rechnen, welche vom Publikum einen wesentlich anderen Be- 
griff haben als der Dompteur von den Bestien, die seinen Kafig 
bevolkern; mit Schauspielern, denen Wirkung nicht Zweck son- 
dern Mittel ist. Als dem russischen Regisseur Meyerhold letzt- 
hin in Berlin die Frage gestellt wurde, worin denn seiner Mei- 
nung nach seine Schauspieler sich von den westeuropaischen 
unterschieden, hat er geantwortet: >>Durch zwei Dinge. Erstens 
dadurch, dajS sie denken konnen, zweitens dafi sie materiali- 
stisch, nicht idealistisch denken. « Dafi die Schaubiihne eine 
moralische Anstalt sei, diese Feststellung hat Berechtigung nur 
in Hinsicht auf ein Theater, das Erkenntnisse nicht allein ver- 
mittelt sondern erzeugt. Im epischen Theater besteht die Er- 
ziehung des Schauspielers in einer Art zu spielen, die ihn auf 
Erkenntnis anweist; seine Erkenntnis wiederum bestimmt, nicht 



Was ist das episdie Theater? (i) 529 

inhaltlich allein, sondern durdi Tempi, Pausen und Betonungen 
sein ganzes Spiel. Das ist aber nidit im Sinne eines Stils zu ver- 
stehen. Vielmehr heifit es im Programmheft von »Mann ist 
Mann«: »Im epischen Theater hat der Schauspieler mehrere 
Funktionen, und je nachdem, welche Funktionen er erfiillt, 
andert sich der Stil, in dem er spielt. « Beherrscht aber wird diese 
Mehrheit von Moglichkeiten von einer Dialektik, der sich alle 
Stilmomente zu fiigen haben. »Der Schauspieler mufi eine Sadie 
zeigen, und er mufi sich zeigen. Er zeigt die Sache naturlich, 
indem er sich zeigt, und er zeigt sich, indem er die Sache zeigt. 
Obwohl dies zusammenfallt, darf es doch nicht so zusammenf al- 
ien, dafi der Gegensatz (Unterschied) zwischen diesen beiden 
Aufgaben verschwindet.« »Gesten zitierbar zu machen« ist die 
wichtigste Leistung des Schauspielers; seine Gebarden mufi er 
sperren konneri wie ein Setzer die Worte. »Das epische Stiick ist 
ein Gebaude, das rationell betrachtet werden mufi, in dem Dinge 
erkannt werden miissen, seine Darstellung mufi also diesem Be- 
trachten entgegenkommen.« Oberste Aufgabe einer epischen 
Regie ist, das Verhaltnis der aufgefiihrten Handlung zu der- 
jenigen, die im Auffiihren uberhaupt gegeben ist, zum Ausdruck 
zu bringen. Wenn das gesamte marxistische Bildungsprogramm 
von der Dialektik, die zwischen lehrendem und lernendem Ver- 
halten waltet, bestimmt wird, so kommt im epischen Theater 
mit der steten Auseinandersetzung zwischen dem Buhnenvor- 
gang, der gezeigt wird und dem Biihnenverhalten, das zeigt 
ein Analoges zum Vorschein. Es ist das oberste Gebot dieses 
Theaters, dafi »der Zeigende* - das ist der Schauspieler als 
soldier - » gezeigt werde«. Mit soldier Formulierung fiihlt man- 
ner sich vielleicht an die alte Tiecksche Dramaturgic der Refle- 
xion erinnert. Nadizuweisen, warum das irrig ware, das wiirde 
heifien, auf einer Wendeltreppe den Schniirboden der Brecht- 
schen Theorie erklettern. Hier mag der Hinweis auf ein einziges 
Moment genugen: mit all ihren reflektorischen Kiinsten ist die 
Biihne der Romantik niemals imstande gewesen, dem dialekti- 
schen Urverhaltnis, dem Verhaltnis von Theorie und Praxis ge- 
recht zu werden, um das sie vielmehr auf ihre Weise sich ebenso 
vergeblich bemtiht hat wie heute das Zeittheater es tut. 
Wenn also der Schauspieler der alten Biihne als »Komodiant« 
bisweilen in die Nachbarschaft des Pfarrers geriet, so findet er 



53° Literarisdie und astheusdie Essays 

sich im epischen Theater an der Seite des Philosophen. Die Geste 
demonstriert die soziale Bedeutung und Anwendbarkeit der 
Dialektik. Sie macht die Probe auf die Zustande am Menschen. 
Die Schwierigkeiten, die sich dem Spielleiter bei einer Einstu- 
dierung ergeben, sind ohne konkreten Einblick in den Korper 
der Gesellschaft nicht zu losen. Die Dialektik, auf die das epi- 
sche Theater es abgesehen hat, ist aber nicht auf eine szenische 
Abfolge in der Zeit angewiesen, sie bekundet sich vielmehr be- 
reits in den gestischen Elementen, die jeder zeitlichen Abfolge 
zugrunde liegen, und die man Elemente nur uneigentlich nennen 
kanri, weil sie nicht einfacher sind als diese Abfolge. Immanent 
dialektisches Verhalten ist es, was im Zustand - als Abdruck 
menschlicher Gebarden, Handlungeh und Worte - blitzartig 
klargestellt wird. Der Zustand, den das epische Theater auf- 
deckt, ist die Dialektik im Stillstand. Denn wie bei Hegel der 
Zeitverlauf nicht etwa die Mutter der Dialektik ist, sondern nur 
das Medium, in dem sie sich darstellt, so ist im epischen Theater 
nicht der widerspriichliche Verlauf der Aufierungen oder der 
Verhaltungsweisen die Mutter der Dialektik sondern die Geste 
selbst. Ein und dieselbe bittet den Galy Gay einmal zum Zweck 
des Umgekleidetwerdens, ein andermal zum Zwecke der Er- 
schieflung an die Mauer. Ein und dieselbe lafit ihn auf den 
Fisch verzichten und den Elefanten in Kauf nehmen. Solche 
Entdeckungen werden das Interesse des Publikums, das in den 
epischen Theatern verkehrt, befriedigen, an ihnen wird es auf 
seine Kosten kommen. Mit Recht erklart der Autor, was die 
Trennung dieses Theaters als eines ernsteren vom gewohnlichen 
Amusiertheater betrefTe, »so erwecken wir, indem wir dieses, 
uns f eindliche Theater eine nur kulinarische Sache schimpf en, den 
Anschein, als seien wir audi bei dem unseren gegen jedes Ver- 
gniigen, als konnten wir uns dieses Lernen oder Unterrichtet- 
werden nicht anders als grofie Unlust erweckend vorstellen. Oft 
schwacht man namlich, um einen Gegner zu bekampfen, seine 
eigene Position, und der zunachst grofieren Kampfwirkung des 
Radikalen zuliebe nimmt man seiner Sache alle Breite und Giil- 
tigkeit. So lediglich auf Kampfform gebracht, kann sie viel- 
leicht dann siegen, aber nicht die Besiegte ersetzen. Jedoch ist 
der Prozefi der Erkenntnis, von dem wir gesprochen haben, 
selber ein lustvoller. Schon dafi der Mensch in einer bestimmten 



Was ist das epische Theater? (i) 531 

Weise zu erkennen ist, erzeugt ein Gefiihl des Triumphes und 
audi, dafi er nidit ganz, noch endgiiltig zu erkennen ist, sondern 
ein nicht so leicht Erschopfliches, viele Moglichkeiten in sich 
Bergendes und Verbergendes ist (wovon seine Entwicklungs- 
fahigkeit kommt), ist eine lustvolle Erkenntnis. Dafi er sich 
durch seine Umwelt verandern lassen und selber seine Umwelt 
verandern, d. h. mit Folgen behandeln kann, alles das erzeugt 
Gefuhle der Lust. Freilich nicht, wenn der Mensch als etwas 
Mechanisches, restlos Einsetzbares, Widerstandsloses angesehen 
wird, wie es bestimmter gesellschaftlicher Zustande wegen heute 
geschieht. Das Staunen, welches also hier in die aristotelische 
Formel von der Wirkung der Tragodie eingesetzt werden mufi, 
ist durchaus als eine Fahigkeit zu bewerten und kann gelernt 
werden. « 

Die Stauung im realen Lebensflufi, der Augenblick, da sein Ab- 
lauf zum Stehen kommt, macht sich als Riickflut fiihlbar: das 
Staunen ist diese Riickflut. Die Dialektik im Stillstand ist sein 
eigentlicher Gegenstand. Es ist der Fels, von dem herab der 
Blick in jenen Strom der Dinge sich senkt, von dem sie in der 
Stadt Jehoo, »die immer voll ist, und wo niemand bleibt« 5 ein 
Lied wissen, »welches anfangt mit: 

Beharre nicht auf der Welle, 

Die sich an deinem Fufi bricht, solange er 

Im Wasser steht, werden sich 

Neue Wellen an ihm brechen.« 

Wenn aber der Strom der Dinge an diesem Fels des Staunens 
sich bricht, so ist kein Unterschied zwischen einem Menschen- 
leben und einem Wort. Beide sind im epischen Theater nur der 
Kamm der Welle. Es lafit das Dasein aus dem Bett der Zeit hoch 
aufspriihen und schillernd einen Nu im Leeren stehen, um es 
neu zu betten. 



53* 

Was ist das epische Theater? (z) 

I. Das entspannte Publikum 

»Nichts Schoneres als auf dem Sofa liegen und einen Roman 
lesen«, heifit es bei einem der Epiker des vorigen Jahrhunderts. 
Damit ist angedeutet, zu wie grofier Entspannung der Genie- 
fiende es vor einem erzahlenden Werk bringen kann. Die Vor- 
stellung, die man sich von dem macht, der einem Drama bei- 
wohnt, pflegt etwa die gegenteilige zu sein. Man denkt an einen 
Mann, der mit alien Fibern, angespannt, einem Vorgang folgt. 
Der Begriff des epischen Theaters (den Brecht als Theoretiker 
seiner poetischen Praxis gebildet hat) deutet vor allem an, dieses 
Theater wiinsche sich ein entspanntes, der Handlung gelockert 
folgendes Publikum. Es wird freilich immer als Kollektiv auf- 
treten, und das unterscheidet es von dem Lesenden, der mit 
seinem Text allein ist. Auch wird sich dies Publikum, eben als 
Kollektiv, meist zu prompter Stellungnahme veranlafit sehen. 
Aber diese Stellungnahme, so denkt sich Brecht, sollte eine iiber- 
legte, damit entspannte, kurz gesagt die von Interessenten sein. 
Fur ihren Anteil ist ein doppelter Gegenstand vorgesehen. Er- 
stens die Vorgange; sie miissen von der Art sein, dafi sie aus 
der Erfahrung des Publikums an entscheidenden Stellen zu 
kontrollieren sind. Zweitens die Auffuhrung; ihrer artistischen 
Armatur nach ist sie durchsichtig zu gestalten. (Diese Gestal- 
tung steht durchaus im Gegensatz zur »Schlichtheit«; sie setzt 
in Wirklichkeit Kunstverstand und Scharfsinn beim Regisseur 
voraus.) Das epische Theater richtet sich an Interessenten, »die 
ohne Grund nicht denken«. Brecht verliert die Massen nicht aus 
dem Auge, deren bedingter Gebrauch des Denkens wohl mit 
dieser Formel zu decken ist. In dem Bestreben, sein Publikum J 
fachmannisch, jedoch ganz und gar nicht auf dem Wege iiber/ 
die blofie Bildung, am Theater zu interessieren, setzt sich ein] 
politischer Wille durch. 

//. Die Fabel 

Das epische Theater soil »die Biihne ihrer stofflichen Sensatio 
berauben«. Daher wird eine alte Fabel ihm oft mehr als eii 



Was ist das episdie Theater? (2) 533 

neue leisten. Brecht hat sich die Frage vorgelegt, ob nicht die 
Vorgange, die das episdie Theater darstellt, schon bekannt sein 
miifiten. Es verhielte sich zur Fabel wie der Ballettmeister zur 
Elevin; sein erstes ware, ihr die Gelenke bis an die Grenze des 
Moglichen aufzulockern. (Das chinesische Theater geht in der 
Tat so vor. Brecht hat in »The Fourth Wall of China« [Life and 
Letters To-day, Vol. XV, No. 6, 1936] dargestellt, was er 
ihm zu verdanken hat.) Soil das Theater nach bekannten Ereig- 
nissen Ausschau halten, so »waren geschichtlidie Vorgange zu- 
nachst am geeignetsten«. Ihre epische Streckung durch die Spiel- 
weise, die Plakate und die Beschriftungen geht darauf aus, 
ihnen den Charakter der Sensation auszutreiben. 
Derart macht Brecht in seinem letzten Snick das Leben des Gali- 
lei zu seinem Gegenstand. Brecht stellt Galilei vor allem als 
grofien Lehrer dar. Galilei lehrt nicht nur eine neue Physik, son- 
dern er lehrt sie auf neue Weise. Das Experiment wird in seiner 
Hand nicht nur eine Eroberung der Wissenschaft sondern eine 
der Padagogik. Nicht auf dem Widerruf Galileis liegt der 
Hauptakzent dieses Stiicks. Vielmehr ist der wirklich epische 
Vorgang in dem zu suchen, was aus der Beschriftung des vor- 
letzten Bildes ersichtlich ist: »i633~i642. Als Gefangener der 
Inquisition setzt Galilei bis zu seinem Tode seine wissenschaft- 
lichen Arbeiten fort. Es gelingt ihm, seine Hauptwerke aus 
Italien herauszuschmuggeln.« 

Dieses Theater ist auf ganz andere Art mit dem Zeitverlaufe im 
Bund als das tragische. Weil die Spannung weniger dem Aus- 
gang gilt als den Begebenheiten im einzelnen, kann es die 
weitesten Zeitraume iiberspannen. (Ebenso geschah das einst 
im Mysterienspiel. Die Dramaturgic des »Odipus« oder der 
»Wildente« bietet den Gegenpol zu der epischen.) 

III. Der untragische Held 

Die klassische Biihne der Franzosen machte zwischen den Spie- 
lern den Standespersonen Platz, welche auf der offenen Szene 
ihre Fauteuils hatten. Uns kommt das unangebracht vor. Ahn- 
lich unangebracht erschiene es nach dem Begriff vom »Dramati- 
schen«, der uns vom Theater gelaufig ist, einen unbeteiligten 
Dritten als niichternen Beobachter, als den »Denkenden« den 



534 Literarische und asthetische Essays 

Vorgangen auf der Buhne beizuordnen. Etwas Ahnliches hat 
Brecht vielfach vorgesdiwebt. Man kann weitergehen und sa- 
gen, dafi der Versuch, den Denkenden, ja den Weisen zum 
dramatischen Helden selbst zu machen, von Brecht unternom- 
men wurde. Und man kann gerade von hier aus sein Theater als 
episches definieren. Am weitesten vorgetrieben wurde dieser 
Versuch in der Figur Galy Gays, des Packers. Galy Gay, der 
Held des Stuckes »Mann ist Mann«, ist nichts als ein Schauplatz 
der Widerspriiche, welche unsere Gesellschaft ausmachen. Vlel- 
leicht ist es im Sinne Brechts nicht zu kiihn, den Weisen als den 
vollkommenen Schauplatz ihrer Dialektik anzusprechen. Jeden- 
falls ist Galy Gay ein Weiser. Nun hat schon Platon das Un- 
dramatische des hochsten Menschen, des Weisen, sehr wohl 
erkannt. Er hat ihn in seinen Dialogen an die Schwelle des Dra- 
mas herangefuhrt - im »Phadon« an die Schwelle des Passions- 
spieles. Der mittelalterliche Christus, der, wie wir das bei den 
Kirchenyatern finden, den Weisen mitvertrat, ist der untragische 
Held par excellence. Aber audi im weltlichen Drama des 
Abendlandes hat die Suche nach dem untragischen Helden nie 
aufgehort. Oft im Zwiespalt mit seinen Theoretikern, hat 
dieses Drama von der authentischen Gestalt der Tragik, das ist 
von der griechischen, sich auf immer wieder neue Art abgehoben. 
Diese wichtige aber schlecht markierte Strafie (die hier als Bild 
einer Tradition stehen mag) zog sich im Mittelalter uber Hros- 
witha und die Mysterien; im Barock iiber Gryphius und Calde- 
ron. Spater zeichnete sie sich bei Lenz und Grabbe ab und 
zuletzt bei Strindberg. Shakespearsche Auftritte stehen als 
Monumente an ihrem Rand und Goethe hat sie im zweiten Teil 
des » Faust « gekreuzt. Es ist eine europaische, aber audi eine 
deutsche Strafie. Wenn anders von einer Strafie die Rede sein 
kann, und nicht vielmehr von einem Pasch- und Schleichpfad, 
auf dem das Vermachtnis des mittelalterlichen und barocken 
Dramas an uns gelangt ist. Dieser Saumpfad tritt heute, wie 
struppig und verwildert immer, in den Dramen von Brecht zu- 
tage. 

IV, Die Unterbrechnng 

Brecht setzt sein Theater als episches gegen das im engern Sinne 
dramatische ab, dessen Theorie Aristoteles formulierte. Darum 



Was ist das episdie Theater? (2) 535 

fiihrt Bredit die entsprechende Dramaturgic als die nicht-aristo- 
telische ein wie Riemann eine nicht-euklidische Geometrie ein- 
fuhrte. Diese Analogie mag verdeutlichen, dafi es sich nidit urn 
ein Konkurrenzverhaltnis zwischen den fraglichen Formen der 
Buhne handelt. Bei Riemann fiel das Parallelenaxiom fort. Was 
in der Brechtschen Dramatik wegfiel, das war die aristotelische 
Katharsis, die Abfuhr der ArTekte durch Einfiihlung in das be- 
wegende Geschick des Helden. 

Das entspannte Interesse des Publikums, welchem die Auffiih- 
rungen des epischen Theaters zugedacht sind, hat seine Beson- 
derheit eben darin, dafi an das Einfiihlungsvermogen der Zu- 
schauer kaum appelliert wird. Die Kunst des episdien Theaters 
ist vielmehr, an der Stelle der Einfiihlung das Staunen her- 
vorzurufen. Formelhaft ausgedriickt: statt in den Helden sich 
einzufiihlen, soil das Publikum vielmehr das Staunen iiber die 
Verhaltnisse lernen, in denen er sich bewegt. 
Das epische Theater, meint Brecht, hat nicht so sehr Handlun- 
gen zu entwickeln, als Zustande darzustellen. Darstellung ist 
aber hier nicht Wiedergabe im Sinne der naturalistischen Theo- 
retiker. Es handelt sich vielmehr vor allem darum, die Zustande 
erst einmal zu entdecken. (Man konnte ebensowohl sagen: sie zu 
verfremden.) Diese Entdeckung (Verfremdung) von Zustanden 
vollzieht sich mittels der Unterbrechung von Ablaufen. Das 
primitivste Beispiel: eine Familienszene. Plotzlich tritt ein 
Fremder ein. Die Frau war gerade im Begriff, eine Bronze zu 
ergreifen, um sie nach der Tochter zu schleudern; der Vater im 
Begriff, das Fenster zu offnen, um nach einem Schutzmann zu 
rufen. In diesem Augenblick erscheint in der Tiir der Fremde. 
»Tableau« - wie man um 1900 zu sagen pflegte. Das heifit: 
Der Fremde wird mit dem Zustande konfrontiert; verstorte 
Mienen, offenes Fenster, verwiistetes Mobiliar. Es gibt aber einen 
Blick, vor dem audi gewohntere Szenen des burgerlichen Lebens 
sich nicht so viel anders ausnehmen. 



V. Der zitierbare Gestus 

»Jeglichen Satzes Wirkung«, heifit es in einem dramaturgischen 
Lehrgedicht von Brecht, »wurde abgewartet und aufgedeckt. 
Und abgewartet wurde, bis die Menge die Satze auf die Waag- 



536 Literarisdbe und asthetische Essays 

schale gelegt hatte.« Kurz, das Spiel wurde unterbrochen. Man 
darf hier weiter ausgreifen und sich darauf besinnen, dafi das 
Unterbrechen eines der fundamentalen Verfahren aller Form- 
gebung ist. Es reicht iiber den Bezirk der Kunst weit hinaus. 
Es liegt, urn nur eines herauszugreifen, dem Zitat zugrunde. 
Einen Text zitieren, schliefit ein; seinen Zusammenhang unter- 
brechen. Es ist daher wohl verstandlich, dafi das epische Theater, 
das auf die Unterbrechung gestellt ist, ein in spezifischem Sinne 
zitierbares ist. Die Zitierbarkeit seiner Texte hatte nichts Beson- 
deres. Anders steht es mit den Gesten, die im Verlaufe des Spiels 
am Platze sind. 

»Gesten zitierbar zu machen« ist eine der wesentlichen Leistun- 
gen des episdien Theaters. Seine Gebarden mufi der Schauspieler 
sperren konnen wie ein Setzer die Worte. Dieser Effekt kann 
zum Beispiel dadurch erreicht werden, dafi auf der Szene der 
Schauspieler seinen Gestus selbst zitiert. So verfolgte man in 
»Happy End«, wie die Neher in der Rolle einer Sergeantin der 
Heilsarmee, die in einer Seemannskneipe ein Lied, das besser 
dorthin als in die Kirche pafit, um Proselyten zu machen, ge- 
sungen hatte, dieses Lied und den Gestus, mit dem sie es sang, 
vor einem Konsilium der Heilsarmee zu zitieren hatte. So wird 
in der »Mafinahme« nicht nur der Bericht der Kommunisten, 
sondern durch deren Spiel audi eine Reihe von Gesten des Ge- 
nossen, gegen den sie vorgingen, vor das Parteitribunal ge- 
bracht. Was im episdien Drama iiberhaupt ein Kunstmittel der 
subtilsten Art ist, wird im besondern Fall des Lehrstiicks zu 
einem der nachsten Zwecke. Im ubrigen ist das epische Theater 
per definitionem ein gestisches. Denn Gesten erhalten wir um so 
mehr, je haufiger wir einen Handelnden unterbrechen. 

VI. Das Lehrstiick 

Zugedacht ist das epische Theater in jedem Fall genausogut den 
Spielenden wie den Zuschauern. Das Lehrstiick hebt sich als Son- 
derfall im wesentlichen dadurch heraus, dafi es durch besondere 
Armut des Apparates die Auswechslung des Publikums mit den 
Akteuren, der Akteure mit dem Publikum vereinfacht und nahe- 
legt. Jeder Zuschauer wird Mitspieler werden konnen. Und in der 
Tat ist es leichter, den »Lehrer« zu spielen als den »Helden«. 



Was ist das epische Theater? (2) 537 

In der ersten Fassung des »Lindberghflugs«, die in einem Maga- 
zin publiziert wurde, figurierte der Flieger noch als Held. Sie 
war seiner Verherrlichung zugedacht. Die zweite Fassung ver- 
dankt - das ist aufschlufireich - ihr Entstehen einer Selbst- 
korrektur von Brecht. - Welche Begeisterung durdilief nicht die 
beiden Kontinente in den Tagen, die diesem Fluge folgten. Aber 
sie verpuffte als Sensation. Brecht bemiiht sich, im »Flug der 
Lindberghs « das Spektrum des »Erlebnisses« zu zerlegen, um 
ihm die Farben der »Erfahrung« abzugewinnen. Der Erfah- 
rung, die nur aus Lindberghs Arbeit, nicht aus der Erregung des 
Publikums zu schopfen war und »den Lindberghs« zugefiihrt 
werden sollte. 

T. E. Lawrence, der Verfasser der »Sieben Saulen der Weisheit«, 
schrieb, als er zur Fliegertruppe ging, an Robert Graves, dieser 
Schritt set fur den Menschen von heute, was fur den mittelalter- 
lichen der Eintritt in ein Kloster gewesen sei. In dieser Aufierung 
findet man die Bogenspannung wieder, die dem »Flug der Lind- 
berghs«, aber audi den spateren Lehrstiicken eigen ist. Eine 
klerikale Strenge wird der Unterweisung in einer neuzeitlichen 
Technik zugewandt - hier der im Flugwesen, spater der im 
Klassenkampf. Diese zweite Verwertung ist in der » Mutter « 
am umfassendsten durchgebildet. Es war kiihn, gerade ein 
soziales Drama von den Wirkungen freizuhalten, die die Ein- 
fuhlung mit sich fiihrt und die sein Publikum so gewohnt war. 
Brecht weifi das; er spricht es in einem Brief gedicht aus, das er 
anlafilich der Neuyorker Auffuhrung dieses Stiickes an die 
dortige Arbeiterbuhne gerichtet hat: Es »fragten uns etliche: 
Wird der Arbeiter euch auch verstehen? Wird er verzichten auf 
das gewohnte Rauschgift, die Teilnahme im Geiste an fremder 
Emporung, an dem Aufstieg der anderen; auf all die Illusion, die 
ihn aufpeitscht fiir zwei Stunden und erschopfter zuriicklafit, 
erfiillt mit vager Erinnerung und vagerer HofFnung?« 

VII. Der Scbauspieler 

Das epische Theater riickt, den Bildern des Filmstreifens ver- 
gleichbar, in Stofien vor. Seine Grundform ist die des Chocks, 
mit dem die einzelnen, wohlabgehobenen Situationen des Stiicks 
aufeinandertreffen. Die Songs, die Beschriftungen, die gestischen 



53^ Literarische und asthetische Essays 

Konventionen heben eine Situation gegen die andere ab. So 
entstehen Intervalle, die die Illusion des Publikums eher be- 
eintrachtigen. Sie lahmen seine Bereitscfaaft zur Einfiihlung. 
Diese Intervalle sind seiner kritisdien Stellungnahme (zum 
dargestellten Verhalten der Personen und zu der Art, in der 
es dargestellt wird) vorbehalten. Was die Art der Darstellung 
angeht, so besteht die Aufgabe des Schauspielers im epischen 
Theater darin, in seinem Spiel auszuweisen, dafi er seinen 
kiihlen Kopf behalt. Audi fiir ihn ist Einfiihlung kaum ver- 
wendbar. Fiir solche Spielweise ist der »Schauspieler« des dra- 
matischen Theaters nicht immer in allem vorbereitet. An Hand 
der Vorstellung des »Theaterspielens« kann man dem epischen 
Theater vielleicht am unbefangensten nahekommen. 
Brecht sagt: »Der Schauspieler mufi eine Sache zeigen und er 
mufi sich zeigen. Er zeigt die Sache natiirlich, indem er sich 
zeigt; und er zeigt sich, indem er die Sache zeigt. Obwohl dies 
zusammenfallt, darf es doch nicht so zusammenfallen, dafi der 
Unterschied zwischen diesen beiden Aufgaben verschwindet.« 
Mit andern Worten: Der Schauspieler soil sich die Moglichkeit 
vorbehalten, mit Kunst aus der Rolle zu fallen. Er soil es sich, 
im gsgebenen Moment, nicht nehmen lassen, den (iiber seinen 
Part) Nachdenkenden vorzumachen. Mit Unrecht wiirde man 
sich in solchem Moment an die romantische Ironie erinnert 
fiihlen, wie zum Beispiel Tieck sie im »Gestiefelten Kater« hand- 
habt. Diese hat kein Lehrziel; sie weist im Grunde nur die 
philosophisdie Informiertheit des Autors aus, dem beim Stiicke- 
schreiben immer gegen wartig bleibt: Die Welt mag am Ende 
wohl audi ein Theater sein. 

Zwanglos wird gerade die Art des Spiels auf dem epischen Thea- 
ter erkennen lassen, wie sehr in diesem Felde das artistische 
Interesse mit dem politischen identisch ist. Man denke an Brechts 
Zyklus: »Furcht und Elend des Dritten Reiches«. Leicht ist ein- 
zusehen, dafi die Aufgabe, einen SS-Mann oder ein Mitglied des 
Volksgerichtshofs nachzumachen, fiir den deutschen Schauspieler 
im Exil, dem sie zufiele, etwas grundsatzlich anderes zu bedeuten 
hatte als etwa fiir einen guten Familienvater der Auftrag, 
Molieres Don Juan zu verkorpern. Fiir den ersteren kann die 
Einfiihlung schwerlich als ein geeignetes Verfahren betrachtet 
werden - wie es denn eine Einfiihlung in den Morder seiner 



Kommentare zu Gedichten von Brecht 539 

Mitkampfer fiir ihn nicht wird geben konnen. Einem andern, 
distanzierenden Modus der Darstellung konnte in solchen Fal- 
len ein neues Recht und vielleicht ein besonderes Gelingen wer- 
den. Dieser Modus ware der epische. 

VIII. Das Theater auf dem Podium 

Worum es dem epischen Theater zu tun ist, lafit sich vom Be- 
griff der Biihne her leichter definieren als vom Begriff* eines 
neuen Dramas her. Das epische Theater tragt einem Umstand 
Rechnung, den man zu wenig beachtet hat. Er kann als die Ver- 
schiittung der Orchestra bezeichnet werden. Der Abgrund, der 
die Spieler vom Publikum wie die Toten von den Lebendigen 
scheidet, der Abgrund, dessen Schweigen im Schauspiel die Er- 
habenheit, dessen Klingen in der Oper den Rausch steigert, 
dieser Abgrund, der unter alien Elementen der Biihne die 
Spuren ihres sakralen Ursprungs am unverwischbarsten tragt, 
hat an Bedeutung immer mehr eingebiifit. Noch liegt die Biihne 
erhoht. Aber sie steigt nicht mehr aus einer unermefilichen Tiefe 
auf: sie ist Podium geworden. Lehrstiick und episches Theater 
sind ein Versuch, auf diesem Podium sich einzurichten. 



Kommentare zu Gedichten von Brecht 



Zur Form de$ Kommentars 

Es ist bekannt, dafi ein Kommentar etwas anderes ist als eine 
abwagende, Licht und Schatten verteilende Wurdigung. Der 
Kommentar geht von der Klassizitat seines Textes und damit 
gleichsam von einem Vorurteil aus. Es unterscheidet ihn weiter 
von der Wiirdigung, dafi er es mit der Schonheit und dem posi- 
tiven Gehalt seines Textes allein zu tun hat. Und es ist ein sehr 
dialektischer Sachverhalt, der diese archaische Form, den Kom- 
mentar, der zugleich eine autoritare Form ist, im Dienste einer 
Dichtung in Anspruch nimmt, die nicht allein nichts Archaisches 
an sich hat sondern auch dem, dem heute Autoritat zuerkannt 
wird, die Stirne bietet. 



540 Literarische und asthetische Essays 

Dieser Sachverhalt koinzidiert mit dem, den eine alte Maxime 
der Dialektik ins Auge fafit: Oberwindung von Schwierigem 
durch Haufung desselben. Die Schwierigkeit, die hier zu uber- 
winden ist, besteht darin, Lyrik heut iiberhaupt zu lesen. Wie 
nun, wenn sich diese Schwierigkeit damit parieren liefie, einen 
solchen Text vollends so zu lesen, als handle es sich um einen 
vielerprobten, mit Gedankengehalt beschwerten - kurz: klas- 
sischen? Wie weiter, wenn man, den Stier bei den Hornern 
packend und des besonderen Umstandes eingedenk, der der 
Schwierigkeit, heute Lyrik zu lesen, genau entspricht: der 
Schwierigkeit namlich, Lyrik heut zu verfassen - wie wenn 
man eine heutige lyrische Sammlung dem Unternehmen zu- 
grunde legte, Lyrisches wie einen klassischen Text zu lesen? 
Wenn etwas zu solchem Versuche ermutigen kann, so ist es die 
Erkenntnis, aus der audi sonst der Mut der Verzweiflung der- 
zeit zu schopfen ist: dafi namlich schon der kommende Tag 
Vernichtungen von so riesigem Ausmafi bringen kann, dafi 
wir von gestrigen Texten und Produktionen wie durch Jahr- 
hunderte uns geschieden sehen. (Der Kommentar, der heute 
noch zu prall ansitzt, kann morgen schon klassische Falten wer- 
fen. Wo seine Prazision fast indezent wirken konnte, kann 
morgen das Geheimnis sich retabliert haben.) 
Der folgende Kommentar kann vielleicht noch von einer andern 
Seite Interesse wecken. Solchen Leuten, welchen der Kommunis- 
mus das Stigma der Einseitigkeit zu tragen scheint, mag die 
genauere Lektiire einer Gedichtsammlung wie der Brechts eine 
Oberraschung bereiten. Man darf sich freilich um eine solche 
Oberraschung nicht selber bringen, wie es geschahe, wenn man 
nur die >Entwicklung<, welche die Lyrik Brechts von der »Haus- 
postille« bis zu den »Svendborger Gedichten« genommen hat, 
betont. Die asoziale Haltung der »Hauspostille« wird in den 
»Svendborger Gedichten« zu einer sozialen Haltung. Aber das 
ist nicht gerade eine Bekehrung. Es wird da nicht verbrannt, was 
zuerst angebetet wurde. Eher ist auf das den Gedichtsammlun- 
gen Gemeinsame zu verweisen. Unter ihren mannigfaltigen 
Haltungen wird man eine vergebens suchen, das ist die unpoli- 
tische, nicht-soziale. Dem Kommentar ist es angelegen, die poli- 
tischen Inhalte gerade rein lyrischer Partien herauszustellen. 



Kommentare zu Gediditen von Brecht 541 

Zur »Hauspo$tille« 

Es versteht sich, dafi der Titel »Hauspostille« ironisch ist. Ihr 
Wort kommt nicht vom Sinai nocii von den Evangelien. Die 
Quelle ihrer Inspiration ist die burgerliche Gesellschaft. Die 
Lehren, die ihr Betrachter aus ihr zieht, unterscheiden sich so 
weitgehend wie nur moglich von den Lehren, welche sie selbst 
verbreitet. Die »Hauspostille« hat es mit den ersteren allein zu 
tun. Wenn Anarchie Trumpf ist, so denkt der Dichter, wenn in 
ihr das Gesetz des biirgerlichen Lebens beschlossen ist, dann soil 
sie wenigstens beim Namen genannt werden. Und die poetischen 
Formen, mit denen die Bourgeoisie ihre Existenz umspielt, sind 
ihm nicht zu gut, das Wesen ihrer Herrschaft unverstellt auszu- 
sprechen. Der Choral, mit dem die Gemeinde erbaut wird, das 
Volkslied, mit dem das Volk abgespeist werden soil, die vater- 
landische Ballade, die den Soldaten zur Schlachtbank begleitet, 
das Liebeslied, das den billigsten Trost anpreist - sie alle be- 
kommen hier einen neuen Inhalt, indem der verantwortungslose 
und asoziale Mensch von diesen Dingen (von Gott, Volk, Hei- 
mat und von der Braut) so spricht, wie man vor Verantwor- 
tungslosen und Asozialen von ihnen zu sprechen hat: ohne fal- 
sche und ohne echte Scham. 

Z u d e n »M ahagonnygesangen« 
Mahagonnygesang Nr. 2 

Wer in Mahagonny blieb 
Brauchte jeden Tag flinf Dollar 
Und wenn er's besonders trieb 
Brauchte er vielleicht noch extra, 
Aber damals blieben alle 
In Mahagonnys Poker drinksaloon 
Sie verloren in jedem Falle 
Dock sie hatten was davon. 

1 
Auf der See und am Land 
Werden alien Leuten ihre Haute abgezogen 
Darum sitzen alle Leute 
Und verkaufen alle Haute 



542 Literarische und asthetische Essays 

Denn die Haute werden jederzeit mit Dollars 

aufgewogen. 
Wer in Mahagonny blieb 
Brauchte jeden Tag fiinf Dollar 
Und wenn er's besonders trieb 
Brauchte er vielleicht noch extra. 
Aber damals blieben alle 
In Mahagonnys Poker drinksaloon 
Sie verloren in jedem Falle 
Doch sie hatten was davon. 

2 

Auf der See und am Land 

1st drum der Verbraucb von frischen Hauten 

ungeheuer 
Immer beifit es euch im Fleische 
Doch wer zahlt euch eure Rduschef 
Denn die Haute, die sind billig, und der Whisky, 

der ist teuer. 

Wer in Mahagonny blieb 

Brauchte jeden Tag fiinf Dollar 

Und wenn er y s besonders trieb 

Brauchte er vielleicht noch extra. 

Aber damals blieben alle 

In Mahagonnys Poker drinksaloon 

Sie verloren in jedem Falle 

Doch sie hatten was davon. 

3 
Auf der See und am Land 

Siehet man die vielen Gottesmiihlen langsam 

mahlen 
Und drum sitzen viele Leute 
Und verkaufen viele Haute 
Denn sie wolln so gem bar leben und so ungern 

bar bezahlen. 

Wer in seinem Kober bleibt 

Braucht nicht jeden Tag fiinf Dollar 

Und falls er nicht unbeweibt 

Braucht er auch vielleicht nicht extra. 



Kommentare zu Gedichten von Brecht 543 

Aber heute sitzen alle 
In des lieben Gottes billigem Salon 
Sie gewinnen in jedem Falle 
Und sie haben nicbts davon. 

Mahagonny gesang Nr. 3 

An einem grauen Vormittag 

Mitten im Whisky 

Kam Gott nach Mahagonny 

Kam Gott nach Mahagonny. 

Mitten im Whisky 

Bemerkten wir Gott in Mahagonny, 

1 
Saufl ihr wie die Schwamme 
Meinen guten Weizen Jahr filr Jahrf 
Keiner hat erwartet, daft ich kame 
Wenn ich komme jetzt, ist alles gar? 
Ansahen sich die Manner von Mahagonny* 
Ja, sagten die Manner von Mahagonny. 

An einem grauen Vormittag 

Mitten im Whisky 

Kam Gott nach Mahagonny 

Kam Gott nach Mahagonny. 

Mitten im Whisky 

Bemerkten wir Gott in Mahagonny. 



Lachtet ihr am Freitag abend? 

Mary Weemann sah ich ganz von fern 

Wie 3 nen Stockfisch stumm im Salzsee schwimmen 

Sie wird nicht mehr trocken s meine Herrn. 

Ansahen sich die Manner von Mahagonny. 

Ja, sagten die Manner von Mahagonny. 

An einem grauen Vormittag 

Mitten im Whisky 

Kam Gott nach Mahagonny 

Kam Gott nach Mahagonny. 

Mitten im Whisky 

Bemerkten wir Gott in Mahagonny. 



544 Literarische und asthetisdie Essays 

3 

Kennt ihr diese Patronenf 

Schiefit ihr meinen guten Missionarf 

Soil ich wohl mit euch im Himmel wohnen 

Sehen euer graues Sauferhaar? 

Ansahen sich die Manner von Mahagonny. 

Ja, sagten die Manner von Mahagonny. 

An einem grauen Vormittag 

Mitten im Whisky 

Kam Gott nach Mahagonny 

Kam Gott nach Mahagonny. 

Mitten im Whisky 

Bemerkten wir Gott in Mahagonny. 

4 
Gehet alle zur Holle 
Steckt jetzt die Virginien in den Sack! 
Marsch mit euch in meine Holle, Burschen 
In die schwarze Holle mit euch Pack! 
Ansahen sich die Manner von Mahagonny. 
]a, sagten die Manner von Mahagonny. 

An einem grauen Vormittag 

Mitten im Whisky 

Kommst du nach Mahagonny, 

Kommst du nach Mahagonny. 

Mitten im Whisky 

F'dngst an du in Mahagonny! 

$ 

Ruhre keiner den Fuji jetzt! 
Jedermann streikt! An den Haaren 
Kannst du uns nicht in die Holle Ziehen: 
We il wir immer in der Holle 

w ar en . 
Ansahen Gott die Manner von Mahagonny. 
Nein, sagten die Manner von Mahagonny. 

Die »Manner von Mahagonny« bilden eine Exzentriktruppe. 
Nur Manner sind Exzentriks. Nur an Subjekten, denen von 
Hause aus mannliche Potenz zukommt, kann uneingeschrankt 



Kommentare zu Gedichten von Bredit 545 

demonstriert werden, bis zu welchem Grade die naturlichen 
Reflexe des Menschen durch sein Dasein in der heutigen Gesell- 
schaft abgestumpft worden sind. Der Exzentrik ist nichts anderes 
als der ausgeleierte Durchschnittsmensch. Brecht hat mehrere 
zu einer Truppe zusammengefafit. Ihre Reaktionen sind die 
denkbar verwaschensten, und audi die bringen sie nur als Kol- 
lektivum auf. Um iiberhaupt reagieren zu konnen, miissen sie 
sich als >kompakte Masse< fiihlen - audi darin das Ebenbild 
des Durchschnittsmenschen alias Kleinbiirgers. Die » Manner von 
Mahagonny« sehen einander an, bevor sie sich aufiern. Die 
Aufierung, die dann erfolgt, liegt auf der Linie des geringsten 
Widerstandes. Die » Manner von Mahagonny« beschranken sich 
darauf, zu allem ja zu sagen, was Gott ihnen mitteilt, was Gott 
sie fragt oder was Gott ihnen zumutet. So mufi wohl, nach 
Brecht, das Kollektivum, von dem Gott akzeptiert wird, be- 
schaffen sein. Dieser Gott ist iibrigens selbst ein reduzierter. 
Die Formulierung 

Bemerkten wir Gott 

im Refrain des dritten Gesanges deutet das an, und seine letzte 

Strophe bekraftigt es. 

Das erste Einverstandnis findet sich zu der Feststellung 

Keiner hat erwartet, dafi ich kame. 

Es ist aber offenbar, dafi den abgestumpften Reaktionen der 
Mahagonny-Truppe auch der Uberraschungseffekt nicht auf- 
hilft. Ahnlich erscheint es ihr spater einleuchtend, dafi ihr An- 
spruch, in den Himmel zu kommen, dadurch, dafi sie auf den 
Missionar geschossen hat, nicht gemindert wird. In der vierten 
Strophe stellt sich heraus, dafi Gott anderer Ansicht ist. 

Marsch mit euch in meine Holle, Burschen! 

Hier liegt das Gelenk, dramaturgisch gesprochen die Peripetie, 
des Gedichts. Gott hat mit seinem Befehl einen faux pas began- 
gen. Um dessen Tragweite zu ermessen, mufi man sich die 
Lokalitat »Mahagonny« genauer vor Augen fiihren. In der 
Schlufistrophe des zweiten Mahagonny-Gesangs ist sie festge- 
legt. Und zwar spricht der Dichter im Bilde dieser Ortsbestim- 
mung seine Epoche an. 



H*> Literarische und asthetische Essays 

Aber heute sitzen alle 

In des lieben Gottes billigem Salon. 

In dem Beiwort >billig< liegt ziemlich viel. Warum ist der Salon 
billig? Er ist billig, weil die Leute darin auf billige Art bei Gott 
zu Gaste sind. Er ist billig, weil die Leute darinnen alles billigen. 
Er ist billig, weil es billig ist, dafi die Leute hineinkommen. Des 
lieben Gottes billiger Salon ist die Holle. Der Ausdruck hat die 
Pragnanz der Bilder von Geisteskranken. So - als einen billi- 
gen Salon - malt sich der kleine Mann, einmal verriickt gewor- 
den, leicht die Holle als das ihm zugangliche Stiick vom Him- 
mel aus. (Abraham a Santa Clara konnte von des »lieben 
Gottes billigem Salon« reden.) In seinem billigen Salon hat sich 
aber Gott mit den Stammgasten gemein gemacht. Seine Drohung, 
sie in die Holle zu schicken, hat nicht mehr Wert als die des 
Destillateurs, seine Kunden herauszuschmeifien. 
Die » Manner von Mahagonny« haben das erfafit. So hirnlos 
sind selbst sie nicht, dafi ihnen die Drohung, sie in die Holle zu 
befordern, Eindruck machen konnte. Die Anarchie der biirger- 
lichen Gesellschaft ist eine infernalische. Fiir die Menschen, die in 
sie hineingeraten sind, kann es etwas, was ihnen grofieren Schrek- 
ken als diese einfldfit, einfach nicht geben. 

An den Haaren 
Kannst du uns nicht in die Holle ziehen: 
Weil wir immer in der Holle waren 

sagt das dritte Mahagonnygedicht. Die ganze Differenz zwi- 
schen der Holle und dieser Gesellschaftsordnung ist die, dafi 
im Kleinbiirger (im Exzentrik) der Unterschied zwischen der 
armen Seele und dem Teufel fliefiend ist. 



Zu dem Gedicht »Gegen Verfiihrung« 
Gegen VerfUhrung 

i 
Lajit euch nicht verfiihren! 
Es gibt keine Wiederkehr. 
Der Tag steht in den Turen; 



Kommentare zu Gedichten von Brecht 547 

Ihr konnt schon Nachtwind spuren: 
Es kommt kein Morgen mehr. 

2 

Lafit euch nicht betriigen! 
Das Leben wenig ist. 
Schlurfl es in vollen Zugenl 
Es wird euch nicht genugen 
Wenn ihr es lassen mil fit! 

3 
Lafit euch nicht vertrosten! 
Ihr habt nicht zu viel Zeitf 
Lajit Moder den Erlosten! 
Das Leben ist am grofiten: 
Es steht nicht mehr bereit. 

4 
Lajit euch nicht verfilhren! 
Zu Fron und Ausgezehr! 
Was kann euch Angst noch ruhren? 
Ihr sterbt mit alien Tieren 
Und es kommt nichts nacbher. 

Der Dichter ist aufgewadisen in einer Vorstadt mit vorwiegend 
katholischer Bevolkerung; jedoch mischten sich mit den klein- 
burgerlichen Elementen schon die Arbeiter der groften Fabriken, 
die im Weichbild der Stadt lagen. Daraus erklart sich Haltung 
und Vokabular des Gedichts »Gegen Verfuhrung«. Die Leute 
wurden von der Geistlichkeit vor den Verfuhrungen gewarnt, 
welche sie in einem zweiten Leben nach dem Tode teuer zu 
stehen kommen wurden. Der Dichter warnt sie vor Verfuhrun- 
gen, die sie in diesem Leben teuer zu stehen kommen. Er be- 
streitet, daft es ein zweites Leben gabe. Seine Warnung ist nicht 
weniger feierlich gehalten als die der Geistlichkeit; seine Ver- 
sicherungen sind ebenso apodiktisch. Wie die Geistlichkeit, so 
gebraucht audi er den BegrifF der Verfuhrung absolut, ohne 
Zusatz; er ubernimmt dessen erbauliche Klangfarbe. Der ge- 
tragene Ton des Gedichts kann dazu verleiten, iiber einzelne 
Passagen hinwegzulesen, die mehrere Auslegungen ermoglichen 
und verborgene Schonheiten in sich schliefien. 



54^ Literarische und asthetische Essays 

Es gibt keine Wiederkehr. 

Erste Auslegung: lafit euch nicht zu dem Glauben verfiihren, es 
gabe Wiederkehr. Zweite Auslegung: begeht keinen Fehler, das 
Leben ist euch nur einmal gegeben. 

Der Tag steht in den Tiiren. 

Erste Auslegung: zum Gehen gewandt, scheidend. Zweite Aus- 
legung: mitten in seiner Fiille (und doch audi in ihr schon der 
Nachtwind spurbar). 

Es kommt kein Morgen mehr. 

Erste Auslegung: kein morgiger Tag. Zweite Auslegung: keine 
Friihe, die Nacht hat das letzte Wort. 

»Dafl Leben wenig ist.« 

Diese Fassung des Privatdrucks bei Kiepenheuer unterscheidet 
sich durch zweierlei von der Fassung der spateren offentlichen 
Ausgabe »Das Leben wenig ist«. Der erste Unterschied besteht 
darin, dafi sie den ersten Vers der Strophe »Lafit euch nicht 
betriigen« ausdefiniert, indem sie die These der Betriiger, dafi 
Leben wenig sei, namhaft macht. Der zweite Unterschied ist 
darin zu erblicken, dafi der Vers »Das Leben wenig ist« unver- 
gleichlich die Kiimmerlichkeit des Lebens ausspricht und so die 
Aufforderung unterstreicht, sich nichts von ihm abmarkten zu 
lassen. 

Es steht nicht mehr bereit. 

Erste Auslegung: »Es steht nicht mehr bereit« - das fugt dem 
vorhergehenden Vers »Das Leben ist am grofiten« nichts hinzu. 
Zweite Auslegung: »Es steht nicht mehr bereit« - diese grofite 
Chance habt ihr schon halb verpafit. Euer Leben steht nicht 
mehr bereit; es ist schon angebrochen und im Spiel eingesetzt. 
Das Gedicht leitet dazu an, sich von der Kiirze des Lebens 
erschiittern zu lassen. Man tut gut, sich darauf zu besinnen, 
dafi das Deutsche in seinem Wort >Erschutterung< das Wort 
>schiitter< stecken hat. Wo etwas zusammensturzt, da ent- 
stehen Briiche und Leerstellen. Wie sich aus der Analyse ergibt, 
hat das Gedicht zahlreiche Stellen, an denen die Worte labil 



Kommentare zu Gedichten von Brecht 549 

und locker zum Sinn zusammentreten. Das leistet seiner er- 
sdiiitternden Wirkung Vorschub. 

Zu dem Gedicht »Von den Siindern in der 
H 6 1 1 e « 

Von den Sundern in der Holle 
J 

Die Sunder in der Holle 
Haben's hei$er t als man glaubt. 
Dock file jit, wenn einer weint um sie 
Die Tran' mild auf ihr Haupt. 

2 

Doch die am drgsten brennen 
Haben keinen, der drum weint 
Die miissen an ihrem Feiertag 
Drum betteln gehn, daft einer greint. 

3 
Doch keiner siebt sie stehen 
Durch die die Winde webn. 
Durch die die Sonne scheint hindurch 
Die kann man nicht mehr sebn. 

4 
Da kommt der MUllereisert 
Der starb in Amerika 
Das wujlte seine Braut noch nicht 
Drum war kein Wasser da. 

5 

Es kommt der Kaspar Neher 
Sobald die Sonne scheint 
Dem batten sie y Gott weiji warum 
Keine Trdne nachgeweint. 

6 
Dann kommt George Pflanzelt 
Ein ungliickseliger Mann 



55° Literarische und asthetische Essays 

Der batte die Idee gehabt 
Es k'dm nicht auf ihn an. 

7 
Und dort die Hebe Marie 
Verfaulet im Spital 
Kriegt keine Trane nachgeweint: 
Der war es zu egal. 

8 
Und dort im Licbte steht Bert Brecht 
An einem Hundestein 
Der kriegt kein Wasser, well man glaubt 
Der mufit im Himmel sein. 

9 
Jetzt brennt er in der Hollen 
Ob, weint ihr Briider meinl 
Sonst steht er am Sonntagnachmittag 
Immer wieder dort an seinem Hundestein. 

An diesem Gedicht ist besonders gut erkennbar, von wie weit 
her der Dichter der »Hauspostille« kommt und wie er, von so 
weit hergekommen, lassig nach dem Nachstliegenden heriiber- 
langt. Das Nachstliegende ist die bayrische Folklore. Das Ge- 
dicht zitiert die Freunde im Hollenfeuer, wie ein Marterl am 
Wege die ohne Sterbesakramente Verschiedenen der Furbitte 
der Voriibergehenden empfiehlt. Das Gedicht aber, das sich 
derart beschrankt anlafit, kommt in Wahrheit von sehr weit 
her. Sein Stammbaum ist der der Klage, eine der grofken For- 
men der mittelalterlichen Literatur. Man kann sagen: auf die 
alte Klage greift es zuruck, um Klage zu erheben uber dies 
Neueste - daft es nicht einmal mehr die Klage gibt. 

Da kommt der Mullereisert 
Der starb in Amerika 
Das wufite seine Braut noch nicht 
Drum war kein Wasser da. 

Das Gedicht beklagt allerdings diese Tranenlosigkeit nicht 
richtig. Man kann audi kaum annehmen, daft der Mullereisert 



Kommentare zu Gedichten von Bredit 5 5 l 

tot ist, weil ihm - nicht seinem Gedachtnis - laut »Anleitung« 
dieser Abschnitt des Buches gewidmet ist. 

Das Marterl, das hier aufgestellt ist, bildet die genannten 
Freunde im Hollenfeuer ab; zugleich aber (beides kann im 
Gediciit vereinbart werden) wendet es sich an sie als Passanten, 
um ihnen in Erinnerung zu rufen, dafi sie keinerlei Ftirbitte zu 
gewartigen hatten. Das malt ihnen der Dichter in aller Ruhe 
aus. Aber seine Ruhe bleibt ihm zuletzt nicht treu. Da kommt 
er auf seine eigene arme Seele zu sprechen, die ein Ausbund von 
Verlassenheit ist. Sie stent im Licht, noch dazu an einem Sonn- 
tagnachmittag und an einem Hundestein. Was das ist, weifi 
man nicht recht; vielleicht ein Stein, gegen den die Hunde das 
Wasser lassen. Der armen Seele ist das etwas so Vertrautes wie 
dem Gefangenen ein feuchter Fleck an der Zellenwand. - 
Beim Dichter soil das Spiel aufhoren, und er bittet, nachdem 
er so viel Schnodigkeit bewiesen hat, freilich schnode, um 
Tranen. 

Zu dem Gedicht »Vom armen B.B.« 
Vom armen B. B. 

i 
Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Waldern. 
Meine Mutter trug mtcb in die Stddte hinein 
Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kalte der W alder 
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein. 

2 

In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang 
Versehen mit jedem Sterbsakrament: 
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein. 
Mifitrauisch und faul und zufrieden am End. 

3 
Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich seize 
Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch. 
Ich sage: es sind ganz besonders riechende Tiere 
Und ich sage: es macht nichts, ich bin es auch. 



55 2 Literarische und asthetische Essays 

4 
In meine leeren Schaukelstuhle vormittags 
Setze ich mir mitunter ein paar Frauen 
Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen: 
In mir habt ibr einen, auf den konnt ihr nicht bauen. 

5 

Gegen abends versammle ich um mich Manner 
Wir re den uns da mit »Gentleman« an 
Sie haben ihre Ftijie auf meinen Tiscben 
Und sagen: es wird besser mit uns, Und icb frage nicht: 

wann. 

6 
Gegen Morgen in der grauen Fruhe pissen die Tannen 
Und thr Ungeziefer, die Vogel, fdngt an zu schrein. 
Um die Stunde trink ich mein Glas in der Stadt aus 

und schmeijie 
Den Tabakstummel weg und schlafe beunruhigt ein, 

7 
Wir sind gesessen ein leichtes Gescblechte 
In Hdusern, die fur unzerstorbare gotten 
(So haben wir gebaut die langen Gehduse des Eilands 

Manhattan 
Und die dunnen Antennen, die das Atlantische Meer 

unterhalten). 

8 
Von diesen Stddten wird bleiben: der durch sie hin- 

durchgingy der Wind! 
Frohlicb machet das Haus den Esser: er leert es. 
Wir wissen y dafl wir Vorldufige sind 
Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes. 

9 
Bei den Erdbeben t die kommen werden, werde ich 

hoffentlich 
Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit 
Ich, Bertolt Brecht y in die Asphaltstddte verschlagen 
Aus den schwarzen Waldern in meiner Mutter in 

fruher Zeit. 



Kommentare zu Gediditen von Brecht 553 

Ich, Bertolt Bredit, bin aus den sdiwarzen Waldern. 
Meine Mutter trug mich in die Stadte hinein 
Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kalte der Walder 
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein. 

In den Waldern ist es kalt, kalter kann es nidit in den Stadten 
sein. Dem Dichter ist schon im Mutterschofie so kalt gewesen 
wie in den Asphaltstadten, in denen er leben sollte. 

Um die Stunde trink ich mein Glas in der Stadt aus und 

schmeifie 
Den Tabakstummel weg und schlafe beunruhigt ein. 

Diese Unruhe gilt vielleicht nicht zuletzt dem gliederlosenden, 
ruhespendenden Schlafe. Wild er es besser mit dem Schlafer 
meinen als der Mutterschofi mit dem Ungeborenen? Wahrschein- 
lich nicht. Nichts macht den Schlaf so unruhig wie die Furcht vor 
dem Aufwachen. 

(So haben wir gebaut die langen Gehause des Eilands 

Manhattan 

Und die diinnen Antennen, die das Atlantische Meer 

unterhalten). 

Die Antennen >unterhalten< das Atlantische Meer sicher nicht 
mit Musik und mit der gesprochenen Zeitung sondern mit 
Kurz- und Langwellen, mit den Molekularvorgangen, die den 
physikalischen Aspekt des Radios ausmachen. In dieser Zeile 
wird die Verwertung der technischen Mittel durch die heutigen 
Menschen mit einem Achselzucken abgetan. 

Von diesen Stadten wird bleiben: der durch sie 

hindurchging, der Wind! 

Wenn der Wind, der durch sie hindurchging, von diesen Stadten 
bleibt, so ist das nicht mehr der alte Wind, der nichts von den 
Stadten wufite. Die Stadte mit ihrem Asphalt, ihren Strafienzei- 
len und vielen Fenstern werden, nachdem sie zerstort und zer- 
fallen sind, im Winde wohnen. 

Frohlich machet das Haus den Esser: er leert es. 

Der Esser steht hier fur den Zerstorenden. Essen heifit nicht nur 
sich nahren, es heifit auch zubeifien und zerstoren. Die Welt 



554 Literarische und asthetische Essays 

vereinfacht sich ungeheuer, wenn sie nicht so sehr auf ihre 
Geniefibarkeit als auf ihre Zerstorungswiirdigkeit gepriift wird. 
Diese ist das Band, das alles Bestehende eintrachtig zusammen- 
halt. Der Anblick dieser Harmonie macht den Dichter so froh- 
lidi. Er ist der Esser mit den eisernen Kinnbacken, der das Haus 
der Welt leer macht. 

Wir wissen, dafi wir Vorlaufige sind 

Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes. 

»Vorlaufige« - vielleicht waren sie Vorlaufer; aber wie konn- 
ten sie es, da nichts Nennenswertes nach ihnen kommt. Es ist 
nicht so sehr an ihnen gelegen, wenn sie namen- und ruhmlos 
in die Geschichte eingehen. (Die Gedichtfolge »An die Nach- 
geborenen« nimmt zehn Jahre spater einen verwandten Ge- 
danken auf.) 

Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstadte verschlagen 
Aus den schwarzen Waldern in meiner Mutter in 

friiher Zeit. 

Die Haufung von Prapositionen der Ortsbestimmung - drei in 
zwei Zeilen - mufi ungewohnlich beirrend wirken. Die nach- 
hinkende temporale Bestimmung »in friiher Zeit« - (sie diirfte 
den Anschlufi an die Jetztzeit verpafit haben) - verstarkt den 
Eindruck der Preisgegebenheit. Der Dichter spricht als sei er 
schon im Mutterschofi ausgesetzt gewesen. 
Wer dieses Gedicht gelesen hat, ist durch den Dichter hindurch- 
gegangen wie durch ein Tor, auf dem in verwitterter Schrift ein 
B. B. zu lesen ist. Der Dichter will den Leser sowenig aufhal- 
ten wie das Tor den Passanten. Das Tor ist vielleicht schon vor 
Jahrhunderten gewolbt worden: es steht noch, weil es keinem 
im Wege stand. B.B. wiirde, keinem im Wege stehend, seinem 
Beinamen - der arme B.B. - Ehre machen. Fur den, der keinem 
im Wege steht und auf den es nicht ankommt, kann sich Wesent- 
liches nicht mehr ereignen - es sei denn der Entschlufi, sich in 
den Weg zu stellen und es auf sich ankommen zu lassen. Von 
diesem Entschlusse zeugen die spateren Zyklen. Ihre Sache ist der 
Klassenkampf. Am besten wird der zu seiner Sache stehn, der 
den Anfang damit gemacht hat, sich selbst fallen zu lassen. 



Kommentare zu Gedichten von Brecht 555 

Zu dem »Lesebuch fur Stadtebewohner* 

(Zu dem ersten Gedicht des »Lesebuchs 
fur Stadtebewohner«) 

Trenne dich von deinen Kameraden auf dem Babnhof 

Gehe am Morgen in die Stadt mil zugeknopfter Jacke 

Suche dir Quartier und wenn dein Kamerad anklopfl: 

Offne t o offne die Tllr nicbt 

Sondern 

Verwiscb die SpurenI 

Wenn du deinen Eltern begegnest in der Stadt Hamburg 

oder sonstwo 

Gehe an ihnen fremd vorbei, biege um die Ecke,erkenne 

sie nicht 

Zieb den Hut ins Gesicbt, den sie dir scbenkten 

Zeige, o zeige dein Gesicbt nicbt 

Sondern 

Verwiscb die SpurenI 

I ft das Fleiscb, das da ist! Spare nicht! 
Gehe in jedes Haus, wenn es regnet, und setze dich auf 

jeden Stuhl } der da ist 
Aber bleibe nicbt sitzen! Und vergifl deinen Hut nicht! 
Ich sage dir: 
Verwiscb die Spuren! 

Was immer du sagst, sag es nicht zweimal 
Findest du deinen Gedanken bei einem andern: 

verleugne ihn. 
Wer seine Unterscbrifl nicht gegeben hat, wer kein 

Bild binterlieji 
Wer nicht dabei war y wer nichts gesagt hat 
Wie soil der zu fassen sein! 
Verwiscb die Spuren! 

Sorge, wenn du zu sterben gedenkst 
Dajl kein Grabmal steht und verrdt, wo du liegst 
Mit einer deutlichen Schrift, die dich anzeigt 
Und dem Jahr deines Todes, das dich uberfuhrt! 



55^ Literarische und asthetische Essays 

Noch einmal: 
Verwisck die Spuren! 

(Das wurde mir gesagt.) 

Arnold Zweig hat gelegentlich gesagt, diese Gediditfolge habe 
in den letzten Jahren elnen neuen Sinn gewonnen. Sie stelle 
die Stadt vor, wie der Emigrant sie im fremden Land erfahrt. 
Das ist richtig. Man soil aber nicht vergessen: der Kampfer fiir 
die ausgebeutete Klasse ist im eigenen Lande ein Emigrant. 
Das letzte Lustrum seiner politischen Arbeit in der Weimarer 
Republik bedeutete fiir den einsichtigen Kommunisten elne 
Krypto-Emigration. Brecht erfuhr es als eine solche. Das mag 
den nachstliegenden Anlafi zur Entstehung dieses Zyklus ge- 
geben haben. Die Krypto-Emigration war die Vorform der 
eigentlichen; sie war audi eine Vorform der Illegalitat. 

Verwisch die Spuren! 

- eine Vorschrift fiir den Illegalen. 

Findest du deinen Gedanken bei einem andern: 

verleugne ihn 

- eine merkwurdige Vorschrift fiir den Intellektuellen von 
1928, eine glasklare fiir den illegalen. 

Sorge, wenn du zu sterben gedenkst 

Dafi kein Grabmal steht und verrat, wo du liegst 

- diese Vorschrift allein konnte veraltet sein; diese Sorge wurde 
dem Illegalen von Hitler und seinen Leuten abgenommen. 

Die Stadt erscheint in diesem Lesebuch als Schauplatz des Da- 
seins- und als Schauplatz des Klassenkampfes. Das eine ergibt 
die anarchistische Perspektive, die den Zyklus mit der »Haus- 
postille« verbindet, das andere die revolutionare, die auf die 
nachfolgenden »Drei Soldaten« weist. In jedem Falle bleibt es 
dabei: Stadte sind Schlachtf elder. Man kann sich keinen Be- 
trachter vorstellen, der stumpfer fiir landschaftliche Reize ware 
als der strategisch geschulte einer Schlacht. Man kann sich 
keinen Betrachter vorstellen, der den Reizen der Stadt, sei es 
dem Hausermeer, sei es dem atemraubenden Tempo ihres Ver- 
kehrs, sei es ihrer Vergniigungsindustrie fiihlloser als Brecht 



Kommentare zu Gedichten von Brecht 557 

gegenuberstiinde. Diese Fiihllosigkeit fiir den stadtischen Dekor, 
verbunden mit einer aufiersten Feinfiihligkeit fiir die spezi- 
fischen Reaktionsweisen des Stadters, unterscheidet den Brecht- 
schen Zyklus von aller vorangegangenen Grofistadtlyrik. Walt 
Whitman berauschte sich an den Menschenmassen; von ihnen 
ist bei Brecht nicht die Rede. Baudelaire durchschaute die Hin- 
falligkeit von Paris; an den Parisern aber nur das, worin sie 
ihrerseits deren Stigma tragen. Verhaeren versuchte sich an 
einer Apotheose der Stadte. Georg Heym erschienen sie voller 
Vorzeichen der ihnen drohenden Katastrophen. 
Vom Stadter abzusehen, war das Kennzeichen der bedeutenden 
Grofistadtlyrik. Wo er, wie bei Dehmel, in deren Blickfeld ein- 
trat, war der Beisatz kleinburgerlicher Illusionen fiir das dich- 
terische Gelingen verhangnisvoll. Brecht ist wohl der erste be- 
deutende Lyriker, der vom stadtischen Menschen etwas zu 
sagen hat. 

Zu dem dritten Gedicht des »Lesebuchs fiir 
Stadtebewohner« 

Wir wollen nicht aus deinem Haus gehen 

Wir wollen den Of en nicht einreijien 

Wir wollen den Topf auf den Of en setzen. 

Haus, Of en und Topf kann bleiben 

Und du sollst verscbwinden wie der Ranch im Himmel 

Den niemand zuriickhalt. 

Wenn du dido an uns halten willst y werden wir weggehen 
Wenn deine Frau weint, werden wir unsere HUte ins 

Gesicht ziehen 
Aber wenn sie dich holen y werden wir auf dich deuten 
Und werden sagen: das muji er sein. 

Wir wissen nicht, was kommt und haben nichts Besseres 
Aber dich wollen wir nicht mehr. 
Vor du nicht weg hist 

Lafit uns verhangen die Fenster, daft es nicht morgen 

wird. 

Die Stadte durfen sich andern 
Aber du darfst dich nicht andern. 



558 Literarische und asthetische Essays 

Den Steinen wollen wir zureden 

Aber dich wollen wir toten 

Du mufit nicht leben. 

Was immer wir an Lugen glauben miissen: 

Du darfst nicht gewesen sein. 

(So sprecben wir mit unsern Vatern.) 

Die Vertreibung der Juden aus Deutschland wurde (bis zu den 
Pogromen von 1938) in der Haltung vollzogen, die in diesem 
Gedicht beschrieben wird. Die Juden wurden nicht erschlagen, 
wo man sie fand. Man verfuhr mit ihnen vielmehr nadht dem 
Satz: 

Wir wollen den Ofen nicht einreifien 
Wir wollen den Topf auf den Ofen setzen. 
Haus, Ofen und Topf kann bleiben 
Und du sollst verschwinden. 

Brechts Gedicht wird fur den heutigen Leser aufschlufireich. Es 
zeigt haarscharf , wozu der Nationalsozialismus den Antisemitis- 
mus braucht. Er braucht ihn als eine Parodie. Die Haltung, die 
von den Herrschenden dem Juden gegeniiber kiinstlich ins Le- 
ben gerufen wird, ist eben die, die der unterdriickten Klasse 
den Herrschenden gegeniiber naturlich ware. Der Jude soil - 
das will Hitler - so tratiert werden, wie der grofie Ausbeuter 
hatte tratiert werden miissen. Und eben weil es dem Juden 
gegeniiber nicht wirklich ernst ist, weil es sich in seiner Behand- 
lung um das Zerrbild eines echten revolutionaren Verfahrens 
handelt, wird der Sadismus in dieses Spiel gemischt. Ihn kann 
die Parodie nicht entbehren - die Parodie, deren Zweck es ist, 
die historische Vorlage - die Expropriierung der Expropriateu- 
re - dem Gespott preiszugeben. 



Kommentare zu Gediditen von Brecht , 559 

Zu dem neunten Gedicht des »Lesebuchsfur 
Stadtebewohner« 

Vier Aufforderungen an einen Mann von 
verschiedener Seite zu verschiedenen Zeiten 

Hier hast du ein Heim 

Hier ist Platz fur deine Sachen 

Stelle die Mobel urn nach deinem Geschmack 

Sage, was du brauchst 

Da ist der Schliissel 

Hier bleibe. 

Es ist eine Stube da fiir uns alle 

Und fiir dido ein Trimmer mit einem Bett 

Du kannst mitarbeiten im Hof 

Du hast deinen eigenen Teller 

Bleibe bei uns. 

Hier ist deine Schlaf stelle 

Das Bett ist noch ganz frisch 

Es lag erst ein Mann drin. 

Wenn du heikel bist 

Schwenke deinen Zinnloffel in dem Bottich da 

Dann ist er wie ein frischer 

Bleibe ruhig bei uns. 

Das ist die Rammer 

Mack schnelly oder du kannst auch dableiben 

Eine Nacht, aber das kostet extra. 

Ich werde dido nicht stbren 

Obrigens bin ich nicht krank. 

Du bist hier so gut aufgehoben wie woanders. 

Du kannst also dableiben. 

Das »Lesebuch fiir Stadtebewohner« erteilt, wie angedeutet, 
Anschauungsunterricht in der Illegalitat und Emigration. Das 
neunte Gedicht hat es mit einem gesellschaftlichen Prozefi zu 
tun, den die Illegalen wie auch die Emigranten mit dem kampf- 
los der Ausbeutung Unterliegenden teilen miissen. Das Gedicht 
illustriert in ganz kurzen Zugen, was Verarmung in der Grofi- 



5^0 Literarisdie und asthetische Essays 

stadt heifit. Es wirft zugleich Lidit auf das erste Gedicht des 
Zyklus zunick. 

Jede der »Vier Aufforderungen an einen Mann von verschie- 
dener Seite und zu verschiedenen Zeiten« lafit die jeweilige 
wirtschaftliche Lage dieses Mannes erkennen. Der ist immer 
armer geworden. Seine Quartiergeber lassen sich das gesagt 
sein; sie bewilligen ihm immer sparlicher das Recht, Spuren zu 
hinterlassen. Das erstemal nehmen sie noch Notiz von seinen 
eigenen Sachen. Auf der zweiten Stelle ist nur die Rede von 
einem eigenen Teller, und der ist schwerlich ein mitgebrachter. 
Ober die Arbeitskraft des Logiergastes wird von dem Quartier- 
geber schon verfiigt (»Du kannst mitarbeiten im Hof«). Der 
an dritter Stelle Erscheinende diirfte vollig arbeitslos sein. 
Seine Privatsphare wird sinnbildlich im Wasdien eines zinner- 
nen Loffels dargestellt. Die vier.te Aufforderung ist die einer 
Prostituierten an einen offenbar armen Kunden. Hier ist audi 
von Dauer nicht mehr die Rede. Es ist Quartier hochstens fur 
eine Nacht, und von der Spur, die der Angeredete hinterlassen 
darf, redet man besser nicnt. - Die Vorsdirift des ersten Ge- 
dichts »Verwisch die Spuren« vervollstandigt sich dem Leser 
des neunten in dem Zusatz: besser als wenn sie dir verwischt 
werden. 

Beachtenswert ist die freundliche Indifferenz, die alien vier 
Aufforderungen eigen ist. Dafi die Harte der Zumutung fur 
diese Freundlichkek Raum lafit, daran erkennt man, dafi die 
gesellschaftlichen Verhaltnisse den Menschen von aufien als ein 
ihm Fremdes entgegentreten. Die Freundlichkeit, mit der ihr 
Verdikt ihm von seinen Nebenmenschen ubermittelt wird, zeigt, 
dafi diese sich nicht mit ihnen solidarisch fiihlen. Nicht nur der 
Angeredete scheint hinzunehmen, was er zu horen bekommt; 
auch die, die sich an ihn wenden, haben sich mit den Verhalt- 
nissen abgefunden. Die Unmenschlichkeit, zu der sie verurteilt 
sind, hat ihnen die Hoflichkeit des Herzens nicht nehmen kon- 
nen. Das kann zu Hoffnung oder Verzweiflung berechtigen. 
Der Dichter hat sich dariiber nicht ausgelassen. 



Kommentare zu Gedichten von Bredit 561 

Zu den »Studien« 

Ober die Gedicbte des Dante auf die Beatrice 

Nocb immer uber der verstaubten Grufl 
In der sie liegt, die er nicht vdgeln.durfle 
So oft er auch um ihre Wege schlurfte 
Erschlittert dock ihr Name uns die Luft. 

Denn er befahl uns, ihrer zu gedenken 
Indem er auf sie solche Verse schrieb 
Daft uns furwahr nichts anderes ubrig blieb 
Als seinem schonen Lob Gehbr zu schenken. 

Achy welche Unsitt bracbt er da in Schwang! 
Als er mit so gewaltigem Lobe lobte 
Was er nur angesehen, nicht erprobte! 

Seit dieser scbon beim blofien Anblick sang 
Gilt, was hiibsch aussieht und die Strafie quert 
Und was nie nafi wird als begehrenswert. 

Sonett uber Kleists Stiick »Prinz von Homburg* 

Ob Garten, kunstlich in dem markischen Sand! 
Oh Geistersehn in preujlisch blauer Nacht! 
Oh Held, von Todesfurcht ins Knien gebracht! 
Ausbund von Kriegerstolz und Knechtsver stand! 

Ruckgrat, zerbrochen mit dem Lorbeerstock! 
Du hast gesiegt, doch wars dir nicht befohlen. 
Ach y da umhalst nicht Nike dich. Dich holen 
Des Furs ten Buttel feixend in den Block. 

So sehen wir ihn denn, der da gemeutert 
Von Todesfurcht gereinigt und gelautert 
Mit Todesschweifi kalt unterm Siegeslaub. 

Sein Degen ist noch neben ihm: in Stiicken 
Tot ist er nicht, doch liegt er auf dem Riicken; 
Mit alien Feinden Brandenburgs im Staub. 



562 Literarisdie und asthetisdie Essays 

Der Titel »Studien« stellt weniger die Friichte emsigen Fleifies 
als eines otium cum dignitate vor. Wie noch im Ruhen die 
Hand eines Graphikers spielend am Rand der Platte Gebilde 
festhalt, so sind am Rande des Brechtschen Werkes Bilder aus 
friiheren Zeiten hier festgehalten. Dem Dichter geschieht es, 
von seiner Arbeit aufschauend, iiber die Gegenwart ins Ver- 
gangene hinzublicken. »Denn des Sonetts gedrangte Kranze 
flechten | Sich wie von selber unter meinen Handen | Indes 
die Augen in der Feme weiden« sagt Morike. Ein lassiger Blick 
in die Feme ist es, dessen Ertrag in der strengsten poetischen 
Form geborgen wurde. 

Unter den spateren Dichtungen sind die »Studien« der »Haus- 
postille« besonders nahe verwandt. Die »Hauspostille« be- 
anstandet an unserer Moral verschiedenes; sie hat gegen eine 
Reihe von uberkommenen Geboten Vorbehalte. Es liegt ihr aber 
fern, sie geradeheraus zu sagen. Sie bringt sie in Gestalt von 
Varianten eben der moralischen Haltungen und der Gesten vor, 
deren gelaufige Form ihr nicht mehr recht statthaft scheint. 
Die »Studien« verfahren mit einer Reihe von literarischen Do- 
kumenten und Dichtungen ebenso. Sie bringen Vorbehalte zum 
Ausdruck, die ihnen gegeniiber am Platze sind. Indem sie aber 
gleichzeitig deren Inhalt in die Form des Sonetts uberfuhren, 
machen sie die Probe auf sie. Dafi sie es vertragen, auf diese 
Art resiimiert zu werden, das erweist ihre Haltbarkeit. 
Der Vorbehalt erscheint in diesen Studien nicht ohne die Reve- 
renz. Die vorbehaltlose Huldigung, die einem barbarischen 
Begriff von Kultur entspricht, ist einer Huldigung voller Vor- 
behalte gewichen. 



7>u den »Svendborger Gedichten« 
Zu der »Deutschen Kriegsfibel« 

5 
Die Arbeiter schreien nach Brot. 
Die Kaufleute schreien nach Markten. 
Der Arbeitslose hat gehungert. Nun 
Hungert der Arbeitende. 



Kommentare zu Gedichten von Brecht 563 

Die Hande, die im Schofie lagen, ruhren 

sich wieder: 
Sie dreben Granaten. 

*3 
Es ist Nacht. Die Ebepaare 
Legen sich in die Betten. Die jungen Frauen 
Werden Waisen gebaren. 

Die Obex en sagen: 
Es geht in den Ruhm. 
Die Unteren sagen: 
Es geht ins Grab. 

18 
Wenn es zum Marscbieren kommt, wissen 

viele nicht 
Dafi ibr Feind an ihrer Spitze marscbiert. 
Die Stimme, die sie kommandiert 
Ist die Stimme ihres Feindes. 
Der da vom Feind spricht 
Ist selber der Feind. 

Die Kriegsfibel ist in >lapidarem< Stil geschrieben. Das Wort 
kommt vom lateinisdien lapis, der Stein, und bezeichnet den 
Stil, der sich fiir Inschriften herausgebildet hatte. Sein wichtig- 
stes Merkmal war die Kiirze. Sie wurde einmal durch die Miihe 
bedingt, das Wort in den Stein einzugraben, zum andern durch 
das Bewufksein, es sei fiir den schicklich, sich kurz zu fassen, 
der zu einer Folge von Geschlechtern spricht. 
Wenn die natiirliche, materielle Bedingung des lapidaren Stils 
in diesen Gedichten wegfallt, welches sind, so ist man berech- 
tigt zu fragen, hier seine Entsprechungen? Wie begriindet sich 
der Inschriftenstil dieser Gedichte? Eines von ihnen deutet die 
Antwort an. Es lautet: 

Auf der Mauer stand mit Kreide: 
Sie wollen den Krieg. 
Der es geschrieben hat 
Ist schon gefallen. 



564 Literarische und asthetische Essays 

Die Anfangszeile dieses Gedichts konnte jedem der »Kriegs- 
fibel« beigegeben werden. Ihre Inschriften sind nicht wie die 
der Romer fiir Stein gemacht sondern wie die der illegalen 
Kampfer fiir Palisaden. 

Hiernach darf der Charakter der »Kriegsfibel« in einem einzig- 
artigen Widerspruch erblickt werden: in Worten, denen, ihrer 
poetisciien Form nach, zugemutet wird, den kommenden Welt- 
untergang zu iiberdauern, ist die Gebarde der Aufschrift auf 
einem Bretterzaun festgehalten, die der Verfolgte mit fliegen- 
der Hast hinwirft. In diesem Widerspruch stellt sich die aufier- 
ordentlich artistische Leistung dieser aus primitiven Worten ge- 
bauten Satze dar. Der Dichter belehnt mit dem Horazischen 
aere perennius das, was, dem Regen und den Agenten der Ge- 
stapo preisgegeben, ein Proletarier mit Kreide an eine Mauer 
warf. 



Zu dem Gedicht »Vom Kind, das sich nicht 
waschen woIlte« 

Vom Kind j das sich nicht waschen wollte 

Es war einmal ein Kind 

Das wollte sich nicht waschen 

Und wenn es gewaschen wurde, geschwind 

Beschmierte es sich mit Aschen. 

Der Kaiser kam zu Besuch 
Hinauf die siehen Stiegen 
Die Mutter suchte nach einem Tuch 
Das Schmutzkind sauber zu kriegen. 

Ein Tuch war grad nicht da. 
Der Kaiser ist gegangen 
Bevor das Kind ihn sah: 
Das Kind konnts nicht verlangen. 

Der Dichter nimmt fiir das Kind, das sich nicht waschen wollte, 
Partei. Es rmifken schon, meint er, die tollsten Zufalle aufein- 
andertreffen, damit das Kind von seiner Ungewaschenheit wirk- 
lichen Schaden hatte. Nicht genug, daft der Kaiser sich nicht 



Kommentare zu Gedichten von Bredit 565 

alle Tage sieben Stiegen hinaufbemuht, so miifite er zum Sdiau- 
platz seines Ersdieinens nodi dazu einen Haushalt erwahlt 
haben, in dem nicht einmal ein Tuch aufzutreiben ist. Die abge- 
rissene Diktion des Gedichts gibt zu verstehen, dafi ein solches 
Zusammentreffen von Zuf alien geradezu etwas Traumhaftes 
hatte. 

Vielleicht wird man an einen andern Parteiganger oder Ver- 
teidiger des Sdimutzkinds erinnern diirfen: an Fourier, dessen 
phalanstere nicht nur eine sozialistische, sondern audi eine 
padagogisdie Utopie gewesen ist. Fourier teilt die Kinder des 
phalanstere in zwei grofte Gruppen ein: in die petites bandes 
und die petites hordes. Die petites bandes haben es mit dem 
Gartenbau und mit andern ansprechenden Obliegenheiten zu 
tun. Die petites hordes haben sich mit den Unsaubersten abzu- 
geben. Die Wahl zwischen den beiden Gruppen steht jedem 
Kinde frei. Die sich fur die petites hordes entschieden hatten, 
waren die geehrtesten. Keine Arbeit durfte im phalanstere 
unternommen werden, an die sie nicht die erste Hand legten; 
die Tierqualerei unterstand ihrer Gerichtsbarkeit; sie hatten 
Zwergponys, auf denen sie im feurigen Galopp durch das 
phalanstere dahinfegten, und wenn sie sich zur Arbeit ver- 
sammelten, gab ein ohrenbetaubendes Durcheinander von Trom- 
petenstoEen, Dampfpfeifen, Kirchenglocken und Pauken dazu 
das Zeichen. In den Angehorigen der petites hordes sah Fourier 
vier grofie Leidenschaften am Werke: den Hochmut, die Scham- 
losigkeit, die Unsubordination. Die wichtigste von alien war 
aber die vierte: der gout de la saleti, die Freude am Schmutz. 
Der Leser denkt an das Schmutzkind zuriick und fragt sich: be- 
schmiert es sich vielleicht nur darum mit Aschen, weil die Ge- 
sellschaft seine Leidenschaft fiir den Schmutz keiner mitzlichen 
und guten Verwendung zufiihrt? nur, um als ein Stein des 
Anstofies, als eine dunkle Mahnung ihrer Ordnung im Weg zu 
stehen (dem bucklidien Mannlein nicht unahnlich, das im alten 
Lied das wohlbestellte Hauswesen aus den Fugen bringt)? Hat 
Fourier recht, so hatte das Kind gewifi an der Begegnung mit 
dem Kaiser nicht viel verloren. Ein Kaiser, der nur reinliche 
Kinder sehen will, stellt nicht mehr vor als die beschrankten 
Untertanen, die er besucht. 



$66 Literarische und asthetische Essays 

Z u dem Gedicht »Der Pflaumenbaum« 
Der Pflaumenbaum 

Im Hofe steht ein Pflaumenbaum 
Der ist so klein, man glaubt es kaurn* 
Er hat ein Gitter drum 
So tritt ihn keiner um. 

Der Kleine kann nicht grower wer'n 
Ja, grojier wer'n, das mocbt er gem. 
y s istkeine Red davon 
Er hat zu wenig Sonn. 

Den Pflaumenbaum glaubt man ihm kaum 
Weil er nie eine Pflaume hat 
Dock er ist ein Pflaumenbaum 
Man kennt es an dem Blatt* 

Ein Beispiel fur die innere Einheit dieser lyrischen Poesie und 
zugleich fur den Reichtum ihrer Perspektiven kann die Art 
bieten, wie die Landschaft in ihre verschiedenen Zyklen ein- 
tritt. In der »Hauspostille« gibt es sie vor allem in Gestalt eines 
gereinigten, wie ausgewaschenen Himmels, an dem gelegentlich 
zarte Wolken erscheinen und unter dem Gewachse gesichtet 
werden, die mit hartem GrifTel umrissen sind. In den »Liedern 
Gedichten Choren« ist nichts von der Landschaft iibrig; vom 
»winterlichen Schneesturm«j der durch diesen Zyklus von Poesien 
fahrt, ist sie zugedeckt. In den »Svendborger Gedichten « er- 
scheint sie hin und wieder; verblafit und schiichtern. So verblafit, 
dafi die Pfahle, eingeschlagen »im Hof fiir die Schaukel der 
Kinder«, schon zu ihr rechnen. 

Die Landschaft der »Svendborger Gedichte« ahnelt der, fiir die 
in einer Geschichte von Brecht ein Herr Keuner seine Vorliebe 
zu erkennen gibt. Freunde haben von ihm erfahren, dafi er 
den Baum liebt, der im Hofe seiner Mietskaserne sein Dasein 
fristet. Sie fordern ihn auf, mit in den Wald zu kommen, und 
wundern sich, dafi Herr Keuner es ihnen abschlagt. Sagten Sie 
nicht, dafi Sie Baume lieben? Herr Keuner antwortet: »Ich 
sagte, dafi ich den Baum in meinem Hofe liebe.« Dieser Baum 
durfte mit dem identisch sein, der in der »Hauspostille« den 



Kommentare zu Gedichten von Bredit $6j 

Namen Green fiihrt. Er wurde dort durch eine morgendlidie 
Ansprache vom Diditer geehrt. 

Es war wohl keine Kleinigkeit, so hoch 

heraufzukommen 
Zwischen den Hausern, 
So hodi herauf, Green, dafi der 
Sturm so zu Ihnen kann, wie heute nacht? 

Dieser Baum Green, der dem Sturm seinen Wipfel bietet, 
stammt nodi aus einer >heroischen Landsdiaft<. (Von ihr distan- 
zierte der Diditer sich immerhin, indem er dem Baum das »Sie« 
angedeihen liefi.) Im Laufe der Jahre wandte sich der Iyrische 
Anteil Brechts an dem Baum dem zu, worin er den Menschen, 
deren Fenster auf seinen Hof hinausgehen, ahnlich ist: dem 
Mittelmafiigen und dem Verkummerten. Ein Baum, der gar 
nichts Heroisches mehr an sich hat, erscheint in den »Svendbor- 
ger Gedichten« als Pflaumenbaum. Ein Gitter mufi ihn davor 
bewahren, krumm getreten zu werden. Pflaumen tragt er nicht. 

Den Pflaumenbaum glaubt man ihm kaum 
Weil er nie eine Pflaume hat 
Doch er ist ein Pflaumenbaum 
Man kennt es an dem Blatt. 

(Der Binnenreim des ersten Verses macht das Schlufiwort der 
dritten Zeile zum Reimwort untauglich. Er zeigt an, dafi es mit 
dem Pflaumenbaum, kaum dafi er zu wachsen anfing, bereits zu 
Ende ist.) 

So sieht der Baum im Hof aus, den Herr Keuner liebte. Von der 
Landschaft und allem, was sie dem Lyriker sonst geboten hat, 
kommt auf diesen heute nicht mehr als ein Blatt. Audi mufi 
einer vielleicht ein grofier Lyriker sein, um heute nach mehr 
nicht zu greifen. 



$68 Literarisdie und asthetische Essays 

Zu der »Legende von der Entstehung 
des Buches Taoteking auf dem Weg des 
Laotse in die Emigration « 

Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf 
dem Weg des Laotse in die Emigration 

I 

Als er siebzig war und war gebrecblich 

Dr&ngte es den Lehrer doch nach Ruh 

Denn die Giite war im Lande wieder einmal schwdchlicb 

Und die Bosheit nahm an Kraften wieder einmal zu. 

Und er gurtete den Schuh. 

2 

Und er packte ein, was er so brauchte: 
Wenig. Doch es wurde dies und das. 
So die Pfeife, die er immer abends rauchte 
Und das Buchlein, das er immer las* 
Weijibrot nach dem Augenmaji. 

3 
F rente sich des Tals noch einmal und vergafi es 
Als er ins Gebirg den Weg einschlug. 
Und sein Ochse f rente sich des frischen Grases 
Kauendy wdhrend er den Alien trug. 
Denn dem ging es schnell genug. 

4 
Dach am vierten Tag im Felsgesteine 
Hat ein Zollner ihm den Weg verwehrt; 
»Kostbarkeiten zu verzollen?* - »Keine.« 
Und der Knabe } der den Ochsen fiihrte, sprach: »Er hat 

gelehrt.<( 
Und so war auch das erkldrU 

5 
Doch der Mann> in einer heitren Regung 
Fragte noch: »Hat er was rausgekriegtf« 
Sprach der Knabe: »Dafi das weiche Wasser in Bewegung 
Mit der Zeit den mdchtigen Stein besiegt. 
Du verstehst, das Harte unterliegt.« 



Kommentare zu Gedichten von Bredit $6? 

6 

Daji er nicht das letzte Tageslicht verlore 

Trieb der Knabe nun den Ochsen an. 

Und die drei verschwanden schon um eine schwarze Fohre 

Da kam plotzlich Fahrt in unsern Mann 

Und er schrie: »He, dul Halt an! 

7 
Was ist das mit diesem Wasser, Alter?« 
Hielt der Alte: »Intressiert es dich?« 
Sprach der Mann: »Ich bin nur Zollverwalter 
Dock wer wen besiegt, das intresslert auch mid?. 
Wenn du's weijit, dann sprich! 

8 
Scbreib mir's auf! Diktier es diesem Kinde! 
Sowas nimmt man docb nicht mit sick fort. 
Da gtbt's dock Papier bei uns und Tinte 
Und ein Nachtmahl gibt es auch: ich wohne dort. 
Nun, ist das ein Wortf* 

9 

Uber seine Schulter sab der Alte 
Auf den Mann: Flickjoppe. Keine Schuh. 
Und die Stirne eine einzige Falte. 
Ach, kein Sieger trat da auf ihn zu. 
Und er murmelte: »Auch du?« 

10 

Eine hofliche Bitte abzuschlagen 
War der Alte, wie es schien, zu alt. 
Denn er sagte laut: »Die etwas fragen 
Die verdienen Antwort.« Sprach der Knabe: »Es wird 

auch schon kalt.« 
»Gut, ein kleiner Aufenthalt.* 

ii 

Und von seinem Ochsen stieg der Weise 
Sieben Tage schrieben sie zu zweit. 
Und der Zollner brachte Essen (und er ftuchte nur noch 

leise 



570 Literarisdie und asthetische Essays 

Mit den Schmugglern in der ganzen Zeit). 
Und dann war's so weit. 

12 
Und dem Zollner h'dndigte der Knabe 
Eines M or gens einundachtzig Spruche ein 
Und mit Dank filr eine kleine Reisegabe 
Bogen sie urn jene Fohre ins Ge stein. 
Sagt jetzt: kann man hoflicher seinf 

13 
Aber ruhmen wir nicht nur den Weisen 

Dessen Name auf dem Buche prangt! 

Denn man mufi dem Weisen seine Weisbeit 

erst entreifien. 

Darum sei der Zollner auch bedankt: 

Er hat sie ihm abverlangt. 

Das Gedicht kann Anlafi geben, die besondere Rolle aufzuzei- 
gen, die die Freundlichkeit in der Vorstellungswelt des Dich- 
ters spielt. Brecht weist ihr einen hohen Platz an. Wenn wir uns 
die Legende, die er erzahlt, vor Augen stellen, so ist es so, dafi 
auf der einen Seite die Weisheit des Laotse steht - er wird 
iibrigens im Gedicht nicht mit Namen genannt. Diese Weisheit 
ist im Begriff, ihm das Exil einzutragen. Auf der anderen 
Seite steht die Wifibegierde des Zollners, die am Schlufi bedankt 
wird, weil sie dem Weisen seine Weisheit erst entrissen hat. 
Das ware aber ohne ein drittes nie gegliickt: dieses dritte ist 
die Freundlichkeit. Wenn es ungerechtfertigt ware zu sagen, dafi 
der Inhalt des Buches Taoteking die Freundlichkeit ist, so ware 
man immerhin mit der Behauptung im Recht, dafi das Taoteking 
nach der Legende dem Geiste der Freundlichkeit zu verdanken 
hat, dafi es uberliefert wurde. Ober diese Freundlichkeit er- 
fahrt man in dem Gedicht allerhand. 

An erster Stelle dies, dafi sie nicht unbedacht zur Geltung 
kommt: 

Ober seine Schulter sah der Alte 

Auf den Mann: Flickjoppe. Keine Schuh. 

Die Bitte des Zollners mag noch so hoflich sein. Laotse versi- 
chert sich erst, dafi ein Berufener sie tut. 



Kommentare zu Gedichten von Bredit 571 

An zweiter Stelle: die Freundlichkeit besteht nicht darin, Klei- 
nes nebenher zu leisten, sondern Grofkes so zu leisten, als wenn 
es ein Kleinstes ware. Nachdem Laotse einmal die Befugnis des 
Zollners zu fragen ermittelt hat, stellt er die folgenden welt- 
gesdiichtlichen Tage, die er ihm zu Gefallen auf seiner Wande- 
rung einhalt, unter das Motto: 

Gut, ein kleiner Aufenthalt. 

Drittens erfahrt man iiber die Freundlichkeit, da6 sie den Ab- 
stand zwischen den Menschen nicht aufhebt, sondern lebendig 
macht. Nachdem der Weise so Grofies fiir den Zollner getan hat, 
hat er wenig mehr mit dem Zollner zu tun, und nicht er iiber- 
gibt ihm die einundachtzig Spriiche, sondern sein Knabe tut es. 
»Die Klassiker«, hat ein alter chinesischer Philosoph gesagt, 
»lebten in den blutigsten, finstersten Zeiten und waren die 
freundlichsten und heitersten Leute, die man jemals sah.« Der 
Laotse dieser Legende scheint Heiterkeit zu verbreiten wo er 
geht und steht. Heiter ist sein Ochse, den das Gewicht des 
Alten nicht daran hindert, sich des frischen Grases zu freuen.* 
Heiter ist sein Knabe, der es sich nicht nehmen lafit, Laotses 
Armut mit der trockenen Bemerkung zu begriinden: »Er hat 
gelehrt.« Heiter wird der Zollner vor seinem Schlagbaum ge- 
stimmt, und diese Heiterkeit inspiriert ihn zu der gliicklichen 
Nachfrage nach den Forschungsergebnissen des Laotse. Wie 
sollte endlich der Weise selber nicht heiter sein und wozu ware 
seine Weisheit gut, wenn er, der das Tal, das ihn noch eben 
erfreute, an der nachsten Wegbiegung schon vergessen hat, 
nicht die Sorgen um das Kiinftige, kaum verspurt, schon ver- 
gessen hatte. 

In der »Hauspostille« hat Brecht eine Ballade von den Freund- 
lichkeiten der Welt geschrieben. Es sind drei an der Zahl: die 
Mutter stellt die Windeln bei; der Vater reicht eine Hand; 
Leute schutten Erde aufs Grab. Und das geniigt. Denn am 
Schlufi dieses Gedichtes heifit es: 

Fast ein jeder hat die Welt geliebt 
Wenn man ihm zwei Hande Erde gibt. 

Die Freundlichkeitsbezeigungen der Welt finden sich an den 
hartesten Stellen des Daseins ein: bei der Geburt, beim ersten 



$j2 Literarische und asthetische Essays 

Schritt ins Leben und bei dem letzten, der aus dem Leben 
fiihrt. Das ist das Minimalprogramm der Humanitat. Es be- 
gegnet wieder im Laotsegedicht und hat dort die Gestalt des 
Satzes angenommen: 

Du verstehst, das Harte unterliegt. 

Das Gedicht ist zu einer Zeit geschrieben, wo dieser Satz den 
Menschen als eine Verheifiung ans Ohr schlagt, die keiner 
messianischen etwas nachgibt. Es enthalt aber fiir den heutigen 
Leser nicht nur eine Verheifiung, sondern audi eine Belehrung. 

Dafi das weiche Wasser in Bewegung 
Mit der Zeit den machtigen Stein besiegt 

belehrt dariiber, dafi es geraten ist, das Unstete und Wandel- 
bare der Dinge nicht aus dem Auge zu verlieren und es mit 
dem zu halten, was unscheinbar und nuchtern, audi unversieg- 
lich ist wie das Wasser. Der materialistisdie Dialektiker wird 
dabei an die Sache der Unterdruckten denken. (Sie ist eine un- 
scheinbare Sache fiir die Herrschenden, eine niichterne fiir die 
Unterdruckten, und, was ihre Folgen angeht, die unversieg- 
lichste.) An dritter Stelle endlich steht neben der Verheifiung 
und neben der Theorie die Moral, die aus dem Gedicht hervor- 
geht. Wer das Harte zum Unterliegen bringen will, der soil 
keine Gelegenheit zum Freundlichsein vorbeigehen lassen. 



Die Ruckschritte der Poesie 
Von Carl Gustav Jodimann 

Einleitung 

In das Verstandnis des folgenden Textes einzudringen, kann 
durch eine Betrachtung der Ursachen erleichtert werden, die 
seine bisherige Verborgenheit herbeigefiihrt haben. 
Der Platz geistiger Produktionen in der geschichtlichen Ober- 
lieferung wird nicht immer allein oder audi nur vorwiegend 
durch deren unmittelbare Rezeption bestimmt. Sie werden 
vielmehr oft mittelbar rezipiert, namlich im Medium von Pro- 



»Die Riickschritte der Poesie« 573 

duktionen, die Wahlverwandte - Vorganger, Zeitgenossen, 
Nachfolgende - hmterlassen haben. Das Gedachtnis der Volker 
ist darauf angewiesen, an den Materien, die ihm die Oberliefe- 
rung zufiihrt, Gruppenbildungen vorzunehmen. Solche Grup- 
pierungen sind beweglich; audi wechseln sie in ihren Elementen. 
Was aber auf die Dauer in sie nicht eingeht, ist der Vergessen- 
heit uberantwortet. 

Nach V/ahlverwandten von Jochmann, sei es unter den Vor- 
gangern, sei es unter den Zeitgenossen, Ausschau haltend, wer- 
den wir freilich inne: audi diese sind, wenn nicht dem Namen 
so ihrem Umrifi nach, von Vergessenheit wie umschattet. Da ist, 
ein Menschenalter vor Jochmann, Georg Forster. Sein Werk ist 
im Andenken der Deutschen zerniert wie einst er selbst in Ko- 
blenz von deutschen Truppen. Kaum seine unschatzbaren Briefe 
aus dem Paris der groEen Revolution haben den Kordon 
durchbrechen konnen. Eine Darstellung, der es gelange, die 
Kontinuitat des revolutionaren Gedankens unter der deutschen 
Emigration in Frankreich von Forster bis Jochmann aufzuzei- 
gen, wiirde den Vorkampfern des deutschen Biirgertums die 
Schuld abstatten, die seine heutigen Nachfahren insolvent findet. 
Sie wiirde auf Manner wie den Grafen Schlabrendorf stofien, 
dessen Anfange in die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zu- 
ruckreichen und der in Paris Jochmanns Freund wurde. Den 
revolutionsgeschichtlichen Memorabilien, die Jochmann nach 
dessen Erzahlungen abgefafit hat, liefien sich zweifellos Denk- 
wiirdigkeiten iiber die deutsche Emigration um die Wende des 
Jahrhunderts zur Seite stellen. Vermutlich hatte, wer ihnen 
nachgehen will, besonderen Aufschlufi aus Varnhagens noch 
unveroffentlichten Papieren zu erwarten, die auf der Berliner 
Staatsbibliothek verwahrt werden. 

Varnhagen war es, der von Schlabrendorf das taciteisch gefafi- 
te Portrat gegeben hat: »Amtlos Staatsmann, heimathfremd 
Burger, begiitert arm.« »Ich habe«, schreibt Jochmann seiner- 
seits am 4. Oktober 1820 an einen Freund, »bisher nur einen 
einzigen Unabhangigen kennen gelernt: einen Greis von 70 
Jahren, der noch bis jetzt nicht einmal einen Bedienten braucht; 
der 40 000 Thaler Einkunfte besitzt und kaum 1 000 ver- 
zehrt, um mit dem Ubrigen fur die Armen Haus zu halten, 
einen Grafen, der von jeher nur in Landern und unter Ver- 



574 Literarische und asthetische Essays 

haltnissen hat leben wollen, in welchen sein Rang nichts gilt.« 
Befreundet mit Jochmann war ferner der Pariser Geschaftstrager 
der Stadt Frankfurt am Main, Oelsner, der seinerseits in 
nahen Beziehungen zu Sieves stand. Dafi Uberlieferungen aus 
der Revolutions- und zumal der Konventszeit Jochmann in 
diesem Kreise anvertraut wurden - Oberlieferungen, deren 
bedeutsamsten Niederschlag ein grofier Essay iiber Robespierre 
bildet -, fallt als Zeugnis fur seine politische Haltung um so 
mehr ins Gewicht, je weniger der Beginn der Restaurationsperio- 
de danach angetan war, solche Oberlieferung zu fordern. Man 
ging unter Ludwig XVIII. darauf aus, die Ereignisse der Jahre 
1789 bis 181 5 als eine Kette von Missetaten und von Erniedri- 
gungen bei den Nachgeborenen und Oberlebenden in Verruf 
zu bringen. 

Es ist nicht anzunehmen, dafi das Bewufitsein, im Paris der 
grofien Revolution vertreten gewesen zu sein und dem Befrei- 
ungskampf der Burgerklasse glaubwiirdige Zeugen gestellt zu 
haben, der deutschen Bourgeoisie unvermittelt abhanden ge- 
kommen ist. Um von Gutzkow und Heine zu schweigen - auch 
fur Alexander von Humboldt und Liebig hat Paris die Kapitale 
des Weltburgertums dargestellt, und die Hauptstadt der guten 
Europaer war es wohl noch in Nietzsches Augen. Erst die 
Reichsgriindung bringt das deutsche Burgertum um sein ange- 
stammtes Bild von Paris; das feudale Preufien macht aus der 
Stadt der grofien Revolution und der Kommune ein Babylon, 
dem es seinen Schaftstiefel in den Nacken setzt. »Berlin soil die 
heilige Stadt der Zukunft werden; seine Strahlenkrone soil iiber 
der Welt leuchten. Paris ist das freche, verderbte Babylon, 
die gro£e Hure, die der von Gott gesandte Engel der Vernich- 
tung . . . von der Erde austilgen wird. Wifk ihr nicht, dafi der 
Herr die germanische Rasse zu seiner auserwahlten gestempelt 
hat?« So Blanqui in dem vehementen Aufruf zur Verteidigung 
von Paris, den er im September 1871 geschrieben hat. 
Gleichzeitig ging dem deutschen Burgertum, eben durch die 
Reichsgriindung, ein zweiter, nicht minder inhaltsreicher Tradi- 
tionszusammenhang verloren, in dem Jochmanns Erscheinung 
zu bewahren gewesen ware. Es ist der Zusammenhang mit der 
Freiheitsbewegung in den baltischen Provinzen. Jochmann war 
Bake. Er ist 1789 in Pernau geboren. Seine Kindheit verlief 



»Die Rikkschritte der Poesie« 575 

in der Abgeschiedenhek dieser Landstadt. Mit dreizehn Jahren 
kam er nach Riga. Nach den Lehrjahren auf der dortigen Dom- 
schule besuchte er die Universitaten Leipzig, Gottingen, Heidel- 
berg. Die Studierenden aus den russischen Ostseeprovinzen hiel- 
ten auf den deutschen Hochsdiulen eng zusammen. In Hei- 
delberg befreundete Jochmann sich mit Lowis of Menar. Die 
Biographie Lowis of Menars von Blum enthalt den eingehend- 
sten Bericht uber Jochmann, der aus diesen friihen Jahren be-, 
steht. Er schliefit eine Episode ein, die als einziges Dokument 
einer politischen Aktivitat Jochmanns die angemessene Folie 
fur seine im folgenden Essay niedergelegten Gedanken bildet. 
»Er gehorte«, heifit es von Jochmann dort, »zu den anziehend- 
sten Erscheinungen, die jene bewegte Zeit aufzuweisen hat. Von 
Natur hochst begabt, bildete er friihzeitig seinen eigenthiim- 
lichen Charakter aus. Er war ein wunderbares Gemisch von 
scharfem Vers.tand und phantastischem Wesen, von kiihner 
Thatkraft und angstlichem Lauern, von praktischem Talent und 
stiller Beobachtung. Schon in fniher Jugend, da er noch in die 
Schule ging, hatte das bewegte Gemiith des merkwiirdigen Men- 
schen iiber Entwiirfe gebriitet, deren Ausfiihrung er zum Theil 
noch erlebte, doch ohne dabei mitgewrrkt zu haben. So nahm er 
einst einen Freund geheimnifivoll aus der Stadt, um ihm in der 
Stille des Waldes seine Plane zur Befreiung Griechenlands aus- 
einanderzusetzen . . . Nun er in Deutschland die Siegesziige der 
Franzosen erlebte . . ., erwachte in ihm ein alter Lieblings- 
wunsch. Er wollte fiir Polens Befreiung wirken. Dazu meinte er 
am ersten Gelegenheit zu flnden, wenn er Napoleons Adlern 
folgte. Sein Entschlufi fand bei dem alteren Freunde [Me- 
nar], dem er ihn allein vertraute, keine Billigung, doch blieb 
er fest! So speisten Beide eines Abends denn noch mit den 
Freunden und schlichen dann davon. Lowis gab ihm in dunkler 
Nacht das Geleite. Bald erhielt er einen Brief, der ihm Joch- 
manns glucklichen Eintritt in ein franzosisches Regiment mel- 
dete. Spater schrieb derselbe noch mehrere Male . . . Nahere 
Bekanntschaft mit den Freiheitshelden der grofien Armee, von 
deren Fiihrer er fiir Polen nichts weiter hoffte, bewogen ihn 
bald, die Franzosen zu verlassen. Spater hielt er die Sache so 
geheim, daft er selbst dem trefflichen Zschokke, den er doch 
ungemein schatzte, nichts davon mitgetheilt zu haben scheint.« 



576 Literarische und asthetische Essays 

Der Gedanke der Bauernbefreiung, der, mit dem der nationalen 
verbunden, durch die franzosische Revolution machtigen An- 
trieb erhalten hatte, ergriff schliefilich, getragen von einigen 
baltischen Intellektuellen, audi die Letten. Unter ihnen finden 
sich die Rigaer Freunde Jochmanns; und hier stofien wir auf den 
Namen von Garlieb Merkel. Merkel stent den Jahren nach zwi- 
schen Forster und Jochmann. Er hat einen schlechten Ruf in der 
Literaturgeschichte. Die Romantiker, zumal A. W. Schlegel, 
haben ihm iibel mitgespielt; seinerseits hat er sich durch unzu- 
langliche Urteile iiber grofie Dichtungen exponiert. Diese Unzu- 
langlichkeit hat die deutsche Literaturgeschichte vermerkt. Was 
sie mit Stillschweigen iiberging, ist die Tatsache, dafi Merkels 
Schrift »Die Letten, vorziiglich in Liefland, am Ende des philo- 
sophischen Jahrhunderts«, erschienen 1797 in Leipzig, den 
Kampf um die Beseitigung der Leibeigenschaft in Lettland 
eroffnet hat. Das Buch zeichnet sich nicht nur durch die uner- 
schrockene Darstellung des Elends unter den lettischen Bauern 
aus, sondern auch durch wertvolle Angabeh zur Folklore der 
Letten. Aus dem Gedachtnis der Gebildeten ist es noch radikaler 
getilgt worden als das Werk von Forster, und man kann sich 
fragen, ob der Verruf, den der Kritiker Merkel auf sich zu 
ziehen schien, nicht vor allem dem Politiker Merkel gegolten 
hat. 

Wer solchen Fragen Raum gibt, dem stellt sich das deutsche 
Burgertum des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts von 
einer wenig beachteten Seite dar. Er stofk auf jene in ihren pro- 
duktiven Gaben begrenzten aber im Haushalt der Weltge- 
schichte so wichtigen Manner, deren Freimut und Oberzeugungs- 
treue die unerlafiliche und verkannte Grundlage fur die weiter 
ausgreifenden, freilich um so behutsameren revolutionaren 
Formulierungen eines Kant und Schiller gewesen sind. Um die 
Mitte des vorigen Jahrhunderts waren diese Zusammenhange 
noch nicht vergessen. Treffend bemerkte damals der baltische 
Schriflsteller Julius Eckardt zu Merkels politischer Wirksam- 
keit: »Wie wohlangebracht war hier jener Enthusiasmus fiir 
die Sache des gesunden Menschenverstandes und der aufgeklar- 
ten Moral, der als kritischer Mafistab fiir den Werth eines 
>Faust< oder auch nur einer >Genovefa< so unertraglich lang- 
weilig ist! ... Die Unerschrockenheit und Rucks ichtslosigkeit, 



»Die Riidkschritte der Poesie« 577 

mit welcher der Jiingling Merkel seine kaum verdaute Weisheit 
auf die Zustande anwandte, die ihn umgaben, schafft uns . . . 
einen hohen Begriff von der ziindenden sittlichen Kraft, welche 
ihrer Zeit jenem vielverrufenen politischen und religiosen Ra- 
tionalismus innegewohnt hat, der heutzutage den Ultras . . . 
zur Zielscheibe . . . schlechter Witze . . . gut genug zu sein 
scheint.« 

Als Merkel in gereifterem Alter mit den Romantikern, gar mit 
Goethe den Kampf aufnahm, waren die Wurfel uber die revolu- 
tionare Zukunfl des deutschen Biirgertums schon gefallen. An- 
ders funfzehn Jahre zuvor. Hinter dem Balten Merkel stand 
nur der kleine Zirkel um Nicolai; der Bake Jakob Michael 
Reinhold Lenz war einer der beherrschenden Geister des Stur- 
mes und Dranges gewesen und ein Wortfuhrer seines revolu- 
tionaren Empfindens. So hat Biichner seine Gestalt herauf- 
gerufen, und so scheint eine der eindrucksvollsten Stellen des 
folgenden Essays einen Nachklang von Lenz festzuhalten. Nach- 
klang oder vielleicht nur Anklang - die Rede Jochmanns von 
den gepriesenen Bliiten unserer Poesie, deren »kaum zwei oder 
drei« aus anderem Samen als dem der Knechtseligkeit entwach- 
sen seien, erinnert an die erschutternden Lenzschen Verse: 

Deutschland, armes Deutschland, 
Die Kunst trieb kranke Stengel aus 

deinem Boden, 
Hochstens matte Bliiten, 
Die an den Ahren hingen vom Winde 

zerstreut, 
Und in der Hiilse, wenn's hoch kam, 
Zwei Korner Genie. 

Jochmann ist den Zeitgenossen aus dem Wege gegangen. 
Wer die sprachliche Gestalt des folgenden Essays in sich auf- 
nimmt, den wird es wenig erstaunen, dafi sein Autor nichts, was 
er veroffentlichte, gezeichnet hat. Audi wahlte er kein Pseud- 
onym; namenlos in das Schrifttum eingehend, bettelte er ihm 
keine Unsterblichkeit ab. Mit ungebrochenerem Rechte als 
Lichtenberg hatte er seine Schriften »Ihrer Majestat der Ver- 
gessenheit« widmen konnen. Der Zukunft, von welcher er in 
prophetischen Worten spricht, wendet er gleichsam den Ruk- 



578 Literarische und asthetische Essays 

ken, und sein Seherblick entziindet sich an den immer tiefer ins 
Vergangene hinschwindenden Gipfeln der friiheren heroischen 
Menschengeschlediter und ihrer Poesie. Desto wichtiger ist es, 
auf die tiefe Verwandtschaft hinzuweisen, die dieser seherische 
und in sich verschlossene Geist mit den deutschen Verfechtern 
der biirgerlichen Revolution gehabt hat. Der soldatischste unter 
ihnen, Johann Gottfried Seume, fiihrt in den baltischen Kreis 
zuriick. Die Verrottung des Feudalismus liefi sich im Baltikum 
gut studieren; Seume hat mit kritischem Blick fur die Zustande 
der Gesellschaft Europa durchwandert. Er betrat, so erzahlt 
man von ihm, die Stube lettischer Bauern, und sein Blick fiel 
sogleich auf die grofie Peitsche, die an der Wand hing. Er fragte 
nach ihrer Bedeutung, und hat die Antwort, die er bekam, 
festgehalten. »Das sind, so lautete der Bescheid, unsere Landes- 
gesetze.« 2u Merkels Schrift fiir die lettischen Leibeigenen hat 
Seume aus dem Manuskript ein Gedicht beigesteuert, das den 
Abschlufi des Bandes bildet. 

Jochmann hat unter den lettischen Verhaltnissen schwer gelit- 
ten. Auch hat er Riga, nachdem er die Stadt 18 19 im Besitz 
eines ausreichenden, in seiner Anwaltschaft erworbenen Ver- 
mogens verlassen hatte, nicht mehr wiedergesehen. » Jochmann«, 
so sagt sein Biograph, »hat den Gewinn einer schon in jungen 
Jahren errungenen hoheren Geistesbildung und Klarheit mit 
einer Heimathlosigkeit erkauft, an der er lebenslang siechte.« 
Einsichtig aber setzt er hinzu, »dafi seine Krankheit seine Ge- 
sundheit war und dafi seine Zerfallenheit mit dem Vaterlande zu 
einer Anklage gegen dieses wird«. Jochmann hat bis zu seinem 
Tode, der schon 1830 eintrat, abwechselnd in Paris, in Baden und 
in der Schweiz gelebt. In der Schweiz schlofi er sich Zschokke an, 
dem die Erhaltung seines Nachlasses zu verdanken ist. 
Die Namen - einschliefilich dieses letzten -, die im Wirkungs- 
kreise von Jochmann begegnen, zeigen: es bedurfte keiner be- 
sonderen Veranstaltung, um ihn zu einem Verschollenen zu 
machen. Sie alle, die den abgesprengten Vortrupp des Biirger- 
tums in Deutschland gebildet haben, sind mehr oder weniger 
vergessen, darunter schriftstellerische Talente, die, ohne an 
Jochmann heranzureichen, sich mit Beriihmteren leicht messen 
konnten. Wenn aber kaum einer dem offentlichen Bewufit- 
sein so ganzlich wie gerade Jochmann verlorenging, so hat das 



»Die Riickschritte der Poesie« $79 

seine besondere Ursache. Und zwar eine objektive, die ihrerseits 
die subjektive Scheu vor der Autorschaft dem Verstandnis 
naherbringt. Er ist unter den Versprengten ein Isolierter. 
Jiinger als seine Kampfgenossen, fand Jochmann sich in der 
Bliitezeit der Romantik. Er hat seine Abneigung gegen sie 
nicht verheimlicht - eher so uberschwenglich ausgesprochen, 
dafi man einen Augenblick im Zweifel sein kann, an wen er 
denkt, wenn er von den »geverselten Schriften« spricht, zu 
denen »altere Fundgruben den Stoff hergaben«. Dennoch ist 
kein Zweifel, dafi er sich den »muhseligen. Miifiiggang . . ., den 
wir Gelehrsamkeit nennen«, von der Verfertigung von Gebil- 
den wie dem »Kaiser Octavianus« von Tieck, den »Romanzen 
vom Rosenkranz« von Brentano, wenn nicht gar den »Hymnen 
an die Nacht« von Novalis ausgefullt dachte. Und wenn er die 
Stubengelehrten schilt, die sich in das Zeitalter der Pyramiden 
zuriicksehnen, so hat er Lorenz Oken im Auge. 
Isoliert stehen die Vorkampfer des deutschen Biirgertums in 
ihrer Zeit; unter ihnen ist Jochmann ein Isolierter; und wieder- 
um isoliert steht der Aufsatz »Ober die Riickschritte der Poesie« 
unter Jochmanns Schriften. Der geschichtlichen Konstruktion, 
die der Essay bietet, ist nichts in den anderen zu vergleichen. 
In dem Ausmafi seiner philosophischen Spannungen liegt der 
Grund seiner Bedeutung wie seiner Schonheit. Um von der 
letzteren zuerst zu sprechen: der Aufsatz ist dadurch ausge- 
zeichnet, dafi er, hochsten philosophischen Gehalt bergend, der 
philosophischen Terminologie sich entaufiert hat. Eine seltene 
schriftstellerische Meisterschaft war Bedingung fiir die Bergung 
seines Gedankenguts. »Der konzise Stil«, sagt Joubert, »gehort 
der Reflexion an. Wer mit Nachdruck gedacht hat, gibt bei der 
Niederschrift dem Ertrag seiner Oberlegungen eine skulpturale 
Pragung.« Jochmanns Syntax tragt gleichsam Meifielspuren. 
Der Essay umgreift die Geschichte der Menschheit von der Ur- 
zeit bis in die Zeitenferne. In dieser Spanne entsteht die Poesie 
und vergeht sie wieder. Vergeht sie wirklich? Jochmann zeigt 
in dieser Frage eine denkwiirdige Unschliissigkeit. Soweit er 
Gedanken der Aufklarung fortentwickelt, fiihren sie ihn dazu, 
Platos »Verbannungsurtheil« iiber den Dichter zu bestatigen. 
OfFenbar aber kassiert dieses Urteil der Schlufiabsatz. Wenn 
der Leser eine »belohnendere weil gescheutere« Betatigung der 



580 Literarische und asthetische Essays 

Einbildungskraft, wie sie der Verfasser sich fiir die Zukunft er- 
hofft, nicht notwendig als eine dichterische sich denken mufi - 
vielmehr solche Wendung sehr wohl als einen Ausblick auf eine 
humanere Staatswirtschaft interpretieren kann -, so kennt der 
Schlufiabsatz seinerseits einen wiedergeborenen »Dichtergeist«, 
der nun erst in den »Triumphgesangen des fortschreitenden 
Gliickes« zu seiner Bestimmung kommt. Dieses eigentumliche 
Schwanken, diese fast eingestandliche Ungewifiheit iiber die 
fernere Ausbildung des dichterischen Vermogens diirfte bedeut- 
samer sein als es irgendeine kategorische Aussage iiber diesen 
Gegenstand gewesen ware. Nicht nur dafi die hier waltende 
Besonnenheit auf das engste mit der eigentiimlichen Schonheit 
des Essays zusammenhangt; man darf dariiber hinaus vermu- 
ten, dafi ein Versuch, der mit kategorischen Aussagen iiber 
diesen Gegenstand belastet gewesen ware, schwerlich hatte ge- 
lingen konnen. Es ist demnach zu bewundern, mit welcher 
Weisheit Jochmann seine Worte gewogen hat, und wie er, 
sogleich im zweiten Absatz, sich begniigt, die leise und eindring- 
liche Frage aufzuwerfen, ob wir denn recht haben, »alles Ver- 
gangene auch fiir verloren, und alles Verlorene fiir unersetzt 
und unersetzlich anzusehen«? 

Das tat die Romantik. Von den Jochmannschen Oberlegungen 
aus fallt Licht auf vereinzelte denkwiirdige Reaktionen, denen 
die Briider Schlegel begegnet waren, als sie den humanistischen 
Enthusiasmus ihrer Jugendjahre mit dem spateren fiir das 
christliche Mittelalter vertauschten. Diese Wendung war urn 
1800 nicht mehr verkennbar. Aus dem Jahre 1803 stammt ein 
Brief, der nach Geist und Form den Einsichten Jochmanns nicht 
unwiirdig praludiert. Es schreibt ihn A. L. Hulsen an den alte- 
ren Gesinnungsfreund A. W. Schlegel. Sein Appell geht von 
den Neigungen aus, welche um die Jahrhundertwende das euro- 
paische Rittertum zu einem bevorzugten Gegenstand der 
Briider Schlegel hatten werden lassen. »Behiite uns«, so heifit 
es bei Hulsen, »der Himmel, dafi die alten Burgen nicht wieder 
aufgebaut werden. Sagt mir, lieben Freunde, wie soil ich Euch 
darin begreifen. Ich weifi es nicht . . . Ihr mogt die glanzen[d]- 
ste Seite des Ritterwesens hervorsuchen, sie wird so vielfach 
wieder verdunkelt, wenn wir es im Ganzen nur betrachten 
wollen. Friedrich moge nach der Schweiz reisen und unter 



»Die Riickschritte der Poesie« 



581 



andern nach Wallis. Die Kinder erzahlen ihm nodi von den 
ehemaligen Zwingherrn, indem sie die stolzen Burgen benennen, 
und das Andenken ihrer Tyrannen erscheint in den Triimmern 
unverwiistlich. Aber dieser Betrachtung bedarf es gar nicht. Es 
ist genug dafi dies Wesen mit keiner gottlichen Anordnung des 
Lebens bestehen kann. Viel lieber mochte man audi wunschen, 
dafi der grofie Haufe, den wir Volk nennen, uns Gelehrte und 
Ritter sammtlich auf den Kopf schliige, weil wir unsre Grofie 
und Vorziige auf sein Elend allein griinden konnen. Armen- 
hauser, Zuchthauser, Zeughauser und Waisenhauser stehen ne- 
ben den Tempeln, in welchen wir die Gottheit verehren wollen 
. . . Sprechen wir vom Menschen so liegt an uns alien qua 
Philosophen und Kunstler durchaus gar nichts; denn das Leben 
eines einzigen in seinen Anfoderungen an die Gesellschaft - 
moge er der elendeste audi seyn - ist bei weitem mehr werth, 
als der hochste Ruhm, den wir als Gelehrte und Ritter uns 
erklingen und erfediten mogen.« 

Mit der Romantik setzte die Jagd nach dem falschen Reichtum 
ein. Nach der Einverleibung jeder Vergangenheit, nicht durch 
die fortschreitende Emanzipation des Menschengeschlechts, kraft 
deren es seiner eigenen Geschichte immer geistesgegenwartiger in 
das Auge sieht und immer neue Winke ihr abgewinnt, sondern 
durch die Nachahmung, das Ergattern aller Werke aus abgeleb- 
ten Volkerkreisen und Weltepochen. Die Romantiker streckten 
die Hand nach dem Epos des Mittelalters aus - und es war 
umsonst; die Nazarener nach seiner Heiligenmalerei - und 
audi das vergeblich. Gewifl konnen diese Unternehmungen, in 
andere geschichtliche Zusammenhange eintretend, gluckhafter 
und gewichtiger sich darstellen. Jochmann sah sie als miE- 
gliickte und als bedeutungslose und erschloE eben damit seinem 
Blick eine historische Perspektive, die seinen Zeitgenossen ver- 
stellt geblieben ist. Erst am Jahrhundertende und als das Unheil, 
in Gestalt der Architektur zumal, in Europa sich eingenistet 
hatte, begann der Jugendstil gegen diesen immer grofispuriger 
sich gebardenden, immer billigeren Reichtum sich zu emporen. 
Die Theorien von van der Velde fingen an, ihren Einflufi zu 
iiben, die Diisseldorfer Schule von Olbrich, der Wiener Werk- 
bund, fiihrten diese Reaktion fort, die mit der neuen Sachlichkeit 
ihre letzten, mit Adolf Loos ihre wichtigsten Thesen aufstellte. 



582 Literarische und asthetische Essays 

Outsider wie Jodimann es war, ist audi Loos gewesen. Ihn 
erfullte das instinktive Bestreben, um jeden Preis den Anschlufi 
an den Rationalismus der biirgerlichen Bliitezeit zuriickzuge- 
winnen. Sein Satz »Ornament ist Verbrechen« erscheint nicht 
umsonst als ein Resume der Jochmannschen Bemerkungen iiber 
die Tatowierung. Im Werk von Adolf Loos bereitet ein Be- 
wufitsein von der Problematik der Kunst sich vor, das dem 
asthetischen Imperialismus des vergangenen Jahrhunderts, dem 
Goldrausch an den »ewigen« Werten der Kunst entgegenwirkt. 
Von Loos fallt auf Jodimann Licht. Der erste schrieb, einen 
eingewurzelten Unfug abzuschafifen; der zweite bot Palliative 
eines Ubels, das sich eben in seinem Beginn befand. Nach dem 
Weltkrieg trat die Debatte in ihr entscheidendes Stadium: die 
Fragestellung mufite theoretisch durchdrungen oder modisch be- 
schonigt werden. Beide Losungen hatten ihr politisches Aquivalent. 
Die erste fallt mit neueren Versuchen einer materialistischen 
Theone der Kunst zusammen (vgl. Walter Benjamin: L'CEuvre 
d'art a Tepoque de sa reproduction mecanisee, Zeitschrift fiir 
Sozialforschung, Jahrgang V, 1936, Heft 1). Die zweite wurde von 
den totalitaren Staaten begunstigt und nahm die reaktionaren 
Momente auf, die im Futurismus, im Expressionismus, zum Teil 
auch im Surrealismus zu finden waren. Sie bestreitet die Problema- 
tik der Kunst, um das Pradikat des Asthetischen noch fiir ihre 
blutigsten Vollstreckungen in Anspruch zu nehmen. Zugleich lafit 
sie erkennen, wie die Begehrlichkeit nach dem Gut der Vergan- 
genheit jedes Mafi uberschritten hat: nichts Geringeres schwebt 
den Faschisten vor, als des My thos sich zu bemachtigen. 
Demgegeniiber vernehmen wir Jochmanns Rede: »Nicht alles 
Vergangene ist verloren.« (Wir brauchen's nicht neu zu ma- 
chen.) »Nicht alles Verlorene ist unersetzt.« (Vieles ist in hohere 
Formen eingegangen.) »Nicht alles Unersetzte ist unersetzlich.« 
(Vieles einst Niitzliche ist nun unniitz.) Dafi Jodimann seiner 
Zeit hundert Jahre vorausgewesen sei, darf man nahezu mit 
der gleichen GewiEheit aussprechen wie dafi er seinen romanti- 
schen Zeitgenossen um ein halbes Jahrhundert in der Entwick- 
lung zuruckgeblieben erschienen sein mufi. Denn »die Romanti- 
ker standen«, wie Paul Valery schreibt, »gegen das achtzehnte 
Jahrhundert auf und bezichtigten leichtmiitig der Oberflach- 
lichkeit Manner, die unendlich viel unterrichteter waren als sie, 



»Die Rikkschritte der Poesie« 



583 



unendlich mehr Spiirsinn fiir Fakten und fiir Ideen hatten und 
viel mehr auf Vorhersagen und grofie Gedankenzusammen- 
hange aus waren als sie - die Roman tiker - selbst.« 
Jochmann spannt den Bogen seiner Betrachtung zwischen der 
grauen Vor-Zek und der goldenen Hoch-Zeit des Menschenge- 
schlechtes aus. Er fafit die Laufbahn ins Auge, die mehreren 
ihrer Tugenden, vor allem der Kunstfertigkeit in der Poesie, im 
Laufe soldier Entwicklung beschieden ist; er erkennt, dafi der 
Fortschritt des Menschengeschlechts mit den Ruckschritten meh- 
rerer Tugenden, vor allem aber mit dem Riickschritt der poeti- 
schen Kunst, auf das engste verbunden ist. Eine Frage liegt 
nahe. Ruht die Wolbung, die er dergestalt zwischen der Urzeit 
und der Zukunft der Menschheit spannt, auf dem Pfeiler der 
Hegelschen Lehre auf? Im Augenblick ist es nicht moglich, etwas 
Sicheres dariiber auszumachen. Gewifi lag die »Phanomenologie 
des Geistes« schon vor, als Jochmann zu studieren begann. Aber 
ist sie ihm in die Hand gekommen? Dafi die Beziehung, die 
zwischen den Fortschritten des Menschengeschlechts und den 
Riickschritten der Poesie nach Jochmann obwaltet, eine dialek- 
tische im Sinne Hegels ist, wird man nicht bezweifeln. Aber 
derart gelegentliche dialektischeKonstruktionenkann man gleich- 
zeitig bei Autoren antreffen, die bestimmt keine Kenntnis von 
Hegel hatten; etwa bei Fourier in der Behauptung, dafi alle 
partialen Verbesserungen in der Sozialverfassung des Men- 
schengeschlechtes wahrend der »Zivilisation« notwendig eine 
Verschlechterung des gesamten status zur Folge haben. Im iibri- 
gen spricht einiges dafiir, dafi Jochmann mit Fourierschen Ge- 
danken nicht unbekannt war. Zu der bedeutsamen Reflexion 
iiber virtus post nummos vergleiche man im »Nouveau monde 
industriel et soci^taire« die Stelle: »Dieses gemeine - namlich 
in den Augen der Moralisten gemeine - Metall wird zu etwas 
sehr Edlem werden, wenn es der Aufrechterhaltung der ein- 
heitlichen Produktionsordnung dienen wird.« Ahnliche Beriih- 
rungen lassen sich in andern Aufzeichnungen von Jochmann 
aufweisen. Doch ist es kaum ratlich, den Vergleich fortzufiih- 
ren, zu fragen, ob sich in die Triumphgesange des fortschreiten- 
den Gliickes, denen Jochmann entgegenlauschte, die Kinderchore 
aus den Opern der phalansteres mischten. Das ist, so verlok- 
kend es ware, sich's vorzustellen, doch aufierst ungewifi. 



584 Literarische und asthetische Essays 

Jochmann stattet die kiinftige Gesellschaft nicht mit den bunten 
Farben des Utopisten aus. Vielmehr zeichnet er sie mit dem 
niichternen klassizistischen Strich, mit dem Flaxman den Um- 
rissen der Gotter folgte. Die strenge privative Formulierung, 
in der die gleiche Sadie bei Marx hervortritt: die »klassenlose« 
Gesellschaft, scheint in dem Jochmannschen Text eher als in 
denen der Utopisten einen Vorlaufer zu besitzen. Noch unab- 
weislicher aber tritt im Begriff der »Gesange der alten Welt« 
eine historisdie Verschrankung zutage. In seinem Gefolge be- 
gegnet die Phantasie als das »urspriingliche Seelenvermogen«, 
und von ihr hebt die Gabe der verniinftigen Oberlegung als eine 
spater erworbene sich deutlich ab. Daher die Poesie die natiir- 
liche Sprache der alten Welt ist, die Prosa aber, als die der ver- 
niinftigen Oberlegung gemafiere, erst spater auftritt. »Der 
Gesang stellt die Elemente der ersten Sprache. « So lesen wir 
es in der 59. These des ersten Buches von Vicos »Scienza 
nuova«. 

Jochmanns Theorie von der Dichtung als dem urspriinglichen 
Sprachvermogen der alten Welt stammt von Vico. Die Bilder- 
sprache, die lautlos in Winken von hieroglyphischer oder alle- 
gorischer Art sich darstellt, ist nach Vico die Sprache des ersten 
Weltalters: des gottlichen. Es folgt die des Gesangs, des heroi- 
schen, die fiir Vico aus einer doppelten Quelle fliefit. Einer- 
seits aus der »Durftigkeit der Sprache«, andrerseits aus der 
»Notwendigkeit, demungeachtet einen verstandlichen Ausdruck 
zu erzielen«. Das eben liegt der Ausdruckskraft der heroischen 
Sprache zugrunde, dafi sie, weit entfernt, das prosaische Wort 
abzulosen, die Stummheit sprengt. Die prosaische Rede macht 
den Beschlufi als die der Spatzeit, die dritte Sprache. Dies ist die 
entscheidende Konzeption Vicos, die bei Jochmann fruchtbar 
geworden ist. Dafi Jochmann sie in der Tat keinem andren als 
dem Vico entnommen hat, erweist dessen 58. These, deren 
genialen Lakonismus Jochmann an einer Stelle seines Essays 
in einen besonders schonen Periodenbau uberfuhrt. Die These 
lautet: »Die Stummen stofien unartikulierte Laute aus, die etwas 
vom Gesang haben. Die Stotterer finden im Gesang Mittel und 
Wege, die Beweglichkeit ihrer Zunge zu steigern.« 
Fiir Jochmann war, wie fiir Vico, das Bild der Gotter und der 
Heroen, wie es die Fruheren erfiillte, nicht eine Ausgeburt 



»Die Ruckschritte der Poesie« 



5«5 



schlauer priesterlidier Betriiger, keine Liigenmar maditlustiger 
Eroberer; diese Bilder waren die ersten, in denen die Menschheit, 
wenn audi unklar, ihre eigene Natur ansprach und Kraft fur die 
weite Reise schopfte, vor der sie stand. Dafi, mit Jochmann zu 
reden, eine »mehr dichterische Beschaffenheit aller Meinungen 
und Kenntnisse der Menschen« einst ein unerschdpflicher Fun- 
dus der Poesie gewesen sei, ist nicht minder eine Vicosche An- 
schauung als dafi die Unbeholfenheit der friihesten Sprachen 
diese dem Gesange empfohlen habe. »Das poetischeWissen«,sagt 
Vico, »das in der Epoche des Heidentums das erste war, beruhte 
auf einer Metaphysik . . ., welche sinnlich geladen und von der 
Einbildungskraft beherrscht war. Das entsprach den ersten Men- 
schen, deren Sache nicht das Nachdenken war, sondern eine ge- 
waltige Anschauungskraft und eine urspriingliche Phantasie. Dies 
bestimmte die Dichtung, die ihnen zu eigen war. Sie entsprang 
ihrem Wesen und ihrer Unwissenheit.« 

Kraft der auf Vico gegriindeten Anschauung von der Vorzeit 
ist Jochmann ebenso entscheidend von der Aufklarung abge- 
sondert, wie er durch seinen Begriff von der Zukunft von den 
Romantikern isoliert ist. Erst dieser doppelte Umstand lafit die 
Vereinsamung ganz ermessen, in der die folgenden Aufzeichnun- 
gen gemacht wurden. Er lafit erkennen, warum sie vergessen 
wurden: nichts schien sie dem Oberlieferten zu verweben; nie- 
mand hat ihren Faden aufzunehmen vermocht. Wir diirfen 
hoflfen, dafi ihre gegenwartige Wiederbelebung ebensowenig zu- 
fallig ist wie ihre bisherige Verschollenheit. 

Walter Benjamin 



Carl Gustav Jochmann's, von Pernau, Reliquien. Aus seinen nach- 
gelassenen Papieren. Gesammelt von Heinrich Zsdiokke. Erster Band. 
Hechingen, Verlag der F. X. Ribler'schen Hofbuchhandlung. 1863. 

[Ill] Vorwort. Es sind Reliquien tines verstorbenen, edeln Deut- 
schen, die hier mitgetheilt werden; - Vberbleibsale von dem, was 
der geistreiche Mann selber nur, als endliches, letztes Ergebniji von der 
Beobachtung eines der schicksalvollsten Zeitalter, fUr sich Ubrig be- 
batten hatte. Er setzte den Freund, welchem er sterbend im Ver- 
machtnifi seine Papiere Uberlieft, weniger zum Erben derselben, als 
zum Schiedsricbter ein, ob daran etwas der offentlichen Bekannt- 
macbung wilrdig sein moge. Jeder Tadel also, gerechter wie ungerech- 



586 Literarische und asthetische Essays 

ter, vom Inhalt gegenwartiger Sammlung, trifft den Herausgeber 
derselben allein. Bisber 1st in der deutscben, lesenden Welt Jocbmann's 
Name wenig genannt und gekannt warden. Denn mit nicbt geringerer 
Angstlichkeit, als wobl Andere einem schriftstellerischen Rufe nach- 
jagen, floh ibn der Bescheidene, oder Lebenskluge; und vielleicht nicbt 
ganz mit Unrecbt. Wenn er sick bereden liefl, eine oder die andere 
seiner Arbeiten drucken zu lassen, mufite dabei immer die feste Ge- 
beimbaltung ibres Verfassers Hauptbedingung werden 1 . [IV] Der 
grojlere Theil des literariscben Nachlasses bestand nun in einer Menge 
fteifiig gesammelter Materialien zur Fortsetzung oder Erweiterung 
jener schon abgedruckten Schriften, uber Gescbicbte des Protestantis- 
ms, iiber Hierarchie, Homoopathie u.s.w. ... -; ein anderer Theil 
in beflreicben Tagebucbern; einzelnen, ganz oder halb vollendeten 
Aufsatzen, in Entwurfen und Vorarbeiten Behufs kiinftiger Arbeiten 
uber die franzosische Revolution, Jesuiten, politische Okonomie, Reli- 
gion und Gescbicbte derselben, wie auch einer Natur -gescbicbte des 
Adels. Von Allem, was nur rober Stoff geblieben war, wurde vom 
Herausgeber der vorliegenden Sammlung kein Gebrauch gemacht, aus 
Grunden, die leicht errathen werden, Dieser begnugte sich, die zer- 
streuten, eigenen Beobachtungen und Anmerkungen Jochmann's uber 
Welt, Wissenscbaft und Leben auszulesen, oder einzelne, vollendete 
Aufsatze zusammenzuordnen. Verscbiedene von den letztern sind als 
Probeausstellung, in einen [sic] Paar Zeitschriflen 2 hingegeben, aber 
wie billig, zur Vervollstandigung, auch in dieser Sammlung aufge- 
nommen worden, zumal Zeitschriflen selten beacbtet werden, oder der 
Bewahrung wertb sind ... [V] Jocbmann, eben so edlen Geistes als 
Gemiithes, frei von der Herrschafl des Vorurtheils und der Leiden- 
scbafi; im Besitz der grundlichsten Gelehrsamkeit und mannigfaltig- 
sten Kenntnisse, aber dabei anspruchslos; unabhangig in seinen Ver- 
mogensumstanden; im Umgang und Verbindung mit ausgezeichneten 
Mannern, die er wahrend seines wechselnden Aufenthalts in Rut- 
land, England, Deutschland oder in Frankreich, der Schweiz und Ita- 
lien kennen lernte, zog, jeder Rolle auj der Weltbuhne, die des pbilo- 
sopbischen Beobachters vor ... Sein Sty I, meistens im leicht en, freien 
Gesellschaflston, wird oft glanzend, oft rednerisch; oft fubrt er eine so 
gedrangte Masse schwerer Gedanken mit sich, daji Satz um Satz ge- 

1 Er war der anonyme Verfasser der (in Carlsruhe bet C, F. Winter) erschienenen 
geistvollen Bemerkungen »uber Sprache,* so wie der (ebendaselbst herausgekomme- 
nen) »Beitrage zur Gescbicbte des Protestantismus;* desgleicben der Hie[lV]rarchie 
und ihrer Bundesgenossen* (Aarau bei H. R. Sauerlander), und der »Homoopathi- 
schen Briefer 

2 In den »Oberlieferungen zur Gescbicbte unserer Zeit* und im * Prometheus fur 
Licht und Recht.* 



»Die Rucksdiritte der Poesie« 587 

mustert und gewogen sein will. Und durch ihren ernsten Zug fabren 
dann unerwartet brennende, treffende Blitze der Wahrheit in der 
Seele des Lesers auf. Jochmann ist uberhaupt einer der wenigen Scbrifl- 
steller unserer Tage, welche den Erbolung suchenden Geist, indent sie 
ihn nur erquicken wollen, unvermutbet in sich selber aufregen, dafi er 
lebendiger, schdrfer sehend, [VI] und scbopferischer wird, die mebr 
Licbt in unserm Innern wecken, als von AufSen hineintragen . . . 
Aarau, den 12. Dezember 1835. Heinricb Zscbokke. 

[1] Karl Gustav Jochmann, von Pernau. (Mittheilungen zu dessen 
Lebensgeschichte, vom Herausgeber.) . . . Pernau ist ein Stddtchen in 
Liefland, am rigiscben Meerbusen. Hier ward Jochmann am 10. Fe- 
bruar 1790 geboren. Fur die Wifibegier des Knaben sche'mt, scbon in 
seinem dreizehenten Alter sjahr, die dortige Scbule ein zu beschrank- 
tes Feld der Kenntnisse offen gebalten zu hdben. Sein Vater vertraute 
ibn also einem Freunde, dem Staatsratb Kreutzing y in Riga an, um 
ibn die Domschule daselbst besuchen zu lassen. Nacb vier Lebrjahren 
begab sich der siebenzehnjabrige Jungling an die Hochschule von Leip- 
zig; besuchte dann noch Gottingen, Heidelberg und, der fran[2]- 
zosischen Sprache m'dchtiger zu werden, Lausanne. Nach Riga zuriick- 
gekehrt, trat er, als Rechtsanwalt, in das Geschdflsleben. Er arbeitete 
mit Gliick. Aber sei es } dafi ibm zuweilen noch seine Jugend zum 
Vorwurf gereichte, oder dafi er's bereute, sich zu fruh an ein bleiben- 
des Verhdltnifi im Leben gebunden zu haben: er ging im Jahr 
1812 nach England, um auch in der englischen Sprache Gewandt- 
heit zu gewinnen. Er besuchte Oxford und Edinburg; dann verlebte 
er ein voiles Jahr, theils in London, theils auf dem Lande bei einem 
Prediger . . . Seinen Beruf, als Rechtsconsulent, betrieb er, nach 
der Heimkunft in Riga, zwar mit Beifall, aber ohne Freude. Nicht 
Geld-Ernten, nicht offentliche Achtung, die ibm dafur zu Theil 
wurden, konnten ibn mit einem Beruf aussohnen, der seinen Nei- 
gungen widerstrebte. Er diirstete nach unabhdngigerm Leben, unter 
milderm Himmel, unter Volkern von vorgeschrittener Gesittung 
. . . Inhaber eines Vermogens, welches ihm Unabhdngigkeit und 
eine sorgenfreie Zukunft zusicberte, schied er endlich im April 18 19 
aus den Armen seiner rigischen Freunde . . . [3] ... Er athmete freier 
und heiterer, als er Deutschlands Boden betrat; als er wieder der XJn- 
terbaltung mit den Weisen und Kunstlern des Zeitalters genofi; und 
ungehemmt in Bluten und Fruchten der Literatur schwelgen konnte. 
Doch bald fand er auch im d amaligen D e u t s c h land fur 
sein Gemiith etwas Unwirthliches, Unheimathliches. Unter den du- 
stern Fittigen der heiligen Allianz wehte ihm schwule, beengende 
Luft. Wohin er kam, begegneten ihm durch Partheigeist aufgeregte 



588 Literarische und asthetische Essays 

Menschen. Es war en die Tage, da der Dichter Kotzebue durch den 
Dolcb Sands ge) alien war. Er mogte nlcbt unlet den Deutscben langer 
weilen. 

[Aus Zschokkes Beridit von seiner ersten Begegnung mit Jodimann 
am 12. September 1820.] [35] Wabrend wir . . . im Garten plaudernd 
beisammen saflen, und er mir abwechselnd von seinen Reisen, oder 
seinen Entwiirfen fiir die Zukunft, erzablte, verlor icb mich in Be- 
trachtung seiner Person. Woblgebaut ) von kaum mittlerer Grofie, aber 
mager und zart, verrietb er, in der krankbaften Farbe seines sonst 
angenehmen Gesicbts, eine schon zerstorte Gesundbeit. Selbst der 
freundlicb-milde Blick seiner Augen, auch wann er in Augenblicken 
der Begeisterung, oder im Ge[$6]fuhl der Freude lebhafler erglanzte, 
schien ein verborgenes Leiden anzuklagen. Allmdlig verdunkelte sicb 
vor mir seine Gestalt, als wurde sie nebelbafl; icb borte wobl seine 
Stimme, aber ohne seine Worte zu beachten. Es ward in diesem Au- 
genblick der Gang seines bisberigen Lebens, selbst die gebeime Ge- 
schichte seines Herzens, bis auf gewisse Eintelbeiten, in mir bell. Als 
er endlicb eine zeitlang stillscbwiegy vermutblicb einer Antwort von 
mir gewdrtigy erwacbte icb wieder zur Besonnenheit und Klarbeit der 
Dinge um mich ber. Statt das Gespracb fortzusetzen, bat icb um Er~ 
laubnifi, ibm off en zu sagen, was unwillkiirlicb in mir vorgegangen 
sei, weil mir's selbst zu wicbtig ware, von ibm zu erfabren, ob mich 
vielleicht meine Phantasie mit einer Selbsttduscbung affe. Icb erzablte 
ihm von seiner Vergangenheit, von besondern Lebensverbaltnissen 3 
von einer Liebe, die schmerzlichen Ausgang fur sein Gemutb gebabt 
u. s. w. Er starrte mich seltsam an; er gestand redlicb die verscbiedenen 
Vorgange ein, selbst die Richtigkeit von mir angefubrter Nebendinge 
und Kleinigkeiten. Beide gleich sehr verwundert, erscbopflen wir 
uns in fortgesetzter Unterbaltung mit Vermuthungen aller Art, dies 
seelische Ratbsel zu losen. 

[Weitere Lebensdaten und Tod nacb Zschokke.] [36] Von da stamm- 
te eine Freundscbaft, die wir fiir einander durcbs ganze Leben unge- 
brocben bewahrten. Er be gab sicb ins sudlicbe Frankreich, um seine 
Gesundbeit unter milderm Himmel erstarken zu lassen. Unbefriedigt 
kebrte er nacb beinahe einem Jahre zu mir zur tick, bracbte einen Tbeil 
des Sommers (1821) in verscbiedenen Gegenden der Scbweiz zu; [37] 
ging (im Herbst 182 1) nacb Paris, wo er im Umgang mit Oelsner, 
Schlabrendorf, Stapfer, und andern Weisen und Geschafismannern, 
herrliche Tage verlebte, aber wieder zuruckkam, um in den Heil- 
quellen von Baden-Baden seine Genesung zu sucben. Diese scbienen 
ibm zusagend; er siedelte sicb endlich dort, und abwechselnd in 
Karlsruhe, fast ganz an ... [77] Er liebte das Leben, als eine » stifle 



»Die Rikkschritte der Poesie« 589 

Gewohnhett;« aber glaubte selber im Ernst nicht an eine lange Dauer 
desselben; [78] wiinschte sie sogar nicht y wenn sie nur eine Verldnge- 
rung seines Hinwelkens seyn sollte . . . [80] In seinem Testament 
lautete der achte Satz: »Meine sdmmtlichen Handschriflen von Mate- 
rialien-Sammltmgen, Aufsdtzen u. dgl. aller Art, mit einziger Aus- 
nahme meiner Korrespondenz- und Geschdflspapiere y vermache ich 
meinem lieben, verehrten Freunde Herrn Heinrich Zschokke in Aarau, 
dem sie kostenfrei zuzustellen sind. Ich bezweifle, daft er viel mit 
ihnen anzufangen wissen wird. In jedem Fall iibemimmt er dann 
wohl, aus alter Freundschafl fur mich, die MUhe y sie zu vernichten.* 

[Aus einem Brief Jodimanns an E. H. v. Sengbusch in Riga vom 
11. Juni 1819, aus Tharand.] [4] Die Engldnder baben Geschicht- 
schreiber; die Italiener batten dergleichen in den Zeiten ibrer Freiheit 
und ihres Rubms. Die Franzosen baben wenigstens sebr reiche Samm- 
lungen fUr eine Geschichte y namlich Denkwiirdigkeiten, die nur durch 
ibre Verborgenheit dem vergiftenden Einflusse der gleichzeitigen Au~ 
toritdten entgingen y und erst unter spaten Nacbkommen an's Licht 
traten. Nur in Deutschland giebt es, Dank der demUthigen Blindbeit 
der Niedern, und der vornehmen Unwissenbeit der Hobern! nur in 
Deutschland giebt es fast nichts, als S t ammb dume und einen 
Haufen bedeutungsloser fiirstlicberFamiliengeschich- 
ten, in die des Volkes Geschichte zusammengeschrumpft ist. Ein 
Herbarium statt der Aussicht in eine reiche Landschaftf ... [18] Dazu 
kommt, dajl die deutschen Regierungen, vielleicht in dem Bewufltseyn 
ibrer unsichern Stellung, aber gewifi nicht zur Sicherstellung derselben, 
der Idcherlicbsten Eifersucht gegen das einbeimische Verdienst Raum 
geben, und jeden ausgezeichneten Deutschen daran gewohnen, von 
fremden Regierungen das Anerkennen seiner Verdienste zu erwarten 
und bei Fremden die Belohnung derselben, ja sogar nur den Schutz> 
der jener Scbuldigkeit ist y zu finden. 

[141] Fichte's geschlossener Handelsstaat. Wunderlicb y dap ein pbi- 
losopbiscber Geist y wie Fichte, eine Gesellschaftsform empfehlen konn- 
te y die offenbar das menschlicbe Geschlecht in seiner Entwickelung zu 
einem Stillstand fiihren wurde, den wir im Thierreich sehen. China 
und Japan baben den naturwidrigen Versucb langst gemacht. Zum 
Gluck setzt die Vollendung des Systems, dies Zerreissen aller Bande 
mit der iibrigen Welt y auch eine neue G eld- Ar t voraus, die y ohne 
Papiergeld zu seyn y doch nur Einem , und keinem andern Volke 
von Werth seyn durfle. Fichte behauptete, das Geheimnifi zu besitzen. 
Er bat es aber mit ins Grab genommen. Die Natur hat keine in sich 
abgeschlossene Handelsstaaten. Selbst die Planeten und Sonnensyste- 
me bestehen durch Verkebr und Tauscb ihres Lichts, ibrer Schwere und 



5$o Literarische und asthetische Essays 

anderer Kr'dfie. Auf dem Erdball ist Alles fur den Zusammenbang be- 
redhnet; Oceane sind die besten Verbindungsmittel der Welttheile. Die 
Verscbiedenheiten der Sprachen trennen nur in so weit es notbig ist t 
urn mehrern Gesellscbafien zu gleicher Zeit das Problem der allge- 
meinen Gesellschaft zur Auflosung zu geben. Aber sie fliessen uberall 
in einander, und die ndm[i^i\lichen Spracbgesetze z. B. das Sylben- 
gesetz; und die namlichen Elemente fubren wieder zum allgemeinen 
Zusammenhange. Dafi die Idee der Absonderung und fortgesetzten 
Theilung, folgerecht durchgefuhrt, im Einzelnen, wie im Ganzen, 
immer zu Widernatiirlichkeit, Elend und Hiilflosigkeit fubrt, ist Be- 
weis, daft sie nur M it t el seyn soil, und nimmermebr Zweck seyn 
kann. Alle politische Einb'dgungen und Abmarcbungen der Nationen, 
Stdnde, Gewerbscbaflen, Liter atur en u.s.w. sind die ewigen Zeugen 
unserer Unrube in einer gezwungenen Lage. Wir dehnen und wenden 
uns und versuchen tausend Stellungen; aber in die s em Bette giebt 
es fur uns keine Rube! 

Carl Gustav Jochmann's, von Pernau, Reliquien. Aus semen nachge- 
lassenen Papieren. Gesammelt von Heinridh Zschokke. Zweiter Band. 
Hechingen, Verlag der F. X. Ribler'schen Hofbuchhandlung. 1837. 

[93] [Jochmann iiber Maschinenwesen.] Die Erwerbungsart durcb 
dasselbe verbreitet den Genufi, welcber sonst nur einzelnen zu statten 
kam, iiber alle Familien der Nation, und wir d zur Quelle einer uber- 
scbwenglicben Produktion des Reichthums. Damit aber dieser nicbt 
durch seine immer ungleichere Vertbeilung das Ungluck der Mebrzabl 
werde, wird abermalige Umgestaltung der gesellscbaftlichen Formen 
naturnotbwendig. Ihre Auffindung ist die Aufgabe der Zeit. 



Die Ruckschritte der Poesie 

Es giebt Erscheinungen in der Gescbichte des Menschen, die uns 
auf den ersten Anblick wie Ruckschritte desselben vorkommen, 
und die es an sich und in ihrer Vereinzelung aucb wohl seyn 
mochten, die aber im Zusammenhange mit andern sie begleiten- 
den Umstdnden, und in ihren entfernteren Beziehungen zu alien 
Zeiten am unverkennbarsten die Fortschritte unsers Geschlechts 
beurkundeten. 

In mehreren solchen Fallen bedarf es, um sich davon zu uber- 
zeugen, eben keines aufierordentlichen Scharfsinnes. Aujler eini- 
gen Stubengelehrten, kommt schwerlich noch Jemand in Ver- 



»Die Rudssdiritte der Poesie« 591 

suchung, in jenen riesenmafiigen Werken des grauesten Alter- 
thumes, den ungeheuren Denkm'dlern einer eben so ungeheuren 
Herabwiirdigung tagelohnernder Millionen> etwas mehr zu be- 
wundern als ihre Massen> kommt schwerlicb noch Jemand in 
Versuchung die Unmoglichkeit, es ihren Erbauern gleichzuthun, 
fur ein Ungluck anzusehen, und sich, weil man in ihnen Pyrami- 
den aufthiirmte, in die Zeiten dgyptischer Priesterfratzen zu- 
riickzusehnen; abet ridher liegt uns das Mijiverstandnifi, wo 
sich der Umfang, nicht einer bloften Gewaltherrschafl und ihrer 
Leistungen, sondern irgend eines geistigen Wirkungskreises ver- 
engerte, wo Grundsdtze und Fahigkeiten, ohne [250] gleich- 
mdfiig in der herrschenden Meinung zu sinken, an Macht und 
aujierem Einflusse bedeutend einbuflten. ]e mehr wir sie hoch- 
zuschdtzen fortfahren, je grofiere Bewunderung uns die Sagen 
von ihrer fruheren Allmacht einfloflen y desto widerwdrtiger trifft 
uns der Anblick ihrer gegenwdrtigen Schwache y desto geneigter 
sind wir y alles Vergangene auch fur verloren, und alles Verlorene 
fur unersetzt und unersetzlich anzusehn. 

Wichtigere Betspiele dieser Art liefert uns die Geschichte der 
allmdhligen Abspannung so mancher sittlichen Triebfedern y wie 
der Vaterlandsliebe, des Burgersinnes und andrer, allgemeiner 
verstdndliche die Geschichte mehrerer Kunstfertigkeiten und 
Kilns te, namentlich die der Poesie, und ihrer gleichzeitig 
schwindenden innern Vollendung und aujiern Wirksamkeit. 
Uns von dem alten Glanze und Einflusse der Dichtkunst zu 
iiberzeugen, bedarf es keiner Hinweisung auf jene Sagen ihrer 
fruhesten Herrschafi auch iiber die thierische und unbeseelte Na- 
tur ... [251] ... Je alter ein Volk, desto bedeutsamer seine 
Poesie, je alter seine Dichter y desto unerreichbarer ihre Werke. 
Ein einziger Blick auf die Gesange der alten Welt, und auf die 
geschriebene Dichterei der neueren Volker liefert uns den Be- 
weis s dafi die Schritte der letztern auf diesem Wege nichts 
weniger als Fortschritte waren y dafi zu der eingelegten Arbeit 
unsrer geverselten Schriflen dltere Fundgruben den Stoff her- 
gaben, dajl aus dem hohen Ernste der fruheren Dichtkunst ein 
mehr oder minder offenbarer Spafi, und aus dem Lehrer des 
Volkes der zeitvertreibende Gesellsch after einiger Leute von 
guter Erziehung geworden ist. 
Ob aber das Herabsinken der Poesie von ihrer alten Hoheit 



592 Literarisdie und asthetische Essays 

zu ihrer gegenwdrtigen Unbedeutsamkeit, an sich unleugbar ein 
Verlust, auch in andern Beziehungen dafur zu halten sey, Idjit 
sich nur aus den Verhdltnissen beurtheilen, die als wirkende Ur- 
sachen dem Geiste des Menschen jene vorherrschende und fast 
ausschliefiliche Richtung auf das Anwenden und Ausbilden der- 
selben mittheilten; - aus Verhdltnissen, denn sich in 
dieser Hinsicht nur auf hohere und allgemeinere Fahigkeiten 
der dlteren Dichter beziehen wollen, hiefie, was zu erkldren ist 
als erkldrt voraussetzen, da es bier doch eben auf die Griinde 
ankommty aus welchen Geisteskrdfte, die, wie die Erfahrung 
lehrt, einer unendllch mannichfachen Entwickelung fahig sind, 
in einem gewissen Zeitpuncte nur auf ein einziges Ziel, und auf 
dieses mil so entschiedenem Erfolge bins treb ten. 
Solcher Griinde lassen sich theils in den Stoffen, tbeils in den 
ihre Form bedingenden Mitteln der Poesie [252] bauptsachlicb 
drei erkennen: eine ihr bestimmter zusagende, mehr dichteri- 
sche Beschaffenheit aller Meinungen und Kenntnisse der Men- 
schen, ein entschiedener Mangel an zweckdienlicheren Hiilfsmit- 
teln zurErhaltung undVerbreitung dieser geistigenBesitzth timer, 
und endlich die in Betreff aller, vergleichungsweise noch armen 
und ungebildeten Sprachen bemerkbare, grojiere Leichtigkeit 
ihrer an irgend einen festgesetzten Rhythmus gekniipflen An- 
wendung, im Gegensatze zu desto grofieren Schwierigkeiten 
ihres freieren Gebrauchs . . . [261] . . . 

Fassen wir die Ursachen einer hoheren Ausbildung und Wilrde 
der Dichtkunst auch nur fiuchtig in y s Auge; die schrankenlosen 
Besitzergreifungen einer fruher erwachten Einbildungskrafl im 
ganzen Umfange unsers geistigen Gebietes, den Mangel an zu- 
verldssigeren Mitteln zur Erhaltung des Wortes, der den Men- 
schen alle Schdtze der Wissenschafl in dichterischen Formen 
seinem bloflen Geddchtnisse anzuvertrauen zwang, und endlich 
denjenigen Zustand, sowohl der Sprache als ihres Besitzers, der 
ebenfalls die Regel des gemessenen Ausdruckes fruher als das 
Gesetz der freien Rede, beides, wahrnehmen und bediirfen lief, 
und sie vorzugsweise dem Erzdhler und seinen Zuhbrern emp- 
fahl, so mufi es zugleich uns einleuchten, dafi jede Veranderung, 
die Einen dieser Umstdnde zu beseitigen diente, einen Fortschritt 
ausmachte, und folglich das Herabsinken der dichtenden Ein- 
bildungskrafl von ihrer alien Hohe, in mehr als Einer Hinsicht 



»Die Riicksdiritte der Poesie« 593 

Beweise des allgemeineren Fortscbreitens [262] der Volker 
enth'dlt . . . [268] 

. . . Jeder Versucb mit Hlilfe der Einbildungskraft und nur mit 
ihr die Aufgaben andrer Fahigkeiten zu losen y erscbwert nicht 
allein, sondern vereitelt auch den beabsicbtigten Zweck; jeder 
Eingriff derselben in das Gebiet eines f ruber en [soil heifien: 
spateren] Seelenvermogens ist ein Mi/i griff, jede ihrer Schop- 
fungen im Kreise der Wirklicbkeit eine Tduschung, und wenn 
der sinnliche Mensch, indem er die niedrigsten Stufen seiner 
Bildung iiberscbreitet, was er an Besitzthumern und Fahigkeiten 
unzweckmdfiig erworben hat, nur besser anwenden lernt s so 
mufi der geistige, in derselben Lage y um weiter zu kommen, die 
seinigen erst aufgeben und verlernen. Daher jenes Mijlver- 
hdltnij! zwischen unserm auflern Fortschreiten, das uns immer 
neue Krdfte der Natur unterwirfl und neue Wahrheiten ent- 
hullt, und unsrer innern Ausbildung, die in einem unaufhor- 
lichen Kampfe gegen die Herrschafl alter Vorurtheile und Irr- 
thumer besteht, zwischen immer neuen Erwerbungen im Reiche 
der Erscbeinung, und immer neuer EinbufSe des vermeintlich 
Erworbenen in dem des Gedankens. Ist wirklicb unsre Ver- 
nunft, wie Bayle irgendwo bemerkt, nicht eine grundende 
und bauende, sondern eine alles erschutternde und zerstorende 
Kraft, so ist sie es eben, so ist sie es wenigstens nocb immer, we'd 
uberall der Dichtergeist ihr zuvorkam, weil sie den Raum zu 
ihren Werken sich erst erobern und reinigen muff. Wir sind 
auf unserm, wohl nur scheinbaren, aber in jedem Falle unver- 
meidlicben Ruckwege, nocb nicht bis zu dem Punkte gelangt, 
von dem aus der bessere Weg sich einschlagen lafit; allein wir 
ndhern uns ihm, und jenes V erbannungsurtheil, das Plato in 
seinem eingebildeten [269] Staate uber den Dichter aussprach, 
vollstreckt in der wirklichen Welt allmahlig aber unwider- 
ruflicb eine fortschreitende Civilisation. 

Weit entfernt also, uns liber die Ruckschritte der Dichtkunst 
beklagen zu mussen, sollen wir uns vielmehr zu ihnen Gluck 
wiinscben. Wie oft auch blojle Fehler des Dichters und Folgen 
seiner geringeren Fdhigkeit, sind sie doch weit ofter das Ver~ 
dienst seiner Zeit; und je schwdcher in irgend einem Facbe die 
Wirkungen der Poesie, je allgemeiner die Unempfindlichkeit fur 
eine gewisse Art von Dichtungen, desto gewisser, dafS eben in 



594 Literarische und asthetische Essays 

diesem Fache, dem geistigen Bediirfnisse, dem ursprunglkh 
solche Dichtungen zu Hulfe kamen, irgend ein geniigenderes 
Mittel Befriedigung gewdhrt ... [277] 

Den geschwundenen Glanz und Einfluji der Poesie, wo immer 
der Geist naturgemdfi durch andre Mittel und in andern Formen 
zu wirken bestimmt ist, wahrnehmen, und jiir nicbts weniger als 
ein Ungliick ansehen, heijit ubrigens durcbaus nicht, ihren eigen- 
thumlichen Wertb verkennen, wo sie in ibrem eignen Wirkungs- 
kreise herrscht. Es giebtStotternde, die sich nur singendver stand- 
lich auszudriicken imStande sind;wir konnen uns freuen, [278] 
wenn sie sprecben lernten 3 und nicht langer jede Botschaft oder 
Warnung absingen miissen, und wir sind datum noch nicht un- 
empf'dnglich fiir den Zauber des Gesangs. Wir zeigen vielmehr 
einen um so reineren und regeren Sinn fur die eigentliche Wurde 
und Schonheit jeder Kunst, je weniger sie uns in einer unschickli- 
chen Anwendung gefdllt . . . [308] 

Jene ungebuhrliche Ausdehnung des Gebietes der Phantasie hat 
ubrigens nicht allein in der Nachwirkung ibrer fruheren Allein- 
berrschafi, sondern auch in dem Fortw'trken bleibender Zeitver- 
hdltnisse, sie hat nicht immer nur in der Vergangenheit, sie 
hat auch in der Gegenwart ihren Grund, und ist alsdann, so ent- 
scbieden als im ersten Falle ein Zeichen blower Verschrobenheit 
unsrer Gelehrten, der Beweis eines wesentlichen Gebrechens 
unsrer Gesellschaflen uberhaupt. 

So lang die Einbildungskrafl nur darum y weil noch kein andres 
zu einer dhnlichen Entwickelung gelangte, sich als das iiber- 
wiegende Seelenvermogen zu erkennen giebt, ist ihr Vorherr- 
schen ein vollig naturgemdftes. Bevolkert in diesem Zustande 
s i e allein das ganze Reich unsers Gedankens mit ihren Scbop- 
fungen, so thut sie es dock ohne irgend einen andern Bewohner 
desselben zu verdrangen; herrscht sie allein auch uber alle unsre 
sinnlicben Bediirfnisse und Beziehungen> so geschieht es, weil es 
noch keinen andern, rechtmdjiigen Herrscher uber dieselben 
giebt; und welche ublen Folgen auch, unter verdnderten Um- 
stdnden, ein erkiinsteltes Hervorrufen der nemlichen Erschei- 
nungen haben mag, so lafit sich dock, so lang' es [309] nur auf 
Nachahmung beruht, mit Gewifiheit ein naher Augenblick vor- 
aussehen, in welchem dieser Mifigriff in y s Leere, sich selbst 
uberlassen, von selbst aufhbren, und die Natur der Dinge 



»Die Riickschritte der Poesie« 595 

ihren unfehlbaren Sieg ilber ahnlicbe Traumereien davon tra- 
gen mufi. Aber es giebt noch e'tnen andern Zustand, in welchem 
die Phantasie auf ahnlicbe Weise ubermacbtig vorwaltet, nicht 
weil sie das einzige wache, sondern weil sie das einzige freie 
Seelenvermogen ist; in welchem andre Krdfle wohl auch geweckt 
sind, aber in Banden liegen; in welchem die wirkliche Welt mit 
alien ihren Scbdtzen und Wahrheiten uns nicht langer unbe- 
kannty aber verschlossen bleibt; und wird ein Volk, in einer 
solchen Lage der Dinge, - wie sie an unserm alten Europa, in 
Vergleichung mit glucklicheren Gegenden der neuen Welt, am 
deutlichsten zu Tage liegt 3 - Abwege, die es im Irrthum einge- 
schlagen hatte s weil ihm kein besserer Weg mehr off en steht 3 
fortzusetzen genothigt, so ist es die kranke Phantasie, die von 
nun an den Scepter einer einst so reichen fiihrt, und ein Irre- 
sprechen des Fiebernden, das der Begeisterung des Dichters folgt. 
Eben die schonsten Bluthen einer sogenannten hoheren Aus- 
bildung sind unter solchen Verhdltnissen vielmehr Nothbehelfe 
der verkriippelten Gesellschaft, als freie Entwickelungen eines 
Oberschusses ihrer geistigen Lebenskrafl; sind Ausbruche des 
unbefriedigten Gefuhles aus der kunstlichen Wuste des burger- 
lichen Lebens um uns her; Auswanderungen aus der Wirklich- 
keit in das Reich des Gedankens, die so wenig als die in fremde 
Lander immer den Wohlstand und ofler gerade das Elend der- 
jenigen beurkunden, aus welchen sie Statt haben. Daber, nacb 
einem geistvollen Beobachter [310] der alten und neuen Welt, 
in dieser letztern, wie unstreitig auch ihre allgemeinere Bildung 
der unsrigen iiberlegen erscheint } jene Unbedeutsamkeit ihrer 
Fortschritte in Kiinsten und Wissenschafien, die nicht einen sich 
unmittelbar belohnenden Zweck haben, w'dhrend in dem sin- 
kenden Rom und unter dem Gesindel des alten Frankreichs bei- 
de gedeihen konnten. In dem Vaterlande der Washington und 
Franklin fmdet Jeder Platz und Brod, und wozu muhseUge 
Anstrengungen im Aufputzen des Vberflusses, der keinem Be- 
durfnisse abhilft, wo eine maflige Thdtigkeit ihrem Besitzer in 
sinnlicher und sittlicher Beziehung alles und mehr als alles 
Nothwendige verbiirgt? Niemand in den vereinigten Staaten 
sieht ohne seine Schuld sich von dem, was die Erhaltung nicht 
allein sondern auch die Freude des Lebens erf or der t, getrennt. 
Reiner ist jenen hauslkhen Verhdltnissen, die den kostbarsten 



$96 Literarisdie und asthetische Essays 

Vorzug unsers Geschlechtes ausmachen, entfremdet, keiner ein 
Vberzdhliger im Leben, keiner sich in sich selbst zuruckzuscbmie- 
gen und in den Rdumen des Gedankens zu suchen gezwungen, 
was ihm sein Schicksal auf Erden verweigerte. Das aber sind 
eben die jammerlicben Bestandtheile unsrer Alteuropdischen, 
sogenannten geistigen Uberlegenheit. Aus schmerzlichen Ent- 
sagungen wie diese ging sie hervor . . . [316] 
Lassen die Ruckschritte der Pbantasie in ihrer naturgemdfien, 
fruheren Alleinherrschaft sich insgesammt als Fortschritte der 
Vernunft be track ten, so zeigen sich die Beschrdnkungen ihres in 
einem spdteren Zeitraume erzwungenen Vorherrschens als eben 
so viele Fortschritte des offentlichen Wohls. Beide, Vernunft und 
Wohlbefinden, innere und dujiere Fortschritte setzen einander 
gegenseitig voraus. Man muji, um glilcklicher zu werden, ver- 
nunftiger geworden seyn, und es ist nicht immer nur ein Gluck, 
es gehort auch zuweilen einiges Gluck dazu verniinftiger zu 
werden. Und wer weiji, oh nicht auf einer gewissen Stufe seiner 
Entwtckelung dem Menschen dujiere Glucksgiiter zum Erweitern 
seiner geistigen Besitzthumer noch unehtbehrlicher sein mogen, 
als diese zur Vermehrung seines G liicks. 

Wie sehr jenes lebendige Wohlseyn der neuen } den unfrucht- 
baren Gedankenluxus der alien Welt ubertreffen [317] rnag, es 
lassen sich Verhaltmsse denken, vielseitiger und vollkommener 
als beides, in welchen der Mensch y ohne darum auf die Schatze 
der Wirklichkeit verzichten zu mussen, der machtigsten\ und 
einer zugleich belohnenderen weil gescheuteren Thdtigkeit auch 
seiner Einbildungskraft fahig sein wiirde. Dahin aber, - und 
eben in ihrer unmittelbaren Richtung nach diesem Ziele geben 
sich uns die Vorzuge der nuchternen Verstandesbildung des 
Neueuropaers der nordamericanischen Freistaaten am deutlich- 
sten zu erkennen, - dahin fiihren uns keine Handbucher der 
Geschmackslehre, sondern einzig und allein Entwickelungen 
unsrer gesellschaftlichen Formen, die mit den wichtigsten Wahr- 
heiten der Staatswirthschaft und mit ihrer Anwendung im ge- 
nauesten Zusammenhange stehn. 

Ein grofier, vielleicht der grower e Theil unsers geistigen Unver- 
mogens la jit sich auf unsre dujiere Mittellosigkeit zuruckfiihren, 
ein grojier Theil unsrer sittlichen Mangel auf unsre sinnlichen 
Entbehrungen. Es giebt Wabrheiten, bemerkte Jemand, die 



»Die Riickschritte der Poesie« 597 

sich in einem scblechten Rocke weder mit guter Art, noch mit 
rechtem Erfolge sagen lassen, und er hatte Recht. Aber es giebt 
ihrer noch mehrere, die in einem scblechten Rocke selten auch 
nur gesagt wet den. Gut macht Muth, und Freimuth eben so- 
wohl als Vbermuth; wit denken knechtisch, weil wir uns schwach 
fiiblen, und unsre Urtheile sind in der Re gel so bescbrdnkt, als 
unsre Lage. In beiden Lebensbeziehungen gehen wir von der 
Armseligkeit aus t und gelangen wir nur gleichzeitig zu einigem 
Wohlstande. Die erste Sorge, die der Wilde seinem Korper ange- 
deihen la jit, besteht in einem aberwitzigen Aufputze desselben. 
Er glaubt sich zu schmucken, indem er sich martert , sich [318] 
zu verscbonern, indem er sich verstiimmelt, und brennt und 
schneidet an seinen dem feindseligen Andrange aller Elemente 
preifigegebenen Gliedern, die er weder zu ernahren noch zu 
bekleiden versteht; gerade wie wir ihn mit gleicher Selbstgefal- 
ligkeit auch sein geistiges Ebenbild Gottes, lange bevor er es zu 
schutzen und zu erhalten weifi, durch Laster und Vorurtheile, 
die ihm filr lauter Verdienst und Weisheit gelten, entstellen und 
vergiften sehn. 

Wie batten wohl unsre sogenannten schonen Kunste sich zu der 
Hohe, die ihnen erreichbar seyn mufi, erheben konnen t so lange 
sie nur als Miethlinge jeder niedrigen Verblendung oder Leiden- 
schafl arbeiteten! Dem Aberglauben haben sie seine Tempel 
gebaut und ausgeschmlickt, und jedem Zwingberrn seine Pal- 
las te; dem Eigennutz und Vbermuthe haben sie alle ihre Schdtze 
gesammelt und gezollt; und heute noch giebt es vielleicht kaum 
zwei oder drei der gepriesenen Bliithen unsrer Poesie, die 
nicbt, in ihre Bestandtheile zersetzt, wie jene Lafontainische 
Fabel s die Rousseau einer dhnlichen Probe unterwarf, als ekel- 
hafle Gemische von Selbsttauschung und Scbmeichelei y als Ver- 
gotterungen eigner und fremder Nicbtswurdigkeiten vor uns 
daliegen wiirden. 

Und welchen Unterscbied zwischen den verschiedenen Erwer- 
bungen einer fortschreitenden Menschheit es im Begriffe geben 
mag, in der Wirklichkeit sind alle, demselben Geschlechte zuge- 
horig, Eins und unzertrennlich, und bestimmen eben sowohl 
die sinnlichen den Werth, als die sktlichen das Gluck ihrer 
Besitzer. Uber den Abgrund, den die Natur der Dinge zwischen 
korperlicher Entbloflung und geistigem Wohlstande befestigt 



598 Literarische und asthetisdie Essays 

hat, [319] scbldgt vergebens die Einbildungskrafl ibren farbigen 
Bogen, und schwingt sicb wobl zuweilen der Genius des Einzel- 
nen 3 abet nimmermehr ein games Volk. Wo ein solcbes hinuber 
soil, muji eine festere Brucke daliegen, die auch den Korper 
tragi. Glucksgiiter, die uns verzdrteln, werden als Gemeinguter 
das Leben verschonern, Vorrechte, die ihren Besitzer verderben, 
als Rechte ihn veredeln. Erst wenn ihre Seltenheit untergeord- 
neten Dingen einen hbheren Werth zu verleihen aufhort, wird 
auch unser Geschlecht aufhoren, sie mit andern zu verwechseln, 
deren Werth auf keinem Zufalle beruht, und jenes horazische: 

virtus post nummos! 

der Wahlsprucb der Gemeinheit im Munde des Einzelnen, ent- 
halt, auf das Schicksal ganzer Volker bezogen, eine trostlichere 
Wahrheit, als der Dichter Augusts und seiner Mazene sie nur zu 
ahnen im Stande war. 

In dem Maafie, als der Mensch sein Wissen immer entschiedener 
als Macht benutzen, als er die Natur immer besser kennen } das 
heijit beherrschen, und jene Helotengeschafle des Lebens } an 
welchen seine besten Kr'dfle sich abstumpfen und aufreiben, 
untergeordneten Geschopfen seiner Hand, Maschinen und Werk- 
zeugen oiler Art ubertragen lernt, bahnt er sich den Weg zu 
einer nocb gliicklicheren neuen Welt, in der den Sorgenlosen die 
Aufforderung zu immer edleren Anstrengungen fiir die seiner 
Wanderung belohnt. Sich diesem Ziele ridbernd, gelangt er 
dann wohl zu einer geistigen Entwickelung, die eben so sehr 
America's bequeme Mittelmafiigkeit, als diese unsre krdnkli- 
chen Treibereien ubertrifft, und in deren Gefolge auch [320] 
der Dichtergeist sich um so hober schwingt, je weniger ihn Idnger 
ein zweckloses Umherflattern in fremden Gebieten erschopfen 
darf. Andre Friichte wurde die Mujie einer wahrhafi mensch- 
lichen Gesellschafl hervorbringen, als jener miihselige Mufliggang 
unsrer burgerlichen, den wir Gelehrsamkeit nennen; anders miifi- 
ten die Triumphgesange des fortschreitenden Gliickes lauten, als 
die Seufzer der unbefriedigten Sehnsucht, anders die Jubellieder 
des befreiten Prometheus, als die Klagen des gefesselten. 

[Carl Gustav Jochmann] Uber die Sprache. - »Rede, dafi ich 
dich sehe!« - C. F. Winter. Heidelberg 1828. 



Asthetische Fragmente 



(Aphorismen) 

Die Idee der Komodie ist der Menscfa als logisdies Subjekt. Der 
Mensch als Subjekt der Tragodie ist ironisch. - Die tragische 
Maske: das ausdruckslose Antlitz. Die komische Maske: das 
reine Gesicht. 

Logos und Spradie: Die Lateiner waren grofie Redner und 
schledite Philosophen, die Juden waren begabte Logiker und 
haben die Propheten hervorgebradit. 

Das eigentliche Altern der Eltern ist der Tod des Kindes. 

Die Akademie ist zur Universitat geworden und die Studenten 
zu Akademikern. 

Die Beziehung zwischen Mann und Frau enthalt die Liebe sym- 
bolisdi. Ihr aktueller Gehalt heifJt Genius. 

Die Kosmogonie mufi die Liebe in ihrer hochsten Form erkla- 
ren, sonst ist sie falsch. 

Im Gespenstischen sind alle Zeugungsformen (Teilung, Zeugung) 
als Daseinsformen vorgebildet. 

Die Spradie des Traumes liegt nicht in Worten, sondern unter 
ihnen. Die Worte sind im Traum Zufallsprodukte des Sinns, 
weldier in der wortlosen Kontinuitat eines Flusses liegt. Der 
Sinn ist in der Traumsprache versteckt nach Art einer Figur 
in einem Vexierbild. Es ist sogar moglich, dafi der Ursprung 
der Vexierbilder in soldier Richtung zu suchen ist, sozusagen 
als Traumstenogramm. 

Das Problem der historisdien Zeit ist bereits durdi die eigen- 
tiimliche Form der historisdien Zeit gegeben. Die Jahre sind 
zahlbar, aber im Unterschied von dem meisten Zahlbaren nicht 
numerierbar. 

Die Theorie darf sich freilich nicht auf die Wirklichkeit beziehen, 



6oz Asthetische Fragmente 

aber sie mufi mit der Sprache zusammenhangen. Hier liegt ein 
Einwand gegen Mathematik. 



Balzac 

Die Universalitat Balzacs (und vielleicht des grofien modernen 
franzosischen Romans iiberhaupt) beruht zu einem Teil darauf, 
dafi der franzosische Geist in metaphysischen Fragen gleichsam 
nach Art einer analytischen Geometrie verfahrt, d. h. er kennt 
eine Sphare der prinzipiellen Losbarkeit der Dinge aus einer 
Methode - welche die individuelle (gleichsam anschauliche) 
Tiefe der einzelnen Gegebenheiten nicht anvisagiert, sondern 
sie auf einem methodischen Wege, auf dem ihre Losbarkeit 
schon feststeht, lost. Eine geometrische Aufgabe kann zu ihrer 
geometrischen Losung Genie, zu ihrer analytischen nur Methode 
erfordern, gelost ist sie gleichwohl in beiden Fallen. Diesem 
methodischen Verf ahren in der Betrachtung der grofien metaphy- 
sischen Wirklichkeiten dankt Balzacs oeuvre die Universalitat, 
und sie kann an andern (gleichsam geometrischen) Mafistaben 
gemessen als Nicht-Tiefe (das heifit nicht: Untiefe oder Ober- 
flachlichkeit) erscheinen. 



Malerei und Graphik 

Ein Bild will senkrecht vor dem Beschauer gehalten sein. Ein 
Mosaik am Fufiboden liegt waagerecht zu seinen Fufien. Man 
pfiegt, was diesen Unterschied angeht, Graphik ohne weiteres 
wie ein Gemalde zu betrachten. Doch ist es eine sehr wichtige 
und weitgreifende Unterscheidung, die in der Graphik zu ma- 
chen ist: man wird einen Studienkopf, eine Rembrandtsche 
Landschaft nach Art eines Gemaldes betrachten diirfen oder 
bestenfalls in einer neutral waagerechten Lage diese Blatter 
belassen. Dagegen betrachte man Kinderzeichnungen. Es wird 
zumeist gegen deren inneren Sinn verstofien, sie senkrecht vor 
sich hinzustellen, ebenso nehme man Zeichnungen von Otto 



Balzac • Malerei und Graphik • t)ber die Malerei 603 

Grofi, man mufi sie horizontal auf den Tisch legen. Hier liegt 
ein ganz tiefes Problem der Kunst und ihrer mythischen Ver- 
wurzelung vor. Man konnte von zwei Schnitten durch die 
Weltsubstanz reden: der Langsschnitt der Malerei und der 
Querschnitt gewisser Graphiken. Der Langsschnitt scheint dar- 
stellend zu sein, er enthalt irgendwie die Dinge, der Quer- 
schnitt symbolisch: er enthalt die Zeichen. Oder aber ist es nur 
unstim Lesen so, dafi wir die Seite waagerecht vor uns legen; 
und gibt es etwa als urspriingliche Lage der Schrift auch eine 
vertikale, etwa in Stein gehauen? Dabei kommt es naturlich 
nicht einfach auf den blofien aufieren Befund an, sondern auf 
den Geist: ob das Problem auf dem einfachen Satz aufzubauen 
ist, dafi das Bild senkrecht, das Zeichen waagerecht liege, obwohl 
dies in wechselnden metaphysischen Beziehungen durch die Zei- 
ten zu verfolgen ist. 

Kandinskys Bilder: Zusammenf alien von Beschworung und 
Erscheinung. 



Ober die Malerei oder Zeichen und Mal 



A. Das Zeichen 

Die Sphare des Zeichens umfafit verschiedene Gebiete, die sich 
durch die wechselnde Bedeutung die in ihnen die Linie hat 
charakterisieren. Solche Bedeutungen sind: die Linie der Geome- 
tric, die Linie des Schriftzeichens, die graphische Linie, die Linie 
des absoluten Zeichens (die als solche, d. h. nicht durch dasjenige, 
was sie etwa darstellt, magische Linie). 

a), b) Die Linie der Geometrie und der Schriflzeichen bleiben in 
diesem Zusammenhang unberucksichtigt. 

c) Die graphische Linie. Die graphische Linie ist durch den 
Gegensatz zur Flache bestimmt; dieser Gegensatz hat bei ihr 
nicht etwa nur visuelle sondern metaphysische Bedeutung. Es ist 
namlich der graphischen Linie ihr Untergrund zugeordnet. Die 
graphische Linie bezeichnet die Flache und bestimmt damit diese 
indem sie sie sich selbst als ihrem Untergrund zuordnet. Um- 
gekehrt gibt es auch eine graphische Linie nur auf diesem Unter- 



604 Asthetische Fragmente 

grunde, sodafi beispielsweise eine Zeidinung, die ihren Unter- 
grund restlos bedecken wiirde, aufhoren wiirde eine solche zu 
sein. Damit ist dem Untergrund eine bestimmte, fur den Sinn 
der Zeichnung unerlafiliche Stelle angewiesen, sodafi innerhalb 
der Graphik zwei Linien nur relativ zu ihrem Untergrunde 
audi ihre Beziehung zueinander bestimmen konnen, iibrigens 
eine Erscheinung, bei der die Verschiedenheit zwisciien graphi- 
scher und geometrisdier Linie besonders klar hervortritt. - 
Die graphische Linie verleiht ihrem Untergrunde Identitat. Die 
Identitat, welche der Untergrund einer Zeichnung hat, ist 
eine ganz andere als die derjenigen weifien Papierflache, auf der 
sie sich befindet und der sie sogar wahrsdieinlich abzusprechen 
ware, wollte man sie als ein Gewoge (eventuell mit blofiem 
Auge nicht unterscheidbarer) weifier Farbwellen auffassen. Die 
reine Zeichnung wird die graphisch sinngebende Funktion ihres 
Untergrundes nicht dadurch alterieren, dafi sie ihn als weifier 
Farbgrund »ausspart«; daraus erhellt, dafi unter Umstanden 
die Darstellung von Wolken und Himmel auf Zeichnungen ge- 
fahrlich und bisweilen Priifstein der Reinheit ihres Stils sein 
konnte. 

d) Das absolute Zeichen. Um das absolute Zeichen, d. h. das my- 
thologischeWesen des Zeichens zu verstehen, miifite man uber die 
eingangs erwahnte Sphare des Zeichens iiberhaupt etwas wissen. 
Jedenfalls ist diese Sphare wahrsdieinlich kein Medium, sondern 
stellt eine uns hochstwahrscheinlich zur Zeit ganzlich unbe- 
kannte Ordnung dar. Auffallend ist aber der Gegensatz der 
Natur des absoluten Zeichens zu der des absoluten Mais. Diesen 
Gegensatz, der metaphysisch von ungeheurer Wichtigkeit ist, 
hatte man erst zu suchen. Das Zeichen sdieint mehr ausge- 
sprochen raumliche Relation und mehr Beziehung auf die Per- 
son, das Mai (wie sich ergeben wird) mehr zeitliche und das 
Personale geradezu ausstofiende Bedeutung zu haben. Absolute 
Zeichen sind: z. B. das Kainszeichen, das Zeichen mit dem bei 
der zehnten Plage in Agypten die Hauser der Israeliten be- 
zeichnet waren, das vermutlich ahnliche Zeichen in AH Baba 
und den vierzig Raubern; mit der notigen Zuriickhaltung kann 
man aus diesen Fallen vermuten, dafi das absolute Zeichen 
vorwiegend raumliche und personale Bedeutung hat. 



Ober die Malerei oder Zeichen und Mai 605 

B. Das Mai 

a) Das absolute Mai. Sofern sich uber die Natur des absoluten 
Mais, d. h. uber das mythische Wesen des Mais, etwas aus- 
madien laftt, ist das von Wichtigkeit fiir die ganze Sphare des 
Mais im Gegensatz zu der des Zeichens. Hier ist nun der erste 
fundamentale Unterschied darin zu sehen, dafi das Zeidien auf- 
gedriickt wird, das Mai dagegen hervortritt. Dies weist darauf 
hin, dafi die Sphare des Mais die eines Mediums ist. Wahrend 
das absolute Zeidien nicht vorwiegend am Lebendigen erscheint, 
sondern audi leblosen Gebauden, Baumen aufgepragt wird, er- 
scheint das Mai vorzuglich am Lebendigen (Wundmale Chri- 
sti, Erroten, vielleicht der Aussatz, Muttermal). Den Gegensatz 
zwischen Mai und absolutem Mai gibt es nicht, denn das Mai 
ist immer absolut, und ist im Erscheinen nichts anderem ahnlich. 
Ganz auffallend ist wie das Mai gemafi seinem Auftreten am 
Lebendigen so oft mit Schuld (Erroten) bzw. Unschuld (Wund- 
male Christi) verbunden ist; ja selbst wo das Mai an Leblosem 
erscheint (Sonnenkringel in Strindbergs » Advent «) ist es oft 
mahnendes Zeichen der Schuld. In diesem Sinne erscheint es 
aber zugleich mit dem Zeichen (Belsazar) und das Ungeheure der 
Erscheinung beruht zum grofien Teil auf der nur Gott zuzu- 
schreibenden Vereinigung dieser beiden Gebilde. Insofern der 
Zusammenhang von Schuld und Siihne ein zeitlich magischer 
ist, erscheint vorzuglich diese zeitliche Magie im Mai in dem 
Sinne, daft der Widerstand der Gegenwart zwischen Vergan- 
genheit und Zukunft ausgeschaltet wird und diese auf magische 
Weise vereint uber den Sunder hereinbrechen. Doch hat das 
Medium des Mais nicht allein diese zeitliche Bedeutung, son- 
dern zugleich audi, wie es besonders im Erroten ganz erschiit- 
ternd hervortritt, eine die Personlichkeit in gewisse Urelemente 
auflosende. Dies fuhrt wiederum auf den Zusammenhang zwi- 
schen Mai und Schuld. Das Zeichen aber erscheint nicht selten 
als ein die Person auszeichnendes und audi dieser Gegensatz 
zwischen Zeichen und Mai scheint der metaphysischen Ordnung 
anzugehoren. Was die Sphare des Mais iiberkaupt (d. i. das 
Medium des Mais uberhaupt) angeht, so wird das einzige was in 
diesem Zusammenhang dariiber erkannt werden kann nach der 
Betrachtung der Malerei gesagt werden. Doch ist, wie erwahnt, 



606 Asthetische Fragmente 

Alles was vom absoluten Mai gilt von grofier Bedeutung fur das 
Medium des Mais iiberhaupt. 

b) Die Malerei. Das Bild hat keinen Untergrund. Audi liegt 
eine Farbe nie auf der andern auf, sondern erscheint hochstens 
im Medium derselben. Audi das lafit sich vielleicht oft gar 
nicht ausmachen, und so konnte man, prinzipiell betrachtet, 
bei manchen Gemalden gar nicht unterscheiden, ob eine Farbe 
die untergriindigste oder die vordergriindigste ist. Diese Frage 
ist aber sinnlos. Es gibt in der Malerei keinen Untergrund, und 
es gibt in ihr keine graphische Linie. Die gegensekige Begrenzung 
der Farbflachen (Komposition) auf einem Raffaelschen Bilde 
beruht nicht auf der graphischen Linie. Dieser Irrtum kommt 
zum Teil aus der asthetischen Verwertung der rein technischen 
Tatsache, dafi Maler vor dem Malen ihre Bilder zeichnerisch 
komponieren. Das Wesen soldier Komposition hat aber mit 
Graphik gar nichts zu tun. Der einzige Fall, in dem Linie und 
Farbe sich zusammenfinden, ist das getuschte Bild, auf dem die 
Konturen des Stifles sichtbar und die Farbe durchsichtig aufge- 
tragen ist. Der Untergrund ist dort, wenn audi gefarbt, erhal- 
ten. 

Das Medium der Malerei wird bezeichnet als das Mai im engern 
Sinne; denn die Malerei ist ein Medium, ein solches Mai, da 
sie weder Untergrund noch graphische Linie kennt. Das Pro- 
blem des malerischen Gebildes ergibt sich erst dem, der sich 
iiber die Natur des Mais im engeren Sinne klar ist, eben da- 
durch aber erstaunen mufi, im Bilde Komposition vorzufinden, 
die er doch nicht auf Graphik zuruckflihren kann. Dafi nun 
aber das Vorhandensein einer solchen Komposition nicht ein 
Schein ist, dafi beispielsweise der Beschauer eines Raffaelschen 
Bildes nicht nur zufallig oder aus Versehen Konfigurationen 
von Menschen, Baumen, Tieren im Mai vorfindet, erhellt aus 
folgendem: ware das Bild nur Mai, so ware eben damit es ganz 
unmoglich, es zu benennen. Nun ist aber das eigentliche Pro- 
blem der Malerei in dem Satze zu finden, dafi das Bild zwar 
Mai sei, und umgekehrt dafi das Mai im engern Sinne nur im 
Bild sei, und weiter, dafi das Bild, insofern es Mai ist, nur im 
Bild selber Mai sei, aber: dafi andrerseits das Bild auf etwas 
das es nicht selbst ist, d. h. auf etwas, das nicht Mai ist, und 
zwar indem es benannt wird, bezogen werde. Diese Beziehung 



Uber die Malerei oder Zeichen und Mai 607 

auf das, wonach das Bild benannt wird, auf das dem Male 
Transzendente, leistet die Komposition. Diese ist der Eintritt 
einer hohern Macht in das Medium des Mais, welche, darin in 
ihrer Neutralitat verharrend, d. h. keineswegs durch Graphik 
das Mai sprengend, in demselben eben deshalb ihren Platz ohne 
es zu sprengen findet, weil sie zwar unermefilich hoher als dies 
Mai, jedoch ihm nicht feindlich, sondern verwandt ist. Diese 
Macht ist das sprachliche Wort, das sich im Medium der maleri- 
schen Sprache, unsichtbar als ein solches, nur in der Komposition 
sich offenbarend, niederlafit. Das Bild wird nach der Komposi- 
tion benannt. Mit dem Gesagten versteht es sich von selbst, 
dafi Mai und Komposition Elemente jedes Bildes sind, welches 
auf Benennbarkeit Anspruch macht. Ein Bild jedoch, das dies 
nicht tate, wiirde aufhoren ein solches zu sein und nun freilich 
mit in das Medium des Mais uberhaupt eintreten, wovon wir 
uns aber gar keine Vorstellung machen konnen. 
Die grofien Epochen in der Malerei unterscheiden sich nach 
Komposition und Medium, danach, welches Wort und in wel- 
ches Mai es eintritt. Selbstverstandlich handelt es sich hier bei 
Mai und Wort nicht um die Moglichkeit beliebiger Kombinatio- 
nen. Beispielsweise ware es wohl denkbar, dafi in den Gemal- 
den eines Raffael vorwiegend der Name, in den Gemalden der 
heutigen Maler etwa das richtende Wort in das Mai eingegangen 
sei. Fur die Erkenntnis des Zusammenhanges des Bildes mit dem 
Wort ist die Komposition, d. i. die Benennung mafigebend; 
uberhaupt aber ist der metaphysische Ort einer Malerschule 
und eines Gemaldes nach Art des Mais und Wortes zu bestim- 
men und setzt also zum wenigsten eine ausgebildete Unter- 
scheidung der Arten des Mais und des Wortes voraus, von der es 
wohl noch kaum die Anfange gibt. 

c) Das Mai im Raum. Die Sphare des Mais tritt audi in raum- 
lichen Gebilden auf, wie audi das Zeichen in einer gewissen 
Funktion der Linie zweifellos architektonische Bedeutung (und 
also audi raumliche) hat. Solche Maler im Raum hangen schon 
sichtlich durch die Bedeutung mit der Sphare des Mais zusam- 
men, in welcher Art aber mufi genauer Untersuchung vorbe- 
halten bleiben. Vor allem erscheinen sie namlich als Toten- 
oder Grabmale, von denen aber im genauen Sinn natiirlich nur 
architektonisch und plastisch ungef ormte Gebilde Maler sind. 



6o$ 

Stifter 



Eine Tauschung iiber Stifter scheint mir hochst gefahrlich weil 
sie in die Bahn falscher metaphysischer Grundiiberzeugungen 
von derii einmundet, wessen der Menscii in seinem Verhaltnis 
zur Welt bedarf. Es ist nicht zu bezweifeln dafi Stifter ganz 
wundervolle Naturschilderungen gegeben hat und dafi er auch 
von dem menschlichen Leben, wo es noch nicht als Schicksal ent- 
faltet ruht, also von den Kindern wunderbar gesprochen hat, 
wie im »Bergkrystall«. Seinen ungeheuren Irrtum hat er aber 
selbst einmal ausgesprochen ohne ihn als solchen zu erkennen, in 
der Vorrede zu den »Bunten Steinen«, wo er iiber Grofie und 
Kleinheit in der Welt schreibt und dieses Verhaltnis als ein trii- 
gerisches und unwesentliches, ja relatives darzustellen sucht. Es 
geht ihm in der Tat der Sinn fur die elementaren Beziehungen 
des Menschen zur Welt in ihrer gereinigten Rechtfertigtheit ab, 
mit andern Worten: der Sinn fiir Gerechtigkeit im hochsten 
Sinne dieses Wortes. In der Verfolgung dessen, wie er das 
Schicksal seiner Menschen in seinen verschiedenen Buchern ent- 
rollt, habe ich jedesmal, im »Abdias«, im »TurmaIin«, in 
»Brigitta«, in einer Episode aus der »Mappe meines Urgrofi- 
vaters«, die Kehrseite, die Schatten- und Nachtseite jener Be- 
schrankung auf die kleinen Verhaltnisse des Lebens gefunden: 
indem er sich eben bei deren Aufzeichnung keineswegs beschei- 
det oder begniigen kann und nun bemiiht ist jene Einfachheit 
auch in die grofien Verhaltnisse des Schicksals zu tragen, welche 
aber notwendigerweise eine ganz andersartige sowohl Einfach- 
heit als Reinheit, namlich die welche simultan ist mit der Grofie 
oder besser mit der Gerechtigkeit, haben. Und da ergibt es sich 
dafi bei Stifter sich gleichsam eine Rebellion und Verfinsterung 
der Natur ereignet welche ins hochste Grauenvolle, Damonische 
umschlagt und so ihren Einzug in seine Frauengestalten (Bri- 
gitta, die Frau des Obristen) halt, wo sie als eine geradezu per- 
vers und raffiniert verborgene Damonie das unschuldige Aus- 
sehen der Einfachheit tragt. Stifter kennt die Natur, aber was er 
hochst unsicher kennt und mit schwachlicher Hand zeichnet ist die 
Grenze zwischen Natur und Schicksal, wie es sich zum Beispiel 



Stifter 609 

geradezu peinlich im Schlufl des »Abdias« findet. Diese Sicher- 
heit kann nur die hochste innere Gereciitigkeit geben, aber in 
Stifter war ein krampfartiger Impuls auf einem anderen Wege, 
der einfacher sdiien in Wahrheit aber untermensdilich damonisch 
und gespenstisch war, die sittliche Welt und das Schicksal mit 
der Natur zu verbinden. In Wahrheit handelt es sich um eine 
heimliche Bastardierung. Dieser unheimliche Zug wird sich bei 
scharfem Zusehen iiberall da finden, wo er in einem spezifischen 
Sinne »interessant« wird. - Stifter hat eine Doppelnatur, er hat 
zwei Gesichter. In ihm hat sich der Impuls der Reinheit von 
der Sehnsucht nach Gerechtigkeit zu Zeiten losgelost, sich im 
Kleinen verloren um dann im Grofien hypertrophisch (das ist 
moglich!) als ununterscheidbare Reinheit und Unreinheit ge- 
spenstisch aufzutauchen. 

Es gibt keine letzte metaphysisch bestandige Reinheit ohne das 
Ringen um den Anblick der hochsten und aufiersten Gesetzlich- 
keiten und man darf nicht vergessen dafi Stifter dieses Ringen 
nicht kannte. 



II 

Er kann nur auf der Grundlage des Visuellen schafTen. Das 
bedeutet jedoch nicht dafi er nur Sichtbares wiedergibt denn 
als Kiinstler hat er Stil. Das Problem seines Stils ist nun wie er 
an allem die metaphysisch visuelle Sphare erfafit. Zunachst 
hangt mit dieser Grundeigentiimlichkeit zusammen dafi ihm 
jeglicher Sinn fur Offenbarung fehlt, die vernommen werden 
mufij d. h. in der metaphysisch akustischen Sphare liegt. Des 
ferneren erklart sich in diesem Sinne der Grundzug seiner 
Schriften: die Ruhe. Ruhe ist namlich die Abwesenheit zunachst 
und vor allem jeglicher akustischen Sensation. 
Die Sprache wie sie bei Stifter die Personen sprechen ist osten- 
tativ. Sie ist ein zur Schau Stellen von Gefiihlen und Gedanken 
in einem tauben Raum. Die Fahigkeit irgendwie »Erschutterung« 
darzustellen deren Ausdruck der Mensch primar in der Sprache 
sucht fehlt ihm absolut. Auf dieser Unfahigkeit beruht das 
Damonische das seinen Schriften in mehr oder weniger hohem 
Grade eignet und seine ofTenbare Hohe dort erreicht wo er 
auf Schleichwegen sich vorwartstastet weil er die naheliegende 



610 Xsthetische Fragmente 

Erlosung in der befreienden Aufierung nicht finden kann. Er 
ist seelisdi stumm, das heifit es fehlt seinem Wesen derjenige 
Kontakt mit dem Weltwesen, der Spraclie, aus dem das Spre- 
chen hervorgeht. 



Shakespeare: Wie es euch gefallt 

Shakespeare, der zur Zeit der Renaissance lebte, war ein roman- 
tischer Dichter. Eine der groflten Eroberungen der Renaissance 
im Geistesleben war die Entdeckung des Unendlichen. In der 
Philosophic hat Nicolaus von Cusa sie gemacht, in der bildenden 
Kunst ist siemehr oder minder entscheidend und inverschiedenen 
Formen bei den grofien Malern, jedenfalls bei Leonardo und Mi- 
chelangelo zu finden, in der Poesie erobert sie Shakespeare. Die 
Unendlichkeit hat einen sehr verschiedenen Sinn und nicht jede 
Unendlichkeit ist romantisch. Die Shakespeares aber ist es: es 
ist die im engeren Sinne poetische. Sie ist in ihrer reinsten Er- 
scheinung in seinen Komodien enthalten. Die Unendlichkeit 
der Romantik hat keinen Trager, die Romantiker kennen nichts 
Unendliches, sondern nur das Unendliche selbst. Das Unend- 
liche ist das Universum, es ist das Wesen aller Dinge. Auf dieser 
romantischen Idee des Unendlichen beruht ein Typus der Dich- 
tung, der wenig beachtet wird und auf Grund dessen allein 
das Verstandnis fur die deutschen Romantiker, vor allem auch 
das Shakespeares erst gewonnen werden kann. Denn der grofke 
Romantiker ist Shakespeare, wenn er auch nicht allem das ist. 
Wo die Unendlichkeit das wahre Wesen der Welt ausmacht, ist 
nicht die Gestalt die Aufgabe der Dichtung, die doch gewohnlich 
allein dafur gehalten wird. Der Gestalt entspricht die Schau. 
Der Romantiker ist nicht der schauende Dichter, und auch 
Shakespeare war es, jedenfalls in seinen Komodien, nicht. Die 
Dichtkunst der Romantik ist die Bewegung der Auflosung 
aller Erscheinungen ins Unendliche, in das absolut Freie und 
Religiose; gerade in dieser Hinsicht lafit sich die Grofie Shake- 
speares tausendfach verschieden erfassen und variiert erkennen. 
Er hat von alien romantischen Dichtern die grofke Freiheit und 
daher auch den grofiten Umfang ermessen. Seine Komodien 



Shakespeare: Wie es eudi gefallt 611 

sind die Auflosung des Kosmos in die Unendlichkeit. Er ist 
der Sinnlichste und der Unmittelbarste. Er von Allen ist der 
Einzige, dem kein Rest in diesem ungeheuren Auflosungspro- 
zesse bleibt. Er ist unvergleichlich weltlich wie keiner. Wenn 
Naivitat innerhalb der romantischen Poesie zu erreichen mog- 
lich ist, so hat er sie erreicht, weil bei ihm alles auf die Einsam- 
keit hinauslauft. Er hat nichts mehr festgehalten und er ist der 
grofite Traumer geworden. Er hat es erreicht, ohne Sehnsucht zu 
sein, und das ist der Grund der Naivitat, es ist audi der Grund 
seiner tiefsten Komodien. Im Vergleich mit ihm war die deut- 
sche Romantik schon positiv religios, seine Weltlichkeit hat sie 
nicht mehr erreicht und keine mehr wird sie erreichen. »Wie es 
Euch gefallt« - denn fiir den Dichter ist das nur eine absolute 
geistige Traumerei, eine Auflosung, keine Gestalt. Er meint, 
dafi man diesem Stiicke zusehen solle wie einer Sommerwolke 
wenn sie im Blau sich auflost und hinter deren symbolischen 
Gebilden alien die Auflosung ins Unendliche als Tiefstes und 
Anmutigstes zugleich steht - man mufi dieses Stuck mit dem 
»Sturm« zusammennehmen, von dem es sich gleichsam als ein 
Vorspiel betrachten lafit. Don namlich ist die Unendlichkeit 
dem Dasein schon nahe gekommen, da6 dem Menschen der 
Atem ausgeht. Prospero legt den Zauberstab aus der Hand, der 
Sturm blast nicht mehr wie es Euch gefallt, oder weil er es dieses 
eine Mai noch tat durft Ihr nichts weker horen. Shakespeares 
SchafFen stirbt an Unsterblichkeit. - Er ist der Dichter des 
blofien Blicks aus blofiem Auge. So wie der geistig erhobene 
Blick auf das unendliche Blau des Himmels trifft und frei 
schweifend sich in ihm verliert, war der Blick Shakespeares. Er 
war kein Visionar. Englander war und blieb er, nur der grofke, 
dessen Blick so klar war, daft er die Niichternheit verlor. Alle 
grofien englischen Dichter haben seinen Blick, aber keiner mehr 
sein unbewaffnetes Auge, Sterne das Mikroskop und Swift 
das Fernrohr. 



612 

Moliere: Der eingebildete Kranke 

Molieres Dramen gehoren in jene grofite dramatische Ober- 
lieferung, die wahrscheinlich schon vor den Griechen ihre Ur- 
spriinge hat, historisch klar in ihnen zum ersten Male hervor- 
tritt, sich in der lateinischen Komodie des Plautus und Terenz 
fortsetzt, im Mittelalter grofi von Hroswitha von Gandersheim 
aufgenommen zu Moliere fiihrt, von dem fraglich ist, ob er in 
dieser Uberlieferung Nachfolger besessen: in die Uberlieferung 
des Dramas der Maske. Der komischen oder tragischen, gleich- 
viel. Um die Maske handelt es sich in alien grofiten Problemen 
des Dramas und der klassische Geist des Dramas, dessen Ge- 
gensatz der romantische Shakespeare verkorpert, erhebt sich 
vielleicht in Moliere zum letzten Male. Es ist sogar sehr mog- 
lich - wenn auch nicht entschieden - dafi das Wesen der 
dramatischen Maske ganz rein und geklart allein in der Komodie 
erscheinen kann und dafi sich in einer unendlich paradoxen 
Tiefe der Ausspruch von einer »antiken Heiterkeit« beweisen 
konnte. Was namlich fiir die Tragodie die Ethik, das ist fur die 
Komodie die Logik, in beiden ist philosophische Substanz, aber 
in der Komodie die absolute, gereinigte. Nicht durch die Grofie 
der Leidenschaft ist die Komodie wahrhaft ausdruckslos und 
grofi, wird Maske, sondern durch die Tiefe des Gedankens, und 
sie verfolgt ihn bis er heiter wird und in Gelachter umschlagt. 
Wie dies unter Menschen in ihrer Rede zugehen kann, ja grund- 
satzlich die Norm der Philosophic iibersteigt, dafi Philoso- 
phic niemals komodisch noch tragodisch sein kann, bildet das 
Problem. Denn wenn man die Tiefe des Ausdruckslosen in der 
Tragodie und die intellektuale Reinheit der Komodie einmal 
erkannt hat und das Wechselspiel beider in beiden, wird man 
allerdings das Problem von der Philosophie her stellen und 
befindet sich genau auf dem Grat des platonischen Dialogs, von 
wo diese beiden Formen der Sprache und der Erkenntnis, denn 
so darf man sie auffassen, - Tragodie und Komodie - abstiir- 
zen. 

Moliere ist die genaueste Tangente franzosischen Geistes an 
das Griechentum. Darum mufi sein »Malade Imaginaire« wenig- 
stens eine ideale Maske haben, die auch von innen ausreichend 
vorgeschrieben ist: namlich eines Menschen, der sich krankglaubt. 



Der eingebildete Kranke • Frau Warrens Gewerbe 613 

Wenn man nun weifi, dafi ein soldier audi krank ist, wenn audi 
maskenhaft krank, so doch nur um so reiner: krank, so hat er 
audi eine Maske. Diesen geheimen Grund des Dramas verfehlte 
der Darsteller. Sein Argan war nicht krank und so fehlte ihm 
in einer etwas hilflosen Agilitat die Grofie. Wenn er sich tot 
stellt, sollte er (audi wenn Moliere das nicht vorschreibt) sein 
Haupt verhiillen. 



Shaw: Frau Warrens Gewerbe 

Alles Geld ist schmutzig, jedes kommt irgendwann einmal in ein 
Bordell, irgendwann einmal in eine Bleiweififabrik und wieder 
heraus: die Schuld des Geldes ist eine Gestalt der ewigen Schuld, 
die die Personen tragen, das Furchterliche ist, dafi die Menschen 
des kapitalistischen Zeitalters sich nicht von ihr zu entsuhnen 
wissen. In der Arbeit ist diese Entsuhnung nicht zu finden, 
ebenso wie die des Tiermordes nicht in der vegetarischen Lebe- 
weise. Denn im letzten Sinne kann die Schuld in irgend einer 
aufiersten und umfassenden Gestalt nicht vermieden sondern 
nur entsuhnt werden. Die Ausgeburt des wahnwitzigen Glau- 
bens, die Verschuldung uberhaupt vermeiden zu konnen, ist die 
falsche Askese, wahre Askese ist jede Reinigung und Entsiih- 
nung. Die Gegenwart hat die falsche negative Askese zur 
hochsten diinkelhaftesten Auspragung unter den Namen der 
Hygiene gebracht. Ihre Technik ist, die Reinigung durch das 
Reinhalten zu ersetzen, und ihr Irrtum, eine in sich bestehen- 
de, nur der Bewahrung bedurftige Reinheit irgendwann und 
-wo vorauszusetzen. Sie hat sich iiber alle Gebiete ausgedehnt. 
Die Tochter der Frau Warren glaubt, sich durch strenge Arbeit, 
durch Verzicht auf Gliick und Ehe vor der Beriihrung mit dem 
Gelde ihrer Mutter und allem, was dem ahnelt, bewahren zu 
konnen. Vielleicht glaubt sie auf diesem Wege sich nicht nur fiir 
die Zukunft zu bewahren, sondern auch fiir die Vergangenheit 
zu entsuhnen. Aber dann bliebe ihre Reinigung so oberflach- 
lich, wie ihr Schuldgefiihl gerecht und wahr ist. Hier wird es 
nicht geniigen, in ein freudloses Bureauzimmer der City zu 
ziehen, und es wird sogar nicht darauf ankommen. Die Innen- 



614 Asthetische Fragmente 

welt der Menschen (die mit ihrer Psychologie nicht verwechselt 
werden darf) ist in diesem braven Madchen bis zum Nichts ver- 
kummert. 

Daran geht die einzige grofie Intuition zu Grunde, auf die 
Shaw offenbar das Snick aufbauen wollte: die Tochter verurteilt 
ihre Mutter nicht, weil sie die Notigung begreift, aus der sie 
Bordellbesitzerin geworden ist. Diese Notigung macht Frau 
Warren ihr folgendermafien begreiflich: vor die Wahl gestellt, 
selbst ihre Arbeitskraft und ihre Schonheit, wenn audi nicht 
sexuell, durch Restaurateure bis zur Erschopfung ausbeuten zu 
lassen, oder ihr Geld als ausgehaltene Frau von vielen Mannern 
zu erwerben und ihre Gesundheit wie ihre Gestalt zu bewahren, 
hat sie das letztere gewahlt. Denn das Leben beider Geschopfe 
ist gleich elend, an beiden vergeht sich die Gesellschaft ganz 
genau in gleicher Weise. Aber die Kokotte hat Moglichkeiten, 
ein besseres Leben sich zu erringen, sie kann sparen - und sie 
wird es tun, bis sie das Geld hat, mit ihrer Schwester, die schon 
diesen Weg zuriickgelegt hat, sich zusammenzutun, und in 
einem Bordell ihr Geld anzulegen. Vom Standpunkt der Ge- 
sellschaft lafit sich der Satz wohl mit Grunden unterstiizen: dafi 
die Arbeiterin der Bleiweififabrik ein elenderes Leben fiihre 
als die Bordellbesitzerin, als die Dime. Vom Standpunkt des 
Menschen spricht Shaw nicht, und er macht Vivie Warren zum 
Opfer leicht durchschaubarer Sophismen, wenn er ihrer Mutter 
Verzeihung von ihr widerfahren lafk. Das macht: wir erfahren 
fast nichts von Fau Warrens Gewerbe als dessen Namen. Die 
Unsumme von Schlechtigkeit und Gemeinheit, die mit diesem 
Beruf verbunden sein wird, fallt auf die Verantwortung des 
Menschen zuriick, der ihn ausiibt. Nicht anders die Dime; mag 
sie sozial besser, freier, hygienischer bestehen als die Madchen 
in der Fabrik (dies ist paradox, aber es kann wahr sein) - 
moralisch ist sie als Dime schlecht, als Bordellbesitzerin ver- 
achtlich. - Oder: wollte Shaw dies sagen: sie ist nicht moralisch 
schlecht, eine Dime, eine Bordellbesitzerin imissen nicht schlecht 
sein? Kein Mensch darf allein verurteilt werden auf Grund 
seines Ranges in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung; 
und jeder Beruf ist ein Rang in ihr, jeder ist zu reinigen, weil 
das Kapital nur der unreine verzerrte Geist und Leib von ewigen 
Machten ist, die aus ihm allerorten hervorstrahlen. Er wollte 



Andre Gide: La porte Stroke 6ij 

dies sagen, wenigstens ist em anderes Leben in seinem Snick 
nicht zu suchen. Nicht jede Dime braucht schlecht zu sein, die 
Dime ist nicht schlecht, wie kein Beruf. Aber Frau Warren 
ist ein schlechter Mensch und eine schlechte Dime. Und wenn 
Shaw gar uns dieses Bild vom Ewigen, was unter dem Schutt 
des Kapitals in den Berufen schlummert, an dem Verachtetsten 
des heutigen Lebens zeigen wollte - an Frau Warrens Gewer- 
be konnte er es nicht. Wir wissen, dafi die Biirgerin es elend 
treibt. Was aber wollte er sonst? Uns eine Tochter zeigen* die 
ihre Mutter verabscheut und mit Recht verlafit? Welcher Sinn 
sollte darin liegen? 

Er hat sich die Finger verbrannt, aber sein Herz ist kalt geblie- 
ben. Einsicht in die Heuchelei des Burgers und Wissen von dem, 
was er verleugnet, sind zweierlei. Wer das zweite nicht besitzt, 
hat die erste darzustellen kein Recht. Der Dichter ist aufrich- 
tig und ein gentleman, wie seine junge Heldin, aber nur der 
Frechheit verdanken wir, was ihn iiber sie hinaushebt. Einer 
ganz irdischen, gottlicher mitnichten. 



Andre Gide: La porte etroite 

Schuld und Seligkeit treten reiner im Leben der Kinder in Er- 
scheinung als im spatern, weil die Erscheinungen in ihm nichts 
anderes beanspruchen, als die wesentlichen Gefiihle in sich zu 
halten. Hier scheinen die feindlichen Heerscharen, Schuld und 
Seligkeit, noch in den Schauplatz emgebettet, in das friedliche 
Feld der spatern Schlacht, deren zweideutigen Verlauf und alles 
entscheidendes Ende erst die kommenden Jahre abzuschatzen 
vermogen. Deshalb ist nichts trostreicher und zugleich erleuch- 
tender als von der Hohe jener Jahre herab das Auge auf 
diesen - wenn audi durchkliifteten so dennoch friedlichen - 
Gefilden der Kindheit ruhen zu lassen. Nur mufi jene Hohe 
errungen sein, damit die Kindheit dem Ernst des herrschenden 
Geschicks vergleichbar erscheine, wie in den befreienden und 
erleuchtenden Kinderepisoden der Briider Karamasoff. Dage- 
gen ist fur einen Kiinstler, der um den unverstellten Anblick 
von Schuld und Seligkeit, um das moralische Antlitz seines 



616 Xsthetisdie Fragmente 

Helden ringt, der entgegengesetzte Weg, von der Kindheit 
zum Manne oder zum Weibe kein Vorwurf. Denn der Anblick 
der Kindheit als der friedlichen Walstatt, um den es diesem 
Autor zu tun sein mufi, und ihre Erschliefiung durdi die Macht 
der Seligkeit und der Verschuldung gelingt nur von jener 
Hohe herab, wahrend die Betrachtung, die im Felde der Kind- 
heit verharrt, so Herrliches sie auch fordert, nicht den Ernst in 
ihr, welcher dem trauernd Erwachsenen verwandt ist, er- 
schliefit. 

Diesen unlosbaren Vorwurf hat Andre* Gide gewahlt. »La 
porte etroite«, die enge Pforte, ist wohl weniger die, durch 
welche die Tugendhaften, als die, durch welche die kindlichen 
Menschen in den Himmel einzutreten vermochten. Weil aber 
ins Vollenden und Mann-Werden des Kindes vollig neue Krafte 
hereinspringen, die nirgends vorbereitet und gefunden werden 
als in Gott, ist dies kein Gegenstand der Kunst. Gide sucht die 
Kindheit so hinaufzutreiben, dafi sie an den letzten Himmel 
heranreiche, an Gott, er sucht ihren Ernst aufs tiefste zu pragen. 
Mit alledem gelingt es ihm nicht, durch die irdischen Stadien 
des Werdens sie hindurchgehen zu lassen, und der Weg der Seele 
verlauft mit meteorischer Willkur, weil das, was hier darge- 
tan werden soil, nur der Erinnerung des Mannes, nicht der 
Gegenwart des Wachsenden zufallt: namlich die letzte ernste 
Frommigkeit der Kindheit. Gide sucht den muhseligen Weg ab- 
zukiirzen und weil er die Frommigkeit in ihrer bewegenden 
Kraft anerkennt, sucht er Bewegung unter den Kindern. Aber 
dafi er den frommen Ernst der Bewegung dort vergebens vollig 
sichtbar zu machen sucht, jenen Ernst, der ein Gebet aus der 
Schlacht ist, sieht man. Anders Dostojewski, der in einem Mann 
den Spiegel aufstellt, in dem Kinderernst und Kinderlust gleich 
erschutternd dem Betrachter den Anblick von Schuld und Selig- 
keit erweckt. 

Die Bewegung, eingefangen in eine Liebe wie Luft in einem 
Netz, sucht sich vergebens zu entscheidender Kraft auszupragen. 
Es ist vorherzusehen, dafi sie scheitern mufi - und kaum 
das, sondern vielmehr versanden, ehe sie ihre eigene Kraft entfal- 
ten kann. Das Buch behandelt eine Kinderliebe, die den Weg 
durch die schmale Pforte in den Himmel sucht. Diese ihre Hei- 
mat glaubt sie nur durch Entsagung zu finden, eine Entsagung, 



Andre" Gide: La porte etroite 617 

die nicht aus kirchlichen Vorschriften und Wertungen, sondern 
aus dem allzu friih verspiirten Atem der Bewegung selbst ihren 
Grund nimmt. Das Madchen wendet sich langsam aber unerbitt- 
lich vom Knaben ab, damit er sich Gott zuwende. Dies geschieht 
vollig motivlos und als ob das Madchen auf das Geheifi einer 
Stimme handle. Die Willkiir ihres Handelns beugt den Knaben 
und den Leser bedriickt sie, wie ein Ratsel, dessen Losung nichts 
Gutes verheifit. Er erkennt, woriiber die Personen des Buches 
im Dunkel bleiben, dafi nicht eine Offenbarung, ein unwider- 
rufliches Gebot AUssas Handeln zu Grunde liegt, sondern innre 
Unklarheit, also Willkiir. Wahrend in allem einzelnen die 
vollendete Wahrheit der Bewegung das Buch inspiriert, eine 
Wahrheit, welche die Sehnsucht seines Autors nach dem wahren 
Leben zu erkennen gibt, verfallt daher das Ganze innerlich an 
einem Punkte. Das Geschehen vereitelt sich selbst und der un- 
endliche Fehler der Anlage bricht aus. Ein Kreuz von Amethy- 
sten nimmt die tote Alissa ins Grab, das einst als ein Geschenk 
von ihr ihrem Geliebten teuer gewesen ist und als es in ihre 
Hand zunickkam ihre Trennung besiegelte. Nach allem Ge- 
schehen aber ist dies Kreuz zuviel und es liegt da, wie zu Fufien 
der Seligen im Himmel ein Kieselstein. Verfanglich, ja banal, 
verrat dies arme Zeichen des Gedenkens das Gebrechen dieser 
Vorgange. Sie verkiimmern (wie alles Banale) nicht an einem 
eigentlich falschen Gefiihl, vielmehr an einem, das im Aus- 
druck, kraft einer urspriinglichen Anlage, sich selbst vereitelt. 
Was Gide in der Kindheit suchte, liefi sich in ihr nicht finden. 
Er durdiwiihlt gleichsam wie ein Verzweifelter ihren Boden, 
aber in ihm ist nicht der Schatz, nicht die Seligkeit selbst zu fin- 
den, sondern nur fur den Betrachtenden, der um sie weifi, ihre 
Beschreibung. Dieses Entgleiten, diese Vereitlung ist es, die Gide 
selbst gefiihlt hat, die er zu Beginn ankiindigt und die zum 
Schlufi zur Klage ihn beseelt hat. Denn eben auf sie verweisen 
seine ersten Worte, mit denen er die Bezeichnung des Werkes 
von dieser Geschichte fernhalten mochte. »D'autres en auraient 
pu faire un livre.« Er hat, nicht weil er von der Vollendung dieses 
Geschehens ergriften gewesen ware, sondern weil seine Vereit- 
lung ihn erschiittert hat, es aufgezeichnet, um die Klage ihm 
nachzusenden, zu der, wie jede aufiere, so audi die innere 
Krankung der Kindheit in sich selbst bewegt. 



6i8 

Paul Scheerbart: Lesabendio 

Der Roman Lesabendio ist die Frucht eines geistigen Lebens 
von grofier Reinheit und Besinnung und das Bewufitsein der 
Gebundenheit an irgendwelche Elemente des »Wirklichen« und 
des »Aufien« hat ihm jene Reinheit gewonnen, die wir Stil nen- 
nen. Dieses Buch ist besonnen aus Ehrfurcht und unsdieinbar aus 
Fiille. Es ist nicht universal, nicht auf sich gestellt, nicht erschop- 
fend: aber es ist uberall erfiillt vom Geiste der Empfangnis und 
der Idee. Es ist durdi die Erfullung eines strengen Gesetzes 
ausgezeichnet, und fiir seinen Wert wie fiir seine Begrenzung ist 
es entscheidend, dafi dies ein Gesetz mehr der mythischen For- 
men als der Kunst ist. Das Gesetz heifit: Die wahre Deutung 
erfafit die aufierste Oberflache der Dinge, ihre reinste Sinnlich- 
keit; Deutung ist Oberwindung des Sinnes. Nach dieser Weise 
hat Scheerbart das Dasein eines Asteroiden entworfen und das 
Leben auf ihm. Es blieben alle Verhaltnisse fort, die zu wirrer 
Innerlichkeit, zu Ausdeutung und Erklarung verfiihren konn- 
ten; dafi er in dem so gestellten Rahmen strenger Sachlichkeit 
das Buch schreiben konnte, ist ein Zeugnis seines Geistes. Die 
Menschen auf diesem Sterne haben kein Geschlecht (richtiger: es 
ist davon nicht die Rede und es wird also wohl unbekannt sein), 
die neuen Pallasianer werden in Nufischalen eingeschlossen in 
den Tiefen des Pallas gefunden. Ihre Geburt ist Zertriimmerung 
dieser Schalen. Nach den ersten Worten, die sie im Anblick des 
Lichtes lallen,, werden sie genannt: Biba und Bombimba, Labu, 
Sofanti, Peka und Manesi und die andern. Der Pallas ist klein, 
nur ein paar hunderttausend Menschen leben in seinen beiden 
Trichtern. Der Pallas ist namlich ein Tonnenstern, seine beiden 
Schmalseiten sind ausgehohlt zu Trichtern, dem Nord- und 
Sudtrichter, die durch ein Loch in der Mitte in einander iiber- 
gehen. Man arbeitet kiinstlerisch auf dem Pallas: doch gibt es 
nur grofie architektonische Kiinste, gliedernde, bauende, schmiik- 
kende, deren Gegenstand immer der Stern Pallas selbst ist. An 
seiner Ausgestaltung wird gearbeitet. Bis auf Lesabendio such- 
te man ihn mannigfach auszugestalten, krystallinisch zu bear- 
beiten oder in runden Formen sein Gestein zu schleifen; ver- 
schiedene Kunstler arbeiten an ihren Ideen in den grofien 
Ateliers in den Hohlen der Trichter. Lesabendio gerat aber auf 



Paul Scheerbart: Lesabendio 619 

den Gedanken, einen Turm auf dem Nordrand des Pallas zu 
erbauen; er setzt den Bau durch und immer deutlicher wird es 
erst dem Biba, dann dem Lesabendio selbst, und viel spater 
auch den andern Pallasianern, wozu der Turm dient. Er dient 
der Vereinigung von Kopf- und Rumpfsystem des Asteroiden 
Pallas, der Wiederbelebung des Sterns durch die Auflosung 
Lesabendios in dem vereinten Doppelgestirn. Denn wahrend 
bisher die Pallasianer schmerzlos sich in einem gesunden und 
lebenden Bruder auflosten, wenn ihr Korper ermattete (ein be- 
sondrer, nicht-menschlicher Korper natiirlich), ist es Lesabendio, 
der als erster den Schmerz auf den Pallas ftihrt und ihn als erster 
erleidet. So wie der wachsende Turm von Tag zu Tag die Ge- 
stirnverhaltnisse andert, so verwandelt Lesabendios Auflosung 
im Kopfgestirn mehr und mehr den fruhern Rhythmus des 
Pallaslebens. Der Stern erwacht zur Vereinigung mit andern Ge- 
stirnen, die mit ihm den grofien Asteroidenring um die Sonne zu 
bilden ersehnen und die Pallasianer erwachen zum Schmerz 
und zur Seligkeit der Auflosung im Grofiern. 
Die strenge Fiigung des erzahlenden Aufbaues, die nichts als 
die Erbauung des Turmes ins Auge fafit, hat die Vollendung des 
Entwurfes ermoglicht. Dabei hat die geistige Oberwindung des 
Technischen ihren Gipfel erreicht, da die Niichternheit und 
Sprodigkeit des technischen Vorgangs zum Symbol einer v/irk- 
lichen Idee geworden ist. Die Arbeit der Technik ist der deut- 
lichste Ausdruck jener keuschen und strengen Deutung der Ge- 
schehnisse, die an ihre aufierste, reinste Oberflache angeschlossen 
ist. Die Verflechtungen der Liebe, die Probleme der Wissen- 
schaft und der Kunst, ja die Perspektive des Sittlichen ist ganz- 
lich ausgeschaltet, um den reinsten unzweideutigsten Erscheinun- 
gen der Technik das utopische Bild einer geistigen Gestirnwelt 
entfalten zu konnen. In diesem Sinne ist jede ErschlieiSung und 
Beschreibung des Sterninnern ein Schritt, der von der eigentli- 
chen Aufgabe abfiihrt und die gesetzten Grenzen iiberschreitet. 
Die Kunst ist nicht das Forum der Utopien. Wenn es trotzdem 
scheint, als konne von ihr aus das entscheidende Wort iiber dies 
Buch gesprochen werden, weil es voll Humor sei, so ist es doch 
dieser Humor, der umso sicherer die Region der Kunst iiber- 
steigt, und das Werk zu einem geistigen Zeugnis macht. Dessen 
Bestand ist nicht ewig und nicht in sich allein gegriindet, aber das 



620 Asthetische Fragmente 

Zeugnis wird in dem Grofieren, von dem es zeugt, aufgehoben 
sein. Von dem Grofieren - der Erfiillung der Utopie - kann 
man nicht sprechen - nur zeugen. 



Traumkitsch 

Es traumt sich nidit mehr recht von der blauen Blume. Wer heut 
als Heinrich von Ofterdingen erwacht, mufi verschlafen haben. 
Die Geschichte des Traumes bleibt noch zu sdireiben, und Ein- 
sicht in sie eroffnen, hiefie, den Aberglauben der Naturbefan- 
genheit durch die historische Erleuchtung entscheidend schlagen. 
Das Traumen hat an der Geschichte teil. Die Traumstatistik 
wiirde jenseits der Lieblichkeit der anekdotischen Landschaft in 
die Diirre eines Schlachtfeldes vorstofien. Traume haben Kriege 
befohlen und Kriege vor Urzeiten Recht und Unrecht, ja Gren- 
zen der Traume gesetzt. 

Der Traum eroffnet nicht mehr eine blaue Feme. Er ist grau ge- 
worden. Die graue Staubschicht auf den Dingen ist sein bestes 
Teil. Die Traume sind nun Richtweg ins Banale. Auf Nimmer- 
wiedersehen kassiert die Technik das Auflenbild der Dinge wie 
Banknoten, die ihre Gultigkeit verlieren sollen. Jetzt greift die 
Hand es noch einmal im Traum und tastet vertraute Konturen 
zum Abschied ab. Sie fafit die Gegenstande an der abgegriffen- 
sten Stelle. Das ist nicht immer die schicklichste: Kinder umfas- 
sen ein Glas nicht, sie greifen hinein. Und welche Seite kehrt das 
Ding den Traumen zu? Welches ist diese abgegriffenste Stelle? 
Es ist die Seite, welche von Gewohnung abgescheuert und mit 
billigen Sinnspriichen garniert ist. Die Seite, die das Ding dem 
Traume zukehrt, ist der Kitsch. 

Klatschend fallen die Phantasiebilder der Dinge als Blatter 
eines Leporello-Bilderbuchs »Der Traum« zu Boden. Sinnspruche 
stehen unter jedem Blatt. »Ma plus belle maitresse c'est la pa- 
resse« und »Une medaille vernie pour le plus grand ennui« 
und »Dans le corridor il y a quelqu'un qui me veut a la mort«. 
Die Siirrealisten haben solche Verse verfafit, und befreundete 
Kiinstler haben das Bilderbuch nachgezeichnet. »R^petitions« 
nennt Paul Eluard eines, auf dessen Titelbild Max Ernst vier 



Traumkitsch 621 

kleine Jungen gezeichnet hat. Sie wenden dem Leser, dem Leh- 
rer und dem Katheder den Riicken und blidken iiber eine Balu- 
strade hinaus, wo in der Luft ein Ballon stent. Mit seiner Spitze 
wiegt auf der Briistung sich ein riesiger Bleistift. Die Repetition 
der kindlichen Erfahrung gibt zu bedenken: Als wir klein 
waren, gab es noch den beklemmenden Protest gegen die Welt 
unserer Eltern nicht. Als Kinder mitten in ihr zeigten wir uns 
uberlegen. Mit dem Banalen, wenn wir es ergreifen, ergreifen 
wir das Gute, das, sieh, so nah liegt. 
' Denn die Sentimentalitat unserer Eltern, vielfach destilliert, ist 
gerade gut, das sachlichste Bild unseres Fuhlens zu stellen. Die 
Weitschweifigkeit ihrer Rede zieht gallebitter uns sich zum krau- 
sen Ratselbild zusammen; das Ornament des Gesprachs ward 
innerlichster Verschlingungen voll. Darinnen ist seelische Zu- 
neigung, Liebe, der Kitsch. »Der Surrealismus ist berufen, in 
seiner essentiellen Wahrheit den Dialog wiederherzustellen. Die 
Partner sind vom Zwang des Hoflichseins entbunden. Wer 
spricht, wird keine Thesen deduzieren. Die Antwort aber schiert 
aus Grundsatz sich nicht um die Eigenliebe dessen, der sprach. 
Denn Wort und Bilder gelten dem Geist des Horers nur als 
Sprungbrett.« Schone Erkenntnisse aus Bretons surrealistischem 
Manifest. Sie bilden die Formel des dialogischen Mifiverstand- 
nisses, will sagen, des Lebendigen im Dialog. Denn »Mifi- 
verstandnis« heifk die Rhythmik, mit welcher die allein wahre 
Wirklichkeit sich ins Gesprach drangt. Je wirklicher ein Mensch 
zu reden weifi, desto gegliickter mifiversteht man ihn. 
In »Vague de reves« berichtet Louis Aragon, wie die Manie zu 
traumen in Paris um sich griff. Die jungen Leute glaubten, ein 
Geheimnis der Dichtung gefunden zu haben - in Wahrheit 
stellten sie das Dichten ab, wie alle intensivsten Krafte dieser 
Zeit. Saint-Pol-Roux befestigt vor dem Schlafengehen am 
friihen Morgen ein Schild an seiner Ture: »Le poete travaille.« 
- Dies alles, um ins Herz der abgeschafften Dinge vorzustoEen. 
Um die Konturen des Banalen als Vexierbild zu entziffern, aus 
den waldigen Eingeweiden einen versteckten »Wilhelm Tell« 
aufzustoren, oder auf die Fragen »Wo ist die Braut?« erwidern 
zu konnen. Vexierbilder als Schematismen der Traumarbeit hat 
langst die Psychoanalyse aufgedeckt. Die Siirrealisten sind mit 
solcher Gewifiheit der Seele weniger als den Dingen auf der 



6iz Asthetische Fragmente 

Spur. Den Totembaum der Gegenstande suchen sie im Dickicht 
der Urgeschichte auf. Die oberste, die allerletzte Fratze dieses 
Totembaumes ist der Kitsch. Er ist die letzte Maske des Bana- 
len, mit der wir uns im Traum und im Gesprach bekleiden, um 
die Kraft der ausgestorbenen Dingwelt in uns zu nehmen. 
Was wir Kunst nannten, beginnt erst zwei Meter vom Korper 
entfernt. Nun aber riickt im Kitsch die Dingwelt auf den Men- 
schen zu; sie ergibt sich seinem tastenden Griff und bildet 
schliefilich in seinem Innern ihre Figuren. Der neue Mensch hat 
alle Quintessenz der alten Formen in sich, und was in der Aus- 
einandersetzung mit einer Umwelt aus der zweiten Halfte des 
neunzehnten Jahrhunderts sich bildet, in Traumen wie in Satz 
und Bild gewisser Kiinstler, ist ein Wesen, das der »moblierte 
Mensch« zunennen ware. 



<Uber Stefan George) 

Nur dafi die »Literarische Welt« ihre Aufforderung so formu- 
lierte, wie es geschehen ist, ermoglicht es mir, einiges aufzuzeich- 
nen, was sich sofort mir selbst entziehen wiirde, wenn ich den 
Versuch machen wollte, iiber Stefan George zu schreiben. Im 
Bewufitsein, dafi ein soldier Versuch nie und nimmer gelingen 
konnte, bemiihe ich mich, desto genauer mir zu vergegenwarti- 
gen, wie George in mein Leben hineinwirkte. Voranzuschicken 
ist dies: Er tat es niemals in seiner Person. Wohl habe ich ihn 
gesehen, sogar gehort. Stunden waren mir nicht zu viel, im 
Schlofipark zu Heidelberg, lesend, auf einer Bank, den Augen- 
blick zu erwarten, da er vorbeikommen sollte. Eines Tages kam 
er langsam daher und sprach zu einem jiingeren Begleker. Auch 
habe ich ihn dann und wann im Hof des Schlosses auf einer 
Bank sitzen gefunden. Doch das war alles zu einer Zeit, da die 
entscheidende Erschiitterung seines Werkes mich langst erreicht 
hatte. Die aber ist in keinem Falle von dem Gelesenen und im- 
mer von Gedichten nur ausgegangen, die ich in einem bestimm- 
ten, eingreifenden Augenblick im Munde derer, mit denen ver- 
bunden ich damals lebte, ein- oder zweimal auch in meinem 
eigenen, gefunden habe. Verbunden mit diesen - von denen heute 



Uber Stefan George 623 

keiner mehr lebt -, nicht durch jene Gedichte, vielmehr durch 
eine Kraft, von der ich eines Tages werde zu sagen haben. Es 
war dieselbe, die mich zuletzt von diesem Werke schied. Aber 
sie konnte es nur,. weil jenes Werk und well das Dasein seines 
Schopfers in ihr so gegenwartig gewesen ist, dafi sie ohne 
beide nicht denkbar gewesen ware. Wenn es das Vorrecht 
und das unnennbare Gliick der Jugend ist, in Versen sich legi- 
timieren, streitend und liebend sich auf Verse berufen zu diir- 
fen, so verdankten wir, dafi wir dieses erfuhren, den drei 
Buchern Georges, deren Herzsuick das »Jahr der Seele« ist. - 
Im Frtihjahr 19 14 ging unheilverkiindend iiberm Horizont 
der »Stern des Bundes« auf, und wenige Monate spater war 
Krieg. Ehe noch der Hundertste gefallen war, schlug er in 
unserer Mitte ein. Mein Freund starb. Nicht in der Schlacht. 
Er bluhte auf einem Felde der Ehre, wo man nicht fallt. Monate 
folgten, von denen ich nichts mehr weifi. In diesen Monaten 
aber trat, was er an Gedichten hinterlassen hatte, an die 
wenigen Stellen, wo noch in mir Gedichte bestimmend zu 
wirken vermochten. Sie bildeten eine andere Figur. Und wenn 
ich die alte der neuen vergleichen wollte: sie waren wie ein 
alter Saulenwald und eine junge Schonung. So ist Georges 
Wirken in mein Leben gebunden ans Gedicht in seinem leben- 
digsten Sinn. Wie seine Herrschaft in mir wurde und wie sie 
zerfiel, das alles spielt im Raume des Gedichts und in der 
Freundschaft eines Dichters sich ab. Das will aber heifien, die 
Lehre, wo immer auch ich auf sie stieft, weckte mir nichts als 
MiEtrauen und Widerspruch. Gerade dafi ich noch weifi, dafi 
Boehringers Aufsatz im Jahrbuch »Ober Hersagen von Gedich- 
ten« nachhaltiger auf mich wirkte. Im ubrigen fand ich in jener 
Priesterwissenschaft der Dichtung, die von den »Blattern fiir die 
Kunst« gehtitet wurde, nie einen Nachhall der Stimme, die 
»Das Lied des 2wergen« oder die »Entfiihrung« getragen hatte. 
Diese Gedichte aber vergleiche ich im Massiv des Deutschtums 
jenen Spalten, die nach der Sage nur alle tausend Jahre sich 
auftun und einen Blick ins innere Gold des Berges gewahren. 
- Nun miifite ich freilich noch ein Wort Uber die Dante-Ober- 
setzung hinzufiigen. Aber ich hatte auch hier nur wieder das 
Gleiche zu sagen: wie ein Gedicht Georges die Gestalt einer 
Liebe annahm. Es war der fiinfte Gesang der »H6lle«, in dem 



624 Asthetisdie Fragmente 

die Stimme, die ihn eines hellen Vormittags in einem Miinchner 
Atelier mir las, durch Jahre in mir fortwirkte, so wie vordem 
eine entscheidende Stunde im Walde - es war eines der letzten 
Male, da ich die sah, die meinem Freunde in allem gefolgt ist - 
mir unvergefilich durch die ratselhafte Gebarde blieb, mit der 
sie auf Georges Gedicht: »Es lacht in dem steigenden Jahr dir« 
gewiesen hatte. So wie »Gemahnt dich noch das schone Bildnis 
dessen« auch mich, in der Tat, gemahnt, da mein Freund, indem 
er es liebte, ihm Ziige von sich gegeben hat. Sehr anders ist das 
Gesicht, das zwei Dichtungen aus dem »Teppich des Lebens« vor 
mir beschworen: die scharfen Ziige eines inbriinstig, aber gluck- 
los veranlagten Mannes, der nie in Stimme und Erscheinung so 
er selber war, als da er die Verse »Dreh ich in meinen Handen 
die rdtlichen Urnen« und den »Tater« hersagte. Immerhin habe 
ich im Bezirk dieser Dichtungen zu lange verweilt, um nicht 
auch eines Tages seine Schrecken kennenzulernen. Eine Auswahl 
Jean Paulscher Stellen, kaum eben auf des letztgenannten 
Zimmer gefunden, beglekete mich von da auf ein Fest und 
wurde auf dem schiefesten Weg meines Lebens ein Vademecum. 
Aber wie Geister ungeborner Stunden, versaumter Moglichkei- 
ten, stehen zuletzt noch einige Gedichte seitab, die ich immer 
allein geliebt habe, die sich nur immer allein mir erschlossen: 
Merkzeichen dessen, was moglich gewesen ware, waren Ein- 
samkeit und Versaumnis nicht das Notwendige. 



Karl Kraus 

In ihm ereignet sich der grofiartigste Durchbruch des hala- 
chischen Schrifttums mitten durch das Massiv der deutschen 
Sprache. Man versteht nichts von diesem Mann, solange man 
nicht erkennt, dafi mit Notwendigkeit alles, ausnahmslos 
Alles, Sprache und Sadie, fur ihn sich in der Sphare des Rechtes 
abspielt. Nicht genug, dafi die Zeitung alltaglich ihm ein einzi- 
ges Konvolut von Strafanzeigen ins Haus bringt, - seinen 
Augen, die zwischen den Zeilen lesen, entgeht nicht, wie alle 
die namenlosen Angeber mit ihren Anklagen, so begriindet sie 
sind, sich selber vergangen haben. Seine ganze feuerfressende, 



Karl Kraus • Neoklassizismus in Frankreich 625 

degenschluckende Philologie der Journale geht ja im Grunde 
nicht der Sprache, sondern dem Recht nach. Man begreift seine 
sprachlichen Untersuchungen nicht, erkennt man sie nicht als 
Beitrag zur Strafprozefiordnung, begreift das Wort des Andern 
in seinem Munde nur als corpus delicti, ein Heft der »Fackel« 
nur als Termin. Um ihn tiirmen sich die Prozesse. Nicht die, die 
er vor Wiener Gerichten zu fiihren hat, sondern die, deren 
Gerichtsstand die »Fackel« ist. Kraus aber, als Anklager, legt 
Berufung ein. Unter seinen selbstverhangten Urteilen tut ihm 
keines genug. Er gibt das beispiellose, zweideutige, echt damo- 
nische Schauspiel des ewig Recht heischenden Anklagers, des 
Staatsanwalts, der ein Michael Kohlhaas wird, weil keine Ju- 
stiz seiner Anschuldigung, keine seiner Anschuldigungen ihm 
selber Geniige tut. Die sprachliche und sittliche Silbenstecherei 
dieses Mannes meint nicht Rechthaberei, sie gehort zu der wahr- 
haft verzweifelten Gerechtigkeit einer Verhandlung, in der die 
Worte und Dinge, um ihren Kopf zu retten, das verlogenste 
Alibi sich ersinnen und unaufhorlich durch den Augenschein 
oder die nackte Rechnung widerlegt werden miissen. Dafi dieser 
Mann, einer der verschwindend wenigen, die eine Anschauung 
von Freiheit haben, ihr nicht anders dienen kann, denn als 
oberster Anklager, das stellt seine gewaltige Dialektik am 
reinsten dar. Ein Dasein, das, eben hierin, das heifieste Gebet 
um Erlosung ist, das heute iiber judische Lippen kommt. 



Neoklassizismus in Frankreich 
Zur Berliner Urauffuhrung von Cocteaus »Orpheus« 

Das achtzehnte Jahrhundert kannte eine sonderbare Art theolo- 
gischer Werke, von denen wir heute selbst den Namen nicht 
mehr verstehen. Da gab es aufgeklarte Kopfe, die bewiesen das 
Dasein und die Herrlichkeit Gottes aus der Vollkommenheit 
des Firmaments, des Wassers, der Baumwelt, und dann iiber- 
schrieben sie solche Werke Astero-, Hydro- oder Dendrotheolo- 
gie. Audi Cocteau hat etwas von dieser naseweisen Gottesge- 
lahrtheit, setzt sich eine grofie Brille aus Fensterglas vor die 
scharfen Augen und verfafit »Orph^e« - eine »Mythotheolo- 



626 Asthetische Fragmente 

gie«, wie wir uns ihn zu taufen erlauben. Ein Beweis, wie schon 
die Mythen der alten Heiden es mit christlichem Himmel hatten 
und nur nicht wufiten. »Neu« ist das nun nicht. Nein, aber so 
alt, dafi es schon mit Anstand hervorgeholt werden durfte. Es 
ist namlich der erstaunliche Blick auf das Griechentum, den 
marifche Kirchenvater besafien, wenn sie im Tode des Sokrates 
ein Vorspiel zum Tode Christi sahen, der Blick, der vorbei an 
der »edlen Einfalt und stillen Grofie« so gut wie an aller »Gra- 
bersymbolik der Alten « auf jenes hermetische, rationale, schat- 
tenschnelle Auftauchen griechischer Figurinen an den carrefours 
der Heilsgeschichte sich richtet. Es sind wediselnde Linsen, durch 
die das lumen supranaturale hindurchtritt, um dies geheim- 
nisvollste Antlitz der Antike, das nie das ihres Lebens, nur das 
ihres magischen Nachwirkens war, an den Tag zu bringen. Das 
Mittelalter hatte seine unvergleichliche Linse in der Allegoric 
Bei Jean Cocteau mufi die Christlichkeit sich durch viel un- 
bequemere Glaser qualen. Auch brennt ihr Licht weifi Gott 
erheblich schwacher. Es ist die triibe Funzel, die Jacques Mari- 
tain an diesem Docht, dem Dichter, sich fur seinen Lebensabend 
entziindet hat. Und alles, was man iiber diesen komischen Vor- 
gang und seine Exhibition in den beruhmten beiden Briefen 
bemerkt hat, sei unterstrichen und unterschrieben. Mit alledem 
aber ist doch iiber, geschweige gegen, Cocteaus bedeutendstes 
Werk - das ist der » Orpheus « - viel weniger gesagt, als man in 
Berlin zu glauben scheint. 

An der Auffuhrung lagen die Mifiverstandnisse kaum. Wenn 
Muthel auch ganz iibersah, dafi die Eitelkeit, der Starrsinn, die 
Narrheit nur Kleider sind, die auf dem Lauterungswege von 
Orpheus fallen, und durch die hindurch immer eine vollendet 
schone, vor allem eine traumende Korperseele zu schimmern 
hat, Roma Bahn liefi die Eurydike der Mme Pitoeff gewifi 
nicht vergessen. Aber sie war doch muster- und geisterhaft und 
hatte jederzeit so viel niaiserie wie Orpheus an Gewicht hatte 
haben miissen, um die Auffuhrung vollkommen zu machen. In 
Paris hatte Heurtebise weifies Glas in seinem Schragen, und es 
iiberragte sein Haupt. Beides schien angebracht. 
Und nun, unter dem oft genug und zumal im ganzen ergreifen- 
den Eindruck der Tragodie, sollte man nicht iiber die armlichen 
neukatholischen Posamenten hinwegkommen, mit denen der 



Neoklassizismus in Frankreich 6iy 

Dichter seinen Pyjama bestickt hat? Angesichts des vollendet 
erdachten und verwirklichten Buhnenbildes, des Balkons, der 
hohen Fenster, des Orpheushaupts auf seinem Postament, nicht 
an andere Fenster, die sich auf Thrazien offnen, andere Bal- 
kons, vor deren Gitterwerk parisische Athenerinnen sich pro- 
filieren, andere Marmorkopfe in solchen vom Licht regierten 
Raumen sich erinnert fuhlen? Jedes fast unter den spaten, dem 
»Orph£e« gleichzeitigen Gemalden Picassos zeigt sie. Miifite 
man nicht froh sein, zwei schone Werke sich so freigebig bekraf- 
tigen zu sehen wie die »Fenetre Ouverte« und »Orphee«? 
Naturlich heifit solche Zeugenschaft aufweisen - denn was Coc- 
teau, Picasso und Strawinsky in einigen ihrer besten Stiicke ver- 
bindet, ist nicht Verwandtschaft, sondefn Zeugenschaft - sol- 
che Zeugenschaft aufweisen heifit die ratio, die in diesem neuen 
Klassizismus waltet, in ihrer ganzen ratselhaften Bestimmt- 
heit beschworen. »Er produziert - hat soeben Ernst Bloch von 
Strawinsky geschrieben - was russisches Volkslied, griechische 
Gotter, Louis Quatorze im Maschinenzeitalter sind, was sie 
diesem zu sagen haben.« Das gilt, soweit die Gotter in Frage 
kommen, audi vom »Orph^e«. Heurtebise und Hermes haben 
einerlei Gestalt, und warum sollte nicht ein Glasergeselle der 
Stadt, von der schon Apollinaire gesagt hat: »Ici meme les 
automobiles ont l'air d'etre anciennes« - warum sollte der nicht 
dieGaben des Hermes haben? Vielleicht sind aber manche dieser 
Griechengotter Schwellenkundige wie Hermes noch in anderem 
Sinne als dem sakraler und profaner Binnenraume. Vielleicht 
verstehen sich diese Gotter auf die Schwellen zwischen den 
Zeiten. So triiben sie, bei Proust, bisweilen mit einem Hauche 
ihres Daseins einen Duft oder brechen aus einer Falte (und 
immer ist es der neueste Flakon, der allerletzte modische 
Schnitt; immer ist das Eleganteste, Ephemerste Medium dieses 
archaischen Wakens). Und wir zumindest glauben noch nie so 
wie in diesen wenigen Stunden gefiihlt zu haben, dafi vielleicht 
eine heimliche Tiir aus der cella des Apollontempels zu Chalkis 
in die Zeichenklasse des Bauhauses fiihrt. Wenn zum Schlufi 
die zweifelhaft Vereinten mit dem Engel Heurtebise ihr Mahl 
teilen, dann wissen wir, die Apfel am Tisch, um den sie vereint 
sind, sind weder vom paradiesischen noch von dem hesperischen 
Baume. Es sind Apfel aus der Treibzucht C^zannes. Aber sie 



628 Asthetische Fragmente 

schmecken nach beiden. Darum fallen audi alle Worte, die hier 
ertonen, mit so tiefen, selbstandigen, bedeutenden Schatten ins 
Ohr, wie die Mobel und Menschen Picassos sie werfen, hinter 
denen, strenger sie profilierend, flachschwarze Leiber sich uber- 
schneiden. 



J. P. Hebels Schatzkastlein des 

RHEINISCHEN HAUSFREUNDES 

Das Budi, dessen Prosa so urspriinglich wie durchgebildet, des- 
sen Haltung so vornehm wie verniinftig, dessen Inhalt so welt- 
weit wie handgreiflich ist, erweist seinen unschatzbaren Wert 
heute von einer neuen Seite. In Tagen, in denen mehr zu einer 
kurzen Kameradschaft gehort als friiher zu lebenslangen Freund- 
schaften, in denen das Mifitrauen eine notwendige und Verlafi- 
lidikeit die hochste Tugend geworden ist, zeigt Hebel besser als 
sonst einer, wonach man messen soil. Namlicii nach dem Mafi 
des Humors, d. i. nach der angewandten Gerechtigkeit. Die 
»reine« Humanitat der Aufklarung hat bei Hebel sich mit 
Humor gesattigt. Wohl denen unter seinen Geschopfen - mogen 
es Spitzbuben oder Juden sein », die ihn in ihm erwecken; wehe 
denen, vor welchen er ihm versagt. Hebel ist. einer der grofiten 
Moralisten aller Zeiten gewesen. Seine Moral ist die Fortfuhrung 
der Erzahlung mit anderen Mitteln; sein Humor ist urteilslose 
Vollstreckung: angewandte Gerechtigkeit, welche jenen mit 
ganz anderem Mafie mifit als die iibrigen. Nicht umsonst war 
das Schatzkastlein ein Lieblingsbuch von Franz Kafka. 



Die Zeitung 

In unserem Schrifttum sind Gegensatze, die sich in gliicklicheren 
Epochen wechselseitig befruchteten, zu unlosbaren Antinomien 
geworden. So fallen Wissenschaft und Belletristik, Kritik und 
Produktion, Bildung und Politik beziehungslos und ungeordnet 
auseinander. Schauplatz dieser literarischen Verwirrung ist die 



Hebels Schatzkastlein • Die Zeitung 629 

Zeitung. Ihr Inhalt »Stoff«, der jeder anderen Organisations- 
form sich versagt als der, die ihm die Ungeduld des Lesers auf- 
zwingt. Denn Ungeduld ist die Verfassung des Zeitungslesers. 
Und diese Ungeduld ist nicht allein die des Politikers, der eine 
Information, oder des Spekulanten, der einen Tip erwartet, 
sondern dahinter schwelt diejenige des Ausgeschlossenen, der 
ein Recht zu haben glaubt, selbst mit seinen eigenen Interessen 
zu Wort zu kommen. Dafi nichts den Leser so an seine Zeitung 
bindet wie diese zehrende, tagtaglich neue Nahrung verlangende 
Ungeduld, haben die Redaktionen sich langst zunutze ge- 
macht, indem sie immer wieder neue Sparten seinen Fragen, 
Meinungen und Protesten eroffneten. Mit der wahllosen Assimi- 
lation von Fakten geht also Hand in Hand die gleich wahllose 
Assimilation von Lesern, die sich im Nu zu Mitarbeitern erho- 
ben sehen. Darin aber verbirgt sich ein dialektisches Moment: 
der Untergang des Schrifttums in dieser Presse erweist sich als 
die Formel seiner Wiederherstellung in einer veranderten. In- 
dem namlich das Schrifttum an Breke gewinnt, was es an Tiefe 
verliert, beginnt die Unterscheidung zwischen Autor und Pu- 
blikum, die die Presse auf konventionelle Art aufrechterhalt 
(auf routinierte aber bereits lockert), auf die gesellschaftlich 
erstrebenswerte zu verschwinden. Der Lesende wird jederzeit 
bereit, ein Schreibender, namlich ein Beschreibender oder auch 
ein Vorschreibender zu werden. Als Sachverstandiger - und sei 
es auch nicht fur ein Fach, vielmehr nur fur den Posten, den er 
versieht - gewinnt er einen Zugang zur Autorschaft. Die Arbeit 
selbst kommt zu Worte. Und ihre Darstellung im Wort macht 
einen Teil des Konnens, der zu ihrer Ausiibung erfordert wird. 
Die literarische Befugnis wird nicht mehr in der spezialisierten, 
sondern in der polytechnischen Ausbildung begriindet und so 
Gerrieingut. Es ist, mit einem Wort, die Literarisierung der 
Lebensverhaltnisse, welche der sonst unloslichen Antinomien 
Herr wird, und es ist der Schauplatz der hemmungslosen Er- 
niedrigung des Wortes - die Zeitung also -, auf welchem seine 
Rettung sich vorbereitet. 



6}o 

Kauflich doch unverwertbar 

Die grofie Masse der Geistigen - vor allem der Schongeistigen - 
ist in trostloser Lage. Schuld ist an dieser Lage aber nicht Cha- 
rakter, Stolz und Unzuganglichkeit. Die Journalisten, Roman- 
ciers und Lkeraten sind meistens zu jedem Kompromifi bereit. 
Nur wissen sie das nicht, und eben dies ist der Grund ihrer 
Mifierfolge. Denn weil sie es nicht wissen oder wissen wollen, 
daft sie kauflich sind, darum verstehen sie nicht, von ihren 
Meinungen, Erfahrungen, Verhaltungsweisen die Teile, die 
fur den Markt Interesse haben, abzulosen. Sie suchen vielmehr 
ihre Ehre darin, in jeder Sache ganz sie selbst zu sein. Weil sie 
sich nur »im Stuck « verkaufen wollen, werden sie ganz genau 
so unverwertbar wie ein Kalb, welches der Schlachter seiner 
Kundin nur im ganzen wiirde uberlassen wollen. 



<Sur Scheerbart) 

Paul Scheerbart avait d£ja publie une vingtaine de volumes 
lorsque, un beau matin d'aout 1914, on put lire de lui un article 
dans le Zeitecho - hebdomadaire que les artistes et les £crivains 
allemands s'etaient empresses de fonder pour agrementer de 
l'elan de leur plume ou de leur pinceau les assauts des soldats 
allemands. Cet article qui allait a Pencontre du courant e*tait 
toutefois de tournure assez savante pour echapper a la censure. 
En voici le delmt tel qu'il s'est grave dans ma memoire: »Et que 
je proteste d'abord contre l'expression >guerre mondiale<. Je suis 
certain qu'aucun astre, si proche soit-il, n'ira se meler de Paffaire 
ou nous sommes impliqu^s. Tout porte a croire qu'une paix pro- 
fonde ne cesse de planer sur l'univers stellaire.« 
Les livres de Scheerbart n'ont guere plus retenu l'attention du 
public que cette phrase celle de la censure. II n'y a a cela nen que 
de naturel. L'oeuvre de ce poete est tout empreinte d'une idee 
qui 6tait on ne peut plus etrangere aux idees qui prevalaient. 
Cette idee - cette image, plutot - ^tait celle d'une humanite* qui 
se serait mise au diapason de sa technique, qui s'en serait servie 
humainement. A un tel £tat de choses Scheerbart crut voir deux 



Kauflich doch unverwertbar * Sur Sdieerbart 631 

conditions essentielles, a savoir: que les hommes sortent de 
Popinion basse et grossiere qu'ils sont appeles a >exploiter< les 
forces de la nature; que, par contre, ils demeurent convaincus 
que la technique, tout en liberant les humains, libererait frater- 
nellement par eux la creation entiere. 

Voyons le plus important de ses romans, intitule Lesabendio. 
L'action se passe sur un astero'ide nomme Pallas. Les etres qui 
le peuplent n'ont pas de sexe. Les Pallasiens >nouveaux-n^s< se 
trouvent, enfermes en des coquilles de noix, dans les entrailles 
de leur astre. Les premiers sons qu'ils laisseront echapper a 
Papparition de la lumiere formeront leurs noms propres; tels 
Biba, Bombimba, Labu, Sofanti, Lesabendio. Le Pallas est petit; 
deux vastes entonnoirs se trouvent sur son cote* nord et son 
cote sud. C'est a leur int^rieur que s'abritent les quelques centai- 
nes de milliers d'habitants. Les Pallasiens s'attachent a embellir 
leur astre; ils en modulent les surfaces, le dotant pour ainsi dire 
de >sites< en formes cristallines ou autres. Vient Lesabendio qui a 
Pid£e d'elever une tour au-dessus de Pentonnoir septentrional 
(qui communique par un tunnel avec Pentonnoir du sud). A 
Porigine cette construction n'a pas de destination precise. On ne 
s'apercevra que bien plus tard a quoi elle devra servir. (Ainsi 
la tour d'Eiffel a trouve son affectation actuelle une trentaine 
d'annees apres son erection.) La tour de Lesabendio devra reunir 
le torse de PasteroTde a sa partie capitale qui plane, sous forme 
d'un nuage lumineux, au-dessus de lui. Mais cette restitutio in 
integrum du Pallas ne pourra reussir qu'au prix que Lesabendio 
accepte de se dissoudre dans le corps de son astre meme. Tandis 
qu'auparavant les gens du Pallas ont connu une mort exempte 
de douleur en se dissolvant dans le corps d'un de leurs cadets, 
ils vont, desormais, epouser la douleur grace a Lesabendio qui, 
par sa fin, devra etre le premier a, Peprouver. La tour, augmen- 
tant en hauteur de jour en jour par le zele des Pallasiens, appor- 
tera des changements dans Pordre stellaire. En meme temps, la 
dissolution de son architecte dans son astre commencera a 
changer le rythme de celui-ci. 11 se reveillera a une vie nouvelle, 
toute tourn£e vers ses astres-freres. II ne revera plus que de 
former, uni a eux, un chainon dans Panneau des ast£roi'des qui 
devra, un jour, ceindre le Soleil. 
La grande trouvaille de Scheerbart aura ete de faire plaider par 



6$2 Xsthetische Fragmente 

les astres aupres des humains la cause de la creation. On Pavait 
d6ja entendu plaider par la voix des betes. Mais qu'un poete 
fasse des astres les porte-paroles de la creation, cela t^moigne 
d'un sentiment tres puissant. Cela prouve du reste a quel point 
cet auteur avait re\tssi a se depouiller des scories de la sentimen- 
tality. Son style en fait foi. II a la fraicheur des joues de nourris- 
son. II est, en meme temps, d'une transparence telle qu'on 
comprend que Scheerbart ait et^ le premier a saluer Parchitecture 
en verre qu'on devait, apres sa mort, bannir, comme subversive, 
de son pays. 

La ser^nite doucement emerveillde avec laquelle Pauteur relate 
les Granges lois naturelles des autres mondes, les grands travaux 
cosmiques qu'on y entreprend, les entretiens noblement naifs 
de leurs habitants font de lui un de ces humoristes qui, tel Lich- 
tenberg ou Jean Paul, ne semblent jamais oublier que la terre est 
un astre. En relatant les hauts-faits de la creation il parait 
parfois un frere jumeau de Fourier. Il y a dans les fantaisies 
extravagantes sur le monde des Harmoniens autant de raillerie 
a Padresse de Phumanite' actuelle que de foi en une humanite* 
future. Cest, diez le poete allemand, le meme dosage. Il est peu 
vraisemblable que Putopiste allemand ait connu l'ceuvre de 
Putopiste f rancais. Mais Pimage de la planete Mercure enseignant 
leur langue natale aux Harmoniens eut ^te bien f aite pour ravir 
Paul Scheerbart. 



Vortrage und Reden 



<Johann Peter Hebel. 3) 

Wenn Sie, meine Verehrtesten, Zeitung lesen, ist es Ihnen viel- 
leicht schon emmal passiert, iiber einer besonders eindriickli- 
chen oder abenteuerlichen Notiz, dem Bericht von einer Feuers- 
brunst etwa, oder von einem Raubmord, zu stutzen. Und wenn 
Sie dann versuchten, sich die Sache naher vorzustellen, dann 
haben Sie ohne Zweifel, ob Sie es nun gemerkt haben oder 
nicht, etwas sehr Seltsames vorgenommen. Sie haben namlich 
eine Art von Photomontage gemacht, indem Sie unvermerkt 
in den Schauplatz, der Ihnen vorschwebte - die Sache ist viel- 
leicht in Goldap oder in Tilsit passiert und Sie kennen die 
Stadt gar nicht - Elemente von einem Ihnen vertrauten Schau- 
platz - und zwar gleich den bestimmten, also nicht Frankfurt 
sondern gleich Ihr Haus oder Ihre Stube in Frankfurt - ein- 
fliefien liefien. Haus oder Stube, die nun auf einmal scheinbar 
nach Tilsit oder Goldap entriickt waren. In Wirklichkeit aber 
geschah da das Gegenteil; Tilsit oder Goldap waren in Ihre 
Stube entriickt. Und Sie sind noch einen Schritt weiter gegan- 
gen. Nachdem Sie das »Hier« erwirkt hatten, schritten Sie an 
die Realisierung des »Jetzt«. Die Nachricht war vielleicht 
vom 11. September und Sie lasen Sie erst am 15. Wenn Sie die 
Sache nun aber erfassen, mitmachen wollten, dann versetzten 
nicht Sie sich um vier Tage zuriick sondern Sie stellten, im 
Gegenteil, sich vor: jetzt tritt das, in diesem Augenblick, ein 
und in meiner Stube. Sie haben dem abstrakten, beliebigen Sen- 
sationsfall mit einem Mai ein »Hier und Jetzt« gegeben. Sie 
haben ihn konkret werden lassen und es ist unberechenbar, 
wohin Sie das fiihren kann. 

Noch unberechenbarer aber ware die Wirkung, wenn es einem 
gelange, nicht beliebige Sensationsgeschichten sondern aufschlufi- 
reiche und gewichtige Vorfalle mit dieser Evidenz des Hier und 
Jetzt auszustatten. Und nun gar, wenn dieses Jetzt ein histo- 
risch bedeutendes, dieses Hier ein bluhendes und erfulltes 
ware! Denken wir alle diese Pramissen auf das Vollkommenste 
erfullt, so haben wir die Prosadichtung von Johann Peter Hebel. 
Alle Beschaftigung mit diesem groEen und nie genug geschatzten 
Meister lauft darauf hinaus, ihn als diesen Vergegenwartiger 
ohnegleichen uns selber gegenwartig zu machen. - Vergegen- 



6}6 Vortrage und Reden 

wartiger nur freilich nidit von Raubergeschichten, Familien- 
dramen, Schiffbriichen oder Wildwestsachen (obwohl unter an- 
derm audi das) sondern der hochsten Krafte seiner Landschaft 
und seiner Zeit. Damit ist nun sdion ausgesprodien, dafi dieses 
sdilichteste und besdieidenste Werk (das den Philologen noch 
immer so recht den Typus jener »Volkskunst« darstellt, unter 
der sie in Wahrheit Armenschriftstellerei verstehen), dafi dieses 
Werk, sage ich, kraft tausend unsichtbarer kleiner Schwingen 
sicii iiber einem grofien Abgrund schwebend halt. Dem Abgrund 
zwisdien Hebels Zeit und seiner Landschaft. Zeitgenosse der 
grofien franzosischen Revolution, von alien Geisteskraften der 
Epoche auf das Entschiedenste und Radikalste ergriffen, ist er 
doch immer der siiddeutsche Kleinstadter geblieben, der als ein- 
gezogener Junggeselle und als Hofprediger des Grofiherzogs 
von Baden in den eingeschranktesten Verhaltnissen nicht nur 
zu leben sondern sie zu vertreten hatte. Dafi Hebel nicht im- 
stande war, Grofies, Wichtiges anders zu sagen und zu den- 
ken als uneigentlich - diese Starke seiner Geschichten macht 
in seinem Leben das Planlose, Schwache. Sind doch selbst 
die Beitrage zum Kalender des Rheinlandisdien Hausfreun- 
des aus aufierer Notigung entstanden, iiber die er viel murrte. 
Das hat ihn aber nicht gehindert, fiir Grofies und Kleines 
den rechten Sinn zu behalten, und wenn er audi niemals 
anders als im Tiefsten verschrankt und verschachtelt beides 
zugleidi hat aussprechen konnen, so war sein Realismus dar- 
in immer stark genug, vor jenem Mystizismus des Kleinen 
und Kleinlichen ihn zu behuten, der manchmal Stifters Gefahr 
wurde. 

Was ihn vor dem Mystizismus bewahrte, das war eben seine 
theologische Schulung. Sie bekundet sich in seinem gesamten 
Werke; es ist erbaulich von Grund auf; dabei von einer Welt- 
und Geistesweite wie wohl kein zweites der Gattung seit dem 
Ende des Mittelalters. Denn woran erbaut sich Hebel? An der 
Aufklarung und der grofien Revolution. Nicht an ihren soge- 
nannten Ideen sondern an ihren Situationen und Typen, dem 
Weltbiirger, dem aufgeklarten Abbe, dem Strolch und dem 
Philanthropen. Wie theologische und weltbiirgerliche Haltung 
sich hier durchdringen, das ist das Geheimnis der unvergleich- 
lichen Konkretion, die der Kern seines ScharTens ist. Die Gegen- 



Johann Peter Hebel 3 637 

wart seiner Geschopfe 2. B. sind nicht die Jahre 1760-1826 (in 
denen sein eignes Leben verflofi), die Zeit, in der sie leben, ist 
in Jahreszahlen nicht numeriert. Weil namlich Theologie Ge- 
schichte immer in Generationen denkt, so sieht audi Hebel im 
Tun und Lassen seiner kleinen Leute die Generationen in all 
den Krisen sich herumschlagen, die mit der Revolution von 89 
zum Ausbruch kamen. Das Leben und Sterben ganzer Ge- 
schlechter schlagt im Rhythmus der Satze, welche im »Unver- 
hofften Wiedersehen« den Zeitraum der fiinfzig Jahre erfiillen, 
in denen die Braut um ihren verungliickten Liebsten, den Berg- 
mann, trauert. »Unterdessen wurde die Stadt Lissabon in Por- 
tugal durch ein Erdbeben zerstort, und der siebenjahrige Krieg 
ging voriiber, und Kaiser Franz der Erste starb, und der Jesui- 
ten-Orden wurde aufgehoben und Polen geteilt, und die Kaise- 
rin Maria Theresia starb, und der Struensee wurde hingerichtet, 
Amerika wurde frei, und die vereinigte franzosische und spani- 
sche Macht konnte Gibraltar nicht erobern. Die Tiirken schlos- 
sen den General Stein in der Veteraner Hohle in Ungarn ein, 
und der Kaiser Joseph starb audi. Der Konig Gustav von Schwe- 
den eroberte russisch Finnland, und die franzosische Revolution 
und der lange Krieg fing an, und der Kaiser Leopold der Zweite 
ging audi ins Grab. Napoleon eroberte Preufien, und die Eng- 
ender bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute saeten 
und schnitten. Der Miiller mahlte, und die Schmiede hammer- 
ten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer 
unterirdischen Werkstatt. Als aber die Bergleute in Falun im 
Jahr 1809 . . .« - wenn er so den Verlauf von 50 Trauerjahren 
darstellt, so ist das fast selbst eine Klage, aber iiber den Welt- 
lauf, wie manchmal mittelalterliche Chronisten sie ihren Buchern 
voranstellten. Denn das ist in der Tat nicht die Gesinnung des 
Historikers, die uns aus diesen Satzen entgegentritt sondern 
die des Chronisten. Der Historiker halt sich an »Weltgeschichte«, 
der Chronist an den Weltlauf. Der eine hat es mit dem nach 
Ursache und Wirkung unabsehbar verknoteten Netz des Ge- 
schehens zu tun - und alles was er studierte oder erfuhr, ist in 
diesem Netz nur ein winziger Knotenpunkt; der andere mit 
dem kleinen, eng begrenzten Geschehn seiner Stadt oder Land- 
schaft - aber das ist ihm nicht Bruchteil oder Element des 
Universalen sondern anderes und mehr. Denn der echte 



6}S Vortrage und Reden 

Ghronist schreibt mit seiner Chronik zugleich dem Weltlauf 
sein Gleichnis nieder. Es ist das alte Verhaltnis von Mikro- 
und Makrokosmos, das sich in Stadtgeschichte und Weltlauf 
spiegelt. 

Wenn Hebel eine seiner Geschichten beginnt: »Bekanntlich 
klagte einst ein alter Schulz von Wasselnheim seiner Frau, dafi 
ihn sein Franzosisch fast unter den Boden bringe«, so schwingen 
in diesem emen »bekanntlich« alle Korrespondenzen von Welt- 
lauf und Stadtklatsch ironisch mit. Gleicherweise ironisch, gleich 
fern von provinzieller Siiffisanz ist die Enge seiner badischen 
Schauplatze, denn von dem Hebelschen Erdkreis, in dessen 
Mine Segringen, Brassenheim, Tuttlingen liegen, bilden Mos- 
kau und Amsterdam, Jerusalem und Mailand den Horizont. So 
stent es um alle echte, unreflektierte Volkskunst: sie spricht 
Exotisches, Monstroses mit der gleichen Liebe, in gleicher Zun- 
ge aus wie die Angelegenheiten des eigenen Hauswesens. Da- 
her das kraftige »Hier« seiner Schauplatze. Das schauend auf- 
gerissene Auge dieses Geistlichen und Philanthropen bezieht 
sogar das Weltgebaude selber der dorflichen Dkonomik noch 
ein und Hebel handelt von Planeten, Monden und Kometen 
nicht als Magister sondern als Chronist. Da heifit es etwa 
von dem Mond (der nun auf einmal als Landschaft wie auf 
einem beriihmten Bild von Chagall vor einem stent): »Der 
Tag dauert dort an einem Ort so lange als ungefahr 2 von 
unsern Wochen und eben so lang die Nacht, und ein Nacht- 
wachter mufi sich schon sehr in Acht nehmen, dafi er in den 
Stunden nicht irre wird, wenn es anfangt 223 zu schlagen 
oder 309.« 

Dafi dieses Mannes Lieblingsschriftsteller Jean Paul war, fallt 
nach solchen Satzen nicht schwer zu erraten. Versteht sich, dafi 
solche Manner - zarte Empiriker riach Goethes Wort, weil 
ihnen alles Faktische schon Theorie, zumal jedoch das anekdo- 
tische, das kriminelle, das possierliche, das lokale Faktum als 
solches schon moralisches Theorem war - einen hochst sprung- 
haften, skurrilen, unableitbaren Kontakt mit der ganzen Breite 
des Wirklichen hatten. Jean Paul empfiehlt fiir Sauglinge in der 
»Levana« Branntwein und verlangt, dafi sie Bier kriegen. 
Viel unanfechtbarer aber stellt Hebel Verbrechen, Gaunereien, 
Bubenstreiche in das Anschauungsmaterial seiner Volkskalender 



Johann Peter Hebel 3 639 

ein. Zugleich aber lebt in seinen Halunken und Lumpen Voltaire, 
Condorcet, Diderot nach und die unsagbar schnode Verstandig- 
keit seiner Juden hat vom Talmud nicht mehr als von dem 
Geist des etwas spateren Vorlaufers der Sozialisten, Moses Hefi. 
Zahlreiche Spitzbubengeschichten hat Hebel aus alteren Quel- 
len geschopft; aber das Gauner- und Vagan ten temperament 
des Zundelfrieders und des Heiners und des roten Dieters ist 
sein eigenes gewesen. Als Junge war er fiir seine Streiche be- 
riichtigt, und vom erwachsenen Hebel erzahlt man, Gall, der 
benihmte Begriinder der Phrenologie, sei einmal ins Badische 
gekommen. Da habe man auch Hebel ihm prasentiert und ihn 
um ein Gutachten gebeten. Aber unter undeutlichem Gemurmel 
habe Gall beim Befiihlen nidits als die Worte »ungemein stark 
ausgebildet« vernehmeii lassen. Und Hebel selber, fragend: 
»Das Diebsorgan?« 

Wieviel Damonisches in diesem Hebelschen Schwankwesen um- 
geht, hat niemand besser begriffen als Dambacher, der 1842 einer 
Ausgabe der »Schwanke des rheinischen Hausfreundes« seine 
Lithographien beigab. Diese ungemein starken Illustrationen 
sind gleichsam Zinken auf dem Pasch- und Schleichwege, auf 
dem die sonnigeren Halunken von Hebel Verkehr mit den 
dusteren schrecklichen Kleinburgern des Buchnerschen »Woz- 
zeck« treiben. Denn dieser Pastor, der das Handeln zu schildern 
verstand wie keiner unter den deutschen Schriftstellern sonst 
und alle Register vom niedrigsten Schacher bis zur schenkenden 
Grofimut zu ziehen wufite, war nicht der Mann, das Damoni- 
sche im biirgerlichen Erwerbsleben zu ubersehen. Er mag es mit 
der herrschenden Klasse in ihren besten Vertretern, kaufman- 
nisch solidestem Kleinbiirgertum gehalten haben; eben darum 
wollte er die rechte, die alleinseligmachende Buchfiihrung ihm 
beibringen. Doppelte Buchfiihrung, und sie stimmt immer: 
Haben, der baurische, der biirgerliche Alltag, Besitz der zins- 
tragenden Minuten, das eingezahlte Kapital von Arbeit und 
Schlauheit. Und das Soil: die Moral. Die geschaftliche, die 
private, die des Generals und des Hausvaters, des Diebes und 
des Bestohlnen, des Siegers und des Besiegten. Es ist keine 
Situation so hofFnungslos und verworfen, daft sich's die Tu- 
gend verdriefien liefie, in ihr Fufi zu fassen, aber sie darf um 
Verkleidungen nicht verlegen sein. Darum entspringt hier die 



640 Vortrage und Reden 

Moral nie an der StelIe,wo man nachKonventionen sie erwartet. 
Jeder weifi, wie der Barbierjunge von Segringen es sich getraut, 
dem »Fremden von der Armee« den Bart zu scheren, weil doch 
kein anderer den Mut hat. »Wenn Ihr mich aber schneidet, so 
stech idi Euch tot.« Und der dann am Schlufi: »Gnadiger Herr, 
Ihr hattet mich nicht erstochen, sondern, wenn Ihr gezuckt hat- 
tet, und ich hatt' Euch in's Gesicht geschnitten, so war ich Euch 
zuvorgekommen, hatt* Euch augenbllcklich die Gurgel abge- 
hauen und ware auf und da von gesprungen.« So sind Hebels 
Geschichten. Sie haben alle einen doppelten Boden. 1st oben 
Mord und Totschlag, Stehlen und Fluchen, so liegen Geduld, 
Klugheit und Menschlichkeit unten. 

Auf solche Weise macht Hebel die Moral, die beim durchschnitt- 
lichen Geschiclitensdireiber ein Fremdkorper ist, zur Fortset- 
zung der Epik mit andern Mitteln. Und indem er das Ethos 
in Fragen des Taktes auflost, wird die Konkretion gerade hier 
am energischsten. Das Jetzt und Hier der Tugend ist fur ihn 
kein abgezognes Handeln nach Maximen sondern Geistesgegen- 
wart. Moralisch - so hatte Hebel es definiert - ist ein Handeln, 
dessen Maxime verborgen ist. Nicht verheimlicht oder versteckt 
wie Diebsgut sondern verborgen wie Gold in der Erde. Seine 
Moral ist also gebunden an Situationen, in welchen sie die Leute 
erst entdecken. Und damit gleicht sie der Frommigkeit, die auch 
niemals abstrakt werden kann sondern das ganze Leben in Si- 
tuationen aufteilt, welche ihr dienen. Die Votivbilder bayri- 
scher pder suditalienischer Kirchen sind voll solcher kritischen 
Situationen, die sich dem Frommen unausloschlich eingepragt 
haben. Unten das irdische Elend und die Gefahr, oben in Wol- 
ken thronend die Madonna. So auch bei Hebel. Unten geschieht, 
wenn man will, das Hausbackene, Regelrechte, das Klare und 
Richtige. Oben aber schwebt dennoch, auf ubernaturliche Art, 
gleich der Madonna, die franzosische Revolutionsgottheit von 
der Decke. Und darum sind seine Geschichten so unverganglich. 
Sie sind die Votivgemalde, welche die Aufklarung in den 
Tempel der Gottin der Vernunft gestiftet hat. 



641 
E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza 

Ich wiirde mich freuen, wenn der Zyklus »Parallelen«, dessen 
Ankiindigung Sie gelesen haben und den ich hiermit eroffne, bei 
einigen von Ihnen Argwohn geweckt haben sollte. Gerade von 
diesem Argwohn, mochte ich annehmen, habe ich im folgenden 
Aussicht, verstanden zu werden. Verstanden zu werden in dem 
Bemiihen, dies Unternehmen von Mifideutungen freizuhalten. 
Sie alle kennen die verdachtige Beflissenheit, mit der eine altere 
Literaturbetrachtung vielfach ihre Ratlosigkeit vor gewissen 
Werken, ihre Unfahigkeit in deren Bau und deren Bedeutung 
zu dringen, hinter der Erforschung von sogenannten Einfliissen, 
stofflichen Parallelen oder formalen, verbarg. Um dergleichen 
handelt es sich hier nicht. Noch schlimmer aber ware eine miifii- 
ge Analogienjagd. Irgendwelche Verwandtschaften im Schaf- 
fen verschiedener Dichter, verschiedener Epochen aufzuweisen, 
mag allenfalls ein pedantisches Bildungsbediirfnis befriedigen, 
fiihrt aber zu gar nichts und ware selbst dann nicht hinreichend 
beglaubigt, wenn in solchen Zusammenhangen bin und wieder 
die Rehabilitierung eines jiingeren, verkannten Dichters im 
Namen eines grofien Vorlaufers und Geistesverwandten sich 
sollte vollziehen lassen. Nun wollen wir freilich nicht abstreiten: 
eine solche Rehabilitierung des ebenso unbekannten wie ver- 
rufenen Oskar Panizza ist ein Nebenzweck dieser Betrachtungen. 
Hier aber am Eingang nicht nur dieser Betrachtungen, sondern 
vielmehr eines Zyklus, handelt es sich vor allem darum, die 
Haupttendenz namhaft zu machen, und zu diesem Zweck miis- 
sen wir uns schon einen kleinen Exkurs gestatten. Man spricht 
gern von der Ewigkeit der Werke, man ist bestrebt, den grofiten 
unter ihnen Dauer und Autoritat auf Jahrhunderte zuzuspre- 
chen, ohne zu bemerken, wie man auf diese Weise Gefahr lauft, 
sie zu musealen Kopien ihrer selbst erstarren zu lassen. Denn, 
um es mit einem Worte zu sagen, die sogenannte Ewigkeit der 
Werke ist ganz und gar nicht identisch mit ihrer lebendigen 
Dauer. Und welche Bewandtnis es mit dieser Dauer in Wahrheit 
hat, tritt nirgends scharfer hervor als in ihrer Konfrontation 
mit verwandten Schopfungen unserer eigenen Epoche. Da zeigt 
sich, dafi ewig eigentlich nur gewisse ungeformte Tendenzen, 
dumpfe Dispositionen genannt werden konnen, das geformte, 



6^2 Vortrage und Reden 

lebendiger Dauer teilhafte Werk aber das Erzeugnis eben der- 
jenigen zahen, verschlagenen Gewalt ist, mit der nicht nur die 
ewigen Momente in den aktuellen, sondern genauso die aktuel- 
len in den ewigen sich durchsetzen. Ja, von einer solchen Bewe- 
gung ist das Werk viel weniger das Erzeugnis als der Schau- 
platz. Und wenn seine sogenannte Ewigkeit bestenfalls ein 
starres Fortbestehen im Draufien ware, ist seine Dauer ein 
lebendiger Prozefi in seinem Innern. Darum haben wir es in 
diesen Parallelen weder mit Analogien oder Abhangigkeiten 
einzelner Werke yoneinander zu tun, noch audi mit Studien 
iiber die Dichter, vielmehr mit den Urtendenzen der Dichtung 
selber, wie sie sich von Epoche zu Epoche in innerlichst verwan- 
deltem Sinne durchsetzen. 

Die phantastische Erzahlung, von welcher wir heute sprechen 
wollen, ist eine von diesen Urtendenzen. Sie ist so alt wie die 
Epik selber. Man wiirde irren mit der Annahme, was die alte- 
sten Geschichten der Menschheit an Zaubermaren, Fabelgut, 
Verwandlungen und Geisterwirken enthielten, sei nichts als der 
Niederschlag altester, religioser Vorstellungen. Gewifi sind 
Odyssee und Ilias, sind die Marchen der iooi Nacht gleichsam 
Stoffe gewesen, die nur erzahlt wurden; genauso wahr aber ist 
der Satz, die Stoffe dieser Ilias, dieser Odyssee, dieser Marchen 
aus iooi Nacht haben erst.im Erzahlen sich zusammengewoben. 
Die Erzahlung hat dem altesten Sagengute der Menschheit 
nicht mehr entnommen als sie ihm selber gegeben hat. Erzahlen 
mit anderen Worten ist mit seinem Fabulieren und Spielen, 
seiner von Verantwortung entbundnen Phantastik, im Grunde 
dennoch nie blofies Erfinden sondern ein weitergebendes, ab- 
wandelndes Bewahren im Medium der Phantasie gewesen. 
Dieses Medium der Phantasie ist gewifi von sehr verschiedener 
Dichte in der ersten Blute der homerischen oder der orientali- 
schen Epik einerseits, in der letzten der europaischen Romantik 
andererseits gewesen. Immer aber behielt das wahre Erzahlen 
einen im besten Sinne konservativen Charakter, und wir konnen 
keinen der grofien Erzahler losgelost denken vom altesten Ge- 
dankengute der Menschheit. 

Welche Bewandtnis es mit der scheinbar so willkurlichen Durch- 
dringung ewiger und aktuellster Momente in der Erzahlung 
hat, das tritt vielleicht je phantastischer sie ist, um so scharfer 



E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza 643 

hervor, und ist bei Hoffmann ebensowohl wie bei Panizza mit 
Handen zu greifen. Mit Handen zu greifen freilich audi die 
Spannung zwischen den beiden Dichtern, welche den Bogen 
zwischen dem Beginn und dem Ende der romantischen Geistes- 
bewegung im Deutschland des vorigen Jahrhunderts durch- 
mifk. Die unsaglich verworrenen Schicksale, in welche E. T. A. 
Hoffmann seine Menschen verstrickt zeigt, den Kreisler des 
»Kater Murr«, den Anselmus aus seinem »Goldnen Topf«, die 
in Deutschland so viel geschmahte, in Frankreich so viel geliebte 
»Prinzessin Brambilla«, endiich den »Meister Floh« - diese 
Schicksale sind nicht nur gelenkt oder beeinflufit von iiberirdi- 
schen Machten, sie sind vor allem geschaffen, um die Figuren, 
Arabesken, Ornamente festzuhalten, in denen alte Geister und 
Naturdamonen ihr Wirken in der Taghelle des neuen Jahrhun- 
derts so unauffallig einzuzeichnen suchen, wie moglich. Hoff- 
mann glaubte an wirkende Zusammenhange mit der fernsten 
Urzeit, und wie die Schicksalsfiguren seiner Lieblinge im Grunde 
musikalische sind, so war ihm jener Zusammenhang ganz beson- 
ders verbiirgt durch Horbares, durch den feinen Gesang der 
Schlanglein, die dem Anselmus erscheinen, die herzzerreifienden 
Lieder Antoniens, der Tochter von Krespel, durch sagenhafte 
Klange, die er auf der Kurischen Nehrung vernommen haben 
wollte, durch die Teufelsstimme auf Ceylon und ahnliches. 
Musik, die gait ihm als der Kanon, nach welchem die Geister- 
welt im Alltag sich manifestierte. Wenigstens soweit es um Ma- 
nifestationen der guten Geister sich handelt. Der hochste Zauber 
der von Hoffmann gezeichneten Menschen aber beruht ja darin, 
dafi gerade in den edelsten und erhabensten, mit Ausnahme etwa 
einiger Madchengestalten, etwas Satanisches umgeht. Dieser 
Erzahler besteht mit einem gewissen Eigensinn darauf, dafi all 
die ehrbaren Archivare, Medizinalrate, Studenten, Apfelweiber, 
Musikanten und hoheren Tochter ebensowenig das sind, was 
sie den Anschein haben zu sein, wie er selbst, Hoffmann, etwa 
nur der pedantische, exakte Kammergerichtsrat war, als der er 
seinem Broterwerb nachging. Eine ungemeine Beobachtungsgabe 
verbunden mit dem satanischen Einschlage seines Wesens hat in 
Hoffmann etwas wie einen Kurzschlufi zwischen moralischem 
Urteil und physiognomischer Anschauung hervorgerufen. Der 
Alltagsmensch, dem sein ganzer Hafi von jeher gegolten hat, 



644 Vortrage und Reden 

ersdiien ihm mehr und mehr in seinen Tugenden wie in seinen 
Schonheiten als das Produkt eines verruchten kiinstlichen 
Mecfaanismus, dessen Innerstes vom Satan regiert wird. Das 
Satanische aber setzt er mit den Automatischen gleich und 
dieses ingeniose Schema, das seinen Erzahlungen zum Grund 
liegt, erlaubt ihm, das Leben ganz fur die reine, lautere Geister- 
seite in Anspruch zu nehmen, um es in Gestalten wie Julia, Ser- 
pentina, Antonie zu glorifizieren. Mit dieser moralischen Aus- 
einandersetzung zwischen Leben und Schein hat Hoffmann, 
wenn nicht alles triigt, das Urmotiv der phantastischen Erzah- 
lung uberhaupt ausgesprochen. Sie ruht, ob wir nun Hoffmann, 
Poe, Kubin, Panizza nennen, um nur bei den grofiten zu blei- 
ben, immer auf dem entschiedensten religiosen Dualismus, sie ist, 
so konnte man es sagen, manichaisch. Und diese Zweiheit hat 
denn audi fur Hoffmann vor seinem Heiligsten nicht haltge- 
macht, vor der Musik. Konnte man die Urlaute, von denen wir 
sprachen, diese letzte und gewisseste Botschaft der Geisterwelt 
nicht auch auf mechanischem Wege hervorbringen? Waren die 
Wetterharfe und das Klavichord nicht schon gelungene erste 
Schritte auf diesem Wege? Dann war es uberhaupt moglich, uns 
mit mechanischen Kunststiicken in unserer tiefsten heiligsten 
Sehnsucht zu affen, dann wurde jede Liebe, die uns mit heimat- 
lichen Lauten ansprach, zum Phantom. Diese Fragen bewegen 
die Hoffmannsche Dichtung dauernd. Und wir finden sie unver- 
andert freilich in durch und durch verwandelter, durch und 
durch befremdender Atmosphare wieder, wenn wir uns nun zu 
Panizza wenden. 

Zur Zeit befindet sich Panizzas Name und Werk in ebendem 
Zustand, der fur Hoffmann mit der Mitte des vorigen Jahr- 
hunderts begann und bis an die Jahrhundertwende dauerte. Er 
ist ebenso unbekannt wie verrufen. Wahrend aber Hoffmanns 
Gedachtnis, wenn es schon in Deutschland erloschen war, in 
Frankreich niemals aufgehort hat, gefeiert zu werden, ist fur 
Panizza eine solche Genugtuung nicht zu erwarten. Macht es 
doch schon die unerdenklichsten Schwierigkeiten, in Deutsch- 
land heute seine Schriften auch nur annahernd vollstandig 
zusammenzustellen. Es gibt zwar seit dem vorigen Jahre eine 
Panizza-Gesellschaft, aber Mittel und Wege, die wichtigsten 
Schriften neu zu drucken, hat sie bisher noch nicht gefunden. 



E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza 645 

Und das aus vielen Griinden, von denen vielleicht der wichtigste 
der ist, dafi eine dieser Schriften heute genausogut wie vor 
35 Jahren dem Staatsanwalt verf alien wiirde. In der Tat ist 
Panizzas kurze Beriihmtheit zunachst an einige Skandalprozesse 
■ gekniipft gewesen. Im Jahre 1893 erschien zum 50. Bischofs- 
jubilaum Leos XIII. seine »Unbefleckte Empfangnis der Papste«, 
apokryph mit der Bemerkung »Aus dem Spanischen von Oskar 
Panizza«. Zwei Jahre spater folgte »Das Liebeskonzil«, »eine 
Himmels-Tragodie in fiinf Aufziigen«, fiir deren Veroffentli- 
chung er ein Jahr im Gefangnis zu Amberg absitzen mufite. 
Nadi Verbufiung seiner Strafe verliefi er Deutschland, und 
als er, durch die Konfiskation seines Vermogens gezwungen, im 
Jahre 1901 zuriickkehrte, wurde er nach sechswochentlicher 
Untersuchungshaft in der psychiatrischen Klinik fiir unzurech- 
nungsfahig erklart und entlassen. Diese letzte Haft hatten ihm 
die »Parisjana«, »deutsche Verse aus Paris«, eingebradit, die 
von heftigen Ausfallen gegen Wilhelm II. durchzogen waren. 
Einige Griinde fiir die Verfemtheit seines Namens, die Ver- 
schollenheit seiner Schriften sind hiermit beigebracht und jeder 
Zug der naheren Charakteristik wird sie um weitere vermehren. 
Fiir diese Charakteristik kann die Geisteskrankheit, an die man 
vielleicht anzukniipfen versucht ware, aufier adit bleiben. An 
ihrer Tatsachlichkeit ist kein Zweifel, es war eine Paranoia. 
Wenn aber die paranoischen Systeme ohnehin theologische Ten- 
denzen aufweisen, so kann man sagen, dafi die Krankheit hier, 
soweit sie auf das ScharTen andern Einflufi hatte als es zu unter- 
binden, in keinem Gegensatz zu der urspriinglichen Veranlagung 
des Mannes gestanden hat. Panizza war, dariiber konnen seine 
radikalen Ausfalle gegen Kirche und Papsttum nicht tauschen, 
ein Theologe. Ein Theologe freilich, der zu der ziinftigen Theo- 
logie in ebenso unversohnlichem Gegensatz stand wie E. T. A. 
Hoffmann als Kiinstler zu den kunstliebenden Zirkeln der 
Berliner Gesellschaft, die er mit seinem ganzen Hohn und In- 
grimm iiberschuttete. Panizza war ein Theologe und Otto Ju- 
lius Bierbaum hat das von seinem Standpunkt aus ganz rich- 
tig gefiihlt, wenn er nach Veroffentlichung des »Liebeskonzils«, 
das an zerstorendem Sarkasmus alle antikirchlichen Schriften 
weit hinter sich lafit, geschrieben hat, der Verfasser sehe nicht 
weit genug. »Was in ihm hier rebelliert, sagt Bierbaum, ist ei- 



646 Vortrage und Reden 

gentlich der Lutheraner, nidit der ganz freie Mensch.« Und 
ebenso ist es ein Paradoxon gewifi, aber ein Paradoxon der 
Gerechtigkeit, wenn einer der treuesten Freunde Panizzas, der 
Mann, der ihm noch wahrend der langen Krankheit nahe war 
und eine, freilich nicht unbedenkliche Sorge fur seinen Nachlafi 
trug, ein Jesuit war, der jetzt sechsundachtzigjahrige Dekan 
Lippert. 

Also Panizza war Theologe. Aber er war es genau in dem Sinne, 
in dem E. T. A. Hoffmann Musiker war. Hoffmann hat von 
Musik nicht weniger als Panizza von Theologie verstanden; was 
aber bleibend von ihm ist, sind nicht die Kompositionen, sondern 
die Dichtungen, in denen er Musik als die Geisterheimat des 
Menschen umspielt. Und eben diese Geisterheimat des Men- 
schen ist fiir Panizza das Dogma. Es spiegelt sich in diesem Ver- 
haltnis die Wandlung, die zwischen dem Anfang und dem Ende 
der deutschen Roman tik liegt; Panizza war nicht mehr, wie 
Hoffmann, getragen von jener breiten Welle des Enthusiasmus 
fiir Urzeit, Poesie, Volkstum und Mittelalter, seine Geistesver- 
wandten sind die europaischen Decadents. Und unter ihnen 
stand ihm am nachsten Huysmans, dessen Romane so beharrlich 
den mittelalterlichen Katholizismus und vor allem sein Komple- 
ment, die schwarzen Messen, das Hexen- und Teufelswesen um- 
spielen. Darum aber hatte man doch sehr Unrecht, sich Panizza 
als einen Artisten, einen Mann des Tart pour Tart, wie Huys- 
mans es war, vorzustellen. Um zunachst einmal das Negative zu 
sagen: es gibt keinen, der schlechter schreibt. Sein Deutsch ist 
beispiellos verlottert. Wenn er so manche seiner Erzahlungen, 
die fast alle in der Ich-Form gehalten sind, beginnt mit der 
Schilderung seiner Verfassung, wie er als milder, abgerissener 
Wanderbursche auf irgendeiner vereisten Landstrafie Unter- 
frankens fiirbafi marschiert - alles was dann folgt, kann man 
der saloppen Sprache nach, in der es verfaftt ist, wirklich fiir 
Aufzeichnungen eines reisenden Handwerksburschen halten. 
Freilich, das ist hier kein Widerspruch: dennoch und unter 
alien Umstanden audi fiir die eines grofien Erzahlers. Der Er- 
zahler namlich ist weniger ein Schreiber als ein Weber. Erzah- 
len - und hiermit spielen wir auf eingangs Gesagtes an - ist, 
im Gegensatz etwa zum Romanschreiben, nicht Bildungs- 
sondern Volkssache. Und volksmafiig verwurzelt ist denn auch 



E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza 647 

die Kunst Oskar Panizzas. Man lese nur seine geniale »Kirche 
von Zinsblech« oder »Das Wirtshaus zur Dreifaltigkeit«, um 
zu begreifen, was ein bodenstandiger Decadent ist. Bei dieser 
letzten Novelle wollen wir einen Augenblick bleiben. Sei es 
audi nur, um an ihrem Personenverzeichnis einen Panizza ken- 
nenzulernen, der wie ein Schiiler, um nicht zu sagen wie ein 
Treuhander, E. T. A. Hoffmanns im christlichen Dogma auf- 
tritt. Da kommt der mude Wanderer Panizza denn endlich in 
ein Wirtshaus, das, etwas abseits von der Strafie, auf keiner 
Karte verzeichnet stent, halt Einkehr und mu(i bald von dem 
Versuche ablassen, sich Rechenschaft iiber die merkwiirdigen Be- 
wohner des Hauses zu geben. Genug an dieser Stelle anzudeu- 
ten, dafi da ein alter, jahzorniger Jude gemeinschaftlich mit 
seinem weltf remden* hektischen, in theologische Studien ver- 
sunkenen Sohne, und ein Judenweib, Maria, haust, die man 
als dessen Mutter bezeichnet. Der Erzahler nimmt in diesem 
befremdlichen Kreise eine triibe, schweigsame Abendmahlzeit 
ein, begibt sich auf sein Zimmer im ersten Stock und schleicht 
nachts sich herunter, um einen Blick in die verbotene Kammer 
zu werfen, die man am Abend ihm im Vorbeigehen gewiesen 
hat. Er offnet die Tur, der Mond erfiiilt sie, und zwischen den 
halboffenen Laden sieht er wie eine Taube mit angstlichen Flu- 
gelschlagen das Weite sucht. Und nun der eigentlich Hoffmann- 
sche Einfall in alledem: In einem ans Haus aristofienden Ver- 
schlage wird ein Wesen verwahrt, ein Mensch mit Pferdehufen, 
der mit eiserner Kraft, dafi alle Wande zittern, immerwahrend 
an seine Schranken stofit und hin und wieder, als hatte er ein 
Stichwort empfangen, bei gewissen Wendungen, ein anstofiiges 
Gelachter laut werden lafit. Das ist die dualistische Metaphysik, 
die Panizza so ganz mit Hoffmann teilt, und die nach einer in- 
neren Notwendigkeit, von der wir gesprochen haben, die Ge- 
stalt des Gegensatzes von Leben und Automat annimmt. Sie 
hat ihm die Geschichte von der »Menschenfabrik« eingegeben, 
wo die Menschen mit angewachsnen Kleidern hergestellt wer- 
den. Sie hat eine noch unverkennbar theologische Wendung in 
der folgenden Darstellung aus der »Unbefleckten Empfangnis 
der Papste« genommen: »Der Papst zog . . . jedem Menschen, 
sobald er gestorben war, eine glasartige, blod dreinschauende 
Puppe aus dem Maul, welche durchsichtig war und die gesamten 



648 Vortrage und Reden 

Thaten, die guten und die bosen, des betreffenden Menschen 
gleichsam im Auszug enthielt. Dieser Puppe, welche ein kleines 
Menschlein war, wurden zwei Fliigel aus Starkestoff auf den 
Rucken gepappt, und sie dann laufen-, resp. fliegen gelassen. 
Ihre Direktion war eben jenes neue vom Papst aufterhalb der 
Welt kreirte Reich. Dort wurde die Puppe sofort in Empfang 
genommen, und auf eine grofte, glanzende, reinliche, messingene 
Wage gelegt, die zwei gleiche Wagschalen hatte. Die guten Tha- 
ten der Puppe wogen schwer, die schlechten leicht. Auf der an- 
dern Wagschale safJ eine gleichgrofie Normalpuppe, in der die 
guten und bosen Thaten sich ganz genau das Gleichgewicht 
hielten. War die neuangekommene Puppe audi nur um einen 
Gran leichter als die Normalpuppe driiben, so iiberwogen bei 
ihr die schlechten Thaten«; sie kam in die Holle. »Die Puppen« 
aber, »die schwer genug waren, liefi man gnadig von der Wage 
wiederherabsteigen, und in den Himmel, coelum, laufen, uber 
den gleich naheres folgen wird.« 

Gewifi, diese Kunst ware ein Anachronismus, wenn es, wie 
viele annahmen, nur auf Invektiven gegen das Papsttum hin- 
auskame. So aber ist sie anachronistisch in keinem anderen 
Sinne als die bayerischen Maler es waren, die um Murnau und 
am Kochelsee hemm bis vor wenigen Jahren noch ihre alten 
Heiligenbilder auf Spiegeln malten. Ein haretischer Heiligen- 
bildmaler, das ist die kiirzeste Formel fur Oskar Panizza. Sein 
Bilderfanatismus starb selbst in den Hohen der theologischen 
Spekulation nicht ab. Und er verband sich mit einem satirischen 
Tiefblick, wie Hoffmann ihn an dem heiligen Kanon des Phili- 
steriums geiibt hat. Beider Ketzerei ist verwandt. Bei beiden 
aber ist die Satire nur ein Reflex der dichterischen Phantasie, die 
ihre uralten Rechte sich wahrt. 



Reuters »Schelmuffsky« und Kortums »Jobsiade« 

Der Niedergang der literarischen Kritik, der allmahlich aus 
dem verstockten Tatbestande, der er seit mehr als 50 Jahren in 
Deutschland ist, zum Gegenstand der offentlichen Aufmerk- 
samkeit und Diskussion geworden ist, dieser Niedergang be- 



Reuters »SchelmufFsky« und Kortums »Jobsiade« 649 

kundet sich am deutlichsten vielleicht in der Alleinherrscliaft 
der Rezension als Form der kritischen Untersudiung. Man ver- 
gleiche den heutigen Zustand mit dem kritischen Schrifttum vor 
ungefahr 100 Jahren, da eine Reihe grofi angelegter Werke - 
man denke nur an die Charakteristiken der Briider Schlegel, an 
Gorres' Schrift iiber die Volksbiicher, Flogels »Geschichte des 
Groteskkomischen«, Eichendorffs »Geschichte des Dramas« etc. 
- eine Durchdringung des philologischen und des kritischen 
Ingeniums darstellten. Wollte man dem heutigen Tiefstande zur 
Beschamung ein kritisches Idealwerk entgegenhalten, ein Werk, 
das seinen Verfasser auf der Hohe des literarischen Verstandes 
sowohl wie der philologischen Bildung und jener Art von kriti- 
scher Phantasie, ohne welche die grofien Leistungen dieser Gat- 
tung niemals zustande kommen, darstellte, so wiirde ich eine 
Art Gegenstiick zu den Ovidischen Metamorphosen wahlen. 
Eine kritische Feerie, welche die Metamorphosen der grofien 
Dichtungen zum Gegenstand hatte. Ein Buch, aus welchem wir 
erf ahren wiirden, wie die improvisierten Biihnentexte des Schau- 
spielers Shakespeare zu den grofi ten Dramen der Weltliteratur 
geworden sind, wie der philosophische Roman eines Defoe zum 
Kinderbuche Robinson wurde, wie die Parodie der Ritterromane 
durch Cervantes der Anfang des modernen Romans ward. In 
diesen Metamorphosen der Dichtung wiirde an einer sehr ver- 
steckten Stelle vielleicht der Leser audi auf die beiden Bucher 
stofien, an die ich ihn heute zu erinnern gedenke. Denn beide, 
Christian Reuters »Schelmuffsky« und Kortums »Jobsiade«, 
sind Werke, aus denen etwas weit anderes geworden ist als im 
Sinne ihrer Autoren geplant war. 

Der bejahrte Student Christian Reuter, der es nicht einmal zum 
Magister gebracht hatte, als er im Jahre 1696 den »Schel- 
muflsky« veroffentlichte, hatte nichts weiter als eine ziemlich 
grobe Parodie der zeitgenossischen Reiseromane, verbunden mit 
einem vielleicht noch groberen Pasquill auf seine Leipziger Bu- 
denwirtin, die Witwe Miiller und ihren Anhang im Sinne. Und 
macht man den Versuch, einige Seiten seines »Schelmun c sky« mit 
den Augen des damaligen Publikums zu lesen, so wundert man 
sich keinen Augenblick, wie unbeachtet er blieb, und dafi den 
Christian Reuter als Verfasser dieses Buches zu ermitteln, einer 
philologischen Entdeckung, die noch nicht 50 Jahre alt ist, 



6jo Vortrage und Reden 

vorbehalten blieb. »Schelmuffskys warhaftige kuriose und selir 
gefahrliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Lande, in hoch- 
deutscher Frau Mutter Sprache sehr artig an Tag gegeben«, 
blieb bis zu seiner Ausgrabung durch die Romantiker ein vollig 
versdiollenes Buch. Die erste moderne Ausgabe fiigt zu dem X 
des Verfassers noch das Y des Herausgebers. Sie ist im Jahre 
1 82 1 von Meister Konrad Spaeth, genannt Friihauf, in Berlin, 
wahrscheinlich nicht unbeeinflufit von der romantischen Neu- 
entdeckung, veranstaltet worden. Wollte man den »Schelmuff- 
sky« literarhistorisch ausdeuten, so miifite man sich erinnern, 
wie das 17. Jahrhundert uberhaupt das des kuriosen Reisenden, 
der unvermeidlichen Kavaliers- und Bildungsreisen gewesen 
ist, denen man hohen politisch-diplomatischen Wert zusprach. 
So schickt Reuters Zeitgenosse Christian Weise seine Helden mit 
politischer, erziehlicher Absicht in die weite Welt, urn »die drei 
grofiten Erznarren« oder »die drei kliigsten Leute« zu suchen. 
Happels »Akademischer Roman«, fiinf Jahre vor Reuters er- 
schienen, verschmilzt das erotische Element mit dem Reise- 
roman, und so noch eine Fiille andere, unter welchen Schnabels 
»Im Irrgarten der Liebe herumtaumelnder Cavalier«, haupt- 
sachlich dank seinem Titel, der beriihmteste geworden ist. Das ero- 
tische Element verbindet nun audi der »Schelmuffsky« mit dem 
geographischen. Aber freilich auf seine Art, namlich in Gestalt 
ebenso ungeheuerlicher wie formelhafterRodomontaden,in denen 
der Held sich immer wieder hoch und teuer verschwort, wie je- 
des Madchen, dem er auf seinen Reisen begegnet sei, Freiens bei 
ihm vorgegeben hatte und sich erboten habe, ihre »Lumpgen« 
zusammenzupacken, um ihm zu folgen, wohin es sei. 
Es ist aber gar kein Zweifel, dafi der »Schelmuffsky« seinen 
Wert nicht den parodistischen Motiven verdankt, die seinen 
Verfasser bestimmt haben. Einmal wiirden diese Motive nicht 
die Wirkung zu erklaren vermogen, die vom »Schelmuffsky« 
heute ausgeht, zweitens ist diese Seite an seiner Dichtung die 
grobste und schwachste zugleich. Und damit kommen wir zum 
Kern dieser parodistischen Nufi, die wir an dieser Stelle nur 
eben aufknacken, schwerlich aber verspeisen konnen. Immerhin: 
was macht die SiifSe dieses Kerns? Fur uns sind alle polemi- 
schen, literarischen Anspielungen des »Schelmuffsky« langst 
aufier Kurs. Dagegen kommt hier, nur ganz selten im Schrift- 



Reuters »Schelmuffsky« und Kortums »Jobsiade« 651 

turn, der alte, stolze, eigenwillige Unsinn zu seinem Recht. 
Vielleicht ist »SchelmufTsky« iiberhaupt die einzige eigentliche 
Unsinnsdichtung der altern Zeit, die in die hohere Literatur 
einging. In der Tat, von alien beriihmten Werken der Weltlite- 
ratur ist der »Schelmuffsky« ohne Zweifel das fadeste, zumin- 
dest beim ersten Lesen, zumindest ehe einer erkannt hat, es 
musse mit so viel scheinbarer Ideenarmut bei einem Autor, der 
so glanzend zu erzahlen versteht, eine besondere Bewandtnis 
haben. Um aber anzudeuten, wie in der Tat »SchelmufTskys« 
Unsinn mit der tiefsten Bedeutung sich zu dem merkwiirdigsten 
Gebilde verbindet, lese ich im folgenden das erste Kapitel, mit 
dem wir sogleich uns ins Innerste des sonderbaren Werkes ver- 
setzt sehen: 

»i. Kapitel. Meine Geburt und die Geschichte von der Ratte. 
Deutschland ist mein Vaterland, in Schelmerode bin ich geboren, 
zu St. Malo lag ich ein ganzes Halbjahr gefangen, und in Hol- 
land und England bin ich audi gewesen. Damit ich aber die 
Beschreibung meiner hochst seltsamen und gefahrlichen Reise 
fein ordentlich einrichte, mufi ich wohl von meiner wunderbar- 
lichen Geburt den Anfang machen. Als die grofie Ratte, welche 
meiner Frau Mutter ein ganz neues seidenes Kleid zerfressen 
hatte, nicht konnte mit dem Kehrbesen totgeschlagen werden, 
weil sie meiner Schwester zwischen den FiiEen durchlief, und 
auf eine unbegreifliche Weise abhanden kam, fiel die gute Frau 
vor Entsetzen dariiber in eine Ohnmacht, so dafi sie einund- 
zwanzig Tage dalag und sich, hoi mich der Teufel, weder regen 
noch wenden konnte. - Ich hatte damals die Welt noch niemals 
geschaut und hatte nach der Rechnung meiner Mutter audi noch 
vier Monate ganz still liegen sollen, ehe es mir bestimmt war, 
ans Licht zu treten, aber ich wurde so erbost liber die sapper- 
mentische Ratte, dafi ich vor Ungeduld nicht langer in meiner 
stillen Behausung bleiben mochte und mich alien Ernstes umsah, 
wo der Zimmermann den Ausgang gelassen hatte; so kroch 
ich auf alien Vieren in die Welt hinein, ohne mich langer aufzu- 
halten. - Als ich nun da war, lag ich acht ganzer Tage zu den 
Fiifien meiner Frau Mutter unten im Bettstroh, ehe ich mich nur 
recht besinnen konnte, wo ich war, aber am neunten schaute ich 
unter der Bettdecke hervor mit grofier Verwunderung in die 



652 Vortrage und Reden 

Welt, wo es mir sehr wiiste vorkam, denn ich war sehr malade 
und hatte gar nichts auf dem Leibe. Hoi mich der Teufel, ich 
ware gern in mein voriges Quartier zuriickgekehrt, wenn ich 
nur den Weg hin hatte finden konnen, und dachte endlich, du 
mufit doch sehen, wie du deine Frau Mutter ermunterst, was ich 
auf verschiedene Weise versuchte. Bald fafite ich sie bei der 
Nase, bald krabbelte ich ihr an den Fufisohlen, bald raufte ich 
ihr ein Haar aus, zuletzt aber nahm ich einen Strohhalm und 
kitzelte sie damit im linken Nasenloch, wovon sie schnell er- 
wachte und schrie: eine Ratte, eine Ratte. - Nun war ich gleich 
bei der Hand, kroch sehr artig an meiner Frau Mutter herauf, 
guckte oben zur Bettdecke heraus und sagte: Frau Mutter, 
fiirchte sie sidi nicht, ich bin keine Ratte, sondern ihr lieber 
Sohn, aber dafi ich so friihzeitig auf die Welt gekommen bin, 
daran ist eine Ratte schuld. Ich kann es gar nicht erzahlen, wie 
froh meine Mutter war, dafi ich so unerwartet auf die Welt 
gekommen, und als sie mich eine ganze Weile geliebkost hatte, 
rief sie die Mietsleute im ganzen Haus zusammen, welche mich 
insgesamt gar verwundert betrachteten und sie wufiten gar 
nicht, was sie aus mir machen sollten, weil ich gleich so artig 
schwatzen konnte.« 

Diese Geburtsgeschichte auf zwei Seiten kann sich wohl mit der 
dreibandigen Geburtsgeschichte des »Tristram Shandy« von 
Sterne messen. Wir wollen es den Psychoanalytikern uberlassen 
herauszukriegen, welche geheimen Beziehungen es zwischen 
Humor und Geburt gibt. Ich, meinesteils, bin geneigt, sie fur 
sehr viel stichhaltiger anzusehen als die zwischen Tod und 
Tragik. Dafi aber dieses Eingangskapitel mit seinem Elends- 
stilleben aus Ratte, Nacktheit und Stroh dem Verfasser etwas 
hat bedeuten wollen, erkennt man ganz einfach daran, wie er 
diese Geschichte von der Ratte seinem Helden als einen Talis- 
man gewissermafien um den Hals hangt, dergestalt daft jedes- 
mal, wenn Schelmuffsky an der Tafel bei sogenannten hohen 
Standespersonen oder galanten Damen seine Sadie befordern 
und zeigen will, was fur ein sappermentischer Kerl er sei, und 
daft ihm was Recht's aus den Augen schaut, er diese Ge- 
schichte zum besten gibt. Sie hat ubrigens ihr Gegenstiick in der 
Heimkehrgeschichte, vor allem aber in Schelmuffskys zwei- 



Reuters »SchelmufFsky« und Kortums »Jobsiade« 653 

tern Aufbruch von Hause, mit dem der andere Teil der »sehr 
gefahrlichen Reisebeschreibung zu Wasser und zu Lande« be- 
ginnt, den Reuter dem ersten ein Jahr spater nachgeschickt hat. 
Mit diesem Werke war dann seine Leistung, wenn audi nidit 
seine Laufbahn als Schriftsteller abgeschlossen. Sparliche Gele- 
genheitsdichtungen, »Das frohlockende Charlottenburg«, »Die 
frohlockende Spree« und ahnliches, haben seinem Dasein keiner- 
lei offentliches Interesse mehr geben konnen; gegen 1712 ver- 
lieren sich seine Spuren, sein Todesjahr kennt man nicht; er 
mag mit seinem Helden Schelmuffsky die brave Grofisprecherei 
und die tiefe Hilflosigkeit gemein gehabt haben, die in seinem 
Buche einen Strahl von der Marchensonne zu einem Spektrum 
zerlegt, das vom Lugenmarchen bis zu der todtraurigen Ge- 
schichte »Vom Frieder und vom Katerlieschen« hiniiberreicht. 
Einfacher liegen die Dinge bei dem Jobsiadendichter Karl Ar- 
nold Kortum. Zunachst aber freilich in mehr als einem Punkt 
ahnlich. Der praktische Arzt Kortum aus Miihlheim ist eben- 
sowenig eine eigentliche Literatenerscheinung gewesen wie der 
verbummelte Student Christian Reuter. Audi er hat viel ge- 
schrieben und mit einem seiner Werke einen Ruhm erreicht, 
den ihm die verzehnfachte Summe aller iibrigen nie verschafTt 
hatte. Audi er hat eine Parodie schreiben wollen und damit 
erreicht, dafi die Gattung, die er vernichten wollte, in seinem 
Werke bis auf den heutigen Tag dauert. Wir namlich lesen die 
»Jobsiade« nicht mehr als Parodie. Im Zeitalter Voltaires und 
Wielands gehorte das komische Heldengedicht zur feineren wie 
zur derberen Literatur. Im Kampfe der Aufklarung gegen die 
mythischen und dynastischen Autoritaten war diese Gattung 
eine durchschlagende WafFe und ihre Parodie durch Kortum mag 
vielleicht ohne die Absicht ihres Verfassers eher konservativ 
gewirkt haben. Im iibrigen aber war Kortum ein vielseitig gebil- 
deter Mann, der an der Aufklarung des Volkes arbeitete 
und zu diesem Zwecke sich iiber die verschiedensten Angelegen- 
heiten ausliefi, iiber das Benehmen bei ansteckenden Krank- 
heiten sogut wie iiber die Grundsatze der Bienenzucht oder 
iiber die Vorziige des neuen lutherischen Gesangbuchs in der 
Grafschaft Mark. Aufklarende Tendenz im Sinn des Dichters 
hatte, wenn man so will, audi die »Jobsiade«. » Diese Piece, so 
heifit es in seiner Autobiographic, ist eigentlich eine Art von 



654 Vortrage und Reden 

Satyre iiber die zur Mode gewordenen Schriften im Volkston. So 
wie man darin sich gleichsam bemtiht, Versart und Sprache zu 
verderben, so habe ich dieses, so spottisch als moglich war, 
nachgeahmt.« Und erst recht sind die plumpen und possierlichen 
Holzschnitte, von denen die »Jobsiade« durchzogen ist, Kari- 
katuren der billigen Bilder, mit denen die Jahrmarktsschriften 
der Zeit ausgeschmiickt waren. Diese Holzschnitte mogen dann 
WUhelm Busch, dem niederdeutschen Landsmann Kortums, 
den ersten Anstofi zu seinen eigenen Bildern zur »Jobsiade« ge- 
geben haben, die dann nachmals den Ruhm des Kortumschen 
Namens von neuem verbreiteten, nicht so freilich die Kenntnis 
von seinem Werk. Denn die Partien, die Busch nicht mit seinen 
Bildern von neuem hatte erscheinen lassen, blieben recht unbe- 
kannt. Aus diesen unbekannteren Teilen stammt, was wir nun 
vom Tode des Hieronymus Jobs verlesen. 

»jy. Kapitel.Wie Hieronimus einen Besuch bekam von 

Freund Hein, der ihn zu Rube brachte. Ein Kapitel, so gut 

als eine Leicbenrede. 

Es ist gewesen schon sehr lange, 
Wie uns Gelehrten bewufit ist, im Gange, 
Ein gar kluges Sprichwort, es hat's 
Der alte Kirchenvater Horaz: 

Sowohl gegen die Palldste der Grojien 

Als gegen die Hiitten der Armen pflegt zu stojien 

Der uberall bekannte Freund Hein 

Mit seinem durren Knochenbein. 

Das will eigentlich nach dem Grundtext sagen: 
Alles, was da lebt, wird zu Grabe getragen, 
Sowohl der Monarch, als der Unterthan, 
Sowohl der reiche als der arme Mann. 

Sintemal Freund Hein pflegt unter beiden 
Nicht das mindeste zu unterscheiden, 
Sondern er nimmt alles, weit und breit, 
Mit der strengsten Unpartheilichkeit. 

Und er pflegt immer schlau zu lauern 
Sowohl auf den Kavalier, als auf den Bauern, 



Reuters »Schelmurfsky« und Kortums »Jobsiade« 655 

Auf den Bettler und Grofisultan, 
Auf den Schneider und Tartarchan. 

Und er geht mit der scharfen Sensen 
Zu Lakeien und zu Excellenzen, 
Zu der gnadigen Frau und der Viehmagd 
Ohne Distinktion auf die Jagd, 

Es gilt bei ihm gar kein Verschonen, 
Er achtet weder Knotenperriicken nodi Kronen, 
Weder Doktorhut noch Hirschgeweih, 
Zierrathen der Kopfe mancherlei. 

Er hat bei der Hand tausend und mehr Sachen, 
Welche ein End mit uns konnen machen; 
Bald giebt ein Eisen, bald die Pest, 
Bald eine Weinbeere uns den Rest. 

Bald eine Krankheit, bald plotzlicher Schrecken, 
Bald Arzeneien aus den Apotheken, 
Bald Gift, bald Freude, bald Argernifi, 
Bald Liebe, bald ein toller Hundsbifi. 

Bald ein Prozefi, bald eine blaue Bohne, 
Bald eine bose Frau, bald eine Kanone, 
Bald ein Strick, bald sonstige Gefahr, 
Wofur uns alle der Himmel bewahr. 

Da helfen, um sich zu bef reien, 
Nicht d' Arsons schwimmende Battereien; 
Denn Freund Hein, der hungrige Schelm, 
Fiirditet weder Vestung, Schild, Degen noch Helm. 

Der Kommandant in den sieben Thiirnen, 
Der Grofi vizier zwischen hundert Dirnen, 
So wie Diogenes in seinem Fafi 
Waren alle fiir ihn ein Frafi. 

So ist es von jeher gehort und gewesen, 
Wie wir in den Geschichtbuchern konnen lesen: 
Jakob Bohme und Aristoteles, 
Klaus Narre und Demosthenes, 



6$6 Vortrage und Reden 

Der ungestalte Asop und die schone 
Weltberiihmte griechische Helene, 
Der arme Job und Konig Salomon 
Mufiten endlich alle davon. 

Kaiser Max und Jobs der Senater, 
Virgil und Hans Sachs mein Altervater, 
Der kleine David und grofie Goliath 
Starben alle, theils friih, theils spat. 

Niklas Klimm und Markus Aurelius, 
Kato und Eulenspiegelius, 
Ritter Simson und Don Quixot, 
Sind leider nicht mehr, sondern todt. 

Audi Kartouche und Konig Alexander, 
Einer nicht ein Haar besser als der ander', 
Held Bramarbas und Hannibal 
Sic starben alle Knall und Fall. 

Auch August der Held Polens, 

Und Karl der Zwolfte mufiten volens nolens, 

So wie der Perser Schach Kulikan, 

Und der grofie Czaar Peter dran. 

Item, Xerxes mit seinem ganzen Heere, 
Potiphar mit seiner Hausehre, 
Und der einaugige Polyphem, 
Und der alte Methusalem. 

Alle, alle mufiten in die schwarze Bahre, 
Kalvin und der Pater von Sankt Klare, 
Auch der Patriarch Abraham, 
Und Erasmus von Rotterdam. 

Auch Muller Arnold und die Advokaten 
In den weitlaufigen preufiischen Staaten, 
Tribonian und Notar April, 
Der zu Regensburg von der Treppe fiel, 

Alles, alles sank von seiner Sichel, 
Hippokrates Magnus und Schuppachs Michel, 



Reuters »SdielmufTsky« und Kortums »Jobsiade« 657 

Galenus und Doktor Menadie 
Mit der Salernitanschen Akademie. 

Keiner konnte seiner Faust entfliehen, 
Nicht Nostradamus und Superindent Ziehen. 
Mit Doktor Faust und Trimmer Schwedenburg 
Ging er ohne Umstande durdi. 

Orpheus den grofien Musikanten, 
Molieres den Komodianten, 
Und den beriihmten Mahler Apell 
Nahm Freund Hein sammtlich beim Fell. 

Audi den Midas mit den langen Ohren, 
Den Dichter Homerus blind geboren, 
Den lahmen Tamerlan und Tanzer Vestris; 
Kein einz'ger von alien entsprang ihm hie. 

Ach ja, lieber Leser! dies Furchtgerippe 
Frafi die Penolope und Xantippe, 
Judith, Dido, Lukretia 
Und die Konigin aus dem Reidie Arabia. 

Den lachenden Demokrit und den Murrkopf Timon, 
Gaukler Schropfer und den Zauberer Simon, 
Den Sokrates und den jungen Werther, fiirwahr 
Jenen als Weisen, diesen als Narr. 

Selbst Bucephalus und Rossinanten, 
Und Abulabas den Elephanten, 
Rofi Bayard und Bileams Eselin 
Nahm Freund Hein zum Morgenbrod hin. 

Summa Summarum, weder vorn noch hinten 
1st in den Chroniken ein Exempel zu finden, 
Dafi Freund Hein etwa irgendwo leer 
Bei jemand voriibergegangen war. 

Und was er iibrigens noch nicht gefressen, 
Wird er doch in der Folge nicht vergessen, 
Sogar, leider! lieber Leser, audi dich, 
Und was das schlimmste ist, sogar mich. 



6$$ Vortrage und Reden 

So ward es nun audi gleichergestalten 
Mit dem Naditwachter Hieronimus gehalten, 
Denn audi bei ihm stellte Freund Hein 
Sich nach vierzig Jahr und drei Wodien ein. 

Er bekam namlich ein hitziges Fieber, 
Das ware wohl nun bald gegangen iiber, 
Wenn man's seiner guten Natur 
Hatte wollen uberlassen nur; 

Jedodi ein beriihmter Doktor im Kuriren 
Brachte ihn durch seine Lebenselixiren, 
Nadi der besten Methode gar schon, 
An den Ort, dahin wir alle einst gehn. 

Als man ihn nun zu Grabe getragen, 
Fiihrten die Sdiildburger grofie Kiage, 
Denn seit undenklichen Zeiten her 
War kein so beruhmter Naditwachter als er.« 



In dieser Todesgeschichte, denke ich; haben wir kein verachtli- 
ches Gegenstiick des Geburtsberichts, mit dem der »Schelmun c sky« 
einsetzt. Ingrimmig sieht der eine dem Kommen, der andere dem 
Gehen derKreatur zu. Ihr Humor - humor aber heifk zu deutsch 
Fliissigkeit - hat einen bitteren Geschmack und ist voll von 
Eisen und Nahrsalz. Um aber auf Kortum zuriickzukommen, 
so hat er es freilidi bei Jobsens Tode sowenig bewenden lassen 
wie Reuter bei Schelmuffskys Geburt. Er hat einen zweiten Teil 
vom Leben seines Helden veroffentlicht, der zwar als Nadit- 
wachter zu Schildburg starb, doch endlich die Ohnwitzer Pfarre 
erwarb. Das hat man ihm sehr verdacht. Und darum wollen 
wir mit der schonen Verteidigung schliefien, die Otto Julius 
Bierbaum am Schlufi seiner Einfuhrung zur »Jobsiade« vor- 
bringt. 

»Ich behaupte getrost: der Jobs ist klassisch, 
Sei er blofi bochum'sch oder parnassisch. 
Was sich unmariniert so lange f risch erhalt, 
Sei, ob es audi klein, neben Grofies gestellt. 



Reuters »Schelmuffsky« und Kortums »Jobsiade« 659 

Docli eins noch, das: Es geht das Gerede, 
Die zwei Fortsetzungen, alle beede, 
Seien durchaus vom Oberflufi; 
Tot hatte solln bleiben Hieronimus. 

Dann hatte das Kunstwerk seine Rundheit 
Bewahrt und streng asthetische Gesundheit, 
Indessen jetzt Teil zwei und drei 
Nichts weiter als schadliche Wucherung sei. 

O Gott, ihr Herrn vom kritischen Knaster, 
Lafit ihr nicht endlich mal ab von dem Laster, 
Immer nur Warzen und Auswuchs zu sehn, 
Wo die Triebe der Kraft etwas uppiger stehn? 

Ich dachte, wir haben uns nicht zu beklagen, 
Dafi Hieronimus auferstand aus dem Schragen, 
Denn so der zweite wie dritte Teil 
Bereiten uns gar keine Langeweil. 

Ich mochte sie beide durchaus nicht missen 
Und bin sehr gliicklich, aus ihnen zu wissen, 
Dafi Doktor Kortum noch allerhand 
Aufier dem scharfen Schinden verstand. 

Zum Beispiel: Ein Madchen zu malen wie Esther. 
Ich wunschte, ich hatte so eine Schwester. 
Wobei ich gar nicht bose war, 
Wiirde der Baron dann mein Schwah'r. 

Audi mufi ich gestehen: Wie der Nachtwachter, 
Gefallt mir der Pastor Jobs. Kein schlechter 
Zug scheint mir auch das zu sein, 
Dafl er begraben sein will bei Amalein. 

Obwohl die, wie wir es deutlich lesen, 
Durchaus kein Tugendausbund gewesen. 
Fehlte das, kam mir des Doktors Humor 
Betrachtlich weniger stifle vor. 

Ja, ich bekenne: die Fortsetzungen 
Haben mich immer erst ganz bezwungen, 



660 Vortrage und Reden 

Weil idi daraus mit Freuden erfuhr: 
Karl Arnold hatte nicht Scharfe nur. 

Er war ein Poet audi aus dem Herzen, 
Er konnte audi ohne Hollenstein scherzen. 
Der rasche Wein wird mahlig mild, 
Der schroffe Sdinitt wird zum runden Bild. 

Und keiner kann sagen: die Sadie wird saucig, 
Der Witz wird schal, der Humor wird klosig. 
Es geht nur, wie es im Leben geht: 
Der Gang wird ruhig, beschaulidi, stat. 

Was der Dichter mit splitternden Hieben begonnen, 
Hat schliefilich das Ansehn von Schnitzwerk gewonnen; 
Die harte Kontur kriegt weicheren Schwung. 
Beschere Gott jedem solche TortsetzungU 



Bert Brecht 

Es ist immer eine Unaufrichtigkeit, wenn man uber lebende 
Diditer unparteiisch, abgeklart, objektiv zu reden vorgibt. Und 
zwar nicht nur und vielleicht weniger eine personliche Unauf- 
richtigkeit - obwohl keiner verhindern kann, dafi ihn das Flui- 
dum um einen Zeitgenossen in tausend Formen beriihrt, von 
denen kaum eine seiner bewufiten Kontrolle zuganglich ist -, 
sondern vor allem eine wissenschaftliche. Das will nun aber nicht 
heifien, man habe sich in solcher Darstellung ganz und gar 
gehenzulassen und sein Gliick in einer vagen Folge von Asso- 
ziationen, Anekdoten, Analogien zu suchen. Im Gegenteil, wenn 
sich die literarhistorische Form solcher Darstellung versagt, so 
ist die ihr gemafte die kritische. Und sie ist als Form um so stren- 
ger, je mehr sie sich von billiger Vornehmheit fernhalt, je reso- 
luter sie auf die gerade aktuellen Aspekte eines Werkes sich 
einlafit. Es ware zum Beispiel im Falle Brecht toricht, die imma- 
nenten Gefahren seines Schaffens, die Frage seiner politischen 
Haltung oder sogar die PlagiatsafTaren stillschweigend zu iiber- 
gehen. Damit brachte man sich um den Zugang zu seinem Schaf- 



BertBrecht 66 1 

fen. Vielmehr ist, diese Dinge aufzurollen, dazu einen Begriff 
von seinen theoretischen Oberzeugungen, seiner Gesprachsfiih- 
rung, sogar seiner aufieren Erscheinung zu geben, wichtiger, als 
der zeitlichen Folge entsprechend seine Werke nach Inhalt, 
Form und Wirkung abzuhaspeln. Darum machen wir uns audi 
kein Gewissen daraus, mit seinem letzten Buche hier den An- 
fang zu madien, flir einen Literarhistoriker gewifi ein Kunst- 
fehler, fiir den Kritiker aber um so rechtmafiiger, als dieses 
letzte Werk - es heifit »Versudie« und ist im Verlage Kiepen- 
heuer, Berlin, erschienen - zu Brechts sprodesten zahlt und uns 
notigt, die ganze Erscheinung mit einem Male entschieden und 
frontal ins Auge zu fassen. 

Wollte man den Verfasser der »Versuche« so schroff, wie 
er von seinen Helden es verlangt, sich zu sich selber bekennen 
lassen, so wiirde man von ihm zu horen bekommen: »Ich lehne 
es ab, mein Talent >frei< zu verwerten, ich verwerte es als 
Erzieher, Politiker, Organisator. Es gibt keinen Vorwurf gegen 
mein literarisches Auftreten - Plagiator, Storenfried, Saboteur 
- den ich nicht fiir mein unliterarisches, anonymes, aber plan- 
voiles Wirken als einen Ehrennamen beanspruchen wiirde. « Wie 
dem nun sein mag, gewifi ist, dafi Brecht unter denen, welche in 
Deutschland schreiben, zu der ganz kleinen Mmderzahl gehort, 
die sich fragt, wo sie ihre Begabung ansetzen mufi, sie nur da 
ansetzt, wo sie von der Notwendigkeit, dies zu tun, iiberzeugt 
ist, und bei jeder Gelegenheit, die diesem Priifstein nicht stand- 
halt, schlappmacht. »Versuche« sind dergleichen Einsatzstellen 
von Brechts Begabung. Das Neue daran ist, dafi diese Stellen 
in ihrer ganzen Wichtigkeit hervortreten, der Dichter um ihret- 
willen sich von seinem » Werke « beurlaubt und, wie ein Inge- 
nieur in der Wiiste mit Petroleumbohrungen anfangt, in der 
Wiiste der Gegenwart an genau berechneten Punkten seine 
-Tatigkeit aufnimmt. Solche Stellen sind hier das Theater, die 
Anekdote, das Radio - andere wollen spater in Angriff genom- 
men werden. »Die Publikation der >Versuche<«, beginnt der 
Verfasser, »erfolgt zu einem Zeitpunkt, wo gewisse Arbeiten 
nicht mehr so sehr individuelle Erlebnisse sein (Werkcharakter 
haben) sollen, sondern mehr auf die Benutzung (Umgestaltung) 
bestimmter Institute und Institutionen gerichtet sind.« Nicht 
Erneuerung wird proklamiert; Neuerungen sind geplant. Die 



662 Vortrage und Reden 

Dichtung erwartet hier nichts mehr von einem Gefiihl des 
Autors, das nicht im Willen, diese Welt zu andern, sich mit der 
Niichternheit verbiindet hat. Sie weifi, die einzige Chance, die 
ihr blieb, ist: Nebenprodukt in einem sehr verzweigten Prozefi 
zur Anderung der Welt zu werden. Das ist sie hier. Und dazu 
ein unschatzbares. Hauptprodukt aber ist: eine neue Haltung. 
Lichtenberg sagt: »Nicht wovon einer iiberzeugt ist, ist wichtig. 
Wichtig ist, was seine Uberzeugungen aus ihm machen.« Dieses 
Was heifk bei Brecht: Haltung. Sie ist neu, und das Neuste 
an ihr, dafi sie erlernbar ist. »Der zweke Versuch >Geschich- 
ten vom Herrn Keuner<«, sagt der Verfasser, »stellen einen Ver- 
such dar, Gesten zitierbar zu machen.« Aber zitierbar ist nicht 
nur Herrn Keuners Haltung, genauso ist es, durch Obung, 
die der Schuler im »Flug der Lindberghs«, und die des Egoisten 
Fatzer ist es auch, und wiederum: was an ihnen zitierbar ist, 
das ist nicht nur die Haltung, genauso sind es die Worte, die sie 
begleiten. Auch diese Worte wollen geiibt, das heifit erst ge- 
merkt, spater verstanden sein. Ihre padagogische Wirkung haben 
sie zuerst, ihre politische dann und ihre poetische ganz zuletzt. 
Mit diesem Wenigen haben Sie vielleicht in beinahe allzu dichter 
Folge alle wichtigen Motive in Brechts Arbeit beisammen, und 
nach diesem Anlauf haben wir wohl das Recht, etwas auszu- 
ruhen. Auszuruhen, das soil hier heifien, in der Menge seiner 
Figuren uberhaupt Umschau zu halten und diese und jene 
herauszugreifen, in denen des Autors Absichten am besten zum 
Vorschein kommen. An erster Stelle mochte ich da den besagten 
Herrn Keuner nennen, der erst im letzten Werk von Brecht 
sich hervorwagt. Woher der Name, kann auf sich beruhen. Neh- 
men wir einmal mit Lion Feuchtwanger, einem ehemaligen 
Mitarbeiter von Brecht, an, es stecke darin die griechische Wurzel 
xoivog - das Allgemeine, alle Betreffende, alien Gehorende. 
In der Tat ist Herr Keuner der alle Betreffende, alien Gehoren- 
de, namlich der Fiihrer. Er ist es nur ganz anders, als man sich 
einen Fiihrer gewohnlich vorstellt; beileibe kein Rhetor, kein 
Demagog, kein Efrekthascher oder Kraftmensch. Seine Haupt- 
beschaftigung liegt meilenweit fort von dem, was man sich heute 
unter einem Fiihrer vorstellt. Herr Keuner ist namlich der Den- 
kende. Ich erinnere mich, wie Brecht eines Tages Keuners Er- 
scheinen, wenn er je auf die Szene kame, ausmalte. Auf einer 



Bert Bredit 66} 

Bahre wiirde man ihn heranbringen, denn der Denkende in- 
kommodiert sich nicht; und dann wiirde er den Vorgangen auf 
der Biihne schweigend folgen oder audi nicht folgen. Denn das 
ist gerade fiir so viele Zustande heute bezeichnend, dafi der 
Denkende ihnen gar nicht folgen kann. Seinem ganzen Gebaren 
nach wird man diesen Denkenden niemals mit dem Weisen der 
Griechen, dem strengen Stoiker oder dem Lebenskiinstler aus 
der Schule Epikurs verwechseln konnen, eher schon mit Paul 
Vaterys Figur eines reinen Denkmenschen ohne AfFekte, dem 
Monsieur Teste. Beide haben chinesische Ziige. Beide sind un- 
endlich verschlagen, unendlich verschwiegen, unendlich hoflich, 
unendlich alt, unendlich anpassungsfahig. Herr Keuner aber da- 
durch ganz und gar von seinem franzosischen Kollegen unter- 
schieden, dafi er ein Ziel hat, das er keinen Augenblick lang aus 
dem Auge verliert. Dieses Ziel ist der neue Staat. Ein Staat, der 
philosophisch und literarisch so tief fundiert ist, wie man es von 
dem des Konfuzius weifi. Urn nun aber vom Chinesischen abzu- 
stofien, wollen wir sagen, dafi man bei Herrn Keuner auch 
jesuitische Ziige entdecken kann. Das ist alles andere als Zufall. 
Je genauer man namhch die Typen, die Brecht geschafTen hat, 
auseinandernimmt - wir werden das nach Herrn Keuner noch 
mit zwei andern tun -, desto mehr zeigt sich, wie sie bei aller 
Kraft und Lebendigkeit politische Modelle, um mit dem Medi- 
ziner zu reden, Phantome darstellen. Es ist ihnen alien gemein- 
sam, vernunftige politische Aktionen zu bewirken, die nicht aus 
Menschenfreundlichkeit,Nachstenliebe, Idealismus, Edelmut oder 
ahnlichem, sondern nur aus der jeweiligen Haltung hervorgehen. 
Diese Haltung kann von Hause aus fragwiirdig, unsympathisch, 
eigenniitzig sein: wenn nur der Mann, an dem sie auftritt, sich 
nichts vormacht, wenn er sich nur nahe an die Realitat halt, so 
kommt schon aus ihr selber die Korrektur. Nicht die ethische: der 
Mann wird nicht besser; aber die soziale: sein Verhalten macht 
ihn verwendbar, oder, wie es ein andermal bei Brecht heifit: 

Alle Laster sind zu etwas gut 

Nur der Mann nicht, sagt er, der sie tut. 

Herrn Keuners Laster ist, kalt und unbestechlich zu denken. 
Wozu das gut ist? Es ist gut, die Leute dahin zu bringen, sich 
klarzuwerden, mit welchen Voraussetzungen sie an die soge- 



664 Vortrage und Reden 

nannten Fiihrer, die Denker oder Politiker, an deren Biicher 
oder deren Reden herantreten, um sodann jene Voraussetzung 
der Leute so grundlich wie nur moglich in Frage zu stellen. Es 
ist eigentlich ein ganzes Biindel von Voraussetzungen, das aus- 
einanderfallt, wenn man die Schnur, die es umfafit, nur einmal 
gelockert hat. Die Schnur der festen Meinung: irgendwo wird 
ganz sicher gedacht, und darauf konnen wir uns verlassen. Per- 
sonlichkeiten, die dementsprechende Posten haben und dafiir 
bezahlt werden, denken fur alle andern, sind mit den ein- 
schlagigen Yerfahren vertraut und ununterbrochen beschaftigt, 
die Zweifel und die Unklarheiten, die verbleiben, aus dem Weg 
zu raumen. Wollte man das leugnen, konnte man gar beweisen, 
dem ist nicht so, dann wiirde sich des Publikums doch eine 
gewisse Unruhe bemachtigen. Es kame namlich in Verlegenheit, 
selber denken zu miissen. Nun konzentriert sich Herrn Keuners 
Interesse darauf, zu zeigen: der Reichtum von Problemen und 
Theorien, Thesen und Weltanschauungen ist fiktiv. Und dafi 
sie sich gegenseitig aufheben, ist weder Zufall noch im Denken 
selbst begriindet, sondern in den Interessen der Leute, die die 
Denker auf ihre Posten gestellt haben. - Entspricht denn aber, 
wird das Publikum nun fragen, das Denken bestimmten Inter- 
essen? Ist denn das Denken nicht interesselos? - Eine gewisse 
Unruhe wird sich seiner bemachtigen. Wenn im Sinne gewisser 
Interessen gedacht wird, wer garantiert ihm, dafi es die seinigen 
sind? Und da hat es die Schnur aufgeknotet, das Biindel seiner 
Voraussetzungen fallt auseinander, um sich in lauter Frag- 
wiirdigkeiten zu verwandeln. Lohnt es sich zu denken? Soil es 
niitzen? Was niitzt es in Wirklichkeit? Wem? - Lauter grobe 
Fragen, gewifi. Wir aber, sagt Herr Keuner, haben die groben 
Fragen gar nicht zu scheuen, wir haben unsere feinsten Antwor- 
ten gerade auf diese groben Fragen bereit. Denn so ist unser 
Verhaltnis zu jenen andern: sie verstehen, fein und subtil zu 
fragen, aber die Kanale ihrer Fragen verschwemmen sie mit der 
Schlammflut der Antworten, jenem ungefilterten Reichtum, der 
fur wenige fruchtbar und fast alien schadlich ist. Wir dagegen 
fragen allerdings handfest. Aber von Antworten werden nur 
die dreimal gesiebten durchgelassen. Prazise und klare Antwor- 
ten, in denen nicht nur der Sachverhalt, sondern die Haltung des 
Sprechenden durchsichtig wird. Soweit Herr Keuner. 



Bert Brecht 665 

Dieser Herr Keuner ist, wie gesagt, unter Bredits Figuren die 
jiingste. Es ist nicht unvermittelt, wenn wir jetzt auf eine seiner 
altesten zu sprechen kommen. Vielleicht erinnern Sie sich, dafi 
idi von den Gefahren im Schaffen von Brecht sprach. Sie liegen 
bei Herrn Keuner. Wenn er schon taglicher Gast bei dem Dich- 
ter ist, so mufi er doch, wie wir hoffen, auf andere Besucher 
stofien, die ihm sehr ungleicb sind und die die Gefahren, die er 
fiir den Dichter mit sich bringt, bannen. In der Tat, er stofit 
auf Baal, auf Mackie Messer, auf Fatzer, auf die ganze Horde 
von Hooligans und Verbrechern, die Brechts Stiicke bevolkern 
und die vor allem die wahren Sanger seiner Songs sind, die in 
der erstaunlichen »Hauspostille« (Propylaen-Verlag, Berlin) 
gesammelt vorliegen. Dieses ganze Rowdy- und Songwesen geht 
auf Brechts Friihzeit, die Augsburger Periode, zuriick, in der er 
in Gesellschaft seines Freundes und Mitarbeiters Caspar Neher 
und anderer in seltsamen Melodien und riiden, herzzerreifienden 
Refrains die Motive seiner spateren Stiicke aufspiirte. Aus dieser 
Welt stammt der versoffne Morderdichter Baal und schliefilich 
auch noch der Egoist Fatzer. Man wiirde aber sehr irren, wenn 
man annahme, diese Figuren interessierten den Verfasser nur als 
abschreckende Beispiele. Brechts wahrer Anteil am Baal und 
Fatzer reicht tiefer. Sie sind ihm zwar das Egoistische, Asoziale. 
Aber es ist ja Brechts bestandiges Streben, diesen Asozialen, den 
Hooligan, als virtuellen Revolutionar zu zeichnen. Dabei spielt 
nicht nur sein personliches Einverstandnis mit diesem Typus, 
sondern ein theoretisches Moment mit. Wenn Marx sich sozu- 
sagen das Problem gestellt hat, die Revolution aus ihrem 
schlechtweg anderen, dem Kapitalismus, hervorgehen zu lassen, 
ganz ohne Ethos dafiir in Anspruch zu nehmen, so versetzt 
Brecht dieses Problem in die menschliche Sphare: er will den 
Revolutionar aus dem schlechten, selbstischen Typus ganz ohne 
Ethos von selber hervorgehen lassen. Wie Wagner den Homun- 
kulus in der Retorte aus einer magischen Mischung, will Brecht 
den Revolutionar in der Retorte aus Niedrigkeit und Gemein- 
heit entwickeln. 

Zum dritten greife ich nun Galy Gay heraus. Er ist der Held 
einer Komodie »Mann ist Mann«. Eben ist er aus der Haustiir 
gegangen, um auf Veranlassung seiner Frau einen Fisch einzu- 
kaufen, da stofit er auf Soldaten der anglo-indischen Armee, die 



666 Vortrage und Reden 

bei der Plunderung einer Pagode den vierten, der zu ihrem 2ug 
gehort, verloren haben. Sie haben alles Interesse daran, sich 
schleunigst einen Stellvertreter zu schaffen. Galy Gay ist ein 
Mann, der nicht nein sagen kann. Er folgt den dreien, ohne zu 
wissen, was sie mit ihm vorhaben. Zug um Zug nimmt er Stiicke, 
Gedanken, Haltung, Gewohnheiten an, wie ein Mann im Krieg 
sie haben mufi; er wird vollstandig ummontiert, wird seine Frau, 
die ihn ausfindig gemacht hat, gar nicht mehr anerkennen und 
zuletzt ein gefurchteter Krieger und Eroberer der Bergfeste Sir 
EI Dchowr werden. Welche Bewandtnis es mit ihm hat, erfah- 
ren Sie aus folgendem Spruch: 

Herr Bertolt Brecht behauptet: Mann ist Mann. 
Und das ist etwas, was jeder behaupten kann. 
Aber Herr Bertolt Brecht beweist audi dann, 
Dafi man mit einem Menschen beliebig viel machen 

kann. 
Hier wird heute abend ein Mensch wie ein Auto 

ummontiert, 
Ohne dafi er irgend etwas dabei verliert. 
Dem Mann wird menschlich nahergetreten, 
Er wird mit Nachdruck, ohne Verdrufi gebeten, 
Sich dem Laufe der Welt schon anzupassen 
Und seinen Privatfisch schwimmen zu lassen. 
Herr Bertolt Brecht hofft, Sie werden den Boden, 

auf dem Sie stehen, 
Wie einen Schnee unter sich vergehen sehen 
Und werden schon merken bei dem Packer Galy Gay, 
Dafi das Leben auf Erden gefahrlich sei. 

Die Ummontierung, von der hier die Rede ist - wir horten 
schon, wie Brecht sie als literarische Form proklamiert. Das 
Geschriebene ist ihm nicht Werk, sondern Apparat, Instrument. 
Es ist, je hoher es steht, desto mehr der Umformung, der 
Demontierung und Verwandlung fahig. Die Betrachtung der 
grofien kanonischen Literaturen, vor allem der chinesischen, 
hat ihm gezeigt, dafi der oberste Anspruch, der dorr an Ge- 
schriebenes gestellt wird, seine Zitierbarkeit ist. Es sei angedeu- 
tet, dafi hier eine Theorie des Plagiats griindet, bei der den 
Witzbolden sehr schnell der Atem ausgehen wird. 



Karussell der Berufe 66j 

Wer in drei Worten iiber Brecht das Entscheidende sagen miifi- 
te, wiirde klug tun, sich auf den Satz zu beschranken: Sein Ge- 
genstand ist die Armut. Wie der Denkende mit den wenigen 
zutreffenden Gedanken, welche es gibt, der Schreibende mit den 
wenigen stichhaltigen Formulierungen, die wir haben, der Staats- 
mann mit der wenigen Intelligenz und Tatkraft der Menschen 
auskommen mufi, das ist das Thema all seiner Arbeit. »Was 
sie gemacht haben«, sagen die Lindberghs von ihrem Apparat, 
»das mu6 mir reichen«. Knapp an die knappe Wirklichkeit 
heran - das ist die Losung. Armut, denkt Herr Keuner, ist eine 
Mimikry, die es erlaubt, so nahe an das Wirkliche heranzu- 
kommen, wie kein Reicher es kann. Das ist naturlich nicht die 
Maeterlincksche Mystik der Armut, noch die Franziskanische, 
welche Rilke meint, wenn er schreibt: »Denn Armut ist ein gro- 
wer Glanz von innen« - diese Brechtsche Armut ist vielmehr 
eine Uniform und ganz geeignet, dem, der sie mit Bewufksein 
tragt, eine hohe Charge zu geben. Sie ist, kurz gesagt, die phy- 
siologische und okonomische Armut des Menschen im Zeitalter 
der Maschine. »Der Staat soil reich sein, der Mensch soil arm 
sein, der Staat soil verpflichtet sein vieles zu konnen, dem Men- 
schen soil es erlaubt sein weniges zu konnen«: das ist das allge- 
meine Menschenrecht auf Armut, wie es von Brecht formuliert, 
in seinen Schriften auf seine Fruchtbarkeit untersucht und in 
seiner schmachtigen, abgerissenen Erscheinung zur Schau getra- 
gen wird. 

Wir schliefien nicht, sondern brechen ab. Sie konnen, meine 
Damen und Herren, diese Betrachtungen mit Hilfe jeder guten 
Buchhandlung fortsetzen, grundlicher aber ohne diese. 



Karussell der Berufe 

Versetzen Sie sich, meine Damen und Herren, in die Lage eines 
Vierzehnjahrigen, den die Volksschule eben entlassen hat und 
der nun vor der Berufswahl steht. Denken Sie an die meist 
schemenhaften, fluchtigen Bilder der Berufe, die ihm vorschwe- 
ben, an die Unmoglichkeit, ohne kostspielige Erfahrung einen 
genaueren Einblick in sie zu bekommen, an die vielen Oberle- 



66$ Vortrage und Reden 

gungen, die eine wohlerwogene Entscheidung beeinflussen miifi- 
ten und von denen er nur die wenigsten anstellen kann: die 
Konjunktur im einzelnen Erwerbszweig, die gesundheitlichen 
Erfordernisse oder Gefahren, die besondere Natur der Berufs- 
kollegen, die Aufstiegsmoglichkeiten usw. Liegt da nicht wirklich 
das Bild eines Karussells nahe, eines Berufskarussells, das an 
dem sprungbereiten Kandidaten mit einer Schnelhgkeit vor- 
ubersaust, die es ihm unmoglich macht, die einzelnen Platze, 
die es ihm bietet, zu studieren? Sie wissen ferner, wie schwer- 
wiegend und beklemmend gerade heuerdings alle Fragen der 
Berufswahl durch die Arbeitslosigkeit in Europa geworden 
sind. Wo fruher allenfalls die Frage der Eignung, die Aussicht, 
Hochstleistungen in diesem oder jenem Fach hervorzubringen, 
den Entschlufi eines jungen Menschen leiten konnten, steht 
heute im Vordergrunde die Aufgabe, einen Platz zu ergattern, 
auf dem das Risiko, abzugleiten - die Gef ahr, aus dem Produk- 
tionsprozefi ausgesteuert zu werden, um dann vielleicht nie 
wieder Anschlufi zu gewinnen - moglichst gering ist. Denn die 
schlichte Parole: »The right man in the right place«, der rechte 
Mann am rechten Platz, die man noch heute oft hort, entstammt 
eigentlich idyllischeren Zeiten des Erwerbslebens, und zwar, was 
ihre offizielle Anerkennung angeht, eigentlich aus der Zeit der 
Demobilmachung. Damals handelte es sich darum, 15- bis 
i7Jahrige Lehrlinge, die in Munkionsfabriken M. 80- bis 
M. 90,- die Woche verdienten, einem regularen Beruf zuzu- 
fiihren. Der Demobilmachungskommissar forderte aus diesem 
Grund die Berufsberatung. Aber die damals ausgegebene Parole 
hat heute eine ganz andere Bedeutung. Der beste Platz ist 
heute fiir jeden der, auf dem er die Chance hat, sich behaupten 
zu konnen. 

Auch die Stellung des gelernten Arbeiters hat sich in diesem 
Sinn verandert. Er kann in sehr vielen Fallen nicht damit rech- 
nen, bei seinem Beruf zu bleib.en. Aber die Aussichten, sich in 
einem neuen schnell einzupassen, sind bei ihm grofier als beim 
ungelernten Arbeiter. Wir haben das Wort Berufsberatung 
fallenlassen. Dariiber haben Sie gerade im Siidwestdeutschen 
Rundfunk sich, wie ich hore, mehrfach von beruf ener Seite 
unterrichten lassen. Viele von Ihnen werden Einblidk in das 
grofie System der Tests, die vielfaltigen Methoden ihrer Aus- 



Karussell der Berufe 669 

wertung, in das gewaltige Laboratorium, das eine neue Wissen- 
schaft: die Wissenschaft von der Arbeit, gerade in Deutschland 
sich in kurzer Zeit erstellt hat, bekommen haben. Freilich, was 
Ihnen am gelaufigsten sein wird, der Gedanke der Leistungs- 
priifung, werden wir heute am wenigsten beriihren. Wie wir 
Berufsberatung iiberhaupt nur zu streifen haben. Die Arbeits- 
wissenschaft hat ja zwei Seiten: auf der einen studiert sie den 
Einzelmenschen, ermittelt, zu welchem Beruf er sich am besten 
schickt; auf der anderen aber geht sie an den Beruf selbst heran 
und stellt fest: welchen verborgenen und darum starksten 
Trieben im Menschen kommen die einzelnen Berufe am besten 
entgegen? Vor allem aber: wie formt und wie verwandelt der 
Beruf - nicht nur die Arbeitsleistung selber, sondern das Milieu, 
in dem sie sich abspielt, die Obertragung der Berufsgewohn- 
heiten auf das hausliche Leben und die Eigenart der Berufskol- 
legen —, wie verwandelt und formt das alles den Menschen? 
Wie wirkt der Beruf auf den Menschen ein und wodurch? Das 
ist die Frage, auf die ich heute nicht nur Ihre Aufmerksamkeit 
lenken, sondern fur die ich Ihre Mitarbeit erbitten mochte. Die 
folgenden Ausfuhrungen werden Ihnen hoffentlich den Sinn der 
Bitte, die durch mich der Rundfunk hiermit an Sie richtet, voll- 
kommen deutlich machen. Die Bitte: Mitteilungen jeder Art 
ihm zukommen zu lassen, in denen Sie den Einfluft Ihres eige- 
nen Berufs auf Ihre Stimmung, Ihre Anschauung, Ihr Verhalt- 
nis zu Ihren Mitarbeitern, so wie es Ihnen erscheint,. wenn Sie 
in Gedanken den Menschen, der Sie waren, als Sie den Beruf 
ergriffen, und den, zu dem Sie im Beruf geworden sind, ver- 
gleichen. Es ware moglich, dafi Sie solche Betrachtungen lieber 
oder leichter an Beruf skollegen als an sich selbst anstellten. Der- 
gleichen Mitteilungen sind uns genauso willkommen. Das Mate- 
rial, mit dem Sie uns unterstiitzen, werden wir in einem zweiten 
Referat sichten und die Schlusse, die sich daraus ergeben, Ihnen 
unterbreiten. 

Wie wirkt der Beruf auf den Menschen ein und wodurch? Sie 
wissen, praktisch ist diese Frage vor Jahrhunderten schon ein- 
mal gelost worden. Das war in den Ziinften, die mit vollem 
Bewulksein das gesamte Leben ihrer Angehorigen bis in die 
privatesten Angelegenheiten hinein bewuftt den Notwendigkei- 
ten und Formen des Arbeitsprozesses unterstellten. Seitdem 



670 Vortrage und Reden 

im 19. Jahrhundert aber die letzten Reste des Zunftwesens ver- 
schwunden sind, haben diese Fragen, die von so grofier Wich- 
tigkeit fur das Leben jedes emzelnen Menschen sind, lange 
unbeachtet gelegen. In der letzten Zeit ist durch die entschei- 
denden Fortschritte in der Arbeitswissenschaft das anders ge- 
worden, und der unbemeisterte, unerleuchtete Alltag des Be- 
rufslebens wird von neuem der Kontrolle des menschlichen 
Kulturwillens unterworfen. Von diesen drei Fortschritten brach- 
te den ersten die Soziologie in Gestalt einer Untersuchung des 
sozialen Aufbaus der Berufe; den zweiten die Psychologie in 
Gestalt der Untersuchung der sogenannten Berufsatmosphare, 
endlich den dritten die neue amerikanische Bewegung des Beha- 
viorismus. Dieser letzte befremdliche Begriff verlangt Erkla- 
rung. To behave heifit »sich verhalten«. Der bedeutendste 
Vertreter dieser neuen Wissenschaft vom Sichverhalten, Watson 
- ein Teil seiner Werke ist iibersetzt in der Deutschen Verlags- 
anstalt, Stuttgart; erschienen -, macht zum Grundstein der ge- 
samten Menschenkunde das gewohnheitsmafiige Verhalten der 
Menschen. Es ist klar, warum diese Betrachtungsweise die Ar- 
beits- und Berufswissenschaft auf eine neue, sehr erweiterte 
Grundlage stellt. In welchem Lebensraum bilden sich Gewohn- 
heiten leichter, wo sind sie lebenstiichtiger, wo erfassen sie 
ganze Gruppen tiefer als bei der Arbeit? Von Haus aus steht 
dieser Behaviorismus in einem gewissen Gegensatz zu der Indi- 
vidual-Psychologie, die das Verhalten des einzelnen im wesent- 
lichen aus dessen Anlagen zu verstehen sucht. Dem Behavioris- 
mus dagegen ist die Anlage wichtig nur in der Richtung auf ihre 
Formbarkeit. Wie ihre Dispositionen mit den tief umformenden, 
tief eingreifenden Wirkungen des Arbeitsprozesses zusammen- 
gehen, dafiir interessiert sich der Behaviorismus. 
Wir bekamen soeben ein Buch in die Hand, das ein wichtiges 
und erfreuliches Symptom dafiir ist, dafi die Bedeutung der 
Berufswissenschaft allerorten erkannt wird. Das ist die im 
Bibliographischen Institut in Leipzig erschienene »Deutsche 
Berufskunde«. Von der Grofie der Anlage dieses Werkes, an 
dem eine A.nzahl von Spezialisten gearbeitet haben, machen Sie 
sich einen Begriff, indem Sie sich sagen, dafi es alle deutschen 
Berufe in ihren unabsehbaren Spezialisierungen uberblickt. Von 
seiner Lebendigkeit aber am besten durch eine Probe. Ich greife 



Karussell der Berufe 6yi 

sie nicht willkurlich heraus. Es ist den neuesten Versuchen auf 
diesem Gebiet gemeinsam, die Haltung der einzelnen Berufe in 
Gebarde, Neigung, Fahigkeit, unabhangig und losgelost vom 
Arbeitsmaterial zu erf assen und so gewissermafien die Probe auf s 
Exempel zu machen: Menschentypen darzustellen, die sich ge- 
wisse Berufe, wenn sie nicht existierten, erfinden miifiten. So 
gebe ich Ihnen aus der »Deutschen Berufskunde« die Schilderung 
eines Schusters, der eigentlich ein Journalist ist. Der Verfasser 
der folgenden Seiten heifit Peter Suhrkamp. 
»Die besondere Art des journalistischen Menschen lafit sich dort 
feststellen, wo dieser Mensch noch ohne Beriihrung mit der Zei- 
tung lebt. Man kann solche Menschen heute auf Dorfern, wo 
keine Zeitungen erscheinen, noch antreffen. In meiner Heimat 
gab es einen Schubmacber; aber was man am wenigsten von 
ihm verlangen konnte, war, dafi er Schuhe machte. Er konnte 
nicht in seiner Werkstatt bleiben. Statt dessen war er unterwegs 
und arbeitete, wo sich eine Gelegenheit dazu bot, irgend etwas. 
Er reinigte und reparierte Uhren. Und wenn auf einem Hofe 
ein Stuck Vieh oder ein Kind krank war, kam er. War die 
Dreschmaschine auf einem Hof in Unordnung, war er da. Man 
holte ihn nicht (weil man nicht mit ihm rechnete), aber er war 
iiberall, wo etwas geschehen. wo >etwas los< war, als hatte er 
Witterung dafur gehabt. Er kam wie zufallig daher, stand eine 
Weile da und schwatzte und packte dann zu. Und er konnte in 
jeder Sache helfen, es gab kein Ding, das er nicht in Ordnung 
gebracht hatte. Dinge, von denen er keine Kenntnisse haben 
konnte - die Mahmaschinen z. B. waren damals ganz neu - 
richtete er; er hatte von Maschinen durch bloftes Anschauen nach 
kurzer Zeit eine bessere Kenntnis, als der Schmied. Als ich ihn 
kurz vor dem Kriege zuletzt traf, iiberflog ein Aeroplan das 
Dorf. Er schuttelte den Kopf und meinte: >Das Ding ist nicht 
richtig. Mit dem Motor ist das niemals richtig, das sieht man 
doch.< Er wollte mir dann erklaren, dafi es Vogel gibt, die 
nicht fliegen konnen, die falsch fliegen, z. B. Spatzen. Er gait im 
Dorf als Trinker, obgleich er nie betrunken war, denn man traf 
ihn in jedem der drei Dorfwirtshauser; man sah ihn dort im 
Disput mit dem Lehrer oder einem Reisenden noch spat in der 
Nacht. Ich werde nie einen Regentag vergessen, an dem wir 
miteinander, in einen Heuhaufen gedriickt, auf Aufklarung 



6yz Vortrage und Reden 

des Wetters warteten und er mir, dem Jungen, seine Theorie 
iiber das Sternenweltall entwickelte; sie war schon wie ein 
Marchen. Man erzahlte von ihm, dafi er audi den Pfarrer be- 
suchte und mit ihm stritt. Sein Ruf war nicht gut. Er hatte seine 
Ehrentage, gewifi! Wenn ihm etwas gelungen war, was die 
Fachleute nicht fertiggebracht hatten (iibrigens Hefi er sich eine 
Arbeit nie bezahlen, und er lebte, wie man sich danach denken 
kann, in schlechten Verhaltnissen), dann verstand er es, eine 
Feier daraus zu machen, an der moglichst viele teilnehmen 
mufiten; er safi dann im Kreis und erzahlte unermiidlich. Aber 
allgemein war er wenig geachtet. Man bezeichnete ihn uns Kin- 
dern als Tagedieb. (Unsere Eltern waren Menschen mit Bis- 
marcks Moral.) Wenn der Schuster aber kam, war man freund- 
Hch; man furchtete ihn wegen seiner witzig boshaften Bemer- 
kungen und wegen der kleinen Lieder, die er auf die Dorfleute 
machte, und die unter den Leuten wie eingebrannt hafteten. 
An einem Wahltag uberraschte er abends das Dorf mit einer 
Karikatur auf Friedrich Naumann; sie war auf einen Holzka- 
sten gespannt, und in dem Kasten brannte eine Karbidlampe. 
Dies Plakat war die erste Lichtreklame auf einem Dorfe (das 
war in den ersten Jahren nach 1900). Dieser Schuster war der 
beste Mensch und der gescheiteste Kopf im Dorfe - freilich 
konnte er niemals mitzahlen, da er einen bestimmten Platz in 
der Dorfschaft nie ausfullen konnte -, und er war der armste 
und also der schwachste Mann des Dorfes. Das lag nur an ihm. 
Wenn er allein war, lebte er nicht. Drin, in seiner Werkstatt, 
war er voll Unruhe und unfahig; man mufite bei ihm bleiben, 
damit er iiberhaupt etwas fertig machte. Schuhe! Waren Schuhe 
iiberhaupt etwas, was Arbeit wert war! Lohnten Dinge iiber- 
haupt die Arbeit, die sie machten! Er mufite da sein, wo etwas 
geschah, und wenn die Ereignisse noch so klein waren! Men- 
schengesichter mufiten um ihn her da sein und Gesprache! Wenn 
er jemals etwas aufschrieb, dann war es bestimmt keine Chronik 
des Ortes, sondern Ansichten iiber Maschinen und Menschen, 
vorziiglich Betrachtungen iiber die grofien Zeitereignisse, die 
meist nur als Geriicht ins Dorf drangen, Geschichten, Anekdoten 
und Projekte (etwa, wie die Wiesen in der Hunteniederung 
zu berieseln seien). Er war, ohne eine Zeitung, ein Journalist. 
Es fehlten nur die Zeitungen: und dieser Mensch fing an zu 



Karussell der Bemfe 673 

schreiben und wurde grofi. Und es fehlte nur eine bestimmte 
Ricfatung auf das Praktische, damit die Zeitung entstand.« 
DieseBesdireibung istvorbildlich fiir die modernenBemiihungen, 
die Haltung, die Gebardensprache, das Lebensgeftihl, die An- 
sdiauungen einer Berufsschicht aus der Tiefe heraus, nidit so 
obenhin am Gegenstande, sondern entweder wie bei diesem 
Sdiuster-Journalisten ohne Beziehung auf den eigentlidien Ge- 
genstand, in diesem Fall die Zeitung, oder aber, und das wird 
die Regel sein, durdi eine sehr genaue Untersuchung aller Ele- 
mente, die das alltagliche Berufsleben ausmachen, darzustellen. 
Man kann in der Suhrkampschen Charakteristik des Journali- 
sten genau kontrollieren, wie er das eine Mai vom Arbeits- 
mittel, also dem Wort, das andere Mai von dem sogenannten 
Berufsgefuhl, namlidi dem Willen, gedruckt zu werden, dann 
wieder vom Arbeitsort, namlidi der Stelle der Redaktion oder 
dem Trubel eines auswartigen Korrespondenzbiiros, oder aber 
vom Standesgefuhl - dem Journalismus als dem Ausdruck 
unserer offentlichen Meinung - ausgeht. Und immer wieder 
kommt es darauf hinaus, die gestaltende, formende, umbildende 
Kraft dieser aufieren Umstande auf das Dasein der Berufsange- 
horigen mit soldier Deutlichkeit darzustellen, dafi erreicfat 
wird, was wir vorhin als die hochste Aufgabe der Berufs- 
beratung bezeidinet fanden: dafi in dem Angehorigen oder dem 
Kandidaten eines Berufs die biologisch-sinnvolle Einheit der Pri- 
vatperson mit dem Berufsmenschen in Erscheinung trete. 
Man konnte nun glauben, solche Sachen nachzuweisen, sei 
sdiliefilidi bei Angehorigen der sogenannten geistigen Berufe 
ein leichtes; diese ganzen behavioristisdien Versudie, die Ge- 
wohnheit, den Alltag als das eigentlidi Mafigebende nidit nur 
fiir den Beruf als Lebensmittel, sondern audi fiir den Beruf als 
Lebenszweck darzustellen, musse seine Grenze an den gewohn- 
lidien, wie man so sagt, unkomplizierten Berufen finden. Wir 
konnen dieser Meinung nidit besser entgegentreten, als indem 
wir uns einen Beruf herausgreifen, der zu den primitivsten, um 
nidit zu sagen rohesten, gezahlt wird und dem auf den ersten 
Blick niemand so leicht einen formenden und nodi dazu positi- 
ven Einflufi auf die ihm Angehorigen zutrauen wiirde. Wir 
meinen den Schlachterberuf. So eine Analyse kann allerdings 
nidit vom griinen Tisch her gemacht werden; um einen in das 



674 Vortrage und Reden 

Wesen eines solchen Berufes wirklich einzufiihren, dazu mussen 
sdion verschiedene Umstande gliicklich zusammenwirken. Wir 
haben nun gerade hier diesen Gliicksfall. Ich habe vorhin er- 
wahnt, dafi die »Leitsatze des Berufsberaters« von Hellmuth Bo- 
gen, dem Leiter des Berliner Amtes fiir Beruf seignungspriifungen, 
stammen, mit dem ich mich langere Zeit iiber die Dinge, die ich 
Ihnen heme berichte, unterhalten konnte. Dieser hochst unge- 
wohnliche Mann stammt aus kleineren Berliner Verhaltnissen 
und hat sich schon als njahriger auf dem Zentralviehhof mit 
Antreiben von Schlachtvieh hinter dem Rucken der Eltern sein 
Taschengeld verdient. Naturlich hat er von daher eine sehr ein- 
gehende Kenntnis der Berufsstande, die dort ihrem Erwerb 
nachgehen, vor allem also der Viehhandler und Schlachter mit- 
bekommen, und die nun spater mit den ganz ungewohnlichen 
Kenntnissen der verschiedenen Berufsatmospharen, sozialen Ver- 
haltnisse, Standesbegriffe etc. kombiniert. Ehe ich etwas aus 
dieser wirklich klassischen Darstellung - denn warum sollte es 
nur klassische Darstellungen einzelner Lebenslaufe, nicht auch 
ganzer Berufsstande geben — , ehe ich also davon erzahle, moch- 
te ich einflechten, dafi solche Durchdringung praktischer Er- 
fahrung und theoretischer Erfahrung, Kenntnisse, wie sie hier 
vorliegen, fur die Arbeitswissenschaft das A und O sind. So 
mussen in Rufiland z. B. die Spezialisten fur Berufsberatung 
langere Zeit im Jahre praktisch in denjenigen Berufen tatig 
sein, fur die sie bei der Beratung das Dezernat haben. Da gibt 
es denn also unter den Berufsberatern so gut Bergarbeiter wie 
Monteure wie Lokomotivfuhrer wie Backer etc. In Rufiland 
ist iiberhaupt das Interesse fiir diese neue Wissenschaft beson- 
ders lebhaft. Dort hat GastajefT schon 19 19 das erste Institut 
fiir Arbeitswissenschaft eroffnet, und 1933 wird der sechste Inter- 
nationale psychotechnische Kongrefi in Moskau stattfinden. 
Wir wollen nun nicht aus dem Auge verlieren: das wenige, was 
ich im folgenden aus der meisterhaften Charakteristik des 
Schlachterberufes Ihnen mitteilen will, will nicht verstanden 
sein als Beschreibung besonderer Veranlagungen oder Neigun- 
gen, die der Schlachter von vornherein mitbrachte, sondern als 
Formkraft, die seinem Beruf innewohnt: »Der Grundzug seines 
Wesens ist das Bewufitsein korperlicher Kraft und Lebensfrische, 
mit denen er den Arbeitswiderstand im Beruf gut iiberwindet, 



Karussell der Berufe 675 

mit denen er audi ungiinstigen Temperaturen, Feuchtigkeitsein- 
fliissen und zeitlich ungeregelten Arbeitsablaufen den notigen 
Widerstand bietet. Aus dem Umgang mit dem Tier erwachst die 
Ruhe und Sicherheit der Bewegungen, aus der Art der Arbeits- 
verrichtungen ihre schwere Behabigkeit, die haufig noch ver- 
starkt wird durch Korperfiille. Die Sauberkeit, die man dem 
Arbeitserzeugnis gegeniiber entwickelt, findet sich auch im per- 
sonlichen Leben ausgepragt. Obgleich sie sehr yiel mit be- 
schmutzender Arbeit zu tun haben, schmutzige Schlachter sind 
eine Seltenheit. Schlachthaus, Wohnung, Kleidung tragen den 
gleichen Charakter der Sauberkeit. Die Schlachter sind Ge- 
schaftsleute mit der handwerklichen Tendenz zur Lieferung 
einer hervorragenden Qualitat . . . Giinstige finanzielle Lebens- 
lage gibt ihnen Lebenszufriedenheit, von der sie gern anderen 
mitteilen. Aus allem resultiert ein Personlichkeitsselbstgefiihl, 
das den Nebenmenschen ohne Neid betrachtet, ihn achtet und, 
wenn er als Gegner auftritt, ihn sich schnell und grob-brutal vom 
Leibe zu halten sucht. Gutmiitigkeit, Jovialitat und Robustheit 
paaren sich so. Aus der ganzen Lage und dem Bewufitsein von 
der Bedeutung des Berufes erwachst ein gesunder Stolz, der es 
nicht notig hat, sich nach aufien irgendwie besonders zur Gel- 
tung zu bringen.« 

Sie alle kennen Schriftdeuter, Chiromanten, Phrenologen und 
ahnliche Leute, die sich anheischig machen, aus Einzelheiten des 
Korperbaus, der Haltung usw. tiefe Einblicke in den Menschen 
zu tun. Man mag noch soviel Mifitrauen gegen sie haben, es bleibt 
viel Interessantes und Wahres an ihren Beobachtungen. Wovon 
sie ausgehen, ist der unlosliche Zusammenhang zwischen innen 
und aufien. Wachstum, Korperbau, Erbmasse bestimmen ihrer 
Meinung nach das Schicksal, sowie das Schicksal ihrer Meinung 
nach verandernd auf die Handlinien, den Blick, die Gesichts- 
ziige usw. einwirkt. Aber welches Schicksal konnte solche Ein- 
wirkungen, innere und aufiere, stetiger hervorrufen als das des 
Berufes? Und wo liefien sich solche Feststellungen leichter 
machen als im Berufe, wo Tausende von Menschen tagaus tag- 
ein dem gleichen Schicksal unterworfen sind? Die Frage, an der 
wir Sie vorhin und nunmehr abschliefiend nochmals durch Mit- 
teilungen an uns mitzuarbeiten aufforderten, ist also nicht nur 
eine der Arbeits- und Berufswissenschaft, es ist eine Frage der 



6j6 Vortrage und Reden 

Menschenkenntnis und der Beobachtungsgabe, und sie wird nie- 
manden uninteressiert lassen, der ihr einmal nahergetreten ist. 
Sie - viele von Ihnen - dazu zu veranlassen, war der Zweck 
dieser Worte. 



Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer 

Ich stelle an den Anfang eine kleine Erzahlung, die dem im 
Titel genannten Werk entnommen ist und die Ihnen zweierlei 
zeigen wird: die Grofie dieses Schriftstellers und die Schwierig- 
keit, von ihr Zeugnis zu geben. Kafka erzahlte angeblich eine 
chinesisdie Sage wieder: 

»Der Kaiser, so heifit es, hat Dir, dem Einzelnen, dem jammer- 
lichen Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in 
die fernste Feme gefliichteten Schatten, gerade Dir hat der 
Kaiser von seinem Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den 
Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft 
zugeflustert; so sehr war ihm an ihr gelegen, dafi er sich sie noch 
ins Ohr wiedersagen liefi. Durch Kopfnicken hat er die Richtig-- 
keit des Gesagten bestatigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft 
seines Todes - alle hindernden Wande werden niedergebrochen 
und auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen 
im Ring die Grofien des Reiches - vor alien diesen hat er den 
Boten abgefertigt. Der Bote hat sich gleich auf den Weg ge- 
macht; ein kraftiger, ein unermudlicher Mann; einmal diesen, 
einmal den andern Arm vorstreckend, schafft er sich Bahn durch 
die Menge; findet er Widerstand, zeigt er auf die Brust, wo das 
Zeichen der Sonne ist; er kommt auch leicht vorwarts wie kein 
anderer. Aber die Menge ist so grofi; ihre Wohnstatten nehmen 
kein Ende. Offnete sich freies Feld, wie wiirde er fliegen und 
bald wohl hortest Du das herrliche Schlagen seiner Fauste an 
Deiner Tiir. Aber statt dessen, wie nutzlos miiht er sich ab; 
immer zwangt er sich noch durch die Gemacher des innersten 
Palastes; niemals wird er sie iiberwinden; und gelange ihm dies, 
nichts ware gewonnen; die Treppen hinab miifite er sich kamp- 
fen; und gelange ihm dies, nichts ware gewonnen; die Hofe 
waren zu durchmessen; und nach den Hofen der zweite um- 



Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer 6jj 

schliefiende Palast; und wieder Treppen und Hofe; und wieder 
ein Palast; und so weiter durcli Jahrtausende; und stiirzte er 
endlich aus dem aufiersten Tor - aber niemals, niemals kann es 
geschehen - Hegt erst die Residenzstadt vor ihm, die Mitte der 
Welt, hochgeschuttet voll ihres Bodensatzes. Niemand dringt 
hier durch und gar mit der Botschaft eines Toten. - Du aber 
sitzt an Deinem Fenster und ertraumst sie Dir, wenn der Abend 
kommt.« 

Diese Geschichte werde ich Ihnen nidit deuten. Denn urn zu 
erfahren, dafi der Angeredete vor allem einmal Kafka selber 
ist, dazu brauchen Sie meinen Hinweis nicht. Wer aber war 
nun Kafka? Er hat alles getan, um der Antwort auf diese Frage 
den Weg zu verlegen. Unverkennbar, dafi im Mittelpunkt seiner 
Romane er selber steht, was ihm aber da zustofit ist von der 
Art, den unscheinbar zu machen, der es erlebt, ihn zu entriicken, 
indem es ihn im Herzen der Banalitat verbirgt. Und die 
Chiffre K., mit der die Hauptfigur seines Buches »Das Schlofi« 
gezeichnet ist, sagt denn audi gerade so viel, wie man auf einem 
Tasdientuch oder dem Innern eines Hutrandes finden kann, 
ohne dafi man darum den Verschwundenen zu rekognoszieren 
wiifite. Allenfalls konnte man von diesem Kafka eine Legende 
bilden: Er habe sein Leben dariiber nachgegriibelt, wie er aus- 
sahe, ohne je davon zu erfahren, dafi es Spiegel gibt. 
Um aber auf die Geschichte vom Anfang zuriickzukommen, 
mochte ich jedenfalls andeuten, wie man Kafka nicht auslegen 
soil, weil das leider fast die einzige Art ist, an das, was bisher 
iiber ihn gesagt ist, anzukniipfen. Ein religionsphilosophisches 
Schema den Biichern Kafkas unterzuschieben, wie man es getan 
hat, lag freilich nahe genug. Audi ist sehr moglich, dafi sogar 
ein vertrauter Umgang mit dem Dichter wie Max Brod, der 
verdienstvolle Herausgeber seiner Schriften, ihn hatte, solchen 
Gedanken erwecken oder bestatigen konnte. Dennoch bedeutet 
er eine ganz eigentumliche Umgehung, beinahe mochte ich sagen 
Abfertigung der Welt von Kafka. Gewifi widerlegen lafit sich 
die Behauptung wohl nicht, Kafka habe in seinem Roman »Das 
Schlofi« die obere Macht und den Bereich der Gnade, in dem 
»Prozefi« die untere, das Gericht, und in dem letzten grofien 
Werke »Amerika« das irdische Leben - dies alles im theologi- 
schen Sinn verstanden - darstellen wollen. Nur dafi solche Me- 



6yS Vortrage und Reden 

thode sehr viel weniger ergibt als die gewifi viel schwierigere 
einer Deutung des Dichters aus der Mitte seiner Bildwelt. Ein 
Beispiel: Der Prozefi gegen Josef K. wird mitten im Alltag in 
Hinterhofen, Warteraumen usw. an immer anderen, nie zu 
gewartigenden Orten verhandelt, in die der Angeklagte sich 
ofl mehr verirrt als begibt. So befindet er sich denn eines Tages 
auf einem Dachboden. Die Emporen sind voll von Leuten, die 
dicht gedrangt der Verhandlung folgen; sie haben sich auf eine 
lange Sitzung vorbereitet; aber da oben ist es nicht leicht auszu- 
halten; die Decke - die bei Kafka beinah immer niedrig ist - 
driickt und lastet; so haben sie denn Kissen mitgenommen, um 
den Kopf dagegen zu stemmen. - Das ist nun aber das genaue 
Bild dessen, was wir als Kapital - als fratzengeschmiickten 
Aufsatz - an den Saulen so vieler mittelalterlicher Kirchen 
kennen. Natiirlich ist keine Rede davon, dafi Kafka das nach- 
bilden wollte. Wenn wir sein Werk aber als eine spiegelnde 
Scheibe nehmen, so kann ein solches langst vergangenes Kapital 
sehr wohl als eigentlicher unbewufiter Gegenstand soldier 
Schilderung erscheinen, und die Deutung hatte nun seine Spiege- 
lung im Gegensinne genauso weit vom Spiegel abgeriickt wie 
das gespiegelte Modell zu suchen. Mit anderen Worten, in der 
Zukunft. 

Kafkas Werk ist ein prophetisches. Die iiberaus prazisen Selt- 
samkeiten, von denen das Leben, mit dem es zu tun hat, so voll 
ist, sind fiir den Leser nur als kleine Zeichen, Anzeichen und 
Symptome von Verschiebungen zu verstehen, die der Dichter 
in alien Verhaltnissen sich anbahnen fiihlt, ohne den neuen 
Ordnungen sich selber einfiigen zu konnen. So bleibt ihm nichts 
als mit einem Staunen, in das sich freilich panisches Entsetzen 
mischt, auf die fast unverstandlichen Entstellungen des Daseins 
zu antworten, die das Heraufkommen dieser Gesetze verraten. 
Kafka ist davon so erfullt, dafi uberhaupt kein Vorgang denk- 
bar ist, der unter seiner Beschreibung - d. h. hier aber nichts 
anderes als Untersuchung - sich nicht entstellt. Mit anderen 
Worten, alles, was er beschreibt, macht Aussagen liber etwas 
anderes als sich selbst. Die Fixierung Kafkas an diesen seinen 
einen und einzigen Gegenstand, die Entstellung des Daseins, 
kann beim Leser den Eindruck der Verstocktheit hervorrufen* 
Im Grunde aber ist dieser Eindruck, ebenso wie der untrostliche 



Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer 679 

Ernst, die Verzweiflung im Blick des Schriftstellers selbst nur ein 
Anzeichen, dafi Kafka mit einer rein dichterischen Prosa 
gebrodien hat. Vielleicht beweist seine Prosa nichts; auf jeden 
Fall ist sie so beschaffen, dafi sie in beweisende Zusammenhange 
jederzeit eingestellt werden konnte. Man hat hier an die Form 
der Haggadah zu erinnern: so heifien bei den Juden Geschich- 
ten und Anekdoten des rabbinischen Schrifttums, die der Er- 
klarung und Bestatigung der Lehre - der Halacha - dienen. 
Wie die haggadischen Teile des Talmud so sind audi diese 
Biidier Erzahlungen, eine Haggadah, die immerfort innehalt, 
in den ausfiihrlichsten Beschreibungen sich verweilt, immer in 
der Hoffnung und Angst zugleich, die halachische Order und 
Formel, die Lehre konnte ihr unterwegs zustofien. 
Ja, die Verzogerung ist der eigentliche Sinn jener merkwurdigen, 
oft so frappanten Ausfuhrlichkeit, von der Max Brod gesagt 
hat, dafi sie in dem Wesen von Kafkas Vollkommenheit und 
seinem Suchen nach dem rechten Wege lage. »Von alien ernst- 
haft aufgefafiten Lebensdingen«, meint Brod, gelte, was von 
den ratselhaften Brief en der Behorde ein Madchen im »Sdilofi« 
behauptet: »>Die Oberlegungen, zu denen sie Anlafi geben, 
sind endlos.<« Was sich aber bei Kafka in dieser Endlosig- 
keit gefallt, ist eben doch die Angst vor dem Ende. Mithin 
hat seine Ausfuhrlichkeit einen ganz anderen Sinn als etwa den 
der Episode im Roman. Romane sind sich selbst genug. Kafkas 
Biicher sind sich das nie, sie sind Erzahlungen, die mit einer 
Moral schwanger gehen, ohne sie je zur Welt zu bringen. So hat 
der Dichter denn audi gelernt - wenn man schon davon reden 
will - nicht von den grofien Romanciers sondern von sehr viel 
bescheideneren Autoren, von den Erzahlern. Der Moralist Hebel 
und der schwer ergrundliche Schweizer Robert Walser sind unter 
seinen Lieblingsautoren gewesen. - Wir haben vorhin von der 
bedenklichen religionsphilosophischen Konstruktion gesprochen, 
die man dem Werk von Kafka untergelegt und in der man 
den Schlofiberg zum Sitz der Gnade gemacht hat. Nun, dafi sie 
unvollendet geblieben sind - das ist das eigentliche Waken der 
Gnade in diesen Buchern. Dafi das Gesetz als solches bei Kafka 
sich nirgends ausspricht, das und nichts anderes ist die gnadige 
Fugung des Fragments. 
Wer Zweifel in diese Wahrheit setzt, der mag sie sich von dem 



680 Vortrage und Reden 

bestatigen lassen, was Brod aus freundsdiaftliciien Unterhal- 
tungen mit dem Dichter iiber den geplanten Schlufi des Schlosses 
berichtet. Nach einem langen ruhelosen rechtlosen Leben in 
jenem Dorf, entkraftet, entkraftet von einem Kampfe, liegt 
der K. auf dem Sterbebett. Da endlich, endlich erscheint der Bote 
aus dem Schlofi, der die entscheidende Nadiricht bringt: dieser 
Mensdi habe zwar keinen Rechtsanspruch, im Dorfe zu wohnen, 
man wolle ihm aber mit Riicksicht auf gewisse Nebenumstande 
erlauben, hier zu leben und zu arbeiten. Da stirbt dieser Mensdi 
aber audi schon. - Sie fuhlen wie diese Erzahlung derselben 
Ordnung wie die Sage angehort, mit der ich begann. Max Brod 
hat iibrigens mitgeteilt, dafi Kafka bei diesem Dorf am Fufi des 
Schlofiberges eine bestimmte Siedelung, Ziirau im Erzgebirge 
vorgesdiwebt habe. Ich meinerseits glaube darin das Dorf einer 
talmudischen Legende wiederzuerkennen. Es ist eine Legende, 
die ein Rabbi auf die Frage zum Besten gibt, warum am Frei- 
tagabend der Jude ein Festmahl riistet. Da erzahlt er denn die 
Geschichte von einer Prinzessin, die in der Verbannung, feme 
von ihren Landsleuten und unter einem Volk, dessen Sprache 
sie nicht verstehe, sdimachte. Zu dieser Prinzessin nun kom- 
me eines Tages ein Brief mit der Nadiricht, ihr Verlobter habe 
sie nicht vergessen, habe sich aufgemacht und sei unterwegs zu 
ihr. Der Verlobte, sagt der Rabbi, ist der Messias, die Prinzessin 
die Seele, das Dorf aber, in dem sie verbannt ist, der Korper, 
und weil sie denen, die ihre Sprache nicht kennen, anders keine 
Botschaft von ihrer Freude geben kann, riistet die Seele ein 
Mahl fiir den Korper. 

Eine kleine Akzentverschiebung in dieser Talmudgeschidite, 
und wir sind mitten in Kafkas Welt. So wie der K. im Dorf am 
Schlofiberg lebt der heutige Mensch in seinem Korper: ein Frem- 
der, Ausgestofiener, der nichts von den Gesetzen weifi, die 
diesen Leib mit hoheren weiteren Ordnungen verbinden. Es 
kann gerade iiber diese Seite der Sadie viel Aufschlufi geben, 
dafi Kafka in den Mittelpunkt seiner Erzahlungen so oft Tiere 
stellt. Solchen Tiergeschichten kann man dann eine gute Weile 
folgen ohne uberhaupt wahrzunehmen, dafi es sich hier gar 
nicht urn Menschen handelt. Stofit man dann erstmals auf den 
Namen des Tieres - die Maus oder den Maulwurf - so erwacht 
man mit einem Chock und merkt mit einem Mai, dafi man vom 



Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer 68 1 

Kontinent des Menschen schon weit entfernt ist. Ubrigens ist die 
Wahl der Tiere, in deren Gedanken Kafka die seinigen ein- 
hiillt, beziehungsvoll. Es sind immer solche, die im Erdinnern, 
oder wenigstens wie der Kafer in der »Verwandlung« Tiere, 
die auf dem Boden verkrochen in seinen Spalten und Ritzen 
leben. Soldie Verkrochenheit scheint dem Schriftsteller fur die 
isolierten gesetzunkundigen Angehorigen seiner Generation und 
Umwelt allein angemessen. Diese Gesetzlosigkeit aber ist eine 
gewordene; Kafka wird nicht miide, die Welten, von denen er 
spricht, auf alle Weise als alt, verrottet, uberlebt, verstaubt zu 
bezeichnen. Die Gelasse, in denen der Prozefi sich abspielt, sind 
es genau so wie die Verordnungen, nach denen in der Strafkolo- 
nie verfahren wird, oder wie die geschlechtlichen Gepflogen- 
heiten der Frauen, welche K. zur Seite stehen. Aber nicht nur 
in den Frauengestalten, die alle einer sdirankenlosen Promiskui- 
tat leben, ist die Verkommenheit dieser Welt mit Handen zu 
greifen; genau so schamlos proklamiert in ihrem Tun und Trei- 
ben sie die obere Macht, von der man sehr richtig erkannt hat, 
dafi sie genau so grausam, katzenhaft mit ihren Opfern spielt 
wie die untere. »Beide Welten sind ein halbdunkles, staubiges, 
engbriistiges, schlecht geluftetes Labyrinth von Kanzeleien, Biiros, 
Wartezimmern mit einer unabsehbaren Hierarchie von kleinen 
und grofien und sehr grofien und ganz unnahbaren Kanzleibe- 
amten und Unterbeamten, Biirodienern und Advokaten und 
Hilfskraften und Laufjungen, die aufierlich geradezu wie eine 
Parodie auf eine lacherliche und sinnlose Beamtenwirtschaft 
wirken.« Man sieht, audi diese Oberen sind so gesetzlos, dafi 
sie auf einer Stufe mit den Untersten erscheinen, und ohne 
Scheidewande wimmeln die Geschopfe aller Ordnungen durch- 
einander, heimlidi nur solidarisdi in dem einen einzigeri Gefiihl 
der Angst. Eine Angst, die merit Reaktion sondern Organ ist. Es 
lafit sich audi sehr wohl bestimmen, wofiir sie jederzeit die 
scharfe und untriigliche Witterung hat. Aber ehe ihr Gegenstand 
erkennbar wird, gibt die merkwiirdige Zweistandigkeit dieses 
Organs uns zu denken. Diese Angst - und das mag an das 
Spiegelgleichnis vom Anfang erinnern - ist gleichzeitig und zu 
gleichen Teilen Angst vorm Uralten, Unvordenklichen und 
Angst vorm Nachsten, dringend Bevorstehenden. Sie ist, urn es 
mit einem Wort zu sagen, Angst vor der unbekannten Schuld 



682 Vortrage und Reden 

und vor der Siihne, an welcher nur der eine Segen waltet, dafi 
sie die Schuld bekannt macht. 

Denn die praziseste Entstellung, die so bezeichnend fiir Kafkas 
Welt ist, ruhrt eben daher, dafi sich das grofie Neue und Be- 
freiende hier unter der Figur der Siihne darstellt, solange das 
Gewesene sidi nidit durchschaut, bekannt und ganzlich abgetan 
hat. Daher hat Willy Haas mit vollkommenem Recht die unbe- 
kannte Schuld, die den Prozefi gegen den Josef K. heraufbe- 
schwort, als das Vergessen entratselt. Von Konfigurationen des 
Vergessens - stummen Bitten, es uns doch endlich nunmehr ein- 
fallen zu lassen - ist Kafkas Dichtung ganzlich erfiillt, mag 
man an die »Sorge des Hausvaters«, die seltsame redende Spule 
Odradek denken, von der niemand weifi, was es ist, oder den 
Mistkafer, den Helden in der »Verwandlung«, von dem wir nur 
allzu gut wissen, was er war, namlich Mensch, oder an die 
»Kreuzung«, das Tier, das halb Katzchen, halb Lamm ist und 
fiir das vielleicht das Messer des Schlachters eine Erlosung ware. 

Will ich in mein Gartlein gehn, 
Will mein Blumlein giefien; 
Steht ein bucklicht Mannlein da, 
Fangt als an zu niesen 

heifit es in einem unergriindlichen Volkslied. Das ist audi so ein 
Vergessenes, das bucklige Mannlein, das wir einmal gewufit 
haben, und da hatte es seinen Frieden, nun aber vertritt es uns 
den Weg in die Zukunft. Es ist ganz ungemein bezeichnend, dafi 
Kafka die Figur des religiosesten Menschen, des Mannes, der da 
im Rechten ist, nicht selbst geschaffen wohl aber erkannt hat - 
und in wem? Namlich in niemand anderem als Sancho Pansa, 
der sich aus der Promiskuitat mit dem Damon erlost hat, indem 
es ihm gelang, ihm einen anderen Gegenstand als sich selber zu 
geben, so dafi er ein ruhiges Leben fiihrte, in dem er nichts zu 
vergessen brauchte. 

»Sancho Pansa«, lautet die ebenso kurze wie grofiartige Ausle- 
gung, » gelang es im Laufe der Jahre, durch Beistellung einer 
Menge Ritter- und Rauberromane in den Abend- und Nacht- 
stunden seinen Teufel, dem er spater den Namen Don Quixote 
gab, derart von sich abzulenken, dafi dieser dann haltlos die 
verriicktesten Taten auffiihrte, die aber mangels eines vorbe- 



Der Autor als Produzent 683 

stimmten Gegenstandes, der eben Sancho Pansa hatte sein 
sollen, niemandem schadeten. Sandio Pansa, ein freier Mann, 
folgte gleichmiitig, vielleicht aus einem gewissen Verantwort- 
lidikeitsgefiihl dem Don Quixote auf seinen Ziigen und hatte 
davon eine grofie und niitzliche Unterhaltung bis an sein 
Ende.« 

Wenn die umfassenden Romane des Dichters die wohlbestellten 
Felder sind, die er hinterliefi, so ist der neue Geschichtenband, 
aus dem audi diese Deutung entnommen ist, die Tasche des 
Samanns mit Kornern, die die Kraft der natiirlichen haben, von 
denen wir wissen, dafi sie noch nach Jahrtausenden, aus Gra- 
bern zutage befordert, Frucht treiben. 



Der Autor als Produzent 

Anspradie im Institut zum Studium des Fascismus in Paris 

am 27. April 1934 

II s'agit de gagner les intellectuels a la classe 
ouvriere, en leur faisant prendre conscience 
de l'identite* de leurs demarches spirituelles et 
de leurs conditions de producteur. 

Ramon Fernandez 

Sie erinnern sich, wie Plato im Entwurf seines Staats mit den 
Dichtern verfahrt. Er versagt ihnen im Interesse des Gemein- 
wesens den Aufenthalt drinnen. Er hatte einen hohen Begriff 
von der Macht der Dichtung. Aber er hielt sie fur schadlich, fiir 
uberfliissig - in einem vollendeten Gemeinwesen, wohlverstan- 
den. Die Frage nach dem Existenzrecht des Dichters ist seitdem 
nicht oft mit dem gleichen Nachdruck gestellt worden; heut 
aber stellt sie sich. Sie stellt sich wohl nur selten in dieser Form. 
Aber Ihnen alien ist sie mehr oder weniger gelaufig als die 
Frage nach der Autonomic des Dichters: seiner Freiheit zu dich- 
ten, was er eben wolle. Sie sind nicht geneigt, ihm diese Autono- 
mic zuzubilligen. Sie glauben, daft die gegenwartige gesellschaft- 
liche Lage ihn zur Entscheidung notigt, in wessen Dienste er 
seine Aktivitat stellen will. Der biirgerliche Unterhaltungs- 



684 Vortrage und Reden 

schriftsteller erkennt diese Alternative nicht an. Sie weisen ihm 
nach, dafi er, ohne es zuzugeben, im Dienste bestimmter Klas- 
seninteressen arbeitet. Ein fortgeschrittenerer Typus des Schrift- 
stellers erkennt diese Alternative an. Seine Entscheidung erfolgt 
auf der Grundlage des Klassenkampfes, indem er sich auf die 
Seite des Proletariats stellt. Da ist*s denn nun mit seiner Auto- 
nomic aus. Er richtet seine Tatigkeit nacii dem, was fiir das 
Proletariat im Klassenkampf ntitzlich ist. Man pflegt zu sagen, 
er verfolgt eine Tendenz. 

Da haben Sie das Stichwort, um das herum seit langem sich eine 
Debatte bewegt, die Ihnen vertraut ist. Sie ist Ihnen vertraut, 
darum wissen Sie audi, wie unfruchtbar sie verlaufen ist. Sie ist 
namlich nicht von dem langweiligen Einerseits-Andererseits los- 
gekommen: einer seits hat man von der Leistung des Dichters die 
richtige Tendenz zu verlangen, andererseits ist man berechtigt, 
von dieser Leistung Qualitat zu erwarten. Diese Formel ist 
natiirlich solange unbefriedigend, als man nicht einsieht, welcher 
Zusammenhang zwischen den beiden Faktoren Tendenz und 
Qualitat eigentlich besteht. Natiirlich kann man den Zusammen- 
hang dekretieren. Man kann erklaren: ein Werk, das die 
richtige Tendenz aufweist, braucht keine weitere Qualitat auf- 
zuweisen. Man kann auch dekretieren: ein Werk, das die richtige 
Tendenz aufweist, mufi notwendig jede sonstige Qualitat auf- 
weisen. 

Diese zweite Formulierung ist nicht uninteressant, mehr: sie 
ist richtig. Ich mache sie mir zu eigen. Indem ich das aber tue, 
lehne ich es ab, sie zu dekretieren. Diese Behauptung mufi 
bewiesen werden. Und es ist der Versuch dieses Beweises, fiir 
den ich Ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehme. - Das ist, 
werden Sie vielleicht einwenden, ein recht spezielles, ja ein ent- 
legenes Thema. Und wollen Sie mit einem solchen Beweis das 
Studium des Fascismus befordern? - Das habe ich in der Tat 
vor. Denn ich hofTe, Ihnen zeigen zu konnen, dafi der Begriff 
der Tendenz in der summarischen Form, in der er in der 
soeben erwahnten Debatte sich meistens findet, ein vollkommen 
untaugliches Instrument der politischen Literaturkritik ist. Zei- 
gen mochte ich Ihnen, dafi die Tendenz einer Dichtung politisch 
nur stimmen kann, wenn sie auch literarisch stimmt. Das heiftt, 
dafi die politisch richtige Tendenz eine literarische Tendenz ein- 



Der Autor als Produzent 685 

schliefit. Und, um das gleich hinzuzufiigen: diese literarische 
Tendenz, die implicit oder explicit in jeder richtigen politischen 
Tendenz enthalten ist - die und nichts anderes macht die Quali- 
tat des Werks. Darum also schliefit die richtige politische Ten- 
denz eines Werkes seine literarische Qualitat ein, weil sie seine 
literarische Tendenz einschliefit. 

Diese Behauptung, das hoffe ich, Ihnen versprechen zu diirfen, 
wird in Balde deutlidier werden. Fur den Augenblick schalte 
ich ein, dafi ich fiir meine Betrachtung audi einen anderen 
Ausgangspunkt wahlen konnte. Ich ging aus von der unfrucht- 
baren Debatte, in welchem Verhaltnis Tendenz und Qualitat 
der Dichtung stehen. Ich hatte von einer noch alteren aber nicht 
weniger unfruchtbaren Debatte ausgehen konnen: in welchem 
Verhaltnis stehen Form und Inhalt und zwar insbesondere in 
der politischen Dichtung. Diese Fragestellung ist verschrien; mit 
Recht. Sie gilt als Schulfall fiir den Versuch, undialektisch mit 
Schablonen an literarische Zusammenhange heranzutreten. Gut. 
Aber wie sieht denn nun die dialektische Behandlung der glei- 
chen Frage aus? 

Die dialektische Behandlung dieser Frage, und damit komme ich 
zur Sache selbst, kann mit dem starren isolierten Dinger Werk, 
Roman, Buch, uberhaupt nichts anfangen. Sie mufi es in die 
lebendigen gesellschaftlichen Zusammenhange einstellen. Mit 
Recht erklaren Sie, dafi man das zu immer wiederholten Malen 
im Kreise unserer Freunde unternommen hat. Gewifi. Nur ist 
man dabei oft sogleich ins Grofie und damit notwendigerweise 
auch oft ins Vage gegangen. Gesellschaftliche Verhaltnisse sind, 
wie wir wissen, bedingt durch Produktivverhaltnisse. Und wenn 
die materialistische Kritik an ein Werk heranging, so pflegte 
sie zu fragen, wie dies Werk zu den gesellschaftlichen Produktiv- 
verhaltnissen der Epoche steht. Das ist eine wichtige Frage. 
Aber auch eine sehr schwierige. Ihre Beantwortung ist nicht 
immer unmifiverstandlich. Und ich mochte Ihnen nun eine 
naherliegende Frage vorschlagen. Eine Frage, die etwas be- 
scheidener ist, etwas kiirzer zielt, aber wie mir scheint, der Ant- 
wort mehr Chancen bietet. Anstatt namlich zu fragen: wie steht 
ein Werk zu den Produktionsverhaltnissen der Epoche? ist es 
mit ihnen einverstanden, ist es reaktionar oder strebt es ihre 
Umwalzung an, ist es revolutionar? - anstelle dieser Frage 



686 Vortrage und Reden 

oder jedenfalls vor dieser Frage mochte ich eine andere Ihnen 
vorschlagen. Also ehe ich frage: wie steht eine Dichtung zu den 
Produktionsverhaltnissen der Epoche? mochte ich fragen: wie 
steht sie in ihnen? Diese Frage ziek unmittelbar auf die Funk- 
tion, die das Werk innerhalb der schriftstellerischen Produk- 
tionsverhaltnisse einer Zeit hat. Sie zielt mit anderen Worten 
unmittelbar auf die schriftstellerische Technik der Werke. 
Mit dem Begriff der Technik habe ich denjenigen Begriff ge- 
nannt, der die literarischen Produkte einer unmittelbaren gesell- 
schaftlichen, damit einer materialistischen Analyse zuganglich 
macht. Zugleich stellt der Begriff der Technik den dialekti- 
schen Ansatzpunkt dar, von dem aus der unfruchtbare Gegen- 
satz von Form und Inhalt zu uberwinden ist. Und weiterhin 
enthalt dieser Begriff der Technik die Anweisung zur richtigen 
Bestimmung des Verhaltnisses von Tendenz und Qualitat, nach 
welchem wir am Anfang gefragt haben. Wenn wir also vorhin 
formulieren durften, dafi die richtige polkische Tendenz eines 
Werks seine literarische Qualitat einschliefit, weil sie seine lite- 
rarische Tendenz einschliefit, so bestimmen wir jetzt genauer, 
diese literarische Tendenz kann in einem Fortschritt oder in 
einem Ruckschritt der literarischen Technik bestehen. 
Es ist gewifi in Ihrem Sinne, wenn ich hier, nur scheinbar unver- 
mittelt, in ganz konkrete literarische Verhaltnisse hineinspringe. 
In russische. Ich mochte Ihren Blick auf Sergej Tretjakow und 
auf den von ihm definierten und verkorperten Typ des »ope- 
rierenden« Schriftstellers lenken. Dieser operierende Schriftsteller 
gibt das handgreiflichste Beispiel fur die funktionale Abhangig- 
keit, in der die richtige politische Tendenz und die fortschritt- 
liche literarische Technik immer und unter alien Umstiinden 
stehen. Freilich nur ein Beispiel: weitere behalte ich mir vor. 
Tretjakow unterscheidet den operierenden Schriftsteller vom 
informierenden. Seine Mission ist nicht zu berichten, sondern zu 
kampfen; nicht den Zuschauer zu spielen, sondern aktiv einzu- 
greifen. Er bestimmt sie durch die Angaben, die er iiber seine 
Tatigkeit macht. Als 1928, in der Epoche der totalen Kollekti- 
visierung der Landwirtschaft, die Parole: »Schriftsteller in die 
Kolchose!« ausgegeben wurde, fuhr Tretjakow nach der Kom- 
mune »Kommunistischer Leuchtturm« und nahm dort wahrend 
zweier langerer Aufenthalte folgende Arbeiten in Angriff : Ein- 



Der Autor als Produzent 687 

berufung von Massenmeetings; Sammlung von Geldern fur die 
Anzahlung auf Traktoren; Oberredung von Einzelbauern zum 
. Eintritt in die Kolchose; Inspektion von Lesesalen; Schaffung 
von Wandzeitungen und Leitung der Kolchos-Zeitung; Bericht- 
erstattung an Moskauer Zeitungen; Einfiihrung von Radio und 
Wanderkinos usw. Es ist nicht erstaunlich, dafi das Buch »Feld- 
Herrn«, das Tretjakow im Anschlufi an diesen Aufenthalt ver- 
fafit hat, von erheblichem Einflufi auf die weitere Durchbildung 
der Kollektivwirtschaften gewesen sein soil. 
Sie mogen Tretjakow schatzen und vielleicht doch der Meinung 
sein, dafi sein Beispiel in diesem Zusammenhang nicht allzuviel 
besagen will. Die Aufgaben, denen er sich da unterzogen hat, 
werden Sie vielleicht einwenden, sind die eines Journalisten oder 
Propagandisten; mit Dichtung hat das alles nicht viel zu tun. 
Nun habe ich aber das Beispiel Tretjakows absichtlich herausge- 
grifFen, um Sie darauf hinzuweisen, von einem wie umfassenden 
Horizont aus man die Vorstellungen von Formen oder Gattun- 
gen der Dichtung an Hand von technischen Gegebenheiten unserer 
heutigen Lage umdenken mufi, um zu jenen Ausdrucksformen 
zu kommen, die fiir die literarischen Energien der Gegen- 
wart den Ansatzpunkt darstellen. Nicht immer hat es in der 
Vergangenheit Romane gegeben, nicht immer wird es welche 
geben miissen; nicht immer Tragodien; nicht immer das grofie 
Epos. Nicht immer sind die Formen des Kommentars, der Ober- 
setzung, ja selbst der sogenannten Falschung Spielformen am 
Rande der Literatur gewesen, und nicht nur im philosophischen, 
sondern auch im dichterischen Schrifttum Arabiens oder Chinas 
haben sie ihre Stelle gehabt. Nicht immer ist die Rhetorik eine 
belanglose Form gewesen, sondern grofien Provinzen der Litera- 
tur hat sie in der Antike ihren Stempel aufgedriickt. Dies alles, 
um Sie mit dem Gedanken vertraut zu machen, dafi wir in einem 
gewaltigen Umschmelzungsprozefi literarischer Formen mitten 
innestehen, einem Umschmelzungsprozefi, in dem viele Gegen- 
satze, in welchen wir zu denken gewohnt waren, ihre Schlag- 
kraft verlieren konnten. Lassen Sie mich fiir die Unfruchtbarkeit 
solcher Gegensatze und fiir den Prozefi ihrer dialektischen Ober- 
windung ein Beispiel geben. Und wir werden wieder bei Tretja- 
kow stehen. Dieses Beispiel ist namlich die Zeitung. 
»In unserem Schrifttum, schreibt ein linksstehender Autor, sind 



688 Vortrage und Reden 

Gegensatze, die sich in gliicklicheren Epodien wechselseitig be- 
fruchteten, zu unlosbaren Antinomien geworden. So fallen Wis- 
senschaft und Belletristik, Kritik und Produktion, Bildung und 
Politik beziehungslos und ungeordnet auseinander. Schauplatz 
dieser literarischen Verwirrung ist die Zeitung. Ihr Inhalt 
>StorT<, der jeder anderen Organisationsform sich versagt als 
der, die ihm die Ungeduld des Lesers aufzwingt. Und diese Un- 
geduld ist nicht allein die des Politikers, der eine Information, 
oder die des Spekulanten, der einen Tip erwartet, sondern da- 
hinter schwelt diejenige des Ausgeschldssenen, der ein Recht zu 
haben glaubt, selber mit seinen eigenen Interessen zu Wort 
zu kommen. Dafi nichts den Leser so an seine Zeitung bindet wie 
diese tagtaglich neue Nahrung verlangende Ungeduld, haben 
die Redaktionen sich langst zunutze gemacht, indem sie immer 
wieder neue Sparten seinen Fragen, Meinungen, Protesten er- 
offneten. Mit der wahllosen Assimilation von Fakten geht also 
Hand in Hand die gleich wahllose Assimilation von Lesern, die 
sich im Nu zu Mitarbekern erhoben sehen. Darin aber verbirgt 
sich ein dialektisches Moment: der Untergang des Schrifttums in 
der biirgerlichen Presse erweist sich als die Formel seiner Wie- 
derherstellung in der sowjetrussischen. Indem namlich das 
Schrifttum an Breite gewinnt, was es an Tiefe verliert, beginnt 
die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum, die die biir- 
gerliche Presse auf konventionelle Art aufrechterhalt, in der 
Sowjetpresse zu verschwinden. Der Lesende ist dort jederzeit 
bereit, ein Schreibender, namlich ein Beschreibender oder auch 
ein Vorschreibender zu werden. Als Sachverstandiger - und sei 
es auch nicht fur ein Fach, vielmehr nur fur den Posten, den er 
versieht - gewinnt er einen Zugang zur Autorschaft. Die Arbeit 
selbst kommt zu Wort. Und ihre Darstellung im Wort macht 
einen Teil des Konnens, das zu ihrer Ausiibung erforderlich ist. 
Die literarische Befugnis wird nicht mehr in der spezialisierten, 
sondern in der polytechnischen Ausbildung begriindet und so 
Gemeingut. Es ist mit einem Wort die Literarisierung der Le- 
bensverhaltnisse, welche der sonst unlosbaren Antinomien Herr 
wird, und es ist der Schauplatz der hemmungslosen Erniedri- 
gung des Wortes - die Zeitung also - auf welchem seine Ret- 
tung sich vorbereitet.« 
Ich horTe, damit gezeigt zu haben, dafi die Darstellung des Au- 



Der Autor als Produzent 689 

tors als Produzent bis auf die Presse zuriickgreifen mufi. Denn 
an der Presse, an der sowjetrussischen jedenfalls, erkennt man, 
dafi der gewakige Umschmelzungsprozefi, von dem ich vorhin 
spradi, nicht nur iiber konventionelle Scheidungen zwischen den 
Gattungen, zwischen Schriftsteller und Dichter, zwischen For- 
scher und Popularisator hinweggeht, sondern dafi er sogar die 
Scheidung zwischen Autor und Leser einer Revision unterzieht. 
Fur diesen Prozefi ist die Presse die mafigebendste Instanz und 
daher mufi jede Betrachtung des Autors als Produzenten bis zu 
ihr vorstofien. 

Sie kann aber hier nicht verweilen. Denn noch stellt ja die Zei- 
tung in Westeuropa kein taugliches Produktionsinstrument in 
den Handen des Schriftstellers dar. Noch gehort sie dem Kapi- 
tal. Da nun auf der einen Seite die Zeitung, technisch gespro- 
chen, die wichtigste schriftstellerische Position darstellt, diese 
Position auf der anderen Seite aber in den Handen des Gegners 
ist, so kann es nicht wundernehmen, dafi die Einsicht des 
Schriftstellers in seine gesellschafUiche Bedingtheit, in seine 
technischen Mittel und in seine politische Aufgabe mit den unge- 
heuersten Schwierigkeiten zu kampfen hat. Es gehort zu den 
entscheidenden Vorgangen der letzten zehn Jahre in Deutsch- 
land, dafi ein betrachtlicher Teil seiner produktiven Kopfe unter 
dem Druck der wirtschaftlichen Verhaltnisse gesinnungsmafiig 
eine revolutionare Entwicklung durchgemacht hat, ohne gleich- 
zeitig imstande zu sein, seine eigene Arbeit, ihr Verhaltnis zu 
den Produktionsmitteln, ihre Technik wirklich revolutionar zu 
durchdenken. Ich spreche, wie Sie sehen, von der sogenannten 
linken Intelligenz und werde mich dabei auf die linksbiirgerliche 
beschranken. In Deutschland sind die mafigebenden politisch- 
literarischen Bewegungen des letzten Jahrzehnts von dieser 
linken Intelligenz ausgegangen. Ich greife zwei von ihnen her- 
aus, den Aktivismus und die neue Sachlichkeit, um an ihrem 
Beispiel zu zeigen, dafi die politische Tendenz, und mag sie noch 
so revolutionar scheinen, solange gegenrevolutionar fungiert, als 
der Sdiriftsteller nur seiner Gesinnung nach, nicht aber als Pro- 
duzent seine Solidaritat mit dem Proletariat erfahrt. 
Das Schlagwort, in welchem die Forderungen des Aktivismus 
sich zusammenfassen, heifit »Logokratie«, zu deutsch Herrschaft 
des Geistes. Man ubersetzt das gern Herrschaft der Geistigen. 



6$o Vortrage und Reden 

Tatsachlich hat sich derBegriff der Geistigen 1m Lager der linken 
Intelligenz durchgesetzt, und er beherrscht ihre politischen Mani- 
feste von Heinricli Mann bis Doblin. Man kann es diesem Be- 
griff miihelos anmerken, dafi er ohne jede Rucksicht auf die 
Stellung der Intelligenz im Produktionsprozefi gepragt ist. 
Hiller, der Theoretiker des Aktivismus, selbst will die Geistigen 
denn audi nicht »als Angehorige gewisser Berufszweige« son- 
dern als »Reprasentanten eines gewissen diarakterologischen 
Typus« verstanden wissen. Dieser charakterologische Typ steht 
als soldier naturlich zwischen den Klassen. Er umfafit eine 
beliebige Anzahl von Privatexistenzen, ohne den mindesten An- 
halt fiir ihre Organisierung zu bieten. Wenn Hiller seine Absage 
an die Parteifiihrer formuliert, so raumt er ihnen manches ein; 
sie mogen »in Wichtigem wissender sein . . ., volksnaher reden 
. . ., sich tapferer schlagen« als er, eines aber ist ihm sicher: dafi 
sie »mangelhafter denken«. Wahrscheinlich, was kann das aber 
helfen, da politisch nicht das private Denken sondern, wie 
Brecht es einmal ausgedruckt hat, die Kunst, in anderer Leute 
Kopfe zu denken, entsciieidend ist. Der Aktivismus hat es 
unternommen, die materialistische Dialektik durch die klassen- 
mafiig undefinierbare Grofie des gesunden Menschenverstands 
zu ersetzen. Seine Geistigen reprasentieren bestenfalls einen 
Stand. Mit anderen Worten: das Prinzip dieser Kollektivbil- 
dung an sich ist ein reaktionares; kein Wunder, dafi die Wir- 
kung dieses Kollektivs nie eine revolutionare sein konnte. 
Das unheilvolle Prinzip einer solchen Koilektivbildung wirkt 
aber fort. Man konnte sich davon Rechenschaft ablegen, als vor 
drei Jahren Doblins »Wissen und Verandern!« herauskam. 
Diese Schrift erging bekanntlich als Antwort an einen jungen 
Mann - Doblin nennt ihn Herrn Hocke -, der sich an den 
beriihmten Autor mit der Frage »Was tun?« gewandt hatte. 
Doblin ladt ihn ein, der Sache des Sozialismus sich anzuschlie- 
fien, aber unter bedenklichen Umstanden. Sozialismus, das ist 
nach Doblin: »Freiheit, spontaner Zusammenschlufi der Men- 
schen, Ablehnung jedes Zwanges, Emporung gegen Unrecht und 
Zwang, Menschlichkeit, Toleranz, friedliche Gesinnung.« Wie 
es sich audi damit verhalte: jedenfalls macht er von diesem 
Sozialismus aus Front gegen Theorie und Praxis der radikalen 
Arbeiterbewegung. »Es kann, meint Doblin, aus keinem Ding 



Der Autor als Produzent 691 

etwas hervorgehen, was nicht schon in ihm steckt, - es kann aus 
dem morderisch gescharften Klassenkampf Gerechtigkeit, aber 
kein Sozialismus hervorgehen. « »Sie, geehrter Herr, so formu- 
Hert Doblin die Empfehlung, die er aus diesen und anderen 
Griinden Herrn Hocke gibt, konnen Ihr prinzipielles Ja 
zu dem Kampf (des Proletariats) nicht exekutieren, indem Sie 
sich in die proletarische Front einordnen. Sie mussen es bewen- 
den lassen bei der erregten und bitteren Billigung dieses Kamp- 
fes, aber Sie wissen audi: tun Sie mehr, so bleibt eine unge- 
heuer wichtige Position unbesetzt . . .: die urkommunistische der 
menschlichen individuellen Freiheit, der spontanen Solidaritat 
und Verbindung der Menschen . . . Diese Position, geehrter 
Herr, ist es, die als einzige Ihnen zufallt.« Hier ist es nun mit 
Handen zu greifen, wohin die Konzeption des »Geistigen« als 
eines nach seinen Memungen, Gesinnungen oder Anlagen, nicht 
aber nach seiner Stellung im Produktionsprozefi defhrerten Ty- 
pus fiihrt. Er soil, wie es bei Doblin heifit, seinen Ort neben dem 
Proletariat finden. Was ist das aber fiir ein Ort? Der eines Gon- 
ners, eines ideologischen Mazens. Ein unmoglicher. Und so kom- 
men wir auf die eingangs aufgestellte These zuriick: der Ort des 
Intellektuellen im Klassenkampf ist nur aufgrund seiner Stellung 
im Produktionsprozefi f estzustellen oder besser zu wahlen. 
Fiir die Veranderung von Produktionsformen und Produktions- 
instrumenten im Sinne einer fortschrittlichen - daher an der 
Befreiung der Produktionsmittel interessierten, daher im Klas- 
senkampf dienlichen - Intelligenz hat Brecht den BegrifF der 
Umfunktionierung gepragt. Er hat als erster an den Intellek- 
tuellen die weittragende Forderung erhoben: den Produktions- 
apparat nicht zu beliefern, ohne ihn zugleich, nach Mafigabe 
des Moglichen, im Sinne des Sozialismus zu verandern. »Die 
Publikation der >Versuche<, so leitet der Autor die gleichnamige 
Schriftenfolge ein, erfolgt zu einem Zeitpunkt, wo gewisse Ar- 
beiten nicht mehr so sehr individuelle Erlebnisse sein (Werk- 
charakter haben) sollen, sondern mehr auf die Benutzung (Um- 
gestaltung) bestimmter Institute und Institutionen gerichtet 
sind.« Nicht geistige Erneuerung, wie die Fascisten sie prokla- 
mieren, ist wiinschenswert, sondern technische Neuerungen wer- 
den vorgeschlagen. Auf diese Neuerungen werde ich noch zu- 
riickkommen. Hier mochte ich mich mit dem Hinweis auf den 



692 Vortrage und Reden 

entscheidenden Unterschied begniigen, der zwischen der blofien 
Belief erung eines Produktionsapparates und seiner Veranderung 
besteht. Und ich mochte an den Anfang meiner Ausfuhrungen 
iiber die »Neue Sachlichkeit« den Satz stellen, dafi einen Pro- 
duktionsapparat zu beliefern, ohne ihn - nach Mafigabe des 
Moglichen - zu verandern, selbst dann ein hochst anfechtbares 
Verfahren darstellt, wenn die Stoffe, mit denen dieser Apparat 
beliefert wird, revolutionarer Natur scheinen. Wir stehen nam- 
lich der Tatsache gegeniiber - fiir welche das vergangene Jahr- 
zehnt in Deutschland Beweise in Ftille geliefert hat -, dafi der 
biirgerliche Produktions- und Publikationsapparat erstaunliciie 
Mengen von revolutionaren Themen assimilieren, ja propagie- 
ren kann, ohne damit seinen eigenen Bestand und den Bestand 
der ihn besitzenden Klasse ernstlich in Frage zu- stellen. Dies 
bleibt jedenfalls solange richtig, als er von Routmiers, und seien 
es auch revolutionare Routiniers, beliefert wird. Ich definiere 
aber den Routinier als den Mann, der grundsatzlich darauf ver- 
zichtet, den Produktionsapparat zugunsten des Sozialismus der 
herrschenden Klasse durch Verbesserungen zu entfremden. Und 
ich behaupte weiter, dafi ein erheblicher Teil der sogenannten 
linken Literatur gar keine andere gesellschaftliche Funktion 
besafi, als der politischen Situation immer neue Effekte zur 
Unterhaltung des Publikums abzugewinnen. Damit stehe ich bei 
der neuen Sachlichkeit. Sie brachte die Reportage auf. Wir 
wollen uns fragen, wem diese Technik niitzte? 
Der Anschaulichkeit halber stelle ich ihre photographische Form 
in den Vordergrund. Was von ihr gilt, ist auf die literarische 
zu iibertragen. Beide verdanken ihren aufierordentlichen Auf- 
schwung der Publikationstechnik: dem Rundfunk und der illu- 
strierten Presse. Denken wir an den Dadaismus zuriick. Die 
revolutionare Starke des Dadaismus bestand darin, die Kunst 
auf ihre Authentizitat zu prufen. Man stellte Stilleben aus Bil- 
letts, Garnrollen, Zigarettenstummeln zusammen, die mit male- 
rischen Elementen verbunden waren. Man tat das Ganze in 
einen Rahmen. Und damit zeigte man dem Publikum: Seht, 
Euer Bilder rahmen sprengt die Zek; das winzigste authentische 
Bruchstiick des taglichen Lebens sagt mehr als die Malerei. So 
wie der blutige Fingerabdruck eines Morders auf einer Buch- 
seite mehr sagt als der Text. Von diesen revolutionaren Gehal- 



Der Autor als Produzent 693 

ten hat sidi vieles in die Photomontage hineingerettet. Sie 
brauchen nur an die Arbeiten von John Heartfield zu denken, 
dessen Technik den Buchdeckel zum politischen Instrument ge- 
macht hat. Nun aber verfolgen Sie den Weg der Photographie 
weiter. Was sehen Sie? Sie wird immer nuancierter, immer mo- 
derner, und das Ergebnis ist, dafi sie keine Mietskaserne, keinen 
Miillhaufen mehr photographieren kann, ohne ihn zu verklaren. 
Geschweige denn, dafi sie imstande ware, iiber ein Stauwerk 
oder eine Kabelfabrik etwas anderes auszusagen als dies: die 
Welt ist schon. »Die Welt ist schon« - das ist der Titel des be- 
kannten Bilderbuchs von Renger-Patzsch, in dem wir die neu- 
sachliche Photographie auf ihrer Hohe sehen. Es ist ihr namlich 
gelungen, audi noch das Elend, indem sie es auf modisch- 
perfektionierte Weise auffafite, zum Gegenstand des Genusses 
zu machen. Denn wenn es eine okonomische Funktion der 
Photographie ist, Gehalte, welche fruher dem Konsum der 
Massen sich entzogen - den Fruhling, Prominente, fremde Lan- 
der - durch modische Verarbeitung ihnen zuzufuhren, so ist es 
eine ihrer politischen, die Welt wie sie nun einmal ist von innen 
her - mit anderen Worten: modisch - zu erneuern. 
Wir haben hier ein drastisches Beispiel dafiir, was es heifit: 
einen Produktionsapparat beliefern, ohne ihn zu verandern. 
Ihn zu verandern hatte bedeutet, von neuem eine jener Schran- 
ken niederzulegen, einen jener Gegensatze zu iiberwinden, die 
die Produktion der Intelligenz in Fesseln legen. In diesem Fall 
die Schranke zwischen Schrift und Bild. Was wir vom Photo- 
graphen zu verlangen haben, das ist die Fahigkeit, seiner Auf- 
nahme diejenige Beschriftung zu geben, die sie dem modischen 
Verschleifi entreifit und ihr den revolutionaren Gebrauchswert 
verleiht. Diese Forderung werden wir aber am nachdrticklich- 
sten stellen, wenn wir - die Schriftsteller - ans Photographieren 
gehen. Audi hier ist also fur den Autor als Produzenten der 
technisdie Fortschritt die Grundlage seines politischen. Mit 
anderen Worten: erst die Oberwindung jener Kompetenzen im 
Prozefi der geistigen Produktion, welche, der burgerlichen Auf- 
fassung zufolge, dessen Ordnung bilden, macht diese Produktion 
politisch tauglich; und zwar mussen die Kompetenzschranken 
von beiden Produktivkraften, die sie zu trennen errichtet waren, 
vereint gebrochen werden. Der Autor als Produzent erfahrt 



694 Vortrage und Reden 

- indem er seine Solidaritat mit dem Proletariat erfahrt - 
unmittelbar zugleich die mit gewissen anderen Produzenten, 
die ihm friiher nicht viel zu sagen hatten. Ich sprach vom 
Photographen; ich will in aller Kiirze ein Wort iiber den Musiker 
einschalten, das wir von Eisler haben: »Auch in der Musik- 
entwicklung, sowohl in der Produktion als in der Reproduk- 
tion, miissen wir einen immer starker werdenden Prozefi 
der Rationalisierung erkennen lernen . . . Die Schallplatte, der 
Tonfilm, die Musikautomaten konnen Spkzenleistungen der 
Musik ... in einer Konservenform als Ware vertreiben. Dieser 
Rationalisierungsprozefi hat zur Folge, dafi die Musikreproduk- 
tion auf immer kleiner werdende, aber audi hoher qualifizierte 
Spezialistengruppen beschrankt wird. Die Krise des Konzertbe- 
triebes ist die Krise einer durch neue technische Erfindungen 
veralteten, liberholten Produktionsform.« Die Aufgabe bestand 
also in einer Umfunktionierung der Konzertform, die zwei Be- 
dingungen erfiillen mufite: erstens den Gegensatz zwischen 
Ausfiihrenden und Horenden und zweitens den zwischen Tech- 
nik und Gehalten zu beseitigen. Hierzu macht Eisler folgende 
aufschlufireiche Feststellung: »Man mufi sich hiiten, die Orche- 
stermusik zu iiberschatzen und sie fiir die einzig hohe Kunst zu 
halten. Musik ohne Worte hat ihre grofie Bedeutung und ihre 
voile Ausdehnung erst im Kapitalismus erhalten.« Das heifit: 
die Aufgabe, das Konzert zu verandern, ist nicht ohne Mitwir- 
kung des Wortes moglich. Sie allein ist es, die, wie Eisler es 
formuliert, die Veranderung eines Konzertes in ein politisches 
Meeting bewirken kann. Dafi aber eine solche Veranderung in 
der Tat einen Hochststand der musikalischen und literarischen 
Technik darstellt, haben Brecht und Eisler mit dem Lehrstuck 
»Die Ma8nahme« bewiesen. 

Blicken Sie von hier aus auf den Umschmelzungsprozefi literari- 
scher Formen zuriick, von welchem die Rede war, so sehen Sie, 
wie Photo und Musik, und so ermessen Sie, was ferner noch in 
jene gliihendflussige Masse eintritt, aus der die neuen Formen 
gegossen werden. Sie sehen bestatigt, dafi es die Literarisierung 
aller Lebensverhaltnisse ist, welche allein den rediten BegrifF 
vom Umfange dieses Schmelzvorgangs gibt, so wie der Stand 
des Klassenkampfes die Temperatur bestimmt, unter der er - 
mehr oder weniger vollendet - zustande kommt. 



Der Autor als Produzent 695 

Idi sprach von dem Verfahren einer gewissen modischen Photo- 
graphic, das Elend zum Gegenstand des Konsums zu machen. 
Indem ich mich der neuen Sachlichkeit als literarischer Bewe- 
gung zuwende, mufi ich einen Schritt weitergehen und sagen, 
dafi sie den Kampf gegen das Elend zum Gegenstand des Kon- 
sums gemacht hat. In der Tat erschopfte sich ihre politische Be- 
deutung in vielen Fallen mit der Umsetzung revolutionarer 
Reflexe, soweit sie im Burgertum auftraten, in Gegenstande 
der Zerstreuung, des Amusements, die sich unschwer dem grofi- 
stadtischen Kabarett-Betrieb einfiigten. Die Verwandlung des 
politischen Kampfs aus einem Zwang zur Entscheidung in einen 
Gegenstand kontemplativen Behagens, aus einem Produktions- 
mittel in einen Konsumartikel, ist fur diese Literatur das 
Kennzeichnende. Ein einsichtiger Kritiker hat dies am Beispiel 
von Erich Kastner mit folgenden Ausfuhrungen erlautert: »Mit 
der Arbeiterbewegung hat diese linksradikale Intelligenz nichts 
zu tun. Vielmehr ist sie als burgerliche Zersetzungserscheinung 
• das Gegenstuck zu der feudalistischen Mimikry, die das Kaiser- 
reich im Reserveleutnant bewundert hat. Die linksradikalen 
Publizisten vom Schlage der Kastner, Mehring oder Tucholsky 
sind die proletarische Mimikry zerfallener Burgerschichten. Ihre 
Funktion ist, politisch betrachtet, nicht Parteien, sondern Cli- 
quen, literarisch betrachtet, nicht Schulen, sondern Moden, oko- 
nomisch betrachtet, nicht Produzenten, sondern Agenten her- 
vorzubringen. Agenten oder Routiniers, die grofien Aufwand 
mit ihrer Armut treiben und sich aus der gahnenden Leere ein 
Fest machen. Gemutlicher konnte man sich's in einer ungemiit- 
lichen Situation nicht einrichten.« 

Diese Schule, so sagte ich, trieb grofien Aufwand mit ihrer Ar- 
mut. Sie entzog sich damit der dringlichsten Aufgabe des heuti- 
gen Schriftstellers: der Erkenntnis, wie arm er ist und wie arm 
er zu sein hat, um von vorn beginnen zu konnen. Denn darum 
handelt es sich. Der Sowjetstaat wird zwar nicht, wie der plato- 
nische, den Dichter ausweisen, er wird aber - und darum er- 
innerte ich eingangs an den platonischen - diesem Aufgaben 
zuweisen, die es ihm nicht erlauben, den langst verf alschten Reich- 
turn der schopferischen Personlichkeit in neuen Meisterwerken 
zur Schau zu stellen. Eine Erneuerung im Sinn soldier Person- 
lichkeiten, solcher Werke zu erwarten, ist ein Privileg des Fascis- 



696 Vortrage und Reden 

mus, der dabei so torichte Formulierungen an den Tag bringt 
wie die, mit welcher Giinther Griindel in der »Sendung der 
Jungen Generation« seine Literaturrubrik abrundet: »Wir kon- 
nen diesen . . . Ober- und Ausblick nicht besser schlieften als 
mit dem Hinweis, dafi der >Wilhelm Meister<, der >Griine Hein- 
rich< unserer Generation bis heute noch nicht geschrieben ist.« 
Dem Autor, der die Bedingungen heutiger Produktion durch- 
dacht hat, wird nichts ferner liegen, als solche Werke zu erwar- 
ten oder auch nur zu wiinschen. Seine Arbeit wird niemals nur 
die Arbeit an Produkten, sondern stets zugleich die an den 
Mitteln der Produktion sein. Mit anderen Worten: seme Pro- 
dukte miissen neben und vor ihrem Werkcharakter eine organi- 
sierende Funktion besitzen. Und keineswegs hat ihre organisa- 
torische Verwertbarkeit sich auf ihre propagandistische zu be- 
schranken. Die Tendenz allein tut es nicht. Der ausgezeichnete 
Lichtenberg hat gesagt: es kommt nicht darauf an, was fur 
Meinungen einer hat, sondern was diese Meinungen fur einen 
Mann aus ihm machen. - Nun kommt zwar doch auf Meinungen 
viel an, aber die beste niitzt nichts, wenn sie nichts Nutzliches 
aus denen macht, die sie haben. Die beste Tendenz ist falsch, 
wenn sie die Haltung nicht vormacht, in der man ihr nachzu- 
kommen hat. Und diese Haltung kann der Schriftsteller nur da 
vormachen, wo er uberhaupt etwas macht: namlich schreibend. 
Die Tendenz ist die notwendige, niemals die hinreichende Be- 
dingung einer organisierenden Funktion der Werke. Diese er- 
fordert weiterhin das anweisende, unterweisende Verhalten des 
Schreibenden. Und heute ist das mehr denn je zu fordern. Ein 
Autor, der die Schriftsteller nichts lehrt, lehrt niemanden. Also 
ist mafigebend der Modellcharakter der Produktion, der andere 
Produzenten erstens zur Produktion anzuleiten, zweitens einen 
verbesserten Apparat ihnen zur Verfiigung zu stellen vermag. 
Und zwar ist dieser Apparat um so besser, je mehr er Konsu- 
menten der Produktion zufiihrt, kurz aus Lesern oder aus Zu- 
schauern Mitwirkende zu machen imstande ist. Wir besitzen 
bereits ein derartiges Modell, von dem ich hier aber nur andeu- 
tend sprechen kann. Es ist das epische Theater von Brecht. 
Immer wieder werden Tragodien und Opern geschrieben, denen 
scheinbar ein altbewahrter Buhnenapparat zur Verfiigung steht, 
wahrend sie in Wirklichkeit nichts tun, als einen hinfalligen 



Der Autor als Produzent 6$j 

beliefern. »Diese bei Musikern, Schriftstellern und Kritikern 
herrschende Unklarheit iiber ihre Situation, sagt Bredit, hat 
ungeheure Folgen, die viel zu wenig beachtet werden. Denn 
in der Meinung, sie seien im Besitz eines Apparates, der in Wirk- 
lichkeit sie besitzt, verteidigen sie einen Apparat, iiber den sie 
keine Kontrolle mehr haben, der nicht mehr, wie sie noch glau- 
ben, Mittel fur die Produzenten ist, sondern Mittel gegen die 
Produzenten wurde.« 2u einem Mittel gegen die Produzenten 
ist dies Theater komplizierter Maschinerien, riesenhafter Stati- 
stenaufgebote, raffinierter Effekte nicht zum wenigsten dadurdi 
geworden, dafi es die Produzenten fiir den aussichtslosen Kon- 
kurrenzkampf zu werben sucht, in den Film und Rundfunk es 
verflochten haben. Dieses Theater - mag man an dasjenige der 
Bildung oder der Zerstreuung denken; beide sind Komplemente 
und erganzen sich - ist dasjenige einer saturierten Schicht, der 
alles, was ihre Hand beruhrt, zu Reizen wird. Sein Posten ist 
ein verlorener. Nicht so der eines Theaters, welches, statt zu 
jenen neueren Publikationsinstrumenten in Konkurrenz zu tre- 
ten, sie anzuwenden und von ihnen zu lernen, kurz seine Aus- 
einandersetzung mit ihnen sucht. Diese Auseinandersetzung hat 
das epische Theater zu seiner Sadie gemadit. Es ist, am gegen- 
wartigen Entwicklungsstande von Film und Rundfunk gemes- 
sen, das zeitgemafie. 

Im Interesse jener Auseinandersetzung zog sich Brecht auf die 
ursprunglichsten Elemente des Theaters zuruck. Er begniigte 
sich gewissermafien mit einem Podium. Er verzichtete auf weit- 
ausgreifende Handlungen. So gelang es ihm, den Funktionszu- 
sammenhang zwischen Biihne und Publikum, Text und Auf- 
fiihrung, Regisseur und Schauspieler zu verandern. Das epische 
Theater, erklarte er, hat nicht sowohl Handlungen zu entwik- 
keln als Zustande darzustellen. Es erhalt solche Zustande, wie 
wir gleich sehen werden, indem es die Handlungen unterbrechen 
lafit. Ich erinnere Sie hier an die Songs, die in der Unterbre- 
chung der Handlung ihre Hauptfunktion haben. Hier nimmt 
das epische Theater also - mit dem Prinzip der Unterbrechung 
namlich - wie Sie wohl sehen, ein Verfahren auf, das Ihnen in 
den letzten Jahren aus Film und Rundfunk, Presse und Photo- 
graphic gelaufig ist. Ich spreche vom Verfahren der Montage: 
das Montierte unterbricht ja den Zusammenhang, in weldien es 



698 Vortrage und Reden 

montiert ist. Dafi aber dieses Verfahren hier sein besonderes, ja 
hier vielleidit sein vollendetes Recht hat, darauf erlauben Sie 
mir einen kurzen Hinweis. 

Die Unterbrediung der Handlung, derentwegen Bredit sein 
Theater als das epische bezeidinet hat, wirkt standig einer 
Illusion im Publikum entgegen. Solche Illusion namlidi ist fiir 
ein Theater unbrauchbar, das vorhat, die Elemente des Wirk- 
lichen im Sinne einer Versuchsanordnung zu behandeln. Am 
Ende, nicht am Anfang, dieses Versuches stehen aber die Zu- 
stande. Zustande, welche in dieser oder jener Gestalt immer die 
unsrigen sind. Sie werden dem Zuschauer nicht nahegebracht, 
sondern von ihm entfernt. Er erkennt sie als die wirklichen 
Zustande, nicht, wie auf dem Theater des Naturalismus, mit 
Siiffisance sondern mit Staunen. Das epische Theater gibt also 
nicht Zustande wieder, es entdeckt sie vielmehr. Die Entdeckung 
der Zustande vollzieht sich mittels der Unterbrediung der 
Ablaufe. Nur dafi die Unterbrediung hier nicht Reizcharak- 
ter, sondern eine organisierende Funktion hat. Sie bringt die 
Handlung im Verlauf zum Stehen und zwingt damit den Horer 
zur Stellungnahme zum Vorgang, den Akteur zur Stellungnah- 
me zu seiner Rolle. An einem Beispiel will ich Ihnen zeigen, wie 
Brechts Auffindung und Gestaltung des Gestischen nichts als eine 
Zuriickverwandlung der in Funk und Film entscheidenden Me- 
thoden der Montage aus einem oft nur modischen Verfahren in 
ein menschliches Geschehen bedeutet. - Stellen Sie sich eine 
Familienszene vor: die Frau ist gerade im Begriffe, eine Bronze 
zu ergreifen, um sie nach der Toditer zu schleudern; der Vater 
im Begriff, das Fenster zu offnen und um Hilfe zu rufen. In 
diesem Augenblick tritt ein Fremder ein. Der Vorgang ist unter- 
brochen; was an seiner S telle zum Vorschein kommt, das ist der 
Zustand, auf welchen nun der Blick des Fremden stofit: ver- 
storte Mienen, offenes Fenster, verwiistetes Mobiliar. Es gibt 
aber einen Blick, vor dem audi die gewohnteren Szenen des heu- 
tigen Daseins sich nicht viel anders ausnehmen. Das ist der 
Blick des epischen Dramatikers. 

Er stellt dem dramatischen Gesamtkunstwerk das dramatische 
Laboratorium gegeniiber. Er greift in neuer Weise auf die grofie 
alte Chance des Theaters zuriick - auf die Exponierung des 
Anwesenden. Im Mittelpunkt seiner Versuche steht der Mensch. 



Der Autor als Produzent 699 

Der heutige Mensch; ein reduzierter also, in einer kalten Um- 
welt kaltgestellter. Da aber nur dieser uns zur Verfiigung stent, 
so haben wir Interesse, ihn zu kennen. Er wird Priifungen unter- 
worfen, Begutachtungen. Was sich ergibt, ist dies: veranderlich 
ist das Gescfaehen nicht auf seinen Hohepunkten, nicht durch 
Tugend und Entschlufi, sondern allein in seinem streng gewohn- 
heitsmafiigen Verlaufe, durch Vernunft und Obung. Aus klein- 
sten Elementen der Verhaltungsweisen zu konstruieren, was in 
der aristotelischen Dramaturgic »handeln« genannt wird, das ist 
der Sinn des epischen Theaters. Seine Mittel sind also beschei- 
dener als die des iiberlieferten Theaters; seine Zwecke sind es 
gleichfalls. Er sieht es weniger darauf ab, das Publikum mit 
Gefuhlen, und seien es audi die des Aufruhrs, zu erfullen, als es 
auf nachhaltige Art, durch Denken, den Zustanden zu entfrem- 
den, in denen es lebt. Nur nebenbei sei angemerkt, dafi es fiirs 
Denken gar keinen besseren Start gibt als das Lachen. Und 
insbesondere bietet die Erschutterung des Zwerchfells dem Ge- 
danken gewohnlich bessere Chancen dar als die der Seele. Das 
epische Theater ist iippig nur in Anlassen des Gelachters. - 
Vielleicht ist es Ihnen aufgefallen, dafi die Gedankengange, 
vor deren Abschlufi wir stehen, dem Schriftsteller nur eine For- 
derung prasentieren, die Forderung nachzudenken, seine Stel- 
lung im Produktionsprozesse sich zu iiberlegen. Wir diirfen uns 
darauf verlassen: diese Oberlegung fiihrt bei den Schriftstellern, 
auf die es ankommt y das heifit bei den besten Technikern ihres 
Fachs friiher pder spater auf Feststellungen, die ihre Solidaritat 
mit dem Proletariat auf die niichternste Art begrunden. Ich 
mochte dafiir zum Schlufi einen aktuellen Beleg beibringen in 
Gestalt einer kleinen Stelle aus der hiesigen Zeitschrift »Com- 
mune«. »Commune« hat eine Umfrage veranstaltet: »Fur wen 
schreiben Sie?« Ich zitiere aus der Antwort von Rene' Maublanc 
sowie aus den anschliefienden Bemerkungen von Aragon. »Un- 
zweifelhaft schreibe ich, sagt Maublanc, fast ausschliefilich fiir 
burgerliches Publikum. Erstens weil ich dazu genotigt bin« - 
hier verweist Maublanc auf seine Berufspflichten als Gymnasial- 
lehrer - »zweitens weil ich von biirgerlicher Herkunft, biirger- 
licher Erziehung bin und aus burgerlichem Milieu stamme, der- 
gestalt natiirlich geneigt bin, mich an die Klasse zu wenden, der 
ich angehore, die ich am besten kenne und am besten verstehen 



700 Vortrage und Reden 

kann. Das will aber nicht heifien, dafi ich schreibe, um ihr zu 
gefallen oder um sie zu stutzen. Auf der einen Seite bin ich 
iiberzeugt, dafi die proletarische Revolution notwendig und 
wiinschenswert ist, auf der anderen Seite, dafi sie um so schneller, 
leichter, erfolgreicher und weniger blutig sein wird, je schwacher 
der Widerstand der Bourgeoisie ist . . . Das Proletariat braucht 
heute Verbiindete aus dem Lager der Bourgeoisie genau wie im 
achtzehnten Jahrhundert die Bourgeoisie Verbiindete aus dem 
feudalen Lager gebraucht hat. Unter diesen Verbiindeten mochte 
ich sein.« 

Hierzu bemerkt Aragon: »Unser Kamerad beriihrt hier einen 
Sachverhalt, der eine sehr grofie Zahl heutiger Schriftsteller be- 
trifft. Nicht alle haben den Mut, ihm ins Auge zu blicken . . . 
Die, welche uber ihre eigene Lage sich so klar sind wie Rene* 
Maublanc, sind selten. Gerade von denen aber mufi man noch 
mehr verlangen . . . Es ist nicht genug, die Bourgeoisie von innen 
her zu schwachen, man mufi sie mit dem Proletariat bekampfen 
. . . Vor Ren£ Maublanc und vielen unserer Freunde unter 
den Schriftstellern, welche noch schwankend sind, steht das Bei- 
spiel der sowjetrussischen Schriftsteller, die aus der russischen 
Bourgeoisie hervorgegangen sind und dennoch Pioniere des 
sozialistischen Aufbaus geworden sind.« 

Soweit Aragon. Wie sind sie aber zu Pionieren geworden? Doch 
wohl nicht ohne sehr erbitterte Kampfe, hochst schwierige 
Auseinandersetzungen. Die Oberlegungen, welche ich Ihnen vor- 
trug, machen den Versuch einen Ertrag aus diesen Kampfen zu 
Ziehen. Sie stutzen sich auf den Begriff, dem die Debatte um die 
Haltung der russischen Intellektuellen ihre entscheidende Kla- 
rung verdankt: auf den Begriff des Spezialisten. Die Solidaritat 
des Spezialisten mit dem Proletariat - darin besteht der An- 
fang dieser Klarung - kann immer nur eine vermktelte sein. 
Die Aktivisten und die Vertreter der neuen Sachlichkeit moch- 
ten sich gebarden wie sie wollten: sie konnten die Tatsache nicht 
aus der Welt schaffen, dafi selbst die Proletarisierung des In- 
tellektuellen fast niemals einen Proletarier macht. Warum? Weil 
ihm die Biirgerklasse in Gestalt der Bildung ein Produktions- 
mittel mitgab, das ihn aufgrund des Bildungsprivilegs mit ihr, 
und noch mehr sie mit ihm, solidansch macht. Es ist daher voll- 
kommen richtig, wenn Aragon, in anderem Zusammenhang, 



Der Autor als Produzent 701 

erklart hat: »Der revolutionare Intellektuelle erscheint zunachst 
und vor allem als Verrater an seiner Ursprungsklasse.« Dieser 
Verrat besteht, beim Schriftsteller, in einem Verhalten, das ihn 
aus einem Belieferer des Produktionsapparates zu einem Inge- 
nieur macht, der seine Aufgabe darin erblickt, diesen den 
Zwecken der proletarischen Revolution anzupassen. Das ist 
eine vermittelnde Wirksamkeit, aber sie befreit doch den In- 
tellektuellen von jener rein destruktiven Aufgabe, auf die 
Maublanc mit vielen Kameraden ihn einschranken zu mussen 
glaubt. Gelingt es ihm, die Vergesellschaftung der geistigen 
Produktionsmittel zu fordern? Sieht er Wege, die geistigen 
Arbeiter im Produktionsprozesse selbst zu organisieren? Hat 
er Vorschlage fur die Umfunktionierung des Romans, des Dra- 
mas, des Gedichts? Je vollkommener er seine Aktivitat auf 
diese Aufgabe auszurichten vermag, desto richtiger die Tendenz, 
desto hoher notwendigerweise audi die technische Qualitat 
seiner Arbeit. Und andererseits: je genauer er dergestalt um 
seinen Posten im Produktionsprozefi Bescheid weifi, desto weni- 
ger wird er auf den Gedanken kommen, sich als »Geistiger« 
auszugeben. Der Geist, der sich im Namen des Fascismus ver- 
nehmbar macht, mufi verschwinden. Der Geist, der ihm im Ver- 
trauen auf die eigeneWunderkraft entgegentritt, wir d verschwin- 
den. Denn der revolutionare Kampf spielt sich nicht zwischen 
dem Kapitalismus und dem Geist, sondern zwischen dem Kapi- 
talismus und dem Proletariat ab. 



Enzyklopadieartikel 



Goethe 

Als Johann Wolfgang Goethe am zS. August 1749 in Frankfurt 
a.M. zur Welt kam, hatte die Stadt 30 000 Einwohner. In Ber- 
lin, der grofiten Stadt des Deutschen Reiches, zahlte man da- 
mals 126000, in Paris und London jedoch zur gleichen Zeit je 
schon iiber 500 000. Diese Ziffern sind fiir die politische Lage 
des damaligen Deutschland charakteristisch, denn in ganz Euro- 
pa ist die burgerliche Revolution von den Grofistadten abhan- 
gig gewesen. Anderseits ist fiir Goethe bezeichnend, dafi er 
wahrend seines ganzen Lebens starke Abneigung gegen den 
Aufenthalt in Grofistadten gehabt hat. So hat er Berlin nie 
betreten, seine Heimatstadt Frankfurt in spateren Jahren nur 
zweimal widerwillig aufgesucht, den grofiten Teil seines Lebens 
in einer kleinen Residenz von 6 000 Einwohnern zugebracht und 
naher nur die italienischen Zentren Rom und Neapel kennen 
gelernt. 

Das neue Biirgertum, dessen Kulturtrager, anfanglich auch 
politischer Sachwalter der Dichter war, zeichnet in seinem Her- 
anreifen sich im Stammbaum des Drchters deutlich ab. Die 
mannlichen Glieder in Goethes Ahnenreihe arbeiteten sich aus 
Handwerkerkreisen empor und heirateten Frauen aus alten 
Gelehrten- oder gesellschaftlich hoher stehenden Familien. In 
der vaterlichen Linie war der Urgrofivater ein Hufschmied, 
der Grofivater erst Schneider dann Gastwirt, der Vater, Johann 
Caspar Goethe, zunachst einfacher Advokat. Bald brachte er es 
zum Titel eines kaiserlichen Rates, und als es ihm gelungen war, 
die Tochter des Schultheifien Textor, Katharina Elisabeth, zur 
Frau zu gewinnen, riickte er endgiiltig unter die herrschenden 
Familien der Stadt ein. 

Die Jugend im Patrizierhause einer freien Reichsstadt festigte 
in dem Dichter den angestammten rheinfrankischen Grundzug: 
Reserve gegen jede politische Bindung und einen desto wacheren 
Sinn fiir das individuell Angemessene und Forderliche. Der 
enge Familienkreis - Goethe hatte nur eine Schwester, Cornelia 
- erlaubte dem Dichter schon friih die Konzentration in sich 
selbst. Trotzdem verboten die im Elternhause herrschenden 
Anschauungen ihm natiirlich, einen Kiinstlerberuf ins Auge zu 
fassen. Der Vater notigte Goethe, Jura zu studieren. Dieser be- 



yo6 Enzyklopadieartikel 

zog mit sechzehn Jahren zunachst die Universitat Leipzig und 
kam mit einundzwanzig Jahren, im Sommer 1770, als Student 
nach Strafiburg. 

In Strafiburg zeichnet sich zum ersten Mai deutlich der Bil- 
dungskreis ab, aus dem Goethes Jugenddichtung hervorging. 
Goethe und Klinger aus Frankfurt, Burger und Leisewitz aus 
Mitteldeutschland, Vofi und Claudius aus Holstein, Lenz aus 
Livland; Goethe als Patrizier, Claudius als Burger, Holtei, 
Schubart und Lenz als Lehrer- oder Prediger-, Maler Miiller, 
Klinger und Schiller als Kleinbiirgersohne, Vofi als Enkel eines 
Leibeigenen, endlich Grafen wie Christian und Fritz von Stol- 
berg, sie alle wirkten zusammen, um auf ideologischem Wege 
das »Neue« in Deutschland heraufzufiihren. Es war aber die 
verhangnisvolle Schwache dieser spezifisch deutschen revolutio- 
naren Bewegung, dafi sie mit den ursprunglichen Parolen der 
biirgerlichen Emanzipation, der Aufklarung, sich nicht zu ver- 
sohnen vermochte. Die btirgerliche Masse, die »Aufgeklar- 
ten«, blieben durch eine ungeheure Kluft von ihrer Avant-Garde 
getrennt. Die deutschen Revolutionise waren nicht aufgeklart, 
die deutschen Aufklarer waren nicht revolutionar. Die einen 
gruppierten ihre Ideen um Offenbarung, Sprache, Gesellschaft, 
die anderen um Vernunft- und Staatslehre. Goethe ubernahm 
spater das Negative beider Bewegungen: mit der Aufklarung 
stand er gegen den Umsturz, mit dem Sturm und Drang gegen 
den Staat. In dieser Spaltung des deutschen Biirgertums lag es 
begnindet, dafi es den ideologischen Anschlufi an den Westen 
nicht fand, und niemals ist Goethe, der sich spater eingehend 
mit Voltaire und Diderot beschaftigt hat, dem Verstandnis 
franzosischen Wesens ferner gewesen als in Strafiburg. Besonders 
bezeichnend seine Erklarung zu dem beriihmten Manifest des 
franzosischen Materialisten, Holbachs »System der Natur«, in 
dem schon der schneidende Luftzug der franzosischen Revolution 
weht. Es kam ihm »so grau, so cimmerisch, so totenhaft« vor, 
dafi er wie vor einem Gespenst zuriickschauderte. Es erschien 
ihm als die »rechte Quintessenz der Greisenheit, unschmack- 
haft, ja abgeschmackt«. Ihm ward hohl und leer in dieser 
»tristen atheistischen Halbnacht«. So empfand der schopferische 
KUnstler aber audi der Frankfurter Patriziersohn. Goethe hat 
spater der Sturm und Drang-Bewegung ihre beiden gewaltigsten 



Goethe 707 

Manifeste, den »G6tz« und den »Werther«, gegeben. Aber ihre 
universale Gestalt, in der sie sich zu einem Weltbild zusammen- 
schlofi, dankt sie Johann Gottfried Herder. In seinen Briefen 
und Gesprachen mit Goethe, Hamann, Merck wurden die Lo- 
sungen der Bewegung von ihm ausgegeben: Das »Original- 
genie«, »Sprache: Offenbarung des Volksgeistes«, »Gesang: die 
erste Sprache der Natur«, »Einheit von Erd- und von Mensch- 
heitsgeschichte«. In diesen Jahren bereitete Herder unter dem 
Titel »Stimmen der Volker in Liedern« seine grofie Anthologie 
der Volkslieder vor, die den Erdkreis von Lappland bis Mada- 
gaskar umfafite und auf Goethe den grofiten Einflufi hatte. 
Denn in dessen Jugendlyrik vereint sich die Erneuerung der 
Liedform durchs Volkslied mit der grofien Befreiung, die der 
Gottinger Hainbund gebracht hatte. »Vofi emanzipierte die 
marschlandischen Bauern fiir die Dichtung. Er vertrieb in der 
Dichtung die konventionellen Gestalten des Rokoko durch 
Mistgabeln, Dreschflegel und den niedersachsischen Dialekt, der 
vorm Gutsherrn nur noch halb die Mutze abnimmt.« Aber 
weil bei Vofi Beschreibung noch immer den Grundton der Lyrik 
bildet (so wie bei Klopstock noch immer Rhetorik der hymni- 
schen Bewegung zugrunde liegt), kann man erst seit Goethes 
Strafiburger Dichtungen (»Willkommen und Abschied«, »Mit 
einem gemalten Band«, »Mailied«, »Heideroslein«) von der Be- 
freiung der deutschen Lyrik aus den Kreisen der Beschreibung, 
Didaktik und Handlung reden. Eine Befreiung, die freilich nur 
immer ein prekares, transitorisches Stadium sein konnte, und 
wahrend sie im neunzehnten Jahrhundert die deutsche Lyrik 
ihrem Verfall entgegenfuhrte, von Goethe schon in der Alters- 
dichtung, dem »West-6stlichen Divan« bewufitermafien einge- 
schrankt wurde. In Gemeinschafl mit Herder verfafite Goethe 
1773 das Manifest »Von deutscher Art und Kunst« mit jener 
Studie iiber Erwin von Steinbach, den Erbauer des Strafiburger 
Ministers, die spater Goethes fanatischen Klassizismus den Ro- 
mantikern bei ihrer Wiederentdeckung der Gotik so besonders 
anstoftig machte. 

Aus dem gleichen Schaffenskreis ging 1772 der »G6tz von Ber- 
lichingen« hervor. Die Spaltung des deutschen Burgertums 
kommt in diesem Werke deutlich zum Ausdruck. Die Stadte und 
Hofe miissen hier als Vertreter des ins Realpolitische vergrober- 



708 Enzyklopadieartikel 

ten Vernunftprinzips die Schar geistloser Aufklarer verkorpern, 
der in dem Fiihrer der aufstandischen Bauernbevolkerung der 
Sturm und Drang sich entgegenstellt. Der historische Hinter- 
grund dieses Werkes, der deutsdie Bauernkrieg, konnte dazu 
verleiten, ein edit revolutionares Bekenntnis in ihm zu sehen. 
Das ist es nicht, denn im Grunde sind es die Schmerzen der den 
wachsenden Fursten erliegenden Reichsritterschaft, des alten 
Herrenstandes, die in Gotz* Aufruhr sich Luft machen. Gotz 
kampft und fallt fiir sich zunachst und dann flir seinen Stand. 
Der Kerngedanke des Schauspiels ist nicht Aufruhr sondern 
Beharrung. Gotzens Tat ist ritterlich ruckschrittlich, ist feiner 
und liebenswiirdiger die Tat eines Herrenmenschen, Ausdruck 
eines Einzeldranges, nicht zu vergleichen mit den brutalen 
Brandfackelwerken der Rauber. Es spielt sich an diesem Stoff 
zum ersten Male der Vorgang ab, der fiir die Dichtung Goethes 
typisch wird: Als Dramatiker unterliegt er immer wieder der 
Anziehungskraft, mit welcher revolutionare Stoffe ihn an sich 
Ziehen, um dann entweder von der Sache abzubiegen oder als 
Fragment sie liegen zu lassen. Dem ersten Typus gehoren 
»G6tz von Berlichingen« und »Egmont« an, dem zweiten »Die 
natiirlicheTochter«. Wie Goethe bereits mit diesem ersten Drama 
im Grunde der revolutionaren Energie der Sturm und Drang- 
Bewegung sich entzog, tritt am deutlichsten im Vergleich mit 
Dramen seiner Altersgenossen hervor. Im Jahre 1774 liefi Lenz 
seinen »Hofmeister oder die Vorteile der Privaterziehung« 
erscheinen, die unerbittlich in jene soziale Bedingtheit des da- 
maligen Literatentums hineinleuchten, die auch fiir Goethes 
Entwicklung folgenreich wurden. Das deutsche Biirgertum war 
ja bei weitem nicht stark genug, um aus eigenen Mitteln einen 
ausgebreiteten Literaturbetrieb unterhalten zu konnen. Die 
Folge jener Verhaltnisse war, dafi die Abhangigkeit der Li- 
teratur vom Feudalismus auch dann noch bestehen blieb, 
wenn die Sympathie des Literaten bei der Biirgerklasse stand. 
Seine kummerlichen Umstande zwangen ihn, Freitische an- 
zunehmen, als Hofmeister adlige Junker zu unterrichten und 
mit jungen Prinzen auf Reisen zu gehen. Endlich drohte 
diese Abhangigkeit noch, ihn um den Ertrag seines litera- 
rischen Schaffens zu bringen, denn nur solche Werke, die 
durch Kabinetts-Erlafi ausdriicklich bezeichnet waren, blie- 



Goethe 709 

ben in den Landern des deutschen Reiches vor Nachdruck 
geschutzt. 

Im Jahre 1 774 erschienen nach Goethes Beruf ung an das 
Reichskammergericht in Wetzlar »Die Leiden des jungen Wer- 
thers«. Das Buck war vielleicht der grofite literarische Erfolg 
aller Zeiten. Hier vollendete Goethe den Typus der genialen 
Autorschaft. Wenn namlich der grofie Autor seine Innenwelt von 
Anfang an zur offentlichen Angelegenheit, die Zeitfragen restlos 
zu Fragen seiner personlichen Erfahrungs- und Denkwelt macht, 
so stellt Goethe in seinen Jugendwerken diesen Typus des 
grofien Autors in unerreichter Vollendung dar. In »Werthers 
Leiden« fand das damalige Biirgertum seine Pathologie ahnlich 
scharfblickend und schmeichelhaft zugleich bezeichnet wie das 
heutige in der Freudschen Theorie. Goethe verwob seine un- 
gluckliche Liebe zu Lotte Buff, der Braut eines Freundes, mit 
den Liebesabenteuern eines jungen Literaten, dessen Selbstmord 
Aufsehn gemacht hatte. In den Stimmungen V/erthers entfaltet 
sich der Weltschmerz der Epoche in alien Nuancen. Werther - 
das ist nicht nur der ungliicklich Liebende, der in seiner Er~ 
schiitterung Wege in die Natur findet, die seit der »Nouvelle 
Heloi'se« von Rousseau kein Liebender mehr gesucht hatte - 
er ist audi der Burger, dessen Stolz an den Schranken der 
Klasse sich wund stofk und im Namen der Menschenrechte, ja 
im Namen der Kreatur seine Anerkennung fordert. In ihm 
laftt Goethe fur lange Zeit zum letzten Mai das revolutionare 
Element in seiner Jugend zu Worte kommen. Wenn er in der 
Rezension eines Wielandschen Romans geschrieben hatte: »Die 
marmornen Nymphen, die Blumen, Vasen, die buntgestickte 
Leinwand auf den Tischen dieses Volkchens, welchen hohen 
Grad der Verfeinerung setzen sie nicht voraus? welche Un- 
gleichheit der Stande, welchen Mangel, wo so viel Genufi; welche 
Armut, wo so viel Eigentum ist«, so heifk es jetzt schon ein 
wenig geinildert: »Man kann zum Vorteile der Regeln viel 
sagen, ungefahr was man zum Lobe der blirgerlichen Gesell- 
schaft sagen kann.« In »Werther« findet die Bourgeoisie den 
Halbgott, der sich fur sie opfert. Sie fiihlt sich erlost, ohne be- 
freit zu sein; daher der Protest des unbestechlich klassenbewufi- 
ten Lessing, der hier den Burgerstolz gegen den Adel vermifit 
und vom »Werther« einen zynischen SchluE verlangte. 



710 Enzyklopadieartikel 

Nach den hoffnungslosen Komplikationen der Liebe zu Charlot- 
te Buff konnte Goethe die Aussicht einer biirgerlichen Ehe mit 
einem schonen, bedeutenden und angesehenen Frankfurter Mad- 
chen als Losung erscheinen. »Es war ein seltsamer Beschlufi 
des hohen iiber uns Waltenden, daft ich in dem Verlaufe meines 
wundersamen Lebensganges doch audi erfahren sollte, wie es 
einem Brautigam zu Mute sei.« Aber die Verlobung mit Lili 
Schonemann war doch nur eine sturmische Episode in seinem 
mehr als dreifiigjahrigen Kampf gegen die Ehe. Dafi Lili Schone- 
mann wahrscheinlich die bedeutendste, sicher aber die freieste 
Frau war, die in Goethes nachste Nahe getreten ist, konnte zu- 
letzt seinen Widerstand, sich an sie zu binden, nur steigern. Er 
fluchtete im Mai 1775 in eine Schweizer Reise, die er gemeinsam 
mit dem Grafen Stolberg unternahm. Markiert wurde diese 
Reise fiir ihn durch die Bekanntschaft mit Lavater. In dessen 
Physiognomik, die damals in Europa Sensation machte, erkannte 
Goethe etwas vom Geist seiner eigenen Naturbetrachtung. Spa- 
terhin mufite die innige Verbindung, welche dies Studium der 
kreatiirlichen Welt bei Lavater mit dem Pietismus einging, 
Goethe verstimmen. 

Auf der Ruckreise brachte ein Zufall die Bekanntschaft mit dem 
Erbprinzen, spateren Herzog Karl August von Sachsen-Wei- 
mar. Kurz darauf folgte Goethe der Einladung des Prinzen an 
seinen Hof. Aus seinem beabsichtigten Besuch wurde ein lebens- 
langlicher Aufenthalt. Am 7. November 1775 traf Goethe in 
Weimar ein. Im gleichen Jahre wurde er Legationsrat mit Sitz 
und Stimme im Staatsrat. Goethe selber hat den Entschlufi, in 
den Dienst des Herzogs Karl August zu treten, von Anfang an 
als folgenschwere Bindung seines ganzen Lebens empfunden. 
Zweierlei war fiir diesen Entschlufi bestimmend. In einer Zeit 
gesteigerter politischer Erregungen des deutschen Burgertums 
erlaubte ihm seine Stellung, nahen Kontakt mit der politischen 
Wirklichkeit zu erlangen. Indem sie anderseits als hochgestell- 
tes Mitglied eines Beamtenapparats ihn einordnete, entging er 
der Notwendigkeit radikaler Entscheidung. Bei aller inneren 
Zwiespaltigkeit gab diese Stellung seiner Wirksamkeit und 
seinem Auftreten einen zumindest aufierlichen Ruckhalt. Wie 
schwer er erkauft war, hatte Goethe - wenn es ihm nicht sein 
eigenes, unbestechlich waches Bewufitsein gegenwartig gehalten 



Goethe 711 

hatte - aus den fragenden, enttauschten, entriisteten Stimmen 
seiner Freunde entnehmen konnen. Klopstock, selbst Wieland 
nahmen wie spater Herder Anstofi an der Weitherzigkeit, mit 
der Goethe den Anforderungen seiner Stellung und mehr nodi 
denen, die Lebensweise und Person des Grofiherzogs an ihn 
machten, entgegenkam. Denn Goethe, der Verfasser des »G6tz«, 
des »Werther«, reprasentierte die biirgerliche Fronde. Auf 
seinem Namen stand umso mehr, als damals die Tendenzen 
kaum einen anderen Ausdruck als den personlichen fanden. 
Im achtz ehnten Jahrhundert w ar der Autor nodi Prophet und 
^ seine Schrirt die "Erga nzung ^ines ' Eyan g eliums , das sich am 
vollstandigsten dufcK sein Leben selbst auszusprecfien sdiien. Die 
unerrnefiliche, personliche Geltung, die Goethes erste Werke - es 
waren Botschaften - ihm verliehen hatten, ging ihm in Weimar 
verloren. Da man aber nur das Ungeheure von ihm erwarten 
wollte, bildeten sich die unsinnigsten Legenden. Goethe be- 
tranke sich taglich an Branntwein, und Herder predige in Stie- 
feln und Sporen und reite nach der Predigt dreimal um die 
Kirche — so stellte man sich das Genietreiben dieser ersten Mo- 
nate vor. Folgenreicher aber als das, was in Wahrheit diesen 
Ubertreibungen zu Grunde gelegen hat, war die Freundschaft 
zwischen Goethe und Karl August, deren Grund damals gelegt 
wurde, und die spater fiir Goethe die Garantien einer umfas- 
senden, geistigen und literarischen Regentscljafl: gab: der ersten 
universaleuropaischen nach Voltaire. »Was das Urteil der Welt 
betrifft,« hat damals der neunzehnjahrige Karl August ge- 
schrieben, »welche mifibilligen wiirde, daft icn den D. Goethe 
in mein wichtigstes Collegium setze, ohne dafi er zuvor Amt- 
mann, Professor, Kammer- oder Regierungsrat war, dieses 
verandert gar nichts«. 

Das Leid und die Zerrissenheit dieser ersten Weimarer Jahre 
hat sich abgeformt und hat neue Nahrung gefunden in Goethes 
Liebe zu Charlotte von Stein. Die Briefe, die er in den Jahren 
1 776- 1 786 an sie gerichtet hat, lassen stilistisch den stetigen 
Obergang von Goethes friiher revolutionarer, »die Sprache um 
lhre Privilegien prellenden« Prosa zu dem grofien beruhigten 
Rhythmus erkennen, den jene Briefe atmen, die er an sie von 
1786-1788 in Italien diktiert hat. Ihrem Gehalt nach sind sie 
fiir die Auseinandersetzung des jungen Dichters mit den admini- 



7 1 2 Enzyklopadieartikel 

strativen Geschaften, vor allem aber mit der hofischen Gesellig- 
keit die wichtigste Quelle. Goethe wa r von Natur nicfat imme r 
leicht bewe glich. 

Er wollte es lernen und pafite es »den sogenan nten Weltleuten 
^ab, wo es_Jhnen jdenn ei geritlI3i3ltzt<<. In ^er~Tar war eine* 
hartereV*Schule als dieses unter den kleinstadtischen Lebensbe- 
dingungen der Stadt hochst exponierte Verhaltnis nicht mog- 
lich. Dazu kam, dafi Charlotte von Stein audi in den Jahren, in 
denen sie so unvergleichlich tief mit Goethes Welt kommunizier- 
te, niemals um seinetwillen die Anstandsbegriffe der hofischen 
Gesellschaft briiskiert hat. Goethe hat Jahre gebraucht, bis diese 
Frau eine so unerschiitterliche und segensreiche Statte in seinem 
Leben bekam, dafi ihr Bild in die Gestalt der Iphigenie und der 
Eleonore von Este, der Geliebten von Tasso, eingehen konnte. 
Dafi und wie er in Weimar Wurzeln fafite, ist durchaus an Char- 
lotte von Stein gebunden. Sie hat ihm nicht nur den Hof son- 
dern Stadt und Landschaft vertraut gemacht. Neben alien 
dienstlichen Protokollen laufen immer jene fluchtigeren oder 
breiteren Notizen an Frau von Stein, in denen Goethe, wie er 
es als Liebhaber immer getan hat, in der ganzen Breite seiner 
Gaben und Tatigkeiten erscheint, als Zeichner, Maler, Gartner, 
Architekt usw. Wenn Riemer aus dem Jahre 1779 erzahlt, wie 
Goethe anderthalb Monate lang das Herzogtum durchstreift, am 
Tage die Landstrafien besichtigt, in den Amtshausern die junge 
Mannschaft zum Knegsdienst auserlesen, abends und nachts 
in den kleinen Gasthausern gerastet und an seiner Iphigenie 
gearbeitet habe, so gibt er eine Miniatur dieser ganzen kriti- 
schen, vielfach bedrohten Goetheschen Existenz. 
Der dichterische Ertrag dieser Jahre sind die Anfange von 
»Wilhelm Meisters theatralischer Sendung«, »Stella«, »Clavi- 
go«, »Werthers Briefe aus der Schweiz«, »Tasso« und vor allem 
ein grofier Teil der gewaltigsten Lyrik: »Harzreise im Winter«, 
»An den Mond«, »Der Fischer«, »Nur wer die Sehnsucht 
kennt«, »Uber alien Gipfeln«, »Geheimnisse«. Goethe hat in 
jenen Jahren audi am »Faust« geschrieben, ja selbst zu Teilen 
des zweiten Faust den inneren Grund wenigstens insofern gelegt, 
als der Ursprung des Goetheschen Staatsnihilismus, der dort im 
zweiten Akt schroif zur Geltung komrnt, in den Erfahrungen 
der ersten Weimar er Jahre sich zu formen beginnt. 178 1 heifit 



Goethe 7*3 

es: »Unsere moralisdie und politisdie Welt ist mit unterirdischen 
Gangen, Kellern und Kloaken miniert, wie eine grofie Stadt 
zu sein pflegt, an deren Zusammenhang, und ihrer Bewohnen- 
den Verhaltnisse wohl niemand denkt und sinnt; nur wird^es 
dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn 
da einmal der Erdboden einstiirzt, dort einmal ein Rauch . . . 
aufsteigt, und hier wunderbare Stimmen gehort werden.« 
Jede Wendung, mit der Goethe seine Stellung in Weimar be- 
festigte, entfernte ihn weiter von dem Schaffens- und Freundes- 
kreis der Strafiburger und der Wetzlarer Anfange. Die unver- 
gleichliche Autoritat, die er nach Weimar mitgebracht und dem 
Herzog gegeniiber zur Geltung zu bringen gewufit hatte, be- 
ruhte auf seiner Fiihrerrolle bei den Stiirmern und Drangern. 
In einer Provinzstadt wie Weimar aber konnte diese Bewegung 
nur fliichtig auftreten und blieb, ohne fruchtbar zu werden, in 
tumultuarisdien Extravaganzen stecken. Audi das hat Goethe 
von vornherein klar erkannt und ist alien Versuchen begegnet, 
das Strafiburger Wesen in Weimar fortzusetzen. Als 1776 Lenz 
dort erschien und sich bei Hofe im Stil der Sturmer und Dran- 
ger auffuhrte, liefi er ihn ausweisen. Es war politische Vernunft. 
Aber mehr nodi triebhafte Abwehr gegen die sdirankenlose 
Impulsivitat und das Pathos, die im Lebensstil seiner Jugend 
lagen und denen er sich auf die Dauer nicht gewachsen fuhlte. 
Goethe erlebte in diesen Kreisen die verheerendsten Beispiele 
outrierender Genialitat, und wie ihn die Gemeinschaft mit 
solchen Naturen erschiittert hat, sagte eine gleichzeitige Aufie- 
rung von Wieland. Der schreibt an einen Freund, dafi er Goe- 
thes Ruhm nicht um den Preis seiner Korperleiden erkaufen 
moge. Spater hat dann der Dichter die strengsten Praventiv- 
mittel gegen diese konstitutionelle Empfindlichkeit angewendet. 
Ja, wenn man sieht, dafi Goethe gewissen Tendenzen - z. B. 
alien nationalen und den meisten romantischen - wo er nur 
konnte aus dem Wege ging, so mufi man glauben, dafi er von 
ihnen eine unmittelbare Ansteckung furchtete. Dafi er keine 
tragische Dichtung gesdirieben hat, daran gab er selber der 
gleichen Verfassung schuld. 

Je mehr Goethes Leben in Weimar sich einem gewissen Gleich- 
gewichtszustande naherte - aufierlich wurde seine Aufnahme 
in die Hofgesellschaft 1782 durch Erhebung in den Adelsstand 



714 Enzyklopadieartikel 

abgeschlossen - desto unertraglicher wurde die Stadt ihm. Seine 
Ungeduld nahm die Gestalt einer pathologischen Verstimmung 
gegen Deutschland an. Er spricht davon, ein Werk verfassen zu 
wollen, das die Deutschen hassen. Seine Abneigung greift noch 
weiter. Nadi einer Schwarmerei von zwei Jugendjahren fiir 
deutsche Gotik, Landschaft, Ritterschaft hat Goethe schon mit 
fiinfundzwanzig Jahren, erst dumpf und unklar, allmahlich 
deutlicher, urn Mitte dreifiig leidenschaftlich fordernd, dann 
mit System und Grunden einen Widerstand gegen Klima und 
Landschaft, Geschichte, Politik und Wesen seines Volkes in sidi 
entdeckt und aufgezogen, der aus seinem Innersten kam. Diese 
Stimmung kam 1786 in Goethes jaher Abreise nadi Italien 
zum Ausbruch. Er selber hat die Reise als Flucht bezeichnet. 
Aberglauben, Spannungen umlagerten ihn so driickend, dafi er 
gegen niemanden von seinem Plan etwas verlauten zu lassen 
gewagt hat. 

Auf dieser zweijahrigen Reise, die ihn iiber Verona, Venedig, 
Ferrara, Rom und Neapel bis Sizilien gefuhrt hat, kam zweier- 
lei zur Entsdieidung. Einmal leistete Goethe Verzicht auf 
die HofTnung, sein Leben auf die bildende Kunst zu stellen. 
Immer wieder hatte er mit diesem Gedanken gespielt. Wenn 
Goethe unbewuflt in seine Stellung der Nation gegeniiber ge- 
treten war und lange Zeit die Physiognomie eines Dilettanten 
nicht verlieren wollte, so war daran, wie an den vielen Zer- 
fahrenheiten und Unsicherheiten seines literarischen Schaffens 
sein Schwanken iiber die Bestimmung seines Genies mit Schuld. 
Dies Genie trug allzu oft die Zuge des Talents, um dem Dichter 
seinen Weg leicht zu machen. Die grofie Kunst der italienischen 
Renaissance, die Goethe, da er sie mit den Augen Winckelmanns 
sah, nicht scharf von der der Antike zu unterscheiden vermochte, 
legte in ihm den Grund einmal zu der Gewifiheit, er sei nicht 
zum Maler geboren, zum anderen zu jener beschrankten, klas- 
sizistischen Kunstlehre, die vielleicht den einzigen Gedanken- 
kreis darstellt, in dem Goethe eher hinter seiner Zeit zuriick- 
stand, als sie fiihrte. Noch in anderem Sinne fand Goethe zu 
sich selber zuriick. Er schreibt mit Beziehung auf den Weimarer 
Hof nach Hause: »DerWahn, die schonen Korner, die in meinem 
und meiner Freunde Dasein reifen, mufiten auf diesen Boden 
gesat, und jene himmlischen' Juwelen konnten in die irdischen 



Goethe 715 

Kronen dieser Fursten gefafit werden, hat mich ganz verlassen, 
und ich finde mein jugendliches Gliick wiederhergestellt.« 
In Italien entstand aus der Prosafassung der »Iphigenie« die 
endgiiltige Versfassung. Im nachsten Jahr, 1787, beendete der 
Dichter den »Egmont«. Egmont ist kein politisches Drama son- 
dern eine Charakterologie des deutschen Tribunen, wie Goethe 
ihn, als Anwalt der Bourgeoisie, wohl zur Not hatte machen 
mogen. Nur dafi dies Bild des furchtlosen Volksmannes allzu 
iiberlegen ins Helle entschwebte und die politischen Realitaten 
soviel deutlicheren Ausdrudk in Oraniens und Albas Munde 
bekamen. Die Phantasmagoric des Schlusses - »Die Freiheit 
in himmlischem Gewand, von einer Klarheit umflossen, ruht 
auf einer Wolke« - entlarvt die vermeintlich politische Idee des 
Grafen Egmont als die dichterische Inspiration, die sie im 
Grunde ist. Dem Dichter waren in der Auffassung der revolu- 
tionaren Freiheitsbewegung, die unter Fuhrung des Grafen 
Egmont 1566 in den Niederlanden ausbrach, enge Schranken 
gezogen: erstens durch einen sozialen Schaffenskreis und eine 
Veranlagung, denen die konservativen Gedanken der Tradition 
und der Hierarchie unveraufierlich waren, zweitens durch seine 
anarchistische Grundhaltung, sein Unvermogen, den Staat als 
geschichtlichen Faktor gelten zu lassen. Fur Goethe stellte Ge- 
schichte eine unberechenbare Folge von Herrschaftsformen und 
Kulturen dar, in der die grofien Einzelnen, Casar wie Napoleon, 
Shakespeare wie Voltaire, den einzigen Anhalt bieten. Zu natio- 
nalen und sozialen Bewegungen hat er sich nie zu bekennen 
vermocht. Zwar hat er sich grundsatzlich niemals zusammen- 
hangend iiber diese Dinge geaufiert, aber das ist die Lehre, die 
aus seinen Gesprachen mit dem Historiker Luden so gut wie 
aus den » Wander jahren« und dem » Faust « sich ergibt. Audi 
bestimmen diese Uberzeugungen sein Verhaltnis zu dem Dra- 
matiker Schiller. Fur Schiller hatte von jeher das Staatsproblem 
im Mittelpunkt gestanden. Der Staat in seiner Beziehung zum 
Einzelnen war der Stoff seiner Jugenddramen, der Staat in 
seiner Beziehung auf den Trager der Gewalt war der seiner 
reifen gewesen. Die treibende Kraft in den Goetheschen Dra- 
men ist nicht Auseinandersetzung sondern Entfaltung. - Das 
lyrische Hauptwerk der italienischen Zeit sind die »Romischen 
Elegien«, die mit antiker Bestimmtheit und Formvollendung 



7 1 6 Enzyklopadieartikel 

die Erinnerung mannigfacher, romischer Liebesnachte festhalten. 
Die gesteigerte sinnliche Entschiedenheit seiner Natur brachte 
ihn zum Entschlufi, seine Lebensverhaltnisse enger zusammen- 
zuziehen und nur noch aus einer beschrankten Mitte heraus zu 
wirken. Nodi von Italien aus ersuchte Goethe, in einem Brief, 
der seinen diplomatischen Stil auf dem Hohepunkt zeigt, den 
Herzog, von alien administrativen und politischen Amtern ihn 
zu befreien. Die Bine wurde bewilligt, und wenn Goethe nichts- 
destoweniger nur auf weiten Umwegen zu einer intensiven, 
dichterischen Produktion zuriickfand, so ist davon die Aus- 
einandersetzung mit der franzosischen Revolution die wichtigste 
Ursache. Um diese Auseinandersetzung zu erfassen, hat man - 
wie bei all seinen verstreuten, unzusammenhangenden, undurch- 
schaubaren Aufierungen zur Politik - weniger die Summe 
seiner theoretischen Improvisationen als ihre Funktion in Be- 
tracht zu Ziehen. 

Dafi Goethe den aufgeklarten Despotismus des achtzehnten 
Jahrhunderts lange vor Ausbruch der franzosischen Revolution 
nach seinen Erfahrungen als Weimarer Legationsrat als hochst 
problematisch empfunden hat, steht aufier Zweifel. Er hat aber 
mit der Revolution nicht nur infolge seiner inneren Bindungen 
an das feudale Regime und nicht nur infolge seiner grundsatz- 
lichen Ablehnung aller gewaltsamen Erschiitterungen des of- 
fentlichen Lebens sich nicht versohnen konnen, sondern vor 
allem, weil es ihm widerstrebte, ja unmoglich war, zu irgend- 
welchen grundsatzlichen Anschauungen in Dingen des staatli- 
chen Lebens zu gelangen. Wenn er iiber die »Grenzen der Wirk- 
samkeit des Staates« sich niemals so klar wie z. B. Wilhelm von 
Humboldt ausgesprochen hat, so war es, weil sein politischer 
Nihilismus zu weit ging, als dafi er mehr als andeutungsweise 
von ihm zu reden gewagt hatte. Genug, dafi spaterhin Napoleons 
Programm, das deutsche Volk in seine Stamme zu zerschlagen, 
nichts Ungeheuerliches fiir Goethe hatte, der gerade in solcher 
vollkommenen Zersprengung die aufiere Erscheinung einer Ge- 
meinschaft erblickte, in der die grofien Einzelnen ihre Wir- 
kungskreise sich ziehen mochten - Wirkungskreise, in denen 
sie patriarchalisch schalten und iiber Jahrhunderte und Grenzen 
der Staaten hinweg einander ihre Geistersignale geben mochten. 
Mit Recht hat man gesagt, das Deutschland Napoleons sei fiir 



Goethe 717 

Goethe, den Inbegriff des romanisch-franzosisch gestimmten 
Frankentums, der gemafieste Spielraum gewesen. Es wirkt aber 
in sein Verhaltnis zur Revolution audi die ungeheure Sensibili- 
tat, die pathologische Erschiitterung hinein, in welche ihn die 
grofien politischen Geschehnisse seiner Zeit versetzten. Diese 
Erschiitterung, in der der Dichter von gewissen Episoden der 
franzosischen Revolution wie von personlichen Schicksalsschla- 
gen betroffen wurde, machten es ihm ebenso unmoglich, die 
Welt des Politischen grundsatzlich und rein aus Prinzipien zu 
regeln, wie das fur die Privatexistenz des einzelnen Menschen 
restlos zu ermoglichen ware. 

Im Lichte der Klassengegensatze des damaligen Deutschland 
stellt sich das so dar: Goethe hat sich nicht wie Lessing als Vor- 
kampfer der biirgerlichen Klassen sondern viel eher als ihr De- 
putierter, ihr Botschafter beim deutschen Feudalismus und dem 
Fiirstentum empfunden. Aus den Konflikten dieser reprasenta- 
tiven Stellung erklart sich sein dauerndes Schwanken. Der grofite 
Vertreter der klassischen, biirgerlichen Literatur - die den 
einzigen unanfechtbaren Anspruch des deutschen Volkes auf 
den Ruhm einer modernen Kulturnation bildete - konnte sich 
doch die biirgerliche Kultur nicht anders als im Rahmen eines 
veredelten Feudalstaates denken. Wenn Goethe die franzosische 
Revolution ablehnte, so geschah das freilich nicht nur im feu- 
dalen Sinne - aus der patriarchalischen Idee heraus, dafi jede 
Kultur, einschliefilich der biirgerlichen, im Schutz und im Schat- 
ten der absoluten Herrschaft einzig gedeihen konne - sondern 
ebensowohl im Sinne des Kleinburgertums, d. h. des Privat- 
manns, der sein Dasein angstlich gegen die politischen Er- 
schiitterungen rings um sich abzudichten sucht. Aber weder im 
Geiste des Feudalismus nocn im Geiste des Kleinburgertums 
war diese Ablehnung restlos und eindeutig. Darum hat keine 
einzige unter den Dichtungen, in denen er zehn Jahre hindurch 
versuchte, mit der Revolution ins Reine zu kommen, sich im 
Gesamtzusammenhange seines Werkes eine zentrale Stelle er- 
obern konnen. 

Es sind nicht weniger als sieben Dichtungen, in denen Goethe 
von 1 792-1 802 immer von neuem unternahm, der franzosischen 
Revolution eine bezwingende Formel oder ein abschliefiendes 
Bild abzugewinnen. Dabei handelt es sich zunachst entweder 



yi 8 Enzyklopadieartikel 

um Nebenprodukte, die mit dem »Grofikophta« und den »Auf- 
geregten« den tiefsten Stand markieren, den Goethes Produk- 
tion je gehabt hat, oder wie in der »Natiirlidien Tochter« um 
einen Versuch, der verurteilt war, Fragment zu bleiben. Endlich 
aber kam Goethe dem Ziel am nachsten in zwei Dichtungen, 
deren jede auf ihre Weise die Revolution sozusagen en bagatelle 
zu behandeln wufiten. »Hermann und Dorothea« madit sie zum 
finsteren Hintergrunde, gegen die ein deutsches Kleinstadtidyll 
sich gewinnend abhebt; »Reineke Fuchs« lost das Pathos der 
Revolution in die Form einer Verssatire, die nicht umsonst auf 
die mittelalterliche Kunstform des Tierepos sich zuriickzieht. 
Die Revolution als Hintergrund eines moralischen Anschau- 
ungsbildes - so erscheint sie in »Hermann und Dorothea«; die 
Revolution als komische Haupt- und Staatsaktion, als Inter- 
mezzo in der Tiergeschichte der Menschheit - so erscheint sie im 
»Reineke Fuchs«. Damit iiberwindet der Dichter die Spuren 
des Ressentiments, die in den fruheren Gestaltungsversuchen, 
vor allem in den »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« 
noch spiirbar sind. Dafi aber die Geschichte auf ihrer wahren 
Menschheitshohe um den Konig gruppiert ist, diese hierarchi- 
sche, feudale Maxime erhalt denn doch in diesem Produktions- 
kreis das letzte Wort. Jedoch gerade der Konig der »Natiirlichen 
Tochter« macht Goethes Unvermogen, politische Geschichte 
zu erfassen, greifbar deutlich. Es ist der Thoas der »Iphigenie« 
in neuer Gestalt, der Konig als Spezies des »Guten Menschen«, 
der hier in den Aufruhr der Revolution hineinversetzt, unab- 
v/eislich zum Scheitern bestimmt ist. 

Die politischen Probleme, mit denen die neunziger Jahre Goe- 
thes Produktion belastet haben, waren der Grund, warum er 
sich dieser Produktion auf mannigfache Weise zu entziehen 
suchte. Sein grofies Asyl war das Studium der Naturwissen- 
schaft. Schiller hat den Fluchtcharakter, der den naturwissen- 
schaftlichen Beschaftigungen dieser Jahre innewohnte, erkannt. 
Er schreibt 1787 an Korner: ^Goethes Geist hat alle Menschen, 
die sich zu seinem Zirkel zahlen, gemodelt. Eine stolze philoso- 
phische Verachtung aller Spekulation und Untersuchung, mit 
einem bis zur Affektation getriebenen Attachement an die 
Natur und einer Resignation in seine fiinf Sinne; kurz, eine 
gewisse kindliche Einf alt der Vernunft bezeichnet ihn und seine 



Goethe 719 

ganze hiesige Sekte. Da sucht man lieber Krauter oder treibt 
Mineralogie, als dafi man sich in leeren Demonstrationen ver- 
finge. Die Idee kann ganz gesund und gut sein, aber man kann 
audi viel ubertreiben.« Dies naturgeschichtliche Studium konnte 
Goethe dem politischen Geschehen gegeniiber nur nodi sproder 
machen. Er begrjfLG gschichte nur als Natur geschichtjJ^griff sie 
nur s oweit sie an die ^reatur^g ebunden b lieb. Darum ist die 
Padagogik, wie er sie spater in den »WanderjaKren« entwickelt 
hat, der vorgesdiobenste Posten geworden, den er in der Welt 
des Historischen zu gewinnen vermochte. Diese naturwissen- 
schaftliche Richtung ging gegen die Politik, aber sie ging audi 
gegen die Theologie. In ihr hat der kirchenfeindliche Spinozis- 
mus des Dichters seine fruchtbarste Gestaltung gefunden. Wenn 
er gegen die pietistischen Schriften seines ehemaligen Freundes 
Jacobi auftritt, weil der die These aufstellt, die Natur verberge 
Gott, so ist fiir Goethe an Spinoza das Wichtigste, dafi die Na- 
tur sowohl wie der Geist eine offenbare Seite des Gottlichen ist. 
Das ist gemeint, wenn Goethe an Jacobi schreibt: »Dich« hat 
»Gott mit der Metaphysik gestraft . . ., mich dagegen mit der 
Physik gesegnet«. - Der Begriff, unter dem Goethe seine Offen- 
barungen der physischen Welt darstellt, ist das »Urphanomen«. 
Er bildete sich urspriinglich im Zusammenhang seiner botani- 
schen und anatomischen Studien. 1784 entdeckt Goethe die 
morphologische Bildung der Schadelknochen aus umgebildeten 
Knochen der Wirbelsaule, ein Jahr spater die »Metamorphose 
der Pflanzen«. Er verstand unter dieser Bezeichnung den Urn- 
stand, dafi alle Organe der Pflanze von den Wurzeln bis zu den 
Staubgefafien nur umgebildete Blattformen sind. Damit ge- 
langte er zum BegrirTe der »Urpflanze«, die Schiller in dem 
beruhmten ersten Gesprach mit dem Dichter fiir eine »Idee« 
erklarte, die aber Goethe nicht gelten lassen wollte, ohne ihr 
eine gewisse sinnliche Anschaulichkeit zuzusprechen. Goethes 
naturwissenschaftliche Studien stehen im Zusammenhang seines 
Schrifttums an der Stelle, die bei geringeren Kiinstlern oft die 
Asthetik einnimmt. Man kann gerade diese Seite des Goethe- 
schen SchafTens nur verstehen, wenn man sich vergegenwartigt, 
dafi er zum Unterschiede von fast alien Intellektuellen dieser 
Epochen nie seinen Frieden mit dem »schonen Schein« gemacht 
hat. Nicht die Asthetik sondern die Naturanschauung versohn- 



720 Enzyklopadieartikel 

te ihm Dichtung und Politik. Eben darum aber verleugnet sich 
audi in diesen wissenschaftlichen Studien nicht, wie refraktar der 
Dichter gegen gewisse Neuerungen, im Technischen genau wie 
im Politisciien, war. An der Sdiwelle des naturwissenschaftlichen 
Zeitalters, das die Scharfe und den Kreis der Sinneswahrneh- 
mungen so ungeheuer erweitern sollte, lenkt er noch einmal 
zu den alten Formen der Naturergriindung zuriick und schreibt: 
»Der * Mensch an sich selbst, insof ern er sich seiner gesunden 
Sinne bedient, ist der grofite und genaueste physikalische Ap- 
parat, den es geben kann, und das ist eben das grofite Unheil 
der neuern Physik, dafi man die Experimente gleichsam vom 
Menschen abgesondert hat und blofi in dem, was kiinstliche 
Instrumente zeigen, die Natur erkennen . . . will.« Die Wissen- 
schaft hat nach seinen Begriffen den nachsten naturlichen Zweck 
darin, den Menschen in Tun und EJenken mit sich selber ins 
Reine zu bringen. Die Veranderung der Welt durch die Technik 
war nicht eigentlich seine Sadie, wenn er audi von ihrer unab- 
sehbaren Bedeutung im Alter sich erstaunlich klare Rechenschaft 
gegeben hat. Der hochste Nutzen der Naturerkenntnis be- 
stimmte sich fiir ihn in der Form, die sie einem Leben gibt. 
Diese Anschauung entfaltete er zu einem strengen Pragmatismus: 
»Was fruchtbar ist, allein ist wahr«. 

Goethe gehort zur Familie jener grofien Geister, fiir welche es 
im Grunde eine Kunst im abgezogenen Sinne nicht gab. Ihm 
war die Lehre von dem Urphanomen als Naturwissenschaft 
zugleich die wahre Kunstlehre, wie es fiir Dante die Philosophic 
der Scholastik und fiir Diirer die technischen Kunste waren. 
Im strengsten Sinne bahnbrechend sind fiir die Wissenschaft 
einzig die Entdeckungen seiner Botanik gewesen. Wichtig und 
anerkannt sind ferner die osteologischen Schriften: der Hinweis 
auf den menschlichen Zwischenkiefer, der freilich keine Ent- 
deckung war. Wenig beachtet blieb die »Meteorologie« und 
aufs scharfste bestritten die »Farbenlehre«, die fiir Goethe sein 
gesamtes naturwissenschaftliches Werk, ja nach gewissen Au- 
fierungen konnte man meinen sein Lebenswerk uberhaupt, 
kront. Seit einiger Zeit ist die Diskussion um dieses umfang- 
reichste Dokument der Goetheschen Naturwissenschaft wieder 
erneuert. Die »Farbenlehre« stellt sich in schroffen Gegensatz 
zur Newtonschen Optik. Der Fundamentalgegensatz, von dem 



Goethe 72 1 

Goethes jahrelange, stellenweise aufierst erbitterte Polemik aus- 
geht, ist: Newton erklart das weifie Lidit als eine Zusammen- 
setzung aus farbigen Lichtern, Goethe dagegen als das einfach- 
ste, unzerlegbarste, homogenste Wesen, das wir kennen. »Es ist 
nicht zusammengesetzt . . . Am allerwenigsten aus farbigen 
Lichtern.« Die »Farbenlehre« nimmt die Farben fur Metamor- 
phosen des Lichtes, fiir Erscheinungen, die im Kampf des 
Lichtes mit dem Dunkel sich bilden. Neben dem Gedanken der 
Metamorphose ist hier fiir Goethe bestimmend der der Polari- 
tat, der sein ganzes Forschen durchzieht. Dunkel ist nicht blofie 
Abwesenheit des Lichtes - dann ware es nicht bemerkbar - 
sondern ein positives Gegenlicht. Im spaten Alter taucht im 
Zusammenhang damit bei ihm der Gedanke auf, Tier und 
Pflanze wiirden vielleicht durch Licht bzw. Finsternis aus dem 
Urzustande entwickelt. Es ist ein eigentumlicher Zug dieser 
naturwissenschaftlichen Studien, dafi in ihnen Goethe dem 
Geiste der romantischen Schule ebenso sehr entgegenkommt, 
wie er sich in seiner Asthetik ihm widersetzt. - Zu verstehen 
ist Goethes philosophische Orientierung viel weniger aus seinen 
dichterischen als aus den naturwissenschaftlichen Schriften. Spi- 
noza blieb fiir ihn, seit derj ugenderleuchtung , welche in dem 
beriihmten Fragment ^^turjT niedergelegt ist, der Patron 
seiner morphologischen Studien. Spater ermoglichten sie ihm 
die Auseinandersetzung mit Kant. Wahrend Goethe dem kri- 
tischen Hauptwerk - der »Kritik der reinen Vernunft« - und 
ebenso der »Kritik der praktischen Vernunft« - der Ethik - 
beziehungslos gegeniiber steht, hegte er fiir die »Kritik der 
Urteilskraft« die hochste Bewunderung. Dort namlich verwirft 
Kant die teleologische Naturerklarung, die eine Stiitze der 
aufgeklarten Philosophic, des Deismus, war. Goethe mufite ihm 
hierin beistimmen, wie denn seine eigenen anatomischen und 
botanischen Forschungen weit vorgeschobene Positionen im 
Angriff der burgerlichen Naturwissenschaft gegen die teleolo- 
gische darstellten. Kants Definiti on des Orga nischen als einer 
y ZweckmMig1cdtrder^n_,Zweck^jjife auUerHal b sondern ^inne r- 
haJ^^de^-zweckmaiSigenjGeschQpfeTTelb^ entsprach den 

Begriffen Goethes. Einheit des Schlm^,Tiwir"des Naturschonen, 
ist immer unabhangig von Zwecken - darin sind Kant und 
Goethe sich einig. 



722 Enzyklopadieartikel 

Je tief er Goethe durcli die europaisdien Verhaltnisse in Mit- 
leidenschaft gezogen wurde, desto umfassender sudite er nach 
einem Ruckhalt fiir sein Privatleben. So hat man es aufzufassen, 
wenn sehr bald nach seiner Riickkehr aus Italien das Verhalt- 
nis zu Frau von Stein sich loste. Goethes Verbindung mit seiner 
spateren Frau, Christiane Vulpius, die er bald nach der Riick- 
kehr aus Italien kehnen lernte, ist f iinf zehn Jahre lang ein schwe- 
rer Anstofi fiir die biirgerliche Gesellschaft der Stadt gewesen. 
Dennoch darf man dieses Verhaltnis zu einem Proletarier- 
madchen, Arbeiterin in einer Blumenfabrik, nicht als Zeugnis 
besonders f reier sozialer Anschauungen des Dichters in An- 
spruch nehmen. Goethe hat audi in diesen Fragen der privaten 
Lebensgestaltung keine Maximen gekannt, geschweige denn re- 
volutionare. Christiane ist zunachst nur sein Verhaltnis gewe- 
sen. Das Bemerkenswerte dieser Verbindung Hegt nicht in ihrem 
Ursprung sondern in ihrem Verlauf. Obwohl Goethe niemals 
vermocht und vielleicht niemals versucht hat, den ungeheuren 
Niveauunterschied zwischen dieser Frau und sich selber zu 
uberbriicken, obwohl Christiane nicht nur ihrer Abkunft nach 
bei der kleinburgerlichen Gesellschaft von Weimar sondern 
ihrer Lebensweise nach audi bei freieren, bedeutenden Geistern 
Anstofi erregen mufite, obwohl die eheliche Treue von beiden 
Partnern nicht schwer genommen wurde, hat Goethe diese 
Bindung und mit ihr die Frau durch eine unwandelbare Ge- 
sinnung, ein grofiartiges Beharren auf dem schwierigsten Po- 
sten geadelt und fiinfzehn Jahre nach ihrer ersten Bekanntschaft 
im Jahre 1807 durch die kirchliche Trauung Hof und Gesell- 
schaft gezwungen, die Mutter seines Sohnes anzuerkennen. Mit 
Frau von Stein aber kam erst sehr spat nach Jahren tiefer Ab- 
neigung eine farblose Versohnung zustande. 
Im Jahre 1790 ubernahm Goethe als Staatsminister das Ressort 
fiir Kultus und Unterricht, ein Jahr spater das Hoftheater. Auf 
diesen Gebieten ist seine Wirksamkeit unubersehbar. Sie erwei- 
tert sich von Jahr zu Jahr. Alle wissenschaftlichen Institute, 
alle Museen, die Universitat Jena, die technischen Lehranstal- 
ten, die Singschulen, die Kunstakademie standen unter dem un- 
mittelbaren Einflufi des Dichters, der sich oft in die entlegensten 
Einzelheiten erstreckte. Hand in Hand damit ging die Ausbil- 
dung seines Hauswesens zu einem europaisdien Kulturinstitut. 



Goethe 723 

Seine Sammeltatigkeit erstreckte sich iiber alle Gebiete seines 
Forschens und seiner Liebhaberei. Aus diesen Sammlungen be- 
steht das Goethe-National-Museum in Weimar mit seiner Ge- 
maldegalerie, seinen Salen mit Handzeichnungen, Fayencen, 
Munzen, ausgestopften Tieren, Knochen und Pflanzen, Minera- 
lien, Versteinerungen, chemischen und physikalisdien Appara- 
ten, zu schweigen von der Biicher- und Autographensammlung. 
Seine Universalitat war schrankenlos. Er wollte, wo sich die 
Kunstlerschaft ihm verweigerte, doch wenigstens Liebhaber 
sein. Gleichzeitig waren diese Sammlungen der Rahmen eines 
Daseins, das mehr und mehr reprasentativ vor den Augen 
Europas sich abspielte. Sie verliehen ferner dem Dichter die 
Autoritat, deren er als grofiter Organisator des furstlichen 
Mazenatentums, den Deutschland je gehabt hat, bedurfte. Zum 
erst en Mai hatte in Voltaire ein Literat gewufit, rich europai- 
sche Autoritat zu sichern und Fursten gegeniiber das Prestige 
des Burgertums durch eine geistig und materiell gleich grofie 
Existenz zu vertreten. Darin ist Goethe Voltaires unmittelbarer 
Nachfolger. Genau so wie die Stellung Voltaires will auch 
Goethes politisch verstanden sein. Und wenn er die franzosische 
Revolution audi ablehnte, so hat er dennoch zielbewufiter 
und virtuoser als irgendein anderer den Machtzuwachs ver- 
wertet, den die Existenz des Literaten durch sie erfuhr. Hat 
Voltaire in der zweiten Halfte seines Lebens es zu fiirstlidiem 
Reichtum gebracht, so lassen sich freilich Goethes finanzielle 
Verhaltnisse damit nicht messen. Um aber die auffallende 
Zahigkeit des Dichters in geschaftlichen Fragen, besonders in 
Verhandlungen mit Cotta, zu verstehen, hat man zu beriick- 
sichtigen, dafi er sich seit der Jahrhundertwende als den Stifter 
eines nationalen Vermachtnisses ansah. 

In diesem ganzen Jahrzehnt war es Schiller, der Goethe immer 
wieder aus der Zerstreuung des staatsmannischen Wirkens und 
der Versunkenheit in die Betrachtung der Natur zur dichteri- 
schen Produktion aufrief. Die erste Begegnung zwischen den 
Dichtern, die bald nach Goethes Ruckkehr aus Italien stattfand, 
blieb folgenlos. Dies entsprach durchaus der Gesinnung, die 
beide Manner gegeneinander hegten. Schiller, damals Verfasser 
der Dramen: »Die Rauber«, »Kabale und Liebe«, »Fiesko«, 
»Don Carlos «, stellte in der Schroffheit seiner klassenbewufiten 



J24 Enzyklopadieartikel 

Formulierungen den denkbar starksten Gegensatz zu Goethes 
Versuchen einer gemafiigten Vermittlung dar. Wahrend Schiller 
den Klassenkampf auf der ganzen Linie aufnehmen wollte, 
hatte Goethe langst die befestigte Riickzugslinie bezogen, von 
der aus sich die Offensive nur noch ins kulturelle Gebiet vor- 
tragen liefi, alle politische Aktivitat der Burgerklasse dagegen 
auf die Defensive beschrankt blieb. Aus der Tatsache, dafi es 
zwischen diesen beiden Mannern zum Kompromifi kam, spricht 
deutlich, wie wenig gefestigt das Klassenbewufitsein des deut- 
schen Burgertums war. Dieser Kompromifi kam im Zeichen der 
Kantischen Philosophic zustande. Schiller hat im asthetischen 
Interesse die radikalen Formulierungen der Kantischen Moral 
in seinen Brief en »Uber die asthetische Erziehung des Men- 
schen« um ihre aggressive Scharfe gebracht und in ein Instrument 
historischer Konstruktion verwandelt. Das erlaubte eine Ver- 
standigung, besser gesagt einen Waffenstillstand mit Goethe. In 
Wahrheit ist der Umgang beider Manner fiir immer durch die 
diplomatische Reserve gekennzeichnet geblieben, die dieser Kom- 
promifi von ihnen verlangt hat. Ihre Diskussion blieb mit fast 
angstlicher Genauigkeit auf formale Probleme der Dichtkunst 
beschrankt. In dieser Hinsicht war sie freilich epochemachend. 
Der Briefwechsel zwischen ihnen ist ein bis ins Einzelne wohl 
abgewogenes und redigiertes Dokument und hat aus tenden- 
ziosen Griinden immer mehr Ansehen genossen als der tiefere, 
freiere und lebendigere, den Goethe im hohen Alter mit Zel- 
ter gefiihrt hat. Mit Recht hat der jungdeutsche Kritiker Gutz- 
kow von den »Haarspaltungen der asthetischen Tendenzen und 
kunstlerischen Theorien« gesprochen, welche in diesem Brief- 
wechsel sich in einem fortwahrenden Zirkel bewegen. Und audi 
darin sah er richtig, dafi er die schreiende Dissonanz, mit der 
Kunst und Geschichte hier feindlich aufeinander treffen, dafiir 
verantwortlich macht. So haben die beiden Dichter selbst fiir 
ihre grofiten Werke nicht immer beieinander Verstandnis ge- 
funden. »Er war«, sagt Goethe 1829 von Schiller, »so, wie alle 
Menschen, die zu sehr von der Idee ausgehen. Auch hatte er 
keine Ruhe und konnte nie fertig werden . . . Ich hatte nur im- 
mer zu tun, dafi ich feststand und seine wie meine Sachen von 
solchen Einflussen freihielt und schutzte.« 
Wichtig wurde Schillers Anstofi zunachst fiir Goethes Balladen- 



Goethe 725 

dichtung (»Der Schatzgraber«, »Der Zauberlehrling«, »Die 
Braut von Korinth«, »Der Gott und die Bajadere«). Das offi- 
zielle Manifest ihres literarischen Biindnisses aber wurden die 
»Xenien«. Der Almanacii erschien 1795. Seine Front richtete 
sich gegen die Feinde der Schillerschen »Horen«, den vulgaren 
Rationalismus, der sein Zentrum in Nicolais Berliner Kreis 
hatte. Der Angriff wirkte. Die literarische Schlagkraft wurde 
gesteigert durch das anekdotische Interesse: Die Dichter zeichne- 
ten namlich verantwortlich fiir das Ganze, ohne die Autoren- 
schaft an den einzelnen Distichen zu verraten. Es lag aber bei 
aller Verve und Eleganz des Angriffs in diesem Vorgehen eine 
gewisse Desperation. Die Zeiten von Goethes Popularitat waren 
dahin, und wenn er von Jahrzehnt zu Jahrzehht an Autoritat 
gewann, so ist er nie wieder ein volkstiimlicher Dichter gewor- 
den. Der spatere Goethe besonders hat jene entschiedene Ver- 
achtung des lesenden Publikums, die alien klassischen Dichtern 
mit Ausnahme von Wieland gemein ist und bisweilen den stark- 
sten Ausdruck im Goethe-Schillerschen Briefwechsel findet. 
Goethe stand in keinem Rapport zum Publikum. »Wenn seine 
Wirkung gewaltig war, so hat er doch nie in dem selbst gelebt 
oder in dem fortgefahren zu leben, wo sein Anfang alle Welt 
entzundete.« Er wufite nicht, was er Deutschland positiv mit 
sich zum Geschenk machte. Am wenigsten hatte er sich mit 
irgendeiner Richtung oder Tendenz in Einklang zu bringen ge- 
wufit. Sein Versuch, mit Schiller eine solche darzustellen, blieb 
zuletzt eine Illusion. Diese Illusion zu vernichten, ist das berech- 
tigte Motiv, aus dem heraus das deutsche Publikum des neun- 
zehnten Jahrhunderts immer wieder Goethe und Schiller in 
Gegensatz zu stellen und aneinander zu messen versucht hat. 
Der Einflufi Weimars auf die groi5e deutsche Masse lag nicht bei 
den beiden Dichtern sondern in den Zeitschriften Bertuchs und 
Wielands, in der »Allgemeinen Literarischen Zeitung« und im 
»Teutschen Merkur«. »Wir wollen«, hat Goethe 1795 geschrie- 
ben, »die Umwalzungen nicht wiinschen, die in Deutschland 
klassische Werke vorbereiten konnten«. Diese Umwalzung - das 
ist die Emanzipation der Bourgeoisie, die 1848 zu spat erfolgte, 
um noch klassische Werke hervorzubringen. Deutsches Wesen, 
deutscher Sprachgeist, das waren gewifi die Saiten, auf denen 
Goethe seine gewaltigen Melodien spielte, aber der Resonanz- 



Ji6 Enzyklopadieartikel 

boden dieses Instruments war nicht Deutschland sondern das 
Europa Napoleons. 

Goethe und Napoleon schwebte ein Gleiches vor Augen: die 
soziale Emanzipierung der Bourgeoisie unter der politischen 
Form der Despotic Sie war das »Unmogliche«, das »Inkom- 
mensurable«, das »Unzulanglidie«, das als tiefster Stachel in 
ihnen safi. Es hat Napoleon zum Scheitern gebracht. Von Goe- 
the dagegen kann man sagen, dafi er, je alter er wurde, desto 
mehr sein Leben dieser politischen Idee nachgeformt und es 
bewufit zum Inkommensurablen, Unzulanglichen gestempelt, 
zum kleinen Urbild seiner politischen Idee erhoben hat. Liefien 
sich abgrenzende Linien fiihren, so konnte die Poesie die biirger- 
liche Freiheit dieses Staates versinnlichen, wahrend das Regime 
in seinen privaten Angelegenheiten dem Despotischen vollig 
entsprach. Im Grunde aber ist freilich ebensowohl im Leben 
wie in der Dichtung das Ineinanderwirken dieser unverein- 
baren Strebungen zu verfolgen: im Leben als Freiheit des 
erotischen Durchbruchs und als strengstes Regime der »Ent- 
sagung«, in der Dichtung nirgends mehr als im zweiten Teil 
des » Faust «, dessen politische Dialektik den Schliissel zu Goethes 
Stellung gibt. Nur in diesem Zusammenhange ist es begreiflich, 
wie Goethe in den letzten dreifiig Jahren sein Leben vollig den 
biirokratischen Kategorien des Ausgleichs, der Vermittlung, der 
Vertagung hat unterordnen konnen. Es ist sinnlos, sein Handeln 
und seine Gebarde nach einem abstrakten Mafistab der Sitt- 
lichkeit zu beurteilen. In dieser Abstraktion liegt das Absurde, 
das an den Angriffen haftet, die Borne im Namen des Jungen 
Deutschland gegen Goethe gerichtet hat. Gerade in seinen Ma- 
ximen und in den bemerkenswertesten Eigenheiten, die das 
Regime seines Lebens aufweist, ist Goethe nur aus der politi- 
schen Position, die er sich geschaffen hat, und in die er sich hin- 
einversetzt hat, begreiflich. Deren verborgene, aber um so tiefere 
Verwandtschaft mit der Napoleons ist so entscheidend, dafi 
die nachnapoleonische Zeit, die Macht, die Napoleon gestiirzt 
hatte, sie nicht mehr verstehen konnte. Der Sohn biirgerlicher 
Eltern steigt auf, lafit alles hinter sich, wird Erbe einer Revolu- 
tion, vor deren Macht in seinen Handen alles erzittert (Fran- 
zosische Revolution; Sturm und Drang) und griindet im Augen- 
blick, da er die Herrschaft der iiberlebten Gewalten am 



Goethe 727 

tiefsten erschuttert hat, durch einen Staatsstreich seine eigene 
in denselben alten, denselben feudalen Formen (Kaisertum; 
Weimar). 

Goethes Feindseligkeit gegen die Freiheitskriege, die der biir- 
gerlichen Lkeraturgeschichte einen uniiberwindlidien Anstofi 
bereitet hat, ist im Zusammenhang seiner politischen Bedingt- 
heit vollkommen selbstverstandlich. Napoleon war ihm, ehe er 
das europiiische Imperium gegriindet hatte, der Begriinder seines 
europaischen Publikums. Als der Dichter zuletzt im Jahre 1815 
sich durch Iffland bestimmen liefi, zum Einzug der siegreichen 
Truppen in Berlin ein Festspiel, »Des Epimenides Erwachen«, 
zu schreiben, da konnte er sich von Napoleon nur lossagen, 
indem er an das Chaotische, Nachtige der Urgewalt sich hielt, 
das in diesem Mann Europa erschiittert hatte. Er konnte den 
Siegern kein Gefuhl entgegenbringen. Anderseits kommt in der 
leidenden Bestimmtheit, mit der er gegen den Geist sich zu 
wehren suchte, der Deutschland 1 8 1 3 bewegte, dieselbe Idiosyn- 
krasie zum Ausdruck, die ihm den Aufenthalt in Krankenzim- 
mern, die Nahe Sterbender unertraglich gemacht hat. Aus 
seiner Abneigung gegen alles Soldatische spricht gewifi weniger 
Auflehnung gegen militarischen Zwang, selbst Drill, als Wider- 
wille gegen alles, was angetan ist, die Erscheinung des Menschen 
zu beeintrachtigen von der Uniform bis zur Wunde. Seine Ner- 
ven wurden auf eine harte Probe gestellt,als er denHerzog 1792 
wahrend des Einfalls der verbiindeten Armeen in Frankreich 
begleiten mufite. Damals hat Goethe viel Kunst an den Tag 
gelegt, um iiber Naturbetrachtungen, optischen Studien und 
Zeichnungen sich gegen das Geschehen, dessen Zeuge er war, 
abzudichten. Die »Kampagne in Frankreich« ist als Beitrag 
zur Kenntnis des Dichters ebenso wichtig, wie sie als Ausein- 
andersetzung mit dem weltpolitischen Geschehen triibe und 
unscharf ist. 

Die europaische und die politische Wendung, das ist die Signa- 
tur von Goethes spatestem poetischen Schaffen. Diesen festesten 
Boden jedoch fuhlte er erst nach Schillers Tod unter den Fiifien. 
Das grofie Prosawerk dagegen, das noch unter Schillers unmit- 
telbarer Einwirkung nach langer Pause wieder vorgenommen 
und zuende gefuhrt wurde, »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, be- 
zeichnet Goethes zogerndes Verweilen in den idealistischen Vor- 



7*8 Enzyklopadieartikel 

hofen, im deutschen Humanismus, aus welchem Goethe spater 
sich zum oikoumenischen durchrang. Das Ideal der »Lehrjahre« 
-_die _B jldung -_uncLdie s oziale Umwelt des Helden - die 
Komodianten -siesind i n der T at einand er str eng zugeordnet, 
lirSrHeiHeJExpojr^Ten jengs^pe zif^ 
reich es des »sch onen Scheins«, welche der gerade zu ihrer Herr- 
"schaft emporsteigenden Bourgeoisie des Westens wenig zu sagen 
hatte. In der Tat war es fast eine poetische Notwendigkeit, in 
den Mittelpunkt eines deutschen burgerlichen Romans Schau- 
spieler zu stellen. Damit wich Goethe allem politisch Bedingten 
aus, um es dann freilich zwanzig Jahre spater in der Fortsetzung 
seines Bildungsromans desto riicksichtsloser nachzuholen. Dafi 
der Dichter in »Wilhelm Meister« einen halben Kiinstler zum 
Helden madit, das sicherte diesem Roman, gerade weil es in 
der deutschen Situation des ausgehenden Jahrhunderts bedingt 
war, seinen entscheidenden Einflufi. Von ihm gehen die Kunstler- 
romane der Romantik vom »Heinrich von Ofterdingen« des 
Novalis, Tiecks »Sternbald« bis zu Morikes »Maler Nolten« 
aus. Der Stil des Werkes entspricht dem Gehalt. »Nirgends 
verrat sich die logische Maschinerie oder ein dialektischer Kampf 
der Ideen mit dem Stoff, sondern Goethes Prosa ist eine Per- 
spektive des Theaters, ein iiberdachtes, erlerntes, zum schaffen- 
den Gedankenaufbau leise zugerauntes Stiick. Die Dinge spre- 
chen bei ihm nicht selbst, sondern sie miissen sich an den Dichter 
wenden, um zu Worte zu kommen. Darum ist diese Sprache 
deutlich und doch bescheiden, klar aber ohne aufzufallen, im 
Extrem diplomatisch.« 

In der Natur beider Manner lag es, dafi Schillers Einwirkung 
sich im Wesentlichen als Bildung, Anregung der Goetheschen 
Produktion auswirkte, ohne im Grunde die Richtung des Goe- 
theschen Schaflens zu beeinflussen. Dafi Goethe sich der Balla- 
dendichtung zuwandte, »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, das 
Faustf ragment wieder aufnahm, ist vielleicht Schiller zu danken. 
Aber fast immer drehte der eigentliche Gedankenaustausch iiber 
diese Werke sich um das Handwerkliche und Technische. Goe- 
thes Inspiration blieb unabgelenkt. Es war eine Freundschaft 
mit dem Menschen und dem Autor Schiller. Aber es war nicht 
die Dichterfreundschaft, die man hier oft zu sehen geglaubt hat. 
Der aufierordentliche Charme und die Gewalt von Schillers 



Goethe 729 

Person haben sidi deshalb urn nichts weniger Goethe in ihrer 
ganzen Grofie ersdilossen, und er hat nach dessen Tode in 
seinem »Epilog zu Schillers Glocke« ihnen ein Denkmal gesetzt. 
Nach dem Tode des Dichters nahm Goethe eine neue Organisa- 
tion seiner personlichen Beziehungen vor. Es gab nun fernerhin 
keinen um ihn, dessen Geltung annahernd an seinen eigenen 
Namen heranreichte. Audi lebte in Weimar selbst kaum je- 
mand, der in besonderer Weise von ihm ins Vertrauen ware 
gezogen worden. Dagegen wuchs im Laufe des neuen Jahr- 
hunderts die Bedeutung, die Zelter, der Grunder der Berliner 
Singakademie, fiir Goethe gehabt hat. Mit der Zeit nahm Zelter 
fur Goethe den Rang eines Botschafters ein, der ihn in der preu- 
fiischen Hauptstadt reprasentierte. In Weimar selbst begriindete 
sich der Dichter allmahlich einen ganzen Stab von Helfern und 
Sekretaren, ohne deren Mitwirkung das ungeheure Vermachtnis, 
das er in den letzten dreifiig Jahren seines Lebens redigierte, 
niemals hatte sichergestellt werden konnen. Der Dichter stellte 
schliefilich sein ganzes Leben in einer geradezu chinesischen 
Weise unter die Kategorie der Schrift, In diesem Sinne ist das 
grofie Literatur- und Press-Buro mit seinen Assistenten von 
Eckermann, Riemer, Soret, Miiller bis hinab zu den Schreibern 
Krauter und John zu betrachten. Eckermanns »Gesprache mit 
Goethe« sind fiir diese letzten Jahrzehnte die Hauptquelle und 
zudem eines der besten Prosabucher des neunzehnten Jahrhun- 
derts geworden. Was den Dichter an Eckermann fesselte, war 
vielleicht mehr als alles andere dessen bedingungslose Neigung 
zum Positiven, wie sie bei iiberlegenen Geistern so nie, aber 
auch bei geringeren nur sehr selten sich findet. Goethe hat zur 
Kritik im engeren Sinne kein Verhaltnis gehabt. Die Strategic 
des Kunstbetriebs, die auch ihn hin und wieder gefesselt hat, 
spielt ihm in diktatorischen Formen sich ab: in Manifesten, wie 
er sie mit Herder und Schiller entwarf, in Vorschriften, wie er 
sie fiir Schauspieler und Kiinstler verfafke. 

Selbstandiger als Eckermann, freilich eben darum auch weni- 
ger ausschliefilich dem Dichter dienstbar, war der Kanzler von 
Miiller. Auch seine »Unterhaltungen mit Goethe« gehoren zu 
den Dokumenten, die Goethes Bild, wie es auf die Nachwelt 
kam, bestimmt haben. Nicht als Gesprachspartner, wohl aber 
durch seine grofie und scharfsinnige Charakteristik Goethes ist 



73 o Enzyklopadieartikel 

ihnen der Professor der Altphilologie, Friedrich Riemer, an die 
Seite zu stellen. Das erste grofie Dokument, das aus jenem lite- 
rarisdien Organismus hervorging, den sich der alternde Goethe 
gesdiaffen hat, ist die Autobiographic »Dichtung und Wahr- 
heit« ist eine Vorschau auf Goethes spates Leben in Gestalt einer 
Riickerinnerung. Diese Riickschau auf Goethes tatige Jugend 
gibt erst den Zugang zu einem der wichtigsten Prinzipien dieses 
Lebens. Goethes moralische Aktivitat ist im letzten Grunde ein 
positives Widerspiel zu dem christlichen Prinzip der Reue: 
»Suche allem in Deinem Leben eine Folge zu geben«. »Der ist 
der gliicklichste Mensch, der das Ende seines Lebens mit dem 
Anfang in Verbindung setzen kann.« Bei alledem war der 
Trieb am Werke, in seinem Leben das Bild der Welt abzu- 
formen und zur Erscheinung zu bringen, der er in seiner Jugend 
sich bequemt hatte, der Welt der Unzulanglichkek, der Kom- 
promisse, der Kontingenzen: der erotischen Unentschieden- 
heit, des polkischen Schwankens. Auf dieser Grundlage allein 
erhalt die Goethesche »Entsagung« ihren rechten Sinn, den ihrer 
furchtbaren Zweideutigkeit: Goethe hat nicht allein der Lust, 
sondern audi der Grofie, dem Heroentum entsagt. Vielleicht ist 
dies der Grund, dafi diese Autobiographic abbricht, bevor der 
Held seine Stellung erreicht hat. Die Memorabilien des spateren 
Lebens tauchen verstreut in der »Italienischen Reise«, der »Kam- 
pagne in Frankreich«, den »Tag- und Jahresheften« auf. In 
seine Darstellung der Jahre 1 750-1 775 hat Goethe eine Serie 
von Charakteristiken der bedeutendsten Zeitgenossen seiner 
Jugend eingereiht und Gunther, Lenz, Merck, Herder sind 
z. T. in der Pragung der Goetheschen Formeln in die Literatur- 
geschichte eingegangen. In ihrer Darstellung hat der Dichter 
aber nicht nur sie selbst sondern zugleich die eigene Person in 
ihrer Polaritat lebendig gemacht, die feindlich oder verwandt 
mit jenen Freunden oder Konkurrenten sich auseinandersetzt. 
Es ist darin die gleiche Notigung am Werke, die ihn als drama- 
tischen Dichter bewegte, mit Egmont und Oranien Volksmann 
und Hofmann, mit Tasso und Antonio Dichter und Hofling, 
mit Prometheus und Epimetheus den schaffenden Mann und 
den klagenden Traumer, mit Faust und Mephisto sie alle zu- 
gleich als Personen des eigenen Selbst einander gegemiberzu- 
stellen. 



Goethe 73 1 

Um den nachsten, dienenden Kreis schart sich in diesen spateren 
Jahren ein weiterer. Der Schweizer Heinrich Meyer, Goethes 
Gewahrsmann in Fragen der Kunst, streng klassizistisch, be- 
sonnen, der Heifer bei der Redaktion der Propylaen und spa- 
rer bei der Leitung der Zeitschrift »Kunst und Altertum«; der 
Philologe Friedrich August Wolf, der durch den Nachweis, dafi 
die homerischen Epen von einer ganzen Reihe unbekannter 
Dichter herstammen, deren Gesange erst spat einheitlich redi- 
giert und unter dem Namen Homers verbreitet wurden, Goethe 
aufs Zwiespaltigste bewegte und mit Sdiiller Anteil an seinem 
Versuch hat, die IHas in einer »AchilleTs« fortzusetzen, welche 
Fragment blieb; Sulpiz Boisseree, der Entdecker des deutsdien 
Mittelalters in der Malerei, der begeisternde Anwalt der deut- 
schen Gotik, als solcher Freund der Romantiker und von der 
ganzen Romantik ausersehen, sich zum Fursprech ihrer kunstle- 
rischen Oberzeugung bei Goethe zu machen. (Seine jahrelan- 
gen Muhen mufiten sich mit einem halben Siege begniigen, 
Goethe liefi sich schlie&lich bereit finden, eine Sammlung von 
Dokumenten und Planen zur Geschichte und zum Ausbau des 
Kolner Doms bei Hof vorzulegen.) All diese Beziehungen wie 
zahllose andere sind Ausdruck einer Universalitat, um derent- 
willen Goethe die Grenzen zwischen dem Kiinstler und For- 
scher und Liebhaber bewufit ineinander verfliefien liefi: keine 
Gattung von Poesie und keine Sprache wurde in Deutschland 
beliebt, da nicht Goethe sich gleich mit ihr befafite. Was er als 
Obersetzer, Reisebeschreiber, selbst Biograph, Kunstkenner und 
Kunstrichter, Physiker, Erzieher, sogar Theologe, Theaterdi- 
rektor, Hofdichter, Gesellschafter und Minister geleistet, diente 
alles, den Ruf seiner Aliseitigkeit zu vermehren. Der Lebens- 
raum dieser Universalitat aber ward ihm mehr und mehr 
Europa und zwar im Gegensatz zu Deutschland. Er hat den 
groften europaischen Geistern, die gegen Ende seines Lebens 
auf tauchten, Byron, Walter Scott, Manzoni, eine leidenschaft- 
liche Bewunderung entgegengebracht, in Deutschland dagegen 
nicht selten das Mittelmafiige gefordert und fur das Genie seiner 
Zeitgenossen Holderlin, Kleist, Jean Paul keinen Sinn gehabt. 
Gleichzeitig mit »Dichtung und Wahrheit« entstanden 1809 die 
»Wahlverwandtschaften«. Wahrend Goethe an diesem Roman 
schrieb, gewann er zum ersten Male sichere Fiihlung mit dem 



73 2. Enzyklopadieartikel 

europaischen Adel, eine Erfahrung, aus der heraus fur ihn sich 
die Anschauung jenes neuen, weltlidi sicheren Publikums bildet, 
fiir das er sich schon vor zwanzig Jahren in Rom entschliefien 
wollte, nur nodi zu schreiben. Diesem Publikum, der schlesisch- 
polnischen Aristokratie, Lords, Emigranten, preufiischen Gene- 
ralen, die sich in den bohmischen Badern zumal um die Kaiserin 
von Osterreich fanden, sind die »Wahlverwandtschaften« zu- 
gedacht. Das hinderte den Dichter nicht, kritisch deren Lebens- 
verhaltnisse zu beleuchten. Denn die »Wahlverwandtschaften« 
zeichnen ein dunnes aber sehr scharfes Bild vom Verfall der 
Familie in der damals herrschenden Klasse. Aber die Macht, der 
diese Institution in der Auflosung zum Opfer fallt, ist nicht 
das Biirgertum sondern die in Gestalt magischer Schicksalskrafte 
in ihrem Urzustand restaurierte feudale Gesellschaft. Die Worte 
iiber den Adel, die Goethe funfzehn Jahre friiher in seinem 
Revolutions-Drama »Die Aufgeregten« dem Magister in den 
Mund legt: »Dieses iibermiitige Geschlecht kann sich doch von 
dem geheimen Schauer nicht losmachen, der alle lebendigen 
Krafte der Natur durchschwebt, kann die Verbindung sich 
nicht leugnen, in der Worte und Wirkung, Tat und Folge ewig 
mit einander bleiben«, sind das magisch-patriarchalische Grund- 
motiv dieses Romans. Es ist die gleiche Denkart, die in »Wil- 
helm Meisters Wanderjahren« selbst die entschiedensten Ver- 
suche, das Bild eines vollentwickelten Burgertums zu gestalten, 
auf ein Nachbild mystischer, mittelalterlicher Verbande - die 
geheime Gesellschaft im Turm - zuruckfiihrt. Die Entfaltung 
der burgerlichen Kulturwelt, die Goethe weit universaler als 
irgendeiner seiner Vorganger und Nachfolger vollzog, ver- 
mochte er sich nicht anders als im Rahmen eines veredelten 
Feudalstaates zu denken. Und als die Mifiwirtschaft der deut- 
schen Restauration, in die die letzten zwanzig Jahre seines 
Wirkens fielen, ihm Deutschland noch mehr entfremdete, erhielt 
dieser ertraumte Feudalismus patriarchalische Ziige aus dem 
Orient. Das morgenlandische Mittelalter des »West-6stHchen 
Divan« stieg auf. 

Dies Buch eroberte zugleich mit einem neuen Typus der philo- 
sophischen Lyrik der deutschen und europaischen Literatur die 
grofSte dichterische Verkorperung der Altersliebe. Nicht allein 
politische Notwendigkeiten wiesen Goethe auf den Orient. Die 



Goethe 733 

gewaltige Spatbliite, die Goethes erotische Leidensdiaft im 
hochsten Alter entfaltete, liefi ihn selbst das Alter nodi als 
Erneuerung, ja als Kostiim erfahren, das Eines mit dem ostlichen 
werden mufite, in dem seine Begegnung mit Marianne von Wil- 
lemer zu einem kurzen, rauschenden Fest geworden war. Der 
»West-6stliche Divan« ist dessen Nachgesang. Goethe erfafite 
Geschichte, Vergangenheit nur in dem Mafie, als ihm, sie in sein 
Dasein zu verschlingen, gelang. In der Folge seiner Passionen 
stellt Frau von Stein die Einkorperung der Antike, Marianne 
von Willemer die des Morgenlandes, Ulrike von Levetzow, 
seine letzte Liebe, die Vereinigung dieser Erscheinungen mit 
den deutschen Marchenbildern seiner Jugendzeit dar. Das lehrt 
die »Marienbader Elegie«, seine spateste Liebesdichtung. Goethe 
unterstrich die didaktische Wendung seines letzten Gedicht- 
bandes durch die Notizen zum Divan, in denen er, gestiitzt auf 
Hammer-Purgstall und Diez, seine orientalistischen Studien 
dem Publikum vorlegt. In den Breiten des morgenlandischen 
Mittelalters, unter Fiirsten und Vesiren, im Angesicht der prunk- 
vollen Kaiserhofe nimmt Goethe die Maske des bediirfnislosen, 
vagabundierenden, trinkenden Hatem vor und bekennt sidi 
damit dichtensch zu jenem verborgenen Zug seines Wesens, den 
er einmal Eckermann anvertraute: »Prachtige Gebaude und 
Zimmer sind fiir Fursten und Reidbe. Wenn man darin lebt, 
fuhlt man sich beruhigt . . . und will nichts weiter. Meiner Natur 
ist es ganz zuwider. Ich bin in einer prachtigen Wohnung, wie 
ich sie in Karlsbad gehabt, sogleich faul und untatig. Geringe 
Wohnung dagegen, wie dieses sdilechte Zimmer, worin wir 
sind, ein wenig unordentlich ordentlich, ein wenig zigeuner- 
haft, ist fiir mich das Rechte; es lafit meiner inneren Natur 
voile Freiheit, tatig zu sein und aus mir selber zu sdiarTen.« In 
der Gestalt des Hatem lafit Goethe, versohnt mit der Erfahrung 
seiner mannlichen Jahre, noch einmal das Unstete, Wilde seiner 
Jugend zu Worte kommen. In vielen dieser Lieder hat der 
Dichter mit seinen gewaltigen Mitteln der Bettler-, Schenken- 
und Vagantenweisheit die hochste Form gegeben, die sie je 
gefunden haben. 

»Wilhelm Meisters Wanderjahre« treiben den didaktischen Zug 
in der spateren Dichtung am schroffsten heraus. Der Roman, 
der lange liegen blieb, schlieftlich iibersturzt beendet wurde, 



734 Enzyklopadieartikel 

reich an Unstimmigkeiten und WidersprUchen ist, wurde zuletzt 
vom Dichter als Magazin behandelt, in den er den Inhalt seiner 
Notizhefte durch Eckermann einreihen liefi. Die zahlreichen 
Novellen und Episoden, aus denen das Werk entstand, sind nur 
lose verbunden. Deren wichtigste ist die »Padagogische Pro- 
vinz«, ein hochst merkwiirdiges Zwittergebilde, in dem man 
Goethes Auseinandersetzung mit den grofien, sozialistischen 
Werken eines Sismondi, Fourier, Saint-Simon, Owen, Bentham „ 
erblicken kann. Ihr EinfliiK ging wohl kaum aus unmittelbarer 
Lektiire hervor, war aber unter den Zeitgenossen stark genug, 
um Goethe zu dem Versuch zu bestimmen, die feudale mit jener 
biirgerlich-praktischen Richtung zu verbinden, die so entschie- 
den in diesen Schriften zur Geltung kam. Die Kosten dieser 
Synthese bestreitet das klassizistische Bildungsideal. Es tritt auf 
der ganzen Linie zuriick. Sehr charakteristisch ist, dafi der Acker- 
bau obligat erscheint, wahrend iiber den Unterricht in den toten 
Sprachen nichts verlautet. Die »Humanisten« aus den »Lehr- 
jahren« sind samtlich Handwerker geworden: Wilhelm Chirurg, 
Jarno Bergmann, Philine Schneiderin. Goethe hat die Idee der 
Berufsausbildung von Pestalozzi ubernommen. Das Lob des 
Handwerks, das Goethe schon in »Werthers Briefen aus der 
Schweiz« anstimmt, kehrt hier wieder. Das war in diesen Jahren, 
da die Probleme der Industrie die Nationalokonomen zu be- 
schaftigen begannen, eher eine reaktionare Haltung. Im ubrigen 
entsprechen die sozialdkonomischen Gedanken, fiir die sich 
Goethe hier einsetzt, der Ideologic der burgerlichen Philanthro- 
pic in ihrer utopischsten Ausbildung. »Besitz und Gemeingut« 
verkiindet eine Inschnft auf den vorbildlichen Giitern des 
Oheims. Ein anderer Wahlspruch: »Vom Nutzlichen durchs 
Wahre zum Schonen«. Derselbe Synkretismus aufiert sich cha- 
rakteristisch auch in der religiosen Unterweisung. Wenn Goethe 
auf der einen Seite ein abgesagter Feind des Christentums ist, so 
respektiert er auf der andern in der Religion die starkste Biirg- 
schaft jeder hierarchischen Gesellschaftsform. Ja, er versohnt sich 
hier sogar mit dem Bilde des Leidens Christi, das jahrzehntelang 
seinen leidenschaftlichsten Widerwillen weckte. In der Gestalt 
der Makarie ist am reinsten die Ordnung der Gesellschaft im 
Goetheschen Sinne, namlich durch patriarchalische und kosmi- 
sche Normen, zum Ausdruck gebracht. Die Erfahrungen seiner 



Goethe 73 5 

praktischen, politischen Tatigkeit haben diese seine Grundiiber- 
zeugungen nicht beeinflussen konnen, trotzdem sie ihnen oft 
genug widersprochen haben. So mufite denn der Versuch, jene 
Erfahrungen und diese Oberzeugungen zu vereinigen und im 
Ganzen einer Dichtung zum Ausdruck zu bringen, so stiickhaft 
werden, wie die Struktur des Romans es zeigt. Und im Dichter 
selbst melden sich letzte Vorbehalte, wenn er die glikklichere, 
harmonischere Zukunft seiner Gestalten in Amerika sucht. Dort- 
hin lafit der Schlufi des Romans sie auswandern. Man hat 
das eine »organisierte, kommunistische Fludit« genannt. 
Wenn Goethe in seinen reifen Schaffensjahren dem Dichterisdien 
haufig ausbog, um in theoretischen Untersuchungen oder admi- 
nistrativen Geschaften sich zwangloser seiner Laune und Nei- 
gung hinzugeben, so ist das grofie Phanomen seiner letzten 
Jahre wie der unabsehbare Kreis seiner fortlaufenden natur- 
philosophischen, mythologischen, literarischen, kiinstlerischen, 
philologischen Studien, seiner ehemaligen Beschaftigung mit 
Bergbau, Finanzen, Theaterwesen, Freimaurerei, Diplomatic 
sich konzentrisch in eine letzte, gewaltige Dichtung zusammen- 
zieht, den zweiten Teil des » Faust «. Goethe hat nach eigenem 
Zeugnis an beiden Teilen der Dichtung iiber sechzig Jahre gear- 
beitet. 1775 brachte er das erste Fragment, den »Urfaust«, nach 
Weimar. Es enthalt bereits einige Hauptziige des spateren Wer- 
kes; die Gestalt Gretchens, das naive Gegenbild des sentimenta- 
len Urmenschen Faust, aber auch das Proletarierkind, die un- 
eheliche Mutter, die Kindsmorderin, die gerichtet wird und an 
der die flammende Gesellschaftskritik der Stiirmer und Dranger 
in Gedichten und Dramen sich schon lange genahrt hatte; die 
Gestalt Mephistos, schon damals weniger der Teufel der christ- 
lichen Lehre als der Erdgeist magischer, kabbalistischer Ober- 
lieferungen; endlich in Faust schon den titanischen Urmenschen, 
den Zwillingsbruder eines in der Friihzeit geplanten Moses, der 
gleich ihm der Gottnatur ihr Schopfungsgeheimnis zu entreiflen 
versuchen sollte. 1790 erschien das Faust-Fragment. ,1808 stellte 
Goethe fiir die erste Ausgabe seiner Werke bei dem Verleger 
Cotta den ersten Teil fertig. Hier zum ersten Male zeichnet sich 
die Handlung in scharfen Ziigen ab. Sie baut sich auf dem 
» Prolog im Himmel« auf, der die Wette zwischen Gott dem 
Herrn und Mephisto um die Seele des Faust bringt. Gott raumt 



736 Enzyklopadieartikel 

dem Teufel freies Spiel bei Faust ein. Faust aber sdiliefit mit 
dem dienstbaren Teufel den Pakt, nur dann mit seiner Seele ihm 
verfallen zu miissen, wenn er je zum Augenblicke sagen wird: 
»Verweile doch! du bist so schon! | Dann magst du mich in Fes- 
seln schlagen, | Dann will idi gern zu Grunde gehn! | Dann mag 
dieTotenglocke schallen, [ Dann bist du deines Dienstes frei, | Die 
Uhrmag stehn,derZeiger fallen, | Es sei die Zeit fiir michvorbei!« 
Der Angelpunkt der Dichtung aber ist: Fausts wildes, ruheloses 
Streben ins Absolute madit die Verfiihrungskunst Mephistos 
zuschanden, der Kreis der Sinnenfreuden ist schnell durchmessen, 
ohne Faust zu fesseln: » So tauml* ich von Begierde_z u Genufi, | 
Und im Genufi ver schmacht' idbjiach3„egier4&<< Fausts Sehnen 
drangt je langer je entscfiiedener ins Grenzenlose. In Gret- 
chens Kerker geht unter Weherufen der erste Teil des Dramas 
zuende. Dieser erste Teil ist fiir sich betrachtet eine der diister- 
sten Schopfungen Goethes. Und man hat von ihm sagen konnen, 
dafi die Faustsage im sedizehnten Jahrhundert als Weltlegende 
wie im achtzehnten Jahrhundert als Welttragodie des deutschen 
Burgertums es zum Ausdruck bradite, wie diese Klasse, in bei- 
den Fallen, ihr Spiel verloren hatte. Mit dem ersten Teil sdiliefit 
Fausts Biirgerdasein ab. Die politischen Szenerien des zweiten 
Teils sind Kaiserhofe und antike Palaste. Die Umrisse des Goe- 
theschen Deutschland, welches durch das romantische Mittel- 
alter des ersten Teils noch hindurchscheint, sind im zweiten Teil 
verschwunden, und die ganze, ungeheure Gedankenbewegung, 
in welche dieser zweite Teil hineinfiihrt, ist zuletzt gebunden 
an die Vergegenwartigung des deutschen Barock, durch dessen 
Medium hindurch der Dichter auch die Antike sieht. Goethe, 
der gerade das klassische Altertum unhistorisch und gleichsam 
im luftleeren Raum sich vor Augen zu stellen lebenslang sich 
bemiiht hatte, entwirft nun in der klassisch-romantischen Phan- 
tasmagoric »Helena«, das erste grofie, durch die Vergangen- 
heit des Deutschtums selbst geschaute Bild der Antike. Um 
dieses Werk, den spateren dritten Akt des zweiten Teils, bauen 
sich die iibrigen Teile der Dichtung. Es kann kaum entschieden 
genug betont werden, wieviel an diesem spateren Teile zumal 
in den Szenen, die am Kaiserhofe und im Feldlager sich ab- 
spielen, politische Apologie, politischer Ertrag von Goethes ehe- 
maligem hofischem Wirken ist. Wenn der Dichter am Ende 



Goethe 737 

seine ministerielle Tatigkeit mit einer Kapitulation vor den 
Intrigen einer furstlichen Matresse in tiefster Resignation hatte 
abschliefien miissen, so umreifit er am Ende seines Lebens ein 
ideales Deutschland der Barockzeit, in dem er alle Moglichkei- 
ten des staatsmannischen Wakens ins Grofie und doch audi 
wieder alle Unzulanglichkeiten dieses Wakens ins Groteske stei- 
gert. Merkantilismus, Antike und mystisches Naturexperiment: 
Vollendung des Staates durch das Geldwesen, der Kunst durdi 
die Antike, der Natur durch das Experiment sind die Signatur 
der Epoche, die Goethe heraufruft: des europaischen Barock. 
Und es ist zuletzt keine fragwurdige asthetische sondern eine 
innerste politische Notwendigkeit dieser Dichtung, dafi am Ende 
des funften Aktes der katholische Himmel mit Gretchen als 
einer der Bufienden sidi eroffnet. Goethe blickte zu tief, um bei 
seinem utopischen Regrefi auf den Absolutismus beim protestan- 
tischen FUrstentum des aditzehnten Jahrhunderts sich beruhigen 
zu konnen. Soret hat von dem Dichter das tiefe Wort gesagt: 
»Goethe ist liberal in abstraktem Sinn, aber in der Praxis neigt 
er zu den reaktionarsten Prinzipien.« In dem Zustande, der 
Fausts Leben kront, lafit Goethe den Geist seiner Praxis zum 
Ausdruck kommen: dem Meere Boden abgewinnen, ein Wirken, 
welches der Natur Geschichte vorschreibt, in die Natur sich 
einschreibt, das war Goethes Begriff historischer Wirksamkeit, 
und alle politischen Formen sind ihm im Grunde nur gut ge- 
wesen, soldi eine Wirksamkeit zu schutzen, zu garantieren. In 
einem geheimnisvollen, utopischen Ineinanderspiel agrarisch- 
technischen Wirkens und Schaffens mit dem politischen Apparat 
des Absolutismus hat Goethe die magische Formel gesehen, 
kraft deren die Realitat der sozialen Kampfe in Nichts sich 
verfluchtigen sollte. Lehnsherrschaft iiber biirgerlich bewirt- 
schaftete Landereien, das ist das zwiespakige Bild, in welchem 
Fausts hochstes Lebensgluck seinen Ausdruck findet. 
Kurz nach Vollendung des Werkes starb Goethe am 22. Marz 
1832. Bei seinem Tode war das Tempo der Industrialisierung 
Europas in rasendem Wachstum begriffen. Goethe sah die Ent- 
wicklung voraus. So heifit es 1825 in einem Brief an Zelter: 
»Reichtum und Schnelligkeit ist, was die Welt bewundert und 
wonach jeder strebt. Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe 
und alle moglichen Fazilitaten der Kommunikation sind es, 



73 8 Enzyklopadieartikel 

worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu uberbilden und 
dadurch in der Mittelmafiigkeit zu verharren. Es ist ja auch das 
Resultat der Allgemeinheit, dafi eine mittlere Kultur gemein 
werde: dahin streben die Bibelgesellschaften, die lankasterische 
Lehrmethode und was nicht alles. Eigentlich ist es ja das Jahr- 
hundert fiir die fahigen Kopfe, fiir leichtfassende, praktische 
Menschen, die mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet ihre 
Superioritat iiber die Menge fiihlen, wenn sie gleich selbst nidit 
zum Hodisten begabt sind. Lafi uns soviel als moglich an der 
Gesinnung halten, in der wir heran kamen, wir werden mit 
vielleicht noch wenigen die Letzten sein einer Epoche, die sobald 
nicht wiederkehrt.« Goethe wufite, seine unmittelbare Nach- 
wirkung werde schwach sein, und in der Tat hielt das Biirger- 
tum, in dem die Hoffnung auf Errichtung der deutschen Demo- 
kratie neu auflebte, sich an Schiller. Es kamen aus der Gegend 
des Jungen Deutschland die ersten literarisch wichtigen Proteste. 
So Borne; »Goethe hat nur immer der Selbstsucht, der Lieblosig- 
keit geschmeichelt; darum lieben ihn die Lieblosen. Er hat die 
gebildeten Leute gelehrt, wie man gebildet sein konne, freisin- 
nig und ohne Vorurteile und doch ein Selbstling; wie man alle 
Laster haben konne ohne ihre Roheit, alle Schwachen ohne ihre 
Lacherlichkeit;wie man denGeist rein erhalte von demSchmutze 
des Herzens, mit Anstand siindige und den Stoff jeder Nichts- 
wiirdigkeit durch eine schone Kunstform veredele. Und weil er 
sie das gelehrt, verehren ihn die gebildeten Leute.« Der hun- 
dertste Geburtstag Goethes, 1849, verlief klanglos, verglichen 
mit dem zehn Jahre spateren von Schiller, der sich zu einer 
grofien Demonstration der deutschen Bourgeoisie gestaltete. In 
den Vordergrund drang die Erscheinung Goethes erst in den 
siebziger Jahren nach der Reichsgriindung, als Deutschland 
nach monumentalen Reprasentanten seines nationalen Prestiges 
Ausschau hielt. Hauptdaten: Griindung der Goethe-Gesellschaft 
unter dem Protektorat deutscher Fursten; Sophien-Ausgabe 
der Werke, fiirstlich beeinflufit; Pragung des imperialistischen 
Goethe-Bildes auf den deutschen Hochschulen. Aber trotz der 
unabsehbaren Literatur, die die Goethephilologie hervorbrachte, 
hat sich die Bourgeoisie dieses gewaltigen Geistes nur sehr un- 
vollkommen zu ihren Zwecken bedienen konnen, von der Frage, 
wie weit sie in seine Intentionen eindrang, zu schweigen. Sein 



Goethe 739 

ganzes Schaffen ist voller Vorbehalte gegen diese Klasse. Und 
wenn er eine hohe Diditung in sie stiftete, so tat er es mit abge- 
wendetem Antlitz. Er hat denn audi nicht im entferntesten die 
Wirkung gehabt, die seinem Genie entsprach, ja freiwillig ihr 
entsagt. Und so verfuhr er, um den Gehalten, die ihn erfullten, 
die Form zu geben, die ihrer Auflosung durch das Burgertum 
bis heut widerstanden hat, weil sie unwirksam bleiben, nicht 
aber verfalscht und bagatellisiert werden konnte. Diese Intran- 
sigenz des Dichters gegen die Denkart des biirgerlichen Durch- 
schnitts und damit eine neue Seite seiner Produktion wurde 
aktuell mit der Reaktion auf den Naturalismus. Die Neu-Ro- 
mantik (Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf 
Borchardt), in der zum letzten Male biirgerliche Dichter von 
hohem Niveau den Versuch machten, unter dem Patronat der 
geschwachten feudalen Autoritaten die biirgerliche Klassenfront 
zumindest auf der kulturellen Linie zu retten, gab der Goethe- 
philologie wissenschaftlich bedeutende Anregung (Konrad Bur- 
dach, Georg Simmel, Friedrich Gundolf). Diese Richtung er- 
schlofi vor allem Stil und Werke von Goethes Spatzeit, die 
man im neunzehnten Jahrhundert unbeachtet gelassen hatte. 



Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 



Die politische Gruppierung der russischen Schriftsteixer 

Was am sdilagendsten die Stellung des sowjetrussischen Schrift- 
stellers von der seiner samtlichen europaischen Kollegen unter- 
sdieidet, ist die absolute Offentlichkeit seines Wirkens. Seine 
Chancen sind daher ungleich grofier, seine Kontrolle ist ungleich 
strenger als die der westlichen Literaten. Diese seine offentliche 
Kontrolle durch Presse, Publikum und Partei ist politisch. Die 
eigentliche offizielle Zensur - bekanntlich eine Praventivzen- 
sur - ist also fur die Biicher, die erscheinen, nur ein Vorspiel 
jener politischen Debatte, als welche ihre Rezensionen zum 
grofiten Teil sich darstellen. Farbe zu bekennen ist fur den 
russischen Schriftsteller unter diesen Umstanden eine Lebens- 
frage. 

Die Auseinandersetzung mit den jeweils aktuellen politischen 
Parolen und Problemen kann niemals intensiv genug sein, der- 
gestalt, dafi jede wichtige Entschliefiung der Partei den Schrift- 
stellern die unmittelbarste Aufgabe stellt, und Romane und No- 
vellen in vielen Fallen zum Staat in einem ahnlichen Verhaltnis 
stehen, wie vor Jahrhunderten die Produktion eines Autors zu 
der Gesinnung seines furstlichen Mazens. Diese Verhaltnisse 
haben in wenigen Jahren eindeutige und weithin sichtbare poli- 
tische Gruppierungen unter den Schriftstellern notwendig ge- 
macht. Diese Gruppenbildungen haben Autoritat, sind aus- 
schliefiend und einzig. Nichts kann dem Literaten in Europa 
ihren Charakter heller ins Licht setzen als der Umstand, dafi 
kunstlerische Schulen und artistische c^nacles in Rufiland au- 
genblicklich fast vom Erdboden verschwunden sind. 
WAPP, der allrussische Verband proletarischer Schriftsteller, ist 
die fiihrende Organisation. Sie umfafit 7 000 Mkglieder. Ihr 
Standpunkt: Mit Eroberung der politischen Macht hat das 
russische Proletariat zugleich den Anspruch auf die intellektuelle 
und die kunstlerische Vorherrschaft gewonnen. Da andererseits 
dank einer jahrhundertelangen Entwicklung die organisato- 
rischen und produktiven Mittel des KunstschafTens noch durch- 
aus im Besitze der Bourgeoisie sind, so lassen vorderhand die 
Rechte des Proletariats audi auf dem Gebiet der Kunst und 
Literatur nur in der Form der Diktatur sich vertreten. Dafi 
dies Programm sich, wenn audi nur sehr eingeschrankt, in der 



744 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

Offentlichkeit hat durdisetzen konnen, ist noch durdiaus nicht 
lange her. Der intensive Ruckschlag in der Kulturpolitik, der 
mit der Liquidierung des Kriegskommunismus audi die »linke 
Kulturfront« ins Wanken brachte, vereitelte zunachst die offi- 
zielle Anerkennung eines »proletarischen Schrifttums« durch 
die Partei. Vor einem Jahre hat dann WAPP die ersten offent- 
lichen Erfolge errungen. Innerhalb dieser Gruppe ist die extreme 
doch zugleich die fuhrende Partei, die »Napostowzen« - 
genannt nach ihrer Zeitschrift »Na postu« (»Auf dem Posten«). 
Sie stellten unter Fiihrung Awerbachs die eigentlicheParteiortho- 
doxie dar. Theoretisch wird diese Gruppe von Lelewitsch und 
Besymenski vertreten. Oder genauer gesagt: sie wurde es. Vor 
kurzem namlich wurde Lelewitsch, der offen seine Sympathie 
zur Opposition (Sinowjew, Kamenew) bekannt und einer »lin- 
ken Abweichung« sich schuldig gemacht hatte, seines Einflusses 
beraubt und aus Moskau entfernt. Demungeachtet bleibt die- 
ser ehemalige Schlosser der erste Kunsttheoretiker des neuen 
Rufiland. Seine Arbeiten bemiihen sich um die Ausgestaltung 
der von Plechanow stammenden Grundlagen der materiali- 
stischen Asthetik. Unter den fiihrenden Dichtern der Gruppe 
sind Demjan Bedny, der erste volkstiimliche grofie revolutionare 
Lyriker, sowie die Erzahler Libedinski und Serafimowitsch die 
bekanntesten. »Chronisten« miifite man vielleicht die beiden 
letzten nennen. Ihre audi in Deutschland bekannten Haupt- 
werke »Die Woche« und »Der eiserne Strom« sind Referate aus 
den Tagen des Burgerkrieges. Die Darstellung ist durdiaus na- 
turalistisch. 

Dieser neue russische Naturalismus ist interessant in mehr als 
einer Hinsidit. Vorlaufer hat er nicht nur im sozialen Naturalis- 
mus der neunziger Jahre, sondern seltsamere und bemerkens- 
wertere in dem pathetischen Naturalismus des Barock. Nicht 
anders denn als barock ist die gehaufte Krafiheit seiner StorTe, die 
unbedingte Prasenz des politischen Details, die Vorherrschaft 
des StofFlichen zu bezeichnen. Sowenig wie es fiir die Dichtung 
des deutschen Barock Formprobleme gegeben hat, sowenig exi- 
stieren sie im heutigen Rufiland. Zwei Jahre lang hat der Streit 
dariiber gewahrt, ob revolutionare Form oder ein revolutionarer 
Inhalt das eigentliche Verdienst einer neuen Dichtung bestimmt. 
Mangels eigentumlicher revolutionarer Formgestaltung ist die- 



Die politische Gruppierung der russischen Schriftsteller 745 

ser Streit dann vor kurzem zugunsten einzig und allein des 
revolutionaren Inhalts entsdiieden worden. 
Bemerkenswert ist in der Tat, dafi all die radikalen »linken« 
Formtendenzen, die in Plakaten, Dichtungen und Prozessionen 
wahrend des »heroischen Kommunismus« sidi kundgaben, ge- 
radlinig von den letzten westlichen, biirgerlichen Parolen der 
Vorkriegszeit abstammen: vom Futurismus, Konstruktivismus, 
Unanimismus usw. Heute nodi haben diese Bewegungen ein 
gewisses Wirkungsbereich in der zweiten unter den drei grofien 
Gruppen: den Linken PoputschikL Diese Gruppe - wortlich: 
»Linke Mitlaufer« - bildet nicht einen organisierten Verband 
wie WAPP. Urspriinglich allerdings ging sie aus solchem hervor. 
»Lef« - »Linke Front « - war eine Vereinigung von Kunstlern, 
die die Entwicklung revolutionarer Formen sidi zur Aufgabe 
gestellt hatten. Ihr Mittelpunkt: Wladimir Majakowski. Audi 
in den ersten »Proletkult«-Gruppen hatte Majakowski die Fiih- 
rung. Im ubrigen sind es gerade die Mitglieder dieser Schule, 
deren Werk und Person in Deutschland am bekanntesten sind: 
Babel, Sejfullina, der Theaterdirektor Meyerhold. Einen seiner 
grofiten Erfolge hat Meyerhold vor mehr als einem Jahr mit 
einem Snick »Ritsdii Kitai« (»Briille, China!«) davongetragen. 
Der Autor Tretjakow ist ebenfalls in diese Gruppe einzustellen, 
die zwar durchaus uneingesdirankt den Sowjetstaat bejaht, die 
literarische Hegemonie des Proletariats aber nidit anerkennt. 
Als verklausulierte Bejahung des neuen Regimes: de facto, nicht 
de jure -, so liefie sidi der Standpunkt in der dritten Gruppe 
formulieren. Es ist der im engeren Sinne nationalistische, ja 
»vaterlandische« der Rechten Poputschiki. Unter seinen Vertre- 
tern sind so unahnliche wie Jessenin und Ehrenburg, Man kann 
sagen, dafi Jessenin, seit er sich das Leben nahm, die literarische 
Offentlichkeit in Rufiland ununterbrochen in Atem halt. Es 
ist noch nicht vier Wochen her, dafi in der »Prawda« Bucharin, 
der nur selten in literarischen Dingen das Wort nimmt, einen 
langen Aufsatz iiber den Dichter erscheinen liefi. Das erklart 
sich. Jessenin stellt die glanzende und wirkungsreiche Verkor- 
perung eines »alten« russischen Typus dar, des schmerzlich auf- 
gewiihlten, tief und chaotisdi der russischen Erde verfallenen 
Traumers, der unvereinbar mit dem neuen Menschen ist, wel- 
chen die Revolution in Rufiland erschuf. Der Kampf gegen Jesse- 



746 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

nins Schatten und seinen ungeheuren Einflufi konnte ganz von 
fern an die neuerlich sehr aktuell gewordene Abwehr des Hooli- 
gantums erinnern. Jedenfalls geht es in beiden Fallen um die 
Vernichtung eines asozialen Typus, in welchem Rufiland das 
Gespenst seiner Vergangenheit erblickt, welches den Weg ins 
neue Eden der Maschinen ihm vertritt. Im iibrigen zahlt man 
die grofie Mehrzahl der 6000 russischen Bauernschriftsteller zu 
dieser rechten Richtung. Ihre Theoretiker sind Woronski und 
Efros. Woronski hat die Trotzkische Theorie sich zu eigen ge- 
macht, die lange parteioffiziell war: Das Proletariat hat noch 
langst nicht die Umwelt so gestaltet, dafi im Ernste von prole- 
tarischer Dichtung die Rede sein kann. Ihr Anspruch auf Hege- 
monie fallt damit zusammen. Heute ist, wie gesagt, dieser 
Standpunkt nicht der der Partei. Endlich waren hierher die soge- 
nannten Schriftsteller der »Neuen Bourgeoisie« zu zahlen, die 
aus der NEP hervorgeht. Um Namen zu nennen: Pilnjak, der 
Novellist, und die bekannten Dramatiker A. Tolstoi und Bulga- 
kow. Der letztere erscheint augenblicklich mit zwei Dramen 
auf den Moskauer Biihnen: »Soykina Quartira«, einem Bor- 
dellstiick, und »Dni Turbini« (»Die Tage der Turbins«), einem 
Snick aus dem Biirgerkrieg. Seit Monaten behauptet sich dies 
Drama auf dem Programm von Stanislawski und hat die Publi- 
zitat, welche nur ein Skandal verleihen kann. Die Tendenz ist 
rein konterrevolutionar. Das Publikum, die alte Bourgeoisie - 
»gewesene Leute«, wie man in Rufiland so schon sagt - quittiert 
dafur dankend, indem es Abend fiir Abend das Theater fiillt. 
Die erste Auffuhrung des mehrfach von der Zensur verbotenen, 
mehrfach abgeanderten Dramas brachte einen grofien Theater- 
skandal. Jedoch die radikalen Elemente vermochten ihren Wil- 
len nicht durchzusetzen und so hat nun Moskau ein reaktionares 
Geschichtsdrama, das in der Minderwertigkeit von Mache und 
Gesinnung sogar sich auf Berliner Biihnen schwerlich halten 
wiirde. 

Aber das besagt nichts. Weniger als in irgendeiner anderen 
kommt es in der heutigen Literatur Sowjetrufilands auf Einzel- 
falle an. Es gibt Augenblicke, in denen die Dinge und Gedanken 
gewogen werden und nicht gezahlt. Aber nicht weniger - wenn 
audi weniger beachtet - gibt es solche, in denen gezahlt wird 
und nicht gewogen. Rufilands Literatur ist zur Zeit - und das 



Zur Lage der russischen Filmkunst 747 

von Rechts wegen - ein grofierer Gegenstand fiir Statistiker als 
fur Asthetiker. Tausende von neuen Autoren und Hundert- 
tausende von neuen Lesern wollen vor allem einmal gezahlt 
und dann in Kadres neuer ABC-Schutzen eingeteilt sein, die 
nach politischem Kommando exerzieren und deren Munition 
das Alphabet ist. Lesen ist heut in Rufiland wichtiger als schrei- 
ben, Zeitungslekture wichtiger als Biicherlesen und buchstabie- 
ren wichtiger als Zeitungslekture. Die beste russische Literatur 
kann darum, wenn sie ist, was sie sein soil, nur das farbige Bild 
in der Fibel sein, aus der die Bauern in dem Schatten Lenins 
lesen lernen. 



Zur Lage der russischen Filmkunst 

DieSpitzenleistungen der russischen Filmindustrie bekommt man 
in Berlin bequemer zu sehen als in Moskau. Nach Berlin kommt 
bereits eine Auslese, die man in Moskau selber zu treffen hat. 
Man kann sich auch dabei nicht leicht beraten lassen: die Russen 
stehen ihrem eigenen Film ziemlich unkritisch gegeniiber. (Dafi 
zum Beispiel der grofie Erfolg des »Potemkin« in Deutschland 
entschieden wurde, ist ja bekannt.) Grund dieser Unsicherheit 
im Urteil: es fehlt der europaische Vergleichsmafistab. Gute 
Filme des Auslands sieht man in Rufiland selten. Bei ihren Ein- 
kaufen steht die Regierung auf dem Standpunkt, fiir die kon- 
kurrierenden Weltfirmen sei der russische Markt so wichtig, dafi 
sie gewissermafien mit Reklamemustern zu reduzierten Preisen. 
ihn beschicken mufiten. Auf diese Weise bleiben selbstverstand- 
lich die guten, hochbezahlten Filme draufien. Fiir den einzelnen 
russischen Kiinstler hat die daraus folgende Uninformiertheit 
des Publikums ihre Annehmlichkeiten. Iljinsky arbeitet mit 
einer sehr unexakten Chaplin-Kopie und gilt als Komiker, nur 
weil Chaplin hier unbekannt ist. 

Ernsthafter, allgemeiner, driicken interne russische Verhaltnisse 
den Durchschnittsfilm. Geeignete Szenarien zu beschafTen ist 
nicht leicht, weil die StofTwahl strenger Kontrolle unterliegt. 
Die grofite Zensurfreiheit geniefit in Rufiland die Literatur. 
Weit genauer beaufsichtigt man das Theater und am scharfsten 



748 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

den Film. Diese Skala ist proportional der Grofie der jeweiligen 
Zusdiauermasse. Unter diesem Regime liegt zur Zeit das Lei- 
stungsmaximum in Episoden aus der russisdien Revolution, 
Filme, die weiter ins Vergangene zuriickgreifen, bilden den 
belanglosen Durchschnitt und die Lustspiele kommen fur euro- 
paischen Mafistab iiberhaupt nicht in Frage. Der Kern aller 
gegenwartigen Schwierigkeiten der russisdien Filmproduzenten 
liegt nun darin, dafi die Offentlichkeit in deren eigentliche Do- 
mane, das politische Stiick aus dem Burgerkrieg, ihnen weniger 
und weniger f olgt. Mit einer Hochflut von Todes- und Schrek- 
kensdramen erreichte vor etwa anderthalb Jahren die politisdi- 
naturalistische Periode des russisdien Films ihren Hohepunkt. 
Solche Themen haben inzwischen den Reiz verloren. Oberall gilt 
die Parole der inneren Befriedung. Film, Rundfunk, Theater 
riicken von jeder Propaganda ab. 

Der Versuch, an friedlich gestimmte Stoffe heranzukommen, hat 
zu einem merkwiirdigen teciinischen Kunstgriff gefuhrt. Da 
aus politischen und artistisdien Griinden die Verfilmung der 
grofien russisdien Romane sidi meist verbietet, so hat man 
ihnen einzelne bekannte Typen entnommen, und sie in eine 
aktuelle, frei erfundene Handlung »montiert«. Aus Pusdikin, 
Gogol, Gontscharow, Tolstoi entlehnt man Figuren oft unter 
Beibehaltung des Namens. Mit Vorliebe sudit dieser neue russi- 
sdie Film das feme ostliche Rufiland auf. »Fur uns« - will man 
damit sagen - »gibt es keine >Exotik<«. Dieser Begriff gilt nam- 
lidi als Bestandteil der konterrevolutionaren Ideologic eines 
kolonisierenden Volkes. Rufiland kann den romantischen Be- 
griff von einem »fernen Orient« nicht gebrauchen. Ihm ist er 
nah und okonomisch verbunden. Zugleich besagt das: wir sind 
auf fremde Lander und Naturen nicht angewiesen - ist Rufi- 
land doch der sechste Teil der Erde! Wir haben alles Irdische auf 
eigenem Grund und Boden. 

So hat man denn jetzt eben den »Sechsten Teil der Erde«, ein 
Filmepos vom neuen Rufiland, herausgebracht. Die Hauptauf- 
gabe, in charakteristischen Bildern das ganze ungeheure Rufi- 
land in seiner Umpragung durdi die neue Gesellschaftsordnung 
zu zeigen, hat der Regisseur Wertoflf allerdings nicht gelost. Die 
filmische Kolonisierung Rufilands ist fehlgesdilagen, hervor- 
ragend gelungen aber die Grenzmarkierung gegen Europa. Mit 



Zur Lage der russischen Filmkunst 749 

ihr setzt dieser Film ein. In Bruchteilen von Sekunden folgen 
einander Bilder aus Arbeitsstatten (kreisende Kolben, Kulis bei 
der Ernte, Transportarbeiten) und aus Genufistatten des Kapi- 
tals (Bars, Dielen, Klubs). Gesellsciiaftsfilmen der letzten Jahre 
hat man einzelne, winzige Ausschnitte (oft nur Details einer 
kosenden Hand oder tanzende Fufie, ein Stuck Frisur oder 
einen Streifen Hals mit Kollier) entnommen und so montiert, 
dafi ununterbrochen sie zwischen Bilder fronender Proletarier 
sidi schieben. Leider lafit der Film dieses Schema schnell fallen, 
um einer Beschreibung der russischen Volker und Landschaften 
sich zu widmen, deren Zusammenhang mit ihrer wirtschaftlichen 
Produktionsbasis viel zu schattenhaft angedeutet ist. Wie un- 
sicher man noch tastet, beweist der einzige Umstand, dafi zu 
dem Bild der Krane, Hebel und Transmissionen eine Kapelle 
Tannhauser- und Lohengrinmotive spielt. Immerhin sind die 
Aufnahmen charakteristisch fur das Bestreben, Filme ohne de- 
korativen und schauspielerischen Apparat schlechtweg dem Le- 
ben selber abzugewinnen. Man arbeitet mit dem maskierten 
Apparat. Wahrend vor einer Attrappe die Primitiven irgend- 
welche Posen annehmen, werden sie kurze Zeit nachher, wenn 
sie alles beendet glauben, wirklich gefilmt. Die gute neue 
Parole »Los von der Maske!« hat nirgends mehr Geltung als 
im russischen Film. Nirgends ist daher die Bedeutung des Film- 
stars geringer. Man sucht nicht ein fiir allemal einen Akteur, 
sondern von Fall zu Fall die erforderten Typen. Ja, man geht 
weiter. Eisenstein, der Regisseur des »Potemkin«, bereitet einen 
Film aus dem Leben der Bauern vor, in dem es iiberhaupt keine 
Schauspieler geben soil. 

Nicht nur eines der interessantesten Objekte, sondern das wich- 
tigste Publikum des russischen Kulturfilms sind die Bauern. 
Ihnen sucht man historische, politische, technische und hygieni- 
sche Kenntnisse durch den Film naherzubringen. Aber noch 
steht man ziemlich ratios vor den Schwierigkeiten, auf die das 
stofit. Die Auffassungsart der Bauern ist grundverschieden von 
der der stadtischen Massen. Es hat sich beispielsweise gezeigt, 
dafi landliches Publikum nicht imstande ist, zwei simultane 
Handlungsreihen aufzufassen, wie jeder Film sie hundertfach 
enthalt. Es f olgt nur einer einzigen Bilderreihe, die chronologisch 
ganz wie Moritaten-Bilder sich vor ihm abrollen mufi. Nachdem 



75© Kulturpolitisdie Artikel und Aufsatze 

man weiter wiederholt erfahren hatte, dafi ernstgemeinte Stellen 
unwiderstehlich komisch, und umgekehrt komische ernst bis zur 
Running auf sie wirken, hat man begonnen, Produktionen 
eigens fur jene Wanderkinos herzustellen, die gelegentlich bis 
an die aufiersten Grenzen Rufilands zu Volkern vordringen, die 
weder Stadte nodi moderne Verkehrsmittel je erblickt haben. 
Auf solche Kollektiva Film und Radio einwirken zu lassen, ist 
eines der grofiartigsten volkerpsychologischen Experimente, die 
in dem Riesenlaboratorium Rufiland jetzt angestellt werden. 
Natiirlich spielen in landlichen Kinos Aufklarungsfilme aller 
Art die Hauptrolle. Praktiken, wie die Abwehr der Heu- 
schreckenplage, Traktorenbedienung, Heilung der Trunksucht 
stehen im Vordergrund. Vieles aus. dem Programm solcher 
Wanderkinos bleibt dennoch fiir die grofie Masse unverstandlich 
und dient als Ausbildungsmaterial fiir die Fortgeschrittenen: 
Mitglieder der dorflichen Sowjets, Bauernkorrespondenten usw. 
Zur Zeit denkt man in diesem Zusammenhang an die Griindung 
eines »Instituts zum Studium des Zuschauers« 3 in dem man 
experimentell und theoretisch Reaktionen des Publikums zu 
erforschen sucht. 

So also hat sich eine der letzten grofien Losungen »Mit dem 
Gesicht zum Dorfe!« im Film ausgewirkt. Politik gibt hier wie 
im Schrifttum die kraftigsten Impulse mit den Direktiven, 
weldie das ZK der Partei der Presse, die Presse den Klubs, die 
Klubs den Theatern und Filmen wie Stafetten allmonatlich 
weitergeben. Es kann aber audi geschehen, dafi von dergleichen 
Devisen ernstlidie Hemmnisse ausgehen. Ein paradoxes Beispiel 
bietet das Schlagwort »Industrialisierung«. Bei dem leidensdiaft- 
lidien Interesse, das man fiir alles Technisdie hat, miifite, so 
sollte man meinen, der Groteskfilm beliebt sein. In Wirklichkeit 
sdiliefit aber eben diese Leidenschaft vorlaufig alles Technisdie 
gegen die Komik ab und die exzentrischen Komodien, die man 
aus Amerika einfuhrte, sind ein ganz offenbarer Miflerfolg 
gewesen. Ironische und skeptisdie Gesinnung in technischen 
Dingen kann der neue Russe nicht fassen. Verloren gehen ferner 
dem russischen Film samtliche Stoffe und Probleme aus dem 
bourgeoisen Leben, das heifit vor allem: man duldet keine Lie- 
be sdr amen im Film. Dramatische oder gar iragische Akzentuie- 
rung von Liebesangelegenbeiten ist im ganzen russischen Leben 



Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz 75 1 

verpont. Selbstmorde aus getauschter oder ungliicklidier Liebe, 
wie sie audi jetzt noch hie und da vorkommen, werden von der 
offentlichen Meinung des Kommunismus nicht anders beurteilt 
als die grobsten Exzesse. 

Alle Probleme, die im Mittelpunkt der Diskussion stehen, sind 
fur den Film - genau wie fur die Literatur - Probleme des 
Stoffkreises. Durch die neue Ara des Burgfriedens sind sie in 
ein schwieriges Stadium getreten. Auf einer sicheren Basis kann 
der russische Film erst stehen, wenn die Verhaltnisse der bol- 
schewistischen Gesellschaft (nicht nur des Staatslebens!) stabil 
genug sind, eine neue »Gesellschaftskomodie«, neue Chargen 
und typische Situationen zu tragen. 



Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz 

Es gibt Erwiderungen, die beinahe eine Unhoflichkeit gegen das 
Publikum sind. Sollte man eine schlotterige Argumentation mit 
schartigen Begriffen nicht ruhig der Stellungnahme ihrer Leser 
uberlassen? Sie brauchten ja, in diesem Falle, nicht einmal den 
»Potemkin« gesehen zu haben. Genausowenig wie sich Schmitz 
ihn selber angesehen zu haben brauchte. Denn soviel wie er 
heute davon weifi, hat schon die erste beste Zeitungsglosse ihm 
gesagt. Aber das bezeichnet ja eben den Bildungsphilister: ande- 
re lesen die Meldung und halten sich fur gewarnt - er mufi sich 
» seine eigene Meinung« bilden, geht hin und glaubt damit die 
Moglichkeit zu gewinnen, seine Verlegenheit in sachliche Er- 
kenntnis umzusetzen. Irrtum! Sachlich lafit iiber den »Potem- 
kin« so gut vom Standpunkt der Politik wie des Films sich reden. 
Schmitz tut keines von beiden. Er redet von seiner letzten 
Lekture. Dafl nichts dabei herauskommt, ist nicht iiberraschend. 
Die streng und grundsatzlich gestaltete Darstellung einer Klas- 
senbewegung an biirgerlichen Gesellschaftsromanen messen zu 
wollen, bekundet eine Ahnungslosigkeit, die entwaffnet. Nicht 
ganz so steht es mit dem Ausfall gegen Tendenzkunst. Hier, wo 
er sozusagen schwere Artillerie aus dem Arsenal bourgeoiser 
Asthetik bedient, lohnt sich schon eher, deutsch und deutlich zu 
sein. Zu fragen: Was soil der Jammer iiber die politische Ent- 



752 Kulturpolitisdie Artikel und Aufsatze 

jungferung der Kunst, indes man alien Sublimierungen, libidi- 
nosen Restbestanden und Komplexen in einer kiinstlerischen 
Produktion von zwei Jahrtausenden nadbispiirt? Wie lange soil 
die Kunst die hohere Tochter bleiben, die zwar in alien verru- 
fensten Gafichen sidi auskennen, beileibe aber sich von Politik 
nichts traumen lassen soil? Das hilft nichts, sie liefi es sidi 
immer traumen. Dafi jedem Kunstwerk, jeder Kunstepoche 
politische Tendenzen einwohnen, ist - da sie ja historisdie Ge- 
bilde des Bewufitseins sind - eine Binsenwahrheit. Wie aber 
tiefere Schichten von Gestein nur an den Bruchstellen zutage 
treten, liegt audi die tiefe Formation »Tendenz« nur an den 
Bruchstellen der Kunstgeschichte (und der Werke) frei vor 
Augen. Die technischen Revolutionen - das sind die Bruchstellen 
der Kunstentwicklung, an denen die Tendenzen je und je, frei- 
liegend sozusagen, zum Vorschein kommen. In jeder neuen 
technischen Revolution wird die Tendenz aus einem sehr ver- 
borgenen Element der Kunst wie von selber zum manifesten. 
Und damit waren wir denn endlich beim Film. 
Unter den Bruchstellen der kiinstlerischen Formationen ist eine 
der gewaltigsten der Film. Wirklich entsteht mit ihm eine neue 
Region des Bewufitseins. Er ist - um es mit einem Wort zu 
sagen - das einzige Prisma, in welchem dem heutigen Menschen 
die unmittelbare Umwelt, die Raume, in denen er lebt, seinen 
Geschaften nachgeht und sich vergniigt, sich fafilich, sinnvoll, 
passionierend auseinanderlegen. An sich selber sind diese Buros, 
moblierten Zimmer, Kneipen, Grofistadtstrafien, Bahnhofe und 
Fabriken hafilich, unfafilich, hoffnungslos traurig. Vielmehr: 
sie waren und sie schienen so, bis der Film war. Er hat dann 
diese ganze Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekun- 
den gesprengt, so dafi nun zwischen ihren weitverstreuten 
Trummern wir weite, abenteuerliche Reisen unternehmen. Der 
Umkreis eines Hauses, eines Zimmers kann Dutzende der iiber- 
raschendsten Stationen, befremdlichster Stationennamen in sich 
schliefien. Weniger der dauernde Wandel der Bilder als der 
sprunghafte Wechsel des Standorts bewaltigt ein Milieu, das 
jeder anderen Erschliefiung sich entzieht, und holt noch aus der 
Kleinbiirgerwohnung die gleiche Schonheit heraus, die man an 
einem Alfa-Romeo bewundert. Und soweit gut. Schwierigkei- 
ten zeigen sich erst, wenn die »Handlung« ins Spiel tritt. Die 



Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz 753 

Frage einer sinnvollen Filmhandlung ist genauso selten gelost 
worden, wie die abstrakten Formprobleme sind bewaltigt wor- 
den, die aus der neuen Technik sich ergeben. Und vor allem 
wird damit eines bewiesen: die wichtigen, elementaren Fort- 
schritte der Kunst sind weder neuer Inhalt nocli neue Form - 
die Revolution der Technik geht beiden voran. Dafi sie aber im 
Film weder Form noch Inhalt, die ihr im Grunde entsprechen, 
gefunden hat, das ist durchaus kein Zufall. Es zeigt sich namlich, 
dafi mit tendenzlosen Spielen der Form, tendenzlosen Spielen 
der Fabel die Frage immer nur von Fall zu Fall zu losen ist. 
Die Oberlegenheit des russischen Revolutionsfilms beruht, genau 
wie jene des amerikanischen Groteskfilms, eben darin, dafi 
beide, jeder auf seine Weise, eine Tendenz als Basis genommen 
haben, auf die sie stetig, konsequent zuriickgehen. Tendenzios - 
auf weniger offenkundige Art - ist namlich auch der Grotesk- 
film. Seine Spitze richtet sich gegen die Technik. Komisch ist die- 
ser Film allerdings, nur eben, dafi das Lachen, das er weckt, 
iiberm Abgrund des Grauens schwebt. Kehrseite einer lacher- 
lich entfesselten Technik ist die todliche Pragnanz manovrieren- 
der Flottengesch wader, wie der »Potemkin« sie am unnachsicht- 
lichsten festhielt. Der internationale biirgerliche Film hat nun 
ein konsequentes, ideologisches Schema nicht finden konnen. Das 
ist eine der Ursachen seiner Krisen. Denn die Verschworenheit 
der Filmtechnik mit dem Milieu, das ihren eigentlichsten Vor- 
wurf bildet, vertragt sich nicht mit der Glorifizierung des Biir- 
gers. Das Proletariat ist der Held jener Raume, an deren Aben- 
teuer klopfenden Herzens im Kino sich der Burger verschenkt, 
weil er das »Schone« auch und gerade dort, wo es ihm von Ver- 
nichtung seiner Klasse spricht, geniefien mufi. Das Proletariat 
ist aber Kollektivum, wie diese Raume Raume des Kollektivs 
sind. Und hier am menschlichen Kollektiv erst kann der Film 
jene prismatische Arbeit vollenden, welche er am Milieu begon- 
nen hat. Der »Potemkin« hat epochal gerade darum gewirkt, 
weil sich das nie vorher so deutlich erkennen liefi. Hier zum 
erstenmal hat die Massenbewegung den ganz und gar architek- 
tonischen und doch so gar nicht monumentalen (lies: Ufa-) 
Charakter, der erst das Recht ihrer Kinoaufnahme erweist. 
Kein anderes Mittel konnte dies bewegte Kollektivum wieder- 
geben, vielmehr: kein anderes konnte solche Schonheit noch der 



754 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

Bewegung des Entsetzens, der Panik in ihm mitteilen. Derglei- 
chen Szenen sind seit dem »Potemkin« unverlierbarer Besitz der 
russischen Filmkunst. Wie hier die Beschiefiung von Odessa, so 
zeiciinet in dem neueren Film »Matj« (»Mutter«) ein Pogrom 
gegen Fabrikarbeiter die Leiden der stadtischen Massen wie mit 
Laufschrift in den Asphalt der Strafien ein. 
Folgerecht hat man »Potemkin« im Sinne des Kollektivismus ge- 
macht. Der Fiihrer dieser Revoke, der Kapitanleutnant Schmidt, 
eine der legendaren Figuren des revolutionaren Rufiland, kommt 
im Film nicht vor. Das ist, wenn man so will, eine »Geschichts- 
falschung«, hat aber mit der Einschatzung dieser Leistung gar 
nichts zu schaffen. Warum dann, ferner, Handlungen des Kol- 
lektivums unfrei, die des Einzelnen frei sein sollen -, diese 
abstruse Spielart des Determinismus bleibt ebenso unergriindlich 
in sich wie in ihrer Bedeutung fur die Debatte. 
Dem Kollektivcharakter der meuternden Masse mufi selbstver- 
standlich audi der Gegenspieler angepafit sein. Es hatte ganz 
und gar keinen Sinn, differenzierte Individuen ihr gegeniiber- 
zustellen. Der SchifTsarzt, der Kapitan miissen Typen sein. 
Typen des Bourgeois - davon mag Schmitz nichts horen. Nennen 
wir sie denn also Typen von Sadisten, welche durch einen bosen, 
gefahrlichen Apparat an die Spitze der Macht sind berufen 
worden. Damit steht man nun freilich wieder vor einer politi- 
schen Formulierung. Sie ist nicht zu umgehen, weil sie wahr ist. 
Nichts hilfloser als die Einrede vom »Einzelfall«. Das Indivi- 
duum mag Einzelfall sein - die hemmungslose Auswirkung 
seiner Teufelei ist keiner, liegt im Wesen des imperialistischen 
Staates und - in gewissen Grenzen - des Staates schlechtweg. 
Bekanntlich gibt es eine ganze Reihe Fakten, die ihren Sinn, ihr 
Relief uberhaupt erst erhalten, wenn man sie aus der isolieren- 
den Betrachtung lost. Es sind die Tatsachen, mit denen die Sta- 
tistik es zu tun hat. Dafi ein Herr X. sich gerade im Marz 
das Leben nimmt, kann in der Linie seines Einzelschicksals sehr 
belanglos sein, dagegen wird es aufierordentlich interessant, 
wenn man erfahrt, dafi in diesem Monat die Jahreskurve der 
Selbstmorde ihr Maximum hat. So sind die Sadismen des 
SchifTsarztes vielleicht in seinem Leben nur ein Einzelfall, viel- 
leicht hat er mittelmafiig geschlafen oder auf seinem Fruh- 
stiickstisch ein schlechtes Ei gefunden. Interessant wird die Sache 



Neue Dichtung in Rufiland 75 5 

erst, wenn man das Verhaltnis des Arztestandes zur Staats- 
macht in Rechnung stellt. Dariiber hat mehr als einer in den 
letzten Jahren des grofien Krieges aufierst genaue Studien 
machen konnen und der kiimmerliche Sadist des »Potemkin« 
kann ihm nur leidtun, wenn er sein Tun und seine gerechte 
Strafe mit den Henkersdiensten vergleicht, die Tausende seiner 
Kollegen - und ungestraft - an Kruppeln und Kranken vor ein 
paar Jahren den Generalkommandos geleistet haben. 
»Potemkin« ist ein grofier, selten gegliickter Film. Es gehort 
schon der Mut der Verzweiflung dazu, den Protest gerade hier 
anzusetzen. Schlechte Tendenzkunst gibt es sonst genug, darun- 
ter schlechte sozialistische Tendenzkunst. Solche Sachen sind 
vom Effekt her bestimmt, rechnen mit ausgeleierten Reflexen, 
benutzen Schablonen. Dieser Film aber ist ideologisch ausbeto- 
niert, richtig in alien Einzelheiten kalkuliert wie ein Briicken- 
bogen. Je kraftiger die Schlage darauf niedersausen, desto 
schoner drohnt er. Nur wer mit behandschuhten Fingerchen 
daran riittelt, der hort und bewegt nichts. 



Neue Dichtung in Russland 

Aus der wissenschaftlichen Literaturgeschichte stammt die Ge- 
wohnheit, neue Epochen, Stromungen im Schrifttum, aus der 
unmittelbar vorhergehenden literarischen Situation zu erklaren. 
Die wissenschaftliche Haltbarkeit und Zweckmafiigkeit eines 
solchen Verfahrens mag dahingestellt bleiben. Evident aber ist 
das eine: Das Schrifttum, das sich jetzt in Rufiland herausbil- 
det, aus der Literatur zu entwickeln, welche die Generationen 
Dostojewskis, Turgeniews, Tolstois hervorgebracht haben, ware 
zumindest ein Umweg. Der gegebene Ausgangspunkt einer Cha- 
rakteristik sind die veranderten Kulturverhaltnisse, die mit der 
Revolution sich eingestellt haben. Die alte Bourgeoisie, der 
Adel haben in Rutland keine ofTentliche Stimme mehr. Die 
Standardwerke, in denen das geistige Besitztum dieser Schichten 
niedergelegt ist, stehen heute schrofT isoliert, als Denkmaler der 
Vergangenheit da. Das ofTentliche Interesse gehort den Dichtern, 
die 30 Jahre oder jlinger sind, die Revolution als Kampfer 



7 $6 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

erlebt haben oder zumindest von Anfang an entschieden sich 
auf den Boden der neuen Tatsachen gestellt haben. Man darf 
freilich nicht erwarten, dafi diese Dichter eben damit schon 
imstande waren, das was sie zu sagen haben, in grofien dauer- 
haften Werken vorzulegen. Die Theoretiker des Bolschewismus 
selbst betonen, wie wenig die Lage des Proletariats in Rufiland 
nach seiner siegreichen Revolution von 191 8 mit der der Bour- 
geoisie in Frankreich im Jahre 1789 sich vergleichen lasse. Da- 
mals hatte die siegreiche Klasse, bevor die Macht ihr zufiel, in 
jahrzehntelangen Auseinandersetzungen die Beherrschung des 
geistigen Apparates sich gesichert. Die intellektuelle Organisa- 
tion, die Bildung war langst mit der Ideenwelt des tiers £tat 
durchsetzt und der geistige Emanzipationskampf vor dem poli- 
tischen durchgefochten. Im heutigen Rufiland liegt das ganz 
anders. Fur Millionen und Abermillionen von Analphabeten 
sollen die Fundamente emer allgemeinen Bildung erst gelegt 
werden. Beriihmt ist Lenins Armeebefehl fur die III. Front - 
die I. Front, das ist in Rufiland die politische, die II. ist die 
wirtschaftliche und die III. die kulturelle - dieser Armeebefehl 
an die III. Front also lautet, dafi bis zum Jahre 1928 der 
Analphabetismus miisse liquidiert worden sein. Mit einem Wort, 
die russischen Autoren miissen heute schon mit einem neuen und 
mit einem sehr viel primitiveren Publikum, als die fruheren 
Generationen es kannten, rechnen. Ihre Hauptaufgabe ist, an 
die Massen heranzukommen. Raffinements der Psychologie, 
der Wortwahl, der Formulierung miissen vollig an diesem Pu- 
blikum abprallen. Was es braucht sind nicht Formulierungen 
sondern Informationen, nicht Variationen sondern Wiederho- 
lungen, nicht Virtuosenstiicke sondern spannende Berichte. Ge- 
wifi, nicht alle literarischen Fraktionen oder Zirkel haben sich 
diese radikalen Thesen zugeeignet. Wohl aber entsprechen diese 
Thesen dem Standpunkt, welchen die grofite und gewissermafien 
offiziose Organisation - der WAPP, der allgemeine Verband 
proletarischer Schriftsteller Rufilands - proklamiert. Folgerecht 
proklamiert WAPP weiter, dieser Auf gabe gewachsen sei nur der 
eigentlich proletarische Schriftsteller, nur der Bekenner des Ge- 
dankens einer Diktatur der Arbeiterklasse. Schlagend hat Dem- 
jan Bedny formuliert: Und wenn wir audi nur 3 Rotzkerle 
haben, dann sind es wenigstens unsere eigenen. 



Neue Dichtung in Rufiland 757 

So die Ultras. Sie geben nicht den Standpunkt der Partei. Aber 
die ausschlaggebenden Instanzen im Literaturleben, die staatli- 
che Zensur, die offentliche Meinung stehen in der Praxis ihnen 
nicht allzufern. Nimmt man hinzu, dafi in Rufiland der freie 
Schriftsteller auf dem Aussterbe-Etat stent, der breite Durdi- 
schnitt aller Schreibenden in dieser oder jener Form dem Staats- 
apparat verbunden ist und als Beamter oder anders durch ihn 
kontrolliert wird, so hat man ein Gradnetz der herrschenden 
Zustande. 

In dieses Gradnetz werden wir nunmehr die Entwicklungskurve 
der letzten 5 Jahre einzeichnen und dabei wie die praktische, 
informatorische Tendenz dieser kurzen Ausfiihrungen es nahe- 
legt als Orientierungspunkte die Hauptwerke der jetzigen Lite- 
ratur, wenn moglich in Obersetzungen, namhaft machen. 
Lage bei Ausbruch der Revolution: Die ersten Bemiihungen um 
neue Literatur sowie um neue Kunst im allgemeinen sammeln 
sich unter der Flagge des Proletkult. Fiihrend: Erstens Maja- 
kowski. Wladimir Majakowski war ein nicht unbekannter 
Dichter bereits unter dem Zarismus. Ein exzentrischer Fron- 
deur etwa wie Marinetti in Italien. Ein kiihner Neuerer in for- 
malen Dingen, verleugnet er damals nicht vollig seine Be- 
stimmtheit durch die romantische Dekadenz. Egozentrischer 
Dandy, riickt er sich selber gern in den Mittelpunkt seiner 
hymnischen Dichtungen und bewies damals schon jenes Talent 
furs Theatralische, das er um 1920 in den Dienst der Revolution 
stellt. »i$ooooooo« macht die formalen Errungenschaften des 
Futurismus zum ersten Male der politischen Propaganda dienst- 
bar. Die Redeweise der Strafie, phonetischer Krawall, ein 
phantasievolles Rowdytum feiern die neue Epoche der Massen- 
herrschaft. Den Hohepunkt seiner Erfolge bezeichnet »Myste- 
rium burTo«, eine Vorfiihrung mit Tausenden von Mitwirken- 
den, Sirenengeheul, Militarmusik, Larmorchester unter freiem 
Himmel. Regisseur dieses Massenschauspiels war Meyerhold. 
Zweitens: Wsewolod Meyerhold, arbeitete ebenfalls unter dem 
Zarismus als Theaterdirektor. Stellte als erster das Theater in 
den Dienst der Revolution. Durch einige kiihne Neuerungen 
suchte er eine neue Ehrlichkeit, eine Absage an den Mystizismus 
der Rampe, einen breiten Kontakt mit der Masse zu finden. Er 
spielt ohne Vorhang, ohne Rampenbeleuchtung, mit verschieb- 



j 5% Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

baren Dekorationen, die auf der offenen Biihne so gehandhabt 
werden, dafi man Ausblick auf den Schniirboden hat. Er liebt 
einen Einschlag von Zirkus, Vari^te, Exzentrik in seinen Stiik- 
ken. »D. E.«, Dramatisierung eines Romans von Ilja Ehren- 
burg, ist in dieser Hinsicht seine charakteristischste Leistung. 
Drittens: Demjan Bedny. Das ist der Autor der beriihmten Pla- 
katgedichte, Aufrufe, Hafigesange aus der Zeit des heroischen 
Kommunismus, des Entscheidungskampfes zwischen Weifien und 
Roten. Einige seiner beriihmtesten Manifeste sind von Johannes 
R. Becher verdeutscht worden. Viertens gehoren dem Proletkult 
u. a. die Imaginisten und Konstruktivisten an. Die einen pfleg- 
ten, ahnlich wie jetzt die Surrealisten in Frankreich, eine Dich- 
tung auf assoziativer Grundlage, d. h. sie geben eine zusammen- 
hanglose Bilderfolge, wie sie etwa in Traumen sich findet. Wer 
von den Konstruktivisten sich eine Vorstellung machen will - 
einer Schule, die sich bemiiht, das blofie Wort als solches zur 
hochstgesteigerten Wirkung zu bringen - mag etwa an den 
deutschen Lyriker August Stramm denken. 
Zusammengehalten wurde der Proletkult kraft eines ersten 
revolutionaren Elans. Im Laufe der Zeit aber brachten kritische 
Auseinandersetzungen die Gegensatze der vielen in ihm grup- 
pierten Richtungen zu Tage. Und diesen Auseinandersetzungen 
fiel er schliefilich zum Opfer. Denn man erklarte: Was will der 
Proletkult? Will er eine Literatur von Proletariern oder eine 
Literatur fur Proletarier? Zu Majakowski, zu den Konstrukti- 
visten, den Imaginisten sagte man: Ihr wollt die neue Dichtung 
fur die Massen schafTen. Ihr wollt dem Leben der Maschine, 
dem Alltag der Fabrik, dem Gesichtskreis des Rotarmisten sein 
Recht in der Dichtung erobern. Aber die verstehen Euch ja gar 
nicht. Wo ist der Proletarier, der Mann aus dem Volke, welcher 
in seinen Mufiestunden nicht lieber zu Turgeniew, Tolstoi, 
Gorki griffe als zu Euch? - Oder wieder: Will man im Ernste 
eine Literatur von Proletariern, dann mufi man erst einmal die 
Frage stellen: Kann heute in der Epoche des Biirgerkrieges, in 
den Zeiten des bittersten Existenzkampfs, das Proletariat 
Krafte furs Schrifttum, fur die Dichtung frei machen? Noch nie 
sind die Epochen grofier politischer und gar sozialpolitischer 
Revolutionen Epochen eines bliihenden Schrifttums gewesen. 
Der Mann, der diese Fragen und Behauptungen nachdriicklich, 



Neue Dichtung in Rufiland 759 

glanzend in die Diskussion warf, war Trotzki, und sein Budi 
»Literatur und Revolution^ eine Kampfansage an den Prolet- 
kult in all seinen Richtungen, war von 1923 bis 1924 partei- 
offiziell. 

In jahrelangen Kampfen trat dieser Doktrin eine Gruppe ent- 
gegen, die gleich sehr vom Proletkult, von den formalistischen 
Kiinsten der Majakowski und seiner Genossen wie von dem 
kulturellen Defatismus Trotzkis abriickte. Es sind das die 
Napostowzen, der Kreis, welcher sich um die Zeitschrift »Na 
postu« (»Auf dem Posten«) gruppiert. Im ganzen deckt sich 
deren Programm mit dem oben genannten des WAPP. Sie sind 
die eigentliche Kerntruppe der Ultras und sie sagen: »Die Herr- 
schaft des Proletariats ist unvereinbar mit der Herrschaft einer 
nichtproletarischen Ideologic und somit auch einer nichtprole- 
tarischen Literatur. Das Gerede davon, dafi in der Literatur 
eine friedliche Zusammenarbeit, ein friedlicher Wettbewerb ver- 
schiedener literarischer und ideologischer Richtungen moglich 
sei, ist nichts als eine reaktionare Utopie . . . Der Bolschewismus 
stand von jeher und steht auch heute noch auf dem Standpunkt 
ideologischer Unversohnlichkeit und Unduldsamkek, auf dem 
Standpunkte unbedingter Klarheit der ideologischen Linien . . . 
Unter den heutigen Verhaltnissen bildet die schone Literatur 
die letzte Arena, in der der unversbhnliche Klassenkampf zwi- 
schen dem Proletariat und der Bourgeoisie um die Hegemonie 
iiber die Zwischenschichten ausgefochten wird. Deshalb geniigt 
es nicht, wenn die Existenz einer proletarischen Literatur blofi 
zugegeben wird, sondern es mufi das Prinzip der Hegemonie 
dieser Literatur anerkannt werden, das Prinzip des systema- 
tischen Kampfes dieser Literatur um den vollen Sieg, um das 
Verschlingen aller Arten und Nuancen der biirgerlichen und 
kleinburgerlichen Literatur.« Offiziell wurde dieser Streit zwi- 
schen den Ultras und der Partei im Jahre 1924 durch ein ziem- 
lich nichtssagendes Kompromifi beendet, das unter Fuhrung 
des vielseitigen und gewandten Volkskommissars fur Aufkla- 
rungswesen Lunatscharski zustande kam. In Wahrheit aber 
dauert der Konflikt noch an. 

Soweit die Literaturpolitik. Bevor wir der Charakteristik der 
Hauptwerke uns zuwenden, seien einige Outsider erwahnt, die 
- keiner der genannten Richtungen verbunden - in Europa 



j6q Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

einen mehr oder weniger grofien Namen haben. Bei weitem der 
bedeutendste unter ihnen ist der vor einigen Jahren verstorbene 
Waleri Brjussow. (Deutsch erschien der Roman »Der feurige 
Engel« im Hyperion Verlag.) Am grofiten ist Brjussow als 
Lyriker. Er ist der Schopfer des russischen Symbolismus und 
wird in Rufiland mit George verglichen. Er ist der einzige unter 
den grofien Dichtern der alten Schule, der sofort sich auf den 
Boden der Revolution stellte, ohne deshalb mit proletarischer 
Dichtung hervorzutreten. Er war im hochsten Grade Aristokrat. 
Nach seinem Tode ehrte ihn Rufiland mit der Griindung des 
Instituts fiir Literaturwissenschaft »Imena Valerian Brjussow«. 
In diesem Institut wird erlernt: Journalismus, Dramaturgic, 
lyrische Dichtung, Novellistik, Kritik, Polemik, Verlagswesen. 
Die Lehre von einem angeborenen dichterischen Genie, das 
allein zur bedeutenden literarischen Leistung befahigt, ist mit 
der Theorie des historischen Materialismus nicht zu verein- 
baren. Aufier Brjussow sind zu nennen: Alexander Block und 
Sergej Jessenin. Block ist in Deutsdiland beriihmt durch seine 
genialen aber hochst gewaltsamen Versuche, die religiose Mystik 
mit dem Fieberrausch der Umsturzjahre zu durchdringen und 
ist darin der zweifelhaften Mentalitat der deutschen Intelligenz 
im Jahre 191 8/19 verwandt. Daher stammt der Ruhm, den 
ihm auch schlechte deutsche Obersetzer nicht haben nehmen 
konnen. Sergej Jessenins Figur beschaftigt, zumal nach seinem 
freiwilligen Tod, die offentliche Meinung Rufilands bis heute. 
Er ist ein Bauerndichter, versuchte mit der Revolution sich aus- 
einanderzusetzen, geriet aber dabei in die Abgriinde eines welt- 
schmerzlichen Nihilismus und wurde endlich zum Abgott der 
romantischen Konterrevolution. Ober ihn aufiert sich in der 
»Prawda« Bucharin wie folgt: »Ein bauerlicher Dichter unserer 
Obergangsepoche, der tragisch untergeht, weil er sich nicht an- 
passen konnte. Nicht ganz so, Hebe Freunde! Es gibt Bauern 
und Bauern! Die Jesseninsche Dichtung ist ihrem Wesen nach 
jener armselige Muschik, der zur Halfte sich schon in einen fe- 
schen Kaufmann verwandelt hat: In Lackstiefelchen, in gestick- 
tem Hemd mit seidenen Schnurchen, fiel dieser fesche Kaufmann 
heut vor der Kaiserin nieder, um ihren Fufi zu kiissen, beleckt 
er morgen mit den Lippen ein Heiligenbild, beschmiert er 
iibermorgen in trunkenem Mut dem Kellner mit Senf die Nase, 



Neue Dichtung in Rufiland 761 

urn dann sich in der Seele zu zerknirschen, er weint, will gerne 
einen Hund umarmen oder audi eine Geldsumme ins Kloster 
stiften zum Gedachtnis seiner Seele. Er ist sogar imstande, sich 
auf dem Dachboden aufzuhangen vor lauter innerer seelischer 
Leere. Das Hebe, bekannte edit russisdie Bild.« - Weiter zu 
nennen waren unter den heute sdireibendenEmigranten: Schmel- 
jow, Bunin, Saitzew. (Von Schmeljow erschien das Hauptwerk 
»Die Sonne der Toten« und neuerdings der angenehme psycho- 
logisdie Roman »Der Kellner« in hervorragender Obersetzung 
von Kate Rosenberg bei Fischer. Ebendort erschien von Bunin 
»Der Herr aus San Francisco« und »Mkjas Liebe«. Bunins be- 
deutendstes Werk, »Das Dorf«, ist nicht iibersetzt.) 
Kein Europaer kann ermessen, in welchem Grade das ganze 
ungeheure Rufiland, ein Volk von 150 Millionen Menschen, 
durch die Wechselfalle der letzten zehn Jahre von Stoffen 
erfiillt ist, und von welchen Stoffen: Schicksalen jedes kleinsten 
Einzellebens und aller Kollektiva von der Familie bis zum 
Heer und zum Volk. Die gegenwartige jussische Literatur er- 
fiillt, man darf sagen die physiologische Aufgabe, den Volks- 
korper von dieser Uberlast von Stoffen, von Erlebnissen, von 
Fiigungen zu erlosen. Rufilands Schriftstellerei im jetzigen Au- 
genblick ist, von hier aus gesehen, ein ungeheurer Ausschei- 
dungsprozefi. Die Kanonisierung derTendenz hat nicht nur poli- 
tische, sie hat audi diese hygienische, diese heilende Bedeutung, 
dafi Menschen, die von eigenem Leid gesattigt sind wie ein 
voller Schwamm, miteinander nur kommunizieren konnen in 
der Fluchtlinie einer Tendenz, in der Perspektive des Kommu- 
nismus. Daneben hat das Leben eine Fulle von neuen Typen, 
neuen Situationen geschaffen, die vor allem einmal registriert, 
beschrieben, bewertet sein wollen. Da ist eine ungeheuere Me- 
moirenliteratur, weifi Gott nicht mit der Schriftstellerei unserer 
Politiker und Heerfuhrer zu vergleichen. Da gibt es eine Zeit- 
schrift der Katorga, in der die sibirischen Verbannten, die Opfer 
der Vorrevolution, ihre Aufzeichnungen veroffentlichen, Denk- 
wiirdigkeiten wie Wera Figners »Nacht iiber Rufiland« (Malik- 
Verlag), kurz ein Schrifttum, dem sich die neuen Dichter, wollen 
sie iiberhaupt gelesen sein, in der dynamischen Kraft ihrer Dar- 
stellung gewadisen zeigen miissen. Es gibt solche Dichter und 
solche Darsteller. Einen grofien Stoffkreis umschreibt die Tsche- 



762 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

ka, die revolutionare Geheimpolizei. Wir nennen vor allem 
Tarassow-Rodionows »Schokolade« (Verlag Die Aktion), No- 
vellen von Slonimski, Grigoriew u. a. (mehrere davon in der 
instruktiven Anthologie »2wisdien Gestern und Morgen«, Tau- 
rus Verlag, Berlin). Da gibt es den Besprisorni, das verwahrloste 
Kind. Zwei Millionen soldier heimatlosen Kinder haben wah- 
rend des Biirgerkrieges Rufiland auf Wanderungen uberzogen. 
Die Dichterin Lydia Sejfullina hat ihr besonderes Studium aus 
diesen Kindern gemacht. (»Der Ausreifier«, Malik- Verlag.) 
Dann die Schicksale des Kollektivs. Hier ware, selbst wenn man 
auf Obersetztes sich beschrankt, eine grofie Literatur anzufiih- 
ren. Das Wichtigste: Juri Libedinski, »Eine Woche«; Iwanow, 
»Farbige Winde«, »Panzerzug i^-6^«; Dybenko, »Die Rebel- 
len« (samtlich Verlag fiir Literatur und Politik). In diesem 
Jahre wird audi deutsch das beriihmteste dieser Biicher erschei- 
nen: Fedin, »Die Stadte und die Jahre« (Malik- Verlag), von 
besonderem Interesse, da der Held ein Deutscher. In die gleiche 
Reihe gehoren die grofien russisdien Journalisten: die unver- 
gleidiliche Larissa Reisner. Ihr Buch »Oktober« (Neuer deut- 
scher Verlag) enthalt im Kapitel »Die Front« die klassische 
Darstellung des Biirgerkrieges. Von dem bedeutenden Publizi- 
sten Sosnowski liegt deutsch vor »Taten und Menschen«. Die 
neueste Erscheinung, zugleich der wichtigsten eine, ist Fjodor 
Gladkows »2ement«. Das Buch (Verlag fiir Literatur und Poli- 
tik) ist der erste Versuch, das Rufiland der Aufbauperiode im 
Roman darzustellen, uberreich an Typen von volliger Lebens- 
wahrheit und schwer erreichbar in der Darstellung der Atmo- 
sphare, die die Parteiversammlungen auf dem Lande erfiillt. 
Nur eines darf man in diesem Buche sowenig wie in den meisten 
ubrigen suchen: Komposition im strengen Sinn der Romanen. 
Das jetzige Schrifttum Rufilands ist Vorlaufer einer neuen Ge- 
schichtsschreibung weit eher als einer neuen Belletristik. Vor 
allem aber ist es ein moralisches Faktum und einer der Zugange 
zum moralischen Phanomen der russischen Revolution iiber- 
haupt. 



7 6 3 
Programm eines proletarischen Kindertheaters 

Vorbemerkung 

Jede proletarische Bewegung, die einmal dem Schema der parla- 
mentarischen Diskussion entronnen ist, sieht unter den vielen 
Kraften, denen sie plotzlich unvorbereitet gegeniibersteht, als 
die allerstarkste aber audi allergefahrlichste vor sich die neue 
Generation. Die Selbstsicherheit des parlamentarischen Stumpf- 
sinns kommt gerade daher, dafi die Erwachsenen unter sich 
bleiben. Ober Kinder dagegen haben Phrasen gar keine Gewalt. 
In einem Jahre kann man erreichen, dafi im ganzen Lande die 
Kinder sie nachsprechen. Die Frage ist aber, wie man es erreicht, 
daft in zehn oder zwanzig Jahren nach dem Parteiprogramm 
gehandelt wird. Und dazu vermogen Phrasen nicht das min- 
deste. 

Die proletarische Erziehung mufi vom Parteiprogramm, ge- 
nauer: aus dem Klassenbewufksein, aufgebaut sein. Aber das 
Parteiprogramm ist kein Instrument einer klassenbewuftten 
Kindererziehung, weil die an sich hochst wichtige Ideologie das 
Kind nur als Phrase erreicht. Wir fragen ganz einfach, aber wir 
werden auch nicht aufhoren zu fragen, nach den Instrumenten 
der klassenbewulken Erziehung proletarischer Kinder. Dabei 
werden wir vom wissenschaftlichen Unterricht im folgenden 
absehen, weil viel fruher als Kinder (in Technik, Klassenge- 
schichte, Beredsamkeit etc.) proletarisch gelehrt werden konnen, 
sie proletarisch erzogen werden miissen. Mit dem vierten Lebens- 
jahre beginnen wir. 

Die burgerliche Erziehung der kleineren Kinder ist, der Klassen- 
lage der Bourgeoisie entsprechend, systemlos. Selbstverstandlich 
hat die Bourgeoisie ihr Erziehungssystem. Die Unmenschlichkeit 
seiner Inhalte verrat sich eben nur darin, daft sie vor dem 
friihen Kindesalter versagen. Auf dieses Alter kann nur das 
Wahre produktiv wirken. Von der biirgerlichen Erziehung 
der kleinen Kinder hat die proletarische zuallererst durch 
System sich zu unterscheiden. System aber heifit hier Rahmen. 
Es ware fur das Proletariat ein ganz unertraglicher Zustand, 
wenn so wie in den Kindergarten der Bourgeoisie alle sechs 
Monate eine neue Methode mit den neusten psychologischen 



764 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

Raffinements in ihre Padagogik den Einzug hielt. Oberall, und 
da macht die Padagogik gar keine Ausnahme, ist das Inter- 
esse an der »Methode« eine edit bourgeoise Einstellung, die 
Ideologic des Weiterwurstelns und der Faulenzerei. Die prole- 
tarische Erziehung braucht also unter alien Umstanden zuerst 
einmal einen Rahmen, ein sachliches Gebiet, in dem erzogen 
wird. Nicht, wie die Bourgeoisie, eine Idee, zu der erzogen 
wird. 

Wir begriinden jetzt, warum der Rahmen der proletarischen 
Erziehung vom vierten bis zum vierzehnten Lebensjahre das 
proletarische Kindertheater ist. 

Die Erziehung des Kindes erfordert: es mufl sein gauzes Leben 
ergriffen werden. 

Die proletarische Erziehung erfordert: es mujl in einem begrenz- 
ten Gebiet erzogen werden. 

Das ist die positive Dialektik der Frage. Weil nun das ganze 
Leben in seiner unabsehbaren Fulle gerahmt und als Gebiet 
einzig und allein auf dem Theater erscheint, darum ist das pro- 
letarische Kindertheater fiir das proletarische Kind der dialek- 
tisch bestimmte Ort der Erziehung. 

Schema der Spanning 

Dahingestellt lassen wir, ob nicht oder ob doch das Kinderthea- 
ter, von dem nun die Rede sein wird, den genauesten Zusam- 
menhang mit dem grofien Theater auf den Hohepunkten seiner 
Geschichte hat. Dagegen miissen wir mit aller Entschiedenheit 
feststellen, dafi dieses Theater nichts gemein hat mit dem der 
heutigen Bourgeoisie. Das Theater der heutigen Bourgeoisie 
wird okonomisch durch den Profit bestimmt; soziologisch ist es 
vor und hinter den Kulissen vor allem Instrument der Sensa- 
tion. Anders das proletarische Kindertheater. So wie der erste 
Griff der Bolschewiki die rote Fahne erhob, so organisierte ihr 
erster Instinkt die Kinder. In dieser Organisation hat sich als 
Zentrum das proletarische Kindertheater, Grundmotiv der bol- 
schewistischen Erziehung, entwickelt. Zu diesem Faktum gibt es 
die Gegenprobe. Sie geht auf. Nichts gilt der Bourgeoisie fiir 
Kinder so gefahrlich wie Theater. Das ist nicht nur ein restlicher 
EfFekt des alten Burgerschrecks, der kinderraubenden fahrenden 



Programm eines proletarischen Kindertheaters 765 

Komodianten. Hier straubt vielmehr sich das verangstete Be- 
wufitsein, die starkste Kraft der Zukunft in den Kindern durch 
das Theater aufgerufen zu sehen. Und dies Bewufitsein heifit 
die biirgerliche Padagogik das Theater iichten. Wie wiirde sie 
erst reagieren, wo das Feuer - in welchem Wirklichkeit und 
Spiel fiir Kinder sich verschmelzen, so eins werden, dafi gespiel- 
te Leiden in echte, gespielte Priigel in wirkliche ubergehen 
konnen - aus der Nahe ihr spiirbar wird. 

Jedoch: die Auffuhrungen dieses Theaters sind nicht wie die der 
grofien Bourgeoisietheater das eigentliche Ziel der angespann- 
ten Kollektivarbeit, die in den Kinderklubs geleistet wird. Hier 
kommen Auffiihrungen nebenbei, man konnte sagen: aus Ver- 
sehen, zustande, beinahe als ein Schabernack der Kinder, die 
auf diese Weise einmal das grundsatzlich niemals abgesdilossene 
Studium unterbrechen. Der Leiter legt auf diesen Abschlufi 
weniger Wert. Ihm kommt es auf die Spannungen an, welche 
in solchen Auffiihrungen sich losen. Die Spannungen der kollek- 
tiven Arbeit sind die Erzieher. Die ubereilte, viel zu spate, un- 
ausgeschlafene erzieherische Arbeit, die der bourgeoise Regisseur 
am Bourgeoisschauspieler vollzieht, fallt in diesem System fort. 
Warum? Weil im Kinderklub kein Leiter sich halten konnte, 
der irgendwo den edit bourgeoisen Versuch unternehmen woll- 
te, unmittelbar als »sittliche Personlichkeit« auf Kinder zu 
wirken. Moralische Einwirkung gibt es hier nicht. Unmittelbare 
Einwirkung gibt es hier nicht. (Und auf diesen beruht die Regie 
im bourgeoisen Theater.) Was zahlt, ist einzig und allein die 
mittelbare Einwirkung des Leiters auf Kinder durch StofFe, 
Aufgaben, Veranstaltungen. Die unvermeidlichen moralischen 
Ausgleichungen und Korrekturen nimmt das Kollektivum der 
Kinder selbst an sich vor. Daher kommt es, da£ die Auffiihrun- 
gen des Kindertheaters auf Erwachsene als echte moralische 
Instanz wirken miissen. Es gibt keinen moglichen Standort fiir 
uberlegenes Publikum vorm Kindertheater. Wer noch nicht ganz 
verblodet ist, der wird sich vielleicht schamen. 
Aber audi das fiihrt nicht weiter. Proletarische Kindertheater 
erfordern, um fruchtbar zu wirken, ein Kollektiv als Publikum 
ganz unerbittlich. Mit einem Worte: die Klasse. Wie denn 
andererseits nur die Arbeiterklasse ein unfehlbares Organ fiir 
das Dasein der Kollektiva besitzt. Solche Kollektiva sind die 



y66 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

Volksversammlung, das Heer, die Fabrik. Soldi ein Kollekti- 
vum ist aber audi das Kind. Und es ist das Vorrecht der Arbei- 
terklasse, fur das kindliche Kollektivum, welches der Bourgeoisie 
nie zu Gesicht kommen kann, das offenste Auge zu haben. Die- 
ses Kollektivum strahlt nicht nur die gewaltigsten Krafte aus, 
sondern die aktuellsten. Unerreicht ist in der Tat die Aktualitat 
kindlichen Formens und Gebarens. (Wir verweisen auf die 
bekannten Ausstellungen der neuesten Kinderzeichnung.) 
Das Kaltstellen der »moralischen Personlidikeit« im Leiter 
macht ungeheure Krafte frei fiir das eigentliche Genie der Er- 
ziehung: die Beobachtung. Sie allein ist das Herz der unsenti- 
mentalischen Liebe. Jede erzieherische Liebe, welcher nicht in 
neun Zehntel aller Falle des Besserwissens und des Besserwol- 
lens die Beobachtung des kindlichen Lebens selbst den Mut und 
die Lust verschlagt, taugt nichts. Sie ist sentimental und eitel. 
Der Beobachtung aber - hier fangt Erziehung erst an - wird 
jede kindliche Aktion und Geste zum Signal. Nicht so sehr, wie 
dem Psychologen beliebt, Signal des Unbewufken, der Latenzen, 
Verdrangungen, Zensuren, sondern Signal aus einer Welt, in 
welcher das Kind lebt und befiehlt. Die neue Erkenntnis vom 
Kinde, die in den russischen Kinderklubs sich ausbildete, hat zu 
dem Lehrsatz gefuhrt: das Kind lebt in seiner Welt als Diktator. 
Daher ist eine »Lehre von den Signalen« keine Redensart. Fast 
jede kindliche Geste ist Befehl und Signal in einer Umwelt, in 
welche nur selten geniale Menschen einen Blick eroffnet haben. 
Allen voran tat es Jean Paul. 

Es ist die Aufgabe des Leiters, die kindlichen Signale aus dem 
gefahrlichen Zauberreich der blofien Phantasie zu erlosen und 
sie zur Exekutive an den StofTen zu bringen. Das geschieht in 
den verschiedenen Sektionen. Wir wissen, dafi - um von der 
Malerei allein zu sprechen - das Wesentliche auch in dieser 
kindlichen Betatigungsform die Geste ist. Konrad Fiedler hat 
in seinen »SchrifTen uber Kunst« als erster bewiesen, dafi der 
Maler kein Mann ist, der naturalistischer, poetischer oder eksta- 
tischer sieht als andere Leute. Vielmehr ein Mann, der mit der 
Hand da naher zusieht, wo das Auge erlahmt, der die aufneh- 
mende Innervation der Sehmuskeln in die schopferische Inner- 
vation der Hand iiberfiihrt. Schopferische Innervation in exaktem 
Zusammenhang mit der rezeptiven ist jede kindliche Geste. Die 



Programm eines proletarischen Kindertheaters 767 

Entwicklung dieser kindliclien Geste zu den verschiedenen For- 
men des Ausdrucks, als Anfertigung von Requisiten, Malerei, 
Rezitation, Musik, Tanz, Improvisation fallt den versdiiedenen 
Sektionen zu. 

In ihnen alien bleibt die Improvisation zentral; denn schliefilich 
ist die Auffiihrung nur die improvisierte Synthese aus ihnen. 
Die Improvisation herrscht; sie ist die Verfassung, aus der die 
Signale, die signalisierenden Gesten auftauchen. Und Auffiih- 
rung oder Theater mufi eben darum die Synthese dieser Gesten 
sein, weil nur sie die unversehentHche Einmaligkeit hat, in wel- 
cher die kindliche Geste als in ihrem echten Raume steht. Was 
man als runde »Leistung« aus Kindern herausqualt, kann nie 
an Echtheit mit der Improvisation sich messen. Der aristokrati- 
sche Dilettantismus, der es auf solche »Kunstleistungen« der 
armen Zoglinge abgesehen hatte, fullte schliefilich nur deren 
Schranke und Gedachtnis mit Plunder, der sehr pietatvoll be- 
hiitet wurde, um in Erinnerung an die friihere Jugend die eige- 
nen Kinder wiederum zu plagen. Nicht auf die »Ewigkeit« der 
Produkte, sondern auf den »Augenblick« der Geste stellt alle 
kindliche Leistung es ab. Das Theater als die vergangliche Kunst 
ist die kindliche. 

Schema der Losung 

Dem erzieherischen Aufbau der Arbeit in den Sektionen steht 
die Auffiihrung gegeniiber als der Spannung die Losung. Vor 
ihr tritt der Leiter ganzlich zuriick. Denn keine padagogische 
Klugheit kann vorhersehen, wie Kinder die geschulten Gebar- 
den und Fertigkeiten mit tausend uberraschenden Varianten zu 
einer theatralischen Totalitat zusammenfassen. Kommt schon 
fiir den Berufsschauspieler die Erstauffiihrung als ein Anlafi der 
gliicklichsten Varianten in der einstudierten Rolle nicht selten in 
Betracht, so bringt sie im Kinde das Genie der Variante zur 
vollen Herrschaft. Die Auffiihrung steht der erzieherischen 
Schulung gegeniiber als die radikale Entbindung des Spiels, dem 
der Erwachsene einzig und allein zusehen kann. 
Die Verlegenheiten der bourgeoisen Padagogik und der heran- 
wachsenden Bourgeoisie machen sich neuerdings in der Bewe- 
gung fiir »Jugendkultur« Luft. Der Widerstreit, den diese neue 



768 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

Tendenz zu vertuschen bestimmt ist, liegt in den Anspriichen 
der burgerlichen, wie jeder politischen, Gesellschaft an die un- 
mittelbar politisch niemals zu belebenden Energien der Jugend. 
Vor allem der kindlichen. Nun versucht »Jugendkultur« den 
aussichtslosen Kompromifi: sie entleert den jugendlichen Enthu- 
siasmus durch idealistische Reflektionen uber sich selbst, um 
unmerklich die formalen Ideologien des deutschen Idealismus 
durch die Inhalte der Biirgerklasse zu ersetzen. Das Proletariat 
darf sein Klasseninteresse an den Nachwuchs nicht mit den un- 
sauberen Mitteln einer Ideologic heranbringen, die bestimmt ist, 
die kindhche Suggestibility zu unterjochen. Die Disziplin, wel- 
che die Bourgeoisie von den Kindern verlangt, ist ihr Schand- 
mal. Das Proletariat diszipliniert erst die herangewachsenen 
Proletarier; seine ideologische Klassenerziehung setzt mit der 
Pubertal ein. Die proletarische Padagogik erweist ihre Ober- 
legenheit, indem sie Kindern die Erfiillung ihrer Kindheit ga- 
rantiert. Der Bezirk, in dem dies geschieht, braucht darum nicht 
vomRaum der Klassenkampfe isoliert zu sein. Spielweise konnen 
- ja miissen vielleicht - seine Inhalte und Symbole sehr wohl in 
ihm Platz finden. Eine formliche Herrschaft iiber das Kind aber 
konnen sie nicht antreten. Sie werden das nicht beanspruchen. 
So bedarf es denn audi im Proletariat all der tausend Wortchen 
nicht, in denen die Bourgeoisie die Klasseninteressen ihrer Pad- 
agogik maskiert. Auf »unbefangene«, » vers tandnis voile «, »ein- 
fuhlende« Praktiken, auf »kinderliebe« Erzieherinnen wird 
man verzichten konnen. 

Die Auffiihrung ist die grofie schopferische Pause im Erziehungs- 
werk. Sie ist im Reiche der Kinder, was der Karneval in alten 
Kulten gewesen ist. Das Oberste wird zuunterst gekehrt und 
wie in Rom an den Saturnalien der Herr den Sklaven bediente, 
so stehen wahrend der Auffiihrung Kinder auf der Biihne und 
belehren und erziehen die aufmerksamen Erzieher. Neue Krafte, 
neue Innervationen treten auf, von denen oft dem Leiter unter 
der Arbeit merits ahnte. Erst in dieser wilden Entbindung der 
kindlichen Phantasie lernt er sie kennen. Kinder, die so Theater 
gespielt haben, sind in dergleichen Auffiihrungen frei geworden. 
Im Spielen hat sich ihre Kindheit erfiillt. Sie nehmen keine 
Restbestande mit, die spater eine unsentimentale Aktivitat durch 
larmoyante Kindheitserinnerungen hemmen. Dieses Theater ist 



Kritik der Verlagsanstalten y6$ 

zugleich fur den kindlidien Zuschauer das einzig brauchbare. 
Wenn Erwachsene fiir Kinder spielen, kommt Lafferei heraus. 
In diesem Kindertheater liegt eine Kraft, welche das pseudo- 
revolutionare Gebaren des jiingsten Theaters der Bourgeoisie 
vernichten wird. Denn wahrhaft revolutionar wirkt nicht die 
Propaganda der Ideen, die hier und da zu unvollziehbaren 
Aktionen anreizt und vor der ersten nuchternen Besinnung am 
Theaterausgang sich erledigt. Wahrhaft revolutionar wirkt das 
geheime Signal des Kommenden, das aus der kindlidien Geste 
spricht. 



Kritik der Verlagsanstalten 

Die Schriftsteller gehoren zu den in der Auswertung ihrer sozia- 
len Erfahrung am weitesten zuriiokgebliebenen Bevolkerungs- 
teilen. Sie sehen in einander ausschliefilich Standesgenossen, ihre 
Urteils- und Wehrbereitschaft ist, wie bei alien standisch 
Orientierten, gegen unten sehr viel prompter als gegen oben. 
Sie verstehen es zwar gelegentlich gut, auf vorteilhafte Art mit 
Verlegern fertig zu werden. Aber sowenig sie in den meisten 
Fallen sich Rechenschaft von der sozialen Funktion ihrer Schrift- 
stellerei geben, sowenig kommt in ihrem Verhalten der Ver- 
lagsanstalt gegeniiber die Besinnung auf deren Funktion zu 
ihrem Recht. Gewifi gibt es auch unter den Verlegern solche, 
die dem Geschaft, das sie betreiben, naiv gegeniiberstehen und 
wirklich giauben, die Unterscheidung guter Bucher von schlech- 
ten sei ihre einzige moralische, gangiger von schwerer verkauf- 
lichen ihre einzige geschaftliche Aufgabe. Im allgemeinen aber 
hat der Verleger einen ungleich klareren Begriff von den Krei- 
sen, fiir die er druckt, als die Schriftsteller von jenen, fiir die sie 
schreiben. Darum sind sie ihm nicht gewachsen und nicht im- 
stande, ihn zu kontrollieren. Wer sollte es aber sonst tun? Das 
Publikum kommt gewifi nicht in Frage; die Verlagsgebarung 
fallt ganz aus seinem Blickfeld heraus. Es bleiben die Sortimen- 
ter als einzige Instanz. Unnotig zu bemerken, wie problema- 
tisch ihre Kontrolle sein mufi, ware es auch nur, weil sie unver- 
antwortlich und geheim ist. 
Was zu fordern ist, liegt auf der Hand. Dafi es nicht von heme 



770 Kulturpolitisdie Artikel und Aufsatze 

auf morgen, im kapkalistischen Wirtsdiaftssystem iiberhaupt 
nicht restlos erreidit werden kann, soil kein Hindernis sein, es 
zu sagen. Notwendig ware zunachst als Fundament alles Fer- 
neren eine statistische Erfassung der Kapitalien, die im Verlags- 
geschaft arbeiten. Von dieser Plattform aus miifite die Unter- 
suchung sich nach zwei Richtungen hin bewegen. Einmal aufstei- 
gend im Zuge der Frage: wo stammen diese Kapitalien her? Mit 
anderen Worten: welche Kapitalien sind aus den Bank-, Textil-, 
Montan-, Druckereiunternehmungen abgewandert, um in Ver- 
lagsanstalten zu arbeiten? Zweitens absteigend: womit versorgt 
das Verlagskapital den BUchermarkt? Ferner ware es an sich 
naheliegend, beide Fragen kombiniert zu behandeln, zu unter- 
suchen, welchen Kauferschichten und Tendenzen etwa das 
Montan- im Gegensatz zum Textilkapital, wenn es sich dem 
Verlagsgeschaft zuwendet, zu entsprechen sucht. Aber die stati- 
stischen Grundlagen dieser dritten Darstellung sind zu schwer 
beschaffbar, als dafi es vorderhand Aussicht hatte, sie in Angriff 
zu* nehmen. Dagegen waren schon jetzt die unmafigeblicheren 
Umfragen im Publikum und bei Buchhandlern in grofieren Zeit- 
abstanden durch Mitteilungen der Verleger selbst zu erganzen, 
welche Absatzziffern und Absatzgebiete ihrer Haupterzeugnisse 
zu enthalten hatten. Da der Verlag die Auflagenhohe ohnehin 
verzeichnet, ware das, sollte man denken, kein allzu halsbreche- 
rischer Sprung. Von hochstem Interesse ware ferner die statistische 
Erfassung des Verhaltnisses von Auflagenhohe und Inseraten- 
kosten; wunschenswert, aber nicht ohne technische Schwierigkei- 
ten auch, den statistischen Ausdruck fur das Verhaltnis von 
kaufmannischem Erfolg (Absatz) und Hterarischem (Presse- 
stimmen) zu ermitteln. Endlich die harteste Forderung: den 
prozentualen Anteil erfolgreicher und erfolgloser Biicher an der 
Jahresproduktion der einzelnen Verleger und des deutschen 
Verlagsbuchhandels iiberhaupt zu errechnen. 
Der Einwand, derartige Methoden fiihrten dazu, den Erfolg als 
einzigen Wertmafistab von Biichern zur Anerkennung zu brin- 
gen, ist ebenso naheliegend wie falsch. Natiirlich gibt es erfolg- 
lose Biicher, die wertvoll sind und denen ein Platz in seiner 
Produktion vorzubehalten nicht nur Ehrensache, sondern auch Ge- 
schaftsgrundsatz eines guten Verlegers ist. (So stellen Konditoren 
Zuckerschlosser und Kandisburgen in ihre Auslagen ohne die 



Kritik der Verlagsanstalten 771 

Absicht, sie zu verkaufen.) Aber freilich hat die geforderte 
Analyse, die sich nebenbei als die zuverlassigste Art empfiehlt, 
das Buch zur Erkundung geistiger Lebensprozesse in der Na- 
tion zu verwenden - sie hat das Eigentiimliche, der gelaufig- 
sten, zugleich schiefesten Auffassung vom Verlagswesen den 
Garaus zu machen. Jener Auffassung zufolge ist namlich der 
Verlag ein kombinierter Betrieb, bestehend aus einer Maze- 
natenstiftung und einer Lotterie, in welcher jede Neuersdieinung 
eine Nummer und das Publikum Bankhalter ist; von den etwai- 
gen Gewinnen des Spielers, d. h. aber des Verlegers, wird ein 
Teil fur den Satz auf soldie Nummern verwendet, die zwar 
schon und bedeutsam prangen, in dem ofTentlichen Meinungs- 
roulette aber kaum vorkommen. Kurz, es ist dies die abstrakte 
Auffassung vom Verlagswesen - der Verleger als Makler 
zwischen einzelnen Manuskripten einerseits und »dem« Publi- 
kum andererseits. Falsch aber, und zwar von Grund auf, ist 
diese Meinung, weil der Verleger weder vom ideellen noch 
kommerziellen Wert eines Manuskripts im luftleeren Raum 
seine Meinung sich bilden kann. Und zwar ist letzten Endes 
fiir den Verleger ein engeres Verhaltnis zu ganz bestimmten 
Sachgebieten - innerhalb deren er freilich durchaus nicht ten- 
denzmafiig festgelegt zu sein braucht - ganz unentbehrlich, weil 
er auf gar keine andere Weise den Kontakt mit dem Publikum 
halten kann, ohne den er zum Scheitern verurteilt ist. Je selbst- 
verstandlicher das ist, desto auffallender die Tatsache, dafl in 
Deutschland, wo eine Anzahl physiognomisch so scharf umris- 
sener Verlagsanstalten wirksam sind wie die Insel, Reclam, S. 
Fischer, Beck, Rowohlt, niemals eine soziologische Darstellung, 
geschweige denn Kritik dieser Institute versucht wurde. Und 
doch wiirde erst sie die Kluft zwischen unseren grofien Ver- 
lagsanstalten und jenen dilettantisch optierenden Privatinstitu- 
ten ermessen lassen, von denen jedes Jahr soundso viele ver- 
schwinden, um ahnliche an ihre Stelle treten zu sehen. Mehr, 
es wiirde sich die Feststellung aufdrangen, dafi selbst die ledig- 
lich merkantile Befriedigung der Nachfrage, wenn auch gewifi 
nicht riihrnlich, so doch bei weitem diskutabler ist als ein grofi- 
spuriger Idealismus, der den Markt mit nichtssagenden Biichern 
iiberschwemmt und Kapitalien in ihnen festlegt, die fiir unlite- 
rarische Zwecke besser verwandt wiirden. 



•j-ji Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

Erst die Praxis wiirde die Tragweite einer alljahrlichen kritischen 
Obersicht uber die deutsche Verlagspolitik erkennen lassen. Eine 
solche Kritik, in der die literarischen Mafistabe zugunsten sozio- 
logischer zuriicktreten miifiten, wird - und audi das ist nur einer 
ihrer Aspekte - die Antinomie zwischen dem, was man kon- 
struktive und was man organisdie Verlagspolitik nennen konn- 
te, ins Licht riicken. Ein Verleger kann sein Werk in der Umfas- 
sung und Ergriindung bestimmter Interessengebiete konstruieren, 
er kann es aber audi in der Treue zu bestimmten Autoren oder 
Schulen sich organisdi entwickeln lassen. Nicht immer werden 
diese beiden Moglichkeiten ohne weiteres harmonieren. Eben das 
miifite fiir den Verleger ein Anstofi sein, planwirtschaftlich ein- 
zugreifen und mit bestimmten Auftragen an bestimmte Autoren 
heranzutreten. Nicht als ob dergleichen Falle unbekannt waren. 
Im Zeitalter der Rationalisierung wirtschaftlicher sowohl wie 
geistiger Produktion miifiten sie aber zur Norm werden. Dafi 
davon nichts spiirbar ist, hangt, nebenher, mit der Unterschat- 
zung des Lektorats bei den meisten Verlagsanstalten zusammen. 
Die Zeiten, da ein Julius Elias, ein Moritz Heimann mafigebend 
auf einen Verlag wirken konnten, scheinen voriiber. Die Verle- 
ger aber haben sehr unrecht, in den Lektoren Empfangschefs 
und Neinsager und nicht vielmehr Fachleute fiir Verlagspolitik 
sich heranzuziehen, die brauchbare Manuskripte ins Leben zu 
rufen verstehen, anstatt unbrauchbare zu sichten. Und die Lek- 
toren ihrerseits haben unrecht, ihren Idealismus gegen den 
Materialismus des Verlegers zu setzen, statt Ideen dergestalt zu 
fassen und zu vertreten, dafi den Verleger selbst das wirtschaft- 
liche Interesse nur immer enger an sie binden mufi. Vielleicht gibt 
es diesen kurzen Vorschlagen einigen Nachdruck, wenn die Ver- 
leger sich klar machen, dafi die Fiihrenden unter ihnen von einer 
fundierten Kritik ihres Wirkens mehr Ehre und mehr Forderung 
zu erwarten hatten als von der fallweisen Begutachtung ihrer 
Produkte oder ihrer Fairnefi. 



773 

Theater und Rundfunk 
Zur gegenseitigen Kontrolle ihrer Erziehungsarbeit 

»Theater und Rundfunk« - im Unbefangenen ist es vielleicht 
kein Gefiihl der Harmonie, das die Betraditung dieser beiden 
Institute wachruft. Zwar ist das Konkurrenzverhaltnis hier nicht 
ganz so scharf wie zwischen Rundfunk und Konzertsaal. Den- 
noch weifi man von der immer weiter ausgreifenden Aktivitat 
des Rundfunks auf der einen Seite, der immer zunehmenden 
Theaternot auf der anderen zuviel, urn sich von vornherein von 
einer Gemeinschaftsarbeit zwisdien beiden ein Bild machen zu 
konnen. Trotzdem besteht eine soldie Gemeinschaftsarbeit. Und 
zwar schon seit geraumer Zeit. Sie konnte - soviel sei vorweg 
genommen - nur eine padagogische sein. Mit ganz besonderem 
Nachdruck ist sie gerade vom Sudwestdeutschen Rundfunk in 
die Wege geleitet worden. Ernst Schoen, sein kiinstlerischer Lei- 
ter, hat als einer der ersten den Arbeiten, die Bert Brecht mit 
seinen literarischen und musikalischen Mitarbeitern in den letz- 
ten Jahren zur Diskussion stellte, seine Aufmerksamkeit zuge- 
wendet. Es ist kein Zufall, dafi diese Arbeiten - der »Lind- 
berghflug«, »Das Badener Lehrstiick«, »Der Jasager«, »Der 
Neinsager« u. a. - auf der einen Seite ganz unzweideutig pad- 
agogisch abgestellt sind, auf der anderen aber in durchaus origi- 
naler Weise das Verbindungsglied zwischen Theater und Rund- 
funk darstellen. Das so gelegte Fundament hat sehr bald seine 
Tragf ahigkeit erwiesen. Es konnten Horfolgen verwandter Kon- 
struktionen sowohl im Schulfunk verbreitet werden - so der 
»Ford« von Elisabeth Hauptmann - als audi Fragen des tag- 
lichen Lebens - Schul- und Erziehungsprobleme, die Technik 
des Erfolges, Eheschwierigkeiten - in kasuistischer Art nach 
Beispiel und Gegenbeispiel verhandelt werden. Zu solchen »Hor- 
modellen« - Verfasser Walter Benjamin und Wolf Zucker - 
gab ebenfalls der Frankfurter Sender (in Gemeinschaft mit dem 
Berliner) die Anregung. Eine so ausgebreitete Aktivitat mag 
das Recht geben, die Grundlagen dieser konsequenten Arbeit 
etwas naher zu bezeichnen, zugleich auch ihre Sicherung gegen 
Mifiverstandnisse zu fordern. 

Wer den Dingen derart genauer nachgeht, hat keine Moglich- 
keit, am Nachstliegenden, der Technik namlich, vorbei zu sehen. 



774 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

Es empfiehlt sich, alle Empfindlichkeiten beiseke zu lassen und 
kurzerhand festzustellen: Der Rundfunk stellt im Verhaltnis 
zum Theater nicht nur die neuere Technik, sondern zugleich die 
exponiertere dar. Er hat noch nicht wie das Theater eine klassi- 
sche Epoche hinter sich; die Massen, die er ergreift, sind sehr viel 
grofiere; endlich und vor allem sind die materiellen Elemente, 
auf welchen seine Apparatur und die geistigen, auf welchen seine 
Darbietungen beruhen, im Interesse der Horer aufs engste ver- 
bunden. Und was hat das Theater demgegenuber in die Waag- 
schale zu werfen? Den Einsatz der lebendigen Mittel - sonst 
nichts. Vielleicht entwickelt sich die Lage des Theaters in der 
Krise von keiner Frage aus entschiedener als von der: Was hat 
der Einsatz der lebendigen Person in ihm zu sagen? Es heben 
sich hier namlich zwei mogliche Auffassungen - die ruckschritt- 
liche und die fortschrittliche - mit aller Scharfe voneinander 
ab. 

Die erste sieht sich in keiner Weise veranlafit, von der Krise 
Notiz zu nehmen, Ihr ist und bleibt die Harmonie des Ganzen 
ungetriibt und der Mensch ihr Reprasentant. Sie sieht ihn auf 
der Hohe seiner Macht, als Herrn der Schopfung, als Person- 
lichkeit. (Und ware er der letzte Lohnarbeiter.) Sein Rahmen ist 
der heutige Kulturkreis, und er durchwaltet ihn im Namen des 
»Menschlichen«. Ob dieses stolze, seiner selbst gewisse, der 
eigenen Krise sowenig Rechnung tragende wie der der Welt - 
ob dieses grofibiirgerliche Theater (dessen gefeiertster Magnat 
freilich vor kurzem zuriicktrat) nun Arme-Leute-Stucke nach 
der neueren Art oder Offenbachsche Libretti zugrunde legt - 
immer realisiert es sich als »Symbol«, als »Totalitat«, als »Ge- 
samtkunstwerk«. 

Es ist das Theater der Bildung und der Zerstreuung, das wir 
damit gekennzeichnet haben. Beide, so gegensatzlich sie erschei- 
nen, doch nur Komplementarerscheinungen im Umkreis einer 
saturierten Schicht, der alles, was ihre Hand beriihrt, zu Reizen 
wird. Aber umsonst, daft dies Theater mit komplizierten Ma- 
schinerien, Riesenaufgeboten von Statisten den Attraktionen 
der Millionen-Filme Konkurrenz zu machen sucht, umsonst, dafi 
sein Repertoire nach alien Zeiten und Landern ausgreift, wah*- 
rend, mit sehr viel kieinerem Apparat, Funk und Kino dem 
altchinesischen Schauspiel wie den neuen surrealistischen Ver- 



Theater und Rundfunk 775 

suchen in ihren Studios eine Stelle schaffen: Die Konkurrenz 
mit dem, woriiber Radio und Kino techniscfa gebieten, ist aus- 
sichtslos. 

Nicht so die Auseinandersetzung mit ihnen. Sie ist es, die vor 
allem von der fortschrittlichen Biihne zu erwarten ist. Brecht, 
der als erster ihre Theorie entwidkelt, nennt sie die epische. Dies 
»episdie Theater « ist durchaus nuchtern und nicht zuletzt der 
Technik gegeniiber. Es ist hier nicht der Ort, die Theorie des 
epischen Theaters zu entwickeln, geschweige darzulegen, wie 
seine Auffindung und Gestaltung des Gestischen nichts als eine 
Zuriickverwandlung der in Funk und Film entscheidenden Me- 
thoden der Montage aus einem technischen Gesdiehen in ein 
menschliches bedeutet. Genug dafl das Prinzip des epischen Thea- 
ters genau wie jenes der Montage auf der Unterbrechung be- 
ruht. Nur da£ die Unterbrechung hier nicht Reizcharakter, son- 
dern eine padagogische Funktion hat. Sie bringt die Handlung 
im Verlauf zum Stehen und zwingt damit den Horer zur Stel- 
lungnahme zum Vorgang, den Akteur zur Stellungnahme zu 
seiner Rolle. 

Das epische Theater stellt dem dramatischen Gesamtkunstwerk 
das dramatische Laboratorium gegeniiber. Es greift in neuer 
Weise auf die grofie alte Chance des Theaters zuriick - auf die 
Exponierung des Anwesenden. Im Mittelpunkt seiner Versuche 
steht der Mensch in unserer Krise. Es ist der vom Radio, vom 
Kino eliminierte Mensch, der Mensch, um es ein wenig drastisch 
auszudriicken, als fiinftes Rad am Wagen seiner Technik. Und 
dieser reduzierte, kaltgestellte Mensch wird gewissen Priifungen 
unterworfen, begutachtet. Was sich ergibt, ist dies: Veranderlich 
ist das Geschehen nicht auf seinen Hohepunkten, nicht durch 
Tugend und Entschlufi, sondern allein in seinem streng gewohn- 
heitsmafiigen Verlaufe, durch Vernunft und Ubung. Aus klein- 
sten Elementen der Verhaltungsweisen zu konstruieren, was in 
der Aristotelischen Dramaturgic »handeln« genannt wird, das 
ist der Sinn des epischen Theaters. 

So tritt das epische Theater dem der Konvention entgegen: An 
die Stelle der Bildung setzt es Schulung, an die Stelle der Zer- 
streuung Gruppierung. Was die letztere betrifft, so ist es jedem, 
der die Bewegung im Rundfunk verfolgt, gelaufig, wie sehr man 
neuerdings darum bemiiht ist, Horergruppen, die nach sozialer 



jj6 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

Schichtung, nach Interessenkreis und Umwelt einander nahe 
stehen, zu engeren Verbanden zusammenzufassen. Ganz ahnlich 
sucht das epische Theater sidi einen Stamm von Interessenten 
heranzuziehen, die, unabhangig von Kritik und von Reklame, 
gewillt sind, in einem durchgebildeten Ensemble ihre eigensten 
Interessen, die politischen eingeschlossen, in einer Reihe von 
Handlungen (im oben genannten Sinne) vergegenwartigt zu 
sehen. Bemerkenswerterweise hat diese Entwicklung dahin ge- 
fuhrt, dafi altere Dramen eingreifenden Umwandlungen unter- 
zogen (»Eduard II.«; »Dreigroschenoper«), neuere dagegen einer 
Art von Kontroversbehandlung (Jasager - Neinsager) unter- 
worfen wurden. Das durfte zugleich erhellen, was es besagt, 
wenn an die Stelle der Bildung (der Kenntnisse) die Schulung 
(des Urteils) tritt. Der Rundfunk, dem es ganz besonders obliegt, 
auf altes Bildungsgut zuriickzugreifen, wird dies am forder- 
lichsten gleichfalls in Bearbeitungen tun, die nicht allein der 
Technik, sondern audi den Anforderungen eines Publikums 
entsprechen, das Zeitgenosse seiner Tedinik ist. Nur so wird er 
den Apparat vom Nimbus eines »riesenhaften Volksbildungs- 
betriebs« (wie Schoen es ausdriickt) frei halten, um ihn auf 
ein Format, das menschenwurdig ist, zu reduzieren. 



ZUM GEGENWARTIGEN GESELLSCHAFTLICHEN STANDORT 
DES FRANZOSISCHEN SCHRIFTSTELLERS 

Als im Jahre 19 14 der Krieg ausbrach, lag unter der Presse ein 
Buch von Guillaume Apollinaire: »Le. Poete assassine«. Man 
hat Apollinaire den Bellachini der Literatur genannt. Im Stile 
seines Schreibens und seines Daseins lagen alle Theorien und 
Parolen, die damals fallig waren, bereit. Er holte sie aus seiner 
Existenz wie ein Zauberer aus dem Zylinderhut, was man ge- 
rade von ihm verlangt: Eierkuchen, Goldfisdie, Ballkleider, 
Taschenuhren. Solange dieser Mann lebte - am Tage des Waf- 
fenstillstandes ist er gestorben -, ist keine radikale, exzentri- 
sche Mode in Malerei oder Schrifttum erschienen, die er nicht 
geschafTen oder zumindest lanciert hatte. Mit Marinetti gab er, 
in seinen Anfangen, die Losungen des Futurismus aus; dann pro- 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosischen Schriftstellers 777 

pagierte er Dada; die neue Malerei von Picasso bis zu Max 
Ernst; zuletzt den Surrealismus, dem er den Namen schenkte. 
In der Erzahlung, welche dem Novellenband »Der ermordete 
Dichter* den Titel gibt, veroffentlicht Apollinaire einen, natiir- 
lich apokryphen, Artikel, welcher »am 26. Januar jenes Jahres« 
in dem Journal »Die Stimme« in Adelaide, Australien, aus der 
Feder eines deutschen Chemikers erschienen sei. In diesem Arti- 
kel heifit es: 

»Der wahre Ruhm hat' die Diditung verlassen, um sidi der Wissen- 
sdhaft, der Philosophic, der Akrobatik, der Philanthropic, der Soziolo- 
gie usw. zuzuwenden. Die Dichter sind heute zu nidits welter gut, als 
Gelder zu beziehen, die sie im iibrigen nicht verdienen, weil sie fast 
nidit arbeiten und die meisten unter ihnen (ausgenommen die Kaba- 
rettisten und einige andere) nidit das geringste Talent und infolge- 
dessen nicht die geringste Entschuldigung haben. Was die halbwegs 
Begabten angeht, so sind sie noch schadlicher, weil sie nichts beziehen 
und an nichts Hand legen und jeder doch mehr Larm als ein ganzes 
Regiment machen . . . All diese Leute haben keinerlei Existenzrecht 
mehr. Die Preise, die man ihnen verleiht, hat man den Arbeitern, den 
Erfindern, den Gelehrten, den Philosophen, den Akrobaten, den Phil- 
anthropen, den Soziologen usw. gestohlen. Die Dichter mtissen unbe- 
dingt verschwinden. Lykurg hatte sie aus der Republik vertriebcn, 
man raufi sie von der Erde vertreiben.« 

Der Verfasser habe dann in der Abendausgabe noch einen Nach- 
trag erscheinen lassen, in dem es geheifien habe: 
»Du hast, Welt, zwischen deinem Leben und der Dichtung zu wahlen; 
wenn man nicht ernstliche MaUnahmen gegen diese ergreifen wird, so 
wird es um die Zivilisation geschehen sein. Zogern ist nicht gestattet. 
Morgen schon wird das neue Zeitalter beginnen. Es wird keine Poesie 
mehr geben . . . Man wird die Dichter ausrotten.« 

Es ist diesen Worten nicht anzusehen, dafi sie vor zwanzig Jah- 
ren geschrieben sind. Nicht dafi diese beiden Jahrzehnte spurlos 
an ihnen voriibergegangen waren. Ihr Werk jedoch hat eben 
darin bestanden, aus einer Laune, aus einer uberrniitigen Impro- 
visation die Wahrheit zu entwickeln, die in ihr angelegt war. 
Die Landschaft, die mit diesen Worten blitzartig erhellt wurde 
- damals noch eine Feme - haben wir inzwischen kennenge- 
lernt. Es ist die gesellschaftliche Verfassung des Imperialismus, 
in der die Position der Intellektuellen immer schwieriger ge- 
worden ist. Die Auslese, die unter ihnen von den Herrschenden 



jj% Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

vorgenommen wird, hat Formen angenommen, die an Unerbkt- 
lidikeit dem Vorgang, den Apollinaire beschreibt, kaum etwas 
nachgeben. Was seitdem an Versuchen unternommen wurde, die 
Funktion des Intellektuellen in der Gesellschaft zu bestimmen, 
legt Zeugnis von der Krise ab, in der er lebt. Nicht allzuviele 
haben die Entschiedenheit, den Scharfblick besessen zu erkennen, 
dafi die Bereinigung, wenn schon nicht seiner wirtschaftlichen, 
so gewifi seiner moralischen Situation die eingreifendste Veran- 
derung der Gesellschaft zur Voraussetzung hat. Wenn diese Ein- 
sicht heute unzweideutig bei Andre Gide und einigen Jungeren 
zum Ausdruck kommt, so kann ihr Wert nur um so grofier er- 
scheinen, je genauer man die schwierigen Verhaltnisse sich ver- 
gegenwartigt, denen sie abgewonnen wurde. 
Im Blitz der Prophetie Apollinaires entladt sich eine schwiile 
Atmosphare. Es ist die Atmosphare, die dem Werk Maurice 
Barres* entstammt, dessen Einflufi auf die Intelligenz der Vor- 
kriegsjahre entscheidend war. Barres war ein romantischer Ni- 
hilist. Die Desorganisation der Intellektuellen, die ihm folgten, 
mufite weit vorgeschritten sein, wenn die Maximen eines Man- 
nes bei ihnen Anerkennung fanden, der erklart hat: »Was 
liegt mir an der Richtigkeit der Lehren; es ist der Enthusiasmus, 
den ich an ihnen zu schatzen weifi.« Barres war tief davon 
durchdrungen, und er hat es bekannt, »dafi alles auf eins heraus- 
kommt, ausgenommen der Elan, der uns und unseresgleichen aus 
gewissen Ideen stromt, und dafi es fiir die, die sich den richtigen 
Gesichtspunkt erobert haben, keine grofien Ereignisse, sondern 
nur grofiartige Schauspiele gibt«. Je naher man in die Gedan- 
kenwelt des Mannes eintritt, desto enger erscheint ihre Ver- 
wandtschaft mit den Lehren, die die Gegenwart iiberall hervor- 
bringt. Es ist der gleiche Nihilismus der Grundgesinnung, der 
gleiche Idealismus der Geste und der gleiche Konformismus, der 
die Resultante aus Nihilismus und Idealismus bildet. Wie nach 
La Rochefoucauld Erziehung nichts kann als einen Menschen 
lehren, wie er mit Anstand einen Pfirsich schalt, so kommt der 
ganze romantische und schliefilich auch politische Apparat, den 
Barres in Bewegung setzt, um »den Kult der Erde und der 
Toten« zu propagieren, am Ende keinem hoheren Zweck zu- 
gute, als aus »regellosen Empfindungen kultiviertere zu machen«. 
Nirgends verleugnen diese kultivierten Empfindungen den Ur- 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosischen Schriftstellers 779 

sprung aus einem Asthetentum, das nur die andere Seite des 
Nihilismus ist. Und wie heute der italienische Nationalismus 
aufs imperiale Rom, der deutsche auf das germanische Heiden- 
tum sich berufen, so glaubt Barres die Stunde »der Versohnung 
der besiegten Gotter und der Heiligen« gekommen. Er will die 
reinen Quellen und die tief en Walder nicht minder als die Kathe- 
dralen Frankreichs retten, fur welche er im Jahre 19 14 in einer 
beriihmten Schrift eingetreten ist: »Und um die Geistigkeit der 
Rasse aufredit zu erhalten, fordere ich ein Bundnis zwischen 
dem katholischen Gefuhl und dem Geist des Bodens.« 
Seine tiefstgehende Wirkung erreichte Barres mit dem Roman 
»Les Deracines«, welcher die Schicksale von sieben Lothringern, 
die ihre Studien in Paris verfolgen, schildert. Uber diesen Ro- 
man hat der Kritiker Thibaudet die aufschlufireiche Bemerkung 
gemacht: 

»Wie von selbst geschieht es, dafi vier aus dieser Gruppe es zu etwas 
bringen und honette Leute bleiben: die namlich, die Geld haben. Von 
jenen beiden aber, welche ein Stipendium bekommen, wird der eine 
ein Erpresser und der andere ein Morder. Das ist kein Zufall. Barres 
hat zu verstehen geben wollen, dafi die grofie Bedingung der Ehren- 
haftigkeit die Unabhangigkeit, das heiflt Vermogen, ist.« 

Barres* Philosophic ist eine Philosophic des Erben. Es trifft sich, 
dafi der schwerwiegende Roman, in dem er sie gestaltet hat, in 
einer der Hauptfiguren eine Studie ist, welche Barres nach einem 
seiner Lehrer, nach Jules Lagneau, gefertigt hat. Die beiden, die 
sich audi im Leben nicht verstanden, standen gesellschaftlich sich 
auf das schroffste gegeniiber. Lagneau war wirklich ein Ent- 
wurzelter. Er stammte aus Metz; seine Familie war, nachdem 
sie 1 871 fur Frankreich optiert hatte, zugrunde gerichtet wor- 
den. Frankreich war fur den jungen Lagneau in jeder Hinsicht 
das Gegenteil einer Erbschaft. Der Philosoph muEte mit zwan- 
zig Jahren die Last fiir die Familie auf sich nehmen. Mit zwan- 
zig Jahren aber tritt Barres seine Erbschaft an, die ihm die 
MuEe liefi, den »Culte du moi« zu schreiben. 
Lagneau hat weniges an Schriften hinterlassen. In der Geistes- 
geschichte der ietzten Jahrzehnte aber stellt er einen Wegweiser 
dar. Von diesem Lehrer sind zwei Schiller ausgegangen, zwei 
Intellektuelle, deren Werk den Umkreis der biirgerlichen Ideo- 
logic von Frankreich einigermafien vollkommen in sich fafit. 



780 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

Was BarreV Werk fiir die Ideologien der Recliten geleistet hat, 
das tat der andere Schuler, Emile Chartier, fiir die der Linken. 
Alains politische Bekenntnisschrift, »Elements d'une doctrine 
radicale« - das heifit in diesem Falle einer Doktrin der radikalen 
Partei - stellen eine Art Vermachtnis von Jules Lagneau dar. 
Die Radikalen sind, was ihre Fuhrung betrifft, eine Partei der 
Professoren und der Lehrer. Lagneau war ein sehr typischer 
Vertreter dieser Haltung: »Wir untersagen uns, so schreibt er, 
alles Haschen nach Popularitat, jeden Ehrgeiz, etwas vorzu- 
stellen; wir untersagen uns audi die geringste Unwahrhaftigkeit 
und, sei es durch Wort, sei es durch Schrift, irrige Vorstellungen 
iiber das, was moglich ist, zu schaffen oder zu unterhalten.« Er 
fiigt hinzu: »Wir werden kein Vermogen thesaurieren: wir 
verzichten auf Ersparnisse, auf Vorsorge fiir uns und fiir die 
unsern: diese Tugend, an der wir sterben werden, bedarf keiner 
Empfehlung.« Die Ziige dieses Intellektuellen stellen - gleich- 
viel wieweit sie dem Leben abgelauscht sein mogen - ein so 
bestimmtes und eingewurzeltes Ideal der burgerlichen Fiihrer- 
schichten in der »Republik der Professoren« dar, dafi es nicht 
iiberflussig ist, so scharf wie moglich sie zu beleuchten. Das mag 
durch einen Absatz von Jacques Chardonne geschehen, in wel- 
chem dieser Typ des burgerlichen Intellektuellen sogar als Typ 
des kleinen . Burgers schlechtweg ausgegeben wird. Dafi diese 
Schilderung sichtbar iibertrieben und schablonisiert ist, macht sie 
an dieser Stelle nur brauchbarer. 

»Der Burger - es ist vom Kleinburger im angegebenen Sinn die Rede 
- ist ein Kiinstler. Er ist ein kultiviertes Geschopf, aber unabhangig 
genug von den Biichern, um seine eigenen Gedanken zu haben; er hat, 
sei es aus Erfahrung, sei es aus der Nahe, hinreichend Reichtiimer ge- 
kannt, um nicht mehr an sie zu denken, er ist von Grund auf gleich- 
giiltig gegen gleichguluge Dinge und fiir die Armut gescharfen wie 
kein anderer; ohne Vorurteile und seien sie sehr edel, ohne Illusionen, 
ohne HofTnung; der erste, wenn es gilt, fiir andere Gerechtigkeit zu 
fordern, der erste, wenn es gilt, ihren Vollzug zu leiden; auf Erden, 
wo er alles aufler seinem gerechten Lohn empfangen hat, erwartet er 
nichts mehr und nidus im Jenseits; und dennoch hat er sein Gefallen 
an einem so anspruchslosen Leben und weifi, ohne es schlecht zu ma- 
chen, das, was es an Gutem bietet, zu geniefien. Die Erde, die diese 
Wesen hervorgebracht hat, hat ihre Aufgabe nicht verfehlt, Der Weg, 
der zu dieser Lebensweisheit fiihrt, ist kein schlechter. Darum gibt es 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosisdien Schriftstellers 781 

noch eine HofFnung fiir die Enterbten. Darum mufi man niemandem 
im voraus all das streitig machen, was die Gesellschaft einera Men- 
schen geben kann.« 

Der Radikalismus als politische Partei hat Barres beim Wort 
genommen. Er stellt sich die Probleme so wie dieser, nur dafi 
er sie im entgegengesetzten Sinne beantwortet. Dem Erbrecht der 
Traditionalisten stellt er das Recht des Kindes, den Privilegien 
der Geburt und des Vermogens das personliche Verdienst des 
einzelnen und die Erfolge in den Staatspriifungen gegenuber. 
»Und warum nicht, schliefit Thibaudet, die chinesische Zivilisa- 
tion hat sich jahrtausendelang auf Grund der Examinokratie 
erhalten.« Der Vergleich mit China, so befremdend er ist, kann 
einigen Aufschlufi geben. Er zahlt seit langem zum eisernen Be- 
stand der Essayisten. Paul Morand hat ihn audi gewagt und 
von den frappanten Ahnlichkeiten zwischen dem Chinesen und 
dem Kleinburger von Frankreich gesprochen. Bei beiden »fana- 
tische Sparsamkeit, die Kunst, die Dinge immer wieder auszu- 
bessern und so ihre Lebensdauer zu verlangern . . ., Mifitrauen, 
jahrhundertalte Hoflichkeit, tief eingewurzelter, aber passiver 
Fremdenhafi, Konservatismus, welcher von sozialen Sturmbden 
unterbrochen wird, Mangel an Gemeinsinn und Zahigkeit der 
alten Leute, welche iiber Krankheiten hinaus sind. Man sollte 
meinen, alle alten Zivilisationen ahneln sich.« Jener gesellschaft- 
liche Untergrund, auf dem die grofite Partei von Frankreich - 
denn das ist die Radikale - erwachsen ist, ist ganz gewifi nicht 
mit der Gesamtstruktur des Landes identisch. Wohl aber bilden 
die Organisationen und die Klubs - die sogenannten cadres -, 
welche diese Partei im ganzen Lande zur Verfugung hat, die 
Luft, in der die wesentlichsten Ideologien der Intelligenz sich 
entfaltet haben und aus der nur die fortgeschrittensten heraus- 
gewachsen sind. Das Buch, das Andre Siegfried vor drei Jah- 
ren unter dem Titel »Tableau des partis en Frances hat erschei- 
nen lassen, ist ein wertvolles Instrument zum Studium dieser 
cadres. Alain ist keineswegs ihr Fuhrer, aber der kliigste Inter- 
pret dieser Gruppen. Er definiert ihre Aktion als eine »bestan- 
dige Bekampfung der Grofien durch die Kleinen«. Und in der 
Tat hat man behaupten konnen, das ganze okonomische Pro- 
gramm des Radikalismus bestehe darin, eine Aureole urn das 
Wortchen »klein« zu weben: den kleinen Ackerbauer, den klei- 



782 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

nen Kaufmann, den kleinen Eigentiimer und den kleinen Sparer 
in Schutz zu nehmen. 

Soweit Alain. Er ist mehr Interpret als Kampfer. Es liegt in der 
Natur des gesellschaftlichen Unterbaus, auf welchem die Aktion 
der biirgerlichen Intellektuellen sich abspielt, dafi eine entschie- 
denere Aktion sogleidi in das Sektiererische und Romantische 
zu gleiten droht. Bendas und Peguys Ideologien sind dafiir ein 
Beispiel. 

In die durch Barres und Maurras geschaffene, von der Nach- 
kriegsentwicklung sanktionierte geistige Situation schlug vor 
funf Jahren Bendas »Trahison des clercs«. Benda beschaftigt 
sich in diesem Buch mit der Stellung, die im Laufe der letzten 
Jahrzehnte die Intellektuellen zur Politik einzunehmen began- 
nen. Und er sagt: Von jeher ist, seitdem es Intellektuelle gibt, 
ihr weltgeschichtliches Amt gewesen, die allgemeinen und ab- 
strakten Menschheitswerte: Freiheit und Recht und Menschlich- 
keit zu lehren. Nun aber haben sie mit Maurras und Barres, 
mit d'Annunzio und Marinetti, mit Kipling und Conan Doyle, 
mit Rudolf Borchardt undSpengler begonnen, die Giiter zu verra- 
ten, zu deren Wachter Jahrhunderte sie bestellt haben. Zweierlei 
bezeichnet die neue Wendung. Einmal die beispiellose Aktuali- 
tat, die das Politische fiir die Literaten bekommen hat. Politi- 
sierende Romanciers, politisierende Lyriker, politisierende Histo- 
riker, politisierende Rezensenten, wohin man blickt. - Aber 
nicht nur die politische Leidenschaft selbst scheint ihm das Un- 
glaubwiirdige, das Unerhorte. Befremdender und unheilvoller 
noch die Richtung, in der sie sich auslebt: die Parolen einer In- 
telHgenz, die die Sache der Nationen gegen die Menschheit, der 
Parteien gegen das Recht, der Macht gegen den Geist verfechten. 
Die bitteren Notwendigkeiten des Wirklichen, die Maximen 
der Realpolitik sind auch friiher schon von den »clercs« vertre- 
ten worden, aber mit dem Pathos der sittlichen Vorschrift hat 
nicht einmal ein Machiavell sie hinstellen wollen. 
Der Katholizismus schreibt Benda seine Haltung vor. Die These, 
die er seinem Buch zugrunde legt, behauptet eine doppelte Moral 
in aller Form: die der Gewalt fiir die Staaten und Volker, die 
des christlichen Humanismus fiir die Intelligenz. Und er beklagt 
viel weniger, daE die christlich-humanitaren Normen keinen 
entscheidenden Einflufi auf das Weltgeschehen iiben, als dafi sie 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosischen Schriftstellers 783 

sich mehr und mehr dieses Ansprucfas begeben miissen, weil die 
Intelligenz, die sie vertreten hat, zur Parte! der Maclit iiberging. 
Man mufi die Virtuositat bewundern, mit der Benda im Vor- 
dergrund des Problems sich aufhalt. Der Untergang der freien 
Intelligenz ist, wenn nicht allein, so doch entscheidend, wirt- 
schaftlich bedingt. In diese wirtschaftliche Grundlage ihrer Krise 
zeigt der Autor genausowenig Einsicht wie in die der Wissen- 
schaften, die Erschutterung des Dogmas einer voraussetzungs- 
losen Forschung. Und er scheint nicht zu sehen, wie die Verhaf- 
tung der Intelligenz an die politischen Vorurteile der Klassen 
und Volker nur ein meist unheilvoller, meist zu kurz gegriffe- 
ner Versuch ist, aus den idealistischen Abstraktionen heraus und 
der Wirklichkeit wieder nah, ja, naher als je, auf den Leib zu 
rikken. Gewalttatig und krampfhaft fiel dann diese Bewegung 
freilich aus. Statt aber die ihr angemessene Gestalt zu suchen, 
sie riickgangig machen, den Literaten wieder der Klausur des 
utopischen Idealismus iiberantworten zu wollen, das verrat - 
daruber kann audi die Berufung auf die Ideale der Demokratie 
nicht tauschen - eine durchaus romantische Geistesverfassung. 
Benda hat sie noch kiirzlich im »Discours a la Nation Euro- 
peenne« bekundet, in dem er den geeinten Erdteil - dessen 
Wirtschaftsformen die alten geblieben sind - mit gewinnender 
Feder zeichnet: 

Dieses Europa »wird mehr ein wissenschaftliches als ein literarisches, 
mehr ein intellektuelles als ein kiinstlerisches, mehr ein philosophisches 
als ein pittoreskes Europa sein. Und nicht wenige unter uns gibt es, 
denen es eine bittere Lehre sein wird. Denn wieviel anziehender als 
Gelehrte sind Dichter! wieviel betorender als Denker sind Kiinstler! 
Hier aber heifk es sich bescheiden: Europa wird serios sein, oder es 
wird uberhaupt nicht sein. Es wird sehr viel weniger kurzweilig 
sein als die Nationen, welche es ihrerseits schon weniger als die Pro- 
vinzen gewesen sind. So heifit es wahlen: entweder werden wir Euro- 
pa zustande bringen, oder wir werden ewig Kinder bleiben. Die 
Nationen werden lieblidie Clorinden gewesen sein; in dem Gefuhl, 
sinnliche, inbriinstig geliebte Wesen dargestellt zu haben, werden sie 
gliicklich sein. Europa aber wird jener jungen Gelehrten aus dem 
dreizehnten Jahrhundert ahnlich sehen miissen, die an der Universitat 
Bologna Mathematik dozierte und vor ihren Horern verschleiert auf- 
trat, um sie nicht durch ihre Sdionheit zu verwirren.« 
Es ist nicht schwer, in diesem sehr utopischen Europa eine ver- 



784 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

wandelte und gleidisam iiberlebensgrofie Klosterzelle zu entdek- 
ken, in deren Abgeschiedenheit »die Geistigen« sich zuriickzie- 
hen, um am Text eines Sermons zu weben, von dem Gedanken 
unangefochten, dafi er, wenn iiberhaupt, so nur vor leeren Ban- 
ken wird verlesen werden. Darum lafit sich kaum etwas gegen 
Berl einwenden, wenn er sagt: »>Verrat der Geistigen<? Denkt 
bei dem Worte >Geistiger< Benda nicht eigentlich an den Pfaf- 
fen, der die Sorge fiir Seelen und fiir irdische Habe tragt? . . . 
Spricht hier nicht Heimweh nach dem Kloster, nach den Bene- 
diktinern, . . . ein Heimweh, das in der modernen Welt so stark 
ist? Will man dem immer noch nachtrauern?« 
Der »Geistige«, den Benda so, beschworend, aufruft, um der 
Krise zu begegnen, enthullt sich rasch genug nach seiner wahren 
Natur, nach der er nichts ist als beschworene Erscheinung eines 
Abgeschiedenen, des mittelalter lichen Klerikers in seiner Zelle. 
Nun aber hat es an Versuchen nicht gefehlt, dem Schemen des 
»Geistigen« Leben einzuflofien. Ihn ins Fleisch zu rufen hat sich 
niemand inbrunstiger bemuht als Charles Peguy t welcher an die 
Krafte des Bodens und des Glaubens appellierte, um dem In- 
tellektuellen seinen Platz in der Nation und der Geschichte an- 
zuweisen, ohne - wie Barres - auf jene Ziige an ihm zu ver- 
zichten, die in der Oberlieferung der franzosischen Revolution 
gelegen sind: die Hbertaren, anardnstischen. Peguy ist zu An- 
fang des Krieges gefallen. Sein Lebenswerk ist heut jedoch noch 
durch die Klarheit und durch die Energie belangreich, mit der er 
die Funktion des Intellektuellen zu definieren suchte. Peguy ent- 
spricht, so konnte man versucht sein zu glauben, eigentlich dem 
Bild, das Benda sich vom clerc trahissant, vom Geistigen als 
Verrater machte. Doch dieser Anschein halt nicht stand. 

»Man kann von P^guy sagen, was man will; niemals, dafi er verraten 
hat. Warum? Weil eine Haltung Verrat erst wird, wenn sie von Faul- 
heit oder Furdit diktiert wird. Der Verrat der Geistigen liegt in der 
Dienstbarkeit, mit der sie sich Stimmungen und Vorurteilen unter- 
stellen. Nichts derart bei Peguy. Nationalist ist er gewesen, und 
stand doch auf Seiten Dreyfus'. Katholik ist er gewesen, aber von 
der Kommunion war er ausgeschIossen.« 

Und wenn Berl, anspielend auf den Titel eines Buches von Bar- 
res, einen gewissen Typus des Literaten mit den Worten zeich- 
net: »Feindder Gesetze - ja, doch Freund der Machthaber«, so 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosischen Schriftstellers 785 

gilt das fiir niemanden weniger als fiir Peguy. Er stammte aus 
Orleans. 

»Dort war er, so schildern die Tharauds die Herkunft ihres Freundes, 
in einer Umwelt von alter Zivilisation herangewachsen, deren ur- 
spriinglidie Farbe von ortlichen Uberlieferungen und einer jahrhun- 
dertalten Tradition bestimmt war und keinen, oder beinah keinen 
Einschlag von Fremdem hatte; im Schofi einer Bevolkerung, die der 
Erde nahe und von halb bauerlicher Artung war . . . Kurz, es umgab 
ihn eine alte Welt, eine Welt von ehedem, die sehr viel mehr dem 
Frankreich des ancien regime benadibart war als dem der Gegen- 
wart.« 

Peguys grofier Reformversuch bewahrte in alien Zugen den 
Stempel seines Ursprungs. Noch ehe er fiir die Verbreitung seiner 
Ideen als sein eigener Verleger, sein eigener Drucker, die »Ca- 
hiers de la Quinzaine« geschaffen hatte - schon auf der Ecole 
Normale hielt er mit Bewufitsein heimische Traditionen hoch. 
Die Generation, welcher er angehorte, gab Frankreich zum ersten 
Male seit der Renaissance groSe Schriftsteller bauerlicher Her- 
kunft, Sprache, Denkart: Claudel, Jammes, Ramuz. »Peguy als 
erster bot das anstofiige Schauspiel eines Schiilers, der Mitglied 
der Ecole Normale gewesen war und nicht den kleinsten Funken 
kultivierten, klassischen, uberkommenen Stils empfangen hatte. « 
Peguys Stil kommt vielmehr vom Boden her, man hat ihn in 
den langen rauhen Satzen, die ihn formen, der langen rauhen 
bauerlichen Furche verglichen, die die Saat empfangen soil. 
So sind die Krafte, an die Peguy appellierte, um den revolutio- 
naren Typ des Geistigen zu bilden, von vorrevolutionarer Her- 
kunft. »Der Bauer, der franzosische Handwerker, heifit es bei 
Andr^ Siegfried, sind uns aus dem Mittelalter iiberkommen, und 
wenn wir in uns selbst tief Nachschau halten, so miissen wir 
wohl oder iibel sagen, dafi alles Wichtige schon vor der Revolu- 
tion geformt war. Wir sind also kein junges Land.« Das mufi 
man sich gegenwartig halten, will man verstehen, dafi Peguy 
seinen Appell nicht, wie es heute gang und gabe ist, an die Ju- 
gend ergehen Hefi, sondern an die Vierzigjahrigen. Die revolu- 
tionare Aufgabe, die er ihnen stellte, lag nicht in der Defensive, 
deren Geist Alain vorziiglich festlegt, wenn er sagt: »Die Hal- 
tung der Linken ist die einer kontrollierenden Instanz«; viel- 
mehr verwies er die Seinigen auf den Angriff, dessen Stofi sich 



7$6 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

nicht allein auf die Regierenden, sondern auf jenen Stab von 
Akademikern und Intellektuellen richtet, die das Volk, aus dem 
sie stammen, verraten haben. »Ich werde, schreibt er, die grofie 
Partei der Vierzigjahrigen griinden. Vor kurzem hat mich je- 
mand rucksichtslos zu dieser Kategorie gerechnet, er hat mich 
temperamentvoll in die Klasse der Vierzigjahrigen geworfen. 
Ich benutze das fiir mich. Ein alter Politiker benutzt ja alles. 
Ich griinde die Partei der Vierzigjahrigen. « Das war im Jahre 
1914. Die aber, die Peguy so aufrief, waren im Jahre 1894 
zwanzig gewesen; und das war das Jahr, in welchem Drey- 
fus vor der Front verurteilt und degradiert worden war. Der 
Kampf um Dreyfus war fiir Peguys Altersgenossen das, was 
fiir Jungere der Weltkrieg geworden ist. Peguy jedoch suchte in 
dieser Sache - darin kiindigt sich bereits an, was ihn und seine 
Freunde dann um die Frucht ihres Sieges betriigen sollte - zwei 
Anliegen zu unterscheiden. Er spricht von »zwei Dreyfusaffai- 
ren, deren eine die gute ist, deren andere die schlechte. Die eine 
ist die reine und die andere die verworfene. Die eine ist religibs, 
die andere politisch.« Und P£guy verwarf entschieden den 
politischen Kampf um Dreyfus; den Mitstreitern zur Linken 
trat er in den Weg, bezichtigte sie »Combescher Demagogie« 
und wechselte das Lager im Augenblick, als sich die Sieger gegen 
die religiosen Orden wendeten. Vorm Forum der Geschichte hat 
darum nicht Peguy, sondern Zola das Zeugnis der Intellektuel- 
len im Dreyfusprozefi abgegeben. 

Nicht nur an dieser Stelle gibt noch heute Zola den Mafistab ab, 
an welchem das Erreichte zu bewerten ist. Ganz besonders gilt 
dies fiir einen grofien Teil der Belletristik. Bekanntlich ist es 
nicht eine unmittelbar politische Theorie, auf die das Werk Zolas 
sich griindet. Doch ist es eine Theorie im vollen Sinn des Worts, 
insofern der Naturalismus nicht nur den Gegenstand der Zola- 
schen Romane und ihre Form, sondern auch einige der Grund- 
gedanken - wie den, die Erbmasse und die gesellschaftliche 
Entwicklung einer einzelnen Familie darzustellen - bestimmt 
hat. Demgegeniiber ist kennzeichnend fiir den sozialen Roman, 
dem heute nicht wenige linksgerichtete Autoren ihre Sympathien 
gewidmet haben, der Mangel jedes theoretischen Fundaments. 
Die Figuren des sogenannten roman populiste sind, wie ein 
wohlwollender Kritiker bemerkt hat, vor lauter Unpersonlich- 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosischen Schriftstellers 787 

keit und Sciiliditheit denen der verflossenen volkstiimlichen 
Feenstucke gleich geworden, und ihre Ausdrucksfahigkeit ist so 
bescheiden, dafi sie das Gestammel dieser vergessenen marionet- 
tenahnlichen Gebilde zuriickrufen. Es ist die alte und fatale Kon- 
fusion - zuerst taucht sie vielleicht bei Rousseau auf -, wonach 
das Innenleben der Enterbten und Geknechteten durch eine ganz 
besondere Simplizitat sich auszeichnet, der man gern einen Ein- 
schlag ins Erbauliche verleiht. Von selbst versteht es sich, dafi 
der Ertrag derartiger Biicher sehr diirftig bleibt. Der roman 
populiste ist in der Tat viel weniger ein Vorstofi der proletari- 
schen als ein Riickzug der biirgerlichen Belletristik. Im ubrigen 
. entspricht das seinem Ursprung. Die Mode - wenn schon nicht 
der Gattungsname - geht auf Th^rive, den heutigen Kritiker 
des »Temps« zuriick. So grofi aber der Eifer ist, mit dem er sich 
fiir die neue Richtung eingesetzt hat, so ist es doch an ihren Pro- 
dukten - nicht zuletzt an seinen eigenen - spurbar, da6 es sich 
hier um eine neue Form der alten philanthropischen Impulse 
handelt. Die einzige Chance fiir die Gattung liegt denn auch in 
jenen Gegenstanden, die den Mangel an Einsicht und an Schu- 
lung auf der Seite des Autors halb und halb verdecken konnen. 
Es ist kein Zufall, daft der erste grofie Erfolg des Genres - 
Celines »Voyage au bout de la nuit«* - es mit dem Lumpen- 
proletariat zu tun hat. Sowenig wie der Lumpenproletarier Be- 
wufitsein von einer Klasse hat, die ihm eine menschenwiirdige 
Existenz erkampfen konnte, sowenig macht der Autor, der ihn 
schildert, diesen Mangel des Modells erkennbar. Zweideutig ist 
daher von Grund auf die Monotonie, in welche das Geschehen 
bei Celine gehullt ist. So gut es ihm gelingt, die Traurigkeit und 
Ode eines Daseins, fiir das Unterschiede zwischen Werktag und 
Feiertag, Geschlechtsakt und Liebeserlebnis, Krieg und Frieden, 
Stadt und Land ausgeloscht sind, sinnfallig zu machen, so wenig 
hat er die Gabe, jene Krafte aufzuweisen, deren Abdruck das 
Leben seiner Ausgestoftenen ist; noch weniger gelingt es ihm, zu 
zeigen, wo deren Reaktion beginnen konnte. Darum ist nichts 
verraterischer als das Urteil, mit dem Dabit - selbst ein ge- 
schatzter Vertreter dieses Genres - Celines Buch begriifk: 
»Hier haben wir es mit einem Werk zu tun, in welchem die Revoke 
nicht aus asthetischen oder symbolischen Diskussionen hervorgeht, in 
1 Soeben auch in deutscher Ubersetzung (bei Julius KittI, M.-Ostrau) crschienen. 



788 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

dem es sich nicht mehr um Kunst, Kultur oder Gott, sondern urn einen 
Schrei der Emporung gegen die Lebensbedingungen handelt, denen 
Menschen eine Mehrheit von anderen unterwerfen konnen.« 

Bardamu - so heifit der Held des Romans - »ist aus dem StofT 
gemacht, aus dem die Massen sind. Aus ihrer Feigheit, ihrem 
panischen Entsetzen, ihren Wiinschen, ihren Gewalttatigkeiten.« 
Und soweit gut. Wenn eben nicht das Eigenste der revolutiona- 
ren Schulung und Erfahrung darin bestunde, die Klassenschich- 
tungen in Massen zu erkennen und sie zu verwerten. 
Wenn Zola das Frankreich der sechziger Jahre hat darstellen 
konnen, so darum weil er das Frankreich dieser sechziger Jahre 
ablehnte. Er lehnte die Planungen Haussmanns und das Palais 
der Paiva und die Beredsamkeit von Rouher ab. Und wenn es 
den heutigen franzosischen Romanciers nicht gluckt, das Frank- 
reich unserer Tage darzustellen, so darum, weil sie schliefilich 
alles an ihm in Kauf zu nehmen gesonnen sind. 

»Man stelle sich, sagt Berl, einen Leser des Jahres 2200 vor, der sich 
bestrebe, nach unseren besten Romanen sich das Frankreich unserer 
Tage vorzustellen. Nicht einmal auf die Wohnungsnot wiirde er 
kommen. Die finanziellen Krisen dieser Jahre waren fur ihn beinahe 
nicht wahrnehmbar. Auch weiterhin gedenken ja die Literaten mit 
Geldfragen sich nicht zu befassen.« 

Der Konformismus verbirgt vor ihrem Blick die Welt, in der sie 
leben. Und er ist ein Produkt der Furcht. Sie wissen: die Funk- 
tion der Intelligenz fur die Bourgeoisie ist nicht mehr, ihre 
menschlichsten Interessen auf lange Sicht zu vertreten. Zum 
zweitenmal im Zeitalter des Burgertums wird die Funktion sei- 
ner Intelligenz die militante. Fand aber von 1789 bis 1848 die 
Intelligenz einen fiihrenden Platz in der burgerlichen Offensive, 
so ist Kennzeichen ihrer gegenwartigen Situation die defensive 
Haltung. Je undankbarer diese Haltung in vielen Fallen ist, 
desto entschiedener ergeht an den Intellektuellen die Forderung 
klassenmafiiger Zuverlassigkeit. 

Auf diese letztere stellt nun der Roman eine so vorzugliche Pro- 
be dar, dafi die verschiedenen Attituden, in denen sich darin der 
Autor der Gesellschaft anschmiegt, in das Chaos der Produktion 
etwas wie einen ordnenden Gesichtspunkt bringen. Das heifit 
natiirlich nicht, dafi diese Produktion im tendenziosen Sinne mit 
dem Burgertum gehen will. Im Gegenteil; fur eine breite Schicht 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosischen Schriftstellers 789 

ist eine scheinbar sprode Haltung gegen dieses viel naherliegend. 
Die Position eines humanistischen Anarchismus, den man ein 
halbes Jahrhundert lang zu halten glaubte - und in gewissem 
Sinne wirklich hielt — , ist unrettbar verloren. Daher bildete sich 
die Fata morgana eines neuen Emanzipiertseins, einer Freiheit 
zwischen den Klassen, will sagen, der des Lumpenproletariats. 
Der Intellektuelle nimmt die Mimikry der proletarischen Exi- 
stenz an, ohne darum im mindesten der Arbeiterklasse verbun- 
den zu sein. Damit sucht er den illusorischen Zweck zu erreichen, 
iiber den Klassen zu stehen. Wahrend ein Francis Carco der 
gefiihlsselige Schilderer, etwa der Richardson dieser neuen Frei- 
heit wurde, ist ein Mac Orlan ihr ironischer Moralist, sozusagen 
ihr Sterne. 

Es gibt aber entlegenere Verstecke des Konformismus. Und da 
sich auch der grofke Dichter wahrhaft keineswegs erfassen laftt 
ohne Bestimmung der Funktionen, die sein Werk in der Gesell- 
schaft hat, da andererseits gerade die Hochstbegabten einen 
Hang verspiiren mogen, dem Bewufitsein dieser Funktion sich zu 
entziehen, und miifiten sie bis in die Holle fliichten, - so ist hier 
der Ort, von Julien Green zu reden. Green, unter den jungeren 
Romanciers von Frankreich ohne Zweifel einer der bedeutend- 
sten, ist wirklich in die Holle hinabgestiegen. Seine Werke sind 
Nachtgemalde der Leidenschaften. In jedem Sinne sprengen sie 
den Kreis des psychologischen Romans. Die Ahneiireihe dieses 
Dichters fuhrt auf die grofien katholischen und schliefilich selbst 
die heidnischen Gestalter und Ausleger der passio zuriick: auf 
Calderon, zuletzt auf Seneca. So tief jedoch der Dichter seine 
Geschopfe in der Provinz vergrabt, so unterirdisch audi die 
Krafte sind, die sie bewegen, - nicht immer ist es ihm gelungen, 
gegen unsere Umwelt diese derart abzudichten, dafi von ihnen 
nicht auch ein Wort, das sie betrifTt, erwartet werden miifke. 
Hier setzt nun jenes Schweigen ein, das der Ausdruck des Kon- 
formismus ist. Es sei erlaubt, der Spur dieses Verhaltens in 
seinem letzten Werke nachzugehen, und ware es audi nur, weil 
dessen Vorwurf eine der grofiten Konzeptionen des Dichters 
darstellt. 

Der Held des Werks »£paves« befindet sich zu Anfang des 
Geschehens auf einem einsamen abendlichen Spaziergang langs 
der Seinekais der Hauptstadt. An einer entlegenen Stelle in 



790 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

Passy wird er zum unfreiwilligen Zeugen eines Handgemenges, 
in welches eine alte Frau mit einem angetrunkenen Manne unten 
am Ufer geraten ist. Es ist eine ganz gewohnliche Familienszene, 
»doch der Mann hatte getrunken, und offenbar furchtete die 
Frau, von ihm in die Seine geworfen zu werden«. Und weiter: 
»Der Mann hielt sie am Arm und schuttelte sie hin und her, 
wahrend er sie mit Beschimpfungen iiberhaufte. Aber sie lafit 
Philipp — so heifit der Held — nicht aus den Augen und ruft zu 
ihm hinauf: Mein Herr! Ihre Stimme war rauh und dabei so 
leise, dafi er vor Schreck erstarrte. Er blieb ohne Bewegung.« 
Und dann tritt er zuriick. Er tritt den Heimweg an. »Er kam 
fast zur selben Zeit wie sonst nach Hause.« - Das ist alles. 
Greens Buch entwickelt nun, wie dies Ereignis in dem Mann zu 
arbeiten beginnt. Es fuhrt ihn, wie der Dichter meint, zur 
Selbsterkenntnis, es notigt ihn, seiner Feigheit ins Auge zu 
sehen, es zersetzt sein ganzes Leben, liber das die Seine mehr und 
mehr eine geheimnisvolle Gewalt gewinnt. Er geht aber nicht 
ins V/asser. - Dieser Roman bietet - gerade weil ein Dichter 
wie Green ihn schrieb - ein unbarmherziges Beispiel dafiir, wie 
der Konformismus eine grofie Konzeption vernichtet. Niemand 
wird leugnen wollen, dafi der Fall, den Green zu Anfang seines 
Buches darstellt, in unsern grofien Stadten typisch ist. Nie- 
mand kann eben daher bestreiten, dafi das, was er enthalt und 
lehrt, kein Beitrag zum psychologischen Charakter dessen sein 
kann, der da den Ruf so ungehort verhallen lafit. Wohl aber ein 
Beitrag zu seinem sozialen Charakter. Denn jener unfreiwillige 
Zeuge, der sich abwendet, ist Burger. Ein Streit unter zwei Biir- 
gern nahme schwerlich auf ofFner Strafie diese Formen an. Was 
also Greens Helden lahm setzt, ist der Abgrund, der sich hier 
vor dem Burger auftut, jenseits dessen zwei Angehorige der 
ausgestofienen Klasse ihren Streit austragen. Es ist kaum Sache 
der Kritik, Mutmafiungen dariiber anzustellen, wie der Dichter 
diesen verborgenen Sinn der Szene, der ihr eigentlicher ist, zu 
gestalten gehabt hatte. Der krasse Umstand, der hier kurzer- 
hand dem Burger die Augen uber den Abgrund offnet, der sein 
Klassendasein rings umgibt, - der gleiche krasse Umstand 
konnte ihn sehr wohl dem Wahnsinn ausliefern, welcher die 
Preisgegebenheit und Einsamkeit der eigenen Klasse zu der 
seiner privaten Existenz werden liefie. Die Ungewifiheit uber 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosischen Schriftstellers 791 

das Gesdiick der Frau, die ihn um Hilfe angerufen hat und von 
der er nidits mehr erfahrt, scheint schon bei Green den Keim zu 
diesem in sich zu enthalten. 

Riickstandig ist Greens Tragestellung; riickstandig der Stand- 
punkt der meisten Romanciers im Technischen. 

»Die Mehrzahl der Verfasser setzt einen unerschutterlichen Glauben, 
der seit Freud als unstatthaft zu gelten hat, in die Bekenntnisse seiner 
Gestalten oder tut doch so. Sie will es nicht verstehen, dafi ein Bericht, 
den jemand von seiner eigenen Vergangenheit erstattet, mehr verrat 
iiber den gegenwartigen Zustand als von dem vergangenen, von dem 
er berichtet. Sie bleiben audi dabei, das Leben einer Romanfigur sich 
als vereinzelten Ablauf zu denken, der im voraus in einer leeren Zeit 
fixiert ist. Sie tragt weder den Lehren des Behaviorismus Rechnung 
noch selbst denen der Psychoanalyse. « 

Soweit Berl. Es ist, mit einem Wort, bezeichnend fur die heutige 
Situation der franzosischen Belletristik, dajS eine Trennung zwi- 
schen den fiihrenden Intelligenzen und den Romanciers sich zu 
vollziehen beginnt. Die Ausnahmen — vor allem Proust und Gide 
- bestatigen die Regel. Denn beide haben die Technik des Romans 
mehr oder weniger eingreifend verandert. Doch weder Alain 
noch Peguy, weder ValeVy noch Aragon sind mit Romanen her- 
vorgetreten; und die, welche wir von Barres oder Benda haben, 
sind Thesenschriften. Fiir die Masse der Schreibenden jedoch 
gilt diese Regel: Je mittelmafiiger ein Autor, desto grofier sein 
Verlangen, als »Dichter« von Romanen seiner wahren Verant- 
wortung als Schriftsteller sich zu entziehen. 
Es ist darum durchaus nicht ungereimt, die Frage aufzuwerfen, 
was denn der Roman des letzten Jahrzehnts fiir die Freiheit ge- 
leistet hat. Auf diese Frage lafit sich schwerlich anders erwidern 
als mit einem Hinweis auf die Verteidigung der Inversion, die 
Proust als erster in seinem Werk unternommen hat. So sehr 
jedoch ein solcher Hinweis der durftigen revolutionaren Leistung 
der Belletristik gerecht wiirde, so wenig wiirde er den Sinn von 
dem erschopfen, was in der »Recherche du temps perdu« die 
Inversion bedeutet. Vielmehr erscheint die Inversion bei Proust, 
weil aus der Welt, mit der er es zu tun hat, die entfernteste so- 
wohl wie die primitivste Erinnerung an die Produktivkrafte 
der Natur verbannt werden sollte. Die Welt, welche Proust 
schildert, schliefit alles von sich aus, was Anteil an der Produk- 



-jyz Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

tion hat. Die Haltung des Snob, die in ihr tonangebend ist, ist 
ja nichts anderes als die konsequente, organisierte und gestahlte 
Betrachtung des Daseins vom Standpunkt des reinen Konsumen- 
ten. In seinem Werk liegt eine gnadenlose, eindringende Kritik 
der heutigen Gesellschaft verborgen, und sie aufzuweisen ist 
bisher noch kaum das Fundament gelegt worden. Nichtsdesto- 
weniger ist so viel deutlich: vom Aufbau angefangen, weldier 
Dichtung, Memoirenwerk, Kommentar in einem darstellt, bis 
zu der Syntax uferloser Satze (dem Nil der Sprache, weldier 
hier befruchtend in die Breiten der Wahrheit hiniibertritt) ist 
iiberall der Schriftsteller prasent, der Stellung nehmend, Rechen- 
schaft erteilend sich dauernd zur Verfiigung des Lesers halt. In 
keinem Falle kann ein Autor, der nicht zuvorderst sich als 
Schriftsteller bekennt, Anspruch auf orlentliche Wirkung ma- 
chen. Frankreich ist darin gliicklich, dafi die hochst verdachtige 
Konfrontation von Dichtung und Schriftstellerei dort niemals 
wirklich Kurs gewinnen konnte. Heute ist mehr denn je die Vor- 
stellung entscheidend, die sich der Schriftsteller von seiner Ar- 
beit macht. Und um so viel entscheidender, wenn es ein Dichter 
ist, der diesen Begriff zu seinem Recht zu bringen sucht. 
Wir sprechen von Paul Valery. Symptomatisch ist seine Be- 
deutung fur die Funktion des Schriftstellers in der Gesellschaft. 
Und diese symptomatische Bedeutung hangt auf das engste mit 
den fraglosen Qualitaten seiner Produktion zusammen. Unter 
den .Schriftstellern des heutigen Frankreich ist Valery der grofi- 
te Techniker des Fachs. Er hat die Technik der Schriftstellerei 
durchdacht wie kein anderer. Und man wurde die Sonderstel- 
lung, die er einnimmt, vielleicht hinreichend schon mit der Be- 
hauptung treffen, dafi Schriftstellerei fiir ihn in erster Linie eine 
Technik ist. 

Es ist nun wichtig, dafi Schriftstellerei in seinem Sinne die Dich- 
tung einschliefit. Mit gleicher Entschiedenheit ist er als Essayist 
wie als Lyriker hervorgetreten, und in beiden Fallen nicht, ohne 
immer wieder Rechenschaft von seiner Technik zu geben. ValeVy 
geht der Intelligenz des Schreibenden, zumal des Dichters, inqui- 
sitorisch nach, verlangt den Bruch mit der weitverbreiteten Auf- 
fassung, dafi sie beim Schreibenden sich von selbst verstehe, 
geschweige mit der noch viel weiter verbreiteten, dafi sie beim 
Dichter nichts zu sagen habe. Er selbst hat eine, und von einer 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosischen Schriftstellers 793 

Art, die sich durdiaus nicht von selbst versteht. Nichts kann 
befremdender sein als ihre Verkorperung, Herr Teste. Herr 
Teste ist seinem aufieren Auftreten nach ein Spiefier, seinen 
Lebensbedingungen nach ein Rentier. Er sitzt zu Hause; er 
kommt wenig unter die Leute, betreut wird er von seiner Frau. 
Monsieur Teste - zu deutsch: Herr Kopf - ist eine Personifika- 
tion des Intellekts, die sehr an den Gott erinnert, von dem die 
negative Theologie des Nicolaus Cusanus handelt. Auf Nega- 
tion lauft alles, was man von Teste erfahren kann, hinaus. »Jede 
Erregung, erklart er, jedes Gefuhl ist Anzeichen eines Fehlers 
in der Konstruktion und der Anpassung.« Mag Herr Teste sich 
von Hause aus Mensdi fuhlen - er hat sich ValeVys Weisheit 
zu Herzen genommen, die wichtigsten Gedanken seien die, die 
unserem Gefuhl widersprechen. Er ist denn audi die Negation 
des »Menschlichen«: »Sieh, die Dammerung des Ungefahr bricht 
herein, und vor der Tiir steht die Herrschaft des Entmenschten, 
welche hervorgehen wird aus der Genauigkeit, der Strenge und 
der Reinheit in den Angelegenheiten der Menschen.« Nichts 
Ausladendes, Pathetisches, nichts »Menschliches« geht in den 
Umkreis dieses VaUryschen Sonderlings ein, nach dessen Bild 
der reine Schriftsteller geformt sein soil. Der Gedanke soil ihm 
die einzige Substanz darstellen, aus welcher das Vollkommene 
sich bilden lafit. »Ein klassischer Schriftsteller, definiert Valery, 
ist ein Schriftsteller, der seine Ideenassoziationen verbirgt oder 
absorbiert.« 

Im biirgerlich franzosischen Mafistab aber stelit Monsieur Teste 
nichts anderes dar als die Erfahrung, die Valery in einigen 
grofien Kunstlern, wo sie im Menschheitsmafistab auftaucht, 
nachzuzeichnen suchte. In diesem Sinn beschaftigt schon eins 
seiner friihesten Werke sich mit einer »Einleitung in die Metho- 
de Leonardo da Vincis«. Dieser erscheint darinnen als derKiinst- 
ler, der an keiner Stelle seines Werks darauf verzichtet, sich den 
genauesten Begriff von seiner Arbeit und Verfahrensweise zu 
machen. Valery hat von sich bekannt, dafi eine mittelmafiige 
Seite, auf welcher er von jedem Wort aus seiner Feder sich 
Rechenschaft zu geben wufite, ihm lieber sei als ein vollkomme- 
nes Werk, das er den Machten des Zufalls und der Inspiration 
danke. Sowie an anderer Stelle: 
»Nichts anderes als unsere geistigen Ausfallserscheinungen sind der 



794 Kulturpolitisdie Artikel und Aufsatze 

Bereich der Machte des Zufalls, der Gotter und des Sdiicksals. Besafien 
wir auf alles eine Antwort - wir sagen eine exakte Antwort -, so 
wiirden diese Machte nicht existieren . . . Wir fuhlen das audi genau, und 
dies ist der Grund, warum wir uns am Ende gegen unsere eigenen 
Fragen wenden. Das rmifite aber den Anfang darstellen. Man mufi im 
Innern bei sicb selber eine Frage formen, die alien anderen vorhergeht 
und ihrer jeder abfragt, was sie taugt.« 

Die strikte RUckbeziehung soldier Gedanken auf die heroi- 
sclie Periode des europaischen Burgertums gestattet es, der Ober- 
raschung Herr zu werden, mit der wir hier auf einem vorge- 
schobensten Punkte des alten europaischen Humanismus noch 
einmal der Idee des Fortschritts begegnen. Und zwar ist es die 
stidihaltige und echte: die des Obertragbaren in den Methoden, 
welche dem Begrifl der Konstruktion bei Valery so handgreif- 
lich korrespondiert, wie sie der Zwangsvorstellung der Inspira- 
tion zuwiderlauft. »Das Kunstwerk, hat einer seiner Interpre- 
ten gesagt, ist keine Schopfung, es ist eine Konstruktion, in der 
die Analyse, die Berechnung, die Planung die Hauptrolle spielt.« 
Die letzte Tugend des methodischen Prozesses, den Forschenden 
iiber sidi hinauszufiihren, hat sich dabei an Valery bewahrt. 
Denn wer ist Monsieur Teste, wenn nicht das menschliche Sub- 
jekt, das schon bereit ist, die geschichtliche Schwelle zu iiber- 
schreiten, jenseits von welcher das harmonisch durchgebildete, 
sich selbst genugtuende Individuum im Begriffe ist, sich in den 
Techniker und Spezialisten zu verwandeln, das bereit ist, an 
seinem Platze einer grofien Planung sich einzufligen? Diesen 
Gedanken einer Planung aus dem Bereich des Kunstwerks in 
den der menschlichen Gemeinschaft uberzufiihren, ist Valery 
nicht gelungen. Die Schwelle ist nicht uberschritten; der Intel- 
lekt bleibt ein privater, und das ist das melancholische Geheim- 
nis des Herrn Teste. Zwei, drei Jahrzehnte vorher hat Lautrea- 
mont gesagt: »Die Poesie soil von alien gemacht werden. Nicht 
von einem. « Diese Worte sind zu Herrn Teste nicht gedrungen. 
Die Schwelle, die fur ValeVy nicht uberschreitbar ist, hat Gide 
vor kurzem uberschritten. Er hat sich dem Kommunismus ange- 
schlossen. Fur die Entwicklung der Probleme in der vorgeschrit- 
tensten Intelligenz Frankreichs, von der wir hier ein Bild zu 
geben suchen, ist das bezeichnend. Gide hat, so kann man sagen, 
keine ihrer Etappen in den letzten vierzig Jahren iibergangen. 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosischen Schriftstellers 795 

Die erste hatte man etwa in der Kritik an Barres' »D£racines« 
zu erblicken. Sie enthielt mehr als eine scharfe Ablehnung die- 
ses Lobgesanges auf die Bodenstandigkeit. Sie enthielt eine Um- 
deutung. Von den vier Hauptpersonen des Romans, an denen 
Barres die Thesen seines Nationalismus exemplifiziert, kann 
Gide Interesse nur derjenigen entgegenbringen, die gesellschaft- 
lich am tiefsten gesunken und zum Morder geworden ist. »Wenn 
Racadot Lothringen nie verlassen hatte, sagt er, so ware er nicht 
zum Morder geworden; in dem Fall aber wiirde er mich iiber- 
haupt nidit interessieren.« »Entwurzelt« zu sein, zwingt Raca- 
dot zur Originalitat; das ist nach Gides Oberzeugung der eigent- 
liche Gegenstand des Buches. Im Zeichen der Originalitat war es 
zunachst, dafi Gide den ganzen Umkreis der Moglichkeiten aus- 
zuschopfen suchte, die durch Anlage und Entwicklung in ihm 
lagen; und je befremdender sich diese Moglichkeiten erwiesen, 
desto riicksichtsloser war er bemiiht, in seinem Leben - und 
zwar vor aller Augen - ihnen Platz zu schaffen. Selbstwider- 
spriiche sind in dieser Haltung das Letzte gewesen, was ihn hatte 
beirren konnen. »Ich ging in jeder Richtung, sagt er, die ich ein- 
mal einschlug, bis zum aufiersten, um sodann mit derselben Ent- 
schiedenheit der entgegengesetzten mich zuwenden zu konnen.« 
Dies grundsatzliche Verneinen jeder goldenen Mitte, dies Be- 
kenntnis zu den Extremen ist Dialektik, nicht als Methode eines 
Intellekts, sondern als Lebensatem und Passion. Die Welt ist audi 
in den Extremen noch ganz, noch gesund, noch Natur. Und was 
ihn diesen Extremen zutreibt, das ist nicht Neugier oder apolo- 
getischer Eif er, sondern dialektische Leidenschaft. 
Gides Natur sei nicht reich, hat man gesagt. Diese Bemerkung 
trifft nicht allein zu; sie ist entscheidend. Audi verrat Gides 
eigene Haltung einiges Bewufksein von diesem Umstand. 

»Im Ursprung jeder grofien sittlichen Reform, sagt er in seinem 
„Dostojewski", begegnet uns immer ein kleines physio logisdies Ge- 
heimnis, ein Ungeniigen des Fleisdis, eine Unruhe, eine Anomalie . . . 
Das Unbehagen, unter dem der Reformator leidet, ist das eines Man- 
gels an innerem Gleichgewicht. Die moralischen Gegebenheiten, Posi- 
tionen, Werte liegen fiir ihn in innerem Widerspruch, und er bemiiht 
sich, sie zur Deckung zu bringen; was er verlangt, das ist ein neues 
Gleichgewicht; sein Werk ist nichts als ein Versuch, der Logik und der 
Vernunfl; nach die Verwirrung, die er in seinem Innern fuhlt, durch 



y$6 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

eine Neuordnung zu ersetzen.« »Eine Handlung, in welcher ich nidit 
alle Widerspriiche, die in mir wohnen, wiedererkenne, erklarte er an 
anderer Stelle, verrat mich.« 

Unzahlige Male hat man die Haltung, die aus diesen und ver- 
wandten Satzen spricht, verdachtigt. Der Kritiker Massis nennt 
Gide dafnonisch. Doch aufschlufireicher diirfte sein, dafi Gide 
nie jene andere Damonie, die man dem Kiinstler gerade von 
biirgerlicher Seite so gern zubilligt, beanspruclit hat: die Freiheit 
des Genies. Wie Valery seine gesamte Produktion durchaus in 
seinem intellektuellen Leben integriert, so Gide die seinige in 
dem moralischen. Dem dankt er seine padagogische Bedeutung. 
Seit Barres ist er der grofke Fiihrer, welchen die Intelligenz in 
Frankreich gefunden hat. 

»Es ist vielleicht nicht fichtig, schreibt Malraux, Andre* Gide als einen 
Philosophen anzusehen. Ich glaube, er ist etwas ganz anderes: ein 
Gewissensberater. Das ist ein hochst bedeutender und seltsamer Be- 
ruf . . . Maurice Barres hat sich ihm lange gewidmet; Gide audi. Es 
ist bestimmt nichts Geringes, derjenige zu sein, der die Geisteshaltung 
einer Epoche bestimmt. Wahrend aber Barres nur Ratschlage geben 
konnte, hat Gide auf jenen Zwiespalt zwischen unseren Wunschen 
und unserer Wurde, unseren Strebungen und unserem Willen, ihrer 
Herr zu werden oder sie zu verwerten, uns hingewiesen . . . Der Halfte 
derer, die man >die Jugend< nennt, hat er ihr intellektuelles Gewissen 
geweckt.« 

Die Wirkung, von der hier die Rede ist, lafit sich aufs engste 
mit einer ganz bestimmten Figur verbinden, welche in dem 
Romane »Les Caves du Vatican« auftritt. Das Werk erschien am 
Vorabend des Krieges, als in der Jugend sich zum ersten Male 
Strbmungen geltend machten, welche spater iiber Expressionis- 
mus und Dadaismus in den Surrealismus gemiindet sind. Gide 
hatte alien Anlaft, in das Brevier der »Pages choisies«, das er 
der Jugend Frankreichs zugedacht hat, die Seite der »Verliese 
des Vatikan« aufzunehmen, in der Lafcadios Entschliefiung 
zum Morde dargestellt wird. Gides jugendlicher Held befindet 
sich da auf der Eisenbahn und fuhlt sich im Waggon belastigt 
durch die Hafilichkeit eines alten Herren, der neben ihm als 
einziger Fahrgast sitzt. Es kommt ihm der Gedanke, seiner sich 
zu entledigen. 

»Wer sahe es, sagte er, - ganz nahe, in Reichweite der Hand, ist die- 
ser doppelte Riegel, den ich leicht bewegen kann: die Tiir, die dann 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosisdien Schriftstellers 797 

mit einem Mai sich offnen wiirde, liefie ihn vorniiber fallen; ein klei- 
ner Stofi wiirde geniigen; er wiirde in die Nadit hinausf alien wie eine 
Masse; nicht einmal einen Schrei wiirde man horen . . . Es sind nicht 
so sehr die Begebenheiten, auf die ich neugierig bin; ich bin es auf 
mich selbst. Mancher glaubt sidi zu allem fahig, und wenn er dann 
handeln soil, zuckt er zuriick . . . Wie weit ist doch der Weg zwischen 
dem Vorsatz und der Tat. Und ein Recht zuriickzunehmen, was man 
tat, hat man genausowenig wie im Schach. Gleichviel, wenn man alle 
Gefahren wufite, hatte das Spiel kein Interesse mehr.« 
Und langsam, kaltbliitig zahlt Lafcadio bis zehn, um sodann 
seinen Reisegefahrten hinauszustoften, grundlos und nur aus 
Neugier seiner selbst. In den Surrealisten hat Lafcadio seine 
gelehrigsten Schuler gefunden. Begonnen haben sie wie er mit 
einer Reihe von »actions gratuites« - grundlosen oder beinah 
miifiigen Skandalen. Die Entwicklung jedoch, die ihre Aktivitat 
genommen hat, ist ganz geeignet, riickwarts auf die Gestalt 
Lafcadios Licht zu werfen. Denn immer mehr zeigten sie sich 
bestrebt, Auftritte, die zunachst vielleicht von ihnen nur spiele- 
risch, aus Neugier ins Werk gesetzt worden waren, mit den 
Parolen der Internationale in Einklang zu bringen. Und konnte 
noch ein Zweifel an dem Sinn jenes extremen Individualismus 
bestehen, in dessen Zeichen Gides Werk begann, so hat er vor 
dessen letzten Bekenntnissen sein Recht verloren. Denn sie 
sprechen aus, auf welche Weise dieser ins Extrem gesteigerte 
Individualismus, indem er auf seine Umwelt die Probe machte, 
in den Kommunismus umschlagen mufite. 

»Was am Geist der Demokratie alles in allem am greifbarsten 
erscheint, ist, dafi er asozial ist.« Das hat nicht Gide geschrieben 
sondern Alain. Auf diesen Geist der Demokratie ist Gide erst 
spat gestofien; er war auch erst spat vorbereitet, ihn zu agnos- 
zieren. Die Darstellungen, die er nach verschiedenen Reisen ins 
Innere Afrikas von den Lebensbedingungen der Eingeborenen 
ten Unruhe in die politische Off entlichkeit. Wenn er einige Jahre 
unter dem Regime der Kolonialgesellschaften gegeben hat, brach- 
friiher, als er sich zum Anwalt der Invertierten machte, Anstofi 
gab, so drohte er nun, da er sich zum Anwalt der Schwarzen 
machte, Aufruhr zu erregen. Fur ihn wie fur die, die ihm folg- 
ten, haben die politischen Faktoren schliefllich den AnlaE zur 
bestimmten Stellungnahme gegeben. Besondere Bedeutung kommt 
dabei, gerade fiir den Nachwuchs, dem Marokkokriege zu. 



79 8 Kulturpolitisdie Artikel und Aufsatze 

Es waren dem Surrealismus viele Anfeindungen, aus denen er 
im iibrigen den denkbar grofiten Nutzen gezogen hat, erspart 
geblieben, ware sein Ursprung in der Tat eindeutig ein politi- 
scher gewesen. Nichts war weniger der Fall. Der Surrealismus 
ist im engen Raum eines literarischen Zirkels im Umkreis von 
Apollinaire grofi geworden. In wie unscheinbarer, abseitiger 
Substanz der dialektische Kern, der sich im Surrealismus entfal- 
tet hat, urspriinglich eingebettet lag, hat, 1924, Aragon in 
seiner »Vague de reves« gezeigt. Damals brach die Bewegung 
in Gestalt einer inspirierenden Traumwelle iiber ihre Stifter 
herein. Das Leben schien nur lebenswert, wo die Schwelle, die 
zwischen Wachen und Schlaf ist, in jedem ausgetreten war wie 
von Tritten massenhaft hin und wieder flutender Bilder; die 
Sprache nur sie selbst, wo Laut und Bild und Bild und Laut mit 
automatischer Exaktheit derart gliicklich ineinandergriffen, dafi 
fiir den »Sinn« kein Spalt mehr iibrig blieb. »Die Krafte des 
Rausches fiir die Revolution zu gewinneri« - das war das 
eigentliche Unternehmen. Die dialektische Entwicklung der Be- 
wegung aber vollzog sich nun darin, dafi jener Bildraum, welchen 
sie sich auf so gewagte Weise erschlossen hatte, sich mehr und 
mehr mit dem der politischen Praxis identisch erwies. In diesen 
Raum verlegten jedenfalls die Angehorigen der Gruppe die 
Heimat einer klassenlosen Gesellschaft. Mag sein, dafi die Ver- 
heifiung einer solchen Gesellschaft ihnen weniger aus dem didak- 
tischen Materialismus eines Plechanow und Bucharin gesprochen 
hat als aus einem anthropologischen, wie ihre eigenen Erfahrun- 
gen und friihere Lautreamonts und Rimbauds ihn enthielten. 
Wie dem audi sei, - diese Gedankenwelt schrieb der Aktion und 
Produktion der Gruppe, welche damals von Breton und Aragon 
geleitet wurde, die Gesetze vor, bis die politische Entwicklung 
ihr gestattete, sich einfacher, konkreter zu formulieren. 
Seit Kriegsende sind die linken Intellektuellen, die revolutiona- 
ren Kiinstler tonangebend fiir einen grofien Teil des Publikums 
gewesen. Es hat sich nun mit aller Deutlichkeit gezeigt, dafi 
dieser ofTentlichen Geltung keine tiefere gesellschaftliche Wirk- 
samkeit entsprach. Woraus das eine zu ersehen ist: dafi - wie 
Berl sagt - »ein Kiinstler, mag er die Kunst auch revolutioniert 
haben, deshalb nicht revolutionarer als Poiret ist, der seinerseits 
die Mode revolutioniert hat«. Die vorgeschobensten gewagtesten 



Zum gesellschaftlichen Standort des franzosischen Schriftstellers 799 

Produkte der Avantgarde in alien Kunsten haben als Publikum 
- in Frankreich wie in Deutschland - nur die grofie Bourgeoisie 
gehabt. In diesem Faktum liegt - wenn schon gewifi nicht das 
Urteil iiber ihren Wert, so dodi - ein Hinweis auf die poli- 
tische Unsicherheit der Gruppen, die hinter diesen Manifesta- 
tionen standen. Immer wieder wirkte entscheidend in die lite- 
rarischen Stromungen des dritten Jahrzehnts der Anardiismus; 
die zunehmende Uberwindung des Anardiismus kennzeichnet 
den Weg des Surrealismus von seinen Anfangen bis zur Gegen- 
wart. Mitte der zwanziger Jahre liegt die entscheidende Wende. 
Im Jahre 1926 erschien von Blaise Cendrars »Moravagine«. Im 
Typus des revolutionaren Terroristen, den man in diesen Blattern 
bezeichnet findet, konnten die linken Intellektuellen das Spiegel- 
bild des einstigen, nun bald uberwundenen Ideals erblicken. 

»Welchem Antrieb gehorchten wir, wenn wir das Attentat auf den 
Zaren ins Werk setzten und welches war unser Geisteszustand? Ich 
habe midi das oft gefragt, wenn ich meine Kameraden beobachtete . . . 
Alles in ihnen war verwelkt, war tot. Die Gefiihle fielen wie Schuppen 
nieder, wurden Abfall; die sproden bruchig gewordenen Sinne konn- 
ten nichts mehr genieflen und zerfielen beim geringsten Versuche, es zu 
tun, in Staub. Im Innern war jeder von uns angesengt wie von einer 
Feuersbrunst, und unser Herz war nur nodi ein Haufen Asche. Unsere 
Seele war verwiistet. Seit langem glaubten wir nichts mehr, nicht 
einmal mehr an das Nichts. Die Nihilisten von 1880 waren eine Sekte 
von Mystikern, von Traumern, Agenten einer allgemeinen Gluckselig- 
keit. Wir aber waren Antipoden dieser lustigen Gesellen und ihrer 
undurchsichtigen Theorien. Wir waren Manner der Tat, Techniker, 
Speziaiisten, Pioniere einer neuen Generation, die sich dem Tod ver- 
schrieben hatte, Ankiindiger der Weltrevolution . . . Engel oder Da- 
monen? Nein, um es mit einem Wort zu sagen: Automaten . . . Nicht 
im Schatten eines Schutzengels oder in den Falten seines Gewandes 
hausten wir, vielmehr so wie zu Fiifien unseres eigenen Doppelgan- 
gers, der sich allmahlich von uns loste, um Gestalt zu finden und sich 
zu verkorpern. Seltsame Projektionen unserer selbst, nahmen uns 
diese neuen Wesen derart in sich auf, dafi wir unmerkbar in ihre Haut 
gerieten und mit ihnen ganz identisch wurden; und unsere letzten 
Vorbereitungen glichen sehr der absdiliefienden Herstellung jener 
schrecklichen, jener hochmutigen Automaten, die in der Magie als 
Teraphim bekannt sind. Wie sie so gmgen wir daran, eine Stadt zu* 
zerstoren, ein Land zu verwiisten und zwischen unseren furchtbaren 
Kinnbacken die kaiserliche Familie zu zermalmen.« 



8oo Kulturpolitisdie Artikel und Aufsatze 

Der Biirgerkrieg in Ruflland gehort der Geschichte an. Inzwi- 
schen sind an anderen Stellen Burgerkriege ausgebrochen. Und 
es entspricht nicht nur dem frtihen Stadium politischer Schulung, 
in dem die literarische Intelligenz des Westens sich befindet, 
sondern der Situation von Westeuropa, dafi die Stimmungen und 
Fragen des Biirgerkriegs ihr naher liegen als die gewichtigen 
Tatsachen des gesellschaftlichen Aufbaus in Sowjet-Rufiland. 
Das Werk Malraux* ist dafUr kennzeicfanend. Schauplatz des 
letzten Buches - wie audi seines friiheren Romanes »Les Con- 
querants« - ist das China der Burgerkriege. Malraux greift in 
der » Condition humaine« weder dem Historiker nodi audi nur 
dem Chronisten vor. Die Episode des revolutionaren Aufstan- 
des in Schanghai, den Tsdiang-Kai-Chek erfolgreidi liquidiert, 
ist weder okonomisch nodi politisch transparent. Sie dient als 
Folie, von der sich eine Gruppe Menschen abhebt, die handelnd 
an den Ereignissen Anteil haben. So unterschiedlich dieser An- 
teil ist, so grundverschieden diese Menschen nach Natur und 
Herkunft sind, so gegensatzlich ihr Verhaltnis zu der Herrscher- 
klasse ist - gemeinsam haben sie: ihr zu entstammen. Sie arbei- 
ten fur diese Klasse oder gegen sie; sie haben diese Klasse hinter 
sich gelassen oder sind von ihr ausgestofien worden; sie repra- 
sentieren oder durchschauen sie - jedem von ihnen sitzt sie in 
den Knochen. Audi den Revolutionaren von Beruf, welche im 
Vordergrund des Buches stehen. 

Malraux spricht das nicht aus. Weifi er es? Er beweist es jeden- 
falls. Denn nur aus dieser geheimen Homogeneitat seiner Figu- 
ren speist sich das Werk, das mit der dialektischen Spannung ge- 
laden ist, aus der das revolutionare Handeln der Intelligenz 
hervorgeht. Dafi diese Intelligenz ihre Klasse verlassen hat, um 
die Sadie der proletarischen zu ihrer eigenen zu machen, das 
will nicht heifien, diese letztere habe sie in sich aufgenommen. 
Sie hat das nicht. Daher die Dialektik, in der die Helden Mal- 
raux' sich bewegen. Sie leben fur das Proletariat; sie handeln 
aber nicht als Proletarier. Zumindest handeln sie viel weniger 
aus dem Bewufitsein einer Klasse als aus dem Bewufitsein ihrer 
Einsamkeit. Das ist die Qual, der keiner dieser Menschen sich 
entwindet. Sie macht audi ihre Wurde. »Es gibt keine Wiirde, 
die nicht im Leiden fufit.« Leiden vereinsamt, und es nahrt sich 
an der Einsamkeit, die es erzeugt. Ihr zu entgehen ist das fana- 



Zum gesellsdiaftlidien Standort des franzosischen Schriftstellers 80 1 

tisdie Bestreben derer, die in diesem Buche das Wort f iihren. Das 
Pathos dieses Buches hangt inniger, als man wohl meint, an 
seinem Nihilismus. 

Welchem Bediirfnis des Menschen die revolutionare Aktion ent- 
spricht? - diese Frage lafit sich erheben einzig aus der ganz 
besonderen Situation des Intellektuellen. Seiner Einsamkeit 
allerdings entspricht sie. Indem er aber diese, mit Malraux, zum 
Wesen der »Condition humaine«, des »Menschenstandes« erhebt, 
verbaut er sich den Blick auf die ganz anderen, im hochsten 
Grad des Studiums wiirdigen Bedingungen, aus denen die revo- 
lutionare Massenaktion hervorgeht. Die Masse hat andere Be- 
durfnisse, und andere Reaktionen entsprechen ihr, die primitiv 
nur primitiven Psychologen zu scheinen pflegen. An den Aktio- 
nen der Proletariermassen, deren geschichtliche Versuchsanord- 
nung die Revolutionen sind, hat Malraux* Analyse ihre Grenze. 
Aber - so mag man einwenden - audi seine Fabel. Gewifi. Nur 
ist es zweifelhaft, wieweit in diesem Stoffgebiet dem Autor die 
Konstruktion der Fabel freisteht. Darf er sich wirklich beschei- 
den, dem Historiker nicht vorzugreifen? Gibt es ein wirklich 
revolutionares Schrifttum ohne didaktischen Charakter? 
Die Klarung dieser Fragen, die die Krisis der Belletristik erst in 
voiles Licht riickt, blieb dem Surrealismus vorbehalten. Die 
Bedingungen fiir die Losung dieser Aufgabe - so wenige sie 
auch bisher erreichten - waren herangereift. Sie lagen im Ent- 
stehen des neuen Nationalismus, der die wahren Ziige im Bilde, 
das Barres vom »Geistigen« gezeichnet hatte, in Erscheinung 
treten liefi. Sie lagen in der Krise des Parlamentarismus, die 
den Zugang der jungen Intellektuellen zu den cadres, deren 
Geist Alain vertritt, immer prekarer machte. Sie lagen ferner 
in dem Umstand, dafi der Internationalismus als kulturelle 
Angelegenheit, wie Benda ihn versteht, im BegrifT war, eine 
Reihe der schwersten Belastungsproben durchzumachen. Sie la- 
gen in der Schnelligkeit, mit der das Bild Peguys in die Legen- 
de einging; in der Unmoglichkeit, in seinen Schriflen Handhaben 
fiir die Situation zu finden, vor die die Intellektuellen heute 
gestellt sind. Sie lagen in der Einsicht, die allmahlich fiir die 
Gewissenhaften zwingend wurde: dafi sie zu lernen hatten, auf 
ein Publikum Verzicht zu leisten, dessen Bediirfnisse zu befrie- 
digen sich mit ihrer besseren Einsicht nicht mehr vereinbaren 



802 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 

liefi. Einen indirekten Hinweis auf diese Bedingungen aber bot 
ein bedeutender Dichter wie Valery, der eine problematische 
Figur nur darum machte, weil er die Kraft nicht hatte, den 
Widerspruch sidi klar zu machen, weldier zwischen seiner Tech- 
nik und der Gesellschaft, der er sie zur Verfugung halt, besteht. 
Sie lagen endlich - jene Vorbedingungen - im Beispiel von 
Andre* Gide. 

Es ist bei alledem entsdieidend, dafl die Surrealisten auf einem 
Wege an die Losung des Problems herangegangen sind, der 
ihnen erlaubte, jene Vorbedingungen erschopfend auszunutzen. 
So haben sie die spielerische Tat Lafcadios vielfach nachgeahmt, 
bevor sie an ernstere gingen. So haben sie dem, was bei Valery 
als »reine Dichtung« auftritt, Bestimmtheit durch gewisse Unter- 
nehmungen verliehen, in welchen sie die Dichtung als einen 
Schlussel fiir Psychosen gehandhabt haben. So haben sie den 
Intellektuellen als Techniker an seinen Platz gestellt, indem sie 
uber seine Technik dem Proletariat Verfugung zuerkannten, 
weil nur dieses auf ihren fortgeschrittensten Stand angewiesen 
ist. Mit einem Wort - und das ist ausschlaggebend - sie haben 
das, was sie erreichten, kompromifilos, auf Grund der standigen 
Kontrolle ihres eigenen Standorts erreicht. Sie haben es als In- 
tellektuelle erreicht - und das heifit auf dem weitesten Wege. 
Denn der Weg des Intellektuellen zur radikalen Kritik der 
gesellschaftlichen Ordnung ist der weiteste wie der des Proleta- 
ries der kiirzeste. Darum der Kampf , den sie Barbusse und alien 
denen ansagten, die im Zeichen der »Gesinnung« bestrebt sind, 
diesen Weg abzukiirzen. Darum gibt es fiir sie unter den Arme- 
Leute-Schilderern keinen Platz. 

Der Kleinburger, der sich entschlossen hat, mit seinen libertaren 
und erotischen Aspirationen Ernst zu machen, hort auf, jenen 
idyllischen Anblick zu bieten, den Chardonne in ihm begriifit. 
Je unerschrockener und entschiedener er jene Anspriiche zur 
Geltung bringt, desto gewisser trifTt er - auf einem Wege, der 
zugleich der weiteste und der fiir ihn allein gangbare ist - die 
Politik. Im gleichen Augenblicke hort er auf, der Kleinburger zu 
sein, welcher er war. »Die revolutionaren Schriftsteller erschei- 
nen, heifit es bei Aragon, falls sie von biirgerlicher Herkunft 
sind, wesentlich und entscheidend als Verrater an ihrer Ur- 
sprungsklasse.« Sie werden. zu militanten Politikern: als solche 



Zum gesellschaftlidien Standort des franzosisdien Schriftstellers 803 

sind sie die einzigen, die jene dunkle Prophezeiung von Apolli- 
naire, mit welcher wir begonnen haben, deuten konnen. Sie 
wissen aus Erfahrung, warum das Dichten - das einzige, dem 
sie diesen Namen noch zuerkennen - gefahrlicb ist. 



Anhang 



Juden in der deutschen Kultur. i. In den r* X/yAAfi* **»/' 

Geisteswissenschaften. DieEmanzipationderdeut- WW^f** t 
schen Juden in literarischer Beziehung ist an den 4/&C1 nik^J^fwy 

Namen Moses Mendelssohns (1 729 bis * AAJ 

Moses 86) gebunden. Erst durch die Men- Oi^i^dU nWW^d 
Mendels- delssohnsche Pentateuchubersetzung £ J* , -£ j 
sohn (1781) ist der Masse der deutschen &tftfW^OA4W <Mffl 

Juden die Kenntnis der deutschen y*j"^" a 
Sprache zugefiihrt worden. Diese Ubersetzung «J5o r n* ***t>Sk* 
erschien in zwei Ausgaben, mit hebraischen ^^ fafa. ^ c6l^ 1 
und mit deutschen Lettem gedruckt. Die Aus- ^^ 
gabe in deutschen Lettem fand geringe Ver- L>y* $U*Y *v*4*s J^V^ 
breitung, die hebraische war das Tor, durch £^ a^t** fa-r*\ V *^*4 
welches die judisch sprechende Judenheit in den ' ^ Jr **** 

deutschen Sprachraum einging. Das Einzig- 
artige dieser Erscheinung liegt in dem starken 
Eindruck, den diese Leistung gleichermafien 
auf Juden wie auf Christen machte. Mendels- 
sohn hatte durch das eingehende philosophische 
Studium nicht nur der jiid. Autoren, besonders 
des Maimonides, sondern vor allem auch der 
fur die Generation der Auf klarung mafigebenden 
europaischen Denker, sich auf die Hohe der zeit- 
genossischen Bildung gestellt. Sein Umgang mit 
den Fuhrern des deutschen Denkens, die Freund- 
schaft mit Lessing, der Briefwechsel mit Kant 
und Herder, ja selbst mit Hamann, war durchaus 
epochal. Das Zentrum seiner eigenen philo- 
sophischen Bemiihungen bildete der Deismus. 
Die enge Bindung, die dergestalt die Sache der 
Emanzipation mit einer folgenreichen, aber ver- 
ganglichen, von der entschiedensten Gegen- 
stromung spaterhin abgelosten Geistesbewegung 
einging, hat eine Problematik geschaffen, die die 
jiid. Geistesbewegung im ganzen 19. Jht. be- 
stimmt hat. Da man nicht fur andere Auf klarung 
verlangen und selbst in der Kultur des 17. Jhts. 



8o8 



Anhang 



stehenbleiben konnte, muBte folgerichtig das 
Judentum modemisiert werden. So entstand zu 
gleicher Zeit eine reformistische Stimmung inner- 
halb des Judentums mit dem Drang, fiir das 
Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in 
einer einheitlichen Aufklarungskultur die gemein- 
same Plattform zu schaffen. Manner wie Mendels- 
sohn, Lazarus Bendavid (i 762-1832), Markus 
Herz (1747-1803), David Friedlander (1750-1834), 
widmeten sich nicht nur in ihren Schiiften, son- 
dem auch in ihrer gesellschaftlichen Existenz 
diesem Ziel. Markus Herz war Arzt, stand in 
nahen Beziehungen zu Kant, hielt Vorlesungen 
uber die Kantsche Philosophie und begriindete 
den ersten Salon in der jiid. Gesellschaft Berlins, 
der dank seiner Frau noch in der Berliner Ro- 
mantik eine bedeutende Rolle spielte. In David 
Friedlanders Schriften und Bestrebungen spricht 
sich das erwachende staatsbiirgerliche Selbst- 
bewufltsein der deutschen Juden aus. In seinem 
.Jerusalem" (1783) gab Mendelssohn die Be- 
griindung seiner jud.-orthodoxen Praxis. Er 
forderte Gedankenfreiheit im Namen der Hu- 
manitat, die orthodoxeste Beachtung des Rituals 
jedoch im Namen des Judentums. Kurz vor 
seinem Ende sah Mendelssohn seine exponierte 
Stellung durch einenVorstoB der mystischen christ- 
lichen Orthodoxie emstlich gefahrdet, die von Ja- 
cobi und Hamann vertreten wurde. 1 785 erschien 
F. H, Jacobis „Ober die Lehre des Spinoza in 
Briefen an den Herm Moses Mendelssohn". 
Jacobi sucht den Nachweis zu fuhren, der Deis- 
miis musse in Pantheismus ausmunden, und dies 
am Beispiele Lessings zu belegen. Mendelssohn 
starb, ohne die Drucklegung seiner Antwort 
„Moses Mendelssohn an die Freunde Lessings" 
noch zu erleben. 

Philosophisch bedeutender, als Erscheinung 
jedoch problematischer und in seiner Wir- 
kung auf die Zeitgenossen mit Mendels- 
sohn nicht vergleichbar, ist Salomon 
Salomon Maimon (1 754-1 800). Seme entschei- 
Maimon denden philosophischen Leistungen 
(„Versuch uber die Transzendental- 
philosophie" 1790, „Versuch einer neuen Lo- 
gik" 1794) schlieBen an Kant an, der Maimon 
als den bedeutendsten seiner Gegner bezeichnet 
hat. Die hochbedeutende Autobiographic „Sa]o- 
mon Maimons Lebensgeschichte, von ihm selbst 
geschrieben" wurde 1792 von Karl Philipp Mo- 
ritz herausgegeben und ist neben dessen „An- 
ton Reiser" und ,,Jung Stillings Lebenserinne- 
rungen" das wichtigste Dokument der ,,Er- 
fahrungsseelenkunde". 

Die Tendenz des Mendelssohn-Kreises war 
vorwiegend schongeistig und der Romantik, die 
Anfang des 19. Jhts. zur Macht gelangte, ganz 



besonders anstoflig. Politische und literarische 
Stromungen wirkten zusammen, um das zweite 
Jahrzehnt des 19. Jhts. fiir die Gesamtheit des 
deutschen Judentums zu einem Fiasko zu machen. 
Der Ruckschlag der Romantik, der uberall die 
Besinnung auf die nationalen Triebkrafte mit sich 
brachte, blieb dem Judentum vollig unverstand- 
lich. „Die jiid. Aufklarung war ja die unmittel- 
bare, natiirliche Fortsetzung der jiid. Gesetzlich- 
keit geworden, im Grunde schon in Moses 
Mendelssohn, vollends aber in dem sogenannten 
jiid. Liberalismus ; die religionsgesetzliche oder 
aufklarerische Vemunft hatte im Kampfe mit 
dem Eigenwillen nationalen Lebens gesiegt" 
(Ludwig Strauft). Nun kam eine Spaltung in die 
jiid. Aktivitat. Die einen suchten sich politisch 
von der deutschen Unterdriickung, dabei aber 
auch, wie Bruno Baur spaterhin es fordern 
oolite, vom Judentum zu emanzipie- 

Verein ren. Die anderen suchten das Juden- 

fur Kultur turn vor allem in sich selbst zu regene- 

und rieren. 1819 entstand in Berlin der 

Wissen- „Verein fiir Kultur und Wissenschaft 

schaftder der Juden'*, der die Pflege der 

Juden historisch-konservativen Richtung, die 
zwischen den Orthodoxen und Libe- 
ralen vermitteln sollte, zur Aufgabe hatte. 
Dieser legte auch' den Grund zu den Leistungen 
der jiid. Sprachphilosophen und Historiker, deren 
Werke dann um die Mitte des Jhts. erschienen. 
Sammelplatz dieser Leistungen war das „Archiv 
fur Volkerpsychologie", das von Lazarus und 
Steinthal begriindet wurde. In seinem Kom- 
mentar zu Humboldts sprachwissenschaftlichen 
Werken baute Steinthal die vergleichende sprach- 
wissenschaft nach der philosophischen Seite 
aus, wahrend Lazarus in monographischen 
Untersuchungen iiber „Das Leben der Seele", 
„Das Spiel" die Philosophie be- 
Zunz reicherte. Begriinder desVereins war 

Leopold Zunz (1794 bis 1886). 
1822 begann die „Zeitschrift fiir die Wissen- 
schaft des Judentums" zu erscheinen. Unter 
den Griindera des Vereins war neben Leopold 
Zunz der bedeutendste Eduard Gans (1798 bis 
1830); er zahlt zu den klassischen Vertretern 
der althegelscheu Schule und begriindete die 
,Jahrbiicher fiir wissenschaftliche Kritik", die 
sogenannte „Hegel-Zeitung", mit der er in 
Gegensatz zur historischen Schule von Savigny 
trat. Besondere Verdienste erwarb er sich durch 
die Herausgabe von Kegels „Vorlesungen uber 
die Philosophie der Geschichte" (1837). 

Weil die Juden als Liberale Individualisten 
waren, war ihr Geist nicht so sehr geschichtlich 
wie rationalistisch orientiert; dieses bestimmte ihre 
Stellung zum Judentum. Sie waren in der 



Juden in der deutsdien Kultur 



809 



Hauptsache darauf aus, jedem einzelnen deut- 
schen Juden das voile Burger- und Menschenrecht 
zu erkampfen; die Zukunft der jiid. Religion 
stand vielen schon in zweiter Linie, und voll- 
ends fehlte ihnen jedes Gefuhl fiir die Zukunft 
einer jiid. Nation, deren Bestehen sie leug- 
neten. So ist es erklarlich, dafi der Vor- 

Iaufer des Zionismus, Moses HeB 

Moses (1812-1875), in Abraham Geigers 

HeB „Judischer Zeitschrift fiir Wissen- 

schaft und Leben" als „ein fast ganz 
auBerhalb Stehender, am Sozialismus und aller- 
hand anderem Schwindel bankerott Gewordener" 
charakterisiert wird. Der Aufruf zum jiid. Na- 
tionalbewuBtsein, den HeB mit seinem Werke 
„Rom und Jerusalem" erlassen hat, ist real- 
politisch und philosophisch fundiert, letzteres 
starker als ersteres. Seine realpolitischen Hoff- 
nungen gehen auf ein franzosisches 3£andat iiber 
Palastina, seine philosophischen Analysen aber 
auf eine Metaphysik des Judentums zuriick, in 
der sich geschichtsphilosophische und politische 
Motive durchdringen. Die Ausnahmestellung 
und Mission des. Judentums sieht Hell in seinem 
Geschichtskultus, mit dem es in Gegensatz zu 
dem heidnischen Naturkultus aller iibrigen Volker, 
in Sonderheit aber dem der Griechen tritt, Ein 
besonders jiid. Denkmotiv stellt bei HeB die Unter- 
ordnung des kosmischen und des organischen 
Bereichs unter das sittlich-soziale dar. Er lehrt 
eine Hierarchie, in der der Kosmos zuunterst 
stent, ihm folgt das Organische. Auf diesem 
erst baut sich das Soziale auf. 

Die Gedankenwelt von HeB bezeichnet, wenn 
nicht den AbschluB, so doch den Hohepunkt der 
idealistisch gerichteten jiid. Philosophic in Deutsch- 

land. In schroffem Gegensatz zu 

Marx ihr — und nicht allein zu ihrer 

und idealistischen , sondern auch zu 

Lassalle ihrer nationalen Grundrichtung — 

steht die Begriindung der materia- 
listischen Geschichtsdialektik und des modemen 
Sozialismus durch Karl Marx (1 818-1883). Diese 
Lehre, welche explizit zuerst im „Kommunisti- 
schen Manifest" (1848) hervortritt, beruht auf 
einer Umkehrung des Hegelschen Dogmas. 
Wenn Hegel zum treibenden Faktor des Welt- 
geschehens den „objektiven Geist" machte, so 
sind fur Marx alle historischen Ereignisse und 
Vorstellungen, alle Politik, Philosophic, Religion 
entsprungen aus den materiellen okonomischen 
Lebensverhaltnissen der betreffenden Eppche. 
Nicht das BewuBtsein bestimmt das Sein der 
Menschen, sondem das Sein ihr BewuBtsein. Die 
Geschichte der Menschheit erscheint nunmehr 
als eine Folge von Klassenkampfen. 
Wahrend Marx von Hegel ausgeht, ist Lassalle 

1 Judika V 



(1825-1864) auch durch Fichte nachhaltig beein- 
fluBt. Er hat von Hegel den schopferischen ent- 
wicklungsgeschichtlichen Begrifif und vor allem 
seine Staatsauffassung uberaommen. Er war 
stolz darauf, die Herrschaft des spekulativen Be- 
griflfs wie auf juristischem Gebiete (in dem 
„ System der erworbenen Rechte" 1861), so auch 
(in „Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch, der oko- 
nomische Julian oder Kapital und Arbeit" 1864) 
auf dkonomischem nachzuweisen. Lassalles So- 
zialismus ist auch weiterhin national geblieben 
und hat ihn vorubergehend sogar an die Seite 
Bismarcks gefiihrt. Als Theoretiker tritt er gegen 
Marx zuriick. In seinem agitatorischen Haupt- 
werk, dem „OmienAntwortschreibenandasLeip- 
ziger Zentralkomitee zur Berufung eines deutschen 
Arbeiterkongresses vom 1. Marz 1863", ent- 
wickelt er sein beruhmtes „ehemes Lohngesetz" 

Der erste jiid. Philosoph des Jhts., der es zu 

offiziellem EinfluB und Ansehen in Deutschland 

brachte, zugleich einer seiner bedeutendsten 

Denker, war Hermann Cohen (1842 

Hermann bis 1918). Gestutzt auf Stadler und 

Cohen F. A. Lange, wurde Cohen der Be- 
griinder der neukantischen Schule 
(nach Cohens Lehrstuhl auch die „Marburger 
Schule" genannt). Grundmotiv seiner Philosophic 
ist die Sicherung der transzendentalen Frage- 
stellung gegen jedes psychologistische MiBver- 
standnis. Cohens Lehre ist strengster Idealismus. 
Seiner Weltanschauung nach verbindet Cohen die 
deutsche Humanitatsphilosophie einerseits mit 
einem ethisch fundierten, nichtsdestoweniger aber 
rigorosen Staatsgedanken, andererseits mit dem 
geschichtsphilosophisch fundierten, doch gleich- 
falls rigoros betonten jiid. Monotheismus. Cohens 
religionsphilosophisches Hauptwerk „Die Re- 
ligion der Vernunft aus den Quellen des Juden- 
tums" (19 1 9) konfrontiert das Judentum der 
Propheten mit der Welt des Mythos, um im jiid. 
Monotheismus die einzige streng mythenfremde, 
ethische Rehgion zU erkennen. Cohen ist nichts 
weniger als Intellektualist, wohl aber strenger 
Rationalist. Cohens Schiiler haben sich spaterhin 
von ihm fortentwickelt. Bemerkenswert ist Franz 
Rosenzweigs (1886- 1929) Versuch, dem rationa- 
listisch verstandenen Judentum Cohens eine 
ebenso streng gefiigte Philosophic des Judentums 
auf mystischer Grundlage entgegenzusetzen: „Der 
Stem der Erlosung" (1921). Ernst Cassirer 
(geb. 1874) hat nach philosophiegeschichtlichen 
Werken im Sinne der Marburger Schule es unter- 
nommen, den Bereichen des Mythos und der 
Sprache sich philosophisch zu nahera. 

Wenn Cohens Leistung die historische Vollen- 
dung einer groOen Denkbewegung, des deutschen 
Idealismus, ist, so dient die von Edmund Husserl 
33 



8ro 



Anhang 



(geb. 1859) der Begriindung einer fruchtbaren 
und einfluflreichen neuen Schule, der Phanomeno- 

logie. Gegen die idealistische Lehre 
Edmund vom reinen Erkennen, welches seine 
Husserl Gegenstande erzeuge, stellt Husserl 

die phanomenologische, derzufolge 
das Denken (wie ubrigens audi das sittliche 
Gefuhl, das Werten) die Sachverhalte vorfindet. 
Husserls Hauptwerk „Ideen zu einer reinen 
Phinomenologie und phanomenologischen Phi- 
losophic" (1913) macht sich zur Aufgabe, den 
logischen Prozefi darzulegen, welcher den For- 
scher von den empirischen zu den „ reinen" Ge- 
gebenheiten hinfuhrt. Solche sind ebensowohl 
in den Sinneseindriicken wie in den Wertungen 
ethischer oder asthetischer Art zu finden. Seine 
SchuJe hat die Darstellung „eidetischer" Sach- 
verhalte auf den verschiedensten Gebieten unter- 
nommen. Fur die Asthetik und fiir die Mathe- 
matik sind in dieser Hinsicht die Forschungen von 
Moritz Geiger (geb. 1880) grundlegend. 

Im Gegensatz zu all diesen antipsycholo- 
gistischen Schulen steht die Lehre von Georg 
Simmel (1858-1918). Seine charakteristische Dia- 

lektik steht im Dienste der Lebens- 
Georg philosophic und bemiiht sich urn einen 
Simmel psychologischen Impressionismus, der, 

systemfeindlich, der Wesenserkennt- 
nis einzelner geistiger Erscheinungen und Ten- 
denzen sich zuwendet. Man hat sich bemiiht, 
das Judische seines Philosophierens konkret zu 
fassen und seine Dialektik zu der halachischen, 
seine Virtuositat in der assoziativen Verbindung 
zu der Exegetik und seinen Symbolreichtum zur 
allegorischen Bibelauslegung in Beziehung zu 
setzen. 

Die Philosophic Georg Simmels bezeichnet 
bereits einen Ubergang von der strengen Kathe- 
derphilosophie zu einer dichterisch oder essay- 
istisch bestimmten. Unter den sehr zahlreichen 
jiid. Vertretem der letzteren zeichnet sich Sa- 
muel Friedlander (Mynona, geb. 1871) durch die 
eigentumlich zwischen dem orthodoxen Kantia- 
nismus und einer gewissermaJJen statischen Aus- 
formung der Dialektik schwebende Konzeption 
aus. Neben seinen philosophischen Werken 
schuf Friedlander audi den Typus der philo- 
sophischen Groteske. Bedeutend weiter entfemt 
vom philosophischen Schrifttum liegt, trotz seiner 
systematischen Form , OttoWeiningers (1880-1903) 
„Geschlecht und Charakter". Weiningers Den- 
ken stellt die nachhaltigste Explosion des 
jiid. Ressentiments dar, sein Werk will die 
geistigen DiflFerenzen der Geschlechter in ein 
System bringen. Es behauptet, der Weltan- 
schauung Platons, Kants und des Christentums 
am nachsten zu stehen. Unverkennbar ist der 



EinfluB von Richard Wagner. Das Fazit seiner 
Geschlechterphilosophie ist: „Das hochststehende 
Weib steht noch unendlich tief unter dem tiefst- 
stehenden Mann", und den Juden stellt er dem 
Weibe gleich. Unter den neuen deutschen 
Schriftstellem hat besonders Martin Buber das 
Judentum in den Mittelpunkt seines Denkens 
gestellt. Sein Lebenswerk baut sich in drei Krei- 
sen auf: dem des Erforschers der chassidischen 
Uberlieferung, dem des zionistischen Kampfers, 
dem des Denkers im engeren Sinne. Dem Buber- 
schen Kreise nahe steht Gustav Landauer (1870 
bis 1920). Er ist der bedeutendste deutsche Ver- 
treter eines radikalen, dabei antimarxistischen 
Syndikalismus („Aufruf zum Sozialismus" 1911). 
Er ist als Ubersetzer sowie Verf, einer Reihe von 
asthetischen Schriften, u. a. „ Shakespeare", 
(2 Bde. 1920) hervorgetreten. Sein 1928 erschie- 
nener Briefwechsel ist ein bemerkenswertes Do- 
kument zur politischen und Iiterarischen Zeit- 
geschichte. Die im Judentum so tief verwurzel- 
ten sprachphilosophischen Interessen werden in 
dieser Generation fiir Deutschiand von Fritz 
Mauthner (1849- 192 3) vertreten. Eine abseitige 
Stellung behauptet Constantin Brunner. Er 
bekampft die kantische Philosophie im Zeichen 
des Spinozismus; sein Hauptwerk ist „Die Lehre 
von den Geistigen und vom Volke" (1908). 
Unter den Denkem der jiingeren Generation 
ragt Ernst Bloch (s. Bd. IV, Sp. 855) hervor, 
dessen Hauptwerk „Geist der Utopie" (1925) 
mystische Erkenntnismotive mit einer marxi- 
stischen Staats- und Gesellschaftsphilosophie ver- 
bindet. 

Die Zuverlassigkeit der akademischen For- 
schung und die Leidenschaftlichkeit freien 
philosophischen Denkens vereinigen sich in 

Sigmund Freud (geb. 1856) zu einer 
Freud Figur von europaischem Rang. Freud 

hat kein Lehrsystem verfaBt; seine 
Psychoanalyse ging aus klinischen Versuchen 
hervor und trat im Laufe der Jahre schichtweise 
in einer Anzahl einzelner Schriften mit sehr ver- 
schiedenem Ausgangspunkt und starken Modifi- 
kationen zutage. Allen gemeinsam ist die Kom- 
bination rationalistischer Elemente mit einem 
erstaunlichen Tiefblick in die Bildwelten der 
Primiuven, des Traumes, der Ktinstler. Das 
groBe Anwendungsgebiet der Psychoanalyse ent- 
spricht dieser Grundlage. Sie hat die Medizin, 
die Ethnologie, die Padagogik genau so befruch- 
tet wie die religionsgeschichtliche und literar- 
geschichtliche Forschung; freilich auch noch 
nicht aufgehort in alien diesen Gebieten auf 
Widerstande, zumindest auf einschrankende Kri- 
tik zu stoflen. Einer der Hauptschuler und 
spaterer Gegner Freuds ist der Psychiater Alfred 



Juden in der deutsdien Kultur 



811 



Adler. Die Rolle der Sexualitat tritt bei den in 
seiner individualpsychologisch orientierten Auf- 
fassung vom seelischen Geschehen gegen die 
des Machttriebs („mannlichen Protests") zuriick. 

Auch in der Nationaldkonomie und der erst 
in den letzten Jahrzehnten zur Entwicklung ge- 
langten Soziologie haben Juden in D. vielfach 
Bedeutsames geleistet. Simmel darf 
National- als einer der Begriinder der deutschen 
dkonomie Soziologie bezeichnet werden. Starke 
Wirkung ubte Ludwig Gumplowicz 
aus. Von weitgehendein EinfluB ist die Wirksam- 
keit von Franz Oppenheimer gewesen, der, ur- 
spriinglich Mediziner, durch seine auch in der 
Form sehr wirkungsvoll dargestellten Anschau- 
ungen heftige Diskussionen hervorgerufen und 
die grofie Zahl seiner Werke durch ein zusammen- 
fassendes System der Soziologie gekront hat. In 
der jiingeren Generation der Soziologen sind zahl- 
reiche Juden vertreten, als Dozenten wie auch als 
freie Schriftsteller. 

2. In der Duhtung. Vor der Reihe der an 
der deutschen Dichtung mittatig gewesenen 
Juden, die seit der Emanzipationszeit zu ver- 
folgen ist, sind zwei fur sich stehende Er- 
scheinungen zu nennen: der jtid. Minnesanger 
SuBkind von Trimberg aus dem Anfang des 
13. Jhts. und der Apostat Johannes Pauli (eig. 
Pfeddersheimer, 1455-1530), der Verfasser der 
klassischen Schwank-, Exempel- und Predigten- 
sammlung „Schimpff und Ernst", — Die friihesten 
dichterischen Versuche der deutschen Juden 
stehen ganz im Zeichen der Emanzipations- 
bewegung, lehnen sich dabei aber eng an 
deutsche Vorbilder an. Der neuen Gehalte suchen 
sie sich zum Teil noch in hebr. Sprache zu ver- 
sichern. Aus dem Kreise um Mendelssohn ging 
die Zeitschrift „Meassef" hervor, in der man 
Oden auf Friedrich den GroBen, Josef II., Lud- 
wig XVI. findet, ebenso tJbersetzungen Lessing- 
scher, Gellertscher und Gleimscher Gedichte. 
Bald zeigt sich, dafl die literarische und kiinst- 
lerische Emanzipation der Assimilation mehr Vor- 
schub leistete, als die wissenschaftliche. Doro- 
thea Schlegel, die Tochter Moses Mendelssohns, 
trat zum Katholizismus uber, Henriette Herz trat 
in nahe geistige Beziehungen zu Schleiermacher. 
Unter den Salons, welche sich in den Kreisen der 
Emanzipierten bildeten, spielte Iiterarisch die 
groBte Rolle der von Rahel Varn- 

Rahel hagen. Ihr Mann war das Haupt der 
Varnhagen Berliner Goethegemeinde (Haupt- 
werke: „ Goethe in den Zeugnissen 
der Mitlebenden", 1823, „Rahel, ein Buch des 
Andenkens fiir ihre Freunde" 1834, „Tagebiicher" 
15 Bde. 1 86 1 -1905). Die beherrschenden Figuren 
unter den Kunstlem des Rahelschen Kreises sind 



Chamisso und Fouque\ Sich selber nannte Rahel 
„das Geschopf Goethes"; sie hat sich fiir Goethes 
Werk erfolgreich eingesetzt. Auch Heine hat im 
Kreise der Rahel verkehrt, und die Erinnerang 
an ihr „wohIbekanntes, ratselhaft-wehmiitiges, 
vemunftvoll-mystisches Lacheln" bewahrt. 

Weitgehendste Angleichung an die deutsche 
Dichtung der Zeit kennzeichnet das Schaffen von 
Berthold Auerbach. Seine Biicher enthalten die 

Parolendes Kulturjudentums, die noch 
Berthold lange an der Tagesordnung gebiieben 
Auerbach sind. Er hat sie vor allem in seiner 

Erstlingsschrift „Das Judentum und 
die neueste Literatur", weiterin der Abhandlung 
„Schrift und Volk" ausgegeben: „Das alte Reli- 
gionsleben geht von der Offenbarung, ,das neue von 
der Bildung aus"; „Die Religion muB Bildung 
werden". Diese Uberzeugungen geben seiner 
volkstumlichen Dichtung einen padagogischen 
Zug, mit welchem er sie den Hebelschen Erzahlun- 
gen anzugleichen versuchte. Neben den „Schwarz- 
walder Dorfgeschichten" Auerbachs stehen die 
gleichzeitigen b6hmisch-jud. Ghettogeschichten 
von Leopold Kompert (1822-1886), dessen Linie 

in der zweiten Jahrhunderthalfte 

Kompert durch Karl Emil Franzos (1848-1904) 

und aufgenommen wurde. Franzos hat 

Franzos nicht allein in seiner eigenen Produk- 

tion, sondern auch durch seine Ret- 
tung und Herausgabe von Georg Biichners Nach- 
laB sich um die deutsche Literatur hohe Ver- 
dienste erworben. In ahnlicher Weise wurde zur 
selben Zeit das Schaffen Friedrich Hebbels durch 
einen Kreis jiid. Literaten fordemd und anteil- 
nehmend begleitet. Hier sind in erster Reihe 
Sigmund Englander {gest. 1903) und Emil Kuh 
(1828-1876) zu nennen. 

Voiles Biirgerrecht gewann der jud. Schrift- 
steller im deutschen Sprachbereich mit Heinrich 
Heine (1 797-1856) und Ludwig Bome {1786 bis 

1837). Beide Autoren haben auch 
Heine nach ihremt)bertritt zur Staatsreligion 

und die Diskussion der menschlichen und 

B6rne staatsrechtlichen Stellung der Juden 

in Deutschland lebendig erhalten. Da- 
neben legitimierten sie sich, indem siediegleicher- 
weise in der jungdeutschen wie in der Assimila- 
tionsgesinnung angelegte Idealisierung der Presse 
zu literarischem Ausdruck brachten. Sie sind die 
Schopfer des deutschen Feuilletonismus. Haupt- 
charakteristika dieses Schrifttums sind: schran- 
kenlose Betonung der Subjektivitat ; kritische Hal- 
tung gegen die professorale Wissenschaft; scharfe 
BeUchtung aktueller Probleme. Dabei war Heine, 
namentlich in den AuBerlichkeiten der Darstel- 
lung, ein ausgesprochener Schiiler der Franzosen. 
Der Kultus der Ideen von 1789, der sich wahrend 
33* 



$12 



Anhang 



der Revolutionsjahre doch nur auf kleine Kreise 
der deutschen Gelehrtenwelt beschrankt hatte, 
wurde erst durch diese Publizistik in die Massen 
des Mittelstandes hineingetragen. Im Unter- 
schiede zu Borne aber ist Heine Zeit seines Lebens 
in der politischen Schriftstellerei durch sein 
Kunstlertemperament bestimmt worden; aus 
kiinstlerischen Motiven trat er fur Bonaparte 
gegen den Kommunismus ein. Bomes politische 
Haltung war weniger instinktsicher, aber konse- 
quenter. Er hatte gewiinscnt, dafi die Juden ihre 
tausendjahrige Geschichte vergafien und deutsche 
Manner wiirden. Sein Zerwurfnis mit Heine er- 
folgte, weil dieser nicht an die Vollkommenheit 
des deutschen Volkes (und an die Vorbildlichkeit 
des Lamennaisschen Katholizismus) glaubt. 

TJnter die Ausschaltung der Romantik, die die 
jud. Geistesgeschichte des 19. Jhts. bestimmt, 
setzt Heines und Bornes Schaffen das Siegel. Ihre 
Abwendung von romantischer Haltung war so 
drastisch, dafi Wolfgang Menzel, wenn auch ten- 
denzios, die jungdeutsche Losung dem Judentum 
zuzuschieben vermochte. Die Ironie war der 
einzige Bestandteil romantischen Wesens, der 
auch bei Heine noch uberdauert, ja in der Form 
des Judenschmerzes noch in der Literatur des 
Jahrhundertendes erscheint. Selbst so aber ist sie 
tiefer von der englischen Romantik Lord Byrons 
als von der theoretisch fundierten der Tieck oder 
Schlegel bestimmt. Heines Lyrik, so umstritten 
sie ist, zahlt zumindest in der letzten Lebens- 
periode, in den sogenannten Lazarusgedichten, 
Unverlier bares. Sein Zyklus „Die Nordsee" ist 
die erste lyrische Durchdringung der Meerland- 
schaft in der deutschen Dichtung. Heines Nach- 
wirkung ist nicht nur in reprasentativem Sinne, 
sondem auch durch die Diskussion seiner Er- 
scheinung folgenreich geworden, eine Diskussion, 
die auf ihren Hohepunkten von Juden gefiihrt 
wurde (Karl Kraus: „Heine und die Folgen" 
[1910], Rudolf Borchardt: „Ewiger Vorrat deut- 
scher Poesie" [1926]). Wahrend fur Heine die 
„Reisebilder" aus Deutschland, Frankreich, Ifa- 
lien, das wichtigste Medium der kritischen Tatig- 
keit waren, hat Borne in seinen Zeitschriften (Zeit- 
schwingen 1817, Die Wage 1821) die Kunstkritik 
zum Organe der Zeitkritik gemacht. AJs Schiiler 
der Aufklarung suchte Borne im Staat nur das 
Produkt eines contrat social. An die Stelle 
Goethes, den ei den „Mettemich der Poesie" 
nannte, suchte Borne Jean Paul zu setzen (Denk- 
rede auf Jean Paul [1825]). Seine AngrifFe sind 
in der Arrtigoethe- Literatur die einzigen gewesen, 
von denen eine nachhaltige Wirksamkeit ausging. 
In der groBen Charakteristik Bornes, die Heine 
nach Bornes Tode herausgab, stellt er ihn als 
den Nazarener, den Menschen mit asketischen, 



bildfeindlichen, vergeistigungssuchtigen Trieben, 
sich selbst als den hellenischen Menschen von 
lebensheiterem und realistischem Wesen gegen- 
tiber, 

Wahrend des Naturalismus trat das literarische 
Judentum Deutschlands zuriick. In diese Epoche 
fallt die publizistische Tatigkeit Max Nordaus, 

der mit seinen „KonventieIIen Lttgen" 
Natura- einen grofien Erfolg hatte. Im grofien 
lismus und ganzen begnugten die Juden sich 

damit, die neue Bewegung des Natura- 
lismus journalistisch und organisatorisch zu unter- 
stutzen. 1889 konstituierte sich in Berlin, von Otto 
Brahm (1856-1912) geleitet, unter dem Namen 
„Freie Buhne" eine Theatergesellschaft, die sich 
vorgesetzt hatte, das konventionelle franzosische 
Sittenstiick durch moderne Problemdramen zu 
verdrangen. Sehr viel nachhaltiger war die Ein- 
wirkung, vielmehr die Wechselwirkung, die 
sich zwischen der antinaturalistischen Bewegung 
um Stefan George und manchen jud. Kreisen 
ergab. Es war das Eigentumliche der deut- 
schen Situation seit der Judenbefreiung ge- 
wesen, dafi, ganz im Gegensatz zu Frank- 
reich und besonders England, das Juden- 
tum, soweit es schaffend oder eingreifend in deut- 
scher Sprache vortrat, dies stets in fortschritt- 
lichem, wenn nicht revolutionarem Sinne getan 
hatte. In dem Kreise, der sich um Stefan George 
im Laufe der 90- er Jahre bildete, bot sich den 
Juden zum ersten Mai die Moglichkeit, ihre kon- 
servativen Tendenzen in fruchtbare Beziehung 

zum Deutschtum zu setzen. Unter 

Der Kreis denen, welche Georges Lehre von der 

um Stefan priesterlichen Sendung des Dichters, 

George seinen Hinweis auf Nietzsche, Hol- 

derlin, Jean Paul, auch auf katholi- 
sches Erbgut, aufnahmen und kommentierend 
oder polemisch bekraftigten, stehen als Juden 
an erster Stelle Karl Wolfskehl (geb. 1869) und 
Friedrich Gundolf (geb. 1880). Ihr theoretisches 
Organ war anfangs das des Kreises „Blatter fiir 
die geistige Bewegung"; daneben trat Wolfskehl 
mit dunklen, spannungsreichen Versdichtungen, 
Gundolf mit literarhistorischen Werken (191 1) 
hervor. 

Aus dem Kreise Georges gingen femer hervor : 
Hugo von Hofmannsthal (1874-1929) und Rudolf 
Borchardt (geb. 1877 ; Hofmannsthal begann 

mit Versdichtungen und „Gedich- 

Hof- ten", die ihm eine Sonderstellung 

mannsthal in der deutschen Lyrik gegeben 

und haben. Man proklamierte ihn auf 

Borchardt Grund dieser Werke zum Fiihrer 

der „Neuromantik". Hofmannsthal- 
schem Schaffen steht das seines Freundes Beer- 
Hofmann (geb. 1866) nahe. In ihm spielen jiid. 



Juden in der deutschen Kultur 



8i 3 



Motive eine groflere Rolle, besonders in „ Jaakobs 
Traum" (1900). Rudolf Borchardt vertritt einen 
intransigenten Traditionalismus, der sich vorwie- 
gend auf den germanisch-angelsachsischen Kul- 
turkreis und auf mittelalterliche Elemente stutzt. 
Wie der Naturalismus mit Brahm sich die deut- 
sche Buhne eroberte, so die Neuromantik mit 
Max Reinhardt (geb. 1873). Sein Regiestil be- 
herrschte aber das Theater noch lange iiber die 
Dauer der Theater hinaus, mit denen sein Auf- 
stieg zusammenfallt. 

Die neue dsterreichische Prosa hat in ihren jiid. 

Autoren zugleich jiid. Gehalte auf sehr verschie- 

dene Art ausgepragt. Das fruheste Werk in der 

Reihe der neuen osterreichischen Ju- 

Oster- denromane ist Arthur Schnitziers 

reichische {geb. 1862) „Weg ins Freie" (1908). 

Schrift- In Osterreich lebt Jakob Wasser- 

steller mann (geb. 1873), der die Reihe 
seiner Romane mit den , Juden von 
Zimdorf" begonnen hat. In einer Reihe philo- 
sophisch orientierter Biicher hat Max Brod 
(geb. 1884) Probleme der jiid, Religiositat teils 
ausdruckJich, teils in verhullter Form, daneben 
audi solche des heutigen jiid. Alltags behan- 
delt. Max Brod ist der Herausgeber der nachge- 
lassenen Werke Franz Kafkas, von denen er sagt: 
„Obwohl in seinen Werken niemals das Wort 
jjude" vorkommt, gehoren sie zu den judischsten 
Dokumenten unserer Zeit". 

Eine ganz isolierte Stellung unter den Schrift- 
stellern seiner Generation behauptet der Wiener 
Karl Kraus (geb. 1874). Sein Werk liegt in den (bis 
heute 31) Banden der „Fackel" vor. Als Lyriker 
ist er mit acht Banden „Worte in Versen" (1916 ft) 
hervorgetreten. Fiir die komplexe Stellung des Ver- 
fassers zur Judenfrage bietet die ^Fackel" reich- 
liches Material. Der energischen Satire von Kraus 
steht die auBerlich sehr von ihr „ abstechende 
lyrische Moralistik von Peter Altenberg nahe. 
Altenberg ist weder Aphoristiker noch Lyriker, 
noch Satiriker. In seinen kurzen Skizzen aber 
durchdringen diese Elemente sich zu Gebilden 
von grofier Zartheit, Tiefe und Treffsicherheit. 
Der Wiener Schule gehort auch Stefan Zweig 
an, der als Novellist und Dramatiker da- 
neben auch als Essayist und Vermittler frem- 
der Literaturen hervorgetreten ist. 

Wenn bei den Autoren, welche der sogenann- 

ten neuromantischen Schule angehoren, die be- 

wufite jiid. Problematik zuriicktritt, so gilt dies 

nicht mehr vom Expressionismus, zu 

Expressio- dessen Wortfiihrern zahlreiche jiid. 

nismus Schriftsteller und Dichter zahlten. Die 

Angriffe gegen diese Richtung setzten 

fruhzeitig ein. Eine besondere Rolle spielte in 

ihnen Franz Werfels (geb. 1890) Abhandlung „Die 



christliche Sendung". In seinen Buchern „Der 
Weltfreund", „Wir sind" hat Werfel die Energien 
des Expressionismus der Lyrik zugeleitet. Die 
lyrische Grundform der expressionistischen Dich- 
tung ist die hymnische, wie sie in radikalster Ge- 
stalt von Alfred Mombert (geb. 1872) vertreten 
wird. Seine Gedichtfolgen sind religios-kosmische 
Hymnen. Jiidische Inhalte durchdringen die 
Lyrik von Else Lasker-Schuler. Ihre hebr. 
Balladen (1913) pragen biblische Figuren 
in einem Stil aus, in welchem Starrheit und 
Innigkeit einander zu unverwechselbaren Ge- 
bilden durchdringen. Unter den Dramatikern des 
Expressionismus behauptet Carl Sternheim (geb. 
1878) die Fuhrung; seine Komddien geben die 
expressionistische Kritik am deutschen Klein- 
burgertum. In der Prosa kam die letzte lite- 
rarische Bewegung, die der „neuenSachlichkeit u , 
am nachhaltigsten durch Alfred Doblin (geb. 
1878) zum Ausdruck. Die Neigung fiir das 
Dokumentarische hat neben dem sozialen Drama 
besonders den historischen Roman in den Vor- 
dergrund geriickt; hier ist Lion Feuchtwanger 
mit seinem Roman ,Jud SuB" zu nennen. 
Neben ihm steht als einer der Vertreter des 
Romans in der jungen Generation Arnold Zweig, 
dessen „Sergeant Grischa" einen der ersten Ver- 
suche, den Weltkri«g literarisch zu gestalten, 
darstellte, und dessen Stoffe sonst auch 
vielfach dem Judentum entnommen sind 
(„Die Sendung Semaels", eine Rituahnord- 
legende, u. a.). Neben unmittelbar fiihren- 
den Geistem stehen andere, deren Bedeu- 
tung in ihrer Mittlertatigkeit liegt, und unter 
denen der vielseitige und instinktsichere 
Moritz Heimann (1868-1925) hervorzuheben 
ist, Er hat als Berater des Verlegers S, 
Fischer (geb. 1859) lange einen, wenn auch un- 
auffalligen, so doch nachhaltigen Einflufr auf 
das deutsche Schriftum gehabt. Markanter ist 
naturgemaB die Auswirkung einiger wesentlich 
publizistischer Temperamente gewesen, unter 
denen Maximilian Harden (1861-1927), der 
Herausgeber der „Zukunft", und Alfred Kerr 
(geb. 1867), der Theaterkritiker des „Berliner 
Tageblatts", in erster Reihe stehen. 

g.-j. W. B. 



Walter Benjamin 
Gesammelte Schriften 

II. 3 

Herausgegeben von 
Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser 



Suhrkamp 



CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek 

Benjamin, Walter: 

Gesammelte Schriften / Walter Benjamin. 

Unter Mitw. von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem 

hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser. - 

[Ausg. in Schriftenreihe »Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft«]. - 

Frankfurt am Main : Suhrkamp. 

ISBN 3-518-09832-2 

NE: Tiedemann, Rolf [Hrsg,]; Benjamin, Walter: [Sammlung] 

[Ausg. in Schriftenreihe »Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft«] 

2. [Aufsatze, Essays, Vortrage] / 

hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhauser. 

3 .-(i99i) 

(Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 932) 

ISBN 3-518-28532-7 

NE:GT 



suhrkamp taschenbuch wissenschaft 932 

Erste Auflage 1991 

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1977 

Suhrkamp Taschenbuch Verlag 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das 

des offentlichen Vortrags, der Ubertragung 

durch Rundfunk und Fernsehen 

sowie der Ubersetzung, auch einzelner Teile. 

Druck: Wagner GmbH, Nordhngen 

Printed in Germany 

Umschlag nach Entwiirfen von 

Willy Fleckhaus und Rolf Staudt 

1 2 3 4 5 6 - 96 95 94 93 92 91 



Inhaltsiibersicht 

Zweiter Band. Erster Teil 

Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik .... 7 

Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien .... 89 

Literarische und asthetische Essays 235 

Zweiter Band. Zweiter Teil 

Literarische und asthetische Essays (Fortsetzung) . . . 407 

Asthetische Fragmente 599 

Vortrage und Reden 633 

Enzyklopadieartikel 703 

Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 741 

Anhang 

Juden in der deutschen Kultur 807 

Zweiter Band. Dritter Teil 

Anmerkungen der Herausgeber . . . 815 

Inhaltsverzeicbnis 1523 



Anmerkungen der Herausgeber 



zum inhalt Der zweite Band enthalt das - im engeren und weite- 
ren Sinn - essayistische oeuvre Benjamins. In ihm finden sich zum 
einen jene Arbeiten einigermafien vollstandig versammelt, welche den 
Essay in der spezifisch philosophisdi-literarischen Form reprasentie- 
ren, dessen Gesetze vom friihen Lukics und, pragnanter sowie aus- 
driicklich im Hinblidk auf Benjamin, von Adorno kodifiziert wurden. 
Zum andern aber umfafit der Band auch solche Texte, die entweder 
thematisch den eigentlichen Essays Benjamins verwandt sind - so 
etwa die von den Herausgebern als »Asthetische Fragmente« vereinig- 
ten -, oder die jenen dem Formaspekt nach nahestehen; das ist zum 
Beispiel bei den Vortragen und den kulturpolitischen Artikeln der 
Fall. Zusammen mit den grofien Abhandlungen, die im ersten Band 
abgedruckt sind, stehen die Arbeiten des zweiten Bandes fiir die 
emphatisch verstandene Theorie Benjamins ein: denjenigen Teil seines 
Werkes, den er selber bis zuletzt als Philosophic - seine Philosophic - 
reklamierte, sosehr und gerade weil diese von aller iiberkommenen 
Schulphilosophie sich gelost hatte und schliefilich zu ihr in unversohn- 
lidien Widerspruch getreten war. Xufierlich haben dagegen die Texte 
des zweiten Bandes die Form oft mit denen des dritten und vierten 
Bandes gemeinsam: die kurze Prosaform, der sie sidi im Gegensatz zu 
den meisten Arbeiten des ersten Bandes bedienen und zu welcher 
Benjamin, der nur selten die Moglichkeiten fiir ausgreifendere Arbei- 
ten erhielt, zunachst zwar aus okonomischen Griinden gezwungen war, 
mit der er indessen »aus der empirischen Not seine intelligible Tu- 
gend« zu machen verstand. »Die Grenze zwischen dem Literaten 
und dem Philosopher hat er aus prinzipiellen Griinden nicht re- 
spektiert (Theodor W. Adorno, t)ber Walter Benjamin, hg. von Rolf 
Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, 16). So umfafit der zweite Band 
in mancher Hinsicht Benjamins charakteristischeste Schriften iiber- 
haupt. 

An den Anfang des Bandes stellten die Herausgeber die »Friihen 
Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik«. In dieser Gruppe, bei der 
eine Differenzierung nach Kriterien der literarischen Form nicht vor- 
genommen wurde, erscheint der chronologisch-thematische Zuord- 
nungsprimat deshalb gerechtfertigt, weil es sich um die den ganz jun- 
gen Benjamin kennzeichnende Gruppe von Texten handelt, die sich 
der durchgangigen Intention des darin Verhandelten nach drastisch 
genug von den reifen Arbeiten des Autors abhebt, und fiir die For- 
men- und Gattungskriterien, obwohl keineswegs irrelevant, doch nicht 
das konstitutive Gewicht besitzen, das die nach 19 14 entstandenen 
Arbeiten Benjamins bestimmt. (Eirie Ausnahme bildet Benjamins Be- 
sprechung eines Buches von Lily Braun, die inhaltlich zu den » Friihen 
Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik« gehort, jedoch, als Rezen- 



8 1 8 Anmerkungen 

sion, im dritten Band der Ausgabe abgedruckt ist.) - Die zweite, 
von den Herausgebern »Metaphysisch-geschichtsphilosophische Stu- 
dien« iibersdiriebene Gruppe des Bandes schlofi sich fast selbsttatig 
durch vorab inhaltlich-thematische Gemeinsamkeiten, zumindest die 
begrifFlich insistente Behandlungsart zusammen. Die dironologische 
Abfolge dieser Texte dokumentiert die langsame, aber stetige Ent- 
wicklung von Benjamins originarem Denken in jeweils adaquater, in 
ihrer Gesamtheit iiberaus reicher Formgebung, die gleichermafien 
souveran den traditionellen wissenschaftlichen Aufsatz beherrscht wie 
uber eine brouillonartige Fragmentenform verfiigt, deren Herkunft 
aus der deutschen Friihromantik offenkundig ist. Die an erster Stelle 
abgedruckte Metapbysik der Jugend hatte fraglos audi unter den 
»Friihen Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik« ihren Platz finden 
konnen; die Herausgeber zogen vor, mit ihr die zweite Gruppe von 
Texten einzuleiten, weil hier der fruheste emphatisch-philosophisch 
intendierte, ob audi in ansprudisvollen literarischen Formen ver- 
wirklichte Versuch Benjamins vorliegt. - Der ubrige, dem Umfang 
nach gewichtigste Teil des Bandes, in dem die zahlreichen literarisdi- 
asthetischen Texte Benjamins anzuordnen waren, erforderte einen 
gesdiarften Blidc auf die Formgebung des Autors, Vor allem durdi 
diese Arbeiten steht Benjamin unverwediselbar in der Tradition des 
modernen, den Sadien intentione recta zugewandten philosophischen 
Gedankens; sein Unverwechselbares aber bezeugt sich nicht zuletzt 
an der Vielfaltigkeit der Darstellungsmodi und der Formwahl, die 
dem Gedanken wie der Sache auf stets wediselnde Art das Ihre zu 
geben bemtiht war. Weil fiir Benjamin die Darstellung vom Darzu- 
stellenden unablosbar ist, ergab sich fiir die Herausgeber als eine ihrer 
vornehmlichsten die Aufgabe, bei der Anordnung seiner Schriften die 
Vielfalt der Benjaminschen Formgebung moglichst deutlich hervor- 
treten zu lassen; gerade diese - unter alien moglichen Gesichtspunk- 
ten nur zu leicht fortzuwischende oder angesichts des herrschenden 
Methodenprimats uber Sadie und Ausdruck gar nicht erst sichtbar 
werdende - Seite der Benjaminschen Produktion herauszustellen. 
So unterlag es fiir die Herausgeber keinerlei grundsatzlichem, wenn 
audi im Einzelfall vorkommendem Zweifel, dafi die literarisch-asthe- 
tisdien Arbeiten Benjamins objektiv, von sich aus in die Gattungen 
der »Essays«, der »Xsthetischen Fragmente«, der »Vortrage« und 
der »Kulturpolitischen Artikel« sich einteilen lassen. Um freilich 
die Gliederung des Bandes durdi eine zu stark differenzierende 
Gruppenbildung nicht uniibersiditlich zu machen, sind unter die 
»Literarisch-asthetischen Essays* audi wissenschaftlidie Aufsatze wie 
der uber Eduard Fuchs aufgenommeri worden; die kommentieren- 
den Versuche uber Werke von Brecht stellen gleichfalls keine Essays 



Anmerkungen 819 

im strengen Sinn dar. Erne Anzahl kiirzerer, inhaltlich aufierst be- 
lasteter Texte zu asthetisdien Fragen wollte sich dagegen den 
» Essays « entschieden nicht einfiigen. Obwohl teilweise als Gelegen- 
heitsarbeiten entstanden, handelt es sich hier um Paradigmata jener 
» Asthetisdien Fragmente«, wie sie seit Friedrich Sdilegel zum sub- 
stantiellen Formenkanon einer Kunst- und Literaturreflexion rechnen, 
zu der Benjamin, der Metaphysiker der Kunst und der Literatur, die 
tiefste Affinitat besafi. Die aquivoke Nomenklatur, mit der diese 
Fragmente als »asthetisdie« bezeichnet werden, soil sie von den un- 
vollendeten, bruchstuckhaften, den Fragmenten im Wortsinn sondern, 
die in den Banden 5 und 6 der Ausgabe abgedruckt werden. - Ben- 
jamins »Vortrage und Reden« geben seinen eigentlich theoretisdien 
Arbeiten zwar nidits an Strenge des Gedankens und nur wenig an 
Prazision des Ausdrucks nach, sind aber eben rhetorisch realisiert oder 
zumindest konzipiert: gerade das sdiien den Herausgebern hervor- 
hebenswert und eine eigene Gruppe zu fordern. - Bei den »Kultur- 
politisdien Artikeln und Aufsatzen«, deren propagandistischer, di- 
daktisdier Zweck auf der Hand liegt, pragte dieser zugleich die argu- 
mentativen und sprachlidien Mittel so deutlich, dafi audi sie mit den 
anderen Texten nidit zusammengeworfen werden durften. - Dem 
fiir die Grofie Sowjetenzyklopadie geschriebenen Goethe-Artikel 
schliefilidi war, als einem Enzyklopadieardkel, eine gesonderte Stelle 
einzuraumen. 

Innerhalb der einzelnen Gruppen des Bandes wurden die Texte chro- 
nologisch angeordnet. Soweit das Entstehungsdatum ermittelt werden 
konnte, ist dieses fiir die Einordnung mafigeblich. Bei einer Reihe der 
von Benjamin selbst publizierten Arbeiten mufite an die Stelle der 
Entstehungschronologie die der Erstveroffentlichung treten, deren 
Zeitpunkt jedoch von dem des Absdilusses der Niederschrift in aller 
Regel nicht weit abweicht. Die zu Benjamins Lebzeiten ungedruckt 
gebliebenen und audi in Briefen nicht erwahnten Texte mufiten von 
den Herausgebern datiert werden; oft konnten sie dabei auf Angaben 
Gershom Scholems sidi stiitzen. 

Eine 191 1 gedruckte Arbeit Die freie Schulgemeinde war trotz jahre- 
langer Suche nicht mehr aufzufinden und mufi derzeit als verschollen 
gelten; der Text hatte wahrscheinlich die zweite der »Friihen Arbei- 
ten zur Bildungs- und Kulturpolitik« gebildet. Aus anderen Griinden 
sind audi die »Vortrage und Reden« unvollstandig. Eine Reihe von 
Radiovortragen Benjamins diirfte endgiiltig verloren sein, andere 
dagegen sind in der Akademie der Kiinste der Deutschen Demokrati- 
schen Republik, Berlin (Ost), vorhanden, den Herausgebern aber lei- 
der unzuganglich. Von diesen letzteren gehorten mindestens zwei - 
der eine iiber Thornton Wilders »Cabala«, der andere iiber das Buch 



820 Anmerkungen 

»Gott in Frankreich« von Friedrich Siebur*g - moglicherweise audi 
die Texte KinderliteratHr und Andre Gide, Vortrag und Vorlesung 
sowie ein Vortrag Pariser Kopje in den vorliegenden Band. 

2um text Die der kritischen Textdurchsidit zugrundeliegenden 
Prinzipien werden im »Editorischen Bericht« iiber die Ausgabe dar- 
gestellt (s. Bd. i, 771-783); fur den Benutzer des vorliegenden Bandes, 
der diesen Beridht nicht zur Hand hat, werden im folgenden die not- 
wendigsten Angaben pauschal wiederholt. 

Die Orthographie der Druckvorlagen ist von den Herausgebern zu- 
riickhaltend, aber durchgangig dem heutigen Gebrauch angeglichen 
worden. Davon ausgenommen blieben Normalisierungen, die den 
Lautstand verandert hatten, sowie Benjamin eigentiimliche Besonder- 
heiten der Rechtschreibung. - Bei der iiberaus schwankenden Inter- 
punktion ersduen eine Normalisierung oder audi nur VereinheitH- 
chung unzulassig. Benjamin interpungierte so eigenwillig wie un- 
methodisch, jede Vereinheitlichung wurde den Charakter seiner Texte, 
vor allem der zwisdien 191 3 und 1923 entstandenen, nicht unerheb- 
lich verandern. Deshalb wurde grundsatzlich die Zeichensetzung der 
jeweiligen Druckvorlage beibehalten. Nur in seltenen Fallen, in denen 
es Miflverstandnisse des Sinns auszuschliefien gait, audi in Anglei- 
chung an eine in einem bestimmten Text vorwaltende Interpunktions- 
tendenz, haben die Herausgeber gelegentlich ein Komma gestrichen 
oder erganzt. - Zitate, Zitatnachweise und Verweise in den Arbeiten 
des Bandes sind nach Moglichkeit gepriift und, wo notig, korrigiert 
worden. Nachweise wie audi Verweisungen handhabte Benjamin 
unterschiedlich, fast stets jedoch abweichend von den im Wissenschafts- 
betrieb eingesdiliffenen Verfahren. Die Herausgeber respektierten 
selbstverstandlich die Benjaminschen Eigenheiten. Voneinander ab- 
weichende Bibliographierungen innerhalb einer Arbeit normierten sie 
allerdings nach Mafigabe des jeweils iiberwiegenden Vorkommens. 
Audi sind die Anmerkungen einheitlidi fiir jede Arbeit durchgezahlt 
und als Fu&ioten gebracht worden, unabhangig davon, ob die Druck- 
vorlagen ebenso verfahren, ob sie seitenweise numerieren oder ob sie 
die Anmerkungen am Schlufi des betreffenden Textes zusammenstel- 
len. - Hervorhebungen Benjamins in seinen Arbeiten wurden durch 
Kursivdruck wiedergegeben. In einigen Texten, die urspriingiich in 
Zeitungen oder Zeitschriften publiziert wurden, finden sich audi Be- 
grifTe, Namen oder Buchtitel durch Kursivierungen oder Sperrungen 
hervorgehoben; da es hierbei um typographisdie Usancen von Redak- 
tionen sich handelt, sind sie von den Herausgebern meistens getilgt 
worden. Beibehalten wurden solche Hervorhebungen dort, wo nicht 
auszuschlieften war, daft Benjamin sie beabsichtigte, insbesondere 



Anmerkungen 821 

wenn sie audi in Manuskripten oder Typoskripten sidi finden oder 
besserem Verstandnis dienlidi sind. 

Die beschriebenen Korrekturen wurden im allgemeinen stillschweigend 
vorgenommen, ebenfalls die Berichtigung von eindeutigen Druck- 
fehlern und Irrtiimern. Alle Einfiigungen, welche die Herausgeber in 
Benjamins Texten vornahmen, finden sich in Winkelklammern < ) ge- 
setzt. Konjekturen und Emendationen, die iiber Druckfehlerkorrek- 
turen und orthographisdie Besserungen hinausgehen und zu denen die 
Herausgeber nicht selten gezwungen waren, werden in jedem Fall im 
Apparatteil des Bandes ausgewiesen. 

2um apparat Fur die Einrichtung des Apparates mufi gleichfalls 
auf den »Editorischen Bericht« verwiesen werden (s. Bd. 1, 789-795). 
Dort wird der Benutzer audi iiber die Quellen und Materialien infor- 
miert, welche den Herausgebern der Ausgabe zur Verfugung standen 
(s. Bd. i, 758-766). 

Im gesamten Apparat erfolgen Verweise auf die »Gesammelten 
Sdiriften« nur mit Band- und - soweit schon moglich - Seitenangabe; 
Verweise, die lediglich eine Seitenangabe enthalten, beziehen sich stets 
auf den vorliegenden zweiten Band der »Gesammelten Schriften«. 
Der abkiirzende Nachweis »Briefe« bezieht sidi auf die Ausgabe: 
Walter Benjamin, Briefe, herausgegeben und mit Anmerkungen ver- 
sehen von Gershom Sdiolem und Theodor W. Adorno, 2 Bde., Frank- 
furt a. M. 1966. Zitate aus unveroffentlichten Briefen Benjamins wer- 
den mit Datum und Empfangernamen nachgewiesen. In der Mehrzahl 
sind solche Briefe im Frankfurter Benjamin-Archiv in Abschriften oder 
Photokopien vorhanden. Max Horkheimer gewahrte noch zu seinen 
Lebzeiten den Herausgebern uneingeschrankten Einblick in seine 
Korrespondenz mit Benjamin. Audi die Briefwechsel Benjamins mit 
Theodor W. Adorno und Gretel Adorno standen samtlich fiir die 
Ausgabe zur Verfugung. Dem entstehungs- und publikationsgeschicht- 
lichen Teil des Apparats, der sich vorab auf die Briefe von Benjamin 
und an ihn stiitzt, sind Grenzen zumal dadurch gesetzt, dafi der in 
der DDR befindliche Teilnachlafi Benjamins mit den seit 1933 an ihn 
gerichteten Briefen von den Herausgebern nicht eingesehen werden 
konnte. Dariiber hinaus weist dieser Apparatteil eine gewisse Unein- 
heitlichkeit auf, weil im Verlauf der Arbeit an der Edition der »Ge- 
sammelten Schriften« eine erhebliche Anzahl von einschlagigen Briefen 
neu aufgetaucht ist. So standen etwa die Briefe Benjamins an Sieg- 
fried Kracauer, in denen mahche Hinweise auf die in der »Frank- 
furter 2eitung« gedruckten Texte - die iiber wiegend in den 1972 
erschienenen Banden 3 und 4 der »Gesammelten Sdiriften« enthalten 
sind - zuerst fiir den 1974 erschienenen Band 1 zur Verfugung. Die 



822 Anmerkungen 

Ausziige aus vorher ungedruckten Briefen Benjamins an Scholem, 
welche dieser 1975 in seinem Budi » Walter Benjamin - die Geschichte 
einer Freundschaft« veroffentlichte, konnten sogar erst fur den vor- 
liegenden Band benutzt werden. 

Der enge Rahmen von Entstehungs- und Publikationsgeschidite der 
einzelnen Arbeiten Benjamins, den die Herausgeber sich gesetzt haben, 
ist in einem Fall (s. 824-888) gesprengt worden: die Herausgeber gin- 
gen davon aus, dafi es dem Benutzer der Ausgabe willkommen sein 
wiirde, fiir die bis 1914 entstandenen Arbeiten Benjamins zu Ideologic 
und Organisation der heute nur nodi Experten vertrauten deutschen 
Jugendbewegung detailliertere Informationen sowohl iiber die bio- 
graphischen Umstande, unter denen Benjamins Texte geschrieben wur- 
den, als auch iiber die allgemeineren zeitgeschichtlichen Voraussetzun- 
gen dieser >Bewegung< zu erhalten, von der manche Tendenzen in 
jener spateren aufgingen, die 1933 Benjamin aus Deutschland vertrei- 
ben sollte. 

Im Anschlufi an Entstehungs- und Publikationsgesdiidite der einzel- 
nen Arbeiten folgt im Apparat ein Teil, in dem - soweit im NadilafS 
vorhanden - Schemata, Entwiirfe und Vorstufen abgedruckt werden, 
die fiir eine Variantenverzeichnung ungeeignet, aber gleichwohl von 
besonderer Bedeutung sind. Diese Gruppe von Texten, die nicht zu- 
letzt fiir Benjamins Arbeitsweise aufschluftreich ist, weist im Manu- 
skript zahlreiche Streichungen auf: alles von Benjamin Gestrichene 
findet sich im Abdruck in geschweifte Klammern { } gesetzt. In aller 
Regel bedeuten solche Streichungen nicht, dafi Benjamin die betref- 
fenden Formulierungen und Absdinitte als unhaltbar preisgegeben 
hatte. Vielmehr handelt es sich meistens um Passagen, die im weiteren 
Verlauf der Arbeit an einem Text ihre verbindliche Formulierung und 
ihren endgultigen Platz gefunden haben und deshalb in der jeweiligen 
Vorstufe gleidisam abgehakt, als >erledigt< gestrichen worden sind. 
In dem Apparatteil »Oberlieferung« werden samtliche Abdrucke, 
Typoskripte und Manuskripte verzeichnet, die fiir die Textherstel- 
lung benutzt wurden. Dabei sind Abdrucke in Biichern mit a gekenn- 
zeichnet, Zeitsdiriften- und Zeitungsabdrucke erhalten die Sigle J, 
Typoskripte die Sigle T und Manuskripte die Sigle M, Abschriften 
von dritter Hand schliefilich werden durch t, bzw. m kenntlich 
gemacht. Ein hochgestelltes BA hinter der Sigle J bezeichnet Zeit- 
schriftenabdrucke, die sich im Benjamin-Archiv Theodor W. Adorno, 
Frankfurt a. M., in von Benjamin handschriftlich korrigierten Exem- 
plaren befinden. Entsprechend bezeichnet ein hochgestelltes SSch von 
Benjamins Hand korrigierte Abdrucke in der Sammlung Gershom 
Scholems in Jerusalem. - Die dem Abdruck in dieser Ausgabe zu- 
grundegelegte Fassung wird als »Druckvorlage« ausgewiesen; bei 



Anmerkungen 823 

Texten, die nur durdi einen Zeugen iiberliefert sind, entfallt eine 
gesonderte Angabe der Druckvorlage. 

In den Apparatteilen »Lesarten« und »Nachweise« werden die Seiten- 
zahlen des vorliegenden Bandes durch halbfetten Druck hervorgeho- 
ben. Die jeweils folgende Ziffer bezieht sich auf die Zeilenzahl der 
betreffenden Seite; gezahlt werden alle bedruckten Zeilen mit Aus- 
nahme des Kolumnentitels. - Im Nachweisteil werden die Fundorte 
der von Benjamin selbst nidit nachgewiesenen Zitate angegeben, 
soweit die Herausgeber sie zu identifizieren vermochten. Wenn mog- 
lich werden soldie Zitate nach der Ausgabe zitiert, die Benjamin 
wahrscheinlidi benutzt hat oder hatte benutzt haben konnen, d. h. 
in erster Linie nadi einer, die er in anderen Arbeiten nachweislich 
benutzte. Sind derartige Ausgaben nidit bekannt oder nidit zugang- 
lich gewesen, wurde auf verbreitete neuere, moglichst kritische Edi- 
tionen zuriickgegriffen. Vor nicht nachgewiesenen Zitaten versagte 
das Findergliick der Herausgeber, gelegentlich audi das begrenzte 
BiicherbescharTungswesen der dffentlichen Bibliotheken. Einige von 
Benjamins Zitaten freilich sind keine, sondern durch Gedachtnistau- 
schungen bedingte eigene Formulierungen. 



7-87 Fnihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 

Ober Benjamins » Verhaltnis zur eigenen Generation* schrieb Adorno, 
es habe sich »an einer hochst unerwarteten S telle, wahrscheinlich aus 
lebensgeschichtlichen Griinden«, kristallisiert: »seiner Zugehorigkeit 
zur Wickersdorfer Freien Sdiulgemeinde«. Der junge Benjamin »war 
aktiv in der Jugendbewegung, und zwar in deren radikalstem Flugel; 
vor 19 14 iibte wohl Gustav Wyneken uberhaupt den starksten Ein- 
fluft auf ihn aus. Seine Rolle dort war erheblich; zeitweise war er 
Vorsitzender der Berliner Freien Studentenschaft. An den heute kaum 
mehr ganz rekonstruierbaren Richtungskampfen war er maftgebend 
beteiligt, ebenso an der Institution der sogenannten >Sprechsale<. Man 
wird bei einem unwillkiirlich, durchs erste Wort, das er sdirieb, so 
unkonformistischen Denker wie Benjamin die Paradoxic nicht iiber- 
sehen, dafl er nicht zu den individualistischen Riditungen der dama- 
ligen Moderne sondern zu kollektivistischen tendierte. Wohl wird man 
sich vergegenwartigen miissen, dafi jener radikale Flugel der Jugend- 
bewegung, im Gegensatz zur Majoritat, die schon friih dem Antisemi- 
tismus anhing, iiberwiegend aus jungen jiidischen Intellektuellen be- 
stand. Dariiber hinaus mochte das Leiden an einer Einsamkeit mit- 
spielen, zu welcher Benjamin seine exzeptionelle und in anderen 
Rancune weckende Anlage verurteilte. Grofi war seine Sehnsucht, in 
Gemeinschaften sich einzufiigen, neuen Ordnungen, audi praktisch, zu 
dienen. Sein Drang dahin bereitete, formal, in seiner Jugend eine 
Richtung, die spater sich politisierte. In seinem Verhaltnis zur Ju- 
gendbewegung freilich kam rasch das Vergebliche der Pseudomorphose 
zutage. DafS Benjamin sich mit fast alien seinen Freunden aus jener 
Periode uberwarf, ist kaum psychologisch zu nehmen, sondern als 
Zeugnis der Unvereinbarkeit seines geistigen Naturells mit eben den 
Zwangen, die er doch suchte. Wo man den friihen Benjamin vermutet 
hatte, bei den jungen Literaten, dort war er nicht zu finden: er nahm 
seine Superioritat vorweg, ehe sie ganz sich realisierte. Statt dessen 
hing er einer Gruppe an, in die er kaum recht nineinpafite; doch nur, 
um zu erfahren, wie wenig er hineinpafite, im Sinn des Satzes aus 
der >Berliner Kindheit<, dafi er nicht einmal mit der eigenen Mutter 
eine Front hatte bilden mogen. Das bestarkte ihn vollends in seiner 
idiosynkratischen Verhaltensweise und hielt ihn von den literarischen 
c^nacles fern. Er war nicht das Talent, das in der Stille sich bildet, 
aber das Genie, das, verzweifelt gegen den Strom schwimmend, zu 
sich selbst kam. Alle geistigen Tendenzen seiner Jugendjahre hat er 
reflektierend in sich aufgenommen, an ihnen sich gebildet, keiner ist 
er zuzurechnen gewesen. Wahrend sein Genius zu tief und von allzu 
kritischer Selbstbesinnung war, um sich zu isolieren, so war er zugleich 



Anmerkungen zu Seite 7-87 825 

zu stark, urn sich zu akkommodieren, selbst wenn er es je gewollt 
hatte.« (Adorno, Ober Walter Benjamin, a. a. O., yj f.) Die Anfange 
von Benjamins literarisch-theoretischer Produktion, die in die letzten 
Jahre vor Ausbruch des ersten Weltkriegs fallen, sind so unstreitig 
engagierte Literatur, wie es mifiverstandlich ware, sie deshalb um- 
standslos der deutsdien Jugendbewegung zuzurechnen. Jener >radi- 
kalste Fliigel< derselben, der durch den Mitarbeiterkreis der 191 3 
und 19 14 unter den Auspizien von Wyneken herausgegebenen Zeit- 
schrift »Der Anfang« gebildet wurde und dem Benjamin angehorte, 
verblieb stets an der Peripherie der Gesamtbewegung und Benjamin 
xiberdies innerhalb seiner eher isoliert. Auf der anderen Seite aber 
scheinen die Aufsatze, Vortrage und Polemiken, die der Schuler und 
junge Student der Philosophic zwisdien 191 1 und 19 16 publizierte, 
dem Blick, der von seinen spateren Schriften her auf sie sich richtet, 
audi exterritorial im Werk Benjamins zu stehen: wohl hat dieser »alle 
geistigen Tendenzen seiner Jugendjahre [. . .] reflektierend in sich 
aufgenommen«, aber fast nirgends an die Motive und Intentionen 
seiner Fruhschriften unmittelbar angekntipft. Von ihnen - zum Teil 
iiberaus ambitionierten philosophischen Versuchen - gilt bereits heute, 
was Benjamin in der Wahlverwandtschaftenarbeit iiber Kunstwerke 
schrieb: Mehr und mehr wird fiir jeden spateren Kritiker die Deutung 
des Auffallenden und Befremdenden, des Sachgebaltes, [. . ./ zur 
Vorbedingung. (Bd. 1, 125) - Ohne den Anspruch der Kritik oder der 
Deutung zu erheben, seien im folgenden Materialien zu den zeit- und 
lebensgeschichtlichen Voraussetzungen mitgeteilt, die ein Verstandnis 
der Benjaminschen Fruhschriften erleichtern durften. 

Jugendbewegung, Landerziehungsbeim, Freie Schulgemeinde 

Kaum ist es ein Zufall, daft Benjamin dort, wo er den Begriff Jugend- 
bewegung uberhaupt benutzte, ihn in distanzierende Anfiihrungszei- 
chen setzte (s. Brief e, 112, und Walter Benjamin, Berliner Chronik, 
hg. von Gershom Scholem, Frankfurt a. M. 1970, 40; auch Bd. 6): 
in dem breiten, triiben Strom neokonservativen Denkens, der vom 
Wandervogel iiber die Freideutsche zur Bundischen Jugend sich hin- 
zog, ist er nicht mitgeschwommen. Obwohl er wahrend seiner Schul- 
zeit mit Freunden Fuflwanderungen zu machen pflegte - in Tage- 
biichern bediente er sich gern des Ausdrucks der Fahrt (s. April 191 1 
Thuringen, Bd. 6), der charakteristisch fiir das Vokabular des Wan- 
dervogels ist -, hat er doch keiner Gruppe des Wandervogels an- 
gehort, der seit seiner Griindung im Jahr 1896 bis etwa 1910 inner- 
halb der Jugendbewegung dominierte. Deren zweite Phase wurde be- 
stimmt durch den Zusammenschluft einer Reihe kleinerer Jugend-, 



$i6 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Schul- und Studentengruppen mit Wynekens Freier Schulgemeinde 
Wickersdorf zur sogenannten Freideutsdien Jugend; vom 10. bis 12. 
Oktober 191 3 feierte man die Vereinigung als Ersten Freideutsdien 
Jugendtag auf der Burg Hanstein und auf dem Hohen Meifiner bei 
Kassel. Benjamin scheint an der Feier teilgenommen zu haben, uhter- 
warf jedoch die nationalistischen und antisemitischen Tone, die bei 
ihr laut wurden, sogleich scharfer Kritik (s. 66 f.). Als Anfang Marz 
1914, auf einer »Fiihrertagung« in Marburg, die Mehrheit der Frei- 
deutsdien Jugend die von Wyneken bestimmten Gruppen - die Wik- 
kersdorfer Freie Schulgemeinde, die Gruppe um den »Anfang« und 
den Berliner »SprechsaaI« - schon wieder ausschlofi, empfand Ben- 
jamin dies Vorgehen zwar als schmahlido, hatte aber selbst bereits be- 
gonnen, von Wyneken sidi zu losen (s. Brief e, no). Der Ausbruch des 
Krieges im Herbst 1914 markiert eine Zasur in Benjamins Leben und 
Denken: er trennte sich von fast alien Freunden, mit denen er am 
»Anfang«, im »Sprechsaal« und in der »Freien Studentenschaft« zu- 
sammengearbeitet hatte, und nahm jene Ordnung seiner Begeisterung 
und Denkgedanken vor, von der er seit einem Jahr wufite, daft er 
sie sehr notig (Brief e, 91) habe. Mit der weiteren Entwicklung der 
Freideutsdien Jugend, gar mit der der Bundischen Jugend - die seit 
1923 in der Jugendbewegung mafigebend war und 1933 grofk Teile 
derselben in den Nationalsozialismus einbradite - hatte Benjamin 
keine Beriihrung mehr. 

Fur den jungen Benjamin war die Begegnung mit der Person und dem 
Werk Gustav Wynekens entscheidend. Seit Sexta hatte Benjamin den 
gymnasialen Zweig der Kaiser-Friedrich-Schule in Berlin-Charlotten- 
burg besucht. Dieser Lehrgang war durdo einen zweijahrigen Auf- 
enthalt in dem Landerziehungsheim Haubinda in Thuringen von 
meinem vierzehnten bis fiinfzehnten Lebensjahr unterbrochen. (Le- 
benslauf vom Mai 1925, Bd. 6.) In einem Brief von 1912 heifit es, 
er habe einunddreiviertel Jahre in Haubinda verbracht. In diesem, in 
der Nahe von Hildburghausen liegenden, von Hermann Lietz ge- 
griindeten Landschulheim - Haubinda lafSt in dem Roman »Der 
Kampf der Tertia« des mit Benjamin befreundeten Wilhelm Speyer 
sich wiedererkennen - war Wyneken Benjamins Lehrer. Seit 1903 
in Haubinda tatig, verliefi Wyneken nach Kontroversen mit Lietz das 
Heim am r. Juli 1906, um die Freie Schulgemeinde Wickersdorf im 
Thuringer Wald zu errichten; Benjamin kann den Unterricht Wyne- 
kens mi thin hSchstens ein Jahr lang, 1905 und 1906, empfangen 
haben. Nach Berlin zuriickgekehrt, las er die Programmschriften der 
Freien Schulgemeinde und griindete an der Kaiser-Friedrich-Schule 
einen Freundeskreis, der Wynekens Ideen aufnahm und verbreitete 
soweit das ging (836). - In einer Festschrift, die 191 3 zum Freideut- 



Anmerkungen zu Seite 7-87 827 

sdien Jugendtag ersdiien, finden sich kurze Selbstdarstellungen sowohl 
der Landerziehungsheime des Lietzschen Typus wie der Freien Schul- 
gemeinde, die einen Eindruck von den fiir Benjamins Jugend wich- 
tigen Einfltissen vermitteln. 

Deutsche Landerziehungsheime 
Die Landerziehungsheime von Dr. H. Lietz wollen versuchen, fiir die, welche 
das Elternhaus verlassen mussen oder keines mehr haben, dessen Pflichten 
nach Moglichkeit zu erfullen. Sie begnugen sich nicht mit bloftem Unterrichte, 
sondern wollen dem ganzen jungen Menschen gerecht werden; ihm jede Ge- 
legenheit verschaffen, alle gesunden Anlagen und Krafte zu entwickeln, sich 
darauf vorzubereiten, mit Verstandnis an den wertvollen Gutern der Natur 
und Kultur teilzunehmen, und dereinst nach Kraften an deren Erneuerung 
und Weiterentwicklung mitzuarbeiten als tiichtiges Glied des Vaterlandes und 
der Menschheit. 

Nur auf dem festen Boden einer auf eigener Erfahrung gegrundeten und 
durch Arbeit und Kampf erworbenen Lebens- und Weltauffassung - und 
diese ist nicht zu verwechseln mit polkischer, philosophischer oder theolo- 
gischer Parteimeinung - kann ein ernstes Werk aufgebaut werden. Auf eine 
solche Grundlage konnten und konnen die Heime nicht verzichten. Sie zeigt 
die grofien nationalen, sozialen, sittlich-religibsen Ziele unserer Arbeit. 
Von Anfang an wollten wir in den Heimen weder blind und starr am 
Veralteten und Uberlebten festhalten, noch voreilig, leichtfertig und unbe- 
sonnen unerprobtes Neue der Tagesmeinung oder Mode zuliebe annehmen 
und nachahmen. Wir wollten und wollen nicht einer Partei oder Sekte folgen, 
sondern Empfanglichkeit und Gerechtigkeit, Aufmerksamkeit, Eifer und 
Wahrhaftigkeit gegeniiber allem Wertvollen beweisen, was Vergangenheit 
und Gegenwart uns zur Forderung bieten. Uns kommt es darum an: 

1 . Auf Erziehung zu nationaler Gesinnung und Tat als der 
selbstverstandlichen Voraussetzung und Grundlage unseres Lebens. Sie soil 
bewiesen werden in liebevoller, dankbarer, gewissenhafter Pflege des vater- 
landischen Bodens und des Erbes der Ahnen; in klarer Erkenntnis fiir Gefah- 
ren und Schaden der Gegenwart; in berehwilliger Hingabe, durch Ausiibung 
unseres Berufes mitzuhelfen an der Erneuerung unseres Volkstums und der 
Durchfuhrung unserer vaterlandischen Aufgabe. 

2. Auf Erziehung zu sozialer Gesinnung und Tat, d. h. zu Ver- 
standnis und Achtung fiir jedes ehrliche und tiichtige Glied der Nation; zur 
Gerechtigkeit gegeniiber jedem berechtigten Streben und Anspruch des 
Volksgenossen; zur Barmherzigkeit gegen den »Nachsten«, der unserer Hilfe 
bedarf; zur Bereitwilligkeit, mitzuhelfen an der Beseitigung oder wenigstens 
Milderung der Klassengegensatze, die unser Volk zerreifien und seine Einheit 
gefahrden. 

3. Auf Erziehung zu sittlicher Welt- und Lebensauffassung, 



828 Anmerkungen zu Seite 7-87 

zum ethischen Idealismus, d. h. zu der unerschiitterlichen Oberzeugung, dafi al- 
lein von sittlichen Ideen begeisterte, geisteskraftige Charakterstarke selbstloser 
PersonlichkeitenWiedergeburt und Fortentwicklung derNationen ermoglicht; 
dafi einem von ihnen verfoditenen nationalen Ideal doch schliefilich der Sieg 
werden mufS, wenn audi die Vorkampfer im Kampfe verblutet sind. 
4. Auf Erziehung zu religioser Gesinnung und T a t ; d. h. zur 
Fahigkeit und Bereitwilligkeit, im All das geheimnisvolle Waken einer 
hochsten Einheit, Kraft und Liebe - der Gottheit - vertrauensvoll zu spti- 
ren, sehnsuchtsvoll zu verehren; und uns selbst als Werkzeuge dieser im 
tiefsten Herzen, in Natur, Geschidite und Weltgeschehen gespiirten Allmacht 
zu fiihlen; uns als solche zu wissen, die verpflichtet sind, an ihrem, sei es 
audi nodi so schwachen Teile, mitzuarbeiten an der Durchsetzung des Liebes- 
willens dieser Macht, am Werden des Gottesreiches. 

Die Freie Schulgemeinde Wickersdorf 
Die S c h u 1 e ist die gegebene Vermittlerin des ganzen grofien Kulturmate- 
rials, das von den friiheren Geschleditern geschaffen wurde, an die heran- 
wachsende Generation, die das Erbe derAlten antreten soil. Die geschiditlichen 
Beispiele heroisdien Lebenswandels, die in BUchern niedergelegten wissen- 
sdiaftlidien Wahrheiten, die in Kunstwerken geoffenbarten Schonheiten, kurz, 
die Schopfungen der wenigen Grofien sollen den Vielen nahegebradit wer- 
den. Die Gesetze und Regeln des Arbeitens und Forsdiens sollen iiberliefert 
werden, damit die Moglichkeit der Nachpriifung bestehe, und man weiter- 
arbeiten konne an dem, was man vorgefunden. Damit ferner der einzelne 
nicht in der Fulle des vorhandenen Stoffes ertrinke und, statt zur Klarheit 
und Starke, zu chaotischer Wirrnis komme, mufi gesichtet und vereinfadit, 
in systematischer Weise der ganze Stoff bereitet werden. Ohne dies ist die 
Stetigkeit der Kulturentwicklung nidit sidiergestellt. Jedes Zeitalter und 
jeder einzelne miifite immer wieder von vorn beginnen, statt die Erfahrun- 
gen anderer zu nutzen. 

Durdi die Schule also erhalt der junge Mensdi Ansdilufi an die Kultur, und 
zwar in einer Form, die ihm gemafi ist. Aufier ihr lauft er Gefahr, der Bar- 
barei zu verfallen. Jede Bestrebung der Jugend, die von einem wirklichen 
Kulturwillen getragen ist, und die nicht blofi frei von etwas, sondern frei 
zu etwas machen will, mufi demnadi in der richtigen Gestaltung der Sdiule 
ihre vornehmste Aufgabe erblicken. 

Soil die Schule aber ihrem Ziele wirklich nachkommen und ein Geschlecht 
mit einer neuen auf die Kultur gerichteten Gesinnung heranbilden, so wird 
sie sidi nicht begniigen diirfen, blofie Unterrichtsanstalt fiir bestimmte Lehr- 
facher zu sein. Sie mufi vielmehr das ganze Leben der Jugend zu organisie- 
ren suchen, und dabei die Jugend selbst in weitestem Mafie bei der Gestal- 
tung dieses Lebens zur Mitarbeit heranziehen. So erweitert sich von selbst die 
Idee der Lernschule zu der der Erziehungsanstalt. 



Anmerkungen zu Seite 7-87 829 

Nicht blofi um die Aneignung verstandesmafiig erlernbaren Stories kann es 
sidi ja handeln; die Ausbildung kunstlerischen Betrachtens, die Entwicklung 
zur Schonheit und Kraft des Leibes sind nidit minder wichtig. Was vollends 
erst ein 2iel bilden kann, das ist die Erzeugung des Verlangens nach einer 
Weltanschauung, die eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem 
Sinne des menschlichen Lebens iiberhaupt gibt. Aus einer solchen kann erst 
die immer sich aufs neue bewahrende Gesinnung entspringen, die in jedem 
einzelnen Fall audi zum richtigen Handeln fiihrt. 

Alle diese Qualitaten aber lassen sich nicht in ein paar Stunden auswendig ler- 
nen : durch Ubung sollen sie sich entwickeln und kraftigen. Das ist nur in einer 
grofleren Gemeinschaft moglich, wo der einzelne manches unterlassen oder auf 
sich nehmen mull, was ihm nicht notig ware, wenn er fur sich allein stunde. 
Es geniigt ja nicht, Pflichten zu wissen, man muli sie audi ausiiben. 
Der Jugend ein Leben zu bereiten, das sie sich selber mitschafft, und das 
ihrem Wesen darum gemafi ist, das sie tatig mitwirken lafit an etwas, dem 
eine Bedeutung fur die Kultur zukommt: - aus diesem Wunsche heraus ist 
die Freie Schulgemeinde in Wickersdorf entstanden [...]• 
Es soil der Jugend eine Heimstatte erstehen, wo es jedem, der nur den 
Willen hat, moglich ist, ein in seinen eigenen Augen wertvolles Leben zu 
fiihren, weil die Schule als Kulturinstrument aufgefaflt wird, und weil von 
seiner Mitarbeit es abhangt, ob sie ihren Zweck erreicht oder nicht. So ist ein 
Feld der Tatigkeit geschaffen, das die Krafte der Jugend zu wirklich wert- 
vollem Tun beansprucht und ihrem sonst bloft allgemein auf das Gute ge- 
richteten Willen ein konkretes Ziel setzt. 

Da dort also die Organisation des Lebens in der Schule eine gemeinsame 
Angelegenheit aller ist, so sind Lehrer und Schuler zur Leistung dieser Auf- 
gabe als Kameraden verbunden. In gemeinsamer Beratung werden, wenn 
es irgend moglich ist, die Gesetze festgelegt, der Stil der ganzen Lebens- 
fiihrung bestimmt. So ist die Jugend mitratend und mitbeschliefiend ein Teil 
der gesetzgebenden Korperschaft. Ihre Autonomic verleiht ihr schon jetzt 
einen inneren Wert, und ist zugleich die beste Schule, aus der einst sich selbst 
bestimmende Manner erwachsen. 

Durch den Begriff der Autonomic ist ja ein doppelter Gegensatz mitbe- 
stimmt. Sich selbst die Gesetze geben heifit, sie nicht von anderen gegen 
seinen Willen aufgezwungen bekommen, es heifk aber auch, nicht blinder 
Willkiir folgen wollen, sondern den von der Vernunft bestimmten Zlelen. 
Selbstbeherrschung, nicht Selbstherrlichkeit ist der Sinn. 

Die Freiheit, zu der die Freie Schulgemeinde heranbilden mochte, ist nicht 
die Erlaubnis, alles und jedes zu tun oder zu lassen, sondern die Sicherheit, 
ungehindert seine Aufgabe erfiillen zu konnen. Die Freiheit fiihrt also nicht 
zur Gesetzlosigkeit, sondern zu einer durch Gesetze wohl bestimmten Ord- 
nung. Amter mussen geschaffen werden, deren gute Erfiillung fiir das Ganze 
unerlafilich ist, zu deren Obernahme aber niemand gezwungen wird. Wenn 



830 Anmerkungen zu Seite 7-87 

aber audi die Obernahme frei stent, so ist die Ausfiihrung der einmal iiber- 
nommenen Pflicht natiirlich nicht dem Belieben mehr anheimgestellt. 
In bestandigem Handeln wird so die sittlidie Freiheit immer aufs neue 
geiibt. Besonders gilt dies bei den Mitgliedern des »Ausschusses«, der 
seinerzeit von den obersten Klassen gewahlt wurde, und seither durdi 
Kooptierung sich erganzt, so dafi also auf die Wahl eines neuen Mitgliedes 
kein Mensch irgendeinen Einfluft hat, als wer selbst schon dem Ausschufi 
angehort. Unter Leitung eines selbst gewahlten Vorsitzenden, der die regel- 
mafiigen Amter und Pfliditen verteilt, tagt dieser alle Wochen und bespricht 
zugleich wichtige Fragen der Gegenwart. Der eine hat die Aufsicht in einem 
Schlafsaal beim Aufstehen und Zubettgehen auszuiiben, ein anderer fiir die 
Ordnung im Fahrradschuppen oder in den Klassenzimmern zu sorgen, ein 
dritter nachzusehen, ob zur rechten Zeit alle Liditer geloscht sind u. dgl. m. 
Aufierdem hat jeder einige jiingere Kameraden als seine Schiitzlinge zu 
betreuen, zu sehen, ob sie in tadellosem Zustand zu den Mahlzeiten kommen 
u. dgl., sowie sie vorkommenden falls vor Qualereien anderer zu schiitzen. 
So bildet sich bei alien das Gefiihl der Kameradschaftlichkeit heraus, wo 
einer dem anderen hilft. 

Dieses Verhaltnis umfafit audi Lehrer und Schuler. Um jeden Erzieher 
sdiaren sich einige Zoglinge, die mit diesem eine »Kameradschaft« bilden, 
und oft genug verknupft dauernde Freundschaft Kameradschaftsohne und 
Fiihrer. Da jeder sich seinen Fuhrer selbst erwahlt, also sich den aussuchen 
kann, von dem er glaubt, dafi er am meisten fiir ihn passe, so ist audi die 
Wahrscheinlichkeit groft, dafi jede Individuality Beriicksichtigung findet, 
und alles sich entfaltet, was an wertvollen Keimen enthalten ist. Auf Ernst 
und Frische ist so das Leben eingestellt. Sport und Wanderungen werden 
ebenso wichtig genommen, wie andere Schulpflichten. 

Um eine grofJere Kenntnis zu vermitteln von dem gewaltigen Reichtum und 
der Vielgestaltigkeit der »Kultur«, als es im Unterrichte moglich ist, dienen 
Ausstellungen sowie die »Abendsprachen«, wo am Ende des Tages in ver- 
schiedenen Gruppen gute Biicher vorgelesen werden, oder Musikstiicke auf- 
gefiihrt werden. Eine Besonderheit sind die Theaterauffuhrungen, die ganz 
dem jugendlichen Geiste angepafit werden kbnnen, und wo am meisten sich 
eine spezifische Jugendkunst auftern kann, die nidit aufhort Kunst zu sein, 
und doch in vielem von den Darbietungen Erwachsener abweicht. Jeder 
gewinnt so eine moglichst umfassende eigene Anschauung von dem, was 
menschlichem Streben Ziel sein soil. Indem er sich selbst noch eingliedert 
in einen der Kultur geweihten Organismus, und an dessen weiterer Ausge- 
staltung selbst tatig Anteil nimmt, erhalt das Leben audi des jungen Men- 
schen Sinn und Wert. Er fiihlt sich frei von dem beklemmenden Drucke, 
blofi Mittel zu sein und in seiner Besonderheit unterdruckt zu werden. Er 
kann mitarbeiten an etwas, dem ein widitiger Sinn zukommt, und wie es 
seinen Kraften gemafi ist. 



Anmerkungen zu Seite 7-87 831 

Danach aber zu suchen, ist der tiefste Kern des Problemes der Jugendkul- 



tur*. 



Wyneken mufke Wickersdorf am 1. April 19 10 nach Auseinanderset- 
zungen im Lehrerkollegium der Schulgemeinde wie mit den staatlichen 
Behorden verlassen. Er begann daraufhin »mit einer regen Vortrags- 
tatigkeit vor interessierten Gremien verschiedener Art, besonders vor 
studentischen Gruppen« (Heinrich Kupffer, Gustav Wyneken, Stutt- 
gart 1970, 69), in der er die Wickersdorfer Ideen propagierte. In 
diesen Jahren durfte audi der personliche Kontakt Benjamins mit 
Wyneken sich wieder intensiviert haben. 

lyzofii: Erste Veroffentlichungen 

Noch als Schiiler verofTentlidite Benjamin seine ersten Arbeiten: 
19 10 eine Reihe dichterischer Versuche, im Jahr darauf ein weiteres 
Gedicht sowie zwei theoretische Texte. Beide Gruppen von Publikatio- 
nen erfolgten in Berliner Sdiiilerzeitschriften mit dem Titel »Der An- 
fang«, Vorlauferinnen jenes »Anfangs«, an dem Benjamin 191 3 mit- 
arbeitete und der betrachtliches Aufsehen in der Offentlichkeit erregte. 
Alle drei Zeitschriften wurden von Georges Barbizon herausgegeben. 
Es ist zu vermuten, daft Barbizon, der eigentlich Georg Gretor hiefi 
und wie Benjamin eine Berliner Oberschule besudite, diesen als Mitar- 
beiter gewann. Benjamin bediente sich bei alien Veroffentlichungen 
in den drei Zeitschriften »Der Anfang« des Pseudonyms Ardor - 
wahrscheinlich sollte der Leser das lateinische Substantiv ardor asso- 
ziieren: Glut, Begeisterung, Leidenschaft -; anfangs durfte das Pseud- 
onym dazu gedient haben, den Autor vor schulischen Repressionen 
zu schiitzen, spater hielt dieser wohl daran fest, weil es mittlerweiie 
recht bekannt geworden war. - Im folgenden werden die Texte von 
19 10 abgedruckt**. 



* Zit. nach Freideutsdbe Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meiflner 
191 3. Jena 191 3, 17-22. - "Ober Benjamins Aufenthalt in Haubinda s. audi Pfingst- 
reise von Haubinda aus und Die Landschafl von Haubinda, Bd. 6. 
** Ein weiterer, gleidifalls 1910 veroffentlichter Text - das Prosastuck Die drei 
Religionssuober, das sich thematisch mit dem Dialog iiber die Religiositat der Ge gen- 
wart beriihrt - findet sich 892-894 wiedergegeben. - Die Herausgeber beabsichtigten 
zunachst, auf den Abdruck dieser noch recht hilflosen und durchaus epigonalen 
Gedichte und Prosastiicke zu verzichten (s. Bd. 1, 765). Da jedoch einer der beiden 
Prosatexte, die 191 1 gedruckt wurden und 1962 noch beide im Archiv der deutschen 
Jugendbewegung, Burg Ludwigstein, vorhanden waren, inzwischen dort verloren 
und auch sonst nirgends mehr auffindbar ist, erscheint es den Herausgebern geboten, 
keine weiteren Texte Benjamins solchem Schicksal zu exponieren. 



832 Anmerkungen zu Seite 7-8 7 

Der Dichter 
Um den Tbron des Zeus versammelt standen 
Die Olympier. Und es sprach Apoll 
Fragend seinen Blick zu Zeus gewendet: 
»Gro$er Zeus in Detner macht'gen Schopfung 
Kann icb jedes einzelne erkennen, 
Scharfen Blicks es sondernd von den andern 
Nur den Dichter suche ich vergebens.« 
Ihm erwidernd gab der Herrscher Antwort: 
»Sieh hinunter auf*s Gebirg des Lebens, 
Auf den steilen Felsengrad, wo wandern 
Hin im ewigen Wechsel die Geschlechter. 
In dem bunten Zuge siehst die einen 
Jammernd fleh'n Du, mit erhob'nen Handen, 
Andere wieder siehst Du lachend spielen 
Blumen baschend an dem Felsen-Abgrund; 
Manche siehst Du stumm die Strafle schleichen, 
Leer zu Boden ihren Blick geheflet. 
Zahllos viele find y st Du in der Menge 
Stets verschied'nen Geistes und Gebarens; 
Dock den Dichter suchst Du dort vergebens. 
Schau zum Rand der grojlen Felsenstra$e, 
Wo in jahem steilen Sturz die Felsen 
Ewig donnern in die schwarze Tiefe. 
Sieb, am Rand des ungeheuren Abgrunds, 
Da gewahrst Du Einen sorglos stehend 
Zwischen schwarzer Nacht und buntem Leben. 
Dieser steht in wandelloser Ruhe 
Einsam, abseits von der Lebensstrafie. 
Bald den tiefen Blick in sich gerichtet, 
Mutig bald zu uns hinauf ins Licht> 
Bald auch groflen Schauens auf die Menge. 
Ew'ge Zuge scbreib't sein Griff el nieder. - 
Diesen siehe und erkenn - er ist der Dichter. « 

Druckvorlage: Der Anfang. Zeitschrift fiir kommende Kunst und 
Literatur. (Redaktion: Georges Barbizon.) Berlin [hektographiert], 
Nr. 19, Juni 1910 (= Nummernserie II, Nr. 4), 25. 

In der Nacht 
Gedanken bei einem Schttmann'scken Stiick 

Schon viele Stunden lag ich ohne schlafen zu konnen. Ich drehte und 
wendete mich, aber es half nichts, immer wieder kehrten meine Blicke 



Anmerkungen zu Seite 7-87 833 

zu dem Kachelofen zutuck, dessert weifiet Glanz dutch die Dunkelheit 
drang. Aufier diesem ewigen weijlen Glanz sab ich nichts, aber ich 
wuflte ganz genau, wo seitwatts vom Ofen am Fuflende meines Bet- 
tes die Tut lag, da, wo die Wand zuriicksprang. Auch wufite ich, daft 
der gtofie Scbrank an der andern Wand gegenubet von meinem Bett 
stand. Und ich wuftte, daft ich die Scbeiben des Fensters betiihten 
konnte, wenn ich die Hand iibet die Bettstelle nach dem Kopfende 
ausstreckte ... 

Dutch's Fenstet mufite nun bald det Mond scheinen. Abet jetzt wat 
alles dunkel. Ich hotte, wie dtaujlen det Matzwind in den Baumen 
spielte. - Da zittette wohl die Gatdine vot seinem Wehen - . . . 
Ich legte mich auf die andete Seite und scblofi die Augen. Als ich wie- 
det aufblickte, sah ich wiedet den Schein des Kachelofens undeutlich 
weifi dutch die Dunkelheit. Es wat, als suchte et mich. Lange sah ich 
ihn an, dann plotzlich schteckte ich tief zusammen. Ich konnte mich 
nicht rilhren, immer mufite ich den blassen Schein sehen. Aber eben 
hatte die Wanduhr getickt, ganz laut und schneidend. Ich wufite: sie 
wollte mich warnen. Und die sptach weitet immer denselben Ton; 
immer watnte sie schatf und laut. Ich horte ihr zu, aber ich konnte 
die Augen nicht abwenden von dem weiften Flimmern, das von der 
Wand her durchs Zimmer drang. Eintonig warnte die Uhr . . . 
Aber jetzt horte sie auf zu warnen, jetzt sagte sie etwas, laut und 
deutlich. Sie sagte, daj! jemand komme. Und ich horte ganz deutlich, 
wie drauflen auf dem langen Gang Schritte langsam und schleppend 
regelmafiig sich naherten . . . Und jetzt waren sie ganz nahe . . . 
Und sie mufiten kommen . . . Da bewegte sich der Schein und wutde 
lebendig und durchgriff das ganze Zimmer, er legte sich auf den Fufi- 
boden, und jetzt, nach dem Befehl der Uhr kletterte er die Wande 
empor, und schnell sprang er auf mich zu von oben und von alien Sei~ 
ten. Und wie er kam,wechselte er,wurde immer lauter, gelbe Gestalten 
losten sich und kamen sich entgegen, lauter, greller schrie der Befehl, 
immer voller wurde das Zimmer, und schneller sturzten sie auf mich, 
auf Fufie und Augen. Unbeweglich, mit geoffnetem Munde lag ich 
da . . . bis der etste auf meine Btust fuhr. Da rifi ich mich los und 
hob meinen Arm auf und stiefi ihn hinein in das Gewoge . . . Ein 
dumpfer Laut erscholl ... das Zimmer leerte sich, die Augen fielen 
mir zu . . . 

Wie ich aufblickte, war es still, und det Mond schien ins Zimmet. 
Eine Stunde nach Mittetnacbt zeigte die Uht. 

Druckvorlage: Der Anfang, a. a. O., 1$ f. 



834 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Sturm 
Aus dem Tale wachsen tiefe Schatten, 
Leise brausen auf den Hob'n die Wdlder, 
Wiegen ihre hohen, starken Wipfel - 
Langsam nicken sie - und sie entschlummern. 
Hinter Bergen turmen sich die Wolken . . . 
Doch das Brausen schwillt und hinter Hohen, 
Dumpf erdrohnend, immer schneller wachsend, 
Wilden Tinges kommt der Sturm geflogen, 
Beugt die Hohen und in mdcht'gen Wehen 
Wirfi er sicb ins Tal, und seine Flugel 
Breiten Dunkel rings . . . Die Wdlder krachen. 
Heulend wiihlen seine scharfen Krallen 
Rings den Boden. Dann in macbt'gem Anprall 
Steigt er auf zum Berg . . . Die St'dmme brecben; 
Hoh'r hinauf, er wirfi sicb in die Wolken. 
Schwindet hinterm Berg . . . Ein femes Heulen 
Kundet seinen Kampf mit Wolkenriesen. — 

Druckvorlage: Der Anfang, a. a. O., Nr. 21, 
September 19 10 (= Nummernserie III, Nr. i), 5. 

Des Fruhlings Versteck 
Steif recken sich empor die kahlen Mauern, 
Die platten Ddcher ragen in den Himmel . . . 
Dodo defy tief unten, von den Mauern rings 
Und von den grauen Zdunen eng umgeben - 
Da liegt ein Garten. Zwischen engen Ddchern 
Schaut dort hinein der blaue Fruhlingshimmel. 
Ein kleiner Rasenfleck. Die feinen Graser 
Umwindet schuchtern, eng ein gelber Kiesweg. 
In einer Ecke aber, wo die Zdune 
Noch naher rticken und mit dunkler Wucht 
Gewaltig hochragt eine rote Mauer y 
Da steht ein Birnbaum y und die weiten Aste, 
Sie greifen uberm Zaun . . . der dunkle Stamm 
Gam voll von leuchtend weijlen, leichten Bluten. 
Und hin und wieder weht ein leiser Wind 
Und Bluten sinken nieder in den Garten. 

Druckvorlage: Der Anfang, a. a. O., 6. 

Benjamins VerofFentlidiungen von 191 1 - das Gedicht Ddmmerung 
und die beiden Aufsatze Das Dornroscben und Die freie Schulge- 
meinde - sind die friihesten Texte des Autors, die gedruckt worden 



Anmerkungen zu Seite 7-87 835 

sind: anders als der >erste< »Anfang«, von dem zwischen 1908 und 
1910 insgesamt 23 Hefte in einer Auflage von jeweils 150 Exempla- 
ren hektographiert wurden, erschienen die vier Hefte des >zweiten< 
»Anfangs« 191 1 im Buchdruck in einem Verlag von Jaduczynski in 
Niederschonhausen bei Berlin. - Das Gedicht von 191 1 lautet: 

Ddmmerung 
Nun kommt die Stunde, die das bange Schweigen 
Durchbrecben will. Es will aus alien Talern 
Aus Haide und aus dunkelblauen Seen 
Erwachend, muden Schritts das Dunkel steigen. 

Nun deckt es alles und es wolbt die Briicken 
Von Gipfeln Uber tote, stille Walder 
Zu andern Gipfeln und erhebt sich hoher 
Und lastet schwer auf Dado und Bergesrucken. 

Und tiberm Berg erloschen fable Flammen, 

Aus letztem Glanz sinkt nieder ein Geweb, 

Ein Regen fdllt y in sternenkalten Weiten 

Schlagt Dunkel, Nacbt und Dammer dumpf zusammen. 

Druckvorlage: Der Anfang. Vereinigte Zeitschriften der Jugend. 
Hg. von Georges Barbizon und Fritz Scfaoengarth. Niedersdion- 
hausen bei Berlin, Verlag von Jaduczynski. Jg. 1911, S. 38 (Heft 2, 
Fi'bruar 'n). 

Wahrend der Text Die freie Scbulgemeinde in der Ausgabe leider 
fehlen mu£ (s. 819 und 83i,Anm.), eroffnet derAufsatz Das Dornros- 
chen den Textteil des vorliegenden Bandes: die friiheste theoretische 
Arbeit Benjamins, die erhalten blieb. 

1912/ 1 j: Diskussion Uber »]ugendkultur« und Zionismus 

Nachdem Benjamin Ostern 19 12 an der Kaiser-Friedrich-Schule das 
Abitur abgelegc hatte, verbrachte er das erste Semester seines Stu- 
diums - das Sommersemester 19 12 - in Freiburg i. Br. Obwohl bis- 
lang keine brieflichen oder anderen autobiographisdien Zeugnisse 
bekannt sind, denen sich Einzelheiten uber dieses erste Freiburger 
Semester entnehmen Heften (s. aber Briefe, 39-42), hat Benjamin 
damals fraglos als Schuler Wynekens gewirkt, wie die beiden in diese 
Monate fallenden Publikationen - die Rezension eines Buches von 
Lily Braun (s. Bd. 3, 9-1 1) und der Aufsatz Die Schulreform, eine 
Kulturbewegung (s. 12-16) - bezeugen. Dafi der letztere in einer von 
der Abteilung fur Schulreform der Freien Studentenschaft in Freiburg 
herausgegebenen Broschiire erschien, macht es zumindest wahrschein- 



836 Anmerkungen zu Seite 7-87 

iich, daft Benjamin dieser Organisation - in der er ein Jahr spater, 
im Sommersemester 1913, uberaus aktiv war - bereits im Sommer 
191 2 angehorte. - Im August 19 12 verbradite Benjamin seine Ferien 
in Stolpmunde: Hier zum ersten Male ist Zionismus und zionistisches 
Wirken als Moglichkett und damit vielleicht als Verpflichtung mir ent- 
gegen getreten. Wie ich trotzdem - wie naturlich - ganz bei der 
Wickersdorfer Sacbe bleiben werde - das in Berlin, (Briefe, 44) Diese 
Briefpassage bezieht sich auf Gesprache mit Kurt Tuchler, uber welche 
dieser spater berichtete: »Franz Sachs brachte in den Sommerferien 
Walter Benjamin mit nach Stolpmunde. Wahrend dieser ganzen Fe- 
rien war ich taglich, um nicht zu sagen stiindlich, mit Benjamin 
zusammen, und wir hatten einen unerschopflichen GesprachsstorT. Ich 
versuchte, ihn in meinen zionistischen Vorstellungskreis einzufiihren. 
Er versuchte seinerseits, mich in seinen Gedankenkreis zu ziehen. Wir 
setzten unseren Gedankenaustausch brieflich mit grower Intensitat 
fort.« (Briefe, 44, Anm. 2.) Tuchler war nicht der einzige, der den 
Juden Benjamin drangte, uber sein Verhaltnis zu Wyneken und zur 
deutschen Jugendbewegung sich Rechenschaft abzulegen. Von Wyne- 
ken selbst scheint es antisemitische Aufierungen zwar erst seit 1933 
zu geben (s. KupfTer, a. a. O., 147 f.)» doch in der Jugendbewegung 
waren chauvinistische Ideologien von Anfang an herrschend. In meh- 
reren Brief en, die Benjamin 19 12 und 191 3 an Ludwig Straufi rich- 
tete, begriindete er seine Entscheidung fiir Wyneken ausfiihrlich. Da 
diese uberaus wichtigen Zeugnisse bislang unbekannt sind, sei aus- 
fiihrlich aus ihnen zitiert. In einem Brief vom Oktober 1912 heifk es: 

/. . ./ Ich bin, wie ich Ihnen kaum zu sagen brauche, liberal erzogen 
worden. Mein entscheidendes geistiges Erlebnis hatte ich, bevor jemal 
das Judentum mir wichtig oder problematiscb geworden war. Was 
ich von ihm kannte war wirklich nur der Antisemitismus und eine 
unbestimmte Pietat. Als Religion war es mir fern, als Nationales 
unbekannt. Der entscheidende Einflufi war dieser: in einem Land- 
erziehungsheim, in dem ich 1 3/4 wichtige Jahre zubrachte, war der 
spatere Griinder der freien Schulgemeine Wickersdorf, Dr. Wyneken, 
mein Lehrer. Ein oder zwei Jahre spater las ich die Programmschriflen 
seiner Scbule, die sich auf der hegelschen Philosophic aufbauen. Ich 
hatte inzwischen die Staatsschule grundlich kennen gelernt, der Gegen- 
satz ergriff mich heflig. Ich grundete in dieser Schule einen Freundes- 
kreis, der Wynekens Ideen aufnahm und verbreitete soweit das ging. 
Daft diese Ideen nicht dies und jenes waren, dap sie als Grundlagen 
der Grundlage (namlich der Erziehung) nicht nur das reformsuchtige 
»Interesse« vielmehr die Lebensrichtung geistig bestimmten, werden 
Sie verstehen. 



Anmerkungen zu Seke 7-87 837 

Ich babe 4-5 Jahre micb angesichts dieser Ideen (von denen ich Ihnen 
naturlich in der Kiirze nur den Namen Hegel, als Programm, nicht 
als Dogma! nennen kann) entwickelt, diese Gedanken herrscben im 
Kreis meiner Berliner Freunde. 

»Die Besonnensten macben es scbon nicht mebr mit, daft man sicb aus 
alien Zusammenhdngen lost, um ganz frei zu arbeiten. Sie begreifen, 
daft zum Erreicben des Ziels es gut ist, sicb der Herkunft und Ge- 
bundenbeit zu erinnern und darin sick zu festigen.* 
Sie versteben, daft auch i c b micb aus me in em 4Jdhrigen Ge- 
bundensein nicht losen kann und will; aus diesen meinen jestesten 
Zusammenb'dngen mit der Wickersdorfer Idee konnte ich micb nur 
unter Gefabrdung alles dessen, was mir jetzt selbstverstdndlicber 
Besitz ist, losen. 

Also herrscbt dieser Zusammenhang, Nur einer kann herrscben, 
jeder andere bat sicb priifen zu lassen, auch der judiscbe, Diese Pru- 
fung ergibt: Wo ich fiir den Wickersdorfer Gedanken warb } wo es 
sicb um Menschen bandelte, die nicht gonnerhafles » Inter esse « sondern 
tdtige Begeisterung y ferner T r e u e dieser Idee hielten, waren es 
allermeist Juden. Ich sehe an aufklareriscber, reformatorischer Arbeit, 
fiir die Wickersdorf micb grundlegend verpflichtet, zum groften Teil 
Juden wirken. Ich finde bei ihnen, um ganz ins Personlicbe zu geben, 
eine streng dualistische Lebensauffassung, die ich (nicht zufdllig!) in 
mir und in der Wickersdorfer Anschauung vom Leben finde. Auch 
Buber spricht von diesem Dualismus. 

Das alles ist mir in den letzten Monaten klar geworden. Von Wickers- 
dorf aus, nicht spekulativ, nicht schlechthin gefuhlsmaftig, sondern 
aus aufterer und innerer Erfahrung babe ich mein Judentum gefun- 
den. Ich babe das was mir in Ideen und Menschen das hochste war, 
als judisch entdeckt. - Und um all das was ich erkannte auf eine 
Formel zu bringen [:] Ich bin Jude und wenn icb als bewuftter 
Mensch lebe, lebe ich als bewuftter Jude, 

Ich sehe in Wickersdorf etwas, was den innerlichsten Einfluft auf 
micb und andere Juden gehabt bat. Zwei Folgerungen bleiben: ent- 
weder diese Idee ist im Wesen judisch (und wenn zehn Mai ein Deut- 
scber sie gefaftt hat!) oder ich und die andern Juden, wir sind keine 
wahren Juden mebr, wenn wir im Personlichsten von etwas Nicbt- 
Judischem ergriffen werden. Das Wertvolle in mir muft ich zu aller- 
•erst be jab en und sollte man mir sagen, daft dieses Wertvolle in mir 
und anderen » Juden* nicht judisch sei, so kann ich das nicht einmal 
bedauern. Mein Wertvollstes ist durch meine gutgesinnte Bejabung 
wertvoll, durch nichts sonst. 

Auf Wickersdorf trifft hervorragend das, was Buber in seiner 2 ten und 
fen R e( i e y 5# Martin Buber, Drei Reden uber das Judentum, Frank- 



838 Anmerkungen zu Seite 7-87 

furt a.M. 1911] als das Wesen des Jiidiscben nennt. Man soil und 
mujS fur die bedrohten Juden in Paldstina Existenzbedingungen schaf- 
fen. Fur mich ist es mufiig zu fragen, ob jiidische Paldstina- Arbeit oder 
jiidisch-europaische Arbeit dringender sei. Ich bin hier gebunden. Auch 
stiinde es schlimm um Europa, wenn die kulturellen Energien der Ju- 
den es verliefien. 

Nocb mochte ich ein Wort vom Zionismus sagen. Bei keinerh Zioni- 
sten y den ich kannte, fand ich in seiner jiidischen Arbeit Prinzipien wie 
die Ihren. Ich fand nicht, dajl die Zionisten ihr Leben judisch nahmen, 
dafi sie mehr als vage Vorstellungen vom jiidischen Geist batten. Das 
Judische war ihnen Naturtrieb, der Zionismus Sache politischer Orga- 
nisation. Ihre Personlichkeit war im innern keineswegs vom Jiidi- 
schen bestimmt: sie propagieren Paldstina und saufen deutsch. Viel- 
leicht sind diese Menschen notig: aber sie am allerwenigsten diirfen 
vom jiidischen Erlebnis reden. Sie stellen Halbmenschen vor. Ha- 
ben sie Schule, Literatur, Gemiitleben, den Staat, jemals jiidisch durch- 
dachtf 

Wenn sie aber (wie gestern mir vorkam) sagen: Schule, Frauenfrage, 
Sozialismus, das hat alles nichts mit dem Judentum zu tun, das ist 
Menschheits interesse, so ist mir ein Nationalisms, der nicht 
alles und das Menschheitlichste und Bedeutendste vor allem durch- 
leuchtet, wertlos, nichts mehr als eine gefdhrliche Macht der Trdgheit. 
Vbrigens ist dieses letzte, wie ich Ihrem Briefe entnehme, durchaus 
nicht Ihre Ansicht* 

Unterscheiden wir uns in unserer Stellung zum Judentum. Mit ver- 
schiedenem Bewufitsein, scheint mir, sind wir den gleichen Weg gegan- 
gen und vielleicht haben wir jetzt auch das gleiche Bewujltsein. 
Ich sehe dreierlei zionistisches Judentum: Den Paldstinazionismus 
(eine Naturnotwendigkeit)[.J Den deutschen Zionismus in seiner 
Halbheit. Den Kultur -Zionismus, der die jiidischen Werte alleror- 
ten sieht und fur sie arbeitet. Hier will ich stehen und wie ich glaube 
miissen auch Sie hier stehen. [. . ./ 

Druckvorlage: Brief vom 10. 10. 1912 an Ludwig Straufl; Besitzer: 
The Jewish National and University Library, Jerusalem 

In einem weiteren Brief an Straufi, datiert vom November 191 2, 
schrieb Benjamin: 

/. . ./ Vielleicht ist es am Anfang notig, dajl ich wiederhole, wie sicb 
meine Stellung zum Jiidischen formte. Nicht durch ein jiidisches Erleb- 
nis - durch kein Erlebnis uberbaupt. Sondern lediglich durch die eine 
wichtige Erfahrung, dafi da, wo ich mich mit Ideen nach aufien 
wandte, im Geistigen und Praktischen zk allermeist Juden mir ent- 
* idi meine natiirl[ich] die Ansicht der Zionisten, nicht die meine. 



Anmerkungen zu Seite 7-87 839 

gegenkamen. (Obrigens keine Erfahrung, die ein einseitig judischer 
Verkebr mir gab: zu denen, die mir am allerndchsten standen - von 
mir aus am nachsten ~ gehoren Christen[.J) Meine Erfahrung brachte 
mich zu der Einsicht: die Juden stellen eine Elite dar in der Schar der 
Geistigen. Bei ihnen seize ich den Sinn fur die Idee als selbstverstdnd- 
lido voraus - soweit, dafi ich mich aufierordentlich freue, wenn ich 
im Geistigen einem Deutschen begegne. Denn das Judentum ist mir 
in keiner Hinsicht Selbstzweck, sondern ein vornehmster Trdger und 
Reprasentant des Geistigen. 

Sie werden das alles selbstverstandlich finden. Abet von bier aus 
verstehen Sie mich vielleicht wetter, Ich kann dieses Judische, das ich 
anerkenne und Hebe nicht aufnehmen. - Das Moralische versteht sich 
immer von selbst, sagt Vischer. Gut! Das Judische versteht sich von 
selbst, so mufi ich sagen. Ich schrieb Ihnen schon, ich konnte mir den- 
ken, wie ich vier Jahre friiher mir das Judentum zur Maxime hdtte 
machen konnen. Jetzt kann ich es nicht mehr. Sie werden verstehen, 
was ich unter Maxime verstehe: nicht irgend ein Argument irgend 
einer Betdtigung. Sondern denjenigen Gedanken, der nun einmal das 
selbstverstandlich Anstandige in concreto fordert. (Die meisten Men-' 
schen brauchen eine bestimmte Gestaltung des kategorischen Impera- 
tivs(.J) Der Gedanke der Jugend t wie Wickersdorf ihn verkorpert, 
stellt fiir mich den Mafistab, den ich vor Augen habe. 
Ein Beispiel: ich bin abstinent, Wie recbtfertige ich das? Gewifi, der 
Alkohol ist eine Volksplage y seine sozialen Schaden u. s. f, Das ist fur 
mich sekunddr. Die Abstinenz ist eine Form (nichts mehr!), in der 
der Wille zu geistiger Klarheit und Ehrlichkeit sich gestaltet. Ich 
freue mich, wenn ich eine Form, eine Maxime finde, in der ich die 
Wickersdorfer Gesinnung ausdrucken kann, 

Vielleicht sagen Sie: das ist gut, aber Sie konnen bei alledem tdtiger 
Zionist sein. Wirken Sie fur ein jUdisches Wickersdorf! 
Ich konnte mich dem tdtigen Zionismus ndhern, wenn er minder be- 
deutend ware. Wenn er nur etwas Technisches darstellte. Aber er ist 
dock mehr, es ist dock in ihm eine auch im Formalen und Einzelnen 
bestimmt gestaltete judische Gesinnung, Und alles Judische, was uber 
das selbstverstandlich Judische in mir hinausgebt, ist mir gefdhrlich. 
Eine Idee rationalisiert, erkdltet zum guten Teil das Leben, reinigt die 
Instinkte, Darin ist eine Gefabr, die sehr schon im »Nachtlied« des 
Zarathustra ausgesprochen ist. Ich kann nicht noch eine zweite ratio- 
nalisierende, gestaltende Idee aufnehmen. 

Ich will mich vom praktischen Zionismus prinzipiell fernhalten, we'd 
ihm diese grofie formale, ins Einzelne dringende Kraft eignet. Abet 
Sie verstehen (mussen es gerade als tdtiger Zionist verstehen), daft ein 
Mensch nur ein en Schwerpunkt haben kann, in dem Idee und 



840 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Leben ruhen, Ich bin von diesem Schwerpunkt aus geistig frei, wie ich 
es sonst nicht ware. Abet ich bin praktisch gebunden. 
Nehmen Sie es bitte ganz instinktiv: es gibt fur jeden nur eine Hei- 
mat y nur eine unbedingte Treue. So verhdlt es sicb fiir mich damit. 
Es ist klar, daft ich bei alle dem an den Grenzgebieten des Zionismus 
(etwa einer Zeitscbrift, wie Sie sie planen) mitarbeiten kann. Nur ist 
mir die strenge Einstellung in die jiidische Sphdre versagt. - 
Die grundlegende Schrift Wynekens habe ich im Augenblick verborgt. 
Ich werde sie Ihnen in kurzem senden, oder, falls ich sie nicht be- 
komme y schicke ich Ihnen das zweite Wickersdorfer Jahrbuch [s. 
Wickersdorfer Jahrbuch 1909/10, hg. von Gustav Wyneken und 
August Halm, Jena 1910J. 

»Amerika« von Asch habe ich gelesen. Es scheint mir kunstlerisch gut 
und fein, wenn auch nicht bedeutend. Gewifl fiihle ich die Verwandt- 
schafl zwischen mir und jenen Juden, doch nicht starker als die mit 
anderen. Es mag daher kommen, dajl ich mich [nicht ?] sehr lebhaft 
einfuhle und die Einfuhlung nur da gesteigert finde, wo ich einem 
ideell und programmatisch nahen Menschen begegne. Ein solcher trat 
mir entgegen in dem chinesischen Literaten Ku Hung-Ming, der ein 
Buch geschrieben hat »Chinas Verteidigung gegen europdische Ideen«. 
(Bei Diederichs [Jena 191 1. J) Es ist im einzelnen bei meiner volligen 
Unkenntnis der chinesischen Politik nicht anschaulich fur mich gewe- 
sen; doch es uberrascht, unter ganz fernen Verhdltnissen einen so radi- 
kalen Kulturwillen zu bemerken, wie Hung-Ming ihn bewdhrt. Er 
steht jenseits der Parteipolitik, beurteilt die fuhrenden Personlichkei- 
ten riicksichtslos nach ihrer moralischen Dignitdt und sieht fiir das 
heutige China mit Schrecken die Gefahr, dajl es von dem zynischen 
industrialisttschen Geist Europas vergewaltigt werden kann. Dr. Wy- 
neken sagte gelegentlich, auf dieses Buch mii$te Europa seine Jugend 
antworten lassen, und ich wufite wirklich nicht, wie anders die Ant- 
wort erteilt werden konnte, als mit einem Wechsel auf die Zukunft, 
die nod} dazu mehr von sozialen als kulturellen Bewegungen ausge- 
fiillt sein wird. Nur nehmen wit inmitten alter sozialen Evolutionen 
die Kultur vielleicht doch radikaler als die Chinesen, ehrlicher als sie. 
Denn wenn heute bei uns auch keine durch und durch kultivierte t 
vornehme Herrenkaste mehr anzuerkennen ist t so mag dies an unserm 
kulturellen Bewufitsein liegen, das uns verbietet, ideell den Begriff 
der Kultur jemals auf irgend einen Menschen teil zu beschrdnken. 
Gerade well sich aber die Zeit in den Vorarbeiten fur eine mogliche 
Kultur verliert, ist es um so notiger, den Gedanken der Kultur zu 
wahren y ihn aus einer chaotischen Zeit hinuberzuretten. Das bewuflte 
Asyl einer wirklichen, seienden Kultur ist Wickersdorf. - Aber sind 
wir vielleicht in eine antinomische Arbeit verstrickt? Goethe sagt, es 



Anmerkungen zu Seite 7-87 841 

gabe keine wahre Kultur obne Despotismus. Immerhin, mag das rich- 
tig sein, so ist doch zu erstreben, dafi sich der Despotismus von einem 
physischen in den ideellen wandle. Der mufi allerdings immer sein, 
ebenso wie in diesem Sinne immer Krieg sein mufi. Aber die Sozial- 
Biologen im Stile Nietzscbes fischen im Triiben und ubertragen einen 
Heroismus, den sie aus der Idee nahmen ins Materielle. 
Kennen Sie den Zarathustraf Auf der Schule hatte icb mich aus man- 
cherlei Grunden nicht an ihn gewagt. Ich verwtinsche das jetzt, denn 
nirgends tut eine - meinetwegen Uberspannte — Zaratbustrastimmung 
so not, wie bei einem reifen und sicheren Schuler. In den letzten Wo- 
chen las ich im Zarathustra. Als geschlossenes Kunstwerk ist er neben 
den ^Prometheus und Epimetheus* nicht zu stellen, aber er zielt ja 
starker auf die Idee, Uber die Grofie des Buches braucht man nicht zu 
sprechen - aber es ist grenzenlos gefahrlich; ich meine es nicht im ba- 
nalen Sinne, dafi Nietzsches Ton die Mittelmafiigen uberspannen 
konne; sondern grenzenlos gefahrlich ist es da, wo Nietzsche selbst 
noch in einem vergeistigten Philisterium steckt. Oberall im Biologischen 
und am versteoktesten und schlimmsten im Begriff der Scham. Er will 
in ihr durchaus etwas Wertvolles, sogar Heiliges sehen. Und doch ist 
Scham restlos naturlich, sie bezeichnet geradezu den Ort, wo das 
Geistige noch vor dem Naturlichen zuruckweicbt. Vielleicht lesen Sie 
einmal das Kapitel »Vom Freunde* im ersten Buch; vor allem meine 
icb die Stelle vom schlafenden Freunde: mir scheint, dafi er da die 
Freundschafl so griindlich und gefahrlich mi fiver standen (ins Per- 
sonlicbste verkehrt) hat, wie nur moglich. Wyneken sagte einmal: 
Freundschafl ist ethische Gesinnungsgenossenschaft; und wenn das 
vielleicht nicht die letzte Wahrheit ist, so ist es jedenfalls die erste. 
Ich werde Ihnen, wie gesagt, bald etwas von Wyneken schicken und 
wilrde mich freuen, wenn Sie mir Ihren Eindruck schrieben. [. . .] 

Druckvorlage: Brief vom 21. n. 1912 an Ludwig Strauft; Besit- 
zer: The Jewish National and University Library, Jerusalem 

In einem, die Debatte uber das Verhaltnis der Ideen Wynekens zum 
Zionismus absdiliefienden Brief an Straufi heifit es schliefilich im 
Januar 1913: 

/. . ./ Der selbstverstandliche Grundgedanke Ihres Briefes mufite mir 
gesagt werden, und Sie sagten ihn mir zu einer Zeit, da von andern 
Seiten und mir selbst diese Erkenntnis kam. Nicht unbedingt auf den 
Zionismus bezogen: aber ich babe in diesen Tagen zum ersten Male 
das Problem der Politik fur den Intellektuellen gesehen. 
Folgendes scbrieb ich in einem Aufsatz, in dem ich mir fiber »Geist 
und Politik* klar zu werden suchte: »Irgendwo aber mufi der Geistige 
den Geist von sich schleudern (wie die Fahne unter die Feinde), Es 



842 Anmerkungen zu Seite 7-87 

gebt ibm sonst die Beziehung, das Symboliscbe der Idee verloren. 
Er glaubt sonst: es sei seine Idee; am dem Gott entwickelt sicb 
der Fetiscb. Die Politik ist der Ort dieser freiwilligen Tat.« 
Politik ist eine Folge geistiger Gesinnung, die nicbt mebr am Geiste 
vollzogen wird. 

Fur mich war der Zionismus bisher Idee; ein Etwas, das mid) in 
bestimmten geistigen Provinzen bescbdftigte, das icb mir in einer ge- 
wissen Besonderbeit (abbangig von der Wickersdorfer Idee) formte 
und dem icb in eben dieser Besonderbeit Sympatbie entgegen 
brachte. 

Sie aber wollen mir die Idee zum politiscben Imperativ umscbaffen. Es 
ist ja nicbts als eine Formulierung des politiscben Imperativs, wenn 
Sie sagen: »Vereinigung aller inneren Mdcbte und ibre Auswirkung 
oder unbedingte Treue zu bestimmten und Bekampfung der anderen.* 
Id) bake es mit der letzten Formulierung, weil vor der Tatsacbe 
» aller inneren M'dchte* eben die Machtfrage: welcbe werden als 
solcbe anerkannt oder setzen sicb durcb? liegt. 

Aber gleicbviel: mit Ibrer Forderung sind wir schon auf dem Boden 
der Politik. Das Geistige ist eine Spbare der Verstandigung, das ganz 
ernste Bekampfen und die unbedingte Treue kommen in der politi- 
scben Tat nur zum Austrag. Sowenig die Logik der Erkenntnis den 
Begriff des Kampfes oder der Treue kennt, sowenig kennt die Logik 
des Willens (d. b. Etbik) den Begriff der Verstandigung oder Erkennt- 
nis. (Verzeiben Sie diese boffentlicb neukantiscbe Formulierung.) 
Im vorigen Brief baben Sie mich uber den Irrtum belehrt, die Wik- 
kersdorfer Idee zum politiscben Wesen machen zu wollen. Nun babe 
icb Ibnen zu antworten: icb kann nicbt den Zionismus zu meinem po- 
litiscben Element machen. (Und desbalb werde icb ihn in radikaler 
Politik allerdings bekampfen mussen.) 

Im tiefsten Sinne ist Politik die Wahl des kleinsten Ubels. Niemals 
ersdoeint in ibr die Idee, stets die Partei. Wir wenden uns, wie Ger- 
hard Hildebrand, den die Sozialdemokraten ausscblossen t weil sie 
nicbt wufiten, dafl die Partei Kampf- und nicbt Erbauungsgemein- 
schaft ist, sagt - wir wenden uns dabin, wo wir noch am ehesten 
unterkommen konnen. 

Der Zionismus aber ist fur mich nicbt dieser Ort, der Zionismus, so 
wie er existiert und allein existieren kann: mit dem Nationalisms 
als letztem Wert. Und. ein Zionismus des Geistes, der vom beutigen 
Judentum nicbt den Glauben bebielte - icb weifi nicbt, was er von 
ibm bebielte - eine gewisse judische Geste wiirde er steigern und be- 
wabren (icb kenne sie, urn Namen zu nennen, von Corinth [Corin- 
ble ?], von Brod, von Ibnen her) - ein solcher Zionismus bleibt Idee 
und ist durcbaus esotherisch. Bitte, verstehen Sie mich richtig: gerade 



Anmerkungen zu Seite 7-87 843 

darum bleib t er auch Idee und von der Hocbachtung, mit der ich 
vom judischen Geiste, den ich anerkenne, gesprochen babe, nehme icb 
nicbts. 

Ob icb mein politiscbes Unterkommen im linken Liber alismus oder auf 
einem sozialdemokratiscben Fliigel finden werde, weift icb nocb nicbt 
bestimmt. 

Im ganzen Komplex meiner Gesinnungen, die ja im Politischen in 
bestimmter Richtung zusammenzuziehen sind, spielt das Jiidische nur 
eine Teilrolle. Und eben nicbt sowohl das National- ] udiscbe der 
zionistiscben Propaganda ist mir wichtig, als der heutige, intellektuelle 
Literaten-Jude; soweit der Zionismus diesen Typus, den er im Grun- 
de sogar bekdmpfen muft, zum Selbstbewufttsein und zur Selbst- 
bebauptung bringt, soil er mir (im Komplex des Politischen) auch 
irgendwie willkommen sein. D. b. icb zable einen Beitrag, zumal ich 
weift, daft dieses Geld auch den russischen Juden dient. 
Aber der politische Energiepunkt liegt nicht bier, sondern irgendwo 
in der Linken. Kurz gesagt: vor allem miissen wir eine linke Mebrbeit 
baben, damit die deutschen Staaten fur Wynekenscbe Scbulen frei 
werden. Dazu bilfl der intellektuelle Jude (sofern er Politik treibt - 
und aucb sofern ers nicbt tut) } dazu bilfl , indem er diesen (vielleicbt) 
erbdlt und steigert, auch der Zionismus. Vor alien Dingen aber bilfl 
der Organismus der linken Parteien. Nicbt etwa y daft er die Idee 
Wickersdorfs fordere, vielleicbt verstebt und duldet er sie nicht ein- 
mal: aber bier muft sie in den sturmischen Zeiten unterkriechen — Po- 
litik ist die Kunst des kleinsten Obels. - Die beutige linke Politik bat 
in ibrer Kampfgesinnung (und die ist das Maftgebende - nicht die 
Partei-»Tbeorie« ) den Nationalisms bis auf Weiteres und Freieres* 
abzulebnen. Von bier aus muft der politische Zionismus von einem 
liberalen Kulturboden aus abgelebnt werden. 

Ich glaube, daft ich das fur mein Verbalten Wichtige gesagt babe. Doch 
eine ndbere Definition, was icb unter dem frucbtbaren Kulturjuden- 
tum verstehe, bin icb nocb schuldig. Icb glaube auch, daft ich das vor- 
laufig nur sebr allgemein bestimmen kann. Im Grunde babe icb davon 
mebr ein Bild als eine Gedankenreihe. 

Es ist der umgekebrte Turmbau zu Babel: die Volker der Bibel b'dufen 
Quader auf Quader und das geistig Gewollte: der bimmelragende 
Turm entstebt nicbt. 

Die Juden band baben die Idee wie Quader n, und nie wird der 
Ursprung, die Materie erreicht. Sie bauen von oben, obne den Boden 
zu erreichsn. 

Ein Christ bat das in einer Judin gestaltet: Hebbel » Judith* auch 
»Herodes und Mariamne*. Daft man gerade vom Studium Goethes 

* d. h. bis zu seiner Unschddlichkeit in einer kulturell gefestigten Menschbeit. 



844 Anmerkungen zu Seite 7-87 

auf die jiidische Art stofien mufi, wie Sie in einem Briefe schrieben, 
ist nattirlich. In einer der letzten Nummern der »Aktion« [Jg. 2, 
i<)i2y Nr. $1 , 18. 12. '12, Sp. 2607-161 1 } schrieb Heinrich Mann 
einen Aufsatz »Der franzosische Geisu, in dem dargestellt wurde, 
dafi jeder Kultur wille an Goethe ein gefahrliches Narkotikum 
finde. 

Das ist [. . .] bereits der dritte Tag, an dem ich diesen Brief vor- 
habe. Sie konnen auf meine knappe und zerfetzte Zeit schliefien. 
Ich kann au(h iiber diesen letzten Teil unserer Frage wie gesagt nicht 
mehr viel schreiben, weil mir selbst das schwere Problem nocb nicht 
klar genug geworden ist, Eine frucbtbare Anregung zum Nachden- 
ken hoffe ich in kurzer Zeit durch die Lektiire von Wassermanns 
»Juden von Zirndorf« zu gewinnen. Wassermann repr'dsentiert filr 
mich den Juden tiefer nach der schwerblutigen Gefuhlssphdre zu, 
wahrend ich in den Vorgenannten Typen jiidischen Wollens (im 
kiinstlerischen Ausdruck) sehe. - Aber genug von diesen, noch zu 
ungeklarten Umschreibungen. 

Und urn mit einem letzten Wort auf das Praktische zu kommen: wie- 
der lauft meine Stellungnahme darauf hinaus, dafl, so fern ich dem 
politischen Zionismus stehe y ein judisck-geistiges Unternehmen y wie 
Sie e$ in Ihrer Zeitsohrifi planen, mir umso wichtiger ist, [. . .] 

Druckvorlage: Brief vom 7. 1. 19 13 an Ludwig Straufi; Besit- 
zer: The Jewish National and University Library, Jerusalem 

19x3/14: Siegfried Bernfeld iiber den *Anfang* 

Das Wintersemester 191 2/1 3, in das die Korrespondenz mit Ludwig 
Straufi fiel, verbrachte Benjamin an der Universitat in Berlin. Er 
diirfte in diesen Monaten an den vorbereitenden Arbeiten zum neuen 
- dem >dritten< - »Anfang« sich beteiligt haben, dessen erstes Heft 
im Mai 19 13 erschien. Als Herausgeber zeidinete, neben Barbizon, der 
Wiener Siegfried Bernfeld; die redaktionelle Verantwortung, die aus 
rechtlichen Griinden ein Erwachsener ubernehmen mufite, hatteGustav 
Wyneken inne; die Zeitsdirift erschien in Kommission in dem Verlag 
der expressionistischen »Aktion« Franz Pfemferts. - Im Sommerseme- 
ster 191 3 kehrte Benjamin zur Fortsetzung seines Studiums nach Frei- 
burg zuriick. Er nahm von hier aus leidenschaftlich Anteil an redak- 
tionellen Problemen des »Anfangs« und arbeitete in der Abteilung 
fur Schulreform innerhalb der Freien Studentenschaft Freiburg mit. 
Offenkundig wurde er vorab um des »Anfangs« willen in der Freien 
Studentenschaft tatig (s. Briefe, 58), einer wenig homogenen Dachor- 
ganisation von nicht-korporierten Studentenvereinigungen an deut- 
schen Universitaten. Erst im Juli 191 3 - gegen Ende seines zweiten 



Anmerkungen zu Seite 7-87 84$ 

Freiburger Semesters - sdirieb Benjamin: Sicherlich konnen wir die 
Fr[eie] St[udentenscbaft] jetzt aucb ideell vertreten. Vielmehr, sie war- 
let formlich darauj, dafi die aus unserm Lager sicb ibrer annehmen, 
wir werden von uns aus der Fr. St. eine Tbeorie batten. (Brief e, 75) - 
Im September 191 3 war Benjamin dann wieder in Berlin, wo er wah- 
rend der zwei Semester, die bis zum Ausbruch des Krieges noch blie- 
ben, studierte. Vom »Anfang« zog er sich zwar zuriick, dodi arbeitete 
er um so aktiver im »Spredisaal« und vor allem in der Freien Studen- 
tenschaft. Im Friihjahr 1914 wurde er zum Prasidenten der Berliner 
Freien Studentenschaft gewahlt, die er audi auf dem 14. Freistuden- 
tentag, der im Juni 1914 m Weimar stattfand, vertrat. 
Die »heute kaum mehr ganz rekonstruierbaren Riditungskampfe« (824) 
in diesen Organisationen, die in Benjamins Briefen sidi spiegeln und 
den Hintergrund fur seine Schriften aus diesen Jahren bilden, werden 
aufgehellt durch den Bericht eines unmittelbar Beteiligten; Siegfried 
Bernfeld, der spatere Psychoanalytiker, sdireibt in dem 1928 erschie- 
nenen Buch »Die Schulgemeinde und ihre Funktion im Klassen- 
kampf « : 

Wer padagogisdie Uberlegungen anstellte, fand durchaus das Schulheim als 
die ihm, der Jugendbewegung, der Jugend entsprechende allgemeine 
Sdiulorganisation, Wo immer die Jugendbewegung allgemeine padagogisdie 
Forderungen formulierte, verlangte sie die Reform (oder Revolution) des 
Sdiulwesens im Sinne des Schulheimes. Seit 1910 etwa geschah dies immer 
haufiger und grundsatzlicher. Wynekens Wirken hatte zur Folge, dafi immer 
mehr, deutlicher und ausschliefilicher unter dem gewiinschten Schulheim die 
Freie Schulgemeinde letztlich Wynekenscher Pragung gemeint wurde, auch in 
jenen Kreisen, die gegen Wynekens Person feindselig eingestellt waren, oder 
in jenen, die seine Grundung F. S. G. Wickersdorf nicht als die schlechthin 
ideale anerkannten. 

Dies ist einer Reihe von zusammenwirkenden Umstanden zu danken. Wyne- 
ken errichtete sein Schulheim (die Freie Schulgemeinde Wickersdorf) auf" 
einem breiten ideologischen Fundament, das in vielen Punkten den damals 
allein vorhandenen Lietzschen Schulheimen scharf widersprach, in einigen 
wesentlichen der Jugendbewegung aber entsprach, fiir sie ebenso gultig war 
wie fiir seine Schule: die Idee der Jugend, die Idee der Jugendkultur und 
die Idee des Jugendfuhrers. Wyneken richtete nach seinem Weggang aus 
Wickersdorf seine Propaganda immer bewufiter und direkter an die Jugend- 
bewegung. Wyneken verallgemeinerte seine Schulgriindung zur geforderten 
Norm fiir das Erziehungswesen, Wahrend Lietz aus seinen Landerziehungs- 
heimen fiir das offentliche Schulwesen Lehrplanreformen ableitete, hat 
Wyneken die grundsa t zliche Umgestaltung der Schule 
iiberhaupt verlangt und damit eine Parole gefunden, die mit den 



846 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Interessen und Erlebnissen der Jugend in den Bunden vollig ubereinstimmte. 
Er hat schlieftlich den aktiven padagogischen Interessen in der Jugendbewe- 
gung, soweit soldie uberhaupt vorhanden waren, ein Ziel gesetzt, indem er 
die neue Schule als Aufgabe der Jugend zeigte. 
All dies kam zu vervielfachter Wirkung, indem der F. S. G. Wickersdorf 
bzw. Wyneken und der Jugendbewegung gemeinsame Feinde entstanden. 
Das Schulheim als solches enthalt nichts, was eine Regierung, und ware sie 
denkbar reaktionar, zwingen wiirde, Argernis zu nehmen, einzuschreiten, 
zu verbieten. Auch die Organisations form Wickersdorfs (Schulheim mit 
konsequenter Schulgemeinde) bot hierzu keinen Anlafi. Es war Wynekens per- 
sonliche Art, Deutsch, Religion, Geschichte zu unterrichten, es waren seine 
fur Thiiringen-Preufien 1904-1914 hochst revolution aren Anschauungen, die 
das Einschreiten der Behorden nbtig machten, nachdem einige Eltern, in 
ihren Autoritats- und Liebegefuhlen durch den Fuhrer gekrankt, die behord- 
liche Intervention herbeigerufen hatten. Wynekens taktisches Geschick war es, 
das diesen Konflikt in einen Kampf urn seine Jugendidee, seine padagogischen 
Ziele und Schopfungen gegen reaktionare Behorden und Spiefier-Eltern ver- 
wandelte. Und durch diese Wendung erst gewann die fur Wyneken ungun- 
stige Entscheidung der meiningischen Behorde offentliches und insbesondere 
Jugendbewegungsinteresse. Wyneken wurde zum Kampfer fiir die Jugend- 
bewegung, die freilich von diesem ihrem Vorkampfer nicht viei wissen 
wollte, was ihre »Bonzen« anging. In der padagogischen und politischen 
Offentlichkeit wurde der Fall Wyneken ein Anlafi zur Diskussion mehrerer 
Fragen der Sdiulreform, ohne weitere nachhaltige Wirkung. Wyneken hatte 
ein konkretes Schulreform-Programm nicht zu bieten, an grundstiirzenden 
Reformen hatte niemand, am wenigsten die Oberlehrerschaft, Interesse; 
Wyneken war zu den »Querkopfen, die radikal und verschwommen sind«, 
eingereiht. Am ehesten schien die Schulerselbstverwaltung, die in Wickersdorf 
verwirklicht und von Wyneken prinzipiell durchdacht war, Ankniipfungs- 
punkte an bekanntere, greifbarere, reelle Reformvorschlage zu bieten. Doch 
Wyneken selbst wollte mit der Selbstverwaltung an den sonst unveranderten 
hoheren Schulen nichts zu tun haben; er verwarf sie als flach-demokratisch. 
So war es ganz eigentlich die Schiilerschaft, die der Schulheim- und Schul- 
gemeindebewegung Verbreitung und Gewicht gab: Durch die Schulerzeit- 
schrift »Der Anfang«. Das Erscheinen des ersten Heftes dieser kleinen griinen 
Zeitschrift erweckte, man darf es wohl so pathetisch ausdrucken, einen Auf- 
schrei der Emporung in der Oberlehrer-, Rektorenwelt, bei den politischen 
Parteien bis weit in das liberale Biirgertum hinein. In den hoheren Schulen 
war die Revolution ausgebrochen, und jener Wyneken zeichnete fiir sie 
verantwortlich. In Wahrheit wufiten die hoheren Schuler Deutschlands und 
die Wiener Mittelschiiler nichts vom »Anfang«. Als sie durch Zeitungspole- 
mik und Debatten in Landtagen, Reichsrat, durch Verbote, spater sogar 
Polizeiverfolgungen davon erfuhren - lehnten sie in ihrer ungeheuren 



Anmerkungen zu Seite 7-87 847 

Mehrheit, der ganze Wandervogel inbegriffen, den »Anfang« und seine Be- 
strebungen, sogar unter Emporungsausbriichen ab. Die Auflage dieser Zeit- 
schrift hat kaum 1000 Exemplare erreicht, ihre Abonnentenzahl hat niemals 
ausgereicht, sie zu erhalten. Die Organisationen, die dem »Anfang« nahe- 
standen, umfaflten einen verschwindenden Bruchteil der Jugendbewegung, 
die » Wynekenianer« ; sie nannten sich selbst Jugendkulturbewegung. 
Dennodi war die Emporung nicht unbegrundet. Der »Anfang« war ein 
Novum. Die Schtilersdiaft meldete sich; nicht mit lyrischen Ergiissen, nicht 
mit Philosophemen, audh nicht mit allgemeinen sozialen Stimmungen, all 
dies gab es in der umfangreichen Wandervogelliteratur und in der seit 19 10 
reichlich gewachsenen (spater sogenannten) freideutschen Literatur. Sondern 
hier sprachen Schiiler sehr konkret und sehr radikal iiber und gegen ihre 
Schule und Eltem. Eine bewufite schulpolitische Gruppe kam hier zu Wort. 
Die ubrige Jugendbewegung war der Schule nicht minder Feind, aber sie 
schwieg sie tot. Hier aufierte eine Gruppe ihre Feindschaft. Sie wollte die 
Schule lebendig schreien. Ihr schulpolitisches Programm war: die Schule ist 
grundschlecht (dies war in tausend Einzelheiten zu beweisen); wir wollen die 
gute, richtige Schule = Freie Schulgemeinde haben; wir wollen sie erobern. 
Das ACS. 1 , das der eigentliche Trager des schulpolitischen Gedankens im 
»Anfang« war, hatte audi fur das Wie dieser Eroberung ein Programm. Es 
gait, die Schuljugend nach Schulen, nicht nach Bunden, zu organisieren ; die 
Schiiler jeder Schule sollten in ihr die Verwaltung iibernehmen (SchUleraus- 
schiisse) und die Schule in ihrem inneren Leben neu gestalten; die iiberschu- 
lischen Zentralorganisationen sollten dann irgendwie die Revolution des 
gesamten Erziehungswesens durchfuhren. Dies » Irgendwie « durfte, da ja der 
Weg sehr weit war bis dahin, ungeklart bleiben. Man dachte daran, politische 
Parteien zu gewinnen; oder man dachte an Streiks, oder an Auswanderung 
der Jugend aus Stadt und Schule; oder man machte sich klar, dafi vorerst die 
Voraussetzung fur all dies zu schaffen war: das Recht des hoheren Schiilers 
Vereine zu grunden, und die Abschaffung des Disziplinarrechts der Lehrer 
uberhaupt. Kurz, es war der »Klassenkampf der Jugend« proklamiert. 



1 ACS. — Akademisdies Committee fiir Schulreform. Diese Organisation, aus Stu- 
denten und Schiiler n bestehend, in engster FUhlung mit Wyneken, war ausgesprochen 
sdiulpolitisdb orientiert und hatte die organisatorische Fuhrung der Jugendkultur- 
bewegung in Handen, die freilidi in ihrer Masse einer strengen vereinsartigen Bin- 
dung widerstrebte. Das ACS. hatte sidi daher eigenartige Organisationsmethoden 
geschaffen. Der Sdiulerschaft dienten die Sprechsale mit ihren Jugendheimen, Haus- 
zeitungen, Beratungsstellen und sdiulpolitisdien Aktionsgruppen. Das ACS. war 
von seiner Griindung im Herbst 1912 bis zu seiner polizeilichen Auflosung im Marz 
i$ 14 von mir, nadiher unter verschiedenen Namen von Dr. Max Ermers und Karl 
Frank geleitet worden. Die iiberwiegende Zahl der iiberlebenden Komiteemit- 
glieder - Krieg und Revolution haben audi hier schwere Opfer gefordert - ist . 
heute in der sozialdemokratisdien, in der kommunistischen Partei und in jiidisdien 
Arbeiterparteien tatig. 



848 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Dies politische Programm entstand in Konkretisierung der Wynekenschen 
Ideen. 

Aber nicht dieses Programm, sondern sdion sein erster Punkt, die Schaffung 
des Forums fur seine Propaganda, der »Anfang«, brachte den AngrifT des 
Zentrums, der in Einem gegen Wyneken, den »Anfang« und die gesamte 
Jugendbewegung gefiihrt wurde. Die Freideutsche Jugend erwehrte sich 
dieses Angriffes, indem sie Wyneken, »Anfang« und Schulpolitik ablehnte; 
der schulpolitisdie (»Jugendkultur«-)Fliigel wehrte sidi durch Prazisierung 
des Programms, durch Propaganda und Kampf. Es gab Relegationen aus 
Schule und Universitat, Hausdurchsuchungen, polizeiliche Auflosungsbefehle, 
gerichtliche Voruntersudiungen, Versammlungs- und Einreiseverbote; es be- 
reitete sich hier ein wirklicher Kampf vor, der durdi den Kriegsausbrudi 
abortiert wurde. 

Die organisierten Massen der Freideutschen Jugend wollten von solchem 
Kampf e nidits wissen; sie such ten (und fanden) Anschlufi bei national- 
sozialen Richtungen und Autoritaten von Ferdinand Avenarius bis Natorp 
und Diederichs (eine Schwenkung, die nicht durdi die schulpolitisdie Gruppe 
erzeugt, aber wohl indirekt durch die Abwehr gegen sie konsolidiert wurde). 
Die Ablehnung der sdiulpolitischen Richtung rechtfertigte sich national; es 
seien jiidische Ziele, Methoden und Mensdien. Dieses Argument war nicht 
ganz falsch. Sowohl zahlen- als bedeutungsmafiig waren in den »Jugend- 
kultur«-Gruppen, besonders im ACS. die Juden betrachtlidier als in den 
anderen 2 . Aber es waren natiirlich nicht die »Bluts« -Differ enzen, die zu 
unterschiedlidier Einstellung fiihrten. Die grofie Menge der Jugendkultur- 
gruppen bildeten Schiiler und Jugendliche, die nicht in Biinden waren, deren 
altersgemaiSe Opposition und Feindseligkeit gegen Eltern, Lehrer und Auto- 
ritaten daher nicht gebunden war durch erotische und geistige Befriedigung 
in der Gemeinschaft, sondern offen Schule und Lehrer als aktuelle Feinde 
traf, sich bestenfalls verallgemeinerte in revolutionare Gesinnung, die eine 
umfassende Veranderung des gesamten Gesellsdiafts- und Staatswesens ver- 
langte. Die Bunde hatten solche revolutionare Neigung gebrochen, indem sie 
die Illusion eines Jugend- und kulturgemafien Lebens, eines positiven Auf- 
baus im Bereidi der Jugend (der Jugendbewegung) boten. Die auflerbundische 
Jugend, von Aufbaumoglichkeiten entfernt, war mit Gedanken und Planen 
zur Vernichtung des Bestehenden geladen. Bei mandiem mag es diese Ein- 
stellung gewesen sein, die seinen Eintritt in einen Bund unmoglich machte; 
die meisten aber verfestigten diese Einstellung, weil sie aus zufalligen 
Griinden den Anschlufi an einen Bund nicht erreicht hatten. Dies gait vor 
allem fur Juden, die aus vielen Biinden grundsatzlich ausgeschlossen waren, 
in anderen nur schwer und ungern Aufnahme fanden. Die bundische Jugend 

2 I<h schatze die Zahl der Wynekenianer auf 3000 im Juni 1914, wovon gewifi ein 
Drittel Juden waren. In Wien, dem Sitz des ACS. waren ca. 500 organisierte 
Mitglieder, wovon 4jo Juden waren. 



Anmerkungen zu Seite 7-87 849 

erhielt ihre Radikalitat, trotz der Bundeseinwirkungen, entweder in ver- 
einzelten psychologisch besonderen Fallen oder, wenn ihre okonomische Not- 
lage ihr verunmoglidite, jenen Illusionen ausschliefilich zu leben. Der okono- 
misdien Situation des Burger- und Klembiirgertums der Vorkriegsjahre 
entsprechend, traf dies nur fur einen Bruditeil der hoheren Schuljugend zu. 
So trafen sich in der Jugendkulturgruppe die - durch Ausschluft oder Geburt 
sozusagen - Deklassierten mit den okonomisch armsten Sdiichten des Klein- 
burgertums. Die Judenfrage war eine Verschleierung der Klassenfrage. Und 
die Sdieidung zwischen Frei-Deutschen-Bunden und Jugendkultur- (Sprech- 
saal-) Jugend war der Ansatz einer Klassenscheidung; diese war ein echter 
linker Fliigel der Jugendbewegung. Sie war es audi, die sozialistischen, 
pazifistischen, frauenrechtlerischen Strebungen sich geneigt fiihlte, wahrend 
die anderen den Geist suchten, die Politik verachteten. Sie wurden auch 

- zwar vereinzelt, aber doch entscheidend - von einzelnen Sozialdemokra- 
ten, vom pazifistischen, »fortschrittlichen« Biirgertum gefordert. (»Der 
Anfang* z. B. erschien, nachdem Diederichs das Verlagsprojekt abgelehnt 
hatte, im Verlage der Berliner »Aktion«.) Diese Gruppe pflegte das Studium 
der Soziologie und suchte kurz vor Kriegsausbruch Fiihlung mit der sozial- 
demokratischen Arbeiterjugend. Das letzte erscm'enene Heft des »Anfang« 
berichtet iiber eine Versammlung vom 30. Juni 19 14, mit den Worten schlie- 
fiend: »Bemerkenswert war die Beteiligung zweier Vertreter der proleta- 
risdien Jugendbewegung. « 

Den reaktionaren Schichten des Biirgertums, vom Zentrum gefuhrt, schien 
die Freideutsche Jugend, Wyneken, Schulheim, Schulgemeinde^ Jugendkultur, 
»Der Anfang* eine einheitliche verderbliche, sittenlose und revolutionare 
Bewegung zu sein, der ihr scharfster Kampf gait. Sie verstanden hierbei 
sehr geschickt, die friedliche Masse der Jugendbewegung wegen der radikalen 
Ziele ihres linken Fliigels zu bekampfen. Die demokratischen, liberalen, fort- 
schrittlichen Kreise fanden im Gesamt dieser Bewegung eine ganze Reihe 
brauchbarer Forderungen: die Jugendbewegung, die wanderte, tanzte, hohe 
moralisch^ Ideale vertrat, lebensreformerisdben Tendenzen huldigte (Anti- 
alkohol und Antinikotin), schien ihnen sympathisch, wenn sie nur nicht 
politische »verfruhte Bindungen* einging und nicht in »blindem Radikalis- 
mus« Familie und Schule storte; das Schulheim als padagogische Neuerung - 
naturlich ohne »kulturwidrige« Ideologic - fand durchaus ihre Zustim- 
mung; die Schiilerselbstverwaltung imponierte ihnen als demokratische Ver- 
fassung der hoheren Schule und des Schulheims, selbstverstandlich voraus- 
gesetzt, dafi sie den Betrieb der Schule nicht storte. Die Freideutsche Jugend 

- und die von ihr gefiihrten Bunde - haben sich dieser Sympathien als wert 
erwiesen; sie vollzog die Trennung von Wyneken, der jene Auffassungen 
vertrat, die iiber das hinausgingen, was das liberale Biirgertum vertrug. In 
diesem Sinn war die Jugendkulturgruppe mit ihrer schulpo litis chen Auf- 
fassung der Schulgemeinde revolutionar. Sie meinte mit dem Wort Schul- 



850 Anmerkungen zu Seite 7-87 

gemeinde sowohl Schulheime, aufgebaut auf der »Schulgemeinde« (Schiiler- 
selbstverwaltung), als audi Sdiiilerselbstverwaltung in den hoheren Schulen 
als Kampfmittel der Jugend zur Eroberung der Schule. Die 
Freideutsche Jugend hat gleichfalls die Schulgemeinde vertreten, sie meinte 
damit das Sdiulheim vom Typ der Landerziehungsheime und Schiilerselbst- 
verwaltung in der hoheren Schule, zur Verbesserung des gegenseiti- 
gen Verhaltnisses zwischen Sdiiilern und Lehrern. So hatte die Frei- 
deutsche Jugend und die schulpolitische Gruppe um Wyneken anscheinend 
das gleiche Ziel: die Schulgemeinde; in Wahrheit aber besafi die Freideutsdie 
Jugend blofi ein wohlklingendes Wort fiir ihre vollige Friedfertigkeit; wah- 
rend auf der anderen Seite dies selbe Wort ein sehr konkretes Kampfpro- 
gramm unklar bezeichnete. 

Dies schulpolitische Programm war auf die Gegenwart gerichtet und wollte 
den Kampf der Schiilerschaft gegen Lehrer und Behorden um die neue Schule. 
Als nachstes Kampfobjekt war die Disziplin in der hoheren Schule gefun- 
den, ob sie nun als unwiirdig fiir eine selbstbewufite Jugendgeneration oder 
als undemokratisch bezeichnet wurde, jedenfalls sollte die »Disziplinarord- 
nung«, die Sdiiilern hunderterlei nicht erlaubte und mit lappischen Strafen 
belegte, jeden Schiiler der vollen Willkiir eines wenig geschatzten, vielleicht 
sogar gehafiten Beamten aussetzte, gebrochen werden. Die Schiilerschaft 
sollte mit der (freilich zur neuen Disziplin erst zu erziehenden) Lehrerschaft 
gemeinsam die innere Ordnung der Schule festsetzen und erhalten, das 
Strafrecht sei den Lehrern zu entziehen und vollig der Schu'lergemeinschaft 
zu ubergeben. Hier fand die Jugendbewegung einen Beriihrungspunkt mit 
einer, wenn audi schwachen und nebensachlichen, padagogischen Forderung 
der »Erwachsenen«. Denn dies System der Selbstverwaltungsdisziplin gehorte 
zu den Forderungen einiger Schulreformer; Amerika gait als das vorbildliche 
Land der Schiilerselbstverwaltung. Die ersten Versudie mit der Schulerselbst- 
verwaltung hatten aber schon klar gezeigt, was bei der Wesensart und den 
Voraussetzungen ihrer Propagatoren nie zweifelhaft gewesen war, dafi die 
Schiilerselbstverwaltung dazu dienen wurde, das »schwere Amt der Lehrer 
zu erleichtern«, dafi sie tatsachlich - wie tief audi ihre Begriindung formu- 
liert worden war - dazu herabgewiirdigt werden wurde, den Lehrern eine 
Spitzeltruppe, bestenfalls Handlanger fiir Tafel-, Gang-, Klosettreinigung 
abzugeben. Die Schiilerselbstverwaltung war bei den Sdiiilern diskreditiert, 
noch ehe sie als padagogische Forderung von Belang in der Padagogik ver- 
treten wurde. An ihr festhaltend, diese Entwiirdigung der Idee aber be- 
kampfend, wurde von Wyneken und spater vom ACS. die Parole »Schul- 
gemeinde!« ausgegeben. Das hieft: ernsthafte Schiilerselbstverwaltung. So ist 
das Wort Schulgemeinde zu doppelter BegrifFsbedeutung gelangt: als Sdiul- 
heim und als Schiilerselbstverwaltung in der offentlichen Schule 3 . 

3 Naturlich wurde das Wort audi unabhangig von der Jugendbewegung - und zum 
Teil vor ihr so gebraudit; aber durch sie vurde es zum popularen Sdilagwort. 



Anmerkungen zu Seite 7-8 7 851 

Die pa'dagogische Diskussion urn die Sdiulgemeinde wurde im Zusammen- 
hang mit dem Fall Wyneken und dem Fall »Anfang« lebhafter, und der 
Gedanke der Sdiulgemeinde in den Sdiulen gewann unter den Padagogen 
entschieden Anhanger; deren Motive und Hintergriinde waren ebenso wie 
ihre Begriindungen recht verschieden. Doch fast niemand billigte schul- 
politische Aktivitat der Sdiiiler (und der mit ihnen verbiindeten Studenten). 
Man darf vielmehr annehmen, dafi ein nicht unwesentliches Motiv der An- 
hanger des Schulgemeindegedankens war, einer Revolution der Schulerschaft 
zuvorzukommen, sie durch Gewahrung der »Konstitution«, durch Herbeifiih- 
rung »verf assungsmafiiger Zustande« in den Oberklassen zu beruhigen. Darum 
fan den einige Versudie der Schulerschaft, in ihrer Schule die Sdiulgemeinde zu 
erhalten, zunachst Unterstiitzung seitens einzelner Lehrer und Rektoren. 
Soldie Versudie wurden an mehreren Sdiulen Deutsdilands und Osterreidis 
unternommen. Einige gingen direkt auf Anregung der Jugendkulturorganisa- 
tion (ACS., Spredisale, Anfang) zuriick und standen unter der Leitung einer 
geheimen Schiilerorganisation, die Anfang 19 14 sidi zu bilden begann, oder 
waren in anderer Verbindung mit dem ACS. oder mit Wyneken. Zu einem 
Erfolg fiihrte keine dieser Bestrebungen. Es traf sie daher audi nidit das 
Odium, das jenen Versudien anhaftete, die von oben her durch Lehrer und 
Behorden versucht worden waren. Der Nutzen dieser Versudie aber fiir die 
schulpolitische Jugendbewegung war betrachtlich. Erstens war eben dies von 
hochster Wichtigkeit, dafi die Schulerschaft, wenn audi nur in wenigen ver- 
einzelten Fallen und ohne offentliche Aufmerksamkeit, so doch aktiv und 
zielbewuflt einen wirklidien Kampfversuch unternommen hatte. Zweitens 
brachte diese kurze und sdiwadie Aktivitatsperiode (Anfang 19 14) Erfah- 
rungen von hochstem Wert. Und zwar nach zwei Riditungen. Mochten die 
Initiatoren der Bewegung geglaubt haben, sie wurden begeisterte Zustim- 
mung bei den Schiilern finden - so zeigte sich, dafi alliiberall die Schuler- 
schaft eine uninteressierte, passiv resistierende, gelegentlich sogar offen 
feindselige Masse darstellte, die von Sdiulgemeinde nichts wissen wollte, die 
von der Schule iiberhaupt nichts wissen wollte. Als Aufgabe zeigte sich: 
Die Schulerschaft mufi gewonnen werden, mufi Einsicht in ihre Lage, Ver- 
standnis fiir den Lbsungsversuch, der Sdiulgemeinde hiefi, erhalten, sie mufi 
aus ihrem Schlaf, ob er nun von Fahrtenphantasien oder von unbundischen 
Traumen belebt war, zur Schulwirklichkeit geweckt, aufgeriittelt werden. 
Andererseits erwiesen sich die Lehrer und die Padagogik als nicht ganz so 
feindselig und ablehnend, wie man vielleicht angenommen hatte, Im Gegen- 
teil zeigten sie eine betrachtliche Bereitschaft, auf Schulgemeindegriindungen 
einzugehen. (Gewifi durften diese Erfahrungen nicht verallgemeinert werden; 
man hatte ja blofi an solchen Sdiulen mit der Verwirklichung des Programms 
begonnen, an denen man ein gewisses Entgegenkommen erwarten durfte.) 
Diese Bereitschaft schlug aber regelmafiig in klare Ablehnung urn, wenn ge- 
wisse Punkte beriihrt wurden, die fiir die Organisation der Sdiulgemeinde 



%$i Anmerkungen zu Seite 7-87 

wesentlich waren. Die Lehrer waren bereit, Schulgemeinden einzuriditen, 
aber in ihrer Vorstellung war die Sdiulgemeinde nie etwas anderes als ein 
Instrument zur Aufrechterhaltung der bestehenden Schulverhaltnisse, wah- 
rend die Schiiler die Sdiulgemeinde so zu organisieren bestrebt waren, dafi 
sie ein Werkzeug zur Revolutionierung der Schule in den Handen der 
Schiilerschaft und ihrer Fiihrer werden konnte. In zahlreichen Einzelfragen 
zeigte sich diese Dirferenz immer deutlicher, und diese Diskussionen, Ver- 
sudie und Kampfe brachten die uberaus wichtige Erfahrung: Es kommt 
nicht auf die demokratische Form, selbstverstandlich nidit auf ihren Na- 
men, sondern auf die R i c h t u n g an, in der sie gefiihrt wird. Die indolen- 
te Schulermasse lehnte aus einem richtigen Instinkt jene Schulerselbstverwal- 
tung ab, die einzelne vorgeschrittene Lehrer zu geben bereit waren. Insoweit 
mufite man ihnen recht geben und die sogenannte Sdiulgemeinde bekampfen, 
eben wenn man die e c h t e erreichen wollte. Aber die Sdiiilermasse hatte 
nicht eingesehen (oder war hierzu nicht willens), dafi die richtige Konsequenz 
nicht sein konnte, darum audi alles beim alten zu belassen, sondern daft es 
gait, die wirkliche Sdiulgemeinde zu erkampfen. Fur den Herbst 1914 berei- 
tete das ACS. eine energische Kampagne fur Vereinsfreiheit und Sdiulgemein- 
de vor, die auf solchen ersten Erfahrungen basiert, vielleicht mandien Erfolg 
gezeitigt hatte. Der Kriegsausbruch hat natiirlich soldie Plane verhindert*. 

Freiburg, Sommer 1913: Freundschafl mit C. F. Heinle, Mitarbeit am neuen 
» An fang* 

Anfang August 19 13, nach Abschluft seines zweiten Semesters in Frei- 
burg, fafite Benjamin seine Gedanken iiber eine neue Jugendlichkeit, 
wie wir sie wollen, in einem Brief an eine Freundin zusammen: Nun 
mufl id) Ihnen, so scbwer es ist, noch antworten auf das, was Sie 
Uber die Form neuer Jugendlichkeit schreiben. Ich habe dariiber 
nachgedacht, bis ich hoffte, einigermaften klar das sagen zu konnen, 
was ich von jeher dachte. Es gehort schon nicht mehr im engen 
Sinne zu unset er Arbeit - es ist wohl Geschidotsphilosophie, aber 
was Sie sagen, beweist ja den Zusammenhang mit unserm nach- 
sten Gedanken. [AbsatzJ Werden wir mit unserm Wollen dem jungen 
Menschen, dem Einzelnen, das Geringste nehmen? (Werden wir ihm 
- diese Frage ist noch ernster - das Geringste geben?) [AbsatzJ 
Aber vor allem: wird eine neue Jugendlichkeit, wie wir sie wollen, 
den Einzelnen weniger einsam machen? Ich sehe nicht, wie wir diese 

* Tax. nach Siegfried Bernfeld, Die Sdiulgemeinde und ihre Funktion im Klassen- 
kampf, Berlin 1928 (Schriftenreihe Neue Menschen), 14-28. - Audi Gretor-Barbizon, 
der gemeinsam mit Bernfeld den »Anfang« herausgab, hat einen Beridit iiber die 
Geschidite der Zeitsdirift veroffentlicht; s. Georg Gretor, Jugendbewegung und 
Jugendburg. Mit einem Vorwort von Bruno Goetz, Zurich 1918, 3-8. 



Anmerkungen zu Seite 7-87 853 

Frage, mit allem Ernst aufgefafit, verneinen konnen. Ja, ich glaube, 
dafi wir in dem, was wir erstreben, die Not der Einsamkeit (die gewifi 
wenn nicht eine Sonne, so ein geheimnisvoller Mond ist) nicht haben 
werden, wir wollen sie sogar vernichten, heben. [Absatz] So konnen 
wir sagen - dennoch diirfen wir nocb etwas gam andres, scheinbar 
das Gegenteil behaupten. Denn, sehen wir uns in unserer Gegenwart 
um. Nietzsche sagt einmal: »Meine Schriflen sollen so schwer sein. 
Ich sollte meinen, dafi alle mid) verstehen, die in der Not sind. Aber 
wo sind die, die in der Not sindf« Ich glaube wir diirfen fragen: wo 
sind die, die heute einsam sindf Auch dazu, zur Einsamkeit, kann 
erst eine Idee und eine Gemeinscbafi in der Idee sie fubren. Id) glaube 
es ist wahr, dafi sogar nur ein Mensch, der die Idee (gleichviel »wel- 
cbe«) aufgenommen hat, einsam sein hann; dieser mufi glaube ich 
einsam sein. Ich glaube, dafi nur in der Gemeinscbafi, und zwar in 
der innigsten Gemeinscbafi der Glaubigen ein Mensch wirklich einsam 
sein kann: in einer Einsamkeit, in der sein Ich gegen die Idee sick 
erhebt, um zu sich zu kommen. Kennen Sie Rilkes »Jeremia«, dort ist 
es wundervoll gesagt. Ich mochte Einsamkeit nicht die Beziehung des 
idealen Menschen zu den Mitmenschen nennen. Obwohl gewifi auch 
dies eine Einsamkeit sein kann - (diese aber verlieren wir in der 
idealen Gemeinscbafi). Sondern die tiefste Einsamkeit ist die des 
idealen Menschen in der Beziehung zur Idee, die sein Menschliches 
vernichtet. Und diese Einsamkeit, die tiefere, haben wir erst von einer 
vollkommenen Gemeinscbafi zu erwarten. [Absatz] Aber wie wir auch 
Uber Einsamkeit denken mogen - heute gibt es weder die eine, noch 
die andere. Jene »andere« Einsamkeit, glaube ich werden nur die 
Grofiten je vollig erreichen? Fur die Einsamkeit unter Menschen, die 
heute nur so ganz wenige kennen, sind die Bedingungen zu schaffen. 
Diese Bedingungen sind »Empfindung der Idee« und »Empfindung 
des Ich« und die eine ist unsrer Zeit so unbekannt, wie die andere. 
[Absatz] Ich mufi das von der Einsamkeit zusammenfassen: indemwir 
Einzelne uns von der Einsamkeit unter Menschen befreien wollen, 
vererben wir dieses unser Alleinsein den Vielen, die es noch nicht 
kannten. Und wir selbst lernen eine neue Einsamkeit: die der ganz 
kleinen Gemeinscbafi vor ihrer Idee kennen.** [Absatz] ImGrunde ist 
ja Ibre Frage und Ihr Einwand der ernsteste, der gegen den Anfang 
zu er heben ist - nicht nur gegen den Anfang. Und schon bevor diese 
Zeitschrifi erschien, babe ich ihn oft bedacbt. Mit diesem schreibe ich 
zum erst en Male davon, also nur ganz unvollstandig und abgebro- 

* J a, wenn sie - wie der Mystiker - ganz eins mit dem Ubersinnlichen wurden, 
dann haben sie sie schon verloren, zugleich mit dem Ich. 

** Das klingt hochmiitiger a Is es ist. Denn in Wirklichkeit sind fast in jedem Men- 
schen 2 Einsamkeiten und bleiben es. 



854 Anmerkungen zu Seite 7-87 

(hen. Man hat diesen Einwand abstrakter ausgesprochen und gesagt 
(oder vielmehr gemeint) : der Anfang nimmt der Jugend ein 
selbstverstandlicbes GefUhl der Unbefangenheit, nimmt ihr Natur- 
liches - kurz das, was man vielleicht Unschuld nennen darf. Dies 
ware wahr, wenn die Jugend j et z t Unschuld hdtte. Aber sie steht 
jenseits von Gut und Bose und dieser Standort, der fur das Tier er- 
laubt ist, fuhrt den Menschen immer zur Sunde. Dies mag die groftte 
Hemmung sein, die die heutige Jugend zu uberwinden hat: ihre Ein- 
schatzung als - Tier, d. h. als das reuelos Unscbuldige, Triebgute. Eur 
die Menschen aber (wir erleben das tdglich) erwachst aus solcher 
unbewuftten Jugend eine tr'dge Mannheit. Es ist wahr, daft die Jugend 
die Unschuld verlieren muft (die tierische Unschuld), um schuldig zu 
werden. Die E r kenntni $ , das Selbstbewufttsein einer Berufung, 
ist immer Schuld. Sie kann nur dutch die tatigste, heifteste und blinde 
Pflichterfullung gesiihnt werden. Ich glaube, es ist nicht zu abstrakt 
gesprochen: alle Erkenntnis ist Schuld, wenigstens alle Erkenntnis vom 
Guten oder Bbsen - so sagt auch die Bibel - aber alles Handeln ist 
Unschuld: [AbsatzJ Goethe sagt im Divan Verse, der en Tiefe ich 
immer noch nicht ermesse: [AbsatzJ Denn das wahre Leben ist des 
Handelns ewge Unschuld, die sich so erweiset, daft sie niemand scha- 
det als sich selber. [AbsatzJ Aber: der Unscbuldige kann nicht gut 
handeln, und der Schuldige muft es. [AbsatzJ Bitte entschuldigen Sie 
wirklich, wenn ich Ihnen auf eine einfache Frage eine Metaphysik 
antworte. Aber vielleicht sehen Sie diese Gedanken eben so einfach 
und selbstverst'dndlich, wie sie mir erscheinen. Fur den Menschen muft 
auch die Unschuld tdglich neu und als eine andre erworben 
werden. Wie auch seine Einsamkeiten immer einander aufgeben und 
erlosen - um immer defer zu werden. Die Einsamkeit des Tieres* 
wird erlost von der Geselligkeit des Menschen; der Mensch, der in der 
Geselligkeit einsam ist, grundet die Gesellschafl. Und nur wenige erst 
sind sogar mit ihrer Gemeinschafl einsam? (Briefe, 86-89) 
Theoreme dieser Art bestimmen Benjamins im »Anfang« veroffent- 
lichte Arbeiten (s. 35-42, 42-47, 47, 54-56 und 56-60), die alle wah- 
rend des Sommers 191 3 in Freiburg geschrieben wurden (s. aber 896 f.); 
sie kulminieren schliefilich in dem Fragment der Metaphysik der Ju- 
gend (s. 91-104). Neben dem EinflufS Wynekens scheinen damals Dis- 
kussionen mit dem jungen Dichter C Friedrich Heinle fiir Benjamins 
Entwicklung wichtig geworden zu sein**. Dieser lernte Heinle in den 
ersten seltsamen Wochen des Semesters (Briefe, 58) kennen, beide wur- 

* Dies ist eine dritte Einsamkeit, von der id} noch nicht schrieb: ich nenne sie 
»physiologische*. Von ihr sind Strindbergs Menschen gequdlt, 

** Ober Heinle s. Werner Kraft, Uber einen versciiollenen Diditer, in: Neue 
Rundschau 78 (1967), 614-621 (Heft 4). 



Anmerkungen zu Seite 7-87 855 

den Freunde und gingen im Winter 191 3 zusammen nach Berlin. 
Nach Heinles Tod im August 1914 versudite Benjamin jahrelang ohne 
Erfolg, die Gedichte des Freundes zu veroffentlichen. Fritz Heinle war 
Dichter und unter alien der einzige, dem id) nicht »im Leben« sondern 
in seiner Dichtung begegnet bin. Er ist mit neunzehn Jahren gestor- 
ben und man konnte ihm nicht anders begegnen. (Benjamin, Berliner 
Chronik, a. a. O., 36; audi Bd. 6.) - Ober seine erste Begegnung mit 
dem drei Jahre jungeren, in Aachen geborenen Heinle berichtete Ben- 
jamin Ende April 191 3 aus Freiburg: Mit was fur Menschen gehe ich 
dock uml [. . ./ Da ist Heinle, ein guter Junge. »Sauft, frifit und macbt 
Gedichte*. Die sollen sehr schon sein - ich werde bald welche horen. 
Ewig traumerisch und deutsch. Nicht gut angezogen. (Brief e, 45) 
Einige Tage spater heifk es: Gestern war ich mit dem i$jahrigen 
Dichter - jungen Heinle auf dem Kandel. Wir vertragen uns gut. 
In der Ant[h]ologie »MistraU, die bei A. R. Meyer bald erscheint, 
steht von ihm und Quentin [Pseudonym von Ludwig Straufi] je ein 
Gedicht*. (Briefe, 50) Anscheinend unternahm Benjamin es sdion 
bald, auch an Heinle sein intellektuelles »Herrschbedurfnis« (Adorno, 
Ober Walter Benjamin, a. a. O., 86) zu erproben. Am 5. Mai schrieb 
er: Ich bin gestern in Littenweiler tanzen gewesen mit [Philipp] Kel- 
ler, Englert, Manning, Heinle - es ist mir vor ihnen gleichgiltig ge- 
wesen, ob ich gut oder schlecht tanze. Ich ging, wann ich wollte. 
Weiter: es wdchst hier eine Revolution, die ich mit Sicherheit befehle. 
Ich bin der Gegenpol Kellers und befreie die Leute von ihm, nachdem 
ich mich selbst von ihm befreite. [. . .] Ich habe hier die Parole der 
Jugendlichkeit ausgegeben. [. . ./ Ich hatte ein Gesprach mit Man- 
ning [. . ./ All diese werden befreit, damit sie dazu kommen, sich 
aus zu bilden, unsentimental und niichtern nach Ideen, statt sich zu 
ubertiinchen nachGesten. Ein ahnlicher Fall, nur leichter Jiegt mit dem 
jungen Heinle vor, mit dem ich neulich ein istiindiges Gesprach uber 
den Literaten hatte. - Ich sehe, dafl diese, wenigstens Heinle, Keller 
entfernt nicht so tief achten, wie ich - we'd sie ihm noch nachgehen. 
(Briefe, 5 1 f .) Anfang Juni sprach Benjamin von Heinle als von dem 
einen jungen Menschen, den er in Freiburg kennengelernt habe: seit- 
dem arbeiten wir zusammen (Briefe, 58). An einem literariscben 
Abend, am 6. 6. 1913, las Benjamin ein wenig Rilke vor, aufier die- 
sem [?] lasen Keller und Heinle (Briefe, 60) - die letzteren wohl 
aus eigenen Arbeiten. Anfang Juli heifit es in einem Brief Benjamins: 
Endgiltig ist Heinle der einzige Verkehr von Studenten geworden, 
den ich wirklich personlich fuhre. Keller ist jetzt neurasthenisch - sel- 
ten sehen wir uns und dann sprechen wir mit Bewufitsein vorsichtig. 

* s. C. F. Heinle, Tannenwald im Schnee, in: Der Mistral. Eine lyrische Anthologie, 
Berlin-Wilmersdorf 1913 (Budierei Maiandros. 4./J. Buch), 22. 



8 j 6 Anmerkungen zu Seite 7-8 7 

Neulich wurde ich Zeuge einer furchtbar peinlichen Szene, in der 
Freiburger Klatsch zwischen Manning, Englert und Keller ausgetra- 
gen wurde - Beleidigungen, Verdacbtigungen u. $. w. Dinge, die man 
schriftlich garnicht ohne viel Gewdsch wiedergeben kann. Daft Heinle 
und ich garnichts hiermit zu tun batten - sondern von beiden Parteien 
ah Unbeteiltgte geachtet werden, mag Dir fur unsere sickere und 
ganzlicb isolierte Stellung zeugen. [. . ./ Neulich lernte ich eine Stu- 
dentin aus Essen hier kennen, die Benjamin heiftu Wir machten elnen 
Spaziergang auf den Schonberg, den ich erst in diesem Semester ent- 
deckte und der einer der schonsten Gipfel ist die ich kenne. Nachstens 
will ich nachts mit Heinle bingeben. Wir sprachen vielerlei unan- 
gestrengt und frdhlich - jedesmal wenn ich an diesen Spaziergang 
denke, merke ich, wie sehr mir hier Menschen fehlen. Denn Heinle 
ist eben der einzige. (Briefe, 70) Erst gegen Ende des Sommerseme- 
sters stiefi zu der Gemeinsdiaft Benjamins und Heinles ein weiterer 
Freund hinzu: Er [. . ./ ist der Sohn des Mannes, der den »Freibur~ 
ger Boten« redigiert, das ultramontane Blatt. Er sitzt am Tage in der 
Redaktion, artikelscbreibend - er hat nur das Einjabrige gemacht. 
Heinle telefonierie ibn gestern an, wir wollten wieder mit ihm zu- 
sammen sein. Auch beut abend sind wir es. Sehr scbade t dafl wir den 
Dritten y der zu zweien gebort t erst jetzt fanden. Wir brauchen keine 
Anstrengung, uns mit ihm zu verstehen; er spricbt wenig y niemals 
Leeres und hat ein wirklich gluhend starkes Kunstempfinden - auch 
Begriffe. Gestern stiegen wir von 1 0-12 V2 im Wald herum und spra- 
chen von der Erbsiinde - wir fanden wichtige Gedanken - und vom 
Grauen. Ich meinte t dafi Grauen vor der Natur die Probe auf wabr- 
hafles Naturempfinden ist. Wer kein Grauen vor der Natur empfin- 
den kann 3 der weifi Uberhaupt nichts mit ibr anzufangen. Die »Idylle« 
ist garkein Naturgenufi - sondern eine Pseudo-Kunst-Naturemp fin- 
dung. (Briefe, 83) Am 4. August, als Benjamin Freiburg bereits verlassen 
hatte, schrieb er an eine Freundin: Der Abschied von Freiburg - von 
diesem Semester - ist mir schliefllich docb schwer geworden, was ich 
so leicht von keinem der letzten Jahre sagen kann. [. . .] Da war 
Herr Heinle, von dem ich weift, dajl wir uber Nacht Freunde gewor^ 
den sind. Ich las bier gestern abend seine Gedichte aus diesem Seme- 
ster und finde sie, entfernt von ihm, fast doppelt scbbn. [. . .] Die vier 
letzten Abende waren wir (Heinle und ich) stets uber Mitternacht 
hinaus zusammen, meist im Walde. Mit uns immer ein junger Mensch 
meines Alters, den wir durch Zufall eben in den letzten Tagen ken- 
nen lernten, von dem wir uns sagten, daft er der dritte set, der zu 
zweien gehort. [. . ./ Damit endigte dies Semester schon - ich weifi von 
ihm wie von keinem andern, daft ich es garnicht ubersehe, sondern daft 
es in Jahren fruchtbar sein wird. (Briefe, 85) 



Anmerkungen zu Seite 7-87 857 

Bei seinen Versuchen, Heinle Zugang zum »Anfang« zu versdiaffen, 
war Benjamin nur ein begrenzter Erfolg beschieden. Ober die Arbei- 
ten hinaus, die er selbst fur den »Anfang« sdirieb, beteiligte Benjamin 
sich in Briefen an Berliner Freunde intensiv an den Redaktions- 
geschaften der Zeitschrift. So schrieb er nach Erscheinen des ersten 
Heftes an Franz Sachs: In Sachen des » Anfang*. Ich weifi nicht, ob 
Dti des bftern mit Barbizon zusammenkommst; jedenfalls wunschte ich 
es. [. . ./ Wenn eine durchaus sichere Personlichkeit die Leitung des 
»Anfang* hatte, so ware es wohl moglich, dafi Wyneken sidy vollig 
von der Geschaftstatigkeit zuriickzdge. Aber jetzt sollte er nur scharf 
revidieren. Und was ist das mit [Wilhelm] Ostwald? Ich schrieb 
an Barbizon: wie ist es moglich einem so notorischen »Schulre former* 
und Vielsobreiber in unserm Anfang das Wort zh geben. Jetzt hat die 
Offentlichkeit was sie will: das bequeme Schlagwort, um den Anfang 
ins grofie Massengrab der »Schulreform« zu weisen. Menschen und 
Schreiber wie Ostwald sind die groflten Feinde unsrer Sache, denn 
wir wollen eben endlich nicht Schulreform, sondern etwas andres, 
wovon er sich nichts tr'dumt. Oder doob? Wenn der Artikel des zwei- 
ten Heftes uns versteht (ich glaubs nicht!) gut - so mag er drinstehri*. 
Sonst ist schwerer Schaden angerichtet. Also kummere Dich bitte um 
die Redaktion, (Briefe, 5 3 f .) Im selben Brief ging Benjamin auf 
zwei Gedichte ein, die im »Anfang« gedruckt worden waren (s. Briefe, 
54). Fur den » Anfang* werbe ich hier t heifit es am 5. Juni in einem 
Brief an Carla SeKgson, habe einen neuen Mitarbeiter gewonnen und 
bin ziemlich zuversichtlich fiir die Zukunft. Es ist so wiobtig, daft hier 
unsere Ideen endlich frei werden von der Dogmatik, die ihnen aufier- 
lich anhaftet: das ist es im Grunde, was ich von der Zeitschrift er- 
warte. Ob man in Berlin auf dem durchaus richtigen Wege ist, weifi 
ich nicht - mit Befremden hore ich, dafl Ostwald (!) im n'dchsten Heft 
einen Leitartikel schreiben soli Was hat, um Gottes willen, Ostwald 
mit dem »Anfang« zu tun! Der »Anfang* immerhin hat mich nun 
auch wieder in die freie Studentenschaft hier hineingetrieben. Ich darf 
mir in diesem Semester keine zu hohen Ziele setzen; wie ich Ihnen 
schon schrieb ist die Organisation hier unsicher. Nichts weiter soil 
geschehen, als dafl aus der Abteilung am Ende des Semesters einige 
Leute gehen, die uns soweit verstanden, dafl sie den »Anfang« abon- 
nieren, wenn auch zuerst vielleicht noch mehr aus Achtung (die sie 
jedenfalls empfinden sollen) als aus Interesse, Ich habe hier nur einen 
treuen und tuobtigen Heifer. [. . ./ Dann ist die grofie abstrakte 
freistudentische Masse da, an deren Geschichte man einfach glau- 
ben mufi ohne dafi oft ein einzelner Student uns unsere Arbeit durch 

* Der Artikel ist tatsadilidi im » Anfang* erschienen; s. Wilhelm Ostwald, Finde 
dich selbst, in: Der Anfang 1 (1913/14). 34"37 (H eft 2 » J» n i 'u)* 



858 Anmerkungen zu Seite 7-87 

nabes Verstdndnis bew'dhrt. Daher entschloft ich mich so schwer zur 
Neugrtindung der Abteilung, tue es nun dock ftir den Anfang und 
erwarte was daraus wird mit grower Fassung. (Briefe, 57 f.) Am 
23. Juni sdirieb Benjamin an Herbert Belmore: Werbt! Werbt! Wir 
konnen garnicht wissen, wie viel wir bewegen. Unbedingt mtifl der 
»Anfang« erhalten bleiben als erstes rein geistiges (nicht asthetisches 
od. sonst wie) Blatt, dennoch fernstebend der Politik. (Briefe, 63) An- 
fang Juli ist Benjamin sehr mit der Untersttitzung des »Anfang« 
beschaftigt: In den letzten Wochen also habe id) sehr ruhig ftir den 
» Anfang* gearbeitet, [. . ./ Neulich sab ich auf der Strafte einen 
Schuljungen. Ich dachte: ftir den arbeitest du jetzt - und wie fremd 
ist er dir 3 wie unpersbnlick deine Arbeit. Indent sah ich ihn nock ein- 
mal an. Er trug Bucher in der Hand, hatte ein offnes kindliches 
Gesicht, nur von einer leichten Schulbetrtibnis tiberzogen. Er erinnerte 
mich an meine eigne Schulzeit: garnicht abstrakt, garnicht unperson- 
lich mehr schien mir meine Arbeit am » Anfang*. (Briefe, 72 f.) Zu 
dem Juli-Heft der Zeitschrift sdirieb Benjamin an Franz Sachs: Sicher 
haben wir alien Grund, uns uber die dritte Anfang-Nummer zu 
freuen; Barbizon erhielt meine Kritik schon. Die Nummer eignet sich 
alles in allem sehr zur Propaganda* ist zugleich aber doch sichrer und 
interner als die vorherigen. [. . .] Du sprichst von einem »heraus- 
zubildenden Ton* des Anfang. Wir werden uns hier wohl einig 
sein: aber allgemein mufi man sich htiten, allzu bestimmte Begriffe 
von dem was Jugend und Anfang ist y mitzubringen. So schrieb ich 
auch Fritz Straufi auf seine Kritik von Heft 2. Ich bitte Herbert 
[Belmore] \ wenn moglich, mir jetzt schon seinen Aufsatz zu schik- 
ken; ich habe hohe Erwartungen und mochte ihn hier vielleicht in klei- 
nem Kreise schon vor seinem Erscbeinen im Anfang vorlesen. (Briefe, 
74) Wenige Tage spater, am 17. Juli, heifit es jedoch: hanger e Zeit 
will ich mich jetzt, bis etwa auf die Niederschrifl einer Novelle, ganz 
rezeptiv in Kunst und Philosophic verhalten. Vor allem: nicht fur den 
Anfang schreiben. Es besteht Gefahr, daft Gedanken, die ich noch 
nicht in den konkreten Konsequenzen beherrsche, mir selbstverstdnd- 
lich werden. (Briefe, j$) Und am 30. August 1913 schrieb Benjamin 
Ernst Schoen: Vielleicht haben Sie in der Zwischenzeit einmal den 
Anfang zu Gesicht bekommen und da haben Sie denn gesehen, daft 
»Ardor« eine Ordnung seiner Begeisterung und Denkgedanken sehr 
notig hat. (Briefe, 91) 

Anscheinend hatte Benjamin schon fiir das erste Heft des »Anfangs« 
Gedichte Heinles zum Abdruck empfohlen, welche von der Redaktion 
abgelehnt wurden; in dem Brief vom 4. 7. 1913 an Sachs schrieb er: 
Wenn Du ein Wort mitsprachest, so ware es wohl kaum zur Ableh- 
nung der dichterischen und jugendlichen Oden Heinles gekommen, die 



Anmerkungen zu Seite 7-8 7 859 

Barbizon »ungeeigneU nennt. (Briefe, 53) Audi ein Artikel von 
Heinle iiber Gerhart Hauptmanns »Festspiel in deutschen Reimen« 
ist im »Anfang« nicht gedruckt worden (s. Briefe, 63, 69, sowie un- 
ten, 903 f.)- Am if Juli ist dann noch einmal von Gedichten Heinles die 
Rede: Heinle will ich auch gegen Wyneken verteidigen. Sein Gedicht 
ist schwer verstandlich y auch nicht vollkommen. Es bat grofte Ahnlich- 
keit mit den Lizenzen, die Goethe sich im z ten Faust gibt. Sein Jahr- 
hundertfestspiel sollte ein Aufruf an die Gemiiter sein und ist es. Er 
hat hier, nicht nur auf rnich, Eindruck gemacht. Gedanken stehen nicht 
darin und gehoren nicht in einen Aufruf, wenigstens nicht unbedingt. 
Haltet Ihr einen Aufruf fiir unwurdig, verschmdht Ihr ein Pathos, 
was man einmal unbegrundet formt, so ist es strittig. Vielleicht denkt 
Wyneken so. Aber dann geht es gegen Heinles T end en z und Un- 
fahigkeit ist darum nicht zu konstatieren. In Berlin werde ich Euch 
Gedichte von Heinle zeigen, die Euch vielleicht doch gewinnen. Wir 
sind hier wohl aggressiver, pathetischer, un-besonnener (wortlichf) 
vielmehr: er ist es und ich fiihle es nach } mit und bin es oft auch. 
(Briefe, j^ (.) - Die einzige Arbeit von Heinle, die im »Anfang« er- 
schienen ist - das Prosastuck »Meine Klasse« - wurde von der Re- 
daktion mit einer distanzierenden Anmerkung versehen: »2u diesem 
Aufsatz, sowie ein fiir allemal zu alien ahnlidien, bemerken wir, daft 
wir ihn lediglich als Ausdruck einer ganz subjektiven Stimmung und 
Auffassung wiedergeben.« Der Text, der zu den ganz wenigen gehort, 
die Heinle uberhau'pt zum Druck gebracht hat und der sich in Identi- 
schem wie im Unterschied eng mit Benjamins Arbeiten von 19 13 
beruhrt, wird im folgenden wiedergegeben. 

Meine Klasse 
Das Jahrhundert des Kindes ist im wesentlidien leeres Wort geblieben. 
Unbekiimmert geht in Schule und Haus die alte Wirtschaft weiter. Durdi 
die nachlassige Sprechweise von Ammen und Dienstmaddien wird das 
Ausdrucksorgan des Kindes friihzeitig verdorben. Ein grafiliches r, das bei- 
nahe im Magen gesprodien wird, und quietschende Verliebkosungen der 
Worte fiillen sein kleines Ohr. Kaum hat es sich etwas befreit und Kamera- 
den gefunden, so wird es in die Schule gesteckt. Ein Mann mit Manieren wie 
ein Bauer hat einen verschlissenen Konfirmationsrock an; wenn er in Begei- 
sterung gerat, spuckt er iiber drei Banke. Man hat ihn nie auf seine Kultur 
gepruft. Formulierte Gedanken hat er in sein Gehirn gepaukt zum Examen, 
dann lafit man ihn los auf die kleinen Kinder: dort kommt es nicht so 
darauf an. Diese Gedanken sind eigentlich nur fiir die alteren Schuler da, es 
sind Dinge aus einem freien Reiche des Geistes, wesenlos und ohne An- 
schauung, man bemiiht sich, sie zu formulieren, wie man es gelernt hat. Der 
Lehrer also hat den Gedanken, dieser soil den Kleinen angepafit werden. 



860 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Jeder Mensch weifl nun, dafl Gedanken in diesem Alter sich nicht Ubertragen 
lassen anders als gefiihlsmafiig, nichtsdestoweniger versucht es der Lehrer. 
Denn es ist kein Gedanke, der sein Inneres fiillt, den er hier lehren soli, er 
ist nicht ein Teil seiner selbst; eigentlidi geht er ihn nichts an, er braucht ihn 
eben nur fur die Sdiulkinder, und er lachelt dariiber, wenn er zuhause sitzt. 
Aufierdem sind seine GefUhlsorgane durch Entbehrungen und Kriediereien 
verkriippelt. Er ist unfahig, mit seinen Schiilern in Kontakt zu kommen. 
Seine Isolierung fiihlend, schwingt er sich auf das hohe Pferd vor ihnen. 
Da redet er nun von Worten, um die sich der Schuler vergeblich bemiiht, er 
redet von Tugend, von Enthaltsamkeit usw., was das ist, sagt er nicht, aber 
in alien Sprachen kann man es benennen, griechische und lateinische Ubungs- 
satze preisen ihren Wert. Diese Worte sind schlechthin das, was den edlen 
Menschen ausmacht. 

Der Mensch ist nun von Natur bose, aber zum Guten berufen, er mufi also 
moglichst beschnitten werden. Das geschieht im Hinblick auf das Ideal, das 
der Lehrer als Idealschiiler vor sich hat und das etwa so aussieht: Der Ideal- 
schiiler weifi alles, was man ihn fragen wird, er ist gut, treu, edel, er betrugt 
den Lehrer nicht und behutet ihn vor den Streichen der Menge. Von Klasse 
zu Klasse sieht er sich gleich, er wachst nicht, wird nicht alter und verandert 
sich nie, weil der Lehrer sich nicht verandert. Er weifl alles, was der Lehrer 
weifi, ihm kann er alles anvertrauen, er ist eigentlidi schon der Lehrer 
selbst, nur ist er ewig dankbar und erkennt ihn als Meister an. Dieser 
Idealschiiler verwirklicht sich nicht, die Schuler sind storrisch in allem Bosen, 
das wissen sie alles von vornherein, denn der Lehrer zieht immer von dem 
Idealschiiler ab, und da dort sich ein himmelweiter Unterschied herausstellt, 
so ergibt sich fur die Schiilerschaft eine ganz gleiche unfahige Masse. Der 
Lehrer sieht nicht, dafi soldi ein Ideal sich nicht verwirklichen kann, er glaubt 
an die Bosheit und den Widerstand der Schuler, dem er mit »g 1 e i c h e n« 
Mitteln begegnet. Er wird erbittert, er zieht sich zu seinem Ideal zuriick und 
stellt hohnisch fest, wie die nachriickenden Klassen von Jahr zu Jahr schlech- 
ter werden. 

Der Schuler dagegen, ohne Inhalt gelassen, beschwert bald durch die Visionen 
der wachsenden Mannbarkeit, sucht sich zunachst an seine Mitschiiler anzu- 
schlieflen, aber das kann der Lehrer nicht dulden, dafi eine Gefuhlsnaherung 
besteht, die er nicht kontrollieren kann, das wiirde ihn um jeden Einflufi 
bringen. Wir erinnern uns, wie jetzt die Vereinsschniiffeleien beginnen, wie 
die Mitglieder von Lesekranzen oder Kunstvereinen vor der hohnlachelnden 
Klasse genannt werden. Er verbietet solches Zusammenkommen. Er lafit die 
Schuler nach seinen verkriippelten Instinkten fiihlen, dafi ihr Mannbar- 
werden »u n s i 1 1 1 i c h« sei, daher machen ihre Zustande sie scheu. 
Wenn aber die ganze Klasse mitmacht, so kann keiner verraten, ohne dafi 
er selbst bestraft wird; das sucht man zu erreichen. Der Mut des einzelnen 
ist dahin, die Schuler gehen feige en masse in ein verrufenes LokaL Durch 



Anmerkungen zu Seite 7-87 861 

einen, den die Sadie zuletzt reut oder durch Zufall angezeigt, hat der Lehrer 
jetzt die Verbrecherschaft der Sdiiiler klar auf der Hand, beweiskraftig, und 
nun schwindet der letzte Firnis von Kultur. Gnade ist es, wenn der Sdiiiler 
bleiben darf. SdiHelUich kommt die Zeit, wo er als »reif« entlassen werden 
muft, obgleich jeder deutlich fuhlt, dafi d i e s e r Sdiiiler niemals reif werden 
kann. - Er wird jetzt zum Genusse seines Brotes kommen, zu erquicklicher 
Anstellung, aber mit verseuchten Sinnen und angeekelt von allem, was an 
Kunst und Kultur erinnert. - Es drangt sich eine Masse von Feiglingen und 
Unfahiggemachten, ein triiber Flufi am Wehr, das wird georlnet, das Wasser 
stiirzt angstlidi hinab, um bald in Lachen und Morasten zu versumpfen, statt 
Frucht zu bringen dem Land, das sie erwartet. 

Druckvorlage: Der Anfang 1 (1913/14), 82-84 (Heft 3, Juli '13) 

Benjamin sdirieb iiber Heinles Text in einem Brief an Sachs, der jenen 
abgelehnt zu haben scheint: Es genugt dodo, dafi sein [Heinles] 
Aufsatz, wie Dh zugibst, charakteristisch ist - wie oft haben wir auf 
der Sdoule ungesagt jenen mafllosen lorn gefuhlt, der bier ausgedrtickt 
ist. Als Ausdruck dieser Stimmung hat Heinles Aufsatz sein gutes 
theoretisdoes (und hygienisches) Recht. Er gibt nicht Tatsachen sondern 
Gefiihle. Wynekens Redaktionsbemerkung besteht gleichwohl zu 
Recht. (Briefe, 74) 

Eine gemeinsame Arbeit von Benjamin und Heinle sind die mit ein- 
zelnen Formulierungen an Gedichte des Jakob van Hoddis anklingen- 
den Nonsense- Verse Urwaldgeister. Sie finden sich als Typoskript im 
Nachlaft Benjamins, unter das dieser handschriftlich die Autorennamen 
Walter Benjamin und C. F. Heinle setzte. 



Urwaldgeister 



Kindern und Konigen 



Toren toten die Titanen . . . 
Toren toten die Titanen 
Tappisch tdtowierte Ahnen 
Ziehn mit fliegenden E ahnen 
In Karawanen. 

SchUflied 
Schwarz wie ein Birkenstamm bist weifles Schaf du 
Eingehest bald in meiher Seele Ruh du 
Schon schwebt der Geist des Kanguruh und Uhu 
Dem Schlaf zu. 

Lube 
Die Krawatte um den Hals 
Ereue ich mich allenfalls 



862 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Auch die Strumpfe an den Beinen 
Stimmen mich bereits zum Weinen 
Doch der GUrtel soil allein 
Unsres Glucks Aquator sein. 

Der blinde Konig 
Wabrend in der fernen Gegend 
Seiner Monarchie e$ regent 
Liegen Szepter Kron und Schwert 
Einsam Uber Thron und Herd. 

Ballade 
In dem Nebenraum daneben 
Hort man einen Konig leben - 
Auf der Babre ruhn die Kind 
Die im Wind gestorben sind. 

Der V err at 
In den Buchenwdldern buthen 
Die Verrdter bunte Kuchen 
Wipfel knarren im Verein: 

»Scharren aus und scharren ein«. 

Der Krawall 
Blutvergieflen Spatzenscbiefien 
Hingescbmissen zarte Bissen 
Wie die Pickelbaube blinkt 
Bleidbe Leiche glaubt und singt. 

Auskehr 
Die Vergeben sind verhengt 
Docb der Henker sitzt und denkt. 

Druckvorlage: Bcnjamin-Ardiiv, Ts 2327 f. 

Von groflerem Interesse nodi fur die - keineswegs unproblematische 
- Beziehung, die Benjamin und Heinle verband, ist ein wahrscheinlich 
Ende Oktober 191 3 in Berlin entstandener Vortrag »Die Jugend«, 
der bislang unpubliziert ist. Benjamin hat 1932, in der Berliner Cbro- 
nik, uber die naheren Umstande seiner Entstehung berichtet: Heute 
so gut wie damalsj wenn auch aus sebr andern Oberlegungen her- 
aus, verstebe icb, daf die »Spraobe der Jugend* im Mittelpunkt 
unserer Vereinigungen stehen mufite. Auch weifi ich beute keinen 
wabreren Ausdruck unserer Obnmacbt als jenen Kampf, der uns da- 
mals als der Hobepunkt unserer Kraft und unseres Ubermutes er- 
scbienen ist, wenn auch selten fuhlbarer als an diesem Abend der 
Scbatten des Untergangs war, den das Unverstandnis der Beiwohnen- 



Anmerkungen zu Seite 7-87 863 

den auf uns geworfen hatte. Icb denke bier an Heinle und mich, die 
wir an einem Abend der Aktion zu Worte kamen. Urspriinglich vor- 
geseben war nur eine Rede von mix und sie war betitelt »Die ]ugend«. 
Es war mir selbstverstandlich, daft ihr Text bevor er verlesen wurde, 
in unserm engsten Kreise bekannt wurde. Kaum war das aber gescbe- 
ben, so erhob Heinle Einspruch. Sei es, dafi er selbst reden, sei es 
daft [er] mir Anderungen zumuten wollte, welcbe ich ablehnte — 
es kam zu einem bafilicben Streit und wie immer bei solcben Anlassen 
war es die ganze Existenz der Streitenden, die eingesetzt wurde - an 
Heinles Seite die jungste jener drei Schwestern [Traute, Carla und 
Rika SeligsonJ, urn die die wichtigsten Gescbebnisse damals gravi- 
tierten, als stellte das Beisammenleben einer judiscben Witwe mit 
ihren drei Tocbtern, fur eine Gruppe, welcher es mit der Vernicbtung 
der Familie ernst war, den gegebenen Stutzpunkt dar. Kurz, jenes 
Madcben bestdrkte den Freund in seinen Anspriicben[.] Aber aucb icb 
selber wollte nicbt zuriicktreten. So kam es, da/1 an jenem Abend der 
»Aktion« vor einem staunenden, docb wenig gewogenen Publikum 
zwei Reden gleicben Titels und von fast gleicbem Wortlaut verlesen 
wurden, und in der Tat, der Spielraum jener »]ugendbewegung« war 
nicbt grower als der, den die Niiancen dieser Reden zwiscben sich 
beschlossen. Wenn icb heute an diese beiden Reden zuriickdenke, so 
mocbte icb sie den aneinanderscblagenden Inseln der Argonaut ensage 
vergleicben, den Symplegaden, zwiscben denen kein Schifi beil hin- 
durchkommt und, damals, ein Meer von Liebe und von Hafi seine 
Wogen warf. (Benjamin, Berliner Chronik, a. a. O., 39-41; audi 
Bd. 6.) Die Vortrage Benjamins und Heinles wurden am 1. 11. 1913 
auf einem Berliner Autoren-Abend der Zeitschrift »Die Aktion« ge- 
halten, auf dem - einer Annonce in der »Aktion« zufolge - audi 
Franz Pfemfert und Carl Einstein gesprochen zu haben scheinen. 
Wahrend Benjamins Text als verloren gelten mufi, ist derjenige Hein- 
les erhaken geblieben; er wird im folgenden abgedruckt. 

Die Jugend 
Die Zeit hat vor keinem Wendepunkt des Geistes je gestanden. Wahrend er 
sich vermafl, die Tage nach Talenten zu zahlen, deren Bedeutung bewertet 
ward nach Gesetzen, die seiner eigenen Ausbreitung dienen, tritt ein Wesen 
auf, das sich die Grofie zum Talente gab. Eine erschiitternde Wendung will 
der Welt aufgehen, denn von innen wird das aufiere Bild gesprengt, das 
nicht von aufien gegeben war. 

Von seinem Bewufitsein befreit, welches sie diskutieren mag, sucht die Ju- 
gend den Kern, den Erwahlten, welchen die Auswahl schlagt. Wahrend sie 
erneut erlebt, was dem Geiste geschah, wahrend zu ihren Fiifien sinkt, was 
ihr sonst grofi war, tritt ein Spieler auf, welcher sie tragt. 



864 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Wie ein Schauder iiber den Leib kriecht, bis der Selbstherr aufsteht, so geht 
die Erlosung auf ; der Wille segelt frei. 

Jede Bewegung hielten die Dinge fern. Sichtbar war, was sie bewegt, grofi, 
wer in sich ihren lebendigen Schliissel trug. Nun ist die Bewegung vom Ding 
erlost. Wille ist mit urspriinglicher Bewegung gemein; 

Die Jugend hat sidi gegen die Jugend gesetzt, welche am Literatentum 
schwer tragt. Der berserkerhaften Geste hat sie sich gegeniibergestellt und 
findet sich allein. Jeder ist eine Bewegung. Sie kennt nicht die Verwirrung 
der Geste, die Silhouette der programmatischen Personlichkeit. Jede Polemik 
halt sie sich fern. Denn Menschen sind ihr keine Gegenstande. Ihr Gegen- 
iiber ist das Alter. Es begreift alles Geistig-indifferente, alles Geistig-bbsar- 
tige in sich, nur nicht das Bose. So verzichtet die Jugend, wie sie geistig zu 
bewerten. Es ist leicht unter Protesten zu leben, fur Gehassigkeit und Stau- 
nen bringen wir keinen Humor auf. Gegen das Alter steht jugendliche 
Fremdheit als vorausgesetzte, unblutige Feindschaft. 

Aus eigener Leichtigkeit oder der Schwere heraus, welche kein Gegenstand 
tragt, wo kaum gemelnsame Feindschaft sie aufregt, will die Gemeinschaft 
gegen das Alter aufstehen. Alles Numerische ist ihr fern. Jeder ist mit dem 
Alter allein, jeder ist Jugend allein, wahrend der Wille den Anspruch auf 
Grofie immer erneut herantragt. 

Der Diplomat steht uns nahe. Er kennt nicht Enttauschung nicht Reue. 
Nicht er ists, welcher die Deckung verlangt, seine Worte sind iiberfliegender 
Angriff, dessen Bedeutung der andere pragt; so verbindet ihn Freundschaft. 
Das Ich ist in Sozialphantomen entseelt, wir gewahren nur den Gegeniiber. 
Irgendwo liegt die Produktion sehr fern, Aber die anderen greifen sie auf, 
Jungdeutsche und Zionisten mit bitterem Antlitz und die Wandervogel, die 
sich ins Alter geigen. Das Werdende ist zu retten, wir entdecken die Talente. 
Ihre Struktur baggert der Rhythmus aus, wahrend der Sinn die Pauke 
schlagt. 

Wirrnis und die Nachwirkung der Familie und den ernstesten Kampf : Ober- 
mut wird ihn bekampfen und verachten was Markt: Grofistadt und Intel- 
lektualitat. Also liegt uns Erotik fern. Sie produziert das Ding, aber die 
Jugend ist fruchtbar. Gegen ein triibes Konglomerat 1st sie gesetzt. Es wird 
sich entscheiden, ob sie der Rhythmus tragt iiber Substanz und Gemiit und 
den Athleten, welcher den Geist massiert. Keine Pfaffen sollen die Kanzel 
haben. Keine Leichtfertigkeit zeigt den Laien im Vordergrund. Und im 
Dionysos ist der Ernst gemeint. Wir sind miide uns zu betonen, kein Hel- 
dentum kann uns Mundigkeit gewahren, aber Dauer, Rhythmus und Spradie. 
Aber nicht ernst oder heiter oder sehr grofi, im Ernst, in Heiterkeit und in 
der Grofie werden wir reden. Freundschaft und Ehe haben den Leib gemein, 
welchen nicht Hygiene bewegt. Der Schopfer ist in die Seele verlegt, der 
Leib leuchtet. Wie in Begriffe fahren wir in uns selbst zunick. Geist und 
Glieder sind die Moglichkeiten, die die Bewegung uns eingibt. Kein Stuck 



Anmerkungen zu Seite 7-87 865 

ist in des anderen Gnade verlegt. Unser Dasein, nidit Gedanke und Tat, 
wird taglich entscheidend sein. 

Wahrend wir so vor der Offentlidikeit stehen, fallt uns kaum die Ver- 
standlichkeit ein, jedes Werben liegt uns fern. Jugend soil keine Forderung 
bedeuten. Soldie trifTt nur den Traumer ins Herz. Aus verschlafener Grofie 
folgert die Tat. Konsequenz hat nidits mit Entfaltung gem ein. Von aufien 
tritt ihre Stimme heran, wo das Gewissen sdiweigt. Paradox wird ihr jeder 
Konflikt. Jedes Motiv veraditlidi. Selbst der Erwahlte wird ewig nach 
Gnade schrein. Kein Bekenntnis, welches sich selbst vertragt. Vom Helden 
und Gliick zeugt der Statist. Gleich widitig erscheinen ihm alle, keine Rolle 
darf ihm geboren sein. 

Nur Vegetarianismus und Abstinenz, Politik und Geschick scheinen der 
Zukunft wert zu sein. 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Abt. Dokumente 

Berlin, Winter 1913/14: »SprechsaaU ; Krise in der Beziehung zu Heinle 

Aus den Sommerferien, die Benjamin mit Verwandten im Schwarz- 
wald und in Siidtirol verbrachte, kehrte er im September 191 3 nadi 
Berlin zuriick. In einem Brief vom 15. September an Carla Seligson, 
der an die Lekture des Buches »Organisierung der Intelligenz« von 
Victor Hueber (Leipzig 1910) ankniipft, ist zum erstenmal eine leise 
Distanzierung von Wyneken zu sptiren: Wir, die wir Hueber 
verstehen, fuhlen erst vor seinen Gedanken so ganz unsere Jugend 
- die andern, die nicbts fublen, sind ni<ht jung. Sie sind eben niemals 
jung gewesen, Sie freuten sich erst an ihrer Jugend als sie vorbei war 
in der Erinnerung. Das grope Gluck ihrer Gegenwart, das wir jetzt 
fuhlen und das icb mit Ihren Worten fuhlte, kannten sie nicht. Also 
glauhe ich wirklich, dafi es darin liegt, daft es noch schlimmer $teht s 
als Hueber denkt. Aber in jedem einzigen Menschen, der irgend wo 
geboren wird und jung sein wird, liegt - nicht die »Besserung«, son- 
dern schon die Vollendung, das Ziel, von dem Hueber so messianiscb 
empfindety wie nahe es uns ist. Heute fuhlte ich die ungeheure Wahr- 
heit des Wortes Christi: Siehe das Reich Gottes ist nicht hier und nicht 
dort y sondern in uns. Ich mbchte mit Ihnen Platos Gespracb tiber die 
Liebe lesen, wo das so schon gesagt und tief gedacht ist, wie sonst 
wohl nirgends. [AbsatzJ Ich dachte heute Vormittag weiter: jung 
sein heifit nicht so sehr dem Geist dienen, als ihn erwarten. Ihn 
in jedem Menschen und im fernsten Gedanken zu erblicken. Das ist 
das wichtigste: wir durfen uns nicht auf einen bestimmten Gedanken 
festlegen, aucb der Gedanke der Jugendkultur soil eben fur uns nur 
die Erleuchtung sein, die noch den fernsten Geist in den Lichtschein 
zieht. Aber fur viele wird eben aucb Wyneken, aucb der Sprechsaal, 



866 Anmerkungen zu Seite 7-87 

eine »Bewegung* sein, sie werden sich festgelegt haben, und den Geist 
nicht mebr sehen t wo er noch freier, abstrakter erscheint. [AbsatzJ 
Dies standige vibrierende Gefiihl fiir die Abstraktbeit des reinen Gei- 
stes mochte i<h Jugend nennen. Dann ndmlich (wenn wit uns nicht 
zum blofien Arbeiter einer Bewegung machen) wenn wir uns den 
Blick frei batten, den Geist wo immer zu scbauen, werden wir die 
sein, die ihn verwirklichen* Fast alle vergessen, dafi sie selb er 
der Ort sind, wo Geist sich verwirklicht. Weil sie sicb aber starr 
machten, zu Pfeilern eines Gebdudes statt zu Gefajlen, Schalen, die 
einen immer reinern Inhalt empfangen und bergen konnen, darum 
verzweifeln sie an der Verwirklichung, die wir in uns fiiblen, Diese 
Seele ist das Ewig-Verwirklicbende. Jeder Mensch y jede 
Seele die geboren wird y kann die neue Wirklicbkeit bringen. Wir 
empfinden sie in uns und wir wollen sie auch aus uns herausstellen. 
(Briefe, 92 f.) - Am 6. und 7. Oktober 191 3 hielt Benjamin in Breslau 
auf der Ersten studentisch-padagogischen Tagung ein Referat iiber die 
von ihm mitgeschaffene »Freiburger Richtung« der Schulreform (s. 
60-66 und 905-908). Nachdem er auf der Ruckfahrt anscheinend an 
dem Ersten Freideutsohen Jugendtag, der vom 10. bis 12. Oktober auf 
dem Hohen Meifiner stattfand, teilgenommen hatte (s. 66 f. und 909- 
913), verbrachte er das Wintersemester an der Berliner Universitat. Die 
fieberhafie Konzentration, in die uns die Sorge um soviele einander 
konkurrierende Aktionen versetzte[,J die Organisierung der Freien 
Studentenscbaft und die Entwicklung der Sprechsale, die Ausarbeitung 
unserer Vortrage in grofieren Scbulerversammlungen, die Hilfe fiir 
bedrdngte Kameraden 3 die Sorge um solche, die durch Verwicklungen 
in Freundschafts- oder Liebessachen gefahrdet waren (Benjamin, Ber- 
liner Chronik, a. a. O., 45 f.; audi Bd. 6), bestimmten Benjamins 
Arbeit. 

Sdion Anfang Juni hatte er aus Freiburg an Franz Sadis geschrieben: 
Wie Barbizon } so bitte auch ich Dich den Berliner S pr ech - 
saal zu Ubernehmen. Das ist eine wichtige Einrichtung, die 
Anfang einer schonen Geselligkeit werden kann. N at urlic h soli 
Wyneken nichts damit zu tun haben. (Briefe, 54 f.) Der erste »Spreoh- 
saal« war im Marz 191 3 duroh das von Siegfried Bernfeld geleitete 
Akademisdie Comite* fiir Schulreform in Wien eingerichtet worden 
(s. 847); im »Anfang« wurde dariiber berichtet: »Im Auftrage des 
A.C.S. hat ein Wiener Comitimitglied den >Sprechsaal Wiener Mit- 
telschuler< eingerichtet, dessen Leitgedanke der folgende ist: >Der 
S. W. M. ist gedacht als Zentrum der freien geistigen Betatigung der 
Wiener Mittelschulerschaft. Er ermoglicht es jedem, iiber den engen 
Kreis seiner zufalligen Bekannten und Klassenkollegen hinaus mit 
Gleichaltrigen und Gleichgerichteten sich iiber alles auszusprechen. Er 



Anmerkungen zu Seite 7-87 867 

ermoglicht es jedem, im freien Verkehr mit jiingeren und alteren 
Kollegen und mit Studenten neue geistige Anregungen zu geben und 
zu empfangen. Dieser personliche und geistige Verkehr ist im S. W. M. 
so geregelt, dafi in den Zusammenkiinften (vorlaufig wochentlich 
Samstag von 6 bis 8 Uhr abends) zuerst ein freier Vortrag uber ein 
Thema von allgemeinerem Interesse von einem Mittelschiiler oder 
einer Schulerin gehalten wird und sidi daran eine Diskussion an- 
schliefit; zuletzt werden Fragen, die Administration des Sprechsaales 
betrefFend - je nadidem sie notwendig sind oder angeregt werden - 
beantwortet und besprochen.< Bis jetzt wurden folgende Vortrage 
gehalten: Jugendkultur. Energie und Ethik. Die moderne Lyrik. Die 
Esperantobewegung. Uber reproduktive Kunst. Der Wandervogel, 
eine Jugendbewegung. Jedesmal schlofi sidi eine lebendige Diskus- 
sion an, die iiber die verfiigbare Zeit hinaus StofT zu Gesprach und 
Meinungsaustausch gab.« (Der Anfang 1 [1913/14], 28 f. [Heft 1, 
Mai '13].) Im Juni-Heft des »Anfangs« stand eine Notiz uber den 
Plan, auch in Berlin einen »Sprechsaal« zu griinden (s. Der Anfang 1 
[191 3/1 4], 61 [Heft 2]), und im September-Heft wurde iiber die er- 
folgte Griindung berichtet: »Am 28. Juni wurde im Auftrag des 
A.C.S. ein Sprechsaal Berliner Schiiler (S. B. S.) in Anwesenheit von 
25 Teilnehmern gegriindet. Bernfeld spradi iiber den Wiener Sprech- 
saal. Die eigentlichen Sprechsaaltage in Berlin beginnen erst im Sep- 
tember. Im Juli und im August hat sich bereits eine sehr unterneh- 
mende Wandergruppe gebildet. Sie beabsichtigt, audi im Herbst und 
Winter Fahrten auszufiihren. Kameraden und Kameradinnen, die sich 
fur den S. B. S. interessieren, mogen sich an den Sprechsaalleiter, 
Franz Sachs, Berlin W 15, Fasanenstrafie 74, wenden.« (Der Anfang 1 
[1913/14], 157 L [Heft 5].) Wahrend Benjamin sich vom »Anfang« 
immer mehr zuriickzog, widmete er im Winter 191 3/14 einen grofien 
Teil seiner Zeit dem Berliner »Sprechsaal« (s. Benjamin, Berliner 
Chronik, a. a. O., 34-46; auch Bd. 6). 

Eine Darstellung der Verhaltnisse in den Berliner Gruppen des »An- 
fangs« und des »Sprechsaals« hat der Schriftsteller und Arzt Martin 
Gumpert, der fiinf Jahre jiinger als Benjamin war, 1939 in seinen 
Memoiren gegeben: 

Eines Tages erhielt ich eine Einladung zu einer Zusammenkunft, bei der die 
Griindung einer neuen Zeitschrift besprochen werden sollte. Idi fand mich in 
einem Kreis von jungen Menschen, dem ich zuvor nie begegnet war. 
Sie hatten flatternde Haare, trugen offene Hemden und Velvethosen. Sie 
sprachen, nein predigten, in feierlichen, wohlklingenden Satzen von der 
Abkehr vom Biirgertum und dem Recht der Jugend auf eine eigene, ihrem 
Wert angemessene Kultur. 



868 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Wir begriindeten an diesem Tage die Jugendbewegung und ihre Zeitsdirift, 

den »Anfang«. 

Der Kern der Jugendbewegung war eine Gruppe von SchUlern Gustav 

Wynekens, der als Leiter der »Freien Schulgemeinde Wickersdorf« ein wich- 

tiges, wenn audi gefahrliches Experiment freiheitlidier Erziehung unternom- 

men hatte. Es war nicht unahnlich der heutigen amerikanischen College- 

Erziehung, nur umgeben von deutschem weltanschaulichem Pathos, und in 

der Bliitezeit des humanistischen Gymnasiums ein revolution arer, padago- 

gischer Akt von grofier Tragweite. 

In seinem Buch »Schule und Jugendkultur« [Jena 1913] war die Philosophic 

des Systems niedergelegt. Ich las es mit Begeisterung wahrend der griechi- 

schen Stunde und versah es mit vielen Anmerkungen, es wurde mir fort- 

genommen und im Lehrerzimmer zur Besichtigung ausgestellt. 

Ganze Teile meiner kleinen, zartlich geliebten Bibliothek kamen mir im 

Laufe der Zeit auf diese tiickische Weise abhanden. 

Die neuen Freunde waren fiir midi eine Erlosung von den alten. Ich sagte 

mich formell von ihnen los. Es war mir Ernst. Ich begann die literatenhafte 

Verspieltheit, den Nachahmungstrieb des vergangenen Jahres zu hassen. Die 

Zeitsdirift »Neubild« stellte ihr Erscheinen ein und im letzten Heft schlofi 

ein Gedicht: 

»Ich aber stofie Euch von mir, 
bis dafi Ihr wieder mit mir gehen konnt.« 
»Der Anfang, Zeitsdirift der Jugend« erschien. Diesmal regelrecht gedruckt 
und iiber das ganze Land verbreitet. Die Redaktion fiihrte Georges Barbizon, 
ein langer, hagerer Jiingling mit rotlichen Haaren, iiber dessen Verbleib ich 
nichts weifi, und der Wiener Siegfried Bernfeld, der jetzt Psychoanalytiker 
in San Francisco ist. Die verantwortliche Herausgabe, die in den Handen 
eines Erwachsenen liegen mufite, ubernahm Wyneken. 

Ich war der Jungste von alien und meine Beitrage erschienen unter dem 
Pseudonym Griinling. Es war Selbstironie, aber sie sollte den Spott der 
Gegner von vorneherein toten. 

Die Figuren dieses Kreises stellten vermutlich das Beste und Aufrichtigste 
dar, was diese Generation hervorbringen konnte. Verlassen von unseren 
Eltern, von denen wir wufiten, dafi ihre Harmlosigkeit uns ins Unheil jagen 
wiirde, versuchten wir, uns gegen unser Schkksal zu strauben, und glaubten 
an eine Welt, die die Stimme der Jugend horen wiirde. Fiihrertum und 
Gefolgschaft spielten eine bedeutsame Rolle. Wir lasen Stefan George und 
die strengen Epen des Schweizer Dichters Carl Spitteler. Wir bemiihten uns 
um Auswege, aber wir gingen in die Irre. Die Probleme, die wir zu klaren 
suchten: Geld, Beruf, Befreiung von der Stadt, Familie, Staat, Ehrlichkeit 
und Anstand der Lebensformen, sind heute nicht klarer. 
Was ist aus uns geworden? Einer, der Begabteste, sitzt als emigrierter Philo- 
soph in Paris und ist Marxist geworden, einer ist Antiquar in Rom, einer 



Anmerkungen zu Seite 7-87 869 

war Rechtsanwalt und vertreibt jetzt Zeitungen in Siidafrika, einer ist 
Psychiater in Berlin. Einer, der Sohn des Dichters Richard Dehmel, griindete 
eine Hilfsstelle fiir Seibstmorder und nahm sich das Leben. Einer griindete 
eine Hilfsstelle fiir Rauschgiftsuchtige und verfiel dem Morphium. Viele, die 
meisten von ihnen, sind gestorben, gefallen im morderischen Feuer von 
Langemarck August 19 14 oder sonstwie zum Opfer geworden. Keiner ist, 
soweit ich es verfolgen kann, Nazi. Und doch tragt zweifellos diese »frei- 
deutsdie Jugendbewegung«, wie wir sie spaterhin nannten, eine mystische 
Mitschuld am Entstehen des Nationalsozialismus. 

Wenn ich diese alten Aufsatze heute lese, in denen vom »Einsatz fiir die 
Sadie*, vom »Aufhoren des Einzelnen*, vom »neuen Glauben« die Rede ist, 
so frage ich mich entsetzt, was aus diesen Formeln unseres Pathos geworden 
ist. Mit diesem Ruf sind meine Freunde als Freiwillige in den Krieg gezogen, 
mit diesem Ruf auf den Lippen gestorben. 

Das Echo dieses Schreies ist in der Luft geblieben, vom falschen Messias 
erbeutet und entstellt klingt es heute in den Ohren einer neuen Jugend, die 
neuem Elend entgegentaumelt. Es ist die Lust zum Tode, zur Hingabe fiir 
die Sadie, die im Deutschen die ratio, die Frage nach der Sadie, ausloscht. 
Wir bemuhten uns um diese Frage, aber ehe wir die Losung fanden, war 
unsere Stimme erstickt. 

»Der Anfang* und was dahinter stand erregte die offentliche Meinung aufs 
Heftigste. Wir griindeten in alien grofieren Stadten sogenannte »Sprechsale«, 
in denen die Jugend zusammenkam und iiber Schule und Elternhaus disku- 
tierte. In Berlin mieteten wir eine eigene Wohnung und einer von uns, der 
grade alt genug war, unterzeichnete den Kontrakt. Ich hatte den Schlussel 
zu dieser Wohnung, sie lag auf meinem Schulweg, und ich verbrachte dort 
viele Vormittage, weil es stets wichtige Dinge zu beraten und zu besprechen 
gab. 

Es taten audi eine ganze Anzahl von Maddien mit. Wir waren kein Man- 
nerbund. Aber es geschah nichts, was der Libertinage der Nachkriegsjahre 
glich. Sie waren im wesentlichen unsere Zuhorerinnen, und wir brauchten 
sie fast aussdiliefilich fiir unseren ideologischen Uberbau, in dem sie eine 
wichtigere Rolle spielten als in der Realitat. Der Begriff »junges Madchen« 
umschloiS fiir mich alle Ingredienzien des Zarten, Kostbaren, Ratselvollen. 
Der Begriff »Frau« war etwas Ubermachtiges, Gewaltsames, fast Unheim- 
liches. Oberhaupt war es kennzeichnend fiir diese Zeit, dafi ich in »Begrif- 
fen« lebte. Ich suchte, alle Elemente des Daseins aufzulosen und zu definie- 
ren, ihr Doppelwesen, ihre Vielgestaltigkeit, ihr Geheimnis herauszufinden. 
Nichts war unwichtig, jedes Blatt, jeder Gegenstand hatte hinter seiner 
sadilichen Bestimmung eine metaphysische Bedeutung, die ihn zu einem 
kosmischen Symbol aufriicken liefi. Es war eine Art von pantheistischem 
Weltgefiihl, das den letzten Dreck feierlich und heilig machte. Ich war 
wieder bei Gott angelangt. 



870 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Wir machten Wanderungen und verbrachten lange Tage an den markischen 
Seen, von denen Stendhal sagt: »sie haben etwas Weiches, Melancholisches; 
sie riihren einen tief an gliicklichen Tagen, an denen man empfindsam ist.« 
Es war fur uns Groflstadtkinder der erste, wirkliche Kontakt mit dem Boden 
der Heimat. Wir waren nicht verreist, wir waren zu Hause. 
Die Jugendbewegung war ausschliefilich burgerlich. Das war eine ihrer gro- 
fien Sunden. Idi empfand diesen Mangel und schrieb einen ungelenken Auf- 
ruf, dafi die Jugend der Arbeiter zu uns gehore und dafi wir sie kennen 
lernen und gewinnen miissen. Wyneken schickte den Aufsatz zuriick und 
versah ihn mit strengen und ablehnenden Bemerkungen: es sei zu friih, wir 
nuifiten uns noch auf uns selbst konzentrieren. Auf diese Weise wuchsen die 
geistige Inzucht und die Gefahr des Intellektualismus in unserem Kreise, und 
die btirgerliche Weltfremdheit jener Tage, der wir zu entgehen suchten, er- 
griff audi uns. 

Sie war, riickwirkend betraditet, das Leitmotiv des europaischen Zusam- 
menbruches. Das Burgertum war um die Jahrhundertwende der Trager der 
Kultur. Aber mit einem seltsamen Eigensinn isolierte es sich von den Pro- 
blemen des Tages, hinter denen Gefahren lauerten, zerschnitt seine histori- 
schen Wurzeln, bis es dem eisernen ZugrifF dieser verdrangten Machte erlag. 
Politik gait als ungeistig und minderwertig. Es fiel niemandem ein, dafi sie 
sich bessern liefie. 

Dieser Antagonismus zwischen dem »Idealismus« des Burgertums und dem 
»Materialismus« der Arbeiterklasse hat bei der Entwicklung des National- 
sozialismus, der nach dem Kriege aus dem Burgertum auftauchte, eine ver- 
hangnisvolle Rolle gespielt. Die Hitlerbewegung spielte auf beiden Instru- 
menten. Sie gab dem Arbeiter die »Idee«, nach der er sich als Deutscher 
sehnte, dem Burger das »materialistische« Ziel, das seine Verzweiflung 
brauchte, nachdem er aller und jeder Substanz entblbfit war. Wir erleben 
die Folgen dieses Betruges*. 

Zu Beginn des Wintersemesters 191 3/14 kam es zu einer Krise in 
der Freundschaft zwischen Benjamin und Heinle. Schwer zu entschei- 
den ist, ob die Differenzen iiber Benjamins Vortrag vom 1. 11. 19 13 
auf dem Autoren-Abend der »Aktion« Grund oder Symptom der 
Auseinandersetzungen zwischen den Freunden waren. Doch ist ein 
Brief Benjamins an Carla Seligson vom 17. November erhalten, der, 
vergleicht man seine Ausfiihrungen mit Heinles Vortrag »Die Ju- 
gend* (s. 863-865), eher fiir das letztere zu sprechen scheint: Gestern 
abend fUhrte Heinle und mich der Weg bis zum Bahnhof Bellevue zu- 
sammen. Wir sprachen von Nichtigem. Auf einmal sagte er: »Ich hdtte 
Ihnen wohl eigentlich sebr vieles zu sagen«. Darauf bat icb ibn, das 

* Zit. nach Martin Gumpert, Holle im Paradies. Selbstdarstellung eines Arztes, 
Stockholm 1939, 52-56. 



Anmerkungen zu Seite 7-87 871 

gleich zu tun, weil es hohe Zeit sei. Und da wirklich e r mir etwas 
sagen wollte, so wollte ich es horen und ging zu ihm hinauf auf seine 
Bitte. [AbsatzJ Zuerst qualten wir uns beide um das Geschehene 
herum und suchten zu erklaren und so fort. Aber wir fiihlten sehr 
schnell, worauf es ankam und sagten es auch: daft es uns betden sehr 
schwer wurde, uns zu trennen. Aber ich sab eines, was das Wichtigste 
dieses Gesprdches war: er wuftte sehr genau, was er getan hatte, oder 
vielmehr, es gab hier fur ihn garkein »Wissen« mehr, er sah unsern 
Gegensatz wirklich so streng und so notwendig, wie ich es von ihm 
erwartet hatte. Er st elite sich mir gegeniiber im Namen der Liebe und 
ich setzte ihm das Symbol entgegen. Sie werden die Einfachheit und 
Tulle der Beziehung fur uns verstehen, die 'beides fiir uns hat. Es kam 
ein Augenblick, da wir beide gestanden, auf Schicksal zu stoften; wir 
sagten uns: jeder konnte an der Stelle des andern stehen. [AbsatzJ 
Mit diesem Gesprach, das ich Ihnen eigentlich in diesem Brief e kaum 
sagen kann, haben wir beide die sufieste Versuchung bestanden. Er 
bestand die Versuchung der Feindschaft, und hot mir Freundschaft 
mindestens Bruderschafi von neuem an. Ich bestand, indem ich zu~ 
ruckwies, was ich - Sie sehen es - nicht annehmen durfte. [AbsatzJ 
Manchmal dachte ich, daft wir, Heinle und ich, von alien die wir ken- 
nen, uns am meisten verstehen. Das ist so nicht richtig. Aber es ist 
dieses: trotzdem jeder der andere ist, mufi er aus Notwendigkeit bei 
seinem eignen Geist bleiben. [AbsatzJ Noch einmal sah ich die 
Notwendigkeit der Idee, die mich gegen Heinle stellt. Ich 
will die Erfullung, die man nur erwarten kann und er erfullen. Aber 
die Erfullung ist etwas zu Ruhiges und Gottliches, als daft sie anders, 
als aus brennendem Winde folgen konnte. Gestern sagte ich zu Heinle: 
jeder von uns ist glaubig, aber es kommt darauf an, wie man an 
seinen Glauben glaubt. Ich denke (nicht sozialistisch, sondern in irgend 
einem andern Sinne) an die Menge der Ausgeschlossenen und an den 
Geist, der mit den Schlafenden im Bunde ist, nicht mit den Bru- 
dern. Heinle erzahlte mir ein Wort Ihrer Schwester [Rika SeligsonJ 
» Bruderschafi, fast wieder [sic J besseres Wissen.* Sie erinnern sich, 
daft ich schon in meinem Aktions-V ortrag sagte: »keine Freundschaft 
der Briider und Genossen, sondern eine Freundschaft der fremden 
Freunde.« [AbsatzJ Ich sehe wahrend ich schreibe, daft sich das viel- 
leicht doch nur sagen laftt - aber Sie verstehen es, auch hieraus. 
[AbsatzJ Die Bewegungen gehen in innern Kdmpfen vor sich. Ge- 
stern sahen Heinle und ich die Art der Jugendbewegung, die solche 
Kampfe, wie zwischen uns, bereitet. Noch kenne ich garkein Wort, das 
mein Verhaltnis zu Heinle befaftt, aber inzwischen werde ich die 
reine Freude an dem reinen Kampf haben. Ich weift noch nicht viel 
von ihm, aber ich werde ihn bedenken. Denn es bleibt das Ziel: Heinle 



872 Anmerkungen zu Seite 7-87 

aus der Bewegung zu sto/Sen und dem Geist das iibrige zu uberlassen. 
(Briefe, 94-96) - Noch in einen weiteren Konflikt war Benjamin im 
Winter 191 3 verwickelt: ein prinzipieller Vortrag, den er auf einem 
studentischen Autorenabend am 16. Dezember zu halten gedachte, 
wurde von der Mehrheit der Jury abgelehnt (s. 68-71 und 914). Im 
Januar 1914 publizierte er daraufhin in der »Aktion« eine scharfe 
Kritik des ohne seine Mitwirkung stattgefundenen Abends (s. 71 f.). 



Berlin, Sommer 1914: Vorsitz in der Berliner »Freien Studentenschaft* 

Als Benjamin im Friihjahr 1914 zum Prasidenten der Berliner »Freien 
StudentenschafU gewahlt wurde, scheint der Konflikt mit Heinle 
beigelegt gewesen zu sein, dodi sah er sich anderen Schwierigkeiten 
gegentiber. »Im Berliner >Sprechsaal< war es zu schweren Zusammen- 
stofien zwisdien Georg Barbizon und einer Gruppe gekommen, deren 
Wortfiihrer Heinle und Simon Guttmann waren. Dahinter standen 
Auseinandersetzungen uber das Gesicht des >Anfang< und Versuche, 
die Redaktion zu wechseln. Walter Benjamin [. . .] suchte zu vermit- 
teln, obwohl er innerlich auf Seiten Heinles und Guttmanns stand. Es 
wurden viele Protokolle und andere Schriftstiicke verfafit, und die 
Erregung war monatelang sehr grofi. [. . .] Es kam zu einer Spaltung 
im >Sprechsaal< [...]« (Gershom Scholem; in Briefe, ^% Anm. 1.) - 
Vom »Anfang« zog Benjamin sich jetzt endgultig zuriick. Am 23. 6. 
1914 berichtete er Ernst Sdioen uber eines der erfreulichsten Zeugnisse 
[. . ./j die icb jetzt erwarten konnte - namlich den Brief eines jun- 
gen Wieners, zu dem, ohne dafi er mich kannte, soviel aus Berlin 
gedrungen ist - vielleicht auch mein Schweigen im »Anfang*, das die- 
sen Sinn hat, dafi er mich um einen Briefwechsel bitiet, mit Berufung 
darauf, dafi wit beide abseits vom stabilisierten Kurs der Jugend- 
bewegung stehen. Es ist schon zu bemerken, dafi es in einer sehr ent- 
fernten Stadt einen jungen Menschen gibt, der aus dem harm den 
Klang heraushort und zu dem das Schweigen (das schliefilich eines der 
deutlichsten Verstandigungsmittel ist) dringt. (Briefe, 113) Am 17. Juli 
heifk es in einem Brief an Herbert Belmore: Sin d wir nicht desselben 
Weges einen Schritt uns unsichtbar gegangen. Alles dies fiihlte ich aus 
den wenigen Worten her aus, die von Dir im letzten » An fang* stan- 
den. Ich werde Barbizon um einen Leitartikel bitten: ich will ihn 
nennen »Mein Abschied*. Ich will zur Scham uber dieses Blatt mahnen 
und bitten, es verschwinden zu lassen. Aus diesem grofien Sumpf der 
ACS, Marburger Tagung, FG, [unleserlich] , bluht doch nicbts Le~ 
bendes mehr. Neulicb stand mal drin »die neue Selbstacbtung*. 
(Briefe, 117) Dber den Grund der Differenzen zwisdien Benjamin 
und den Herausgebern des »Anfangs« hat Heinridi Kupffer richtig 



Anmerkungen zu Seite 7-87 873 

bemerkt: »Wahrend Bernfeld und Barbizon mehr den revolutionaren, 
sozialistisdien und auf konkrete Ziele gerichteten Charakter dieser 
Art von Jugendbewegung betonten, erblickten andere das Wesen des 
>Anfang< in seiner rein geistigen Wirkung. Ein Wortfuhrer dieser 
Richtung war Walter Benjamin [...]• [Benjamin sah den] Bezug auf 
den reinen Geist [. . .] dadurch gefahrdet, dafi die Anfang-Jugend 
im BegrifT stehe,zu einer >Bewegung< zu werden. [. . .] Mit dieser spiri- 
tualistischen Auffassung kam Benjamin den eigentlichen Absichten 
Wynekens naher als Bernfeld und Barbizon. « (KupfTer, a. a. O., 79) 
Zehn Jahre spater sollte sich Benjamin selbst jener Politik zuwenden, 
der der »Anfang« schon 19 14 sich zu nahern suchte. 
Dber den Berliner »Sprechsaal« berichtete Grete Radt - Benjamins 
damalige Verlobte - im Marz-Heft des »Anfangs«: 

Wer zum erstenmal im akademisdien Spredisaal war, konnte keinen erfreuli- 
dien Eindruck davon empfangen. Idi will hier nidit von den mehr zufalligen 
und privaten Mifiklangen reden. Was aber die S a c h e bedrohte: es hatte den 
Schein, als wenn die Jugendbewegung unfrudbtbar wiirde, an sich selbst erstick- 
te. Idi glaube nicht, dafi diese Gefahr wirklidi besteht; denn die Jugendbewe- 
gung hat innere Notwendigkeit und ist fest auf einer Idee gegriindet. Die Pe- 
riode aber, in der sle sidi jetzt hier befindet, mufi iiberwunden werden. 
Die — scheinbare - Unfruditbarkeit besteht darin, dafi die Jugend sidi 
selbst, immer wieder und nur sich selbst zum Problem macht. Sie steht vor 
dem Spiegel und probiert, was ihr gut steht und was ihre Jugendlichkeit 
heben konnte - wie eine altere Dame. Sie reflektiert nur sich, indem sie iiber 
sich reflektiert. Sie wird bequem und wird Fett ansetzen, d. h., ohne Bild 
gesprochen, Mitlaufer gewinnen, solche, die geformte Satze nachbeten. Und 
schon zeigt sich dies Symptom: man ringt nicht mehr mit der Sprache um 
neuen Ausdruck, man begniigt sich, Schlagworter herauszustofien. 
Ganz unhaltbar scheint mir vollends die Stellung des Sprechsaals zur Umwelt 
zu sein: man findet sich mit ihr ab, indem man sie leugnet - zwar bequem, 
aber doch recht, recht unjugendlich. Was die Jugend allein ausdriicken kann, 
ist Kampf. Sich mit der Umwelt kampferisch auseinanderzusetzen, das mufi 
von der Jugend als Aufgabe empfunden werden. Wir Jungen mussen immer 
zum AngrifF bereit sein, wir durfen uns nicht - wie in der Diskussion 
gesagt wurde - »hinter den Mauern einer Burg verschanzen«. Wir wolien 
uns nicht isolieren, wir wolien nicht uns selbst interessant werden. Weil 
»Jugend« an sich eben kein Problem ist, darum ist sie nicht diskutierbar. 
Darum sollen wir aufhoren, unter uns davon zu reden. Wenn wir aber 
angegriffen werden, so wird allerdings den Alten gegeniiber unsere einzige 
Verteidigung sein: wir sind jung, wir wolien nichts als jung sein. Hier ist 
der Punkt, wo wir uns bewufit als Junge isolieren durfen. Sicher und 
anmafiend durfen wir jedes Wort der Rechtfertigung verschmahen. 



874 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Den Weg vom bedrohlichen Jugend k u 1 1 zuriickzufinden zur bedrohten 
Jugend k u 1 1 u r - das 1st jetzt unsere Auf gabe*. 

Anders als im Fall des »Anfangs« hat Benjamin um den »Sprechsaal« 
sich lange und intensiv bemuht. Am z6. 3. 1914 schrieb er an Carla 
Seligson: So vieles scheint lhnen nicht zu gehen. Und doch - ist es 
nicht einfachf Von Barbizon mussen Sie erwarten - und dies ist das 
Einzige, das auch wir von ihm wiinschen — dafi er endlicb einige 
Feier-y einige Suhnetage einlege, daft er von sicb aus die Schuld, die 
ihn durch die Vorgdnge im Sprechsaal trifft (und sei er personlich 
lomal schuldlos) anerkenne, also siihne. Von diesem Augenblick an 
wird er im Sprechsaal stehen, von da an werden wir alle uns mil 
gleicber Freiheit zu ihm wenden w'te Sie. [AbsatzJ Zu Guttmann aber 
- der auch dem nachsten Sprechsaal wohl fernbleiben wird, wenn sich 
nicht nach Absendung der »Erkldrungen« Guttmanns und Heinles, die 
Freitag geschieht, alles andert - mogen Sie sich nicht wenden, so lange 
er nicht so still und rein geworden ist, Ihr Vertrauen zu erwerben, 
Zu der »Feigheit* von der Sie sprechen, haben Sie die Pflicht. Scheu 
verwechseln Sie hier mit Feigheit. Gewijl wilrde ich die Ablehnung 
gegen Guttmann nicht sogleich Scheu nennen, aber mit gutem Gewis- 
sen rechtfertige ich Ihr e Ablehnung mit diesem Worte. Erst moge 
Guttmann Ihr Vertrauen verdienen und bis dahin darf ich vielleicht 
ein geistiges Medium zwischen lhnen und ihm sein. [Absatz] Mogen 
Sie es meiner geplagten Zeit verzeihen, wenn auch dieser Brief noch 
nicht ganz zu dem herabreichen sollte, was Sie meinen. Aber darum 
bitte ich Sie: wenden Sie sich wieder und wieder fordernd an mich. 
Bis zu einem solchen Grade trage ich vor lhnen und dem Sprechsaal 
die V erantwortung fur Guttmann, das sagte ich lhnen gestern. [. . ./ 
PS Ich habe Sie keinen Augenblick fur *charakterlos« gehalten. Auch 
ich bin Guttmann und Barbizon Kamerad. Hoffentlich macht Bar- 
bizon es mir moglich es ihm zu bleiben. (Brief e, 98 f.) Im Fruhjahr 
1914 lernte Benjamin Dora Sophie Pollak, seine spatere Frau, ken- 
nen, die lebhaften Anteil am »Sprechsaal« nahm. So heifit es in einem 
Brief an Belmore vom 6. Mai: Dora hatte den schonen Gegenstand 
»Hilfe* fur den Sprechsaal vorgeschlagen, und Franz [Sachs] machte 
sie dngstlich mit redot dngstlichen und kleinlichen Einwdnden. [. . .] 
Sonnabend war ein Sprechsaal. Vber Haltung. Vielleicht schrieb Dir 
Dora davon, er war unvollkommen wie alle, aber nicht gedrtickt. 
(Briefe, 100, 102) Mitte Mai 1914 scheint Benjamin danh vom Kampf 
um den »Sprechsaal« - in dem doch wohl Barbizon sein eigentlicher 
Gegenspieler war (s. Briefe, 104) - sich resigniert zuriickgezogen zu 
haben; er schrieb an Belmore: Gestern kam nun e'tne, ohne Unter- 
* Zit. nacfa Der Anfang i (1913/14), 356 f. (Heft 11, Marz '14). 



Anmerkungen zu Seite 7-87 87$ 

schrift abgefafite Einladung zum Sprechsaal, die mit oden und frechen 
W or ten wieder einmal »Reinhelt der sinnllchen und geistigen In- 
stinkte* fordert, erwartet, dafi jeder tm Sprechsaal gewillt set, seln 
Bestes ans Lidot zu stellen, mit dem schonen Satze zur Unterschrift 
»Wer Sonnabend da ist, bekundet, daft er sicb das zu eigen gemacbt 
hat.* Herbert, es wider strebt mir sehr, Dir von all dem zu sdneiben, 
well e$ ein solcher Wust von Verwirrung ist und Du dodo die Gewift- 
heit und das GefUhl der Einzelnen, die sich frei gemacht haben, nicht 
vermittelt erhdl[t]st, wenigstens nicht in diesen Worten. Von Franz 
[Sachs] zwar ist wieder zu sagen, daft er Kopf und Herz verloren 
hat. Heute abend spreche ich ihn im Beirat [der »Freien Studenten- 
schafl*]. Ich werde ihn fragen, ob er in den »gemeinsamen« Sprech- 
saal geht, bejaht er es, wie ich vermute - nach einem neulich fludotigen 
Gesprach mit mir, als er das Scbreiben schon vor mir kannte, so 
erinnere ich ihn an das Versprechen, das er mir nach dem Sprechsaal 
in meiher Wohnung vor dem Fest bei [Wolfgang] Heine gab. Ich 
verlange, ohne mit ihm zu diskutieren, da/1 er Dir und mir folgt und 
nicht gehu [. . .] Schon 2 Tage vorher hatte sie [Lisa Bergmann] ver- 
suchty Franz dazu zu bringen, nicht am Sonnabend in den Sprechsaal 
zu gehen. Aber Franz hatte undeutlich geantwortet. - Von uns wer- 
den vielleicht nur Guttmann und [Ferdinand] Cohrs, der von Got- 
tingen auf ein paar Tage zu Heinle heruber gekommen ist, zum 
Sprechsaal Sonnabend gehen. Guttmann wird ein paar abschliefiende 
Worte sprechen: unsere Kraft reicht nicht hin, die hartnackige Ver- 
wirrung dieser Leute zu klaren, wird auch das sagen, was ich gestern 
Lisa sagte, und dann gehen. Aber es ist noch nicht gewifi: vielleicht 
spricht auch ein andrer. Daft wir alle wieder hinge hen, hat keinen 
Sinn mehr. (Brief e, 104 f., 106) 

Starker als alles andere beanspruchte Benjamin im Sommer 19 14 sein 
Vorsitz in der »Freien Studentenschaft«. In einem Brief vom 23. Mai 
an Schoen formulierte Benjamin die Absichten und Erwartungen, die 
er mit der Obernahme dieser Funktion verbunden hatte: Dem, was 
Sie uber die Freistudenten sagen, mochte ich erwidern. Es handelt sich 
namlich im Augenblick nicht darum, die unkultivierte Masse zu kulti- 
vieren, vielmehr: den Platz, wo sonst das Schlimmste stattfindet, rein 
zu behaupten. Vortrdge finden statt vor wenigen Leuten, von denen 
wenige Student en sind. Diese Student en aber kommen wieder, horen 
von Mai zu Mai aufmerksam zu, drauften im Lande schweigt man 
dodo mit einem gewissen Respekt. Diesen Respekt und jenen bescheid- 
neren Ton der Vortrdge, eine gesittete Art von V ersammlungen zu 
schaffen, ist das, was wesentlich getan werden kann. Es soil zur Folge 
haben, daft Gemeinheit und schlechte Erziehung sich kiinftig in der 
Gemeinschaft von Freistudenten weniger wohl fuhlen. Dafi sie diesen 



$j6 Anmerkungen zu Seite 7-87 

Kreis meiden miissen, als einen ungewissen, schwer zu uberschauenden 
Ort seltsam ernster Bestrebungen. Schon jetzt ist sichtbar, daft dies 
erfullt werden kann. Niemals babe ich einen so ruhigen Beirut erlebt 
als den letzten und trotzdem gab es prinzipielle Diskussionen in 
einigem Umfang. Wie nun die schopferische Erfullung, zu der aller- 
erst die Moglichkeit gegeben wird, dieses Ortes geschehen kann, ist 
ledigUch eine Frage der Produktiven, die in seinen Kreis geraten. Bis 
jetzt gibt es zwar Horende, aber nod? wenig Lehrende. Wenn es 
unbedingt geschehen mufi, bleibt mir nichts, als auch im nachsten 
Semester mich wieder aufstellen zu lassen, um dann einen Nachfolger 
zu finden (aus dem Kreise der Abiturienten unter befreundeten Schii- 
lern) der den Produktiven in der freien Studentenschaft eine bereit- 
willige Gefolgscbafl scbafft. Eben um mehr kann es sich nicht handeln, 
als einen Kreis zu schaffen, der dem Fuhrenden seinen Charakter 
zugesteht, vom Produktiven seine Geistigkeit empfangt ihm folgend. 
Dies kann von den geringsten stillsten Anfdngen her geschehen, ist ein 
Vorhang ) zudem von sehr behiiteter Unsichtbarkeit gegen Befeindung 
(wenn nicht die grobste) geschiitzt; und so geschieht es. Es wird jetzt 
in Berlin das Gleiche - namlich eine Erziehungsgemeinschaft - be- 
gonnen, was Heinle und mir in Freiburg fur einige, und nicht zum 
wenigsten uns, zu schaffen gelang. Mit alldem nun kommt man auf 
den Begriff der Akademie heraus, der - mir scheint - heute nur so 
fruchtbar gemacht wird. Langsam wird es gelingen, Produktive heran 
zu Ziehen und die Leitung wird sich dann auf die Ordnung beschran- 
ken dtirfen, statt wie jetzt, noch dynamisch tatig sein zu miissen. Ihr 
Freund unterstiitzt mich aufierordentlich schon durch seine blofie 
Anwesenheit bei Vortragen u. dgl. Das Prdsidium mu$ eine starke 
Sichtbarkeit und sozusagen Allgegenwart haben. (Briefe, 108-110) 
- Mit einer Rede, von der ein Teil spater in Das Leben der Studenten 
(s. 77-79) aufgenommen worden ist, hatte Benjamin am 4. 5. 19 14 die 
Prasidentsdiaft offiziell angetreten: Da ist nun von dem Eroffnungs- 
abend der Fr[eien] St[udentenschaft] zu sagen s der vorgestern war, 
der viel weniger Studenten als Freunde von uns im Vortragssaal fand s 
der aber - indem er zwar fast aujlerhalb der Studentenschaft stand - 
doch eigenartig schon war, indem unerwartet an einem fremden Orte 
die Freunde sich wieder zusammenfinden, die ausgezogen sind, um 
neue zu werben. Immerhin hat mein Vortrag, wie ich nun weifi, nicht 
wenige, die uns bisher nicht kannten, bewegt. Diskussion war frei- 
gestellt worden, zwar mit der Bemerkung, daft wir gem auf sie 
verzichteten und so meldete sich denn auch niemand. Naturlich waren 
einige, an denen alles voriiberging. Spater einmal wirst Du den Vor- 
trag lesen. Dora [Pollak] brachte mir Rosen, weil meine Freundin 
[Grete Radt] nicht in Berlin sei. Nun ist es wahr: noch niemals haben 



Anmerkungen zu Seite 7-87 877 

mi(h Blumen so begluckt, wie diese, die Dora gleicbsam von Grete 
brachte. (Briefe, yy f.) Unbestritten sdieint Benjamins Autoritat in 
der Berliner »Freien Studentenschaft« allerdings nicht gewesen zu 
sein: am 15. Mai spradi er davon, dafi er heute im Beirat angegriffen 
werde (Briefe, 107), und schon in seiner Antrittsrede hatte er Ernst 
Joel, den Vorsitzenden des Sozialen Amtes der »Freien Studenten- 
schaft«, mit einer Kriegserkldrung in alter Form bedacht (Briefe, 456). 
Im Juni nahm Benjamin am 14. Freistudententag in Weimar teil und 
wiederholte die Berliner Rede vom Mai, wohl in veranderter Fassung. 
Siegfried Bernfeld hat im »Anfang« iiber den Verlauf der Veranstal- 
tung berichtet: 

Bericht iiber den XIV. Freistudententag in Weimar 
Man sdiien sich dariiber zu streiten, ob die Fr.-St. dem Corda-fratres-Bund 
anzuschliefien sei; ob man den »Reformkorporationen« auf irgendeine Weise 
Mitarbeit ermoglidien konnte; ob man fiir die Jugendbewegung eintreten 
sollte. In Wahrheit kampfte eine neue Idee mit einer alten Organisation, neue 
Ausblicke mit »bewahrten Pnnzipien«. Es siegten die anderen: man schlofi 
sich dem Corda-fratres-Bund »vorlaufig« nicht an; in den Reformkorpora- 
tionen »sah man eine Gefahr«; und der Jugendbewegung steht man sym- 
pathisch gegeniiber (mit Mifitrauen und geballten Fausten). Die Taktik siegte. 
Dr. phil. Walter A. Berendsohn verhalf ihr mit seinem »studentischen Bil- 
dungsideal* zu einer Mehrheit. Als Benjamin in erschutternder Rede die 
Freie Studentenschaft vor die Not der moralischen Entscheidung stellte, zu 
bekennen, wenn sie Freundschaft fiihlte - einstimmig hatte man dies be- 
teuert, weil man taktisch war und Beteuerungen in der Diskussion andere 
sind als in der Resolution - damals wagte man zu sagen: die F.-St. ist zu 
raachtlos, fiir die Jugend einzutreten, sie kann nicht einmal sich selbst 
helfen - iibrigens braucht sie diese neuen Ideen nicht, denn mit der M a c h t 
ihrer Idee wird sie siegreich durchdringen . . . Benjamin und Kranold, 
Berlin und Miinchen, kampften um die neue Hochschule, geboren aus dem 
Geist der Jugend - driiben sah man die Dinge sich an aus der Perspektive 
des Nachwuchses. Sich's mit keinem Verderben! Und so wird bald wieder ein 
Esel zwischen zwei Bundeln Heu verhungern miissen. Man verfing sich in 
Widerspruchen. Um ja nicht mit der freideutschen Jugend zugieich audi die 
Scharen um Wyneken anzuerkennen, d. h. um nicht neutral sein zu miissen, 
lehnte man im Namen der Neutralitat ab, fiir seine eigenen Ideen einzu- 
treten, die nun in der Schuljugend erwachen wollen. Und mit 17 gegen 5 
Stimmen wurde der Antrag Miinchen-Berlin abgelehnt. [. . .] 
Aber zuletzt: was fragen wir nach Majoritaten? Jugendkultur ist ein Wille 
und zahlt keine Stimmen; seinem Ansturm erliegen alle, die nicht mitstur- 
men. (Die Angst erzeugt den Haft der Feinde.) Und wir haben hier Sollt- 
mann gesehen, der ein Paulus wurde. Am ersten Abend versuchte er mit 



878 Anmerkungen zu Seite 7-87 

ernster, eindringlicher Rede sidi selbst zu iiberzeugen, dafi der Antrag 
Miinchen-Berlin unannehmbar sei, zwei Tage spater stimmte er fiir ihn. In 
Weimar haben wir wieder erlebt, wie die Idee der neuen Jugend mit magi- 
scher Macht alle G e i s t e r in ihren Bannkreis zieht. Daft von den Gegnern 
des Antrags M.-B. kaum ein wesentliches Wort gesagt wurde, wah- 
rend seine Freunde Reden von ungewohnlidier Tiefe, von Begeisterung und 
Geist hielten, das ist uns mehr als 17 Stimmfiihrer. 

Nebenbei: Wie man Stimmfiihrer wird. In einer Fr.-St. Organisation kandi- 
dierten fiir das Amt des Vorsitzenden-Stellvertreters zwei Freistudenten. In 
der Empfehlungsrede des Vorsitzenden hieft es: X. (»Wynekenianer«) wird 
mit seiner bekannten Kraft der Initiative zwar zweifellos Ideen und Bewe- 
gung bringen, aber Y. (»bewahrter freistudentisdier Ehrenbeamter«) wird die 
dringenden administrativen Arbeiten sorgfaltiger und expeditiver erledigen. 
Y. wurde mit iiberwiegender Mehrheit gewahlt. Y. war in Weimar Stimm- 
fiihrer einer befreundeten Organisation und stimmte unter den 17. 
Nodi eins sei angemerkt. In Weimar waren Stimmfiihrer, die verpfliditet wa- 
ren, und Gaste, die aus freiem Willen gekommen waren: Altfreistudenten 
und Freistudenten. Von diesen energisdi interessierten gegenwartigen Frei- 
studenten waren fast alle am Tisdi der Miinchener und Berliner. 
Das also ist das Ergebnis des XIV. Freistudententags: Was lebendig, kraftig 
und jung ist in der Fr.-St., hat sich zusammengeschlossen zum Weimarer 
Verband freistudentisdier Freunde der Jugendbewegung. Wir hoffen, daft 
diese Liga die Madit der fleifiigen Adressenschreiber brechen wird, der Tak- 
tiker und Hochschulspiefiburger*. 

Die Erwartungen, die Benjamin an die Tagung gekniipft hatte, waren 
bereits nicht allzu groft gewesen: Auf dem Weimarer Freistudenten- 
tage werde ich eine Rede fiber »die neue Hochschule* halten: eine von 
einer neuen Mittelscbule aus geforderte Utopie der Hodoschule wird 
gegeben - so kann man das fajllich machen. In Wahrbeit handelt es 
sich allerdings um die BegrUndung einer neuen Hochscbule aus sich 
selbsty dem Geiste. Die Diskussion in einem verstandnislosen und 
unvorbereiteten Kreise wird in Weimar cbaotisch werden, feig, ge- 
trubt, wie alles, was heute von Bestrebungen an die fiirchterliche 
Offentlicbkeit gerat. Im innern lag kein Grund vor, das Unerborte 
von den Leuten der »Freideutschen Jugend* zu erwarten, aber dafi es 
so scbmahlich mit ihr zuging ist doch schlimm. Sie wissen, daft sie sich 
offiziell von Wyneken trennte (zu schweigen vom Anfang und den 
Sprechsalen). (Brief e, no) Der tatsachliche Verlauf des Freistuden- 
tentages war jedodi enttauschender nodi fiir Benjamin, wie ein Brief 
an Sdioen zeigt: Seit Jahren bat micb nichts so angegriffen, wie die 
kompakte Boswilligkeit dieser Versammlung. Es fehlte an intelligent 

* Zit. nadi Der Anfang 2 (1914)* 120-122 (Heft 4, Juli '14). 



Anmerkungen zu Seite 7-87 879 

ten Leuten nicht, die aus Berlin zugereist waxen. Die Inhaber der 
Stimmen abet waren zum grofiten Teile von der Art, der man sonst 
aus dem Wege geht. Hier suchte man sie auf. Ich beging die Torheit, 
diesen Leuten eine Rede Uber die neue Hochscbule zu halten, in der 
ein gewisser Anstand, eine gewisse geistige Einstellung vorausgesetzt 
(anstatt bis zur Bewufltlosigkeit betont) war. Dies war ein grower 
Fehler und ermoglichte trottelhaften Gemutern eine sogenannte Vber- 
einstimmung mit mir in den prinzipiellen Fragen. An den Schlufi 
meiner Rede wollte ich die Verse [von George, s. 86] setzen, die 
Ibr Brief enthielt - hdtte ich mich nicht unerwartet im Schluflrhyt[h]- 
mus meiner Rede gefunden. So werde ich dennoch vielleicht die Nie- 
derscbrift, die ich in den groflen Ferien anfertigen werde, damit 
schliefien. Nach taglich wiederholten brutalen Niedersti'mmungen ist 
das einzige Ergebnis: der einsam erhbhte Platz, den unsere Freistu- 
dentenschafi - nach aufien - einnimmt und respektvolle Furcht der 
andern. Im geheimen wuhlt man. Der (geistige) Fiibrer der Gegner 
ist personlich und sacbUch ungebildet. (In einer hof lichen Diskussion in 
einem Cafe erklarte er mich fiir »sittlich unreif*). Die Aussicbt, Ber- 
lin im ndchsten Semester zu befestigen, ist nicht gering. Zwar weifi ich 
noch nicht sicher, ob ich hier bin. Dajl Sie den Winter hier zubrach- 
ten, ware wohl nicht moglich? - Danach war ich in MUnchen und 
stellte den gleich schlimmen Zustand der dortigen Freistudentenschaft 
- die als einzige in Weimar mit uns zusammen ging - und der 
Jugendbewegung fest. (Briefe, 1 1 1 f.) - Ober die Berliner Verhalt- 
nisse heifk es am 23. Juni: Seit ich diesen Brief begann hat das Berli- 
ner Chaos (der » Jugendbewegung* und Freistudentenschaft in einem), 
das miihsam und mit Resignation gebandigt war, von dem ich mich 
eben etwas in Munchen erholt hatte, wieder begonnen sich zu regen. 
(Briefe, 1121".) Gleidiwohl konnte Benjamin am 23. Juni eine Dis- 
kussion mit Martin Buber uber dessen Budi »Damel« veranstalten 
(s. Briefe, 103 [Anm. 7], 112). Ebenfalls im Sommer 1914 hielt 
Ludwig Klages vor der »Freien Studentenschaft« in Berlin einen Vor- 
trag liber Graphologie*. So scheinen Hoffnung und Enttauschung in 
Benjamins Erfahrungen als Vorsitzender der »Freien Studentenschaft« 
in der Waage sich gehalten zu haben. Jedenfalls hatte er die Absicht, 
seine Arbeit im Wintersemester 19 14/15 fortzusetzen, wie aus zwei 
Brief en vom Juli 19 14 an Belmore hervorgeht: Die Hochschule ist 
eben der Ort nicht, zu studieren. Wieviel mein Amt Schuld tragi, 

* In einem Brief an Klages aus dem Jahr 1920 sdirieb Benjamin: Verzeihen Sie 
bitte, daj$ ich mich ah ein Unbekannter an Sie wende - denn da$ ich vor unge- 
f'dhr sechs Jahr en die Ehre hatte, Sie in Munchen zu besuchen und zu dem Vortrage 
uber Craphologie aufzufordern, den Sie dann spater in Berlin hielten (vor der 
freien Studentenschaft) dUrfien Sie vergessen haben. (10, 12. 1920, an Ludwig 
Klages) 



880 Anmerkungen zu Seite 7-87 

kannst Du ermessen. Ich verwalte es nicht erfolglos t aber unter ge- 
radezu qualenden Widrigkeiten. Und dann erscheint alles mit Recht so 
unendlich klein, wenn Wolf Heinle auf dem Freistudentenfest neben 
mir steht, in der Wickersdorfer Mutze, mit seinem herrschenden, ern- 
sten Blick und mir nur ein paar Worte iiber die Menschen sagt, die da 
tagen - mir, we'd ich die Verantwortung habe. Es war - vorgestern - 
ein Vest, gut genug urn beurteilt zu werden und - beurteilt: kldglich. 
Ganz hod? iiber andern freistudentischen Festen, durcb die Anwesen- 
heit schoner Menschen veredelt, aber dodo befangen und kdfilich, wie 
alle Feste - aufier dem unverge f lichen Wolfgang Hemes. Fur micb 
hatte es schone Bedeutung dutch Wolf Heinle, Wieland Herzfeld, den 
ich zum ersten Male sprach und der von mir sehr tiefes mir sagte, 
durch ein unerwartetes schones Zusammensein mit Carla SeligsonJ 
Im Winter werde ich hier sein, vielleicht im gleichen Amte, das ich in 
dem Augenblick niederlege, da ich sehe, dafi ich meine Zeit nicht star- 
ker vor ihm bewahren kann als in diesen Tagen. Ich weifi nicht, wie 
qualend dies Semester mit verbrachter Zeit, unkonzentrierter Tatig- 
keit, marternden menschlichen Erfahrungen angefullt ware in meinem 
Bewufitsein, ware es nicht durch die Tage in MUnchen gleichsam 
niedergehalten und mit der Verheifiung kommenden Schaffens ge- 
trostet. (Briefe, 115 f.) Komm im Winter her und hilf mir - da ich 
die Arbeit in der freien Studentenschafi fortsetzen werde. Sie geschieht 
aufrichtig, okne den »Erfolg« absehen zu kbnnen. (Briefe, 117) - Der 
Ausbruch des ersten Weltkriegs im August 1914 setzte alien Planen 
ein Ende. 



August i$i 4: Heinles Freitod; Mai 1915: Lossage von Wyneken 

1932, fast zwanzig Jahre spater, schrieb Benjamin iiber die Zeit seiner 
Zugehorigkeit zur »Jugendbewegung«, dafi zu keiner spater en Zeit 
die Stadt Berlin selbst in mein Dasein so machtig eingegangen ist, wie 
in jener Epodoe, da wir sie selber glaubten unberiihrt lassen zu kon- 
nen, um nur die Schulen in ihr zu verbessern, nur die Unmenschlido- 
keit der Eltern ihrer Zoglinge zu brechen, nur den W or ten Holder- 
lins oder Georges in ihr ihren Platz [zu] geben. Es war ein aufier- 
ster, heroischer Versuch, die Haltung der Menschen zu ver andern ohne 
ihre Verhdltnisse anzugreifen. Wir wufiten nicht, dafl er scheitern 
mufite, aber kaum einer war unter uns, den solches Wissen umzu- 
stimmen vermocht hatte. (Benjamin, Berliner Chronik, a. a. O., 38 f.) 
Nidit nur in Benjamins Lebensgeschichte, audi in seinem Denken mar- 
kiert der Kriegsausbruch eine Zasur; eine starkere aber wohl der 
Selbstmord Heinles, der von jenem veranlafk ward. In diesem Cafe 
[scil. dem alien Cafe des Westens] war es, daft wir in den allerersten 



Anmerkungen zu Seite 7-8 7 881 

Augusttagen miteinandersafien und unter den Kasernen, auf die sich 
der Ansturm der Freiwilligen richtete, unsere Wahl trafen. Sie fiel auf 
die der Kavallerie in der Bellealliancestrafie und da trat ich dann 
auch an einem der folgenden Tage an - keinen Funken Kriegsbegei- 
sterung im Herzen, aber so reserviert ich in meinen Gedanken war, 
denenzufolge es sich einzig darum handeln konnte, bei der unvermeid- 
lichen Einziehung sich seinen Platz unter Freunden zu sichern, in 
dem Schwall von Leibern, der sich damals vor den Toren der Kasernen 
staute, war auch meiner. Freilich nur fur zwei Tage: Am achten trat 
dann das Ereignis ein, das diese Stadt und diesen Krieg auf lange Zeit 
fur mich versinken liefi. (a. a. O., 44) Audi Martin Gumpert hat in 
seiner Autobiographic tiber Heinles Tod berichtet: »Es gab einige 
Hellsichtige unter uns, fur die das Ende der Welt schon damals ge- 
kommen war. Am 1. August [riditig: 8. August] hatten im >Sprech- 
saal< ein Junge, er hiefi Heinle, und ein Madchen, sie hiefi Rika, den 
Gashahn aufgedreht, um zu sterben. Ich habe unser Heim nie wieder 
betreten. Es war zerstort. Unsere Sehnsucht war sinnlos geworden. 
Der Ausweg war versperrt. Einer nach dem andern gab sein Leben 
fur eine Sache, die nicht die seine war. Der Tod, dieser treueste 
Freund, wurde der bestandige Begleiter unserer Generation.* (Gum- 
pert, a. a. O., 63) In der Berliner Chronik versuchte Benjamin, dem 
Toten den aufiern Raum, in dem er lebte, ja das Zimmer, in welchem 
er »gemeldeu war, nachzuzeichnen. (Benjamin, Berliner Chronik, 
a. a. O., 37) £5 gibt [. . ./ in Berlin eine Gegend, mit der dies Subjekt 
[scil. das des AutorsJ defer als mit jeder andern, die es bewuflt in 
ihr erlebte, verbunden ist. Gewifi hat es Stadtgegenden gegeben, in 
denen ihm gleich tiefe oder gleich erschutternde Erfahrungen zu ma- 
chen bestimmt war, aber in ihrer keiner hat sich so unlosbar die Ge- 
gend selber ins Geschehen selber eingemischt. Die Gegend, von der ich 
hier spreche, ist das Tier gar tenviertel. Dort war in einem hinteren 
Flugel von einem der Hduser, die der Stadtbahnuberfuhrung zunachst 
stehen, das »Heim«. Das war eine kleine Wohnung, die ich in Gemein- 
schafl mit dem Studenten Ernst Joel gemietet hatte. Wie wir uns 
dazu vereinigt hatten, kann ich nicht mehr erinnern; ganz einfach 
wird es schwerlich gewesen sein, denn die Studentengruppe »fiir 
soziale Arbeiu, die von Joel geleitet wurde, war wahrend des Seme- 
sters, in dem ich den Vorsitz der Berliner freien Studentenschafl inne 
hatte, ein Hauptziel meiner Angriffe und eben als Fuhrer dieser 
»Sozialen Gmppe* hatte Joel den Mietvertrag unter zeichnet, wah- 
rend mein Beitrag die Rechte des »Sprechsaals« auf das Heim sicher- 
stellie. Die Aufteilung der Rdume zwischen den beiden Gruppen 
- mag sie von rdumlichem oder von zeitlichem Charakter gewesen 
sein - war sehr scharf und in jedem Falle spielte damals fur mich 



882 Anmerkungen zu Seite 7-87 

nur die Gruppe des Sprechsaals eine Rolle. (a. a. O., 34 f.) Heinles 
Berlin war zugleich das Berlin des »Heims«. Er wohnte in diesen 
Zeiten in dessen ndchster Nahe, in einem Zimmer im vierten Stock- 
werk eines Hauses in der Klopstockstrafte. Dort babe icb ibn einmal 
besucht. Es war nacb einer langen Trennung, der ein scbweres Zer- 
wiirjnis zugrundelag. Noch beute aber entsinne id) mid) des Ldchelns, 
das mir das Ungeheure dieser ganzen Trennungswochen aufwog und 
mit dem [er] eine, wabrscbeinlicb fast belanglose Wendung zu einem 
Zauberspruche machte, welcher den Verletzten heilte. Spater - als der 
Morgen gekommen war, zu dem ein Eilbrief mid) mit den Worten 
geweckt hatte: »Sie werden uns im Heim liegen finden* - als Heinle 
und seine Freundin gestorben waren, blieb diese Gegend nod) eine 
Weile die Mitte fur die Begegnungen der Vberlebenden. Heute aber 
ist sie, wenn id) sie mit ihren altmodischen Etagenhdusern, ihren vie- 
len im Sommer bestaubten Baumen, den schwerfalligen Eisen- und 
Steinkonstruktionen der Stadtbahn, die sich durcb sie hindurchziehn, 
den wenigen, in groften Abstdnden verkehrenden Elektrischen, dem 
trdge bewegten Wasser des Landwebrkanals, der sie von den proleta- 
rischen Quartieren Moabits abscbloft, den prunkvollen aber nie be- 
tretenen Baumgruppen des Scblofiparks Bellevue und den unsagbar 
gemeinen Jagdgruppen, die am grofien Stern ihre Zufabrt flankieren y 
mir in Erinnerung rufe - heut ist mir diese raumlicbe Stelle, in der 
wir damals zufdllig unser Heim eroffneten y der strengste bildliche 
Ausdruck fur die gescbichtlicbe, die diese letzte wirkliche Elite des 
burgerlicben Berlin einnabm. Sie stand dem Abgrund des grofien 
Krieges so nahe wie ihr Heim dem steilen Abfall des Landwehr- 
kanals, sie war scharf.von der proletariscben Jugend getrennt wie die 
Ha'user dieser Rentnerviertel von denen Moabits, und sie waren letzte 
ihres Stammes wie die Bewohner jener Etagenhauser die letzten gewe- 
sen waren, die die fordernden Schatten der Enterbten mit philan- 
thropischen Zeremonien besdoworen konnten. (a. a. O., 37 f.) Ver- 
sammlungen der biirgerlichen Intelligenz sind damals sehr viel haufi- 
ger gewesen als beutzutage, da sie nod) nicht ihre Schranken erkannt 
batten. Wir aber diirfen sagen, daft wir diese Schranken fuhlten, 
wenn aud) nod) lange daruber vergehen sollte, bis die Erkenntnis reif 
war, daft niemand Schule und Elternhaus verbessern [kann], der den 
Staat nicht zertrummert, der die schlechten braucht. Wir fiihlten diese 
Schranken, wenn wir unsere Sprechsale, in denen die Jungern uber die 
Brutalitaten sprachen, die sie zu Hause zu erdulden batten, in Salons 
abhielten, die wir der Freundlichkeit von Eltern dankten, die doch im 
Grunde gar nicht anders als jene dachten, gegen die wir uns wenden 
wollten. Wir fuhlten sie, wenn wir Alteren unsere literarischen Abende 
in Kneipenzimmern abhielten, die keinen Augenblick vor den be- 



Anmerkungen zu Seite 7-87 883 

dienenden Kellnern sicher waren, wir fiihlten sie, wenn wir unsere 
Freundinnen in moblierten Zimmern empfangen mupten, die wir nicbt 
wagen durfien, abzuschliepen, wir fiihlten sie in den Verbandlungen 
mil Saalbesitzern und Portiers, mit Verwandten und Vormiindern. 
Und als dann scbliefilich, nach dem achten August 19 14 die Tage 
kamen, da die unter uns die den Toten am engsten verbunden waren, 
sich nicbt mehr von einander trennen wollten, bis sie beerdigt waren, 
da fiihlten wir sie in der Schmach, nur in einem zweideutigen Bahn- 
hofshotel am Stuttgarter Platz eine Zuflucht finden zu konnen. Selbst 
der Friedhof bewies uns die Grenzen, die allem, was uns am Herzen 
lag, von der Stadt gesetzt waren: es war unmoglich, den beiden, die 
gemeinsam gestorben waren, ein Grab auf einem und demselben 
Friedhof zu verschaffen. Aber das waren Tage, weldoe mich fiir die 
Einsicbt reif machten, der ich spater begegnete und die mir die Uber- 
zeugung gaben, dap aucb die Stadt Berlin nicht um die Narben eines 
Kampfes um die bessere Ordnung herumkommen wird. (a. a. O., 
41 f.) - Benjamin hat sich dann sehr lange bemiiht, die Gedichte 
Heinles zu verofTentlichen. Im Dezember 1922 hielt er einen Vortrag 
uber ihn: Das war damals in Heidelberg und gewip in selbstvergesse- 
ner Arbeit, dap ich es versuchte, die Gestalt meines Freundes Fritz 
Heinle, um die all jene Geschehnisse im Heim sich ordnen und mit 
dem sie verscbwinden[,] in einer Betrachtung Uber das Wesen der 
Lyrik zu beschworen. [. . ./ Dieser erste Versuch, den Raum seines 
Lebens in dem der lyrischen Poesie zu beschworen, war umsonst und 
das unmitteilbare der Erfahrung, aus der der Vortrag erwachsen war, 
in dem ich das unternahm kam im Unverstandnis und im Snobismus 
der Horer, die ihn im Hause von Marianne Weber hbrten in ihre 
Rechte unbezwinglich ein. (a. a. O,, 36; s. audi Briefe, 295.) Der Vor- 
trag Benjamins wie die Mehrzahl von Heinles Gedichten miissen heute 
als verloren gelten, ebenso eine umfangreiche Sonettenfolge, die Ben- 
jamin dem Tod Heinles und Rika Seligsons widmete. 
Wie weit dieser Tod und der Krieg Benjamin von allem entfernte, 
was bislang ihn erfiillt hatte, bezeugt ein Brief vom 25. 10. 19 14 an 
Ernst Sdioen: Ihnen, einem Mutigen wunsche ich das zu sagen, was 
ich heute (zum wievieltsten Male) und immer entsetzlicher entdeckte. 
Wogegen Ironie abzulegen ist um den Schmerz so rein wir seiner 
fdhig sind als Gestalt zu finden. Auch wechselten wir hiervon einige 
Briefe, die will mir scheinen, einer strengen Entschlossenheit bediirfen. 
Wir alle n'dhren doch das Bewufitsein hiervon: Dap Radikalismus zu 
sehr Geste war, dap ein hdrterer, reinerer, unsichtbarer uns unentrinn- 
bar werden soil. [Absatz] Sie haben auf die einzige Weise, die ich 
leben nenne, bevor wir dies erwdhnten, die Unmoglichkeit in sich 
gefunden, sich in die Schule zu begeben, und es ist Ihnen die Unmog- 



884 Anmerkungen zu Seite 7-87 

lichkeit geworden, jenen Sumpf in vorgeschriebener Absicht zu be- 
schreiten, der beute die Hochschule ist. [AbsatzJ Es ist nur dies 
- was Sie defer wissen, well Sie es niemals so erfubren, wie id) - dafl 
diese Hochschule fabig ist, noch unsere Abkehr zum Geist zu vergiflen. 
Es ist wiederum nur dies: dajl icb micb entschlofl, die Anschldge der 
Vorlesungen durcbzugehen . . . die grelle Brutalitat sab, mit der die 
Forschenden sich vor Hunderten ausstellen, gegenseitig sich nicbt 
scbeuen, sondern beneiden, und endlich raffiniert und pedantiscb Ebr- 
furcbt Werdender vor sicb selbst, in Furcbt vor Nun-Gewordenen, 
Frubreifen und Verfaulten umfdlscben. Die unverbullte Recbnung mit 
meiner Schucbternheit Furcbt Streberei und was viel mehr ist meiner 
Gleicbgultigkeit, meiner Kalte und Unbildung erscbrak, entsetzte 
micb. Kein einzelner von alien bebt sicb da heraus } weil er die Ge- 
meinscbaft der anderen duldet. An dieser ganzen Universitdt kenne icb 
nur einen Forscber [Kurt Breysig], und dafl er es dabin gebracht bat, 
dies wird nur durch seine gdnzlicbe Verborgenheit und seine Verach- 
tung dieser Dinge (vielleicbt) entscbuldigt. Diesem gegenuber stebend 
ist keiner gewacbsen, und icb verstehe die ganze Notwendigkeit; dem 
eignen Leben mufi man die Moglicbkeit nebmen, hierauf zu stoflen, 
denn der Anblick dieser Gemeinbeit erniedrigt unsdglich. [AbsatzJ 
»0 dafi doch alle grofie Manner war en und icb zu ibnen Du sagen 
konnte, es wird mir schwer von andern zu lernen« Aus dem Taschen- 
bucb meines Freundes [sciL HeinlesJ. (Briefe, 1 1 8 f .) 
Daft Benjamin schliefiKch audi von Gustav Wyneken sich lossagte, 
diirfte mehr der Treue zu den eigenen Erfahrungen verdankt werden 
als der Kriegsbegeisterung Wynekens, die kaum anderes denn zu- 
falliger Anlafi fur die Besiegelung der Trennung war. Die Bedeutung 
Wynekens fur den jungen Benjamin steht aufier Frage. Im Juni 191 3 
schrieb dieser: Mein Denken geht immer wieder von meinem ersten 
Lebrer Wyneken aus, kommt immer wieder dabin zuruck, Auch bei 
den abstrakten Fragen sehe icb im Gefubl immer die Antwort in ihm 
vorgedeutet. (Briefe, 59) Im Kreis seiner Freiburger Freunde sprach 
Benjamin manchmal iiber Spitteler, oder [las J Aufsatze von Wyneken 
vor (Briefe, 57). An die Freunde in Berlin richtete er die Aufforde- 
rung: Denkt uber die Schriflen Wynekens, der vorlaufig noch uns 
alien uberlegen ist, nacb. (Briefe, 68) In einem anderen Brief aus dem 
Sommer 191 3 in Freiburg heifit es: Die Abende fur Scbulreform 
(8-10 Besucber) sind standig auf hohem Niveau. Wesentlich ist, daji 
Abend fur Abend Wyneken besprochen wird, dajl wir mit unsrer 
unbedingten Scbulerscbafi nicbt binterm Berge balten — daraus folgt 
alles. (Briefe, 70) Auf der Breslauer studentisch-padagogischen Tagung 
im Oktober 19 13 wollte Benjamin iiber Wyneken sprechen: Icb be- 
spracb mit Heinle, wie man irgendeine Dankbezeugung fiir Wyneken 



Anmerkungen zu Seite 7-87 885 

in Breslau finden konnte. Es darf garnichts offentlicbes sein; es ist 
Zeit, dafi man ihm einmal anders gegenubertritt, als dem Grunder 
von Wickersdorf. Es mu$ sich urn einen personlichen Akt handeln. Ein 
Abend in kleinem Kreis (bochstens 12 Menscben - ido konnte abet 
von den nachsten nicht einmal 12 zahlen) scbeint mir gut. Im Laufe 
wird einer einfach uber ihn sprechen, dieses vor allem betonend: daft 
wir durch ibn in unsrer Zeit das GlUck gehabt batten, im Bewufitsein 
eines FUbrers aufzuwachsen. Die Notwendigkeit, etwas zu tun, wird 
Dir je den falls aucb klar sein. Und ebenso klar die Verfebltbeit einer 
Offentlichkeit, der er immer der stellungslose Griinder von Wickers- 
dorf sein wiirde. (Brief e, 82 f.; s. audi 886.) Die praktische Arbeit in 
der Berliner »Freien Studentenschaft« im Winter 1913/14 und im 
Sommer 19 14 sdieint Benjamin dann zu einem distanzierteren Ver- 
haltnis zu Wyneken verholfen zu haben. Ein Brief an Sdioen macht 
es wahrscheinlich, dafi dabei audi personliche Enttausdiung eine ge- 
wisse Rolle spielte: Wyneken wird jetzt endlicb - im Oktober so 
viel icb weifi — in Triberg seine Scbule eroffnen. Die Jabre der er- 
zieberiscben Untdtigkeit haben ihm aufierordentlich gescbadet. Icb 
erfubr es daran, wie wenig er den anspannenden Formen die die 
Bewegung in Berlin annimmt, ihrer sicherlicb starksten, kubnsten und 
gefdbrlichsten Kraftanspannung, die sie bier gewinnt, gewachsen ist. 
Die Konstituierung, besser Ermoglicbung, einer nur nocb innerlich 
und intensiv, nicht im geringsten mehr politiscb begrundeten Jugend- 
gemeinscbafl erfullt nun schon uber V4 Jabr alle bier mit den starksten 
Spannungen. Bei alledem und gerade darum glaube icb, dafi hier das 
Ernstbafleste y vielleicht das einzig ernstbafle getan wird. Icb mocbte 
Sie bitten, »Scbule und Jugendkultur« zu lesen oder nocb einmal zu 
lesen } falls Sie es schon taten. Und bedenken Sie bitte: ob nicht in 
dem »objektiven Geist« sich anderes nocb verbirgt, als eine Schiefheit 
der Begrundung. Icb wenigstens, und Freunde mit mir, kommen im- 
mer starker von jenem Bilde der Erziehung, das Wyneken dort gibt, 
ab. Mir wird klar: er war - und ist vielleicht noch - ein grower Er- 
zieher und in unserer Zeit ein sebr grofier. Seine Theorie bleibt weit 
binter seiner Schauung zuriick. (Brief e, no) - Wynekens Budi »Der 
Krieg und die Jugend«, das 191 5 erscliien (s. Gustav Wyneken, Der 
Krieg und die Jugend, Munchen 191 5), fiihrte dann zum endgultigen 
Bruch. Am 9, 3. 191 5 schrieb Benjamin den folgenden Brief (Briefe, 
120-122), der als einziger aus seiner Korrespondenz mit Wyneken 
erhalten blieb: 

Lieber Herr Doktor Wyneken, 

icb bitte Sie diese folgenden Zeilen mit denen ich micb ganzlich und 

ohne Vorbehalt von Ihnen lossage als den letzten Bewets der Treue, 



886 Anmerkungen zu Seite 7-87 

und nur als den, aufzunehmen. Treue - weil ich kein Wort zu dem 
sprechen konnte, der jene Zeilen fiber den Krieg und die Jugend 
schrieb und weil ich dock zu Ihnen sprechen willy dem ich noch nie 
- ich weift es - frei sagen konnte, daft er mich als erster in das Leben 
des Geistes fuhrte. Ich habe zweimal in meinem Leben vox einem 
Menschen gestanden, der mich an das geistige Dasein wies, mich haben 
zwei Lehrer auferzogen, deren einer sind Sie. Als Sprecher einer 
kleiner Zahl Ihrer Schuler - und nicht Ihrer ndchsten - wollte ich in 
Breslau im Oktober 1913 wenige Worte an Sie richten. Die Unfreiheit 
einiger von diesen lieft es in letzter Stunde nicht dazu kommen. Die 
Worte, die ich zu sagen gedachte lauten: 

»Diese Zeh hat keine einzige Form, die uns schweigenden Ausdruck 
gestattet. Wir fuhlen uns aber durch die Ausdruckslosigkeit verknech- 
tet. Wir verschm'dhen den leichten unverantwortlichen schrifllichen 
Ausdruck. 

Wir, die wir hier zusammen sind, glauben daft eine Nachwelt einmal 
Ihren Namen nennen wird. Das Leben gestattet diesem Bewufttsein 
keinen Raum. Dennoch soil es fur die S panne einer Minute Raum ge~ 
ben, Wir nennen Sie den Trager einer Idee, nach auften sagen wir so; 
es ist wahr. Wir erlebten aber ein anderes als Auserwdhlte in dieser 
Zeit. Wir erfuhren, daft auch der Geist ganz allein und unbedingt 
lebendige Menschen bindet, daft die Person liber dem Personlichen 
steht; wir durflen erfahren, was FUhrung ist. Wir haben erfahren, daft 
es reine Geistigkeit unter Menschen gibt. Fur uns ist das, was fast 
alien unendlich ferner ist, wahr geworden.* 

Das Erlebnis dieser Wahrhext lieft uns diese Worte sagen. Gegen Sie 
selbst muft ich mich zu Ihnen bekennen .wie Sie mir als der strengste 
Liebende dieser lebenden Jugend vox Augen sind. Einmal sagten Sie 
vom Knaben und Madchen »Die Erinnerung daft sie einmal Kame- 
raden gewesen sind im heiligsten Werke der Menschheit, daft sie ein- 
mal zu zweien >ins Tal Eidophane<, in die Welt der Ideen geblickt 
haben, diese Erinnerung wird das stdrkste Gegengewicht gegen den 
sozialen Kampf der Geschlechter bilden, der immer war, zu unserer 
Zeit aber in hellen Flammen auszubrechen und die Guter zu dessen 
Hiiterin die Menschheit bestellt ist, zu gefahrden droht. Hier in der 
Jugend, wo sie noch Menschen im edlen Sinn des Wortes sein durfen, 
sollen sie auch einmal die Menschheit realisiert gesehen haben. Dies 
grofte unersetzliche Erlebnis zu gewdhren, ist der eigentliche Sinn der 
gemeinsamen Erziehung.« 

Die §eo)gia in Ihnen ist erblindet, Sie haben den furchterlichen 
scbeuftlichen Verrat an den Frauen begangen, die Ihre Schuler lieben. 
Sie haben dem Staat, der Ihnen alles genommen hat, zuletzt die Ju- 
gend geopfert. Die Jugend aber gehort nur den Schauenden, die sie 



Anmerkungen zu Seite 7-87 887 

lieben und in ihr die Idee iiber alles. Sie ist Ihren irrenden Hdnden 
entfallen und wird wetter namenlos leiden. Mit ihr zu leben ist das 
Vermachtnis, das ich Ihnen entwinde. 

Walter Benjamin 

Als Benjamin im Friihjahr 191 5, wenige Wochen nach der endgiiltigen 
Trennung von Wyneken, Gershom Scholem kennenlernte, hatte er, 
dem »in seinen jungen Jahren ein Element des personlichen Radikalis- 
mus, ja personlicher Riicksichtslosigkeit eigen« war, auch »mit groftter 
Strenge und Bedenkenlosigkeit fast alle Beziehungen zu seinen Freun- 
den aus der >Jugendbewegung< abgebrochen, weil sie ihm nichts 
mehr bedeuteten. Er hat dabei Menschen [. . .] tief verletzt. Im 
Gesprach kam er auf solche Dinge kaum je zuruck.« (Gershom Scho- 
lem, Walter Benjamin, in: Uber Walter Benjamin. Mit Beitragen von 
Th. W. Adorno u. a., Frankfurt a. M. 1968, 134.) Einzig in zwei spa- 
teren, 191 8 gesdiriebenen Briefen an Ernst Schoen hat Benjamin iiber 
seine Trennung von den fruheren Freunden andeutend sich geauftert: 
Die Frage nacb dem Ergehen und meiner Beziehung zu den von Ihnen 
genannten Menschen kann ich (mit Ausnahme Barbizons) im Briefe 
nur mit einem kurzen kategorischen Satz beantworten ohne brieflich 
das was ich uber diese Menschen sagen konnte (aber nicht mag) auch 
nur and eut en zu konnen: sie existieren fur mich nicht } und 
wenn jeder es dahin auch auf seine Weise gebracht hat, so ist doch 
eben in dieser Beziehungslosigkeit keine Differenz mehr. - Mit Bar- 
bizon unterhalte ich einen oberfldchlichen Verkehr. Mit den wenigsten 
Ausnahmen gingen die Beziehungen die ich zu gleichaltrigen unter- 
hielt ihrem Ende entgegen. So zerging mein Verhaltnis zu Alfred 
Cohn. [. . J Das was ich von seinerFrau, durch seineFrau und aus sei- 
nem Briefe erfuhr uberzeugt mich dafl er gleichmiitig mitansleht dafl 
sein Leben eine Richtung nimmt die ihn von den Ideen und Zielen die 
er ich will nicht sagen mit mir geteilt hat an denen in mir er Anteil 
nahm himmelweit fortfuhrt. Dieses mit Ansehen scheint er fur Frei- 
heit zu halten, (s. Briefe, 1991.) Daft der vorletzte Satz kein Fest- 
halten an den Ideen und Zielen der Jugendbewegung beinhaltet, geht 
unzweideutig aus einem ein Jahr zuvor - im Juli 19 17 - an Schoen 
gerichteten Brief hervor, der vielmehr eine so lapidare wie radikale 
Verwerfung all dessen bedeutet, was Benjamin bis 1914 mit der 
Jugendbewegung geteilt hatte. Indem er diese den damonischen ge- 
spenstischen Einwirkungen zuschlagt, stellt er sie bereits auf die Seite 
jenes Mythos, an dessen prinzipieller Kritik sein spateres Werk sich 
entfaltete. Wir sind seit einer Woche hier [in St. Moritz]; ich habe 
diesen Ort - ich darf es sagen - nach jahrelangem Ringen gefunden 
und betrat ihn endlich nach dem in Zurich auch die letzte Beziehung 



888 Anmerkungen zu Seite 7-87 

die micb unklar mit Vergangnem verstrickte gefallen war. Icb hoffe 
die beiden Jahre vor dem Kriege als Samen in micb aufgenommen zu 
haben und von da an bis beute gescbah alles zu ibrer Lduterung in 
meinem Geist. Wenn wit uns wiederseben werden wir uber die ]u- 
gendbewegung sprecben deren Sicbtbares so vollkommen, mit so 
erscbutternder Gewalt untergegangen ist. Alles, aujler dem wenigen 
wodurcb icb mein Leben zum leben bestimmen Heft, dem icb in den 
letzten beiden Jahren micb zu nabern sucbte y war Untergang und icb 
finde micb bier in vielfacbem Sinne gerettet: nicbt zur Mujie Sicber- 
beit Reife des Lebens, wobl aber entronnen damoniscben gespensti- 
scben Einwirkungen die wo wir uns binwenden am Herrschen sind 
und entronnen der roben Anarcbie, der Gesetzlosigkeit des Leidens. 
(Brief e, 140) Sieht man ab von der Berliner Chronik 3 dann ist Ben- 
jamin spater - nadi alien bislang bekannten Aufierungen - nur noch 
ein einziges Mai auf die Jugendbewegung zu spredien gekommen: der 
Sammler und Historiker zahlte 1938 unter den Biichern und Manu- 
skripten, welche die Nationalsozialisten ihm vernichtet hatten, auch 
sein unersetzliches Arcbiv zur Geschicbte der linksbiirgerlicben Jugend- 
bewegung (Briefe, 781) auf. 



Anmerkungen zu Seite 9—16 889 

9-12 Das Dornroschen 

uberlieferung 

J Der Anfang. Vereinigte Zeitschriften der jugend. Hg. von Geor- 
ges Barbizon [Georg Gretor] und Fritz Schoengarth. Niederschon- 
hausen bei Berlin, Verlag von Jaduczynski. Jg. 191 1, 51-54 (Heft 3, 
Marz 'n). - Der Abdruck ist unterzeichnet Ardor-Berlin, 
lesarten 9,2 Sozialismus] Socialismus J - 9,29 Morder,] konjiziert 
fiir Morder - 10,2 sozialen] socialen J - 11,7 solange] konj. fiir 
so lange- 11,13 deutlich,] konj. fiir deutlicb 

nachweise 9,12 unsere Zeitschrift] der sogenannte zweite »Anfang«, 
von dem 1911 insgesamt vier Hefte erschienen sind; s. audi 831. - 
9,28 kam.] Hamlet 1,5; Benjamin zitiert die Ubersetzung von Au- 
gust Wilhelm Sdilegel, die jedoch »einzurichten« anstatt einzurenken 
hat. - 10,38 sollte] Torquato Tasso V,5 (v. 3452 f.) - 11,28 sein*] 
Henrik Ibsen, Samtliche Werke. Volksausg. in 5 Bdn., hg. von Julius 
Elias und Paul Schlenther, Berlin o. J., Bd. 4, 420 (»Die Wildente«, 
5. Akt) - 12,7 »Prometheus und Epimetheus«] s. Carl Felix Tandem 
[Pseudonym von Carl Spitteler], Prometheus und Epimetheus. Ein 
Gleidinis, 2 Bde., Aarau 1881 f.; 2. Aufl. [unter Spittelers Namen] 
Jena 1906 - 12,8 »Olympische Fruhlingn] s. Carl Spitteler, Olym- 
pischer Friihling. Epos, 4 Bde., Leipzig, Jena 1900-1905; neue, vollst. 
umgearb. Ausg. Jena 1910 - 12,10 »lmago«] s. Spitteler, Imago, Jena 
1906 



12-16 Die Schulreform, eine Kulturbewegung 

Benjamin diirfte den Aufsatz wahrend seines ersten Semesters in Frei- 
burg geschrieben haben. Der Text sdieint jedenfalls am 21. 6. 19 12 ab- 
gesdilossen gewesen zu sein, wie einem an diesem Tag gesdiriebenen 
Brief an Herbert Belmore entnommen werden kann: In einem Schul- 
reform-Heft an die Studentenschafl, das sehr bald erscheint ist ein 
Aufsatz »Die Schulreform, eine Kulturbewegung* von mir. (Briefe, 42) 

UBERLIEFERUNG 

a Eckhart, phil. [Pseudonym], Die Schulreform, eine Kulturbewe- 
gung, in: Student und Schulreform. Hg. von der Abteilung fiir 
Schulreform der Freien Studentenschaft Freiburg i. B. Freiburg i. B.: 
Verlag von R. Steppacher [Druck: Freiburger Handelsdruckerei 
Mors u. Singler, Freiburg i. B.] o. J. [191 2], 4-6. - Das Heft 
erschien in einer Auflage von 10 000 Exemplaren. 



890 Anmerkungen zu Seite 12—35 

lesarten 13,5 Wort.*] die Abfuhrungszeichen fehlen in a - 14,25 
nimmt,] konjiziert fiir nimmt - 14,25 oder] konj. fur oder, - 15,38 
das] konj. fiir des; moglicherweise ist audi zu konjizieren des Be- 
wufitseins. 

nachweise 13,32 Werte*] s. Rudolf Pannwitz, Die Erziehung, Frank- 
furt a. M. 1909 (Die Gesellschaft. 32), 7: »Erziehung ist das Werk am 
Menschen. Oder das Wirken am Mensdien. Die Fortsetzung oder der 
Ersatz der Fortpflanzung. Die Fortpflanzung der Werte. Die Ver- 
erbung dessen, was nidit ohne Zutun iibergeht. Die Vererbung des 
Geistes: der immer weiter Fleisch werden will, weiter, als der eigene 
Korper es zulafit, als das eigene Leben es zulaflt.« 



16-35 Dialog uber die Religiositat der Gegenwart 

Am 10. 10. 1912 schrieb Benjamin an Ludwig Straufi: Ich habe jetzt 
einen Dialog uber religioses GefUhl unserer Zeit geschrieben. Vielleicht 
teilen Sie mir gelegentlich Ihre Meinung hieruber mit. (10. 10. 191 2, 
an Ludwig Strauft) Am 30. 4. 1913 heifit es in einem Brief aus Frei- 
burg an Car la Seligson; Ich hoffe Ihnen in einigen Wocben eine Arbeit 
von mir zuschicken zu konnen. Ich habe diesen Winter einen »Dialog 
Uber die Religiositat der GegenwarU geschrieben, den ich jetzt typen 
lasse. Davon gelegentlich. (Briefe, 49) Einen gleichfalls an Carla Selig- 
son gerichteten Brief vom 5. 6. 191 3 schlofi Benjamin mit den Worten: 
Warten Sie mit Ihrer Antwort bitte nicht, bis Sie den »Dialog Uber 
die Religion* haben. Zwar bekommen Sie ihn, doch ich fand immer 
nod) nicht Zeit, den zweiten Teil typen zu lassen. (Briefe, 60) Zwei 
Monate sparer schrieb Benjamin dann derselben Adressatin: M einen 
Dialog, obwohl er fertig getypt ist, sende ich Ihnen ein andres Mai, 
denn ich habe Sie mit Philosophic schon unbillig Uberschuttet. (Briefe, 
90) - Ein zentrales Motiv des Dialogs Uber die Religiositat der 
Gegenwart - die Verbindung neuer Religion mit der Idee des Lite- 
raten - hatte Benjamin bereits in einem Brief vom 11. 9. 1912 an 
Straufi vorweggenommen; der Dialog entstand wohl zwischen diesem 
Datum und dem 10. 10. 19 12 in Berlin, als der Text abgeschlossen 
war (s. 10. 10. 1912, an L. Strauft). Der Brief vom 11. 9. 1912 leitet 
eine Folge von vier Briefen an Straufi ein (s. 836-844), in denen Benja- 
min zum Zionismus kritisch Stellung nahm. Gerade die besten west- 
europaischen Juden sind nicht mehr frei als ] uden. Sie konnen 
sich der judischen Bewegung nur in dem Sinne anschlieflen, den Ihr 
Brief andeutet. Denn sie sind an die literarische Bewegung gebunden. 
Der Begriff ist noch zu eng gefaftt, obwohl er das Wesentlichste sagt. 



Anmerkungen zu Seite 16—35 891 

Sie sind dem Internationalismus verpflichtet. Ich bilde mir nicht ein, 
dafi es ganz leicht sei, die Werte des Internationalismus festzulegen. 
Oder vielmehr: ich weifi: er ist kein Wert, sondern er zahlt zu den 
Zielen, denen wir unsere Arbeit weihen und die dadurch fur die 
Spdteren Werte werden. Durch Sein oder Wollen sind heute gerade 
die Juden, soweit sie die wissenschaftlich, literarisch und commerziell 
Fuhrenden sind, an den Internationalismus gebunden. [AbsatzJ Ich 
will nur von den Literaten reden, weil ihr Wollen mir das zukunfts- 
vollste und kulturell, jaf religios, bedeutendste scheint. Ihre Stellung 
ist eine der merkwurdigsten in unsrer Gesellschafl. In den meisten 
Kreisen hat das Wort »LiteraU noch einen abschatzigen Unterton 
oder auch nur diesen Ton. Und dabei stehen sie vor ihm mit jener 
Ratlosigkeity die wir vor dem empfinden, der an irgend e'tner Stelle, 
die wir kaum kennen, uns ganz uberlegen ist. Man empfindet ja, dafl 
es die Literaten sind, die mit dem Heute so ernst machen, wie Tolstoi 
Ernst machte mit der Kultur des Cbristentums. Die »Literaten« Ziehen 
aus unserer geruhmten Aufkldrung und Vorurteilslosigkeit die Kon- 
sequenzen. Es geniigt ihnen nicht, aufgekldrt im Versteck der burger- 
lichen Sicherheit zu sein, sondern sie nehmen sich die neuen Lebens- 
arten, die wir heute als menschlich anerkannt haben, d. h. deren Geist 
wir (in der Kunst) entdeckt haben. Sie haben ihre ernste Mission 
darin, aus der Kunst, die sie selbst nicht machen konnen, Geist fur das 
Leben der Zeit zu gewinnen. Ich weifi wohl, dafi was ich hier schreibe, 
nicht den einzelnen Literaten in seiner Unvollkommenheit trifft, 
glaube aber daft es die Idee des Literaten ist. Aus dieser modernen 
Askese gilt es alle seine Erscheinungen bis zum Cafe zu verstehen. - 
Religiosen Ideen liegt ein Extrem zu Grunde. Den Forderungen der 
alten Religionen hat man ihr Extremes genommen, teils durch Erful- 
lung, teils durch Abstumpfung des Gewissens. Aus der Befriedung in 
eigener Vollkommenheit lafit sich keine Religion schaffen. Die alte 
Weisheit erscheint neu und jetzig in den Verhandlungen des Monisten- 
kongresses: Ostwald schlagt ein Institut vor, welches fiir Familien- 
festlichkeiten Redner im monistischen Sinne zur VerfUgung stellt. 
[Absatz] Ich will uber den Literaten (als Idee) nicht mehr sagen, 
als dafi er berufen ist in dem neuen gesellschaftlichen Bewufitsein das 
zu sein, was »die Armen im Geiste, die Geknechteten und die Demii- 
tigen« dem ersten Christentum waren. Ob dies gesellschaftliche Be- 
wufitsein metaphysische Formeln suchen und finden wird, ob es ein 
allgemeines oder ein weiteres Klassenbewufltsein werden wird, kann 
man nur fragen. [Absatz] Es kommt mir mit all dem nur darauf 
an, zu erweisen, dajl die besten Juden heute an einen wertvollen 
Prozefi in der westeuropaischen Gesellschafl gebunden sind. Heinrich 
Mann fragt in Sombarts »Judentaufen«: Wohtn sollten Geist, Kunst 



8<? 2 Anmerkungen zu Seite 16—35 

und Liebe bei uns obne die Judenf [AbsatzJ Gewijl lafit sicb nicht 
sagen, dafi der politiscbe Zionismus solcher judiscben Kulturarbeit 
enigegenwirke - dock er liegt ihr in der Praxis beziehungslos fern. 
(11. 9. 19 1 2, an Ludwig Straufi) 

Die Befassung mit der Moglichkeit neuer Religiositat war fur den 
jungen Benjamin charakteristisch. Sie fand einen ersten Niederschlag 
in einer didaktischen Erzahlung, die 1910 in dem nodi hektographier- 
ten Vorganger des »Anfangs« unter dem Pseudonym Ardor publiziert 
wurde und um der thematischen Nahe zum Dialog iiber die Religio- 
sitat der Gegenwart willen an dieser Stelle abgedruckt wird. 

Die drei Religions sucber 
Drei Jiinglinge standen unter der groflen Tanne auf dem Hugel und 
batten ihre H'dnde ineinander gelegt. Sie blickten hinunter auf das 
Heimatdorf da drunten und weiter binaus, wo die Strafien sich bin- 
zogen, die sie nun gehen wollten . . . ins Leben hinaus. Und der eine 
sprach: »In dreiflig Jahren also werden wir uns bier wiederfinden, 
und dann wollen wir sehen, wer von uns die Religion gefunden hat y 
die einzige und die wahre Religion.* Die anderen stimmten zu und 
nacb einem Handedruck sdoieden sie nacb drei versohiedenen Seiten y 
auf drei versdoiedenen Strafien ins Leben binaus. 
Als der eine einige Wocben gewandert war, sab er eines Tages die 
Turme und Kuppeln einer gewaltigen Stadt vor sicb auftaucben. Und 
kurz entscblossen ging er auf die Stadt zu, denn Wunderdinge batte 
er von den grofien Stadten gebort: alle Scbatze der Kunst sollten dort 
aufgespeicbert sein, macbtige Bucber voll tausendjabriger Weisbeit und 
endlicb docb aucb viele Kircben, in denen alien die Menscben zu Gott 
beteten. Da mufite wohl aucb die Religion sein. Voll mutiger HofJ- 
nung scbritt er bei Sonnenuntergang durcbs Stadttor . . . Und dreifiig 
Jahre blieb er in der Stadt und forschte und sucbte nacb der wabren 
und einzigen Religion. 

Eine andere Strafle, die durcb scbattige Tdler und niedrige Wald- 
gebirge sicb scbldngelte, batte der zweite eingescblagen. Heiter singend 
und sorglos wanderte er, und wo er einen scbonen Ort sab, da legte 
er sicb nieder, rubte aus und traumte. Und wenn er so in die Scbonbeit 
der untergebenden Sonne versunken war, wenn er im Gras lag und 
die weiften Wolken am blauen Himmel dabinziebn, wenn er im 
Walde plotzlicb einen versteckten See dunkel binter den Bdumen auf- 
blitzen sab, so war er gliicklich und meinte, er babe die Religion 
gefunden . . . Dreiftig Jahre zog er so umber, wandernd und ruhend, 
trdumend und scbauend. 
Scblecbter erging's dem Dritten. Der war arm und konnte nicht lange 



Anmerkungen zu Seke 16—35 893 

lustig umherwandern, sondern mufite viel eher daran denken, sich sein 
tdglicbes Brot zu verdienen. Und so zogerte er auch nicht lange - nach 
ein paar Tagen schon hatte er sich in einem Dorfe bei einem Schmied 
in Dienst gegeben, um das Handwerk zu erlernen. Das war eine harte 
Zeit fur ihn, und jedenfalls hatte er keine Gelegenheit, sich auf die 
Suche nach der Religion zu begeben. Und das war nicht nur das erste 
Jahr so, sondern es blieb so, die ganze Zeit uber. Denn als er seine 
Lehrzeit beendet hatte, durchzog er nicht lange auf der Wanderschaft 
die Welt, sondern ging in Dienst in eine grofie Stadt. Da arbeitete er 
angestrengt eine lange Reihe von Jahren, und als das dreifitgste Jahr 
zu Ende ging, da war er wohl em selbstdndiger Handwerker gewor- 
den, aber nach der Religion hatte er nicht forschen konnen und er 
hatte sie nicht gefunden. Und gegen Ende des dreifiigsten Jahres 
machte er sich auf die Wanderschaft nach seinem Heimatdorfe. 
Durch eine machtige, wilde Berglandschaft fuhrte sein Weg. Da wan- 
derte er tagelang, ohne einem Menschen zu begegnen. Am Morgen des 
Wiedersehens aber wollte er einmal einen von jenen grofien Bergen 
besteigen, deren Hdupter er wahrend der ganzen Wanderung uber sich 
gesehen hatte. Ganz friih, mehrere Stunden vor Sonnenaufgang 
machte er sich auf den Weg; doch nur muhsam gelang ihm der Auf- 
stieg, so ganz ohne Rustung zu einer Bergtour, wie er es war. Weit 
Atem holend blieb er auf dem Gipfel stehen. Da sah er im Glanze der 
Morgensonne, die sich eben erhob, eine weite, weite Ebene vor sich 
liegen . . . mit all den Dorfern, in denen er einst gearbeitet hatte - 
und mit der Stadt, in der er es zum Meister gebracht hatte. Und all 
die Wege sah er deutlich vor sich, die Wege, die er gegangen war, 
und die Statten seiner Arbeit, 
Garnicht satt sehen konnte er sich daran/ 

Aber wie er den Blick abwendete und hoher hinauf, in den Glanz der 
Sonne sah, da sah er langsam in den Wolken in zitterndem Schein eine 
neue Welt vor semen Augen erstehen. Bergesspitzen, flimmernd weijle 
Bergspitzen gewahrte er, die hoch in die Wolken hineinragten. 
Aber ein uberirdisch hohes Licht blendete dort droben und deutlich 
konnte er in dem Glanz nichts erkennen, aber doch glaubte er, Ge- 
stagen darin leben zu sehen und krystallne Dome klangen fern im 
Morgenlicht heruber. 

Alser das sah, fiel er zu Boden, driickte seine Stirn gegen den Felsen 
und schluchzte und atmete tief. 

Nach einer Weile erhob er sich und warf noch einen Blick auf die 
wunderbare Welt dort droben, die jetzt im vollsten Glanze der Sonne 
vor ihm lag. Und da gewahrte er auch ganz klein, schwach in der 
Feme Wege, die hinauffuhrten auf die bluhenden, leuchtenden Ge~ 
birge. 



894 Anmerkungen zu Seite 16—35 

Dann wandte er sich ab und stieg hinunter. Und sdower wurde es 
ihm, sich wieder zurecht zu finden, dort drunten im Tale. Am Abend 
des Tages aber batte er das Heimatdorf erreicht s und auf dem Hugel 
uberm Dorfe traf er seine Freunde. Dann setzten sie sich zu Fiifien der 
groflen Tanne und erzablten einander ibre Schicksale, und wie sie ihre 
Religion gefunden. 

Der Erste erzahlte sein Leben in der groflen Stadt, wie er geforscht 
und studiert habe, in den Bibliotheken und Horsalen, wie er die 
bedeutendsten Professoren gehort habe. Und er selbst batte wohl 
keine Religion gefunden, aber dock meinte er am meisten geleistet zu 
haben. »Denn«, sprach er, »in der ganzen groflen Stadt ist nicht eine 
Kirche, deren Dogmen und Grundsdtze ich nicht widerlegen 
konnte.* 

Dann erzahlte der Zweite die Schicksale seines Wanderlebens, und 
mancbes war darunter, das die beiden Zuhorer bell auflachen oder 
gespannt lauschen liefi. Aber trotz aller Bemuhungen gelang es ihm 
nicht, den anderen seine Religion begreiflich zu machen, und er kam 
nie recht iiber die Worte hinaus: »Ja, seht Ibr, das mufi man \uhlenU 
Und wieder: »So etwas mufi man fublenU Und die anderen ver- 
standen ihn nicht, und am Ende lachelten sie fast. 
Ganz langsam und noch immer von seinem grojlen Erlebnis ergriffen, 
begann der Dritte seine Schicksale zu erzahlen. Aber nicht so wie die 
anderen die ibrigen geschildert batten, erzahlte er sie, nicht so wie 
er sie wohl erlebt hatte, sondern so wie er seine Wege am Morgen 
ubersehen hatte, als er auf der Spitze des Berges stand. 
Und ganz zuletzt und zogernd erwdhnte er jene leuchtenden weijien 
Bergspitzen. »Ich glaube, wenn man den ganzen Weg seines Lebens so 
iiberschaut, dann sieht man wohl auch den Weg zu jenen Bergen und 
den blendenden Gipfeln. Was aber in jenem Feuer gebannt ist, das 
konnen wir wohl nur ahnen, und mussen es jeder zu formen suchen 
nach unseren Schicksalen.« 
Dann schwieg er. 

Die anderen verstanden ihn wohl nicht ganz, aber keiner erwiderte 
ein Wort, sondern sie sahen hinaus in die sinkende Nacht, ob sie 
vielleicht die leuchtenden Spitzen in der Feme gewahrten. 

Druckvorlage : Der Anfang. Zeitschrift fiir kommende Kunst und Litera- 
tur. (Redaktion: Georges Barbizon.) Berlin [hektographiert], Nr. ao, 
August 1910 (= Nummernserie II, Schlufi [Nr. 5]), 38 f. 

UBERLIEFERUNG 

T 1 Typoskript-Durdischlag, mit Korrekturen von Benjamins und 
Gershom Scholems Hand; Benjamm-Ardiiv, Ts 1-23. 

T 2 Typoskript-Durdischlag vom selben Original, mit handschrift- 
lichen Korrekturen Benjamins; Benjamin- Archiv, Ts 24-46. 



Anmerkungen zu Seite 16—35 895 

T 3 Typoskript-Durchschlag vom selben Original, mit handschrift- 

lichen Korrekturen Benjamins; Benjamin-Archiv, Ts 47-69. 
T 4 Typoskript-Durchsdilag vom selben Original, mit handschrift- 

lichen Korrekturen Benjamins; Benjamin-Archiv, Ts 70-92. 
Druckvorlage: T 1 

lesarten 18,36 ordnungsgemdfi] konjiziert fur ordnungsmafi - 
19,15 der Metaphysik nachtrauern] konj. fiir der metaphysischen 
Nachtrauer - 19,38 Blumentage] handschr. korngiert aus Blumenthal; 
s. den Nachweis zu der Stelle - 20,33 Form] moglicherweise Schreib- 
fehler fiir Formen - 21,16 niemandem] konj. fiir niemanden - 
22,29 jenen] konj. fiir jeden - 22,31 der Amor dei] konj. fiir die 
Amor dei - 23,5 anorganischeri] moglicherweise Schreibfehler fiir 
Anorganischen - 23,7 von tie f stem, mitfuhlendem Verstdndnis] konj. 
fiir vom tiefsten, mitfiihlenden Verstdndnis - 25,8 keroisch-revolu- 
tiondren] konj. fiir heroisch revolutiondrer - 25,17 in dem] konj. 
fiir indent - 25,20 verlieren,] konj. fiir verlieren - 31,11 Ehrlichkeit] 
korrigiert fiir Ebtlichkeit; die folgende Replik des Freundes legt diese 
Korrektur nahe, wahrend der Sinnzusammenhang audi Endlicbkeit 
zu lesen erlaubt. - 31*17 Sozialen] fiir sozialen - 31,17 der,] konj. 
fiir der vor dem, - 34,20 nichts] konj. fiir nicht 

nachweise 19,38 Blumentage] Der Sinn der Stelle ist nicht zweifels- 
frei zu ermitteln. Am plausibelsten erscheint Scholems Vermutung, 
»dafi die Blumentage sich auf irgendeinen Vorsdilag sogenannter 
>Aufgeklarter< beziehen, der damals verhandelt worden sein mag, 
Blumentage einzufiihren, um festliche Begehungen im Sinne religioser 
Reformen zu charakterisieren oder vorzuschlagen. Bekanntlich spra- 
chen audi die Monisten, die ja ausgesprochene Atheisten waren, gern 
in religiosen Vokabeln oder richteten pseudo-religiose Veranstaltun- 
gen ein. Vgl. etwa Wilhelm Ostwalds >Monistische Sonntagspredig- 
ten<.« (Brief an R. Tiedemann vom 28. 11. 1974) - 20,29 Whitman] 
Walt Whitman war schon 1892 gestorben, also zur Zeit der Nieder- 
schrift des Dialogs nicht gerade ein lebende[r] Dichter. - 28,19 »He- 
rakles' Erdenfahru] Titel des fiinften Gesangs des fiinften Teils 
(»2eus«) von Carl Spittelers »Olympischem Friihling« - 28,37 »Fern- 
sten^Liebe*] Nietzsche, Werke in drei Banden, hg. von Karl 
Schlechta, Bd. 2, Munchen 1955, 324 f. (»Also sprach Zarathustra«, 
»Von der Nachstenliebe«) - 31,2 »Faustina«] s. Jakob Wassermann, 
Faustina. Ein Gesprach iiber die Liebe, Berlin 1912 - 33,24 spricht] 
s. Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube. Nach den Grund- 
satzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. 
7. AufL, hg. von Martin Redeker, Berlin i960, Bd. 1, 23 (§ 4), pas- 
sim; Schleiermacher benutzte den von Ferdinand Delbriick stammen- 
den BegrifT der »schlechthinnigen Abhangigkeit« zuerst in der 2. Aufl. 



896 Anmerkungen zu Seite 16—42 

des »Christlichen Glaubens« von 1830. - 34,15 haben.*] Walter 
Cal£, Nachgelassene Schriften. Mit einem Vorwort von Fritz Mauth- 
ner, hg. und eingel. von Arthur Bruckmann, Berlin 1920, 329 



35-42 Unterricht und Wertung 

Mit dem ersten Teil des Aufsatzes Unterricht und Wertung wurde 
- nach Einleitungstexten von Georges Barbizon und Gustav Wyne- 
ken - im Mai 191 3 das erste Heft des neugegriindeten »Anfangs« 
eroffnet. Dafi Benjamin seine Arbeit urspriinglich in einem anderen 
Zusammenhang publizieren wollte, geht aus seinem Brief vom 1 1 . 9. 
19 12 an Ludwig Straufi hervor: Vber die Schulfrage nur soviet: Ich 
babe im Positiven keine eigenen Ansichten, sondern bin strenger und 
fanatischer Schiller von G. Wyneken. Am liebsten wurde ich Ihnen 
die ca 80 Seiten lange philosophische (erhebende) Programmschrifi 
seiner Schule senden [entweder Gustav Wyneken, Die Idee der 
Freien Schulgemeinde, in: Wickersdorfer Jahrbuch 1908, Jena 1909, 
2-61, oder ders., Soziale Erziehung in der Freien Schulgemeinde, in: 
Wickersdorfer Jahrbuch 1 909/ 1 0, Jena 1 9 1 o, 1 -47] . Werden Sie 
Zeit finden, sie zu lesenf Er denkt den Gedanken der Schule neu mit 
der einzigen Voraussetzung, daft Ziel der Schule sei, in unserer Zeit 
den jungen Menschen zum Mitglied der kunftigen Gesellschaft zu er- 
ziehen, Nicht dafl dieser Satz, sondern dafl nur dieser seine Schul- 
philosophie stutzt, macbt sie vollkommen. - Eher hatte ich Ihnen 
etwas liber die h eutige Schule zu sagen. Doch fur diesmal nur 
Praktisches: Ich schreibe mit 2 Freunden an einer Reihe von Aufsdt- 
zen, die, teils von der Wickersdorfer* [Fufinote: *Wickersdorf ist der 
Ort der Schule Wynekens.] Idee, teils unmittelbar vom tdglichen 
Klein-mechanismus aus, die heutige Schule kritisieren. Viet Beispiele, 
Tatsachen. Wir beabsichtigen diese Aufsatze als Broschure (vielleicht 
im Verlag der Hilfe) herauszugeben. Doch ist das noch nicht gesiobert. 
Vorlaufig kommt es darauf an, eine Reihe gleichgerichteter und rein 
kritischer Aufsatze beieinander zu haben; die Veroffentlichung in 
Buch oder Zeitscbrift findet sich dann leicht. Aus dem Inhalt: Unter- 
richt und Wertung, Unterricht und Bildung, Gemeinschaftsleben der 
Schiller, Umgangsformen zwischen Lehrern und Schulern, Schule und 
Idealismus, Schularbeiten u.s.w. Sachlicher Ton: nuchtern oder sa- 
tiriscb. »Unterricht und Bildung* ist noch nicht bearbeitet, ebenso 
ist ein geplanter Aufsatz uber »Das Schulbuch« (ev. mit Ausziigen) 
noch nicht geschrieben. Wollen Sie etwas schreiben? (11. 9. 191 2, an 
L. Straufi) Der Briefstelle ist nicht mit Sicherheit zu entnehmen, 



Anmerkungen zu Seite 35—47 897 

ob Unterricht und Wertung im September 1912 bereits gesdirieben - 
dann ware der Text friiher als der Dialog iiber die Religiositat der 
Gegenwart entstanden - oder nur geplant war; fiir die Einordnung 
im vorliegenden Band mufite deshalb das Erscheinungsdatum des 
ersten Teils des Aufsatzes mafigeblich sein. 

UBERLIEFERUNG 

J a Ardor [Pseudonym], Unterricht und Wertung. </.), in: Der An- 
fang. Zeitschrift der Jugend. Hg. von Georges Barbizon und 
Siegfried Bernfeld. (Verantwortlich fiir die Redaktion: Gustav 
Wyneken.) Jg. 1 (191 3/14), 6-10 (Heft 1, Mai '13). 
J b Ardor [Pseudonym], Unterricht und Wertung. II. Uber das hu- 
manistische Gymnasium, in: Der Anfang 1 (191 3/14), 69-72 (Heft 
3, Juli , i 3 ). 
a Ardor [Pseudonym], Unterricht und Wertung. /., //., in: Der 
Anfang. Zeitschrift der Jugend. Hg. 191 3-14 von Georges Bar- 
bizon und Siegfried Bernfeld. In Auswahl neu hg. und mit 
einem Nachwort versehen von Eckart Peterich. Lauenburg a. d. 
Elbe: Adolf Saal 1922, 43-48. 
Druckvorlage: J a , J b 

Obwohl a spater als J a und J b erschien, wurde J als Druckvorlage 
gewahlt, da die Varianten von a es wahrscheinlich machen, dafi dieser 
Nachdruck ohne Beteiligung Benjamins zustande kam. 
lesarten 35,9 gleichgultig] gleicbgiltig a - 35,10 uberhaupt,] uber- 
haupt a - 35,15 Kommentar:] Kommentar. a - 36,2 Jahre] Jahr 
a - 36,16 e) im Wald.] fehlt in a - 36,31 Ermanglung] Ermange- 
lung a - 37,27 solchen] solchem a - 39,12 Namen,] konjiziert fiir 
Namen J, a - 39,26 wird,] konj. fiir wird J, a - 41,12 ein] fehlt in a - 
41,24 oa)(pQoovvrj] a; oaxpooovvt} J 



42-47 ROMANTIK 
UBERLIEFERUNG 

J Ardor [Pseudonym], Romantik, in: Der Anfang 1 (1913/14), 38-42 
(Heft 2, Juni '13). 

a Ardor [Pseudonym], Romantik, in: Der Anfang. Zeitschrift der 
Jugend. Hg. 191 3-14 von Georges Barbizon und Siegfried Bern- 
feld. In Auswahl neu hg. und mit einem Nachwort versehen von 
Eckart Peterich. Lauenburg a. d. Elbe: Adolf Saal 1922, 14-17. 

Druckvorlage: J. - Zur Wahl der Druckvorlage gilt das oben Gesagte. 

lesarten 43,33 Philister.«] die Abfiihrungszeichen fehlen in J und 



898 Anmerkungen zu Seite 42—47 

a - 44,19 sollten,] sollten; a - 45*36 wollt prtide,] wollt, prUde 
a - 46,7 sagen ist,] sagen, a - 46,27 jugertdlicb:] jugendltch; a - 
46,32 dann] a; denn J 



47 Romantik - Die Antwort des »Ungeweihten« 

Benjamins Text ist die Replik zu einer Entgegnung auf seine Rede 
Romantik, die im September 191 3 pseudonym im »Anfang« erschien: 

Romantik - die Meinung eines anderen 
Hyperion, Berlin 
Es liegt im Charakter des »Anfangs«, dafi in ihm viele Meinungen und 
Weltanschauungen vertreten werden, die auf lebhaften Widerspruch stofien 
konnten - selbst von der Seite der Jugend. Und wenn irgendeiner einen 
starken Gegensatz zu dem, was gesagt ist, in sich fuhlt so soil er seine Ober- 
zeugung, seinen Glauben nidit unterdriicken, sondern stark und frei in die 
Schranken treten, um seine Ansidit zu verfechten. 

Im zweiten Heft des »Anfangs« sprach Ardor iiber Romantik, d. h. dariiber, 
wie er die Romantik von unserer Jugend aufgefafit wissen wollte. Gegen die 
personliche Ansidit des Verfassers wende ich mich nicht, die ist sein innerstes 
Recht, aber ich wende midi entsdiieden dagegen, dafi die Jugend zu dieser 
Romantik als zu ihrem Ideal jemals aufblicken soil. Und ich wende mich 
gegen sie mit dem sicheren Bewufitsein, vielen aus der Seele zu sprechen. 
Ardor fragt: »Haben wir die Romantik? Kennen wir sie? Glauben wir an 
sie?[«] Und tausend Stimmen rufen ihm ein leidenschaftliches Nein ent- 
gegen. _. 

Ich aber und viele andere rufen mit der Kraft der Begeisterung: »Ja, wir 
besitzen sie, wir tragen sie in uns als heiliges Gut. Wir fiihlen sie in den 
dunklen Lauten der Natur, in den geheimnisvollen Akkorden der Beethoven- 
schen Musik. Und sie spricht zu uns mit hundert Stimmen aus den Worten 
der Dichter, die ihr heiliges Feuer im Herzen tragen. Aus den schmerzvollen 
Gedichten Holderlins und Lenaus, aus den Dramen Shakespeares wie Wag- 
ners und wir schauen sie in den dunklen Bildern Rembrandts und den Ge- 
filden Bocklins. Niemand wage, mit kiihner Hand sie sich aus dem Herzen zu 
reifien. Das Grofite, was in ihm lebt, ist dann vernichtet.[«] 
Und weiter sagt Ardor: »Unsere Schule steckt voller falscher Romantik. « 
Niemand wird das leugnen konnen. Aber aus dieser Tatsache zieht er den 
ganz falschen SchluR: »Die Romantik der Schule ist die, welche in der 
Jugend lebt«, oder deutlidier: »weil die Romantik der Schule falsch ist, mufi 
audi die der Jugend falsch sein.* - 
Und wieder rufen wir: »Was hat unsere Romantik mit der Falschheit der 



Anmerkungen zu Seite 47—54 899 

Schule zu tun? Wie kann philologisches Wortgeklingel unsere reinen Feuer 
triiben? Nein! Schwachlinge waren wir, und unwurdig unserer selbst, wenn 
wir uns unser Grofites, Heiligstes von dieser Sdiule, die wir alle verachten, 
nehmen liefien. Mag sie Goethe und Schiller fur uns auf lange Zeit unge- 
niefibar machen. Uns bleibt noch so vieles![«] 

So kommt denn Ardor zu dem Schlufi, dafi unserer Jugend Wirklichkeit und 
Romantik dasselbe bedeuten sollte. Und er ahnt wohl gar nicht, dafi alle 
Romantik dann ein Ende haben wiirde. 

Romantik ist alles Dunkle, Geheimnisvolle, das wir nicht sehen, das wir nur 
ahnen. Es sind Klange aus dunklen Geisterreichen, die uns erbeben machen 
und uns mit heiligem Schauer erfiillen. Es ist alles das, was wir mit Worten 
nie erschopfen, ja nicht einmal nennen konnen. Und zum letztenmal rufen 
wir laut und voller Inbrunst: »Nie lassen wir uns unsere Romantik antasten 
von ungeweihten Handen, nie werden wir die Sehnsucht nach den fernen 
Reichen aufgeben.* 
Und dafi dies niemals geschehen kann, ist mein fester Glaube. 

UBERLIEFERUNG 

J Der Anfang 1 (1913/14), 144 f. (Heft 5, September '13). - Der 

Abdruck ist unterzeichnet Ardor. 
a Der Anfang. Zeitschrift der Jugend. Hg. 19 13-14 von Georges 

Barbizon und Siegfried Bernfeld. In Auswahl neu hg. und mit 

einem Nachwort versehen von Eckart Peterich. Lauenburg a. d. 

Elbe: Adolf Saal 1922, 19. - Der Nadidruck ist ebenfalls mit 

Ardor unterzeichnet. 
Dmckvorlage: J, a. - Mit Ausnahme einer Interpunktionsvariante 
stimmen J und a iiberein. 
lesart 47,22 seken,] a; sehen J 

nachweis 47,16 Hyperion] Pseudonym des Verfassers der 898 f. 
abgedruckten Erwiderung 



48-54 Der Moralunterricht 

Der Moralunterricht - der erste Text, den Benjamin unter seinem 
Namen veroiffentlidite - erschien im Juli 191 3 in der von Gustav 
Wyneken herausgegebenen Zeitschrift »Die Freie Schulgemeinde«. Am 
22. Juni 191 3 schrieb Benjamin den Aufsatz »Erfahrung« (s. Briefe, 
63); unmittelbar danach entstand die Arbeit liber Gerhart Haupt- 
manns »Festspiel in deutschen Reimen« (s. Briefe, 63), jedenfalls lag 
sie am 3. Juli abgeschlossen vor (s. Briefe, 69). Es ist kaum vorstell- 
bar, dafi Der Moralunterricht ebenfalls in den wenigen Tagen zwi- 



900 Anmerkungen zu Seite 48—54 

schen 22. Juni und 3. Juli geschrieben wurde. Eine Abfassung des 
Aufsatzes, der nodi im Laufe des Juli gedruckt worden ist, nach dem 
3. Juli ist gleichfalls unwahrscheinlich, wenn man beriicksichtigt, dafi 
»Die Freie Schulgemeinde« eine Vierteljahresschrift war, die kaum 
ad hoc geschriebene Beitrage brachte. Die Entstehung des Moralunter- 
ricbts durfte deshalb vor der der »Erfahrung« anzusetzen sein. 
In einem Brief vom 4. 8. 1913 an Carla Seligson versuchte Benjamin, 
an den Moralunterricht anknttpfend, eine Art metaphysischer Grund- 
legung seines BegrifTs des Sittlichen zu geben: Ich harm aber nicht 
schliefien, ohne Ihnen noch einen ganz anderen Gedanken zu sagen, 
den ich auf Ihre Frage nach der formellen Sicberheit und allzu grofien 
Leicbtigkeit einer kommenden Jugend antworte. Ich bitte Sie, meinen 
Aufsatz in der Juli-Nummer der »Freien Schulgemeinde« zu lesen 
- ich will ihn beifugen. Dort versuche ich zu erkl'dren, daft es keine 
Gewifiheit einer sittlichen Erziehung gibt, denn der reine Wille, der 
das Gute um des Guten willen tut, ist nicht zu erfassen mit-Mitteln 
des Erziehers. [Absatz] Ich glaube, wir mussen immer darauf gefafit 
sein, dafi kein einzelner Mensch in Gegenwart und Zukunft in seiner 
Seele, da wo er frei ist, von unserm Willen beeinflufit und bezwungen 
wird. Wir haben dafiir keine Gew'dhr; wir diirfen es auch nicht wiin- 
schen - denn das Gute geschieht nur aus Freiheit, Schliefllich ist jede 
gute Tat nur das Symbol der Freiheit dessen, der sie wirkte. Ta- 
ten, Reden, Zeitschriflen andern keines Menschen Willen, nur sein 
Verhalten, seine Einsicht u. s. f. (Das ist aber im Sittlichen ganz 
gleichgiltig) Der Anfang ist nur ein Symbol, alles was er daruber 
hinaus innerlich wir k s am ist, ist Gnade, Unbegreifliches. Sehr 
wohl ware es denkbar (und sicher ist es so), daji allmahlich das, was 
wir wollen, geschieht, ohne daji die seelische Jugend, die wir wollten, 
in den einzelnen erschienen ware. So war es wohl immer in der 
Geschichte: ihr sittlicher Fortschritt war nur die freie Tat ganz weni- 
ger. Die Gemeinschafl der Vielen wurde das uber- und aufier-mensch- 
liche Symbol einer neuerfullten Sittlichkeit. Wahrend die alte 
Sittlichkeit genau so symbolische Form war, von wenigen Freien 
gebaut. Ware es anders, so batten niemals »neue« Sittlichkeiten ent- 
stehen konnen, » neue « gibt es nur fur den Unsittlichen, triebbaf- 
ten Menschen, - Wahrend die seelischen Menschen ein ganz Gleiches 
wollten, ewig es verdndernd, damit die andern, schlafend, ohne es zu 
wissen, sich in jene symbolische Gemeinschafl einfugten. (Alles andere 
war ein Einzelakt der Gnade im Einzelnen) Die Sittlichkeit der Ge- 
meinschafl ist etwas, das unabhdngig von der Sittlichkeit ihrer Glie- 
der, trotz deren Unsittlichkeit, besteht. Also ist sie - vom Menschen 
aus gesehen - nur Symbol. Aber in denen, die den symbolischen, 
unnutzlicben Wert der Gemeinschafl fiihlen, die eine Gemeinschafl 



Anmerkungen zu Seite 48—54 901 

grtindeten, » als ob « der einzelne sittlich ware - in diesen Sdoop- 
fern der Gemeinschaften allein wurde die sittliche Idee wirklich; 
sie war en fret. Was ein »als ob« der Erkenntnis ist, ist ein Absolutes 
im Handeln. - [Absatz] Nun bedenken Sie bitte, daft ich mit diesen 
Gedanken nod) lange nicht fertig bin 3 dajl sie mir nur notig erscbei- 
nen, um unsre Idee von allem Utopischen zu befreien und noch gegen 
das brutalste der Wirklichkeit Recht zu behalten. (Briefe, 89 f .) 

UBERLIEFERUNG 

J Der Moralunterricht. Von stud. phil. W. Benjamin. In: Die Freie 
Schulgemeinde. Organ des Bundes fur Freie Schulgemeinden. Hg. 
i. A. des Bundes: Gustav Wyneken. Jena: Verlag von Eugen Diede- 
ridis. Jg. 3 (1913), 1 19-124 (Heft 4, Juli '13). 
lesarten 53,7 Scbreibstube.] konjiziert fiir Scbreibstube: - 53,8 
fragt;] konj. fiir fragt. ~ 53,25 bessere] konj. fiir besserer 
nachweise 48,22 geschehen.*] Kant, Werke in sechs Banden, hg. 
von Wilhelm Weischedel, Bd. 4: Sdiriften zur Ethik und Religions- 
philosophie, Darmstadt 1963, 14 (»Grundlegung zur Metaphysik der 
Sitten«, Vorrede) - 48,27 f, Pfticbten*] s. vor allem §24 des »Sy- 
stems der Sittenlehre«, audi a. a. O. § 23 (Fieri te, Ausgewahlte Werke 
in sechs Banden, hg. von Fritz Medicus, Bd. 2, Darmstadt 1962, 
694 f. und 675 f.). - 48,33 werde] s. etwa a. a. O. §15 (a. a. O., 
560) - 48,36 erscheine] s. Ku Hung-Ming, Chinas Verteidigung 
gegen europaische Ideen. Kritische Aufsatze, ubertr. von Richard 
Wilhelm, hg. von Alfons Paquet, Jena 191 1, 63 f.: »Konfuzius sagt: 
>Ich weifi warum es keine wirkliche Sittlichkeit gibt. Die Weisen in 
ihrem geistigen Stolz gehen zu weit und die Toren gehen nicht weit 
genug.<« Benjamin durfte aus dem Gedachtnis zitieren und dabei an 
diese Stelle denken. - 49,8 Wille.*] Kant, a. a. O., 18 (»Grundlegung 
zur Metaphysik der Sitten«, Erster Abschnitt) - 51,16 gestalten.*] 
s. Goethe, Werke. Hamburger Ausg., Bd. 6, hg. yon Benno von 
Wiese und Erich Trunz, Hamburg 195 1, 407 (»Die Wahlverwandt- 
schaften«, 2. Teil, 7. Kapitel): »Das Hochste, das Vorziiglichste am 
Menschen ist gestaltlos, und man soil sich hiiten, es anders als in edler 
Tat zu gestalten.« - 51,39 geben.*] Kant, a. a. O.; 36 (»Grundlegung 
zur Metaphysik der Sitten«, Zweiter Abschnitt) - 52,28 entnommen] 
s. Friedrich Wilhelm Foerster, Jugendlehre. Ein Buch fiir Eltern, Leh- 
rer und Geistliche, 3. Aufl., Berlin 191 1 



902 



Anmerkungen zu Seite 54—56 



54-56 »Erfahrung« 

Gestern schrieb ich hier einen Artikel »Erfahrung«. Vermutlich das 
Beste, was ich bisher fur den Anfang schrieb. Er soil ins September- 
hefl. (Briefe, 63) So Benjamin am 23. 6. 1913 in einem Brief aus Frei- 
burg an Herbert Belmore. In einem zweiten Brief vom selben Datum 
an denselben Empf anger heifk es: Was Du iiber die Fran zuerst 
sagst, das ist im ganzen aucb meine Meinung. »]e weniger wir durch 
die so ublen >personlichen< Erfahrungen getrubt und verwirrt sind.* 
Wie sebr das meine Ansicht trifft, wirst Du wissen, wenn Du meinen 
Aufsatz »Erfahrung« kennen wirst. (Briefe, 65) Am 17. 7. 1913 
schrieb Benjamin, wiederum an Belmore: Lies bitte »Erfahrung* mei- 
nen Aufsatz furs Septemberhefl. Genugt er nicht und ist er verbes- 
serungsfabig, so schicke ihn mit Bemerkungen zu mir. Ab jo ten nach 
Freudenstadtj Villa Johanna. Denn Barbizon, der ihn annahm, ist ja 
garnicht kritisch. (Briefe, 79) Erschienen ist »Erfahrung« erst im Ok- 
tober-Heft des »Anfangs«. 

In einer wahrscheinlich 1929 - keinesfalls friiher - geschriebenen 
Notiz kam Benjamin auf seinen Aufsatz von 191 3 zurikk: 

In einem fruhen Aufsatz habe ich alle rebellischen Krafle der Jugend 
gegen das Wort »Erfahrung« mobil gemacht. Und jetzt ist dieses Wort 
ein tragendes Element in vielen meiner Sachen geworden. Trotzdem 
bin ich mir treu geblieben. Denn mein Angriff durchstieft das Wort 
ohne es zu vernichten. Er drang ins Zentrum der Sache vor. 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 673, S. 27 



UBERLIEFERUNG 

J Ardor [Pseudonym], »Erfahrung«> in: Der Anfang 1 (191 3/14), 
169-171 (Heft 6, Oktober '13). 

a Ardor [Pseudonym], »Erfahrung« y in: Der Anfang. Zeitschrift 
der Jugend. Hg. 1913-14 von Georges Barbizon und Siegfried 
Bernfeld. In Auswahl neu hg. und mit einem Nachwort versehen 
von Eckart Peterich. Lauenburg a. d. Elbe: Adolf Saal 1922, 20 f. 

Druckvorlage: J. - Zur Wahl der Druckvorlage gilt das 897 Gesagte. 

lesArt 54,10 des Erwachsenen] der Erwachsenen a 

nachweis 56,8 wird.] Schiller, Don Carlos IV, 21 (v. 4287-4289) 



Anmerkungen zu Seite 56— 60 903 

$6-60 Gedanken uber Gerhart Hauptmanns Festspiel 

Am 23. 6. 1913 schrieb Benjamin aus Freiburg an Herbert Belmore: 
Es feblt uns ein Gesprachsthema - nicht wahr? - So dafi ich jedesmat 
unverhaltnismafiig viel Geist konzentrieren mufi, um an Dich zu 
schreiben. [AbsatzJ Dtesmal sei es ein Hinweis auf Hauptmanns 
jugendhaft gottliches Jubilaumsdrama [s. Gerhart Hauptmann, Fest- 
spiel in deutschen Reimen, Berlin 19 13]. Dafi eine solche unsterbliche 
und frohliche Schbpfung entstehen konnte und Hauptmanns Proble- 
matik nun endgiiltig zum grofien Dlchter und freien Menschen lost - 
das als einziges versohnt mid) mit dem Jubiliium, unter dem ich alter- 
dings nicht gelitten habe. Wenn Du dies Drama noch nicht gelesen 
hast, dann erlebe nur moglichst bald eine der schonsten Stunden. Seit 
sehr langer Zeit - ich glaube seit Spitteler - hat mich Kunst nicht 
mehr geistig so erschuttert d. h. gehoben. Schon und erfreulich ist es, 
dafi man dies Stuck verboten hat: eine historisch angemessenere Ein- 
sicht in seine Grofie kann ich mir nicht vorstellen. [Hauptmann hatte 
das »Festspiel« auf Bitten der Breslauer Studentensdiaft geschrieben, 
die sich freilich ein Stuck zur Verherrlidiung der sogenannten Frei- 
heitskriege von 1 813 erwartete. Die Urauffuhrung fand am 31. Mai 
191 3 in der Jahrhunderthalle in Breslau statt. Bald danach erwirkte 
der deutsche Kronprinz die Absetzung des »Festspiels« vom Spiel- 
plan.] Damit ist nicht nur ein Stuck Vergangenbeit, sondern Gegen- 
wart rationalisiert. [AbsatzJ Morgen schreibe ich an Wyneken. Ich 
wiederbole ihm auf das dringendste einen Vorschlag, den ich machte 
als ich von dem Verbot erfuhr und erst wenige. Zeilen kannte: Das 
August-Heft des »Anfang« als Hauptmann-Heft diesem Festspiel zu 
widmen. Die Jugend moge einer politisch verkalkten Offentlichkeit 
antworten. Wir sind tatig: Heinle hat seinen Artikel uber das Fest- 
spiel bereits (pathetisch-agitorisch) ich schreibe morgen den meinigen: 
mein Gedankengang ist schon aufgezeichnet: Das Jahrhundertfestspiel 
oder die Jugend und die Geschichte. Ich glaube einiges Wesentliche 
zu sagen zu haben. Dafl Ihr Berliner das Stuck sogleich lest und un- 
sern (Heinles und meinen) Plan fur das August-Heft energisch unter- 
stutzt, darauf rechne ich (est. Ich bin nun einmal nicht in Berlin. Aber 
werden wir sobald wieder Gelegenheit finden, zu zeigen, was jugend- 
liches Urteil in der Offentlichkeit soil? Dieses Heft wird fur die Sache 
wirken. Fur unsere vor allem, auch Hauptmanns, es wird aktuell sein 
und viel gekauft werden! Schreibt Ihr, was Ihr uber die Angelegen- 
heit des Jahrhundertspiels zu sagen habtf Moglichst grundlich und 
zugleich moglich[s]t wenig technisch-dsthetisch. [AbsatzJ Morgen wie 
gesagt schreibe ich Wyneken, spatestens ubermorgen, jedenfalls so, 
daft ich ihm meinen und Heinle[s] Artikel beilegen kann. Dann 



90 4 



Anmerkungen zu Seite 56—60 



erwarte ich baldige Antwort auch von Eucb. Ihr werdet Eudo mit 
Wyneken in Verbindung setzen und auch mit Barbizon. Uns ist die 
Sache so wichtig wie hoffentlich Eudo. (Briefe, 62 f.) Ob Benjamin 
seinen Aufsatz tatsachlich morgen, d. h. am 24. Juni, gesdirieben hat 
oder dazu doch mehrere Tage benotigte, ist ungewifi; als er jedoch 
am 3. Juli erneut an Belmore schrieb, befand der Text sich bereits in 
der Berliner Redaktion des »Anfangs«: Wegen eines Hauptmann- 
Heftes seize Dido mit Barbizon in Verbindung. Nach langen Erwa- 
gungen sind die Griinde pro und contra fur mich gleich stark. Bei 
Barbizon wirst Du Heinles und meinen Artikel uber das Festspiel fur 
die ndchste Nummer finden. Desgleichen meinen Artikel »Erfahrung«. 
Die Hauptmann- Artikel jedenfalls sind schon jetzt Fundament einer 
Besprechung mit Barbizon: ich verwies ihn auf Dich - wie Dich auf 
ihn. Wie froh ich bin y keine Zeitungen zu lesen: wenn mit der 
Schmutz wegen Hauptmanns oder des Anfangs einmal durch Eucb 
zu Gesicht kommt. (Briefe, 69) Im selben Brief berichtete Benjamin 
uber Auseinandersetzungen, wie sie damals an vielen Orten uber 
Hauptmanns »Festspiel« stattfanden: Willst Du wissen, daft gestern 
hier [scil. in Freiburg] Versammlung wegen Hauptmann war? Es 
war schdndlich. Ein philosophiscb gebildeter Banause schwatz[t]e 
Unsinn ohne Ehrerbietung. »Und speziell wir Breslauer batten ge- 
wunscht, dafl . . . (die Stadt Breslau als Mutter der Bewegung auch 
vorgekommen ware)* »Man umgeht nicht ungestraft die geliebten 
Anekdoten u. Erinnerungen des Volkes* sonst - u. im Ganzen natiir- 
lich dafur. Pfui Teufel! In der Diskussion: [Philipp] Keller. Schlecbt 
aufgelegt - man merkte, dafl er wirken wollte. Es gelang nicht - man 
rumorte. Heinle und ich trampeln. Umgeben von Scharrenden. Im 
ubrigen sprach Keller die einzigen hoffnungslos vernunftigen Worte. 
Ich sagte zu Heinle: »Wenn ich diese Menschen hier im Saal naher 
kennte - ich muflte doch emp finden: soviel Menschen, soviel erbitterte 
personliche Feinde.* (Briefe, 70 f.) — In Berlin scheint es zu Kontro- 
versen iiber das Projekt eines dem » Festspiel « gewidmeten Heftes 
gekommen zu sein. Zwar wurde Benjamins Aufsatz im August-Heft 
des » Anfangs « abgedruckt, weitere Beitrage zu Hauptmanns Stuck 
sind dort indessen nicht veroffentlicht worden; der Artikel von Fritz 
Heinle diirfte heute verloren sein. Benjamin selber stand seiner Arbeit 
bereits sehr kritisch gegeniiber, bevor sie iiberhaupt gedruckt war, wie 
ein Brief vom 17. Juli zeigt: In Freudenstadt las ich meinem Bruder 
einige Zeilen aus meinem Hauptmann Artikel vor. In diesem Augen- 
blick tat es mir sehr leid, da/1 ich den Aufsatz nicht noch hatte lagern 
lassen und sofort Barbizon sandte. Ich merkte y dafl damals mein eige- 
ner Anteil mich an einer breitern 3 lebhaflern Verarbeitung verhindert 
hatte. Alles schien zu genugen. Heinle ist kein Kritiker, der fehlt mir 



Anmerkungen zu Seite $6—66 905 

hier. Sicher ware vieles besser geworden, h'dtte ich mir mehr Mufie 
genommen. Wyneken hat recht. Ich bereue - (Briefe, 79) 

UBERLIEFERUNG 

J Gedanken iiber Gerhart Hauptmanns Festspiel. Von Ardor [Pseud- 
onym], Freiburg. In: Der Anfang 1 (191 3/14), 97-100 (Heft 4, 
August *i3). 
lesart 58,18 anders] konjiziert fur anders, 

nachweise 56,28 Festspiel] s. Gerhart Hauptmann, Festspiel in deut- 
schen Reimen, Berlin 1913 - 58,17 gesetzt.] a. a. O., 83 - 58,20 
Klasse.] a. a. O., 78 - 58,21 Sohn?] a. a. O. - 58,22 Narrheiten.] 
a. a. O., y9 - 58,29 euch.] a. a. O., 78 - 59,8 Tatigkeh.] a. a. O., 
109 



60-66 Ziele und Wege der studentisch-padagogischen Gruppen 
an reichsdeutschen Universitaten 

Ober die erste »Studentisch-padagogische Tagung«, die am 6. und 
7. Oktober 191 3 in Breslau stattfand und auf der Benjamin seinen 
Vortrag hielt, schrieb er am 4. August an Carla Seligson: Sie haben 
vielleicht von dem pddagogisch studentischen Kongrefi gebort, der am 
7. Oktober in Breslau sein wird. In den letzten Tagen erfuhr ich, daft 
ich dort reden werde; aufler mir noch [Siegfried} Bernfeld, Letter 
des Acad. Comities filr Schulreform in Wien. Drittens ein Herr 
[Alfred] Mann, der zur Gegengruppe gehort. Zum ersten Male 
werden auf diesem Congrefi die beiden studentischen Richtungen sich 
begegnen, die zu Wyneken und auf der anderen Seite zu Prof. [Wil- 
liam] Stern (meinem Vetter) gehoren. In Breslau werden wir zum 
ersten Male die Schar (denn ich glaube y davon darf man reden) unsrer 
weitern Freunde ubersehen. Bis zum Kongrefi werden noch 3 An- 
fanghefle herauskommen; auch auf die darf man hoffen, soweit ich die 
Beitrdge kenne. (Briefe, 8 5 f .) 

Im Anschlufi an die Vortrage, die auf der Breslauer Tagung gehalten 
wurden - aufier Benjamin, Wyneken, Stern, Bernfeld und Alfred 
Mann sprach noch Christian Papmeyer -, kam es zu einer off entlichen 
Diskussion, Die 19 14 erschienenen Verhandlungsprotokolle enthalten 
neben dem Text der Vortrage auch die Aufierungen der Diskussions- 
redner. Als einziger unter diesen bezog Walther Popp, ein Vertreter 
der »Breslauer Richtung« der studentisch-padagogischen Gruppen, sich 
direkt auf den Vortrag Benjamins; da Popp die Unterschiede der 
miteinander konkurrierenden » Richtungen « ausfiihrlich behandelte, 
sei aus seinem Diskussionsbeitrag zitiert: 



906 Anmerkungen zu Seite 60-66 

»Und nun ist neben diese >Breslauer Richtung< [. . .] eine andere, wohl 
allgemein als >Freiburger Richtung< bezeichnete, getreten. Sieht man von klei- 
neren Verschiedenheiten untereinander ab, und mifit man sie an der Breslauer 
Richtung, so wird die Freiburger hier von alien auswartigen Herren Vor- 
tragenden vertreten. Ihre Ausfiihrungen zeigen auf den ersten Blick, dafi sie 
trotz des mit der Breslauer Gruppe gemeinsamen Namens einem anderen 
Gegenstande dienen und wohl audi dienen wollen. Sie stehen fur uns 
Breslauer nicht vor der Frage, wie sie sich schon auf der Universitat fiir 
ihre zukiinftige padagogische Berufstatigkeit in etwas vorbereiten konnen, 
sie fragen sidi vielmehr - soweit sie sich uberhaupt eine bestimmte Frage 
vorlegen ~, wie sie volkserzieherisch im weitesten Sinne, >padagogisch<, wie 
sie sagen, schon jetzt als Studenten tatig sein konnen. Sie sehen sich nicht 
als Lehrer und Erzieher spaterer Schiiler - weshalb ihre Mitglieder auch zum 
Teil gar nicht angehende Lehrer sind -, sondern als Erzieher am Volke, am 
Volksganzen. Sie sehen sich nicht als solche, die sich auf eine bestimmte, 
begrenzte padagogische Tatigkeit vorbereiten wollen, sondern als 
solche, die Beruf und Notigung in sich fiihlen, eben jetzt, in ihrer Jugend, in 
den Jahren des akademischen Studiums eine gewisse Arbeit am Volke, an der 
Menschheit auszuiiben. Sie suchen, wenn ich so sagen darf, sozial- 
und volkspadagogisch im weitesten und hochsten Sinne tatig zu sein; die 
Breslauer, sich schulpadagogisch zu bilden. - Ich enthalte mich, wie 
schwer es mir audi fallt, j e d e r Kritik ihrer Ziele und ihrer Arbeit, mochte 
nur versichern, dafi ich ein voiles Verstandnis und vollste Hochachtung fiir 
ihr Streben habe, womit freilich nicht gesagt sein soil, dafi ich es in den von 
ihnen gepflegten Formen billige. Aber das will ich mit aller DeutHchkeit 
feststellen, dafi wir Breslauer als Glieder unserer Padagogi- 
schen Gruppe mit den Freiburgern nichts gemein haben und haben 
konnen. Ihr Ziel ist ein hohes, jeden einzelnen strebenden Menschen an- 
gehendes, ist ein notwendiges, ist darum auch das eines jeden von 
uns; es ist aber nicht das unsere, sofern wir uns in unserer P a d a g o - 
gischen Gruppe bewegen. Doch auch unser Ziel ist, wogegen kein 
Zweifel aufkommt, ein hohes und audi ein notwendiges, wenn es auch 
vom Gesiditspunkt letzter und hochster Fragen nach der Natur dieser auf 
den ersten Blick als ein nuchternes, vielleicht hausbackenes, weniger vorneh- 
mes, weniger philosophisch schatzbares erscheint; doch macht uns das keine 
Sorge! Es liegt nach dem, was ich anfangs sagte, auf der Hand, dafi wir, 
verschiedenen Zielen zustrebend, uns auf verschiedenen Wegen befinden, 
wenn der Herr Vertreter der Freiburger Gruppe wortlich erklaren mufi: 
>Wir wollen keine padagogische Gruppe zur Padagogik sein, sondern eine 
neue studentische Bewegung< und dann: >Wir sind nicht an der Padagogik 
praktisch orientiert, wenn wir uns auch dafur interessieren wie jeder gebil- 
dete Mensch.< Fiir uns Breslauer und alle, die unseres Sinnes sind, hat die 
Padagogische Gruppe nicht nur >symbolische Bedeutung<, wie audi Herr 



Anmerkungen zu Seite 60—66 907 

Benjamin fiir seine Gesinnungsfreunde es in Anspruch nimmt, w i r wol- 
1 e n eine Padagogische Gruppe zur Padagogik sein, wir w o 1 1 e n an 
der Padagogik praktisch orientiert sein und mehr als jeder gebildete 
Mensch, ja selbst mehr als etwaige praktische Padagogen, die das Amt 
haben, aber nicht den Beruf. Wenn ich mir all dies vor Augen hake, sehe ich 
zwar das viele Gemeinsame, das wir, wenn in der Diskussion iiber Wesen 
und Tatigkeit einer Padagogischen Gruppe audi nicht ausgesprochen, doch 
haben, ich sehe aber keine Moglichkeit und - auch keinen Anlafi zu einer 
Vereinigung unserer Bestrebungen, unter keinen Umstanden zu einer Auf- 
gabe der unseren. Die Freiburger Richtung mag ihre Strafie ziehen; solange 
wir, unseren zukiinftigen Beruf vor Augen, in der Padagogischen Gruppe uns 
zu bilden suchen, gehen wir unseren Weg, und ich mochte nur jedem, 
der iiber oder neben der Arbeit fiir die Volks- und Menschheitserziehung, 
sofern er sich dem schulpadagogischen Berufe zu widmen gedenkt, auch fiir 
die Vorbereitung auf diesen schon als Student etwas tun will, nahelegen, 
uns auf unserem Wege zu begleiten.* (Student und Padagogik II: Erste 
studentisch-padagogische Tagung zu Breslau am 6. und 7. Oktober 1913, 
hg. von Alfred Mann, Leipzig, Berlin 19 14, 47 f.) 

Einen Bericht iiber die Breslauer Tagung hat Siegfried Bernfeld im 
»Anfang« publiziert: 

Die erste studentisch-padagogische Tagung in Breslau 
6.-j. Oktober 1913 
Wir diirfen mit dem Verlauf dieser Tagung durchaus zufrieden sein. Das 
Wesentliche ist dabei nicht, dafi die padagogischen Gruppen aller Univer- 
sitaten von nun an eine gemeinsame Geschaftsstelle haben und ihre Vertre- 
ter sich alljahrlich zu einer griindlichen Aussprache treffen werden, und auch 
darauf ist nicht das grofite Gewicht zu legen, dafi der »Anfang« im Mittel- 
punkt der Diskussion stand und viele neue Freunde gefunden hat. - Dafi 
jeder Freund der Freiburger Richtung an diesem Tag aus der ungeahnten 
Werbekraft seiner Ideen die sichere Oberzeugung gewann, dafi der Idee 
der Jugendkultur, der freien Schulgemeinde und des »Anfang« die nachste 
Zukunft gehort, und dafi er daraus auf lange Kampfesmut schopfen wird, 
deute ich ebenfalls nur an. Das wesentlich Neue, der Wechsel auf die 
Zukunft, war, dafi man mit uns diskutierte. Man: hohe Verwaltungsbeamte, 
Universitats- und Gymnasiallehrer mit uns, den Studenten, die sich aus- 
drucklich als Vertreter der Schuljugend bezeichnet hatten. Es war so etwas, 
wie der erste Anfang eines konstitutionellen Zustandes im Erziehungswesen. 
Es war vom »Anfang« die Rede, von der Erziehung im Elternhaus, von 
der Schule und vom Verkehr der Geschlechter untereinander. Die Verhand- 
lungen des Tages werden nachstens bei B. G. Teubner im Druck erscheinen. 
Wir notieren hier nur die Tatsache einer offentlichen Aussprache der Ver- 



<>o8 Anmerkungen zu Seite 60—66 

treter der Schulerschaft und des bestehenden Systems. Nodi eins verdient 
angemerkt zu werden. Vielleidht ist der Unterschied zwischen der Breslauer 
und Freiburger Richtung weniger ein prinzipieller Gegensatz der Gruppen 
wie man bisher meinen mufite, sondern eher ein Untersdiied des Ideals bei 
den einzelnen. Die einen bejahen das gegenwartige Erziehungswesen 
- freudig oder als notiges Ubel - und wiinsdien daran zu bessern; die 
andern ersehnen ein vollig neues Erziehungswesen, besser kein »Erziehungs- 
wesen«, sondern ein Jugendleben, in den Organismus menschheitlicher Kultur 
eingeordnet. Also nicht Breslau-Freiburg, sondern Schulreform - Jugend- 
kultur*. 

UBERLIEFERUNG 

a Ziele und Wege der studentisch-padagogischen Gruppen an reicks- 
deutschen Universitdten (mit besonderer Berucksichtigung der »Frei- 
burger Richtung*). Von stud. phil. Walter Benjamin-Freiburg i. Br. 
In: Student und Padagogik. II. Erste studentisch-padagogische Ta- 
gung zu Breslau am 6. und 7. Oktober 191 3. Im Auftrage der 
vertretenen Gruppen hg. von Alfred Mann. Leipzig, Berlin: 
Druck und Verlag von B. G. Teubner 1914 (Saemann-Schriften fur 
Erziehung und Unterricht. Heft 9), 26-30. 
lesarten 63,7 Leere und Jugendlosigkeit] konjiziert fur Leere- und 
Jugendlosigkeit - 64,1 1 Sie] fur sie 

nachweise 61,24 Freischar] »Von >Wanderern< wurde im Februar 
1906 zu Gottingen die >akademische Freischan gegrundet. Sie fafke 
audi an anderen Universitaten Fufi; zahlreiche friihere Wandervogel 
traten in sie ein.« (August Messer, Die Entwicklung der freideutsdien 
Jugendbewegung, in: Die freideutsche Jugendbewegung. Ursprung 
und Zukunft, hg. von Adolf Grabowsky und Walther Koch, Gotha 
1920, 2.) »Den freistudentisdien Grundsatzen gemafl, soil durch einen 
radikalen Bruch selbst mit der Form der Korporation die Vorbedin- 
gung fur eine neue Auffassung studentisdien Lebens geschaffen wer- 
den. [. . .] Die Deutsch-Akademischen Freischaren bedeuten die 
Wiederaufnahme des alten Korporationsprinzips.« (W. Kroug, Die 
»Akademische Vereinigung«, in: Die Tat 6 [1914/ij], 221.) - 61,39 
Fufinote] s. William Stern, Der Student und die padagogischen Be- 
strebungen der Gegenwart, Leipzig, Berlin 1913 (Saemann-Schriften 
fiir Erziehung und Unterricht, Heft 6) - 6$^6 Schrifien] s. vor 
allem Gustav Wyneken, Schule und Jugendkultur, Jena 191 3 und 
ders., Was ist »Jugendkultur«?, Munchen 191 3 



* Zit. nach Der Anfang 1 (1913/14), 251 f. - Der Artikel von Siegfried Bernfeld 
ist mit »Bfd.« unterzeicfanet. 



Anmerkungen zu Seite 66 f . 909 

66 f . Die Jugend schwieg 

Der Erste Freideutsche Jugendtag - von uberlebenden Angehorigen 
der Jugendbewegung noch heute als »jenes eigenartige Fest deutscher 
Jugend [...], das man wohl als den Hohepunkt der Wandervogel- 
und Jugendbewegungsgeschichte bezeichnen kann« (Hans Wolf, Wie 
es zu dem Freideutschen Jugendtag im Oktober 191 3 auf dem Hohen 
Meiftner kam, in: Das Werraland. Vierteljahrsschrift des Werratal- 
vereins e. V., Hauptleitung Eschwege, Jg. 15, Heft 3, September 
1963, 33), gefeiert - wurde vom 10. bis 12. Oktober 191 3 auf der 
Burg Hanstein und auf dem Hohen Meiflner abgehalten. Benjamin 
scheint den Riickweg von Breslau (s. 866) nach Berlin iiber Kassel 
genommen und die Veranstaltungen des Jugendtages selbst besucht 
zu haben. - Uber den Verlauf des Jugendtages ist im November- 
Heft 19 13 des »Anfangs« detailliert berichtet worden: 

Bericht iiber den ersten Freideutschen Jugendtag 
Freitag, den 10. Oktober, fand auf dem Hanstein eine Vertreterversammlung 
statt, zu der 500 Beauftragte und Vertreter der einladenden und befreun- 
deten Verbande ersdhienen waren. 

Die Versammlung mufke zuerst auf dem Schtofihofe abgehalten werden, da 
der grofie Saal der Burgruine nicht alle Teilnehmer fassen konnte und der 
Fuflboden einzustiirzen drohte. Bei Nebel und Regen sprachen die Redner 
der einzelnen Verbande von einer etwas erhohten Sdiwelle zu der im Hofe 
eng gedrangten Zuhorerschar hinab. 

Jeder Verband beriditete zunachst iiber seine Sonderbestrebungen, damit 
man sich gegenseitig kennen lerne und die Grundlage, auf der eine gemein- 
same Arbeit moglich ware, finden konnte. Der Referent Lehmke wollte das 
Vereinigende im gemeinsamen Willen zur Selbsterziehung sehen. Avenarius 
im Willen zur Auf rich tigkeit gegen sich selbst. Popert vom Vortrupp erwar- 
tete, dafi sich die Freideutsche Jugend in dem Willen zur Rassenhygiene eini- 
gen werde; der Vertreter der Siedlungsbewegung fiigte die Idee der Sied- 
lungsbewegung hinzu. Tatsachlichere Berichte gaben die Vertreter der Wan- 
dervogelbunde, Walter Kohler, der allerdings nicht offiziell im Namen des 
Wandervogelbundes E. V. sprechen konnte, da dieser Bund als einladender 
Verband zuriickgetreten und nicht offiziell erschienen war. Der Vertreter 
des Juhgwandervogels, Willie Jahn, begriindete das Wesen seines Bundes 
dahin, dafi es der einzige Wandervogelbund sei, der prinzipiell keine Schul- 
beamten als Fuhrer zuliefie : der Wandervogel sei eine Emporung gegen 
Schule und Elternhaus gewesen, er hatte sich aber im Laufe seiner Entwick- 
lung wieder zu sehr unter die Autoritat der Schule gebeugt. Die Jungens 
hatten sich nicht den Wandervogel gegriindet, urn Schulausfliige mit ihren 
Lehrern zusammen zu machen. Wyneken stand zu den meisten Vorrednern 



910 Anmerkungen zu Seite 66 f. 

in Opposition: Es handle sich hier nicht urn alle moglichen, an sich vielleicht 
wichtigen Bedurfnisse des ganzen Volkes, sondern um die der Jugend. Aus 
i h r e m Wesen miisse das neue Programm abgeleitet, nicht von aufien an sie 
herangetragen werden. Das Wichtigste sei erst einmal das Gefiihl der ge- 
meinsamen Jugendlichkeit, das bereits gewirkt habe, indem dies Fest und 
diese Versammlung zustande gekommen sei. Luserke, der jetzige Leiter der 
Freien Schulgemeinde Wickersdorf, sagte, dafl in ihm die Schule zu Worte 
kame, allerdings die Zukunftsschule. Eine Jugendkultur, die mehr als Stuck- 
werk sein wolle, konne sich nicht nur abseits der Schule entwickeln, sondern 
miisse in die Schule selbst hineingetragen werden. Der Vertreter der Bur- 
schenschaft Vandalia zeigte, dafi auch eine couleurtragende Verbindung, 
wenn sie sich in bewufken Gegensatz zu den Unarten der Couleurstudenten 
stellt, Kulturarbeiten leisten kann. Ferner kamen noch zu Wort: das Land- 
schulheim am Soiling, das sich eine Schwesterschule von Wickersdorf nannte, 
der Osterreichische, der Schweizer Wandervogel etc. 

Hierauf wurde eine Beratung iiber gemeinsame Arbeit in engerem Kreise 
beschlossen. Ein Jugendlicher, der vorher noch die Judenfrage aufrollen 
wollte, wurde zur Ruhe verwiesen. 

In der Besprechung der »gemeinsamen Arbeit* wurde von den einzelnen 
Verbanden vielfach dasselbe wiederholt und die meisten meinten, eine Eini- 
gung ware nur auf dem Boden der e i g e n e n Bestrebung moglich. Dr. 
Popert und Kapitanleutnant Paasche traten am scharfsten hervor und spra- 
chen am agitatorischsten von ihrer Idee der Rassenhygiene. Es brenne im 
Deutschen Reiche; die Jugend sei zur Feuerwehr berufen. Die allgemeine 
Stimmung war der eines Rausches ziemlich nahe. Schliefilich hob ein Redner 
hervor, die Lage sei soweit geklart, dafi sich die verschiedenen Verbande zu 
einem Freideutschen Jugendbunde zusammenschliefien konnten. Das Einigende 
sex die Freiheit und das Deutschtum. (Zwischenruf: Und die Jugend!) »Ja, 
und die Jugend.« 

An diesen Zwischenruf kniipfte Dr. Wyneken an. Hier auf diesem Jugendtag 
sei fast noch gar nichts von der Jugend und ihrem Willen und ihren 
Noten gesprochen worden. Deutschtum und Freiheit! Die Jugend selbst aber 
werde vergessen. Es werde an dumpfe, ungeklarte Instinkte der Jugend 
appelliert, und nach den agitatorischsten und suggestivsten Reden falle der 
grofite Beifall. Er protestiere gegen den Volksversammlungston, in dem zur 
Jugend gesprochen werde. Er wisse nicht, inwieweit er sich noch weiter an 
der Freideutschen Jugendbewegung beteiligen konne, wenn sie diesen Weg 
gehen wiirde; er und die Seinigen wiirden es jedenfalls niemals dulden, dafi 
die Jugend fur irgendwelche politische oder halbpolitische Sonderbestre- 
bungen eingefangen werde. Mit dieser Rede, die grofien Eindruck machte 
und die Vertreter unmittelbar vor die Entscheidung stellte, schlofi der vor- 
geriickten Stunde wegen die Beratung. Man wanderte noch stundenlang durch 
die Nacht in die Quartiere. 



Anmerkungen zu Seite 66 L 911 

Sonnabend morgen, den n. Oktober, wurde die Beratung auf dem Hohen 

Meifiner unter freiem Himmel fortgesetzt. 

Es folgte zunachst eine warme Rede von Luserke, der die Notwendigkeit 

der Autonomic der Jugend begriindete. Der ideale Antrieb eines ganzen 

Lebens fiihre auf die eigensten innerlichen Werte der Jugend zuriick, die 

nicht gut definiert werden konnten, neben denen aber die klaren und be- 

grenzten BegrifTe wie Rassenhygiene und Abstinenz nur Werte zweiter Be- 

deutung seien. 

Walter Kohler fiihrte aus, dafi der Wandervogel in seiner heroischen Griin- 

dungszeit nur die Jugend selbst finden und haben wollte. Um sich selbst 

treu zu bleiben, miifite er sich also an diejenigen halten, die dasselbe wollten 

und sich von denen fernhalten, die die Jugend zu Handiangerdiensten der 

verschiedensten Bestrebungen benutzen wollten. Der Wandervogel stehe am 

nachsten der Freien Schulgemeinde. 

Schon aber hatten die Fuhrer wahrend der Nacht ihre Beratungen weiter- 

gefiihrt und eine Einigungsformel gefunden. Sie lautet: 

1. Die Freideutsche Jugend will aus eigener Bestimmung, vor eigener Ver- 

antwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. 

z. Fur die innere Freiheit tritt die Freideutsche Jugend unter alien Umstan- 

den geschlossen ein. 

3. Zur gegenseitigen Verstandigung werden Freideutsche Jugendtage abge- 

halten. 

Die Bedeutung der Einigungsresolution liegt darin, dai5 die Jugend also nicht 

die verschiedenen Weltverbesserungen in die Hand nehmen, sondern dafi sie 

sich an der Gestaltung ihres Lebens aktiv beteiligen will. Die Logik der 

Tatsachen zwang zu dieser Erkenntnis, trotzdem diejenigen, die diese An- 

schauung bewufit vertraten, bei weitem in der Minderheit waren. 

Als Beschlufi des ersten Freideutschen Jugendtages wurde erklart: Alle ge- 

meinschaftlichen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkohol- und 

nikotinfrei. Die Einrichtung der Geschaftsstelle wurde der Freischar ubertra- 

gen. Es wurde der zweite Jugendtag fiir das nachste Jahr beschlossen. 

Trotz der nunmehr den Verhandlungen durch die Resolution gezogenen 

Grenze benutzte Professor Keil vom Os terreichischen Wandervogel die Ge- 

legenheit, um im fremden Staate eine Kriegsrede zu halten. Da die kriege- 

rische Auseinandersetzung zwischen Germanen und Slaven ja doch kommen 

miisse, hoffe er, dafi die Deutsch-Dsterreicher dann auf die Bruder im Reiche 

rechnen konnten. 

Darauf sang man: »Seid umschlungen, Millionen, diesen Kufi der ganzen 

Welt.« - 

Am Nachmittag war die Sonne durch den Nebel gebrochen und nun kam 

die ganze Jugendlichkeit und Buntheit erst zu ihrer Geltung. Man lagerte 

sich, kochte ab, spielte olympische Spiele, sang zur Gitarre und uberall wur- 

den alte Volkstanze getanzt und immer wieder getanzt. Der Serakreis, der 



$n Anmerkungen zu Seite 66 f. 

dem geselligen Leben mehr Inhalt geben will, zeichnete sidi durch seine bun- 
ten Heroldsmantel und altdeutsche Baretts aus. Lange Hosen waren auf 
dem Jugendtag nur in einem einzigen Exemplar vorhanden. Eindrucksvoll 
war das geschlossene Auftreten der Mitglieder, der Schuler und Schiilerinnen 
der F. S. G. Wickersdorf - gegen ioo an der Zahl - in ihren weithin 
leuciitenden weifien Miitzen. Die Mitglieder des Lands chulheims am Soiling 
trugen blaue Miitzen; bei ihnen aber fehlten die Madchen. 
Den Schlufl des Tages bildete eine Ansprache Traubs, in der er die Jugend 
von 191 3 zu Ehren der Jugend von 18 13 aufforderte, Krieger im Reiche 
des Lichtes zu werden. Ein Fackelzug durch den Nebel. Ein Freudenfeuer. 
Eine Feuerrede. 

Sonntag, den 12. Oktober, schliefllich hielt Dr. Gustav Wyneken die ab- 
schliefiende Festrede: Nur mit Zweifeln habe er sich dazu entschlossen, diese 
Rede zu halten, da er nicht glaube, der Mehrzahl aus dem Herzen reden zu 
konnen. S e i n Kulturwille ende nicht an bestimmten Grenzen der Staaten 
oder Rassen. Trotzdem wolle er vom Vaterlande sprechen. Er warne vor 
der Mechanisierung der Begeisterung. Es diirfe nicht dahin kommen, dafi bei 
gewissen Worten die Begeisterung angezogen werde wie eine Uniform. Man 
diirfe nicht vergessen, dafJ Fichte gepredigt hat: Deutschland darf nicht 
untergehen, weil die Welt Deutschland notig hat, weil der G e i s t 
Deutschland braucht. Der Geist hat keine besseren Waffen als dieses deut- 
sche Volk. - Die Einheit der Nation haben wir, haben wir aber die Einheit 
des ganzen Volkes? Geht nicht nodi ein tiefer Rifi durch dieses deutsche 
Volk? Man habe wirklich noch geniigend Gelegenheit, in Deutschland selbst 
und zum Heile Deutschlands sein Leben fiir Wahrheit einzusetzen. Wir 
leben jetzt in keiner guten Zeit. An uns ist es, eine Obergangszeit zu ver- 
walten. Trotzdem sei aber die Jugend zu etwas Anderem und Grofierem 
berufen, als Feuer zu loschen; es gelte, Quellen neuer Volksbelebung, Quel- 
len ewigen Jungseins zu erschliefien. In diesem Sinne will Dr. Wyneken die 
Worte Freiheit, Deutschheit, Jugendlichkeit aufgefafit sehen. 
Mit einigen jovialen und humoristischen Worten von Avenarius wurde der 
offizielle Teil des ersten Freideutschen Jugendtages geschlossen. Es wird ein 
offizieller Festbericht erscheinen, der den Wortlaut der Reden enthalt. 

Bzn. [Georges Barbizon] 

Eine Kritik des Verlaufs und der Ergebnisse des Jugendtages behalten wir 
uns vor. Es seien jetzt nur noch zur Klarheit einige Worte uber unsere 
Stellung in der Freideutschen Jugendbewegung und zur Freideutschen Ju- 
gendbewegung gesagt. Wir werden den Zusammenschlufi der Freideutschen 
Jugend unterstiitzen, wo und wie wir nur konnen; wir werden aber ebenso 
energisch dafur eintreten, dafi in diese Jugendbewegung nicht jugendfremde 
Interessen und Leidenschaften hineingetragen werden. Wir werden Wache 
stehen. 



Anmerkungen zu Seite 66 f. 913 

Wir betonen, dafl wir als einen soldien Fremdkorper in der Freideutschen 
Jugendbewegung jede politische oder halbpolitische Stro- 
mung ansehen, ob sie sich nun positiv oder negativ aufiern sollte, sobald 
sie in irgendeiner Form zum Programmpunkt gemacht 
wird. Vollig kalt lafit uns, um das gleich zu sagen, die feige Verdachtigung 
soldier, die sich hinter den Schutz ungelauterter Masseninstinkte und herr- 
schender Phrasen vor dem Kampf mit ehrlidien Waffen verkriedien und von 
dort her ihre vergifteten Verdachtigungen gegen uns abschiefien, als da ist: 
wir seien nicht »national« oder deutsch gesinnt. Wir glauben dem Vaterlande 
besser, als mit dem patriotisdien Geschrei, mit positiver Arbeit zu dienen, 
mdem wir einfach an der besseren Lebensgestaltung seiner Jugend, an einem 
tieferen Verstandnis fiir die Bedurfnisse dieser Jugend und damit fiir die 
Zukunft der Nation arbeiten. - Und wir werden uns darin nicht durch das 
Geheul derer beirren lassen, die ein Interesse daran haben, daft das Volk 
dumm und die Jugend dumpf bleibe. 

D[er] A[nfang*] 

UBERUEFERUNG 

J Die Aktion 3 (1913), Sp. 979-981 (Nr. 42; 18. 10. '13). - Der 

Abdruck ist unterzeichnet Ador [sic]. 
lesarten 66,16 nichts] konjiziert fiir nicbts, - 67,18 lafit,] konj. 
fiir la fit 

nachweise 66,10 gewidmet] Die Widmung bezieht sich fraglos und 
wohl kritisch-distanzierend auf einen Artikel der »Taglichen Rund- 
schau* uber den Freideutschen Jugendtag, der jedoch von den Hg. 
noch mcht identifiziert ist. - 67,5 Keil] Uber den Auftritt des Mit- 
telschulprofessors Ernst Keil auf dem Jugendtag s. audi Gerhard 
Seewann, Osterreichische Jugendbewegung 1900 bis 1938, Frankfurt 
a. M. 1971, Bd. 1, 85 f. - 6y,6 Wyneken] s, Gustav Wyneken, Rede 
auf dem Hohen Meiflner am Morgen des 12. Oktobers, in: Freideut- 
scher Jugendtag 191 3. Reden von Gottfried Traub u. a., hg. von 
Gustav Mittelstrafi und Christian Schneehagen, Hamburg 1913, 16-20. 
- 67^6 Luserke] Martin Luserkes Ansprache scheint nicht gedruckt 
worden zu sein. - 67,16 fiihlte] s. Ferdinand Avenarius, SchluSwort 
am Sonntagmorgen, in: Freideutscher Jugendtag 1913, a. a. O,, 21-23 



* Zit. nadi Der Anfang 1 (1913/14), 193-198. 



914 Anmerkungen zu Seite 68—74 

68-71 Studentische Autorenabende 

uberlieferung 

J Der Student. Neue Folge der Berliner Freistudentisdien Blatter. 

Hg. vom Freistudentisdien Zentral-Aussdiufi fur Grofi-Berlin. 

Jg. 6 (1913/14), 114-116 (Nr. 9; 9. 1. '14). 
Eine »Die Schriftleitung des >Studenten<« unterzeichnete Vorbemer- 
kung lautet: »Diese Worte sollten auf dem studentischen Autoren- 
abend vom 16. Dezember 19 13 gesprochen werden. Die Mehrheit der 
Jury lehnte sie aus prinzipiellen Griinden ab.« 

lesarten 70,12 das] konjiziert fur die - 71,3 Liter at ^\ konj. fiir 
Literat 



71 f. Erotische Erziehung 

Da es unwahrscheinlich ist, dafi innerhalb eines Monats - in welchen 
zudem die Weihnachtsferien fielen - mehrere studentische Autoren- 
abende stattfanden, diirfte die in der am 17. 1. 19 14 erschienenen 
Glosse Erotische Erziehung besprochene Veranstaltung jene vom 
16. 12. 1913 gewesen sein, fiir die Benjamin den Vortrag Studentische 
Autorenabende geschrieben hatte (s. 68-71 und oben). 

UBERLIEFERUNG 

J Die Aktion 4 (1914), Sp. 50 f. (Nr. 3; 17. 1. '14). - Der Abdruck 

ist unterzeichnet Ardor. 
lesart 72,1 byzantinisch-romanische] moglicherweise audi Druck- 
fehler fiir byzantinisch-romantische 



72-74 Die religiose Stellung der neuen Jugend 

uberlieferung 

J Die Tat. Sozial-religiose Monatsschrift fiir deutsche Kultur. Hg. 
von Eugen Diederichs und Karl Hoffmann. Jena, Eugen Diederichs 
Verlag. Jg. 6 (19 14/15), 210-212 (Heft z, Mai '14). 



Anmerkungen zu Seite 75—87 915 

75-87 Das Leben der Studenten 

Der 191 5 zuerst gedruckte Aufsatz Das Leben der Studenten geht auf 
zwei Vortrage zuriick, die Benjamin im Mai und Juni 19 14 hielt. Am 
4. 5. 1 9 14 trat er seinen Vorsitz in der Berliner »Freien Studenten- 
schaft« an, aus seiner Antrittsrede ist, Sdiolem zufolge, »ein Teil in 
Das Leben der Studenten gedruckt« (Brief e, 102, Anm. 2) worden. 
Uber den Verlauf des Abends hat Benjamin zwei Tage danach Her- 
bert Belmore berichtet (s. 876 f., sowie Briefe, 99 f.; s. audi Briefe, 
456). Offensichtlich fiihrte die Berliner Rede zu Kontroversen inner- 
halb der »Freien Studentenschaft«. Am 15. Mai schrieb Benjamin, 
wiederum an Belmore: Zeitscbriftenaufsdtze, kleine Novellen, ein Band 
George, ein Balzac , Lekture von Ficbtes »Deduzierter Plan einer in 
Berlin zu erricbtenden hobern Lehranstalu, seine mutige Denkscbrift 
zur Griindung der Berliner Universit'dt. Dies ist meine Lekture in 
grofien Abstanden, scbeinbar viel - docb wenig. Icb lese sie, weil icb 
vielleicbt einiges daraus vorlesen will, wenn icb heute im Beirat ange- 
griffen werde. Es 1st sebr verwandt mit einzelnen Gedanken aus 
meiner Rede. Die Du ubrigens wohl erst in Wocben erbalten wirst, 
wenn irgend eine Moglicbkeit zur lesbaren Abscbrift sicb geboten hat. 
Vielleicbt wird dieser Beirat heute sebr sturmiscb und interessant, 
bald wirst Du durcb Dora davon Nachricbt erhalten, denn sie und 
Max [Pollak] kommen auch. (Briefe, 107) Aus demselben Brief 
geht hervor, dafi Benjamin die in Berlin gehaltene Rede, wenn audi 
wohl in einer veranderten Fassung, in Weimar zu wiederholen beab- 
sichtigte: In Weimar werde icb meine Rede nicbt als Festrede, sondern 
wahrend der Tagung halten, weil man sie diskutieren will. Auch dazu 
ist Ficbte gut und Nietzsche wird gut sein: von der Zukunfl unsrer 
Bildungsanstalten. (Briefe, 107) In der ersten Halfte des Juni fand in 
Weimar der 14. Freistudententag statt, Benjamin sprach dort als 
Vertreter der Berliner »Freien Studentenschaft«. Seine Enttauschung 
(iber diese Veranstaltung formulierte er in zwei Briefen an Ernst 
Schoen (s. 878 f., sowie Briefe, no und inf.;s. ferner den 877 f. ab- 
gedruckten Bericht von Siegfried Bernfeld uber den Weimarer Frei- 
studententag). 

Weder der Berliner nodi der Weimarer Vortrag Benjamins sind erhal- 
ten geblieben, es ist nicht einmal auszumachen, ob Benjamin ein 
Manuskript verlas oder frei formulierte. Fur die in Berlin gehaltene 
Rede vertrostete er Belmore, bis eine Moglicbkeit zur lesbaren Ab- 
scbrift sicb geboten (s. o.) habe - anscheinend lag also ein Text vor. 
t)ber den Weimarer Vortrag schrieb Benjamin dagegen an Schoen: 
An den Schlufi meiner Rede wollte icb die Verse setzen, die Ibr Brief 
entbielt - hatte icb mich nicht unerwartet im Schlu$rhyt[h]mus 



$i6 Anmerkungen zu Seite 75—87 

meiner Rede gefunden. So werde ich dennocb vielleicht die Nieder- 
schrift, die ich in den groflen Ferien anfertigen werde, damit schlieften. 
(879) In Weimar scheint Benjamin demnadi ohne Manuskript gespro- 
chen zu haben. Wie immer es sich damit verhalten mag: die Verse, 
welche Sdioen Benjamin mitgeteilt hatte, diirften die Georgeschen 
gewesen sein, die sich Uberhaupt erst im zweiten Abdruck von Das 
Leben der Studenten finden (s. 86); der erste Druck, der im September 
191 5 im »Neuen Merkur« erfolgte, enthielt diese Verse sowenig wie 
der in Weimar gehaltene Vortrag. Immerhin sind sie ein zusatzliches 
Indiz dafiir, dafi Benjamins Weimarer Vortrag - wie natiirlidi audi 
der zuvor in Berlin gehaltene - mit der endgiiltigen Fassung der 
Arbeit noch nidit ubereinstimmte, Wann Benjamin die letzte Re- 
daktion des Lebens der Studenten vorgenommen hat, lafit sidi nicht 
mehr ermitteln, doch spricht die DifTerenz zwischen erstem und 
zweitem Druck dafiir, dafi sie kaum schon im Sommer 1914 abge- 
schlossen wurde. - Der Publikationsort der endgiiltigen Fassung - das 
erste, 1916 von Kurt Hiller herausgegebene Jahrbuch »Das Ziel« - 
stellt ein Kuriosum dar. Benjamin verkehrte um 191 5 eine Zeitlang 
mit Hiller, aber bereits im Juli 1916 schrieb er: Mein Aufsatz im 
»2ieU war innerlicb durchaus im Sinn des Gesagten [s. dazu den 
Kontext des Zitats] gehalten, aber an diesem Orte, an den er am 
wenigsten gehorte 3 war das sehr schwer zu bemerken. (Briefe, 127) 
Spater hat Benjamin sich offentlich und nachdriicklich von Hiller 
distanziert (s. 689 f., sowie Bd. 3, 350-352). Dafi die Mitarbeit Ben- 
jamins an einer Publikation des Erfinders von »Aktivismus« und 
»Logokratie« auf einem Mifiverstandnis beider Seiten beruhte, hat 
Hiller nodi 1965 in einem Brief an Adorno bestatigt, der als ein Stuck 
Geistesgeschichte aufbewahrenswert ersdieint: » Walter Benjamin - idi 
habe ihn freilich im ersten Band Ziel, 1916, gedruckt, aber nicht, 
weil ich >sein Ingenium erkannte< (ich erkenne es noch heute nicht), 
sondern weil ich einen mir richtungsmafiig damals nahen Studenten, 
der anfang zwanzig war (ich: dreifiig), ermutigen wollte und das 
ziemlich Banale und Nebensachlidie seines nicht talentlosen Aufsatzes 
mit einiger Anstrengung tolerant Ubersah. Ich erinnere mich noch, dafi 
ich in >Ziel I< W. Benjamin's Beitrag fur den schwachsten hielt. 
Kaum war er erschienen, als Benjamin von mir und uns alien abfiel. 
Er erklarte den (humanitaren) Aktivismus auf einmal fiir flach und 
falsch; das Richtige sei analytisdie Kontemplation; nicht die Welt 
andern, sondern sie begreifen wollen; in dieser Art, wobei er, wie ich 
es sah, auf die Hegel-Husserl-Kassnersche Linie einschwenkte. Apho- 
rismen und Essays aus seiner >Glanzzeit<, die ich viele Jahre spater 
las, erschienen mir zwar sehr >niveauhaft<, aber todlangweilig, vollig 
uberfliissig, richtige Kniippel zwischen die Beine des in die humani- 



Anmerkungen zu Seite 75—87 917 

stische Verwirklidiung ausschreitenden Geistes - typisch konterrevo- 
lutionar, wobei ich unter >Revolution< nidit die der Diamateken 
verstehe. Und stilistisch [. . .] half er den Jargon der >Eigent- 
lichen< vorbereiten.« (6. 2. 1965, Kurt Hiller an Theodor W. Adorno) 

UBERLIEFERUNG 

a Das Ziel. Aufrufe zu tatigem Geist. Hg. von Kurt Hiller. Mun- 

chen, Berlin: Georg Miiller Verlag 191 6, 141-155. 
J Der Neue Merkur, Monatsschrift fiir geistiges Leben. Hg.: Efraim 
Frisch. Miinchen, Berlin, Georg Miiller Verlag. Jg. 2, 1. Bd. (April- 
September 191 5), 727-737 (Heft 6, September '15). 
Druckvorlage: a 

lesarten 75,5 Fortschrittes] Fortscbritts J - 75,6 der Mangel an 
Prdzision] mangelnde Prdzision J - 75,23 als Gleichnis] J; das 
Gleichnis a - 7$,2>9 f. von der historischen Stelle] uber die kistorische 
S telle J - 75,32 nur] nur, J - j6j recbtskrdflige] immanente J - 
76,9 f. Also es handelt sich] Es handelt sich also J - 76,25 beweist 
hiergegen] erhellt bier J - 76,27 grunden] grunden, J - 77,14 f. 
zuruck,] zuruck J - 77,16 Universitdt] Universitdt, J - 77,17 halb 
verhullte] balbverbullte J - 77,18 uber] hinweg uber J - 77,30 
erfassen] ergreifen J - 77,32 »freistudentischen«] die Anfuhrungs- 
zeidien fehlen in J - 78,5 also darin, dap] wieweit J - 78,6 komme] 
kommt J - 78,15 von Akademikern] vom Akademiker J - 78,15 
Rede,] Rede; J - 78,36 Arbeit,] Arbeit J - 78,36 Wort,] Wort J 
- 79,6 leere] leere, J - y%j sie trotz alledem] trotz alledem sie J - 
79,12 liegt] liegt, J - 79,13 Fursorge] Frage J - 79,19 ausprdgen] 
ausprdgen, J - 79,25 hier] Hervorhebung fehlt in J - 79,25 alles] 
alles, J - 79,25 Geist,] J; Geist a - 79,31 Objektes] Objekts J - 
79,37 andern] anderen J - 79,38 bildet] J; bilden a — 80,4 Kritik 
und] J; Kritik, und, a - 80,4 f. dem Leben bis widmet,] dent vdlH- 
gen Neuaufbau gewidmeten Leben J - 80,4 volligen] konjiziert fiir 
volligem a, J - 80,17 stehengeblieben] J; stehen geblieben a - 80,19 
bittres] bitter es J - 80,20-22 die Korps bis erscheinen] der Korps- 
student als unwiirdiger Reprdsentant der studentischen Tradition er- 
scheint J - 80,22 In] Denn in J - 80,25 £ irrefuhrender:] J; irre- 
fiihrender; a - 80,28 beansprucht.] beansprucht. Wer uber die Stu- 
dentenschaft das strengste und verneinende Urteil spricbt, der tut auch 
der Freistudentenschafl nicht unrecht, der schliefit sie in dies Urteil 
ausdrucklich ein. J - 80,34 dies] dies alles J - 80,35 neuesten,] J; 
neuesten a - 80,36 all] alle J - 80,39 dahinzieht] sich dabinzieben 
la fit J - 81,21 f. verlangt] bedingt J - 80,23 bezognen] bezogenen 
J - 81,25 f. das Auffallendste und Peinigendste] J; das auffallendste 
und peinigendste a - 81,26 Hochschule:] Hochscbule J - 80,30 f. 



918 Anmerkungen zu Seite 75—87 

hauptsdcblich] vorziiglich J - 81,34 f. den Studenten] J; fehlt in a 
- 82,6 den beutigen] heutigen J - 83,1 f. aus tieferer Ahnung,] de- 
fer ahnend J - 83,2 Fragen,] Fragen J - 83,7 Einstellung.] in J 
folgt ein Spatium - 83,14 f. Tiefer bis Studenten.] Die erotische 
Konvention verbildet tiefere Scbichten des unbewuflten Lebens in den 
Studenten. J - 83,15 Selbstverstdndlicbkeit,] J; Selbstverstdndlicb- 
keit a - 83,22 gegeben] geschaffen J - 83,30 grunden] J; griinden, 
a - 83,33 f. der Student] er J - 83,34 eignet] eignete J - 83,37 
zukomme und y ] zukomme, und J - 84,3 zeitlich beieinander] in der 
Zeit zugleich J - 84,10 f. scbaffenden] J; Scbaffenden a - 84,27 
verleugnet:] verleugnet; J - 84,29 diese:] die t J - 84,30 f. (im 
Korpsstudententum)] - im Korpsstudententum - J - 84,3 1 f. al$ bis 
Prostitution)] an Liebe des Scbaffenden zur Frau - in der Prostitu- 
tion - J - 84,34 Scbaffenden] J; Scbaffenden, a - 84,37 Form] die 
Form J - 84,39-85,1 Bekenntnis bis vor] Scbuldbekenntnis an ] - 
85,6 vielen] mebreren J - 85,13 andern] anderen J - 85,13 f. frei- 
studentiscbe Organisationen y ] freistudentiscben Organisationen J - 
85,18 berausgebdren,] berausgebdren J - 85,18 f. spieleriscber,] J; 
spieleriscber a - 85,23 Pbilistertum] Pbilistertum J - 85,37 beroi- 
scber] erschutternder J - 86,16 f. Nacbgeborenen] Nacbgeborenen, 
J - 86,20 die Menschbeit] unendlicbe J - 86,29 Nacbfolgenden] 
Folgenden J - 86,29 * s t>] * 5f * J - 86,30-38 von bis donnern.] fehlt 
in J - 87,1 Erkenntnis] Ebrfurcbt J - 87,4 f. strafen,] strafen J - 
87,8 eignen] eigenen J 

nachweise 77>35~79>35 »Es bis konnte.«] Das Selbstzitat entstammt 
der Antrittsrede, die Benjamin im Mai 19 14 hielt, als er den Vorsitz 
der Berliner »Freien Studentensdiaft« ubernahm. - 86,38 donnern.] 
Stefan George, Werke. Ausg. in 2 Bdn., hg. von Robert Boehringer, 
2. AufL, Diisseldorf, Mundien 1968, Bd. 1, 148 (»H.H.« aus »Das 
Jahr der Seele«) 



9^9 

89-233 Metaphysisch-geschichtsphilosophische Studien 

91-104 Metaphysik der Jugend 

Den Anlassen wie den von ihr aufgenommenen Motiven nach gehort 
die Arbeit in den Umkreis der in der ersten Abteilung dieses Bandes 
versammelten. Die Art aber, wie die Motive durchgefuhrt werden und 
gegen den Anlafi sich verselbstandigen ; die Intention des jungen 
Autors, etwas Biindiges - wie immer audi literarisch facettiert - zur 
Artikulation einer Metaphysik der Jugend beizutragen, mag recht- 
fertigen, mit dieser Arbeit die zweite Abteilung des Bandes zu eroff- 
nen. Sie bildet etwas wie den Ubergang zwisdien beiden. Wohl war 
sie als Zyklus von Anbeginn an konzipiert - eine Bezeichnung, die 
in einem Anfang Juli 19 14 an Herbert Belmore gerichteten Brief 
vorkommt und mit der eine Arbeit gemeint ist, die nunmehr ihr 
Ende erreicben soil (Briefe, 114); so gut wie sidier die iiber die 
Metaphysik der Jugend, die, zufolge der Scholemschen Abschrift 
(die Ursdirift ist verloren) den Gegenstand »zyklisch«, in drei in 
sich abgeschlossenen Komplexen behandelt. Der dritte, gesondert 
uberlieferte Teil Der Ball wird in Scholems Abschrift als Frag- 
ment gekennzeichnet, wobei unklar bleibt, ob damit gemeint ist, 
dafl der Text Teil der Metaphysik der Jugend oder dafi er auch 
fiir sich unabgeschlossen sei. Datiert ist nur Der Ball: Januar 1914. 
Die Arbeit an den beiden anderen Teilen durfte sich auf das zweite 
Halbjahr 19 13 erstreckt haben, wenn man namlich in Anschlag bringt, 
dafi die im Briefwechsel Benjamins vorab mit Belmore verhandelten 
Fragen - solchen nach der Vergeistigung des Geschlechtlichen und der 
Vergescklechtlichung des Geistigen (Briefe, 67), der Stellung des Intel- 
lektuellen und der Dime zur Kultur, insgesamt der nach den Kultur- 
antinomien, denen gegeniiber das emphatisch gedachte, zwischen den 
Antinomien noch nicht zerriebene, im metaphysischen Sinne jugend- 
liche Subjekt sich zu behaupten trachtet - nach eigener, von der 
Briefform sich losender Behandlung drangten. Die Schwelle mogen 
Briefe wie der vom 23. 6. 19 13 gebildet haben, der ein ganzes Spek- 
trum solcher Fragen und Motive versammelte (s. Briefe, 65-68), wie 
sie die Arbeit dann aufnahm. Den Abschlufi, von dem ein Jahr spater 
die Rede ist, hat sie anscheinend doch nicht gefunden. Gleichwohl war 
die Gestalt der ausgefiihrten Teile Benjamin definitiv genug, um die 
Arbeit abschriftlich unter Freunden kursieren zu lassen, wie. nicht nur 
die Scholemsche Kopie beweist (sie ist freilich erst 1918, nach dem 
10. j., angefertigt worden, als Benjamin dem Freund »beim Abschied« 
das »unvollendete Manuskript« ubergeben hatte; s. Gershom Scholem, 
Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, Frankfurt a. M. 



92.0 Anmerkungen zu Seite 91—104 

1975, 7j), sondern Hinweise wie der auf das »Tagebuch« (s. 96-103) 
in einem andern Brief an Belmore (Briefe, 101) - definitiv genug 
audi, um das kursierende Manuskript, zumindest Teile daraus, fur 
geeignet zu halten, es allgemeiner zugdnglich zu machen. Davon ist 
die Rede in einem Brief an Ernst Schoen vom 23. 5. 1914, der off en- 
bar, iiber Alfred Cohn, die Initiative zur Publikation ergriffen hatte, 
wenn audi nicht festzustehen schien, wo sie erfolgen sollte: Das 
Drucken hat seine Schwierigkeiten, icb weifi kaum einen geeigneten 
Ort s bin ungewift ob Robert Musil es fur die Wiener Rundschau 
annimmt. (Briefe, 111) Es ist zwar nicht vollends gewifi, ob es dabei 
um die Metaphysik der Jugend sich gehandelt hat; sicher jedenfalls 
ist, dafi weder Musil noch ein anderer d i e s e Arbeit veroffentlichte. 

UBERLIEFERUNG 

m 1 Walter Benjamin, Metaphysik der Jugend. Das Gesprach I Das 

Tagebuch. - Sammlung Scholem, Abschrift von der Hand Ger- 

shom Scholems; Heft, 1-20. 
m 2 Der Ball. (Fragment der »Metaphysik der Jugend*. Januar 

1914.) - Sammlung Scholem, Abschrift von Scholems Hand; Heft 

»Vermischte Aufsatze«, 3 f. 
Druckvorlage: m 1 , m 2 

lesarten 92,4 sind] Konjektur der Hg. - 9J,6 sollte] konjiziert 
fur sollte, m 1 - 99,13 f. Verstorbenen] konj. fur Verstorbene m 1 - 
101,1 inmitten] konj. fur in mitten m 1 - 102,33 sind] Konj. d. 
Hg. - 103,12 erwarten] mogliche Lesart erwarben - 103,13 sie 
uns gleich] lies sie, uns gleich, - 103,14 Zeiten.] in m 1 Schluftstrich 
auf Mitte; darunter: Die Nacht: Der Ball I Der Verbrecher. - Die 
Dime. - 103,15 Der Ball] in m 2 darunter: (Fragment der Meta- 
physik der Jugendi. Januar 1914) 

nachweise 91,5 Holderlin] s. Holderlin, Samtliche Werke, Histo- 
risch-Kritische Ausgabe. Unter Mitarbeit von Friedrich Seebafi besorgt 
durch Norbert v. Hellingrath, Bd. 4: Gedichte. 1800-1806, Miinchen, 
Leipzig 1916, 57 (»Der blinde Sanger«, v. 1 f.) - 96,22 Lao-Tse] s. 
Laotse, Taoteking. Das Buch des Alten vom Sinn und Leben, aus dem 
Chinesischen verdeutscht und erlautert von Richard Wilhelm, Jena 
191 1, 85 (»8o. Selbstandigkeit«, v. 16-19); 2we i Kommata und ein 
Doppelpunkt sind im Zitat fortgefallen. - 98,34-37 Nelgend bis 
Tod.] Vierzeiler (oder Strophe aus einem Gedicht) Benjamins? 



Anmerkungen zu Seite 105—126 921 

105-126 Zwei Gedichte von Friedrich Holderlin 

Die Entstehungszeit der Arbeit ist gut bezeugt, einmal durch Benjamin 
selbst, zum andern durch Scholem. In der ersten Niedersdirift seiner 
Aufterung iiber Stefan George, die Benjamin 1928, aus Anlafl des 
60. Geburtstags des Dichters, in der Literarischen Welt veroffentlichte 
(s. 622-624), steht folgende - gestrichene - Stelle (sie wird hier 
durch geschweifte Klammern aus dem Zusammenhang herausgehoben) : 
Im Frtibjabr 1914 ging [. . .] der »Stern des Bundes« auf, und we- 
nige Monate spater war Krieg [. . .] Mein Freund [scil. der Diditer 
Fritz Heinle] starb. Nicht in der Schlacht [. . .J Monate folgten [. . J 
In diesen Monaten aber {, die ich gam meiner ersten grojleren Ar- 
beit, einem Versucb iiber zwei Holderlinsche Gedicbte gewidmet /lies 
hatte J der ibm[J meinem Freunde [J gewidmet war,} trat, was er an 
Gedichten binterlassen hatte, an die wenigen Stellen, wo noch in mir 
Gedichte bestimmend zu wirken vermochten. (Sammlung Scliolem, 
Pergamentheft, j) Die Monate, von denen die Rede ist - die auf 
den Kriegsausbruch (nach dem Heinle sidi das Leben nahm) folgen- 
den -, setzt Sdiolem naher auf die des ersten Kriegswinters fest. »Am 
1. Oktober [191 5] sprach [Benjamin] iiber Holderlin und gab mir, 
was mir erst spater als Zeiohen grofien Vertrauens deutlicfi wurde, 
eine Masdiinenabschrift Zwei Gedichte von Friedrich Holderlin, die 
eine teilweise tief ins Metaphysische gehende Analyse der beiden Ge- 
dichte >Dichtermut< und >Blodigkeit< enthielt, die Benjamin im ersten 
Kriegswinter 1914-1$ verfafk hatte [. . .] In diesem Gesprach iiber 
Holderlin horte ich audi zum ersten Mai von Benjamin einen Hinweis 
auf die Holderlin-Edition Norbert von Hellingraths und seine Arbeit 
iiber die Pindar-Ubersetzungen Holderlins, die tiefen Eindruck auf 
ihn gemacht hatte. « (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer 
Freundschaft, a. a. O., 26 f.) Dies wiederum ist durch Benjamin selbst 
bezeugt - in einem Brief vom Ende Februar 1917, wo er an Ernst 
Schoen schreibt: Haben Sie gelesen, dafi Norbert von Hellingrath 
gef alien istf Ich wollte ihm bei seiner RUckkehr meine Holderlinarbeit 
zu lesen geben, deren aufierlicher Anlafi [auf den innerlichen deutet 
die Stelle aus der Niederschrift iiber George] die Stellung ihres T he- 
mas in seiner Arbeit uber die Pindar-Ubersetzung [Holderlins Pin- 
dar-Ubertragungen, 1910] war. (Briefe, 133) Von Bemiihungen um 
einen Abdruck der Arbeit ist nichts bekannt; nicht auszuschliefSen ist, 
dafi Benjamin ihres esoterischen Charakters wegen daran audi nicht 
dachte. Andererseits war sie nicht gesehrieben, um im Schreibtisch ver- 
schlossen zu werden; Benjamin hatte ausgesuchte Adressaten vor 
Augen, solche, die wiirdig waren, die Arbeit unter bestimmten Bedin- 
gungen zu empfangen - streng sadilichen, wie im Falle Hellingraths, 



922 Anmerkungen zu Seite 105—126 

solchen freundschaftlicher Offenbarung, wie im Falle Scholems, und 
solchen akuter »Hilfe«-Leistung an Menschen in lebenskritisdien Situa- 
tionen, wie im Falle Alice Heymanns (Briefe, 175). Dies setzte vor- 
aus, dafi er uber eine bestimmte Anzahl von Exemplaren verfiigte, 
auf deren Herstellung er, wie das im Archiv bewahrte belegt, grofle 
Sorgfalt verwendete. Ob die Arbeit in jene[m] Vortrag uber Hol- 
derlin wurzelt, den Benjamin schon wahrend seiner Schulzeit hielt und 
dessen er 1918 in einem Brief an Schoen gedenkt (Briefe, 216), ist 
ungewifl; der Vortrag ist verloren. Dafi die Arbeit, wenn sie audi 
nicht eigens erwahnt wird, von Benjamin zu den Bausteinen der 
herrlichen Grundlagen gerechnet wurde, die er in seinem zweiund- 
zwanzigsten Jahr gelegt hatte, diirfte schon weniger zweifelhaft sein: 
in der Retrospektive des Briefes von 1930 an Scholem, in dem Benja- 
min nicht ohne Enttauschung konstatierte, dafi er das game Leben 
auf jenen Grundlagen nicht habe aufbauen konnen (Briefe, 513), wird 
die Holderlinarbeit - sicherlich audi die uber die Metaphysik der 
Jugend - einen Fluchtpunkt gebildet haben. 

UBERLIEFERUNG 

a h Hektographiertes Typoskript, mit wenigen handsdiriftlichen Ror- 
rekturen Benjamins (Tinte)*. Mittelstarkes gelbliches Papier, ge- 
bunden in einem Pappband mit Vorsatzblattern, 1-3 5 ; Benjamin- 
Archiv, Dr 765. 
lesarten 106,8 Form-Stofj -Schema] konjiziert fiir Form-Stoff Sche- 
ma - 108,36 Reife-] konj. fur Reife - 109,23 formen. -] konj. fiir 
formen./ - 109,36 begrunden. -] konj. fiir begriindenj - 11 1,1 
liebliche] konj. fiir lieblich - 11 1,1 erhabene] konj. fiir erhaben - 
111,28 f. tritt [. . 7 Dichters.] lies tritt /. . ./ Dichters bin. - 112,31 
ist. -] konj. fiir ist J - 113,11 f. annehmen,] konj. fiir annebmen - 
114,38 gleiche] konj. fiir gleiche y - 115,36 f. eine fast Neugestalt] 
lies etwa fast eine Neugestalt - 117,7 i. €rkoren«. bis bestebt] Sinn 
dunkel; moglicherweise zu lesen erkoren* - wo der Erkorne gemeint 
ist. Dem bestebt - 117,13 Bestimmtem] konj. fiir Bestimmten - 
117,38 darf s die] lies darf, urn die - 119,37 2«t#,] konj. fiir Zeiu 
- 121,25 vfigig,] konj. fiir vfigig - 122,6 f. untereinander] konj. fiir 
unter einander 

nachweise 105,2 »DichtermuU - »Blodigkeiu] s. Friedrich Holder- 
lin, Gesammelte Werke, hg. von Wilhelm Bohm, Bd. 2: Gedichte, 

* Auflerdem weist das Exemplar zahlreiche Setzeranweisungen (Rotstift) auf. 
Diese - die sich ahnlich audi in anderen Drucken und Typoskripten des Benjamin- 
Archivs finden und im folgenden nicht mehr besonders verzeichnet werden - stam- 
men von einem Hersteller des Suhrkamp Verlags und wurden fiir die 1955 erschie- 
nene Ausgabe von Benjamins »Schriften« vorgeriommen, fiir welche die betreffenden 
Erstdrodte und Typoskripte als Satzvorlage benutzt worden sind. 



Anmerkungen zu Seite 105— 126 923 

hg. von Paul Ernst, Jena, Leipzig 1905, 210 f. (»Diditermut«. Erster 
Entwurf), 2i2f. (»Dichtermut«. Zweite Fassung), 287 f. (»Blodig- 
keit«). - Benjamin hat die Zitate aus den von ihm analysierten Ge- 
dichten spater, nach Erscheinen der von ihm bevorzugten Hellingrath- 
schen Ausgabe der »Gedidite. 1 800-1 8o6« (Samtliche Werke, Bd. 4, 
Miinchen, Leipzig 19 16), nicht revidiert. Dort aber heifit »Dichter- 
muth. Zweite Fassung« (a. a. O., 41 f.), was Benjamin als jrilheste 
[Fassung] (109,1) bezeichnet. Demnach war eine verbreitete Aus- 
gabe der Gedichte zu eruieren, die Benjamin benutzt haben konnte 
und die jene frubeste [Fassung] tatsachlich chronologisch der Fas- 
sung vorordnet, die bei Hellingrath »Dichtermuth. Erste Fassung* 
(Samtliche Werke, Bd. 4, a. a. O., 39 f.) heifk. Eine solche Ausgabe 
ist die oben zitierte; nach ihr konnten samtliche Benjaminschen Zitie- 
rungen ohne Schwierigkeit identifiziert werden. - 105,14 Gehalt] s. 
etwa Werke, Weimarer Ausgabe, Abt. 1, Bd. 14, 287 (Lesarten, 
Paralip. I) - 106,1 (Novalis)] Schriften, hg. von J. Minor, Bd. 2, 
Jena 1907, 231 - 109,1 frubeste] s. Friedrich Hblderlin, Gesammelte 
Werke, Bd. 2: Gedichte, a. a. O., 210 f. - 109,2 spdteste] s. a. a. O., 
287 f. - 109,2 zweite Fassung] s. a. a. O., 212 f. - 109,35 profanurri] 
Horaz, Oden, III 1, 1 - 110,8 erf rente . . .«] Holderlin, a. a. O., 210 
(v. 9-12) - 110,11 Volks«, jedem »bold«] a. a. O. (v. 13, 14) - 

111.9 f. gebricht*] a. a. O., 211 (v. 26) - 111,13 halt.*] a. a. O. 
(v. 18-20) - 112,4 2 ^ <r ] a - *• O., 287 (v. 10) - 1 1 2,5 gleicb*] a. a. O. 
(v. 9) - 112,36 Arten*] a. a. O. (v. 11 f.) - 113,39 Lebendigen?*] 
a. a. O. (v. 1) - 114,1 Fassung?] s. a. a. O., 210 (v. 1) - 114,5 »be- 
kannU] a. a. O., 287 (v. 1) - 114,9 Farze] s. a. a. O., 210 (v. 2) - 

114.10 Teppicben?*] a. a. O., 287 (v. 2) - 114,18 dich?«] a. a. O., 
210 (v. 2) - 114,19 »verwandu] a. a. O. (v. 1) - 114,20 »bekannt«\ 
a. a. O., 287 (v. 1) - 115,23 wir«] a. a. O., 288 (v. 21) - 116,10 
Volks«] a. a. O., 212 (v. 13) - 116,11 Volks«] a. a. O., 287 (v. 13) 

- 116,25 nicht!«] a. a. O. (v. 3 f.) - 116,32 dir!«] a. a. O. (v. 5) - 
116,33 »gesegneu] a. a. O., 210 (v. 5) - 117,7 erkoren«] a. a. O., 
195 (»An Landauer«, v. 1) - 117,16 f. gereimt«] a. a. O., 287 (v. 6) 

- 117,17 dir«] a. a. O. (v. 5) - 117,38 sollst?«] a. a. O. (v. 6-8) - 
118,3 Oesang] s. a. a. O. (v. 9-11) - 118,9 Volks] s. a. a. O., 212 
(v. 13); jedoch nicht in der urspriinglidoen Fassung, wie Benjamin sagt 
(118,7) - 119,10 Tag*] a. a. O., 287 (v. 17) - 119,10 »frdblicben«] 
a. a. O., 210 (v. 17) - 119,21 gonnt] s. a. a. O., 287 (v. 16 f.) - 
119,33 Licht?*] a. a. O., 283 (»Chiron«, v. if.) - 119,37 Zeit*, zu 
den »Verganglichen«] a. a. O., 210 (v. 18) - 120,1 Zeiu] a. a. O., 
287 (v. 18) - 120,6 Entscblafenden*] a. a. O. - 120,9 Schlaf] He- 
raklit, fr. 21: ©dvaioc; eattv oxoaa iyzQft&vxsq oqeou-ev, oxoaa 5e 
ev8ovT£g ijjtvog, [...]. s. etwa in: Vorsokratisdhe Denker. Auswahl 



924 Anmerkungen zu Seite 105—132 

aus dem Uberlieferten, griechisdi und deutsch von Walther Kranz, 
3. Aufl., Berlin 1959, 82 - 120,32 »Ahne«] Holderlin, a. a. O., 210 
(v. 16) - 120,32 »Vater«] a. a. O., 287 (v. 16) - 121,2 halu] a. a. O. 
(v. 19 f.) - 121, 16 bringen.*] a. a. O. (v. 22 f.) - 121,38 wir«] 
a. a. O. (v. 21) - 124,34 »Einkehr*] a. a. O. (v. 10) - 125,2 Wild«] 
a. a. O. (v. 9) - 125,18 wir.«] a. a. O. (v. 22-24) - ll $> 2 9 gehn.«] 
Schillers Samtliche Werke. Mit Einleitungen von Karl Goedeke, Bd. 4, 
Stuttgart 1877, 611 (»l)ber die asthetische Erziehung des Menschen, 
in einer Reihe von Briefen«, 22. Brief); im Original daft bis vertilgt 
gesperrt - 125,33 nucbternen«] Holderlin, a. a. O., 291 (»Halfte des 
Lebens«, v. 7) - 126,24 sicb«] a. a. O., 308 (»Der Herbst«, v. 1, 3) 



126-129 Das Gluck des antiken Menschen 

In der Nachschrift des Brief es an Herbert Belmore, den die Heraus- 
geber der »Briefe« auf Ende Dezember 1916 datieren (s. Briefe, 130), 
findet sich eine Aufzahlung von fiinf Aufsatze[nJ y von denen der 
iiber Das Gluck des antiken Menschen an erster, der Vber Spracbe 
Uberhaupt [...J an letzter Stelle genannt wird (Briefe, 132). Dar- 
aus, dafi Benjamin sie Belmore zum Lesen anbietet, geht hervor, dafl 
die Arbeiten abgeschlossen sind. Der terminus a quo der Abfassung 
einer jeden ist nur bei der Spracharbeit exakt (s. 931), bei Sokrates, 
dem zweiten jener Aufsatze, annahernd (s. 926) zu bestimmen. Geht 
man in der Chronologie der »Briefe« bis auf den letzten der, vor dem 
zitierten, an Belmore geriditeten Briefe zurlick, findet man folgende 
Stelle: sett der Holderlin- Arbeit und dem »Regenbogen« habe icb 
wohl mebrere neue Arbeiten begonnen, aber keine auch nur halbwegs 
geendet. Das h'dngt mit der Grofie der Gegenstande, die mich beschaf- 
tigten, zusammen: Organiscbe Natur, Medizin und Moral. (Briefe, 
124) Das wurde gegen Ende Marz 1916 in Seeshaupt bei Miinchen ge- 
schrieben. Mit Moral haben allenfalls Das Gluck des antiken Menschen 
und Sokrates zu tun; aus letzterem las Benjamin im Juni 1916 vor, 
offenbar aus der erst kurzlich entstandenen Niedersdirift (s. 926); dem- 
nach konnte Das Gluck des antiken Menschen zu den vor Marz 191 6 
begonnen[enJ neue[n] Arbeiten gehoren. Die Nahe zum Gegen- 
stand des Sokrates macht es wahrscheinlicher, daf5 die Arbeit um die 
gleiche Zeit wie dieser entstand, also etwa im Juni 19 16. Unterstellt 
man, dafi die Aufzahlung im Brief vom Ende 1916 eine chronolo- 
gische ist - dafiir spricht, dafi die Spracharbeit, die in der Aufzahlung 
zuletzt stent, im November 1916 entstand und im Dezember ihrem 
Adressaten ubergeben wurde (s. 931), und dafi die iibrigen Arbeiten 



Anmerkungen zu Seite 126—132 925 

aufier dem Sokrates schwerlich danach, namlich bis Ende Dezember, 
entstanden sein werden -, dann ergaben sich folgende Entstehungs- 
daten: fur Das Gluck des antiken Menschen etwa Juni 191 6, fur 
Sokrates etwa Juni 1916 (aber danach), fur Trauerspiel und Tragodie 
und Die Bedeutung der Spracbe in Trauerspiel und Tragodie die Zeit 
zwischen Juni 1916 und November 191 6, fur Uber Spracbe uberhaupt 
und uber die Sprache des Menschen November 19 16. - Die erste wie 
die iibrigen Arbeiten blieben zu Benjamins Lebzeiten unveroffentlicht. 

UBERLIEFERUNG 

T 1 Typoskript (Durchschlag) mit Zusatzen und Korrekturen mut- 

maftlich von Benjamins Hand; Benjamin-Archiv, Ts 170-174. 
T 2 Typoskript vom selben Original, mit den gleichen Zusatzen und 
Korrekturen (mit einer Ausnahme), mutmafilich von Benjamins 
Hand, und einer (irrtumlichen) Datierung »Um I9i7«; Besitz 
Werner Kraft, Jerusalem. 
T 3 Typoskript mit Zusatzen und Korrekturen mutmaftlich nidit 
von Benjamins Hand, handschriftlidi paginiert 1-5; Abweichungen 
vom Laut- und Satzstand sowie von der Interpunktion in T 1 und 
T 2 (s. Lesarten); Benjamin-Archiv, Ts 175-179. 
T 4 Typoskript (Durdischlag von T 3 ), jedodi obne Zusatze, Kor- 
rekturen und Paginierung, sowie auf dem ersten und letzten Blatt 
verrutscht; Benjamin-Archiv, Ts 180-184. 
Druckvorlage: T 1 

lesarten 127,10 ffo^v,] T 3 , T 4 ; h£o%r\v T 1 , T 2 - 128,10 will] T 3 , 
T 4 ; will, Ti, T 2 - 128,10 Ungluck),] T 3 , T 4 ; Ungluck) Ti,T 2 -i28,i5f. 
Glilck bis Glaube,] fehlt in T 3 , T 4 - 128,18 konnen] konjiziert fiir 
konnen, T*-T 4 - 128,34 gesandt] T 1 , T 2 ; gesendet T 3 , T 4 - 129,11 
Kreis,] T 3 , T 4 ; Kreis T 1 , T 2 - 129,15 f. im Schlafe bis entruckt.] T 1 , - 
T 2 ; in den Weihen, die ihn zu den Heroen entrucken. T 3 , T 4 
nachweise 126,30 nennt] s. Schillers Samtliche Werke. Mit Einlei- 
tungen von Karl Goedeke, Bd. 4, Stuttgart 1877, etwa 664 f., 687, 
710 f. (»t)ber naive und sentimentalische Dichtung«) - 128,11 kon- 
nen. <«] Georg Buchners Samtliche Werke und Briefe, auf Grund des 
handschriftlichen Nachlasses Georg Buchners hg. von Fritz Berge- 
mann, Leipzig 1927, 98 (»Lenz«) 



129-132 Sokrates 

Die Arbeit ist der zweite der von Benjamin im Brief an Belmore auf- 
gezahlten fiinf Aufsdtze (Briefe, 132). Wann sie entstand, laflt sidi 



926 Anmerkungen zu Seite 129—133 

approximativ einer Bemerkung Scholems entnehmen: »Schliefilich la- 
sen wir zusammen die Rede des Sokrates in Platos >Gastmahl< und 
Benjamin sprach iiber die merkwiirdige Verdoppelung der griechischen 
Gotterreihe und die Eigentiimlichkeit, dafi es so viele alte griechische 
Gotter gabe, die ansdieinend unmittelbar in eine Idee zu transformie- 
ren seien, Ananke usw. Benjamin hatte damals [i. e. in den Tagen 
eines gemeinsamen Aufenthaltes in Seeshaupt um Mitte Juni 191 6] 
einige Seiten iiber Sokrates geschrieben, aus denen er vorlas. Ich habe 
sie mir spater abgeschrieben [namlich nach Dezember 1917]. Er ver- 
trat darin den Satz, Sokrates sei das Argument und die Mauer 
Platos gegen den Mythos.« (Scholem, Walter Benjamin - die Ge- 
schichte einer Freundschaft, a. a. O., 42 f.) Nimmt man hiernach als 
unwahrscheinlidi an, Benjamin habe wahrend der drei Tage um Mitte 
Juni (s. a. a. O., 38), die Gesprachen, gemeinsamer Lektiire und der 
Geselligkeit mit Dora Pollak, Benjamins spaterer Frau, gewidmet 
waren, jene wenigen Seiten iiber Sokrates schreiben konnen, miifite 
das »damals«, von dem Scholem spricht, auf einen weiteren Zeitraum 
vor Mitte Juni bezogen werden, jedodi nidit weiter als etwa bis 
Anfang Juni, denn Scholem setzt unter seine Abschrift die Angabe 
»Sommer I9i6« (Sammlung Scholem, Heft »Vermischte Aufsatze«, 
20). 

UBERLIEFERUNG 

m Sammlung Scholem, Abschrift von der Hand Scholems; Heft »Ver- 
mischte Aufsatze«, 17-20. - Die Titulatur lautet: Sokrates I (= 17) 
und Sokrates II (— 17-20); Vermerk »Sommer i$i6« (= 20). 
lesarten 129,34 Spajlmacher, -] fiir Spafimacher./ - 130,22 eig- 
net] konjiziert fiir eignet, 

nachweise 130,35 (Apb.y 340.] s. Friedrich Nietzsche, Werke in 
drei Banden; hg. von Karl Schlechta, Bd. 2, 2., durchges. Aufl., Miin- 
chen i960, 201 f. (»Die frohliche WissenschafU, Viertes Buch, 340) - 
131,3 Geistes] s. Platonis Opera, hg. von Burnet, Tom. II (»Sym- 
posium«, 21 id-2i2b) 



I32f. OBER DAS MlTTELALTER 

Dieser Auf satz wird weder in Benjamins Aufzahlung meinefrj Arbei- 
ten (Briefe, 132) nodi an einer anderen Stelle der »Briefe« erwahnt. 
Der Sadie - ihrem geschichtsphilosophischen Gehalt - nach war die 
Arbeit dieser Abteilung des Bandes zu inkorporieren. Dafi es an 
dieser Stelle geschah, empfahl §ich aus zwei Griinden: zum einen ist 



Anmerkungen zu Seite 132—137 927 

die ungefahre Entstehungszeit durdi Sdiolems Abschrift belegt (s. u.), 
zum andern steht sie dem Gegenstand nach den beiden Aufsatzen 
iiber Trauerspiel und Tragodie (133-137 und 137-140) naher als die 
beiden der Antike gewidmeten (129-132 und 126-129). Sdiolems Ab- 
sdirift hat den Vermerk »Sommer 1916?. Unterstellt man die chrono- 
logisdie Anordnung der fiinf Aufsatze (Briefe, a. a. O.), wie sie oben 
(s. 925) vorgeschlagen ist, kame sie entweder vor Das Gluck des anti- 
ken Menscben, oder dahinter, oder nadi Sokrates zu stehen. Nimmt 
man hinzu, dafi nach der Paginierung im Scholemschen Abschriften- 
konvolut die Arbeit hinter Sokrates steht, konnte die Einordnung der 
Arbeit an dieser Stelle wohl begriindet scheinen; aber dem widerspricht 
zweierlei: erstens hat Scholem die Abschriften, die er »spater [i. e. 
nach Dezember 1917]* anfertigte (Scholem, Walter Benjamin - die 
Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 43), nicht in der Reihenfolge 
der Entstehung der Arbeiten angefertigt, zweitens kamen die beiden 
Arbeiten iiber Trauerspiel und Tragodie zufolge ihrer Paginierung im 
Abschriftenkonvolut (s. 928, 930) noch vor Sokrates zu stehen, was der 
vorgeschlagenen Chronologie der fiinf Aufsatze (s. 924 f .) widerstritte. 
So gab denn der Grund inhaltlicher Nahe zu den Arbeiten iiber 
Trauerspiel und Tragodie den Ausschlag fiir die Einordnung der Ar- 
beit Vber das Mittelalter hinter der iiber Sokrates. Audi sie blieb zu 
Benjamins Lebzeiten unpubliziert. 

UBERLIEFERUNG 

mSammlung Scholem, Abschrift von Sdiolems Hand; Heft »Ver- 

mischte Aufsatze«, 21 f. - Vermerk »Sommer 1916s. 
lesarten 132,23 herrschendem] konjiziert fiir Herrschendem - 
132,23 beherrscbtem] konj. fiir Beherrschten — 133,8 Gold. -] fiir 
Gold J 



I 33 _I 37 Trauerspiel und Tragodie 

Die Arbeit findet in der Aufzahlung der fiinf Aufsatze an dritter 
Stelle sich genannt (Briefe, 132). Liest man diese Aufzahlung, wofiir 
manches spricht (s. 924 f.), zugleich als Chronologie, ergibt sich fiir 
Trauerspiel und Tragodie ein zeitlicher Entstehungsrahmen, der sich 
zwischen Juni und November 1916 erstreckt. In ihren Anmerkungen 
zum Ursprung des deutschen Trauer spiels sagten die Herausgeber: 
»Im Jahr 191 6 schrieb Benjamin drei Arbeiten metaphysisch-ge- 
schichtsphilosophischen Characters, die er nicht publiziert hat: Trau- 
erspiel und Tragodie, Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und 



928 Anmerkungen zu Seite 133—137 

Tragodie und Vber Sprache iiberhaupt und die Sprache des Men- 
schen [. . .]. Diese Texte enthalten zentrale Einsichten, die im 
Trauerspielbuch theoretisch entfaltet worden sind, bereits keimhaft 
vorgebildet in sidi. Wenn Benjamin im Oktober 1923 an [Florens 
Christian] Rang schrieb, das urspriinglicbe Tbema »Trauerspiel und 
Tragodie* scheine sich wieder in den Vordergrund zu schieben [Brie- 
fe, 304], so durfte er nidit an ein Thema allein, sondern an seinen 
Aufsatz des gleichen Titels gedacht haben.« (Bd. 1, 884) Ober den 
Niederschlag der Motive der friihen Arbeit im Trauerspielbuch gibt 
namentlich dessen erster Abschnitt Trauerspiel und Tragodie (Bd. 1, 
238-278) Auskunft; von Aufschlufl ist ferner die Kategorientafel zu 
jenem Abschnitt, wie das den Habilitationsakten Benjamins bei- 
liegende Expose iiber das Trauerspielbuch sie aufstellt (Bd. 1, 951). 

UBERLIEFERUNG 

T Typoskript (Durchschlag) mit handschriftlichen Korrekturen und 
Erganzungen Benjamins, zehn unpaginierte, mit grofien Abstanden 
beschriebene Blatter; Benjamin-Archiv, Ts 185-194. 
m Sammlung Scholem, Abschrift von Scholems Hand; Heft »Ver- 

mischte Aufsatze«, 10-13. 
Druckvorlage: T 

lesarten 133,35 Verlaufs] Verlaufes m - 134,3 Zusammenbang -] 
Zusammenbang, m - 134,7 heiftt] heiflt: m - 134,9 bdtte] bat m - 
134,13 anderes] andres m - 134,19 f. Ubrzeigerganges] Ubrzeiger- 
gangs m - 134,20 simultaner] fehlt in m - 134,20 f. komplizierter] 
von komplizierter m - 134,21 f. Daruberbinausgebendes] konjiziert 
fur daruber hinausgebendes T, m - 134,22 bestimme -] bestimme, m 
- 134,23 f. definieren -] definieren, m - 134,25 keinem empiriscben 
Gescheben] keinen empirisdben Gesetzen m - 134,35 letzteren] letz- 
ten m - 135,1 f. Unsterblicbkeit; das] Unsterblicbkeit. Das m - 

135.5 - die] (die m - 135,6 soil -] soil) m - 135,13 Einflufi,] m; 
Einflufi T - 135,19 Rubepausen] m; Rubpausen T - 135,24 Grofie,] 
m; Grofie T - 135,25 verschiednen] verscbiedenen m - 135,30 roman- 
tisdo] m; Romantiscb T - 135,31 Unsterblicbkeit;] Unsterblicbkeit, 
m - I 35>35 Urscbuld;] Urschuld: m - 135,38 f. Individuation,] m; 
Individuation T - 136,2 Er] Es m - 136,6 andrer] anderer m - 

136.6 gilt] m; gibt T - 136,7 bobern] bbheren m - 136,7 Raum] 
Raume m - 136,8 spielen,] m; spielen T - 136,9 f. fortzutrei- 
ben] zu treiben T, fort zu treiben m - 136,14 individuelU] m; 
individuell T - 136,19 ist } ] ist m - 136,19 Beziebungen,] Beziebun- 
gen m - 136,20 Alarcos] »Alarcos« m - 136,23 willen,] willen m - 
136,24 Distanz,] m; Distanz T - 136,27 Spiegelbildern,] m; Spie- 
gelbildern T - 137,4 gestaltet.] gestaltet. Der Rest ist Scbweigen, m 



Anmerkungen zu Seke 133—140 929 

nachveise 135,30 romantisch] s. Goethes Samtliche Werke, Jubi- 
laumsausgabe [...]• ^ n Verbindung mit Konrad Burdadi [u. a.] hg. 
von Eduard von der Hellen, Bd. 37: Sohriften zur Literatur, Teil 2, 
Stuttgart, Berlin [o. J.], 41, 45 (»Shakespeare und kein Ende«, II.) - 
135,35 Urschuld] s. Friedrich Hebbel, Samtliche Werke. Historisch- 
kritische Ausgabe, hg. von Richard Maria Werner, [Abt. 1,] Bd. n: 
Kritische Arbeiten II, Berlin o. J., 3 ff. (»Mein Wort uber das 
Drama !«) - 136,20 Alar cos] s. Friedrich Schlegel, Alarcos. Ein 
Trauerspiel, Berlin 1802 



137-140 Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragodie 

In einem auf den 30. Marz 1918 datierten Brief Benjamins an Scho- 
lem heifk es: Ihre Arbeit [»t)ber Klage und Klagelied« (ungedruckt)] 
die Sie meiner Frau schickten babe ich dreimal, zum letzten Male mit 
ibr, gelesen. Meine Frau wird Ihnen noch selbst danken. Ich selbst bin 
Ibnen zu besonderem Dank verpflichtet y denn Sie haben, ohne zu wis* 
sen daft ich mich schon vor zwei Jahren um dasselbe Problem bemuht 
babe, mir wesentlich zur Klarung verholjen. Das stellt sich nunmehr 
nachdem ich Ihre Arbeit gelesen mir so dar: aus meinem Wesen als 
Jude heraus war mir das eigene Recht, die »vollkommen autonome 
Ordnung* der Klage wie der Trauer aufgegangen. Ohne Beziehung 
zum hebraischen Schrifttum, das wie ich nun wei$ der gegebene Ge- 
genstand solcher Untersuchung ist t habe ich die Frage »wie Sprache 
Uberhaupt mit Trauer sich erfullen mag und Ausdruck von Trauer sein 
kann« in einem kurzen »Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel 
und Tragodie* uberschriebenen Aufsatz an das Trauerspiel herange- 
bracht. Ich bin dabei im einzelnen und ganzen zu einer Einsicht 
gekommen die der Ihrigen nahesteht, habe mich aber dabei frucbtlos 
an einem Verhdltnis abgearbehet y das ich erst jetzt in seinem wahren 
Sachverhalt zu ahnen beginne. Im Deutschen tritt ndmlich die Klage 
sprachlich hervorragend nur im Trauerspiel hervor und dieses steht im 
Sinne des Deutschen der Tragodie fast nach. Damit konnte ich mich 
nicht versohnen und sah nicht dafl diese Rangordnung im Deutschen 
ebenso legitim ist wie im Hebraischen wahrscheinlich die entgegen- 
gesetzte. Jetzt sehe ich nun in Ihrer Arbeit daft die Fragestellung die 
mich damals bewegte auf Grund der hebraischen Klage gestellt wer- 
den mufi. Allerdings kann ich Ihre Ausfuhrungen weder als eine 
Losung anerkennen, noch befahigen mich Ihre Obersetzungen - was 
auch wohl unmbglich ware - dazu die Sache vor der Kenntnis des 
Hebraischen aufzunehmen, Im Gegensatz zu Ihrem Ausgangspunkt 



930 Anmerkungen zu Seite 137—140 

hat der meine nur den einen Vorteil gehabt 3 mich von vorneherein 
auf den fundamentalen Gegensatz von Trauer und Tragik hinzuwei- 
sen, den Sie nach ihrer Arbeit zu scbliefien noch nicht erkannt haben. 
Im Ubrigen h'dtte ich sehr viel Bemerkungen zu Ihrer Arbeit zu 
machen, die sido aber brieflich ins uferlos Subtile - wegen der termi- 
nologischen Schwierigkeiten - verlieren miifiten [. . ./ Ihre (und 
meine) Terminologie ist durchaus noch nicht geniigend ausgearbeitet 
[. . ./ Im Besonderen bemerkte ich nur, dafl ich die eindeutige Be- 
ziehung von Klage und Trauer in dem Sinne daft jede reine Trauer 
in die Klage miinden miisse noch bezweifle. - Es ergeben sich hier 
eine Reihe so schwerer Fragen dafl man wirklich von ihrer schrifilichen 
Erwagung abstehen mufi. (Briefe, 181 f.) Die Angabe vor zwei Jah- 
ren wird man als ungefahre zu verstehen haben: >im Jahre 191 6<. 
Die mutmafilich genauere Terminierung der Entstehungszeit des Auf- 
satz[esj erlaubt, wie die der ubrigen, die ofter bereits angezogene 
Aufzahlung der fiinf Aufsdtze im Brief an Belmore vom Ende 19 16 
(Briefe, 132) und ihre Lesung als Chronologie (s. 924 f.). Danach fiele 
die Entstehungszeit zwisdien Juni und November 19 16. Die Arbeit 
reohnet zu den Urzellen des Trauerspielbuches, wie die iiber Trauer- 
spiel und Tragodie (s. 927 f.). Benjamin driiokt das in einem Brief an 
Hugo von Hofmannsthal 1926 so aus: Endlich frappierte mich Ihr 
Brief mit Ihrem Hinweis auf das eigentliche, so sehr versteckte Zen- 
trum dieser Arbeit [scil. des Trauerspielbuchs] : die Darlegung iiber 
Bildy Schrifi, Musik ist wirklich die Urzelle der Arbeit mit ihren wort- 
lichen Ankldngen [s. Bd. i, 297 ,27-29$ ,i8J an einen jugendlichen 
Versuch von drei Seiten »Vber die Sprache in Trauerspiel und Trago- 
die*. Die tiefere Ausfuhrung dieser Dinge wiirde mich freilich aus 
dem deutschen Sprachraum in den hebraischen fiihren mussen y der y 
aller Vorsatze ungeachtet, bis zum heutigen Tage immer noch unbe- 
treten vor mir liegt. (Briefe, 437 f.; s. audi Bd. 1, 884 f.) Die - unge- 
druckt gebliebene - Arbeit existiert nur in einer Scholemschen Ab- 
schrift. 

UBERLIEFERUNG 

m Sammlung Scholem, Abschrift von Sdiolems Hand; Heft »Ver- 

mischte Aufsatze«, 14-16. 
lesarten 137,32 Trauerspiele y ] konjiziert fur Trauerspiele - 137,33 
Sein] konj. fiir sein 
nachweis 139,23 fafit] s. Hamlet II, 2 



Anmerkungen zu Seite 140—157 931 

i4o-i57 uber sprache uberhaupt und uber die sprache des 

Menschen 

Gegen Ende seines Mundiner Aufenthaltes, am 11. 11. 191 6, schrieb 
Benjamin an Scholem: Vor einer Woche begann ich einen Brief an 
Sie, der bei achtzehn Seiten L'dnge abschlo$. Es war der Versuch 
einige der nicht geringen Anzahl der Fragen, die Sie mir vorgelegt 
haben [scil. in einem »langeren Brief [. . .] uber die Beziehung von 
Mathematik und Sprache«; s. Scholem, Walter Benjamin - die Ge- 
schichte einer Freundschaft, a. a. O., 48], im Zusammenhang zu beant- 
worten, Indessen mufite ich mid) entschliefien, um den Gegenstand 
genauer zu fassen, ihn zu einer kleinen Abbandlung umzuarbeiten, 
mil deren Reinschrifl ich jetzt beschdfligt bin. In ihr ist es mir nicht 
moglich gewesen auf Mathematik und Sprache, d. h. Mathematik 
und Denken } Mathematik und Zion einzugehen } weil meine Gedanken 
iiber dieses unendlich schwere Thema noch ganz unfertig sind. Im 
ubrigen aber versuche ich in dieser Arbeit mich mit dem Wesen der 
Sprache auseinander zu setzen und zwar - soweit ich es verstehe: in 
immanenter Beziehung auf das Judentum und mit Beziehung auf die 
ersten Kapitel der Genesis. Ihr Urteil uber diese Gedanken werde ich 
in der sicheren Hoffnung durch dasselbe sehr gefordert zu werden 
erwarten. Die Arbeit kann ich Ihnen erst in einiger Zeit - wann la fit 
sich nicht voraussehen - vielleicht in einer Woche , vielleicht auch erst 
sp'dter - schicken; sie ist wie gesagt noch nicht ganz beendet. Am 
Titel »Uber Sprache uberhaupt und uber die Sprache des Menschen« 
sehen Sie eine gewisse systematische Absicht, die fur mich aber auch 
das Fragmentarische der Gedanken ganz deutlich macht y weil ich 
vieles zu beruhren noch au$er Stande bin. Insbesondere ist die sprach- 
theoretische Betrachtung der Mathematik y auf die es mir ja schliefilich 
sehr ankommt t wenn ich sie auch noch nicht versuchen darf von ganz 
fundamentaler Bedeutung fur die Theorie der Sprache uberhaupt. 
(Brief e, 128 f.) Brief datum und die Zeitangaben in diesem Passus 
ermoglichen es, die Entstehungszeit der Arbeit prazis zu bestimmen: 
binnen einer Woche, zwischen dem 4. und 11. 11. 191 6, waren Arbeit 
an der - abgebrochenen - Brieffassung und deren Umarbeitung zu 
einer kleinen Abhandlung abgeschlossen, die Reinschrifl am 11. n. 
bereits begonnen. Die in Aussicht gestellte Oberreichung der Arbeit 
erfolgte, nach Scholem, »im Dezember 191 6 bei [Benjamins] Riick- 
kehr nach Berlin« (Scholem, a. a. O.). Die im Titel ausgedrxickte syste- 
matische Konzeption griff weiter als die bis zu diesem Zeitpunkt 
abgeschlossene Arbeit. Nach Scholem wurde sie »miindlich von [Ben- 
jamin] als erster Teil bezeichnet, dem zwei weitere folgen sollten« 
(a. a. O.); Benjamin selbst spncht in einem Brief an Ernst Schoen 



9}z Anmerkungen zu Seite 140—157 

Ende Februar 1917 davon, dafi er viel an eine grofiere Arbeit denke, 
die i<h vox einem Vierteljahr begonnen babe und fortzusetzen mich 
sehne (Briefe, 133): die iiber die Sprache. In welchem Sinne er an die 
Fortfiihrung dachte, deutet er aufier in dem Brief an Scholem vom 
November 1916 in einem iiber ein Jahr spater an Schoen gerich- 
teten an: Mir erschlieflen sicb gegenwdrtig Zusammenhdnge von der 
weitesten Tragweite und ich darf sagen daft icb jetzt zum ersten Mai 
zur Einheit dessen was ich denke vordringe. Ich erinnere mich daft 
Sie mich einmal aufierordentlich gut zu verstehen schienen als ich [. . .J 
Ihnen mein verzweifeltes Nachdenken iiber die sprachlichen Grund- 
lagen des kategorischen Imperativs mitteilte. Die Denkweise die mich 
damals beschdfiigte (und deren damaliges Sonderproblem auch heute 
fiir mich noch nicht gelost, aber in einen grofiern Zusammenhang 
getreten i$t) habe ich weiter auszubilden gesucht [. . .] Vor allem: 
fiir mich hdngen die Fragen nacb dem Wesen von ErkenntniSj 
Recht, Kunst zusammen mit der Frage nacb dem Ursprung alter 
menschlichen Geistesdufierungen aus dem Wesen der Sprache. Dieser 
Zusammenhang ist es eben der zwischen den beiden vorziiglichen Ge- 
genstdnden meines Denkens [scil. dem Sprach- und dem »Swastika- 
problem« 3 Briefe, 165] bestebt. In Hinsicbt der ersten Gedanken- 
reibe ist auch schon mehreres aufgeschrieben was aber noch nicht 
communicabel ist. Kennen Sie eigentlich schon meine Arbeit vom 
Jabre 1916 »Uber Sprache uberbaupt und Uber die Sprache des Men- 
schen* [?] Falls nicht konnte sie Ihnen vorldufig leider nur leib- 
weise zugestellt werden. Sie bildet den Ausgangspunkt einer weiteren 
Arbeit an den erstgenannten Problemen fiir mich. (Briefe, 165) So 
etwa schon an dem Problem des Zusammenhangs von Kunst und 
Sprache: Kilns tlerischer Inhalt und geistige Mitteilung sind dock ganz 
genau dasselbe! Wie ich denn auch bei meinen Notizen das Problem 
der Malerei [dazu s. Text: 602-607 un d u - I 4 I 4] m das grofie Gebiet 
der Sprache einmunden lasse, dessen Umfang ich schon in der Sprach- 
arbeit andeute. (Briefe, 155) So aber namentlich an den Problemen, 
wie sie dann auf der Stufe des Barockbuchs, in dessen Einleitung [. . J 
Du [scil. Scholem] sett der Arbeit uber »Sprache uberbaupt und iiber 
die Sprache des Menscben* zum ersten Male wieder so etwas wie einen 
erkenntnistheoretischen Versuch finden [wirst] (Briefe, 347), eine 
Art zweites, ich weifl nicht, ob besseres, Stadium der friihen Spracbar- 
beit (Briefe, 372), und in dessen Schlufiabsatz Passagen aus dieser frii- 
hen Arbeit eingingen (s. Bd. 1, 406,25-409,16), und schliefilich auf der 
Stufe der Arbeit(en) Uber das mimetische Vermogen (204-213) sich 
stellten. Das hochst gewagte Vorbaben, die definitive Formulierung 
meine[r] neuen Notizen Uber die Sprache - eben der beiden Fas- 
sungen jener Arbeit - wiirde fiir mich ausfiihrbar allein werden [. . .], 



Anmerkungen zu Seite 140—157 933 

wenn ich vorher einen Vergleich dieser Notizen mit jenen friihen 
»uber Sprache uberhaupt und iiber die Sprache des Menschen* vor- 
nehmen konnte. (Briefe, 575) Zum Behufe dieses Vergleidis erbittet 
er von Scholem die Zusendung von dessen Abschriftsexemplar, erst im 
Mai 1933 (s. Briefe, 575), dann, dringlicher, im Juni (s. Briefe, 577), 
weil sein eigenes ihm jetzt auf Ibiza nicht erreichbar ist (Briefe, 575). 
Um Ende Juni/Anfang Juli muft es ihm zugegangen sein, denn in 
einem undatierten, auf diesen etwaigen Zeitpunkt jedoch datierbaren 
Brief spricht er davon, dafi die ndcbsten Tage [. . .J einer verglei- 
doenden Redaktion von zwei Arbeiten vorbebalten seien, die zwanzig 
[lies: siebzehn] Jahre auseinanderliegen. I do babe mix ein Exemplar 
meiner ersten Spracharbeit »Uber Sprache uberhaupt und uber die 
Sprache des Mensdoen« verschafft und will sehen, wie diese zu den 
Uberlegungen sick verhalt, die ich Anfang dieses Jahres nieder- 
geschrieben habe. (ohne Datum [etwa Ende Juni/Anfang Juli 1933], 
an Gretel Adorno) Diese wie die erste Spracharbeit blieben zu Lebzei- 
ten unveroffentlicht, bildeten aber entscheidend wichtige Zirkulare im 
Austausch iiber die gedankliche Selbstverstandigung und Verstandi- 
gung zwischen dem Autor und soldien, die er der Mitteilung seiner 
intensiven Gedankenarbeit am Sprachproblem fiir wiirdig hielt. Die 
exoterische Seite soldier Mitteilung kehrt den Adressaten eine schroff 
abweisende Haltung zu, wie der denkwiirdige Brief an Martin Buber 
vom Juli 191 6 bezeugt, mit dem er dessen Einladung, an seiner Zeit- 
sdirift mitzuarbeiten, unter Hinweis auf den Verrat am Wesen der 
Sprache ausschlagt (s. Briefe, 125-128). Dieser exoterisch abweisenden 
Haltung entspricht die esoterisch offenbarende denen gegenuber, von 
denen er nicht furchten mull, zu sprachlicher Verwertung seiner Ge- 
danken, gerade der sprachmetaphysischen, in Zeitschriften oder wo 
immer gedrangt zu werden, und denen er diese Gedanken um ihrer 
selbst willen, ungeschiitzt, mitteilt. Sie bezeugen, wie etwa in dem auf 
Ende ^916 datierten Brief an Herbert Belmore (s. Briefe, i3if.) oder 
dem an Scholem vom Juli 1917 (s. Briefe, 141 f.), die kompromifllose 
Intensitat seines Nachdenkens und gewahren einen Blick in die Dimen- 
sion, der Arbeiten wie die iiber die Sprache abgerungen sind. Zirkula- 
tion und Verwendung von Abschriften erfolgten nicht wahllos. Ich 
mochte Sie, heifit es in einem Brief an Scholem vom 30. 6. 191 7, um 
eine Gefalligkeit bitten. Herr Werner Kraft, Krankenwarter, Reserve- 
lazarett Ilten bei Hannover /. . .] interessiert sich lebhaft fiir meine 
Arbeit iiber Sprache. Mein eignes Exemplar ist eines der wenigen Ma- 
nuscripte deren Mitnahme ins Ausland [scil. in die Schweiz] wahr- 
scheinlich gestattet wird - d. h. ich habe nur wenige zur Genehmigung 
eingereicht, denn man darf nur wenige mitnehmen, und die einge- 
reichten werden hoffentlich genehmigt. Wollen Sie Herrn Kraft bitte 



934 Anmerkungen zu Seite 140—157 

leihweise Ihre' Abschrift der Arbeit senden, (Scholem, a. a. O., 54 f.) 
Nur unter Kautelen wurde der Gebrauch der Arbeit genehmigt: Sie 
dilrfen meinen Aufsatz iiber die Sprache, schrieb Benjamin dann aus 
der Schweiz an Scholem, Ludwig Straufi vorlesen, wenn ich dafiir, 
wenn irgend moglich, eine Abschrift seiner Arbeit iiber »Ethik« leih- 
weise erhalten kann. (Briefe, 144) Oder: aufter zu dem urspriinglichen 
Zweck, der Erorterung des Sprachproblems zwischen Scholem und 
Benjamin, durfle die Arbeit Verwendung flnden zu Benjamin so ange- 
legentlichen Experimenten wie ihrer Ubertragung ins Hebraische: »In 
den Monaten vor seiner Heirat [am 16. 4. 191 j]«, schreibt Scholem, 
»beschaftigte ich mich einige Zeit mit dem Versuch, Teile aus der mir 
sehr nahegehenden Arbeit iiber die Sprache [. . .] ins Hebraische zu 
iibersetzen. Benjamin wollte unbedingt, dafi ich ihm und Dora die 
ersten Seiten, die ich geschrieben hatte, vorlese, um den Klang seiner 
Satze in der, wie er halb scherzhaft sagte, >Ursprache< zu horen.« 
(Scholem, a. a. O., 53) Skrupulos wurde nut der Zahl vorhandener 
oder anzufertigender Abschriften der Arbeit kalkuliert: Von Ludwig 
Straufi ist noch nichts gekommen, schrieb er gegen Ende Oktober 1917 
an Scholem aus Bern. Unter der Voraussetzung, dafi ich in den Besitz 
seiner Arbeit gelange und wenn ich dies bestatigt habe, konnen Sie 
ihm ein Exemplar der Absdorift der Spracharbeit zusenden. Ein zwei- 
tes kann Herr Kraft, das dritte Sie und wenn Sie keine andere Ver- 
wendung daftir haben y ein viertes ich erhalten. Sonst liefie sich fur 
mich noch ein filnftes vielleicht herstellen; aber wer sollte dann das 
vierte erhalten? (Briefe, 153) Moglicherweise Ernst Schoen, den Ben- 
jamin zwei Monate spater auf die Arbeit aufmerksam machte (s. 
Briefe, 165) und der dann um sie gebeten haben mag, denn spater 
heiftt es, mitten in einem langeren Brief an ihn: Die Lektiire der 
Spracharbeit steht Ihnen frei (Briefe, 190) - was freilich zweierlei 
bedeuten konnte: die Lektiire ist jetzt, etwa nachdem ein Exemplar 
zur Disposition steht, moglich; oder, wahrscheinlicher, der Adressat 
soil die Freiheit haben, die Arbeit zu lesen oder nicht. In diesem Sinne 
war Ende 19 16 bereits Herbert Belmore angefragt worden: Willst 
Du von meinen Arbeiten etwas lesen? Ich habe folgende Aufsatze 
geschrieben - sie werden aufgezahlt, wobei die Spracharbeit an fiinf- 
ter und letzter Stelle steht (Briefe, 132.) Sie spielt schliefilich in den 
Erwagungen eine Rolle, die Benjamin und Scholem 1928 in der For- 
derungsangelegenheit, in Gang gekommen durch Scholems Initiative 
an der Jerusalemer Universitat (s. Scholem, a. a. O., 172 ff.), anstell- 
ten; es ging dabei u. a. um die Auswahl der dem in der Angelegenheit 
zu gewinnenden Universitatskanzler Judah Leon Magnes vorzulegen- 
den Schriften Benjamins. »Vber Sprache uberhaupu [kann ich] nicht 
schicken, da ich nur ein einziges Exemplar dieser Arbeit besitze. Ich 



Anmerkungen zu Seite 140—157 935 

bedaure das sehr, denn sie ist in unsern Zusammenh'dngen sehr wtch- 
tig. Auch konnte ich sie natUrlich letzten Endes, wenn Du sie fiir ent- 
scbeidend hdltst (was ich denn dodo bet der Anzahl der iibrigen Arbei- 
ten und ihrer Verwandtschaft mit der Vorrede zum Trauerspielbuch 
nicht annehme) abschreiben lassen. (Brief e, 454 f.) Er glaubte also, 
dafi, jedenfalls bei dieser Gelegenheit, die Spradiarbeit durch die 
Vorrede substituiert, wenn nicht in ihren Intentionen sogar besser 
reprasentiert werden konne. Das deutet ein v/eiteres Mai auf die 
Linie, welche in Benjamins Werk von der Spradiarbeit iiber die Vor- 
rede zum Trauerspielbuch bis zu den Aufzeichnungen iiber das mime- 
tische Vermogen fuhrt - auf die Hauptmanifestationen seiner Sprach- 
theorie. 

UBERLIEFERUNG 

T 1 Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen; Benjamin- Archiv, 

Ts93 " II . y * 
T 2 Typoskript, Durchschrift eines nicht erhaltenen Originals; ver- 

mutlich friihe, moglicherweise aber audi erst in Amerika von Gre- 

tel Adorno nach T 1 angefertigte Kopie; Benjamin- Archiv, Ts 

Il6_I 33- 
T 3 Typoskript-Durchschrift vom selben Original; Benjamin- Archiv, 

Ts 134-151- 
T 4 Typoskript-Durchschrift vom selben Original; Benjamin- Archiv, 

Ts 152-169. 
Druckvorlage: T 1 

lesarten 142,8 in einer Sprache] konjiziert fiir in T*-T 4 - 142,22 f. 
Das bis Sprache.] der Passus ist in T*-T 4 doppelt unterstrichen - 
143,21 Einsichten. -] konj. fiir Einsicbten.l T J -T 4 - 150,12 die] 
konj. fiir das T*-T 4 

nachweise 145,6 heifien*] Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift 
des Alten und Neuen Testamentes, nadi der deutschen Ubersetzung 
Dr. Martin Luthers, Berlin, Frankfurt a. M., Koln 1888, 6 (1 Mose 
2.19.); Hervorhebung von Benjamin - M7)ii Q*] Johann Georg 
Hamann an Friedrich Heinridi Jacobi, 18. 10. 1785, in: C. H. Gilde- 
meister, Johann Georg Hamanns, des Magus in Norden, Leben und 
Schriften, Bd. 5, Gotha 1868, 122 (Briefwechsel Hamanns mit F. H. 
Jacobi) - 147,25 einblies] s. Die Bibel, a. a. O., 1 Mose 2. 7. - 
148,1 worden] s. a, a. O. - 148,7 sprach] s. a. a. O., 1 Mose 1. 3.6.9. 
n. 14.20.26.29. - 148,21 machte«] a. a. O., 1 Mose 1. 7.16.25. - 
148,24 schuf] s. a. a. O., 1 Mose 1. 21.27. - 148,26 nannte*] 
a. a. O., 1 Mose 1. 5.8.10.- 148,34 war*] iMosei. 4.10.12.18.21.25,31. 
- 149,36 aber] Hervorhebung von Benjamin - 149,38 Kapitel] 
s. a. a. O., 1 Mose 2.23. - 149,39 dritten] s. a. a. O., 1 Mose 3.20. - 



936 Anmerkungen zu Seite 140— 171 

1 j 1,59 Kinderspiel . . .*] Johann Georg Hamann, Samtlidie Werke, 
historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler, Bd. 3: Schriften iiber 
Sprache, Mysterien, Vernunft, Wien 1951, 32 (»Des Ritters von Ro- 
sencreuz letzte Willensrrieynung uber den gottlichen und menschlichen 
Ursprung der Sprache«) - 152,4 Wort!«] Maler [Friedrich] Muller, 
Adams erstes Erwachen und erste seelige Nachte, 2. verb. Aufl., Mann- 
heim 1779, 49 (»Erscheinung Gottes. Gott kiindigt Adam seinen Be- 
ruf an. Adam giebt vor Gott den Thieren Namen.«) - 152,34 set] 
s. Die Bibel, a. a. O., 1 Mose 3.5. - 152,35 gut] s. a. a. O., 1 Mose 
1.3 1. - 153,18 Gescbwdtz*] Soren Kierkegaard, Kritik der Gegen- 
wart. 2um ersten Mai iibertragen und mit einem Nadiwort versehen 
von Theodor Haecker, Innsbruck 19 14, 44 - 1 55,5 gab-«] Maler 
[Friedrich] Muller, a. a. O., 51: »Adel wie« 



1 5 7-1 7 1 Uber das Programm der kommenden Philosophie 

Anlafilich des posthumen Erstdruckes der Arbeit datierte Scholem 
ihre Entstehung »Anfang 191 8« (Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 
60. Geburtstag. Im Auftrag des Instituts fiir Sozialforsdiung hg. 
von Max Horkheimer, Frankfurt a. M. 1963, 33 [Vorbemerkung]; 
die Vorbemerkung findet sich unten [s. »Uberlieferung«] in extenso 
zitiert). Dies Datum wurde spater von ihm revidiert. In einem Brief 
an einen der Herausgeber schrieb er: »Meine Angabe, die Arbeit 
sei Anfang 191 8 verfafit, ist falsch, wie aus einem Brief e Doras [scil. 
der Frau Benjamins] an mich vom 7. Dezember 1917 [. . .] hervor- 
geht. Die Arbeit ist im November 19 17 abgefafk, in Weiterent- 
wicklung der Gedanken in seinem Brief an mich vom 22. Oktober 
[s. Briefe, 149-152]. Sie sollte mir zu meinem 20. Geburtstag [am 
5. 12. 1917] in der Abschrift Doras zugehen. Am 7. Dezember schrieb 
Dora an mich: >Ich hatte viele Tage lang spat und friih an einer Ar- 
beit von Walter geschrieben, um Ihnen an diesem Tage [dem 5. 12. 
19 1 7] eine Freude zu bereiten; nun erlaubt der Tyrann mir nicht sie 
abzusenden, weil eine Fortsetzung folgen soil. Also nur meine schon- 
sten Wiinsche<. Die Fortsetzung ist ja dann wirklich im Marz 191 8 ge- 
schrieben worden und befindet sich als Nachtrag [s. 1 68-1 71] im sel- 
ben Manuskript, das also das mir zugedachte Geschenk war, das ich 
dann zur Feier meiner Ankunfl [in Bern am 4. 5. 1918; s. Scholem, 
Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 69] 
uberreicht erhielt«. (Gershom Scholem an R. Tiedemann, 8. 5. 1974) 
Diesen Sachverhalt hat Scholem dann ein Jahr spater, in ahnlichen 
Worten, in seinem Erinnerungsbuch berichtet (s. Scholem, Walter Ben- 



Anmerkungen zu Seite 157—171 937 

jamin - die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 67). - In jenem 
Brief vom 12. 10. 1917, dessen Gedankenbewegung in dem Aufsatz 
Uber das Programm der kommenden Philosophic aufgenommen ist, 
hatte Benjamin gesdirieben: Ich habe /. . ./ standig uber das was Sie 
[scil. Sdiolem] scbrieben nachgedacht - bis auf Ihre Gedanken Uber 
Kant, von denen ich das nicht sagen kann, we'd sie schon sett zwei Jah- 
ren schlechter dings meine eigenen sind. Niemals hat mich unsere 
Vbereinstimmung erstaunlicher getroffen als in Ihren Worten daruber, 
die ich buchstablich zu meinen eigenen machen konnte. Deshalb brau- 
che ich Ihnen gerade daruber vielleicht am wenigsten zu schreiben. 
Ohne bisher dafilr irgend welcbe Beweise in der Hand zu haben, bin 
ich des festen Glaubens, dafl es sick im Sinne der Philosophic und da- 
mit der Lehre, zu der diese gehort, wenn sie sie nicht etwa sogar aus- 
macht, nie und nimmer um cine Erschutterung, einen Sturz des Kanti- 
scken Systems handeln kann sondern vielmehr um cine granitne 
Festlegung und universale Ausbildung. Die tiefste Typik des Denkens 
der Lehre ist mix bisher immer in seinen Worten und Gedanken auf- 
gegangen, und wie unermefilich viel vom Kantischen Buck stab en auch 
mag fallen miissen, diese Typik seines Systems, die inner h alb der 
Philosophic nur mit der Platos meines Wissens verglichen werden 
kann, mufi erhalten bleiben. Einzig im Sinne Kants und Platos und 
wie ich glaube im Wege der Revision und Fortbildung Kants kann die 
Philosophic zur Lehre odcr mindestens ihr einverleibt werden. [Ab- 
satzj Mit Recht werden Sic bemerken daft »im Sinne Kants* und »die 
Typik seines Denkens* ganz unklare Ausdrucke sind. In der Tat sehe 
ich nur die Aufgabe, wie ich sie eben umschrieben habe, klar vor mix, 
dap das Wesentliche des Kantischen Denkens zu erhalten sei. 
Worin dieses Wesentliche besteht und wie man sein System neugrun- 
den mu/I, um es hervortreten zu lassen, weifi ich bis heute nicht. Aber 
es ist meine Vberzeugung: wer nicht in Kant das D enken der 
Lehre s el b s t ringen fiihlt und wer daher nicht mit aufierster 
Ehrfurcht ihn mit seinem Buchstaben als ein tradendum, zu Oberlie- 
ferndes erfafit (wie weit man ihn auch spdter umbilden musse) weifi 
von Philosophic garnichts. Deshalb ist auch jede Bemdnglung seines 
philosophischen Stils pures Banausentum und profanes Geschwatz. Es 
ist durchaus wahr, dafl in den groflen wissenschaftlichen Schopfungen 
die Kunst mitumfafit sein mufi (wie umgekebrt) und so ist es auch 
meine Vberzeugung, daft Kants Prosa selbst einen limes der hohen 
Kunstprosa darstellt. Hatte sonst die Kritik der reinen Vernunfl Kleist 
bis ins Innerste erschuttcrtf [. . .] Ich werde in diesem Winter begin- 
nen uber Kant und die Geschichte zu arbeiten - ein Plan, aus dem das 
erste Dissertationsprojekt Benjamins resultieren sollte [s. Bd. 1, 799]. 
Neben manchem Anlaftticben und Interessanten glaube ich jetzt den 



938 Anmerkungen zu Seite 157— 171 

letzten Grund der mich auf dieses Thema verwiesen hat und der zwar 
nidit zu dessen Ausarbeitung fuhrte, doch aber motivisch in der Pro- 
grammschrift sidi niedersdilug, darin zu erkennen, daft immer die letzte 
metapbysische Dignitat einer philosophischen Anschauung die wirk- 
lich kanoniscb sein will, sich in ihrer Auseinandersetzung mit der Ge- 
schicbte am klarsten zeigen wird; m. a, W. in der Geschicbtsphiloso- 
phie wird die spezifiscbe Verwandtschafi einer Pbilosophie mit der 
wahren Lehre am klarsten hervortreten miissen; denn hier wird das 
Thema des bistorischen Werdens der Erkenntnis das die Lebre zur 
Auflosung bringt, auftreten miissen. Doch ware es nicht ganz ausge- 
schlossen, dafi in dieser Beziebung Kants Philosopbie noch sebr unent- 
wickelt ware. [. . .] Meine Ubrigen Gedanken daruber konnte ich 
Ihnen jetzt am besten mundlich andeuten. (Briefe, 149-152) Es durf- 
ten diejenigen gewesen sein, die bald darauf in die Niederschrift der 
Programmarbeit eingingen. Diese wurde vor dem 5. 12. 1917, dem Ge- 
burtstag Scholems, von Dora Benjamin kopiert und dennoch dem 
Adressaten nicht ubersandt; nodi am 13. 1. 191 8 schrieb Benjamin 
diesem, dafi er sich auf die Mitteilung der fraglichen philosophischen 
von meiner Frau abgeschriebenen Notizen vorlaufig nicht gefafit 
machen konne. Es ist durchaus unerl'djllich, ehe ich diese die weite 
Reise machen lasse dafi sie durch Uberlegungen fundiert werden die 
mich zwar gegenwdrtig besonders intensiv bescbaftigen - wohl die im 
Nachtrag zur Programmschrift dann im Marz 191 8 niedergelegten - 
aber bei meiner ganzlicben Isoliertheit von mitdenkenden Men- 
schen, von Ihnen, Gerhard, der Sie der einzige sind den ich iiberhaupt 
namhaft machen kann, eine Voraussage Uber den Termin ihres auch 
nur notdiirftigen Abschlusses nicht zulassen. (Briefe, 167) Dieser Ter- 
min lag mit Sicherheit vor Anfang Mai 19 18, denn zu diesem Zeit- 
punkt erhielt Scholem anlafilich seiner Ankunft in Bern die Arbeit 
endlich uberreicht. »Gleich anfangs sprachen wir vie! uber sein Pro- 
gramm der kommenden Pbilosophie. Er sprach uber den Umfang des 
Erfahrungsbegriffes, der hier gemeint war, und der nach ihm die 
geistige und psychologische Verbindung des Menschen mit der Welt 
umfafk, die in den von der Erkenntnis noch nicht durchdrungenen 
Bereichen sich vollzieht. Als ich die Rede darauf brachte, dafi dem- 
nach die mantischen Disziplinen in diesen Begriff von Erfahrung legi- 
tim einzubeziehen seien, antwortete er in einer extremen Formulie- 
rung: Eine Pbilosophie, die nicht die Moglichkeit der Weissagung aus 
dem Kaffeesatz einbeziebt und explizieren kann, kann keine 
wahre sein. [. . .] Von Kant sagte er, er habe eine minderwertige Er- 
fahrung begrundet.* (Scholem, a. a. O., yy f.) 



Anmerkungen zu Seite 157— 171 939 

UBERLIEFERUNG 

t Typoskript; von Scholem besorgte Absdirift einer Handsdirift Dora 

Benjamins ; Benjamin-Archiv, Abt. Kopien und Abschriften. 
Scholem schrieb zum Erstdruck der Arbeit folgende »Vorbemer- 
kung«: »Die.hier mitgeteilte Arbeit iibergab mir Walter Benjamin in 
einer von seiner Frau handgeschnebenen Abschrift, als ich im Friihjahr 
191 8 zu ihm nadi Bern kam. Er legte damals auf diese Seiten, liber die 
ich manche Gesprache mit ihm hatte, grofien Wert. In der Tat stellen 
sie die ausfiihrlichste Aufterung zur systematischen Philosophic dar, 
die wir von ihm aus einer Zeit besitzen, als er ein System der Philoso- 
phic noch fiir moglich hielt. Er hatte die Arbeit Anfang 19 18 nieder- 
geschrieben, in naherer Verfolgung und Ausfiihrung von Gedanken, 
die er in dem Brief an mich vom 22. Oktober 1917 niedergelegt hatte, 
den ich an anderer Stelle wiedergegeben habe (>Deutsche Briefe des 20. 
Jahrhunderts<, Miinchen: Deutscher Taschenbuchverlag 19625 S. 90 ft.). 
Der Nachtrag diirfte im Marz 191 8 geschrieben worden sein, da er 
auf eine Notiz: Versuch eines Beweises, daft die wissenschafiliche Be- 
schreibung eines Vorgangs dessert Erkl'drung voraussetzt rekurriert, 
die vom Februar 191 8 datiert ist und die ich mir seiner Zeit aus 
seiner Handsdirift abgeschrieben habe. [Absatz] Wie sehr die hier 
angestellten Erwagungen iiber Kants System und seinen Begriff der 
Erfahrung damals im Mittelpunkt seines Denkens standen, zeigt sich 
audi daran, dafi er mir zur gemeinsamen Lekture als ersten Text das 
damals gerade in dritter Auflage erschienene grofie Werk von Her- 
mann Cohen >Kants Theorie der Erfahrung< vorschlug, das wir dann 
wirklidi im Sommer 191 8 miteinander gelesen haben. [Absatz] Ich 
habe die Interpunktion in diesem Aufsatz nicht der ublichen an- 
geglichen. W. B. pflegte in diesen Jahren in privaten Aufzeichnungen 
und Briefen nur einen sehr sparlichen Gebrauch von Kommata zu 
machen. An drei Stellen sind in der Abschrift Worte ausgefallen, die 
ich, dem Zusammenhang nach, in eckigen Klammern erganzt habe.« 
(Zeugnisse. Theodor W. Adorno zum 60. Geburtstag, a. a. O., 33; 
der Erstdruck findet sich a. a. O., 33-44) Den Herausgebern stand die 
handschriftliche Kopie Dora Benjamins nicht zur Verfiigung, das 
Original ist verloren; sie ubernahmen das Scholemsche Typoskript 
mit geringfiigigen, in den Lesarten ausgewiesenen Emendationen als 
Druckvorlage. 

lesarten 159,16 gewisse] (sic); wohl gewi$ - 159,37 Garve] Les- 
art Sdiolems - 161,6 f. Erfahrung bis konnte] lies Erfahrung, [. . .] 
konnte, - 162,16 so wie] konjiziert fiir sowie - 164,5 hatte,] 
konj. fiir hatte - 164,30 ihr] konj. fiir ihm - 166,2 Vberlegenheiten] 
Lesart Sdiolems - 167,31 Subjekt-Objekt-Terminologie] konj. fiir 
Subjekt-Objekt Terminologie - 167,38 Ideen] konj. fiir Idee - 169,21 



94° Anmerkungen zu Seite 157—179 

Metaphysischen] konj. fur Metaphysischen y - 170,5 f. der philoso- 
phischen] der Emfugung Scholems 

nachveise 158,24 wollen] s. Kant's gesammelte Sdiriften, hg. von 
der Koniglich Preuftischen Akademie der Wissenschaflen, 1. Abt.: 
Werke, Bd. 4, Berlin 191 1, 253-383 (» Prolegomena zu einer jeden 
kiinftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten konnen«) 
- 161,11 Nature] a. a. O., Werke, Bd. 3, Berlin 1911, 26, 546 (»Kri- 
tik der reinen Vernunft«, 2. Aufl. 1787, Vorrede; Der transcenden- 
talen Methodenlehre drittes Hauptstiick); Werke, Bd. 4, a. a. O., 469 
et passim (»Metaphysische Anfangsgriinde der Naturwissenschaft«, 
Vorrede) - 165,35 Freibeit] s. a. a. O., Werke, Bd. 3, a. a. O., 308 
(»Kritik der reinen Vernunft«, Der Antinomie der reinen Vernunft 
dritter Widerstreit der transcendentalen Ideen. Thesis) - 165,37 f. 
Relationskategorien] s. a. a. O., 93 (Tafel der Kategorien) - 166,23 
Kategorien] s. Aristotelis Categoriae [• . .], hg. von L. Minio- 
Paluello, Oxford 1956, 1-45 - 1 66, 34 erortert] s. Kant's ge- 
sammelte Sdiriften, a. a. O., Werke, Bd. 4, a. a. O., 47-73 (»Kritik 
der reinen VernunfU, Die transcendentale Asthetik) - 167,32 Fas- 
sung] s. a. a. O., 244-461 (Die transcendentale Dialektik) - 169,4 
Teil] s. etwa a. a. O., 21 f. (Vorrede) - 169,29 Beschreibung] s. 
Walter Benjamin, Versuch eines Beweises, dafi die wissenschafiliche 
Beschreibung eines Vorgangs dessen Erklarung voraussetzt, Bd. 6. 



I7I-I79 SCHICKSAL UND CHARAKTER 

Die Arbeit ist wahrend eines Ferienaufenthaltes in Lugano entstan- 
den, in den Wochen nach Mitte September 1919, wie aus der Kombi- 
nation zweier Briefstellen hervorgeht. Am 15.9. 1919 schrieb Benja- 
min an Scholem: Wir [scil. Benjamin und seine Frau] wollen bevor 
wir die Schweiz verlassen nod? einige Wochen in Lugano zubringen. 
(Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 
m) Und aus Breitenstein am Semmering, wo er »etwa vom 9. Novem- 
ber 1919 bis Mitte Februar 1920 [. . .] mit Dora [. . .] in einem Sana- 
torium, das* einer Tante Doras gehorte«, weilte (a. a. O., 112), berich- 
tete er Scholem am 23. 11. 191 9 :/.../ in Lugano war es meistens fur 
uns schon. Dort habe ich einen Aufsatz »Schicksal und Charakter* ge- 
schrieben y dem ich dann hier die letzte Form gegeben babe. (Briefe, 
224) Niederschrift und definitive Fassung fallen also in die Zeit von - 
friihestens - Mitte September bis - spatestens - 23. November 
1919. Ich werde, fahrt Benjamin fort, [den Aufsatz], wenn sich 
die Mbglichkeit bietet, sogleich veroffentlichen. Freilich nicht in einer 



Anmerkungen zu Seite 171— 179 941 

Zeitschrifi, sondern nur in einem Almanach oder Ahnlichem. (Briefe, 
224) Woran Benjamin dabei dachte, ist ungewift. Audi hat sich die 
Moglichkeit einer VerorTentlichung nidit sogleich geboten - am 5.12. 
19 19 erhoffte er sie sich noch: den Aufsatz, den ich [. . ./ zu meinen 
besten Arbeiten zdhle, hoffe ich ebenfalls [scil. zusammen mit eine[rj 
ausfuhrliche[n] Kritik von Ernst Bloch: Geist der Utopie, die nie er- 
schien und deren Manuskript verschollen ist] erscheinen lassen zu 
konnen. (Briefe, 227) Und auch am 13. 1. 1920 noch scheint die Mog- 
lichkeit einer Publikation nicht absehbar, denn anlaftlich der Obersen- 
dung eines Abzug[s] der Arbeit (gemeint ist wohl ein - verlorener? 
- Typoskriptdurchschlag) an Scholem spricht er von ihr nicht eben wie 
von einer in Kiirze offentlich zuganglichen: »Schicksal und Charak- 
ter« liegt bei. Ich mufi Sie ausdrucklich bitten, es niemandem weiter- 
zugeben oder vorzulesen. Dagegen konnen Sie den, leider schleahten, 
Abzug bekalten, wenn Sie wollen. (Briefe, 231) Freilich konnte die 
Bitte um Sekretierung der Arbeit gerade bedeuten, dafi andere inzwi- 
schen das Recht ihrer Verbreitung nut der Annahme zum Druck er- 
warben. Dieser jedenfalls ist erst 192 1 erfolgt, in den »Argonauten«, 
im 10.- 1 2. Heft der ersten Folge. Der fruheste Hinweis auf die Ver- 
offentlichung in dieser Zeitschrifi findet sich in einem Brief gegen 
Ende 1920: In den »Argonauten« wird nun von mix die Kritik des 
»ldioten« [s. 237-241] und »Schioksal und Charakter* erscheinen. 
Ich habe die Korrekturbogen bekommen. (Briefe, 247) - Eine wich- 
tige Passage zur Selbstinterpretation des Aufsatzes enthalt der Brief 
Benjamins an Hugo von Hofmannsthal, den er Anfang 1924 anlafi- 
lich von dessen Bereitschaft schrieb, die Wahlverwandtschaftenarbeit 
abzudrucken. Die Rede ist von der in der Philosophic erfahrenen 
segensreiche[n] Wirksamkeit einer Ordnung, krafl welch er ihre Ein- 
sichten jeweils ganz bestimmten Worten zustreben, deren im Begriff 
verkrustete Oberflaobe unter ihrer magnetischen Beriihrung sich lost 
und die Formen des in ihr verschlossenen sprachlichen Lebens verrdt. 
Fur den Schriflsteller [. . .J bedeutet dieses Verhaltnis das Gluck, an 
der Sprache, welche dergestalt vor seinen Augen sich entfaltet, den 
Priif stein seiner Denkkraft zu besitzen. So versuchte ich vor Jahren, 
die alten Worte Schicksal und Charakter aus der terminologischen 
Fron zu befreien und ihres ursprUnglichen Lebens im deutschen 
Sprachgeiste aktual habhaft zu werden. Aber gerade dieser Versuch 
verrdt mir heute auf das klarste, welchen 3 unbewdltigt in ihm ver- 
bliebnen, Schwierigkeiten jeder derartige Vorstofi begegnet. Dort 
ndmlich wo die Einsicht sich unzureichend erweist, den erstarrten Be- 
griffspanzer wirklich zu losen, wird sie } um in die Barbarei der For- 
melsprache nicht zuruckzufallen, sich versucht finden, die sprachliche 
und gedankliche Tiefe, die in der Intention solcher Untersuchungen 



94 2 Anmerkungen zu Seke 171— 179 

liegt, nicbt sowobl auszuscbacbten als zu erbohren. Diese Forcierung 
von Einsicbten, deren unfeine Pedanterie freilich der heute fast durch- 
weg verbreiteten souveranen Allure ihrer Verfalscbung vorzuzieben 
ist, beeintracbtigt unbedingt den fraglicben Aufsatz und icb bitte Sie, 
e$ fur aufricbtig zu halten, wenn icb in diesem Sinne die Ursacbe 
gewisser Dunkelheiten darin bei mir finde [. . .} Sollte icb, wie es 
angezeigt ware, auf die Probleme jener friiberen Arbeit zuruckkom- 
men, so wiirde icb den Frontalangriff auf sie kaum mebr wagen, son- 
dern, wie icb es mit dem »Schicksal* in der Wablverwandtschafien- 
arbeit bielt [s. Bd. 1, 134,37-140,34], den Dingen in Exkursen begeg- 
nen. (Brief e, 329 f.) 

UBERLIEFERUNG 

J Die Argonauten, 1. Folge, Heft 10-12 (1921), 187-196. 
lesarten 173,10 ubergingen),] konjiziert fur ubergingen) - 175.34 
werden,] konj. fiir werden - 176,24 Menscben,] konj. fiir Men- 
scben - 177,27 fallt,] konj. fiir fallt - 178,32-35 (Dies bis zu.)] 
Dieser Satz ist die modifizierte Fassung dessen, der in der (verlore- 
nen) Druckvorlage stand. Das gent au$ einem - unverofTentlichten 

— Brief an den Verleger der »Argonauten«, Richard Weifibach, her- 
vor, wo es heifit: Da die » Argonauten* erst im April [1921] erscbei- 
nen, mocbte icb Sie fragen, ob die Anderung eines Wortes in meinem 
Aufsatz »Scbicksal und Charakter* nocb angangig ware, d. h. ob icb 
den Abzug desselben nocbmals erbalten konnte. Icb babe da gelegent- 
lich eines Satzes von Hermann Cohen einen Ausdruck gebraucht, der 
in einer fur diesen irgendwie verletzenden Weise miflverstanden wer- 
den konnte.* (6. 3. 192 1, an Richard Weifibach) Bei dem geanderten 
Wort durfte es sich urn tiefes (178,32) handeln. 

nachweise 173,17 wiederkehrt.*] s. Friedrich Nietzsche, Werke in 
drei Banden, hg. von Karl Schlechta, Bd. 2, 2. AufL, Munchen 
i960, 626 (»Jenseits von Gut und Bose. Vorspiel einer Philosophic der 
2ukunft«, Viertes Hauptstuck. Spriiche und Zwischenspiele, [Aph.] 
70): »Hat man Charakter, so hat man audi sein typisches Erlebnis, 
das immer wiederkommt.« - 174,15 Scbicksallos*] Holderlin, Samt- 
liche Werke, hg. von Friedrich Beiftner, Leipzig 1965, 192 ^Hype- 
rions Schicksalslied«, v. 7) - 175,20 f. werden*] Goethes Samtliche 
Werke, Jubilaumsausgabe [. . .]. In Verbindung mit Konrad Burdach 
[u. a.] hg. von Eduard von der Hellen, Bd. 2: Gedichte, Teil 2, Stutt- 
gart, Berlin 1902, 88 (»Aus Wilhelm Meister«, drittes Gedicht, v. 6) 

- 175,22 Schicksal bis Lebendigen] s. das Selbstzitat in Goethes 
Wahlverwandtscbaften,'Bd. 1, 138,16 f. 



Anmerkungen zu Seite 179—203 943 

179-203 Zur Kritik der Gewalt 

Benjamin hat in den Jahren 19 19 und 1920 mit Planen zu Arbeiten 
iiber Politik sidi getragen, die, soweit Kenntnis von ihnen besteht, 
allesamt audi das Gewaltphanomen zum Problem stellten. Von diesen 
Planen sind wenigstens drei - zumindest in Teilen - realisiert wor- 
den, und von den drei Realisationen, die brieflidi bezeugt sind, ist 
eine uberliefert - der Aufsatz Zur Kritik der Gewalt. Die beiden an- 
dern sind eine kurze, sebr aktuelle Notiz uber »Leben und Gewalt <r, 
geschrieben April 1920 in Berlin, von der er sagt, dafi sie ihm aus dem 
Herzen geschrieben ist (Briefe, 237), und ein grower zweiteiliger Essay 
iiber Politik, dessen erster Teil »Der wahre Politiker* mit Sicherheit 
(s. Briefe, 227, 228 und passim) und dessen zweiter »Die wahre Poli- 
tik* mit den beiden Kapiteln »Abbau der Gewalt* und »Teleologie 
ohne Endzweck* (Briefe, 247) mit Wahrscheinlichkeit ausgefiihrt wur- 
den. Sowohl Leben und Gewalt wie Politik (d. h. deren mit Sicher- 
heit geschriebener erster Teil) sind verloren - die Notiz, deren Ab- 
schrift Benjamin Mai 1920 Scholem in Aussicht stellt, »kam nie an« 
(s. Briefe, 241); der »Essay« und die Urschrifl; jener Notiz sind auch in 
Benjamins Nachlafi nicht vorhanden. So muf$ unausgemacht bleiben, 
in welchem Verhaltnis die niedergesdiriebenen (oder geplanten) Re- 
flexionen iiber Gewalt zu denen im iiberlieferten Aufsatz Zur Kritik 
der Gewalt stehen; denkbar, dafi sie sich mit ihnen beriihren, viel- 
leicht sogar, wenigstens dem Gedanken nach, in sie eingegangen sind. 
Die Entstehung des Aufsatzes ist einigermafien sicher datierbar; er ist 
niedergeschrieben binnen etwa dreier Wochen um die Jahreswende 
1 920/ 1 92 1, eher wohl im Januar des neuen Jahres. Der Brief, der das 
bezeugt, tragt zwar kein Datum, konnte jedoch von den Heraus- 
gebern der » Brief e« » Januar 192KC angesetzt werden (s. Briefe, 251). 
Wurde er Anfang bis Mitte Januar geschrieben, fiel der Beginn der 
Niederschrift nodi in den Dezember 1920; wurde er gegen Ende 
Januar geschrieben, in diesen Monat. So jedenfalls zufolge jenes 
Briefteils - seines zweiten Postscriptums (s. Briefe, 254) -, der den 
Abschlufl der Arbeit vermeldet. Sein erster Teil wurde wohl drei Wo- 
chen vorher begonnen, blieb in wochenlanger Quarantaine liegen 
(Briefe, 253 f.), sollte dann, mit Anfugung der Bemerkung Ich habe 
sehr viel zu arbeiten, da ich jetzt fiir [EmilJ Lederer einen Aufsatz 
» Kritik der Gewalt*, der in den »Weifien Blattern* erscheinen soil, 
abfasse. Augenblicklich bin ich endlich bei der Reinschrifl angelangt, 
schliefilich abgehen (Briefe, 253 f.), blieb aber wohl noch einmal lie- 
gen, worauf jenes zweite Postscriptum deutet und namentlich in die- 
sem die Bemerkung Mit meiner Arbeit »Zur Kritik der Gewalt* 
[wohl der Reinschrifl'] bin ich nun fertig (Briefe, 254). 



944 Anmerkungen zu Seite 179—203 

Als der Brief begonnen wurde - vor wochenlanger Quarantaine, vor 
wohl drei Wochen -, war von dem Aufsatz nodi nidits niedergeschrie- 
ben; Niederschrift - und Reinschrift - fallen also genau in diese Wo- 
chen zwischen Abbruch und Beendigung des Briefes. Vor sie schob sich 
die offenbar dringlich gewordene Erledigung von Auftragsarbeiten, zu 
denen Zur Kritik der Gewalt gehorte. Zurikkgestellt werden muflten 
audi die vorbereitenden Arbeiten am - ersten, sprachphilosophisdien 
- Habilitationsprojekt, namlich solange ich meine Arbeit fiber Politik 
[scil. den zweiten Teil iiber Die wahre Politik; der erste iiber Den 
wahren Politiker war bereits 19 19 in Lugano entstanden (s. Briefe, 
227)], dabei einen von Lederer bestellten Aufsatz nicht abgefafit 
babe, fur die ich immer nocb auf notige Literatur warte. Dock werde 
ich wohl in den ndchsten Tagen Sorel ^Reflexions sur la violence* 
[dessen Theorie des Generalstreiks Benjamin im Zentrum seines Auf- 
satzes Zur Kritik der Gewalt heranzieht] erwarten konnen. Nun babe 
ich gerade jetzt die Bekanntschaft mit einem Buche gemacht, das so- 
weit icb nach der Vorlesung die der Verfasser an zwei Abenden ab- 
hielt, denen ich beiwohnte, urteilen kann } die bedeutendste Scbrifl 
iiber Politik aus dieser Zeit mir zu sein scbeint [. . ./ Erich Unger: Poli- 
tik und Metaphysik [gleichfalls von Benjamin in seinem Aufsatz be- 
handelt]. Der Verfasser ist aus dem selben Kreise der Neo-patheti- 
ker, [. . .] den icb von seiner verrufensten und wirklich verderblichen 
Seite zur Zeit der Jugendbewegung in einer fur Dora und mich hochst 
eingreifendenWeise in derGestalt des Herrn Simon Guttmann kennen 
lernte [. . ./ Unger ist wie mir scheint von ganzlich andrer Art - und 
ich glaube es aus meinem hochst lebhaflen Interesse an lingers Gedan- 
ken, die sich z. B. was das psycho-physische Problem angeht mit den 
meinigen uberrasdoend beruhren, verantworten zu konnen, Sie [scil. 
Scholem] /. . ./ auf das Buch hinzuweisen* (Brief e, 252 f.) Zu der fur 
die Abfassung des Aufsatzes notige[n] Literatur, auf die Benjamin 
wartete, scheint audi Cohens »Ethik des reinen Willens« gehort zu 
haben, von der Benjamin im zweiten Teil des Briefes, nachdem er bei 
der Reinschrifi des Aufsatzes angelangt war, sagt, dafi er bei dieser 
Sache damit ein klein wenig sich habe befassen mussen. Was ich aber 
da gelesen habe, hat mich recht betriibt. Offenbar ist bei Cohen die 
Ahnung des Wahren so stark gewesen, dafi es der unglaublichsten 
Sprunge bedurfl hat 3 um ihr geradezu den Riicken zuzuwenden. 
(Briefe, 254) Im zweiten Postscriptum des Briefes, nachdem [ich] mit 
meiner Arbeit »Zur Kritik der Gewalu [. . .J nun fertig [bin] und 
hoffe daft Lederer sie in den weijlen Slattern bringen wird [was nicht 
geschah], gibt Benjamin von ihr ein knappes Resumed Es gibt was 
Gewalt angeht, noch Fragen die nicht in ihr beruhrt sind, aber ich 
hoffe doch, dafi sie Wesentliches sagt, (Briefe, 254 f.) Mit einer mog- 



Anmerkungen zu Seite 179—203 945 

lichen Ablehnung des Aufsatzes hat Benjamin immerhin schon ge- 
rechnet: In jedem Falle, heifit es im zweiten Teil des Brief es, auch 
wenn er nicht erscheint, werden Sie [scil. Scholem] ihn zu lesen be- 
kommen. (Briefe, 254) Und zwar werde ich [Blocb] bitten, [meine 
»Kritik der Gewalu, die er in Handen hat, und iiber die ich von 
ihm nod) nichts gehort habe], Ihnen zu senden (Briefe, 261); dies 
schrieb Benjamin Ende Marz 1921. Tatsachlich ist der Aufsatz in den 
»Weifien Blattern« nicht erschienen. Doch vierzehn Tage spater be- 
reits vermeldet ein Brief an Scholem als fernere Attraktionen in Berlin: 
eine kleine Klee-Ausstellung am Kurfurstendamm und »2ur Kritik 
der Gewalu in den Korrekturbogen ( Briefe, 262). Statt in den »Wei- 
fien Blattern«, »fiir die [der Aufsatz] geschrieben war« und die »ihn 
nicht haben [wollten]«, erschien er »in einer soziologischen Zeitschrift, 
unter deren Beitragen der von Benjamin sehr fremd wirkte.« (Scholem, 
Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 119) Es 
war das »Archiv fiir Sozialwissenschaft und Sozialpolitik«, das die 
Arbeit in seinem August-Heft 1921 abdruckte. [EmilJ Lederer hatte 
den Aufsatz fiir die »Weifien Blatter* fiir zu lang und zu schwierig 
erachtet, ihn aber fiir das »Archiv fiir Sozialwissenschaft* das er ja 
herausgibt, angenommen. So Benjamin selber in einem schon Mitte 
Februar 1921 geschriebenen Brief (s. Briefe, 258). 

UBERLIEFERUNG 

J Arohiv fiir Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1920/21), 

809-832 (Heft 3, August '21). 
lesarten 1 8 1,9 Gerechtigkeit] konjiziert fiir Gerechtigkeit, - 184,22 
Recht,] konj. fiir Recht - 185,4 ist i] konj. fiir ist - 190,29 wenn sie 
nicht] konj. fiir wenn nicht — 192,18 zeigt,] konj. fiir zeigt - 196,4 
Daseinslagen,] konj. fiir Daseinslagen - 197,9 vie/ mehr] konj. fiir 
vielmehr - 197,17 Kinder bis vordem] lies Kinder, nur verscbulde- 
ter als vordem, - 198,25 satirisch] konj. fiir satyrisch (beabsichtigter 
Archaismus?) 

nachweise 180,15 feststellt] s. Baruch de Spinoza, Theologisch-poli- 
tischer Traktat. Ubertragen und eingeleitet nebst Anmerkungen und 
Registern von Carl Gebhardt, Leipzig 1908, 273-291 (16. Kap. »Uber 
die Grundlagen des Staates, iiber das natiirliche und das biirgerliche 
Recht des einzelnen und iiber das Recht der hochsten Gewalten«) - 
186,1 spricht] s. Kant's gesammelte Schriften, hg. von der Konig- 
lich Preufiischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abt.: Werke, Bd. 8, 
Berlin 1923, 341-386 (»2um ewigen Frieden«) - 187,12 gefallt*] 
Goethes Samtliche Werke, Jubilaumsausgabe [...]. In Verbindung mit 
Konrad Burdach [u. a.] hg. von Eduard von der Hellen, Bd. 12, Stutt- 
gart, Berlin o. J., 130 (»Torquato Tasso«, v. 994) - 187,22 brauchest] 



94*> Anmerkungen zu Seite 179—204 

s. Kant's gesammelte Schriften, a. a. O., Werke, Bd. 4, Berlin 191 1, 
429 (»Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, 2. Abschn.) - 191,39 
p. 8.] bei Unger: Das Kompromifi ist das »wenn audi nodi so sehr 
alle offene Gewalt verschmahende, dennodi in der Mentalitat der Ge- 
walt liegende Produkt, weil die zum Kompromifi fuhrende Strebung 
nidit von sich aus, sondern von aufien, eben von der Gegenstre- 
bung, motiviert wird, weil aus jedem Kompromifi, wie freiwillig audi 
immer aufgenommen, der Zwangscharakter nicht weggedacht werden 
kann. >Besser ware es anders<, ist das Grundempfinden jeden Kom- 
promisses.« - 194,39 P- 200 *] bei Sorel: »[, . .] la profession de pen- 
ser pour le proletariat.* - 197,7 Beispiel] s. Ilias 24 (v. 605-617); 
Ovid, Metam. 6 (v. 146-312) - 197,16 f. Prometheus] s. Hesiod, 
Theog. (v. 507-616), Erga (v. 47-105) - 198,27 ndchtigen] s. Ana- 
tole France, Le lys rouge, Paris 1894 (VII); Die rote Lilie. Roman, 
deutsch von F. Grafin zu Reventlow, Munchen 1919, 112: »>Den 
Armen liegt es ob, die Reidien in ihrer Macht und ihrem Mufiiggang 
zu erhalten. Dafur diirfen sie arbeiten unter der majestatischen Gleich- 
heit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brudken zu 
sdilafen, auf den Strafien zu betteln und Brot zu stehlen.<« - 
199,32 Korah] s. 4 Mose 16. - 200,29 toten*] 2 Mose 20. 13. - 
200,30 sei«~\ 5 Mose 5. 17. - 201,39 P* 2 5-~\ ^ e beiden Punkte vor 
»Dasein an sich« (201,15) stehen im Original. 



203 f. Theologisch-politisches Fragment 

So unbestritten die Bedeutung der Aufzeidinung - ihr Schliisselcha- 
rakter fiir Benjamins Denken -, so divergent die Annahmen uber 
ihre Entstehungszeit. Kein Selbstzeugnis gibt einen Anhalt. Adorno 
war iiberzeugt, ein »alles einsetzende[s] Fragment der Spatzeit« vor 
sich zu haben (Adorno, Ober Walter Benjamin, a. a. O., 29). Zweifel 
daran meldete zuerst Rolf Tiedemann an, der als Entstehungszeit des 
Textes die Zeit um 1920 vermutete. Adorno bestand jedoch - in Ge- 
sprachen mit Tiedemann - auf der spaten Datierung: Benjamin habe 
ihm und seiner Frau um die Jahreswende 1937/1938, als sie in San 
Remo zum letzten Mai mit Benjamin zusammen waren, das Stuck als 
>Neuestes vom Neuen< vorgelesen; der Titel »Theologisch-politisches 
Fragment« - so Adorno - stamme im iibrigen von ihm. Scholem 
dagegen datierte den Text gleichfalls friih: »Charakteristisch ist fiir 
diese Zeit«, namlich die Jahre 1 920/1 921, eine »Periode besonders 
starker Annaherung« Benjamins an die »Welt des Judentums«, »das 
kurze Snick, das Adorno unter dem nicht von Benjamin stammenden 



Anmerkungen zu Seite 203 f. 947 

Titel Theologiscb-politisches Fragment veroffentlicht [s. Walter Ben- 
jamin, Schriften, Frankfurt a. M. 1955, Bd. 1, 511 f.] und irriger- 
weise dem Jahre 1938 zugeteilt hat. Alles an diesen zwei Seiten ent- 
spridit genau seinen Gedankengangen und seiner spezifischen Termi- 
nologie um 1 920/2 1.« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschidite 
einer Freundschaft, a. a. O., 117) Dazu wiirde stimmen, daft Benja- 
min im Herbst 19 19 intensiv mit Blochs 191 8 erschienenem »Geist der 
Utopie« sidi beschaftigte (s. a. a. O., 102, sowie Briefe, 217), einem 
Buch, an dem das Fragment als gr6/lte[sj Verdienst hervorhebt, die 
politisdoe Bedeutung der Theokratie mit aller Intensitdt geleugnet zu 
haben (203). Wegen dieser Nahe zum Blochschen Buch das Fragment 
als die »Pbantasie uber eineStelle aus demGeist derUtopie* zu identi- 
fizieren (Briefe, 249), von der Benjamin Ende Dezember 1920 spricht, 
dtirfte jedoch aus mehreren Griinden abwegig sein; vor allem aus dem, 
daft das - uberlieferte - Manuskript des Fragments keinen Titel, 
also audi nicht den einer »Phantasie [. . ,]«, tragt und von keiner 
bestimmten Stelle des Budis ausgeht. (Bei der »Phanta$ie« wird es, 
wie bei der Rezension iiber den »Geist der Utopie«, um ein ver- 
schollenes Stuck sich handeln.) 

Die Oberlieferungslage ist wiinsdienswert gut, allerdings durch die 
Datierungsfrage belastet. Im Nachlafi fanden sich 1. ein - titelloses - 
Manuskript der Aufzeichnung, 2. ein Typoskript mit dem Titel 
Theologiscb-politisches Fragment und zwei Tintenkorrekturen, von 
denen nicht auszuschlieften ist, dafi sie von Benjamins Hand sind, 
3. ein Durchschlag dieses Typoskripts mit den namlichen beiden 
Tintenkorrekturen, 4. vier Durchschlage eines unbekannten Typo- 
skripts, offenbar - nachlassige, unkorrigierte - spatere Abschriften 
nach dem Typoskript unter (2). Als Druckvorlagen schieden die 
Typoskriptdurchschlage unter (4) aus. Lange dagegen schwankten 
die Herausgeber zwischen dem Manuskript und dem Typoskript unter 
(2), bzw. dessen Durchschlag unter (3): mit dem Manuskript - dem 
gewissesten Zeugen - nahmen sie die Ungewifiheit des Titels (als 
eines Benjaminschen, der fehlt) in Kauf, mit dem Typoskript - bei 
immerhin moglicher Autorisierung des Titels durch Benjamin - die 
Ungewifiheit zweier Benjaminscher Korrekturen. Eben in den letzte- 
ren Fall spielt die kontroverse Datierungsfrage hinein: ware mit 
Sicherheit auszuschliefien, dafi in dem Typoskript und in seinem 
Durchschlag die Tintenkorrekturen von Benjamin sind, so ware end- 
giiltig audi auszuschliefien, daft Benjamin selbst den Adornoschen Ti- 
tel Theologiscb-politisches Fragment autorisiert hatte. Denkbar ware 
etwa, dafi Benjamin wahrend seines Treffens mit Theodor und Gre- 
tel Adorno in San Remo den Text aus dem Manuskript vorlas; dafi 
Adorno bei dieser Gelegenheit den Titelvorschlag machte und dafi 



948 Anmerkungen zu Seite 203 f. 

Benjamin dann, unter Beriicksichtigung des Titels - diesen also auto- 
risierend -, Gretel Adorno den Text entweder diktierte oder sie die 
Absdirift aus dem Manuskript machen liefi. Es mag weiterhin so sich 
verhalten haben, dafi Benjamin das Stiick wegen dessen essentieller, 
in seinem Denken uniiberholter Aktualitat - und nicht wegen der 
chronologischen - Adorno vortrug, Adorno dabei aber an die chrono- 
logische dachte und in der Riickerinnerung dann das Stuck fur das 
>Neueste vom Neuen< hielt. Dafi Benjamin einmal Geschriebenes nicht 
einfach vergafi oder auf sich beruhen liefi, sondern wieder aufnahm 
und die spatere Stellung des Gedankens daran mafi, dafiir gibt es 
viele Beispiele, und darunter nicht wenige der wortlichen Ubernahme 
ganzer Passagen aus friihen in spatere Arbeiten. Sollte die Arbeit an 
den Komplexen des Passagenwerks, etwa den geschichtsphilosophi- 
schen, aus denen zwei Jahre spater die Thesen Ober den Begriff der 
Geschichte hervorgingen, nicht den Anlafi gebildet haben, das »Frag- 
ment« wieder vorzunehmen, um die Messianitatsthese zu iiberpriifen, 
sie im Lichte der Oberlegungen von 1938 fur uniiberholt zu befinden 
und ihr jetzt die Gestalt eines betitelten Typoskripts zu geben? - Die 
auftere Beschaffenheit des Manuskripts lafit einen zwingenden Riick- 
schlufi auf die Entstehungszeit nicht zu. Der ungefahr ab 19 19 durch- 
weg einheitliche Charakter von Benjamins Handschrift gibt keinen An- 
halt. Das fur die Niederschrift gewahlte Papier ist ein aus einem No- 
tizblock herausgetrenntes Blatt: solche Blocks bevorzugte Benjamin 
zwischen 1916 und der Mitte der zwanziger Jahre, gelegentlich be- 
nutzte er sie noch in den spaten zwanziger Jahren ; zumindest in einem 
Fall jedoch - also nur ausnahmsweise - auch 1935: bei der friihesten 
Niederschrift der Reproduktionsarbeit (s. Bd. 1, 1037). Allenfalls 
konnten leise Varianten des Typoskripts gegeniiber dem Manuskript 
- solche der Interpunktion und der Kontraktion bei Adjektivendun- 
gen - auf eine friihe Entstehung der Aufzeichnung deuten: Setzen 
oder Weglassen von Kommata entgegen der Gewohnheit oder 
Schreibweisen wie mindern statt minderen charakterisieren die Nie- 
derschriften aus friiherer Zeit, etwa die bis 1922 entstandene erste der 
Wahlverwandtschaftenarbeit (s. Bd. 1, 811), weitaus mehr als spatere. 
Unter anderem wegen soldier formellen Indizien, vorab freilich 
wegen der inhaltlichen, von Tiedemann und Scholem geltend gemach- 
ten, haben die Herausgeber der Aufzeichnung die chronologische 
Stelle hinter der um 1920/21 entstandenen Kritik der Gewalt gege- 
ben, ohne freilich ausschliefien zu konnen, dafi sie, angesichts der nur 
ungefahren Gleichzeitigkeit der Entstehung, audi davor nicht falsch 
stunde. Dafi sie schliefilich dem Manuskript vor dem Typoskript als 
der Druckvorlage den Vorzug gaben und dessen Titellosigkeit in 
Kauf nahmen, ergab sich aus der geringeren Authentizitat des betitel- 



Anmerkungen zu Seite 203 f . 949 

ten Typoskriptzeugen, von der schwachen der nachlassig kopierten 
und unkorrigiert gebliebenen iibrigen Typoskripte nidit zu reden. 
Selbstverstandlich haben sie die Abweichungen der - korrigierten wie 
der unkorrigierten - Typoskripte als Lesarten verzeichnet. 

UBERLIEFERUNG 

M »Erst der Messias . . .«-, Manuskriptblatt ohne Titel, zweiseitig be- 
schrieben (Tinte), mitSofortkorrekturen;Benjamin-Archiv, Ms 184. 

T 1 Tbeologiscb-politisches Fragment. [VJon Walter Benjamin, Ty- 
poskriptblatt, halbfestes Papier, weitzeihg, erst am unteren 
Rand engzeilig beschrieben; 2 (mutmafilich Benjaminsche) Korrek- 
turen in Tinte, 1 (mutmafilich Adornosdier) Konjekturvorschlag 
in heller Tinte; Benjamin-Archiv, Ts 221. 

T 2 Tbeologiscb-politisches Fragment. [VJon Walter Benjamin, Durch- 
schlag von T 1 , gleiche Papierart, jedoch - eigentiimlicherweise - 
keine Zeilenengfuhrung am unteren Rand bei gleichzeitig vollig 
identischem Zeilenstand; 2 (mutmafilich Benjaminsche) Korrek- 
turen in Tinte, an den gleichen Stellen wie in T 1 ; Benjamin- 
Ardiiv, Ts 220. 

T 3 Tbeologiscb-politisches Fragment. [VJon Walter Benjamin, 2- 
seitiges Typoskript, Durchschlag eines nicht erhaltenen Originals, 
offenkundige, jedoch nachlassige Abschrift von T 1 (bzw. T 2 ), 
Durchschlagspapier; mutmafilich in Amerika angefertigt (Umlaut- 
zeichen durchweg in der Form ae, oe, ue); unkorrigiert bis auf 
eine Bleistiftkorrektur von unbekannter Hand; Benjamin-Archiv, 
Ts 222 f . 

T 4 Typoskript, Durchschlag vom selben Original, unkorrigiert; Ben- 
jamin-Archiv, Ts 224 f. 

T 5 Typoskript, Durchschlag vom selben Original, unkorrigiert; Ben- 
jamin-Archiv, Ts 226 f. 

T 6 Typoskript, Durchschlag vom selben Original, unkorrigiert; Ben- 
jamin-Archiv, Ts 228 f. 

Druckvorlage: M 

lesarten 203,15 Titel] fehlt in M; ubernommen aus T*-T 6 - 

203,32 Bilde] M, T 1 , T 2 ; Bild T 3 -T* - 203,34 bezeicbnet,] T*-T 6 ; be- 

zeichnet M - 203,35 Gliickssucheri] M, T 1 , T 2 ; Gluecksucben T 3 

-T 6 - 204,6 leisesten] M, T 1 , T 2 ; leisen T 3 -T 6 - 204,10 innern] inne- 

ren T*-T 6 - 204,15 raumlichen,] raumlichen T 1 , T 2 ; raeumlichen T 3 

-T 6 - 204,18 Vergdngnis.J kein Absatz in T J -T 6 

nachweis 203,27 Utopie«] Ernst Bloch, Geist der Utopie, Mun- 

chen, Leipzig 191 8 [Neufassung 1923] 



95° Anmerkungen zu Seite 204—213 

204-210 Lehre vom Ahnlichen 
210-213 Ober das mimetische Vermogen 

Beide Arbeiten sind die stark voneinander difTerierenden Fassungen 
einer - im thematischen Sinne - einzigen; d. h. sie verhalten sidi 
nicht - oder jedenfalls nicht nur - wie eine friihere zu einer emen- 
dierten spateren Fassung zueinander. Die spatere ist eine Umarbei- 
tung der friiheren nicht blofi unter stilistischen sondern unter gewissen 
inhaltlichen Aspekten: solchen des Zuriicktretenlassens okkulter und 
sprachmystischer Motive, wie sie - gewissermafien ungeschiitzt - den 
Tenor der ersten Fassung bestimmen, gegeniiber solchen einer eher 
mimetisch-naturalistischen Sprachtheorie in der zweiten. Ob Riick- 
sichtnahme auf die Adressaten der Arbeit »vor allem« den Grund fiir 
die Umarbeitung bildet - wie Scholem vermutet, der in einer Notiz 
an die Herausgeber davon spricht, Benjamin habe die Arbeit »in et- 
was verundeutlichen wollen, als er das Expose an seine Freunde 
schickte« (Bemerkung, S. 1 ; Manuskript im Benjamin-Archiv) -, mag 
dahingestellt bleiben. Weit mehr scheint sein spateres Urteil den 
Sachverhalt zu treffen, wenn er vom »Janusgesicht« der theoretischen 
Anstrengungen Benjamins spricht, also gerade audi seiner sprachtheo- 
retischen, nach keiner Seite die Komplexion der Sache reduktioni- 
stisch beschrankenden: »Er war offenbar zwischen seiner Sympathie 
fiir mystische Sprachtheorie und der ebenso stark empfundenen Not- 
wendigkeit, sie im Zusammenhang einer marxistischen Weltbetrach- 
tung zu bekampfen, hin und her gerissen.« (Scholem, Walter Benja- 
min - die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 2^0) Nur dafi 
es nicht Sympathie und Antipathie schlechtweg sondern sachliche 
Zwange waren, die ihn zu soldier Janusgesiditigkeit verhielten. Was 
ich /. . ./ zur Zeit [der Abfassung des Barockbuchs] nicht wu$te y das 
ist mir bald nachher klarer und klarer geworden: dafl von meinem 
sehr besonderen spracbphilosophischen Standort aus es zur Betrach- 
tungsweise des dialektiscben Materialismus eine - wenn auch noch so 
gespannte und problematiscbe - Vermittlung gibt. (Brief e, 523) — Die 
Entstehungszeit beider Fassungen ist einigermafien gesichert. Die 
Lehre vom Ahnlichen ist um die Zeit des Beginns der Hklerdiktatur 
in Berlin niedergeschrieben, eher wohl nach dem Januar 1933. Ben- 
jamin schrieb Ende Februar von dort an Scholem: Soweit mich nicht 
die faszinierende Gedankenwelt Lichtenbergs fesselt, befdngt mich das 
Problem, das mir die nachsten Monate stellen s von denen ich weder 
weifiy wie i<h sie in noch auflerhalb Deutschlands iiberstehen kann. Es 
gibt Qrte, an denen ich ein Minimum verdienen und solche, an denen 
ich von einem Minimum leben kann, aber nicht einen einzigen, auf den 
diese beiden Bedingungen zusammen zutreffen. Wenn ich Dir nun noch 



Anmerkungen zu Seite 204—213 95 1 

mitteile, daft unter so bewandten Umstdnden dennoch eine neue - 
vier kleine Handschriftenseken umfassende - Sprachtheorie entstan- 
den ist, so wirst Du mir eine Ehrenbezeugung nicht versagen. Druk- 
ken lasse ich besagte Blatter nicht, }a ob sie aucb nur einer Maschinen- 
ubertragung f'dhig sind, erscheint mir noch nicht ganz sicher. Bemer- 
ken will ich nur, daft sie bei Studien zum ersten Stucke der ^Berliner 
KindheiU [Ein Weihnachtsengel} Tiergarten} s. Bd. 4, 96$, 971/ 
fixiert wurde. (Briefe, 563) Um Mitte Marz hatte Benjamin 
Deutschland verlassen - Es war [. . ./ die reine Vernunft, die bier alle 
Eile gebot - und eine Woche spater aus Paris, im Besitz der Freiheit, 
anScholem geschrieben; der Brief endet mit der Frage: Schrieb ich Dir, 
daft ich in Berlin eine ganz kleine und vielleicht sonderbare Arbeit 
uber die Sprache verfafit babe - ganz danach angetan, Dein Archiv 
zu zierenf [AbsatzJ Antworte geschwindest [. . ./ (Briefe, $66, 
$6y). Auf Ibiza, wo er den Sommer verbrachte, schien er sich hinsicht- 
lidi einer Maschinenubertragung sicher geworden zu sein; gleich am 
19. 4. schrieb er von dort an Scholem: Die Spracharbeit werde ich Dir 
abschreiben. So kurz sie aucb ausgef alien ist, so werden mannichfache 
Bedenken und Gedanken unterm Schreiben meiner Hand Zugel und 
Zaum verspuren und Dich nicht vor manchen Wochen in Besitz der 
zwei, drei Blattchen kommen lassen. (Briefe, 572 f.) Demnach ging 
es ihm aber gar nicht um einfaches Abschreiben, sondern um eine auf 
Wochen berechnete Umarbeitung. Man wird also diesen Zeitpunkt als 
den Beginn - zumindest den geplanten Beginn - der Arbeit an 
Uber das mimetische Vermogen anzusetzen haben - kaum als den, zu 
dem diese zweite Fassung (etwa in einem ersten Entwurf) schon nie- 
dergeschrieben war, was aus der Angabe zwei, drei Blattchen vermu- 
tet werden konnte; diese scheinen vielmehr noch die vier kleine [n ] 
Handschriftenseiten zu bedeuten, von denen im Berliner Brief die Rede 
ist und die in der Tat das Manuskript ausmachen, das den Titel Lehre 
vom Ahnlichen tragt (s. »Uberlieferung«). Etwa vier Wochen spater 
heifit es: Nun ein Wort, das Falten in Deine Stirn graben wird. Aber 
gesagt mu$ es doch sein. Bei ndherem Bedenken des Unternehmens, 
Dir meine neuen Notizen uber die Sprache zu schicken, erkannte ich, 
daft dieses, ohnehin gewagte Vorhaben, fur mich ausfiibrbar allein 
werden wiirde, wenn ich vorher einen Vergleich dieser Notizen mit 
jenen friihen »uber Sprache uberhaupt und uber die Sprache des Men- 
schen« [s. 140-i^jJ vornehmen konnte. Nun sind mir diese unter 
meinen berliner Papieren naturlicb jetzt nicht erreicbbar. Auf der 
andern Seite weift ich, daft Du eine Abschrifl von ihnen besitzest. Ich 
bitte Dich darum dringend, diese, sobald als moglich, eingeschrieben 
an meine hiesige Adresse zu senden. Verliere keine Zeit; umso schnel- 
ler erhdltst Du ddnn meine neuen Notizen. (Briefe, 575) Da Scholem 



9J2 Anmerkungen zu Seite 204—213 

auf sidi warten zu lassen schien, erging Mitte Juni die Bitte nodi ein- 
mal: [Ich greifej auf mein Utiles Schreiben zurtick, um Dir zu sagen, 
wie sehr bestimmt ich hoffe, recht bald in den Besitz Deities Exem- 
plars der Spracbarbeit zu kommen, um nach deren Durchsicht meinen 
neuen Versuch abschreiben und an Dicb abgehen lassen zu konnen. 
(Brief e, 577) Nicht viel spater mufi das Exemplar eingetrorTen sein, 
wie aus einem undatierten Antwortbrief Benjamins auf ein Schreiben 
Gretel Adornos vom 17. 6. hervorgeht: Die ndchsten Tage sind [. . .] 
einer vergleichenden Redaktion von zwei Arbeiten vorbebalten, die 
zwanzig Jabre auseinanderliegen [zur Zeitdifferenz s. 933]- I do habe 
mir ein Exemplar meiner ersten Spracbarbeit »Uber Spracbe uber- 
haupt und uber die Spracbe des Menscben* verscbafft und will sehen, 
wie diese zu den Vberlegungen sick verhalt> die ich Anfang dieses 
Jabres niedergeschrieben babe [scil. die Lehre vom Abnlichen]. Diese 
[scil. in der neuen, Uber das mimetiscbe Vermogen betitelten Ge- 
stalt] werden mit grojler Spannung in Jerusalem erwartet, und mir 
ist daher etwas beklommen zu Mute, (ohne Datum [etwa Ende Juni/ 
Anfang Juli 1933], an Gretel Adorno) Jetzt aber scheint Benjamin 
saumig geworden zu sein, denn Ende Juli suchte er um Entschuldi- 
gung fiir das anhaltende Ausbleiben der Dir zustehenden Notizen 
uber die Spracbe nach. Etwas namlich ist nicht in Ordnung [. . .] 
Ich bin [. . ./ seit ungef'dhr vierzehn Tagen krank. Und da der Aus- 
bruch des (an sich nicht bedeutsamen) Schadens [einer Malaria, wie 
sich bei der Riickkehr nach Paris im Herbst herausstellte; s. Brief e, 
593] mit dem der Julihitze y vielleicht nicht zufallig zusammen fiel, 
so hatte ich alle Hande voll zu tun y um mich unter so schwierigen Um~ 
standen halbwegs auf dem Posten zu halten [. . .] Du [wirst] nun 
[. . .] auf die Sprachnotizen noch eine Weile [. . ./ warten mussen 
[. . J (Briefe, 588-590). In den Wochen bis September hatte Benjamin 
dann, unter Krankheitsbedingungen, die Arbeit an Uber das mime- 
tiscbe Vermogen bewaltigt. Dies geht aus dem Brief hervor, den er 
Scholem nach seiner Ruckkunft Mitte Oktober aus Paris schrieb. Mit 
einigem Unbehagen, heifit es dort, erwarte ich noch immer die Bestati- 
gung des Empfangs der Notizen Uber die Sprache y die ich Dir von 
Ibiza aus in Schreibmascbinen-Ausfertigung gesandt habe. Du mufit 
sie ja wohl kurz nach dem i$ ten September, dem Datum Deines letz- 
ten Briefes, erhalten haben. (Briefe, 593 f.) Das Schweigen Scholems 
wird noch uber vier Jahre wahren. Wie grofi die Verwunderung Ben- 
jamins uber das Ausbleiben einer Reaktion war, bezeugt ein zwei 
Jahre spater an Gretel Adorno geschriebener unveroffentlichter Brief: 
[Ich] will nicht vergessen s Dir recht herzlich fur die Sendung des 
psychoanalytischen Almanacks [Almanach der Psychoanalyse, Wien 
1934] zu danken [. . .] Ich hoffe sehr, Du bast den Beitrag von Freud 



Anmerkungen zu Seite 204—213 953 

uber Telepathie und Psychoanalyse [Psychoanalyse und Telepathie, 
a. a. O.] gelesen. Er ist wunderbar, sei es auch nur, weil er einem 
wieder den nicht genug zu verehrenden Altersstil des Verfassers vox 
Augen fubrt, eines der schonsten Exempel wahrer Allgemeinverstand- 
licbkeit. Aber ich denke an etwas Besonderes. Im Verlauf seiner Vber- 
legungen namlich konstruiert Freud - im Vorbeigehen, wie er oft die 
grofiten Gedanken aufnimmt - einen Zusammenhang zwischen Tele- 
pathie und Sprache, indent er die erstere als Mittel der Verstandigung 

- er weist erlduternd auf den Insektenstaat hin - phylogenetisch zur 
Vorlauferin der zweiten macht [s. a. a. O., 32 f.]. Hier finde ich Ge- 
danken wieder, die entscheidend in einem kleinen Entwurf aus Ibiza 

- »t)ber das mimetische Vermogen* — behandelt sind. Ich kann sie 
Dir naher nicht andeuten, und halte es fur moglich, dafi ich Dir bei 
unserer letzten Begegnung nichts von diesem wichtigen Fragment 
erzahlt habe - ohne freilich dessen sicher zu sein. Ich hatte es an Scho- 
lem geschickty der ein altes, angestammtes Interesse an meinen sprach- 
theoretischen Vberlegungen hat und von dem es, zu meiner Verwun- 
derungy ohne das geringste Verstandnis quittiert worden ist. Da war 
die Freudstelle in Deinem Almanach ein wirkliches Geschenk fur mich. 
Dank! (9. 10. 1935, an Gretel Adorno) Zwei Wodien spater, anlafl- 
lich des Empfang[s] des Soharkapitels [scil. der Sdiolemschen Ober- 
setzung von »Die Geheimnisse der Schopfung, ein Kapitel aus dem 
Sohar«, Berlin 1935, die Benjamin als eine Leistung[,J vorbildlich 
iiber die Grenzen der Materie hinaus, rtihmt] schrieb er aus Paris: 
Es wird Dich [scil. Scholem] hoffentlich nicht uberraschen von mir zu 
horen, dafl diese Materie mir noch immer sehr nahe stebt, wenn Du 
auch wohl das kleine Programm, in dem dieser Umstand in Ibiza sei- 
nen Niederschlag fand - »Uber das mimetische Vermogen* - nicht 
in diesem Sinne verstanden hast. Wie dem auch sei, der dort ent- 
wickelte Begriff der unsinnlichen Ahnlichkeit findet vielfache Illustra- 
tion in der Art wie der Soharautor die Lautbildungen, und mehr wohl 
noch die Schriftzeichen als Depositen von Weltzusammenhdngen auf- 
fafit. Freilich scheint er an eine Entsprechung zu denken, die auf 
keinerlei mimetischen Ursprung zuruckfiihrt. Das diirfle mit seiner 
Bindung an die Emanationslehre zusammenhdngen, zu der in der Tat 
meine Mimesistheorie den starksten Antagonismus darstellt. (Briefe, 
693 f.) Mifiverstandnissen scheint audi eine andere Spracharbeit Ben- 
jamins, das Sammelreferat Probleme der Sprachsoziologie (s. Bd. 3, 
452-480), ausgesetzt gewesen zu sein; sie gaben ihm Anlafi, auf den 
Zusammenhang dieser Arbeit mit seiner eigene[n] Sprachtheorie, 
also deren letzter Manifestation in Uber das mimetische Vermogen, 
hinzuweisen. So in einem Brief an Werner Kraft vom Anfang des 
Jahres 1936: Zu Ihrer Bemerkung uber mein sprachtheoretisches Refe- 



954 Anmerkungen zu Seite 204—213 

rat, dem seine Grenzen dutch die Form vorgeschrieben waren: es 
prajudiziert nichts iiber eine »Metaphysik« der Sprache, Und es ist 
von mir, wenn auch keineswegs manifest, so eingerichtet, dafi es genau 
an die Stelle fUhrt, wo meine eigene Spracbtbeorie, die icb auf Ibiza 
vor mebreren Jahren in einer ganz kurzen programmatiscben Notiz 
niedergelegt babe, einsetzt. Icb war sehr uberrascht, bedeutende Kor- 
relationen zwiscben dieser Theorie und Freuds Essay »Psychoanalyse 
und Telepathies zu finden [. . ./ (Briefe, 705). Das erste Wiedersehen 
nach langen Jahren - im Februar 1938 in Paris - bot endlich audi 
die Gelegenheit, mit Scholem iiber die Arbeit sich zu verstandigen. 
Dieser schreibt in seinem Bericht iiber das Pariser TrefTen: »Wir 
hatten intensive Unterhaltungen iiber seine Arbeit und prinzipielle 
Einstellung, dabei natiirlich auch iiber Gegenst'ande, die in unseren 
Briefen nicht aufgenommen worden waren. So wurde mir seine Notiz 
zur Sprachphilosophie [OberJ das mimetische Vermogen, an der ihm 
sehr viel lag und gelegentlich derer er mehrfadi iiber das Ausbleiben 
meiner Reaktion sich beschwert hatte, erst in diesem Gesprach deut- 
lich und bedeutend.« (Scholem, a. a. O., 255 f.) Wahrend jener Unter- 
haltungen »kam mir die Polarisierung in seiner Sprachauffassung zum 
vollen Bewulksein. Denn« die »Liquidation der Magie der Sprache, 
die einer materialistischen Sprachansicht konform war, stand ja in 
unverkennbarer Spannung zu all seinen friiheren, unter theologisch- 
mystischer Inspiration stehenden Sprachbetrachtungen, die er in ande- 
ren Aufzeichnungen, die er mir damals vorlas, wie audi in der Notiz 
iiber das mimetische Vermogen, nodi immer beibehielt beziehungs- 
weise fortentwickelt hatte. Dafi ich niemals einen atheistischen Satz 
aus seinem Munde gehort habe, war fiir midi [. . .] gewifi kein Grund 
zur Verwunderung, wohl aber iiberraschte es mich, dafi er noch immer 
vom >Wort Gottes< im Unterschied vom menschlidien Wort ganz un- 
metaphorisdi als Grund aller Sprachtheorie sprechen konnte. Die 
Unterscheidung zwischen Wort und Name, die er zwanzig Jahre 
friiher in seiner Arbeit iiber die Sprache von 1916 [s. 140-157] zu- 
grunde gelegt und in der Vorrede zum Trauerspielbuch [s. Bd. 1, 
406-409] weiter entwickelt hatte, war ihm noch immer lebendig, und 
in seiner Notiz iiber das mimetische Vermogen fehlte noch immer 
auch die leiseste Hindeutung auf eine materialistische Ansicht von der 
Sprache. Im Gegenteil, Materie kam hier nur in rein magischem Zu- 
sammenhang vor.« Es folgt der oben bereits zitierte Passus iiber die 
Gegensatze, die Benjamin hier austrug und die den Herausgebern 
freilidi gerade auch an den beiden Fassungen der Mimesistheorie sich 
zu manifestieren scheinen. »Ich sprach ihn«, fahrt Scholem fort, auf 
diese Gegensatze »an, und er gab [den] Widerspruch ganz unumwun- 
den zu. Es handle sich eben um eine Aufgabe, die er noch nicht be- 



Anmerkungen zu Seite 204—213 955 

waltigt habe, von der er sich aber grofie Dinge versprach.« (Scholem, 
a. a. O., 259 f.) - Zur Vorgeschichte der Lehre vom Ahnlichen fiihrt 
Scholem an: »Besonders zwischen Mitte Juni und Mitte August [19 18, 
wahrend des Aufenthaltes Scholems in Bern] spradien wir oft iiber « 
die »Welt des Mythos und [. . .] Spekulationen iiber Kosmogonie und 
die Vorwelt des Menschen«. »Wir haben uns damals wohl besonders 
stark gegenseitig beeinflufit. Er las mir eine langere Aufzeichnung 
iiber Traum und Hellsicht vor, in der er audi versuchte, die Gesetze, 
die die Welt des vormythischen Gespenstischen beherrschten, zu for- 
mulieren. Er unterschied zwischen zwei historischen Weltaltern des 
Gespenstischen und des Damonischen, die dem Weltalter der Offen- 
barung - ich schlug vor, es eher das Messianische zu nennen - voran- 
gingen. Der eigentliche Inhalt des Mythos sei die ungeheure Revolu- 
tion, die, in der Polemik gegen das Gespenstische, dessen Zeitalter 
beendet habe. Schon damals beschaftigten ihn Gedanken iiber die 
Wahrnehmung als ein Lesen in den Konfigurationen der Flache, als 
die der urzeitliche Mensch die Welt um sich und besonders den Himmel 
aufnahm. Hier lag die Keimzelle zu den Betrachtungen, die er viele 
Jahre spater in seiner Aufzeichnung Lehre vom Ahnlichen angestellt 
hat. Die Entstehung der Sternbilder als Konfigurationen auf der 
Himmelsflache, behauptete er, sei der Beginn des Lesens, der Schrift, 
die mit der Ausbildung des mythischen Weltalters zusammenfalle. Die 
Sternbilder seien fur die mythische Welt das gewesen, was spater die 
Offenbarung der >HeiIigen Schrift< war.« (a.a.O., 79 f.) Ein Anlaft zur 
Niederschrift der Aufzeichnung mag dann die Lektiire eines Biichleins 
Ende Oktober 1932 gewesen sein, das er Scholem nachdriicklich empfahl 
und so charakterisiert: Es 1st eine kleine sprachphilosophische Studie> 
die — so bedenklich ihr volliger Mangel an theoretischer Fundierung 
1st - doch ungewohnlich viel Stoff zum Nachdenken gibt. Sie ist ver- 
verfajlt von dem bis dato recht unbetr'dcbtlicben Literaten Rudolf 
Leonhard und heifit: »Das Woru [s. »Nachweise«]. Es handelt 
sich da um eine t an Beispielen exemplifizierte, onomatopoetische Theo- 
rie des Wortes. (25. 10. 1932, an Gershom Scholem; zit. a. a. O., 239). 
- Die - posthume - Erstveroffentlichung der Lehre vom Ahn- 
lichen findet sich in: Zur Aktualitat Walter Benjamins. Aus Anlafi des 
80. Geburtstags hg. von Siegfried Unseld, Frankfurt a. M. 1972, 
17-21 (Faksimile) und 23-30; die von Uber das mimetische Vermogen 
in: Schriften, Frankfurt a. M. 1955, Bd. 1, 507-510. 

Zum thematischen Komplex beider Fassungen fanden sich im Nach- 
lafS fiinf langere oder kiirzere Aufzeichnungen, von denen drei 1935 
datierbar sind und die beiden anderen um 1933 niedergeschrieben sein 
diirften: 1. Der Augenblick der Geburt [. . ./, wohl die friiheste Auf- 



956 Anmerkungen zu Seite 204—213 

zeichnung; 2. Hinweis auf ValeYy und Anmerkung zu Heinz Werner, 
gleichfalls wohl um 1933; 3. Zum mimetischen Vermogen, von Scho- 
lem datiert 1935; 4. Zu Sprache und Mimesis, Freudexzerpt, datier- 
bar Oktober 1935; 5. Das Ornament [. . .], von Scholem datiert ca. 
1935. Diese Aufzeichnungen werden im folgenden abgedruckt: 

Der Augenblick der Geburt - der astrologisch entscheidende - ist 
aber ein Nu. Das lenkt den Blick auf eine andere Eigentiimlichkeit im 
Bereiche der Ahnlichkeit. Ihre Wahrnehmung ist in jedem Fall an ein 
Aufblitzen gebunden. Sie huscht vorbei, ist vielleicht wiederzugewin- 
nen, kaum aber so wie andere Wahrnehmungen start, fixiert in das 
Ged'dchtnis einzuschliefien. Sie bietet sich dem Auge ebenso fluchtig 
wie eine Sternkonstellation. Die Heimat ihres Geisterdaseins aber ist 
die Sprache, die im schnell verhallenden Laut ibrer Worte dieses 
schnellste und fliichtigste Geschopf bescbwort: die Ahnlichkeit. 
Nachahmen mag ein zauberischer Akt sein; zugleicb entzaubert aber 
der Nachahmende aucb die Natur, indem er sie der Sprache n'dher 
bringt. Sie der Sprache n'dher zu bringen ist eine wesentliche Funktion 
der Komik. Das Lachen ist ein Chaos der Artikulation. 
Die Wahrnehmung von Ahnlichkeiten also ist ein spates, abgeleitetes 
Verhalten. UrsprUnglicb ist gegeben ein Ergreifen von Ahnlichkeiten, 
das in einem Akt des Ahnlfchwerdens sich vollzieht. Die Ahnlichkei- 
ten zwischen zwei Objekten sind stets vermittelt dutch die Ahnlich- 
keit, welche der Mensch mit beiden in sich findet oder die er als mit 
beiden annimmt. Ganz gewifl schliejlt das nicht aus, dafl die Anwei- 
sungen zu solchem Verhalten objektiv vorhanden sind. Das objektive 
Vorhandensein von solchen Anweisungen definiert sogar den wahren 
Sinn von Ahnlichkeit. 

Die Astrologie ist eine spate Theorie, die zudem windschief zu jener 
fruhen Praxis steht, deren Daten sie willkiirlich und haufig irrig aus- 
legt. Es geht nicht um Gestirneinflusse oder Krdfte sondern um das 
archaische Vermogen des Menschen, dem Gestirnstand einer Stunde 
sich anzuahnlichen, Es ist die Stunde det Geburt; in ihr mag sich ein- 
mal der erste, unvetgleichlich weitttagende Akt einet Anpassung zuge- 
ttagen haben: die Anpassung an den gesamten Kosmos dutch die An- 
gleidoung an ihn. Das mimetische Vetmogen des Menschen hat sich 
immer meht auf die Sprache zuriickgezogen und sich immer subtiler 
ausgebildet. 

Entwicklungslinie der Sptache: die Scheidung zwischen der magischen 
und der profanen Funktion des Sprechens wird zu Gunsten der letzte- 
ten liquidiett. Das Heilige liegt nahet am Ptofanen als am Magischen. 
Richtung auf eine von alien magischen Elementen geteinigte Sprache: 
Scheerbart, Brecht. Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 916 



Anmerkungen zu Seite 204—213 957 

Beitrdge zur Lehre vom mimetischen Vermogen in Valerys »UAme 
et la Danse* [Paris 1923]. 

Der [Heinz] Wernerscben »Spracbphysiognomik« [Grundfragen der 
Sprachphysiognomik, Leipzig 1932] fehlen Angaben uber die Ver- 
suchspersonen. Aus welchem Milieu stammen sie? Gewifi eignen sich 
intellektuell Ungeschulte wenig fur diese Versuche, weil sie eine hohe 
Technik der Selbstbeobachtung verlangen. Andrerseits macht der Ge- 
genstand es schwer, auf sie zu verzichten. Gerade die Reaktion ein- 
facher Leute aus dem Volk wie auch der Kinder ware zu ermitteln ge- 
wesen. 

Dap die Eule der Minerva erst bei Eintritt der Dammerung ihren Flug 
beginnt, bestatigt sich auch an dem Wernerscben Bucb. Es fuhrt ndher 
als fruhere an die Quellen der lyriscben Dichtung im Spracbbereicbe 
heran } und das eben zu einer Zeit, da die lyrische Dicbtung selbst zu 
verstummen beginnt. 

Werner stellt das Phanomen in seinen Verzweigungen dar 3 ohne eine 
Erklarung zu unternehmen. Vor allem ist es, seiner Darstellung nacb, 
nicht unmoglicb, die gesamte Untersucbung als eine psycbologische zu 
verstehen. ]a, eine zweideutige Betonung der »$ub)ektivit'du , des 
»scbopferiscben Charakters« der Deutungen legt eine solcbe Interpre- 
tation sogar nahe. Demgegeniiber kommt die historiscbe Frage uber- 
haupt nicbt zu ihrem Recbt. Und docb h'dtte scbon die Bemerkung, 
daft die bier einscblagigen Erscheinungen in den primitiven Spracben 
besonders stark auftreten, in eine Erforschung der ursachlichen Zu- 
sammenbange fiihren mussen y die sich im physiognomischen Cbarakter 
der Sprache niedergescblagen haben. Auch sonst liegt ja die Verwandt- 
scbafi zwiscben dem Verhalten des Sprachpbysiognomen mit sehr 
arcbaischen Verbaltungs- oder Vorstellungsweisen auf der Hand. Das 
Kapitel uber die im sacblogiscben Sinne paradoxe Natur der Deutun- 
gen enthalt dafur viele Beispiele. 

Drudtvorlage : Benjamin-Ardnv, Ms 930 

Zum mimetischen Vermogen 
Das Ornament steht dem Tanz nahe. Es stellt einen Lehrgang zur 
Erzeugung von Ahnlicbkeit dar. (Man mufite [Wilhelm] Worringers 
»Abstraktion und Einfiihlung« [191 1] heranziehen.) Auf der andern 
Seite ist bei der Deutung des Tanzes seine dynamische Seite - die Ener- 
gieubertragung an Waffen y Gerdte, Geister - nicbt aus der Acbt zu 
lassen. Vielleicht steht sie in einem dialektiscben Verhaltnis zur mime- 
tischen Verhaltungsweise des Tdnzers. 

Ein under er Kanon der Ahnlicbkeit ist der Totem. Wahrscheinlicb 
hangt im iibrigen das Verbot bildnerischer Betatigung bei den Juden 
mit dem Totemismus ZUSammen. Druckvorlage : Benjamin-Ardiiv, Ms 927 



958 Anmerkungen zu Seite 204—213 

Zu Sprache und Mimesis 
»Gewohnt man sich erst an die Vorstellung der Telepathies so kann 
man mit ihr viel ausrichten, allerdings vorldufig nur in der Phantasie. 
Man weifl bekanntlido nicht, wie der Gesamtwille in den grofien In- 
sektenstaaten zustande kommt. Moglicherweise geschieht es auf dem 
Wege soldi direkter psychischer Obertragung. Man wird auf die Ver- 
mutung gefuhrt, dafl dies der ursprungliche, archaische Weg der 
Verstdndigung unter den Einzelwesen ist t der im Lauf der phylogene- 
tiscben Entwicklung durch die bessere Methode der Mitteilung mit 
Hilfe von Zeichen zurUckgedrdngt wird y die man mit den Sinnes- 
organen aufnimmt. Aber die dltere Methode konnte im Hintergrund 
erhalten bleiben und sich unter gewissen Bedingungen noch durchset- 
zen y z. B. auch in leidensohafllich erregten Massen. Das ist alles nodi 
unsidoer und voll von ungelosten Ratseln, aber es ist kein Grund zum 
Erschrecken t « Sigm. Freud: Zum Problem der Telepathie (Almanaoh 
der Psychoanalyse 1934 Wien p 32/33) 

Druckvorlage: Benjarain-Archiv, Ms 928 

Das Ornament ist eine Vorlage fiir das mimetische Vermogen. Die s e 
Abstraktion ist die hohe Schule der Einfuhlung. 

Bestehen Zusammenhange zwischen den Erfahrungen der Aura und 
denen der Astrologie [?J Gibt es irdische Lebewesen sowohl wie Sa- 
<hen, die aus den Sternen zuruckblicken? die eigentlich erst am Him- 
mel ihren Blick aufschlagen? Sind die Gestirne mit ihrem Blick aus 
der Feme das Urphanomen der Aura? 

Darf man annehmen y daft der Blick der erste Mentor des mimetischen 
Vermogens war? dafl die erste Andhnlichung sich dem Blick vollzieht? 
Darf man endlich den Kreis mit der Annahme schliefien, dafi Stern- 
konstellationen an der Entstehung des Ornaments Anteil hatten? dafi 
das Ornament Sternenblicke festhdlt? 

Es ergdbe sich in diesen Zusammenhdngen eine Polaritdt der Zentren 
des mimetischen Vermogens im Menschen. Es verlagert sich vom Auge 
auf die Lippen, dabei den Umweg uber den gesamten Leib nehmend. 
Dieser Prozejl wiirde die Vberwindung des Mythos einschlieflen. 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 931 



204-210 Lehre vom Ahnlichen 

uberlieferung 

M Niedersdirift auf drei Doppelblattern eines Notizheftes, die zwei 
ersten Blatter beidseitig, das dritte einseitig (zu drei Vierteln) be- 



Anmerkungen zu Seite 204—213 959 

schrieben, Tinte, mit Sofortkorrekturen ; Benjamin-Archiv, Ms 674, 

31-35- 
lesarten 205,15 f. vielen,] konjiziert fur vielen - 206,14-19 Das 
bis erkannt.)] in M in eckigen Klammern - 206,21- Einzelne,] konj. 
fiir Einzelne - 207,6 auf Astrologie] ein die hinter auf in M an- 
scheinend gestrichen - 207,24 Einsicktige] korr. fiir Einsichte - 
207,31 »Das Wort*] konj. fiir Das Wort - 207,36 bedeuten,] konj. 
nach T 1 (zweite Fassung; s. u.) fiir bedeuten M - 207,38 besitzen -] 
konj. nach T 1 (zweite Fassung; s. u.) fiir besitzen, M - 208,13 Ge- 
sprochnen] konj. fiir Gesprochnem - 208,23 unternommen werden] 
konj. fiir unternommen - 208,36 Fremdem] konj. fiir Fremden - 
209,24 Medium,] konj. fiir Medium - 209,26 Dinge] konj. fiir Dinge, 
- 209,34 Gabe,] konj. fiir Gabe — 210,3 Zusatz] in M nicht her- 
vorgehoben 

nachweis 207,33 onomatopoetisch.*] Rudolf Leonhard, Das Wort, 
Berlin o. J. [i93i](Entr*act-Biicherei Nr. 1/2), 6 



210-213 Uber das mimetische Vermogen 

uberlieferung 

T 1 Vber das mimetische Vermogen (Untertitel. Zur Spradotheorie 

gestrichen), Typoskript; Streichung des Untertitels und zahlreiche 

Korrekturen von Benjamins Hand (Tinte), eine Korrektur von 

fremder Hand; Benjamin-Archiv, Ts 430-433. 

T 2 Typoskript, Durchschlag von T 1 ; unkorrigiert, Untertitel unge- 

strichen; Benjamin-Archiv, Ts 2550-2553. 
T 3 Vber das mimetische Vermogen, Typoskript, Durchschlag eines 
verschollenen Originals, Abschrift von T 1 ; unkorrigiert, beriick- 
sichtigt die Benjaminschen Korrekturen in T 1 (wenn audi nicht 
alle; einige neue Fliichtigkeiten sind beim Abschreiben unterlaufen); 
Benjamin-Archiv, Ts 434-437. 
T 4 Typoskript, Durchschlag vom selben Original, unkorrigiert; Ben- 
jamin-Archiv, Ts 438-441. 
T 5 Typoskript, Durchschlag vom selben Original, unkorrigiert; Ben- 
jamin-Archiv, Ts 442-445. 
Druckvorlage: T 1 

lesarten 210,13 Vermogen] darunter von Benjamin gestrichener 
Untertitel Zur Sprachtheorie T 1 ; in T 2 , weil unkorrigiertes Exem- 
plar, erhalten - 210,14 Ahnlichkeiten. Man] Ahnlichkeiten; man 
T 3 -T 5 - 210,20 mitbedingt] bedingt T 3 -T 5 - 210,23 vielem] kon- 
jiziert fiir vielen T^T 5 - 210,24 Verhaltungsweisen;] Verhaltungs- 
weisen, T 3 -T 5 - 210,34 umfassend;] umfassend: T 3 -T 5 - 211,3 f. 



960 Anmerkungen zu Seite 210—219 

Stimulantien] Stimulanten T 3 -T 5 - 211,5 * 5 ^ st es T 3 -T 5 , audi 
Lehre vom Ahnlichen, s. o. - 211,6 Krdfte,] Krafle T 3 -T 5 - 211,8 
Gabe,] Gabe T 3 -T 5 - 211,27 vorzustellen y ] konj. fur vorzustellen 
T*-T 5 - 211,36 Kanon,] konj. fur Kanon T 1 -!* 5 - 212,12 kanri] 
Fremdkorrektur Kann in T 1 - 212,19 Sprachen] konj. nadi Lehre 
vom Ahnlicben (s. o.) fur Spracbe T^T 5 - 212,27 f. beacbtenswert,] 
konj. fur beacbtenswert T^T 5 - 212,37 Schreibers] Schreibens 
T 3 -T 5 - 212,38 anzunebmen y ] konj. fur anzunebmen T 3 -T 5 - 213,5 
der Scbrifl] konj. nach Le&re ^om Abnlichen (s.o.) fur die Schrift 
T I -T 5 - 213,16 Sprachbereiche] Spracbbereicb T 3 -T 5 - 213,23 
ist,] konj. fiir **s£ T^T 5 
nachweis 212,15 onomatopoetiscb.«] s. Nadrweis zu 207,33 



213-219 Erfahrung und Armut 

Ein sicheres Entstehungsdatum der Arbeit ist nicht auszumadien. 
Moglidierweise wurde sie sdion wahrend des Halbjahresaufenthaltes 
auf Ibiza, zwischen April und Oktober 1933, niedergeschrieben; 
kaum davor (wenn audi Motive wie das vom neuen Barbarentum 
auf die Entstehungszeit von Karl Kraus [s. 334-367] deuten); viel- 
leidit erst kurz nach der Ruckkehr Benjamins nadi Paris. In einem 
von dort geschriebenen - unveroffentliditen - Brief vom 8. n. 1933 
an Gretel Adorno findet sich ein erster Hinweis auf die (freilich abge- 
schlossene und sdion nadi Prag zum Druck gegebene) Arbeit: Die 
Frankfurter baben einen neuen Beitrag von mir angenommen. Audi 
Haas bringt nachstens etwas [scil. Erfabrung und Armut in der nadi 
Einstellung der »Literarischen Welt« von Willy Haas seit 1933 in Prag 
herausgegebenen - kurzlebigen - Zeitsdirift »Die Welt im Wort«]. An 
Auftrdgen von seiner Seite wilrde es nicht fehlen. Ob aber die Bezah- 
lung aucb nur die Selbstkosten deckt y bleibt abzuwarten. (8. 11. 1933, 
an Gretel Adorno) In der Tat erschien Erfabrung und Armut vier 
Wochen spater: im 10. Heft des ersten Jahrgangs von »Die Welt im 
Wort« am 7. 12. 1933. Benjamin, in vollig ungesidierter Lage, erwar- 
tete ein Honorar sehnlichst. Jedoch mein Freund Haas zablt uber- 
baupt nicht. Und da icb Gelegenheit babe, ibm kostenlos einen An- 
waltsbrief scbreiben zu lassen } mache icb dieser 7 'age von ihr Gebraucb. 
So in einem anderen Brief an Gretel Adorno, der kein Datum tragt, 
aber nadi einer Stelle in seinem ersten Teil grob datiert werden kann: 
Wenn man nur soviel Gleichgewicht und Gesundbeit aufbringt y um im 
M'drz mit den gewohnten Gedanken und Betracbtungen im Luxem- 
bourg zu spazieren, so mtiflte man schon gewaltig zufrieden sein. 



Anmerkungen zu Seite 2 1 3—2 19 961 

(ohne Datum [Ende Februar/Anfang Marz 1934], an Gretel Ador- 
no) Nidit viel spater, mit Sicherheit nodi im Marz, sdirieb er in einem 
weiteren Brief: Die letzten vierzehn Tage - nachdem das Zimmer 
wieder einmal bezahlt war — waxen eine Kette von Entmutigungen 
/. . ./ Die Zeitschrift von Haas ist eingegangen und die Honorierung 
meiner Beitrage natiirlich nie zu erwarten. (ohne Datum [Marz 1934], 
an Gretel Adorno) - Vom Abdruck der Arbeit sind zwei Abziige 
erhalten, einer weist eine - sichere - Benjaminsdie Korrektur auf. 
Daneben fand sich im Nachlafi ein Handexemplar gezeichnetes Typo- 
skript der Arbeit mit ihrem urspriinglichen Titel Erfahrungsarmut, 
das die Grundlage fiir die emendierte und erweiterte Druckfassung 
abgab. 

UBERLIEFERUNG 

jba Erfahrung und Armut. Die Welt im Wort (Prag), 7. 12. 1933 

(Jg* i» Nr. 10); Benjamin-Archiv, Dr 442-444. 
T Erfahrungsarmut. Typoskript-Durdisdilag, Vermerk Handexem- 
plar (Tinte) und mehrere Korrekturen sowie stilistische Emenda- 
tionen (Tinte und Bleistift) von Benjamins Hand; Benjamin- 
Archiv, Ts 1729-1734. 
Druckvorlage: J BA 

lesarten 213,32 gruben,] T; gruben J BA - 214,1 Segen] Segen, T 
- 214,1 Erfahrungen] Erfahrungen und ahnliche T - 214,3 gebalten:] 
gehalten. T - 214,3 J Hn Z e > er ] ]unge. Er T - 214,3 first's] wirst 
es T - 214,4 erfahren.*] erfahren.* usw, T - 214,5 )ungeren] tung- 
sten T - 214,16 gefallen und] gefallen. Und T - 214,17 die 1914- 
1918] die, 1914-1918, T - 214,19 merkwilrdig wie das] merkwur- 
dig, wie es T - 214,20 die] die sonderbare T - 214,21 Felde?] Felde. 
T - 214,21 mitteilbarer] T; mittelbarer J BA , von Benjamin handschr. 
korrigiert: mitteilbarer - 214,24 war] ist T - 214,25 warden] wor- 
den, T - 214,31 Wolken,] Wolken T - 214,35-215,8 Und von bis stel- 
len.] In dem Mafie, als ihre Berechnungen exakter wurden, wurde ihr 
Oberblick kleiner. Organisation sollte die Stelle der Erfahrung ein- 
nebmen. Um aber dem drohenden Chaos gewachsen zu sein, mufite 
sie von Ideen ausgehen. Zuviele sind dabei so gut wie gar keine. Und 
nun melden sich alle Ideen, die in der Weltgeschichte je zur Herrschaft 
gekommen waren: Katholizismus, Casarentum, Christian Science, 
Massenwille, Yoga-Weisheit wollen von neuem herrschen. T - 215,11 
Genauigkeit] Genauigkeit, T - 215,14 hat das] hat der T - 215,16 
im vorigen Jahrhundert] des vorigen Jahrhunderts T - 215,19 pri- 
vaten] privaten, T - 215,20 Barbarentum.] Barbarentum, Aber wer 
kann denn ernstlich annehmen, die Menschheit werde den Engpafi, der 
vor ihr liegt, mit dem Gepdck eines Sammlers oder Antiquitdtenband- 



962 Anmerkungen zu Seite 213—219 

lers beladen, je uberschreitenf T - 215,21-216,5 Barbarentum? bis 
barbarisch.] fehlt in T - 215,25 heraus zu konstruieren] konjiziert 
fur herauszukonstruieren J BA - 216,6 Hie] Hier T - 216,7 machen.] 
machen. Wo sie auch angreifen, eins ist ihnen alien gemeinsam: den 
falschen unerfahrenen Reidotum des Humanismus sehen sie als Ihren 
eigentlichen Feind an. T - 216,8 das] ihr T - 216,9 der] der junge 
T - 216,11 Reicbtums] Reichtums, T - 216,12 modernen] modern- 
sten T - 216,12 Loos] T; Loos, J BA - 216,15 Kiinstler] Kiinst- 
ler, T - 216,16 Klee] Klee, T - 216,16 programmatischer] grad- 
liniger T - 216,27 Teleskope bis den] Luflraketen, unsere Tempi, 
unsere Flugzeuge und Teleskope aus dem T - 216,28 neue] neue, 
T - 216,29-217,10 machen. Vbrigens bis auffiihrten. Glas] macben. 
Er gibt ihnen Namen, die mindestens so iiberraschend sind wie die, 
die die Russen jetzt fur ihre Kinder parat haben: Peka, Labu, Sofanti 
usw. Er legt audi den gro$ten Wert darauf, uns schon bei Zeiten in 
standesgemdfien Quartieren [,] in verschiebbaren, beweglichen Glas- 
hausern unterzubringen wie Loos und Le Corbusier sie inzwischen 
auffiihrten. [AbsatzJ Glas T - 217,13 »Aura«.] »Aura«. Es bildet 
si<h keine geheimnisvolle, mystische Atmosph'dre um sie. T - 2*7>M 
grofie] grofie franzosische T - 217,15 Andre Gide] Gide T - 
217,15 das] was T - 217,18-218,3 sind? Aber bis binterlassen. 
»Nach] sind? Wir haben im Glashaus bestimmt weniger »fUr uns*. 
Wir sind auch weniger unter uns. Es ist ja durchsichtig. Das Privat- 
eigentum wie das Privatleben scheinen sich gleicbermafien nach Kon- 
trolle zu sehnen. »Nach T - 218,10 neuer Erfakrung] neuen Er- 
fahrungen T - 218,11 sid) von Erfahrungen freizukommen, sie] sich, 
von Erfahrungen freizukommen. Sie T - 218,16 »gefressen«, »die] 
gefressen »die T - 218,17-219,15 »Menschen« und bis Geschichten 
bereitet] »Menschen«* Es ist eine Art von sehr schrecklicher und auch 
sehr heiterer Menscbehfressergesinnung, die der Barbarei von Kindern 
verwandt ist. [Hierzu sowie zu den Loos-, Soheerbart-, Kleemotiven 
in T und J BA s. die Paralipomena zum Kraus, 1088-1115, unt ^ ^en 
Essay selbst] Man kann ihnen auch wieder Mdrchen erzahlen, in 
denen die Welt so neu und frisch ist wie nur Kinder. Am besten Film- 
marchen. Wer hdtte schon Erfahrungen bestatigen kbnnen, wie Micky 
Maus [zur Schreibweise hier wie 218,25 un£ * 30 s. Bd. 1, 1053, Les- 
art zu 433,17] sie in ihren Ftlmen macht. Ein Micky Maus Film ist 
im [dem?] einzelnen heute vielleicht noch unverstandlich, aber nicht 
einem Publikum. Und ein Micky Maus Film kann ein ganzes Publi- 
kum rhythmisch regieren. Vor der llias oder der Gbttlichen Komodie 
kann sich nur mancher Einzelne noch zurecht finden. In solchen Bau- 
ten, Bildern, Ftlmen und Geschichten bereitet T - 219,17-20 la- 
chend. Vielleicht bis wiedergibt.] lachend. Dieses Lachen kann etwas 



Anmerkungen zu Seite 213—233 963 

unmenschlick klingen, aber vielleicht mufl der Einzelne etwas Un- 
menschliches an sich haben, damit die Gesamtheit, die bisher sooft 
unmenschltch war, menschlich werde. T 

nachveise 213,30 Mann] s. Asop, Der Schatz im Weinberg; in 
Deutsdiland verbreitet seit: Esopus [neu in Reimen verfafit] von 
Burdiard Waldis, hg. von Julius Tittmann, Zweiter Teil, Leipzig 1882, 
45 (»Vom alten Weingartner«, 3. Budi, 48. Fabel) - 216,15 nicht.«~\ 
Adolf Loos, Trotzdem. 1 900-1 930, 2. verm. Aufl. (Die Schriften von 
Adolf Loos in zwei Banden. Bd. 2), Innsbruck 193 1, 54 (»Keramika«) 
- 216,37 »Lesabendio«] s. Paul Scheerbart, Lesab£ndio. . Ein 
Asteroiden-Roman, Miindien 191 3 - 217,19-218,8 Betritt bis fin- 
det.«~\ Variante von Spurlos wohnen, Bd. 4, 427 f., in J BA (und, am 
Schlufi, in T) - 217,27 Spurenh] [Bertolt] Brecht, Versuche 1-12, 
Heft 1-4. Neudruck der ersten Ausgabe, Berlin, Frankfurt a. M. 
1959, 108 (»Aus dem Lesebuch fiir Stadtebewohner. i.«, Versuche 
4-7, Heft 2) - 217,39 Erdetagen«] Goethes Samtliche Werke, Jubi- 
laums- Ausgabe [...]• ^ n Verbindung mit Konrad Burdach [u. a.] 
hg. von Eduard von der Hellen, Bd. 14: Faust. Teil 2, Stuttgart, 
Berlin [o. J.], 267 (v. 11583) - 218,8 findet.*] Paul Scheerbart, 
Glasarchitektur, Berlin 1914, 125 (CXI) 



219-233 Johann Jakob Bachofen 

In einem unveroffentlichten Brief ohne Datum - er ist um Ende Mai/ 
Anfang Juni 1934 in Paris geschrieben - kiindigte Benjamin an, dafi 
icb von Paris fort - und zwar nacb D'dnemark aufs Land [scil. zum 
- ersten - Sommeraufenthalt in Skovbostrand bei Brecht] - gehe. 
Der langere Aufenthalt hier lafit sich wirtschaftlicb nicht mehr recht- 
fertigen: im Juni ist hier nichts mehr auszurichten. Immerhin werden 
gerade die folgenden 7 age - ich fahre frUhestens am 4 ten Juni ~ 
noch eine Anzahl wichtiger Besprechungen bringen: [u. a. J mit Jean 
Paulhan /. . ./ Es handelt sich dabei [. . .J um [. . .Jmeinen Bachofen- 
aufsatz. (ohne Datum [Ende Mai/Anfang Juni 1934], an Gretel 
Adorno) Der Aufsatz war damals wohl erst projektiert, es ging dar- 
um, einen Auftrag von einer franzosischen Zeitschrift, oder wenigstens 
die Zusicherung der Publikation in einer solchen zu erlangen. Die 
Einladung Paulhans - des damaligen Direktors der Nouvelle Revue 
Franchise - zu einer ersten Besprechung mit Benjamin ist erhalten: 
»J'aurai plaisir a faire votre connaissance. Vous est-il possible de 
venir a la N[ouvelle] Rfevue] F[ranc;aise] un soir de la semaine 
prochaine, vers six heures (Iundi et samedi exceptes)? [Absatz] Cro- 



964 Anmerkungen zu Seite 219—233 

yez, je vous prie, a mes sentiments les meilleurs. Jean Paulhan « (25. 5. 
1934, an Benjamin; Benjamin-Archrv, Ms 233). Offensichtlich war es 
bei der Besprediung nur zu ungewissen Abmachungen gekommen. 
Etwa adit Wochen spater, am 20. 7., schrieb Benjamin, inzwischen in 
Danemark, an Scholem: Ich denke Dir geschrieben zu haben, dafi ich 
begonnen habe, fur die Nouvelle Revue Frangaise einen Aufsatz iiber 
Bacbofen vorzubereiten. So komme ich zum ersten Male dazu ihn 
selbst zu lesen; bisber war ich vorwiegend auf Bernoulli und Klages 
angewiesen gewesen. (Brief e, 614) Mit Bernoulli ist dessen umfang- 
reicher »Wurdigungsversuch« »Johann Jakob Bachofen und das 
Natursymbol« von 1924 gemeint, ein Buch, das Benjamin 1926 rezen- 
siert hatte (s. Bd. 3, 43-45). In welcher Gestalt er Bachofen jetzt im 
Original las, dafiir gibt es einen Anhaltspunkt im Aufzeidinungs- 
material zu Kafka (s. 1240), woraus hervorgeht, dafi er die dreibandi- 
ge »Systematisch angeordnete Auswahl aus [Bachofens] Werken«, her- 
ausgegeben 1926 im Reclamverlag von Bernoulli, benutzte und fur 
seinen Aufsatz auswertete. Wenn Scholem darauf hinweist, dafi Ben- 
jamin schon um 19 16 »mit den Schriften Bachofens in nahere Beriih- 
rung gekommen sein [mufi]« (Scholem, Walter Benjamin - die Ge- 
schichte einer Freundschaft, a. a. O., 44; s. audi 79), dann heifit 
»nahere Beriihrung«, Benjamins brieflichem Gestandnis zufolge, jeden- 
falls nicht >Lektiire des Originals<; eine solche, von Benjamin inzwi- 
sdien vergessene, weist sein fragmentarisches Verzeichnis gelesener 
Bucher erst fiir die friihen zwanziger Jahre aus, mit der Nr. 53$ J. /. 
Bachofen: EinL i. d. »Mutterrechu (Benjamin-Archiv, Ms 671); dies 
wird durch die Stelle aus einem unveroffentliditen Brief bestatigt, 
wo es heifit: Ich glaube[ y ] an Bachofens »Mutterrechu , in dem ich in 
letzter Zeit viel gelesen habe[J solltest Du [. . ./ nicht voriibergehen.« 
(2. 10. 1922, an Florens Christian Rang) - Die Abmachungen mit 
Paulhan rriussen in der Tat Vorbehalte eingeschlossen haben, sonst 
bliebe der Konditionalis im letzten Satz einer Briefpassage unklar, 
die Benjamin mutmafilich Ende Juli in Svendborg schrieb: Um zum 
Scblufi iiber meine Beschaftigung ein Wort zu sagen, so wird sie augen- 
blicklich vor allem durch das Studium von Bachofen bestimmt, zu 
dem mich der Teil meiner Bucher, die ich hier vorgefunden habe, vor- 
zuglich ausriistet. Die Erscheinung dieses Mannes ist faszinierend; ich 
ware [sic] recht frob, Gelegenheit zu haben, ihn in der Nouvelle 
Revue Frangaise zu portratieren. (Briefe, 616 f.) Diese Gelegenheit 
sdieint dann im Herbst, nach Benjamins Ruckkehr nach Paris, defini- 
tiver sich abgezeichnet zu haben als nach der ersten Besprediung mit 
Paulhan. Auf einer - unveroffentliditen - Karte vom 29. 10. teilte 
er Gretel Adorno mit, dafi er mit Paulhan hier eine Besprechung 
[hatte]: sie haben eben zwei Aufsatze uber Bachofen, die ihnen ein- 



Anmerkungen zu Seite 219—233 965 

gexeicht wuxden, abgelehnt und machen mix Aussicht, metnen an- 
zunehmen. Wo wexde ich blofi in San Remo [wohin er abzureisen 
vorhat, um dort den Winter zu verbringen] eine Sekxetaxin hexkxie- 
gen[f] (29. 10. i934> an Gretel Adorno) Die Stelle konnte bedeuten, 
dafi der Aufsatz, etwa in einer ersten Niederschrift, mindestens in 
einem Entwurf, zu diesem Zeitpunkt vorlag, also vielleicht, in dieser 
Form, nodi in Danemark geschrieben wurde; die Sekretarin hatte 
dann die Druckfassung zu besorgen gehabt. Wie dem audi war: die Zeit 
um die Jahreswende 1934/35, und danach, widmete Benjamin der 
Arbeit an dem Aufsatz und seiner Vollendung. Das ist durdi mehrere 
Zeugnisse belegt. Aus San Remo schrieb er: Fur die Nouvelle Revue 
Fxancaise schreibe icb einen Bacbo fen- Aufsatz, bei dem mix [ExichJ 
Fxomms Studie [Die sozialpsydiologisdie Bedeutung der Mutter- 
reditstheorie, in: Zeitschrift fiir Sozialforschung 3 (1934), 196-227] 
von gxofiem Wext ist. (2. 1. 1935, an Max Horkheimer) Und, unter 
Darlegung seiner Situation, an Adorno: Nun wexde ich San Remo 
wohl keinesfalls vox dem Mai vexlassen, auf dex andexn Seite obex 
mein Hiexsein, so wextvoll es mix als xefugium ist, nicht ununtex- 
bxochen andauern lassen, denn die Isoliexung von Fxeunden und Ax- 
beitsmitteln macbt es auf die Dauex zu einex gefdhxlichen Belastungs- 
pxobe. Dazu txitt natuxlich eine jeden Augenblick I'dhmend empfundne 
Bindung an das stxiktest Lebensnotwendige. Da mix nun - dies zux 
Antwoxt Ihxex fxeundlicben Anfxage vom Dezembex, fiix die ich 
Ihnen hexzlich danke - untex den hiesigen Umstdnden dieses Lebens- 
notwendigste dank dex 100 sfx des Instituts nicht abgeht, so ist es in 
dex Tat wohl kaum angezeigt t meine Angelegenheiten an Fexnex- 
stehende hexanzutxagen. Wiewohl mix ein Mindestmafi von Bewe- 
gungsfxeiheit, und damit ein gxofies von Initiative, gexade jetzt mit 
den kleinsten Mitteln zu vexschaffen w'dxe. Wie abex? [AbsatzJ Und 
auf dex andexn Seite wissen Sie aus Exfahxung, dafi ein Hochstmafi 
von Initiative fiix die exsten Texte in fxemdex Spxache aufgebxacht 
wexden mufi. Ich spuxe es an dem »Bacbofen«, den ich zux Zeit fiix 
die Nouvelle Revue Fxanqaise schxeibe. Es liefie sich bei diesex Gele- 
genheit viel zu unsexn eigensten Dingen sagen. Fiix Fxankxeidh, wo 
niemand Bachofen kennt - keine seinex Schxiflen ist ubexsetzt - muff 
ich Infoxmatoxisches in den Voxdexgxund stellen. Ich will obex, ge- 
xade bei diesem Stichwoxt, nicht vexgessen, Ihnen, was die Bemex- 
kungen zu Klages und Jung betxifft, meine xestlose Zustimmung zu 
Ihxem Bxief vom $ Un Dezembex zu sagen. (Briefe, 640 f.; iiber Ben- 
jamins Stellung zu Klages s. audi Briefe, 51 j f. und 409 f.) Adorno 
hatte u. a. geschrieben: »Die Beziehung von Ihrem >Traum des Kol- 
lektivs< zum kollektiven Unbewufiten Jungs [. . .] sind gewifi 
nicht von der Hand zu weisen. Aber es hat mir immer ein besohderes 



966 Anmerkungen zu Seite 219—233 

Mafi an Bewunderung abgezwungen, dafi Sie am hartesten und un- 
nachsichtigsten von dem sich distanzierten was scheinbar Ihnen zu- 
nachst lag: von Gundolf in den Wahlverwandtschaften nidit anders 
als von den Wiirdigungen des Barock seit dem Expressionismus bis 
Hausenstein und Cysarz [. . .] Ja idi mochte dieser Ihrer Intention 
systematische Dignitat zusprechen; in einem gewissen Zusammenhang 
mit der Kategorie des >Extrems< [. . .] So weifi ich noch gut, wie tlef 
mich vor gut zehn Jahren beeindruckte, dafi Sie, obwohl damals noch 
unbedenklicher im Aussprechen theologischer [. . .] Satze, dem dama- 
ligen Scheler aufs scharfste entgegentraten. Nur in diesem Sinne aber 
kann ich mir das Verhaltnis zu Jung und etwa Klages (dessen Lehre 
von den >Phantomen< in der >Wirklichkeit der Bilder< [= Bd. 3 von 
Der Geist als Widersache der Seelej.unseren Fragen verhaltnism'afiig 
am nachsten liegt) vorstellen. Oder um es genauer zu sagen: gerade 
hier liegt die Grenzscheide zwischen archaischen und dialektischen Bil- 
dern oder, wie ich es einmal gegen Brecht formulierte, einer materiali- 
stischen Ideenlehre.« (y. 12. 1934, Theodor W. Adorno an Benjamin) 

- Kurz darauf, in einem Brief an Brecht vom 9. 1. 1935, heifit es: Im 
ubrigen bin ich dabei, meinen ersten grofieren franzosischen Aufsatz 

- »Bachofen« - abzuschlie fieri. Eine Besprechung mit dem Redak- 
teur der Nouvelle Revue Francaise war das einzige Ergebnis meiner 
pariser Tage. (Briefe, 642) Und ein undatierter Brief an Gretel Ador- 
no - datierbar Ende Januar/Anfang Februar - schliefilich ver- 
meldete den Abschlufi der Arbeit (s. ohne Datum, an Gretel Adorno), 
einer vom 4. 2. an Horkheimer die bevorstehende Revision des Tex- 
tes: Mein erstes wird nun sein, nacb Cannes zh fahren, um dort einen 
franzosischen Freund zu trefien, mit dem ich u, a. mein grofies Bach- 
ofenmanuscript durchgehen werde - die erste Arbeit t die ich unmittel- 
bar franzosisch niedergeschrieben habe. (4.2.1935, an Max Hork- 
heimer) Dies Manuskript ist erhalten und tragt die Spuren des Durch- 
gangs, von dem die Rede ist (s. »Oberlieferung«). Zwei Tage spater 
beschrieb er Alfred Cohn die hermetische Isolierung, in der er die 
Arbeit am Bachofen beendete: mit ihr [erkaufe ich zur Zeit] die 
relativ angenehmen Umst'dnde aufiern Lebens. Sie geht weit uber das 
Majl hinaus, in dem sie etwa meinen Arbeiten forderlich sein konnte 
und ich beschr'dnke mich darauf halb handwerksmafiig und ohne mich 
sehr zu beeilen, ein Stuck nach dem andern zurechtzuzimmern. Dazu 
kommt, dafi einigermafien konzentrierte Arbeit teils der Raumver- 
haltnisse, teils der Temperatur wegen uberhaupt nur im Bett mbglich 
isty auf das ich mich gelegentlich in der Tat vollig zuruckziehe. Nur 
so habe ich schliefilich den Bachofenessay [. . ./ abschliefien konnen 
(Briefe, 646). Die Isolierung [fdngt jetzt anj auch in bibliographi- 
scher Hinsicht mir fuhlbar zu werden, schrieb er Horkheimer am 



Anmerkungen zu Seite 219—233 967 

19. 2. (Briefe, 650), von dem er einen genau vier Wochen spater ge- 
schriebenen Brief aus New York empfing, in dem es heifk: »Ihr Auf- 
satz iiber Badiofen interessiert mich besonders. Wie Sie wissen, wird 
diesem Thema audi im Institut seit langem viel Aufmerksamkeit zu- 
gewandt. Nach den Arbeiten Fromms und Bruffaults habe ich selbst 
jetzt eine Schrift iiber Autoritat und Familie [in: Studien iiber Au- 
toritat und Familie, Paris 1936, 3-76] vollendet, in der die Frage 
des Matriarchats zwar weniger ausdriicklich als unterirdisch hinein- 
spielt.« (19-3* J 935» Horkheimer an Benjamin) Benjamin erwiderte, 
dafl seine Arbeit iiber Bachofen Ihnen kaum sehr viel Neues sagen 
[wird], Sie ist bestimmt, Bachofen, der in Frankreich ganzlich unbe- 
kannt und von dem nichts ubersetzt ist, den Franzosen zu prasentie- 
ren. Ich habe zu diesem Zweck mehr ihn selbst zu portratieren als 
seine Theorien wiederzugeben gesucht. (Briefe, 652) Eben dieser Zweck 
aber wird zu Benjamins Lebzeiten vereitelt. Es trat mit der Vbersied- 
lung nach Paris, sdirieb er Scholem am 20. 5., wieder eine hochst kriti- 
sche Periode ein, akzentuiert durch aufiere Mifierfolge. Darunter: 
Ablehnung des Bachofen durch die NRF, die ihn an den Mercure de 
France weitergab, wo ich ihn jetzt liegen sehe (Briefe, 653), und wo 
er gleichfalls unveroffentlicht blieb. Es ist mir nicht uberraschend ge- 
wesen, dafl die Nouvelle Revue Francaise den Bachofen nicht ge- 
nommen hat, gestand er in einem wenige Tage spater geschriebenen 
Brief an Werner Kraft. Es war ein allzu billiges Wohlwollen einer 
dritten Stelle gewesen, dem nachgebend ich wider eigene Einsicht den 
Weg dieses Versuchs beschritten habe. Jetzt liegt die Arbeit beim Mer- 
cure de France, nicht ich sondern die Redaktion der NRF hat sie dort 
eingereicbt. (Briefe, 660) - Erst vierzehn Jahre nach Benjamins Tod 
erschien sie, nachdem audi 1940, nodi zu Lebzeiten Benjamins, ein 
Publikationsversuch* in der»Gazette des Amis des Livres« - wegen zu 
grofier Lange der Arbeit - gescheitert war (s. Adrienne Monnier, Note 
sur Walter Benjamin, in: Mercure de France, 1.7. 1952, Nr. 1067, 
452 f.), in Les Lettres Nouvelles (Jg. 2 [1954], Heft 11, 28-42) in 
einer von Maurice Saillet revidierten Fassung. 

Im NachlafS fand sich das Schema eines Entwurfs zu der Arbeit, das 
neun Abschnitte - gegeniiber den zehn der Endfassung -- skizziert. 
Es lautet: 

/ / Bachofen, un maitre de d'Allemagne inconnu* 
I Bachofen mis en ban par la science officielle 
Sa facon particuliere d'aborder les sources I Rarement il ne 

* Das damals zu publizierende Typoskript ist erhalten und erst kurzlich von 
Maurice Saillet den Herausgebern uberlassen worden; s. u M 974-976. 



9*>8 Anmerkungen zu Seite 219—233 

tient compte de la difference du mythe et de I'histoire I C'est le 
mythe qui Vinteresse avant tout II II le cherche dans sa forme 
primitive, c'est d dire prehomerique I Celle-la le montre a peine 
sorti de son bourgeon: le Symbole II D'autre point Bacbofen 
favorise - comme sources de I'esoterisme antique les Neopla- 
tonies, les Neopythagoreens, les Peres de I'eglise I Voila qui 
explique les griefs de la science officielle contre lui II Leur 
porte-parole: E Howald 
II Elements d 3 une biographie 

Bale ville natale de Bacbofen, ville protectrice de son ceuvre I 
Genius loci de Bale I Les grands contemporaines baloises: Nietz- 
sche, Burckhardt, Overbeds I Carriere universitaire et admini- 
strative I Dignite de cette vie I Attacbement profond a la mere 
I Conception goetheenne du travail scientifique I »Dilettantis- 
me« eleve de Bachofen 

III La philosophic du droit comme armature de I'oeuvre de Bach- 
ofen 

Influence de Hegel sur Savigny, mattre de Bachofen I »L'esprit 
du peuple* et Vecole histonque I Uhistoire du droit, embrassant 
celle de la religion I Uopposition entre droit naturel abstrait et 
droit positif est remplace chez Bacbofen par celle entre droit 
naturel abstrait et droit naturel concret I Le culte de Dionysos a 
la base de cclui-ci[J Mefaits de I'esprit d* emancipation feminine 
I Polemique contre Girardin et Michelet I Correspondant au 
droit naturel concret de I'esprit marquera par son avenement la 
fin de Vhistoire 
[Ruckseite:] Un carrefour de la pensee atlemande: J J Bacbofen 

Druckvorlage: Benjamin-Arcfaiv, Ms 413 

IV Le monde des tombeaux 

Winckelmann comme precurseur de Bacbofen I Au silence du 
tombeau ne correspond que le langage muet de Vimage I Impor- 
tance fondamentale de cette experience pour Bacbofen I »La 
symbolique des tombeaux* I Caractere phallique des pierres de 
tombeaux I La mort comme loi de la vie sur son echelle la plus 
basse, celle de la promiscuite generale I »Oknos« comme sym- 
bole de cette loi 
V Antiquite et christianisme 

Les mysteres orpheens comme pont entre antiquite et christianis- 
me I La piete cbretienne de BaSofen I Entetement dans sa 
position illogique I F [erdinand] von Eckstein et son affinite 
avec Bachofen I La these d'Eckstein: le courant ecstatique et le 
courant ascetique constituent une polarite cosmique I Foi de 



Anmerkungen zu Seite 219—233 969 

Bachofen en une revelation originate I Caractere insuffisament 
defini de cette revelation I Uunite du Dionysos mystique 
VI Le mouvement declenche par la theorie mystique de Bachofen 
»UAllemagne inconnu« terme pre fere de Vecole de Stefan Ge- 
orge I Influence de Bachofen dans ce milieu I Le role de Alfred 
Schuler I Les idees sur le paganisme romain I Uere de Neron 
comme apogee de Vepoque »chthonique« I Ueros du lointain I 
Cote funeste de ces speculations: la destinee de Hans von Prott 
I Exploitation reactionnaire de Bachofen par le philosophe nazi 
Alfred Baeumler I Ludwig Klages comme continuateur de Bach- 
ofen 

Druckvorlage : Benjamin -Archiv, Ms 414 

VII Categories de la prehistoire 

Mythe et symbole I Le symbole comme residu d'une vision ec- 
statique I Les tombeaux comme abris des symboles i Vie et mort 
I Uantiquite les voit toujours dans la relation d*un plus ou 
moins I La mort, dans ce sens } n y est pas destruction brutale,mais 
changementy decomposition lente I Eidos et Hyle I Uidee de la 
continuation et de la repetition I Du droit et de la possession I 
De »gens« et »natio« I Ces idees sont autant d 'expressions qu'a 
trouve Vopposition entre la societe patriarcale et la societe 
matriarcale i La droite et la gauche I Signification primordiale 
de leur symbolisme I Eros et Sexus ( Leur polarite n'est qu'e- 
bauche par Bachofen 
VIII Le mouvement declenche par la theorie sociologique de Bachofen 
Uessence matriarcale du ius naturale I Conflit entre sentiment 
et reflexion chez Bachofen I Ses sentiments sont vers un ordre 
matriarcale ses reflexions vers le patriarcat I Parente sentimen- 
tale entre Bachofen et les grands theoriciens du socialisme I 
Bachofen et Elisee Reclus i Bachofen et Friedrich Engels I La 
discussion autour de Bachofen dans la »Neue Zeiu organe de la 
socialdemocratie allemande 
IX Caractere romain de la culture occidentale 

La double victoire remportee par Rome sur VOrient i La vie- 
toire contre Hannibal, la victoire sur mysteres de Dionysos / 
Rome comme fondatrice de Vesprit viril et individuel i Le 
mythe ancien des Romains comme cle de leur kistoire ! Bach- 
ofen contre Mommsen i Uequation Augustus - Orestes I La 
sobriete comme racine de la Grandeur romaine chez Bachofen et 
Hblderlin 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 415 



$jo Anmerkungen zu Seite 219—233 

Beigefugt 1st ein Zettel mit Angaben tiber Liter atur zu Bachofen: 
Ludwig Klages: Vom kosmogonischen Eros Muncben 

1*9**] 
Ernst Howald: Wider Job. Jak. Bachofen Wissen und 

Leben XVII Mai 1924 p 757$ 
Casimir von Kelles-Krauz: J J Bachofen Die Neue Zeit Stuttgart 

1902 XX 
Albert Teichmann: Bachofen Allg Dtsch Biographie Lpz 

\ 1903 Bd 47 Nacbtrage 
Charles Andler: La jeunesse de Nietzsche II Paris 1921 

p 258/66 
Erich Fromm: Die sozialpsychologische Bedeutung der 

Mutterrechtstheorie Zeitschrift fiir So- 

zialforschung Paris 1934 III p 196 

Druckvorlage: Benjamin-Ardnv, Ms 416 
UBERLIEFERTJNG 

T Typoskript-Durchschlag; die romischen Zahlen uber den Abschnit- 

ten handschriftlich (Tinte) von Benjamin hinzugefugt; Benjamin- 

Archiv, Ts 573"597- 
M Reinschrift, Textkorrekturen von Benjamins Hand und Korrek- 

turvorschlage am Rand von fremder Hand; Benjamin- Archiv, 

Ms 73-95. 
Druckvorlage: T 

Erhalten sind eine Reinsdirift und ein Typoskript*. Jene weist nach- 
tragliche Korrekturen von Benjamins Hand im Text und Bleistift- 
vermerke mutmafilich von seinem Freund aus Cannes (s. 966) am 
Rand sowie im Text auf und war eindeutig Vorlage der Maschinen- 
Absdirift. Beide Zeugen differieren - abgesehen von einer Reihe von 
orthographischen Mangeln in der Reinschrift und neu hinzugekomme- 
nen im Typoskript - im wesentlichen nur durch die Numerierung im 
Typoskript; die Reinschrift setzt zwei Kreuze jeweils ans Ende der 
Abschnitte. Beim Abdruck hielten sich die Herausgeber streng an den 
Benjaminschen Text und nicht an den von Saillet revidierten - zum 
Zeugnis der Bemuhung eines grofien deutschen Schriftstellers, in einer 
fremden Sprache zu schreiben. Unter Innehaltung dieses editorischen 
Prinzips hat Pierre Missac den Text durchgesehen und nur offen- 
kundige, bei der ersten - Benjaminschen - Revision unberiicksichtigt 
gebliebene und dann beim Diktat hinzugekommene Mangel eliminiert 
sowie einige wichtige Konjekturen vorgeschlagen; diese und die Kor- 
rekturen haben die Herausgeber dankbar ubernommen: die Kor- 

* Ein weiteres Typoskript wurde den Herausgebern erst nadi Abschlufi der Druck- 
legung des Textteils bekannt; s. u. t 974-976. 



Anmerkungen zu Seite 219— 233 971 

rekturen stillsdrsveigend und die Konjekturen, zusammen mit denen 
der Herausgeber, als Lesarten. 

lesarten 220,5 f. et ses] ses M - 220,7 & Vienne mis] konjiziert fur 
mis a Vienne T, M - 220,8 metbodique,] konj. fiir methodique T, M 

- 220,9 science,] konj. fiir science T, M - 220,17 vogue] konj. fiir 
vague T, M - 220,19 a] konj. fiir sur T, M - 220,22 freudiens] 
konj. fiir freudistes T, M - 220,23 general,] konj. fiir general T, M 

- 220,24 sen $ commun] konj. fiir commun sense T, M - 220,28 pour 
les] konj. fiir aux T, M - 220,38 a attirer] konj. fiir attirer T, M - 
221,4 JF. Z*tere qu'] konj. fiir guere T, M - 221,5 pour temoigner] 
konj. fiir en temoignage T, M - 221,12 f. columbarium] konj. fiir 
colombaix T, M - 221,13 *8j$,] konj. fiir z8j# T, M - 221,13 k 
v&te ^«*i/ >> /it lui-meme] konj. fiir 2d propre visite qu'il jit 
T, M - 221,18 vers V etude] konj. fiir a«x etudes T, M - 221,27 
necropolesy] konj. fiir necropoles T, M - 221,28 seulement] konj. 
fiir #«e T, M - 221,37 ^°'*] k° n J- fur rfe^w T, M - 222,10 passer a- 
t-il] konj. fiir passera T, M - 222,19 positivisme,] konj. fiir posi- 
tivisme - T, M - 222,20 f. ^ #»e tf«tre interpretation que] konj. 
fiir »we <z«tre interpretation a laquelle T, M - 222,25 platonicien] 
konj. fiir platonien T, M - 222,27 Pluton] konj. fiir Platon T, M - 
222,29 I' image] son image M - 222,37 C M konj. fiir c/ - 222,37 
weitf *&Ve] vewi f&re; M - 223,4 exemptes;] M; exemptes, T - 
223,8 relation] konj. fiir relations T, M - 223,15 «<*t«re;] konj. 
fiir nature, T, M - 223,24 lycienne] konj. fiir lykeenne T, M - 223,33 
n'avait pas ete] konj. fiir a'eteif- pds T, M - 223,36 I'Etat] 
konj. fiir /'etet T, M - 224,4 ^» J «w &e*ron /«r sacrifie] konj. fiir #we 
/«r sdcre «w &eYo7Z T, M - 224,7 tout & f ait ] konj. fiir parfaitement 
T, M - 224,14 sew] konj. fiir / J T, M - 224,17 il se maria peu de 
temps apres,] konj. fiir peu de temps apres il se maria M; peu [. . .] 
mariait T - 224,20 sur] konj. fiir d<z«$ T, M - 224,34 » dilett antique «> 
aime a] konj. fiir »dilettantique« aime T, M - 224,36 Quant] konj. 
fiir Et quant T, M - 225,4 entre ^ es sciences] konj. fiir d'entre scien- 
ces T, M - 225 ,1 3 ne fait] konj. fiir n'admet T, M - 225,16 i refuter 
nofi seulement] konj. fiir non seulement a refuter T, M - 225,19 a 
ce/«*] konj. fiir au deb at T, M - 225,28 </e son] konj. fiir so« T, M - 
225,33 pretend] konj. fiir allegue d 7 T, M - 226,12 verrais] konj. fiir 
vw T, M - 226,14 /e declin] konj. fiir declin T, M - 226,21 Vofe- 
ge/5f,] konj. fiir Volksgeist T, M - 226,21 peuple,] konj. fiir peuple 
T, M - 226,23 * 50n ] konj. fiir sew T, M - 226,27 '#*] konj. fur ew T, 
M - 226,30 se place desormais pour Bachofen] konj. fiir pour Bacbof en 
se place desormais T, M- 227, 11 sont inconnus] konj. fiir est inconnue 
T, M - 227,13 IHmage,] konj. fiir I'image T, M - 227,13 precise,] 
konj. fiir precis T, M - 227,13 temps,] konj. fiir temps T, M - 227,14 



yji Anmerkungen zu Seite 219—233 

matriarcale.] matriarcale. [AbsatzJ M - 227,17 Vautorite] konj. fur 
autorite T, M - 227,21 accueillait] M; acceuillit T - 227,22 
acceuillit] acceuillait M - 227,24 ce sont] konj. fur c'etaient 
T, M - 227,26 qui] qui, M - 227,28 f. matriarcat,] konj. fiir 
matriarcat T, M - 227,34 VEtat] konj. fiir Vetat T, M - 227,37 
philosophiques,] konj. fiir philosophiques T, M - 227,38 sera dit] 
konj. fiir s'imposera T, M - 227,38 donnees historiques elles- 
memes] konj. fiir dons historiques eux-memes T, M - 228,2 
savants ,] konj. fiir savants T, M - 228,2 Lebmann,] konj. fiir 
Lehmann T, M - 228,5 ont crH en ~\ konj. fiir en ont cru T, M 

- 228,11 roue] konj. fiir roue y T, M - 228,15 inconvenient a] 
konj. fiir inconveniant de le T, M - 228,15 f. donne, dans son essai 
Sur les origines de la famille, Friedricb Engels -] konj. fiir donne dans 
son essai »Sur [. . ./ families Friedrich Engels - T; donne - dans son 
essai »Sur [. . .] families Friedrich Engels - M - 229,10 passa] konj. 
fiir a passe T, M - 229,15 cbthonique,] konj. fiir chthonique T, M - 
229,20 Klages,] konj. fiir Klages T, M - 229,21 monde,] konj. fiir 
monde T, M - 229,26 arrachant a] konj. fiir reinte grant de T, M - 
229,33 receptive,] konj. fiir receptive T, M - 229,35 creatrice] M; 
creative T - 229,37 depuis longtemps] konj. fiir longtemps T, M - 
230,1 que Klages a donnee] qu'a donnee Klages M - 230,8 est,] konj. 
fiir est T, M - 230,9 discussions,] konj. fiir discussions T, M - 230,12 
vaui] konj. fiir vaille T, M - 230,12 relevee,] konj. fiir relevee T, M 

- 230,28 f. A cet etat de choses correspond'] konj. fiir // correspond a 
cet etat de choses T, M - 230,36 des pages] konj. fiir les pages T, M - 
231,9 et, I'un] konj. fiir et un T, M - 231,17 elles] konj. fiir eux T, M 

- 231,23 f. matriarcales 3 ] konj. fiir matriarcales T, M - 231,26 fascis- 
me,] konj. fiir fascisme T, M - 231,34 a] konj. fiir ont T, M - 231,34 
meme les] konj. fiir meme que les T, M - 232,16 hors de pair] konj. 
fiir hors pair T, M - 232,23 autant que] konj. fiir que T, M - 232,26 
de la] konj. fiir de T, M - 232,29 f, theologie,] konj. fiir theologie 
T, M - 232,3 r parfait.] Absatz in M; kein Absatz in T - 232,36 n'a] 
konj. fiir ait T, M - 233,2 apparaissait] lui apparaissait M 
nachweise 220,13 romaine] s. Alois Riegl, Die spatromisdie Kunst- 
Industrie nadi den Funden in Osterreich-Ungarn, Wien 1901 - 220,15 
Viennoise] s. Franz Wickhoff, Die Wiener Genesis, Berlin 1922 - 
221,3 Anciens] s. Johann Jakob Bachofen, Versuch iiber die Graber- 
symbolik der Alten, Basel 1859 - 221,33 paroles] Bachofen, Urreli- 
gion und antike Symbole. Systematisch angeordnete Auswahl aus sei- 
nen Werken in drei Banden, hg. von Carl Albrecht Bernoulli, Bd. 1, 
Leipzig 1926, 41-44 (» Versuch iiber die Grabersymbolik der Alten«, 
Vorrede) - 222,4 Heu.«] a. a. O,, 140 (»Der Bar in den Religionen des 
Alterthums«) - 222,8 I'image.**] Carl Albrecht Bernoulli, Johann 



Anmerkungen zu Seite 219—233 973 

Jakob Bachofen und das Natursymbol. Ein Wiirdigungsversuch, Basel 
1924, 47: »bei Winckelmann ging Bachofen die stille Gewalt des >Eidos< 
auf.« - 222,12 senties.*] Joh[ann Joachim] Winckelmanns Werke. 
Einzig rechtmafiige Original-Ausgabe, Bd. 2, Stuttgart 1847, 554 
(»Freundschafl:liche Briefe«, An Volkmann den Jungeren, 16. 7. 1764) 

- 222,34 decouvrir.«] Bachofen, Urreligion und antike Symbole, 
a. a. O., 32 (»Autobiographische Aufzeichnungen«) ~ 222,35 Schop- 
fung] a. a. O., 265 (»Das Mutterrecht«) - 223,31 plainest] a. a. O., 
Bd. 3, Leipzig 1926, 105 (»Das lykische Volk und seine Bedeutung 
fiir die Entwickelung des Altertums«): »In der Begrenzung der Taler 
und Landschaften bildet sich jener heimische Sinn, dessen Innigkeit die 
Bewohner weiter Ebenen nicht kennen.« - 224,6 actuelle.«~\ a. a. O., 
Bd. 2, Leipzig 1926, 164 (»Das Mutterrecht«) - 224,13 Sanctae.«] 
a. a. O., Bd. 1, a. a. O., 30 (»Autobiographische Aufzeichnungen«) - 
224,16 f. M oritur osatf] s. Bernoulli, Johann Jakob Bachofen und 
das Natursymbol, a. a. O., 414; lies morituro sat! - 225,16 Tanaquil] 
s. Bachofen, Die Sage von Tanaquil. Eine Untersuchung iiber den 
Orientalismus in Rom und Italien, Heidelberg 1870; ders., Beilage 
zu der Schrift Die Sage von Tanaquil. Theodor Mommsen's Kritik 
der Erzahlung von Cn. Marcius Coriolanus [...], Heidelberg 1870 

- 225,27 Andler] s. Charles Andler, Nietzsche. Sa vie et sa pens£e, 
Bd. 2, Paris 1921, 258-266 - 225,37 comble.«] Bachofen, Urreligion 
und antike Symbole, a. a. O., Bd. 1, a. a. O., 241 f. (6. 5. 1883, an 
Joseph Kohler) - 226,8 autobiographiques] s. Bachofen, Auto- 
biographische Aufzeichnungen, hg. von Hermann Blocher. In: Basler 
Jahrbuch 191 7, 295-348 - 226, 1 4 millenaire. « ] Bachofen, Ur- 
religion und antike Natursymbole, a. a. O., Bd. r, a. a. O., 35 (»Auto- 
biographische Aufzeichnungen«) - 226,21 Volksgeist] s. Georg Wil- 
helm Friedrich Hegels Werke. Vollstandige Ausgabe durch einen 
Verein von Freunden des Verewigten, Bd. 9: Vorlesungen iiber die 
Philosophic der Geschichte, hg. von Eduard Gans, Berlin 1840, 65 - 
227,8 Matriarcat] s. Bachofen, Das Mutterrecht. Eine Untersuchung 
iiber die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiosen und 
rechtlichen Natur, Stuttgart 1861 - 228,12 gauche] s. Bernoulli, 
Johann Jakob Bachofen und das Natursymbol, a. a. O., 304-311 - 
228,34 f. mysticisme.*] Friedrich Engels, Der Ursprung der Familie, 
des Pnvateigentums und des Staats. Im Anschluft an Lewis H. Mor- 
gans Forschungen, Berlin 1969, 12 f., 1 3 f . (»Vorwort zur vierten 
Auflage i89i«; dies Vorwort erschien erstmalig unter dem Titel »Zur 
Urgeschichte der Familie (Bachofen, MacLennan, Morgan) « in: Die 
Neue Zeit, Stuttgart 1891/92 (Jg. 10), Bd. 2, 406-467; daher der Ben- 
jaminsche Titel) - 229,9 Nigra] s. Stefan George, Der siebente Ring 
(Bd. 6 und 7 der Gesamtausgabe der Werke), Berlin 193 1, 16 f. - 



974 Anmerkungen zu Seite 219—233 

229,28 (Urbilder)] s. Ludwig Klages, Vom kosmogonischen Eros, 
Munchen 1925, 88ff. - 229,29 representations] s. a. a.O., 79ft. — 
230,1 passe] s. a. a. O., 154: »Urbilder sind erscheinende Vergangen- 
heitsseelen«. - 230,4 Vame] s. Klages, Der Geist als Widersacher der 
Seele, 3 Bde., Leipzig 1929 fT. - 230,15 dire.«] Alfred Baeumler, 
Badiofen der Mythologe der Romanuk. Einleitung zu: Der Mythus 
von Orient und Occident. Eine Metaphysik der alten Welt, aus den 
Werken von J. J. Bachofen hg. von Manfred Schroter, 2. Aufl., 
Munchen 1956, CCLXXXI (3, IV) - 231,4 spirituelle*] Die Stelle 
stammt nicht aus Bachofen, sondern aus Bernoullis Referat der Bach- 
ofenschen Auffassung von der »dionysischen Naturbetrachtung« in: 
Johann Jakob Bachofen und das Natursymbol, a. a. O., 242 f.; der 
Satz »Die dionysische Religion ist [. . .] das Bekenntnis der Demo- 
kratie, weil die sinnliche Natur, zu der sie spricht, alien Menschen 
angehort« ist bei Bernoulli gesperrt. - 231,14 niaiseries.*] Paul La- 
fargue, Das Mutterrecht. Studie uber die Entstehung der Familie, in: 
Die Neue Zeit, Stuttgart 1885/86 (Jg. 6), 303 - 231,35 terre«] 
Erich Fromm, Die sozialpsychologische Bedeutung der Mutterrechts- 
theorie, in: Zeitschrift fiir Sozialforschung 3 (1934), 220 f. - 232,3 f. 
photographie] s. Bernoulli, Johann Jakob Bachofen und das Na- 
tursymbol, a. a. O., Frontispiz - 233,1 unique. «] Bachofen, Ur- 
religion und antike Symbole, a. a. O., Bd. 1, a. a. O., 423 (»Das 
Mutterrecht«) - 233,6 antiquites] s. Bachofen, a. a. O., Bd. 2, a. a. O., 
214-226 (»Antiquarische Briefe vornehmlich zur Kenntnis der altesten 
VerwandtschaftsbegrirTe«); s. aber vor allem Bd. 1, a. a. O., 126 f. 
(»Das Mutterrecht«, Vorrede) und Bd. 2, a. a. O., 217 fT. und 
passim (»Die Sage von Tanaquil«, Einleitung) - 233,15 profonde.«] 
a. a. O., Bd. 1, a. a. O., 34 (»Autobiographische Aufzeichnungen«); 
bei Bachofen Hauptsatz: »Das Rad des Lebens hat sich dort ein tiefe- 
res Geleise gehohlt.« 

nachtrag Nachdem der Druck des Textteils abgeschlossen war, er- 
hielten die Herausgeber von Maurice Saillet dankenswerterweise jenes 
Typoskriptexemplar des Essays uberlassen, das Benjamin seinerzeit 
Adrienne Monnier zum Abdruck iibergeben hatte (s. 967). Es hatte 
statt T (s. »Uberlieferung«) die Druckvorlage fiir den Essay in diesem 
Band bilden miissen, denn es ist der authentischere Zeuge. Da ein 
EingrifT in den Textteil und die Umorganisation des Apparats, der 
inzwischen gesetzt wurde, unmoglich waren, entschlossen sich die 
Herausgeber zu diesem Nachtrag, in dem die DifTerenzen des neu- 
aufgetauchten Typoskripts (— Benjamin-Archiv, Ts 2726-2752) ge- 
geniiber T kurz charakterisiert werden. 
1. Wie aus zahlreichen Korrekturen und einer Reihe von hand- 



Anmerkungen zu Seite 219—233 975 

schriftlichen Zusatzen - samtlich von Benjamins Hand - hervorgeht, 
handelt es sich bei Ts 2726-2752 um ein spater als T gefertigtes 
Typoskript. 2. Zugrunde lag T (oder das Original von T), nach dem 
Ts 2726-2752 (bzw., da es ein Durchschlag ist, dessen Original) her- 
gestellt wurde; es handelt sich um eine Abschrift, die - maschinen- 
schriftlich - nur an wenigen Stellen von der Vorlage differiert, 
handschriftlich - in Gestalt der Benjaminschen Korrekturen und Zu- 
satze - jedoch an weitaus mehr Stellen. Die Abschrift ist sauberer, 
zeigt weniger Verschreibungen und ist, weil mit breiter gehaltenem 
Rand geschrieben, um zwei Seiten langer als T. 3. Eine Reihe neuer 
Abschreibfehler kommen neben teils stehengebliebenen, teils verbes- 
serten alten vor. Hatte Benjamin also Ts 2726-2752 einem Korrektur- 
gang unterworfen (nachdem er vorher schon, wohl beim Diktat nach 
T, die eine oder andere Anderung vorgenommen hatte), so war die 
Korrektur doch nicht konsequent. Immerhin hatte sie eine Reihe jener 
Konjekturen uberfliissig gemacht, die an T vorzunehmen notwendig 
war. 

Im folgenden werden einmal diejenigen Stellen aus Ts 2726-2752 
verzeichnet, die eine Anderung des abgedruckten Textes erfordern, 
dann aber audi solche, die einer Herausgeber-Konjektur nicht be- 
durft hatten. Alle iibrigen Konjekturen bleiben davon unberiihrt, 
d. h. sie betreffen in Ts 2726-2752 und T gleichlautende, konjektur- 
bediirftige Stellen. 

221,4 f. gudre qu'une : qu y von Benjamin eingefiigt - 221,20 f,, 23 
Tombeau, Tombeaux : von Benjamin korrigiert tombeau, tombeaux 
aus Tombeau usw. - 221,32 symbole mufi lauten symbole, - 222,27 
Pluton : von Benjamin korrigiert Pluton aus Platon - 223,4 exemp- 
tes; mufi lauten exemptes, - 223,8 relation : von Benjamin korrigiert 
relation aus relations - 223,34 caracteristique que mull lauten 
caracteristique sous ce point de vue que; sous bis que von Benjamin 
eingefiigt - 224,13 Sanctae.« Bachofen mufi lauten Sanctae.« [Ab- 
satzj Bachofen - 225,28 de son : de von Benjamin eingefiigt - 
226,10 romantiques et> avant tout, ce mufi lauten romantiques, avant 
tout ce - 226,14 £ millenaire.* Le mufi lauten millenaire.« [Absatz] 
Le - 226,28 peuple. : dahinter auf dem Rand Benjamins Zusatz 
point d'alinea - 227,27 Or si mufi lauten Or, si - ny,i% f. ma- 
triarcat, : Komma im Typoskript - 228,4 evolution mufi lauten revo- 
lution; r von Benjamin eingefiigt - 229,24 Dans Eros mufi lauten 
Dans VEros; V von Benjamin eingefiigt - 229,28 f. Celles-ld bis sont 
mufi lauten Celles-ld, [. . ./ sont, ; Kommata von Benjamin eingefiigt 
- n%yi receptive, : Komma von Benjamin eingefiigt- 230,1 duchtho- 
nisme mufi lauten de chthonisme; ubersehener Schreibfehler? - 230,12 
relevee, : Komma von Benjamin eingefiigt - 230,36 des pages : les 



976 Anmerkungen zu Seite 219—233 

pages - 231,34 a modifie de meme les : a und meme von Benjamin 
korrigiert aus ont und meme que - 232,6 f rises mufi lauten f rises, — 
232,31 parfait, : dahinter auf dem Rand Benjamins Zusatz alinea - 
233,2 apparaissait mufi lauten lui apparaissait; lui von Benjamin 
eingefugt. 



2 35~59$ Literarische und asthetiscie Essays 

237-241 »Der Idiot« von Dostojewskij 

Die 1 92 1 publizierte Arbeit ist bereits 1917 entstanden. In seinen 
Erinnerungen beriditet Sdiolem: »Im November 1917 schickte Ben- 
jamin mir eine Abschrift seiner im Sommer verfaflten Aufzeichnung 
iiber Dostojewskis >Idiot<, die rmch ebenso bewegte wie ihn meine Er- 
widerung. Idi hatte ihm geschrieben, dafi ich hinter seiner Auffassung 
des Romans und der Figur des Fiirsten Myschkin die Gestalt seines 
toten Freundes [sciL des Dichters Fritz Heinle] sahe. An meinem 
zwanzigsten Geburtstag empfing idi von ihm einen kurzen Brief «, 
dessen »Zeilen und meine Reaktion darauf« »2eugnis von einem star- 
ken emotionellen Moment in unserer Beziehung ab[legen], die sich uns 
in einer stark iiber hohten Weise darstellte.« (Scholem, Walter Ben- 
jamin - die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 66) Der am 3. 12. 
191 7 ohne Anrede verfafite Brief lautet: Mir ist seitdem icb Ibren 
Brief bekommen babe oft feierlich zu mute. Es ist als ware ich in eine 
Festzeit eingetreten und ich mu$ in dem was sich Ibnen eroffnet bat 
die Offenbarung verebren. Denn es ist dodo nicht anders daft das 
w'as Ibnen zugekommen ist Ibnen allein eben an Sie gerichtet worden 
sein mufi und wieder fiir einen Augenblick in unser Leben getreten ist. 
Ich bin in eine neue Zeit meines Lebens eingetreten da das was mich 
mit plane tarischer Geschwindigkeit von alien Menschen loste und mir 
auch noch die nachsten Verhaltnisse aufler meiner Ebe zu Scbatten 
machte unerwartet an einem andern Orte auftaucht und verbin- 
det. [AbsatzJ Mehr will ich Ibnen beute wenn auch dieser Brief 
Ibr Geburtstagsbrief sein soil nicht schreiben. (Brief e, 157) Wenn Ben- 
jamin Ende Januar 1918 Scholem fragte, ob er den Dostojewski er- 
halten habe (Briefe, 171), mag eine weitere, vielleicht maschinen- 
schriftlidie Kopie der Arbeit gemeint gewesen sein; die November 
1917 iibersandte Kopie konnte die Vorlage der Abschrift, die Scholem 
anfertigte und die erhalten ist (s. »t)berlieferung«), gebildet haben. 
Etwa um die Jahreswende 1917/1918 hatte auch Ernst Schoen eine 
Abschrift erhalten: Endlich bin icb in der Lage mein Versprechen zu 
erf iillen und Ibnen von meinen Arbeiten etwas senden zu konnen. 
Sollten Sie die Kritik des »Idioten« von Dostojewski schon kennen so 
bitte ich Sie umso mehr diese Abschrift als Geschenk von mir zu neb- 
men. Das Buch selbst mu$ glaube ich jedem von uns unendlich viel 
bedeuten und ich bin gliicklich wenn ich das fur meinen Teil ausge- 
driickt habe. (Briefe, 172 f.) Uber Benjamins Bemiihung um Publika- 
tion der Arbeit ist nichts bekannt, sie mag der um die VerorTentlidiung 
von Schicksal und Charakter ahnlich gewesen sein (s. 940 f.)- In einem 



978 Anmerkungen zu Seite 237—241 

»ca. 1. 12. i920« datierten Brief vermeldete er Scholem die Annahme 
beider Arbeiten durdi die Heidelberger Zeitschrift »Die Argonauten«. 
Dort wird nun von mir die Kritik des »Idioten« und »Schicksal und 
Charakter« erscheinen. Ich babe die Korrekturbogen bekommen. 
(Briefe, 247) Der endgiiltige Druck jedodi zog sich in die Lange. Ober 
ein Vierteljahr spater - und nodi weitere Monate vor dem endgiilti- 
gen Erscheinen der Arbeit - erst fiel die Entscheidung iiber ihren 
Titel, wie aus einem Brief Benjamins an den Verleger der »Argonau- 
ten«, Richard Weifibach, hervorgeht: Mir kommt ganz plotzlich ein 
Bedenken wegen des Titels meiner Dostojewski-Kritik [. . ./ Ich weifi 
namlich garnicbt wie ich sie eigentlich betitelt habe, Jedenfalls mufi 
Dostojewskis Name im Titel vorkommen. Er soil am besten tauten: 
Walter Benjamin / »Der Idiot von Dostojewski. (ohne Datum 
[ca. Fruhjahr 1921], an Richard Weiftbach) 

Fast eineinhalb Jahrzehnte spater, bei Gelegenheit des Studium[s] der 
Dostojewski- Arbeit von Leo Lowenthal (Die Auffassung Dostojewskis 
im Vorkriegsdeutschland, in: Zeitschrift fiir Sozialforschung 3 [1934], 
343-382), das aus den verschiedensten Griinden fiir micb hochst ertrag- 
reich gewesen [ist] y schrieb er dem Autor: sicher werden Sie durch- 
scbauen y dafi es nicht nur ein wissenscbaflliches Interesse ist 3 das mir 
den Wunsch eingibt, Sie mochten in einem bibliographischen Anhang 
Einblick in Ihre gesamte Dokumentation gewahren. Wenn ich diese, 
moglicherweise, an einem nebensachlichen Punkt komplettiere, so ge- 
schieht das, wie Sie hoffentlich glauben werden, nicht aus Autoreneitel- 
keit sondern um der bibliographischen Seite willen. Aber vielleicht 
ist Ihnen sogar dieser hochst versteckte Aufsatz nicht entgangen, der 
unter dem Titel »Dostojewskis IdioU [sic] als eine meiner allerersten 
gedruckten Arbeiten im Heft 10 der bei Weifibach in Heidelberg 1921 
verlegten »Argonauten« erschienen ist. [AbsatzJ Dieser Aufsatz - so 
weit ich von vielen seiner Formulierungen heute vermutlich entfernt 
sein werde - mag schliefilicb zu einer Frage iiberleiten, die freilich 
fiir Ihren Gegenstand peripher ist, auf die Sie aber vermutlich dennoch 
eine Antwort bereit halten. Ja, ich glaube sie im Umrifi Ihrem Auf- 
satz entnehmen zu konnen. Wieweit ist diese deutsche Rezeption dem 
Werke Dostojewskis adaquat gewesen? Lafit sich> von ihm aus, keine 
andere denken? Mit andern Worten: ist Gorkis Wort das letzte uber 
dieses? Fiir micb, der sehr lange Dostojewski nicht aufschlug, sind 
diese Fragen zur Zeit offener als sie es mir Ihnen zu sein scheinen. Ich 
konnte mir denken, dafi gerade in den Fatten des Werkes, in welche 
Ihre psychoanalytische Betrachtung fiihrt,Fermente sich finden, welche 
der kleinburgerlichen Denkart nicht assimilierbar waren. Kurz: daft 
die Rezeption des Dichters nicht unbedingt mit dieser Klasse, die ver- 
endet, abgeschlossen ist. Wie stehen Sie, in diesem Zusammenhang, zu 



Anmerkungen zu Seite 237—241 979 

Lukacs* Dostojewski-Interpretation in der »Theorie des Romans*? 
(r. 7. 1934, an Leo Lowenthal) Wie dies vorsichtige Monitum zeigt, 
stand noch der reife Benjamin, trotz der Selbstdistanzierung (die iibri- 
gens nicht weniger vorsichtig ist), zur Grundintention seiner friihen 
Arbeit. Diese hatte er - damals - fortzusetzen vor: in einer Neuen 
Kritik des »Idioten«, wie eine hinterlassene langere Aufzeichnung be- 
zeugt. Sie lautet: 

Zu einer neuen Kritik des »I dioten« / Vgl. Hof- 

mannsthal: Vber Charaktere im Roman und Drama 

Abwesenheit der Maskierungszone der Erotik. Psycboanalytisch un- 
deutbar. Emtnente Direktheit 

Abhebung von oberen Schidoten bis zu den Schichten der unverstell- 
ten Erotik wo diese sich nicht mehr an anderes binden kann. 
Vergleicbbar mit der Abhebung der Haut in anatomischen Pr'd- 
paraten. Unmittelbare Expression daher sonst verborgner Schich- 
ten (die Haut, fehlend, auch als Au$gleichsorgan[)J. Im ganzen 
Gescheben findet kein Ausgleich statt bis zur Katastrophe 

Daher, durch Fortfall der Zone erotischer Maskiertheit und Unmit- 
telbarkeit [,] entsteht die Direktheit mit welcher die nackt ent- 
scheidenden Geschehnisse in wenige Tage sich drdngen [.] Hochste 
Bedeutsamkeit, Selbstbedeutsamkeit, Unmittelbarkeit alter Situa- 
tionen daher. 

Trotz dieser Abhebung der ausgleichenden Schicht erscheint das Ge- 
schehen vollendet naturlich 

Das Zeitmafi des Romans ist nicht romanhafi, nicht wie das der 
Karamasoff, die daher grofier scheinen und Fragment geblieben 
sind, mit dem Epos bastardiert. 

Das Leben dieser Menschen (das Dostojewskische) gab es noch nicht 
als er die sen Roman schrieb. Er erf and es aber, aus der Notwen- 
digkeit, vom Menschen etwas zu sagen und zu zeigen 3 was mit 
voller Deutlichkeit sich nur an solchem menscblichen Leben dar- 
stellen lafit. Dostojewski bindet die Menschen um die Menschen 
um irgend etwas letztes Naturhafles in ihnen. So wie Shake- 
speare die Landschafi (seiner Biihne) um den Wald. Dostojewski 
sieht die Menschen in der Tat so an wie Shakespeare die land- 
schaflliche Natur. Er bezieht im letzten Grunde alles auf Ver- 
gangnis und Ewigkeit. Aber nicht wie das Trauerspiel vom 
Wort, sondern von irgend einem andern Punkt aus. 

In diesem Roman gibt es eine Bewegung wie Losung und Zusammen- 
raffung eines Gebindes. Zusammengerafft: wo die Bewegung 
von Myschkin aus gesehen[;J Losung: wo sie vom »Publikum« 
(z. B. bfiers gegen das Ende) aus gesehen ist. 



980 Anmerkungen zu Seite 237—241 

Zusammenhang mit dem Bereicb der Feenmdrchen 

Myscbkin gesandt mit einer Unterschied von Idiotic 

Aufgabe, die er and Wahnsinn 

nicht lost Nicht vollkommen 

Lebedew Caliban menscbliche Natur 

Rogoschin boser Zauberer des Geschebens und 

Gania sein Diener seines Bereiches 

Koljd Ariel 

Sein Voter Verzaubert 

Die beiden ) ein latentes 

Madchen J Zentrum (die Aufgabe) 

Die Struktur des Verlaufs (Anfang und Ende) mdrchenhafl 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 660 



UBERLIEFERUNG 

J »Der IdioU von Dostojewskij. - Die Argonauten, 1. Folge, Heft 

10-12 (1921), 231-235. 
m Dostojewski: Der Idiot. - Sammlung Scholem, Abschrift von 

Scholems Hand; Heft »Vermischte Aufsatze«, 24-29. 
Druckvorlage: J 

Neben den Textvarianten, die die Scholemsche Absdirift der Arbeit 
dem Druck gegeniiber aufweist (sie sind in den Lesarten verzeichnet), 
finden sich Abweichungen in der Transliteration der russischen Eigen- 
namen. So hat die Abschrift - entsprechend der Piper-Ausgabe von 
1909 - Dostojewski, Jepantschin; der Druck dagegen Dostojewskij, 
Epantschin. Obereinstimmend - jedoch abweichend von der Piper- 
Ausgabe - haben Abschrift und Druck Nastassja Philippowna t Lisa- 
weta Prokowjewna t Kolja. Die Herausgeber iibernahmen die Schrei- 
bungen, wie sie im Druck vorkommen; Benjamin las nachweislich 
Korrekturbogen, und es darf unterstellt werden, dafi die Translitera- 
tionen des Drucks die von ihm definitiv beabsichtigte Schreibung aus- 
driicken. 

lesarten 237,12 Nationellen] Nationalen m - 237,27 Kopf unsrer] 
Kopfe unserer m - 237,27 darstellt,] darstellt m - 237,34 erteilt und 
nur darurn] erteilt s und darum m - 237,37 kann] kann, m - 237,37 
kann,] kann m - 238,7 »hat bis sich'] korrigiert fur »filhrt eine Not- 
wendigkeit a priori mit sich; s. den Nachweis zu der Stelle. - 238,8 
sagt,] sagt m - 238,10 Grundcharakter] Grundcharakter, m - 238,28 
Beziehungen,] Beziehungen m - 238,28 betreffen,] betreffen m - 
238,31 unnahbar] unnahbar, m - 238,32 eigene,] eigene m - 238,37 f. 
so wenig, ihn zu erreichen,] ebenso unfdhig ihn zu erreichen m - 
239,5 vor ] vor > m — 2 39» T 7 &blegt,~\ ablegt m - 239,25 fortschwingt,] 
fortschwingt m - 239,28 Person?] Person, m - 2 39, 3 3 Andenken,] 



Anmerkungen zu Seite 237—246 981 

Andenken m - 239,37 konnen;] konnen: m - 240,1 Lebens;] Lebens, 
m - 240,3 versunken] versunken, m - 240,10 f. Licht: »der Idiot*. 
Dostojewski}] Licht. Dostojewski m - 240,22 »Brudern Karamasoff «] 
Brudern Karamasoff m - 240,27 dafi nur] dafi er nur m - 240,28-32 
hervorgeht. bis vor allem] hervorgehen lafit. In der Sprache des Kin- 
des gleichsam legt sicb die Sprache des dostojewskischen Menscben 
auseinander, sie fehlt, das verbindende Medium[ t J und in einer uber- 
hetzten Sehnsucht nach Kindheit - im modernen Spradogebrauch in 
Hysterie - verzehren sich seine Menscben, vor allem m - 240,35 unge- 
heuren] ungeheueren m ~ 241,1 entladen] in m unterstrichen 
nachweise 237,1 Idiot«] F. M. Dostojewski, Der Idiot, Roman in 
zwei Banden. Mit einer Einleitung von Moeller van den Bruck, iiber- 
tragen von E. K. Rahsin (Samtliche Werke. Unter Mitarbeitersdiafl; 
von Dmitri Mereschkowski, Dmitri PhilossophorT und anderen hg. 
von Moeller van den Bruck. x. Abt., Bd. 3, 4), Munchen, Leipzig 
1909 - 238,7 sein«] Novalis, Schriften, hg. von J. Minor, Bd. 2, 
Jena 1907, 231; das Zitat wiirde von den Hg. korrekt wiedergegeben. 
Benjamin ersetzte, entgegen seiner Behauptung wie Novalis sagt 
(238,8), dessen BegrifF des »Ideals a priori« durch den eigenen der 
Idee (238,6). Ober Benjamins Umgang mit diesem Novalis-Zitat s. 
auch 105,37-106,1 sowie Bd. 1, 233,23-26. - 239,23 sei] s. Johann 
Peter Eckermann, Gesprache mit Goethe in den letzten Jahren seines 
Lebens. Neue Ausgabe hg. von Fritz Bergemann, Wiesbaden 1955, 
279 (»4. Februar i829«) - 240,4 Romans] s. Dostojewski, Der Idiot, 
a. a. O., Bd. 2, H4"5$i (!V, 12) 



241-246 Ankundigung der Zeitschrift: Angelus Novus 

Die Entstehungsgeschichte der bedeutenden programmatischen Arbeit 
ist unabtrennbar von der Geschichte des ersten Benjaminschen Zeit- 
schriftenprojekts. Die zahlreichen Zeugnisse erlauben folgende Re- 
konstruktion: Anfang August 1921 schrieb Benjamin an Scholem: 
Kann ich Dich etwa vom zebnten bis vierzehnten August in Munchen 
besuchen? bist Du bestimmt dort? [. . .] Und konntest Du Dich auch 
in diesen Tagen im groflen und ganzen filr mich freimachen? Denn 
wir brauchen viel Zeit. Wozu -/.../ wirst Du nun mit Staunen ver- 
nehmen. Ich habe eine eigene Zeitschrift. Ich werde sie vom ersten 
Januar des folgenden Jahres ab bei [Richard] Weiflbacb herausgeben. 
Und zwar nicht die Argonauten [. . ./ Ohne die geringste Andeu- 
tung meinerseits hat mir Weifibacb eine eigene Zeitschrift angeboten, 
nachdem ich die Redaktion der »Argonauten« zu ubernehmen abge- 



982 Anmerkungen zu Seite 241—246 

lehnt batte. Und zwar wird sie durchaus und bedingungslos in dem 
Sinne gestaltet sein, in dem sie mir wahrend vieler Jahre (genau seit- 
dem ich im Juli 191 4 mil 'Fritz Heinle zusdmmen den Plan einer Zeit- 
scbrifl ernsthafl gefafit hatte) vox Augen gestanden hat. Sie wird 
also einen ganz engen geschlossenen Kreis von Mitarbeitern haben. Ich 
will alles mit Dir miindlich besprechen und Dir nur den Namen sa- 
gen »Angelu$ Novus* [nach dem Titel der aquarellierten Olfarbe- 
zeichnung von Klee, die Benjamin im Sommer 1921 in Mtinchen kauf- 
lich erwarb und zu der er eine »innige Beziehung« entwickelte (Scho- 
lem, "Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 
128; dazu: ders., Walter Benjamin und sein Engel, in: Zur Aktualitat 
Walter Benjamins, a. a. O., 87-138)]. Vber Deine Mitarbeit, welche 
soviel ich sehe eine Bedingung des G elingens dieser Zeitscbrifl ( i n 
me in em Sinn) ist y will und mufl ich Dick sprechen. [Absatz] 
Die Gertichte, welche uber Weiflbach gehen, sind unrichtig. Ich habe in 
dieser Zeit gesehen, dajl er einen durchaus b e stimmt en Trieb, 
wenn auch naturlich keine Klarheit der Absichten hat s und daft dieser 
Trieb ihn anweist, den Verlag ktinftighin auf mich zu stellen [. . .] 
Alles was ich erreicht habe, habe ich ohne die geringste Anstrengung 
oder die geringste Gewalt durchgefiihrt i wenn ich mich naturlich auch 
sehr intensivund besonnen gezeigt habe.DieZeitschrifl y so energisch ich 
den Gedanken ergriffen habe, ist seiner Initiative entsprungen. Er 
weifi nun aber genau was ich will und vor allem was ich nicht 
will. [Absatz] Wenn ich An fang September zuruckkomme, will ich 
zunachst zu [Florens Christian} Rang fabren, danach wenn irgend 
moglich eine Zusammenkunfl mit Ferdinand Cohrs herbeifuhren, um 
Anfang Oktober mit einem Material, auf Grund dessen ich einen gan- 
zen Jahrgang (4 He fie mit je 120 Seiten) im Groflen und Ganzen zu- 
sammenstellen kann, in Berlin einzutreffen. (Briefe, 270-272.) Der 
Plan zu dem Unternehmen diirfte Ende Juni 1921 entstanden sein -Bet 
Weifibach bin ich indessen ein erstes Mai gewesen, heifk es am 25. Juli, 
und gehe morgen wieder bin (Briefe, 268) -: am 30. 6. 1922 bittet 
Benjamin um die Vbersendung meines ersten Jahreshonorars C30. 6. 
1922, an Richard Weiflbach). Die »Erwartungen, die Benjamin mit 
meiner Mitarbeit verband,« setzten »mich«, sdireibt Scholem in seinen 
Erinnerungen, »in nicht geringe Verlegenheit. Ich konnte ihm ja nicht 
verhehlen, dafi ich keine Berufung empfand, mich in einer, wie mir 
schien, besonders sichtbaren Weise an einer deutschen Zeitschrift zu be- 
teiligen, wahrend mein Sinn nach ganz anderen Dingen und Zielen 
stand, was er ja wissen mufke. So ergaben sich Schwierigkeiten und 
Enttauschungen [. . .] Auf seine dringende Bitte hatte ich ihm sofort 
meine Bereitschaft zur Hilfe, aber auch meine Bedenken geschrieben. 
Seine Antwort vom 8. August beleuchtet diese Situation [. . .] Sonn- 



Anmerkungen zu Seite 241—246 983 

tag am Morgen [. . .] eine halbe Stunde bevor ich mich zur Unter- 
zeichnung des Vertrages zu Weiflbach begab, kam Dein Brief, Je 
bedenklicher dieser ist, umso unbedenklicber mufite mein Vertrauen 
auf Dich bleiben, da ohne dieses ich, schwerlich die Sache h'dtte iiber- 
nehmen konnen [. . .] Ich filge nun bier damit Du des Genauern [. . J 
ersehen kannst, meinen Vertragsentwurf bet, der in allem mit dem 
unterzeichneten ubereinstimmt. Der Plan, der durchaus von mir 
stammty sucht eine Zeitschrifl zu begrunden, die auf das zahlungs- 
f'dhige Publikum nicht die mindeste Rucksicht nimmt, um dem gei- 
stigen umso entscbiedener dienen zu konnen. Aus die s em Grunde 
muflte die Abonnentenzahl mit der das Budget zu rechnen bat so 
niedrig wie moglich festgesetzt werden, weil es ein ganz aussichts- 
loser Versuch ware, eine Zeitschrifl wie ich sie im Sinn babe t auf einer 
grojleren Anzahl (allermindestens batten es 1000 sein miissen) maflig 
(ca. $0 M jdbrlich) zablender Abonnenten aufzubauen. Das Publikum, 
das sicb Zeitschriften »halten« kann, nimmt eine solche nicht ge~ 
schenkt und viele, vielleicht die meisten an die sie sicb wendet, konnen 
sie auch nicht balten, selbst wenn sie nur 30 M kostet. Daher besteht 
die einzige Moglicbkeit, das »Abonnemenu als eine mdzenatische In- 
stitution zu fas sen, damit die Zeitschrifl nicht tanzen mu$, wie das 
Publikum pfeifl. Reichen die hundert Exemplare fur das echte, nicht 
zablende Publikum nicht mebr aus, so kann man die Gratisexemplare 
vermehren. Scbwierigkeiten konnen dadurcb nicht entstehen, weil die 
Gratisexemplare den Aufdruck »Belegexemplar« tragen werden. Zu- 
nacbst wird iiber die Beziehung des Titels auf Klees Bild in der Zeit- 
schrifl nichts gesagt. [AbsatzJ Hiermit hoffe ich, einen wesentlicben 
Teil Deiner Bedenken weggeraumt zu haben. Nun kommen die meini- 
gen. Ich bin zwar an 480 Seiten im Jahr nur als Maximalgrenze ge- 
halten, und kann den Gesamtumfang niedriger balten; trotzdem babe 
ich wirklich wesentlicher P r o s a nicht die Fulle in Aussicht. Nun hat 
mir Frdulein Burchardt [Scholems Freundin] auf meine Frage gesagt, 
dafi [Samuel Joseph] Agnon seine deutscben Ubertragungen wahr- 
scbeinlicb gem im »Angelus« sehen wurde, erstens weil sie dort unent- 
geltlich zuganglich sind, zweitens weil es ihm sogar angenehm sein 
konnte, sie nicht in einer als solchen jiidischen Zeitschrifl zu haben. 
Wenn das wahr ist, so mochte ich »Die neue Synagoge* [irrtiimlidi 
fur »Die alte Synagoge«] im ersten Hefle bringen. Und ich bitte 
Dich, alles zu tun, um es wahr zu machen. Ferner ware es mir wicb- 
tig, dafi Du mir Aussicht auf Deinen Brief an die Herausgeber vom 
»Buch vom Judentum« eroffnest. Kannst Du mir ihn nicht schicken? 
Auch den Brief, den Du vor mebr er en Jahr en an Siegfried Lehmann 
gescbrieben bast, sollte man, soweit ich mich entsinne, drucken. [Ab- 
satzJ Heute babe ich an [Ernst] Lewy geschrieben und auch 



984 Anmerkungen zu Seite 241—246 

meinerseits gebiihrend Deine Besuchsplane angekiindigt, auch geschrie- 
ben> daft ich gem dabei sein mochte. Auch vom Angelas habe ich ihm 
berichtet und sein Wohlwollen in jeder Weise erbeten.« (Scholem, 
Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 131- 
133; zu Agnon und den beiden Brief en s. a. a. O., 133 f.) Der Besuch 
Scholems und Benjamins bei dem Sprachforscher Lewy fand 8.-10. 9. 
1 92 1 statt. Benjamin trug »seine Ideen iiber das, was der >AngeIus< 
sein solle, vor, in der Richtung, wie sie in der >Ankiindigung< der 
Zeitschrift enthalten sind. ImBezirk desDichterischen war klar, dafi er 
die Produktion Fritz Heinles und seines Bruders Wolf in den Mittel- 
punkt stellen wollte. In der Prosa ging es ihm darum, Autoren vorzu- 
stellen, die literarisch gar nidit oder nur am Rande hervorgetreten wa- 
ren und eine Haltung zur Sprache einnahmen, die der ihn selber be- 
herrschenden verwandt war. Das war es, was unabhangig vom jewei- 
ligen Thema eines Beitrags, in seinem Geiste Mensdien wie Agnon, 
Florens Christian Rang, Ernst Lewy und mich vereinigte. Lewy war 
von Benjamins Gedanken iiber Sprache, obwohl sie weit iiber seine 
eignen hinaus gingen, angetan und schlug seinerseits vor, fur die Zeit- 
schrift eine sprachkritische Analyse der Reden Wilhelms II. zu Hefern.« 
(a. a. O., 135 f.) Von weiteren Bemiihungen um Mitarbeiter berich- 
tete Benjamin Scholem unterm 4. 10. 1921; die Rede ist von Erich lin- 
ger und einem Besuch den Wolf Heinle /. . ./ bei uns machte [. . .] 
Von seinen wie seines Bruders Sacben hat er eine grofte Distanz 
[. . . ich hoffe] mich mit ihm einigen zu konnen. In diesem Sinne ist 
der Anteil von seinen und seines Bruders Sachen an der Zeitschrift 
sowie meine Herausgabe von Fritz Heinles Nachlafi besprochen wor- 
den. Sein letzter Brief [. . ./ scheint sicb zum grofiten Teil aus Wi- 
derwillen gegen den Titel zu erklaren, dessen Beziehung er nicht 
kannte y der ihm nun aber sehr lieb ist [. . ./ Das erste Heft nimmt 
langsam Gestalt an. Ich will nun den Prospekt in den nachsten Tagen 
abfassen [was jedoch erst im Dezember geschah; s. u.]. Hierzu ist 
es mir sehr unerldfilich zu wissen, welchen von den unter uns bespro- 
chenen Gegenst'dnden Du zundchst anzugreifen gedenkst. Es waren 
die Klagelieder, das Buch Jona und die Wissenschaft vom Judentum 
[dazu s. Scholem, a. a. O., 139 f. und 117] /. . ./ Ernst Bloch [. . .] 
schrieb einen Brief, der [. . .] durchaus nicht einer Absage gleichkommt 
(Briefe, 273-275). Autoren wie Florens Christian Rang bereiteten dem 
intransigenten Herausgeber schwerste Skrupel: mir bleibt, Deinem 
[Scholems] Wunsche und meinem Vorsatz zum Trotz, nichts iibrig, 
als Dir Rangs Arbeit uber die »Selige Sehnsuchu [spater im r. Jg, 
der Zeitschrift »Die Kreatur« gedruckt] zu senden. Die Frage, ob sie 
in die Zeitschrift aufzunehmen sei y ist eine so schwierige und hier am 
Anfang so wichtige t daft Du sie nicht auf strafliche Unklarheit bei 



Anmerkungen zu Seite 241—246 985 

mir wirst schieben wollen, wenn ich Dir kurz gesagt babe wie ich und 
wie Dora [Benjamins -Frau, die etwas wie Redakteursfunktionen 
ubernommen zu haben sdiien; s. Briefe, 275] zu dieser Arbeit 
stehen. Und wenn ido Dich bitte, bitten mufi, sie zu lesen, so nur in- 
sofern als es notwendig ist um die Frage zu beantworten, die sich auf 
den folgenden Urteilen aufbaut. Vbrigens ist das ganze schliefilich in 
zwei Stunden gelesen und Du wirst sie erubrigen konnen, wenn Du 
weifit, dap hier nicht der Anspruch einer »Mitredaktion« vorliegt, 
sondern der Rat, den id) brauche, um in einer selten schwierigen Frage 
mit Dir in einem Sinne vorzugehen. Das heiflt also, dafl ido Deinem 
Rat in dieser Sache jedenfalls folgen werde. Nachdem er sein Urteil 
iiber die Arbeit in sechs Punkten spezifiziert hat, fahrt er, resiimie- 
rend, fort: Was ido nidot zu erkennen vermag und worin der wesent- 
liche Grund meiner Unklarheit liegt ist die Frage: ist die Problematik, 
welche in der Spracbe liegt (und hier viel sichtbarer als im Gehalt ist 
[er nennt sie unertrdglich bzw. voll Abgesdomacktbeiten]) von uns 
(Dir und mir) aus nodo als diskutierbar zu betrachten? [. . .J Gewifi 
darf und mufi id? audo Dinge bringen, denen ich in letzter Hinsicht 
verneinend gegenuberstehe wenn sie in sich bestandhaft und hodobe- 
deutend und rechtzeitig sind - wenn sie nicht in einer undiskutierba- 
ren Weise sich dem Leser zu imponieren suchen. Denn diesen Ton des 
nicht-zu-diskutierenden, schledotweg diktatorischen oder imponieren- 
den kann ich freilich nur ~ allenfalls - bei Aufierungen leiden, die 
ich bis ins Letzte vertrete (und die werden ihn kaum haben, vielleicht 
nur in der Kunst wo es etwas anderes damit ist.) [. . .] Jedoch steht 
fur mich die hohe Bedeutung der Arbeit in dem genannten Sinne fest. 
[Absatz] Das Problem dieser Arbeit ist ubrigens - sadolich ange- 
sehen - nicht ohne weiteres das der Mitarbeit von Rang. Denn nur 
das Thema und der Radikalismus sind hier das Kritische. Ob es aber 
personlich angesehen dies nicht doch ist, ist naturlido eine andere 
Frage, die ich furchte, etwa bejahen zu mussen. [Absatz] Ins erste 
Heft mochte ich sie keines falls setzen. (Briefe, 275-277) Scholem ver- 
fafite ein Gutachten, in dem er davon abriet, die Arbeit »im Angelus 
zu bringen.« (Scholem, a. a. O., 140) Benjamin antwortete: wirklich 
hast Du das schwere Amt wohl ausgefiillt und dafur herzlichen Dank! 
/. . ./ Zunachst also bestatige ich Deine Meinung verstanden zu haben 
und war auch auf Interpretation nicht angewiesen, we'd sie sich, be- 
sonders in den redaktionell wichtigen Stucken mit der meinigen deckt. 
Denn was in dieser Hinsicht fiir mich entscheidet ist freilich die - 
gleichsam pathologische - Angewiesenheit auf Diskussion in dieser 
Arbeit. Ich werde sie also nicht bringen und habe auch schon dies 
von fernem dem Autor angekundigt. Ido hoffe sehr, dafl das zu kei- 
nen verhangnisvollen Auseinandersetzungen fuhrt. (Briefe, 278) Die 



9$6 Anmerkungen zu Seite 241—246 

noble Haltung Rangs, als er sich spater, nadi dem Scheitern des Ben- 
jaminschen Zeitschriften-Projekts, bei Hofmannsthal fur den jiingeren 
Freund verwendete (s. u.), sollte erweisen, dafi jene Hoffnung be- 
rechtigt war. Anfang November 192 1 erstattete Benjamin Scholem 
diesen Zwisdienbericht: Der Verleger scbwelgt in Vaterfreuden, wab- 
rend icb micb kaum Mutter fiihle. Er berechnet den Geburtstag seines 
Jiingsten [i. e. des Angelus Novus] auf Januar 1922, wdhrend icb 
aus Mangel an krdfliger Nabrung jeden Geburtstag in Frage ziebe. 
Krdftige Prosa vor allem fehlt. [Absatz] Bisher babe icb fur das erste 
Heft [AbsatzJ Aus dem Nacblafi von Fritz Heinle [/] Gedichte u. a. 
von Wolf Heinle [I] [Historiscbe Psycbologie des] Karneval[s] von 
Rang [I] [Die altej Synagoge von Agnon [I] [Die] Aufgabe des 
Vbersetzers [s. Bd. 4, 9-21] von mir [Absatz] Von alien aussteben- 
den Arbeiten ist die Deinige, demndcbst die zweite Erz'dhlung von 
Agnon [Aufstieg und Abstieg] bei Weitem das Wicbtigste [nodi 
1934 schrieb er, dafi ihm Die alte Synagoge und der Bucherwart die 
beiden liebsten Gescbicbten sind; Briefe, 601]. Da es mir nun nacb 
genauer Erwdgung garnicbt moglicb ist, die Ankundigung der Zeit- 
scbrift eber zu verfassen y als icb das erste Heft in allem Wesentlicben 
vor mir sehe 3 so bedeutet das, daft icb notgedrungen auf das warte, 
was von Dir kommt. Denn da icb in jener Ankundigung nicbt grund- 
satzlicber als durcbaus notwendig ist, sprecben will, so kann icb nicbt 
anders als micb explicit oder implicit auf Vorliegendes beziehen, was 
nur mbglido, wenn es mir ganz gegenwdrtig ist. (Briefe, 280 f.) Nodi 
Ende November lag ihm nidit alles vor Augen, und es gab weitere 
Bedenken [. . .] Namlicb was Rangs Mitarbeit und die ganze Stellung 
zu mir, }a selbst sein eigenes Ergeben betrifft, so macht es micb sebr 
bedenklicb, dafl [. . .] aucb seine Shakespeare- Arbeit (die er [. . ./ 
nocb neben dem Karnevalsaufsatz den icb dafiir angenommen babe 
in der ersten Nummer seben will) wieder auf Cbristus hinauslduft. 
Idb erwarte sie in den nachsten Tagen. Mit grofterer Freude aber er- 
warte icb die Agnonsdoe Geschicbte. (Briefe, 283) Mit welcher Unge- 
duld, davon spridit ein wenig spater gesdiriebener Brief an Scholem, 
der die Geschichte ubersetzte (s. Briefe, 282, Anm. 4). Wobl oder iibel 
mufi icb in den Dingen des Angelus mebr und mebr auf den Beistand 
fals&er Freunde und des Erzfeindes zdhlen, da die wabren mir sebr 
viel Rummer machen. Rangs bocbst umfangreicbe Shakespeare- Arbeit 
ist vor kurzem gekommen und scbeint sich sebr scbwierig anzulassen. 
Das erste Heft soil - wenn nicbt Komplikationen mit dem Autor die- 
sen Plan vereiteln - die » historiscbe Psycbologie des Karnevals« brin- 
gen. (Briefe, 285) An den Verleger erging unterm 3. 12. 1921 folgen- 
der Bericht: Die Ankundigung des Angelus ist Ihnen nocb nicbt zuge- 
gangen, we'd icb micb entschlossen babe, sie erst zu verfassen, wenn das 



Anmerkungen zu Seite 241—246 987 

erste Heft mir in alien Einzelkeiten bestimmt vorliegt. Binnen ganz 
kurzem wird das der Fall sein. Es wird hochstwahrscheinlich enthal- 
ten [Absatz] Oden und Gedtchte von C. F. Heinle [I] Dramatische 
Gedichte von Wolf Heinle [i] Die [altej Synagoge [/] Aufstieg und 
Abstieg [hinter beiden Titeln Klammer] von J. S. Agnon[l] Histo- 
riscbe Psychologie des Karnevals von F. C. Rang [I] Vber das Klage- 
lied von Gerhard Scholem [I] Die Aufgabe des Obersetzers von mir 
[Absatz] (Diesen letzten Aufsatz, die Vorrede zum Baudelaire, will 
ich hier im Vorabdruck vorausschicken, indent icb fur bestimmt halte, 
dafi das erste Heft dem Erscheinen des Baudelaire zuvorkommt [zur 
Publikationsgeschichte s. Bd. 4, 889-895] /. . ./ [Absatz] Abge- 
sehen von angekundigten Arbeiten, wie einem grofien Aufsatz uber 
Shakespeares Sonette, einer Arbeit uber »das GebeU, »Wucher und 
Recht«, »Recht und Gewalu von verschiedenen Autoren liegt auch be- 
reits einiges vor, was im ersten Heft keine Aufnahme mehr finden 
kann. Eine Novelle »Der Tod der Liebenden« und von mir eine um- 
fangreicbe und wie ich hoffe nidot nur wesentliche sondern auch uber- 
rascbende Kritik der Goetbeschen Wahlverwandtscbaften [s. Bd. i> 
123-201], ganz zu schweigen von den Arbeit en der beiden Heinle. 
[Absatz] Alles dies sind Arbeiten aus dem Kreise meiner Bekannten. 
Auch zum Zuriickweisen einiger Manuscripte ergab sich schon die un- 
erwiinschte Notwendigkeit. [Absatz] Nicht vergessen mochte icb y 
Ihnen zu sagen, dajl ich mit grower Freude auf der hiesigen [Berliner] 
Buchausstellung die Vitrine Ihres Verlages bewundert babe. Moge bei 
einer kommenden Gelegenbeit der Angelus unter diesen Schatzen sich 
wurdig ausnehmen. [Absatz] Das Bild, das ibm den Namen gege- 
ben hat, hangt mittlerweile in meinem Zimmer und ich hoffe, dafl Sie 
es hier auch bald sehen. Es lage mir sehr viel daran, einen moglichst 
genauen Termin Ihrer Herkunft zu wissen, weil ich - gewijl in Ihrem 
Sinne - denke, da/! wir spiitestens zu dieser Zeit die Arbeit am ersten 
Heft schliefien. Der Satz mufl naturlich schon friiher begonnen haben. 
Auch die Platte fur den Titel (es wird sich wohl um Lithographie 
handeln?) miifite dann fertig vorliegen. Ich bitte Sie daher, die beilie- 
gende Notiz [s. u.J, die das Ergebnis unserer Beratung uber diesen 
Punkt enthalt, einem Schriftzeichner baldigst zu ubergeben, der uns 
dann seinen genau nach diesen Direktiven gehaltnen Entwurf vor- 
zulegen hatte. (3. 12. 1921, an Richard Weiftbadi) In der Notiz heifit 
es: Alle Linieneinfassungen des Titels wie mit schwarzer Kohle leicht 
aufgetragen (vgl. Karl Walsers Buchtitel zu den »Aufsatzen« oder 
»kleinen Dichtungen* von Robert Walser) [Absatz] Alle Buchstaben 
in s chrager und einfacher ANTIQUA. Die Buchstaben des Zeit- 
scbriftentitels viel grofier wie die der Verlagsangabe. Nur Grofibuch- 
staben. Der Titel ANGELUS NOVUS wie mit tiefblauem gesattig- 



988 Anmerkungen zu Seite 241—246 

tern Pastell. Die Rahmeneinfassung aufterhalb der vier das Rechteck 
begrenzenden Striche und ob eine solche erforderlich uberlasse ich dem 
Entwerfer. [AbsatzJ Statt »beu Richard Weiftbach ware auch »Ver- 
lag Richard Weiftbach* moglich. In beiden Fallen mil dem Zusatz 
Heidelberg in derselben ein en Z eil e. (a. a. O., Beilage) 
Ein Brief, datiert 17. 12., meldet die Freude iiber Agnons Erzahlung. 
Ihr dichterischer Gehalt scheint mir so groft, wie der der letzten Ge- 
schichten uberhaupt [. . .] Vber ein anderes, kurzlich [dem Angelus] 
gewidmetes Manuscript denkt er weit weniger gut und bringt mich 
wieder einmal in die Verlegenheit, seinen verschwiegensten Gedanken 
meine Stimme leihen zu miissen. Es ist Rangs Shakespeare- Arbeit t 
oder vielmehr ein Auszug, der aus 8 Vbersetzungen mit Kommentar 
besteht. Wenige Proben die ich macbte, schienen mir ein kategorisches 
Urteil oder mindestens eine unverhulltere Aussprache so dringend zu 
fordern, daft ich zum weiteren Studium noch nicht den Mut gefaftt 
habe. Ich suche dies umso mehr zu verschieben, als Rang [. . .] viel- 
leicht herkommen wird und meine prinzipielle - und vielleicht ge- 
radezu zur Trennung fuhrende Auseinandersetzung mit ihm } oiler 
bisher aufgewendeten Vorsicht zum Trotz nicht mehr zu vermeiden 
sein wird [. . .] Sonst betrifft noch die Zeitschrift meine Arbeit uber 
die Wahlverwandtschaften (Briefe, zS6 f.). Zwei Tage spater erhielt 
Weifibach die Nachridit: Das Manuscript des ersten Hefies des Ange- 
lus Novus ist fertig. Ich halte es aber noch zuruck, weil ich moglicher- 
weise noch Anderungen der Zusammenstellung auf Grund einiger fur 
die nachsten Tage mir angekiindigten Manuscripte vornehme. Sowie 
indessen die Arbeiten zur Herstellung der lithographischen Umschlag- 
seite begonnen haben, schliefie ich ab und verfasse meine Ankilndi- 
gung. Haben Sie den Entwurf bereits erhalten? Ich bitte Sie um des- 
sen freundliche Vbersendung. (19. 12. 1921, an Richard Weifibach) 
Binnen der folgenden vier Wochen wurde dann die Ankundigung 
geschrieben. Im nachsten Brief an Weifibach, datiert 21. 1. 1922, heiflt 
es: heute sende ich Ihnen den gesamten Ertrag meiner bisherigen Ar- 
beit filr den »Angelus« ein: das Manuscript des ersten Hefles und meine 
»Ankiindigung«. Mit beidem hoffe ich die Erwartungen zu erfullen, 
denen ich Ihr Vertrauen verdanke. [AbsatzJ Nun werden Sie wohl 
die buchhandlerische Ankundigung schreiben und ich hoffe, daft wir 
dann schon in kurzer Zeit die beiden Prospekte herausbringen kon- 
nen [. . .] Meine eigenen Beitrdge zeichne ich [. . .J mit einem 
Kryptogramm: I. B. Niemann oder Jan Beim. [AbsatzJ Bevor der 
definitive Druck des ersten Hefles erfolgt, werde ich Sie, wie ich zu- 
versichtlich hoffe, in Berlin sehen /. . ./ Was die Raumverteilung des 
ersten Hefles betrifft, so denke ich, daft sich das vorliegende Manu- 
script auf den geplanten 120 Seiten auskommlich wird unterbringen 



Anmerkungen zu Seite 241—246 989 

lassen, auch wenn wir y wofur ich Ihr Einverstandnis vermute y jedem 
Gedicht immer eine voile Seite einraumen. Denn dies ist der typo- 
graphischen Haltung der Zeitschrift wohl angemessen. Dafiir wird 
die Prosatype nicht allzu gr o fi sein diirfen. Hierfur erwar- 
te id) naturlicb Ihre Vorschlage in Gestalt von Probeseiten. Noch 
einmal mochte ich bet dieser Gelegenheit das Fraktur-Problem Ihrer 
Erwdgung anheimgeben. Halten Sie nicht eine gelegentliche Verwen- 
dung von Fraktur in der Prosa fiir angangig? Sie kennen meine 
Schwache hierfur und ich will, da wir gerade dabei sind y nur gestehen, 
dafi es zu meinen schonsten Traumen gehort, gewisse meiner Prosa- 
sachen einmal in der Ungerschen Type zu sehen. [AbsatzJ Fur den 
Standort der Verfassernamen mochte ich dem Beispiel der Argonau- 
ten folgen und sie vor den Titel setzen. Eine andere Frage ware, ob 
man nicht im Inhaltsverzeichnis auf der Innenseite des Vor der deckels 
die Verfassernamen in einer Sonderrubrik rechts neben die Titel 
stellt [. . .] Eine kleine Anderung im Manuscript mochte ich mir 
vorldufig in sofern vorbehalten, als ich y wenn der Raum ausreicht ) 
meine Kritik der Porte etroite [s. 6i$-6ij] vielleicht durch meine 
Besprecbung der Gemalde von August Macke [eine verschollene Ar- 
beit] ersetzen mdchte y weil im ubrigen bildende Kunst im ersten 
Hefte sonst nicht behandelt ist. [AbsatzJ [. . ./ Ich weijl nicht y ob die 
Nacbricbt, die ich Ihnen wahrend meiner Krankheit sandte t meinen 
Dank fur Ihre freundliche Erfiillung meiner Wunsche aussprach. Ich 
mochte ihn im Zweifel hier zugleich mit der Hoffnung wiederholen, 
daft auch in finanzieller Beziehung der Angelus Ihr en Erwartungen 
entsprechen moge. (21. 1. 1922, an Richard Weiflbach) In welcher 
Auflage wollen Sie die »Ankundigung<x drucken lassen? Ich glaube y 
sie muflte unbedingt alien Exemplaren des ersten Heftes beigelegt 
werden. Aufierdem wird sie ja vorher versandt werden. Ich denke, 
sie sollte grojl und reprasentativ gedruckt werden. (a. a. O., Post- 
scnptum) Dies geschah, wenn audi nicht grofl und reprasentativ, so 
doch in der goutierten Fraktur - freilich erst Ende des Jahres 1922 
(s. u.); der Benjaminsche Korrekturabzug ist erhalten und bildet die 
Druckvorlage fiir den gegenwartigen Text (s. »Uberlieferung«); hin- 
gegen ist der Schreibmascbinenabzug y von dem in einem bei Scholem 
zitierten Brief die Rede ist (s. Scholem, a. a. O., 143), anscheinend 
verloren. Ebendort heifk es, mit Bezug auf die Zeit wohl noch kurz 
vor Absendung des ersten Zeitschriftenmanuskripts an Weifibach: »Er 
und Dora beschwerten sich, daft ich meine Beitrage [. . .] noch nicht 
geliefert hatte, obwohl [das.erste Heft] im Fruhjahr gedruckt werden 
sollte, was freilich durch die sich in scharfem Tempo beschleunigende 
Inflation nicht zustande kam. Walter schrieb, das erste Heft wiirde 
dreiftig freie Seiten haben mit dem Titel >Gerhard Scholem: Die 



990 Anmerkungen zu Seite 241—246 

leeren Versprechungen<.« (a. a. O., 143 f.) Vor einem Treffen Weifi- 
bachs mit Benjamin wohl im Marz oder April in Berlin gingen bei 
diesem die ersten Druckproben ein. Sie eroffnen sehr schone Mog- 
licbkeiten der Auswahl. Ich hoffe der Angelas wird wiirdig an die 
Seite Ihrer schonen Buch-Ausgaben treten. Das Nahere uberlasse id? 
unsrer hiesigen Beratung. (20. 2. 1922, an Ridiard Weifibach) Sie sind 
nun hoffentlich wohlbehalten nach Heidelberg zuruckgekehrt [. . .] 
Begierig bin ich zu erfahren, was sick unterdefl fiir den Angelus erge- 
ben hat, heifit es knapp acht Wochen spater (16. 4. 1922, an Ridiard 
Weifibach), und gleich darauf: Heute kam Ihre erste, so erfreuliche 
Nachricht aus Heidelberg. Wir diirfen wohl hoffen in ihr das beste 
Vorzeichen fiir den sommerlichen Teil unsres Briefwechsels zu besit- 
zen [. . .7 Ich selber reise morgen fur einige Tage von hier fort und 
hoffe bei einem Besuch des Herrn Cohrs in Ilfeld eine auch fur den 
Angelus. nicht unwesentliche Bekanntschafl fruchtbar zu emeuern. 
(18.4. 1922, an Richard Weifibach) Wegen des Angelus - des ihm 
Ndchstliegenden - geriet Benjamin zunehmend in Sorge. Ich bitte Sie, 
es nicht sosehr metner Ungeduld als den hochst drangenden Umstan- 
den zuzuschieben, wenn ich immer wieder nach dem Stand der Ver- 
handlung mit der Paplerfabrik, insbesondere aber nach der raschesten 
Herstellungsmbglichkeit der Ankundtgung frage. Denn fur mich wird 
es hohe Eile y den Mitarbeitern zur Befestigung ihres Vertrauens etwas 
Greifbares darzureicben, da ich nunmehr auch von Agnon ein sehr 
mifivergntigtes Schreiben erhielt, in dem er mir sagt y dafi seine beiden 
Stiicke in einem Sammelband mit andern Obersetzungen seiner Sachen 
im Sommer erscheinen werden und er sie naturlich meinetwegen nicht 
spater erscheinen lassen wird; wahrend der Angelus sie selbstverstand- 
licb nur als Erstdrucke bringen kann. - Das schleunige Erschei- 
nen der Ankiindigung ist dringend notig. [Absatz] Lassen Sie 
mich mit diesem Alarmruf schliefien. (3. 5. 1922, an Richard Weifi- 
bach) Nicht viel spater folgte dieser - undatierte - Brief: ich frage 
mich, welche Moglichkeit besteht uberhaupt noch, Termine mit [dem 
Angelus] einzuhaltenf Eine Frage, die mehr und mehr identisch mit 
derjenigen nach seinem Zustandekommen wird. Ich habe Ihnen im 
letzten Brief meine Schwierigkeiten mit Agnon geschildert [. . ./ Ich 
habe Ihnen hier in Berlin den Fall Rang unterbreitet. Alles Dinge, 
denen ich mit einiger Kaltbliitigkeit, wie ich mir schmeichle, entgegen- 
treten konnte, wenn ich selber ein Definitivum moglicher Art absehen 
konnte. Dagegen geraten unsere Termine immer von neuem ins Glei- 
ten. Und wenn ich derart den Credit metner nicht allzu zahlreichen 
Mitarbeiter verliere - was fiir mich ein halbes oder volliges Verzich- 
ten auf die Sache bedeuten wiirde, der ich jederzeit pflichtmaflig 
meine besten Krafie habe zukommen lassen, wie ich es auch ferner mit 



Anmerkungen zu Seite 241—246 991 

jeder unsrer gemeinsamen Arbeiten zu halten gedenke, - was es be- 
deuten wiirde, mochte ich Ihnen garnicht andeuten. Und doch sehe 
ich kein Ende ab, wenn nicht, sowohl die Herstellung des Satzes als 
auch die definitive Zusage der Papierfabrik ehestens zu bekommen ist. 
Wie insbesondere sich die Sache gestalten soil, wenn letztere nicht 
vor Ihrer Abreise zustande kommt, ist mix vollig dunkel. Daft ich 
nicht auch uber diese rein technischen Dinge, mit denen ich mich unbe- 
fragt nicht befassen wollte, mit Ihnen [mich] ins Benehmen gesetzt 
habe, bedaure ich heute, besonders mit Rucksicht auf die grofte Erho- 
hung der Papierpreise ganz ebenso wie Sie selber. Wie ich denn uber- 
haupt aussprechen mochte, daft ich Uber den Schwierigkeiten der ge- 
meinsamen Arbeit nie das gegenseitige Vertrauen vergesse, aus dem sie 
hervorging. Und da ich Ihre Schweizerreise nicht mit Alarmbriefen 
begleiten mochte, so muftte ich auch einmal einen Brief an Sie, der mix 
sonst ein Vergnugen ist, mir schwer fallen lassen, damit wir vorher 
zur Klarheit kommen /. . ./ Das Gesamtmanuskript des ersten Hef- 
tes, sowie die Ankundigung wird doch noch vor Ihrer Abreise Poeschel 
zum Setzen zugehen? (ohne Datum [Mai 1922], an Richard Weifi- 
bach) Wahrend alle iibrigen Desiderate Benjamins an den Verleger 
in jenen Wochen zufriedenstellend behandelt worden schienen, rissen 
die Mahnungen wegen des Angelus nicht ab. So heifk es Ende Juni: 
ob ich den unveranderten Inhalt des ersten Hefies beibehalten kann, 
h'dngt von den Verhandlungen, die ich zur Zeit mit den Autoren 
fuhre sowie von dem Termin seines Erscheinens ab. Daft die Buchform 
einer Veroffentlichung ihrem Erstdruck in der Zeitschrifl nicht allzu- 
rasch folge y ist in jedem Sinne wiinschenswert und auch dies eine 
Mahnung fur uns, da wir ja weder Autoren noch Verleger in dieser 
Hinsicht beeinflussen konnen. Zum Schluft bitte ich Sie, um wenig- 
stens auf diese Weise den projektierten Geburtstag des Angelus zu 
begehen, um die Vbersendung meines ersten Jahreshonorars von 
3200 M. Ich habe fur diese Tage damit gerechnet. (30. 6. 1922, an 
Richard Weifibach) Erst ein Vierteljahr spater wieder spricht ein 
Briefzeugnis vom Angelus - seinem Riickzug aus der Gestalt der 
Zeitschrifl in die alte bildliche Existenz. Zum - jiidischen - Neujahr 
schrieb Benjamin Scholem und seiner Freundin: Das alte [Jahr] ist 
nicht vorilbergegangen ohne die verborgensten Befurchtungen einzulo- 
sen. Denn als wollte er ein letztes Mai beweisen, ein wie guter Jude er 
ist, hat der Angelus mit dem Abschied des gestrigen Tages den seinen 
verkilndet. Er hat sein altes Haus am kleefarbenen Himmel bezogen, 
und der Ehrenthron des Redaktors in meinem Herzen steht leer. 
Beifolgend der Vorspruch des Leichenbitters [scil Weifibachs]: »Den 
Satz fur den Angelus muftte ich vorldufig einstellen lassen, weil man 
mir - dem im Druckgewerbe seit kurzem eingefuhrten Verfahren ge- 



$$2 Anmerkungen zu Seite 241—246 

mdfl - einen sehr groflen Vorschufl abverlangte. Das Ungerbuch, aus 
dem ich groflere Einnahmen baben werde, wird erst in vier Wochen 
fertig. Ich hoffe dann, Uber die notwendige Summe verfiigen zu kon- 
nen . . .« Das biflchen Flunkerei, unlet dem hiermit sein Erdenleben 
verflackert, verrdt, was auch an diesem Wesen unzuldnglich. - Ihr 
seid die ersten, denen die Nachricht zukommt. So sehr ich furchte, dafl 
Agnon die Nachricht ungUnstig aufnimmt, so sicher glaube ich auf 
eine Amnestie durch Escha [Elsa Burchardt] hoffen zu durfen. Ich 
selber fiihle mich durch diese Wendung der Dinge wieder in die alte 
Entschluflfreudigkeit zuriickversetzt, lndem ich nun weiterhin (so- 
fern das noch in Frage kommt) mich mil der Zeitschrift nur befassen 
werde, falls dies mit anderen Vorhaben nicht zusammenstoflt, lasse 
ich vorderhand alle Arbeit daran ruhen, wdhrend ich Weiflbach mit 
drohendem Schweigen begegnen werde. (Brief e, 289 f.) Einen Tag 
spater, am 2. Oktober, schrieb er an Rang: Mich drdngts zum Ab- 
schlufi mit Altem um Neues mit freier Kraft anfassen zu konnen. Die 
Zeitschrift y deren Unternehmen wie Du weiftt aus innerster Verpflich- 
tung sich mir vorstellte, bleibt fur mich immer in anderen Zusammen- 
hangen als rein pragmatischen gegenstandlich. Und so ist gegenwdrtig 
der Augenblick gekommen, da ich aus der Konstellation es ablese, dafl 
es Zeit ist, den alten Plan mit seinem (fur mich) rigoristischen Cha- 
rakter fallen zu lassen und alles so einzurichten, dafl die Zeitschrift, 
wenn sie zustande kommt, mir in jeder Beziehung dienlich ist. Du 
weifit, wie sehr ich - mit Recht oder Unrecht - immer uberzeugt 
war, dafl dieser Plan auf meine zukunftigen Wege unter Umstdnden 
ein schweres Hemmnis legen wiirde. Heute ist es soweit, dafl ich meine 
Entscheidungsfreiheit wieder an mich genommen habe und entschlos- 
sen bin von nun an, ganz unabhdngig von Weiflbachs Regungen, 
jederzeit das Ja oder Nein eines offentlichen Angelus zu entscheiden. 
Zur Zeit in dem Sinne, dafl ich mehr Klarheit uber meine akademi- 
schen Aussichten haben will, bevor ich hier weitergehe [. . .] Da es 
so liegt, so kommt meinen eigenen Gedanken nichts so nahe, als der 
von Dir erwdhnte alte Plan eines Blattes der Freunde, bei dem ich 
nur gem die redaktionelle und technische Arbeit auf ein Minimum 
reduziert sdhe. Und das muflte auch wohl moglich sein [. . .] All diese 
Entschlilsse legte Weiflbach mir nahe mit der Mitteilung, dafl die 
Druckerei einen Vorschufl verlange und er im Moment daher den 
Satz des Angelus habe zuruckstellen milssen. Im Oktober . . . sapienti 
sat. Von alledem was ich hier schreibe erfdhrt er vorderhand nichts, 
doch ist alles zur Abreise klar und neue Beziehungen zu Verldgen 
schon aufgenommen. Dabei werde ich gegebenen falls Deine Hilfe 
dankbar in Anspruch nehmen. Vom Inselverlag wage ich mir freilich 
nicht allzuviel zu versprechen, we'd ich glaube, dafl die Vorsicht, mit 



Anmerkungen zu Seite 241—246 993 

der er geleitet wird, selbst entscbiednen Intentionen, die sich in ihm 
regen mogen zum Trotz y ihn immer auf den Eklektizismus verweisen 
wird, aus dem heraus er sich unsern Bestrebungen verscbliefit. - Mein 
Baudelaire [s. Bd. 4, 7-63] wird, wie ich hoffe, als mein erstes und 
letztes Buch bei Weifibacb herauskommen [. . ./ und wenn hier nicht 
in Kiirze der Druck beginnt, so wird meine fernere Anstrengung bei 
ihm sich lediglich darauf richten, samtliche Manuskripte zuriickzuer- 
halten. (2. 10. 1922, an Florens Christian Rang) In Erwiderung der 
Rangschen Antwort schrieb er knapp zwei Wochen spater: Von 
Weifibach weiterhin keine Nachricht [. . .] Hoffentlich kann ich bald 
uber neue Anknupfungen berichten. Dem Angelas aber bitte ich Dich 
urn seiner Ankundigung willen ein freundliches Gedachtnis zu be- 
wahren. Ich jedenfalls werde es so halten: diese nicht geschriebne 
Zeitschrifl konnte mir nicht wirklicher und nicht lieber sein, wenn sie 
vorlage. Heute aber — und wenn Weijlbach mit einer fertigen Drucke- 
rei zu mir k'dme — wiirde ich sie nicht mehr machen. Denn die Zeit 
wo ich ihr Opfer zu bringen gewillt war ist voruber. Und allzuleicht 
wiirde sie das Opfer der Habilitation erfordern. Vielleicht kann ich 
den Angelus einmal in Zukunft erdwarts fliegen sehen. Fur den Au- 
genblick jedoch ware mir eine eigne Zeitschrifl nur als privates und 
von mir aus sozusagen anonymes Unternehmen moglich und hier wiir- 
de ich Deiner Initiative willig mich unterordnen. - Gelegentliche Mit- 
arbeit bei Hofmannsthal ware mir ubrigens durchaus angenehm. 
(Briefe, 294) Die Initiative in Ridhtung auf die »Neuen Deutschen 
Beitrage« hat der Freund audi wirklich bald ergrirTen (s. u.). Um 
Ende Oktober/Anfang November berichtete ihm Benjamin: Von 
Weifibach gibts ganz Abenteuerliches [. . J er fabelt gar wieder ein- 
mal von Druckproben zum Angelus. Was [. . .] die letztern be- 
trifft, so tue ich nichts als abwarten. Erstens y weil ich endlich die 
Relation gefunden habe: je indolenter ich mich stelle, desto mehr 
strengt Weifibach sich an. Zweitens, weil ich selbst ja nichts dabei 
ausrichten kann. Sollte der Angelus dock noch erscheinen, so muftte 
es jedenfalls $0 geschehn y dafi er nicht meine akademischen Plane 
durchkreuzt. Auf alle Falle bliebe, selbst daneben, fiir ein priva- 
teres Organ noch Platz, in dem gefdhrlichere Dinge erscheinen konnten 
(unter Deiner Redaktion, wie ich ddchte.) (ohne Datum, an Florens 
Christian Rang) Kam auch etwas wie ein Blatt der Freunde (s. o.) 
nicht zustande, so doch die Mitarbeit Benjamins an Hofmanns- 
thals »Beitragen«. »Benjamin war durch Rang, bei Gelegenheit von 
dessen mit Hofmannsthal gepflogenen Erorterungen liber das geistige 
Profil und den stockenden Fortgang der >Neuen Deutschen Beitrage<, 
bei Hofmannsthal brieflich introduziert und als vorzuglich in Be- 
tracht zu nehmender Mitarbeiter an den Beitragen empfohlen wor- 



994 Anmerkungen zu Seite 241—246 

den. >Idht andeutete Vohl einmal, daft ein mir sehr nahestehender 
jiingerer Freund in Unterhandlungen mit einem Verlag stand und 
ebenfalls um Herausgabe einer neuen Zeitschrift. [. . .] Ich hatte mei- 
ne standige Mitwirkung zugesagt. Der Freund und ich, und ein toter 
Freund des ersteren [Fritz Heinle] [...]: wir drei wiirden die Kern- 
truppe* gebildet haben. Mein Freund hat den Plan aufgeben miissen, 
zur Zeit wenigstens. -[. . .] Gleichzeitig aber hat er [. . .] mit mir an 
Ihre Zeitschrift gedacht; er wie ich wiirden, wenn Ihnen dies anstehn 
sollte, als gelegentliche, aber doch nicht seltene Beitrager gern uns 
einstellen [. . .]. Es ist nicht eigentlich als Bitte, dafi ich dies an Sie 
bringe; mehr als Mitteilung, die fur Ihre Plane von Belang sein kann. 
[. . .] Ich glaube sagen zu diirfen, dafi wir hofften, das Blatt, an das 
wir dachten, auf die Hohe etwa des Athenaums zu erheben, [...]< 
(8. 11. 1922, Rang an Hofmannsthal; zit nach: Hugo von Hofmanns- 
thal - Florens Christian Rang, Briefwechsel 1905-1924, in: Die Neue 
Rundschau, 1959 ((Jg. 70, Heft 3)), i8)«. So die Herausgeber in den 
Anmerkungen zur Publikationsgeschichte der Wahlverwandtschaften- 
arbeit (Bd. 1, 813 f.); an gleicher Stelle wird iiber den erfolgreichen 
Fortgang der Angelegenheit ausfiihrlich berichtet (s. Bd. 1, 814-818). 
- Was in Sachen des Angelus Novus nodi geschah - oder vielmehr 
nicht geschah -, mogen die folgenden Zeugnisse belegen. Aus Heidel- 
berg berichtete Benjamin Anfang Dezember an Rang: Was Weifibach 
betrifft, so ist eine vollstdndige Anderung meiner Taktik ihm gegen- 
iiber mitzuteilen. Ich verfahre - zunachst und scheinbar - in alter 
Gemutlichkeit, um einmal vox allem seine Aktivitdt zu beobacb- 
t en , da auf seine Reden samt Versprecbungen garnichts zu geben 
ist. Daher kann ich bis jetzt kaum etwas mitteilen; sein letztes Buch, 
iiber die Ungerfraktur, ist bereits vollstdndig verkaufl. Geld hat er 
also zur Zeit. Den Baudelaire druckt er auch [. . .] Vom Angelus 
wurde noch nicht gesprochen. (3. 12. 1922, an Florens Christian 
Rang) Dies geschah wenig spater: Weifibach hat hodo und teuer ge- 
schworen den Angelus zu machen. Die Ankiindigung soli in mebreren 
Tagen vorliegen. Ich habe ihm die Zusage seinerseits weder nahege- 
legt noch erleichtert. Er hat die Zeitschrift fur den fiinfundzwanzig- 
sten Januar [1923 J angekundigt. - Gut. Wir miissen also bis 
dahin war ten. Dajl es die letzte Frist ist, die er hat, dar iiber habe ich 
ihn nicht im Zweifel gelassen. (12, 12. 1922, an Florens Christian 
Rang) Schien Weifibach sein Versprechen zu halten? Die Korrektur- 
bogen meiner Ankiindigung zum Angelus liegen vor s konnte Benjamin 
Weihnachten mitteilen. Aber ein Schelm sagt mehr als er sieht, fugte 
er ironisch hinzu (24. 12. 1922, an Florens Christian Rang), und die 

* Nadi Benjamins Vorstellungen freilidi hatte zumindest Scholem - wohl weit mehr 
als Rang - zu ihr gehoren sbllen (s. o.). 



Anmerkungen zu Seite 241—246 995 

ganze Situation kommentierte er am Jahresende so: Mein Befinden 
ist gut, in jeder Hinsicbt. Freilich welfi ich nicht, ob ich Grund dazu 
babe. Abet gegen meine Gewohnheit sebe ich letzten Endes zuversicht- 
lich drein. Nicht etwa — fern set es - we'd der Angelas erscheinen 
soli Man schamt sich, es zu sagen, aber zu leugnen ist es nicht, daft ich 
in Heidelberg die Korrektur meiner Ankiindigung gelesen habe. Und 
dies ist vorderhand alles. (Briefe, 295) Der von Weifibach beschwo- 
rene fiinfundzwanzigste Januar war nahergeriickt, jedoch: ich bin 
bier in meiner scbonen Einsamkeit [scil. in Breitenstein am Semme- 
ring] ganz von Nacbricbten aus Deutschland verlassen. Besonders 
von den Ihren. Ihr Scbweigen sagt mir nicbts Erfreulicbes. Aber auch 
das Unerfreulicbe mitzuteilen, sollten Sie mir, dem in Enttauschun- 
gen Erprobten, kein Bedenken tragen. Sie wissen, nachwievor wichtig 
ist mir, was Heinle betrifft. Danach der Angelus. (23. 1. 1923, an 
Richard WeilSbach) Der fiinfundzwanzigste verstrich, und Weifibach 
regte sich nicht. Ob Sie auf die Aufredoterbaltung meiner Beziehungen 
zu Ihnen noch den geringsten Wert legen, muft mir nach Ihrem Ver- 
balten hocbst zweifelbafi ersdheinen. Ibr funfwocbentlicbes Scbweigen 
erscbeint Ibnen offenbar als selbstverstdndlicb. (6. 2. 1923, an Richard 
Weifibach) Der Zeitpunkt schien heranzuriicken, da das Eintreiben 
eigener und fremder Manuscripte das einzige sein wird, was icb noch 
mit [WeiflbachJ zu tun habe. (zj. 1. 1923, an Florens Christian Rang) 
Er war noch im Februar eingetreten; Benjamin hatte - was die Zeit- 
schrift betrifft, und wohl auch den Heinleschen Nachlafi - wahrge- 
macht, was er tun zu imissen voraussah. Als vorlaufiges Ergebnis babe 
ich [. . ./ kurz mitzuteilen: daft id) den Angelus (mindestens fur 
jetzt) und die Manuscripte an mich genommen habe (23. 2. 1923, an 
Florens Christian Rang). Dabei blieb es, und das mit so grofien Er- 
wartungen begonnene und, wie der Vergleich der Schlufisatze der 
Ankiindigung (s. 246,12-19) mit denen das Kraus-Essays (s. 367,28-34) 
zeigt, die historische Aktualitat einer Zeitschrift wie der »Fackel« 
pratendierende Projekt war endgiiltig gescheitert. 
Zwei weitere Male hat Benjamin mit Zeitschriftenprojekten noch sich 
getragen, und wieder war daraus nichts geworden. Ende 1924 ist die 
Rede von einem auf zwei Jahre abgeschlossenen Generalvertrag mit 
einem [Berliner] neugegriindeten Verlag [. . ./, fur den icb zugleicb 
das Lektorat (aber ohne Verpflichtung und Honorar) ubernehme. Im 
ubrigen zahlt der Verlag eine den Umstanden nach angemessene 
Rente, und jedes Jahr eine Auslandsreise, von welcher icb das Publi- 
kum durch ein Reisetagebuch zu informieren habe. Was aus diesem 
Unternehmen werden wird, kann ich nicht ausmachen. Aber der Ein- 
druck seines Chefs [LittauerJ - er ist zebn Jahre jiinger als ich - 
gelernten Buchbdndlers, ist nicht ungiinstig. Ein Zeitschriftenplan hat 



996 Anmerkungen zu Seite 241—246 

sich angeschlossen, - mein Programm ist dem des Angelus in jeder 
Hinsicbt so ganzlich polar, daft ich es bei dieser rdtselhaflen Bemer- 
kung fur heute bewenden lasse. Kommt es dazu oder nicht, so wirst 
Du [scil. Scholem] es jedenfalls erfahren und bist y fur den Fall daft 
es Did? gewinnt zur Mitarbeit in der besten Form eingeladen. (Briefe, 
367) Mehr ist von diesem Plan nicht iiberliefert, er blieb wohl 
auf sich beruhen. Der andere gedieh weiter. Sechs Jahre spater, wah- 
rend der ersten Zek der naheren Bekanntschaft mit Brecht, schrieb 
Benjamin Scholem aus Berlin: Du hast vor vielen Jahren so nahen 
Anteil an meinem projektierten Angelus novus genommen y daft ich 
Dir als einzigem aufterhalb ein Wort dariiber vertrauen mbchte y das 
vorderhand den Weg zu Deinen Lippen nicht finden mbge. Es handelt 
sich also um eine neue Zeitschrifl und zwar die einzige, die meine ein- 
gewurzelte Vberzeugung, dafl ich mir mit dergleichen nicht nocbmals 
konne zu schaffen machen y in der Gestalt zumindest, die sie im Pro- 
jektenstadium annahm, bezwungen hat. Ich habe diesem Plan zum 
Verlage Rowohlt den Weg gebahnt, indem ich mich zum Vertreter 
der organisatorischen und sachlichen Losungen machte y die ich gemein- 
sam mit Brecht in langen Gesprachen fur diese Zeitschrifl ausgearbeitet 
habe. Ihre Haltung soll y formal, eher wissenschafllich y ja akademisch 
als journalistisch sein und sie soll»Krisis undKritik* hei ft en. Rowohlt 
also ist durchaus dafur gewonnen; jetzt wird sich die grofte Frage 
erheben, ob es noch moglich ist y die Leute y die etwas zu sagen haben 
zu einer organisierten y vor allem kontrollierten Arbeit zu vereinigen. 
Daneben besteht die immanente Schwierigkeit jeder Kollaboration 
mit Brecht y von der ich freilich annehme, daft wenn uberhaupt einer y 
ich imstande sein werde, mit ihr fertig zu werden. Um diesen etwas 
schalen Andeutungen einige Wiirze zu geben y fiige ich Dir einen Bo- 
gen aus einem neuen noch nicht erschienenen Buche von Brecht bei 
[scil. Versuche, Heft 2, 1930] (Briefe, 517 f.). Und vier Wochen spa- 
ter - Anfang November 1930 - hiefi es: Mit meiner ndchsten Sen- 
dung wirst Du Programm und Statut einer neuen Zeitschrifl namens 
»Krise und Kritik* erhalten, die von [Herbert] Ihering im Verlag 
Rowohlt als Zweimonatsschrifl erstmalig am 1$. Januar ndchsten Jah- 
res herausgegeben werden soil und mich neben Brecht und zwei y drei 
andern als Mitherausgeber auf dem Titel nennt. Es wird Dich mit 
zweideutiger Genugtuung erfullen, mich da als einzigen Juden unter 
lauter Gojen zeichnen zu sehen. (3. 11. 1930, an Gerhard Scholem; 
die Passage findet sich ungekiirzt - s. Briefe, 519 - zitiert in: Scho- 
lem, a. a. O., 205) Ob Programm und Statut beim Adressaten anlang- 
ten, dariiber sagen weder dessen Erinnerungen noch die »Briefe« et- 
was. Von der Mitherausgeberschaft trat Benjamin in dem Augenblick 
zuriick, da er die ersten Beitrage - Aufsatze von Bernard von Bren- 



Anmerkungen zu Seite 241—276 997 

tano, Alfred Kurella und Georgi W. Plechanow - kennengelernt 
hatte; die Begriindung seiner Bedenken gab er in einem Brief an 
Bredit Ende Februar 193 1 (s. Briefe, 520-522; s. audi »Autobiogra- 
phische Schriften«, Bd. 6). 

UBERLIEFERUNG 

J Ka Ankundigung der Zeitscbrift: Angelas Novus, - Korrekturabziige 
(Fahnen), Titel mit Bleistift von Benjamin dariibergeschrieben, 
Korrekturen von Benjamins Hand in Tinte; auf Bogen / unten 
Datumsstempel der Druckerei: 19. Dez. 1922; Benjamin-Archiv, 
Dr 133-136. 
lesart 244,36 f. Goldene Friichte in silbernen Schalen] das ab- 
gewandelte Goethezitat (s. Nachweise) stand erst in Anfuhrungszei- 
chen; Benjamin hat sie bei der Korrektur getilgt. 
nachweise 242,37 leben] s. Brief Ulrichs von Hutten an Willibald 
Pirckheymer vom 25. 12. 1518 - 244,37 Schalen] s. Gesprach mit 
Edkermann, 25. 12. 1825, zit. in: Goethes Gesprache. Gesamtaus- 
gabe, neu hg. von Flodoard Frhr. von Biedermann, Bd. 3, Leipzig 
1 910, 246 (Nr. 2378): »Shakespeare [. . .] gibt uns in silbernen Scha- 
len goldene Apfel.« - 246,14-18 Werden bis vergehen.] s. die Pas- 
sage am Ende von Karl Kraus, 367,28-31 



246-276 »El mayor monstruo, los celos« von Calderon und 
»Herodes und Mariamne« von Hebbel 

Schon 1913, als Benjamin im Briefwechsel mit Ludwig Straufi iiber 
seine Stellung zum Judentum sich klar zu werden versuchte, spielte 
Hebbels »Herodes und Mariamne« in seinen Uberlegungen eine Rolle: 
Eine nahere Definition, was icb miter dem fruchtbaren Kultur)uden~ 
turn verstebe 3 bin ich noch schuldig, Icb glaube aucb y daft icb das vor- 
laufig nur sebr allgemein bestimmen kann. Im Grunde babe icb davon 
mehr ein Bild als eine Gedankenreibe. Es ist der umgekehrte Turm- 
bau zu Babel: die Volker der Bibel baufen Quader auf Quader und 
das geistig Gewollte: der bimmelragende Turtn entsteht nicht. Die 
Juden bandhaben die Idee wie Quadern, und nie wird der Ursprung, 
die Mater ie erreicht. Sie bauen von oben, ohne den Boden zu errei- 
chen. Ein Christ hat das in einer Judin gestaltet: Hebbel »]udith« 
auch »Herodes und Mariamne«. (7. 1. 191 3, an Ludwig Straufi) In 
dem wahrscheinlich ein Jahrzehnt spater entstandenen Aufsatz iiber 
die Herodesdramen von Calderon und Hebbel begegnet der Aspekt 
des Judischen nicht mehr, obwohl er in der Zeit seither in Benjamins 
Denken an Gewicht eher gewonnen hat. 



99% Anmerkungen zu Seite 246—276 

Eine Datierung des Aufsatzes, der in keinem der den Herausgebern 
zuganglichen Briefe Benjamins erwahnt wird, ist schwierig, Fiir Ben- 
jamins Freunde gait als ausgemacht, daft die Arbeit 191 8 oder 1919 
als Referat fiir ein Seminar von Harry Maync, bei dem Benjamin in 
Bern Germanistik horte und der ihn audi im Rigorosum im Neben- 
fach priifte, gesdirieben worden sei. Diese Datierung halt indessen 
geriauerer Priifung nidit stand*. Der Terminus a quo fiir die Nie- 
derschrift der Arbeit wird zweifelsfrei durch den November 192 1 ge- 
bildet: in diesem Monat wurde das Heft der »Romanischen Forschun- 
gen« ausgeliefert, in dem der Aufsatz »Calderons Schicksalstragddien« 
von Peter Berens abgedruckt ist, auf den Benjamin mehrfach Bezug 
nimmt (s. 261,38^; 264,15-20 und 270,1-5). Keinesfalls hat er die 
Berens-Zitate nachtraglich eingearbeitet; die Relevanz des Aufsatzes 
von Berens fiir denjenigen Benjamins geht erheblich iiber diese wort- 
lichen Zitate hinaus: die Kterarhistorische Konstruktion, welche Benja- 
min vornimmt, entstand teilweise als immanente Kritik der Ausfiih- 
rungen von Berens. Wenn Benjamin tatsachlich in Bern ein Referat 
iiber Calderon und Hebbel gehalten haben sollte, so miifke dieses 
von dem allein iiberlieferten Text noch so weit entfernt gewesen sein, 
dafi fiir die Datierung des letzteren jenes Referat jedenfalls unmafi- 
geblich ware. Die Vermutung der Herausgeber geht dahm, dafi der 
Aufsatz iiber den HerodesstofT audi nicht unmittelbar nach dem Er- 
scheinen der Arbeit von Berens, sondern erst etwas spater, am ehesten 
im zweiten Viertel des Jahres 1923 gesdirieben wurde. Benjamins 
Lektureliste verzeichnet fiir diese Zeit sowohl Calderons »Eifersudit, 
das grofke Scheusal« wie auch Hebbels »Herodes und Mariamne«. 
Dariiber hinaus las Benjamin damals weitere Dramen von Calderon 
- den »Standhaften Prinzen«, »Die Locken Absalons« sowie »Das 
Leben ein Traum« - und von Hebbel die »Genoveva« (s. Bd. 6). 
Wahrscheinlich ist, dafi die Lektiire dieser Dramen im Zusammen- 
hang mit der Abfassung oder zumindest der Verfertigung der letzten 
Fassung des Aufsatzes stand. Schliefilich finden sidi auf einem Blatt 
am Ende des Manuskriptkonvoluts mit »El mayor monstruo, los ce- 
los« von Calderon und »Herodes und Mariamne« von Hebbel hand- 
schriftliche Bruchstiicke der Besdoreibenden Analysis des deutschen Ver- 
falls (s. Benjamin- Archiv, Ms 41), einer friihen Version des Kaiser- 
panoramas aus der Einbahnstrafie; diese Bruchstiicke wurden im An- 
schlufi an eineReise vomFebruar 1923 gesdirieben (s.Bd. 4, 907, 914). 
Isoliert genommen, kann die Benutzung eines Manuskripts fiir zwei 
Texte bei Benjamin zwar nur selten deren gleichzeitige oder direkt 
aufeinander folgende Entstehung beweisen, doch wird im vorliegen- 

* Die entspredienden Angaben der Herausgeber im Apparat zum Ursprung des 
deutschen Trauerspiels (s. Bd. i, 885) sind im Sinn des Folgenden zu berichtigen. 



Anmerkungen zu Seite 246—276 999 

den Fall die Datierung des Aufsatzes iiber Calderon und Hebbel auf 
das Jahr 1923 durch diejenige der Besckreibenden Analysis des deut- 
schen V erf alls zusatzlich gestiitzt. 

Der Aufsatz iiber den Herodesstoff" ist eine der Keimzellen, aus denen 
das Trauerspielbuch - dessen Thema und Gegenstand im Marz 1923 
im wesentlichen festgestanden haben diirften (s. Bd. 1, 871 f.) - her- 
vorging; moglicherweise wurde jener als eine Art Fingeriibung zu 
diesem gesdirieben. Die gedanklichen Motive nidit nur, audi die Satze 
und Abschnitte, welche Benjamin aus der friihen Arbeit in die spatere 

- sei es wortlich, sei es modifiziert — ubernommen hat, sind so zahl- 
reich, dafi auf ihren Nadiweis im einzelnen verzichtet wird. Abge- 
sehen von den spezifisch Hebbel gewidmeten Ausfiihrungen gibt es 
nur wenige Stellen in »El mayor monstruo, los celos« von Calderon 
und »H erodes und Mariamne* von Hebbel, die nicht irgendein Ge- 
genstiick auch im Ursprung des deutschen Trauerspiels hatten, von 
dem Benjamin nicht zufallig schrieb, dafi Calderon sein virtuelle[rj 
Gegenstand (Brief e, 366) sei. 

UBERLIEFERUNG 

M Reinschrift, ineinandergelegte Faltblatter, beidseitig beschrieben, 

21 Seiten; Benjamin-Archiv, Ms 30-40. 
Das Manuskript enthalt auf einem breiten, sonst freigelassenen Rand 
eine Reihe von Inhaltsstichwortern oder Zwischentiteln, die unter den 
»Lesarten« mitgeteilt werden. 

lesarten 246,23 f. »Es bis neueren] am Rand der Manuskriptzeile: 
Bedeutung der Stoffe in der Kunst - 247,7 welcher in Berlin 1846] 
korrigiert fur welcbe [sic] in Frankfurt am Main 184$ - 247,7 
Vier] korrigiert fur Funf - 247,22 nahegelegt] fiir nabe gelegt — 
248,10 f, Dem bis Natur] am Rand der Manuskriptzeile: fitfirjoig 

- 249,5 In-Frage-Stellen] fiir In Frage Stellen — 249,6 f. Mag bis 
bleibt] am Rand der Manuskriptzeile: Problem des historiscben Dra- 
mas - 249,34 geben] konjiziert fiir geben y - 249,34 Natur,] konj. 
fiir Natur - 251,1 unterlief] konj. fiir unter lief - 251,17 irgend- 
einem] fiir irgend einem - 251,22 f. Darf bis Stoffgeschichte] am 
Rand der Manuskriptzeile: Blick auf das Herodesdrama in der Welt- 
literatur - 252,32 Calderon] konj. fiir Calderon, - 254,32 Bildnis,] 
konj. fiir Bildnis - 255,10 es] Konjektur der Hg. - 255,16 Sachs,] 
konj. fiir Sachs - 255,17 erschien,] konj. fiir erschien - 256,7 f. 
Man bis seiten] am Rand der Manuskriptzeile: Calderon, A. W. 
Schlegel und Goethe - 256,29 f. naherzutreten] fiir n'dher zu treten - 
257,2 selbstverstandlichen] moglicherweise auch Schreibfehler fiir selb- 
standigen - 257,23 aus] konj. fiir an - 257,33 zugunsten] fiir zu Gun- 
sten - 258,8 warf,] konj. fiir warf - 258,36 Katholizismus,] konj. fiir 



iooo Anmerkungen zu Seite 246—276 

Katkolizismus - 259,15 f. Wem bis Verstdndnisses] am Rand der Ma- 
nuskriptzeile: Das Trauer spiel - 259,36 dramatischem] konj. fiir dra- 
matischen - 260,26 f. Die bis genotigt,] am Rand der Manuskript- 
zeile: Versuch des historischen Dramas bei Schiller ~ 261,12 am) 
Konjektur der Hg. - 261,17 behauptet,] konj. fiir behauptet - 261,19 
Verstandes*,] konj. fiir Verstandes* - 261,20 f. Durch bis durch] am 
Rand der Manuskriptzeile: Handlung des Calderonschen Herodesdra- 
mas - 264,15 f. »Es bis aus der] am Rand der Manuskriptzeile: Die 
Eifersucht in Calderons Drama - 266,16 f. Vielleicbt bis fern-] am 
Rand der Manuskriptzeile: Die Bedeutung des fatalen Requisits im 
Schicksalsdrama - 266,17 fernzuhalten] fiir fern zu halten - 166,20 
verwickelt] konj. fiir entwickelt - 266,22 soofi] fiir so oft - 267,16 
kttndgibt] fiir kund gibt - 267,31 Scblegelscben] konj. fiir Schle- 
gels - i6y,y6 f. Diese bis gescblossene.] am Rand der Manuskript- 
zeile: Romantische Reflexion bei Calderon - 268,26 f. 1st bis freilich] 
am Rand der Manuskriptzeile: Die Natur in Calderons Drama - 
270,15 f. Es bis Schicksalsdrama] am Rand der Manuskriptzeile: 
Theorie des Dramas bei Hebbel - 270,31 f. nahegelegen] fiir nahe 
gelegen - 271,13 dazu nehmen] fiir dazunehmen - 271,34 Ftfcfc] 
unsichere Lesung; vielleidit audi Dach - 272,2 sie behauptet] konj. 
fiir behauptet sie - 272,16 beiseite] fiir &ei Seife - 272,20 auf- 
grund] fiir #»/ Grund - 272,30-32 metzf bis einen] am Rand der 
beiden Manuskriptzeilen: Kritisches zu Hebbels »Herodes und Man- 
amne« - 274,10 Titus] in M: Titus in jener durch die koniglichen 
Worte eroffneten Szene; die fraglichen Worte eroffnen nidit die ge- 
meinte Szene V,6 sondern finden sich in der Mitte der vorhergehen- 
den. - 274,13 ihm] konj. fiir ihnen - zj^i^i. Genug bis aufzuer- 
legen>] am Rand der Manuskriptzeile: Ein unterdrucktes Motiv im 
Drama: die Liebesprobe - 275,6 entsprechenden Problems] konj. 
fiir entsprechendes Problem - 275,13 zu sein] Konjektur der Hg. - 
275,33 ihre] konj. fiir seine - 276,1 f. Diesen bis entgangen.] am 
Rand der Manuskriptzeile: Die Tendenz bei Hebbel 
nachweise 247,5 dastehen.«] Adolph Friedrich von Sdiack, Ge- 
schichte der dramatischen Literatur und Kunst in Spanien, Bd. 3, 
Berlin 1846, 57 - 247,9 vor ] s - Friedrich Hebbel, Herodes und 
Mariamne. Eine Tragodie in fiinf Acten, Wien 1850 - 253,13 haben«] 
Friedrich Hebbel, Samtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe be- 
sorgt von Richard Maria Werner. Abt. 3: Briefe, Bd. 4: 1847-1852, 
Berlin 1906, 129 (14. 8. 1848, an Eduard Janinski) - 254,1 gemacht] 
s. Herrn B. H. Brockes verteutschter bethlehemitischer Kinder-Mord 
des Ritters Marino, Coin, Hamburg 171 5 - 254,18 sind] Giacinto 
Andrea Cicogninis »Mariena ovvero il maggior mostro del mondo« 
ist eine Ubersetzung von Calderons Drama ins Italienisdie; Lallis 



Anmerkungen zu Seite 246—276 1001 

»La Mariane« das Textbudi zu einer Oper von Tomaso Albinoni. - 
254,19 Mariamnendrama] Voltaires »Mariamne« wurde 1724 ur- 
aufgefuhrt, 1725 und 1762 unterzog der Dichter es Neubearbeitun- 
gen; Gasparo Gozzi ubersetzte die erste Fassung ins Italienische (Ve- 
nedig 175 1). - 255,18 ab] Daniel Heinsius' Trauerspiel findet sich 
in der Amsterdamer Ausgabe der »Poemata« von 1649. - 255,28 f. 
besprochen] s. Hebbel, Samtliche Werke, a. a. O., Abt. 1, Bd. 11: 
Kritisdie Arbeiten II, Berlin o. J. [1903], 247-260 - 256,1 Lessing] 
Benjamin denkt an die »Fatime«-Fragmente; s. Lessing, Samtliche 
Schriften, hg. von Karl Lachmann, 3. Aufl. besorgt durch Franz 
Muncker, Bd. 3, Stuttgart 1887, 390-399. - 256,1 Grillparzer] ge- 
meint ist der Entwurf »Die letzten Konige von Juda«; s. Grillparzer, 
Samtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. von August 
Sauer, fortgefuhrt von Reinhold Backmann, Abt. 1, Bd. 8/9: Dra- 
matische Plane und Bruchstiicke seit 1816, Wien 1936, 79 f. - 256,2 
Ruckerts] s, Friedrich Riickert, Herodes der Grofie in zwei Stiicken, 
Stuttgart 1844 - 256,2 Phillipps'] s. Stephen Phillipps, Herod, 
1900 - 258,10 erinnert] s. Hugo Schuchardt, Romanisches und 
Keltisches. Gesammelte Auf satze, Strafiburg 1886, 143 - 258,33 
ware] s. Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gesprache, 
hg. von Ernst Beutler, Bd. 20: Briefwechsel mit Friedrich Schiller, 
2. Aufl., Zurich, Stuttgart 1964, 965 (28. 1, 1804, Goethe an Schiller) 

- 258,39 habe] s. a. a. O., Bd. 24: Johann Peter Eckermann, Ge- 
sprache mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Zurich 1948, 
158 (1. Teil; 12. 5. 1825) - 259,2 suchte] s. a. a. O., Bd. 14: Schrif- 
ten zur Literatur, 2. Aufl., Zurich, Stuttgart 1964, 844-847 - 259,14 
verdienen.*] s. a. a. O., Bd. 15: Ubertragungen, 2. Aufl., Zurich, 
Stuttgart 1964, 1034 f. - 259,31 gewinnt*] Hermann Ulrici, Ober 
Shakspeare's dramatische Kunst und sein Verhaltnifi zu Calderon 
und Gothe, Halle 1839, 517 - 260,10 B6sen.«] a. a. O., 528 - 
260,25 8 € bt] s. Goethe, a. a. O, Bd. 6: Die Weimarer Dramen, 
2. Aufl., Zurich, Stuttgart 1962, 850-857 (»Bruchstucke einer Trago- 
die«) - 260,38 Raupach] Ernst Raupach schrieb von 1825 bis 1832 
funfzehn Dramen iiber die »Hohenstaufen«. - 261,26 Gebilde«] 
Schack, a. a. O., 178 - 262,1 Romantik«] Peter Berens, Calderons 
Schicksalstragodien, in: Romanische Forschungen 39 (1 921-192 6), 65 

- 263,26 fiigenf] Pedro Calderon de la Barca, Schauspiele, iibers. 
von Johann Diederich Gries, Bd. 3, Berlin 18 18, 316 (»Eifersucht das 
grofite Scheusal«, II) - 264,20 offenkundig.«] Berens, a. a. O., 55 f. 

- 265,39 geraubet.] Calderon, a. a. O., 289 (»Eifersudlt das grdlke 
Scheusal«, II) - 267,33 hatte*] August Wilhelm von Schlegel, 
Vorlesungen iiber dramatische Kunst und Literatur. Kritische Ausg., 
eingel. und mit Anmerkungen versehen von Giovanni Vittorio Amo- 



1002 Anmerkungen zu Seite 246—280 

retti, Bonn, Leipzig 1923, Bd. 2, 274 - 269,10 Ursprungs.*] a. a. O., 
282 - 269,13 Land«] Goethe, a. a. O., Bd. 21: Brief e der Jahre 18 14 
-1832, 2. AufL, Zurich, Stuttgart 1965, 159 (29. 5. 1816, an J. D. 
Gries) - 269,15 nicbt] s. a. a. O., Bd. 14, 845 (»Die Tochter der 
Lufl« von Calderon) - 270,5 Gedankens.«] Berens, a. a. O., 65 - 
270,14 verlegen] s. Jean Paul, Werke, hg. von Norbert Miller, Bd. 5, 
3. Aufl., Munchen 1973, 342 (»Vorsdiule der Asthetik«, Abt. 3, I, 
Kap. 2) - 270,26 ist] s. Schauspiele von Pedro Calderon de la Barca, 
iibers, von Ernst Friedrich Georg Otto von der Malsburg, 6 Bde., 
Leipzig 1819-1825-271,12 soil. «] Hebbel, Samtliche Werke, a. a. O., 
Abt. 2: Tagebiicher, Bd. 3: 1 845-1 854, Berlin 1903, 8 - 273,13 
krummen.«] Emil Kuh, Biographie Friedrich Hebbels, 2. Aufl., 
Wien, Leipzig 1907, Bd. 2, 248 - 273,37 geben).*] Hebbel, Samt- 
liche Werke, a. a. O., Abt. 1, Bd. 2: Dramen II, Berlin 1901, 344 
(»Herodes und Mariamne« V, 5 [v. 19 f.]) - 274,4 verlebte . . .] 
a. a. O., 469. - Diese Verse, die sich in einer friihen Handschrift so- 
wie im Regie- und im Soufflierbuch des Wiener Hofburgtheaters zur 
Urauffiihrung am 19.4. 1849 finden, hat Hebbel fur die Druckf as- 
sung von »Herodes und Mariamne« gestrichen. - 274,12 macht] 
a. a. O., 347 (V, 6 [v. 2959 f.]) - 274,23 weg!] a. a. O., 351 (V, 6 
[v. 3057-3062]) - 275,30 kommt!] a. a. O., 326 (IV, 8 [v. 2526 f.]) 
- 276,27 bringen.*] a. a. O., Abt. 3, Bd. 4, 124 (16. 6. 1848, an 
Gustav Kuhne) 



277-280 Johann Peter Hebel. Zu seinem 100. Todestage 

Versteckt unter seinen hinterlassenen Aufzeichnungen zu Hebel fand 
sich eine Notiz Benjamins, deren bekenntnisartiger Charakter sonst 
hochstens aus Brief en oder autobiographischen Stiicken, eigentUch nie 
aus sachlichen Zusammenhangen gelaufig ist. Sie lautet: Dies darf icb 
ohne Koketterie sagen: Hebel hat mich gerufen. Ich habe ihn nicht 
gesucbt. Niemals babe ich mir traumen lassen (und am wenigsten 
wenn icb ibn las) dafi ich liber ihn »arbeiten<t wiirde. Nocb jetzt 
kommt mir die Beschaftigung mit ihm immer von Fall zu Fall, stuck- 
weis und provoziert [J und ich werde diesem possierlicben Dienst- 
und Bereitschafisverhdltnis treu bleiben, indem ich ein Bucb Uber ihn 
schreiben werde. (Benjamin- Archiv, Ms 842; s. Anmerkungen zu Jo- 
hann Peter Hebel [jj t 1445) Die Beschafligung mit [Hebel] immer von 
Fall zu Fall war durch Anlasse provoziert wie den hundertsten 
Todestag des Erzahlers 1926, zu dem er zwei Arbeiten schrieb (s. 277- 
280 und 280-283), das Erscheinen des Buches »Johann Peter Hebel 



Anmerkungen zu Seite 277—280 1003 

als Erzahler« von Hanns Biirgisser 1929, das er im selben Jahr scharf 
rezensierte (s. Hebel gegen einen neuen Bewunderer verteidigt > Bd. 3, 
203-206) und durch Gelegenheiten wie die, einen Vortrag iiber Hebel 
zu halten (s. Johann Peter Hebel [3 J, 635-640), oder auf redaktio- 
nelle Umfragen zu antworten (s. /. P. Rebels Schatzkdstlein des 
rheinischen Hausfreundes, 628). Zu dem Buch, das er zu schreiben 
sich vornahm, ist es nicht gekommen. Von den beiden Gedenk-Arti- 
keln aus dem Jahre 1926 ist in einem Brief vom 18. Juni an Scholem 
die Rede; nachdem er - aus Agay in Siidfrankreich, einer Nebensta- 
tion seiner zu dieser Zeit elliptische [n] Lebensweise Berlin-Paris - 
iiber Unerfreuliches berichtet hatte, fuhr er fort: Erfreulicher kann 
Dir vielleicht eine kleine Notiz von mir zu Hebels ioojdkrigemT odes- 
tag begegnen, die, wenn Du dieses erhdltst, Dir in der »Literarischen 
Welt* schon vorliegen wird. Gleichzeitig schrieb ich fiir Zeitungen 
noch eine andere. (Briefe, 432 f.) Diese ist der Aufsatz Johann Peter 
Hebel [1]. Zu seinem 100. Todestage, jene der /. P. Hebel. Ein 
Bilderrdtsel zum 100. Todestage des Dichters betitelte und, analog, 
von den Herausgebern [2] zubenannte (s. 280-283). Weil sie, wie 
Benjamin sagt, gleichzeitig entstanden, war zu entscheiden, welche 
[1], welche [2] sein soil. Dabei hielten sich die Herausgeber an die 
Veroffentlichungsdaten. Der fur Zeitungen geschriebene, wohl durch 
eine Presseagentur vermittelte Aufsatz - iiberliefert sind insgesamt 
sechs Abdrucke, davon ein von den ubrigen betrachtlich variierender 
( = J 4 , s. »Oberlieferung« und »Lesarten«; bei den Varianten handelt es 
sich um Benjaminsche, nicht um redaktionelle) - erschien zum ersten- 
mal am 17. 9. 1926, funf Tage vor Hebels hundertstem Todestag; der 
fiir die Literariscbe Welt verfafite erst am 24. 9. 1926. Daher dessen 
Nachordnung im Textteil. Von beiden Arbeiten sind nur Druckzeugen 
iiberliefert und lediglich von [2] ein von Benjamin korrigierter 
(s. »Oberlieferung« zu J. P. Hebel [2]). Das bedeutete fiir [1], 
aus sechs Zeitungsdrucken denjenigen herauszukennen, der mutmafl- 
iich der - verlorenen - Benjaminschen Druckvorlage am nachsten 
kommt. Die Herausgeber meinten ihn in dem der »Westdeutschen 
Allgemeinen Zeitung« zu finden (s. »Uberlieferung«). Anhaltspunkte 
waren gelegentliche Benjaminsche Interpunktionseigenheken und 
Schreibweisen, denen gegeniiber die Redaktion jener Zeitung etwas 
mehr Toleranz walten zu lassen schien als die andern, wiewohl die 
Absatzeinteilungen den Eindruck der Willkiir hinterlassen. Er ist bei 
den andern Drucken, von denen drei (s. a. a. O., J 2 , J 3 , J 5 ) uberhaupt 
keine Absatze haben, nicht zuverlassiger. Die Herausgeber haben da- 
von genutzt, was ihnen vertretbar schien; in zwei Fallen konnten sie 
dabei sich auf ein Benjaminsches Paralipomenon stiitzen (s. »Les- 
arten«). Alles Relevante - namentlich die betrachtlichen Varianten 



1004 Anmerkungen zu Seite 277—280 

im Druck des »Berliner B6rsencourier« (s. »t)berlieferung«, J 4 ) - 
wurde verzeichnet. Was die Titel der beiden Gedenkartikel betrirTt, 
so ist der des in der »Literarischen Welt« erschienenen (s. 280-283) 
durch das von Benjamin korrigierte Druckexemplar gesichert. Wel- 
chen Benjamin in der Druckvorlage zu dem fur Zeitungen geschrie- 
benen (s. 277-280) vorgab, muli angesidits dessen, dafi die Druck- 
vorlage verschollen ist und nur zwei von sechs Titeln in den Zeitungs- 
drucken miteinander iibereinstimmen, unausgemacht bleiben. Vier ha- 
ben immerhin den Namen des Erzahlers im Nominativ, zwei da- 
von Zu seinem 100. Todestag und einer von diesen das Flexions-e, 
wenngleich den Zusatz am 22. September (s. »Uberlieferung«). Da 
das Dativ-e audi im Untertitel von [2] vorkommt, entschieden sich 
die Herausgeber, unter Weglassung des Datumszusatzes den Titel, 
den die »Magdeburgische 2eitung« setzte (s. a. a. O., J 2 ), als den 
moglicherweise von Benjamin gewiinschten oder ihm nahekommenden 
zu iibernehmen. Die Zubenennungen [1], [2] und (bei dem Vortrag) 
[3] wurden in den Anmerkungen zu letzterem kurz begriindet(s. 1443). 
Don findet sich audi das nachgelassene Aufzeichnungsmaterial zu 
Benjamins Beschaftigungen mit Hebel abgedruckt ; es bezieht sich 
iiberwiegend, wenn nicht ausschliefilich, auf die Arbeiten von 1929 
und - sehr wahrscheinlich - auf von da an noch zu schreibende 
(s. 1444-1449). 

UBERLIEFERUNG 

J 1 Der Meister des »Schatzkdstleins«. Zum 100. Todestag von Jo- 
hann Peter Hebel (22. September), In: Thiiringer Allgemeine Zei- 
tung (Erfurt), 17. 9. 1926 (Nr. 37). 

J 2 Johann Peter Hebel. Zu seinem 100. Todestage am 22. Septem- 
ber. In: Magdeburgische Zeitung, 19. 9. 1926 (Nr. 476). 

J 3 Johann Peter Hebel. 10. Mai 1760 - 22. September 1826. Zu 
seinem 100. Todestag. In: Rathenower Zeitung, 21.9. 1926 (Nr. 
221). 

J 4 Johann Peter HebelJ.J Zum 100. Todestag. In: Berliner Borsen- 
courier, 22. 9. 1926 (Jg. 58, Nr. 441), 1. Beilage. 

J 5 Johann Peter Hebel. 10. Mai ij6o - 22. September 1S26. Zu 
seinem 100. Todestag. In: Breslauer Volkswacht, 22. 9. 1926 (Nr. 
221). 

J 6 Der Dichter des Schatzkastleins. Zu Johann Peter Hebels 100. 
Todestag. (geb. 10. Mai ij6o - f 22. September 1826.). In: West- 
deutsche Allgemeine Zeitung (Barmen-Elberfeld), 22. 9. 1926 (Nr. 
222). 

Druckvorlage: J 6 

lesarten 277,3 hundertsten Todestag] J 1 , J 3 , J 4 , J 6 ;hundertsten Todes- 



Anmerkungen zu Seite 277—280 1005 

tage J 2 ; 100. Todestage J 5 - 277,6 souveraineri] J 4 , J 6 ; souverdnen p- 
J 3 , J 5 - 277,10 Prosa-Goldschmiederei] J 4 ; Prosa-Gold-Schmiederei 
P"J 3 > P> J 6 - 277,16-20 Zumal bis Nichts] J 3 , J 5 , J 6 ; Varianten 
in J 1 , J 2 s. die drei folgenden Lesarten; Z)oc& Hebels aufgekldrter 
Humanismus sollte ihn vox dieser Einordnung schiitzen. Nichts J 4 - 
277,16 Zumal] J 1 , J 3 , p, P; Zumal, J 2 - 277,17 jFW/ «fej(? sie verstockt 
sich] J 3 , J 5 , J 6 ; i 7 **//, Jtfjff sie wrstocfef sicfe J 1 ; Fall, dajl sie verstockt, 
sich p - 277,20 f. davor. Nichts] P~P, P; itf^or. [Absatz] Nichts 
P - 277,25 ecbte,] P, P; ec&£e J 1 - J 4 - 277,27 f. Hauswesens. Das] 
J 2 -] 6 ; Hauswesens. [Absatz J Das J 1 - 277,30 eiw] J 2 , J 3 , J 5 , J 6 ; em, 
P, P - 277,31 Afrtgwter] Magister, J 1 -] 5 - 277,32 einemmal] p-J 3 , 
J 6 ; eirzem ?W P; eiwem jl/a/ p - 277,34 ste&f);] J 1 , J 2 , P; ste&f) J 3 , 
J 5 i J 6 -277,38-278,1 i09.*/i4fetft2/Z)<ijS] J 4 , J 6 undMs840(s.638,28); 
509.* D*/? J 1 ^ 3 , P - 278,2 scbwer] J 1 , P~P; scfcwer, J 2 - 278,9 
Branntwein] p, J 3 - J 6 ; Branntwein, J 2 - 278,10 #&er] J 1 , p, J 4 - 
P; fehlt in J 3 - 278,12 £ier bis Sachen] J 1 , J 3 , p, J 6 ; £*>r, bisStfc&en, 
P, P - 278,13 f. erwartet. Jeder] J 2 , J 3 , J 5 , J 6 ; erwartet. [Absatz] 
Jeder J 1 ; erwartet. Wenn eines schonen Tages der Zirkelschmied 1 der 
keinen roten Heller mehr besitzt, beim Lammwirt eine grofle Zeche 
macbty am Ende uber dessert »schlechte Kiiche* randaliert, bis er eine 
Maulschelle sitzen hat und darauf von dem Scbmerzensgeld dafur die 
Zeche abziehen lafit, das gar in der und jener Wirtschaft wiederholt - 
liest man bei Hebel dann nur, daft die Ohrfeigen noch ein- oder zwei- 
mal al pari gestanden, am Ende aber [aber konjiziert fiir aber,] wie 
Assignaten in der Revolution [Revolution konj. fiir Revolution,] so 
unwert wurden [wurden konj. fiir worden], Und jeder J 4 - 278,21 f. 
gesprungen.« Das] J 2 -] 6 ; gesprungen.* [Absatz] Das J 1 - 278,22 f. 
machen. [Absatz] Zahlreiche] p, J 6 ; machen. Zahlreiche J 2 , J 3 , J 5 ; 
maohen - weift Gott, eine talmudische, und er h'dtte gut Lichtenbergs 
Wort sich zu eigen machen konnen, ihm sei an keiner Vbersetzung 
seiner Sachen mehr gelegen, als an der ins Hebraische. Und vom He- 
braischen hat das Rotwelsch bekanntlich vieles, [Absatz] Zahlreiche 
P - 278,26 beruchtigt] J 2 -]*; beruchtigt, P - 278,27 Gall,] P~P; 
Gall P - 278,28 erste] P-J 3 , P, P; fehlt in J 4 - 278,32-34 Diebsor- 
gan?« [Absatz] Wieviel] J 1 , J 6 und Ms 840 (s. 639,15); Diebsorgan** 
Wieviel J 2 -] 5 - 278,37 Illustrationen sind] J 1 -] 3 , J 5 , J 6 ; Illustra- 
tionen (neu aufgelegt in der Faksimile-Ausgabe des Mauritius-Verla- 
ges, Berlin 1922), sind J 4 - 278,38 welchem] J 1 , p-p; dem ] 2 - 
278,39 diisteren] J 1 , p-p; dusteren, J 2 - 279,1-14 treiben. bis 
durchdringen,] dieser Passus nur im hergestellten Text (die Emenda- 
tionen sind geringfugige Varianten aus J 1 -} 3 , J 5 , J 6 ; sie werden in 
den folgenden vier Lesarten aufgeschliisselt) ; treiben. Darum sind diese 
Bilder fiir das Verstdndnis Hebels wichtiger als liter arhistorische Ein- 



1006 Anmerkungen zu Seite 277—280 

fuhrungen, die einem hochstens sagen konnen, dafi der Autor haufig 
Stimmungen unterworfen war und seine Liebste, eine Pfarrerstochter, 
weifi Gott warum, sein Lebtag nicht geheiratet hat - wetterwendisch 
und launisch, ein techier Kalendermacber. [AbsatzJ Der harmlose, der 
provinziell beschrankte Hebel der »Alemannischen Gedicbte«, den 
Goethe in einer berUhmten Besprechung dem Publikum vorftihrt, ist 
nicht der einzige. Wie sich bei Hebel die Mundart und das Deutscb 
der Lutherbibel durchdringen [durchdringen konj. fur durchringen], 
J 4 - 279,2 werstand] J 2 , J 3 , J 5 , J 6 ; verstand, J 1 - 279,3 keiner] J 1 , J 2 , 
J 5 , J 6 ; einer J 3 - 279,8 Hebel dem Prosaiker] J 1 , J 3 , J 6 ; Hebel y dem 
Prosaiker, J 2 , p - 279,8 fort. Sollte] J 2 , J 3 , J 5 , J 6 ; fort. [Absatz] 
Sollte J 1 - 279,14 f. Meisterscbaft. Sie] p-J 5 ; Meisterschaft. [Absatz] 
Sie J 6 - 279,35 I &°9 • • •*] nur P> die ubrigen Drucke haben statt der 
Punkte teils einen, teils zwei, teils drei Striche; die Wiedergabe dieses 
wie der ubrigen Zitate variiert in alien Drucken, gelegentlich grotesk 
(Striinsee J 2 , Russiscb-Finnland J 5 u. a.) - 279,37 *"• erlebte«. [Absatz] 
In] P> J 6 J erlebte«. In P, p, J s ; erlebte«. Wem Hebel nicht aus 
solchem Satze tief entgegen blickt, der wird ihn auch in anderen 
nicht finden. So als Erzdhler sich in die Geschichte einzumischen, ist 
nicht romantische Art. Eher schon die des unsterblichen Sterne. [Schlufl 
von] J 4 - 279,38 f. Fallen bis doch] J 1 -]*, J 6 ; Fallen beruht die 
grenzenlose kunstlerische Freiheit jedoch redaktionelle Verschlimm- 
besserung in J 5 - 280,1 Goethesche] J 2 , J 3 , J 5 , J 6 ; goethesche J 1 - 
280,10 umher.« Dergletchen] J 2 , J 3 , J 5 , J 6 ; umher.« [Absatz] Der- 
gleichen J 1 - 280,10 »Schatzkastlein«~\ p; Schatzkdstlein p, J 3 , J 5 , J 6 

- 280,12 wissen, weder] J*-p, J 6 ; wissen. Weder J 5 - 280,14 welche] 
P, J 3 , J 5 , J 6 ; die P - 280,19 belehren. Ein] P, J 3 , P; belehren. [Ab- 
satz] Ein ] X i J 6 - 280,19 kennen« y ] J 1 -]*, J 6 ; kennen« p - 280,26 
Damit bis Probe*.] eigener Absatz nur in J 1 

nachweise 277,9 Haus}reundes«] s. etwa die - friiher verbreitete 

- Ausgabe J[ohann] P[eter] Hebel, Schatzkastlein des rhemischen 
Hausfreundes. Mit 60 Holzschnitten [und der Vorrede von 181 1; s. 
Nachweis zu 282,13], Stuttgart, Augsburg 1859 - 277,20-279,6 Nichts 
bis ubersehen.] diese ganze Passage ist modifiziert ubernommen in 
den Vortrag, 638,10-639,27 - 277,38 309.*] '■ J. P. Hebels sammtliche 
Werke, Bd. 8: Vermischte Aufsatze, Karlsruhe 1834, 21 f. (»Allge- 
meine Betrachtung iiber das Weltgebaude. Der Mond.«) - 278,3 
Wort] s. Goethe, Werke. Weimarer Ausgabe, Abt. 2, Bd. 11, i28f.: 
»Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst 
identisch macht und dadurch zur eigentlidien Theorie wird.« - 278,4 
Theorie] s. a. a. O., 131: »Das Hochste ware: zu begreifen, dafi alles 
Faktische schon Theorie ist.« - 278,9 kriegen] s. Jean Paul's 
sammtliche Werke, Bd. 37: Levana oder Erziehlehre. Zweites Band- 



Anmerkungen zu Seite 277—280 1007 

chen, Berlin 1827, 2, 8 f . (»Anhang zum dritten Bruchstiicke. Uber 
die physisdie Erziehung.«) - 278,9-22 Viel bis macben.] die Pas- 
sage ist modifiziert iibernommen in den Vortrag, 638,38-640,13 - 
278,13 f. erwartet. Jeder] s. o. Lesart; Nachweis zu »schlechte 
Kiiche«\ Hebels sammtliche Werke, a. a. O., Bd. 3: Erzahlungen des 
rheinlandischen Hausfreundes, Karlsruhe 1832, 128 (»Der Zirkel- 
schmidt«): »schlechtes Essen« -278,21 gesprungen.«] Hebels sammtliche 
Werke, a. a. O., 59 fT. (»Der Barbierjunge von Segringen«): »ver- 
stochen«, »ihr«, »euch« - 278,36 f. Hausfreundes*] s. Hebel, Die 
Schwanke des Rheinlandischen Hausfreundes. Mit 32 Original-Litho- 
graphien von Dambacher, Berlin 1922 (Neudruck der Stuttgarter 
Ausgabe von 1842) - 2 79>i Wozzeck«] konj. fiir Wozzek 
J 1 - J 6 ; eingesetzt wurde die von Franzos entzifferte Schreibweise (s. 
2ur Textkritik von »Wozzeck«, in: Georg Biichner's Sammtliche 
Werke und handschriftlicher Nachlaft. Erste kritische Gesammt-Aus- 
gabe, eingeleitet und hg. von Karl Emil Franzos, Frankfurt a. M. 
1879, 202 fT.), wie sie audi Alban Berg noch im Titel seiner 19 17/21 
entstandenen Oper hat, wie sie aber spatestens seit Witkowskis Edi- 
tion definitiv in »Woyzeck« korrigiert (s. Georg Biichner, Woyzeck. 
Nach den Handschriften des Dichters hg. von Georg Witkowski, 
Leipzig 1920; s. audi Hugo Bieber, Wozzeck und Woyzeck, in: Lke- 
rarisches Echo, 1. 6. 1914 [Bd. 16], n88fT.; Georg Witkowski, 
Biichners Woyzeck, in: Das InselsdiifT, Jg. 1 [1920], 20 ff.; Fritz 
Bergemann, Der Fall Woyzeck in Wahrheit und Dichtung, in: a. a. O., 
242 rT.) und von da durch die Bergemannsche Ausgabe (s. Georg 
Biichners Samtliche Werke und Briefe. Auf Grund des handschrift- 
lichen Nachlasses Georg Biichners hg. von Fritz Bergemann, Leipzig 
1922; zur Textgestaltung von »Woyzeck« s. 706) gelaufig geworden 
ist. Ob Benjamin der textkritische Stand bekannt war oder nicht, mufi 
angesichts der verlorenen Druckvorlagen unentschieden bleiben; zu 
vermuten ist letzteres, da alle Drucke die Schreibweise mit »zz«, wenn 
audi ohne »ck« haben. Das mufi bei Redaktionen auffallen, die we- 
nigstens nach der alteren Schreibweise hatten korrigieren miissen, 
gerade in diesem Fall aber allesamt der Druckvorlage kritiklos gefolgt 
zu sein scheinen. So konnten die Hg. sich fur berechtigt halten, diese 
altere Schreibweise als die von Benjamin gemeinte - obzwar fehler- 
haft wiedergegebene - richtigzustellen. - 279,1-14 treiben. bis durch- 
dringen,] s. o. Lesart; Nachweis zu »Alemannische Gedichte*: 
s. Hebels sammtliche Werke, a. a. O., Bd. 1: Allemannische Ge- 
dichte, Karlsruhe 1834 und Bd. 2: Allemannische und hochdeutsche 
Gedichte, Karlsruhe 1834 (Allemannische Gedichte, Abt. 2, 1-131); 
Nachweis zu Besprechung-. s. Jenaische Literaturzeitung, 1805 (Febr.) 
- 279,35 j 809 . . .«] Hebels sammtliche Werke, a. a. O., Bd. 3, 



i oo 8 Anmerkungen zu Seite 277—283 

a.a.O., 188 f. (»UnverhofFtes Wiedersehen«)-28o,io umher.«] a.a.O., 
Bd. 8, a.a.O., 105 (»Betrachtungen iiber verschiedene Thiere. 5. Die 
Eidexen.«) - 280,26 Adjunkt.«] a.a.O., Bd. 3, a.a.O., 316 (»Die 
Probe«): »Pfeiffenkopf«, »mit emander« 

280-283 J- P- HEBEL. ElN BlLDERRATSEL 2UM 100, TODESTAGE DES 
DlCHTERS 

UBERLIEFERUNG 

JBA £)i e Literarische Welt, 24. 9. 1926 (Jg. 2, Nr. 39), 3. - Der Ar- 

tikel hat zwei Bildbeigaben: ein Portrat mit der Unterschrift 

»JOHANN PETER HEBEL« und die Wiedergabe einer Damba- 

dierschen Lithographie mit der Unterschrift »LITHOGRAPHIE 

VON DAMBACHER [= Mittel gegen den Lindwurm. Abb. I, 

S. 8] aus einer alten Ausgabe >[Die] Schwanke des Rheinlandi- 

schen Hausfreundes< [Stuttgart 1842] von Hebel. Ein Neu- 

druck dieser aufiergewohnlich reizvollen Ausgabe erschien im 

Mauritius- Verlag, Berlin [1922; s. Nachweis zu 278,36 f.].« - 

Benjamin-Ardriv, Dr 552-553. 

lesarten 280,34 sprechen,] konjiziert fiir sprechen — 280,34 muflig,] 

konj. fiir mtifiig - 280,35 gescbieht] konj. fur geschieht, - 281,1 f. 

vorbeiexerzieren] Korrektur Benjamins aus vorbeidefilieren in J BA ; 

konj. fiir vorbeiexercteren - 281,18 Haben: der] konj. fiir Haben: 

Der nach Analogie von Soil: der (281,20) - 281,31 1760] konj. fiir 

/7jo - 282,4 simplem] konj. fiir simplen - 282,8 f. er bis war] 

lies er> »Scheinkonig Peter 1. von Aflmannshausen« , selber war - 

282,24 f. Pferdefujl im » Andreas Hofer«] konj. fiir »Pferdefufi im 

Andreas Hofer« 

nachweise 281,10-25] E r ms zumifit.] die Passage ist modifi- 
ziert iibernommen in den Vortrag, 639,27-36 (dazu s. Lesart 639,34) 
- 281,30-37 Die bis kamen.] s. die ahnlich lautende Passage 
636,39-637,7 - 282,7 Belchen] alemannischer Name von Bergen in 
den Vogesen und im Schwarzwald - 282,9-20 f. Daft bis wurde.] s. die 
fast gleichlautende Passage 636,16-28 - 282,13 Hausfreundes«] der 
Name des »Badischen Landkalenders«, den Hebel seit 1803 bearbei- 
tete, war nach Hebels Neubearbeitung (seit 1806/07) a ^ i8°8 »Der 
Rheinlandische Hausfreund«. Nach dem Verbot des Kalenders 181 5 
(wegender vorgeblich antikatholischen Erzahlung »DerfrommeRath«) 
hat Hebel ihn erst 1819 wieder geschrieben; an dem der Jahre 1816- 
1818 hat er nicht mitgearbeitet. Die Erzahlungen und Aufsatze aus 
den Jahrgangen 1808-18 11 sind von ihm erstmals 181 1 gesammelt 
und unter dem Titel »Schatzkastlein des rheinischen Hausfreundes« 



Anmerkungen zu Seite 280—295 I00 9 

in Tubingen veroffentlicht worden; s. Leben des allemannischen Dich- 
ters Johann Peter Hebel, in: J. P. Hebels sammtliche Werke, Bd. i, 
Karlsruhe 1834, III-LXXXIII, passim - 282,25 Hofer*] s. a. a. O., 
Bd. 3: Erzahlungen des rheinlandischen Hausfreundes, Karlsruhe 
1832, 194-197 - 282,38-283,4 Wenn bis trennt.] s. den Passus 638,5-9 
- 283,1 bringe*] Hebels sammtliche Werke, a. a. O., Bd. 3, a. a. O., 
35 (»Miflverstand«; in der Ausgabe Sdiatzkastlein des rheinischen 
Hausfreundes [130; s. Nachweis zu 277,9] unter dem Titel »Der 
Wegweiser«): »Franzosi$ch« bei Hebel gesperrt - 283,5 Wiedersehen*] 
s. Nachweis zu 279,35 



283-29$ Gottfried Keller 

Ab 1927, »mit dem Aufsatz iiber Gottfried Keller einsetzend,« »be- 
gannen [. . .] die groflen Essays zur Literaturkritik, in denen sich 
nach der langen Pause seit der Abfassung der Arbeit iiber die Wabl- 
verwandtscbaften [s. Bd. 1, 123-201] [Benjamins] Genius deutlich 
abzeichnete.« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer 
Freundschaft, a. a. O., 181 f.) Er selbst sprach von der iiber Keller - 
zunachst, Ende Mai 1926, ehe er sie noch geschrieben hatte - als 
von etwas Nebensachlichem: aus dem Blickwinkel seiner damaligen 
intensiven Arbeit an der Proust-Obersetzung und an dem Notizbuch, 
das icb nicbt gem Aphorismenbuch nenne [scil. der Einbahnstrafie; 
s. Bd. 4,83-148]. Ich arbeite /. . ./ nur noch daran (wenn ich von ge- 
ringerm absebe, wie einer Keller- Anzeige, die ich jetzt zu schreiben 
babe). (Brief e, 428) Es handelte sich also um eine Auftragsarbeit fur 
eine Zeitschrift (die »Literarische Welt«) aus gegebenem Anlafi: dem 
Beginn der Frankelschen Ausgabe im Jahre 1926. Der Akzent sollte 
sich verschieben - auf Keller selbst, nachdem die Arbeit erst einmal 
begonnen war. Das ist etwa ein Jahr spater gewesen. Anfang Juni 
1927 schrieb Benjamin aus Pardigon bei Toulon, von einem Pfingst- 
aufenthalt, an Hof mannsthal : Hier {. . ./ arbeite ich an einer langst 
geplanten Anzeige der grojlen kritischen Ausgabe von Kellers Wer- 
ken. (Ich stiefi zufallig bei dieser Gelegenheit auf einige Worte, die er 
iiber die franzosische Tragodie sagt [ein Gegenstand, den Benjamin 
in einer Arbeit, gedacht als Gegenstuck meines Trauerspielbuches, 
zu behandeln manchmal erwog;Briefe,445]; sie fallen durch ihrebohe 
Einsicht aus allem heraus, was damals iiber diesen Gegenstand zu sagen 
Mode war.) Diese Arbeit macht mir viel Freude und in der Hoffnung, 
daft sie auch einige geben kann, will ich sie Ihnen gleich nach Erscbei- 
nen zusenden. (Brief e, 446) Das Erscheinungsdatum war der 5. Au- 
gust, und noch im Juli arbeitete Benjamin an dem Aufsatz. Nach der 



io io Anmerkungen zu Seite 283—295 

Ruckkehr aus Sudfrankreidi schrieb er aus Paris: Ich bin zur Zeit schon 
so gut wie ganz [alleinf] und werde in vierzehn Tagen bier gdnzlich 
vereinsamt sitzen. Vorderband babe icb meine gestarkten Krafle auf 
eine seit Jabresfrist fdllige Anzeige von Kellers Werken geworfen, in 
der ich mix schmeicble, einiges untergebracht zu haben, was sich schon 
lange auf meinen Gerbirngassen herumtrieb. Wabrscheinltch wird die 
Literarische Welt sie zu lang befinden - ich rechne jedenfalls mit der 
Moglichkeit - und dann geht wieder die publizistische Misere an. 
(Juli 1927, an Sdiolem; in: Scholem, a. a. O., 166) Ob die Arbeit 
tatsachlich gekurzt wurde, lafk sich, da nur der Druck erhalten 
ist, nicht mehr feststellen; es ist jedoch, angesichts ihrer faktischen 
relativen Lange, eher unwahrscheinlich. - Auf die Antwort Hof- 
mannsthals erwiderte Benjamin Mitte August: Sie haben mix mit den 
freundlichen Worten aus Mendola eine grofie Freude gemacbt. Aber 
auch die fragende Reserve, mit der Sie meine angekiindigte Absicbt 
uber Keller zu schreiben aufnebmen, war mir wesentlich und, ich 
glaube, verstdndlich. Dieser Aufsatz liegt inzwischen im Augustbefl 
der »Literarischen Welt« vor und mag Ibnen fruber oder spdter vor 
Augen kommen. Heute will ich, scblecbt und recht, ein zwei Worte 
dazu anmerken: Uber eine eben geendete Arbeit spricht es sich ja 
immer am schwersten. Ich wei$ beute nicht mehr genau, worauf meine 
erste Bindung an Keller zuruckgebt; als ich im Jahre iyiy in die 
Schweiz ham, stand mir meine Liebe fur ihn scbon deutlich fest (das 
ist mir zufallig durch ein sebr lebhaftes Gesprach in Erinnerung, das 
ich einige Wochen nach meiner Ankunft mit meiner Frau batte). 
Dann fanden Ernst Bloch und ich uns in der Rekapitulation der Kel- 
lerschen Scbriften zusammen und ich erinnere mich, dajl fur uns beide 
zu verscbiedenen Zeiten und vielleicht sogar aus verschiedenen Grun- 
den die Beschafligung mit dem »Martin Salander* dem das Siegel 
aufdruckte. Alles was der Name Kellers in Ibnen Wider strebendes 
aufruft, babe ich an der Lekture des »Grunen Heinrich« erfabren und 
im »Martin Salander« einen anderen Pol dieser Welt mit ganz 
anderem geistigen Wetter seben wollen. (Erst nachdem ich den Auf- 
satz geendet batte, fiel mir beim Lesen auf, dajl der »Griine Hein- 
ricb* darin garnicht genannt ist [wohl aber die Judith; s. 292] und 
das erschien mir, wenn ich so sagen darf, als Probe aufs Exemplar. 
Denn um dieses Werk sammelt als um ihr Punier sich die Liebe der 
Philister zu diesem Autor.) Immerhin schwebt mir die Notwendigkeit 
vor, die Einheit in der das Beschrdnkte und Lieblose mit dem Um- 
fassenden und Liebevollen ecbt sohweizerisch sicb in dem Mann ver- 
schrdnkt, nocb ganz anders einsichtig zu machen. In meinem Sinne sind 
das was ich gab nur Prolegomena - es ist ein Hinweis auf einen an- 
deren ubersehenen Keller[ 3 J nicht die Konstruktion dieses Autors aus 



Anmerkungen zu Seite 2 8 3—29 5 1 1 1 

seinen beiden scbeinbar so disparaten H'dlften. An eine solche Aufgabe 
wage ich fur jetzt nicht zu gehen. Ich hoffte mich, wenn auch nut 
durch Kontraststimmung, nach Abschlufl des Aufsatzes durch die Lek- 
tiire von Ricarda Huchs kleinem Inselbuchlein Uber Keller [s. Gott- 
fried Keller, Leipzig 19 14] dazu bestimmen zu konnen; aber mein 
Widerwille gegen diese salbungsvollen, kurzbeinigen Satzhaufen war 
so grofi, daft ich garnicbts davon hatte. (Briefe, 448 f.) Gegen Ende 
November entschlofi er sich, trotz der Reserve Hofmannsthals, diesem 
den Aufsatz zuzusenden. Mit einigem Zogern lege ich Ihnen heute 
nun dodo auch meinen Keller-Aufsatz vor (er geht Ihnen mit gleicher 
Post zu, und vielleicht haben Sie ihn schon bemerkt). Ich wurde es 
fast als eine Unaufrichtigkeit empfinden, wenn ich Ihnen diesen Auf- 
rifi eines Gelandes, das mich Jahre hindurch immer wieder in sich hin- 
einzog, nun vorenthielte. Ich mbchte ihn in Ihren H'dnden wissen, 
selbst wenn Sie ihn lieber mit Schweigen ubergehen. (Briefe, 452) Ein 
Echo scheint er in der Tat nicht empfangen zu haben. Anders Max 
Rychners Reaktion: noch aus Paris - im November war Benjamin 
nach Berlin zuriickgekehrt - hatte er ihm geschrieben, wie wertvoll 
mir Ihr Echo auf meinen Keller-Aufsatz gewesen ist, wie sehr die 
Wirkung, die Sie andeuten, mich erfreut und bestatigt hat. Ich habe 
zwei Jahre in der Schweiz gelebt, glaube sie ein wenig zu kennen und 
was am schweizerischen Wesen es mir angetan hat } haben Sie gewifi 
hie und da zwischen den Zeilen vernommen. Was ich versuchte y ist, 
wenn ich so sagen darf, eine kleine intelligible Grenzberichtigung zu 
Gunsten schweizerdeutschen Bodens gegen das Reichsdeutsche. (Briefe, 
451) Ober zwei Jahre spater, gegen Ende November 1929, bei Gele- 
genheit wohl des Hebel gegen einen neuen Bewunderer verteidigt 
(s. Bd. 3, 203-206), der im Oktober in der Frankfurter Zeitung er- 
schienen war, schrieb ihm Benjamin: Nehmen Sie vorweg Dank fur 
Ihre freundlichen Zeilen zu meinem Hebel. Ich verdanke meinen 
Schweizer Jahren so viel fur das Verstandnis dieses allemannischen 
Wesens, da$ ich vielleicht einmal den Versuch wagen konnte 3 ihr's 
zu entgelten, indem ich daran ging y so trockene Nebelwesen wie diesen 
Ermatinger samt den Seinen auszuschwefeln. Das hat mich besonders 
gefreut, da$ Sie den Ermatinger so deutlich visiert fanden. Mir ist die 
Natur dieses Mannes schon vor Jahren an einem unscheinbaren Stu- 
dienerlebnis aufgegangen. Es war die Zeit wo ich an meinem »Keller« 
- und zwar erst in Berlin dann in Paris - safl. Bestrebt dem neuesten 
Stande der Wissenscbafi mich anzugleichen, hatte ich in Berlin aus der 
Ermatingerschen Ausgabe von Kellers Leben und Briefen [s. »Nach- 
weise«] gearbeitet und lernte erst in Paris - wo es diese nicht gab - 
die Baechtoldsche [s. a. a. O.] kennen. Und nun wurde mir mit einem 
Schlag alles deutlich, was vorher - ich wei/I selbst nicht durch welche 



1012 Anmerkungen zu Seite 283—295 

Anordnung, welche Noten, welche Aura des Ermatingerschen Buches 
- mix unsichtig und verschwommen geblieben war. (Briefe, 503 f.) 
Als Benjamin 193 1, nachdem die materialistisdie Richtung seines 
Forsdiens offenbar geworden war, der Frage Rydiners »Dic, cur 
hic?« (s. Briefe, 522, Vorbemerkung zu Brief 201) sich stellte, durfte, 
bei der Rechtfertigung seines Standpunkts, audi die Erinnerung an 
jene trockene[n] Nebelwesen hineingespielt haben: die denkbar stark- 
ste Propaganda einer mater ialistiscben Anschauungsweise hat mich 
nicht in Gestalt kommunistischer Broschuren, sondern in der der 
»reprasentativen« Werke erreicht, die in meiner Wissenscbafl - der 
Liter aturgeschichte und der Kritik - auf biirgerlicher Seite in den 
letzten zwanzig Jabren ans Licht traten [. . .] Cur hie? - Nicht weil 
ich »Bekenner« der materialistiscben »Weltanschauung« ware; son- 
dern weil ich bestrebt bin, die Richtung meines Denkens auf diejenigen 
Gegenstande zu lenken, in denen jeweils die Wahrheit am dicbtesten 
vorkommt [oder wo jede kleinste angeschaute Zelle Welt, wie in der 
Prosa Kellers, soviel wie der Rest aller Wirklichkeit wiegt; 288] /. . ./ 
Sie nehmen an einer Stelle Ihrer Arbeit auf meinen Keller- Auf satz 
in schoner und ehrender Weise bezug. Aber Sie werden mix zugeben: 
auch in diesem Auf satz war es mein exaktes Bemuhen y die Einsicht in 
Keller an der in den wahren Stand unseres gegenwartigen Daseins zu 
legitimieren. Dafl die historische Grojie einen Standindex hat y kraft 
deren jede echte Erkenntnis von ihr zur geschichtsphilosophischen - 
nicht psychologischen - Selbsterkenntnis des Erkennenden wird, das 
mag eine recht unmaterialistiscbe Formulierung sein> ist aber eine 
Erfahrung y die mich den hanebuchenen und rauhbeinigen Analysen 
eines Franz Mehring immer noch eher verbindet, als den tiefsinnig- 
sten Umschreibungen des Ideenreiches, wie sie heute aus Heideggers 
Schule hervorgehen. (Briefe, 522-524) Wie gerade sokhe Erf ahrung der 
materialistisdien Gehalte - im Erkannten wie in der Selbsterkennt- 
nis des Erkennenden - innewird, davon spridit indirekt ein Brief 
Benjamins aus den letzten Jahren, wo er gelegentlich einer Arbeit 
Horkheimers jene Erfahrung nodi einmal auf Keller bezieht. Vor- 
gestern, schrieb er Weihnaditen 1936, habe ich Ihr en Auf satz iiber 
Haecker [s. Max Horkheimer, Zu Theodor Haeckers »Der Christ und 
die Gesdiidite«, in: Zeitsdirift fur Sozialforsdiung 5 (1936), 372-383] 
gelesen. Er atmet - so scheint mir - bei aller Mafiigung die unbe- 
irrbare Entschlossenheit dessen y der gewillt ist, nun einmal deutsch 
zu reden. Sehr bedeutsam steht die chinesische Geschichte darinnen. - 
Was Sie iiber die Schwermut des Materialisten sagen, beruhrt mich 
von einer besonderen Seite: ich meine, in meiner alten Liebe zu Gott- 
fried Keller. Dessen groflartige Traurigkeit war wirklich die von 
bunten Faden der Lust durchzogene materialistische: [Absatz] »Lang- 



Anmerkungen zu Seite 283—295 1013 

sam und schimmernd fiel ein Regen, [I] In den die Abendsonne 
scbien*. [s. Nacbweis zu 292,11] [Absatz] Aber das ist ein langes Ka- 
pitel; eines, wie er mit Bezug auf ein von Horkheimer geplantes 
materialistisches Lesebuch hinzufugt, dessen Funde die uberraschend- 
sten sein konnten. (Brief e, 725) Von den Gedichten, aus denen er hier 
zitiert, sagte er noch 1939, er liebe sie sehr, und seit jeher! (Brief e, 
817) Und wie er seinen eigenen Aufsatz uber ihren Verfasser ein- 
schatzte, daran erinnert Scholem, wenn er von den Arbeiten berichtet, 
die Benjamin 1927 dem Jerusalemer Universkatskanzler Judah Leon 
Magnes zur UnterstUtzung seiner Forderungsangelegenheit zuzu- 
schicken beabsichtigte: unter den vier »seiner besten Aufsatze« stand 
damals der iiber Keller an erster Stelle (Scholem, a. a. O., 179). 

Wenn Benjamin Hofmannsthal gegeniiber davon sprach, dafi das, 
was er mit dem Kelleraufsatz gab, nur Prolegomena waren, und er an 
die Aufgabe einer Konstruktion dieses Autors aus seinen beiden 
scheinbar so disparaten Hdlfteh [, . ./ filr jetzt nicht zu gehen wage 
(s. o.), so scheint er doch mit Vorarbeiten dazu sich beschaftigt zu 
haben. Dies konnten die - wenn audi an Zahl geringen - Paralipo- 
mena belegen, die er in einem Briefumschlag mit der Aufsdirift Nach- 
trdge zu abgeschlossenen Arbeiten [:] Keller [. . .J aufhob; sie lau- 
ten: 

2 u Keller 

Er »zieht . . . mit demselben kecken Spotte gegen die >freventlicbe 
EmanzipationslusU der Frauen zu Felde t die er beileibe nicht >an 
seinen eig'nen Lehren von Freiheit y Gleichheit und von Menscben- 
rechu theilnehmen zu lassen gedenkt. ... 

>Nie lass' ich dich dein langes Haar bescbneiden, 

Damit dein Denken desto kurzer sei*< . . . 
Vbrigens beweist er auch an anderen Orten mehr als zur Geniige, dafl 
er . . . absolut kein Verstdndnis hat fur den gewaltigen Emanzipations- 
kampf unsererZeit y von welchem die Frauen] rage . . . ein integrieren- 
der Bestandtheil ist.« L Zadek: Gottfried Keller Die neue Zeit IV 
iS86 Stuttgart p 76/77 

»Bei einem Dichter mit so . . . ausgesprochenem Hang zum Roman- 
tischen, Absonderlichen y kann es uns auch nicht Wunder nehmen y 
wenn wir unter seinen Gedichten mitunter auf Dinge stofien, die uns 
gar seltsam anmuthen. So z.B. wenn uns der Liedercyklus >Lebendig 
begraben< in die Hande fallt oder >Der Apotheker von Chamou- 
nix< s der> wie Keller selbst zugestebt, sein Entstehen unmittelbar dem 
Erscheinen von Heines >Romancero< verdankt.* Ic p 77 

Drudtvorlage: Benjamin -Arcfaiv, Ms 574 



ioi4 Anmerkungen zu Seite 283—295 

Nachtrage zum Aufsatz ilber Keller 
Schweizer Gipfel- und Schweizer Ebenen Stil 
Die Scbatten im Bilde Kellers zu vertiefen. Wiefern das Ironische, 

Philistrose mit seinen tiefsten Gebrechen zusammenhdngt. 
Keller und Watt (»ein Lufischiff bocb mit Griechenwein«) [s. An 

Justinus Kerner. Erwiderung auf seinLied: »Unter dem HimmeU . 

Morgenblatt 184$, v. 30 (Der Gedicbte zweiter Teil. Vermiscbte 

Gedicbte)] 
Vieles bet Keller aus einer wahren »Theorie« des Unglucks zu ent- 

wickeln. Zusammenhang dieser Tbeorie mit seinem Besessensein 

[fj durch den Schein. 
Fortwdhrendes Irren uber Beruf und Schicksal. Dauerndes Zogern. 
Landschaftliche Bedingtheit: flache Gegend t in der er als Kind lebte. 
Keller und Donald Wedekind: Ultra monies 
Exkurs ilber »Spiegel das Katzlein* 
Sebr eingehend die Bedeutung der Abwesenbeit des Pathos zu ent- 

wickeln 
Uber die Beachtung des Kleinen. Seligkeit im Kleinen, 
Ein Aufsatz von Bourdon (?) uber Keller in der Revue des deux 

mondes (vor 1886) 
Das Motiv »Bruderlein fein* fur Keller berauszuarbeiten. 
Mdnnliche Zilge der Kellerschen Frauen y weibliche der Manner 
Deutung der Danaidenstrafe durch Bachofen Mutterrecht 147/49 

['■ § 7'] 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 57$ 

»Wenn Gottfried Keller von Wildenbruchs Dramen den Eindruck 
hatte y als ob Wildenbruchs >seliger Mitburger Kleist auferstanden ware 
und mit gesundem Herzen fortdichtete< > so hat der Zuricher Homer 
auch einmal geschlafen.« Der Klassiker des verpreufiten Deutschlands 
Die neue Zeit XXVI,i Stuttgart 1909 p 791/92 

Drudtvorlage: Benjamin-Ar&iv, Ms 576 

UBERLIEFERUNG 

J BA Die Lkerarische Welt, 5. 8. 1927 (Jg. 3, Nr. 31), 1 f.; Benjamin- 
Ardiiv, Dr 17-21. 
lesarten 283,26 kommen } ] konjiziert fiir kommen - 285,19 Ak- 
tiengesellschafi] hinter Aktien- im Zeitschriftendruck Reproduktion 
einer Photographic Kellers - 285,39 MogHchkeit,) konj. fiir Mog- 
lichkeit - 286,1 Er und er] handschriftliche Korrektur Benjamins 
aus Sie und sie - 287,30 ausgeht,] konj. fiir ausgeht - 288,38 nicht,] 
konj. fiir nicht - 288,38 f. Glaubensranken<>] konj. fiir Glaubensran- 
ken< - 288,39-289,3 »Die bis Keller.] handschriftliche Einfiigung Ben- 



Anmerkungen zu Seite 283—295 1015 

jamins - 290,31 hat)] konj. fur hat), - 291,17 beunruhigend] konj. 
fiir beunruhigend, (Konjektur im Zitat; die Stelle selbst konnte nidit 
ermittelt werden) - 294,24 und von] lies und da von - 294,28- 
295,3 D* e bis Druckanordnung.] im Zeitschriftendruck durch Stern- 
chen unter dem Schlufi des Aufsatzes und durdi kleinere Type abge- 
setzt; hinter Druckanordnung.: W. B. 

nachweise 283,17 Werke 1 ] die Anmerkung (283,33-35) ist unver- 
andert iibernommen; dazu folgende bibliographischen Erganzungen: 
Die Ausgabe wurde von 1926- 1939 von Jonas Frankel besorgt, der 
16 Bande edierte (1, 2 1 ' 2 , 3-8, 11, 13-15 1 , 16-19), un ^ ab 1942 von 
Carl Helbling weitergefiihrt, der bis 1949 7 Bande herausgab (9, 10, 
12, 15 2 , 20-22). - Die Bande 3-8 und 16-19 haben die Titulatur 
»Gottfried Keller, Samtliche Werke, hg. von Jonas Frankel « und 
folgenden Vermerk: »Die Verwaltung des Gottfried Kellersdien 
Nachlasses in Zurich hat den Verlag zur Ausgabe autorisiert. Die 
Teile des Nachlasses, die in dieser Ausgabe zum ersten Mai abge- 
druckt werden, sind gegen Nachdruck gesetzlich gesdiutzt. Der Verlag 
ist ermachtigt, die daraus sich ergebenden Rechte zu wahren. Eugen 
Rentsch Verlag, Erlenbach-Ziirich [und Munchen 1926 f.]«. - Die 
Bande 1, 2, n und 13-15 1 haben die gleiche Titulatur, jedoch diesen 
Vermerk: »Herausgegeben mit Unterstiitzung des Kantons Ziirich[.] 
Die Texte des Gottfried Kellerschen Nachlasses, die in dieser Ausgabe 
zum erstenmal abgedruckt werden, sind gegen Nachdruck gesetzlich 
geschutzt. [Verlag Benteli A. G., Bern und Leipzig, 193 1 ff.]« - Die 
Bande 9, 10, 12, 15 2 , 20-22 haben die Titulatur »Gottfried Keller, 
Samtliche Werke, hg. von Jonas Frankel, Auf Grund des Nachlasses 
besorgte und mit einem wissenschaftlichen Anhang versehene Aus- 
gabe« und folgenden Vermerk: »[...] Diese vom Kanton Zurich 
unterstiitzte Ausgabe wurde im Jahre 1926 von Prof. Jonas Frankel, 
Bern, begonnen. Von ihm wurden herausgegeben die Bande [s. o.]. 
Die Herausgab e der weiteren Bande wurde im Oktober 1942 mit 
Ermachtigung der Regierung des Kantons Zurich von Dr. Carl Helb- 
ling, Zurich, iibernommen. [Verlag Benteli A. G., Bern und Leipzig 
1943 f. (Bd. 9, 12); Bern 1945 ff. (Bd. 10, 20-22, i5 2 )]«. Tatsachlich 
wurde die Ausgabe »beim Anbruch der Geistesdammerung im Reiche, 
die audi die Schweiz beschattete«, Frankel - der nicht nur ein grofier 
Editor, sondern auch politisch unbestechlich war - »durch die Ziircher 
Regierung entrissen« (Jonas Frankel, Dichtung und Wissenschaft, Hei- 
delberg 1954, 152; iiber die Qualitat der von Helbling edierten 
Bande der Ausgabe s. a. a. O., 152-194). - 283,24 Gedichte] s. 
Gottfried Keller, Samtliche Werke, a. a. O., Bd. 22: Aufsatze zur 
Literatur und Kunst, Miszellen, Reflexionen, Bern 1948, 210 (»Ge- 
dichte von Heinrich Leuthold«) - 284,1 Salander*] s. a. a. O., 



1016 Anmerkungen zu Seite 283—295 

Bd. 12: Martin Salander. Roman, Bern, Leipzig 1943 - 284,22 Mitte«] 
a. a. O., Bd. 21: Autobiographien, Tagebucher, Aufsatze zur Politik 
und zum Tage, Bern 1947, 97 (»Tagebuchblatter. Am Abend des 
1. Mai 1848 «) - 285,35 verbobnen.«] Ziircherische Freitagszeitung, 
20. 9. 1 861 (Nr. 38); zit. in: Jakob Baechtold, Gottfried Kellers Le- 
ben. Seine Briefe und Tagebucher, Bd. 2: 1 850-1 861, Berlin 1894, 534 
(Anhang) - 286,22 f. illustrieren] s. Baechtold, a. a. O., Bd. 3: 1861- 
1890, Berlin 1897 (2. Aufl.), 312 (8. Dichter und Tod) - 286,26 
Gottbelf] s. Keller, a. a. O., Bd. 22, a. a. O., 43-117 (»Jeremias 
Gotthelf«) - 286,28 ausgebt] s. a. a. O., 44 (I.) - 286,33 Dorfern.«] 
a. a. O., 88 (III.): »[...] denn heute« - 287,3 werden.*] a. a. O., 78 
(II.) . - 287,1 r Dorfe«] s. a. a. O., Bd. 7: Die Leute von Seldwyla. 
Erzahlungen, Erster Band, Erlenbach-Zurich, Munchen 1927, 83-187 
- 287,33 baucbigen Arabesken seines Vokabulars] in einer vier 
Monate spater als der Keller- Aufsatz - am 9. 12. 1927 in der »Lite- 
rarischen Welt« (Jg. 3, Nr. 49) - erschienenen Rezension des Brief - 
wechsels Kellers mit Marie und Adolf Exner (s. Bd. 3, 84 f.) spricht 
Benjamin von den tausendspiralige [n] Gebausen seiner Wortform 
(a. a. O., 84,19 f.) - 287,37 f. E? bis Vollstreckung] s. die ahnlich 
lautenden Passagen 628,22 f. und 1107 (Ms 337) - 288,3 Liehes- 
novelle] s. Keller, a. a. O., 187 - 288,9 vorgtng.*] a. a. O., Bd. 8: 
Die Leute von Seldwyla. Zweiter Band, Erlenbach-Zurich, Munchen 
1927, 221 (»Dietegen«) - 288,13 geraten.*] a. a. O., Bd. 7, a. a. O., 
259 (»Die drei gerechten Kammacher«) - 288,30 batte.«] a. a. O., 
Bd. 12, a. a. O., 289 (XV) - 288,37 festhalten.*] 6. 7. 1889, Conrad 
Ferdinand Meyer an Keller; zit. in: Baechtold, a. a. O., Bd. 3, a. a. O., 
322 (8.) - 289,2 schonste.*] Victor Hehn, Italien. Ansichten und 
Streiflichter, Berlin 1896 (5. Aufl.), 49 (V.) - 289,18 findet] s. Kel- 
ler, a. a. O., Bd. 7, a. a. O., 93 (»Romeo und Julia auf dem Dorfe«) - 
289,25 scbwebt.«] a. a. O., Bd. 8, a. a. O., 399 (»Das verlorne 
Lachen«, Drittes Kapitel): »zu Mut« - 290,16 gekommen*] Keller, 
zit. in: Emil Ermatinger, Gottfried Kellers Leben. Mit Benutzung von 
Jakob Baechtolds Biographie dargestellt, Stuttgart, Berlin 1924 (6. und 
7. Aufl.), 13 - 290,24 FaulbeiU] a. a. O., 652; Ermatinger zitiert 
nur »Faulheit« - 290,29 zuriick.*] 15. 5. 1859, Keller an Ludmilla 
Assing; zit. in: Baechtold, a. a. O., Bd. 2, a. a. O., 438 (6. In der Hei- 
mat) - 290,31 bat] s. etwa Johann Peter Eckermann, Gesprache 
mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Neue Ausgabe, hg. 
von Fritz Bergemann, Wiesbaden 1955, 570 (Dritter Teil, 6. 5. 1827): 
»je inkommensurabeler und fiir den Verstand unfafilicher eine poeti- 
sche Produktion, desto besser.« - 291,36 Baronin«] s. Keller, a. a. O., 
Bd. 11: Das Sinngedicht. Novellen, Bern, Leipzig 1934, 191-196 
(Neuntes Kapitel, »Die arme Baronin«) - 292,2 vor\iihrtW\ Februar 



Anmerkungen zu Seite 283—295 1017 

1878, Theodor Storm an Keller; zit. in: Baeditold, a. a. O., Bd. 3, 
a. a. O., 289 (8.) - 292,3 Greifensee*] s. Keller, a. a. O., Bd. 9: 
Zuricher Novellen. Erster Band, Bern, Leipzig 1944, 158-290 - 
292,11 bin.] a. a. O., Bd. 1: Gesammelte Gedidite. Erster Band, 
Bern, Leipzig 1931, 34 (»Abendregen«, v. 1-4; Buch der Natur) - 
292,19 begtf] a. a. O., Bd. 2: Gesammelte Gedidite. Zweiter Band, 
Bern, Leipzig 1937, 141 (»Tod und Diditer«, v. 16-19; Vermischte 
Gedidite) - 292,22 Pbantasiegebilde*] a. a. O., Bd. 6: Der griine 
Heinridi. Roman, Vierter Band, Erlenbach-Zurich, Miinchen 1926, 
331 (Anhang, »Die >Neue Ausgabe<«) - 292,30 Strand!] a. a. O., 
Bd. 1, a. a. O., 231 (»An das Vaterland«, v. 1-2; Festlieder und Ge- 
legentlidies) - 292,31 Grundtrauer*] Keller, zit. in: Ermatinger, 
a. a. O., 663 - 292,35 »Gramspelunke«] a. a. O., 214 - 293,8 
dulde.*] Adolf Frey, Erinnerungen an Gottfried Keller, Leipzig 1893 
(2. erw. AufL), 155: »emporragt«, »dulde!«; das »idi sdiulde, ich 
dulde« ist uberliefert audi durdi Conrad Ferdinand Meyer, s. Baedi- 
told, a. a. O., Bd. 3, a. a. O., 330 (8.) - 293,17 scbicket!] Keller, 
a. a. O., Bd. 2, a. a. O., 153 (»Aus einem Romane. II In der Trauer. 
i«, v. 9-12; Vermisdite Gedidite) - 293,23 vornebme.«] 16, 9. 1850, 
Keller an Hermann Hettner; zit. in: Baeditold, a. a. O., Bd. 2, 
a. a. O., 121 (5. In Berlin): »wiirde mir« - 294,5 »Traumbuch«] s. 
Keller, a. a. O., Bd. 21, a. a. O., 63-89 - 294,14 werden.*] Mai 1888, 
Keller an Lydia Welti-Escher; zit. in: Baeditold, a. a. O., Bd. 3, 
a. a. O., 318 (8.) - 294,22 Bilderfibel!] Keller, a. a. O., Bd. 13: 
Friihe Gedidite, Bern, Leipzig 1939, 141 (»Maler-Sonette. V An die 
deutsdien Kunstler. 2«, v. 1-3 und 5; Sonette); die Strophe, die bei 
Benjamin stent, ist eine Montage aus den Versen 1-3 der ersten und 
dem Vers 1 der zweiten Strophe des Sonetts, unter Ausnutzung des 
Reimgleidiklangs. Der ausgefallene vierte Vers der ersten Strophe 
»Und ausgewachsen langst die alte ZwiebelU wurde von den Her- 
ausgebern durdi drei Punkte, jedodi ohne Verstrennungsstriche (um 
Benjamins Absidit der Montage zu bewahren), gekennzeichnet. Bei 
Keller lauten die beiden ersten Zeilen der zweiten Strophe: »Malt 
nun der Freiheit eine Bilderfibel: [1] Das sei der StofT, den ihr ver- 
eint erbeutetU - 294,28 Bande] sell. y6> 16-19 (ersdiienen 1926) 
und 7, 8 (ersdiienen 1927). Dem nach einer Pause von vier Jahren 
193 1 erschienenen ersten Band widmete Benjamin eine kurze An- 
zeige in der »Literarisdien Welt« vom 12. 2. 1932 (Jg. 8, Nr. 7); 
s. Bd. 3, 322. 



ioi8 Anmerkungen zu Seite 295—310 

295—310 Der Surrealismus 

Benjamins BeschafHgung mit dem Surrealismus begann wahrschein- 
lich 1925, ein Jahr nach dem Erscheinen von Bretons erstem Manifest. 
Am 3. 7. 1 92 j berichtete er Rilke von seiner Obersetzung der » Ana- 
base* von St.- J. Perse und fuhr fort: Die Atmospkdre der - im 
weiteren Sinne gesprochen - das Werk entstammt, habe ich im Laufe 
der Wocben mir deutlicb werden lassen. Insbesondere hat micb im 
Surrealisme (einige seiner Intentionen sind ja wohl auch bei St. 
Perse unverkennbar) ergriffen, wie die Sprache eroberndy befehlsha- 
berisch und gesetzgebend ins Traumbereich einrilckt. De[n] rasche- 
re[n] Atem dieser prosodischen Aktion habe ich vor allem im 
Deutschen festzuhalten gesucht. (Brief e, 390) Zwei Wochen spater, am 
21.7. 1925, heifk es in einem Brief an Scholem: Vor allem nahm ich 
mir Neuestes aus Frankreich vor: Die herrlichen Schriften von Paul 
Valery (Variete, Eupalinos) einerseits, die fragwilrdigen Bucber der 
Surrealist en auf der andern. Vor diesen Dokumenten mufi ich all- 
mdhlich mich mit der Technik des Kritislerens vertraut machen. Bei 
einer neuen literarischen Revue, die im Herbst erscheinen soil - ich 
denke, daruber habe ich schon an Dich berichtet — habe ich Mitarbeit 
aller Art, insbesondere ein standiges Referat uber neue franzosische 
Kunsttheorie ubernommen. (Brief e, 393) Die neue liter arische Revue 
war die von Willy Haas herausgegebene, im Ernst Rowohlt Verlag 
erscheinende »Literarische Welt«, an der Benjamin wahrend der zwei- 
ten Halfte der zwanziger Jahre regelmafiig mitarbeitete. Eine erste 
Arbeit uber den Surrealismus - die Glosse Traumkitsch (s. 620-622) 
- entstand wahrscheinlich nodi 1925 und erschien im Januar 1927 in 
der » Neuen Rundschau «. Mitte 1927 - der grofie Aufsatz (1021) uber 
den Surrealismus war noch ungeschrieben - heifit es in einem Brief 
an Hofmannsthal : Wahrend ich mit meinen Bemiihungen und In- 
ter essen in Deutschland unter den Menschen meiner Generation mich 
ganz isoliert fuhle, gibt es in Frankreich einzelne Erscheinungen - als 
Schrifisteller Giraudoux und besonders Aragon - als Bewegung den 
Surrealismus, in denen ich am Werk sehe, was auch mich beschdfligt. 
(Briefe, 446) Aus Aragons »Le paysan de Paris« iibersetzte Benjamin 
einige Auszuge,,die im Juni 1928 in der »Literarischen Welt« gedruckt 
wurden (s. Gesammelte Schriften, Supplement I). Der Essay Der Sur- 
realismus erschien erst im Februar 1929, und zwar gleichfalls, in drei 
Fortsetzungen, in der »Literarischen Welt«; Benjamin hatte prompt 
Grund zur Klage uber die Publikation, wie einem Brief an Alfred 
Cohn sich entnehmen lafk: Wenn Du Dich fiir den Aufsatz uber 
Surrealismus inter essierst 3 wirst Du gut tun, das vollstandige Er- 
scheinen abzuwarten und ihn dann in Einem zu lesen. Sinnwidriger 



Anmerkungen zu Seite 295—310 10 19 

. als es gescbehen ist, liefi sich namlich die Abteilung der Fortsetzungen 
garnicht vornehmen. (Brief e, 487) (Der Abdruck in der »Literari- 
schen Welt« unterbricht den Text nach 300,12 und nach 303,24; im 
zweiten Fall mitten im Absatz.) 

Die Andeutung in dem zitierten Brief an Hofmannsthal vom 5. 6. 
1927: daft Benjamin im Surrealismus am Werk sehe, was aucb ihn 
selber bescbdftige, wird durch einen Brief an Sdiolem vom 14. 2. 1929 
verdeutiicht: Was mich sonst in letzter Zeit anging ersiehst Du eini- 
germafien deutlich aus dem » Surrealismus* , einem lichtundurchlassigen 
Paravent vor der Passagenarbeit. (Brief e, 489) Scholem war der Hin- 
weis nicht deutlich genug, und Benjamin fuhrte am 15. 3. 1929 aus: 
Optime> amice fragst Du, was sichwohl hinter der Surrealismus- Arbeit 
verbergen mag. (Ich glaube, sie Dir komplett zugesandt zu haben, bitte 
scbreibe, ob Du sie erhieltest.) In der Tat ist diese Arbeit ein Paravent 
vor den »Pariser Passagen* - und ich babe manchen Grundy was da- 
hinter vorgeht, gebeim zu batten. Gerade Dir aber immerhin soviet: 
dafi es sicb bier eben um das handelt, was Du einmal nach Lektiire der 
»Einbahnstrafle« beruhrtest: die duflerste Konkretheit, wie sie dort 
bin und wieder fiir Kinderspiele y fiir ein Gebaude, eine Lebenslage in 
Erscbeinung trat s fiir ein Zeitalter zu gewinnen. Ein halsbrecherisches, 
atemraubendes Unternehmen, nicht umsonst den Winter iiber - auch 
wegen der scbrecklichen Konkurrenz mit dem Hebraischen - immer 
wieder vertagt, also zeitweise mich labmend, nun ebenso unaufschieb- 
bar wie zur Zeit unabschliejlbar befunden. (Brief e, 491) Scholem 
seinerseits ist auf die Bedeutung des Surrealismus fiir Benjamins Den- 
ken an einer Stelle seines Erinnerungsbudies eingegangen, welche 
sich allerdings auf eine friihere Begegnung mit dem Freund - 1927 in 
Paris - bezieht: »Seiner Bewunderung fiir Val^ry stand auf der 
ganz anderen Seite sein brennendes Interesse an den Surrealisten 
gegeniiber, die viel von dem hatten, was in den vergangenen Jahren 
in ihm selber aufgebrochen war. Was er in geistiger Disziplin zu 
durchdringen und zu bezwingen suchte, war ihm gerade in den ent- 
gegengesetzten Formen der schrankenlosen Hingabe an die Explo- 
sionen des Unbewufken denkwiirdig und regte seine eigene Imagina- 
tion an. Ihre Mafilosigkeit zog ihn tiefer an als die gewollte Mache 
des literarischen Expressionismus, in dem er die Momente der Unehr- 
lichkeit und des Bluffs erkannte. Der Surrealismus war fiir ihn so 
etwas wie die erste Brucke zu einer positiveren Einschatzung der 
Psychoanalyse, aber er machte sich keine Illusionen iiber die Schwa- 
chen in den Verf ahren beider Schulen. Er las die Zeitschriften, in denen 
Aragon und Breton Dinge verkiindeten, die sich irgendwo mit seinen 
tiefsten eigenen Erfahrungen trafen. Es geschah hier etwas ahnliches 
wie in seiner Begegnung mit dem, was er extremen Kommunismus 



1020 Anmerkungen zu Seite 295—310 

nannte. Benjamin war kein Ekstatiker, aber die Ekstasen der revolu- 
tionaren Utopie und des surrealistischen Eintauchens ins Unbewufite 
waren fiir ihn gleichsam Schliissel zur Offnung seiner eigenen Welt, 
fur die er ganz andere, strenge und disziplinierte Ausdrucksformen 
suchte.« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freund- 
sdiaft, a. a. O., 169) - Der Surrealismus-Essay als Einleitung in das 
Passagenwerk: diesen Charakter betonte Benjamin nach Erschei- 
nen des Textes auch gegeniiber Hofmannsthal; zugleich bestimmte er 
sein Verh'altnis zu dem Essay iiber Proust als das eines Gegenstucks: 
Der Proust-Aufsatz, von dem ich hoffentlich nicht ohne Grund an- 
nehme, dafi er Ihnen einen gewissen Begriff von dem gibt, was mich 
vor Jahren ih Paris beschaftigte und dem Sie Ihren Anted schenkten, 
sollte das game Ubrige [sell, weitere Texte, die Benjamin gleich- 
zeitig schickte] Ihnen empfeblen; darum babe ich bis zu seinem Er- 
scheinen gewartet. Der »Siirrealismus« ist ein Gegenstuck zu ihm t das 
einige Prolegomena der Passagen- Arbeit enth'dlt, von der wir einmal 
bei mir gesprochen haben. (Briefe, 496) 

Der Surrealismus hat mir einen erfreulichen, erfreuten, ja begeisterten 
Brief von Wolfskehl eingetragen, und mir auch sonst noch ein pder 
zwei freundliche Briefe eingetragen. (Briefe, 492) So Benjamin im 
Marz 1929. Ein vom 5. Juli 1929 datierter Brief Benjamins an Karl 
Wolfskehl nimmt Bezug auf dessen Rezeption desSurrealismus-Essays; 
da dieser Brief nur an versteckter Stelle publiziert ist, sei er im fol- 
genden in extenso wiedergegeben : Verehrter Herr Wolfskehl, daft ich 
Ihnen die drei He fie [der »Literarischen Welt«] sende, die meinen 
Proust- Auf satz enthalten, rechnen Sie bitte nicht nur als Beweis 
dankbarsten Eingedenkens dessen, was Sie mir iiber den » Surrealis- 
mus « geschrieben haben: es ist vielmehr auch ein Wunsch, es zu ent- 
gelten, was ich an einigen Ihrer Arbeiten gehabt babe, die mir indes- 
sen durch Zufall oder nacbbarlich-literar zukamen. Das Schonste aber 
verdanke ich auch hier wieder [Franz J Hessel, der mir Ihre »Lebens- 
luft« aus der Frankfurter Zeitung brachte. Sie wissen auch ohne daft 
ich es sage, wieviel fur mich Nachstes und Surreales drinsteckt. [Ab- 
satzj Dieses Ndchste ruft den einfachen Wunsch nach Nahe wieder 
herauf, umso lebbafter, je unwahrscheinlicher fiir die folgende Mona- 
te seiner Erfullung [sic] aussieht. An fang August gehe ich nach Paris 
und Mitte September denke ich uber Marseille nach Paldstina zu 
gehen. Vielleicht bekomme ich vorher noch eine Zeile von Ihnen. 
[Absatz] Mit dem Ausdruck meiner herzlichen Ergebenheit Ihr Wal- 
ter Benjamin. (Karl Wolfskehl 1 869-1969, hg. von Manfred Schlosser, 
Darmstadt 1969, 344 f.) 

Jahre spater, Anfang 1936, berichtete Benjamin Gretel Adorno von 
damals erst sich anbahnenden personlichen Kontakten mit den Surrea- 



Anmerkungen zu Seite 295—310 1021 

listen: Alice in Wonderland [von Lewis Carroll J kenne ich selbstver- 
stdndlicb [. . .J. Es ist eine aufierordentliche Sache, und steht natur- 
lich auch bei den Surrealisten in bohem Ansehen. Da wir einmal 
hierbei sind, so wird es Dich inter essier en , daft ich durch den Ubersetzer 
meiner neuen Arbeit [Pierre Klossowski] zum ersten Mai in Kontakt 
mit dem Bretonschen Kreis kommen werde; eine BerUhrung, die 
natiirlich sehr viel Umsicbt verlangt. Am kommenden Dienstag werde 
id) mir eine Veranstaltung der Gruppe anhoren. (o. D. [Januar 1936], 
an Gretel Adorno) Diese Begegnung, wenn sie denn zustande ge- 
kommen sein sollte, kam fur Benjamin in mancher Hinsicht zu spat: 
Breton und die diesem verbliebenen Anhanger hatten langst mit 
jenem Kommunismus gebrochen, zu dem Benjamin inzwischen sich 
bekannte; audi hatten die surrealistischen Verfahrungsweisen, die Ben- 
jamin zunaohst fur das Passagenwerk so iiberaus fruchtbar erschie- 
nen waren, sich ihm als eine Sackgasse erwiesen (s. Bd. 5, Ein- 
leitung). 

In einem 1928 und 1929 gefiihrten Notizenheft (s. Sammlung Scho- 
lem, Pergamentheft, 26-33) finden sich Aufzeichnungen und biblio- 
graphische Hinweise, die wohl unmittelbar im Zusammenhang der 
Arbeit an dem Essay geschrieben wurden und eine Art Zwischenstel- 
lung zwischen Traumkitscb und Der Siirrealismus markieren: zum 
Teil scheinen es Nachtrage zu der alteren Glosse, zum Teil Vorarbei- 
ten zu dem grojlen Aufsatz zu sein. Der folgende Abdruck aus diesen 
Materialien beschrankt sich auf die wenigen nicht gestrichenen No- 



Zum Surrealismus 

Man kann diese game Bewegung so konstruieren: Aufgabe, die Kraf- 
te des Rauscbes (die an sich isolierend, abspaltend wirken) fur die 
Revolution braucbbar zu machen. Unter diesem Gesicbtspunkt mufl 
ich das Buch von Naville lesen. 

Drudtvorlage: Sammlung Scholem, Pergamentheft, 27 

Zum gr jl en Aufsatz uber Surrealismus 

Ein konstruktiver Fall von Offenbarung einer Erfahrung. Schauplatz 
dieser Offenbarung ist die Erinnerung. Die offenbarten Erlebnisse 
sind nicht da sie eintreten Offenbarung sondern vielmehr dem Erle- 
benden selbst verborgen. Sie werden Offenbarung erst da mehrere 
sich ihrer Analogic bewujit werden, ruckschauend. Hier liegt ein 
wichtiger Unterschied von der religiosen Offenbarung. 

Druckvorlage: Sammlung Scholem, Pergamentheft, 28 

Uber die Unter schiede des inspirierten Lesens, wie es den Entdeckern 
eines Autors gelaufig ist ~ ein Lesen, in dem alle Ideen in hdchster 



1022 Anmerkungen zu Seite 295—310 

Mobil[? Jbereitschaft, hochster Assoziationsbereitschafl sind - und 
dem ublichen. 

Zu Apollinaire 

Bei Apollinaire ist noch vereinbar, was sich sp'dter trennt, Menschen, die 
wie Tiegel sind, in dem die fremdesten Substanzen bei einander lie- 
gen ehe noch das eigentlich experimentelle Verfahren begonnen hat. 

Das aufgewiihlte Meet seines Daseins bat sein Lebensschiff in alle 
Stddte Europas verschlagen und iiberall hat er auch sich mit einer 
Novelle verankert. 

Druckvorlage : Sammlung Scfiolem, Pergamentheft, 30 

Bei Vague de reves [von Aragon] ist anzuscblieflen, wie schon 
Claudel Rimbauds Dichtung mit dem Rausch in Verbindung bringt (p 

9) 

Druckvorlage: Sammlung Sdiolem, Pergamentheft, 31 

Oberwindung des rationalen Individiums im Rausch ~ des motori- 

schen und affektiven Individuums abet in der kollektiven Aktion: 

das kennzeichnet die ganze Situation. 

p 141 [?] zeigt den verhdngnisvollen Einflujl Bergsons auf den 

Surrealismus. 

Nur dies ist das Buch [?], auf das wir die Aufmerksamkeit aller, die 

weniger in informatorischer Absicht als um zu wissen, wo sie sich in 

Reih und Glied zu stellen, einzuordnen haben, garnicht entschieden 

genug lenken konnen. In einer Konstellation von Schlagwortern 

lafit sich das, was dieser Mann [bricht abj 

Druckvorlage: Sammlung Scholem, Pergamentheft, 32 

Nachtrdge zum Surrealismus 

Die Bucher dieser Schule soil man nicht bei sich im stillen Zimmer son- 

dern im harm der Cafes lesen, auf Banken, in Parks, iiberall wo 

sie auf wogenden Gerduschen flott werden und den Leser weit auf das 

Meer des Geschwdtzes und der Stimmen tragen, in dem die Inseln 

der Wabrheit liegen. 

Es gibt in der Produktion Stunden, in denen wir wissen oder wenig- 

stens glauben, es hinge nur von uns ab, wieder und wieder unabsehbar 

aus ihnen zu schopfen - nur durfen wir nicht aufhoren - so gibt es 

auch Erlebnisse, Begegnungen: wir konnen unerschopflich aus ihnen 

gewinnen, durfen nur nicht absetzen. 

Nachtrdge zum Surrealismus [II J 

Wenn Rimbaud der brennende Holzstofi ist, so ist Lautreamont das 

Spiel des Windes mit dessen Asche 

Dermee erkennt etwas Wichtiges: Gesprdch als Prototyp gewisser Ge- 

dichte von Apollinaire, (Er sang beim Versemachen vor sich hin) 

Druckvorlage: Sammlung Sdiolem, Pergamentheft, 32* 



Anmerkungen zu Seite 295—310 1023 

Zahlreidie Vorstudien zum Surrealismus-Essay hat Benjamin gesondert 
aufbewahrt: Notizen und kommentierte Exzerpte, die im folgenden 
samtlich abgedruckt werden, obwohl sie zu einem nidit geringen 
Teil in den endgultigen Text - mehr oder weniger modifiziert, vor 
allem vollig anders angeordnet - eingegangen sind. 

Zum Aufsatz uber Siirrealismus 

{Apollinaires »Mamelles de Tiresias« von 1903. Hier, in diesem Stuck, 
zum ersten Male der Begriff des Surrealismus. Das fubrt darauf, 
dafi Sprach- und Liter aturbewegungen ibre frubesten Scbopfungen 
sebr oft in Scberze verbullt, gewissermaflen wie scbnuppernde 
Schnauzen vorscbieben. Bierulk, Witzblatter etc. brtngen (oft als Par- 
odien verkleidet) neue Formen der Dichtung, Kosesprache, Sprach- 
verdrehungen etc. neue Tendenzen der Sprache Uberbaupt zum Vor- 
schein. Die deutscben Vorldufer des Surrealismus: Morgenstern y Ur- 
waldgeister [s. 861 f.]> Ungerscbe [?] Dicbtungen, ScbUttelreime von 
Lotte Pritzel. (S. Apollinaire p 11) »Au demeurant il m'est impossi- 
ble de decider si ce drame est serieux ou non« Apoll[inaireJ I. c. 12 

Erste Definition des Surrealismus. »Quand Vbomme a voulu imiter 
la marcbe, il a cree la roue qui ne ressemble pas a une jambe. II 
a fait ainsi du surrealisme sans le savoir.[«J 

Es ist zu bemerken, dafi bei der dufierst problematiscben Lage der 
Kunst Tbeorien beute ebenso beachtenswert, vielleicht bedeutend 
beacbtlicher sind als Einzelwerke, seien sie aucb noch so gelungen. 
Gewifi ist der Surrealismus als solcber kaum imstande, sebr bedeu- 
tende Werke aufzuweisen. Dafiir stellt er evidenter als jede kon- 
kurrierende Bewegung die Zerscblagung des Aestbetischen, die Bin- 
dung ans Pbysiologisch- und Animalisch-Menschlicbe einerseits und 
die Bindung an Politiscbes andererseits dar.} Das tritt auch schon 
in dem apollinairescben Drama bervor. Worin ubrigens die ani- 
maliscb-menschliche Bindung bestebt? In der Verhaflung an die 
Traumwelt »Vague de reves* [von AragonJ etc, 

Anklang an Scheerbart »des acteurs collectifs ou non i qui ne sont 
pas forcement extraits de Vhumanite I Mais de Vunivers entier« 
Apollinaire p 36 

Vber das surrealistische Theater vgl. Radioreferat Paris II [von Ben- 
jamin; s. Bd. 7, 289 u. 632] 

{Vollige Analogic zwischen Apollinaires Prophezeiungen im Poete 
assassine und Aragons Paysan de Paris [Paris 1926} p. 81/82 
Dichter als Opferlamm. Darin liegt beides: Apotbeose des Bosen 
und soziale Prognose) 

Sebr bemerkenswerte Tendenz des surrealisme zum dictionnaire. 
Beziehung zur Poetik des iy ten Jahrbunderts 



1024 Anmerkungen zu Seite 295—310 

Dieses Mehr an Tradition in Frankreich, es ist zu gleicber Zeit ein 
Mehr an Moden. Denn nicht nur die Surrealisten machen eine Mode 
(oder werden vielmehr von ihr getragen) sondern zu gleicher Zeit 
ist da Alain, ein hbchst einfluftreicber Denker, der fiber Trdume 
schreibt, als set es ihm nur um die Vernichtung der Surrealisten zu 
tun. Er sagt: »Il n y y a d y autre description d 3 un reve que celle que 
se donne Vhomme qui s^eveille et qui fait Venquete.« 

Auf die revolution surrealiste, die querelle mit der Humanite ein- 
gehen. U n d b e i Gelegenbeit der S tellung die- 
ses Kr e is e s zum K ommunismu s ein E xkur s 
ub er die franzdsischen Ruftlandbucher: V iol- 
lis , D u b am el , D ur tain , F abr e - Luc e ( B erau d ) 

Apollinaire - ein Dichter aber aucb ein Genie des Bluffs. Das ruhrt 
daher, daft in seiner eminenten Bildung er sich zuletzt selbst iiber- 
schlug und aus Theologie, bibliographiscbem Wissen, Kenntnis der 
entlegensten literarischen Kuriositaten schlieftlich ein so wildes Pro- 
gramm hervorging. So war er vorbereitet y Agent des Futurismus zu 
werden. 

Druckvorlage : Benjamin-Archiv, Ms 730 

[Zur Lekture von Bretons »Nadja« I J 
{Leben im Glasbaus [ed. Paris 1928] p 20 I Livre a parte bat- 
tante i 

Die Vberwindung des Privaten. Sie ist nun in der Tat eine revolu- 
tionare Tugend. Die Diskretion in Sachen der eignen Existenz ent- 
wickelt sich aus einer aristokratischen Tugend immer mehr zu einer 
Sache von conciergen. 

Breton hat den wahren dialektischen Gegensatz zum Schliisselro- 
man gefunden.) 

{»Encore tout enfant, j'admirais le forcat intraitable sur qui 
se referme toujours le bagne; je visitais les auberges et les garnis qu'il 
aurait sacres par son sejour; je voyais avec son idee le 
del bleu et le travail fteuri de la campagne; je flairais sa fatalite dans 
les villes.tr Rimbaud: Saison en enfer) 

{Die Dame ist in der esotherischen Liebe das Unwichtigste i Im- 
mer, so auch Breton. Er ist mehr den Dingen nahe, denen sie nahe ist, 
als ihr selber. Welches sind aber nun die Dinge denen sie nahe ist? 
Deren Kanon ist fiir den Surrealismus so aufscbluftreich wie nur mbg- 
lich. Aufzdhlung} 

{ Wie diese Dinge zur Revolution stehen. Niemand kann einen 
genaueren Begriff davon haben, wie das E lend, nicht nur das soziale 
sondern genau so das arcbitektonische, das Elend der Interieurs, kurz 



Anmerkungen zu Seite 295—310 1025 

die versklavten und uns versklavenden Dinge in den radikalen revo- 
lutiondren Nibilismus umschlagen. Sie sind das Liebespaar, das alles, 
was wir auf langen Eisenbabnfahrten, an gottverlassnen Sonntag- 
nachmittagen in den Proletariervierteln der groften Stadte, im ersten 
Blick durchs regennasse Fenster in einer neuen Wobnung als »Stim- 
mung* erfahren, in revolutionarer Erfahrung wenn nicht Handlung 
einlost.} 

{Vor allem aber y und immer wieder, die Stadt Paris selbst. Die 
Revoke treibt das surrealistische Gesicbt einer Stadt heraus. Und kein 
Gesicht ist in dem Grade surrealistiscb wie das wabre Gesidot einer 
Stadt. Aragon bat es gezeigt [scil. im »Paysan de Paris*].} 
{Hier greift nun, auf sebr merkwurdige Weise, die Photographie 
ein [scil. in »Nadja«], Sie macht die Straften, Tore, Pldtze der Stadt 
gewissermaften zu lllustrationen eines Kolportageromans, zapfl diesen 
jabrhundertalten Arcbitekturen ibre banale Evidenz ab urn sie mit 
allerurspriinglichster Intensitat dem dargestellten Gescbehen zuzu- 
wenden, auf das genau wie in alten Dienstmddcbenbuchern wortge- 
treue Zitate mit Seitenzablen verweisen. Und all die Bilder von Paris, 
die bier auftauchen, sind Stellen, an denen sich das, was zwiscben die- 
sen Menschen ist wie eine Drehtur bewegt.) 

{Es kommt eine wunderbare Stelle iiber die magnifiques jours de 
pillage Sacco et Vanzetti vor und Breton schlieftt daran die Versiche- 
rung, der Boulevard Bonne Nouvelle babe an diesem Tage das 
strategiscbe Versprecben an die Revoke eingelost, das sein Name scbon 
immer geleistet babe. Es kommt aber aucb M me Sacco vor und das ist 
nicht die Frau von Fullers Opfer sondern eine voyante, eine Hellsehe- 
rin, die 3 rue des Usines wobnt und Paul Eluard, einem andern von 
diesem clan zu erzablen weift, daft ibm von Nadja nicbts Gutes bevor- 
stebe. Nun gesteben wir dem balsbrecberischen Wege des Surrealismus, 
der iiber Dacber, Blitzableiter, Regenrohren, Veranden, Wetterfahnen, 
Stukkaturen geht - dem Fassadenkletterer miissen alle Ornamente 
zum besten dienen - wir gesteben ihm gem zu, daft er aucb ins schat- 
tige Hinterzimmer des Spiritismus [binuberreicbt.J Aber nicht gem 
horen wir ihn bebutsam gegen die Scheiben klopfen, [einige Wor- 
ter nicht entziffert] um den ndchsten Weg in die Zukunfl bitten. 
Hoffentlich sieht man da driiben [einige Worter nicht entziffert] 
sich geschieden, was in den Konventikeln von abgetakelten Stiftsda- 
men, pensionierten Major en, emigrierten Schiebern sich abspielt.} 

Druc&vorlage : Benjamin-Archiv, Ms 581^ 

[Zur Lekture von Bretons »Nadja« II] 
Es gibt in der Produktion Stunden, in denen wir wissen oder 



1026 Anmerkungen zu Seite 295— 310 

wenigstens glauben, es hinge nut von uns ab, wieder und wieder, 
unabsehbar, aus ihnen zu schopfen - nur diirfen wir nicht aufhoren! 
So gibt es auch Erlebnisse, Begegnungen: wir konnen unerschopflich 
aus ihnen gewinnen - diirfen nur nicht absetzen. Zu diesen Phanome- 
nen gehort das Ereignis, das Breton hier berichtet. 
Er setzt aber dennoch ab, und tut gut daran. Wie in Dantes, in 
Shakespeares Liebesdichtung tritt hier am Ende eine neue, neu gelieb- 
te Gestalt vor den Dichter, ein[e] die kein Ratsel mehr fiir den Dich- 
ter hat, versenktff} so viele friihere in Vergessenheit. 

Die Stadt {Wieder diese scharfen t unvergefilichen Aufrisse der 
inneren Forts der Stadt, die erst erbaut und besetzt sein miissen, um 
ihr Geschick, und in ihrem Geschick, im Geschick ihrer Massen das 
eigene zu meistern. Nadja ist ein Exponent dieser Massen und dessen 
was sie revolution'dr inspiriert: »la grande inconscience vive et sonore 
qui mHnspire mes seuls actes probants dans le sens oil toujours je 
veux prouver. Quelle dispose a tout jamais de tout ce qui est a 
moi. Je m'ote a plaisir toute chance de lui reprendre ce qu'ici a 
nouveau je lui donne.« Hier also findet man das Verzeichnis dieser Be- 
festigungen, angefangen von jener Place Maubert, wo wie nirgends 
auf der Erde der Schmutz seine ganze symbolische Gestalt sich ge- 
wahrt [sic] hat bis zu jenem Theatre Moderne, das ich untrostlich bin 
nicht mehr gekannt zu haben. Aber in Bretons Schilderung der bar im 
Obergescbofi »si sombre avec ses impenetrates tonnelles, »un salon 
au fond d'un lac«[«] ist etwas, was mir jenen mehr als das keu- 
scheste Frauenherz unverstandenen Raum des alten Prinze f cafes in 
Erinnerung ruft, das letzte Hinterzimmer im ersten Stock, mit seinen 
Paaren im blauen Lichte. Ich nannte ihn die »Anatomie«. Und [f] 
es war das letzte Lokal fiir die Liebe.} 

{Seit Bakunin hat es in Europa keinen hundertprozentigen Begriff 
von Freiheit mehr gegeben; die Surrealisten haben ihn. Breton spricht 
sie aus[:J Videe que la liberie, acquis[e] ici-bas au prix de mille 
et des plus difficiles renoncements, demande a ce qu'on jouisse d'elle 
sans restrictions dans le temps ou elle est donnee, sans consideration 
pragmatique d'aucune sorte et cela parce que ^emancipation hu~ 
maine, concue en definitive sous sa forme revolutionnaire la plus 
simple, qui n s est pas moins I' emancipation humaine a tous egards 
. . . demeure la seule cause qu'il soit digne de servir [s. Nadja, ed. 
i$75, 168J. Aber gelingt es ihm, diese Erfahrung von Freiheit mit 
der andern revolutionaren Erfahrung zu verschweifien, die wir alle 
denn doch anerkennen mussen, weil wir sie hatten: mit demKonstruk- 
tiven, Diktatorischen der Revolution? Kurz - die Revoke an die 
Revolution zu bindenf Und werden die, die ihre Existenz ganz und 



Anmerkungen zu Seite 295—310 1027 

gar auf den Boulevard Bonne Nouvelle ausricbten im stande sein[,J 
rue Mallet-Stevens mit ibren Kameraden das revolutionare Aufbau- 
programm zu entwerfen? Aber noch ist es nicht an der Zeit. Und in- 
dessen, fur jetzt y stehen Breton, Aragon und ihre Freunde in der 
Tat auf dem, nicht vorgescbobensten, sondern einzigen Posten an 
dem der Intellektuelle heute uberbaupt etwas von sich fordert und 
sich erproben kann.} 

{»Alle Dicbter des Neuen Stils besitzen eine mystische Geliebte, 
ihnen alien gescheben ungefdbr die gleichen sebr sonderbaren Liebes- 
abenteuer, ibnen alien schenkt oder versagt Amore Gaben, die mebr 
einer Erleucbtung als einem sinnlichen Genufi gleichen , sie alle sind 
einer Art geheimer Verbindung angeborig, die ihr inneres und viel- 
leicht aucb ibr aujieres Leben bestimmt.« [Erich Auerbach] Les 
extremes se toucbent. In solcher Darstellung ist mit Handen zu grei- 
fen -und ibr Autor vermerkt es an anderer Stelle ausdrucklicb — wie 
gerade die esotberischsten Dichterscbulen sich am wenigsten im Fart 
pour Fart gef alien, das man so oft fur das Prinzip ibrer Extravagan- 
zen bait, Nein, gerade in ibnen erbebt die Dicbtung ibren radikalsten 
Ansprucb auf Umformung des ganzen Lebens y des t'dglichen Daseins 
und seiner Bedingungen. Es ist sebr bezeichnend fur Breton, daft er zu 
einer solchen Bewegung sich bingezogen fublt und in »Nadja« mit- 
teilt: »)e viens precisement de m'occuper beaucoup de cette epoque 
parce qu y elle est celle des »Cours d'Amour*, et de m'imaginer avec 
une grande intensite ce que pouvait etre, alors, la conception de la 
vie.*} 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 590 

Paralipomena zu Surrealismus 

Politiscbe Analyse des Artistiscben 
{Erster Versucb, dem Kollektiv in der Dicbtung Rechnung zu tra- 
gen. Rimbaud: je devins un opera fabuleux. Abnlicbes in Alcools 
[von ApollinaireJ. »La rapidite et la simplicite avec lesquelles 
les esprits se sont accoutumes a designer d'un seul mot des etres 
aussi complexes qu'une foule, qu'une nation, que Vunivers n'avaient 
pas leur pendant moderne dans la poesie. Les poetes comblent cette 
lacune et leurs poemes synthetiques creent de nouvelles entites 
qui ont une valeur plastique aussi composee que des termes collec- 
tifs.« [ApollinaireJ U esprit nouveau et les poetes. 
Das Fart pour Fart ist niemals bucbstablicb zu nehmen. »Wie fast 
uberall in den manieristischen Werken . . . ist in ibnen ein Spiritua- 
lismus neuplatoniscber Herkunfl entbalten, eine stark subjektivisti- 
scbe Mystik, die in Umdeutung und Sublimierung der Erscbeinung 



ioi8 Anmerkungen zu Seite 295—310 

zur Idee dr'dngt, and dabei dodo die Erscheinung in ihrer jeweiligen 
Besonderheit zu erbalten bemuht ist>« (Auerbacb[)J Breton deutet 
im »Discours [sur le pen de realite]« an, wie der pbilosophische 
Realismus des Mittelalters der poetiscben Erfahrung zu Grunde 
liegt. Dieser Realismus aber - der Glaube also an eine wirklicbe 
bonder existent der Begriffe sei es auflerhalb der Dinge set es inner- 
halb ihrer - bat immer sehr schnell den Obergang aus dem logi- 
scben Begriffsreich ins magische Wortreich gefunden. Und magische 
Wortexperimente, nicht artistiscke Spielerein sind die passionierten 
phonetischen und graphischen Verwandlungsspiele, die sich nun 
seit funfzehn Jabren durch die ganze Literatur der Avantgarde 
Ziehen, sie moge Futurismus, Dadaismus oder Surrealismus heifien. 
Wenn nun freilich Apollinaire oder Breton den Anschlufi des 
Surrealismus an seine Umwelt so vollziehen, indent sie erklaren: 
»les conquetes scientifiques procedent de Vesprit surreallste plutot 
que logique«, wenn sie mit andern Worten die Mystifikation deren 
Gipfel Breton in der Poesie sieht, zur Grundlage auch wissenschaft- 
lidoer und technischer Entwicklung machen, so stofit man damit auf 
den romantischen Pferdefufi dieser Bewegung. Es ist sehr lehrreich, 
den iibersturzten Anscbluft des Surrealismus an das unverstandene 
Maschinenwunder - »Je dirai plus, les fables s'etant pour la 
plupart realisees et au dela, c'est au poete d'en imaginer des 
nouvelles que les inventeurs puissent a leur tour realiser[«] - 
mit der scharfen y heiteren Nuchternbeit Sdoeerbartsdoer Utopien zu 
vergleicben.) 
Am spatesten baben die artistischen Tendenzen des Surrealismus das 
Theater ergriffen, um dort vielleicht am meisten sich nihilistisch 
auszuwirken. Es ist eine bestimmte Gruppe unter den Surrealisten, 
die sich auf die Bubne spezialisiert hat - eine Gruppe, von der da- 
bin gestellt bleiben mag, wieviel sie mit den ubrigen barmoniert. 
Roger Vitrac und Antonin Artaud sind ihre Fuhrer. Bei der Eroff- 
nung des surrealistischen Theaters proklamierte man folgende 
Tbesen: »Vom ganzen uberkommenen bisberigen Theater erkennen 
wir ein einziges Element als unersetzlich, als wahr an - das ist der 
Text. Der Text aber einzig insofern, als er rein aufierlicbe Realitdt 
ist, filr sich bestebt und sich selber genug tut, nicht etwa seinem 
Geist nach, um den wir nicht im mindesten uns zu kummern ge- 
willt sind sondern einfach als Luflerschutterung, die zustandekommt, 
wenn man ibn spricht.* Weiter bekennt sich dieses Theater zu fol- 
genden scbroffen Fundamentalsdtzen: »Wir wollen an das, was 
man auf einer Buhne vormacht, glauben konnen. Eine Auffiihrung, 
welche Abend filr Abend nach immer dem gleichen Zeremoniell sich 
abrollt, kann uns nicht fur sich einnehmen. Was wir brauchen, ist 



Anmerkungen zu Seite 295—310 1029 

eine einzige Vorstellung, die uns so unberechenbar, so einmalig und 
so unwiederholbar betrifft wie irgend ein beliebiger Daseinsaus- 
schnitt, irgend ein zujdlliges Ereignis.* Diskutieren lassen sich solche 
Thesen kaum. Die Frage, welchen Sinn es im Grunde bieten kann 
»beliebige Daseinsausschnitte* , von denen das Leben ja voll ist, zu 
mehren y wiirde mit einem Hinweis auf den surrealistiscben Geist 
solchen Ausschnittes sich erledigen und es bleibt uns nichts als auch 
bier die problematische poetique de la surprise wiederzuerkennen. 

Die B e d eutung des B 6 sen [I] 

{Es haben in den Jahren 186$ bis 1875 einige grofie Anarchisten y 
ohne dafi der eine vom andern wufite, an ihren Hollenmaschinen 
gearbeitet. Und das erstaunlicbe ist: sie haben unabh'dngig von ein- 
ander ihre Uhr (man weifi, in jeder Hbllenmaschine ist eine Uhr) 
genau auf die gleiche Stunde gestellt und vierzig Jahre spater 
explodierten in Westeuropa die Schrifien Dostojewskis, Rimbauds 
und Lautreamonts zur gleichen Zeit. Man konnte, um genauer zu 
sein> aus dem Gesamtwerk Dostojewskis die eine Stelle herausgrei- 
fen, die sogar erst um 191 5 veroffentlicht wurde, Stawrogins Beichte 
aus den Ddmonen. Dieses gewaltige KapiteU das aufs engste an den 
An fang der Chants de Maldoror anscbliefit, enth'dlt eine Rechtfer- 
tigung des Bosen, die gewisse Motive des Surrealismus gewaltiger 
aussprichtj als es irgend einem seiner heutigen Wortfuhrer gelungen 
ist. Denn Stawrogin ist ein Surrealist avant la lettre. Es hat keiner 
so wie er begriffen, wie ahnungslos jene Meinung der Spiefier ist, 
das Gute sei zwar - bei aller mdnnlidhen Tugend dessen, der es 
ubt - von Gott inspiriert und das fromme Leben danke sein Bestes 
ihm; das Bose aber> das stamme ganz aus unserer Spontaneitat } 
darin seien wir selbstandig und ganz und gar auf uns gestellte 
Wesen. Keiner hat wie er auch in dem gemeinsten Tun, und gerade 
in ihm, die Inspiration gesehen. Er hat hoch die Niedertracht als 
etwas so im Weltlauf, doch auch in uns selber Praformiertes, uns 
Nahgelegtes wenn nicht Aufgegebenes erkannt, wie der idealisti- 
sche Bourgeois die Tugend. Sein Gott hat nicht nur Himmel und 
Erde und Mensch und Tier geschaffen, sondern auch die Gemein- 
heit, die Rache } die Grausamkeit. Und sie alle sind bei ihm ganz 
urspriinglich, vielleicht nicht »herrlich« aber »ewig neu« wie am 
ersten Tag und himmelweit entfernt von den Kliscbees y in denen 
dem Philister die Sunde erscheint. 

Der grofie Kampf gegen den Katholizismus. Er durchzieht das Lebens- 
werk von Rimbaud und es ist das Verdienst von Marcel Coulon 
dies sein wahres Bild gegen die Versuche der Usurpation und 
Mystifikation durch Claudel und Berrichon aufgestellt zu haben. 



1030 Anmerkungen zu Seite 295—310 

Rimbaud ist Katholik, jawobl. Aber er ist es, seiner Selbstdar- 
stellung nach, an seinem elendesten Teil, den er nicht miide wird 
zu denunzieren, seinem und jedem Haft, seiner und jeglicher Ver- 
achtung auszuliefern: der Teil, der ihn zu dem Bekenntnis zwingt, 
die Revoke nicht zu verstehen. Aber das ist das Bekenntnis eines 
Kommunarden, der sich selbst nicht genug tun konnte und als er 
der Dichtung den Rucken kehrte, der Religion schon langst, in den 
friihesten Dichtungen schon den Laufpafi gegeben hatte. Es war ein 
sehr begrei flicker und an sich gewift nicht einsichtsloser Versuch, 
den Soupault 1925 in seiner Ausgabe der »Chants de Maldoror« 
machte, Isidor Ducasse (alias Lautreamont) in die gleiche Ent- 
wicklung. einzustellen. Leider gibt es keine Dokumente daruber und 
da$ Soupault welche heranzog berubte auf einer Verwechslung. Im 
ubrigen ist Lautreamont, wenn er sich der pragmatisch-politischen 
Ahnenreihe des Surrealismus nicht beweisbar eingliedern la fit, in sei- 
ner Konzeption des Bosen ihnen so eng verwandt, dafi man kaum 
mehr von einem Vorlaufer sprechen mochte. Sehr seltsam, trickhafl, 
spielt sich die Revoke gegen den Katholizismus bei Apollinaire ab. 
Das aufschlufireichste Zeugnis dafiir ist sein Novellenband »Here- 
siarque et Cie«. Er stellt den Katholizismus so exzentrisch er kann in 
die Gegenwart (wie er in der ersten Novelle des Bandes mit dem 
ewigen Juden tut) und fubrt ihn ad absurdum. Fur ihn gab es keinen 
andern als diesen indirekten, ironischen Weg - er war, obwohl ein 
Pole von Geburt, jest in der Mittelmeerkultur verwachsen. Man hat 
mit Recht von ihm gesagt: sein Vorgehen war unwillkurlich y in aller 
Unschuld ikonoklastisch, sein Exzefi von Idolatrie schlug ins Gegen- 
teil um. Picasso hat ihn als den Bischof gemalt, der das auflerste 
Schicksal des Katholizismus darstellt, wenn das Bild hier nicht gar 
den Pabst [sic] vorstellen soil, der im Heresiarque et cie krafi seiner 
Unfehlbarkeit die katholische Religion fur irrig erklart. 
»haine, c'est a vous que mon tresor a ete confie* schreibt Rimbaud 
in der »saison en enfer«. Der Satanismus gebort zu den Grund- 
elementen der surrealistischen Erfahrung. Man mufi an die Ver- 
ehrung denken, mit der die Surrealisten vom Marquis de Sade 
sprechen, an den . , [gemeint wohl: dritten] Gesang bei Lautrea- 
mont, an jene Szene im Theatre des deux masques, die Breton be- 
schreibt.) 

B e deutung des Bosen [II] 

{»Laissez-moi d'abord vous expliquer ma situation. ] 3 ai chante 
le mal comme ont fait Mickiewicz, Byron, Milton, Southey, A. de 
Musset y Baudelaire etc. Naturellement, j'ai un peu exagere le 
diapason pour faire du nouveau dans le sens de cette litterature su- 



Anmerkungen zu Seite 295—310 103 1 

blime qui ne chante le desespoir que pour opprimer le lecteur, et 
lui faire desirer le bien comme remede. Atnsi done, e'est toujours 
le bien qu'on chante en somme, settlement par une methode plus 
philosphique et moins naive que Vancienne ecole, dont Victor Hugo 
et quelques autre s sont les seuls represent ants qui soient encore 
vivants,« [LautreamontJ 23 oct 1869 (?) 

Kult des Bosen: eine 3 wenn auch romantische, Waffe im Kampf gegen 
die Moral in der Politik. Hier liegt die politische Bedeutung von 
Lautreamont u. a. iiber das Motiv der Revoke hinaus.} 

Brief e der Surrealisten in ihrer Zeitschrift erwdhnen! 

Die G ew alt des S urr e ali smus 

Ubrenmotiv. Der Amerikaner, der seine Ubr an die Wand hdngt und 
auf [siej schiefit. Kassyade: Tou[s] les objets sont des montres. 
Breton: Crepitement du bois d'une horloge que je jette au feu 
pur qu'elle meurt en sonnant Vheure. Der Uhrentrick von John 
Olms. Bretons Marseiller Geschichte. Der Regulator in dem neuen 
Stiick von Vitrac. 

{»Il y a des Heux ou souffle resprit, certains decors citadins, le 
passage de VOpera, le pare des buttes Chaumont, la nuit; il y a 
des locutions magiques, »sans fil* par exemple; de meme . . . Il y a 
des evenements hantes, petrifiantes interferences et correspondances, 
rapprochements inopines, attentes des evenements qui semblent faire 
signer Esteve) 

Vorschlag, getraumte Gegenstdnde wirklich zu konstruieren und deren 
Schicksal zu verfolgen. Breton; Discours 

{Die revolutiondren Energien, die im »Veralteten« stecken. In den 
ersten Eisenkonstruktionen, den ersten Fabrikgebauden, den 
fruhesten Photos, den Gegenstdnden, die anfangen auszusterben, 
den Klavieren, den Regenschirmen, den Kleidern von vor filnf Jah- 
ren, den mondanenVersammlungsorten, wenn die vogue beginnty sick 
von ihnen zuriickzuziehen. Kurz, wie man Sonnenkraflmaschinen 
konstruiert hat, die ungeheure Energien aus der atmosphdrischen 
Wdrme ziehen sollen. Wie man die Niveauverschiedenheiten der 
Wasserldufe zu Energiequellen umgewandelt hat, so die ungeheu- 
ren Spannungszustdnde des Kollektivs, die die Mode ausdruckt, der 
Revolution dienstbar zu machen.} 

{Eine andere Formulierung: die gewaltigen Krafle der Stimmung 
zur Explosion zu bringen. Was glauben [S]ie wo hi, wie ein Leben 
sich gestalten wiirde, das in einem entscheidenden Augenblick sich 
gerade durch den letzten, beliebtesten Gassenhauer bestimmen liefiet 
Wiesengrunds geschichtsphilosophische Analyse der Stimmung [s. 
Schubert, in: Die Musik 21 (1928 1 29), 7 ff.] t 



1032 Anmerkungen zu Seite 295—310 

Was resultiert aus der extremsten Steigerung dessen, was man 
Stimmung nennt? Das ist das Problem Rimbaud.} 

{»tome de Fantomas fixe au mm par des fourchettes.*} 

{Der Gegensatz zwischen dem historiscben und dem politiscben 
Blick aufs Gewesene. Hertz legt Apollinaire folgende eminent 
politische Anrede in den Mund: »Ouvrez-vous, tombeaux; morts 
des pinacotheques, morts assoupis derriere les panneaux a secrets t 
dans les palais, les chateaux et les monasteres, void le porte- 
cles feerique qui, son trousseau de toutes les epoques a la main, 
sachant peser sur les plus machiaveliques serrures, vous incite a entrer 
de plain-pied, dans le monde moderne, a vous y meler aux debar- 
deurs, aux mecaniciens, aux roturiers qu'anoblit Vargent, dans 
leurs automobiles, belles comme des armures feodales, a vous 
installer dans les grands express inter nationaux, si polis a ne faire 
qu'un avec tons ces gens, jaloux de prerogatives, mais que le 
train de la civilisation, cruellement, lamineU} 

{Wie diese Dinge zur Revolution stehen - niemand kann einen 
genaueren Begriff davon haben als diese Autoren. Wie das Elend, 
nicht nur das soziale sondern genau so das architektonische, das 
Elend des Interieurs, kufzum die versklavten und uns versklaven- 
den Dinge in den radikalen revolutionaren Nibilismus umschlagen 
- das hat noch niemand vor diesen au$erordentlidhen Sehern und 
Zeichendeutern gewahrt. Um von einem der letzten Bucher zu re- 
den: Breton und Nadja - sie sind das Liebespaar, das alles, was 
wir auf traurigen Eisenbahnfahrten (die Eisenbahnen beginnen zu 
altern), an gottverlassnen Sonntagnachmittagen in den Proletarier- 
vierteln der grofien Stddte, im ersten Blick durchs regennasse Fen- 
ster in einer neuen Wohnung als »Stimmung« erfahren, in revolu- 
tionarer Erfahrung, wenn nicht Handlung einlost.} 

{Vor allem aber und immer wieder die Stadt Paris selbst. Die Re- 
volte treibt das surrealistische Gesicht einer Stadt heraus. Und kein 
Gesicht ist [in] dem Grade surrealistisch wie das wahre Gesicht 
einer Stadt. Aragon hat es gezeigt. »]e flairais sa fatalite dans les 
villes« sagt s<hon Rimbaud vom forcat. 

Jedenfalls: die Dame ist in der esotherischen Liebe das unwesentlich- 
ste. So auch bei Breton. Er ist mehr den Dingen nahe, denen sie 
nahe ist als ihr selber. Welches sind nun die Dinge, denen sie nahe 
istf Deren Kanon ist fur den Surrealismus so aufschlufireich wie nur 
moglich.} 

Der Be griff Surrealismus 

{Mischung solcher Schulnamen aus Parole, Zauberwort und Begriff} 

Apollinaire »Mamelles de Tiresias* 1903 Hier in diesem Stuck zum 



Anmerkungen zu Seite 295—310 1033 

erstenmal der Begriff » Surrealismus*. Das fuhrt darauf, daft Sprach- 
and Literaturbewegungen ihre fruhesten Schopfungen sehr oft in 
Scherze verhiillt, gewissermafien wie schnuppernde Schnauzen vor- 
schieben. Bierulk, Witzbldtter etc. bringen (oft als Parodie verklei- 
det) neue Formen der Dichtung, Koseworte, Spracbverdrehungen 
etc. neue Tendenzen der Spracbe uberhaupt zum Vorschein. Die 
deutschen Vorlaufer des Surrealismus Morgenstern und Sprachtricks 
wie sie in privaten Zirkeln, z. B. dem von Lotte Pritzel ausprobiert 
werden. 

»Au demeurant il m'est impossible de decider si ce drame est 
serieux oh non« sagt der Verjasser von den Mamelles de Tiresias 
und dasselbe gilt von der Definition des Surrealismus , die sich dort 
findet. »Quand Vhomme a voulu imiter la marche t il a cree la roue 
qui ne ressemble pas a une jambe. II a fait ainsi du surrealisme 
sans le savoir.« 

Mdrz 1 9 1 j statt surnaturalisme surrealisme 

Bluff und M y stifikation 

Es wurde einen auf ganz falsche Wege fuhren, die Sckriften der Sur- 
realisten in ihrem ganzen Umfang als Ausdruck ihrer Oberzeugun- 
gen zu nebmen. Sie sind das viel seltner als man es glaubt und 
haben das mit politischen Schriften gemein, deren Grofie oft viel 
weniger in dem liegt, was sie sagen als in der Strategie, die die 
Wirkung ihrer Worte berechnet. 

Es gibt fur einen, der diese Bewegung darzustellen untemimmt, zwei 
Fehler, die er um jeden Preis vermeiden mufi, wenn er nicht die 
leidenschaflliche Verachtung der Surrealisten selber sich zuziehen 
will. Der eine ware, sie nicht ernst zu nehmen. Der andere aber 
bestunde darin, sie ernst zu nehmen. 

{Der Vater des Surrealismus war Dada; seine Mutter war eine 
Passage. Dada war, als er ihre Bekanntschaft machte, schon alt. 
Ende 191 9 verlegten Aragon und Breton aus Abneigung gegen 
Montparnasse und Montmartre ihre Zusammenkunfte mit Freunden 
in ein Cafe der passage de I'Opera. Der Durchbruch des Boule- 
vard Haussmann hat ihr ein Ende gemacht. Louis Aragon hat Uber 
sie 13^ Seiten gesckrieben, in deren Quersumme sich die Neunzahl 
der Musen versteckt halt, die an dem kleinen Surrealismus Weh- 
mutterdienste geleistet haben. Und diese wetter festen Musen heifien: 
Prasens, Ballhorn, Lenin, Luna, Freud, Mors, {Marlitt} Sade, 
Citroen und Baby Cadum.} 

T r au m 

{Hin und wieder verraten die Ursprunge der Bewegung sich noch 



1034 Anmerkungen zu Seite 295—310 

immer bedenklich in den neuesten Scbriften. Es findet sich in der 
»Nadja« eine wundervolle Stelle uber die »magnifiques jours de 
pillage Sacco et Vanzetti[«] und Breton schliejlt daran die Ver- 
sicherung, der Boulevard Bonne Nouvelle babe an diesem Tage das 
strategische Versprechen der Revoke eingelost, das sein Name schon 
immer geleistet babe. Es kommt aber auch M me Sacco vor, und das 
ist nicht die Frau von Fullers Opjer sondern eine voyante, eine 
Hellseherin, die 3 rue des Usines wohnt und Paul Eluard, einem 
andern vom gleichen clan, zu erzahlen weifi, dajl ihm von Nadja 
nichts Gutes bevorstehe. Nun gesteben wir dem halsbrecherischen 
Wege des Surrealismus, der Uber Ddcher, Blitzableiter, Regenroh- 
ren, Veranden, Wetterfahnen, Stukkaturen geht — dem Fassaden- 
kletterer mussen alle Wege zum besten dienen - wir gesteben ihm 
zu, dap er auch ins schattige Hinterzimmer des Spiritismus hinein- 
lange. Aber nicht gem horen wir ihn behutsam gegen die Scheiben 
klopfen, um wegen seiner Zukunft nachzufragen. Wer mochte nicht 
den Surrealismus aufs genaueste geschieden wissen von allem, was 
in den Konventikeln von abgetakelten Stifisdamen, pensionierten 
Majoren, emigrierten Schiebern sich abspielt.} 
{Hier greifl nun, 2. B. in Bretons »Nadja« auf sehr merkwiirdige 
Weise die Photographie ein. Sie macht die Strajlen, Tore, Pl'dtze der 
Stadt zu Illustrationen eines Kolportageromans, zapfl diesen jahr- 
hundertalten Architekturen ihre banale Evidenz ab, um sie mit 
allerursprunglichster Intensitat dem dargestellten Gescheben zuzu- 
wenden, auf das genau wie in alten Dienstmadchenbuchern wort- 
getreu Zitate mit Seitenzahlen verweisen! Und [?] all die Orte 
von Paris, die hier auftauchen, sind Stellen, an denen das, was.zwi- 
schen diesen Menschen ist, sich wie eine Drehtur bewegt.} 
{Sprachspiele. »Apres toi, mon beau langage« (vorher schweigen) 
Vgl. die Riviera des Unwirklichen, wo nur verloren wird, bei 
Aragon.} 

{Traum} 

{Sprachbefreiung} 

Uart pour Part 

Russiscbes 

Surrealismus und P olitik 

{Heute stellt der Surrealismus die Avantgarde der europaischen In- 
telligenz dar, nicht seiner Leistung sondern seiner Stellung nach. 
Betrachtet man die linke europdische lntelligenz als Korporation, 
so hat ihre dufierst exponierte Stellung zwischen anarchistischer 
Fronde und revolutiondrer Disziplin, hat die Krisis der europai- 
schen Freiheitsidee nirgends einen stdrkeren Ausdruck gefunden als 



Anmerkungen zu Seke 295—310 1035 

in ihm. Allenthalben hat sich der europdischen Intelligenz, soweit 
sie diesen Namen noch verdient, ein fanatischer Wille bemdchtigt, 
aus dem Stadium der ewigen Diskussionen heraus und um jeden 
Preis zur Entscheidung zu kommen. Er hat in Frankreich, lange ehe 
[er] die Clarte-Bewegung und den Surrealismus auf der Linken 
entfesselte, den Cadres der Action Francaise ihren besten Elan 
gegeben.} 

{Gewifi ist der Surrealismus ah solcher kaum imstande, sehr bedeu- 
tende Werke aufzuweisen. Da fur stellt er evident er als jede kon- 
kurrierende Bewegung die Zerschlagung des Aesthetischen dar s jene 
doppelte Bindung ans Kreaturlich-Animalische einerseits und ans 
Materialistisch-Politische andererseits, auf die wit zuruckkommen 
werden.) 

{Ein naheliegender Irrtum: den Surrealismus fur eine literarische 
Bewegung zu halten. Als solche ist sie freilich klein s einflufilos, eine 
Sache von Konventikeln. Aber die Schriflen dieser Autoren formie- 
ren sozusagen nur die scharfe Spitze eines Eisbergs, der unterm 
Meeresspiegel sein Massiv in die Breite streckt. Es ist gerade eine 
Aufgabe der Kritik zu erkennen t an welche aktuellen aufierliterari- 
schen Tendenzen diese Schriflen anschlieflen.} 

{Als Symptom des erwachenden Bewufitseins von der eminenten 
Krise der europdischen Intelligenz und der Dichtung zumal ist ent- 
scheidend wichtig, wie durchaus identisch Apollinaires »Poete 
assassine* und einige Seiten aus Aragons »Paysan de Paris* inspi- 
riert sind. Es sind Visionen eines Dichter pogroms. Platons Vertrei- 
bung der Poeten wiederholt sich. Ist aber dieser Staat, der ihnen 
ihre Daseinslegitimation bestreitet, der idealef Das bleibt bei beiden 
Dichtern dunkel. Gewifi nur y dafl er der kommende sein wird.} 

{Das erstemalj dafl ein Dichter entschieden sich von der Dichtung 
abkehrt: der achtzehnjahrige Rimbaud in der »Saison en enfer*. 
»sur la soie des mers et des fleurs antiques.* Spdterer Zusatz: »elles 
n y existent pas.* [s. aber Nachweis zu 2$6>i6]} 

{Man mufl, um die Linie t die vom Surrealismus erreicht wurde, stra- 
tegist zu ermessen, vergleichen, welche Mentalitdt aus der gleich- 
zeitigen Rufilandorientierung anderer Literaten spricht. Wir reden 
hier naturlich nicht von Beraud, der der Luge uber Rutland die 
Bahn gebrochen hat oder von Fabre-Luce y der ihm auf diesem 
gebahnten Wege als braver Esel, bepackt mit alien burgerlichen 
Ressentiments nachtrottet. Aber wie problematisch ist selbst das 
typische Vermittlerbuch Duhamels. Sie alle leben ganz und gar von 
dem problematischen Nebengewinn der Sprachunkenntnis: der Rei- 
sende erfdhrt weniger und wird dadurch veranlaflt, aus dem ein- 
zelnen Wahrgenommenen sehr viel mehr herauszuholen. Es ist klar, 



1036 Anmerkungen zu Seite 295—310 

daft sich damit alles Beliebige anfangen laftt. Es ist das Typische 
dieser franzosischen Intelligenz - genau wie der russischen selber - 
dafi ihre positive Funktion ganz und gar aus einem Gefiibl der 
Verpflichtung nicht gegen die Revolution selber sondern gegen das 
uberkommene Gut hervorgeht. Ihre kollektive Leistung, soweit sie 
positiv war, war die von Konservatoren. Wirtschafllich und poli- 
tisch dagegen haben sie die Revolution sabotiert. Damit vergleiche 
man nun, wie vollig verstandnislos Duhamel dem Maschinenproblem 
gegenuber blelbt ([Le voyage de Moscou, Paris 1922 J p. 188). 
Duhamel spricht in dem ganzen Buche die forciert aufrechte, for- 
ciert beherzte und herzliche Sprache des protestantischen Theologen. 
Und seine conclusio: »La vraie, la profonde revolution, celle qui 
modifierait en quelque mesure la substance de Vame slave, n y est pas 
encore accompUe«[.]} 

Die surreal istische E r f ah rung 

{Breton schreibt in »Nad)a« ein »livre a porte battante[«J: die 
Vberwindung des Privaten, das Leben im Glashaus, ist in der Tat 
eine revolutionare Tugend. (Es gibt eine tibetanische Sekte, die das 
Gelubde getan hat, niemals sich in einem geschlossenen Raum auf- 
zuhalten. Als ich in Moskau war. . .) Die Diskretion in Sachen der 
eigenen Existenz ist aus einer aristokratischen Tugend mebr und 
mehr die Sache von conciergen geworden. Breton hat mit »Nad]a« 
die wahre schopferische Synthese zwischen Kunstroman und Scbliis- 
selroman gefunden.} 

{Es ist kein Zweifel, daft das erste heroische Stadium dieser Erfah- 
rung, da sich die vague de reves ilber eine Gemeinde ergoft, deren 
Mitgliederverzeichnis, besser gesagt deren Heldenkatalog uns Ara- 
gon hinterlassen hat, daft dies erste heroische Stadium beendet ist. 
Es gibt immer in diesen Bewegungen einen Augenblick, da die 
ursprungliche Spannung des Geheimbundes in Kampfe um die 
Herrschaft explodieren oder als offentliche Manifestation zerfallen 
und sich transformieren muft. In dieser Transformationsphase steht 
augenblicklich der Surrealismus. } 

{Ur sprung der surrealistischen Erfahrung aus dem Rausch. Aber es 
ware ein Fehler, das allzu wortlich zu nehmen, Es spielen hier 
schon subjektiv, geschweige denn objektiv ganz andere Motive hin~ 
ein[.]} 

{Vor allem die Liebe. »Alle Dichter des neuen Stils besitzen eine 
mystische Geliebte, ihnen alien geschehen ungefdhr die gleichen sehr 
sonderbaren Liebesabenteuer, ihnen alien schenkt oder versagt 
Amore Gab en, die mehr einer Erleuchtung als einem sinnlichen 
Genuft gleichen; sie alle sind einer Art geheimer Verbindung ange- 



Anmerkungen zu Seite 295—310 1037 

horig, die ihr inneres und vielleicht auch ihr annexes Leben be- 
stimmt.« In dieser Darstellung ist mit Handen zu greifen - und ihr 
Autor [Erich Auerbach] vermerkt es anderer Stelle ausdrucklich - 
wie gerade die esotherischsten Dichterschulen sich am wenigsten im 
Part pour Part gef alien, das man so oft fur das Prinzip ihrer 
Extravaganzen halt, Gerade in ihnen erhebt die Dichtung den 
radikalsten Anspruch auf Umformung des ganzen Lebens, des tag- 
lichen Daseins und seiner Bedingungen. Es ist sehr bezeichnend fur 
Breton, dafi er zu einer solchen Bewegung sich hingezogen fUhlt 
und in »Nad]a« mitteilt: »Je viens precisement de m y occuper 
beaucoup de cette epoque parce qu y elle est celle des »Cour$ 
d'Amour« et de m'imaginer avec une grande intensite ce que 
pouvait etre, alors, la conception de la vie.* Man wird in diesem 
Zusammenhang an den letzten aus der provenzalischen Schule, an 
Arnaut Daniel denken. Und damit sogleich den Schlussel zum 
Verstdndnis eines Apollinairschen Hinweises haben[:] »Qui oserait 
dire que les recherches de forme des rhetoriqueurs et de I'ecole 
Marotique n'ont pas servi a epurer le gout francais jusqu'd sa 
parfaite floraison du XVII e siecle?*} 

Ein konstruierter Fall von Offenbarung einer Erfahrung. Schauplatz 
dieser Offenbarung ist die Erinnerung. Die offenbarten Erleb- 
nisse sind nicht da sie eintreten Offenbarung sondern vielmehr dem 
Erlebenden selbst verborgen. Sie werden Offenbarung erst, da 
mehrere sich ihrer Analogic bewufit werden, ruckschauend. Hier 
liegt ein wichtiger Unterschied von der religiosen Erfahrung. 

Die Novelle von der Demutigung. 

Dialektische Kritik des Surrealismus I 

Logik und Unlogik — das sind die sterilen Gegensdtze. Der wahre 
Gegensatz, also das rechtwinklig zu einander gestellte Begriffspaar 
sind Logik und Dialektik. 

{Der Surrealismus ist der ernsthafleste Versuch, die Krafte des Rau- 
sches der Revolution dienstbar zu machen. Nun gibt es freilich in 
jeder Revolution, soviel wir wissen, eine rauschhafle Komponente, 
die ubrigens mit ihrer anarchistischen identisch ist. Aber den Akzent 
ausschliefilich auf diese setzen, heiflt die methodische und diszipli- 
nare Vorbereitung der Revolution vollig zu Guns ten einer zwischen 
Vbung und Vorfeier schwankenden Praxis hintansetzen. 

Hinzukommt eine allzu kurzgefafite, undialektische Anschauung vom 
Wesen des Rausches. Die Aesthetik des peintre, des poete »en 
etat de surprise* ist in einigen sehr verhangnisvollen romantischen 
Vorurteilen befangen. Jede ernsthafie Ergrundung der »okkulten« 
»surrealistischen« »phantasmagorischen« Gabe[n] und Phanomene 



1038 Anmerkungen zu Seite 295—310 

des Menschen hat zur Voraussetzung eine dialektiscbe Verschran- 
kung> die ein romantiscber Kopf sich niemals aneignen kann. Es 
bringt uns namlich nicht welter, die rdtselhafle Seite am Ratselhafien 
pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen; vielmehr durchdringen 
wit das Geheimnis nur in dem Grade, alswir es im Alltaglichen wie- 
derfinden: in jener dialektischenOptik also die das Alltdgliche als un- 
durchdringlich, das Undurchdringliche als alltdglich erkennen lafit* 
Beispielsweise: die passiomerteste Untersuchung telepathischer Phd- 
nomene wird einen iiber das Lesen (das ein eminent telepathischer 
V or gang ist) nicht halb soviel lehren wie eine Analyse des Lesens 
iiber die telepathischen Phdnomene. Oder: die passiomerteste Unter- 
suchung des Haschischrausches wird einen uber das Denken (das ein 
eminentes Narkotikum ist) nicht halb soviel lehren wie {das Denken} 
uber den Haschlschrausch. Wir danken dem Surrealismus diese, be- 
deutsame[n] Vorstofie in die Welten des Rausches, aber wir werfen 
ihm vor, dafl die Manifeste, in denen er die Herrschafl der Erleuch- 
teten und Berauschten proklamierte t zu zaghafl waren: der Leser, 
der Denkende, der Wartende, der Flaneur sind ebensowohl Typen 
des erleuchteten wie der Opiumesser, der Traumer, der Berauschte, 
ganz zu schweigen von jener fiirchterlichsten Droge - uns selber - 
die wir in der Form der Einsamkeit zu uns nehmen.} 

{Die Krafle des Rausches und der politischen Aktivit'dt in einander 
zu verschranken, darin hat schon Rimbaud seine Lebensaufgabe 
gesehen. II pretend employer sa qualite de voyant au salut du 
monde.} 

{Seit Bakunin hat es in Europa keinen hundertprozentigen Begriff 
von Freiheit mehr gegeben: die Surrealisten haben ihn. Breton 
spricht es aus: »Uidee que la liberte 3 acquis[e] ict-bas au prix 
de mille et des plus difficiles renoncements, demande a ce qu'on 
jouisse d'elle sans restrictions dans le temps ou elle est donnee, 
sans consideration pragmatique d'aucune sorte et cela parce que 
V emancipation humaine s concue en definitive sous sa forme revo- 
lutionnaire la plus simple, qui n'est pas moins I* emancipation 
humaine a tous egards. . . demeure la seule cause qu'il soit digne 
de servir.« [s. Nad)a } ed. 1975* 168J Aber gelingt es ihm, diese 
Erfahrung von Freiheit mit der andern revolutiondren Erfahrung 
zu ver$chwei$en, die wir alle denn doch anerkennen mussen, well 
wir sie hatten: mit dem Konstruktiven, Diktatorischen der Revolu- 
tion? Kurz - die Revoke an die Revolution zu binden? Und wer- 
den die, die ihre Existenz ganz und gar auf den Boulevard Bonne- 
Nouvelle ausrichten, imstande sein, rue Mallet-Stevens mit ihren 
Kameraden das revolutionare Aufbauprogramm zu entwerfenf 
Aber noch ist es nicht an der Zeit. Und indessen, fur jetzt, stehen 



Anmerkungen zu Seite 295—310 1039 

Breton und At agon und ihre Freunde in der Tat auf dem, nicht 
vorgeschobensten sondern einzigen Posten, an dem der Intellektuelle 
heute iiberhaupt etwas von sich fordern und sich erproben kann.) 
{»Je ris a la memoire de toute activite humaine* Diese Aufie- 
rung von Aragon bezeichnet recht deutlich, von wo der Surrealis- 
mus - in Hinsicbt auf das Politische - ausging. Eine Entwicklung, 
die Naville mit Recht dialektisch genannt bat, hat die Bewegung 
aus dieser extrem kontemplativen, isolierten Haltung in die revo- 
lutionize Opposition gestojlen. In diesem Prozefi spielt die Feind- 
scbafi der Bourgeoisie gegen jedwede Bekundung radikaler geistiger 
Freiheit eine Hauptrolle. Diese Feindschafi drdngte den Surrealis- 
mus in die Opposition. Politische Ereignisse, in erster Linie der 
Marokkokrieg, beschleunigten diese Entwicklung, Mit dem Erschei- 
nen des Manifests »Die Intellektuellen gegen den Marokkokrieg[«] 
war eine grundsatzlich andere Stufe gewonnen als etwa die 
beruhmten Skandale bei dem Bankett Saint-Paul Roux [sic] sie 
bezeichnen. Jene Exzesse gegen den Patriotismus blieben in den 
Grenzen eines »scandal moraU, gegen den die Bourgeoisie bekannt- 
lich ebenso dickjellig wie gegen jede eigentlich politische Aktion 
empfindlich ist. Sehr merkwiirdig ist die U bereinstimmung, in wel- 
cher, unterm Einflufl solcher Erfahrungen Apollinaire und Aragon 
die Zukunfl des Dichters gesehen haben. Die Kapitel Persecution 
und Assassinat bei Apollinaire enthalten die beruhmte Schilderung 
eines Dichterpogroms. Die Verlagshauser werden gesturmt s die 
Gedichtbucher ins Feuer geworfen, die Dichter erschlagen. Und die 
gleichen Szenen spielen sich auf der ganzen Erde ab. Bei Aragon 
ruft, in der Vorahnung solcher Grduel die Imagination ihre Treuen 
zu einem letzten Kreuzzuge auf.} 

Dialektische Kritik des Surrealismus II 
{Naville stellt dem Surrealismus ein Ultimatum, dessen Zweckdien- 
lichkeit in alien politischen Debatten mit der Intelligenz unbestreit- 
bar ist. Er fragt: Tritt - ja oder nein - im Sinne der Surrealisten 
erst die geistige Befreiung und nach ihr die Abschaffung der mate- 
riellen Existenzgrundlagen der burgerlichen Kultur ein oder konnen 
sie sich zu der Meinung bekennen, dafl eine revolutionare Geistes- 
verfassung erst dank einer vollzognen Revolution sich bilden kann? 
Erst Anderung der Geistesart oder erst Anderung der Lebensver- 
haltnisse, das ist die Kardinalfrage fur die Beziehungen von Politik 
und Moral und eine Alternative, die keine Vertuschung zulafit. Die 
Entwicklung des Surrealismus ist der materialistischen Antwort auf 
diese Frage immer naher gekommen.} 
{Wenn es die doppelte Aufgabe der revolutionaren Intelligenz ist, 



1040 Anmerkungen zu Seite 295—310 

die intellektuelle Hegemonie der Bourgeoisie zu stiirzen und den 

entscheidenden Kontakt mit der proletarischen Intelligenz zu errin- 

gen, so mufl man feststellen, dap sie vor dem zweiten Teil dieser 

Aufgabe fast vollig versagt hat. In Frankreich vielleicbt nicht so 

erschreckend und eindeutig wie bei uns. Wenn auch das korporative 

Anerbieten der Surrealisten an die Redaktion der Humanite mit 

ihren Arbeiten in ihr Feuilleton Einzug zu halten, von vornherein 

ohne Chancen war, so ist es dodo bin und wieder zu Sympathies 

aktionen gekommen, wie denn uberhaupt aus Grunden, die der 

Nachforschung wert waren, die Intellektuellen und die Kommuni- 

stische Partei von Frankreich sich sehr viel aufgeschlossner gegen- 

uberstehen als die entsprechenden Krafle hierzulande. Gewijl werden 

proletarische Dichter, Denker und Kunstler nur aus einer sieg- 

reichen Revolution hervorgehen[,]} 

Der Rest, der bleibt. Zitate bei Naville. Es hilft nichts: ein Ein- 

gestandnis ist notig - der metaphysische Materialismus der kommu- 

nistiscben Theorie - ist er nur ein Schonbeitsfebler oder ein 

Konstruktionsfehler? Auf jeden Fall scheint er sich in den anthro- 

pologischen Materialismus wie die Erfahrung eines Rimbaud, der 

Surrealisten und fruher schon eines Buchner (Wozzek), . . . belegt, 

nicht uberfuhren zu lassen, Doppelte Bindung: ans Kreaturlich- 

Animalische und ans Politisch-Materialistische. 

{Es handelt sich aber auch in der Taktik der Intelligenz gegenuber 

viel weniger darum Kunstler bourgeoiser Abkunfl zu Meistern der 

proletarischen Kunst zu machen als sie y und seis auf Kosten ibres 

kunstlerischen Schaffens, in eine Masse einzubegreifen. Und das ist nur 

dutch ein elastisches Verfahren, durch Aufgesohlossenheit, Entgegen- 

kommen zu erreichen.) 

Bevor nicht diese innerste Leib- 

welt so eng an die Revolution 

Buchner ■, Hebel, Nietzsche gebunden, so sehr mit alien 

Spannungen ihr nutzbar ge~ 
macht, so ganz mit ihr als ihrem 
Rest der bleibt eigensten Sinn durchdrungen ist 

Merke (wie Uhrenraum wie die grofien indischen Reli- 

Hebel sagen die beiden Arten gionen und das Judentum es mit 
wiirde) des Materialise ihrer Moral taten, so lange 

mus 
Isolierung und 
metaphysische 
Position 
Ultimatum: materielle oder geistige Revolution 



Anmerkungen zu Seite 295—310 1041 

Es bleibt ein Rest. Auch das Kollektivum hat einen Leib. Das leibliche 
Kollektivum nicht die abstrakte Materie oder Kosmos sind dem Ma- 
terialismus zugrunde zu legen. 

Merke: Die Zeit in diesem Bildraum ist nicht mehr die des Fort- 
schritts. Geschichte aus Marseille, Geschichte vom Sdonellaufer 

Drudtvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 578-589 



UBERLIEFERUNG 

jbai Di e literarisdie Welt, 1. 2. 1929 (Jg. 5, Nr. 5), 3 f., 8. 2. 1929 
(Jg- 5» Nr. 6), 4 und 15. 2. 1929 (Jg. 5, Nr. 7), ji. Der Ab- 
druck hat zwei Abbildungen: Picassos Zeichnung „Apollinaire 
als Kunstpapst« und eine (auf Briefmarkenformat verkleinerte) 
Zeichnung von Max Ernst. - Benjamin- Archiv, Dr 25-30. 
JBA2 Dass., umfafk jedoch nur die erste Seite des ersten Teildrucks 

(1. 2. 1929 [Jg. 5, Nr. 5], 3); Benjamin- Archiv, Dr 31. 
Druckvorlage: J BA1 

lesarten 296,33 von] konjiziert fiir von von - 297,16 Traum,] 
konj. fiir Traum - 197,27 Erleuchtung,] konj. fiir Erleuchtung - 
298,19 battante*,] konj. fiir battante« - 299,15 einer] die Hervor- 
hebung wurde von Benjamin in J BA2 handschriftlich eingetragen. - 
299,35 genauso] fiir genau so - 300,8 wohl,] konj. fiir wohl - 
300,11 lie fie] handschr. korrigiert aus liefi - 302,5 Wissenswerteste] 
konj. fiir Wissenwerteste - 305,29 ihm] ihm, J; das Komma ist in 
jbai handschr. gestrichen worden. - 307,35 soviet] fiir so viel - 
307,39 soviet] fiir so viel - 309,13 es } ] konj. fiir es — 310,3 ihm] 
handschr. aus ihn - 310,15 anschlagt.] Danach folgt in J ein in man- 
cher Hinsicht merkwiirdiges Literaturverzeichnis. Obwohl unsicher 
ist, ob es von Benjamin oder von der Redaktion der »Literarischen 
Welt« stammt, wird es im folgenden abgedruckt: 

EINIGE QUELLENSCHRIFTEN 

Comte de Lautreamont (Isidore Ducasse): Oeuvres 

completes. 

id. Soupault. Au sans Pareil. 

Paris j 927. 
Jean-Arthur Rimbaud: Oeuvres completes. 

ed. Berrichon. Mercure de 

France. Paris 1912. 
Guillaume Apollinaire: Alcools. Mercure de France. 

Paris 191 j. 

Calligrammes. Mercure de 

France. Paris 1918. 



1042 



Anmerkungen zu Seite 295—310 



Andre Breton: 



Louis Aragon: 



Paul Eluard: 



Pierre Naville: 



Uenchanteur pourrissant. 
Nouvelle Revue Frangaise 
1 92 1. 

Le poete assassine. Au sans 
Pareil. Paris 1927. 
Manifeste du surrealisme. 
Poisson solable. Simon Kra. 
Paris 1924. 

Nadja. Nouvelle Revue 
Frangaise. 1928. 
Le surrealisme et la peinture. 
Le libertinage. Nouvelle Re- 
vue Frangaise. Paris 1924. 
Le paysan de Paris. Nouvelle 
Revue Frangaise. Paris 1926. 
Traite du style. Nouvelle 
Revue Frangaise. Paris 1928. 
Repetitions. Au sans Pareil. 
Paris 1922. 

Capitale de la douleur. Nou- 
velle Revue Frangaise. Paris 
1926. 

La Revolution et les intel- 
lectuels. Nouvelle Revue 
Frangaise. Paris 1928. 



nachveise 296,16 pas*).] Benjamin ist einem doppelten Irrtum erle- 
gen: die zitierte Stelle stent nicht in der »Saison en enfer« sondern in 
dem Prosagedicht »Barbare« aus den »Illuminations«, und das »elles 
n'existent pas« ist keine spatere Randbemerkung Rimbauds sondern 
Teil des Textes selbst: »Le pavilion en viande saignante sur la soiedes 
mers et des fleurs arctiques; (elles n' existent pas.)« (Rimbaud, CEuvres, 
id. Suzanne Bernard, Paris i960, 292; s. audi a. a. O., 519, den 
Kommentar: »Rimbaud veut-il dire qu'il n'existe pas de fleurs 
arctiques, ou simplement qu'il eVoque une vision irreelle?«) - 
296,17-20 In bis gezeigt.] s. das Selbstzitat der Stelle J9%S'9 - 
296,28-37 Damals bis Ubrigblieb.] s. das Selbstzitat der Stelle 798, 
9-16 - 297,1 travaille.] s. Andre* Breton, Manifestes du surrealisme, 
Paris 1975 (Coll. Idees/Gallimard), 24 - 297,3 Sprache.«] Breton, 
Point du jour. Nouvelle Edition revue et corrig^e, Paris 1970 (Coll. 
Id^es/Gallimard), 23 (» Introduction au discours sur le peu de rea- 
liti«) - 298,1 babe] s. Breton, Nadja. Edition entierement revue 
par Pauteur, Paris 1975 (Coll. Folio/Gallimard), 179 f. - Die 1928 



Anmerkungen zu Seite 295—310 1043 

erschienene Erstausgabe der »Nadja« war den Hg. unzuganglich; 
sie scheint gegenuber der benutzten einsdineidende Abweichungen auf- 
zuweisen. - 298,4 wobnt] s. a. a. O., 92 f., Anm. - 298,19 battante«] 
s. in der Neuausgabe (a. a. O., 18): »Je persiste [. . .] a ne m'inte*- 
resser qu'aux livres qu'on laisse battants comme des portes, et desquels 
on n'a pas a chercher la clef«, sowie a. a. O., 184 f.: »C'est cette 
histoire que, moi aussi, j'ai obei au dislr de te conter, alors que je te 
connaissais a peine, toi qui ne peux plus te souvenir, mais qui ayant, 
comme par hasard, eu connaissance du debut de ce livre, es intervenue 
si opportun^ment, si violemment et si efficacement aupres de moi 
sans doute pour me rappeler que je le voulais >battant comme une 
porte< et que par cette porte je ne verrais sans doute jamais entrer 
que toi.« - 299,4 hat.*] s. a. a. O., 11 1 f.: »I1 [sell, un vieux qu£man- 
deur] offre quelques pauvres images relatives a l'histoire de France. 
Celle qu'il me tend, qu'il insiste pour que je prenne, a trait a 
certains episodes des regnes de Louis VI et Louis VII (je viens pr£- 
cisement de m'occuper de cette epoque, et ceci en fonction des 
>Cours d'Amour<, de m'imaginer activement ce que pouvait etre, 
alors, la conception de la vie).« - 299,14 bestimmt.*] Erich Auerbach, 
Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin, Leipzig 1929, 76 - 
299,39 ^Passage de VOpera«] Titel des ersten Teils des »Paysan de 
Paris« - 300,27 machen.<r] Maurice de Gandillac, der Benjamins 
Essay ins Franzosische ubersetzte, merkt zu dem Zitat an: »En 
r£alite\ e'est Hertz lui-meme qui s'exprime ainsi dans >Singulier 
pluriel<, L'Esprit Nouveau, XXVI, Paris 1924^ der von Gandillac 
gedruckte korrekte Wortlaut erweist Benjamins Obersetzung als sehr 
frei (s. Benjamin, CEuvres I: Mythe et violence. Essais traduks par 
Maurice de Gandillac, Paris 1971, 302 f.). - 300,29 f. »UHere- 
siarque*] s. Guillaume Apollinaire, L'HeV&iarque etCie., Paris 1910 - 
301,14 Sees*] Breton, Nadja, 6d. 1975, a. a. O., 44 - 302,12 f. 
» Introduction au Discours sur le peu de Realties] s. Nachweis zu 
2 5>7>3 _ 30^*33 Kollektiva.*] Apollinaire, L'esprit nouveau et les 
poetes, in: Mercure de France, No 491, Tome CXXX, i cr D^cembre 
1918, 387 - 302,37 Denken*] s. Pierre Naville, La revolution et 
les intellectuels, Paris 1926, 146 - 303,7 mogen«] Apollinaire, L'esprit 
nouveau et les poetes, a. a. O., 392 - 303,24 kurz nach dem Kriege] 
richtig: 1925; s. Maurice Nadeau, Geschichte des Surrealismus, iibers. 
von Karl Heinz Laier, Reinbek bei Hamburg 1968, 91 ff. - 303,37 
ab] s. Apollinaire, Le poete assassine. Nouvelle Edition, Paris 1927, 
104 - 303,39 auf] s. Louis Aragon, Le paysan de Paris, Paris 1961, 
80-82 - 304,18 erfolgt.«] Georges Duhamel, Le voyage de Moscou, 
Paris 1922, 189 - 306,6 f. befinden.«] Comte de Lautreamont 
(Isidore Ducasse), CEuvres completes. Avec les prefaces de L. Genon- 



1044 Anmerkungen zu Seite 295—324 

ceaux u. a., Paris 1953 (id, Corti), 398 - 306,26 anvertrauu] Rim- 
baud, a, a. O., 211 - 307,3 lobnU] Breton, Nadja, id. 1975, a. a, O., 
168 - 307,11 und 308,6 Die bis gewinnen] s. das Selbstzitat der 
Formulierung 798,16 f. - 308,36 »Traite du Style*] Erstausgabe 
Paris 1928 - 309,14 f. »LiteratHt und Revolution*] die russisdie 
Erstausgabe erschien Moskau 1923; eine - unvollstandige - Ober- 
setzung ins Deutsche Wien 1924. 



3IO-324 ZUM BlLDE PROUSTS 

Benjamins Verhaltnis zu Proust war zunachst und vor allem das des 
Obersetzers. Im Sommer 1925 schloft er einen Obersetzervertrag fiir 
»Sodome et Gomorrhe« ab, der 1926 - nachdem die VerofTentlichung 
der deutschen, von Rudolf Schottlaender stammenden Obersetzung des 
ersten Bandes der »Recherche du temps perdu« ein groftes, publizi- 
stiscb-kritiscbes Fiasko gegeben hatte - dahin erweitert worden zu 
sein scheint, dafl der gesamte deutscbe Proust von [Franz J Hessel [. . ./ 
und mir gemacbt wird (Briefe, 431). Schon am 18, 9. 1926 berichtete 
Benjamin, »Sodome et Gomorrhe« liege seit langem von mir ubersetzt 
im Manuscript beim Verlage> und audi die "Obersetzung von »A Pom- 
bre des jeunes filles en fleurs« hatten Hessel und er vor einem Monat 
abgescblossen (Briefe, 431). Die Obersetzung von »Le cote" de Guer- 
mantes« schliefllich, die wiederum von Benjamin und Hessel gemein- 
sam besorgt wurde, ist in einer brieflichen Aufierung vom Januar 
1929 impliziert: damals sei audi sie schon seit Jabren fertig (Briefe, 
485). Indessen ist »Prousts Werk [. . .] durch eine Reihe unglucklicher 
Fiigungen, die schon vor dem Ausbruch des Dritten Reiches begannen, 
fiir Deutschland verlorengegangen« (Adorno, Gesammelte Schriften, 
Bd. 1 r : Noten zur Literatur, hg. von R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 
1974, 66^; s. audi das »Editorische Nachwort« zu Benjamin, Gesam- 
melte Schriften, Supplement III). Benjamins Obersetzung von »So- 
dome et Gomorrhe« ist niemals gedruckt worden, das Manuskript ver- 
loren; »Im Schatten der jungen Madchen« erschien 1927, »Die Her- 
zogin von Guermantes« 1930 (s. Gesammelte Schriften, Supplemente 
II und III) - danach war Proust in Deutschland langer als zwanzig 
Jahre nidit mehr vorhanden. Die erhaltenen Proust-Obersetzungen 
Benjamins, die in Supplementbanden zur vorliegenden Ausgabe wieder 
zuganglich gemadit werden, stellen nach dem Urteil Adornos »zwei 
der vollkommensten Obersetzungen der deutschen Sprache« (Adorno, 
Ober Walter Benjamin, a. a. O., 13) dar. 
Im Januar 1926, bald nach Aufnahme seiner Obersetzungsarbeit, 



Anmerkungen zu Seite 310—324 1045 

spradi Benjamin zum erstenmal von der Absicht, uber Proust zu 
schreiben: Notizen uber ihn »En traduisant Marcel Proust* will tch 
mal in der » Liter arisch en Welt* veroffentlichen. (Briefe, 410) Wenig 
spater wurde derselbe Plan gegeniiber Hofmannsthal erwahnt: Es 
ist ja ein durchaus neues Bild, das er [Proust} vom Leben gibt, indent 
er den Zeitverlauf zu dessen Mafi macht. Und die problematischste 
Seite seines Ingeniums: die ganzUche Elimination des Sittlicben bei 
hocbster Subtilitat in der Beobachtung alles Physischen und Spirituel- 
len, ist vielleicht - zu einem Teil -als die »Versuchsanordnung« in 
dem immensen Laboratorium zu verstehen, wo mit tausend Reflekto- 
ren, konkaven und konvexen Spiegelungen die Zeit zum Gegenstand 
der Experimente gemacht wird. Icb kann, mitten beim Ubersetzen, 
keine eigentliche Klarung der tiefen und zwiespaltigen Eindrucke 
erhoffen, mit denen Proust mich erfullt. Aber langst hege icb den 
Wunsch, eine Reihe meiner Beobachtungen, aphoristisch wie sie unter 
der Arbeit sich bilden 7 unter dem Kennwort »En traduisant Marcel 
ProusU zusammenzufassen, (Briefe, 412) Die Erfiillung des Wun- 
sches freilich versagte Benjamin sich noch fur mehrere Jahre. Im Mai 
1926 heifit es in einem aus Paris datierten Brief: Ob mir [. . .] ge- 
lingty einen Aufsatz uber Proust (»En traduisant Marcel ProusU ) 
den icb zu schreiben vorhabe [, . ,/ an den hiesigen Tag zu befdrdern y 
steht sehr dahin. Provisoriscb sind meine aufiern Umstande aucb ohne 
dies zufriedenstellendj da icb fiir die winzige Frist eines Jahres, seit 
Januar von Rowohlt Monatsraten fiir meine Bucber bekomme und im 
Augenblick dazu die Zahlungen fur die Obersetzungen treten. (Briefe, 
427 f.) Im September 1926 hat der Plan dann eine konkretere Form 
angenommen, seine Verwirklichung steht aber nach wie vor in weiter 
Feme: Icb gehe aucb schon wer weijl wie lange mit einer Aufzeich- 
nung »En traduisant Marcel Proust « in Gedanken um und babe eben 
jetzt in Marseille von den dortigen »Cahiers du Sud« die Zusage er- 
halten, sie zu bringen. Nur mit der Abfassung wird es noch gute Wei- 
le haben. Im Grunde wird sie uber das Ubersetzen eigentlicb wenig 
enthalten; sie wird von Proust handeln. (Briefe, 431 f.) Von einem 
Aufsatz uber Proust ist erst wieder im Januar 1929 die Rede, diesmal 
in einem Brief an Max Rychner, dem Benjamin ausfuhrlich uber das 
damals schon desolate Schicksal Prousts in Deutschland schreibt: Mit 
Ihrer Frage nach Proust machen Sie mich verlegen. Man sch'dmt sich 
fiir Deutschland, fur die Umstande, die es herbeigefuhrt haben, dafi 
diese Sache von Anfang an in lieb- und ahnungslosen Hdnden gele- 
gen hat (und wenn sie jetzt auch neue Hande, doch nicht bessere Kop- 
fe zu ihnen finden). Sie verstehen, ich spreche von den Verlegern. 
Dem Publikum kann man kaum etwas vorwerfen. Es ist ja an die 
Dinge noch gar nicht herangekommen. Erst der von Schottlaender 



1046 Anmerkungen zu Seite 310—324 

Ubersetzte Band, ein lacberliches Debut. Dann der Band, den Hessel 
und icb iibersetzt baben t in ganz anderm, nicht unbedingt gescbickten 
Format. Zwel Bande also, die, ah Vbersetzung, weder aufterlich nocb 
innerlicb Kontinuitdt haben und dann das ganzlicbe Abbrecben. 
Seit kurzem, wie Sie vielleicht wissen, ein neuer Verleger, der sich 
ebenso wenig wie sein Vorganger zu der Erkenntnis durchringen 
kann, dafi Proust nur als CEuvre, nicbt in einzelnen Bdnden in Deutscb- 
land durcbgesetzt werden kann. Wenn Sie bedenken, dafi das Werk 
bis Sodom und Gomorrha einscbliefilicb in unserer Obertragung scbon 
seit Jahren fertig ist, werden Sie versteben, wie lebbaft wir Ibren 
Mifimut mitfuhlen, und wie dankbar wir Ibnen sind, daft Sie in Ibrer 
[Neuen Schweizer] Rundschau so ziemlich den einzigen Platz eroff- 
net baben, an dem man wieder und wieder auf Proust verwies. Natur- 
lich bleibt unendlido viel zu tun. Ebenso naturlich, daji aucb icb daran 
scbon gedacbt babe, etwas zur Deutung Prousts beizutragen. Icb stebe 
aber dem Ganzen nocb zu nahe, es stebt noch zu grofi vor mir. Icb 
wane, bis icb Details sehe, an denen icb dann, wie an Unebenheiten 
einer Mauer, bocbklettern will. Sicker wird unsere deutscbe Proust- 
Forscbung sehr anders ausseben als die franzosiscbe. In Proust lebt 
dock nocb so viel grojleres und wicbtigeres als der »Psychologe«, von 
dem in Frankreicb, soviel icb sebe, fast ausschliefilich die Rede ist. 
Wenn wir uns etwas gedulden, so bin icb sicker, Sie werden eines 
Tages, von welcber Seite es sei, eine vergleickende Arbeit iiber deutscbe 
und franzosiscbe Proust-Kommentare ebenso gerne erhalten wie brin- 
gen. (Briefe, 485 f.) Wenig spater, vielleicht durch Rychners Interesse 
angespornt, muB Benjamin dann doch mit der Arbeit an dem Proust- 
Essay begonnen haben, denn am 15. 3. 1929 schrieb er, er spinne zur 
Zeii an einigen Arabesken zu Proust (Briefe, 492), und bereits Ende 
Juni und Anfang Juli wurde der Text in drei Fortsetzungen in der 
»Literarischen Welt« gedruckt. Dafi Benjamin Abdrucke sowohl an 
Hofmannsthal wie an Karl Wolfskehl schickte (s. 1020), zeugt von 
der Wichtigkeit, welche er selbst seiner Arbeit zuerkannte. 
Fraglos eine der bedeutendsten theoretischen Xufterungen zu Proust, 
lafk Benjamins Essay sich gleichwohl eine gewisse Zuriickhaltung, 
audi wohl ein Moment des Vorlaufigen anmerken, die sein Verhaltnis 
zu dem franzosischen Dichter insgesamt bestimmt haben und nicht 
zuletzt in der intimen intellektuellen Verwandtschaft beider Autoren 
begrundet waren. Schon 1926 schrieb Benjamin iiber seine Oberset- 
zungsarbeit: Die unproduktive Bescbdfiigung mit einem Autor, der 
Intentionen, die, ehemaligen zumindest, von mir selber verwandt 
sind, so groflartig verfolgt, fiibrt bei mir von Zeit zu Zeit so etwas 
wie inner e Vergiflungserscbeinungen berauf. (Briefe, 431) Adorno 
hat berichtet: » Walter Benjamin sagte mir einmal, er wolle nicht ein 



Anmerkungen zu Seite 310—324 1047 

Wort mehr von Proust lesen, als er jeweils zu ubersetzen habe, weil 
er sonst in eine siichtige Abhangigkeit gerate, die ihn an der eigenen 
Produktion [. . .] hindere.« (Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. n, 
a. a. O., 670) Darauf durfte Benjamin sidi bezogen haben, als er 
Adorno im September 1932, in einem Brief aus Italien, schrieb: Es 
wird Sie interessieren, dafi erstmals auch wieder vier Bdnde Proust 
dabei sind, in denen ich oft lese. (Brief e, 557 f.) In dem 1939 geschrie- 
benen Aufsatz Ober einige Motive bei Baudelaire ist Benjamin in 
theoretischem Zusammenhang nachdriicklich auf Proust zuriickge- 
kommeri (s. Bd. i> 609-611 und passim). Dafi ihn Proust bis zuletzt 
intensiv beschaftigt hat, bezeugt schliefilich eine brief liche Xufierung 
vom Mai 1940 zu Adornos Arbeit iiber den Briefwechsel zwischen 
George und Hofmannsthal - welche dieser dann, nach Benjamins Tod, 
dem Gedachtnis des Freundes widmete -: Sie haben naturlich Recht 
an Proust zu erinnern. Ich habe mir in der letzten Zeit meine eigenen 
Gedanken iiber das Werk gemacht; und wieder einmal trifft es sich, 
dafi sie sich mil den Ihren begegnen. Sehr schon sprechen Sie von der 
Erfahrung des »das ist es nidoU - eben der, die die Zeit zu einer 
verlorenen macht. Mir will nun s<heinen s dafi es ein tief verstecktes 
(aber nicht darum auch unbewufites) Modell dieser Grunderfahrung 
fur Proust gegeben habe: namlich das »das ist es nichu der Assimila- 
tion der franzosischen Juden. Sie kennen die beruhmte Stelle in 
»Sodom[e] et Gomorrhe« t an der die Komplizitat der Invertierten 
mit der besonderen Konstellation verglichen wird, die das Verhal- 
ten der Juden untereinander bestimmt. Gerade, dap Proust nur 
Halbjude war, konnte ihn zu Einblicken in die prekare Struktur der 
Assimilation befahigen; eine Einsicht, die ihm durch die Dreyfus- 
campagne von aufien nahe gelegt worden ist. (Briefe, 852 f.) Die 
Passage stent als ein memento am Ende von Benjamins Stellungnah- 
men zu Proust. Wahrend des Exils soil er zeitweilig mit dem Gedan- 
ken an ein Buch iiber Proust, Joyce und Kafka sich getragen haben. 
Ob er diesen Gedanken im Ernst oder nur spielerisch verfolgt haben 
mag: dafi Benjamin als Jude in den Tod gehetzt wurde, liefi diesen 
Plan wie so viele andere nicht reifen; seine Verwirklichung hatte 
leicht Bibliotheken - insbesondere deutschsprachige - iiber die mo- 
derne Literatur zu Makulatur gemacht. 

Der grofSere Teil der Nachlafimaterialien zum Proust-Essay fand 
sich in einem Umschlag, den Benjamin mit der Aufschrift Proust- 
Papier e versah; im folgenden wird zunachst dieses Konvolut abge- 
druckt. Bei der Anordnung der einzelnen Blatter mit Vorstudien wird 
Kriterien aufkrer Zusammengehorigkeit - gleiche Papiersorten, Ahn- 
lichkeit des Schreibduktus u. a. - gefolgt. 



1048 Anmerkungen zu Seite 310—324 

Proust-Papiere 

Dispositionen zum Aufsatz uber Proust 

{Im Anschlufi an Prousts Umgang mit den Bibescos, seine Ge~ 
heimsprache, die Umstdndlichkeit seines brieflichen Verkebrs. Proust 
stand der mond'dnen Gesellscbafl mit einer detektiviscben Spannung 
und Neugierde gegeniiber. Sie war fur ihn ein Verbrecherclan, eine 
Organisation von Verschworern, mit der sich keine andere vergleichen 
kbnnte. Sie war ihm die Kamorra der Konsumenten. Sie scbliefit aus 
ihrer Welt alles aus, was Anteil an der Produktion bat, verlangt zu- 
mindesty daft dieser Anteil schambaft und grazios sich Winter einem 
Gebaren verbirgt, wie die vollendeten professionels der Konsumtion 
es zur Schau tragen. Das Studium des Snobismus muftte fur Proust die 
unvergleicblicbe Bedeutung darum gewinnen, weil diese Haltung 
nicbts als die konsequente, organisierte, gestahlte Betracbtung des 
Daseins vom cbemiscb reinen Konsumentenstandpunkt bedeutet. Und 
weil aus dieser sataniscben Feerie selbst die entfernteste sogut wie die 
primitivste Erinnerung an die Produktivkrdfie der Natur verbannt 
werden sollte, darum waren ihm selbst in der Liebe die pervertierten 
Bindungen braucbbarer als normale. An irgend einer Stelle des Wer- 
kes, da er sich anscbickt, ganz besonders eingehend die Welt von So- 
dom und Gomorrha zu beschworen, erkldrt er, spdter auf die tiefe 
Notwendigkeit die Rede bringen zu wollen, aus der heraus er gerade 
dieses Tbema ergriffen babe. Ein Programm, das er, natiirlich, nie 
einlost. Denn gerade an dieser Stelle sich zu erkldren, hdtte fur ihn 
bedeutet, das Werk selber aus den Angeln zu heben. Sodom und 
Gomorrha sind in der Tat die Zapfen mit denen die Tur in die Holle 
des absolut geniefienden, rein drohnenhaflen Daseins [wie] in ihren 
Rahmen befestigt ist. Gewifl eine Holler denn das ist nun der letzte 
Ertrag der rucksichtslosen Analyse des Genusses, die sein ceuvre 
durchfUhrt: der absolute, chemisch reine Genufl des Daseins ist eine 
aujlerordentlich fluchtige Verbindung von Leiden, Schmerz, Erniedri- 
gung und Krankheit und sein Aroma Enttduschung.} 
{Proust wurde des Trainings nicht mude, den der Umgang in diesen 
monddnen Verbrecberkreisen erforderte. In der Tat, er iibte andau- 
ernd ohne wohl seiner Natur viel Gewalt antun zu mussen, um sie so 
schmeidig, findig und undurchdringlich zu machen, wie er um seiner 
Aufgabe willen es werden mufite. Spdter wurde die Mystifikation, die 
Umstdndlichkeit ihm dermaflen zum Element, dafi seine Brief e manch- 
mal ganze Systeme von Parenthesen, und nicht nur grammatisch wer- 
den: Briefe die in unendlich geistvoller, wendiger Art, dock eine ge- 
wisse Verwandtschaft mit dem alien Schema verraten: [»]Sehr geehrte 
gnadige Frau! Ich merke soeben, daft ich gestern meinen Stock bei 



Anmerkungen zu Seite 310—324 1049 

Ihnen vergafi und bitte Sie, dem Vberbringer dieses Schreibens ihn 
mitzugeben. PS Entschuldigen Sie bitte die unartige Storung. Ich 
babe ihn soeben gefunden.« Wie erfinderiscb in Schwierigkeiten er 
war: einmal erscheint er, spat in der Nacht, bei der Furstin Clermont- 
Tonnerre. Sein Bleiben macht er davon abbangig, dafi ibm die Medizin 
von Hause geholt werde. Und nun schickt er den Kammerdiener, gibt 
ibm eine lange Bescbreibung der Gegend, des Hauses und zuletzt: 
[»JSie konnen es nicht verfeblen; das einzige Fenster auf den Boule- 
vard Haussmann, in dem noch Licht brennt.« Nur nicht die Nummer. 
Man versuche, in einer fremden Stadt die Adresse eines Bordells zu 
bekommen - und bat man dann die langatmigsten Auskunfte bekom- 
men - nur alles andere als Strajie und Hausnummer - so wird man 
versteben, was bier gemeint ist [nachtraglicher Einschub:] und wie 
es mit seiner Liebe zum Zeremonial, seiner Verebrung fiir Saint-Si- 
mony zuletzt auch seinem Franzosentume zusammenbangt. (Von der 
FUrstin Clfermont-TonnerreJ stammt die aufscblufireiche Bemerkung, 
daft in P [rousts J Werk kein einz[iger] Fremder vorkommt. [Ein- 
sdiubende] Es mufi einer eben sick allerlei Wind haben um die Nase 
weben lassen, bevor ibm aufgebt, wie schwer so vieles zu erfabren 
ist, was docb anscbeinend sich in ein paar Worten mitteilen liefle. So 
mag es sein, nur dafl eben diese Worte einem geheimen, hasten- und 
standesmafiig festgelegten Vokabular angehoren, und fur den Aufien- 
seiter nicht zu verstehn stnd.} 

{Prousts Invektiven gegen die Freundschaft sind im Grunde so zu 
versteben: was ibm als Preis des Daseins, als das Wesen des Genusses 
erscbeinty ist etwas s was wobl mltgeteilt y nicht aber im vitalen Sinne 
geteilt werden kann. Es verweist in [sic] ganz und gar auf die Ein- 
samkeit und stellt damit den fundamentalen Gegensatz zu den Ge- 
nilssen und den Freuden dar, die aus der produktiven Spbare kommen. 
Was in so vielen Anekdoten kaprizios und irritierend in Erscbeinung 
tritt 3 ist die Verbindung einer beispiellosen Intensitdt des Gespraches 
mit einer nicht zu uberbruckenden Feme vom Partner. Denken wir 
uns fur einen Augenblick das Gluck, neben dem Dichter einberzugehen, 
auf einem Spaziergang sein Begleiter zu sein. Dann werden wir er- 
fabren: nie gab es einen, der so wie er uns die Dinge zu zeigen ver- 
mochte. Sein weisender Finger ist obnegleichen. Aber es gibt eine 
andere Geste im freundschaftlicben Zusammengebn und Gespracb: 
die Berubrung. Diese Geste ist keinem fremder als Proust. Er kann 
auch seinen Leser nicht anruhren, konnte es um nichts in der Welt. Will 
man einmal die Dinge in diese Skala - zwischen den Weisenden und 
den Berubrenden - einordnen, so kame Proust an das eine Ende zu 
stehen, an das andere Peguy. Es ist im Grunde dies, was Ramon 
Fernandez ausgezeicbnet begriffen hat (auch das ein extremer Gegen- 



1050 Anmerkungen zu Seite 310—324 

satz zu Peguy: »La profondeur, ou plutot Vimensite, est toujour s 
du cote de lui-meme, non du cote d*autrui.«[)] Neben diesem 
Glucksrausch des Zeigens y dem Bilderzauber ist bei Proust jiir das phy- 
sische Gliick, den rein physischen Rausch kein Raum. Er ist unter den 
grofien Epikern etner der wenigen, die nicht verstehen, ihre Helden 
essen zu lassen. Marcel Brion machte, als wir dariiber sprachen y die 
witzige Anmerkung, das sei, weil es keine eigentlich perversen Tafel- 
freuden gdbe und Proust nicht wie Huysmans beschaffen gewesen sei, 
der am Beschreiben schlechter Nabrung Gefallen gefunden habe. In 
solche spielerischen Bemerkungen aber klimpern die Scblussel zu den 
geheimsten Kammern des Werkes.} 

Druckvorlage*. Benjamin-Archiv, Ms 428 

{Um aber diese Reihe von Kritikern und Darstellern Prousts mit 
Proust selbst als Darsteller und Kritiker zu beschliefien, soil kurz von 
dem die Rede sein, was ihn als Ghroniqueur, als Journalisten, als Kri- 
tiker y immer aber als das Genie, das er war, neben seinem Hauptwerk 
beschafiigt bat. Vor allem also von den » Pastiches et Melanges* 
und dem posthumen Sammelbande »Chroniques« . In welchem Grade 
jene beiden Funktionen - die darstellende und die kritische - bei 
ihm sich zu durchdringen vermochten, zeigt am erstaunlichsten das 
erste der beiden Werke. Ein beliebiger Kriminalfall aus dem Anfang 
dieses Jahrhunderts hat ihm fiir eine Folge von neun Kapiteln das 
Motiv stellen mussen, das der Reihe nach im Stile Balzacs, Flauberts, 
Sainte-Beuves, Henri de Regniers, der Goncourt, Michelets, Fa- 
guets, Renans und schliefllich seines Lieblings Saint-Simon behandelt 
wird. Von Meisterschaft der Beobachtung hier zu sprechen - hiefie 
nicht genug sagen. Es ist Begnadung des Betroffenwerdens, so tiefe 
und so blitzartige Erschutterung durch einen Sprachlelb, da$ die 
Kritik als Reaktion dagegen mit schopferischer Kraft als Parodie an 
Tag tritt. Mimisches und kritisches Vermogen sind hier nicht mehr zu 
trennen. So kann man es wenigstens darstellen. Aber wir wollen 
darum nicht andere, vielleicht bemerkenswertere Blicke auf diese 
phanomenale Kunstleistung unterlassen.} 

{Proust hat nicht nur das Laster der Schmeichelei in einem eminen- 
ten - man mochte sagen: theologischen Grade besessen, auch das der 
Neugier. Auf seinen Lippen war ein Abglanz des Lachelns, das in 
der Leibung mancher von den Kathedralen, die er so liebte, wie ein 
Lauffeuer iiber die Lippen der tbrichten Jungfraun huscbt. Es ist das 
Lacheln der Neugier. Hat Neugier ihn im Grunde zu solch groflem 
Parodisten gemacht? Wir wiifiten dann zugleich, was wir vom Worte 
^Parodist* an dieser Stelle zu halten hatten. Nicht viel. Denn wenn es 
auch seiner abgrundigen Malice gerecbt wird, so geht es doch am 



Anmerkungen zu Seite 310—324 ioyi 

Bitteren, Wilden und Verbissnen dieser Gebilde vorbei. Es ist die 
Mimikri des Neugierigen, die das schopferische Prinzip dieser Folge, 
zugleich aber ein Moment seines ganzen Schaffens gewesen ist. Bei 
Proust ist die Passion fur die Flora - besser fur das Vegetabilische » 
nicbt ernst genug zu nehmen. In dessen Umkreis fallt die Mimikri und 
ist, wie viele andern [Seiten?] dieser Lebenssphare fur Prousts Ver- 
fahren auflerst bezeichnend. Seine genauesten, evidentesten Erkennt- 
nisse sitzen auf ihren Gegenstdnden wie auf Bldttern y Bluten und 
Asten Insekten, die nichts von ihrem Dasein verraten, bis ein 
Sprung, ein Flugelscblag, ein Satz dem erschreckten Betrachter zei- 
gen, daft bier ein unberechenbares, eigne s Leben unscheinbar sich in 
eine fremde Welt geschlichen batte. Den wahren Leser Prousts durch- 
schuttern immerwdhrend kleine Schrecken. Er findet bier in diesen 
Parodien als ein Spiel mit »Stilen« was ibn als Kampf urns Dasein 
dieses Geists im Blatterdache der Gesellschafi schon ganz anders 
betroffen hat. 

Die Parodie bat kathartischen Wert. »Wenn man ein Buch beendet 
hat, mochte man nicht nur noch I'dnger mit seinen Personen, Madame 
de Beauseant oder Frederic Moreau y leben, sondern selbst unsere 
innere Stimme willy da sie wahrend der ganzen Lektiire vom Rhyth- 
mus eines Balzac, eines Flaubert ist in Zucbt genommen worden, 
fortfabren in ihrer Spradoe zu reden. Dann soil man sich ihr einen 
Augenblick fiigen und, damit der Ton sich ausschwingt, Pedal geben; 
das beifit nichts anderes als absichtlich nacbahmen, um dann wieder 
original zu werden und nicht sein Lebtag unabsichtlich nachzuahmen.<r 
So beifit es in einem Essay »A propos du style de Flaubert«, das sich 
mit andern literarischen Kritiken, Glossen iiber die pariser Salons, 
Schilderungen landlicher Gegenden (beides sind aber Vorstudien zu 
den Schauplatzen seines Lebenswerkes) in den »Cbroniques« findet.) 
Gewifl h'dtte Proust in alien Fallen die synthetische Leistung seiner 
» Pastiches « durch die analytische so er ganzen kbnnen s wie er es im 
Falle Flaubert getan hat. Aber fur diesen grofien Kritiker standen 
die Form der Kritik, standen auch die Gegenstdnde der Literatur in 
letzter Reihe. Anders waren wir nicht auf seine Bemerkungen uber 
Ruskin, Flaubert, Baudelaire, einige Seiten uber die Comtesse de 
Noailles und weniges andere beschrdnkt geblieben. Non multa sed 
multum. So baben wir - um noch einen Augenblick bei dem Flaubert- 
aufsatz zu verweilen, in keiner literarischen Abhandlung bistorisch- 
materialistischer Observanz eine derart tiefe, fur die Metbode derart 
werbende Bemerkung gefunden, wie in der Darstellung der Flau- 
bertschen Satzteile »als den schweren Mater ialien, die seine Satze mit 
dem stoflweisen Rhythmus einer Baggermaschine aufheben um sie so- 
dann nieder fallen zu lassen«. Vbrigens gibt gerade diese kritische 



1052 Anmerkungen zu Seite 310—324 

Arbeit absichtlich mafigebende Aufschliisse Uber Prousts eignes Schaf- 
fen, vor allem was die Behandlung der Tempi angeht. Hier erfahrt 
man, daft eine Lucke (»un blanc*) die Stelle ist die Proust in der 
ganzen »Education sentimentale* am meisten bewundert. War es, we'd 
er den Raum seines kunfiigen Werkes in ihr erkannte? {Proust war, 
als er das verfafite, kein Unbekannter mehr. Anderthalb Jahre sp'dter 
f'dllt »A propos de Baudelaire* von der grofien Hohe des Ruhms und 
der niedern des Totenbettes geschrieben, gam erstaunlich, und freilich 
audo gam wundervoll in seinem freimaureriscben Einverstdndnis im 
Leiden, seinen defaillances de la memoire, mit der Geschwdtzigkeit 
des Ruhenden, dem bis zum Aufiersten getriebnen detachement vom 
Thema, das einer bat, der nur nodo einmal sprechen will, gleichviel 
woruber. Und wie diese Erschopfung durchwirkt ist mit allem, 
was der gesunde Proust Bosartigstes, Verschlagenstes hatte. Hier er- 
scheint - dem toten Baudelaire gegenuber - eine Haltung, die 
Prousts Okonomie aucb im Umgang mit seinen Zeitgenossen be- 
stimmt bat: eine so iiberschwangliche, divinatoriscbe Zartlichkeit, 
das der Ruckscblag in den Sarkasmus wie ein unabwendbarer Reflex 
der Erschopfung erschien und scheinbar kaum dem Dichter selbst 
moralisch zugerechnet werden konnte.} [Leon Pierre-JQuint [Mar- 
cel Proust. Sa vie, son ceuvre, Paris 192$] p 113 

Druckvorlage : Benjamm-Archiv, Ms 4i$ r 

[Diese[r] Baudelaire war seine letzte Publikation. Im Jahrer ihrer 
Abfassung, 1922 starb er hurt nach Vollendung des Hauptwerks an 
seinem nervosen Asthma. Die Arzte batten diesem Leiden zeitle- 
bens machtlos gegenuber gestanden. Nicht so der Dichter, der es sich 
sehr planvoll scheint dienstbar gemacht zu haben. Er war - um mit 
dem aufierlichsten zu beginnen - ein wahrer Regisseur seiner Krank- 
heit. Monatelang verbindet er mit vernichtender Ironie das Bild eines 
Verehrers, der ihm Blumen gesandt hatte, mit dem ihm unertr'dglichen 
Dufl, alarmiert mit den Tempi und Pausen seines Leidens die Be- 
kannten wie ein Zar die Bojaren, und ersehnt und gefiirchtet war 
bei den Freunden der Augenblick, da der Dichter plbtzlich, lange nach 
Mitternacht, in einem Salon erschien — »brise de fatigue* und nur 
auf funf Minuten wie er verkundete, um dann bis in den grauenden 
Morgen zu bleiben, zu mude, um sich zu erheben, zu mude, um auob 
nur seine Rede zu unterbrechen. Der Brief schreiber ist unerschopflich 
und findet kein Ende, diesem Leiden die unerdenklichsten Effekte 
abzugewinnen: »Das Rasseln meiner Atemziige Ubertont das meiner 
Feder und eines Bades, das man im Stockwerk unter mir einlafit.[«] 
Aber es ist nicht das allein. Auch nicht, daft ihn die Krankheit dem 
monddnen Dasein entrifi. Nein, dieses Asthma ist in seine Kunst ein- 



Anmerkungen zu Selte 3 1 0—3 24 1053 

gegangen, wenn nicht seine Kunst es gescbaffen hat. Seine Syntax 
bildet rhythmisch auf Schritt und Tritt diese Erstickungsangst nacb. 
So las sen sicb insbesondere diejenigen Zuge dent en, die Leo Spitzer 
[Stilstudien, Bd. 2, Munchen 1928, 365-497] in einer lesenswerten 
Studie zur Spracbe Promts als »retardierende Elemente« herausge- 
stellt hat. Und seine ironische, philosophische, didaktiscbe Reflexion 
ist allemal das Aufatmen, mil dem der Albdruck der Erinnerung ihm 
vom Herzen fallt. In grojlerem Mafistabe ist aber der Tod, den er in 
seinen letzten Jahren unabldssig und gerade in der Arbeit gegenwdrtig 
hatte, die letzte, die erstickende asthmatiscbe Krise. Physiologiscbe 
Stilkunde wurde ins Innerste dieses Schaffens fiihren. (So wird nie- 
mand, der die besondere Zdhigkeit kennt, mit der Erinnerungen im 
Geruchssinn bewahrt werden, Prousts Uberempfindlichkeit gegen Ge- 
rilcbe fiir Zufall erkldren kbnnen. Gewifl treten die meisten Erinne- 
rungen, nach denen wir forschen als Gesichtsbilder vor uns bin. Und 
selbst die freisteigenden Gebilde der memoire involontaire sind noch 
zum guten Teile isolierte, nur rdtselbafi prasente Gesichtsbilder. Dar- 
um hat man, um [der] innerste [n] Sprachbewegung dieses Dichters 
sidy wissend anheimzugeben, eine besondere und tiefste Schicht dieses 
unwillkur lichen Eingedenkens sicb nab zu bringen, in der die Momente 
der Erinnerung nicht mehr einzeln, als Bilder, sondern bildlos und 
ungeformt,} unbestimmt und gewicbtig von einem Ganzen so uns 
Kunde geben, wie dem Fischer die Schwere des Netzes vom Fang. Der 
Geruch: das ist der Gewicbtssinn des im Gewesnen [sic] des Fischers 
auf dem Meere der Temps perdu. Und diese Sdtze sind das ganze 
Muskelspiel des intelligiblen Leibes, enthalten seine ganze unsagliche 
Anstrengung y diesen Fang zu heben. {Wie innig aber die Symbiose 
dieses bestimmten Schaffens und dieses bestimmten Leidens gewesen 
ist, erweist sicb im ubrigen darin, dafi man niemals bei ihm auf jenes 
heroische »Dennocb« stofit, mit dem sonst scbopferiscbe Menscben 
sich gegen ihr Leiden er heben. Und daher darf man, von der andern 
Seite, sagen: eine so tiefe Komplizitdt mit der Welt, wie die von 
Proust es gewesen ist, batte unfehlbar in ein gemeines und trdges Ge- 
nugen auf jeder andern Basis als so tiefen und so unausgesetzten Lei- 
dens miinden mussen.) Gibt es doch kein noch so emporendes Leid 
des Einzelnen, kein noch so schreiendes gesellschaftliches Unrecbt, dem 
dies Werk ein »Dennoch« oder ein »Nein« in den Weg stellte. Im 
Gegenteil: ein passioniertes Einverstdndnis mit dem Dasein sogar in 
seiner am meisten tristen und bestialischen Gestalt und freilicb davon 
unabtrennbar ein Blick, der im Laufe der irdischen Dinge eine Ge- 
rechtigkeit findet, die kein Himmel zu uberbieten vermochte. Erst in 
solch scbmerzhafl ausgespanntem Bogen der Gerechtigkeit lafit sicb 
Prousts Mitleid auf die Menscben seines » temps perdu« herunter und 



1054 Anmerkungen zu Seite 310—324 

der hysterische Mechanismus, welcher ihn bisweilen beim Vorlesen 
aus den Manuscripten in ein scbrilles, frenetisches Geldchter ausbre- 
chen liefi, durchmifit ihn. 

{Marx hat gezeigt, wie das Klassenbewufltsein der Bourgeoisie auf 
dem Hohepunkt seiner Entfaltung in einen unlosbaren Widerspruch 
mit sich selbst gerat. An diese Bemerkung schlieftt Georg Lukdcs 
[s. Geschichte und Klassenbewufltsein, Berlin 1923, 73] an, wenn er 
sagt: »Diese Lage der Bourgeoisie spiegelt sich geschichtlich darin, dafl 
sie ihren Vorgdnger, den Feudalismus, nochnicht niedergerungen hat, 
als der neue Feind, das Proletariat, schon erschienen ist.« Das Er- 
scheinen des Proletariats aber verandert auch die strategische Lage an 
der Kampffront gegen den Feudalismus. Das Burgertum mufl hier 
eine Verstandigung um jeden Preis suchen, um in den Positionen des 
Feudalismus Schutz, weniger vor dem andringenden Proletariat, als 
vor der Stimme seines eignen Klassenbewujltseins zu suchen. Das ist 
die Position von Prousts Werk. Seine Probleme entstammen einer 
saturierten Gesellscbaft, aber die Antworten, zu denen er kommt, 
sind subversive} 

Dru&vorlage : Benjamin-Ardiiv, Ms 430 

{Man kann sagen: eine so tiefe Komplizitat mit der Welt hatte un- 
fehlbar in ein gemeines und trages Genugen auf jeder andern Basis 
als eben der so tiefen und unausgesetzten Leidens munden miissen. 
Gibt es doch kein noch so emporendes Leiden des Einzelmenschen, 
kein noch so schreiendes soziales Unrecht, dem Proust ein schlichtes, 
beherztes Nein oder ein mutiges Dennoch entgegensetzte. Im Gegen- 
teil: wir finden uberall ein tiefes Einverstandnis mit dem Leben auch 
in seiner am meisten bestialischen und tristen Gestalt und davon 
unabtrennbar freilicb eine Analyse, die im Lauf der irdischen Ge- 
rechtigkeit eine Vollkommenheit entdeckt, in welcher keine himmlische 
sie Uberbieten kbnnte. Erst in solch schmerzhafl weit gespanntem 
Bogen der Gerechtigkeh liifit sich Prousts Mitleid auf die Menschen 
seines temps perdu hernieder und der hysterische Mechanismus, wel- 
cher ihn bisweilen, wenn er aus seinen Manuscripten vorlas, in schril- 
les, frenetisches Geldchter ausbrechen liejl, ist davon ein Ausdruck 
/Formulierungsvariante: durcbmifit diesen Bogen].} 
{Es mufi einer manches erfahren und sich allerhand Wind um die 
Nase haben wehen lassen, um allmahlich zu verstehen, wie schwer sd 
vieles zu erfahren ist, was doch, anscheinend sich in ein paar Worten 
mitteilen liefie. Und so mag es auch sein, nur dafl diese Worte sehr 
oft einem geheimen, hasten- und standesmdfiig festgelegten Vokabular 
angehoren und fiir den Auflenstekenden nicht verstandlich sind. Man 
versuche einmal, in einer fremden Stadt die Adresse eines Bordells zu 



Anmerkungen zu Seite 310—324 1055 

erfahren und hat man dann die langatmigste Auskunft bekommen (nur 
alles andere als Strafie und Hausnummer) so wird man verstehen, was 
hier gemeint ist. Nicht einfacber ist es, uber das, was in fremden Lan- 
dern > in politiscben Klubs, in religiosen Gesellschaflen vorgeht, irgend 
etwas[?J Begreifliches zu erfahren. 

Fur Proust war die Gesellschafl eine solche Korporation. Seine Ge- 
heimsprache mil den Bibescos. Sein Mystizismus der Homosexualitat. 
Seine Verehrung fur das Zeremonial und fur Saint-Simon.} 
Es kommt bei Spitzer [s. a. a. O.J eine etwas peinliche Unselbstdndig- 
keit und ein Mangel an eigenwucbsigen Gedanken zum Vorschein. 
Vollig abwegig ist es natiirlich, Parallelen zwischen Proust und dem 
Expressionismus zu suchen. Vor allem, wie Spitzer versucht, die Dis- 
paratheit der Dinge, Motive, Zustdnde, die er in seinen Aufzahlungen 
aneinanderreiht, mit der »steilen«, »geredeten[?J« Vereinzelung des 
Expressionismus zu vergleicben. 

Die Arbeit und Akribie der Nachweise steht zu den allzu groben und 
allgemeinen Ergebnissen nicht im Verhaltnis. Ausnahmen bilden vor 
allem die Stellen uber den Konjunktiv, den act. Hier ist der Hinweis 
auf die Durchschutterung des Satzgefuges durch diese Form und auch 
die Beleuchtung ihres archaischen Charakters wichtig. 
Man vermijit aber fast Uberall die Begrundung der sprachlichen Ei- 
genheiten aus dem eigentlichen Zentrum dieses Werkes. Denn das ist 
dodo durchaus nicht die »Psychologie« sondern die Erinnerung, das 
Martyrium des Eingedenkens. 

Drudtvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 432 

{Ganz erstaunlich und freilich auch ganz wundervoll wie dieser Es- 
say uber Baudelaire aus dem Krankenbette heraus geschrieben ist. 
Mit diesem freimaurerischen Einverstdndnis im Leiden, diesen defail- 
lances de la memoir e, dieser Geschwatzigkeit des Ruhenden, diesem 
bis zum Aufiersten getriebenen detachement vom Thema, das einer 
hat, der nur noch einmal sprechen will, gleichviel woruber. Und wie 
diese Erschopfung durchwirkt ist mit allem was der gesunde Proust 
Bosartigstes, Verschlagenstes hatte. Hier erscheint - dem toten Bau- 
delaire gegenuber - eine Haltung, die Prousts Okonomie im Um- 
gang auch mit seinen Zeitgenossen bestimmt hat: eine so Uberschweng- 
liche, divinatorische Zartlichkeit, daft der Ruckschlag in den Sarkas- 
mus wie ein unabwendbarer Reflex der Erschopfung erschien und 
- scheinbar - kaum dem Dichter selbst moralisch zugerecbnet werden 
konnte.} 

{Was in so vielen Anekdoten als Caprizioses, Irritierendes in Er- 
scheinung tritt ist die Verbindung einer so beispiellosen Intensitat des 
Gesprdchs mit einer nicht zu uberbruckenden Feme vom Partner, an 



1056 Anmerkungen zu Seite 310—324 

den er sich wendet. Denken wlr uns fur einen Augenblick in das 
Gliick, neben dem Dichter einherzugehn, auf einem Spaziergang sein 
Begleiter zu sein. Dann werden wir erfahren: nie gab es einen, der so 
wie er uns die Dinge zu zeigen vermodote. Sein weisender Finger ist 
ohne gleichen. Aber es gibt eine andere Geste im freundschaftlichen 
Zusammengehn und Gesprdch: die Beriihrung. Diese Geste ist keinem 
Autor ferner als Proust. Er kann seinen Leser nicht anruhren, konnte 
es um nichts in der Welt. Will man einmal die Dichter auf dieser Ska- 
la - zwischen dem Weisenden und dem Beruhrenden - anordnen, 
so k'dme Proust an das eine Ende zu stehen, an das andere Peguy. 
Gegen die F r e und $ c h a f t} 

{Aber diese Geschwdtzigkeit - will man wirklicb so sagen - ist 
nur Reflex von einem tieferen, konstituierenden Charakter seines 
Schaffens. Sein Verleger Gallimard hat erzahlt, wie die Manier, in 
welcher Proust die Fahnen zu behandeln pflegte, die Verzweiflung der 
Setzer machte. Sie kamen randvoll beschrieben zuriick. Aber kein 
einziger Druckfehler war ausgemerzt worden; aller verfugbarer Raum 
war mit neuem Texte erfullt. War Proust auf diese Art geschwdtzig, 
so tut sich darin nur ein Gesetz seiner eigensten Welt kund. Die ist: Er- 
innerung. Erinnerung aber ist prinzipiell unabschlieflbar. Ein erlebtes 
Ereignis ist endlich, begrenzt; ein erinnertes schrankenlos.} 
{Die Arzte standen diesem »nervosen Asthma* machtlos gegenuber. 
Nicht so der Dichter, der es sich planvoll scheint dienstbar gemacht zu 
haben. Es ist nicht dies allein, daft ihn die Krankheit dem mondanen 
Dasein entrifi. Nein, dieses Asthma ist in seine Kunst eingegangen t 
wenn nicht seine Kunst es geschaffen hat. Seine Syntax bildet rhyth- 
misch auf Schritt und Tritt diese Erstickungsangst nach. Und seine 
ironische, philosophische, didaktische Reflexion ist allemal das Auf- 
atmen das den Albdruck der Erinnerungen auf der Brust ihm zerf alien 
lafit. Eine physiologische Stilkunde wiirde ins Innerste dieses Schaf- 
fens fiihren. So wird niemand t der die besondere Zahigkeit kennt y mit 
der Erinnerungen im Geruchssinn bewahrt werden Prousts osphrasio- 
logische Idiosynkrasien fiir Zufall erachten konnen.) Wie innig aber 
die Symbiose dieses bestimmten Schaffens und dieses bestimmten 
Leidens gerade bei Proust war, erweist sich vielleicht auch darin, 
dap man bei ihm nie auf jenes heroische »Trotzdem« stoflt, mit dem 
sonst schopferische Menschen sich gegen ihr Leiden erheben. Proust 
klagt. Aber ist es nicht im Grunde die Klage, die er in der Frohn 
seines Werkes erhebt?} 

Uber den Genufi, Prouststellen anthologisch zu lesen wie sie bei 
Spitzer [s. a. a. O.J stehen. Proustanthologie. 

Spitzers Bemerkungen sind oft unfruchtbar weil »aestheti$cb« orien- 
tiert. Was hilft es wetter, wenn die Proustische Technik, von der 



Anmerkungen zu Seite 3 1 0—3 24 1057 

[Stilstudien, Bd. 2, a. a. O./ p 394 die Rede ist mit der Wagner- 
schen der Leitmotive in Parallele gesetzt wird. Es ist dodo deutlich, 
daft solche Anspielungen vielmehr den Choc hervorrufen, den uns 
alle wahre Erfabrung im Leben beibringt, die wie ein ungeladner[?] 
Gast bei uns zu ungewohnter Zeit und iiber die Hintertreppe ein- 
tntt. 

Proust Swann I 13 iiber das Kinematographische seiner Arbeit. 

Soit que bei Proust 
Die Verwandtschaft, die Prousts Weltansicht mit der des Ceremo- 
nials hat, kommt ebensowohl darin zum Ausdruck, dafi Saint-Simon 
fur ihn ein Gipfel der schrifistellerischen Leistung war wie in dem 
Verhaltnis, dafi eine Aristokratin wie die Furstin Clermont-Tonnerre 
zu seinem Werk findet. 

{Es hat ja kaum je einen Autor gegeben, bet dem sidy so genau wie 
bei Proust bezeichnen liefle, wo in seinem Werke das liegt, was es 
vor ihm durchaus nicht gegeben hat, wo das absolut Neue sido so 
unverwechselbar aus dem Gesamtkomplex heraushebt. Das ist die 
grofie Vorgabe die dieser Autor dem Kritiker gibt, der hat sie nur zu 
benutzen. Es liegt auf der Hand: nicht psychologische Analyse, nicht 
die Gesellschaftskritik, nicht die Beobachtungsgabe sind unverwechsel- 
bar Proustisch. In alledem gibt es zahllose Beruhrungspunkte mit fru- 
hern, insbesondere den englischen Romanciers. Das Signet seines 
Schaffens, verborgen in den Falten seines Textes (textum — Gewebe) 
ist die Erinnerung. Mit andern Worten: was vor Proust durchaus noch 
nicht da war, ist daft einer das Geheimfach der »$timmung« erbrach 
und sich was drinnen lag (bisher schlug nur ein Dufl daraus hervor) 
zu eigen machen konnte: dies Ungeordnete, Gehaufte, das wir selber, 
im Unbewujlten treulich dort verkramt, vergessen batten und das 
nun den der davor steht, schlicht uberwdltigt, wie} den Mann der 
Anblick einer Schublade, die bis zum Rande mit unbrauchbarem, ver- 
gefinem Spielzeug gestopfi ist. Diese Verspieltheit des wahren Lebens, 
von dem nur die Erinnerung uns sagt, das mufi man bei Proust 
suchen und zum Angelpunkt der Betradotung machen. 

Druivorlage: Benjamin-Archiv, Ms 439 

In Grenoble gab es im vorigen Jahrhundert ein Gasthaus »Au 
temps perdu*. War der, der sidh dies Wirtshausschild malen liefi, ein 
sentimentaler Vorldufer Marcel Prousts? Wollte er die Passanten ein- 
laden, ihre Zeit bei ihm zu verlleren oder nicht vielmehr ihre ver- 
lorene Zeit auf dem Boden des Bechers wiederzufinden, wie Proust sie 
auf dem Grunde der beruhmten tasse de the fand, aus der ihm seine 
Jugend Combray und Swann eines Tages entstiegen sind um verewigt 
zu werden. Ein Rausch steht auch bier am Beginn - freilich der eines 



1058 Anmerkungen zu Seite 310—324 

unendlich feinen Nervensystem[s], das zu erschuttern und in feme 
Zeiten zu versetzen ein Atom hinreichte. 

In einem unterscbied er sich freilich von allem, was wir sonst mit 
diesem Namen bezeichnen, Der in einer unvergefllichen Minute ihn 
einmal erfuhr, hat ihm die Treue gehalten und sein Dasein von da an 
einer Disziplin unterworfen, die seine Krafte restlos in den Dienst der 
intensivsten Steigerung und Verwertung jener Erfahrung eines Nach- 
mittags stellten. 

Die Biographie dieses Mannes ist deswegen so bedeutungsvoll, we'd 
sie zeigt, wie hier mit seltner Extravaganz und Rucksichtslosigkeit ein 
Leben seine Gesetze ganz und gar aus den Notwendigkeiten seines 
Schaffens bezogen hat, Und das groteske Mifigeschick, das der Wir- 
kung und dem Verstandnis seines Schaffens in Deutschland begegnet 
sind y und mit dem wir hier immer wieder zu tun haben werden, ist 
zu einem Teile daher gekommen } dafl der n'dchstliegende organische 
Weg nicht beschritten wurde: das Leben eines der seltsamsten Zeitge- 
nossen t die wir hatten 3 darzustellen. 

Das hat aber in Frankreich - und auch dort war Proust nicht 
leicht durchzusetzen - Leon Pierre-Quint in musterhafler Weise ge- 
tan und deshalb ware es ein giinstiges Omen, wenn hier vorerst ein- 
mal das N'dchstliegende geschdhe: diese Sachen ins Deutsche zu uber- 
setzen. Von da aus wurde vielleichi auch die Obersetzung [fj noch 
flott werden. Wie viel wenn nicht das tiefste Verstandnis so doch 
[ein] lebendiges Interesse [an] Prousts Werk durch die Charakteristik 
des Mannes zu gewinnen hatte, das darzustellen ist eine Nebenabsicht 
der folgenden Darlegungen. 

Drudkvorlage : Benjamin-Archiv, Ms 437 

[Notizen zum Aufsatz uber Proust J 

Prufung der Verse bei Proust, Seine hochst launische Art sie zu 
wahlen. 

{Wie erfinderisch er in Schwierigkeiten war, »la seule fenetre 
eclair ee<e Clermont-Tonnerre: [Robert dej Monies quiou [et Marcel 
Proust, Paris 192s J p 136} 

Ritz, Grand-Hotel Balbec: » simplification de travaiU [a. a. O.] 

p I39 
papier fait exprfo a Londres [Clermont-Tonnerre:] Montesquiou 

[a. a. O.; p 138 

{domestiques beneidet sie, well sie ihre Neugier befriedigen 
konnen.) 

singeries [Clermont-Tonnerre:] Montesquiou [a. a. O.] p. 136 

Zu dem Wort von Banes: Durchdringung von Souveranitat und 
Servilitdt. 



Anmerkungen zu Seite 310—324 1059 

Die Gezeiten der Laster. Verschiedene Zeiten, verschiedene Luster. 
Welche in unserer Zeit fast ausgestorben sind. Unter diesen die 
Schmeichelei. Prousts Schmeichleraugen. Kathedralenmenschen. 

{Proust als Lehrmeister des Erinnerns.} 

{Man hat in der Betrachtung der Gesellschaft auf das deutsche 
Vorurteil gegen das aristokratische Milieu Prousts zu sprechen zu 
kommen.} 

{Funktion des Gliicks in der Welt von Proust} 

(Wenn er ausging steckte er 3 wild und verstort, in seinem Pelz wie 
in einem Haus) 

Enseigne »Au temps perdu* 

{Proust in Deutschland} 

{Was Pierre-Quint fur ihn getan hat} 

{Prousts procede} 

Memoire involontaire und Gliick 

Poete persan dans une loge de portiere 

Die Gesellschaft als die Welt der Konsumtion 

Feudalismus und BUrgertum 

Die Laster von Proust 

Funktion seiner Einsamkeit 

Funktion seiner Krankheit 

Proust und die Decke der Sixtina 

{Der Tod y an den er zuletzt immer denken mufite und der ihm 
eine Bedingung der Produktion wurde, als die letzte asthmatische 
Erstickung.} 

Zusammenziehung der Wege hei Combray in Verbindung mit der 
Idee des Alterns. 

Leon Pierre-Quint geht zuweit in seinen Einschrankungen bezilg- 
lich der Mystik von Proust. 

Sehr zutreffend hat Quint darauf hingewiesen, wie suspekt Proust [s] 
Mystik der Kunst von den jungen Autoren empfunden wird. Wichtig 
ist Uberhaupt die Perspektive auf die hochst vielfaltigen [bricht abj 

Wie uns auf alien Bildern der Heimsuchung die Maria ergreift, die 
sichtbar unterm Herzen das Kinddhen tragt, so weifi uns Proust die 
Stadien und Augenblicke des Daseins darzustellen, allemal mit dem 
Kindchen, dem Bildchen im Mutterleibe. Und wie er sie dadurcb 
adelt. »Und wenn man dann wirklich nacb ihr gescbickt hatte . . .< 
Cote de Guermantes 1 142 

Proust hat auch eine der grofiten F or me In der Liebe gefunden: 
[»]posseder a lui seul les desirs d'une femme*. 

Drudkvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 439 



io6o 



Anmerkungen zu Seite 310—324 



Eleatisthe Pbilosapbit 
dti GlSck, 



Ktin Ztitn 

Dai PflanztnliaflelVenchlingHng 

Empfindlithktit gtgen C truth t 

M'tm'tkry 












Proutt und da; Glide 
Gtgtnd von Combray 
Rtptrtoirt dt$ pertonneges 



Noeh «mi| fur Prous 


gttthtben 




M6glid>keittn vom Wtrk und von 


dtr Ptrson ant 


Zuniehst e'mmat Quint itbtrstuen 




An da% Pittottikt der 


Ersdtt in ung 


anzakn&pftn 



Dai Gludt dtr Prouft'ttditn Ptrtontn; Gtgtn- 
talz ztt dtm, das alts dtr prodttklivtn 
Arbeit kommt 

Stint Invtktivtn gtgen die 
Frtunds&sfl 

Eintamkeil und Krankbtit 



Dat Alttrn all dtr wahrt 


,dtr 


konkrttt Anidrudt 


dtr durtt 






Dit Zeit ah Sondt in die 


TUf 


t des lOziaUn 


SJ,ein, 







Druckvorlage: Benjamin -Archiv, Ms 431 



Prousts Unverstandlichkeit. Wie erfinderisch er in Schwierigkeiten 
war. »La settle fenetre eclairee* [Clermont-Tonnerre:] Montesquiou 
[et Proust t Pans 1925] ij6 Die Art, in der er im Bette schrieb. 
{Wie dies mit seinem Sinn fitr das Zeremonial, mit seiner Liebe zu 
Saint-Simon, mit seiner Intoleranz, mit seinem intransigent en Fran- 
zosentum zusammenhdngt. Die Furstin Clermont-Tonnerre macht 
die aufschlufireiche Bemerkung, dafi in Prousts Werk kein einziger 
Fremder vor kommt.) Prousts » papier fait expres a Londres« Mon- 
tesquiou 138 Es ist ganz anderes als romantische Weltfremdheit 
in alledem. Weltfremd - das war er vielleicht, aber auf eine eigen- 
sinnige Art, die oft das Sadistische streift und immer den aller- 
intimsten Kontakt mit der bestimmten Welt, in der er lebte, wahrt. 

Welches Hauptvorurteil Proust in Deutschland entgegensteht. Wie 
man Prousts Milieu aufzufassen habe. Erstens ist sein Bucb kein 
sozialer Roman in dem Sinne, dafi ein einzelner zu dem Gescbehen 
Stellung nahme. Sein Werk ist die literarische »Sozialisierung« des 
Ich. Wie die Gesellscbaft das Ich in Betrieb nimmt - und welche 
Gesellschaft das Ich in Betrieb nimmt. Wie sie es tut: mittels einer 
Destruktion, die sich im Gedachtnis vollzieht. Welche es tut: eine 
untergehende burgerliche Gesellschaft, die von den unbesiegten 
Mdcbten der feudalen bezwungen wird. 



Anmerkungen zu Seite 310—324 1061 

Prozefi dieser Bezwingung des Burgertums dutch die Mdchte des 
Feudalismus. Die burgerliche Mufie. Das Burgertum scbeitert an 
seiner Mufie, an seiner Besinnung. 

{Man soil vor allem durchaus versuchen, dahinterzukommen, daft 
Proust seine ganze Entwicklung vom Wesen des faubourg Saint- 
Germain durchaus nicht nur gibt, um diese Kaste zu vernichten.} 

{Den Satz von Lukdcs zitieren.} Hochdorff?]. Toth[?] 

Die Laster von Proust: Geschwatzigkeit, Neugier und Schmeichelei. 
Besonders das letzte ist ein archaisches Laster, das in der heutigen 
Gesellscbafl keine deutliche Grundlage mehr besitzt. 

[Nachtragliche Bleistiftnotizen:] Seine profunde Assimilation dutch 

den Feudalismus ist d[as] soziologische Thema des Buches 

seine Ruckflucht in den Feudalismus von dem es sich emanzipierte 
Und diese Komik entdeckt der Dichter nicht zuletzt in alien ge^ 

sellschaftlichen Prdtentionen des Burgertums. 

Druckvorlage: Benjamin-ArAiv, Ms 438 

{Die Erinnerung als Penelope — der Tag, der tr'dgt nicht etwa 
ihrem Gewebe zu, nur zu. Was er bringt das nimmt er mit der an- 
dern Hand wieder. Er lost auf, was gewebt war. Und allndchtlich 
macht die Erinnerung sich von neuem ans Weben. Nun ist Pr ousts 
Werk ja wirklich ein Teppich. Schon 191 4 schrieb Francis de Mio- 
mandre[?J: »Tout vint sur le meme plan.*} 

Zusammenhang zwischen Prousts ingenuite, Kindlichkeit, und je- 
nem fanatischen Gluckswollen, das ihn bis auf den Grund aller Dinge 
vortreibt. Die hochste schopferische Funktion von Prousts Hedonismus 
scheint noch nicht erkannt worden zu sein. 

{Montesquiou vergletcht Prousts Werk mit dem Defilee der In- 
sekten in jener Salomonischen Novelle.) 

Auch ist zu beachten der Zusammenhang einer gewissen verponten 
»Umstdndlichkeiu mit seiner schopferischen Intenshat. Umstandlich 
sein heifit unter anderm: sichs schwer machen und das kann fiir ein 
Werk von Bedeutung sein. 

Die BUcher der Clermont-Tonnerre: trocken moussierend wie ein 
sehr guter Champagner sind ihre Erinnerungen, gut und sehr sach- 
verstdndig abgelagert. 

Montesquiou war ein Mann, der die Augenblicke seines Daseins als 
Juwelen betrachtete und dem Leben und der Geist seiner Zeitgenos- 
sen, schliefilich auch Prousts, im Grunde nur gut genug waren, diese 
unschatzbaren Steine als Fassung zusammenzuschmieden. Clermont- 
Tonnerre: Rfobert] d[e] M [ontesquiou et Marcel Proust, a. a. O.J 
p 18 j uber seine Kriegsgedichte. Sehr schon ist der declin von Mon- 
tesquiou beschrieben: es kommt zum Vorschein, da0 er eine der Ext- 



1062 Anmerkungen zu Seite 310—324 

stenzen war, die von Anjang an mit dem Stigma des emsamen Todes 
gezeichnet sind. 

Bet Betrachtung seines Dicbtens mochte man sagen, dafi im Unter- 
gang dieser Klasse (der feudalen) etwas von ibrem Bodensatz ver- 
schiittet wird. 

Clermont-Tonnerre Uber Montesquious Dichten ^encourage par 
son insucces* [a. a. O. p. 18 jj 

Zu zitieren p 192 Uber die Memoiren von Montesquiou 

»Le Don Juan de la haine* 

{Clermont-Tonnerre: les romans de Proust ne mentionnent pas un 
seul Stranger} 

Der Proust, der Stammgast des Ritz war 

{la mer »jamais la meme« - und die Dioramen mit ihrem Be- 
leuchtungswechsel, der den Tag genau ebensosdonell vorm Beschauer 
vorbeiziehen lafit wie er bet Proust dem Leser dahingeht. Hier rei- 
chen sich die niedrigste und die hochste Form der Mimesis die Hand.} 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 433 

Proust - wie er mit Brief en einheizt 

Das Gluck in seinen Augen, Gliick »im« Spiel, »in* der Liebe 

Der coupe des Stils der Verfasserin [wohl Elisabeth de Clermont- 
Tonnerre] 

Vorberrschaft der biographisch-anekdotischen Literatur im ersten Zeit- 
raum 

Gegensatz zu der uralten Lehre, dafi im Gluck die Konturen der 
Dinge unscharf werden 

Prousts Homosexualitat 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 434 

Das Konvolut Proust-Papier e enthalt aufierdem zwei Blatter (Ms 
426 f.), auf denen Benjamin Korrekturen des Essays Zum Bilde Prousts 
notiert hat (s. »Oberlieferung«). 

Im folgenden werden drei weitere Aufzeidinungen zu Proust abge- 
druckt, die sich an verstreuten Stellen in Benjamins Nachlafi befinden. 
Die Notizen uber Proust und Baudelaire gehoren, wie die Proust- 
Papiere, zu den Vorstudien fiir den Essay Zum Bilde Prousts. Sie er- 
scheinen den Herausgebern nicht zuletzt von Interesse fiir Benjamins 
Arbeitsweise: gewifi nicht reprasentativ fiir diese, lafit an ihnen um 
so mehr fiir einen bestimmten, uberaus charakteristischen Typus der- 
selben sich entnehmen, der aus dem spielerischen Variieren von Formu- 
lierungen, einem Hinhorchen, das mehr der Sprache als der Sadie 
gilt, seine schlagendsten Einsichten gewinnt. - Bei den Prolegomena 
zu Proust II ist die Bedeutung der // unklar: am unwahrscheinlichsten, 



Anmerkungen zu Seite 3 1 0—3 24 1 063 

dafi damit Prolegomena zum zweiten Band der »Recherdie« gemeint 
sind; mdglicherweise gelten die Notizen einem geplanten zweiten Auf- 
satz liber Proust; die Herausgeber neigen jedoch am ehesten dazu, 
auch hier an eine Vorarbeit zu dem Essay von 1929 zu denken (das 
Gegenstiick »I« ware dann verloren). - Die Kleine Rede uber Proust 
schlieftlich ist ein selbstandiger, allerdings fragmentarisoher Text, 
wohl von 1932. 

[Notizen uber Proust und Baudelaire] 

{Denn er begreift das ganze Dasein ein, Sein spontanes Erinnern 

Und so bricht aus dem Wolkendunkel der Ahnlichkeit wo es am 

sprodesten ist - im entstellten Bild des Alternden -} 

Baudelaires Welt der correspondances, die wogigen Regionen der 
Ahnlichkeit, in denen die Toxikomanen . . . zu hause sind. Aus die- 
sem Wolkendunkel der Ahnlichkeit, wo es am finstersten braute[f], 
dem Altern, bricht der fruchtbare, hallt[fj das fruchtbare verjun- 
gende Wasser, in dessen Tropfen das Nu sich zauberisch spiegelt. 

Das Altern ah schrecklicher Vorgang im Kosmos der Ahnlichkeit 

Dieser Kosmos erschliefit die Baudelairescben correspondances 

Aus seinem Wolkendunkel aber kommt wie Regen die fruchtbare 

Kraft der Erinnerung, in deren Tropfen die Welt verjungt sich 

spiegelt 
Die Erinnerung verjungt 
Die Einsamkeity in die sie fiihrt ist die Organisation einer Welt 3 in die 

Proust niemals klarer aus [alsj in diesem Bilde einfuhrt: Cote 

Swann, Cote Guermantes 
Nicbt nur die Zeit ist wiedergefunden sondern die Nahe 

Prousts wahres Miihen gilt dem Zeitverlaufe, in seiner wahrsten, 
unredigiertesten [?] Gesichte das er im Kosmos 

Prousts wahrer Anted gilt dem Zeitverlauf in seiner banalen[?] t 

raumverschrankten Gestalt 
Dem Zeitverlauf in der im Stand der Ahnlichkeit entstellten Welt, 

der wahren Prousts 
Dem Altern 

In diesem Kosmos erscheinen die Baudelaireschen Korrespondenzen 
Und in ihnen verjungt sich die Welt, rauschhaft 
Denn nicht nur die Ewigkeit ist hier in Zeit gebannt sondern die 

Feme in Nahe 
Das Bild von Combray 

Die Einsamkeit als Rausch 

Druckvorlage: Benjamin -Ardiiv, Ms i$6i 



1064 Anmerkungen zu Seite 310—324 

Prolegomena zu Proust it 

Bei so viel pflanzlichen Analogien fast nichts uber Tiere. Pur das 
Pflanzliobe bei Proust sind Bucher [wiej die von [Raoul H.J Prance 
oder Th[eodor] Lessings »Blumen« [Berlin 1928] zu vergleichen. 

Raphael Cor Aufsatze im Mercure de France 1$ juillet 1924 [fj / 1$ 
mai 1926 [tome 188, pp. 46- $5: Marcel Proust et la jeune litte- 
rature] I i$ mai 1928 [tome 204, pp. 55-74: Marcel Proust ou 
I 3 inde pendant. Reflexions sur le >Temps retrouve<J i 

Dialektik bei Proust; seine Probleme entstammen einer saturierten 
Gesellschaft, aber die Antworten, zu denen er kommt, sind subver- 
siv. Oder: das Werk nur auf langen Seereisen, wahrend einer Re- 
konvaleszenz etc. lesbar. Andererseits aber gibt es auf jeder Seite 
seine Quintessenz. 

Louis de Robert [Comment debuta Marcel Proust, Paris 192$] und 
[Robert] Dreyfus heben mit Recbt das Briefmafiige hervor, das 
sein ganzes Werk bat. Was ergibt sich daraus? Dreyfus [Souve- 
nirs sur Marcel Proust, Paris 1926] p 202 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 717 

Aus einer kleinen Rede uber Proust, an meinem vierzigsten 
Geburtstag gebalten 
Zur Kenntnis der memoir e involontaire: ihre Bilder kommen nicht 
allein ungerufen, es bandelt sich vielmehr in ibr um Bilder, die wir 
nie sahen, ebe wir uns ibrer erinnerten. Am deutlichsten ist das bei 
jenen Bildern, auf welchen wir - genau wie in manchen Tr'dumen - 
selber zu seben sind. Wir steben vor uns, wie wir wobl in Urvergan- 
genheit einst irgendwo, dodo nie vor unserm Blick, gestanden haben. 
Und gerade die wichtigsten - die in der Dunkelkammer des gelebten 
Augenblicks entwickelten - Bilder sind es, welcbe wir zu seben be- 
kommen. Man konnte sagen, da$ unsern tiefsten Augenblicken gleich 
jenen Packcbenzigaretten - ein kleines Bildcben, ein Pboto unsrer 
selbst - ist mitgegeben worden. Und jenes »ganze Leben* das, wie 
wir oft boren, an Sterbenden oder an Menschen, die in der Gefahr zu 
sterben scbweben, voruberzieht, setzt sich genau aus diesen kleinen 
Bildcben zusammen. Sie stellen einen scbnellen Ablauf dar wie jene 
Hefte, die Vorldufer des Kinematographen, auf denen wir als Kinder 
einen Boxer, einen Scbwimmer oder Tennisspieler bei seinen Kunsten 
bewundern konnten. 

Prousts Hedonismus ist nicht ohne die Idee der Stellvertretung zu 
verstehen. Proust selbst erscheint sich als der Stellvertreter der Armen 
und Enterbten im Genuf}. Er ist durchaus von der Verpflichtung durch- 
drungen - dies ist ein zweites — nicht nur den Genufi fur alle son- 
dern den Genufi an jeder Stelle und an allem, dem er vindiziert wird, 



Anmerkungen zu Seite 310—324 1065 

wirklich zu erleben. Der unbedingte Vorsatz, den Genufi zu retten, zu 
rechtfertigen, ihn wirklich da zu finden, wo er gemeinhin nur ge- 
keucbelt wird, ist eine Leidenschaft von Proust, die sehr viel defer 
gebt oder [em Wort nicht entziffertj ist, als seine desillusionistischen 
Analysen. Daher auch seine besondere Fixierung an den Snobismus, 
in dem er das erfassen will, was an echtem Genufi in ihm liegt - 
einen Schatz, den zu heben ihm freilich die Angehorigen der Gesell- 
schaft am wenigsten fdhig scheinen. 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 754 f. 

UBERLIEFERUNG 

jbai J3i e literarisdie Welt, 21.6. 1929 (Jg. 5, Nr. 25), 3; 28. 6. 1929 
(Jg. 5, Nr. 26), 4 f. und 5. 7. 1929 (Jg. 5, Nr. 27), jL\ Benja- 
min-Archiv, Dr 40-42. 
JBA2 pass.; Benjamin-Archiv, Dr 32-39. 
T Typoskript-Durchschlag; Benjamin-Archiv, Ts 332-348. 
M Handschriftliches Verzeichnis von Korrekturen zu J BA1 ; Ben- 
jamin-Archiv, Ms 426 f. 
Druckvorlage: T 

jbai we ist zwei Schichten handschriftlicher Korrekturen auf: neben 
einigen Berichtigungen von Druckfehlern finden sich eine Reihe spater 
hinzugefugter Klammern und ZifFern. Diese ZifFern erfahren ihre 
Entschliisselung durch M: sie bezeichnen insgesamt 12 Passagen, 
welche Benjamin zu andern wunschte; M enthalt den Wortlaut der 
respektiven Neufassungen. T sodann stellt die (von Benjamin nicht 
durchgesehene, deshalb gelegentlich fehlerhafte) Schreibmaschinenab- 
schrift von J BA1 unter Berucksichtigung der Anderungen von M dar. 
- Die Bearbeitung des Textes ist mit Hilfe von M ziemlich sicher auf 
1934 datierbar. Zu welchem Zweck Benjamin damals eine Bearbei- 
tung des Essays von 1929 vornahm, konnte indessen nicht ermittelt 
werden. Denkbar ist, dafi ein Neudruck oder auch eine Ubersetzung 
ins Franzosische geplant waren, aber nicht zustandekamen. Wie immer 
aufschlufireich zumindest einige der Anderungen sind - so vor allem, 
dafi Benjamin 1934 die affirmative Bezugnahme auf Leon Daudet 
getilgt hat -, sie erscheinen den Herausgebern gleichwohl nicht derart 
gewichtig, daE sie rechtfertigen wiirden, den Essay zu den Arbeiten 
von 1934 zu stellen. Fiir die Einordnung von Zum Bilde Prousts ist 
deshalb das Entstehungs- und Druckdatum 1929 maftgeblich, der 
edierte Text dagegen ist der 1934 endgiiltig fixierte. 
Aufter den definitiven Anderungen, welche M enthalt, notierte Ben- 
jamin auf Ms 426 zwei weitere, bloiS projektierte Erganzungen, die 
iiber jden Notizcharakter nicht hinausgelangten. Der Wortlaut dieser 
Notizen ist: 



1066 Anmerkungen zu Seite 310—324 

/ Spalte 2 Abs. 1 [entspricht 311,36-312,17] Zitat: es sei kein Unter- 
sdoied t ob man einen Klassiker oder elnen Seifenprospekt Use. 
I Spalte 3 Abs. 2 [entspricht 313,14-314,19]: Es kann bier dar- 
auf hingewiesen werden, dafi in der Wahrnehmung der Ahnlichkeit 
Erlebnis und Erinnerung zusammentreten. Wie ausschlaggebend wird 
in diesem Licbte im Werke Pr ousts die Rolle der Ahnlichkeit. 
Sie allein entgeht der von Freud formulierten und fur die Kenntnis 
Prousts so aufschlufireichen Feststellung: man konne ein Erlebnis nur 
entweder erleben oder aber erinnern, der Gegenstand wahrer Erinne- 
rung - der memoire involontaire — sei immer ein Nicht-Erlebtes. 
lesarten 310,26 unfafilichsten] Unfajttichsten J BA1 - 312,20 andres] 
J BA1 ; anderes T. Da weder J BA1 eine handschr. Korrektur der Stelle 
aufweist noch M die Anderung verlangt, durfte es sich - wie auch 
im folgenden gelegentlich - in T um einen Fehler der Abschreiberin 
handeln. - 312,37 f. was bis er] was von Rechts wegen alle Leser 
des Dichters im hochsten Grade h'dtte beschdftigen mussen t und doch 
von keinem zum Angelpunkt seines Nachdenkens oder seiner Liebe 
gemacht worden ist. Er J BAI - 312,39-313,1 diesem Menschen] 
Proust J BAI - 314,7 Waschekasten,] J BA1 ; Waschekasten T - 315,4-9 
das bis gewesen.] die beiden bedeutendsten Werke dieses Typs von 
Autoren stammen s die Proust personlido als Bewunderer und Freunde 
nahestanden. Es sind die Memoiren der Furstin Clermont-Tonnerre 
[s. Nachweis zu 315,9] und das autobiographische Werk Leon Daudets 
[Paris vecu. Rive droite ) Paris 1930 (sic)]> von denen beiden seit 
kurzem der erste Band vorliegt. Eine eminent proustische Inspira- 
tion hat Leon Daudet y dessen politische Narrheit zu plump und bor- 
niert ist y um seinem bewundernswerten Talente viel anhaben zu kon- 
nen, dazu gefiihrt, sein Leben zur Stadt zu machen. »Paris vecu* - 
die Projektion einer Biographic auf den Plan Taride - wird von den 
Schatten proustischer Flguren an mehr als einer Stelle gestreift. Und 
was die Furstin Clermont-Tonnerre betrifft, so ist allein der Titel 
ihres Buchs — »Au Temps des Equipages « — vor Proust kaum denk- 
bar. J BA1 - 315,12 (melodiscbe)] in J BA1 fugte Benjamin handschr. 
eckige Klammern // ein - 315*34 ganzen] ganzen inneren J BA1 - 
315,34 hoheren] fehlt in J BA1 - 315,34 in Gestalt einer] als J BA1 
- 315,36 keine] in J BA1 handschr. aus keinen - 315,37-39 Auf bis 
hat.] Auf sie hat als erster Pierre-Quint die Blicke gelenkt. J BAI - 
316,2 Quint] er J BA1 - 316,4-7 Die bis Kraft] Die Sprengkraft 
proustischer Gesellschaftskritik ist freilich mit diesen Vergleichen nicht 
ganz getroffen. Seine Sache ist nicht Humor, sondern Komik J BAI - 
316,22 sin d.] so nur in T. In J fehlt, infolge ernes Setzfehlers oder 
weil der Druck beschadigt ist, das Interpunktionszeichen ; wahrend 
Benjamin J BA1 unkorrigiert liefi, fugte er in J BA2 - wohl irrtiimlich - 



Anmerkungen zu Seite 310—324 1067 

ein Komma von Hand ein. - 316,36 erfahren,] konjiziert fur er- 
fahren T, J BA1 - 316,37 alles] Alles J BA1 - 316,39-317,2 (und bis 
zusammenhangt)] in J BA1 fiigte Benjamin handschr. edkige Klammern 
[] ein - 317,1 Saint-Simon] Saint-Simon, J BA1 - 317,12 inzwi- 
scben] kurzlich J BA1 - 318,5 f. »Die bis an.«] fehlt in J BAI , wo der 
folgende Text ohne Absatz anschliefk. ^ 318,8-11 Im bis ist] Er 
findet in den Parodien als Spiel mit »Stilen*, was ihn als Kampf urns 
Dasein dieses Geistes im Laubdach der Gesellschafl schon ganz anders 
betroffen hat. Es ist der Ort, J BA1 - 318,22 Celeste Albaret] korri- 
giert fur Celestine Albalat T, J BA1 - 318,26 Arbeit] J BA1 ; Arbeit, 
T - 318,36 einem der] dem J BA1 - 318,36 f. die bis sind] das je 
auf Proust gemlinzt ward J BA1 - 318,38 concierge] so in T; in J 
stand die - wahrscheinlich korrekte - Fassung portiere, welche Ben- 
jamin in J BA2 jedodi handschr. gleidifalis in concierge anderte. (J BA1 
blieb zwar unkorrigiert, enthalt aber fur die Stelle einen Verweis auf 
M, und M hat wiederum concierge.) OfTensichtlich veranderte Benja- 
min den uberlieferten Wortlaut des mots von Barres (s. den Nach- 
weis zu der Stelle) absichtlich. - 319,3 alles] Alles J BA1 - 319,15 in- 
vertierte] pervertierte J BA1 - 319,28 f. Er bis Doch] M; in T findet 
sich fur 319,28 nur der Abschreibfehler weit. J hat die Variante: Hier 
spricht nicht Marcel Proust, es spricht die Harte des Werkes, spricht 
die Intransigenz des Mannes, der seiner Klasse voram ist. Was er voll- 
zieht, vollzieht er als ihr Meister. Und -~ 320,10 f. nicht bis bedin- 
gen] gerade diese zur Grundlage einer Interpretation zu machen - 
wie es am krassesten [Jacques J Benoist-Mechin [s. La musique et 
Vimmortalite dans I'ceuvre de Marcel Proust, Paris 1926J tat - ist 
ein Mijigriff J BA1 - 320,14 verschrankten] in J raumverschrankten, 
das raum in J BA1 jedoch handschr. gestrichen. - 320,21 (als Einziger)] 
in J BA1 handsdir. eckige Klammern // eingefiigt - 321,2 andres] J BA1 ; 
anderes T - 321,12 das Drohnen] der Laut J BA1 - 321,34 eignen] 
JBAi. € ig enen X - 321,36 will] will, J; in dem Exemplar J BA1 ist die 
Stelle beschadigt, Benjamin stellte sie handschr. wieder her, ohne ein 
Komma zu setzen. - 322,17 Werkes] J BA1 ; Werks T- 322,23 sondern] 
fehlt in J BAI - 322,39 und] der J BA1 j handschr. gestrichen und irr- 
tumlich nicht ersetzt. - 323,18 drohende,] J BA1 drohende T - 323,22 
sind] J BA1 ; geschrieben sind T - 323,29 freisteigenden] in J BAI 
handschr. fur freigeistigen - 324,8 andern] J BA1 ; anderen T - 324,9 
Dasein,] Dasein J BA1 

nachweise 310,26-30 Vom bis ist] s. das Selbstzitat der Stelle 792,7-10 
- 312,4 erfilllt] In Benjamins Nachlafi findet sidi ein Ausschnitt aus 
einer von den Hg. nicht identifizierten Zeitung; Benjamin bezieht 
sidi auf einen Teil dieses Ausschnitts: »M. Georges Girard a inter- 
roge M. Gaston Gallimard, £diteur de Marcel Proust. Ces confiden- 



1068 Anmerkungen zu Seite 310—324 

ces paraissent dans le >Bulletin de la Maison du Livre<. [. . .] Et 
ceci sur la m^moire de Proust: >Les epreuves de Proust? Mais il ne 
les corrigeait pas! Jamais Proust n*a corrige* une faute typographi- 
que. Les epreuves pour lui, ce n'^tait pas pour corriger son texte, 
c'etait pour y ajouter. Et tant qu'il avait des e'preuves, il ajoutait 
des phra$es.<« - 312,17 gedruckt] Audi diesen Bericht entnahm 
Benjamin dem angefuhrten Gesprach zwischen Gaston Gallimard und 
Girard: »>Si la disposition typographique des livres de Marcel 
Proust est d£sagr£able et rend leur lecture penible, ce n'est pas la 
faute de la N.R.F., c'est que lui-meme l'a voulu. II m'a dit une fois 
que, si c'£tak possible, il aurait voulu voir publier toute son ceuvre 
en un volume a deux colonnes et sans un alin£a!<« - 312,33 war] 
s. Jean Cocteau, La voix de Marcel Proust, in: Hommage a Marcel 
Proust, Nouvelle Revue Francaise, io e ann£e, No. 112, i er Jan- 
vier 1923, 92 - 313,1 Menschen] s. a. a. O. - 314,11 Strumpf] 
s. Benjamins spatere Gestaltungen dieses Bildes Bd. 4, 284 und 977 f. 
- 315,9 gewesen] s. E[lisabeth] de Gramont [cl e Clermont-Ton- 
nerre], M^moires, tome I: Au temps des Equipages, Paris 1928 - 
315,18 darstellt] s. E. de Clermont-Tonnerre, Robert de Montes- 
quiou et Marcel Proust, Paris 1925 - 316,4 Wither.*] Leon-Pierre- 
Quint, Marcel Proust. Sa vie, son ceuvre. Edition nouvelle, revue et 
corrig^e, augmentee de: Le comique et le mystere chez Proust, Paris 
o. J. [1928 oder 1929], 271 - 316,35 hrennt.*] Clermont-Tonnerre, 
Robert de Montesquiou et Marcel Proust, a. a. O., 136 - 317,12 sind] 
s. Marthe Bibesco, Catherine-Paris. Roman, deutsch von Kathe Illich, 
Wien, Leipzig 1928; s. audi Benjamins Besprechung des Buches Bd. 
3, 139-142 - 317,27 » Pastiches et Melanges*] Erstausgabe: Paris 
1919 - 317,33 gelenkt] s. Jose Ortega y Gasset, Le temps, la distance 
et la forme chez Proust. Simple contribution aux Etudes proustiennes, 
in: Hommage a Marcel Proust, NRF,a. a. 0.,272-3i8, 38 concierge.*] 
Das Zitat entnahm Benjamin einer Sammelrezension »Autour de Mar- 
cel Proust« von Albert Thibaudet, die sich als Ausschnitt aus einer 
nicht ermittelten Zeitung in seinem Nachlafi befindet: »Jacques[-Emi- 
le] Blanche cite [in >Mes modeles<] ce mot de Barres sur Proust: 
Barres, bien entendu, n'avait jamais pu rien lire de Marcel Proust, 
mais il Tappelait un poke persan dans une loge de portiere. Comme 
c'est juste!« Ober Benjamins Veranderung des Zitats s. die Lesart zu 
der Stelle. - 319,3 f. Sie bis hat] s. das modifizierte Selbstzitat der 
Stelle 791,38-792,1 - 319,9-12 Denn bis Konsumentenstandpunkt.] 
s. das modifizierte Selbstzitat 792,1-4 - 320,32 petit!*] Baudelaire, 
CEuvres completes. Texte £tabli et annote* par Y.-G. Le Dantec, Edition 
revised, complete et presentee par Claude Pichois, Paris 1968 (Biblio- 
theque de la Ple*iade, vol. 1 et 7), 122 (»Le voyage«) - 321,33 »A 



Anmerkungen zu Seite 3 1 0—3 28 1 069 

Propos de Baudelaire*] Benjamin benutzte (s. Bd. 1, 576 und pas- 
sim) den Erstdruck in der Nouvelle Revue Franchise, tome 16, i er 
juin 1 92 1. - 32.2,13 schenken] s. Jacques Riviere, Marcel Proust et 
Pesprit positif, in: Hommage a Marcel Proust, NRF, a. a. O., 184: 
»[...] ce qui a caractirise* peut-etre essentiellement la literature des 
trente dernieres annees a hi un abandon complet aux Sirenes int£- 
rieures.« - 322,16 heran.*] s. a. a. O., 183: »Dans le regne des 
sentiments, que les psychologues de metier n'ont jamais dispose* 
que d'instruments trop grossiers pour observer et que les romanciers 
ont pille et utilise* plus qu'ils ne Pont explore^ Proust introduit tout 
a coup, comme une sonde decisive, son manque total d'esprit m£ta- 
physique, d'ambkion constructive et d'aptitude a la consolation. « 
- 322,31 off net.*] a. a. O., 179; audi die Ubersetzung dieser Stelle 
greift - wenn audi nur geringfiigig - in Rivieres Text ein. 



324-328 Robert Walser 

Ober den Benjamin des Jahres 1929 schreibt Scholem: »Erstaunlich 
bleibt seine Konzentrationsfahigkeit, die OfTenheit fur Geistiges, die 
Ausgewogenheit seines Stils in den Briefen und Aufsatzen dieses 
Jahres grofiter Aufregungen, Umwalzungen und enttauschter Erwar- 
tungen in seinem Leben.« (Scholem, Walter Benjamin - die Ge- 
schichte einer Freundschaft, a. a. O., 197 f.) Die Krisis mag ihn emp- 
fanglich gemacht haben fiir die Walserschen Figuren, die [nocbj 
kdmpfen, urn sick von dem Leiden zu befreien. (328) Ihnen hat er in 
jenem Jahr eine Arbeit gewidmet, von der er - soweit es die zugang- 
lichen Briefzeugnisse belegen - nur an einer einzigen Stelle spricht: 
er nennt sie lakonisch eine zutzige Abhandlung iiber Robert Walser 
(Briefe, 502). Der Passus steht in einem am 18. 9. geschriebenen Brief, 
in dem es vorher heifit: In der letzten Zeit habe ich aufiergewohnlicb 
viel gearbeitet (Briefe, 501). Unter dem, was er da von aufzahlt (s. 
Briefe, $02), steht der Walseraufsatz an vorletzter Stelle; er durfte 
also kaum allzu lange vor Mitte September niedergeschrieben wor- 
den sein. Schon gegen Ende des Monats erschien er im »Tagebuch« 
(s. u.). Erhalten ist im Briefwechsel Robert Walsers eine knappe Au- 
Eerung, in der audi Benjamins gedacht ist. Der alternde Dichter 
schrieb aus dem Pflegeheim Herisau seinem Freund, Vormund und 
spateren Herausgeber Carl Seelig: »Die Namen der Autoren, die Sie 
anfuhren, sind ja, obwohl auslandische und vielleicht ein bifichen 
kommunistische, doch wohl gleichzeitig schone, edle und gute.« (30. 1. 
1937, Robert Walser an Carl Seelig; in: Robert Walser, Das Gesamt- 
werk, hg. von Jochen Greven, Bd. 12/2: Briefe, hg. von Jorg Scha- 



1070 Anmerkungen zu Seite 324—334 

fer u. Mitarb. von Robert Machler, Genf 1975, 354; dazu s. Anm. 
zum 386. Brief, a. a. O., 423) 

UBERLIEFERUNG 

J Das Tagebudi 10 (1929), 1609-1611 (Heft 39, 28. 9. '29). 
lesart 326,23 drei] konjiziert fur zwei; s. dazu »Nachweise«. 
nachweise 326,9 f. kommen*} Wilhelm Tell IV, 3 - 326,14 kom- 
men.«] Robert Walser, Das Gesamtwerk, hg. von Jochen Greven, 
Bd. 1 : Fritz Kodjers Aufsatze. Geschichten. Aufsatze, Genf, Hamburg 
1972, 258 (»Tell in Prosa«, Aufsatze, 10. Stuck); Erstveroffentlichung 
in: Die Schaubiihne, 1907 (Okt.) - 326,23 drei frlihen Romanen] s. 
Geschwister Tanner, in: a. a. O., Bd. 4 [Erstveroffentlichung 1907]; 
Der Gehiilfe, in: a. a. O., Bd. 5 [Erstveroffentlichung 1908]; Jakob 
von Gunten, in: a. a. O., Bd. 4 [Erstveroffentlichung 1909] - 327,13 
»Scbneewittchen«] s. a. a. O., Bd. 1 1 : Gedichte und Dramo- 
lette, hg. von Robert Machler, Genf, Hamburg 1 97 1 , 1 04- 145 
(»Schneewittchen«); Erstveroffentlichung in: Die Insel, 1901 (Sept.) 
- 327,22 haben*] a. a. O., Bd. 1, a. a. O., 261 (»Bertthmter Auf- 
tritt«, Aufsatze, n. Snick); Erstveroffentlichung in: Die Schaubiihne, 
1907 (Dez.) - 328,6 Geschichten] s. Geschichten, in: a. a. O., Bd. i, 
1 1 1-225 [Erstveroffentlichung 1914] - 328,6 Aufsatze] s. Aufsatze, 
in: a. a. O., 229-370 [Erstveroffentlichung 1913] ; s. audi Fritz Kochers 
Aufsatze, in: a. a. O., 5-107 [Erstveroffentlichung 1904], sowie die 
Prosa-Bande 6-10 - 328,6 Dichtungen] s. Kleine Dichtungen, in: a. a. 
O., Bd. 2, 5-172 [ErstverorTentlichung 1914] - 328,6 kleine Prosa] s. 
Kleine Prosa, in: a. a. O., 221-352 [Erstveroffentlichung 1917], so- 
wie Prosasnicke, in: a. a. O., 173-219 [Erstveroffentlichung 1917] 



328-334 Julien Green 

Auf das dringendste empfehle icb Ihnen Julien Green: Adrienne Me- 
surat. Eines der allerbesten Biicher dieses Jahrhunderts. [. . ./ Sie 
werden im hochsten Grade betroffen sein. (21.7. 1928, an Siegfried 
Kracauer) Mit diesen Worten wies Benjamin im Juli 1928 Kracauer 
auf Julien Green hin, wohl unmittelbar nach der Lekture der im 
Jahr zuvor erschienenen » Adrienne Mesurat«, des ersten Buches von 
Green, das Benjamin gelesen hat. Zwei Monate spater, Ende Septem- 
ber 1928, heifk es dann in einem Brief an Scholem: Jetzt suche ich 
Propaganda filr ein franzosisches Bucb, einen Roman zu machen, der 
mich ganz besonders ergriffen hat. Er stammt von einem jungen 
Angelsachsen Julien Green y der in Paris lebt und franzosisch schreibt. 



Anmerkungen zu Seite 328—334 1071 

»Adrienne Mesurat* heifit er und ist auch deutscb ersdoienen. Ver- 
schaffe ihn Dir schnell, damit ich ihn Dir nicht zum Geburtstag 
schenken mufi. (zit. G. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte 
einer Freundschaft, a. a. O., 1 8 8 f .) Kurz danach las Benjamin dann 
audi »Mont-Cinere«, Greens ersten Roman. Am 30. 10. 1928 schrieb 
er Scholem von einem Buchergebirge 3 das sich an seinem Krankenbett 
um das Doppelmassiv der beiden Werke von Julien Green aufbaut: 
Mont-Cinere und Adrienne Mesurat, die mich nicbt eher ruben 
liefien als bis ich mir die Besprechung von beiden aufhalste und nun 
weifi ich nicbt ein noch aus (Brief e, 482). Nachdem Benjamins Be- 
sprechungen der beiden Romane (s. Bd. 3, 144-148 und 153-156) im 
November und Dezember 1928 erschienen waren, ist von Green erst 
wieder die Rede in einem Brief vom 18. 9. 1929. Benjamin berichtete 
Scholem, daft er in den letzten Wocben /. . ./ dreimal oder sogar vier- 
mal in Frankfurt a. M. im Rundfunk gesprochen habe. Erheblich ist 
von diesen Vortragen allenfalls ein ausfiihrlicher iiber Julien Green, 
den Du unter meinen mitgebrachten Papieren, falls nicbt vorher ge- 
druckt, zu sehen bekommen wirst. (Brief e, 501) Die nicht iiberlieferte 
Radiofassung von Benjamins Green-Essay mufi spatestens Mitte Au- 
gust 1929 abgeschlossen gewesen sein, da die Sendung am 14. August 
stattfand. Die - kaum sehr abweichende - Druckfassung sandte Ben- 
jamin am 21. November an Max Rychner, den verantwortlichen Re- 
daktor der »Neuen Schweizer Rundschau«: Nehmen Sie bitte, was 
hier beiliegt, in Augenschein. Sie baben in Gestalt dieses Manuskripts 
den Urbeber der Verzbgerung, die mein Essay iiber » Roman und Er- 
zdhlung* erlitten hat und vielleicht fiir eine Weile nodh ferner erlei- 
det. Ich muflte mich sehr irren } wenn das Phanomen Julien Green 
Ihnen nicht langst nahe und bedeutend ware und ich wiirde diesen 
Versucby es in seiner Tiefe darzustellen mit grower Freude gerade bei 
Ihnen beherbergt sehen. [AbsatzJ Cela dit y darf icb Ihnen vielleicht 
mitteilen, dafi man sich an einer andern (mir sehr viel weniger lieben) 
Stelle fiir dieses Manuskript wieder interessiert und daraus - ungern 
genug - den Grund herleiten, Sie um e'tnen mogUcbst fruhen Bescbeid 
zu bitten. (Brief e, 504) Rychner nahm den Aufsatz fiir seine Zeit- 
schrift an und druckte ihn im Aprilheft des folgenden Jahres. Vorher 
schon, im Januar 1930, hatte Benjamin aus Paris an Scholem ge- 
schrieben: D 'autre part j'ai revu Green. Est-ce que tu as lu » Adrien- 
ne Mesurat «? Dans un des prochains numeros de la »Nouvelle Re- 
vue Suisse* va paraitre un essai sur Green que fai ecrit. (Briefe, 
507) Unklar ist, wann und wo Benjamin Green personlich kennen- 
lernte: da er in der Handschrift seines Essays - die fraglos auch Vor- 
lage der Radiofassung war, mithin vor Mitte August 1929 angefer- 
tigt wurde - bereits auf Gesprache mit dem Dichter iiber »Levia- 



1072 Anmerkungen zu Seite 328—334 

than« sich bezieht, die Erstausgabe dieses Romans aber von 1929 
datiert, miifke die Begegnung irgendwann in der ersten Jahreshalfte 
1929 stattgefunden haben; in Frankreich sdieint Benjamin wahrend 
dieser Zeit sich jedoch nicht aufgehalten zu haben. - Auf Greens 
Roman »Epaves«, den Benjamin 1932 auf Ibiza las, ging er em Jahr 
spater in dem Aufsatz Zum gegenwartigen gesellschafilichen Standort 
des franzosischen Schriftstellers kurz, aber bereits mit deutlicher Re- 
serve ein (s. 789-791). In einem undatierten, wahrscheinlich im April 
1934 geschriebenen Brief an Gretel Adorno berichtete Benjamin von 
vielfachen Obersetzungsprojekten: Projekten, welche die Uberset- 
zung seiner eigenen Arbeiten ins Franzosische betrafen und von denen 
er sich eine Verbesserung seiner Exilsituation versprach; er fahrt in 
dem erwahnten Brief fort: Hoffentlich [. . .] kannst Du den »]ulien 
Green« in der »Neuen Scbweizer Rundscbau« beilegen. Fur den 
interessiert man sich hier besonders. - In diesem Falle geniigt natiir- 
lich eine Einschreibsendung. [Absatz] IcJj kriege viele Romane. Kommt 
mir etwas Schones in die Hand, so erhdltst Du es. Was icb bisher las, 
ist dessen nicht wert. Die ungemeine Enttduschung, die Greens 
»Vi$ionnaire« in mir erweckt hat, habe ich Dir schon anvertraut. 
(o. D. [April 1934], an Gretel Adorno) Fast mit den gleichen 
Worten schrieb Benjamin auch an Sdiolem iiber den im Friihjahr 1934 
erschienenen Roman »Le visionnaire« (s. Brief e, 606), der das letzte 
Buch von Green war, das er gelesen zu haben scheint. Der persdnliche 
Verkehr zwischen Benjamin und Green diirfte ebenfalls damals einge- 
schlafen sein. Wahrscheinlich im Mai 1934 schrieb Benjamin an Gre- 
tel Adorno uber seine Versuche, sich in Frankreich eine literarische 
Position zu schafFen: Nach Jouhandeau und Green fragst Du. Das 
sind Leute, die mir erst dienlich sein konnten, wenn ich etwas festeren 
Boden unter den Fufien h'dtte - und selbst mit dieser Einschrdnkung 
kann ich das kaum von Green sagen. Seine letzten Romane nicht nur 
sondern auch deren Aufnahme im Publikum weist darauf hin, dafi 
diese Figur an Bedeutung verliert; und das hat seine guten Griinde. 
Wichtig ist, dap diese Griinde sehr denen verwandt sind, die schon 
in besseren — fur ihn und mich besseren - Zeiten, unser Gesprdch in 
iiberaus engen Schranken hielten. (o. D. [Mai 1934], an Gretel 
Adorno) 

1. Stichworte, Notizen und Entwurfe zu den beiden Rezensionen 
Greensdher Romane (s. Bd. 3, a. a. O.) finden sich in dem urspriing- 
lich Alfred Cohn geschenkten, heute in der Sammlung Scholem be- 
findlichen Pergamentheft von 1928/1929 (s. 15-17); charakteristischer- 
weise figuriert der Entwurf zu der Rezension der »Adrienne Mesurat« 
hier noch als einer zu »Mont-Cinere« (s. 16 f.). An spaterer Stelle 



Anmerkungen zu Seite 328—334 1073 

enthalt dieses Heft auch erste, nodi nidit vollig integrierte Entwiirfe 
zu dem Essay Julien Green (s. 50-54). 

2. Wahrend ein Abdruck der Aufzeidinungen zu 1. den Herausgebern 
entbehrlich erscheint, werden im folgenden Notizen wiedergegeben, 
weldie Benjamin wahrend oder unmittelbar nach der Lekture des 
»LeViathan« - wahrscheinlidi im April 1929 - niederschrieb. 

Green »Leviathan[«] 

Es scheint eine KUmax der Leidensfdhigkeit in der Natur zu geben. 
Aufsteigend: Mann, Weib, Tier. Die weiblichen Helden von Green 
scheinen das Leiden ausgedehnter und kontinuierlicher durchmachen 
zu kbnnen als dieser Mann Gueret. 

Green konstruiert seine Scbicksale in dem gleichen Raum, in dem 
Pascal seine Figuren konstruiert. Geometriscbe Trostlosigkeit dieser 
Gebilde. Greens Pamphlet contre les catholiques de France [in: 
Revue des pamphletaires, 15 octobre 1924]. Valerys Aufsatz gegen 
ein Pascalwort. Gewohnheit als Konstruktionsprinzip des Lebens 
bei Green. Das Haus sein geometrischer Ort. 

Die Novelle »Leviathan« im Bande »Christine« [s. Julien Green, 
Christine, suivi de Leviathan, Paris 1928 J 

Maximen uber das Leiden und uber die Leidenschaft, passion 

Adrienne sieht zu Beginn desBuches auf Photographien, Gueret auf die 
Uhr. Es ist, als sei schon in dieser ersten Minute alles gegeben. Als 
zoge an diesen geistesabwesenden Betrachtern ihr Geschick gerade 
wahrend sie ins Banalste versunken scheinen, voruber. 

Seine Figuren sind wie Erscheinungen, arme Seelen, die immer wie- 
der, wenn sie um die Mitternachtsstunde erscheinen durfen, das 
tun mussen, dessentwegen sie die Verdammnis leiden. 

So ist es auch immer wieder dasselbe Haus, in dem seine Bucher spie- 
len. 

Dieser Autor nimmt, wie Strindberg es tat, seinen Menschen die 
Opiate des Lebens, und vor allem Gewohnheit, das machtigste, 
fort. 

Dafi ein Mord nicht am »Mordtag« sondern etwa am Donnerstag 
oder Freitag geschieht. 

Der Mord an dem alten Mann unmittelbar nach dem an dem Mad- 
chen: als Einfall mit Shakespeare vergleichbar. Der Romanmen- 
schen in einer mafilosen Liebe zu Rosalinde durch Julia entflammen 
lafit. 

Ein gutes Beispiel fur sein Verfahren: Schilderung der Ratten, liebe- 
voll und ohne irgend einen Ekel anzudeuten. Eine Sachlicbkeit, 
die mehr leistet als jede reflektorische Beleuchtung der Elendssitua- 
tion, weil sie genau auf den richtigen Gegenstand auftrifft. 



1074 Anmerkungen zu Seite 328—334 

Zur Tecbnik: Don Quichottes erster Ausritt mit RUckkebr. 

Wieviel vom Dasein fiir seine Helden sich im Bette abspielt. Mont- 

Cinere. Und bier das Gesprach zwischen Mme Londe und Angele. 
Symphonie in o: Lordes, Mme Londe, Sommeillante. Die Namen der 

Leute von der table d'hote. 
»Une passion par personne, cela stiff it* p 93 
»De quel secours la raison etait-elle jamais dans les grands moments 

de la vie?« p 240 
»Rien ne torture, rien n'asservit comme I'espotr d'un bonheur ter- 

restre* p 257 
»Dieu sait ce quHl faut pour tous un etre humain« p 322 

Druckvorlage: Sammlung Scholem, Pergamentheft, 43 

3. Erhalten sind schliefilidi audi Nachtrdge zu Green: kurze Notizen, 
die entweder fur eine Uberarbeitung des Green-Essays oder fiir einen 
weiteren Aufsatz iiber den Dichter bestimmt waren. 

Nacbtrage zu Green 

Welche Funktion die Stadt Paris im Leviathan hat, bezw. warum 
Green ihrer nicht Herr werden kann 

Dafi seine Hauptpersonen immer am Leben bleiben miissen. (Fiir 
Mont-Cinere nacbzuprUfen) 

Erster franzosischer Artikel von Green iiber Blake 

Sodann Notizen Uber Joyce in einer revue 

Robert de Saint-Jean: La carriere extraordinaire de Julien Green - 
wo ist das erschienenf 

Recueil Greenscher Essays (Blake, Lamb, Bronte, Johnson) 

Ich vergafi auf die Stelle hinzuweisen, wo Gueret auf die Geliebte 
wartet und der Streit zwischen den Liebenden sofort bei ihrem An- 
blick auftaucht, an diesen Anblick ganz so sehr gebunden scheint, 
wie bei gewissen Rauschzustanden es die Erkenntnis ist. 

Eine der verborgenen Anweisungen, die Greens Romane entbalten, 
scheint dies [sicj zu sein: seht, ich zeige eucb Menschen, die den 
Stoff zu Konigen, Liebeshelden, Heroen baben. Und was sie anriih- 
ren und tun fiihrt sie nur tiefer ins Verbrechen und in den Scblamm 
hinunter. Also verzichtet: Es ist eine schlechte Zeit fiir Heroen und 
Herrsohermenschen. Es kommt bier die reaktiondre Tendenz zum 
Vorschein. Zugleich freilich wtrd deutlicb, wie erschutternd in alien 
Handlungen seiner Hauptfiguren das ist: sie sind gesunkene 
Heroentaten. Anders formuliert: die Heroenschatten um 
Greens Figuren. Der herkulische Schatten um Gueret. Weil es in 
unserer Welt keine »Aufgaben« gibt, verkommen diese Menschen. 
Sie werden darum Verbrecher. 



Anmerkungen zu Seite 328—334 1075 

Scharfsinnige Bemerkung von Quint uber die Bedeutung, die bei 
Green - wie bei Gide, bei den Surrealisten - der »fait gratuiu 
habe. 

In der »Vie intellectueile* [Tome II, No 7, avril 1929, yio- 
jij] hat Andre Harlaire eine Kritik geschrieben, die viel Be- 
riihrungspunkte mit meiner Auffassung hat. 

Welche Bedeutung es hat, dafi Green die Passionen niemals im Ent- 
stehen zeigt, das ist auszufuhren. 

»Les allies et venues des personnages n y ont pas lieu dans une pe- 
tite ville francaise, mats sur une sorte de theatre religieux ou Us 
figurent le pichi.« [Albert] Thibaudet im Candide [2$ avril 
1929]. D'autre part Pierre Dominique ecrit (Paris-soir) que chez 
Green les personnages »apparaissent . . . comme places sur une 
scene.* 

Drudtvorlage: Benjamin-Arcfaiv, Ms 839 r 
UBERUEFERUNG 

J Neue Sdiweizer Rundschau. Nouvelle Revue Suisse. XXIII. Jahr- 

gang von »Wissen und Leben«. Heft 4, April 1930, 259-264. 
M Niederschrift; Benjamin-Archiv, Ms 674, 3-5. 
Druckvorlage: J 

lesarten 328,9 f. »Nous bis souffrir?«] »Nous qui sommes bornes 
en toute chose, pourquoi le sommes nous si peu dans la souffrance?* 
M - 328,34 passio] Passion M - 328,35-329,1 dieser unwirtlichen 
Hohe] diesen unwirtlichen Hohen M - 329,1 von Green] Julien 
Greens M - 329,3 fromme] fehlt in M - 3*9*4 christliche Jesu] 
gottergebene des Christus M - 329,8 ist] ist freilich M - 3*9,9 
n'dhrt] nahrt. Diese Leidenschaft - das ist das Grundmotiv der 
passio - vergeht sich nicht nur wider die Gebote Gottes, sie frevelt 
wider die naturliche Ordnung. Darum weckt sie die zerstorenden 
Krdfte des ganzen Kosmos. Was dem Leidenschaftlichen zustofit, ist 
nicht so sehr Strafgericht Gottes als Aufruhr der Natur gegen den, 
der ihren Frieden stort und ihr Antlitz entstellt. Dies profane Ver- 
hangnis vollzieht sich an der Leidenschaft nicht durch Gott sondern 
dutch sie selber. Und zwar ist es das Werk des Zufalls. Als Green 
sein letztes und reifstes Buch, den »Leviathan«, herausgab, da zeigte 
es sich: hier schien die Vernichtung des Leidenden weniger innerlich, 
schdrfer in aufierer Verstrickung sich zu vollziehen als fiir die weib- 
lichen Dulderinnen seiner fruheren Bucher. Und es fehlte an Kritikern 
nicht, die, indem sie hier dem Autor die Gefolgschaft versagten, be- 
kundeten, wie fern sie aucb dem Zentrum der andern Werke geblieben 
waxen. Green hat diesem Auflersten, Aufierlichsten mit demselben 
Rechte die Ehre gegeben wie Calderon, der grofite, bis auf den heuti- 



1076 Anmerkungen zu Seite 328—334 

gen Tag uniibertroffene Meister det dtamatischen passio, in seinen 
Dramen die barockste Vetwicklung, die maschinellste Scbicksalsfu- 
gung dem Aufbau zu Gtunde legt.Zufall ist die gottverlafine Figur 
der Notwendigkeit. Datum steht bei Green das verworfene Innen der 
Leidenscbaft in Wahrheit so vollig unter der Hettscbaft des Aufien, 
dafl Leidenscbaft im Grunde garnichts anderes als der Agent des 
Zufalls in der Kreatur ist. Diese Leidenscbaft aber bat bei Green ibre 
strenge historiscbe Signatur. M; in J demgegenuber eine Umstellung, 
s. 329,27-330,6 - 329,11 diesem] seinem M - 329,14 Lebenden] 
lebenden Generation M - 329,17 im] M; den J - 329,18 ziingeln.] 
zungeln. Ist es datum, daft diese altmodischen, vetkiimmetten Pto- 
vinzexistenzen dem Leset so nahe gebenf M - 329,20 an] an so M 
- 329,23 gefdbrlicben] zetstotenden M - 329,23 bescbwoten] zei- 
gen M - 329,27-330,10 Denn bis exaspitiert.] Gewifi »will« er von 
alledem nicbts. Denn alles - Blick, Stimme, Gang - an diesem Manne 
ist Aufmetksamkeit, ein geduldiges Warten auf das Eine und Wesent- 
liche. M; s. audi die Lesart zu 329,9-330,12 Menscben] Helden M - 
330,13 so viel] konjiziert fiir soviet J, M - 330,17 genauso] M; 
genau so J - 330,19 baben] M; haben, J - 330,20 det] det boben 
M - 330,21 geben 3 ] M; geben J - 330,22 f. den alleteinfachsten 
Votfall] die alleteinfacbste Begebenheit M - 330,23 den] die M - 
330,30 fdbtt et fott] sagt et weiter M - 330,31 ftagwiirdiger] M; 
ftagwilrdigety J - 330,33 es] fehlt in M - 330,34 Seiten] Seiten es 
M - 331*3-13 Vetgegenwattigung bis Magie.] fehlt in M, wo ohne 
Absatz mit 331,14 Green scbildert usw. fortgesetzt wird. - 331,21 
det] dieset M - 331,23 Figuren] M; Figut J - 331,30 dem ge- 
stirnten Himmel] dem Anblick des gestirnten Himmels M - 331,37 
plastiscbey] fehlt in M - 331,37 Solcb] Diese M - 331,38 Vision] 
Visionen M - 331,39 det] seiner M - 332,6 seinem Scbauen] seinet 
Scbau M - 332,6-9 Denn bis finden.] fehlt in M - 332,10 Auf- 
wacben] Etwacben M - 332,10 man] man sich M - 330,10 sicb] 
fehlt in M - 332,12 Gebuttsscbtecken] Scbtecken det Gebutt M - 
332,19 Haufen Koble] Koblenbaufen M - 332,26 solcbe] fehlt in 
M - 332,3 j f. So bis ist -] So seben wit uns selber nach vielen Jab- 
ren in der Etinnetung M - 332,38 sind] abet waten M - 332,39 
semblait-il, mutmuta] semblait mutmutet M - 333,4 f. Miftgescbick 
zu Mifigescbick] Kapitel zu Kapitel M - 333,7 ihnen] ibnen end- 
licb M - 333,14 f. votbestimmt ist] votgezeicbnet liegen soil M - 
333,19 f. in bis Besessene.] abet utalte Hertscher, Besessene und 
Ftevlet leben in ibten Geberden. M - 333,21 f. Zwiscben bis Scbilf.] 
fehlt in M - 333,25-27 Phdnomen bis Zimmer] Pbanomen, die Zwie- 
nacbt, in die biet unsete Welt gebettet ist y gibt diesem Wetke seinen 
unverlierbaren Ott. Ibrs [?] ist das Dunkel, dem biet Hauset und 



Anmerkungen zu Seite 328—334 1077 

Zimmer enttauchen, M - 333,30-32 gehoren; bis Theseus ist.] ge- 
horen. M - 333,34 war] M; war, J - 333,36 f. zwiejachen bis Un- 
vordenklichen] undurchdringlichen Nacht des eben gelebten, kaum 
vergangnen Augenblicks und unvordenklicher Jahrtausende M - 
334,3 f. vorhergehendeti] M; vorgehenden J - 334,6-10 Cocteaus 
bis ist.] Das letzte Buch von Jean Cocteau »Les enfants terribles* ist 
eine mil alien nur erdenklichen tecbnischen Mitteln ausgeriistete Ex- 
pedition in die unterseeischen Tiefen der Kinderstuben, ganz zu 
scbweigen vom Werke Prousts, das dem gleichen neunzehnten Jahr- 
hundert, genauer, dem Raum, in dem wir Kinder waren, gewidmet 
ist. Abzustoften vom Vergessen y aber auch abzustoften vom Ha$, die 
uns den Kaum der Generation verstellen, aus der wir kamen, gehort 
mitten in dieses Werk der Erbellung und der Ernuchterung, {dem 
freilich alle leiblich-naturlichen Behelfe des Eingedenkens, wie sie die 
Religionen kennen, versagt sind,} mit dem sich die Geduld aus einer 
Tugend in eine Sendung verwandelt. [Uber den Wortern Raum bis 
kamen nachgetragen: Green aber reinigt diesen Raum. Er dringt; die 
Worter dem freilich bis sind gestridien.] Wir sollen Geduld mit dem, 
was wir lebten haben. Nur sie kann das noch n'tcht bewuflte Wissen 
vom Gewesenen, das in uns schldft und unsere passio in uns traumt, 
erwecken. Geduld, da ist das epische und das moraliscbe Genie dieses 
Autors. M - 334,10 Zauberstunde] Zauberstunden M - 334,12-16 
Im bis stigmatisierte.] In seinen Buchern ist der Horizont der Kind- 
heit von Sadisten, Geizhalsen, Kupplerinnen umstellt. Erlosung fin- 
den weder sie noch ihre Opfer. Sie beginnt aber damit, dafi Green, 
was sie erleiden, dem Leser so durchbohrend gegenw'drtig macht, wie 
vor Jabrhunderten es den Frommen der Leib war, der sie stigmati- 
sierte. M 

nachweise 328,10 souffrir?*] s. Julien Green, Adrienne Mesurat, 
Paris 1927, Titelbl. Das Motto entstammt Marivaux* »La vie de 
Marianne«, 9 e partie. In einem Entwurf zu seinem Essay iibersetzte 
Benjamin: Mein Gott, warum hast du, der du uns in allem beschr'dnkt 
scbufst, diese Grenzenlosigkeit im Leiden gegeben? (s. Sammlung 
Scholem, Pergamentheft, 52) - 329,16 Emily Fletcher] Figur aus 
Greens »Mont-Cinere« (1926) - 329,17 Paul Gueret] Figur aus 
Greens »LeViathan« (1929) - 333,13 suffiu] Green, CEuvres comple- 
tes I. Preface de Jose* Cabanis, introduction par Jacques Petit, textes 
£tablis, pr£sent£s et annotis par Jacques Petit, Paris 1972 (Biblio- 
th£que de la Pl&ade, vol. 235), 642 (»LeViathan«, i re partie, chapitre 
VIII) - 334,6 » Enfants terribles*] Erstausgabe Paris 1929 



1078 Anmerkungen zu Seite 334—367 

334-367 Karl Kraus 

»Wann Benjamin sich nut Kraus zu befassen begann, weift idi nicht 
mehr; ich glaube, es war etwa 191 6 unter dem Ein£lu£ der grenzen- 
losen Begeisterung von Werner Kraft«, schreibt Sdiolem in seinen Er- 
innerungen. »In unserer Schweizer Zeit«, den Jahren 1918/1919, 
»lasen wir schon fast regelma&g >Die Fackel< [. . .] Vor allem 19 19 
hatten wir manche Gesprache iiber ihn, seine Prosa und seine >Worte 
in Versen<, deren erste Bande damals erschienen [lies: waren; Wor- 
te in Versen I, 1916; II, 1917; III, 1918; IV, 1919]. Nodi spater rift 
uns seine Parodie auf Werfel mit ihrer Verhohnung des in der Revo- 
lutionszeit sich selbst iiberschlagenden Expressionismus in >Literatur 
oder man wird doch da sehn< [Magische Operette in zwei Teilen, 
1 921] hin, dessen unubertreffliche Dialoge Erstickungsanfalle vor 
Lachen hervorrufen konnten. Als ich Benjamin bei einer Unterhaltung 
iiber die Munchner Raterepublik von Be'strebungen erzahlte, die 
Presse unter Berufung auf Karl Kraus zu reformieren, sagte Benja- 
min: Da war Karl Kraus vorzuziehen, dessen Haltung nur eine war: 
>Ecrasez Vinfame<.« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte 
einer Freundschaft, a. a. O., 105) Als die Freunde im September 1921 
zu Vorbesprechungen iiber den Inhalt der geplanten Zeitschrift Ange- 
lus Novhs bei Ernst Lewy weilten (s. 984), kam es zu einem langen 
»Gesprach iiber das Verhaltnis der Juden zur Sprache. Es gab lebhafte 
Auseinandersetzungen iiber Heinrich Heine, Karl Kraus und Walter 
Cale [u. a. . . .] Wir diskutierten von sehr verschiedenen Gesichts- 
punkten aus die These, ob die besondere Bindung der Juden an die 
Sprachwelt von ihrer jahrtausende langen Beschaftigung mit heiligen 
Texten, mit der Offenbarung als sprachlicher Grundtatsache und deren 
Reflexion in alien Sprachspharen abzuleiten sei. Karl Kraus, dessen 
[. . .] Verfallensein an die Sprache Benjamin schon damals zu be- 
schaftigen begann, wurde hitzig debattiert. Ich hatte mir schon lange 
Gedanken iiber die Herkunft des Stils von Kraus aus der hebraischen 
Prosa und Dichtung des mittelalterlichen Judentums gemacht, der 
Sprache der groften Halachisten und des >Musivstils<, der Reimpro- 
sa, in dem Sprachbrocken der heiligen Texte kaleidoskopartig durch- 
einanderwirbeln und publizistisch, polemisch, deskriptiv und auch ero- 
tisch profaniert werden. Benjamin hat von mir oft verlangt, diese 
Gedanken schriftlich auszufiihren« (Scholem, a. a. O., 136 f.) - wohl 
auch. fur den Angelus; jedoch kam es nicht dazu. Jahre spater erbat 
er sich Scholemsche Notizen zu dem Komplex, um sie fur den eigenen 
Essay iiber Kraus zu nutzen (s. u.)- Ehe er an diesem zu arbeiten 
begann, hatte er bereits vier Beitrage iiber Kraus veroffentlicht: das 
bedeutende Stuck Kriegerdenkmal in der Einbahnstrafie (s. Bd. 4, 



Anmerkungen zu Seite 334 — 367 1079 

121) Anfang 1928, den Bericht Karl Kraus liest Offenbach (s. a. a. O., 
515-517) am 20. 4. 1928 in der »Literarischen Welt«, ein Pendant zum 
Kriegerdenkmal unter dem Titel Karl Kraus am 20. 12. 1928 in der 
hollandischen internationalen Revue »i io« (s. 624 f.) und den Bericht 
Wedekind und Kraus in der VolksbUhne (s. Bd. 4, 551-554) am 1. 11. 
1929 in der »Literarisdien Welt«, dessen zweiter Teil der Berliner 
Auffuhrung der >Uniiberwindlichen< [Nachkriegsdrama in vier Ak- 
ten, 1928] gewidmet ist (s. a. a. O., 552-554). Die Operettenvorlesung 
im Marz, die erste, die ich von ibm horte, hatte in Benjamin eine 
game Ideenmasse [. . .J in Bewegung gesetzt, so dafi er Miihe hatte, 
uber seine Gedanken den Uberblick zu bebalten [. . .] ich wollte un- 
bedingt Uber sie schreiben und dabei den »ZwischenfalU, der in der 
Vorlesung passierte - Kraus hatte Alfred Kerr »6fTentlich einen 
Schuft« genannt, »um zu sehen, ob ich ihn auf diese Weise zu einer 
Klage werde zwingen konnen« -, als dynamisches Zentrum de$ 
Abends hinstellen. (Briefe, 466) Genau so hatte Benjamin den Bericht 
audi verfafk. Veroffentlicht wurde er jedoch - So ist Berlin - in ver- 
stummelter Form; dariiber und uber die wiederhergestellte Fassung 
(s. Bd. 4, 515-517) ist in den Anmerkungen dazu ausfuhrlich berichtet 
(s. a. a. O., 1038 f.). Benjamin hat drei Jahre spater, bei Gelegenheit 
einer Auffuhrung der »Perichole« in der Berliner Stadtischen Oper, 
eine ahnliche, weit schmerzlichere Erfahrung machen miissen (s. u.). - 
In dem Brief vom Marz 1928 fugte er dem Bericht, den er Alfred 
Cohn gab, nodi die Bemerkung hinzu: Im Ubrigen hatte ich von 
Kraus einen grofieren Eindruck als je bisher. Jetzt ridmlich, da er 
seine adaquaten Gegenstande gefunden hat y ist er, bis in die auflere 
Natur hinein, gewachsen, aufrechter und entspannter geworden. 
(Briefe, 466 f.) Scholem sdirieb er im Oktober: In Sachen Kraus- 
Kerr - ja, da geht es hoch her et moi-meme fy suis pour un tout 
petit pen. Inzwischen ist eine neue Groteske (Fall des Czernowitzer 
Irrsinnigen - Paul Verlaine-Zech [s. Die Fackel, Nr. 778-780]) 
dazugekommen - monumentale und von Eurem ergebenen Diener 
vorbergesagte, wenn auch in ihren diluvianischen Maflen nicht abge- 
schdizte Blamage von Kraus. (Und, zu seiner Ehre set es gesagt: eine 
verdiente). (Briefe, 484) Noch ist der grofie Essay, der all das verar- 
beitet, nicht begonnen, noch die ganze Ideenmasse in Bewegung, die 
sich zum Gegenstand ausholender Darstellung zu formen beginnt. 
Dabei behalt Benjamin Kraus immerfort im Auge. In seinen berliner 
Demarchen, vom grojlen Fackelheft gegen Kerr an, zeigt sich eine so 
ungluckliche Hand, dafi aus der geplanten Vbersiedlung [Kraus 3 ] 
hierher wohl nichts werden wird. Gleichzeitig mit der Mitteilung er- 
ging an Scholem, ganz submissest, die Bitte um die Bemerkungen zu 
Kraus und der Halacha (Briefe, 490), die vier Wochen spater, am 



1080 Anmerkungen zu Seite 334—367 

15. 3. 1929, dringlicherj wiederholt wurde - die Bemerkungen uber 
die Herkunft von Kraus' Sprache aus dem Musivstil - Halacha- 
streit (Briefe, 492), deren Benjamin aus den Gesprachen uber die 
ersten Beitrage zum Angelus Novus sich erinnerte. Ein Jahr spater 
endlich verlauteten die ersten - brieflich bezeugten - Nachrichten 
von der Arbeit am Essay. Ende Marz 1930 heifk es: Ich hatte die 
Unvorsichtigkeit, einen der Autoren zu vergessen, die Sie [scil. 
AdornoJ mix unter denen nannten, welche iiber Kraus gescbrieben 
haben. Ich glaube, der Name frappierte mich sogar sehr als Sie ihn 
nannten. Ich weifi: [Leopold] Liegler, [Theodor] Haecker, [Bert- 
hold] Viertel - dann war noch einer [Robert Scheu? Otto Stoessl? 
beide werden im Essay zitiert; s. 339, 342]. Sie bezeichneten ihn, 
wenn ich mich recht entsinne, als Schiiler von Kraus. [Absatz] Konn- 
ten Sie die Freundlichkeit haben, mich umgehend auf einer Karte zu 
informieren? (29. 3. 1930, an Theodor W. Adorno) Und, knapp vier 
Wochen spater, schrieb er an Scholem: Mein Vertrag mil Rowohlt 
uber den Essayband [meine gesammelten Essays, die im Frubjabr 
1931 herauskommen sollten, s. Scholem, a. a. O., 208, jedoch nie er- 
schienen] ist abgeschlossen. Ich babe fur diesen noch eine ganze Anzahl 
Stucke fertigzustellen und arbeite zur Zeit an einem »Karl Kraus* , der 
etwa den Umfang des »Green« haben soil [s. 328-334; tatsachlich ge- 
riet er iiber fiinfmal so lang]. Das Studium der Literatur uber Kraus 
in alien thren Teilen [eine Liste bietet das Paralipomenon Ms 364; 
s. 1097] ist hochst inter essanL (Briefe, 514) Fur mein Essay buch, heifk 
es Mitte Juni 1930, bereite ich, immer noch, einen Karl Kraus vor. 
(zit. Scholem, a. a. O., 203) Und in einem Situationsbericht aus der 
Stille vom Anfang Oktober: »Karl Kraus* wachst sich langsam zum 
Neun-Monats-Kind aus. Ich bin gewifi, dajl das letzte Heft der Fackel, 
das den Briefwechsel mit der Literarischen Welt enthalt, schon in Dei- 
nem Besitz ist. Haas gibt da das abschreckende Beispiel eines echt 
deutschen Praventivkrieges. Im ubrigen beginnt, wahrend ich dieses 
schreibe, eine Ojfenbachvorlesung von Kraus, die ich nah daran war 
zu besuchen. Ich vertroste mich aber auf eine Vorlesung des »Timon« 
[s. Karl Kraus, Shakespeare, »Timon von Athen«. Nach der Uber- 
setzung von Dorothea Tieck fiir Rundfunk und Buhne bearbeitet und 
sprachlich erneuert, 1930], die im November, im Rundfunk statt- 
findet. Die Erleuchtung, die ich mir gerade von ihr fur Kraus wie fur 
Shakespeare verspreche, ist betrachtlich. (Briefe, 518) Zu dieser Zeit 
war er in der Arbeit am Essay mitteninne, und am 5. 2. 1931 konnte 
er Scholem vermelden: Ungefahr gleichzeitig mit diesem Brief wird 
[. . .] eine grofiere Sendung, sagen wir, Selbstgeschriebenes an Dich 
abgehen. Darunter nun auch ein Stuck, das mich gleich zu einem der 
Grunde meines langen Schweigens fuhrt. Dies ist ein Durchschlag des 



Anmerkungen zu Seite 334—367 108 1 

»Karl Krau$€ t an dem ich aufierordentlich lange, nahezu etn Jahr 
und den letzten Monat unter vblliger Beiseitesetzung samtlicher per- 
sonlicher und materieller Verp filch tungen gearbeitet habe [von etwa 
Marz 1930 also bis Anfang Februar 1931]. Es werden da allerhand 
Stichworte aus einer Zeit vox Dir auftauchen, die man weifi Gott 
vielleicht schon unsere »]ugend* nennen kann. In diesem Sinne sollst 
Du es verstehen, wenn ich Dir die Handschrift - welche die vierte 
Fassung des gesamten Stoffs darstellt - fur Dein Archiv vorbehalten 
und auf Wunsch zuschicken werde. (zit. Scholem, a. a. O., 206) Scho- 
lem war von dem Essay ebenso beeindruckt wie aufgebracht: er hat 
den »sdiarfen Frontalangriff« auf die darin vollzogene, »direkt als 
marxistisdi plakatierte Wendung« ausgelost (a. a. O., 182), der in 
»die grofie schriftliche Auseinandersetzung« iiberging, »die zwischen 
Marz und Mai 1931 zwischen uns [. . .] stattfand.« (a. a. O., 210; 
s. Brief e, 525-535) Mitveranlafit war die Attacke u. a. durch die Kopie 
des Briefes vom 7. 3. 193 1 an Max Rychner, die Benjamin Scholem 
zugesandt hatte; darin heifk es: Indem ich Sie fiir diese Improvisation 
[scil. einer Antwort auf Rychners Frage Cur hid] um Verzeihung 
bitte - vor einem Schweigen hat sie nur den Vorzug der Hoflichkeit - 
darf ich Ihnen zugleich vielleicht sagen, dafi Sie jundiertere Antwor- 
ten [. . ./ zwischen den Zeilen eines Essays »Karl Kraus* finden diirf- 
ten, der demnachst wohl in der ^Frankfurter Zeitung« erscheinen 
wird. (Brief e, 524) »Die von Dir ausgesprochene Erwartung, dafi ein 
offenbar so verstandnisvoller Leser wie Herr Rychner in diesem [be- 
wunderungswiirdigen] Essay in audi nur irgendeinem Sinne eine 
Rechtfertigung Deiner Sympathien fiir den dialektischen Materialis- 
mus >zwisdben den 2eilen< werde zu finden wissen,« erwiderte Scholem 
provokant, »scheint mir vollig triigerisch: vielmehr wird das genaue 
Gegenteil der Fall sein« (Brief e, 525 f.); leider ist die brief liche Reak- 
tion Rychners selbst nicht bekannt. - Drei Tage spater, am 10. 3., be- 
gann der Essay in der » Frankfurter Zeitung« zu erscheinen - insge- 
samt in vier Folgen; die zweite erschien am 14., die dritte am 17. und 
die letzte am 18. 3. (s. »Uberlieferung«). Er war Gustav Gliick ge- 
widmet. 

Noch im gleichen Monat brachten die »Blatter der Staatsoper und 
der Stadtischen Oper [Berlin] «, anlafilich der Auffiihrung von Offen- 
bachs »Perichole« in der Textbearbeitung von Kraus, den Abdruck 
einer langeren Passage aus dem dritten Teil des Essays (s. 356,5- 
361,8) unter dem (Benjaminschen?) Titel Offenbach - gesehen von 
Karl Kraus (s. »Uberlieferung«) - wie es schien, in volliger Oberein- 
stimmung mit dem Wortlaut des Essays. Dafi dem - an entscheiden- 
der Stelle - nicht so war, hat Kraus selbst sehr schnell herausgefun- 
den. In seinem am 2. 4. 193 1 in Berlin gesprochenen Vortrag »Um Pe- 



1082 Anmerkungen zu Seite 334—367 

richole« ging er, nach Abfertigung der Staatsoperndirektion, von der 
er Streichungen an seiner Textbearbeitung fiir die zweite Auffiihrung 
der Operette zu befiirchten hatte, auf eine andere Streichung ein: »In 
dem ganzen Umkreis dieser zwar Offenbach betreffenden, aber kei- 
neswegs >leiditen Angelegenheit< lasse idi nur eine einzige heimlich 
erfolgte Streichung hingehen, deren Resultat sich im Programmheft 
der Krolloper findet. Dort ist namlich ein Aufsatz iiber meine Be- 
trachtung Offenbachs aus einer Serie, die die Frankfurter Zeitung 
veroffentlicht hat, abgedruckt. Ich hatte dieser Arbeit, die sicherlich 
gut gemeint und wohl audi gut gedacht ist, im wesentlichen nur ent- 
nehmen konnen, dafi sie von mir handelt, daft der Autor manches 
von mir zu wissen scheint, was mir bisher unbekannt war, obschort 
ich es audi jetzt noch nicht klar erkenne, und ich kann blofl der HofF- 
nung Ausdruck geben, dafi sie die andern Leser besser verstanden 
haben als ich. (Vielleicht ist es Psychoanalyse.) Der Nachdruck im 
Programmheft zu >Perichole< nun betrifft eine Wiirdigung, die meinen 
Vortrag von >Pariser Leben<, der angeblich von wilden Gebarden des 
Marktschreiers begleitet war, mit abgrundigem Feuilletonismus be- 
handelt und in der dargestellt wird, wie dort, >wo diese wetter- 
wendische Stimme laut wird, die Blitze der Lichtreklamen und der 
Donner der M^tro durch das Paris der Omnibusse und Gasflammen 
fahren<, und das Werk >verwandelt sich in einen Vorhang<, den ich 
beiseite reifSe, um den Blick ins Innere meines Schreckenskabinetts 
frei zu geben [s. die Stelle im Zusammenhang, 356,28-357,13]: [Ab- 
satz] >Da stehen sie: Schober, Bekessy, Kerr und die andern Num- 
mern, nicht mehr die Feinde, sondern Raritaten< usw. [Absatz] Diese 
Stelle war mir verstandlich [namlich in der Version der » Frankfur- 
ter Zeitung«; s. Nr. 202 vom 17.3* I 93 I (Jg* 75)] J i& habe mich 
nur, als ich den Aufsatz in der Frankfurter Zeitung las, gewundert, 
dafi man einen Mann wie Bekessy, dessen Verlust das ist, was ich fiir 
mein engeres Vaterland so schmerzlich empfinde, in einem Atem mit 
Schober und Kerr nennen kann. Diesem Obelstand hat nun ein Funk- 
tionar der Krolloper [. . .] teilweise abgeholfen, indem der Satz, der 
das Inventar meines Schreckenskabinetts bezeichnet und der entschie- 
den eine Lange enthalt, im Programmheft nunmehr wie folgt lautet: 
[Absatz] >Da stehen sie: Schober, Bekessy und die andern Num- 
mern< usw. [Blatter der Staatsoper und der Stadtischen Oper, Berlin 
Marz 193 1 (Jg. 11, Heft 15), 2] [Absatz] Wie man auf den ersten 
Blick merkt, ist eine der Nummern und zwar gerade die zugkraftig- 
ste abhanden gekommen, was, wenn es Kastan widerfahren ware, 
ganz gewifi zu einer Anzeige wider unbekannte Tater gefuhrt hatte. 
Man wird mir glauben, dafi sowohl der Setzer wie ich an dieser Ent- 
fernung, oder sagen wir an dieser Streichung, die sich aus theaterprak- 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1083 

tischen Griinden als notwendig erwiesen hat, unschuldig sind. Idi habe 
die Aufnahme des Essays weder angeordnet nodi uberwacht und das 
Recht auf Reklamierung der Wachsfigur stent in diesem Falle leider 
nicht dem Inhaber des Sdireckenskabinetts zu, sondern nur dessen 
Sdiilderer [also Benjamin], der wohl auf Vollzahligkeit Wert legen 
und fur sich die Autorrechte geltend machen wird, die man dem Ur- 
heber des deutschen Textes der Perichole [also Kraus] verkurzen 
wollte.« (Die Fackel, Mitte Mai 1931 [Jg. 33, Nr. 852-856], 27^) 
Benjamin war an der Streichung unschuldig. Spatestens wohl nach dem 
orTentlichen Vortrag von Kraus im Berliner Breitkopfsaal am 2. April 
durfte er bei dem Verantwortlichen der Operndirektion die Riditig- 
stellung seines Textes durchgesetzt haben, denn schon im ubernachsten 
Heft der »Blatter der Staatsoper und der Stadtischen Oper« wurde 
eine »Berichtigung« abgedruckt. Kraus hat sie Ende Juli 1931 in der 
Glosse »Ein aufgemachter Strich« zitiert. Die Glosse beginnt mit 
dem Satz; »Wie man aus der Rede >Um Perichole< erfahren hat, 
war dem Leiter der Kroll-Oper, Herrn Curjel, eine einzige der heim- 
lich versuchten Streichungen gegluckt, namlich die des Namens >Kerr< 
aus dem Essay der frankfurter Zekung<, den er in den >Blattern 
der Staatsoper und der Stadtischen Oper< nachgedruckt hat.« Es folgt 
der Hinweis auf den Sachverhalt und das Selbstzitat der Vortrags- 
stelle, an der Kraus der Erwartung Ausdruck gibt, Benjamin (der 
iibrigens weder hier nodi im Vortrag mit dem eigenen Namen ge- 
nannt wird; audi nicht in dem, unter dem Titel »Der Fall Diebold« 
im Juliheft der Fackel abgedruckten Verlagsbrief an die Frankfurter 
Zeitung, wo nodi einmal auf die gleiche, merkwurdig ambivalente 
Art iiber den grofien Essay geurteilt wird; s. Die Fackel, Ende Juli 
I 93 I [Jg- 33» Nr. 857-863], 48 f. und 54 f.) werde seine Autor- 
rechte geltend machen. Dann fahrt Kraus fort: 

Er hat midi keineswegs enttauscht, und im Maiheft jener offiziellen Blatter 
(XL, 21) ist das Folgende erschienen: 

Beri chtigung 

Wir haben in Nr. ij des 11. Jahrgangs unserer Blatter einen Teil des Aufsatzes 
»Karl Kraus« von Walter Benjamin aus der Frankfurter Zeitung (Nr. 183, 195, 202, 
20 j ) gebracht. Die Wiedergabe eines Satzes ist ohne Wissen des Autors 
nicht vollstandig erfolgt. Dem Verlangen des Autors entsprediend geben 
wir den in Frage kommenden Satz nunmehr richtig, wie folgt, wieder: 

Da stehen sie: Schober, Bekessy, Kerr und die andern Nummern, nidit mehr die 
Feinde, sondern Raritaten, Erbstiicke aus der Welt Offenbachs oder Nestroys, nein, 
Altere, Seltenere, Penaten der Troglodyten, Hausgotter der Dummheit aus vorge- 
sdiichtlichen 2eiten. 

Worin die Abweichung bestand, wird nicht angegeben. Aber im Vergleich 



1084 Anmerkungen zu Seite 334—367 

der Fassungen beider Programmhefte stoflt der Leser auf den einzigen, so 
geringf ugigen Unterschied : 
Kerr. 

Selbst dieser Versuch einer Streichung ist also der Staatsoper am Platz der 
Republik nodi knapp vor Torschlufl miftgltickt. Der Strich mufite aufgemacht 
werden wie alle jene, die am Vormittag des 31. Marz angeordnet wurden. 
»Fatale Situation fur Seine HoheitU heifit es in der »Seufzerbriicke«, nodi 
weit fataler als wenn diese Streidiung, die sich wirklich aus theaterprak- 
tisdier Notwendigkeit empfahl, nie unternommen worden ware. Ja, auf 
heimlichen Strichproben ruht kein Segen. Curjeleison! (auf deutsch: Kerr, 
erbarme dich!) mochte der General musikdirek tor Klemperer ausrufen, der 
viel zu katholisdi orientiert ist, als daft ihm sol die Dinge nicht wider den 
Strich gingen. 

(Zit. nach Die Fackel, a. a. O., n^'f.) Aus einem erst neuerdings, im 
Erinnerungsbuch von Sdiolem, veroffentlichten Brief Benjamins, etwa 
vom Juni 193 1, geht hervor, daft er den Kraus-Vortrag Anfang April 
selbst nidit gehort, wohl aber genaue Kenntnis davon erhalten hatte. 
Der Ton, in dem er von der Angelegenheit spricht - er ubersah sie zu 
diesem Zeitpunkt nodi nicht bis in alle Einzelheiten -, zeugt von be- 
herrsditem Uniiberraschtsein. Scholem »hatte ihn sdion im Mai« auf 
die »sehr reservierte, um nicht zu sagen verstandnislose Aufterung 
von Kraus (in der >Fackel< vom Mai [s. o.]) [. . .] aufmerksam ge- 
macht. Er schrieb mir dariiber: [Absatz] Du bist nun in die Materie 
womoglich tiefer eingedrungen als ich - denn mir ist das Heft der 
Fackel, von dem Du in der Tat die erste Nachricht an mich brachtest, 
noch nicht zugekommen . . . Ein Urteil iiber das was Kraus schreibt, 
mufi ich mir bis zu dem Augenblick, da ich es gelesen habe, vorbehal- 
ten, denn ich weifi nicht, wieweit es einer Rede entspricht, die er vor 
etwa 8 Wochen [am. 2. 4. 193 1; s. o.J in einer Vorlesung gehalten 
hat und uber die ich naturVidi, ohne sie gehort zu haben, genau in for- 
miert bin. Wie dem auch sei - die Reaktion von Kraus konnte in 
einem Wort vernunflgemafi garnicht anders erwartet werden, als sie 
ausgefallen ist; und ich hoffe nur dafi auch die meine noch in den 
Bereich des vernunfimafiig Vorherzusagenden fallt; dafi ich n'dmlich 
nie wieder uber ihn schreiben werde.« (Scholem, a. a. O., 215?) Dabei 
ist er in der Tat auch geblieben. Hier etwas wie Beleidigtsein unter- 
stellen zu wollen, miifite angesichts dessen, was er an Umiberholba- 
rem - und gewift nicht zu Revidierendem - iiber Kraus vorab im 
Essay und im Kriegerdenkmal geschrieben hatte und was »Psycho- 
analyse« bestimmt nicht und »Feuilletonismus« am wenigsten war, 
schlechter dings abwegig bleiben. 
Wenn es keine orTentliche Aufterung Benjamins iiber Kraus mehr gibt, 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1085 

so die eine und andere brief liche aus spateren Jahren. Aus Svendborg, 
wohl Ende Juli 1934, schrieb er an Werner Kraft: Noch stehe ich unter 
dem Eindruck der gestern um Mitternacht [im Radio} verlesenen 
Regierungserklarung von Starhemberg, die einen grandiosen Hokn 
auf die gesamte satirische Liter atur von Juvenal bis Kraus darstellt. 
Vbrigens gehen Uber die Stellung von Kraus recht verbiirgte aber doch 
fast unglaubliche Nachrichten in dem Sinne um, dafi er die Politik 
von Dollfufi als das kleinere Obel akzeptiert habe. (Immerhin sind 
die Burgschaften keine liickenlosen, so dajl ich Sie bitte, das streng fiir 
sich zu behaltenl) (Brief e, 616; dazu s. den Essay von Wilhelm Alff 
»Karl Kraus und die Zeitgeschichte. i^zy-i^}4« in der Sonderausgabe 
der »Dritten Walpurgisnacht«, hg. von Heinrich Fischer, Munchen 
1967, 317-365). Auf die Anfrage Scholems, ob ihn das Fackelheft mit 
dem Titel »Warum die Fackel nicht erscheint« (Ende Juli 1934, Jg. 
36, Nr. 890-905) erreicht habe, antwortete er Mitte September: Ja, 
die letzte »FackeU ist auch in meine Hande gekommen. Aber nach 
dieser Beruhrung konnten wohl auch die eines Galizianers ihre Be- 
redsamkeit einbufien - von meinen Lippen garnicht zu reden. Hier 
ist wirklich ein neuer Timon aufgestanden, der den Erwerb seines 
Lebens hohnlachend unter die falschen Freunde verteiltl (Brief e, 620) 
Und gegen Ende September heifk es, in einem Brief an Kraft: Zu 
den Einzelheiten der grojlen Darlegung der Fackel kann ich micb 
noch nicht aujlern, ja, ich mufl dahingestellt sein lassen, ob ich es je 
werde tun konnen. Die Kapitulation vor dem AustrofaschismuSj die 
Bescbonigung des gegen die Wiener Arbeiter eingesetzten weifien Ter- 
rors, die Bewunderung fiir die - Lassalle ebenbiirtige - Rhetorik 
von Starhemberg (dessen Worte ich zuj'dllig selber im Rundfunk horte) 
- all die hier einschldgigen Stellen - die ich las - machen die Befas- 
sung mit ferneren fiir micb zu einer unverbindlichen Sache, die — ob 
ich ihr nun nahertrete oder nicht — fiir mich sich in der Frage schon 
liquidiert hat: Wer kann nun eigentlich noch um fallen? Ein bitterer 
Trost - aber auf dieser Front wer den wir keinen Verlust mehr haben y 
der neben diesem auch nur der Erwahnung wert ware, Der Damon ist 
starker als der Mensch bezw. der Unmensch gewesen [s. die Ab- 
schnitte Damon (345-354) und Unmensch (354-367) des Essays]; er 
konnte nicht schweigen und so hat er — im Selbstverrat — den Unter- 
gang des Damons gefunden. (Brief e, 623) Diese gleich tiefblickenden 
und unnachsichtigen Satze haben zum - vorlaufigen - Abbruch des 
brieflichen Austauschs mit Kraft uber Kraus gefiihrt. Im November 
1934 schrieb er ihm: Dafi wir unsere Betrachtungen uber Kraus 
schriftlich nicht fortsetzen, schlagen Sie mit Recht vor. Ich mochte Sie 
aber auf einen kleinen Sonderdruck aufmerksam machen, in dem, zu 
Kraus 3 sechzigstem Geburtstag, Freunde ihrem Dank und ihrer An- 



1086 Anmerkungen zu Seite 334—367 

hanglichkeit Ausdruck gegeben baben, weil ido nicht weifi, ob er 
Ihnen zu Gesicht gekommen ist [s. Stimmen uber Karl Kraus zum 
60. Geburtstag, Wien 1934] /. . ./ Eine recbt scbone Betracbtung 
von Viertel steht darin; ubrigens auch ein Gedicht von Brecht [»Uber 
die Bedeutung des zehnzeiligen Gedichts in der 888. Nummer der 
Fackel (Oktober i933)«]- (Briefe, 630) Dafi von Rancune bei alle- 
dem nicht die Rede sein kann, zeigen vor allem audi die Worte, die 
Benjamin uber zwei Jahre spater, in einem Brief an Scholem, zum 
Tode von Kraus fand: Sebr genau wurde ido uber [seine] letzten 
Lebenswocben [. . ./ letztbin unterrichtet. Sie sind dieses grofien Le- 
bens wurdtg; und nacbdem man von ihnen vernommen bat, ersdoeint 
einem das Ende Timon von Athens wie eine Didotung von Frieda 
ScbanZy verglidoen mil dem shakespearischen Weltgeist der das von 
Kraus dichtete. (Briefe, 730) Kraus war am 12. 6. 1936 gestorben. 
Der ihn von den letzten Lebenswocben unterrichtet hatte, war Werner 
Kraft. Aus Svendborg schrieb er diesem im August 1936: Da/1 dieser 
Tod Sie hart trifft, verstebe icb wohl. Icb bin Ihnen dankbar fiir die 
Kopie der Brief stelle seiner Freundin [Helene Kann; s. deren »Er- 
innerungen an Karl Kraus« in der Basler »National-Zeitung« vom 
22. 4. 1944]. Dem Dank geht dieser - beschamende - Bericht vor- 
aus: Gestern traf das zweite Heft des »WorU - der neuen in Moskau 
deutsch erscheinenden Literaturzeitscbrifi - bier ein. Brecht war, wie 
Sie sicb denken konnen, sehr unwilligl,] in dem ungezeicbneten und 
daher die Verantwortlicbkeit der Redaktion, der aucb er angehort, 
angehenden »Vorwort« einige sehr torichte und respektlose Worte 
uber Kraus zu lesen* Sie unterscheiden sicb allzuwenig von dem scbam- 
losen Text, den [Ernst] Benkard aus Anlafi des Todes in der Frank- 
furter Zeitung hat drucken lassen. (Briefe, 720 f.) Vielleicht der - 
durch den erschiitternden Lakonismus - Kraus gemafieste Nachruf, 
der uberhaupt geschrieben wurde, steht versteckt in einem Brief von 
1939 an Bredhts Mitarbeiterin Margarete Steffln: Karl Kraus ist 
denn docb zu friih gestorben. Horen Sie: die Wiener Gasanstalt hat 
die Belief erung der Juden mit Gas eingestellt. Der Gasverbrauch der 
judiscben Bevolkerung bracbte fur die Gasgesellschaft Verluste mit 
sich> da gerade die grojiten Konsumenten ihre Rechnungen nicht be- 
glichen. Die Juden benutzten das Gas vorzugsweise zum Zweck des 
Selbstmords. (Briefe, 820) 

Was Benjamins grofien Essay angeht, trafen die Herausgeber auf 
eine auftergewohnlich reiche Oberlieferungslage. Vorhanden sind fol- 
gende Zeugen: 1. der Erstdruck in der »Frankfurter 2eitung« (die 
Siglen und ggf. Archivsignaturen dieses und der nachfolgend genann- 
ten Zeugen s. unter »Uberlieferung«); 2. ein Sonderabzug von (1) in 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1087 

Gestalt einseitig bedruckter Zeitungsbogen; 3. ein Typoskript, signiert 
Handexemplar; 4. ein Manuskript, Niederschrift - eher Reinsdirift - 
jener vierte[nj Fassung des gesamtenS toffs, die icb Dir [scil. Scho- 
lem] fiir Dein Archiv vorbehalten und auf Wunsch zuschicken werde 
(s. o.; die Obersendung ist erfolgt, s. Scholem, a. a. O., 182); 5. ein 
Konvolut zahlreicher Paralipomena; 6. der Teilabdruck Offenbach - 
gesehen von Karl Kraus aus der letzten Folge des Essays in der 
»Frankfurter Zeitung«, in einem Exemplar der »Blatter der Staats- 
oper und der Stadtischen Oper« Berlin. - Zwischen (1), (2) einerseits 
und (3) andererseits besteht ein chronologischer Bruch insofern, als 
die unmittelbare Druckvorlage fiir den Zeitungsdruck fehlt,* d. h. 
das Handexemplar signierte Typoskript hat zahlreiche, stellenweise 
nidit unbetrachtliche Abweichungen gegeniiber dem Zeitungsdruck 
und den Sonderabziigen (2), die untereinander und (mit Ausnahme 
der Abschnittszahlung) mit jenem identisdi sind (iiber die einzige 
betrachtliche Abweichung im Nachdruck der »Blatter der Staatsoper« 
ist oben ausfuhrlich bericiitet). Die Reinsdirift wiederum weist zahl- 
reidie Abweichungen gegeniiber dem Typoskript auf (hochst auf- 
schlufireiche, namentlich was die teilweise noch krasseren materiali- 
stischen Formulierungen am Ende betrifft). Als Druckvorlage hatten 
die Herausgeber den Zeitungsdruck zu betrachten - trotz Handexem- 
plar und Reinsdirift, denn jener zeigt eindeutig die letzte Bearbei- 
tungsstufe gegeniiber dem Handexemplar und hatte - wenn es audi 
durch die fehlenden Korrekturfahnen nidit mehr zu belegen ist - 
das Imprimatur des Autors erhalten. Samtliche Varianten aus Hand- 
exemplar, Reinsdirift und Teilabdruck wurden als Lesarten verzeidi- 
net. 

Das Konvolut (5), von Benjamin selbst Paralipomena zum Kraus 
benannt (Benjamin-Ardiiv, Ms 335-366), besteht aus iiber 30 Blattern 
verschiedenen Formats, darunter fiinf einer friihen Niederschrift, meh- 
rere mit iiberwiegend in den Text eingegangenen Aufzeichnungen, 
solche mit Dispositionsschemata, Exzerpten und bibiiographischen 
Notizen, sowie eines, betitelt Neue Denkspruche feiern die Ent- 
kraftung der altesten Erfahrungen (a. a. O., Ms 358). Dieses zum 
Teil iiberaus interessante Aufzeichnungsmaterial, das u. a. Einblick in 
die Art gewahrt, wie Benjamin den Weg zum Materialismus und 
realen Humanismus sidi bahnte, wird im folgenden abgedruckt. Da 
eine durchsichtige Anordnung der Blatter im Konvolut nicht erkenn- 
bar war - sie ist durch die numerische Folge der Signaturen ausge- 
driickt -, haben die Herausgeber die Aufzeichnungen in drei Kom- 
plexe gegliedert, in deren Reihenfolge sie hier wiedergegeben werden. 
Von Benjamin gestrichene Passagen stehen in gesdiweiften Klammern. 



1088 Anmerkungen zu Seite 334—367 

Paralipomena zum Kraus 

1. Schemata, Skizzen und Stichwortsammlungen 

a. Friihe Gesamt-Dispositionsschemata 

Geist und Politik 

S p r a c h e und Eros 

Die Unfehlbarkeit 

Moralische und materielle Unbescholtenheit 

Literarische und ]uristische Polemik 

HUter der spracblichen Tradition 

Gewalt der Menschlichkeit 

Das Positive 

Freiheit und Menschlichkeit 

Je ein Vers als Motto jedes Teils 

{Insuffizienz im Kampfe gegen die Presse 

Geist und S e xualit'dt} 

Motive, die auf drei Stufen durchgefuhrt werden 
{Menschlichkeit und FreiheitiGeist und Sexualitdt/Sprache und Eros 
Katholische/fanatischeimimetische Polemik 
Der Anhdngerlder Gegner/der Verwender 
Das Tier/die Hure/das Kind} 
Angriff auflKlage gegenl Kommentar zur Presse 
{Abdruck/Auseinandersetzung/Zitat 
Letztes Wort/Wortspiel/Reimwort} 
Vorleser/Dramatiker/Beschworer 
Polemikeri PredigerlPolitiker 
{Selbstbehauptung/Selbstbespiegelung/Selbstentlarvungl-Jbeschei- 

dung} 
Der Menschlder D'dmonlder Jude 
{M ensch I Naturl Revolution (Natur gleich Lauterkeit)} 
Reform der Presse/Vernichtung der Presse! Benutzung der Presse 
{Unfehlbarkeit/Selbstwiderspruch/Unantastbarkeit 
Das Cafe/das Arbeitszimmer (Nacht)fder Vortragssaal} 
SinnenlustfLiebeiGluck 
{Wie laut wird alles/Eben schlaf ich ein/Schon fallt der Schnee 

lallein bin ich, alleinl} 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 339 

b. Dispositionssdiemata und -skizze zu II (s. 345-354) 
Pessimismus 

Kraus als ethische Persbnlichkeit 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1089 

Klage (Ubergang zum Recht) 4a 

ijc (Judentum) und die Konversion 

2) Studie zum Ubergang der Abhandlung uber das Idiosynkratische 
zum Recht [darunter: ZahlensiglenkolonneJ 

1) Studie zum Aufbau der Abhandlung uber das Idiosynkratische 
[darunter: ZahlensiglenkolonneJ 
[daneben:] Eitelkeit und Zweideutigkeit 

3) Zum Aufbau der Abhandlung uber die Schuld 

[darunter: ZahlensiglenkolonneJ 

4) Studie zum Aufbau der Abhandlung uber die Hure 

[darunter: ZahlensiglenkolonneJ 

S c h ematisierun g des zweiten Teils 
Kraus als ethische Personlichkeit 

{Pessimismus} Eitelkeit Damonie 
Definition des Damonischen Das Damonische als das 

Geist und Sexualitat Onanie Witz Zweideutige 

....... ~ . 1 n 1 lm Verhaltnis zu seiner 

Verhaltnts von Geist una Recht . „ 

mit RUcksicht auf die Sprache j • 1 • J 

•* D*_L •_/* i j- r 1 ■*. die sie zugleich 
mit Ruckstcht auf ate Frethett ^ 1 1 . 

' zum Opfer macht 

Verhaltnis von Sexualitat und Hure und zum Gegen- 

mit RUcksicht auf den Eros stande der Eitel- 

mit RUcksicht auf die {Menschlichkeit} keit 

Drudtvorlage: Benjamin- Ardiiv, Ms 344 

Das Positive und das Idiosynkratische 
Das Recht 
Die Schuld 
Die Hure 
Die Eitelkeit 
Die Einsamkeit 
Die erste Zeitung 
[hinter alien Stichworten Zahlenbuchstaben-Siglen] 

Drudtvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 3J4 

Unter Umstanden ist die Debatte des Begriffs des »Geistes« aus 
der ganzen Abhandlung uber das Recht zu streichen, urn sie erst 
bei der uber die Hure zu geben. 

Wedekind im zweiten Teil zu nennen. 

Drudtvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 351 



1090 



Anmerkungen zu Seite 334—367 

Der Scbauspieler 



Damon u. Dialektik 

Expressionismris - 



2 Damon 



Gegen den Geist- 



3 Hure 



-Technik der Lust 
Einsamkeit 



Das Positive 
Eitelkeit 



Journalismus 



Spracblehre 



Polemik- 



1 Recht 



- Entlarvnng and Bemtzung 



homo politicus 

[Hauptstichworte umrahmt und schraffiert, periphere Stichworte nur 
umrahmt; unter den letzteren Zahlensiglen-KolonnenJ 

Druckvorlage : Benjamin- Archiv, Ms 342 

c. Dispositionsschemata und Notizen zu /// (s. 354-367), zum Teil 
(s. Ms 357) vermischt mit solchen zu // (s. 345-354) 

(Dispositionsschemata) 

[dazwisdhen:] 

Was Kraus als Literaturkritiker geleistet hat, heruht durchaus auf 

seiner Auseinandersetzung mit dem Expressionismus. Werfel 

Entwicklung des realen, d. h, urspriinglichen Humanismus aus dem 

kindlichen Sein. 

Motive des dritten Teils 

Sprache und Eros 

Gerechtigkeit 

Unmensch 

Personlichkeit 

George 

Konflikt zwischen dem Bildungshumanismus 
und dem des Vrsprungs: Allmensch und Unmensch. 

Drudkvorlage: Benjamin- Archiv, Ms 352 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1091 

2. Aufzeichnungen 

a. Vermischte Aufzeichnungen, nicht in den Paralipomena zum Kraus; 

Zu Karl Kraus (ca. 1928), Schemata I (wahrscheinlich vor Sommer 

1930), Schemata II (wahrscheinlich Sommer 1930) 

Zu Karl Kraus 
Aus »Nachts« und aus »Pro domo et mundo* sind die Stellen zusam- 
menzufassen, in denen er uber seine ndchtliche Arbeit spricht, Man 
wird dann die Nacht als das Medium begreifen, in dem die damoni- 
schen Krafie seines Tagerlebens sich zersetzen, abmontiert und zer- 
streut werden, um sich in der Produktion nach deren eignen Gesetzen 
ganz neu zu gruppieren. Denselben medialen Wert darf man vielleicht 
auch seiner Lyrik zusprechen. [$. 3^4, $-24] 

Dialektische Position seiner Politik. 

»lch bin der Geist der stets verneint.* Kraus und Mephisto 

Zerspaltende Energien: Auseinandersetzung mit Goethe, Nietzsche, 
HofmannsthaL 

Das Archiv des Verlags der FackeL Betrachtung von der Quantitat 
aus (die in Qualitdt umschldgt). Die Fackel als Quellenwerk. Line 
Auslegung von »Viele werden einst Recht haben. Aber es wird Recht 
von dem Unrecht sein, das ich heute habe.« Denn sie kommen ja nicht 
auf die Nachwelt, Aujler durch ihn. [s. 343, 29-39] 

Kraus und Paul Louis Courier 

Druckvorlage: Benjamin- Archiv, Ms 673, S. 69 

Schemata zu »Karl Kraus* </) 

{»Nachts« - hiermit ist nicht die Mutter Nacht, nicht die ro- 
mantische, sehnsuchtige Nacht gemeint sondern wie viele Stucke be- 
weisen die Stimmung zwischen Schlaf und Wacben, die Zone des 
Entschlummerns, deren damonische Krafle die grofie Transformations- 
station bilden, aus der die Produktion dieses Mannes hervorgeht. 

»Ich arbeite Tage und Nachte. So bleibt mir viel freie Zeit. Um 
ein Bild im Zimmer zu fragen, wie ihm die Arbeit gefallt, um die Uhr 
zu fragen, ob sie miide ist, und die Nacht, wie sie geschlafen hat.* 

Vor allem ist die Nacht hier die Station, wo blofier Geist in 
blofle Sexualitat, blofte Sexualitdt in blofien Geist umschldgt und wo 
diese beiden lebenswidrigen Absoluta indem sie ihre innerste Identitat 
an den Tag legen zur Rettung finden. Der Realitdt dieses bloflen 
Geistes gegeniiber, den Kraus in der Gestalt seiner Gegner mit dem- 
selben Rechte als satanisch erkennt, mit dem er selbst ihn gegen sich 
als todlichste Waffe bandhabt, ist der reine Geist, den seine Anhanger 
im Wirken ihres Meisters verehren, eine blofie Chimdre. Und wenn 
Kraus selber sie bisweilen auch straflos zitieren kann, weil das Feuer- 
gehege seiner tausend Verneinungen ihn beschutzt, so verschlingt sie 



1092 Anmerkungen zu Seite 334 — 367 

die Enthusiasten mit Haut und Haar, macht ihre Begeisterung und sie 
selber zunichte. 

Die verschiedenen Aggregatszustdnde der Einsamkeit die Kraus 
kennt: die Nacht, das Cafe. Zum Cafe als damonischer Form der 
Einsamkeit s. Polgars »Cafe Central*. Vbrigens ist auch die Liebe ein 
Refugium seiner Einsamkeit. Die Einsamkeit als ein Prozefi der Selbst- 
vergi flung, dessen Antitoxine im schopferiscben Verhalten liegen.} 

»Im Halbschlaf erledige ich viel Arbeit. Eine Phrase erscheint, 
setzt sicb auf die Bettkante und spricht mir zu. . . .« 

{Fur Kraus spielt im Verhaltms zu den Gegenstdnden seiner 
Polemik das Mimetische eine entscheidende Rolle. Er macht seine 
Gegner nach, um in den kleinsten Fugen ihrer Haltung, die sich nur 
ihm [?] zeigen, das Brecheisen seiner Inter polationen anzusetzen. Les- 
sings beriihmter Satz, wenn Gott in seiner einen Hand die Wahrbeit, 
in seiner Andern das ewige Streben nach ihr mir entgegenhielte, ich 
wiirde die zweite wahlen; diesem Satze konnte Kraus das Pendant 
stellen: wenn Gott mir in einer Hand die Aufhebung des Ubels und in 
der Andern seine ewige Vermchtung entgegenhielte und liefie mich 
wahlen, ich wiirde die zweite wahlen. Physiognomisch steht diese Hal- 
tung des Polemikers im engsten Zusammenhang mit der prononzierten 
Hoflicbkeit, mit der Kraus einem Publikum gegenuber dankt[fj. Bei- 
des t seine Grausamkeit in der Polemik wie seine Hoflichkeit im Dan- 
ken[,] ist ndmlich chinesisch. Chinesische Hoflichkeit ist eine mimeti- 
sche: in den andern hineinkriechen. Mimikry der Hoflichkeit und des 
Hasses. Auch dies, und nicht nur seine Demut, ist chinesisch. 

Nachtragsschemata. Gluck wies mich darauf bin daft Kraus jed- 
weder Begriff von der wahren Wirkung seines Werkes fehle. Er siebt 
nur die Gemeinde der Hysteriker, die sich bei Vortragsabenden oder 
in Zuschriflen an die »FackeU bemerkbar machen. Er erfahrt dagegen 
nicht das Mindeste von denen, in welchen sein Werk seine eigentliche 
Wirkung tut,} 

Mir fehlt die Unterhaltung mit Gluck bei Schlichter. 

Druckvorlage : Benjamin-Archiv, Ms 674, S. 6 

Weitere Fundamente und Schemata 

Bei Kraus ist folgende V berschneidung iiblich: Reaktiondre 
Theorie begrundet revolutiondre Praxis so im Fall seiner Polemik 
gegen die Sexualjustiz (»Sittlichkeit und KriminalitdU) Kraus als ein 
Rumpelstilzchen: »Gott set Dank dafl niemand weifl I dafl ich Marx 
und Engels heifi.« 

{Zu diesem Schema: Insuffizienzen in seiner Verteidigung der 
Prostitution, die genau seinen Insuffizienzen in der Kritik des.Jour- 
nalismus entsprechen. Weder erkennt er die sozialen Fundamente der 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1093 

Hi 



QaAYH 




Presskorruption (Parteiwesen) noch ihre metapbysischen (Nachrich- 
tendienst). So verkennt er auch die Funktion der Prostitution im 
heudgen Klassenstaat und daft sie ihrem ursprunglichen Naturwesen 
dutch die Aufgabe entfremdet wird, im Abgrund zwiscben den Klas- 
sen der en Beziehungen herzustellen. Man kann sagen: die Prostitu- 
tion ware die Uberwindung der versacblichten Beziehungen der Men- 
scben, wenn sie nicht deren einfachster Ausdruck ware. - Kraus sieht 
das nicbt> weil ihm reiner Geist und reine Sexualitat in ihrer volligen 
Identitdt, dem Damonischen y sosehr die Sphdre seiner Existenz sind t 
daft er sie nicht ihrer Konstruktion nach durchschauen kann. Dies abet 
kompensiert seine dialektische Aktivitdt, die im Innern dieser Sphdre 
sich entfaltet, nie daruber hinaustritt, aber unabldssig sich spaltet, sie 
desavouiert, sie zersprengt.} 

Festungsvergleich. Ich betrete das Glacis der Festung, die Kraus 
gebaut bat und sage: der Punkt mufl gehalten werden. Aber der Um- 
rifi der Festung, die ich hier anlege[ y ] deckt sich mit dem der ihrigen 
nicht; er uberschneidet ihn an tausend Stellen. Das ist mein Verhalt- 
nis zu Kraus. 

{Mein Krausaufsatz bezeichnet den Ort, wo ich stehe und nicht 
mitmacbe.}. 

Aufbau der Arbeit: Thesis: Die Unfehlbarkeit. Be griff der Echt- 
heit. Der Kritiker. Kraus vom Standpunkt des Anhangers. Antithesis: 
die Insuffizienzen. Die falsche Positivitat. Die Zweideutigkeit. Das 
Ddmonische. Synthesis: Sprache und Eros. 

Kraus hat Artikel geschrieben, in denen nicht ein einziges Wort 
von ihm ist. »Das Gerichu in »Sittlichkeit und Kriminalitdu . 

Einiges uber die Absicbt meiner Kraus- Arbeit. Den Ort zu zei- 
gen y wo ich stehe und nicht mitmacbe. — Den Blick ins Gelobte Land 
der Sabotage vom {Berge} Karmel der Vernunfi herab zu tun. - 
{Der ungeheuere Wortschwall des Buches von Liegler [zwei Worte 
unentzifferbarj Die dreifiig Jahre der »FackeU durch eine Kraflsta- 
tion in Schweigen zu verwandeln. Schweigende Bereitschafi - das ist 
die Wirkung der »Fackel« auf ihre wahren Leser.) 

{Aufbau der Arbeit. Kraus oder der Passionsweg der Publizitat. 



1094 Anmerkungen zu Seite 334—367 

Erst das grofie Gefolge. Dann das Tor, durch das er in sein Gethse- 
mane eingeht in das Niemand ihm folgt. Endlicb austritt am dem 
Garten der Einsamkeit durch das andere Tor. Da kommen nun seine 
wahren Leser ihm von der andern Seite (Zukunft?) her entgegen, die 
ersten sehen sozusagen nur immer den RUcken des Meisters. Diese 
ohne Auge [?; bricbt ab]} 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 674, S. 7 

Schemata zu Karl Kraus (2) 

{Mir ist, als hatte ich bei keiner Arbeit meiner Bibliothek noti- 
ger bedurfl als bei dieser. Nun von ihr abgeschnitten zu sein, bringt 
mich in die Lage eines Apothekers, der Jahre lang gewohnt war, die 
Essenzen und Elixiere aus den Phiolen zu entnehmen, die eine dicht 
an der andern im Regal vor ihm standen und der sich alter Lichtun- 
gen, Buschwatder, Hohlenschatten und Bergweiden zu erinnern suchte, 
die er in vergangnen Jahren durchstreifte, um dort die seltnen Krau- 
ter und die Heilpfianzen aufzuspuren, die er so gewohnt war, greif- 
bar zu haben. ]a, ich durchstobere grofie Breiten meines Daseins, un- 
wirtliche schroffe Oberlegungen, abgelegne Gespracbe, morsche moori- 
ge Disputationen und so finde ich wohl auf andere Art alles wieder, 
was die Bucber mir vorenthalten.) 

und die ungewohnteste ist der Seele der Schnee, der fallt. 

{Dieser Silbenstecher, der zwisdoen die Silben stiobt, holt Larven, 
die da nisten, zu Klumpen her aus: die Larven der Habsucht, der Nie- 
dertracht und der Bonhommie, der Kinderei und der Geschwatzigkeit, 
der Kduflichkeit, der Verfressenheit und der Hinterlist.} 

Druc&vorlage : Benjamin-Archiv, Ms 674, S. 15 

b. Vermisdite (friihere?) Aufzeichnungen zu / (334-345), // (345- 
354) und /// (354-367) mit Literaturliste 

»Untergang der Welt durch schwarze Magie« hat Kraus eine sei- 
ner Sammlungen uberschrieben. Ein Weltuntergang schliefit nur sein 
Kriegsdrama; feststellend oder beschworend ist er das Motiv unzah- 
tiger Glossen. Dem »technoromantischen Abenteuer* hat Kraus mit 
diesen Beschworungen das latroromantische entgegengestellt. Sein gan- 
zes Wirken, das im Zeichen des Wortes steht, kennt in der Tat nur 
diese beiden: Beschwbrung und Uberzeugung. Und wo die letztere sich 
vergebens an die Mitwelt wendet, da tr'dgt die erste den Prozejl der 
Urwelt vor, um sie zur Kassation der Erde zu bewegen. Dajl zwisdoen 
dem Herzen und dem Kosmos der Mensch, zwischen dem Hypothetic 
schen und dem Kategorischen das Apodiktische fehlt - daft, mit einem 
Worte, in dieser Welt das Mittlere keine Stelle hat, denn als Kompro- 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1095 

mifi damit ist ihre Grenze am exaktesten abgezeicbnet. [s. 340,31- 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 363, 1. Stuck 

Begriff der Personlichkeit bei Schiller 

Inwiefern dieser Begriff ins burgerlidoe Dasein einschlagt 

Die expressionistische Note bei Kraus: der Konflikt 

Offenbach 

Der Schauspieler als Unmensch 

Aufbau des dritten Teils 
Kraus als Satiriker; das falsche und das echte Bild des Satirikers; der 
Satiriker Menschenfresser 

Kraus als Epigone 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 352 

Motive des dritten Teils 

[erweitertes Schema nach Art der Dispositionsskizzen Ms 342] 

Druckvorlage: Benjamin -Archiv, Ms 361 

(Zahlensiglenkolonnen mit Motiv-Stichworten am Rande) 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 350 

{Schemata} 

[nach Art der Dispositionsskizzen Ms 342] 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 362 

{Schemata und Notizen) 

[am oberen, teilweise abgerissenen Blattrand 2 nicht mehr voll zu 
rekonstruierende Schemata; daneben:] 
Kommentar zu den »Verlassnen« 
[SigleJ Gewohnheiten ablegen 

Reim und Name: Platonische Liebe 
[SigleJ Tranenwolken 

»Den Verlassnen* 

Widmung die einzige Form der Selbstentaufierung 
[SigleJ Reim und platonische Liebe 
[darunter:J 
Platonische Liebe - 

aus der Sprache - »je naher man ein Wort ansieht, 
desto ferner sieht es zuruck* 
daher Widmung 
Zerfallung der Gestalt 

in Namen und Geschlecht 

Schuld ermiftt die Spannung zwischen den beiden 



1096 Anmerkungen zu Seite 334—367 

Dank an das Unberiihrteste - den Namen 
Prostitution - Naturphdnomen 

keine soziologische Analyse 

hat ihr Gegenstiick in der Sprache: da das Wort 
auch von denen in den Mund genommen wird, 
denen es nicht Name ist 
Onanist - 

welche Bedeutung die Phantasie ibm bat 
die Phantasie - und die Schuld 
Schuld ist das Aussetzen der Phantasie 
Sprache : Geist = Eros : Sexus 

Erotik: das Prisma der Lust, ihre Entfaltung 
Sprache: die Sprengung des Geistes, seine Zerstorung 
Dialekttk ist das Verhdltnis der Sprache zum Eros, 
zweideutig das des Geistes zur Sexualitdt 

DruckvoHage: Benjamin -Ardiiv, Ms 357 

{Es mufi ein Gedtcht gehen - »Die Schlacht hei Gravelotte* oder 
so ahnlich - das das gleiche stichomythische Mafi wie viele Gedicbte 
von Kraus hat, [s. 361,31] 

Bemerkenswert wie intensiv Kraus an die Kindheitsbilder fixiert 
ist, »Ein gutes Gehirn mufl kapabel sein, jedes Fieber der Kindheit so 
mit alien Erscheinungen sich vorzustellen, dafi erhohte Temperatur 
eintritt.* [s, 361, 13-15] 

Wienerisches bei Kraus; Raimund, Nestroy (Schauspieler und Dichter 
in einer Person), Girardi, Abraham a Santa Clara, SpeideL [s. 347,4 /./ 

Bedeutung des Theaters in den Anfdngen der Fackel, Briefwechsel 
mit Harden in No L. 

Thesaurus stereotyper Wendungen. (Dummheitskonkurrenz[i] ) 
Vber den Zusammenhang dieser Stereotypien mit der Konstruktion 
seiner Autoritdt. [s. 343,16-39] 

»Das Cafe Zentral liegt unterm wienerischen Breitengrad am Me- 
ridian der Einsamkeit.* Polgar 

»Zum ewigen Frieden* und »Die Rosse von Gravelotte«. [s. 
361, 30-32] 

Mottos: »lhr zwingt mich nicht* »Eben schlaf icb ein* »Schon 
fdllt der Schnee* [s. 334, 34$, 354] 

Eros und Sprache. Meisterschafl seines Stils, der am Worte eine 
Freiheit betdtigt, die der im Innersten analog ist, die die Lust am 
Weibe sich nimmt. 5. Liegler p 319 

Stoessl: Aufsatz im Marsyas. 

»Die Not kann jeden Mann zum Journalisten machen aber nicht 
jede Frau zur Prostituierten.*} [s. 352,15 },] 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1097 

Stoessl im Marsyas 

{Viertel Uber die Letzten Tage der Menscbheit p 8$ 

fiber Kraus und das Judentum p 89} 
Nestroy und die Nachwelt 

{Kritik der Gewalt: Recbt und damonische Sph'dre 
Marx: Zur Judenfrage 
Kraus: Rede auf Altenberg} 
Rede uber Lulu Mai 190$ 
Freud: Der Witz 

{Die Rosse von Gravelotte (Zum ewigen Frieden) 
S telle bei [Arthur] Muller-Lehning 
Liegler Spracbe und Rezensionen 319 
Liegler Kraus zur Sexualitat ijj [?] 
Stifter Vorrede zu den »Bunten Steinen« (Lauterkeit) 
Fackel 1914 391/92 389/43 Nachts 31/72 
Chinesiscbe Mauer (Liegler p 168 Zitat) 
Trauerspielbuch: Echtheit und Ursprung 
Brenner-Umfrage (Stefan Zweig) 
Kraus: Antwort an eine Gutsbesitzerin 
Die Familie Fromfmjann (Hegelbild) 
Nietzscheaufsatz 
Mordwinisches Soldatenlied 
Licbtenberg Timorus 
Timon [?]} 
Heine und die Folgen 

Schmitt: Theorie der Politik: Freund/Feind 
{Peguy: [CEuvres] choisies} 
Worte in Versen VIII/IX 
Die letzten Tage der Menscbheit 
Es war die Nachtigall 

Druckvorlage : Benjamin -Ardiiv, Ms 364 

c. Vermisdite Aufzeichnungen zu // (345-354) und /// (354-367) 

{Realer und idealer Humanismus - die Debatte zu dieser Frage 
wird von der Alternative beherrscht: hat man sich I fur J einen Pri- 
mat der Pddagogik Uber die Politik oder der Politik Uber die Padago- 
gik zu entscheiden? 

Unter dem Begriff des verwandelten »oe$terreichiscben Kredos* 
ist mehreres darzustellen: die Antwort auf den Brief an Rosa Luxem- 
burg; die Abhandlung uber realen Humanismus. Vielleickt auch der 
Aspekt des Spatwerkes und die Resignation. Unbedingt aber: [SigleJ. 
Die ist zugleich die Kritik des ersten Credos. 



1098 Anmerkungen zu Seite 334—367 

Die Lyrik kommt aus der Schulklasse. [s. 361,29 }.] 

Motto des dritten Tells: es sagt, dafi diese Arbeit eine Erscbei- 
nung seines eignen Alters ist. 

In diesen Vorlesungen treibt Kraus die ortbodoxe Treue zum 
Wort und die souverane Ablebnung der Musik wabrscbeinlicb nocb 
welter als selbst George.} [3$$, 10-12] 

Das Ereignis des Schweigens: im Anschlufi an das erste Kriegs- 
befl. [s. 338,28-31] 

Die Gabe des Artisten, die Kraus in so bobem Ma fie besitzt: in 
gewissen Momenten niemanden auszulassen. 

{Stetigkeit der Motive ~ Armut an Begriffen - Reicbtum der 
W ortbedeutung. Seiner wicbtigen Termini sind nicht viele an Zabl 
und ibre begrijfliche Unverwendbarkeit kann aus den drelfilg ]ahr- 
gangen der Fackel, die keln einziges wissenschaftlicbes oder philosophi- 
sohes »Ergebnis« aufzuweisen haben, zur Genuge entnommen werden. 
Die geringe Zabl, die begrifflicbe Armut dieser Termini entsprlcbt dem 
unerschopflicben - im eigentlicben Sinn des Wortes nam baft en - 
Reich turn der Worte. Eine Art »mystischer Terminologies ist die 
einzige Verwandtschaft, die es zwiscben den romantiscben Spekulatio- 
nen und dem Spracbdenken von Karl Kraus gibt. Vom wissenschaftli- 
cben aber unterscbeiden die beiden sicb darin, daft sie die Termini nicht 
sowobl instrumental verwerten denn requisitenbaft einsetzen. Das 
beiftt, was Kraus aus den Worten berausbolt, gewinnt er ihnen weni- 
ger durcb Entjaltung (wie der Gartner dem Samen die Frucbt) son- 
dem durcb Tricks (wie der Zauberer dem Zylinderbut die Omelette 
und den Wecker) ab.) 

Merkwiirdig genug, dajl die Gescbicbte dieses grofien Kampfes, 
der genau so tlef in den Krieg bineinfubrte wie die Schutzengraben 
nicbt jetzt da alle kleinen erneuert werden, auftaucbte. 

»Die Flucbt in die geliebteste Welt satiriscber Musik. « 

Die Geburt der Personlichkeit aus dem Geiste der Sunde. Dantes 
Holle die erste Versammlung von Personlichkeit. Zwar sind sie 
scbeinbar berdengleich in ibre Sundenpfercbe eingesperrt. Aber nicbt nur 
die Pferche baben miteinander nicbts gemein: aucb nicht die Verdamm- 
ten. Da ist erst Dante, dessen Wanderung sie einander verbindet. Die 
Stereotypien bei Kraus sind den stereotypen Haltungen der Verdamm- 
ten vergleicbbar. So geht es im Umkreis seiner Opfer zu wie im Um- 
krelse der Verdammten. Ein Dante, der nicbt loskommt, sich immer 
wieder zuruckwendet, der, well er keinen Fubrer hatte, sicb verlief. 

Ihn selbst als Dantescbe Figur zu fassen. Man denke, welchen 
Einscbnitt nicbt Dantes Erscheinen in der Ewigkeit der Verdammten 
macht. Hier aber kommt keiner voruber. Daber die Ausdebnung seines 
Werkes. Wo die wirkliche Katbolizitat dieser Figur liegt. 



Anmerkungen zu Seite 334— 367 1099 

Wozu steht »reiner GeisU im Gegensatz wenn nicbt zu »politi- 
schem GeisU. 

Da aber eigentlich seine Freunde und Anhdnger ihm die bitter- 
sten Feinde sind, wird erst in der Verlassenheit sein Friede am tief- 
sten und sie ist die Bedingung der seltsamen Wehrlosigkeit, [. . . ohne 
Fortsetzung] 

{1920 »0 la/It uns diese Dichterschule scbwanzen*. 

Der Satz, in dem das »Gott erhalte« der oesterreichischen National- 
hymne endlich nacb Hause gekommen ist: »aber Gott erhalte 
ihn uns . . .# Daran alles erstaunlich, unverstdndlicb aber allein 
das eine ist, dafl nicht die grojlten Letter [n] der Fackel ihn auf- 
bewahren, und daft man diese grofite politische Prosa des zoten 
Jahrhunderts in Deutscbland in einem verschollnen Hefle der 
Fackel - November 1920 - zu suchen hat. [s. 365,36-366,4] 

Die Verlassnen — das Verhdltnis der letzten Strophe zur ersten: alle 
Superlative sind weggefallen. Und das gleiche Verhdltnis begeg- 
net bei dem Vergleiche seiner Haltung mit seiner wahren Wir- 
kung. 

Kraus ist kein Satiriker, weil es keine Satiriker gibt.} 

Kraus und Lichtenberg: ihr Witz ist der gleiche, er bezeichnet den 
V her gang der Exekutive an die Sprache. (Lichtenbergzitat aus 
dem Timorus). Er ist also »magisch<c in dem Sinn der Romanti- 
ker. Bei Lichtenberg aber auf ebenso geheimnisvolle Art mit 
dem Humanen wie bei Kraus mit dem Damon verbunden. 

{»In mir verbindet sich eine grofte Fdhigkeit zur Psychologie mit 
der grofteren, Uber einen psychologischen Bestand hinwegzu- 
sehen.« Genau das Gleiche gilt fiir Shakespeare, [s. 358,1 1-13] 

Nestroy, Shakespeare waren Dichter und Schauspieler (Schauspieler 
im Sinn des Artistischen) Kraus steht zweideutig zwischen bei- 
den. Diese Haltung manifestiert sich im Vorleser. [s. 347,1-5] 

Nestroy, Shakespeare, Offenbach - sie alle schaffen ganzlicb [?] 
anders als planmdftig. Es ist als brauchte der Damon in Karl 
Kraus die verworrene, versclilungene Welt dieser Dramen, weil 
nur in ihnen sich die tausend Schlupfwinkel bieten, aus denen 
er neckend, qu'dlend, drohend herausfahrt.} [s. 347,4-9] 

Dreiheit der mimetischen Begabung, des neurotischen Schuldgefuhls, 
der Ichbesessenheit. {Kraus geht nicbt in die Rolle ein, er 
spricbt aus. Die Rolle ist ein [abgebrocben] Dichtung Shake- 
spear es ein Prisma, in dem seine Stimme sich bricht.} 

Die zweideutige Verschrdnkung von Geist und Sexualitdt ist, wie 
jeder am anderen ein Genuge findet statt an ihren Gegenstanden 
- am Wort und Weibe - ist nun fiir Kraus nicht etwa blofier 



i ioo Anmerkungen zu Seite 334—367 

Gegenstand sondern ein durchgehender Bestimmungsgrund seiner 
Aktivitdt. Und zwar so, daft dem Geiste die sexuelle Seite der 
Sprache als die eigentumliche, verschrdnkte, von Bezilglichkeiten 
und Riickbezuglichkeiten durchsetzte Syntax - dem Sexus aber 
die schlechthin geistvolle Befriedigung in sich selbst - Onanie - 
genug tut. [s. 350,13-23] 

{Diese Dinge lassen sich dutch das Verhdltnis beleuchten, in dem der 
Witz zum Reim steht. Der Witz legt syntaktische Verhaltnisse 
ins Wort; der Reim stellt die Syntax unter die Hoheit des Wor- 
tes. 

Zuordnung von Witz und Onanie in der d'dmonischen Sphdre.} 

Onanie 





Leib 


Sprache 


Damon 


Lust 


Witz 


Dialektik 


Name 


Reim 



{Die Verlassnen} 



Platonische 
Liebe 



[Schema gestrichen] 



Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 353 



Wie die aesthetische Einheit von Form und Inhalt zur Zweideu- 
tigkeit der Form und des Inhalts wird. »Hier wird jenes Ineinander 
geschaffen, bei dem die Grenze von Was und Wie nicht mehr feststell- 
bar ist, und worin oft vor dem Gedanken der Ausdruck war, bis er . 
unter der Feile den Funken gab.« Zugleich ist dieser Satz dem Bau 
nach ein Beispiel fur die reflexive Struktur Krausscher Sdtze. Das 
Bild »bis er unter der Feile den Funken gab« ist nicht nur ein 
Bild fiir den Gedanken, der hier mitgeteilt wird, sondern zugleich ein 
Beispiel der Vorgdnge, mit denen der Gedanke des Hauptsatzes es zu 
tun hat. Das Bild hier gewissermafien als hochster Punkt der Looping 
the loop — Schleife, die der dialektische Denker befdbrt. Oft steckt 
fur Kraus eine solche Schleife in einem einzigen Worte, dessen Ge- 
brauch fur den Autor dann ebenso lebensgefahrlich wie fiir den Leser 
spannend ist. 

{Analyse der burger lichen Justizkritik und Versuch nachzu- 
weisen, warum sie vor Kraus auf einem andern Blatt steht, Sie geht 
weniger gegen die Gesetze (die er eigentlich advokatorisch benutzt 
und deren demagogische Handhabung er dem Publikum sehr gut vor- 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1101 

macht) weniger auch gegen die Ricbter als gegen den Sadismus der 
offentlichen Meinung, ihren Nutzniefier.} 

Das reflexive Verhalten des Marines zu sicb und zu seinem Werk 
findet sich als eines der Hauptcbarakteristika in seiner Sprachgeberde 
wieder. 

{Dafi ihm das Menschenwiirdige nicht als eine Bestimmung und 
eine Bedingung der befreiten Natur sondern als Element der Natur 
schlecbtweg, einer geschicbtslosen arcbaiscben Natur in ibrem unge- 
brocbnen Ursein sicb darstellt, das ist das damonische Moment in 
seiner Freibeitsidee. Scbeu bringt das, unwillkurlich, ganz gut zum 
Ausdruck wenn er von Kraus sagt: »Er ergreifl die Partei der Natur- 
macbt.* Is. 353>35-354>*] 

Vber die damonische Seite des Pat bos beim Dicbter. 

und in den Oriflammen seiner Fingerspitzen leben - Marionet- 
ten von der Grofle von Infusorien[fJ - alle Gestalten Sbakespeares 
Offenbacbs und Gogols. [s. 347*12 f.J 

Die Verlassnen 

Daft der unfruchtbare und leere Krampf des Expressionismus 
nicht von einem gegnerischen sondern allein von einem wahlverwand- 
ten Geiste, wie Kraus einer ist, gelost werden konnte. Seine Literatur- 
kritik, der en wesentlichster Bestandteil die des Expressionismus ist, 
die Frucbt einerseits seiner eignen ddmonischen Besessenheit, anderer- 
seits seines unbestecblichen Sinnes fur Ecbtheit. Hierzu das Gedicht: 
»An den Biirger«.} 

Venus Urania und Venus Pandemos - wie Kraus die erste in der 
zweiten, vielleicht aber auch die zweite in der ersten zur Welt kom- 
men la$t. 

Mordwiniscbes Lied - Sloweniscber Leierkasten 

Die Verlassnen (V) Gebet an die Sonne von Gibeon (II) Zum 
ewigen Frieden (IV) 

Das Mann-M'dnnliche: Polemik, Vberzeugung. Ableitung des 
Erotischen aus den V erbaltnissen der mannmannlichen Liebe. 

Druckvorlage: Benjamin-Arcbiv, Ms jj6 

{Diesen »Verlassnen« ist der ftinfte Band der »Worte in Versen* 
gewidmet. Es erreicht sie ja nur vorher die Widmung, welch e nichts 
anderes als das Gestandnis der platonischen Liebe, die am Geliebten 
nicht ihre Lust biiflt sondern die es im Namen liebt, im Namen be- 
sitzt und im Namen auf Handen tragt. Dieser Ichbesessene kennt 
keine andere SelbstentaujJerung als Dank. Seine Liebe ist nicht Besitz 
sondern Dank, Dank und Widmung; denn danken heifit Gefuhle 
unter einen Namen stellen. Wie die Geliebte fern und blinkend wird, 
all ihre Winzigkeit und all ihr Glanz sich in den Namen zieht: das ist 



1 102 Anmerkungen zu Seite 334—367 

die einzige Liebeserfahrung, von welcher die »Worte in Vet sen* wis- 
sen. Darum also: »Leicht, ohne Frau zu leben.l Schwer, ohne Fran 
gelebt zu haben.« Wie aber Eros und Spracbe hier in innigster Ver- 
schr'dnkung ihr Dasein haben, so} [abgebrochen; s. 362,25-36] 
[Es folgen 4 Dispositionsskizzen. Danach:] 
Lyrik kommt aus der Schulklasse 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 363 

d. Aufzeichnungen und Motive zu /// (354-367) 

Gegenstand des dritten Teils: die Entwicklung des Allmenschen zum 
Unmenschen. 

Der U nmens ch - zuerst von S. Friedl'dnder in den schopfe- 
rischen Indifferenzpunkt all der tausend Spielarten vom Vollmen* 
scben bis zum b ermens c h en gestellt worden, 

Erst erfolgt die Deduktion des Unmenschen: sodann erst wird ge- 
zeigt, da/l als dessen Innerstes die Personlichkeit herausspringt. 

Die falscbe Gerecbtigkeit des Allmenschen und die anarchiscbe des 
Unmenschen. 

Der Bildungshumanismus des Allmenschen und der reale Humanis- 
mus des Unmenschen. In diesem realen Humanismus begegnen sich 
das Kindliche und Menschenfresserische. 

Die Welt des Kindes und die des Junglings: Kraus und George. 

Der Optimismus des Allmenschen und der Pessimismus des Un- 
menschen. 

Eros und Sprache in diesem Zusammenhang aus der kindlichen Welt 
zu entwickeln. Der Reim ihr Indifferenzpunkt. 

Dagegen der Name im Unmenschlichen - engelhaften - zustandig. 

Schauspieler aus dem Unmenschen zu entwickeln. 

»Bei weiterer Betracbtung, schreibt Suhrkamp, sieht es fast aus y als 
wobnte man Versuchen zur Vernichtung der Wirklkbkeit bei, in der 
Form, dap alles Reale von den Objekten der Wirklichkeit bis auf 
kleine Spur en ausgekratzt wurde.« Soviel steht fest, die beruhmte 
Reinheit kann nur durch eine wachsende Entfernung vom Mensch- 
lichen, ja vom Naturlichen Uberhaupt gewonnen werden. 

Das Kind im Herzen des Unmenschen 

Kind ein Geschbpf aus Engel und Mensdoenfresser 

Damit das Kollektiv menschliche Zuge trage, mufi der einzelne 
unmenschliche tragen konnen. Die Menschlichkeit mufi auf der Ebene 
des Einzeldaseins preisgegeben werden, um auf der des Kollektivda- 
seins in Erscheinung zu treten. [s. auch 219,18-20] 

Drutkvorlage: Benjamin-Ardnv, Ms 336 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1103 

Perspektiven fur den S c h I u fl 

Kraus als Spez[ialist] 

Er beginnt bei der Anderung seiner Klasse, nicht der Verhaltnisse 

Die Persbnlichkeit im Zustande der Mobilmachung 

Nichts opfern 

Die Feuerzeichen verkiinden: dafi alles beim Alten bleibt 

Die letzten Tage der Menschbeit. Weltuntergang als Utopie 

Selbstmiflverstandnis 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 342 (Ruckseite) 

Studien zum dritten Teil 

[etwa 10 verschieden lange Zahlensiglen-Kolonnen, teils gestricben } 
teils umrandetj 

[rechts oben:] Realer Humanismus 

Unmenschentum 



[ab Mine:] 



Gerechtigkeit 
Humor 



Vberwindung des Rechts durch die menschenfresseriscbe, zerstoren- 
de Gerechtigkeit (Gibeon) 

Verkldrung der Kreatur im Kinde 

Tiefste Gegnerschaft gegen Nietzsche: das Verhaltnis des Unmen- 
schen zum Vbermenschen. 

Falsche Gerechtigkeit des Vollmenschen, die anarchische Gerechtig- 
keit des Unmenschen. 

Bildungs humanismus des Allmenschen y realer Humanismus des Un- 
menschen. (Z it a t) 

Der Reim dem Kinde, der Name dem Unmenschen zustandig. (Die 
beruhmte Reinheit kann nur durch wachsende Entfernuhg vom 
Menschlichen uberhaupt gewonnen werden.) 

Interpretation des Menschenfresserischen als des Zerstorenden: 
Brief an eine Gutsbesitzerin 

Evolution ist Zerstbrung; Einhalt gebieten dem naturlichen Verlauf 
der Dinge: Gebet an die Sonne von Gibeon. 

Wollte die Anderung der "Welt bei sicb, bei seiner Stadt u.s.w. be- 
ginnen, daher: Weltuntergang als Utopie. 

Als einzig ubrig gebliebne Manifestation der Gerechtigkeit. 

(Dialektik der Reinheit) 

{Das Kindliche und das Menschenfresserische: Engel ein Geschopf 
aus Menschenfresser und Kind. Kraus: kein neuer Mensch sondern ein 
Neuer Engel.} 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 340 



1 1 04 Anmerkungen zu Seite 334—367 

{Kraus als Satiriker I Menschenfresserei als Urphdnomen der Satire 
Die Auseinandersetzung des Menschenfressers mit den Menschenrech- 

ten 
Der Unsinn als Lebensraum der Humanitat I Offenbach 
Der Schauspieler als Inkarnation des Menschenfressers I Shakespeare 
Das kindliche Hen des Menschenfressers I Dilettantisms [Sigle] 
Die Vberwindung des Ddmonischen I Die Verlassnen 
Das politische Credo I Idylle und Weltgericht} 

[darunter: das gleiche Sdiema modifiziert; jede Zeile wurde nume- 
riert, die dritte mit 4, die vierte mit j; Zeile $ lautet neu Der Dilet- 
tantismus des Vorlesens I George; neueingefugte Zeile 6 Kindlichkeit I 
Phantasie I Der Reim als Emblem des Ursprungs; die sechste Zeile 
wurde 7; Zeile 8 Das Politische. Hinter den meisten Zeilen Zahlen- 
siglen] 

Druckvorlage : Benjamin-Archiv, Ms 355 

Freiheit und Menschlichkeit theologisch t nicht aufklarerisch fundiert 

(zu den Menschenrechten) 
Der alte Zusammenhang von Zerstorung und Reinigung (zum 

Menschenfresserischen) 
Wenn Loos alle menschenwurdige Arbeit als zerstorend kennzeichnet s 

so scheint sein Motiv zu sein, das Schopferische der kiinstlerischen 

Arbeit allein vorzubehalten. 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 338 

»voller Verachtung auf alle die ordinare Erotik des kleinen Menschen* 

herabblicken. S. Friedlander Uber S cheer bart 
»E$ gibt keine von den kardinalen Gewohnheiten des Menscben, an 

denen er nicht gertittelt, geschutteltj die er nicht gelegentlich ins 

helle Gegenteil verkehrt hatte, besonders die erotisch-diateti- 

schen.« 
Stichwort: Weisheit. Stichwort: Kind. 
Gegen »Vergifiungen des Menschen durch den Mensch.* 
Glas und Transparenz der menschlichen Verhaltnisse. 
Untergang des »Geheimen«. 

»Es gehort das erleuchtetste Subjekt zu einem glasernen Objekt.« 
Gelenkigkeit des Subjekts geht bei Scheerbart ins »Schlangenmen- 

schenhafie«. (Typus des »Unmenschen« ) 
»Immerhin tritt etwas wie eine Entmenschung ein.« 
»Der Konig safi auf seinem Thron . . .«- 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 359 

[Motive, die sidi mit solchen aus Erfahrung und Armut (s. 213- 
219) iibersdineiden:] 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1105 

Micki Maus 

Grausamkeit 

Bagatellisierung der Erotik 

Ende der Sprichworter 

Kunst des Erzahlens 

Ornament 

Zeitgeschichte (V2 Pfennig - Billion) 

Armut auch in andrer Beziehung (Brecbt) 

Mdrchen (Barbarentum) 

Menschenfresser (andere Art der Erfahrung: Einverleibung) 

Transparenz der menschlichen Verhaltnisse (Ende des Geheimnisses) 

Sterbebett (konzentrierte Erfahrung) 

Versesprache (Raka Labu und Sofanti; Schupo) 

»Es geht auch anders, dodo so geht es auch* 

Einflufi der Jugend 

Abschaffung des Mbbels 

Druckvorlage : Benjamin-Ardhiv, Ms 360 

Neue Denkspruche [wohl alle aus Brecbt] feiern die Entkraftung 

der dltesten Erfahrungen: 

1000 Jahre fiel alles von oben nach unten 

Ausgenommen der Vogel. 

Selbst auf den dltesten Stemen 

Fanden wir keine Zeichnung 

Von irgend einem Menschen } der 

Durch die Luft geflogen ist 

Aber wir haben uns erhoben. 

Technik ist Sparsamkeit, Organisation ist Armut 

Was sie gemacht haben, das mufi mir reichen 

Der Denkende benutzt kein Licht zuviel, kein Stuck Brot zuviel, kei- 

nen Gedanken zuviel 

Auch unsere Erfahrungen sollen keinen verpftichten 

Wir und unsere Technik 

Sind primitiv 

Dieses Haus erregte 1910 die Entrustung sdmtlicher Architekten. Hier 
war zum erstenmal die Fassadenornamentik beseitigt. Diese anstandi- 
ge Nuchternheit schien damals schmahliche Armut 

Loos Abb 44 
Grandhotel Babylon 

Das ist der Entwurf eines Luxushotels. Dazu schreibt Loos aber: »Es 
war immer meine Sehnsucbt, ein solches Terrassenhaus fur Arbeiter- 



no6 Anmerkungen zu Seite 334—367 

wohnungen zu bauen.<c Und 10 Jabre vorher Scheerbart: Die Ter- 
rassenformation ist bei boheren Glasbauten und bet mebreren Etagen 
eine Notwend'tgkeit. Die Terrassen formation der Etagen wird die 
langweilige Front der Backsteinhauser rascb verdrdngen. 
Neuer Engel heifit dieses Bild. Es ist ein menschenfresserischer Engel. 
Vielleicbt ein Raubengel, der die Menscben lieber befreite indent er 
ibnen nabme als begluckte indent er ibnen gabe [s. 367,8-10] 
[RUckseite:] Vielleicbt ist das, von zwei Ministern eingefafit, der 
Konig, dem Scheerbart diese scbone Anspracbe in den Mund legte 

Drudtvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 358 

Zur Tbeorie des Unmenscben 

Der Unmenscb ist die Vberwindung des mytbisohen Menscben (und 
daher Engel). [s. 365,$ f.J 

Er bat sicb mit der zerstorenden Seite der Natur solidarisiert. So 
wie der alte Kreatur be griff von der Liebe ausging - in der der 
Menscb seine Beziehung zum Mitmenschen gleichzeitig mit der Befrie- 
digung des Gescblechtstriebs bereinigte - geht der neue, der Kreatur- 
begriff des Unmenscben, vom Frafie aus - indem der Menscbenfres- 
ser seine Beziehung zum Mitmenschen gleichzeitig mit der Befriedi- 
gung des Nabrungstriebes bereinigt. [s. 366,38-367,4 und Lesarten] 

Es gibt keine idealistiscbe sondern nur eine mater ialistische Vberwin- 
dung des.mythischen Menscben: das ist die Wahrheit, um derentwillen 
der Unmenscb zu den Menscben gekommen ist. Diese materialistische 
Vberwindung des mythischen Menscben - der Scbuld - vollzieht sicb 
durch die Solidarisierung der Kreatur mit der zerstorenden Natur. Sie 
ist es, die das neue Verhdltnis zur Technik schafft. Loos gab ihre Parole 
aus mit dem Satze, menscb enwiir dig sei allein die zerstorende Arbeit. 
»]eder der Aufbauarbeit leisten mufi, verkommt.« Der Europder hat 
sein Dasein mit der Technik nicht zu vereinigen vermocht, weil er am 
Fetisch der schopferiscben, Aufbau-Arbeit festbdlt. Deshalb ist er un- 
fahig, der technischen die Elemente eines neuen Menschentums abzuge- 
winnen. [s. 365,4 f,, 365,24-26 und 366,28-31] 

Behavioristische Momente in der Mimesis von Kraus. 

Das neue Lachen. 

Scheerbarts astrales Esperanto, [s. 367,7 /./ 

Er solidarisiert sicb nicht mit dem Metall sondern mit dem Schmelz- 
vorgang, nicht mit der Bergwand sondern mit dem Bobrer, nicht mit 
der Tanne sondern mit dem Hobel, [abgebrochen; s. 367,1-4] 

Druckvorlage : Benjamin-Archiv, Ms 365 

Gebet an die Sonne von Gibeon im Werke 

Zerstorung als Walten der Gerecbtigkeit; Verkldrung als der Stand 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1107 

der Kreatur im Ursprung sind Herr des Damons geworden. Als ein 
Geschopf aus Kind und Mensdoenfresser steht zuletzt sein Gegenspie- 
ler in Kraus selber auf: kein neuer Mensch vielmebr ein neuer Engel. 
Nach einer Talmudstelle werden die Engel — neue jeden Augenblick 
in unzdhligen Scharen - erscbaffen um, kaum dafi sie vor Gott ibre 
Stimme erboben haben - aufzuhoren und in Nicbts zu vergehn. Tont 
diese Stimme nun Klage, Anklage oder Lobliedf Gleichviel - dieser 
so schnell verfliegenden ist das epbemere Wort von Kraus nadhgebil- 
det. Angelas - das ist der Bote der alten Sticbe. [s. 367,13-34] 

{Zerstbrung, als das W alten der Gerechtlgkeit, Verkldrung, als der 
Stand der Kreatur im Ursprung, sind in diesem Werk Herr des Da- 
mons geworden.} [s. a. a. O.J 

Verkldrung, als der Stand der Kreatur im Ursprung; Zerstbrung 
als das Waken der Gerecbtigkeit sind Herr des Damons geworden. 
Als ein Geschopf aus Kind und Menschenfresser stebt sein Besieger 
vor ihm: kein neuer Mensch; aber ein neuer Engel. Vielleicht von 
jenen einer welche, nach dem Talmud, neue jeden Augenblick in 
unz'dhligen Scharen, geschaffen werden, um, nachdem sie vor Gott ihre 
Stimme erboben batten, aufzuhoren, und in Nicbts zu vergehn. Kla- 
gend, bezichtigend oder jubelnd? Gleichviel - dieser schnell verflie- 
genden Stimme ist das epbemere Werk von Kraus nachgebildet. Ange- 
las - das ist der Bote der alten Stiche. [s. a. a. O.J 

ein Unmensch - ein 
[Ruckseite:J 

Zum Scblufi: Hinweis auf Phrase und Technik? 
Zerstbrender Charakter der Tecbnik, im ersten Teil, unter Umstdn- 

den genauer zu entwickeln. 
Den »Allmensch« im ersten Teil einzufuhren. 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 366 

Humor und Kecbt 

Humor - wie er die Menschen obne Ursache der Person - ndmlidh 
als Sachen - richtet. Darum ist er - wie man ihn definiert bat - die 
Welt der urteilslosen Vollstreckung, weil er den Menschen Recben- 
schaft Uber sein Urteil so wenig gibt als wenn sie Sachen wdren. So 
uberwindet der Humor im Reich der Spracbe die damoniscben Gewal- 
ten in dem des Rechts. 

Angelus - das ist der Bote der alten Stiche. [s. 367,33 f.J 

Es gibt eine Legende des Talmud. Die Engel werden, neue jeden 
Augenblick in unzdhligen Scharen, nach ihr geschaffen, um, kaum daji 
sie vor Gott ihren Hymnus gesungen haben, ihre Stimme erboben ha- 
ben[ 3 J aufzuhoren und in Nicbts zu vergehen. Ist dieser Hymnus nun 
Klage, Anklage oder Lobgesangf Wie immer - dieser schnell verfloge- 



no8 Anmerkungen zu Seite 334—367 

nen [StimmeJ ist das ephemere Werk von Kraus nachgebildet. Angelas 
- das ist der Bote der alten Sticbe. [s, 367,28-34] 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 337 



3. Fragmente einer friiheren Niederschrift 

Unter den Paralipomena zum Kraus finden sidi funf von Benjamin paginierte 
Blatter: 40, 41 1 42, 43 und 44 (Ms 341, 345-348) - Bruchstiicke einer friihen 
Niederschrift. Benjamin sprach von der - vollstandig - erhaltenen Rein- 
schrift (s. »Oberlieferung«) als von der vierte[n] Fassung des gesamten 
Stoffs (s. a. a. O.). Ein Vergleich von Zeitungsdruck, Typoskript und Rein- 
schrift mit den Bruchstiidken 40-44 zeigt, dafi es bei diesen urn Teile einer 
der (im iibrigen verlorenen) ersten, zweiten oder dritten Niederschrift sich 
handelt. Sie werden im folgenden in extenso abgedruckt. 

a. Blatt 40 (dazu s. ///, 354,29-355,20 und /, 335>39~33 6 > I 8) 

Kraus als Satiriker dargestellt: kann also den tiefsten Aufschlufi 
Uber ihn so gut wie sein traurigstes Zerrbild ergeben. Den naheliegend- 
sten Mifigriff hat Kraus selbst oft bezeichnet; es ist ihm immer dar- 
auf angekommen, den Satiriker ecbten Schlages von jener Sorte von 
Schreibern zu trennen, die aus dem Hohn ein Gewerbe gemaoht und 
nicht viel mehr bei ihren Invektiven im Sinn haben als dem Publikum 
etwas zu lachen zu geben. Von diesem Typus unterscheidet sich der 
wahre Satiriker [danach Einschubzeichen; es folgt der nicht integrier- 
te Passus:] Nie hat dieser grojle Typus des Satiriker s festeren Boden 
unter den FUjlen gehabt als mitten unter einem Geschlecbt, das sich 
anschickt, Tanks zu besteigen und Gasmasken uberzuziehen y einer 
Menschhe'tty der die Trdnen ausgegangen sind aber nicht das Gelach- 
ter. Und dieses Lachen, das sie mit dem Satiriker, ihn ubertonend, 
anschlagty ist dock nicht das hysterische des zoroastrischen Vbermen- 
schen; es ist, den Umstdnden nach, ein recht gesundes, das Lachen des 
Sauglings, der im Begriff steht, seinen Fu/S zum Munde zu fuhren. So 
begann die Menschheit vor fiinfzehn Jahren von sich zu kosten, sie 
hat Geschmack an sich gefunden, und niemand ist weniger gewillt 
als der Satiriker, ihn ihr streitig zu machen. □ Uhu-Aufsatz, Schlufi. 
- [Es] ist das Lachen des gesattigten Sauglings. Diese Menschheit 
hat das alles »gefressen« . . . [Fortsetzung nach dem Einschubzeichen:] 
wenn nicht dutch seine Gegenstdnde so durch die Haltung, mit der er 
an sie herantritt. Es kommt ihm namlich nicht sowohl darauf an, sie 
knock out zu schlagen, sie zu verunstalten — das alles sind ihm nur 
Zurilstungen nur Varianten zum eigentlichen satirischen Hauptakt, der 
satirischen Kommunion, wenn man so sagen darf. Und die besteht im 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1109 

Verspeisen des Gegners. Der Saiiriker ist die Figur, unter welcher der 
Menscbenfresser von der Kulturmenscbbeit rezlpiert wurde. Und sie 
erinnert sicb nicbt ohne Pietat ibrer Aszendenz; wie ware sonst der 
Vorscblag Menschen zu fressen in den eisernen Bestand ihrer Gedan- 
kenwelt eingegangen, von Swifts Vorscblag, dem Kindersegen der 
Armen durch scbmackhafte Zubereitung der Sauglinge abzubelfen bis 
zum Vorscblage Leon Bloys den Hauswirten ibren zahlungsunfdhi- 
gen Mietern gegeniiber ein Recbt auf Verwendung ibres Fleiscbs ein- 
zuraumen. In solcben Vorscbldgen baben die grofien Satiriker der 
Humanit'dt ibrer Mitmenschen Mafi genommen; ibnen reiht Kraus 
sich ebenbiirtig mit dem Satze an: »Humanitdt, Bildung und Frei- 
beit . . .« [am Anfang der Aufzeichnung die Sigle a, am SchlufS die 
die Sigle 56 £] 

Auf diese Seite seines Kampfes gegen die Presse f'dllt ein besonders 
belles Licbt aus dem Lebenswerk seines wiener Mitstreiters Adolf 
Loos. Loos fund seine pradestinierten Gegner in den Kunstgewerb- 
lern und Architekten, in alien, die sicb im Kreise der wiener Werk- 
st'dtten um ein neues Kunstgewerbe bemilbten. Seine Losungen bat 
er in zablreicben Aufsdtzen, in bleibender Formulierung vor allem in 
dem Artikel »Ornament und Verbrecben« niedergelegt, der erstmals 
1908 in der Frankfurter Zeitung erscbienen ist. Der leucbtende Blitz, 
der in dies em Aufsatz geziindet bat, bescbrieb den sonderbarsten Zick- 
zackweg. »Beim Lesen der Worte von Goethe, worin die Art der 
Banausen und so mancber Kunstkenner, Kupfersticbe und Reliefs 
abzutasten, geriigt wird, ist ibm die Erkenntnis aufgestiegen, dafi, 
was beriibrt werden soil, kein Kunstwerk sein darf, und was ein 
Kunstwerk ist, dem Zugriff entzogen sein mufi.« Das erste Anliegen 
dieses Adolf Loos war es, Kunstwerk und Gebraucbsgegenstand zu 
trennen und so ist es das erste Anliegen von Kraus gewesen, Informa- 
tion und Kunstwerk zu trennen. Der Scbmock ist im Herzen eins mit 
dem Ornamentiker. Die Zeitung als Instrument der Information, als 
Gebraucbsgegenstand. Hat Kraus diesen Gedanken zuende gedacbt? 
Nein. [am Anfang der Aufzeichnung die Sigle b, nach Ornamentiker 
die Sigle 36 b] 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 341 

b. Blatt 41 (dazu s. /, 335,16-38 und 336,34-337,27) 

Ein Hafl wie ihn Kraus auf die Journalisten geworfen hat, kann 
niemals so schlechtbin in dem, was sie tun, fundiert sein - es mag so 
verwerflicb sein wie es will; dieser Hafi mu$ Grunde in ihrem Sein 
baben, mag es nun dem seinen so entgegengesetzt oder so verwandt 
sein wie es wolle. In der Tat ist aber beides der Fall. Die jungste Dar- 



1 1 io Anmerkungen zu Seite 334— 367 

stellung des Journalisten - Suhrkamps Monographic in der instruk- 
tiven »Deutschen Berufskunde« - charakterisiert ihn gleicb mit ihrem 
ersten Satze als »einen Menschen, der fiir sich selbst und seine Existenz, 
wie uberhaupt fur die blofle Existenz der Dinge, wenig Interesse hat, 
sondern die Dinge erst in ihren Beziehungen spurt, vor allem dort, wo 
diese in Ereignissen aujeinandertreffen - und der in diesem Moment 
selbst erst zusammengeschlossen, wesenhaft und lebendig wird.« Halt 
man mit diesem einzigen Satze nicht etwas wie ein Negativ vom 
Bilde von Kraus in Handen, In der Tat: wer h'dtte fur sich selbst und 
seine Existenz ein brennenderes Interesse gezeigt als Kraus, der nie 
von diesem Thema loskommt? wer fur die blofie Existenz der Dinge, 
den »Ur sprung* . Wen h'dtte die Intervention der Aktualitdt - der 
Fotos, Interviews, Berichte von Augenzeugen - mehr exaggeriert 
als Kraus. Endlich hat er seine gesamten Energien im Kampfe gegen 
die Phrase zusammengefaflt, die das sprachliche Siegel der Willkiir 
ist, mit der die Aktualitdt im Journalismus sich zur Herrschafl uber 
die Dinge aufwirfl. Die Phrase, auch das hat Kraus gesehn, ist eine 
Ausgeburt der Technik. »Der Zeitungsapparat verlangt, wie eine 
Fabrik, Arbeit und Absatzgebiete . Zu bestimmten Zeiten am 7 age - 
zwei- bis dreimal in grofieren Zeitungen - mufi fur die Maschinen ein 
bestimmtes Quantum Arbeit beschafft und vorbereitet sein. Und nicht 
aus irgend welchem Material: alles was in der Zwischenzeit ir- 
gendwo und auf irgendeinem Gebiete des Lebens, der Politik, der 
Wirtschafl, der Kunst u.s.w. gescbab, mufi inzwischen erreicht und 
journalistisch verarbeitet sein.« Oder, in groftartiger Abbreviatur, bei 
Kraus: »Es sollte Aufschlufi uber die Technik geben, dap sie zwar 
keine neue Phrase bilden kann, aber den Geist der Menschheit in dem 
Zustand beldflt, die alte nicht entbehren zu konnen. In diesem Zweier- 
lei eines verdnderten Lebens und einer mitgeschleppten Lebensform 
lebt und wdchst das Weltubel.« Mit einem Ruck schilrzt Kraus, in 
diesen Worten, den Knoten, zu dem Technik und Phrase sich ver bun- 
den haben. Die Losung freilich folgt in anderm Sinne und hat uns noch 
entscheidende Einsichten aufbehalten. Der Journalismus namlich ist 
der Ausdruck der vollig verdnderten Funktion der Sprache in der 
technifizierten Welt. Die Phrase in dem von Kraus so gnadenlos de- 
nunzierten Sinne ist in diesem Umbildungsprozefi der Sprache ein 
Durchgangsstadium. In ihm tragi sie den Stempel des Warencharak- 
ters. Und doch: die Befreiung der Sprache ist heute identisch mit der 
Befreiung der Phrase - ihrer Verwandlung in Parolen '- geworden. 
Gewifi: bei Kraus kann diese Oberlegung keine S telle haben. All 
seine Erkenntnisse sind von der schurzenden, nie von der losenden 
Art. Nicht Analyse ist sein Weg, sich den Phdnomenen zu ndhern; 
vielmehr die Verschrdnkung eines neutestamentlichen, okumenischen 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1111 

Pathos mit der halsstarrigen Fixierung an die Anstoftigkeiten de$ 
wiener Lebens. Es geniigt ihm nicbt, die Welt zum Zeugen fur das 
schlechte Benehmen eines Zahlkellners aufzurufen; er mufi die Toten 
aus ihren Grdbern holen. [am Anfang der Aufzeichnung die Sigle 
a, am unteren Rande der Vorderseite die Sigle 40b mit Einschub- 
zeichen hinter aufwirft. und die Sigle 6b am Ende. Auf Riickseite 
Kolonnen mit Zahlensiglen] 

Drutkvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 345 

c. Blatt 42 (dazu s. ///, 366,28-367,12) 

Loos sagt: »Die meiste menschlicbe Arbeit bestebt aus zwei Teilen: 
aus der Zerstorung und aus dem Aufbau. Und je grofier der Anteil 
der Zerstorung ist, fa, wenn die menschlicbe Arbeit nur aus der Zer- 
storung bestebt, dann ist e$ wirklicb menschlicbe, naturliche, edle Ar- 
beit. . . . Wir wissen, dafi es heute Zuschneider und Naber gibt. Der 
Zuschneider hat dank seiner zerstbrenden Arbeit eine gesellschaftliche 
Position, der Mann, der mit gekreuzten Beinen auf dem Schneider- 
tisch sitzt und nur n'dht, hat sie nicht. Was habe icb hier beschrieben? 
Den Anfang der Arbeitsteilung. Durcb diese werden ganze Klassen 
von Menscben dazu verurteilt, nur aufbauende Arbeit zu leisten. 
Diese Menschen werden geistig und seelisch zu Grunde gehen mus$en.« 
Jedermann wird zugeben mussen, solcbe Sprache nock nie vernom- 
men zu haben. Man sucht sie irgendwo einzuordnen, denkt nach und 
findet, sie ist das Gegenteil, das alleraufierste Gegenteil der pastoralen 
Sprechweise. Das Aufbauende also wird hier schlechtweg entwiirdigt. 
Man mu$ sich nur Rechenschaft geben, was alles damit getroffen wird. 
Bestimmt und vor allem die Innerlichkeit, der schopferische Impuls im 
Gegensatz zum zivilisatorischen, wie er in seiner Urform bei den Neu- 
lingen, den Kolonisatoren und Farmern erscheint, die den Ort ihres 
kunfligen Daseins durcb die Zerstorung, durcb das Urbarmachen 
einweihen, Dieser Ort aber ist der unserer heutigen Kultur in allem, 
worin sie noch humanistisch bestimmt ist. »Inhaltlicb und in der Hal- 
tung, heijlt es in der eindringlichsten Untersuchung, die wir iiber die 
neueste Kunst besitzen, fdllt das Unpsychologiscbe und Inhumane 
auf. . . . In der Malerei erscheint der Mensch auseinandergerissen in 
einzelne Glieder, stuckweise, oder als sein hohnisches Rontgenbild. In 
der Musik ist die menschlicbe Stimme entstellt oder durch Instrumente 
zugedeckt. In der Dichtung erscheint das menscbliche Empfinden gro- 
tesk, entartet oder zur Gymnastik mechanisiert. Im Theater und im 
Ballett wird der Mensch als mecbaniscbe Puppe verwendet. Die Me- 
chanik des technischen Apparates ruckt in den Vordergrund. Und der 
Arcbitektur der Wohnhduser fehlt, zumindest nach aufien, jedes 



1 1 12 Anmerkungen zu Seite 334—367 

Menschlicbe*. Kurz: »Ganz besonders wird Uberall das Menschlicbe 
und der Mensch vernichtet.* Das Menschlicbe und der Mensch - n'dm- 
lich ganz genau in dem Sinne, in welcbem sie ans Ornament gebun- 
den, in alien ihren Lebensaufterungen mil ihm verschmolzen sind. Und 
das ist nun in einem sehr viel umfassenderen Mafte als selbst Loos, 
dieser Dracbentoter des Ornaments zu ahnen scheint, der Fall. Man 
muft schon Paul S cheer bart lesen, vor allem seine Menschen sprechen 
hofen, urn zu begreifen, wieviel Ornament unsere Rede gemessen am 
stellaren Esperanto seiner Peka t Labu und Sofanti hat, man muft schon 
mit Bert Brecht die Armut des Herrn Keuner - »Der Denkende be- 
nutzt . . . keinen Gedanken zuvieU - ermessen und mit Paul Klee auf 
die Krallenfufte des Angelus Novus geblickt haben - dieses Raub- 
engehy der die Menschen lieber befreite s indem er ihnen nahme[ y ] als 
begluckte, indem er ihnen gdbe s um zu ermessen, wie das Schiff [,] 
das diese Auswanderer aus dem Europa des Humanismus in das ge- 
lobte Land der Menschenfresserei tragi, seine Segel gesetzt hat. {]e- 
denfalls wissen wir seinen Namen »Die Armut* und daft auf diesem 
Schiff Karl Kraus der blindeste Passagier ist.} Scheerbart und Rin- 
gelnatz, Loos und Klee, Brecht und S. Friedlander - sie alle stoften 
von den alien Ufern, den uberreicben Tempeln voll von edlen, mit 
Opfergaben feierlich behangten Mensch enbildern, ab, um sich dem 
nackten Zeitgenossen zuzuwenden, der schreiend wie ein Neugebore- 
nes in den schmutzigen Windeln dieser Epoche liegt. Was diese 
Mannschaft inspiriert, ist zuletzt das Bewufttsein, daft die Einrichtung 
des menschlichen Daseins im Sinne der Produktionssteigerung, der bes- 
seren Verteilung der Konsumguter, der Vergesellschaftung der Pro- 
duktionsmittel mehr und anderes verlangt als eine komfortable Welt- 
be gluckungslehre; daft dieser Steigerung der Bedurfnisse auf der einen 
Seite eine asketische Haltung auf der andern entspricht. »Wein gepre- 
digt und Wasser getrunken.* Auf diesem Hintergrund Kraus. - 
[am Anfang der Aufzeichnung die Sigle a und im unteren Viertel 
der Vorderseite die Sigle 29a mit Bleistifb] 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 346 

Im Konvolut weiter vorn findet sidi ein Blattchen mit folgender 
Variante der zweiten Halfte der Aufzeichnung: 

{»Ganz besonders, heiftt es in einer der eindringlichsten Unter- 
suchungen, die wir uber die neueste Kunst besitzen, wird uberall das 
Menschlicbe und der Mensch vernichtet. . . .<r Deutsche Berufskunde 
p $6j Diese Haltung ist gerade die der vorgeschrittensten deutschen 
Kiinstler. Es ist die Haltung von Klee und Loos, von Scheerbart und 
Ringelnatz, von Brecht und S. Friedlander. Es ist die Haltung einer 
Menschheit, die sich anschickt, Tanks [wie Ms $41, bis] Gelacbter. 



Anmerkungen zu Seite 334—3 67 1 1 1 3 

Sie bat, vor fiinfzebn Jabren, begonnen von sich zu kosten, sie bat 
[wie Ms 341, bis] gewillt als der »Satiriker« ihr den streitig zu 
macben.} Aber gerade bier, bet den Antipoden der Moralitdt bildet 
das Neue sich; wenn die Menschen nicht mebr den Weg zu einander 
finden bilden die Unmenschen ein Kollektiv: sie geben sick ihre Ver~ 
fassungy bauen sicb ihre Hduser, erzieben einander ihre Kinder. Und 
alles, was im Einzeldasein falsche Humanit'dt ware, Luge und Elend 
haben in jenem Kollektiv so sehr ibren Ort, dafl sie ricbtig tverden: 
Liige jesuitiscbe Fuhrerkunst, Elend der grofle Vorrat aus welchem 
die Armut gerecht unter alle verteilt werden soli. 

Gegensatz von zersetzender und zerstbrender Haltung. 

Drudtvorlage : Benjamin-Ardiiv, Ms 343 

d. Blatt 43 (dazu s. //, 350,38-352,4) 

Noch ein Wort iiber die besondere Signatur dieses Schuldgefubls 
[dariiber der nidit integrierte Passus: ihr, dieser Menschheit, wurde 
diese Last (bkonomischer Streitigkeiten 3 die auf ihrem Rucken ausge- 
tragen wurden, als Sdould vernehmlido ,)] , d as ist: seinen engen 
Zusammenbang mit dem Expressionismus. Man kennt seine Sticb- 
worte — mit welchem Hohn hat nidot Kraus selber sie registriert: 
geballty gestuft und gesteilt komponierte er seine Buhnenbilder seine 
Satze, seine Gemdlde. Unverkennbar - und die Expressionisten pro- 
klamierten ihn selbst - ist der Einflufl fruhmittelalterlicber Minia- 
turen auf ihre Vorstellungswelt. Vielleicht ist es angezeigt y dem etwas 
intensiver nachzugehen, als es bisber geschehen ist. Wer die Gestalten 
eines der Hauptwerke f ruber cbristlicher Miniaturmalerei - zum Bei~ 
spiel die der wiener Genesis - mustert, dem tritt nicbt nur im Aus- 
druck der weitgeoffneten Augen } nicbt nur in den unergriindlicben 
Fallen ihrer Gewandung [,] vielmehr im ganzen Ausdruck etwas 
sehr Rdtselbafles entgegen. Als bdtte sie die fallende Sucht ergriffen y 
so neigen sie in ihrem Lauf, der immer iibersturzt ist, sidy einander 
zu. ]a, die Neigung kann> vor allem andern, als der tiefe und menscb- 
Hcbe Affekt erscheinen, der die Welt dieser Miniaturen sowohl wie das 
schopferiscb lebendige Europa des Nachkriegs durcbzittert. Aber sie ist 
nur der eine, gewissermafien konkave, Aspekt dieses Sachverhalts. Es 
ist der Blick ins Angesicbt jener Figuren. Ganz anders ist die gleicbe 
Erscbeinung dem, welcher ibren Rucken ins Auge fa/it. Diese Rucken 
staffeln sich in den Heiligen der Adorationen, in den Knechten der 
Getbsemaneszene, in den Augenzeugen des Einzuges in Jerusalem zu 
Terrassen menscblicber Nacken, menschlicher Scbultern, die wirklid) 
wie zu steilen Stufen geballt in den Himmel fubren. Es fdllt schwer 
fur das Pathos dieser friihmittelalterlichen Leiber, wie es uns in diesen 
Miniaturen aufbewabrt ist, einen Ausdruck zu finden, der davon 



1 1 14 Anmerkungen zu Seite 334—367 

absieht: sind sie besteigbar wie aufeinandergewalzte Felsblocke oder 
grob zubehauene Stufen. Welcbe unsicbtbaren, dunklen Gewalten den 
fiirchterlichen Geisterkampf auf diesen Schultern mogen ausgekdmpfl 
haben, davon werden [wit] kein anderes Wissen erbalten als das 
Studium der damaligen Theologie, der damaligen Formen- und Laut- 
sprache, des Rituals oder der Litaneien es uns vermitteln. Es sei denn r 
wir konnten uns entschlie$en y die Erfahrungen, die wir von der Ver- 
jassung der geistigen Menschen unmittelbar nach Kriegsende macben 
konnten, in dieses Bild hineinzumontieren. Wie dieser Expressions- 
mus, in dem eine urspriinglich religiose Haltung sich fast bruchlos in 
eine modische umsetzte, zustande ham, dariiber wird an anderer Stelle 
noch ein Wort zu sagen sein. Soviet steht fest, der Name jener namen- 
losen Macht, denen [lies der] sich die Riicken der Menschen entgegen- 
krummten, war »Scbuld«. Es war das Schuldbewufltsein, das von 
oben her zu den Menschen herunter ham, um mit ihrem Gorgonen- 
blick die Entmenschten erstarren zu macben. 

Katholizismus - Konversion 
Dafi die Fackel schon immer, vorher und nachher 3 die Atmosphdre 
des Krieges in sich enthielt. »Nicht daft eine gehorsame Masse von 
einem ihr unbekannten Willen, aber daft sie von einer ihr unbekann- 
ten Scbuld in Gefahr gefiihrt wird, macht sie mitleidwiirdig« hat 
Kraus schon 1912 geschrieben. [am Anfang beider Aufzeidinungen 
die Sigle a; Riickseite:] 
Klage 

Recht: schliefien mit Hinweis auf das Advokatorische 
Schuld: (RechtsschuW) beginnen mit 25a 

sMiefien mit 38a 7* ™ 43* 
Recht ) 
Hure ) f 
Schuld ) 

Druckvorlage: Benjamin -Archiv, Ms 347 

e. Blatt 44 (dazu s. /, 344>39"345>5) 

Denn Journalismus, in seiner paradoxesten Gestalt, ist Kraus: Die 
Fackel: das Organ des ewigen Schopfungstages. Den immer glekhen 
Sensatipnen, mit denen die Tagespresse ihrem Publikum dient, stellt 
er die ewig neue Zeitung gegeniiber, die das Geschehen > die Geschichte 
der Schopfung zu melden hat: die ewig neue, die unausgesetzte Klage. 
Die paradiesische Natur, die Heere der Fische und der Vogel, des 
Wildes und der Insekten, an die Franz von Assist sich mit seiner 
Predigt wandte, Kraus will sie, durch die Kreatur im Menschen, mit 
seiner »Zeitung« zu Genossen seiner Trauer machen. 

Druckvorlage: Benjamin- Ardiiv, Ms 348 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1115 

Dem Blatt 44 folgt im Konvolut das Blattdien 44a mit der Aufzeidi- 
nung: 

Es ist tief in der Erscheinung von Kraus begriindet und das ist das 
Stigma jeder ihn betreffenden Debatte, dafi alle apologetischen Ar- 
gumente danebengreifen. Das grofie Werk von Leopold Liegler ist aus 
apologetischer Haltung erwachsen. Kraus als »etbische Personlicbkeit« 
zu beglaubigen, ist sein erstes Anliegen. Das gebt nicht. Der dunkle 
Grund y von dem sein Bild sich abhebt, ist nicht die Zeitgenossenscbaft 
sondern die Vorwelt. Die mythiscbe Vorwelt oder die Welt des Da- 
mons, Das Licht vom Schopfungstage f'dllt auf ihn: und so taucht er 
aus dieser Nacht. Docb bleibt er ihr in andern Teilen y und wie tief, 
verhaflet. Ein Blick, der sich ihr nicht akkommodieren kann, wird 
seinen Umrifi nie gewabr werden. Er ist zweideutig wie alles Damo- 
nische. Und genau wie im Marchen hat der Damon in Kraus die 
Eitelkeit zu seinem Wesensausdruck gemacht. Auch die Einsamkeit des 
Damons ist seine, der da auf dem verborgenen Waldhiigel tanzt und 
schreit: »Gottseidank J daft niemand weifl, dap ich Rumpelstilzchen 
heifl.« Wie dieser tanzende Damon niemals zur Ruhe kommt, 
so unterhdlt in Kraus exzentrische Reflexion den bestandigsten Auf- 
ruhr. »Patienten seiner Gaben« bat ihn Bert bold Viertel genannt. 
In der Tat: seine Fahigkeiten sind Leiden und uber die wahren hin- 
aus macbt seine Eitelkeit ihn turn Hypochonder. Spiegelt er sich nicht 
in sich selber, so im Gegner, in dem ibm sich darzustellen gelingt. 
[s. 345,10-34] 

[Ruckseite: Zahlensiglenkolonnen; unten:] Kindersacben zum Poli- 
tischen? 

Druckvorlage : Benjamin-Archiv, Ms 349 

UBERLIEFERUNG 

J 1 Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, 10. 3. 193 1 (Jg. 75, Nr. 
183) [= 1. Folge: Abschnitt I Allmensch, 334-345]; 14. 3. 1931 
(Jg- 75>Nr. 195) [= 2.Folge:Absdinitt//DtfOTo«, 345-3 54]; 17. 3. 
193 1 (Jg. 75, Nr. 202) [=3. Folge: 777 Unmenscb, x> Halfte,354- 
361,8]; 18. 3. 1931 (Jg. 75, Nr. 205) [= 4. Folge: III Unmenscb, 
2. Halfle, 361,9-367]*. - Abschnittsnumerierung inkonsequent: 

* Die ^Frankfurter Zeitung« warf In dem Jahrzehnt zwischen 1925 und 1935, als 
Benjamin haufig in ihr publizierte, am Tag mehrere Ausgaben auf den Markt: zu- 
mindest zeitweilig wenigstens fiinf. Der iiberwiegende Teil der Texte wurde zwar 
jeweils in alien Ausgaben eines Tages wiederholt, doch bedingte die Neuaufnahme 
aktueller Nachrichten gelegentlich eine Anderung des Umbruchs; derart, dafi etwa ein 
Feuilletontext in den »Morgenblattern« auf einer anderen Seite als in der Abendaus- 
gabe oder der sogenannten Reichsausgabe sich finden kann. Auch kam es nicht selten 
vor, daft bestimmte Texte, die zuerst in der Abendausgabe erschienen sind, in die 
Morgenblatter des nachsten Tages ubernommen wurden. Heute ist die »Frankfurter 



1 1 1 6 Anmerkungen zu Seite 334—367 

»I«, »II.«, »III.«, »IV.« (im Text des Bandes wiederhergestellt 
nadi T und M: /, //, ///; einen Absdinitt IV gibt es weder in T 
noch M, die ZifFer »IV« wurde von der Redaktion zur Bezeich- 
nung der 4. Folge eingesetzt. 

J So Dass., Sonderabzug des Verlags der »Frankfurter Zeitung«; 2 
und V4 Zeitungsbogen, vierspaltig, einseitig bedruckt. Der Sonder- 
abzug enthalt den vollstandigen, mit J 1 zeilen- und absatziden- 
tischen, jedoch anders umbrochenen Text des Essays (Abschnitts- 
bildung: / Allmensch, Damon, Unmensch; d. h. die Numerierung 
des zweiten und dritten Abschnitts ist, wohl aus Umbruchsgrunden, 
offengehalten, »IV« als zweite Halfle von ///, wie in J 1 , fehlt 
noch). - Im Benjamin-Archiv befinden sich zwei Exemplare von 
J So ^49-51 und Dr 58-66). 

J 2 Offenbach - gesehen von Karl Kraus. - Blatter der Staatsoper 
und der Stadtischen Oper, Berlin, Jg. 11, Heft 1 j (Marz 193 1), 1-5; 
(als soldier nicht gekennzeichneter) Teilabdruck nach J 1 , 3. Folge 
[— 356,5-361,8], textidentisch bis auf 5 minimale (s.Lesarten)und 
r betrachtliche Abweichung (s. o., 1081-1084). 

T Typoskript, Durchschlag eines T x , S. [i]~45, mit Vermerk Hand- 
exemplar und zahlreichen Korrekturen von Benjamins Hand (Tin- 
te); auf der Riickseite von S. 44 zwolf, auf die (nicht Uberlieferten) 
Korrektur-F ahnen 1-11 bezogene Anderungs- und Korrekturver- 
merke, davon neun gestrichen; Benjamin-Archiv, Ts 349-393. 

M Niederschrift mit Reinschriftcharakter, S. [i]-[i8]; Abschnitts- 
einteilung wie in T, J So , jedoch anders lautende Titel (s. Lesarten); 
engbeschriebene Blatter mit weit gehaltenem Rand, darauf zahl- 
reiche Einschiibe und (wie im Text selbst) Sofortkorrekturen; 
vierte - jedoch nicht letzte - Fassung des gesamten S toffs (s. o., 
108 1); Sammlung Scholem. 

Zeitung« anscheinend in keiner offentlichen Bibliothek mehr wirklich vollstandig 
vorhanden. Die Herausgeber fiihren dcshalb in der gesamten Ausgabe bei samtlichen 
Arbeiten Benjamins, deren Erstdrucke in der » Frankfurter Zeitung« stehen, nur das- 
jenige Datum an, unter dem die ihnen jeweils vorliegende Ausgabe erschienen ist. 
Sie nehmen dabei in Kauf - und machen den Benutzer an dieser Stelle ein fiir allemal 
darauf aufmerksam -, dafi die fragliche Arbeit ebenfalls in Ausgaben am Tag vor odcr 
nach dem angegebenen Datum zu finden ist, bzw. daft es mit dem angegebenen 
Datum erschienene Ausgaben der »Frankfurter Zeitung« gibt, in denen Benjamins 
Arbeit sich nicht findet. - Diese vereinfachenden Nachweise wird der Bibliograph zu 
Recht bedauern, sie erscheinen den Herausgebern aber vertretbar, weil - mit einer 
einzigen Ausnahme (s. Bd. 4, 1032) - die zahlreichen Vergleiche Benjammscher Tcxte 
in unterschiedlichen Ausgaben eines Tages, welche sie anstellen konnten, Textidentitat 
ergeben haben; d. h. dafi beim Druck jeweils derselbe Satz, wenn audi manchmal neu 
umbrochen, verwendet worden ist. (Dieser Hinweis betrifft nur die im Hauptteil der 
»Frankfurter Zeitung* erschienenen Texte, nicht diejenigen des »Literaturblattes«, von 
dem es stets nur eine Ausgabe gegeben zu haben scheint.) 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1117 

Druckvorlage: J 1 

lesarten 334,19 /] J 1 , T; / Freiheit und Menschlichkeit M - 334,21 
alles.] Motto in J 1 gesperrt, in T und M nidit hervorgehoben ; in 
P, T und M in Anfiihrungszeidien, dahinter Punkt in J 1 - 334,22 
//] T, M; //. J 1 - 334,27 f. Bedeutung,] J 1 , T; Bedeutung M - 
334,29 Gift] T, M; Gift, J 1 - 335,9 der] unserer T, M - 335,12 
Meinung] J 1 , T; »Meinung« M - 335,21 Fall. Die] J 1 , T; Fall, 
die M - 335,28 ist nichts anderes als das] J 1 , T; ist das M - 335,31 
loskommt, wet] loskommt? wer T, M - 335,32 aufmerksameres, 
wen] aufmerksameres? wen T, M- 335,36 der sprachliche Ausdruck] 
P, T; das sprachliche Siegel M - 335,37 ist, mit] J 1 , M; ist mit T - 
336,2 providenziellen] providentiellen T, M - 336,3 Architekten,] 
J 1 , T; Architekten, in alien, M - 336,15 trennen,] trennen T, M - 
336,19 Journalismus und Dichtung] J 1 , T; Dichtung und Journa- 
lisms M - 336,23 es von] p, T; es 3 in Parodie eines Gundolfschen 
Satzes von M - 336,29 chronischen Krankheit] J 1 , T; Todeskrank- 
heit M - 336,30 Standpunkte] J 1 , T,* Standpunkte des Jahrhunderts 
M - 336,30 f. Unechtheit] gesperrt in J 1 ; nidit hervorgehoben in 
T, M - 336,31 dieser] J 1 , T; dieser gesamte M - 336,32 entstand] 
J 1 , T; entsprang M - 337,11 Die] J 1 , T; Seine M - 337,11 f. 
Sch tinge: ihr] J 1 , T; Schlinge und eine Einsicbt ist ihr v orb eh alt en. 
Ihr M - 337,19-21 geworden. bis ihre] J 1 , T; geworden. Gewifi, bei 
Kraus kann diese Uberlegung keine Stelle haben; seine M - 337,23 
und 28 Wiener] wiener T, M - 337,24 ihr] J 1 , T; sein M - 
337,25 ihr] J 1 , T; ihm M - 337,27 holm. -] J 1 , T; holen. [Ab- 
satz] M - 337,27 die] p, M; die oft T - 337,29 unscheinbare] J 1 , T; 
unscheinbare und ironische M - 338,28 allem,] J 1 , M; allem T - 
338,31-38 kehrt. bis ist] kehrt. Dieser Polemiker spart mit Worten. 
Mit welchen Kautelen er sich umgibt ist T; kehrt. Dieser Journalist 
spart mit Worten. Sein Schweigen ist wie ein Stauwerk vor dem das 
spiegelnde Bassin seines Wissens sich standig vertieft. Mit welchen 
Kautelen Kraus dieses Schweigen umgibt, ist M - 338,38 Stachel- 
draht] J 1 , T; Stachelkranz M - 338,39 »Fackel« umzdunt] J 1 , T; 
Fackel umgibt M - 339,1-3 ersichtlich bis Die] ersichtlich, wie die 
Umsicht seiner Wortwabl aus dessen Innerm. Sein Schweigen ist ein 
Stauwerk vor dem das spiegelnde Bassin seines Wissens sich standig 
vertieft. Die T; ersichtlich wie die Akribie, mit der er seine Wissen- 
schaft verwaltety aus dessen Innerm. Die M - 339,5-7 Kraus. bis 
willens] Kraus. Er lajlt sich keine Frage stellen, er ist niemals wil- 
lens T, M - 339,8 ihr] ihm T, M - 339,8 Ihr] Sein T, M - 339,9 
abzumontieren] J 1 , T; zu demontieren M - 339,14 Fur beide] J 1 , T; 
Bei beiden M - 339,22 weltgeschichtlicher] lies weltgeschichtlicher 
Schurkerei statt »[Art]«, wie Gerhard Seidel konjiziert; s. Walter 



1 1 1 8 Anmerkungen zu Seite 3 3 4—3 67 

Benjamin, Lesezeidien. Sdiriften zur deutschsprachigen Literatur, Leip- 
zig 1970, 131 - 339,23 schon] fehlt in T, M - 339,26 Befangener] 
J 1 , T; der Befangnen M - 339,26 unter] J 1 , T; unter feinster M - 
339,31 Konig,] J 1 , T; #6mg M - 339,31 geboren] p, T; z#r We/f 
gekommen M (jedoch gestrichen; geboren fehlt) - 339,33 £foe] J 1 , 
T; D/ese hochste M - 339,34 ^e**?;?,] J 1 , T; besessen; M - 339,36 
17.] p, T; siebenzehnten M - 339,38 f. ganz zwanglos] J 1 , T; in 
M unterstrichen - 339,39 Kredo] J 1 , T; Credo M - 340,2 ein] 
lies a/s «n - 340,3 den Rhus] J 1 , T; das Zeremoniell M - 340,3 
Kredo] J\ T; CreJo M - 340,5 f. befafit. »Das] T, M; J 1 setzt das 
lange Stifterzitat in kleinerer Type als eigenen Abschnitt vom Text ab 
(entsprechend ist wiederhergestellt Kraft.* Stillschweigend 340, 27 f.). 

- 340,6 Luft,« schreibt Stifter, »das] J 1 , T; Luft* schreibt Stifter 
»das M - 340,29 bedenklichen] J 1 , T; fragwiirdigen M - 340,3 5 f. 
weltgerichtlicber] T, M; weltgeschichtlicher J 1 (mit hoher Wahr- 
scheinlichkeit ubersehener Druckfehler) - 341,3 Gescbichte,] p, M; 
Gescbicbte T - 341,3 verurteilt] J 1 , M; verurteilt, T - 341,10 f, 
von ubernationaler, ndmlicb] J 1 , T; nicht nationaler sondern M - 
341,15 f. Lebens*: bis Kredo] J 1 , T; Lebens* - bis Credo M - 341,21 
uns aus verier ener] P, T; dem Menschen aus verlorner M - 341,23 
dessen] J 1 , T; seine M - 341,27 ideate Fall] P, T; Idealfall M - 

341.27 a#/?er ergebene] P, T; a«/?er a/* ergebne M - 341,28 f. £r- 
gebenheit,] p, T; Ergebenheit M - 341,36 f. dieser] p, T; wnserer 
M - 341,37 /ener] J 1 , T; jener unscheinbarsten, M - 342,1 Jie /efz- 
£e«] p, T; Jen letzten M (namlich auf /iegr bezogen) - 342,3 »Kraus«, 
schreibt Robert Scheu, »hatte] J 1 , T; » Kr aus « schreibt Robert Scheu 
»hatte M - 342,14 irgenJ^o,] J 1 , T; irgendwo M - 342,15 f. zu- 
tage] J 1 , T; zu 7 age M - 342,17 sichern in] p, T; sichern - in M 

- 342,25 5*re«g entspricht] J 1 , T; adaquat geht M - 342,25 Worfe] 
J 1 , T; Wort M - 342,26 abmontierende] p, T; demontierende M - 

342.28 dessen] P, T; Jeren M - 342,32 ^mwegsetzen,] J 1 , T; £w- 
wegsetzen M - 342,36 entschieden er dann,] J 1 , T; unbestechlich er, 
M - 342,36 e/'geww] J 1 , T; eignes M - 342,37 riicksichtslos] J 1 , T; 
schonungslos M - 342,38 5e/r] J 1 , T; t>o« M - 343,2 unseren] J 1 , 
T; unsern M - 343,3 Jeim, sew] J 1 , M; Jem w^5 T (343,4 Jem was 
und Jem [falschlich das] was in T analog) - 343,3-5 als bis am] J 1 , 
T (mit Ausnahme des in der Klammer der letzten Lesart Verzeichne- 
ten; in J 1 sagen, , dafur konjiziert sagen nach M); als dem, was 
sie tun, dem 3 was sie sagen mehr als dem, was sie schreiben, und an 
ihren Bu<hern, die fur den landldufigen Kritiker den einzigen Gegen- 
stand bilden, amM. - 343,7 diese ist um so] diese ist, um so T; dieser 
ist umso M - 343,10-12 versteht, bis daft] J 1 , T (mit Ausnahme von 
Gegner sondern); versteht. Es hiejle fur Kraus seine eigne polemische 



Anmerkungen zu Seite 334—367 11 19 

Meisterscbafi desavouieren, fiele Personliches und Sachliches fiir ihn 
nur in den Gegnern und nicht, auch hier wieder, in ihm selbst zu- 
sammen. So erkldrt sich, dafi M - 343,19 anderen] J 1 , T; andern 
M - 343,23 Mann«, hat bis gesagt, »ist] J 1 , T; Mann« hat bis gesagt 
»ist M - 343,26 will] J 1 , T; fiigt M - 343,28 entgegensetzt, und] 
konj. fiir entgegensetzt und J 1 , T analog entgegensetzt. Und M - 
343,28 recht] J 1 , T; Recht M - 343,29 f. »Viele bis habe.«] in J 1 
gesperrt; Sperrung, gemaft T und M, aufgehoben - 343,31 Eines] 
J 1 , T; eines M - 343,32 selbst] J 1 , T; selbst genau M - 343,35 ge- 
nugen] J 1 , M; belugen T - 343,37 f. selbst bis ihre] J 1 , T; selbst 
aus menschlichen Grenzen nur ihre M - 344,1-5 Kennzeichen bis 
durchstreift] J 1 , T, M (mit Ausnahme der gemafl T und M aufge- 
hobenen Sperrung von »Sprachlehre« in J 1 , sowie von Sprachlehre 
in M); M hat folgende Variante auf dem Rand: Den Gegensatz 
zwischen personlicher und sachlicher Polemik hebt Kraus auf, indem 
er vorerst seinen Gegner ganz und gar zur Einheit mit dem verworf- 
nen Sachverhalt zusammenschweifit. Der Aggregatzustand der beiden 
in ihrem Schmelzpunkt ist aber ein rein sprachlicher, gegluhtes Wort, 
in welches Kraus sein Petschafl eingr'dbt. Daher ist die Sprachlehre 
der entschiedenste Ausdruck seiner Autoritdt. Inkognito, ein Harun 
al Raschid, an nichts als diesem Siegelring erkennbar, durchstreift - 
344,6 Phrasen] J 1 , T; Phrase M - 344,25 Kampf die] J 1 , T; Kampfe 
gegen die Presse die M - 344,28 dem Hirngespinst] J 1 , T; der 
Chimdre M - 344,29 sich iiberlassen] J 1 , T; nachhangen M - 344,31 
dem, was] J 1 , M; dem was T - 344,32 dem, wie] J 1 , M; dem wie 
T - 344>3 2 ihr Ausdruck.] J 1 , T; der Ausdruck der sie beherrschen- 
den Macht. M - 344,33 Zwecke,] Zwecke T, M - 344*33 Hoch- 
kapitalismus] J 1 , T; Kapitalismus M - 344,36 gewdrtigen,] J 1 , 
T; gewdrtigen M - 344,36 goethescher oder claudiusscher] J 1 , T; 
Goethescher oder Claudiusscher M - 344,37 Von] J 1 , T; Und von 
M - 344,38 Ideale, die] J 1 , M; Ideale die T - 344,39 Genug,] 
J 1 , T; Genug M - 345,6 //] konj. fiir //. J 1 nach T, M; // Geist 
und Sexualitat M - 345,8 ein.] Motto in J 1 gesperrt, in T, M nicht 
hervorgehoben; in J 1 , T und M in Anfuhrungszeichen - 345,16 Zeit- 
genossenschaft,] J 1 , T; Zeitgenossenschaft M - 345,17 ihn,] J 1 , T; 
ihn M - 345,18 Teilen,] Teilen T, M - 345,23 Bediirfnis,] J 1 , 
M; Bedtirfnis T - 345,31 Leiden,] Leiden T, M - 345*33 selber,] 
selber T, M - 346,10 eigenen] J 1 , T; eignen M - 346,21 Ja,] J 1 , 
M; ]a T - 346,24 dann] J 1 , T; nun M - 346,31 geschundenen] J 1 , 
T; geschundnen M - 346,37 bin«, hat Kraus gesagt, »vielleicht] J 1 , 
T; bin« hat Kraus gesagt »vielleicht M - 346,39 eigenen] J 1 , T; 
eignen M - 347,1 an:] an, T, M - 347,6 ist,] ist T, M - 347,18 
heraus, die] T, M; heraus. Die J 1 - 347,22 f. kommt his Die] J 1 , 



1 120 Anmerkungen zu Seite 334—367 

T; kann nut behavioristisch zustande kommen. Dazu ist das Mittel 
die Nacbabmung. Die M - 347,23 »Fackel« sind mehr] J 1 , T; 
Fackel sind zum groflen Teil mehr M - 347,25-27 eng bis die] J 1 , T; 
eng mit der zweideutigen Demut des Interpreten - die M - 347,28 
steigert. In] J 1 , T; steigert; mit welcber Servilitdt er nidot danktl - 
wie eng die Grausamkeit des Satirikers mit ibr verbunden ist. In 
M - 347,29 Scbmeichelei, und] Scbmeichelei und T; Sckmeicbelei. 
Und M - 347>3° Kraus:] Kraus, T, M - 347,33 cbinesiscben] 
cbinesiscben, T, M - 347,37 f. verstrickt,] J 1 , T; verstrickt M - 
348,3 sein Element bat.] J 1 , T; lebensfdbig ist. M - 348,5 ist] ist bei 
Kraus T, M - 348,5 so] so unendlicb T, M - 348,6 ihn] sie T, M - 
348,9 mit] J 1 , T; wie in M - 348,10 erscheinen] J 1 , T; vor uns er- 
scbeinen M - 348,10 f. soil, so dajl, wet] J 1 , M; soil sodafi wet T - 
348,13 f. kommt bis dicbterischen] J 1 , T; kommt ganz gewi$ nidot aus 
der edlen y der dicbterischen M - 348,14 die] J 1 , T; seine M - 348,15 
sie] J 1 , T; sie so M - 348,17 Werke] J 1 , M; Werk T - 348,18 von] 
J 1 , T; der M - 348,19 von] J 1 , T; der M - 348,20 Menscbenbasses,] 
konj. fiir Menscbenbasses J 1 , T, M - 348,23 widersinniger,] wider- 
sinniger T, M - 348,23 dessen,] J 1 , M; dessen T - 348,24 f. »zeitent- 
bundenen] J 1 , T; »zeitentbundnen M - 348,26 den bis streifen.] auf 
dem so gem und woblgefallig der banale Blick verweilt. T, M - 
348,29 sicher nicbt das Freundeswort] gewifi nidot die Freundes- 
worte T, M - 348,29 f. »Kraus«, so erklart er, »stebt] J 1 , T; »Kraus« 
so erklart er »steht M - 349,6 Klagen] klagen T, M - 349,8 Manne, 
solange] Manne solange T; Satiriker, solange M - 349, 10 Spbare 
des Rechts] in J 1 gesperrt; Sperrung aufgehoben gemafi T, M - 
349,r2 ebensosebr wie der Sprache dem] J 1 , T; ja im Grunde nicbt 
der Spracbe sondern dem M - 349,14 anderen] andern T, M - 
349,15 eigenes] J 1 , T; eignes M - 349,17 Zelle] dieser Zellen T, M 
- 349>*9 werden, bis Man] werden. Darum gleicbt das Gedanken- 
gebaude von Kraus dem damonischen, labyrintbiscben Mietshaus, in 
dem bei Kafka der Prozejl des K. verbandelt wird. Man T, M - 
349,22 besser, als] J 1 , M; besser als T - 349,25 verebren] erblicken 
T, M - 349,26 dies] das T, M - 349,29 »freien Individuums«] J 1 , 
T; freien Individuums M - 349,35-350,3 Gerecbtigkeit. bis bat] J 1 , 
T (mit Ausnahme von stirbt, und , stebt ibm und Recbtscbreibung 
und in T) ; Gerecbtigkeit s geplant und vorbereitet durcb die Rebellion 
des Geistes gegen die Sprache, genauer; Begriffs gegen das Wort. 
Und dennocb gibt er immer wieder gerade in diesem Bannkreise sich 
sein Stelldicbein mit den Lemuren von Amt und Presse. Dafi in dieser 
Ordnung die brutale Eindeutigkeit des Besitzes von nichts kompen- 
siert wird als von der damoniscben Zweideutigkeit des Recbts, dessen 
Zwecke gerechte niemals sein konnen, weifi Kraus und ist den seinen 



Anmerkungen zu Seite 334— 367 1121 

dennoch immer vor Gericht nachgegangen. Etwas wie Hdjlliebe wal- 
tet in diesem Verhaltnis. Kraus hat M - 350,5 eigener] J 1 , T; eig- 
ner M - 350,7 er] J 1 , T; Kraus M - 350,7 gahnendsten,] gahnend- 
sten T, M - 350,15 das,] J 1 , M; das T - 350,15 von so] J 1 , T; von 
M - 350,20 Zersetzende] J 1 , T; Zerstorende M - 350,20 an Stelle] 
J 1 , M; anstelle T - 350,21 Geheimen] Unscheinbaren T, M - 
350,34 gelten!«] Absatz in J 1 , nicht in T, M - 350,39 sichtbar] J 1 , 
T; sichtbar in Kraus M - 351,3 ihren Boden] J 1 , T; ihn am Ende M 

- 351,4 die] J 1 , T; seine M - 351,5 f. man bis Unverkennbar] 
J 1 , T; er seine Buhnenbilder, seine Sdtze, seine Gemdlde. Unverkenn- 
bar M (Gemalde. Unverkennbar audi T) - 351,11 Gewandung,] 
Gewandung T, M - 351,16 Manifeste] J 1 , T; »Manifeste« M - 
351,20 ihre] J 1 , T; ihren M - 351,25 auf] J 1 , T; auf, M - 351,25 f. 
Unmoglich, fur ihr] Unmoglich fur ihr T; Unmoglich, fur das M - 
351,30 f. geschlagenen Massen] J 1 , T; deutschen Menschen M - 
351,32 uns] J 1 , T; uns, M - 351,34 zuruckblieb] geblieben war T, 
M - 351,39 mitleidswurdig« , hat] J 1 , T; mitleidwurdig« hat M - 

352.2 teilzuhaben. bis hat] J 1 , T; teilzuhaben: es ist die Schuld 
des Begriffs am Worte, aus dem er sein Dasein hat; fahrlassige 
Totung der Phantasie, die schon am Mangel einer einzigen Letter 
stirbt, und der er in seiner »Elegie auf den Tod eines Lautes« die 
ergreifendste Klage gesungen hat. Schuld ist das Aussetzen der Phan- 
tasie, in deren Hauchkreis allein Zeugung zustande kommt. Ihr - 
nein, sich selber - zu entgehen, hat M - 352,3 sich eines Tages] im 
Jahre 1919 [sic] sidy T; sich 1916 [sic] M (Kraus trat im April 191 1 
in Wien zum katholischen Glauben iiber; s. etwa Karl Kraus in 
Selbstzeugnissen und Dokumenten, dargestellt von Paul Schick, Rein- 
bek 1965, 68) - 352,9 und 11 Decadence] J 1 , T; Dekadence M - 
352,10 hat.] J 1 , T; hat. Vielmehr nicht sowohl in einer entsprechen- 
den als identischen. M - 3 5*, 12 Technik,] J 1 , T; Technik M - 
352,18 viel bis der] J 1 , T; nicht nut der Philanthrop in ihm, der M 

- 352,20 hat, als der geschulte] J 1 , T; hat, das ist vor allem der or- 
thodoxe M - 352,28 f. deren Ausdruck es ist] J 1 , T; dem es sein Da- 
sein verdankt M - 352,31 jene] J 1 , T; jene strenge M - 352,34 eige- 
nen] J 1 , T; eignen M - 353,5 bei ihr die Ersten zu sein] J 1 , T; 
die ersten bei ihr zu sein M - 353,18 umgehen:] J 1 , T; umgehen, 
M - 353,19 Geistes,] J 1 , T; Geistes: M - 353,21 fur Kraus] J 1 , 
T; ihm M - 353,22 Form,] J 1 , T; Form - M - 353,22 f. Verbil- 
dung] J 1 , T; Verbildung - M - 353,31 die Prostitution] J 1 , T; sie 
M - 353,33 f. itn Angriff auf die Presse] J 1 , T; in der Kritik der 
Presse genau M - 353,39 ungebrochenen] J 1 , T; ungebrochnen M - 

354.3 er] J 1 , T; Kraus M - 354,41". Sexus. [Absatz] Dieser] J 1 , 
T; Sexus. Deren M - 354,5 irgend einer] J 1 , T; irgendeiner M - 



1 122 Anmerkungen zu Seite 334—367 

354,13 Abstrakta,] Abstrakta T; Absoluta, M - 354,17-20 hat.* 
bis Stunde] J 1 , T; hat.* Diese Nacht i$t nicbt die Mutter Nacht, noch 
die sehnsuchtige, romantische; es ist die Stimmung M - 354,22 Feind] 
J 1 , T; Anlafi M - 354,23 Damon] J 1 , T; Schicksal M - 354,25 ///] 
konj. fur ///. J 1 nach T, M; /// Sprache und Eros M - 354,27 Schnee.] 
Motto in J 1 gesperrt, mit Punkt; in T, M nicht hervorgehoben, 
ohne Punkt; in J 1 , T und M in Anfiihrungszeichen - 354,30 Wiener] 
wiener T, M - 354,31 man, solange] man so lang T; man solang M 
- 354>3 2 konnte] J 1 , T; wollte M - 354,32 Gleis] J 1 , M; Geleis T - 
354*34 dargestellt] dargestellt, T; darzustellen M - 355,5 in] J 1 , 
T; unter M - 355,7 uberzuziehen] J 1 , T; Uberzuziehn M - 355,8 
sindy] sind T, M - 355,9 uberleben,] J 1 , M; uberleben T - 355,14 
Vorschlag, Menschen zu fressen,] Vorschlag, Menschen zu fressen T; 
Vorscblag Menschen zu fressen M - 355,15 ubergegangen] J 1 , T; 
eingegangen M - 355,16 Pro)ekt,] J 1 , T; Projekt M - 355,25 f. »]u- 
denfrage*, um] J 1 , T; »]udenfrage« um M - 355,27 die Reaktion ge- 
gen] J 1 , T; gegen M - 355,29 f. Freilich bis ersten] J 1 , T; Freilich - 
man hatte die »FackeU schon Wort fur Wort von ihrer ersten M - 
355,31 diese] J 1 , T; diese fast dandyhafte, M - 355,32 Publizistik,] 
J 1 , T; Publizistik M - 355,35 jenes] J 1 , T; jenes schreckliche M - 
356,2 Zeitung, sagt Kierkegaard, »wird] J 1 , T; Zeitung sagt Kierke- 
gaard »wird M - 356,5-361,8 Die bis muflte.] Teilabdruck J 2 - 
356,6 ineinanderliegen,] J 1 , J 2 ; ineinander liegen T; ineinanderliegen 
M - 356,7 f. Sinn der Operette] in J 1 gesperrt; Sperrung aufge- 
hoben nach T, M, J 2 - 356,11-13 Musik. bis Vor] J 1 , T, J 2 ; Musik. 
Kraus gait als finsterstes Barbarentum immer, da/I man die Schonheit 
weiblicher Dummheit verkennen konnte. Vor M - 356,16 Schonen, 
Guten,] J 1 , J 2 ; Guten, Schonen T, M - 356,21 Militarstaats -,] Mi- 
litarstaats - T, M; Militarstaates -, J 2 - 356,25 Musik. -] J 1 , J 2 ; 
Musik. T, M - 356,27 Pariser] J 1 , J 2 ; pariser T, M - 356,37 mehr,] 
J 1 , J 2 ; mehr T, M - 357,10 Vorhang,] J 1 , J 2 ; Vorhang T, M - 
357,11 Gebarden] J 1 , J 2 , T; Geberden M - 357,13 /rez. Da ste&ew 
sie:] J 1 , T; /r«7 A* stehen sie: J 2 ; /m: da stehen sie M - 357,14 
^*t] J 1 , T, M; fehlt in J 2 - 357,14 die andern Nummern] J 1 , 
J 2 , T; wie sie alle heifien mogen M - 357,15 Feinde,] J 1 , J 2 ; Feinde 
T, M - 357,16 seltenere,] J 1 , T, J 2 ; seltenere: M - 357,19 sie 
sprechen aus ihm] J 1 , T, J 2 ; er spricht aus ihnen M - 357,20 A«Z£ 
stumpfer, halb glanzender] J 1 , T, J 2 ; W& glanzender halb stumpfer 
M - 357,22 erkennt,] J*, J 2 ; erkennt T, M - 357,30 So/cfc] J 1 , J 2 ; 
solch T, M - 357,31 We/*,] P, J 2 ; Welt T, M - 357,32 W,] 
J 1 , J 2 , M; hat T - 357,35 abgelegenen] J 1 , T, J 2 ; abgelegnen M - 
357,36 Glarner] konj. fur g/arner J 1 , T, M, J 2 - 357*37 kin,] J 1 ' 
T, J 2 ; £i» M - 357,38 Kraussche] J 1 , J 2 ; krausscbe T, M - 358,3 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1123 

Figuren, und scharen,] J 1 , M, J 2 ; Figuren und scharen T - 358,4 
Shakespeare ansehen] J 1 , T, J 2 ; </er We/t Shakespeares ansehn M 
- 358,4 s«»] J 1 , T, J 2 ; tf>r M - 358,7 f. Theodor Haecker] ]\ J 2 ; 
Hecker T, M - 358,8 *»] P, T, J 2 ; m M - 358,10 Kraus] }\ T, J 2 ; 
Kraus selber M - 358,14 f. m Ansprucb nimmt] J 1 , T, J 2 ; prokla- 
miert M - 358,18 Mensch,] J 1 , T, J 2 ; Mensch erweisen, M - 358,18 
entpuppen] J 1 , T, J 2 ; entlarven M - 358,19 es,] J 1 , J 2 ; es T, 
M. - 358,25 und] J 1 , T, J 2 ; und er M - 358,28 und 359,10 O/fen- 
bacb-V orlesungen] J 1 , J 2 ; Offenbachvorlesungen T, M - 358,28 /£«- 
p/efs] J 1 , M, T; Couplets J 2 - 358,31 f. am Ende] J 1 , T, J 2 ; zuletzt 
M - 358,34 Wit z> ] Ji, p ; Wtz T, M - 35*>37 jene] J 1 , T, J 2 ; 
eine M - 358,39 gegeben hat] J 1 , T, J 2 ; gab M - 359,1 ge£e£r£,] 
J 1 , M, J 2 ; gefce^rt T - 359,6 in bis tfwgifc.] J 1 , T, J 2 ; </ie MeJbr- 
heit bei all diesen Veranstaltungen darstellt. M - 359,7 zwingen,] 
J 1 , J 2 ; zwingen T, M - 359,11 L weist bis ertr'dumten.] J 1 , T 
(mit Ausnahme von Schranken als und sic&s), J 2 ; treibt darin die 
souverane Einschrankung der Musik wahrscheinlich so weit wie es 
nur irgendein Georgeschuler strengster Observanz vermochte* M - 
359,13 Sprachgebarde] J 1 , T, J 2 ; Sprachgeberde M - 359,18 Worts 
verbieten,] J 1 , M; Worts verbieten T; Wortes verbieten, J 2 - 
359,19 Georgeschen] J 1 , M, J 2 ; georgeschen T - 359,19 f. Auf und 
Nieder] J 1 , J 2 ; Walten T, M - 359,21 verleibu, ist] J 1 , M, J 2 ; ver- 
leibu ist T - 359,22 Demgegenuber Kraus: seine] J 1 , J 2 ; Sie ist das 
Medium seiner Theurgie und all ihr Wirken geht in [Schau und M] 
Bilder ein. Demgegenuber Kraus: der Tempel seiner Sprache hat Raum 
fiir alles, vom schnodesten Wortwitz bis zum apokalyptischen Pathos. 
Die [Seine M] cella aber ist leer. Da steht nicht statuengleich der 
»Wortleib«, sondern es herrscht der Name. Die T, M - 359,23 getan] 
J 1 , T, J 2 ; ab getan M - 359,24 Seherschaft] J 1 , J 2 ; Schau T, M - 
359,26 sie bis »Wortleibs«] J 1 , J 2 ; Kraus dem neuromischen Heiden- 
tum T, M - 359,27 des Stillschweigens] J 1 , T, J 2 ; der Schweigsam- 
keit M - 359,28 Kraus] J 1 , M, J 2 ; er T - 359,29 dem eigenen] J 1 , 
T, J 2 ; seinem eignen M - 359,33 f- ihn bis Gefeierte] J 1 , J 2 ; [vow 
entscheidenden Punkt her, M] iie entscheidende [nicht in M] Aon- 
frontierung. Sich [Konfrontierung: sicb M] als dem Eifernden stellt 
er George als Gefeierten T, M - 360,9 so*,] J 1 , T, J 2 ; so« M - 
360,10 fort,] J 1 , T, J 2 ; fort M - 360,18 f. ihre Sprache der Reim:] 
J 1 , T (Reim.), J 2 ; ifcr Ausdruck der Reim. M - 360,20 Ursprung] 
J 1 , J 2 ; Ursprung, T, M - 360,21 W. Der] J 1 , T, J 2 ; hat. [Absatz] 
Der M - 360,22 fiel] J 1 , T, J 2 ; starb M - 360,22 f. als bis feww.] 
J 1 , T, J 2 ; #»5 tfew Zwiespalt von Geist und Sexus, wie sie ineinander 
schillern, lebte. M - 360,24 entsunken,] J J , T, J 2 ; ent fallen M - 
360,25-27 jFwjE? bis tA»] J 1 , T, J 2 ; F«j(?e </er Siegerin zu werden, der 



1 124 Anmerkungen zu Seite 334—367 

Pbantasie, die ihn erschlagen hat. Denn es ist eine martialiscbe Pban- 
tasie, mit dem Florett in H'dnden wie vielleicht nur Baudelaire sie 
M - 360,27 f. s'exergant bis escrime,] in J 1 , T, M, J 2 erste Zeile 
des folgenden Zitats, jedoch (wegen der Anpassung von »Je vais 
m'exercer« [s. Nachweise] ans Satzsubjekt Baudelaire, das hier in 
der dritten Person stent) nicht in Anfiihrungszeichen wie die ubrigen 
drei Verse. Da die Herausgeber im Text bei Gedichtzitaten, die durch 
Strophen- oder Verssatz herausgehoben werden, grundsatzlich Anfiih- 
rungszeichen (wo sie bei Benjamin vorkommen) fortlassen, ware hier 
der von Benjamin umgeschriebene Vers, wurde er als erster der 
Strophe eingeriickt worden sein, als veranderter nicht hervorgetreten, 
wie er es ohne die Anfiihrungszeichen in alien Lesarten tut, Daher 
haben sie ihn als nicht herausgehobene Fortsetzung des Satzes konji- 
ziert. - 360,32 ein ziigelloser (scil. Engel)] J 1 , T, J 2 ; eine ztigellose 
(scil. Pbantasie) M - 360,37 dieses] J 1 , T, J 2 ; seines M - 361,1 
solcheni] J 1 , T, J 2 ; diesem M - 361,2 Wiener] J 1 , T, J 2 ; wiener 
M - 361,11 zu Hause] zuhause T, M - 361,12 Tier] J 1 , T; Hund 
M - 361,16 weiter,] writer T, M - 361,18 Gegenstand,] J 1 , M; 
Gegenstand T - 361,18 eigenen] J 1 , T; eignen M - 361,23 Menschen- 
freundlicbkeit] Menscbenfreundschafl T, M - 361,24 Grenze] J 1 , 
M; Grenzen T - 361,24 bekarn,] J 1 , M; bekam T - 361,33 
Holtys »Feuer im Walde«] in J 1 gesperrt; Sperrung aufgehoben ge- 
mafi T, M - 361,35 Graber,] Grdber T, M - 361,36 wird] J 1 , T; 
wird, M - 362,8 f. »Je bis zuruck.*] in J 1 gesperrt; Sperrung aufge- 
hoben gemaft T, M - 362,14 f. die innigste Durch dringung] J 1 , T; 
das Urverhaltnis M - 362,15 Eros, wie sie Kraus erfuhr,] Eros wie 
sie Kraus erfuhr T; Eros, wie es Kraus beherrscht, M - 362,18 von- 
einander] J 1 , T; von einander M - 362,26 nur nocb] nurmebr T, 
M - 362,31 Besitz,] Besitz T, M - 362,31 heifit] J 1 , T; beifit, M 
- 362,39 heifit] heifit, T, M - 363,3 einem Mai und inne werden] 
J 1 , T; einemmal und innewerden M - 363,6 f. strafend, sondern 
rettend naht, wie] strafend sondern rettend naht wie T, M - 
363,7 f. Sbakespearescben, jener Zeile, in welcher einer vor] die Stelle 
ist, von T an, verderbt bis in J 1 - und von da bis in Schriften, Bd. 2 
(s. 190), Illuminationen (s. 403) und noch in Lesezeichen (s. a. a. O., 
158) - fortgeschleppt worden. Sie lautet in T sbakespearescben, jener 
Zeilen, in welcher einer vor . So steht sie in J 1 und alien diesem Druck 
folgenden Nachdrucken (bis auf sbakespearescben, das von J 1 an 
grofl geschrieben ist, wie iibrigens schon in M). Konjiziert (oder 
schon von Benjamin korrigiert) hatte werden mussen Zeilen, in wel- 
chen oder Zeile, in welcher. Eben diese letzte Lesart aber findet sich in 
M. Dort lautet der Passus Sbakespearescben, jener Zeile, in welcher 
einer von [mogliche Lesart auch vor]. Nach dieser Lesart (unter 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1125 

Belassung des vor) haben die Herausgeber im Text emendiert. - 
363,8 f. berichtet] J 1 , T; berichtete M - 363,9 Friihe] J 1 , T; Fruhe, 
M - 363,9 f. letzten zerschossenen Baume vor seiner'] J 1 , T; letzten, 
zerschossenen Baum vor ihrer [scil. der Soldaten] M - 363,11 Zeile,] 
J 1 , T; Zeile - M - 363,11 eigene] J 1 , T; eigne M - 363,16 f. Zu- 
sammenhang,] J 1 , T; Zusammenhang - M - 363,17 zuruck] J 1 , 
M; zuruck, T - 363,18 es,] J 1 , T; es; M - 363,23 im] J 1 , T; nur 
im M - 363,23 sie] J 1 , T; sie iw 5zc& M - 363,25 Buch] Buche T, 
M - 363,29 f. 5fe£r, bis SZw^espetfre:] J 1 , T; steht neben Shakespeare. 
M - 363,32-36 dies bis Kraus] J 1 , T (mit Ausnahme von zuhause); 
dieses Schillersche Distichon in seiner Verschrankung von weltburger- 
lichem Grad- mit grundherrlichem Edelsinn, kennzeichnet den utopi- 
scben Fluchtpunkt, in dem die Humanitat der Klassik zu Hause war. 
Es ist filr Kraus nun M - 363,38 einer Verfassung] J 1 , T; einem 
Punkt M - 363,38 in welcher] J 1 , T; an dem M - 364,1 f. bean- 
sprucht,] beansprucbt T, M - 364,4 f. der Expressionismus] J 1 , T; 
er M - 364,5 Handeln,] J 1 , T; Handeln M - 364,7 er] J 1 , T; der 
Expressionismus M - 364,8 beugte,] beugte T, M - 364,9 Rein- 
heit] J 1 , T; Cute M - 364,10 »naturlichen« Menschen an,] J 1 , T; 
»naturlichen Menschen* an M - 364,13 ist,« schreibt Marx, »der] 
J 1 , T; ist* schreibt Marx ».der M - 364,30 f. klassischen bis und] 
J 1 , T; klassischen und idealen entgegentritt, ist in der Bildungswelt 
von Kraus der andere Pol. Jean Paul tritt Schillern mit der gleichen 
Schroffheit wie vor hundert Jahren [lies: - wie der Krausschen 
heute - vor hundert Jahren oder wie nach hundert Jahren Kraus den 
Idealisten] entgegen. Am Kinde erbaut sich der reale Humanismus, der 
bei Kraus dem idealen die Stirne bietet und (Variante zu Am Kinde 
bis und auf dem Rand: Er formt sich, um dem idealen die Stirn zu 
bieten, am Kinde und) M - 364,32 idealen ,] idealen - T; Ideal- 
menschen - M - 364,33 Musterburgers] Musterbiirgers - T; staats- 
burgerlichen Musterexemplars - M - 364,34 das] J 1 , T; sein M - 
364,36 f. anheimgegeben. Daher] J 1 , T; anheimgegeben, so daft sie 
ihren Anker vom Ursprunge losgerissen und nicht mehr als realer Hu- 
manismus zu gelten hatte. Daher M - 364,39-365,1 jedoch] J 1 , T; 
aber M - 365,1 Naturraum,] Naturraum T, M - 365,2 Befreiungs- 
kampf,] Befreiungskampf T, M - 365,4-11 aufzwingt, bis liegt] J 1 , 
T (mit Ausnahme fehlender Kommata hinter idealistische , steht , be- 
wahren , einzige); aufzwingt, das hat in dem realen Humanismus von 
Kraus seine Spuren nicht hinterlassen. Sollte diesem grofiten Techni- 
ker des Zitats dessen beste Seite entgangen sein, die: zu zerstoren, 
die: aus dem Zusammenhang zu brechen, und, mit einem Worte, die 
einzige, krafl deren noch Hoffnung ist M - 365,12 uberdauert -] 
uberdauert: T, M - 365,15 f. streitbares] J 1 , T; martialisches M - 



in6 Anmerkungen zu Seke 334—367 

365,16 f. imstande, und imstande,] J 1 , M; imstande und imstande 
T - 365,18 fassen,] J 1 , M; /<*5$e« T - 365,19 goetheschen] J 1 , T; 
Goethescben M - 365,20 Berserker] J 1 , T; Wutrich M - 365,22 2« 
Hause, in Wien] zuhaus, in Wien, T; z# Hans, in Wien, M - 
365,23 f. er, bis abbrach,] J 1 , T (nut Ausnahme von eingestehend 
mitten); er mittendrin abbrach, aber die Vergeblicbkeit seines Tuns 
sicb gestehen mufite, (auf dem Rand die Version von J 1 ) M - 365,25 
Natur zuruck: diesmal] Natur, diesmal T, M - 365,25 zerstoren- 
den,] J 1 , M; zerstbrenden T - 365,35 Auf] J 1 riickt die erste Zeile 
ein wie sonst bei alien neuen Absatzen; T und M dagegen lassen die 
Zeile vorn beginnen, wobei dort sonst gleichfalls die ersten Absatz- 
zeilen eingeriickt sind; Benjamin wollte also die neue Zeile mit denen 
des Gedichtzitats und der letzten davor eng verknupft wissen, ohne 
zugleich den Zeilenfall der beiden Strophen preiszugeben. ~ 365,36 
Kredo und. zu dem] J 1 , T; Credo und des M - 365,37 patriae 
chalischen Stifters, ein Bekenntnis, an] J 1 , T; idyllischen Stifterschen, 
an M - 366,4 hat:] Absatz in J 1 ; keiri Absatz in T, M. Die Absatz- 
bildung wurde in diesem Falle erhalten, jedoch die kleinere Satztype 
in J 1 normalisiert. - 366,26 macben!«] Absatzende in J 1 , T, M - 
366,30-38 Allzulange bis Und] J 1 , T (mit Ausnahme von meister- 
liche [lies meisterliche Werk]); So solidarisiert sich die Kreatur mit 
den destruktiven Naturvorgdngen. Statt an die Liebe sich zu halten 3 
in der der Mensch seine Beziehung zum Mitmenschen gleichzeitig mit 
der Befriedigung des Geschlecbtstriebs bereinigte, halt sie sich an den 
Frafi, in dem der Mensch seine Beziehung zur Kreatur gleichzeitig mit 
der Befriedigung des Nahrungstriebs bereinigt. Denn es gibt keine 
idealistische sondern nur eine materialistische Oberwindung des mythi- 
schen Menschen. Und M - 367,1-4 Phrase. Er bis Der] J 1 , T (mit 
Ausnahme f ehlender Kommata hinter Tanne und Erz) ; Phrase. Denn 
er solidarisiert sich nicht mit der Tanne sondern mit dem Hobel, der 
sie frifit, nicht mit dem Metall sondern mit dem Schmelzofen, der es 
verdaut y nicht mit dem Rohstoff sondern dem Automaten, dessen 
Auswurf die Ware ist. Der M - 367,4 Leben] J 1 , T; Dasein M - 

367.6 schopferischen Daseins] J 1 , T; schopferischer Arbeit M - 

367.7 verfolgt] J 1 , T; verstanden M - 367,9 welcher] J 1 , T; der 
M - 367,9 befreite,] J 1 , T; befreite M - 367,10 nahme y ] n'dhme T, 
M - 367,10 begltickte,] J 1 , T; begluckte M - 367,10 f. gesichtet 
haben,] J 1 , T; erfafit haben M - 367,11 fassen] J 1 , T; erkennen M 
- 367,13 Zerstorend bis Gerechtigkeit,] J 1 , T; Zerstorung - dies ist 
schliefilich die Sprache der Gerechtigkeit M - 367,14 f. Einhalt bis 
geworden:] J 1 , T (mit Ausnahme von gebietet. 5o, zerstorend, ist); 
entgegentritt. [Variante auf dem Rand: Zerstorung ist die Sprache, 
mit der die Gerechtigkeit destruktiv der konstruktiven Zweideutig- 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1127 

keit des Rechts in den Arm fdllt.] Kraus spricbt sie so vollendet, dajl 
er sein eignes Werk in ihr zerstorend mit dem grofien Wort umarmt: 
M - 367,16-19 Das bis und] J 1 , T (mit Ausnahme von begonnen 
und); In diesem Zeichen steht die Nuchternheit, die ihre Herrschaft in 
der Dauer begrundet und schon hat das Werk [Variante auf dem 
Rand: haben die Schriften] von Kraus zu dauern begonnen und 
M - 367,20 der eine von seinen tiefsten] J 1 , T; welcher seine 
sonderbarste M - 367,23-25 Nicht bis voruber.] J 1 , T; Verkla- 
rungy als der Stand der Kreatur im Ursprung, Zerstorungy als das 
Waken der Gerechtigkeit sind Herr des Damons geworden. M - 
367,27 Mensch; ein Unmensch; ein] Mensch, ein Unmensch, ein 
T; Menschy ein Unmensch: ein M - 367,31 vergehen] J 1 , T; ver- 
gehn M 

nachweise 334,21 alles f ] Karl Kraus, Worte in Versen II, Leipzig 
1 91 7, 18 (»>Alle Vogel sind schon da<«, v. 13) - 335,27 wird.«] 
Peter Suhrkamp, Der Journalist, in: Deutsche Berufskunde. Ein 
Querschnitt durch die Berufe und Arbeitskreise der Gegenwart, hg. 
von O. v. d. Gablentz und C. Mennicke, Leipzig 1930, 383 (Teil 2: 
Lehr- und Pflegeberufe) - 336,6 Verbrechen*] Adolf Loos, Trotz- 
dem. 1900-1930 (= Die Schriften von Adolf Loos in zwei Banden, 
Bd. 2), 2. verm. Aufl., Innsbruck 193 1, 79-91 (»Ornament und Ver- 
brechen (i9o8)«); iiber die erste VerorTentlichung des Artikels in der 
»Frankfurter Zeitung« (am 24. 10. 1929) s. ders., Samtliche Schriften 
in zwei Banden, hg. von Franz Gliick, Bd. 1, Munchen 1962. - 336,11 
abzutasten] s. Wahlverwundtschaften II, 6 - 336,21 denunzieren] 
s. Kraus, Untergang der Welt durch schwarze Magie, Wien, Leipzig 
1922, 200-228 (»Heine und die Folgen«) - 336,33 hat?«] Kraus, 
zit. in: Leopold Liegler, Karl Kraus und sein Werk, Wien 1920, 
205 - 337,3 sein.*] Peter Suhrkamp, Der Journalist, a. a. O., 386 - 
338,27 scbweige!*] Kraus, Weltgericht, Bd. 1, Leipzig 1919, 7f.; 
»In dieser groften Zeit« ist Oberschrift, die erste Zeile beginnt »die 
[...]« - 339,13 findet] s. das Motiv 640,15 f. - 339,15 Gesinnung*] 
Otto Stoessl, Lebensform und Dichtungsform, Munchen, Leipzig 19 14, 
46 f.: »An Stelle einer Wahrheit treten vielfaltige Gegenwahrheiten, 
um die Gesinnung in Dialektik zu verfeinern.« - 340^7 Kraft.*] 
Adalbert Stifler, Bunte Steine. Ein Festgeschenk, Bd. 1, Pesth 1853, 
2 f ., 5, 10 (Vorrede) - 341,6 Ende«] s. Die Fackel, 19. September 
l 9 l 3 (Jg* *$> Nr. 381-383), 68 (»Das Ende«) - 341,15 Lebens*] 
Kraus, Worte in Versen II, a. a. O., 49 (»Die Fundverhelmlichung«, 
v. 121 f.) - 342,14 Beruf.«] Robert Scheu, Karl Kraus, Wien 1909, 
2 3 ~ 343,25 vor.«] Kraus, Nachts, in: ders., Werke, hg. von Heinrich 
Fischer, Bd. 3: Beim Wort genommen, Munchen 1955, 311 f.: »Denn 
fur [...]«- 343)30 babe.*] Kraus, Pro domo et mundo (Ausgewahlte 



1 128 Anmerkungen zu Seite 334—367 

Schriften, Bd. 4), Munchen 1912, 175 - 344,24 Phantasies] Kraus, 
Weltgericht, Bd. 1, a. a. O., 14 (»In dieser groften 2eit«) - 245,8 ein.] 
Kraus, Worte in Versen IV, Leipzig 19 19, 17 (»HaIbschlaf«, v. 9) - 
345,14 beglaubigen] s. Leopold Liegler, Karl Kraus und sein Werk, 
a. a. O., 59, 65 f. - 345,28 heifi.«] Kinder- und Hausmarchen, gesam- 
melt durch die Briider Grimm, hg. [auf Grund der 7. Aufl. von 1857] 
und mit Nachwort versehen von Carl Helbling, Bd. 1, Zurich o. J., 
387 (55 »Rumpelstilzchen«): »Ach, wie gut ist, daft niemand weifi, / 
Dafi ich Rumpelstilzchen hei£i« - 345,30 Gaben*] Berthold Viertel, 
Karl Kraus. Ein Charakter und die Zeit, Dresden 1921, 7 - 346,7 
hat«] Kraus, Nachts, in: a. a. O., 361 - 346,24 geschildert] s. Karin 
Michaelis, Ein Karl Kraus-Abend [in: Kobenhavn, 14. 11. 191 1], in 
deutscher Ubersetzung, in: Die Fackel, 27. November 1911 (Jg. 13, 
Nr. 336/337), 42-46 - 346,38 erlebu] Kraus, Nachts, in: a. a. O., 
334 ~ 34^*8 Menschentypus«] Leopold Liegler, Karl Kraus und sein 
Werk, a. a. O., 82: »Bild eines [...]«- 348,22 f. gewahlth] Kraus, 
Worte in Versen II, a. a. O., 51 (»Die Fundverheimlichung«, v. 172- 
174) - 348,30 Zeit*] Adolf Loos, Trotzdem, 1900-1930, a. a. O., 130 
(»Karl Kraus (i9i3)«): »Er steht [...]* ~ 349,8-15 Man bis de- 
licti] s. die gleich bzw. ahnlich lautenden Passagen 624,28-625,5 

- 349,21 Freiheit«] Leopold Liegler, Karl Kraus und sein Werk, 
a. a. O., 87 - 349,38 Laute$«] Kraus, Worte in Versen I, Leipzig 
1916, 41-45 - 350,12 abhebt.*] Kraus, Spruche und Widerspriiche, 
4.-6. Tsd., Wien, Leipzig 1924, 62 - 350,16 hegu] s. Nachweis zu 
292,19 - 350,34 gelten!«] Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. 
Tragodie in fiinf Akten mit Vorspiel und Epilog, Wien 1919, 599 
(V, 56); s. audi Werke, a. a. O., Bd. 5, Munchen 1957, 681 (V, 54) 

- 3.5 I >39 mitleidswiirdig*] Kraus, Untergang der Welt durdi 
schwarze Magie, a. a. O., 452 (»Und in Kriegszeiten«); der ganze 
Passus ist gesperrt. - 351,39 1912] s. Die Fackel (Jg. 14, Nr. 
363-365), 71 - 353,2 sein.*] Kraus, Die chinesische Mauer, 4. Aufl., 
Leipzig 1918, 441 f. (»Die chinesische Mauer«) - 353,23 ist] s. Robert 
Scheu, Karl Kraus, a. a. O., 29 - 353,30 LiebeU] Kraus, Worte 
in Versen I, a. a. O., 48 (»Reinigung. Inschriften«, 10. Stuck) - 
353,32 Naturmachu] Robert Scheu, Karl Kraus, a. a. O., 25 - 
354,10 »Nachts«] s. Kraus, Nachts, Leipzig, Munchen 1918; s. audi 
Werke, a. a. O., Bd. 3, a. a. O., 303-452 - 354,17 hat.*] Kraus, 
Pro domo et mundo, a. a. O., 175 - 354,27 Schnee.] Kraus, Worte 
in Versen III, Leipzig 1918, 70 (»Inschriften. Jahreszeit«, v. 3) - 
355,9 Uberleben] s. den Passus 219,16 - 355,17 Volksklassen] s. 
[anonym,] A modest proposal for preventing the children of poor 
people from being a burthen to their parents or the country and for 
making them beneficial to the publick, Dublin 1729; deutsch s. Jo- 



Anmerkungen zu Seite 334—367 1129 

nathan Swift, Satiren, ubers. von Felix Paul Greve [u. a.], Frankfurt 
a. M. 1965, 53-64 (»Ein bescheidener Vorschlag«) - 355,23 sind«] 
Kraus, Spriidie und Widerspriiche, a. a. O., 107 - 355,25 f. »Juden- 
frage*] s. Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 1 (Karl Marx, 
1842-1844), Berlin 1970, 347-370 (»2ur Judenfrage. I«) - 355,38 
lassen.*] Kraus, Spriiche und Widerspriiche, a. a. O., 108: »Aber die 
[. . .]« - 356,4 aufgehoben*] Soren Kierkegaard, Kritik der Gegen- 
wart. Zum ersten Mai iibertragen und mit einem Nachwort versehen 
von Theodor Haecker, Innsbruck 19 14, 47: »Durch dieses Schwatzen 
wird nun [...]« - 356,34 entfaltet.*] Die Fackel, April 1927 (Jg. 
29, Nr. 757/758), 47 (»OfTenbach-Renaissance«) - 357,27 vorausge- 
wufit*] a. a. O., Mai 1925 (Jg. 27, Nr. 686-690), 1; der zitierte 
Passus ist Titel. - 357,35 ab«] Kraus, Worte in Versen II, a. a. O., 
66 (»Landschaft. Thierfehd am Todi, 1916s v. 1) - 358,13 hinweg- 
zuseken.*] Kraus, Nachts, in: a. a. O., 338 - 359,21 verleibu] 
Stefan. George, Der siebente Ring (Bd. 6 und 7 der Gesamt-Ausgabe 
der Werke), Berlin 193 1, 53 (»Templer«, v. 36): »den leib vergottet 
und den gott verleibt.« - 359,31 Band] s. George, Hymnen. Pilger- 
fahrten. Algabal, Berlin 1899 - 360,4 nicbt.] Die Fackel, Ende Mai 
I 9 2 9 (Jg* 3 1 * Nr. 810), 10 (»Nach dreifiig Jahren«, v. 334-341); s. 
audi Worte in Versen IX, in: Werke, a. a. O., Bd. 7, Miinchen 1959, 
527 - 360,5 ZieU] Kraus, Worte in Versen I, a. a. O., 69 (»Der 
sterbende Mensch«, v. 40); Benjamin bezieht die Worte, die in dem 
Gedicht Gott zu dem Menschen spricht, auf Stefan George und 
schreibt den Vers um; er lautet im Original: »Du bliebst amUrsprung. 
Ursprung ist das Ziel.« - 360,14 Gedicht.*] Berthold Viertel, Karl 
Kraus. Ein Charakter und die Zeit, a. a. O., 64 - 360,19 liigt*] 
Kraus, Worte in Versen II, a. a. O., 32 (»Der Reim«, v. 41) - 360,31 
reves.] Baudelaire, CEuvres completes. Texte £tabli et annote* 
par Y.-G. Le Dantec. Edition revisee, complete et presentee par 
Claude Pichois, Paris 1961, y^ (»Les fleurs du mal. Tableaux parisiens 
LXXXVII, Le soleil«, v. 5-8); der erste Vers der zweiten Strophe, 
den Benjamin dem Text anglich (s. Lesart zu 360,27 f.), lautet im 
Original: »Je vais m'exercer seul a ma fantasque escrime,« - 360,36 
zaudernd*] Kraus, Pro domo et mundo, a. a. O., 177 f. - 361,15 
eintritu] Kraus, Spriiche und Widerspriiche, a. a. O., 269 - 361,21 
anwendet.*] a. a. O., 85 — 361,26 Epigonen«] Kraus, Worte in 
Versen II, a. a. O,, 30 (»Bekenntnis«, v. 1) - 361,31 f. Frieden«] s. 
Kraus, Worte in Versen IV, 2. Aufl., Leipzig 1919, 58 f. - 362,9 zu- 
rUck.«] Kraus, Pro domo et mundo, a. a. O., 164 - 362,21 Weise*] 
Kraus, Worte in Versen V, Leipzig 1920, 17 (»Die Verlassenen*, 
v - 3) - 362,22 Weise*] a. a. O. (v. 13) - 362,26 gewidmet] a. a. O., 5 
- 362,36 haben.*] Kraus, Worte in Versen III, 2. Aufl., Leipzig 



1 1 30 Anmerkungen zu Seite . 334—3 8 5 

191 8, 22 (»Dank«, v. 3 f.) - 363,7 f. Shakespeareschen] s. Romeo und 
Julia III, 5 - 363,14 sang.*] s. Die Fackel, 2. August 19 16 (Jg. 18, 
Nr. 431-436), 24: »Es war die Naditigall und nicht die Lerdie [. . .] 
Sie sang des Nachts auf dem G r a n a t baum dort . . .« Bei Kraus 
ist die Rede von einem »an der Yserfront« stehenden belgischen Sol- 
daten, der eine Naditigall singen hort. - 363,32 sind«] Schillers 
sammtliche Werke. Vollstandig in vier Banden, mit Einleitungen von 
Karl Goedeke, Bd. 1, Stuttgart 1877, 240 (»Votivtafeln. Unterschied 
der Stande«) - 364,29 vollbracht.*] Karl Marx, Friedrich Engels, 
Werke, Bd. 1, a. a. O., 369, 370; die elf im Origin altext hervorge- 
hobenen Stellen wurden von Benjamin normalisiert. - 364,39 Heine.*] 
Kraus, Worte in Versen VI, Wien, Leipzig 1922, 16 (»Inschriften. 
Lyrik der Deutschen«, v. 1-4) - 365,34 Gibeon!] Kraus, Worte in 
Versen II, a. a. O., 71 f. (»Gebet an die Sonne von Gibeon«, v. 117- 
124) .w 366,26 macben.U] Die Fackel, November 1920 (Jg. 22, 
Nr. 554-556), 8 (»Antwort an Rosa Luxemburg von einer Unsenti- 
mentalen«) - 366,30 Arbeit.*] Adolf Loos, Trotzdem. 1900-1930, 
a. a. O., 212 (»Die moderne Siedlung. Ein Vortrag (i926)«): »Und 
je grofier der anteil der zerstorung ist, ja, wenn die [...]* - 367*16 
IrrenU] Kraus, Worte in Versen V, a. a. O., 13 (»Nac£i zwanzig 
Jahren«, letzter Vers): »In ihrem [scil. der Zeit] dunkeln Drang 
und Weltverwirren / zuriick als Fiihrer blieb mein ganzes Irren!« - 
367,20 f. Vergessenheit*] s. die Widmungen im »Timorus«: »An die 
Vergessenheit« und an die »Allerdurchlauchtigste, grofimachtigste 
Monarchin«; s. audi Lichtenberg, Sudelbiidier, Heft C 254: »Sie 
haben mich [. . .] des Gliicks beraubt [...], dafi meine Schrift Sr. Ma- 
jestat der Konigin Vergessenheit, der idi sie allein gewidmet hatte 
[...], allein eigen geblieben ist.« - 367,28-31 Vielleicht bis ver- 
gehen.] s. den Passus 246,14-18 



368-385 Kleine Geschichte der Photographie 

Wann im Jahre 193 1 Benjamin die Studie schrieb, ist exakt nidit mehr 
zu ermitteln. Bezeugt ist lediglich ihre Erscheinungsweise in drei Fol- 
gen binnen vierzehn Tagen - am 18. 9., 25. 9. und 2. 10. 193 1 - in 
der Wochenzeitung »Die literarisdie Welt« (s. »Uberlieferung«) sowie 
erne knappe formale Einschatzung, die Benjamin in einem Ende Ok- 
tober 193 1 an Scholem adressierten Brief gab. Zustimmend schrieb er 
dem Freund: Du hast erkannt, daft die Studie iiber Photographie aus 
Prolegomena zu [der Passagenarbeit] hervorging; aber was wird 



Anmerkungen zu Seite 3 68—3 85 1 1 3 1 

es da je mehr geben als Prolegomena und Paralipomena (Brief e, 541). 
Hiernach rechnet die Arbeit zu denen, die Benjamin wahrend seines 
letzten Jahrzehnts unter Verwendung von Motiven und Materialien 
aus dem Komplex des Passagenwerkes (s. Bd. 5), teils in engerem, 
teils in weiterem Zusammenhang damit, schrieb, also zur Reproduk- 
tionsarbeit, dem selber Fragment gebliebenen Buch iiber Baudelaire 
und den geschichtsphilosophischen Thesen (s. Bd. 1). Mit der Repro- 
duktionsarbeit, vor allem mit dem zweiten Pariser Brief (s. Bd. 3, 
495-507), sowie der Rezension einer Untersuchung iiber die franzo- 
sisdie Photographie im 19. Jahrhundert von Gisele Freund (s. a. a. O., 
542-544) iibersohneidet sie sich vielfach thematisch; und zu ihrer - 
sachlichen - Vorgeschichte gehort, dafi Benjamin 1924 fiir eine Zeit- 
schrift mehr aus Schwache als aus Gefalligkeit gegen den Herausgeber, 
wie er Scholem damals schrieb, eine blague von Tristan Tzara mit 
achtunggebietendem Schmifi ubersetzt hatte (Brief e, 356; den Text 
der Obersetzung s. Gesammelte Schriften, Supplement I). 
Vom Zeitschriftendruck fand sich im Nachlafi Benjamins ein - nicht 
ganz vollstandiges - Ausschnittexemplar, das die Anordnung der dem 
Aufsatz beigegebenen acht Reproduktionen von Photographien be- 
wahrt und einige Korrekturen und Vermerke von der Hand des 
Autors aufweist (s. »Uberlieferung«); die Herausgeber haben die Pho- 
tographien in groflerer Reproduktion - und zwar in sechs Fallen nach 
Ausgaben der von Benjamin behandelten Bildbande - dem Text 
beigegeben, jedoch nacheinander und nicht an den respektiven Stellen 
des Zeitschriftendrucks (s. zwischen 384 und 385); diese Stellen werden 
unter den Lesarten und Nachweisen im einzelnen verzeichnet. Neben 
dem Ausschnittexemplar sind sechs grofiere Manuskriptblatter xiber- 
liefert, auf deren Vorderseiten sich etwa 3 /4 der (ersten?) Nieder- 
schrifl der Studie finden; es handelt sich urn die (dort numerierten) 
Abschnitte 2, 3, j, 6, y s 8 S 10 und //, Sie entsprechen, bis auf den 
Abschnitt j, der Abschnittseinteilung der gedruckten Arbeit; der im 
Manuskript fehlende Abschnitt 4 bildet die erste Halfte des vierten 
Abschnitts im Druck, dessen zweite Halfte mit dem Abschnitt 5 des 
Manuskripts iibereinstimmt. Diese Manuskriptabschnitte variieren - 
stellen weise nicht unbetrachtlich - gegeniiber dem gedruckten Text; 
m. a. W., zwischen der Niederschrift, d. h. ihren acht Bruchstucken 
(die fehlenden /, 4 und 9 scheinen verschollen), und dem Druck fehlt 
- wenigstens - ein Typoskript: die damalige Druckvorlage fiir die 
»Literarische Welt«. Die Varianten werden in den Lesarten verzeich- 
net. - Auf den sechs Riickseiten des Manuskripts finden sich 1. eine 
vollstandige Niederschrift von Privilegiertes Denken. Z« Theodor 
Haeckers »Vergil« (s. Bd. 3, 315-322), 2. Aufzeichnungen zu Kleine 
Geschichte der Photographie und 3. der Schlufi des Abschnitts 6 aus 



1 1 32 Anmerkungen zu Seite 368—385 

der Niederschrift zu dieser Studie. Die Aufzeichnungen unter (2) wer- 
den als Paralipomenon nachfolgend abgedruckt: 

Jules Verne hat Nadar als Michel Ardon in der »Reise nach dem 
Mond« verewigU 

»Einer jungen amerikanischen Photograpbin, Berenice Abbott am 
New York, f'dllt das Verdlenst zu, die verstreuten Blatter und Nega- 
tive Atgets gesammelt zu haben.« 

{At get, ein alter Schauspieler, der die Maske abwischte und dann 
daran ging, auch die Wirklichkeit abzuschminken.} [s. 377,30-52] 

{»Der Geigenspieler /. . ./ ausgeubt hat. [s. das vollstandige 
Zitat 377,15-25; im Exzerpt folgt noch der Satz:] Man schatzt 
datum das Klavier nicht gering und keinem Musiker, keinem Mu- 
sikliebhaber Jallt es ein, das Klavier auf Kosten der Geige zu prei- 
sen.«} 

Die Zeit, »die den Photograpben die Samtjoppe, den breitkrampi- 
gen Hut und die Lavaliere-Kravatte tragen sab.* Schonheitsmagier. 

{Atget ist »an den groflen Sicbten und an den sogenannten Wabr- 
zeichen* fast immer voriibergegangen.} [s. 379,11-13 J 

{Palais des Singes; Vorballe des Schmierentbeaters; Hauser im 
Weichbild, die unter einander in Gestalt und Hbhe nocb nicht den 
konventionellen Ausgleich gefunden haben, den die stadtischen Stra- 
fien geben; abgegessene[s] Speise- und Wascbgeschirr mit alien Spu- 
ren der Toilette; das Bordell no j, aber die fiinf erscheint an vier ver- 
schiednen Stellen der Fassade, riesengrofi; der Herbst wie er aus den 
Ritzen einer Parktreppe von Versailles oder von Saint-Cloud schaut; 
ein Kandelaber, wie er eine weite Landschafl entstellt; eine der Lu- 
xembourg-Koniginnen, welche wie Gouvernanten auf die spielenden 
Kinder herabsehn - aber bei Atget ist die Szene leer - und zwar 
beinah immer, mag es sick um ein Interieur oder um eine Freilicbtauf- 
nahme handeln; das zweischlafrige Bett; die toits de Paris; das Zim- 
mer mit dem Sessel unter dem Vertiko; No 17 rue Domat.} [s. 37$, 
12-23] 

Guter Vergleich mit Polizeiphotographien von einem Tatort. 

{Leere Hbfe, leere Marmortreppen, leere Cafehausterrassen, lee- 
re Chausseen; leer, wie es sich gehort, die place du tertre, leer die 
Porte d'Arceuil an den Wallen.} [s. a, a, O.] 

Portratkopfe in die Auslage eines Konfektionsgeschdfies hinein- 
montiert. 

{Das anonyme Leben der Hofe von abends bis morgenfs], wo die 
Handwagen der armen Leute in ihnen gereiht stehen.) [s. a. a. O.] 

»Man sagt heute von ibm, daft er Paris gesebn hat wie es einst 
Francois Villon sah.[«] Das hat manches fiir sich, aber er sieht es 



Anmerkungen zu Seite 3 68—3 85 1 1 3 3 

auch mit den Augen eines Barbey d'Aurevilly, eines 2ola s setzt er 
die Dime vor die Tiir des zerfallenen Hauses in der rue Aurelie. 
Verlag Henri Jonquieres E Atget Lichtbilder I H zjyy 
»Quand Von commence a comprendre la nature, les progrh ne 
cessent pins.* Rodin 

Druckvorlage : Benjamin-Arduv, Ms 493 
UBERLIEFERUNG 

J BA Die Literarische Welt, 18. 9. 1931 (Jg. 7, Nr. 38), S. 3 f. [ = 1. 
Folge, 368,2-374,4]; 25. 9. 193 1 (Jg. 7, Nr. 39), S. 3 f. [= 2. Fol- 
ge, 374.5-37**9]; 2 - I0 - l 93> 1 (Jg- 7. Nr - 4°), S. 7I. [= 3. Folge, 
379»3 "3^5)37]« _ Aussdinittexemplar mit zwei Korrekturen, 
einem Fundortvermerk und einem Zusatz von Benjamins Hand 
(Tinte) ; textgetreue Anordnung der adit photographischen Repro- 
duktionen im Exemplar erhalten; es fehlt letztes Ausschnittblatt 
mit ca. 2 Halbspalten (diesbeziiglicher Textvergleich erfolgte an- 
hand eines Bibliotheksexemplars) ; Benjamin-Archiv, Dr 408-418. 
M Fragment einer Niederschrift, sechs Blatter starken Papiers mit 
Wasserzeidien und Biittenrand, ca. 22,5 x 18,5 cm; beidseitig 
eng beschrieben, breitgehaltener Rand, teilweise gleichfalls eng be- 
schrieben; Vorderseiten mit den Abschnitten 2 [— 370,8-372,28], 
S. [i];S [= 375.I-38], 3 [= 372,29-374»4]» S.|>];tf[ = 375,39- 
379.^9]. s - [3]; 7 [= 379.30-38i,i5], S. [4]; 8 [= 381,16- 
382,14], // [= 385,11-37], S. [5]; /oj;= 383,16-385,10], S. [6]. 
Riickseiten mit einer Niederschrift Privilegiertes Denken. Zu Tbeo- 
dor Haeckers »VergiU (s. Bd. 3, 315-322), vollstandig, jedoch in 
unregelmafiiger Reihenfolge, S. [i(R)], [4(R)H*(R)]. Auf S. 
[2(R)] Paralipomenon zur Photographie-Arbeit (s. o.), auf S. 
[3(R)] Schlufi von 6; Benjamin-Archiv, Ms 492-497. 
Druckvorlage: J BA 

lesarten 368,10 Staat, begiinstigt] in J BA zwischen beiden Wortern 
die erste Bildwiedergabe; s. »Abbildung i«, nach 384 (den Fundort 
dieser und der iibrigen Bildwiedergaben s. unter Nadrweise) - 368,15 
f. historiscben] konjiziert fur bistoriscben, - 368,20 Tatbestand] in 
jba zwischen Tat- und bestand die zweite Bildwiedergabe; s. »Ab- 
bildung 2«, nach 384 - 369,21 fetischistische,] konj. fur fetiscbisti- 
scbe - 370,8 Lichtbilder waren jodierte] Lichtbilder 3 jodierte M - 
370,8 jodierte] in J BA zwischen jo- und dierte die dritte Bildwieder- 
gabe; s. »Abbildung 3«, nach 384 - 370,9 Silberplatten, die] Silber- 
platten, deren positives Bild durch Quecksilber sichtbar gemacbt wur- 
de, waren Unica, die M - 370,11 unica] sehr teuer M - 370,12 
Goldfrank] Goldfranks M - 370,13 Etuis] schonen bolzernen Etuis 
M - 370,13 f. mancber Maler aber] gewisser Maler jedocb M - 



1 134 Anmerkungen zu Seite 368—385 

370,14 in tecbnische Hilfsmittel] damals in Handwerkszeug M - 
370,16 Natur,] Natur M - 370,21 f. selbst. bis es,] selbst und sie, 
die er ohne an anderes als an sein Freskenwerk zu denken, aufnabm, 
zum internen Gebraucb bestimmte Hilfsmittel war en es, M - 370,25 
neue Tecbnik] friiheste Photographie M - 370,25 ein:] ein, welcbe er 
neben dem grofien dokumentariscben Werke ausfuhrte: M - 370,25 
-32 Menschenbilder bis Sonderbarem:] Portrdtkopfe. Gewifi ist es 
anziehend, alledem in Betracbtung der bedeutendsten Kopfe aus dem 
vorigen Jahrhundert nacbzugehen, die sich in lunger Reihe auf diesen 
Blattern darstellen. Und dodo fiihrt vielleicht die Betracbtung der 
namenlosen Portrdtbilder noch viel weiter. Nicbt weil hier nut die 
Kunst des Photograpben die Auswahl der Herausgeber bestimmt hat, 
sondern der Wirkung wegen, die gerade diese anonymen Bilder auf 
den Bescbauer ausuben. Kleine und namenlose Leute auf Gemdlden - 
die kannten sie langst; sind es Portrats, so fragte man wohl noch 
nach dem Dargestellten t so lange sie im Familienbesitze verbleiben. 
Dann aber verstummt jedes Interesse am Dargestellten: die Bilder, so- 
weit sie dauern, tun es nur als Zeugnis fur die Kunst dessen 3 der sie 
gemalt bat. Bei der Photographie aber begegnet etwas Neues und 
Sonderbares: M - 370,33 lassiger,] lassiger, so M - 370,35 f. 
ungebardig] ungeberdig M - 370,39 umzingeltf I Wie] in J BA 
nadi dem Verstrennungszeidien die vierte Bildwiedergabe ; s. »Ab- 
bildung 4«, nach 384 - 371,3 Photograpben, auf] Photograpben, 
M - 371,3 f. Dichters,] Dichters, auf M 371,5 Tages, und Kin- 
des,] Tages und Kindes M - 371,7 liegen fand] tot auffand M - 
371,9 lange] lang M - 371,10 man,] M; man J BA - 371,11 exak- 
teste] exakteste photographische M - 371,12 f. geben, bis mehr] 
geben wie - fur uns - ihn nie und nimmer ein gemaltes Bild mehr 
M - 371,13 f. Photograpben] Photograpben, M - 371,14 f. Mo- 
dells] Objekts M - 371,19 langstvergangenen] langstvergangnen 
M - 371,19 Minute] Minute, M - 371,23 Raums] Raumes M - 
371,24 einer,] einer M - 371,25 sei es] set's M - 371,26 er] er 
ganz M - 371,30 sie,] sie ( M - 371,31 Psychoanalyse.] Psycho- 
analyse). M - 371,31 f. Strukturbeschaffenheiten bis Tecbnik] Struk- 
turbescbaffenbeit [. . .] wir in Tecbnik M - 371,32 pflegen - all] 
pflegen all M - 371,34 seelenvolle] scbbne M - 371,35 diesem] 
diesem wissenscbafilicben M - 371,35 Aspekte] konj. fur Aspekten 
J BA ; Ansichten M - 371,36 wohnen,] wohnen, Aspekten M - 
371,37 haben,] haben M - 371,38 grofi] greifbar M - 371,39- 
372,1 durcb bis Variable] hochst variable, historisch verdnderlicbe 
Grojle M - 372,1-6 So bis sind] So sind M - 372,6 wohl auch] 
auch M - 372,8 f. war; bis »vor] war; »vor M - 372,14 reserviert] 
zuruckhaltend M - 372,15 Apparat,] konj. fur Apparat J BA , M - 



Anmerkungen zu Seite 3 6 8—3 85 1 1 3 5 

372,17 Doch] Es M - 372,18 f. nicht bis gemeint] aber nicht jenes 
Tiere, Menschen, Babys »seben dicb an* gemeint M - 372,20 dem 
und ist] dem wir und haben M - 372,22 so berichtete er] so er- 
zablte oft mein Vater M; der Passus in M ist Zitat, nicht der in J BA , 
wo Benjamin, wie an alien iibrigen entsprechenden Stellen, die fran- 
zosische Zitierweise benutzt. - 372,32 Cafebausern] Kaffeeb'du- 
sern M - 373,4 zu Hause] zubause M - 373,5 Bilde,] Bilde von 
ihm, M - 373,12 f. Belichtung bis Diese] Belichtung, moglichst im 
Freien, erforderlich, diese M - 373,22 beraus,] beraus M - 373,24 
sie gleichsam] sie, pflanzenhaft gleichsam, M - 373,25 f. Erscbeinun- 
gen bis Momentaufnahme] Momentaufnabmen M - 373,26 f. ent- 
spricht] entsprechen M - 373,28 den] die M - 373,31 Bildern 
war] Bildern - und nicht nur an ibren Objekten - war M - 373,36 
balten] hielten M - 373,38 biniibergehen;] biniibergehen, M - 
374,1 f. Bernard bis recbt,] dafi Brentano mit seiner Vermutung 
recbt bat, M - 374,3 stand* -] konj. fiir stand* J BA , M - 374,3 f. 
ersten- und letztenmal] ersten und letzten Mai M - 374,28 zu- 
statten,] konj. fiir zustatten J BA - 374,38 allgemein] in J BA zwi- 
schen allge- und mein die funfte Bildwiedergabe; s. »Abbildung 5«, 
nach 384 - 375,2 Besuchszimmer,] Besuchszimmer M; auf dem rech- 
ten oberen Rand von M das Stichwort Scbonbeitsmagier (dazu s. Pa- 
ralipomenon Ms 493, Stuck 5, 1132) - 375,4 fingerdicken] fingerdicken, 
M - 375,8 wit selbst:] auch wit selbst erschienen: M - 375,10 
Spielbein,] konj. fiir Spielbein J BA , M - 375,10 wie es sich ge- 
bort] regelrecbt angeordnet M - 375,13 der bis wegen] drei bis sechs 
Minuten belichtete und M -375,28 schwankten] M; standen J BA - 
375,28 f. denen ein erschutterndes] welchen das, vielleicht erschut- 
terndste, M - 375,29 ein] uns ein M - 375,30 engen 3 ] engen 
und M - 375,31 uberladenen] uberladnen M - 375,32 Palmenwedel] 
Palmwedel M - 375,33 es,] es M - 375,34 das Modell] es M - 
375,36 es] sein Kopf M - 375,38 ibnen] ibm M - 375,39 Dies] 
So ist dies M - 375,39 ist ein Pendant] ein Abglanz M - 376,1 
nocb nicht] in J BA zwischen beiden Wortern die sediste Bildwieder- 
gabe; s. »Abbildung 6«, nach 384 - 376,2 in bis Knabe.] trieben wie 
die spateren. M (Variante: Die Menschen dieser fruben Photograpbie 
sitzen nicht abgesprengt und gottverloren im Raum wie die spateren. 
M) - 376,4 die Fulle und die] die erstaunliche Tulle und M - 376,8 
neuerer] neuester M - 376,9 die ebemalige] gerade die M - 376,9 
vor ibrem Niedergange] es gewesen war, die M - 376,10 Blute der 
Scbabkunst] in M in Anfuhrungszeichen - 376,17 gibt. Und] gibt 
und M - 376,20 Erscbeinung.] Erscheinung jener fruben Bilder. 
M - 376,22 bier] bier, aus Gemdlden, M - 376,26 es] konj. fiir 
es, J BA M - 376,34 das blofie] ein blokes M - 376,36 Objekt und 



ii}6 Anmerkungen zu Seite 368—385 

Technik] Technik und Objekt M - 377,1 Pbotograpben bis 1880] 
Photographie jedocb sab in der Zeit nach 1880 bis 1910 M - 377,6 
saben] handschriftliche Korrektur Benjamins in J BA aus sab; sab 
(scil. die Photographie) M - 377,8 Gummidrucke] Gummidrucke, 
M - 377.1* f. verriet.] Absatz in J BA ; kein Absatz in M - 377,15 
bubschen Bilde gekennzeichnet] sebr bubschen Bilde bezeichnet M - 
377,26 aber, und bleiben,] aber - und bleiben - M - 377**6 f. 
Photograpbie,] Photographie M - 377,28 Aufgehen in der Sache,] 
Aujgehn in der Sache M - 377,29 Prazision,] Prazision M - 

377.29 f. Sogar bis Verwandtes.] Selbst physio gnomisch gibt es Ver- 
wandtes in ihren ZUgen. M - 377,30 ein] ein alter M - 377,33 
Pbotographien] unvergleichlichen Photos M - 377,33 f. Liebbaber 
los,] Liebbaber, M - 377,34 er,] er t urn centimes los M - 377,35 
oeuvre] konj. fur ceuvres J BA , M - 377,38 einem bervorragend 
schonen Bande] dem wundervollen Bande Atget M - 378,11 Pari- 
ser] pariser M - 378,12-14 Photographie; bis stickige] Photogra- 
pbie und damit die ersten Dokumente einer Reinigung der stickigen 
M - 378,16 f. Er bis sie:] Ja man kann bier von einer Bereinigung 
des Atmospharischen iiberhaupt sprechen: M - 378,17 die] die ganz- 
licbe M - 378,20 unter] rmt M - 378,20 Beschriftung] Beschriftung; 
M - 378,25 auf bis steht,] fehlt in M - 378,25 als] als gute, M - 
378,26 f. Atget bis aucb] in dem schonen Sammelband » Atget* er- 
scbeinen. Daneben freilich wenden M - 378,28 pmnkenden } ] prun- 
kenden oder M - 378,29 der Stadtnamen] von Ortsnamen M - 

378.30 wie] heraus wie M - 378,30 Scbiff] Scbiffe M - 378,32 Feme 
bis An] Feme. An M - 378,33-36 Sommermittag bis hat -] Som- 
mermittage, ruhend, am Horizonte einem Gebirgszug }olgen t einge- 
denk bleibend der Einmaligkeit der Stunde - M - 378,36 Berge, 
dieses Zweiges] Berge M - 378,37 f. »n'dherzubringen« ,] »naher zu 
bringen [*] M - 378,39-379,1 in bis Reproduzierung] durch die Re- 
produktion M - 379,2 das] ihr M - 379,2-7 des bis jenem.] den 
Gegenstand aus nachster Nahe, )edoch nicht ihn vielmehr die Repro- 
duktion von ihm zu sehen zu bekommen. M - 379,9" 1 1 einer bis ab- 
gewinnt.] unserer Wabrnehmung, der die filmiscbe Groflaufnahme 
so vollendet entgegenkommt. Fur den Pbotograpben jedocb bedeutet 
das den Eintritt in die von unerforscbten Ungetiimen wimmelnde 
Holle des Details. M - 379,13 f. einer bis an] fehlt in M - 379,14 
wo] wo, M - 379,15 Handwagen] Handwagen der Armen M - 
379,15 stehen;] stehn, M - 379,15 f. den abgegessenen] den Hdusern 
des Weichbilds, die unter einander den Ausgleicb nocb nicht gefunden 
baben, was die stddtiscben Strafien so ode macht; nicht an den abge- 
gessenen M - 379,16 den] an M - 379,16 f. Wascbgescbirren bis 
nicht] Wascbgescbirren; nicht an den Ritzen einer Prunktreppe von 



Anmerkungen zu Seite 368 — 385 1137 

Versailles, die mil Herbstlaub gefiillt sind, ni<ht M - 379,18 Funf] 
ftinf, M - 379,19 Fassade] Fassade, M - 379,19 f. erscheint. bis 
fortifs,] erscheint; nicbt an der foire du [ein Wort nicht zu entzif- 
fernj oder de Vaugiard, deren Karusselle bald zu den Altertumern 
von Paris z'dhlen werden; nicbt an den Luxembourgkoniginnen, die 
auf die Spielplatze wie Gouvernanten berabseben. Aber bet Atget 
sind die Pl'dtze leer, M - 379,21 die Cafehausterrassen] die Porte 
d'Arceuil an den fortifs, leer die Cafehausterrassen M - 379,22-25 
Sie bis die] Es %ibt bier propbetiscbe Photographien, sie seben aus wie 
Hinweise auf Stdtten, die durcb Arbeitslosigkeit oder Kriege verodet 
sind. In ibren besten Leistungen aber bereitet diese M - 379,26 f. Urn- 
welt und Menscb vorbereitet.] Natur und Menscb vor. M - 379,29 
fallen.] fallen. Dies nicbt zum wenigsten im Bild des Menscben. M - 
379,32 f. Andererseits] Auf der andern Seite M - 379,34 f. wer bis 
es] wenn wir es nicht gewuflt batten, so batten die Russenfilme es uns 
M — 380,1 Aufnabmen] »Aufnahmen« M - 380,2 f. eber und Veran- 
staltungen] eber - und Veranstaltungen - M - 380,3 zuruckzog - 
wie] zuruckzog wie M - 380,5 Sessels -,] Sessels, M - 380,5 diesen] 
diesen ganzen M - 380,6 liefi:] liefl - M - 380,7 vererbt. Da] ver- 
erbt. Es ist um ihre H'dupter so leer wie um ibre Namen auf den Visi- 
tenkarten. Da M - 370,7 zum erstenmal seit Jabrzebnten] nun zuerst 
M - 380,9 die] die weder fur Visitenkarten nocb M - 380,9 keine 
bis Und] Verwendung batten, Namenlose; und M - 380,11 Platte. 
Aber es] Platte; aber sie M - 380,12 est] sie? M - 380,12 Ver- 
dienst] Verdienst nicbt eines Russen sondern M - 380,14 eine] die 
erste M - 380,14 Kopfen] Kopfen bezw. Bildern M - 380,15 f. 
ein bis nacbstebt,] die besten Russenfilme vor uns eroffnen, in gar- 
nicbts nacbsteben, M - 380,16 es] das M - 380,17 wissenscbafili- 
cbem Gesicbtspunkt] wissenscbafllicbem, soziologischem Blickpunkt 
M - 380,19 und soil] in J BA zwischen beiden Wortern die siebente 
Bildwiedergabe; s. »Abbildung j«, nach 384 - 380,25 Idioten.*] 
Idioten. M - 380,26 Aufgabe nicbt] Aufgabe, die er sicb selbst ge- 
stellt bat und zu deren Losung in diesem Ausmafl nie auch nur der 
Versucb gemacbt wurde, nicht M - 380,27 beraten,] beraten« M 

- 380,28 sagt,] sagt M - 380,30 f. Goethischen] konj. fiir goetbi- 
schen J BA ; goetbescben M - 380,31 f. dem Gegenstand] den Ge- 
genstanden M (s. »Nachweise«) - 380,33 Demnacb ist es] Es ist also 
M - 380,34 die] die theoretiscben, M - 380,35 Werk] Werke M 

- 380,39 [1929].] in J BA folgt der bibliographischen Angabe, nadi 
einem Semikolon, der Satz dem Band wurden die beiden Abbildungen 
zu diesem Artikel entnommen. Da er sich aber nicht auf den ganzen 
Artikel sondern auf dessen dritte Folge bezieht, in welcher die beiden 
letzten Photographien (s. »Abb. 7« und »8«, nach 384) wiedergegeben 



1 138 Anmerkungen zu Seite 368—385 

sind, haben ihn die Herausgeber aus dem - hier ja zusammenhangen- 
den - Text gestridien. - 381,5 auflerordentlicben] unvergleichlicben 
M - 381,8 dem von Sander] diesem Sander schen M - 381,10 Aus- 
bildung,] Ausbildung und die M - 381,11 vitalen] vitalsten M - 
381,11 f. Man bis links] Ob rechts, ob links M - 381,13 angesehen] 
in M unterstrichen - 381,14 kommt.] kommt und wohin man ge- 
hbrt. M - 381,14 es, seiner seits,] es seiner seits M - 381,15 mehr bis 
Ubungsatlas.] nicht nur ein Bilderbuch sondern ein Vbungsbuch. 
M - 381,18 Geliebten* ,] konj. fur Geliebten« J BA , M - 381,20 
Bereich] Bereiche M - 381,24 beispielsweise] turn Beispiel M - 
381,25 f. kaum bis gbnnte] fast keine Aufmerksamkeit zuwandte 
M - 381,28 sehr] unendlich M - 381,28 f. kunstlerische] »kilnst- 
leriscbe* M - 381,32 ein Jager] in J BA zwischen beiden Wortern 
die letzte Bildwiedergabe; s. »Abbildung 8«, nach 384. Von Benjamin 
wurde der - von der Redaktion vergessene oder unterschlagene - Zu- 
satz (Demokrat) bei der Bildunterschrift nachgetragen (s. »Nachweise«) 

- 381,34 wirklich] es M - 381,34 da] an dem M - 381,37 f. 
Photographie bis Photographie.] ^Photographie als Kunst* zur 
»Kunst als Photographie*. M (Variante: »kunstlerischen Photogra- 
phie* zur Photographie von Kunst.) - 381,38 wird] wird schon M 

- 382,1 Plastiky und Architektur,] Plastik und Archttektur M - 

382.2 Die bis genug,] Naturlicb liegt die Versucbung nahe, M - 

382.3 f. den bis Zeitgenossen] einen »V erf all des Kunstsinns*, ein 
Versagen »unserer Zeiu M - 382,4 f. sicb die Erkenntnis] die Er- 
kenntnis sicb M - 382,5 ungefahr zu gleicher Zeit] gleichzeitig mit 
M - 382,6 f. Techniken bis hat.] Tecbnik, aucb unsere Auffassung 
von den grojlen Werken sich wandelte. M - 382,7 f. Hervorbringun- 
gen Einzelner] Werke einzelner M - 382,9 assimilieren,] assimilie- 
ren M - 382,10 geknupft bis verkleinern,] sie zu verkleinern geknupft 
ist. M - 382,11 f. Verkleinerungstecbnik und] Verkleinerungs tech- 
nik. Sie M - 382,12 Grad] Grade M - 382,13 welchen bis zur] 
die sie nicht mehr zu der M - 382,14 kommen.] kommen. Wenn 
scbon der Kunst gegenuber die photographische Reduzierung des Ori- 
ginals sicb nicht nur [als] ein Organ des Konsums sondern der Pro- 
duktion — namlich neuer Verwertung der alien Werke - erweist t 
so gilt das der Wirklicbkeit des Alltags gegenuber umso offenkundi- 
ger. Auf alien Gebieten ist das vollendet Reproduzierbare im Begriff, 
an die Spitze der Wertskala sich zu stellen. Moholys Satz » Nicht der 
Scbrifl- sondern der Photographieunkundige wird der Analphabet 
der Zukunft sein« kann man gelten lassen. M - 383,19 emanzipiert, 
so] emanzipiert, hat sie erst die Beschrankung »iiberwunden« die sie 
zum Dokument in einem rationalen oder tendenziosen Zusammen- 
hange macht, so M - 383,19 f. Angelegenheit bis der] Die »Zusam- 



Anmerkungen zu Seite 368—385 1139 

menschau* wird etne Angelegenheit der Linse. Der M - 383,24 star- 
rer ihre] mehr die M - 383,26 sein] ist ibr (lies sein) M; Variante 
von dem bis Mutter (283,26 f.): in Wahrheit an Empfdngnis gebun- 
den M - 383,27 seine] ihre (lies seine) M - 383,29 am bis dessen] 
an der Pbotographie ist deren M - 383,30 f. schon* - bis ibr] scbon*. 
Den Satz konnte niemand als sie finden. In ihm M - 383,32 mon- 
tieren,] montieren M - 383,33 f. auftritt,] auftritt M - 383,36 
Weil aber] Und we'd M - 383,37 Reklame bis darum] Reklame 
ist, so M - 383,38-384,9 Entlarvung bis Surrealisten.] Tendenz: die 
konstruktive Pbotographie, deren technische Wegbereiter die Surrea- 
listen sind. M - 384,2 aussagt.] von Benjamin korrigiert aus aus- 
sagu. J BA - 384,9 der] konj. fur des J BA nadi M - 384,10 zwi- 
schen] fehlt in M - 384,13 seiner Regisseure] eines Pudowkin oder 
Eisenstein M - 384,14 Suggestion,] auj Suggestion M - 384,15-18 
ausgeht. bis abgewinnen.] ausging. Freilich klingt es noch heut impo- 
sant, wie 1855 der ungeschlachte Ideenmaler Antoine Wiertz die 
Zukunft der Pbotographie malte: M (Variante: In diesem Sinne, und 
nur in ihm lafit sido der imposanten Begeisterung mit der . . . empfing, 
beute noch ein Redot abgewinnen.) - 384,24 das Kolorit, die Lasur] 
J BA , M haben falschlich Glasur (s. »Nadiweise«), dafiir konj. Lasur; 
in M die Obersetzungsvariante die Farbmischung fiir Kolorit J BA 
- 384,29 Genius es plotzlich] J BA M haben falschlidi ihn, dafiir 
konj. es (scil. dieses Riesenkind); in M die Obersetzungsvariante 
Genius der Kunst ihn mit einem Mai - 384,31-37 niichtern, bis 
Pbotographie.] niichtern dagegen, wie pessimistisch zwei Jahre sp'd- 
ter, im »Salon von 1857 [«], Baudelaire: M (Variante: niichtern, ja 
pessimistischer klingen die Worte, mit denen zwei Jahre spater 
Baudelaire die neue Technik seinen Lesern ankUndigt. Sie lassen sich, 
so wenig wie die eben angefuhrten, heute ohne eine leise Akzentver- 
schiebung lesen; aber eben indem sie ihr Gegenstilck sind, haben sie 
ihren guten Sinn behalten als schdrfste Abwebr der Usurpationen 
k Unstle r is c h er Pbotographie. M) - 384,32 vier und 1859] 
konj. fiir zwei und 18 5 7 J BA , M; s. »Naohweise« - 384,35 lesen] konj. 
fiir lassen J BA nach M - 385,10 sein«.] in M folgt der (gestrichene) 
Satz: Niichtern und pessimistisch sind diese Worte aber sie haben, im , 
Gegensatz zu der Prophetie von Wiertz, ihre Geltung behalten. - 
385,11 damals] fehlt in M - 385,12 nicht erfafit worden,] uber- 
sehen worden: M- 385,13-32 liegen. bis Aufnahme] lie gen. Immer 
kleiner wird die Kamera, immer mehr bereit, auch unscheinbarste, 
fluchtigste Konstellationen in sich, oder in ihrer Abfolge, festzubalten. 
So kommt es, da/! nicht nur ein Forschungs- sondern ein Fabndungs- 
mittel in ihr verborgen ist. Mit Grund hat man die Aufnabmen At- 
gets mit polizeilicben vom Tatort verglichen und damit angedeutet, 



1 140 Anmerkungen zu Seite 368—385 

wie der schopferischen Photographie die zerstorende entgegentritt. 
Denn die Welt ist nicht schon und zum Gericht Uber sie rufl mit stum- 
mem Munde die Kamera Millionen namenloser Zeugen auf. Nur der 
an dies ihr auferlegte Werk verldrnen wird es zustofien, wie unver- 
sehens im Chaos der Verwesung, das sie vor sicb hat, in Haltungen, 
Gebarden, Blicken winzige Keime des neuen, das kommen will, zu 
entdecken [kommen ist grofi geschrieben, neuen klein; moglicher- 
weise war es umgekehrt gememt, und Benjamin verschrieb sich nur; 
eine andere mdgliche Lesart ist neuen (scil. Chaos) - dann ware nur 
Kommen verschrieben] : aber werden das Photographien in unserm 
Sinne seinf Oder wird die Photographie der Zukunfi[,J im Gegen- 
satz zu unserer unmittelbaren, mittelbar, ein Produkt des Film- 
schnitts werden? Wird die Kamera, urn ihrem weniger schopferischen 
als konstruktiven Witz eben sich zuzuwenden, der Literarisierung 
aller Lebensverh'dltnisse sich entziehen diirfen? Wird die Beschrif- 
tung nicht zu einem wesentlichsten Bestandteil der Aufnahmen M; 
von liegen. bis Lebensverhaltnisse (385,20) ist mit J BA gleichlautende 
Variante in M - 385,17 Chock'] konj. fiir Chok J BA , M (dazu s. Bd. 
J » 779) ~ 3%$> 20 einbegreift,] einbegreift M - 385,21 die] welche 
M - 385, 2r Ungefahren] Kunstgewerbe M - 385,23 denen] kri- 
minalistlschen M - 385,23-25 ist bis Taterf] sind sie nicht mantischen 
Praktiken ndher noch anzugleichen? M - 385,26-30 die bis eigenen] 
das Schicksal welches die Gesellschafl sich vorbereitet, unter den Bil- 
dern ihrer Eingeweide zu verzeichnenf Wird nicht weniger als ein 
Analphabet eines Tages ein Photograph gelten, der seine eignen M - 
385,33 neunzig] hundert M - 385,36 schon] verfiihrerisch M - 
385,36 f. Grqjivdtertage] Urgrojlvdtertage M 

nachpweise 368,10 Staaty] im Erstdruck (nachfolgend: i. E.) folgt 
Bildwiedergabe »Der Photograph Karl Dauthendey, der Vater des 
Dichters, und seine Braut (Selbstbildnis i857)«, aus: Helmuth Th. 
Bossert und Heinridi Guttmann, Aus der Friihzeit der Photographie, 
a. a. O. [368 f., Fufinote 1], Tafel 128 - 368,20 Tat{-)] i. E. folgt 
Bildwiedergabe »Fischweib (phot. David Octavius Hill)«, aus: Hein- 
ridi Schwarz, David Octavius Hill, a. a. O. [369, Fufinote 1], Ta- 
fel 26 - 369,16 f. wiederzugeben.«] Leipziger Anzeiger, zit. in: 
Max Dauthendey, Der Geist meines Vaters. Aufzeichnungen aus 
einem begrabenen Jahrhundert, Munchen 1912, 61 - 369,29 trat] 
s. »Bericht [...]. Erstattet in der franzosischen Deputiertenkammer 
am 3. Juli 1839 von [Dominique Francois Jean] Arago, Deputier- 
ten der Ost-Pyrenaen«, zit. in: Josef Maria Eder, Geschichte der Pho- 
tographie, 3. Aufl. (— Ausfuhrliches Handbuch der Photographie, Bd. 
1, Teil 1), Halle a. S. 1905, 187-195 (Kap. 16) - 370,3 war.*] 
a. a. O., 192; bei Benjamin abweichende (wohl eigene) Ubersetzung; 



Anmerkungen zu Seite 368—385 1141 

s. den franzosischen Text etwa in: Georges Potonniee, Histoire de la 
d^couverte de la photographie, Paris 1925 - 370,8 ;o(-)] 1. E. folgt 
Bildwiedergabe »Der Philosoph Schelling (um i85o)«, aus: Bossert 
und Guttmann, a. a. O., Tafel 64 - 370,32 Fischweib] s. Nachweis 
zu 368,20 - 370,39 umzingeltl /] i. E. folgt Bildwiedergabe »BUd- 
nis eines Mannes von David Octavius Hill«, aus: Schwarz, a. a. O., 
Tafel 30 - 371,2 ringelt!*] Stefan George, Der Teppich des Lebens 
und die Lieder von Traum und Tod. Mit einem Vorspiel (— Gesamt- 
ausgabe der Werke, Bd. 5), Berlin 1932, 61 (»Standbilder. Dassechste«, 
v. 13-16) - 371,3 Dautbendey] s. Nachweis zu 368,10 - 371,21- 
31 Es bis Psychoanalyse.] s. die Passage Bd. 1, 461,16-33 und 500,11- 
27 - 372,8 Erlebnis*] Schwarz, a. a, O., 42 - 372,12 selbst.*] 
a. a. O. - 372,16 f. Kamera*] Henry H. Snelling: »Never look into 
the camera. «, zit. in: Schwarz, a. a. O. (Anm. 1) - 372,28 jeden*] 
Dauthendey, Der Geist meines Vaters, a, a. O., 72 - 373,5 Hill] s. 
Schwarz, a. a. O., 59 und Bildtafel 58 - 373>2i Pbotograpbien.*] 
Emil Orlik, Kleine Aufsatze, Berlin 1924, 3 8 f . (»t)berPhotographie«): 
»und die [...]« - 373,37 Rock] s. Nachweis zu 370,8 - 374,19 
bervorzubringen.«] der Passus ist bei Eder, s. a. a. O., ausgelassen; 
s. Potionn£e, a. a. O. - 374,38 allge(-)] i. E. folgt Bildwiederga- 
be »Photo Germaine Krull«; vermutlich aus Benjamins Privatbe- 
sitz - 375,15 Kniebrille«] s. Eder, a, a. O., 211 (Kap. 17) - 375,18 
Vorhang«] Fr. Matthies-Masuren, Kunstlerische Photographie. Ent- 
wicklung und Einflufi in Deutschland. Vorwort und Einleitung von 
Alfred Lichtwark (= Die Kunst. Sammlung illustrierter Monogra- 
phien, hg. von Richard Muther, Bd. 59 und 60), Leipzig 1907, 22 - 
375,25 werden.*] Robinson in »The Photographic News« [London 
1856 fT.], zit. in: Matthies-Masuren, a. a. O. - 375,25-38 Damals 
bis wUrden.] s. den Passus 416,18-31 - 376,1 nocb] i. E. folgt Bild- 
wiedergabe »Photo Germaine Krull«; vermutlich aus Benjamins 
Privatbesitz - 376,17 Grofie*] Orlik, a. a. O., 38 - 376,19 storen- 
den«] Paul Delaroche, zit. in: Schwarz, a. a. O., 39 - 376,27 
Pbotograpbie] s. Alfred Lichtwark, Die Incunabeln der Bildnis- 
photographie, in: Photographische Rundschau, 1900 (Jg. 14), 25 ff. 

- 377,7 Retusche] s. Matthies-Masuren, a. a. O., 29 f. - 377,8 Gum- 
midrucke] s. a. a. O., 44 ff. - 377,25 bat.«] E. Atget, Lichtbilder. 
Eingeleitet von Camille Recht, a. a. O. [377, Fufinote 3], 10 f. - 
378,11 hat.«] a. a. O., 8; Absatz hinter »Mond.« - 378,30-379,11 
Was bis abgewinnt.] s. den Passus Bd. 1, 440,10-34 und 479,11-480,3 

- 379,12 Wabrzeicberm] Atget, a. a. O., 17 - 379,13 f. Stiefellei- 
sten] s. a. a. O., Tafel 7 (»Flickschuster«) - 379,15 steben] s. a. a. O., 
Tafel 87 (»Cour du Dragon«) - 379,16 Tiscben] s. a. a. O., 
Tafel 15 (»Speisezimmer«) - 379,16 Wascbgescbirren] s. a. a. O., 



1 142 Anmerkungen zu Seite 368— 385 

Tafel 64 (»Arbeiterwohnung«) - 379,19 erscbeint] s. a. a. O., Tafel 
63 (»Das Haus No. j«) - 379>2o fortifs] s. a. a. O., Tafel 
89 (»Porte d 7 Arceuil«) - 379,2 1 Prunktreppen] s. a. a. O., Tafel 
44 (»Treppenhaus«) - 379,21 Hofe] s. a. a. O., passim - 379,21 
Cafehausterr assert] s. a. a. O., Tafel 34 (»Cafe* auf der Avenue 
de la Grande Arm£e«) - 379,22 Tertre] s. a. a. O., Tafel 65 (»Place 
du Tertre«) - 380,4 18 Jo] s. Bossert und Guttmann, a, a. O., 
Tafel 6} - 380,19 und] i. E. foigt Bildwiedergabe »Konditor«, aus: 
August Sander, Antlitz der Zeit, a. a. O. [380, Fufinote 4], Tafel 16- 
380,20 werden.*] die Stelle findet sich nicht in Sander, a. a. O.; 
Benjamin diirfle nach einem Verlagsprospekt oder einem Waschzettel 
zitiert haben. - 380,25 Idioten.«] s. den vorhergehenden Nachweis 

- 380,28 f. Beobachtung*] s. den vorhergehenden Nachweis - 
380,33 wird.«] s. Nachweis zu 278,4 - 381,3 gewonnen.*] Sander, 
a. a.O., 14 (Alfred Doblin, Einleitung; VI.) - 381,18 Geliebten*] 
Lichtwark, Entwicklung und Einflufi der kiinstlerischen Photographie 
in Deutschland, in: Matthies-Masuren, a. a. O., 16 (Einleitung) - 
381,24 Kunsu] s. a. a. O., r2f. - 381,32 ein] i. E. folgt Bild- 
wiedergabe »Abgeordneter (Demokrat)«, aus: Sander, a. a. O., Tafel 
42 - 383,2 betrackten.*] Laszlo Moholy-Nagy, Malerei Fotografle 
Film. Mit einer Anmerkung des Hg. und einem Nachwort von Otto 
Stelzer (= Neue Bauhausbiicher. Neue Folge der von Walter Gropius 
und Laszlo Moholy-Nagy begriindeten >Bauhausbucher<. Hg. von 
Hans M. Winkler. Faksimile-Nachdruck nach der Ausgabe von 1927 
[=2. Ausg.; 1. Ausg.: Malerei, Photographie, Film, bauhausbiicher, 
Bd. 8, 1925]), Mainz, Berlin 1967, 25 f.; das Zitat weicht gegemiber 
dem Faksimile-Nachdruck an einigen Stellen ab. Benjamin durfte 
nach der - den Hg. nicht zuganglich gewordenen - Ausgabe von 
1925 zitiert haben. - 383,8 werden.«] Tristan Tzara, Die Photogra- 
phie von der Kehrseite (deutsch von Walter Benjamin), in: H. Zeit- 
schrift fur elementare Gestaltung, Juli 1924 (Nr. 3), 30; im Selbstzitat 
folgende Varianten : alles, was , nannte, gichtbriichig und zarten, unbe- 
ruhrten gegenuber alles was , nennt gichtbriichig und zarten unberUhr- 
ten im Erstdruck (s. den Text in Gesammelte Schriften, Supplement I) 

- 383,30 schon*] s. Albert Renger-Patzsch, Die Welt ist schon. Ein- 
hundert photographische Aufnahmen, hg. und eingeleitet von Carl 
Georg Heise, Miinchen o. J. [1928] - 384,7 f. >Gestelltes<,«] [Ber- 
tolt] Brecht, Versuche 1-12, Heft 1-4. Neudruck der ersten Ausgabe, 
Berlin, Frankfurt a. M. 1959, 260 (»Der Dreigroschenprozefi. Ein 
soziologisches Experiment, III.2«, Versuche 8-10, Heft 3) - 384,15-31 
In bis arbeiten.«] s. die Passage in Bd. 3, 505,25-506,3 - 384,31 
arbeiten.«] A[ntoine] I. Wiertz, CEuvres littiraires, Paris 1870, 
309 - 385,4 Messias,*] Baudelaire, CEuvres completes, a. a. O. 



Anmerkungen zu Seite 368—390 1143 

[s. Nachweis zu 360,31], 1033 f. (»Salon de 1859. Lettres a M. le 
Directeur de la Revue francaise. II. Le public moderne et la photo- 
graphies) - 385,10 sein«] a. a. O., 1035; die aus der Menge ibr 
erwachsen wird lautet im Original: »qu'elle trouvera dans la sottise 
de la multitude^ 



386-390 Paul Val£ry 

Im Bucherverzeicbnis der gelesenen Scbrifien, das icb etiva sett dem 
Abiturium f fibre [s. Bd. 6], ndbere icb mid) der Jubilaumszabl 1000. 
Die letzten Etappen waren: Der Zauberberg von Thomas Mann - 
Geschichte und Klassenbewufitsein, eine aujierordentliche Sammlung 
von Lukdcs politiscben Scbrifien - Paul Valery: Eupalinos ou Varcbi- 
tecte y die einzige schone und bedeutende Scbrift in der Form des pla- 
toniscben Dialoges y mit Sokrates in der Mitte, die icb aufier den 
Originalscbrifien kenne. Icb werde sie in der » Liter ariscben Welt* 
anzeigen. (Brief e, 381) So Benjamin im Mai 1925 in einem Brief an 
Scholem. Und - gegeniiber demselben Korrespondenten - zwei Mo- 
nate danach noch einmal: Inzwiscben ist nicbt viel gescbafft worden 
und soweit icb meine Zeit an Lettern gewendet habe y gescbab es lesend. 
Vor allem nahm icb mir Neuestes aus Frankreich vor: Die berrlicben 
Scbrifien von Paul Valery (Variete, Eupalinos) einersehs t die frag- 
wiirdigen Bucber der Surrealisten auf der andern. (Briefe, 393) 
Scholem seinerseits hat Benjamins Bewunderung fur Valery aus- 
driicklich bestatigt, als er von einer spateren, in den Herbst 1927 fal- 
lenden Begegnung mit dem Freund in Paris berichtete: »Als Empfangs- 
geschenk uberreichte er mir, als einem alten Bewunderer und eifrigen 
Leser von Anatole France, die Antrittsrede von Paul ValeVy, der 
den Sitz des Verstorbenen in der Academie Francaise eingenommen 
hatte. Benjamin erklarte mir, der neugewahlte >Unsterbliche< musse in 
seiner Antrittsrede eine Laudatio auf seinen Vorganger halten, aber 
Valery, der Anatole France verachtete, habe das aufsehenerregende 
Kunststiick fertiggebracht, in seiner ganzen Rede den Namen von 
France audi nicht ein einziges Mai zu nennen. Zugleich gab er mir, 
da er von ValeVy als Denker, Dichter und Prosaisten die grofken 
Stiicke hielt, die von ihm besonders bewunderte >Soir£e avec Mon- 
sieur Teste<, um mich mit diesem Phanomen bekannt zu machen.« 
(Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, 
a. a. O., 169 f.) - Die berrlicben Scbrifien von Paul Valery: von weni- 
gen zeitgenossischen Autoren - wohl nur noch von Proust und Kaf- 
ka - kann man sich vorstellen, dafi Benjamin ahnlich enthusiastisch 
zu ihnen sich bekannt hatte. In der Tat verband ihn die tiefste Affi- 



1 1 44 Anmerkungen zu Seite 3 8 6—390 

nitat des Denkens mit dem franzosischen Dichter-Philosophen. Von 
Valery wie von Benjamin gilt gleichermaflen, dafl bei ihnen »ein 
letztes Mai Mystik und Aufklarung sich zusammengefunden« (Ador- 
no, Uber Walter Benjamin, a. a. O., 29) haben. Benjamin greift ins- 
besondere in seinem Spatwerk zwar haufiger auf Zitate aus Schriften 
ValeVys zuriick (s. Bd. 1, 472, 545, 614, 629 f., 639, 647; Bd. 2, 
448 f., 463 f. und passim), direkte Aufferungen uber ValeVy aber 
sind dann doch auffallig selten bei ihm zu finden. Die geplante An- 
zeige des Eupalinos-Dialogs ist nie erschienen und audi kaum ge- 
schrieben worden. 1926 berichtete Benjamin in der »Literarischen 
Welt« kurz uber eine halbstiindige conference ValeVys in der Ecole 
normale (s. Bd. 4, 479 f.), und 1931 erschien, wiederum in der »Lite- 
rarischen Welt«, der Aufsatz zum sechzigsten Geburtstag des Dich- 
ters: eine kurze Studie (Briefe, 542), wie Benjamin selbst in der einzi- 
gen, bislang bekannten brieflichen Erwahnung seine Arbeit bezeich- 
net. Und wie reich an Motiven und artistisch-geschmeidigt in der 
literarischen Ausfiihrung der Aufsatz immer ist - wer von ihm sidi 
erwartete, was Benjamin iiber ValeVy zu sagen gehabt hatte, der 
wird kaum einem Gefiihl der Enttauschung ganz enthoben bleiben. 
Doch so hat Benjamin audi sonst ihm Widitigstes gelegentlich zuriick- 
gehalten; es lieber esoterisch in Anspielungen versteckt, als auf dem 
Markt der Kulturindustrie es auszustellen. Darin wiirde dann aller- 
dings der Aufsatz iiber Valery, in all seinen Verknappungen und Aus- 
sparungen, der iiberragenden Bedeutung des Gegenstandes fur Benja- 
mins Denken gerade wieder gerecht werden, (In dem 1934 erschienenen 
Aufsatz Zum gegenwartigen gesellschaftlichen Standort des franzosi- 
schen Schriftstellers, in den Benjamin Passagen aus dem Essay von 
193 1 inkorporierte, wird zuerst nachdrucklich audi auf die - poKti- 
schen - Grenzen von ValeVys Ingenium hingewiesen, dem es nicht 
gelungen sei, den Gedanken einer Planting aus dem Bereich des Kunst- 
werks in den der menschlichen Gemeinschafl uberzufiihren [794]: 
dieser in den exponiert materialistischen Arbeken Benjamins zentrale 
Gedanke - der an eine Literarisierung aller Lebensverhaltnisse - 
zahlt indessen gerade unter materialistischen Aspekten kaum zu seinen 
starksten, vollends als Kritik an Valery wiegt er nicht allzu schwer.) 
Ob Benjamin jemals Valery personlich kennengelernt hat, ist iibrigens 
mit Sicherheit nicht auszumachen. Im Fruhjahr 1936 schrieb er an 
Werner Kraft: Ich horte bet Freunden eine herrlicbe Vorlesung von 
Paul Valery. Er trug unter anderm »Le Serpent* vor. (Briefe, 707) 
Wenig spater, nachdem der Kunstwerk-Aufsatz ins Franzosische iiber- 
setzt war, sorgte Benjamin, dafi einiges in die Wege geleitet wurde, 
um die Arbeit Gide t Paul Valery und andern unter den wichtigsten 
Scbriflstellern Frankreicbs auf eine ihr entsprechende Weise zu pra- 



Anmerkungen zu Seite 386—390 1145 

sender en (Brief e, 710). Spater sdieint Adrienne Monnier bemiiht 
gewesen zu sein, eine Verbindung zu dem grofien Diditer herzustellen; 
im April 1939 sdirieb Benjamin ihr: ]e vous confie, ci-joint, une copie 
de mon texte pour la communiquer a Valery. Pour y inscrire un 
hommage, petals hesitant. Si vous le jugez a propos, je le ferai. 
(Briefe, 815; um welchen Benjaminschen Text es dabei sich handelte, 
ist unklar.) Und im September 1939 schliefllich heifit es in einem 
Brief Benjamins aus dem Internierungslager in Nevers: J'ai sur moi 
les temoignages de Valery et de [Jules] Romains. Mais je n'ai 
pas encore eu ^occasion de les produire. (Briefe, 828) Ob sie ein- 
ander nun von Person kannten oder nicht: irgendeinen Begriff von 
der intelligiblen Existenz Benjamins mufi Valery gehabt haben, um 
fiir die empirische sich einzusetzen. 

Ein Blatt mit Brouillons zu dem Aufsatz Paul Valery - die einzige 
Vorarbeit, die in Benjamins Nachlafi vorhanden ist - lautet: 

Die Idee der Untdtigkeit - im Teste - ist die entschiedenste imma- 
nente Kritik von Valerys Welt an sich selbst. 

Schwierigkeit, die humanistische Mufie von der unmenschlichen zu 
trennen. Valerys Kompromisse mit dem Snobismus. 

Der Fluchtcharakter seines Denkens: die Mathematik und das Meer; 
reine der Binnenwelt der Praxis entfremdete Formwelten. 

Die iibergreifenden Gedanken Valerys; denn es gibt in der Tat eine 
Zone seiner Gedanken, da sie an festes, ja fast moohte man sagen, 
gelobtes Land branden. 

Der ode Gemeinplatz, der den Franzosen raison und clarte als natio- 
nale Tugenden vindiziert, konnte bei der Betrachtung Valerys 
einiges Leben gewinnen. 

Ein rucksichtsloser Materialismus, wie ihn die Enzyklopddisten be- 
kannten, liegt st'dndig bei Valery auf der Lauer 

{Eine fundierte Einschatzung von Valery fordert, da/J man der In- 
telligenz des Schreibenden zumal des Dichters inquisitorisch nach- 
geht; sie verlangt den Bruch mit der weit verbreite[te]n Auffassung 
daft bei Schriflstellern die Intelligenz sich von selbst verstehe. Va- 
lery hat eine, die sich nicht von selbst versteht; die andere ist 
eine Variante der Unintelligenz.} 

Es besteht ein Zusammenhang zwischen der methodischen Kargheit 
und Nuchternheit des Denkers und Schriflstellers Valery und 
der Rucksichtslosigkeit, mit welcher der Dichter das Nichts zum 
Attribut der Vollendung macht. 

Architektur und Tanz - sind sie am transparentesten gegen das 
Nichts? 



1 146 Anmerkungen zu Seite 386—390 

Die methodische Intention hat in ihrer Anwendung auf die Dichtung 
bei Valery allerdings nut zur Idee einer poesie pure gefuhrt; 
wenn er die genauen Zusammenbdnge von Dichtung und Wissen- 
scbafl klar erkannt bat, so scbeint er dodo eine ahnlicb strenge Kon- 
tinuit'dt - die von Dichtung und Literatur - die also seiner eigent- 
lichen Praxis in derselben nicbt baben realisieren zu konnen. 

Valerys Dichtung - ein hochst genaues Aufeinanderemgespielt- 
sein von Intelligenz und Stimme, die Ideen seiner Gedicbte heben 
sich wie Inseln aus dem Meer der Stimme. Das ist es was diese Ge- 
dankenlyrik von allem trennt, was wir im Deutscben so nennen: 
nirgends stofit die Idee in ibnen mit dem »Leben« zusammen oder 
der Wirklichkeit. Der Gedanke hat es mit niemandem zu tun als 
der Stimme: das und nichts anderes ist die Quintessenz der poesie 
pure. Mit andern Worten: ist die Bestimmung der Lyrik die poesie 
pure so hat diese ihrer seits es mit nicbt [s] als der intelligence pure 
zu schaffen. 

Lionardo und Pascal stellen fur Valery Glanz und Elend des den- 
kenden Menschen dar. In seinem Gesamtwerk ist die leidenschafl- 
liche Auseinandersetzung mit dem zweiten noab hdufiger als das 
uneingescbrankte Bekenntnis zum ersten. Die »Einleitung in die 
Metbode von Lionardo[«J konfrontiert beide. 

Valerys Schaffen ist durcb die immer schwerer in Angriff zu nebmen- 
de } zuletzt unlosbare Aufgabe gekennzeichnet, gewisse Erkennt- 
nisse mit der Verwertung bestimmter Privilegien in Einklang zu 
bringen. 

Drudtvorlage : Benjamin- A rdiiv, Ms 837 



UBERLIEFERUNG 

jba Di e literarische Welt, 30. 10. 193 1 (Jg. 7, Nr. 44), 3 f.; Benjamin- 

Ardiiv, Dr 68. 
lesarten 386,27 Arcbiteku ,] konjiziert fur Architeku - 386,35 
den von] mogliclierweise audi ein Druckfehler, der entweder als 
dem von oder als den zu korrigieren ware. - 388,19 sowenig] fur 
so wenig - 388,24 genommen,] handschriftlidi aus genommen -, 
- 388,35 und 36 f. Leonardo] fiir Lionardo - 389,36 Ausfallser- 
scheinungen] fiir Ausfallerscheinungen - 389,38 exakte] handschr. 
fiir genaue - 390,19 welches,] das Komma fiigte Benjamin handschr. 
ein - 390,20 uberschreiten,] handschr. fiir Uberschreiten 
nachveise 386,4 marines!] Paul ValeVy, CEuvres. Edition £ta- 
blie et annote*e par Jean Hytier, Bd. 2, Paris 1971 (Bibliotheque de 
la Pl&ade. Vol. 148), 117 (»Eupalinos ou PArchitecte«) - 386,25 
Werke.*] a. a. O., 119 - 387,2 hatte] ValeVys erste Gedichte, ur- 
spriinglich zwischen 1890 und 1893 in verschiedenen Zeitschriften publi- 



Anmerkungen zu Seite 386—395 1147 

ziert, wurden spater als »AIbum de Vers anciens i89o-i900« in Buch- 
form (zuerst Paris 1920) zusammengefafit; die erste Version der » In- 
troduction a la M&hode de Leonard de Vinci « erschien in der 
Nouvelie Revue 1895, »La Soiree avec Monsieur Teste« - an sie mui5 
Benjamin als an den zweiten der beiden ersten Essays (387,1 f.) den- 
ken - im Centaure 1896. - 387,4 hervortrat] s. Valery, La Jeune 
Parque, Paris 1917 - 387,4 f. Acht Jahre spater] das ware 1925; 
ValeVy trat aber erst im Juni 1927 der Acad^mie bei. - 387,27 
verscblungen.«] Valery, CEuvres, a.a.O., Bd. 1, Paris 1968 (Bi- 
bliotheque de la Pl&ade. Vol. 127), 731 (»Remerciement a TAca- 
d£mie francaise«) - 387,34-36 »Ein bis absorbiert.«] s. dasselbe 
Zitat 793,23-25 - 387,36 absorbiert.*] Valery, CEuvres, Bd. 2, a.a.O., 
563 (»Tel Quel«, Literature, Variations sur le Classique) - 388,2-9 
Valery bis Teste.] s. das Selbstzitat 792,34-793,2 - 388,13-17 
Monsieur bis hinaus.] s. das Selbstzitat J^,6^ - 388,20-33 »]ede 
bis la fit.] s. das modifizierte Selbstzitat 793,9-20 und 21-23 - 388,22 
Anpassung.«] ValeVy, CEuvres, Bd. 2, a. a. O., 866 (»Mauvaises Pens^es 
et autres«, M) - 388,25 widersprechen] s. a.a.O., 764 (»Tel Quel«, 
Suite, Critique des Desirs) - 388,29 Menschen.*] a. a. O., 621 (»Tel 
Quel«, Rhumbs, Moralites) - 388,35 f. Erstlingswerk] s. Nachweis zu 
387,2; jetzt in CEuvres, Bd. 1, a. a. O., 1153 ff. - 389,5 f. abzunoti- 
gen] am 24. Oktober 1925 »l*abb^ [Henri] Bremond intitule son 
rapport a FAcad£mie francaise: Po6sie pure. D'ou s'&eve une 
querelle entre pontes, critiques et esth£ticiens.« (Valery, a. a. O., 48 
[Introduction biographique]). - 389,13 »Le serpenU] das haufiger 
u. d. T. »Ebauche d'un serpent« publizierte Gedicht. - 389,24 } libit.*] 
ValeVy, CEuvres, Bd. 2, a. a. O., 549 (»Tel Quel«, Litt^rature, La 
Po^sie) - 389,28 gegenubersteht.*] a. a. O., Bd. 1, 480 (»Vari£ti«, 
Etudes litteVaires, Au Sujet d' Adonis) - 389,36-390,5 »Nichts bis 
taugt.«] s. dasselbe Zitat 793,39-794>7; 389,38 will sagen wird 794,2 
iibers. mit wir sagen (im Original: »j'entends«) - 390,5 taugt.*] Va- 
Ury, CEuvres, Bd. 2, a. a. O., 647 f. (»Tel Quel«, Rhumbs, Arriere- 
Pensees) - 390,29 Tag.«] a.a.O., 9191*. (»Regards sur le Monde 
actuel et autres Essais«, Avant-Propos) - 390,33 f. Wirkungsstarke*] 
a. a. O., 922 - 390,37 Borsentips*] a. a. O., 925 - 390,39 Sebkraft*] 
a. a. O., 39 (»Extraits du Log-Book de Monsieur Teste«) 



39 I_ 395 Oedipus oder Der vernunftige Mythos 

Gide schrieb seinen »Oedipe« zwischen Juni 1929 und November 
1930. Die franzosische Buchausgabe erschien 193 1 bei SchifTrin, die 



1 148 Anmerkungen zu Seite 391—395 

deutsche Cbersetzung von Ernst Robert Curtius - nadi der Benjamin 
in seinem Essay Oedipus oder Der vernunflige Mythos zitiert - im 
selben Jahr in der Deutschen Verlagsanstalt. Der Urauffuhrung des 
Stuckes, die am 10. 12. 193 1 in Anvers stattfand, folgten die fran- 
zosische Erstauffiihrung am 18. 2. 1932 im Theatre de 1* A venue in 
Paris sowie die deutsche im Juni 1932 in Darmstadt. Fur das Pro- 
grammheft der letzteren, von Gustav Hartung mit Werner Hinz und 
Bessie HofTarth als Protagonisten inszenierten, schrieb Benjamin sei- 
nen Essay; dieser dtirfte kaum sehr lange vor der Auffuhrung, wohl 
im April oder Mai 1932, entstanden sein. 

Mit der Datierung »Darmstadt. Juin« schrieb Gide 1932 in seinem 
»Journal«: »Je viens d'assister a la derniere representation de ce 
meme >CEdipe< a Darmstadt. Le directeur, Hartung, eut la tres 
ing^nieuse id£e de soutenir et motiver tous les anachronismes de la 
piece (qui, du coup, ne parurent plus forces) par un decor mi-antique, 
mi-moderne, melant les colonnes d'un temple grec a une projection, 
sur la toile de fond, de Notre-Dame de Paris. Les acteurs memes 
portaient leurs oripeaux de tragcidie sur un costume outrageusement 
contemporain. Uillusion sc^nique, des lors, £tait nulle; mais ma 
volonte* de ne point chercher a l'obtenir devenait du coup eVidente, 
et, lorsqu'on entendit le choeur declarer: >L'action de ce drame ne 
saurait s'engager sans que . . . etc.<, le public me sut gre de le mettre 
de meche et comprit que Tinteret de ma piece £tait ailleurs: dans le 
combat des id£es, et que le drame se jouait sur un autre plan que celui 
de la trageMie antiques (Andre* Gide, Journal 1889-1939, Paris 1951 
[Bibliotheque de la Pl&ade. Vol. 54], 1129) 

UBERLIEFERUNG 

J BA Blatter des hessischen Landestheaters, Darmstadt, 1931/32, 
S. 157-162 (Heft 14; Andre* Gide-Heft); Benjamin-Archiv, Dr 

755- 

T Teiltyposkript, Durchschlag mit handschriftlichen Bleistiftkorrek- 
turen, zum Teil wahrscheinlich von fremder Hand; Benjamin- 
Archiv, Ts 2512. 
Druckvorlage: J BA , T 

lesarten 392,24 f. seine »Gedanken] fur *seine Gedanken J BA - 
392,34 gewoben,] konjiziert fur gewoben J BA - 394,2 allein] T; 
allein, J BA - 394,5 Schweigen.*] in J folgt 394,18 Von; am Rand die 
handschriftliche Notiz: an dieser Stelle ist ein Zitat aus Lukacs [sic!, 
richtig: Nietzsche; s. »Nachweise«] und eines aus dem Trauerspiel- 
buch [richtiger: aus Schicksal und Cbarakter; s. »Nachweise«] fort- 
gelassen worden. - 394,5-17 Oder bis Tragodie.«] fehlt in J, der 
edierte Text folgt T, das Benjamin J BA beilegte. - 394,21 f. Zusam- 



Anmerkungen zu Seite 391—406 1149 

menhange,] J BA ; Zusammenhange T - 394,38 Ort] in J: Ort, das 
Komma ist in J BA handschriftlich gestrichen. - 394,39 an,] konj. fiir 
an JBA _ 394,39 Worte,] konj. fiir Worte J BA 

nachveise 391,18 »Orpheu$«~\ s. Benjamins Text iiber das Stuck von 
Cocteau 625-628 - 392,20 ware.«] Andre* Gide, Oedipus. Schau- 
spiel, deutsch von Ernst Robert Curtius, Stuttgart, Berlin 193 1, 62 - 
392,32 Paulus.*] Gide, Incidences, Paris 1924, 128; Obers. von 
Benjamin - 393,2 trinkt*] a. a. O., 125 - 393,27 Menscben!] Ben- 
jamin zitiert die Obersetzung Hoiderlins. Unser Textstand nach Hol- 
derlin, Samtliche Werke. GrofSe Stuttgarter Ausgabe, Bd. 5: Uber- 
setzungen, hg. von Friedrich Beifiner, Stuttgart 1952, 187 (v. 1420- 
1425 [= 1403-1408]). - 393,33 taub.] a. a. O. (v. 1403-1406 
[= 1386-1389]) - 394,5 Schweigen.«] Franz Rosenzweig, Der Stern 
der Erlosung, Frankfurt a. M. 1921, 98; Benjamin zitiert dieselbe 
Stelle audi Bd. 1, 286 - 394,7 handeln*] Nietzsche, Werke in drei 
Banden, hg. von Karl Schlechta, Bd. 1, Miinchen 1954, 94 (»Die Ge- 
burt der Tragodie«, 17); audi zit. Bd. 1, 287 - 394,17 Tragodie.«] 
Benjamin, Sdiicksal und Charakter, in: Die Argonauten, 1. Folge, 
Heft 10-12 (1921), 191; jetzt oben, 175. Das Seibstzitat findet sich 
ebenfalls im Ursprung des deutschen Trauerspiels, s. Bd. 1, 288 f. - 
394,27 sie.«] Gide, Incidences, a. a. O., 81; Obers. von Benjamin - 
394,36 umstellt.«] Gide, Oedipus, a. a. O., 81 - 395,9 »Verlorenen 
Sohn«] s. Gide, Le retour de l'enfant prodigue, Paris 1907 - 395,10 
»Nourritures Terrestres«] Erstdruck Paris 1897 - 395,12 d'oit.*] 
wahrscheinlich aus dem Gedachtnis falsch zitiert; s. Gide, Romans, 
remits et soties, oeuvres lyriques. Introduction par Maurice Nadeau, 
notices et bibliographic par Yvonne Davet et Jean- Jacques Thierry, 
Paris 1958 (Bibliotheque de la Pl&ade. Vol. 135), 153 (»Les Nour- 
ritures terrestres«, Preface): »Et quand tu m'auras lu, jette ce livre 
- et sors. Je voudrais qu'il t'eut donne le d£sir de sortir - sortir 
de n'importe ou [. . .].« 



395-406 Christoph Martin Wieland 

Die Entstehung des Gedenkartikels lafit sich, naherungsweise, gut be- 
stimmen. Gegeben sind zwei briefliche und ein publizistisches Rahmen- 
datum. Benjamin schrieb am 31. 7. 1933 von Ibiza, wo er sich wah- 
rend der Sommermonate aufhielt, an Scholem: Von alien Buchern und 
Papieren [. . J bin ids getrennt. Wenn icb die geeigneten Biicher 
hatte, so konnte ich mich wenigstens mit einem Auftrag der » Frank- 
furter Zeitungic, zum 200 ten Todestage [sic] Wielands - den icb so 



1 150 Anmerkungen zu Seite 395—406 

gut wie garnicht kenne - etwas zu schreiben beschdftigen. Abet da hat 
man mir nut kummerliche Gelegenheitsliteratur [wohl die als Re- 
zensionsexemplar ihm zugegangene » Festschrift zum 200. Geburtstag 
des Dichters Christoph Martin Wieland«, von der \Stadtgemeinde 
und dem Kunst- und Altertumsverein Biberach 1933 herausgegeben 
(s. »Nachweise« und 405 f., Fufinote 1)] zur Verfugung gestellt. 
(Brief e, $89) Und in einem zwar undatierten, jedodi kaum spater als 
in einigen Tagen darauf - also etwa in der ersten Augustwoche - 
geschriebenen Brief an Gretel Adorno heifk es: Was [. . .] die [. . .] 
»Lekture« betrifft, so steht die Lust zu ihr manchmal im umgekehrten 
Verhaltnis zur Dringlichkeit. Da hat mich beispielsweise Frankfurt 
mit dem Gedenkartikel zum 200 ten Geburtstage von Wieland bedacht 
und ich habe ein gut Teil seiner Werke in Reklam mir hersenden 
lassen mussen. Bisher sind sie mir alle unbekannt gewesen und es wird 
nod) mehr Gluck als Verstand dazugehoren, in der Kurze der Zeit - 
und naturlicb auch auf kurzestem Raume - irgend etwas Manierli- 
ches zur Sache zu sagen. Bevor ich ganz in dieser Lekture verschwin- 
de, hoffe ich aber noch ein weiteres Stuck der »Berliner KindheiU 
abzuschliefien (Briefe, 591). Das dritte Eckdatum ist der 5.9. 1933, 
der Tag, an dem der Gedenkartikel in der »Frankfurter Zeitung« 
erschien. Bringt man einerseits in Anschlag, dafl Benjamin in der - 
vermutlidi - ersten Augustwoche mit einer intensiveren Wielandlek- 
tiire noch gar nicht begonnen hatte, und andererseits, dafi er den Ar- 
tikel spatestens um Anfang September von Ibiza abgeschickt haben 
mufite (die mogliche Her- und Hinsendung von Korrekturfahnen 
nicht gerechnet), dann ware fiir die Abfassung der Arbeit ungefahr 
die zweite Augusthalfte anzusetzen. - Sie rechnet zu denen, die Ben- 
jamin in Deutschland - unter Pseudonym - noch verofTentlichen 
konnte: das Detlevsche Holz - hier das C. Conradsdie -, das ich in 
meine Lebensflamme geworfen habe, [wird] zum - mehr oder min- 
der - letzten Mai aufflackern, denn schon zeichnen die neuen Presse- 
gesetze sich ab, nadh deren Inkrafttreten mein Erscheinen in der deut- 
schen Presse noch um vieles undurchdringlicher werden wird als bis- 
her. (Briefe, 589; zu den Arbeiten, die nach 1933 noch erschienen - 
die letzte am 30. 6. 1935 -, s. Rolf Tiedemann, Bibliographic der 
Erstdrucke von Benjamins Schriften, in: Zur Aktualitat Walter Benja- 
mins, a. a. O., 262-269) 

UBERLIEFERUNG 

J Christoph Martin Wieland. Zum zweihundertsten Jahrestag seiner 
Geburt. Von C. Conrad [Pseudonym]. - Frankfurter Zeitung, 
Reichsausgabe, 5.9. 1933 (Jg. 78, Nr. 658-660). 

lesarten 39$, 3 1 siebt.«] konjiziert fiir sieht. (s. »Nachweise«) - 



Anmerkungen zu Seite 395—406 1 1 5 1 

396,28 f. Klosterbergen] konj, fur Bergen (s. »Nachweise«) - 397,14 
21] konj. fiir einundzwanzig; die Sdireibweise der Nu- 
meralia in dem Artikel ist schwankend; eine Auszahlung ergab, dafi 
die Wiedergabe in ZifFern haufiger ist als die in Wortern. Demge- 
mafi haben die Hg. - in alien analogen Fallen, d. h. unter Belassung 
nur weniger, stilistisch sonst anstoflig gewordener - die Sdireibweise 
konsequent vereinheitlidit und die Zahlworter in Ziffern wiederge- 
geben. Die umgeschriebenen Zahlworter werden im folgenden nidit 
einzeln mehr ausgewiesen. - 397,36 und die] konj. fiir und; »Mu- 
sarion« ist feminini generis. - 398,3 war.] in J, zur Bezeichnung des 
Endes eines Hauptabschnittes, folgt ein Sternchen. - 399,21 extre- 
mist] konj. fiir extremis (s. »Nachweise«) - 399,29 seine] konj. fiir 
seinen - 399,36 Fielding] in J gesperrt; in diesem wie in einer Reihe 
anderer Falle wurde die Sperrung von Eigennamen - die in dem 
Artikel ebenfalls inkonsequent ist - aufgehoben; sie war mit Sicher- 
heit von Benjamin nidit beabsichtigt. Die weiteren Aufhebungen sind 
im folgenden nicht ausgewiesen. - 400,7 konnen.] s. Lesart zu 398,3 

- 401,12 f. »der bis batte.«] konj. fiir der bis hatte.; der Passus ist 
wortliches Zitat (s. »Nachweise«) - 401,27 fiihrte.] s. Lesart zu 398,3 

- 403,13 den] konj. fiir dem - 403,25 welche] konj. fiir welcher - 
404,9 wird«.] s. Lesart zu 398,3 - 404,25 der] konj. fiir des; s. 
Lesart zu 397,36 - 404,27 in der] konj. fiir im - 406,2 den] konj. 
fiir dem analog dem Akkusativ ihre in der folgenden Zeile 
nachweise 395,31 sieht.«] Theodor HeufS, In meines Vaters Stube 
[...], in: Festschrift zum 200. Geburtstag des Dichters Christoph 
Martin Wieland [...]. Mit 35 Abbildungen, hg. von der Stadtge- 
meinde und dem Kunst- und Altertumsverein Biberach/RifS, Bibe- 
rach-Rifi 1933, 120 (III. Schwabische Dichter und Schriftsteller ihrem 
groflen Landsmann) - 396,4 kann.«] Emil Ermatinger, Meine Be- 
gegnung mit Wieland, in: Festschrift, a. a. O., 161 (IV. Gelehrte und 
Forscher iiber Christoph Martin Wieland) - 396,9 lafit] s. Wielands 
Gesammelte Schriften, hg. von der Deutschen Kommission der Preu- 
fiischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1909 ff. - 396,28 f. 
Klosterbergen] s. Christoph Martin Wieland, Ausgewahlte Werke in 
drei Banden, hg. von Friedrich Beifiner, Bd. 3, Miinchen o. J. [1965], 
891 (Wielands Leben in kurzen Daten und Zeugnissen) - 396,30 Mes- 
sias«] 1748 erschienen die ersten drei Gesange - 397,1 Epik«] 
Bernhard Seuffert, Wieland, in: Festschrift, a. a. O., 183 (IV.) - 397,8 
Komodiantengesellschafi*] s. Erhard Bruder, Wieland als Schau- 
spieldirektor, in: Festschrift, a. a. O., 74 (II. Der Dichter und seine 
Vaterstadt) - 397,26 Gehalt.*] Goethe, zit. bei Hermann Pongs, 
Wieland und Shakespeare, in: Festschrift, a. a. O., 179 (IV.) - 397,31 
Handlungen«] Wieland, Theorie und Geschichte der Red-Kunst und 



1 1 52 Anmerkungen zu Seite 395—406 

Dicht-Kunst, zit. bei Bruder, a. a. O,, 75 - 398,10 gewesen.*] Wieland 
an Riedel, zit. bei Gabriele Freiin v. Koenig-Warthausen, Friedridi 
Graf von Stadion, in: Festschrift, a. a. O., 84 (II.) - 398,34 Stern- 
heim«] s. Gesdiichte des Fraulein von Sternheim. Von einer Freun- 
din derselben aus Originalpapieren und andern zuverlassigen Quellen 
gezogen, hg. von C. M. Wieland, Leipzig 1771 - 399,7 Stein.] Wie- 
land, zit. bei Werner Deetjen, Wieland in Weimar, in: Festschrift, 
a. a. O., 154 (IV.) - 399,15 Mdfligungen.] Goethe, 14. Maskenzug 
[. . .] Den 18. Dezember 1818, zit. bei Deetjen, a. a. O., 155; bei 
Goethe »Wieland« gesperrt - 399,21 extremis*] Gesprach mit Rie- 
mer, n. 2. 1807, zit. in: Goethes Gesprache, neu hg. von Flodoard 
Frhr. von Biedermann, Bd. 1, Leipzig 1909, 478 (Nr. 965) - 399,26 
liebe.*] Wieland, zit. bei Adriano Belli, Der Eindruck [...], in: 
Festschrift, a. a. O., 157 (IV.) - 400,22 pflegt.*] Wieland, Der goldne 
Spiegel oder die Konige von Scheschian. Eine wahre Gesdiichte aus 
dem Scheschianischen iibersetzt, in: Gesammelte Schriften, a. a. O., 
Abt. 1: Werke, Bd. 9, hg. von Wilhelm Kurrelmeyer, Berlin 193 1, 1.1 
(Zueignungsschrift); bei Wieland »Ergetzungen«, »bey«, »niemahls 
unthatiger« - 401,9 GaukelspieU] Wieland, Gesdiichte der Abderi- 
ten, in: a. a. O., Bd. 10, hg. von Ludwig Pfannmiiller, Berlin 1913, 
204 (Teil 2, Buch 4, Kap. 9) - 401,12 f. hatte.*] Bernhard Luther, 
Von Wieland zu Heinrich v. Kleist, in: Festschrift, a. a. O., 173 
(IV.) - 402,5 war*] Gesprach [Goethes] mit Wieland [berichtet in 
einem Brief Wielands an Merck], 26. 6. 1779, zit. in: Goethes Ge- 
sprache, a. a. O., ^6 (Nr. 194) - 402,12 lassen.*] Hans Wahl, Wie- 
land und Goethe, in: Festschrift, a. a. O., 190 (IV.) -402,1 8 werden.*] 
Gesprach [Goethes] mit Wieland [berichtet in einem Brief Wielands 
an Kaiser], 29.9.1776, zit. in: Goethes Gesprache, a. a. O., 83 
(Nr. 159) - 402,39 alt.«] Gesprach [Goethes] mit Wieland [berich- 
tet in einem Brief Wielands an Lavater], Anfang Februar 1776, zit. 
in: Goethes Gesprache, a. a. O., 74 (Nr, 140) - 403,18 responsabe^*] 
Gesprach mit F. v. Muller, 6.6.1824, zit. in: Goethes Gesprache, 
a. a. O., Bd. 3, Leipzig 1910, 118 (Nr. 2266) - 403,21 Goethes] s. 
Gotter, Helden und Wieland - 403,22 »Alkestis«] s. Wieland, 
Alceste. Ein Singspiel in fiinf Aufziigen, in: Gesammelte Schriften, 
a. a. O., Bd. 9, a. a. O., 343-377 - 4^4,4 vereinigtf] Wieland, An 
Psyche, in: Der Teutsche Merkur, Januar 1776, zit. bei Deetjen, a. a. 
O., 150 f. - 404,13 Logenrede] s. Goethe, Zu bruderlidiem Anden- 
ken Wielands (18 13), in: Samtliche Werke, Jubilaums-Ausgabe in 
40 Banden, hg. von Eduard von der Hellen [u. a.], Bd. 37, Stutt- 
gart, Berlin o. J., n-33 - 404,20 Stil.*] Gesprach mit Eckermann, 
18. 1. 1825, zit. in: Goethes Gesprache, a. a. O., Bd. 3, a. a. O., 158 
(Nr. 2308): »>Wielanden<, sagte Goethe, >verdankt [. . .] Stil.<« - 



Anmerkungen zu Seite 395—438 1153 

404,26 glaubte.*] Goethe, Dichtung und Wahrheit, in: Samtliche 
Werke, a. a. O., Bd. 23, Stuttgart, Berlin o. J., 68 (Teil 2, Buch 7) - 
404,35 begegnete.«] Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem 
Verstandnis des West-ostlichen Divans, in: Samtliche Werke, a. a. O., 
Bd. 5, Stuttgart, Berlin o. J., 304 (»Obersetzungen«): »[. . .]; er hat« 
- 405,22 lassen.*] Gesprach mit Falk, 25. 1. 18 13, zit. in: Goe- 
thes Gesprache, a. a. O., Bd. 2, a. a. O., 167 (Nr. 1489) - 405,35 
blinken*] Gesprach mit Eckermann, 5.7. 1827, zit. in: Goethes Ge- 
sprache, a. a. O., Bd. 3, a. a. O., 405 (Nr. 2507) - 405,37 Festschrift] 
s. Nachweis zu 395,31 - 406,5 Diesem letzten Teil] lies Diesem 
letzten aber auch dem zweiten und dritten Teil 



409-438 Franz Kafka 

Erste Besckdftigung mit Kafka; Plane und erste Arbeiten 

Das »erste Zeugnis der Beschaftigung mit Kafka« (Briefe, 398, 
Anm. 6) findet sich in einem Brief Benjamins an Scholem vom 21. 7, 
1925: Einige nachgelassne Sacben von Kafka liefi ich tnir zur Rezen- 
sion geben. Seine kurze Gescbichte »Vor dem Gesetz* [in: Ein Land- 
arzt. Kleine Erzahlungen, 1919] gilt tnir heute wie vor zehn Jahren 
fur eine der besten, die es im Deutschen gibt. (Briefe, 397) Im Post- 
skript eines Briefes an Kracauer heifk es etwa eineinhalb Jahre spa- 
ter: Ihre Kafka-Rezension bewabre ich auf, urn sie nach Kenntnis des 
Romans »Das Schlofi« - er war erstmals 1926 erschienen - zh 
lesen. (o. D. [Januar 1927], an Siegfried Kracauer) Einem Novem- 
ber 1927 an Scholem gerichteten Brief fiigte Benjamin »auf einem 
kleinen Zettel das Folgende bei: 

Idee eines Mysteriums 
Die Geschichte darzustellen als einen Prozefi in welchem der Mensch 
zugleicb als Sacbwalter der stummen Natur Klage fiibrt iiber die 
Schopfung und das Ausbleiben des verbeifinen Messias. Der Gerichts- 
bof aber beschliefit, Zeugen fur das Zukunftige zu hbren. Es erscheint 
der Dicbter t der es fublt, der Bildner, der es siebt, der Musiker, der es 
bort und der Pbilosopb, der es weifl. Ibre Zeugnisse stimmen daber 
nicht uberein, wiewobl sie alle fur sein Kommen zeugen. Der Gericbts- 
bof wagt seine Unscblussigkeit nicht einzugesteben. Daher nebmen die 
neuen Klagen kein Ende, ebensowenig die neuen Zeugen. Es gibt die 
Folter und das Martyrium. Die Geschworenenbdnke sind besetzt von 
den Lebenden, die den Mensch- Anklager wie die Zeugen mit gleichem 
Mifitrauen boren. Die Gescbworenenplatze erben sich bei ibren Sob- 



1 1 54 Anmerkungen zu Seite 409—438 

nen fort. Endlich erwacht eine Angst in ihnen, sie konnten von ihren 
Bdnken vertrieben werden. Zuletzt fliichten alle Geschwornen, nur 
der Kldger und die Zeugen bleiben. 

Diese kurze Aufzeichnung, deren Kontrast zu den viel spateren Auf- 
zeidinungen zur Theorie der Gesdiichte ebenso unverkennbar ist wie 
ihr messianischer Zusammenhang, stellt« - so erklart Scholem - »das 
erste Zeugms der Wirkung von Kafkas >Prozeft< [Berlin 1925] auf 
Benjamin dar. Er hatte die verschiedenen Nachschriften des erwahnten 
Brief es mit dem lapidaren Satz beendet: Als Krankenengel habe 
ido an meinem Lager Kafka. Ich lese den >Proze$<. Das Mysterium, 
das den Kafkaschen >Prozefi< auf einer andernEbenewieder aufnimmt, 
schrieb er aber nicht auf der Briefseite nieder, die reichlich Platz dafur 
gehabt hatte, sondern legte es gesondert bei. Damit begannen seine 
Meditationen iiber Kafka, die als Vorstufe zu einem Essay uber den 
>Prozefi< dienen sollten. Dafi diese Arbeit mir gewidmet werden sollte, 
war nicht verwunderlich. Ging es ihm doch damals noch ausdriicklich 
um theologische Kategprien, in denen die >Sinnesschichten der Theo- 
logie< von den >Erlebnisschichten des Traumes< auseinandergehal- 
ten werden sollten. Er kannte damals schon eine Mitte 1928 von mir 
erschienene Notiz Uber die Schriften Agnons, in der davon die Rede 
war, dafi bei Agnon die Revision des Kafkaschen Prozesses verhan- 
delt werde. Er wollte in seiner Arbeit einen Vergleich Kafkas mit 
Agnon ausfiihren und dabei auf seine eigene Weise die Kategorie des 
Aufschubs entwickeln, die ich in einem 1919 verfafken Manuskript 
>Dber das Buch Jona und den Begriff der Gerechtigkeit< als fiir das 
Judentum konstitutiv bezeichnet hatte, was ihm sehr einleuchtete. 
So Hefen in diesen Jahren seit 1927 unsere Gedanken mindestens uber 
einen zentralen Gegenstand auf einen gemeinsamen Konvergenzpunkt 
zu.« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, 
a. a. O., 180 f.) Der Essay uber den »Prozefi« kam nicht zustande; ein 
nicht geringer Teil der Aufzeichnungen zu dem Roman dtirfte unter 
den zahlreichen Paralipomena sich finden, die Benjamin zu Kafka ins- 
gesamt schrieb (s. 1 190-1264). Etwa ein halbes Jahr spater ist die Rede 
von ein[em] projektierte[nJ Buch uber Kafka, Proust etc, auf wel- 
ches mir Rowohlt eine sdonelle Anzahlung /. . ./ gegeben hat und das 
ich auf die Passagenarbeit verrechnen zu konnen [hoffej. (Briefe, 473) 
Mbglicherweise hat es den projektierten Essay iiber den »Prozefi« ent- 
halten sollen. Benjamin fuhr in dem zitierten Brief fort, daft er, auf 
seine Weise, auf Max Brod gestofien sei. Dafi Dein [scil. Scbolems] 
erster Kafkaband Dir solchen Segen gebracbt hat, ist um so viel er- 
baulicher als ich - ein deutscher Schriftsteller - mir Band fur Band im 
Buchhandel habe kaufen mussen, daher auch »das Schlojl* und »Ame- 



Anmerkungen zu Seite 409—438 n 55 

rika« [Miinchen i$2j] immer noch nicht besitze - ganz zu schweigen 
von der seltnen, ver griff enen »Betxachtung< [Leipzig 1913]. Sie ist 
von Kafkas alteren Sachen die einzige, die mix feblt. (Briefe, 473 f.) 
Max Brod hat er in der »Literarischen Welt« vom 25. 10. 1929 ver- 
teidigt (in derPolemik Kavaliersmoral, s.Bd. 4, 466-468), als Brod von 
Ehm Welk wegen Nichtbeachtung gewisser Kafkascher Testament- 
vorschriften angegriffen wurde (Briefe, 607). Wohl im Juni 1931 be- 
richtete er Scholem: Zur Zeit vexsuche ich mich an einer Anzeige des 
Kafkaschen Nachlafibandes [scil. Beim Bau der Chinesiscben Mauer. 
Ungedruckte Erzahlungen und Prosa aus dem Nacblafi, Berlin 1931] 
die ungemein schwierig ist. Es handelte sich 11m den Rundfunkvor- 
trag, den Benjamin am 3. 7. 193 1 hielt und der in der Abteilung »Vor- 
trage und Reden« dieses Bandes abgedruckt ist (s. 676-683). Ich habe, 
setzte er fort, fast sein ganzes Werk letzthin - teils zum zweiten, 
teils zum ersten Male - gelesen. Da beneide ich Dich am Deine jem- 
salemitischen Zauberer; das ware ein Punkt uber den sie zu befragen 
mir lohnend scheint. Vielleicht winkst Du mix mit einer Andeutung 
heruber. Auch wirst Du Dix ja schon gelegentlich Separatgedanken 
uber Kafka gemacht haben. (Briefe, 535) Soholem zufolge soil der 
Vortrag »aus den langeren Erwagungen« hervorgegangen sein, die 
Benjamin »damais unter Ruckgriff auf seine Badiofenstudien [dazu 
s. 964, 1 192 fl.] anstellte. Wahrend er hier audi auf die Kategorien der 
Aggada und Halacha rekurrierte [s. 679], auf die audi idi mich teil- 
weise bezogen hatte, war er in Gesprachen, die er Anfang Juni [1931] 
in Le Levandou mit Brecht hatte, von dessen iiberaus positiver Stellung 
zu Kafkas Werk iiberrasdit [Briefe, 539]. Brecht freilich sah, wie 
Benjamin am 6. Juni 193 1 aus einem Gesprach notierte, in Kafka 
>den einzig wahrhaften bolschewistischen Schriftsteller< [s. (Para- 
lipomena), 1204]. Zwischen solchen Polen vollzog sich damals, bevor 
die existentiaKstischen und psychoanalytischen Kafkadeutungen sich 
breitmachten, denen wir beide keinen Geschmack abzugewinnen ver- 
mochten, die Diskussion uber Kafka, soweit sie in seinen Gesichts- 
kreis trat.« (Scholem, a. a. O,, 218) Scholem hatte auf Benjamins Bitte, 
mit einer Andeutung [. . .] uber Kafka [. . .] heriiber zu winken, am 
1. 8. 193 1 geantwortet: »[...] deine Anzeige iiber Kafka [scil. den 
Vortrag, der zu diesem Zeitpunkt langst gehalten war]« »solltest du 
[. . ,] so abfassen, dafi sie in dem [geplanten Essay-] Buch Platz fin- 
det, denn es ist eigentlich moralisch undenkbar, dafi du ein Buch kri- 
tischen Inhalts herausgibst, das Kafka nicht in seinen Umkreis 
schliefit. Da du von mir eine >Andeutung< zur Sache verlangst, kann 
ich nur sagen, dafi ich den Nachlafiband noch nicht besitze, und nur 
zwei Stiicke von hochster Vollkommenheit daraus kenne. Aber >Sepa- 
ratgedanken< iiber Kafka habe ich mir selbstverstandlich audi schon 



1 156 Anmerkungen zu Seite 409—438 

gemacht, die aber freilidi nicht Kafkas Stellung in dem Kontinuum 
des deutschen (in dem er keinerlei Stellung hat, woriiber e r s e 1 b s t 
sich iibrigens nicht im mindesten zweifelhaft war; er war wie du 
wohl weifit Zionist), sondern des judischen Sdirifttums betreffen. Ich 
wiirde audi dir raten, jede Untersuchung iiber Kafka vom Buche Hiob 
aus zu beginnen oder zum mindesten von einer Erorterung iiber die 
Moglichkeit des Gottesurteils, welches ich als den einzigen Gegenstand 
der Kafkaschen Produktion ansehe, in einer Dichtung zu behan- 
deln[!]. Dies namlich sind meiner Meinung nach auch die Punkte, 
von denen aus die Sprachwelt Kafkas beschrieben werden kann, die 
ja wohl in ihrer Affinitat an die Sprache des jiingsten Gerichtes das 
Prosaische in seiner kanonischsten Form darstellt. Die Gedanken, die 
ich vor vielen Jahren in meinen Thesen iiber Gerechtigkeit die du 
kennst ausgesprochen habe, wttrden sich in ihrer Beziehung zur Spra- 
che mir als der Leitfaden meiner Betrachtungen iiber Kafka ergeben. 
Wie du als Kritiker es anstellen wolltest, ohne die Lehre, bei Kafka 
Gesetz genannt, ins Zentrum zu stellen, etwas iiber die Welt dieses 
Mannes zu sagen, ware mir ein Ratsel. So m u & ja wohl, wenn 
sie moglich ware (das freilich ist die Hypothesis 
der Vermessenheit!!), die moralische Reflexion eines Hala- 
chisten aussehen, der die sprachliche Paraphrase eines Gottes- 
urteils versuchen wollte. Hier ist einmal die Welt zur Sprache ge- 
bracht, in der Erlosung nicht vorweggenommen werden kann - geh 
hin und mache das den Gojim klar! Ich glaube, an diesem Punkt wird 
deine Kritik ebenso esoterisch werden wie ihr Gegenstand: so gna- 
denlos wie hier brannte nodi nie das Licht der Offenbarung. Das ist 
das theologische Geheimnis der vollkommenen Prosa. Jener uberwal- 
tigende Satz, dafi es sich beim jiingsten Gericht eher um ein Stand- 
recht handle, stammt ja, wenn ich nicht irre, von Kafka selbst.« 
(Scholem, a. a. O., 212 f.) Im Postskript eines von den Brief-Heraus- 
gebern »3. 10. 1931* datierten Brief es antwortete Benjamin: Es geht 
mir eirij was Du von Kafka scbreibst. Eng mit Deinen korrespondie- 
rende Gedanken sind mir in den Wochen, in denen ich der Sache 
naher trat, eben falls gekommen. Eine provisorische Zusammenfassung 
habe ich ihnen in einer kurzen Notiz zu geben gesucht, dann aber die 
Sache, weil ihr meine Krafle im Augenblick nicht entsprechen, bei- 
seite gelegt [moglicherweise handelt es sich um das Paralipomenon 
Ms 212; s. 1 1 92]. Inzwischen bin ich mir klar dariiber geworden, dafi 
ich den entscheidenden Anstofi vermutlich von dem ersten und schlech- 
ten Buch iiber Kafka, das ein gewisser Johannes [Joachim] Schoeps 
aus dem Kreise Brods vorbereiten soil [es ist nicht erschienen; erst 1936 
publizierte Schoeps einen Aufsatz iiber Kafka], erhalten werde. Ein 
Buch wiirde mir gewifi meine Klarstellungen erleichtern; je schlechter 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1 1 57 

es ist, desto bessex. Obexxascht hat mich in einigen Gespxachen, die in 
besagte Wochen fallen, Brecbts Ubexaus positive Stellung zu Kafkas 
Wexk. Ex schien den Nachlafiband sogar zu vexschlingen, wahrend 
Einzelnes aus ihm mix bis heute Widerstand geleistet hat, so grofi war 
mix die physische Qual beim Lesen. (Brief e, 539) War hier noch an die 
Arbeit gedacht, die in dem geplanten - nicht zustandegekommenen - 
Essaybuch stehen sollte, so erwuchs aus dem Vorhaben ab 1933 die 
grofie Arbeit zum zehnten Todestag Kafkas. 



Der Essay von 1934 

Ende Februar 1933 schrieb Benjamin Sdiolem aus Berlin: Ohne die 
Axbeit von Schoeps zu kennen, glaube ich doch den Hoxizont Deinex 
Betxachtungen etwa absehen zu konnen und kann aus tiefstex Obex- 
zeugung bestdtigen, daji nichts notwendigex ist als den gxafilichen 
Schrittmachern pxotestantischex theologumena innerhalb des Juden- 
tums den Garaus zu machen. Abex das heifit noch wenig vexglichen 
mit den Bestimmungen der Offenbaxung, die da bei Dix gegeben und 
bei mix in hohen Ehxen wexden gehalten wexden. »Ist doch das Abso- 
lut-Konkxete das Unvollziehbare schlecbthin* - diese Worte sagen 
(von der theologischen Perspektive abgesehen) iiber Kafka natiixlich 
mehx als diesex Schoeps bis an das Ende seinex Tage zu vexstehen im- 
stande sein wixd. Genau so wenig kann das Max Bxod vexstehen und 
ich habe hiex einen dex Satze gefunden, die am fxuhesten und tiefsten 
in Deinen Vbexlegungen angelegt gewesen sein mogen. /. . ./ Also 
mein Kafkaaufsatz ist noch ungeschxieben und zwax aus zwei Gxiin- 
den, Exstens lag - und liegt - mix duxchaus daxan, ehe ich an diese 
Axbeit gehe, den angekundigten Versuch von Schoeps zu lesen, Ich 
vexspxeche mix von ihm eine Kodifikation aller Ixrmeinungen, die aus 
der eigentlich pxagex Intexpxetation von Kafka zu entnehmen sind 
und Du weiftt, dajj solche Biicher von jehex inspixiexend auf mich ge- 
wixkt haben, Abex auch aus dem zweiten Gxunde ist das Exschei- 
nen dieses Buches mix nicht unwichtig. Denn es vexsteht sich von selbst, 
daji ich die Arbeit an einem solchen Essay nur auf Gxund eines Auf- 
txages wiirde untexnehmen konnen. Und wohex sollte dex aus heite- 
xem Himmel kommen. Es sei denn, Du vexschaffst mix einen palasti- 
nensischen. In Deutschland wixd sich so etwas noch am ehesten in 
dex Gestalt einex Rezension von Schoeps hexvoxbringen lassen. Nux 
weifl ich nicht, ob mit dem Erscheinen des Buches zu rechnen ist. (Brie- 
fe> 563-565) Und zwei Monate spater schrieb er aus Ibiza: Vberaus 
wertvoll wax mix, wie ich Dix vielleicht schon gesagt habe, Deine 
Mitteilung ubex Schoeps [. . J Nun exwaxte ich dessen Buch ubex Kaf- 
ka untex diesen Umstanden mit vexdoppeltex Ungeduld. Denn was 



1 158 Anmerkungen zu Seite 409— 438 

s'dhe dem Engel, der den vernichteten Teil von Kafkas Werken betreut, 
dhnlicher, als ihren Schlussel unter einem Misthaufen zu versteckenf 
Ob man sich dhnliche Aufkldrungen von dem neuesten Essay iiber 
Kafka [»A propos de Kafka*] versprechen darf, weifl ich nicht, 
Er steht im Aprilheft der Nouvelle Revue Franqaise und stammt von 
Bernhard Groethuysen. Nach Kenntnisnahme dutch mich konntest 
Du ihn auf Wunsch als Austauschgabe gegen andere Lektiire erhalten. 
(Brief e, 571 f.) Das Warten auf Schoeps' Buch erwies sich als ver- 
geblidi. Anfang 1934 heifit es: Kafkas Name veranlafit mich, Dir 
[scil. Scholem] zu schreiben, daft ich hier [in Paris] einen Umgang 
mit Werner Kraft aufgenommen habe. Er sab mich auf der Biblio- 
theque Nationale und wandte sicb daraufhin schriftlich an mich. Ich 
war uberrascht, von ihm einige Arbeiten zu lesen, denen ich weder 
Zustimmung noch Respekt versagen kann. Zwei von ihnen sind Kom- 
mentar-Versuche zu kurzen Kafkaschen Stucken, zuruckhaltende und 
keineswegs einsichtslose [dazu s. 418 und 437]. Kein Zweifel, daft 
er sehr viel mehr als Max Brod von der Sache verstanden hat. (Briefe, 
598) Noch ehe es zur Vergabe eines Auftrags durch die Berliner »Judi- 
sche Rundschau « kam, plante Benjamin einen weiteren Vortrag iiber 
Kafka. Am 3. 3. 1934 berichtete er Gretel Adorno: man [will] mir 
einen - ganz kleinen - Kunstsalon fur einige Vortrdge zur Verfu- 
gung stellen [. . .J Ich wurde dort, vor einem franzosischen Publikum 
und in franzosiscber Sprache, einen Zyklus von Vortragen aus mei- 
nem Arbeitskreis halten: so iiber Kafka, Ernst Bloch und einige andere 
im Rahmen einer geschlossenen Reihe sprechen. Natiirlich steht es 
noch dahin t ob die Sache zustandekommt. Ich kann nur sagen, dajl ich 
es sehr hoffe und alle Verbindungen y die ich hier habe, da fur zu mo- 
bilisieren suche. (Briefe, 600) Zwei Tage spater schrieb er Brecht: Ich 
kiindige in den mir zuganglichen und einigen andern franzosischen 
Kreisen eine Vortragsfolge »Uavantgarde allemande* an. Ein Zyk- 
lus von funf Vortragen - die Karten mussen fur die ganze Folge 
subscribiert werden. Aus den verschiedenen Arbeitsgebieten greife 
ich nur je eine Figur heraus, in der sich die gegenwdrtige Situation 
mafigebend ausprdgt. [Absatz] 1) le roman (Kafka) [Absatz] 2) 
l* essay (Bloch) [Absatz] 3) theatre (Brecht) [Absatz] 4) journa- 
lisme (Kraus) [Absatz] Vorangeht ein einleitender Vortrag »Le public 
allemand*. (Briefe, 602) Die Veranstaltung kam nicht zustande, 
keiner dieser Vortrage ist geschrieben worden. Ober jene Pariser 
Monate schreibt Scholem: »Dafi er gerade in dieser Zeit neben den 
Arbeiten fur das Institut [fur Sozialforschung] zu seinen Meditatio- 
nen iiber Kafka, die dazu ja durchaus quer lagen [sic], zuriickkehrte, 
beweist, wie zentral diese Uberlegungen ihm waren. So sehr seine Ge- 
danken, wie er sich ausdruckte, in ein neues Koordinatensystem einzu- 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1 1 59 

tragen waren, blieb ihm noch immer wesentlich an Gedankengangen 
gelegen, in dem dies System keinerlei Bedeutung haben konnte. Nir- 
gends zeigte sich dies deutlicher als an seinen Gedanken zur Sprach- 
philosophie im weitesten Sinn und jenen Erwagungen iiber Kafka, in 
denen sein Janusgesicht, wie er es gern nannte, scharfe Konturen an- 
nahm. Die eine Seite bot sich Brecht dar, die andere mir, und er 
machte mir gegemiber audi gar kein Hehl daraus.« (Scholem, a. a. O., 
245 f,) So in dem Brief vom 6. y. 1934, der zugleich mit derlei 
Dichotomien deren Abstraktheit beim Namen nennt: Du zwingst 
micb, es auszusprechen, daft [. . .] Alternativen, die offenkundig Dei- 
ner Besorgnis zu Grunde liegen, fur mich nicht einen Schatten von 
Lebenskrafl besitzen. /. . ./ Wenn vielmehr etwas die Bedeutung 
kennzeichnety die das Werk von Brecht /. . ./ fur mich besitzt, so 
ist es eben dies: daft es nicht eine jener Alternativen aufstellt, die 
mich nicht kiimmern. Und wenn die nicht geringere Bedeutung des 
Werks von Kafka fur mich feststeht, so ist es nicht zum wenigsten, 
weil nicht eine der Positionen, die der Kommunismus mit Recht 
bekampfiy von ihm eingenommen wird. [. . ./ Und hier liegt nun der 
Ubergang zu jenen Erwagungen Deines Briefes nahe, fur die ich Dir 
vielen Dank sage, Wie viel mir an einem Auftrag, Kafka zu behan- 
deln, gelegen ware } brauche ich nicht zu sagen. Muftte ich seine Posi- 
tion im Judentum explizit bebandeln, so waren mir dafiir Fingerzeige 
von anderer Seite freilich unentbehrlich. Ich kann meine Unwissen- 
heit da nicht zu Improvisationen ermutigen. Bisher hat [Robert] 
Weltsch [Chefredakteur der »Jiidisdien Rundschau«, bei dem Scho- 
lem - erfolgreich - interveniert hatte; s. Scholem, a. a. O., 250] frei- 
lich noch nichts von sich horen lassen, [AbsatzJ Daft Deine Be- 
muhung bei [Salman] Schocken vergeblich war t das beklage ich fur 
uns beide, ohne es uberraschend zu finden. (Brief e, 605 f.) Die Einla- 
dung Weltschs war aber schon unterwegs: mit bestem Dank und post- 
wendend bestatigte Benjamin am 9. 5. 1934 das Schreiben, das ich, auf 
dem Umweg iiber meine alte Adresse, erst gestern erhielt. [Ab- 
satz] Pur Jbre Aufforderung bin ich Ihnen sehr dankbar, insbesondere 
aber verpflichtet fur die Anregung, mich iiber Kafka zu auftern. Ich 
kann mir ein erwiinschteresThema nicht vorstellen; allerdings verkenne 
ich auch nicht die besonderen Schwierigkeiten, die in diesem Falle zu 
beriicksichtigen sind. Ich halte es fur loyal und zweckmaftig t auf diese 
kurz hinzuweisen. [Absatz] Die erste und gewichtigste ist sachlicher 
Natur. Als Max Brod vor Jahren von Ehm Welk wegen Nichtbeach- 
tung gewisser Kafka'scber Testamentvorschriflen angegriffen wurde, 
habe ich Max Brod in der » Liter arischen Welu verteidigt* [s. o.] 
Das bindert mich aber nicht, zu der Frage der Interpretation 
Kafkas ganz anders zu stehen als Max Brod. Insbesondere vermag ich 



1160 Anmerkungen zu Seite 409—438 

methodlsch mir in keiner Weise die gradlinige theologische Auslegung 
Kafkas (die, wie id) wohl wei$, nahe genug liegt) mir zueigen zu 
machen. Gewifi denke id) nicht im entferntesten daran, den von 
Ihnen vorgeschlagenen Artikel mit polemischen Ausfiihrungen zu be- 
lasten. Auf der anderen Seite aber glaube id), Sie darauf binweisen zu 
miissen, dafi mein Versuch, mid) Kafka zu nahern - ein Versuch, der 
nicht von heute und gestern ist - mid) Wege gefuhrt hat, die von 
seiner gewissermaften »offiziellen« Reception verschieden sind. [Ab- 
satzj Die zweite und die dritte Schwierigkeit betreffen technische 
Fragen. Es hdngt sehr viel vom Redaktionsschlufi ab. Id) wiirde Sie 
bitten - fiir den Fall, daft Sie in den vorstehenden Ausfiihrungen kein 
Hindernis finden, mich mit der Arbeit zu betrauen, mir den Abliefe- 
rungstermin soweit wie irgend moglich hinauszurucken. Ein Aufsatz 
wie dieser stoflt fiir mich, der id) leider meine BibUothek hier nicht 
zur Verfugung habe, auf nicht geringe bibliographische Schwierig- 
keiten. Die Frage wiirde sich allerdings aufierordentlicb vereinfachen, 
wenn Sie, sehr geehrter Herr Weltsch, es fiir moglich hielten, mir ge- 
wisse hier kaum aufzutreibende Werke - Prozefi, Landarzt, Ver- 
wandlung, Amerika - durch die Redaktion der »]iidischen Rund- 
schau^ auf kurze Zeit leihweise zur Verfugung zu stellen. [AbsatzJ 
Mitglied der Reichsschrifitumskammer bin id) nicht. Ebensowenig bin 
id) aus den betreffenden Listen gestrichen worden: Id) bin namlich 
iiberhaupt niemals Mitglied irgendeiner Schrifistellerverelnlgung ge- 
wesen. (Briefe, 607 f.) Der Auftrag, so erwunscht er war, stone Ben- 
jamins Reisedispositionen: es ist folgender glucklicke oder betrubliche 
Umstand - wie man es nehmen will - eingetroffen: [AbsatzJ Ich habe 
den Auftrag bekommen, aus Anlafi des zehnten Todestages von Kafka 
eine Arbeit uber ihn zu machen. Die beschdfligt mich aufierordentlich 
und wird ziemlich lang. Sie verzogert mein Kommen etwas. Soviet 
steht jetzt fest: ich nehme entweder das Schijf vom 12. oder, spatestens, 
das vom 19. Juni [scil. nach Svendborg, wo er den ersten Sommer bei 
Brecht verbrachte]. (2. 6. 1934, an Margarete Steffin) Nimmt man 
zwei weitere Briefdaten hinzu, lafit sich die Entstehungszeit der ersten 
(verlorenen Manuskript-)Fassung des Essays annahernd genau be- 
stimmen. An Karl Thieme schrieb Benjamin unterm 3. 6. : Id) stehe 
vor dem Abschlufi einer Arbeit uber Kafka (3. 6. 1934, an Karl 
Thieme), und am 9. 7. - bereits aus Svendborg - ist die Rede davon, 
dafi meine [. . J Oberlegungen zu [Kafka] Scholem nun vorliegen 
(Briefe, 610), daft also das Manuskript inzwischen - vermutlich noch 
kurz vor der Abreise nach Danemark - von ihm nach Palastina ge- 
schickt worden war. Den Auftrag hatte Benjamin am 8. j. erhalten, 
als spatesten Abreisetermin den 19. 6. angegeben; demnach diirfte die 
Niederschrift in den sechs Wochen dazwischen zu Papier gebracht 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1161 

worden sein. Bei dieser Rechnung ist im Auge zu behalten, dafi der 
Text der umfangreichen Arbeit nicht in allem binnen dieser kurzen 
Frist von Grund auf zu erstellen war; jahrelange Vorarbeiten waren 
vorangegangen, eine ganze Fiille von Aufzeichnungen, Exzerpten 
und ausformulierten Annotationen dazu lag vor und brauchte in 
vieien Fallen nur noch montiert zu werden, wie das hinterlassene 
Material der Beschaftigung Benjamins mit dem Werk Kafkas bezeugt 
(s. 1221-1245). - Die Stelle aus dem Brief an Sdiolem vom 9. 7. stent 
in folgendem Zusammenhang: Du wirst meine Ansicht teilen: es ware 
unklug, die Aussichten einer - wenn auch vielleicht noch entfernten 
mundlichen Ausspracbe durch unzulangliche Versuche schriftlicher 
Auseinandersetzung zu vermindern. [AbsatzJ Es stehen uns neben 
dem unmittelbaren so vtele mittelbare Wege zur Verfugung. Und so 
scheue ich mich - einen dieser Wege beschreitend - nicht Dir die 
Bitte, einiges uber Deine Reflexionen zu Kafka mir mitzuteilen, zu 
wiederholen. Sie ist umso fundierter, als meine eigenen Oberlegungen 
zh diesem Gegenstande Dir ja nun vorliegen. Wenn sie in ihren 
Hauptziigen auch dargelegt sind, so haben sie y seit meiner Ankunfl in 
Danemarky mich weiter beschafligt und wenn ich mich nicht irre wird 
die Arbeit an ihnen mir noch fur eine Weile aktuell bleiben. Mittel- 
bar ist diese Arbeit durch Dich veranlaftt; ich sehe keinen Gegenstand 
in dem unsere Kommunikation ndherliegend ware. Und mir scheint 
nicht, da/! Du meine Bitte abschlagen kannst. (Brief e, 610) Dieser 
Bitte war insoweit schon entsprochen, als Sdiolem um die gleiche 
Zeit, da sie von Benjamin wiederholt wurde, seinen Beitrag zur Aus- 
einandersetzung in Gestalt eines Lehrgedichts auf den Weg geschickt 
hatte. 

»Mit einem Exemplar von Kafkas >Prozefi< 

Sind wir ganz von dir gesdiieden? So allein strahlt Offenbarung 

Ist uns, Gott, in soldier Nacht in die Zeit, die dich verwarf. 

nicht ein Hauch von deinem Fneden, Nur dein Nichts ist die Erfahrung, 

deiner Botschaft zugedacht? die sie von dir haben darf. 

Kann dein Wort denn so verklungen So allein tritt ins Gedachtnis 

in der Leere Zions sein - Lehre, die den Schem durchbridit: 

oder gar nicht eingedrungen das gewisseste Vermachtnis 

in dies Zauberreich aus Schein? vom verborgenen Gericht. 

Schier vollendet bis zum Dache Haargenau auf Hiobs Wage 

ist der grofie Weltbetrug. ward gemessen unser Stand, 

Gib denn, Gott, daft der erwache, trostlos wie am jiingsten Tage 

den dein Nichts durchschlug. sind wir durch und durch erkannt. 



n6z 



Anmerkungen zu Seite 409—438 



In unendlichen Instanzen 
reflektiert sich, was wir sind. 
Niemand kennt den Weg im ganzen, 
Jedes Stuck schon madit uns blind. 

Keinem kann Erlosung frommen, 
dieser Stern steht viel zu hoch, 
warst du audi dort angekommen, 
stiindst du selbst im Weg dir noch. 

Preisgegeben an Gewalten, 
die Beschworung nicht mehr zwingt, 
kann kein Leben sich entfalten, 
das nicht in sich selbst versinkt. 

Aus dem Zentrum der Vernichtung 
bricht zu Zeiten wohl ein Strahl, 
aber keiner weist die Richtung, 
die uns das Gesetz befahl. 



Seit dies trauervolle Wissen 
unantastbar vor uns steht, 
ist ein Schleier jah zerrissen, 
Gott, vor deiner Majestat. 

Dein Prozefl begann auf Erden; 
endet er vor deinem Thron? 
Du kannst nicht verteidigt werden, 
hier gilt keine Illusion. 

Wer ist hier der Angeklagte? 
Du oder die Kreatur? 
Wenn dich einer drum befragte, 
Du versankst in Schweigen nur. 

Kann solch Frage sich erheben? 
Ist die Anrwort unbestimmt? 
Ach, wir miissen dennoch leben, 
bis uns dein Gericht vernimmt.* 



Das Gedicht findet sich abgedruckt in: Briefe, 611 f. Benjamin hatte 
es am 19. 7. 1934 empfangen. Tags darauf antwortete er: Gestern 
kam nun die lange erwartete Bestatigttng meines »Kafka« von Dir. 
Sie war mix vor allem durcb das sie begleitende Gedicht hochst wert- 
voll, Seit Jahren babe id) die Grenzert, die uns zur Zeit durcb die aufs 
Scbriflliche bescbrankte Kommunikation auferlegt sind y nicht mit so 
groflem Ungeniigen empfunden wie hier. Icb bin sicher y dafi Du die- 
ses Ungeniigen verstehst und nicht annimmst, icb konnte Dir unter 
Verzicht auf die mannicbfachen Experimente der F ormulierung 7 die 
nur das Gespracb ermoglicht y etwas Entscheidendes uber das Gedicht 
sagen. Verhdltnismajlig einfacb liegt nur die Frage nacb der »theolo~ 
giscben Interpretation*. Icb erkenne nicht nur an diesem Gedicht die 
tbeologische Moglicbkeit als solcbe unumwunden an sondern be- 
haupte, dafi auch meine Arbeit ibre breite - freilicb bescbattete - 
tbeologische Seite bat. Gewandt babe icb micb gegen den unertrdg- 
lichen Gestus des tbeologiscben professional, der - wie Du nicht be- 
streiten wirst - die bisberige Kafka-Interpretation auf der ganzen 
Linie beherrscbt und uns seine suffisantesten Manifestationen nocb 
zugedacbt bat. [Absatz] Um meine Stellung zu Deinem Gedicht - 
das spracblich dem von mir so hoch gestellten auf den Angelus Novus 
[s. Briefe, 269] nicbts nachgibt - wenigstens nocb etwas eingebender 
anzudeuten, will icb Dir nur die Strophen nennen, die icb mir obne 
Vorbebalt zueigen macbe. Das sind 7 bis 1$. Vorher einige. Die letzte 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1 163 

wlrfl das Problem auf, wie man im Sinne Kafkas die Projektion des 
jungsten Gericbts in den Wehlauf sich zu denken babe. Macbt diese 
Projektion aus dem Richter den Angeklagten? aus dem Verfabren 
die Strafe? ist es der Hebung oder dem Verscbarren des Gesetzes 
gewidmetf Auf diese Fragen bat Kafka, so meine ich, keine Antwort 
gebabt. Die Form aber, in der sie sicb ihm stellten und die id) durch 
meine Ausfubrungen uber die Rolle des Szeniscben und Gestiscben in 
seinen Biichern zu bestimmen sucbte, entbdlt Hinweise auf einen Welt- 
zustand, in dem diese Fragen keine Stellen mebr haben, well ibre 
Antworten, weit entfernt, Besdieid auf sie zu geben, sie wegbeben. 
Die Struktur dieser, die Frage weghebenden Antwort ist es, die Kaf- 
ka gesucht und mancbmal sie im Fluge oder im Traum erhascbt hat. 
Jedenfalls kann man nicbt sagen, er bat sie gefunden. Und darum 
scheint mir die Einsicbt in seine Produktion unter anderem an die 
scblicbte Erkenntnis gebunden, daft er gescbeitert ist. »Niemand kennt 
den Weg im Ganzen, jedes Stuck scbon macbt uns blind. « Wenn Du 
aber scbreibst: »Nur dein Nicbts ist die Erfabrung, die sie von dir 
haben darf«, so darf ich meinen Inter pretationsver such gerade an 
dieser S telle mit den W or ten anschliefien: ich babe versucbt zu zeigen, 
wie Kafka auf der Kebr seite dieses »Nichts«, in seinem F utter y wenn 
ich so sagen darf, die Erlosung zu ertasten gesucht bat. Dazu gebort, 
dafl jede Art von Uberwindung dieses Nicbts wie die theologtschen 
Ausleger um Brod sie verstehen, ihm ein Grauel gewesen ware. [Ab- 
satz] Ich glaube, Dir gescbrieben zu haben, daft diese Arbeit nocb 
eine Weile mir aktuell zu bleiben verspricbt; darin bestebt denn aucb 
der Hauptgrund meiner Bitte um Rucksendung meines Manuscripts. 
Das in Deinen Hdnden befindliche ist schon jetzt an wicbtigen Stellen 
uberbolt; denn, wie ich Dir bereits gescbrieben babe, hat mich die 
Arbeit bier weiter bescbafligt. Ich bin aber bereit, Dir ein Manuscript 
der endgultigen Fassung fur das Archiv zuzusagen. [. . ./ Dies fur 
heute. Denn die Herkunfl der Geschicbte aus dem »Kafka« [s. u., 
Nacbweis zu 410,7] bleibt mein Gebeimnis, das zu liiften Dir nur 
bet personlicher Anwesenheit gelingen wurde, wo ich Dir dann aller- 
dings nocb eine Anzabl gleich schoner versprechen konnte. (Briefe, 
613-615) Bei der Fassung, von der Benjamin spricht und durch die 
das Manuscript [. . .] schon jetzt [. . .] Uberbolt ware, diirfte es sich 
um das - erhaltene und spater nodi einmal revidierte (s. u.) - 
Typoskript T 1 (s, »Uberlieferung«) handeln. Von der Weiterarbeit 
an dem Essay ist audi in einem - nadi Anfang August 1934 gesdirie- 
benen - Brief an Werner Kraft die Rede: Es wird Sie nicht uber- 
raschen zu horen, dafi ich - unbeschadet einer anderen Hauptbe- 
schdfligung - nocb immer mit Kafka befafit bin. Den aufleren Anlafi 
dazu bietet die Korrespondenz mit Scholem, der begonnen bat, 



1 1 64 Anmerkungen zu Seite 409—438 

sich mit mir uber diese Arbeit auseinanderzusetzen. Diese Oberle- 
gungen sind allerdings noch zu sehr im Flufi, urn ein abschlieflendes 
Urteil zu ermoglichen. Immerhin wird es Sie interessieren, dafi er 
seine Ansicbt der Sache in einer Art von theologischem Lehrgedicht 
niedergelegt hat, das ich Ihnen bestimmt mitteilen werde, falls wir 
uns in Paris wiedersehen. Auf eine - wie Sie sich denken konnen - 
sehr unterschiedene Weise habe ich uber den gleichen Gegenstand mich 
mit Brecht beraten konnen [s. Gesprdche mit Brecht. Svendborger 
Notizen, in: Walter Benjamin, Versuche uber Brecht, hg. und mit 
einem Nachwort versehen von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 
1966, 119 f. y 121-125], un & aHC k von diesen Besprechungen weist 
mein Text Niederschldge auf. (Brief e^ 615 f.) Wahrend dieser Be- 
sprechungen hielt Brecht mit einem Urteil uber den Essay selbst 
wochenlang hinter dem Berge, Benjamin berichtet in seinen Svend- 
borger Aufzeichnungen unterm 5. August: Vor drei Wochen hatte 
ich B. meinen Aufsatz Uber Kafka gegeben. Er hatte ihn wohl gelesen y 
war aber von sich aus nie darauf zu sprechen gekommen und hatte 
die beiden Male, da ich die Spracbe darauf gebracht hatte, auswei- 
chend geantwortet. Ich hatte das Manuskript schliefllich stillschwei- 
gend wieder an mich genommen. Gestern abend kam er plotzlich auf 
diesen Aufsatz zuruck. Den, etwas unvermittelten und halsbrecheri- 
schen Uber gang bildete eine Bemerkung, auch ich sei nicht ganz frei- 
zusprechen vom Vorwurf einer tagebuchartigen Schriftstellerei im 
Stil Nietzsches. Mein Kafkaaufsatz zum Beispiel - er beschaftige sich 
mit Kafka lediglich von der phanomenalen Seite - nehme das Werk 
als etwas fiir sich Gewachsenes - den Mann auch - lose es aus alien 
Zusammenk'dngen - ja sogar aus dem mit dem Verfasser. Es sei eben 
immer wieder die Frage nach dem W e s e n , auf die es bei mir 
herauskomme [. . .J »Mit der Tiefe kommt man nicht vorwdrts. Die 
Tiefe 1st eine Dimension fiir sich, eben Tiefe - worin dann gar nichts 
zum Vorschein kommt.* Ich erkldre B. abscblie fiend, in die Tiefe zu 
dringen, sei meine Art und Weise, mich zu den Antipoden zu begeben. 
In meiner Arbeit uber Kraus [s. 334-367] sei ich in der Tat dort 
her aus gekommen. Ich wisse, dajl die uber Kafka nicht im gleichen 
Grad gegluckt sei: den Vorwurf, so zu einer tagebuchartigen Aufzeich- 
nung gekommen zu sein, kbnnte ich nicht abwehren. In der Tat sei die 
Auseinandersetzung in dem Grenzraum, den Kraus und den auf 
andere Weise Kafka bezeichne, mir angelegen. Abschlie fend habe ich 
diesen Raum, im Falle Kafka, noch nicht erkundet. Dafl da viel 
Schutt und Abfall stecke, viel wirkliche Geheimniskrdmerei -das sei 
mir klar. Aber entscheidend sei doch wohl anderes und einiges davon 
habe meine Arbeit beruhrt [. . .] (Versuche liber Brecht, a. a. O., 
I2i f.; weitere Brechtsche Xufkrungen aus diesem wie aus den iibri- 



Anmerkungen zu Seite 409—438 116$ 

gen, Kafka gewidmeten Besprechungen hat Benjamin, teilweise in 
modifizierter Form, in dem Konvolut Zur >Kafka<-Revision [s. 
1252-1255] zusammengestellt; s. die Stiicke 24)-!^) und i'j-jx) ). 
Wieder Wochen spater war Brecht dann mit seinem eigentlichen Vorbe- 
halt herausgertickt: Vorgestern [i. e. am 29. August] eine lange und 
erregte Debatte uber meinen Kafka. Ihr Fundament: die Anschuldi- 
gung, daft er dem judischen Faschismus Vorschub leiste. Er vermehre 
und breite das Dunkel um diese Figur aus statt es zu zerteilen. Dem- 
gegenuber komme alles darauf an, Kafka zu lichten, das heifit, die 
praktikablen Vorschldge zu formulieren, welche sidy seinen Geschicb- 
ten entnebmen liejlen [. . .] (Vers ache iiber Brecht, a. a. O., 123). 
Leider hat Benjamin mit keinem Detail festgehalten, wie er in jener 
Debatte die - absurde - Brechtsche Anscbuldigung zuriickwies; hier 
mufi seine Arbeit fiir ihn selbst sprechen, und sie tut es. - Die Stel- 
lung des Scholemschen Lehrgedicbts zu ihr hatte er kurz zuvor, am 
11. August, in einem Brief an Scholem markiert; das Schreiben lau- 
tet: den Augenblick, da ich die - nun wohl endgultig letzte - Hand 
an den » Kafka* lege benutze ich um explizit auf einige Deiner Ein- 
wendungen zuruckzukommen, aucb Fragen, Deinen Standort betref- 
fend, anzuschliefien. [Absatz] Ich sage »expliziu - denn implizit ge- 
schieht dies in einigen Hinsichten dutch die neue Fassung. Ihre Verdn- 
derungen sind erheblich, das in Deinem Besitz befindliche Manuscript 
1st, wie schon gesagt, Uberholt. . Ich erwarte es tagiich. Das revidierte 
kann ich Dir aus technischen Grunden unmoglich schicken, ohne [dafl] 
das ursprunglicbe in meiner Hand ist. [Absatz] Einige dringende 
Bitten voraus: 1) wenn irgend moglich mit »Hagadah und Halacha* 
von [Chajim Nachman] Bialik [in: Der Jude, ]g. 4 (1919), 61- 
yj] baldigst zugdnglich zu machen; ich benbtige die Lekture. 2) den 
Brief an Schoeps, an den Du mich erinnerst [s. Brief e, $62 und $6 5 , 
Anm. i] y als Vnterlage der zurzeit zwischen uns anhdngigen Aus- 
sprache mir zu senden. [Absatz] Nun die paar Hauptpunkte: [Ab- 
satz] 1) Das Verhaltnis meiner Arbeit zu Deinem Gedicht mochte ich 
versuchsweise so fassen: Du gehst vom »Nichts der Offenbarung* aus 
(vrgl. unten y), von der heilsgeschichtlichen Perspektive des anbe- 
raumten Prozefiverfahrens. Ich gehe von der kleinen widersinnigen 
Hoffnung, sowie den Kreaturen denen einerseits diese Hoffnung gilt, 
in welchen andererseits dieser Widersinn sich spiegelt, aus. [Absatz] 
2) Wenn ich als stdrkste Reaktion Kafkas die Scham bezeichne, so 
widerspricht das meiner sonstigen Interpretation in keiner Weise. 
Vielmehr ist die Vorwelt - Kafkas geheime Gegenwart - der ge- 
schichtsphilosophische Index, der diese Reaktion aus dem Bereich der 
Privatverfassung heraushebt. Das Werk der Thora namlich ist - wenn 
wir uns an Kafkas Darstellung halten - vereitelt worden. [Absatz] 



u 66 Anmerkungen zu Seite 409-438 

j) Hiermit h'dngt die Frage der Schrifi zusammen. Ob sie den Schii- 
lern abhanden gekommen ist oder ob sie sie nicht entrdtseln konnen, 
kommt durum auf das gleicbe hinaus, well die Schrifi ohne den zu ihr 
gehorigen SchlUssel eben nicht Schrifi ist sondern Leben. Leben w'te e$ 
im Dorf am Schloftberg gefiihrt wird. In dem Versuch der Verwand- 
lung des Lebens in Schrifi sehe ich den Sinn der »Umkehr«, auf welche 
zahlreiche Gleichnisse Kafkas - von denen ich »das ndchste Dorf* 
und den »Kubelreiter* [s> 4jj /. und 436] herausgegriffen babe, hin- 
drdngen. Sancho Pansas Dasein ist musterhaft y weil es eigentlich im 
Nachlesen des eignen wenn aucb narrischen und donquichotesken be- 
stebt. [AbsatzJ 4) Daft die Schuler - »denen die Schrifi abhanden 
gekommen isU - nicht der hetdrischen Welt angehoren, ist von mir 
anfangs betont worden, indem ich sie gleich den Gehilfen zu denjeni- 
gen Kreaturen stellte, fur die, nach Kafkas Wort, »unendlich viel 
Hoffnung* [s.u., Nachweis zu 414,11] vorhanden ist. [Absatz] 
j) Daft ich den Aspekt der Offenbarung fur Kafkas Werk nicht leugne 
geht schon daraus hervor ) daft ich ~ indem ich sie fiir »entstellt« er- 
kldre — den messianischen fur sie anerkenne. Kafkas messianische 
Kategorie ist die »Umkehr« oder das »Studium«> Richtig vermutest 
Du, daft ich der tkeologischen Interpretation an sich nicht den Weg 
verlegen will - praktiziere ich sie doch selbst - sondern nur der 
frechen und leichtfertigen aus Prag. Die auf das Benehmen der Rich- 
ter gestutzte Argumentation habe ich als unhaltbar zuruck gezogen 
(sogar noch ehe Deine Vorstellungen eintrafen). [AbsatzJ 6) Kafkas 
stetes Drdngen auf das Gesetz halte ich fiir den toten Punkt seines 
Werkes, womit ich nur sagen will, daft es grade von ihm aus interpre- 
tativ mir nicht zu bewegen scheint. Mit diesem Begriff will ich mich 
in der Tat explizit nicht einlassen. [AbsatzJ j) Ich bitte Dich um 
Erlduterung Deiner Umschreibung t Kafka stelle »die Welt der Offen- 
barung in jener Perspektive dar, in der sie auf ihr Nicbts zuruck- 
gefuhrt wird. « [AbsatzJ Soviel fur heute. (Brief e, 617-619; erhalten 
sind Entwiirfe und Notizen zu diesem Brief in den »Paralipomena«, 
s. 1245 f.) [Ich J gestehe eigentlich vorgehabt zu haben, mit Schreiben 
auf die Bestatigung der letzten, numerisch eingeteilten Bemerkungen 
zu Kafka durch Dich zu warten, heifit es in einem etwas iiber vier Wo- 
chen spater geschriebenen Brief an Scholem; andere Dinge hatten ihn 
vorher zu schreiben dringlich gemacht. Damit soil nicht gesagt sein t 
daft [. . ./ der Kafka selber und die Auseinandersetzung daruber 
einen AbschluB gefunden hat. Vielmehr gedenke ich ihn weiter aus 
einer Reihe von Betrachtungen zu speisen } die ich inzwischen fortge- 
sponnen habe - und in denen mir eine bemerkenswerte Formulierung 
in Deinem Brief an Schoeps weiteres Licht zu geben verspricht. Sie 
heiftt: »Nichts . . . ist, auf historische Zeit bezogen, mehr einer Kon~ 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1 167 

kretisation bediirfiig als . . . die . . . ^absolute Konkretheit* des Offen- 
barungswortes. Ist dodo das absolut Konkrete das Unvollziehbare 
schlechthin.* Damit 1st gewifi eine Kafka unbedingt betreffende Wahr- 
heit ausgesprochen; gerade damit aucb wohl eine Perspektive eroff- 
net, in der der geschichtliche Aspekt seines Scheiterns am ersten sinn- 
fallig wird. Bis aber diese und anschliejlende Vberlegungen eine Ge- 
stalt finden, die sie definitiv mitteilbar macht, wird wohl nod) einige 
Zeit htngehen. Und Dir wird das umso verstandlicher sein, als die 
wiederholte Lektiire meiner Arbeit wie and) meine brieflichen Glos- 
sen zu ihr t Dir greifbar gemacht baben werden, daft gerade dieser 
Gegenstand alle Eignung hat, sich als KreUzweg der Wege meines 
Denkens herauszustellen. Bei seiner grundlicheren Markierung werde 
id) Ubrigens auf den Aufsatz von Bialik bestimmt nicht verziohten 
konnen. "Ware es nicht moglich, das betreffende Heft des »]uden* 
leihweise fur mid) ausfindig zu machen? (Brief e, 619 f.) An Kraft er- 
ging im September die Bitte: Sehr dankbar ware id) Ihnen fur Be- 
merkungen zu meinem Kafka wie and) fur sonstige sprachliche Glos- 
sen an meine [Svendborger] Adresse, welohe Sie mir in Aussicht 
stellten. (Briefe, 623) Es diirfte bei meinem Kafka um eine Kopie des 
in Danemark revidierten Manuscripts (= T 1 ; s. »Uberlieferung«) sich 
gehandeh haben. Die erbetenen Bemerkungen hat Kraft in einem 
Brief vom 16. 9. 1934 niedergeschrieben, der erhalten 1st, und der um 
seiner sachlichen Bedeutung willen hier abgedruckt wird: »ich habe 
jetzt Ihren Kafka- Aufsatz dreimal mit Aufmerksamkeit gelesen und 
mochte Ihnen dazu Folgendes sagen: Mein Gesamteindruck ist bedeu- 
tend. Dies ist sicherlich ein in sich geschlossener Versuch der Erklarung, 
der nicht widerlegt wird durch den Nachweis, dafi Einzelnes >falsch< 
sei oder anders gesehen werden musse. Wie immer das damit bestellt 
sei, das Ganze gegen solche AngrifFe intakt zu halten, mufi Ihre vor- 
nehmste Aufgabe sein, fast mochte ich sagen, dafi die Ieitenden Ideen 
n o c h klarer entwickelt werden mufken - die Sumpf-Welt, der 
Gestus, das Vergessen, das Bucklige -, damit der Leser sofort weifi, 
w a s er hier zu erwarten hat und was nicht. In diesem Sinne habe 
ich unabhangig von m e i n e n Einwanden gewisse Bedenken gegen 
die Form des Aufsatzes. [Marginalie von Benjamins Hand: 1) 
Darstellungsform] Sie ist mystisch, fast esoterisch. Gerade Brecht, in 
dessen Nachbarschaft Sie doch im Augenblick nicht nur zufallig woh- 
nen, miifke Ihnen, wenn anders Sie nicht selber nach ihr strebten, was 
ich keineswegs leugne, die Verstandlichkeit in einem 
neuen Licht zeigen. Mir wenigstens wiirde es als sehr reizvoll erschei- 
nen, den Aufsatz nodi einmal als nuchternen Lehrvortrag aller jener 
Ideen zu schreiben, die wesentlich in ihm enthalten sind und dann 
audi unter Weglassung samtlicher Gleichnisse wie Potemkin usw. 



1168 Anmerkungen zu Seite 409— 438 

Konnen und wollen Sie dies nicht, so habe ich audi dafiir Verstandnis 
und werde Ihnen nidit mein eigenes Stilideal, das ich ja keineswegs 
realisiere, aufzudrangen versuchen. - Dariiber habe ich allerdings 
keinen Zweifel, dafi fur Sie das Kafka'sche Werk identisch ist mit 
einer gleichsam phanomenalen Oberschicht und dafi Sie nur indem Sie 
sich's streng versagen, eine tiefere Sinnschicht anzuerkennen, Ihren 
eigenen Standpunkt zu halten vermogen. [Marginalie von Benjamins 
Hand: 2 ) tiefere Schicht] Dies ist folgerichtig. Wenn ich aber Ihrem 
Standpunkt so weit wie nur moglich entgegenzukommen suche, so 
wiirde ich sagen miissen, Ihr Standpunkt sei a u c h in dem Werk 
enthalten, aber nur durch einen kunstliche[n] Abstraktionsvorgang 
sichtbar zu machen, wie dies z. B. in der Phanomenologie vielfach ge- 
schieht. Konkret sieht das fur mich nun so aus: Alles was Sie iiber 
Gestus, Theater usw sagen, taste ich am wenigsten an. Es wird in 
Ihrem Verfahren uberzeugend deutlich. Wenn Sie aber gleich im 
ersten Kapitel den Zusammenhang zwischen Beamten- und Vater- 
tum im Schmutz erharten wollen [Marginalie von Benjamins Hand: 
Vater problem] und dafiir das Beispiel des Vaters in der >Verwand- 
lung< [lies >Das Urteil<] und seine schmutzige Uniform usw 
[s. 411] heranziehen, so stimmt das eben nur phanomenal, nicht 
aber konkret, und wenn man den psychoanalytischen >Sinn< der Deu- 
tung abzieht, so zeigt z. B. [Hellmuth] Kaiser [in: Franz Kafkas 
Inferno; s. Nachweis zu 425,29] sehr uberzeugend, wie in dem Mafie 
des Falls des Sohnes der Schmutz des Vaters sich in Sauberkeit ver- 
wandelt!! Uberhaupt ist das Vater-Problem dasjenige, wo selbst Sie 
sehen mufiten, dafi Ihrem Blickpunkt G r e n z e n gesetzt sind. Selbst 
wenn ich mich mit Ihrer Auffassung des Vaters in >Urteil< und >Ver- 
wandlung< identifizierte (am ehesten konnte ich es vielleicht mit der 
in >Odradek< [s, 431]), so konnte ich schwer glauben, dafi Sie den 
Vater in >Elf S6hne< mit den sonstigen Vatern identifizieren. [Mar- 
ginalie von Benjamins Hand: Elf Sobne] Dies aber weiter zu verfol- 
gen, wiirde zu lang sein. Wie dem aber sei, mein Eindruck, dafi die 
Potemkin-Geschichte irgendwie im Sinne der Beweiskraft falsch er- 
zahlt sei [s. 409 f.], hat sich mir bestatigt. Gerade Potemkins Autori- 
tat kommt durch die falsche Unterschrift nicht heraus. Man mochte 
etwa Potemkins richtige Unterschrift sehen und eine Bemerkung, 
Schuwalkin sei wegen seiner Frechheit zu entlassen, oder ahnlich. - 
Dann etwas anderes. Die Stelle, wo Sie gegen Rang usw polemisieren 
[s. 425], ist logisch nicht ganz haltbar. [Marginalie von Ben- 
jamins Hand: 3) Aphorismen] Sie sagen etwa, diese Auffassung 
kniipfe an den Nachlafi-Band [scil. Beim Bau der Chinesischen Mauer; 
s. Nachweis zu 410,30] an und iiberhebe sich so der Notwendigkeit, 
auf die Werke selbst einzugehen [s. 425,21-24 und 426,36-38]. Dieser 



Anmerkungen zu Seke 409—4 38 1 1 69 

Nachlaftband steht aber der Sadie nach auf der gleichen Stufe der 
Illegitimitat wie die samtlichen illegitimen Romane. - Dann sprechen 
Sie von den zwei Moglichkeiten, Kafkas Sinn zu verfehlen und be- 
zeichnen sie als die >natiirliche< und die >iibernaturliche< [s. 425,24- 
27]. Diese ist klar, aber jene setzen Sie gleich mit der psychoanaly- 
tischen. [Marginalie von Benjamins Hand: 4) »naturlich« und »uber- 
naturlich*] Das ersdieint mir unmoglich. Ich mochte glauben, daft 
Sie bier dem antithetischen Reiz dieser Worte erlegen sind. (Ich fuge 
hinzu, dafi die nattirliche Deutung diejenige zu sein scheint, 
wenigstens mir, die der Wahrheit am niichsten kommt. Darin spiire 
ich z. B. Brechts grofte Chance, so sehr freilich auch bei ihm >naturlich< 
und >ubernatiirlich< verkniipft sind und durch eine vorgefafke >Idee<, 
die zu eliminieren freilich keinem Sterblichen gegeben ist!) - Was Sie 
iiber Kafkas >Scheitern< sagen im Zusammenhang mit dem Fehlen 
der erstrebten >Lehre< [s. 427,36-38], so ist das der Herzpunkt des 
Ganzen. [Marginalie von Benjamins Hand: jj Scbeitern] Gewift, 
man kann es so sehen! Fast mochte ich aber hier sagen, dafi Nein und 
Ja identisch sind. Wer mit solchem Einsatz geistiger Anstrengung 
>keine Lehre< erreicht, der hat eben, was ein Einzelner iiberhaupt er- 
reichen kann: die Ahnung, dafi es >Lehre< gibt und dafi sie iiber ihn 
hinausgeht. - Was Sie iiber [Robert] Walsers Roman >Der Gehulfe< 
in diesem Zusammenhang sagen [s. 414], hat mich fasciniert und 
mein Interesse fiir den merkwiirdigen Mann erneuert. Ich mochte gern 
seinen Roman wieder lesen. Die Verbindung zwischen Walser und 
Kafka bildet wohl Ludwig Hardt? - Die Bedeutung, die Sie dem 
>Tier< bei Kafka geben, erscheint mir problematisch. [Marginalie von 
Benjamins Hand: 6) Tier und Volk] Mir bilden seine Tiergeschichten 
in den meisten Fallen nur ein technisches Mittel, das Unubersehbare 
der empirisch-rnetaphysischen Verhaltnisse darzustellen, z. B. in >Jo- 
sefine< [, die Sangerin oder das Volk der Mause; s. Nachweis zu 
416,15 f.] oder in den Aufzeichnungen des Hundes [s. Forschungen 
eines Hundes]. In beiden Fallen wird >Volk< dargestellt. Im >Riesen- 
maulwurf< [s. Nachweis zu 430,30] kommt das Tier gar nicht vor. 
Hier geht es ausschliefilich um menschliche, um ethische Verhaltnisse. 
Anders ist es im >Bau< [s. Nachweis zu 430,30] und in der >Ver- 
wandlung< [s. Nachweis zu 414,18], wo Ihre Auffassung stichhal- 
tiger ist. Doch miifite hier vielleicht feiner definiert werden. - Noch 
eines! Ihre Auffassung der Frau! Sie sind fiir Sie die typischen Ver- 
treter der Sumpf-Welt [s. 428 f.]. Aber jede dieser Frauen hat eine 
Beziehung zum Schlofi, die Sie ignorieren, und wenn z. B. 
Frieda K. vorwirft, er frage sie nie nach ihrer Vergangenheit, so meint 
sie nicht >Sumpf< [s. 429,11-17] sondern ihr (friiheres) Zusammen- 
leben mit Klamm. Dies fiihrt wieder in den zentralen Gegensatz mog- 



1 1 70 Anmerkungen zu Seite 409—438 

licher Erklarungsweisen. Ich will mich nicht wiederholen. - Idi mochte 
nodi einmal sagen, wie sehr mich Ihr Aufsatz bereichert hat. Nach 
Lage der Dinge ist erne absolute Klarung des in sich Unklaren wohl 
kaum zu erwarten. Aber ein Versuch - mit einer reinlichen Methode 
- ist gemacht, und er mufi seine Frucht zeigen, wann immer. - In 
dem neuen Schocken-Almanach sollen Tagebiicher Kafkas stehen. 
Ubrigens soil, nach Scholem, Schoeps jetzt ausgeschiftt sein. Hoffent- 
lich kommt man nicht yom Regen in die Traufe.« (16. 9. 1934, Wer- 
ner Kraft an Benjamin) Aus diesem und anderen Brief en Krafts hat 
Benjamin Exzerpte genommen und seinem Dossier zum Zwecke der 
»Kafka«-Revision einverleibt [s. u. 1248 f.]. - An Scholem schrieb er 
am 17. 10. 1934: mit Kafka geht es immer weiter y und ich bin Dir 
darum dankbar fur Deine neuen Bemerkungen. Ob ich den Bo gen 
jemals so werde spannen kbnnen, dafi der Pfeil abschnellt, ist natur- 
lich dahingestellt. Wahrend aber meine sonstigen Arbeiten recht bald 
den Terminus gefunden batten, an dem ich von ihnen schied, werde 
ich es mit dieser I'dnger zu tun haben. Warum, deutet das Bild vom 
Bogen an: hier habe ich es mit zwei Enden zugleich zu tun, namlich 
dem politischen und dem mystischen. Das soil Ubrigens nicht heiflen, 
daft ich mich in den letzten Wochen mit der Sache befajit h'dtte. Viel- 
mehr wird die in Deinem Besitz befindliche Fassung fur eine Weile 
unverandert ihre Geltung behalten. Ich habe mich darauf beschrankt 
zur spateren Reflexion einiges bereitzustellen. (Brief e, 623 f.) Gleich- 
falls durfte es bei der in Scholems Besitz befindliche [n] Fassung um 
eine - weitere - Kopie des Typoskripts T 1 sich gehandelt haben. 
Das, was Benjamin zur spateren Reflexion bereitgestellt hatte, wer- 
den vor allem jene 44 Aufzeichnungen Zur » Kafka* -Revision gewe- 
sen sein, die er, zusammen mit andern, zu einem Konvolut versam- 
melt hatte, das er audi Dossier von fremden Einreden und eigenen 
Reflexionen nannte (Briefe, 638; die Aufzeichnungen selbst s. 1248- 
1256). Wenn Benjamin in einem undatierten Brief - vermutlich vom 
Oktober 1934 - bei Gelegenheit des Erscheinens eines Auswahlbandes 
von Kafka in der Schockenschen Bucherei [dazu s. die redaktionelle 
»Einfuhrung« im Zeitungsdruck; »Uberlieferung«] davon spricht, 
dafi damit [. . ./ mein Manuscript im Redaktionsschrank vielleicht 
noch lebendig werden [konnte] (o. D., an Gretel Adorno), dann 
scheint er angedeutet zu haben, dafi er mit dem Erscheinen seiner 
Arbeit schon kaum mehr rechnete; der zehnte Todestag Kafkas am 
3. 6. 1934 war immerhin Monate verflossen. Das Manuscript im Re- 
daktionsschrank der »Judisdien Rundschau « konnte das gegen das 
inzwischen revidierte Typoskript T 1 ausgetauschte Typoskript T 2 
(s. »Uberlieferung«) gewesen sein, denn die mit zwei Teilen schliefllich 
im Dezember doch nodi erschienene Arbeit entspridit dem Typoskript 



Anmerkungen zu Seite 409—4 38 1 1 7 1 

T 2 weitaus mehr als T 1 (s. a. a. O. und »Lesarten«). Dies findet durdi 
die Formulierung Exemplar der gegenwartigen Fassung sich gestikzt, 
die Benjamin in einem Brief vom 12. 11. 1934 gebraucht - er ist an 
Werner Kraft gerichtet -, und die in folgendem Zusammenhang steht: 
Ihre letzten Brief e habe ich bei denjenigen Papieren aufbewahrt, die 
ich im Augenblick, da icb wieder an meinen Kafka gehen werde, wie- 
der vornehme. [AbsatzJ Ich weijl nicht, ob ich Ihnen scbrieb, dafi 
eine eingehende neue Befassung mit dieser Arbeit eigentlich schon im 
Moment ihres »letzten« Abschlusses bei mir feststand. Es kamen in 
solcher Uberzeugung mehrere Umstdnde zusammen. An erster Stelle 
die Erfahrungy dafl diese Studie mich an einen carrefour meiner 
Gedanken und Uberlegungen gebracht hat und gerade die ihr gewid- 
meten weiteren Betrachtungen fiir mich den Wert zu haben verspre- 
chen, den auf weglosem Gelande eine Ausrichtung im Kompafi hat. 
Im ubrigen - falls die Meinung einer Bestatigung bedurfl hdtte, so 
ware sie mir in den lebhaften und verschiedenartigen Reaktionen ge- 
worden, die diese Arbeit bei Freunden hervorgerufen hat. Die An- 
schauungen, die Scholem iiber sie hegt, sind Ihnen bekannt; bemer- 
kenswert war mir, wie treffsicher Sie die Opposition erraten haben, 
die von Brechts Seite gegen diese Studie zu erwarten war, wenn Sie 
auch von deren zeitweiliger Heftigkeit kaum eine Vorstellung haben. 
Die wichtigsten Auseinandersetzungen iiber diesen Gegenstand, die 
der Sommer gebracht hat, habe ich seinerzeit schriftlich festgehalten 
[s. Gesprache mit Brecht, in: Walter Benjamin, Versuche uber 
Brecht, a. a. O.J, und Sie werden ihr em Niederschlag wohl f ruber 
oder spater im Text selbst begegnen. Im ubrigen haben Sie sich ja 
diese Einwande bis zu einem gewissen Grade zu eigen gemacht. In der 
Tat kann man die Form meiner Arbeit als problematiscb empfinden. 
Aber eine andere gab es fur mich in dem Falle nicht; denn ich wollte 
mir freie Hand lassen; ich wollte nicht abschliefien, Es durfle auch, 
geschichtlich gesprochen, noch nicht an der Zeit sein, abzuschliefien - 
am wenigsten dann, wenn man, wie Brecht, Kafka als einen propheti- 
schen Schriflsteller ansieht. Wie Sie wissen, habe ich das Wort nicht 
gebraucht, aber es lafit sich viel dafiir sagen, und das wird von meiner 
Seite vielleicbt noch geschehen. [Absatz] Je mehr freilich meine Ar- 
beit sich dem lehrenden Vortrag nahern wiirde — ich glaube ubrigens, 
dafl das auch in der spatern Fassung nur in bescheidenen Grenzen 
der Fall sein konnte [- djesto deutlicher werden in ihr Motive 
zutage treten, mit denen Sie sich wahrscbeinlich weit schwerer befreun- 
den werden als mit ihrer derzeitigen Form. Ich denke vor allem an 
das Moth des Gescheitertseins von Kafka. Dieses hangt aufs engste 
mit meiner entschlossen pragmatischen Interpretation Kafkas zu- 
sammen. (Besser gesagt: es war diese Betrachtungsweise ein vorwie- 



1 172 Anmerkungen zu Seite 409— 438 

gend instinktiver Versuch, die falsche Tiefe des unkridschen Kommen- 
tars zu vermeiden, Beginn einer Deutung, die bei Kafka das Ge- 
schichtlicbe mit dem Ungescbichtlicben verbindet. Ersteres kommt in 
meiner Fassung noch zu kurz.) In der Tat glaube ich, dafl jede Inter- 
pretation, die - im Gegensatz zu Kafkas eigenem, in diesem Falle 
unbestechlichen und lauteren, Gefuhl - von der Annahme eines dutch 
ibn realisierten mystischen Schrifttums ausginge statt von eben jenem 
Gefuhl des Autors selbst y seiner Richtigkeit und den Grunden des not- 
wendigen Scheiterns - den geschichtlichen Knotenpunkt des ganzen 
Werkes verfehlen wurde. Erst an diesem Punkte ist eine Betrachtung 
moglich, die der legitimen mystischen Auslegung - die nicht als Aus- 
legung seiner Weisheit sondern seiner Torheit zu denken ist - ihr Recht 
gibt. Das habe ich ihr in der 7 at nicht gegeben; abet nicht, weil ich 
Kafka zu wenig, sondern weil ich ihm zu weit entgegengekommen 
bin. Immerhin hat Scholem die Grenzen, uber die schon die gegen- 
wdrtige Niederschrifl sich nicht zu bewegen gewillt ist, sehr deutlich 
empfunden, wenn er mir zum Vorwurf macht, an Kafkas Be griff der 
»Gesetze« voruberzugehen. Ich werde - in einem spateren Zeitpunkt 
- den Versuch machen, aufzuzeigen, wieso — im Gegensatz zum Be- 
griff der »Lehre« — der Begriff der »Gesetze« bei Kafka einen Uber- 
wiegend scheinhaften Charakter hat und eigentlich eine Attrappe 
ist. [AbsatzJ Fur den Augenblick mag das geniigen. Leid tut mir, 
dafi ich Ihnen ein Exemplar der gegenwartigen Fassung nicht zur 
Verfugung stellen kann und dies um so mehr als ja wohl nicht die 
geringste Aussicht besteht, die Arbeit in dieser oder sonst einer Form 
gedruckt zu sehen. Sie steht auch in au$erer Hinsicht somit an einem 
extremen Ort und ist wohl geeignet, mich hin und wieder zur Be- 
trachtungsweise des »Essays« zurUckzufuhren, die ich im Ubrigen mit 
ihr abgeschlossen haben mochte. Dank fur den Hinweis auf den Auf- 
satz von Margarete Susman [Das Hiob-Problem bei Franz Kafka, 
in: Der M or gen, Jg. $ (1929), Heft 1]. Noch mehr Dank wurde ich 
Ihnen schulden, wenn Sie mir Ihr en Kommentar zum » Alien Blatt« 
senden. (Brief e, 627-630) Hatte Benjamin audi alle Hoffnung auf ge- 
geben, die Arbeit in dieser oder sonst einer Form gedruckt zu sehen, 
so erschien sie etwa anderthalb Monate spater doch noch in der Ge- 
stalt zweier von vier Teilen (der vollstandige Abdruck erfolgte erst 
1955 in Bd. 2 der »Schriften«, 196-228). Im Sinn einer [kunfligen 
Aussprache], schrieb er am 25. 12. 1934 an Karl Thieme, darf ich 
Sie vielleicht - gewift hur behelfsweise - auf Fragmente einer grofie- 
ren Arbeit » Franz Kafka* [mit dem Untertitel Eine WUrdigung 
statt des nicht mehr aktuellen Zur zehnten Wiederkehr seines Todes- 
tages] hinweisen, die eben in der »]iidischen Rundschau* erscheinen 
[Potemkin (s. 409-416) am 21. 12. und Das bucklicht Mdnnlein 



Anmerkungen zu Seite 409—4 38 1 1 7 3 

(s. 425-432) am 28. 12. 1934]. Mir sind Exemplar e erst angekundigt, 
so daft ich Ihnen leider keines mitsenden kann. (Briefe, 635) Was 
lange gewahrt hat ist nun leidlido geworden. So kommentierte er die 
Erscheinungsweise einen Tag spater in einem Brief an Scholem, wo es 
anschlieftend heifk: Mir wird diese Publikation ein Anstojl sein, dem- 
nachst das Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen 
zu offnen [s. 1248-1256], das ich mir - ein in meiner Praxis durchaus 
neuer Fall - zu dieser Arbeit angelegt habe. (Briefe, 638) 

Korrespondenz iiber den Essay mit Adorno 

Schon Anfang November hatte Adorno Benjamin urn die Arbeit ge- 
beten: »K6nnte ich den Kafkaessay erhalten? Ich mufi Ihnen nicht 
sagen, wie zentral wichtig er mir ware.« (6. 11. 1934, Theodor W. 
Adorno an Benjamin) Dringlicher wurde die Bitte vier Wochen spater 
wiederholt: »Sehr gern, brennend gern wiirde ich die neuen Stiicke 
der Kindheit [s. Bd. 4,235-304] und vor allem den Kafka lesen: sind 
wir doch alle bisher Kafka das losende Wort schuldig geblieben, 
Kracauer am meisten - und wie dringend ware nicht das Anliegen, 
ihn aus einer existentialistischen Theologie zu losen und fur die 
andere zuzurichten. Da wir immerhin bis zu unserem Wiedersehen 
mit nicht ganz unerheblichen Zeitraumen rechnen miissen - ware es 
nicht doch moglich, diese Arbeit jetzt einzusehen?« (5. 12. 1934, 
Th. W. Adorno an Benjamin) Elf Tage spater - er hatte unterdessen 
ein Exemplar (Egon Wissings, wie er meinte, tatsachlich Gretel 
Adornos) selbst sich verschaffen konnen - schrieb er: »Ich verdanke 
Wissing die Einsicht in Ihren Kafka und mochte Ihnen heute nur 
sagen, daft ich den Motiven dieser Arbeit einen ganz auflerordent- 
lichen Eindruck verdanke - den grofiten, der mir von Ihnen kam, seit 
der Vollendung des Kraus [s. 334-367]. Ich hofTe, in diesen Tagen zur 
ausfuhrlidieren Aufterung die Zeit zu finden und nur ein Abschlag 
darauf soil sein, wenn ich die ungeheure Definition der Aufmerksam- 
keit als historischer Figur von Gebet, am Ende des dritten Kapitels 
[s. 432] hervorhebe. Im ubrigen ist mir unsere Obereinstimmung im 
philosophischen Zentrum nie deutlicher geworden als an dieser Ar- 
beit !« (16. 12. 1934, Th. W. Adorno an Benjamin) Schon tags darauf 
sandte er seine »ausfiihrlichere Aufterung« ab - jenen kommentar- 
artigen Brief iiber die Arbeit in deren Fassung des Typoskripts T 2 , 
den Rolf Tiedemann erstmals veroffentlichte und mit Anmerkungen 
versah (s. Theodor W. Adorno, Uber Walter Benjamin, Frankfurt a. 
M., 1970, 103-110 und 177-179). Der Brief, der in diesem Zusam- 
menhang nicht fehlen kann, lautet: » [Lassen] Sie mich in fliegender 
Hast - denn Felizitas [s. a. a. O., 177, Anm. 1] ist im BegrifF mir das 



1 1 74 Anmerkungen zu Seite 409—438 

Exemplar Hires Kafka abzunehmen, das ich nur zweimal durdilesen 
konnte - mein Versprechen einlosen und wenige Worte dazu sagen, 
mehr um der spontanen ja iiberwaltigenden Dankbarkeit Ausdruck 
zu geben, die mich davor ergriffen hat, als weil ich mir etwa einbilde- 
te, den ungeheuren Torso ganz erraten oder gar >beurteilen< zu konnen. 
Nehmen Sie es nicht als unbescheiden, wenn ich damit beginne, dafl 
mir unsere Ubereinstimmung in den philosophischen Zentren noch nie 
so vollkommen zum Bewufksein kam wie hier. Fiihre ich Ihnen mei- 
nen altesten, neun Jahre zuriickliegenden Deutungsversuch zu Kafka 
an: er sei eine Photographie des irdischen Lebens aus der Perspektive 
des erlbsten, von dem nichts darauf vorkommt als ein Zipfel des 
schwarzen Tuches, wahrend die grauenvoll verschobene Optik des 
Bildes keine andere ist als die der schrag gestellten Kamera selber 
[s. a. a. O., Anm. 3] - so bedarf es keiner anderen Worte zur Uber- 
einstimmung, wie weit audi Ihre Arialysen iiber diese Konzeption 
hinausdeuten. Das betrirTt aber zugleich auch und in einem sehr prinzi- 
piellen Sinn die Stellung zu >Theologie<. Da ich auf eine solche, vorm 
Eingang zu Ihren Passagen, drangte, so scheint es mir doppelt wich- 
tig, dafi das Bild von Theologie, in dem ich gerne unsere Gedanken 
verschwinden sahe, kein anderes ist als das, aus dem hier Ihre Gedan- 
ken gespeist werden - es mag wohl >inverse< Theologie heifien. Der 
Standort gegen naturale und supranaturale Interpretation zugleich, 
der darin erstmals in aller Scharfe formuliert ist, diinkt mir aufs ge- 
naueste mein eigener - ja meinem Kierkegaard [s. a. a. O., Anm. 4] 
war es um nichts anderes zu tun als darum und wenn Sie iiber die 
Verkniipfung Kafkas mit Pascal und Kierkegaard hohnen [s. Text, 
426], so darf ich Sie wohl daran erinnern, dafi im Kierkegaard von 
mir derselbe Hohn gegen die Verkniipfung Kierkegaards mit Pascal 
und Augustin exponiert ist. Wenn ich freilich dagegen doch an einer 
Relation von Kierkegaard und Kafka festhalte, so ist es am letzten 
die der dialektischen Theologie, deren Anwalt vor Kafka Schoeps 
heifk. Sie liegt vielmehr genau bei der Stelle der >Schrift<, von der 
Sie so entscheidend sagen, was Kafka etwa als ihr Relikt [s. Text, 
437] vermeint habe, konne besser, namlich gesellschaftlich, als deren 
Prolegomenon verstanden werden. Und dies ist in der Tat das Chif- 
fernwesen unserer Theologie, kein anderes - aber freilich auch um 
kein Zoll weniger. Dafi sie aber hier mit so ungeheurer Gewalt durch- 
bricht, ist mir die schonste Biirgschaft Ihres philosophischen Gelin- 
gens, seit ich die ersten Bruchstucke der Passagen kennenlernte. - Zu 
unserer Ubereinstimmung mochte ich zahlen zumal noch die Satze 
iiber Musik und die iiber Grammophon und Photographie [s. Text, 
416 und 436] - eine etwa ein Jahr alte Arbeit von mir zur Form 
der Schallplatte [s. Adorno, Uber Walter Benjamin, a. a. O., 178, 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1175 

Anm. 11], die von einer bestimmten Stelle des Barockbuches ausgeht 
und gleichzeitig die Kategorie der dinglidien Entfremdung und Riick- 
seitigkeit fast in genau dem gleichen Sinne gebraucht, wie ich sie im 
Kafka nun audi von Ihnen konstruiert finde, wird Ihnen, wie ich 
hofTe, in wenigen Wochen zugehen; und vor allem die iiber Schonheit 
und Hoffnungslosigkeit [s. Text, 413 f.]. Fast mochte ich es bedauern, 
daft die Nichtigkeit der offiziell theologischen Kafkadeutungen zwar 
ausgesprochen, aber nicht voll expliziert ist wie etwa die Gundolfs in 
den Wahlverwandtschaften [s. Bd, 1, 157-167] (beilaufig gesagt, 
die Plattituden des psychoanalytischen Kaiser [s. u., Nachweis zu 
425,29] verstellen weniger von der Wahrheit als jener biirgerliche 
Tiefsinn). Bei Freud gehoren Uniform und Vaterimago zusammen. 
[Absatz] Wenn Sie selbst die Arbeit als >unfertig< bezeidinen, so 
ware es freilich ganz konventionell und toridit, wenn ich Ihnen 
widersprechen wollte, Zu genau wissen Sie, wie sehr hier das Bedeu- 
tende dem Fragmentarischen verschwistert ist. Das schliefk aber nicht 
aus, daft die Stelle der Unfertigkeit sich bezeichnen lafit - eben weil 
diese Arbeit ja vor den Passagen liegt. Denn dies ist ihre Unfertigkeit. 
Das Verhaltnis von Urgeschichte und Moderne ist nodi nicht zum Be- 
griff erhoben und das Gelingen einer Kafkainterpretation mufi in 
letzter Instanz davon abhangen. Eine erste Leerstelle ist da im Be- 
ginn bei dem Lukacszitat und der Antithese von Zeitalter und Welt- 
alter [s. Text, 410]. Diese Antithese konnte nicht als blofier Kontrast 
sondern selber bloft dialektisch fruditbar werden. Ich wiirde sagen: 
daft fiir u n s der Begriff des Zeitalters schlechterdings unexistent ist 
(so wenig wie wir Dekadenz oder Fortschritt im offenen Sinn kennen, 
den Sie hier ja selber destruieren), sondern bloft das Weltalter als 
Extrapolation der versteinten Gegenwart. Und ich weifi, dafi keiner 
in der Theorie mir lieber das zugabe als Sie. Im Kafka aber ist der 
BegrifT des Weltalters abstrakt im Hegelschen Sinne geblieben (bei- 
laufig gesagt, es ist erstaunlich und wahrscheinlich Ihnen nicht be- 
wufit, welch dichte Beziehungen diese Arbeit zu Hegel hat. Ich fuhre 
an nur: daf$ die Stelle iiber Nichts und Etwas [s. Text, 435] aufs 
scharfste der ersten Hegelschen Bewegung des Begriff s: Sein - Nichts 
- Werden, eingepafk ist und dafi das Cohenmotiv vom Umschlag 
mythischen Rechts in Schuid [s. Text, 412] von diesem, wenn audi 
aus der jiidischen Tradition, gewifS ebenso aus der Hegelschen Rechts- 
philosophie iibernommen ist). Das sagt aber nichts anderes als dafi die 
Anamnesis - oder das >Vergessen< - der Urgeschichte bei Kafka in 
Ihrer Arbeit wesentlich im archaischen und nicht durchdialektisierten 
Sinne gedeutet ist: womit die Arbeit eben an den Eingang der Passa- 
gen riickt. Ich habe hier am letzten zu richten, da ich nur zu gut weifi, 
daft der gleiche Riickfall, die gleiche unzulangliche Artikulation des 



nj6 Anmerkungen zu Seite 409— 438 

Begriffs des Mythos mir im Kierkegaard ebenso zuzurechnen ist, wo 
er zwar als logische Konstruktion, nidit aber konkret aufgehoben 
wurde. Eben darum darf ich aber diesen Punkt bezeichnen. Es ist kein 
Zufall, daft von den ausgelegten Anekdoten erne: namlich Kafkas 
Kinderbild, ohne Auslegung bleibt [s. Text, 416]. Dessen Ausle- 
gung ware aber einer Neutralisierung des Weltalters im Blitzlicht 
aquivalent. Das meint nun alle moglichen Unstimmigkeiten in con- 
creto - Symptome der archaischen Befangenheit, der Unausgefiihrt- 
heit der mythischen Dialektik noch hier. Die wichtigste scheint mir 
die des Odradek [s. u., Nachweis zu 431,18]. Denn archaisch allein 
ist es, ihn aus >Vorwelt und Schuld< [s. Text, 431] entspringen zu las- 
sen und nicht als eben jenes Prolegomenon wiederzulesen, das Sie 
vorm Problem der Schrift so eindringlich fixieren. Hat er seinen Ort 
beim Hausvater - ist er denn nicht eben dessen S o r g e und Gefahr, 
ist mit ihm nicht eben die Aufhebung des kreaturlichen Schuldverhalt- 
nisses vorbedeutet - ist nicht die Sorge - wahrhaft ein auf die Fiifte 
gestellter Heidegger - die Chiffer, ja das gewisseste Versprechen der 
Hoffnung, eben in der Aufhebung des Hauses? Gewifi ist Odra- 
dek als Ruckseite der Dingwelt Zeichen der Entstelltheit - als solches 
aber eben ein Motiv des Transzendierens, namlich der Grenzweg- 
nahme und Versohnung des Organischen und Unorganischen oder der 
Aufhebung des Todes: Odradek >iiberlebt<. Anders gesagt, blofi dem 
dinghaft verkehrten Leben ist das Entrinnen aus dem Naturzusam- 
menhang versprochen*. Hier ist mehr als >Wolke< [s. Text, 420], 
namlich Dialektik und die Wolkengestalt gewifi nicht >aufzuklaren< 
aber durchzudialektisieren - gewissermaflen die Parabel regnen zu 
lassen - das bleibt das innerste Anliegen einer Kaf kainterpretation ; 
dasselbe wie die theoretische Durchartikulation des >dialektischen 
Bildes<. Nein, so dialektisch ist Odradek, dafi von ihm wirklich audi 
gesagt werden kann, >so gut wie nichts hat alles gut gemacht< [s. 
Adorno, Ausziige aus »Der Schatz des Indianer-Joe«, in: Frankfurter 
Opernhefle, Jg. 5, 1976/77, Nr. 3, 15. 12/76, nach S. 24]. - Zum glei- 
chen Komplex gehort die Stelle von Mythos und Marchen [s. Text, 
415], an der zunachst pragmatisch zu beanstanden ware, dafi das 
Marchen als Uberlistung des Mythos auftritt oder dessen Brechung - 
als ob die attischen Tragiker Marchendichter waren, was sie doch 
am letzten sind, und als ob nicht die Schliisselfigur des Marchens, 
die v o r mythische, nein die siindelose Welt ware, wie sie uns 
d i n g 1 i c h chirTriert erscheint. Es ist hochst seltsam, dafi die sach- 
lichen >Fehler<, die etwa der Arbeit sich vorwerfen liefien, genau hier 
ansetzen. Denn die Delinquenten der Strafkolonie werden, wenn mich 

* Hier ist der innerste Grund audi meines Widerstrebens gegen die unmittelbare 
Beziehung auf >Gebrauchswert< in anderen Zusammenhangen. 



Anmerkungen zu Seite 409—43 8 1 1 77 

nicht meine Erinnerung aufs grausamste betriigt, nicht blofi auf dem 
RUcken [s. Text, 432] sondern auf dem ganzen Leib von 
der Maschine beschrieben, ja es wird sogar von dem Vorgang ge- 
sprochen, wo die Maschine sie umwendet (Umwendung ist das Herz 
dieser Erzahlung, wie sie audi im Augenblick des Verstehens gege- 
ben ist; iibrigens diirfte gerade bei dieser Erzahlung, die in ihrem 
Hauptteil eine gewisse idealistischeAbstraktheit hat wie die vonlhnen 
mit Recht zuriickgewiesenen Aphorismen [s. Text, 425 f.], der dis- 
parate Schlufi nicht vergessen werden mit dem Grab des alten Gou- 
verneurs unter dem Cafehaustisch). Archaisch scheint mir auch die 
Deutung des Naturtheaters im Ausdruck >landliche Kirmes oder 
Kinderfest< [s. Text, 423] - das Bild eines grofistadtischen San- 
gerfestes der achtziger Jahre ware gewifi wahrer, und Morgensterns 
>Dorfluft< [s. a. a. O.] war mir schon immer verdachtig. Ist Kafka 
kein Religionsstifter [s. Text, 524] - und wie Recht haben Sie! wie 
wenig ist er es! - so ist er gewifi audi und in keinem Sinn, nicht ein 
Dichter judischer Heimat. Hier empfinde ich die Satze iiber die Ver- 
schrankung des Deutschen und Jiidischen [s. Text, 432] als ganz 
entscheidend. Die umgebundenen Flugel der Engel sind kein Manko 
[s. Text, 423] sondern ihr >Zug< - sie, der obsolete Schein, 
sind die Hoffnung selber und keine andere gibt es als diese. [Absatz] 
Von hier aus, von der Dialektik des Scheins als vorzeklicher Moderne 
scheint mir die Funktion von Theater und Geste ganz aufzugehen, die 
Sie erstmals so in die Mitte gestellt haben [s. Text, 418-420] wie es 
geziemt. Die Tenore des Prozesses sind ganz von der Art. Wollte 
man nach dem Grund der Geste suchen, so ware er viellelcht weniger 
im chinesischen Theater zu suchen, scheint mir, als in >Moderne<, nam- 
lich dem Absterben der Sprache. In den Kafkaschen Gesten entbindet 
sich die Kreatur, der die Worte von den Dingen genommen worden 
sind. So erschliefit sie sich gewifi, wie Sie es sagen, der tiefen Besin- 
nung oder dem Studium als Gebet - als >Versuchsanordnung< [s. Text, 
418] scheint sie mir nicht zu verstehen und das einzige, was mir an 
der Arbeit materialfremd diinkt ist die Hereinnahme von Kategorien 
des epischen Theaters. Denn dies Welttheater, da es ja nur Gott vor- 
gespielt wird, duldet keinen Standpunkt aufierhalb, fur den es als 
Biihne sich zusammenschliefien wiirde; so wenig, wie Sie sagen, der 
Himmel darin im Bildrahmen an die Wand sich hangen liefie fs. Text, 
419], so wenig gibt es einen Biihnenrahmen fur die Szene selbst (es 
sei denn gerade den Himmel iiber der Rennbahn) und daher gehort 
zur Konzeption der Welt als des >Theaters< der Erlosung, in der 
sprachlosen Obernahme des Wortes, konstitutiv hinzu, dafi Kafkas 
Kunstform (und freilich von der Kunstform wird sich, nach der Ab- 
lehnung der unvermittelten Lehrgestalt, nicht absehen lassen) zur 



1 178 Anmerkungen zu Seite 409—438 

theatralischen in der aufiersten Antithese steht und Roman ist. So 
scheint mir hier Brod mit der bahalen Erinnerung an den Film etwas 
wek genaueres getroflen zu haben als er ahnen konnte. Kafkas Ro- 
mane sind nicht Regiebiicher furs Experimentiertheater, weil ihnen der 
Zuschauer prinzipiell abgeht, der ins Experiment eingreifen konnte. 
Sondern sie sind die letzten, verschwindenden Verbindungstexte zum 
stummen Film (der nicht umsonst fast genau gleichzeitig mit Kafkas 
Tod verschwand); die Zweideutigkeit der Geste ist die zwischen dem 
Versinken in Stummheit (mit der Destruktion der Spradie) und dem 
Sicherheben aus ihr in Musik - so ist wohl das wichtigste Stuck zur 
Konstellation Geste - Tier - Musik die Darstellung der stumm 
musizierenden Hundegruppe aus den Aufzeichnungen eines Hundes 
[s. Adorno, a. a. O., Anm. 29], die ich nicht zogern mochte dem 
Sandio Pansa [s. Text, 438] an die Seite zu stellen. Vielleicht 
konnte deren Hereinnahme hier vieles klaren. Lassen Sie mich zum 
Fragmentcharakter nur noch das sagen, daft das Verhaltnis von Ver- 
gessen und Erinnern [s. Text, 429-431], gewifi zentral, mir noch nicht 
offenbar geworden ist und vielleicht eindeutiger und harter artiku- 
liert werden konnte; lassen Sie mich der Kuriositat halber sagen, zur 
Stelle uber >Charakterlosigkeit< [s. Text, 418], dafi ich im vorigen 
Jahr ein kleines Stuck >Gleichmacherei< [s. Adorno, a. a. O., 179, 
Anm. 33] geschrieben habe, in dem ich die Ausloschung des indivi- 
duellen Charakters in der gleichen Weise positiv genommen habe; 
und lassen Sie als weitere Kuriositat mich Ihnen sagen, daft ich im 
Friihjahr in London ein Stuck uber die zahllosen bunten Fahrschein- 
modelle der Londoner Autobusse schrieb [s. a. a. O., Anm. 34], das 
sich aufs seltsamste mit Ihrem Farbenstuck aus der Berliner Kindheit 
[s. Bd. 4, 263] beriihrt, das Felizitas mir zeigte. Vor allem aber las- 
sen Sie mich nochmals unterstreichen die Bedeutung der Stelle von 
der Aufmerksamkeit als Gebet [s. Text, 432]. Ich wiifke nichts 
wichtigeres von Ihnen - nichts audi, was uber Ihre innersten Motive 
genaueren Aufschlufi geben konnte. [Absatz] Fast will es mir schei- 
nen, als ware durch Ihren Kafka der Frevel unseres Freundes Ernst 
[Bloch?] gesuhnt.« (17. 12. 1934, Theodor W. Adorno an Benjamin) 
Benjamins Antwort erfolgte drei Wochen spater, am 7. 1. 1935 aus 
San Remo: ich vermute Sie [aus Berlin J zuriick und gehe daran, 
Ihren groften Brief vom iy un Dezember zu beantworten. Nicht ohne 
Zogern - er ist so gewichtig und greift der art in die M'ltte der Sache 
ein, dafi ich keine Aussicht habe, ihm auf brieflichem Wege gerecht 
zu werden. Umso wichtiger ist s dajl ich Sie vor allem andern noch 
einmal der grofien Freude versichere, die Ihr lebendiger Anteil in 
mir erweckt hat. Ich habe Ihren Brief nicht nur gelesen sondern stu- 
diert; er verlangt es, Satz filr Satz Uberdacht zu werden. Da Sie meine 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1179 

Intentionen aufs genaueste erfafit baben, so sind Ibre Fehlanzeigen 
von grofitem Belang. Das gilt in erster Linie von den Bemerkungen, 
die Sie iiber die mangelnde Bewaltigung des Archaischen macben; e$ 
gilt also in ausgezeichneter Weise von Ihren Bedenken zur Frage der 
Weltalter und des Vergessens. Im ubrigen rdume id? obne weiteres 
Ibren Einwendungen gegen den Terminus »Versuchsanordnung<x das 
Feld und werde mit den sebr bedeutsamen Bemerkungen zu Rate 
gehen, die Sie uber den stummen Film macben. [s. 1252, 1256 /., 
1264J Einen Fingerzeig gab mir der Umstand, daft Sie so besonders 
nachdrucklich auf die »Aufzeicbnungen eines Hundes« binweisen. 
Gerade dieses Stuck ist mir - wobl als das einzige - noch im Verlauf 
meiner Arbeit am »Kafka« fortdauernd fremd geblieben und icb 
wujlte - babe es aucb wobl Felizitas gegeniiber ausgesprocben - dafi 
es mir sein eigentlicbes Wort nocb zu sagen b'dtte. Ibre Bemerkungen 
Ibsen diese Erwartung ein. [Absatz] Nacbdem nun zwei Teile — der 
erste und dritte - erscbienen sind, ist der Weg fur die Neufassung 
frei; ob er freilicb auf ein Publikationsziel binauslaufen und Schok- 
ken die erweiterte Fassung in Buchform berausbringen wird, ist nocb 
fraglicb. Die Umarbeitung wird y soviel icb jetzt sebe, besonders den 
vierten Teil [s. 433-438] zu betreffen baben t der trotz des grofien - 
oder vielleicbt wegen des allzugrofien - Akzents der auf ibm liegt, 
selbst Leser wie Sie und Scbolem nicht zur Stellungnabme vermocbt 
bat. Im ubrigen fehlt unter den Stimmen, die bisber laut geworden 
sind, aucb Brecbts nicht; und so hat sich alles in allem eine Klangfigur 
um ihn gebildet, der icb nocb mancbes abzulauscben babe. Vorldufig 
babe icb eine Sammlung von Reflexionen angelegt, um deren Projek- 
tion auf den Urtext icb micb nocb nicht kummere. Sie gruppieren sich 
um das Verbaltnis »Gleichnis — SymboU> in dem icb die Kafkas 
Werke bestimmende Antinomie denkgerechter gefafit zu baben glaube 
als mit dem Gegensatz »Parabel = Roman* [s. 12^3 f. y 12$$ /., 
i2$8 f., 1260 f.J. Die nahere Bestimmung der Romanform bei Kafka, 
iiber deren Notwendigkeit icb mit Ihnen einig bin und die bisber fehlt, 
kann nur auf einem Umweg erreicht werden. [Absatz] Icb wtirde 
wiinschen - und es ist garnicbt so unwahrscbeinlich - dafi manche die- 
ser Fragen nocb offen steben y wenn wir uns das nachstemal sehen 
werden. (Briefe, 638-640) 

Plan einer Neufassung in Buchform 

Mit dem Hinweis auf eine erweiterte Fassung des Essays in Buch+ 
form ist auf die dritte Etappe der Befassung Benjamins mit Kafka 
vorgedeutet, die unterm Zeichen nicht nur der intensiven Arbeit am 
gesamten Komplex sondern audi der Bemuhung um das Interesse 



n8o Anmerkungen zu Seite 409— 438 

Salman Schockens daran stand - einer Bemiihung, die mit unmittel- 
baren Existenzfragen eng zusammenhing. In Schockens Verlag schien 
man in der Tat zunachst aufmerksam geworden zu sein. Von meirter 
Arbeit uber Kafka, die nun schon ein hatbes Jabr alt ist, schrieb 
Benjamin Anfang 1935 an Horkheimer, sind endlich zwei groflere 
Fragmente erschienen. Fur das Game hat der Schockenverlag, bet 
dem jetzt Kafkas Gesammelte Werke herauskommen sollen [die 
erste Ausgabe der Gesammelten Schriften, hg. von Max Brod, erschien 
in sechs Banden 1935-1937], Interesse gezeigt. Nur will er die Ge- 
samtausgabe abschlieflen, ehe er weiteres vornimmt. (2. 1. 1935, an 
Max Horkheimer) - Werner Kraft hatte Benjamin am 9. 1. erwidert, 
dafl dessen Mutma flung wenig berechtigt ware, seine brief lichen Beden- 
ken gegen den »Kafka* konnten meine Empfindlichkeit verletzt 
haben. Darf icb Sie, fuhr er fort, ohne das Entsprechende nun Ihnen 
gegenuber zu riskieren, versichern, dafl neben anderen Einwendun- 
gen, die erhoben worden sind, die Ihren wie gefiederte Pfeile unter 
Granatenwagen erscheinen (womit ich keinesweg insinuieren will, dafl 
sie gifiig seien). Eben die Kontroversen aber 3 die Uber diese Arbeit 
sichj wie uber keine andere erhoben haben, best'dtigten nur, dafl auf 
ihrem Geldnde eine Anzahl der strategischen Punkte heutigen Den- 
kens liegen und meine Muhe, es weiter zu befestigen, keine unnutze 
ist. (Brief e, 643 f.) An Horkheimer erging im Februar die Ruckant- 
wort: Der »Kafka«, nach dem Sie fragen, ist in der »]iidischen Rund- 
schau* erschienen, aber so fragmentarisch , dafl ich, falls er sie interes- 
siert, Ihnen lieber bei einer Begegnung mein Manuscript als jetzt 
einen Abdruck aushandige. (19. 2. 1935, an Max Horkheimer) Krafts 
Frage nach Brechts Stellung zu meinem Kafka- Auf satz bedauerte 
Benjamin unbeantwortet lassen zu mussen [. . .J. sie beantworten hiefle 
ein Dutzend [sic] Seiten meines ddnischen Tagebuchs - das die wicb- 
tigsten Gesprdche enthdlt, die ich im Sommer 1934 mit Brecht gefuhrt 
babe [s. Gesprdche mit Brecht, a. a. O.J - kopierenf Davon hof- 
fentlich mundlich einmal. (Brief e, 707) Das letzte Zeugnis aus diesem 
Jahr findet sich in einem unveroffentlichten Brief: Dem »Kafka« von 
[Peter von] Haselberg, eine Arbeit, auf die Gretel Adorno ihn auf- 
merksam machen wollte, sehe ich mit Erwartung entgegen. (29. 7. 
1935, an Gretel Adorno) Er nahm sie zu seinen Papieren (s. u.). - 
Aktualisiert wurden die Fragen, die ihn bewegten, ab 1938 durch 
verschiedene Anlasse und Umstande. Einer war das Wiedersehen mit 
Scholem in Paris nach langen Jahren der Trennung. Bei intensiven 
Erorterungen kam, wie Scholem berichtet, audi Benjamins »fort- 
dauerndes und leidenschaftliches Interesse am Werke Kafkas« zur 
Sprache. »Und hier kam er mit einer unerwarteten ErofTnung heraus. 
Er sagte, es wurde fiir ihn eine grofie Befreiung darstellen, in seiner 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1181 

Arbeit fiir langere Zeit, er nannte mindestens zwei Jahre, vom Insti- 
tut [fiir Sozialforschung] vollig unabhangig sein zu konnen. In Eu- 
ropa sei daran nicht zu denken. Wenn ich aber einen Weg sahe, ihm 
einen Auftrag zu versdiaflen, der ihm diese Unabhangigkeit garan- 
tiere, wiirde er keine Bedenken tragen, seine Bindung ans Institut sei 
es fiir langere Zeit, sei es ganz zu losen. Ob ich nicht, angesichts der 
damals im Schockenverlag erscheinenden groften Kafka-Ausgabe, die 
Moglichkeit sahe, von Schocken, iiber den wir hier ofters sprachen, 
einen solchen Auftrag fiir ein Buch iiber Kafka anzuregen oder durch- 
zusetzen. Er sei jederzeit bereit, in solchem Rahmen fiir die ganze 
Laufzeit einer solchen Arbeit nach Palastina zu kommen. Ich hatte 
Schocken eine Woche vorher in Zurich getroffen, und wir hatten ein 
langes Gesprach iiber die Richtung seines Verlages und iiber den leb- 
haften Anteil, den er an meiner eigenen Arbeit nahm, gehabt. Er 
[. . .] schien fiir Empfehlungen von mir ein Ohr zu haben. Es war mir 
in dem Gesprach mit Benjamin bewufk geworden, dafi er unter einem 
starkeren Druck stand als ich angenommen hatte, und ich schlug ihm 
vor, die im Erscheinen begriffene Biographie Max Brods iiber Kafka 
[Franz Kafka. Eine Biographie. Erinnerungen und Dokumente, 
Prag 1937] zum Anlafi einer solchen Aktion bei Schocken zu neh- 
men. Dies wurde von ihm mit grofier Zustimmung aufgenommen. 
Von der Notwendigkeit, in Europa Giiter zu verteidigen, von der er 
nicht lange vorher zu Adorno, der gerade um diese Zeit nach New 
York iibersiedelt war, gesprochen hatte, war in unserem Gesprach 
nicht die Rede.« (Scholem, a. a. O., 262 f.) Benjamin bemiihte sich um 
das Buch und berichtete Scholem, der inzwischen weitergereist war, 
am 14.4. 1938 nach New York: Wirklich hat [Heinrich] Mercy auf 
meine Bitte Brods Kafkabiographie und dazu den Band geschickt, der 
mit der »Beschreibung eines Kampfes« beginnt [scii. Bd. $ der Ge- 
sammelten Scbriften, Prag 1936]. [. . ./ Ich komme aber auf Kafka 
an dieser Stelle we'd besagte Biographie in ihrer Verwebung Kaf- 
kaschen Nichtwissens mit Brodschen Weisheiten einen Distrikt der 
Geisterwelt zu offnen scheint, wo weifle Magie und fauler Zauber 
aufs erbaulichste ineinander spielen. Ich habe ubrigens noch nicht 
sehr viel darin lesen konnen, mir aber alsbald die Kafkasche Formu- 
lierung des kategorischen Imperativs ^handle so, dajl die Engel zu 
tun bekommen* daraus zugeeignet. (Briefe, 748) Scholem berichtet 
weiter: »Ich forderte ihn daraufhin auf, mir einen ausfiihrlichen 
Brief iiber dies Buch und iiber seine eigene Auffassung Kafkas zu 
schreiben, den ich gegebenenfalls Schocken vorlegen konnte, um ihn 
im Sinne unserer Pariser Besprechung zu einem Auftrag fiir ein Buch 
zu veranlassen. So entstand jener wunderbare Brief vom 12. Juni 
1938, dem ein weiterer Brief vom selben Datum beilag.« (Scholem, 



1 1 82 Anmerkungen zu Seite 409— 438 

a. a. O., 266) Den ersten leitete er folgendermaften ein: auf Deine 
Bitte schreibe ich Dir ziemlich ausfiihrlich, was ich von Brods »Kafka« 
halte; einige eigene Reflektionen uber Kafka findest Du anschlie fiend. 
[AbsatzJ Du mu$t von vornherein wlssen, da /I dieser Brief gam 
allein diesem uns beiden gleich sehr am Herzen liegenden Gegenstande 
vorbehalten sein wird; fur Nachrichten von mir vertroste ich Dicb 
auf einen der nachsten Tage. (Briefe, 756) Im folgenden enthalt der 
Brief vom 12, 6. 1938 an Scholem zunachst (s. Briefe, 756-760) 
jenen Text, den Benjamin erfolglos audi als Rezension der Brodschen 
Kafka-Biographie zu publizieren versuchte (s. Bd. 3, 526-529); dar- 
an schliefien sich dann Benjamins eigene Reflektionen uber Kafka 
an (s. Briefe, 760-764), deren Wortlaut der Benutzer der vorliegenden 
Ausgabe im Apparat zu der Brod-Rezension findet (s. Bd. 3, 687- 
690). - Das Begleitschreiben, das Benjamin seinem grofien Brief iiber 
Kafka beigefiigt hatte, verofTentlichte Scholem in seinen Erinnerun- 
gen. Es lautet: Um das beiliegende Schreiben prasentabel zu machen, 
hielt ich es fur geraten, es von Personlichem zu entlasten. [AbsatzJ 
Das schliefit nicht aus t daft es, als Dank fur Deine Anregung, zu- 
nachst Dir personlichst zugedacht ist. Im Ubrigen kann ich nicht be- 
urteilen, ob Du es fur zweckmafiig hdltst, es tel quel Schocken zu lesen 
zu geben. Immerhin glaube ich, mich darin so tief mit dem Komplex 
Kafka eingelassen zu haben, als es mir im Augenblick uberhaupt mog- 
lich ist. In der Folge mufi zunachst alles gegen meine Baudelaire- 
Arbeit [$. Bd. 1, $11-604] zuriicktreten. [. . .] Dieser Tage schreibe 
ich an Wiesengrund und werde den Kafka-Brief ihm gegenuber 
erwahnen. Naturlich kannst Du ihn ihm mitteilen. D age gen der ver- 
legerischen Perspektiven, die sich etwa an ihn anschliefien konnten, 
bitte ich Dich nur mit aufierster Vorsicht und als Deine[r] eigenen 
mir nicht bekannten Erw'dhnung zu tun. Ob Du das aber nicht 
besser uberhaupt ganz unterlaflt, das zu beurteilen hangt von 
Deiner Wiirdigung der Sachlage ab. Die Sache will insofern wohl 
iiberlegt sein, als der halboffizielle Charakter des Brief es Wiesengrund 
gegebenenfalls nicht entgehen wird. [AbsatzJ Allenfalls konntest Du 
ihm erklaren, dafi Du den Brief fur Dein Archiv meiner esoterischen 
Schriflen von mir erwirkt hattest. Ich fiirchte, diese Erkldrung wurde 
der Wahrheit duflerst nahekommen. [AbsatzJ In jedem Falle habe ich 
mir durch das Scbriftstuck Anrecht auf einen baldigen und sehr aus- 
fiihrlichen Bericht Deiner Kreuz- und Querfahrten durch die New 
Yorker Judenheit erworben. Diesen Bericht bitte ich Dich, umso- 
weniger lakonisch abzufassen, als nach Deinem letzten Brief vom 
6. Mai und nach meinen eigenen Dispositionen die Chancen unserer 
Begegnung noch ungewifi bleiben (12. 6. 1938, an Scholem, zit. in: 
Scholem, a. a. O., 266 f.). Im Bericht Scholems heifk es weiter: 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1183 

»In der Tat las ich den Kafka-Brief Adornos vor, bei denen er be- 
greiflicherweise tiefen Eindruck machte, ohne dafi sie im ubrigen den 
hier geschilderten Hintergrund durchschauten. Zu dem guten Geiste, 
der iiber den Begegnungen von Adorno und mir waltete, trug mehr 
als die Herzlichkeit der Aufnahme die nicht geringe Oberraschung 
bei, die sein Verstandnis fur das fortwirkende theologische Element in 
Benjamin bei mir ausloste. Ich hatte einen Marxisten erwartet, der 
auf der Liquidierung dieser, meiner Meinung nach kostbarsten Be- 
stande in Benjamins geistigem Haushalt insistieren wiirde. Statt des- 
sen traf idi hier einen Geist, der, wenn audi unter seiner eigenen dia- 
lektischen Perspektive gesehen, sich diesen Ziigen gegeniiber durchaus 
aufgeschlossen, ja geradezu positiv verhielt.« (Sdiolem, a. a. O., 267 f.) 
An Theodor und Gretel Adorno selber hatte Benjamin am 19. Juni 
geschrieben: Uber meine literarischen Beschdftigungen der letzten Zeit 
zwei Worte. Einiges habt Ihr wohl Inzwischen von Scholem daruber 
erfabren, insbesondere meine Befassung mit Brods Kafka-Biographie. 
Ich habe die Gelegenheit wahrgenommen, selbst einige Notizen iiber 
Kafka zu machen, die von einem anderen Standort ausgehen als mein 
Essay. Dabei habe ich wieder mit groftem Interesse Teddies [Ador- 
nos J Kajkabrief vom 77. Dezember 1934 [s. o.J studiert. Sosebr der 
stichbdlty so fadenscheinig erweist sich der Kafka-Aufsatz von [Pe- 
ter von] Haselbergy den ich ebenfalls bei meinen Papieren fand. 
(19. 6. 1938, [adressiert] an Th. W. Adorno; Haselbergs Aufsatz ist 
ungedruckt.) Benjamin setzte alle Hoffnung auf Scholems Interven- 
tion bei Schocken. Noch nichts verrat sich von seiner Ungeduld - 
veranlafk durdi die sich zuspitzende Lebenssituation - in dem lange- 
ren Brief, den er Anfang Februar 1939 Scholem schrieb und worin es 
heifit: Von [Lew] Scbestow ist der Weg zu Kafka fiir den, der sich 
entschlossen hatte, vom Wesentlichen abzusehen, nicht weit. Als dieses 
Wesentlicbe erscheint mir bei Kafka mehr und mehr der Humor. Er 
war naturlich kein Humorist. Er war vielmehr ein Mann, dessen Los 
war, iiberall auf Leute zu stojien, die aus dem Humor eine Profession 
machten: auf Klowns. Besonders »Amerika« ist eine grofie Klownerie. 
[. . .] Wie dem nun immer sei - ich denke mir, dem wiirde der 
Schlussel zu Kafka in die Hdnde fallen, der der judischen 
Theologie ihr e komischen S e it en ab gewonne. 
Hat es so einen Mann gegeben? oder wdrst Du Manns genug, dieser 
Mann zu sein? (Briefe, 803) Der nachste Brief - vom 20. 2. 1939 - 
stellt leis mahnende Fragen: Entre temps habe ich mich wieder ein- 
mat der Reflexion iiber Kafka zugewandt. Ich bldtterte auch in dlte- 
ren Papieren und fragte mich, warum Du denn meine Kritik des Brod- 
schen Buches Schocken bisher nicht hast zukommen lassen. Oder ist 
das inzwischen vor sich gegangenf [Absatz] Ich hoffe baldigst aus- 



1 1 84 Anmerkungen zu Seite 409— 438 

fuhrlicb von Dir zu boren. (Brief e, 804) Gelegentlich der in diesen 
Tagen spielenden Baudelaire-Erorterungen zwischen Benjamin und 
Adorno fallt die Bemerkung - die Rede ist vom Typus des Flaneurs 
und davon, daft Balzac weder dessen komische noch die grauenvolle 
Seite [. . ./ zur Getting bringt -: Beides zusammen hat, glaube ich, 
im Roman erst Kafka eingelost; bei ihm haben sich die Balzacschen 
Typen solide im Schein einlogiert: sie sind zu »den Gehilfen«> »den 
Beamten*, »den Dorfbewohnern* , »den Advokaten* geworden, 
denen K, als der einzige Mensch, mithin als ein in all seiner Durch- 
scbnittlichkeit atypiscbes Wesen gegeniibergestellt ist. (Briefe, 807) Am 
gleichen Tag, als er dies schrieb - dem 23. 2. 1939 -, war ein Brief 
Horkheimers an ihn abgegangen, worm es hiefi: »Das Institut [fur 
Sozialforschung, in New York reetabliert als Institute for Social Re- 
search] befindet sich nach wie vor in einer sehr ernsten wirtschaftlichen 
Situation. Der grofiere Teil unseres Vermogens steckt in Grundstiik- 
ken, die erst dann einmal verkauflich sein werden, wenn die Konjunk- 
tur in dieser Branche viel besser geworden ist. In der Zwischenzek 
lafk sich vielleicht ein wenig von dem Geld herausziehen, das hinein- 
gesteckt worden ist, aber langsam. Der andere, kleinere Teil, der in 
Papieren angelegt ist, wird in einer absehbaren Zahl von Monaten 
verbraucht sein. Wir strengen uns nach besten Kraften an, eine Stif- 
tung zu erhaken, die es der Mehrzahl unserer Mitarbeiter ermoglichen 
soil, ihre Arbeiten fortzusetzen. Aber schon heute verdienen nicht 
wenige der hiesigen Mitarbeiter ihren Unterhalt ganz oder teilweise 
durch andere jobs. Von Wiesengrund wissen Sie ja, dafi er die Halfte 
seiner Zeit, in Wirklichkeit viel mehr als die Halfte, fur das Radio 
Research Project, das leider nicht blofi angenehme Seiten hat, zur 
Verfiigung stellen mufi. Das gleiche gilt aber audi fur die meisten 
andern. Es versteht sich, dafi Sie diese Mitteilungen diskret behandeln 
sollen. Ich fiihle jedoch die Verpflichtung, Ihnen diese Angaben zu 
machen, weil trotz unserer Anstrengungen in nicht allzu ferner Zeit 
der Tag kommen konnte, an dem wir Ihnen mitteilen miissen, dafi 
wir beim besten Willen nicht imstande sind, Ihren Forschungsauftrag 
zu verlangern. Ich brauche Ihnen unsere Hoffnung nicht erst auszu- 
driicken, dafi es uns erspart bleiben moge, in diese Lage versetzt zu 
werden. Neben unseren Bemiihungen um eine allgemeine Stiftung fiir 
das Institut betreiben wir die Erteilung amerikanischer Forschungs- 
auftrage und Stipendien fiir die einzelnen Mitglieder. In Uberein- 
stimmung mit unserer Oberzeugung von Ihrer theoretischen Leistung 
denken wir dabei vor allem auch an Sie. In Ihrem und unserem Inter- 
esse liegt es jedoch, wenn ich Sie darum bitte, dafi Sie auf jeden Fall 
auch driiben versuchen, sich irgendeine Geldquelle zu erschliefien. 
[. . .] Ich ware Ihnen dankbar, wenn Sie mir uber die Moglich- 



Anmerkungen zu Seite 409— 43 8 1 1 8 5 

keiten, die Sie vor sich sehen, einmal berichteten, besonders im Hin- 
blick auf eine etwaige Kooperation, durch die wir Ihnen von hier aus 
dabei nutzen konnten.« (23. 2. 1939, Horkheimer an Benjamin) Ben- 
jamin antwortete unterm 13. 3.: ich habe Ihren Brief mit Erschutte- 
rung gelesen und mufi Ihnen nicht sagen, daft ich hier alles Erdenk- 
liche versuchen werde. [. . .] So fort und schon vor Abfassung dieser 
Zeilen [. . ./ habe ich mich an Scholem in Jerusalem gewandt, um 
ihn zu bitten, bei Schocken fiir mich zu intervenieren und sein Inter- 
esse fiir ein Buch uber Kafka, das ich schreiben wurde, zu erwecken. 
Schocken ist leider ein dusterer Autokrat. Die Macht seines Vermo- 
gens ist durch das Elend der Juden ins Ungemessene gewachsen, und 
seine Sympathien gelten der national-judischen Produktion, (13.3. 
1939, an Horkheimer) Den Brief an Scholem hat er tags darauf 
abgesandt. Er lautet: wahrend noch mancherlei Gedankenfracht aus 
meinem letzten Brief ungeloscht bei Dir vor Anker liegt, lauft dieser 
neue Kahn an, der weit Uber die Ladelinie hinaus mit viel schwererem 
Gut befrachtet ist - meinem schweren Herzen. [AbsatzJ Das Institut 
ist, wie mir Horkheimer mitteilt, in den grofiten Schwierigkeiten. 
Ohne mir einen Termin anzugeben, bereitet er mich auf die Einstel- 
lung der Subvention vor, die seit 1934 meinen Unterhalt allein be- 
stritten hat. Dein Blick hat Dich nicht getrogen, und Dein ergebener 
Diener hat das auch keinen Augenblick angenommen, Eine Kata- 
strophe habe ich allerdings nicht vorausgesehen. Die Leute haben, wie 
aus ihrem Schreiben hervorgeht, nicht, wie man das bei einer Stiflung 
vermuten wurde, von den Zinsen, sondern vom Kapital gelebt. Dieses 
soil zu seinem grofleren Teil noch vorhanden, aber immobil sein und 
zu seinem kleineren vor dem Versiegen stehn. [AbsatzJ Kannst Du 
irgend etwas bei Schocken bewirken, so darf damit nicht gezbgert 
werden. Die Belege, die Du brauchst, um den Kafka-Plan zur Sprache 
zu bringen, sind ja in Deiner Hand. Ich mufite natiirlich auch jeden 
andern Auftrag entgegennehmen, den er im Bereich meiner Arbeits- 
moglichkeiten etwa zu vergeben hatte. [AbsatzJ Zeit zu verlieren ist 
nicht. Was mich in den fruheren Jahren bei der Stange gehalten hatte, 
war die Hoffnung, irgendwann einmal auf halbwegs menschenwur- 
dige Weise beim Institut anzukommen. Unter halbwegs menschen- 
wiirdig verstehe ich mein Existenzminimum von 2400,- francs. Von 
ihm wieder abzusinken, wiirde ich a la longue sobwer ertragen. Dazu 
sind die Reize, die die Mitwelt auf mich ausubt, zu schwach, und die 
Prdmien der Nachwelt zu ungewifi. [AbsatzJ Das Entscheidende 
ware, ein Interim zu Uberstehen. Irgendwann einmal werden die Leu- 
te wohl noch Geldverteilungen vornehmen. Bet dieser Gelegenheit 
noch zur Stelle zu sein, ware wunschenswert. [AbsatzJ Gib diesen 
Dingen nicht mehr Publizitdt als erforderlich ist, mir gegebenenfalls 



1 1 86 Anmerkungen zu Seite 409—438 

zu belfen. Wenn es mir moglicb ist, Horkheimer und Pollock zu zei- 
gen, daft sie nicbt die einzigen sind, die sicb urn micb kiimmern y so gibt 
das eine Chance, daft sie sicb fiir mid? anstrengen. [AbsatzJ Soviel 
fiir heute. Laft mich nicbt ohne scbnelle Antwort, so provisoriscb sie 
sein mag. (14. 3. 1939, an Scholem, zit. in: Scholem, a. a. O., 271 f.) 
Bei aller Erschutterung, die Benjamin durdi Horkheimers Eroffnung 
traf - tatsachlich wurden die Zahlungen des Instituts fiir Sozial- 
forschung an ihn nie eingestellt und brauchten, wie sich zeigte, nicht 
einmal unterbrochen zu werden -; trotz des ersten Schodts, sich 
vielleicht vor dem Nichts zu sehen, der audi in dem Brief an Scholem 
sich auswirkt, kann ein irritierend Ungerechtes darin nicht ubersehen 
werden. Er scheint fast im Bewufitsein soldier Ungereditigkeit ge- 
schrieben, weist sein Verfasser doch gleichzeitig darauf hin, dafl schlieft- 
lich das Institut es war, das seit fiinf Jahren seinen Unterbalt allein be- 
stritten habe. Der sonst von dessen Mitgliedern als von Freunden 
spricht, mit denen micb ein gemeinsames Anliegen verbindet (6. 3. 
1938, an Ferdinand Lion) und denen er - was mehr ist - theoretisch 
nicht wenig verdankt, redet, sobald Geldfragen aufkommen, von 
ihnen als von Leuten, die ihn durch okonomische Hoffnungen bei 
der Stange halten mufiten und irgendwann einmal [. . ./ wohl 
nocb Geldverteilungen vornebmen wurden, bei denen es wiinscbens- 
wert ware, zur Stelle zu sein. Die Dialektik der biirgerlichen Gesell- 
schaft zwingt dem Einzelnen nodi dort, wo er aus der »Verachtung 
des Biirgerlichen« zu handeln iiberzeugt ist - mit ihr rechtfertigte 
Benjamin, Scholem zufolge, seinen Amoralismus gerade etwa in Geld- 
fragen (s. Scholem, a. a. O., 70) -, einen Zynismus auf, der zutiefst 
im Biirgerlichen verstrickt bleibt. - Dafi Scholem iiber seinen Ver- 
such, den Kafka-Plan bei Schocken auf den Weg zu bringen, bislang 
Benjamin nicht berichtet hatte, lag an folgendem: »Es stellte sich 
[. . .] heraus,« so berichtet er, »dafi Schocken «, mit dem »ich erst 
Ende des Jahres [1938] und Anfang 1939 [. . .] sprechen [konn- 
te]« und »dem ich verschiedene Arbeiten, darunter den unver- 
offentlichten Artikel iiber Goethe [s. 705-739], den vollstandigen Text 
des groften, nur zur Halfte gedruckten Kafka-Aufsatzes und den 
Brief an mich iiber Kafka, zu lesen gab, uberhaupt kein Organ fiir 
Benjamin besafi. Das iiberraschte mich, der gerade bei einem Mann 
wie ihm Verstandnis fiir einen solchen Geist erwartet hatte, und ich 
versuchte ihm in zwei oder drei langen Unterhaltungen zu erklaren, 
was ich in Benjamin sahe und wie ich mir die Losung des offenkundi- 
gen Zwiespalts in seiner Produktion vorstellte. Er mokierte sich aber 
iiber diese Schriften und hielt mir eine die Unterstiitzung Benjamins 
ablehnende Rede, die darauf hinauslief, Benjamin sei etwas wie ein 
von mir erfundener Popanz. Ich konnte diese traurigen Unterhaltun- 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1 187 

gen zwischen Schocken und mir nicht gut Benjamin mitteilen, ohne ihn 
zu erbittern, und mufite mich auf das Resultat besdiranken.« (Sdiolem, 
a. a. O., 270) Dies Resultat erfuhr Benjamin in dem Augenblick, als 
er den Brief vom 14. 3. schlofi, dem er darauf das Postskript bei- 
fiigte: Gerade hatte ich meine Untersdorifi hierhergesetzt, als Dein 
Brief vom 2. Marz kam. In dem minimalen Inventar meiner Chancen 
hatte ich die Schockensche noch fur eine der betrdcbtlicberen angesehen. 
Vielleicht weijit Du irgendetwas was Du an ihre Stelle setzen konn- 
test. Ich freHte mich zu sehen, dafl Du, ohne Kenntnis meiner derzei- 
tigen Perspektive, meinen Besuch in Palastina im Auge behalten hast. 
So wie die Dinge sich jetzt zu gestalten scheinen, hekommt die Frage 
Bedeutung, oh es nicht moglich ware, mich in Palastina fur eine Reihe 
von Monaten zu sichern. (Ich hilde mir nicht ein, dafi das aus Deinen 
eigenen Mitteln geschehen konnte.) Es steht so, dafi unter den ver- 
schiedenen Gefahrenzonen, in die sich die Erde fur die Juden auf- 
teilt, fiir mich Frankreich gegenwartig die hedrohlichste ist, we'd ich 
hier okonomisch v ollk o mm en isoliert stehe. (14. 3. 1939, an 
Sdiolem, zit. in: Sdiolem, a. a. O., 272) »Auf diesen Brief hin, der an 
Ernst nidits zu wunsdien iibrig liefl, unternahm ich einen Versuch, 
in einem kleinen Kreis von Mensdien in Jerusalem die Summe zu 
sichern, die einen soldien Aufenthalt Benjamins ermoglidien konnte. 
Die Verhaltnisse lagen damals denkbar ungiinstig und der einzige 
Menscri, der bereit war, mit einem angemessenen Beitrag einzustehen 
und auf den VerlafS war, war die Malerin Anna Ticho [. . .] Ich 
konnte ihm also nidits wirklidi Definitives in Aussicht stellen. Audi 
seine (teilweise gedruckte) Antwort vom 8. April [s. Briefe, 810-812] 
lieft keinen Zweifel daran, dafi er seine Lage als desperat ansah und 
im Fall eines entsdiiedenen Absinkens seiner okonomischen Lage den 
Selbstmord in Erwagung zog.« (Sdiolem, a. a. O., 273) Am 20. 3. 
schrieb er Gretel Adorno: Es ist [. . .J keine Frage dafl auf die Dauer 
hier nicht zu wirken ist. Der von Dir beriihrten Notwendig- 
keit, englisch zu lernen, kann ich mich nicht verscblieflen, und ich 
werde diesen Sommer damit beginnen. Die Frage ist: Amerika noch 
zu erreichen. -Ich habe mich augenblicklich an Scholem 
gewandt, der, wie Du Dir denken kannst, auf Schocken einen gewis- 
sen Einflufi hat. Benjamin uberging also das negative Resultat von 
Scholems Bemuhungen, das er eine Woche zuvor erfahren hatte. Was 
ich in die Wagschale zu werfen hatte, ware ein Buch uber Kafka. Aber 
die Aussichten, auf diese Weise einen Betrag von Schocken zu erwir- 
ken, sind wegen dessen judaistischer Fixierung und wegen des riesigen 
Angebots, das von judisch ausgerichteten Autoren gegen ihn andr'dngt, 
nicht grofi. [AbsatzJ So mufl ich nahezu alle Hoffnung, die ich 
so no tig habe, auf die Bemuhungen setzen, die das Institut 



n88 Anmerkungen zu Seite 409—438 

driiben fur mich aufwendet. (20. 3. 1939, an Gretel Adorno) Vier 
Wochen spater schrieb er an Horkheimer: Was mir nun vox allem 
andern am Herzen liegen w«jf, 1st [. . .J die beschleunigte Ubersied- 
lung nacb Amerika. [. . ./ Scholem schreibt mir, daft Schocken sich 
immer mehr vom deutschsprachlichen Schrifltum abwendet. Er hat 
bis heute nicht einmal Brods Kafkabiographie, die in seinem eigenen 
Verlage erscbienen ist, gelesen. E$ i$t also fraglich y wieweit er fur 
ungedruckte Literatur uber Kafka zu interessieren sein wird. (18.4. 
1939, an Horkheimer) Im Mai schrieb er Adorno den Brief, in dem er 
auf dessen Essay uber George und Hofmannsthal (s. Adorno, Gesam- 
melte Schriften, Bd. 10*1: Kulturkritik und Gesellschaft I, hg. von R. 
Tiedemann, Frankfurt a. M. 1977, 195-237) eingeht und worin seine 
letzte uberlieferte Bemerkung zu Kafka steht: Hofmannsthals »Sprach- 
losigkeit* war eine Art von Strafe. Die Sprache, die Hofmannsthal sich 
entzogen hat, diirfle eben die sein, die um die gleiche Zeit Kafka gege- 
ben wurde. Denn Kafka hat sich der Aufgabe angenommen, an der 
Hofmannsthal moralisch versagte und darum auch dichterisch. (Briefe, 

852) 



Zum gesamten Komplex seiner Beschaftigung mit Kafka hat Benja- 
min Hunderte von Aufzeichnungen hinterlassen. Sie wurden von den 
Herausgebern samtlich entziffert und, so gut es gelingen wollte, in 
Ubersicht gebracht. Sie werden im folgenden unverkiirzt abgedruckt. 
Dabei sind sich die Herausgeber der Disproportionalitat bewufit, die 
zwischen der Fulle dieser Aufzeichnungen und den tatsachlich von 
Benjamin realisierten Texten besteht. Halt man sich vor Augen, dafl 
Benjamin uber ein Jahrzehnt aufs intensivste mit der Materie sich 
befafke; dafi er den jahrelangen Umgang mit dem Werk Kafkas fur 
unabdingbar hielt, um auch nur halbwegs seiner sakularen Bedeutung 
sich zu versichern, und dafi die Masse seiner Aufzeichnungen eben 
solchen Umgang eindrucksvoll bezeugen, dann mag das allein deren 
Abdruck in extenso rechtfertigen. Die Organisation der Materialien 
machte sich einigermaften zwanglos: namlich nach Maflgabe der gut 
bezeugten Chronologie der Benjaminschen Kafkastudien und seiner - 
geplanten wie der realisierten - Publikationsvorhaben. So ergaben 
sich vier Komplexe: erste Aufzeichnungen zum »Prozefl« aus dem 
Jahre 1928 (1); Aufzeichnungen zu einem - geplanten - Essay uber 
den »Prozef5« und zu einem - ausgefiihrten und gehaltenen - Vor- 
trag anlafllich des Erscheinens von »Beim Bau derChinesischen Mauer« 
aus (bzw. bis zu) dem Jahre 1931 (2); Aufzeichnungen, Schema- 
ta, Dispositionen, Exzerpte u. dgl. zum Essay von 1934 aus (bzw. 



Anmerkungen zu Seite 409— 43 8 1 1 89 

bis zu) der Zeit um Mai/Juni 1934 (3. a.b.) und aus der Zeit bis 
August/September 1934 (3.C.); schlieftlich Aufzeidinungen, Neu- 
und Umf ormulierungen zum Z wecke einer Umarbeitung des Essays 
von 1934 aus der Zeit ab September/Oktober 1934 bzw. ab Anfang 
1935 (4. a.b.). Zu den Aufzeidinungen zu (2) und (3. a.) ist anzumer- 
ken, dafi sie in der Gestalt belassen sind, in der sie niedergeschrieben 
wurden: verstfeut, ad hoc und anscheinend auf keine Disposition - 
weder des geplanten Essays von 193 1 noch des ausgefiihrten von 
1934 - bezogen. Hingegen sind die Aufzeidinungen zu (3. b.) - von 
Benjamin selbst bereits zu Montagezwecken aus Blattern, wo sie ver- 
streut standen, in einer Vielzahl von schmaleren und breiteren Strei- 
fen herausgesdinitten - so angeordnet worden, daft sie in der Reihen- 
folge der Passagen, Stellen und Motive des Essaytextes stehen; es 
darf unterstellt werden, dafi - wie immer Benjamin selber die Aus- 
schnitte hin und her schob, um aus ihnen das Geriist des endgiiltigen 
Textes zu gewinnen - die hier vorgeschlagene Reihenfolge der Aus- 
schnitte tatsachlich ein solches Geriist - etwas wie eine erste Roh- 
fassung des Essays selber - bildet. Die Reihenfolge dieser - wie audi 
der iibrigen - Aufzeidinungen, so wie sie im Nachlaft vorgefunden 
wurden, wird aus der numerischen Folge der Archiv-Signaturen er- 
sichtlich. Die Textverweise in den einzelnen Aufzeichnungskomple- 
xen sind untersdiiedlich erfolgt: sparsam in (1), (2) und (3. a.), teils 
um die friiheren Aufzeidinungen, bezogen auf andere Vorstellungen 
und Dispositionen, nicht gewaltsam auf den einzigen terminus ad 
quern des Essays von 1934 zu beziehen, teils weil eine ganze Zahl 
gestrichener Stellen (hier und sonst durdi gesdiweifte Klammern ge- 
kennzeichnet) in der einen oder andern Form in die spateren Auf- 
zeidinungen zum Essay oder in diesen selbst eingegangen sind und 
durch die Streichung dem Benutzer leicht als soldie Stellen erkennbar 
werden; ausfiihrlich dagegen erfolgten Verweisungen in (3. b.) und 
(4. a.b.), weil dort die Aufzeidinungen fast uberwiegend Bausteine 
des Essays bilden oder - wie in (4. b.) - durdiweg von Benjamin 
selber schon auf den Essay unmittelbar, bis auf Seite und Zeile genau 
(namlich des Typoskripts T 3 ; s. »Uberlieferung«), als dessen zu 
modifizierende Stellen bezogen sind. (Was diese Stellen betrifft, stan- 
den die Herausgeber vor der Frage, ob sie in die Druckvorlage [= T 2 ; 
s. »Oberlieferung«] nicht einzuarbeiten gewesen waren. Da sich zeigte, 
dafi es um weit weniger Modifikationen sich handelt, als Benjamin 
fiir eine Neuarbeitung des Textes plante; da ferner bei den ausge- 
fiihrten Probedispositionen an mehreren Stellen unklar bleibt, wie 
Benjamin die Neuorganisation der betroflenen Absdinitte, iiberhaupt 
die definitive Textintegration damals sich dachte; da schlieftlich einige 
Neuformulierungen Varianten voneinander sind - war auf Basis des- 



1190 Anmerkungen zu Seite 409—438 

sen auf die Herstellung einer neuen Fassung zu verzichten.) Generell 
fiir alle Aufzeichnungen gilt, dafi die Fiille von Benjaminschen Siglen - 
aufierst vielgestaltigen, teils in Tinte, teils in Blei, teils in Farben ge- 
haltenen -, von denen die Blatter, Zettel und Ausschnitte oft iibersat 
sind, in der Wiedergabe weder mitreproduziert werden konnten, noch 
umschrieben wurden; im letzteren Fall ware die halbwegs gewonnene 
Ubersichtlichkeit des Paralipomenen-Apparates unertraglich beein- 
trachtigtwordenjunerlaflliche einzelne Hinweise sind in knapperForm 
gegeben. Ferner gilt, dafi - in Abweichung von der durchgangigen 
Apparat-Gestaltung - in diesem Falle, wegen der unverhaltnismafiig 
groften Zahl der zu einem erheblichen Teil raumlich knappen Auf- 
zeidinungen, auf die Angabe »Druckvorlage: Benjamin-Archiv« bei 
jedem einzelnen Blatt, Zettelchen oder Streifen verzichtet ist und nur 
die Archivnummer des betreffenden Stiicks verzeichnet wird. D. h. die 
angegebenen Signaturen beziehen sich stets auf Manuskript-Druck- 
vorlagen, vorhanden im »Benjamin-Archiv« in Frankfurt a. M. Die 
einzige Ausnahme bildet die Tagebucheintragung Benjamins vom 
6. 6. 1931 (2. b.), die aus einem Tagebuchmanuskript im Besitze von 
Stefan Bredit, New York, stammt. 

(Paralipomena zu Kafka) 
1. N o tiz e n zu Kafka » D er P r oze $ « (1928; dazu 
s. auch Idee eine s M y steriums , 1153^ und 
Scholems Bericht, 1154) 

Notizen zu Kafka »Der Prozejl* 
Die Arbeit ist Gerhard Sdoolem zu widmen 
Auf den Bodenraumen, wo das Euro ist 3 wird Wdsche getrocknet. 
Versuch den Waschtiscb von Frl Biirstner in die Mine des Zimmers zu 
riicken. 

Leute die Kissen zwischen sich und die Decke schieben 
Die Sinnschicht die hpchste: Theologie. Die Erlebnisschicht die tiefste: 
Traum 

Kopfhaltung: im Dom, bei der Hinrichtung und sonst 
Funktion der Gescbichte vom Turhiiter. Exkurs uber den Kommentar. 
Ahnlichkeit dieser Gescbichte mit Hebels 

»Entscbeidung«: Hinrichtung als ein Stadium des Prozesses. Die Stim- 
m e zieht das Resumee 
Bedeutung der Huren 

Vber die Lufl in den Gerichtsraumen; Hitze bei Toten 
Die Wendung der traumhaflen Schicht in die theologische Schicht 
entwickelt an der Kommunikation von Wohnrdumen und Gerichts- 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1 191 

Das »Gewissen« als Verfallsprodukt und als Vorherwissen des Un- 
heils 

Die Deutung der proletarischen V'tertel und der prole tarisch en Be- 
hausungen als Gerichtsquartiere 

Vergleich mit der »Verwandlung«; zu bemerken, dafi im »Prozefl* 
keine Tiere vorkommen 

Vergleich mit den Mdrchenkomodien von Robert Walser 
Das irrtiimliche zu-laut-werden im Dom 

Das Gericht als inquisitorisches und physiologisches Marterinstitut, 
Vergleich mit dem Inquisitions gericht 

Entzauberung des »okkulten« Begriffs des >Tiirhuters« im Kommen- 
tar zur eingelegten Geschichte 

Unnennbarkeit dieser Geschichte: titellos. Sie lebt als solche in der 
Dimension arabischer oder hebrdischer Traktattitel 
Vergleich mit Agnon 

Alle Rdume in diesem Roman sind untergeschoben und alle lassen 
sich ihm unterschieben: Dom, Gerichtssaal, Kontor, Bordell, Treppen- 
flur, Atelier , mobliertes Zimmer, Korridor 

Sehr wichtige Frage: warum ist kaum em Wort auf die Darstellung 
der »Qualen« des Angeklagten verwendet? 

Auswechselbare Personen? Der Direktor-Stellvertreter, Frdulein Burst- 
ner, der Neffe der Wirtin: fliichtig hingemachte Manner 
Die theologische Kategorie des Wartens aus diesem Roman zu kon- 
struieren. So auch die theologisclye Kategorie des »Aufschubs«. »Auf- 
schub« in der Gerichtsordnung, der en wichtigstes Moment ist: das 
Verfahren geht allmahlich ins Urteil uber, Warten: dazu ist zunachst 
zu verfolgen, wann, wo, wie oft die Hauptperson »wartend« darge- 
stellt wird. Straf- und Hollen-Sonntag als Wartetag 
Die ganze Gerichtsverfassung zusammenstellen 

Bedeutung der Portrats der Richter. Uber den Turrahmen hangend 
als FallbeiL vergl. Calderon: Eifersucht das grofite Scheusal 
Wie ist der Kontrepost von Frdulein Burstner zu alien andern Per- 
sonen des Romans zu erkldren? 

[Hier fehlen zwei Zeilen am beschadigten unteren Rand der Seite; 
erhalten lediglich - am Ende der ersten Zeile -:] Strindberg: Nach 
Damaskus 

»recompense ou . . . chatiment, deux formes de Veternite* Baude- 
laire: Les paradis artificiels Paris 1917 p n 

Ekel und Scham. Verhdltnis dieser beiden Affekte und ihre Bedeutung 
bei Kafka 

Ms6 7 hS.77i. 



1192 Anmerkungen zu Seite 409—438 

2. Schema, Aufzeichnungen und Tagebuchein- 
tragung (bis 1931) zu einem ungeschriebe- 
nen Essay (s. 1 1 5 4 ff . ) und dem Kafka-Vortrag 
(s. 676-683) 

a. Versuch eines Scbemas [.*•], Aufzeichnungen {1-7) un d /• • •/ 
Korrespondenzen [. . ./ 

Versuch eines Schemas zu Kafka 
Kafka nimmt die gesamte Menschheit in eine riickwdrtige Stellung. 
Er rdumt Jahrtausende der Kulturentwicklung, von der Gegenwart 
garnicht zu reden. 

Die Welt befindet sich, nach ihrer Naturseite, bei ihm in dem Sta- 
dium, das Bachofen das hetarische genannt hat. Kafkas Romane 
spielen in einer Sumpfwelt. 

Diese Welt ist es, und nicht die unsrige, die Kafka in seinen Buchern 
mit der gesetzlichen des Judentums konfrontiert. 
Es ist als wenn Kafka experimentell die sehr viel grofiere Angemes- 
senheit der Thora an eine, obzwar in ihr versdiollene, prahistorische 
Stufe der Menschheit erweisen wollte, 

Aber ganz verschollen ist diese Stufe auch in der Thora nicht. Die 
Reinigungs- und Speisegesetze beziehen sich auf eine Vorwelt, von 
der nichts mehr erhalten ist als diese Abwehrmafinahmen gegen sie. 
Mit andern Worten: nur die Halacha enthdlt noch Spuren dieser fern- 
sten Daseinsart der Menschheit. 

Kafkas Bucher enthalten die fehlende Hagada zu dieser Halacha. 
Aufs innigste verschrdnkt aber mit diesem hagadischen Text enthalten 
seine Bucher einen prophetischen. 

Dem hetarischen Natursein der Menschheit halt das Judentum die 
Strafe entgegen. 

Der Prophet sieht die Zukunft unter dem Aspekt der Strafe. 
Das Kommende ist ihm nicht als Wirkung einer jungstvergangnen 
Ursache sondern als Strafe einer, unter Umstdnden langstvergangnen, 
Schuld zugeordnet. 

Die Schuld nun, welcher sich nach Kafka unsere nachste Zukunft als 
Strafe zuordnet, ist das hetarische Dasein der Menschheit. 
Diese Prophetie auf eine allerndchste Zukunft ist fur Kafka weit 
widniger als die judischen Theologumena, die man allein in seinem 
Werk hat finden wollen. Die Strafe ist widniger als der Strafende. 
Die Prophetie ist wichtiger als Gott. 

Die Gegenwart, unsere gewohnteste Umwelt, scheidet also fiir Kaf- 
ka vollkommen aus. Sein ganzes Interesse gilt in Wirklichkeit dem 
Neuen, der Strafe, in deren Lid?te freilich die Schuld schon zur er- 
sten Stufe der Erlosung wird. 

Ms 212 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1 1 9 3 

^Aufzeichnungen 1) 

Die label vom Bucephalus, dem Streitrofi Alexanders, das Advokat 
geworden sei, ist keine Allegoric Es scheint bei Kafka uberhaupt 
keinen Raum als das Gericht fur die grofien Figuren, besser: M'dch- 
te der Gescbichte mehr zu geben. Das Rechtswesen scheint sie sich 
alle pflichtig gemacht zu haben. Wie die Menscben nach dem Volks- 
glauben sich nach dem Sterben verwandeln - in Geister oder Ge- 
spenster - so scheinen bei Kafka die Menschen nach dem Schuldig- 
werden sich in Gerichtspersonen zu verwandeln. 

Die Zahlenfiguren bei Kafka zu deuten: zwei Gehilfen, zwei Henker, 
drei Zimmerherren, drei junge Leute. »Ein Besuch im Bergwerk* — 
da geben der sechste und siebente eine Vorstellung davon, was 
sp'dter die Gehilfen sein werden. 

Die Livree oder der goldne Knopf am Rock als Emblem des Zusam- 
menhanges mit Hbherem: der Vater in der »Verwandlung«, der 
Diener im »Besuch im Bergwerk*, die Gerichtsdiener im »Prozefi«. 

Bei Kafka losen die Lebensbilder, die vielleicht weniger auf Grund 
der ratio als alter Mythologeme sich gebildet haben, sich auf und 
es entstehen, transitorisch, neue. Aber gerade dieses Fluchtige im 
Sicb-Bilden der Mythologeme, die in ihnen schon angelegte Auf- 
losung ist hier entscheidend. Es ist gut und gem das Gegenteil vom 
»neuen Mythos*, von dem hier die Rede ist* 

Das »Weben ohne aufzublicken*, das Bachofen an den tres anus tex- 
trices kennt, kann man auch an den Hauptpersonen des »Prozes- 
ses« und des »Schlosses« erkennen. Demgegenuber die Zerstreut- 
heit der Gehilfen. 

Das Werk von Kafka: die Erkrankung des gesunden Menschenver- 

standes. Auch des Sprichworts. 

Ms 209 

(Aufzeichnungen 2) 

»Er hat zwei Gegner: der erste bedrangt ihn von ruckwarts, vom Ur- 
sprung her. Der zweite verwehrt ihm den Weg nach vom. Er 
kampfi mit beiden.* Beim Bau der chinesischen Mauer p 224 

Sehr wichtig ist die Notiz: *Er war f ruber Teil einer monumentalen 
Gruppe* (Beim Bau p 217) Denn erstens gehort sie dem Komplex 
von Bildern der Plastik an, der bestimmt nicht bedeutungslos ist 
(vgl. die Engel von Oklahoma) Zweitens ist in dieser Notiz be- 
merkt, er sei aus der Gruppe herausgetreten. Das ist wahrschein- 
lich ein Gegenstuck zu dem Eingehen ins Bild, das die chinesischen 
Marchen haben. 

Die von Massen bemerkten Worte, Geberden, Geschehnisse sind an- 
ders als die von einzelnen bemerkten. In der Ruhe von grofien 



1 194 Anmerkungen zu Seite 409— 438 

Massen aber andert sich auch fur den einzelnen schon das Merk- 
feld. Ein Typus wie Schweyk kapituliert zum Beispiel aufs gliick- 
lichste vor dem Massendenken. Bei Kafka kommt es vielleicht zu 
Konflikten. Vgl. »Er lebt nicht wegen seines personlichen Lebens, 
er denkt nicht wegen seines personlichen Denkens. Ihm ist als lebe 
und denke er unter der Notigung einer Families (Beim Ban 
p 217/18) 

»Alles ist ihm erlaubt, nur das Sicbvergessen nichu. (Beim Ban 220) 
Dem Dunkel des gelebten Augenblicks entrinnt zwar der, der ins 
Bild eingeht. Kafka entflieht ihm aber nicht sondern durcbdringt es. 
Dazu muft er die Malarialufl des Daseins tief einatmen. 

Revolutiondre Energie und Schwache sind bei Kafka zwei Seiten ein 
und desselben Zustands. Seine Schwache, sein Dilettantismus, sein 
Unvorbereitetsein sind revolutionary (Beim Bau p 212/13) 

Kafka sagt, daft er das Nichts schon immer »als sein Element fiihlte*. 
Was meint er damitf Schopferische Indifferenz? Nirwanaf (Beim 
Bau p 216) 

»Selbst eine Mauerassel braucht eine verbaltnismafiig grope Ritze, um 
unterzukommen« , fiir seine Untersuchungen, Betrachtungen, »Ar- 
beiten aber ist Uberhaupt kein Platz notig, selbst da, wo nicht die 
geringste Ritze ist, konnen sie, einander durchdringend, noch zu 
Tausenden und Abertausenden leben.* (Beim Bau p 21s) 

Anklopfen der Bretterwand mit dem Schddel durch den Affen (Land- 
arzt p if 9); »sein eigner Stirnknochen verlegt ihm den Weg« (Beim 
Bau der chinesischen Mauer p 213); mit der Stirn gegen die Erde 
anrennen (Beim Bau p 82) 

Fur das Motiv der Verwandlung ist es wichtig, daft sie bei Kafka von 
beiden Seiten her vollzogen wird; der Affe wird Menscb; Gregor 
Samsa wird Tier. , 

Bericht an eine Akademie: hier erscheint Menschsein als Ausweg. 
Grundlicher kann es wohl nicht in Frage gestellt werden. 

*ln der Geschlossenheit ihres Symbolgehalts Marchen und Mythen 
vergleicbbar* sagt [Hellmuth] Kaiser [Franz Kafkas Inferno, 
Wien 1931] (p 3) von Kafkas Schriflen mit Recht. 

Wenn bei Julien Green das eigentliche, alle Figuren beherrschende 
Laster die Ungeduld ist, so ist es bei Kafka die Faulheit. Die Men- 
schen bewegen sich wie in feuchter von schwiilem Brodem erfullter 
Luft. Nichts liegt ihnen ferner als Geistesgegenwart. Besonders ist 
es in den Frauengestalten deutlich, daft ein Zusammenhang zwi- 
schen ihrer Bereitschaft zum Geschlechtsverkehr und ihrer Faulheit 
besteht. 

Ms 210 



Anmerkungen zu Seite 409—438 U95 

Im Folgenden eine Reihe wichtiger Korrespondenzen der »Betrach- 
tung« zu sp'dteren Werken von Kafka. 

»Die andern mit Tierblick anschaun* p 34 das erscheint hier als Aus- 
druck fur »die letzte grabmafiige Rube* [dahinter: Schnorkel/ 

{Kleider, die »Staub bekommen, der, dick in der Verzierung, nicht 
mehr zu entfernen i$U p 64 Schliefilicb auch das Gesicht »ver- 
staubt, von alien schon gesehn und kaum mehr tragbar.* p 6f} 

Der Kaufmann erklart, er »gehe wie auf Wellen, klappere mit den 
Fingern beider Hande und mir entgegenkommenden Kindern fahre 
ich uber das Haar.« p 46 Kinderengel: »Flieget weg« p 48 Auch 
sonst hier Spur en von »Amerika«. 

*Ganzlich aus deiner Familie ausgetreten* p 30 Unmittelbar danach 
kUngt es, als vollziehe sich die Verwandlung des Redenden in ein 
Pferd. 

{»Unglucklichsein« : der Schreibende I'dufl Uber den schmalen Tep- 
pich seines Zimmers »Wie in einer Rennbahn* p 80} Dann er- 
scheint als die Hauptfigur dieser Betracbtung das gespenstische 
Kind. - Der Mann, der den Kopf »unter einer Wolbung des Trep- 
penhauses vorbeugen* mufl. p 98 

In der »Abweisung« ist die Fran altmodisch angezogen. p 68 Altmo- 
dische Autobewegung p 67 Die Pferde reijlen mit ihrem harm dem 
muden Mann den Kopf abwarts. p 76 

*Zum Nachdenken fur Herrenreiter* betont wieder die Rennbahn, 
scheint aber sie und die Pferde gegen diese ganze Art des Betriebes 
in Schutz nehmen zu wollen. 

»Versteht sich, daft alle im Frack sind* p 37 - die Niemande namlich. 
So auch die »Scharfrichter* im »Prozefi*. 

{»Ich bin mit Recht verantwortlich fiir alle Schlage gegen Turen* 

PS4) 
{»Entlarvung eines Bauernfangers* - Vorstudie zu den Gehilfen.} 
{Nachbar lander mogen in Sehweite liegen.) [s. Nachweis zu 424,6] 

Dorflufl Kafka und China 

Ein Kinderbild Vater und AhnenlDas Tao/Die Geister 

Odradek Rosenzweig 

Das Testament Kafka und das XIX Jahrhundert 

Potemkin Das Kinderbild/ Passagenf Bur okratie 

Amerika als Befreiung/Indianer 

Versicherungsbeamter 
Kafka und die Vorwelt 

Schuld und Strafe 

Die Sumpfwelt/Das Testament/Tiere 
Kafka und das Judentum 



1 196 Anmerkungen zu Seite409— 438 

BettlergeschichtelDas ndchste Dorf 
Erinnern und VergesseniDorflufl 
Ka}ka und seine Zeit 

Ein altes BlattlUndankbarkeit 
Hofjnung 

Ms 211 



(Aufzeidmungen 3) 

{Doppelgesichtigkeit der Kafkaschen Angst: wie [Willy] Haas sie 
interpretiert und wie es dutch uns geschieht. Die Angst ist nicht - 
wie die Eur dot - eine Reaktion sondern ein Organ.} 

{»Unabsehbar war die Welt der fur ihn wichtigen Tatsachen.*} 

Die Namen bei Kafka als Verdicbtungen seiner Gedachtnisinhalte. 
Gegenteil der assoziativen Schreibweise. Namen in volkstumlicher 
Literatur - die Bedeutung des Josef K. 

Kafkas »Faustdicbtung*. Der Unterschied in der Zielsetzung; der 
Unterschied in dem Erlosenden. Und so bleibt denn schlieftlich vom 
Faustbafien nicht viel iibrig. Auch diese Dichtung ist vielmehr die 
eines Mifilingens wie alle Kafkaschen. »Wie mans macht, ist es 
falsch.* Abet in diesem Miftlingen bereitet sich freilich ganz im Bo* 
densatze und in der untersten Schicht der Kreatur, bei den Ratten, 
Mistkdfern und Maulwiirfen die neue Verfassung der Menschheit, 
das neue Ohr fur die neuen Gesetze und der neue Blick fur die neuen 
Verhdltnisse vor. 

{Vor einigen Wochen 1st von Franz Kafka der Band »Beim Bau 
der chinesischen Mauer* erschienen. Ich glaube nicht, dafi damit die 
Reihe der Werke erschopft ist y in denen das Schaffen dieses Mannes - 
fast durchaus in der Gestalt des Nachlasses - unter die Lebenden 
tritt. Noch haben wir zumindest die Fulle der Varianten und Stu- 
dien zu den halbvollendeten grofien Werken t vor allem zum Schlofi 
zu erwarten. Wer Kafka war, das hat weder er selbst deutlich sagen 
wollen - man konnte von ihm die Legende bilden, er sei ein Mensch 
gewesen, der ununterbrochen mit seiner Selbsterforschung beschdfiigt 
gewesen sei aber nicht einmal in einen Spiegel geblickt habe - weder 
er selbst hat es sagen wollen, weder er selbst hat sich anders als halb- 
laut, scheu und fliichtig mit dem gemurmelten K. seines Namens, das 
in den groflen Romanen der des Helden ist, angesprochen noch wis- 
sen wir selbst es. Sie wer den es also auch hier von mir nicht erfahren.) 
[s. 677,9-23} 

{Ware es der Augenblick, bei den Formfragen zu verweilen, so 
hatten wir mancherlei Aufscblufi von dem Beweise des Satzes zu 
erwarten, daft seine groften Werke nicht Romane sondern Erzdhlun- 
gen sind.} 



Anmerkungen zu Seite 409—438 n 97 

{Ich glaube iibrigens in diesem Dor}, das zu Fufyen des Schlofi- 
bergs liegt, das Dorf einer talmudischen Legende wiederzuerken- 
nen.} [s. 680,14 f-J 

{Der Nachruhm und wie er zum sekreten Charakter der Kafka- 
schen Schrifien steht.} 

{Die Deutung der »Schuld« im »Proze$«: das Vergessen.} 

{Auf der andern Seite scheint es aber bisweilen auch die trostlose 
Aujgabe oberer M'dchte zu sein, dem Menschen seine Schuld zu bewei- 
sen, Und dann ist der en Lage fur sie, trotzdem sie zum duflersten 
entschlossen sind (Schlofi p 498) ebenso hoffnungslos wie die des 
Menschen in der Defensive,} 

{Die drei Romane der Einsamkeit: wenn man will. Diese Einsam- 
keit ist aber nicbt von Romantischer Art, Es ist die von aufien aufge- 
zwungne, nicht die innere, seeliscbe Einsamkeit, die seine Helden 
kennzeichnet.} 

Wie tief die Oberen gesunken sind, daft sie nun ganz auf einer 
Stufe mit den Untersten stehen, die Menschen mitten unter ihnen. Es 
herrscht eine heimliche Solidarttat der Angst hier zwischen den Wesen 
aller Stufenordnungen der Kafkaschen Hierarchic Und mit welcher 
Erlosung Kafka Sancho Pansa begrufit, der den menschlichen Ausweg 
aus dieser Promiskuitat sich gebahnt hat. (Vgl. dazu die Flaubert- 
Anekdote »ils sont dans le vrai* [zit. bei Max Brod, Nachwort, 
in: Das Schlofl, Munchen 1926, 48$]). 

{Das Unvollendetsein der Fragmente ist das eigentliche Walten 
der Gnade in diesen Buchern.} 

{»Eine alltagliche Verwirrung* - das ist wahrscheinlich ein Stuck 
auf dem Naturtheater von Oklahoma. 1m ubrigen ist diese Erzah- 
lung ein Beispiel fur die Entstellungen der Zeit genau wie »Das nach- 
ste Dorf*.} 

In vielen Raumen zwingt die niedrige Decke die Leute in eine 
gebiickte Haltung. Es ist als wenn sie eine Last trugen und die ist 
sicker ihre Schuld. Andererseits verfiigen sie gelegentlich uber Kis- 
sen, die sie zwischen sich und die Decke legen. Das heiflt sie wissen 
sichs mit ihrer Schuld behaglich einzurichten. [s. 678,6-12] Wenn sie 
an Gerichtsstelle erscheinen so haben sie es sehr warm; etwas zu warm 
gewifi, aber vor allem brauchen sie nicht zu frieren und genieflen doch 
auch hier eben eine Art von Behaglichkeit. Dafi damit alle Behaglich- 
keit uberhaupt in eine recht zweideutige Beleuchtung tritt, ist im 
Sinne von Kafka. Vgl Verwandlung: das Ungeziefer kann den Kopf 
unterm Kanapee nicht heben. 

Die Ritze in den Bret tern des Affenkdfigs und in der Bretterttir 
Titorellis. 

Ms 213 



1 1 9 8 Anmerkungen zu Seite 409—4 3 8 

(Aufzeichnungen 4) 

/. . . obere Ecke abgerissen] Kafka 

/. . . w. o.J niitzlich sein, vor der Abfassung Blatter von Hieronymus 
Bosch zu studieren, dessert Monstren [. . . w. o.Jicht mit denen 
Kafkas Verwandtschaft haben. 

/. . . w. o.J von Georg Soberer 

»Betrachtung« 

{Wie die Werke von Kafka gewaobsen sind. Der »Prozefi* aus dem 
MrteiU (oder aus dem »Gesetz« - aucb der »Scblag ans Hoftor* 
gehort hierber) »Amerika« aus dem »Heizer«.} 

{Die Namen der Leute mit [ein Wort nicht mehr zu entziffernj 
Nucbternheit besiegeln den Anspruch dessen, was er gescbrieben bat, 
buchstablich genommen zu werden.) 

Einen wirklicben Schlussel zur Deutung Kafkas bait Chaplin in Han- 
den. Wie Chaplin Situationen gibt, in denen siob auf einmalige Art 
das Ausgestofien- und Enterbtsein, ewiges Menschenweh, mit den 
besondersten Umstanden heutigen Daseins, dem Geldwesen, der 
Grofistadt, der Polizei u.s.w. verbindet, ist auoh bei Kafka jede 
Begebenheit janushafi, ganz unvordenklicb, geschichtslos und dann 
auoh wieder von letzter, journalistiscber Aktualitdt. Von theologi- 
schen Zusammenhangen zu reden batte alien falls der ein Recht, der 
dieser Doppelheit naobginge; gewifi nicht, wer nur ans erste dieser 
beiden Elemente anschliejlt. Im ubrigen setzt siob diese Zwei- 
stookigkeit genau so in seiner schriftstelleriscben Haltung durch, die 
im Stile des Volkskalenders mit einer ans Kunstlose grenzenden 
Schliobtheit eplsche Figuren verfolgt wie nur der Expressionismus 
sie finden konnte. 

{Die beiden grundsatzlichen Irrtilmer im Versucb, der Welt Kafkas 
nahezukommen sind die unmittelbar natiirlicke und die unmittel- 
bar bistorische Deutung: die eine vertreten durob die Psychoanalyse, 
die andere durch Brod.} 

{Diese Umsohreibung des Tao als »das, was dadurob, dafi es >mcbts< 
ist, das Etwas >brauobbar< machu, trifft den Ton vieler Aussagen 
und Worte bei Kafka. (Sancho Pansa als Taoist)} [s. 4356 f.J 

{»Ihm gilt gerade die Tulle der Welt als das allein Wirkliche. 
Aller Geist mu$ dinglich, besondert sein, um bier Platz und Da- 
seinsrecht zu bekommen . . . Das Geistige, insofern es noch eine 
Rolle spielt, wird zu Geistern. Die Geister werden zu ganz indivi- 
duellen Individuen, selber benannt und dem Namen des Verehrers 
aufs besonderste verbunden; die Geister seiner Abnen. . . . Unbe- 
denklich wird mit ihrer Fulle die Fiille der Welt noch uberfullt. 
. . . Unbekummert mehrt sich hier das Gedrange der Geister; jeder 
unsterblich fiir sich, immer neue zu den alten, alle eigennamlich von 



Anmerkungen zu Seite 409—438 H99 

einander geschieden.* Es ist nicbt etwa Kafka, von dem bier die 
Rede ist - es ist China. So bescbreibt Rosenzweig den chinesiscben 
Ahnenkult (Stern der Erlosung Frankfurt aiM 1921 p 76/77) und 
die Uberrasdoende Abnlichkeit, die Kafkas Welt in solchem Lichte 
mit der des cbinesischen Kults erhdlt t legt es nabe, binter der Vater- 
vorstellung vielmehr die der Abnen in Kafkas Werken zu suchen: 
wie auch freilich ihr Gegenbild: die der Abkbmmlinge.) 

{Oskar Baum spricht in einem Aufsatz in der »Literarischen Welt* 
vom Konflikt irgend welcber Pflichten, die der Mensch Kafkas in 
sicb austrage. So scbablonenbaft diese Vorstellung ist, so schlagend 
ist was Baum im unmittelbaren Anschlufi an diese Darlegung 
meint: »Die Tragik der Unvereinbarkeit dieser Pflicbten ist mit 
einer fast lachelnden Grausamkeit immer als Scbuld des Helden 
empfunden, eine Schuld, die aber dodo wieder etwas sebr Begreif- 
liches, fast Selbstverstdndliches hat.* Es gibt in der Tat weniges 
so Bezeichnende fiir Kafka wie der scbeele Blick, der immer von 
ihm aufs Schlechte, Storende, Verworfene wie auf etwas lastig- 
aber altgewohntes geworfen wird.) 

Es ist an Kafkas Helden uberdeutlicb eine Erscheinung wahrzuneh- 
men, die man als den V erf all der Mu$e bezeichnen kann. Mufie 
und Einsamkeit gehoren zusammen. Nun aber ist die Einsamkeit in 
Gdrung ubergegangen. Man mufi ihr aus dem Weg gehen. 

Ms 214 

(Aufzeichnungen 5) 

{»Um mogUchst schwer zu sein, was ich fur das Einschlafen fiir gut 
halte, hatte ich die Arme gekreuzt und die Hande auf die Schultern 
gelegt y so daft ich dalag wie ein bepadzter Soldat.* Kafka, 7 age- 
buck vom j Oktober 191 1} 

»2eit zu befeblen« oder vielmehr »nicht Zeit zu befehlen* haben - 
eine sebr aufschluflreiche Wendung aus dem Tagebuch. Eine hochste 
moralische Aufgabe des Menschen: die Zeit auf seine Seite zu brtn- 
gen. Das konnte ein gracianscher Begriff sein. Dahin kommen, dafi 
die Zeit fiir einen arbeitet, wie das die Probe auf die Richtigkeit je- 
der Situation ist indem sie ebensoviel von der Dauer wie bei einem 
plotzlichen Wechsel zu gewinnen bat. Eine ausgezeiohnete Vorstel- 
lung, daft der Befehlende gewissermafien in der Zeit ausholen mufl, 
um den Zweck seines Befehls zu erreichen. 

{In China ist der inner e Mensch »geradezu charakterlos ; der Be- 
griff des Weisen, wie ihn klassisch . . . Kongfutse verkorpert, 
wischt uber alle mogliche Besonderheit des Charakters hinweg; er 
ist der wahrhafl charakterlose, namlich der Durchschnittsmensch. 
. . . Etwas ganz anderes als Charakter ist es, was den chinesiscben 



1200 Anmerkungen zu Seite 409—438 

Menschen auszeichnet: eine ganz elementare Reinheit des Gefuhls. 
. . . Keine Lyrik irgend eines Volks ist so reiner Spiegel der sicht- 
baren Welt und des unpersonlichen, aus dem Ich des Dichters ent- 
lassenen, ja geradezu aus ihm abgetropften Gefuhls.* Franz Rosen- 
zweig: Stern der Erlosung p 96} 

{Schein und Wesen - es charakterisiert die Dichter am tiefsten, 
welcbe Beziehung diese beiden zu einander haben. Bei Kafka ist 
das sehr merkwiirdig; der Schein deckt bier das Wesen nicht son- 
dem er kompromittiert es, indent gerade das Wesen bei Kafka zum 
Scheinenden wird. So die Stadsten von Oklahoma, die gewifi En- 
gel sind y indem sie aber sick als solche anziehen ihr Wesen, das der 
Engel, kompromittieren.) 

{Ahnlich die Gerechtigkeit: unerforschlich sind ihre Ratschlusse. 
Eben das bringt das Prozefiverfahren bei Kafka zum Ausdmck. 
Aber in der Gestalt der Korruption.) 

{Dafi der Begriff der Entstellung in der Darstellung Kafkas eine 
doppelte Funktion hat, und welcbe zelgt jene judische Uberliefe- 
rung, nach der die Welt durch die Ankunft des Messias nicht etwa 
durch und durch verandert sondern nur in allem »ein klein wenig* 
anders werden soil als sie war. Wir verhalten uns, als lebten wir im 
1000 jahrigen Reich.} 

{Zum »Prozefi«: wie hter das Recht und das Gericht alle Fugen des 
sozialen Daseins durchdringt, das ist die Kehrseite der Gesetzlostg- 
keit in unsern gesellschafilichen Verhdltnissen.} 

Entstellung - » derangement de I* axe* sagt Bertaux. 

Vber das Gesetz und seinen Wachter: »Le gardien c y est la societe 
humaine. Elle ne comprend pas, elle ne connait pas la Loi que 
neanmoins elle garde. La connaissance qu'elle feint d'en avoir est 
reservee au gage superieur, inaccessible.* Felix Bertaux: Panorama 
de la litter ature allemande contemporaine Paris 1928 p 235 

Die ganze mafttose Verschlagenheit hat Kafka schon in der Erzah- 
lung »Auf der Galerie* dargestellt. Die Gesetzlosigkeit - kommt 
sie daher, daft die Unerbittlichkeit des Gesetzes selbst seinen Hiiter 
blendet? 

Es ist das Verhaltnis dreier Dinge: Gesetz - Erinnerung - Tradition zu 
klaren. Wahrscheinlich baut sich Kafkas Werk auf diesen dreien auf. 

(Aufzeichnungen 6} 
»Der neue AdvokaU [s. Nachweis zu 417,50]: Text zu einem Pi- 

cassobilde. 
{»Unabsehbar war die Welt der fur ihn wiohtigen Tatsachen* - 

nicht etwa weil er ein universalistisch gerichteter Geist sondern we'd 

er ein Monoman war.} 



Anmerkungen zu Seite 409—43 8 1 20 1 

Im Bodensatze der Kreatur, bei den Ratten, Mistkdfern, Maulwiirfen 
bereitet sich die neue Verfassung der Menschen, das neue Ohr fiir 
die neuen Gesetze, der neue Blick fur die neuen Verhdltnisse vor. 

{Die Entstellung wird sich selber aufkeben, indem sie sich bis in die 
Erlosung hinein durchsetzt. Diese Axenverschiebung in der Erlosung 
manifestiert sich darin y dafi sie Spiel wird (»Naturtheater von 
Oklahoma*). Das findet auf einer Rennbahn statt, weil auch die- 
sem antiken Spiel eine sakrale Bedeutung einwohnt.} 

Ein Beispiel fiir kurzfristiges Vergessenwordensein: der Kanzleidirek- 
tor im Krankenzimmer von Huld. Man kann aus dem Hinweis 
auf die »Hande, die er wie kurze Flugel bewegte* annehmen, daft 
hier der Verwandlungsprozefi bereits begonnen hat. (Prozefi p 180) 

Die Leute fallen wie Ermudete in Schlaf so jeden Augenblick in ihre 
Einsamkeit zuriick; der Onkel, der die Kerze auf seinem Schenkel 
balanziert. (Prozeft p 182) 

{Die Welt der Monstra: Lent und ihre Schwimmhaut (Prozefi 
p 190/191) Vielleicht eine Andeutung auf ihren Sumpf- oder 
Wasser-Ur sprung. } 

Zur Verkommenheit dieser Welt: »alle t die vor diesem Gericht als 
Advokaten auftreten s sind in W'trklichkeit nur Winkeladvokaten.* 
(Prozefi p 199) Es ist hier auf ein Motiv meiner Arbeit iiber Green 
[s. 328-334] zu verweisen: der alteste und der jungste Abschaum 
decken sich. In dieser Phase des Kapitalismus werden gewisse Ele- 
mentarverhaltnisse aus Bachofens Sumpfzeit wieder aktuell. {Die 
Kafkasche Logik als Sumpflogik. Auf weite Strecken hin ertrecken 
sich die Darlegungen seiner Figuren wie ein Asphalt iiber s Moor.) 

Ms 215 

(Aufzeichnungen 7) 

Zum Naturtheater von Oklahoma: im neuen Advokaten betrachtet 
ein ganz einfdltiger »Gerichtsdiener mit dem Fachblick des kleinen 
Stammgastes der Wettrennen den Advokaten*. 

Die niedrige Decke - die auch das Advokatenzimmer hat - driickt 
die Bewohner moglichst an die Erde. 

{Bei Kafka ist die Neigung sehr bemerkenswert, den Vorf alien ge~ 
wtssermafien den Sinn abzuzapfen. Siehe den Gerichtsbeamten, 
der eine Stunde lang die Advokaten die Treppe hinunterwirfl. Es 
bleibt hier nichts wetter als der Gestus ubrig, der aus alien affekti- 
ven Zusammenhdngen herausgelost ist.} 

{Erinnern als Aufgabe, die Schwierigkeit der Eingabe »weil in Un- 
kenntnis der vorhandnen Anklage und gar ihrer moglichen Erwei- 
terungen das ganze Leben in den kleinsten Handlungen und Ereig- 
nissen in die Erinnerung zuruckgebracht, dargestellt und von alien 



1202 Anmerkungen zu Seite 409—438 

Seiten iiberprufl werden mufite. Und wie traurig war eine solche 
Arbeit uberdies. Sie war vielleicht geeignet, einmal nach der Pen- 
sionierung den kindisch gewordnen Geist zu beschafiigen.* (Pro- 
zefi p 222)} 

{K. nimmt das Papier auf die flache Hand und hebt es allmdhlich, 
w'dhrend er selbst aufsteht, zu den H err en hinauf (Prozefi p 226)} 

Vergleicb zwiscben Kafka und Pirandello. Das expressionistische Ele- 
ment bei beiden. Jede Situation geht von Ewigkeit her zu Ewigkeit 
bin. 

{»Unabsehbar war die Welt der fur ihn wichtigen Tatsachen* schreibt 
Max Brod. Und man wird annehmen durfen y dafl viele, wenn nidot 
die meisten von ihnen in ganz schlicbten oder mindestens knappen 
Geberden bestanden haben s deren Hintergrund oder Existenzraum 
er in seinen Romanen zeigt.} 

Kafkas Konditionalsatze sind Treppenstufen, die immer tiefer und 
tiefer fuhren t bis das Denken zuietzt in die Schicht gesunken ist, in 
der seine Figuren leben. 

{Die Gericbte sind auf den Dachboden. Vielleicht nahert man sich 
ihrem Verstdndnis, erinnert man sich, dafi Boden der Ort der 
gdnzlich ausrangierten, vergessnen Effekten sind. Vielleicht rufl die 
Notwendigkeit, diesen Gerichten sich stellen zu mussen, ahnliche 
Gefilhle hervor, wie der Zwang an jabrelang verschlossene Truhen 
oder Koffer mit Effekten auf dem Dachboden heran zu gehen.} 

{Fur das Verhdltnis von Schein und Wesen in dieser Welt sind die 
Portrats der Richter von Wichtigkeit und vor allem ist da der Satz 
des Titorelli bezeichnend: »Wenn ich hier alle Richter nebenein- 
ander auf eine Letnwand male und Sie werden sich vor dieser 
Leinwand verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben als vor 
dem wirklichen Gericht.* VgL den Begriff der »scheinbaren Frei- 
sprechung*.} 

»Es gehort ja alles zum Geridhu. (Prozefi p 262) 

{»Es gibt bei Gericht kein Vergessen.* (Prozefi p 277)} 

{W'dhrend der »Proze$* mehr die Defensive des Angeklagten zeigt, 
gewinnt es im »Schlofl* bisweilen den Anschein, als sei es die trost- 
lose Aufgabe oberer Machte, dem Menschen seine Schuld zu bewei- 
sen. Und dann ist deren Lage, trotzdem sie zum dufiersten ent- 
schlossen sind (Schlofi p 498) ebenso hoffnungslos wie die des Men- 
schen in der Verteidigung.) 

{»Zwei Moglichkeiten: sich unendlich klein machen oder es se'm. Das 
zweite ist Vollendung, also Untdtigkeit, das erste Beginn, also 
Tat.* China halt es mit dem zweiten, Kafka mit dem ersten. 
(Beim Bau p 244)} 

Bei Kafka erscheint die Welt in einer Krisis; bei wahrendem Schnee 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1203 

und Regen wird sie von einem Zustand in den andern ubergefuhrt. 
Vber das Verbaltnis dieser beiden Zustdnde gibt es Andeutungen: 
»Nur bier ist Leiden Leiden. Nicht so, als ob die, welcbe bier lei- 
den, anderswo wegen dieses Leidens erboht werden sollen, sondern 
so, da/! das, was in dieser Welt Leiden hei$t, in einer andern Welt, 
unverandert und nur befreit von seinem Gegensatz, Seligkeit ist.* 
(Beim Ban p 24$) 

Dialektiscbe Gegensdtze der Situationen: Vergleich eines Menschen 
mit einem Billard, das erst zerstort, dann verwiistet wird (Beim 
Ban p 248) oder: »Was tatig zerstort werden soil, mufi vorher 
ganz fest gebalten worden sein.« (Beim Bau p 244) 

Eines der wicbtigen Bilder das von den vielen Kindern, die im »]dger 
Gracchus* und bei dem Maler Titorelli vorkommen. 

Versuch, die Episode mit den Heidebildern zu deuten: in der Zeit der 
Holle ist das Neue (Pendant) immer das ewig selbe. 

»Das Gericht will nichts von dir. Es nimmt dicb auf, wenn du kommst 
und entldpt dicb, wenn du gehst.* (Prozefi p 391) Mit diesen letz- 
ten Worten, die K. erfahrt, ist eigentlicb ausgesprochen, daft sich 
das Gericht von jeder beliebigen Situation garnicbt unterscbeide* 
Denn das gilt von jeder Situation, aller dings unter der einen Vor- 
aussetzung, dajl man sie nicht durch K. sich entwickeln[d] sondern 
[als] ihm dufierlich und gleichsam auf ihn wartend auffasse. Und 
gerade das geschieht mit besonderm Nacbdruck im neunten Kapitel, 
von dem die zitierten die Schlufiworte sind. So sind wohl auch im 
Traum die Situationen, in die wir geraten[,] wie Hohlformen, aus 
denen unser Wesen gegossen wird in den Stoff der Angst, der Schuld 
oder wie man es nennen mag. 

{Schonbeit ist bei Kafka nie auf Seiten jener hurenbaflen Frauen, 
da fur an sebr unvermutbaren Stellen wie bei den Angeklagten.} 

Us 216 



b. Eintragung im <Tagebudi) Mai - Juni 1951 

6. Juni. Brecbt sieht in Kafka einen propbetischen Schriftsteller 
[s. 678,23]. Er erkldrt von ihm, er verstebe ihn wie seine eigne 
Tasche. Wie er das aber meint, ist nicht so leicbt zu ermitteln. Fest 
steht ihm jeden falls, dafl Kafka nur ein einziges Thema hat, dafi der 
Reichtum des Schriftstellers Kafka genau der Variantenreichtum von 
setnem Thema sei. Dies Thema ist, im Sinne Brechts, aufs allgemeinste 
als das Staunen zu bezeichnen. Das Staunen von einem Menschen, 
der ungeheure Verscbiebungen in alien Verhaltnissen sich anbahnen 
fiihlt obne den neuen Ordnungen sich selber einfugen zu konnen. 
Denn diese neuen Ordnungen - so glauBe ich Brecbt richtig verstan- 



1204 Anmerkungen zu Seite 409—438 

den zu haben - sind dutch die dialektischen Gesetze bestimmt, die 
das Dasein der Massen sich selber und dem einzelnen diktiert. Der 
Einzelne aber, als solcher, mup mit einem Staunen, in das sich freilich 
paniscbes Entsetzen mischt, auf die fast unverstandlichen Entstellun- 
gen des Daseins antworten, die das Heraufkommen dieser Gesetze 
verrat. - Kafka, scheint mir, ist davon so beherrscht, dap er ilber- 
haupt keinen Vorgang in unserm Sinn unentstellt darstellen kann. 
Mit andern Worten, alles, was er beschreibt, macht Aussagen uber 
etwas anderes als sich selber. Der dauernden vision'dren Gegenwart 
der entsiellten Dinge erwidert der untrostliche Ernst, die Verzweif- 
lung im Blick des Schrifistellers selbst [s. 678,26-679,1], Dieser 
Haltung wegen will Brecht ihn als den einzig echten bolschewisti- 
schen Schrifisteller gelten lassen. Die Fixierung Kafkas an sein eines 
und einziges Thema kann beim Leser den Eindruck der Verstocktheit 
hervorrufen. Im Grunde ist dieser Eindruck aber nur ein Anzeichen 
davon, dap Kafka mit einer rein erzahlenden Prosa gebrochen hat. 
Vielleicht beweist seine Prosa nichts; auf jeden Fall ist sie so beschaf- 
fen, dafi sie in beweisende Zusammenhange jederzeit eingestellt 
werden kann. Man konnte an die Form der Hagada erinnern: so 
nennen die Juden Geschichten und Anekdoten des Talmud, die der 
Erklarung und Bestdtigung der Lehre - der Halacha, dienen [s. 679, 
2-8J. [SigleJ Die Lehre als solche ist freilich bei Kafka nirgends 
ausgesprochen. Man kann nur versuchen, sie aus dem erstaunlichen, 
aus Furcht gebornen oder furchterweckenden Verhalten der Leute 
abzulesen. 

Es konnte uber Kafka einigen Aufschlufi geben, dajl er die ihn am 
meisten interessierenden Verhaltungsweisen oft Tieren beilegt. Solche 
Tier geschichten kann man dann eine gute Weile lesen ohne uberhaupt 
wahrzunehmen, dap es sich hier garnicht um Menschen handelt. 
Stofit man dann erstmals auf den Namen des Tiers - die Maus oder 
den Maulwurf - so wacht man, wie mit einem Chock mit einmal 
auf und sieht: dap man vom Kontinent des Menschen schon weit ent- 
fernt ist. So weit, wie eine kiinflige Gesellschafi von ihm entfernt sein 
wird. Vbrigens ist die Welt der Tiere, in deren Gedanken Kafka die 
seinigen einhullt, beziehungsvoll. Es sind immer solche die im Erd- 
innern, wie Ratten und Maulwurfe, oder wenigstens, wie der Kafer 
in der *Verwandlung« Tiere, die auf dem Boden, verkrochen in 
seine Spalten und Ritzen leben. Solche Verkrochenheit scheint dem 
Schrifisteller fur die isolierten, gesetzunkundigen Angehorigen seiner 
Generation und seiner Umwelt allein angemessen [s. 680,32-681,8}. 
(SigleJ 

Brecht stellt den Kafka - die Figur des K. - dem Schweyk gegen- 
uber: der, welchen alles und der, den nichts wundert [s. 436,1-3]. 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1205 

Schweyk macht die Probe auf die Ungebeuerlicbkeit des Daseins, in 
welches er gestellt ist, indent ihm garnichts unmoglich scheint. Er hat 
die Zustande als derart gesetzlos kennen gelernt, dap er ihnen Vdngst 
nirgends mehr mit der Erwartung von Gesetzen entgegentritt. Kafka 
dagegen stojlt schon allenthalben auf das Gesetz; ja man kann sagen, 
dafi er sich die Stirn an ihm blutig stofit (s. den Maulwurf vgl. auch 
p 213) aber es ist nirgends mehr das Gesetz der Dingwelt, in der er 
lebty und Uberhaupt keiner Dingwelt. Es ist das Gesetz einer neuen 
Ordnung, zu der alle Dinge, in denen es sich auspragt, windschief 
stehen s das alle Dinge, alle Menschen entstellt, an denen es in Er- 
scheinung tritt. 

Druckvorlage: Besitz Stefan Brecht, New York 

c. {Aufzeichnung 8) 

Kafka r'dumt ganze ungeheure Areale, die von der Menschheit besetzt 
waren, nimmt sozusagen einen strategischen RUckzug vor; er nimmt 
die Menschheit auf die Linie des Sumpfes zuriick. 
Es kommt ihm darauf an y die Gegenwart durchaus zu eliminieren. 
Er kennt nur Vergangenheit und Zukunft, die Vergangenheit als das 
Sumpfdasein der Menschheit in gdnzlicher Promiskuitdt mit alien 
Wesen, als Schuld, die Zukunft als Strafe, Siihne, vielmehr: von der 
Schuld her stellt sich die Zukunft als Strafe dar> von der Erlosung 
her stellt sich die Vergangenheit als die Lehre } die Weisheit dar. 
Der Prophet sieht die Zukunft unter dem Aspekt der Strafe. 
Kafka revidiert die Geschichte: 

Das Wissen fordert die Strafe heraus und die Schuld die Erlosung[.] 
Es gekt ein Sprung durch die Namen seiner Personen: teils gehoren 
sie der verschuldeten Welt und teils der erlosten an. Diese Spannung 
tst auch wohl Grund der ubermdfiigen Bestimmtheit in seinen An- 
gaben. 

Druckvorlage: Ts 429 (Riickseite) 



3. Schemata, D ispo s i t ion en und Aufzeichnun- 
gen (bis ca. August/September 1934) zum 
Kafka-Essay von 1934 

a. Schemata, Dispositionen und vermischte Aufzeichnungen bis ca. 
Mai/Juni 1934 

Zentren 
{Dorfluft} - »Das ndchste Dorf* - Stubenluft bei dem alien Ehe- 
paar, bei Klamm t der im Wirtshaus sitzt - neunzehntes Jahrhundert 
- {Spruch des Laotse} - 



no6 Anmerkungen zu Seite 409—438 

{Das Kinderbild - »Wunsch t Indianer zu werden* - elementare 

Reinheit des Gefuhls} - Amerika als Befreiung - 

Die Potemkin-Gescbicbte - das Verhaltnis von uns zu den Oberen 

und das Umgekebrte - {»Ein altes Blatu - Wesen der Feindschafl) - 

{Die Monstra - das bucklicht Mannlein - Gestalt der Dinge in der 

Vergessenbeit - der bepackte Soldat -} 

Lesebuchstil - Primat des Gestus - Seine Unverstandlichkeit - Das 

Testament: eine (unlosbare) Aufgabe - Gestus der Tiere - Vorsicht 

des Schreibenden - das Stadtwappen - Gescbmack [GeschenkfJ des 

Apfels - [am Rand:] {Romancier und Erzdhler -} 

{Das Talmuddorf - Der Korper des Tieres in uns - Die Vorwelt 

des Sumpfes - Mildigkeit -} 

{Das Tao - China - Das Geisteraufgebot] - Don Quichote, ein un- 

ruhiger Geist - 

Das Ungeheure als Gewahrleistung des Alltaglichen - Die dienenden 

Titanen - Die Tiere aus dem Erdinnern - Unendlich viel Hoff- 

nung da (fur diese) - 

Ms 224 

Motive 
»Der Schlag ans Hoftor« (Ban) 

1) »Ich bin mit Recht verantwortlicb fur alle Schlage gegen Turen* 

(Betrachtung) 
Der Schreibende lauft uber den scbmalen Teppicb seines Zimmers 

»wie in einer Rennbabn*. (Betrachtung) 
Die Rennbahn in dem Roman »Amerika* 

2) Zum Nacbdenken fur Herrenreiter (Betrachtung) 

Ein gespenstisches Kind in »UnglUcklichsein« (Betrachtung) 

3) Die Kinder bei Titorelli (Prozefl) bei Gracchus (Bau) 

»Die andern mit Tierblick anschauen* - ein Ausdruck fiir 

4) »letzte grabmafiige Ruhe*. (Betrachtung) 

Die Ritzen in den Brettern des Affenkdfigs [Bericht f. eine Ak.J 
j) Die Ritze in der Tur Titorellis (Prozefl) 

Das Ungeziefer kann den Kopf unter dem Kanapee nicht heben 
(Verwandlung) 

6) Die Galeriebesucher stofien mit dem Kopf an die Decke (Prozefl) 
Die Kreuzung aus Lamm und Katzchen (Bau) 

7) Die Spule Odradek (Landarzt) 

Leni mit ihrer Schwimmhaut (Prozefl) 

Der Kaufmann erklart, er »gebe wie auf Wellen, klappere mit 

8) den Fingern beider Hdnde*. (Betrachtung) 

Beim kranken Huld verweist der Autor auf die »Hande, die er 
wie kurze Flugel beivegte.« (Prozefl) 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1207 

Die beiden Gebilfen, die zum Fenster bereinseben (Scblofi) 
9) Die beiden Pferde, die es tun (Landarzt) 

Die Krahen, die gegen den Himmel angeben (Bau) 
10) Die Krdben, welche urns Scblofi fliegen (Scblofi) 
[Die Nummern i), 2) und 7) scheinen abgehakt; die Haken konnten 
aber auch eine Verkniipfung der numerierten Zeilen mit der jeweils 
vorhergehenden ausdriicken.] 

Ms 22$ 

Die Potemkin-Geschicbte 
Die Anekdote von Hamsun 
Das Kinderbild von Kafka 
Das bucklicbt Mannlein 
Die Wabrbeit Uber Sancbo Pansa 
Bild aus der illustrierten »Gescbicbte der Juden* 
Cbassidiscbe Bettler-Gesdoidote 
Das nacbste Dorf 
[Die Zeilen 1, 3, 4 und 8 sind abgehakt; es folgt mutmafilicher Zwi- 
schentitel-Entwurf:] 

Ein Kinderbild 

Das nacbste Dorf 

Das bucklicbt Mannlein 

Sancbo Pansa 

Ms 226 

Di e Gestaltwelt Kafkas 

Potemkingescbicbte \ Die Vdter, die Ermiideten, die Oberen / 



Prozefl 

Die Frauen, die zu allem zu haben sind I Der Scbofi der Familie I 

Die Monstra I Die Tiere I Die Vermittler und Botengeister: Ge- 

hilfen 

Hoffnung fur wen? 

Kafkas Welttbeater 

Kinderbild f Wunscb, Indianer zu werden I Erfullung in Oklaho- 
ma I Lauterkeit 

Das Gestische I Vieldeutigkeit I Verzicbt auf Rationalisierbarkeit I 
Pirandello 
Vorldufer des Naturtheaters I Engel t Teufel 

Theologtsche Interpretation 
Dorflufl I Laotse I Das Korperdorf f Nacbtseite des Dorfes f Kaf- 
kas Ratlosigkeit I Brod Scboeps Rang Haas 



Geschicbte von Hamsun Tbeologie unanstdndig I Kein Gott 



1 20 8 Anmerkungen zu Seite 409—438 

Die hetdrische Welt 
Keine Liebe I Lent, die Frauen Kafkas I Moorboden der Erfah- 
rung I Schenkel 

Die Oberen auf dem Weg in die Tiefe I Die Welt des Gericbts I 
Das Vergessen 

Das bucklige Mannlein 
Die Tiere I Ihr Gestus I Der blonde Eckbert I Odradek I Das buck- 
licht Mannlein 

Entstellung in der Zeit 

I Cbassidisches Bettlermarcben Schlaflose Flucht in die Vergan- 



genheity am der er sich ein Hemd holt I Studium: schlaflose Flucht 
in die Vergangenheit I Die Nimmermuden; Narren und Gerechte I 
Die Schnelligkeit: das Studium als Fluchtleben - eine Flucht in die 
Vergangenheit 

Der freie Reiter t das freie Pferd 

Roflmann i Der neue Advokat I Sancho Pansa 

Reserve-Motive 
Die vielen Kinder Bestandteil eines Monuments 

Nahrung, Fasten, Wachen Erbsiinde 

Der Ban Taoismus und Hdmmern 

Der Schlemihl 
Die Musik 

{Folie d'interpretation} 
Lesebuchstil 
{Das Testament) 
Das Schweigen 
Der Schein 

[RUckseite:] 

[. . .Jenes ungeschehen machen. 

[. . .Jben im Fluff der Zeit abwaschen 

[. . ./ die Fransen des Leibes 

[. . .Jene macht Geschekenes ungeschehen [Anfdnge abgeschnitten] 

Bettlergeschichte I Entstellung in der Zeit 

Ritt ins nachste Dorf 

Das kurze Leben I Die Kinder I Die Nimmermuden 

Studenten und Gehilfen 



Anmerkungen zu Seite 409—438 



1209 



Das Stadium der NimmermUden 
Studium tm Elternhaus 

Studium, Tao und Ntchts 

Tao und Hdmmern 

Das ubermenschliche im Studium 

Die Schnelligkeit 

Der Ritt 

Leere frohliche Fabrt I Seliger Reiter I Karl Rofimann 

Der neue Bucephalus und sein Studium 

Die Wahrheit tiber Sancho Pansa 



Ms 230 





Motive 


Leitmotive 


i 


Naturtheater von Oklahoma 


Pferdsein 


I 


Bucklicbt Mdnnlein 


Das Judische 


q 


Sumpfwelt 
Zeitverschrankung 




k 


Dorflufi 




z 


Studium 




f 


Kinderbild 




p 


Vergessen 




i 


Kierkegaard und Pascal 


Kinderbild 




Potemkin 


Naturtheater 




Schlemihl 


Spafihafte Raubmorder 


h 


Spafihafte Raubmorder 


Dorflufi 

Kierkegaard und Pascal 

Sumpfwelt 

Vergessen 

Entstellung 



Ms 231 



(Letzte und vollstandigste Disposition zum Essay) 
Kafkas Gestaltenreich und Welttheater 



Potemkingeschichte 



Herold 



Die Ermudeten I Die Vater I Die Strafenden 

Die Parasiten 

Unrecht und Erbsunde I Der immerwdhrende Prozejl 

Die Entscheidungen und die jungen Mddchen I K. und Schubalkin 

Monstra im Schofle der Familie: Das Ungeziefer I Odradek I Das 

Lammchen 

Tiere / Hunde I Pferde IMaulwiirfe I Mduse 



210 Anmerkungen zu Seite 409—438 

Die unfertigen Wesen I Bauernfdnger I Kinder I Gehilfen I Zwi- 

schen Leben und Nichts 

Promiskuitdt im Reich dieser Gestalten I Die Botengeister / Musik I 

die einschldfert 

Unendlich viel Hoffnung I nur nicht fur uns 

[anal. Kastchen fehlt] Die arme kurze Kindheit 

Trostlosigkeit / Das Kinderbild 

Wunsch I Indianer zu werden 

Amerika I Die Rennbahn 

Rofimann charakterlos 

Der Weise Chinas 

Das gestiscbe Theater I Ein altes Blatt I Erfahrung der Pogrome 

Die Gesten I Ihr Inventar I Ihre Unabsehbarkeit I Ihre Interpre- 

tierbarkeit 

Entwicklung der Geste I Verzicht auf ihre Rationalisierung I 

Das Testament 

Schauspieler I die sich selbst spielen I Pirandello 

Parallelen 

Die Erlosten I Die Engel I Bankett der Seligen 

Dorfluft I Laotse 

Das Talmuddorf I Das Korperdorf 

Kafkas Erndhrungsweise I Der Husten 

Finsternis des Dorfes 

Ms 262 



I Hamsungeschichte 

Theologische Auslegung Kafkas I Kierkegaard und Pascal I Trilo- 

gie des Werks 

Haas I Rang I Rougemont I Groethuysen I Schoeps I »Nicht-Sein* 

Gottes 

Nacbgelassene Notizen / Die Motive 

Kafkas Preis 

Der Sieg Uber das Paradox I Scbamlosigkeit der Theologie I Die 

Scham 

{Kein Gott I keine Juden f keine Liebe) 

Der Zweifel I Dasein auf einer Schaukel I Moorboden der Erfahrung 

Historische Entsprechung I Regression auf die Sumpfwelt I Leni I 

Brunelda I Olga 

Abgesunkene Natur I Verstaubte Menschenwelt I Die Vorwelt und 

das Neue 

Das Vergessen als Schuld 

Vergessen und Tiere I Der blonde Eckbert 



Anmerkungen zu Seite 409—438 121 1 

Das Denken der Tiere I Ibre Angst 

Vergessen als Behdltnis der Geisterwelt 

Form der Dinge in der Vergessenheit I O dradek I Entstellung 

Das gesenkte Haupt I D as bucklicht M dnnlein I Auf- 

merksamkeit das natiirliche Gebet 

]e n*ai rien neglige 



Bettlergeschichte 



Entstellung in der Zeit I Ritt ins n'dch ste D or f I Legende 

vom Messias 

Das kurze Leben I Die Kinder I Die Nimmermuden I Die Stadt im 

Suden 

Studenten und Gehilfen I Fasten I Nichtsdolafen I Schweigen 

Studium im Elternhaus 

Das Tao 

Magie im Studium I Schnelligkeit I Der Ritt 

Leere jrohlidoe Fahrt I Karl Rofimann I Seliger Reiter 

Der neue Advokat und sein Studium I Auslegung 

Die Wabrheit ub er S anch o P ansa 

[unterer Rand y auf dem Kopf:} 
Kafkas Gestaltenreich 



Potemkingeschichte 



Ms 261 



Wollte man, was Kafka bin und wieder im Verlaufe seiner Erzahlun- 
gen unvermerkt und wie etwas Selbstverstandlicbes einstreut, auf 
wenigen Seiten zusammenstellen, so ergdbe sicb die unerborte und 
befremdlidoe Ansicbt einer Welt, 

{in der die Menschen vor Schrecken gebiidet geben (Hoftor)} 
Bettler Kajfeesatz als Almosen zu trinken bekommen (Kubel- 
reiter) 

{Bittsteller auf der fiacben Hand ibr Papier zur Beborde ber- 
aufheben, wabrend sie langsam von ibrem Sitze aufstebn (Pro- 
zefl)} 

{die Menscben die Arme auf der Brust gekreuzt) oder die Fin- 
ger gespreizt im Haar [tragen] 

{in der es der bocbste Ausdruck der Liebe ist t wenn ein Beamter 
ilber die Deichsel springt) 

Ms 219 



i2i 2 Anmerkungen zu Seite 409—438 

Der Bereich der Tbeologie gilt Kafka ah unanstdndig (Potemkin) 

Kafkas Werk: das Kraflefeld zwischen Thora und Tao 

Einer von den sechsunddreifiig Gerechten war der Sdolemihl 

Die Gehilfen sind unfertige Wesen, die, eben darum, dem Mutter- 

schofi der Natur besonders nahe steben 
Die Manner Kafkas: Narren oder Greise - Unfertige oder Uberreife 
Die Tiere (Monstra) sind im Familienschofi ausgebriitet 
Dem Scblemibl (wie dem Gebilfen) feblt etwas, um fertig zu sein - 

und sei es auch nur ein Scbatten 
Das moraliscbe Zwielicbt ilber ihrem Dasein erinnert an das, was 

Robert Walser - Verfasser des Romans *Der Gebulfe«, ein Lieb- 

lingsautor von Kafka - in seinen kletnen Stucken — man denke an 

*Scbneewittcben« - zu verbreiten pflegte 
Die Gehilfen sind dem weiblichen Scho$ noch nicbt ganz entwachsen; 

sie haben sich »in einer Ecke auf dem Boden auf zwei alten Frauen- 

rocken eingericktet.* (Schlofi p 84) 
[Ruckseite:] 
Stammbaum der Kafkascben Figuren 

Die Vater; Klamm; 

Zeitung lesend, Virginia rauchend, in Uniform, binfallig, fast 
verblodet, 

Die Gehilfen; der Bauernf anger; Barnabas; 

Die Monstra; der Mistkafer; Odradek; die Kreuzung; die Tiere 

Die Frauen; Brunelda; Frieda; Olga; Antonia; Fraulein Biirstner; 

Ms 332 

Herkunft des ȣr* aus der Allegorie Ban p 2iy [s. den Aphorismus 

»Er war frUher Teil einer monumentalen Gruppe . . .#/ Versuchen: 

dies auf den Schriflsteller zu beziehen 
Bezuglich der ddmonischen Natur des Rechts, die Kafka st'dndig vor 

sich hat, und die wohl der Grund seiner Behutsamkeit ist, ist die 

»Kritik der Gewalu zu vergleichen [s. 1 79-20 3 J 
Zu vergleichen: Haas • Gestalten der Zeit 
Beziehung des Denkens zum Traum Bau p 214 
Das Schrifistellerische bei Kafka im Gegensatz zum »Dichterischen* 
»Er denkt nicht wegen seines persbnlichen Denkens* Bau p 21 j 
Trost furs bucklicht Mdnnlein 
»Kaum mehr zu wissen, fur wen man Trost suchu Bau p 219 >Der 

Frieder und das Katherlieschen« 
»Merkwurdiger aber auch trostlicher Weise war er darauf am wenig- 

sten vorbereitet* Bau 212 - Trostlich, we'd das Elend kein Gegen- 

stand der Angst ist. 
*Die Gitterstangen standen ja meterweit auseinander* Bau p 213 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1213 

Kafka gibt sich in eine Welt hinein> um sie zu sehen, wie sie sich 

selbst seben mu$te. 
»unfahig historisch zu werden« Bau p 212 Die Masse, der Namen- 

lose 
»>Damit du freundlich zu mir bleibst, nehme ich Schaden an metner 

Seele.<« Ban p 220 Ober den Toten: »E$ wird sichtbar, ob die 

Zeitgenossen ihm oder er den Zeitgenossen mehr geschadet hat, im 

letzten Fall war er ein grower Mann.* Bau p 221 
»Al$ kleines Gespenst fuhr ein Kind aus dem ganz dunklen Korridor, 

in dem die Lampe noch nicht brannte, und blieb auf den Fufyspit- 

zen stehn, auf einem unmerklich schaukelnden Fujlbodenbalken.* 

Betrachtung p 82 

Ms 232 

Widerlegung der Interpretation des »Schlosses« [s. 426] 

Den ersten Teil dieser Konstruktion kann man als Gemeingut der 

Kafka-Interpretation ansprecben. - Brod - 
Jedes seiner Werke ein Sieg der Scham iiber die theologische Frage- 

stellung 
Schamlosigkeit der Sumpfwelt. Ihre Macht Uegt in ihrer Vergessen- 

heit 
Die Weltalter bewegende Erinnerung. Der von ihr umfafite Erfah- 

rungskreis. Die Sumpflogik 
Das Vergessen und die Tecbnik des Erzdhlers 
Das Eingedenken bei den Juden 
Die Tiere und ihr Denken. Warum soviel von der Deutung ihres 

Gestus abhdngt 
Der blonde Eckbert 

Odradek und die Form der Dinge in der Vergessenheit 
Die schwere Last. Das bucklicht Mannlein. 

Ms 217 

Zu S. 8 [= Ts 4J3 in T 1 ; s. »Oberlieferung«] 

Ein anderer Odysseus [. . ./ Vielleicht auch darum, [bricht ab; die 
Passage ist, aufier minimalen stilistisdien Abweichungen und dem 
unausgeschriebenen langeren Zitat am Absatzende, identisch mit 
415,18-416,3] 

Ms 218 

/. . . beide oberen Ecken abgerissenj: Mythologisdoe Gestalten und 

Tiere, Allegorien und Fabelwesen 
{[. . ./ eine Deutung Kafkas zu gehen^ ehe man langen Umgang mit 

jedem [. . ./ Motive gepflogen hat.} 



1 2 1 4 Anmerkungen zu Seite 409—4 3 8 

{/. . .] das Tier, die Rennbahn, der gebtickte Kopf, der Schlag gegen 

die Tur, der Frack, Gehilfen [. . ./ Diener) 
[. . ./ Auseinandersetzung mit Kafkas Werk ist noch fast nicbts ge- 

schehen. Es hiefie einen unstatthaflen Kalenfderjglauben verraten, 

anzunehmen, daft die zehnte Wiederkebr seines Todestages diesen 

Sacbverhalt mit einem Schlag andern konnte. 
{Auf die Verbindung seiner gestischen Interessen mit der Darstellung 

von Tieren ist binzuweisen.} 
In Kafkas Scbriflen kommt das "Wort »Gott« nicht vor. Sie ungebro- 

chen theologisch auszulegen, ist nicht viel statthafier als eine Kleist- 

sche Novelle, urn sie den Lesern ndherzubringen, in Reime zu iiber- 

tragen. 

{Das bucklicht Mannlein] Motiv des TUrhUter, Portier 

{Kavaliersmoral} Amerika p 264 

Blonde Eckbert Amerika als Erlbsung 

Julien Green Musik 

Auf der Galerie Nachwort zum Scblofi 

Das nachste Dorf 

[Riickseite: Originalbrief an Benjamin vom 2$. j. 1934; s. 963 f.] 

Ms 233 

Sumpfwelt und Dialektik 

Das Studium, das ein Gedenken ist. Der neue Bucephalus 
gedenkt des alten Rechts - vielmehr des alten Unrechts 
Viel fruher hat Vergessnes und Entstelltes auf gleiche Art das 
Volkslied vom »bucklichen Mannlein* heraufgerufen. 

Hier, in der Tiefe des Volkslieds berubrte Kafka den Grund 3 den 
weder das »mythische Ahnungswissen* noch die *existent'ielle Theolo- 
gies ihm gibt. Es ist der Grund des deutschen Volkstums so gut wie 
des judiscben. [s. 432,28-31] 

und es hat wie die Gebete der Heiligen alle Kreatur ein- 
geschlossen. [s. 432,34 f.J 
[andere Halfte des Blattes, in umgekehrter Riditung beschrieben: bio- 
graphische Notizen zu Johann Friedrich Dieffenbach; darunter:] 

Wenn uns die Last vom Rucken gef alien ist - 
[Riickseite des Blattes: vollstandige Abschrift des Volksliedes vom 
»bucklichen Mannlein* (s. Nachweis zu 432,22); darunter auf Kaf- 
ka nicht beziigliche bibliographische Notizen] 

Ms 253 

Studie zu Odradek 

Das Vergessene - wird uns »uberleben«; es ist nicht auf uns ange- 
wiesen; sein Wohnsitz ist »unbestimmu. 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1215 

Es ist ein Haufe von welken Blattern - wenn es in ihnen raschelt, 
so tont ein Sichverstecken und Gesuchtwerden zugleich heraus. Beides 
zusammen ergibt dieses »Lachen*. 

Das Vergessen ist tauflerordentlich beweglicb und niobt zu fan- 
gen*. 

Ms 964 

{Ubrigens hat diese Vorwelt Stimmen. Unter den Sdtzen Kafkas 
ist vielleicht keiner ergreifender als der sie besohreibende, Odradek 
lacht. »Es ist aber nut ein Lachen, wie man es ohne Lungen her- 
vorbringen kann. Es klingt etwa so, wie das Rascheln in gefallenen 
Blattern.*} 

»Die Sorge des Hausvaters* ist das Mutterliche, das ihn uberleben 
wird, 

Odradek halt sich auf dem Dachboden auf. 

Die Pferde des Landarztes Vorldufer der Gehilfen. 

Die Fatten auf der Stirn Sortinis, die strahnenartig sich zur Nasen- 
wurzel hinziehen. 

Wenn man nun aber fragt, wie die Oberraschungen in diesen Ge- 
schichten auftreten t so wird man finden, dafl wie sie uns oder auch 
den Helden Uberraschen nicht eigentlich den Oberraschungen abn- 
lich sieht, die das Leben mit seinen Ereignissen sondern die Erinne- 
rung mit ihren Einfallen zuwege bringt, deren tiefste }a meist an 
unscheinbaren, wenn nicht unpassenden Stellen zum, Vorscbein 
kommen. 

Auch die Miidigkeit ist ein Hinweis auf das Verbrauchte der Welt. 
Aber auch auf ihre Versumpftheit. »Wie liebte ich sie immer, wenn 
sie so miide war*, sagt Olga von Amalie. 

Die Beamten tun viel »in Gedanken* ; so hat wohl auch Sortini den 
anstofligen Brief an Amalie geschrieben. 

*Ungluckliche Beamtenliebe gibt es nicht.* 

Ms 220 

{Keine Aussage, die wir uber die »obere Welu bei Kafka besitzen, 
ist als ein Schlussel zu der unsrigen anzusehen. Denn diese obere 
kommt uberhaupt nicht zu sich. Sie ist an die untere gebunden, 
wie ein Mann, der sein Dasein damit verbrdchte, durchs Schlus- 
selloch ins Zimmer seines Nachbarn zu starren, von dem er nichts 
weifi und den er nicht versteht. Dieses Zimmer ist unsere Welt.} 

{Das Recht hat in dem Werke Kafkas den Charakter eines mythi- 
schen Gebildes. Aber dieser gnadenlosen Gewalt des Rechts gibt er 
ein Korrektiv bei. Jene Welt des Rechts ist korrupt im Innersten. 
Und vielleicht ist die Korruption das Smnbild der Gnade.} 



12 1 6 Anmerkungen zu Seite 409—438 

{»Es ist unendlich viel Hoffnung da, nur nicht fiir uns.* Fur wen 
dannf Fur das Geschlecht der Tiirhuter und der Gehilfen, der 
Hunde und Maulwiirfe, der Titorelli und Odradek, der Kubel- 
reiter und Gerichtsschreiber.} 

{Es gibt eine kleine Anekdote von Potemkin, die wie ein um Jahr- 
hunderte verfruhter {Bote} Herold des Kafkaschen Werkes ist.} 
[s. Nachweis zu 41 0,7/ 

{Unter alien Geschopfen Kafkas kommen zum Nachdenken eigent- 
Uch nur die Tiere. Was die Korruption im Recht ist, das ist im Den- 
ken die Angst. Sie verpfuscht den Vorgang und dock ist sie das ein- 
zig Hoffnungsvolle und Erhebliche daran.} 

{Flaubert und Kafka: Kellerluft und Dorfluft.} 

{sWoruber ido einen jeden treffe, darUber will ich ihn rickten.* - 
»Das jiingste Geridot ist ein Standrecht.* Von diesem gnostischen 
Einsdolag bei Kafka seine Stellung zur Geschichte bestimmen.} 

Die Haltung Kafkas: Haltung des Mannes t der das Hoffnungslose 
zu sagen hat. Dies ist die besondere Lage, in die das Erz'dhlen 
durch ihn gerat. 

Ms in 

{Otto Stoessl hat Kafka mit Pirandello verglichen. (Zeitwende II j) 

Klassifizierung der Elemente, aus denen sicb die Erzahlungen des 
letzten Bandes aufbauen: Tiere, allegorische Gegenstande (die chi- 
nesische Mauer, das Stadtwappen, die Gesetze), mythologische 
Figuren. 

AusfUhrlich zu berucksichtigen das Resumee von Kraft uber die 
»Chinesisd>e Mauer*. 

Kafkas Schriftwerk war Umkehr. Er fiihlte wieder das grofie An- 
sinnen, das der Hbrer an den Erzahler stellt: Rat zu wissen. Aber 
er wuftte den Rat nicht. [s. 442,11] Hochstens, wie etwa heutzu- 
tage ein Rat aussieht, wuftte er. Und dafi man, um ihn zu erteilen, 
sich abzuwenden hat von der Kunst, der Entwicklung, der Psycho- 
logies 

»Ein altes Blatu. Nicht ein einziges Mai ist hier von den »Feinden« 
die Rede, »obwohl es sich doch um nichts anderes handelt . . . 
nicht unsere Soldaten* heiften sie, aber die »Nomaden«. Eher 
brachte er es fertig, sie »die Dohlen* zu nennen als Feinde. Und 
auch Feindseligkeiten schreibt er ihnen nicht zu. Die Gefahr, von 
ihren »Peitschen verfolgt zu werden«, ist ihm nicht bekannt. Er 
sdgt aber nicht, daft sie nach uns zielen. Und noch viel weniger 
sagt er ihnen Gewalttaten nach. »Was sie brauchen, nehmen sie. 
Man kann nicht sagen, dafi sie Gewalt anwenden. Vor ihrem Zu- 
griff tritt man beiseite und uberlafit ihnen alles.* Sein Bericht ist 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1217 

ein Spiegel, der die Untax auffdngt. Rechts und links sind [in] 
ihrem Bilde vertauscht. Man konnte es fur das der Friedfertigkeit 
selbst halten. Auch brandschatzen die Nomaden nicbt: die Unter- 
worfenen sind es, die die Angst des Fleischers verstehen und Geld 
zusammenschiefien, um ihn zu »unterstutzen« . Und welcher Um- 
stand ist an dem alien Schuldf Nicht die Raublust der Nomaden. 
Etwas ganz anderes; nicht einmal ein Umstand. Ein Gegenstand: 
»Der kaiserliche Palast hat die Nomaden angelockt, versteht es 
aber nicht, sie wieder zu vertreiben.*} 

Ms 222 

*Die Wahrheit uber Sancho Pansa* [s. Nachweis zu 438,11} - Ver- 
wandtschaft dieser Geschichte mit der chassidischen von dem Bettler. 
Das Ungeheure als Gewahrleistung des Alltaglichen. Es ist eine 
Weltansicht, der das Gemeinschaftsleben der Ratten leichter ver- 
standlich ist als das der Menschen, Sehen rdtselhafter als Hellsehen 
und ein Menschenalter uniibersehbarer als ein Weltalter. Dafi es 
aber das Ungeheuere ist, welches das Alltagliche gewdhrleistet, das 
ist die eigentliche Einsicht des Humors, der zuhause in jener unteren 
Titanenwelt der unscheinbaren und der abgeschmackten Vorgange 
und Geschopje ist, die wir erst spat - vielleicht erst in der Todes- 
stunde - entdecken wie Karl den Heizer, als er schon im Begriffe 
steht, in Amerika auszusteigen. 

{Das chassidische Bettler mar chen [s. 433] aber filhrt nicht nur in 
den moralischen Haushalt von Kafkas Werk ein sondern ebenso in 
seinen zeitlichen, der so innig mit jenem zusammenhangt. Dem 
Groftvater des »Landarztes« , der es kaum begreifen kann, »wie 
ein junger Mensch sich entschliefien kann, ins nachste Dorf zu reiten, 
ohne zu fiirchten, dafi . . . schon die Zeit des gewohnlichen, gluck- 
lich ablaufenden Lebens fur einen solchen Ritt bei weitem nicht hin- 
reichu - diesem Grofivater gleicht der Bettler, der im gewohnlichen, 
glucklich ablaufenden Leben nicht einmal die Stelle fur einen 
Wunsch findet - fur den Wunsch nach einem Hemd - in dem un- 
seligen t ungewohnlichen der Flucht aber, auf die er sich in seiner 
Geschichte hineinbegibt, diesen Wunsch wirklich spart - gegen die 
Erfiillung ihn eintauscht. Nichts ist Franz Kafka inniger angelegen 
als die Umgehungsstrategie dieses chassidischen Bettlers. Er bringt 
seine Wunsche an das wirkliche Dasein nicht vor; damit aber deren 
winzigster in Erfiillung gehe, bietet er die Titanenwelt des Gedich- 
teten auf - wie Sancho Pansa - nur um Ruhe zu haben - die 
Heldentaten des Don Quichote.} 

Ms 223 



I2i8 Anmerkungen zu Seite 409—438 

»Im iibrigen glaube ich, dafi Kafkas Wert [Werkf] uberhaupt ver- 
schlossen ist und dafl jede Erkldrung seine, Kafkas, Intentionen 
verfehlen mufi. Den Schlussel hat er mit sich genommen, ja viel- 
leicht nicht einmal das, wir wissen es nicht.* Kraft 

Die »Wahrheit uber Sancho Pansa« kommt auf das »Bleiben im Ob- 
lichen* hinaus, dessen Natur Kafka doppelt bestimmt: einmal, in- 
dent man nicht einmal im Irdischen nach dem Guten strebt; zum 
andern, indem man das Bose, in diesem Fall, wenigstens dem An- 
schein nach, nicht betriigt. [Ban p 23$ /./ 

{Kraft stellt einige Stiicke zusammen, die Kafkas Auseinanderset- 
zung mit dem Zehverlauf kennzeichnen: Kleine Fabel, Der Ritt 
ins ndchste Dorf, Jungstes Gericht als Standrecht.} 

Kafka: »Ein altes Blatu zu vergleichen mit Goethes »Grofi ist die 
Diana der Epheser«. 

{»Icb habe Erfahrung und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich 
sage, dafi es eine Seekrankheit auf festem Lande ist.« Kafka i$o$ 
Hyperion II 1} 

{»Ich entsinne mich eines Gesprdchs mit Kafka, das vom heutigen 
Europa und dem Verfall der Menschheit ausging. >Wir sind<, so 
sagte er, mihilistische Gedanken, Selbstmordgedanken, die in 
Gottes Kopf aufsteigen.< Mich erinnerte das zuerst an das Welt- 
bild der Gnosis. - Gott als boser Demiurg, die Welt sein Sunden- 
fall. >0 nein<, meinte er, >unsere Welt ist nur eine schlechte Laune 
Gottes, ein schlechter Tag.< - >So gdbe es aufierhalb dieser Er- 
scheinungs form Welt, die wir kennen,Hoffnung?< - Er Vdchelte: >Oh, 
Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung - nur nicht fiir uns.« 
Max Brod: Der Dichter Franz Kafka (Neue Rundschau 1921)} 

Nuchtern wie Kafkas Sprache mufi der Apfel vom Baum der Er- 
kenntnis geschmeckt haben. 

Ms 227 

Erwartung des zweiten Nachlafibandes /= Franz Kafka, Vor dem 
Gesetz, Berlin 1934) 

{Redewendungen aus dem Nachwort zum »Bau« [= Beim Bau der 
Chinesischen Mauer. Ungedruckte Erzdhlungen und Prosa aus dem 
Nachlafi, hg. mit einem Nachwort von Max Brod und Hans Joa- 
chim SchoepsJ: die unleidliche Behauptung, »dafi dieser Typus, 
dessen Daseinsintention kraft seiner Erschiitterungsfdhigkeit durch 
Grenzerlebnisse eine tragische ist, je nach der geschicht lichen Situa- 
tion, in der er sich vor findet, eine stdrkere oder schwdchere Ahnung 
davon hat, dafl es auch fur die tragische Grundkonstellation seines 
Daseins noch eine Heilsmoglichkeit gibt.« [p 254 f.J - »Im ubri- 
gen hat Kafka auch in der fur ihn charakteristischen Form des 



Anmerkungen zu Seite 409—4 38 1 2 1 9 

mythischen Ahnungswissens urn die Schicksalhafiigkeit der ge- 
schichtlichen Zusammenhange gewuflt.* [p 2$$] Manchmal kommt 
die Spradoe der Herausgeber in bedenkliche Nahe zu der der 
Existentialphilosophie.} 

Zu der »Dorfluft« bei Kafka — zu der Oberlieferung, welche ihm zu- 
nachst liegt - zu Sancho Pansa: »>Dann aber kehrte er zu seiner 
Arbeit zuriick, so wie wenn nichts gescbehen wdre.< Das ist eine Be- 
merkung, die uns aus einer unklaren Fulle alter Erzahlungen gelau- 
fig ist, trotzdem sie vielleicht in keiner vorkommt.* [Bau p 248 J 

{Die Stube des alten Ehepaars, in der die Totenerweckung vor sich 
geht y der Keller des Kohlenhdndlers t die Wirtsstube y in welcber 
Klamm sitzt - Dorflufi draufien, dicke, stickige Lufi im Innern: 
beides vereinigt sich zur dorf lichen Lokalfarbe.} 

{»Wunsch t Indianer zu werden* - im Abschnitt uber das Kinder- 
bild zu zitieren. } 

{Dialektik des Vergessens. Sind wir's, die vergessen habenf Oder 
sind wir nicht vielmehr vergessen worden? Kafka entscheidet 
dariiber nie. Die Oberen sind vielleicht nur darum so verkommen, 
weil wir uns um sie nicht gekiimmert habenf Aber vielleicht sind 
sie auch nur verkommen, weil sie noch nie auf uns gekommen 
sind.} 

{Sancho Pansa hat seinen Reiter vorangeschickt, Bucephalus den 
seinigen uberlebt; und nun sind sie beide gut dran. Ob Mensch ob 
Pferd ist nicht mehr so wichtig, wenn nur der Reiter beseitigt ist.} 

Ms 228 

{Es wurde darauf hingewiesen, dafi im ganzen Werke Kafkas der 
Name »Gott« nicht vorkommt. Und nichts ist miijliger als in seiner 
Erlauterung ihn einzufuhren. Wer nicht versteht, was Kafka den 
Gebrauch dieses Namens verbietet, versteht von ihm keine Zeile.} 

Werner Kraft zitiert zu »Die Wahrheit uber Sancho Pansa* Gide 
»Suivant Montaigne« NRF ]uni 1929. *Montaigne mourut (1592) 
avaht d'avoir pu lire Don Quichotte (160$), quel dommage! Le 
livre etait ecrit pour lui ... C*est le propre de ce grand livre 
. . . de se jouer en chacun de nous; en aucun plus eloquemment qu'en 
Montaigne. C'est au depens de Don Quichotte que, peu a peu, 
grandit en lui Sancho Pansa.* 

Kraft sieht nicht unrichtig t dafl Kafka von Brod in seinem Testament 
mit Bewufitsein das Unmogliche gefordert hat. 

{Keine menschliche Kunst erscheint bei Kafka so tief kompromit- 
tiert wie die Baukunst. Keine ist lebenswichtiger und vor keiner 
macht die Ratlosigkeit sidy vernehmbarer. (Beim Bau der Chine- 
siscben Mauer, Das Stadtwappen t Der Bau)} 



1220 Anmerkungen zu Seite 409—438 

Kraft hat in seiner Auslegung des »Kubelreiters« ein Bild gefunden, 
das nachdrucklich den Ort des Gottlichen in Kafkas Welt festlegt. 
»Die AuffahrU, sagt er von der Fahrt des Kubelreiters, ist »ein 
Gehobenwerden wie das der einen Wagschale, wenn das voile Ge- 
wicht auf der andern liegt.* Das voile Gewicbt der Gerechtigkeit 
ist es y das alles Gottliche so erniedrigt. 

{Zahllose Beispiele bietet Kafka fur diesen Vorgang: einer will 
nun endlichy aller Anfechtung sich erwehrend, in einer Oberzeu- 
gung, einer Situation sich zurechtsetzen. Da geht sie ihm aus den 
Fugen. Eines fur diese zahllosen: »Es war im Sommer, ein heifler 
Tag. Ich kam auf dem Nachhauseweg mtt meiner Schwester an 
einem Hoftor voruber. Ich weijl nicht, schlug sie aus Mutwillen ans 
Tor oder aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und 
schlug garnicht.«) 

Ms 229 

Kafka und Brod - Laurel der seinen Hardy, Pat der seinen Fata- 
chon suchte. Dafl er dem lieben Gott dieses Divertissement gab, 
machte Kafka fur sein Werk frei, um das sich nun Gott nicht 
mehr zu kummern hatte. Kafka gab aber in dieser Freundscbaft 
wahrscheinlich gerade seinem Teufel den Spielraum frei. Er hat 
vielleicht zu Brod und dessen tiefen judischen Philosophemen so ge- 
standen wie Sancho Pansa zu Don Quichote und dessen tiefsinniger 
Chimare vom Rittertum. Kafka hatte ziemlich stattlidhe Teufe- 
leien im eignen Leibe wohnen und er konnte froh sein y sie in 
Gestalt von Unziemlichkeiten, faux pas und unappetitlicben Si- 
tuationen vor sich tummeln zu sehen. Er hat sich wahrscheinlich 
fiir Brod mindestens ebenso verantwortlich gefuhlt wie fur sich 
selbst - ja mehr. 

Ob alle Komik dem Grauen d[.]i[.J dem Mythos ahgewonnen ist - 
und ob die griechische Komodie den ersten Gegenstand des Gelach- 
ters am Grauen gefunden hat? - Dafi alles Grauen eine komische 
Seite haben kann, nicht notwendig auch alle Komik eine 
grauenhafte. Die erste zu entdecken, entwertet das Grauen, nicht 
so die zweite zu entdecken die Komik; deren Primat. Hochste Dis- 
ponibilitat: beide Seiten erfassen zu konnen. 

In der Geschichte nicht leben wie in der WohnfungJ. 

Ms 963 

Indem Kafkas Sprache in den Romanen sich der Sprache der volks- 
tumlichen Erzahlung zum Verwechseln dhnlich macht, erschemt die 
Kluft, die den Roman von der Erzahlung trennt, nur umso unuber- 
bruckbarer. Das »lndividuum, das selber unberaten ist und keinen 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1221 

Rat geben kann* [s. Ms 6; 8, 6. Stuck, 1286], hat bei Kafka, so wie 
noch nie vorher, die Farblosigkeit, die Banalitat und die glasige 
Transparenz des Durchschnittsmenschen. Bis auf Kafka batte man 
glauben mogen, die Ratlosigkeit des Romanhelden sei eine Ausgeburt 
seiner besondern innern Beschaffenheit, seiner Subtilitat oder seiner 
komplexen Beschaffenheit. Erst Kafka macht zum Mittelpunkt des 
Romans eben den Menschen, an den sich die Weisheit der Volker 
richtet, den schlichtgearteten, gutgesinnten, den Mann, den das Sprich- 
wort mit seinem Rat versieht und den der Zuspruch der alien Leute 
mit Trost versieht. Wenn es nun dieser wohlbeschaffene Mann ist, der 
aus einer Verlegenheit in die andre fallt, so kann nicht seine Natur 
daran schutdig sein. Es muff wohl an der Welt liegen, in die er ge- 
schickt wurde, daft er sich so ungeschickt in ihr anstellt. 

Ms 250 

Proust und Kafka 

Es gibt etwas, das Kafka mit Proust gemeinsam ist, und wer weifi, 
ob dieses etwas sich irgendwo sonst findet. Es handelt sich um ihren 
Gebrauch des »lch«. Wenn Proust in seiner recherche du temps per- 
du, Kafka in seinen Tagebuchern Ich sagt, so ist das bei beiden ein 
gleich trans parentes, ein glasernes. Seine Kammern haben keine Lo- 
kalfarbe; jeder Leser kann sie heute bewohnen und morgen ausziehen. 
Ausschau von ihnen halten und sich in ihnen auskennen ohne im 
mindesten an ihnen hangen zu mussen. In diesen Schrifistellern nimmt 
das Subjekt die Schutzfarbung des Planeten an, der in den kommen- 
den Katastrophen ergrauen wird. 
[Ruckseite: ad Baudelaire] 

La vie anterieure J'ai plus de souvenirs que 

Les annees profondes 

Recueillement 

redonnee[f] 

Die annee profonde als 

Sitz der mystischen Erfahrung 

und des spleen 

Ms 251 



1222 Anmerkungen zu Seite 409—438 

b. Konvolut von Aufzeidinungen in Form von zureditgesdmittenen 
Streifen; erste rohe (Montage-) Fassung des Essays (bis ca. Mai/ 
Juni 1934) 

I - zu Potemkin (409-416) 

Potemkin gehort zu jenen unsdglich Ermudeten, die in Kafkas milder 
und alter Welt so hdufig begegnen und von denen es heifit: »Sein 
Ermatten ist das des Gladiators nach dem Kampf, seine Arbeit 
war das Weifitunchen eines Winkels in der Beamtenstube.« Viel- 
leicht versteht man diesen Satz am besten als ungebeuere Vergrofie- 
rung einer geistvollen Wendung Lukacs\ der gesagt hat, urn heute 
einen anstdndigen Tiscb zu bauen, mufi einer das architektonische 
Genie von Michelangelo haben. Lukdcs denkt hier in Zeitaltern, 
Kafka in Weltaltern. Weltalter hat sein Mann beim Tunchen zu 
bewegen. Ahnliches steckt nidht selten hinter den unscheinbarsten 
Geberden. Der des Klatschens zum Beispiel. Viele klatschen in seinen 
Geschichten in die Hdnde. An einer versteckten Stelle lesen wir 
aber ([Auf der J Galerie), dafi diese Hdnde »eigentlich Dampf- 
hdmmer« sind. Oder an anderer Stelle: »Wollte sich einer die Au- 
gen reiben, so hob er die Hand wie ein Hdngegewicht.« Bericht 
fur eine Akademie [s. 410,22-38] 

Ms 32J 

Man denke an Kafkas >Urteil«. Es ist bestimmt vielleicht das 
»Tiefere« aber bestimmt nicht das Richtige, den jahrelang ent- 
machteten Water ', der sich plotzlich, auf seinem Bette stehend, uber 
seinem Sohn als ein schrecklicher, Richter erhebt, als Gott anzu- 
sprechen. Denn so wurde man gerade das verfehlen, was dieser 
Erzdhlung ihre aufierordentliche Kraft gibt: die Unvollziehbarkeit 
des Vater-Sohn-Verhaltnisses im heutigen Weltstande darzustellen. 
Daft der Vater hier Recht behdlt, aber daft er seine, trotz allem 
uberlegene Kraft kundgibt, darauf kommt es viel weniger an, als 
dafi beides mit unmenschlichen Mitteln geschiebt, uber die man 
wenig und sehr anfechtbares sagt, wenn man sie gottlich nennt. Die 
sufiliche und zweideutige Art, mit der er der verstorbenen Gat- 
tung Erwdhnung tut, besagt genugend, wie tief er gesunken ist; 
auch wird sich noch bestimmen lassen, wo hinab. [s. 410,3$- 

4™>39] 

Ms 324 

Die Monstra sind im Familienschofi ausgebrtitet. [s. 414,16] 

Die Uniform des Vaters ist uber und uber fleckig. - »E$ war ihr 

unverstandlich, wozu es uberhaupt Parteienverkehr gab. >Um 

vorn die Haustreppe schmutzig zu machen<, hatte ihr einmal ein 

Beamier auf ihre Frage, wahrscbeinlich im Arger, gesagt, ihr aber 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1223 

war das sehr einleuchtend gewesen*. Unsauberkeit ist so sehr das 
Lebenselement der Beamten, daft man sie fur riesenhafte Parasi- 
ten ansehen konnte. Dabei mufi man weniger an die gesellschafl- 
lichen Krafle denken als an die Krdfte des gesunden Menschenver- 
standes unter der taglichen Bewahrung strenger Pflichten denken, 
von denen diese Sippe ihr Dasein fristet. [s. 41 1 ,26-36} 
»Wdhrenddessen war es Georg gelungen, den Vater wieder nieder- 
zusetzen und ihm die Trikothose die er uber den Leinenunterhosen 
trug . . . auszuziehn. Beim Anblick der nicht besonders reinen Wd- 
sche macbte er sicb Vorwurf e, den Vater vernachldssigt zu haben. 
Es ware sicherlich auch seine Pflicht gewesen, uber den Wasche- 
wecbsel seines Vaters zu wacben.* (Urteil p 20) [s. 411,26 f.J 

Ms 317 

[»Die] Erbsunde, das alte Unrecht, das der Mensdb begangen hat, 
[besteht in] dem Vorwurf, den der Mensch macht und von dem er 
nicht abldfit, dajl ihm [ein] Unrecht geschehen ist, dafi an ihm die 
ErbsUnde begangen wurde.« Damit ist - fiir Kafka - noch nicht 
gesagt, dafl dieser Vorwurf ungerechtfertigt set. [s. 412,4-13] 

MS31J 

Das Recht hat in dem Werk von Kafka den Charakter eines mythi- 
schen Gebildes. Aber seiner gnadenlosen Gewalt gibt er ein Kor- 
rektiv bei. Jene Welt des Rechts ist korrupt bis ins Innerste. Und 
vielleicht ist die Korruption das Sinnbild der Gnade. Nur hat man 
wohl zu merken: nie ist diese Gnade erlosend. Sie reicht nur eben 
gerade soweit, alter Vergehungen und Obergriffe des Menschen 
zum Trotz das Weltgeschehen weiter in der Scbwebe zu halten (wie 
den Aktenvorgang der Staatsrate). [s. 412] 

Ms 318 

Potemkin HI 

»>Es ist hier die Redensart, vielleicht kennst du sie: Amtliche Ent- 
scheidungen sind scheu wie junge Mddchen.* >Das ist eine gute Be- 
obachtung< y sagte K n ... >eine gute Beobachtung, die Entscbeidun- 
gen mogen noch andere Eigenschaften mil [Mddchen gemeinsam 
haben.<«] [s. 413,3-7] 

Ms 316 

K. und Frieda. »Sie umfafiten einander, der kleine K or per brannte 
in K.'s Hdnden, sie roll ten in einer Besinnungslosigkeit, aus der 
sich K. fortwdhrend, aber vergeblich zu retten suchte, paar Schritte 
weit, schlugen dumpf an Klamms Tur und lagen dann in den klei- 
nen Pfutzen Biers und dem sonstigen Unrat, von dem der Boden 
bedeckt war. Dort vergingen Stunden, . . . in denen K. immerfort 
das Gefuhl hatte, er verirre sich oder er sei so weit in der Fremde, 



1224 Anmerkungen zu Seite409— 43$ 

wie vor ihm noch keln Mensch, eine Fremde, in der selbst die Luft 
keinen Bestandteil der Heimatlufl habe, in der man vor Fremdheit 
ersticken milsse und in deren unsinnigen Verlockungen man doch 
nichts tun konne al$ weiter gehen, weiter sich verirren.* (Schlofi 
P 79l8o)[s. 41 3,13-24] 

Ms 310 

Die Schonheit abet ist bei Kafka nie auf Seiten dieser hurenhafien 
Frauen, vielmehr an ganz versteckten Stellen: bei den Angeklagten 
zum Beispiel. »Das allerdings ist eine merkwurdige, gewisser- 
mafien naturwissenschaftliche Erscheinung . . . Es kann nicht die 
Schnld sein, die sie schon macht . . . es kann auch nicht die richtige 
Strafe sein, die sie jetzt schon schon macht . , . es kann also nur an 
dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das ihnen irgendwie 
anbaftet.« [s. 413,25-3$) 

Ms 308 

Potemkin I 

»Ich entsinne mich eines Gesprachs mtt Kafka, das vom heutigen 
Europa und dem Verfall der Menschheit ausging, >Wir sind<, so 
sagte er, mihilistische Gedanken, Selbstmordgedanken, die in Got- 
tes Kopf aufsteigen.< Mich erinnerte das zuerst an das Weltbild 
der Gnosis - Gott als boser Demiurg, die Welt sein Sundenfall. 
>Oh nein<, meinte er, mnsere Welt ist nur eine schlechte Laune 
Gottes, ein schlechter Tag.< - >So gdbe es aufierhalb dieser Er- 
scheinungsform Welt, die wir kennen, Hoffnungf< - Er lachelte: 
>Oh, Hoffnung genug, unendlich viel Hoffnung - nur nicht fur 
uns.<« (Max Brod: Der Dichter Franz Kafka Neue Rundschau 
i92i)[s. 414,1-11] 

»Es ist unendlich viel Hoffnung da - nur nicht fiir un$.« Fur wen 
dann? Fiir das Geschlecht der TiirhUter und der Gehilfen, der Hun- 
de und Maulwiirfe, der Titorelli und Sortini, der Ktibelreiter und 
Statisten von Oklahoma, 

Ms 323 

Die Verderbnts im Kern der Familie wie im Kern des Beamtenkor- 
pers. [s. 413,1 /./ 

Die Abfolge der Gestalten: zuerst die Vater - dann die Frauen - die 
Tiere - die Gehilfen. 

Es gibt in diesem Reiche, in welchem die Gehilfen Mittler sind, nichts 
durchaus lebendiges, nichts vollkommen Totes. Man kann sich diese 
Welt vielleicht am besten durch die Merkwelt vergegenwartigen, die 
uns in Zustanden der Depersonalisation umgibt: jedes nichtssagende 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1225 

Ger'dusch wird Lebenstrdger, jede Aufierung des Lebens abet hat 
etwas Hinfalliges, ist halb entseelt. [s. 414,32 /./ 

Ms 319 

Gestaltkreis der Gehilfen. Die Gebilfen sind unfertige Wesen, die den 
Mutterschofi der Natur noch nicht ganz verlassen haben. (Indische 
Mythologeme von den unfertigen Wesen,) Sie haben »sich in einer 
Ecke auf dem Boden auf zwei alien Frauenrocken eingerichtet. Es 
war . . . ihr Ehrgeiz . . . moglichst wenig Raum zu brauchen, sie 
machten in dieser Hinsicht, immer freilich unter Lispeln und Ki- 
chern, verschiedene Versuche, verschrdnkten Arme und Beine, kauer- 
ten sich gemeinsam zusammen, in der Ddmmerung sah man in 
ihrer Ecke nur ein grofles Knauel.* (Scblofi p 84) [s. 414,31-41 5,4] 

Die Gehilfen sind Verwandte des Bauernf angers, der in der Betracb- 
tung entlarvt wird, der Narren, die nach der »Betrachtung« in 
einer Stadt im SUden wohnen und nicht miide werden, des Schle- 
mihls, dem auch etwas fehlt, urn fertig zu sein - und sei es auch nur 
ein Schatten. Das moralische Zwielicbt uber ihrem Dasein erinnert 
an das, was Robert Walser - Verfasser des Romans »Der Gehiilfe* 
- in seinen kleinen Stucken - man denke nur an Schneewittchen 
[s. Nachweis zu 327,13} - verbreitet. - Die Gehilfen sind Boten- 
geister /. . ./ [s. 414,23-36] 

Ms 327 

Man mochte annehmen, dap auch die Musik aus jener, wirksam trb- 
stenden Zwischenwelt hervorgeht in der die Gehilfen als Boten- 
geister ihres Amtes walten. »Etwas von der armen kurzen Kind- 
heit ist darin, etwas von verlorenem nie wieder aufzufindendem 
Gliick, aber auch etwas vom tdtigen, heutigen Leben ist darin, von 
einer kleinen, unbegreif lichen und dennoch bestehenden und nicht 
zu ertotenden Munterkeit.* ( Hunger kunstler p 73) [s. 416,4-16] 

Ms 322 

II - zu Ein Kinderbild (416-425) 

Kinderbild V 

Jene Welt des Staubs, des Pluschs und des Muffs, aus welcher, wie aus 
einer Vorwelt, Kafkas Frauen steigen, erscheint ihm selber auf 
einer Photographie beigegeben. Es ist ein Kinderbild und gewifi 
eines der ergreifendsten. [s. 426,18 f. und 375,29] 

Ms 19s 

Ein Kinderbild von Kafka, Es stammt wohl aus einem jener Ate- 
liers des neunzehnten Jahrhunderts, die mit ihren Draperien und 



1226 Anmerkungen zu Seite 409—438 

Palmen, Gobelins und Staffeleien so zweideutig zwischen Folter- 
kammer und Thronsaal standen. Da steht in einem engen, gleicb- 
sam demutigenden, mil Posamenten iiberladenen Kinderanzug der 
- ungef'dhr secbsjdhrige Knabe in einer Art von Winter gar tenland- 
schaft. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese 
gepolsterten Tropen noch stickiger und schwuler zu macben, tragi 
das Modell in der Linken einen unmaftig groften Hut mit breiter 
Krempe, wie ihn Spanier haben. Unermeftlich traurige Augen be- 
berrscben diese ihnen vorbestimmte Landscbafi, in die die Muschel 
eines unverbdltnismaftig gr often Obrs hineinhorcht. [s. 416,18-31 

und 37$>2S-3%] 

Ms 320 

Kinderbild I 

»Wunscb, Indianer zu werden*. »Wenn man doch ein Indianer ware, 
gleicb bereit, und auf dem rennenden Pferde, scbief in der Lufi, 
immer wieder kurz erzitterte uber dem zitternden Boden, bis man 
die Sporen Heft, denn es gab keine Sporen, bis man die Ziigel weg- 
warf, denn es gab keine Ziigel, und kaum das Land vor sicb als 
glatt gemdhte Heide sab, sdhon ohne Pferdehals und Pferdekopf.* 
[s. 416,32-417,2] 

Der Wunsch Indianer zu werden, geht in Amerika in Erfullung 
[s. 417,3}.] 

Ms 321 

Oder sind wir nicht vielmehr vergessen wordenf Kafka entscbeidet 
daruber nie. Sind die Mdcbte vielleicbt nur darum verkommen, 
weil sie nook nicht auf uns gekommen sind? 

Daft es mit » Amerika* eine andere Bewandtnis bat, geht scbon aus 
den Namen des Helden hervor. Hier heiftt er schlechtweg Karl, 
wdhrend in den f ruber en Romanen der Autor sicb nie anders als 
halblaut, scbeu und fiucbtig, mit dem gemurmelten Initial an- 
sprach, erlebt er bier mit neuem Namen und auf einem neuen 
Erdteil seine Neugeburt. [s. 417,4-8] 

Ms 256 

Daft Roftmann auf der Rennbabn sicb zu Haus findet, das kann nun 
garnicbt mebr uberrascben. Sie so lange entbehrt zu haben, das war 
das Ungliick; der Unglucklicbe lief auf dem schmalen Teppich seines 
Zimmers »wie in einer Rennbabn*. (Unglucklichsein - Betrach- 
tung) [s. 417,25-27] Auck andere Fragmente seines Werkes kom- 
men auf dieser Rennbabn nacb Hause. So insbesondere die 
ratselhafle »alltdglicbe Verwirrung*. Wegzehen von so gewaltigem 
Groftenunterscbied mag man sicb auf einer Rennbabn am ersten 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1227 

denken; und so wie A und B in der Erzahlung mogen auf einer 
Rennbahn Pferde aneinander vorbeijagen y ohne sich zu erkennen. 
{Nicht anders hdngt die merkwurdige Zeitverschrankung des 
»n'dchsten Dorfs« in einen Ritt hinein.) Daft man iibrigens eine 
Zeit »durchzugaloppieren« hat, ist auch sonst Kafka vertraut. 
(Bericht fiir eine Akademie) 

Ms 328 

Ein befreiter Rennet ist aber auch Karl Rofimann, dem es geschieht 
»zerstreut infolge seiner Verschlafenbeit, oft zu hohe, zeitraubende 
und nutzlose Spriinge* zu machen. [s. 417333-36] 

Ms 331 

In China ist der innere Mensch »geradezu charakterlos ; der Begriff 

des Weisen, wie ihn klassiscb Kongfutse verkorpert, wischt 

ilber alle mogliche Besonderbeit des Cbarakters hinweg; er ist der 
wahrhaft charakterlose y namlich der Durchschnittsmenscb. . . . Et- 
was ganz anderes als Cbarakter ist es, was den cbinesiscben Men- 
schen auszeichnet: eine ganz elementare Reinheit des Geftibls.* 
Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlosung p $6 [auf Rand:] 
Kindbeit[ y ] Gestiscbes Theater [s. 418,4-10] 

Ms 296 

Eine der bedeutsamsten Funktionen dieses Naturtheaters ist die Auf- 
losung der Geschebnisse ins Gestische. [s. 418,15 /./ Das kleine 
Prosastiick »Ein altes BlatU bringt nicht allein dieses Verfabren 
vollendet zum Ausdruok, sondern {verrat zugleich die Kraft mit 
der es, wie ein Blitz den Gewitterhimmel, fernste geschichtliche 
Konstellationen zu durchleuchten vermag.} Nicht ein einziges 
Mai ist in diesem »alten BlatU von den Feinden die Rede, obwohl 
es sich doch um nichts anderes handelt. »Nicht unsere Soldaten« 
heifien sie, aber die »Nomaden«. Eher brachte Kafka es fertig, sie 
die »Dohlen« zu nennen. (»Untereinander verstandigen sie sich 
abnlich wie Dohlen*.) Und auch Feindseligkeiten schreibt er ihnen 
nicht zu. Die Gefabr, von ibren »Peitscben verletzt zu werden«> ist 
ibm bekannty aber er sagt nicbt t dafi diese Peitschen zielen. Noch 
viel weniger sagt er den Feinden Gewalttaten nach. »Man kann 
nicht sagen, dafi sie Gewalt anwenden. Vor ihrem Zugriff tritt 
man beiseite und uberla/Jt ihnen alles.fr 

Ms 301 

Selbstverstandlich hat auch das Naturtheater von Oklahoma seine 
Entsprechungen. In seinem schonen (unveroffentlidoten) Kommen- 
tar zum »Brudermord* bat Kraft sebr scharfblickend das Gesche- 



1228 Anmerkungen zu Seite 409-438 

ben dieser kleinen Geschichte als ein szeniscbes durchscbaut. »Das 
Spiel kann beginnen, und es wird wirklicb durcb ein Glockenzei- 
cben angekundigt. Dieses entsteht auf die natiirlicbste Weise, in- 
dent Wese das Haus verldfit, in welcbem sein Biiro liegt. Abet diese 
Turglocke, heifit es ausdrucklich, ist >zu laut fiir eine Turglocke< 3 
sie font >uber die Stadt bin zum Himmel auf<.« [s. 418,25-34] 

Ms 330 

Die gestischen Dinge sind die entscbeidenden; und zwar wandeln sie 
sich immer mebr zum auflerordentlichen, unverstandlichen. Die 
Geste des Geistlichen, der im Dom zu K. spricht, findet sicb in der 
»V erwandlung* als die des Chefs; »>Es ist and? eine sonderbare 
Art, sicb auf das Pult zu setzen und von der Robe berab mit dem 
Angestellten zu reden, der uberdies wegen der Schwerborigkeit 
des Cbefs ganz nahe herantreten mu$,[<«] [s. 418,35-419,6] 

Ms 329 

Spafibafte Raubmorder I 

Wenn wir nun von Max Brod boren: »Unabsebbar war die Welt der 
fiir ihn wichtigen Tatsachen*, so diirfen wir das so verstehen, daft 
am wenigsten verdcbtlich ihm der Gestus war. [s, 419,12-14] Man 
tut gut, beim Lesen besonders auf den Gestus zu achten, vom 
schlichten, einfachen des kleinen Fingers uber die Augenbrauen bis 
zum rdtselbaflen, mit dem K. eine Eingabe im Prozefi auf seiner 
flacben Hand allmdhlich, wabrend er selber aufstebt, zu den Her- 
ren beraufbebt. (Prozefi p 226) [s. 419,26-30] Seine ganze Schlicht- 
beit und seine ganze Ratselhafligkeit zugleicb aber hat dieser Ge- 
stus als Herischer, an Hunden, Affen, Ratten, Pferden oder Maul- 
wurfen. (»Die Oberlegungen, zu denen sie Anlafi geben, sind end- 
los«) [s. 420] 

Ms 302 

Spafihafie Raubmorder II 

Im Licbte dieser gestischen Darstellungsweise ist das Gescheben, sei- 
nem Ursprung nach, transparent wie ein Gewitterbimmel gewor- 
den. [s. 419,20] Es ist jene Transparenz, die Kafka einmal (in der 
Erzdhlung »Das JJrteiU) sprachlicb in der Formel zum Ausdruck 
bringt: »Ein unschuldiges Kind warst Du ja eigentlich, aber noch 
eigentlicher warst du ein teufliscber Mensch.* [s. 411,15-17] Das 
alte Blatt verrat nicht, was die »Nomaden« »noch eigentlicher* 
war en. Man konnte sie, seinem Wortlaute nach, fast fiir die Fried- 
fertigkeit selbst balten. Auch brandschatzen die Nomaden nicht: die 
Unterworfenen sind es, die die Angst des Fleischers verstehen und 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1^9 

Geld zusammenschieflen, um ihn zu »unterstutzen« . Niemandem 
dbneln diese Nomaden mebr als jenen Traumgestalten, die eigent- 
licb spafihaft, noch eigentlicher aber Raubmorder sind; spafihaften 
Raubmordern. Die aus dem Hintergrund jabrtausendalter Pogrom- 
erfabrungen der Juden sich ndhern. Ganz rdtselbafl aber schlieflt 
das Stuck: »Der kaiserlicbe Palast bat die Nomaden angelockt, ver- 
stebt es aber nicht, sie wieder zu vertreiben. Das Tor bleibt ver- 
scblossen; die Wacbe, fruber immer festlich em- und ausmarscbie- 
rend, bait sich binter vergitterten Fenstern. Uns Handwerkern 
und Geschaflsleuten ist die Rettung des Vaterlandes anvertraut; 
wir sind aber einer solcben Aufgabe nicht gewachsen; haben uns 
doch aucb nie geruhmt, dessen fabig zu sein. Ein Miftverstdndnis 
ist es, und wir geben daran zugrunde.* Merkwurdig, dieser Palast, 
der die Nomaden doch, wie es bei/St, angelockt hat, wird nicht von 
ihnen behelligt. Er hat sie also wohl nicht angelockt um seiner 
Schatze willen. Diese finden die Nomaden eber bei den Handwer- 
kern und Geschaflsleuten. Sollte der » kaiserlicbe Palast* aucb bier 
bei Kafka die Lehre darstellen und sie es sein, die das Ungluck auf 
ibre Bekenner gezogen had 

»Ich marschiere und mein Tempo ist das Tempo dieser Gassenseite, 
dieser Gasse, dieses Viertels* Betrachtung p $4 

Die » Betrachtung* enthdlt das erste Inventar der Gesten, 

Ms 305 

Es ist sehr bdufig, daft Kafka den Vorgdngen gewissermafien den 
Sinn abzapft, um ihren gestischen Gehalt schdrfer beraustreten zu 
lassen. So im Prozefl, wenn der Gerichtsdiener die Advokaten eine 
Stunde lang die Treppe herunterwirfl. Es pafit ganz gut dazu, wenn 
an andern Stellen der Gestus uns ganz unverstandlich ist. Sortini 
springt vor Liebe uber eine Deicbsel und nach dem Schlag ans Hof- 
tor geben die Menschen aus der Gegend vor Schrecken gebuckt. 

[s. 419,23}-] 

Ms 303 

»Folie d 'interpretation* - Kafkas Romane eine Probe auf die Lei- 
stungsfdhigkeit des deutenden Verhaltens. Im Mittelpunkt stebt 
immer die Interpretation. Interpretation des Gesetzes, Interpreta- 
tion der Akten, machen den ganzen Inhalt des Prozesses und des 
Schlosses aus. Muster dieser Interpretation bat Kafka selbst vorge- 
legt (Vor dem Gesetz; Klamms Brief) - Ferner: sein Testament 
[s. 422,23-27] 

Ms 297 



1230 Anmerkungen zu Seite 409—4 3 8 

Jeder wird auf dem Naturtheater von Oklahoma eihgestellt. Nach 
welcben Maflstaben die Aufnahme aber erfolgt, ist nicbt zu ent- 
rdtseln. Die scbauspieleriscbe Eignung, an die man zuerst denken 
sollte, spielt scbeinbar garkeine Rolle. Man kann das aber auch so 
ausdriicken: den Bewerbern wird uberhaupt nichts anderes zuge- 
traut als sich zu spielen. Daft die im Ernst fall sein konnten, was sie 
angeben, scbaltet aus dem Bereich der Moglicbkeit aus. [s* 422,33- 
423JI 

Ms 309 

Kinderbild IV 

Mit ihren Rollen suchen diese Personen ein Unterkommen wie die 
secbs Pirandelloscben einen Autor. Einen Vergleich zwischen Kafka 
und Pirandello bat zum ersten Mai Otto Stoessl gezogen. In der Tat 
ist Kafkas Werk derart original dafi Vergleicloe fur seine Erhel- 
lung einen grofieren Wert haben als das sonst der Fall zu sein 
pflegt. [s. 423,1 f.J Indessen ist bier nicbt die Stelle, dem nachzu- 
geben, und es sei nur soviel gesagt: unter den namhaften Autor en 
des Expressionismus ist es - im deutscben Sprachbereicb zumindest - 
keinem gegliickt, in der Gestaltungsweise der Epocbe uberdauernde 
Gehalte zum Ausdruck zu bringen. Nur eine andere Seite des 
gleicben Tatbestandes ist t dafi diese Autoren meist scbnell den Weg 
zu andern Ausdrucksformen gefunden baben. Kafka macbt die 
einzige Ausnahme. Kafka ist, mit andern Worten[J der einzige, 
der den Expressionismus zwang, Frucbt anzusetzen indem er ihm 
seine wilden sprachlicben Triebe bescbnitt. 

Das Geheimnis dieser Scbauspieler, die sich selbst spielen, hat Kafka 
viele Jabre f riiher dem »Bericht fur eine Akademie« anvertraut, 
den ein Affe abfafit: »Ich ahmte nach t weil ich einen Ausweg 
sucbte, aus keinem andern Grund.* »Icb babe Angst, da$ man nicbt 
genau versteht, was ich unter Ausweg verstebe. Ich gebrauche das 
Wort in seinem gewohnlichsten und vollsten Sinn. Ich sage absicht- 
lich nicbt Freiheit.« Die Erlosung ist keine Pramie auf das Dasein, 
sondern sein einziger Ausweg. [s. 423,4-10] 

K. scheint vor dem Ende seines Prozesses eine Ahnung von diesen 
Dingen aufzugehen. Er wendet sich plotzlich den beiden Herrn im 
Zylinder zu welche ihn abbolen und fragt: »>An welchem Theater 
spielen Sie?< >Theater?< fragte der eine Herr mit zuckenden Mund- 
winkeln den andern um Rat. Der andere gebdrdete sich wie ein 
Stummer, der mit dem widerspenstigen Organismus kdmpft.<t Sie 
beantworten die Ft age nicbt, aber manches deutet darauf, dap sie 
von ibr betroffen wurden. [s. 423,10-18} 

Ms 333 



Anmerkungen zu Seite 409—438 123 1 

Wie die MUnchener Bavaria in ihrem Innern eine Treppe hat, so 
fubren Stujen unter den Gewandern dieser Engel in die Hbhe. 
Denn so wenig ein Gottliches ganz abwesend in den brutenden 
Sumpffrauen und den ermildeten Titanen ist, die seit Urzeiten in 
der Fron steben, so wenig schliefit der Trick, die Maschinerie, der 
Mecbanismus es aus. [s. 423,22-24] 

Ms 298 

Denn fast sind die Statisten von Oklahoma richtige Engel: batten 
sie nur sich keine Flugel umgebunden. So nimmt der Schein bel 
Kafka immer wieder in letzter Stunde das Wort zuruck, das das 
Wesen uns geben wollte. [s. 423,2-7 /./ Man denke an Titorellis 
Satz vor den Richterbildern: »Wenn ich bier alle Richter nebenein- 
ander auf eine Leinwand male, und Sie werden sich vor dieser 
Leinwand verteidigen, so werden sie mehr Erfolg haben als vor 
dem wirklichen Gericbt.* 

Die Rennbabn ist ein Theater, aus dem die Zuschauer Gewinn ziehen. 
[s. 417,38 J »Viele unserer Freunde eilen den Gewinn zu bebe- 
ben« Betrachtung p 71 

Ms 299 

Kinderbild III 

Vbrigens baben diese Engel ibre Vorlaufer. Der Impresario gebort zu 
ihnen, der zu dem vom »ersten Le'td* befallenen TrapezkUnstler 
ins Gepacknetz steigt, ibn streicbelt und sein Gesicht an das eigene 
driickt, »so dap er auch von des Trapezkiinstlers Tranen uberflos- 
sen wurde.* Ein ander er ein Schutzengel oder Schutzmann nimmt 
sich nach dem »Brudermord« des Schmar an, der »den Mund an die 
Schulter des Schutzmannes gedriicku leichtfufiig von ihm davonge- 
fiihrt wird. [s. 423,28-36] 

Ms 300 

Dorflufl I 

Soma Morgenstern hat - im Gesprach mit mir - die schbne Bemer- 
kung gemacht, in Kafkas Biichern wehe Dorflufl wie bel alien 
Religionsstiftern. [s. 423,37-39] 

Ein Dorf ist es auch, das am Fufle des Schlojlbergs liegt, von dem aus 
K.s vergebliche Berufung als Landvermesser so ratselbafi und uner- 
wartet bestatigt wird, und in dem er schliejllick seine Tage beenden 
wird, obne je zum Landvermesser gekommen und zum Schlofi vor- 
gedrungen zu sein. Nach einem langen ruhelosen, rechtlosen Leben 
in jenem Dorf, berichtet Brod iiber den geplanten Abschlufi des 
»Scblosses«, liegt K., entkraflet von seinem Kampf, auf dem Ster- 



1232 Anmerkungen zu Seite 409-438 

bebett. Da endlich, endlich erscbeint der Bote aus dem Schlofi, der 
die entscheidende Nachricht bringt: dleser Mensch babe zwar kei- 
nen Rechtsanspruch, im Dorfe zu wohnen, man wolle Ihm abet mit 
RUcksicht auf gewisse Nebenumst'dnde erlauben, bier zu leben und 
zu arbeiten. Da stirbt dieser Menscb abet aucb schon. Max Brod 
hat, im Zusammenhang dieses Plans, erwahnt, dap Kafka bei 
jenem Dorf am Fufie des Schlofibergs eine bestimmte Siedlung, 
Zurau im ErzgebirgefJ vorgeschwebt babe. Wit diirfen aber noch 
ein anderes Dorf in ihm erkennen. Es ist das einer talmudischen 
Legende, die der Rabbi als Antwort auf die Frage erzdhlt, warum 
der ]ude am Freitagabend ein Festmahl rustet. Sie berichtet von 
einer Prinzessin, die in der Verbannung, von ihren Landsleuten fern 
und in einem Dorf, dessen Sprache sie nicht versteht, schmachte. Zu 
dieser Prinzessin kommt eines Tages ein Brief, ihr Verlobter habe sie 
nicht vergessen, habe sich aufgemacht und sei unterwegs zu ihr. Der 
Verlobte, sagt der Rabbi, ist der Messias, die Prinzessin die Seele, 
das Dorf aber, in das sie verbannt ist, der Korper. Und weil sie dem 
Dorf, das ihre Sprache nicht kennt, anders von ihrer Freude nichts 
mitteilen kann, rustet sie ihm ein MahL - Mit dieser Geschichte 
sind wir mitten in Kafkas Welt; in ihrem Sinn will ich Morgen- 
sterns Wort verstehn. Denn so wie der K. im Dorfe am Scbloflberge 
lebt der heutige Mensch in seinem Korper; dieser entgleitet ihm, ist 
ihm feindlich. Es kann geschehen, dafi der Mensch eines Morgens 
erwacht, und er ist in einen Kdfer verwandelt. Die Fremde — seine 
Fremde - ist seiner Herr geworden. [s. 679,39-680,32 und 
424^30] 

Ms 334 

Dorflufl II 

»Nachbarldnder mogen in Sehweite liegen, daft man den Ruf der 
Hdhne und Hunde aus der Feme hbren kann. Und doch sollen die 
Menschen im hochsten Alter sterben, ohne weit gereist zu sein.* 
Laotse [s. 424,3-6] 

Ms 306 

Es gilt, in diesem Zusammenhang (des Korper-Dorfes [s. 424,2$ f.J) 
auf einen eigentumlioben Kunstgriff des Erzahlers die Aufmerksam- 
keit zu lenken. Der Leser hat vielleicht bemerkt: Wenn andere dem 
Helden etwas mitzuteilen haben, so tun sie das - und mag es das 
Wichtigste, mag es das Unvermutbarste sein - beilaufig und auf 
eine Weise, als miisse er es im Grunde langst gewu$t haben. Es ist, 
als ware da nichts Neues, als ergehe nur unauffallig an den [. . ./ 
[Ruckseite:] Die 1 ' h eolo gie ist undnstandig 

Ms 311 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1233 

Man wurde aber Kafka gewifi nicht verstehen, wollte man das Dorf- 
licbe dieser Erzahlungen in einem romantischen oder idyllischen 
Sinne fassen* Zu diesem Dorf gehort aucb der Schweinestall, au$ 
dem die Pferde fur den Landarzt hervorkommen, das stickige 
H inter zimmer, in welchem Klamm, die Virginia im Munde[,] vor 
einem Glas Bier sitzt und das Hoftor, an das zu schlagen den Un- 
tergang mit sich bringt. (»Ich bin mit Recht verantwortlich fur alle 
Schldge gegen Ttiren*, hiefi es ubrigens sdoon in der »Betracbtung<t .) 
[s. 424 ,3 2- 36] Hier entfernt sich die Auslegung am weitesten 
von der uberkommenen Darstellung. Daher Exkurse uber die Theo- 
logie. [Am Rande:] DorflufifJ Theologie 

Ms 304 

III - zu Das bucklicht Mdnnlein (425-432) 

Denn eines hat man uber alledem festzuhalten: eben die Welt, in 
welcher seine Vberlegungen sich abgespielt haben, hat Kafka in 
seinen Romanen uberwunden. Jede einzelne Begebenheit, die er 
erzdblt, ist ein Sieg uber das Paradox, Ein aufiergewohnlicbes Ver- 
batims von Theorie zu dichterischer Praxis ist das; jedoch kein un- 
erhortes. Und aufschlufireich fur Kafkas Schaffen eine Geschichte, 
die von Hamsun berichtet wird [s. 42$]. Unanstdndigkeit der 
Theologie. 

Dieser Mann hat seinen Preis fur seine Existenz in Europa bezahlt. 
Er hat nicht nur den - ihm ganz wesensfremden - Dostojewski 
bewundert sondern aucb Werfel, der ihm seinerseits mit Gering- 
schdtzigkeit vergalt. Und gewifi hat er in jedem seiner Bucher be- 
zahlt; vielleicht wollte er sie darum verbrennen lassen. 

Ms 279 

Die beiden grundsdtzlichen Gefahren in der Deutung Kafkas sind die 
unmittelbar naturliche und die unmittelbar ubernatiirliche Ausle- 
gung. Die erste ist vertreten durch die Psychoanalytiker wie Hell- 
muth Kaiser, die zweite durch die theologischen Autoren wie 
Schoeps oder Bernhard Rang. [s. 425,24-30 }.) 

Ms 312 

Kafka war vor allem ein grofier Erzahler. Darum mbchte ich 3 zum 
Unterschied von Max Brod, nicht annehmen, daft er »zun'dchst 
sich selbst, nicht andern Rat zu geben hatte.* Denn immer ist ein 
grower Erzahler ein grower Ratgeber - im Wort liegt sdoon , daft er 
den Rat vor allem mitteilt. Und eher als einen Rat zu geben, der 
allein ihm selbst besttmmt war, hdtte er - als der Erzahler, der er 
war - den andern seine Ratlosigkeit mitgeteilt. J a, eben das hat er 



1234 Anmerkungen zu Seite 409—438 

in seinen grojien Buchern getan. Man verkennt datum ebensosehr 
ihre Bescheidenheit wie ihre Prdzision, indem man sie fur le'icht 
drapierte Begrijfsgeruste ausgibt. [s. 425,34 f.J 

Ms 313 

Potemkin IV 

An diese Seite der Sache hat sich die psychoanalytiscbe Deutung ange- 
schlossen und besonders die »Strafkolonie« , die Strafphantasien 
Kafkas verst'dndlich zu machen gesucbt. Daft der von dieser Deu- 
tung erfa/lte Vorstellungskreis bei weitem den des Werks nicht aus- 
mijlt, ist die Folge der in psychoanalytischen Versuchen uber die 
Dichtung ublichen Scbnellfertigkeit und Befangenheit. Kaiser hat 
einige wichttge Feststellungen uber die Bedeutung der Familie in 
Kafkas Dichtung gemacht, ohne aber die Gestaltenfolge gesehen 
zu haben, die in dieser Kernzelle ihren Ur sprung hat. [s. 425,29] 

Ms 314 

Exkurs II 

Mufiig ist es, an eine Deutung Kafkas zu gehen, ehe man langen Um- 
gang mit seinen Motiven gepflogen hat. 

>Die obere Macht, den Bereich der Gnade, hat er dargestellt in sei- 
nem grofien Roman >Das Schloji<, die untere, den Bereich des Ge- 
richts und der Verdammnis, in seinem ebenso gr often Roman >Der 
Prozefi<. Die Erde zwischen beiden, das irdische Leben, das 
irdische Schtcksal und seine schwierigen Forderungen hat er in 
strenger Stilisierung zu geben versucht in einem dritten Roman 
>Amerika<.« Willy Haas: Gestalten der Zeit p 175 [s. 425,35- 

4***41 

Ms 291 

»Kann denn ein einzelner Beamter verzeihenf Das kann doch hoch- 
stem Sache der Gesamtbehorde setn, aber selbst diese kann wahr- 
scheinlich nicht verzeihen, sondern nur richten«. (Scblofi p 414) 
Das hindert Rang nicht zu schreiben: »Sofern man das Schlofi als 
den Sitz der Gnade ansehen darf, so bedeutet, theologisch gespro- 
chen, aber dieses vergebliche Bemuhen und Versuchen, daft sich die 
Gnade Gottes nicht willkiirlich und willentlich vom Menschen 
herbeifuhren und erzwingen lafit.* [s. 426,28-31 und 426,7-1 ij 

Ms 259 

Die verhangnisvolle Konsequenz aus solcher Betrachtungsweise hat 
dann ein franzostscher Kritiker (Denis de Rougemont NRF Mai 
1934) gezogen: »Tout cela, ce n y est pas la >misere de Vhomme 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1235 

sans dieu<, mats la mtsere de Vhomme livre a un dieu qu'il ne 
connait pas, parce qu'il ne connait pas le Christ. c [s. 426,32-35] 

Ms 275 

Es ist ndmlich viel leichter, aus dieser Notizensammlung spekulative 
Schlusse zu ziehen, als eine einzige Erzahlung Kafkas wirklicb zu 
versteben. So einladend jene erscheinen mag, so grofle Vorsicht ist 
bei ihrem Studium anzuraten. [s. 426,36-38] 

» Kafka kommt . . . von Kierkegaard wie von Pascal, man kann ihn 
wohl den einzigen legitimen Enkel Kierkegaards und Pascals 
nennen. Alle dret haben das barte, blutig barte religiose Grund- 
motiv: daft der Mensch immer im Unredn ist vor Gott . . . das 
ist das religiose Grundmotiv Kafkas. Seine Oberwelt, sein soge- 
nanntes >Schlo$< mit seinem unabsehbaren, kleinlichen, verzwickten 
und recht liisternen Beamtenstab, sein merkwiirdiger Himmel 
treibt ein fiirchterliches Spiel mit dem Menschen, ein sundhaftes 
Spiel . . .; und dock ist der Mensch ganz tief im Unrecht, sogar vor 
diesem Gott.« Willy Haas: Gestalten der Zeit p 176 1 77 - Auf 
der gleicben Linie - und auch hier steht Haas durchaus nicht allein - 
halt sich die folgende Behauptung . . . [s. 426,15-24] 

Ms 274 

Wdhrend der »Prozefi« die Defensive des Angeklagten zeigt, ge- 
winnt es im »Scblofi« bisweilen den Anschein, als sei es die trostlose 
Aufgabe der Machte, dem Menschen seine Schuld zu beweisen. Und 
dann ist die Lage dieser Machte - so ziigellos sie in ihrer Verddch- 
tigung sind - ebenso hoffnungslos wie die des Menschen in der Ver- 
teidigung. (Scbloft p 498) 

Ms 255 

So sehr grotesk n'dmlich das garnicht so seltene Mifiverstdndnis ist, 
Kafka habe in diesem Buche [»Der Prozefl«] die Leiden eines un- 
schuldig Angeklagten darstellen wollen so unbestreitbar ist daft 
dieses Buck motivisch vieles mit der Satire teilt. 
[auf dem Rand:] [. . ./ geworden. Was heiflt das? I Betrachten 
wir das Dorf, das am Fufie des Schlo fib ergs liegt. 
Er hatte das Ratsel gelds t, indem er sich selber zu seiner Losung 
machte. Was heiflt das? 

Ms 294 

Exkurs I 

Damit soil nicht gesagt sein, dafi es von alledem bei Kafka nichts 
gibt. Im Gegenteil gibt es das zweifellos. Es kommt nur darauf an, 
diese gnostischen Anwandlungen richtig einzuschdtzen. Bestreitbar 



1236 Anmerkungen zu Seite 409—438 

sind sie durchaus nicht. ] a, man kann auf fast wortliche Anklange 
an altchristlicbe Dikta stojlen. »Woruber ich einen jeden treffe, 
daruber will ich ihn richten*, beifit es in einem apokryphen Evan- 
gelium. Was sonst meint Kafka, wenn er einmal schreibt: »Das 
jungste Gericbt ist ein Standrecht.* Abet dieser Satz steht in den 
nachgelassenen Notizen. [s. Lesart zu 427,3] 

Ms 276 

Um dies Vergessene und Vergessenste heimzuholen, nimmt Kafka die 
ganze Welt in eine ruckwartige Stellung zuruck. Er raumt Jahr- 
tausende der Kulturentwicklung. Die Welt befindet sich, nach ibrer 
Naturseite, bei ihm in dem Stadium, das Bachofen das hetarische 
genannt hat. Kafkas Romane spielen in einer Sumpfwelt. Abet 
diese Welt ist dann auch wieder die unset e: eben datum, we'd wir 
sie nicht bewaltigt, sondern nur verdrangt und vergessen haben. 
Kafkas Logik ist darum eine Sumpflogik. Den Vberlegungen, die 
er anstellt, folgt man als ginge es uber Moorboden. Und eine seiner 
fruhesten Aufzeichnungen sagt: »Ich habe Erfahrung und es ist 
nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, dafl es eine Seekrankheit 
auf festem Lande ist.« Hyperion II, 1 [s. 428,25-3$] [auf dem 
Rand:] Sumpfwelt],] Vergessen 

Ms 280 

Bucklicht Mannlein II 

Zahllose Beispiele liefert Kafka fur diese schwankende Struktur der 
Erfahrung. Eine der erschreckendsten bildet der Anfang des 
»Schlags ans Hoftor*. »Es war im Sommer, ein heifer Tag, Ich 
kam auf dem Nachhauseweg mit meiner Schwester an einem Hof- 
tor voruber. Ich weijl nicht, schlug sie aus Mutwillen ans Tor oder 
aus Zerstreutheit oder drohte sie nur mit der Faust und schlug gar- 
nicht.* Man sieht sogleich, wie die blofie Moglichkeit des an dritter 
Stelle erw'dhnten Vorgangs die beiden ersten Moglichkeiten, die 
zunachst harmlos wir ken, in einem ganz andern Lichte erscheinen 
lafit. [s. 428,36-429,6] 

Ms 281 

Der Boden solcher Erfahrungen ist nicht tragfabig. Dem entspricht es, 
dap keine menschliche Kunst bei Kafka so tief kompromittiert er- 
scheint wie die Baukunst. Keine ist lebenswichtiger und vor keiner 
macht die Ratlosigkeit sich bemerkbarer. Es mufi allerdings gesagt 
werden, dafl Kafka uberhaupt weit entfernt ist, in seinen Roma- 
nen der Kunst jenen Platz anzuweisen, auf dem sie in den Augen 
der Philister thront. Wie zweideutig erscheint die Malerei von 
Titorellif ]s. 429,6 f.J 

Ms 2J7 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1237 

Man hat bemerkt, dafi in Kafkas Scbriften »Gott« nicht vorkommt. 
Ebensowenig gibt es da Juden. Von dergleichen zu reden, verbot 
die Scham ihm. Denn wirfi nicht an dem [. . ./ ungeheure Vor- 
kehrungen w'dren zu treffen, Und »diese Uberlegungen, zu denen 
sie Anlafi geben, sind endlos** Diese Sumpfwelt ist noch nicht ein- 
mal zur Liebe gekommen. Alle Verhdltnisse in seinen Erz'dhlungen 
sind eindeutig sexuelL Lent verrdt [sicker?] ihren Ursprung durch 
eine Schwimmhaut [s. 429,8-12] 

Ms 278 

Im ersten Stuck der »Betrachtung« sitzt der Betracbter auf einer 

Schaukel. [$. 428,3$ /./ 
Frieda zu K.: ». . . Schone Zeiten, du hast mich niemals nach meiner 

Vergangenheit gefragt.« (Scblofi p 479) [429,11-13] 
Leni. »Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand 

auseinander, zwischen denen das Verbindungshdutchen fast bis 

zum obersten Gelenk der kurzen Finger reicbte.* Prozefi p 190/1 

[s. 429,8-11] 

Ms 307 

Willy Haas hat die Vermutung ausgesprochen »dafl der Gegenstand 
des Prozesses, ja der eigentliche Held dieses unglaublichen Bucbes, 
das Vergessen ist, . . . dessen . . . Haupteigenschaft ja ist, dajl es 
sich selbst vergifit . . . Es ist Her selbst geradezu stumme Gestalt 
geworden in dieser Figur des Angeklagten, und zwar Gestalt von 
groflartigster lntensitdt.fi Dajl »dieses geheimnisvolle Zentrum . . . 
der judischen Religion* entstammt, ist wohl nicht von der Hand zu 
weisen. »Hier spielt das Geddchtnis als Frommigkeit eine ganz ge- 
heimnisvolle Rolle. Es ist . . . nicht eine, sondern . . . die tiefste. 
Eigenschafl Jehovas, dajl er gedenkt, dafl er ein untrugliches Ge- 
ddchtnis >bis ins dritte und vierte Geschlechu, ja bis ins >hundert- 
ste< bewahrt. Der heiligste . . . Akt des . . . Ritus ist die Auslo- 
schung der Sunder aus dem Buck des Geddcktnisses.* Haas: Ge- 
stalten der Zeit p 196/97 und 19 j [s. 429,24-39] 

Ms 293 

Vergessenheit ist das Bekdltnis aus dem eine unerschopfliche Geister- 
welt in Kafkas Geschichten ans Licht drdngt. »Ihm gilt gerade die 
Fillle der Welt als das allein Wirkliche. Aller Geist mufl dinglich, 
besondert sein, um hier Platz und Daseinsrecht zu bekommen . . . 
Das Geistige, insofern es noch eine Rolle spielt, wird zu Geistern. 
Die Geister werden zu ganz individuellen Individuen, selber be- 
nannt und dem Namen des Verehrers aufs besonderste verbun- 



1238 Anmerkungen zu Seite 409—438 

den . . . Unbedenklich wird mlt ihrer Fillle die Tulle der Welt 
noch iiberfiillt . . . Unbekiimmert mebrt sich bier das Gedrdnge der 
Geister . . . immer neue zu den alien, alle eigennam[ent]lich von 
einander geschieden.« Es ist nun freilicb nicbt Kafka, von dem bier 
die Rede ist - es ist China. So bescbreibt Rosenzweig im »Stern 
der Erlosung* den cbinesiscben Abnenkult. Unabsebbar abet wie 
die Welt der fur ibn wichtigen Tatsachen, war fur Kafka aucb die 
seiner Ahnen, ihrer Freunde und ihrer Feinde, Ein Stammbaum wie 
er uns aus Totemb'dumen vertraut ist, gibt das Mafl fur jenes unge- 
heure Ausholen in der Zeit, in dem er das Vergessene heimzuholen 
sich anschickte. [auf der Riickseite:] Entstellung[J Studium[,] 
Schlaflosigkeit[,] Potemkin[,J Kinderbild[J Hamsun [s. 430,5-22] 

Ms 326 

Bucklicht Mdnnlein IV 

Im ubrigen steht nicht nur bei Kafka die Tierwelt fur unser Verges- 
senstes. Im tiefsinnigsten Marchen der deutschen Romantik [Verb 
fehltj sie so auf. {Die Schuld die auf dem blonden Eckbert liegt 
- so undeutlich und grofi wie Joseph K. y s - ist die, die Tiere - 
das Hiindcben und den Vogel - vergessen zu haben.} Einen {rdt- 
selbaften} Hundenamen vergessen haben - Strohmian - das ist im 
blonden Eckbert die ratselhafte Chiffer der Schuld, [s. 430,22 bis 

Ms 277 

Sein Denken selbst hat einen gestischen Charakter. Man mbchte mei- 
nen, nie hdtte man von Kafka zu sehen bekommen, was Grubeln 
heifit. Sieht man das Tier im Bau oder den Riesenmaulwurf nicht 
denken wie man sie graben sieht. Und doch ist auf der andern Seite 
dieses Denken wiederum etwas sehr Flatterhafles. Unschlussig 
schaukelt es von einer Sorge zur anderen, es nippt an alien Angsten, 
es hat die Flatterbafligkeit der V erzweiflung. Vbrigens gibt es bei 
Kafka auch Scbmetterlinge. »aus dem Jdger ist ein Schmetterling 
geworden. Lachen Sie nichu sagt der Jager Gracchus. Soviel ist 
sicher: unter alien Geschichten Kafkas kommen zum Nach denken 
nur die Tiere. Was die Korruption im Recht ist, das ist in ihrem 
Denken die Angst. Sie verpfuscht den Vorgang und ist doch das 
einzig Hoffnungsvolle [in ihm.J [s. 430,29-431,3] 

Ms 283 

/. . ./ Helden die Aufforderung, sich doch einf alien zu lassen, was er 
vergessen babe. Kurz, es ergebt dann K. so wie uns selbst, wenn 
wir aus unserm Wohlbefinden plotzlich durch einen [kleinenf] 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1239 

Schmerz gerissen werden; ein Gefuhl, das uns scblicht nahelegt, dodo 
unsere Krankheit, unsern Tod uns wieder einf alien zu lassen. 
[auf dem Rand mit Unterstreichung:] Weltalter werden im Er- 
innern heraufgeholt. Und dies mit Hilfe [Fortsetzung auf Ms 286: J 
seines Korpers 

Ms 285 

Einmal ist das Vergessene bet Kafka wirklicb die Krankheit. Wenn 
man nur einraumen willy dafl die vergessene Fremde des Daseins, 
wo sie uns am ndchsten angeht, Tiergestalt bat, begreifl man, wie 
der Husten, der ihm tief im Inneren, Vergessnen des Korpers 
steckte, von ihm »das Tier* genannt wurde. Wir werden sehen, 
dafl der Husten nur sein vorgeschobenster Posten in Kafkas Leib 
war. [s. 431,3-6] 

Ms zU 

»Es gibt bet Gericbt kein Vergessene Der Prozefi p 27 j 
Die Gerichte, nicbt anders als Odradek, halt en sich gem auf den 
Dachboden auf. Vielleicht n'dhert man sich ihrem Verstdndnis, er- 
innert man sich, da (I Boden der Ort der ausrangierten, vergessenen 
Effekten sind. Vielleicht rufl die Notwendigkeit, diesen Gerichten 
sich stellen zu miissen, dhnliche Gefuhle hervor wie der Zwang, an 
jahrelang verschlossene Truhen auf dem Boden heranzugehen. Gem 
wurden wir es bis ans Ende der Tage verschieben. [s. 431,18-26] 

Ms 287 

Bucklicht M'dnnlein I 

Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. 
Von dieser Seite her gesehen ist Kafkas Werk uberhaupt die Ant- 
wort auf die Frage: wie sieht die Welt im Stande des Vergessen- 
seins aus? Und haben die Oberen, Herrschenden sie nicbt verges- 
sen? Die Welt im Stande des Vergessenseins ist entstellt. Entstellt 
ist die Spule Odradek, die Sorge des Hausvaters, von der niemand 
weifi, was sie ist, entstellt das Ungeziefer, von dem wir nur allzu- 
gut wissen, wen es in der Verwandlung darstellt, entstellt das 
grofle Tier, halb Lamm, halb Katzchen, fur das vielleicht das Mes- 
ser des Schlachters eine Erlosung ware. [s. 431,29-35] Sie sind 
entstellt, wie es die Welt fur jenen Rabbi war, der lehrte, das das 
Kommen des Messias sie nicbt durch und durch verandere; »Er 
riickt sie nur zurechu lehrte er. [s. 432,17-20] Auch das Natur- 
th feather] von 0[klahoma] ver'dndert die Menschen nicht durch 
und durch. Es riickt sie nur zurecht, indem es sie spielen laflt. 
[Auf RUckseite Stichworte:] Dorflufl],] Theologie[,] Sumpf- 



1240 Anmerkungen zu Seite 409—438 

welt[J Vergessen[,] {Entstellung im Raum, in Zeit[,] Dorf- 
luft[,]} Schlemihl[ s ] cbassidischer Bettler 

Ms 288 

Bucklicht Mdnnlein III 

In diesen Uberlegungen - und das ist die Probe auf ihre Berechti- 
gung - ist der Zugang zu einem weiteren Vorstellungskreise Kaf- 
kas enthalten. Wir sprachen von den Gestalten, weldoe den Kopf 
tief auf die Brust beugen. Das war Miidigkeit bei den Gerichts- 
herrn, die niedere Decke bet den Galeriebesuchern, nicht n'dher er- 
kl'drt beim Bilde des Kastellans. Die ins Telefon hineinhorenden 
drei Portiers lassen »wie betaubt von dem auf sie herandringenden, 
fiir die Umgebung im iibrigen unhorbaren Ldrm, die Kopfe auf das 
Papier sinken.* Dahinter aber mag etwas anderes verborgen sein. 
(Buchstablich ist das zu verstehen!) Die »Strafkolonie* folgt uns 
auf seiner Spur. Den Hafllingen sticht eine altertumliche Maschine- 
rie verscbnorkelte Lettern in ihren Riicken y mehrt die Stiche und 
hdufl die Ornamente unabldssig so lange bis ihr Rucken hellsehend 
geworden ist t selbst diese Schrift zu lesen, deren umstdndlicbe Let- 
tern den Namen des ihnen unbekannten Versobuldens zusammen- 
setzen, um dessentwillen sie in die Strafkolonie gekommen sind. Es 
ist also der Rucken, dem es aufliegt. Und dem liegt es bei Kafka 
seit jeber auf. In einer seiner friihesten Tagebuchnotizen: »Um 
moglichst sdower zu sein, was ich fur das Einschlafen fiir gut balte, 
hatte ich die Arme gekreuzt und die Hdnde auf die Scbultern ge- 
legt s so dafi ich dalag wie ein bepackter Soldat.* Handgreiflich 
geht hier das Beladensein mit dem Vergessen (dem Einschlafen 
ndmlich) zusammen. [s. 4^1^-4^2,14] 

Ms 273 

Zweideutige Verbindungen geht das Vergessen mit der Vorwelt ein. 
Dies ist der Ursprung der Monstra in Kafkas Werk. In einem 
seiner ergreifendsten Sdtze aber ist ihm gelungen, die Stimme der 
Vergessenheit wiederzugeben. Odradek lacht. »Es ist aber nur ein 
Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann. Es klingt 
etwa so wie das Rascheln in gefallenen Blattern.* [s. 432,22-24] 

Des Vergessenen aber hat sich die Vorwelt, die Welt der schranken- 
losen Promiskuitdt bemachtigt. Darum sind Monstra und Bastarde 
seine Ausgeburten. [s. 430,1-$] 

[auf Riickseite Brief aussdhnitt, der zusammen mit den Ruckseiten 
von Ms 293 und Ms 294 eine wichtige Quellenangabe zu Johann 
Jakob Bachofen rekonstruieren lafit; s. 964] 

Ms 289 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1241 

Eine qudlende Frage schlummert unausgesprochen auf dem Grunde 
des Gedichts vom buckligen Mannlein: Was weifi das bucklige 
Mannlein von uns[?] Und so bei fit es unausgesprochen bei Kafka: 
Was wissen die vergessenen Dinge von uns[f] Ihm antwortet das 
Lachen Odradeks, das wie das Rascheln in gefallnen Slattern [ist,] 
und auch dem Kinde, das in sein Kammerlein geht, will sein Bett- 
lein macben, steht ein bucklicbt Mannlein da, fangt als an zu 
lacben. [s. 432,21-24] 

Das Bfucklicbt] M[annlein], das einmal einer den »grauen Vogt* 
genannt, der von jedwedem Ding, an das »ich kam, den Halbpart 
des Vergessens* einbehielt. 

Und so gehen sie schon lange in dem unergrundlicben deutscben Volks- 
lied vom buckligen Mannlein zusammen, das der Welt Kafkas 
n'dher steht als irgend sonst etwas. Das bucklige Mannlein, welches 
die Last der Entstellung auf dem Rucken von Haus aus tragt, ist 
Vorlaufer und Schutzherr jener Bedruckten bei Kafka, ein Bote 
aus dem Reich des Vergessenen wie sie. 

Hat man auch wohl gemerkt, dafi der Blick mit welcbem Kafka Ver- 
drufi, Schmach, Widerwartigkeit der Welt bedenkt, niemals ein 
anderer als der unentschiedene, bald stumpfe, bald erbarmende, 
bald scheele ist, der das bucklicbt Mannlein streift? » Etwas sehr 
Begreif Itches, fast Selbstverstandliches* ist, wie Oskar Baum es mit 
Recbt behauptet, »die Schuld bei Kafka [. . ./ 

Ms 290 

Daft diese Wege von jud[ischenj Auslegern beschr[itten] wurden, 
kann sonderbar scbeinen; durchaus auch, dafi die chr[istlichen] sie 
zu Ende gingen. Von hier aus fuhren bequeme Wege ins Bodenlose, 
H Scboeps hat sie in Wendungen angedeutet, die sich beretts durch 
ihre Spracbe richten. »Im ubrigen hat Kafka*, so duflert er, »in 
der fur ihn charakteristischen Form des mythischen Ahnungswis- 
sens um die Schicksalbaftigkeit der geschichtUcben Zusammenhange 
gewufit.* [s. 432,29] Rougemontl! [s. 426,31-3;] 

Ms 292 



IV - zu Sancho Pansa (433-438) 

Sancho Pansa II 

Dies chassidische Bettlermarchen fuhrt nicht nur in den moralischen 
Haushalt von Kafkas Werk ein sondern ebenso in seinen zeit- 
lichen, der innig mit jenem zusammenhdngt. Dem Grofivater im 
»LandarzU, der es kaum begreifen kann, »wie ein junger Mensch 
sich entschliefien kann, ins nachste Dorf zu reiten, ohne zu furchten, 



1242 Anmerkungen zu Seite 409—438 

daft ... schon die Zeit des gewohnlichen, glucklich ablaufenden 
Lebens ftlr einen solcben Ritt bei weitem nicht hinreichu - diesem 
Grojlvater gleicht der Bettler der in seinem » gewohnlichen, gliick- 
lich ablaufenden* Leben nicht emmal die Zeit zu einem Wunsch 
findet - dem Wunscb nacb einem Hemd - in dem ungewohnlichen, 
unseligen der Flucht aber, in das er sich in seiner Geschichte hin- 
einbegibt, dieses Wunsches uberhoben ist und ihn fur die Erfullung 
eintauscht. Wie der Bettler seine Geschichte - nur um ein Hemd [-], 
so bietet - nur um Ruhe zu haben - Sancho Pansa die Geschichte 
des Don Quichote auf. [s. 433,25-434,3] 

Ms 272 

Nicht anders hangt die merkwiirdige Zeitbeschrankung des »ndchsten 
Dorfs* mit einem Ritt zusammen. Das ganze Leben geht in einen 
Ritt hinein, ja, kann ihn nicht einmal wirklich ausfullen, [433,28- 

36] 

Ms 282 

»Ich strebte zu der Stadt im Siiden bin, von der es in unserem Dorfe 
hiefi: >Dort sind Leutel Denkt Euch, die schlafen nicht!/ - >Und 
warum denn nichtf< - >Weil sie nicht mude werden.< - >Und war- 
um denn nicht?< - >Weil sie Narren sind<. - >Werden denn Nar- 
ren nicht miide?< - >Wie konnten Narren mude werden?<« - (Be- 
trachtung p 15/16) Diese Narren sind die Vorlaufer der Gehil- 
fen, der Nimmermiiden, der Unnachgiebigen (p 23), zu denen auch 
die Bauernfdnger gehoren. [$. 434,5-12] 

Ms 270 

Die Gehilfen: »Was fur bafiliche schwarze ]ungen es sind und wie 
abscheulich ist der Gegensatz, die auf Erwachsene, ja fast auf Stu- 
denten scblieflen lassen, und ihrem kindisch-ndrrischen Benehmen.* 
(Schlofi p 270) [s. 434,12 f.-i 4 ] 

Ms 264 

»>Aber wann schlafen Sie?< fragte Karl und sah den Studenten ver- 
wundert an. >Ja, schlafenU sagte der Student, >schlafen werde 
ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin.<* — Das Lernen der 
Thora erhalt die Welt. 

Die Studenten schlafen nicht, der Hunger kiinstler ijlt nicht und der 
[. . .] [s. 434,17-20] 

Ms 267 und 269 

Man muf! an Kinder denken: wie ungern [gehen] sie zu Bett. Wdh- 
rend sie schlafen, konnte dock etwas geschehen, was sie beansprucht. 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1243 

»Vergifi das Beste nichu heifit es in der Sage, Aber das Verges- 
sen betrifft immer das Beste. ]a, es betrifft die Moglichkeit zu hel- 
fen. »Der Gedanke, mix helfen zu wollen,* sagt ironisch der uner- 
forschliche Jager Gracchus, »ist eine Krankheit, die mufi im Belt 
geheilt werden.* [s. 434,20-28] 

Ms 258 

Nock einmal haben [. . .] sind die Studien der Knabenjabre [. . ./ 
»Nicht vie I anders - jetzt war es schon lange her - war Karl zu 
Hause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgabe ge- 
schrieben, wahrend der Vater die Zeitung las, die Bucheintragun- 
gen und Korrespondenzen fur einen Verein erledigte und die Mut- 
ter mit einer Ndharbeit beschaftigt war und hoch den Faden aus 
dem Stoffe zog. Urn den Vater nicht zu beldstigen, hatte Karl nur 
das Heft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, wahrend er die 
notigen BUcher rechts und links von sich auf Sesseln angeordnet 
hatte. Wie still war es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leu- 
te in jenes Zimmer gekommenh Amerika p 345 Aber es ist 
etwas Vbermenschliches, was da geleistet werden mufl. [s. 434,33- 
435,5] 

Ms 265 

Im ubrigen verleugnet auch dieser Anschauungskreis die chinesische 
Weisheit nicht. Und das Studium des Bucephalus oder des Sancho 
Pansa steht jenem Nichts, das das Etwas erst brauchbar macht, 
nahe - also dem Tao. Ein kleines Fragment beweist, daft hierauf in 
der Tat der Schwerpunkt bei Kafka liegt: »Zwei Moglichkeiten: 
sich unendlich klein machen oder es sein. Das zweite ist Vollen- 
dung, also Untdtigkeit.* - Tao, wie man inter pretier en darf — 
»das erste [. . .] also Tat.« [s. 435,5-7] 

Ms 266 

Zum Tao gehort als sein Ausdruck der »Wunscb, einen Tisch mit pein- 
lich ordentlicher Handwerksmafiigkeit zusammenzuhdmmern und 
dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar nicht so, dafi man sagen 
konnte: Ihm ist das Hammer n ein Nichts, sondern lhm ist das 
Hdmmern ein wirkliches Hdmmern und gleichzeitig auch ein Nichts, 
wodurch ja das Hdmmern noch kilhner, noch entschlossener, noch 
wirklicher und, wenn du wills t, noch irrsinniger geworden ware. 
Aber er konnte gar nicht so denn sein Wunsch war ... nur eine 
Verteidigung, eine Verburgerlichung des Nichts, ein Hauch von 
Munterkeit, den er dem N. geben wollte.« [s. 435,7-15] 

Ms 268 



1244 Anmerkungen zu Seite 409—438 

Warum die Studierenden sich beim Studium beeilen 

»Oft diktiert der Beamte so leise, dafl der Schreiber es sitzend gar- 
nicbt horen kann, dann mujl er immer aufspringen, das Diktierte 
auffangen, schnell sich setzen und es aufschreiben, dann wieder 
aufspringen u. s. w. Wie merkwurdig das ist! Es ist fast unver- 
standlich.* (Das Schloj! p 342) Und das ist es gewifi aucb fur 
Kafka selbst. Denn es handelt sich hier nirgends um die bewuflte 
Setzung einer sinnlicben Geste fur einen etwa Ubersinnlichen Sach- 
verhalt, sondern dieser Sachverhalt wird auf dem Grunde der 
sinnlichen Welt gesucht, die darum nur desto standhafter und voll- 
standiger studiert sein will. [s. 435*17-23] 

Ms 271 

Sancho Pansa I 

Einiges Uber das Studium: Portierloge des Hotel Occidental. »Wieder 
stand auch hier neben jedem der drei Sprecher ein Junge zur Hilfe- 
leistung, diese drei Jungen haben nichts anderes als abwechselnd 
den Kopf horchend zu ihrem Herrn zu strecken und dann eilig, 
als wilrden sie gestochen, in riesigen, gelben Buchern - die urn* 
schlagenden Bl'dttermassen Uberrauschten bei weitem jedes Ge- 
r'dusch der Telephone - die Telephonnummern herauszusuchen.* 
Amerika p 263/64 »Stumm sah er zu, wie der Mann in seinem 
Buche las, die Blatter wendete, hie und da in einem andern Buche, 
das er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgend etwas nachschlug 
und ofiers Notizen in ein Heft eintrug, wobei er immer tiber- 
rascbend tief das Gesicht zu dem He fie senkte.* Amerika p 344/45 

Is- 435*33-38] 

Ms 284 

Kinderbild II 

Diese Novelle - »Der neue AdvokaU - ist vor einiger Zeit durch 
Werner Kraft, der aucb sonst besondere Verdienste um Kafka hat, 
in diesen Blattern zum Gegenstand einer eindringlichen Deutung 
gemacht worden. Nachdem der Interpret mit Sorgfalt jeder Ein- 
zelheit des Textes sich gewidmet hat, bemerkt er; »Nirgendwo in 
der Literatur gibt es eine so gewaltige, so durchschlagende Kritik 
des Mythos in seinem ganzen Umfang wie hier.* - Das Wort »Ge- 
rechtigkeiu - so meint der Interpret - braucht Kafka selber 
nicht; und trotzdem set es die Gerechtigkeit, von der aus die Kri- 
tik am Mythos statthat. Sind wir aber soweit einmal gegangen, so 
geraten wir in Gefahr, Kafka zu verfehlen, indem wir hier halt 
machen. Ist es denn wirklich das Recht, das so, im Namen der Ge- 
rechtigkeit gegen den Mythos aufgeboten werden konntef Nein, als 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1245 

Rechtsgelehrter bleibt der Bucephalus seinem Ursprung treu. Nur 
scbeint er - und darin diirfle fiir den undurchdringlichen Verfasser 
das Neue fiir den Bucephalus und die Advokatur liegen - nicht zu 
praktizieren. Das Recht, das nicht mehr praktiziert und nur studiert 
wird, das ist die Pforte der Gerechtigkeit. Wir. werden uns dieser 
Auslegung noch erinnern. [s. 437,12-28] 

Ms 260 

Der Wunsch nach dem seligen Reiter, dem das Pferd unterm Ritt 
schwindet. Der unselige Reiter: Der Kubelreiter, der zwischen Of en 
und Himmel »scharf zwischendurch reiten* mufi. »Als Kubelreiter, 
die Hand oben am Griff, am einfachsten Zaumzeug, drehe ich mich 
bescbwerlich die Treppe hinab; unten aber steigt mein Kiibel auf, 
prdclrtig, prdchtig; Kamele, niedrig am Boden hingelagert, steigen, 
sich schilttelnd unter dem Stock des Fiihrers, nicht schoner auf.* 
Wenige Gegenden hoffnungsloser Einsamkeit und V erlassenheit 
tun sich hei Kafka auf, keine aber hoffnungsloser als »die Regio- 
nen der Eisgebirge*, in denen der Kubelreiter sich auf Nimmer- 
wiedersehen verliert. Da hat es der neue Advokat weiser gehalten, 
der nicht alles auf eine Karte seines fruheren Lebens gesetzt hat 
und daher als Bucephalus ohne den Alexander — und das hei fit, 
seines Reiter s ledig - wiederkommen kann. »Frei, unbedruckt die 
Seiten von den Lenden des Reiters, bei stiller Lampe, fern dem 
Getose der Alexander schlacht, liest und wendet er die Blatter 
unserer alten Bucher.* [s. 436,23-36 und 437,6-12] 

Ms 263 



c. Diverse Aufzeichnungen (bis ca. August / September 1934) 

<Notizen zum Brief an Scholem vom 11. 8. 1934) 
(s. Brief e, 617-619) 

1) Was ist »die Welt der Offenbarung in jener Perspektive, in der 
sie auf ihr Nichts zuriickgefuhrt wird«? 

2) Ich leugne den Aspekt der Offenbarung fur Kafkas Welt nicht, 
erkenne ihn vielmehr an, indem ich sie fiir *entstellt« erkl'dre. 

3) Ich halte Kafkas stetes Drangen auf das Gesetz, von welchem 
nie etwas verlautbart, fiir den toten Punkt seines Werkes, fiir die 
Schublade des Geheimniskramers. Gerade mit diesem Begriff will 
ich mich nicht einlassen. Sollte er in Kafkas Werk dennoch eine 
Funktion haben - was ich dahingestellt sein lasse - so wird auch 
eine Interpretation die von Bildern ausgeht - wie die meinige - 
auf sie fuhren. 



iz^6 Anmerkungen zu Seite 409—438 

4) Bitte um den offenen Brief an Schoeps, dem der Begriff einer 
ricbtig verstandenen Tbeologie zu entnehmen. 

5) Dafi eben die Schiller - »denen die Scbrifl abbanden gekom- 
men isu [s. 437,33] - nicht der hetdrischen Welt angehoren, 
ist von Beginn an von mir betont worden, indem ich gerade sie 
an die Spitze derjenigen Kreaturen stellte, fur die, nacb Kafkas 
Wort, »unendlich viel Hofjnung« vorhanden ist. 

6) Ob die Scbrifl den Schiilern abbanden gekommen ist> oder ob 
sie sie nur nicbt entratseln konnen, kommt darum auf das Gleicbe 
heraus, we'd die Scbrifl obne den zu ibr geborigen Scblussel eben 
nicbt Scbrifl ist, sondern Leben. In dem Versuch einer unmittel- 
baren Verwandlung des Lebens in Scbrifl sehe ich den Sinn der 
»Umkebr«y auf welcbe Kafkas Gleichnisse, wie icb am »nachsten 
Dorf« und am »Kubelreiter« gezeigt babe [s. 433 f. und 436 /./, 
bindr'dngen. Sancho Pansas Dasein ist musterhafl, we'd es eigent- 
licb im Nacblesen des Don Quicbotiscben besteht. Dabei »liest« 
manchmal das Pferd besser als der Mensch. 

7) Die auf das Benehmen der Ricbter gestiitzte Argumentation 
babe icb fallen lassen. Im ubrigen war aucb sie nicbt gegen die 
Moglichkeit einer tbeologischen Interpretation uberbaupt, son- 
dern nur gegen deren frecbe Handbabung durch die Prager ge- 
ricbtet. 

8) {Bitte um Bialiks Aufsatz »Hagadah und Halacba*.} 

9) Das Verbdltnis meiner Arbeit zu Deinem Gedlcht [scil. »Mit 
einem Exemplar von Kafkas >Proze$<«, Briefe 61 if.] mochte 
icb versucbsweise so fassen: Du gehst vom Nicbts der Offen- 
barung aus s von der beilsgeschichtlichen Perspektive des anbe- 
raumten Prozefiverfahrens. Ich gehe von der kleinen wider sinni- 
gen Hoffnung und von der ibrem Widersinn entsprechenden Ge- 
staltenfulle - sowie aucb den ihren Widersinn anklagenden Ge~ 
stalten - in Kafkas Werk aus. 

10) Wenn ich als- starkste Reaktion von Kafka die Scham bezeichne 
[s. 428], so widerspricbt das meiner Interpretation in keiner 
Weise. Vielmebr ist die Vorwelt - Kafkas gebeime Gegenwart - 
eben der geschichtsphilosophische Index, der diese Reaktion aus 
dem Bereich der Privatverfassung berausbebt. Das Werk der 
Tbora n'dmlich ist -wenn wir uns an Kafkas Darstellungen hal- 
ten - vereitelt worden. Und alles, was einst von Moses geleistet 
wurde, ware in unserm W eltzeitalter nachzubolen, 

Ms 249 

Zur kontemplativen Existenz 

»Betrachten Sie micb als Ihren Traum« 

Don Quichote - der von Sancho Pansa Getraumte 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1247 

Auch Kafka ein Getrdumter; die ibn trdumen sind die M assert 
Kafkas Aufzeichnungen stehen zur geschichtlichen Erfahrung wie 
die nichteuklidiscbe Geometrie zur empirischen. 

Z um Kafkabrief an S cb olem 

Ms 252 

Bibliograpbie zu Kafka 
{Acbad Haam: Aufsdtze (Hagada und Halacba)} 
Hellmutb Kaiser: Franz Kafkas Inferno Wien 1931 
Bernbard Groetbuysen: Kafka (NRF 1933) 
Benjamin: Kavaliersmoral (LW) 
Willy Haas: Gestalten der Zeit 
Rosenzweig: Stern der Erlosung 

Hugo Friedrich: Franz Kafka (Neue Scbweizer Rundschau 1931) 
Max Brod: Der Dicbter Franz Kafka (Neue Rundschau 1921) 
Otto Stoessl: Erzablende Literatur (Zeitwende II, 7) 
Werner Kraft: Vber Franz Kafkas »Elf Sohne* (Die Schildgenossen 

XII, 2, S ) 

Bernbard Rang: Franz Kafka (Die Schildgenossen XII ,2,3) 
Werner Kraft: Der neue Advokat (Judische Rundschau 20 Sept 

*933) 
Franz Kafka: Fabrt zur Mutter (Die Sammlung 1,2) 
Fred Hontzsch: Gericht und Gnade in der Dichtung Franz Kafkas 

(Hocbland XXXI, 8 Mai 1934) 

W Stumpf (Orient und Occident Heft $) 

W Stumpf .... (Die Furcbe 1932 Heft 3) 

H J Schoeps: Unveroffentlichtes aus Franz Kafkas Nachlafl (Der 

Morgen X, 2 Mai 1934 Berlin) 
Ludwig Hardt: Franz Kafka (Judische Rundschau Berlin No 44 

1 Juni 1934) 
Dostojewski: Der Groflinquisitor 

Tod des Staretz 
Max Brod: Franz Kafka und Max Brod in ihren Doppelberufen 

(Die Liter ariscbe Welt . . . No 18 - Neben dem Schriftstellerberuf) 
Oskar Baum: Franz Kafka (Die Liter ariscbe Welt . . , No 26) 
Bialik: Hagadah und Halacba (Der Jude) 

Margarete Susman: Das Hiob-Problem bei Franz Kafka (Der Mor- 
gen V, 1 1929) 
Willy Haas . . . [Aufsatz ilber die Publikation des Nachlasses] 

[Festschrift zu Brods $o $tem Geburtstag PragJ* 
Edmond Jaloux: [Aufsatz Uber den Prozefi]* Nouvelles Litte- 

r aires 1934 

Ms 967 
* eckige Klammern Benjamins 



1248 Anmerkungen zu Seite 409—438 

(Exzerpte) 
{»Uberall [. . ./ zurucktreibt.* Bacbofen: Urreligion I p 253} [$. 

436>39-437>SJ 

»Der Affe, der grofie animaliscbe Einsiedler der W 'alder \ das gebeim- 

nisvolle Vorbild mongoliscber und tibetanischer Asketen, den als 

solchen . . . Ferd. v. Eckstein erkannt hat.« Bernoulli [ed.; Bacbofen]: 

Urreligion I p 436/37 

Bacbofen iiber Pferde und Pferderennen Urreligion I p 340/41 

Ms 9<Sj 

»Die finsteren M'dcbte der Tiefe treten allein hervor. Eine Erbebung 
der stofflicben Kraft aus der Feucbtigkeit des Bodens zu dem bimm- 
liscben Lichte, ein Fortscbritt von der Erde zur Sonne bat nicbt 
stattgefunden.f Bacbofen: Urreligion I p 396 

»In dem finsteren Schofi der Tiefe vollziebt sicb jene Generation, 
deren regellose Vppigkeit den reinen Macbten des himmliscben Licbts 
verbafit ist und die Bezeicbnung luteae voluptates, deren sicb Amobius 
bedienty recbtfertigt.* [s. 429,13-17] »ln der niedern, unbeweinten 
Scbopfung ist jene Trennung der Geburt von dem Mutterleibe des 
gebarenden Stoffes, wie sie die animaliscbe Welt auszeicbnet, nocb 
nicbt eingetreten. Die Erdzeugung ist nocb nicbt zur Beweglicbkeit 
durchgedrungen. Die xivrjotg der hoberen Scbopfung ist der Pflanzen- 
welt als einer tiefern ursprunglichern Stufe der Naturerzeugung ver- 
sagt. Der scblammigen Hyle eignet Scbwere und Bewegungslosigkeit.* 
Bacbofen: Urreligion I p 386 u 393 [dazu s. 222 f. (Ill)] 
Kafkas Geheimniskramerei 

Ms $66 

»Ich stehe [. . ./ verbunden sind.* A S Eddington: Das Weltbild 
der Pbysik und ein Versucb seiner pbilosopbiscloen Deutung Braun- 
schweig 1931 p 334/3$ [$* Briefe, 761 und Bd. 3, 688] [Ruck- 
seite:] 

Scbnelligkeit als Versucb, das Vergessen zu uberspnngen 
Expressionismus und Surrealismus — die eine in die andere einge- 
bettet 

Ms 968 

4. Zur »Kafka«-Revision 

a. Das Dossier von fremden Einreden und eigenen Reflexionen 
(s. Briefe, 638; ab ca. September 1934) 

Zur »Kafka* -Revision [Blatt] 1 

2) Die Analyse der Vatervorstellung im ersten Teil bat die »Elf 

Sobne* zu berucksicbtigen. Dazu sind beranzuzieben das Stuck 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1249 

selbst, Krafts Kommentar dazu und die Schrift von Kaiser, [s. 
Krafts Brief, 1168 J 

2) Krafts Einwand gegen die Stelle zumckzuweisen, an der ich die 
Bezugnahme auf die nachgelassenen Aphorismen als illegitim 
darstelle [s. 42 $,19-426,38]. Kraft: >Dieser Nacblafiband steht 
. . . der Sacbe nach auf der gleichen Stufe der Illegitimitat wie die 
samtlichen illegitimen Romanes [s. 1168 /./ Allerdings, was seine 
Publikation, nicht aber seine Substanz betrifft. Diese hat Kafka 
in Berichten und Gleichnissen geben wollen, zu denen die Re- 
fiexionen nur Parerga und Paralipomena — und zwar soldoe 
eigentiimlichster Art - darstellen. 

3) Kraft verwahrt sich dagegen, die psycboanalytische Auslegung 
Kafkas als »naturliche« bezeichnet zu sehen. Er will diesen 
Namen einer anderen vorbehalten wissen, die der Darstellung 
von der gesellschaftlichen Bedingtbeit von Kafkas Werk nahe 
steht [s. 1169 ] - das will uberlegt sein. 

4) Wichtige Notiz zu den Tiergeschichten, von Kraft: »Mir bilden 
seine Tiergeschichten in den meisten Fallen nur ein tecknisches Mit- 
tel, das Uniibersehbare der empirisch-metaphysischen Verhaltnisse 
darzustellen, z.B. in >Josefine< oder in den Aufzeichnungen des 
Hundes. In beiden Fallen wird >Volk< dargestellt.* [s. a. a. O.J Das 
tst richtig; zu zeigen ist, wie es mtt meiner Deutung der Tierwelt bei 
Kafka zusammenhdngt, - Fur die »Forschungen eines Hundes* ist 
vielmehr Brechts »Traum des Soldaten Fewkoombey* [s. Drei 
Groscben Roman, Amsterdam 1934 (Epilog)} heranzuziehen, der 
unter Hunden das letzte halbe Jahr seines Lebens verbracht hat. 

j) Kraft: »]ede dieser Frauen hat eine Beziehung zum Scblofs', die 
Sie ignorieren, und wenn z. B. Frieda K. vorwirft, er frage sie nie 
naoh ihrer Vergangenheit, so meint sie nicht >Sumpf< sondern 
ihr f ruber es Zusammenleben mit Klamm.* [s. 1169] 

6) Krafts Kommentar zu »Ein altes BlatU einfordern. 

7) Der Vergleich mit dem Schweyk [s. 436,1-3] ist vielleicht wirk- 
lich, wie Kraft behauptet, nicht akzeptabel - ndmlich in dieser 
Kurze. Sollte man ihn nicht in eine Darlegung von Kafkas Her- 
kunft aus Prag einsetzen? 

Ms 234 

[Blatt] 2 

8) Kraft meint, Kafkas Verhaltnis zur Theosophie - wie die 
Tagebucbnotiz iiber Steiner [s. 422,11-14] es erkennen lasse - 
set eine Instanz gegen meine Auffassung. Ich kann nur finden, dajl 
ihr Kontext einen Einblick in die Griinde gibt, aus denen Kafka 
scheitern mufite. 



iajo Anmerkungen zu Seite 409—438 

9) [Margarete] Susmans »Das Hiob-Problem bei Franz Kafka* 
[in: Der Mot gen, Jg. j, Berlin 192$, Heft 1, p 31-49] heranzu- 
ziehen. Darin der Satz: » Kafka bat - nach einem eigenen Wort - 
zum erstenmal die bisber immer wenigstens zu ahnende Musik der 
Welt bis in alle Tie fen hinunter abgebrochen.* 

jo) Aus Krafts Kommentar zum »Brudermord« , das »diinne blaue 
Kleid* betreffend: »Blau 1st sowohl die Farbe des malerischen 
wie des dichterischen Expressionismus. Es geniigt, fiir die Malerei 
auf Franz Marc und fiir die Dicbtung auf Georg Iraki hinzu- 
weisen.* 

11) Den Funken zwischen Prag und dem Kosmos iiberspringen 
lassen; so das Zitat aus [A. S.] Eddington einsetzen [Das Welt- 
bild der Physik und ein Versuch seiner pbilosophischen Deutung, 
Braunschweig 1931, p 334! 35; s, Briefe, 761 und o., Ms 968J 

12) »Ganz nabe dieser symbolischen . . . Diesseitigkeit stebt die 
stille, grope Erscheinung Kafkas; bier fand eine versunkene Welt 
oder bisber jenseitige am Leben in dieser die unbeimlicbe Wieder- 
kebr: sie reflektiert alte Verbote, Gesetze und Ordnungsdamonen 
im Grundwasser praisraelitischer Silnden und Traume, wie es im 
Zerfall wieder vordringt.* Ernst Blocb: Erbschaft dieser Zeit 
Zurich 193s p i$2 

13) Zu ermitteln, was ich brieflich, Kraft gegenuber, uber Weis- 
beit und Torbeit bei Kafka bemerkt babe. [s. Briefe, 629] 

14) Die Stellen, an denen Kafka sich »Zur Frage der Gesetze* 
au$ert, sind zu vergleichen. Aucb ist dabei zu ermitteln, ob es an- 
gdngig ist, einen Unterschied zwischen »dem« Gesetz und den Ge^ 
setzen zu macben, wie Kraft das behauptet. Ob die Gesetze den 
toten Punkt bei Kafka dar stellen? 

if) Das Kapitel » Kafka als propbetiscber Scbriftsteller* ist vor- 
zunehmen. [s. (Tagebuch) Mai-Juni 1931 (6. Juni), 120 3- 120 j/ 

16) Zwei Briefe von Kafka an Brod in der Festschrift zu Brods 
$ostem Geburtstag (Prag). 

17) Naberes uber Kafkas Scbeitern in der Begriindung eines para- 
bolischen Schrifttums. An welcben Umst'dnden ist er gescheitert? 

18) Liter atur: Festschrift zu Brods postern Geburtstag I [Edmond] 
Jaloux: Uber den »Prozefl« in den Nouvelles Litter aires 
[1934} I [Werner] Kraft: Ein altes Blatt f Zweifel und Glauben i 
Aufsatz gegen Brod I [Cbajim Nachman] Bialik: Hagadab und 
Halacha (Der ]ude [IV (1919) P 61-77]) 

Ms 235 

[Blatt] 3 

19) Alter Deutungsversuch Wiesengrunds: Kafka »eine Photo- 



Anmerkungen zu Seite 409—438 125 1 

graphic des irdiscben Lebens aus der Perspektive des erlosten, 
von dem nichts darauj vorkommt als ein Zipfel des scbwarzen 
Tucbes, wdhrend die grauenvoll verschobene Optik des Bildes 
keine andere ist als die der schrdg gestellten Kamera.* (Brief 
[vom ij. 12. 1934; s. 1174J) 
20) »Das Verhdltnis von Urgescbicbte und Moderne ist noch nicbt 
zum Begriff erhoben . . . Eine erste Leerstelle ist da . . . bei dem 
Lukacszitat und der Antithese von Zeitalter und Weltalter. 
Diese Antithese konnte nicht als blower Kontrast sondern selber 
blofi dialektisch fruchtbar werden. Ich wiirde sagen: dafi fur uns 
der Begriff des Zeitalter s schlechter dings unexistent ist . . . son- 
dern blofi das Weltalter als Extrapolation der versteinten Gegen- 
wart . . . Im Kafka . . . ist der Begriff des Weltalters abstrakt im 
Hegelschen Sinne geblieben . . . Das sagt aber nichts anderes als 
dafi die Anamnesis - oder das >Vergessen< - der Urgeschichte bei 
Kafka in Ihrer Arbeit wesentlich im archaischen und nicht durch- 
dialektisierten Sinne gedeutet ist . . . Es ist kein Zufall, dafi von 
den . . . Anekdoten eine: namlich Kafkas Kinderbild, oh n e 
Auslegung bleibt. Dessen Auslegung ware aber einer Neutrali- 
sierung des Weltalters im Blitzlicht aquivalent. Das meint nun 
alle moglichen Unstimmigkeiten . . . Symptome der archaischen 
Befangenheit . . . Die wichtigste scheint mir die des Odradek, 
Denn archaisch allein ist es> ihn aus >Vorwelt und Schuld< entsprin- 
gen zu lassen . . .ist mit ihm nicht eben die Aufhebung des kreatur- 
lichen Schuldverhdltnisses vorbedeutet - ist nicht die Sorge . . . 
die Cbiffre, ja das gewisseste Versprechen der Hoffnung, eben in 
der Aufhebung des Hauses? . . . so dialektisch ist Odradek, dafi 
von ihm wirklich auch gesagt werden kann t >so gut wie nichts 
hat alles gut gemachu. I Zum gleichen Komplex gehort die Stelle 
von Mythos und March en, an der . . . zu beanstanden ware, dafi 
das Marchen als Vberlistung des Mythos auftritt oder dessen 
Brechung - als ob die attischen Tragiker Marchendichter wdren 
. . . und als ob nicht die Schliisselfigur des Marchens die v or - 
mythische y nein die siindelose Welt ware . . . I Archaisch scheint 
mir auch die Deutung des Naturtheaters im Ausdruck ddndliche 
Kirmes oder KinderfesU - das Bild eines grofistadtiscken Sdn- 
gerfestes der achtziger Jahre ware gewifi wahrer, und Morgen- 
sterns >Dorfluft< war mir schon immer verddchtig. Ist Kafka 
kein Religionsstifier . . . so ist er gewifi auch, und in keinem Sinn, 
nicht ein Dichter jiidischer Heimat. Hier empfinde ich die Sdtze 
uber die Verschrankung des Deutschen und Jiidischen als ganz 
entscbeidend.« (Brief von Wiesengrund [s. uj$-iijj]) 



1252 Anmerkungen zu Seite 409—438 

21) »Die Delinquenten der Strafkolonle werden ... nicht bio ft auf 
dem Riicken sondern auf dem ganzen Leib von der Mascbine 
beschrieben t ja es wird sogar von dem Vorgang gesprochen, wo 
die Maschine sie umwendet (Umwendung ist das Herz dieser Er- 
zahlung . . .; iibrigens diirfle gerade bei dieser Erzdhlung, die . . . 
eine gewisse idealistische Abstraktheit hat . . ., der disparate 
Schlufl nicht vergessen werden mit dem Grab des alten Gouver- 
neurs unter dem Cafehaustisch).* Brief von Wiesengrund 
[s.u 7 6f.J) 

Ms 236 

[BlattJ 4 

22) »Die umgebundenen Fliigel der Engel sind kein Manko sondern 
ikr >Zug< - sie, der obsolete Schein t sind die Hoffnung selber . . . 
Von hier aus, von der Dialektik des Scheins als vorzeitlicher Mo- 
derne scheint mir die Funktion von Theater und Geste ganz auf- 
zugehen . . . Wollte man nach dem Grund der Geste suchen y so 
ware er . . . zu suchen . . . in >Moderne<, ndmlich dem Absterben 
der Sprache . . . So erschliefit sie sich gewift . . . dem Studium als 
Gebet - als >Versuchsanordnung< scheint sie mir nicht zu verstehen 
und das einzige, was mir an der Arbeit materialfremd dtinkt, ist 
die Hereinnahme von Kategorien des epischen Theaters . . . 
Kafkas Romane sind nicht Regiebucher furs Experimentiertheater 
. . . Sondern sie sind die letzten, verschwindenden Verbindungs- 
texte zum stummen Film (der nicht umsonst fast genau gleicb- 
zeitig mit Kafkas Tod verschwand); die Zweideutigkeit der Geste 
ist die zwischen dem Versinken in Stummheit . . . und dem 
Sicherheben aus ihr in Musik - so ist wohl das wichtigste 
Stuck zur Konstellation Geste - Tier - Musik die Darstellung 
der stumm musizierenden Hundegruppe . . ., die ich nicht zogern 
mochte, dem Sancho Pansa an die Seite zu stellen.* (Brief von 
Wiesengrund [s. xiyj f.J) 

23) »Daher gehort zur Konzeption der Welt als des >Theaters< der 
Erlosung, in der sprachlosen Obernahme des Wortes, konstitutiv 
hinzu t daj! Kafkas Kunstform . . . zur theatralischen in der aufier- 
sten Antithese steht und Roman ist.* (Brief von Wiesengrund 
[s. a. a. O.J) 

24) Im »Prozefi« steckt vor allem y wie Brecht meint, die Angst vor 
dem nichtendenwollenden und unaufhaltsamen Wachstum der 
groflen Stadte. Aus eigenster Erfahrung will er den Albdruck 
kennen, den diese Vorstellung dem Menschen aufwdlzt. Die un- 
ubersehbaren Vermittelungen, Abhdngigkeiten, Verschachtlun- 
gen t in die die Menschen hineingeraten sind, finden in diesen 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1253 

St'ddten ihren Ausdruck. So findet aber auch die Reaktion auf sie 
den Ausdruck - in dem Verlangen nach dem >Fuhrer* namlich, 
der fur den Kleinburger den darstellt, den er in einer Welti wo 
jeder auf den andern verweisen und der Verantwortung sich ent- 
ziehen kann, haflbar fur all sein Mifigeschick macbt. Kafka, sagt 
Brecht, babe ein, und nur ein t Problem gehabt: das set das der 
Organisation gewesen. Was ihn gepackt habe, das set die Angst 
vor dem Ameisenstaat: wie sich die Menschen durch die Formen 
ihres Zusammenlebens sich selbst entfremden. Gewisse Formen 
dieser Entfremdung habe er vorhergesehen, wie z. B. das Ver- 
fahren der GPU. Daher sei der »Proze$« ein prophetisches Buch. 
[s. auch {Gesprache mit Brecht) Svendborger Notizen. In: Wal- 
ter Benjamin, Versuche Uber Brecht, a.a.O., 120 (6. Juli 1934) 
und 123 f. (31. August 1934)] 
2$) »Das ndchste Dorf*. Brecht: Diese Geschichte ist ein Gegenstuck 
zu der von Achill und der Schildkrote. Zum nachsten Dorf 
kommt einer nie, wenn er den Ritt aus seinen kleinsten Teilen - 
die Zwischenfalle nicht gerechnet - zusammensetzt. Dann ist das 
Leben ftir diesen Ritt zu kurz. Aber der Fehler steckt im »einer«. 
Denn wie der Ritt zerlegt wird, so auch der Reitende. Und wie 
nun die Einheit des Lebens dahin ist, so ist es auch seine Kurze. 
Mag es so kurz sein, wie es will, das macbt nichts, we'd ein ande- 
rer als der, der ausritt, im Dorfe ankommt. [s. a. a. O., 124] 

Ms 237 

[Blatt] $ 
26) Brecht geht von der Fiktion aus, Konfuzius habe eine Tragodie 
oder Lenin habe einen Roman geschrieben. Man wurde das als 
unstatthaft empfinden, erklart er, und als ein ihrer nicht wiirdiges 
Verhalten. »Nehmen Sie an, Sie lesen einen ausgezeichneten poli- 
tischen Roman und erfahren nachher, dajl er von Lenin ist; Sie 
werden Ihre Meinung uber beide andern, und zu ungunsten bei- 
der. Konfuzius hatte auch kein Stuck von Euripides schreiben 
diirfen - man hatte das als unwurdig angesehen. Nicht aber 
sind das seine Gleicbnisse.* Kurz, dies laufl auf eine Unterschei- 
dung zweier literarischer Typen hinaus: des {Visionars} [dar- 
iiber: Begeisterten], welchem es ernst ist [dariiber: dem die 
Wurde(f)J, auf der einen und des Besonnenen, dem es nicht 
ganz ernst ist, auf der anderen Seite. Welchem von beiden Typen 
gehort Kafka zu? Die Frage la fit sich nicht entscheiden. Und 
ihre Unentscheidbarkeit ist das Anzeichen, daft Kafka wie Kleist, 
wie Grabbe oder BUchner, ein Gescheiterter ist. Sein Ausgangs- 
punkt ist die Parabel, das Gleichnis, das sich vor der Vernunft 



1254 Anmerkungen zu Seite 409—438 

verantwortet und dem es deshalb, was seine Geschicbte angeht, 
nicht ganz ernst sein kann. Aber diese Parabel unterliegt dann 
doch der Gestaltung. Sie w'dchst sich zu einem Roman aus. Und 
einen Keim dazu trug sie, genau besehen, von Hans aus in sich. 
Sie war niemals ganz transparent. Obrigens ist Brecbt uberzeugt, 
dafi Kafka seine eigene Form nicht ohne den »Groflinqui$itor« 
und jene andere parabolische Stelle in den »Brudern Karamasoff* 
gefunden hatte, wo der Leichnam des Staretz zu stinken anfangt. 
Bei Kafka also liegt das Parabolische mit dem Visionaren in 
Streit. Als Visiondr aber hat Kafka, wie Brecht sagt, das Kom- 
mende gesehen, ohne das zu sehen, was ist. [s. a. a. O., 119 f.J 

27) Brecht: An Kafka musse man mit der Frage herantreten: was 
tut er? wie verhdlt er sich? Und da vor allem zunachst mehr auf 
das Allgemeine sehen als das Besondere, dann stellt sich heraus: er 
hat in Prag in einem sclAechten Milieu von ] ournalisten, von 
wichtigtuerischen Liter aten gelebt; in dieser Welt war die Liter a- 
tur die Hauptrealitdt, wenn nicht die einzige. Damit h'dngen 
Kafkas Stdrken und Schwdchen zusammen: sein artistischer Wert, 
aber auch seine vielfache Nichtsnutzigkeit. Er ist ein Judenjunge 
- man kbnnte auch den Begriff eines Arierjungen prdgen - ein 
diirfiiges unerfreuliches Geschopf, eine Blase - zunachst - auf 
dem schillernden Sumpf der Kultur von Prag, Aber dann gdbe 
es doch bestimmte, sehr interessante Seiten. Alles komme darauf 
an, Kafka zu lichten, das heifit, die praktikablen Vorschlage zu for- 
mulieren, welche sich seinen Geschichten entnehmen lassen. Dafl 
Vorschlage ihnen zu entnehmen seien, sei zu vermuten, und sei es 
nur der uberlegnen Ruhe wegen, die die Haltung dieser Erzah- 
lungen ausmacht. Diese Vorschlage musse man in der Richtung 
der groflen, allgemeinen Ubelstande suchen, die der heutigen 
Menschheit zusetzten. [s. a. a. O., 121 /./ 

Ms 238 

[Blatt]6 

28) Brecht: Man musse sich ein Gesprach von Laotse mit dem Schil- 
ler Kafka vorstellen. Laotse: Also, Schiller Kafka, dir sind die 
grofien Organisations- und Wirtschaflsformen, in denen du lebst, 
unheimlich geworden? - Kafka: Ja. - Laotse: Du findest dich in 
ihnen nicht mehr zurechtf - Kafka: Nein. - Laotse: Eine Aktie ist 
dir unheimlich? - Kafka: J a. - Laotse: Und nun verlangst du nach 
einem Fiihrer, an den du dich halten kannst, Schuler Kafka. - 
Brecht, fortfahrend: »Das ist naturlich verwerflich. Ich lehne ja Kaf- 
ka ab. Die Bilder sind gut. Der Rest ist aber Geheimniskrdmerei. 
Der ist Unfug. Man mufi ihn beiseite lassen.* [s. a. a. O., 122] 



Anmerkungen zu Seite 409— 43 8 1255 

29) »Das nachste Dorf« Meine Auslegung: Das wahre Mafi des 
Lebens ist die Erinnerung. Sie durcbldufl, ruckscbauend, das Le- 
ben blitzartig. So schnell wie man ein paar Seiten zuruckbldttert, 
ist sie vom nachsten Dorf an die Stelle gelangt, von der der Rei- 
ter den Entschlufi zum Aufbruch fafite. Wem sich das Leben in 
Scbrift verwandelt hat, wie den Alien, die mbgen diese Schrift 
nut riickwdrts lesen. Nur so begegnen sie sich selbst und nut so - 
auf der Flucht vor der Gegenwart - konnen sie es verstehen. 
[s. a. a. O., 124 f.J 

jo) An welcher Stelle handelt Freud von dem Zusammenhang 
zwischen Reiten und Vaterimagof 

31) Brecht: Kafkas Genauigkeit sei die eines Ungenauen, Traumen- 
den. [s. a. a. O., 120] 

$2) »Die Sorge des Hausvaters*, Odradek, deutet Brecht als den 
Hausbesorger. [s. a. a. O., 224] 

33) Die Lage Kafkas ist die hoffnungslose des Kleinburgers. Wdh- 
rend aher der gelaufige Typ des Kleinburgers - der Faschist - be- 
schlieflt, angesichts dieser Lage seinen eisernen, unbezwinglichen 
Willen einzusetzen, widersetzt sich Kafka ihr nicht. Er ist weise. 
Wo der Faschist den Heroismus einsetzt, setzt Kafka mit Fra- 
gen ein. Er fragt nach den Garantien fur seine Existenz. Diese 
aber ist so bescbaffen, daft deren Garantien uber jedes erdenkliche 
Mafi hinausgehen miiftten. Es ist eine Kafkasche Ironie, dafi der 
Mann Versicherungsbeamter war, der von nichts uberzeugter 
erscheint als von der Hinfdlligkeit samtlicher Garantien. - Die 
Hinfdlligkeit der eigenen Lage bedingt fur Kafka die seiner 
sdmtlichen Attribute, einschliejilich des Menschseins. Wie ist dem 
Kanzlisten zu helfenf Das ist der Ausgangspunkt von Kafkas 
Frage. Die Antwort aber lautet nach einem Umweg uber die 
Fragwiirdigkeit des Daseins uberhaupt: dem Kanzlisten ist nicht 
zu helfen, weil er ein Mensch ist. [s. a. a. O., 124] 

34) Wdhrend der Lehrgehalt von Kafkas Stucken in der Form der 
Parabel zum Vorschein kommt, bekundet ihr symbolischer Gehalt 
sich im Gestus. Die eigentliche Antinomie von Kafkas Werk liegt 
im Verhdltnis von Gleichnis und Symbol bescblossen. 

3$) Das Verhdltnis von Vergessen und Erinnern ist in der Tat — 
wie Wiesengrund sagt [s. 11 78 J - zentral und bedarf der Be- 
handlung. Sie ist in besonderer Riicksicht auf »]enseits des Lust- 
prinzips«, vielleicht auch auf [Bergsons] »Matiere et memoir e« 
durchzufuhren. Die dialektische Aufkldrung Kafkas mufite an ihr 
einen besonderen Stutzpunkt haben. (Die Erwahnung von Haas 
liefte sich so vermeiden[?J) 

Ms 239 



1256 Anmerkungen zu Seite 409—438 

[BlattJ 7 

36) Es sind drei grundlegende Schemata einzujuhren: Archaik und 
Moderne - Symbol und Gleichnis - Erinnern und Vergessen. 

3j) In einer Tagebuchnotiz denkt Hebbel sich einen Mann, der das 
Geschick hat, sich nichtsahnend und immer wieder als Zeuge auf 
dem Schauplatze von Katastrophen einzufinden. Er wird ihrer 
abet nicht unmittelbar gewahr sondern trifft nur auf ihre Fol- 
gen: eine gestorte Tischgesellschaft, ungemacbte Betten, Zuglufl im 
Treppenhause u.s.w. Und immer nimmt er ernsten Anstofi an 
diesen Zwischenj 'alien ohne ihre Ursachen im entferntesten zu 
ahnen. Kafka gliche nun einem Mann, fiir welchen diese Zwi- 
schenfalle selbst die Katastrophen waren. Eine Niedergescblagen- 
heit, die es mit der des Predigers Salomo aufnehmen konnte, 
kommt bei ihm auf der Basis der Pedanterie zustande. 

38) Der Tonfilm als Grenze fiir die Welt Kafkas und ChapUns. 

3$) Was Kafka als »Reliku der Schrift angesehen haben wiirde, 
bezeichne ich (p 1 5 [= Ts $29 ml 2 ; s. »Uberlieferung*]) als ihren 
»Vorlaufer«; was Kafka als »vorweltliche Gewalten* betrachtet 
haben mag, bezeichne ich (p 23 /= Ts $37 in T 2 ; 5. a. a. O.]) als 
»weltliche unserer Tage*. 

40) Kafkas Romanform als Zerfallsprodukt von Erzahlung. 

41) Der »Prozefi« ist selbstverstdndlich ein mifiglucktes Werk. Er 
stellt die ungeheuerliche Mischung zwischen einem mystischen 
und einem satirischen Buck dar. So tief nun die Entsprechungen 
dieser beiden Elemente sein konnen - der machtige Strom von 
Blasphemie, der durch das Mittelalter geht, beweist es - so durf- 
ten sie sich noch nie in einem Werke vereinigt haben, das den 
Stempel seines Mifttingens nicht auf der Stirn tragt. 

42) Schematisch gesprochen stellt Kafkas Werk eines der sehr went- 
gen Verbindungsglieder zwischen Expressionismus und Surrealis- 
mus dar. 

43) Im »Odradek« das Haus als Gefangnis. 

44) Fiir die Parabel ist der Stoff nur Ballast, den sie abwirfl, um 
in die Hohe der Betrachtung zu steigen. 

Ms 240 



b. Entwurfe, Einschiibe, Notizen zu einer Umarbeitung des Essays 
(etwa ab Anfang 1935) 

Probedispositionen zur Umarbeitung 
{Anschlie fiend an das Zitat aus dem Groflinquisitor [s. 422,10] der 

letzte Absatz des zweiten Kapitels Is. 424,8-425,2]} 
{Den zweiten Teil der Darstellung des Naturtheaters von Oklahoma 



Anmerkungen zu Seite 409—4 38 1257 

[$. 422,31-423,28] unmittelbar an den ersten anschliefien [s. 

4i7>9-39]} 

Anschlieflend an die Hypotbese vom >Prozeji« ah einer »entfalteten 
ParabeU [$. 420,14]: »Nun hat der >Prozefl< in der Tat eine 
Seite, die sidy an das Parabolische anschliefit, n'dmlich seine sati- 
rische.* 

Anschliefiend an die Stelle uber » die Motive der klassischen Satire 
auf die ]ustiz* [s. «., Ms 24s]: »Es treten nun freilich zu diesen 
Motiven bei Kafka andere - Motive, bei denen, wie man mit vie- 
lem Recht sagen kann — der Scberz, und sei es der bitter ste - fiir 
ihn aufhort.* Das ist der Alb der grofien Stddte, das Preisgegeben- 
sein des Individuums in der heutigen Gesellschaft - kurz »die Or- 
ganisation des Lebens und der Arbeit in der menschlichen Gemein- 
schaft.* [s. 420,33 f-J 

{Anschliefiend an das Metschnikoffzitat »deren Plan sebr oft 
einem gewohnlichen Menschen unverstdndlich bleibu [s. 421,38]: 
»Er war es bestimmt fiir Kafka und dieser Unverstandlichkeit hat 
er auf ungeheuer nachdriickliche Weise in seinem Werk Ausdruck 
gegeben. Es gibt eine ganze grofie Provinz seines Werkes, deren 
Vorhandensein nur so zu erkldren, wenn audi damit allein nod) 
nicht hinreichend zu deuten ist. Diese Provinz ist der Gestus.* »Kaf- 
kas ganzes Werk stellt n'dmlich einen Kodex von Gesten dar.«) 
[am Rand:] er hat das Rdtselhafte und Unverstdndliche forciert 
und scbeint manchmal nidn fern, mit dem Grojlinquisitor zu sagen: 
[s. 422,2-10] 

Ms 241 

Der stumme Film war eine ganz kurze Atempause in diesem Pro- 
zefi. Indent er die menschliche Sprache auf ihre gelaufigste Dimension 
zu verzichten zwang, konnte er mit ihr in der des Ausdrucks eine 
ungeheure Verdichtung vornehmen. Von dieser Moglichkeit hat nie- 
mand mehr als Chaplin Gebrauch gemacht; auch konnte es ihm nie- 
mand nachtun, der nicht die Selbstentfremdung des Menschen in die- 
sem Zeitalter so tief empfand, dafl ihm der stumme Film, zu dem 
man sich den Verbindungstext noch selber ausdenken darf, als eine 
Gnadenfrist erschienen ware. Diese Gnadenfrist hat auch Kafka be- 
nutzt, der zu gleicber Zeit wie der stumme Film von der Szene ab- 
trat und dessen Prosa man in der Tat die letzten Verbindungstexte 
zum stummen Film nennen kann. [s. 1252, 12 $6] 



1258 Anmerkungen zu Seite 409—438 

Parabel 

Marchen fur Dialektiker 

Befreiungsmotiv im Odradek Parabel 

Mardoen und Erlosung / \^ 

Die Erlosung und die Weltalter Marchen Satire 

Das schwebende Marchen und die Erlosung 

Ms 242 

In die Nacbbarscbaft dieses [PJarabolischen gehort das y was man als 
das satirische Element bet Kafka bezeicbnen konnte. Denn e$ ist ein 
Satiriker an Kafka verloren gegangen. Und es ware aucb schwer vor- 
stellbar, daft ein Autor so sehr wie Kafka sich mit der Biirokratie be- 
fafit hatte, ohne auf die Seiten seines Gegenstandes zu geraten, die die 
Satire herausfordern. In »Amerika« stofit man auf ganz andere Mo- 
tive y die einer satirischen Behandlung, obwohl sie sie weniger nahe- 
legen, nicht fern stehen. Man denke an die groteske Darstellung der 
Horigkeit, in der sich . . . [DelamarcheJ von Brunelda befindet. So 
gewifl es nun ein ungeheuerliches Mifiverstandnis ware Kafka als einen 
Satiriker darzustellen [letztes Wort gestr.; hinter Satiriker der Zu- 
satz urn (?) Kafka nichts weniger als ein und darunter ein ist; um das 
ganze herum und um So gewifi es ein Umstell-Zeichen], so unange- 
bracht ist es, aus einer metaphysischen Affektation an den satirischen 
Motiven voruberzugehen, wo sie [sich] so haufen wie im »Prozefi«. 
In diesem Buche ist eine Satire gleichsam erstickt worden. Der schlep- 
pende Gang dieser Recbtspflege, die Bestechlichkeit ihrer Diener, die 
weltfremde Art ihrer Fragestellung, die Unverstdndlichkeit ihrer Ur- 
teile y die Unsicherheit der Exekutive - das sind Motive im »Proze$«, 
es sind aber auch die Motive der klassischen Satire auf die Justiz 
von . . . bis Dickens. {Bei Kafka kommt diese Satire nicht zum 
Durchbruchy denn so wie in der Parabel -die vom Turhuter zeigt 
es klar - die wolkige Stelle steckt y die dem Gleichnis seinen Gleich- 
nischarakter nimmt, um es zum Symbol zu erheben, so steckt in der 
Satire die Mystik. Der Prozefl ist in der Tat ein Zwitter aus Satire 
und Mystik. So tief nun die Entsprechungen dieser beiden Elemente 
sein konnen - so haben sie wohl nur eine vollkommene Form der 
Vereinigung und das ist die Blasphemie. Das letzte Kapitel des 
Buches hat auch wirklich etwas von ihrem Geruch. Aber weder konn- 
te noch sollte sie die Grundlage dieses Romans abgeben, dem sein 
Mifllingen an der Stirn geschrieben stand.) 

Dies ist vielleicht die blasphem[iscbje Pointe des Prozesses: Gott 
selbst, der am Menschen durch das Leben, das er ihm zuweist, seine 
Verge filicbkeit strafl y hindert ihn durch diesen Strafprozefi, sich zu 



Anmerkungen zu Seite409— 438 1259 

Das denkwurdigste Aber eben 

Zeugnis dieses Mifilingens damit war dieses 

ist der Prozefl: ein Zwitter Bitch an seine 

aus Satire und Mystik. Grenze gelangt, ohne 

seinen Abschlufi 
gefunden zu haben. 
[Ruckseite:] Die Anstrengung des Traumenden, der seinen kleinen 
Finger bewegen will und der wirklich, wenn ihm dies gelange, er- 
wachen wiirde. 

Ms 243 

p 1$ Zeile 7 v u (9) [= Ts 497 in T 3 (s. »Oberlieferung«); im Text 

anzusohliefien an Paraboliker, 424,7:] 

Aber er war nicht nur das. I Man nehme an, Laotse habe eine Tra- 
godie geschrieben. Man wiirde das als unstatthafl empfinden und als 
ein seiner nicht ganz wiirdiges Verhalten. Der Prediger Salomo 
hatte auch keinen Roman schreiben diirfen - man hatte das als 
unziemlich angesehen. Dies lauft auf die Unterscheidung zweier 
liter arischer Typen her aus: des Begeisterten y dem es mit seinen Ge- 
sichten ernst 1st, und des Besonnenen, dem es mit seinen Gleichnis- 
sen nicht ganz ernst ist. Welchem von beiden Typen gehort Kafka 
an? Die Frage la fit sich nicht klar entscheiden. Und ihre Unent- 
scheidbarkeit deutet an, dafi Kafka, wie Kleist, wie Grabbe oder 
Buchner, ein Unvollendeter bleiben mufite. Sein Ausgangspunkt ist 
die Parabel gewesen, das Gleichnis, das sich vor der Vernunft ver- 
antwortet, und das deshalb, was seine Fabel betrifft, nicht ganz 
ernst sein kann. Aber was geht mit dieser Parabel vor? [s. 0., 
Ms 238,26)] Man denke an die berUhmte »Vor dem Gesetz«. Der 
Leser, der ihr im »Landarzt« ... p 14 Zeile 4 v u [= Ts 492 in 
T 3 ; im Text 420,7] 

p 28 Zeile 10 v u (10) [— Ts 506 in T 3 ; im Text anzuschlieflen an 

auf.«, 431,20:] 

Man hat den Hausbesorger in ihm sehen wollen. Das trifft so 
schlecht, aber doch auch so gut wie der Hinweis auf die satirischen 
Momente aus dem »Prozefi«. Vielleicht erscheint jener dem Mieter 
wirklich »sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen*. Vielleicht hat 
der letztere auch wirklich, wenn er »aus der Tur tritt und er lehnt 
gerade unten am Treppengelander, . . . Lust, ihn anzusprechen* . 
Aber dann will doch auch bedacht sein, dafi Odradek die gleichen 
Orte bevorzugt, wie das Gericht, das doch bekanntlich in den Bo- 
denkammern die Sitzungen abhalt, in denen es sich mit der Schuld 
befafit. Die Boden sind der Ort der ausrangierten . . . [431,22] 



iz6o Anmerkungen zu Seite 409—438 

[Riickseite:] {p 1$ Zeile 7 v u [Variante turn vorletzten Einschub; 

S.O.J 

Aber er war nicht nur das. I Man nehme an, Laotse habe einen 
Roman oder Konfuzius eine Tragodie geschrieben. Man wurde 
das als unstatthafi empfinden und als ein ihrer nicht ganz wUrdiges 
Verhalten. Casar h'dtte auch keinen Roman schreiben diirfen) 

Ms 244 

p 24 Zeile 12 v (7) [— Ts 502 in T 3 ; im Text anzusdilieflen an ist, 

428,2:] 
Das denkwurdigste Zeugnis dieses Miftlingens ist der »Prozefi« i 
ein Zwitter aus Satire und Mystik. So tief nun die Entsprechungen 
dieser beiden Elemente sein konnen, so baben sie wohl nur eine 
vollkommene Form der Vereinigungj und das ist die Blasphemie. 
Das letzte Kapitel des Buches steht in der Tat in ihrem Gerucb. 
Aber eben damit war es an seine Grenze gelangt, obne seinen Ab~ 
schlufi gefunden zu haben. I »Es war als sollte die Scham . . . 

p 18 Zeile 3 v u (8) [^ Ts 496 in T 3 ; im Text anzuschlieften an 

werden., 423,18:] 

betroffen werden. I Eine entfaltete Parabel nannten wir den 
»Proze$«. Das Wort »entfalteu . . . p 1$ Zeile 3 v o bis p is Zeile 
9 . . . [420,14-22] Dichtung dhnlich. Sie sind Gleichnisse und sie 
sind doch mebr. Sie legen sick der Lehre nicht schlicht zu Fiiflen, 
wie die Hagadah sich der Haladoa zu Fuften legt. Sie b'dumen sich 
und heben unversehens eine gewichtige Tatze gegen sie. Kafka 
scheint manchmal nicht weit entfernt, mit Dostojewskis ... p iy 
Zeile 6 v o bis p iy Zeile 12 v o . . . [422,3-10] ihr Gewi$sen.« So 
steht Kafkas gesamtes Werk im Zeichen des Gegensatzes zwischen 
dem Mystiker und dem Paraboliker, der Geberdensprache und der 
Sprache der Unterweisung, dem Visionar und dem "Weisen. Eines 
Gegensatzes, der eine Verschrankung ist. Kafka hat sie empfunden 
und in einem seiner merkwurdigsten, aber auch schwierigsten 
Stucke zu vertreten gesucht. Es heiflt »Von den Gleichnissen« und 
beginnt mit einem Vorwurf gegen »die Worte der Weisen«, die 
»immer wieder nur Gleichnisse seien, aber unverwendbar im tagli- 
oben Leben«. »Wenn der Weise sagt: >Gehe hinuber<, so meint er 
nicht, dafi man auf die andere Seite hinubergehen solle, was man 
immerhin noch leisten konnte, . . . sondern er meint irgendein sagen- 
hafies Druben, etwas, das wir nicht kennen, das auch von ihm nicht 
n'dher zu bezeichnen ist und das uns also hier gar nichts helfen 
kann.« Ein anderer aber nimmt sich der Sache der Weisen an und 



Anmerkungen zu Seite 409— 43 8 12.61 

fragt: »Warum wehrt ihr euch? Wiirdet ihr den Gleicbnissen jolgen, 
dann waret ihr selbst Gleichnisse geworden und damit schon der 
taglichen Muhe frei.* Damit ist die kleine Untersuchung im Grunde 
beendet, und die anschliefiende Kontroverse halt den Leser zu- 
ndchst nut ab, in den zitierten Hauptsatz sich zu vertiefen, ohne 
den er sie nicht verstehen kann. Dieser Hauptsatz mag am zutref- 
fendsten aus der Anschauungswelt der Cbinesen erldutert werden. 
Sie erzablen neben manchen andern Geschichten zur Magie der 
Malerei auch die folgende, von einem grofien Maler: Er bat seine 
Freunde in die Kammer, an deren Wand das letzte Bild seiner 
Hand, die Vollendung langen BemUhens und der Malerei iiber- 
haupt hing. Die Freunde, die das Bild bewunderten, wandten sich, 
um ihn zu begliickwunscben, nach dem Meister um. Den fanden sie 
nicht, wie sie sich aber nochmals dem Bilde zuwandten, da winkte 
ihnen daraus der Meister zuruck, der eben im Begriffe stand, in der 
Tiir eines gemalten Pavilions zu verschwinden. Er war, um mil 
Kafka zu reden, selbst Gleichnis geworden. Eben damit aber hatte 
sein Bild magischen Charakter erlangt und war keins mehr. Sein 
Schicksal teilt Kafkas Welt. I Betrachten wir das Dorf, das am 
Fujle . . . p 19 Zeile j v u [= Ts 497 in T 3 ; im Text 424,8] 

Ms 245 

p rj Zeile 7 v u (1) [ = Ts 491 in T 3 ; im Text anzuschlieften an 

sehn.«, 419,11:] 

Es gibt im Traum eine bestimmte Zone, in der der Alb beginnt* 
An der Schwelle dieser Zone jiihrt der Trdumende alle seine kor- 
per lichen Innervationen in den Kampf y um dem Alb zu entgehen. 
Es entscheidet sich aber erst im Kampfe, ob diese Innervationen zu 
seiner Befreiung ausschlagen oder im Gegenteil den Alb noch druk- 
kender machen. Im letzten Fall sind sie dann nicht Reflex der Be- 
freiung sondern der Unterwerfung. Es gibt keine Geberde bei 
Kafka, die nicht von dieser Zweideutigkeit vor der Entscheidung 
betroffen wiirde. I Wenn Max Brod sagt . . . [419,12] 

p 14 Zeile 1 j v o (2) [= Ts 492 in T 3 ; im Text anzuschlieflen an 

nehmen., 420,4:] 

Solche Gesten stellen einen Versuch dar, durch Nachahmung die 
Unverstdndlichkeit des Weltlaufs gegenstandslos oder seine Gegen- 
standslosigkeit verstdndlich zu machen. Die Tiere waren fiir Kafka 
da vorbildlich. Man kann seine Geschichten von ihnen auf eine 
gute Strecke lesen, ohne uberhaupt wahrzunehmen, dafl es sich 
garnicht um Menschen handelt. Vielleicht hiefi ihm Tiersein nur, 
aus einer Art von Scham auf das Menschsein verzichtet haben - so 



1262 Anmerkungen zu Seite 409—438 

wie ein vornehmer Herr, der in eine Kneipe gerat, aus Scham dar- 
auf verzichtet, sein Glas auszuwischen. I »lch ahmte nacb,* sagt 
in seinem »Bericht fiir eine Akademie* der Affe, »weil ich einen 
Ausweg suchte, aus keinem andern Grund.* Dieser Satz enthalt 
aber auch den Schliissel fiir den Stand der Schauspieler auf dem 
Naturtheater. »Gleich hier« sind sie zu beglUckwiinschen, denn sie 
diirfen si ch spielen, sie sind befreit von der Nachahmung. Wenn 
es bei Kafka etwas wie einen Gegensatz zwischen Verdammnis 
und Seligkeit gibt, so bat man ihn nicbt in einer Entsprechung ver- 
scbiedner Werke zu suchen ~ wie man es hinsichtlich des »Prozesses« 
und des »Scblosse$« getan hat - sondern allein in dem Gegensatz 
zwischen Welt- und Naturtheater. K. scbeint vor dem Ende seines 
Prozesses eine Ahnung . . . [425,10] 

p 20 Zeile 23 v u (3) [= Ts 498 in T 3 ; im Text anzusdiliefien an 

Kafka, 424,31:] 
Die Luft von diesem Dorf weht bei Kafka; in ihr haben seine 
Menschen geatmet; ihre Geberden sprechen den versunkenen Dia- 
lekt dieser Gegend, der bei Kafka genau zu der gleichen Zeit zum 
Vorschein gekommen ist wie die ihr so Uberaus dhnlichen bayrischen 
Glasbilder, die die Expressionisten damals im Erzgebirge und rund- 
um entdeckt haben. Zu diesem Dorf gehort . . . [424,32] 

Ms 246 

p 12 Zeile 12 v u (4) [= Ts 490 in T 3 ; im Text anzuschliefien an 

Gefuhls.«, 418,10:] 
An diese Reinheit des Gefiihls appelliert Oklahoma. Der Name 
» Naturtheater « versteckt ndmlich einen Doppelsinn. Sein geheimer 
besagt: auf diesem Theater treten die Leute ihrer Natur nach auf. 
Die scbauspieleriscbe Eignung, an die man zuerst denken sollte, 
spielt ■ ndmlich gar keine Rolle. Man kann das aber auch so . . . 
p 18 Zeile 8 v o bis p 18 Zeile 11 v o ... [422,37-39 /./ M6g~ 
lichkeit aus. Und hier erinnern wir uns jener verspieltesten Figuren 
Kafkas, die in der biirgerlichen Gesellschafl garnichts Serioses vor- 
stellen wollen und fiir die unendlich viel Hoffnung vorhanden ist. 
Das sind die Gehilfen. Solche, nicht mehr als sie, sind wir alle auf 
dem Naturtheater: Gehilfen eines Spiels, welches freilich auf eine 
merkwurdige und von Kafka nur ganz unbestimmt behandelte 
Art an den Vorgang einer Entscheidung gebunden ist. Findet er 
doch auf einer Rennbahn statt. Vieles scheint darauf hinzudeuten, 
dafi es sich bei diesem Spiel um die Erlosung handelt. I An einer 
langen . . . p 18 Zeile 2 v u [= Ts 496 in T 3 ; im Text 423,19] 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1263. 

p 16 Zeile 13 v o ($) [= Ts 494 in T 3 ; im Text anzuschlieflen an 

Fatum.j 421,19:] 
Sie ist die wolkige Stelle in seinem Weltbild; die Stelle, wo es 
aufhort, durchsicbtig zu sein. Metschnikoff, der . . . [421,19] 

p 1 j Zeile $ v o (6) [= Ts 495 in T 3 ; im Text anzuschliefien an auf., 
422,2:] 
Er hat sie auf ungeheuer nacbdruckliche Weise in seinem Werk zu 
ihrem Recbt kommen lassen. Er bat das Ratselbafte und Unver- 
stdndliche darin forciert und scbeint mancbmal nicht weit entfernt, 
mit Dostojewskis Gro ^inquisitor zu sagen: »So baben wir . . . p ij 
Zeile 6 v o bis p jj Zeile 12 v o . . . [422,4-10] Gewissen.* 
Eine gewisse, sehr wichtige Perspektive von Kafkas Werk tut sicb 
iiberhaupt nur von diesem Gesichtspunkt aus auf, wenn er auch 
keineswegs ausreicbt, sie zu ergrunden. Es ist die Perspektive des 
Gestus. Eine grofie Anzabl der Geschicbten und Romanepisoden 
erbalten erst in ibr das gebuhrende Licbt. Freilich hat es mit diesem 
Gestus seine ganz besondere Bewandtnis. Er entstammt namlich 
Traumen. Es gibt im Traum ... (1) ... [s. o. } Ms 246,1. Ein- 
schub] die nicbt von dieser Zweideutigkeit vor der Entscbeidung 
betroffen wUrde. Sie erhalt dadurch etwas ungeheuer Dramatisches. 
In einem unveroffentlichten Kommentar zum »Erudermord« hat 
Werner Kraft diesen dramatischen Charakter zu klarem Ausdruck 
gebracbt. »Das Spiel . . . p 13 Zeile 4V0 [= Ts 491 in T 3 ; im Text 
418,29] 
[Riickseite:] 

Man kann formlicb erklaren: das Verfabren der Odyssee ist das Ur- 
bild der Mythenbehandlung Kafkas. In der Gestalt des vieibewan- 
derten und verschlagnen, nie um Rat verlegnen Odysseus meldet, im 
Angesicht des Mythos, die naive schuld- und siindlose Kreatur ibr 
Recbt auf die Wirklichkeit wieder an. Ein Anrecht, das im Marchen 
verbrieft und ursprunglicher ist als die mytbiscbe »Rechtsordnung«, 
mogen auch seine literarischen Zeugnisse jiinger sein. 
Was die Rolle der Griecben im Abendland unvergleichlich macbt, das 
ist die Auseinandersetzung mit dem Mythos, die sie auf sicb genom- 
men baben. Diese aber vollzog sich zwiefach. Wabrend den Heroen der 
Tragiker am Ende ihrer Passion die Erlosung aufging, ist doch ge- 
rade der gottliche Dulder der Epik - Odysseus - mehr noch als im 
Erleiden ein Muster in dem Vereiteln des Tragischen. Und er ist ein 
Lebrmeister Kafkas gerade in dieser letzten Rolle gewesen, wie die 
Gescbicbte von den Sirenen zeigt. 

Ms 247 



1264 Anmerkungen zu Seite 409—438 

2u p 12 2 3 v u [= Ts 490 in T 3 ; im Text anzusdiliefien an darstellt, 

418.":] , . 

von Gesten darstellt, die immer wieder neu vom Verfasser insze- 
niert und beschrifiet werden, ohne ihren symbolischen Gehalt einer 
bestimmten Stelle auszuliefern, (an den Begriff der Beschriftung 
ist spater bei Bezugnahme auf den stummen Film anzuschlieflen) 

Zu p 12 2 12 v u [ = Ts 490 in T 3 ; im Text anzuschlieflen an Ge- 
fuhls.«, 418,10:] 

vielleicht ist diese Reinheit des Gefiihls am unverwechselbarsten in 

Geberden 

2u p 13 2 1 v o [= Ts 491 in T 3 ; im Text anzuschlieflen an solcher, 
418,25:] 
solcher Veranstaltungen [dazu s. o. t Brief von Adorno vom iy t 12. 

2u p 79 2 7 v [= Ts 497 in T 3 ; im Text anzuschlieflen an echte., 

423*28:] 

vielleicht echte. Man mochte sagen: es ist Kafka eben, mit diesem 
Kunstgriff, nod) geglilckt, das zu verhuten. Echte Engel auf seinem 
Bild der Erlosung hatten es zu einem falschen gemacht* (vgL 
Wiesengrund: »Die umgebundenen FlUgel der Engel sind kein Man- 
ko sondern ihr >2ug< - sie, der obsolete Schein, sind die Hoff- 
nung selber und keine andere gibt es als dieses [s. o., 1177]) 

Ms 248 

2ur Analyse der eigentumlichen Humanitdt Kafkas ist der Ver~ 
gleich zwischen Lautreamont und Kafka heranzuziehen, den Gaston 
Bachelard: Lautreamont Paris 1939 p 14/22 durchfuhrL 
»Le mieux est de comparer Lautreamont a un auteur comme Kaf- 
ka, qui vit dans un temps qui meurt. Chez Vauteur allemand il semble 
que la metamorphose soit toujours un malheur . . ., un enlaidisse- 
ment. . . . A notre avis Kafka souffre d'un complexe de Lautrea- 
mont negatif, nocturne, noir. Et ce qui prouve peut-etre Vinteret 
de nos recherches sur la vitesse poetique . . . c'est que la metamorphose 
de Kafka apparatt nettement comme un Strange ralentissement de 
la vie et de Vaction.« p ij/i6 
Die gesamte Ausfuhrung ist zu berucksichtigen. 

Ms 2J4 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1265 

UBERLIEFERUNG 

T 1 Typoskript, Durchschrift eines nicht erhaltenen Originals; zahl- 
reidie Korrekturen und mehrere handschriftliche Zusatze (Tinte) 
von Benjamins Hand, ein eingeklebter und ein lose beiliegender 
Einschub (beide maschinenschriftlich); fruheste erhaltene Fassung 
des Essays; Benjamin-Archiv, Ts 446-478. 

T 2 Typoskript; drei Textkorrekturen von Benjamins Hand; Druck- 
fassung(?), zumindest dieser nachste Fassung; Ts 515-550. 

T 3 Typoskript, Durchschrift von T 2 ; zwei Zitat-, zwei Textkorrek- 
turen (Tinte) und ca. zehn (spatere) Einschubzeichen (Blei; fiir 
einzelne Varianten [s. o. 1259- 1264] zu einer Neufassung) von 
Benjamins Hand; Benjamin-Archiv, Ts 479-5 14. 

J 1 Franz Kafka, Eine Wiirdigung; Teilabdruck (Potemkin [ — 409- 
416]) nach T 2 bzw. einer unbekannten Druckvorlage, in: Jii- 
dische Rundschau, 21. 12. 1934 (Jg. 39, Nr. 102/103), 8 - - Unter 
dem Titel steht folgende (redaktionelle) Einfiihrung: »Unter alien 
Dichtern jiidischen Blutes innerhalb des deutschen Literaturkreises 
ragt einsam und grofi die Gestalt Franz Kafkas. Eine treue Ge- 
meinde verehrt sein Werk. Aber in weiten Kreisen ist er noch 
nicht so bekannt, wie es ihm gebiihrt. Der Schocken-Verlag hat 
sich ein grofies Verdienst damit erworben, dafi er jetzt eine auf 
sechs Bande berechnete Gesamtausgabe des Werkes Kafkas vorbe- 
reitet. Der erste Band soil noch in diesem Monat erscheinen, und 
als Vorprobe erhielten wir eine kleine Auswahl in dem Bandchen 
Nr. 19 der Schocken-Bucherei. Die Frage, ob Franz Kafka, der in 
seinen Werken fast nie auf jiidische Dinge zu sprechen kommt, als 
>judischer< Dichter bezeichnet werden konne, ist heute miifiig. 
Die Entwicklung in der deutschen Umwelt hat dazu beigetragen, 
dafi ein deutschsprachiger Dichter jiidischen Blutes als J u d e 
gilt. Wir konnen nicht jeden, der hierdurch uns Juden von aufien 
zugewiesen wird, akzeptieren; bei Kafka tun wir es, da er stets 
unser war. Kafka selbst fiihlte sich als Jude; auf seinem Kranken- 
bett hat er Hebraisch gelernt, und das Nachklingen uralten jiidi- 
schen Geistes-, Gedanken- und Spracherbes in Kafkas Werken ist 
unbezweifelbar, auch ohne analytische Durchforschung im einzel- 
nen. Anlafilich des Erscheinens der Gesamtausgabe halten wir es 
fiir eine wichtige Aufgabe, den Leserkreis der > Jiidischen Rund- 
schau* mit der dichterischen Gestalt Kafkas naher vertraut zu ma- 
chen. Aus einem umfangreichen Essay, den uns Dr. Walter Benja- 
min auf unsere Bitte zur Verfiigung gestellt hat und den wir leider 
wegen seiner Lange aus Raummangel nicht vollstandig abdrucken 
konnen, bringen wir zwei grofiere Abschnitte zur Veroffentli- 
chung.« 



iz66 Anmerkungen zu Seite 409—438 

J 2 Dasselbe; Teilabdruck (//. Das bucklichte Mdnnlein [= 425- 
432]) nach T 2 bzw. einer unbekannten Druckvorlage, in: Jtidische 
Rundschau, 28. 12. 1934 (Jg. 39, Nr. 104), 6. - Redaktioneller 
Zusatz : » Wir veroffentlichen heute den zweiten Abschnitt 
aus der Arbeit Walter Benjamins uber Franz Kafka. Ein erster 
Abschnitt nebst Einfuhrung ist in Nr. 102/103 der >Jiidischen 
Rundschau< erschienen.« 
J2BA Dasselbe; Abschnittsnummer //. von Benjamin korrigiert in III; 

Benjamin-Archiv, Dr 77. 
Druckvorlage: T 2 

Die Abweichungen von T 1 sowie J 1 und J 2 gegemiber T 2 werden im 
folgenden als Lesarten verzeichnet. 

lesarten 409,2 Zur bis Todestages] T 1 , T 2 ; Eine Wurdigung J 1 , 
J 2 - 409,5 Depressionen] T 2 , J 1 ; Depressionszust'dnde T 1 - 409,10 
Kanzlers] Kanzlers nun T 1 , J 1 - 409,13 unmoglich] T 2 , J 1 ; nicht zu 
vollzieben T 1 - 409,18 Excellenzen] T l , T 2 ; Exzellenzen J 1 - 409,18 
Excellenzen dienen?*] den Excellenzen dienenf*, T 1 ; den Exzellenzen 
dienenf« J 1 - 409,26 f. haltzumachen] J 1 ; Halt zu machen T 1 , T 2 
- 409,32 erstbesten] T 2 , J 1 ; obersten T 1 - 409,32 f. Nach bis Ein- 
dringlingy'] T 2 , J 1 ; Obne aufgeblickt zu haben und T 1 - 409,33 die 
T 2 , J 1 ; eine T 1 - 409,33 f. Unterschrift, bis sdmtlichen.] Unterscbrift 
nach der anderen. T 1 ; Unterschrift; dann eine zweite; weiter die 
sdmtlichen. J 1 - 409,35 geborgen] T 2 , J 1 ; vollzogen T 1 - 409,36 sein] 
T 2 , J 1 ; das T 1 - 410,11 muffigen] T 1 , T 2 ; muffigen, J 1 - 410,13 da 
steht] T 1 , T 2 ; dasteht J 1 - 410,14 verwahrlost,] T 1 , T 2 ; verwahrlost 
J 1 - 410,16 in den] T 1 , T 2 ; in J 1 - 410,27 istf] T 2 , J 1 ; ist. T 1 - 410,27 
tragen;] T 1 , T 2 ; tragen, J 1 - 410,33 Zeitaltern] T 1 , T 2 ; Zeitaltern, 
J 1 - 411,3 stumpfen] T 1 , T 2 ; stumpfen, J 1 - 411,14 Einsicht. -] 
Einsicht ... T 1 ; Einsicht. . . . [Absatz] J 1 - 412,9 Sunde] T 1 , T 2 ; 
Sunde, J 1 - 412,9 bezichtigt] T 1 , T 2 ; bezichtigt, J 1 - 412,23 wird<«,] 
wird<« T 1 , T 2 ; wird«, J 1 - 412,24 Gesetze] Gesetzte T 1 , J 1 - 412,28 
Zufall] T 1 , T 2 ; Zufall, J 1 - 414,2 mich«, schreibt er, »e/nes] J 1 ; 
m/c&, schreibt er, eines T 1 , T 2 - 414,14 Tiere,] Tiere; T 1 , J 1 - 414,22 
Gehilfen] T 2 , J 1 ; »Gebilfen« T 1 - 414,30 Figuren] Figurinen T 1 , J 1 - 
414,31 f. Indische bis Nebelstadium.] T 1 , T 2 ; fehlt in J 1 - 414,35 f. 
5/e bis 5ote.] T 2 , J 1 ; 'in T 1 handschriftlicher Zusatz - 415,4-6 F»r 
bis unverbindlicher] Fur sie und ihresgleichen, die Unfertigen und 
Ungeschickten, ist noch Hoffnung da. Absatz! [— handschriftlicher 
Zusatz] Was zart und unverbindlich T 1 ; Fur [. . ./ noch Hoffnung 
[. . .] zart und unverbindlich J 1 - 415,9 Umrifi:] Umrifi; T 1 , J 1 - 
415,9, 10, 11, 12 keine] T 1 , T 2 ; keine, J 1 - 415,35 uberlieferte] 
uberliefert T 1 , J 1 - 416,8 sind.] T 1 , J 1 ; sind, T 2 - 416,8-10 Kafka 
bis Kellerlochern,] T 2 , J 1 ; handschriftlicher Zusatz anstelle eines ge- 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1267 

stridienen 6zeiligen Passus in T 1 - 416,15 f. Munterkeit.«] in J 1 
. danadi(£m zweiter Teil folgt.) — 416,18 Kafka,] Kafka; T 1 — 416,31 
hineinhorcht.] handsdiriftlidier Zusatz Absatzl in T 1 - 417,3-8 Er 
bis Neugeburt.] handsdiriftlidier Zusatz in T 1 - 417,8 f. Er bis 
Oklahoma.] gestridien in T 1 - 418,26 einem] seinem T 1 - 418,36 die 
gewohnte Umwelt] burgerliches Dasein T 1 - 419,14-23 Jeder bis 
Gebarde.] Nicht selten, meist unscheinbar eingebettet, ist der be- 
fremdlichste. Der Eil'tge, der sich seines Vdstigen Begleiters entledigen 
will, klatscht, urn ihn zu entlassen, in die H'dnde. T 1 - 419,24 vernom- 
men] T 1 ; Ubernommen T 2 - 419,24-27 So bis »langsam . . .] hand- 
sdiriftlidier Zusatz in T 1 (die Fortsetzung des Zitats im Typosknpt 
stand vor dem Zusatz unintegriert; im Zusatz Schrecken) - 419,33 
grofite] hochste T 1 - 419,34 grofiter] hochster T 1 - 419,34 verbindet] 
abet verbindet T 1 - 419,35-420,2 tierischer. bis die] tieriscber, an 
Hunden, Affen, Mausen, Pferden oder Maulwiirfen. Ja Kafka geht 
so vor, als schwebe ihm als Ziel vor, jenem tierischen den Menschen- 
Gestus abnlich darzustellen. Er nimmt ihm alle T 1 - 420,3 Stiitzen 
und] Stiitzen, zapft ihm, wenn man so sagen darf, den Sinn ab und 
T 1 - 420,3 ihr] ihm T 1 - 420,5-422,24 Sie bis er] Kafkas Genie ist 
ein Genie der Interpretation. Auslegung von Gesetzen oder Akten, 
Antworten oder Winken bildet im »Proze$« und »Schlofl« den Inhalt. 
Und diese Bticher wollen gelesen sein, wie Kafka selber sie gelesen 
h'dtte: mit Umsicht, mit Behutsamkeit, mit Mifltrauen. Den Lehrgang 
einer solchen Leseweise hat Kafka in der Auslegung gegeben, die er 
dem kurzen Stuck »Vor dem Gesetz« spater in dem »Prozefi« hat 
angedeihen lassen. Man mufi die Dinge genau nehmen; und insbeson- 
dere h'dtte man Grund gehabt, in der Debatte, die Kafkas Testament 
betroffen hat, sich seiner Art zu lesen zu entsinnen. Denn die Vor- 
schrifi, mit der Kafka T 1 - 422,25 nach ebenso] nach, die Max Brod 
mitgeteilt hat, ebenso T 1 - 422,26 abzuwagen,] abzuwdgen T 1 - 
423,11 aufzugehen] T 1 , T 3 (die eine von den beiden Textkorrekturen 
Benjamins in T 3 ); aufzugeben T 2 - 423,19 langen] grofien langen T 1 - 
424,6 f. war bis nicht.] aber war kein Religionsstifter, und er wufite, 
warum er von einem solchen sehr weit entfernt war. T l - 424,27 
seinem] T 1 , T 3 (die andere von den beiden Textkorrekturen Benja- 
mins in T 3 ); deinem T 2 - 424,31 Dorf] Dorfe T 1 - 425,3 Das buck- 
licht Mannlein] bucklicht konjiziert fiir bucklichte T 1 , T 2 , J 2 , s. Nach- 
weis zu 432,22; Franz Kafka. Eine Wurdigung [. . ./ //. Das 
bucklichte Mannlein J 2 ; /. . ./ /// /. . ./ handsdiriftlidie Korrektur 
Benjamins in J 3 - 425,11 sagt] sagte T 1 , J 2 - 425,22 Deutung Kafkas] 
in J 2 gesperrt - 425,25 Schriften] Schrifttum T 1 , J 2 - 425,31 Haas] 
in J 2 gesperrt - 425,34 f. einer theologischen Schablone] T 2 , J 2 ; 
spekulativer Thesen T 1 - 425,36 Kafka] T 1 , T 2 ; >Kafka< J 2 - 426,13 f. 



1268 Anmerkungen zu Seite 409—438 

unhaltbar] in J 2 gesperrt - 426,31-36 richten.<« bis Es] T 2 , J 2 ; rich- 
tens* [AbsatzJ Es T 1 - 426,37 Motive] in J 2 gesperrt - 426,38-427,1 
in bis wurde;] T 2 , J 2 ; den Erzdhlungen und Romanen zugrunde 
liegen. Und doch sind es nut diese y die ein Licht im dunklen Laby- 
rinth verbreiten, in dem Kafka vorweltlichen Gestalten nachgespurt 
hat; T 1 - 427,2 weltliche] T 2 , J 2 ; die weltlichen T 1 - 427,3-428,27 
Und bis ihm] T 2 , J 2 (mit Ausnahme folgender Varianten: eines Ge- 
richteSy das diese Krdfte ins Werk setzt, erscheinen statt des Gerichtes 
erscheinen T 2 ; Strafe? - y darauf statt Strafef - darauf T 2 ; hintan zu 
halten statt hintanzuhalten T 2 ; »lch konnte [. . ./ denken gesperrt in 
J 2 ; Parabel. statt Parabeln. T 2 ; Scham vor den anderen statt /. . ./ 
andern T 2 ; personlicher als statt personlicher y als T 2 ); ^«/ keine 
Weise aber als gottliche y es sei denn y daft man bei der grotesken Aus- 
legung landen wollte, mit der Denis de Rougemont die Konsequenz 
aus den Entstellungen der theologischen Interpreten zieht: »Da$ alles 
ist nicht der elende Stand des Menschen, der ohne Gott ist, sondern 
der Elendsstand des Menschen, der an einen Gott verhaftet ist y den 
er nicht kennt, weil er Christum nicht kennt.* - Bestreitbar ist nun 
freilich nicht, daft Kafka theologischen Spekulationen nachhing y ja 
von gnostischen Lehren versucht wurde. »Woriiber ich einen jeden 
treffe y dariiber will ich ihn richten* heiflt es in einem apokryphen 
Evangelium. Das »]iingste Gericht ... ist ... ein Standrechu heifit 
es bei Kafka. In solchen Satzen bewegten sich die Uberlegungen, mit 
denen er seine Existent in Europa bezahlt hat. Bezahlt hat er in 
jedem seiner Bucher; vielleicht wollte er sie auch darum verbrennen 
lassen. Das Leben dieser Bucher aber steckt im Kampf gegen die Gno- 
sis. Jeder seiner Romane und jede seiner Erzdhlungen ist ein Sieg uber 
Kierkegaards Paradox, dessen mythologische Untergrunde erst kiirz- 
lich von Wiesengrund aufgezeigt worden sind. So einsam aber Kafkas 
Ringen war, so selten selbst die Freunde es verstanden - er konnte 
dabei immer auf die stdrkste Gebdrde seines Innern sich verlassen, die 
seiner »ganz elementaren Reinheit des Gefuhls* entspricht: die Scham. 
»Es war y als sollte die Scham ihn uberleben* [-] mit diesen Worten 
endet der »Prozeft«. Die Welt der oberen Mdchte, denen Kafkas 
Interpreten so gem sein Schrifttum widmen wollen, hat alle Abwehr- 
krdfte der Scham in ihm aufgerufen. Was sind das fur Gerichtsbeamte, 
die beim Anblick eines Weibes sich kaum halten konnen und Uber 
Tische und Barrieren springen! was fur Vertreter aus dem Reich der 
Gnade y die den Erwdhlten mit unziichtigen Anerbietungen nach- 
setzent Gewaltige Bedenken stellen sich der theologischen Spekulation 
entgegen. Und Kafka selber ist es, der sie sucht und hdufl und auf- 
turmt. Zum Beispiel vor Abraham. »lch konnte mir einen andern 
Abraham denken y der — freilich wurde er es nicht bis zum Erzvater 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1269 

bringen, nicbt einmal bis zum Altkleiderhandler - der die Forderung 
des Opfers sofort, bereitwillig wie ein Kellner zu erfullen bereit 
ware, der das Opfer aber doch nicht zustandebrachte, weil er von 
zuhause nicht fort kann, er ist unentbehrlich , die Wirtschaft benotigt 
ihn, immerfort ist noch etwas anzuordnen, das Haus ist nicbt fertig, 
aber ohne dafl sein Haus fertig ist, ohne diesen RUckhalt kann er nicht 
forty das siebt aucb die Bibel ein, denn sie sagt: >er bestellte sein 
Hau$<«. Und noch einer aus der Kette der »anderen Abrahame. Einer, 
der durchaus richtig opfern will und uberhaupt die richtige Witterung 
fiir die ganze Sache hat t aber nicht glauben kann, dafl er gemeint ist, 
er, der widerliche alte Mann und sein Kind, der schmutzige Junge. 
Ihm fehlt nicht der wahre Glaube, diesen Glauben hat er, er wiirde 
in der richtigen Verfassung opfern, wenn er nur glauben konnte, dafl 
er gemeint ist . . . Uber Abraham ware die Welt damals entsetzt ge- 
wesen, wenn sie zugesehen hatte, dieser aber furchtet, die Welt werde 
sich bei dem Anblick totlachen.* So tiirmt Kafka die Hindernisse. Um 
sie zu uberwinden? Durchaus nicht; sondern um sich hinter ihnen zu 
verstecken, wie seine vornehmste Gebdrde, die Scham, ihn notigt. 
Von Gott auf dieser Erde gesehen zu werden, ist nicht ertrdglich, und 
Einer, der die beaugenscheinigt, nicht auszusinnen. Darum spricht 
Kafka nie von Gott. Sogar die Erlosung weifl nichts von ihm, die 
er mit ungewissen Zugen seinem Liebling durch das Naturtheater in 
Aussicht stellt. [Absatz] Die Scham, die die intimste Gebarde der 
Menschen ist, ist zugleich die gesellschafllich anspruchvollste. Scham 
ist, auf ihrer hochsten Stufe, Scham nicht vor den anderen sondern 
fur sie. So ist Kafkas Scham nicht personlicher als das Leben und 
Denken, das sie regiert und von dem er gesagt hat: »Er lebt nicht 
wegen seines personlichen Lebens, er denkt nicht wegen seines per- 
sbnlichen Denkens. Ihm ist, als lebe und denke er unter der Notigung 
einer Familie . . . Wegen dieser unbekannten Familie . . . kann er 
nicht entlassen werden.« Die Scham bedeutet eine unendlich kostbare, 
unendlich gefahrdete Position im Dasein der noch unbekannten 
Familie. Doch eine Position, die sie schon nicht mehr zu balten, son- 
dern nur auf neuem Grunde befestigt aufzufuhren hoffen kann. 
Darum bezieht sie eine ruckw'drtige Stellung. Sie raumt die Positionen 
der Kulturentwicklung. »An Forschritt glauben heiftt nicht glauben, 
dafi ein Fortschritt schon geschehen ist. Das ware kein Glauben.« 
Kafkas Romane spielen in einer Sumpfwelt. Diese Vorwelt steht 
unter einer ganz bestimmten geschichtlichen Signatur. Die Kreatur 
erscheint in ihr T 1 - 428,28 diese Stufe] T 2 , J 2 ; sie T 1 - 428,29 f. 
tn bis hineinragt.] T 2 , J 2 ; nicht unsere gegenwdrtige ware. T 1 - 
429,13-18 gefragt.<* bis Von] T 2 , J 2 ; gefragt.<« [Absatz] Von T 1 - 
429,21 miijlte] T 2 , J 2 ; muf! T* - 4*9," ist] T 1 , T 2 ; ist, J 2 - 430,16 



1270 Anmerkungen zu Seite 409—438 

eigennamentlich] eigennamlich T 1 , T 2 , J 2 (vermutlich von Benjamin 
vorgenommene Abwandlung der Rosenzweigschen Pragung; s. Nach- 
weis zu 430,16) - 430,21 Totembaume] T 1 ; Totenbdume T 2 , J 2 - 
431,26 aufschieben] T 1 , T 2 ; aufschieben, J 2 - 431,27 findet,] J 2 ; findet 
T 1 , T 2 - 431,36 f. Jew Buckligen] den Buckligen T 1 , J 2 - 432,5 te/2 
solange,] hauft so lange T 1 , T 2 ; &<*»/?, solange J 2 - 432,6 die] T 1 , T 2 ; 
diese J 2 - 432,16 Insasse] T 2 , J 2 ; unvermeidliche Insasse T 1 - 432,16 
Lebens;] T 2 , J 2 ; Lebens, T 1 - 432,21 f. *Ge/> bis lacben.«] in J 2 als 
Strophe und in kleinerer Type gesetzt - 432,24-27 »Wenn bis mit!«] 
in J 2 als 6zeilige Strophe und in kleinerer Type gesetzt (im Original 
bilden die beiden letzten Verse fur sich die SchlufSstrophe; s. Nachweis 
zu 432,27) - 432,32 wissen -] T 1 , T 2 ; wissen -, J 2 - 433,3 Juden.] 
Juden beisammen. T 1 - 433,9 Scbwiegersohn,] Schwiegersohn fiir seine 
Tochter, T 1 - 433,12 nach:] nach und begann: T 1 - 433,15 dammerte 
waren] Morgen ware, seieri T 1 - 433,21 eurer] Euerer T 1 - 433,22 
andern] Horer T 1 - 433,22 an.] an T 1 - 433,23 einer.] einer T 1 - 
433,26 ja] aber T 1 - 433,38 dem] lies in dem - 433,38-434,1 un- 
glucklichen T 1 ; ungluckltchen, T 2 - 434,1 mit] in T 1 - 434,2 Wun- 
sches] Wunschs T 1 - 434,21 wahrend] Wahrend T 1 - 434,29 f. Studen- 
ten, bis beste] Studenten und vielleicht i$t die hochste T 1 - 434,32 
bei Kafka] in Kafkas Werk T 1 - 434,32 Askese.] Askese fort, T 1 ; 
danach handschriftlicher Zusatz Absatzl - 435,5 gekommenU] Absatz 
in T 1 ; auf Rand handschriftlicher Zusatz kein Absatz! - 435,25 
aufpassen] passen T 1 - 435*39-436,1 8 Den bis werden.] Bei Kafka 
stehen solche Gesten nicht fur einen Ubersinnlichen Sachverhalt, son- 
dem der ihnen zugeordnete wird auf dem Grunde dieser Welt ge- 
sucht und gelte es, jede von diesen Gesten hundertmal zu beschworen. 
Das Studium ist eine jagende; sein Weg in die Vergangenheit ein Ritt. 
T 1 - 436,20 ist,] konj, fiir ist. T 1 , T 2 - 436,24-26 der der bis ist.] 
der dahinfliegt verbriidert mit der des befreiten Renners. ^-436,27 f. 
ist, bis Unselig] ist, unselig T 1 - 436,28 Tier,] Tier; T 1 - 436,34 off net 
bis Gegend] tut keine Gegend bei Kafka sich auf T 1 - 436,36-437,9 
Aus bis nimmt.] Da hat es der Bucephalus kliiger gehalten, der »neue 
AdvokaU der ohne den gewaltigen Alexander - und das heiflt: des 
Reiters ledig - wiederkommen kann. T 1 - 437,12 Bucher.* -] Bucher.* 
T 1 - 437,12 Geschichte] Novelle T 1 - 437,18 Kafka] Kafka selber 
T 1 - 437,20 statt hat] statthat T 1 - 437,29-32 Studium. bis Seine] 
Studium. Kafkas T 1 - 437,33 abhanden kam] abhandenkam T 1 - 
437,35-38 gefunden; bis hat.] gefunden: im Kleinen, Alltaglichen und 
Absurden. T 1 - 437,38 nicht nur] vielleicht T 1 - 438,12 Gesetzter bis 
Pansa] Sancho Pansa hat T 1 - 438,13 vorangeschickt. Bucephalus 
hat] vorangeschickt, Bucephalus T 1 - 438,15 ist.] T 1 ; ist. - T 2 ; letztes 
Blatt von T 1 mit folgendem Einschub: ebenso sorgfaltig abzuwagen 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1271 

/,;T 2 / wie die Antworten des Turbuters vox dem Gesetz. Vielleicht 
wollte Kafka, den jeder Tag seines Lebens vor unentr'dtselbare Ver- 
haltungsweisen und undeutliche Verlautbarungen gestellt hat y im Tode 
wenigstens seiner Mitwelt ; dieser Passus (= 422,26-30) steht in T 1 
bereits (maschinenschriftlich) textintegral und ist mit dem entsprechen- 
den in T 2 bis auf das Komma identisch. 

nachweise 410,7 Schuwalkin . . .] Benjamins Nacherzahlung einer 
Puschkinschen Anekdote; s. Alexander Puschkin, Anekdoten und 
Tischgesprache, hg., iibertragen und mit dem Vorwort versehen von 
Johannes Guenther. Mit Illustrationen von Nicolai Saretzkij, Miin- 
chen 1924, 42 ([Nr.] 24: »Potjomkin litt haufig [...]«); bei Pusch- 
kin »Petuschkow« statt Schuwalkin. - Die Nacherzahlung wurde von 
Benjamin in ahnlicher Form unter dem Titel Die Unterschrifl (s. Bd. 
4, 758 f.) 1934 dreimal veroffentlicht (davon einmal in danischer 
Ubersetzung; s. a. a. O., 1081); zum Blochschen Gegenstiick »Potem- 
kins Unterschrift« s. a. a. O., 1082 »Nachweise« - 410,25 Attgen*] 
Franz Kafka, Das Schlofi. Roman, Miinchen 1926, 11 - 410,30 Beam- 
tenstube.*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer. Ungedruckte 
Erzahlungen und Prosa aus dem Nachlaft, hg. von Max Brod und 
Hans Joachim Schoeps, Berlin 1931, 231 (»Betrachtungen iiber Sunde, 
Leid, HofTnung und den wahren Weg«, Aph. 34) - 410,33 haben] 
s. Georg Lukacs, zit. in: Ernst Bloch, Geist der Utopie, Miinchen, 
Leipzig 1918, 22 - 410,38 Damp f hammer*] Kafka, Ein Landarzt. 
Kleine Erzahlungen, Miinchen, Leipzig 1919, 35 (»Auf der Galerie«) 

- 411,17 Menschf<«] Kafka, Das Urteil. Eine Geschichte (Bucherei 
»Der jiingste Tag«, Bd. 34), Leipzig 1916, 22, 23, 24, 28 - 411,21 
Ertrinkens] s. a. a. O., 28 - 411,27 unsauber] s. a. a. O., 20 - 
411,32 gewesen<(] Kafka, Das Schlofl, a. a. O., 462 - 412,8 wurde.«] 
Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a. O., 218 (»Er«) - 
412,23 wird«c] Kafka, Der ProzefL Roman, Berlin 1925, 85 (Drittes 
Kapitel,* im folgenden in romischen ZifTern) - 412, 3 3 scheinen.«] 
Hermann Cohen, Ethik des reinen Willens, 2. rev. AufL, Berlin 1907, 
362 - 413,7 haben.<«] Kafka, Das Schlofi, a. a. O., 332 - 413,24 
verirren.*] a. a. O., 79 f. - 413,33 anhaftet.<«] Kafka, Der Prozefi, 
a. a. O., 322 f. (VIII) - 414,11 un$.<«] Max Brod, Der Dichter Franz 
Kafka, in: Die Neue Rundschau 1921 (Jg. 11), 1213: »Gesprachs«, 
»vom heutigen«, »Gnosis: Gott«, »Oh, HofTnung [. . .] uns« gesperrt 

- 414,18 Ungeziefer] s. Kafka, Die Verwandlung (Bucherei »Der 
jiingste Tag«, Bd. 22/23), Leipzig 191 5, 3 - 414,19 Besitz] s. Kafka, 
Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a. O., 54 (»Eine Kreuzung«) - 
414,20 Hausvaters] s. Kafka, Ein Landarzt, a. a. O., 95 (»Die Sorge 
des Hausvaters«) - 414,24 wird] s. Kafka, Betrachtung, 2. Ausg., 
Leipzig o. J. [1915], 17-26 (»Entlarvung eines Bauernfangers«) - 



1272 Anmerkungen zu Seite 409—438 

414,26 kommt] s. Kafka, Amerika. Roman, Miinchen 1927,343 (VII) 

- 414,27 werden] s. Kafka, Betrachtung, a. a. O., 15 f. (»Kinder auf 
der Landstraik«) - 414,30 Gehtilfe*] s. Robert Walser, Der Gehiilfe, 
Berlin 1908 - 414,36 Bote] s. Kafka, Das Schloft, a. a. O., 41, 50 f. 

- 415,4 Kn'duel.*] a. a. O., 84 - 415,21 ihnen.«] Kafka, Beim Bau 
der Chinesischen Mauer, a. a. O., 40 (»Das Schweigen der Sirenen«) - 
415,31 konnen*] a. a. O., 39 - 415,34 Schweigen*] a. a. O. - 416,2 
entgegengehalten.tr] a. a. O., 41 - 416,1 5 f. Munterkeit.*] Kafka, 
Ein Hungerkunstler. Vier Geschichten, Berlin 1924, 73 (»Josehne, 
die Sangerin oder Das Volk der Mause«) - 416,18-31 E$ bis. hinein- 
horcht.] s. den ahnlich lautenden Passus 375,25-38 - 417,2 Pferde- 
kopf.«] Kafka, Betrachtung, a. a. O., yy f. (»Wunsch, Indianer zu 
werden«) - 417,21 Clayton!*] Kafka, Amerika, a. a. O., 357 (VIII) 

- 417,27 Rennbahn«] Kafka, Betrachtung, a. a. O., 80 (»Ungliick- 
lichsein«) - 417,28 Herrenreiter«] s. a. a. O., 70-74 (»2um Nach- 
denken fiir Herrenreiter«) - 417,30 Schritt*] Kafka, Ein Landarzt, 
a. a. O., 2 (»Der neue Advokat«) - 417,33 lassen] s. Kafka, Betrach- 
tung, a. a. O., 12 f. (»Kinder auf der Landstrafie«) - 417,36 Sprun- 
ge«] Kafka, Amerika, a. a. O., 287 (VII) - 418,10 Gejuhls.*] Franz 
Rosenzweig, Der Stern der Erlosung, Frankfurt a. M. 1921, ^6 (Teil 
1, Buch 3) - 418,34 auf<.«] Werner Kraft, Franz Kafka. Durch- 
dringung und Geheimnis, Frankfurt a. M. 1968, 24 (»Der Mensch 
ohne Schuld. Ein Brudermord*; Neufassung gegenuber der von Ben- 
jamin zitierten mit den Varianten »als« statt indent, »in dem« statt 
in welchem, »sich befindet« statt liegt und der Streichung von heifit 
es ausdrucklich); Zitat im Zitat: Kafka, Ein Landarzt, a. a. O., 128 
(»Ein Brudermord«) - 419,4 mu$.<«] Kafka, Die Verwandlung, 
a. a. O., 5 - 419,11 sehn.«] Kafka, Der Prozefi, a. a. O., 369 (IX) - 
419,24 haben] s. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a. O., 
51 (»Der Schlag ans Hoftor«) - 419,33 sollte.«] Kafka, Der Prozeft, 
a. a. O., 226 f. (VII) - 420,5-422,24 Sie bis er] s. o. Lesart; Nach- 
weis zu Gesetz* spater in dem »Prozej!«: s. Nachweise zu 420,7 und 
420,12 - 420,7 Gesetz*] s. Kafka, Ein Landarzt, a. a. O., 49-56 und 
Der Prozeft, a. a. O., 375-378 (IX) - 420,12 Prozejl*] s. Kafka, Der 
Prozefi, a. a. O., 378-388 (IX) - 420,37 hat] s. Gesprach mit F. v. 
Miiller, 2. 10. 1808; zit. in: Goethes Gesprache. Gesamtausgabe, neu 
hg. von Flodoard Frhr. von Biedermann, Bd. 1, Leipzig 1909, 539 
(Nr. 1098) - 421,18 batte.«] Kafka, Beim Bau der Chinesischen 
Mauer, a. a. O., 10 f., 16 (»Beim Bau der Chinesischen Mauer«) - 
421,38 bleibt.«] Lion Metchnikoff, La civilisation et les grands 
fleuves historiques. Avec une preface de M. Elisie Reclus, Paris 
1889, 189 (VII. Territoire des civilisations fleuviales) - 422,10 Ge- 
wi$sen.«] F. M. Dostojewski, Die Briider Karamasorf. Roman, iiber- 



Anmerkungen zu Seite 409—438 1273 

tragen von E. K. Rasin, Miinchen o. J., 470 (Budi 5, Kapitel 5) - 
422,12 Tagebuchnotiz] s. Kafka, Tagebiicher. 1910-1923, New York, 
Frankfurt a. M. 1951, 54-58 (26. 3. 1911) - 422,25 anbefahl] s. 
[Max Brod,] Nachwort, in: Der Prozefi, a. a. O., 403 f. und 404 f. - 
423,6 Weg*] Kafka, Beim Bau der Chinesisdien Mauer, a. a. O., 
213 (»Er«) - 423,10 Grund,*] Kafka, Ein Landarzt, a. a. O., 182 
(»Ein Bericht fiir eine Akademie«) - 423,16 kampft.*] Kafka, Der 
Prozefi, a. a. O., 393 (X) - 423,21 aufgeregu] Kafka, Amerika, 
a. a. O., 382 (VIII) - 423,24 baben] s. a. a. O., 359 f., 362 (VIII) - 
423,26 spradten] s. Text, 416 - 423,32 wurde.«] Kafka, Ein Hun- 
gerkunstler, a. a. O., 13 (»Erstes Leid«) - 423,35 gedriickt«] Kaf- 
ka, Ein Landarzt, a. a. O., 134 (»Ein Brudermord«) - 423,39 Reli- 
gionsstiftern.*] Gesprach mit Benjamin; s. Benjamin-Archiv, Ms 
334 (1231): Soma Morgenstern hat — im Gesprach mit mir - die 
scbone Bemerkung gemacbt, in Kafkas BUchern weht Dorfluft wie bei 
alien Religionsstiflern.- 424,2 Dorfe*] s. Kafka, Ein Landarzt, a. a. O., 
88 f. (»Das nachste Dorf«) - 424,6 sein.*] s. Nachweis zu 96,22; 
moglicherweise hat Benjamin hier aus dem Gedaditnis zitiert. Da die 
Modiflkationen des Zitats fiir den Textzusammenhang nidit unerheb- 
lidi sein diirften, werden sie hier genannt: Benjamin schrieb in der 
Feme fiir »gegenseitig«, sollen fiir »sollten«, Menschen fiir »Leute« 
und weit fiir »hin und her«. Die Verstrennungszeichen setzten die 
Herausgeber. - 424,13 habe] Brods Erwahnung findet sidi nicht im 
Nachwort zum »Schlofi«, sondern mitgeteilt bei Willy Haas, Gestal- 
ten der Zeit, Berlin 1930, 183 f. (Drei Dichter. Franz Kafka) - 
424,25 Mahl] Das Symbol der Braut, die fiir die Seele, die Kirche 
oder die Unerlosten steht, ist in den Midrasdiim der spateren Hag- 
gadah und den Legenden der judischen Folklore verbreitet. Aus dieser 
durfte das Gleichnis Soma Morgenstern gelaufig gewesen und, durch 
die Gesprache mit ihm, Benjamin, der es hier nacherzahlt, bekannt 
geworden sein. - 424,34 hervorkommen] s. Kafka, Ein Landarzt, 
a. a. O., 8, 10 (»Ein Landarzt*) - 424,35 sitzt] s. Kafka, Das 
Sdilofi, a. a. O., 69 - 424,36 bringt] s. Kafka, Beim Bau der Chine- 
sisdien Mauer, a. a. O., 51 (»Der Schlag ans Hoftor«) - 425,20 sind] 
s. »Er« und Betraditungen iiber Siinde, Leid, HofTnung und den wah- 
ren Weg, in: a. a. O., 212-224 und 225-249 - 425,29 Kaiser] s. Hell- 
muth Kaiser, Franz Kafkas Inferno. Psychologische Deutung seiner 
Strafphantasie, Wien 193 1 - 425,30 Schoeps] s. [Hans Joachim 
Schoeps,] Nachwort, in: Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a. O., 
250-266 (zus. mit Max Brod); ders., Unveroffentlichtes aus Franz 
Kafkas Nachlafi, in: Der Morgen. Berlin, 2. 5. 1934 (Jg. 10) - 425,30 
Rang] s. Bemhard Rang, Franz Kafka, in: Die Schildgenossen. Augs- 
burg 1932 (Jg. 12, Heft 2/3) - 425,30 f. Groethuysen] s. Bernard 



1274 Anmerkungen zu Seite 409—438 

Groethuysen, A propos de Kafka, in: La Nouvelle Revue Franchise. 
1933 (Neue Serie 40, Heft 4) - 426,4 Amerika<.«] Willy Haas, 
Gestalten der Zeit, Berlin 1930, 175 (Drei Dichter. Franz Kafka) - 
426,13 Gottlichen,*] Bernhard Rang, Franz Kafka, a. a. O. - 
426,19 Gott.*] Willy Haas, Gestalten der Zeit, a. a. O., 176 - 

426.24 Gott.*] a. a. O. - 426,25 Canterbury] s. Anselm von Can- 
terbury, Cur deus homo?, in: Opera. Patrologiae cursus, vol. CLV - 
426,31 ricbten.<«] Kafka, Das Schlofi, a. a. O., 414 - 426,35 kennt.*] 
Denis de Rougemont, Le Proces, par Franz Kafka [...], in: La 
Nouvelle Revue Franchise. Mai 1934 (Jg. 22), 869: »[. . .,] tout cela 
[. . .]« - 427,3-428,27 Und bis ihm] s. o. Lesart; Nachweis zu 
kennt.«: s. Nachweis zu 426,35; Nachweis zu Standrecbt*: Kafka, 
Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a. O., 233 (»Betrachtungen 
[...]«, Aph. 40*); Nachweis zu Wiesengrund*: Theodor Wiesen- 
grund-Adorno, Kierkegaard. Konstruktion des Asthetischen, Tubin- 
gen 1933 (dazu s. Benjamins Rezension Kierkegaard, Das Ende des 
philosopbischen Idealismus, Bd. 3, 380-383); Nachweis zu Gefiibls*: 
s. Nachweis zu 418,10; Nachweis zu Uberleben*: s. Nachweis zu 
428,4 ; Nachweis zu Haus<« : s. Nachweis zu 427,28 ; Nachweis 
zu totlachen,*: s. vorhergehenden Nachweis (bei Kafka: »[...] ein 

anderer Abraham. Einer [ ]«); Nachweis zu werden.*: s. 

Nachweis zu 428,16; Nachweis zu Glauben.*: s. Nachweis zu 428,25 

- 427,28 Haus<«] Kafka, Briefe. 1902-1924, New York, Frank- 
furt a. M. 1958, 333 (Juni 1921, an Robert Klopstock) - 427,37 
muflten] s. Nachweis zu 422,25 - 428,3 macben*] Die Bibel, 2 Mo- 
se 20.4. - 428,4 Uberleben*] Kafka, Der Prozefi, a. a. O., 401 (X) 

- 428,6 Gefiibls*] s. Nachweis zu 418,10 - 428,16 werden.«] Kaf- 
ka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a. O., 217 f. (»Er«) - 

428.25 Glauben.*] a. a. O., 234 (»Betrachtungen [...]«, Aph. 
48) - 428,35 ist.«] Kafka, in: Hyperion. 1909 (Jg. 2, Heft 1) - 
428,36 aus] s. Kafka, Betrachtung, 2 (» Kinder auf der Landstrafie«) 

- 429,4 nicht.*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a. O., 
51 (»Der Schlag ans Hoftor«) - 429,11 Finger*] Kafka, Der Prozefi, 
a. a. O., 190 f. (VI) - 429,13 gefragt.<«] Kafka, Das Schlofi, a. a. O., 
479 - 429,17 recbtfertigt.*] Johann Jakob Bachofen, Urreligion 
und antike Symbole. Systematisch angeordnete Auswahl aus seinen 
Werken in drei Banden, hg. von Carl Albrecht Bernoulli, Bd. 1, Leip- 
zig 1926, 386 (»Versuch liber die Grabersymbolik der Alten«) - 
429,31 Intensitat.*] Willy Haas, Gestalten der Zeit, a. a. O., 196 f. 

- 429,32 Religion*] a. a. O., 195 - 429,39 Gedacbtnisses.*] a. a. O. 

- 430,16 gescbieden.«] Franz Rosenzweig, Der Stern der Erlosung, 
a. a. O., 76 f. (I, 2) - 430,29 war.*] Kafka, Ein Hungerkiinstler, 
a. a. O., 47 (»Ein Hungerkunstler«) - 430,30 Bau*] Kafka, Beim Bau 



Anmerkungen zu.Seite 409—438 1275 

der Chinesischen Mauer, 77-130 (»Der Bau«) - 430,30 Riesenmaul- 
wurf«] a. a. O., 131-153 (»Der Riesenmaulwurf«) - 430,37 ge- 
worden<«.] a. a. O., 47 (»Der Jager Gracchus«) - 430,38 Grac- 
chus.«] a. a. O. - 431,5 Tier*] s. a. a. O., 121 f. (»Der Bau«); dazu 
s. Nachwort, 261, Anm. 17 - 431,18 $teben.«] Kafka, Ein Land- 
arzt, 96 f. (»Die Sorge des Hausvaters«) - 431,20 auf«] a. a. O., 99 
- 431,28 beschafligen«] Kafka, Der Prozefi, a. a. O., 222 (VII) - 
431,34 Erlosung*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, 56 
(»Eine Kreuzung«) - 431,39-432,1 Gerichtsherren] s. Kafka, Der 
Prozefl, a. a. O., etwa 208, 288 - 432,1 Hotel] s. Kafka, Amerika, 
a. a. O., 193-196 (V) - 432,2 Galeriebesuchern] s. Kafka, Der Pro- 
zefi, a. a. O,, 65 (II) - 432,8 mufi] s. Kafka, In der Strafkolonie, 
Leipzig 1919, 28 f. - 432,13 Soldat.«] Kafka, Tagebiicher, 1910- 
1923, a. a. O., 76 (3. 10. 1911) - 432,22 lacben.*] Des Knaben Wun- 
derhorn. Alte deutsche Lieder gesammelt von L[udwig] A[diim] v. 
Arnim und Clemens Brentano, Bd. 3, Heidelberg 1808 (= Neudruck 
der Heidelberger Originalausgabe, hg. von Oskar Weitzmann, Meers- 
burg 1928), 297 (»Das buckliche Mannlein«, Kinderlieder, 29. Snick, 
v. 25-28) - 432,24 Blattem.*] Kafka, Ein Landarzt, a. a. O., 100 
(»Die Sorge des Hausvaters«) - 432,27 mitt*] Des Knaben Wunder- 
horn, a. a. O. (v. 29-34) — 43 2 > 2 9 Abnungswissen«] [Hans Joachim 
Schoeps und Max Brod,] Nachwort, in: Beim Bau der Chinesischen 
Mauer, a. a. O., 255 - 433,24 Antwori] Die Geschichte war als jii- 
discher Witz gelaufig; s. in jiidischen Witzbuchern um 1900. Benjamin 
konnte sie von Ernst Bloch gehort haben, vielleicht auch dieser von 
jenem; beide haben ihre Version veroffentlicht, Bloch eine >metaphy- 
sizierte< (s. Bd. 4, 1082 »Nachweise«), Benjamin eine mit der des 
Essays fast gleichlautende unter dem Titel Der Wunsch (s. a. a. O., 
759 f.). - 433,36 hinreicht.<«] Kafka, Ein Landarzt, a. a. O., 88 f. 
(»Das nachste Dorf«) - 434,10 werden!<«] Kafka, Betrachtung, 
a. a. O., 15 f. (»Kinder auf der Landstrafie«) - 434,14 schliefien<«] 
Kafka, Das Schlofi, a. a. O., 270 - 434,20 bin.<«] Kafka, Amerika, 
a. a. O., 350 (VII) - 434,24 vorkommt.*] Kafka, Beim Bau der 
Chinesischen Mauer, a. a. O., 248 (»Betrachtungen [. . .]«, Aph. 
108) - 434,28 werden.<«] a. a. O., 50 (»Der Jager Gracchus«) - 
435,5 gekommenU] Kafka, Amerika, a. a. O., 345 (VII) - 435,15 
ware.*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a. O., 216 
(»Er«) - 435,22 f. unverstandlicb.<«] Kafka, Das Schlofi, a. a. O., 
342 - 435,27 Nichts<«] s. Nachweis zu 435,15 - 435,38 senkte.*] 
Kafka, Amerika, a. a. O., 344 (VII) - 436,23 Pferdekopf.«] s. Nach- 
weis zu 417,2 - 436,34 auf.*] Kafka, Beim Bau der Chinesischen 
Mauer, a. a. O., 63 (»Der Kiibelreiter«) - 436,35 Eisgebirge«] a. a. O., 
65 - 436,37 Todes*] a. a. O., 50 (»Der Jager Gracchus«) - 437,5 



1276 Anmerkungen zu Seite 409—465 

zuriicktreibt.*] Plutarch, De Is. et Os., zit. in: Johann Jakob Bach- 
ofen, Urreligion und antike Symbole, a. a. O., Bd. 1, a. a. O., 253 - 
437,12 Bucher.«] Kafka, Ein Landarzt, a. a. O., 4 f . (»Der neue 
Advokat«) - 437,20 hat] s. Werner Kraft, Franz Kafka. Durch- 
dringung und Geheimnis, a. a. 0., 13 fT. (»Mythos und Gereditigkeit. 
Der neue Advokat«; vollig veranderte Fassung gegeniiber der von 
Benjamin zitierten) - 437,34 Fahrt*] Kafka, Beim Bau der Chine- 
sischen Mauer, a. a. O., 233 (»Betrachtungen [...]«, Aph. 45) '- 
438,11 Ende.*] a. a. O., 38 (»Die Wahrheit iiber Sandio Pansa«) 



438-465 DerErzahler 

In den motivischen Umkreis der Studie uber den Erzahler fallt ein 
Komplex von Aufzeichnungen, die Benjamin zwischen 1928 und 1935 
niederschrieb [s. Bd. 4, 1011 f., 1013-101$ und unten, 1281-1288]. 
Zwei davon - Romane lesen und Kunst zu erzahlen (s. Bd. 4, 436-438) 
gediehen zu der Form, die sie in dem mutmafilich 1933 von Benjamin 
zum Druck vorbereiteten Typoskript Kleine Kunst-Stucke haben (s. 
a. a. O., 1012); die erstere diirfte - in welcher Version audi immer - 
enthalten, was er in einem Brief an Scholem 1928 eine neue »Theo- 
rie des Romans^ nennt (Brief e, 482), die letztere bildet ein modifizier- 
tes Kernsnick der Lesskow-Studie (s. 445 f.). Im namlichen Zeitraum 
ist hin und wieder die Rede von einem Essay uber »Roman und 
Erzahlung«, dessen Abfassung sioh verzogere - so in einem Brief an 
Max Rychner 1929 (Briefe, 504) -, und von einem (fraglos demsel- 
ben) uber »Romancier und Erzahler « t zu dem es noch immer nicht 
gekommen [ist] - so gleichfalls an Rychner vier Jahre spater 
(Briefe, 580). Zu denken ist wohl an eine Arbeit, in der Benjamin 
Motive, wie sie in den genannten Aufzeichnungen aufgenommen sind, 
in einer epischen Theorie durchgefuhrt haben wiirde, hatte er damals 
Zeit zu ihrer Abfassung gefunden. In sicherlich so nicht beabsichtigter 
Form ist es zu der Arbeit doch noch gekommen - bei Gelegenheit eines 
eher widerwillig ubernommenen Auftrags, in der Zeitschrift »Orient 
und Occident« iiber Nikolai Lesskow zu schreiben. So heifk es Ende 
Marz 1936 in einem Brief an Scholem: Bevor ich [das grofle Buch - 
scil. das Passagenwerk/ wieder aufnebme, werde ich eine kurze Stu- 
die iiber Nikolai Lesskow schreiben mussen, zu welcher ich mich ver- 
pflichtet habe. [. . ./ Ich hoffe ubrigens, dap Du Lesskow s einen 
der groflten Erzahler, gelegentlich gelesen hast (zit. Scholem, Wal- 
ter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 249) ; und 



Anmerkungen zu Seite 438—465 \rjf 

Mitte April in einem an Kitty Marx-Steinschneider, dafi mich eine 
aus leidigen Umstanden eingegangene Verpflichtung [beschdftigt], 
eine Arbeit Uber den russischen Dichter Ljesskow zu schreiben - einen 
wenig bekannten, sehr bedeutenden Zeitgenossen von Dostojewski. - 
Kennen Sie ihn? Die Werke sind t bruchstuckweise, des oflern ins 
Deutsche ubersetzt worden (Briefe, 710 f.). Er selbst lernte sie 1928 
bereits aus der 1924- 192 7 erschienenen neunbandigen Ausgabe der 
»Gesammelten Werke«, veranstaltet vom Verlag Beck, kennen, wie 
er damals Hofmannsthal berichtet hatte, als er ihm schrieb: meine 
letzte Wocbe [stehtj unter dem beherrsdoenden Einflufi der Lek- 
tiire von Lesskov. Seitdem id) damit begann [. . ./ kann ich kaum 
absetzen. (Briefe, 460) Die Arbeit, die er 1936 tibernahm, mache id) 
fur »Orient und Qkzidenu, eine von dem ebemaligen Bonner Theo- 
logen Fritz Lieb [einstige[m] Schiiler von Karl Barth und eine[m] 
der weitaus besten Leute, die id) in Paris kennen gelernt habe] gelei- 
tete Zeitschrift. [. . ./ Da ich im iibrigen garkeine Lust habe, mich in 
Betrachtungen der russischen Literaturgeschichte einzulassen, so werde 
ich bei Gelegenheit Ljesskows ein altes Steckenpferd aus dem Stall 
holen und versuchen, meine wiederholten Betrachtungen uber den 
Gegensatz von Romancier und Erzahler und meine alte Vorliebe ftir 
den letzteren an den Mann zu bringen. (Briefe, 711) So am 15.4. 
1936. Zieht man als dnttes Datum den Brief an Scholem vom 2, Mai 
heran, worin es heifk, dafi ich den »L)es$kow« schreibe (Briefe, 714), 
und nimmt man das Prasens wortlich, wird man als terminus a quo 
fur die Niederschrift einen Zeitpunkt zwischen Ende Marz und Mitte 
April ansetzen diirfen. Der terminus ad quern ist durdi eine Reihe von 
Daten gesichert, die freilich der Interpretation bediirfen. Zunachst 
heifk es Anfang Juni: Ich habe in der letzten Zeit eine Arbeit uber 
Nikolai Lesskow geschrieben, die t ohne im entferntesten die Tragweite 
der kunsttheoretischen [scil. der iiber Das Kunstwerk im Zeitalter 
seiner technischen Reproduzierbarkeit; s. Bd. 1, 431-508] zu bean- 
spruchen y einige Parallelen zu dem »V erf all der Aura* in dem Urn- 
stande aufweist, dafi es mit der Kunst des Erzahlens zuende geht. 
(4. 6. 1936, an Theodor W. Adorno) Dem ich habe [. . ./ geschrieben 
widerspredien aber wenigstens zwei weitere Daten. Nach Mitte Juni 
heifk es: Ich sehe erst jetzt, da ich im Abscblufi der Studie uber Less- 
kow begriffen bin, wie fur meine Theorie der epischen Formen noch 
fast alles zu tun Ubrig bleibt (17. 6. 1936, an Karl Thieme); und im 
Juli, wohl zwischen Anfang und Mitte dieses Monats: Der Aufsatz 
uber den Erzahler ist fertig. Ich freue mich auf den Augenblick, da 
ich ihn Ihnen werde senden diirfen (Juli 1936, an Karl Thieme); 
schliefilich in einem Brief an Scholem, vielleicht aus denselben Tagen: 
Inzwiscben ist ein neues, nicht ganz so umfangreiches Manuskript 



1278 Anraerkungen zu Seite 438—465 

wie das des Kunstwerk-Aufsatzes abgeschlossen [. . ., das] Dir, 
nicht nur in sprachlicher Hinsicht, wohl sehr viel genehmer ware, 
namlich das des Erzahlers (zit. Sdiolem, a. a. O., 251). Hinzu 
kommt ein undatierter Brief, worin es heiftt: Bevor ich [nach Svend- 
borg] wegfahre, hoffe ich, die Originalfassung des Lesskow uber- 
setzen lassen zu kbnnen. Es bietet sich da eine Chance, die ich mog- 
lichst schnell ausnutzen will [zur franzosischen Fassung s. 1 279-1 281 
und 1288 f.]. So kommt es, dafi ich Dich [scil. Gretel Adorno] bitte, 
mir Dein Exemplar wieder zurilckzusenden - und zwar moglichst 
mit nachster Post. Du wirst es nicht auf lange entbehren - spatestens 
sechs Wochen lang, denn im September soil der deutsche Text in der 
Schweiz erscheinen. (o. D., an Gretel Adorno) Wenn Benjamin also 
damit rechnete, daft die Adressatin ihr Exemplar langstens sechs Wo- 
chen entbehren mufite, wird er den Brief, der das ankiindigte, friihe- 
stens urn Mitte Juli, spatestens um Mitte August - je nach Erwartung 
des Drucks Anfang oder Ende September - geschrieben haben. Daft 
die Arbeit selbst eher im Juli als im Juni - oder gar erst im August - 
abgeschlossen war, wird schlieftlich durch folgende Anfrage Benjamins 
von Mitte August erhartet: Kann ich bald die Fahnen zum »Le$kov« 
erwartenf (13. 8. 1936, an Fritz Lieb) Wenn Benjamin Anfang Juni 
Adorno mitgeteilt hatte, [i]ch habe in der letzten Zeit eine Arbeit 
[. . ./ geschrieben, diirfte damit ein Entwurf oder eine erste Nieder- 
schrift gemeint gewesen sein. Die Endfassung, die im September 
erscheinen sollte, erschien - dem Publikationsdatum nach - im Okto- 
ber (s. »Uberlieferung«); tatsachlich jedoch kam das Oktoberhefl: von 
»Orient und Occident« - das anscheinend nur unter Schwierigkeiten 
zustandegebrachte letzte der Zeitschrift - erst im Juni 1937 zur Aus- 
lieferung. Daher die weitere Anfrage Benjamins noch am 1. 6. 1957: 
Was gibts um Leftkow? (1. 6. 1937, an Fritz Lieb) und endlich die 
erleichterte Bestatigung vom 9. Juli: Mit welcher Freude ich den 
Lefikow erhalten habe, brauche ich Dir kaum zu sagen. Grofi ist 
meine Betrubnis, setzte er hinzu, dafi er zur Auskehr aufspielt. (Briefe, 
733) Druckexemplare gingen u. a. an Scholem, Thieme, Brentano. Um 
zusatzliche Separatdrucke - sie waren mir aufs hochste willkommen 

- muftte er Lieb wiederholt und dringlich bitten; so am 2$. Oktober, 
am 20. Dezember und an Silvester 1937, wo es heiftt: ich hoffe auch 
beute, daji Du Deine Gabe - ein freudig begriifttes Weihnachtspaket 

— durch [einige ExemplareJ komplettierst. (31. 12. 1937, an Fritz 
Lieb; s. auch die unveroffentlichten Postkarten vom 25. 10. und 
20. 12. 1937 [Poststempel] an denselben Adressaten) - Im Okto- 
ber 1937 hatte Benjamin an Thieme geschrieben: Wenn ich fur einen 
Augenblick auf den »Erzahler« zuruckkommen darf, so merke ich an, 
dafl der Hinweis auf die apokatastasis des Origenes bei mir lediglich 



Anmerkungen zu Seite438— 465 1279 

als immanente Explikation von Lejlkows Vorstellungswelt gedacht 
war [s. 4 $8 /./. Ich selbst wollte zu dem Gegenstand nidot das Wort 
ergreifen. Im ubrigen konnte ich mir denken, daft ich es fruher getan 
hdtte; dafl Wiesengrund es getan hat, entnehme ich Ihrem Brief. Wo 
findet sich dieser Begriff der »opferlosen Erfullung« bei ihm? ([wohl in 
einem Brief von Adorno gebraucht] Briefe, 738) Ein anderes Bruch- 
stiick des anscheinend intensiveren Gedankenaustauschs mit Thieme 
iiber Fragen der Epik ist die Stelle aus einem Brief vom Marz 1938, wo 
es heifk: Mein Inter esse an der Figur des Erzdhlers hat nicht nachge- 
lassen. (Briefe, 746) Es scheint nodi aus dem kurzen Dankschreiben an 
Bernard von Brentano vom Juni 1939 zu sprechen: Ihr schoner Satz 
»sagen lassen sich die Menschen nichts, aber erzahlen lassen sie sich 
alles* bringt mich darauf, Ihnen als Gegengabe fur den schonen Aus- 
wahlband eine kleine Betrachtung iiber den Erzahler zu schicken. Ich 
habe sie vor ein paar Jahren veroffentlicht (Briefe, 817). Welche 
Stelle die Arbeit in der Konstruktion seines Baudelaire (s. Bd. 1, 
509-690) einnahm, deutete Benjamin wenig spater in einem Brief an 
Gretel Adorno an: Das Flaneurkapitel wird in der neuen Fassung 
[s. a. a. 0. t 605-653] entscheidende Motive der Reproduktionsar- 
beit [s. a. a.0. y 431-508] und des Erzdhlers vereint mit solchen der 
Passagen [s. Bd. 5] zu integrieren suchen. Bei keiner friihern Ar- 
beit bin ich mir in dem Grad des Fluchtpunkts gewi$gewesen t auf wel- 
chem (wie mir nun scheint: seit jeher) meine sdmtlichen und von 
divergentesten Punkten ausgehenden Reflexionen zusammenlaufen. 
(Briefe, 821) - Gegen Ende 1939 war Benjamin bemuht, den Erzah- 
ler in einer franzosischen Fassung der Studie in der Zeitschrift »Euro- 
pe« unterzubringen. Diese Fassung (s. u.) hat er selbst hergestelit; zwar 
hatte er im Sommer 1936 davon gesprpdien, die Original fassung des 
Lesskow Ubersetzen zu lassen (s. o.), die Gelegenheit, die sich ihm da- 
mals bot, schien sich jedoch zerschlagen zu haben. Wann er sich selbst 
dann an die Ubersetzung begab, ist nur zu vermuten (s. u., 1288 f.); 
dafi er sie sich korrigieren liefi, bezeugen das Manuskript und das da- 
nach angef ertigte Typoskript, die beide erhalten sind (s. u.). Eine Kopie 
des letzteren erhielt Adrienne Monnier; Maurice Saillet hat sie un- 
langst dem Frankfurter Benjamin- Archiv freundlicherweise uberlassen. 
Sie berichtet: »Le texte [. . .] me fut confix par Walter Benjamin a la 
fin de Panned 1939, apres sa liberation du Camp des travailleurs 
volentaires de Nevers, d'ou il avait pu sortir grace a Pintervention 
d'Henri Hoppenot. [Absatz] Primitivement, he Narrateur devait 
paraitre dans >Europe<; Jean Cassou Pavait retenu pour la revue 
qu'il dirigeait alors, et je crois meme annonc^; il n'y parut pas du fait 
qu'>Europe< cessa de paraitre en aout 39. [Absatz] La copie qui est 
entre mes mains n'indique ni lieu ni date de composition. « Monnier 



1280 Anmerkungen zu Seite 438—465 

hielt also Le Narrateur nlcht fur die Ubersetzung sondern das Origi- 
nal ; ubrigens tragt audi das Manuskrlpt der Ubersetzung weder einen 
Orts- nodi einen Zeitvermerk (hochstens den indirekten Paris, 79. Ok- 
tober 1936; s. u., 1289). »I1 n'y [namlich auf der »copie«] est pas non 
plus mention d'un traducteur«, woraus sie schlofl: »Benjamin a peut- 
£tre £crit cet essai directement en fran$ais; il s'efforcait d^crire dans 
notre langue«, wie tatsachlich im Falle des Badiofenessays (s. 219- 
233), aber doch eben audi hier, wenngleich nach der eigenen deutsdien 
Vorlage; »il fallait en ce cas y apporter quelques corrections - oh! 
bien peu, presque rien, surtout les derniers temps.« Das bezieht sich 
auf die dann spater - im Juli 1952 - von Monnier besorgte VerorTent- 
lichung des Narrateur im »Mercure de France«, anlafilich derer sie die 
hier zitierte »Note sur Walter Benjamin* schrieb (s. Mercure de 
France, 1. 7. 1952 [Nr. 1067], 451-45$). Dort heifit es weiter: »Le 
present texte n'ayant pas &i& retouche* par nous, il est possible qu'il ait 
eu a l^poque un reviseur amical.« Das war, wie das Manuskript zeigt, 
tatsachlich der Fall; nur, wer den Text durchsah, ist unbekannt. Die 
Vermutung Monniers, der sie audi nachging, hatte sich als falsch erwie- 
sen: » Pierre Klossowski ayant travaille* a maintes reprises avec 
Benjamin et ayant, en particulier, fait la traduction de Timportant 
essai paru sous le titre UCEuvre d'art a Vepoque de sa reproduction 
mecanisee [s. Bd. 1, 709-739], je lui ai demande* si nous ne lui etions 
pas aussi redevables de la traduction [bzw. die Revision] du Nar- 
rateur. II m'a r^pondu par la negative dans la tres inteVessante lettre 
qui suit cette note [s. Pierre Klossowski, Lettre sur Walter Benjamin, 
Mercure de France, a. a. O., 456]. « (Adrienne Monnier, a. a. O., 451) 
Zur Begriindung ihrer Veroffentlichung des Textes (s. a. a. O., 458- 
485) fiihrt sie an: »I1 me semble que son g£nie juif est manifeste dans 
UCEuvre d 3 art a Vepoque de sa reproduction mecanisee, alors que le 
g£nie allemand est sensible dans Le Narrateur. Ce sont la, a mon avis, 
deux maitres textes et je suis profond^ment heureuse de voir ce dernier 
paraitre ici.« (a. a. O., 454) Dieser letztere ist nicht zu verwechseln 
mit der von Maurice de Gandillac angefertigten Ubersetzung (s. Wal- 
ter Benjamin, OEuvres choisies. Traduit de Tallemand par Maurice de 
Gandillac, Paris [1959], 291-323; wiederabgedruckt in: ders., CEuvres 
II. Po^sie et revolution. Essais traduits de l'allemand par Maurice de 
Gandillac, Paris [1971], 139-169). Der Ubersetzer geht davon aus, 
dafi Le Narrateur, also die Version des » Mercure de France «, »ano- 
nyme et incomplete sei (GEuvres II, a. a. O., 138, Anm.), und halt 
dafiir, dafi, »quels que soient les meVites du traducteur inconnu«, 
»le present recueil de textes serait plus homogene si nous soumettions 
son travail a une complete refonte.« (GEuvres choisies, a. a. O., 291, 
Anm. 1). Dieser Umgufi 1st Gandillacs, dem Wortlaut von Der Erzdh- 



Anmerkungen zu Seite 438—465 1 28 1 

ler folgende Neuiibersetzung. Da er aufier Betracht lafit, dafi »Ben- 
jamin a peut-etre 6crit cet essai« zwar nidit »directement«, aber doch 
nach der eigenen deutschen Arbeit »en franc;ais«, wie Adrienne Mon- 
nier nur in diesem Punkt falsch vermutete (s. o.), mufi ihm audi ent- 
gehen, dafi Benjamins bearbeitende Ubersetzung - wie gelungen oder 
verfehlt immer - ihm dodi als die Version gait, die franzosischer Re- 
zeption seines deutschen Essays angemessen ware. 

Im Nachlafi erhatten ist eine Reihe von Aufzeidinungen, die in den 
engeren und weiteren thematischen Umkreis gehoren und von denen 
die nicht bereits in Bd. 4 abgedruckten (s. Bd. 4, 1011-1015) im fol- 
genden reproduziert werden; ferner die vollstandige Niederschrift 
einer - bearbeitenden - Obersetzung des Erzdhlers ins Franzosische 
sowie eine Kopie des nach der - korrigierten - Niederschrift ange- 
fertigten Typoskripts. Diese Kopie wird in der Gestalt, in der Benja- 
min sie Adrienne Monnier ubergab, und mit Beriicksichtigung samt- 
licher Korrektur-Varianten gleichfalls im nachfolgenden abgedruckt. 

1. Aufzeidinungen zum Komplex Roman und Erzdhlung (ca. 1928- 
1935) 

Warum es mit der Kunst, Geschichten zu erzaklen zu Ende geht 
[s. 439i 6 f.J 

Das mundlich Tradierbare, das Gut der Erzdhlung ist von anderer 
Beschaffenheit als das t was den Bestand des Romans ausmacht. Es 
hebt den Roman formlich gegen alle ubrigen Formen der Prosa: 
Mdrchen, Sage* Sprichwort, Schwank, Witz ab, daft er seinem Grund- 
bestande nach aus mundlicher Tradition weder kommt noch in sie ein- 
geht. Und man kann sagen: weil wir so viel Romane lesen t darum 
verlernen wir so ganz das Gescbicbtenerzahlen. Die {inner ste) Ge- 
burtskammer des Romans ist - gesckicktlicb gesehen - die Einsam- 
keit des {unberatenen} lndividuums> das sich ilber seine wichtigsten 
Anliegen nicht mebr exemplarisch aussprechen kann, selbst unberaten 
ist und keinen Rat geben kann. Denn das ist eine Eigenheit des Ro- 
mans, die mit seinem Ursprung innig verwandt ist und die ihn gegen 
die andern Arten der Prosa ebenso eindeutig abhebt wie dieser: er 
ist weder exemplarisch wie die Sage noch moralisch wie Mdrchen und 
V ' olkserzahlung. Er ist nicht nur sprode gegen die mundliche Mittei- 
lung sondern als einzige Prosagestaltung in seinem Innersten unaus- 
sprecblich (Hieruber vielleicht bei Lukacs Bemerkungen? Die letzten 
Satze in den Romanen?) [Von Denn bis Romanenf) durch Teilum- 
rahmung herausgehoben] Nichts tragi so sebr zum gefdhr lichen Ver- 
stummen des inneren Menschen bei wie Romanlekture. Und hier liegt 



1282 Anmerkungen zu Seite 438—465 

das Entschetdende dieser Zusammenhdnge: die Unfahigkeit Gehortes 
als Erzdhlung weiterzugeben und im Erlebten den Geist der Ge- 
schichte, das Erzdhlbare zu erwecken; diese simplen schlichten Gaben 
objektiv und allgemein interessant zugleich zu sein (das ist die 
eigentlicbe Fdhigkeit des Erzdhlers) sie [sindj gebunden an die 
reine Erscblossenheit des inneren Menschen. Die Heutigen sind zu 
schlecht ventiliert: durcb jede, noch die schlichteste Erzdhlung geht ein 
grofler Luftzug; wir machen uns keinen Begriff davon, wieviel F r e i- 
h e it dazu gehott, noch die kle'mste Geschichte zum Besten zu geben. 
Kurz, nidots totet den Geist des Erzdhiens so gtundlich ab, wie die 
unverschamte Ausdehnung } die in unset alter Existenz das »Ptivate« 
gewonnen hat und jede intime, konventionelle, egoistische, petsonliche 
Diskretion ist wie ein Schlaganfall, der dem Erzahler ein Stuck seiner 
Sprachferdgkeit raubt (und nidot nut, wie man meinen mochte) ein 
Thema. Die Zote, die ist eigentlich der Ausdruck davon, mit weld) em 
Mute der Verzweiflung Menschen, die immer in ihre muffige Ptivat- 
existenz eingesperrt blieben, offentlich werden; so wie der Witz fiir 
uns der Ausdruck davon ist, wie atomistisch die Berilhrung zwischen 
den Individuen geworden ist. [Vorstuje von Ms 6}8, 6. Stuck; 

S.H.J 

Das Eingedenken ist die Muse des prosaischen Dichters. [s. 454,12-14] 

Druckvorlage: Sammlung Scholem, Pergamentheft, 18 

Man kann all diese Dinge als ewig ansehen (Erzdhlen z. B.) man 
kann sie aber auch als durchaus zeitbedingt und problematisch, be- 
denklich ansehen. Ewiges im Erzdhlen. Aber wahrscheinlich ganz 
neue Formen. Fernsehen, Grammophon etc. machen all diese Dinge 
bedenklich. Quintessenz: So genau wolln wirs ja garnicbt wissen. 
Warum nicbt? Weil wir Furcht haben, begriindete: dafi das alles 
desavouiert wird: die Schilderung dutch den Fernseher, die Worte des 
Helden durchs Grammophon, die Moral von der Geschichte durch die 
ndchste Statistik, die Person des Erzdhlers durch alles, was man von 
ihr erfahrt. — Der Unfug des Sterbens. Nun dann ist eben auch das 
Erzdhlen ein Unfug. Dann stirbt vielleicht, vorerst einmal [J das 
pour commencer, die ganze Aura von Trost, Weisheit, Feierlichkeit, 
mit welcher wir den Tod umgeben haben, ab? Tant mieux. Nicbt 
weinen. Der Unsinn der kritischen Prognosen. Film statt Erzdhlung. 
Die ewig lebenspendende Nuance. [Vorstufe von Ms 6j8, 4. Stlick; 
s. u.J 

Das sind - soviel steht fest - die Ewigkeitswerte am Geschichtener- 
zdhlen. Und datum sind sie in diesen Jahrzehnten, die es am unerbitt- 
lichsten und am scharfsten mit den Ewigkeitswerten aufnebmenf,] 
am allermeisten ausgesetzt und gefdhtdet. Das Erzdhlen - das wird 



Anmerkungen zu Seite438— 465 1283 

sdoon bleiben. Aber nicht in seiner »ewigen« Form, der heimlichen, 
herrlichen Wdrme, sondern in frechen, verwegnen, von denen wir noch 
nichts wissen. 

Formen - das sind die Krafte, die Ewigkeit suchen. Stoffe die, die 
sie baben. 

Die altehrwiirdige Stimme wird uberdeckt von der aus dem unge- 
heuren Unisono der Operettenweisheit: So genau wolln wirs ja 
garnicht wissen. Alle Bemiihung der neueren Erzahler, die alte Ge- 
nauigkeit in Schilderung, Zeitablauf, Innenleben zu demolieren. 
Film, Vberschneidungen, Photomontage: naturlich, das alles will 
auf eine neue Sachlichkeit hinaus, vor allem aber dodo auf eine neue 
Ungenauigkeit, die unerbittlich genug ist, Uberkommene Ge- 
nauigkeit zu zerstoren. "Wir wollen: neue Genauigkeit, neue Unge- 
nauigkeit in e in em Argot des Erzdhlens. Grofistddtische Dia- 
lektgeschichten wie allerorten[?] in Rutland, Pilniak[,J Slonimski, 
Hemingway, Joyce sie ausgebildet haben. 

Wenn nun dieses Erzahlen einen Hof um die weifie Wintersonne des 
Sterbens ist [lies: bildet], dann wird er ja mit der neuen strahlenden 
Sonnenkraft auch verschwinden. Wir werden neue Geschichten nicht 
mehr eintrdchtigf?] hinanfuhren[f] sondern warm davon wer- 
den[.J 

Druckvorlage : Sammlung Scfaolem, Pergamentheft, 19 

Roman: Die Form, die sich die Menschen schufen als sie die wichtig- 
sten Daseinsfragen nur mehr unter dem Gesichtspunkt der Privatan- 
gelegenheit zu betrachten vermochten. 

Der Erzahler; was an ihm das Wunderbarste ist: daft er so wirkt, als 
konne er sein games Leb en erzahlen, alles Erzdhlte sei nur 
erst ein Stuck seines ganzen Lebens. Das »wie geht es weiter« bis 
zum Lebensende ist der Impuls in jedem wahren Horer wie der Nacb- 
klang jeder grofien Erzdhlung. Der Erzahler, das ist der Mann, der 
den Lebensdocht in der sanflen Flamme der Erzdhlung sich vollig 
konnte verzehren lassen. [Vorstufe von Ms 6 $8, 3. Stuck; s. u.J 
{Die fehlende Resonanz. Die Welt ist so eng geworden. Kaum) 
Das Grammophon, das dem leiblichen Sprecher die Autoritdt genom- 
men hat. 

Lindberghs Empfang; Die Borse; Scblachtenlarm (Marinetti I Das 
ist das neue Rauschen. [)] * 

Eine Wahrheit erweist sich in einer Erzdhlung. Eine Erzdhlung mun- 
det in eine Weisheit. Der Erzahler ist immer auch einer der Rat weifi. 
Das war ehemals eine grofte wichtige Sache: Rat wissen. Und mehr 
noch vielleicht war, sich raten lassen zu konnen, etwas gutes und heil- 
sames. Heute beginnen srolche Worte schon sehr altmodisch zu klin- 



1284 Anmerkungen zu Seite 438—465 

gen. Uns und andern erhoffen wir keinen Rat. Wir wissen ja von 
unsern Sorgen nur zu st'ohnen, zu jammern aber nicht zu erzahlen, 
Raten aber I'dfit sick nur einem, der sich eroffnet. Und das nicht nur 
we'd sich ohne Kenntnis der Sachlage niemandem raten Id fit sondern 
auch weil jeder nur soweit einem Rat sich offnen kann als er seine 
Lage zu Wort kommen la fit. [Vorstufe von Ms 658, 1. Stuck; s.u.J 
So unfafilich es ist: nichts »Ewiges« im Menschen bleibt, sieht man 
n'dher zu, so absolut und unbedingt wie es zuerst sich anldfit. Wie zart 
ist nicht im Grunde das Netz gewoben, in welchem diese wunderbare 
Gabe, das Erzahlen ruht und wie losen nicht unauffallig aber un- 
widerrujlich sich alle Ecken und Endenf Und gerade we'd »Ge- 
schichtenerzdhlen* so ganz von Ewigkeit zu Ewigkeit sich unter 
Menschen zu ereignen schien, ist es in diesen Jahrzehnten, die es am 
schdrfsten, unerbittlichsten mit den Ewigkeitswerten aufnahmen, am 
allermeisten gef'dhrdet. Und die Erzahlung mufi, fur jetzt y in den 
Abgrund zuriick. Sie ist neuer Weisheit zu leer und vor allem alter zu 
voll, um uns dienen zu konnen. Und we'd es Augenblicke gibt, in 
den'en die Wahrheit nur aus dem ungewaschensten Maul kommt, so 
hat der Auf stand gegen den Erzdhler seine gliicklichste Parole aus der 
Operette bekommen. Gegen die alte, von Haus zu Haus von Ge- 
schlecht zu Geschlecht erklingende Stimme erhebt sich die rabiate 
Operettenweisheit: »So genau wolln wirs ja garnicht wissen.« Aber 
diese Parole zundet. Geht nicht alle Bemuhung der neuen Erzdhler 
auf dieses Eine: die alte Genauigkeit in Handlung, Ortsbeschreibung 
und Zeitenfolge zu demolieren? Naturlich y das alles will auf eine 
neue Sachlichkeit hinaus y vor allem aber doch auf eine neue Unge- 
nauigkeit, die unerbittlich genug ist, Uberkommene Genauigkeit zu 
zerstoren. Joyce. Und nun liegt in alledem ein gesunder sidoerer 
Instinkt: Wir haben Furcht, begrundete Furcht, dafi alles desavouiert 
wird, Wird es nicht schon die Stimme des Erzdhlers durchs Grammo- 
phon? 

Drudsvorlage: Sammlung Scholem, Pergamentheft, 20 

{Die Erzahlung ist ein moralisches Purgativ. Sie mundet in eine 
Weisheit, wie, umgekehrt, Weisheit, zumal im Orient, sich oft als Er- 
zahlung beweist, Der Erzdhler ist immer auch einer, der Rat weifi. 
Das war ehemals eine grofie, wichtige Sache: Rat wissen. Und mehr 
noch vielleicht war sich raten lassen zu konnen, etwas Gutes und Heil- 
sames. Heute beginnen solche Worte sehr altmodisch zu klingen. Uns 
und andern wissen wir keinen Rat. Wir wissen von unsern Sorgen 
nur zu stohnen, zu jammern, nicht aber zu erzahlen. Raten la fit sich 
aber nur einem, der sich eroffnet. Und das nicht nur, we'd Kenntnis 
der Sachlage dazu die Vorbedingung sondern auch we'd jeder nur so- 



Anmerkungen zu Sehe 4^—46$ 1285 

weit einem Rat sich off net als er seine Lage zu Wort kommen la fit.} 
[s. 441,34-442,20] 

{Im Lauf der letzten hundert Jahre hat sich die Mitteilbarkeit alter 
Lebensbereicbe erschreckend vermindert. [s. 442,13 f.J Einmal weil 
das Geld im Mittelpunkt aller Lebensinteressen steht, andererseits 
gerade dieses die Schranke ist, vor der fast alle Mitteilungsbereit- 
schaft versagt. Zweitens we'd das Geschlechtsleben verrufner gewor- 
den ist und die anstdndigen und liebenswurdigen Abbreviaturen auf 
diesem Gebiet ihren Kurswert verloren haben. Drittens we'd die 
Neurose eine Mitteilungssperre auch Uber solche Tatsachen, Plane 
und Wunsche verh'dngt, an deren Gebeimhaltung der Verstand kein 
Inter esse hat.) 

{Was am Erzdhler das Wunderbarste ist: daft er so wirkt als konne 
er sein ganzes Leben erzahlen; alles Erzdblte sei nur erst ein Stuck 
seines ganzen Lebens. Das >wie geht es weiter* bis zum Lebensende 
ist der Impuls in jedem wahren Horer wie der Nachklang jeder 
grofien Erzahlung. Der Erzdhler, das ist der Mann, der den Lebens- 
docht in der sanften Flamme der Erzahlung sich willig konnte ver- 
zehren lassen. Darauf beruht die unvergleichliche Stimmung, die bei 
Hackldnder, Hoffmann, Gerstacker, Storm von der Figur der Erzdh- 
lenden ausgeht. Ihre Erschlossenhelt hat etwas Ehrwiirdiges und 
Lauteres und man schweigt nicht nur um sie zu horen sondern ein wenig 
auch weil sie da sind.) [s. 464,33-46$,$] 

Nichts Ewiges im Menschen bleibt, sieht man n'dher zu, so absolut und 
unbedingt wie es zuerst sich anldfit. Wie zart ist nicht das Netz ge- 
woben, in welchem diese wunderbare Gabe, das Erzahlen, ruht und 
wie lost es nicht unauffdllig aber unwiderruflich sich alter Ecken und 
Enden. [s. 44JJ-11] Und gerade we'd Geschichtenerzdhlen so ganz 
von Ewigkeit zu Ewigkeit unter Menschen sich zu ereignen schien, 
ist es in diesen Jahrzehnten, die es am schdrfsten mit den Ewigkeits- 
werten aufnehmen, am allermeisten gefdhrdet. Es ist neuer Weisheit 
zu leer und vor allem alter zu volt. Und weil es Augenblicke gibt, in 
denen die Wahrheit nur aus dem ungewaschensten Maul kommt, so hat 
der Aufstand gegen den Erzdhler seine ziindendste Parole aus der 
Operette bekommen. Sie lautet: »So genau wolln wirs ja garnicht 
wissen.tc Warum nicht? Weil wir Furcht haben, begrundete, dafl das 
alles desavouiert wird, die Schilderung durch den Fernseher, die 
Worte[f] durchs Grammophon, die Moral durch die ndchste Stati- 
stik, der Erzdhler durch das was man sich Uber ihn erzdhlt. Geht nicht 
alle Bemiihung der neuen Erzdhler um dieses eine: die Genauig- 
keh abzuscbaffen, die Plastik in Handlung, Ortsbeschreibung und 
Zeitenfolge zu demolieren? Zugunsten einer neuen Sachlichkeit natur- 
lich t vor allem aber einer neuen Ungenauigkeit, die unerbittlich ge- 



ia86 Anmerkungen zu Seite 438—465 

nug ist, uberkommene Genauigkeit zu zerstoren. Aber diese letzten 
Vberlegungen gelten schon der Frage: 

Wie bat das Aussterben der Gabe miindlicber Erz'dhlung den Roman 
beeinflufit? Zweifellos besteht eine Wecbselwirkung zwischen dem 
Verfall des Erzdhlens und der neuen Schreibweise in Romanen, die 
auf epischem Gebiet ein Gegenstiick zu dem darstellt, was die Photo- 
montage auf graphischem ist. Die Hauptsache ist, dafi zundchst einmal 
dem uberkommenen »Aufbau« das RUckgrat gebrochen wird. Ob wit 
den neuen Typus des Kriminalromans (Elvestad, Heller, Wallace im 
Gegensatz zu Leroux und Green), den neuen Roman (Cendrars, He- 
mingway, Speyer), die grofle Epik (Joyce) ins Auge fassen, iiberall 
fallt der grofie Erfolg den Werken zu, die die Handlung auf eine ge- 
wisse Weise umzumontieren wissen. Und wie der Leser von Jahr zu 
Jahr gegen das Erzdhlen - das dock solange wir es kennen ein Er- 
zdhlen war: erst das, dann das, dann das, /-/ unduldsamer wird, 
so auch der Horer. 

Das miindlich Tradierbare, das Gut der Erz'dhlung ist von anderer 
Beschaffenheit als das, was den Bestand des Romans ausmacht: Es 
hebt den Roman formlich gegen alle iibrigen Formen der Prosa: Mar- 
chen, Sage, Sprichwort, Schwank, Witz ab, daft er seinem Grundbe- 
stande nach aus miindlicher Tradition weder kommt noch in sie ein- 
geht. Und man kann sagen: we'd wir so viele Romane lesen, darum 
verlernen wir so ganz das Geschichtener zdhlen. Die Geburtskammer 
des Romans ist - geschicbtlicb gesehen -die Einsamkeit des Individu- 
ums, das sich Uber seine wichtigsten Anliegen nicht mehr exemplarisch 
aussprechen kann, selbst unberaten ist und ketnen Rat geben kann. 
Und umgekehrt: nichts trdgt so sehr zum gefdhrlichen Verstummen 
des inneren Menschen bei wie Romanlekture. Die Fdhigkeit, Gehor- 
tes weiterzugeben und im Erlebten den Geist der Geschichte, das 
Erzahlbare zu erwecken, diese simple Gabe, objektiv und interessant 
zugleich zu sein, sie ist gebunden an die reine Erschlossenheit des 
innren Menschen. [s. 442^-44^,16] Die Heutigen sind zu schlecht 
ventiliert; durch jede, noch die schlichteste Erz'dhlung geht ein grofier 
Luflzug; wir machen uns keinen Be griff davon, wieviel Freiheit dazu 
gehort, noch die kleinste Geschichte zum Besten zu geben. Kurz, 
nichts tbtet den Geist des Erzdhlens so grundlich ab wie die unver- 
schdmte Ausdehnung, die in unser aller Existenz das Private [anjge- 
nommen hat (und die ihrem Gehalt an echtem Geheimnis umgekehrt 
proportional ist). Jede intime, egoistische, personliche Diskretion ist 
ein Schlaganfall, der dem Erzdhler ein Stuck seiner Sprachfertigkeit 
raubt (und nicht nur, wie man meinen mochte, ein Thema). Die Zote 
ist eigentlich der Ausdruck davon, mit welchem Mut der Verzweiflung 
Menschen, die immer in ihrer muffigen Privatexistenz eingesperrt 



Anmerkungen zu Seite438— 46$ 1287 

blieben, offentlich werden, so wie der Witz fur uns der Ausdruck 
davon ist, .wie atomistisch die Beruhrung zwischen den Individuen 
geworden ist. 

Der andere Todfeind des Erzdhlens ist das Zeitunglesen. Von Gide 
stammt die vorzugliche Bemerkung, daft wir so arm an bedeutsamen 
Erfahrungen sind, we'd dieselbe Presse, die sichs zur Aufgabe macht, 
uns auffallende und merkwurdige Geschichten aus alter Herren Lan- 
der zuzutragen, so dicht mil armseligen Skribenten, Tintenkulis be- 
setzt ist, daft uns kein Faktum mehr zukommt, ohne mit den hochst 
mittelmdjligen, vorlauten Erklarungen verquickt zu sein, die seine 
jeweilige Welt- und Lebensweisheit dem betreffenden Reporter ein- 
gibt. Es ist schon die halbe Kunst des Erzdhlens, eine Gescbichte in- 
dent man sie wiedergibt von Meinungen freizuhalten. Die epische 
Objektivitdt ist namlich eine vollendete Indifferenz den erklarenden, 
analytischen » Meinungen* gegenuber, nicht aber Neutralitat der 
Gesinnung. Wie durchaus leidenschaftliche Parteinahme mit grofler 
Epik vereinbar ist, zeigt schon Homer in der Thersitesepisode. Kaum 
aber wird man im groften Epos die Erkldrung finden y es sei denn als 
einen fast rhetorischen Ubergang vom Auftern aufs lnnere> das nun 
mit genau der gleichen Hingabe und Indifferenz gegen Meinungen 
vorgestellt wird wie vordem das Aufiere. Solche Indifferenz ist noch 
niemals weiter getrieben worden als bei den antiken Erzahlern, die 
das Geschehen sozusagen drainierten, indem sie alle psycbologische 
Motivation und alle Meinung daraus abfliefien liefien. An der Halb- 
bildung geht das Erzdhlen zugrunde. [s. 444,33-445,12; 446,20-22] 
{Wer sich nie langweilt, kann nicht erzdhlen. Die Langeweile ist ein 
aussterbender Traumvogel. Im Walde illustrierter Blatter mujl er 
verkommen. Und auch in unserm Tun hat er keine Statte mehr. Die 
Tatigkeiten, welche sich geheimnisvoll und innig mit der Langeweile 
verbanden, die Mujle, die dem Menschen die schaffende Hand gab, ist 
ausgestorben. Darum geht es mit der Gabe, Geschichten zu behalten, 
zu Ende: es wird nicht mehr gewoben, gesponnen, gebastelt, ge- 
schabt wdhrend man ihnen lauscht. Denn je selbstvergessner wir 
horen, desto defer prdgt sich uns das Gehbrte ein. Wo der Rhythmus 
der schaffenden Hdnde den Menschen wiegt, da ist er der geborene Ho- 
rer, da dringt am tiefsten in ihn ein was er hort. [s. 446,31-44-/, 7] Im 
Gegensatz dazu wird keiner schlechter behalten als wer schon mit der 
Absicht, sie weiter zu geben, eine Gescbichte anhort. Endlich ist, was 
wir zu horen bekommen, meist zu sehr mit der Eitelkeit des Erzdhlers 
verbunden, so sehr auf die Pointe abgestellt, die im Schlufieffekt den 
Erzdhler beleuchtet, der fruher hochstens im Lichtkreis der Lampe 
saft, wenn seine Stimme nicht gar aus dem Halbdunkel tauchte.} 

Druckvorlage: Benjamin-Ardnv, Ms 658 



1288 Anmerkungen zu Sei te 4 3 8— 4 6 5 

»Dfe grd'jta Diskrepanz [. . ./ Jferw tf//er Taten.< Georg Lukacs: 
Theorie des Romans, Berlin 1920 p 127/138 [14-zeiliges Exzerpt, 
hier ohne die Auslassungszeichen und nur mil Beginn und Ende wie- 

dergegeben; s. 4$4 ) 24-4$$>7l 

Vber die ^Education sentimentale* >Dieser . . . typischste Roman 
/. . ./ einer wirklicben Lebemtotalitat.* Lukacs: Theorie des Ro- 
mans p 1 34! 13s [9-zeiliges Exzerpt, wiedergegeben wie oben; 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 659 

Die Geschichte von Psammetich und ibre Erkldrungen [s. 44$ /./ 

1) Montaigne: Das Fafi kommt durcb den letzten 7 V op fen turn 
Vberlaufen 

2) [Franz J Hessel und ich: Den Konig rUhrt nicht das Schicksal 
des Koniglichen. Denn das ist sein eignes 

3) Asja [Lacis]: Uns rilhrt auf der BUhne vieles, was uns im Le- 
ben nicht ruhrt und dieser Trofiknecht ist nur Schauspieler fiir den 
Konig 

4) Ich: Der Schmerz kommt nie, wo er htngehort; ist em Deckel, 
ein Hut, der niemals paflt 

5) [Wlhelm] Speyer: [Erkldrung fehltj 

6) Stefan [Benjamin]: weil der Soldat tmakr [Wort aus der 
KindersprachefJ war (Erkldrung: tapferer) 

Zur Erkldrung von Montaigne: er erkldrt das genial naturlich 
und unabhdngig. Nach seiner Erkldrung konnte auch der Sohn zu- 
letzt kommen. Er achtet die Pointe fur nichts. 

7) Dora [Benjamin J (eigentlich Andre Gide) [:] es gehort dazu. 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 17 10 

2. Die franzosische Ubersetzung von Der Erzahler 

he Narrateur. Reflexions a propos de Vceuvre de Nicolas Leskov 
erschien am 1.7. 1952 im »Mercure de France«, Nr. 1067, 458-485. 
Druckvorlage war die Durchschrift (s. Benjamin-Ardiiv, Ts 2680- 
2725) eines Typoskripts, das Benjamin nach dem Manuskript Le 
Narrateur. Reflexions a propos de I'ceuvre de Nikolai Lesskow 
(s. Benjamin-Ardiiv, Ms 96-140) hergestellt hatte. Es handelt sich 
bei dem Manuskript urn eine unstreitig von Benjamin selbst angefer- 
tigte - bearbeitende - Ubersetzung, nicht etwa um die Abschrift einer 
Ubersetzung, wie er sie anfertigen zu lassen im Sommer 1936 vor- 
hatte (s. o., 1278); allenfalls um die eigene Bearbeitung einer solchen. 
Wann er sie anfertigte, ist nur zu vermuten. Auf den Ruckseiten 
des Manuskripts finden sich zahlreiche, durchweg abgebrochene und 



Anmerkungen zu Seite 438—465 1289 

an vielen Stellen unkenntlich gemachte Briefentwiirfe, wovon zwei 
maschinenschriftlich sind und das Datum 19. Oktober 1936 tragen 
(s. Ms no und Ms 140). Unterstellt man, Benjamin habe die freien 
RUckseiten des Manuskripts als Konzeptpapier benutzt, dann ergabe 
sich fiir die Niederschrift auf den Vorderseiten ein Entstehungszeit- 
raum zwischen Sommer - etwa Juli, da die deutsche Fassung abge- 
schlossen war (s. o., 1278) - und einer Zeit um den 19. 10. 1936. Daft 
Benjamin - umgekehrt - 45 gleiche Blatter mit abgebrochenen Brief- 
entwiirfen und anderen Notizen bedeckte und deren freie Seiten 
spater - irgendwann zwischen Oktober 1936 und 1939 - zur Nieder- 
schrift des Narrateur benutzte, ist der unwahrscheinlichere Fall. - 
Diese Niederschrift hat Reinschriftcharakter mit wenigen - Benjamin- 
schen - Sofortkorrekturen. Zu diesen hinzu kommen - teils auf dem 
breit gehaltenen Rand, teils im Text - zahlreiche - eindeutig nicht- 
Benjaminsche - Bleistiftkorrekturen iiberwiegend stilistischer Art. 
Wer der Korrektor war, ist unbekannt (dazu s. o., 1280). Diese Kor- 
rekturen sind gut lesbar; sie finden sich - bis auf ganz wenige, unbe- 
riicksichtigt gebliebene Ausnahmen (s. »Lesarten«, 1 310-13 12) - im 
Typoskript wieder, das Benjamin nach dem Korrekturdurchgang - 
oder spater - wohl diktierte und von dem er 1939 Adrienne Monnier 
eine Durchschrift anvertraute. Wie der Vergleich der Durchschrift mit 
dem Abdruck im »Mercure de France« zeigt, wurde in die Druck- 
vorlage nur mit wenigen Korrekturen und Konjekturen eingegrif- 
fen - in eben dem schonenden Ausmafi, von dem Monnier berichtete 
(s. o., 1280). Gleichwohl haben die Herausgeber nicht den »Mercure«- 
Druck sondern die Typoskriptdurchschrift Benjamins zu ihrer Druck- 
vorlage fiir den nachfolgenden Text gewahlt. Sie wollten in diesem 
Falle - in Abweichung von den im Textteil abgedruckten und des- 
halb kritisch durchgesehenen franzosischen Arbeiten - einen franzo- 
sischen Text so, wie Benjamin ihn zu schreiben vermochte, in unretu- 
schierter, obzwar vorkofrigierter Gestalt vorstellen. Daher finden 
sich im Lesartenapparat (s. 13 10-13 12) zu ^ em _ m ^ Zeilenzahlung 
versehenen - Abdruck des Typoskripts auch nur die Varianten des 
Manuskripts verzeichnet; die Varianten des »Mercure«-Drucks erhellt 
der Vergleich mit diesem, der leicht zuganglich ist. Auch auf einen 
eigenen Nachweisapparat glaubten die Herausgeber angesichts der fast 
vollstandigen Parallelitat in der Konstruktion des deutschen und des 
franzosischen Textes und weitgehend auch der Zitation - die im 
Apparat zum Erzabler nachgewiesen wird (s. 1313-1315) - verzichten 
zu diirfen, wie ferner Hinweise auf das, was im franzosischen Text 
fortfiel, hinzukam oder umgestellt wurde, durch die leicht zu gewin- 
nende Synopse mit dem deutschen Text uberfliissig erschienen. 



1290 Anmerkungen zu Seite 438—465 

Le Narrateur 
Reflexions a propos de I'ceuvre de Nicolas Lesskov 

»Vous sentirez comment les peuples enfants 
ont du narrer leurs dogmes et legendes et 
5 faire une histoire de chaque verite morale. * 

/. Michelet: Le Peuple. 

I. 

Le narrateur j quelque familier que nous soit ce nom, est loin de nous 
etre entierement present dans son activite vivante. II est pour notis 

10 deja fort lointain et ne fait que $ 'eloigner encore. Presenter un Less- 
kov 1 comme narrateur, ce n'est pas le rapprocber de nous, mats bien 
plutot augmenter la distance qui nous en separe. Si nous Vobservons 
d'une certaine distance les grands traits simples qui composent le 
narrateur Vemportent. Plus exactement 'tis apparaissent de la facon, 

*5 dont, parfois, se presente dans un roc, des que nous le fixons d'un 
point voulu, la forme d'une tete ou le corps d'une bete, Ce point nous 
est id present par une experience journaliere. Elle nous dit que Vart 
de narrer toucbe a sa fin. II est de plus en plus rare de rencontrer des 
gens capables de raconter quelque chose dans le vrai sens du mot, De 

*> la un embarras general lorsque, au cours d'une soiree, quelqu'un 
suggere qu y on se raconte des histoires. On dirait quune faculte qui 
nous semblait inalienable, la mieux assuree de toutes venait nous faire 
defaut: la faculte d'echanger nos experiences, 
II est aise de concevoir Vune des causes de ce phenomene: le cours de 

is ['experience a baisse. Et il a Pair de prolonger sa chute. Nul jour qui 
ne nous prouve que cette baisse ait atteint un nouveau record, que 
non seulement Vimage du monde exterieur mais celui de monde moral 
ait subi des changements consider es avant comme impossibles. Avec 
la grande guerre un processus devenait manifeste qui, depuis, ne devait 

30 plus s'arreter. Ne $ y est-on pas apercu a I 'armistice que les gens revenai- 
ent muets du front? non pas enrichis mais appauvris en experience 
communicable. Et quoi d'etonnant a celat Jamais experience n y a ete 
aussi foncierement dementie que les experiences strategiques par la 
guerre de position, materielles par l* inflation, morales par les gouver- 

35 nants. Une generation qui avait encore pris le tramway a chevaux 
pour aller a Vecole se trouvait en plein air, dans un paysage ou rien 
n'etait demeure inchange sinon les nuages; et, dans le champ d? action 
de courants mortels et d'explosions deleteres, minuscule, le frele corps 
humain. 

1 Nicolas Lesskov naquit en 1831 dans le gouvernement Oriol et mourut en 189J a 
Sainc-Petersbourg. 



Anmerkungen zu Seite438— 465 1291 

Vexperience transmise oralement est la source ou tous les narrateurs 
ont puise. Et parmi ceux qui ont couche par ecrit des histoires y ceux- 
la sont les grands narrateurs dont le texte s'ecarte le moins des paroles 
des innombrables narrateurs anonymes. II faut du reste distinguer 
parmi ces derniers deux groupes qui ne cessent sans doute de se 4$ 
penetrer Vun Vautre. Le personnage du narrateur ne doit toute sa 
plenitude qu'd cette double origine. »Quiconque a beaucoup vu, peut 
avoir beaucoup retenu« dit le proverbe allemand et se represente le 
narrateur comme quelqu'un qui revient de loin. Mais on prend autant 
de plaisir a ecouter celui, qui gagnant honnetement son pain est reste 50 
au pays et connait ses histoires et ses traditions. C'est ainsi que le 
paysan sedentaire et le marin-negociant representent chacun le type 
archaique des deux groupes. En effet, le milieu de chacun d'eux a 
produit sa propre lignee de narrateurs. II n'en reste pas moins que 
Von ne peut concevoir le domaine de la narration dans toute son jj 
ampleur historique sans une tres intime penetration reciproque de ces 
deux types archaiques. C'est tout particulierement le moyen age qui 
grace au compagnonnage a realise une telle penetration. Le patron 
sedentaire et les compagnons faisant leur tour de France travaillaient 
ensemble dans le meme atelier, et chaque patron avait fait son tour 60 
de France avant quHl ne se soit etabli dans son pays natal ou bien 
dans un autre. S'il est vrai que paysans et marins ont ete les mattres 
juris- de Van de narrer, Vartisanat de son cote en jut la haute ecole. 
En lui le message des pays lointains que rapporte celui qui a beaucoup 
voyage se lie au message du passe qui aime pour confident Vhomme 6$ 
sedentaire. C'est ainsi que se constitue »ce personnage du narrateur 
qui, comme Va si bien dit Jean Cassou, donne le ton du recit et rend 
compte de sa realite, celui aupres de qui le lecteur . . . aime a se 
refugier fraternellement et a retrouver la mesure, Vechelle des senti- 
ments et des faits humains normaux.« 7 o 



Lesskov est a son jtise dans le lointain de Vespace comme du temps. Il 
appartient d Veglise orthodoxe, et c'est un homme qui porte a la 
religion un inter et sincere. Mais il etait un non moins sincere ad- 
versaire de la bureaucratie ecclesiastique. Comme il ne pouvait 
davantage s'accomoder des fonctionnaires laiques, les postes officiels 
quHl a remplis ne lui sont pas restes longtemps. En ce qui concerne sa 
production litteraire, la place de representant d'une grosse maison 
anglaise qu'il occupa longtemps lui fut vraisemblablement entre toutes 



1292 Anmerkungen zu Seite 438-465 

80 de la plus grande utilite. C'est pour cette maison qu'il a parcouru la 
Russie, et ces voyages ont favorise aussi bien son experience des hom- 
mes que sa connaissance de Vetat des choses en Russie. II eut ainsi 
V occasion de connattre les milieux sectaires dans le pays. On en 
trouve la trace dans ses narrations. Les legendes russes ont paru a 

8 j Lesskov, qui ne se cachait pas de ses sympathies sectaires, des allies 
dans la lutte qu'il menait contre la bureaucratie orthodoxe. Nous 
avons de lui une suite de recits legendaires, gravitant tous autour du 
juste qui est rarement un ascete, mais en general un bomme simple, 
sobre et actif qui parait devenir un saint de la faqon la plus naturelle 

90 du monde. Uexaltation mystique, Lesskov ne s'en soucie guere. Bien 
qu 3 il aimat parfois s'attacker au merveilleux, sa preference, meme en 
matiere de piete, ya a un naturel solide et sain. II voit son modele 
dans Vhomme qui se debrouille sur la terre sans trop y engager son 
inter et. 1 1 a fait preuve d'une attitude semblable dans le domaine 

9$ seculier. A us si n'y a~t-il rien d'etonnant dans le fait que Lesskov n'ait 
commence que tard a ecrire, apres ses voyages d'affaires. Le titre du 
premier ecrit qu'il publia est: Pourquoi les livres sont-ils chers a Kiev? 
Toute une serie de brochures sur la classe ouvriere, sur I'ivrognerie, 
sur les medecins d'assistance publique, sur les commercants chomeurs 

100 preparent aux narrations. 



IV. 

La tendance a s'orienter vers la vie pratique parait essentielle chez 
nombre de narrateurs nes. Cette tendance, nous la voyons par exemple 
chez Gotthelf qui donnait a ses pay sans des conseils d'economie rurale, 

105 nous la trouvons chez Nodier qui traite des dangers de I'eclairage au 
gaz, et chez Hebel, qui glisse dans son Ecrin annuel de menus enseigne- 
ments de science naturelle a I 3 usage de ses lecteurs. Tout cela fait 
ressortir ce qu'il en est de toute vraie narration. Elle comporte 
ouvertement ou secretement une utilite. Cette utilite se traduira tantot 

no par un proverbe ou une regie de conduite, tantot par une recom- 
mandation pratiqtte, tantot par une moralite — en tout cas le narrateur 
est de bon conseil pour son public. Mais si etre de bon conseil a 
attjourd'bui une consonance quelque pen desuete, la faute en est a ce 
fait que la faculte de communiquer V experience decroit. C'est pour- 

n j quoi nous ne sommes plus de bon conseil, ni pour nous, ni pour 
autrui. 

Un conseil, en effet, est peut-etre moins reponse a une question que 
suggestion a propos de la continuation d'une histoire (qui est en train 
d'etre developpee). Pour qu'on nous le donne, ce conseil, il faut done 

120 que nous commencions par nous raconter. Et cela sans tenir compte du 



Anmerkungen zu Seite 438—465 i*93 

fait qu'un homme ne profitera d'un conseil qu*en tant qu'il trouvera 
les mots a rendre son cas. Le conseil, tisse dans I'etoffe d'une vie 
vecue devient sagesse. Uart de narrer est en declin parce que ['aspect 
epique de la verite, la sagesse, tend a disparattre. Mais c y est la un 
processus de longue haleine. Rien ne serait plus vain que de ne voir 
en lui qu'un »symptome de decadence « encore moins de » decadence 
moderne«. 1 1 s'agit bien plutot d'un phenomene consistant de forces 
seculaires qui a peu a peu icarte le narrateur du domaine de la parole 
vivante pour le confiner dans la litterature. Ce phenomene nous a en 
meme temps rendu plus sensible a la beaute de genre qui s'en va. 



V. 

Le premier indice d'un processus qui aboutit a la chute de la narration 
est le developpement du roman au debut des temps modernes. Ce qui 
distingue le roman de la narration (et du genre epique au sens 
restreint), c'est ce fait qu'il depend essentiellement du livre. Le roman 
ne peut se propager qu'a partir du moment ou I'imprimerie est in- 
ventee. La tradition orale - heritage du genre epique - est autrement 
constitute que ce qui fait le fonds du roman. Ce qui oppose le roman 
a toute autre forme de prose et avant tout a la narration, c'est qu'il 
ne procede pas de la tradition orale ni ne saurait la rejoindre. 
Ce que le narrateur raconte, il le tient de ['experience, de la sienne 
propre ou d'une experience communiquee. Et a son tour il en fait 
['experience de ceux que ecoutent son histoire. Le romander, par 
contre, s'est confine dans son isolement. Le roman s'est elabore dans 
les profondeurs de I'individu solitaire, qui n'est plus capable de se 
prononcer de facon pertinente sur ce qui lui tient le plus a cceur, qui 
est lui-meme prive de conseil et ne saurait en donner. Ecrire un 
roman, c'est faire ressortir par to us les moyens ce qu'il y a d' incom- 
mensurable dans la vie. Dans I'abondance meme de la vie et par la 
representation de cette abondance, le roman revele la profonde 
aboulie du vivant. La premiere grande oeuvre du genre Don Quichotte, 
nous montre d'emblee comment la grandeur d'dme, I'audace, la 
s'erviabilite de I'homme le plus noble sont entierement denues de bon 
conseil et ne contiennent pas la moindre etincelle de sagesse. 



VI. 

II convient de se representer le chargement des formes epiques comme 
rythme a la facon des transformations que la surface de la terre a 
subies au cours des milliers de siecles. Parmi toutes les formes de com- 
munication entre les hommes il n*y en a guere qui ait ete plus lente- 



1294 Anmerkungen zu Seite 438—465 

jfio ment acquise ni plus lentement perimee. Le roman, dont les origines 
remontent a I'antiquitS, a du attendre plusieurs siecles avant de ren- 
contrer dans la bourgeoisie ascendante les elements qui devaient 
engendrer sa floraison. C'est I'apparition de ces nouveaux elements 
qui a provoque alors la relegation progressive de la narration dans le 

165 domaine de I'archa'ique; si la narration s'est souvent servi de la 
matiere nouvelle, elle n 3 en etait pourtant pas veritablement dSter- 
minSe. - D'autre part nous voyons a I'apogSe de I'ere bourgeoise qui 
a trouve un de ses instruments les plus importants dans la presse un 
nouveau genre de communication se faire jour. Quelque lointaine que 

170 soit son origine, il n'a jamais encore influence la forme epique de 
facon determinanie. Il le fait a present. Et nous nous rendons compte 
qu'il n'est pas moins Stranger, mats bien plus funeste, a la narration 
que le roman auquel il faut du reste subir de son cote une crise. Ce 
nouveau genre de communication est I' information. 

17s Villemessant, fondateur du Figaro a caracterisS la nature de I'infor- 
motion dans une formule celebre. »Mes lecteurs> avait-il coutume de . 
dire, se passionnent davantage pour un incendie au Quartier Latin 
que pour une revolution a Madrid*. Clairement et d'un seul coup 
nous comprenons ainsi que ce n'est plus le message du lointain, mats 

180 V information fournissant a nos preoccupations immediates un point 
de repere, qui trouve le plus grand nombre d'auditeurs. Le message 
du lointain, soit qu'il vienne de pays Strangers ou bien d'une vieille 
tradition, disposait d'une autortsation qui lui donnait cours meme si 
elle demeurait incontrolable. L' information au contraire a la preten- 
ds tion de faire face au controle - ne serait-ce que le plus presse et le 
plus superacid de tous. Sa premiere condition est done d'etre com- 
prehensible en soi. Elle n'est pas plus exacte souvent que ne Va ete le 
message des siecles passes. Mais alors que celui-ci aimait a user du 
merveilleux, il est indispensable a V information de paraltre plausible. 

190 C'est par la qu'elle se revele incompatible d'avec I'esprit meme de la 
narration. Si I'art de conter se fait rare, ['information qui se propage 
a une part decisive a cet Stat de choses. 

Tous les matins nous sommes informes des nouvelles du globe. Et 
pourtant nous sommes pauvres en histoires curieuses. La raison en 

i?j est que nul evenement ne nous atteint que tout impregne dSjd d 'expli- 
cations. En d'autres termes: dans les SvSnements presque rien ne 
profite a la narration, presque tout profile a I' information. Car c'est 
du fait du narrateur ne que de debarrasser une histoire, lorsqu'il la 
raconte, de toute explication. C'est en quoi Lesskov est passe maitre 

200 (qu'on se souvienne de La fraude et L'Aigle Blanc,). V extraordinaire, 
le merveilleux, on le raconte avec la plus grande precision, mais on 
n'impose pas au lecteur I'encbatnement psychologique des evenements. 



Anmerkungen zu Seite 438—465 * 2 9$ 

On le latsse libre d 'interpreter la chose comme U Ventend, et ainsi le 
recit est done d'une amplitude qui fait defaut a ['information. 



VII. , » s 

Lesskov s'est mis a I'ecole des anciens. Le premier narrateur grec fut 
Herodote. Au chapitre 14 du III e livre de ses Histoires il y a un recit 
riche en enseignements. II traite de Psammenit. Lorsque le roi d'Egypte 
Psammenit eut ete battu et fait prisonnier par le roi des Perses 
Cambyse, celui-ci resolut d'humilier le prisonnier. II donna Vordre 210 
de placer Psammenit sur la route par laquelle devait passer le cortege * 
triomphal perse. En outre il s'arrangea pour que le prisonnier vit 
passer sa fille devenue servante, en train de chercher de Veau a la - 
fontaine dans une cruche. Alors que tous les Egyptiens se plaignaient 
et se lamentaient t Psammenit seul demeura muet et impassible, les 21 j 
yeux fixes a terre. Et comme il vit peu apres son fils que I' on emmenait 
au supplice avec le cortege, il ne se departit pas de son impassibilite. 
Mais ensuite lorsqu'il reconnut dans les rangs des prisonniers I'un 
de ses serviteurs, un miserable vieillard, alors il se battut les tempes 
des poings et donna tous les signes de la plus profonde affliction. «o 

Ce recit nous fait voir ce qu'il en est de la veritable narration. L y infor- 
mation n'a de valeur qu'au moment precis ou elle est nulle. Elle n y a 
de vie qu y en ce moment, elle doit se livrer a lui toute entiere. Il n y en 
est pas de mime de la narration: elle ne se livre ni s'epuise jamais 
entierement. Elle conserve ses forces concentrees, et longtemps apres «$ 
sa naissance elle reste capable d 3 eclosion. Ainsi Montaigne est revenu 
sur Vhistoire de roi d'Egpyte et s y est demande: Pourquoi ne se lamente- 
t-il qu'd la vue de son serviteur? Montaigne re pond: 1 1 etait dejd si 
rempli de douleurs qu'il a suffi du moindre surcroit pour rompre 
toutes les digues. Ainsi Montaigne. Mais on pourrait dire egalement: 230 
Le roi ne s'emeut pas du sort de la famille royale, car c'est son propre 
sort. Ou bien: Bien des choses qui ne nous toucbent pas dans la vie 
reelle nous emeuvent sur la scene; ce serviteur n'est pour le roi qu y un 
acteur. Ou encore: Une grande douleur est refoulee et il faut une 
detente pour qu 3 elle eclate. Le vue du serviteur etait la detente. - 23$ 
Herodote ne donne pas d* explication. Son recit est le plus sec de tous. 
C'est pourquoi cette histoire de V antique Egypte est capable encore 
apres des milliers d'annees d'exciter a Vetonnement et a la reflexion. 
Elle fait penser a ces grains de semence, enfermes pendant des milliers 
d'annees a Vabri de Vair dans les caveaux des pyr amides qui ont 240 
conserve jusqu'd ce jour leur pouvoir germinatif. 



1296 Anmerkungen zu Seite 4 3 8—46 5 

VIII. 

Rien ne recommande plus durablement une histoire ci la memoire que 
cette sobrietS qui la soustrait a Vanalyse psychologique. Et plus le 

24; narrateur se trouve amene a renoncer aux nuances psychologiques, 
plus aisSment son histoire s'installe dans la memoire de Vauditeur, plus 
elle s'assimile parfaitement a sa propre experience, plus il aimera, un 
jour, la raconter a son tour. Cette assimilation qui se dSroule au fin 
fond de nous-memes exige en Stat de detente qui se fait de plus en 

250 plus rare. Si le sommeil est tachevement dc la detente cor pot elle, 
I' ennui de son cote est I'achevement de la detente mentale. V ennui est 
Voiseau de reve qui couve Vceuf de ^experience. Le bruissement dans 
les feuilles quotidiennes le chasse. Du meme coup le don de preter 
I'oreille se perd. II se perd parce qu y on n'ecoute plus en tissant et en 

z$s filant. Plus Vauditeur est oublieux de lui-meme, plus ce qu'il entend 
s'imprime profondSment en lui. Lorsque le rythme du travail Va 
investi il prete Voreille aux histoires de telle maniere qu'il est gratifie 
du don de les raconter a son tour. Ainsi est fait le filet ou repose le 
don de narrer. Ainsi, de nos jours, ce filet se denoue de toute part, 

160 apres avoir etc nouS, il y a des milliers d'annees, autour des plus 
vieilles formes de I'artisanat. 

IX. 

La narration telle qu'elle prospere longtemps dans la sphere de 
I'artisanat - artisanat paysan, maritime, puis citadin - est elle- 

16$ meme une forme en quelque sorte artisanale. Elle ne vise pas a trans- 
mettre la chose nue en elle-meme comme un rapport ou une informa- 
tion. Elle assimile la chose a la vie-meme de celui qui la raconte pour 
la puiser de nouveau en lui. Ainsi adhere a la narration la trace du 
narrateur comme au vase en terre cuite la trace de la main du pottier. 

270 Tout vrai narrateur a tendance a commencer son histoire par une 
relation des circonstances dans les quelle s lui-meme a appris ce qui va 
suivre, a moins de la faire passer pour une histoire vecue. 
Cet art art is anal, I' art de narrer, Lesskov Va du reste re garde lui- 
meme comme un metier. »La litter ature, dit-il dans une de ses lettres, 

rj j n'est pas pour moi un art libre mats un metier. * On ne s'etonnera done 
pas qu'il se soit send lie a I'artisanat tandis qu'il restait Stranger a 
la technique industrielle. Tolstoi, qui a certainement compris son 
point de vue, mentionne a Voccasion ce ressort du talent narratif de 
Lesskov, lorsqu'il parle de lui comme du premier »qui a dSnoncS Vin- 

280 suffisance du pr ogres economique . . . 1 1 est Strange que Dostoiewski 
soit tant lu . . . Par contre je ne puis comprendre pourquoi Lesskov 
n'est pas lu. C'est un ecrivain veridique*. Dans son histoire malicieuse 



Anmerkungen zu Seite438— 4^5 ll 97 

et gaie La Puce (TAcier qui tient a la fois de la ligende et de la farce 
Lesskov a glorifii Vartisanat russe en la personne des orfevres de 
Toula. Leur chef d'ceuvre, la puce d'acier, tombe sous les yeux de zs$ 
Pierre le Grand et le convainc que les Russes n'ont pas a rougir devant 
les Anglais. 

La loi spirituelle de cette sphere artisanale dont est issu le narrateur 
n'a sans doute jamais ete dipeinte d'une faqon aussi significative que 
par Paul Valiry. II parte de choses parfaites dans la nature t des perles 290 
fines, des vins profonds et murs, des personnes veritablement accom- 
plies; il reconnait en eux une lente thisaurisation de causes successives 
et semblables, la duree de Vaccroissement de leur excellence n'ayant 
pour limite que la perfection. »Uhomme jadis, poursuit Paul Valery, 
imitait cette patience. Enluminures; ivoires profondiment refouillis; 295 
pierres dures par fakement polies et nettement gravies; laques et 
peintures obtenues par la superposition d'une quantite de couches 
minces et translucides ... - toutes ces productions d'une industrie 
opinidtre et vertueuse ne se font guere plus, et le temps est passe ou le 
temps ne comptait pas. Uhomme d'aujourd'hui ne cultive point ce qui 300 
ne peut point s'abreger.* II a meme reussi d'abreger le conte. Nous 
avons ete temoins de la naissance de la short story. E lie brise le prestige 
du conte, a savoir de rattacher des generations de narrateur entre 



A. 3Cj 

Valery termine ces reflexions par la phrase suivante: »On dirait que 
Vaffaiblissement dans les esprits de Videe d'eternite coincide avec le 
degout croissant des longues taches«. Videe de Veternite a tou jours eu 
sa source la plus puissante dans la mort. Done cette idee s'etiolant il 
s'ensuit que ^experience de la mort elle aussi doit presenter des change- 310 
ments. Cette modification s'avere etre la meme que celle de l* ex- 
perience generate qui a amene le declin de I'art de narrer. 
Si Von suit le cours des siecles derniers on se rend compte a quel point 
Videe de la mort perd dans la conscience collective en omnipresence 
et en force plastique. Ce processus se trouve accelere dans ses dernier es 31 j 
Stapes. Au cours du dix-neuvieme siecle, la societe bourgeois e avec 
ses institutions hygieniques et sociales, qu'elles soient privies ou 
publiques, a rialisi un but accessoire, inconsciemment peut-etre son 
but principal: donner aux gens la possibiliti de dirober les mourants 
a tous les regards. Uacte de mourir, autrefois Vacte le plus public de 320 
la vie individuelle, et un acte fort exemplaire (qu'on se souvienne des 
tableaux du moyen age, oil le lit de mort est devenu un trone vers 
lequel le peuple d travers des portes grand-ouvertes de la maison se 



1298 Anmerkungen zu Seite 438—465 

presse) - facte de mourity au corns des temps modernes, est soustrait 

315 de plus en plus a ['attention des vivants. Jadis il n'y avait pas une 

maison, a peine une chambre oh quelqu'un ne jut deja mort. (Le 

moyen age avait Vintuition spatiale de ce que fait ressortir dans le 

temps cette inscription sur un cadran solaire a Ibiza: Ultima multis 2 J 

Or, il est de fait que non seulement la connaissance et la sagesse de 

330 I'homme mais surtout sa vie vecue - et c 3 est la la matiere dont sont 

faites les histoires - prend une forme dont la tradition peut s'emparer 

avant tout cbez le mourant. De mime que certaines images de sa vie 

se mettent a defiler devant celui qui meurt, de meme se revele soudain 

dans sa mimique et ses regards Vlnoubliable qui atttibue a tout ce qui 

335 le concerne cette autorite dont dispose en regard des vivants en 

mourant meme le plus miserable larron. C'est cette autorite qui est d 

I'origine du recit. 



XL 

La mort est la sanction de tout ce que le narrateur peut raconter. Son 

340 autorite, c'est a la mort qu'il I'emprunte. En d'autres termes: c'est a 
Vhistoire naturelle que renvoient toutes ses histoires. Cela a ete 
exprime de faqon exemplaire dans Pun des plus beaux passages que 
nous tenions de I 3 incomparable J. P. Hebel. II se trouva dans la 
Rencontre inespeVee des Amants 3 qui fait partie de L'Ecrin de 1'Ami 

34j des Families rh^nanes 4 . Ce recit commence par les fiangailles d y un 
jeune ouvrter qui travaille dans les mines de Falun en Suede. La veille 
du mariage au fond de son puits il meurt de la mort de mineur. Sa 
fiancee lui reste fidele par-deld la mort et sa vie va depasser largement 
le terme normal des existences humaines. Lorsqu'elle est toute vieille 

350 deja, un jour du fond du puits abandonne un cadavre est ramene a la 
lumiere. Ce cadavre, impregne de vitriol de fer> a echappe a la decom- 
position, et elle reconnait son fiance. Apres qu'elle Va revu, la mort 
I'appellera a son tour. Or lorsque Hebel au cours du recit s'est trouve 
dans ^obligation de rendre sensible la longue file d y annees qui separe 

3jy son commencement de sa fin il s*en est acquitte par les phrases suivan- 
tes: »Entre temps la ville de Lisbonne fut detruite par un tr emblement 
de terre, et la guerre de sept ans passa et Vempereur Francois I 
mouruty et Vordre des jesuites fut dissous, et la Pologne fut partagee, 
et Vimperatrice Marie Therese mourut, et le docteur Struensee fut 

3^0 execute, et VAmerique se rendit independante 3 et les forces unies de 
France et d'Espagne ne purent s'emparer de Gibraltar. Les Turcs 

% Pour beaucoup (s.c. d'hommes) la derni^re (s.c. minute). 

3 Unverhofftes Wiedersehen. 

4 Schatzkastlein des rheiniscben Hausfreundes. 



Anmerkungen zu Seite 438—465 1299 

enfermerent le general Stein dans la grotte des Veterans en Hongrie, 
et Vempereur Joseph mourut lui aussi. Le roi Gustave de Suede con- 
quit la Finlande russe, et commencerent la revolution francaise et la 
longue guerre, et Vempereur Leopold II descendit aussi a la tombe. &$ 
Napoleon conquit la Prusse et les Anglais bombarderent Copenhague 
et les laboureurs semerent et moissonnerent. Le meunier moulut son 
bliy et les forgerons battirent Venclume, et les mineurs creusaient la 
terre a la recherche de gisements metalliques dans leur chantier souter- 
rain. Or lorsque les mineurs de Falun en Van 1809 . . .«. Jamais narra- 370 
teur n'a plus intimement insere son recit dans Vhistoire naturelle que 
ne Va fait Rebel dans cette chronologic A la lire attentivement, la 
mort y apparait en un retour aussi regulier que Vhomme a la faulx 
dans les processions qui defilent a midi autour du cadran de la cathe- 
drale. 



XII. 



375 



On ne saurait entreprendre Vetude d'une certaine forme epique sans 
s'occuper du rapport entre cette forme et Voeuvre de Vhistorien. Bien 
plus on peut aller jusqu'a se demander s si Vceuvre de Vhistorien ne 
constitue pas le noyau d 3 indifference creatrice parmi toutes les formes 380 
e piques. En pareil cas Vhistoire ecrite serait aux formes epiques ce 
qu'est la lumiere blanche aux couleurs du spectre. Quoi qu'il en soit, 
parmi toutes les formes epiques il n'en est pas une qui soit aussi indubi- 
tablement incorporee au sein de la lumiere pure et incolore de Vhistoire 
ecrite que la chronique.Et sur la large bande decouleur de la chronique 38 j 
s'etagent les differentes facons dont Von peut raconter comme les 
nuances d'une seule et meme couleur. Le chroniqueur n*est pas 
Vhistorien - il est le narrateur de Vhistoire. Que Von se souvienne du 
passage de Hebel qui entre si pleinement dans le cadre des chroniques y 
et Von jugera sans peine de la difference qu'il y a entre celui qui ecrit 390 
Vhistoire y Vhistorien, et celui qui la raconte, le narrateur. Vhistorien 
est tenu d'expliquer d'une facon ou d'une autre les evenements dont il 
traite; il ne saurait en aucun cas se contenter d'en faire montre comme 
d'ecbantillons des destinies terrestres. C'est justement cela que fait le 
chroniqueur; et ses representants classiques, les chroniqueurs du 39J 
moyen age (qui furent les precurseurs des historiens) le font avec une 
insistance toute speciale. Du fait que ces chroniqueurs fondent leur 
histoire sur les desseins divins qui sont insondables y Us se sont debar- 
rasses a priori de la charge d'une explication demontrable. Uexplica- 
tion cede la place a {'interpretation. Cette derniere ne s'occupe nulle- 400 
ment d'enchainer avec precision des evenements determines, elle borne 
sa tache en decrivant comment Us s'inserent dans la trame insondable 
des destins terrestre. 



1300 Anmerkungen zu Seite 438—465 

Que les destinies terrestres soient conditionnees par la grace divine ou 

405 bien par ten ordre nature! , la n'est pas la difference essentielle. Dans le 
narrateur la figure du chroniqueur s'est maintenue, transformee, secu- 
larisee, pour ainsi dire. Lesskov est parmi ceux dont Vceuvre temoigne 
le plus clairement de cet etat de choses. Le chroniqueur avec son inter- 
pretation providentielle > le narrateur avec son interpretation profane 

410 se fondent tous deux dans son ceuvre a tel point qu y a propos de 
certains contes il est difficile de decider, si la trame sur laquelle Us se 
detachent est la trame doree d'une conception religieuse ou la trame 
multicolore d'une conception profane du monde sublunaire. Qu'on se 
souvienne du conte U Alexandrite qui replace le lecteur »en ces temps 

415 recules ou les pierres au sein de la terre et les planetes dans les hauteurs 
du firmament s'occupaient encore de la destinee des hommes et non 
pas en nos jours, ou tant dans les cieux que sous terre tout fait preuve 
d y indifference a Vegard du sort des mortels. De nulle part il ne se fait 
plus entendre de voix qui leur parle, encore moins qui leur obeisse. 

420 Toutes les planetes nouvellement decouvertes ne jouent plus aucun 
role dans les horoscopes, et il y a une foule de nouvelles pierres, toutes 
mesurees et pesees et examinees quant a leurs poids specifique et leur 
densite, mais elles n y ont plus pour nous aucun message ni aucune 
utilitL Le temps oil elles parlaient avec les hommes n'est plus.* 

42; Comme on voit il n y est guere possible de caracteriser de facon univo- 
que le cours des choses tel que Villustre cette histoire de Lesskov. Est-ce 
Vordre divin ou Vordre naturel qui la determine? Ce qui est certain 
c y est que precisement en tant que » cours des choses*, elle est Stranger e 
a toute veritable categorie historique. Vage ou l y homme pouvait se 

430 croire a Vunisson de la nature, dit Lesskov, a pris fin. Schiller appelle 
cet age Vepoque de la poesie naive^Le narrateur lui reste fidele et son 
regard ne quitte pas ce cadran devant lequel s'avance la procession des 
creatures ou la mort se trouve placee tantot comme chef de file, tantot 
comme dernier miserable tratnard. 



43, XIII. 

On s J est rarement rendu compte de ce fait que le rapport naif de 
Vauditeur au narrateur est determine par le desir de se rappeler le 
recti. Le pivot pour Vauditeur non deforme c y est de pouvoir raconter 
de son cote ce qu y il entend. La memoire est le don epique par excel- 
440 lence. Grace a une memoire universelle Vesprit epique osera affronter 
d y un part l y immense mer des choses advenues et d 'autre part leur perte 
irremediable, le pouvoir immense de la mort. Ne nous etonnons done 
pas si pour un homme du peuple tel que Lesskov l y a un jour imagine, 
le tsar, comme souverain de son cosmos, dispose d y une memoire des 



Anmerkungen zu Seite 438—465 1301 

plus vastes. »Notre empereur et toute sa famille, est-il dlt, ont en effet 445 
une memoir e prodigieuse.* 

Mnemosyne, celle qui se souvient, etait consideree chez les Grecs 
comme la muse du genre epique, ce nom doit nous ramener a une 
bifurcation dans V evolution du genre humain. Si, en effet, ce que note 
la memoir e - Vkistoire ecrite - represente Vindifference creatrice par 450 
rapport aux differents genres epiques (de mime que la prose classique 
represente Vindifference creatrice par rapport aux differ entes mesures 
des vers) sa forme la plus ancienne, Vepopee nous off re une sorte ^in- 
difference par rapport aux genres posterieurs, et plus particulierement 
par rapport a la narration et au roman. 455 

La memoire etablit la chatne de la tradition qui transmet le passe de 
generation en generation. Mnemosyne est done la muse du genre 
epique en general. Elle preside au genre epique entier. Autre est Vele- 
ment inspirateur - on voudrait pouvoir dire la muse - du genre 
particulier qu'est la narration. La muse de la narration serah cette 460 
femme infatigable et divine qui nouerait le filet que forment en fin de 
compte toutes les histoires rassemblees. Uune se rattache a V autre ainsi 
que tous les grands narrateurs, et principalement les conteurs 
orientaux, ont aime a le montrer. Dans Vdme de chacun d'eux il y a 
une Scheherazade qui a propos de chaque passage de ses histoires se \6 $ 
souvient d y une autre histoire. C'est Id une memoire epique au sens 
restreint, e'est la Velement inspirateur de la narration. 
II se trouve un element analogue , mats fonder ement different, a la 
base du roman. Et comme pour la narration on peut avancer pour le 
roman que primitivement, e'est-d-dire dans Vepopee, il ne formait 470 
qu'un germe dans Vunite indivise du genre epique. Toujours est-il 
qu y on peut parfois le pressentir dans les epopees. Et il en est ainsi 
avant tout aux passages solennels des poemes homeriques, tels que les 
invocations de la muse. Ce qui s'annonce en ces passages, c 3 est la 
souvenance eternisante du romancier par opposition au souvenir 47* 
passe-temps du narrateur. La premiere s'est vouee au sujet elu — a son 
heros unique, a Vunique odyssee, Vunique iliade — ; Vautre aux faits 
multiples et divers. En d 3 autres termes: c s est la souvenance en tant 
qu'element inspirateur du roman qui vient prendre place a cote du 
souvenir, element inspirateur de la narration apres que Vunite de leur 480 
origine, la memoire, s'est dissociee dans le declin de Vepopee. 

XIV. 

Nul, dit Pascal, ne meurt si pauvre qu'il ne laisse quelque chose. 
Certes, des souvenirs, au moins, mais qui ne trouvent pas toujours 
d'beritiers. Le romancier recueille cette succession, et cela rarement 48; 



1302 Anmerkungen zu Seite 438—465 

sans une profonde melancolie. Car il en est de cette succession comme 
de la vie d'un personnage dont on parte, dans un roman de Bennett, 
dans ces termes: »Elle n y avait joui en rien de la vie reelle«. L'eclaircis- 
sement le plus precieux de cet aspect des choses, nous la devons a 

490 Georg Lukdcs qui a vu dans le roman »la forme du depaysement 
transcendental* . De meme le roman, d'apres Lukacs, se trouve etre la 
seule forme d'art qui integre le temps comme Vun de ses principes 
constitutionals. »Le temps, dit-il dans la Th^orie du roman, ne peut 
devenir constitutif que lorsque Vhomme a cesse de se sentir relie a un 

495 P a y s natal transcendental. Dans le roman seul il y a separation entre 
le sens de la vie et la vie meme et separation, en meme temps, entre 
Vessentiel et le temporeL On pourrait meme alter jusqu'd pretendre 
que Paction interieure du roman n'est toute entiere rien qu'une lutte 
contre la puissance du temps . . . Et c'est par la . . . que se degagent 

joo les experiences d'un temps vecu dans un sens foncierement epique: 
Vespoir et la memoire . . . Le roman seul . . . connatt cette memoire 
creatrice qui tout en atteignant le fond de son objet le transfigure . . . 
Son heros, enfin, parvient d fondre en un la vie de fame et le monde 
exterieur en saisissant V ensemble de sa vie comme un reflet dans le 

JO j courant de ses journees passees . , . Vintuition que embrasse ce reflet 
. . . n y est autre qu y une comprehension divinatoire du sens d'une vie 
qui, autrement, serait hors de portee et indicible*. 
Le »sens d'une vie« est en effet Vaxe autour duquel pivote le roman. 
Le fait qu y on s'enquiert de ce sens n 3 est autre chose que ^expression la 

sio plus large de Vembarras profond du lecteur qui se trouve place au sein 
meme de cette vie ecrite. D'un cote le »sens d'une vie«, de Vautre la 
^morale d'une histoire* - c'est sous ces formes que roman et narration 
se posent Vun en face de Vautre. Autant Don Quichotte est le premier 
modele parfait du roman, autant L'Education sentimentale peut etre 

J15 consideree comme le dernier. Dans les phrases qui terminent ce roman 
le sens que prenait la vie au debut du declin de la bourgeoisie s'est 
tasse comme la lie de vin au fond d'une coupe. Amis de jeunesse, 
Frederic et Deslauriers se souviennent de leur jeunesse. Il leur revient 
une petite histoire; its se souviennent le pur ou pleins de gene et 

520 clandestinement Us se presentment a la maison de tolerance de leur 
ville natale, n'y faisant rien d'autre que d'offrir a la patronne un 
bouquet de fleurs qu'ils avaient cueillies dans leur jardin. »On les vit 
sortir. Cela fit une histoire quin'etait pas oubliee trois ans apres. lis 
se la conterent prolixement, chacun completant les souvenirs de Vautre, 

jij et, quand Us eurent fini: >C'est Id ce que nous avons eu de meilleurU 
dit Frederic. - >Oui, peut-etre bienl c'est Id ce que nous avons eu de 
meilleur!< dit Deslauriers. « Pareil savoir impose au roman son terme, 
terme qui lui est impose de faqon bien plus strictement qu'd aucun 



Anmerkungen zu Seite 438—465 1303 

reck. II n y y a pas, en effet, de narration ou la question »Que se passa- 
t-il ensuite?« perde ses droits, Le roman, au contraire, ne peut pas 530 
esperer de faire le moindre pas au deld de cette frontiere ou il invite 
le lecteur a reflecbir au sens d'une vie en ecrivant un Finis au has de la 
page. 

XV. 

Quiconque ecoute une histoire se trouve en compagnie de celui qui la 53$ 
raconte; meme celui qui la lit participe a cette compagnie. Le lecteur 
d'un roman } par contre, est solitaire. II Vest plus que tout autre lecteur. 
(Car meme celui qui lit une poesie est enclin a preter sa voix aux mots 
en vue d'un auditeur virtuel.) Et dans cette solitude qui lui est propre 
le lecteur du roman s'empare de sa matiere plus jalousement que tout j. 4 ° 
autre. II est pret a se Vapproprier toute entiere et, en quelque sorte, 
a la devorer. II s'assimile, en la devorant, cette matiere comme le feu 
devore les buches dans la cheminee. La tension qui traverse le roman 
ressemble etrangement au tirage qui avive la flamme dans la cheminee 
et avive son jeu. mj 

C'est d'une matiere dessechee que se nourrit de preference Vinteret 
brulant que porte le lecteur au roman. Qu'est-ce a dire? — »Un bomme 
qui meurt a trente-cinq ans, a-t-on ecrit, est a cbaque instant de sa vie 
un bomme qui meurt a trente-cinq ans.« Si rien n'a moins de sens que 
ce propos, cela dent uniquement a une erreur qu'a fait Vauteur dans le J50 
temps du verbe. Un bomme qui est mort a trente-cinq an$, devait-il dire 
pour degager la verite cachee dont il s'agit, paraitra a la souvenance 
a cbaque instant de sa vie revolue un bomme qui devait mourir a 
Page de trente-cinq ans. En d'autres termes: la proposition qui n y a pas 
de sens pour la vie reelle, devient irrefutable pour la vie rememoree. $$$ 
Rien ne saurait mieux qu'elle faire ressortir I'essentiel du personnage 
de roman. Sa vie, nous est-il dit par ce propos, ne degage son sens que 
du fait et des circonstances de sa mort. Or le lecteur de roman ne 
cbercbe-t-il pas des personnages a travers lesquels il captera le »sens 
de la vie«f 1 1 doit done s* assurer d'une facon ou d'une autre qu'il lui j6o 
sera donne d'assister a leur mort. A la rigueur a leur mort virtuelle - 
la fin du roman. Mais de preference a leur mort reelle. Comment le heros 
fait-il deviner aux lecteur s et le terme auquel il est voue et ce qui va 
determiner cette fin? Voild la puissante inquietude attisant la flamme 
qui, dans le lecteur, consume le roman. 5<Sj 

Ce qui importe n'est done nullement un enseignement quelconque que 
la vie du beros nous prodiguerait. C 3 est bien plutot sa destinee eile- 
meme qui, par la flamme qui la devore, communique au lecteur une 
cbaleur que jamais il ne saurait tirer de sa propre vie. Cette propre vie 



1304 Anmerkungen zu Seite 438—465 

570 qui a jroidy il la rechauffe aupres d'une mort que lui offre le roman- 
cier. 



XVI. 

»Le$skov i ecrit Gorki, est Vecrivain le plus profondement enracine 
dans le peuple . . . et le plus pur de toute influence etr anger e.« Le 

S7S grand narrateur aura toujours ses racines dans le peuple et tout 
d'abord dans les classes artisanales. Mais de meme que celles-ci 
embrassent dans les multiples degres de leur developpement economi- 
que et technique les elements paysan, maritime et citadin, de meme les 
concepts dans lesquels se cristallise pour nous la somme de leurs 

580 experiences, sont multipliment gradues. (Sans meme parler de la part 
considerable qu'ont les commergants a I'art de narrer, Us etaient non 
seulement appeles a augmenter par leurs recks de terres lointaines y le 
contenu instructif des contes mais aussi a raffiner les ruses propres a 
retenir ^attention d y un auditeur. Ne voyons-nous pas en effet chez les 

j8j conteurs arabes Vauditeur devenir client d'un narrateur?) Bref, sans 
prejudice du role elementaire que joue la narration dans Veconomie 
domestique de Vhumanite, les concepts aptes a distiller la seve de ces 
narrations sont d y une extreme diversite. Ce qui chez Lesskov se 
comprend le plus aisement dans un sens religieux semble se ranger tout 

590 seul chez Rebel dans les perspectives pedagogiques du si^cle des lu- 
mi£res, apparait chez Poe comme une tradition hermetique, trouve un 
dernier refuge chez Kipling dans le champ abaction des marins et des 
coloniaux britanniques. En meme temps tous les grands narrateurs ont 
en commun Valsance avec laquelle Us montent et descendent les 

59$ echelons de leur experience. Et c'est encore Vimage de ^experience, 
pour ainsi dire, collective de la narration qu'une echelle dont la base 
se perd dans les profondeurs, tandis que le sommet se perd dans les 
nuages. Experience collective, pour laquelle le choc le plus violent de 
toute experience individuelle ne represente pas meme un heurt ou une 

600 barriere. 

»Et s'ils ne sont pas morts, Us sont encore en vie«,dit le conte.Le conte 
qui est encore auqourd'hui le premier conseiller des enfants, parce 
qu'il a ete autrefois le premier conseiller des hommes, se perpetue 
secretement dans la narration. Le premier narrateur est et sera toujours 

60s le narrateur de contes. Le conte portait conseil la ou rien ne fut plus 
difficile qu'en trouver. La ou se ressentait la plus poignante detresse, 
Vaide du conte ne se fit pas attendre. Cette detresse etait la detresse du 
mythe. Le conte nous renseigne sur les premieres tentatives de Vhuma- 
nite pour se delivrer du chauchemar dont le mythe avail opprime sa 

tfio poitrine. Le personnage de Vingenu nous y montre comment Vhuma- 



Anmerkungen zu Seite 438—465 1305 

nitS »fait la bite« envers le my the; le personnage du frere cadet 
nous y montre comment ses chances croissent a mesure qu'elle s'eloigne 
de Vepoque mythique; le personnage de celui qui partit pour con- 
naitre la peur nous y montre que Von peut voir clair a travers les 
objets de notre crainte; le personnage du rSflechl nous y montre que 61 j 
les questions que pose le my the sont ineptes comme Vest la question 
du sphinx; les animaux qui viennent en aide a Venfant du conte nous 
y montrent que la nature ne se vent pas seulement like envers le 
mythe,mais qu'elle prefere de beaucoup se grouper autourde Vkomme. 
Le charme libSrateur dont dispose le conte y ne fait pas entrer la 610 
nature en action de facon mythique, mais la dSsigne comme complice 
de Vhomme libere. Cette complicitS Vhomme mur ne Veprouve que 
par moments en fait lorsqu'il est heureux, mais Venfant la rencontre 
tout d'abord dans les contes et en fait son bonheur. 

XVII. 6i S 

Peu de narrateurs paraissent aussi profondement imprSgnSs de Vesprit 
des contes que Lesskov. En fidele de Veglise orthodoxe il aimait inter- 
preter certaines de ses croyances a sa facon ou plutot a la facon de 
paysan de Russie. Ainsi la resurrection lui est-elle apparue moins 
comme une transfiguration que (dans un sens tres apparente au conte) 630 
comme un desensorcellement! Et surtout ceux qui menent chez Less- 
kov, le cortege des creatures: les justes ne cachent pas leur parente avec 
le conte. Pawlin, Figura, V artiste coiffeur, le gardien d y ours> la 
sentinelle serviable - tous ceux qui personmfient la sagesse, la bonte, 
la consolation du monde se pressent autour du narrateur. Incontestab- 63 j 
lement Us sont impregnes de Vimage de sa mere. Lesskov la decrit 
ainsi: »Elle etait d*une bonte d'ame telle qu'il lui etait impossible de 
faire de la peine ni aux hommes ni mime aux betes. Elle ne mange ait 
ni viande ni poisson y tant elle avait pitie des creatures vivantes. Mon 
pere avait coutume de lui en faire parfois le reproche . . . Mais elle 64a 
repondait: >]'ai Sieve ces petits animaux moi-meme, je les tiens pour 
mes propres enfants. Je ne peux pourtant pas manger mes propres 
enfantsU Mime chez les voisins elle ne touchait pas a la viande. >J'ai 
vu ces animaux vivants, disait-elle, ce sont mes amis. Je ne peux 
pourtant pas manger mes amist<« 64$ 

Le juste est a la fois Vavocat de la creature et son supreme represen- 
tant. II possede chez Lesskov un trait maternel qui s'eleve parfois jus- 
quau mythique (mettant ainsi y il est vrai, en danger la purete du conte). 
La narration Koton le nourricier et Platonida est assez caracteristique 
a ce sujet. Son heros y le paysan Pisonski, est bisexuel. Pendant douze 6$o 
ans sa mere Va Sieve comme une fille. En mime temps que son cote male 



1306 Anmerkungen zu Seite 438—465 

murit son cote feminin, et sa bisexualite devient le symbole de Vhom- 

me-dieu. 

A ce degri Lesskov croit voir atteinte I 'apogee de la creature et comme 

6s 5 un pont entre le monde terrestre et supraterrestre. Car ces hommes 
dont la puissance vient de la terre, ces hommes maternels, qui ne 
cessent de solliciter I' art narrateur de Lesskov, ont ete soustraits a 
Vesclavage de Vinstinct sexuel dans le plein epanouissement de leurs 
forces. Mais Us ne personnifient pas par la un ideal proprement asceti- 

660 que, au contraire, la temperance de ces justes a un caractere si peu 
privatif qu'elle devient dans Vordre passionnel mime comme le pole 
oppose de la fureur sexuelle que Lesskov a si admirablement peinte 
dans Lady Macbeth de Minsk. La distance d'un Pawlin a cette femme 
de commergant permet de juger de I'etendue du monde des creatures 

66s <hez Lesskov. Lesskov n'en a pas moins, dans la hier archie des crea- 
tures, sonde leurs profondeurs. 

XVIII. 

La hierarchie des creatures qui atteint dans la personne du juste sa plus 
haute elevation descend par multiples degres dans les profondeurs de 

670 Vinanime. En cela il faut tenir compte d'une cir Constance particuliere. 
Tout ce monde des creatures ne s'exprime pas aussi hien par la voix 
humaine que par ce que Von pourrait appeler selon le titre d'une de 
ses narrations les plus significatives La Voix de la nature. Cette narra- 
tion traite du petit fonctionnaire Filipp Filippowitch qui s'efforce 

67$ par tous les moyens d'obtenir de loger chez lui un marechal de passage 
dans sa petite ville. II y reussit. Le marechal qui s'etonne tout d'abord 
de ['invitation empressee du fonctionnaire finit par croire qu'il recon- 
nait en lui quelqu'un qu'il a du rencontrer autrefois. Mais qui? il 
n'arrive pas a s'en souvenir. Et ce qui est Strange, c'est que le mattre 

€%q de la maison refuse de son cote de se faire connaltre. Il fait bien 
plutot prendre patience a son hote d'un jour a I'autre en lui assurant 
que »la voix de la nature « ne manquerait pas de lui parler un jour 
clairement. Il en va ainsi jusqu'au jour ou Vhote, peu avant de pour- 
suivre son voyage, doit accorder au mattre de la maison la permis- 

6Zs sionque celui-ci a publiquement demandee au coursd'un diner, de faire 
retentir »la voix de la nature*. La-dessus la maitresse de la maison 
s 3 eloigne. Elle »revient avec un grand cor de chasse, en cuivre poli et 
luisant, et le donne a son man. Il prit le cor, le porta aux levres et 
fut du mime coup comme transfigure. A peine eut-il gonfle les joues 

690 et eut-il tire de ^instrument un son formidable comme le roulement du 
tonnerre, que le marechal s'ecria: >(^a y est, j'y suis, frere, je te re con- 
nais tout de suite a cela! Tu es le musicien du regiment de chasseurs, 



Anmerkungen zu Seite 438—465 1307 

que j 3 ai envoy e en raison de sa conduite honorable surveiller un fripon 
de fonctionnaire d 3 intendance.< - >C'est cela, votre Altesse,< repondk 
le mattre de la maison. >]e n'ai pas voulu vous le rappeller moi- 69$ 
mime s j'ai pre fere laisser purler la voix de la nature. <« La facon dont 
le sens profond de cette histoire se cache derriere sa niaiserie, nous 
donne une idee de Vhumour magnifique de Lesskov. 
Cet humour se confirme dans la meme histoire de facon encore plus 
voilee. Nous avons vu que le petit fonctionnaire avait ete delegue »en 700 
raison de sa conduite honorable surveiller un fripon de fonctionnaire 
d'intendance*. C'est ce que nous apprenons a la fin, dans la scene de 
reconnaissance. Mais des le debut de Vhistoire on nous dit ceci sur le 
compte du maitre de la maison: »Les habitants de Vendroit le connais- 
saient tous et savaient qu'il n'occupait pas un rang Sieve, car il rfetait 7 oj 
ni fonctionnaire de Vetat, ni militaire, mais un petit surveillant au 
bureau de ravitaillement, ou il rongeait en compagnie des rats les 
biscottes et les bottes publiques et avait a la longue acquis - tout en 
rongeant - un joli chalet*. On voit comme la sympathie traditionelle 
que le narrate ur porte aux mauvais sujets ne perd pas ses droits 710 
dans cette histoire. Elle ne se dement pas meme au sommet de I'art. 
Hebel n'eut pas de types plus cheris que ses fripons et larrons du 
Badois. Et pourtant le personnage principal sur le theatrum mundi est, 
pour Hebel lui aussi, le juste. Mais comme nul n'est a sa hauteur, il 
passe de Vun a V autre. Tantot c*est le larron, tantot le colporteur juif, 715 
tantot I'imbecile qui sur git pour jouer ce role. Ce n'est qu'un stage 
qui ne va pas au-deld d'une heureuse improvisation morale. Hebel est 
casuiste. Il ne jure sur aucun principe quel qu'il soit, mais n'en refuse 
aucun, car tous peuvent un jour servir d'instrument au juste. Lesskov 
confesse une attitude pareille. »Je me rends compte, ecrit-il dans 720 
I 3 histoire A propos de la Son ate a Kreutzer, qu 3 a la base de mes re- 
flexions il y a plutot une conception pratique de la vie qu'une philoso- 
phic abstracte ou une morale elevee, n'empeche que je tiens a penser 
comme je le fais.« 1 1 est vrai, d'ailleurs, que les catastrophes morales 
qui se produisent dans son monde sont aux incidents moraux de Hebel 715 
ce que le grand cours silencieux de laWolga est au bavardage precipite 
du petit ruisseau qui fait tourner la roue du moulin. Parmi les narra- 
tions historiques de Lesskov il y en a plus d 3 une ou les passions font 
rage a Vinstar de la colere foudroyante d'Achille ou de la haine funeste 
de Hagen.Le monde, chez Lesskov, parfois % s* assombrit et avec majeste 730 
le mal y leve son sceptre. Les creatures de ses Contes du vieux temps 
vont jusqu 3 au bout de leur passion terrible. Et ce but, precisement, 
les mystiques ont aime a le considerer comme le point ou la perversion 
consommee se change brusquement en son contraire pour devenir 
saintete. 71s 



1308 Anmerkungen zu Seite 438—465 

XIX. 

Plus Lesskov se pencbe sur les ordres inferieurs des creatures, plus sa 
conception du monde se rapprocbe ouvertement de celle des mystiques. 
II y a du reste bien des raisons de croire que le trait qui se dessine ici 

740 appartient a la nature meme du narrateur. Rares il est vrai sont ceux 
qui se sont aventures dans les profondeurs de la nature inanimee, et 
rares les pages de narration moderne ou la voix du narrateur anonyme, 
anterieure a toute parole ecrite, rend un son aussi clair que dans 
Vhistoire de Lesskov L' Alexandrite. Elle traite d'une pierre precieuse, 

74; le pyrope. La couche minerale est la plus basse parmi celles de la 
creature. Mais pour le narrateur elle se rattache immediatement a la 
couche superieure. II a le don de capter dans cette pierre fine, le 
pyrope, une prophetie de la nature petrifiee, inanimee, au sujet du 
monde historique ou lui-meme vit. Ce monde est le monde d'Alexan- 

750 dre II. Le narrateur - ou plutot I'homme auquel il attribue sa propre 
divination - est un tailleur de pierres, du nom de Wenzel, qui a atteint 
dans son metier a la plus haute perfection imaginable. On peut I'asso- 
cier aux orfevres deToula et pretendre que - dans V esprit de Lesskov - 
V artisan par fait se trouve le seul a etre dans le secret du monde des 

7J5 creatures. II est une incarnation du juste. Or void ce qu 3 on nous dit 
de ce tailleur de pierres: »Il me serra soudain la main a laquelle je 
portals I 3 Alexandrite qui, comme on sait, jette une lueur rouge a la 
lumiere artificielle, et s 3 ecria: >. . . Regardez, la void, la pierre prophe- 
tique de la Russie . . J Ah, malicieuse pierre siberienne! Tu as toujours 

j6o ete verte comme Vesperance, et le soir seulement tu te couvres de 
sang. Tu as ete ainsi depuis I'origine du monde, mats tu t'es longtemps 
cachee au sein de la terre et tu n 3 as pas permis qu'on te decouvre 
avant le jour de la majorite du tsar Alexandre, quand un puissant 
sorcier vint en Siberie pour te trouver, toi, la pierre, un mage . . .< 

76$ >Qu'est-ce que vous racontez la, interrompis-je, ce n'est pas un sorcier 
qui a decouvert cette pierre, c'est un savant du nom deNordenskjold!< 
>Un sorcier, je vous Vaffirme, un sorcier!< s*ecria Wenzel a pleine voix. 
>Regardez-la done cette pierre. Il y a en elle une aube verte et un 
crepuscule sanglant . . . C'est Id la destinee, la destinee du noble tsar 

770 Alexandre! < A ces mots le vieux Wenzel se retourna vers le mur, 
appuya sa the sur ses coudes et . . . se mit a sangloter.* 
On ne saurait saisir plus directement la portee de cette importante 
narration qu'a I 3 aide de quelques mots ecrits par Paul Valery a propos 
d 3 un sujet fort different. 

77 j »U observation de I 3 artiste peut atteindre une profondeur pre s que 
mystique. Les objets eclair es per dent leurs noms: ombres et clartes 
forment des syst ernes et des problemes tout particuliers, qui ne relevent 



Anmerkungen zu Seite438— 465 1309 

d'aucune science, qui ne se rapportent a aucune pratique, mais qui 
regoivent toute leur existence et leur valeur de certains accords singu- 
liers entre Vdme, Vceil et la main de quelqu'un, ne pour les surprendre 780 
en soi-meme et se les produire.« 

Ces mots etablissent un rapport etroit entre Vdme, l y ceil et la main. 
Rapport de collaboration qui determine toute activite artisanale. 
Quant a nous, nous n'y sommes plus guere accoutumes. Le role de la 
main dans la production est deventt plus restreint et la place qu'elle 78$ 
occupait dans la narration est delaissee. (Car la narration n'est nulle- 
ment, par son cote sensible, le produit de la seule voix. Dans toute 
vraie narration la main dent une place, elle qui soutient de mille 
f aeons ce que Von enonce de ses gestes experts en travail.) Cette ancien- 
ne coordination de Vdme, de Vceil et de la main est d y origine artisanale, 790 
et nous la rencontrons partout ou I'art de narrer est dans son domaine. 
On peut meme alter jusqu'd se demander si le rapport qui existe entre 
la narration et son objet, ['experience humaine, n'est pas lui-meme un 
rapport artisanalf Si sa tdche n'est pas precisement d'elaborer de facon 
solide et utile la matiere premiere de Vexperience - la sienne propre et 79s 
celle d'autrui? Or e'est la une elaboration dont le proverbe nous donne 
peut-etre le plus aisement une idee, si on le considere comme Video- 
gramme d'une narration. Les proverbes sont pour ainsi dire des ruines 
qui s'elevent sur le lieu qu'occupaient autrefois des bistoires et parmi 
lesquelles, comme le lierre autour d'une muraille, une morale grimpe 800 
autour d'un geste. 

Vu sous cet angle le narrateur se range parmi les sages et les maitres. 
II est de bon conseil - non pas comme le proverbe: pour quelques cas, 
mais comme le sage: pour tous les cas. Car il est en son pouvoir de 
s'appuyer sur toute une vie. (Et cette vie ne contient pas seulement sa 805 
propre experience, mais aussi une bonne part de Vexperience d'autrui. 
Le narrateur assimile a sa connaissance la plus intime ce qu'il a appris 
par oui-dire.) Son talent, e'est de pouvoir narrer sa vie, sa haute fonc- 
tion de la pouvoir narrer d'un bout a Vautre. Le narrateur, e'est 
Vhomme qui pourrait laisser la meche de sa vie se consumer toute J 10 
entiere a la douce flamme de sa narration. De la vient ce halo in- 
comparable qui chez Lesskov comme chez Hauff, chez Poe comme chez 
Stevenson entoure le narrateur. Si Von se tait, ce n'est pas seulement 
pour Ventendre, mais aussi un peu parce qu'il est Id. Le narrateur est 
Vimage en laquelle le juste se retrouve lui-meme. 815 

Druckvorlage : Benjamin-Archiv, Ts 2680-2725 



1310 Anmerkungen zu Seite 438—465 

lesarten 2* Nicolas Lesskov] diese ab dem Untertkel^ intendierte Trans- 
literation wird bereits ab ///. nicht mehr durchgehalten; von da an bis zum 
Ende findet sich durchgangig Lesskow; die Hg. haben stillschweigend kor- 
rigiert in Lesskov. - In M durchgangig Nikolai Lesskow - 4 narrer] in M 
unterstrichen - 5 histoire] in M unterstrichen - 7 /.] / M (die Abschnitts- 
zahlen bleiben in M durchweg oline Punkt; sie werden im folgenden nicht 
einzeln mehr ausgewiesen) - iof. Lesskov 1 ] Lesskow + ) M (die Fufinoten 
sind in T .durchgezahlt und haben in M jeweils wieder ein Kreuzchen mit 
Klammer; im folgenden im einzelnen nicht mehr ausgewiesen) - Fufinote 1 
Oriol] Orjol M - 30 s'est-on] Fremdkorrektur mit Blei in M (im folgenden 
abgekiirzt »F/M«) aus s'etati-on - 30 f. revenaient] T, M; in M unberiick- 
sichtigt gebliebene Fremdkorrektur sont revenus - 32 n'a] F/M aus a - 36 
se] se ne M - 37 demeure] F/M (Hinzufiigung) - 37 nuages; et,] F/M aus 
nuages et au dessous d'eaux - 43 narrateurs] F/M (Hinzufiigung) - 46 Le 
personnage] T, M; in M unberiicksichtigt gebliebene Fremdkorrektur La 
figure - 46 f. ne bis origine.] F/M aus ne devient veritablement plastique 
qua celui qui se les represente tons les deux. - 48 allemand] F/M (Hinzu- 
fiigung) - 49 revieni] F/M aus vient - 51-53 C'est bis groupes.] F/M aus 
Si Von cherche a se representer ces deux groupes dans leur type arcka'ique> 
Von voit Vun prendre corps en le laboureur sedentaire, Vautre en le marin 
commercant. - 56 de ces] F/M aus des - 60 atelier,] atelier; M - 61 etabli] 
etabli, M - 6$ f. Vhotnme sedentaire] F/M aus le sedentaire - yy remplis] 
remplis, M - 78 representant] F/M aus representant pour la Russie - 96 
ecrire, apres] F/M aus ecrire. C'etait a Vdge de vingt-neuf ans seulement, 
apres - 97 Kiev] Kiew M - 98 brochures] F/M aus cahiers - 100 pre pa- 
rent aux] F/M aus sont les precurseurs des - 102 vie] F/M (Hinzufiigung) - 
104 rurale,] rurale; M - 106 gaz, et chez] F/M aus gaz; et - 107 lecteurs.] 
F/M aus lecteurs, reste dans la ligne. - 108 comporte] comporte, M - 109 
sscretement] secretement, M - 109 se traduira] F/M aus consistera - no 
und in par] F/M aus en - 120 nous raconter] F/M (Hervorhebung) - 
120 Et] (Et M; Schluftklammer fehlt, zu setzen wohl hinter 122 cas., analog 
442,20 - 121 f. ne profitera bis rendre] F/M aus n'est apte a profiler d'un 
conseil en tant qu'il trouvera les mots qui rendent - 122 mots] T, M; in M 
unberiicksichtigt gebliebene Fremdkorrektur mots propres -116 decadence^] 
decadence*, M - 128 le narrateur] F/M aus la narration - 129 vivante bis 
litter at ure.] F/M aus vivante. - 139 prose bis narration,] F/M aus prose, - 
140 procede bis rejoindre.] F/M aus procede de, ne profite a la tradition 
or ale. Mais avant tous cela V oppose a la narration. - 141 experience,] ex- 
perience; M - 144 f. s'est bis profondeurs] F/M aus a vu le jour dans la 
profondeur - 145 solitaire,] solitaire M - 151 genre] genre, M - 159 les] 



* Die halbfett gedruckten Ziffern beziehen sich auf die durdigezahlten Zeilen des 
vorstehenden Abdrucks. 



Anmerkungen zu Seke438— 46$ 1311 

F/M (Hinzufiigung) - 171 // bis present.] F/M aus Mais d present elle la 
fait. - 180 information] information* M - 183 autorisation] autorite M - 
186 f. comprehensible en soi] incomprehensible en soi* M - 198 narrateur 
ne] narrateur-ne M - 199 C'est en quoi] F/M aus Sur ce point - 214 f. 
plaignaient et se lamentaient] F/M aus plaignerent et se lamenterent a ce 
spectacle - 223 moment,] konjiziert nach M fur moment - 224 narration:] 
narration; M - 237 ^antique] F/M aus la vieille - 241 germinatif] F/M 
aus de germer - 267 vie-meme] vie meme M - 271 f. va suivre] F/M aus 
suit - 283 d la fois de la] F/M aus la balance entre la - 283 de la farce] 
F/M aus la farce - 285 puce d'acier,] konj. nach M fur Puce d'acier - 312 
narrer.] danach in M grofies Spatium, darin Verbindungszeichen mit der 
Anweisung keinen freien Raum lassen: nur einen gewohnlichen Absatz! von 
Benjamins Hand - 319 f. derober bis regards.] F/M aus se derober a la vue 
des mourants. - 324 soustrait] F/M aus ecarte — 325 a] F/M aus de — 
334 qui attribue] F/M aus et attribue - 335 dont dispose] F/M aus de la- 
quelle dispose, - 335 vivants] F/M aus vivants autour de lui, - 342 Yuri] 
F/M aus un - 347 il bis mineur.] F/M aus la mort du mineur Vatteint. - 
350 jour] jour, M - 387 riest pas] F/M aus est, non pas - 436 fait] fait, 
M - 444 tsar] tzar M (diese noch weiteremale in M vorkommende Trans- 
literation wird im einzelnen nicht mehr ausgewiesen) - 448 epique,] epi- 
que; M — 453 epopee] epopee, M - 474 invocations de] F/M aus evoca- 
tions d - 475 f. souvenir passe-temps] souvenir-passe-temps M - 481 
s'est] F/M aus se soit - 484 moins,] moins; M - 492 integre] F/M aus 
recueille - 573 Gorki] konj. fur Goethe (sic); Gorki M - 574 pur] F/M 
aus completement pur - 584 pas en effet] pas, en effet, M - 595 expe- 
rience. Et c'est] F/M aus experience. - C'est - 597 profondeurs, bis dans] 
F/M aus profondeurs de la terre tandis quand haut elle se confond avec - 
622 complicite] complicite, M - 623 heureux,] heureux; M - 631 desen- 
sorcellementf] desensorcellement. M - 631 menent] menent, M - 636 ima- 
ge] imago M - 641 pour] F/M aus comme - 654 A ce degre] F/M aus En 
ce point - 659 f. ascetique] F/M aus ascete - 66$ Minsk] konj. fiir 
Mench; Mencz M - 665 la] F/M aus /' - 672 appeler selon] F/M aus 
designer par (die Fremdkorrektur lautet vollstandig appeler; selon) - 676 
he marechal] F/M aus Vhote - 6y$ souvenir] F/M aus rappeler - 681 
autre] autre, M - 714 sa] F/M aus son - 718 principe] principe, M - 
723 abstracte] abstraite M - 743 rend un son aussi] F/M aus donne un son 
si - 747 superieure] supreme M - 753 Toula] Tula M - 759 malicieuse 
pierre siberienne] F/M aus malicieux Siberien - 762 f. pas his avant] F/M 
aus qu'on ne te trouve que - 768 done] done, M - 773 ecrits par Paul 
Valery] F/M aus que Paul Valery a ecrit - 802 angle] angle, M - 804 
tous le cas] F/M aus tout cas donne - 804 son pouvoir] F/M aus sa 
puissance - 808 f. haute fonction] haute- f one tion, M - 811 ce] F/M aus 
cet - 815 en] F/M aus dans - 815 lui-meme.] auf der Ruckseite (des letzten 



1312 Anmerkungen zu Seite 438—465 

Blattes von M) u. a. die Aufzeidinung Zu XVI oder XVII '[:] [/] Fortfall 
des Todes [/] die Gastfreundscbafi [/] ephemere Natur der epischen Formen 

UBERLIEFERUNG 

J Orient und Occident. Staat - Gesellschaft - Kirche. Blatter fur 
Theologie und Soziologie, Neue Folge, Heft 3 (Oktober 1936), 

T Le Narrateur. Reflexions a propos de I'oeuvre de Nicolas Less- 
kov. - Typoskript; Durchschrift eines unbekannten Originals mit 
Korrekturen (Tinte) von Benjamins Hand; Benjamin- Archiv Ts 
2680-2725. 
M Le Narrateur. Reflexions d propos de I'oeuvre de Nikolai Less- 
kow. - Manuskript mit Reinschriftcharakter, (Benjaminsche) Ober- 
setzung nach J (oder der verlorenen Druckvorlage von J); Sofort- 
korrekturen von Benjamins und Bleistiftkorrekturen von frem- 
der Hand (s. o., 1279 f., 1288 f.); Benjamin-Archiv, Ms 96-140. 
Druckvorlage: J 

lesarten 438,22 darstellen] konjiziert fur darstellen, — 439,11 dem] 
konj. fur den; die analoge Stelle in T und M (s. 1290,22) erlaubt die 
Lesart das gesichertste unter den sicheren - 440,12 ndhrend,] konj. 
fiir ndhrend ~ 442,25 moderne*,] konj. fur moderne* - 443,11 isi] 
konj. fiir ist, - 443, 12 scbreiben] konj. fiir schreiben, - 444,8 Burger- 
turns,] konj. fiir Burger turns - 444,17 Figaro*,] konj. fiir Figaro* 
- 445,17-32 Psammenit. Als bis Trauer.] Absatzbildung in J hinter 
Psammenit. und Kleinsatz von Als bis Trauer. ; beide aufgehoben 
gemafi T und M (s. 1295, 208-220) - 448,18-33 Valery. Er bis lafit.* 
In] Absatzbildung und Kleinsatz in J von Erbislafit.*; beide aufgeho- 
ben gemafl T und M (s. 1297, 290-301) - 449,29 multis] in J dazu die 
Fuftnote »2) Vielen (sc. Menschen) die letzte (sc. Minute). « s. audi T 
und M (1298) - 449,36 werden] moglicherweise fiir gemacht werden; 

s. T und M, 1298, 330 f. - 450,3 ist -,] konj. fiir ist 450,20 ge- 

nug,] konj. fiir genug ~ 450,22 Eisenvitriol] konj. fiir Eisenvitriol, - 
450,27-451,6 getan: »Unterdessen bis 1809 . . ,<r. Tiefer] Absatzbildung 
und Kleinsatz in J von »Unterdessen bis 1809 . . .«; beide aufgehoben 
gemafl T und M (s. 1298,356-1299,370) - 45 1,28 Historiker,] konj. fiir 
Historiker — 451,36 jene] konj. fiir diese (scil. die Chronisten; s. auch 
T und M, 1299, 397) - 452,15-28 ist. Man bis voruber*.] Absatzbil- 
dung in J hinter ist. und Kleinsatz von Man bis voruber«.; beide auf- 
gehoben gemafi T und M (s. 1300, 413-424) - 453,35 immer] konj. 

fiir immer, - 454,23 gehabu -,] konj. fiir gehabu 454,29-455,7 

aufnimmt. »Die bis Lebenssinnes*.] Absatzbildung in J hinter auf- 
nimmt. und Kleinsatz von »Die bis Lebenssinnes«.; beide aufgehoben 
gemafi T und M (s. 1302, 493-507) - 455,17-31 Sentimentale*. In bis 



Anmerkungen zu Seite 43 8—465 1 3 1 3 

Leben.<« Mit] Absatzbildung und Kleinsatz in J von In bis Leben.<«\ 
beide aufgehoben gemafi T und M (s. 1302, 515-527) - 456,21 seines] 
konj. fur eines analog 456,16 - 457,9 Element] fehlt in J; konj. gemafi 
T und M (s. 1304, 578) - 458,4 Veranstaltungen,] konj. fiir Veran- 
staltungen - 458,4 Alp] konj. fiir Alb - 459,8-18 macht. Ein bis 
drau$en«. »Marchenhaft] Absatzbildung und Kleinsatz in J von Ein 
bis draujlen*.; beide aufgehoben analog den ubrigen Aufhebungen 
(der dem Absatz in J entsprechende Passus fehlt in T und M) - 459,24 
-33 werden. »Sie bis e$sen,<«] Absatzbildung in J hinter werden. und 
Kleinsatz von »Sie bis essen.<«; beide aufgehoben gemafi T und M 
(s. 1305, 636-645) - 460,26-461,16 konnte. Diese bis lassen.<« Wie] 
Absatzbildung und Kleinsatz in J von Diese bis lassen,<«; beide aufge- 
hoben gemafi T und M (s. 1306, 673-1307, 696) - 461,35 f. der Zun- 
delfrteder, der Zundelheiner] konj. fiir der Brassenheimer Mutter, der 
Zundel\rieder\ der Brassenheimer Mutter ist kein Spitzbube sondern 
das Objekt des Mutwillens eines solchen - des »Zundel-Heiner«, im 
Hebelschen Gauner-Trio der dritte (s. etwa »Der Heiner und der 
Brassenheimer Miiller« im »Schatzkastlein des rheinischen Hausfreun- 
des«). Moglicherweise hat Benjamin an den »Zirkelschmied« gedacht 
und diesen mit dem »Miiller« verwechselt. — 463,5 Pyrop y ] konj. fiir 
Pyrop - 463,15-33 f. nun: »Er bis scblucbzen.«] Absatzbildung in J 
hinter nun: und Kleinsatz von »Er bis schluchzen.«; beide aufgehoben 
gemafi T und M (s. 1308, 756-771) - 463,38 f. eines Kunstlers] konj. 
fiir einer Kunstlerin, deren Werk in figiirlichen Seidens ticker eien be- 
stebt; Benjamin verwediselte die »Broderies de Marie Monnier« mit 
den »XX Estampes de Corot«, zu deren Publikation (1932) Valery 
eine Vorrede schrieb (s. Nachweis zu 464,7) - 464,20 gehen] konj. 
fiir geben, 

nachweise 438,34 Musarion-Verlags] s. Nikolai Lesskow, Der stah- 
lerne Floh. tJbersetzt, eingeleitet und mit einem Nachwort versehen 
von Karl Notzel, Miinchen 1921; ders., Der versiegelte Engel und an- 
dere Geschichten. Ubertragen von Alexander Eliasberg, Miinchen 1922; 
ders., Der unsterbliche Golowan und andere Geschichten. Obertragen 
von Alexander Eliasberg, Miinchen 1923 - 438,35 Mullet] s. Nikolai 
Lesskow, Ausgewahlte Novellen. 3 Bde. [in Einzelbanden: Der 
Alexandra; Altchristliche Legenden; Psychopathen von dazumal]. 
Deutsch von Joh. von Guenther, Miinchen 1923 - 438,35 Beck] s. 
Nikolai Lesskow, Gesammelte Werke in acht [neun] Ban den. In Ver- 
bindung mit Johannes v. Guenther, Henry v. Heiseler und Erich 
Miiller hg. von Reinhold v. Walther, Miinchen 1924-1927 - 439,14- 
35 die bis Menschenkorper.] stellenweise modifizierter Passus aus 
Erfabrung und Armut> 214,16-33 - 440,10 Volksmund] Matthias 
Claudius im »Wandsbecker Boten« - 441,30 teuer?«] s. Erich Miil- 



1314 Anmerkungen zu Seite 438—465 

ler, Nikolai Semjonowitsch Lesskow. Sein Leben und Wirken, in: 
Nikolai Lesskow, Am Ende der Welt. Nebst einer Biographie Less- 
kows (= Gesammelte Werke, Bd. 9, a. a. O.), 240 - 442,5 schob] s. 
Nachweise zu Johann Peter Hebel. Zh seinem 100. Todestage, 1006- 
1008 - 444,18 Formel] »Mes lecteurs se passionnent davantage pour 
un incendie au quartier latin que pour une revolution a Madrid, « s. T 
und M, 1294 - 445,6 Betrug*] s. Lesskow, Der Betrug, in: Militari- 
sche Geschichten (= Gesammelte Werke, Bd. 6, a. a. O.), 175-234 - 
445,6 Adler*] s. Lesskow, Der weifie Adler, in: Der Alexandrit (= 
Ausgewahlte Novellen, Bd. 1, a. a. O.), 35-80 - 445,15-446,18 Hero- 
dot, bis haben.] modifizierter Passus aus Kunst zu erzablen, Bd. 4, 
437,5-438,12 - 445,32 Trauer] s. Die Geschichten des Herodotos. 
Ubersetzt von Friedrich Lange, 2. verb. Aufl., Breslau 1824, 228 f. 
(Erster Theil. Drittes Budi, genannt Thalia. 14.); zu Benjamins Nach- 
erzahlung s. Bd. 4, 1015, »Nachweise«, sowie Walter Benjamin, QEu- 
vres choisies. Traduit de Tallemand par Maurice de Gandillac, Paris 
[1959], 300 f. (Notes du traducteur 1, 2) und 301 (Note du tra- 
ducteur 1) - 446,6 nieder.*] s. Bd. 4, 1015, Nachweis zu 437,32 - 
446,7-13 Man bis Entspannung.*] zu den Auslegungen s. Bd. 4, 
1011 f. (Ms 171 1) und Bd. 2, 1288 (Ms 1710) - 447,26 babe'] s. Less- 
kow, Der Betrug, a. a. O., 177-181 - 447,29 versetzt] s. Lesskow, 
Anlafilich der Kreutzersonate, in: CharaktereundSonderlinge( — Ge- 
sammelte Werke, Bd. 7, a. a. O.), 123-127 - 447,31 wiedergibt] s. 
Lesskow, Interessante Manner, in: Militarische Geschiditen, a. a. O., 
79-82 - 448,8 f. Schrift$teller.«] Tolstoj zu Faresow, 1898; (partiell) 
zit. in: Erich Muller, Nikolai Semjonowitsch Lesskow, a. a. O., 313 - 
448,12 verherrlicbt] s. Lesskow, Der stahlerne Floh, a. a. O., 5-64 - 
448^3 Vollkommenheit] s. Paul Vatery, Les broderies de Marie 
Monnier, in: CEuvres II. Edition e'tablie et annot^e par Jean Hy- 
tier, [Paris i960], 1244 (»Pieces sur Part«, 3. Stuck): »Les perles fines, 
les vins profonds et murs, les personnesveVitablement accomplies, font 
songer d'une lente th&aurisation de. causes successives et sembla- 
bles; la dur^e de Taccroissement de leur excellence a la perfection 
pour limite.« - 448,33 lafit.«] a. a. O.; Miniaturen bei Val£ry »En- 
luminures« - 449,4 zusammen.«] a. a. O. - 451,6 1809 . . .*] s. 
Nachweis zu 279,35 - 451,19 Spektralfarben] dazu s. die Parali- 
pomena zu Vber den Begriff der Geschicbte Bd. 1, 1234 (Neue Thesen 
//), 1235 (Neue Thesen K\ 1238 {Das dialektiscbe Bild), 1239 (B 14) 
- 451,29 Chronisten] zur Differenz zwischen Historiker und Chro- 
nisten s. Johann Peter Hebel. j, 637,30-638,4 - 452,28 voruber*] 
Lesskow, Der Alexandrit. Ein naturliches Ereignis in mystischer Be- 
leuchtung, in: Der Alexandrit, a. a. O., 25 f. (IX) - 453,15 Gedacht- 
nis.«] Lesskow, Die Stimme der Natur, in: Militarische Geschichten, 



Anmerkungen zu Seite 438—465 13 15 

a. a. O., 245 - 454,18 kinterlafit.*] »Nul ne meurt si pauvre qu'il 
ne laisse quelque chose.« s. T und M, 1301 - 454,26 f. Heimatlosig- 
keiu] Georg Lukacs, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphiloso- 
phischer Versuch iiber die Formen der groflen Epik, Berlin 1920, 127- 
455,7 Lebenssinnes*] a. a. O., 129, 131, 136, 138 (II, 2) - 455,31 
Leben.<«] Gustave Flaubert, I/Education sentimentale. Histoire 
d'un jeune homme, Bd. 2, Paris 1870, 331 (III, 7): »Cela fit une 
histoire, qui n'etait pas oubliee trois ans apres. [Absatz] lis se la 
conterent prolixement, chacun compliant les souvenirs de l'autre; 
et, quand ils eurent fini: [Absatz] - >C'est la ce que nous avons eu 
de meilleur!< dit FredeVic. [Absatz] - >Oui, peut-etre bien! c'est 
la ce que nous avons eu de meilleur!< dit Deslauriers.« - 456,9 ver- 
schlingen] dazu s. Romane lesen, Bd. 4, 436; Versuch, mit einigen No- 
then [. . ./> a - a. O., 1 o 1 3 f . ; Romane, a. a. O., 1 o 1 4 f . - 4 5 6, 1 7 stirbt. « ] 
Moritz Heimann, zit. in: Hugo von Hofmannsthal, Buch der Freun- 
de. Tagebuch-Aufzeichnungen. [Mit einem] Geleitwort zur neuen 
Ausgabe [von] Rudolf Alexander Schroder, Leipzig 1929, 135 s. audi 
Willy Haas, Gestalten der Zeit, Berlin 1930, 197 - 457,6 f. unbe- 
riihrt.«] Maxim Gorki, zit. in: Lesskow, Ein absterbendes Ge- 
schlecht (= Gesammelte Werke, Bd. 5, a. a. O.), [365] (Anhang: Ver- 
lagsanzeigen); s. audi Erich Miiller-Kamp, Nachwort, in: Nikolaj 
Lesskow, Meistererzahlungen, Zurich 1972, 509 - 458,36 Urgriinde*] 
s. Origenes, De principiis [IIeqi doxwv], in: Opera. Patrologiae 
cursus, vol. XI-XVII; iiber Apokatastasis s. De princ, III, 1, 3 - 
459,18 draufien*] Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Zurich 1935, 
127 (»Ungleichzeitigkeit und Berauschung. Uber Marchen, Kolpor- 
tage und Sage: Das Riesenspielzeug«) - 459,33 essen.<«] In Lesskow, 
Figura, in: Der unsterbliche Golowan und andere Geschichten, a. a. O., 
91 (VII), erzahlt der Held - nicht Lesskow, der dessen Geschichte 
aufzeichnet - von seiner Mutter. Die von Benjamin zitierte Stelle 
stammt aus einer andern Obersetzung als der hier angefiihrten. - 
460,4 Gottmenschen*] Erich Miiller, Nikolai Semjonowitsch Less- 
kow, a. a. O., 271 - 460,15 hat] s. Lesskow, Die Lady Macbeth 
von Mzensk, in: Charaktere und Sonderlinge, a. a. O., 179-261 - 
460,37 Nature] Lesskow, Die Stimme der Natur, in: Militarische 
Geschichten, a. a. O., 246 - 461,16 la$$en.<«] a. a. O., 249 - 
461,30 hatter] a. a. O., 238 - 462,11 tue.«] Lesskow, AnlafSlich 
der Kreutzersonate, in: Charaktere und Sonderlinge, a. a. O., 135 — 
462,24 Zeit*] s. Lesskow, Geschichten aus alter Zeit (= Gesammelte 
Werke, a. a. O., Bd. 4) - 463,33 f. schluchzen.«] Lesskow, Der Alex- 
andra, in: Der Alexandra, a. a. O., 31 f. - 464,7 ist.«] Paul Va- 
lery, Autour de Corot, in: CEuvres II, a. a. O., 1 3 1 8 f . (»Pieces sur 
Part*, 18. Snick) 



1316 Anmerkungen zu Seite 465—505 

465-505 Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 

Den Aufsatz Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker schrieb 
Benjamin auf Wunsch Max Horkheimers, als eine Auftragsarbeit fur 
die »Zeitschrift fiir Sozialforschung«. Horkheimer hatte sich schon vor 
1933 fiir Fuchs eingesetzt, indem er bei einer der staatsanwaltschaft- 
lichen Ermittlungen gegen diesen wegen Verbreitung >unziichtiger< 
Schriften als Gutachter auftrat (s. den Abdruck von Horkheimers 
Gutachten in Eduard Fuchs, Die grofSen Meister der Erotik, Miinchen 
1930), Ob auch Benjamin bereits in den Jahren der Weimarer Repu- 
blik Fuchs personlich kannte oder ob beider Begegnungen erst wah- 
rend des Exils - Fuchs lebte bis zu seinem Tod 1940 wie Benjamin in 
Paris - durch Horkheimers Vermittlung zustande kamen, ist unsicher. 
Jedenfalls berichtete Benjamin, der im Oktober 1933 von Ibiza nach 
Paris kam, schon Anfang November an Gretel Adorno: Fuchs habe 
ich gesehen; seine Lehenskrafl hat etwas Bewundernswertes (8. 11. 
1933, an Gretel Adorno). Von dem Plan eines Aufsatzes iiber Fuchs 
ist in den erhaltenen Dokumenten zuerst Anfang Dezember 1934 die 
Rede, wann dieser Plan jedoch tatsachlich gefafk wurde, Iafk sich 
nicht mehr ermitteln; ebensowenig ob er schriftlich - in verlorenen 
oder unzuganglichen Briefen - oder miindlich zwischen Horkheimer 
und Benjamin verabredet wurde. Horkheimer hatte Deutschland im 
Februar 1933 verlassen und sich nach Genf begeben, wo das Institut 
fiir Sozialforschung seit 1931 eine Zweigstelle unterhiek. Wahrend 
des ersten Emigrationsjahres richtete Horkheimer weitere Zweigstel- 
len in London und in Paris ein, im Mai 1934 begann er mit Vorbe- 
reitungen, den Kern des Instituts nach New York zu verlegen. Wahr- 
scheinlich traf er zwischen Oktober 1933 - nachdem Benjamin sich in 
Paris niedergelassen hatte - und Mai 1934, als Horkheimer selber 
nach den USA iibersiedelte, wiederholt mit Benjamin in Paris zu- 
sammen. Bezeugt ist eine Begegnung im Friihjahr 1934 (s. Briefe, 626): 
spatestens bei dieser Gelegenheit mufi der Aufsatz iiber Fuchs be- 
sprochen worden sein, denn im Sommer 1934 studierte Benjamin be- 
reits mehrere Bucher von Fuchs. 

Benjamin stand dem Auftrag der »Zeitschrift fiir Sozialforschung« zu- 
mindest mit grofkn Reserven, genauer wohl: mit ausgesprochenem 
Widerwillen gegeniiber. Er schob seine Ausfiihrung immer wieder 
hinaus und vor sich her. Zwar begann er im Sommer 1935 erneut mit 
der Arbeit, bemiihte sich aber schon bald um eine Terminverlange- 
rung; nachdem er diese im Januar 1936 erlangt hatte, unterbrach er 
seine Arbeit ein zweites Mai. Er nahm sie dann im August 1936, als 
er bei Brecht in Danemark weilte, endgultig wieder auf, um sie in 
Paris - wohin er Ende September oder Anfang Oktober zuriick- 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1317 

kehrte - fortzusetzen. Bis in den Januar 1937 hinein scheint Benja- 
min sich im wesentlichen mit Materialstudien befafk zu haben. Die 
Niederschrift des Aufsatzes selbst erfolgte dann relativ schnell im 
Januar und Februar 1937; am 28. Februar schickte er das fertige 
Manuskript an Horkheimer nach New York. - Gedruckt wurde der 
Aufsatz iiber Fuchs im zweiten Heft des Jahrgangs 1937 der »Zeit- 
schrift fiir Sozialforschung«, das wahrscheinlich im Oktober des Jah- 
res erschien. Von dem Ergebnis der so ungern ausgefuhrten Arbeit war 
Benjamin dann doch befriedigter, als er selbst erwartet hatte. Tatsach- 
lich enthalt der Fuchs- Aufsatz in seinem ersten Teil die ausfiihrlich- 
sten AuiSerungen zur Methode des historischen Materialismus, die es 
von Benjamin vor - und neben - den Thesen Vber den Be griff der 
Geschicbte (s, Bd. 1, 691-704) gibt; nicht zufallig ubernahm er in die 
letztere Arbeit denn audi einzelne Formulierungen aus der iiber 
Fuchs. 

Entstehungs- und Publikationsgeschichte des Fuchs-Aufsatzes sind 
durch erhaltene Korrespondenzen wenn nicht liickenlos, so doch sehr 
weitgehend bezeugt. Im folgenden werden samtliche Erwahnungen 
des Aufsatzes in den derzeit zuganglichen Briefen in chronologischer 
Reihenfolge abgedruckt. Vielfach spielte in die Abfassung gerade 
dieses Aufsatzes die Entwicklung von Benjamins Beziehungen zum 
Institut fiir Sozialforschung hinein: da iiber diese Beziehungen in 
der Sekundarliteratur teilweise vollig phantastische Vorstellungen 
verbreitet sind, glaubten die Herausgeber, einem objektiven Desiderat 
zu geniigen, wenn sie in ihrer Dokumentation audi diese Aspekte 
ausfiihrlich einbeziehen. Dabei war in Kauf zu nehmen, daft eine 
Anzahl von Briefstellen zum Abdruck gelangt, die nicht direkt vom 
Fuchs-Aufsatz handeln, sondern die okonomische Situation Benja- 
mins wahrend der Arbeit an dem Aufsatz betrefTen. Schon Adorno 
mufke sich 1968 gegen das Verleumderische zahlreicher Polemiken 
zur Wehr setzen, das darin liegt, »eine Verbmdung zwischen theore- 
tischen Kontroversen und Benjamins finanzieller Situation« zu insi- 
nuieren (s. Adorno, Uber Walter Benjamin, a. a. O., 94); um so gebo- 
tener erschien es den Herausgebern, beides - die gemeinsame theore- 
tische Arbeit innerhalb des Instituts fiir Sozialforschung und die 
materiellen Existenzbedingungen, unter denen Benjamin an dieser 
Arbeit sich beteiligte - nicht abstrakt voneinander zu trennen. Ein- 
seitig genug bleibt die Dokumentation gleichwohl: sie lafk Benjamins 
zahlreiche Versuche unberiicksichtigt, in parteikommunistischen Zeit- 
schriften zu veroffentlichen, die iiber ein wenig andere Ressourcen als 
das Institut fiir Sozialforschung verfiigten und denen Benjamins 
literarische und wissenschaftliche Produktivkraft wahrend der ge- 
samten Exilzeit ganze vier Abdrucke - drei in der »Neuen Welt- 



1318 Anmerkungen zu Seite 465—505 

buhne« und einen im »Wort« - wert war. Dennoch diirfte die folgende 
Darstellung der Entstehung des Aufsatzes iiber Fuchs zugleich ein 
Stuck von Benjamins Biographie dokumentieren; sie schliefit darin an 
die Vorbemerkungen der Herausgeber zu dem Aufsatz Zum gegen- 
wdrtigen gesellschafllicben Standort des franzosiscben Schriflstellers 
(s. 1508-15 15) an, erganzt diejenigen zum Kunstwerk-Aufsatz (s. Bd. 1, 
982-1035) und wird schliefilich von den Zeugnissen zur Entstehungs- 
geschichte der Arbeiten iiber Baudelaire (s. Bd. 1, 1064-1136) fortge- 
fiihrt. 

1. MAX HORKHEIMER AN WALTER BENJAMIN, NEW YORK, 3. 12. 1934 

Wie steht es eigentlich mit dem Aufsatz iiber Fuchs? Es ware doch 
recht schon, wenn Sie diese Sache im Auge behieken.* 

2. BENJAMIN AN HORKHEIMER. SAN REMO, 2. I. I935 

Wenn nun in Amerika sicb vorlaufig nichts fur mich realisieren sollte, 
so werde ich im Laufe des Jahres wieder nacb Ddnemark hinuber- 
wecbseln, wo neben meiner Bibliotbek die Bdnde von Fuchs stehen y 
denen die Arbeit der dortigen Monate gelten wird. 

3. HORKHEIMER AN BENJAMIN. NEW YORK, 28. I. 1935 

Ihre verzweifelte finanzielle Situation, die Ihre Briefe verraten, tut 
mir aufrichtig leid. Wir bemiihen uns, durch eine Anstrengung, die 
fast iiber unsere Krafte geht, das Institut durch diese furchtbare Krise 
zu retten. Ohne daft wir eigentlich wiifiten, wie wir die Liicke, die 
selbst dieser geringfugige Betrag in unsren Voranschlagen ausmacht, 
ausfiillen sollen, haben wir doch telegraphisch Anweisung gegeben, 
Ihnen Fr. Frs. 700 zu ubersenden. Wenn es irgend moglich ist, wer- 
den wir nachsten Monat weitere Fr. Frs. 500 folgen iassen. Eine sichere 
Zusage kann ich leider nicht machen, es sei denn die, dafi Pollock und 
ich selbst alles anstrengen wollen, um es moglich zu machen. [Ab- 
satz] Selbstverstandlich haben wir audi die Frage eines von anderer 
Seite zu erlangenden Stipendiums nicht vergessen. Auf eine diesbe- 
ztigliche Anfrage wurden wir bedeutet, daft iiber diese Problemkom- 
plexe augenblicklich nicht zu reden sei. Das hangt wohl mit der 
gegenwartigenwirtschaftlichen Situation in diesem Lande zusammen. 
Es herrscht bei alien, die ein Kapital zu verwalten haben, in diesen 
Wochen und Monaten aufierste Beunruhigung, da man nicht weift, 
welche einschneidenden wirtschaftspolitischen Maftnahmen in der 
nachsten Zukunfl; getrofTen werden. [Absatz] Obgleich eine Reihe 
von Umstanden uns zunachst noch hier halten, werden doch Pollock 

* Von der Textqualitat der Briefe Horkheimers an Benjamin - deren Originale den 
Herausgebern unzuganglidi sind - gilt das Bd. i, 999, Anm., Gesagte. 



Anmerkungen zu Seite 465—505 13 19 

und ich oder einer von uns beiden im Mai bestimmt in Europa sein, 
falls [das] nicht eine force majeure verhindert. Wenn Sie um diese 
2eit in Paris oder Genf sind, ware eine wunschenswerte Aussprache 
moglich. [Absatz] Wenn Sie den Aufsatz uber Fuchs bald schreiben 
wollten, entsprache dies einem allgemeinen und einem besonderen 
Bediirfnis. Es ist in der Tat notwendig, daft endlich einmal eine wis- 
senschaftlich ernst zu nehmende Abhandlung iiber die sozialpsycholo- 
gischen Theorien von Fuchs erscheint. Gegenwartig versucht er selbst, 
sie in einem neuen Bande zusammenzufassen. Aufierdem ist es, wie 
Sie wissen, ein sehr alter personlicher Wunsch von uns, daft ein guter 
Bericht iiber Fuchs in der Zeitschrift stent. Es ware eine schone Gele- 
genheit, darzutun, wie der psychologisch viel primitivere Apparat, 
dessen Fuchs sich bedient, infolge des Umstandes, dafi er von Anfang 
an die richtige historische Orientierung besafi, ihn in der Sozialpsycho- 
logie viel weitsichtiger machte als Freud, in dessen Schriften die Ver- 
zweiflung in der bestehenden Wirklichkeit als das Unbehagen eines 
Professors zum Ausdruck kommt. 

4. BENJAMIN AN HORKHEIMER. SAN REMO, 1$. Z. 1 93 5 (s. Brief e, 65 of.) 

Ich danke Ihnen herzlich fiir Ihren Brief vom 2S ten Januar. [Absatz] 
Vor allem bin ich sehr froh Uber die Aussicht t dafl wit nun in abseb- 
barer Zeit zu einer miindlichen Aussprache gelangen wet den. [Ab- 
satz] Aber schon heute mochte ich Ihnen sagen, wie wichtig mir Ihr 
dringlicher Wunsch die Arbeit uber Fuchs angehend ist. Es ist mir 
nach Ihrem Brief selbstverstandlich, sie alien anderen Projekten vor- 
angehen zu lassen. Wenn sich das im Moment noch nicht auswirkt, 
so deshalb, we'd ich Bedenken babe, Fuchs zur Sendung neuer Bucher 
- mehrere habe ich im vergangnen Sommer studiert - in einem 
Augenblick zu veranlassen, wo meine ferneren Dispositionen nicht 
Ubersehbar sind. Es ist leider t wie ich Ihnen schon schrieb t sehr frag- 
licb, ob ich mich. hier iiber Ostern hinaus halten kann, und was 
dann wird t dariiber wage ich noch nicht einmal, mir Gedanken zu 
machen. [Absatz] Es ware fur diese Arbeit unendlich viel wert, wenn 
ich sie in Paris machen konnte. Nicht nur um wahrend ihrer Dauer 
mich in Filhlung mit Fuchs zu halten - obwohl auch das seinen gro- 
jlen Wert hatte - sondern auch um der Sache das breite Fundament 
des Vergleicbs, das Sie selbst in Ihrem Brief e skizzieren, geben und 
ferner, um den Quellen von Fuchs nachgehen zu konnen, die ja erst 
den vollen Einblick in seine Methode erschliefien, [. . .] Einen ganz 
besonderen Dank noch fiir Ihr Bemuhen um eine Erhohung der Fe- 
bruarrate, das Sie mir im letzten Brief e versprachen. Ich habe bisher 
aus Qenf noch nichts Dementsprechendes gehort, will aber die Hoff- 
nung behalten und den Dank unabhangig von ihrer Erfullung wissen. 



1320 Anmerkungen zu Seite 465—505 

5. HORKHEIMER AN BENJAMIN. [NEW YORK,] 19. 3. 1935 

Besten Dank fiir Ihren Brief vom 19. Februar. Herr Pollock wird 
aller Voraussicht naoh ungefahr urn die Mitte April in Europa eintref- 
fen und dann etwa zwei Monate dort bleiben. Zu welcher Zeit er in 
Paris sein wird, steht noch nicht ganz fest, jedenfalls habe ich mit ihm 
vereinbart, daft er Ihnen, sobald sein Programm driiben umrissen ist, 
Nachricht gibt, damit Sie ihn in Paris treffen. Sollte die Reise von 
San Remo aus fiir Sie finanziell schwer tragbar sein, so wird er 
Ihnen die Kosten vergiiten. Sie beide konnen dann diskutieren, wo 
und wie die Arbeit iiber Fuchs am besten abgefafit wird. [. . .] Die 
Anweisung, Ihnen fiir Februar und Marz noch je frs. fs. 500,- zu be- 
zahlen, ist bereits seit langerer Zeit erteilt worden. Ich hoffe, dafi Sie 
wenigstens die Februarrate jetzt erhalten haben. 

6. BENJAMIN AN HORKHEIMER. NICE, 8. 4. 193$ (Briefe, 6$ I f.) 

Vie I frilher als ich irgend vorkersehen konnte, habe ich [. . .] mein 
Asyl in San Remo verlassen mUssen. Ich wollte dann nach Paris 
gehen (wohin ich bereits meine Post dirigiert hatte). Aber als es dann 
soweit war, wurde meine Schwester, bei der ich dort allenfalls ein 
Unterkommen hatte finden konnen, schwer krank. [Absatz] Wenn 
ich es unterliefi, Ihnen von all dem Nachricht zu gehen, so war es, 
weil ich auch den Anschein, von neuem ausdriicklich mich an Ihre 
Hilfe zu wenden, vermeiden wollte. Ich tat das in dem Vertrauen, 
daft Sie ohnehin das irgend Mogliche tun, und Ihr letzter Brief be- 
statigt es mir. Ich sage Ihnen dafiir meinen herzlichsten Dank. Es ist 
mir nichts dringlicher als meine Arbeit so eng und so produktiv wie 
moglich mit der des Instituts zu verbinden. [Absatz J Es ist schade, 
dajl Sie nicht nach Europa kommen. Andererseits nehme ich an, dafi 
Ihre Unabkommlichkeit ein gutes Zeicben fur die Bedeutung ist, die 
das Institut driiben gewonnen hat. Ich werde nun in der Osterwoche 
meinen Arbeitsplan ausfUhrlich mit Herrn Pollock besprechen und 
zu diesem Zweck ungefahr gleiclizeitig mit ihm nach Paris kommen. 
Hoffentlich um da zu bleiben! Auch dafiir werden die Moglichkeiten 
im Gesprach mit Herrn Pollock zu klaren sein. 

7. BENJAMIN AN THEODOR \P. ADORNO. MONACO-LA CONDAMINE, [April 1935] 

Es ist mir natiirlich [. . .] unendlich leid, dajl aus unserer Begegnung 
nichts werden konnte. Wann werden wir denn wieder Hoffnung auf 
eine haben? Selbst wenn Ihr Riickweg Sie iiber Paris fiihrt, werden Sie 
mich dort kaum treffen. Die Lebensumstande sind zu prekdr gewor- 
den als dafl ich auf gut Gluck dahin gehen konnte. Und schwieriger 
und schwieriger scheint zu werden, dort Fuji zu fassen. Das letzte 
Bild der dortigen Verhdltnisse stammt aus einem Brief e von Siegfried 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1321 

[Kracauer] und malt das Leben in der Stadt schwarz in grau. Die 
tiefgreifenden Verdnderungen, die mit ihr vorgegangen sind, machen 
sich abet audo viel besser bewehrten und ausgestatteten Beobachtern 
filhlbar und icb fand kiirzlich in einer franzosischen Zeitschrift den 
Brief eines Engldnders - gewift ebenfalls eines Intellektuellen - der 
erkldrt, warum er Paris meidet. Seine Darstellung streifle meine 
Erfahrungen. [AbsatzJ Natiirlich dndert das nichts an dem Umstand, 
dafi die Bibliotheque Nationale mein ersehntester Arbeitsplatz 
ware. Und audo die Arbeit uber Fuchs, die das Institut so dringend 
bei mir einmabnt, kann eigentlicb nur dort unternommen werden. 
Aber man muft auf diesen Arbeitsplatz eben alles selbst mitbringen 
und kann nur sehr a la longue beachtet zu werden erwarten. 

8. BENJAMIN AN GERHARD SCHOLEM. [Paris,] 20. 5. I935 (Briefe, 655) 

Dafi der Gesamtplan [des PassagenwerksJ nun vor mir steht, ist mit- 
telbar ubrigens wohl audo eine Folge meiner Begegnung mit einem 
der Institutsdirektoren, die gleich nacb meiner Ankunfl in Paris statt- 
fand. Sie bat zur Folge gehabt, daft ich zundcbst einen Monat obne 
die landlaufigen Tagesprobleme leben konnte. Aber der Monat ist 
um und ich weift durcbaus nod? nicht wie mirs im ndcbsten gehen 
wird, Sollte id) grade jetzt micb in die Arbeit uber Fuchs - die um 
die Wabrheit zu sagen nod) nicht einmal angefangen ist - begeben 
milssen, so ware mir das freilich doppelt anstoftig. Auf der andern 
Seite aber ware es ein Gluoksfall, mit dem ich auf keine Art rechnen 
kann, daft das Institut etwa ein materielles Interesse an dem pariser 
Buch nahme. [Absatz] Was id) mir wunscbte ware jetzt eine Reihe 
von Monaten auf der Bibliothek arbeiten und nach einem mehr oder 
weniger definitiven Abscbluft meiner Studien im Oktober oder No- 
vember nach Jerusalem gehen zu konnen. Wenn es aber auch wenige 
Umstande gibt die im Weltgescbehen geringere Spuren hinterlassen als 
meine Wunsche y so wollen wir doch deren zweite Halfte gemeinsam 
festhalten. Vielleicht kann ich hier zur gegebenen Zeit das Reisegeld 
mit einigen Kunststucken doch heranscbafien. 

9. benjamin an adorno. paris, 3 1. j. 1 93 5 (Briefe, 66$) 

Mein Minimalverbrauch in Paris sind iooo frs im Monat; soviel hat 
mir Pollock im Mai zur Verfugung gestellt, soviel soil id) nochmals fiir 
Juni erhalten. Aber soviel brauche ich auf eine Weile, um wetter ar- 
beiten zu konnen. Schwierigkeiten machen sich ohnehin genug be- 
merkbar; beftige Migrdneanfdlle halten mir oft genug meine prekdre 
Daseinsart gegenwdrtig. Ob und unter welchem Titel das Institut an 
der [Passagen-] Arbeit sich interessieren kann, ob es unter JJmstdn- 
den nbtig ware, seinem Interesse Anhaltspunkte durch andere Arbei- 



1322 Anmerkungen zu Seite 465—505 

ten zu geben - das werden Sie vielleicht im Gesprach mit Pollock eher 
kldren konncn als ich. Ich bin zu jeder Arbeit bereit; abet jede von 
irgendwelcher Bedeutung, insbesondere die iiber Fuchs, wiirde ver- 
langen, da$ ich fiir die Dauer ihrer Darstellung die Passagen zuriick- 
stelle. (Der Arbeit iiber die »Neue Zeiu wiirde ich im Augenblick 
nicht gern nahertreten. Dariiber gelegentlich.) 

10. ADORNO AN BENJAMIN. OXFORD, 8. 6. 1 93 5 

Pollock hat mir mitgeteilt, daft er nicht mehr nach London kommt; 
ich vermute ihn auf dem Wege nach Amerika. Damit entfallen meine 
auf ihn bezuglichen Plane (einer war, ihn zu veranlassen Sie zu einer 
gemeinsamen Besprechung nach London einzuladen). Ich habe nun 
nicht lange gezaudert sondern sogleich einen sehr ausftihrlichen Brief 
an Horkheimer geschrieben und ihn f . . .] gebeten, daft er die 
[Passagen-] Arbeit furs Institut vol) akzeptiere (ich dachte an Teil- 
druck in der Zeitschrift [fiir Sozialforschung], voile Publikation in 
der Schriftenreihe [des Instituts fiir Sozialforschung]), ihre Durch- 
fiihrung finanziell ermogliche und gleichzeitig fiir die Zeit der Nieder- 
schrift die anderen Dinge (Fuchs und Neue Zeit), als mit dem Arbeits- 
vorgang unvereinbar, aufschiebe. Ich habe dabei besonders betont und 
begriindet, daft ich glaube daft die Arbeit in ihrer gegenwartigen Ge- 
stalt vom Institut voll kann endorsed werden; dafi es keine Mental- 
reservate gibt; dafi ich in der Ermoglichung der Arbeit eine Verpflich- 
tung sehe. Audi hier bin ich eher optimistisch. 

11. BENJAMIN AN ADORNO. PARIS, 10. 6. 1 93 J 

Ich h'dtte Ihnen schon etwas frtiher geschrieben und fiir Ihren wichti- 
gen Brief gedankt, wenn ich mich gesundheitllch nicht reclrt elend 
und uberhaupt in einem schweren Erschopfungszustand befunden 
h'dtte. [. . ./ Es kamen material mich betreffende Dinge hinzu. An 
erster S telle die plotzliche RUckreise Pollocks nach Amerika. Er hatte 
mir eine Besprechung in Aussicht gestellt t die stattfinden sollte, nach- 
dem er in mein Manuscript Einblick genommen hatte. Diesen Einblick 
hat er nicht mehr genommen, da er Euro pa zwei Tage nach dem ich die 
Handschrifl des Exposes [zum Passagenwerk; s. Bd. j] nach Genf 
zur Abschrifl eingesandt hatte, verlassen hat. Umso schwerer liegt es 
mir auf, dafi er^unabhdngig davon, eine Reglung getroffen hat, die 
mich zwar bis zum jr ten Juli sichert, also zwei ungestorte Monate der 
Arbeit verburgt, nach diesem Termin aber die ganze, immer entmuti- 
gendere Frage der Existenzmoglichkeit in ihrer Aktualitat mir emeu- 
ert, da dann die alte Monatsrate von $00 fr frcs wieder in Kraft 
treten soil. - Wie gesagt: diese Fixierung ist unberiihrt vom Problem 
der grofien Arbeit getroffen worden. Es kommt nun alles darauf an, 



Anmerkungen zu Seite 465—505 T 3 2 3 

ob diese Arbeit sich ihren Platz in der geistigen und materiellen Oko- 
nomie des Instituts wird verschaffen konnen. Sie sehen, wie ent- 
scheidend Ihre Fursprache fiir mich ist. [Absatz] Um Ihnen diese 
wenigstens taktisch zu ' erleichtern, babe ich es fiir ricbtig gehalten, 
Pollock in einem Brief, den er kurz vor seiner Abreise bekommen bat, 
zuzusagen, dafi ich vom August ab zunacbst die grofie Arbeit zuruck- 
stellen und den Essai iiber Fuchs machen werde. 

12. BENJAMIN AN HORKHEIMER, PARIS, 10. J. I935 (Bnefe, 666 f.) 

Ich war langst ungeduldig, lhnen das mit glcicher Post abgehende 
Expose [zum PassagenwerkJ zu schicken. [. . ./ Dem Expose selbst 
mochte ich zunacbst sacblich nicbts hinzufiigen. Sett Mitte Mai arbeite 
ich aufs intensivste auf der Bibliotbeque nationale und dem Cabinet 
des Estampes an dem Abscblufi meiner Dokumentation. Dank der Er- 
leichterung meiner Lage in den letzten Monaten, die ich Ihnen und 
Herrn Pollock verdanke, ist es mir gelungen, diese Dokumentation 
dem Abschlufi sehr erbeblich zu nahern. [Absatz] Ich werde freilich 
gegen Anfang August, wenn ich keine andern Weisungen von Ihnen 
erhalte, das Buch wieder zuruckstellen, um den Aufsatz iiber Fuchs zu 
schreiben. Bei meinem letzten Zusammensein mit ihm babe ich mir 
vielerlei Interessantes aus seinen Anfangen unter dem Sozialistenge- 
setz erzahlen lassen. Im Interesse dieses Aufsatzes wie meines Buches 
will ich versucben, mich so lange wie moglich in Paris zu behaupten. 

13. BENJAMIN AN SCHOLEM. PARIS, 9. 8. I93J (Brief e, 683 f.) 

Ich habe einige Wochen intensiver Arbeit in der Bibliothek hinter 
mir. Sie baben die Dokumentation fiir mein Buch sehr gefordert. 
Nun aber werde ich sie — ohne ihren Abschlufi erreicht zu baben - 
fiir einige Zeh unterbrechen mussen. Mich rettet vor der Arbeit uber 
Fuchs kein Gott mehr. ]a y icb habe mehr denn je Grund, mich den 
Anregungen des Instituts gegeniiber gefugig zu zeigen. Denn das 
Entgegenkommen 3 das ich bei meinen Verbandlungen im Mai gefun- 
den habe, kam nicht zustande ohne daft ich die Aussicht, einige Mona- 
te in Palastina zu verschwinden und seiner Fursorge entboben zu sein, 
meinem Partner eroffnet hatte. Ihm, wie Du Dir denken kannst, eine 
lockende Perspektive, die ihm nunmebr zerstreuen zu mussen mich 
vor eine bedenkliche Aufgabe stellt. 

14. BENJAMIN AN GRETEL ADORNO. PARIS, O. D. [lO. 9. 1935] 

Fiir den Augenblick muft ich aber tant bien que mat einem andern 
Bilderkreis mich zuwenden. Mit dem Fuchs wird jetzt Ernst gemacht 
und ich denke die Sache diesmal auf eine mir gemaflere Art anzugrei- 
fen, indem ich von seinen Studien uber die Karikatur, uber Daumier 



1324 Anmerkungen zu Seke 465—505 

und Gavarni ausgehe, die zu dem, was mich sonst beschdfligt wenig- 
stens stofflich Beziehung haben. Fuchs selbst geht es leider schlecht und 
sein V erf all ist spiirbar. 

I J. HORKHEIMER AN BENJAMIN. NEW YORK, 1 8. 9. 1 93 5 

Zum Expose* kann ich jetzt nidit ausfiihrlich Stellung nehmen. [. . .] 
Ich kann mein Urteil nur sehr kurz zusammenf assen : Ihre Arbeit 
verspricht, ganz ausgezeidinet zu werden. Die Methode, die Epoche 
von kleinen Symptomen der Oberflache her zu fassen, scheint diesmal 
ihre ganze Kraft zu erweisen. Sie machen einen weiten Schritt iiber 
die bisherigen materiaiistischen Erklarungen asthetischer Phanomene 
hinaus. Der Exkurs iiber den Jugendstil, schlieftlich aber audi alle iibri- 
gen Partien der Arbeit verdeutlichen, dafl es keine abstrakte Theorie 
der Asthetik gibt, sondern diese Theorie jeweils mit der Geschichte 
einer bestimmten Epoche zusammenf allt. [Absatz] Die Diskussion iiber 
die Einzelheiten der Ausfiihrung Ihrer Arbeit gehort zu den Erwar- 
tungen, die mir meine fur Dezember geplante Europareise beson- 
ders wichtig erscheinen lassen. [. . ] Dafiir, dafi Sie den Aufsatz iiber 
Fuchs noch schreiben wollen, danke ich Ihnen. Die Beschaftigung mit 
diesem Psychologen, Historiker und Sammler wird Sie nicht allzu 
weit von der Analyse des 19. Jahrhunderts entfernen. 

l6. BENJAMIN AN HORKHEIMER. PARIS, l6. 10. I935 (BHefe, 688-691) 

Ich danke Ihnen vielmals fur Ihren Brief vom 18. September. NatUr- 
lich war er fur mich eine grofie Frexde. Die Anzahl derer } vor denen 
meine Arbeit mich ausweisen kann, ist seit der Emigration klein ge- 
worden. Jahre und Lebenslage bewirken es andererseits, dafi diese 
Arbeit im Haushalt des Lebens einen immer grower en Raum ein- 
nimmt. Daher die besondere Freu.de durch Ihren Brief. [Absatz] Ge- 
rade weil Ihre Stellungnahme zum Expose von so grower Wichtigkeh 
ist und mir eine Hoffnung eroffnet, hatte ich diesem Brief gem 
jedes Eingehen auf meine Verhaltnisse ferngehalten. In der Hoffnung 
auf ein »W under «, die in solchen Fallen verzeihlich ist, habe ich ihn 
denn auch aufgeschoben. Nun aber, da ich den Ertrag einiger kleiner 
Geschichten, die ich fiir die Schweizer Presse geschrieben hatte, in 
einer Anzahl von Franken beisammen habe, die ich mir an den Fin- 
gem abzahlen kann, ist auch ein Brief, der sich einmal ganzlich auf 
meine Arbeit beschranken konnte, ein unerschwinglicher Luxus ge- 
worden. Als ich das letzte Mai mit Herrn Pollock sprach, sagte ich 
ihm, dafi mehr als das Ausmafi jeder gegenwartigen Hilfe die Mog- 
lichkeit mir bedeute, in ausweglosen Situationen auf Sie zuruckzu- 
greifen. Er verstand das, und wenn die letzte Entscheidung des Insti- 
tuts mir eine wirklich eingreifende Erleichterung fiir ein voiles Vier- 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1325 

teljahr bracbte, so wird Sie das, wie icb zuversicbtlich boffe, nicbt 
binderrty meine Sacbe im Sinn der Worte zu prufen, die icb damals 
Herrn Pollock sagte. [Absatz] Meine Situation ist so scbwierig, wie 
eine Lage obne Scbulden es tiberbaupt sein kann. Icb will mir damit 
nicbt etwa das geringste Verdienst zuscbreiben, sondern nur sagen, 
dafi jede Hilfe, die Sie mir gewdbren, eine unmittelbare Entlastung 
fur micb bewirkt. Icb babe, verglichen mit meinen Lebenskosten im 
April, als icb nacb Paris zuruckkam, mein Budget aufierordentlicb 
beschrdnkt. So wohne icb jetzt bei Emigranten als Untermieter, Es 
ist mir aufierdem gelungen, Anrecbt auf einen Mittagstiscb zu bekom- 
men, der fur franzbsiscbe Intellektuelle veranstaltet wird. Aber erstens 
ist diese Zulassung provisoriscb, zweitens kann icb von ihr nur an 
Tagen, die icb nicbt auf der Bibliothek verbringe, Gebraucb macben; 
denn das Lokal liegt weit von ibr ab. Nur im Vorbeigeben erwabne 
icb, dafi icb meine Carte d'Identite erneuern miifite, obne die da- 
fur notigen 100 Francs zu baben. Aucb den Beitritt zur Presse 
£trangere, den man mir aus administrativen Griinden nabegelegt 
bat, babe icb, da die Gebubr 50 Francs betr'dgt, nocb nicbt vollzieben 
konnen. [Absatz] Es ist an dieser Lage das Paradoxe, dajl meine Ar- 
beit wahrscheinlicb nie einer offentlicben Nutzlicbkeit naber gewesen 
ist als eben jetzt. Durcb nicbts ist Ibr letzter Brief mir so ermutigend 
gewesen als durcb die Andeutungen, die er in diesem Sinn macbt. Der 
Wert Ibrer Anerkennung ist mir proportional der Bebarrlicbkeit, mit 
der icb in guten und bosen Tagen an dieser Arbeit festbielt, die nun 
die ZUge des Plans annimmt. [. . .] Wenn Sie berucksicbtigen, daft die 
erwahnten Arbeiten zeitlicb im Hintergrund meines Tagesprogramms 
steben, das in seinem Hauptteile von der Studie liber Fucbs bestimmt 
wird, und dafi icb spaterhin einen Vortrag fur das Institut des 
Etudes Germaniques vorbereite, so sehen Sie, dafi meine Zeit gut 
ausgefilllt ist. Es ware mir, um unter solcben Umstanden einen Fix- 
punkt zu haben, lieb, wenn Sie selbst mir einen Termin fiir das Ma- 
nuskript iiber Fucbs vorschlagen wollten. [Absatz] Ein anderer und 
entscbeidender Fixpunkt wird fur micb Ibre Europareise sein. Icb bin 
gewifi, dafi sicb dann fiir uns die Gelegenbeit zu einer eingehenden 
Beratung ergeben wird. Zu den H'drten meiner hiesigen Existent 
gebort aucb die, iiber die wicbtigsten Gedanken der Arbeit micb mit 
keinem Anwesenden verstdndigen zu konnen. 

17. BENJAMIN AN SCHOLEM. PARIS, 23. IO. 1 93 5 (Brief e, 695) 

Manchmal trdume icb den zerscblagenen Bucbern nacb - der berliner 
Kindbeit um neunzebnhundert und der Briefsammlung - und dann 
wundere icb micb, wober icb die Kraft nehme, ein neues [scil. das 
Passagenwerk] ins Werk zu setzen. Freilich mit sovielen Umstanden, 



i$i6 Anmerkungen zu Seite 465—505 

da/l sein Schicksal noch unabsebbarer ist als die Gestaltung meiner 
eigenen Zukunfl. Auf der andern Seite ist es doch gleichsam das Wet- 
terdach, unter das ich trete, wenn es draufien zu schlimm wird. Zu 
diesen Unbilden des draufien gebort auch der Fudos. Aber mit der 
Zeit h'drte ich mich gegen seinen Text ab, dem ich zudem weiterhin 
nur unter mannicbfachen Vorkebrungen micb aussetze. Im ubrigen 
berucksicbtige ich seine Bucher ausscbliefilicl? soweit er das neunzebnte 
Jabrhundert behandelt. So entfernt er micb nicbt allzusebr von 
meiner eigentlicben Arbeit. 

18. HORKHEIMER AN BENJAMIN. NEW YORK, 30. 10. 1935 

Genf hatte von uns die Anweisung, Ihnen Ende dieses Monats den- 
selben Betrag zu iiberweisen, wie im letzten Monat. Wir haben heute 
nochmais telegrafisch daran erinnert. Ich sehe nun nicht ganz klar, ob 
Ihnen mit diesem Betrag gedient ist oder ob Sie mit Ihrem Brief in- 
folge aufierordentlicher Umstande um eine Erhohung bitten wollten. 
In diesem Falle erwarte ich eine Nachricht dariiber. 

19. HORKHEIMER AN BENJAMIN. NEW YORK, 31. 10. 1935 

Meinen eben in Eile an Sie abgesandten Brief kann ich noch durch den 
Zusatz erganzen, dafi wir Ihnen ffrs. 300,- mehr als die urspriinglich 
bestimmte Summe uberwiesen haben. 

20. BENJAMIN AN GRETEL AD0RN0. PARIS, 0. D. [Januar l$}6] 

Das Tempo, in dem die meinige [scil. Arbeit; das Passagenwerk] 
fortscbreitet, gibt mir die angenebme Gewifiheit wenn ichs erlebe noch 
so manche fremde mir nutzbar machen zu konnen t ehe ich an den 
Text der eigenen gebe. [Absatz] Auf diese lenke ich nun zuruck. Das 
ist mir dadurcb erleicbtert, da$ zwar die Arbeit uber Eduard [Fuchs] 
m'tr nicbt von den Scbultern genommen ist - und das war aucb nicht 
zu erwarten - aber ibr Termin nicht unwesentlich binausgeriickt 
wurde\ 

21. benjamin an scholem. Paris, 29. 3. 1936 (zit. Sdiolem, Walter Benjamin 
- die Gesdiidite einer Freundschaft, a. a. O., 249) 

Den Fuchs babe ich wieder einmal auf seine lange Bank gescboben. 

22. BENJAMIN AN GRETEL ADORNO. PARIS, O. D. [Juli 1 936] 

Ich denke, dafl ich im Lauje des Monats Paris verlasse. Wohinf Ich 
weifi es noch nicbt. [. . ./ PS Und nun geht es, heulend und zahne- 
klappernd, an den Text meines »Eduard Fuchs«. 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1327 

23. BENJAMIN AN HORKHEIMER. PARIS, I 5- 7- I936 

Groethuysen verlafit dieser Tage die Stadt, und auch Etiemble geht 
kurz darauf in die Ferien. Ich selbst habe nut die Ruckkehr des letzte- 
ren abgewartet y um mid) endlich von Paris loszumacben. Mein Ziel 
wird vermutlich wieder Danemark sein. Ich werde dort eine Weile bei 
Brecht bleiben. Fur diesen daniscben Aufenthalt ist die Arbeit uber 
Fuchs endgultig angesetzt. 

24. BENJAMIN AN HORKHEIMER. SKOVSBOSTRAND PER SVENDBORG, IO. 8. 1 936 

(Briefe, 718) 
Sollte sich fur das Institut meine Berichterstattung [uber eine Ta- 
gung in Pontigny] lohnen> so wiirden Sie mir gewifi die Teilnahme 
an der Tagung im Rabmen der Angaben meines letzten Brief es ermog- 
lichen. Andernfalls wiirde icb nocb in den September binein in Dane- 
mark bleiben, um den fertigen Aufsatz uber Fuchs nacb Paris mitzu- 
bringen. 

25. BENJAMIN AN HORKHEIMER. PARIS, 13. IO. 1936 (Briefe, 722 f.) 

Bevor icb meinen Bericht aufnebme t mochte icb Ibnen meiner setts 
berzlicben Dank dafur sagen, dafi Sie den biesigen Aufenthalt von 
Wiesengrund moglicb gemacht haben. [. , ./ Unser nachstes Gespracb 
wird hoffentlich um dieses Fundament [scil. Adornos Arbeit uber 
Husserl] bereichert sein t ebenso wie um gewisse Abschnitte meines 
Bucbs, die ich nacb Abschlufi der Fuchs- Arbeit in Angriff zu nehmen 
gedenke. 

26. BENJAMIN AN HORKHEIMER. PARIS, 1 7. 12. I936 

Sie haben gewifi zunachst dem Institut zuliebe Wiesengrunds Kom- 
men hierher ermoglicht. Das scbliefit nicbt aus t da /I Sie mir damit 
ein personliches Gescbenk gemacht haben, Und es ist mein ErsteSy 
Ihnen dafur zu danken. [AbsatzJ ]e ofier Wiesengrund und ich dazu 
gelangen } die weit auseinander liegenden Bezirke, denen unser e Ar- 
beit in den Jahren vor unser em Wiedersehen im Oktober gegolten 
bat y gemeinsam zu durchstreifen y desto mehr bewahrt sich die Ver- 
wandtscbafl unser er Intentionen. Sie ist so ursprunglich , dafi sie auf 
die Beruhrung im Stofflichen verzichten kann, ohne darum weniger 
deutlich, ja kontrollierbar zu sein. So sind die letzten Gespradoe, die 
sich bald mit der Husserlanalyse, bald mit erganzenden Reflexionen 
zur Reproduktionsarbeity bald mit Sohn-Retbels Entwurf befafiten, 
fur uns von wirklicber Bedeutung gewesen. [AbsatzJ Der letzte 
Abend gait meinem Pariser Buch. Aber es hat auch sonst in unser e 
Gespracbe hineingespielty und Wiesengrunds Vorschlag y Sie mbchten 
mich mit einer Arbeit uber Jung betrauen y ist aus solchem Gespracb 



1328 Anmerkungen zu Seite 465—505 

erwachsen. Ich glaube, dajl es ein gliicklicher Vorschlag ist; immerhin 
mufl icb Ibnen mitteilen, was im ubrigen Wiesengrund bekannt ist: 
daft icb bisber sebr wenig von Jung gelesen babe. - Wiesengrund will 
mir die wichtigste Literatur von ibm und seiner Scbule nacbweisen. 
[Absatz] Selbstverstdndlich kann mir dieses wie jedes andere Tbema 
erst nahertreten, wenn die Arbeit Uber Fucbs vorliegt. Durcb den Be- 
such, den wir dem alten Mann gemeinsam gemacht haben, ist seine 
begreifliche Verstimmung beboben worden. 

27. BENJAMIN AN ADORNO. PARIS, 2$. I. 1937 

Die meinen Sobn angehenden Dinge steben leider trube. [. . ./ Das 
lastet auf mir. Das schauerlicbe Klima verbessert meine Disponibilltdt 
nicbt. In solchen Perioden ist es ratsam, sich an die Arbeit zu batten. 
Icb babe micb an die Textierung des Fucbs gemacht. Freilicb glaube 
icb bis zum Abschlufi noch drei Wocben zu brauchen. 

28. BENJAMIN AN HORKHEIMER. PARIS, 3 1. I. 1 937 (Brief e, 727) 

Was micb betrifft, so bin icb ausschliefllich mit der Arbeit uber Fucbs 
bescbdfligt. In drei Wochen soil der Text vorliegen. Zur Grundlage 
der Darstellung macbe icb die Doppelnatur des Mannes, die er als 
Popularisator und Sammler entjaltet hat. Icb boffe so neben den 
nicbt zu ubersebenden Grenzen seiner Leistung die bedeutsamen Zuge 
seiner Natur zur Geltung zu bringen. 

29. ADORNO AN BENJAMIN. OXFORD, 1 7. 2. 1 937 

Schdnsten Dank fur Ihre Worte und gute Wiinsche zum Abschlufi der 
Fuchs-Jagd - hier denn also erhalten Sie mein kleines Beutestiick, 
Herrn Mannheim [s. Adorno, Das Bewufksein der Wissenssoziolo- 
gie, inrGesammelte Sdiriften, Bd. io.i: Kulturkritik und Gesellschafl: I, 
hg. von R. Tiedemann, Frankfurt a. M. 1977, 31-46; veranderte 
Version], der leider nicht einmal die einzige mogliche Entschuldi- 
gung seiner Bucher, pornographisdae Illustrationen, beizubringen hat. 
[. . .] Auf den Fuchs bin ich hochst gespannt. 

30. BENJAMIN AN HORKHEIMER. PARIS, 28. 2. 1937 

Mit gleicher Post sende icb Ibnen die Arbeit uber Fucbs. [Absatz J 
Sie wissen am besten, wieviel Welt- und Privatgescbichte sich ereignet 
bat, seit der Plan der Arbeit zum ersten Mai auftauchte. Dafl er auch 
innere Scbwierigkeiten hatte> haben wir im Gespracb beruhrt. Sie 
baben dem durcb die Zeit, die Sie mir gewahrten, im weitesten Sinne 
Rechnung getragen, und ich ergreife die Gelegenbeit, um Ibnen, mit 
endlich etwas erleichtertem Gewissen, da fiir zu danken. [Absatz] Bei 
der Arbeit habe ich an das Goethe-Wort denken miissen »Das Alter 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1329 

verliert eines der grofiten Vorrechte: von seinesgleichen beurteilt zu 
werden.* Wenn ich Fuchs dieses Vorrecht nicht verschaffen konnte, 
so habe ich doch das, was mix als recht und richtig erschien, fur Fuchs 
teils so erfreulich, teils so wenig unerfreulich wie moglich darzustellen 
versucht und gleichzeitig danach gestrebt, der Arbeit ein allgemeine- 
res Inter esse zu geben. Dlese Absicbt verband sich mit der, den Teilen 
der Arbeit, in denen icb mich kritisch mit der Methode von Fuchs be- 
fasse, positive Formulierungen zum historischen Mater ialismus abzu- 
gewinnen. Meinen ursprunglichen Gedanken, die Studien, die ich 
1934 in der »Neuen Xeiu gemaclrt habe, in diesem Zusammenhang 
mitzuverwerten, habe ich beibehalten. [Absatz] Fuchs habe ich das 
Manuskript nicht gegeben, da ich Wert darauf lege, dafi Sie es zuerst 
sehen. Sein Exemplar mochte ich ihm bringen, nachdem ich Ihre Be- 
stdtigung der Arbeit erhalten habe. 

31. BENJAMIN AN ADORNO. PARIS, I. 3. I937 

Den simplen Umstand meines mehrtdgigen Schweigens haben Sie sich 
- ich bin dessert sicher - auf die naheliegende Weise erkldrt. Nachdem 
die Abfassung der Arbeit uber Fuchs einmal in ihr kritisches Stadium 
getreten war, hat sie Tag und Nacht keinen andern Gegenstand in 
meiner Nahe geduldet. [Absatz J Wenn ich ihr nun, nach dem Ab~ 
schlufi, nichts anderes zu danken h'dtte, so bliebe immer noch die be- 
sonders reine Stimmung, in der ich an die Lekture Ihrer Arbeit uber 
Mannheim gehen konnte. Nun erst habe ich mir ganz davon Rechen- 
schaft ablegen konnen, wie tief die Analogie unserer Aufgaben, mehr 
noch der Position, in die sie uns versetzte, ging. Da waren zunachst 
einmal in de[m], kantisch zu reden, »eklen Miscbmasch* abgestandner 
Gedankenschusseln, aus denen Krethi und Plethi gespeist haben, che- 
mische Scheidungen vorzunehmen. Aus der Sudelkuche war das 
Ganze ins Laboratorium zu praktizieren. Und dazu kam zweitens 
die Urbanitdt gegen den dubiosen Kilchenchef selbst, deren wir uns, 
Sie in etwas geringerem, ich leider im ausgiebigsten Mafie zu befleifii- 
gen hatten. Ich glaube, wir konnen einander dabei eine sehr ehren- 
werte Kontenance bestdtigen, die nicht immer leicht zu bewahren 
war. [Absatz] Und ich sehe, dafi wir uns an den gleichen Kunstgriff 
gehalten haben: unser Eigenstes dabei, unauffdllig aber ohne Zuge- 
standnisse, zu fordern. Wenigstens bei Ihnen finde ich einige sehr 
weittragende Formulierungen, von denen ich nicht genug sagen 
wurde, wenn ich mein Einverstandnis mit ihnen bekunden wiirde. 
Vielmehr finde ich meam rem in ihnen mit aufierordentlicher Vertraut- 
heit gehandhabt und so, dafi fur mich neue, vollkommen originale 
Aspekte an dieser Sache aufgehen. Ich stelle zwei ganz besonders 
wichtige Satze her aus, mit denen ich mich, wenn ich so sagen darf, 



1330 Anmerkungen zu Seke 465—505 

wie mit einem Geschenk gefreut habe: die Feststellung (S. 16 [; s. 
Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, a. a. O., S. 38J) daft der 
Primal des gesellscbaftlichen Seins vor dem Bewufttsein wesentlich 
methodische Bedeutung habe; und die Verweisung (S. 19 [; s. Ador- 
no, Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, a. a. O., S. 42 J) des Beispiels 
aus dem Bereich der dialektischen Methode. Solche Erkenntnisse 
machen eine Musik im Denken, an der ich eine tiefe Freude habe. 
[AbsatzJ Daft mir alles, was Sie Mannheim applizieren, zehnfach 
und hundertfach verdient zu sein scheint, wissen Sie. (Ich denke mir 
die englische Ausgabe seines Buches gem als livre de chevet von Mac- 
Donald.) Wunderschon ist die Stelle vom Jagersmann (der Mann- 
heimsche muft der aus dem Struwwelpeter sein). Im ubrigen erweckt 
Ihre Anzeige weit mehr Verachtung fiir dieses Buck als sie sie zum 
Ausdruck bringt und das beweist, daft Sie das stilistische Problem ge- 
lost haben. [AbsatzJ Sie merken, daft ich en connaissance de cause 
rede. Ich kann in der Tat nicht leugnen, dafl auch bei meiner Beschaf- 
tigung mit Fuchs Verachtung der Affekt war, der in mir genau in dem 
Mafle wuchs als meine Bekanntschaft mit dessen Schriften zunahm. 
Ich hoffe, das ist in meiner Arbeit nicht spiirbarer als der entspre- 
chende Tatbestand in der Ihren. Im Ubrigen gibt es Beriihrungen an 
ganz unvermuteten Stellen - so die Erwahnung Wedekinds bei Ihnen 
und mir; es ist als trate man vor die Tur einer Spelunke, um in 
frischer Luft tief Atem zu holen. [AbsatzJ Das Bild der Spelunke 
hat mich bei meiner Arbeit auch sonst getrostet. Ich vergleiche sie mit 
der Aufgabe eines Mannes, der an Ubel beleumundetem[?J One einen 
alten traurig herabgekommenen Bekannten vom Schlagflufi geruhrt 
auffindet und aus dessen letztem Willen erfahrt, der Ungluckliche 
wiinsche auf einem Bergfriedhof beigesetzt zu werden. Der Transport 
der Leiche ist kein Vergnugen; hofjen wir, daji die Trauergesellschaft 
sich an dem Ausblick erbaue, der von dem Berg aus zu haben ist. So 
etwa habe ich xara <pgeva xai Kara dvfiov des oftern zu mir ge- 
sprochen, wahrend ich schrieb. [AbsatzJ Die Arbeit geht mit glei- 
cher Post an Sie ab. Vom Zustand des Manuscripts gilt ungefahr, was 
von dem Ihrigen. [. . .] - In der rue d y Ulm [Pariser Buro des 
Instituts fiir Sozialforschung in der Ecole normale superieurej sind 
die Manuscripte der fdlligen Nummer der Zeitschrift noch nicht ein- 
getroffen. Ich hoffe sehr, daft Sie inzwischen von Max gunstige Nach- 
richt haben. Freilich will ich Ihnen nicht verschweigen, daft ich in 
einer Verzogerung des Erscheinens ein Gutes dann sake, wenn auf 
diese Weise Ihre und meine Arbeit ins gleiche Heft kommen kbnnten. 

32. BENJAMIN AN ADORNO. [PARIS,] 1 6. 3. 1 93 7 

Ich erwarte sehr, Sie Uber »Eduard Fuchs* zu vernehmen. 



Anmerkungen zu Seite 46^—505 133 1 

33. HORKHEIMER AN BENJAMIN. [NEW YORK,] 1 6. 3. 1 937 

Ihren Brief vom 28. habe ich erhalten, ebenso Ihre Arbeit iiber Fuchs. 
Zu dieser begluckwunsche ich Sie und uns. Ich habe sie mit der grofiten 
Freude gelesen. Sie haben diese Aufgabe, die Ihnen aus den verschie- 
densten Grunden nicht leicht gefallen ist, schliefilich dock so gelost, 
dafi die eigentlichen theoretischen Intentionen der Zeitschrift durdi 
sie gefordert werden. 

Die Manuskripte zu alien grundsatzlichen Beitragen der Zeitschrift 
bilden bei uns immer den Gegenstand von Diskussionen, in denen 
Einwurfe anderer Mitarbeiter mit dem Autor beraten werden. Da wir 
uns leider jetzt nicht sprechen, so teile ich Ihnen meine Anregungen, 
die fast ausschliefilich Kleinigkeiten betreffen, schrifllich mit und er- 
warte Ihre Stellungnahme. 

Seite 4, letzter Satz des ersten Absatzes*: 
Dahinter steckt eine ganze Philosophic, die der Leser schwer erra- 
ten kann. Besonders der Relativsatz, bei dem ich iibrigens nach dem 
Wort »nicht« ein »als« einfiigen wiirde, klingt geheimnisvoll. Da ich 
glaube, dafi es sich um einen wichtigen Gedanken handelt, schlage 
ich vor, noch einen erklarenden Zusatz zu machen; sonst ware es 
richtiger, den Satz zu streichen. 
Seite 5, Anmerkung 2. Ich halte es fur bedenklich, die 
konstruktive Natur der dialektischen Untersuchung durch ein Zitat 
aus der Neuen Zeit zu belegen, das bei all seinen Qualkaten dieser 
Funktion doch nicht geniigen kann. Ich mochte es gerne streichen. 
Uberhaupt erbitte ich mir die Erlaubnis, im ersten Kapitel, wo es 
sich um grundsatzliche Fragen der historischen Dialektik handelt, 
die in der Zeitschrift im Grunde in alien entscheidenden Aufsatzen 
behandelt wird, dort Striche zu machen, wo es im Hinblick auf das 
Gesamtbild der Zeitschrift wiinschenswert erscheint. Der Gedanke 
einer Zerschlagung der Geistesgeschichte, den Sie darin ausfiihren, 
mufi natiirlich ganz erhalten bleiben, da es ja um Fuchsens BegrifF 
der Kulturgeschichte zu tun ist. Andererseits darf es aber nicht so 
erscheinen, dafi hier unser gemeinsames Gesamtthema, namlich die 
historische Dialektik, gleichsam als Einleitung zu einem besonderen 
Auf satz auf fiinf Seiten resumiert werden soil. Einem solchen 
Mifiverstandnis wird zum Teil schon dann abzuhelfen sein, wenn 
Sie darein willigen, dafi wir die Kapiteluberschriften, die in dieser 
Weise in der Zeitschrift nicht ublich sind, fallen lassen. 
Seite 8, Anmerkung. Mit dem zweiten Satz dieser Anmer- 
kung tun Sie Fuchs insofern unrecht, als das Prinzip, das im ersten 

* Die Seiten- und Zeilenangaben in diesem Brief beziehen sich - wie audi diejenigen in 
den Brief en 35, 45 und 46 - auf das nicht erhaltene Schreibmaschinenmanuskript von 
Benjamins Aufsatz. 



133 2 Anmerkungen zu Seite 465—505 

verkiindet wird, im Aufsatz unmoglich ganz durchzuhalten war. 
Fudis ersdieint fiir den unkundigen Leser darin als Sozialdemokrat. 
Auf Grund seines Verhaltens in und nach dem Krieg hat er jedoch 
gezeigt, dafi er besser ist, als es nach einer solchen Beurteilung 
scheinen konnte. Ich schlage daher vor, dafi Sie, wenn nidit ganz 
besondere Griinde obwalten, den zweiten Satz der Anmerkung fal- 
len lassen. Man konnte ihn stehen lassen, wenn er selbst etwa die 
Erlaubnis gabe, einen Zusatz zu machen, aus welchem hervorgeht, 
dafi ihm die Heimfiihrung der deutschen Kriegsgefangenen aus 
Rufiland infolge seiner guten personlichen Beziehungen zu Lenin 
moglich war, oder wenn er mit der Anmerkung in ihrer gegenwar- 
tigen Form einverstanden ist. 

Seite 13, erster Abschnitt. Ich kann diese Seite nicht 
uberblattern, ohne Ihnen zu sagen, dafi ich einige Satze darin zu 
den wertvollsten der ganzen Arbeit zahle. Die Formulierung, dafi 
der Positivismus in der Entwicklung der Technik nur die Fort- 
schritte der Naturwissenschaft, nicht die Ruckschritte der Gesell- 
schaft erkannt hat, erhellt weite Gebiete der Ideologie des neun- 
zehnten Jahrhunderts. Sie ist mir umso wertvoller, als in meinem 
jetzt im Satz befindlichen Positivismus-Aufsatz [s. Max Hork- 
heimer, Der neueste Angrifr* auf die Metaphysik, in: Zeitschrift fiir 
Sozialforschung 6 (1937), 4-53] diese Seite unbehandelt blieb. 

Seite 15, Anmerkung. Im Text fehlt die Bezeichnung der 
Stelle, zu welcher die Anmerkung gehoren soil. Das Anfiihrungs- 
zeichen auf der drittietzten Zeile von unten nach . . , sein. ist mir 
nicht ganz verstandlich. Dieser Satz ist doch wohl kein Zitat. - Sie 
werden ubrigens gewahr werden, wie genau diese Anmerkung zu 
dem Marcuseschen Aufsatz liber den Begriff der affirmativen Kul- 
tur [s. Herbert Marcuse, t)ber den affirmativen Charakter der 
Kultur, in: Zeitschrift fiir Sozialforschung 6 (1937), 54-94] pafit, 
der ebenfalls gegenwartig im Satz ist. 

Seite 16, Zeile 2-3 v. o. Uber die Frage, inwiefern das 
Werk der Vergangenheit abgeschlossen ist, habe ich seit langem 
nachgedacht. Ihre Formulierung mag ruhig so stehen bleiben, wie 
sie ist. Personlich mache ich das Bedenken geltend, dafi es sich audi 
hier um ein nur dialektisch zu fassendes Verhaltnis handelt. Die 
Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Ab- 
geschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Un- 
recht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirk- 
lich erschlagen. Letzten Endes ist Ihre Aussage theologisch. Nimmt 
man die Unabgeschlossenheit ganz ernst, so mufi man an das 
Jiingste Gericht glauben. Dafiir ist mein Denken jedoch zu sehr 
materialistisch verseucht. Vielleicht besteht in Beziehung auf die 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1333 

Unabgeschlossenheit ein Untersdiied zwischen dem Positiven und 
Negativen, so dafi das Unrecht, der Schrecken, die Schmerzen der 
Vergangenheit irreparabel sind. Die geiibte Gerechtigkeit, die Freu- 
den, die Werke verhalten sich anders zur Zeit, denn ihr positiver 
Charakter wird durch die Verganglichkeit weitgehend negiert. Dies 
gilt zunachst im individuellen Dasein, in welchem nicht das Glikk, 
sondern das Ungluck durch den Tod besiegelt wird. Das Gute und 
das Schlechte verhalten sich nicht in gleicher Weise zur Zeit. Audi 
fiir diese Kategorien ist die diskursive, dem Inhalt der Begriffe 
gegeniiber gleichgiiltige Logik daher unzulanglich. - Verzeihen Sie 
diese Abschweifung. Ich wollte keine Anderung vorschlagen, son- 
dern Ihnen nur meine Assoziation mitteilen, 

Seite 18, Anmerkung, Zeile 6. Mufi es nidit Georges 
Grosz heiflen? 

Seite 19, Zeile 8-9 v. o. Hier gilt Ahnliches wie fiir Seite 
4, letzter Satz des ersten Absatzes, nur mit dem Untersdiied, dafi 
mir hier der Gedanke selbst als problematisdi erscheint. Ich weifi 
nidit, wie der Historiker sich vor dem Gegenstand als Gerichtsstand 
(ist der sprachliche Gleichklang beabsichtigt?) uber seine Beglaubi- 
gung ausweisen soil. Vielleicht nehmen Sie diesen ganzen Satz von 
»Das kann . . .« an nodi einmal unter die Lupe. 

Seite 21, Zeile 6 v. o. bis Seite 23, Zeile 5 V. o. 
Gegen diesen Abschnitt habe ich Bedenken. Ich stimme dem Gedan- 
ken selbst durchaus zu, wenn er nicht in der Allgemeinheit belassen 
wird, wie er hier auftritt. Der Hafi ist gewifi ein Moment der 
Theorie. Aber es kommt dabei sehr auf die Theorie an. In Ihrer 
Formulierung scheint der Hafi gleichsam fiir sich allein metaphy- 
sisch verklart zu werden. Der Hafi ist jedoch nicht der Begriff, der 
aus der materiaiistischen Dialektik herausfallen diirfte. Wenn Sie 
mit Recht sagen, dafi der destruktive Impuls bei Marx sehr stark 
gewesen sei, so ist doch einerseits audi der konstruktive Impuls bei 
ihm stark gewesen, und andererseits stellen neun Zehntel aller 
Haftphanomene, die uns heute begegnen, den unmittelbaren Aus- 
druck der Konkurrenzgesellschaft dar und keineswegs eine kritische 
Reaktion auf sie. Sie haben ganz recht, aufierst skeptisch gegen die 
Liebe und das Schone und Gute in dieser Gesellschaft zu sein. Hier 
ist jedoch an ein altes methodologisches Problem der Dialektik zu 
erinnern. Die Kritik der Liebe, die ihr das sie ausschliefiende Ge- 
genteil, den Hafi, gegeniiberstellt und dabei stehen bleibt, ware 
ein blofi mechanisches Verfahren und miifite notwendig zu ahnlichen 
Hypostasierungen fiihren wie die bekampfle Position. Der Haft ist 
an sich ebensosehr ein psychologisches Datum wie die Liebe. Um 
Ihren Gedanken, dessen Motive ich wenigstens teiiweise zu erraten 



1334 Anmerkungen zu Seite 465—505 

meine, richtig geltend zu machen, miiftte wenigstens angedeutet 
werden, daft es historische Situationen gibt, in denen es vor allem 
auf dieses Negative, den Haft ankommt. Audi dies ware noch viel 
zu abstrakt, denn vorerst sind es ja die Nazis, die theoretisch und 
praktisch den Haft betatigen, den Sie bestimmt nicht verherrlichen 
wollen. Wahrend ich schon frtiher gegen die zuweilen an Stirner 
und andere Junghegelianer erinnernden nihilistischen Ziige der 
Linken Bedenken hatte, scheint mir heute in einer oppositionellen 
Gesinnung und Praxis die Konservierung einzelner mit Vernichtung 
bedrohter gesellschaftlicher Elemente an Wichtigkeit noch zuzu- 
nehmen. Nicht bloft eine bestimmte Art von Liebe, sondern auch 
der Haft als Massenphanomen resultieren aus dem Mechanismus 
der »Verinnerlichung«, den ich im Egoismus-Aufsatz [s. Max 
Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung, in: Zeitschrift fiir 
Sozialforschung 5 (1936), 161-234] anzudeuten versuchte. Auch 
die Propagierung des Hasses bleibt wie die aller anderen psychischen 
Verhaltungsweisen sentimental und unmateriaiistisch, wenn nicht 
die Einseitigkeit auch eindeutig wieder aufgehoben wird. Im Ge- 
gensatz zum Metaphysiker und Theologen kommt es dem Kritiker 
der politischen Okonomie nicht auf Gefuhle, auch nicht auf den 
Haft, sondern auf eine verniinftige Gesellschaft an. 
Auch diese Bemerkung soil nicht so sehr ein Vorschlag zur Ande- 
rung des Absatzes als eine durch Ihren Text veranlaftte Aufterung 
zu der philosophischen Diskussion sein, die immer noch zwischen 
uns aussteht. Wenn ich anrege, den Absatz zu streichen, so ge- 
schieht es weit mehr wegen einiger innerwissenschaftlicher und tak- 
tischer Einwiirfe. Taktisch .halte ich die Anmerkung 2 auf Seite 21 
deswegen fur unrichtig, weil die Primitivitat Fuchsens im ganzen 
Text wohl so nachhaltig gegeiftelt wird, daft Sie ihm diesen Hieb 
ersparen konnen. Aufterdem leben wir in einer Situation, in der 
gerade solche materialistischen Naivitaten, wie die hier angegriffene 
wenn auch gewift nicht in Beziehung auf Picasso, so doch in Be- 
ziehung auf sehr viele rechte und linke Reprasentanten des Gei- 
steslebens nicht selten in Wahrheiten umschlagen. Wissenschaftlich 
konnte bemangelt werden, daft Sie eine Aufterung Lafargues zitie-" 
ren, in der Marx fiir eine Ansicht belobt wird, die in der biirgerli- 
chen Theorie seit Machiavelli gang und gabe war. Eben deshalb ist 
es auch nicht aufschluftreich, wenn Lafargue in diesem Punkt ge- 
rade Vico als Marxens Vorlaufer ansieht. Wenn wir selbst davon 
absehen, daft es sich um eines der bekanntesten Prinzipien in Hegels 
Geschichtsphilosophie handelt, so denkt jeder dabei mit Recht lange 
vorher an Mandevilles Bienenfabel, ehe er auf Marx und Vico 
kommt. Es ist daher nicht zu empfehlen, Burke gerade den Vico 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1335 

entgegenzusetzen, und dies umso wemger, als Burke ein ebenso 
zufallig herausgegriffener Vertreter der Gegenthese ist. 

Seite 27, Zeile 1*4 und 15 v. o. Fuchs hat mir gegen- 
iiber des ofteren verneint, dafi er jemals zur Lehre Freuds gefiihrt 
worden sei. Er meinte damals, er sei selbstandig zu verwandten 
Anschauungen gekommen. Sollten Sie des Gegenteils nidit ganz 
gewifi sein, so ware Ihre Formulierung eventuell durch Ruck- 
sprache mit Fuchs zu klaren. Andernfalls schlage ich folgende oder 
eine ahnliche Formulierung vor: ». . . die Fuchs spater zu Konzep- 
tionen fiihrte, die der Psycho- Analyse verwandt sind; er hat sie als 
erster fur die Kunstwissenschaft fruchtbar gemacht«. - Sind die 
. auf die Kunstwissenschaft beziiglichen Aufsatze Freuds iibrigens 
wirklich erst spater erschienen? 

Seite 28, Zeile 7 v. o. Die Beziehung des »ihn« ist nicht 
ganz eindeutig. Vielleicht werden Sie am besten das Wort »Preis« 
wiederholen. 

Seite 28, Zeile 8-9 v. o. Sollte man den So-Satz nicht 
streichen? Gibt es ein Verbum »wundern«? 

Seite 30, Zeile 10 v. o. Das Wort »rebellisch« hat in unse- 
ren Arbeiten gewohnlich eine ziemlich genau umrissene negative 
Bedeutung. Wenn es Ihnen recht ist, setzen wir »eigenwilliges« 
oder etwas ahnliches. 

Seite 30, Anmerkung Zeile 5-6. Meiner Ansicht nach 
kann man von Palma Vecchio, Tizian und Veronese nicht sagen, 
ihre Kunst sei »keineswegs eine realistische« gewesen. Entscheiden 
Sie jedoch selbst. 

Seite 30, Anmerkung Zeile 9-13. Ich schlage vor, von 
»Er« bis »Gartenwirtschaft« zu streichen. Welcher Materialist hat 
jemals behauptet, dafi der Austauschprozefi »in alien Elementen« 
die Produktion bestimmt? Der Marxschen Lehre liefe dies jedenfalls 
direkt zuwider. Der letzte Satz der Anmerkung ist mir unver- 
standlich, ebenso sein Zusammenhang mit dem vorhergehenden. 

Seite 31, Zeile 18 v. o. Ich wiirde statt »Sie« »Diese« 
setzen. 

Seite 36, Schlufizitat. Ist dies taktisch geschickt, nachdem 
Fuchs gegenwartig In Deutschland und auch sonstwo als Jude gilt? 
Falls das Zitat belassen wird, sollte wenigstens irgendwo ein Wort 
stehen, dafi er ebensowenig einer ist wie Cousin Pons. 

Seite 41, Zeile 10-14. Diesen Satz kann ich nicht ver- 
stehen. 

Seite 41, Zeile 16 bis unten. Der Hinweis auf die 
Reformation erscheint mir in dieser Verkurzung problematisch. 
Auch die These, die dadurch gestutzt werden soil und die an einen 



1336 Anmerkungen zu Seite 465—505 

heift umstrittenen Fragenkreis riihrt, wird vielleicht besser nidit so 
beilaufig aufgestellt. Selbst wenn »gewisse Entstellungen« in der 
Vergangenheit niitzlich gewesen sind, bin ich angesiciits der gegen- 
wartigen Praxis unserer Freunde nidit dafiir, diesen Umstand zu be- 
tonen. Augenblicklich kommt es mehr als je auf die Wahrheit an. 
Seite 42. Die Kapiteliiberschriften fallen, wie gesagt, besser weg. 
Wenn Sie auf der Erhaltung bestehen, so gilt gegen diesen Titel 
dasselbe, was oben iiber die Psycho-Analyse gesagt wurde. 
Seite 42, Zeile 4 und 5 v. o. Es wird nicht klar, worauf 

»dieses« sich hier bezieht. 
Seite 42, Zeile 11 v. o. Die Relativitat der Werte ist kein 
Hauptstiick des historiscben Materialismus, sondern eines der biir- 
gerlichen Philosophic Der historische Materialismus enthalt diese 
Lehre wie viele andere idealistische Theorien aufgehoben in sich. Es 
wiirde zu weit fuhren, dies hier darzulegen. Ich schlage daher vor, 
die Klammer wegzulassen. 
Seite 4 5 , Z e i 1 e 16 v. o. Es ist nicht sicher, ob Fuchsens Pu- 
ritanismus durch Obernahme der Verdrangungstheorie verandert 
worden ware. Freud selbst ist gewifi feindlich genug. Ich mochte 
statt »notwendig« »vielleicht« setzen. 
Seite 45, Zeile 18-19. Im bewufken okonomischen Inter- 
esse des Einzelnen ist nicht notwendig das Interesse der Klasse 
wirksam. Zwischen beiden bestehen vielmehr Widerspruche, sowohl 
in der Kapitalistenklasse wie erst recht im Proletariat. Der auf sein 
egoistisches • okonomisches Interesse bedachte Arbeiter pflegt be- 
kanntlich in Gegensatz zur Klasse zu geraten. Ich rate daher 
dazu, diesen Satz umzuformulieren. 
Seite 45, Zeile 2 v. o. Sind Sie damit einig, »wiederer- 

schlossen« durch »erschlossen« zu ersetzen? 
Seite 51, Zeile 7 V. o. Soil es tatsachlich »komplimentiert« 

heifien oder ist dies ein Tippfehler? 
Seite 52, Zeile 15-19 v. o. Hier ist sicher irgendwo ein 

Tippfehler passiert. 
Keine der obigen Bemerkungen scheint mir fiir den Gedankengang des 
Aufsatzes wesentlich zu sein. Selbst wenn Sie alien Anregungen Rech- 
nung tragen, konnen Sie dies durch relativ geringfiigige Anderungen 
erreichen. Die philosophischen Differenzen beziehen sich auf Themen, 
die hier nur »beiherspielen«, und ich habe meine Anmerkungen, wie 
schon erwahnt, vornehmlich deshalb mit einiger Ausfiihrlichkeit ge- 
macht, weil ich annahm, dafi Sie selbst ein sachliches Interesse daran 
haben. Aufterdem soil dadurch, dafi wir jetzt schon iiber diese Ande- 
rungen korrespondieren, vermieden werden, dafi es kurz vor der 
Drucklegung zu einer Verzogerung kommt. Wenn Sie sich jetzt mit 



Anmerkungen zu Seite 465—505 r 337 

den Korrekturen nicht befassen wollen, so ist es mir audi recht, wenn 
Sie mir die allgemeine Ermachtigung erteilen, die angezeigten Stellen 
durch Streichungen oder kleinere Korrekturen so zu andern, dafi die 
meiner Ansicht nach problematischen Formulierungen verschwinden. 
Sie konnten dann seinerzeit in den Fahnen das eine oder andere immer 
noch riickgangig machen. 

Ich wiederhole mein obiges Urteil. Der Aufsatz bildet fur die Zeit- 
schrift einen besonders wertvollen Beitrag, und ich danke Ihnen da- 
fur. 

Einen einzigen kleinen Gedanken habe icii vermifit, der zwar Fuchs 
gegeniiber wenig schmeichelhaft, der Sache nach aber aufschluftreich 
wirken konnte. Es wird namlich nirgendwo angedeutet, dafi bei ailem 
Puritanismus der Erfolg der Fuchsschen Publikationen nicht zum ge- 
ringsten Teil darauf zuriickzufuhren ist, dafi sie auf dem Markt als 
Pornographie gesucht wurden. Der Umstand, dafi er selbst dies nie in 
Rechnung zog, ja nicht einmal in Rechnung zu ziehen fahig war, ge- 
reicht ihm nicht unbedingt zur Ehre, gehdrt jedoch zum Verstandnis 
seiner schriftstellerischen Existenz. Ich iiberlasse es Ihnen, ob Sie 
irgendwo noch ein kleinen Satzchen oder einen Absatz hinzufiigen 
wollen, in dem dieses Sachverhalts gedacht wird. 
Nun zur grofien Frage, wie Sie Fuchs das Manuskript zuganglich 
machen. Wie sehr ich auch der Uberzeugung bin, dafi dieser Aufsatz 
schon wegen seines theoretischen Gewichts ihm zur grofien Ehre 
gereicht, so bin ich doch nicht sicher, dafi er nicht in furchtbaren Zorn 
ausbricht. Um sich iiber den Aufsatz zu freuen, miifite Fuchs entweder 
sehr naiv oder iiberragend sein. Da er beldes nicht ist, wird er schimp- 
fen. Uberlegen Sie mit Pollock, der mit dem gleichen Schirf wie dieser 
Brief ankommt, was zu tun ist. Ich bin mit dem einig, was Sie beide 
beschliefien. Meine Bestatigung fiir die Arbeit haben Sie in vollem 
Umfang. Sie wird im Sommerheft dieses Jahrgangs erscheinen. 
Sie werden mit Pollock auch iiber Ihre kiinftige Arbeit sprechen. Der 
Plan, iiber Jung zu schreiben, scheint mir nicht unbedingt glucklich zu 
sein. Ich zoge ein Thema vor, das unmittelbarer an Ihr Buch fscil. 
das Passagenwerk] hinfuhrt. Am liebsten ware es mir, wenn Sie 
Pollock, der ja relativ rasch wieder hierher zuriickkehrt, einige Vor- 
schlage mit auf den Weg gaben. 

34. BENJAMrN AN GRETEL ADORNO. PARIS, 2J. 3. 1 937 

Vieles von dem, was ihnen [sell, den von Benjamin als Brief papier 
benutzten »gelben Bogen*] sonst vorbehalten bleibt, hast Dh dies- 
mal von Teddie [AdornoJ vernommen. Wir haben seinen pariser 
Tagen auch diesmal vieles Scbbne und Wichtige abgewonnen. [. . .J 
Am Tage seiner Abreise ham Friedrich [Pollock] an, den ich vorldu- 



1338 Anmerkungen zu Seite 465—505 

fig nur kurz sprach. Er versicherte mich, dafi der Fuchs driiben eine 
sehr freundliche Aufnahme gefunden habe; am gleichen Tage kam 
ein Brief an, in dem mir Max [Horkheimer] das bestdtigte. Die 
Quarantdne, die ich iiber alle Korrespondenz verhdngt hatte, war 
also dock zu etwas gut gewesen. Moglich ist t daft die Arbeit gleichzei- 
ttg mit der von Rottweiler [Pseudonym von AdornoJ erscheint. 
Noch steht mir der schwere Gang zu Fuchs bevor, dem ich sie dieser 
Tage uberbringen werde, 

35. BENJAMIN AN HORKHEIMER. PARIS, 28. 3. 1 93 J 

Ober Ihren Brief vom 16. Mdrz habe ich mich auflerordentlicb ge~ 
freut. Darf ich Ihnen, was ich letzthin angedeutet hatte, wiederholenf 
die Arbeit hatte ohne das gelassene Vertrauen, das Sie mir wdhrend 
ihrer langen Anlaufszeit entgegengebracht haben, nicht leicht eine 
befriedigende Gestalt angenommen. 

Fur Ihre ausfiihrlichen Bemerkungen zum Text danke ich Ihnen be- 
sonders. Sehr bedeutsam ist fiir mich Ihr Exkurs iiber das abgeschlos- 
sene oder aber offene Werk der Vergangenbeit. Ich glaube ihn durch- 
aus zu verstehen, und irre ich mich nicht t so kommuniziert Ihr Ge- 
danke mit einer Oberlegung, die mich ofler beschafligt hat. Mir ist 
immer die Frage wichtig gewesen, wie die merkwUrdige Sprachfigur 
zu verstehen sei: einen Krieg, einen Prozefi verlieren. Der 
Krieg, der Prozeft sind ja doch nicht der Einsatz sondern der Akt der 
Entscheidung iiber denselben. Ich habe mir das zuletzt so zurechtge- 
legt: wer den Krieg, den Prozefi verliert, fiir den ist das in dieser 
Auseinandersetzung umfaflte Geschehen wirklich abgeschlossen und 
somit seiner Praxis verloren; fur den Partner, der gewonnen 
hat, ist das nicht der Fall. Der Sieg tragi seine Fruchte ganz anders 
als die Niederlage die Folgen einheimst. Das fuhrt auf das genaue 
Gegenteil des lbsenschen Wortes: »Gluck wird aus Verlust geboren, I 
Ewig ist nur, was verloren.* 

Mit fast sdmtlichen Vorscbldgen, die Sie machen, bin ich einverstan- 
den; auch mit dem, die Kapiteliiberschriflen fortzulassen. Mir leuchtet 
ein, dajl in dieser letztern Frage Homogeneitdt des Verfahrens er- 
wiinscht ist. Vielleicht konnen wir bei unsrer ndchsten Begegnung 
iiber die Titelfrage einmal generell sprechen. - Ich bin weiter mit der 
Streichung des Absatzes uber den Hafi (S. 21-25) einverstanden. Dafi 
ich mit den Bemerkungen, die Sie zu seinem Grundgedanken machen, 
einig gehe, nehmen Sie mit Recht an. Aber auch Ihre die Einzelheiten 
des Passus angehende Kritik Uberzeugt mich. Es hatte also S. 21 
Zeile j v. u. »Gewifi kommt er* bis S. 23 Zeile $ »Kulturgeschichte.« 
wegzu fallen. Die folgenden Worte » Fuchs hat sich* schliefien dann 
an S. zi Zeile 3 v. u. »zu finden.* ohne Absatz an. 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1339 

Im folgenden beriibre icb von Ihren einzelnen Anmerkungen die 

wenigen, zu denen icb Gegenvorscbldge babe. 

Seite 4 , le titer S at z d e s er 5 t en Absatzes: 
Hierzu erbitte icb mir Bedenkzeit, ob icb den Satz streicbe oder 
durch einen Zusatz erldutere. 

Seite 5 , Anmerkun g zw ei : Sie baben vollkommen recbt. 
Aber icb babe dieses Zitat wegen de$ nacb dreifiig Jabren jrisck 
wie am ersten Tag wirkenden Scblufipassus aufgenommen, auf den 
zu verzicbten mir, offen ge$agt t scbwer fallen wiirde. Er ist so 
uberaus treffend und zeitgemdfi. 

Seite 8 , Anmerklun g : Die Sacbe stebt da, um Fucbs zu 
dienen. Icb bin mit jeder Redaktion der Bemerkung wie aucb mit 
ibrer Weglassung einverstanden. 

Seite 15, Anmerkun g : Die Anmerkung gebort zu »stiftete.« 
Zeile 12 v. u. Das Anfubrungszeicben auf der drittletzten Zeile der 
Anmerkung nacb »sein.« ist irrtiimlicb und f'dllt fort. - Icb babe 
mit Freude den in die gleicbe Ricbtung weisenden Aufsatz von 
Marcuse, in den Fabnen, gelesen. 

Seite 19, Zeile 8 - 9 : Zu dieser Stelle werde icb Ibnen nocb 
einen Vorscblag beziehungsweise mein Einverstdndnis mit der 
Streicbung mitteilen. 

Seite jo, Anmerkung Zeile $ - 6 : Icb werde versu- 
cben, das etwas vorsicbtiger zu formulieren. Vielleicht batten Sie 
einen Vorscblag dazu? 

Seite 30, Anmerkung Zeile 9-13: Icb bin mit der 
Streicbung einverstanden und bitte Sie ausnabmsweise um Erlaub- 
nis y von einer Erkldrung abseben zu diirfen. Sie ware sebr kompli- 
ziert, und der Zusammenbang verlobnt sie kaum. 

Seite 3 6 , Schlnfizitat: Zu »hraeliten.« kommt die An- 
merkung: »Cousin Pons ist natiirlicb kein Israelii; Fucbs ebenso- 
wenig.« 

Seite 41, Zeile 10-14: Das falscbe, idealistiscbe Bewufit- 
sein ist das der materialistischen Kritik unterliegende. Das fal- 
scbende, idealisierende wird von dem Moralisten Fucbs zum Vor- 
wurf seiner Kritik genommen, welcbe keine wirklicb materialistiscbe 
ist. 

Seite 4 1 3 Zeile 16 bis unten: Vielleicbt kbnnte man 
die Stelle durcb einen unsre Epocbe betreffenden einscbrdnkenden 
Zusatz erbalten. 

Seite 4 s y Zeile 18-19: Mit diesem Halbsatz wird eben 
die fragwurdige Bebauptung, die Sie aus me in en Satzen ber- 
auslesen y von mir als eine von Fucbs kritisiert. Kommt das nicbt 
klar beraus? 



1340 Anmerkungen zu Seite 465—505 

S eit e $ 1 y Z e He 7 : »komplimentierU ist kein Tippfehler; 

aber mir ist ebenso recht »von La Bruyere geleitet, in die Liter a- 

tur eingefiihrU. 
Seite $ 2 , 2 eile 15-1$: Hier liegt kein Tippfehler vor, 

sondern ein auch micb chockierender transitiver Gebrauch von 

»resultieren« bei Fuchs. 
Mit alien den Vorschlagen, zu denen ich im Vorstehenden nicbts be- 
merke, bin icb einverstanden. - Vielleicbt wiirden Sie die Freundlich- 
keit haben, mir das New-Yorker Exemplar auf ein paar Tage zu 
uberlassen } damit ich die notigen Anderungen in ihm vornehmen 
kann. 

Ich habe micb sehr gefreut, Herrn Pollock, sei es aucb nur kurz, bei 
seinem ersten pariser Aufenthalt gesprochen zu haben. Er hat mir das 
freundliche Urteil, das Sie ilber meine Arbeit abgeben, von seiner 
Seite bestatigt. Wir sind uberein gekommen y daft iob Fuchs das Ma- 
nuscript dieser Tage gebe. Pollock wird ihn aufsuchen } wenn er aus 
Genf zuruck kommt. — Sehr leid tat mir, zu vernehmen, dafi die 
Chancen Ihres Erscbeinens in Europa fur die nachsten Monate nur 
gering sind. Desto grofiere Bedeutung hat unsere stetige schriflliche 
Kommunikation. Ich hoffe s dajl sie durch die von Ihnen geplante 
Reise von Wiesengrund nach Amerika indirekt noch gefordert wird. 
In diesem Sinne war ich besonders froh y dajl Pollock mir die Aus- 
sicht eroffnete, Wiesengrund werde vor seiner Oberfahrt nochmals 
Paris beruhren. 

Ich habe es jedesmal als meine eigenste Sache betrachtet, Ihnen fiir 
die Entscheidung zu danken> durch die Sie Wiesengrunds Kommen 
hierher ermoglichten, und ich tue es fur die eben verflojlnen gemein- 
samen Tage von neuem. Bei der Isolierung, in der ich hier nicht so- 
wohl was mein Leben als was meine Arbeit betrifft, micb befinde, 
sind diese Besuche von Wiesengrund fur micb doppelt wertvolL Sein 
letzter Aufenthalt hat einige Gesprache gezeitigt, die uns lange in 
Erinnerung sein werden. In ibrem Mittelpunkt standen unter anderm 
teils die ersten Kapitel des » Fuchs «, teils die Entwiirfe von Sohn- 
Rethel. 

36. BENJAMIN AN MARG ARETE STEFFIN. PARIS, 29. 3. 1937 

Ich mochte sehr gerne die beiden Stucke von Ihnen lesen. Und icb 
kann es auch schnell tun; denn - das ist nun eine schabige Neuigkeit - 
der » Fuchs « ist nach dreieinhalb Jabren fertig geworden. Ich habe 
ihn noch nicht zu dem guten Mann, der hier lebt, beraufgebracbt, 
we'd ich Angst habe, daft er, nach der Lektiire, micb auf seine alten 
Tage vergiflen lajlt. 



Anmerkungen zu Seite 465— 505 1341 

37. ADORNO AN BENJAMIN. WURZBURG, 31. 3. I937 

Idi bin des Erfolgs Ihrer Arbeit froh: mochte er Ihnen audi beim 
Adressaten treu bleiben. Wie gern begleitete ich Sie ein zweites Mai 
die Stiegen jenes suburbanen [?] Hauses hinauf. 

38. BENJAMIN AN SCHOLEM. PARIS, 4. 4. 1 937 (Brief e, 729) 

Schmiicke mich nunmehr vox Deinem geistigen Auge mit einer Her olds- . 
riistung und versetze mich an den Bug eines die Mittelmeerbrandung 
pfeilscbnell durchscbneidenden Viermasters, denn nur so kann die 
grofie Kunde gebiihrend zu Dir getragen wet den: der »Fuchs« ist 
beendet. Sein fertiger Text hat nicht gam den Charakter der Pent- 
tenz, als die Dir die Arbeit an ihm > mit grofiem Anschein des Rechts, 
erschienen ist. Er enthalt vielmehr in seinem ersten Viertel eine An- 
zahl von wichtigen Uberlegungen zum dialektischen Materialismus, 
die provisorisch auf mein Buch abgestimmt sind. Meine folgenden 
Arbeiten werden sich auf dieses Buck nun wohl unmittelbarer zu be- 
wegen. [Absatz] Der »Fuchs« hat groflen Beifall gefunden. Ich habe 
keinen Grund zu verschweigen, dafl der mit ihm geleistete tour de force 
' ebenso betrachtlich wie unbetraohtlich sein Anlajl ist. Ich hojfe y dafl Du 
den Aufsatz vor Ablauf des Jahres noch im Druck erhalten wirst. 

39. HORKHEIMER AN ADORNO. NEW YORK, 6. 4. 1 937 

Den Fuchs-Aufsatz von Benjamin halte ich fiir sehr gelungen. Er hat 
daraus, audi im Einvernehmen mit den Unterhaltungen, die idi in 
Paris mit ihm fiihrte, keine Lobeshymne, sondern eine Kritik des 
BegrifTs der Kulturgesduchte gemacht, der nachgerade genug Un- 
heil angerichtet hat. Uber einige kleine Anderungen, die meiner 
Ansicht nach vorgenommen werden sollten, habe ich ihm ausfuhrlich 
geschrieben, und heute erhielt ich sein Einverstandnis zu den meisten 
meiner Vorschlage [Absatz] Anlafilich meiner Bedenken gegen die 
Arbeit uber Jung [s. Bd. 5, Einleitung] gibt Benjamin einige andefe 
Themen an, die er jetzt bearbeiten konnte: erstens die Konfronta- 
tion der burgerlichen und der materialistischen Geschichtsdarstellung, 
zweitens die Bedeutung der Psychoanalyse fiir das Subjekt der 
materialistischen Geschichtsschreibung. Er meint, beide Themen be- 
trafen audi die methodische Grundlegung seines Buchs [scil. des 
Passagenwerks]. Drittens halt er es fiir moglich, das Kapitel uber 
Baudelaire zuerst zu schreiben und bei uns zu veroffentlichen. Dieser 
letzte Vorschlag gefallt mir nicht bloft deshalb am besten, weil er audi 
zwischen uns schon positiv in Erwagung gezogen wurde, sondern weil 
das erste Thema dem Fuchs-Aufsatz zu ahnlich ist und das zweite 
eigentlich nur auf Grund gemeinsamer Besprechungen in der Zeit- 
schrift behandelt werden kann. 



134 2 Anmerkungen zu Seite 465—505 

40. HORKHEIMER AN BENJAMIN, [NEW YORK,] 13.4. 1937 

Heute nur einige Zeilen zur Bestatigung Ihres Briefes vom 28. Marz. 
Uber die einzelnen Abanderungen werde ich Ihnen in den nachsten 
Tagen schreiben. Im Augenblick bin ich durch Pollocks Abwesenheit 
so mit Arbeit iiberlastet, dafi die Zeit zur genauen Durchsicht jetzt 
nicht ausreicht. [. . .] Unter den von Ihnen vorgeschlagenen Auf- 
.satzthemen erscheint mir das Baudelaire-Kapitel am zweckmafiigsten. 
Gegen die Kritik der pragmatischen Historie und der Kulturge- 
schichte la'fk sich einwenden, dafi sie verhaltnismaftig viele Uber- 
schneidungen mit dem Fuchs-Artikel mit sich bringen wird. Es emp- 
fiehlt sich nicht, zwei Arbeken mit ahnlichen Inhalten in kurzen 
Abstanden zu bringen. Es ist ja der groffe Vorzug Ihrer Fuchs-Arbeit, 
daft sie sich nicht so sehr aus dem Interesse an Fuchs als aus der Pole- 
mik gegen den Begriff der Kulturgeschichte herleitet. Die Bedeutung 
der Psychoanalyse fiir das Subjekt der materialistischen Dialektik, 
das zweite Thema, hat einen anderen Nachteil. Es ist so prinzipiell 
und so sehr mit unseren gemeinsamen Interessen verkniipft, daft es 
eigentlich nur auf grund gemeinsamer Diskussionen geschrieben wer- 
den kann. HofTentlich finden diese im Verlauf des nachsten Jahres 
statt, sodafl dieser Vorschlag dann verwirklicht werden kann. Ein 
materialistischer Artlkel uber Baudelaire ist dagegen seit lange ein 
Desiderat. [. . .] Uber den Fuchs-Artikel schreibe ich, sobald es mir 
moglich ist, jedenfalls so rechtzeitig, dafi noch reichlich Gelegenheit 
zur Korrespondenz geboten ist, ehe er in Satz geht. Ich wiederhole, 
daft mir dieser Aufsatz besonders grofte Freude macht. 



41. BENJAMIN AN ADORNO. PARIS, 23. 4. I937 

Es scheint sich das Erwilnschteste zu ergeben: ndmlich dafi die Mann- 
heimkritik und die Arbeit uber Fuchs Nachbarschaft batten werden. 
Uber die vorbebaltlose Zustimmung zu der Arbeit, die Max mich 
wissen liefi, habe ich mich naturlich sehr gefreut. Und Fuchs hat mir 
einen freundlichen Brief geschrieben. [AbsatzJ Die Gelegenheit, uber 
meine Verh'dltnisse mit ihm zu sprechen, fiihrte Pollock selbst herbei. 
Auf seinen Wunsch habe ich ihm ein bescheidnes prazises Budget auf- 
gestellt, aus dem er entnimmt, dafi ein monatlicher Fehlbetrag von 
400 frcs vorliegt - im Wesentlichen (freilich nicht einzig) ein Ergeb- 
nis der Preissteigerung. Er hat mir zunachst eine einmalige Hilfe von 
1000 frcs bewilligt. Die weitere Entscheidung erwarte ich. 

41a. BENJAMIN AN POLLOCK 

Das in Brief 41 erwahnte Budget ist fraglos identisch mit einem Memorandum, 
welches den Herausgebern nicht zuganglich ist, aus dem jedoch die folgenden 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1343 

Ausziige veroffentlidit sind (s. Rosemarie Heise, Nachbemerkungen zu einer 
Polemik oder Widerlegbare Behauptungen der frankfurter Benjamin-Heraus- 
geber, in: alternative. Zeitsdirift fiir Literatur und Diskussion, Jg. 11, Heft 
59/60, April/ Juni 1968, 71): 



Ordentlicbe Ausgaben 




Miete (einschliefllich Anted an Neben- 




kosten, Telefon und Concierge) 1 


480 frs 


Essen 


720 frs 


Instandhaltung von Kleidung und Wdsche 


120 frs 


Nebenausgaben (Hygiene, Cafe, 




Briefporto usw.) 


350 frs 


Fahrgeld 


90 frs 


Sa. 


1760 frs 


Auflerordentliche Ausgaben 




Anzuge (einer im Jabr) 


So frs 


Schuhe (zwei Paar im Jahr) 


25 frs 


Wdsche 


25 frs 


Kino, Ausstellungen, Theater, drztliche 




Behandlung 


So frs 



Sa. iso frs 

1) Ich wohne mdbliert bei deutscben Emigranten. Durcb einige An- 
schaffungen - Vorhdnge, Matte, Bettuberwurf - liefle sich das Zim- 
mer so berricbten, dafi ich gelegentliob franzosisohe Bekannte bei mir 
sehen konnte. 

Ein a, a. O. auszugsweise abgedrudtter Begleitbrief - der von Heise mit 1938 
sicher falsch datiert wird - gehort wahrscheinlich ebenfalls zu der Budget- 
Aufstellung vom Friihjahr 1937, bzw. zu einer anderen Fassung derselben; 
die Ausziige lauten: 

Vom Friihjahr 1934 an habe ich vom Institut eine monatliobe Rente 
von frs 500- bekommen. Trotz mehrfacher ergdnzender Zuwen- 
dungen des Instituts habe ich in den vergangenen zwei Jahren nicht 
nur die Hilfe einiger in Deutschland verbliebener Freunde bis an die 
Grenze des Moglichen erschopfl, sondern auch einige unbetrachtliohe 
Reserven, die ich in Gestalt einzelner Autographen besafi, zu Geld 
gemacht {. . ./ Der Beschlufl des Instituts, mir zundchst eine Mo~ 
natsrente von frs 1000— auszusetzen, hat einer katastrophalen Ent- 
wicklung meiner Verhdltnisse Einhalt geboten. Sie sind nichtsdesto- 
weniger duflerst schwierig geblieben. Ich gab Herrn Horkheimer die 



1344 Anmerkungen zu Seite 46$— $05 

Hohe meines [. . ./ Monatsbedarfs mit frs 1300 an. Herr Hork- 
heimer stellte mir in Aussicht y diese Summe in New York in wohl- 
wollende Erwagung zu Ziehen [. . J Wenn id) in der Anlage ver- 
sucht babe, dem Institut eine Grundlage fur seine Entscheidung zu 
geben y so hat mich dazu mehr als meine derzeitige Lage die Hoffnung 
veranlaftt, fortan dem Institut meine Arbeit zur Verfugung zu stellen, 
ohne auf die Frage ihrer materiellen Sicherung zuruckkommen zu 
miissen. 

42. ADORNO AN BENJAMIN. OXFORD, 1 $. 4. 1 93 J 

Sollte es zu einer Diskussion zwisdien Ihnen und Fuchs kommen, so 
wiirde ich das Stichwort »Leninistisdie Selbstkritik« geben. Ich glaube, 
damit kann man ihn sidi leicht vom Halse - oder vielmehr vom Ge- 
sicht - halten. Wie gern sahe ich seinen Brief. 

43. BENJAMIN AN HORKHEIMER. PARIS, z6, 4. I937 

Fuchs hat mir gegenuber brieflich t Herrn Pollock gegenuber mundlich 
auf meine Arbeit mit Freundlichkeit reagiert. Ich bin recht froh dar- 
iiber; ich hatte es erhofft, wohl wissend, daf> kein fester Verlaft dar- 
auf sei. 

44. BENJAMIN AN MARGARETE STEFFIN. PARIS, 26. 4. 1937 

Sie werden dann im Sommer von mir den »Fuchs« bekommen. Ich 
denke, daft er in drei Monaten erscheinen wird. 

45. LEO LOWENTHAL AN BENJAMIN. [NEW YORK,] 8. 5. 1937 

Im Auftrag von Herrn Horkheimer sende ich Ihnen in der Anlage 
einen Durchschlag Ihres Aufsatzes iiber Fuchs. Ihr Manuskript ist 
hier abgeschrieben worden und zwar unter Beriicksichtigung Ihres 
Briefes vom 28. Marz. Ein Verzeichnis derjenigen Stellen, iiber die 
noch keine endgiiltige Verstandigung erzielt ist, liegt diesem Briefe 
bei. In alien diesen Fallen haben wir eine vorlaufige Losung vorge- 
schlagen und begriindet; doch soil damit keine endgiiltige Entschei- 
dung getrofifen sein. Diese liegt bei Ihnen und wir bitten Sie, mog- 
lichst umgehend uns den Durchschlag Ihres Aufsatzes mit Ihren etwa 
noch iibriggebliebenen Anderungswiinschen zuruckzusenden, damit 
das Manuskript rechtzeitig fur das nachste Heft in Satz gehen kann. 
[Absatz] Zugleich bitte ich Sie um die Freundlichkeit, uns ein 
deutschsprachiges Resume* Ihres Aufsatzes im Umfang von etwa 
30 Schreibmaschinenzeilen mitzusenden. 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1345 

[Anlage:] Verzeichnis der am Aufsatz Benjamin vorgenommenen 
Anderungen 

S. 1 bis S. 2 , Zeile 4 sind gestrichen. Der Auf- 
satz selber lafit ja keinen Zweifel daran, in welche geistesgeschicht- 
liche Linie Fudis eingeordnet wird, beziehungsweise von wo er kriti- 
siert wird. Dennoch ist es taktisch vielleicht besser, wenn nidit gleich 
auf der ersten Seite fur diejenigen Leser, die uns nicht ganz nahe 
stehen, der Eindruck eines politisdien Artikels hervorgerufen wird. 
S. 5, Anmerkung 2 ist gestrichen. Das Zitat ist ge- 
wifi recht schon. Dennoch steht zu erwarten, dafi es hier etwas un- 
vermittelt wirkt. Es hatte seinen guten Platz in einer Untersuchung 
iiber die Stellung der »Neuen Zeit« zur Theorie. 
S. 8, Anmerkung 1 ist gestrichen. 
S. 19, Zeile 3-9 ist vorlaufig gestrichen. Evtl. 
bringen Sie hier nodi eine Veranderung an, wie Sie es in Ihrem Brief 
vom 2$. Marz in Aussicht stellen. 

S. 30, Anmerkung Zeile 3 folgende ist vor- 
laufig gestrichen. Doch steht hier audi gemafi Ihrem Brief 
in Aussicht, dafi Sie anstelle der Streichung eine Umformulierung 
vornehmen. 

S. 36, Zeile 3-7 sind gestrichen. Es wiirde etwas 
umstandlich wirken, wenn man zu dem Zitat von Balzac nodi beson- 
ders hinzufiigte, dafi Fuchs kein Jude sei. Da die ganze Balzacstelle 
wohl nicht unbedingt notwendig ist, ist es wahrscheinlich am einfach- 
sten, an der Anmerkung dadurch vorbeizukommen, dafi man audi die 
Textstelle streicht. 

S. 41, Zeile 10 bis zum Ende der Seite sind 
gestrichen. Die Unterscheidung zwischen dem falschen und idea- 
listischen Bewufitsein einersehs und einem falschenden und idealisie- 
renden Bewufitsein andererseits wird nicht fur den Leser deutlich. Es 
besteht wohl nur die Moglichkeit, entweder hier sehr ausfiihrlich zu 
sein, und an Hand von Beispielen jene Unterscheidung zu belegen 
oder auf die Sache selbst hier nicht einzugehen. - Ob von unten Zeile 
7 ff. erhalten bleiben kann, wenn die Erwahnung dieses Unterschiedes 
in der Ideologic wegfallt, ist zweifelhaft. Kann die Stelle aber erhal- 
ten werden, so sollte sie so umformuliert werden, dafi jeder Verdacht 
auszuschliefien ist, wir rechtfertigten den Machiavellismus, wenn er 
von links kommt. 

Die obigen Seitenziffern beziehen sich auf das urspriingliche Manu- 
skript. 



1346 Anmerkungen zu Seite 465—505 

46. benjamin an l6wenthal. [paris,] z6. 5.1937* 

Den Aufsatz iiber Fuchs babe ich /. . ,/ noch einmal genauestens 
vorgenommen. Ich auflere mich zu den einzelnen Punkten in derjeni- 
gen Reihenjolge, in der die Liste sie auffiihrt. [Absatz] S. i bis S, 2 
Zeile 4: Der Verzicht auf den ersten Absatz der Arbeit wiirde mir 
sehr schwer fallen, Der Absatz hat fiir die Optik des Lesers wesent- 
liche Bedeutung; dieser wird von vornherein darauf vorbereitet, dajl 
der Autor von seinem Sujet einen weiten Abstand zu nehmen ge- 
denkt. Fallt dieser Absatz fort t so erscheint in dem nunmehr an seine 
Stelle tretenden zweiten der Obergang von dem Stichwort >Samm- 
ler< zu dem Stichwort materialistische Kunstbetrachtung< unver- 
mittelt. [. . ./ Vielleicht entspricht es dem, diesem Anderungsvor- 
schlag zugrunde liegenden und mir einsichtigen Bedenken, im ersten 
Absatz (Zeile 5; 6; 18) das Wort >marxistisch< durch >materialistisch< 
und (Zeile 14) das Wort >Marxismus< durch >Materialismus< zu er- 
setzen. Der art wiirde der erste Absatz schwerlich expliziter wirken als 
die beiden folgenden und damit hoffentlich erhalten werden kbnnen. 

47. benjamin an adorno. paris, 1 5. 6. 1937 

Ich schreibe dies einen Tag nach Ihrer Ankunfi in New York. [. . ./ 
Sie werden, wenn dies in Ihre Hande gelangt, mit Max schon von 
mir gesprochen haben. Und so wird Ihnen auch der Inhalt des beilie- 
genden Briefes bekannt sein, [Absatz] Zunddost scheint mir dieses 
aus ihm hervorzugehen: Max und Pollock sind sich daruber klar, dafi 
die /;oo frcs das Existenzminimum fur den nicht erreichen, der vor 
den Aufgaben steht, vor welche das Institut mich zu stellen - zu 
meinem Gluck - gewillt ist. Die in ihr liegende Anerkennung dieser 
wirtschaftlich augenfalligen Tatsache laflt mich die Beihilfe besonders 
dankbar entgegennehmen. I Absatz J Ich will weiterhin nicht aus 
den Augen verlieren, dafi eine Regularisierung meiner Situation auf 
Grundlage des franzosischen Frankens vorzunehmen, mir im Augen- 
blick vielleicht nur sehr bedingt wunschbar sein kann. Seit Sie Paris 
verlassen haben, ist merkliche Unsicherheit iiber die Entwicklung des 
franzosischen Franken entstanden. Blelbt er selbst stabil, so scheinen 
die Preise ihrerseits es nicht bleiben zu konnen. [Absatz] Erinnern 
Sie, lieber Teddie, was ich Ihnen in der hall des Littre gesagt habe: 
Sie haben es nicht notig 7 Ihre Solidaritat mit mir zu beweisen. Dajl 
wir das wissen, und dajl hier der Eine von dem Wissen des Andern 
wei$> ist von hochstem Wert jetzt, da es sich kerausstellt, welch ganz 

* Dieser Brief ist den Herausgebern unzuganglich. Der vorliegende Abdrudk folgt 
dem Zitat bci Helga Gallas, Wie es zu den Eingriflen in Benjamins Texte kam oder 
Cber die Herstellbarkeit von Einverstandnis. Im Hinblick auf die »Kxitische Aus- 
gabe«, in: alternative. Zeitschrift fiir Literatur und Diskussion, Jg. 11, Heft 59/60, 
April/Juni 1968, 83. 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1347 

besonderes Gewicht Ihrem Worte in meiner Sacbe zufallt. [Absatz] 
Pollocks Brief > der geschrieben war, ebe Sie dieses Wort einsetzen 
konnten y gewahrt mir einen gewissen Spielraum, eben damit aber 
vielleicbt Ihrem Wort eine Chance auf tiefere Resonanz. 

48. ADORNO AN BENJAMIN. NEW YORK, 1J. 6. I937 

Dies ist nur Ihnen zu sagen daft Ihre Dinge gut stehen. Ich kann Ihnen 
nodi keinen endgiiltigen Bescheid geben, aber die Entwicklung scheint 
eben die welche ich vermutete. Das betrifft vor allem die Hierarchie 
der drei in Rede stehenden Mitarbeiter. Fur die beiden andern ist 
wenig zu hofFen; um so positiver ist die Stimmung fur Sie. 

49. ADORNO AN BENJAMIN. AUF DER »NORMANDIE«, 2. 7. 1 937 

Zunachst die okonomischen Dinge. Es besteht die beste Absicht, in 
Ihrem Falle alles zu tun was moglich ist. Es herrscht aber zugleich 
eine a 1 1 g e m e i n e Tendenz, das in der Tat mafilos belastete Bud- 
get herunterzuschneiden. Nach der Sonderzahlung der letzten fr.fr. 
2000 war es mir daher nicht moglich, bei Pollock die sofortige Er- 
hohung Ihres Gehalts auf den von mir gewiinschten Betrag durchzu- 
setzen, obwohl Horkheimer zu dem Vorschlag positiv stand und alle 
anderen mich ebenfalls unterstiitzten (auch Lowenthal, der sich, wie 
ich hervorheben mochte, in alien Sie und mich betreffenden Fragen 
hochst loyal verhalt). Auch von Pollock liegt kein boser Wille vor 
sondern einzig die Sorge des Hausvaters - eine Sorge, die auch ich 
selber zu erfahren hatte. Doch glaube ich Ihnen - vertraulich 
und unautorisiert doch mit b e s t e m Grunde - in Aussicht stellen 
zu konnen, dafl ab i. Januar eine Regelung wird getroffen werden, 
die meinen Intentionen einigermafien - wenn nicht vollig! - ent- 
sprechen diirfte. Insbesondere ist es mir gelungen das Institut davon 
zu uberzeugen, dafi das System der »einmaligen« Zuwendungen, fiir 
das Pollock eine budgetare Schwache hat, auf die Dauer sich nicht 
empfiehlt: es gewahrt Ihnen nicht jenes Bewufksein von Sekuritat, 
dessen Ihre Arbeitskraft bedarf, und was das Institut dabei einspart 
kann fiir die Dauer nicht den Ausschlag geben. So sehen denn die 
Dinge recht erfreulich aus; es wird sich nur darum handeln noch ein 
paar Monate zu balancieren. Vielleicht gelingt es uns, [N] einzu- 
spannen. [. . .] Das Erscheinen des Fuchs wird sich nochmals verzogern, 
aber aus einem Grund, gegen den sich schwer etwas einwenden lafk. 
Ffuchs] steht namlich in den entscheidenden Verhandlungen wegen der 
Auslieferung seiner Sammiung und diese wollen wir nicht prajudi- 
zieren (Pollocks Idee). Immerhin ware es vielleicht gut, wenn Sie ihm 
ein paar nette Zeilen in diesem Sinne schrieben. In San Remo, wo ich 
Sie hofle, sind Sie ja weit vom Schufi. 



1348 Anmerkungen zu Seite 465—505 

50. BENJAMIN AN SCHOLEM. SAN REMO, 2. J. 1 937 (Brief e, 73 1 ) 

Der nachste Text, den ich Dir zukommen lassen kann, wird vermutlicb 
der »Eduard Fuchs« sein. 

51. BENJAMIN AN FRITZ LIEB. SAN REMO, 9. 7. I937 (Briefe, 732 f.) 

Und aus welcbem Fenster wir immer blicken, es geht ins Trube. Von 
dem okonomischen Guckloch, das einem bleibt, nicht zu reden. Mir 
winkte, vorubergehend, ein wenig Blau darinnen; inzwischen hat es 
sich wieder bedeckt. Die Hoffnung auf Besserung ist hinausgeruckt; 
was aber nicht auf sich war ten la fit, ist die Teuerung. [. . ./ Auch 
arbeitstechnisch macht der Zustand der Dinge sich bis in das mindeste 
Faktum fuhlbar. So wird vorldufig mein grower Essay uber Eduard 
Fuchs nicht erscheinen, um dessen endlose Verhandlungen um die 
Freigabe seiner Sammlung mit den deutschen Behorden nicht ungiin- 
stig zu beeinflussen [. . .J. 

52. BENJAMIN AN ADORNO. SAN REMO, 10. 7. 1 937 

Wenn der okonomische Teil Ihres Berichts Schatten aufweist, so kam 
mix das nicht unerwartet. Sie wissen es aus den kurzen Zeilen, mit 
denen ich Ihnen Pollocks Brief Ubersandte. Ich halte mich an dreierlei 
lichtere Partien Ihrer Mitteilung. Die erste betrifft die zukunfiige 
Reglung dieser Frage. Ich kann nur mit der ganzen Kraft meiner 
Hoffnung hofjen, dafl sie nicht lunger als bis zum Neujahr auf sich 
warten lafit. Der gegenwdrtige Zustand hat nur noch wenig von 
einer Fixierung an sich; durch die enormen Preissteigerungen und die 
Entwertung des Franks ist meine wirtschaftliche Position, wofern ich 
nur das Fixum ins Auge fasse, in den letzten Monaten zu einer weit 
schwachern geworden als sie es noch vor Drehierteljahren war. Hier 
haben die einmaligen Zuwendungen freilich das Gleichgewicht wieder- 
hergestellt - aber mehr kaum. Als einen erwiinschten Umstand sehe 
ich es wetter an, dafl durch die Vertagung einer Fixierung die Mog- 
lichkeit eroffnet ist, sie vom franzosischen Franken unabhangxg zu 
machen falls bis zu ihrem Termin seine Stabilitat nicht eingetreten 
ist, Drittens endlich will ich meine Hoffnung fur die Wintermonate 
auf ihre »Verschworung« setzen. In der Tat wird es ohne cine 
briiderliche kamorristische Hilfe nicht gehen! [. . ./ Was den »Fuchs« 
angeht, so sehe ich leider duster. Die »entscheidenden Verhand- 
lungen^ dauern seit vier Jahren an; nichts lafit vermuten, daft 
sie vor Ablauf des Dritten Reiches sistiert werden. Bekanntlich zahlt 
es zur Taktik der Leute, keinerlei endgiiltige Dezision zu treffen. Ich 
sehe nicht, ob die Zuruckstellung meines Aufsatzes. von Pollock auf 
Wunsch von Fuchs oder von sich aus veranlafit wurde. Ehe ich das 
weifi, kann ich Fuchs nicht gut schreiben; sollte letzteres der Fall sein, 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1349 

so tdte ich es nicht gern. Ich wiirde damit den Boten drier ihm unlie- 
ben Nachricht machen. - Es 1st kein Trost, dajl unsere beiden Auf- 
satze statt gemeinsam zu erscheinen nun vorerst gemeinsam nicht 
erscheinen. 

53. LOVENTHAL AN ADORNO. LAKE PLACTD, I. 8. 1 93 7 

Wie Du unterdessen in Paris gesehen haben wirst, ist nun Dein Auf- 
satz [iiber Mannheim] doch nicht dem Umbruch fiir das nachste 
Heft beigefiigt worden. [. . .] Abrechnungen auf zwei Bogen mit 
diesem Schund lassen sich ofFensichtlich nicht durchfuhren, trotz der 
Intention wirken sie dann doch in einer scheinhaften Atmosphare des 
»Respekts« fiir den »Gegner«, nicht als die briiske Blamierung von 
einem, der aus dem Blick auf die Note der Menschheit das Geschaft 
einer akademischen Branche macht. [. . .] Technisdh Heft sich die 
Zuriickstellung verantworten, da wir ja immer eher zu viel als zu 
wenig haben, und so haben wir Benjamins Aufsatz diesmal schon 
hereingegeben. 

54. benjamin an horkheimer. [Paris, io. 8. i$}7] (Briefe, 736) 

Diesen Augenblick bore ich zu meiner Freude, dap Sie im Laufe des 
August nach Europa kommen. Ich hoffe, das bedeutet t dafl ich Sie 
noch in diesem oder An fang des nachsten Monats sehe, [AbsatzJ 
Ich stelle darum die Gegenstande, iiber die ich Ihnen dieser Tage 
brieflich berichten wollte, zuriick und beschrdnke mich darauf, Ihnen 
zu sagen, wie sehr ich mich iiber das bevorstehende Erscheinen des 
»Fucks« freue. 

55. ADORNO AN BENJAMIN. LONDON, I 3. 9. 1 937 

Die Hochzeit [von Theodor und Gretel Adorno] fand am 8. in 
wirklich volliger Solitude statt: in Oxford, wo mein Freund Opie uns 
in Magdalen ein Lunch gab. Aufter ihm, Gretels Mutter und meinen 
Eltern waren nurMax undMaidon [MaxHorkheimers Frau] zugegen; 
kein anderer wufke davon und wir hatten Sie nicht in Kenntnis 
setzen konnen, ohne mehr Empflndlichkeiten zu produzieren, als der 
Anlafi legitimiert, dem wir ohnehin nicht mehr Bedeutung zuspre- 
chen konnen als der bloften Legitimierung. Ich bitte Sie sehr herzlich, 
das wirklich so zu nehmen wie es ist und ohne Empfindlichkeit: sie 
tate uns Unrecht. Wir beide gehoren zu Ihnen; wir haben daran audi 
Max keinen Zweifel gelassen, und ich glaube wohl, daft ich ihn darein 
mit einschlieften darf. Sie werden ja jetzt Gelegenheit haben, ihn 
ausgiebig zu sprechen. [. . .] Was die Frage der BucheranschafTun- 
gen anlangt, so besteht eine gewisse Schwierigkeit darin, ob nicht die 
angeschaff ten Bucher schon vorhanden sind. Max stellt Ihnen fiir solche 



1350 Anmerkungen zu Seite 465—505 

Anschaffungen von Buchern zunachst fr.fr. 1000 zur Verfugung; die 
Bucher sollen der Institutsbibliothek zuf alien und Max meint es sei 
das beste, wenn die Anschaffungen moglichst in den Bereich der Pas- 
sagen fielen. Wenn die Summe verbraucht ist, wird man weiter 
sehen. [Absatz] Was die Fahnen der Zeitschrift anlangt, so schlagt 
Max zur Vereinfachung folgenden Modus vor: alle Zeitschriften- 
Fahnen gehen an mich, als den in Europa Zustandigen. Ich sende 
Ihnen dann alles, wovon ich glaube, daft es fur Sie wichtig ist, und 
Sie lassen dann Ihre Bemerkungen mich wissen, die ich zusammen 
mit den meinen New York ubermittle. Das erspart einmal Kol- 
lationieren - und Ihnen auch gewisse Dinge wie beispielsweise eng- 
lische Aufsatze von Neurath und Lazarsfeld zu lesen ... Ich denke, 
Sie sind mit dieser unserer Losung einverstanden. Es wird dafiir Sorge 
getragen, daft Verzogerungen wie im Falle des Hamsun [scil. einem 
Aufsatz von Leo Lowenthal] nicht mehr entstehen. [. . .] Ich sprach 
audi lange iiber unseren Staatsanwalt [Hans Klaus Brill, der Sekre- 
tar des Pariser Buros des Instituts; iiber Benjamins Schwierigkeiten 
mh Brill s. Bd. 1, 9876°.]. Max ist vollig im Bilde, hat aber, mir 
scheint, gute Grunde, an ihm festzuhalten. Vielleicht kann er irgend- 
etwas tun, um die Wege der Kommunikation zu ebnen. Er erklart 
mir; einmal, dafi Brill den Ton »ich stelle fest« gegen ihn und Pollock 
genau so anwende wie gegen Sie und mich; andererseits aber, dafi Brill 
in jedem Brief sich iiber Ihre Arbeit aufs enthusiastischeste aufiere. Er 
meint, er sei im Grunde von einem uberstarken Anlehnungsdrang 
beherrscht, den er durch Trotz kompensiere. Ich glaube es ist das 
beste, wenn Sie selber iiber die Sadie mit Max so offen reden wie ich 
es tat. Im ubrigen scheint es mir, als musse sie ihren Stachel verlie- 
ren, sobald Ihre aufiere Situation so ist, wie wir es uns vorstellen. 
[...] Eine kleine Bitte zum Schluft: wiirden Sie ihm [scil. Hork- 
heimer] wohl ein freundliches Wort uber den Husseri [scil. den 
Aufsatz von Adorno] sagen? Noch nie hat mir das Schicksal einer 
Arbeit so sehr am Herzen gelegen wie diesmal. 

56. BENJAMIN AN ADORNO. PARIS, 23.9. 1 937 

Es ergab sich nun gestern fur mich die Gelegenheit, iiber all dies mit 
Max zu sprecben. /. . ./ Meine Absicht ist, wie ich Max sagte, so 
rasch wie moglich, wenn auch im besclieidensten Rahmen, [. . ./ ' 
mir ein abgeschlossenes Studio oder eine Ein-Zimmer-Wohnung zu 
mieten. Das Mobiliar wird aufzutreiben sein. Max bat meiner Dar- 
stellung der Lage das voilkommenste Verstandnis entgegengebracht 
und mir zugesagt, sofort nach seiner Riickkehr das Entsprechende zu 
veranlassen. Er hat mir nun auch von sich aus anvertraut, da$ - 
ganz unabhdngig von der Frankenentwertung - ohnehtn die Absicht 



Anmerkungen zu Seite 465—505 135 1 

bestand, mit dem Jabresende meine Verbdltnisse neu zu regeln. Wenn 
sie vorber zusammengebrochen sind, so babe icb doch soviet Umsicbt 
bewiesen, daft icb selbst iiber diesen extrem scbwierigen September 
binuberkomme, obne dafi icb Max um irgendeine unmittelbare Hilfe 
zu bitten braucbte. [. . ./ Icb bin lbnen uberaus dankbar, dajl Sie 
in London mit Max eingehend iiber meine Angelegenheiten gespro- 
chen haben. In Paris baben wir seitber nur einen Abend gebabt, und 
gerade we'd er besonders gliicklicb und in einer neuen Homogeneitat 
unserer Stimmung verlief, ist nicbt alles Tecbniscbe zur Sprache ge- 
kommen, was Ansprucb darauf gebabt batte. So ist es Ibr Brief, 
dem icb die Entscheidung iiber den Anscbaffungsfond fur Passagen- 
biicher entnebme und icb kann micb zu ibr begluckwunschen. [. . ./ 
In meinem Gesprach mit Max, das sicb bis tief in die Nacht hinzog, 
wurden dergleicben Fragen wie gesagt hocbstens gestreifl. Es batte 
ein grofies Gewicbt fiir micb, we'd Max erstmals mir von den denk- 
wiirdigen okonomiscben und juristiscben Konstellationen bericbtete, 
denen die Grundlagen abzugewinnen waren, auf denen das lnstitut 
erricbtet ist. Der Gegenstand allein ist faszinierend; binzu kam, dafi 
icb Max selten in gliicklicherer Verfassung gesehen babe. 

57. FRIEDRICH POLLOCK AN BENJAMIN. NEW YORK, 13. 10. I937 

Eines der ersten Dinge, die mir Herr H[orkheimer] nach seiner 
Ruckkehr erzahlte, war eine Darstellung Ihrer Lage und sein Wunsch, 
dafi alles gesdiehen solle, was unter den gegenwartigen Umstanden 
uberhaupt nur vertreten werden konne, um Ihnen die materielle Basis 
fiir Ihre wissenschaftlichen Arbeiten zu sichern. [Absatz] Ich brauche 
nicht weicer auf die Schwierigkeiten einzugehen, die sich der Erfiil- 
lung dieses audi von mir geteilten Wunsches entgegenstellen. Nach 
sorgfaltiger Cberlegung haben wir uns entschlossen, Ihnen kiinftighin 
ein von den Schwankungen des franzosischen Franken unabhangiges 
Stipendium von 80 amerikanischen Dollars im Monat zur Verfugung 
zu stellen. Dieser Betrag wird Ihnen regelmaftig von hier aus derart 
uberwiesen werden, daft er bestimmt vor Ende jeden Monats in Paris 
eintrifft. Die Anweisung wird auf amerikanische Dollars lauten und 
es wird ratsam sein, daft Sie sich den Betrag in Dollarnoten auszahlen 
lassen, die Sie von Fall zu Fall in franzosische Francs umwechseln. 
[Absatz] Nach Genf geht gleichzeitig mit diesem Brief die An- 
weisung, Ihnen die fiir November fallige Rate des bisherigen Stipen- 
diums von fr. 1500 nur noch einmal auszubezahlen. Dieser Betrag 
gilt als einmalige Beihilfe zu Ihrem Umzug, so daft Sie Ihr Novem- 
ber-Stipendium bereits via New York erhalten, wahrend der bisher 
von Genf eingehende Betrag als die eben erwahnte Beihilfe zu be- 
trachten ist. [Absatz] Diese Regelung stellt das Aufterste dessen 



1352 Anmerkungen zu Seite 465— 505 

dar, was wir gegenwartig fur Sie tun konnen. Wir bitten Sie, ihren 
Inhalt jedem gegeniiber (also audi gegeniiber Genf) streng vertraulich 
zu behandeln, denn wir wollen in einem Zeitpunkt, wo wir iiberall 
Kiirzungen eintreten lassen miissen, nidit in Diskussionen dariiber 
eintreten, warum wir in Ihrem Fall ganz anders verfahren. 

58. HORKHEIMER AN ADORNO. NEW YORK, 13. 10. I937 

In Europa haben wir noch einige recht interessante Tage gehabt. 
Zum Schonsten gehoren einige Stun den mit Benjamin. Von alien 
stent er uns weitaus am nachsten. Ich werde alles tun, was nur in 
meinen Kraften stent, damit er aus seiner finanziellen Misere heraus- 
kommt. [Absatz] Finanzielle Misere ist auch das Stidiwort fiir die 
hiesige Situation. In die Baisse, die sich seit Ende August immer ver- 
schlimmert hat, sind ungefahr alle okonomisdien Fachleute nut vollen 
Portefeuilles hineingeraten - audi wir. Unsere Verluste sind sehr 
grofi, und allem Ansdiein nach werden sie sich noch vermehren. Da 
unser Vermogen, seit es besteht, viel zu klein ist, als dafi wir von den 
Zinsen leben konnten, sind die Kosten des gesamten Betriebs von den 
Gewinnen bestritten worden. Da in den nachsten Jahren nidit mit 
Gewinnen, sondern mit Verlusten zu rechnen ist, so wird es ohne 
schwere Einsdirankungen nicht gehen. Wenn audi eine freilich sehr 
schwache Chance besteht, dafi sich das Borsengliick noch wenden kann, 
so miissen wir uns immerhin alle in absehbarer Zeit auf Reduktionen 
gefafit machen. Jedenfalls wird hier jetzt alles getan, damit, audi 
wenn sich diese Baisse als Einleitung zu einer langen okonomisdien 
Depressionsperiode erweisen sollte, der Fortgang der entscheidenden 
Arbeiten des Instituts gesichert bleibt. Dafi samtliche Fassadenarbei- 
ten voilig liquidiert werden, versteht sich von selbst. Da wir infolge 
der aufierordentlichen Vorsicht Pollocks gar keine Bankschulden ha- 
ben, bedeuten die gegenwartigen Vorgange im Gegensatz zu sehr 
grofien Teilen der amerikanischen investments keineswegs eine 
Katastrophe. Sie sind jedoch auch nidit leicht zu nehmen, und Sie 
diirfen mir glauben, dafi uns die He de France hier nicht gerade mit- 
ten in ein Freudenfest gefuhrt hat. 

59- BENJAMIN AN ADORNO. BOULOGNE (SEINE), 2. II. I937 

So war ich viel unstet, was gewifi meiner Bekanntschafl mit dem 
Wohnungsmarkte zugute kam. Dennoch habe ich Usher nichts ge- 
funden. Seit kurzem ist das was ich suche nicht mehr so leicht zu 
finden. Der dubiose AchteUSozialismus der Regierung Blum hat neben 
mancherlei Schwierigkeiten eine nachhaltige Stagnation der Bautatig- 
keit hervorgerufen. Und Kleinst-W ohnungen werden hier ohnehin 
erst seit ganz kurzer Zeit erstellt. [Absatz] Als dann die Newyor- 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1353 

ker Entscheidung kam - sie gewahrt mir etwa drei Viertel von dem, 
was Sie urspriingUch fiir mich im Auge batten - traten freilich die 
besagten Miseren in den Schatten zuriick, den das neue Licht warf. 
[. . .] Schliefilich will ich anmerken, daft Pollock mir iiber die in 
meiner Sache erfolgte Reglung strengste Diskretion den Institutsstel- 
len gegenuber auferlegt hat, Es ist selbstverstandlich, daft sich das 
nicht auf Sie und Felizitas [Gretel AdornoJ beziehen kann, aber 
es ist notwendig, daft Sie es wissen. Zugleich sollen Sie an dieser Stelle 
meinen nodomaligen von Herzen kommenden Dank fur das finden, 
was Sie fur mich bewirkt haben! - Ober die Worte von Max, die Sie 
mir mitteilten, habe ich mich gefreut. 

60. BENJAMIN AN HORKHEIMER. BOULOGNE, 3. II. I937 

PS [. . ./ Bel dieser Gelegenheit mbchte ich Ihnen den lebendig- 
sten Dank fiir die Folge sagen, die Sie unserer Aussprache gegeben 
haben. Wenn ich ihn an den Schluft stelle, so geschieht es, weil ich ihm 
die personlichste Form habe geben wollen.* 

61. HORKHEIMER AN BENJAMIN. [NEW YORK,] 5. II. 1937 

Ich hoffe, daft der Bescheid iiber die finanzielle Regelung, der Ihnen 
von Herrn Pollock mitgeteilt worden ist, zur Klarung Ihrer Verhalt- 
nisse beitragt. Infolge des Borsenriickgangs haben wir die meisten 
y Forschungsauftrage und Stipendien kiirzen oder ganz streichen miis- 
sen. Die Gehalter der Mitarbeiter wurden zum groften Teil zuriick- 
gesetzt. Daft wir Ihren Gehalt im Gegensatz dazu erhoht und stabili- 
siert haben, darf Ihnen ein Zeichen dafur sein, daft wir Ihre Mitarbeit 
zu den unzweifelhaften Aktivposten des Instituts zahlen. 

62. BENJAMIN AN ADORNO. BOULOGNE, 17. II. 1937 

Vorgestern habe ich einen Mietvertrag abgeschlossen, durch den ich 
vielleicht schon Ende des Jahres, sp'dtestens am i$ ten Januar, zu einer 
Wohnung komme. 

63. BENJAMIN AN SCHOLEM. [BOULOGNE, 20. II. 1937] (Briefe, 739) 

Ich vermeide diesmal auch die kleinste Frist verstreichen zu lassen, 
ehe ich Dir auf den letzten Brief antworte. Er enthielt die Ankundi- 
gung Deines Kommens und die Kritik am »Fuchs«. Fur mich ver- 
schranken sich beide Gegenstande - nicht anders als auch fiir Dich. Es 
ware in der Tat dringlich, es ist fast unaufschiebbar, daft wir bald 
miteinander reden. Nicht als ob die Bedenken, die Du dem »Fucbs« 
entgegenhaltst, mich im mindesten uberraschen. Aber der Gegenstand 

* Der Hauptteil dieses Brief es wurde in die S&reibmasdiine diktiert, das Postskriptum 
dagegen handsdiriftlich hinzugefugt. 



I3J4 Anmerkungen zu Seite 465—505 

dieser Arbeit gibt - gerade dutch seine Tadenscheinigkeit - etne Ge- 
legenheit fiber die durchscheinende Metbode zu verhandeln, die sich 
so giinstig vielleicht n'tcbt bald prdsentieren wird. Sie ist geeignety uns 
den Zugang zu den Bereichen zu erschliefien, in denen unsere Debatte 
ursprunglicb zu Hause ist. 

64. HORKHEIMER AN BENJAMIN. [NEW YORK,] IJ. 12. I937 

Ich wunsche Ihnen, daft das neue Jahr Ihnen moglichst gute Bedin- 
gungen fiir Ihre schriftstellerische Tatigkeit gewahrt. Soweit das In- 
stitut, zu dessen Kreis ich Sie nun in vollem Sinn redinen darf, dazu 
beitragen kann, wird es jedenfalls gesdiehen. Daft dieser Beitrag 
nicht in dem Umfang erfolgen kann, weloher der wissenschaftlichen 
Bedeutung Ihrer Arbeit fiir uns alle entspricht, gehort zu den Um- 
standen, die mich im Zusammenhang mit den Institutsgeschaften 
besonders bedriicken. 

65. BERTOLT BRECHT AN BENJAMIN. O. D. [ca. 1 93 7]. 

ich habe Ihre studie iiber fuchs nocheinmal gelesen und sie gefiel mir 
diesmal noch besser. Sie werden das mit einiger nonchalance zur 
kenntnis nehmen; aber ich meine, dafi gerade Ihr mafiig temperiertes 
interesse am gegenstahd ihrer arbeit zu dieser ekonomie verholfen 
hat. da ist kein stiick zierat, aber alles ist zierlich (in der alten guten 
bedeutung) und die spirale ist nie verlangert durch einen Spiegel. Sie 
bleiben immer beim gegenstand, oder der gegenstand bleibt bei Ihnen. 

66. HORKHEIMER AN BENJAMIN. [NEV YORK,] 15. 3. I938 

Hier gibt es nichts besonderes Neues, dabei freilich genug in der ubri- 
gen Welt. Anlafilich der Besetzung Wiens hatte ich schon erwartet, 
daft auch dies ein Sieg der Linken und eine Schwache des National- 
sozialismus bedeutet. Diese Vermutung ist bereits bestatigt worden. 
Die jungen Herrschaften gehen herum und erklaren, angesichts der 
Tatsache, das Osterreich ja schon seit vielen Monaten als verloren 
angesehen werden mufke, sei die unkluge Art, in der die Deutschen 
den Schritt unternommen hatten, in der Tat das beste, was der Lin- 
ken passieren konnte. In solchem manifesten Optimismus, der seit 
vielen Jahren zum offiziellen Apparat gehort, verbirgt sich ein unbe- 
wufiter aber desto tieferer Nihilismus. In Ihrem Fuchs-Aufsatz haben 
Sie jenen Optimismus, wie ihn die reformistische Theorie enthalt, 
schon visiert. Mein neuer Aufsatz iiber Montaigne [s. Max Hork- 
heimer, Montaigne und die Funktion der Skepsis, in: Zeitschrift fiir 
Sozialforschung 7 (1938), 1-54] wendet sich gegen den Nihilismus. 
t)ber den Zusammenhang beider konnte man jetzt einen sozialpsy- 
chologischen Beitrag liefern. 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1355 

6j. BENJAMIN AN HORKHEIMER. PARIS, 24. I. I939 

Die Zerschlagung der Vorstellung von einem Kontinuum der Kultur, 
die in dem Aufsatz iiber Fuchs postuliert wurde, mufi erkenntnistheo- 
retiscbe Konsequenzen haben, unter denen mix eine der wichtigsten 
die Bestimmung der Grenzen scheint, die dem Gebrauch des Fort- 
schrittsbe griffs in der Geschlchte gezogen sind. Zu meinem Erstaunen 
fund ich bei Lotze Gedankengange, die meinen Vberlegungen eine 
Stiitze bieten. 

68. BENJAMIN AN HORKHEIMER. PARIS, 22. 2. I94O 

Je viens d'achever un certain nombre de theses sur le concept d'Hi- 
stoire. Ces theses s'attachent, d'une part, aux vues qui se trouvent 
ebauchees au chapitre I du »Fuchs«. Elles doivent, d'autre part, 
servir comme armature theorique au deuxieme essai sur Baudelaire 

[s. Bd. I, I22 5 fj 

Oberliefert ist der Aufsatz Eduard Fuchs, der Sammler und der Histo- 
riker nur in der von der »Zeitschrift fiir Sozialforschung« gedruckten 
Fassung, welche die Horkheimersdien Anderungsvorschlage be- 
rucksichtigt. Das Typoskript der urspriinglidien Fassung hat Benja- 
min nicht aufbewahrt, wohl aber mehrere Exemplare jenes ersten 
Absatzes, von dem die Redaktion fiirchtete, durch ihn konne »der 
Eindruck eines politischen Artikels hervorgerufen« (s. 1345) werden. 
Da Benjamin in dem - leider nur in Bruchstucken zuganglichen - Brief 
vom z6. 5. 1937 an Leo Lowenthal fiir die Beibehaltung des Absatzes 
pladierte (s. 1346) und dariiber hinaus seinen Text einem Sonderdruck 
des Fuchs-Aufsatzes (Benjamin-Archiv, Dr 699) einlegte, ist zu ver- 
muten, dafi er mit dieser Streichung - im Gegensatz zu den iibrigen 
von Horkheimer und Lowenthal erbetenen Anderungen - nicht 
einverstanden war. Die Wiedereinfiigung dieses Absatzes, den die 
Herausgeber vorgenommen haben (s. 465 f.), durfte deshalb auch 
keine Kontaminierung verschiedener Fassungen darstellen sondern 
lediglich den Willen Benjamins erfiillen. 



Die wenigen, wohl nur zufallig erhalten gebliebenen Vorstudien und 
Entwiirfe zum Aufsatz iiber Fuchs - die im folgenden mitgeteilt 
werden - verdienen kaum um ihrer selbst willen sonderliches Inter- 
esse, dagegen mag ihre Zugehongkeit zur Entstehungsgeschichte 
einer der fraglos wichtigsten Arbeiten aus Benjamins Spatzeit ihren 
Abdruck rechtfertigen. - Von Benjamin in den Manuskripten ge- 
strichene Passagen werden im Druck durch geschweifte Klammern 
{ } gekennzeichnet. 



1356 Anmerkungen zu Seite 465—505 

[am Rand:] Zu A II [Bedeutung der Sigle unklarj 

[»]Um einen ergdnzenden Beweis aus der europdischen Kunstge- 
schichte zu nennen, wo es sich ebenfalls um eine aufs hocbste ge- 
steigerte realistische Anschauung bandelt, . . . verweisen wir auf die 
bolldndiscbe Kunst des 17. Jahrhunderts, die Kunst der Rembrandt, 
Frans Hals, Jan Steen u$w. Die Zeit, in der diese Meister schufen, 
war Hollands grofltes Handelszeitalter, eine Zeit, in der Holland 
ein einziger, mit seinen rechnerischen Kalkulationen die ganze Welt 
umspannender Handelsstaat war. Aus den gleicben GrUnden sind 
... in der Tang-Kunst das Pferd, das Kamel, der Reiter und die 
bewaffnete Dienerscbaft die haufigsten Grabsymbole; es sind die 
Mittely mit denen der damalige Welthandel betrieben wurde s also 
sind sie auch die interessantesten Motive fur die Kunst.* ([Eduard 
Fuchs,] Tang-Plastik[j MUnchen 0. ].] p 42) Mit dieser ikono- 
graph'ischen Scbluftbemerkung hat die Darstellung wieder festen 
Boden unter den Ftifien. Die Ausfiihrungen uber den Realismus 
haben es nicht. {Venedig bluhte gewijs' durcb seinen Handel; seine 
Kunst war zur Blutezeit keineswegs eine »realistisahe«. Auf der 
andern Seite erfordert die wirtscbaftliche Tdtigkeit in alien ihren 
Zweigen wie auf alien ibren Entwicklungsstufen einen betrdcbt- 
licben Realitatssinn. Der Materialist kann daraus nocb keinerlei 
Scblusse auf die Kunstubung tun. Er mujlte im ubrigen umso mehr 
Bedenken tragen, so weitgehende Scblusse aus dem cbinesiscben 
Handel zu Ziehen, als der Handel den Produktionsprozefl nidot an 
seiner fundament alen Schicbt greifl; diese blieb ja wobl vielmebr 
auch in der Tang-Epocbe fiir China in der Gartenwirtschafl und 
in der Seidenzucht.} 

Druckvorlage: Benjamin- Archiv, Ms 387 

{Geht man der Fuchs'schen Gescbichtskonzeption in aufsteigender 
Linie nacb, so bait man ein entscbeidendes Kettenglied in dem 
Briefe in Handen, den Engels am 14 Juli 1893 an Fuchs['J spatern 
(?) Freund Franz Mehring schrieb: (N 6a 1) vgl (N $ 4) (N 5a j) 
[Siglen des Passagenmanuskripts, s. Bd. j]} 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 388r 

{Fuchs feblt nicht allein der Sinn fur das Destruktive in der Karika- 
tur - es feblt ibm auch der Sinn fur das Destruktive in der Sexua- 
litdt, zumal im Orgasmus.} 

{Einige andere besonders markante Ausfallserscheinungen: Fuchs 
feblt jede Auffassung fiir die historische Dimension der Vorweg- 
nahme in der Kunst. Der Kunstler ist ibm im besten Fall der Aus- 
druck des jeweils bestehenden bistoriscben Status, niemals des Kom- 
menden.} 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1357 

{Die klassizistischen Werte spielen in der Aesthetik von Fuchs nicht 
mehr die mindeste Rolle. Harmonie, organische Zusammenstim- 
mung der Teile, Anmut, Wurde und ahnliche Kategorien, in denen 
der Humanismus die Wirkung des Kunstwerks auffdngt, treten 
bet ihm vollig zuruck, Es versteht sich von selbst, dajl unter diesen 
Umstanden auch die kantiscbe Aesthetik des reinen Gefuhls, der 
Begriff des inter esselosen Wohlgefallens keinerlei Rolle spielt. - 
Ahnlich glaubt er die Riickstdndigkeit oder Verbildung der Gebil- 
deten darin bestdtigt zu finden, daft sie Raf[fjael Uber Michelan- 
gelo stellen.} 

Drutkvorlage: Benjamin-Arciiiv, Ms 389 r 

{»Die Kunst von heute hat uns hundert Erfiillungen gebracht y die 
in den verschiedensten Richtungen weit uber das hmausfiihren, was 
die Renaissancekunst erreicht hat, und die Kunst der Zukunft muff 
wiederum unbedingt das Hohere bedeuten.« ([Fuchs, Geschichte 
der erotischen Kun$t y Bd. i:J Zeitgescb[ichtlicbes] Problem[, Mun- 
chen 1922] p 3)} 

»Der Kulturgeschichtsschreiber, der es mit seiner Sache Ernst nimmt, 
mufi stets fiir die Massen schreiben.* 

Dr Ernst M earner berichtet in der Kolnischen Zeitung (6 April 1930), 
dafi in der Reichstagsbibliothek das meistverlangte Buch die Sitten- 
geschichte von Fuchs ist. 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 395^ 

Kennzeichen des sozialdemokratischen Bildungsideals: der Glaube an 
die Wissenschaft, der Glaube an die »Logik« der Geschichte, die 
Emanzipation von aller »Metapbysik« und »Mystik« (zitiert Si- 
gnori) 

Reserviertes Verhalten gegenuber der Bauernschafl. Fuchs erkldrt: 
»Der Bauer hat selten etwas ubrig fur ideale Guter.« Seine Sache 
ist »brutaler Schollenegoismus*. ([Fuchs,] Karikatur II [Miinchen 
1921] p 91) Auch dies eine sozialdemokratische Position, 

{Auseinandersetzung mit dem Idealismus. Fuchs geht davon aus, 
»dafl die Kunst dieser Zeit das gleiche chaotische Bild« darbiete wie 
die Wirtschaft und das ganze offentliche Leben. »Wie . . . konnte 
der Anhanger der idealistischen Weltanschauung dieses Chaos aus- 
deuten, wenn er bei der Logik seiner These beharren will, dajl das 
Geistige das Primdre und das Okonomische das Sekunddre im Le- 
ben der Volker sei? Es bliebe ihm furwahr keine andere Wahl als 
so zu scbluflfolgern: Weil in den letzten funfundzwanzig Jahren 
ein so grofies Chaos im Geistigen herrschte - we'd Herr Pablo Pi- 
casso in Frankreich und Herr Oskar Kokoschka in Deutschland ihre 



1358 Anmerkungen zu Seite 46 5—5 5 

Malweise In dieser Zeit mehrfach gewecbselt haben - denn auch 
das gehort ohne Zweifel zum >Geistigen< - datum haben in dieser 
Zeit sich die Borsen der ganzen Welt unausgesetzt im Fieberzu- 
stand befunden.« ([Fuchs,] Meister der Erotik [Miinchen 1931] p 
26)} 
Verhangnisvolle Bedeutung des Quantitativen im Bildungsbegriff der 
Sozialdemokratie. Seine Bedeutung fur die Zersetzung des Begrif- 
}es der humanistiscben und dessen Uberfuhrung in den der allge- 
meinen Bildung. 

Dmckvorlage : Benjamin-Ardiiv, Ms 39 jv 

Biographisches 

Signatur der illegalen Arbeit unter dem Sozialistengesetz: Zeitung 
mit roter Rose als vereinbartes Kennzeichen. 

Fuchs ist 1870 geboren 

Gefdngnisperioden: 1888 (Stuttgart: Untersuchungsgefdngnis; Heil- 
bronn: Zellengefdngnis; Rothenburg: Landesgefdngnis) 1898 10 
Monate Gefdngnis. 

Das Karikaturenwerk war gemeinsam mit Kraemer, dem Verfasser 
von »Weltall und Menschheiu geplant. Titelblatt der ersten Auf- 
lage: Kraemer-Fucbs. 

18$ 1 Italienwanderung in Fufimarschen bis zu yi km im Tag. Fuchs 
ham bis Pdstum. Ohne Baedeker. Er bielt sich an das Augenfdllige, 
zumal Bauten, Er lernte die Not des italienischen Volkes kennen. 
1 lira fur Nachtquartier war eine grofie Ausgabe. Kleines Bekennt- 
nis: 

{»Bezuglich der Kunst, gesteh ich euch ein 3 
bin ich ein grower SimpeL 
Wo andere begeistert schrein, 
Nenn ich es ein altes Gerumpel,*) 

Berliner B or sen-Courier 28 Januar 1920: Bei Kriegsausbruch orga- 
nisierte Fuchs »den Abtransport und die dauernde Unterstiitzung 
der in Deutschland lebenden russischen Zivilbevdlkerung } wobei es 
sich um 1 $ 0-180 000 Personen handelte. Im Anscklufi daran wurde 
Fuchs von der spateren Sowjetregierung zum Generalbevollmdch- 
tigten fiir die gesamte russische Kriegs- und Zivilgefangenenfur- 
sorge in Deutschland ernannt. Durch dies alles wurde auch der 
Riicktransport der noch in Rutland befindlichen deutschen Kriegs- 
gefangenen krdftig gefordert.« 

Drudkvorlage: Benjamin-Arduv, Ms 398 r 

»Kultur geschichte^ 

{Die Unmoglichkeit einer Geschichte des Recbts, der Liter atur etc 

1st materialistische Kultur geschichte moglichf 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1359 

Signatur der bistorischen Dlalektik: die Anschauungsquelle der Ge- 
schichte liegt in der Gegenwart des Hlstorikers 

Die »Kulturgeschichte« als reformistische Forderung 

[Alfred] Kleinberg 

»Kulturgeschickte« und allgemeine Bildung} 

Gescbicktliche Signatur der allgemeinen Bildung. Ihr Totalitdtsan- 
spruch bemdntelt einen Verzicht. Das BUrgertum verzichtet in 
seiner allgemeinen Bildung nicht auf einen scbongeistigen Einschlag, 
der das Eigentumliche der feudalen Bildung ausmacht. Die feu- 
dale Herrenschicht konnte die Tatsache, von der Arbeit zu leben, 
die auf ihren Gutern geleistet wurde, ignorieren, ohne darum jede 
Vorstellung von diesem (verhdltnismdflig einfacben) Arbeitsprozejl 
preiszugeben. Das BUrgertum dagegen konnte sich iiber die Quelle, 
aus der der Mehrwert stammt, nicht in Unwissenheit erhalten, ohne 
mehr und mehr jede gediegene Vorstellung vom Produktionspro- 
zefi einzubUjten. Seiner Frivolitat geht der Charme der feudalen 
ab. Sie verbindet sich mit Borniertheit und Pedanterie. 

Drudtvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 969 

{Wenn die aufsteigende (fortschrittliche) Klasse Geschicbte scbreibt, 
so scbreibt sie zugleich ihre Prdhistorie. Und die Namen, die sie in 
ihren Stammbaum zeichnet t wird sie mit leucbtenden Farben [letz- 
tes Wort gestrichen und durch ein nicht zu entzifferndes ersetztj 
schreiben.) Nun ist es eine weitverbreitete, aber dringend der Re- 
vision 1) bedurflige Annabme, die gr often burger lichen Revolutio- 
n'dre stellten, s[o] wie sie vom BUrgertum selbst gefeiert werden, 
die Ahnenreihe der FUhrer im Befreiungskampfe des Proletariats dar. 
Fuchs teilt diese Annahme und mit ihr auch die ethischen Grundbe- 
griffe, nach denen die burgerlichen Historiker die Helden ihrer Klasse 
gezeichnet haben, {Diese Moralitdt steht im Zeicben der Innerlich- 
keit; das Gewissen stellt hier den Transformator dar, der die der 
burgerlichen Klasse praktisch zutrdglichen Verhaltungsweisen da- 
durch dem Proletariat, dem sie praktisch sehr unzutraglidi werden, 
empfieblt, dajl es sie zur Sache [seiner] komplementare [n] Tugend 
macht. [Urspriinglich: seines Gewissens macht; diese Worter ge- 
strichen und ersetzt durch: der Tugend macht; unter die gestrichenen 
Worter geschrieben: komplementare.]} 2) Das Pathos dieser Wort- 
fubrer steigt nur so tief zu den Elendesten berab, um die Beseeligten 
desto hoher binauf tragen zu konnen; dabin ndmlich, wo die Besit- 
zenden ihnen Platz zu machen nicht notig baben: in den spirituellen 
Himmel {des »guten Gewissens*} [.] [Ober den Abschnitt »z)« 
nachtrdglich geschrieben: in die Holle.] 

Drudtvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 970 



1360 Anmerkungen zu Seite 465—505 

Lithographic, Physiologien 

»Das zu schaffende Bild mufite von vornherein greifbar klar vox der 
Seele des KUnstlers stehen und muflte seiner Handschrift sicber 
$ein.« ([Eduard FuchsJ Karik[atur] d[erj europ['dischen] Volker 
[Munchen 1921] I p 227) 

»Der heijie politische Kampf der Jahre 1830-3$ hatte eine Armee 
von Zeichnem formiert . . ., und diese Armee . . . war durch die 
Septembergesetze 1840 politisch vollig aufter Gefecbt gesetzt wor- 
den. Zu e'mer Zeit also, da sie alle Geheimnisse ihrer Kunst er- 
grundet hatten, wurde sie plotzlich auf ein einziges Operations- 
feld gedrdngt, auf die Sohilderung des biirgerlichen Lebens . . . Das 
ist die Voraussetzung, aus der sich die kolossale Revue des biirger- 
lichen Lebens erkldrt, die ungefdhr in der Mine der dreiftiger Jahre 
in Frankreich einsetzt,« (Karik d europ Volker I p $62) Die Litho- 
graphic wurde von einer Fulle von »Physiologien« begleitet; 
kleinen meist in 32 Format erscheinenden Buchlein, die der Spa- 
zier ganger bequem in die Tasche stecken konnte. 1836 sind es 
erst 2, 1838, 8, 1841, 76 und danach nimmt die Produktion ab, urn 
nach vier Jahren beinahe einzugehen. Das Stoffgebiet war der- 
majlen abgegrast, dafl sich zuguterletzt sogar eine »Physiologie der 
Physiologisten« an den Tag wagte. Nicht zu vergessen ist, dafi 
um die gleiche Zeit seriose burgerliche Historiker wie Thierry, Mi- 
gnet und Guizot sich um eine biirgerliche Kulturgeschichte bemuh- 
ten [s. auch Bd. 1 , $37 f.J. 

Die Lithographie fuhrte sich durch Rasset und seine Darstellungen 
der napoleonischen Legende ein; sie fand Nahrung an den roman- 
tischen Dichtern und schliejilich mit Pigal, Monnier, Lami an den 
Physiologien. Sie wurde gegen 1870 durch die Heliogravure ver- 
drdngt. Es kam hinzu, dafi die Aufbewahrung der umfangreichen 
und schweren Flatten in den Magazinen der Verleger zu kostspielig 
wurde. 

Die graphischen Physiologies von Gavarni, Daumier, Monnier, Tra- 
vies, Mauriat. 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 996 
UBERLIEFERUNG 

J 1BA Zeitschrift fur Sozialforschung 6 (1937), 346-381 (Heft 2), 
»Sonderdruck« in separater Heftung, textidentisch mit dem Ab- 
druck in der Zeitschrift selber; Benjamin-Archiv, Dr 699. 

J 2 Umbrudiabzug von J 1 , ohne Korrekturen; Benjamin-Archiv, 

Dr93 ' 
T 1 Typoskript des in J gestrichenen ersten Absatzes (s. 1355), mit 

handschriftlichen Korrekturen, Original und Durchschlag; Ben- 
jamin-Archiv, Ts 2 5 1 3 und Ts 766. 



Anmerkungen zu Seite 465—505 1361 

T 2 Dass., mit einer Textvariante, Original und drei Durchsdilage; 

Benjamin- Archiv, Ts 762-765. 
Druckvorlage: T 1 , J 1BA 

lesarten 465,7 /] J; I. Zur historischen Dialektik T 1 , T 2 - 465,8- 
466,5 Das bis Sammler.] T 1 ; der Absatz fehlt in J. - 465,13 Und 
bis nicht.] fehlt in T 2 - 465,18 Mehring y ] T 2 ; Mehring T 1 - 
465,25 Kautskys,] T 2 ; Kautskys T 1 - 467,36 findet] konjiziert fur 
finden - 468,20 aufbewahrt ist und aufgehoben] handschriftlich kor- 
rigiert aus aufbewahrt und aufgehoben ist - 476,39 Jahre,] konj. fur 
Jahre - 487,8 um so] fur umso - 493,37 Zeitschrifl filr Sozialfor- 
scbung] konj. fiir diese Zeitschrift - 494,14 um so] fiir umso - 
494,30 nahellegen] fiir nahe lie gen - 505,35 lehren.] Danach fol- 
gen, auf den beiden letzten Seiten von J, ein englisches und ein fran- 
zosisches Resumee. Das letztere, an dessen Abfassung Benjamin selbst 
zumindest beteiligt gewesen sein diirfte, wird im folgenden abge- 
druckt: 

£douard Fuchs, collectionneur et historien 
Ce travail porte sur les ecrits de Fuchs, consideres comme exemple de 
la methode materialiste contemporaine. [Absatz] Le jugement criti- 
que porte sur Vceuvre de Fuchs se confond avec un jugement critique 
sur la notion d'histoire de la culture, qui dominait alors la science 
populaire d'inspiration socialiste. Uinfluence du materialisme dialecti- 
que sur celle-ci etait limitee; ^influence du positivisme etait d'autant 
plus grande. Une disgression essaie de montrer, comment deja au 
milieu du xix e siecle y ce positivisme avait nui aux reflexions des philo- 
sophes et des savants sur le pr ogres technique. On indique comment 
Fucks 3 d'un point de vue socialiste , s* oppose d Vhistoire de Part 
bourgeois d'un Wolfflin, sans meconnaitre la parente entre Fuchs et 
de grands savants bourgeois comme Brandes et Bastian. On precise 
ensuite les conditions historiques dans lesquelles Fuchs a developpe son 
interpretation biologique de Vart; la methode intuitive qui correspond 
a la tendance spontanee du collectionneur, se revele etroitement like a 
cette interpretation. Le collectionneur Fuchs se r attache a la tradition 
frangaise, a laquelle se joint le moralisme rigide qui vient de Vhisto- 
riographie allemande. On remonte jusqu 3 a Schlosser pour expliquer les 
origines du jacobinisme qui apparait dans les recits historiques de 
Fuchs. On apercoit que celui-ci n y a pu eviter completement les conflits 
entre jacobinisme moraliste et materialisme historique. De meme y son 
mode de consideration historique n 3 est pas toujours en accord avec son 
ethique sexuelle. Par ailleurs, il apporte a la science des connaissances 
importantes sur le role de la sexualite dans la creation artistique. Les 
etudes surDaumier sont sans doute Voeuvre la plus haute du thioricien 



1362 Anmerkungen zu Seite 465— 505 

Fuchs. Daumier a ete egalement pour le collectionneur Fuchs un des 
themes les plus significatifs. [Absatz] La fin de Particle eclaire le role 
de Fuchs dans I'histoire des collections artistiques. 

nachweise 467,28 werden*] s. Goethe, Gedenkausgabe der Werke, 
Brief e und Gesprache, hg. von Ernst Beutler, Bd. 23: Goethes Ge- 
sprache, 2. Teil, Zurich 1950, 198: »Ein Buch, das grofie Wirkung 
gehabt, kann eigentlich gar nicht mehr beurteilt werden.« (11. 6. 
1822, zu F. v. Miiller) - 468,1-7 »Die bis erkannte.] s. das Ieicht 
veranderte Selbstzitat Bd. 1, 695,6-12 - 468,12-15 Sie bis bildet.] 
s. die ahnliche Formulierung Bd. 1, 701,13-15 - 468,15-20 Er bis 
aufgeboben.] s. das modifizierte Selbstzitat Bd. 1, 703,9-14 - 
468,21-26 Der bis liegen t ] s. das modifizierte Selbstzitat Bd. 1, 
702,18-21 - 468,39 Nachgeschichte.*] s. jetzt Bd. 1, 226 - 469,6 f. 
ankomme] das Ranke-Zitat s. Leopold von Ranke, Geschichte der 
romanischen und germanischen Volker von 1494 bis 1514, 2. Aufl., 
Leipzig 1874, VII. - 469,17 »Lessing-Legende«] Franz Mehring, 
Die Lessing-Legende. Eine Rettung, erschien zuerst 1891 und 1892 in 
der »Neuen Zeit«; die erste Buchausgabe folgte 1893, die zweite - 
mit dem Untertitel »Zur Geschichte und Kritik des preuflischen Des- 
potismus und der klassischen Literatur« - 1906. - 469,23 auf] s. 
Julian Hirsdi, Die Genesis des Ruhmes. Ein Beitrag zur Metho- 
denlehre der Geschichte, Leipzig 1914 - 470,34 Karikatur] s. Eduard 
Fuchs, 1848 in der Karikatur, Munchen 1898 - 470,34 Montez] s. 
Fuchs, Lola Montez in der Karikatur, in: Zeitschrift fur Bucherfreunde 
3 (1898/99), Bd. 3, 105-126, und ders., Ein vormarzlidies Tanzidyll. 
Lola Montez in der Karikatur, Berlin 1902 - 471 f., 22 fT. (Anm. 7) 
Benjamin hat im Erstdruck des Aufsatzes die Erscheinungsjahre der 
Biicher von Fuchs nicht angegeben. Diese - in der Tat schwierig und 
nicht immer sicher zu eruierenden-bibliographischenDaten wurden von 
den Hg. hinzugefugt. Bei mehrfach aufgelegten Werken sind das 
Jahr der ersten und das der letzten Auflagen angefiihrt worden; die 
Kontrolle der Zitate ist in diesen Fallen nach der jeweils letzten 
Auflage erfolgt, die in der Regel auch Benjamin vorgelegen zu haben 
scheint. - 472,32 gewidmet] s. Fuchs, Die Frau in der Karikatur, 
Munchen 1906; ders., Die Juden in der Karikatur. Ein Beitrag zur 
Kulturgeschichte, Munchen 1921; ders., Der Weltkrieg in der Karika- 
tur, Munchen 19 16 - 474,26-28 Er bis erkennen.] s. die ahnliche 
Formulierung Bd. 1, 699,16-18 - 476,22-477,2 was bis sein.] s. das 
modifizierte Selbstzitat Bd. 1, 6^6 y 28-34 - 477,23 Lamprecht] s. 
Karl Lamprecht, Deutsche Geschichte, 12 Bde., Berlin 18 94- 1909 - 
484,29 Burckbardt] s. Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renais- 
sance in Italien, Basel i860 - 492,16 konnte] s. Georg Gottfried Ger- 



Anmerkungen zu Seite 465—572 1363 

vinus, Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen, 
5 Bde. (Historisdie Schriften, Bd. 2-6), Leipzig 183 5-1842. - 493,35 
Idealismus.*] zit. in »Mitteilung des Verlages Albert Langen in 
Munchen«, 4; eingeheftet am Anfang von Fuchs, Die grofien Meister 
der Erotik, Miinchen 1930. - 499,1 »Traumdeutung«] s. Sigmund 
Freud, Die Traumdeutung, Leipzig, Wien 1900 



506-572 KoMMENTARE ZU WERKEN VON BRECHT 

Benjamin lernte Bertolt Brecht im Mai 1929 in Berlin kennen*: die 
Begegnung machte in seinem Leben, mehr nodi in seinem Denken und 
Werk Epoche, vergleidibar wohl nur der mit Gustav Wyneken in der 
Jugend und spater, fur das Jahrzehnt nach 191 5, derjenigen mit Ger- 
shom Sdiolem. Diesem schrieb Benjamin am 6. Juni 1929 noch eher 
beilaufig : Ich habe eimge nennenswerte Bekanntschaften gemacht. 
Ad 1 die nahere mit Brecht (ilber den und uber die viel zu sagen ist) 
ad 2 die mit Polgar. (Brief e, 494) »Schon drei Wochen spater « - 
beriditete Scholem - »hiefi es: Es wird Dich interessieren, dafi sich in 
letzter Zeit sebr freundliche Beziehungen zwischen Bert Brecht und 
mir herausgebildet haben, weniger auf dem beruhend, was er ge- 
macht hat und wovon ich nur die Dreigroschenoper und die Balladen 
kenne ah auf dem begriindeten Interesse, das man fiir seine gegenwar- 
tigen Plane haben mujl. Schon bevor er Brecht personlich traf, hatte 
er mit groflem Nachdruck dessen Gedichte den von ihm scharf attak- 
kierten Chansons von Walter Mehring entgegengesetzt [s. Bd. 3, 
183 f.; der Text erschien am 23. Juni 1929 und wurde jedenfalls spa- 
ter als die 1370 mitgeteilte Notiz Ad vocem Brecht geschrieben, die mit 
der Aufnahme des personlichen Verkehrs zusammenzuhangen scheint]. 
Das Erscheinen starkerer marxistischer Akzente von 1929 an hangt 
ofTenkundig mit Asja Lacis' und Brechts Einflufl zusammen, bevor 
Adorno und Horkheimer in Komgstein einen weiteren Durchbruch in 
dieser Richtung bei ihm hervorriefen. Die Unterhaltungen mit Brecht, 
denen sich bald solche mit dessen marxistischen Mentoren Fritz Stern- 

* Vermittelt wurde die Bekanntschaft durdi Asja Lacis: Benjamin »bat mich mehr- 
mals, ihn Brecht vorzustellen. Einmal ging ich mit Brecht in ein Restaurant. [. . .] 
Da habe ich ihm gesagt, Benjamin mochte ihn kennenlernen. Brecht war diesmal 
emverstanden. Die Zusammenkunft fand in der Pension von V06 (gegenuber der 
Spichernstrafie), wo ich damals wohnte, statt. Brecht war sehr zuriickhaltend, sie 
kamen spater selten zusammen.* (Asja Lacis, Revolutionar im Beruf. Berichte uber 
proletarisches Theater, uber Meyerhold, Brecht, Benjamin und Piscator, hg. von 
Hildegard Brenner, Miinchen 1971, 49) Asja Lacis datiert diese erste Begegnung 
zwischen Benjamin und Brecht auf den Winter 1924/25, was auf einem Gedachtnis- 
fehler beruht. 



1364 Anmerkungen zu Seite 506—572 

berg und Karl Korsch [. . .] anschlossen, hatten mit der bolschewisti- 
schen Theorie der Politik und Asthetik mehr zu tun als mit den da- 
mals vorliegenden Schriften Bredits. Von diesen hat er anscheinend 
erst im Juni 1930 >Mann ist Mann< gelesen, bevor er von den >Ver- 
suchen< Bredits fasziniert wurde. Noch im September 1929 sdineb 
er mir: Mit dem neuen Stuck von Brecbt [» Happy End«] ist auch 
nicht viel Ehre einzulegen.« (Sdiolem, Walter Benjamin - die Geschich- 
te einer Freundschaft, a. a. O., 198 f.; die zuletzt zitierte Briefstelle 
auch: Briefe, 502.) - Plane zu gemeinsamer Arbeit zwischen Benja- 
min und Brecht liefien sich nicht realisieren. Ende April 1930 schrieb 
Benjamin an Scholem: Es bestand hier der Plan, in einer ganz en- 
gen kritischen Lesegemeinschaft unter Fuhrung von Brecht und mir im 
Sommer, den Heidegger [wahrscheinlich : Sein und Zeit, Halle 19 zy ] 
zu zertrummern. Leider wird aber Brecbt, dem es ziemlicb schlecht 
geht, sehr bald verreisen und allein nehme ich es nicht auf mich. 
(Briefe, 514) Anfang Oktober 1930 berichtete Benjamin Scholem von 
dem Projekt, gemeinsam mit Brecht, Bernard von Brentano und Her- 
bert Ihering eine Zeitschrift herauszugeben: Du hast vor vielen Jahren 
so nahen Anteil an meinem projektierten Angelus novus [s. 981-997] 
genommen y dafi ich Dir als einzigem aufierbalb ein Wort daruber ver- 
trauen mochte, das vorderhand den Weg zu Deinen Lippen nicht fin- 
den moge. Es handelt sich also um eine neue Zeitschrift und zwar die 
einzige, die meine eingewurzelte Oberzeugung, dafi ich mir mit der- 
gleichen nicht nochmals konne zu schaffen machen, in der Gestalt zu- 
mindest, die sie im Projektenstadium annahm, bezwungen hat. Ich 
habe diesem Plan zum Verlage Rowohlt den Weg gebahnt, indent 
ich mich zum Vertreter der organisatorischen und sachlichen Losungen 
machte, die ich gemeinsam mit Brecht in langen Gesprdchen fur diese 
Zeitschrift ausgearbeitet habe. Ihre Haltung soli, formal, eher wissen- 
schaftlich, ja akademisch als journalistisch sein und sie soil »Krisis und 
Kritik« heijlen. Rowohlt also ist durchaus dafiir gewonnen; jetzt wird 
sich die grofie Frage erheben, ob es noch moglich ist y die Leute, die 
etwas zu sagen haben zu einer organisierten s vor allem kontrollier- 
ten Arbeit zu vereinigen. Daneben besteht die immanente Schwierig- 
keit jeder ^Collaboration mit Brecht, von der ich freilich annehme, 
dafl wenn uberhaupt einer, ich imstande sein werde, mit ihr fertig zu 
werden. Um diesen etwas schalen Andeutungen einige Wurze zu 
geben, fuge ich Dir einen Bogen aus einem neuen noch nicht erschie- 
nenen Buche von Brecht bei, der zu Deiner (und Eschas [Scholems 
erster FrauJ) ausschlie flicker Information dient und den ich Dicb 
bitte, mir umgehend zuruckzusenden. (Briefe, 5171".) Anfang Novem- 
ber heifit es in einem weiteren Brief an Scholem: Mit meiner ndchsten 
Sendung wirst Du Programm und Statut einer neuen Zeitschrift 



Anmerkungen zu Seite 506—572 1365 

namens »Krise und Kritik* erhalten, die von Ihering im Verlag Ro- 
wohlt als Zweimonatszeitschrifl herausgegeben werden soil und mich 
neben Brecht und zwei, drei andern als Mitherausgeber auf dem Titel 
nennt. (Brief e, 519) Der folgende Satz aus einem wenige Tage spater 
geschriebenen Brief an Adorno - der als Mitarbeiter an »Krisis und 
Kritik« vorgesehen war - bezieht sidi zweifellos ebenfalls auf die 
Diskussionen iiber die geplante Zeitschrifl: Wie gerne wiirde icb mich 
mit etwas Geschriebenem Ihnen vernehmbar machen, da von den 
gegenwartig recht aufgewiihlten Gesprachsmassen - den Zusammen- 
kunflen zwischen Brecht und mir - doch wohl das Brandungsge- 
r'dusch Sie noch nicht erreicht hat. (10. 11. 1930, an Th. W. Adorno) 
Doch schon im Dezember erwog Benjamin die Absicht, seinen Namen 
als Mitherausgeber zuruckzuziehen; und Ende Februar 1931 setzte er 
diese Absicht in die Tat um (Brief e, 520-522; s. Materialien zu »Kri- 
sis und Kritik*, Bd. 6). - Im Mai und Juni 1931 waren Benjamin und 
Brecht in Juan-les-Pins an der franzosischen Riviera zusammen. Im 
Oktober 1933 trafen sie sich dann, zum erstenmal nach der Emigra- 
tion, in Paris wieder. In den folgenden Jahren bis 1938 kam es zu 
regelmafiigen Begegnungen: sei es, dafi Benjamin Brecht in Danemark 
besuchte, sei es, dafi Brecht nach Paris kam. 1934 fuhr Benjamin zu- 
erst nach Skovsbostrand bei Svendborg, wo Brecht wohnte; er blieb 
von Ende Juni bis Anfang Oktober. Im Sommer 1935 kam Brecht 
nach Paris zum Internationalen Schriftstellerkongrefi fur die Verteidi- 
gung der Kultur; Benjamin schrieb dariiber an Alfred Cohn: Ich meine, 
Dir nicht geschrieben zu haben 3 seit hier der Kongrefl der antifaszisti- 
schen Schriftsteller »zur Rettung der Kultur« stattfand. Bei dieser 
Gelegenheit war auch Brecht hier und diese Begegnung war, wie Du 
Dir denken wirst } filr mich das erfreulichste - fast das einzig erfreu- 
lidoe - Element der Veranstaltung. Brecht selber ist weit besser auf 
seine Kosten gekommen; kein W under , da er seit Jahren mit dem 
Plan eines grofien satirischen Romans iiber die Intellektuellen [dem 
»Tui-Roman«] umgeht. (Briefe, 669 f.) Im August und September 
1936 hielt Benjamin sich wiederum in Skovsbostrand auf, im Okto- 
ber 1937 traf er Brecht in Paris, und im nachsten Jahr - 1938 - 
waren beide ein letztes Mai zusammen: Benjamin verbrachte die 
Monate von Ende Juni bis Oktober in Danemark und schrieb Das 
Paris des Second Empire bei Baudelaire. - Erst in den USA, wo er 
im Juli 1 94 1 eintraf, scheint Brecht vom Tod des Freundes erfahren 
zu haben. Er widmete ihm mehrere Gedichte: 



1366 Anmerkungen zu Seite $06—572 

An Walter Benjamin, der sich auf 

der Flucht vor Hitler entleibte 

Ermattungstaktik war's, was dir behagte 

Am Schachtisch sitzend in des Birnbaums Schatten. 

Der Feind, der dich von deinen Biichern jagte 

Lafit slch von unsereinem nicht ermatten. 

Zum Freitod des Fluchtlings W. B. 

Ich hore, dafi du die Hand gegen dich erhoben hast 
Dem Schlachter zuvorkommend. 

Acht Jahre verbannt, den Aufstieg des Feindes beobachtend 
Zuletzt an eine unuberschreitbare Grenze getrieben . 
Hast du, heifit es, eine uberschreitbare Uberschritten. 

Reiche stiirzen. Die Bandenfiihrer 

Schreiten daher wie Staatsmanner. Die Volker 

Sieht man nicht mehr unter den Rustungen. 

So liegt die Zukunft in Finsternis, und die guten Krafte 

Sind schwach. All das sahst du 

Als du den qualbaren Leib zerstortest. 

Die Verlustliste 

So audi verliefl mich der Widersprecher 

Vieles wissende, Neues sudiende 

Walter Benjamin. An der uniibertretbaren Grenze 

Miide der Verfolgung, legte er sich nieder. 

Nicht mehr aus dem Schlaf erwachte er. 

Benjamin insistierte nadidriicklich auf der Bedeutung, welche Brechts 
Produktion fiir seine eigene besafi. Vor allem an Sdiolem - der den 
»Einfluft Brechts auf die Produktion von Benjamin in den dreiftger 
Jahren fiir unheilvoll, in manchem audi fiir katastrophal« (G. Sdio- 
lem, Walter Benjamin, in: Ober Walter Benjamin. Mit Beitragen von 
Theodor W. Adorno u. a., a. a. O., 152) hielt - hat er wiederholt 
dariiber geschrieben. So in einem Brief vom April 1931, naohdem 
Sdiolem ihm vorgehalten hatte, dafi er mit seinen dialektisch-mate- 
rialistisdien Arbeiten »in einer selten intensiven Art Selbstbetrug« 

* Zit. nadi Bertolt Brecht, Gesammelte Werke [werkausgabe edition suhrkamp], 
Frankfurt a. M. 1967, Bd. 10, 828 f. 



Anmerkungen zu Seite 506—572 1367 

(Briefe, 525) begehe: Im iibrigen konnte es meine Basis , die von Haus 
am schmal genug ist, verbreitern, wenn du Einblick in das ensemble 
der Brechtschen »Versucbe« ndhmest. Kiepenheuer, der sie verlegt 
hat, ist nacbster Tage bei mir und da werde ich versuchen, die Folge 
fur dido herauszuschlagen. Im iibrigen babe ich dir vox Wochen den 
hochbedeutenden Aufsatz uber die Oper am den »Versuchen« ge- 
schickt, aber du hast dazu nichts geauflert. Ich komme auf diese Din- 
ge, weil dein Brief, obne die Absicht zu haben, wetter als ad hominem 
zu argumentieren, meine eigene Position durchschlagt, um projektil- 
hafl ins Zentrum der Stellung zu treffen, die eine kleine aber wlch- 
tigste avantgarde hier zurzeit besetzt halt. Vieles von dem, was 
mich dazu gefiihrt hat, mich mehr und mehr mit Brechts Produktion 
solidarisch zu machen, ist gerade in deinem Briefe zur Spracbe ge- 
bracbt; das heiflt aber, Vieles in jener, dir noch unbekannten Produk- 
tion selbst. (Briefe, 529 f.) Im Juli 193 1 wies Benjamin Scholem 
erneut auf Brechts »Versuche« hin: Gerade beute babe ich mich ver- 
gewissert, daft die »Versuche« von Brecht an Dich abgegangen sind. 
Deine Frage, was denn die mit den Gegenstdnden unserer Korrespon- 
denz zu tun batten, beantworte ich mit dem Hinweis, dafi wir uns 
von einer brieflichen Thesendebatte gar nichts versprechen konnen, 
dafi hier soviel wie moglich die aufrichtige sachliche Mitteilung einzu- 
treten und die der Brechtschen »Versuche« datum ganz besondere Be- 
deutung bat, weil diese Schriften die ersten - wohl verstanden: 
dichteriscben oder literarischen - sind, fur die ich als Kritiker ohne 
(offentlichen) Vorbehalt eintrete, weil ein Teil meiner Entwicklung 
in den letzten Jahren sich in der Auseinandersetzung mit ihnen abge- 
spielt hat und weil sie scharfer als alle andern Einblick in die geisti- 
gen Verhaltnisse geben, unter denen die Arbeit von Leuten wie mir 
sich hierzulande vollzieht. (Briefe, 534 f.) Scholem liefi sich indessen 
auf eine briefliche Diskussion der Brechtschen »Versuche« nicht ein, 
wie aus einem Brief Benjamins vom 20. 10. 1933 an Kitty Marx-Stein- 
schneider hervorgeht: Naturlich werde ich nicht verschweigen - wenn 
es denn noch gesagt zu werden braucht - dafi mein Einverstandnis 
mit der Produktion von Brecht einen der wichtigsten, und bewehrte- 
sten, Punkte meiner gesamten Position darstellt. Ich babe ihn lite- 
rarisch, wenn auch niemals umfassend so doch ofter annahernd um- 
schreiben konnen. Und weiter mbchte ich annehmen, dafi diese 
unvollkommenen Umschreibungen in Palastina noch eher geneigte 
Augen finden konnten als die erheblichen »Versuche«, auf welche sie 
sich beziehen. Erstere sind Ihnen zuganglich. Ich nehme leider nicht 
an, dafi sie mehr uber Sie vermogen werden als uber Gerhard [Scho- 
lem], welchen sie nur zu einem sebr bedeutungsvollen Schweigen 
und, wenn ich mich nicht irre, nicht einmal zu dem Erwerb der 



1368 Anmerkungen zu Seite 506—572 

Scbrifien bewegen konnten, iiber die unsere Auseinandersetzung wohl 
nur vertagt ist, freilich, unbedingt, mil meinem Willen, auch vertagt 
sein soil. (Brief e, 594 f.) Auf Scholems Frage zu Benjamins Aufsatz 
Zum gegenwartigen gesellschaftlichen Standort des franzosischen 
Scbriftstellers: »Soll das ein kommunistisches Credo sein?« (s. Brief e, 
603) antwortete Benjamin im Mai 1934, sein Verhaltnis zu Brecht 
gleichsam resiimierend : Wenn [. . .] etwas die Bedeutung kennzeich- 
net, die das Werk von Brecht - auf das Du anspielst, zu dem Du 
aber, soviel ich weifi, Dick zu mix nie geauflert hast, fur mich besitzt, 
so ist es eben dies: dajl es nicht e ine jener Alternativen aufstellt, 
die mich nicht kiimmern. Und wenn die nicht geringere Bedeutung 
des Werks von Kafka fur mich feststeht, so ist es nicht zum wenig- 
sten, we'd nicht e ine der Positionen, die der Kommunismus mit 
Recht bekampft, von ihm eingenommen wird. (Brief e, 605) - Die Be- 
ziehungen zwischen Benjamin und Brecht waren dennoch nicht un- 
problematisch; soweit sie Sachliches betrafen, grenzten sie zumindest 
an ein Verhaltnis der einseitigen Solidaritat. Ohne Vorbehalte scheint 
Brecht lediglich dem Aufsatz iiber Eduard Fuchs gegemibergestanden 
zu haben (s. 1354); die Thesen Ober den Begriff der Geschichte riefen 
sein Interesse und eine eingeschrankte Zustimmung hervor (s. Bd. i, 
1228); der Kunstwerk-Aufsatz dagegen stellte nach Brechts Urteil 
eine >ziemlich grauenhafte Adaptierung der materialistischen Ge- 
schichtsauffassung< (s. Bd. 1, 1025) dar, und von dem Essay iiber 
Kafka meinte er, »dafi er dem jiidischen Faschismus Vorschub leiste« 
(Benjamin, Versuche iiber Brecht, hg. von R. Tiedemann, Frankfurt 
a. M. 1966, 123; s. Bd. 6). Ober Benjamins Das Paris des Second 
Empire bei Baudelaire notierte Brecht zwar: »da ist gutes, [. . .]. 
das ist niitzlich zu lesen«, doch nur um fortzusetzen: »merkwiirdiger- 
weise ermoglicht ein spleen benjamin, das zu schreiben« (s. Bd. 1, 
1082); ja, Brecht verfafke sogar einen exphziten Gegenentwurf zu 
der Benjaminschen Baudelaire-Deutung (s. Brecht, Die Schonheit in 
den Gedichten des Baudelaire, in: Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 19, 
408-410). Aber audi den personlichen Beziehungen zwischen Benja- 
min und Brecht waren Grenzen vorgezeichnet, welche jener an- 
deutete, als er Ende 1933 Gretel Adorno schrieb: Noch graut mir vor 
dem ddnischen Winter, dem dortigen Angewiesensein auf einen 
Menschen [sciL Brecht], das sehr leicht eine andere Form der Ein- 
samkeit werden kann. (Brief e, 596) Ahnlich audi im Januar 1934 in 
einem Brief an Scholem: Die Reise nach Danemark schiebe ich nicht 
nur der Jahreszeit wegen auf. So nah ich Brecht befreundet bin, so hat 
doch das ausschliefiliche auf-ihn-angewiesen-sein, welches mir dort in 
Aussicht steht, seine Bedenken. (Brief e, 599) Genauer bezeichnete 
Benjamin den Grund soldier Bedenken, als er iiber seine Arbeit am 



Anmerkungen zu Seite 506—572 1369 

ersten Baudelaire- Aufsatz - den er 1938 weitgehend in Danemark 
schrieb - beriditete: Bet aller Freundschaft mit Brecht mufi ich dafur 
sorgen, meine Arbeit in strenger Abgesdoiedenheit durchzufuhren. Sie 
enthdlt ganz bestimmte Momente, die fur ihn nickt zu assimilieren 
sind\ indessen kann er fortsetzen: Er [Brecht] ist lange genug mit 
mir befreundet, um das zu wissen und ist einsichtig genug es zu re- 
spektieren. So geht es denn auch sehr gut von statten. (Briefe, 768) 
Ausfuhrlicher hat Benjamin sich nur einmal, zu Gretel Adorno, iiber 
die Komplexitat seines Verhaltnisses zu Brecht geaufiert: Ich will die 
wichtigste Frage beruhren. Was Du da iiber seinen [scil. Brechts) 
Einflujl auf mich sagst, das rufl mir eine bedeutende und immer wie- 
derkehrende Konstellation in meinem Leben ins Gedachtnis. So einen 
Einflufi ubte, nack Ansicht meiner Freunde, C. F. Heinle auf mich, so 
einen Einflufi sp'dter, nack Ansicht meiner spdtern, diesen Einflufi 
damals leidenscha flitch bekampfenden Frau Simon Guttmann. Eine 
Diskussion, die den letztern betraf, ist mir unvergessen, obwohl sie 
ungefdhr zwanzig Jahre zuruckliegt. Es fielen die bittersten Worte 
und zuletzt hieft es, ich stiinde unter seiner Suggestion. - Vielleicht 
wundert Dich, daft ich die Dinge derart ausgreifend aufrolle. Aber 
ich mujl das tun, damit Du verstehst, warum ich - ohne Deine Be- 
hauptung abzustreiten - in ihrem Angesicht meine Fassung bebalten 
kann. [AbsatzJ In der Okonomie meines Daseins spielen in der Tat 
einige wenige gezahlte Beziehungen eine Rolle, die es mir ermoglichen, 
einen, dem Pol meines ursprunglichen Seins entgegengesetz[t]en zu be- 
haupten. Diese Beziehungen haben immer den mehr oder weniger 
hefligen Protest der mir nachststehenden herausgefordert, so die zu 
BfrechtJ augenblicklich - und ungleich weniger vorsichtig gefaflt - 
den Gerhard Scholems. In solchem Falle kann ich wenig mehr tun, als 
das Vertrauen meiner Freunde dafur erbitten, dafi diese Bindungen, 
deren Gefahren auf der Hand liegen, ihre Fruchtbarkeit zu erkennen 
geben werden. Gerade Dir ist es ja keineswegs undeutlich, dafi mein 
Leben so gut wie mein Denken sich in extremen Positionen bewegt. 
Die Weite, die es dergestalt behauptet, die Freiheit, Dinge und Gedan- 
ken, die als unvereinbar gelten, neben einander zu bewegen, erhalt ihr 
Gesicht erst durch die Gefahr. Eine Gefahr, die im allgemeinen auch 
meinen Freunden nur in Gestalt jener »gefabrlicben« Beziehungen 
augenfallig erscheint. [AbsatzJ Soviel hiervon; denn ich glaubte Dir 
diese Antwort zu schulden, statt ein oder zwei bequemerer, die ihre 
Stelle batten einnehmen konnen. Lafi mich immerhin die Hoffnung 
haben - und damit komme ich auf das andere Motiv, das in diesem 
Zusammenhang anklingen mufi - daft diese Sache doch einmal in 
absehbarer Zeit von uns gemeinsam wird besprochen werden konnen. 
(o. D. [Anfang Juni 1934], an Gretel Adorno) Theodor W. Adorno 



1370 Anmerkungen zu Seite 506—572 

gegenuber, der ahnlich wie Scholem, doch mit ganz anderen, namlich 
marxistischen Argumenten Benjamins Abhangigkeit von Brechtschen 
Theorien kritisierte, betonte jener das >Einschneidende< seiner Be- 
gegnung mit Brecht; was Adorno als »ein wahres Ungliick« bezeich- 
nete: »wenn Brecht auf« die Passagenarbeit »Einflufi gewinnen sollte« 
(s. Briefe, 662), das madite Benjamins Selbstverstandnis zufolge den 
Hohepunkt aller Aporien fur diese Arbeit aus: Was aus dieser )ung- 
sten Epoche fur die Arbeit Bedeutung gewinnen konnte - und es ist 
nicht gering - das konnte allerdings keine Gestalt gewinnen, ehe 
nicht die Grenzen dieser Bedeutung unzweifelhafi bei mir fest stan- 
den und also »Direktiven« auch von dieser Seite ganz aufier Betracbt 
fielen. (Briefe, 663) 



1. Die wahrscheinlich friiheste Aufierung Benjamins zu Brecht ist eine 
ganz kurze Notiz, die sich isoliert in einem Notizheft findet; sie stent 
zwischen Entwiirfen zu zwei Texten, die beide am 17. Mai 1929 ge- 
druckt worden sind, diirfte also unmittelbar nach, wenn nicht sogar 
vor Aufnahme des personlichen Umgangs mit dem Dichter geschrie- 
ben worden sein. 

Ad vocem Brecht Wir sind weifi Gott zu isoliert als dap wir uns mit 
unsern Gegnern verfeinden durften. 

DrudtvorIage:'Sammlung Sdiolem, Pergamen theft, 38V 

2. Die folgenden drei Notizen entstanden wahrend der Emigration. 
Die beiden zuerst abgedruckten wurden von Benjamin selbst datiert, 
die letzte - sie konnte sich auf eine vielleicht als Radiosendung ge- 
plante, sicher nicht zustande gekommene Diskussion mit Karl Thieme 
beziehen - ist fruhestens Ende 1938 geschrieben worden. - Den 
Herausgebern standen leider nur extrem schlechte Photokopien der 
Manuskripte zur Verfiigung; der abgedruckte Text mufite oft mehr 
erraten werden, als dafi er gelesen werden konnte. 

Notizen zu Brechts Anschauung von Regie (vermutlicb 1934) 
Gesprach ilber Buhnenmalerei mit der Colins[fJ. Der Stuhl, auf dem 
der Denkende auf die Bilhne getragen wird. Er mufi spater ohne 
den Denkenden weiterspielen. - Die Tiir zwischen den weifien 
Leinwandflachen, die in der Mutter den Blick auf den Maschinen- 
raum freiliefien. Diese Tiir aber mufite fest schliefien. Nebers 
Dekoradonen die billigsten; seine Fabigkeit, eine Dekoration ge- 
nau so auf der Bubne zu realisieren wie sie im zeichnerischen Ent- 
wurf wirkt. 



Anmerkungen zu Seite 506—572 1371 

Das chinesische Gemalde bet Karin [Michaelis]. Die sieben Gruppen 
und vierzig Figuren. Die heitere Bosbeit. Vorbild fur eine Folge 
von Bilderzahlungen aus dem neuen Deutschland. Pbotograpbie 
fur Grosz. Darstellungen: Das Leben Hitlers. Der Reicbstagsbrand 
und der Prozefi. Der jo te Juli. 

Das Auto. Keine Fahrten werden mit ihm unternommen aufier 
Zweckjabrten. Sein Konditionalis, 

Gesprach mit Magnus [?]. Dieser will in Wien ein Theater fur die 
Johanna haben. Er schldgt die Hauptdarstellerin vor. Wie Brecht 
das ablehnt: ein gewisser Stil ist erforderlich. Sehr wenxge konnen 
ihn. Jahrelang will er geprobt sein. Aber es sei seine Art, jedem in 
den Chargen eine Chance zu geben. Da schreibt er besondere Auf- 
tritte fur die kleinsten Rollen. So sei die Lenya, so seien viele be- 
rtihmt geworden. Ihr Ruf ging von den kleinen Einlagen aus> 
die B. fur sie verfafit habe. 

Sein Verhalten beim Pokerspiel. 

Drudtvorlage: Manuskript im Besitz von Stefan Brecht, New York 

Buchplan mit Brecht besprochen (vermutlich 1936) 

1 ) Essay band mit a) Haufimann b) Studien zur Kriegsgeschichte von 
Mehring c) Ende der Sklaverei im Altertum nach Lefevre [?]. 

2) Betrachtung uber die Unaufrichtigkeit des Schonheitsideals; Kri- 
terien die auf den Sexus keinerlei Schlusse zulassen; Oberlegenheit 
des Altertums auf diesem Gebiet; Brecht gibt mir Rechenschaft uber 
sein Verfahren bei der Gestaltung der Polly Peachum [im Drei- 
groschenroman] . Ihre Unfdhigkeit dem Scheusal Coax zu wider- 
stehen t lafit auf ihre Rentabilitat fur Macheath scbliefien. Die An- 
deutungen in ihrem Spitznamen. - Soziale Wunscbziele, die auf die 
Erotik einwirken: Ein Mann beladt sich mit einer frigiden Frau, urn 
zu zeigen, daft er eine unnahbare hat gewinnen konnen; Einer fiihlt 
sich versuchty den sexuellen Sieg Uber eine berufstatige Frau davon- 
zutragen. »Eine Frau, die mit chemischen Formeln arbeitet, vor 
Wonne wie einfej Sau quicken zu , lassen y bedeutet ein grofieres 
Resultat als der Sieg uber eine Haufrau; sie wird uber eine 
weitere Runde geschleift.« 

3) Ein satirisches Buch: was man alles nicht weifi, was einem nie- 
mand sagt, wie schlecbt ausgerustet man fur das Leben ist. Die Leu- 
te sagen immer t was sie wissen. Das ist unsicher und oft uninteres- 
sant. Wenn sie sagen wurden, was sie nicht wissen: das ware sicher 
und meist interessant. 

4) Eine Geschichte der Korruption y in der die These zu vertreten ware: 
ohne Korruption keine Zivilisation. 

Druckvorlage: Manuskript im Besitz von Stefan Brecht, New York 



1372 Anmerkungen zu Seite 506—572 

Material zu einem Diskurs iiber Brecbt 

Tbleme: Des Teufels Gebetbucb? [s. Karl Thieme, Des Teufels Gebet- 
buch? Eine Auseinandersetzung mit dem Werke Bertolt 
Brechts, in: Hochland 29 (1931/32), Bd. 1, 397-413 (Heft 5, 
Februar '32)] 
WB: Aus dem Brechtkommentar [s. 506-510] 

: Was ist das epische Theater? [p. 17, Ab$ 2 p 18 Abs 2 p 19J 

[s. wahrscheinlich 529-531] 
; Tagebucbaufzeichnung 

8 Mai 19 jo »irgendwo wird sicker gedacbu 
2$ April 1 9 jo Hamlet[}] / Sprechweise I Coriolan 
21 April 1 9 jo Scbmitt I Einverstdndnis Hafi V erddchtigung 
17 Marz 1 9 jo Mahagonny 
6 Juni 1 9 j 1 Kafka [s. Bd. 6undoben, 1 203-1 205] 
8 Juni 19 j 1 Wohnen: sich ah Gast fiihlen [s. Bd. 6] 
12 Juni 19 j 1 Augsburg, Bleisoldaten I Sanitdtsdienst Kompli- 

zen schaffen [s. Bd. 6] 
17 Juni 19 ji Coriolan I Gespracb mit der Neber I Romeo und 

Julia [s. Bd. 6] 
4 Juli 19 j 4 ein Gedicht von Becker [s. Bd. 6, audi Benjamin, 

Versuche iiber Brecht, a. a. O., 117 f.] 
6 Juli 19 j 4 Ernst des Dickters: Konfuzius Lenin Kafka [s. 
Bd. 6, audi Versuche iiber Brecht, a. a. O., 118- 
120] 

24 Juli 19 J4 Das Arbeitszimmer I Kafka [s. Bd. 6, audi Ver- 

suche iiber Brecht, a. a. O., 121] 
ji August 19 J4 Kafka: Ratlosigkeit des Kleinburgers Das 
nackste Dorf [s. Bd. 6, audi Versuche iiber 
Brecht, a. a. O., 123-125] 

27 September 19 J4 Produktionspldne [s. Bd. 6, audi Versuche 

iiber Brecht, a. a. O., 125-127] 
4 Oktober 19J4 Die »Wurstchen« [s. Bd. 6, audi Versuche 
iiber Brecht, a. a. O., 127] 

28 Juni 19 j8 Hafi gegen die Pfaffen [s. Bd. 6, audi Versuche 

iiber Brecht, a. a. O., 128] 

29 Juni 19J8 Valentin und das epische Theater tiefes Bedurf- 

nis und oberfiachlicber Zugriff [s. Bd. 6, audi 
Versuche iiber Brecht, a. a. O., 129] 
21 Juli 19J8 personliches Regiment I Marx und Engels [s. Bd. 
6, audi Versuche iiber Brecht, a, a. O., 130 f.] 

25 Juli 19J8 Stalin-Gedickt i die Deutschen [s. Bd. 6, audi 

Versuche iiber Brecht, a. a. O., 131-133] 



Anmerkungen zu Seite 5 06—572 1373 

3 August 1938 Vber die Kinderlleder I Shakespeare [s. Bd. 6, 

audi Versuche liber Brecht, a. a, O., 133-135] 
2$ August 2938 das schlecbte Neue [s. Bd. 6, audi Versuche 
iiber Bredit, a. a. O., 135] 
: Kommentare zu Gedicbten von Brecht [s. 539-572] 
: Vber Furcbt und Zittern [sic] des dritten Reiches [s. 514-518] 

Druckvorlage: Manuskript im Besitz von Stefan Bredit, New York 

3. Im Bertolt-Bredit-Archiv in Berlin (DDR) sind - neben Photo- 
kopien Benjaminscher Manuskripte und Typoskripte, deren Origi- 
nale die Akademie der Kunste der DDR (fruher das Zentralardiiv 
Potsdam), Stefan Brecht und Ruth Berlau besitzen - eine kleine An- 
zahl weiterer Manuskripte von Benjamin vorhanden, die sich auf 
Brecht beziehen; s. dazu Bertolt-Brecht-Archiv. Bestandsverzeichnis 
des literarischen Nachlasses, Bd. 4: Gesprache, Notate, Arbeitsmateria- 
lien, bearbeitet von Herta Ramthun, Berlin, Weimar 1973, 107-109. 
Den Herausgebern wurde die Einsicht in die Benjamin-Manuskripte 
des Brecht- Archivs verweigert. 



Seine Kommentare zu Werken von Brecht schrieb Benjamin in dem 
Jahrzehnt awischen 1930 und 1939. Die erste dieser Arbeiten kundigt 
bereits durch ihren Titel A us dem Brecht-Kommentar an, dafi der 
Autor einen umfassenderen Kommentar plante; und on-ensichtlich be- 
steht zwischen den einzelnen Arbeiten iiber Brecht ein enger sachlicher 
Zusammenhang, dariiber hinaus geniigen sie alle jenen Bestimmungen, 
die Benjamin in der letzten, den Kommentaren zu Gedicbten von 
Brecht, von der Form des Kommentars gibt: sie gehen von der Klas- 
sizitdt ihrer Texte aus, nehmen die archaisch-autoritare Kommentar- 
form im Dienste einer Dichtung in Ansprucb [. . .], die nicht allein 
nichts Archaiscbes an sich hat sondern aucb dem t dem heute Autorit'dt 
zuerkannt wird, die Stirne bietet (539). Benjamins Brecht-Kommen- 
tare bilden Bruchstucke, zumindest Vorarbeiten zu einem grofteren 
Ganzen, audi wenn der Autor dessen Plan irgendwann aufgegeben zu 
haben sdieint. Wahrend der Aufbau der »Gesammelten Schriften« es 
gebot, den Radiovortrag Bert Brecht unter die »Vortrage und Re- 
den« (s. 66o-66j) und die Besprechung des »Dreigroschenromans« in 
den Band der »Kritiken und Rezensionen« (s. Bd. 3, 440-449) auf- 
zunehmen, glaubten die Herausgeber, wenigstens die anderen Brecht- 
Arbeiten zusammenstellen zu sollen; durch den Versuch einer wei- 
teren DirTerenzierung nach Kriterien der literarischen Form ware 
wenig gewonnen und Zusammengehoriges nur auseinander gerissen 
worden. Fur die Einordnung der Brecht-Kommentare innerhalb der 



1374 Anmerkungen zu Seite 506—572 

»Literarischen und asthetischen Essays« war das Entstehungsdatum des 
zuletzt - ungefahr im Mai 1939 - geschriebenen zweiten Aufsatzes 
Was ist das epische Theater? maflgeblich*, in sich ordneten die Her- 
ausgeber die Arbeiten zum Brecht-Komplex dagegen nach sachlichen 
Gesichtspunkten an. Den Anfang bilden die Kommentare zu einzel- 
nen Stiicken Brechts; die Chronologie von deren Entstehung stimmt 
mit derjenigen der Abfassung der Kommentare iiberein. Hieran schlie- 
fien die beiden groften Arbeiten sich an, in denen Benjamin versuchte, 
Theorie und Praxis des epischen Theaters zusammenfassend darzu- 
stellen. An den Schlufi wurden die Kommentare zu Gedichten von 
Brecht gestellt. - In Benjamins verschiedenen Arbeiten iiber Brecht 
kehren kiirzere und langere Formulierungen haufig ahnlich, gelegent- 
lich auch wortlich wieder. Auf Einzelnachweise dieser Textuber- 
schneidungen glaubten die Herausgeber verzichten zu konnen: die 
synchrone Lektiire der Texte - zu der die Zusammenstellung der 
Mehrzahl der Brecht gewidmeten veranlassen soil - diirfte dem Be- 
nutzer der Ausgabe den Einblick in Benjamins Verfahren der Selbst- 
zitation einfadier verschafTen, als ein notwendig uniibersichtlicher 
Nachweisapparat es vermochte. 



506-510 Aus dem Brecht-Kommentar 

Der erste von Benjamin kommentierte Brecht-Text stellt einen Chor 
aus dem Fragment gebliebenen Stuck »Untergang des Egoisten Jo- 
hann Fatzer« dar, an dem der Stiickeschreiber von 1927 bis 1930 
arbeitete. »Das Stuck von den vier Soldaten, die im vorletzten Kriegs- 
jahr die Westfront verlassen, um den Krieg liquidieren zu helfen, 
sich in der Heimatstadt des einen isoliert aufhalten und schlieftlich 
scheitern, sollte aus dem Fatzerdokument (dem Stuck) und dem Fat- 
zerkommentar sowie aus Choren und Gegenchoren bestehen.« (Anm. 
d. Hg. in Brecht, Gesammelte Werke, a. a. O., Bd. 7, zH.) Brecht 
veroffentlichte 1930 im ersten Heft der »Versuche« Teile des »Fatzer«, 
die in Band 7 der »Gesammelten Werke« um einige weitere Bruch- 
stiicke erganzt worden sind. - Die einzige bekannte Aufierung Ben- 
jamins iiber seinen Kommentar zu den beiden Choren »Fatzer, komm« 
findet sich in einem Brief vom 25. April 1930 an Scholem; sie erlaubt 
eine annahernde Datierung des erst im Juli 1930 gedruckten Textes. 
Meine letzte kleine Arbeit ist Uberschrieben »Aus dem Brecbt-Kom- 

* Die Jochmann-Emleitung ist zwar friiher geschrieben worden, docfa sdieint sie 
letzte Andcrungen nodi im August 1939 erfahren zu haben (s. 1397); deshalb wird 
sie nacb den Brecht-Kommentaren abgedrudtt. 



Anmerkungen zu Seite 506—514 1375 

mentar* und wird hoffentlich in der Frankfurter Zeitung erscheinen. 
Sie ist ein erster Niederschlag meines in letzter Zeit sehr interessanten 
Umgangs mit Brecht. (Brief e, 514) 

UBERLIEFERUNG 

J BA Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, 6.y. 1930 (Jg. 63, Nr. 

27); Benjamin-Ardiiv, Dr 56 f. 
Da Benjamin das im Juni 1930 ersdiienene erste Heft von Breohts 
»Versuchen« in den Fahnen bereits vorlag, als er seinen Kommentar 
sdirieb, ist die Zitation mit dem Text dieser Ausgabe in tJbereinstim- 
mung gebradit worden. 

lesarten 506,13 schlappmacht] fur schlapp macht - 507,12 genau- 
so] fur genau so - 507,15 genauso] fur genau so - 509,26 f. Zu- 
grunde] fur Zu Grunde - 510,7 klarzumachen:] konjiziert fiir 
klarzumacben; - 510,34 irgendein] fiir irgend ein 
nachweise 506,13 f. »Versuche 1-3*] s. Bredit, Versudie 1-3 [Heft 
1], Berlin 1930 - 506,26 sind.«] a. a. O., 1 - 507,4 macben.«~\ 
a. a. O., 1 - 510,24 heraus.] das Gedicht »Fatzer, komm« a. a. O., 
43 f. - 510,27 reicben.it] a. a. O., 6 



511-514 Ein Famiuendrama auf dem epischen Theater 

Die erste - geschlossene - Auffuhrung von Breohts »Mutter« fand am 
12. Januar 1932 in Berlin im Rahmen der Jungen Volksbuhne statt, 
die orTentlidie Urauffiihrung folgte am 17. Januar im Theater am 
Sdiiffbauerdamm. Da Benjamins Essay in der urspriinglidien Fassung 
auf die Auffuhrung Bezug nimmt (s. Lesart zu 514, 19-23), muft er 
zwischen dem 12. Januar und dem 5. Februar, dem Tag seines Ersohei- 
nens in der »Literarischen Welt«, geschrieben worden sein. 

UBERLIEFERUNG 

J Ein Familiendrama auf dem epischen Theater. Zur Urauffiihrung 
»Die Mutter* von Brecht , in: Die literarisohe Welt, 5. 2. 1932 
(Jg. 8, Nr. 6), 7. 
M »Die Mutter* von Brecht. Niederschrift; Sammlung Scholem, 

Pergamentheft, 100-102. 
Druckvorlage: J 

lesarten $11,1 f. Ein bis Brecht] »Die Mutter* von Brecht M - 
511,6 jedem anderen Punkt] tausend andern Punkten M - 511,14 
weniger deren] nicht die einzelnen M - 511,14 f. als bis unterein- 
ander] sondern die Beziehungen zwischen ihnen M - 511,15 kerne] 



1 3 76 Anmerkungen zu Seite 5 1 1—5 1 4 

keines M - 511,16 die bis Kind] die Beziebung s die zwischen Mut- 
ter und Kind stattfindet M - 511,18 produziert den Nacbwucbs.] 
ist unmittelbare Menscbenproduzentin. Dieser ihrer unmittelbarsten 
Beteilfigjung am Prozefl der Menscbenproduktion mu$ ibre unmit- 
telbare (dutch nahere familiar e Umstdnde nod? nicbt bestimmte) 
soziale Funktion entsprecben. M - 511,18 f. des Brechtscben S tucks] 
der »Mutter« M - 511,21 Produktionszusammenbange] Produk- 
tionszusammenbang M - 511,22 preisgegeben. Unter] preisgegeben; 
diesen Tatbestand bat der Imperialisms selbst auf die Menscbenpro- 
duktion ausgedebnt: unter M - 511,24 Mutter] Menscbenproduzen- 
tin M - 5H)24 Pelagea] fur Pelagia (J, M); ebenso im folgenden. 
- 511,24 Wlassowa,] konjiziert fiir Wlassowa J, M - 511,25 Ar- 
biters*,] konj. fiir Arbeiters« J, M; in M fehlen aufierdem die An- 
fiihrungszeichen, die das Zitat einschliefien. - 511,28 Gebdrerin] 
Menscbenproduzentin M - 511,28 reprasentiert] stellt also M - 
511,28 f. Erniedrigung] Erniedrigung vox M - 51 1,30 f. Brecbts bis 
Mutter,] Damit ist bereits klargestellt, daft dieses Tbema ein soziolo- 
giscbes Experiment uber die »Revolutionierung der Mutter* ist. M - 
511,31 bdngt] hdngen M - 511,35 f. Arbeiters bis damit] Arbei- 
ters, stebt also damit scbon M - 511,36!. zu bis ■ Begr iff] zum 
etymologiscben Bilde M - 511,37-512,29 (Proles bis baben] Diese 
Vereinfacbung ibrer Lebensumstdnde bat M; in M findet sich ein typo- 
graphisches Zeichen hinter 511,37 Proletarierfrau, durch das eine be- 
reits geplante Einfiigung angekiindigt wird. - 512,34 dialektiscben] 
M; dialektiscben, J - 512,38 f. so bis umscbreiben] durfle der episcbe 
Dramatiker diesen Satz parodieren M - 513,1 denen] welcben M - 
513,7 Wiegenlieder.] Wiegenlieder; M - 513,10 aber] aber im gan- 
zen Stuck M - 513,10 liebt,] M; liebt J - 513,11 Uebt:] M; liebt; 
J - 513,14 f. verlogen und daber] verlogen, wo sie nocb ganz und 
gar im Stoff steckt und daber - wenn dem Stoff einmal sein Recbt ge- 
scbiebt - ndmltcb materialistiscb: M - 513,16 bedarf,] bedarf: M - 
513,19 es zeigt] M; zeigt J - 513,22 welcbe] die M - 513,25 Und 
die] Die M - 513,26 nicbt, anfangs,] keine M - 513,27 Ent- 
scbeidende] Entscbeidende, Einzigartige M - 513,30 gefabrlicb* -] 
gefdhrlicb«: M - 513,39-514,1 Soweit die Mutter.] Soweit baben wir 
die Mutter verfolgen miissen, bis sie die Fuhrerstelle einnabm, im Na- 
men des gesunden Menscbenverstandes und der Revolution, die seine 
Anwendung berbeifubrt. M - 514,2 da] dann M - 514,3 liest und] 
liest, der M - 514,5 eine Umgruppierung] in diesem Stuck eine sebr 
aufregende Umgruppierung M - 514,6 der] dieser M - 514,7^ daft 
bis bemacbtigt,] ist die politiscbe Situation so gespannt geworden, 
daft die Praxis des gesunden Menscbenverstandes zum Fubren aus- 
reicbt: M - 514,10 die Mutter] seine Mutter M - 514,17 Braut] 



Anmerkungen zu Seite 5 1 1—5 18 1377 

Geliebten M - 514,19-23 Denn bis noch!«~\ Daher braucht Pawel 
Wlassow bei Brecht keine Freundin. [Absatz] Das Spiel von Helene 
Weigel, der grofiten Interpreting die das epische Theater bisher ge- 
funden hat, warf diese Erkenntnisse und zahllose mehr ab wie ein 
Baum seine FrUchte. M 

nachweise 511,25 Arbeiters*] Brecht, Die Mutter. Nach Gorki (Ver- 
suche 15/16 [Heft 7]), Berlin 1933, 4 - 512,10 entschieden.*] 
a. a. O., 5 - 513,4 f. Was spricht gegen den Kommunismus] s. a. a. O., 
26 f. - 513,5 heme Sechzigjahrige] s. »Lob des Lernens«, a. a. O., 
31 - 513,6 Lob der dritten Sache] s. a. a. O., 48 - 513,30 gefabrlich«] 
a. a. O., 12 - 513,32 Also?!*] s. a. a. O., 19: »Gehort ihm seine 
Fabrik oder gehort sie ihm nicht?« - 513,36 an?«] s. a. a. O., 21: 
»Wenn wir unsern Streik mit Herrn Suchlinow austragen, das geht 
doch die Polizei nichts an?« - 514,23 noch!«~\ a. a. O., 64 



514-518 Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt wer- 
den darf 

Benjamins Aufsatz iiber »Furcht und Elend des Dritten Reiches« geht 
von der Urauffiihrung in der Salle I£na in Paris aus, in der am 
21. Mai 1938 unter dem Titel »9$ %>« acht Szenen - nach anderen 
Quellen sieben Szenen sowie Prolog und Epilog - in der Inszenierung 
von Slatan Dudow mit Helene Weigel und Ernst Busch gespielt wur- 
den; Benjamin war ein Manuskript des ganzen Stiickes zuganglich. 
Uber die Entstehung der »Montage«, wie der Autor sein Stuck 
verstanden wissen wollte, berichtete Brecht: »die montage, so sehr 
verfemt, entstand durch die briefe dudows, der fur die kleine prole- 
tarische spieltruppe in paris etwas brauchte.« (Bertolt Brecht, Arbeits- 
journal. Erster Band 1938 bis 1942, rig. von Werner Hecht, Frank- 
furt a. M. 1973, 22) Das zwischen 1935 und 1938 geschriebene Snick 
wurde 1938 fiir den dritten Band von Brechts »Gesammelten Wer- 
ken« im Prager Malik-Verlag gesetzt, doch ging der Satz verloren 
(s. a. a. O., 49). Ein erster Druck von 13 Szenen erfolgte 1941 in 
Moskau, eine vollstandigere Ausgabe - fiir welche Brecht von den 
ursprunglichen 27 Szenen vier ausschied und eine neue hinzufiigte - 
erschien als Bertolt Brecht, Furcht und Elend des III. Reiches. 24 
Szenen, New York 1945; auf dieser Ausgabe beruhen die seither 
erschienenen, - Dafi Benjamin das vollstandige Stiick besafi, geht 
auch aus einem Brief hervor, den er im Juni 1939 an Margarete 
Steffin, Brechts Mitarbeiterin bei der Abfassung von » Furcht und 
Elend des Dritten Reiches «, richtete: In der Gegend der Abtei [von 



1 378 Anmerkungen zu Seite 5 14—5 1 8 

Pontigny; Benjamin hielt sich hier im Mai 1939 aufj war en zwei 
Dutzend spaniscbe Legion'dre einquartiert. Icb hatte mit ihnen keine 
FUhlung; aber die Fran Stenbock-F ermor hielt Kurse bei ihnen ab. 
Da sie sich sehr ftir Brechts Sachen interessierte, so babe icb ihr nach 
meiner Riickkunft »Furcht und Zittern* [sic] auf ein paar Tage ge- 
schickt und sie hat den spanischen Brigadiers (es waren meist Deutsche 
und Osterreicber) daraus vorgelesen. »Den grofiten Eindruck* schreibt 
sie mir »machte auf sie das Kreidekreuz, der Entlassene, Arbeitsdienst 
and Stunde des Arbeiters und alles wurde echt und einfach empf un- 
dent [Absatz] Wenn Sie diese Zeilen erhalten 3 werden Sie wohl 
schon wissen - denn Stockholm wird dodo literarisch besser als Svend- 
borg versorgt sein - dafi in den Juni-Nummern der Nouvelle Revue 
Francaise Stucke aus dem Zyklus in der Ubersetzung von Pierre 
Abraham erschienen sind; im Ganzen wohl sechs oder sieben. Ich 
konnte bisher nut eben auf der Bibliothek hineinsehen. Mir scheint 
die Ubersetzung recht gut gelungen. Die Nouvelle Revue Francaise 
macht eine kurze einfaltige Fuflnote. Brecht set der Dichter der opera 
de quatre sous und der sept peches caphaux. (Briefe, 818) 

UBERLIEFERUNG 

jbai Brechts Einakter. - Die neue Weltbiihne 34 (1938), 825-828 

(Heft 26, 30. 6. '38); Benjamin-Ardiiv, Dr 746. 
JBA2 Dass., Benjamin-Ardiiv, Dr 747. 
T Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf. 

Zur Urauffuhrung von acht Einaktern Brechts, - Typoskript 

mit handschr. Korrekturen, als Handexemplar gekennzeichnet; 

Benjamin-Ardiiv, Ts 15 14-15 20. 
Druckvorlage: T 

lesarten 514,24-26 Das bis Brechts] Brechts Einakter J; am Rand 
von J BA1 stellte Benjamin handschr. seinen Titel - mit einer wohl 
irrtumlichen Abweichung von T - wieder her: Das Land, wo das Pro- 
letariat nicht genannt werden darf. - 515,7 auf] auf, J - 515,10 
Proletariern] J; Proletariern, T - 515,34 Chocks] Chors J; in 
JBA2 handschr. in Chocks korrigiert. - 5 1 5,34 einzelnen] einzelnen, 
J - 516,8 Kreis] J; Kreis, T - 516,12 27] siebenundzwanzig J - 
516,27 beide] beide sind J; es handelt sich in T um keinen Irrtum, 
da audi hier ursprungiich beide sind geschrieben wurde, das sind dann 
durch eine Sofortkorrektur getilgt worden ist. - 516,27 Kleie] J; 
keine Kleie T - 516,29 keine] J; fehlt in T - 516,31 am 21. Mai 
093$}] fehlt in J; die Jahreszahl wurde von den Hg. eingefugt. - 
516,34 Exil] Exit j J - 516,34 angesprochen,] angesprochen J - 
516,39 auszurichten] auszurichten, J - 517,8 Akte] Akt J - 517^9 
bedeutet] bedeutet } J - 517,19 z. B.] zum Beispiel J - 517^6 



Anmerkungen zu Seite 514—531 1379 

weist] weist sich J - 517,27 sich] fehlt in J - 517,29 nicht Mittel 
ihr] ihr nicht Mittel J - 517,30 werden] fehlt in J - 517,31 sein] 
sein werden J - 517,33 pariser] pariser Auswahl J - 517,34 Leser] 
in J nicht hervorgehoben - 517,35 alien] fehlt in J - 518,7 (»Volks- 
befragung*),] J; (»Volksbefragung«) T 

NACHWEISE 

Da die Moskauer und New Yorker Erstdrucke von Brechts Stuck den 
Herausgebern nicht zuganglich waren, geben sie Nachweise und Ver- 
weise nach den »GesammeIten Werken« von 1967. 
515,16 kommt] s. Andre* Gide, Journal des faux-monnayeurs, Paris 
1971, 69 f.: »Ne jamais profiter de Pelan acquis - telle est la regie 
de mon jeu.« - 516,18 Mitte] s. Bertolt Brecht, Gesammelte Werke 
[werkausgabe edition suhrkamp], Frankfurt a. M. 1967, Bd, 3, 
ii59fT. (»i6. Winterhilfe«) - 516,21 f. ankampfen] s. a. a. O., 
1079 ff. - 516,29 hat] s. a. a. O., 1162 (»i7. Zwei Backer«) - 517,3 
»Gewehren der Frau Carrar*] die Urauffiihrung fand am 16, 10. 
1937 in der Pariser Salle Adyar statt; die erste Publikation erschien - 
als Sonderdruck aus Brechts »GesammeIten Werken«, London 1938, 
Bd. 2 - London 1937. - 517,12 halt] s. Gesammelte Werke, Frank- 
furt a. M. 1967, Bd. 3, 1 1 84 ff. - 518,4 Gericht] s. a. a. O., 11 03 ff. - 
518,5 ist] s. a. a. O., 112 iff. - 518,6 wird] s. a. a. O., 1 184 ff. - 
518,8 wird] s. a. a. O., ii7off. - 518,10 haben] s. a. a. O., 
1127 ff. - 518,12 wagt] s. a. a. O., 1101 f. - 518,17 setzen] 
s. a. a. O., 1 163 f. 



519-531 Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht 

Den Aufsatz Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht 
schrieb Benjamin wahrscheinlich Anfang 1931, wie sich aus einem 
Brief vom 20. Dezember dieses Jahres an Scholem ergibt: Nun mufi 
ich abet einen andern Ton anschlagend, feststellen, dajl Du - im 
Gegensatze zu judischen und zu christlichen Duldern - unersattlich 
bist und kaum daf! Du nach zahllosen lnterventionen meinerseits 
Deine Brecht-Bande erhalten hast (die id? hierdurch, riickwirkend, 
feierlich zu Geburtstagsgeschenken ernenne) schon wieder nach einem 
Kommentar schreist. Auj die Gejahr hin, Deinem anstofiigen Snobis- 
mus zu hochster Befriedigung zu verhelfen t werde ich Dir in der Tat 
in der ndchsten Sendung (freilich mh der Bitte um postwendende 
Rucksendung) das seit Dreivierteljahren bei der Frankfurter Zeitung 
befindliche »Epische Theaters von mir im Manuscript zusenden. Jedes 
weitere Ansinnen in dieser Richtung jedoch ablehnend verweise ich 



1380 Anmerkungen zu Seite 519—531 

Dich auf den ersten Band der Versuche, wie er> mit einem langen 
handschrifllichen Glossar von mix jederzeit in meiner Bibliothek zu 
Deiner Verfiigung steht. (Briefe, 546) Eine andere Datierung des 
Aufsatzes, die aus einem Brief Benjamins vom 26. 6. 1939 an Gretel 
Adorno folgt und derzufolge der Text bereits 1929 geschrieben ware, 
diirfte auf einem - nach so vielen Jahren nur zu verstandlichen - 
Irrtum beruhen: Es ist zehn Jahre her, daft icb auf Veranlassung der 
Frankfurter Zeitung einen Aufsatz »Wa$ ist das epische Theater?* 
scbrieb. Er wurde damals, nachdem die Fahnen (die icb noch besitze) 
bereits gedruckt waren> auf ein Ultimatum von [Bernhard] Diebold 
durcb [Friedricb T.J Gubler zuruckgezogen. (Briefe, 822) Die Fah- 
nen, von denen hier die Rede ist - ebenso das handschrifiliche Glos- 
sar zum ersten Band der »Versuche« - sind nicht erhalten geblieben. 
Gedruckt wurde der Aufsatz erst 1966. - Wiederholt wies Benjamin 
auf die Nahe dieser Arbeit zu dem Vortrag Der Autor als Produzent 
(s. 683-701) hin, so am 28.4. 1934 gegeniiber Theodor W. Adorno: 
Wdren Sie jetzt hier 3 so wurde uns, glaube ich, der Vortrag [. . .] viel 
Stoff zur Debatte geben. Er heiflt »Der Autor als Produzent* [. . .] 
und stellt einen Versucb dar, fur das Schrifltum ein Gegenstuck zu 
der Analyse zu liefern, welcbe icb fur die Buhne in der Arbeit uber 
»Das epische Theater* unternommen habe. (28.4. 1934, an Th. W. 
Adorno) Und ahnlich noch einmal - wiederum in einem Brief an 
Adorno - einen Monat spater: Ob ich Ihnen bereits Uber meine letzte 
Arbeit schrieb, weifi ich nicht mehr. Sie heifit »Der Autor als Produ- 
zent* und ist eine Art von Gegenstuck zu jener fruheren uber das 
epische Theater. (24. 5. 1934, an Th. W. Adorno) Auch zu Brecht 
selbst sprach Benjamin zur selben Zeit, in einem Brief vom 21. 5. 1934, 
liber den Zusammenhang der beiden Arbeiten: Unter dem Titel »Der 
Autor als Produzent* habe ich versucht, nach Gegenstand und Um- 
fang ein Pendant zu meiner alten Arbeit uber das epische Theater zu 
machen. Icb bringe es Ihnen mit. (Briefe, 609) 

Im Nachlafi Benjamins ist das Typoskript eines kurzen, Studien zur 
Theorie des epischen Theaters uberschriebenen Fragments vorhanden, 
das zumindest sachlich zu den Vorarbeiten des Aufsatzes Was ist das 
epische Theater? Eine Studie zu Brecht zu gehoren scheint und im fol- 
genden mitgeteilt wird. 

Studien zur Theorie des epischen Theaters 
Das epische Theater ist gestisch. Streng genomftien ist die Geste das 
Material und das epische Theater die zweckmafiige Verwertung dieses 
Materials. La St man das gelten, so er geben sich vor der Hand zwei 
Fragen. Erstens, woher bezieht das epische Theater seine Gestenf 



Anmerkungen zu Seite 5 1 9— j 31 1381 

Zweitens, was versteht man unlet einer Verwertung von Gesten? Als 
drittes wurde sich dann die Frage anschliejlen: auf Grund iveldoer 
Methoden findet im epischen Theater die Verarbeitung und Kritik der 
Gesten stattf 

Zur ersten Frage: Vorgefunden werden die Gesten in der Wirklich- 
keit. Und zwar - das ist eine wichtige Feststellung, die mil der Natur 
des Theaters ganz eng zusammenhdngt - nur in der heutigen Wirk- 
lichkeit. Angenommen, jemand schreiht ein historisches 1 * heater stuck, 
so behaupte ich: er wird dieser Aufgabe nur Herr werden, soweit er 
die Moglichkeit hat, sinnvoll und sinnfdllig einem gegenwartigen, dem 
heutigen Menschen ausfuhrbaren Gestus vergangene Geschehnisse 
zuzuordnen. Aus dieser Forderung liefien sich gewisse Erkenntnisse, 
Moglichkeiten und Grenzen des historischen Dramas betreffend[J 
ableiten. Denn feststehend ist auf der einen Seite, da$ imitierte Ge- 
sten nichts wert sind, es sei denn, gerade der gestische Vorgang der 
Imitation stunde zur Debatte. Zweitens steht fest, dafl anders als 
nachgeahmt die Geste etwa des Papstes, der Karl den Grofien kront, 
oder Karls des Grofien, der die Krone empfangt, heute nicht mehr 
vorkommt. Rohmaterial des epischen Theaters ist also ausschliefilich 
der heute vorfindliche Gestus, der Gestus entweder einer Handlung 
oder der Imitation einer Handlung. 

Zur zweiten Frage: Gegenuber den durchaus triigerischen Aufierun- 
gen und Behauptungen der Leute auf der einen Seite, gegenuber der 
Vielschichtigkeit und Undurchschaubarkeit ihrer Aktionen auf der 
andern Seite hat die Geste zwei Vorzuge. Erstens ist sie nur in ge- 
wissem Grade verfalschbar und zwar je unauffalliger und gewohn- 
heitsmdfiiger sie ist, desto weniger. Zweitens hat sie im Gegensatz zu 
den Aktionen und Unternehmungen der Leute einen fixierbaren 
Anfang und ein fixierbares Ende. Diese strenge rahmenhafle Geschlos- 
senheit jedes Elements einer Haltung, die dock als ganze im lebendi- 
gen Flu$ sich befindet, ist sogar eines der dialektischen Grundphano- 
mene der Geste. Wir Ziehen daraus einen wichtigen Scblufi: Gesten 
erhalten wir umso mehr, je haufiger wir einen Handelnden unter- 
brechen. Fur das epische Theater steht daher die Unterbrechung der 
Handlung im V order grunde. In solcher Unterbrechung besteht der 
Wert der Songs fur die gesamte Okonomie des Dramas. Ohne der 
schwierigen Untersuchung iiber die Funktion des Textes im epischen 
Theater vorzugreifen, kann festgestellt werden, dafi die Hauptfunk- 
tion des Textes in gewissen Fallen darin besteht, die Handlung - 
weit entfernt sie zu illustrieren oder gar zu for dem - zu unterbre- 
chen. Und zwar nicht nur die Handlung eines Fremden sondern genau 
so die eigne. Der retardierende Charakter der Unterbrechung, der 
episodische Charakter der Umrahmung sind es - nebenbei gesagt - 



1382 Anmerkungen zu Seite 519—531 

welche das gestische Theater zu einem epischen macloen. Es ware nun 
wei[ter] darzulegen, welchen Prozessen das derart praparierte Roh- 
material - die Geste - auf der Buhne unterworfen wird. Handlung 
und Text haben hier keine andere Funktion, als variable Elemente in 
einer V ersuchsanordnung zu sein. In welcher Richtung liegt nun das 
Ergebnis dieses Versuchsf 

Die Antwort auf diese Form der zweiten Frage ist nicht von der Er- 
orterung der dritten zu trennen: Mit welchen Methoden erfolgt die 
Bearbeitung der Geste? Diese Fragen eroffnen die eigentliche Dialek- 
tik des epischen Theaters. Es soli hier nur auf einige ihrer Grundbe- 
griffe hingewiesen werden. Dialektisch sind zun'dchst einmal folgende 
Verhaltnisse: das der Geste zur Situation und vice versa; das Ver- 
haltnis des darstellenden Schauspielers zur dargestellten Figur und 
vice versa; das Verhaltnis des autoritar gebundenen Verhaltens des 
Schauspielers zum kritischen des Publikums und vice versa; das Ver- 
haltnis der aufgefuhrten Handlung zu derjenigen Handlung y die in 
jeder Art Auffiihrung zu erblicken ist. Diese Aufzahlung ist hinrei- 
chendy um erkennen zu lassen, wie all diese dialektischen Momente 
sich der hier nach langer Zeit wieder neuentdeckten obersten Dialektik 
unterordnen, welche durch das Verhaltnis von Erkenntnis und Erzie- 
hung bestimmt wird. Denn alle Erkenntnisse y zu denen das epische 
Theater kommt, haben unmittelbar erzieherische Wirkung, zugleich 
aber setzt sich die erzieherische Wirkung des epischen Theaters un- 
mittelbar in Erkenntnisse um, die freilich beim Schauspieler und beim 
Publikum spezifisch verschiedene sein konnen. 

Druckvorlage: Benjamin-Archiv, Ts 415-417 

lesarten 1381,3 und Kritik] handsdbr. in das Typoskript eingetragen - 
1381,35 f. In bis Dramas.] handschr. Einfugung am Rand - 1382,7 f. 
nicht bis welchen] am Rand dieser Typoskriptzeile beginnt die folgende 
handschr. Marginalie: Die Geste demonstriert die soziale Bedeutung und 
Anwendbarkeit der Dialektik. Sie macht die Probe auf die Verhaltnisse 
am Menschen. Die Regieschwierigkeiten y die sich dem Spielleiter wahrend 
der Einstudierung ergeben sind - wenn sie selbst vom Such en nach der 
»Wirkung« ausgehen - von konkreten Einblicken in den Gesellschaftskorper 
nicht mehr zu trennen. Die Textstelle, an der diese Satze eingefiigt werden 
sollten, ist nicht erkennbar. 

UBERLIEFERUNG 

T 1 Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecht. Von Wal- 
ter Benjamin. - Als Handexemplar gekennzeichneter Typoskript- 
Durchschlag, mit Einfugungen, Kdnx-kturen und Marginalien in 
Tinte und Bleistift von Benjamins Hand sowie mit einer Bleistift- 



Anmerkungen zu Seite 5 1 9—5 31 1383 

marginalie von fremder (wahrscheinlich Margarete Steffins) Hand; 

Benjamin-Archiv, Ts 394-414. - Der Text findet sidi Ts 394-412, 

die Blatter Ts 413 f. enthalten drei Einfiigungen bzw. umgearbei- 

tete Passagen. 
T 2 Was ist das epische Theater? Eine Studie zu Brecbt. Von Walter 

Benjamin. - Typoskript-Durchschlag, 15 Bl. einseitig beschrieben, 

dhne handschr. Korrekturen oder Zusatze; Besitz: Stefan Brecht, 

New York. 
Druckvorlage: T 1 

T 2 ist eine Abschrift von T 1 , und zwar wahrscheinlich diejenige, 
fiir die Benjamin sich Ende Oktober 1935 bei Margarete Steffin be- 
dankte: Und dann weifi icb nicht einmal, ob ich Ibnen schon fur 
Ibre ausgezeicbnete Abschrift des »Epischen 7 beaters # gedankt babe. 
Icb bin sebr frob, dafi Sie mir dieses wichtige Manuscript derart ge- 
sicbert haben, (Briefe, 692) Gegeniiber T 1 weist T 2 kleinere, fiir Ab- 
schriften typisdie Anderungen auf, und zwar einmal leichte Retou- 
chen der in T 1 uneinheitlichen Interpunktion (welche in der Regel 
bei der Textherstellung ubernommen werden konnten), dann aber 
auch die Aufhebung mancher - fur Benjamins Orthographie insge- 
samt charakteristischer - Elisionen (z. B. »anderes« fiir andres, »un- 
sere« fiir unsre). Da T 2 keine Indizien fiir eine Autorisierung durdi 
Benjamin enthalt, war T 1 als Druckvorlage vorzuziehen. Die Va- 
rianten von T 2 sind verzeichnet worden, doch moglicherweise nicht 
ganz vollstandig: den Herausgebern stand leider nur eine technisch 
unzulangliche Photokopie zur, Verfiigung, auf der gelegentlich einige 
Zeilen nicht zu lesen sind. 

lesarten $20,17 $• Sl< ^ bis hat.] in T 1 am Rand dieser beiden Typo- 
skriptzeilen handschr. des Regisseurs; gemeint ist wohl: »Funktionar 
des Regisseurs«, doch ist diese Einfiigung so unnotig wie sprachlich 
problematisch. - 520,29 f. unabhdngig bis Berufskritik] T 2 ; in T 1 
als nachtragliche Anderung auf Ts 413, ursprunglich hatte T 1 : auch 
ohne sie (Ts 396). - 521,25 f. genauso] fiir genau so T 1 , T 2 - 521,34 
andres] anderes T 2 - $21,34 konnen] konjiziert fiir konnen, T 1 , 
T 2 - 522,2 Buhne,] konj. fur Buhne T 1 , T 2 - 522,8 Versuchs] 
Versuches T 2 - 522,31 grade] gerade T 2 - 523,3 sind),] konj. fiir 
sind) T l , T 2 - 523*12 andres] anderes T 2 - 523,12 f. gar nicht] 
T 2 ; garnicht T 1 - 523,18 Diesen] konj. fiir Diesem T 1 ; in der 
Photokopie von T 2 ist der letzte Buchstabe des Wortes verwischt. - 
523,20 werden] konj. fiir werden, T 1 , T 2 - 523,20 dahin),] konj. 
fur dahin) T 1 , T 2 - 523,34 Scbleicbpfad,] T 2 ; in T 1 fehlt das 
Komma - 524,5 Jahren y ] T 2 ; in T 1 fehlt das Komma - 524,29 
Scbauspieler,] T 2 ; in T 1 fehlt das Komma - 524,33 aufzusuchen*,] 
konj. fiir aufzusuchen T 1 , T 2 - 525,4 aber] fehlt in T 2 - 525,4 



1384 Anmerkungen zu Seite 519—531 

scbreibt,] T 2 ; in T 1 fehlt das Komma - 525,9 dem wit kitchen sitzen] 
den wirklichen zu setzen T 2 . Die Lesart von T 2 ist grammatikalisch 
korrekter, diirfte aber eine Emendation der Abschreiberin sein, da die 
sprachliche Harte der Formulierung in T 1 eine diarakteristisdi Ben- 
jaminsche darstellt. - 525,28-34 Auch bis scbreibt.] in T 1 am Rand 
dieser Typoskriptzeilen die handschr. Notiz: Starve der Haltung, 
Locker ung des Gescbebens - 525,34 Fabel] konj. fur label, T 1 , T 2 
- 526,4 Denkens,] konj. fur Denkens T 1 , T 2 - 526,5 Sinn] Sinne 
T 2 - 526,14 Pseudoklassik,] konj, fur Pseudoklassik T 1 , T 2 - 
526,17 unsre] unsere T 2 - 526,18 vermittelt] T 2 ; in T 1 sind ver- 
mittelt und vermittelnd ubereinander geschrieben, ohne dafl der Durdi- 
sdilag erkennen laflt, welche Formulierung die andere korrigiert. - 
526,21 unsrer] unserer T 2 - 526,38 ein] konj. fiir einen T 1 , T 2 - 
526,39 das] konj. fiir der T 1 , T 2 - 527,9 f. Sir El Dchowr] korrigiert 
fiir So al Dohowr T 1 , T 2 - 527,36-528,14 In bis Publikums] T 2 ; 
in T 1 als nachtragliche Anderung auf Ts 413, urspriinglich hatte 
T 1 : Sie hatte sich ja darauf versteifl, Mafistabe irgendwo im Absolu- 
ten, in der »Kunst« zu suchen, nun mufi sie es erleben, dafi das Publi- 
kum zur Biihne ins Verhdltnis einer Wecbselwirkung derart tritt y dafi 
jede ihrer Wirkungen dessen Selbsterkenntnis, jede seiner Reaktionen 
der en Selbstkontrolle auslost. In solchen Verschiebungen (Ts 407; hier 
auflerdem vor dem ersten Wort - Sie - am Rand die handsdir. No- 
tiz: So [?] kommt namlich ihr Agentencbarakter zum Vorschein. Es 
unterscbeidet ja die Theaterkritik von der des Films ... - 529,14 
Schauspielers;] Scbauspielers, T 2 - 529,19 ist,] konj. fiir ist T 1 , 
T 2 - 529,20-28 im bis solcher —] T 2 ; in T 1 nachtragliche Anderung 
(auf Ts 414; ahnlich audi schon handschr. am Rand von Ts 409) fiir: 
in jeder Art von Auffubrung gegeben ist, zum Ausdruck zu bringen, 
so daft »der Zeigende* (Ts 409) - 529,34 imstande] fiir im Stande 
T 1 , T 2 - 529,36 ebenso] fiir eben so T 1 , T 2 - 530,10 zugrunde] 
fiir zu Grunde T 1 , T 2 - 530,11 sie] Konjektur der Hg. - 530,11 
weil sie einfacher sind] (Korrektur nach Drucklegung des Textteils:) 
Im Text ist zu berichtigen: weil sie nicbt einfacher sind - 531,22-25 
Beharre bis brechen.] T 1 schreibt die vier Verse als zwei (Ende des 
ersten Verses nach 531,23 bricbt,), T 2 hat die richtige Versteilung; 
s. audi den Nachweis zu der Stelle. 

nachweise 519,26 wurde.«] Breoht, Versuche 4-7 [Heft 2], Berlin 
1930, 107 - 519,32 f. »filr Publikationsinstitute«] s. a. a. O., 115: 
». . . Versuche . . ., gewisse Institute aus Vergniigungsstatten in Publi- 
kationsorgane umzubauen«; s. audi a. a. O., 108. - 520,21 f. statt- 
fand] s. Bertolt Brecht, Mann ist Mann. Die Verwandlung des 
Packers Galy Gay in den Militarbaracken von Kilkoa im Jahre neun- 
zehnhundertfunfundzwanzig. Lustspiel, Berlin 1926; Benjamin be- 



Anmerkungen zu Seite 5 1 9—5 39 1385 

zleht sidi auf die Auffiihrung am Staatstheater Berlin unter Bredits 
Regie, die am 6. 2.193 1 Premiere hatte. - 522,26 hat.*] Brecht, 
Versuche 8-10 [Heft 3], Berlin 1931, 235 - 524,6 erkannt] s. Georg 
Lukdcs, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Ver- 
such iiber die Formen der grofien Epik, Neuwied, Berlin 2 i^6} y 
29 f.: »Der Held der Tragodie lost den lebenden Menschen Homers 
ab . . . Und der neue Mensch Platons, der Weise, mit seiner handeln- 
den Erkenntnis und seinem wesenschaffenden Schauen, entlarvt nicht 
blofi den Helden, sondern durchleuchtet die dunkle Gefahr, die er 
besiegt hat und verklart ihn, indem er ihn iiberwindet.« - 524,33 
aufzusuchen*] Brecht, Versuche 8-10 [Heft 3], a. a. O., 239 - 
525,1 herzustellen.*] a. a. O., 234 - 5*5*3 f. einzufiihren.*] a. a. O., 
2 35 - 5 2 5>7 sitzt*] Brecht, Versuche 4-7 [Heft 2], a. a. O., 112 - 
525,28 geeignetsten.*] Bertolt Brecht, Gesammelte Werke [werkaus- 
gabe edition suhrkamp], Frankfurt a. M. 1967, Bd. 17, 987 (»An- 
merkungen zum Lustspiel >Mann ist Mann<«) - 526,16 Angebot«] 
Brecht, Versuche 8-10 [Heft 3], a.a.O., 241 - 526,26 hat*] Brecht, 
Mann ist Mann, a. a. O., 7 - 526,29 kaufen.*] a. a. O., 20 - 526,30 
kann*] s. a.a.O., 24 - 527,20 dauert.] s. Brecht, Gesammelte Werke, 
a.a.O., Bd. 1, 345: »Nenne doch nicht so genau deinen Namen. Wozu 
denn? / Wo du doch immerzu einen andern damit nennst. / Und wozu 
so laut deine Meinung, vergifi sie doch. / Welche war es denn gleich? 
Erinnere dich doch nicht / Eines Dinges langer, als es selber dauert.« - 
529,13 machen*] Brecht, Versuche 1-3 [Heft 1], Berlin 1930, 1 - 
529,28 werde*] Brecht, Versuche 8-10 [Heft 3], a.a.O., 241 - 531,25 
brechen.*] Brecht, Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 1, 337. In der so- 
genannten Propylaen-Ausgabe von 1926 (s. a.a.O.) - die die einzige 
Fassung von »Mann ist Mann« enthalt, die gedruckt vorlag, als Ben- 
jamin seinen Aufsatz schrieb - fehlt das »Lied vom Flufi der Dinge« 
noch; in der Berliner Auffiihrung von 193 1 wurde es jedoch schon vor- 
getragen (s. Brecht, Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 17, 981). 



53 2 ~539 Was ist das epische Theater? 

Den zweiten Aufsatz Was ist das epische Theater? schrieb Benjamin 
wahrscheinlith zwischen Mitte April und Anfang Juni 1939. In einem 
undatierten, im Juni 1939 abgefafiten Brief an Margarete Steffin be- 
richtete er, dafi er fiir die Zeitschrift »Mafi und Wert« - sie wurde 
von Thomas Mann und Konrad Falke als Zweimonatsschrift im Ver- 
lag Oprecht in Zurich herausgegeben - sogleich nachdem Sie mir die 
Nachricht von dem Verschwinden des »Wortes« gegeben hatten, einen 



1386 Anmerkungen zu Seite 532—539 

neuen Essay uber die Dramaturgic von Brecht geschrieben (Briefe, 
819) habe; die Nachricht vom Verschwinden des »Worts«, der von 
Brecht mitredigierten Moskauer Monatsschrift, hatte Benjamin am 
18. 4. 1939 in Handen (s. 18. 4. 1939, an Margarete Steffin). In einem 
Brief, den er am 10. 5. 1939 aus Pontigny an Karl Thieme richtete, 
heiftt es: Die letzten pariser Tage war en durch Besprechungen mit 
Lion, dem Redakteur von »Majl und WerU mit Beschlag belegt. Diese 
Besprechungen fuhrten uns and) auf Sie (den Anlafi bildete ein Ge- 
sprdch uber Brecht, bei dem ich wieder einmal auf Ihren Aufsatz ver- 
weisen konnte, unter dessen Eindruck ich gerade stand [s. Karl Thie- 
me, Des Teufels Gebetbuch? Eine Auseinandersetzung mit dem Werke 
Bertolt Brechts, in: Hochland 29 (1931/32), Bd. 1, 397-413 (Heft f, 
Februar '32)].) (10. 5. 1939, an Karl Thieme) Die hier erwahnten Be- 
sprechungen mit Ferdinand Lion galten fraglos dem Benjaminschen 
Aufsatz. Dieser scheint am 8. Juni abgeschlossen gewesen zu sein, 
denn in einem Brief mit diesem Datum schrieb Benjamin, wieder- 
um an Thieme: In der ndchsten Nummer von »Mafl und WerU fin- 
den Sie von mir einen (anonymen) Aufsatz uber die Dramaturgic 
von Brecht. (Briefe, 817) - Uber das Verhaltnis, in dem die beiden 
Aufsatze Was ist das epische Theater? zueinander stehen, aufierte 
Benjamin sich Ende Juni nicht ganz zutreffend in einem Brief an 
Gretel Adorno: Einen kleinen liter arischen Sieg verzeichne ich. Es ist 
zehn Jahrc her, dap ich auf Veranlassung der Frankfurter Zeitung 
einen Aufsatz »Was ist das epische Theater?* schrieb. [. . .] Jetzt 
habe ich ihn, mit geringfiigigen Anderungen in »Mafi und Wert*, die 
cine Debatte uber Brecht eroffnen, unter gebracht. (Briefe, 822) Tat- 
sachlich handelt es sich viel eher um zwei verschiedene Arbeiten, von 
denen die zweite lediglich einzelne Formulierungen der alteren in 
einen neuen Kontext stellt. - In der Umgebung Brechts, wenn nicht 
bei Brecht selbst, scheint es Einwande gegen Benjamins Aufsatz gege- 
ben zu haben. Nachdem dieser erschienen war, schrieb sein Autor an 
Margarete Steffin: In puncto Essai bin ich reumutig, was den Titel 
von Brechts Stuck angeht [s. Lesart zu $38,32] (es gab da eine un- 
entschuldbare Kollision mit Kierkegaards »Furcht und Sitte« [sic].) 
Was den Rest des Essais betrifft, so bin ich der Belehrung gewdrtig. 
(6. 8. 1939, an Margarete Steffin) 

UBERLIEFERUNG 

J Was ist das epische Theater? Von **. In: Mafi und Wert. Zwei- 
monatsschrift fur freie deutsche Kultur. Jg. 2, 1939, 831-837 (Heft 
6, Jul!/ August '39). - Der Abdruck erfolgte unter-dem Obertitel 
»Gegenwartiges Theater I« in einer Sparte »Glossen«, die neben 
Benjamins Aufsatz einen zwehen - gleichfalls anonym erschiene- 



Anmerkungen zu Seite 532—539 1387 

nen, vielleicht von Ferdinand Lion stammenden - »Grenzen 
des Bredit-Theaters« (s. a. a. O., 837-841) sowie die Szene »Die 
Bergpredigt« aus »Furdit und Elend des Dritten Reiches« (s. a.a.O., 
842-844) umfafit. Eine »D.Red.« unterzeichnete Fuflnote zum Titel 
von Benjamins Aufsatz lautet: »Von der im Malik- Verlag (Lon- 
don) erscheinenden Gesamtausgabe der Werke Bert Brechts liegen 
die zwei ersten Bande vor, die mit Ausnahme seiner Jugenddramen 
wie >Trommeln in der Nacht<, >Baal< sein gesamtes Theater ent- 
halten. Wir geben hier einem Ja- und einem Neinsager das Wort 
oder richtiger einem strikten Befiirworter seiner Theorie und einem 
vorsichtig das Fur und Wider seiner Werke Abwagenden.« 
lesarten 534,8 Mann*,] konjiziert fiir Mann* - 534,13 Weisen,] 
konj. fiir Weisen - 535,33 so viel] fiir soviet - $y6,ij End*,] konj. 
fiir end* - 536,28 urn so] fiir umso - 536,31 genausogut] fiir ge- 
nau so gut - 537,13 T.E.] korrigiert fiir /./. - 538,32 »Furcbt und 
Elend des Dritten Retches*] korrigiert fiir »Furcht und Zittern des 
Dritten Reiches* - 538,34 nachzumacben] konj. fiir zu machen - 
538,39 wie] konj. fiir wenn\ die Konjektur wird gestiitzt durdi 

5i7>2i 

nachweise 533,7 dargestellt] »The Fourth Wall of China « ist eine 
von Eric Walter White besorgte Ubersetzung des Textes »Verfrem- 
dungseffekte in der chinesischen Schauspielkunst«, s. Bertolt Brecht, 
Gesammelte Werke [werkausgabe edition suhrkamp], Frankfurt a. M. 
1967, Bd. 16, 619-631. - 533,10 geeignetsten*] Brecht, Gesammelte 
Werke, a. a. O., Bd. 17, 987 (»Anmerkungen zum Lustspiel >Mann 
ist Mann<«) - 533,24 herauszuschmuggeln.*] Benjamin zitiert nach 
einem Manuskript des Stiiokes; das 14. Bild von »Leben des Galilei« 
hat seit dem Erstdruck in Brecht, Versuche 19 [Heft 14], Berlin 1955, 
90, eine andere Beschriftung. - 536,1 hatte.*] Brecht, Gesammelte 
Werke, a. a. O., Bd. 17, 1054 (»Brief an das Arbeitertheater Theatre 
Union in New York, das Stuck >Die Mutter< betreffend«) - 536,12 
machen*] Brecht, Versuche 1-3 [Heft 1], Berlin 1930, 1 - 537,2 
wurde] s. Brecht, Lindbergh. Ein Radio-Horspiel fiir die Festwoche 
in Baden-Baden, in: Uhu V, 7, April 1929, 10-16 - 537,32 Hoff- 
nungt*] Brecht, Gesammelte Werke, a.a.O., Bd. 17, 1056 (»Brief 
an das Arbeitertheater Theatre Union in New York, das Stuck >Die 
Mutter< betreffend«) 



1388 Anmerkungen zu Seite 539—572 

539-572 KOMMENTARE ZU GEDICHTEN VON BRECHT 

Die Absicht, Kommentare zu Gedichten von Brecht zu schreiben, faft- 
te Benjamin im Sommer 1938 wahrend eines Aufenthalts bei dem 
Diditer in Skovsbostrand; am 30. 3. 1939 schrieb er dariiber an Karl 
Thieme: Die Karte, die Sie im Sommer aus Paris an mich gerichtet 
haben, war fur uns oben in Danemark nicht der etnzige Anlafi, Ibrer 
zu gedenken. Ich trug mid) dort mit dem Gedanken, Kommentare zu 
einigen Gedichten von Brecbt zu schreiben und dem bin ich inzwischen 
naher getreten. [AbsatzJ Von An fang an war von Ihrer klassiscben 
Besprecbung der »Hauspostille« [s. den Nachweis 1386] in diesem 
Zusammenbang wieder die Rede. Nun, nachdem ich etwa ein Dutzend 
Kommentare, darunter mehrere zu Gedichten der »Hauspostille<t 
geschrieben babe, fuhle ich grofies Verlangen »Des Teufels Gebetbuch« 
wieder einmal zu lesen. Es ist ein Zweck dieser Zeilen, die Bitte an Sie 
zu richten, mir ein Exemplar davon leihweise auf acht bis zehn Tage 
zu uber lassen. Sie durfen punktlicher Rucksendung durch Einschrei- 
ben versichert sein. (30. 3. 1939, an K. Thieme) Den Text seiner 
Brecht-Kommentare hatte Benjamin schon zehn Tage vorher an 
Margarete Steffin geschickt: Ich sende Ihnen [. . ./ mit gleicher Post 
den Kommentar zu den Gedichten - vielleicbt dafi das »Wort« daraus 
etwas gebrauchen kann. Die Arbeit ist fur mich nicht abgeschlossen. 
Ich will sie gelegentlich in mehrere [sic] Kommentare, besonders zu 
spdteren Gedichten, erweltern. Aber in unmtttelbarer Zukunfl werde 
ich dazu wohl nicht kommen. [AbsatzJ (Wenn Erpenbeck behauptet, 
von mir keine Antwort erhalten zu haben, so ist das eine seiner Re- 
daktionslugen. Mein letzter Brief, der unbeantwortet blieb, enthielt 
die Aufforderung, einen von der Drucklegung unabhangigen Termin 
der Honorierung vorzusehen.) (20. 3. 1939, an Margarete Steffin) 
Offenkundig schrieb Benjamin die Kommentare als Auftragsarbeit 
fiir »Das Wort«, dessen Redaktionsgeschafte Fritz Erpenbeck als 
Nachfolger Willi Bredels seit dem Fruhjahr 1937 fiihrte. Wie unter 
der redaktipnellen Agide von Bredel Benjamins zweiter Pariser Brief 
angenommen, aber nicht gedruckt wurde, so unterblieb unter derjeni- 
gen Erpenbecks die VerofFentlichung der Kommentare zu Gedichten 
von Brecbt; wie Benjamin um das Honorar fiir den als einzigen im 
»Wort« erschienenen Text Andre Gide und sein neuer Gegner bet- 
teln mufite (s. Bd. 3, 6j6 f.), so scheint auch Erpenbeck sich bei der 
Honorierung der in Auftrag gegebenen Kommentare sprode gezeigt 
zu haben. Von Margarete Steffin erfuhr Benjamin, dafi »Das Wort« 
sein Erscheinen einstellen wurde; er antwortete ihr: yi/$o auch » Das 
Wort* verschwindet von der Bildflache. — Sie miissen wissen, daft 
ich das Manuskript des Brecht-Kommentars nur an Sie geschickt 



Anmerkungen zu Seite 539—572 1389 

habe; ich wollte nicht, dafi es eher an die Redaktion kommt, als Brecbt 
es durchgesehen hat. [Absatz] Infolgedessen kann ich an Erpenbeck 
garnicht schreiben. Der Auftrag ist erteilt worden und das Manusknpt 
muflte natutlich unbedingt honoriert werden. Aber von einem von 
m i r gezeichneten Brief an Erpenbecker kann ich mix nichts vet- 
sprechen. Ich bitte Sie datum, das Ihre zu vetsuchen, um die Dinge 
dutch Btecht in Otdnung zu btingen. [Absatz] In Ihtem Brief habe 
ich eine, sei es auch beilaufige Nachricht ubet die Aufnahme det Kom- 
mentare dutch Brecht vermifit. Sollte hier gelten: Keine Nachricht ist 
auch eine Nachricht? (18. 4. 1939, an Margarete Steffin) Im Jum 1939 
unternahm Benjamin einen weiteren Versuch, die Brecht-Kommentare 
zum Druck zu befordern, indem er wiederum Margarete Steffin bat, 
Brecht zu einer Intervention zu veranlassen - diesmal bei der von 
Johannes R. Becher redigierten, ebenfalls in Moskau erscheinenden 
deutschen Ausgabe der Monatsschrift »Internationale Literatur«. Jetzt 
noch ein Wort zu meinen Gedichtkommentaren. Sie werden ganz und 
gat nicht in »Mafi und WetU etscheinen /. . ./. Was die Kommentare 
angeht y so liegt mir natutlicb daran, dafi sie etscheinen sehr. Konnte 
mit Brecht den Gefallen erweisen, sie von sick aus an die Internatio- 
nale Literatur zu senden, so ware mir das sehr lieb. Ich denke nicht so 
sehr daran, dafi er dies als Verfasser der im Kommentar behandelten 
Gedichte tdte denn im Namen der Redaktion des Wort bei deten 
Manusctipten sich mein Aufsatz befindet. (Ich spteche figiirlich, denn 
ich habe kein Manuscript an Erpenbeck sondern nut eines an Sie ge- 
sandt.) Wie dem auch sei, Btecht steht in Vetbindung mit det Interna- 
tionalen Literatur und mir fehlt sie. Ftit Btecht ist es, denke ich, ein 
Leichtes, anzuftagen, ob solche Kommentare die Leute interessieten. 
Wenn et sie dann nicht selbst einsenden will, so kann et die Redak- 
tion doch gewifi veranlassen, sie von mir einzufotdetn. Wenn jetzt det 
Gedichtband [scil. Btecht, Svendbotget Gedichte, London 193$] 
etscheint, so etleichtert das alles, wahtend mit eine Initiative aus 
eignen Stiicken bei det Intetnationalen Litetatut techt schwet fallt. 
Bitte schteiben Sie mir daruber. (Brief e, 818 f.) Ob der Versuch Brechts 
bei der »Internationalen Literatur « mifilang oder ob er gar keinen 
unternahm, ist unbekannt. Gedruckt wurde zu Benjamins Lebzeiten 
lediglich der Kommentar zur »Legende von der Entstehung des Buches 
Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration* in der »Schwei- 
zer Zeitung am Sonntag«, die sein Freund Fritz Lieb und Eduard 
Behrens herausgaben. 

UBERUEFERUNG 

jbai $ €rt Btecht: Legende von det Entstehung des Buches Taoteking 
auf dem Weg des Laotse in die Emigtation [und] Waltet 



1390 Anmerkungen zu Seite 539—572 

Benjamins Kommentar t in: Schweizer Zeitung am Sonntag 
(Basel), 23. 4. 1939; Benjamin-Archiv, Dr 137 f. 
JBA2 D a ss., Benjamin-Archiv, Dr 139 f. 

T 1 Kommentare zu Gedichten von Brecht von Walter Benjamin. - 
Typoskript-Durchschlage mit handschr. Korrekturen, umfaftt 
samtliche Kommentare mit Ausnahme dessen zur »Legende von 
der Entstehung des Buches Taoteking . . .«; Benjamin-Ardiiv, 
Ts 7 6 7'774> T s 777> Ts 775 *•> Ts 7^~79^> Ts 785, Ts 77% Ts 
78i,Ts783f. 
T 2 Typoskript-Durchschlage mit Abschriften der Brechtschen Ge- 
dichte »Aus dem Lesebuch fur Stadtebewohner 1 [und] 3*, 
»Deutsche Kriegsfibel« (Auswahl), »Der Pflaumenbaum« und 
»Vom Kind, das sich nicht waschen wollte«; Benjamin-Archiv, 
Ts 786 f., Ts 778, Ts 782, Ts 780. 
M Abschriften von Benjamins Hand der Brechtschen Gedichte »Das 
Sonett (uber die gedichte des dante auf die beatrice)« und »So- 
nett iiber Kleists Stuck >Prinz von Homburg<«; Benjamin-Ar- 
chiv, Ms 674, S. 58 und S. 61. 
Druckvorlage: J* A , p, T 2 , M 

Die von Benjamin nicht festgelegte Anordnung der Kommentare - 
T 1 weist keine durchgehende Paginierung auf - mufite von den Her- 
ausgebern getroffen werden. Da alle Kommentare Gedichten gelten, 
welche Brecht in Sammlungen aufgenommen hat, gaben diese - »Haus- 
postille«, »Aus dem Lesebuch fiir Stadtebewohner «, »Studien« und 
»Svendborger Gedichte« - ein Gliederungsprinzip auch fiir die Kom- 
mentare ab: die Kommentare zu Gedichten, die zur selben Sammlung 
gehoren, wurden entsprechend dieser Zugehorigkeit zusammengestellt, 
und zwar jeweils in der Reihenfolge, in welcher die kommentierten 
Gedichte selber in den respektiven Brechtschen Sammlungen sich fin- 
den. Die derart entstehenden Kommentarzyklen wurden dann nach 
der Chronologie, in der die entsprechenden Gedichtsammlungen 
Brechts entstanden sind, angeordnet. - Wie die Anordnung der Kom- 
mentare so sind auch die den einzelnen Kommentaren vorangestellten 
Gedichttexte als Hinzufiigungen der Herausgeber anzusehen. Benja- 
min selbst legte dem maschinenschriftlichen Konvolut seiner Kommen- 
tare nur von wenigen Gedichten Abschriften auf gesonderten Blattern 
bei (T 2 ). Einem solchen Blatt folgt die Auswahl aus der »Deutschen 
Kriegsfibel«, auf welche Benjamins Kommentar keinen unmittelbaren 
Bezug nimmt. Aus den »Studien« wahlten die Herausgeber zwei 
Sonette zum Abdruck, die sich in einem Notizheft Benjamins von 1938 
abgeschrieben finden (M). Bei den Texten aus der »Hauspostille« und 
dem »Lesebuch fiir Stadtebewohner* wurde auf die Erstdrucke, die 
Benjamin vorlagen, zuruckgegriffen; bei denjenigen aus den »Studien« 



Anmerkungen zu Seite 539—572 1391 

und den »Svendborger Gedichten«, die zur Zeit der Abfassung der 
Kommentare ungedruckt waren, sind Benjamins Absdiriften zugrunde 
gelegt worden. Beim Text der »Legende yon der Entstehung des 
Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration^ dessen 
Abdruck in J Setzerentstellungen aufweist und das als Abschrift von 
Benjamins Hand fehlt, ist dagegen der Erstdruck der »Svendborger 
Gedichte« herangezogen worden. 

lesarten 546,25 Die ganze Differenz] handschr. korrigiert aus Der 
ganze Unterschied - $46,26 die] konjiziert fiir ein irrtiimlich stehen- 
gebliebens der, s. vorige Lesart. - 550,22 Hollenfeuer,] konj. fiir 
Hollenfeuer - 556,9 Weimarer] fiir weimarer - 558,22 werden,] 
konj. fiir werden - 560,13 Erscheinende] konj. fur erscbeinende - 
560,19 darf,] konj. fiir darf - 560,28 seinen] konj. fiir seinem - 
563,22 lateiniscben] konj. fiir lateinisch - 563,30 Entsprechungenf] 
konj. fur Entsprechungen. - 564,10 f. au/Serordentlich] moglicher- 
weise Sdireibfehler fiir aufierordentliche - 565,8 diirfen:] konj. fiir 
diirfen; - 565,21 dahinfegten] konj. fiir dahinfegen - 565,33 buck- 
lichen] kcnj. fiir bucklickten - $66,27 Kinder*,] konj. fiir Kin- 
der* - 568,1-3 2» bis Emigration*] Formulierung des Zwischen- 
, titels von den Hg. - 570,20 des] handschr. Einfiigung in J BA1 - 
571,27 KUnfiige,] in J BA2 handschr. fiir Kiinftige - 571,36 Freund- 
lichkeitsbezeigungen] in J BAI handschr. aus Freundlichkeitsbezeugun- 
gen - 572,4 angenommen:] in J BA1 handschr. aus angenommen! - 
572,5 Du bis unterliegt.] in J ist der Vers durch Sperrung hervor- 
gehoben. 

nachweise 543,4 davon.] Bertolt Brechts Hauspostille mit Anlei- 
tungen, Gesangsnoten und einem Anhange, Berlin 1927, 104-107 - 
544,34 Mahagonny.] a. a. O., 107-110 - 547,20 nathher.] a. a. O., 
133 f. - 548,12 ist.*] s. Bertolt Brechts Taschenpostille, Potsdam 
1926; Privatdruck in 25 Exemplaren; den Hg. unzuganglich. - 550,17 
Hundestein.] Bertolt Brechts Hauspostille, a. a. O., 138-140. - 
551,2 ist.] s. a. a. O., XII. - 552,37 Zeit.] a. a. O., 140-143. - 
554,12 f. »An die Nacbgeborenen*] s. Bertolt Brecht, Svendborger 
Gedichte, London 1939, 84-86 - 556,3 gesagt.)] Brecht, Versuche 
4-7 [Heft 2], Berlin 1930, 116 - 556,29 »Drei Soldaten*] s. Brecht, 
Versuche 14 [Heft 6], Berlin 1932 - 558,6 Vatern.)] Brecht, Ver- 
suche 4-7 [Heft 2], a. a. O., 117 f. - 559,29 dableiben.] a. a. O., 
121 f. - 561,16 begehrenswert.] s. Brecht, Versuche 25/26/35 [Heft 
11], Berlin 1952, 81. Der abgedruckte Text folgt M; Titel, Grofi- 
schreibung der Versanfange und Substantive jedoch gemafl dem 
Erstdruck. - 561,31 Staub.] s. Brecht, Versuche 25/26/35 [Heft 
11], a. a.O., 88. Der abgedruckte Text folgt M; Titel, Grofischrei- 
bung der Versanfange und Substantive jedoch gemafi dem Erstdruck. 



1392 Anmerkungen zu Seite 539—598 

- 562,9 weiden*] Eduard Morike, Samtliche Werke, hg. von Jost 
Perfahl u.a ., Bd. i, Miinchen 1968, 769 (»Am Walde«) - 563,3 Gra- 
naten.] s. Brecht, Svendborger Gedichte, a. a. 0., 8 ; Text nadi T 2 . - 
563,7 gebdren.] s. Brecht, Gesammelte Werke [werkausgabe edi- 
tion suhrkamp], Frankfurt a. M. 1967, Bd. 9, 735; Text nach T 2 . - 
563,12 Grab.] s. Brecht, Svendborger Gedichte, a. a. O., 10; Text 
nach T 2 . - 563,20 Feind.] s. a. a. O., 10; Text nach T 2 . - 563,36 
gefallen.] a. a. O., 10 - 564,30 verlangen.] s. a. a. O., 18 f.; Text 
nach T 2 . - 566,14 Blatt.] s. a. a.O., 19 f.; Text nach T 2 . - 566,23 
Schneesturm«] s. Brecht, Die Mutter. Nach Gorki (Versuche 15/16 
[Heft 7]), Berlin 1933, 5 (»Burste den Rock«) - 566,27 Kinder «] 
Brecht, Svendborger Gedichte, a. a. O., 82 (»Zufluchtsstatte<c) - 567,7 
nacbt?] Bertolt Brechts Hauspostille, a. a. O., 25 (»Morgendliche 
Rede an den Baum Green«) - 570,15 abverlangt.] Brecht, Svendbor- 
ger Gedichte, a. a. O., 32-34 - 571,35 glbt.] Bertolt Brechts Hauspo- 
stille, a. a. O., 48 (»Von der Freundlichkeit der Welt«) 



572-598 Die Ruckschritte der PoEsrE von Carl Gustav Jochmann 

Ober die Entdeckung des Essays von Jochmann berichtete Benjamin 
Ende Marz 1937 drei verschiedenen Briefpartnern an drei aufeinan- 
derfolgenden Tagen. Unmittelbar vorher hatte er schon Theodor 
W. Adorno, der ihn in der zweiten Marzhalfte in Paris besuchte, den 
Text Jochmanns vorgelesen, wie dem ersten dieser Briefe zu entneh- 
men ist, der am 27, Marz an Gretel Adorno ging: Vielleicht hat er 
[Theodor W. Adorno] Dir aucb von dem Uterarisdoen Fund erzdhlt, 
den ich ihm mitteilte. (27. 3. 1937, an Gretel Adorno) Am Tag darauf 
heifit es in einem Brief an Horkheimer: Diesem Brief lege ioh einen 
von Wiesengrund Ihnen angekUndigten Text bet. Er stammt von 
einem vergessenen deutsohen Schriftsteller ; Carl Gustav Jochmann, 
der von 1790-1830 lebte. Sein Dasein verlief in volliger Einsam- 
keit. Heinrich Zschokke war der einzige Mann von einiger Notorietdt, 
mit dem er in naherem Umgang gestanden hat. Zschokke hat seinen 
Nachlafi gerettet und in drei Bdnden herausgegeben. Dieser Nachlaft 
enthdlt zahlreiohe Analekten zur franzosischen Revolution und zum 
Direktorium. Dies, und Jochmanns Aufenthalt in Paris, mag die 
Ursache sein, aus der das Werk auf die Bibliotheque Nationale ge- 
kommen ist. - Der Text, den ioh Ihnen mitteile, stammt aus einem 
von den wenigen Buchern, die Jochmann zu seinen Lebzeiten verof- 
fentlicht hat; die ubrigen sind mir unzugdnglixh. Es ist, wie alles, was 
dieser Autor drucken liefi, anonym erschienen. Sein Titel »Uber die 



Anmerkungen zu Seite 572—598 1393 

Spracke* Heidelberg 1S28. Es muft von dufterstefr] Seltenheit sein 
und 1st mir in den langen ]ahren 3 in denen ich gesammelt habe, nie- 
mats vor Augen gekommen. (Sein Titel allein hdtte mich frappiert.) 
E$ hat offenbar auch Zschokke, der den Titel und den Verlagsort un- 
genau angibt, nicht vorgelegen. [AbsatzJ Der Aufsatz »Die Riick- 
scbritte der Poesie*, der in diesem Buch steht, umfaftt siebzig Seiten. 
Meine Redaktion bringt ihn - selbstverstdndlich ohne irgendeinen 
Zusatz, ohne einen Eingriff oder eine Umstellung - auf einen gerin- 
gen Bruchteil des Umfangs. Die Schlagkraft des Textes hat dadurch, 
daft alles, was nicht unmittelbar dem Hauptgedanken zugute kommt, 
wegfiel, wohl noch gewonnen. Er spricht im Ubrigen fiir sich selbst, in 
seinem Gehalt, seinem Stil, seinen Formulierungen. Sie werden ver- 
stehen, daft ich ihn mit klopfendem Herzen gelesen habe. [Absatz] 
Zu Ihrer Information habe ich dem Text, dessen Abschrifl diploma- 
tisch getreu ist, einige Angaben aus Zschokkes vita des Verfassers 
sowie einige wenige Satze aus andern Jocbmannschen Schrifien beige- 
geben. Brauohe ich Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich freuen wurde, 
wenn Sie diesem Text, der, heute unauffindbar, gestern unverstdnd- 
lich gewesen ist, in der Zeitschrift [fiir SozialforschungJ einen Platz 
einrdumen wolltenf (28. 3. 1937, an M. Horkheimer) Wiederum einen 
Tag spater, am 29. 3. 1937, schrieb Benjamin an Margarete Steffin: 
Ich habe einen der groftten revolutiondren Schriftsteller Deutschlands 
entdeckt - einen Mann, der zwischen der Aufklarung und dem jun- 
gen Marx an einer Stelle steht, die bisher nicht zu fixieren war, Er 
heiftt Carl Gustav Jochmann, war ein Balte, starb mit vierzig Jahren 
und lebte kranklich. Er hat einen Aufsatz »Die Ruckschritte der 
Poesie* geschrieben, dem was die sprachliche Gestalt anbetrifft in sei- 
ner Zeit weniges, was seinen Gehalt angeht im 19. Jahrhundert nichts 
an die Seite zu stellen ist. Ich bringe ihn mit, wenn ich nach Svend- 
borg komme; vielleicht kann ich ihn auch schon vorher herausgeben. 
(29. 3. 1937, an Margarete Steffin) - Horkheimer erklarte sich sofort 
bereit, den Essay von Jochmann in der » Zeitschrift fiir Sozialfor- 
schung* zu drucken; die Einleitung, die Benjamin zu dem Text 
schrieb, wurde von Horkheimer angeregt: »Besonders danke ich Ihnen 
fiir die Ubersendung des von Ihnen redigierten Aufsatzes Jochmanns 
iiber die Ruckschritte der Poesie. Wir sind hier alle von diesem Artikel 
sehr tief beeindruckt. Einzelne Formulierungen sind genial. In der 
Zeitschrift kann, wenn wir ihren Charakter nicht zerstoren wollen, 
das Dokument nur dann gebracht werden, wenn Sie selbst eine theo- 
retische Einleitung dazu schreiben. Die Angaben aus Zschokkes Vita 
eignen sich in dieser Form kaum zum Abdruck. Ich schlage vor, dafi 
Sie, ankniipfend an Ihren Artikel iiber das Kunstwerk im Zeitalter 
seiner mechanischen Reproduzierbarkeit, eine prinzipielle Einleitung 



1394 Anmerkungen zu Seite 572—598 

sdireiben. Es mufi einleuchten, dafi der Artikel Jochmanns aus theore- 
tischen und nicht aus historischen Grunden gebracht wird. Dokumente 
zur Vorgeschichte der materialistischen Dialektik sammelt, wie Sie 
wissen, [Herbert] Marcuse, und wir werden wohl in einem bis zwei 
Jahren ein Textbuch herausbringen. Xufierst wertvolles und relativ 
unbekannte Stucke besitzen wir daher in nicht geringer Anzahl. Da 
wir die >Ruckschritte der Poesie< ohnehin nicht vor dem dritten Heft 
dieses Jahres bringen konnen, so haben Sie bequem Zeit, einige Seiten 
iiber die Bedeutung der von Jochmann entwickelten These zu schrei- 
ben.« (13.4. 1937, M. Horkheimer an Benjamin) Ober diese, Hork- 
heimers, Reaktion informierte Benjamin Adorno: Den Jochmann 
hat Max ganz so aufgenommen, wie wir es uns gewunscht haben. Er 
hat mich beauftragt, eine Einleitung zu diesem Essay zh schreiben. Ich 
habe inzwisoben weiter interessantes Material iiber den Verfasser aus- 
findtg gemacht. (23. 4. 1937, an Th. W. Adorno) Und Horkheimer 
selber antwortete er: Sehr froh bin ick iiber die Aufnahme, die der 
Essay von Jochmann bei Ihnen gefunden hat. Herrn Pollock schickte 
ich einen Abzug davon nach Genf; sein Vorsatz war, ihn auf dem 
Sohiff zh lesen, und so boffe ich t daft auch ihm inzwischen die Gestalt 
von Jochmann lebendig geworden ist. Ich bin im ubrigen im Be- 
griffe, ihr weiter nachzugehen; eine Quelle, von der ich mtr viel ver- 
spreche, die »Lievl'dndischen Beitrage* von v. Bock, versucbe ich mir 
auf dem Wege des internationalen Leihverkehrs aus Deutschland zu 
beschaffen. Die Excerpte aus der von Zschokke verfafiten vita haben 
keine theorettsche Tragweite; ich hatte sie einzig zu Ihrer genaueren 
Information beigefiigt. Wie dankbar ich Ihren Wink aufnehme, diesen 
Essay mit meiner Arbeit iiber »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner 
technischen Reproduzierbarkeiu verbinden zu diirfen, brauche ich 
Ihnen nicht zu sagen. (26. 4. 1937, an M. Horkheimer) - Gleichzeitig 
scheint auch Margarete Steffin, die Mitarbeiterin Brechts, fiir einen 
Abdruck des Jochmannschen Textes in der Zeitschrift »Das Wort« - 
zu deren Redakteuren Brecht gehorte - sich interessiert zu haben; 
Benjamin beschied sie: Meine grojle Entdeckung, der Jochmann, wird 
auch erscheinen; freilich im »WorU nicht. Der Aufsatz wiirde, mit 
meiner Einleitung, viel zu umfangreich ausfallen. [WilliJ Bredel hat 
mir gerade des Umfangs wegen ablehnenden Bescheid iiber »Das 
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeiu zu- 
kommen lassen. (26. 4. 1937, an Margarete Steffin) 
Benjamin machte sich umgehend an die Abfassung der Einleitung. 
Anfang Mai 1937 schrieb er Adorno: Ich habe neues Material fiir 
meine Einleitung in den Essay von Jochmann gefunden. (1. 5. 1937, 
an Th. W. Adorno) Im Laufe des Juni lag die Einleitung bereits in 
einer ersten nicht erhaltenen Fassung vor; am 10. Juli erkundigte sich 



Anmerkungen zu Seite 572—598 1395 

Benjamin bei Adorno, der wahrend der zweiten Junihalfte in New 
York sich aufgehalten hatte: Hat Max die Einleitung zum Jochmann 
gelesen? (10. 7. 1937, an Th. W. Adorno) Horkheimer bat Benjamin, 
die Einleitung umzuarbeiten : »Wir erwagen gegenwartig die Frage, 
wie und ob wir den Jochmann in einer der nachsten Nummern der 
Zeitschrift publizieren sollen. Einerseits sind wir mit Ihnen der Uber- 
zeugung, dafi es sich um wichtige Gedanken handelt, andererseits 
haben wir bis jetzt noch nie alte Texte publiziert. Konnten Sie eine 
nicht so sehr vom Standpunkt des Historikers als von der philosophi- 
schen Theorie aus verfafite Einleitung dazu schreiben? Ich denke dar- 
an, dafi Sie die Beziehung der Jochmannschen Ansicht zu unserer 
Position, im besonderen vielleicht zu Ihrer Reproduktions-Arbeit 
herstellten. Auf solche Weise konnten wir der Frage begegnen, war- 
urn wir gerade dieses vergessene Dokument publizierten, wahrend 
andere, die ebensoviel oder noch mehr mit unseren Ansichten zu tun 
haben, liegen bleiben, Es ersdriene dann im Zusammenhang mit dem 
besonders von Ihnen bei uns vertretenen theoretischen Arbeitsgebiet.« 
(5. 11. 1937, M. Horkheimer an. Benjamin) Dem Horkheimerschen 
Wunsch nach Umarbeitung versagte Benjamin sich; er erwog statt 
dessen eine Erganzung: Zu den »Ruckschritten der Poesies. Die Be- 
deutung von Jockmanns Essay scheint mix von seinen Entstehungs- 
bedingungen nur schwer abzulosen. In ihm findet das biirgerliche 
Freiheitsbewufltsein der Deutschen den Weg, in seiner Schattenexi- 
stenz einem Traume nachzuhangen, der unterm Mittagshimmel der 
franzosischen Revolution nicht, hatte getraumt werden konnen. Die 
Authentizitdt dieses Textes diirfle von seiner proleptiscben Natur 
nicht zu trennen sein. Die Uberlegung uber die geschichtlichen Gren- 
zen, die die Humanitat der Kunst setzen konnte, taucht hier wohl 
zum ersten Male auf. Die Form, in der das geschieht, ist die eines 
Monologs, der keine Unterbrechung zu gewart'tgen und kein Echo zu 
hoffen hat. [AbsatzJ Diese Umstande lassen es mir gewagt erschei- 
nen, gegenwdrtige beziehungsweise eigene Problemstellungen an die- 
sen Text anzukniipfen. ld> will von der schrifistellerischen Aufgabe, 
diesen erratischen Block in ein Gedankengebaude einzufitgen, nicht 
sprechen. In meiner Arbeit uber »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner 
technischen Reproduzierbarkeiu y sehe ich gewifi e i n Motiv, das 
eine Umformulierung von Jochmanns Essay vermitteln konnte. Es ist 
das Motiv vom Verfall der Aura. Ich babe mich in der letzten Zeit 
gerade hieruber um neue Aufschlusse bemiiht, und ich hoffe nicht ohne 
Erfolg. Aber sie setzen mich nicht in Stand, die sakulare Perspektive 
Jochmanns, die von den homerischen Epen bis zu Goethe reicht, zu 
umspannen. Ich furcbte, dafi eben diese Spannweite die unvergleich- 
liche Originalitdt Jochmanns ausmacht, mit dem man hierin nicht in 



1396 Anmerkungen zu Seite 572—598 

unmittelbaren Wettbewerb treten darf, ohne dem Leser allzu dent- 
lich zu macben, wie wenig es uns, unlet unserm helleren, dazu noch 
frostigen Himmel zu trdumen gestattet ist. [Absatz] Es ist manchmal 
angezeigt, den Leser ohne Umstande mit den Schwierigkeiten bekannt 
zu machen, die sich dem Verfasser in den Weg stellen. Das fiihrt mich 
zu der Frage: sollte ich nicht versuchen, die obigen Uberlegungen in 
einem kurzen Abschnitt der Ihnen vorliegenden Einleitung einzu- 
flechten? Er h'dtte den Leser Uber die force majeure aufzuklaren, kraft 
deren gerade das ungebrochene p hilo s o p his c h e Interesse an- 
gesichts dieser Abhandlung auf den his t or is c h en Kommen- 
tar verwiesen wird. Auf solchem Umwege wiirde ich in der Tat ihre 
Beziehung zur Reproduktionsarbeit herstellen und damit den Schein 
der blofien historischen Denkwurdigkeit von ihr fernhalten. (6. 12. 
1937, an M. Horkheimer) Horkheimer akzeptierte Benjamins Vor- 
sdilag und sdirieb am 17. 12. 1937: »Ich bin damit einverstanden, dafi 
Sie den von Ihnen geplanten Abschnitt in die Einleitung des Joch- 
mannschen Essays einflechten. Wahrscheinlich haben Sie einen Durch- 
schlag der Einleitung zur Hand. Ich ware Ihnen dankbar, wenn Sie 
einen giiltigen, die Einschaltung umfassenden Text herstellten und 
hierher ubersendeten. In das nachste Heft kann der Essay ohnehin 
nicht mehr aufgenommen werden, da hier schon allzuviel Material 
vorliegt, das rasch veroffentlicht werden mufi.« (17. 12. i937,M. Hork- 
heimer an Benjamin) Dieser Brief indessen erreichte Benjamin nicht: 
Es ist [. . ./ doppelt verdrieftlich, dafi der Brief, den Sie am 17. De- 
zember an mich gerichtet hatten y verlorenging. [. . ./ Vielleicht 
enthielt Ihr Brief vom 77. Dezember auch eine Ruckaufierung uber 
meine Bemerkung zu Ihren die Einleitung zum Jochmann betref- 
fenden Anregungen. Ich ware Ihnen dankbar, wenn Sie in Ihrem 
nachsten Schreiben auf diese Frage zuruckkamen. (7. 2. 1938, an 
M. Horkheimer) Am 11. 2. 1938 konnte Benjamin dann Horkheimer 
mitteilen: [Vorgestern] erhielt ich [. . .J die Kopie Ihres Brief es vom 
xj. Dezember. [. . .] Die J ochmann-Einleitung werde ich sogleich nach 
Fertigstellung des Aufsatzes fur [Ferdinand] Lion [s. Bd. $> 518-526] 
vornehmen. (11. 2. 1938, an M. Horkheimer) Wann die Arbeit uber 
Jochmann endgiiltig fertiggestellt war, ist nicht genau zu ermitteln, 
ihr wesentlicher Teil befand sich jedenfalls Anfang August 1938 be- 
reits in New York. Einem Brief vom 3. 8. 1938 ist zu entnehmen, dafi 
Benjamin seinem Text Formulierungen von August Ludwig Hulsen 
und Marx nachtraglich einzufiigen beabsichtigte, und in der Tat fehlt 
in dem Typoskript der Jochmann-Einleitung das Hiilsen-Zitat noch, 
welches im Druck sich findet; mithin diirfte die Typoskript-Version 
(T 1 ; s. 1406 sowie die Lesarten, 1407 f.) vor August 1938 abgeschlossen 
worden sein. In dem Brief vom 3. 8. 1938 an Horkheimer heifk es: 



Anmerkungen zu Seite 572—598 1397 

In Ihrem » Montaigne* [s. M. Horkheimer, Montaigne und die Funk- 
tion der Skepsis, in: Zeitschrift fur Sozialforschung 7 (1938), 1-54] 
erinnerte der Satz, daft das Gluck »eine reale Verfassung des Men- 
schen* sei, mich an Jochmann. Mir sind neuerdings einerseits in Brie- 
fen des Romantikers Hulsen, andererseits in den Jugendschriften von 
Marx Formulierungen aufgestofien, die die revolutionhre Tradition im 
BUrgertum, deren Bogen von Vico bis Marx id) in der Einleitung zu 
Joobmanns Essay auszumessen bemUht war, deutlich nachziehen. lob 
konnte diese Stellen in die Einleitung einbegreifen und sie t nach mei- 
ner Ruckkehr, jederzeit zu Ihrer Verfugung stellen. (3. 8. 1938, an 
M. Horkheimer) - Die Publikation zog sich dann nodi bis Anfang 
Januar 1940 hin. Im August 1939 schrieb Benjamin an Horkheimer: 
Wurden Sie Wiesengrund bei Gelegenheit sagen, dafi ich mit seinen 
Redaktionsvorscbldgen zum Joohmann durchaus einverstanden binf 
( 1. 8. 1939, an M. Horkheimer); worum es bei diesen Redaktions- 
vorschlagen sidi gehandelt hat, ist unklar. Kurz darauf heifit es in 
einem Brief an Adorno: Zum Schlufi will ich Ihnen, lieber Teddie, 
dafiir danken, dajl Sie zu dem festlichen Heft [der »Zeitschrift fur 
Sozialforschung* ; dieses enthielt - neben der Joabmann-Einleitung - 
Benjamins Aufsatz »t)ber einige Motive bei Baudelaire*, Horkhei- 
mer s »Die Juden und Europa* und Adornos »Fragmente Uber Wag- 
ner*] ', dem wir entgegengehen, meinen Jochmann eingeladen haben. 
(Brief e, 825) Ober das Erscheinen des Heftes berichtete Benjamin am 
11. 1. 1940 Scholem: Vor kurzem ist das Doppelhefi der Instituts- 
Zeitscbrift herausgekommen, das den Jahrgang 1939 inauguriert. Du 
findest darin zwei grofie Essays von mir. Naturlich werde ich Dir von 
ihnen Separata schicken sobald ich welche in Handen habe. (Briefe, 

Adorno, der die Jochmann-Einleitung aufierordentlich schatzte, nahm 
sie gleichwohl nicht in die Ausgabe von Benjamins »Schriften« auf, 
die er 1955 edierte. Einen Hinweis auf den Grund dafiir konnte der 
aufmerksame Leser einer FuEnote entnehmen, weldie dem ersten 
Neudruck - der 1963 erfolgte - beigefiigt war: »Werner Kraft hat 
Anfang der dreifiiger Jahre Jodimann, einen bis auf den Namen ver- 
sdiollenen Autor, wiederentdeckt. Unter dem Eindruck dieser Ent- 
deckung hat Walter Benjamin den Aufsatz uber die >Rucksdiritte 
der Poesie< 1939 in der Zeitschrift fiir Sozialforschung veroffent- 
licht und Jochmanns gesduditsphilosophische Bedeutung dargestellt. 
Eine umfangreidie Monographic uber Jochmann von Werner Kraft 
liegt seit Jahren vor, ist aber bis heute ungedruckt.« (Das Argument 
26, Jg. 5, Juli 1963, 2) - Werner Kraft hatte Benjamin 191 5 kennen- 
gelernt. Beide unterhielten »zwisdien 191 5 und 192 1 einen zeitweise 
intensiven Brief wechsel, in dem [Benjamin] sich vor allem audi uber 



1398 Anmerkungen zu Seite 572—598 

literarische Fragen ausfuhrlich aufierte, ja er dachte manchmal daran 
[. . .], sie als Grundlage fur eine Folge von >Briefen zur neuern 
Literatur< zu verwenden. Diese Briefe sind durch besonders un- 
gliickliche Umstande verloren gegangen.« (G. Scholem, Vorrede zu: 
Briefe, 9) 1921 kam es zu einem Bruch in den Beziehungen zwischen 
Benjamin und Kraft. Erst 1933, nach einer zufalligen Begegnung in 
der Bibliotheque Nationale, nahmen sie den Verkehr wieder auf. Ein 
zweites Wiedersehen fand Ende 1936 oder Anfang 1937, wiederum 
in Paris, statt; es endete mit einer neuerlichen Entzweiung. Im Fe- 
bruar 1940, nach dem Erscheinen von Benjamins Jochmann-Einleitung 
in der »Zeitschrift fur Sozialforschung«, wandte Kraft sich an Hork- 
heimer: er beanspruchte die Prioritat der Entdeckung Jochmanns fiir 
sich und bat anscheinend um den Abdruck einer redaktionellen Erkla- 
rung dariiber. Horkheimer sandte am 1. 3. 1940 Krafts Brief an Ben- 
jamin und schrieb diesem: »Je viens de recevoir la lettre dont vous 
trouvez la copie ci-inclus. J'ajoute pareillement la copie de ma 
re'ponse. Je n'ai pas la moindre Id&e si ce que Monsieur Kraft nous dit 
sur sa priorite* a quelque poids [...]. Je suppose que vous tombez 
d'accord avec ma reponse que j'ai r^dige* tres poliment [...]. Vous me 
ferez done parvenir, si vous voulez bien, vos informations sur cette 
affaire ou simplement la copie de votre reponse a Monsieur Kraft. « 
(1. 3. 1940, M. Horkheimer an Benjamin) Eine erste Aufierung 
Benjamins iiber die >affaire< findet sich in seinem Brief an Horkheimer 
vom 23. 3. 1940; der zitierte Brief Horkheimers sowie derjenige 
Krafts an Horkheimer hatten Benjamin noch nicht erreicht, wohl aber 
einer von Gretel Adorno, in welchem beide angekundigt worden 
waren. II y a quelques jours, Mme. Adorno m'a ecrit que M. Kraft 
s'est adresse a vous, de Jerusalem, pour reclamer la priorite du 
»Jochmann«. Elle m'a annonce que vous me communiquerez sa lettre. 
Celle-ld ne m'est pas encore parvenue. N'empeche que je veux des a 
present vous faire savoir que la lettre de M. Kraft se rapporte a un 
conftit d la suite duquel j'ai cesse tout rapport avec lui. Cela etait au 
debut de r^jy et le »Jochmann« est a la base de cette brouille. M. 
Kraft connaissait Jochmann avant mot; mats je Vai connu indep en- 
de mm ent de lui, a la suite de mes recbercbes a la Bibliotheque 
Nationale. Voyant M. Kraft emettre la pretention de se reserver cet 
auteur, je ne lui at pas cache que je la jugais inadmissible et que je la 
considerer comme parfaitement irrecevable. - y attends sa lettre pour 
vous envoyer un expose detaille sur les faits. (23. 3. 1940, an M. 
Horkheimer) Am 6. April schrieb Benjamin dann ausfuhrlich an 
Horkheimer: J'ai recu trois jours apres le depart de ma lettre du 2$ 
mars vos lignes du i er mars. Laissez-moi avant tout vous remercier 
de la facon amicale dont vous m'informez de cet incident. Je me 



Anmerkungen zuSeite 572— 598 1399 

demande a present si j'aurais du le prevoir et vous en informer des 
I'abord. Mais je ne pouvais quand-meme pas facilement croire que 
M. Kraft irait jusqu'a s'avancer comme it le fait dans sa lettre. Vu 
les faits vous allez me comprendre. [Absatz] Comme mes relations 
avec M. Kraft ont cesse depuis plus de trots ans, cl cause du litige 
meme sur lequel il revient, je ne me crois pas tenu de m'adresser a 
lui personnellement. D'autre part et pour simplifier les (hoses, je lui 
envoie moi-meme copie de cette lettre. [Absatz] Pour m'attaquer 
d'emblee au centre de la declaration de M. Kraft ci savoir que le nom 
de Jochmann m'aurait ete entierement inconnu, il s'agit tout simple- 
ment d'une fausse allegation. M. Kraft m'ayant parte un jour de 
Jochmann sur un accent de grande admiration je lui disais, incidem- 
ment, que je m'en etais occupe un moment au cours de mes recherches 
pour mon anthologie de lettres allemandes. II insista sur ^importance 
du livre »Vber die Sprache* dont, a ce moment-la, je ne connaissais 
que le titre et j'etais tres content lorsqu'il se declara dispose a me le 
preter. C'est dans ce livre que je trouvai I'essai Ober die Ruckschritte 
der Poesie. Je ne me souviens pas du tout que M. Kraft m'ait signale 
specialement cet essai - mais la (hose ne serait pas impossible. Ce qu'il 
y a de certain, c'est que Va\ finite de quelques unes de mes preoccupa- 
tions theoriques avec les idees exposees par Jochmann me frappa 
profondement. [Absatz] C'est apres ma lecture que se place le 
deuxieme entretien que j'ai eu au sujet de Jochmann avec M. Kraft. 
Ce qu'il y a de particulierement deplaisant dans sa lettre, c'est qu'il 
le passe sous silence. N'empeche que Vexplication que nous avons cue 
au debut de i$$j au sujet en question est a la base de I'affaire 
actuelle. Lui faisant part des reflexions que m'avait suscite le livre 
»Vber die Sprache* je lui parlais de Vimpression remarquable que 
j'avais remportee des » Ruckschritte der Poesie*. Les develop pements 
aux quels je me livrais le laissant peut-etre entrevoir la possibilite 
qu'un jour je m'expliquerai sur Jochmann il me demanda de n'en 
rien faire, se reclamant de la priorite de sa decouverte. Je lui fis 
observer que d'une part ma connaissance de Jochmann ne lui devait 
rien. Je lui dis en meme temps qu'une priorite dans la lecture d'un 
texte imprime, si rare soit-il, me paraissait une notion extravagante. 
Quant a ma fameuse »promesse« de n'y pas toucher, qu'il fit des alors 
entrer en jeu, je lui rappelais qu'elle se bornait a ma declaration 
qu'ayant espere un moment de me servir de documents epistolairs de 
Jochmann pour un livre a moi je m'en Stais desinteresse vu les 
difficultes. [Absatz] A la suite de cet entretien je lui remis le livre 
a son Hotel et je ne I'ai plus revu. L'etonnement dont sa lettre fait 
preuve a done plutot sa raison en ce que M. Kraft n'ayant rien vu 
paraitre de moi au sujet de Jochmann ne s'y attendait plus. Vous 



1400 Anmerkungen zu Seite 572—598 

savez que mon manuscrit etait entre vos mains depuis longtemps et 
que je ne me suis jamais inquiete de la date de sa parution. ]e me 
savais, en effet, occuper deux positions qu'aucune publication de 
M. Kraft, eut-elle paru, aurait pu devaloriser. Je parle d y une part 
du probleme philosophique que pose Jochmann et qui me tenait d 
cceur bien avant d'avoir vu son texte. Je songe en mime temps d 
la filiation entre Vico et Jochmann que fat ktabli dans mon intro- 
duction. [AbsatzJ Quant d la facon dont fat fait la connaissance de 
Jochmann, voild comme les choses se sont passees. J'ai travaille depuis 
un certain nombre d'annees en vue de rassembler une anthologie de 
lettres allemandes. Cette anthologie, bien moins importante que je 
Vavais projete, a paru en automne 1936. Au printemps de la meme 
annee lorsque fen composais le manuscrit en vue de I'offrir d un 
editeur fai tente de le completer dans la mesure du possible. Je 
compulsai a ces fins le tres grand fonds bibliographique que favais 
rassemble au cours des annees en vue de cette anthologie et que je 
conserve toujours. J'y trouvais la note suivante: Deutsche Sohrift- 
stellerbriefe aus dem Nachlafi Merkels (in Julius Eckhardt: Baltische 
und russische Culturstudien aus zwei Jahrhunderten Lpz 1869). Je 
consulted le catalogue de la Bibliotheque Nationale, et t a ma grande 
surprise, le livre s'y trouvait, ainsi qu 3 un certain nombre d'autres 
livres du meme auteur dont je parcourais les titres. Parmi ceux-ci, il 
y avait un qui me frappa particulierement a cause du role que jouait 
d cette epoque la figure de Robespierre dans mes entretiens avec des 
amis frangais (avec [Pierre J Klossowski surtout qui etait en train 
de traduire le Robespierre de [Friedrich] Sieburg). Ce livre etait 
intitule Julius Eckardt: Figuren und Ansichten der Pariser Schreckens- 
zeit Lpz 1 89 j. C'est Id que fai trouve d la page 38; la phrase 
suivante: »In einem seit funfzig Jahren vergessenen Buche, den von 
Zschokke herausgegebenen >Reliquien Carl Gustav Jochmann's[<J 
(Hechingen, Verlag der F X Riblerschen Ho f buck hand lung 1836) ist 
Schlab[r]endorfs eigener Bericht daruber* (sc iiber Schlab[r]endorfs 
Gefangenschaft und Flucht) »abgedruckt.* [AbsatzJ Vous imaginez 
qu'il n s en fallait pas plus pour me mettre sur la piste de Jochmann. 
C'etait chose facile puisque le livre mentionne de Jochmann se trouve, 
seul d'entre ses ecrits, d la Nationale. II est vrai que mes recherches 
s'arretaient Id. Les Reliquien me paraissaient tres interessants, mais 
les fragments de lettres qu'on y trouvait ne se pretant pas a mes huts, 
je me bornais a prendre note de Jochmann et d'extraire les indications 
bihliographiques qui sont contenues dans ^introduction de Zschokke. 
Je ne connaissais done que le titre du livre Vber die Sprache et fetais 
content de Vavoir par M. Kraft. Aussitot que le confiit dont je viens 
de parler s'etait produit entre nous, ]e m'adressais a M. Renou, 



Anmerkungen zu Seite 572—598 1401 

directeur des services competents de la Nationale et c'est par ses 
soins que j'ai eu ce livre de la bibliotheque de Berlin. (II se trouve 
d? autre part egalement dans les bibliotheques de Breslau, Gottingen 
et Halle.) [AbsatzJ Id s'arrete la partie de cette lettre dont je fais 
parvenir copie d M. Kraft. - J'ajoute que ce n'etait pas la premiere 
fois que je m'etais vu accule a la necessite de rompre avec lui. Ayant 
fait sa connaissance vers 192J [richtig: 191 5], nos relations cesserent 
quelques annees apres. C*est a sa demande que je consenti a le revoir 
d Paris. M. Kraft est un homme non sans merite [. . ./. [AbsatzJ Je 
place dans cette histoire avant tout les interets de la Zeitschrift et les 
votres. line correspondance entre trois continents, en temps de guerre, 
au sujet de cette affaire me paraissant difficile a soutenir je vous donne 
d y avance mon assentiment pour la regler de la facon que vous consi- 
derez la plus appropriSe. (6. 4. 1940, an M. Horkheimer) Wenig spater 
schrieb Benjamin an Gretel Adorno: Dank insbesondere fur den Brief 
uber die Jochmann-Sacbe. Inzwischen hat Max meinen ausfiibrlichen 
Bericht erhalten. Ich lasse ihm naturlich vollkommen freie Hand, so 
dap die Angelegenheit nach seinem Gutdunken und ohne weitere Kor- 
respondenz erledigt werden kann. (o. D. [April 1940], an Gretel 
Adorno) - Werner Kraft seinerseits wandte sich am 30. 4. 1940, nach- 
dem er die Kopie von Benjamins Brief an Horkheimer erhalten hatte, 
erneut an den letzteren; in allem Wesentlichen bestritt er Benjamins 
Darstellung: »Je ne vous r^pete, Monsieur, que ma priere de bien 
vouloir publier la note r£dactionnelle formulae dans ma lettre prec£- 
dante. A la fin, je prie Monsieur Benjamin de r£fl£drir. Jusqu'a la 
preuve du contraire je ne veux pas croire qu'un homme dont j'ai 
admire* les grands dons intellectuels (et je continuerai a les admirer 
malgr£ toutes les differences de principe) - je ne veux pas croire qu'un 
tel homme pourrait pr£f£rer a la veVit£ son prestige personnel. « 
(30. 4. 1940, Werner Kraft an M. Horkheimer) In einem Punkt zu- 
mindest ist Benjamins Darstellung gegeniiber Horkheimer unhaltbar: 
Ursache des Bruches mit Kraft scheint durchaus nicht Jochmann ge- 
wesen zu sein. Unter dem Datum des 29. Marz 1937 hatte Kraft 
geschrieben: »Lieber Herr Benjamin, ich hake es fiir besser, dafi wir 
uns vor meiner Abreise nicht mehr sehen. So sage ich Ihnen mit 
diesen Zeilen herzlich Lebewohl. Ihr Werner Kraft. [Postskript:] 
Darf ich Sie bitten, mir die Bucher (drei Bande Jochmann, den Weidle^ 
und die Maschinenabschrift meiner »Ideen«) bis Ende dieser Woche 
hier im Hotel oder, falls Ihnen das bequemer ist, bei Herrn [Maxi- 
milien] Rubel [. . .] in einem Paket fiir mich abzugeben! Ich fahre 
Mitte nachster Woche. - Anbei mein Nachruf auf Karl Kraus.« 
(29. 3. 1937, W. Kraft an Benjamin) Benjamins - nicht datierte - Ant- 
wort lautete: Lieber Herr Kraft, so rdtselhaft mir Ihr Wunsch er- 



1402 Anmerkungen zu Seite 572—598 

scheint, so will id) doch auf diesem von lhnen vorgezeichneten Wege 
Ihnen das herzliche Lebewohl erwidern, nicht ohne lhnen fur die 
Zeilen zrnn Tode von Kraus zu danken. Ihr Walter Benjamin, (o. D. 
[Ende Marz/Anfang April 1937], an W. Kraft) Sowohl der Inhalt 
dieses Briefwechsels - keiner der beiden Korrespondenten erwahnt 
audi nur andeutungsweise einen Streit iiber Jochmann - wie audi sein 
Ton, der den Gedanken an eine Eridgultigkeit des Brudies kaum 
aufkommen lafit, belegen die Darstellung, weldie Kraft Horkheimer 
gab: »I1 n'est pas vrai que ma rupture avec lui euit la consequence 
de notre litige sur Jochmann. [. . .] Cette rupture a eu lieu, en efTet, 
a la fin de mon sejour a Paris. Pas du tout a cause de Jochmann. Je 
n'avais aucun motif concret, sauf ma sensibility peut-etre trop grande 
et le depit supprime* trop longtemps sur les facons amicales de Mon- 
sieur Benjamin, sur ce melange d'amitie* moder^e, de distance marquee, 
de manque de loyaute' et de bluff pur et simple. Peu de jours avant 
mon depart il m'invita pour un soir, en meme temps avec M. le 
professeur Gottfried Salomon que je ne connaissais pas. J'acceptai. 
Plus tard, je r£fl£chis. J'ctais etonn£ de ce que cette derniere conver- 
sation devrait avoir lieu en presence d'une troisieme personne. Je 
me d^cidai de rompre avec lui. Je lui ecrivis une lettre qui ne 
contenait que le fait sans se r^ferer a quelque chose d'exact ou de 
concret. Cette lettre etait ecrite dans un ton qui voulait exprimer 
avec clarte* que mon grand estime pour sa pensee et son travail ne 
devrait pas &tre toudie* par ma decision. Pour souligner le caractere 
strictement prive* de cette decision j'ajoutai a ma lettre la copie de 
mon n^crologe sur Karl Kraus public* quelque temps plus tot dans 
un journal. Pas un mot sur Jochmann!! J'ose dire que meme dans mes 
pens^es les plus secretes je n'ai pas pense* a lui en ^crivant cette lettre 
(- qui m'a kti reproch£e plus tard par mes intimes comme peu 
justified!) Dans cette lettre j'ai aussi prie* Monsieur Benjamin de me 
rendre mes cinq ou six livres en lui proposant de passer chez un 
ami - M. Maximilien Rubel qu'il connaissak - dont la demeure n^tait 
pas loin de lun. Je voulais avoir mes livres, pas du tout a cause de la 
rupture mais a cause de mon depart imminent. II les a rendus a Photel 
dans mon absence. « (30. 4. 1940, Kraft an Horkheimer) Zumindest 
merkwiirdig ist audi, dafi Benjamin von Jochmanns »Uber die Spra- 
che« 1937 schrieb: Sein Titel allein hatte mich frappiert (1393) - offen- 
kundig also diesen Titel nicht gekannt hat -, wahrend er 1940 dar- 
auf insistierte, gerade den Titel gekannt zu haben, bevor Kraft ihm 
iiber das Buch sprach (s. 1399). Noch merkwiirdiger womoglich mutet 
an, wenn Benjamin in einem der Entwiirfe zu seinem Reditfertigungs- 
sdireiben (s. 1406) als Grund seines angeblichen Bruches mit Kraft Ver- 
drufi dariiber nennt, dafi Krafts Freunde iiber den Kunstwerk-Aufsatz 



Anmerkungen zu Seite 572—598 1403 

orientiert waren: iiber eine Arbeit mithin, die zum Zeitpunkt der 
>affaire< seit einem Dreivierteljahr bereits jedermann im Druck zu- 
ganglich war. Andererseits aber ist Benjamins Argumentation wider 
den von Kraft implicite beanspruditen Begriff von Prioritat in der 
Lektiire eines gedruckten Textes, wie selten dieser immer sein mag 
(s. 1399), vollkommen durchschlagend. Dafi Benjamin gleichwohl eine 
umstandliche Rechtfertigung fiir notwendig erachtete, legt die Ver- 
mutung nahe, dafi der sachliche Kern der >affaire< in der Frage 
besteht, ob ein Versprechen, nicht iiber Jodimann zu schreiben, gege- 
ben wurde; und hier steht die eine Aussage gegen die andere: die 
Frage scheint objektiv nicht entscheidbar. - Im iibrigen kann es 
nicht Aufgabe der Herausgeber sein, die Kontroverse zwischen Kraft 
und Benjamin im einzelnen zu kommentieren oder gar zu werten, 
und das um so weniger als ihnen ein fiir ein Urteil so wichtiges 
Dokument wie Krafts erster Brief an Horkheimer nicht vorliegt. 
Die Redaktion der »Zeitschrift fiir Sozialforschung« hat die Sache 
nicht mehr aufgegriffen, wahrend Adorno von der Berechtigung der 
Vorwiirfe Krafts gegen Benjamin iiberzeugt war. Werner Kraft wollte 
»eine Auswahl aus Jochmanns >Styliibungen< mit kurzer Einleitung« 
schon »i933 in dem fiinften Heft der von Wilhelm Kiitemeyer in 
Berlin herausgegebenen Zeitschrift >Der Sumpf< veroffentlichen: »der 
fertige Satz des Heftes muftte wegen eines Feueriiberfalls auf die 
Druckerei zerstort werden« (zit. nach Carl Gustav Jochmann, Die 
Riickschritte der Poesie und andere Schriften, hg. von Werner Kraft, 
Frankfurt a. M. 1967, 206); 1967 edierte Kraft eine Jochmann- Aus- 
wahl (s. den vorigen Nachweis) und 1972 erschien endlich audi seine 
bedeutende Monographic iiber Jochmann (s. Werner Kraft, Carl Gu- 
stav Jochmann und sein Kreis. Zur deutschen Geistesgeschichte zwi- 
schen Aufklarung und Vormarz, Miinchen 1972). 

1. Im Nachlafi Benjamins finden sich zwei Notizen, die in den Zu- 
sammenhang seiner Beschaftigung mit Jochmann gehoren. 

2, u Jochmann 

Es ist von grojlem Interesse, die AusfUhrungen von Pierre H amp 
in der Encyclopedic francaise mit denen von Jochmann zu ver- 
gleichen. Hamp hat die Elemente der Jochmannschen Einsichten bei 
der Hand. Aber der Reformismus nimmt ihm die Kraft, zu den 
mannlichen Erkenntnissen Jochmanns vorzHStofien. Nachdem Hamp 
in ein paar schlagenden Formeln auf die Beziehungen hingewiesen hat y 
die zwischen dem Bildungsstand der breiten Masse und ihrer Zugang- 
lichkeit fiir die Poesie liegen> ist er dennoch bei der Hand, diese Tat- 
sachen alsbald zur Seite zu setzen, um den »Scbuldigen* in der Poesie 



1404 Anmerkungen zu Seite 572—598 

zu suchen, welche es nicbt verstanden babe, dem niedern Volk bei der 
Arbeit ihre Sujets abzugewinnen. Die wichtigsten Stellen lauten: 
»En 1862, epoque a laquelle Victor Hugo ecrit les >Miserables<, le 
nombre d'illettres a bien diminue en France. Uapparition de ['in- 
struction dans les masses coincide avec la fin de Vere de la chanson. 
Sous le regne de Racine , de Corneille, de Moliere, la foule, qui ne 
sait pas lire chante. La chanson est un phenomene litteraire de 
V ignorance populaire . . . Aujourd'hui, la poesie disparait de la sensibilite 
populaire. Elle ne se socialise pas comme la prose. Elle a consacre la 
grande erreur de separation entre la force du Travail et VArt. 
Apres Alfred de Vigny maudisseur du chemin de fer, Verhaeren in- 
vective contre les >Villes Tentaculaires<. La poesie a fui les formes 
de la civilisation moderne . . . Elle n'a pas su voir que dans n'importe 
quelle activite humaine Van a des elements a choisir et qu'il 
s'affaiblit lorsqu'il nie a tout ce qui Ventoure la possibilite de Vins- 
pirer.« Encyclopedic francaise XVI, Arts et litter atures dans la 
societe contemporaine [I. Paris 193s] 16.64-2 

Hamp geht von dem gleichen Irrtum bei seinen Ausfuhrungen uber 
die Kriegsliteratur aus. Es liegt an den ihr zugewandten Kraften, 
wenn keine dichterische Realisation in ihr erreicht wurde. Er sagt sich 
nicht, daft der Schweyk von Hasek allein ausreicht, seine Konzeption 
zu entkraften. 1st der Art wie Schweyk den Kriegsereignissen folgt, 
die hochste Originalitat eigen, so macht das indirekt wahrscheinlich, 
dajl filr eine dichterische Verklarung des Krieges (wie Ariost sie vor- 
genommen hatte) kein Raum da ist. Hamp schreibt: »On a conteste 
a beaucoup d'auteurs de Uvres de guerre la veracite de leurs recits 
. . . La critique que l 3 on peut adresser a la litterature de guerre est 
au contraire de n'avoir pas cree le poeme epique . . . Personne ne 
s'est risque a ecrire un equivalent de la Jerusalem delivree<, une 
ceuvre ou le reel ne sert que d'accessoire a ^imagination poetique. 
Si le poete avait existe, d y un souffle pared a celui de Torquato 
Tasso, Vesprit public n'aurait pas exige de lui I' exactitude.^ I c 
16.64-3/4. Sehr kennzeichnend fur die Position von Hamp sind auch 
folgende Satze (64-4): »Contre cette association de I 3 art et du tra- 
vail agit toujours le vieux sentiment de noblesse litteraire qui donne 
aux ceuvres de description populaire une significationf:] politique[l] 
. . . Af firmer que tout est matiere artistique, c'est la definition meme 
du social, la negation de Vacademise et la fondation d y une litterature 
qui abolit la restriction, comme dans Homer e et dans Rabelais. * 

Druckvorlage : Benjamin- Arcfaiv, Ms 417 f. 

Jochmann 

Der Grundgedanke von Jochmanns »RUckscbritten der Poesie* exi- 



Anmerkungen zuSeite 572— 598 1405 

stiert bei Marx. Siehe N 4 a, 1 [Sigle des Passagenmanuskripts; 
5. Bd. ;J. 

Dnickvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 419 

2. Ferner blieben einige hands diriftlidi beschriebene Blatter erhalten, 
auf denen Benjamin die bibliographisdien Daten der von ihm benutz- 
ten Sekundarliteratur zu Jochmann (s. Benjamin-Archiv, Ms 422 f.) 
sowie Exzerpte - vor allem aus Julius Eckardts »Die baltisdien Pro- 
vinzen Rufilands« (s. 1408) - und kurze Notizen zur Biographie Joch- 
manns notierte (s. Benjamin-Arduv, Ms 1026-1030); diese Manu- 
skripte erleiditerten den Herausgebern die Zitatnachweise zu Benja- 
mins Jochmann-Einleitung wesentlich. 

3. Schliefilidi sind im Nadilafi drei Entwiirfe zu der Darstellung der 
Kontroverse mit Werner Kraft vorhanden, wie Benjamin sie in sei- 
nem Brief vom 6. 4. 1940 an Horkheimer (s. 1398-1401) gegeben hat. 
Diese Entwiirfe werden im folgenden abgedruckt. 

Expose 

bei Gelegenbeit meines Hinweises auf die Reliquien von ibm auf das 

Buch »Vber die Spracbe« bingewiesen 
letzteres mix gezeigt aber nicbt gelieben 

Versprecben mir abverlangt aber von mir nicht gegeben worden 
meine Quellen: Reliquien und Allg[emeine] deutscbe Biographie 

S c h olem 

Aufierung auf den Baudelaire abgewartet 
Ober Horkheimer u[ndj Kraft rekommandiert 
- vor Antwort Newyorker Brief abwarten 

Beratung 

New York 

eventuelle briefliche Belege von Kraft abwarten 

Publikation funf Jabre nadh dem Gesprdch erfolgt 

Konnte ein moraliscbes Recht zur Publik[ation] in Frage steben so 

wiirde meine eigne Kunsttheorie und der Nachweis von Vico als 

Quelle geniigen 

Dnickvorlage : Benjamin-Archiv, Ms 420 

Ich babe Joobmann bei Gelegenbeit der Vorarbeit zu den »Deutscben 
Menschen* kennen gelernt. (Eckbardt. Allg dtsch Biographie - Seume, 
Merkel. Jocher) 

Das Bud) iiber die Sprache kannte ich als Titel vorber, in concreto 
babe ich es durch ibn kennen gelernt, Gearbeitet babe ich nacb dem 
Exemplar der Berliner Bibliotbek. 



1406 Anmerkungen zu Seite 572—598 

Er hat mir mitgeteilt, dajl er uber Jochmann zu schreiben vorkabe. 

Ich babe ihm gesagt, dctfl ich Jochmann gem in mein Briefbuch auf- 

genommen h'dtte, dafl es jedocb nun zu spat set. 

Er hat mir »Ober die Sprache« gezeigt. Ich habe mich Uber den Essai 

»Uber die Ruckschritte* geauflert. 'Daraufhin ist es turn Bruch ge- 

kommen. 

Annex: die Vico-Filiation; die innere Verbindung mit meinen Arbei- 

ten - Ich lasse Horkheimer die Entscheidung. 

Illoyalitat im Verschweigen des Konflikts mit mir. 

Jochmann war mir ni »totalement inconnu* ni habe ich ihm ein Ver- 

sprechen gegeben. 

Von dem Werk »Uber die Sprache« hatte ich bonne note genommen, 

das Bild der Reliquien wegen. 

Brief an Scholem 

Druckvorlage: Benjamin- A rdiiv, Ms 424 

j) catalogue du vieux fond 

2) moi qui ai le premier prononce le nom 

3) moi qui ai commands le livre de Berlin 

4) lui qui m'a signale Wodurch bildet sich eine Sprache [Titel 
eines Aufsatzes in Jochmann, Uber die Sprache, Heidelberg 1828, 
183-246] 

5) moi en le lui rendant je lui ai signale die Ruckschritte 

6) sa pretention de se reserver d'en parler 
j) moi je prends Vinitiation de la rupture 

8) a cause de cette rupture: mon mecontentement de savoir ses amis 
au courant du Kunstwerk [im Zeitalter seiner technischen Repro- 
duzierbarkeitj 

Drudtvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 421 

UBERLIEFERUNG 

J Die Ruckschritte der Poesie. Von Carl Gustav Jochmann. [1.:] 
Einleitung. [Unterzeichnet:] Walter Benjamin. [2.: Zitate aus 
Jochmann, Reliquien, gesammelt von Heinrich Zsdiokke, Bd. 1, 
Hechingen 1836, und Bd. 2, ebd. 1837.] [3.:] Die Ruckschritte 
der Poesie. [Gekiirzte Fassung; bibliographischer Nachweis am 
Sdilufi.] In: Zeitschrift fiir Sozialforschung 8 (1939 [d.i. 1940]), 
92-114 (Heft 1/2; s. uber dieses Heft Bd. 1, 1212). 

T 1 Einleitung zu Carl Gustav Jochmanns » Ruckschritte der Poesie « 
[ohne Autorenangabe]. - Typoskript mit handschriftlichen Kor- 
rekturen; Benjamin-Arduv, Ts 1302-13 13. 

T 2 1.: Zitate aus den »Reliquien«; 2.: Die Ruckschritte der Poesie 
[gekiirzte Fassung wie in J], - Durchschlag eines Typoskripts, mit 
handschrifllichen Korrekturen; Benjamin-Archiv, Ts 1 314-1323. 



Anmerkungen zu Seite 572—598 1407 

M [Carl Gustav Jochmann:] Ober die Sprache Rede, daft idh did) 
sehe! Heidelberg bei C. F. Winter 1828 p 247-320 Die Ruck- 
schritte der Poesie [Manuskript der Benjaminschen Redaktion des 
Textes]; Benjamin-Archiv, Ms 675, S. 13-18. - Ms 675 enthalt 
S. 12 und S. 18 f. weitere kurze Exzerpte aus den »Reliquien« 
und aus »Ober die Sprache*. 
Druckvorlage: J 

lesarten 572,23-25 Die bis Einleitung] Einleitung zu Carl Gustav 
Jochmanns »RUckschritte der Poesie* T - 574,8 f. um so mebr] fur 
umsomebr J, umso mehr T - 574,29 Hure] Prostituierte T - 574,29 f. 
Engel bis von] Vernichter, der Engel mit der Bibel in seiner Hand 
von T - 574,30 austilgen] vertilgen T - 574,35 inbaltsreiober] in- 
baltreicher T - 575,6 Menar.] Menar, der spater die maftgebende 
Sammlung der finnischen Marchen herausgab, T - 575,8 Bericbt bis 
aus] Bericht, der iiber Jochmann aus T - 576,16 f. unerschrockene] 
unerscbrockne T - 577,14 ein Wortfiihrer] der reinste Wortfiihrer 
T - 577>3 2 -nichts,] nichts T - 577,33 veroffentliobte,] veroffent- 
lichte T - 577,33 kein] niemals ein T - 577,34 eingehend] eintre- 
tend T - 577,35 ungebrochenerem] noch grofierem T — 578,16 Ma- 
nuskript] fur Manuscript J, T - 578,20 in seiner Anwaltschaft] 
dort T - 578,25 Einsichtig] Und einsichtig T - 578,25 er] er als- 
bald T - 578,39 verlorenging] fiir verloren ging J, T - 579,1 seine 
besondere Ursacbe] seinen besonderen Grund T - 579,1 eine bis 
ihrerseits] einen objektiven, der seinerseits T - 579,3 naberbringt] 
fiir naher bringt J, T - 579,4 Kampfgenossen,] Kampfgenossen T - 
579,14 f. die Stubengelehrten schilt] den [sic] Stubengelebrten ge- 
denkt T - 579,16 er] er dabei T - 579,20 unter Jochmanns Sohrif- 
ten] in Jochmanns Lebenswerk T - 5 79,21 nichts bis vergleichen] 
in den ubrigen Jochmannscken Schriften nichts zur Seite zu stellen T 
- 579,26 hat.] hat. Diese Entaufierung ist keine freiwillige. Nichts 
bezeichnet vielmehr die Schwierigkeiten, denen diese Arbeit abge- 
rungen worden ist, deutlicher, als daft ihr keine Terminologie zur 
Verfiigung stand. T - 579,26 seltene] hohe T - 579,27 f. Bergung 
seines Gedankenguts] Aufzeichnung ihres Gedankengangs T - 579, 
28-31 »Der bis Meiftelspuren.] fehlt in T - 580,8 f. die bis Vermo- 
gens] das fernere Schicksal der dichtenden Phantasie T - 580,14 f. 
der bis ware] belastet mit Thesen zu dieser Sache T - 580,16 Es bis 
zu] Man darf demnach T - 580,22-581,17 Von bis mogen.«] fehlt 
in T; dort am Rand die handschriftliche Notiz: Brief von Hulsen s 
Handexemplar. - 580,22 Jodomannsdhen] fiir jochmannschen J - 

581.18 der Romantik] ihr T - 581,18 Reichtum] Reichtume T - 

581.19 ein. Nach] ein: nach T - 581,21 eigenen] eignen T - 581,36 
fingen an,] begannen T - 581,39 aufstellte.] T hat keinen Absatz 



1408 Anmerkungen zuSeite 572—598 

- 582,6 Tdtowierung.] Tatowierung. In der Tat, will man den bur- 
gerlichen Rationalismus in seiner Jugendkrafl neben dem gealterten 
si(h vergegenwartigen, so konfrontiere man Jochmanns unbestechli- 
(hes Urteil tiber den barbarischen Schmuck, den der Wilde seinen 
Gliedmafien angedeihen lasse, mit der gewifi wohlgemeinten, gewifi 
blendenden Bemerkung von Chesterton: »Man erzahlt, ein geist- 
reicber Mann in Boston babe einmal den Grundsatz aufgestellt: 
>Wenn man uns nur das Uberftussige bewilligt - das Notwendige 
konnen wir schliefilich entbehren.< Nicht anders spricbt das ganze 
Menschengeschlecht, angefangen vom ersten Wilden, der sich, statt fiir 
seine Kleidung zu sorgen, mit Federn schmUckt, bis zum letzten 
Ladenschwengel, der fiir ein einziges uppiges Diner drei regulare 
Malzeiten hergibt.* T - 582,9 »ewigen* bis entgegenwirkt] »Kunst- 
werten* entgegentrat T - 582,12 seinem Beginn] seinen ersten Sta- 
dien T - 582,13 Stadium:'] Stadium. Erich Ungers Buck »Gegen die 
Dichtung*, das damals erschien, deutet ihre Scharfe bereits im Titel 
an. Die weitere Behandlung des Gegenstandes sab sich vor eine Al- 
ternative gestellt: T - 582,16 f. neueren bis Kunst] den neuen Ver- 
suoben der materialistiscben Kunsttheorie T - 582,24 lafit] lassen T 

- 582,27 den Faschisten] ihnen T - 582,32 (Vieles bis unnutz,)] 
(Auf vieles soil die Menschheit verzicbten lernen wie auch der Ein- 
zelne.) T - 583,19 obwaltet] waltet T - 584,7-9 Noch bis zutage.] 
Weit unzweifelhafier ist die historische Verschrankung, welche uns 
im Begriff der »Gesange der alien Welt* vor die Augen tritt. T - 
584,20 lautlos] fehlt in T - 584,24 andrerseits aus] und T - 584,27 
entfernt s ] entfernt T - 585,8 als] wie T - 585,18 f. abgesondert,] 
abgesondert T 

nachweise 573,16 konnen] s. Johann Georg Forster's Briefwechsel, 
hg. von Therese Huber, Leipzig 1929, 2. Teil; jetzt audi Georg For- 
ster, Werke in vier Banden, hg. von Gerhard Sterner, Bd. 4: Brief e, 
Frankfurt a. M. 1970, 837-960. - 573,25 hat] s. Carl Gustav Joch- 
mann's, von Pernau, Reliquien. Aus seinen naohgelassenen Papieren. 
Gesammelt von Heinrich Zschokke, Hechingen 1836, Bd. 1, 124-200 
(»Graf Gustav von Schlabrendorf in Paris iiber Ereignisse und Perso- 
nen seiner Zeit«) - 573,33 arm.*] zit. Julius Eokardt, Die baltisohen 
Provinzen Rufilands. Politische und culturgeschiditliche Aufsatze, 
2. Aufl., Leipzig 1869, 341 - 574,1 gilt.*] zit. a. a. O., 346 - 574,8 
bildet] s. Jochmann, Reliquien, a. a. O., Bd. 1, 252-295 (»Robespier- 
re«) - 575)39 scheint.*] zit. Eckardt, a. a. O., 327 f. - 577,7 
scheint.*] zit. a. a. O., 211 f. - 577,29 Genie.] Jakob Michael Rein- 
hold Lenz, Gesammelte Schriften, hg. von Franz Blei, Bd. 1: Die Ge- 
dichte, Der Hofmeister, Anmerkungen ubers Theater, Amor vincit 
omnia, Miinchen, Leipzig 1909, 148 f. (»Ober die deutsche Dicht- 



Anmerkungen zu Seite 572—598 1409 

kunst«) - 577,36 Licbtenberg] Lichtenbergs »Timorus« hat die Wid- 
mung »An die Vergessenheit« sowie einen Widmungsbrief, in dem 
die Vergessenheit als »Ew. Konigl. Majestat« angeredet wird. - 
578,14 f. Landesgesetze.*] Benjamin zitiert Seume nadi der anony- 
men Vorbemerkung zu Auszugen aus Seumes Sdiriften in Das Wort 1 
(1936), 84. - 578,17 bildet] s. Garlieb Helwig Merkel, Die Letten 
vorzuglidi in Liefland am Ende des philosophisdien Jahrhunderts. 
Ein Beitrag zur Volker- und Mensdienkunde, Leipzig 1797; dort 
369-377 Seumes Gedicht »Menschen! Widersprudi im grofien Ringe«. 
- 578,24 siechte.*] zit. Eckardt, a. a. O., 324 - 578,27 wird«] zit. 
a. a. O., 357 f. - 579*31 Prdgnng.*] s. J[oseph] Joubert, Pens^es 
pr£c£d£es de sa correspondance, id. Paul de Raynal, 4 e Edition, Bd. 2, 
Paris 1864, 291: »Le style concis appartient a la reflexion. On jnoule 
ce qu'on dit, quand on l'a pense* fortement.« - 581,17 mogen.*] 
Krisenjahre der Friihromantik. Briefe aus dem Schlegelkreis, hg. von 
Josef Korner, Bd. 1, Briinn, Wien, Leipzig 1936, 59-61 (Brief vom 
18. 12. 1803) - 582,4 Verbreoben*] s. Adolf Loos, Samtlidie Schrif- 
ten in 2 Bdn., hg. von Franz Gliick, Bd. 1, Wien, Munchen 1962, 276- 
288 (»Ornament und Verbrechen*, 1908 gesdirieben, diirfle Benja- 
min aus der Frankfurter Zeitung vom 24. 10. 1929 gekannt haben; 
Loos formulierte jedoch: »Das ornament wird nicht nur von verbre- 
chern erzeugt, es begeht ein verbredien«, s. a. a. O., 281). - 582,17 f. 
UCEuvre d'art a Vepoque de sa reproduction mecanisee] s. jetzt 
Bd. 1, 709-739 - 584,15 Sprache.*] s. Giambattista Vico, La szienza 
nuova seconda. Giusta Pedizione del 1744. A cura di Fausto Ni- 
colini, 4. Aufl., Bari 1953, 95; die deutsche Obers. dieses wie der 
folgenden Vico-2itate diirfte von Benjamin stammen, jedenfalls ha- 
ben die beiden deutschen Ausgaben der » Szienza nuova « einen 
anderen Wortlaut. - 584,26 erzielen*] s. a. a. O., 195 - 584,37 
steigern.*] s. a. a. O., 94 - 585,16 Unwissenkeit.*] s. a. a. O., 145 f. 



J99-63 2 Asthetisdie Fragmente 

Die in dieser Abteilung versammelten Stiicke sind thematisch den 
»Literarisch-asthetischen Essays «, der Form nach der kurzen Prosa 
der Bande 3 und 4 - audi mancher der »Metaphysisch-geschichtsphilo- 
sophischen Studien« - nahe verwandt. Sie nehmen eine Mittelstellung 
zwischen den Essays und den »kleinen Stucken« - wie Adorno sie 
nannte - einerseits, den »Kritiken« andererseits ein. Die Aufzeich- 
nungen uber Malerei, iiber Balzac, Stifier, Kraus, Hebel, liber die 
Zeitung und kauflichen Schriftsteller fassen den asthetischen oder 
literarischen Gegenstand durch pragnante generelle Charakteristik; 
die uber Shakespeare, Moliere, Shaw, Cocteau, Gide und Scheer- 
bart schiieften ihn an Werk-Paradigmen auf. Beide Gruppen kom- 
men dem Tenor nach dem nah, was die Fruhromantiker Charakteri- 
stiken und Kritiken nannten: nicht sowohl Berichten, Rezensionen, 
Bucher- und Theaterkritiken aus zufalligem Anlafi, sondern Studien 
iiber asthetisch Typisches. Wohl waren solche Anlasse bei mehreren 
vorgegeben; dennoch heben sie stets den Gegenstand dariiber hinaus 
und stellen ihn in kunsttheoretische und geschichtsphilosophische Per- 
spektiven ein. Sie bringen ihn ins Medium des BegrirTs und trachten 
jeweils nach der konzisesten sprachlichen Form; so gerade audi die 
Aphorismen und noch das - autobiographische - Stuck iiber George. 
Allesamt reprasentieren sie jene formgenuine brouillonartige Frag- 
mentengestalt, »deren Herkunft aus der deutschen Friihromandk of- 
fenkundig ist« (818) und die dem Benjaminschen - jah konzentrier- 
ten und wieder absetzenden - Denken so sehr entgegenkommt. 
Bei den hier vereinigten handelt es sich nicht um die einzigen Stiicke 
dieser Art. Im Aufzeidinungsmaterial des Nadilasses finden sich ne- 
ben den zahlreichen Fragmenten im Wortsinn solche im Sinne der Gat- 
tung, darunter audi asthetisdie. Diese hatten der Sache nach ihre 
Stelle in diesem Band finden konnen, jedoch ist der Autorisierungsgrad 
ein anderer. Sie wurden vom Autor nicht, wie die hier abgedruckten 
siebzehn Fragmente, zur Veroffentlichung oder mindestens zur Lek- 
tiire an bestimmte Leser - etwa Scholem, Kraft und Schoen - freige- 
geben sondern, aus welchen Griinden immer, sekretiert. So lag es 
nahe, sie mit den Fragmenten im Wortsinn vereinigt zu lassen und 
alle zusammen gesondert abzudrucken (s. Bd. 6). 



Anmerkungen zu Seite 601—603 141 1 

601 f. Aphorismen 

Das kleine Korpus von Aufzeichnungen ist in Scholemscher Absdirift 
iiberliefert und steht - ohne Titel, jedooh im Inhaltsverzeichnis 
von Scholems Abschnftenheft als »Bemerkungen« verzeidinet - unter 
den Kopien Benjaminsdier Arbeiten aus den Jahren 1916 und 1917. 
Die Herausgeber haben es Aphorismen zubenannt; der Vermerk 
»Bemerkungen« stammt vom Kopisten und bleibt den Aufzeidinun- 
gen, die der Form wie dem Gehalt nach Beispiele von Aphorismen 
sind, aufierlich. Sie gehoren in den weiteren gedankliohen Umkreis 
der Aufsatze (Brief e, 132), die Benjamin 19 16 schrieb, und durften 
um die Entstehungszeit von Trauerspiel und Tragodie und Die Be- 
deutung der Sprache in Trauerspiel und Tragodie, also etwa naoh 
Juni 1916 (s. 924 f.), niedergeschrieben sein. 

UBERLIEFERUNG 

m Sammlung Scholem, Absdirift von Sdiolems Hand; Heft »Ver- 

mischte Aufsatze«, 9. 
lesart 601,3 ironisch. -] konjiziert fiir ironiscb.f 



602 Balzac 

Das Fragment steht in Scholems Abschriftenheft gleichfalls titellos; 
das Inhaltsverzeichnis vermerkt »Balzac«. Diesen Vermerk haben die 
Herausgeber als Titel ubernommen. Das Stiick, dessen genaue Ent- 
stehungszeit nicht bekannt ist, fiigt sich einigermafien zwanglos zwi- 
schen die Aphorismen und die Fragmente tiber Malerei ein und lafit 
einen terminus ad quern zwischen Juni 19 16 und Sommer 19 17 (s. 
141 2) vermuten. 

UBERLIEFERUNG 

m Sammlung Scholem, Absdirift von Scholems Hand; Heft »Ver- 

mischte Aufsatze«, 23. 
lesart 602,11 Wege,] konjiziert fiir Wege 



602 f . Malerei und Graphik 

Das - wiederum titellose und in Scholemscher Absdirift uberlieferte 
- Fragment ist unschwer als die Aufzeidonung einiger Sdtze zu iden- 



1412 Anmerkungen zu Seite 602—607 

tifizieren, die Benjamin 19 17 in St. Moritz [. . .] uber das Wesen 
der Graphik niedergeschrieben hatte (Briefe, 154). Da in ihnen Gra- 
phik gegen Malerei kontrastiert ist, war der Scholemsche Vermerk 
»Malerei und Graphik« aus dem Inhaltsverzeichnis des Abschriften- 
heftes ohne Schwierigkeit als Titel zu iibernehmen. Der terminus a 
quo ist in Scholems Erinnerungen naher belegt. In einem dort erst- 
mals verofTentlichten Brief schrieb Benjamin am 18. 8. 1917 aus St. 
Moritz: mich [beschaftigt] jetzt eine aesthetische Vberlegung: ich 
suche die Verschiedenheit von Malerei und Graphik auf ihren letzten 
Grund zu verfolgen. Das fiihrt auf sehr wesentliche Verhdltnisse 
(zit. Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, 
a. a. O., 60). Das Fragment stent in engem Zusammenhang mit dem 
Vber die Malerei oder Zeichen und Mai (s. 603-607), und zwar in- 
haltlich und zeitlich in dem des Anstofies zu diesem: Benjamin be- 
dauerte, jene Aufzeichnung [. . .] bet der Abfassung der neuen, die 
im Oktober 1917 abgesdilossen war, nicbt zur Hand zu haben (Briefe, 
154)- 

UBERLIEFERUNG 

m Sammlung Sdiolem, Abschrift von Scholems Hand; Heft »Ver- 

mischte Aufsatze«, 23. 
lesarten 603,1 Grofi] Grozfi in m - 603,8 legen;] konjiziert fiir 
legen - 603,13 f. obwohl dies] konj. fiir obwohl dies wohl (mog- 
liche Lesart: obwohl dies eher) 



603-607 Ober die Malerei oder Zeichen und Mal 

Nach der Ankiindigung von Photographien am 22. 10. 1917 fuhr 
Benjamin in seinem Brief an Scholem fort: Diese nachste Sendung soil 
zugleich die Abschrift eines Aufsatzes von mir enthalten, uberschrie- 
ben: Vber die Malerei der als Antwort auf Ihren Brief uber Kubis- 
mus zu gelten hatte, obwohl dieser darin kaum erwahnt ist. Es ist 
eigentlich kein Aufsatz sondern zu einem solchen erst der Entwurf. 
(Briefe, 154) Die Abschrift - sie ist erhalten - erreichte Scholem in 
den folgenden Wochen, jedoch nicht spater als Anfang Januar 191 8: 
Benjamins Briefe vom 13. 1. , 31. 1. und 1. 2. 191 8 enthalten die Bitte 
um Stellungnahme des Adressaten (s. Briefe, 167, 171, 175). Zwar ist 
jedesmal von einer Abschrift von »Zeichen und MaU die Rede; ge- 
meint aber ist immer die, die unter dem Titel Vber die Malerei ange- 
kundigt war, denn sie erhielt - jedenfalls in der erhaltenen Fassung - 
einen beide Formulierungen zusammenfassenden Titel. Benjamin ver- 



Anmerkungen zu Seite 603—607 14 13 

band die Ankiindigung mit folgendem Kommentar: nackdem ich 
schon in St. Moritz [. . ./ uber das Wesen der Grapbik nachgedadot 
hatte und bis zur Aufzeichnung einiger Sdtze gekommen war [s. 
Malerei und Grapbik, 602 f.], die mir bei der Abfassung der neuen 
leider nicht zur Hand waren, hat Ihr Brief [uber Kubismus] in Ver- 
bindung mit den friiheren Vberlegungen diese Sdtze als Resultate 
meines Nachdenkens veranlafit. Am unmittelbarsten, indem er mir das 
Interesse an der Einheit der Malerei trotz ihrer scheinbar so dispara- 
ten Schulen erweckte. Indem ich (im Gegensatz zu Ihren Behauptun- 
gen) erweisen wollte, da /I ein Raf[fjaelsches und ein kubist[isch]es 
Bild als solche wesenhaft ubereinstimmende Merkmale neben den tren- 
nenden zeigen, ist die Betrachtung der trennenden fortgeblieben. Dafur 
habe ich aber versucht denjenigen Grund aufzufinden, von dem alle 
Verschiedenheit sich allererst abheben konnte. Wie entschieden ich 
dabei Ihrer Trichotomie in farblose ( linear e) farbige und syntheti- 
sche widersprechen mufite, werden Sie sehen. Das Problem des Kubis- 
mus liegt von einer Seite her gesehen in der Moglichkeit einer, nicht 
notwendig farblosen, aber radikal unfarbigen* [* Fufi- 
note: Dieser Unterschied mujite naturlich erst erklart und klargestellt 
werden] Malerei [J in der linear e Gebilde das Bild beherrschen - 
ohne dafi der Kubismus aufhorte Malerei zu sein und zur Graphik 
wiirde. Ich habe dies Problem des Kubismus [scil. in Uber die Male- 
rei oder Zeichen und Mai] weder von dieser noch einer anderen Seite 
beriihrt einerseits t we'd es mir bisher vor einzelnen konkreten Bildern 
oder Meistern noch nicht entsdoeidend aufgegangen ist, Der einzige 
Maler unter den neuen, der mich in diesem Sinne beriihrt hat, ist 
Klee, andrerseits aber war ich mir uber die Grundlagen der Malerei 
noch viel zu sehr im unklaren, um von dieser Ergriffenheit zur Theo- 
rie fortzuschrehen. Ich glaube, daft ich spdter dazu kommen werde. 
Von den modernen Malern Klee Kandinsky und Chagall ist Klee der 
einzige der offensichtliche Beziehungen zum Kubismus aufweist. Dock 
ist er soweit ich daruber urteilen kann, wohl keiner, wie eben diese 
Begriffe im Oberblick der Malerei und ihrer Grundlegung unentbehr- 
lich sindy jedoch der einzelne grojie Meister nicht gerade nur durch 
einen bestimmten dieser Begriffe theoretisch erfafibar wird. Wer in 
diesen Kategorien der Schulen als einzelner Maler relativ zulanglich 
erf a fit werden kann, wird kein grower sein, weil Ideen der Kunst 
(denn Schulbegriffe sind solche) sich auch in der Kunst nicht unmittel- 
bar ausdriicken konnen ohne krafllos zu werden. In der Tat habe ich 
bisher vor Picassos Bildern immer diesen Eindruck des Krafilosen und 
Unzuldnglichen gehabt, den Sie mir zu meiner Freude bestatigen; 
gewifi weil Sie nicht [. . ./ zu dem rein kunstlerischen Inhalt dieser 
Dinge keinen Zugang hdtten, sondern weil [. . .] Sie einen solchen zu 



1414 Anmerkungen zu Seite 603—607 

der geistigen Mitteilung die diese Dinge ausstromen haben: und bei- 
des: Kunstlerischer Inhalt und geistige Mitteilung sind dodo gam ge- 
nau dasselbe! Wie ich denn auch bet meinen Notizen das Problem der 
Malerei in das grope Gebiet der Sprache [sciL der Zeichen und Md- 
ler] einmunden lasse, dessen Umfang ich schon in der Spracharbeit 
[s. 140-i^y] andeute. Nach weuerer Polemik gegen Sdiolem heifit 
es: es [istj wahrscheinlich, dap die Malerei [. . .] nicbt eigentlich es 
mit dem »We$en* von etwas zu tun hat, denn dann konnte sie mit der 
Philosophie kolUdieren. Vber den Sinn des Verhdltnisses der Malerei 
zu ihrem Gegenstande vermag ich zur Zeit noch nichts zu sagen; ich 
glaube aber, dap es sicb da weder um Nachbildung noch um 
Wesenserkenntnis handelt. I Vbrigens aber werden Sie vielleicht aus 
meinen Notizen entnehmen, daft auch ich einen tiefen Zusammenhang 
etwa zwischen Kubismus und sakraler Architektur mir denken konnte. 
[. . .] Dap ich [aufj Ihre Satze uber den Kubismus nicht unmittel- 
bar eingehen konnte, sondern in andrer Richtung - prinzipiell zu 
meinen Notizen angeregt wurde, verubeln Sie nicht. Es liegt in der 
Natur der Sache; Sie hatten Bilder vor sich und ich Ihre Worte. 
(Brief e, 154-156) In einem Ende 19 17 oder Anfang 191 8 an Ernst 
Schoen geriditeten Brief charakterisierte er die Arbeit so: Mir han- 
delte es sich um folgendes: gegenuber der widerwdrtigen Erscheinung 
dap heute die unzuldnglichen Versuche der theoretischen Erfassung 
moderner Malerei sogleich zu Kontrast- und Fortschritts-Theorien im 
Verhaltnis zu der jrilhern gropen Kunst ausarten zundchst einmal die 
begrifflich allgemein gultige Grundlage fur das was wir unter Malerei 
begreifen zu einer Andeutung zu bringen. Daruber habe ich dann die 
Betrachtung der modernen Malerei beiseite gelassen obwohl urspriing- 
lich diese Vberlegung durch eine falscbe Verabsolutierung derselben 
veranlapt worden war. (Briefe, 173) Nachdem die Abschrift der Ar- 
beit - mit meinem - ich glaube vorletzten Briefe - an Sdiolem ab- 
gegangen war, sandte ihr Benjamin am 13. 1. 191 8 nodi diese wich- 
tige erganzende Bemerkung nach: die Ebene des Zeichners liegt - vom 
Menschen aus gesehen [-] horizontal, die des Malers vertikal. 
(Briefe, 167) Diese Bemerkung fafit die - friiher entstandene und 
Sdiolem nodi unbekannte - Aufzeidinung uber Malerei und Gra- 
phik (s. 602 f.) fur den Adressaten in dem Sinn zusammen, daft man 
die fruhere kennen musse, um die spatere riditig einschatzen zu kon- 
nen. - Das Exemplar der Abschrift ist in der Sammlung Scholems be- 
wahrt. Es besteht aus drei - wahrscheinlich von Dora Benjamin nach 
Diktat geschriebenen - Typoskriptseiten und einem - im Text genau 
anschliefienden - Manuskriptblatt von Benjamins Hand. Der Typo- 
skriptteil fallt durch die nachlassige typographische Anordnung und 
die bei Benjaminschen Abschriften ungewohnlidie Zahl von Kiirzeln 



Anmerkungen zu Seite 603—610 141 5 

wie gr. L. (fiir graphische Linie) oder a. Z. (fiir absolutes Zeichen) 
auf. Die Herausgeber haben die Kurzel ausgeschrieben und die Typo- 
graphic - wie sich versteht, ohne den Textstand zu alterieren - ver- 
bessert. 

UBERLIEFERUNG 

T Ueber die Malerei oder Zeichen und Mai. Typoskript, [i]-[3], 
mit [3] abbrechend; handschriftlicher [Eingangs-(?)]Vermerk 
»i9i8«; Sammlung Scholem. 
M Handschrift Benjamins (— [4] und Schlufi von T); Sammlung 

Scholem. 
Druckvorlage: T, M 

lesarten 604, 1 1 Papierfl'dche,} konjiziert fiir Papierflache - 604,12 
befindet] konj. fiir befindet, - 604,25 hochstwahrscheinlich] konj. 
fiir hochst wahrscheinlich - 604,34 zehnten] konj. fiir 10. - 606,8 
vordergrilndigste] konj. fiir vorgriindigste - 607,29 voraus,] konj. 
fiir voraus - 607,31 c) Das Mai im Raum.] konj. fiir Das Mai im 
Raum; die Herausgeber folgten der Einteilung des zweiten Aufsatz- 
teiles B. Das Mai und schlossen den Abschnitt Das Mai im Raum als 
Abschnitt c) - analog den Abschnkten a) und b) - an diese Absdinit- 
te an. Entsprechend setzten sie Das Mai im Raum audi nicht als 
Uberschrift liber den Text wie in M, sondern auf gleiche Zeile mit 
dessen Anfang wie in T. - 607,38 Grabmale,] konj. fiir Grabmale 



608-610 Stifter 

In Benjamins Korrespondenz mit Ernst Schoen ist - Ende Dezember 
1917 oder Ende Februar 191 8 (s. Brief e, 166, Anm. 1) - von seiner 
wohl iiber den Sommer 191 7 sich erstreckenden Befassung mit Stifter 
die Rede: Ich las viel Stifter, ein ScJoriftsteller, hinter dessen wenig 
auffallender Aufienseite und scbeinbaren Harmlosigkeit sick ein gro- 
fies moralisches und grofies asthetisches Problem verb er gen. Was 
kennen Sie von ihm[fj »BergkristalU und »Die Mappe meines Ur- 
grofivaters* enthalten eine fast r e in e Scbonheit, als einzige unter 
dem vielen das icb von ihm kenne. (Brief e, 166) Niederschlag dieser 
Befassung war ein - verlorener - Brief an Werner Kraft vom Som- 
mer 191 7 (s. Brief e, 197, Anm. 1). Ihn erbat sich Benjamin - erst 
direkt, dann via Scholem im April 191 8 - zuriick: Eine herzliche, 
dringende Bitte; zahlreiche Bitten an Werner Kraft, er moge mir 
[diesenj Brief den ich ihm aus St. Moritz iiber *Gro$e« schrieb kopie- 
ren und senden, blieben vergeblich. Jetzt benotige ich diese Ausftih- 



141 6 Anmerkungen zu Seite 608—610 

rungen sehr , will ihm aber von hier aus nicht damit nahe treten, 
bitteSie aber recbt sehr,schnell und dringlichihm meine Bitte t eventuell 
vorubergehende Vberlassung des eingeschrieben mix zu ubersenden- 
den Originalbriefes, wenn ihm das Kopieren Miihe macht, zu iiber- 
mitteln. Ich brauche dies wirklich. (Briefe, 186) Es handelte sich urn 
die Aufzeidinung uber Stifier (= /, s. 608 f.), die er fortzufiihren vor- 
hatte (mit //, s. 609 f .) : [wichtiger Gegenstand] meines Nachdenkens 
seit langem [. . .] uber den [. . .] ich lhnen heute [scil. im Mai i$iB t 
an Ernst Schoen] nichts schreiben [will y ] well ich einiges Wesentliche 
uber ihn sdoon aufgeschrieben habe t auch bei Gelegenheit erweitern 
werde und lhnen also gesondert bei Gelegenheit ubersenden kann. 
(Briefe, 188) Die Obersendung beider Stucke ist am 17. 6. 191 8 erfolgt 
(s. Briefe, 195-197). Das bedeutet, dafi Benjamin der Brief uber 
»Grofie« (= Stifier I) sei's im Original, sei's in Kraftsdier Kopie 
inzwischen zuganglich geworden war, und dafi er ihn um eine Auf- 
zeidinung (— Stifier II) hatte erweitern konnen. Beide Stucke hatte 
er, zum Zeichen des Dankes an Schoen, der ihm bei Vorarbeiten zu 
seiner Dissertation behilflich gewesen war (s. Briefe, 188 und 192, 
Anm. 2), in modifizierter Form abgeschrieben: Ohne den Wunsch 
lhnen eine Freundlichkeit zu erweisen hatte ich micb vielleicht nicht 
entschlossen lhnen die beiden Stellen zu geben, von denen namlich 
die eine nur aus einem Briefe stammt, wahrend die zweite als Hin- 
weis auf eine ausfuhrliche Kritik von Stifters Stil die ich mir vorge- 
setzt habe zunachst nur fitr mich gemeint war. Weil es aber lange 
dauern kann bis ich zu dem Beiliegenden etwas hinzuzufilgen im 
Stande sein werde (es ist vor allem moglich im Zusammenhang mit 
dem unter II gesagten die guten Elemente seines Stils ebenso ver- 
standlich zu machen als die schlechten) so sende ich es lhnen heute. Ich 
habe mein gutes Brief papier fur die Abschrift gewdhlt und hoffe dafi 
es nicht so elend zugerichtet bei lhnen ankommt wie wir die mei- 
sten deutschen Briefe mit den Laugen der Zensur ubergossen er- 
halten. (Briefe, 193) Im gedanklichen Austausch uber Stifter mit 
Schoen hat die Erzahlung »Das alte Siegel« eine Rolle gespielt. Benja- 
min kam Ende Januar 19 19 darauf zuriick und berichtete Schoen, 
dafi er sie im Lichte der Zeilen [. . .] die ich lhnen damals sandte 
[. . ./ wieder gelesen und diese Zeilen fast Wort fur Wort [anwend- 
bar] gefunden habe. Ich [. . .] empore mich dagegen wie gegen We- 
niges bei Stifier [. . ./ will [. . ./ aber noch etwas hinzusetzen. Vor eini- 
ger Zeit fuhrte mich eine Kritik von »Frau Warrens Gewerbe* von 
Shaw [s. 613-615] dazuy aus[zu]sprechen, dafi es ein Irrtum sei, eine 
in sich bestehende nur der Bewahrung bedtirftige Reinheit irgendwo 
vorauszusetzen. Dieser Satz scheint mir wichtig genug ihn durch das 
Folgende zu erganzen und auf Stifter anzuwenden. Die Reinheit eines 



Anmerkungen zu Seke 608—610 14 17 

Wesens ist niemals unbedingt oder absolut, sie ist stets einer 
Bedingung unterworfen. Diese Bedingung ist verschieden je nach dem 
Wesen urn dessert Reinheit es sich handelt; niemals abet liegt 
diese Bedingung in dem Wesen selbst. Mil anderen Worten: die Rein- 
heit jedes (endlichen) Wesens ist nicht von ibm selbst abh'dngig. Die 
beiden Wesen, denen wir vor allem Reinheit zusprechen sind die 
Natur und die Kinder. FUr die Natur ist die auflerhalb ihrer selbst 
liegende Bedingung ihrer Reinheit die menschliche Sprache. Da Stifier 
diese B edingt h eit welche die Reinheit erst 
2 ur Reinheit mac ht nicht fuhlt ist die Schonhe'tt seiner 
Natur sohilderung zufallig oder anders gesagt: harmonisch unmoglich. 
Denn in der Tat ist sie aufierhalb ihrer Verbindung mit den schief 
aufgefafiten menschlichen Schtcksalen, welche die Stiflerschen Werke 
truben liter arisch kaum moglich. Was nun das »alte SiegeU angeht, 
wo die Schicksale im Vordergrund stehen und wo es sich nicht einmal 
urn die Reinheit von Kindern sondern von erwachsenen Menschen 
handelt, so ist von . vornherein anzunehmen, dafl Stifters falsche 
Idee von ihr angesichts dieses Gegenstandes garnicht verborgen blei- 
ben kann. Die Fabel hat einige Ahnlichkeit mit dem klassischen epi- 
schen Stoff von der Reinheit, dem Parsifal. Beide [scil. Parsifal und 
Hugo] sind ganz unschuldig aufgewachsen und beide bewahren ein 
ehrfurchtsvolles Schweigen wo die Frage erlosen wiirde. Aber bei 
Stifier wird nicht einmal dieser Grundzug ganz deutlich und bet ihm 
wird der Held niemals von seiner Kinderreinheit e r I 6 s t , denn 
diese Reinheit ist absolut gedacht (wenn man bitter sein wollte, konn- 
te man sagen: sie gehore zum Charakter dieses Menschen). Der Mann 
wird mit ihr alt und niemals weise. Ich mufite die Geschichte vom 
Toren Parsifal gut kennen um den Vergleich, der glaube ich fiir die 
Kritik dieser Geschichte das beste heurtstische Prinzip ist, durchzufuh- 
ren. Jedenfalls ist klar, dafi in jeder Beziehung schon die Fabel (von 
der Minder wertigkeit der Form zu schweigen) von der falschen 
Grundidee wie von einer Krankheit entstellt blickt. Denn in dieser 
Geschichte tun die Menschen immer zugleich das Absurde und 
das Widerwartige, das Unwahrscheinliche und das Unleidliche. (Der 
Diener in der Vermittlung, der junge Mann am Ende t die Frau im 
Lindenhaus) - Vielleicht schreiben Sie mir einmal ob Sie in der Beur- 
teilung und in deren Grund mit mir ubereinstimmen. (Brief e, 205 bis 
207) 

Beide Aufzeichnungen iiber Stifier sind je zweimaj iiberliefert. Von 
/ nahm nicht nur Benjamin eine Kopie (die fiir Schoen entweder nach 
dem Original des Briefs uber »Grofie* oder nach dessen Kraftscher 
Abschrift angefertigte), sondern audi Scholem (vermutiich nach seiner 
Intervention bei Kraft, s. o.). Die Benjaminsche Kopie liegt den Her- 



1418 Anmerkungen zu Seite 608—610 

ausgebern in Form einer Abschrift des Brief es an Schoen vor; sie dien- 
te bereits den Herausgebern der »Briefe« als Druckvorlage des Stiik- 
kes (s. Briefe, 195-197) und hinterlaftt einen so zuverlassigen Eindruck, 
daft audi die Herausgeber dieses Bandes sie als Druckvorlage benutz- 
ten. Die Scholemsche Kopie ist in dessen Sammlung erhalten und 
tragt den Titel »Ober Stifter (An Werner Kraft, Dezember 1917)*; 
das Datum miifite das Kopier-Datum sein, denn das Original wurde 
bereits im Sommer 191 7 geschrieben (s. o.). Die Abweidiungen die- 
ser Kopie von der Benjaminschen wurden als Lesarten verzeidi- 
net. - Die Aufzeidinung Stifter II ist zum einen Bestandteil des 
Briefes an Schoen, zum andern ein Benjaminsches Manuskript mit 
der Oberschrift Stifter:, das im Nachlafl, bewahrt ist; Ietzteres war 
nicht sowohl Kopiervorlage als erste Niederschrift, nach der Ben- 
jamin direkt oder uber eine (verlorene) Fassung die Version des 
Stticks im Schoen-Brief herstellte. Die Abweidiungen des Manu- 
skripts von der Version des Briefes an Schoen wurden gleichfalls 
als Lesarten verzeichnet. Da Benjamin Stifter II nicht vor Mai 
191 8 niedergesdirieben hatte (s. o.) und die ganze Aufzeidinung in 
erster verbindKcher Gestalt dann im Juni 191 8 Schoen mitteilte, 
haben die Herausgeber sie nicht nach den Entstehungsdaten - Som- 
mer 1917 und Mai/ Juni 191 8 - trennen und einordnen wollen, 
sondern ihr die Stelle hinter Vber die Malerei oder Zeichen und Mai 
gegeben. 

UBERLIEFERUNG 

t Stifter, I, II. - Beilage zu einem Brief Benjamins vom 17. 6. 1918 

an Ernst Schoen; Abschrift im Benjamin- Archiv, Abt. Brief ab- 

schriften (s. Briefe, 195-197 [Nr. 69]). 
m Uber Stifter (An Werner Kraft, Dezember t$iy). - Sammlung 

Scholem, Abschrift von Scholems Hand; Heft »Vermischte Auf- 

satze«, 1 f. 
M Stifter:. - Niederschrift mit nicht integrierten Zusatzen am Anf ang 

und Schlufi; Benjamin- Archiv, Ms 507. 
Druckvorlage: t 

lesarten 608,1 Stifter] Uber Stifter m - 608,2 /] nur in t - 
608,3 gefakrlick] gefahrlich, m - 608,6 bezweifeln] bezweifeln, 
m - 608,7 to*] &> at > m - 608,9 rubt] ist m - 608,9 Kindern] Kin- 
dern, m - 608,14 relatives] relatives, m - 608,17 andern Worten:] 
anderen Worten, m - 608,20 jedesmal, im] jedesmal (im m - 
608,21 f. Urgrofivaters* ,] Urgrojlvaters*) m - 608,23 kleinen] 
kleineren m - 608,24 indem] m; Indem t - 608,25 nun bemiibt ist] 
nur bemiibt ist, m - 608,27 andersartige] andersartige, m - 608,28 
die] die, m - 608,29 Gerechtigkeit,] konjiziert fur Gerechtigkeit t, m 



Anmerkungen zu Seite 60 8—6 10 1 4 1 9 

- 608,29 sick] &&> m - 608,31 ereignet] ereignet, m - 608,36 
zeichnet] zeichnet, m - 608,37 es sicb zum Beispiel] Sie [scil. Werner 
Kraft J es z.B. m - 609,1 »Abdias« findet] Abdias finden m - 
609,3 &ndereri\ andern m - 609,4 schien] schien, m - 609,4 unter- 
menschlicb] untermenschlich, m - 609,7 Dieser bis sicb] Diesen un- 
beimlicben Zug werden Sie [scil, Kraft] m - 609,8 er] es m - 609,9 
wird. -] wird. [Absatz] m - 609,11 losgelost] langsam losgelost 
m - 609,12 verloren] verloren, m - 609,12 f. ist moglich] gibt es 
m - 609,16 f. Gesetzlichkeiten und] Gesetzlichkeiten. Und m - 
609,17 vergessen] vergessen, m - 609,19 //] Stifter: I [es folgt 
spaterer (?) Zusatz:] kein Lautwerden - sondern ein Hellwerden. 
M - 609,20 Das] Dies M - 609,21 nicht] nicht etwa M - 609,21 
wiedergibt] wiedergibt, M - 609,22 Stil] S til M - 609,22 nun] 
nun, M - 609,23 erfafit.] erfafit. - M - 609,24 dieser] seiner M - 

609.26 metaphysisch akustischen] metaphysisch-akustischen M - 

609.27 ferneren] fernern M - 609,27 der Grundzug] die Grund- 
eigenart M - 609,28 n&mlich die] n'dmlich kulturjernerer Vernunft 
die M - 609,29 f. Sensation. [Absatz] Die] Sensation. I Die M - 
609,30 Sprache] Sprache, M - 609,30 sprechen] sprechen, M - 
609,30 f. ostentativ. bis Stellen] durcb und durcb ostentativ. Es ist 
ein merkwiirdiges Zurschaustellen M (Scbau Stellen: konj. fiir Schau- 
stellen t) - 609,33 darzustellen] darstellen zu konnen, M - 609,34 
Auf bis beruht] Schliefilich beruht auf dieser Unfahigkeit M - 609,3 5 
das] was M - 609,36 und] und was M - 609,37 au f] 'mend auf 
M - 609,37-610,1 die bis Erlosung] die einfache nabe liegende, 
grofie Erlosung M - 610,3 der] m ^ der M - 610,3 f. dem das Spre- 
chen hervorgeht.] der das Sprechen, eber: aus einem Menschen Spre- 
chen, bervorgebt. [Absatz; danach der spatere (?) Zusatz:] Stifters 
Beziebung zur Sprache beruht nicht auf Wort sondern auf Schrtft. Zu- 
sammenbang der visuellen Spbare mit der Schrift: Weltbild aufgrund 
der Deutung im Lesen. Ausscbliefiung der Kunstlerscbaft. M 
nachweise 608,14 sucht] s. [Adalbert] Stifter, Bunte Steine. Ein 
Festgeschenk. Mit einem Nachwort von Max Stefl, Frankfurt a. M. 
i960, 7-14 (»Bergkristall«, »Vorrede«) - 608,20 »Abdias«] s. Adal- 
bert Stifter, Studien [Bd. 2]. Hg. von Max Stefl, Augsburg 1956, 
5-104 - 608,20 »Turmalin«] s. Stifter, Bunte Steine, a. a. O., 128-173 

- 608,21 »Brigitta«] s. Stifter, Studien, a. a. O., 165-226 - 608,21 f. 
Urgroflvaters«] s. Stifter, Studien [Bd. 1]. Hg. von Max Stefl, Augs- 
burg 1955, 417-639 - 608,33 Obristen] s. a. a. O., 439-471 (»3. Der 
sanftmutige Obrist«) 



1420 Anmerkungen zu Seite 6iof. 

610 f. Shakespeare: Wie es euch gefallt 

Ende Dezember 1920 sprach Benjamin in einem Brief an Scholem von 
kleinen Schriften, die er in den letzten Jahren [. . ./ verfafit habe. 
Was [diesej » kleinen Schriften* angeht> so geben Sie sich y wie die 
immer neu anscbwellende unersattliche Flut Ihrer Wunscbe beweist, 
Illusionen iiber deren Zahl bin. (Briefe, 249) Audi solle von einigen 
darunter nicht als von »Tbeaterkritiken« gesprochen werden: icb 
[mochtej sie lieber Notizen Uber Dramen nennen, von denen icb doch 
die Uber »Wie es Euch gefallt* mil gutem Gewissen dem Verstdndnis 
empfehlen kann. Den dar'm ausgesprocbenen Anscbauungen uber 
Shakespeare gebe icb weiter nach. (Briefe, 250) Offenbar waren 
Abschriften dieser Notizen Scholem von Benjamin schon vorher an- 
gekiindigt worden, und jener stand in der Erwartung von »Thea- 
terkritiken* . Dafi Benjamin die Notiz iiber Shakespeare dem Ver- 
stdndnis des Adressaten erst noch empfahl, Iafit den Passus auf den 
vorangehenden beziehen, wonach von den kleinen Schriften [. . J 
aujier der Kritik der Porte etroite [s. 615-617] und der - ver- 
schollenen - »Phantasie iiber eine Stelle aus dem Geist der Utopie* 
[dazu s. 947] noch nicht[s] abgescbrieben war (Briefe, 249). Wann 
nach Ende Dezember 1920 die - iiberlieferten - Abschriften der No- 
tizen uber Dramen angefertigt, wann in den letzten Jahren die - ver- 
schollenen - Originale der Aufzeichnungen niedergeschrieben wurden, 
ist nur zu vermuten. Als friihester terminus a quo wird der Zeitraum 
zwischen 1908 und 1914 ausgeschlossen werden miissen - die Zeit, 
in der »Benjamin, Belmore, Steinfeld, Franz Sachs und Willi Wolf- 
radt [. . .] einen wochentlichen Leseabend« abhielten, wo »mit ver- 
teilten Rollen Stiicke von Shakespeare, Hebbel, Ibsen, Strindberg u. a. 
gelesen wurden« und die »Teilnehmer sich audi Kritiken vor[lasen], 
die sie nach Theaterbesuchen schrieben, >die oft druckreif waren, 
aber nie gedruckt wurden<« (Briefe, 39, Anm. 4): hier handelte es 
sich urn »Kritiken« von Auffiihrungen und nicht um Notizen zu 
Dramen (die iiber Moliere scheint zwar mit den letzten drei Satzen 
[s. 613, 3-7] auf eine Auffiihrung sich zu beziehen, eher aber fik- 
tiverweise, um die werkinterpretatorische These von der ideale[n] 
Maske [612,37] zu pointieren). Von der iiber Shaw ist Ende Januar 
191 9 die Rede, mit einem Hinweis auf die Niederschrift vor einiger 
Zeit (Briefe, 206; zur Beziehung auf Stifter s. o., 14 16); anzunehmen 
ist das Jahr 191 8, eher die zweite Halfte. Wahrscheinlich sind die drei 
Aufzeichnungen ungefahr gleichzeitig entstanden. Deshalb haben sie 
die Herausgeber an dieser Stelle eingeordnet, wobei sie fur die Rei- 
henfolge auf die Chronologie der behandelten Dramen zuriickgreifen 
mufiten. 



Anmerkungen zu Seite 610—615 I 4 21 

UBERLIEFERUNG 

T 1 Typoskript; eine Korrektur; Benjamin-Archiv, Ts 206 f. 
T 2 Typoskript; Durdischrift von T 1 ; unkorrigiert; Benjamin-Ar- 
chiv, Ts 208 f. 
Druckvorlage: T 1 

lesarten 611,13 gefdllt* -] konjiziert fur gefdllt* - 611,18 steht -] 
konj. fiir steht -- - 611,19 *$turm*] fur Sturm - 611,23 Z e ~ 
fdllt,] konj. fiir gefdllt - 611,25 Unsterblichkeit. -] konj. fiir 
Unsterblichkeit. — 



612 f. Moliere: Der eingebildete Kranke 

UBERLIEFERUNG 

T 1 Typoskript; Durdischrift von T 2 ; unkorrigiert; Benjamin-Ar- 
chiv, Ts 210 f. 
T 2 Typoskript; unkorrigiert; oberer Rand bei beiden Blattern stark 

beschadigt; Benjamin-Archiv, Ts 212 f. 
Druckvorlage: T 1 

lesarten 6 1 2, 1 3 f. mbglich - wenn auch nicbt entschieden -] kon- 
jiziert fiir moglich, — wenn auch nicbt entschieden — - 612,30 
her stellen] konj. fiir herstellen - 612,33 auffassen, - Tragodie und 
Komodie -] konj. fiir auffassen — Tragodie und Komodie -- - 
612,35 Geistes an] lies Geistes, gelegt an - 612,36 »Malade Imagi- 
naire*] fiir Malade Imaginaire 



613-615 Shaw: Frau Warrens Gewerbe 

uberlieferung 

T 1 Typoskript; unkorrigiert; Benjamin-Archiv, Ts 214-216. 
T 2 Typoskript; Durdischrift von T 1 ; unkorrigiert; Benjamin-Ar- 
chiv, Ts 217-219. 
Druckvorlage: T 1 

lesarten 613,15 nicbt in der] konjiziert fiir in der - 613,22 den] 
konj. fiir dem - 613,26 -wo] konj. fiir wo - 614,16 spar en -] 
konj. fiir sparen — - 614,17 Schwester t ] konj. fiir Schwester - 
614,21 fiihre] konj. fiir fiihre y - 614,30 bestehen] konj. fiir be- 
stehen, - 614,31 sein) -] konj. fiir sein) — - 614,32 f. veracht- 

lich, -] konj. fiir verdchtlich. 615,3 wie kein Beruf.] lies 

wie kein Beruf schlecht ist. - 615,7 wollte -] konj. fiir wollte -- - 
615,16 Heldin] konj. fiir Helden 



1422 Anmerkungen zu Seite 613—617 

nachweis 613,8 Gewerbe] s. George Bernard Shaw, Mrs. Warren's 
Profession, erste englisdie Ausg. in Three Unpleasant Plays, Lon- 
don 1898, erste Einzelausg. London 1902; erste deutsche Obers. von 
Siegfried Trebitsch als »Frau Warrens Gewerbe«, Berlin 1906. 



615-617 Andre Gide: La porte etroite 

Gides Erzahlung, die 1909 erschien und nodi im selben Jahr audi in 
einer deutsdien Obersetzung herauskam (s. Andre* Gide, Die enge 
Pforte, ubers. von Felix Paul Greve, Berlin 1909), hat Benjamin im 
Spatsommer 1919 auf franzosisch gelesen; iiber die Lektiire berich- 
tete er Ernst Schoen am 19. 9. 191 9 aus Klosters in der Schweiz: 
Einige wenige gute Biicher habe ich gelesen. Ob Sie unter diesen eines, 
namlich La porte etroite von Gide kennen y wiirde micb besonders 
interessieren. Ihr Urteil? Ich bewundere an ihm die ernste, wunder- 
bare Bewegtheit, es enthdlt »Bewegung« im hochsten Sinne, wie 
wenige Biicher, fast wie »der IdioU. Sein jiidischer Ernst spricht mich 
verwandt an. Und dann erscheint dennoch das Ganze gebrochen, wie 
in einem triiben Mittel y im Stoff lichen eines engen y christlich- 
asketischen Geschehens im Vordergwnde, welches tausendfach leben- 
dig uberragt wird von der Intention des Innern y und so im Grunde 
unlebendig verharrt. (Briefe, 219) Aus einem Brief vom Dezember 
1919 an Schoen geht hervor, dafi Benjamin seinen kurzen Text iiber 
»La porte etroite« nur wenig spater, wohl im Oktober 1919, ge- 
schrieben hat: Einen Aufsatz »Schicksal und Charakter* den ich in 
Lugano schrieb und zu meinen besten Arbeiten zahle y hoffe ich [. . ./ 
erscheinen lassen zu konnen. Prolegomena zu meiner neuen Lesaben- 
dio-Kritik und eine Kritik von »La porte etroite* von Gide sind 
ebenfalls dort unten entstanden, (Briefe, 227) Ein Druck des Textes 
ist zu Benjamins Lebzeiten nicht erfolgt, doch lag er durchaus in sei- 
nem Sinn: zumindest zeitweilig sah er einen Abdruck im ersten Heft 
des Angelus Novus vor. Als Benjamin im Januar 1922 das Ma- 
nuscript des ersten Hefles dieser Zeitschrift, deren Plan er lange ver- 
folgte, ohne ihn verwirklichen zu konnen (s. 981-997), dem Verleger 
Richard Weifibach einsandte, schrieb er in einem Begleitbrief: Eine 
kleine Anderung im Manuscript mochte ich mir vorldufig in sofern 
vorbehalten, als ich, wenn der Raum ausreicht, meine Kritik der Porte 
etroite vielleicht durch meine Besprechung der Gemalde von August 
Macke ersetzen mochte. (21. 1. 1922, an R. Weifibach) 



Anmerkungen zu Seite 615—620 1423 

UBERLIEFERUNG 

T Durchschlag eines Typoskripts mit handschriftlichen Korrekturen 

Benjamins; Benjamin-Archiv, Ts 202-205. 
lesarten 616,6 Betrachtung y ] konjiziert fiir Betrachtung - 616,8 
Erwacbsenen] fur Erwachsnen - 616,11 etroite*,] konj. fiir etroite* 
— 616,12 als die y ] konj. fiir als die - 617,15 einem] in T durdi 
Groftschreibung hervorgehoben - 617,26 nicbt] Konjektur der Hg. - 
617,34 mochte] konj. fiir modoten 

nachweis 617,35 livre.*] Andre* Gide, Romans, remits et soties, 
oeuvres lyriques. Introduction par Maurice Nadeau, notices et biblio^- 
graphie par Yvonne Davet et Jean-Jacques Thierry, Paris 1958 
(Bibliotheque de la Pl&ade, vol. 135), 496 



618-620 Paul Scheerbart: Lesabendio 

Benjamin hat drei Arbeiten uber Scheerbart geschrieben: eine erste 
und eine zwehe Lesabendio-Kritik sowie, auf franzosisch, »une 
note sur Paul Scheerbart« (s. 1424). Davon sind nur die erste und dritte 
erhalten. Die zweite, wohl die wichtigste, war der »grofie, leider 
verlorene Aufsatz Der wahre PoUtiker* (Scholem, Walter Benjamin - 
die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 52), von Benjamin audi 
Prolegomena zur zweiten Lesabendio-Kritik (Briefe, 223) oder zur 
neuen Lesabendio-Kritik (Briefe, 227) genannt - eine Arbeit, die 
den ersten Teil einer Schrift uber >Politik« bilden sollte, deren zweiter 
Teil unter dem Titel *die wahre Politik* geplant war (Briefe, 247, 
252). Der wahre Politiker, anscheinend die - erweiterte - Endfas- 
sung der Prolegomena [...] (s. Briefe, 223), wurde im Herbst 1919 
in Lugano begonnen und EndeDezember 1920 abgeschlossen (s. Briefe, 
250; weitere Hinweise auf die wohl schon seit August 1921 verschol- 
lene Arbeit s. Briefe, 255, 261, 268, 270-272). Die erste Lesabendio- 
Kritik fmdet als solche sich nirgends erwahnt; es wird um die Auf- 
zeichnung Paul Scheerbart: Lesabkndio sich handeln, die kaum frii- 
her als ab Friihjahr 1917 und bis spatestens Herbst 1919 entstanden 
sein miifite. Kaum friiher: denn Benjamin soil, nach Scholems Zeug- 
nis, erst 1917 zu Scheerbart >bekehrt< worden sein: »Benjamin und 
Dora [. . .] luden mich [. . .] zu der nach fihrer] Trauung am 16. 
April [. . .] stattfindenden Familienfeier ein [. . .] Ich war damals 
schon ein grofier Verehrer und Sammler der Schriften von Paul Scheer- 
bart und schenkte ihnen zur Hochzeit mein Lieblingsbuch, seinen 
utopischen Roman >Lesab£ndio<, der auf dem Planetoiden Pallas 
spielt und, mit Alfred Kubins Zeichnungen, eine Welt darstellt, in der 



1424 Anmerkungen zu Seite 618—620 

die >wesentlichen< . menschlichen Eigenschaften durchaus versdioben 
sind. Damit begann Benjamins Bekehrung zu Scheerbart* (Scholem, 
a. a. O., 52). Ob der erhahene Text iiber »Lesab6ndio« oder der 
iiber »La porte £troite« von Gide friiher entstanden ist, lafit sich 
nidit entscheiden. Die von den Herausgebern gewahlte Reihenfolge 
des Abdrucks berucksichtigt einmal die Chronologie des Erscheinens 
der besprochenen Biicher, dann aber audi den inhaltlidien Aspekt, 
daft der Obergang von Scheerbart zu der folgenden Arbeit iiber den 
Surrealismus sinnvoller ersdieint als einer von Gides Erzahlung zu 
diesem. - Seiner >Bekehrung< zu Scheerbart gedachte Benjamin nodi 
zwanzig Jahre spater, in den Auseinandersetzungen mit Scholem in 
Paris, der ihn dort im Februar 1938 besuchte: »lch verstehe dick m'c/?t«, 
sagte Benjamin zu Scholem, der das Gesprach in seinen Erinnerungen 
zitiert. »Du warst es, der mir seinerzeit Scheerbart so hoch gelobt 
hat. Du konntest ihn gar nicht genug ruhmen, und hattest gewifi 
recht damit. Und jetzt, wo ich dir Brecht nahelege, der doch, was 
Scheerbart am besten angefangen hat, vollendet, namlich eine durch- 
aus und volistdndig unmagische, von alter Magie gereinigte Sprache 
zu schreiben, da versagst du dichl [Absatz] Ich sagte, das stimme 
doch gar nicht, ich hatte doch wunderbare magische Gedichte von 
Brecht gelesen. J a, das war am An fang, in der >Hauspostille<, aber 
dann ist er, auch wenn er von Scheerbart nichts gewufit haben sollte, 
doch auf dessen Weg gegangen, und die von dir so hoch geschatzte 
>Revolutionare Theaterbibliothek< [22 StUcke in 6 Bdn., Berlin 1904 J 
ist doch ein Vorbild zur Prosa von Brechts Stucken. Von der Prosa in 
>Lesabendio< warst du hingerissen, und jetzt regst du dich iiber die >Ver- 
suche< und den >Dreigroschenroman< auf. Ich sagte: >Aber bei Scheerbart 
war da ein Element, das bei Brecht fehlt.< Er: Was denn? Ich: >Die 
Freude an der Unendlichkeit, von der bei Brecht keine Spur ist, wo 
alles nurauf die revolutionare Manipulation imEndIichenhinauslauft.< 
[. . .] Benjamin: Es kommt nicht auf die Unendlichkeit an, sondern auf 
die Ausschaltung der Magie. Wir blieben uneinig« (Scholem, a. a. O., 
2j8*f.). - Zwei Jahre spater suchte Benjamin seine dritte Arbeit iiber 
Scheerbart zur VerorTentlichung zu bringen: die Aufzeichnung Sur 
Scheerbart (s. 630-632). Dies ist durch Adrienne Monnier bezeugt. 
Sie beriditete 1952: »Dans le dernier numeVo de la >Gazette des Amis 
des Livres<, en mai 1940, j'ai public une lettre de Walter Benja- 
min sur le >Le Regard< de Georges Salles [s. Bd. 3, 592-595], livre 
qu'il appr£ciait autant que moi. Les petites dimensions de la Gazette 
ne me permettaient pas de donner des textes de plus de deux ou 
trois pages [...] J'avais n£anmoins Tintention d'y passer une note 
sur Paul Scheerbart que Benjamin avait r£dig£e pour illustrer cer- 
taines de nos conversations. Cette note est curieusement en harmonie 



Anmerkungen zu Seite 6 1 8—62 2 1425 

avec l'id£e qui a inspire* a Jules Romains son conte >Violation de 
frontieress mais Romains n'en pas eu connaissance, car elle n'a 
pas quitt^ mes tiroirs, pas plus qu'une &ude sur Bachofen qu'il 
[scil. Benjamin] m'avait £galement donn£e [s. 219-233] [. . .] 
J'aurais pu a la longue trouver une solution, mais nous £tions en 
1940, avancant a grands pas vers la de7aite.« (Adrienne Monnier, 
Note sur Walter Benjamin, in: Mercure de France, 1.7. 1952 [Nr. 
1067], 452 f.) Es war damals - wie eine i960 veroffentlichte Tage- 
bucheintragung Adrienne Monniers vom 21. 5. 1940 naher belegt - 
darum gegangen, revoir »avec Benjamin note ancienne sur Scheer- 
bart pour remplacer 6tude sur Bachofen. « (Adrienne Monnier, Trois 
Agendas, [o. O.] i960, 28) Dafi Benjamin die »note sur Paul Scheer- 
bart « damals »avait r£dig£e«, deutet zusammen mit der Angabe, dafi 
es eine »note ancienne« war, auf einen u. U. wesentlich friiheren 
Zeitpunkt ihrer Abfassung. Da gleich am Anfang auf den Kriegs- 
ausbrudi 1914 Bezug genommen ist (s. 630), konnte der von 1939 An- 
lafi der Niederschrift gewesen sein; da andererseits Benjamin vor 
1934 keine franzosischen Texte schrieb, glaubten die Herausgeber 
jedenfalls nicht fehlzugehen, wenn sie Sur Scheerbart als letztes 
Stuck hinter den beiden deutschen Fragmenten von 1934 einordneten. 

UBERLIEFERUNG 

T Typoskript; Durchschrift eines nicht erhaltenen Originals; unkorri- 

giert; Benjamin-Archiv, Ts 195-198. 
lesarten 618,25 lallen,] konjiziert fur lallen — 619,9 ermattete] 
konj. fiir ermattete, - 619,10 naturlich),] konj. fur naturlich) — 
619,19 Aufbaues,] konj. fiir Aufbaues 

nachweis 618,1 Lesabendio] s. Paul Scheerbart, Lesabendio, Ein 
Asteroidenroman. Mit 14 Zeichnungen von Alfred Kubin, Miinchen, 
Leipzig 191 3 



620-622 Traumkitsch 

Zeugnis der friihesten Beschaftigung Benjamins mit dem Surrealismus 
ist eine kleine Glosse, der er den Titel Traumkitsch gab. Entstanden 
wohl 1925, erschien sie Januar 1927 in der »Neuen Rundschau* unter 
dem Titel Glosse turn Surrealismus, der in der - erhaltenen - Nie- 
derschrift Untertitel ist (jedoch in der Schreibweise Surrealismus). Am 
21.7. 1925 heifit es in einem Brief Benjamins an Scholem: Vor allem 
nahm ich mir Neuestes aus Frankreich vor: Die herrlichen Schriflen 
von Paul Valery (Variete, Eupalinos) einerseits, die fragwiirdigen 



1426 Anmerkungen zu Seite 620—622 

Biicher der Surrealisten auf der andern. Vor diesen Dokumenten 
mufl ich allmahlich mich mit der Technik des Kritisierens vertraut 
machen. Bei einer neuen literarischen Revue, die im Herbst erscheinen 
soil - ich denke, daruber babe ich schon an Dich berichtet - babe ich 
Mitarbeit aller Art, insbesondere ein standiges Referat uber neue 
franzbsische Kunsttheorie Ubernommen. (Briefe, 393) Die neue lite- 
rarische Revue war die von Willy Haas herausgegebene, im Ernst Ro- 
wohk Verlag ersdieinende »Literarische Welt«, an der Benjamin 
wahrend der zweitenHalfte der zwanziger Jahre regelmaflig mitarbei- 
tete. Der Plan einer Arbeit uber den Surrealismus hatte sich Ende des 
Jahres 1925 konkretisiert, gleichzeitig aber stand Benjamin audi die 
Problematik einer Veroffentlichung in der »Literarischen Welt« vor 
Augen; er schrieb am 28. 12. 192$ an Hof mannsthal : ]e grower der 
Reiz ist, uber einige aktuelle Gegenstande, besonders BUcher der 
pariser Surrealisten, mir Rechenschafl zu geben t desto empfindlicher 
wird die Schwierigkeit fuhlbar, ephemere und doch vielleicht nicht 
oberfiachliche Oberlegungen irgendwo unterzubringen. Hoffnungen, 
die ich auf das Erscheinen der » Literarischen Welt* in diesem Sinn 
setzte, mufi ich ein wenig herabstimmen. (Briefe, 407) Einen Monat 
spater - der Text konnte in der Zwischenzeit gesdirieben worden 
sein, wenn er nicht sogar noch friiher, zwischen Ende Juli und Ende 
Dezember 1925, entstanden ist - rechnete Benjamin, wiederum in 
einem Brief an Hofmannsthal, die Arbeit zu dem Gewichtigere[njj 
dessen Publikationsweise doppelt genau genommen [sein solltej. 
Meine klelne Betrachtung uber die Surrealistes [die grofie uber den 
Surrealismus (s. 295-310) ist Jahre spater geschrieben und erschien 
1929 (s. ioi8f.)] ist »schwierig€ und kann [in der » Literarischen 
Welt*] keine Stelle finden, (25. 1. 1926, an Hugo von Hofmanns- 
thal) Hof mannsthal, der bis 1929 als einer der bewahrtesten und un- 
eigenmitzigsten Heifer bei Benjamins vielfaltigen Publikationssorgen 
sich erwies, wandte sich wenig spater an Max Rychner, der damals 
verantwortlicher Redaktor der »Neuen Schweizer Rundschau« war: 
»Ferner mochte ich Sie auf einen Mann von grofiem Wert aufmerk- 
sam machen, an dem Sie vielleicht einen sehr wertvollen gelegent- 
lichen Mitarbeiter gewinnen konnen. Es ist dies Dr. W. Benjamin 
[...]. In der ersten Folge der >Neuen Deutschen Beitrage< brachte 
ich von ihm eine Arbeit uber die Wahlverwandtschaften, die mir und 
audi anderen Menschen fast sui generis erschien. Neuerdings kenne 
ich von ihm eine grofie Arbeit iiber das deutsche Trauerspiel der 
Barocke, die ich gleichfalls hochst aufierordentlich finde. [. . .] Nun 
erwahnte mir unlangst Dr. Benjamin in einem Briefe einen Aufsatz 
iiber die >Sur-Realisten< den er gedacht habe einer Berliner Zeitung 
zu geben, er sei aber davon abgekommen weil die Zeitschrift gar zu 



Anmerkungen zu Seite 620—622 1427 

sehr ins Journalistische tendiere und fur Ernstes nicht die riditige 
Stelle sei. Ich habe mir als er dies schrieb gedacht Sie aufmerksam zu 
machen.« (Hugo von Hof mannsthal - Max Rychner, Brief wechsel 
1 922- 1 929, hg. von Claudia Mertz-Rychner, in: Almanach 87, S. Fi- 
scher Verlag, Frankfurt a. M. 1973, 18; uber die Redaktionspraxis 
der »Literarischen Welt« s. audi Benjamins Briefe an Hofmannsthal 
vom 21. 1. 1926 und 23. 2. 1926, Bd. 3, 615 f.) Diese Initiative des 
Dichters fiihrte zu einer der erfreulichsten Verbindungen, die Benja- 
min uberhaupt zu einer Zeitschrift besafi. Rychner erzahite spater: 
»Ich wandte mich brief lich [. . .] an Benjamin, und zu meiner Freude 
war er in ungemein liebenswiirdiger Weise sogleich bereit mitzuarbei- 
ten. Er hat mir dann in der Folge wiederholt Arbeiten geschidtt, die 
erschienen sind. [. . .] Er ging auf alle meine Wunsche ein, und er 
selber hatte keine.« (Max Rychner, [Erinnerungen an Benjamin,] 
in: Uber Walter Benjamin. Mit Beitragen von Theodor W. Adorno 
u. a., a. a. O., 24) Seine Glosse uber den Surrealismus allerdings hat 
Benjamin in der »Neuen Schweizer Rundschau « nicht verorTentlicht. 
- Er hatte den Text im Februar 1926 an Siegfried Kracauer zur pri- 
vates, bezw. redaktionellen Kenntnisnahme (17. 2. 1926, an S. Kra- 
cauer) gesandt, diesem aber schon bald darauf nebenbei mitgeteilt, 
dap die kleine Glosse »Traumkitsch« t die bei Ihnen [scil. der »Frank- 
furter 2eitung«] liegt, von der »Neuen Rundschau* angenommen 
ist. (o. D. [Marz 1926], an Siegfried Kracauer) - Eine Druckvorlage 
ist nicht erhalten. Im iiberlieferten Ausschnittexemplar moniert Ben- 
jamin lediglich den Titel, neben den er den von ihm gewiinschten 
Traumkitsch schrieb; vielleicht geht noch die eine oder andere Version 
des Textes aufs Konto der Redaktion, was angesichts der nicht weni- 
gen Varianten, die der Druck gegeniiber dem Manuskript aufweist, 
nicht ausgeschlossen werden kann. Diese Varianten finden sich als 
Lesarten verzeichnet. 



UBERLIEFERUNG 

J BA Glosse zum Surrealismus. - Die Neue Rundschau 38 (1927), 
uof. (Heft 1, Januar '27). Titel Traumkitsch von Benjamins 
Hand; Benjamin-Archiv, Dr 366 f. 

M Traumkitsch [.] Glosse zum Surrealismus. Niederschrift mit So- 
fortkorrekturen und einer spateren Korrektur (Blei); Faltblatt, 
erste Halfte doppelseitig zweispaltig beschrieben; Benjamin- 
Archiv, Ms 187. 

Druckvorlage: J BA 

lesarten 620,4 Traumkitsch] Untertitel Glosse zum Surrealismus 

in M ist Titel im Druck (/. . ./ Surrealismus) - 620,5 heut] konjiziert 



1428 Anmerkungen zu Seite 620—622 

nach M fiir heut' - 620,7 schreiben,] schreiben M - 620,8 htefie,] 
hiejie M - 620,17 f. Nimmerwiederseken] Nimmerwiedersehn M - 
620,24 Welches] Welche M - 620,25 Seite,] Seite M - 620,26 
garniert] patiniert M - 620,29 Leporello-Bilderbuchs] Leporello- 
bilderbuchs M - 620, 3 o mattresse c'est ] mattresse I c'est M - 
620,31 vernie pour] vernie I pour M - 620,32 corridor il] corri- 
dor I il M - 620,32 me] J BA , M; in M spater korrigiert in rrten 

- 620,33 verfafit,] verfajlt M - 621,4 wiegt bis Bleistifl.] wiegt 
sich ein riesiger Bleistifl an} der Briistung. M - 621,12 ibrer] der M 

- 621,12 f. uns sich zum krausen] sich in ein krauses M - 621,13 
zusammen; das] zusammen. Das M - 621,13 ward] ist M - 621,14 
Darinnen] In ihnen M - 621,15 Surrealismus] Surrealismus M - 
621,19 dessen t ] dessen M - 621,21 surrealistischem] surrealistischem 
M - 621,28 glaubten,] glaubten M - 621,30 das Dichten] die Dich- 
tung M - 621,31 Schlafengehen] Scblafengehn M - 621,32 f. travail- 
le.* -] travaille.* [Absatz] M - 621,33 alles, um] alles um M 

- 621,34 entziffern,] entziffern und M - 621,36 Fragen bis Braut?*] 
Frage »wo ist die BrauU M - 621,38 aufgedeckt] entdeckt M - 
621,38-622,1 SUrrealisten bis Spur.] Surrealisten suchen mit solcher 
Gewifiheit weniger der Seele als den Dingen nahezukommen. M - 
622,3 f- Maske des Banalen] mythische Maske der Banalitat M - 
622,5 ausgestorbenen] ausgestorbnen M - 622,5 rtebmen.] nebmen{, 
indessen schon das Stampfen der Maschinen ein nicht mehr unter- 
brochenes Wachen skandiert.} M - 622,11 einer Umwelt] der 
Formenwelt M - 622,14 ware*] ware: le corps »meuble« de formes 
et d s appareils[,J wie das Franzosische Vesprit »meuble« de reves 
ou de science seit jeher kennt. M 

nachweise 620,24 » Repetitions*] s. Paul Eluard, Repetitions. Dessins 
de Max Ernst, Paris [1922] - 621,21 Sprungbrett.*] Andre" Bre- 
ton, Manifeste du Surrealisme. Poisson soluble. Nouvelle Edition, 
augmented d'une preface et de la Lettre aux Voyantes, Paris 1929, 
60 f.: »Le surrealisme [. . .] s'est applique [. . .] a re*tablir dans sa 
veVite" absolue le dialogue, en degageant Ies deux interlocuteurs des 
obligations de la politesse [. . .] Les propos tenus n'ont pas, comme 
ordinaire, pour but le developpement d'une these [. . .] Quant a la 
r^ponse [. . .], elle est, en principe, totalement indiffeVente a Tamour- 
propre de celui qui a parle\ Les mots, les images ne s'offrent que 
comme tremplins a l'esprit de celui qui £coute.« - 621,27 reves*] 
Louis Aragon, Une vague de reves, Paris [1924] - 621,32 travaille.*] 
zit. Andre" Breton, Manifeste du Surrealisme, a. a. O., 28 



Anmerkungen zu Seite 622—624 1429 

622-624 Uber Stefan George 

1928 veranstaltete die »Literarische Welt« eine Rundfrage aus Anlafl 
des 60. Geburtstags von Stefan George. In der VerorTentlichung des 
Ergebnisses unter dem Titel »Stefan Georges Stellung im deutschen 
Geistesleben. Eine Reihe autobiographischer Notizen« am 13.7. 1928 
wurde audi der Brief abgedruckt, den die Redaktion »an eine Anzahl 
deutsdier Dichter, Schriftsteller und PoIitiker« vorher gerichtet hatte. 
Er lautet: »Am 12. Juli feiert Stefan George seinen 60. Geburtstag. 
Man mag zu den Werken dieses Dichters stehen wie immer, seine 
geistige Konsequenz und seine grofie festumrissene Position fordern 
jeden, der sich geistig betatigt, zu einer entsdiiedenen Stellungnahme 
auf. Dieser Anlaft scheint uns wie kein anderer einen umfassenden 
Plebiszit unter den geistig SchafTenden Deutschlands zu rechtfertigen 
und zu verlangen. [Absatz] Wir bitten Sie, sich an diesem Plebiszit 
zu beteiligen durch eine kurze autobiographische Notiz, in welcher Sie 
darstellen, welche Rolle Stefan George in Ihrer inneren Entwicklung 
spielt. Wir werden Xufterungen jeder Art, positive wie ablehnende, 
ver6ffentlichen.« (Die Literarische Welt, 13.7. 1928 [Jg. 4, Nr. 28]) 
Die von den Herausgebern hier Vber Stefan George zubenannte Auf- 
zeichnung war die Antwort Benjamins (s. a. a. O., 3). Zu ihr wie den 
ubrigen Antworten gab die Redaktion folgende »Einfiihrung«: »Das 
Werk Stefan Georges soil, nach der Interpretation seiner Sdiule, 
nicht nur eine grofiere oder geringere Reihe schoner und bedeutender 
Gedichte oder eine asthetische Disziplin bieten (was kaum ein Kunst- 
verstandiger leugnen wird) : sondern ein W e 1 1 b i 1 d , eine L e - 
bensforderung, die sich an jeden richtet. Es ist das Sittliche, 
das Menschen- und Gemeinschaftsbildnerische im Werk Georges, was 
von jener Seite immer wieder zur Diskussion gesteilt wird und was 
auch wir hier zur Diskussion gesteilt haben. [Absatz] Je mehr das 
Objektive und Positive dieser Leistung, das Gebietende und zur inne- 
ren Entscheidung Zwingende betont wird, desto berechtigter waren 
wir zu einer rein subjektiven Fragestellung in die- 
ser unserer Rundfrage. Es ware ein miiftiges Kinderspiel, ein paar Dich- 
ter, Schriftsteller, Geistliche, Politiker zu fragen, wie etwa Kleist oder 
Dehmel auf ihr subjektives Erleben eingewirkt hat: denn das ist eine 
Privatangelegenheit der betrefTenden Damen und Herren. Anders 
hier. Eine offentliche Wirkung muiS schliefilich an einem Thermome- 
ter abzulesen sein. Jede >Lehre< mufi irgendeinmal, in einem charak- 
teristischen historischen Augenblick, durch eine Art Plebiszit hin- 
durchgehen: mag ihr Inhalt noch so undemokratisch, ja antidemo- 
kratisch sein, wie es der Inhalt der Georgeschen Lehre ist. Nicht dies 
kann der Sinn der bekannten Georgeschen Esoterik sein, sich diesem 



1430 Anmerkungen zu Seite 622—624 

Plebiszit Einsiditiger und Gewissenhafter zu entziehen, dem schliefilich 
em Thomas von Aquino ebenso wie ein Robespierre sich stellen mufi- 
ten, sei es korperlich, sei es als geschichtliche Gestalten. 1st doch die 
Wirkung grofier Manner ein fortwahrender unterirdisdier, stillschwei- 
gender Plebiszit, - der hier, durch die folgenden autobiographischen 
Bekenntnisse und Notizen, einfach fragmentarisch in einem charak- 
teristischen Ausschnitt zutage gefordert wurde . . .« (a. a. O.). Unter 
ihnen hatte auch eine Aufzeichnung Adornos stehen konnen, ware eine 
Anregung Benjamins im Pressebetrieb nicht untergegangen: Die 
Redaktion der » Liter arischen Welu war sofort und sehr lebhaft auf 
meinen Vorschlag eingegangen, Sie um den gedachten Beitrag zum 
George-Heft zu bitten. Man sicherte mir zu, Sie umgehend aufzu- 
fordern. Ich hatte den Leicbtsinn, die Sacbe damit fur entschieden zu 
halten, anstatt mit der grenzenlosen Fahrldssigkeit soldier Bilros zu 
rechnen. (1.9. 1928, an Theodor W. Adorno) Von Benjamins Beitrag 
sind, neben einem korrigierten Ausschnittexemplar, eine erste Nieder- 
sdirift [s. u., »Lesarten«], ferner Notizen zur Niederschrift erhalten, 
die im folgenden abgedruckt werden: 

Figuren fur Notiz uber George 

Fritz Heinle, Wolf Heinle, Rika Seligson, W. SfimonJ Guttmann, 

[Ferdinand] Cohrs, [Friedricb] Podszus, Jula Cobn, 

Gedichte 

Ihr tratet zu dem herde [Stefan George, Das Jahr der Seele. Ge- 

samt-Ausgabe der Werke, Berlin 1927-1934, Bd. 4, 118] (Dora 

[Benjamin]) Gemahnt dido noch [a. a. O., 40] (Fritz [Heinle]) 

Es lacht in dem steigenden jahr dir [a. a. O., 93] (Rika [Seligson]) 

Der Tater [ders., Der Teppidi des Lebens und die Lieder von Traum 

und Tod, a. a. O., Bd. 5, 49] ([W. Simon] Guttmann) Uns die 

durch viele jahre [a. a. O., 35] (Walter [Benjamin]) Wir werden 

noch einmal zum lande fliegen [ders., Die Biicher der Hirten- und 

Preisgedichte, der Sagen und Sange und der hangenden Garten, 

a. a. O., Bd. 3, 87] (Walter [Benjamin]) 

Wie sich jedem dieser Gedichte das Bild eines Menschen verbunden 
hat. Der Stern des Bundes (Widmung Franz Sachs) [J Daraus wir- 
kend: »Sie alle sahen rechts - nur Er sah links. * [ders., Der Stern 
des Bundes, a. a. O., Bd. 8, 36, v. 10] 

George kommt durch Freiburg: Ludwig Thormaehlen. George in Hei- 
delberg. George-Legende von [Martin] Gumpert. 
Der Einfluj! auf die Gedichte beschrankt - fur meine Generation das 
Bezeichnende[.] 

Druckvorlage: Sammlung Scholem, Pergamentheft, 3 



Anmerkungen zu Seite 622—624 143 1 

UBERLIEFERUNG 

J BA Stefan Georges Stellung im deutschen Geistesleben. Eine Reihe 
autobiographischer Notizen. [Antworten auf eine Rundfrage 
von] Walter Benjamin, Bert[olt] Brecht, Martin Buber [u. a.]. 
- Die Literarische Welt, 13. 7. 1928 (Jg. 4, Nr. 28), 3; zwei Kor- 
rekturen von Benjamins Hand; Benjamin-Archiv, Dr 496 f. 
M Ich freue mich [. . .}. Niederschrift mit zahlreichen Sofortkorrek- 

turen; Sammlung Scholem, Pergamentheft, 4 f. 
Druckvorlage: J BA 

lesarten 622,15 George}] Walter Benjamin J; ohne Titel M - 
622,16 Nur] Ich freue mich, M - 622,17 * st >\ lst - Nur das M - 
622,20 Bewufitsein,] klaren Bewufltsein dessen, M - 622,23 Er] er 
M - 622,25 Heidelberg, lesend, auf einer Bank,] Heidelberg lesend, 
auf einer Bank M - 622,29 E>och das war] Das war aber M - 
622,31 Falle] Falle und zu keiner Zeit M - 622,32 Gedichten nur] 
Gedichten M - 622,32 f. bestimmten, eingreifenden] bestimmten 
[zwei oder drei Worter nicht zu entziffernj M - 622,35 eigenen, 
gefunden habe] eignen fand M - 623,1 lebt -,] lebt - M - 623,2 
Tages] Tages den ich seit Jahren erwarte und vielleicht noch Jahre 
erwarten werde, M - 623,2 werde zu sagen haben.] zu zeugen habe. 
M - 623,3 dieselbe,] dieselbe Kraft, M - 623,6 beide] sie M - 
623,9 verdankten wir,] danken wir (die wenigen namenlosen fur 
die ich hier spreche) M - 623,10 ist. -] ist. M - 623,11 ging unheil- 
verkiindend] ging, unheilverkundend, M - 623,12 »Stern des Bun- 
des« auf,] Stern des Bundes auf M - 623,13 Ehe] Eh M - 623,17 
aber] aber {, die ich ganz meiner ersten grofieren Arbeit, einem Ver- 
such uber zwei Holderlinsche Gedichte [$. 105-126] gewidmet [hattej 
der ihm meinem Freunde gewidmet war,} M - 623,20 die bis woll- 
te:] beide einander vergleichen sollte: M - 623,20 waren] standen 
zu einander M - 623,21 alter bis Schonung.] Saulenwald zu einer 
Schonung. M (Variante zu den letzten drei Lesarten: Und wenn ich 
die alte der neuen vergleichen sollte: sie waren wie ein Saulenwald 
und eine Schonung. M) - 623,23 Sinn] hbchsten Sinne M - 623,24 
im] in dem M - 623,26 immer auch ich] ich immer M - 623,28 
Hersagen] das Vorlesen M - 623,29-32 wirkte. bis oder] wirkte. 
In meine Munchner Studienzeit fiel eine wenig authentische Kunde 
von den mythologischen Einsichten, die im Kreise Georges umgingen 
und endlich, Jahre spater, kamen durch Franz Hessel stichhaltigere 
Berichte weniger uber einzelne Lehrstucke als uber die eine Person Al- 
fred Schulers. Ich fand in jener Priesierwissenschafi der Kunst, die von 
den »Blattern« gehutet wurde keinen Nachhall [der StimmeJ die das 
Lied des Zwergen und M (Variante zu 623,27-32 Widerspruch. bis 
getragen: Widerspruch. Aber Prophetie als Reichskunst, Reichskunst 



1432 Anmerkungen zu Seite 622—624 

als Prophetie geheuchelt zu seben, beleidigte meinen Wirklichkeits- 
sinn. Aucb fand ich bier keinen Widerhall jener innersten Stimme, die 
mir das Lied des Zwergen t die Entfubrung oder [von Benjamin jrei- 
gelassene S telle J gesungen M) - 623,34 nur kis sich] sich nut alle 
tausend Jahre einmal M - 623,35 f. gewabren. -] gewabren. M - 
623,36 f. Dante-Obersetzung] Danteiibersetznng M - 623,39 funfle] 
zwolfle M - 623,39-624,2 »Holle« > bis vordem] Holle, den mir 
J[ula] C[ohn] in ibrem MUnchner Atelier las und der durch Jahre in 
mir fortwirkte, so wie vor dem M - 624,4 i& kis lsi —\ ^ R[ik<*J 
S[eligson] sab - M - 624,10 »Teppicb des Lebens*] Teppicb M - 
624,11 bescbworen:] beschwdren> M - 624,11 inbrunstig] inbrUn- 
stigen M - 624,12 f. Mannes bis die] Mannes, von dem id) nie ver~ 
gesse, wie er die M - 624,14 Urnen« bis bersagte.] Urnen* [unge- 
striohen: aufsj sprach und den »Tdter< uns las. M - 624,15 Dich- 
tungen] Dicbtung M - 624,16 kennenzulernen] kennen zu lernen 
M - 624,17 f. kaum bis auf] eben im Zimmer W SfimonJ Gfutt- 
mannjs gefunden begleitete mich auf M - 624,19^ Vademecum 
bis Geister] satanisches Vademecum. Aber wie klagende Geister M 
- 624,20 f. Moglichkeiten,] Moglichkeiten M - 624,23 dessen t ] 
dessen M - 624,23 f. Einsamkeit und Versaumnis] Versaumnis und 
Einsamkeit M (urspriingliche Version: ware das Leid um Einsamkeit 
und um Versaumnis) 

nachweise 622,16 Aufforderung] s. o., 1429-623,10 Seele*] s. Ste- 
fan George, Das Jahr der Seele. Gesamt-Ausgabe der Werke, Berlin 
1 927- 1934, Bd. 4 - 623,12 Bundes*] s. George, Der Stern des Bun- 
des, a. a. O., Bd. 8 - 623,28 f. Gedicbten*] s. Robert Boehringer, Ober 
Hersagen von Gedichten, in: Jahrbuch fur die geistige Bewegung 
(Jg. 2), rig. von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters, Berlin 
1911 - 623,31 Kun$t«] s. Blatter fiir die Kunst (Folge 1-12), Ber- 
lin 1 892-19 19 - 623,32 Zwergen«] s. George, Die Biicher der Hir- 
ten- und Preisgedichte, der Sagen und Sange und der hangenden Gar- 
ten, a. a. O., Bd. 3, 79-81 (»Das lied des zwergen: I, II, III«) - 
623,32 Entfubrung^] s. George, Das Jahr der Seele, a. a. O., 
64 - 623,39 Holle*] s, George, Die Gottliche Komodie, Obertra- 
gungen, a. a. O., Bd. io/ii, 27-31 (»Franziska von Rimini. Holle, 
V. Gesang, 70-142 «) - 624,6 dir«] s. George, Das Jahr der Seele, 
a. a. O., 93 - 624,8 dessen«] s. a. a. O., 40 - 624,14 Urnen*] s. 
George, Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod. 
Mit einem Vorspiel, a. a. O., Bd. 5, 62 (»Standbilder. Das sechste«) - 
624,14 Tater«] $. a. a. O., 49 (»Der Tater«) - 624,17 Paulscber 
Stellen] s. Jean Paul, Ein Stundenbuch fiir seine Verehrer, Berlin 
1900 (= Deutsche Diohtung. Hg. und eingeleitet von Stefan George 
und Karl Wolfskehl. Bd. 1) 



Anmerkungen zu Seite 624—628 1433 

624 i . Karl Kraus 

Eine neue Kraus-Notiz, Gegenstuck turn Kriegerdenkmal [s. Bd. 
4, 121], ein Versucb, seine judiscbe Physiognomie zu zeichnen, be- 
findet sich seit langerer Zeit utter meinen Nachtragen zur »Einbahn- 
strafie* [s. a. a. O., 911 f.; die Nachtragsliste freilich fuhrt die 
Kraus-Notiz nicht auf]; so Benjamin an Scholem am 30. 10. 1928 
(Brief e, 484). W i e lange die Aufzeichnung - ein Manuskript oder 
Typoskript ist nidit (iberliefert - zu diesem Zeitpunkt bereits unter 
den Nachtragen sich befand, liefi sich nicht ermitteln (zur Geschichte 
der Befassung Benjamins mit Kraus s. o., 1078 f.). So gab das Datum 
ihrer Veroffentlichung in der hollandischen internationalen Revue 
»i io« am 20. 12. 1928 den Ausschlag, an dieser Stelle sie einzuord- 
nen. 

UBERUEFERUNG 

J »i io«. Internationale Revue (Amsterdam), 20. 12. 1928 (Jg. 2, 

Nr. 17/18), 113. 
lesarten 625,7 Wiener] konjiziert fur wiener - 625,18 ersinnen] 
konj. fur ersinnen t — 6z$,zy das, eben] konj. fur das eben 
nachveise 624,28-31 Man bis abspielt.] der Satz ist, geringfugig 
modifiziert, in den Essay, 349,8-10, ubernommen - 624,35-625,6 
Seine bis Termin.] s. den abgewandelten Passus im Essay, 349,10- 
16 



625-628 Neoklassizismus in Frankreich 

Jean Cocteaus Trage'die en un acte et un intervalle »Orph£e« 
wurde am 17.6. 1926 von der Compagnie Pitoeff im Pariser Thea- 
tre des Arts uraufgefiihrt; den Orph^e spielte Georges Pitoeff, 
Heurtebise Marcel Herrand, Eurydice Ludmilla Pitoeff und La Mort 
Mireille Havet. Benjamin, der das 1927 zuerst gedruckte Stuck nach 
einer Angabe in seiner Lektiireliste (s. Bd. 6) schon 1926 im Manu- 
skript gelesen hat, sah auch die Pariser Auffuhrung, in der zeitweilig 
Cocteau selber als Heurtebise, spater auch als Orph£e mitwirkte. In 
einem Brief vom 15. 7. 1926 schrieb Benjamin an Siegfried Kracauer: 
Es kommt heutzutage einem nichts so scbnelt auf den Schreibtisch ge- 
flogen, als Konventikel-Literatur. So liegt hier der Briefwechsel 
Cocteau-Maritain: Dokument von Cocteaus Konversion. Ebenfalls 
nock nicht gelesen. Wahrscheinlich degoutant. Und dock sieht Coc- 
teau, den id? vor einer Woche bei der Auffuhrung seines aufierordent- 



1434 Anmerkungen zu Seite 625—628 

lich interessanten Orphee kennen lernte, nicht schlecht aus. Jetzt ist 
Cloture annuelle. Sollte aber das Stuck, wenn Sie bier sind, wieder 
auf dem Theatre des Arts gegeben werden, so diirfen Sie es nicht 
versdumen - und das harm man von keiner sonstigen szenischen 
Angelegenbeit bier sagen. (15. 7. 1926, an S. Kracauer) Die Schat- 
zung von Cocteaus Tragodie teilte Benjamin mit Rilke, der bis kurz 
vor seinem Tod an einer Obersetzung arbeitete, die indessen unab- 
geschlossen geblieben ist. Bei der von Benjamin Berliner Urauf- 
fuhrung genannten deutsdien Erstauffiihrung in Berlin im Winter 
1928/29 diirfte bereits die erst viel spater gedruckte Obersetzung 
von Ferdinand Hardekopf gespielt worden sein (s. Jean Cocteau, 
Dramen, Munchen o. J. [1959], 251-303; a. a. O., 4, wird der 
Name des Ubersetzers wohl irrtumlich mit »Friedrich Hardekopf« 
angegeben). Es scheint sich dabei urn eine Studioauffuhrung am Sonn- 
tagvormittag im Theater am SchifFbauerdamm gehandelt zu haben, in 
der Lothar Muthel und Roma Bahn unter der Regie von Gustav 
Griindgens spielten (s. Curt Riess, Gustaf Grundgens, Eine Biogra- 
phie, Hamburg 1965, 82). 

Erhalten sind Notizen zu dem Text, die wohl unmittelbar vor dessen 
Niederschrift entstanden. Sie werden im folgenden als ungewohn- 
lich diarakteristisch fiir einen bestimmten Typus Benjaminschen Ar- 
beitens abgedruckt: fiir den Weg, der vom Festhalten der Beobadi- 
tungen und Einfalle - weitgehend noch in Gestalt blofier Stichworte 
- zur verbindlich durchformulierten, auch sprachlich anspruchsvollen 
Druckfassung f iihrt. 

Zu Orphee 
Griechenseligkeit 

Die Dichtung hat hier mit den griechischen Stoffen etwas vorgenom- 
men was die Modemitdt [mit] den griechischen Kostilmen jederzeit 
vornimmt. Wie wir uns heute des Modischen starker bewufit werden. 
let meme les automobile ont Vair anciennes [Apollinaire] 
Orpheusy Eurydike, Hermes [gemeint wobl der Titel des Gedichts 
von RilkeJ 

Raum ist ein Laboratorium: fiir Sterben, Aufersteben, Liebe, Dich- 
tung 

Das Griechentum unter Sckeinwerfern. Vergleich mit der Haltung 
der Kirchenvater, die auch weniger das Griechentum fur das Neue in 
Anspruch nehmen als es durch Christus beleuchten wollten. Damit 
gehi zusammen die Abstraktion von alien klassischen »Formen« und 
die Akzentuierung des Rationalismus. Sokrates Vorlaufer Christi 
aus der Ratio. So Orphee Vorlaufer Cocteaus aus der Ratio. 



Anmerkungen zu Seite 625—628 1435 

Spiegel und Schatten: Senta Bare[f] 

Mifibrauch mit dem Spiegel. Die beiden Brief e 

Das Pferdf Die Inspiration? 

Sdoluflkompromift 

Sie speisen nicht von den Apfeln der Hesperiden sondern von denen 

Cezannes. 

Wie Mme La Mort sich anstrengen mufl. Das ist ein typiscbes Exem- 

pel da fur, wie bier die Dinge auf gate Art von der andern Seite ge- 

sehen sind. 

Extrait [?]: das Dramatiscbe nur [aus ?] der grofiten Liebesgescbichte 

der Welt. Vergleich mit Hal[l]man[n] [f] 

Die KUnstler als Verstecker: Feuer, Wasser, Koble. So verstecken 

manche KUnstler dem Heutigen etwas: Klee, Cocteau, Warum 

versteckt man Kindernf Verschiedne Grunde. Blocb uber Stra- 

winski 

Wie die europaischen Menschen Griechentum in ibr Werk verspon- 

nen 

seit den Humanisten: die Jugend (Scbulpforta), der englische Privat- 

mann (Pater), der deutscbe Pastor (Morike) 

So leicht wie auf dem neapolitanisdoen Relief Hermes die Eurydike 

an der Scbulter berUbrt, berUbren sicb in diesem Mytbos Antike und 

Priestertum in der »Seligkeit« 

Und nun ist das Geheimnisvolle und Bemerkenswerte an Cocteaus 

Drama, dafi das Syntbetiscbe in der Antithesis Griecbentum-Cbri- 

stentum gerade im modernsten, modiscbsten zum Vorscbein kommt. 

Unsere gegenwdrtige Welt bekommt eine eminente T ie f e . 

Die Apfel, die am Schlufs' zum Mahle aufgetiscbt sind, sind weder die 

vom Baum der Erkenntnis nodo die der Hesperiden. Es sind die 

Apfel Cezannes, die nach beiden schmecken. 

Mit den Kircbenvatern zu beginnen. 

Druckvorlage : Sammlung Scholem, Pergamentheft, 29 f. 



UBERLIEFERUNG 

jba Di e literarische Welt, 18. 1. 1929 (Jg. 5, Nr. 3), 7; Benjamin- 

Ardiiv, Dr 184. 
lesarten 627,7 fast] konjiziert fur fast, - 627,38 von] Konjek- 
tur der Hg. 

nachweise 625,35 »Orphee*\ s. jetzt Jean Cocteau, CEuvres com- 
pletes, Bd. 5, o.O. [Lausanne] 1948, ^~^j - 626,8 Grofie*] s. 
Johann Joachim Winckelmann, Gedancken iiber die Nachahmung der 
griechischen Wercke in der Mahlerei und Bildhauer-Kunst, Friedrich- 
stadt 1755, 24: »Das allgemeine vorziigliche Kennzeichen der Grie- 
chischen Meisterstucke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille 



1436 Anmerkungen zu Seite 625—629 

Grofle, sowohl in der Stellung als im Ausdruck.« - 626,8 f. »Gra- 
bersymbolik der Alien*] s. Johann Jakob Bachofen, Versuch uber 
die Grabersymbolik der Alten, Basel 1859 - 626,21 Brie fen] s. jetzt 
Jean Cocteau, Lettre a Jacques Maritain [et] Jacques Maritain, Re- 
ponse a Jean Cocteau, Paris 1964 - 627,19 haben.«] nicht ermit- 
telt; s. jedoch Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Zurich 1935, 181: 
»Stravinskij zeigt, was Volkslied, Marche royale, archaische Schicksale 
im Maschinenzeitalter geschlagen haben, was sie diesem zu sagen 
haben.« - 627,23 anciennes*] Guillaume Apollinaire, QEuvres po£- 
tiques. Texte etabli et annot^ par Marcel Adema et Michel Decaudin, 
preface d'Andre* Billy, Paris 1956 (Bibliotheque de la Pleiade, vol. 
121), 39 (»Alcools«, »Zone«) 



628 J. P. Hebels Schatzkastlein des rheinischen Hausfreundes 

Die Aufzeichnung ist Benjamins Antwort auf eine von der Prager 
»Welt im Wort« 1933 veranstaltete Rundfrage und der letzte von 
ihm verorTentlichte Text iiber Hebel (s. o., 1002 f.). 

UBERL1EFERUNG 

J /. P. Hebels Schatzkastlein des rheinlandiscben [statt rheinischen] 
Hausfreundes. - Die Welt im Wort (Prag), 14. 12. 1933 (Jg. i, 
Nr. 11), 4. 

lesart 628,19 sein -,] konjiziert fur sein — 

nachweise 628,7 Hausfreundes] s. Nachweise zu 277,9 un d 282,13 ~ 

628,21 f. Seine bis Mitteln] s. den Passus in Johann Peter Hebel. 3, 

640,13-15 



628 f. Die Zeitung 

Die Ende Marz 1934 in der schweizerischen Zeitschrift »Der offent- 
liche Dienst« publizierte Aufzeichnung figuriert in Benjamins Nach- 
tragsliste zur Einbahnstrafle als sechzehntes von insgesamt 43 ver- 
zeichneten Stiicken (s. Bd. 4, 912) und konnte demnach Iangere Zeit 
vor dem Erscheinen entstanden sein, vielleicht in - eher nach - der 
Zeit der Arbeit am Kraus-Essay. Sie wird von Benjamin in dem Vor- 
trag Der Autor als Produzent (s. 683-701) von 1934 zitiert - unter 
der Apostrophe ein linksstehender Autor [schreibtj (687) und mit (poli- 
tisch spezifizierender) Modifikation des Textes (s. 687,39-688,38). 



Anmerkungen zu Seite 628—630 1437 

Nodi einmal modifiziert - und verkiirzt - erscheint der Text in der 
ersten und zweiten Fassung des Kunstwerkaufsatzes von 1935 bzw. 
1936/37 (s. Bd. 1, 455,18-456,6 und 493*9-33). In einem Brief vom 
21.4. 1934 schrieb Adorno Benjamin, wie »ausnehmend« ihm dessen 
»Kleine Stiicke [. . .] gefielen. Zum groften Teil kannte ich sie ubri- 
gens als Parerga zur Einbahnstrafte [. . .] Weitaus den grdfken Ein- 
druck hat mir das Stuck iiber die Zeitung gemacht, das ich wie eine 
Vollmacht unterschreiben kann. Es deckt sich - dies nur zur Klarung 
der Ubereinstimmung und nicht als Oberheblichkeit zu verstehen - 
ganzlich mit meinen Intentionen; habe ich doch schon vor Jahren den 
Versuch unternommen, das Sprachchaos der Zeitungen gegen Kraus 
zu verteidigen. Ich hofle, als kleine Gegengabe Ihnen recht bald mein 
Snick uber Fremdworter [s. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schrif- 
ten, Bd. n: Noten zur Literatur, hg. von R. Tiedemann, Frankfurt 
a. M. 1974, 640-646 (»Ober den Gebrauch von Fremdwortern«)], 
etwas grofieren Umfanges, geben zu konnen« (21.4. 1934, Theodor 
W. Adorno an Benjamin). 

UBERLIEFERUNG 

J Der offentliche Dienst (Zurich), 30. 3. 1934 (Jg. zj y Nr. 13). - 

Initialen W. B. am Schlufi des Artikels. 
T 1 Typoskript mit Korrekturen von Benjamins Hand; Benjamin- 

Archiv, Ts 1775 f. 
T 2 Typoskript; Durchschrift von T 1 , unkorrigiert; Benjamin-Ar- 

chiv, Ts 1777 f. 
Druckvorlage: J 

lesarten 629,6 scbwelt] T 1 , T 2 ; schwelgt J - 629,7 selbst] selber 
T 1 , T 2 - 629,18 gewinnt,] gewinnt T 1 , T 2 - 629,20 aufrechterhdlt] 
aufrecht erh'dlt, T 1 , T 2 - 629,21 routinierte] T 1 , T 2 ; routinierte, J - 
629,21 lockert),] lockert) T 1 , T 2 - 629,29 spezialisierten,] speziall- 
sierten T 1 , T 2 - 629,31 Es ist,] Sie ist T 1 , T 2 - 629,32 unloslicben] 
unldsbaren T 1 , T 2 - 629,34 Wortes] Worts T 1 , T 2 - 629,34 also -,] 
also -T*,T 2 



630 Kauflich doch unverwertbar 

Das Stiick erschien eine Woche spater als Die Zeitung in der gleichen 
Zeitschrift und findet sich in der Nachtragsliste zur Einbahnstrafie 
an siebzehnter Stelle verzeichnet (s. Bd. 4, 912). 



1438 Anmerkungen zu Seite 630—632 

UBERLIEFERUNG 

J Der offentliche Dienst (Ziiridi), 6. 4. 1934 (Jg. 27, Nr. 14). - Ini- 

tialen W. B. am Schlufi des Artikels. 
T 1 Typoskript mit Korrekturen von Benjamins Hand; Benjamin- 

Archiv, Ts 1779. 
T 2 Typoskript ; Durdischrift von T 1 , unkorrigiert ; Benjamin- Ar- 

chiv, Ts 1780. 
Druckvorlage: J 

lesarten 630,2 vor] und vor T 1 , T 2 - 630,4 Unzuganglicbkeit] 
T l , T 2 ; Unzulanglichkett J - 630,5 meistens] meist T 1 , T 2 - 630,6 
nicbt,] nicht T 1 , T 2 - 630,9 Verhaltungsweisen] Verhaltungsweisen, 
T 1 , T 2 - 630,14 ganzen] Ganzen T 1 , T 2 - 630,14 wiirde Uberlassen 
wollen.] J, T 1 ; Uberlassen will. T 2 



630-632 SUR SCHEERBART 

Die mutmafilich in den spateren dreifiiger Jahren entstandene - bei 
Benjamin titellose - Aufzeidinung (s. 1424 f.), von der ein maschinen- 
schriftliches Handexemplar sowie das Adrienne Monnier 1940 von 
Benjamin iiberlassene Druckexemplar (s. a. a. O.; es wurde dem Ben- 
jamin-Archiv von Maurice Saillet Ende 1976 geschenkt) iiberliefert ist, 
wurde von Pierre Missac vorsichtig, unter Schonung der Art, wie Ben- 
jamin auf franzosisch schrieb, revidiert. Seine Konjekturen, die zusam- 
men mit den en der Herausgeber als Lesarten verzeichnet werden, ha- 
ben sie dankbar iibernommen. 

UBERLIEFERUNG 

T 1 Typoskript; Durdischrift eines unbekannten Originals; Korrektu- 
ren und Vermerk Handexemplar (Tinte) von Benjamins Hand; 
Benjamin-Archiv, Ts 199-201. 

T 2 Typoskript ; Durdischrift des gleichen unbekannten Originals ; 
Korrekturen (Tinte) von Benjamins Hand; Benjamin-Archiv, Ts 

2753-2755. 
Druckvorlage: T 1 

lesarten 630,17 put] konjiziert fiir pouvait T 1 , T 2 - 630,23 void] 
konj. fiir voild T 1 , T 2 - 630,23 tel qu 3 ] konj. fiir comme T 1 , T 2 - 
630,25 n'ira] konj. fiir ira T 1 , T 2 - 631,2 quHls sont] konj. fiir 
d'etre T 1 , T 2 - 631,3 demeurent] konj. fiir tiennent T 1 , T 2 - 631,11 
I 3 apparition] konj. fiir I 'aspect T 1 , T 2 - 631,19 f. A bis precise.] 
konj. fiir // n 3 y a pas, a Vorigine, de destination precise a cette con- 
struction. T 1 , T 2 - 631,27 accepte] konj. fiir assume T 1 , T 2 - 



Anmerkungen zu Seke 630—632 1439 

631,27 Tandis] konj. fur Cependant T 1 , T 2 - 631,31 £.-32 f. augmen- 
tant bis apportera] konj. fiir par le zele des Pallasiens, augmentant 
en hauteur de jour en jour, apportera T 1 , T 2 - 632,1 f. On V avail 
dejd entendu plaider] konj. fiir On avail dejd entendu la plaider 
T 1 , T 2 - 632,3 fasse bis creation,] konj. fiir fasse porte-parole de la 
creation les astres, T 1 , T 2 - 632,14 bumoristes] konj. fiir humou- 
ristes T 1 , T 2 - 632,16 f. En bis parfois] konj. fiir // parait, en rela- 
tant les hauts-faits de la creation, parfois T 1 , T 2 

nachweise 630,27 stellaire.*] Paul Scheerbart, In einem Privat- 
zirkel [...], in: Zeitecho (August 1914), 44 f.; es handelt sich um 
eine sehr freie, wenigstens zwei voneinander abliegende Stellen der 
kleinen Erzahlung (nicht eines article) montierende Obersetzung: 
»>Da mufi ich [scil. Professor Grobleben im - fiktiven - Bericht des 
Erzahler-Ichs] zunachst gegen die Bezeichnung >Wekkrieg< redit 
energisch protestieren. Wenn man sidi als Astronom an kosmische 
Verhaltnisse gewohnt hat, so sind die Dimensionen auf der Erdober- 
fladie ziemlich minimal [. . .] Dafi sich [die] Fleckenperioden auf der 
Erde zumeist in kriegerischen Taten aufiern, zeigt nur, dafi wir auf 
der Erde noch nicht sehr hoch in Kulturangelegenheiten zu bewerten 
sind. [Absatz] Es kann audi in Kiirze anders kommen; es kann sich 
audi *mal eine neue Friedensepodie anmelden.<« - 63 1,6 Les- 
abendio] s. Nadiweis zu 618,1 



633-7 01 Vortrage und Reden 

Benjamins fiir den rmindlichen Vortrag konzipierte Arbeiten sind 
zum iiberwiegenden Teil Rundfunksendungen gewesen. Die Sache ist 
die, daft Ernst Schoen hier seit Monaten eine bedeutende Stelle als 
Manager des Frankfurter »Rundfunk«-Programms hat und sich fur 
mich verwendet (Briefe, 373) - so schrieb er schon im Februar 1925 
an Scholem iiber seinen Schulfreund Ernst Schoen. Zu Benjamins 
erstem Vortrag im Siidwestdeutschen Rundfunk, der aus Frankfurt 
a. M. sendete, scheint es allerdmgs erst im August 1929 gekommen zu 
sein. Im Juni dieses Jahres war Schoen /. . ./ kiinstlerischer Letter 
des frankfurter Rundfunks und ein wichtiger Mann geworden (Briefe, 
494), und im September 1929 schrieb Benjamin an Scholem: In den 
letzten Wochen habe ich dort [sciL in Frankfurt] dreimal oder so- 
gar viermal im Rundfunk gesprochen. Erheblich ist von diesen Vor- 
tragen allenfalls ein ausfuhrlicher uber Julien Green, den Du unter 
meinen mitgebrachten Papieren, falls nicht vorher gedruckt, zu sehen 
bekommen wirst. (Briefe, 501) Der Vortrag Die Romane von Julien 
Green - er diirfte mit dem 1930 in der »Neuen Schweizer Rundsdiau« 
gedruckten Essay (s. 328-334) zumindest teilweise identisch sein - 
wurde am 14. 8. 1929 gesendet. Bei den ubrigen Vortragen scheint es 
sich um Kinderliteratur - am 15* August gesendet - sowie um eine 
Vorlesung aus eigenen Werken am 4. September gehandelt zu haben. 
Seine Erzahlungen »Dem Staub t dem beweglichen y eingezeichneu 
und Myslowitz-Braunsckweig-Marseille (s. Bd. 4, 780-787 und 729 bis 
737) las Benjamin ebenfalls im Frankfurter Sender vor: die erste am 
16. 12. 1929, die zweite am 22. 9. 1930. Audi andere Arbeiten liefi 
Benjamin drucken, nachdem er sie vorher im Rundfunk vorgetra- 
gen hatte: so eine der beiden Besprechungen von Siegfried Kracauers 
Angestellten-Buch (s. Bd. 3, 219-228) - gesendet am 11. 5. 1930 - 
und Ich packe meine Bibliothek aus (s. Bd. 4, 388-396) - gesendet 
am 27.4. 1931. Ein Vortrag Pariser Kopfe vom 23. 1. 1930 konnte 
teilweise mit dem Pariser Tagebuch (s. Bd. 4, 567-587) ubereinge- 
stimmt haben. - Neben solchen meist literarischen Vortragen im 
Siidwestdeutschen Rundfunk sprach Benjamin von 1929 bis 1932 fast 
regelma&g innerhaib der »Jugendstunde« in der Funkstunde AG, 
Berlin, und zwischen 1930 und 1932 in der »Stunde der Jugend« des 
Frankfurter Senders. 193 1 und 1932 kamen schliefilich die Hormo- 
delle und Horspiele hinzu (s. Bd. 4, 629-720), die Benjamin sowohl 
fiir den Frankfurter wie fiir den Berliner Sender verfafke; zumin- 
dest in einem Fall wurde audi vom Westdeutschen Rundfunk in Koln 
ein Horspiel Benjamins gesendet (s. Bd. 4, 1071). 
Benjamin selbst hielt von diesen Arbeiten fiir den Rundfunk nicht 



Anmerkungen zu Seite 633-701 I44 1 

allzuviel, wie aus seinem Brief vom 25. 1. 1930 an Scholem heryor- 
geht: Ich habe in Frankfurt zwei Radiovortr'dge gehalten* und kann 
mid) nun nach meiner RUckkehr mit etwas zweckdienlicheren Dingen 
befassen, [. . ./ Im ubrigen boffe ich, in absehbarer Zeit die Brotar- 
beit, wenigstens journalistische, so sehr wie nur moglich einzuschran- 
ken [. . ./• Ich bin nicht unzufrieden, daft mir im Organisatorischen, 
Technischen schon jetzt erne bestimmte Scbeidung gelungen ist, indem 
ich fast nichts mebr von dem, was ich als Brotarbeit, sei es in Zeit- 
schrifien, sei es im Rundfunk, ansehen mufi, mehr niederschreibe son- 
dern derartige Dinge einfach diktiere. Du begreifst, dafS mir dies Ver- 
fahren sogar eine gewisse moralische Entlastung gibt, indem die Hand 
damit den edleren Korperteilen allm'dhlioh wieder zuruckgewonnen 
wird. (Briefe, 508 f.) Anfang Februar 1931 heifit es: In den n'dch- 
sten 12 Tagen werde ich in Frankfurt sein, um windige Rund- 
funkangelegenheiten durchzufUhren. (Scholem, Walter Benjamin -. 
die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 208**) Schon im Herbst 
1932 sah Benjamin sich, dutch die Vorgange im berliner Rundfunk, 
der Einnahmen auf die ich redmen konnte, ganz beraubt (a. a. O., 
236). Ende Februar 1933, nach Ausbruch des Nationalsozialismus, 
schrieb er Scholem: Die Chancen, die von Zeit zu Zeit duroh den 
Rundfunk geboten wurden und die uberhaupt meine einzig ernsthaf- 
ten war en, durflen so griindlich fort fallen, da$ selbst dem »Lichten- 
berg* [s. Bd. 4, 696-720}, wiewohl er in Auftrag gegeben war, 
eine Auffuhrung nicht mehr sicher ist, [. . ./ Was die weiteren Deside- 
rata Deines Archivs betrifft, namlich meine Rundfunkarbeiten, so ist 
es nicht eintnal mir selbst gelungen, diese vollst'dndig zu versammeln. 
(Briefe, 562 f., 565) - Eine umfangreiche Sammlung seiner Rund- 
funkarbeiten, die Benjamin gletchwohl angelegt hatte, blieb erhalten 
und befindet sich heute im Besitz der Akademie der Kiinste der Deut- 
schen Demokratischen Republik in Berlin; ihre Benutzung war den 
Herausgebern verwehrt. Insbesondere Benjamins Manuskripte zu 
Sendungen fiir Kinder und Jugendliche miissen so in der vorliegenden 
Ausgabe vollig fehlen (s. Bd. 1, 764 f.).< Aber audi von seinen Vor- 
tragen iiber literarische und gesellschaftliche Gegenstande kann nur 
eine Auswahl abgedruckt werden. Auf jeden Fall hatten in die Gruppe 
der Vprtrage und Reden audi Arbeiten iiber K inder liter atur, Thorn- 
ton Wilders »Cabala«*** und »Gott in Frankreich*. Ein Versuch von 

* Es handelte si A um Pariser Kopfe t s. o.» sowie um die Buchbesprechung *Gott in 
Frankreich*. Ein Vcrsttch von Friedrich Siebt*rg t die am 24. 1. 1930 gesendet wurdc. 
** Benjamin hielt am 11. 2. 193 1 einen Vortrag Theodor Neubof, der Konig von 
Korsika und am 14, 2. einen weiteren mit dem Titel Der Erzzauberer Cagliostro, 
beide im Rahmen einer Sendereihe »Stunde der Jugend«. 

*** So der Titel des Typoskripts im Ost-Berliner TeilnachlaG Benjamins; jedenfalls 
wird er in einer auszugsweisen Abschrift von dritter Hand, die den Herausgebern 



144* Anmerkungen zu Seite 633-701 

Friedricb Sieburg gehort, die in Berlin vorhanden zu sein scheinen, 
sowie schliefilich die Texte Neues um Stefan George - gesendet am 
23.6. 1930 - und Das offentliche Lokal, ein unerforschtes Milieu - 
gesendet am 28. 3. 193 1 -, deren Manuskripte verschollen sind. Von 
Benjamins Hormodellen und -spielen diirften mindestens drei in den 
»GesammeIten Schriften« fehlen; Wie nehme ich meinen Cheft - 
anscheinend am 8. 2. 1931 in Berlin gesendet -, Freeh wird der Junge 
and) noch! - gemeinsam mit Wolf Zucker verfafk und am 1. 7. 1931 
sowohl in Frankfurt wie anscheinend audi in Berlin gesendet - und 
Das kalte Herz. Ein Horspiel fur Kinder nach dem Mdrchen von 
Hauff, das Benjamin zusammen mit Ernst Schoen schrieb und das am 
16. 5. 1932 in Frankfurt gesendet wurde*. 

Neben die Rundfunkvortrage wurde die Rede Der Autor als Produ- 
zent gestellt, welche Benjamin 1934 im Pariser Exil schrieb. Reden 
aus der Jugend des Autors finden sich in der ersten Gruppe des vor- 
liegenden Bandes abgedruckt (s. 42-47, 60-66, 68-71 und 75-87). 
Einige weitere Reden, die Benjamin hielt, sind verloren, so ein Vor- 
trag iiber Baudelaire, der am 15. 3. 1922 in Berlin stattfand (s. Bd. 4, 
891 f.), und ein Vortrag iiber Lyrik, der im Dezember 1922 in Hei- 
delberg gehalten wurde (s. Briefe, 295). Eine funfteilige Vortrags- 
folge Uavantgarde allemande, die Benjamin 1934 in Paris plante 

vorliegt, so angeftihrt. Die »Siidwestdeutsche Rundfunk-Zeitung« verzeichnet dagegen 
untcr dem ij. 12. 1929 einen Vortrag mit dem Titel Bticher von Thornton Wilder. 
Nach den erwahnten Ausziigen scheint Benjamin in seiner Besprechung neben »The 
Cabala* audi »The Bridge of San Luis Rey« behandelt zu haben. 
* Die Bd. 4, 884, geaufierte Vermutung, dafi in dem Teilnachlafi Benjamins in 
der DDR zahlreiche Hormodelle vorhanden seien, hat sich nicht bestatigt (s. iiber 
diesen Nadilafitei] Bd. 1, 761 f. und 764 f.). - Die im vorstehenden gemachten An- 
gaben stiitzen sich auf Sabine Schiller, Zu Walter Benjamin* Rundfunkarbeiten, in: 
Literatur und Rundfunk 1923-1933. Hg. von Gerhard Hay, Hildesheim 197?, 
309-317. Die Autorin - der der Benjaminsche Teilnachlafl in der DDR zuganglich 
war - hat »die Rundfunkzeitschriften >Funkstunde< der Berliner Sendegesellschaft 
und die >SUdwestdeutsche Rundfunkzeitung< des Sudwestdeutschen Rundfunks, 
Frankfurt, herangezogen und die Jahrgange 1924-1933 [. . .] durchgesehen* (a.a.O., 
311); sie gibt eine Aufstellung aller Sendungen Benjamins im Frankfurter und 
Berliner Rundfunk sowie ein Verzeichnis der dariiber hinaus in der Akademie der 
Kiinste der Deutschen Dem ok rati sch en Repubiik vorhandenen Rundfunkmanuskripte 
Benjamins. Soweit Schillers Angaben auf die »Sudwestdeutsche Rundfunk-Zeitung« 
zunickgehen, haben die Herausgeber sie iiberpriift: da werden Vortrage iiber Hebel 
und Gide angefuhrt, die im September 1929 in Frankfurt gesendet sein sollen, unter 
den angegebenen Daten aber jedenfalls nicht nachweisbar sind; da wird der Vortrag 
£. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza um ein Jahr zu friih datiert; ein Vortrag 
Neues um Stefan George erhalt den Titel »Neues von Stefan George« und eine 
Vorlesung aus eigenen Werken wird zu einer »No vellen-Vorlesung aus eigenen 
Werken«; ganz zu schweigen von Kleinigkeiten wie etwa der, dafi ein Jugend- 
funk vortrag Das Leben des Antos als »Leben der Autos* sich verzeichnet findet.Es 
wird nichts ubrigbleiben, als dafi die Durchsicht der Rundfunkzeitschriften gelegent- 
licb wiederholt wird - von jemand, der Daten und Titel abzuschreiben fahig ist. 



Anmerkungen zu Seite 633-701 1443 

(s. Brief e, 600, 602 f), kam nicht zustande. Seinen wahrscheinlich 
letzten Vortrag - Notes sur les Tableaux parisiens de Baudelaire - 
hielt Benjamin im Mai 1939 in Pontigny, auf Veranlassung von Paul 
Desjardins (s. Bd. i, 740-748). 



635-640 Johann Peter Hebel. 3 

Aus der Zeit seiner zweiten Bescbaftigung mit [Hebel J (s. 1002 f.), dem 
Jahr 1929, sind zwei Arbeiten Benjamins uberliefert: ein »Aufsatz«, 
den »er im September oder Oktober in Berlin als Vortrag gehalten 
[hatte]« (Scholem, Walter Benjamin - die Geschichte einer Freund- 
schaft, a. a. O., 200), und ein neue[r] y mei[n] dritte[r] »HebeU - 
die Rezension Hebel gegen einen neuen Bewunderer verteidigt [s. Bd. 
3, 203-206] -, den ich kurzlich fur die Frankfurter Zeitung gescbrie- 
ben [babe] (Briefe, J02). Dies teilte er Sdiolem am 18.9. 1929 mit; 
knapp drei Wochen spater wurde die Rezension verofTentlicht (s. Bd. 
3, 637). Aufsatz und Rezension durften also ungefahr gleichzeitig 
- diese jedoch friiher als jener - entstanden sein. Der Aufsatz, den 
Benjamin »als Vortrag« hielt, war den Herausgebern Iediglich in Ge- 
stalt eines Manuskripts zuganglich, das sich unter den Aufzeichnungen 
fand, welche Benjamin aufbewahrt hatte - vor allem wohl mit der 
Absicht, irgendwann noch em Buch uber [Hebel zu] schreiben (s. u., 
Ms 842, 1445). Die Niederschrift, in die Benjamin ganze Passagen aus 
den beiden Hebel-Arbeiten von 1926 (s. 277-280 und 280-283) iiber- 
nahm - und modifizierte -, wurde mit Tinte begonnen und, etwa ab 
dem letzten Drittel, mit Blei beendet; ein Korrekturdurchgang er- 
folgte mit Blei. Die EntzifFerung ergab, dafi Grad der Formulierung 
und der gedanklichen Durdiarbeitung eine Einrichtung des Textes 
ohne gravierende Eingriffe zulassen. Die Niederschrift ist titellos, die 
Vortragskonzeption des ganzen zumindest aus der Anrede eines Publi- 
kums (s. 636,2) ablesbar. Die Herausgeber haben ihr den Titel Jo- 
hann Peter Hebel gegeben und sie [3] zubenannt. Wenn Benjamin 
selber die Biirgisser-Rezension seinen dritten * Hebel* nannte, wird es 
chronologisch gemeint gewesen sein; danach ware der Vortrag in der 
Entstehungsfolge sein >vierter<. Dafi er im essentiellen Sinn ein >drit- 
ter< genannt werden kann, erlaubt der Tenor genereller Charakte- 
ristik, wie ihn die Arbeiten von 1926 haben, im Unterschied zu 
der von 1929, die nicht sowohl Hebel selbst als einem Buch uber ihn 
gewidmet war. 

Das Aufzeichnungsmaterial zu Hebel bezieht sich iiberwiegend, wenn 



1444 Anmerkungen zu Seite 635—640 

nicht ausschlieftHch, auf Benjamins Arbeiten von 1929 und auf solche, 
die er von da an nodi plante. Es wird im folgenden so reproduziert, 
wie es im Nachlafi beisammenlag. 

»Das Wohhhun, in der umfassendsten Bedeutung des Wortes, mufi 
zur Religion werden.* Berthold Auerbach: Schrift undVolk [Grund- 
ziige dervolksthumlichen Literatur, angescblossen an eine Charak- 
teristik J. P. HebeVs] Lpz 1846 p 302 Caritas bei Hebel. 

Bruchstucke der Antrittspredigt, die Hebel seinen Pfarrkindern hal- 
ten wollte, wenn er wieder aufs Dorf zuruckversetzt wiirde. 

1814 »Der fromme Wunsch [Rath]* geschrieben. Einspruch der katho- 
lischen Geistlichkeit. Darauf gibt er den Kalender auf. [p 317] 

»Hebel ging von dem gewifl unbestreitbaren Grundgedanken aus, dafi 
auch die nachbiblische Volkergeschichte und die daraus erwachsene 
Volksanschauung gleicherweise als heilig betracbtet werden konne 
und solle.* p 321 

Sehr schone Bemerkung von Auerbach: »Wie wird* denn »in den 
Volkskreisen eine Schrift meist gelesenf Die Familie sitzt nach voll- 
brachtem Tagewerke Abends bei einander t der Gesprachsstoff ist 
erschopft; nun holt der Vater ein Buch oder den Kalender* reicht*s 
etwa einem seiner Kinder, das noch die Schule oder die Christen- 
lehre besucht und sagt: >Lies vor, meine Augen sind nicht mehr 
an das Lesen gewbhnt etc.< Durch den Mund des Kindes, in Ge- 
meinschaft mit alien Hausgenossen, wird nun laut, was der Schrift- 
steller bietet; es ist nicht nothig, daft dem Kinde Alles verstandlich 
set (und sogar die Kinder lesen gern solche Schriften, die Vieles 
enthalten, was ihnen nicht alsbald offenbar ist) aber jedes Ungeho- 
rige in Stoff und Form tritt durch den Kindesmund um so auf- 
falliger her aus.* p 342/43 

Geschichte der Alemannen. 

Auerbach vergleicht Hebels Gaunertypus dem Kasperle. Fraglich mit 
welchem Recht. p 28<)[f.] 

Gibt es nicht bei Hebel einen Hang zu Zitat und Kommentar? 

Auch Auerbach hat p 293 die Beobachtung, dafi die moralische Wen- 
dung bei Hebel »meist pa fit wie eine Faust aufs Aug.* 

Hebelbiographie von dem Adjunkten: Kolle 

»Sein *Guter Rath<, der Manchem >gcringfugig und vielleicht lacher- 
Uch scheinen< wird, erstreckt sich mit eindringlichen Worten selbst 
darauf , wie man die Strumpfbander kniipfen soll[.]* p 352 

>Hebel* - in diesem Vergleiche liegt etwas Richtiges — »hat sich auf 
einen ahnlichen Standpunkt gestellt oder sich auf demselben er- 
halten, wie sein grofiter Zeitgenosse: Got he, er hatte das gleiche 
Bestreben, nut dem ewig Menschlichen in sich und anderen zu 



Anmerkungen zu Seke 635—640 1445 

lauschen.* [p 367] Hebel stand restaurativ als Vertreter des 
Kleinburger turns, in seinen vorgeschrittenen Teilen wie Goethe, 
restaurativ, als Vertreter (Gesandter) des Grofibiirgertums. 

Man kann gewifi, unbeschadet der aufkldrerisch-humanitaren Zuge 
von Hebel von seinem patriarchalischen Wesen sprechen wie es 
Auerbach tut. »Dazu kommt in Betracht, dafi Hebel hauptsachlich 
lebte und schrieb unter der Regierung Karl Friedrich's, den man 
als den letzten Patriarchen bezeichnen kann. Die Nothwendigkeit, 
dafi die Burger selber durch Theilnabme am Staate fur ihr Wohl 
sorgen, trat unter der Regierung jenes menschenfreundlichen Fur- 
sten fiir Hebel nicht so scbarf und bestimmt her aus. « p 36 j Dazu 
wird an der gleichen Stelle darauf verwiesen, dafi Hebel immer 
auf die dorf lichen Verhaltnisse unter denen er seine Kindheit (und 
Jugend?) verlebte, zuruckgreifl. 

Bei Auerbach p 370/371 [Fufinote] grofies und sehr wichtiges Zitat 
aus der Biographic, in dem sich zeigt, welche Hemmungen Hebel 
spater nod) in den hbchsten Stellungen fesselten, we'd er die Demii- 
tigungen nicht verwunden hatte, die er in dem Proletarierleben 
erfahren hatte, das in der Kindheit sein Los gewesen war. 

Als Mensch ist Hebel [bei Auerbach: Jung-Stilling] »etwas Unent- 
schiedenes, Riicksicbtsvolles* eigen gewesen, »das den Moment nicht 
keck und zuversichtlich erfassen la fit*, p 373 Da fiir hat dann der 
Schriftsteller die Geistesgegenwart wie kaum ein anderer verkldrt. 

»Hebel wollte in seinem letzten Willen die Bestimmung festsetzen, 
dafi aus einer Stiftung von seiner H inter lassenscka ft: den Greisen zu 
Hausen (seinem Geburtsorte) jeden Sonntag ein Schoppen Wein 
verabreicht, den armen Schulkindern aber die nothigen Biicher an- 
geschafft werden sollten.* 

Druckvorlage : Benjamin-Archiv, Ms 841* 

Hebel und Mark Twain (vgl. [Upton] Sinclair: Goldene Kette [Ber- 
lin 1927]) 

Aktualisierung Hebels im Vormarz, ein Beweis fiir seine politische 
Bedeutung. 

Schuchternheit und Gesundheit bei Hebel. Seine Geistesgegenwart 
lebte sich ganz und gar in seinen Schriflen aus. 

Dies darf ich ohne Koketterie sagen: Hebel hat mich gerufen. Ich 
habe ihn nicht gesucht. Niemals habe ich mir trdumen lassen (und 
am wenigsten wenn ich ihn las) dafi ich uber ihn »arbeiten* wiirde. 
Noch jetzt kommt mir die Beschafiigung mit ihm immer von Fall 
zu Fall, stiickweis und provoziert und ich werde diesem possier li- 
chen Dienst- und Bereitschaftsverhdltnis treu bleiben, indem ich ein 
Buch uber ihn schreiben werde. 



1446 Anmerkungen zu Seite 635—640 

»etwas Unentschiedenes, Riicksichtsvolles, das den Moment nicht 
keck und zuversichtlich erfassen I'dfiu sagt Auerbacb (Schrift und 
Volk Lpz 1846) p 373 

Die Geschichte von Hebel und seinem Schtiler (p 374137s). Es steckt 
da ein item drin, irgend etwas iiber die Dankbarkeit, das vielleicht 
nut Hebel imstande gewesen ware herauszuholen. 

In den Rbeinlanden war zu Rebels Zeit das Gerichtsverfahren - im 
Gegensatz zu andern deutschen Ldndern - offentlich. Immerhin 
bleibt dennoch in gewissen Grenzen zurecht bestehen, was Auer- 
bacb p 297I98 schreibt: »Die Interessen, die iiber das Familienleben 
hinausragen, uberspringen in der Regel die Mittelstufen des Ge- 
meinde- und Staatslebens und drangen sich alsbald an den End- 
punkt menschlicher Entwickelung, an das religiose Leben.« Die 
Gericbtsyerhandlungen haben bei Hebel mehr einen anekdotischen 
Fundus. 

Dru&vorlage : Benjamin-Archiv, Ms 842 

Zu einem dritten Hebel-Aufsatz [Hebel gegen einen neuen Be- 
wunderer verteidigt; s. Bd. 3, 203-206] 

Man kbnnte wiobtige Aufschlusse iiber Hebel bekommen, wenn man 
beim Lesen die Frage im Auge behdlt, an welohen Stellen ein auf- 
merksamer Illustrator anzusetzen hdtte, wenn er Bilder zu Hebel 
entwerfen wollte. Denn in der ganzen deutschen Prosa gibt es wohl 
keine Episoden, Parenthesen usw, die so illustrativ sind wie die von 
Hebel. Man denke nur an den Scblufi der » Probe* oder an die 
»Franziska«. Da mU$te man so Ulustneren, dafi dargestellt ware, 
wie Franziska bei der Tante t ihrer Gebietenn, ist und oben, an der 
Decke des Gemaches, in etwas [?] Gewolk, wie ihr Bruder, dem sie 
die Geschichte erzahlt, sie umarmt. 

Denn Hebels Erzahlungen sind Votivbilder in dem Tempel der Got- 
tin der Vernunfl. [s. 640,34 f.J 

{Man wird kaum das Gebeimnis erschopfen, das um die »MoraU in 
den Geschicbten von Hebel waltet. Soofl man versucht, es in Gleich- 
nissen zu erfassen, wird man auf neue Bilder stolen. So gibt es Ge- 
schicbten, die erzahlt er, als ob der Uhrmacher uns ein Uhrwerk weist 
und uns die Federn und die Rddchen einzeln erkldrt und erldutert. 
Plotzlich dreht er sie um, und wir sehen, wie spat es ist. Oder man 
denke an die Geschichte: die »Probe« - wie ganzlich windschief steht 
da die »MoraU zu allem, was der Leser erwarten kann. Es scheint 
garnicht mehr das wichtige, daft man sich unbestechlich erweisen solle, 
denn man wisse nie, mit wem mans zu tun hat. Nein es sieht gerade- 
zu aus, als wolle Hebel mit der Sphdre der honorigen Biirgersleute 
(unter denen es doch also auch etwas von Spitzel geben mufi) gar- 



Anmerkungen zu Seite 635—640 1447 

nicht liinger mehr [sichj einlassen und schluge [sich] im Augenblick, 
wo es sich um das »Merke« dreht und drauf ankommt, daft man Far- 
be bekenne, auf die Seite der Spitzbuben: » I tern, an einem solchen 
Orte mag es nicht gut sein, ein Spitzbube zu sein, wo ein Hatschier 
selber dem andern nicht trauen darf.« Es ist als wolle der Dichter eben 
die honette Moral vom Riegel nehmen, die da bereithdngt wie eine 
solide schwarze Melone und nun setzt er sie mit einer unglaublich un- 
verschdmten Geste schief auf den Kopf und verldfit das Lokal mit der 
Tur knallend.} [s. Bd. 3, 20 s,*9~33 ] 

Ein anderes Bild fur Rebel. Wenn es ein Heer gdbe, in dem die Ge- 
fechtsordnung vorschriebe, im Augenblick, da die Truppen geschlagen 
seien und den Ruckzug antreten, batten andere Feldherren als die bis- 
herigen die Fuhrung zu ubernehmen, Ruckzugsspezialisten gewisserma- 
fien, die fur solche Zwecke in der Reserve liegen - dann ware Hebel ein 
solcher Ruckzugs general. Denn er lenkt immer ein, lafit immer der 
Wirklichkeit das letzte Wort und gibt nur immer der Wirklichkeit die 
Ehre und trotzdem kann man das nicht martialischer tun als er. 
{Ganz besonders hdtte man auf das Verhaltnis von Hebel zur jtidi- 
schen Welt zu achten. Es la fit sich nur noch mit dem von Lichtenberg 
vergleichen und wahrscheinlich ist es sogar noch defer und lebens- 
naher. Es geht von der ndchsten wdrmsten Beziehung zum judischen 
Proletariat bis zu so schrecklichen Beschwbrungen einer Pogromstim- 
mung wie [in] den »zwei Postillionen* . Das Hag[gjadische. ist wohl 
bei keinem aufierjudiscben Autor so stark wie bei Hebel.) [s. Bd. 3, 
205,36-206,3] 

Zu Hebel: Wenn die Geschichte das Uhrwerk ist, so ist das »Merke« 
der Zeiger. [s. Bd. 3, 206 f.] 

Nirgends ist die betrachtende Unterbrechung so exzentrisch und sou- 
veran wie bei Hebel. Der Verstand tritt gewissermaflen als Storen- 
fried in die mit mythischen Spannungen geladene epische Welt. 
Ein Knigge fur Heilige. Alles Ethos in Fragen des Taktes aufgelost 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 843 

Von Auerbach: Schrtft und Volk gelesen: S 31-41 [,] S 285 - Schlufi 

Drudtvorlage : Benjamin-Archiv, Ms 844 

Die Sdtze Hebels, die Ernst Bloch so schon mit dem naben Getreide- 

felde verglich durch welches ein ferner Wind streicht. 

»Er kennt sie, der rheinische Hausfreund fast alle, die am Rhein auf 

und ab in den Strafien sind und zieht vor jedem den Hut ab.« 

»Das kleine sefihafle Wesen« mit seinem »Eindorfen der Welt*. 

Der neue Sinn in dem Rechten und W'dgen, das unter dem Bauern- 

volke heimisch ist. 



1448 Anmerkungen zu Seite 635—640 

»Kannitverstan* lesen und hier itonisd) auf die moderne Theorie des 
»Verstehens« eingehen. Verstehen, Beschreiben, Erkldren. Dilthey. 
>Schnell wie der Blitz kommt und vergeht, kam es wieder wie Mor- 
genrot und Rosendufl untereinander durch den Kamin herab, und auf 
den Kartoffeln lag die schonste BravwursU [Hebel, Drei Wunsche; 
zit. Ernst Block, Hebel, Gotthelf und bdurisches Tao (1926), in: Ge- 
samtausgabe, Bd. 9; Literarische Aufsdtze, Frankfurt a, M. 196$, 
376 f.J - zur Fortsetzung der Stelle von den V otivbildern. 
»Dajl die Juden seit der Zerstorung Jerusalems, das heifit seit mehr 
als 1700 Jahren obne Vaterland und ohne BUrgerrecbt auf der ganzen 
Erde in Zerstreuung leben; daji die meisten von ihnen, ohne selber 
etwas Niitzliches zu leisten, sicb von den arbeitenden Einwohnern 
eines Landes ndhren; daft sie daber auch an vielen Orten als Fremd- 
linge verachtet, mifihandelt und verfolgt werden, ist Gott bekannt 
und leid* - zum Beleg der chronikhaften Weltauffassung. Denn das 
ist das Wesentliche der Chronik, daft fiir sie auch das kleinste Dasein, 
set es eines Lebendigen, eines Ones oder einer Saohe geschichtlicbe 
Einheit ist, eine Geschichte fiir sich hat. [dazu $. ]. P. Hebels sdmmt- 
liche Werke, Bd. 8: Vermischte Aufsdtze, Karlsruhe 1834, 12 $-140 
(IX. Die Juden)] 

*Wie in einer camera obscura mufi hier alle Welt auf dem Grund 
des Dorflebens wieder erscheinen.* 

1st es vielleicht so mit dem »Merke*, dafi es eine hochste Erscheinung 
der Geistesgegenwart ware, garnicht die beschauliche Paraphe am 
Schlufi der Geschichte sondern ihr Funke, der irgendwo in der Mitte, 
wo die Erfahrung Hebels gerade anschldgt, herausspringt? 
»omnia ubique* 

»So dap es kaum ein Buck noch gibt t bei dem der Leser so froh und 
ruhig, am Ende jedes Stuckes, die Lampe ausdrehen kann, in den 
treuen Schlaf sinkt, mit dem Gefuhl, es sei jetzt alles gut, ja alles 
werde schlielilich gut.* [s. Block, a. a. O,, 378] 

[Ruckseite:] Kleine Fehler im Menschen, grofie im Schriftsteller, aber 
vor allem: kleine im Schriftsteller [,] grofle im Menschen 

Druckvorlage: Benjamin- Archiv, Ms 846 

Zum Hebelaufsatz 

Man kann an eine Jouhandeau-Stelle anschlieflen: Fraulein Zeline, 
wie sie in der Verkldrung die Welt sieht. Zuerst ist da die route 
de Limoges. Und an sie schliejlt sich alles ubrige so, daft am Ende 
die ganze Welt da ist. Das erinnert sehr an Hebels Verfahren. Es 
ist nicht einfacb, daft er das Fernste Konstantinopel, Petersburg 
oder Amsterdam zum Ndchsten macht, nein. Das ware noch zu 
undurchschaubar, nicht kontr oilier bar genug. Er bleibt im Grunde, 



Anmerkungen zu Seite 63 5—640 1449 

durcb Dialekt, Diktion, argumentatio ad hominem und was fur 
Mittel noch sonst, immer beim Ndchsten, gebt jedenfalls immer 
und buchstablicb von ihm aus und nun schliefit sicb, gewifi in unge- 
beurer, mantegnesker VerkUrzung aber kontinuierlicb, ohne die 
kleinste Lucke auf dem Erdball zu lassen alles bis zu dem fernsten 
Ort an, auf den er es absah. Diese Kontinuitdt in ihrer Durcbdrin- 
gung von nuchterner Pedanterie und atemraubender Abbreviatur 
ist wie nichts anderes der Anschauungsweise des Volkes gemafi und 
gibt seinen Geschichten, die ich nicht umsonst mil Votivbildern 
verglichen babe [s. 640,34 f. und o., Ms 843, 2. Stuck] , die ge- 
sattigte Evidenz. 

Dru<kvorlage: Benjamin-Archiv, Ms 847 

UBERLIEFERUNG 

M Wenn Sie, meine Verebrtesten, [. . ./. - Niederschrift; drei Blat- 
ter, beidseitig beschrieben (ca. 2 /s Tinte, Vs Blei); zahlreiche 
Korrekturen, iiberwiegend in Blei; Benjamin-Archiv, Ms 840 f. 
(s. audi oben, 1444 f., Ms 841) 
lesarten 635,1 1 Goldap] konjiziert fiir Golda - 635,13 bestimm- 
ten,] konj. fiir bestimmten — 635,14 Frankfurt -] konj. fiir Frank- 
furt — 635,14 f. einfliefien liefien] urspriingliche Version (Tinte); 
dariiber geschriebene Korrekturversion (Blei) nicht entzifTerbar - 
635,16 und 17 Goldap] konj. fiir Golda - 635,20 »]etzt«] konj. 
fiir Jetzt - 635,21 //. und 1$.] konj. fiir 11 und filnfzebnten - 
635,24 Augenblick,] konj. fiir Augenblick - 635,34 ware!] konj. 
fiir ware, - 636,2 f. Familiendramen bis Wildwestsacken] dariiber 
moglicherweise Umstellzeichen (Blei); eventuelle Lesart: Wildwest- 
sachen, Scbiffbruchen oder Familiendramen - 636,7 versteben),] konj. 
fiir versteben) - 637,1 1760] konj. fiir 77^0 - 637,2 leben,] konj. 
fiir leben - 637,11-27 »Unterdessen bis 1809 . . .* -] konj. fiir 
»Unterdessen . . . Als aber die Bergleute in Falun im Jabr 1809 -« 
- 637,28 darstellt,] konj. fiir darstellt - - 637,35 erfuhr,] konj. 
fiir erfubr - 657,56 Knotenpunkt;] konj. fiir Knotenpunkt, - 
637*37 £ Landscbafl -] konj. fiir Landschaft, - 638,2 Mikro-] 
konj. fiir Mikro - 638,22 Mond (der] konj. fiir Mond, der - 638,37 
»Levana*] fiir Levana - 639,15 »Das Diebsorgan?«] fiir Das Diebs- 
organ*? - 639,22 f. »Wozzeck«] konj. fiir »Wozzek«; dazu s. 
Lesart zu 279,1 - 639,34 Soil: die] Soil: {der Gericbtstag, der 
eine, der nicht nach Minuten gezdhlt wird, auch keine Glorie zu 
vergeben bat und keine Verdammnis sondern die beimlicbe, innige 
Rube, die wie im Raume den Herd so im Zeitverlaufe den Ort in der 
Generation, die recbte, die gescbichtliche Geborgenheit den Privatesten 
zumiflt. Die gescbafi} die; der gestrichene Passus war, leicht modi- 



1450 Anmerkungen zu Seite 635—648 

fiziert, ubernommen aus /. P. Hebel. 2, 281,20-25 - 639,37 sich's] 
konj. fiir sidis - 640,12 Klugheit bis unten.] der Passus lautet in M: 
{Klugheit} [darunter zwei Punkte, die wohl die Streichung auf- 
heben sollen; danach unentzifferbar gestri<henes Wort; danach] und 
Menscblichkeit 2. B. p 42 - 640,26 suditalienischer] konj. fiir stid- 
italischer 

nachweise 636,16-28 Dafi bis wurde.] s. Nachweis zu 282,9-20 f. 
(die Nachweise der weiteren fiinf aus den beiden Hebelarbeiten von 
1926 in den Vortrag ubernommenen und modifizierten Passagen 
werden nachfolgend im einzelnen nicht mehr verzeichnet; sie finden 
sich in den Nachweisapparaten zu diesen Arbeiten; s. 1006 f., 1008 f.)- 
636,31-33 es bis Mittelalters.] s. den Passus Bd. 3, 204,37-39 - 
637,27 z#09 . . .*] s. den Nachweis zu 279,35 und die Interpreta- 
tionsvarianten 279,35-37, 283,5-7 un< ^ 45 1 >6-n im Vergleich mit 
637,27-638,4 - 638,7 bringe*] s. Nachweis zu 283,1 - 638,28 
309**] s. Nachweis zu 277,38 - 638,31 Wort] s. Nachweis zu 278,3 

- 638,32 Theorie] s. Nachweis zu 278,4 - 638,37 kriegen] s. Nach- 
weis zu 278,9 - 639,18 Hausfreundes*] s. Nachweis zu 278,36 f. 

- 640,9 gesprungen.*] s. Nachweis zu 278,21 - 640,14 f. Fortsetzung 
bis Mitteln] s. Bd. 3, 205,35 f« UXi & diesen Band, 628,21 f. - 640,15 f. 
indent bis auflost] s. Ms 843, Ietztes Stuck, 1447 - 640,34 f. Votivge- 
malde bis bat] s. Ms 843, zweites Stuck, 1446 



641-648 E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza 

UBERUEFERUNG 

T Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen und Einfugungen, 

12 Blatter, maschinenschriftlich von [/] bis 12, durch fremde 

Hand von 288 bis 300 - bei Auslassung von 289 - paginiert; 

Besitzer: Akademie der Kunste der Deutschen Demokratischen 

Republik, Berlin. 

Die Herausgeber waren bei diesem wie bei dem im folgenden abge- 

druckten Vortrag Reuters »Schelmuffsky* und Kortums *Jobsiade« 

auf technisch unzulangliche Photokopien angewiesen. Handschriflliche 

Einfugungen Benjamins am Rand einzelner Seiten sind unter Text- 

verlust aufgenommen worden, aufierdem erlauben die Photokopien 

bei maschinenschnftlichen Sofortkorrekturen keine sichere Entschei- 

dung uber den letzten Korrekturstand. - Am Kopf der ersten Seite 

findet sich von Benjamins Hand die Eintragung: Frankfurter Rund- 



Anmerkungen zu Seite 641—648 145 1 

funk 26 Marz 1930; das Datum ist, der »Siidwestdeutschen Rund- 
funk-2eitung« zufolge, das der Sendung. 

lesarten 641,2 » Parallelen*,] konjiziert fur »Parallelen« - 641,12 
formalen,] konj. fiir formalen - 641,26-642,13 machen bis durch- 
setzen.] in T findet sich nach machen wahrscheinlidi ein Punkt; das 
folgende - und bis durchsetzen. — wurde handsdiriftlidi in eckige 
Klammern gesetzt: moglicherweise wollte Benjamin so eine Kurzung 
markieren, welche er beim Vortrag im Rundfunk vornehmen mufite. 

- 641,35 nirgends] konj. fiir nirgend - 642,3 genauso] fiir genau 
so - 642,18 enthielten] konj. fiir entbielte - 642,21 wurden;] 
vielleidit audi wurden: zu lesen - 642,21 genauso] fiir genau so - 
642,39 urn so] fiir umso - 643,8 »Kater Murr«] hier wie im 
folgenden wurden die Anfiihrungszeichen bei Titeln von den Hg. hin- 
zugefugt. - 643,29 umgeht.] in T folgen die handsdiriftlidi gestri- 
chenen Satze: Der Teufel hat bekanntlich neben vlelen anderen 
Besonderheiten auch die der Findigkeit und des Wissens. Auf diese 
Findigkeit tat Hoffmann im teuflischen Sinne sich etwas zugute und 
die Leidenschafty die Bosheit unter ihren raffiniertesten Verkleidungen 
aufzuspuren, steht im Zentrum seiner physiognomischen Liebhabe- 
reien. - 644,15 f. haltgemacht] fiir Halt gemacht - 644,35 Schwie- 
rigkeiten,] Interpunktion in T unklar - 645,2 genausogut] fiir ge- 
nau so gut - 645,12 er y ] konj. fiir er - 646,6 sechsundachtzigjahrige] 
fiir 86jahrige - 646,10 verstanden;] vielleidit audi verstanden: zu 
lesen - 646,16 liegt;] vielleidit audi liegt: zu lesen - 646,19 De- 
cadents] fiir Dekadents - 646,21 f. Fundament] unsidiere Lesung 

- 646,24 f. wie bis war] handschriftliche Erganzung, bei der die 
Kommata wohl vergessen wurden. - 646,31 marschiert -] Inter- 
punktion in T unklar - 641,34 Widerspruch:] konj. fiir Wider- 
spruch y - 646,35 auch] Hinzufiigung der Hg. - 646,36 Schreiber] 
so zunachst audi maschinenschriftlich in T, dort aber anscheinend 
handsdiriftlidi in Schreiben korrigiert; die Korrektur ware unsinnig. 

- 646,37 - und bis an -] die Gedankenstriche wurden von den Hg. 
eingesetzt - 647,3 Decadent] fiir Dekadent - 647,5 f* kennen- 
zulernen] fiir kennen zu lernen - 647,9 das,] konj. fiir das - 
647,27 er] konj. fiir es - 647,35 unverkennbar] unsidiere Lesung 

- 648,18 Gewijl,] konj. fiir Gewifl 

nachweise 641,3 Ankiindigung] wahrscheinlidi ist die Programm- 
ankiindigung in der »Siidwestdeutschen Rundfunk-Zeitung« unter 
Mittwodi, dem 26. Marz 1930, gemeint: »i8.oj (6.05) Parallelen I 

- E. Th. Hoffmann und Oscar Panizza - Vortrag von Dr. Walter 
Benjamin« - 643,8 »Kater Murr*] s. Lebens-Ansiditen des Katers 
Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes 
Kreisler in zufalligen Makulaturblattern, herausgegeben von E. T. A. 



145* Anmerkungen zu Seite 641—660 

Hoffmann, Berlin, BcL 1, 1820; Bd. 2, 1822 - 643,8 »GoldnenTop}*] 
s. Der goldne Topf. Ein Marchen aus der neuen Zeit; als Bd. 3 der 
»Fantasiestiicke in Callots Manier«, Bamberg 1814 erschienen. - 
643,10 *Prinzessin Brambilla*] s. Prinzessin Brambilla. Ein Capric- 
cio nach Jakob Callot von E. T. A. Hoffmann, Breslau 1821 - 
643,10 »Meister Floh«] s. Meister Floh. Ein Mahrchen in sieben 
Abentheuern zweier Freunde, Frankfurt a. M. 1822 - 645,8 Panizza*] 
s. Die unbefleckte Empfangnis der Papste. Von Bruder Martin O.S.B. 
Aus dem Spanischen von Oskar Panizza, Zurich 1893 - 645,9 Auf- 
zugen*] erschienen Zurich 1895 - 645,16 Paris*] erschienen Zu- 
rich 1899 ~ 646*7 Lippert] s. In memoriam Oskar Panizza, (hg. von 
Friedrich Lippert,) Miinchen 1926 - 647,1 f. »Kirche von Zinsblech*] 
s. Oskar Panizza, Visionen. Skizzen und Erzahlungen, Leipzig o. J. 
[1893] - 647,2 »Das Wirtshaus zur Dreifaltigkeit*] s. a. a. O. - 
647,33 »Menschen}abrik«] s. Oskar Panizza, Dammrungsstiicke. 
Vier Erzahlungen, Leipzig o. J. [1890] _ 648,17 wird.*] s. Die un- 
befleckte Empfangnis der Papste, a. a. O., 7 f. 



648-660 Reuters »Schelmuffsky« und Kortums »Jobsiade« 

uberlieferung 

T Typoskript mit handschriftlichen Korrekturen und Einfugungen, 

9 Blatter, maschinenschriftlich von [/] bis 9, durch fremde Hand 

von 382 bis 390 paginiert; Besitzer: Akademie der Kunste der 

Deutschen Demokratischen Republik, Berlin. 

Uber die Druckvorlage s. 1450. - Am Kopf der ersten Seite findet sich 

eine handschriftliche Eintragung Benjamins: Sudwestdeutscher Rund- 

funk 28 Marz ipjo; dieses Datum ist das der Sendung. - Die »Sud- 

westdeutsche Rundfunk-Zeitung« enthalt in ihrer Ankundigung fiir 

Freitag, den 28.3.1930, einen abweichenden Titel: »i8.oo (6.00) 

Buch und Film: Bucherstunde: Ingrimmiger Humor: Christ. Reuters 

»Schelmuffsky« und Kortums »]obsiade« - Referent: Dr. Walter 

Benjamin - Filmreferat: Wolfgang Weyrauch«. 

lesarten 648,31 Titel] in T handschriftlich nachgetragen; die An- 
fiihrungszeichen wurden von den Hg. hinzugefugt. - 649,2 Rezen- 
sion als Form] handschriftlich korrigiert aus: Rezension, allenfalls 
noch des Essays, als Formen - 649,5 nur an ] urspriinglich folgte: 
Waltbers »Geschichte der Asthetik im Altertum*, Flogels »Geschichte 
des Groteskkomischen* etc.; die endgultige Version wurde handschrift- 



Anmerkungen zu Seite 648—660 1453 

lidi nachgetragen. - 649,12 sowohl] konjiziert fiir sowohl, - 
649,26 »Schelmuff$ky«] das Typoskript hat durchgangig die falsche 
Form »Schelmuffski« t wahrend Benjamins handschriftliche Ergan- 
zungen und Korrekturen den Namen korrekt wiedergeben. - 650,14 
Christian Weise] in T in Kommata eingeschlossen - 650,26 Freiens] 
unsichere Lesung - 650,27 battel konj. fiir hatte, - 650,29 gar kein] 
fiir garkein - 651,4 einging.] der Satz wurde im Typoskript ur- 
spriinglidi fortgesetzt: einging, wenn wir uns namlich gegenw'drtig 
halten, daft sie vom nachstverwandten Lugenmdrchen, das Sie alle aus 
den letzten Seiten von Grimm kennen, ihr literarischer Charakter, 
von Munchhausen aber ihr Verzicht auf das Geistreiche[J ihre eigen- 
tumlicbe Fadbeit und Schlichtbeit trennt. Nach den wilden exoti- 
schen Gewiirzen, mil denen die groflen Barockdichter ihre Lesespeise 
anzumachen pflegten, kommt bier zum ersten Male das europaische 
Salz des Verstandes zu seinem Rechte. »Schelmuffsky« ist ein Vor- 
laufer der voltairianischen Aufkldrung. Und wie nuchtern schmeckt 
nicht ihr europaisches Salz im Vergleich zum indischen Muskat oder 
Zimmet der dlteren Dichter. [AbsatzJ Um aber anzudeuten, wie wir 
auch mit dieser Betrachtung erst in einem Vorhof des sonderbaren 
Werkes angelangt sind, lese ich nun dessen erstes Kapitel, in dem sich 
zeigt, wie »Schelmuffskys« Unsinn mit tieferer Bedeutung sich zu 
dem merkwurdigsten Gebilde verbindet. Benjamin hat den Nebensatz 
wenn bis trennt, handschriftlidi gestrichen, danach ein Kreuz ein- 
gefiigt, das auf 651,4-13 In bis sehen: y verweist: diese Satze wurden 
handschriftlidi am Rand nachgetragen. Nach bis Dichter im urspriing- 
lichen Typoskript blieb zwar ungestrichen, hat aber durch den Nach- 
trag am Rand jetzt keine Stelle im Textkontinuum mehr. Der im 
Typoskript folgende neue Absatz - Um bis verbindet. - wurde dann 
wieder von Hand gestrichen. - 451,7 so viel] fiir soviel - 651,14- 
652,21 »i. Kapitel bis konnte.*] Benjamin zitiert eine (eigene oder 
fremde) Bearbeitung; s. die kritische Ausgabe Christian Reuter, Schel- 
muffsky. 2., verbesserte AufL, Abdruck der Erstausgaben (1696- 1697) 
im Parallel-Druck, hg. von Wolfgang Hecht, Halle (Saale) 1956 
(Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhun- 
derts, Nr. 57/59), 7 f . - 652,24 Uberlassen] konj. fiir uberlassen, 
- 652,26 meinesteils] fiir meines Teils - 652,32 dergestalt] konj. 
fiir dergestalt, - 653,3 bat.] hier folgt am Rand ein handschrift- 
licher Nachtrag, der dann wieder gestrichen wurde: Hier kommt zum 
parodistischen Motiv der Auf Schneider ei das satirische: die vorneh- 
men Prdtentionen des BUrgertums werden entschieden gegeifielt. - 
653,35 sogut] fiir so gut - 654,16-658,16 »jy. Kapitel bis er.«] das 
Zitat fehlt in T. Es wurde von den Hg. nach der von Otto Julius 
Bierbaum >eingeleiteten< Ausgabe, die Benjamin offensichtlich benutz- 



1454 Anmerkungen zu Seite 648—660 

te (s. 658,28 f.), eingesetzt: Die Jobsiade. Ein komisches Heldenge- 
didit in drei Teilen von Carl Arnold Kortum. [Mit einer Vorrede] 
von Otto Julius Bierbaum. Leipzig 1906, 167-173. Da die Sendung, 
in der Benjamin seinen Vortrag hielt und die daneben noch ein Film- 
referat von Wolfgang Weyraudi umfafite, insgesamt nur 35 Minuten 
dauerte, diirfte sie das Zitat sidier nicht in der vollen Ausdehnung, 
welche wir im Text abdrucken, enthalten haben; da es jedoch keiner- 
lei Anhaltspunkte dafiir gibt, wo Benjamin gekiirzt haben konnte, 
geben die Hg. das Kapitel vom Tode des Hieronymus /0&5 ungekiirzt. 
- 658,23 sowenig] fur so wenig - 658,31-660,14 »Ich bis Fort- 
setzungU] audi das Zitat aus der Vorrede von Bierbaum fehlt in 
T; es wurde von den Hg. nadi der oben angegebenen Ausgabe 
[XII-XIV] eingefiigt. Moglicherweise nahm Benjamin audi bei dem 
Vortrag dieses Zitats Kiirzungen vor. 

nachweise 649,5 Schlegel] s. Charakteristiken und Kritiken. Von 
August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. 2 Bde., Konigsberg 
1801. - 649,6 VolksbUcher] s. Joseph von Gorres, Die teutschen 
Volksbiicher. Nahere Wurdigung der schonen Historien-, Wetter- 
und Arzneybuchlein, Heidelberg 1807 - 649,7 Groteskkomischen*] 
s. Carl Friedrich Flogel, Geschichte des Grotesk-Komischen, Liegnitz 
1788 - 649,7 Dramas*] s. Joseph Freiherr von Eichendorff, Zur 
Geschichte des Dramas, Leipzig 1854; 2. Aufl., - als Bd. 4 von Eichen- 
dorrTs »Vermischten Schriften* - Paderborn 1866. - 650,1 blieb] 
Benjamin denkt an Friedrich Zarncke, Christian Reuter, der Verfas- 
ser des SchelmufFsky. Sein Leben und seine Werke, Leipzig 1884; tat- 
sachlidi findet die »Entdeckung« sich jedoch schon bei Emil Weller, 
Die falsdien und die fingierten Druckorte, Leipzig 1858, 28. - 
650,3 gegeben«] so der vereinfachte Titel der zweiten Auflage. - 
650,9 worden] es gab schon Neuausgaben Frankfurt u. Leipzig 1750 
sowie o. O. 1818. - 650,16 Erznarren*] s. Christian Weise, Die drey 
argsten Ertz-Narren in der gantzen Welt, o. O. 1672 - 650,16 
Leute*] s. Weise, Die drey kliigsten Leute in der ganzen Welt, Leip- 
zig 1675 - 650,17 f. erschienen] s. Eberhard Werner Happel, Der 
Academische Roman, Ulm 1690 - 650,21 ist] s. Anon. [Johann Gott- 
fried Schnabel], Der im Irr-Garten der Liebe herum taumelnde 
Cavalier, Warnungsstadt 1738 - 653,3 ^ at ] s - Anon., Schelmuffskys 
curioser und sehr gefahrlicher Reise-Beschreibung Zu Wasser und 
Lande Anderer Theil, Padua 1697 - 653,6 »Das frohlockende Char- 
lottenburg*] s. Christian Reuter, Das frohlockende Charlottenburg. 
In einer musicalischen Freuden-Bezeigung . . . vorgestellet, Colin an 
der Spree [Berlin] o. J. - 6$$ t 6L»Die frohlockende Spree*] Berlin 
1703 - 653,34 f. Krankheiten] s. Karl Arnold Kortum, Anweisung, 
wie man sich vor alien ansteckenden Krankheiten verwahren konne, 



Anmerkungen zu Seite 648—667 1455 

Wesel, Leipzig 1779 - 653,35 Bienenzucht] s. Kortum, Grundsatze 
der Bienenzucht, besonders fiir die Westphalischen Gegenden, 
Wesel, Leipzig 1776 - 653,37 Mark] s. Kortum, Etwas iiber das alte 
und neue Gesangbuch und die Einfuhrung desselben in die evangeli- 
schen Gemeinen der Grafscbaft Mark, Mark 1785 - 658,16 er.«] 
Nachweis s. die Lesart zu der Stelle - 658,25 veroffentlicht] Die 
erste Ausgabe der »Jobsiade« erschien Hamm 1784 und umfafke den 
1. Teil; die erste vollstandige Ausgabe in 3 Teilen erschien Dortmund 
1799. - 660,14 FortsetzungU] Nachweis s. die Lesart zu der Stelle 



66o-66j Bert Brecht 

Gerhard Seidel, der den Vortrag Bert Brecht herausgab, druckte 
gleichzeitig ein Blatt mit »handschriftlichen Notizen Benjamins « ab, 
»die zweifellos im Zusammenhang mit diesem Rundfunkvortrag 
stehen« (Gerhard Seidel, Quellennachweise und Erlauterungen zu: 
Walter Benjamin, Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Lite- 
ratur, hg. von G. Seidel, Leipzig 1970, 450). Diese Notizen werden im 
folgenden wiedergegeben; Hinzufugungen Seidels stehen in eckigen 
Klammern, mit [xxj sind von ihm nicht entzifTerte Stellen, mit [?] 
unsichere Lesungen gekennzeichnet worden. Eine von Benjamin ge- 
tilgte Stelle wurde in geschweifte Klammern gesetzt. 

Zur Brechtrezension 

Gotisches Wiedertaufergesicht 

Augsburg, [xxx] Fugger 

Gnostisches Element 

Anstofi von ihm erhalten ohne ihn zu kennen [?) 

Sein Material das Theater 

Laboratorium Vielseitigkeit 
Ich stelle vor: 

Herrn Keuner - den Fuhrer ( 

Baal - Fatzer - der [xxxxxxxxx xxxxxj I [xx xxxxx XXXX J 

[xxxxxxxxxxx - xxx xxxxxj I l, xx xxxxxxxxx] 

Brecht l/x*x/haltung 

[In eckige Klammern gesetzt und schliefilich gestrichen:] 
Theaterthesen [?]: 

{der Einzelne} soil arm sein, der Staat soil reido sein, Wert der 

Armut 

die Literatur ist eine Staatseinrichtung 
Motive zur Brechtdarstellung: 

mimetisches Denken (Brecht als [xxxx]) 



i4$6 Anmerkungen zu Seite 660—667 

Sabotage 
Interessenkreis 
Mitarbeiterkreis 

der Mensch im Zeitalter der Mascbine 
das Physiognomisdoe 
Tbeorie der Armut 
Bindeglied zwischen Literatur- und Staatslehre 
Herr Keuner und die Armut 
der Staat soil reich sein, der einzelne soil arm sein 

Druckvorlage : Walter Benjamin, Lesezeicfeen, a. a. O., 450 f. 

UBERLIEFERUNG 

a Walter Benjamin: Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachigen Lite- 
ratur. Hg. von Gerhard Seidel. Leipzig 1970, 261-269. 
Ober die Vorlage seines Abdrucks gibt der Herausgeber an: »Zwei 
Typoskripte (Original und Durchschlag) [. . .]. Aufbewahrt im Ben- 
jamin-Nachlafi des Deutschen Zentralarchives in Potsdam [jetzt: 
Akademie der Kiinste der Deutschen Demokratischen Republik, Ber- 
lin]. Mit handschriftlichen Korrekturen Benjamins in beiden Exem- 
plaren. Die mit Schreibmaschine ausgefiihrten Sofortkorrekturen so- 
wie die handschriftlichen Spatkorrekturen sind nicht betrachtlich.« 
(a. a. O., 449) Das Original hat eine handschriftliche Paginierung von 
406 bis 41J, der Durchschlag eine solchevon 492 bis 502. »B1.492 tragt 
links oben eine handschriftliche Bemerkung Benjamins: Frankfurter 
Rundfunk zj. Juni 1930. Auf den Bl. 413 bzw. 500 befindet sich je- 
weils ein grofieres Spatium fur das Brecht-Zitat (>Zwischenspruch< aus 
>Mann ist Mann<: >Herr Bertolt Brecht behauptet [. . .] gefahrlich 
sei.<). Das Zitat liegt in zwei Abschriften vor: eine auf Bl. 499, 
die andere auf einem weiteren, mit 403 handschriftlich paginierten 
Blatt.« (a. a. O., 450) - Nach einer Angabe in der »Sudwestdeutschen 
Rundfunk-Zeitung« wurde der Vortrag bereits am 24. 6. 1930 gesen- 
det. 

Der vorliegende Abdruck folgt dem Text von a. Ober diesen berichtet 
sein Herausgeber: »Wiedergegeben wurde der letzte Korrekturstand. 
Orthographie und Interpunktion wurden durch geringfiigige Veran- 
derungen den giiltigen Regeln angeglichen. Offensichtliche Versehen 
wurden bereinigt, kleinere, in den Erlauterungen belegte Korrekturen 
vorgenommen.« (a. a. O., 451) Aus diesen >Erlauterungen< ergeben 
sich die folgenden 

lesarten 663,14 das] konjiziert fiir den - 664,4. Voraussetzungen] 
konj. fiir Voraussetzung - 665,14 er] Konjektur von G. Seidel - 
665,32 den] konj. fiir dem - 666,9 f. Sir El Dchowr] korrigiert 
fiir So al Dohowr 



Anmerkungen zu Seite 660—676 1457 

Neben diesen Konjekturen, welche der vorliegende Abdruck von a 
ubernimmt, nahmen die Hg. folgende Emendationen gegenuber a 
vor: 

660,30 einlafit] konj. fur einsetzt - 660,32 Pldgiatsaffaren] konj. 
fur Plagiataffdren - 662,5 zur] konj. fur zu - 662,19 dann und] 
konj. fvir und dann — 662,31 xotvdg] wohl irrtiimlich fiir tb xoivdv 
oder xa ttotvd; xotvdg ist Adjektiv, wahrend die folgende Oberset- 
zung die eines Substantivs ist. - 663,3 Denn\ konj. fiir Denn, - 
665,27 dbnlichem] konj. fiir dhnlichen - 665,39 Soldaten] konj. 
fiir einen Soldaten; sowohl Benjamins Satz wie die Handlung von 
Brechts Stuck verlangen den Plural. - 666,35 ^] konj. fiir haben 
nachweise 661,10 erschienen] s. Brecht, Versuche 1-3 [Heft 1], Ber- 
lin 1930 - 661,38 sind.*] a. a. O., 1 - 663,35 tut.] s - Bertolt 
Brechts Hauspostille mit Anleitungen, Gesangsnoten und einem An- 
hange, Berlin 1927, 117: »Alle Laster sind zu etwas gut / Und 
der Mann audi, sagt Baal, der sie tut.« (»Choral vom Manne Baal«); 
so audi im Abdruck des »Baal« in den Gesammelten Werken, Frank- 
furt a. M. 1967, Bd. 1, 4. (Der Erstdruck des »Baai« war den Hg. 
allerdings mcht zuganghch.) - 665,13 vorliegen] s. den vorigen 
Nachweis - 665,37 »Mann ist Mann*] s. Bertolt Brecht, Mann ist 
Mann. Die Verwandlung des Packers Galy Gay in den Militarbarak- 
ken von Kilkoa im Jahre neunzehnhundertfiinfundzwanzig. Lustspiel, 
Berlin 1926 - 666,2$ sei.] a. a. O., 62 - 667,^ reichen*] Brecht, 
Versuche 1-3 [Heft 1], a. a. O., 6 - 667,15 innen*] s. Rainer Maria 
Rilke, Samtliche Werke, hg. vom Rilke-Archiv in Verb, mit Ruth 
Sieber-Rilke, besorgt durch Ernst Zinn, Bd. 1, Wiesbaden 1955, 356: 
»Denn Armut ist ein grofier Glanz aus Innen . . .« (»Das Stunden- 
Buch«, 3. Buch) - 667,21 konrien*] Brecht, Versuche 1-3 [Heft 1], 
a. a. O., 20 



667^76 Karussell der Berufe 

uberlieferung 

t Original - anscheinend ein Typoskript - im Besitz der Akade- 

mie der Kiinste der Deutsdien Demokratischen Republik, Berlin; 

Absdirift von dritter Hand. 
Die den Herausgebern zugangliche Absdirift ist unzuverlassig und 
muflte an zahlreichen Stellen korrigiert werden. Auf die Verzeidi- 
nung dieser Eingriffe wird verzichtet, da es sidi bei ihnen zum iiber- 
wiegenden Teil um Verbesserungen einer verderbten Absdirift von 
dritter Hand handelt. Solange die Einsicht in das Original unmoglich 



1458 Anmerkungen zu Seite 667—683 

ist, lafit sidi ein kritischer Text nicht erstellen. - Der Vortrag wurde 
am 29. 12. 1930 vom Siidwestdeutschen Rundfunk, Frankfurt a. M., 
gesendet. 

lesarten 671,10-673,2 »Die bis entstand.*] Das Zitat wurde von 
den Hg. nadi dem Original (s. Nadiweis) eingefiigt; t weist eine An- 
zahl von Kurzungen auf, die kaum von Benjamin herriihren. Ob 
Benjamins Vortrag das Zitat ungekurzt oder gekiirzt enthalt, ist fur 
die Hg. nicht entscheidbar. - 675,13 Qualitat , . .] Wahrscheinlich 
umfafit der Vortrag weitere Satze des Zitats. t hat an dieser Stelle: 
Qualitat. Es ist wirklich nicht nut, danach bricht das Zitat im Satz ab. 
- 675,22 bringen.*] in t ist das Zitatende nicht kenntlich. 
nachweis 673,2 entstand.*] Peter Suhrkamp, Der Journalist, in: 
Deutsche Berufskunde. Ein Querschnitt durch die Berufe und Arbeits- 
kreise der Gegenwart, hg. von O. v. d. Gablentz und C. Mennicke, 
Leipzig 1930, 382 f. 



676-683 Franz Kafka: Beim Bauder Chinesischen Mauer 

Ober Daten und Umstande der Entstehung des Vortrags, den Benja- 
min am 3. 7. 193 1 im Frankfurter Rundfunk hielt, ist in den Anmer- 
kungen zum Kafka-Essay berichtet (s. »Erste Beschaftigung mit Kafka; 
Plane und erste Arbeiten«, 1155-1157). Unter der Fulle der hinterlas- 
senen Materialien zu Kafka fand sich audi eine Anzahl von Aufzeich- 
nungen zur Vorarbeit an dem Vortrag; sie wurden von den Heraus- 
gebern in die Paralipomena zu Kafka eingeordnet (s, die Abschnitte 
2.a. undb., 1 192-1205). 

UBERLIEFERUNG 

T Typoskript mit Korrekturen, Marginalien und (auf der Ruck- 
seite des letzten Blatts) Aufzeichnungen von Benjamins Hand 
(Tinte), sowie Streichungen und Unterstreichungen (Blei, Farb- 
stift) von unbekannter - vermutlich gleichfalls von Benjamins - 
Hand; Benjamin-Archiv, Ts 421-429. 
lesarten 676^ von] gestrichen? - 676,33 f. gewonnen; die Treppen 
bis gewonnen; die Hofe] konjiziert fiir gewonnen; die Hofe; der 
Passus wurde erganzt, da zu vermuten ist, daft Benjamin beim Diktie- 
ren irrtumlich hinter dem zweiten » gewonnen « fortfuhr. Andernfalls 
hatte er Auslassungspunkte hinter dem ersten »gewonnen« eingesetzt. 
- 677,17 Chiffre] konj. fiir Chiffer - 677,18 so viel] konj. fiir so- 
viet - 677,21-23 Allenfalls bis gibt.] gestrichen - 677,31 Schrifien,] 
konj. fiir Schriften - 677,55 f. icb bis Kafka] blau unterstrichen - 



Anmerkungen zu Seite 676—683 1459 

^77»37 Gerichty] konj. fiir Gericht - 678,19 erscheinen,] konj. fiir 
erscheinen - 678,20 genauso weit] konj. fiir genau soweit - 678,20 f. 
abgeruckt bis Modell] lies abgeruckt, wie das gespiegelte Modell ist, 

- 678,27 fuhlt,] konj. fiir fiihlt - 678,35 Worten, und beschreibt,] 
konj. fiir Worten und beschreibt - 679,7 Schrifttums,] konj. fiir 
Schrifttums - 679,10 Erzdhlungen bis innehdlt] auf dem Rand: Vg/. 
*Aw Stadtwappen« - 679,18 ge/te,] konj. fiir ge/te - 679,25 f. 
d/e bis bringen.] gestridien; Komma vor Jie durch Punkt ersetzt - 
679,27 gelernt — ] konj. fiir gelernt, — 679,28 will -] konj. fiir w>z'//, 

- 680,7 Rechtsanspruch,] konj. fiir Rechtsansprticb - 680,24 Kor- 
per,] konj. fiir Kbrper - 680,28 Talmudgeschichte,] konj. fiir Tal- 
mud gescbichte - 680,29 S° wie] konj. fiir Sowie - 680,29-35 der 
K. bis stellt,] auf dem Rand: Ihm ist das Dorf nicht mebr bot- 
mdjlig; es entgeht seiner Herrschaft; eines Morgens kann er erwachen 
und zu einem Kdfer geworden sein. Die Fremde - seine Fremde - ist 
seiner Herr geworden. - 681,3 Erdinnern,] konj. fiir Erdinnern - 
681,8-14 Umwelt bis stehen.] auf dem Rand »Les scenes qu'il evo- 
que se jouent dans le decor le plus use«[,J sagt Felix Bertaux. Use 

- vielleicbt will Bertaux sagen »use par la litterature«, vielleicht 
aber ist bier in erster Linie ans Elementar-Stofflicbe gedacht; dann 
hiefie es, das Milieu, in dem seine Erzdhlungen spielen[,] ist scbdbig, 
abgenutzt, verwohnt: und das ist das bei weitem Wesentlichere. - 
681,11 abspielt,] konj. fiir abspielt - 681,13 wird,] konj. fiir wird - 

682.7 t> at Willy Haas] {bat man} dariiber Willy Haas - 682,8 
Schuld,] konj. fiir Schuld - 682,12 Hausvaters*,] konj. fiir Hausva- 
tersic - 682,12 f. die »$orge bis ist,] auf dem Rand: Odradek ist die 
Form, die die Dinge in der Vergessenheit annebmen. Vielleicbt ist Kaf- 
kas Werk uberhaupt die Antwort auf die Frage: wie sieht die Welt im 
Stande des Vergessenseins ausf Und haben die Oberen, Herrschen- 
den sie nicht vergessenf - 682,13 ist t ] konj. fiir ist - 682,15 Mensch,] 
konj. fiir Mensch - 682,24 haben,] konj. fiir haben - 682,27 f- bat - 
und in wemf] konj. fiir hat [Spatium] und in wem. - 682,33 
»Sancho Pansa*, lautet] konj. fiir »Sancho Panza {schreibt Kafka in 
dieser ebenso kurzen wie grofien} [BleiJ lautet - 683,12 treiben,] auf 
der Riickseite von Ts 429 folgen diverse Aufzeichnungen (s. o., 1205). 
nachweise 676,5 Mauer] s. Franz Kafka, Beim Bau der Chinesi- 
sdien Mauer. Ungedruckte Erzahlungen und Prosa aus dem Nach- 
lafi, hg. von Max Brod und Hans Joachim Schoeps, Berlin 193 1 - 

677.8 kommt.*] a. a. O., 22 f. (»Beim Bau der Chinesischen Mauer«); 
s. audi Eine kaiserliche Botschaft, in: Kafka, Ein Landarzt. Kleine 
Erzahlungen, Munchen, Leipzig 1919, 90-94 - 677,21-23 Allenfalls 
bis gibt.] s. das Paralipomenon Ms 213, 5. Stiick, 1196 - 677,27-678,2 
Ein bis Bildwelt.] s. den Passus 432,14-35 - 6yy,^ wollen] s. Nach- 



1460 Anmerkungen zu Seite 676—701 

weis zu 426,4 - 678,12 stemmen] s. Kafka, Der Prozefi. Roman, 
Berlin 1925, 6j (II) und das Paralipomenon Ms 213, vorletztes Snick, 
1 197 - 678,23 prophetisches] s. das Paralipomenon »Tagebucheintra- 
gung«, 1203; im folgenden wird auf die daraus in den Vortrag iiber- 
nommenen Passagen nicht mehr im einzelnen verwiesen. Sie finden 
sich dort verzeichnet; s. Paralipomena zu Kafka (2. b.), 1203-1205 - 

679.10 Erzahlungen bis innehalt] s. o. Lesart; Nachweis zu Stadt- 
wappen«: s. Kafka, Beim Bau der Chinesischen Mauer, a. a. O., 33-35 
(»Das Stadtwappen«) - 679,21 endlos.<«] Max Brod, Nachwort, in: 
Kafka, Das Schlofi. Roman, Munchen 1926, 503 - 679,25 Erzahlun- 
gen] s. das Paralipomenon Ms 213, 6. Snick, 1196 - 679,30 f. und bis 
gewesen] s. den Passus 414,28-31 - 679,36 Buchern] s. das Para- 
lipomenon Ms 213, 13. Snick, nyj ~ 680,9 arbeiten] s. Brod, Nachwort 
a. a. O., 493 - 680,14 babe] s. Nachweis zu 424,13 - 680,14-32 Id) 
bis verbinden.] s. den Passus 424,13-30 - 680,27 Korper] s. Nach- 
weis zu 424,25 - 680,35-681,1 Solcben bis ist.] s. den Passus 419,35- 
420,1 - 681,4 »Verwandlung«] s. Nachweis zu 414,18 - 681,8-14 
Umwelt bis steben.] s. o. Lesart; Nachweis zu Bertaux: s. Felix 
Bertaux, Panorama de la literature allemande contemporaine, Pa- 
ris 1928 - 681,27 wirken.«] Willy Haas, Gestalten der Zeit, Berlin 
1930, 176 - 681,31-35 Eine bis denken.] s. das Paralipomenon Ms 
213, 1. Snick, 1 196 - 682,9 entratselt] s. Nachweis zu 429,31 - 682,12 
Hausvaters*] s. Nachweis zu 414,20 - 682,12 f. »Sorge bis ist.] 
s. o. Lesart; dazu s. das Paralipomenon Ms 288, 1239 f. und 43 1,29-3 5 
- 682,17 Erlosung] s. Nachweis zu 431,34 - 682,18-27 Will ^Is bat -] 
s. den Passus 432,14-35 - 682,21 niesen] Des Knaben Wunderhorn, 
s. Nachweis zu 432,22 (v. 1-4); »Zwiebeln« und »niefien« statt Blum- 
lein und niesen - 682,25-683,6 Es bis Ende.*] s. den Passus 437,29- 

438.11 - 683,6 Ende.«] s. Nachweis zu 438,11 



683-701 Der Autor als Produzent 

Das im Untertitel der Ansprache genannte Datum - der zy. April 
J 934 - beruht fraglos auf einem Irrtum, da sich aus einem am fol- 
genden Tag an Adorno gerichteten Brief ergibt, daft jene noch nicht 
gehalten war: Id) benutze den Elan, den mir das eben abgeschlossene 
Diktat eines langen Vortrags gegeben bat, um die Masdoine einmal 
fur Sie in Bewegung zu setzen, [. . .] Wdren Sie jetzt bier, so wtirde 
uns, glaube id), der Vortrag, von dem id) eingangs sprach, viel Stoff 
zur Debatte geben. Er heijit »Der Autor als Produzent*, wird hier im 
»Institut zur Erforschung des Fascismus* vor einem ganz kleinen aber 



Anmerkungen zu Seite 683—701 1461 

kaum ebenso qualifizierten Auditorium gebalten werden und stellt 
einen Versuch dar, fiir das Scbrifttum ein Gegenstuck zu der Analyse 
zu lief em, welcbe icb fiir die Bubne in der Arbeit iiber »Das episcbe 
T heater « unternommen babe. (28. 4. 1934, an Th. W. Adorno) Die 
Nahe der Rede Der Autor als Produzent zu dem Aufsatz Was ist das 
episcbe Theaterf - gedacht ist selbstverstandlich an dessen erste Fas- 
sung (s. 519-531) - war Benjamin wichtig; so schrieb er audi an 
Brecht: Unter dem Titel »Der Autor als Produzent* babe icb ver- 
sucht, nacb Gegenstand und Umfang ein Pendant zu meiner alten Ar- 
beit uber das episcbe Theater zu macben. Icb bringe es Ibnen mit. 
(Brief e, 609) Am 6. 5. 1934 heifit es in einem Brief an Scholem: Auf 
der anderen Seite er spare icb es uns 3 Dir eine Aufz'dblung der vielen 
- zum Teil gewifl geringwertigen - Versucbe zu geben, mir bier eine 
Existenzgrundlage zu schaffen. Sie baben micb nicbt gehindert, einen 
Vdngern Essay - der Autor als Produzent - zu schreiben, der zu ak- 
tuellen Fragen der Liter aturpolitik Stellung nimmt. Ob er gedruckt 
erscbeinen wird, weifi icb nocb nicbt. (Brief e, 606) Benjamin hat ver- 
sucht, den Text in der von Klaus Mann herausgegebenen Zeitsdirift 
»Die Sammlung« unterzubringen : Ob icb Ibnen bereits Uber meine 
letzte Arbeit schrieb, weijl icb nicbt mehr, Sie beifit »Der Autor als 
Produzent* und ist eine Art von Gegenstiick zu jener fruberen iiber 
das episcbe Theater. Zur Zeit ver handle icb uber ihre Publikation mit 
der »Sammlung«, von der da freilicb einige Entschlufikraft verlangt 
wird. (24. 5. 1934, an Th. W. Adorno) Die Veroffentlichung kam 
nicht zustande, weder in der »Sammlung« (iiber Benjamins Erfahrun- 
gen mit dieser Zeitsdirift s. Bd. 3, 671) noch anderswo; erst sechsund- 
zwanzig Jahre nach Benjamins Tod wurde der wichtige Text durch 
Rolf Tiedemann zum erstenmal publiziert. 

Sdiolem charakterisiert in seinen Erinnerungen an Benjamin die Rede 
als Teil des >Janusgesidits< seines Freundes: »Wahrend er an dem 
grofien Kafka-Essay safi [. . .] und wir lebhafte brief liche Zwie- 
sprache dariiber hielten, schrieb er jenen Vortrag Der Autor als Pro- 
duzent, den er [.-.] im >Institut pour Ntude du fascisme<, einer 
kommunistischen Frontorganisation, hielt. Dieser Vortrag stellte in der 
Tat in einer sichtbaren tour de force einen Gipfelpunkt seiner materia- 
listischen Anstrengungen dar. Ich habe den Text, der in seinen Brief en 
und Erzahlungen vorkam, nie zu lesen bekommen. Als ich 1938 in 
Paris in ihn drang, sagte er: Icb glaube, icb gebe es Dir lieber nicbt 
zu lesen. Seitdem ich den Aufsatz kenne, kann ich das verstehen. 
Aus dieser Zeit stammt im ubrigen seine Bekanntschaft mit Arthur 
Koestler, der damals ehrenamtlicher Schatzmeister der INFA war und 
spater, 1938, im selben, fast ausschliefilich von Emigranten bewohn- 
ten Haus [10, rue Dombasle] lebte.« (Scholem, Walter Benjamin 



1462 Anmerkungen zu Seite 683—701 

- die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 250) Koestler hat iiber 
das » Internationale Institut zum Studium des Faschismus« (INFA) 
berichtet: »[Ich] fungierte ein [. . .] Jahr Tiindurch als unbezahlter 
Gesdiaftsfvihrer des Pariser >Instituts zum Studium des Fasdrismus<. 
Das war ein Archiv und Forschungsinstitut, das von Angehorigen der 
KP betrieben und von der Komintern kontrolliert, aber nicht finan- 
ziert wurde. Zweck und Ziel dieser Einriditung war, ein von den 
massenpropagandistischen Methoden der [Willi] Miinzenberg-Unter- 
nehmen unabh'angiges Institut fiir das ernsthafte Studium des faschi- 
stisdien Regimes zu schaffen. Wir wurden durch Spenden der franzo- 
sischen Gewerkschaften und aus franzosischen Intellektuellen- und 
Akademikerkreisen unterhalten. Wir arbeiteten alle ohne Gehalt 
zehn bis zwolf Stunden am Tag; gliicklicherweise gab es in unseren 
Raumen in der Rue BurTon eine Kiiche, wo jeden Mittag ein gewal- 
tiger Topf dicker Erbsensuppe fiir die Mitarbeiter gekocht wurde.« 
(Ein Gott, der keiner war. Arthur Koestler [u. a.] sdiildern ihren 
Weg zum Kommunismus und ihre Abkehr, Koln 1952 [Rote Weift- 
biicher. 6], 63) Einen weiteren, sehr viel ausfuhrlicheren Bericht iiber 
die Geschichte des Instituts hat Koestler in seinen Memoiren gegeben 
(s. Arthur Koestler, Die Geheimschrift. Bericht eines Lebens 1932 bis 
1940, iibertr. von Franziska Becker, Wien, Miinchen, Basel 1955, 
253-272); weder hier nodi in der zitierten Schilderung wird auch nur 
der Name Benjamins im Zusammenhang mit dem Institut erwahnt, 
auch ist keine Rede davon, daft im Institut uberhaupt Vortrage gehal- 
ten worden sind. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daft der Un- 
tertitel zu Der Autor als Produzent entweder eine Mystifikation dar- 
stellt oder einen Plan bezeichnet, der nicht zur Ausfiihrung gekom- 
men ist. 

Anfang Juli 1934 hatte Benjamin in Svendborg - wo er bis in den 
Oktober hinein sich aufhielt - eine Diskussion mit Brecht iiber den 
Vortrag, von der er in seinen Tagebuchaufzeichnungen schrieb: Lan- 
ges Gesprach in Brechts Krankenzimmer in Svendborg, gestern, 
kreiste um meinen Aufsatz »Der Autor als Produzent*. Die darin 
entwickelte Tbeorie, ein entscheidendes Kriterium einer revolutiona- 
ren Funktion der Literatur liege im Mafie der tecbnischen Fort- 
schritte, die auf eine Umfunktionierung der Kunstformen und damit 
der geistigen Produktionsmittel kinauslaufen, wollte Brecht nur fiir 
einen einzigen Typus gelten lassen - den des grojiburgerlichen Schrifl- 
stellersj dem er sidy selber zuzahlt. tD'teser*, sagte er, »ist in der Tat 
an einem Punkt mit den Interessen des Proletariats solidariscb: am 
Punkt der Fortentwicklung seiner Produktionsmittel. Indem er es 
aber an diesem einen Punkte ist, ist er an diesem Punkt, als Produ- 
zent, proletarisiert, und zwar restlos. Diese restlose Proletarisierung 



Anmerkungen zu Seite 683—701 1463 

an einem Punkt macht ihn aber auf der ganzen Linie mit dem Prole- 
tariat solidarisch.it Meine Kritik der proletarischen Schriftsteller 
Becherscher Observanz fand Brecht zu abstrakt. Er suchte sie durch 
eine Analyse zu verbessern, die er von dem Gedicbt Bechers gab, das 
in einer der letzten Nummern einer der offiziellen proletarischen Lite- 
raturzeitschriften unter dem Titel »Ich sage ganz off en . . .# abge- 
druckt war. Brecht verglich es einerseits mit seinem Lehrgedicht Uber 
die Schauspielkunst fUr Carola Neher. Anderersetts mit dem Bateau 
ivre. »Carola Neher habe ich ja verschiedenes beigebrachu , sagte er. 
»Sie hat nicbt nur gelernt zu spielen; sie hat bet mir 2. B. gelernt, wie 
man sich wascht. Sie wusch sich namlich, um nicht mehr dreckig zu 
sein. Das kam ja gar nicht in Frage. Ich habe ihr beigebracht, wie man 
sich das Gesicht wascht. Sie hat es darin dann zu solcher Vollendung 
gebracht, daft ich sie dabei filmen wollte. Aber das kam nicht zu- 
stande, we'd ich damals nicht filmen wollte, und vor jemand anderm 
wollte sie es nicht machen. Dieses Lehrgedicht war ein Modell. Jeder 
Lernende war bestimmt, an die Stelle seines >Ich< zu treten. Wenn 
Becher >Ich< sagt, dann halt er sich - als Prdsidenten der Vereinigung 
proletariscb-revolutionarer Schriftsteller Deutschlands - fur vorbild- 
lich. Nur hat niemand Lust, es ihm nachzutun. Man entnimmt ein- 
fachy daft er mit sidy zufrieden ist.« Brecht sagt bei dieser Gelegenheit, 
daft er seit langem die Absicht hat, eine Anzahl von solchen Modell- 
gedichten fur verschiedene Berufe - den Ingenieur, den Schriftsteller - 
zu schreiben. -Auf der andern Seite vergleicht Brecht Bechers Ge- 
dicbt mit dem von Rimbaud. In diesem, meint er, hatten auch Marx 
und Lenin - wenn sie es gelesen hatten - die grofte geschichtliche Be- 
wegung gespurt, von der es ein Ausdruck ist. Sie hatten sehr wohl 
erkannt, daft darin nicht der exzentrische Spaziergang eines Mannes 
beschrieben wird sondern die Flucht, das Vagabondteren eines Men- 
schen, der es in den Schranken der Klasse nicht mehr aushalt, die - 
mit dem Krimkrieg, mit dem mexikanischen Abenteuer — beginnt, 
auch die exotischen Erdstriche ihren merkantilen Interessen zu er- 
schlieften. Die Geste des ungebundenen, dem Zufall seine Sache an- 
heimstellenden, der Gesellschaft den Rucken kehrenden Vagabunden 
in der modell gerechten Darstellung eines proletarischen Kampfers 
aufzunehmen, sei ein Ding der Unmoglichkeit. (s. Bd. 6) 

UBERLIEFERUNG 

T Typoskript mit handschriftlichen Einfiigungen und Korrekturen, 

22 Blatter, einseitig beschrieben; Benjamin-Archiv, Ts 551-572 
lesarten 683,29 geldufig] konjiziert fur gelaufig, - 683,30 Frei- 
heit] konj. fiir Freiheit, - 684,13 Einerseits-Andererseits] konj. fiir 
Einerseits Anderersetts - 684,25 mehr:] konj. fur mehr - 686,27^ 



1464 Anmerkungen zu Seite 683—701 

Abhangigkeit,] konj. fur Abhdngigkeit - 687,11 allzuviel] fur 
allzu viel - 687,24 Epos.] konj. fiir Epos; - 688,15 Sparten] Ger- 
hard Seidel schlagt die Konjektur Spalten vor (s. Walter Benjamin, 
Lesezeichen, hg. von G. Seidel, Leipzig 1970, 356, 474). - 688,24 
aufrechterhalt] fiir aufrecbt erh'dlt - 688,25 dort] konj. fiir dodo - 
690,19-22 Der bis Geistigen] handschriftliche Einfugung am Rand; 
sie ersetzt den folgenden, nachtraglich gestrichenen Passus: Oder mit 
Trotzki zu reden: »Wenn die erleuchteten Pazifisten den Versuch un- 
ternehmen, den Krieg mittels rationalistischer Argumente abzuscbaf- 
fen, wirken sie einfach lacberlich. Wenn aber die bewaffneten Massen 
beginnen, Argumente der Vernunfi gegen den Krieg anzufuhren, dann 
bedeutet das das Ende des Krieges.* Die Geistigen; s. audi Bd. 3, 351, 
von wo Benjamin die Stelle ubernommen hat. - 691,21 aufgrund] 
fiir auf Grund - 693,2 Arbeiten] konj. fiir Arbeiter - 693,19 ist] 
konj. fur ist, - 695,21 zerfallener] G. Seidel schlagt hier wie audi im 
Original des Zitats (s. Bd. 3, 280) die Konjektur zerfallender vor 
(s. Seidel, a. a. O., 474). - 696,32 um so] fiir umso - 698,10 Gestalt] 
konj. fiir Gestalt, - 700,35 Weil] fiir well - 700,37 aufgrund] fiir 
auf Grund 

nachweise 683,22 verfahrt] s. Platon, Politeia St. 595 a ff. - 
687,9 S °M] s * Sergej Tretjakow, Feld-Herrn. Der Kampf um eine 
Kollektivwirtschaft, iibers. von R. Selke, Berlin 1931 - 687,39 Autor] 
i. e. Benjamin; s. 628 f. und Bd. 1, 455 f. und 493. - 690,9 Typus*] 
Kurt Hiller, Der Sprung ins Helle, Leipzig 1932, 314 - 690,12-19 
Wenn bis ist.] Selbstzitat, s. Bd. 3, 351 - 690,16 denken*] Hiller, 
a. a. O., 8 - 690,36 Gesinnung.*] Alfred Doblin, Wissen und Ver- 
andern! Offene Briefe an einen jungen Menschen, Berlin 1931, 27 - 
691,3 hervorgehen.*] a. a. O., 26 - 691,13 zufallt.«] a. a. O., 28 f. 
- 691,18 finden] s. a. a. O., 81 - 691,36 sind.«] Brecht, Versuche 
1-3 [Heft 1], Berlin 1930, 1 -693,12 sehen] s. Albert Renger-Patzsch, 
Die Welt ist schon. Einhundert photographische Aufnahmen, hg. und 
eingeleitet von Carl Georg Heise, Mundien o. J. [1928] - 694,30 »Die 
Mafinabme*] s. Brecht, Versuche 11-12 [Heft 4], Berlin 1931, 
329-361 - 695,14 Kritiker] i.e. Benjamin; das Zitat 695,15-28 s. 
Bd. 3, 280 f. - 6^6,6 ist.«] E. Giinther Griindel, Die Sendung der 
Jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionaren Sinn- 
deutung der Krise, Munchen 1932, 116 - 697,8 wurde.*] Brecht, 
Versuche 4-7 [Heft 2], Berlin 1930, 107 



703-739 Enzyklopadieartikel 

705-739 Goethe 

Ein kurioser Auftrag, schrieb Benjamin Sdiolem am 5.4. 1926, wird 
mir demndchst die besteilten dreihundert Zeilen abnbtigen. Die neue 
Grofie Russische Enzyklopddie wunscht von mir soviet Uber Goethe 
vom Stand pun kt der marxistischen Doktrin zu horen. Die gottliche 
Frechheit, die in der Entgegennahme solchen Auftrages liegt, hat es 
mir angetan und ich denke mir hier das Einschlagige aus den Fin- 
gem zu saugen. Nun, man wird (doch da) sehen. (Brief e, 416) Um 
[. . ./ nochmals auf die Artikel fur Rutland zu kommen, heifk es 
Ende Mai, - zu Goethe treten noch einige neuere franzosische Dich- 
ter, Uber die ich kurz schreiben soil [-], so wollen wir beide abwar- 
ten, was dabei herauskommu Die tLiteraturgescbichte*, die neuere 
zumindest, soweit ich sie kenne, darf von ihren Methoden so wenig 
Aufhebens machen, dafi eine »marxi$tische« Betrachtung Goethes ein 
Anlaji zur Improvisation wie ein anderer ist. Worin sie besteht und 
was sie lehrt, werde ich selbst festzustellen haben und wenn (wie ich 
sehr anzunehmen geneigt bin) vom Marxismus aus so wenig wie von 
irgend einem andern durchdachten Gesichtspunkt aus »Literaturge- 
scbichte* streng genommen auch nur existiert, so hindert das nicht, 
dap bet dem Versuch, aus solchem Gesichtswinkel mich auf einen 
Gegenstand zu beziehen, auf den ich sonst kaum mich zuriickwenden 
werde, etwas Interessantes herauskommen kann, was dann im 
schlimmsten Falle sogar das Redaktionskomitee getrost ablehnen mag. 
(Brief e, 428) Wie sehr ihn das methodisdie Problem beschaftigte, das 
mit dem russisdien Auftrag gestellt war, bezeugt audi ein Brief an 
Hugo von Hofmannsthal vom 30. 10. 1926; dort berichtet er vom 
Ordnen, Revidieren und Sichten seiner Bibliothek, wobei er Uber- 
raschende Entdeckungen machte: So lernte ich nicht ohne Staunen, 
wie noch um die Mine des vorigen Jahrhunderts Literaturgeschichte 
geschrieben wurde. Wie krdflig, reliefmafiig profiliert im Sinne eines 
schon gegliederten Frieses ist die dreibdndige Geschichte der deutschen 
Liter atur seit Lessings Tod [Leipzig 1866 (5. Aufl.)J, die Julian 
Schmidt verfafit hat. Man sieht, was mit der Organisation im Sinne 
der Nacbschlagewerke dergleichen Bucher verloren haben, wie die 
(unanfechtbaren) Erfordernisse neuerer wissenschafllicher Technik 
unvereinbar mit der Gewinnung eines eidos, eines Lebensbildes sind. 
Auch ist erstaunlich, wie mit der historischen Distanz die Objektivitdt 
dieser eigenwilligen Chronistengesinnung zunimmt, wahrend nichts 
die wohlabgewogene laue Urteilsweise in neueren liter argescbichtli- 
chen Werken davor bewahren wird, als spannungs- und inter esseloser 



1466 Anmerkungen zu Seite 705—739 

Ausdruck des Zeitgeschmacks zu erscheinen, eben well nichts Person- 
liches ihn korrigiert. Es traf sich, dafi ich gerade in den letzten Tagen 
[OskarJ Walzels »Wortkunstwerk*[J ein in diesem Sinne typisch 
modernes Buck, und immer nod) der besseren eines, anzuzeigen hatte, 
und dies und anderes habe in meiner Besprechung [s. Bd. j, jof.J 
zum Ausdruck zu bringen gesucbt. Die Arbeit, die mich veranlaflt, 
dergestalt auf eine bestimmte Periode deutsdoer Literaturgeschichts- 
schreibung zuruckzugehen, ist ebenso reizvoll als verantwortlich und 
scbwer: ich habe den Artikel »Goethe* fiir eine russische Enzyklo- 
pddie abzufassen. Freilich erschiene es mir fast als Wunder, wenn es 
mir glucken konnte, auf verhaltnismdfiig kurzem Raume ein Bild 
Goethes zu geben, das gerade in gegenwartige russische Leser sich 
einzeichnet; grunds'dtzlich aber scheint es mir nicht allein moglich 
sondern hochst fruchtbar. (Briefe, 436 f.) Einige Tage spater 
schrieb er an Kracauer: Unsere Studiengebiete liegen zur Zeit in etwas 
analog. Sie arbeiten Marx, ich lege mir Material und Gedanken zu 
einem Artikel »Qoethe« zureoht, den ich, wie ich gelegentlich Ihnen 
vielleicht erzahlte, fiir die offizielle Enzyklopadie der Sowjets zu lie- 
fern habe. (5. 11. 1926, an Siegfried Kracauer) Das war nicht lang 
vor seiner Abreise nach Moskau, wo er sich Dezember 1926 und 
Januar 1927 aufhielt. Dber die Gesprache, die er dort mit den Orga- 
nisatoren des literarischen Teils der Enzyklopadie fiihrte - zwischen 
ihnen und Benjamin hatte Bernhard Reich vermittelt (s. Asja Lacis, 
Revolutionar im Beruf. Berichte [. . .] hg. von Hildegard Brenner, 
Miinchen 1971, 55) -, geben die Eintragungen im Moskauer Tagebuch 
Aufschlufi. Dort heifit es zunachst, unter dem 8. 12. 1926: Gesprach 
bei mir mit Reich uber die Enzyklopadie, und, unter dem 9. 12.: Ich 
ging nach Hause, wo Reich schon war. Eine Stunde arbeiteten wir 
jeder - ich an der Redaktion des Goethe-Artikels. (s. Bd. 6) Diese 
Bemerkung deutet darauf hin, dafi Benjamin ein Schema oder Expose 
des Artikels in den Wochen nach Anfang November bis zur Abreise 
nach Moskau schrieb und dorthin mitnahm. - Vierzehn Tage spater 
besuchte er dann mit Reich das Biiro der » Enzyklopadie* [. . .] Dieses 
Unternehmen soil auf dreifiig bis vierzig B'dnde angelegt sein und ein 
eigener Band fiir Lenin reserviert werden. Es safi da (als wir zum 
zweiten Mai [hinkamen], unset erster Gang dahin war vergeblich) 
hinter seinem Schreibtisch ein sehr wohlwollender junger Mann, dem 
Reich mich vorstellte und meine Kenntnisse empfahl. Als ich sodann 
das Schema zu meinem »Goethe* ihm auseinandersetzte, zeigte sich sei- 
ne intellektuelle Unsicherheit sofort. Manches an diesem Entwurf ver- 
schuchterte ihn und er kam scbliefilich darauf hinaus, ein soziologisah 
untermaltes Lebensbild zu fordern. Im Grunde aber kann man mate- 
rialistisch nicht ein Dichterleben schildern sondern nur seine historische 



Anmerkungen zu Seite 705—739 1467 

Nachwirkung. Denn dies Dasein und selbst das blofie zeitliche ceuvre 
eines Kiinstlers bietet, wenn man von seinem Nachleben abstrahiert, der 
materialistischen Analyse garkeinen Gegenstand, W ' ahrscheinlich ist 
auch hier dieselbe unmethodische Universalitat und Direktheit, die die 
vollig idealistischen, metaphysischen Fragestellungen in Bucharins »Ein- 
fiihrung in den historiscben Materialismus* kennzeichnet. (s. Bd. 6) In 
einem wenige Tage spater geschriebenen Brief an Jula Radt heiftt es 
noch: Wieweit icb [. . ./ sachliche Beziehungen zu den hiesigen Angele- 
genheiten bekomme, werde ich sehen. Verschiedene Umstande machen 
es wahrscheinlich, dafi icb von jetzt ab aus dem Ausland ausfuhrlichere 
Artikel an russische Zeitschriflen geben werde und moglicberweise 
werde id) au<h in grower em Umfang an der »Enzyklopedie« arbeiten. 
Es ist sehr viel zu tun und in geisteswissenschaftHchen Angelegenheiten 
haben die Leute hier einen unvorstellbaren Mangel an sachverstandi- 
gen Mitarbeitern. (Brief e, 439 f.) Am 13. 1. 1927 aber - so ver- 
meldet das Tagebuch - begrtifite [Reich] mich mit den Worten: »Sie 
haben PechU Er war namlich in dem Biiro der Enzyklopddie gewesen 
und hatte mein Expose iiber Goethe dort abgegeben. Zufallig war 
gerade [Karl] Radek dazu gekommen, hatte das Manuscript am 
Tische liegen sehen und es aufgegriffen. Mifitrauiscb hatte er sich er- 
kundigt, von wem es sei. »Da kommt }a auf jeder Seite zehn Mai 
>Klassenkampf< vor.[«] Reich wies ihm nach, das sei nicht richtig und 
sagte, man konne ubrigens Goethes Wirken, welches in eine Zeit von 
gr often Klassenkampfen falle, nicht entwickeln, ohne dies Wort zu 
gebrauchen. Radek: »Es kommt nur darauf an, daft es an der richti- 
gen S telle gescbieht.* Die Aussichten fur die Annahme dieses Ex- 
poses sind hiernach aufterst gering. Denn die armseligen Leiter dieses 
Unternehmens sind viel zu unsicher, um auch dem schlechtesten Witz 
irgend einer Autoritat gegenuber die Moglichkeit eigner Meinung sich 
zu behaupten. Reich war der Zwischenfall unangenehmer als mir. Mir 
wurde er es vielmehr erst am Nachmittag, als ich mit Asja [Lacis] 
daruber sprach. Sie begann namlich gleich, etwas miisse an dem, was 
Radek sage, schon richtig sein. Gewift, ich werde etwas schon falsch 
gemacht haben, wisse nicht, wie man hier etwas angreifen miisse und 
dergleichen mehr. Nun sagte ich ihr auf den Kopf zu, aus ihren Worten 
spreche nur die Feigheit und ein Bedurfnis unbedingt, um jeden Preis, 
den Mantel nach dem Winde zu hangen. Ich ging als Reich gekom- 
men war, bald aus dem Zimmer. Denn da ich wuftte, er werde dar- 
uber berichten, wollte ich machen, dap ers nicht in meinem Beisein 
tate. Fur diesen Abend erhoffte ich Asjas Besuch. Benjamin berichtet 
weiter: Kurz nach acht hatte ich schon die Hoffnung auf das Kommen 
von Asja aufgegeben. Spater klopfte es. Sie war es [. . .] dieser 
Abend, vielmehr diese knappe Stunde, [war] von alien Seiten be- 



1468 Anmerkungen zu Seite 705—739 

schnitten und ich lag im Gefecht mit der Zeit. Im ersten Gang war 
ich allerdings siegreich. Schnell zeichnete ich das Schema, das mir im 
Kopf lag und als ich es ihr erkldrte, druckte sie ihre Stirn fest gegen 
meine. Dann las ich das Expose vor; und auch das ging sehr gut, es 
gefiel ihr, sie fand es sogar aufterordentlich klar und sachlich. Ich 
sprach mit ihr von dem, was eigentlich fur mich das Interessante an 
dem Thema »Goethe* ausmacht: wie so ein Mann, der so durchaus 
in Kompromissen existiert habe wie Goethe, dennoch so Aufteror- 
dentliches habe leisten konnen. Hier erwidere ich, daft hei einem 
proletarischen Dichter das Entsprechende gam undenkbar sei. Aber 
der Klassenkampf der Bourgeoisie sei grundverschieden von dem pro- 
letarischen gewesen. »Untreue* »Kompromift« in diesen beiden Be- 
wegungen konne man nicht schematisch einander gleichsetzen. Ich 
erwdhnte auch Lukdcs' These, der historische Materialismus sei im 
Grunde nur auf die Geschichte der Arbeiterbewegung selber anwend- 
bar. Asja wurde aber schnell mude. (s. Bd. 6) Eine Woche spater zeich- 
nete sich dann ab, was aus diesem ersten Versuch der Mitarbeit an 
der Enzyklopadie werden sollte. Benjamin berichtet unterm 20.1.: 
Vormittags schrieb ich langere Zeit auf meinem Zimmer. [Da Reich} 
um ein Uhr auf der Enzyklopadie zu tun hatte, so wollte auch ich bei 
dieser Gelegenheit hingehen, weniger um mein Goethe-Expose durch- 
zudrucken (darauf machte ich mir durchaus keine Hojfnung) als um 
einem Vorschlag Reichfs] nachzukommen und in seinen Augen nicht 
indolent zu erscheinen. Auch hatte er andernfalls bei der Ablehnung 
des Goethe-Exposes mangelndem Eifer bei mir die Schuld geben 
konnen, Ich konnte mir schwer das Lachen verbeiften, als ich dann 
endlich dem betreffenden Professor gegenubersafi. Kaum hatte er 
meinen Namen erfahren, so sprang er auf, holte mein Expose heran 
sowie zu seiner Unterstutzung einen Sekretdr. Der begann, mir Arti- 
kel uber Barock anzubieten. Ich machte die Vbertragung des Schlag- 
wortes »Goethe« zu der Bedingung jeder anderen Mitarbeit. Dann 
zdhlte ich meine erschienen[en] Schriflen auf, st elite, ivie Reich mich 
angewiesen hatte, mein Vermogen ins Licht und als ich gerade dabei 
war, trat Reich ein. Er nahm aber entfernt von mir Platz und sprach 
mit einem anderen Beamten. Mir sagte man Bescheid in wenigen Tagen 
zu. Im Vorzimmer hatte ich dann noch lange auf Reich zu warten. Wir 
gingen endlich; er erzdhlte mir, daft man erwoge, Walzel den Artikel 
»Goethe« anzutragen. (s. a. a. O.) - Nach seiner Ruckkehr aus Mos- 
kau unterrichtete Benjamin Scholem von dem Fehlschlag: Mit meinem 
Goethe-Art'tkel fur die russische Enzyklopadie habe ich wenig Gluck 
gehabt. Freilich lafit der Tatbestand, daft er nicht erscheinen wird, 
sich auch anders begriinden. Den Leuten ist sozusagen das Expose 
eines solchen Artikels, welches ich ihnen eingesandt habe, zu radikal 



Anmerkungen zu Seite 705—739 1469 

gewesen. Sie werden der europdischen Gelehrtenwelt gegenuber gut 
arlstoteliscb von Furcht und Mitleid geschuttelt, wollen ein Standard- 
werk marxistischer Wissenschaft, gleichzeitig aber etwas zu stande 
bringen, was in Europa eitel Bewunderung erwecken soli. Immerbin 
glaube ich, dafl dieses Expose so interessant ausgefallen ist, dafi es 
mit einigen Kautelen einmal anderswo erscheinen konnte. (Briefe, 
441 f.) Und Anfang Juni 1927 heifit es in einem Brief an Hofmanns- 
thal: Die literarische Unternehmung, die ich, sehr nebenbei, auf 
[meiner Moskau-JReise im Sinne trug, bat sich als undurchfiihrbar 
erwiesen. Die Leitung der groflen russischen Enzyklopddie stellt 
einen Apparat von fiinf Instanzen dar. umfafit sebr wenig kompe- 
tente Forscher und ist nicht im entferntesten im Stande, ihr Riesen- 
programm zu bewdltigen. Ich selber babe beobachten kbnnen, mit 
wieviel Unkenntnis und Opportunisms man zwischen dem marxisti- 
schen Programm der Wissenschaft und dem Versucb, ein europaisches 
Prestige sich zu sichern bin und her schwankt. (Briefe, 444) 
Vielleicht gab gerade der Gedanke an solches Prestige knapp ein Jahr 
spater den Ausschlag, dafi man in Moskau doch nodi auf die Mitar- 
beit Benjamins zuruckgriff: Unterdessen ist ein Brief aus Moskau ge- 
kommen, vermeldete er Sdiolem am 23. 4. 1928. Dort scheint man 
sich plotzlich eines Bessern besonnen zu haben und trdgt mir, unter 
sehr annehmbaren Bedingungen, an, den Artikel Goethe fur die grofie 
Enzyklopddie, im Umfang von einem Bogen, zu schreiben. Ich nehme 
naturlich an (Briefe, 470) - wenn auch mit gemischten Gefuhlen 
(Briefe, 473). Die Aufgabe als soldie mufi ihn gereizt haben, liefi ihn 
jedenfalls die private Enttduschung (Briefe, 444) verwinden: Ich 
schreibe nun doch fiir die russische Enzyklopddie den Goethe. An dem 
sollen Sie, denke ich, Ihren Spafi haben. (18.4. 1928, an Siegfried 
Kracauer) Anfang Juni nahm er sich vor, auf der Ruckreise von 
Frankfurt a. M. in Weimar Station zu machen, um sich zum Gedeihen 
meines Enzyklopddie-Artikels wiedereinmal die Goethiana, die ich 
Idnger als zehn Jahre nicht sah, zu vergegenwartigen. (Briefe, 475) 
Danach babe ich erst ein ganz kleines »Weimar« [s. Bd. 4, 353-35$] 
geschrieben, das Du [sciL Scholem] hoffentlich bald und zwar anders- 
wo als in der » Liter arischen Welt* [namlich im Oktober 1928 in 
der Neuen Schweizer Rundschau (Jg. 21, Heft 10) J zu sehen be- 
kommst. Und dann habe ich mich mit der Todesverachtung dessen, 
den der Termin die Sporen fiihlen lafit, an den Sowjet-Goethe ge- 
macht. Die unlosbare Antinomie, einen popularen Goethe vom mate- 
rialistischen Standpunkt auf einem Bogen zu schreiben, brauche ich 
Dir nicht auseinanderzusetzen. So eine Arbeit kann man nicht spat 
genug beginnen, da ist der drohende Redaktionsschlufl in der Tat die 
einzige Muse. Ich habe im ubrigen auf mein Lieblingsbuch uber Goe- 



1470 Anmerkungen zu Seite 705—739 

the, die dreibandige, unsagliche Darstellung des Alexander Baum- 
gartner S J [Gothe. Sein Leben und seine Werke, 3 Bde., Freiburg 
i. B. 1885 }. (2. Aufl.)] zuriickge griff en, die ich jetzt nod) mil reife- 
rem Ertrag, und genauer, durchgehe als zur Zeit, da ich die »Wahl- 
verwandtscbaftenarbeit* [s. Bd. 1, 123-201] schrieb. [s. audi die 
rmindlichen Aufierungen Benjamins uber Baumgartner, die Scholem 
uberliefert, in: Walter Benjamin - die Geschidite einer Freundschaft, 
a. a. O., 82] Aucb der groteske >Goethe« von [Georg] Brandes 
[191 5] steht auf meinem Scbreibtisch und den von Emit Ludwig 
[Goethe, 1920] wird mir der Verlag Rowohlt dedizieren miissen. 
Aus solch gegornen Hollensaften werden wir keinen Nektar, wohl 
aber eine flache Schale von prima mittelgutem Opferwein, vor Le- 
nins Mausoleum zu verschiitten, destillieren. (Briefe, 476 f .) Dies 
schrieb Benjamin am 18. 6. 1928. Auf den Beginn der Textierung des 
Artikels scheint angespielt, wenn es uber vier Wochen spater heifit: 
Fruher oder spater, spatestens aber auf [einer langeren Seereise], 
die er in zehn bis vierzehn Tagen anzutreten vorhatte, wird mein 
Goethe- Artikel ans Tageslicht treten miissen. Das Schlimme bei sol- 
chen Sachen ist der eingewurzelte Trieb, etwas Gutes hinstellen zu 
wollen bei aller, trotz aller langst durchschauten Unmoglichkeit und 
Wider spruchlichkeit der Aufgabe. (21. 7. 1928, an Siegfried Kracauer) 
Noch aus Berlin schrieb er am 1. August, dafi er immer nod) weit 
genug vom Ziele entfernt sei. Im gleichen - an Scholem gerichteten - 
Brief berichtete er von weiteren Vorarbeiten und erwahnte ihm - 
der Kuriositat halber und weil es seit Jahren uber nichts Gedrucktem 
mid) so geekelt hat - das Buch von Alfred Kleinberg: Die deutsche 
Dichtung in ihren sozialen [. . .] Bedingungen [Berlin 1927]. Die erste 
grofie materialistische Liter aturgeschichte. Es ist das einzig Dialekti- 
sche an diesem Buche, dafi es genau an der Stelle steht, an der die 
Dummheit anfdngt Niedertracht zu werden. Id) babe diese widerliche 
Mischung von banalem Idealismus und materialistischen Abstrusita- 
ten wegen meines »Goethe« vornehmen miissen. Und habe nur 
wieder gesehen, dafi dies - namlich der Artikel - etwas ist, wobei 
einem keiner hilfl und dafi man ihn anders als mit glucklicher Unver- 
frorenheit gar nicht zustande bringt. (Briefe, 480 f.) Die Arbeit liefi 
ihn von Berlin nicht wegkommen: Mein »Goetbe« - um auch das 
noch zu sagen - ist naturlido der ewige, identische, enzyklopadische, 
von dem ich am liebsten selbst nidots mehr hbren wurde. Aber dies 
und anderes hindert mid) immer nod), von Berlin abzustofien. (22. 8. 
1928, an Siegfried Kracauer) Das gelang ihm im September. Es ham 
plotzlich und ist nur auf kurze Zeit, schrieb er am 20. aus Lugano, wo 
er den Artikel abgeschlossen haben diirfte. Mein gewagter »Goethe« 
ist in ein paar Tagen fertig. Ich ubersehe seine endgUltige Gestalt um 



Anmerkungen zu Seite 705—739 1471 

nicbts mehr well ich weifi, daft sie in kurzem erscheinen wird. Gedacht 
war wohl an die redaktionelle Bearbeitung, die er, der Kiirze der 
Termine wegen, von denen er ausgehen mufite, nicht mehr sehen wiir- 
de. Und ob [der »Goethe<] nicht bei aller Kiihnheit der Fragestel- 
lung nur um so spiefiiger ausfdllt, steht noch dab in. (zit. Scholem, 
a. a. O., 188) Den tatsachlichen Abschlufi der Arbeit bestatigte ein 
Brief vom 30. 10. 1928 (s. Briefe, 482), in dem Benjamin Sdiolem als 
besondere Leihgabe auj unbestimmte Frist zugleidi ein Exemplar des 
Artikels ankiindigte. In der Gestalt, wie er unter Deine glUcklichen 
Augen kommt, so setzte er hinzu, [wird er] wobl weder in Rutland 
noch in Deutschland das Licbt der Welt sehen (Briefe, 483). Damit 
sollte er Recht behalten. Im Juni 1929 nodi bezweifelte er, ob er 
uberhaupt je erscheinen wird [. . ./ Fest steht nur, daft er in die Enzy- 
klopddie hochstens bis zur Unkenntlidokeit entstellt gelangen kann. 
Vor einem Jahr, so fuhr er in dem Brief an Hofmannsthal fort, bin 
ich in Weimar gewesen. Der Eindruck ist an einigen Stellen der Arbeit 
zugute gekommen, um derentwillen der Aufenthalt gedacht war. Die 
Essenz aber suchte ich, unbeschwert vom Zusammenhang einer Dar~ 
stellung, auf diesen beiden Seiten festzuhalten (Briefe, 496): dem bei- 
gefiigten Stuck Weimar > von dem er im Februar 1929 Scholem ge- 
schrieben hatte, dafi es die dem Sowjetstaate abgewandte Seite meines 
Janusbauptes aufs lieblichste vorstellt. (Briefe, 489) 
Was von der Arbeit in Deutschland - noch vor der russischen Ver- 
offentlichung - publiziert wurde, war der Teilabdruck Goethes Po- 
litik und Naturanschauung in der »Literarischen Welt« vom 7. 12. 
1928 (s. »Uberlieferung«), und, was dann 1929 in Rufiland erschien 
(s. u.), in der Tat »ein[e] stark gekiirzt[e] und von der Redaktion 
weitgehend umgearbeitet[e], denaturiertfe] Fassung.« (Scholem, a. a. 
O., 190; iiber das Ausmaft der Denaturierung s. u.) Zur Charakteri- 
sierung des Artikels selber sagt Scholem: »Der relativ lange Beitrag, 
in dem [Benjamin] ein materialistisches Vokabular anwandte, suchte 
unter reichlich rauhen Verkleidungen sachliche Einsichten iiber Goethe 
und die Bedeutung seiner Hauptwerke vorzubringen [. . .] Benja- 
min, dem natiirlich die Schwachen einer solchen, viele Absurditaten in 
Kauf nehmenden Reduktion des Phanomens Goethe bewufit waren, 
[hatte] die Arbeit ausgesprochen Spafi [gemacht]. Er ist auch min- 
destens von ihrer Intention niemals vollig abgeriickt. Nach der Ableh- 
nung [lies Umarbeitung] in Moskau machte er nur halbherzige An- 
stalten, sie in Deutschland zu verofTentlichen und rechnete mit der 
Moglichkeit einer spateren, weniger rauhbeinigen Bearbeitung [. . .] 
Als ich ihm viel spater in Paris mein Staunen iiber die Spninge vor- 
trug, die er sich dort, um dabei auch einige sehr originelle Gedanken 
unterbringen zu konnen, geleistet hatte, sagte er: Warum sollen nur 



147* Anmerkungen zu Seite 705—739 

die Idealisten Seiltanze machen dUrfen und materialistische Seiltdnze 
verboten seinf!« (Scholem, a. a. O., 190 f.) Das war 1938, zu der Zeit, 
da beide, Benjamin wie Scholem, Salman Schocken durch die Vorlage 
gerade audi des Goethe-Artikels zu beeindrucken hofften (s. o., 11 86). 
- Dessen in Moskau umgearbeitete Fassung (s. Goethe, Johann Wolf- 
gang, in: Bol'saja sovetskaja enciklopedija [Grofie Sowjet-Enzy- 
klopadie], Bd. 16, Moskva [Moskau] 1929, Sp. 530-560) ver- 
zeichnet, aufier Benjamin, fiinf weitere Autoren (nicht zwei, wie in 
Asja Lacis, Revolutionar im Beruf, a. a. O., 55 [Anm.] angegeben): 
V. K. Ikov, B. I. PuriSev, V. P. Zubov, S. L. Sobol', L. A. Turner- 
man. Das Verhaltnis des deutschen Originaltextes zu dem in der 
Enzyklopadie abgedruckten hat Wolfgang Kasack untersucht, des- 
sen Expertise im folgenden wortlich abgedruckt wird: 

An dem Beitrag »Goethe« in der Grofien Sowjet-Enzyklopadie von 1929 
ist nicht zu erkennen, dafi den Ursprung ein Text von Walter Benjamin 
gebildet hat. Nur 12% der abgedruckten russischen Fassung weisen Parallelen 
zu dem Manuskript von Benjamin auf. Diese Parallelstellen kann man aber 
kaum als Obersetzung bezeichnen, da meist nur einzelne Satze ubersetzt 
worden sind und selbst kleine Passagen Auslassungen oder Erganzungen 
enthalten. Der russische Text zeigt eine andere Auffassung von Goethe und 
ein anderes politisches Anliegen. Diese dominieren im Ganzen und in der 
Behandlung der auf Benjamins Manuskript zuriickfuhrbaren Stellen. Der 
eigentliche Autor hat das Manuskript von Benjamin lediglich als eine Sekun- 
darquelle unter anderen verwendet und sich einerseits deutungsfreie Infor- 
mationen, andererseits solche Passagen gewahlt, die seiner Vorstellung ent- 
sprachen. Hierbei ist weniger gravierend, dafi der Aufbau des russischen 
Textes anders ist, dafi er langer ist und - den Anforderungen, die an ein 
Lexikon gestellt werden, entsprechend - mehr konkrete Daten zu Leben 
und Werken enthalt. Entscheidend fur die Unterschiedlichkeit ist die grund- 
satzlidi andere geistige Konzeption, der vor allem die Interpretation einzel- 
ner Werke und der Versuch Benjamins, Goethes Besonderheit als Dichter 
und Mensch geistig zu erschliefien, zum Opfer fielen. Alles Wesentliche von 
Walter Benjamins Aussage ist eliminiert. 

Hinweise auf alle grofieren Parallelstellen und ihre Unterschiedlichkeit mo- 
gen dies verdeutHchen: 

Der einleitende Absatz Benjamins, der das Verhaltnis Goethes zu seiner 
Vaterstadt Frankfurt erlautern soil (s. 705,2-16), ist gestrkhen, ebenso wie 
der erste Teil des nachsten (s. 705,17-22), der die sozialen Fakten seiner 
Herkunft kommentiert. Geblieben sind die sachlichen Informationen (In der 
vaterlicben bis Stadt ein., 705,22-29), doch auch aus diesen wurde in der 
Obersetzung der soziale Aufstieg des Grofivaters gestrichen (erst Schneider 
dann Gastwirt, 705,24). Im russischen Text schliefien Informationen iiberdie 



Anmerkungen zu Seite 705—739 1473 

voruniversitare Ausbildung an, in die lediglich die Formulierung Benjamins 
iiber den Zwang zum Jurastudium (s. 705,38-706,3) einbezogen sind. 
In die Darstellung der Sturm- und Drangperiode sind bei grundsatzlidi 
anderer Konzeption einige Passagen von Benjamin eingeflossen. Sie sind 
eingebettet in die Thesen, es habe in der zweiten Halfte des 18. Jahrhunderts 
in Deutschland keinerlei »irgendwie bedeutende kulturelle Zentren gegeben* 
und die Sturm- und Drangperiode sei ein »eigenartiges Surrogat eines ge- 
sellschaftiioh politischen Kampfes« gewesen. Benjamins Satz zur Sturm- 
und Drangperiode Aber ibre universale Gestalt y in der sie sick zu einem 
Weltbild zusammenschlojS, dankt sie Johann Gottfried Herder (707,1-3) 
findet sidi geistig verkiimmert und sprachlioH heroisiert wieder als: »Ihr 
Fuhrer, der der Bewegung die endgultige Form und ihr das ideologische 
Banner gab, war Herder«. Fast wortlich sind die Zeilen iiber Goethes Be- 
sdiaftigung mit Voltaire, Diderot und Holbadis »System der Natur* iiber- 
setzt (Goethe, der sidy bis Halbnacht*^ 706,27-37), dann ist aber erganzt: 
»in dieser ablebnenden Haltung zu Holbadi zeigte sich in erheblidiem Mafie, 
dafi diesem ein Gefiihl fiir Dialektik vollig fehlte, deren Bedeutung Goethe 
vorausfuhlte und erkannte*. 

Der kleine Hinweis auf das mit Herder geschriebene Manifest »Von deut- 
sdier Art und Kunst« (s. 707,30 f.) blieb erhalten, ebenso die Oberleitung 
zu der Betrachtung des »G6tz von Berlidiingen«: Die Spaltung des deutschen 
BUrgertums kommt in diesem Werke deutlich zum Ausdruck. (707,37 f.) Die 
subtilen Gedanken Benjamins zu diesem Drama blieben aber aufierhalb der 
sowjetisdien Fassung. Wahrend Benjamin sdirieb: Die Stadte und Hbfe 
mussen bier als Vertreter des ins Realpolitische vergroberten Vernunflprin- 
zips die Schar geistloser Aufkl'drer verkbrpern, der in dem Fuhrer der auf- 
standisdten Bauer nbevolkerung der Sturm und Drang sich entgegenstellt 
(707,38-708,3), heifit es in der Enzyklopadie: »Hof und Stadt verkorpern 
hier die Ideen des aufgeklarten Absolutismus; ihnen ist der Gegner der Fiir- 
sten und der Geistlichkeit, der Fuhrer des Bauernaufstandes entgegenge- 
stellt (der glekhsam die Periode des >Sturm und Drangs< symbolisiert). Als 
historisdie Grundlage des Stiiokes diente der Bauernkrieg in Deutsohland in 
einer eigenartigen Interpretation Goethes.« 

Von Benjamins Gedanken running zu »Die Leiden des jungen Werthers« 
(s. 709,3-39) ist niohts iibernommen worden. Nur zwei Satze haben den 
Bearbeitern gef alien, sie sind in den anders konzipierten Text eingeflossen: 
Das Buch war vielleicht der grofite liter arische Erfolg aller Zeiten (709,5 f.) 
und In »Wertber« findet die Bourgeoisie den Halbgott, der sich fiir sie op- 
fert (709,35 f.)- Dooh sohon der unmittelbare Kontext fehlt. 
Im Zusammenhang mit Goethes Tatigkeit am Hof des Herzogs Karl August 
von Sachsen -Weimar legt Benjamin Wert darauf, dafi den Dichter ein Zu- 
fall mit dem Erbprinzen zusammengefuhrt hat (s. 710,21 f.) und dafi ur- 
spriinglich nur ein Besudi geplant war (s. 710,24). Dieses Detail ist in der 



1474 Anmerkungen zu Seite 705—739 

russisdien Fassung gestrichen, dem ebenfalls mehr oder weniger iibersetzten 
kleinen Abschnitt Wieland nabmen bis bkrgerliche Fronde (711,2-7) ist in 
seltsamer historischer Auf fassung hinzugefiigt » Goethe ging nach Canossa« 

(Sp. 537). 

Relativ parallel in beiden Fassungen ist der erste Teil uber den dichterischen 
Ertrag der ersten Weimarer Jahre (s. 712,29-35). Aber dieser zahlt nur die 
Werke auf (die Enzyklopadie erganzt die Jahre) und enthalt nichts eigenes 
von Benjamin. Schon sein Hinweis auf die damalige innere Grundlegung 
des zweiten Teils des »Faust« und das folgende Zitat (s. 712,36-713,7) 
fielen dem Strict der Moskauer Autoren zum Opfer. 

Den Absdinitt uber Goethes pathologist Verstimmung gegen Deutschland 
(s. 714,2-16) hat man weitgehend ubernommen, aber bereits den Beginn 
zu einem »Hafi gegen alles Deutsche* gesteigert. Die anschlieflenden, wieder 
mehr faktographischen Ausfiihrungen uber die Italienreise (s. 714,17-715,2) 
weisen ebenfalls viele Parallelen auf (s. Sp. 537). 

Aus Benjamins Betrachtung des »Egmont« ist der eine Gedanke ubernommen 
worden, welche Schranken Goethe in seiner Auffassung von der revolutio- 
naren Freiheitsbewegung gesetzt waren (Dem Dichter waren bis gelten zu 
lassen., 715,15-22). Aber Benjamin schliefit dort eingehende Gedanken zu 
Goethes Geschiditsauf fassung an und vergleicht mit dem Verhaltnis von 
Schiller zum Staat (s. 715,22-37). Hiervon, und damit von der eigentlichen 
Aussage, blieb nichts erhalten. Benjamins Oberlegungen zu Goethes Verhalt- 
nis zur Franzosischen Revolution und zu seiner literarischen Umsetzung 
(s. 716,10-718,27) haben in etwas grofierem Umfang Niederschlag in der 
russisdien Fassung gefunden (s. Sp. 540-41). Manches ist ausgelassen, bei 
den Werken einiges erganzt. In einem Fall weicht die Beurteilung stark ab: 
Benjamin zahlt das Dramenfragment »Die Aufgeregten« zu den Nebenpro- 
dukte[nj y die den tiefsten Stand markieren, den Goethes Produktion je ge- 
habt bat, (718,1-3). Die sowjetischen Autoren heben es von den Werken 
jener Zeit als »erheblich ernster« zu nehmendes ab (Sp. 540). 
Weder die mehrseitige Darlegung von Goethes Beschaftigung mit den Natur- 
wissensdiaften (s. 718,28-721,39) noch seine soziologische Betrachtung der 
Ehe mit Christiane Vulpius (s. 722,1-30) sind in irgendeiner Form in die 
sowjetische Fassung ubernommen worden. Benjamin wahrt den Diskussions- 
charakter, wenn er schreibt [. . .J aufs scharfste bestritten [blieb J die »Far- 
benlehre*, die fur Goethe sein gesamtes naturwissenschaftliches Werk, ja 
nach gewissen Aufierungen konnte man meinen sein Lebenswerk uberhaupt, 
kront. (720,33-36) Die Enzyklopadieautoren hingegen erklaren apodiktisch: 
»[...] bei dem Versuch, seine physikalische Farbentheorie zu schaffen, erlitt 
er einen entschiedenen Mifierfolg.* (Sp. 559). 

Wahrend fur die Darstellung von »Wilhelm Meisters Lehrjahren« (s. 727, 
36-728,27) insgesamt eine grundsatzlich andere Konzeption gewahlt wurde, 
scheint das Schlufizitat bei Benjamin iiber den Stil des Werkes (s. 728,19-27) 



Anmerkungen zu Seite 705—739 1475 

Gefallen gefunden zu haben. Daraus ist - unter Aufhebung der Zitatform - 
viel in die Schlufipassage des Enzyklopadietextes iibernommen worden 
(s. Sp. 543). 

Aus Benjamins Gedanken, die er an »Dichtung und Wahrheit* ankniipft 
(s. 730,4-39), blieb etwa eine halbe Seite erhalten. Die letzten elf Zeilen 
auf Seite 730 aber, die die dichtungspsychologisdien Ausfuhrungen Benja- 
mins aufgrund des Berichteten wiedergeben (s. 730,29-39), sind gestrichen. 
Ahnhch ist es im Abschnitt liber den »West-6stlichen Divan*. Die erste 
Halfte von Benjamins Betrachtung (/. . ./ ah die Mifiwirtschaft bis dem Pu- 
blikum vorlegt., 732,30-733,17), also der faktenvermittelnde Teil, wurde 
der russischen Fassung zugrundegelegt (s. Sp. 545). Die Interpretation aber 
blieb aufierhalb des Enzyklopadieartikels. 

Fur »WiIhelm Meisters Wanderjahre* wurde Benjamins Text (s. 733»37-735> 
10) so gut wie gar nidit herangezogen. - Der erste Satz (s. 733,37 f.) wurde 
iibersetzt, danach stehen zwei verschiedene Darlegungen nebeneinander. 
Fur »Faust« (s. 735,14-737,32) gilt fast dasselbe. Die Kurzcharakteristiken 
von Gretchen, Mephisto und Faust (die Gestalt Gretchens bis zu entreifien 
versuchen sollte., 735,24-34) finden sich in lcicht abgewandelter Form wie- 
der. Die Sicht Walter Benjamins auf dieses Werk hatte auf die eigentlichen 
Autoren des Enzyklopadieartikels aber ebenfalls keinen Einflufl. 

UBERLIEFERUNG 

T 1 Typoskript mit zahlreichen Korrekturen und mehreren Ein- 
schiiben (Tinte) von Benjamins Hand; vom letzten Blatt nur 
ein kleines Fragment des oberen Randes erhalten; Benjamin- 
Ardiiv, Ts 252-291. 

T 2 Typoskript, Durchschrift von T 1 ; Korrekturen, Zwisdientitel 
(Tinte) und Markierungen (Tinte und Blei) von Benjamins Hand, 
jedoch nur im Ausmafi der veroffentlichten und geplanter Teil- 
abdrucke; oberer Rand des ersten Blattes - aber ohne Beeintradi- 
tigung des Textes - abgerissen, letztes Blatt stark beschadigt (je- 
doch mit zweifelsfrei zu entzifferndem, an wenigen Stellen re- 
konstruierbarem Text); Benjamin-Archiv, Ts 292-331. 

JBA Goethes Politik und Naturanschauung. - Die Literarische Welt, 
7. 12. 1928 (Jg. 4, Nr. 49), 5 f . - Teilabdruck nach T 1 , T 2 
[= 716,17-717,35 (Zwisdientitel Goethe und die Revolution); 
718,28-719,10 und 719,20-721,39 (Zwisdientitel Goethes natur- 
wissenschaftliche Studien); 725,33-727,3 (Zwisdientitel Goethe 
und Napoleon)]. Nach dem Haupttitel folgt eine redaktionelle 
Einleitung mit dem Wortlaut: »Unser Mitarbeiter Walter Benja- 
min hat vom russischen Staate den Auftrag bekommen, fiir die 
vorbereitete grofie offizielle Sowjetrussische . Enzyklopadie den 
Artikel »Goethe* zu verfassen. Die Aufgabe sollte natiirlich in 



1476 Anmerkungen zu Seite 705—739 

marxistisch-materialistischem Sinn gelost werden. Die Schwie- 
rigkeiten einer soldien Losung sind ungeheuer. - Wir veroffent- 
lichen hier einige besonders wichtige Partien aus dem Benja- 
minsdien Entwurf, die unsere Leser urn so mehr interessieren 
werden, als die umfangreiche Arbeit ja nicht in deutscher, son- 
dern in russischer Sprache gedruckt werden wird. Dariiber hin- 
aus stellen sie unseres Eradnens die geistreichsten und griind- 
lichsten Analysen dar, die wir iiber diesen fiir die deutsche 
Geistesgesdiidite entsdieidend widitigen Problemkreis je gelesen 
haben - und das in der konzentriertesten Form. Der radikalen 
Dummheit, die >von Goethe nichts mehr wissen will<, werden 
wir mit dieser Publtkation freilich nicht abhelfen.« - Ausschnitts- 
exemplar mit Benjaminschen Korrekturen (Tinte); Benjamin- 
Ardiiv, Dr 22-24. 
Druckvorlage: T 1 

Der Korrekturstand von T 1 und T 2 ist uneinheitlich mindestens in 
zweifachem Sinn: wahrend, erstens, T 1 durchgangig korrigiert und 
bearbeitet wurde, blieben in T 2 die Seiten Ts 292-305, Ts 309-311, 
Ts 315 f. und Ts 320-330 (bis auf einige Markierungszeichen) unkor- 
rigiert und unbearbeitet; zweitens wurden die Korrekturen und Bear- 
beitungen in T 2 im Ausmaft erfolgter und geplanter Teilabdrucke 
vorgenommen, jedoch inkonsequent: vollstandig in bezug auf den 
Teilabdruck in der »Literarischen Welt«, unvollstandig in bezug auf 
die geplanten; dariiberhinaus weichen einige Korrekturen in T 2 von 
den entsprechenden in T 1 ab, wobei letztere - und nicht erstere - 
zusammen mit anderen Korrekturen aus T 1 im Teilabdruck wieder- 
erscheinen. Was den Teilabdruck angeht, ist er zwar naher an T 1 , 
mull jedoch eine eigene Druckvorlage gehabt haben, die verloren ist. 
Bot die Verzeichnung der Abweichungen von J BA gegeniiber T 1 und T 2 
keine Schwierigkeiten, so entstanden bei der der Korrektur- und Be- 
arbeitungsdifferenzen von T 1 gegeniiber T 2 Probleme. Sie resultier- 
ten aus f olgendem : T 1 und T 2 sind als solche - d. h. als die unbear- 
beiteten Ausgangstyposkripte - iiberwiegend sorgfaltig hergestellte 
Exemplare mit insgesamt wenigen, etwa durch Verhoren beim Diktat 
entstandenen, korrekturbedurftigen Stellen. Benjamin hatte aber - 
in T 1 vollstandig, in T 2 teilweise - nicht nur diese Stellen korri- 
giert, sondern die gesamte Fassung einem Bearbeitungsgang unterwor- 
fen. Ob er die bearbeitete (und korrigierte) Fassung oder nur eine 
korrigierte nach Moskau einsandte, ist unbekannt; zu vermuten ist 
letzteres. - Waren nun die Abweichungen der beiden Typoskripte 
voneinander als Lesarten zu verzeichnen, mufke im Auge behalten 
werden, daft, erstens, unumgangliche Korrekturen aus T 1 in T 2 nach- 
getragen worden waren, hatte Benjamin dort einen konsequenten 



Anmerkungen zu Seite 705—739 1477 

Korrekturdurchgang vorgenommen; das hatte er jedoch nur fiir die 
als Teilabdrucke gedachten Passagen, und selbst da inkonsequent ge- 
tan; und, zweitens, dafi er die sachlidien und stilistischen Verande- 
rungen, Streidiungen und Einsdiiibe aus T 1 in T 2 kaum Ubertragen 
hatte, ware es nur um den einwandfreien Korrekturstand des Typo- 
skripts (nicht um einen neuen Bearbeitungsstand) zu tun gewesen. 
Unter diesem Gesichtspunkt haben die Herausgeber darauf verzichtet, 
alle offensichtlichen Korrekturen von T 1 , die in T 2 nidit nachge- 
tragen wurden, als Abweichungen zu verzeichnen; hingegen haben sie 
alle offenkundig sachlidien und stilistischen Differenzen als Lesarten 
festgehalten und verzeichnet. Auf diese Weise gewannen sie ein durch 
die Lesarten sich abzeichnendes ungefahres Bild zweier Fassungen des 
Goethe-Artikels: einer korrigierten und bearbeiteten (= T 1 ) und 
einer (idealiter) blofi korrigierten (= T 2 ), also einer, wie sie mut- 
mafilich als Druckvorlage nach Moskau geschickt wurde. 
lesarten 705,3 joooo] korrigiert aus 9000 nach Albert Biel- 
schowsky, Goethe. Sein Leben und seine Werke, Bd. 1 (17. Aufl.), 
Miinchen 1909, 492 - 705,11 f. nie betreten] Irrtum Benjamins; 
Goethe hielt sich in Berlin auf vom 16. bis 20. Mai 1778. - 705,34 
Cornelia] konjiziert fiir Cornelia, T 1 , T 2 - 705,38 Goethe,] konj. 
fiir Goethe T 1 , T 2 nach dem in T 1 erst eingefiigten, dann wieder ge- 
strichenen Passus {ihn, Jurist zu werden. Goethe) - 706,31 Hoi- 
bachs] Holbaohs, T 2 - 706,33 Es] konj. fiir Er T 1 , T 2 - 706,34 
zuruckschanderte] konj. fiir zuruckschauerte T 1 , T 2 - 707,1 »Gotz« 
und den »Werther«] Gotz und den Werther T 2 ; Korrekturen dieses 
und verwandten Typs, deren Benjamin in T 1 zahlreiche vornahm, 
ohne sie in T 2 nachzutragen, werden nachfolgend im einzelnen nicht 
mehr verzeichnet. - 707,5 f. Das »Originalgenie«] »Das Origi- 
nalgenie* T 2 - 707,6 »Sprache: und »Gesang:] »Sprache, und 
»Gesang, T 2 - 707,7 und von] and T 2 - 707,20 bildet] konj. 
fur bildet, T 1 , T 2 - 707,21 liegt),] konj. fur liegt) T 1 , T 2 - 708,2 
der in] der im »Gotz von Berlichingen« in T 2 - 708,6-8 der bis 
die] der Reicbsritterschaft, des alten Herrenstandes, der den wado- 
senden FUrsten erlag, die T 2 - 708,8 f. Gotz bis Stand] >G6tz bis 
Stand< T 2 ; in T 1 wurde erst korrigiert in »Gotz bis stand*, dann 
beides gestrichen. - 708,16 Als] als T 2 - 708,18 von] bei T 2 - 
708,19 sie] ihn T 2 - 708,26 unerbittlioh] konj. fur unerbitterlich 
T 1 , T 2 - 709,13 bezeichnet] konj. fiir bezeichnend T 1 , T 2 - 709,17 
hatte] hat T 2 - 709,18 Werther -]Werther, T 2 - 709,21 hatte] 
konj. fiir hatte, T 1 , T 2 - 709,24 seine Anerkennung] den Sieg T 2 - 
709,27 hatte] hat T 2 - 709,38 Lessing] Lessings T 2 - 709,39 verlang- 
te] verlangt T 2 - 710,37 seinem Auftreten] seiner Haltung T 2 - 
710,38 Goethe] konj. fiir Goethe, T 1 , T 2 - 711,1 hatte] konj. fiir 



1478 Anmerkungen zu Seite 705—739 

hdtte, T 1 , T 2 - 711,4 Stellung] Stelle T 2 - 712,21 Tdtigkeiten] Ta- 
tigkeit T 2 - 712,32 gewaltigsten] gewaltigen T 2 - 713,27-29 dap 
bis moge.] >daj$ bis moge.< T 2 - 713,31 Tendenzen] Tendenzen, 
T 2 - 713,33 konnte] konnte, T 2 - 713,38 ndherte] konj. fur ndher- 
te, T 1 , T 2 - 714,1 abgeschlossen -,] konj. fiir abgeschlossen, - T 1 , 
T 2 - 714,21 gespielt. Wenn] gespielt. Die Unsicberheit, in der er so 
lange fiber die Grundrichtung seiner Gaben geschwebt batte, hat viel 
Anted an der frilheren Zerfahrenheit seiner Produktion. Wenn T 2 - 
715,6-11 deutscben bis bekamen.] handsdiriftlidie Einfiigung in T 1 
fiir PoUtikers., das in T 2 erhalten blieb; der erste Entwurf der Ein- 
fiigung ist gestrichen und lautete {{ein Wort unleserlich getilgi) deut- 
sdoen Tribunen, wie Goethe ihn, als Anwalt der Bourgeoisie {ein 
Wort unleserlich getilgt) wohl zur Not hdtte machen mbgen. {Ein 
solches Idealbild des Volksmannes aber verriet dock, wie [abgebro- 
chen]} Nur daft dies Bild des furchtlosen Volksmannes {durchaus im 
Idealen} nur allzu Uberlegen im Vberhellen scbweben blieb und die 
politischen Realitaten soviel deutlichern Ausdruck in Oraniens und 
Albas Munde bekamen.} - 715,11 Schlusses] konj. fiir Schlusses, 
T 1 , T 2 - 715,37 Entfaltung. -] Entfaltung, T 2 - 716,10 davon] daran 
T 2 - 716,12 f. man — wie] man (wie T 2 - 716,14 Politik -] Politik) 
T 2 - 716,16 f. ziehen. [AbsatzJ Dafi] Ziehen. [Zwischentitel {Goethe 
und die Revolution}] Da$ T 2 ; Goethes Politik und Naturanschau- 
un i [' ' •/ Goethe und die Revolution [.J Dafi J BA - 716,19 Wei- 
marer] T 1 , T 2 ; weimarer J BA - 716,30 als dafi] T 2 , J BA ; dafi T 1 - 
716,36 f. denen sie] T 1 , T 2 ; denen, nach seinem [von Benjamin korri- 
giert aus einem] Sinne zu reden, sie J BA - 716,38 geben mochten.] 
T 1 , T 2 ; geben. J BA - 717,3 die] T 1 , T 2 ; eine J BA - 717,8 betroffen 
wurde] T 1 , T 2 ; sprach J BA - 717,35 konnen.] Ende des Abschnitts 
Goethe und die Revolution in J BA - 718,5 Dichtungen,] konj. fiir 
Dichtungen T 1 , T 2 - 718,8 H inter grunde,] konj. fiir Hintergrunde 
T 1 , T 2 - 718,13 Dorothea*;] Dorothea*, T 2 - 718,25 Menscben*,] 
konj. fiir Menschen* T 1 , T 2 - 718,27 f. ist. [Absatz] Die] ist. [Zwi- 
schentitel {Goethes Naturstudien}] Die T 2 ; Goethes naturwissenscbaft- 
liche Studien [.] Die J BA - 718,31 suchte. Sein] T 1 , T 2 ; suchte. [Ab- 
satz; von Benjamin korrigiert kein Absatz!] Sein J BA - 718,31 f. Na- 
turwissenscbafl.] T 1 , T 2 ; Natur. J BA - 719,10-20 vermochte. Diese 
bis Der] T 1 , T 2 ; vermochte. [Absatz] Der J BA - 719,21 »Urphano- 
men*] konj. fiir >Urphdnomen< T 1 , T 2 nach J BA - 719,29 »Urpflanze«] 
konj. fiir >Urpflanze< T 1 , T 2 nach J BA - 719,30 »Idee«] konj. fiir 
>Idee< T 1 , T 2 nach J BA - 719,31 aber Goethe] T 1 , T 2 ; Goethe aber 
JBA _ 719,31 gelten lassen wollte] T 1 , J BA ; hdtte gelten lassen konnen 
T 2 - 719,34 oft die] T 1 , J BA ; die T 2 - 719,35 f. des Goetkeschen] 
T 1 , T 2 ; seines J BA - 719,39 Asthetik] T 1 , T 2 ; Asthetik, J BA - 7*9>39 



Anmerkungen zu Seite 705—739 1479 

-720,1 Naturanschauung bis aber] handsdiriftlicher Zusatz in T 1 ; J BA ; 
in T 2 fehlt Naturanschauung bis Politik. (mit dem Passus Eben datum 
aber beginnt die neue Typoskriptseite, der auf der analogen in T 1 
gestridien ist) - 720,4 Politischen,] konj. fiir Politischen T 1 , T 2 , J BA - 
720,19 f. Der bis in] T 1 , J BA ; Ihr hochster Nutzen bestimmte sich in 
T 2 - 720,21 f. Pragmatismus: bis wahr*. [AbsatzJ] Pragmatismus. 
[Absatz] T 2 ; Pragmatismus. bis wahr.* [AbsatzJ J BA - 720,24 gab] 
T 1 , T 2 ; gibt J BA _ 720y}0 ^ 2 Schriften: bis war.] T 1 , J BA ; Schrifien 
(Entdeckung des menschlichen Zwischenkiefers). T 2 - 720,32 die] 
T 1 , J BA ; fehlt in T 2 - 720,35 meinen] T 1 , T 2 ; meinen, J BA - 721,4 
unzerlegbarste] T 1 , J BA ; unzerlegteste T 2 - 721,9 i5t £/er] T 1 , J BA ; 
is* T 2 - 721,10-12 durchzieht. Dunkel bis Gegenlicht. Im] T 1 , J BA 
(bemerkbar -,); durchzieht. Im T 2 - 721,12 f. tawcfo w» bis iAm «/er] 
T, J BA ; taucht der T 2 - 721,18 ihm] T\ JBA ; ;£„ en T 2 - 721,25 
Hauptwerk] konj. fiir Hauptwerk, T 1 , T 2 , J BA - 721,26 Vernunft* - 
der Etbik -] Vernunfi*, der Ethik, T 2 ; Vernunfi*, - der Ethik, - 
JBA _ 721,27 gegenilber steht] T 1 , T 2 ; gegenubersteht J BA - 721,29 
Naturerkldrung, die] T 1 , J BA ; Natur, die bier T 2 - 721,30 f. i&m 
bierin beistimmen] T 1 , J BA ; zustimmen T 2 - 721,31 eigenen] T 1 , J BA ; 
eigenen, T 2 - 721,32 Forschungen] J BA ; Forschungen, T 1 ; Entdeckun- 
gen T 2 - 721,35 aufierhalb] T 1 , T 2 ; aufierhalb, J BA - 721,39 emig.] 
Ende des Abschnitts Goethes naturwissenschaflliche Studien in J BA ; 
in T 2 folgt (gestrichene) Markierung mit Hinweis auf den Zwischen- 
titel eines (nicht gedruckten) Abschnittes {Cbristiane; Sammlungen} y 
der zufolge der (gestridienen) Markierungen die Absatze 722,1-723,30 
umfassen sollte - 723,30 f. ansah, [Absatz] In] ansah. [Zwisdientitel 
{Goethe - Schiller; Goethe - Napoleon}] In T 2 (von diesem geplanten 
Abschnitt, der zufolge der - gestridienen - Markierungen die Absatze 
723,31-727,3 umfassen sollte, wurde nur der zweite Teil unter dem 
Zwisdientitel Goethe und Napoleon - s. u., 725,33-727,3 - gedruckt) 
- 724,27 f. »Haarspaltungen bis Theorien*] in T 2 ohne Anfiihrungs- 
zeidien - 724,30 mit der] dafi T 2 - 724,34 war*,] konj. fiir war* 
T 1 , T 2 - 724,39 f. Balladendichtung] Balladendichtung. T 2 - 725,2 
Bajadere*).] Bajadere) T 2 - 725,10 Distichen] Distichons T 2 - 725,16 
Dichtern] Dichtern, T 2 - 725,18 Goethe-Schillerscben] Goethe- 
Schiller T 2 - 725,23 sich mit] sich T 2 - 725,31 den beiden Dichtern] 
Goethe und Schiller T 2 - 725,33 »Wir] Beginn des letzten Abschnittes 
Goethe und Napoleon in J BA - 725,33 wollen*,] konj. fiir wollen* 
T 1 , T 2 ; wollen,* J BA - 725,35 Umwdlzung -] T 1 , J BA ; Umwalzung, 
T 2 - 726,1 dieses Instruments] T 1 , J BA ; dieser Instrumente T 2 - 726,1 
Deutschland] T*, T 2 ; Deutschland, J BA - 726,2 Napoleons. [AbsatzJ 
Goethe] T 1 , T 2 ; Napoleons. Goethe J BA - 726,5 f. »Unmdgliche« 
bis »Unzuldnglicbe«] konj. fiir >Unmogliche<, das >Inkommensurable<, 



1480 Anmerkungen zu Seke 705—739 

das >Unzul'dngliche< T 1 , T 2 nach J BA - 726,13 versinnlichen] T 1 , T 2 , 
JBA. moglicherweise fehlerhaft fiir versinnbildlichen (s. audi Gerhard 
Seidel in: Walter Benjamin, Lesezeichen. Schriften zur deutschsprachi- 
gen Literatur, Leipzig 1970, 435) - 726,15 f. Im bis das] T 1 , J BA ; 
Im Leben ebensowohl wie in der Diohtung ist das T 2 - 726,38 Revo- 
lution;] konj. fiir Revolution, T 1 , J BA nach T 2 - 727,1 tiefsten] T 1 , 
T 2 ; st'drksten J BA - 727,1 Staatsstreich] T 1 , T 2 ; Handstreicb J BA - 
727,1 seine eigene (scil. Herrschaft)] T 1 , T 2 ; sein eigenes J BA (korri- 
giert - von Benjamin? - in seine eigene) - 727,2 Kaisertum;] 
konj. fiir Kaisertum, T 1 , J BA nach T 2 - 727,3 Weimar).] Ende des 
Abschnittes Goethe und Napoleon und damit des Teilabdrucks in 
JBA _ 727,21 Drill,] Drill T 2 - 728,6 »schonen Scheins*] >schonen 
Scheins< T 2 - 728,9 deutsoben] deutscb T 2 - 729,1 haben] konj. fiir 
hat T 1 , T 2 - 729,2 erschlossen,] konj. fiir erschlossen T 1 , T 2 - 729,3 f. 
gesetzt. [Absatz] Nad}] gesetzt. [Zwischentitel eines geplanten Ab- 
schnittes {Goethes Hofstaat; Wahlverwandtschaften; Divan; Faust}] 
Nach T 2 (in welcher Lange und mit Aufnahme welcher Absatze Ben- 
jamin diesen Abschnitt plante, geht aus T 2 nicht eindeutig hervor; 
einerseits finden sich - gestrichene - Anfangs- und Schlufimarkierun- 
gen - vor 729,4 Nach und nach 739,20 hatte. - wie sonst in Tinte, 
andererseits - ungestrichene - Zwischenmarkierungen - vor 735,11 
Wenn und nach 735,20 »FausU. ; vor 736,22 Die und nach 737,32 
findet. - in Blei. Man wird sie als erste Rohmarkierungen einer nicht 
weiter verfolgten Bearbeitung anzusehen haben.) - 729,14 Stab] 
Staat T 2 - 729,27 nie,] nie T 2 - 730,13 Werke,] konj. fiir Werke T 1 , 
T 2 - 730,14 bringen, der] bringen, das Bild der Welt, der T 2 - 
730,21 f. der Held] Goethe T 2 - 730,25 seine] seiner T 2 - 730,27 
eingereiht] eingefuhrt T 2 - 730,30 f. in ihrer] durch die T 2 - 730,31 f. 
verwandt mit] verwandt in ihm mit T 2 - 730,33 darin] daran T 2 - 
730,37 Mephisto] Mephisto, T 2 - 731,1 den] diesen T 2 - 731,16 
machen. (Seine] machen; seine T 2 - 731,20 vorzulegen.)] vorzulegen. 
T 2 - 731,22 Goethe] er T 2 - 731,25 da] lies wenn oder wofern - 
731,25 er als] er viel oder weniger als T 2 - 731,29 alles,] alles nur, 
T 2 - 731,36 Paul] konj. fiir Paul, T 1 , T 2 - 732,1 europaischen] 
deutsoben T 2 - 732,1 Erfahrung,] konj. fiir Erfahrung T 1 , T 2 - 
732,1 ihn] Goethe T 2 - 732,11 Familie] Familien T 2 - 732,24 voll- 
entwickelten] vollentfalteten T 2 - 732,24 gestalten,] konj. fiir gestal- 
ten T 1 , T 2 - 732,34 Orient. Das] Orient; das T 2 - 732,35 Divan*] 
Divans* T 2 - 733,3 Erneuerung,] Erneuerung T 2 - 733,7 als ihm, 
sie in] als es ihm in T 2 - 733,8 verschlingen,] konj. fiir verschlingen 
T 1 (in T 2 steht verschlingen gemafi der Lesart 733,7 korrekt) - 733,19 
des] eines T 2 - 733,31 Hatem] konj. fiir Hafts T 1 , T 2 - 734,1 Un- 
stimmigkeiten] Unstimmigkeit T 2 - 734,14 bestreitet] konj. fiir be- 



Anmerkungen zu Seite 705—739 148 1 

reitet T 1 , T 2 - 734,20 f. des Handwerks] der Handwerker T 2 - 
734,22 in diesen] damals in den T 2 - 734,24 f. Im bis sozialdkono- 
miscben] Im Grunde entsprechen aber die sozial-okonomiscben T 2 - 
734,27 utopischsten] edelsten T 2 - 734,34 Ja>] Ja T 2 - 735,3 f. jene 
bis Vberzeugungen] diese Erfahrungen und Vberzeugungen T 2 - 
735,6 Struktur] ' kunstleriscbe Struktur T 2 - 735,10 das] es T 2 - 
735,15 f. mytbologiscben, bis Studien] mytbologiscben Studien T 2 

- 735,23 f. Werkes;] Werkes, T 2 - 735,28 hatte; die] batte. Die T 2 

— 735,34 sollte. 1790 erscbien] wollte. 1790 erscbeint T 2 - 735,38 f. 
Gott dem Herrn] konj. fiir Gott dem Herrn, T 1 ; Gott, dem Herrn, 
T 2 - 736,10 Sinnenfreuden] konj. fiir Sinnesfreuden T 1 , T 2 - 736,34 
Teils, bauen] Teils berum bauen T 2 - 736,38 politiscbe und politi- 
sdoer] die politisdoe und der politische T 2 - 736,39 bofischem] hbjisch- 
politischem T 2 - 737,2 batte] bat T 2 - 737,10 f. beraufrufl: bis C/nJ] 
beraufruft. Und T 2 - 737,22 der Natter Geschichte] der Natur- 
Geschicbte T 2 - 737,25 schUtzen, zu garantieren] scbiitzen und zu 
bergen T 2 - 738,34 Werfce,] Werke T 2 - 738,34-739,20 Prdgung bis 
batte.] entspricht der letzten Seite von T 2 , die die letzte von T 1 , von 
der nur ein schmaler keilformiger Fetzen des rechten oberen Blatteils 
erhalten ist, ersetzen mufi. Jene (= Ts 331) ist am oberen und 
rechten Rand selber beschadigt, die beeintrachtigten Stellen sind jedoch 
gut rekonstruierbar. Das Blatt gehort zu den Blattern aus T 2 , die 
Benjamin korrigierte und mit Bearbeitungsmarkierungen versah, hat 
also den gleichen - oder doch annahernden - Zeugniswert wie die 
korrigierten Blatter von T 1 . - 738,34 f. itnperialistisdhen bis Hoch- 
sdhulen.] rekonstmierter Passus T 2 - 738,36 Goethepbilologie] re- 
konstruiertes Wort T 2 - 738,39 eindrang,] konj. fiir eindrang T 2 - 
739,3 Antlitz] rekonstruiertes Wort T 2 - 739,4 ibr] konj. fiir ibrer 
T 2 - 739,7 bleiben,] rekonstmierter Passus T 2 - 739,8 werden konnte.] 
Benjaminsche Korrektur aus zu werden vermochten. T 2 - 739,9 f. 
Dmchschnitts] rekonstruiertes Wort T 2 - 739,15 gesebwdebten] re- 
konstruiertes Wort T 2 - 739,16 auf der] der rekonstruiert, T 2 
nachweise 706,33 totenbafl*] Goethe, Samtliche Werke, Jubilaums- 
Ausgabe in 40 Banden, hg. von Eduard von der Hellen [u. a.], Bd. 
24: Dichtung und Wahrheit, Mit Einleitung und Anmerkungen von 
Richard M. Meyer, 3. Teil, Stuttgart, Berlin o. J., 52 (III, 11) - 
706,36 abges(hmadku] a. a. O. - 706,37 Halbnacbt*] a. a. O., 53 - 
707,1 »Gotz*] von Benjamin nur mit dem Titel zitierte Werke Goe- 
thes (und allgemein bekannte anderer Autoren) werden im einzelnen 
hier nicht nachgewiesen ; verwiesen sei auf Goethe, Samtliche Werke, 
Jubilaums-Ausgabe, a. a. O., Stuttgart, Berlin [1902 ff.] - 707,9 Lie- 
dern*] Gesammelt, geordnet, zum Theil iibersetzt durch Johann 
Gottfried von Herder, Neu hg. von Muller, Tubingen 1807 - 709,32 



1482 Anmerkungen zu Seite 705—739 

ist«] Goethe, Samtliche Werke, a. a. O., Bd. 36: Schriften zur Lite- 
ratur, Mit Einleitung und Anmerkungen von Oskar Walzel, 1. Teil, 
Stuttgart, Berlin o. J., 33 (»Rezensionen in die Frankfurter gelehrten 
Anzeigen der Jahre 1772 und 1773. 16. Der goldne Spiegel [. . .]«) - 
799>35 kann.*] Goethe, a. a. O., Bd. 16: Die Leiden des jungen Wer- 
thers, Kleinere Erzahlungen, Mit Einleitung und Anmerkungen 
von Max Herrmann, Stuttgart, Berlin o. J., 13 (»Die Leiden [. . .]«, 
1) - 709,39 verlangte] s. Gotthold Ephraim Lessing, Gesammelte 
Werke, rig. von Paul Rilla, Bd. 9: Brief e, Berlin 1957, 614 f. (26. 10. 
1774, an Eschenburg) - 710,7 sei.«] Goethe, Samtliche Werke, a. a. 
O., Bd. 25: Dichtung und Wahrheit, a. a. O., 4. Teil, Stuttgart, Berlin 
o. J., 44 (IV, 17) - 710,16 Physiognomik] s. Joh. Caspar Lavater, 
Physiognomisdie Fragmente zur Beforderung der Menschenkenntnis 
und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig, Winterthur 1775 fT. - 711,30 
mete*] Herzog Karl August an Minister von Fritsch, 10. 5. 1776; 
zit. in: Albert Bielschowsky, Goethe. Sein Leben und seine Werke, 
Bd. 1 (17. AufL), Munchen 1909, 293 - 712,5 sitzu] s. Goethe, Ge- 
denkausgabe der Werke, Brief e und Gesprache, Bd. 18: Brief e der 
Jahre 1764-1786, 2. AufL, Zurich, Stuttgart 1965, 475 (1. 1. 1780, 
an Charlotte von Stein) - 712,38 zweiten Akt] gemeint wohl 
Akt 1, Szene 2 [u. ff.] - 713,7 werden.*] Goethes Brief e, Ausge- 
wahlt und in chronologischer Folge mit Anmerkungen hg. von Eduard 
von der Hellen, Bd. 2: 1780-1788, Stuttgart, Berlin o. J., 71 (Goethe 
an Lavater, 22. 6. 1781 [Nr. 319]) - 715,2 wiederhergestellt.*] 
Goethe schrieb dies nicht aus Italien, sondern - bereits 1782 - aus 
Weimar, in einer kurzen Epoche der inneren Absonderung vom Hof- 
dienst; Goethes Brief e, a. a. O., Bd. 2, a. a. O., 128 (Goethe an Kne- 
bel, 21. n. 1782 [Nr. 368]) - 715,13 Wolke«] Goethe, Samtliche 
Werke, a. a. O., Bd. 1 1 : Dramen in Prosa, Mit Einleitung und An- 
merkungen von Franz Muncker, Stuttgart, Berlin o. J., 335 (»Eg- 
mont. Ein Trauerspiel in fiinf Aufziigen«, Akt 5, Gefangnis) - 715,29 
Luden] s. Goethes Gesprache. Gesamtausgabe, neu hg. von FIo- 
doard Frhr. von Biedermann unter Mitwirkung von Max Morris 
[u. a.], Bd. 1, Leipzig 1909, Nr. 873-875, 997 und Bd. 2, Leipzig 
1909, Nr. 1478, 1529 - 716,8 befreien] s. Goethes Briefe, a. a. O., 
Bd. 2, a. a. O., 317-321 (Goethe an Karl August, 17.3.1788 [Nr. 
5°$]) - 716,29 Humboldt] s. Ideen zu einem Versuch, die Granzen 
der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (i792),Breslau 1851-719,4 
ubertreiben.*] Schiller an Korner; zit. in: Alexander Baumgartner, 
Gothe. Sein Leben und Werke, Bd. 1, Freiburg i. B. 1885, 511 - 
719,20 gesegnet*] Goethes Briefe, a. a. O., Bd. 2, a. a. O., 229 (Goe- 
the an Jacobi, 5. 5. 1786 [Nr. 460]) - 719,32 zuzusprecben] s. Goe- 
thes Gesprache, a. a. O., Bd. 2, a. a. O., 348 (Goethe zu S. Boisseree, 



Anmerkungen zu Seite 705—739 1483 

3. 10. 181 5 [Nr. 1720]). - Das Gesprach mit Schiller fand Ende 
Juni/Anfang Juli 1794 in Jena statt; s. Goethe, Gluckliches Ereig- 
nis, in: Zur Morphologie (I, 1) und: Erste Bekanntschaft mit Sdiiller, 
beigefugt den Annalen von 1794. - 720,13 will.*] Goethe, Maximen 
und Reflexionen, hg. von Max Hecker, Weimar 1907, Nr. 706 (»Aus 
Wilhelm Meisters Wanderjahren. Aus Makariens Archiv«) - 720,22 
wahr«] Goethe, Samtliche Werke, a. a. O., Bd. 2: Gedichte, Mit 
Einleitung und Anmerkungen von Eduard von der Hellen, 2. Teil, 
Stuttgart, Berlin o. J., 246 (»Vermachtnis«, v. 33) - 720,23-27 Goe- 
the bis wareri) s. das modifizierte Selbstzitat Bd. 3, 343,34-344,1 

- 720,36 kront] s. Goethes Gesprache, a. a. O., Bd. 4, Leipzig 1910, 
76 (Goethe zu Eckermann, 19. 2. 1829 [Nr. 2662]) - 721,6 Lich- 
tern.«] Goethe an Jacobi, 15.7.1793 (Beilage),* zit. in: Alexander 
Baumgartner, Gothe, a. a. O., Bd. 2, Freiburg i. B. 1886, 432: »farbi- 
gen« gesp. - 721,15 entwickelt] s. Goethe, Samtliche Werke, a. a. O., 
Bd. 39: Schriften zur Naturwissenschaft, Mit Einleitungen und An- 
merkungen von Max Morris, 1. Teil, Stuttgart, Berlin o. J., 254 (»Zur 
Morphologies, Vorwort des ersten Heftes) - 721,36 Uegt] s. Kant's 
gesammelte Schriften, hg. von der Koniglich Preufiischen Akademie der 
Wissenschaflen, 1. Abt.: Werke, Bd. 5: .[. . .] Kritik der Urtheilskraft, 
Berlin 1913, 372-376 (Ȥ 65. Dinge als Naturzwecke sind organisierte 
Wesen«) - 724,23 Dokument] s. Briefwechsel zwischen Schiller und 
Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, Stuttgart, Tubingen 1828 f. - 
724,26 hat] s. Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jah- 
ren 1796 bis 1832, hg. von Friedrich Wilhelm Riemer, Berlin 1833 f. 

- 724,38 schutzte.«] Goethes Gesprache, a. a. O., Bd. 4, a. a. O., 79 
(Goethe zu Eckermann, 23. 3. 1829 [Nr. 2670]) - 725,5 »Horen«] s. 
Die Horen. Eine Monatsschrift hg. von Schiller, Tubingen 1795-1798 

- 7 2 5>35 konnten*] Goethe, Samtliche Werke, a. a. O., Bd. 36, 
a. a. O,, 141 (»Literarischer Sansculottismus«) - 729,23 Goethe*] s. 
Johann Peter Eckermann, Gesprache mit Goethe in den letzten Jahren 
seines Lebens, Bde. 1, 2: Leipzig 1836, Bd. 3: Magdeburg 1848 - 
729,36 Goethes] s. Goethes Unterhaltungen mit dem Kanzler Fried- 
rich von Muller, hg. von C. A. H. Burkhardt, Stuttgart, Berlin 
o. J. - 729,39 Charakteristik] s. Friedrich Wilhelm Riemer, Mittei- 
lungen iiber Goethe, 2 Bde., Berlin 1841 - 730,12 kann.«] Goethe, 
Maximen und. Reflexionen, a. a. O., Nr. 140 (»Aus Kunst und Alter- 
tum«) - 732,21 bleiben*] Goethe, Samtliche Werke, a. a. O., Bd. 15: 
Dramatische Fragmente und Obersetzungen, Mit Einleitung und An- 
merkungen von Otto Pniower, Stuttgart, Berlin o. J., 105 (»Die Auf- 
geregten«, Akt 4, Auftritt 2): »dieses« - 733,15 Notizen zum Di- 
van] s. Goethe, a. a. O., Bd. 5 : West-ostlicher Divan, Mit Einlei- 
tung und Anmerkungen von Konrad Burdadi, Stuttgart, Berlin o. J., 



1484 Anmerkungen zu Seke 705—739 

145-316 (»Noten und Abhandlungen zu besserem Verstandnis des 
West-ostlichen Divans«) - 733.30 schaffen.*] Goethes Gesprache, 
a. a. O., Bd. 4, a. a. O., j$ (Goethe zu Eckermann, 23. 3. 1829 [Nr. 
2670]) -. y$4,2j GemeingHt*] Goethe, Samtliche Werke, a. a. O., 
Bd. 19: Wilhelm Meisters Wanderjahre, Mit Einleitung und Anmer- 
kungen von Wilhelm Creizenach, 1. Teil, Stuttgart, Berlin o. J., y6 
(I, 6) - 734,30 Schonen*] a. a. O., 72 - 735,38 HimmeU] s. Goe- 
the, a. a. O., Bd. 13: Faust, Mit Einleitungen und Anmerkungen von 
Erich Schmidt, 1. Teil, Stuttgart, Berlin o. J., 12-16 - 736,7 vorbei!*] 
a. a. O., 68 (»Studierzimmer«, v. 1700-1706) - 736,12 Begierde.*] 
a. a. O., 141 (»Wald und H6hle«, v. 3249 f.) - 737,19 Prinzipien.«] 
Goethes Gesprache, a. a. O., Bd. 4, a. a. O., 298 (F. Soret, 19. 9. 1830 
[Nr. 2863]): »Goethe est liberal d'une maniere abstraite, mais 
dans la pratique il penche pour les principes ultra.« - 738,12 wteder- 
kehrt.*] Brief wechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 
1796 bis 1832, a. a. O., 4. Teil, Berlin 1834, 43 f. (Goethe an Zelter, 
6. 6. 1825) - 738,25 Leute,*] Ludwig Borne, Gesammelte Schriften. 
Vollstandige Ausgabe, Bd. 6, Wien 1868, 127 (Kritiken, »XLI. Gothe's 
Briefwechsel mit einem Kinde«) - 738,34 Werke] s. Goethes Werke, hg. 
im Auftrage der Groftherzogin Sophie v. Sachsen, Weimar 1887 flf. 



741-803 Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 
743-747 Die politische Gruppierung der russischen Schrift- 

STELLER 

Der Aufsatz durfte sich - ahnlich wie die beiden im folgenden abge- 
druckten Zur Lage der russischen Filmkunst und Neue Dichtung in 
Rutland - wesentlich auf miindlidie Informationen stiitzen, welche 
Benjamin wahrend seines Auf en thai ts in Moskau vom 6. Dezember 
1926 bis zum i.Februar 1927 sammelte (s. MoskauerTagebuch, Bd. 6). 
Da Benjamin kein Russisch Sprach, liefi er sidi in Moskau Artikel aus 
Tageszeitungen iibersetzen, audi Filme und Theaterauffiihrungen be- 
suchte er gemeinsam mit Bernhard Reich und Asja Lacis, die ihm als 
Obersetzer dienten. 

UBERLIEFERUNG 

J Die literarische Welt, 11. 3. 1927 (Jg. 3, Nr. 10), 1. - Der Abdruck 
ist mit einer Zeichnung B. F. Dolbins von Ilja Ehrenburg sowie mit 
Photographien I. Babels und Lydia Sejfullinas illustriert. 
lesarten 744,25 und] konjiziert fiir ein Komma zwischen den bei- 
den Titeln - 745,13 ,*Le/«r] »LEW« J - 745,15 Mittelpunkt:] konj. 
fiir Mittelpunkt - 746,j Bauer nschriflsteller] in J kursiv - 746,14 
hierher] konj. fur hier - 746,1 5 »Neuen Bourgeoisie*] in J kursiv 
nachweise 744,25 »Dte Woche*] s. Juri Nikolajewitsch Libedinski, 
Eine Woche, deutsch von E. Schiemann, Hamburg 1923 - 744,^5 
»Der eiserne Strom*] s. Alexander Serafimowitsch, Der eiserne 
Strom. Roman aus der russischen Revolution 1 9 1 7, ubers. von 
E. Schiemann, Berlin 1925 - 745,21 »Brulle, China!*] s. Sergej 
Tretjakow, Ryci Kitaj, 1925; deutsch: Briille China!, iibertr. von Leo 
Lania, Berlin 1929 - 746,18 Dramen] s. Michael Afanassewitsch 
Bulgakow, Dni Turbinych, 1926; deutsch: Die Tage der Geschwister 
Turbin, ubers. von Kate Rosenberg, Berlin- Char lotten burg 1928; 
ders., Zojkina kvartira, 1926; deutsch: Sojkas Wohnung, ubers. von 
Erich Boehme, Berlin 1929 



747-751 Zur Lage der russischen Filmkunst 

uberlieferung 

JBA Di e literarische Welt, 11. 3. 1927 (Jg. 3, Nr. 10), 6; Benjamin- 

Archiv, Dr 1 5 f. 
lesarten 748,8 eigentlicbe] konjiziert fiir eigentlichen - 748,14 



i486 Anmerkungen zu Seite 747—755 

Befriedung] handschr. korrigiert aus Befriedigung - 748,22 Tolstoi] 
konj. fur Tolstoi, 

nachweise 747, 1 8 »Potemkin«] Panzerkreuzer Potemkin, Film von 
Sergej M. Eisenstein, 1925 - 748,33 »Sechsten Tell der Erde«] Film 
von Dsiga Wertow, 1926 



751-755 Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz 

Benjamins Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz erschien gleichzeitig 
mit dessen Aufsatz »Potemkinfilm und Tendenzkunst« am 11. Marz 
1927 in der »Literarischen Welt«; die Niederschrift wurde jedoch 
schon Ende Januar in Moskau zumindest begonnen. Aus einer Ein- 
tragung Benjamins im Moskauer Tagebuch vom 20. 1. 1927 geht her- 
vor, dafl es um eine Auftragsarbeit sich handelte. Wit gingen zu Pan- 
skij . . . Fur den kommenden Montag stellte er mix die Vorfuhrung 
einiger Filme in Aussicht, die ich vox Abfassung eines Artikels gegen 
Schmitz, um den die »Literarische Welu micb gebeten hatte, sehen 
wollte. Ober diese Vorfuhrung wird unter dem 24. Januar berichtet: 
Es begann mit einem endlosen Antichambrieren im Goskino. Nach 
zwei Stunden begann die Vorfuhrung. Ich sah »Matj«, »Potemkin« 
und einen Teil vom »Prozefi um drei Millionen*. Diese Sache kostete 
mich einen Tscherwonny, weil ich aus Rucks ich t auf [Bernhard] 
Reich der Frau, die er mir vermittelt hatte, etwas geben wollte, sie 
aber keine Summe nannte und ich sie schliefllicb fun} Stunden hatte 
beanspruchen mussen [scil. zum ObersetzenJ. Es war sehr anstren- 
gend, solange in dem kleinen Raume, in dem wir meist die einzigen 
Zuschauer waren ohne Musikbegleitung soviel Film vor sich abrollen 
zu sehen. Am 26. Januar schliefllich heifit es: Abends an der Erwide- 
rung auf den Potemkin- Aufsatz von Schmitz geschrieben. (Mos- 
kauer Tagebuch, Bd. 6 [Benjamin-Archiv, Ms ii6i w , Ms i2(>4 r ' v ]) 
- Der Aufsatz von Schmitz - der im folgenden abgedruckt wird - und 
die Erwiderung von Benjamin haben in der »Literarischen Welt« den 
gemeinsamen Obertitel »Eine Diskussion iiber russische Filmkunst 
und kollektivistische Kunst uberhaupt«. 

Potemkinfilm und Tendenzkunst 
Ich verliere kein Wort iiber die Plumpheit, mit der bei uns noch immer 
Staatsanwalt und Polizei vorgehen auf jenen Gebieten, wo sich kunstlerische 
mit politischen oder moralischen Interessen iiberschneiden, aber die »Kultur- 
schande*, dafi man z. B. den Potemkinfilm verboten hat, ist nicht grower, 
als der Irrtum mancher Schriftsteller in fiihrenden Blattern, durch jenen 



Anmerkungen zu Seite 751— 755 1487 

bureaukratisdien MifigrifF werde das deutsche Volk um den Genufi eines 
grofien Kunstwerkes gebracht. Schon um solche Pendelschwingungen in die 
entgegengesetzte Rkhtung zu verhindern, sollte man den Film schnell frei- 
geben. 

Ich habe den Film in Osterreich gesehen. Da derselbe Irrtum, der den Po- 
temkinfilm zum Kunstwerk erhebt, audi den Tiefstand unserer Nachkriegs- 
Hteratur erklart, mbchte ich ihn in diesem Zusammenhang zu widerlegen 
versuchen, Gleich zu Beginn wird dem Publikum durch einige Satze auf der 
Leinwand mitgeteilt, dafi es sich hier nicht um ein individuelles, son- 
dern um ein kollektives Werk handelt. Nun, damit ist dieser Film, 
so hoch er audi technisch stehen moge, aus dem Bereich nicht nur des kiinst- 
lerischen, ja des eigentlich menschlichen Interesses verbannt, denn kollektive 
Vorgange unterliegen einer mechanischen Kausalitat, die vorauszusehen ist. 
Nicht vorauszusehen und darum menschlich packend und kiinstlerisch be- 
langvoll ist nur das Individuelle, das die an sich berechenbare, kol- 
lektive Ursachenreihe, die uns alle immer bedroht, durch ein unvorhergese- 
henes Moment plotzlich in em erschiitterndes Schicksal einmiinden lafit. Wenn 
man eine unter strengstem Zwang gehaltene Menschengruppe eine Zeitlang 
vor die Wahl stellt, zu hungern oder madiges Fleisch zu essen - das ist 
die Handlung des Potemkinfilms - so wird sie sich, ganz gleich, aus was 
fur Individuen sie sidi zusammensetzt, mogen so vorziigliche Exemplare 
wie du und ich, lieber Leser, darunter sein, nach einiger Zeit ganz bestimmt, 
vor Hunger und Wut zum Aufiersten gebracht, auf ihre Vorgesetzten stiir- 
zen, diese zu toten suchen und damit dem unertraglichen Zustand ein Ende 
machen, gleichgultig, was fiir ein anderer darauf folgt. Das ist so wenig 
interessant, wie die Tatsache, dafi jeder Mensch, wie hoch er audi stehe, 
Zeichen aufierster Qual geben wird, wenn man ihm ohne Narkose ein Bein 
absagt. Sicher gibt es zahllose Leute, die bei so etwas gern zusehen mochten, 
aber ihre Erregung mit der kunstlerischen Ergriffenheit zu verwechseln, 
ware derselbe Fehler, den jene Kritiker machen, die in dem Potemkinfilm 
ein Kunstwerk sehen. Gerade das menschlich und darum kiinstlerisch Inter- 
essante ist hier grundsatzlich unterdriickt, und das mufi in dem tendenzfreien 
Zuschauer ein grofies Unbehagen hervorrufen. Ich will ganz von der Mog- 
lichkeit absehen, dafi obendrein die Handlung verfalscht sein kann - der 
Verdacht ist jedenfalls erlaubt, denn ein Tendenzwerk hat nicht den An- 
spruch, fiir wahrhaft gehalten zu werden -; aber selbst, wenn sich alles so 
vollzogen hat wie es der Film darstellt, so ist die einzige menschlich und 
kiinstlerisch belangreiche Frage: Wie 1st es individuellmoglich, 
dafi Kapitan, Offiziere und Schiffsarzt solche Scheu- 
s a 1 e s i n d ? Was ist wahrend jener Ereignisse in ihnen vorgegangen? Ohne 
diese Begriindung ist das Ganze unglaubhaft, audi wenn es sich tatsadilich 
so vollzogen hat. Fiir den Bolschewisten ist die Begriindung sehr einfach. 
Diese Vorgesetzten waren eben »Bourgeois«, und jeder weifi doch, was das 



1488 Anmerkungen zu Seite 751-755 

heifit: sadistisdie Volksunterdriicker, bei denen es nur einen Streich unter 
vielen bedeutet, dafi sie die von ihnen Abhangigen mit madigem Fleisch 
ernahren. Nun, diese schablonenmafiig verurteilende, d. h. unindividuelle 
Betrachtung ganzer Stande, Berufe, Lebensalter ist das primitive Gegenteil 
jener dirferenzierten Mensdilichkeit, aus der Kunst wachst, und es mufi ge- 
sagt werden, daft man diese Mensdilichkeit in unserer Nachkriegsliteratur 
nur vereinzelt findet. 

In unserer! Denn in der englischen und amerikanischen ist es anders. So 
lafit Galsworthy in der » Forsyte Saga« (Tauchnitz-Verlag) in seiner Schilde- 
rung des spatviktorianischen und Nachkriegsengland auch nicht den gering- 
sten Zweifel dariiber, wie sehr er das unser Leben mechanisierende kapitali- 
stische System verurteilt, ja im Anfang unterstreicht er das ein bifichen mehr, 
als kiinstlerisch notwendig ist, aber je defer man sich in dieses moderne 
Epos hineinliest, desto warmer umflutet einen die menschliche Atmosphare 
aller dieser Figuren, die nun einmal dem Zeitschicksal unterliegen, unter 
dem biirgerlichen System zu leben. Da fehlt es nicht an solchen, deren Egois- 
mus dieses System wie auf den Leib geschnitten ist, andere nutzen es harm- 
los und unbewufit aus, wieder andere leiden darunter, ohne es recht zu 
merken, nur wenige sehen, wo der Kern des Obels liegt, oder wachsen sich 
individuell so uberzeugend aus, dafJ sie, in welchem aufieren System sie auch 
leben, doch auf jeden Fall wertvolle Mensdilichkeit entwickeln, aber alle, 
selbst die Hauptfigur, Soames, »the man of property«, haben ihre menschlich 
sympathischen, ja riihrenden Seiten. Dadurch wird das System keineswegs 
entschuldigt, seine Verurteilung und deren Griinde bleiben klar bis zur letz- 
ten Zeile. So ist hier das Problem glanzend gelost, wie der Autor eindeutige 
Wertakzente geben kann, ohne jener das Menschliche aufhebenden gehassigen 
Tendenzschriftstellerei zu verfallen, die glaubt, zu charakterisieren, wenn 
sie sagt: der Bourgeois, der Major, der Staatsanwalt, der Graf, als ob iiber 
deren personliche Nichtswiirdigkeit weiter kein Wort zu verlieren ware. Das 
ist nur moglich in einem Land, wo die Mensdilichkeit dieser Typen den 
meisten Lesern nodi nicht in Sinnbildern vorschwebt. 

Nicht anders als mit der » Forsyte Saga« steht es mit dem beruhmten ameri- 
kanischen Roman »Babbitt« von Sinclair Lewis (Tauchnitz-Verlag), der eben- 
falls einen Welterfolg hat. Audi unsere jungen Kritiker loben ihn, weil 
darin endlidi einmal der reaktionaren Heuchelei des auf seinem Geldsadt 
sitzenden amerikanischen Burgertums die Maske vom AntUtz gerissen ist. 
Aber auf wie besondere, ganz und gar nicht deutsche Art das geschieht, das 
habe ich nirgends erwahnen horen, denn am Ende vom Lied haben wir den 
armen, hilflosen Babbitt, der in seinem ganzen Leben zu »sdiieben« glaubte, 
aber stets von Weib, Kindern und offentlicher Meinung gesdioben wurde, 
aufrichtig gern. Dabei hat das Buch trotzdem revolutionierend im guten 
Sinne gewirkt. Das amerikanische Gewissen wurde aufgeriittelt. Es gibt heute 
eine machtige Anti-Babbitt-Bewegung in Amerika, und dies ist moglich, weil 



Anmerkungen zu Seite 751—762 1489 

Babbitt tatsachlich in seiner sympathischen Belanglosigkeit, die, wenn sum- 
miert, alle Kulturentwicklung versperrt, den wunden Punkt der amerikani- 
schen Gesellschaft zeigt: die Sklaverei des einzelnen unter der offentlichen 
Meinung. Menschlich bedeutend wird ein Werk erst durch den i n d i v i - 
duellen Abstand des Verfassers zu dem Dargestell- 
ten, durch sein Gefiihl fiir Werte und ihre Verwirklichungsmoglichkeit. 
Das ist nidit so sehr eine rein kunstlerische, als eine hohe menschliche Eigen- 
schaft. 

Ich kann nun glucklicherweise als Beispiel audb ein neues deutsches Buch 
nennen, das langst alle Blatter besprochen haben und das jeder Literatur- 
freund kennt. £s ist Jakob Wassermanns Roman: »Laudin und die Seinen*. 
Hier wird ein Ausweg aus den objektiven Wirren der Zeit auf individuellem 
Wege durch wertvolle Einzelmenschen gezeigt. Aus dem Biirgertum stam- 
mend, sind sie in reifen Jahren dem Widersinn seiner Lebensformen fast 
erlegen, aber nicht durch Protest und kollektives Programm, sondern durch 
individuelle Einkehr und neuen inneren Ausgangspunkt finden sie Rettung. 
Audb hier wie bei den obengenannten auslandischen Romanen nicht der ge- 
ringste Zweifel, dafi die bisherige biirgerliche Lebensform ganzlich unfrucht- 
bar geworden ist, aber das Heil wird nicht in einer neuen kollektiven Le- 
bensschablone, wie etwa der marxistischen oder auch der volkischen, sondern 
im individuell Menschlichen gezeigt, das zwar dem Biirgertum verlorenge- 
gangen ist, aber doch am ersten von seinen Sohnen und Tochtern wiederge- 
funden werden kann. 

Oscar A. H. Schmitz 

UBERUEFERUNG 

J Die literarische Welt, 11. 3. 1927 (Jg. 3, Nr. 10), 7 f. 

lesart 752,36 entzieht,] konjiziert fiir entzieht 

nachweise 751,18 *Potemkin«] s. den Nachweis zu 747,18 - 754,4 

»MHtter«] Film von Wsewolod Pudowkin, 1926 



75 5-762 Neue Dichtung in Russland 

J »i io«. Internationale Revue (Amsterdam) 1 (1927), 250-254(^.7). 

- Der Abdruck enthalt 250 f. Resiimees in niederlandischer, fran- 

zosischer und englischer Spradie, an denen Benjamin kaum betei- 

ligt war. 

lesarten 755,31 Adel] konjiziert fiir Adel y - 756,23 Publikum,] 

konj. fiir Publikum - 756,31 zugeeignet] konj. fiir zuereignet - 

757,7 ist] Konjektur der Hg. - 757,25 fiirs] konj. fiir fiir - 758,16 

bemuht,] konj. fiir bemubt - 758,25 Proletaries] konj. fiir Pro- 



1490 Anmerkungen zu Seite 755—762 

letarier. - 758,28 Rotarmisten] konj. fur Rotarmisten, - 759,1 
Trotzkiy] konj. fur Trotzki - 759,3 Richtungen,] konj. fur Rich- 
tungen - 7$9,}i Literature] in J ist das Zitatende nicht kenntlich 
gemacht. Vielleicht miissen die Abfiihrungszeichen bereits hinter wird., 
759,25, eingefiigt werden. - 759,38 erwabnt,] konj. fur erwahnt - 
760,3 Waleri] fiir Valerian - 760,4 im] Konjektur der Hg. - 
760,19 Versuche,] konj. fiir Versuche - 761,13 ermessen,] konj. fiir 
ermessen - 761,26 Sdowamm^] konj. fiir Schwamm - 762,2 Taras- 
sow-Rodionows] konj. fiir Tarassow Rodionow: 
nachweise 757,26 »i$o ooo ooo*] Poem von Majakowski, zuerst 
1919 anonym erschienen. - 757,30 f. »Mysterium bxffo*] Theater- 
stuck von Majakowski; am 7. n. 191 8, dem ersten Jahrestag der Ok- 
toberrevolution, in Petrograd uraufgefiihrt. - 758,4 f. Ehrenburg] 
s. Ilja Ehrenburg, Trust D. E. - Roman von der Zerstorung Euro- 
pas; russisch 1923, deutsch 1925 erschienen. - 758,10 worden] s. 
Demjan Bedny, Die Hauptstrafie, deutsch von Johannes R. Becher, 
1924 - 759)2 »Literatur und Revolution*] s. Leo Trotzki, Litera- 
tur und Revolution, aus dem Russ. von F. Rubiner, Wien 1924 - 
760,3 f. »Der feurige EngeU] s. Waleri Jakowlewitsch Brjussow 
(Valerius Brjussoff), Der feurige Engel, Berlin 1910 - 761,8 »Die 
Sonne der Toten*] s. Iwan Sergejewitsch Schmeljow, Die Sonne der 
Toten, iibertr. von Kate Rosenberg, Berlin 1925 - 761,9 »Der Kell- 
ner«] s. I wan Schmeljow, Der Kellner, iibertr. von Kate Rosenberg, 
Berlin 1927; s. auch Benjamins Bespr. des Buches, Bd. 3, 63 f. - 761,1 1 
»Der Herr aus San Francisco*] s. I wan Alexejewitsch Bunin, Der 
Herr aus San Francisco. Novellen, iibers. von Kate Rosenberg, Berlin 
1922 - 761,11 »Mit}as Liebe*] s. Iwan Bunin, Mitjas Liebe, iibertr. 
von Kate Rosenberg, Berlin 1925 - 761,12 »Da$ Dorf*] Bunins 
Roman »Derevnja«, 1910 auf russisch erschienen, kam erst 1936 als 
»Das Dorf« in deutscher Obersetzung heraus. - 761,35 »Nacht ilber 
Rufiland*] s. Wera Nikolajewna Figner, Nacht iiber Rutland. 
Lebenserinnerungen, iibers. von Lilly Hirschfeld und Reinhold von 
Walter, Berlin 1926 - 762,2 »Schokolade*] s. Alexander Ignatje- 
witsch Tarassow-Rodionow, Schokolade. Eine Erzahlung, iibers. von 
Alexandra Ramm, Berlin-Wilmersdorf 1924 - 762,4 »2wischen 
Gestern und Morgen*] s. Zwischen Gestern und Morgen. Eine No- 
vellenfolge von Konstantin Fedin, Boris Pilniak, Boris Lawrenjow 
u. a., deutsch von Wolfgang E. Groeger, Berlin 1926 - 762,9 »Der 
Ausreifier*] s. Lydia Nikolajewna Sejfullina, Der Ausreifier, aus 
dem Russ. von M. Einstein, Berlin 1925 - 762,12 »Eine Woche*] s. 
den Nachweis zu 744,25 - 762,13 »Farbige Winder] s. Wsewolod 
Wjatscheslawowitsch Iwanow, Farbige Winde. Erzahlung, deutsch 
von Ed. Schiemann, Hamburg 1923 - 762,13 »Panzerzug 14-69*] 



Anmerkungen zu Seite 7$ 5—769 149 1 

s. Wsewolod Iwanow, Panzerzug Nr. 14-69. Erzahlung, deutsdi von 
Ed. Schiemann, Hamburg 1923 - 762,13 f. »Die Rebellen*] s. Pawel 
Efimowitsch Dybenko, Die Rebellen. Erinnerungen aus der Revolu- 
tionszeit, deutsdi von Ed. Schiemann, Hamburg 1923 - 762,16 »Die 
Stadte und die Jahre*] s. Konstantin Alexandrowitsch Fedin, Stadte 
und Jahre. Roman, ubers. von Dmitrij Umanskij, Berlin 1927 - 
762,19 »Oktober*] s. Larissa Michailowna Reisner, Oktober. Aus- 
gewahlte Schriften, hg. und eingeleitet von Karl Radek, Berlin 1926 
- 762,22 »Taten und Menschen«~\ s. Lew Semjonowitsch Sosnowski, 
Taten und Menschen, Wien 1924 - 762,24 »Zement«~\ s. Fjodor 
Wassiljewitsdi Gladkow, Zement. Roman, iibertr. von Olga Hal- 
pern, Berlin 1927; s. audi Benjamins Bespr. des Buches, Bd. 3, 61-63. 



763-769 Programm eines proletarischen Kindertheaters 

Das Programm eines proletarischen Kindertheaters schrieb Benjamin 
Ende 1928, eher Anfang 1929 in Berlin fur Asja Lacis, wie diese 
berichtete. Asja Lacis - eine bolschewistische Lettin aus Riga, die am 
Theater spielt und Regie fuhrt (Briefe, 347); eine der hervorragend- 
sten Frauen, die ich kennen gelernt habe (Briefe, 351), wie Benjamin 
1924 iiber sie schrieb - hatte 191 8 und 19 19 in Orel, unter dem 
Kriegskommunismus, ein Kindertheater gegrundet und geleitet. »i9i8 
kam ich nadi Orel. Ich sollte im Stadttheater von Orel als Regisseur 
arbeiten, also ein gebahnter Weg. Doch es kam anders. [Absatz] 
Auf den Straften von Orel, auf den Marktplatzen, auf den Friedho- 
fen, in Kellern, in zerstorten Hausern sah ich Scharen verwahrloster 
Kinder: die Besprisorniki. Darunter waren Burschen mit sdiwarzen, 
monatelang nicht gewaschenen Gesichtern, zerlumpten Jacken, aus 
denen die Watte in Strahnen hing, breiten langen Wattehosen, die mit 
einem Stride festgebunden waren, bewaffnet mit Stocken und Eisen- 
stangen. Sie gingen immer in Gruppen, hatten einen Hauptling, stah- 
len, raubten, schlugen nieder. Kurz gesagt, es waren Rauberbanden - 
Opfer des Weltkriegs und Biirgerkriegs. Die sowjetische Regierung 
bemiihte sich, die streunenden Kinder in Erziehungshausern und Werk- 
statten sefihaft zu machen. Aber sie brachen immer wieder aus. [Ab- 
satz] In den stadtischen Heimen waren die Kriegswaisen unterge- 
bracht. Ich besuchte sie. Diese Kinder hatten zu essen, waren sauber 
gekleidet, hatten ein Dach liberm Kopf, aber sie blickten drein wie 
Greise: miide, traurige Augen, nichts interessierte sie. Kinder ohne 
Kindheit . . . Dagegen konnte man nicht gleichgultig bleiben, da muft- 
te ich etwas tun, und ich begrifT, dafi Kinderliedchen und Reigen hier 



1492 Anmerkungen zu Seite 763—769 

nicht geniigten. Urn sie aus ihrer Lethargie herauszuholen, bedurfte 
es einer Aufgabe, die sie g a n z zu ergreifen und ihre traumatisierten 
Fahigkeiten freizusetzen vermochte. Idi wufke, welche ungeheure 
Kraft im Theaterspielen steckt. Ich wohnte in einem schonen aristo- 
kratischen Haus, wo, wie man erzahlt, die Helden von Turgenjews 
>Adelsnest< gelebt haben sollen. Die Zimmer hatten grofie gotisch 
gesdinittene Fenster, man sah durch die alten Akazienbaume bis in 
die Flufiniederung. Diese Raume waren wie geschaffen fiir Kinder- 
theater. Ich ging zum Leiter des stadtischen Volksbildungswesens und 
entwickelte ihm mein Projekt. Dem Iwan Michail Tschurin gefiel der 
Plan. Die Zimmer wurden vereinigt. Es entstand ein Saal, die Wande 
wurden mit Fresken geschmuckt. Wir rechneten mit funfzig Kindern, 
es kamen hunderte. [Absatz] Ich war iiberzeugt, dafi man die Kin- 
der durch das Spiel wecken und entwickeln konne. Einfach ware es 
gewesen - ein passendes Kinderstuck finden, die Rollen verteilen, 
mit den Kindern proben und die Auffiihrung fertigstellen. Das hatte 
gewifi die Kinder eine Zeitlang beschaftigen konnen, wiirde aber ihre 
Entwicklung kaum gefordert haben. Sobald man ein vorgegebenes 
Snick mit Kindern probt, arbeitet von Anfang an alles auf ein festes 
Ziel hin - die Premiere. Die Kinder spiiren unablassig einen fremden 
Willen, der sie leitet und zwingt - den Willen des Regisseurs. Auf 
diesem Weg hatte ich mein Ziel nicht erreichen konnen - ihre asthe- 
tische Erziehung, die Entwicklung ihrer asthetischen und moralischen 
Fahigkeiten. Ich wollte die Kinder dazu bringen, dafi ihr Auge besser 
sieht, ihr Ohr feiner hort, ihre Hande aus dem ungeformten Material 
niitzliche Sachen gestalten. Dazu teilte ich die Arbeit in Sektionen ein. 
Um das Auge, das Sehen zu entwickeln, malten und zeichneten die 
Kinder. Diese Sektion leitete Viktor Tschestakow, der spater als 
Buhnenbildner mit Meyerhold arbeitete. Ein Pianist leitete die musi- 
kalische Erziehung. Dann gab es das technische Training; die Kinder 
bauten Requisiten, Gebaude, Tiere, Figuren usw. Weitere Sektionen 
meines Schulmodells in Orel waren Rhythmus und Gymnasuk, Dik- 
tion und Improvisation. Verborgene Krafte, die durch den Arbeits- 
prozefi freigesetzt, die Fahigkeiten, die ausgebildet wurden, vereinig- 
ten wir durch die Improvisation. So entstand das Spiel. Kin- 
der spielten fiir Kinder. Das System von Beschaftigungen wurde in 
eine anspruchsvollere, zugleich kollektive asthetische Form uberfiihrt. 
Die biirgerliche Erziehung war auf die Entwicklung einer besonderen 
Fahigkeit, eines besonderen Talents ausgerichtet. Sie fordert den Men- 
schen e i n s e i t i g . Um mit Brecht zu sprechen: sie will den einzel- 
nen und seine Fahigkeiten >verwursten<. Die biirgerliche Gesellschafl 
verlangt von ihren Mitgliedern, dafi sie so bald als moglich Waren 
produzieren. Dieses Prinzip wird in der Kindererziehung in alien 



Anmerkungen zu Seite 763—769 1493 

semen Aspekten offenbar. Wenn 2. B. soldie Kinder Theater s p i e - 
1 e n , so haben siedas Resultat vor Augen - die Auffiihrung, 
den Auftritt vor dem Publikum. Dabei geht die Freude am spielenden 
Produzieren verloren. Der Regisseur steht als Padagoge fortwahrend 
im Vordergrund und drillt die Kinder. (Ein treffender Witz: Was ist 
ein Telegrafenmast? Ein redigierter Tannenbaum. - Leider werden 
audi unsere Kinder sehr oft so redigiert.) [Absatz] Ziel der kommu- 
nistischen Erziehung ist es, auf Grund eines hohen allgemeinen Bil- 
dungsniveaus Produktivitat freizusetzen, dies bei speziellen wie 
nichtspeziellen Begabungen. Meine proletarische Herkunft sowie das 
Studium bei Professor Bechterew in Petersburg verwiesen mich auf 
dieses Erziehungsprinzip, und ich versuchte, es in Orel auf die prole- 
tarisch-asthetische Kindererziehung anzuwenden. [Absatz] Ausgangs- 
punkt fiir Erzieher und zu Erziehende war fur uns die B e o b - 
a c h t u n g. Die Kinder beobachten die Dinge, ihre Beziehungen 
zueinander und ihre Veranderbarkeit; die Erzieher beobachten die 
Kinder daraufhin, was sie erreicht haben und wie weit sie ihre Fahig- 
keiten produktiv anwenden konnen. Nicht nur im Studio wurde das 
Beobachten geubt und durch das Zeichnen, Malen, Musizieren weiter- 
gefiihrt, sondern audi im Freien. Friih am Morgen und wieder am 
Abend gingen wir mit den Kindern nach draufien und machten sie 
aufmerksam, wie die Farben durch Entfernung und Tageszeit sich 
andern, wie verschieden Tone und Gerausche morgens und abends 
klingen, und dafi die Stille singen kann . . . [Absatz] Mit den Kin- 
dern, die aus den stadtischen Heimen ins Turgenjew-Haus kamen, gab 
es keine Schwierigkeiten. An die Besprisorniki aber kam ich lange Zeit 
nicht heran. Als ich sie das erste Mai auf dem Markt ansprach und sie 
aufforderte, zu uns zu kommen, verhohnten sie mich, drohten mit 
Stocken und schickten mich dorthin, wofiir es im Deutschen vielleicht 
gar kein Wort gibt. Aber ich kam wieder. Sie gewohnten sich an mich 
und an unsere Dispute, so dafi, wenn ich langere Zeit ausblieb und 
dann wiederkam, sie mich als alte Bekannte mit Geheul umringten. 
[Absatz] Im Turgenjew-Haus ging die Arbeit unterdessen weiter. 
Wir beobachteten, dafi die Kinder schon danach verlangten, Phanta- 
sie und erworbene Fahigkeiten an Objekten zu materialisieren. Eine 
wichtige Etappe, denn dieses Bedurfnis will befriedigt werden, soil die 
kindliche Phantasie sich nicht verirren. Wir gingen also zu Improvi- 
sationen mit konkreten Stoffen iiber. [Absatz] Ich hatte ein Kinder- 
stuck von Meyerhold gewahlt: >Alinur< (nach dem Marchen von 
Oscar Wilde >Der Sternenknabe<). Die Kinder wufken von meinen 
Planen nichts. Ich gab ihnen als Improvisationsaufgabe eine Szene 
daraus: Rauber sitzen im Wald um ein Feuer und prahlen mit ihren 
Taten. Mitten in eine solche Szene fiel dann, wenig spater, der erste 



1494 Anmerkungen zu Selte 763—769 

Besuch der Besprisorniki in unserem Haus. Die Kinder sprangen auf 
und wollten vor den Eindringlingen fliiditen. Diese sahen zum Fiirch- 
ten aus: Papierhelme auf dem Kopf, gepanzert mit Zweigen und 
Blechstudken, in den Handen Piken und Stocke. Ich iiberredete die 
Kinder, weiter zu improvisieren und auf die Eindringlinge nidit zu 
achten. Nach einer Weile trat Wanjka, ihr Hautpling, in den Kreis 
der Spielenden, gab seiner Gruppe einen Wink - sie drangten die 
Kinder beiseite und begannen, selber die Szene zu spielen. Sie renom- 
mierten mit Mordtaten, Brandstiftungen, Beraubungen, wobei sie sich 
gegenseitig an Grausamkeiten zu iibertrumpfen suchten. Dann standen 
sie auf und schauten mit hohnischer Verachtung unsere Kinder an: 
>So sind Rauber!!< Allen padagogischen Regeln zufolge hatte ich 
ihre wilden und schamlosen Reden unterbrechen mussen - doch idi 
wollte Einflufl auf sie gewinnen. Ich gewann das Spiel tatsadilich - 
die Besprisorniki kamen wieder und wurden spater das Aktiv unseres 
Kindertheaters. [Absatz] Das improvisierende Spiel war fiir die Kin- 
der Gluck und Abenteuer. Sie begriffen viel, und ihr Interesse regte 
sich. Es wurde ernsthaft gearbeitet - geschnitten, geklebt, getanzt 
und gesungen, Texte wurden gelernt. So entstand die Figur vom tata- 
rischen bosen Knaben Alinur, der seine Mutter beleidigte und andere 
Kinder terrorisierte. Das Stuck offentlich aufzufuhren wurde erst dann 
diskutiert, als die Arbeit der einzelnen Sektionen zur Synthese drang- 
te. Da entstand die Forderung eines kollektiven Tuns - die moralisch- 
politische Erziehung im sozialistischen Sinne - und der Wunsch, das 
Spiel auch den Kindern der ganzen Stadt zu zeigen. Die offentliche 
Auffiihrung wurde zu einem Fest. Die Kinder unseres Studios gingen 
in einer Art Karnevalszug zur Freilichtbuhne der Stadt. Sie trugen 
die Tiere, die Masken, die Requisiten und Dekorationsteile durch die 
Strafien und sangen dazu. Kleine und grofie Zuschauer schlossen sich 
an. Abends folgten uns viele auf dem Riickweg zum Turgenjew- 
Haus. [Absatz] Unsere Methode hatte sich bewahrt. Wir erhielten 
den Beweis, dafl es richtig war, die Leiter ganzlich zuriicktreten zu 
lassen. Die Kinder glaubten, dafi sie alles selber machten - und spie- 
lend schafften sie es. Ideologic wurde den Kindern nicht aufgedrangt 
und nicht eingedrillt, sie eigneten sich an, was ihren Erfahrungen em> 
sprach. Auch wir, die Erzieher, lernten und sahen vieles neu. Wie leicht 
Kinder sich Situationen anpassen konnen, wie erfinderisch sie sind und 
wie empfindlich sie reagieren. Selbst Kinder, die unbegabt und be- 
grenzt schienen, zeigten unerwartete Fahigkeiten und Talente. Bei 
der Auffiihrung losten sich iiberraschend Spannungen, die die wilde 
Phantasie ihrer Erfindungen sichtbar machte.« (Asja Lacis, Revolu- 
tionar im Beruf. Berichte iiber proletarisches Theater, iiber Meyerhold, 
Brecht, Benjamin und Piscator, hg. von Hildegard Brenner, Munchen 



Anmerkungen zu Seite 763—769 1495 

1 97 1, 21-25.) _ Benjamin lernte Asja Lacis im Sommer 1924 auf 
Capri kennen, er besuchte sie im November 1925 in Riga und um die 
Jahreswende 1926/27 in Moskau. Im November 1928 sahen dann 
beide in Berlin sich wieder. Asja Lacis war von der sowjetischen Han- 
delsvertretung in der Filmabteiiung, als Referentin fur Kultur- und 
Schulfilm, angestellt (s. Lacis, a. a. O., 58). Sie lebte eine Zeitlang mit 
Benjamin in der Dusseldorfer Strafte 42 zusammen. Damals erzahlte 
sie Johannes R. Becher und Gerhart Eisler von ihrer Theaterarbeit 
mit Kindern: »Das Modell einer asthetischen Kindererziehung gefiel 
ihnen, und sie schlugen vor, ein solches Kindertheater im Liebknecht- 
haus zu errichten. Ich sollte das Programm ausarbeiten. Walter Ben- 
jamin hatte schon in Capri (1924) von meinem Kindertheater erfah- 
ren und ein aufierordentliches Interesse daran gezeigt. >Ich werde 
das Programm schreiben<, sagte er, >und deine praktische Arbeit theo- 
retisch darlegen und begriinden.< Er schrieb es wirklich. Aber in der 
ersten Fassung wurden meine Thesen ungeheuer kompliziert darge- 
stellt. Im Liebknechthaus las man und lachte: Das hat dir ja Benja- 
min geschrieben! Ich gab Walter Benjamin das Programm zuriick, er 
solle verstandlicher schreiben. So entstand das >Programm eines pro- 
letarischen Kindertheaters< in einer zweiten Fassung. « (Lacis, a. a. O., 
25 f.) - Das Programm ist in Benjamins Nachlafi in einem einzigen 
maschinenschriftlichen Exemplar erhalten geblieben; Hinweise auf 
eine abweichende Fassung - wie sie Asja Lacis zufolge einmal vor- 
handen gewesen sein soil - konnten bislang nirgends gefunden wer- 
den. 

UBERLIEFERUNG 

T Durchschlag eines Typoskripts, mit handschriffclichen Korrekturen 

Benjamins; Benjamin-Archiv, Ts 247-25 1. 
lesarten 763,15 f. Parteiprogramm, genauer:] konjiziert fur Par- 
teiprogramm: genauer, - 764,12 f. u. 14 f. die kursiv gedruckten Satze 
sind in T durch Sperrschrift und dadurch hervorgehoben, dafi mit 
ihnen jeweils eine neue Zeile beginnt. - 765,5 Feuer -] konj. fur 
Feuer, - 765,8 konnen -] konj. fur konnen, - 767,26 vorbersehen] 
konj. fiir vorher sehen - 768,24 f. »einfublende«] konj. fur »ein- 
}Uhlende«, 

nachweise 766,33 »S<hriflen uber Kunst«] s. Conrad Fiedler, 
Schriften iiber Kunst, hg. von Hans Marbach, Leipzig 1896, und 
Konrad Fiedler, Schriften iiber Kunst, hg. von Hermann Konnerth, 
2 Bde., Munchen 1913^ - 767,17 »]ugendkultur«] Anspielung auf 
die Theorien von Gustav Wyneken; s. die 908 nachgewiesenen Schrif- 
ten von Wyneken zur >Jugendkultur<. 



1496 Anmerkungen zu Seite 769—776 

769-772 Kritik der Verlagsanstalten 

uberlieferung 

J Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, 16. 11. 1930 (Jg. 63, Nr. 

46). 
lesarten 769,14 in einander] konjiziert fiir ineinander - 770,7 
Mit] fiir mit - 771,5 vom] konj. fiir von - 771,10 Verlegers t ] 
konj. fiir Verlegers - 771,12 Jew] konj. fiir der 



773-776 Theater und Rundfunk 

Neben den zahlreichen Arbeiten, die Benjamin zwisdien 1929 und 
1932 fiir den Rundfunk verfafite (s. 641-683 sowie Bd. 4, 629- 
720; s. audi Bd. 1, 764 f.), stehen einige wenige, in denen er berich- 
tend oder reflektierend ii b e r das damals neue Medium schrieb: das 
Gespr'dch mit Ernst Schoen von 1929 (s. Bd. 4, 548-551), der Text 
Hormodelle, der wohl Anfang 193 1 entstand (s. Bd. 4, 628), und 
Zweierlei Volkstumlichkeit y eine >grundsatzliche< Aufierung iiber sein 
Horspiel Was die Deutscben lasen, w'dhrend ihre Klassiker schrieben, 
die im September 1932 publiziert wurde (s. Bd. 4, 671-673). Die ge- 
wichtigste dieser Arbeiten stellt indessen der Ende Mai 1932 er- 
sdiienene Artikel Theater und Rundfunk dar; dafi Benjamin selbst 
auf ihn besonderen Wert legte, geht daraus hervor, dafi er zu Beginn 
des Exils daran dachte, ihn ins Franzosische iibersetzen zu lassen. In 
einem undatierten, wahrscheinlich im April 1934 geschriebenen Brief, 
der aus Paris an Gretel Adorno nach Berlin ging, heifit es: Vor allem 
abet habe ich mich bemuht, fur das Problem der Ubersetzung t das 
bei meinen Sachen scbwieriger liegt, als selbst ich es vermutete, eine 
tragfahigere Einrichtung zu trejfen und einige Aussicht bestebt 3 daft 
ich nachstens mit einem wirklichen Kenner des Deutschen werde in 
Beziehung gesetzt werden y der zudem den Vorteil aufweist t kein 
Ubersetzer von Beruf zu sein. Es ist [Jacques] Benoist-Mechin - 
der Name wird Dir nichts sagen. [. . .] Die vielfachen Uberset- 
zungsprojekte legen mir die Frage nahe, ob ich Dich nicht bitten soil, 
meine in Zeitschriften enthaltenen Essays y welche noch bei Dir sind, 
mir zu senden. Ich habe abet Bedenken y Dir noch einmal die Arbeit 
zu machen, die mit der Absendung eines Wertpaketes verbunden ist - 
und da sich unersetzliche Stucke dabei befinden, wage ich nicht t an 
eine einfache Einschreibsendung zu denken. Wie dem auch set - um 
den Artikel »T heater und Rundfunk* in den »Bldttern des Hessi- 
schen Landestheaters« bat ich Dich schon. Hoffentlich ist er noch nicht 



Anmerkungen zu Seite 771—776 1497 

fort und kannst Du den »Julien Green* in der »Neuen Schweizer 
Rundschau* beilegen. Fur den interessiert man sich hier besonders. - 
In diesem Falle genugt naturlicb eine Einschreibsendung. /. . ./ PS 
also - nun dodo nock ein neues Blatt, um Dir meinen Dank fur den 
eben erhaltnen Aufsatz zu sagen. Konntest Du mir den uber Green 
nun auch schickent Ebenfalls eingeschrieben. (o. D. [April 1934], 
an Gretel Adorno) Eine Ubersetzung des Artikels ins Franzosische 
kam nicht zustande. 

An dieser Stelle mogen ein Briefwechsel mit Ernst Schoen sowie zwei 
weitere Texte zum Rundfunk ihren Platz finden. Die beiden letzteren 
- Situation im Rundfunk und Reflexionen zum Rundfunk - sind in un- 
tersdiiedlidiem Grad Fragment geblieben. Nimmt man sie zu den ge- 
nannten, vom Autor selber zum Druck gebraditen Arbeiten hinzu, so 
zeichnen sichElemente einerBenjaminschenRadiotheorie ab,die mit den 
unter diesem Titel zusammengestellten Texten Bredits (s. Bertolt Brecht, 
Gesammelte Werke [werkausgabe edition suhrkamp], Frankfurt a. M. 
1967, Bd. 18, 1 17-134) zu vergleidben von grofiem Interesse ware. 
1. Der folgende Brief wechsel zwisdien Benjamin und Ernst Schoen 
vom April 1930 behandelt den Plan Benjamins, in der »Frankfurter 
Zeitung« einen Aufsatz - wohl auf den Wunsch Schoens hin oder 
dodi seiner Anregung folgend - iiber aktuelle politische Fragen des 
Rundfunks zu verofTentlidien. Obwohl dieser Aufsatz nicht zustande 
kam, sind die beiden zufallig erhaltenen Briefe Benjamins und Schoens 
aufschluftreich fur die Bedingungen, unter denen Benjamins Mitar- 
beit am Rundfunk stand. 

Dr. Walter Benjamin Berlin W jj, den 4. April 1930 

Meinekestr. 9. Gtb. II. 

Lieber Ernst, 

heute fruh kam Dein Brief. Ich danke Dir und antworte postwen- 

dend, um Dido zum gleichen zu veranlassen. 

Zunachst zu den Daten fur den ArtikeL Ich schliefie an das, was Du 

schreibst im folgenden eine Art Fragebogen an, damit wir noch naher 

an die Sache berankommen und zahle die einzelnen Motive noch ein- 

mal auf. 

1. Bagatellisierung des Rundfunks; Ver sagen der liber alen Presse, 
die dabei mitmacht - einverstanden. Hier finde ich mich allein 
weiter. 

2. Garnierung der entscheidenden Ministerialposten durch wilhelmi- 
nische Bonzen - einverstanden. Hier aber finde ich mich allein 
noch nicht weiter. Namen nennen diirfie in einer so eminent poli- 



1498 Anmerkungen zu Seite 773—776 

tischen Angelegenheit fur einen Feuilletonartikel nicbt in Frage 
kommen. Aber desto genauer mussen die Posten, urn die es sich 
da handelt, bezeichnet oder wenigstens angedeutet werden. Rolle 
des Rundfunkkommissars [Hans] Bredowf Rolle des Grafen 
[GeorgJ Arco (der ist wohl nur Tecbniker)? Wo sitzen die Ge- 
genspieler von [Karl] Severing? Auf welche Bestimmungen geht 
die Entstehung der Kulturbeirate zuruck? Wie und wo funktio- 
nieren sief Gerade in dieser Frage will ich natiirlich nicht un- 
mittelb ar auf Frankfurt exemplifizieren,da ich es ja spater an 
wichtigerer Stelle zu tun babe. Du nennst den deutschen Vertre- 
ter in der »Union internationale de Radiophonie*, sagst aber 
nicht j was er macht und wo er sich kompromittiert hat. 

3. Politisierung des Rundfunks als Postulat. - Einverstanden. Hier 
hatte ich gem ein paar Beispiele fur das, was bisher in diesem 
Sinne in Deutschland getan worden ist, d. h. positiv. 

4. Prefidemagogie, die dem Publikum seine Dummheit als einen 
Point d'honneur darstellt. - Einverstanden. Da finde ich mich 
selbst weiter. 

5. Herrschafl des Vereinswesens uber den Rundfunk. — Das scheint 
mir ein ganz besonders wichtiger Punkt. Grade hier aber 
nennst Du nur den Maimer Gesangverein, das genugt nicht, ge- 
rade hier brauche ich dringend mehr Material. 

6. Zensur dichterischer Werke. - Du mufit docb verstehen, dafl ich 
mich nicht auf einen Fall beziehen kann, von dem [Friedrich T.] 
Gubler nichts wissen will, und uber den er erkldrt, authen- 
tische Informationen zu haben, Der Fall Leonhard Frank ist 
ebenfalls nicht zu verwenden. Ich glaube wir kassieren Punkt 6 
und geben der Sache lieber die Wendung: Dichtung nimmt keiner 
ernst, da kqmmt es weniger drauf an, 

7. Rundfunkpresse. - Einverstanden. Sehr wichtig. Da kann ich 
mir das Material selbst verscbaffen* 

8. Korruption in der Wechselbeziebung von Presse und Rundfunk, 
- Ebenfalls richtig [wichtig?]. Fur Einzelheiten aber mochte 
ich nicht auf [Edlef] Koeppen angewiesen sein, auf den Du mich 
hier verweist. Ich halte es nicht fur richtig, die Berliner Einblick 
in das Entstehen dieses Artikels nehmen zu lassen. 

9. Sendegemeinschaft Frankfurt-Stuttgart - einverstanden. 

jo. Der Fall [Ernst] Hardt - wenn ich auf Koln anspielen soil, mufl 
ich von Dir eine ausgefuhrtere Charakteristik haben. Mit einem 
einfachen abschatzigen Urteil - >Vereinslimonade« - wie Du es 
gibst, kann ich an so exponierter Stelle nichts machen. Wenn ich 
hier nicht begrunde, gefahrde ich die Drucklegung des Artikels 
uberhaupt. 



Anmerkungen zu Seite 775—776 1499 

11, Frankfurt, Berlin, Konigsberg als leuchtende Vorbilder. - Ein- 
verstanden, Gern h'dtte ich fiir Konigsberg ein paar Angaben. 

12. Mit dem Fall [Ernst?] Glaeser sick zu beschdfligen scheint mir 
ni<ht richtig. Dazu hat seine Tatigkeit denn dodo zu wenig 
Physiognomie gehabt. Andernfalls bitte ich Dido um die Gegen- 
griinde, 

1$. Interne Sabotage Deiner Arbeit, - Einverstanden. Hier eben 
will ich in der Tat mit au$erstem Nadodruck auf Frankfurt exem- 
plifizieren, 
Es sind also nado beruhmten Mustern dreizehn Thesen geworden. Ant- 
worte mir dodo darauf - darum bitte ich Dido im Interesse der Aus- 
fuhrlichkeit - durdo Schreibmaschine. Nimm in Gottes Namen die 
Frau Ruhemann, wenn Du es den Rundfunksekretdnnnen nidot dik- 
tieren kannst. 

Ich werde [Franz] Hessel ja nun in den nachsten Tagen treffen. Sein 
Verhalten hat mich sehr verstimmt. Wenn ich mir aucb durchaus dar- 
uber klar bin, daft die Griinde, die Du fur dieses Verhalten vermu- 
test, richtig sind und im Ubrigen nidot auf ihn selber zuriickgehen. 
Immerhin, wenn ich an den Fall Proust denke, in dem ich ihn fur ein 
sehr viel grofteres Werk heranzog, nichts Erfreuliches, Scbade, dafi 
man ihm die Moglichkeit dieser Stellungnahme iiberhaupt gab, H'dtte 
ich ste im entferntesten fiir denkbar gehalten, so h'dtte ich Dir gesagt, 
prdsentiere ihm die Arbeit mit mir sogleido, von Anfang an oder 
iiberhaupt nidot. Diese Wendung aber konnten wir ja wohl beide 
nicht vorhersehen. Wichtig ist mir, die Scheinargumente zu erfahren, 
mit denen er Deinen Vorschlag zuriickwies, 

[Wilhelm] Speyer habe ich um telegrafische Obermittlung der Daten 
gebeten. 
Mit der Bitte um schnelle Antwort alles Herzliche 

Dein [Walter Benjamin] 

Georg Speyerstr. 19 
Frankfurt a. M. 
10. 4. 30 

Lieber Walter, 

In der ersten freien Minute vielen Dank fiir Deinen Brief. 

Zu den Daten des Artikels soweit wie mbglich das Folgende: 

I. Bagatellisierung. 

II. Verwaltungsposten. Hier gehen zwei Linien zum selben Ziel, namlich den 
Rundfunk, solange man ihn nicht allein fiir die eigne Politik verwenden 
kann, politisch aufier Betrieb zu lassen, nebeneinander, die ministerielle und 
die private. Die private wird reprasentiert durch die Aufsichtsrate der Ge- 
sellschaften, von denen ich Dir nur als Vorsitzende Dr. C[arl Adolf] 



ijoo Anmerkungen zu Seite 773- yj6 

Schleufiner in Frankfurt und Generalkonsul a. D. Wanner in Stuttgart nen- 
nen kann, beide Deutsche Volkspartei. Die iibrigen privaten Mitglieder der 
Aufsiditsrate sind natiirlich iiberall entsprechend, z. B. in Frankfurt Fritz 
von Opel und ein Generalkonsul Mayer in Darmstadt. Den starken person- 
lichen Einflufi von Wanner auf die Gesamtgeschicke der Frankfurt-Stutt- 
garter Sendegemeinsdiaft infolge seiner umfangreichen berliner ministeriellen 
Beziehungen habe idi Dir wohl schon angedeutet. Stuttgart wird auf Grund 
dieser Beziehungen die erste Sendegesellschaft sein, die einen Grofisender 
bekommt, wobei der Gedanke mitspielt, dafl seine Existenz beweisen soil, 
dafi Frankfurt keinen eigenen Grofisender notig haben wird. Kulturbeirat 
und politischer Oberwachungsausschufl sammtlicher Stationen sind - ich weift 
nicht unter welchem Minister - vom Reichsinnenministerium eingesetzt 
worden. In jedem sitzen je ein Vertreter der Reichsregierung und ein Ver- 
treter der zum Sendebezirk gehorigen Landesregierungen. Im Frankfurter 
Kulturbeirat z. B. Dr. Gebhardt, Leiter des Rhein-Mainischen Verbandes 
fiir Volksbildung als Reichsvertreter, Oberregierungsrat Simons, Kassel, als 
preuflischer Vertreter. Oberstudiendirektor Dr. Faber, Friedberg, als Ver- 
treter Hessens. Ferner Professor Wichert, Bezirkskonservator und Direktor 
der Frankfurter Kunstgewerbeschule (verschwagert mit der LG.) als Vor- 
sitzender, Oberschulrat a. D. Baer, Kassel, Universitatsprediger Dr. Nielen 
als Kathplik, Landtagsabgeordneter Professor Nolting als Sozialist, ein 
Oberschulrat als Vertreter des Saargebiets und Dr. Steinacher, ein Dster- 
reicher, der vom Aufienministerium einen offiziosen Auftrag als Beobachter 
und Propagator des Auslandsdeutschtums hat. Vorsitzender des Frankfurter 
politischen Oberwachungsausschusses ist der Direktor eines Frankfurter 
Finanzamts, Oberregierungsrat Weber, Regierungsvertreter der Sozialist Dr. 
Sturmfels, Centrum der Chefredakteur Rhein-Mainischen Volkszeitung 
Stadtverordneter Dr. Scharp, Demokrat der Polizeiprasident von Offenbach, 
Polizeidirektor Dittmar. Die Mitglieder des politischen Oberwachungsaus- 
schusses haben audi Sitz aber keine entscheidende Stimme im Aufsichtsrat. 
Mitglieder der Aufsiditsrate samtlicher Gesellschaften sind der Reichsrund- 
funkkommissar Dr. h.c. Bredow, der Vorsitzende der Reichsrundfunkge- 
sellschaft, Ministerialrat im Postministerium Giesecke und der Geschaftsfiihrer 
der Reichsrundfunkgesellschaft Dr. Magnus. Sie sind die ausfiihrenden Or- 
gane der Ministerialtendenzen. Bredow entstammt der mittleren Telegraphen- 
verwaltungskarriere, hat im Krieg mit der Organisation der deutschen draht- 
losen Feldstationen zu tun gehabt, bekam bei Begriindung des deutschen 
Rundfunks ein eignes Staatssekretariat. Er verfafite mit dem damaligen 
Reichspostminister die Griindungsurkunde des deutschen Rundfunks, in der 
er ihn als Organ zur Unterhaltung und Belehrung begriindete. Seitdem hat 
er geaufiert, dafi der Unterhaltung - dem Wunsch der Horerschaft ent- 
sprechend - das Hauptgewicht beizulegen sei. Giesecke ist die eine, Magnus 
die andre Hand dieses offentlichen Hauptreprasentanten. Giesecke besonders 



Anmerkungen zu Seite 775—776 1 501 

dumm und reaktionar, Vertreter Deutsdilands in der Union internationale 
de Radiophonie, behindert jede Station im selbstandigen Verkehr mit dem 
Ausland, erklarte neulich als Haupteindruck einer russisdien Studienreise, 
daft in Rufiland iiberall zur Schande Deutsdilands die Bilder von Marx 
und Engels und ahnlichen Briidern aufgehangt seien. Magnus, verhaltnisma- 
fiig geschickt und verbindlich, hat eine Reise 2um Studium des von ihm be- 
wunderten amerikanischen Rundfunks unternommen, der bekanntlich aus- 
schlieftlich Reklamemittel privaten Unternehmertums ist. Die mafigebendsten 
Regierungsstellen sind die Ministerialrate und -direktoren in den Reichs- und 
preufiischen Ministerien der Post, der inneren Angelegenheiten und des 
Kultus, zu deren Dezernaten der Rundfunk gehort. Beispiel fiir private 
Willkiir folgender Fall der letzten Tage: Ministerialdirektor Klauke vom 
Reichspostministerium fordert Dr. Schleufiner jr., den Delegierten des Frank- 
furter Aufsichtsrats beim Vorstand der Sendegesellschaft, auf, zu bewirken, 
dafi seine Nichte zur Gesangsmitwirkung herangezogen werde. Dr. Schleufl- 
ner gibt mir den Brief mit entsprediendem Begleitschreiben welter. Dr. Schiil- 
ler erklart das Verlangen fiir schamlos, aber unumganglich. Beispiel fiir 
die Funktion des Kulturbeirats : Der Frankfurter Kulturbeirat hat in seiner 
letzten Sitzung entgegen dem Protest einer Gruppe von Lehrern erneut einen 
Besdilufi bestatigt, der dem Verbot gleichkommt, Jugendliche vor dem Mi- 
krophon ersdieinen zu lassen. Dr. Gebhardt stellte fiir die nachste Sitzung 
eine formale Kritik des Zwiegespradis im Rundfunk in Aussicht, die unter 
Umstanden zu entsprediender Einschrankung audi dieses Programmpunkts 
fiihren wird. Beispiel fiir die Funktion des politischen Oberwadiungsaus- 
sdiusses: Reichsinnenminister [Walter] von Keudell und preufiischer Minister- 
prasident [Otto] Braun haben seinerzeit je einen Erlafi herausgegeben, der 
die Rundfunkiibertragung sozialistisdier Maifeiern verbietet. Der soziali- 
stisdie Kulturbund hat fiir den ersten Mai dieses Jahres eine Feier zur Ober- 
tragung angeboten, die er selbst als nicht politisdi bezeidinet, und weldie 
die deutsche Welle urspriinglidi zur Ubertragung angenommen hat. Der 
Frankfurter politisdie Oberwadiungsaussdiufi beschlofi unter Zustimmung 
seines sozialistischen Mitglieds, sidi auf den Boden des seiner Zeit heraus- 
gegebenen Ministererlasses zu stellen und dementsprechend die Ubertragung 
fiir Frankfurt abzulehnen. 

III. Der einzige prominente Fall politisdier Verwendung des Rundfunks 
waren bisher die Ministerreden fiir den Youngplan und gegen das Hugen- 
bergsche Volksbegehren, die einen heute nodi nicht vergessenen Sturm in der 
Rechtspresse hervorriefen. Alle iibrige politisdie Verwendung bewegt sich 
auf dem Boden von Befreiungsfeiern, Fahnenweihen und ahnlichen Ereignis- 
sen. Typisch fiir die politisdie Ideologic des Rundfunks sind die sogenannten 
politischen Zwiegesprache der Deutschen Welle, bei denen Parlamentarier 
von der deutschnationalen Volkspartei bis zur Sozialdemokratie sich gegen- 
seitig Hoflichkeiten sagen. 



1502 Anmerkungen zu Seite 773— 776 

IV. Prefi demagogic 

V. Neben dem typischen Einzelfall des Mainzer Gesangvereins kann ich 
nodi Erscheinungen nennen wie die Herrschaft des deutschen Auslandinsti- 
tuts, in dessen Aufsichtsrat der selbe Generaikonsul Wanner ist, iiber das 
Vortragsprogramm des Stuttgarter Senders, die Tyrannis des Frankfurter 
Stadtgesundheitsamtes iiber medizinische Vortrage dieses Senders, den Ein- 
flufi der grofien Reedereien auf die Programme der Norag, und die Einfliisse 
der Industrie- und Handelskammern, Landwirtschaftskammern und Hand- 
werkskammern auf alle Sender. In Frankfurt gibt es neben dem genannten 
Rhein-Mainischen Verband fiir Volksbildung unter Leitung des Reichsver- 
treters im Kulturbeirat Dr. Gebhardt mit wochentlich 1V2 Stunden im Pro- 
gramm, noch den Frankfurter Bund fiir Volksbildung mit einer halben Stunde 
alle vierzehn Tage, den Frankfurter Hausfrauenverein mit einer Stunde pro 
Woche, den Hessen-Nassauischen Frauenverband mit einer halben Stunde 
alle vierzehn Tage, einen Turnus der Morgenfeiern zwischen Protestanten, 
Katholiken und Freireligiosen mit paritatischem Verteilungsschlussel und 
wochentlich eine Stunde obligatorischen Chorgesangs unter Aufsicht des 
Deutschen Sangerbundes und des Deutschen Arbeitersangerbundes. Dazu 
kommen zahlreiche hier vergessene und zahlreiche freiwillige Leistungen der 
Sendegesellschaften, sowie zahlreiche derartige Pflichtveranstaltungen von 
Fall zu Fall. Die Frankfurter Zeitung und die sozialistischen Gewerkschaf- 
ten haben wochentlich je eine halbe Pflichtstunde. 

VI. Zensur dichterischer Werke. Ich gebe zu, dafi die beiden zuletzt in der 
Offentlichkeit besprochenen Falle Frank und [Erich] Ebermayer wegen 
Flesch und Gubler nicht zu verwenden sind. Der Einzelfall spielt aber hier 
vielleicht doch uberhaupt keine entscheidende Rolle. Dafi aber keinesfalls 
iiber diesen Punkt hinweggegangen werden sollte, dafiir liefert mir unter 
anderm eine Aufterung von Gubler den indirekten Beweis, der mir bei 
unserm Zusammentreffen, iiber das weiteres unten, kokett versicherte, was 
denn uberhaupt in den Rundfunk nicht Eingang finden konne? Er meinte, 
wahrscheinlich fande ich doch ebenso wenig Geeignetes wie er - nebbich - 
fiir die Zeitung und forderte mich auf, ihm als Material eine Liste der Dinge 
aufzustellen, denen der Rundfunk versagt werde. Sicher wiirdest Du ihm 
sehr willkommen sein, wenn Du ihm gleich als Punkt sechs mit einer solchen 
Liste dienen wiirdest, die Du ganz besonders schon aus Chorgeist gegen 
Deinen eignen Stand von Lukian, Aretino, Rabelais, Villon, Boccaccio, 
Casanova bis Panizza, Wedekind, Barbusse, Brecht e tutti quanti aufstellen 
solltest. 

VII. Rundfunkpresse. 

VIII. Prefikorruption. Hier weifi ich leider keirte Einzelheiten, da ich sie 
selber leider nie ausgeiibt habe noch auch das Geld dafiir in die Hande 
bekam. Der berliner Rundfunk miifite von Beweisen nicht nur innerhalb 
seines eignen Hauses und aus diesem meiner Meinung nach vollig iiber- 



Anmerkungen zu Seite 773—776 1503 

schwemmt sein. Als kleinere Unternehmung auf diesem Gebiet diirften im- 
merhin die laufenden standigen Vortragsreisen bei den Sendegesellschaften 
der Herren von Heister und Tasiemka vom »Deutschen Rundfunk« und 
des Herrn Frank Warschauer gelten konnen. 

IX. Sendegemeihschaft Frankfurt-Stuttgart. 

X. Der Fall Hardt ist identisch nut dem Wortlaut jedes Wochenprogramms 
des we'stdeutschen Senders. Hardt ist der Asthetiker und Volksredner des 
Rundfunkbyzantinismus. Ich bitte Dich hierzu um Lektiire des Jahrbudis 
der Werag, feiner Geschenkband, in jeder besseren Rundfunkbuchhandlung 
erhaltlich. 

XI. Fur Konigsberg bitte ich Dich, Dich rein auf [Hermann] Scherchens 
musikalische Arbeit zu beschranken. Ein Satz uber die Bildung seines Or- 
chesters, seine Auswahl und Ausfiihrung musikalischer Werke, und eine 
melancholische Frage an das Schicksal, wielange er es im Rundfunk wohl 
aushalten werde, sollte hier zureichen. 

XII. Uber den Fall Glaeser bitte ich Dich zu entscheiden. Kein Zweifel 
immerhin, dafi er z. B. in der Frankfurter Zeitung und in der Weltbiihne 
wichtig genommen wird. 

Und damit kame Punkt dreizehn. 

Am Dienstag war die bewufite Kulturbeiratsitzung. Ich verlas nach Thesen 
und Korrektur von Wichert ein beinah einstiindiges Referat, uber das ich 
selbst so geriihrt war, dafi ich am Schlufi beim kronenden Schillerzitat zu 
stottern begann, von Wichert mit starker Stimme unterstiitzt werden mufite, 
und fast in Tranen ausbrach. Oberstudiendirektor Faber aus Friedberg riigte 
scharf meinen Stil, den er eine Schreibe nannte, besonders den haufigen Ge- 
brauch von abstrakten Nomina auf ung und von Fremdwortern. Er riet mir 
zum haufigeren Gebrauch von einfacheren Satzen aus Subjekt, Objekt und 
Pradikat. Im iibrigen wurde ich aufgefordert, das Ding in Fortsetzungen 
in der S[udwestdeutschen] R[undfunk-]Z[eitung] drucken zu lassen. In 
interner Sitzung zum Schlufi behaupteten die Herren dann, Wichert habe 
ihnen ihre Einwande abgeschnitten. Zu Schuller aufierte einer telephonisch, 
die miihsam zuriickgedrangte Diskussion miisse auf die Tagesordnung der 
nachsten Sitzung. Hoffen wir, dafi Dein Aufsatz ihnen den Rest gebe, wobei 
mir sofortige Aufnahme cles Gegenstands mindestens durch die Weltbiihne 
und die Literarische Welt und, wic ich Dich bitte, mit moglichst starker 
Bezugnahme auf meine Person dringend geboten scheint. Die Weltbiihne ist 
es, glaube ich, die am Schlufi jeder Nummer Hinweise auf das Rundfunk- 
programm gibt, in denen Frankfurt gegeniiber Berlin, Breslau und Koln 
offenbar aus mangelnder Sachkenntnis lacherlich wenig figurlert. Ich mache 
Dir ubrigens den Vorschlag, mir Deinen Aufsatz zur Ansicht zu schicken, 
bevor Du ihn an Gubler gibst, schon wegen der notigen Sachkorrekturen. 
Mein Eindruck von Gubler geht dahin, ihn fur einen wiirdigen Nachfolger 
[Benno] Reiffenbergs zu halten, schon, von koketter Priesterwurde im Dienst 



1504 Anmerkungen zu Seite 775—776 

am grofien Werk. Seine Auffassung von Strenge gegen sidi selbst scheint mir 
vor allem in der Strenge gegen andre zu beruhen. Midi jedenfalls fragte 
er nach den Klagen, die idi, seiner Meinung nadb scheinbar krankhafterweise, 
gegen den Rundfunk vorzubringen habe, wie nur ein Psychoanalytiker. Er 
liefi mich merken, dafi ich ihm personlich ebenso unsympathisch sei wie der 
Rundfunk. Allerdings war er infolge einer ungeschickten Bemerkung, die 
ich ausgerechnet gegen Herrn [Wolfgang] Weyrauch hatte fallen lassen, ge- 
warnt, dafi er mich bei Classen treflen wtirde. Allerdings aber audi hatte mir 
nichts ferner gelegen, als ihm auf diesem Boden mit Rundfunk zu kommen, 
wahrend er sich an den Teetisch setzte wie General Hoffmann an den Ver- 
handlungstisch von Brest-Litowsk. Er sagte audi, dafi Du ihm einen Rund- 
funkartikel einer der meinen ahnlichen Tendenz vorgeschlagen habest, dafi 
er aber wegen der gefahrlichen Tiefe des Themas nodi nidit wisse, ob er 
ihn bringen werde. 

Idi habe fur Speyers Vorlesung Mittwodi, den 30., fiir Euer Gesprach 
Donnerstag, den 1., fiir Deine Bucherstunde wahrscheinlidi Sonntag, 
den 4. festlegen, bezw. vorsehen miissen. Bitte drahte mir Zustimmung und 
genaue Titel fiir die beiden ersten, als Thema der dritten bitte idi Dich nidit 
[Werner] Hegemann sondern Kracauers Angestellte zu wahlen*. 
Hessel gab als Weigerungsgrund seinerzeit mit lunatisdier Hartnackigkeit 
immer wieder nur Deine Neigung an, »alles schwer zu machen*. Das Werk 
ist in zwei Akten gedacht. Heute sandte er mir den ersten - zehn Schreib- 
maschinenseiten! -, der an Leiditigkeit allerdings nidits zu wiinsdien iibrig 
lafit, und droht mir fiir morgen bereits mit dem zweiten. Wenn er damit 
2000 Mark zu verdienen gedenkt, so bleibt mir, um ihm ein Paroli bieten 
zu konnen, allerdings weiter nichts ubrig, als wahrend des ganzen Vorgangs 
abwechselnd und gemeinsam von alien beteiligten Instrumenten die C-dur 
Tonleiter spielen zu lassen. Statt dessen wird mir wohl nichts andres ubrig- 
bleiben als audi den Text noch zu verfassen, wobei er also allein fiir 
die Hergabe seines guten Namens 2000 Mark erhielte, was mir immerhin 
fiir den schonsten Namen reichlich bezahlt sdieint. Es geniige Dir zu wis- 
sen, dafi er den Helden Hanspeter nennen will. So ist das ganze Stuck. Ver- 
zeih mir, aber Du selbst hast Schuld an meinem unseligen Mifigriff, und ich 
hoffe nur, dafi Du zu Deinen Freunden von mir in denselben homerischen 
Tonen zu sprechen pflegst, in denen Du jene mir zu schildern pflegst. Im- 
merhin solltest Du um der guten Sache von 1000 Mark willen versuchen, 
ihm noch in letzter Stunde Deine Partnerschaft mit dem Revolver in der 
Hand Hebe- und kraftyoll anzutragen. 

* Die Sudwestdeutscfae Rundfunk-Zeitung verzeichnet fiir Freitag, den 9. Mai 1930, 
ein »Gesprach zwischen Wilhelm Speyer und Dr. Walter Benjamin* unter dem Titel 
Rezepte fiir Komodienscbreibet sowie fiir Sonntag, den 11. Mai 1930, ein Referat 
von Benjamin im Rahmen der Sendereihe »Biidierstunde« uber Siegfried Kracauers 
Buch »Die Angestellten* 



Anmerkungen zu Seite 773—776 1 50 j 

So viel fur heute. Es ist imttlerweile bereits der elfte geworden. Und die 
schonsten Griifie von uns. 

Dein Ernst 
Druckvorlagen: Benjamin -Archiv, Abt. Briefe I (Originale) 

2. Der in Benjamins Nadilafl vorhandene Text Situation im Rund- 
funk 1st fraglos nicht der projeknerte Artikel, von dem im vorstehen- 
den Briefwechsel die Rede ist. Moglidierweise aber wurde Situation 
im Rundfunk nicht viel spater gesdirieben: der Bau von Grofisendern 
wird audi in Schoens Brief erwahnt; Benjamins Glosse ware dann 
1930 entstanden. Immerhin konnte diese sich audi auf Mafinahmen 
beziehen, die im Zusammenhang mit den »Richtlinien fiir die Neu- 
ordnung des Rundfunks« standen, welche am 17. 11. 1932 von der 
Regierung von Papens erlassen wurden und die Oberf uhrung des 
Staatsrundfunks in die Hande der Nationalsozialisten vorbereiteten. 
- Dafi Benjamins Glosse fiir den Druck - der dann freilidi nidit er- 
folgt ware - verfaflt wurde, ist eher unwahrsdieinlidi: die Spradie 
des kurzen Textes sdieint einen Memorandendiarakter zu indizieren. 
Es konnte sich um Diskussionsthesen handeln, mit denen Benjamin 
vielleicht Ernst Sdioen ausstatten wollte. 

Situation im Rundfunk 
Unwirtschaftliches und uniibersichtliches Chaos der Programme. Um 
dem zu begegnen, sollen jetzt die Programme je einer Station auf 
mebrere andere Sender ubertragen werden. Soweit ist alles in Ord- 
nung, das wurde in der Arbeit eine Vereinfachung ergeben - gleich- 
zeitig aber gebt folgendes vor sido: das Ausland hat einige Groftsen- 
der, die den Empfang der kleineren deutschen Sender so storen, dafi 
oft ihr Radius nicht iiber 40 oder $0 km hinausreicbt. Man hat Kon- 
ferenzen anberaumt, um durch zweckmafiige Festsetzung der Wellen- 
langen diese Mifistdnde abzuschaffen. Ohne den Erfolg dieser Konfe- 
renzen abzuwarten, hat man jetzt den Bau von 9 oder 10 Grojl- 
sendern beschlossen. Angeblich aus dem angefuhrten Grunde, man 
wilnsdoe den Empfang gegen Storungen sicher zu stellen (fiir diese 
Sender naturlicb wieder Extraprogramme. Was auf der einen Seite 
vereinfacht wird, geht auf der anderen verloren. Sieg des Doppelpro- 
gramms auf der ganzen Linie.) Der wahre Grund fiir den Bau dieser 
Sender liegt aber ganz woanders: er ist politisch. Man wunscht weit- 
reichende Propagandainstrumente fur den Kriegsfall zu haben. 

Drudtvorlage: Ben jamin- Arch iv, Ts 1808 

3. Reflexionen zum Rundfunk wurden 1930 oder 193 1, mit Sicher- 
heit aber vor November 193 1 gesdirieben. 



1506 Anmerkungen zu Seite 775—776 

Reflexionen zum Rundjunk 
Es ist der entscheidende Irrtum dieser Institution, die grunds'dtzliche 
Trennung zwischen Ausfuhrendem und Publikum, die dutch ibre tech- 
nischen Grundlagen Lugen gestrafl wird, in ihrem Betrieb zu ver- 
ewigen. Jedes Kind erkennt, dap es im Sinne des Radios liegt s belie- 
bige Leute und zu beliebiger Gelegenheit vors Mikrophon zu fubren; 
die Offentlichkeit zu Zeugen von Interviews und Gespracben zu 
machen, in denen bald der bald jener das Wort bat, Wabrend man in 
Rutland am Werke ist, diese naturgemafien Folgerungen aus den 
Apparaten zu Ziehen, beherrscht bei uns der stumpfsinnige Begriff der 
»Darbietung«[>] in der en Zeicben der Ausiibende dem Publikum 
gegenubertritt, fast unangefochten das Feld. Dieser Widersinn hat da~ 
zu gefuhrt, dap noch heute, nach Jabre langer Praxis, das Publikum, 
vollig preisgegeben, unsachverstdndig in seinen kritischen Reaktionen 
mehr oder minder auf die Sabotage (das Abschalten) angewiesen 
geblieben ist. Nie bat es noch ein wirkliches Kulturinstitut gegeben, 
das sich als solches nicht durch das Sachverstandnis beglaubigt hdtte, 
das es kraft seiner Formen, seiner Technik im Publikum erweckt hatte. 
Das war der Fall des griechischen Theaters genau so wie der der 
Meister singer, der der franzosischen Buhne genau so wie der der Kan- 
zelredner. Erst die neueste Zeit hat mit der schrankenlosen Ausbildung 
einer Konsumentenmentalitdt im Operettenbesucher, im Romanleser, 
im Vergnugungsreisenden und dhnlicben Typen die stumpfen, unarti- 
kulierten Massen - das Publikum im engeren Sinn geschajfen, das keine 
Majistdbe fur sein Urteil, keine Sprache fur seine Empfindungen hat. 
In der Haltung der Massen dem Rundfunkprogramm gegenuber hat 
diese Barbarei ihren Gipfel erreicht und scheint nunmehr bereit zu 
sein, umzuschlagen. Es gehorte dazu nur eines: die Reflexion des 
Horers ware auf sein reales Reagieren hinzulenken um es zu scbar- 
fen und zu recbtfertigen. Die Aufgabe freilich ware uniosbar, wenn 
dies Verhalten wirklich wie die Letter, und noch mehr die Darbieten- 
den sich einzureden lieben, mehr oder weniger unberechenbar, vor 
allem im wesentlichen oder gar allein vom stofflichen Charakter des 
Gebotenen abhdngig ware. Die einfachste Besinnung beweist das 
GegenteiL So entschlossen hat wohl noch nie ein Leser ein Buch, in das 
er eben erst hineingesehen, zugeklappt wie nach Verlauf der ersten 
anderthalb Minuten vieler Vortrage die Rundfunkborer ibre Laut- 
sprecher [abschalten]. Die entlegene Materie macbt['Js nicht, sie ware 
in vielen Fallen eher ein Anlafi, sicb's eine Weile unverbindlich an- 
zuboren. Es ist die Stimme, die Diktion, die Sprache - mit einem Wort 
die technische und formate Seite der Sache, die in so vielen Fallen die 
wissenswertesten Darlegungen dem Horer unertrdglich macht genau 
so wie sie, in einigen wenigen, ihn an die ihm entlegensten fesseln 



Anmerkungen zu Seite 773—776 1 507 

kann. (Es gibt Sprecher, denen man sogar bei den Wettermeldungen 
zuhort.) Diese techniscbe und formate Seite ist es demnacb, an der 
allein das Sachverstandnis der Horer sich schulen und dem Barbaren- 
tum entwachsen konnte. Die Sache ist uberaus naheliegend. Man 
braucht sich nur einmal zu uberlegen, was es ausma<ht } dafi die 
Rundfunkhorer, im Gegensatz zu jedem andern Publikum, das Dar~ 
gebotene bei sich zu Hause, die Stimme gewissermafien als Gast emp- 
fangen. Man hat sie denn gewohnlich auch schon beim Eintritt, so 
schnell und scharf wie einen Gast geschdtzt. Und dafl ihr dennoch 
niemand sagt, was man von ihr erwartet, was man ihr danken, was 
man ihr nicht verzeihen wird, u.s.f. Das ist nur mit der Indolenz der 
Masse und mit der Beschrdnktheit der Fuhrenden zu erklaren. Leicbt 
ware es naturlich garnicht, das Benehmen der Stimme im Verhaltnis 
zur Sprache - denn um diese beiden handelt sich[ 3 Js - zu umschrei- 
ben. Aber hielte der Rundfunk sich nur an das Arsenal von Unmog- 
lichkeiten, das ihm Tag fiir Tag zugefuhrt wird, ginge er nut vom 
Negativen, etwa von einer komischen Typenlehre der Redner aus y er 
wiirde nicht nur den Standard seines Programms verbessern sondern 
vor allem das Publikum als Sachverstandigen auf seiner Seite haben. 
Und das ist das Wichtigste. 

Druckvorlage: Benjamin-Ardiiv, Ms 674, S. 15 f. 



UBERLIEFERUNG 

J Blatter des hessischen Landestheaters, Darmstadt, 1931/32, 184-190 

(Heft 16: »Theater und Rundfunk«). 
lesarten 773,24 darstellen] konjiziert fiir darstellt - 774^4 so- 
wenig] fiir so wenig 

nachweise 773,19 f. » Lindbergh flug«] richtig: »Der Flug der Lind- 
berghs«, 1930 in Heft 1 der »Versuche« von Bertolt Brecht (Berlin, 
Gustav Kiepenheuer Verlag) erschienen; s. aber audi Nachweis zu 
537,2. - 773,20 »Das Badener Lehrstuck*] »Das Badener Lehrstiick 
vom Einverrstandnis«, 1930 in Heft 2 der »Versuche« erschienen. - 
773,20 f. »Der Jasager*, »Der Neinsager«] die beiden Schulopern 
erschienen 193 1 in Heft 4 der »Versuche« gemeinsam; »Der Jasager« 
war bereits 1930 in zwei Sonderausgaben (»Aus dem 4. Heft >Ver- 
suche<«) erschienen, von denen die fnihere im Text abweicht. - 773,33 
Anregung] s. Bd. 4, 628-640; s. auch Wolfgang M. Zucker, So ent- 
standen die Hormodelle, in: Die Zeit, 24. 11. 1972, Literaturteil, 
7. - 776,10 »Eduard //.*] s. Leben Eduards des Zwei ten von Eng- 
land (nach Marlowe), Historie von Bertolt Brecht, Potsdam 1924 - 
776,10 »Dreigroscbenoper«] von Brecht nach John Gay; erschienen 
193 1 in Heft 3 der »Versuche«. - 776,11 Jasager - Neinsager] s. den 
Nachweis zu 773,20 f. 



1508 Anmerkungen zu Seite 776—803 

776-803 ZUM GEGENWARTIGEN GESELLSCHAFTLICHEN STANDORT DES 
FRANZOSISCHEN SCHRIFTSTELLERS 

Der Aufsatz Zum gegenwdrtigen gesellschaftlichen Standort des fran- 
zbsischen Scbriftstellers ist der erste, den Benjamin in der von Hork- 
heimer im Auftrag des Instituts fur Sozialforschung herausgegebenen 
»Zeitschrift fur Sozialforschung« veroffentlichte. Kennengelernt hat- 
ten Benjamin und Horkheimer sich Mitte der zwanziger Jahre, als 
Benjamin seine Frankfurter Habilitationsplane verfolgte, die Hork- 
heimer, als Assistent von Hans Cornelius - an dessen ablehnendem 
Gutachten Benjamins Habilitation nicht zuletzt scheiterte (s. Bd. i, 
895-902) -, vergeblich zu fordern versuchte (mundliche Mitteilung 
von Max Horkheimer). In den folgenden Jahren, vor allem seit 1929, 
begegneten Benjamin und Horkheimer sich gelegentlich der haufigen 
Reisen, die Benjamin zu Radiosendungen nach Frankfurt fuhrten. 
1935 erinnerte er Adorno an die >erste< Epoche der Arbeit am Pas- 
sagenwerk: Es waren die frankfurter Gesprdche mit Ihnen und ganz 
besonders das »historische« im Schweizerhauschen, danach das gewifi 
historische [in Kronberg] um den Tiscb mit Ihnen, Asja [Lacis], Feli- 
zitas [Gretel Adorno) ', Horkheimer, die das Ende dieser Epoche berauf- 
fiihrten. (Brief e, 663) Schon bevor Horkheimer im Januar 193 1 die Lei- 
tung des Instituts fin* Sozialforschung ubernahm, gab esdasProjekt eines 
Vortrags, den Benjamin im Institut halten sollte. In einem Brief 
vom 10. 11. 1930 an Adorno - der selber dem Institut damals nodi 
nicht angehorte, aber dutch seine Freundschaft mit Horkheimer jenem 
eng verbunden war - heifk es: Was Sie an dem Thema, das ich fur 
Frankfurt vorschlug, ausstellen, kommt eigenen Bedenklichkeiten ent~ 
gegen. Um so lieber nehme ich Ihre Formulierung: Zur Pbilosophie 
der Literaturkritik auf. Dieser Tage schreibe ich das Horkheimer. 
Es ware aber sehr lieb> wenn Sie ihm diese neue Themenform 
gleich mitteilen und diese Mitteilung mit der weiteren verbinden woll- 
ten, daft, angesichts des erwdhnten Trauerfalls [scil. des Tods von 
Benjamins Mutter J mir die Verscbiebung meines Vortrags auf einen 
Termin nach Weihnachten - etwa auf Mitte Januar - sehr willkom- 
men ware. (10. 11. 1930, an Th. W. Adorno) Zustande gekommen ist 
ein Vortrag Benjamins im Institut fur Sozialforschung anscheinend 
nicht. - Im Herbst 1932 erschien das erste Doppelheft der »2eitschrift 
fiir Sozialforschung«; Benjamin schrieb dariiber Anfang September 
aus Poveromo an der Riviera di Levante an Adorno: Ich hoffe, daft* 
ich nun aucb sehr bald Ihren Aufsatz [scil. »Zur gesellschafllichen 
Lage der Musik*] im Horkheimer schen Archiv zu Gesicht bekom- 
me - und, wenn ich nock eine Variant e dieses Wunsches aussprechen 
darf, mit dem Aufsatze auch die erste Nummer dieses Archivs selbst, 



Anmerkungen zu Seite 776—803 1509 

das mich natiirlich lebhafl inter essiert. (Briefe, 557) In dieser Zeit 
geriet Benjamins okonomische Existenz in eine schwere Krise. Ich 
sitze bier - schrieb er aus Poveromo an Scholem -, ohne irgendeinen 
der Versucbe, mir das notigste, um auch nur meine Rechnung zahlen 
zu konneriy gliicken zu sehen, dutch die V or gauge im berliner Rund- 
funk, der Einnahmen auf die ido rechnen konnte, ganz beraubt, mit 
den finstersten Gedanken . . . (Scholem, Walter Benjamin - die Ge- 
schichte einer Freundschaft, a. a. O., 236) »Am 25. Oktober schrieb 
[Benjamin] mir« - so Scholem - »nach Jerusalem in einem Ruckblick 
auf seinen Zustand [...], seine Arbeiten seien zur Zeit in Deutscbland 
Gegenstand eines Boykotts, der nicbt besser organisiert sein konnte, 
wenn icb ein kleiner judischer Kleiderhandler in Neu-Stettin ware. Die 
Frankfurter Zeitung habe seit vier Monaten seine samtlichen Briefe 
und Manuskripte unbeantwortet, beziehungsweise ungedruckt gelas- 
sen. Den Brief y den die Redaktion der Literarischen Welt mir geschrie- 
ben hat, um mir mitzuteilen, daft sie zur Zeit auf meine Mitarbett 
keinen Wert legt, werde ich der Handschriflenabteilung der Bibliothek 
Jerusalem hinterlassen, die, wenn es nach den Dispositionen des deut- 
schen Vaterlands geht, recht schnell in seinen Besitz kdme. [. . .] 
Einen Monat spater [scil. im Januar 1933] war sein Pessimismus 
einer eher, wenn auch sehr gemafiigten, optimistischen Betrachtung 
gewichen, und er teilte mir die Aufnahme seiner Verbindung zu 
Horkheimers >Zeitschrift fiir Sozialforschung< mit.« (a. a. O., 239 f.) 
Als Benjamin im November 1932 aus Italien nach Deutschland 
zuriickkehrte, hatte er seinen Weg iiber Frankfurt genommen und 
Adorno vorher geschrieben: Mir liegt diesmal auflerordentlicb daran, 
Horkheimer zu sehen. Und zwar in praziser Absicht. Soil und kann 
vom Institut aus etwas zur Stutzung meiner Arbeit unternommen 
werden y so ist es jetzt der Augenblick, da sie von alien Seiten sabo- 
tiert wird. (Sie versteben; und Sie verstehen auch, wenn ich Sie an 
dieser Stelle bitte y die Nachricht von meinem Kommen ganz vertrau- 
lich zu behandeln.) Ich mochte Horkheimer eingehende Vorschlage 
fur einen gr often Aufsatz im Archiv im Sinne des Ihrtgen machen. 
Stellen Sie ihm die Notwendigkeit einer Aussprache dringlich vor. 
(10. 11. 1932, an Th. W. Adorno) Am 15. 1. 1933 schrieb er dann an 
Scholem: Ich habe [. . ./ in letzter Zeit versucht, mir neue Verbin- 
dungen zu schaffen und bin dabei einerseits auf die Vossische Zeitung, 
andererseits auf die frankfurter Zeitschrifl fiir Sozialforschung ge- 
stolen. Diese hat mir Auf tr age teils gegeben, teils in Aussicht ge- 
stellt. (Briefe, 561) 

Es ist anzunehmen, dafi der Aufsatz Zum gegenwartigen gesellscbaft- 
lichen Standort des franzosischen Schriftstellers bereits im November 
1932 mit Horkheimer verabredet worden ist: Benjamin - der Mitte 



1 5 io Anmerkungen zu Seite 776—803 

Marz 1933 ins Exil ging - berichtete noch in Berlin Gretel Adorno 
uber diesen Auftrag (s. u.); dafl er aber zwischen Januar und Marz 
1933 noch einmal mit Horkheimer sich getroffen haben konnte, ist 
kaum anzunehmen. Nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Paris 
fuhr Benjamin Anfang April nach Ibiza. Am 15. April schrieb er an 
Gretel Adorno: Von Max [Horkheimer] bekam ich einen recht aus- 
fuhrlichen Brief aus Genf, dem ich immerhin soviet entnehmen kann, 
daft die Zeitschrifl fortgefuhrt wird und wetter mit meiner Mitarbeit 
rechnet. Dafi gerade eine Soziologie der franzosiscken Liter atur, die 
man zundchst von mir erwartet, von hier aus nicht ganz leicht zu ver- 
fassen ist, versteht sich von selbst. Immerhin habe ich sie in Paris vor- 
bereitet so gut ich konnte. (Brief e, 569) In einem nicht datierten, aber 
nur wenige Tage sparer geschriebenen Brief an Gretel Adorno heifit es: 
Die ndchste Arbeit ist nun die uber Soziologie der franzosiscken Belle- 
tristik, von der ich Ihnen bereits in Berlin sprack. Es ist naturlick 
auflerordentlick sckwer, von hier aus sie zu schreiben, Ich mufite so- 
weit gekn, in meinem letzten Brief e, Max zu ersucken, mir - eventuell 
a conto meines kunfligen Honorars - einige Bande, die unerlafllich 
sind, hierher zu schicken. Das waren naturlich solche, die ich nicht be- 
sitze. Leider erweist sich aber, dafi ich auch von diesen letztern (denen, 
welche ich besitze) einige nicht entbehren kann. Ich habe sie auf 
einem Zettel, der hier beiliegt, angegeben. Dafi es beinah unmoglich 
ist, es Ihnen zuzumuten, mir diese Bucher - unter den broschierten 
franzosiscken - herauszusuchen und zu schicken, dafi es Sie einen 
halben Sonntag kosten kann - ich weifi das alles und mir nicht zu 
helfen. Das einzige, was ich vielleicht noch fragen konnte - und auch 
da bin ich nicht sicher, dafl Sie mich nicht falsch verstehen - ware, ob 
Wiesengrund[ -Adorno J zu diesem grofien Dienst bereit sein konnte. 
Er h'dtte den Vorteil, vormittags an einem Wochentage, wenn der 
Mieter im Buro ist, heraufgehn zu konnen. (o. D. [April 1933], an 
Gretel Adorno) Der Brief uberkreuzte sich mit einem von Gretel 
Adorno, den Benjamin am 30. April beantwortete : Die gestrige [scil. 
Nachricht] - vom 24*™ - hast Du noch vor Erhalt des letzten 
langen Brief es von mir geschrieben, der sehr herzlichen Dank fur die 
Ostersendung und daneben eine Bitte um vier, funf Bucher meiner 
Bibliothek enthielt, die ich sehr notig brauche, um den Essay fur Max 
zu schreiben. Du hattest meiner Ansicht nach bereits in dem Besitze 
meines Briefs sein mussen. Es ware schade - wenn auch ganz be- 
stimmt nicht tragisch - ware er verloren, denn er gab die Schilderung 
der ersten Eindrucke nach meiner Ankunfl. Was nun die Bitte um 
einige Bucher betrifft, die unter den broschierten, teils in den untern 
Reihen der Fensterwand, meist aber gegeniiber, auch in den untern 
Reihen, zu finden sind, so handelt sichs im wesentlichen um drei 



Anmerkungen zu Seite 776—803 1511 

Biicher von E[mmanuelJ Berl: Mort de la morale bourgeoise y Mort de 
la pensee bourgeoise, Le bourgeois et Vamour; daneben [Albert] 
Thibaudet: La republique des professeurs. Und endlich stehn unter 
den Buchern iiberm Sofa noch ein oder zwei V bersetzungen von 
[Blaise] Cendrars, die zu haben mir wichtig ware. Und auch die 
Bitte diese grofie BemUhung zu verzeihen, wie die Frage, ob Du damit 
nicht Wiesengrund betrauen konntest, wiederhole ich. (30. 4. 1933, an 
Gretel Adorno) Am 16. Mai war Benjamin im Besitz seiner Biicher: 
Ich glaube y es ist richtig, Ihnen - Benjamin und Gretel Adorno wech- 
selten in ihrer Korrespondenz eine Zeitlang zwischen »Du« und »Sie« 
- endlich in einem guten Augenblick zu schreiben; vielleicht erscbien, 
und war, mein letzter Brief ein wenig bewolkt. Es konnen sich schon 
manchmal Wolken sammeln, die einen Schatten auf mein Schrifibeet 
werfen. Nun fuhle ich mich aber aufgeheitert durch eine kleine Sen- 
dung Biicher , die ich eben von Max aus Genf bekommen habe und 
mil deren Hilfe ich nun, gestutzt auf Ihre Sendung, endlich die Arbeit 
mit der Hoffnung beginnen kann, notdurfiig ihre Armut zu beklei- 
den. Denn armlich mufi so ein Versuch sogar bet reichen technischen 
Mitteln ausfallen, weil es Vorarbeiten so gut wie garnicht gibt. Ich 
habe mir die ersten Gedanken uber ihn bei der Lekture des Buches 
von Celine »Voyage au bout de la nuiu gemacht, von dem Sie 
selbstverst'dndlich gehort haben. Da ich jedoch vom Ende des umfang- 
reichen Bandes noch weit entfernt bin, will ich diese Gedanken fur 
heut noch fur mich behalten. Nun habe ich noch vierzehn Tage bis zur 
Ablieferung dieses Manuscripts und diese wollen vom Morgen bis 
zum Abend verwertet sein. (16. 5. 1933, an Gretel Adorno) Ein wahr- 
scheinlich in der zweiten Halfte des Juni geschriebener Brief meldet 
den Abschlufl des Aufsatzes: Ich bin fleijiig gewesen und habe uber 
»den gegenwdrtigen gesellschafllichen Standort des franzosischen 
Schriftstellers* eine Arbeit im Umfang von vierzig Maschinenseiten 
geschrieben. Dabei habe ich mich auf Gastfreundschafl stutzen mus- 
sen, die mir in der Stadt Ibiza - Benjamin wohnte damals in San 
Antonio - gewahrt wurde. (Brief e, 581) Der Abschnitt uber Mal- 
raux' »La condition humaine« wurde allerdings erst spater ge- 
schrieben, wie aus einem Brief vom Januar 1934 hervorgeht: Mich hat 
in der vergangnen Woche der letzte Roman von Malraux beschdfiigt, 
dessen Betrachtung ich meinem ausfkhrlichen Aufsatz in der Zeitschrift 
von Max nachtraglich einfugen muflte. Das Buch ist, wie mir scheint, 
hochst interessant - auch faszinierend aber keineswegs forderlich. Ich 
denke, eine Obersetzung wird in absehbarer Zeit erscheinen. Jedenfalls 
muflt Du es Dir gelegentlich vornehmen. Ich wurde gem an irgend ei- 
ner Stelle das Werk so ausfUhrlich behandeln, wie es am Platze ware, 
weifi aber keine. (o. D. [Januar 1934], an Gretel Adorno) 



15 ii Anmerkungen zu Seke 776—803 

Ober die Entstehung seines Aufsatzes beriditete Benjamin audi an 
Scholem: Denn wenn sich auch - schrieb er am 19. 4. 1933 aus Ibiza - 
eine kleine Hausbiicherei von jo bis 40 Bdnden, teils aus Noeggerath- 
schen Bestanden, teils aus meiner Hinterlassenscbaft vom Vorjahre bier 
versammelt bat, so ist die denn doch eine scbmale Grundlage. Die 
Ironie will es, daft icb grade jetzt im Auftrage jener »Zeitscbrift fur 
Sozialforschung*, die ihren Apparat und Geld nacb Genf gerettet bat, 
einen Aufsatz Uber die Soziologie der gegenwartigen franzosiscben 
Liter atur zu schreiben babe - und sdhrtiben muft, da icb von dieser 
Seite zumindest auf Bezablung rechnen kann. (Brief e, 572) Bereits 
am 16. Juni heifk es: Wahrscbeinlich schrieb icb Dir, daft icb eine 
grofte Arbeit uber »die gegenwdrtige gesellschaftliche Stellung des 
franzosiscben Schriftstellers* abgescblossen und mit gr often Ebren in 
jenem frankfurter Arcbiv angebracht babe 3 das sicb nacb Genf ge- 
fliichtet hat. Sie baben mir jetzt wieder einen neuen Auftrag gegeben, 
der vielleicbt noch schwieriger und sicher weniger erfreulich ist. (Brie- 
fe, 578) Scholem selbst auftert sich in seinen 1975 erschienenen Erinne- 
rungen an Benjamin: »Seine Hauptarbeit war jenem ersten Aufsatz 
liber den sozialen Standort des franzosischen Schriftstellers gewid- 
met, den das Institut fiir Sozialforschung bei ihm bestellt hatte und 
der die erste Halfte des Jahres in Anspruch nahm. So sehr er in den 
nachsten Jahren der Arbeit des Instituts sich nahe verband und die 
sich dabei ergebenden Spannungen in Kauf nahm, verleugnete doch 
schon die erste intime Aufierung, die er mir gegeniiber dazu machte, 
eine Note der Reserve nicht. In seinem ersten Brief aus Ibiza schrieb 
er: Der Aufsatz, der in jedem Fall die reine Hochstapelei darstellt, 
bekommt durcb den JJmstand, daft ich ihn - fast obne alle Literatur - 
verfassen muft, schon ein gewissermaften magiscbes Gesicbt, das 
er in Genf [dem damaligen Sitz des Instituts] zwar kuhn zur Sdoau 
tragen, vor Dir aber denn doch verhullen wird. Wie es noch mehr- 
fach bei literarischen Auftragen des Instituts, deren Thema ihm ur- 
spriinglich wenig erfreulich war, geschah, war er doch von dem schliefi- 
lich fertiggestellten Text nicht so unbefriedigt, wie seine anfanglichen 
Klagen erwarten Heften. Der erwahnte Aufsatz war den schwierigsten 
Verhaltnissen abgerungen. Etwas Unanfecbtbares Heft sich hier nicht 
macben. Icb glaube aber, daft man trotzdem einen Einblick in Zusam- 
menbdnge aus der Sache gewinnt, die bisber nicht so deutlicb erkennbar 
gemacbt worden sind. Als der Aufsatz ein Jahr spater erschien, fiihrte 
er zu einer brieflichen Auseinandersetzung zwischen uns, die im Ton 
mafivoll, in der Sache beiderseits ziemlich scharf war.« (Scholem, 
a. a. O,, 244 f.) Anscheinend bildet Benjamins Brief an Scholem vom 
6. 5. 1934 den Abschlufi dieser Auseinandersetzung: Dies, lieber Ger- 
hard, stellt nicht den ersten Versuch dar, auf Deinen letzten Brief Dir 



Anmerkungen zu Seite 776—803 1513 

zu antworten. Wenn aber der wiederholte Ansatz auf eine Schwierig- 
keit deutet, so liegt sie nicht im inhaltlichen Bescheid, den Du forderst, 
sondern in der Gestalt Deiner Forderung. Du kleidest sie in eine - 
vielleicht theoretische - Frage: »Soll das ein kommunistisches Credo 
seinf* [Absatz] Solche Fragen Ziehen - so scbeint mir - auf dem 
Wege uber den Ozean Salz an und schmecken dann dem Gefragten 
leidot bitter. Dafi es mir so ergeht t leugne ich nicht. Ich kann es mir 
nicbt vorstellen, was der fragliche Aufsatz Dido eigentlich Neues 
uber mich hatte lehren konnen. Daft Du nun gar in ihm eine summa - 
oder ein credo, wie Du es nennst - finden willst, setzt mich in grofies 
Erstaunen. [Absatz] Aus Erfahrung wissen wir beide, welche Behut- 
samkeit der bedeutsame Briefwechsel fordert, den wir einer jahrelan- 
gen Trennung abringen. Diese Behutsamkeit schliefit keineswegs aus, 
dafi schwierige Fragen beriihrt werden. Aber das konnen sie doch nur 
als personlichste. Soweit das geschehen ist, sind die betreffenden 
Stilcke - das kannst Du sicker sein - in meiner »inneren Registratur« 
wohl aufbewahrt. Deiner letzten Frage kann ich das nicht verspre- 
chen: sie scheint mehr einer Kontroverse zu entstammen als unserm 
Briefwechsel. [Absatz] Daft wir den kontrovers nicht fuhren konnen 
liegt auf der Hand. Und wenn in seinem Verlaufe Bestandstucke auf- 
tauchen, die so eine Behandlung nahe legen, so gibt es - scheint mir - 
hier fiir den Partner kein anderes Verfahren, als sich an das lebendige 
Bild zu wenden, das einer von dem andern in sich tragt. Ich denke, 
dafi das meinige in Dir nicht das von einem Manne ist y der leicht und 
ohne Not sich auf ein »Oredo* festlegt. Du weijlt, daft ich wohl im- 
mer meiner Uberzeugung gemafl geschrieben y selten aber t und nie 
anders als im Gesprach t den Versuch unternommen habe, den ganzen 
widerspruchsvollen Fundus, dem sie in ihren einzelnen Manifestation 
nen entspringt, zum Ausdruck zu bringen. [Absatz] Und da sollte 
mir eine Obersicht uber franzosische Liter aturprodukte das Stichwort 
bietenf! - Das Stichwort ist mir, soweit ich zuriickdenken kann, frei- 
lich einmal gegeben worden. Es konnte als ein solches gelten, weil es 
im Raum einer Kontroverse fiel. Ich fand es in Gestalt eines Briefes, 
den Max Rychner vor einigen Jahren an mich gerichtet hatte. Es soll- 
te mich nicht wundern, wenn Du die Kopie meiner Antwort [s. 
Briefe, 522- j 24] seinerzeit von mir geschickt bekommen hattest. Wenn 
nicht, so kann ich das jetzt nicht nachholen. Dieser Brief liegt bei 
anderen Papieren in Berlin. Was sollte aber auch dieser Dir Neues 
sagenf! Daft mein Kommunismus von alien moglichen Formen und 
Ausdrucksweisen am wenigsten die eines Credos sich zu eigen macht, 
dafi er - um den Preis seiner Orthodoxie - nichts, aber gar nichts 
ist, als der Ausdruck gewisser Erfahrungen, die ich in meinem Den- 
ken und in meiner Existenz gemacht habe. Dafi er ein drastischer, 



i j 14 Anmerkungen zu Seite 776—803 

nicht unfruchtbarer Ausdruck der Unmoglichkeit des gegenwartigen 
Wissenschaftsbetriebes ist, meinem Denken, der gegenwartigen Wirt- 
schafisform, meiner Existenz einen Raum zu bieten, dafi er fur den 
der Produktionsmittel ganz oder fast beraubten den naheliegenden, 
verniinfligen Versucb darstellt, in seinem Denken wie in seinem Le- 
ben das Recht auf diese zu proklamieren - dafi er dies alles und vieles 
mehr, in jedem aber nicbts anderes als das kleinere Obel ist (siebe den 
Brief von Kraus an jene Gutsbesitzerin, die sicb fiber Rosa Luxemburg 
aufierte) - babe ich notig Dir das zu sagenf [AbsatzJ Nun ware ich 
freilich besturzt, wenn Du in diesen Worten etwas fdndest, was einem 
Widerruf auch nur ahnlicb sieht. Das Vbel ist - im Vergleich zu 
denen, die uns umgeben - ein soviet kleineres, daji es in jeder prakti- 
schen, fruchtbaren Gestalt zu bejahen ist - nur in der unpraktischen y 
unfruchtbaren des Credos nicht. Und diese Praxis - im Falle des von 
Dir bezichtigten Aufsatzes eine wissenscbaflliche - la$t der Tbeorie - 
dem Credo, wenn Du willst - eine ungleicb grofiere Freibeit als die 
Marxisten ahnen. Leider sdoeinst Du in diesem Falle ibre Ahnungs- 
losigkeit gut zu beifien. [AbsatzJ Du zwingst midb^ es auszusprechen, 
daft jene Alternativen, die offenkundig Deiner Besorgnis zu Grunde 
liegen 3 fur miob nicht einen Scbatten von Lebenskrafl besitzen* Diese 
Alternativen mbgen im Scbwange geben - i<h leugne nicht das Recht 
einer Partei, sie kundzugeben - es kann mich aber nichts bewegen y sie 
anzuerkennen. [AbsatzJ Wenn vielmehr etwas die Bedeutung kenn- 
zeichnet, die das Werk von Breobt - auf das Du anspielst, zu dem Du 
aber, soviel ich weifi, Dich zu mir nie geauflert hast, fiir mich besitzt, 
so ist es eben dies: daft es nicht eine jener Alternativen aufstellt, 
die mich nicht kummern. Und wenn die nicht geringere Bedeutung des 
Werks von Kafka fiir mich feststeht, so ist es nidot zum wenigsten, 
weil nicht eine der Positionen, die der Kommunismus mit Recht 
bekampft, von ihm eingenommen wird. (Brief e, 603-605) 
Ersduenen ist Zum gegenwartigen gesellschafllicben Standort des 
franzosischen Schrifistellers im ersten Heft des Jahrgangs 1934 der 
»Zeitschrift fiir Sozialforschung«. Dafi der gedruckte Text nicht vollig 
mit Benjamins ursprunglichem Manuskript iibereinstimmt, geht aus 
einem Brief vom 29. 2. 1936 hervor, in dem Benjamin bei Horkheimer 
gegen redaktionelle Anderungen am Kunstwerk-Aufsatz protestierte: 
Ahnliche Probleme wie der gegenwartige Aufsatz sie an einigen 
Stellen aufwirft haben sicb seinerzeit bei der Arbeit uber den »Gesell- 
schaftliohen Standort des franzosischen Schrifistellers « ergeben, und 
sie sind ebenso milhelos und beildufig erledigt worden wie sicb das 
fur mehr ere Stellen der neuen Arbeit in Ihren Pariser Gesprachen mit 
mir ergeben hat. (29. 2. 1936, an Horkheimer; s. auch Bd. 1,992) Wor- 
um es bei den >ProbIemen< des alteren Aufsatzes sich gehandelt 



Anmerkungen zu Seite 776—803 1 5 1 5 

hat, lafit sidi nicht mehr ausmachen: ein Manuskript blieb nicht erhal- 
ten, und der Briefwechsel zwischen Benjamin und Horkheimer - so- 
weit er erhalten oder dodi den Herausgebern zuganglich ist - be- 
ginnt erst im September 1934. - Einen - vergeblichen - Versuch, sei- 
nen Aufsatz auf Franzosisch in einer kommunistischen Zeitschrift 
erscheinen zu lassen, unternahm Benjamin mit einem wahrscheinlich 
im Januar 1934 gesdiriebenen Brief an Bredit: In diesen Tagen las die 
Hauptmann [Brechts Mitarbeiterin Elisabeth Hauptmann] den Es- 
say Uber »D'ie gegenwartige gesellschaftlicke Lage des franzosischen 
Schriftstellers*. Sie meint, die Arbeit h'dtte fiir »Litterature et Revo- 
lution* [richtig: »Litterature Internationale* J - die ^offizielle Zeit- 
schrift, die ja auch in franzosischer Sprache erscheint - grofies Inter- 
esse. Sie bestand darauf, dafi id? Sie anfrage, ob Sie [Michael E.J 
Kolzoff nicht auf diese Arbeit hinweisen wollten y damit der sie der 
Redaktton vorlege. (Brief wechsel zwischen Walter Benjamin und 
Bertolt Brecht, in: Zur Aktualitat Walter Benjamins, a. a. O., 33; 
s. auch a. a. O., 36.) - Daft Benjamin zeitweilig audi eine Art Fort- 
setzung des Aufsatzes plante, die freilich nicht zustande kam, geht 
schliefilich aus einem Brief an Horkheimer vom Januar 1935 hervor: 
Das sprachsoziologische Referat [s. Bd. 3, 4 $2-480 J werden Sie ge- 
wifi rechtzeitig bekommen haben. Ich wiirde mioh sehr freuen, wenn 
es im ndchsten Heft erscheint. Einmal wiirde das den Weg fiir das 
geplante Sammelreferat frei machen, das die Linie der »gesellschaft- 
lichen Lage des franzosischen Schriftstellers* fortsetzt. Andererseits 
darf ich vielleicht die Hoffnung hegen, anldfilich dieser Arbeit das 
gleiche Entgegenkommen von Ihnen zu erjahren wie bei der letzten. 
(2. 1. 1935, an Horkheimer) 

UBERLIEFERUNG 

J Zeitschrift fiir Sozialforschung 3 (1934), 54-78 (Heft 1). 
lesarten 776,31 Solange] fiir So lange - 777,37 f. kennengelerni] 
fiir kennen gelernt - 778,11 um sol fur umso - 780,2 Emile Char- 
tier] konjiziert fiir Alain Chartier; offensichtlich wollte Benjamin 
hier den burger lichen Namen Alains nennen. - 780,3 (Korrektur 
nach der Drucklegung des Textteils:) lies » Elements anstatt » Ele- 
ments - 781,4 Der Radikalismus] Absatzbeginn in J nicht eindeutig; 
in J beginnen samtliche Zeilen nach den Zitaten in kleinerem Schrift- 
grad mit einem Einzug. - 783,7 genausowenig] fiir genau so wenig 
- 786,10 zwanzig] konj. fiir zwanzig alt; vielleicht auch zwanzig 
Jahre alt zu lesen. - 786,35 Demgegeniiber] konj. fiir Dem gegen- 
iiber - 789,3 gewissem] konj. fiir gewissen - 792,11 Stellung neh- 
mend] fiir stellungnehmend - 792,19 um so] fiir umso - 794,8 Die 
strikte Ruckbeziehung] Absatzbildung in J nicht eindeutig - 794,16 



i$i6 Anmerkungen zu Seite 776— 803 

zuwiderlauft] fur zuwider laufl - 794,20 hinauszufiihren] fiir bin- 
aus zu fiihren - 794,24 genugtuende] fiir genug tuende - 796,2 
wiedererkenne] fiir wieder erkenne - 796,4 Male] konj. fiir Mai 
- 796,25 Z)ie Wrr£#wg] Absatzbildung in J nidit eindeutig - 797,8 
genausowenig] fiir gew^w so wenig - 798,15 ineinander griff en] fiir in- 
einander griff en - 800,1 Der Burgerkrieg] Absatzbildung in J nidit 
eindeutig - 803,4 zs **] Danach folgend, auf den beiden letzten Sei- 
ten von J, ein franzosisches und ein englisches Resiimee. Das erstere, 
das moglicherweise von Benjamin selbst geschrieben wurde, wird im 
folgenden abgedruckt: 

De V orientation sociale des ecrivains frangais contemporains. 
Cette etude nous offre une analyse de Vattitude des ecrivains frangais 
contemporains au point de vue social. Vauteur esquisse a grands traits 
le developpement de cette attitude en commencant par Maurice Banes 
et decrit les nombreux essais tentes par des ecrivains de valeur qui ont 
voulu s y inspirer de la pensee bourgeoise et representer cette classe par 
le moyen de la litterature. La doctrine politique du radical-socialisme 
d 1 'Alain y est comparee avec le traditionalisme de Barres. Les efforts 
de Charles Peguy et de Julien Benda vers une conception normative 
de la notion du »clerc«> de »Vetre intellectueU sont decrits quand a 
leur essence et a leurs limitations. Une digression sur quelques aspects 
de belles-lettres : Roman populaire, Ferdinand Celine, Julien Green, 
fait suite. Uantagonisme entre le poete et Vecrivain sert de trame a 
une etude de Voeuvre de Paul Valery, dans lequel et antagonisme 
apparait le plus nettement. Vorientation sociale actuelle de Vecrivain 
frangais se congoit le mieux lorsqu'on etudie Voeuvre d y Andre Gide; 
son attitude significative , a un tournant de I'histoire, puise toute sa 
valeur dans son influence si considerable sur la jeune generation, dont 
les representants les plus avances ont passe par le surrealisme. 

nachweise 777,23 vertreiben.«] Guillaume Apollinaire, Le poete 
assassme. Nouvelle edition, Paris 1927, 98 f. - 777,30 ausrotten.*] 
a. a. O., 101 - 779,5 Heiligen*] Maurice Barres, La grande pitie des 
£glises de France, Paris 1914, 342f. - 779,10 Bodens.«] a.a.O., 343 - 
779,12 »Les Deracines*] Erstausgabe Paris 1897; erster Band der 
Romantrilogie »Le roman de l'energie nationale«. - 779,21 ist.«] 
Albert Thibaudet, La r^publique des professeurs, Paris 1927 (Les 
»Ecrits«. Vol. 4), i3of. - 779,27-34 Lagneau bis scbreiben.] die Stelle 
ist ebenfalls eine - etwas modifizierende-"Gbersetzung aus Thibaudet, 
a.a.O., 143: »Le deracinement de Lagneau ne fut pas une image ni 
une figure de rh^torique, Lagneau etait un Messin, dont la famille, en 
1 871, avait ete proprement, absolument, deVacinee et ruin^e parce 



Anmerkungen zu Seke 776—803 15 17 

qu'elle avait opte pour la France. La France fut pour le jeune Lagneau 
exactement le contraire d'un heritage, [puisque sa famille paya de 
sa fortune le droit de rester franchise. Cette option ruineuse] crea au 
philosophe de vingt ans des charges de famille tres dures: vingt ans, 
Page ou Barres entre dans vie d'heritier, [annonce dans les trois 
>Ideologies< du >Culte du Moi< une philosophic d'heritier].« - 779,34 
»Culte du moW\ s. Maurice Barres, Le culte du moi. Examen des trois 
ideologies, Paris 1892 - 780,3 Bekenntnisschrift] s. Alain [Emile 
Chartier], Elements d'une doctrine radicale, Paris 1925 (»Les docu- 
ments bleus«. No 24) - 780,12 unterhalten.*] zit. Thibaudet, a.a,0., 
146L - 780,16 Empfehlung.*] zit. a.a.O., 147 - 781,33 lassen] s. 
Andre Siegfried, Tableau des partis en France, Paris 1930 (Les 
»Ecrits«. Vol. II, 6) - 781,36 Kleinen«] s. Alain, a.a.O., 42 f.: »S'il 
s'agit d'elections d^partementales, Tld^aliste de province, celui qui se 
soutient par son caractere, par une longue suite de services rendus, 
par une action continuelle pour les petits et contre les gros [...].« - 
782,11 »Trahison des clercs«] Erstausgabe Paris 1927; s. audi Ben- 
jamins Bespr. Bd. 3, 107-113. - 782,11-783,19 Benda bis Geistesver- 
fassung.] modifiziertes Selbstzitat, s. Bd. 3, 111-113 - 783,39 verwir- 
ten.*] Julien Benda, Discours a la nation Europeenne, Paris 1933 
(»Les essais«. Vol. 8), 70 f. - 784,11 nacbtrauern? «] Emmanuel Berl, 
Mort de la pens^e bourgeoise. Premier pamphlet: La litterature, Paris 
1929 (Les »Ecrits«. Vol. II, 1), 32 - 784,36 ausgeschlossen.*] Benja- 
min montierte drei Zitate von Berl; s. a.a.O., 45: »On peut dire de 
Peguy ce qu'on voudra, on ne peut pas dire qu'il ait trahi. Pourquoi? 
[Parce que ni ses idees, ni ses passions ne semblent jamais des id£es 
revues des passions mimees.] S*il a £te* nationaliste, il a 6te* dreyfusard. 
[Sans proflter ni du nationalisme, ni du dreyfusisme.] S'il a £te* 
catholique, il a 6t& hors de la communion. [Sans proflter du catho- 
licisme]«; sowie a.a.O., 49: »Une idee ne devient une trahison que si 
elle est maintenue par la paresse et par la peur«; schlieftlich a. a. O., 
50: »La trahison du clerc se definit par la serviliti de Tesprit abandon- 
nant sa propre cause et laissant Tunivers prevaloir contre lui.« - 
784,39 Macbthaber«] a.a.O., jo - 785, iof. Gegenwart.*] s. Jerome 
et Jean Tharaud, Notre cher P£guy, Bd. i, Paris 1926, 19 f.: »I1 avait 
connu la une vieille humanite\ dont la culture originale, formed par 
les traditions locales et une experience seculaire, ne devait rien, ou 
quasi rien, au dehors, une population tres pres de la terre, un peuple 
ouvrier-paysan[, un peuple artisan, hier encore rustique, qui apportait 
dans ses metiers les plus vieilles vertus terriennes, un honneur incro- 
yable du travail, la pi£te de Touvrage bien fait,] bref un tres ancien 
monde, un monde d'autrefois, beaucoup plus pres de la France 
d'ancien regime que de la France d*aujourd'hui.« - 785,17-22 Die 



15x8 Anmerkungen zu Seite 776—803 

bis hatte.*] die Passage ist ein merkwurdig kontrahiertes, um nicht zu 
sagen entstellendes Zitat; s. Thibaudet, a.a.O., 83: »Cette gyration 
nous a donne\ pour la premiere fois depuis la Renaissance, de grands 
e'crivains francais de substance, de langue et de pens^e paysanne, un 
Claudel, un Jammes, un Ramuz, - et surtout un P£guy. Avec P£guy 
ce paradoxe d'un paysan a Paris, d'un paysan normalien. Le premier 
il ofTrit ce scandale, d'un i\hve recu a I'Ecole Normale, et qui traverse 
l'Ecole Normale sans en emporter la moindre parcelle de style cultive\ 
classique, traditionnel, restant, en long et en large, paysan, comme un 
Ecossais en kilt dans le plus noble college d'Oxford.« - 785,32 
Land.*] Siegfried, a.a.O., 10-785,38 Instanz«] s. das Zitat bei 
Thibaudet, a.a.O., 171: »L'esprit de gauche, selon la formule d* Alain, 
reside bien dans le controle.« - 786,8 Vierzigjahrigen.*] Charles 
P^guy, CEuvres en prose 1909-19 14. Avant-propos et notes par 
Marcel P^guy, Paris 1957 (Bibliotheque de la Pl&ade. Vol. 122), 838 
(»Victor-Marie, Comte Hugo«) - 786,19 politisch.*] in Wirklichkeit 
ein Zitat iiber P^guy aus Thibaudet, a.a.O., 87 f.: »>I1 y a eu deux 
affaires Dreyfus<, ^crivait P£guy en 1913. [. . .] Les deux Affaires 
Dreyfus, pour lui c'etait la bonne et la mauvaise, la pure et Pimpure, 
la religieuse et la politique. « Der Sache nach ahnlich P£guy, a.a.O., 
562 (»Notre jeunesse«). - 786,21 Demagogies] auch dies vonBenjamin 
aus Thibaudet, a. a. O., 88, zitiert. - 787,39 erschienen] s. Louis Ferdi- 
nand Celine [Destouches], Reise ans Ende der Nacht, Leipzig, Mah- 
risch-Ostrau 1933 - 788,22 befa$sen.«] s. Berl, a.a.O., 107: »On serait 
&onne si on prenait la peine d'imaginer qu'on est un lecteur de l'an 
2.200, et qu'on tache de se repr&enter, au moyen de nos meilleurs 
ouvrages, la France de 1928. On n'y verrait meme pas la crise du 
logement. La crise financiere des cinq dernieres ann^es serait a peu 
pres imperceptible. La literature continue a ne pas vouloir que les 
questions d'argent se posent.« - 789,37 »Epaves«] Erstausgabe Paris 
1932 - 790,5 werden«] Benjamin zitiert die deutsche Ausgabe: Julien 
Green, Treibgut. Roman, iibers. von Friedrich Burschell, Berlin 1932, 
11. Das Zitat beginnt bereits 790,3: vor eine sind Anfiihrungszeichen 
zu setzen; 790,4 miissen dagegen die Anfiihrungszeichen vor doch ge- 
tilgt werden. - 790,10 Bewegung.«] s. a.a.O., 12. Die Verben des 
zweiten Satzes stehen in Burschells Obersetzung - und im franzo- 
sischen Original - gleichfalls im Prateritum: 790,7 lie/! anstatt la fit; 
790,8 rief anstatt rufl. - 790,12 Hause.*] a.a.O. - 791,14 Psycho- 
analyses] Berl, a.a.O., 8^f. - 791,38-792,1 Die bis bat.] modifizier- 
tes Selbstzitat; s. 3 19,3 f. - 792,1-4 Die bis Konsumenten.] modiflzier- 
tes Selbstzitat; s. 319,9-12 . - 792,7-10 vom bis ist] Selbstzitat; s. 
310,26-30 - 792,34-793,2 Valery bis Teste.] Selbstzitat; s. 388,2-9 - 
793,6-9 Monsieur bis hinaus.] Selbstzitat; s. 388,13-17 - 793,11-20 



Anmerkungen zu Seite 776—803 15 19 

Mag bis ein und 793,21-23 Der bis lafit.] modifizierte Selbstzitate; 
s. 388,20-33 - 793,11 Anpassung.*] Paul Valery, CEuvres. Edition 
£tablie et annot^e par Jean Hytier, Bd. 2, Paris 1971 (Bibliotheque 
de la Pleiade. Vol. 148), 866 (»Mauvaises Pens£es et autres«, M) - 
793,18 Menschen.*] a.a.O., 621 (»Tel Quel«, Rhumbs, Morales) - 
793,25 absorbierU*] a.a.O., 563 (»Tel Quel«, Literature, Variations 
sur le Classique); dass. Zitat s. 387,34-36. - 794,7 taugU*] a.a.O., 
647 f. (»Tel Quel«, Rhumbs, Arriere-Pens£es) ; dass. Zitat s. 389,34- 
39°>5« - 79 4>3 3 einem.*] Comte de Lautr£amont (Isidore Ducasse), 
CEuvres completes. Les chants de Maldoror, Poesies, Lettres. Avec Ies 
prefaces de L. Genonceaux u. a., Paris 1973 (£d. Corti, 33 e mille), 
386 (»Po&ies II«) - 795,10 interessieren.*] Andre* Gide, Pr£textes. 
Reflexions critiques sur quelques points de literature et de morale, 
Paris 1903, 56 (»A propos des D£racmis«) - 796,1 ersetzen.*] Andre* 
Gide, Dostoievsky (Articles et causeries), Paris 1930, 265 f. - 796,27 
»Les_ Caves du Vatican*] Erstausgabe in 2 Bdn. Paris 1914 - 796,31 
»Pages choisies*] Erstausgabe Paris 1921 - 797,9 mebr.*] Andre* 
Gide, Romans, remits et soties, ceuvres lyriques. Introduction par 
Maurice Nadeau, notices et bibliographic par Yvonne Davet et Jean- 
Jacques Thierry, Paris 1958 (Bibliotheque de la Pl&ade. Vol. 135), 
828 f.; die Obersetzung stammt von Benjamin. - 797,28 ist.*] Alain, 
a.a.O., 139 - 797,34 Offentlichkeit] s. Andre* Gide, Le retour du 
Tchad, Paris 1928 - 797,35 machte] s. Andre* Gide, Corydon. Quatre 
dialogues socratiques, Paris 1924; vorangegangen waren anonyme 
Ausg. Bruges 19 n und 1920. - 798,6-9 In bis gezeigt.] modifiziertes 
Selbstzitat; s. 296,17-20 - 798,9-16 Damals bis blieb.] modifiziertes 
Selbstzitat; s. 296,28-37 - 798,16 f. »Die bis gewinnen*] Selbstzitat; 
s. 307,11 und 308,6 - 798,39 bat*] s. Berl, a.a.O., 160 f.: ^Mani- 
festations qui importeraient peu si elles ne d^celaient une veVite' plus 
grave, savoir:] qu'un peintre n'est pas plus reVolutionnaire pour 
avoir >reVolutionn£< la peinture, qu'un couturier comme Poiret pour 
avoir >revolutionn£< la mode [ou qu'un m^decin pour avoir >reVolu- 
tk>nn& la m£decine].« - 799,41 zermalmen.*] Blaise Cendrars, 
Moravagine. Roman, Paris 1926, 122 f., 123 f., 124 und 134 - 800,91". 
»Le$ Conquer ants*] s. Andre* Malraux, Les conqueYants ou le temps 
des troubles, Paris 1929 - 800,38 fttfit.*] Andre* Malraux, La condi- 
tion humaine, Paris 1933, 399 



805-813 Anhang 

807-813 JUDEN IN DER DEUTSCHEN K.ULTUR 

Ich habe, schrieb Benjamin am 1. 11. 1929 an Scfaolem, von der Enzy- 
klopadie [sell. Encyclopaedia judaic a. Das Judentum in Geschicbte 
und Gegenwarty Berlin 1928$.], die [Jacob] Klatzkin herausgibt, 
den Auftrag, das Thema: die deutschen Juden im Geistesleben des 
79. und 20. Jahrhunderts als Unterabteilung unlet dem Stichwort 
»Deutsckland« zu behandeln. Der Ablieferungstermin ist Ende No- 
vember. Bis dahin wird meine Zeit ganz und gar von dieser Arbeit in 
Anspruch genommen sein. Sie hatte, setzte er hinzu, wichtig werden 
konnen, wenn Du micb dabei hdttest beraten konnen. (zit. Scholem, 
Walter Benjamin - die Geschichte einer Freundschaft, a. a. O., 199) 
Daran war angesidits der Kiirze der eingeraumten Frist nicht zu den- 
ken. Die Arbeit, deren »ursprungliche[r] Text [. . .] leider nidit er- 
halten [ist] « (a. a. O., 200), war seine erste Aufierung »Uber ein 
jiidisches Thema« »in konzentrierter Form« und »ofrenbar von den 
damals beliebten Erwartungen [. . .] weit entfernt« (a. a. O., 199): 
Erwartungen im Sinne erbaulicher und apologetiscber Judaistik, wie 
Benjamin selber sie zehn Jahre spater im Riickblick charakterisierte, 
Du weiflt am besten, schrieb er Scholem 1939, dafi alles was man 
uber »die Juden in der deutschen Literature bis dato lesen konnte - 
also gerade audi den einschlagigen Enzyklopadie-Artikel, der 1930 
erschienen war -, von eben dieser Stromung sick treiben liefi. (Briefe, 
804) Dafi sein eigener Beitrag in ihr mittrieb, hatte freilich nicht an 
ihm gelegen; er »trug« ursprunglich »den Stempel volliger Unab- 
hangigkeit so sehr, dafi [er] nur in einer ganz verfalschten und unter 
Zuziehung von Nachum Goldmann und dem Rabbiner Benno Jacob 
[s. die Initialen, 813 (= Enc. jud., Bd. $, Berlin 1930, Sp. 1034)] 
weitgehend >uberarbeiteten< Fassung erschien. Sie mufite Benjamin 
besonders erbittern, weil da unter seinem Namen vielfach das Gegen- 
teil von dem gesagt wurde, was er geschrieben hatte. « (Scholem, 
a. a. O., 199 f.) Dies geht aus den Marginalien hervor, die Benjamin 
auf das jeweils erste Blatt seiner im Nachlafi bewahrten Belegexem- 
plare schrieb (s. »Uberlieferung« und 807). Leider finden sich in den 
Exemplaren keine weiteren Vermerke oder Annotate, die auf Details 
der Entstellung deuten konnten. Benjamins und Scholems Zeugnis 
verboten es jedenfalls den Herausgebern, den Text als Originalarbeit 
abzudrucken. Andererseits war der Sachverhalt zu dokumentieren. 
So entschlossen sie sich, die denaturierte Fassung im Anhang des 
Bandes statt in der Abteilung »Enzyklopadieartikel« zu reproduzie- 
ren - in genau der Gestalt, in der er 1930 erschien. Reproduktions- 



Anmerkungen zu Seite 807—813 1521 

vorlage war das von Benjamin mit der ausfuhrlicheren Marginalie 
(s. u.) versehene Belegexemplar. Die Spake 1022 (= Dr 141; s. 807) 
wurde annahernd so grofi wie das Original, der Text der ubrigen 
Spalten entsprechend verkleinert wiedergegeben. 

UBERLIEFERUNG 

a BAi J u d €n i n der deutschen Kultur. 1. In den Geisteswissenscbaflen. 
2. In der Dichtung. - Encyclopaedia judaica. Das Judentum in 
Geschichte und Gegenwart, Berlin 1928 n\, Bd. 5 (1930), Sp. 
1 022- 1 034. Der Artikel ist am Schlufi gezeichnet: [Nachum] 
G[oldmann] - [Benno] J[acob (links) und] W. B. [rechts]. 
- Am Anfang des Artikels Marginalie von Benjamins Hand: 
Stark gekurzter, von allem Wesentlichen gereinigter Abdruck 
Encyclopaedia Judaica Bd V - An verschiednen Stellen ist der 
Text von mir weder geschrieben noch korrigiert. Benjamin- 
Archiv, Dr 141-144. 

a BA2 Dasselbe. - Am Anfang des Artikels Marginalie von Benjamins 
Hand: Stark gekiirzter, von allem Wesentlichen gereinigter 
Abdruck Enzyklopadia Judaica Bd V. Benjamin- Archiv, Dr 
145-148. 

Reproduktionsvorlage: a BA1 



Inhaltsverzeichnis 



Friihe Arbeiten zur Bildungs- und Kulturkritik 7 

Das Dornroschen 9 

Die Schulreform, eine Kulturbewegung 12 

Dialog uber die Religiositat der Gegenwart 16 

Unterricht und Wertung 35 

Romantik 42 

Romantik - die Antwort des »Ungeweihten« 47 

Der Moralunterricht 48 

»Erfahrung« 54 

Gedanken uber Gerhart Hauptmanns Festspiel 56 

Ziele und Wege der studentisch-padagogischen Gruppen an 
reichsdeutsdien Universitaten (mit besonderer Beriicksichtigung 

der »Freiburger Richtung«) : 60 

Die Jugend schwieg 66 

Studentische Autorenabende 68 

Erotische Erziehung 71 

Die religiose Stellung der neuen Jugend 72 

Das Leben der Studenten 75 



Metaphysisdi-geschichtspbilosophisdie Studien 89 

Metaphysik der Jugend 91 

Zwei Gedichte von Friedrich Holderlin 105 

Das Gluck des antiken Menschen 126 

Sokrates 129 

Ober das Mittelalter 132 

Trauerspiel und Tragodie 133 

Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragodie 137 

Ober Sprache iiberhaupt und uber die Sprache des Menschen 140 

Ober das Programm der kommenden Philosophic 157 

Schicksal und Charakter 171 

Zur Kritik der Gewalt 179 

Theologisch-politisches Fragment 203 

Erste Fassung: Lehre vom Xhnlidhen 204 



1 524 Inhaltsverzeichnis 

Zweite Fassung: Ober das mimetische Vermogen 210 

Erfahrung und Armut 213 

Johann Jakob Bachofen 219 



Literarische und asthetische Essays 235 

»Der Idiot« von Dostojewskij 237 

Ankiindigung der Zeitschrift: Angelus Novus 241 

»E1 mayor monstruo, los celos« von Calderon und »Herodes und 

Mariamne« von Hebbel 246 

Johann Peter Hebel (1) 277 

J. P. Hebel (2) 280 

Gottfried Keller 283 

Der Surrealismus 295 

Zum Bilde Prousts 310 

Robert Walser 324 

Julien Green 328 

Karl Kraus (Essay) 334 

Kleine Geschichte der Photographie 368 

Paul ValeVy 386 

Oedipus oder Der verniinftige Mythos 391 

Christoph Martin Wieland .. . 395 

Franz Kafka 409 

Der Erzahler 438 

Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker 465 

Kommentare zu Werken von Brecht 506 

Aus dem Brecht-Kommentar 506 

Ein Familiendrama auf dem epischen Theater 511 

Das Land, in dem das Proletariat nicht genannt werden darf . . 514 

Was ist das epische Theater? (1) 519 

Was ist das epische Theater? (2) 532 

Kommentare zu Gedichten von Brecht 539 

»Die Ruckschritte der Poesie« von Carl Gustav Jochmann 572 

Asthetische Fragmente $99 

Aphorismen 601 

Balzac 602 



Inhaltsverzeichnis 1 5 2 5 

Malerei und Graphik 602 

Ober die Malerei oder Zeichen und Mai 603 

Stifter 608 

Shakespeare: Wie es euch gefallt 610 

Moliere: Der eingebildete Kranke 612 

Shaw: Frau Warrens Gewerbe 613 

Andre* Gide: La porte e^roite 615 

Paul Scheerbart: Lesabendio 618 

Traumkitsch 620 

Uber Stefan George 622 

Karl Kraus (Fragment) 624 

Neoklassizismus in Frankreich 625 

J. P. Hebels Schatzkastlein des rheinischen Hausfreundes 628 

Die Zeitung 628 

Kauflich doch unverwertbar 630 

Sur Scheerbart 630 



Vortrage und Reden 633 

Johann Peter Hebel (3) 635 

E. T. A. Hoffmann und Oskar Panizza 641 

Reuters »Schelmuffsky« und Kortums »Jobsiade« 648 

Bert Brecht 660 

Karussell der Berufe 66j 

Franz Kafka: Beim Bau der Chinesischen Mauer 6j6 

Der Autor als Produzent 683 



Enzyklopadieartikel 703 

Goethe 705 

Kulturpolitische Artikel und Aufsatze 741 

Die politische Gruppierung der russischen Schriftsteller 743 

Zur Lage der russischen Filmkunst 747 

Erwiderung an Oscar A. H. Schmitz 751 

Neue Dichtung in Rutland 755 



1526 Inhaltsverzeidinis 

Programm eines proletarisdien Kindertheaters 763 

Kritik der Verlagsanstalten 769 

Theater und Rundfunk . 773 

Zum gegenwartigen gesellschaftlidien Standort der franzosisdien 
Sdiriftsteliers 776 



Anhang 

Juden in der deutschen Kultuf 807 

Anmerkungen der Herausgeber 815