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Full text of "Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie. Arbeiten aus dem Gebiete der Psychotherapie, Psychologie und Pädagogik. 2. Jahrgang. September 1923. Nr.1."

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Internationale Zeitschrift 

»für 

Individualpsychologie 

Arbeiten aus dem Gebiete der 
Psychotherapie, Psychologie und Pädagogik 

Herausgegeben von Dr. ALFRED ADLER 


II. Jahrgang September 1923. Nr. 1. 


Inhaltsverzeichnis: 

ALFRED ADLER : F ortschritte der Individualpsychologie 
RUDOLF ALLERS ; Gemeinschaft als Idee und Erlebnis 
YVONNE . E. WINSLOW : The Relation of Psychology to Education 
KURT WEINMANN : Zur Psychologie nervöser und cyclothymer 

Stimmungsschwankungen 

D. E. OPPENHEIM : Der Mann in SchÖnhen* „Wcibsteufel“ 
LUDWIG BÜCHNER : Neurotischer Mystizismus 
j, VERPLOEGH CHASSE: Das nervöse Kind 
REFERATE 
CHRONIK 



ABONNEMENTSPßEfSE: 

Für Österreich und Deutschland: ganzjährig 
4L K, GÜ.ÖDQ, halbjährig ö. K. 30.D0CL Für das 
übrige Ausland: ganzjährig 10 Schw, Franken 
oder 3 Dotlar, halbjährig 8 Schw, Franken oder 
P/i Dollar 

EINZELHEPTEr 

Für Österreich und Deutschland ü. K. 15,000. 
Für das übrige Ausland 3 Schw. Frauken oder 
GO Cents 


VERLAG INDIVIDUALPSYCHOLOGIE WIEN 

VERLAGSBUCHHANDLUNG MORITZ PERLES. WIEN, L, SEILERGASSE 4 
Für England und Amerika: Kegan Paul, Trcnch, Trubner & Co., Lid*> London 


STÄNDIGE MITARBEITER 

DER INTERNATIONALEN ZEITSCHRIFF FOR 1NDIVIDUALFSYCHOLOGIE: 
Dozent RUDOLF ALLERS (Österreich), ALFRED APPELT (München), Prof. FELIX 
ASNAOUROW (Argentinien), LUDWIG BAYER (Österreich), RICHARD BAYER (Öster- 
reich), FERDINAND BIRNBAUM (Österreich), Dr. JOSEF BLEYER (München), 
Dr. CANNABICH (Rußland), V. CHASSE (Schweiz), Prof. DELGADO (Per«), Dr. DELTA 
(Griechenland), Dr. CHRISTO DUTSCHEWITSCli (Bulgarien), ANGELA ESSLEN 
(München), Dr. A. FRIEDMANN (Österreich), Prof. CARL FURTMüLLER (Öster- 
reich), Miß MAY JACOBS (Boston, Mass., U. S. A.), Prof. JOEDERSHOLM (Schweden), 
Dr. BRUNO KRAUSE (Dortmund), Dr. PAUL KURZWEIL (Ungarn), IDA LÖWY (Öster- 
reich), Dr. HUGO LUKACS (Österreich), Dr. STEPHAN v. MADAY (Ungarn), D, C. 
MARAIS (Wellington, Südafrika), MARGARETHE MINOR (Österreich), Prof. HEINRICH 
MUTSCHMANN (Dorpat), Dr. OTTO NÄGELE (München), CARL NOWOTNY (Öster- 
reich), WILLIAM NUTTALL, B. Sc. Techn, (Rochdale, England), Prof. D. E. OPPEN- 
HEIM (Österreich), Dr. OTTO RITTERSPORN (Österreich), Dr. CESAR 
RUSSO (Österreich), Dr. Prinzessin ELEONORE SALM-SALM (Hamburg), Dr. ELSE 
SUMPF (München), Dr. EUGEN SCHMIDT (München), HEDW1C SCHULHOF 
(Tschechoslowakei), Dozent OSWALD SCHWARZ (Österreich), W. I. H. SPROTT (Cam- 
bridge, England), Dr. LEONHARD SEIF (München), Dr. MANOLIS TRIANDAPHYL- 
LIDIS (Griechenland), Dr. KURT WEINMANN (München), Dr. O. E. WEXBERG (Öster- 
reich), Dr. FÖLKERT WILKEN (Detmold), YVONNE E. W1NSL0W (San Francisco, 
U. S. A.). 


Aus eigener Kraft hat sich die Individualpsychologie, nur gestützt auf die 
wachsende Erkenntnis ihrer Anhänger und Mitarbeiter, Bahn gebrochen, und befruchtet 
seit Jahren die Gebiete der Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie und Neurosenfor schuug, 
der Philosophie, Literatur und Kunstforachung sowie der Religionspsychologie. Im engsten 
Zusammenhang mit Massenpsychologie und Massenpädagogik, für die sie der sicherste 
Leitfaden ist, hat sie das Gebiet jedes im Leben wirkenden Menschen, die Menschen- 
kenntnis, erhellt und auf eine wissenschaftliche, erlernbare Grundlage gestellt. 

Die Aufgabe dieser Zei tschrif t ist dadurch gegeben. Sie wird in Originalartikein 
unserer zahlreichen Mitarbeiter die gewonnenen Resultate aus der Erforschung der Kinder- 
seele, der Persönlichkeit und der Masse einem internationalen Leserkreis vermitteln. Sie 
wird in kleineren Mitteilungen die Bausteine schaffen, die zum Ausbau der Menscben- 
keuntuis nötig sind. Sie wird organisatorisch eingreifen und die bisher begründeten inter- 
nationalen Arbeitssektionen unterstützen, ihre Erweiterung fördern und ihre Forschungs- 
ergebnisse verbreiten. Sie wird die zeitgenössischen Leistungen auf dem eigenen Gebiete 
sichten und kritisch zu ihnen Stellung nehmen. 

Wir wollen beharrlich den Beweis führen von der tragischen Bedeutung der Herrsch- 
sucht und der Entmutigung, wie sie besonders in der Neurose und in der Verwahrlosung 
miteinander verbunden die Triebfedern abgeben, in allen anderen Erscheinungen des Kultur- 
lebens zum Hemmschuh werden, bis wir ein allgemeines Verständnis dieser Tatsachen 
erzielt haben. 

Die Arbeiten können in deutscher, englischer und französischer 
Sprache erscheinen. Ein kurzes Referat in einer zweiten Sprache soll auf den Haupt- 
gedankengang hinweise». 


Dl6S6r Nummer lie S en zwei Prospekte der INTERNATIONALEN 
aCi . Aluulincr ZEITSCHRIFT FÜR INDSVIDUALPSYCHOLOGIE 
bei. Wir bitten unsere Abonnenten, sie an Interessenten weiter zu stnden. Weitere 
Prospekte und Probehefte stehen auf Wunsch kostenlos zur Verfügung. 


a 


INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 




DIE PSYCHOANALYTISCHE UNIVERSITÄT IN BERLIN), 

- 1 \ 'i 


I!. JAHRGANG 


WIEN, SEPTEMBER 1923 


NR. 1 


INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT 
FÜR INDIVIDUALPSYCHOLOGIE 


Fortschritte der Individualpsychologie 

Vortrag, gehalten am VII. Kongreß für Psychologie in Oxford, im August 1923 

Von Dr. ALFRED ADLER 

In der Verfolgung unserer Forschungen gelangten wir im Laufe der letzten 
Jahre zu einem immer stärkeren Ausbau unserer Standpunkte, die nunmehr der 
Öffentlichkeit und ihrer Überprüfung übergeben werden sollen. Dies gilt in erster 
Linie von der Grandanschauung der lndividualpsycliologie: nicht die im Seelen- 
leben auffindbaren Klüfte und Phänomene, wie sie experimentell erschlossen oder 
analytisch gefunden werden, ergeben ein Verständnis für eine Person. Das 
Individuum kamt sie verschiedentlich benützen oder unbenutzt lassen. Was wir 
den anderen Richtungen der Psychologie und Menschenkenntnis entgegenzuhalten 
hatten, war die Feststellung, daß sie uns bestenfalls etwas aussagen über die 
vorhandenen Kräfte, nicht aber über deren Gebrauch und Verwendungsart, nichts 
über die Richtung. Das Seelenleben aber ist kein Sein, sondern ein Sollen. Durch 
diesen Zwang zu einem auf ein Ziel gerichtetes Geschehen kommt in das ganze 
Seelenleben ein Drang nach vorwärts, und in diesem Strom des Geschehens 
erfahren alle vorhandenen seelischen Kategorien und Kräfte ihre Form, Richtung 
und Modellierung. 

Der Ausbau des menschlichen Seelenlebens geschieht unter Zuhilfenahme 
einer fiktiven Ideologie, durch Aufstellung eines Zieles, unter dem Druck einer 
teleologischen Apperzeption, und so erweist es sich am Ende, daß wir in allen 
seelischen Erscheinungen den Charakter der Zielstrebigkeit wiederfinden, dem sich 
alle Kräfte, Instanzen, Erfahrungen, Wünsche und Befürchtungen, Defekte und 
Fähigkeiten einordnen. Daraus ergibt sich, daß ein wirkliches Verständnis für ein 
seelisches Phänomen oder für eine Person mir aus einer teleologisch begründeten 
Zusammenhangsbetrachtung gewonnen werden kann. 

Daraus geht hervor, daß jedes Individuum handelt und leidet nach Maßgabe 
seiner individuellen Teleologie, die wie ein Fatum wirkt, solange er sic nicht ver- 
standen hat. Ihre Ursprünge führen bis in die erste Kindheit zurück und zeigen 
sich East immer irrtümlich beeinflußt durch körperliche und seelische Schwierig- 
keiten, durch Gunst und Ungunst der ersten Situationen in der Kindheit. 

Durch diese Betrachtung wird die Bedeutung der Kausalität für das Ver- 
ständnis des seelischen Geschehens so weit eingeschränkt, daß wir sie wolil 
voraussetzen, daß wir sie aber als ungenügend erkennen bezüglich der Aufhellung 
eines seelischen Rätsels und gar zur Vorhersage einer seelischen Stellungnahme. 

4 

Das Ziel des menschlichen Seelenlebens wird so zum Dirigenten, zur causa 
finalis, und reißt alles seelisch Bewegliche in den Strom des seelischen Geschehens 
hinein. 1 her ist die Wurzel der Einheit der Persönlichkeit, der Individualität. Ihre 
Kräfte könnten woher immer gekommen sein, nicht woraus sie entstanden sind, 
wohin sie gehen, auf was sie hinauslaufen macht ihre Eigenart aus. Ein Beispiel 
soll dies erörtern: Ein vierzigjähriger höherer Beamter leidet seit seiner Kindheit 
an Zwangsimpulsen. Von Zeit zu Zeit muß er mit peinlicher Pedanterie die kleinen 
Aufgaben, die er sich stellt, sorgfältig auf einem Zettel niederschreiben. Dabei 
entdeckt er ein heimliches Lustgefühl, das er sich nicht erklären kann. Bald wird 


Dr. ALFRED ADLER: 


dieses aber abgelöst durch ein heftiges Reuegefühl, wie er die Zeit mit solchen 
Dingen vertrödeln könne. Und nun gibt er sich die Schuld, daß er durch diese 
Abhaltungen sein Fortkommen im Leben verhindert habe. Nach kurzer Zeit wieder- 
holt sich dasselbe Spiel. 

Nach dem heutigen Stand der individualpsychologischen Erfahrung sind der- 
artige Rätsel auf den ersten Blick lösbar. Wir sehen diesen Mann statt auf dein 
Wege der Gemeinschaft, anstatt mit der Lösung seiner Probleme beschäftigt, in 
unverstandene Schwierigkeiten verwickelt. Bei dieser Gelegenheit aber umgeht er 
wie ein Deserteur die ihm gesetzten, gesellschaftlich notwendigen Aufgaben. Seine 
Schuldgefühle, weit entfernt, seine und seiner Umgebung Lage, seine bisherigen 
Fehler zu verbessern, tragen nur zur Verschlimmerung bei, weil sie ihn noch 
weiter von seiner Arbeit abziehen. Sind also weitere, richtige Mittel zur Desertion 
Seine bewegte Klage endlich, wie ihn sein Leiden im Fortkommen störe entbehrt 
nicht des Lichtblickes, weil sie gleichbedeutend ist mit der Feststellung: „was hätte 
ich alles geleistet, wenn ich dieses Obel nicht gehabt hätte!“ 

Wir sehen in das Arrangement eines Neben kriegsschau platzes, dessen Zweck 
und Ziel es ist, den Hauptkriegsschauplatz aüszuschalten. Und alle vorhandenen 
seelischen Phänomene, Zwang, Lustgefühle, Schuldgefühle. Logik und Lebens- 
wandel, spottend jeder Interpretation ihres Ursprunges und ihrer ursprünglichen 
Bedeutung, gehorchen ausschließlich nur der einen Aufgabe: im Vormarsch des 
Lebens der Lösung der realen Fragen auszuweiehen, eine sichernde Distanz zu 
ihnen zu gewinnen und den Schein einer tröstenden Reserve zu erobern: ,was ich 
alles hätte leisten können, wenn — . — “ 


* 


Neurose und Psychose sind die Ausdrucksformen entmutigter Menschen, 
wem sich diese individualpsychologische Erkenntnis entschleiert hat, der wird es 
rughcli vermeiden, mit entmutigten Menschen langwierige Exkursionen in mystische 
1 ekler der Psyche zu unternehmen. Selbst beiläufig richtige Mutmaßungen über 
primäres psychisches Geschehen würden immer nur willkommener Ausweg sein, 
sich von lebenswichtigen Fragen zu entfernen. Was immerhin wirksam und törder- 
!£, , ca . 1 zustande kommen kann, ist wie bei der Suggestiv- und hypnotischen 
tneiapie die Ermutigung, die unverstanden (unbewußt?) aus der menschenfreiind- 
hciici], geduldigen Beschäftigung des Arztes erfließt. 

Diese Form einer teilweisen Ermutigung genügt in den seltensten Fällen, ist 
. a -, Sleichzusetzen unserer Methode, die unabhängig und selbständig 
macht, weil sie die wirksamen Ursachen der Entmutigung behebt. 

Also legt die Individualpsychologie doch auch de- Ursachen einer seelischen 
0ewi 1 cllt bei? Wohl denen des zu behebenden Grundphänomens, 
i?, 1 t,£ ' I ! ei1 ) die als Ausdrucksmittel der Entmutigung immer nur ihrer Zweck- 

m«* 8R ^ a be f-u nWe i nduug . fin 5 len l e ‘S entlic h richtig am Platze sind, solange die 
Mutlosigkeit aiihalt, oder auch durch andere ersetzt werden können. 

Um ateo von den Ursachen der Entmutigung zu sprechen: sie sind immer 
uit tunlich. Emen völlig zureichenden Grund zur Entmutigung gibt es nicht! Nur 
dieser Irrtum berechtigt uns, eine radikale Therapie der Neurosen in Angriff zu 
nehmen. Im obigen Fall war es der hochmütige, henschsüchtige Vater, der den 
Jungen schon in seiner Kindheit bedrückte und ihm systematisch die Hoffnung auf 
ein gedeihliches Fortkommen raubte, Man wird einwenden, ob denn jedes Kind 
entmutigt weiden könne? Nun, ich traue diese Kunst jedem Erzieher bei jedem 
Kinde zu, insbesondere weil die ganze Menschheit zur Entmutigung neigt. Freilich 
isl die aufzuwendende Kraft in jedem Falle verschieden und kann durch körper- 
te Minderwertigkeiten gefördert, durch günstige Umstände gehemmt werden. 
Das Ziel dieses Kindes aber war, den Vater zu übertreffeu. Da es sich dies in 
offenem Streben nicht zutraute, unterfing es sich, den Schein der Überlegenheit 
zu retten, suchte Umwege und fand einen Ausweg und mildernde Umstände in 
seiner Zwangsneurose. * 


2 


Fortschritte der Individualpsychologie 


Wer ist nun der wirkliche Dirigent, der vielleicht nur dort, wo es ihm paßt, 
andere Ziele als das seine (Selbsterhaltung, Hunger und Liehe, Lustgewinnung) 
vorschiebt, sie gelegentlich auch vertauscht? Der in allen Phänomenen sein Spiel 
treibt, alle Ausdrucksformen, seelische wie körperliche, beherrscht und in seinen 
Dienst stellt? Ist es nur einer? Sind es mehrere? Ist es vielleicht denkbar, daß 
ein Individuum, ein Unteilbares, das wir als Einheit empfinden und verstehen, 
von dem wir, was als einziges Kriterium des Verständnisses Wert besitzt, Vorher- 
sagen können, wie es sich in einer bestimmten Lage benehmen wird, mehreren 
Zielen nachstrebt? Wir haben es nie gefunden. Aber das double vie, die Ambi- 
valenz? Sind hier nicht zwei Ziele zu sehen? Das Schwanken, der Zweifel? 

immer weist uns das Geltungsstreben, im allgemeinen Sinne das Wollen, 
darauf hin, daß in allem seelischen Geschehen eine Bewegung im Gange ist, die 
von einem Minderwertigkeitsgefühl aus ihren Lauf nimmt," um zur 1 lohe zu 
gelangen. Die individualpsychologische Lehre von der seelischen Kompensation 
weist darauf hin, je stärker das Minderwertigkeitsgefühl ist, um so höher das 
Ziel der persönlichen Macht. 

Ist aber das Geltungsstreben mit seinem Ziel der Überlegenheit jene richtende 
Kraft, die alle Bewegungen der Menschen lenkt, dann dürfen wir sie uns nicht 
etwa als belanglosen I akior vorstellen. Dann ist sie mit unserem gesamten Leben 
verbunden, dann stellt sie ein Streben dar auf Leben und Tod. Und in der Tat: 
sie ist imstande, uuscicn Sclbsteihaltimgsti ieb, unser Lustverlangen, unseren 
Wirklichkeitssinn, unsere moralischen Gefühle zu stören oder aufzuheben. Sie 
findet im Selbstmord einen Weg zur Durchsetzung, sie lenkt unsere Freundschafts 
und Liebesgefühle, sie läßt uns Hunger und Durst ertragen und macht uns 
Schmerz, Trauer, Qualen zu Etappen unserer Triumphe. Nichts was der Mensch 
genießt oder empfindet und tut, empfängt er mit Unbefangenheit. „Schön ist 
häßlich, häßlich schön“, singen Macbeths Hexen. Und: „der Verstand ist listig“ 
erklärt 1 legel. Als Sokrates einst einen Sophisten in durchlöchertem Mantel sali’ 
rief er ihm zu: „Jüngling von Athen, aus den Löchern deines Mantels guckt die 
Eitelkeit!“ Bescheiden und eitel zugleich! ist hier eine ehrliche Ambivalenz vor- 
handen? Oder ist es nicht eine Finesse, mit zwei statt mit einem Pferde zu fahren 
auch durch Bescheidenheit zu glänzen? Im double vie unterstützen sich beide Rollen* 
um das Ziel der Überlegenheit erreichen zu helfen. Sowie ein Börsenspieler, je 
nach Bedarf, das eine Mal in der Haltung des Haussiers, ein andermal als Baissier 
auftritt, beides, um Geld, das heißt Macht zu gewinnen. So antwortete mir einmal 
ein reichgewordener alter Geschäftsmann auf meine Frage, warum er noch ver- 
dienen wolle, da er doch alles kaufen könne, was käuflich sei: „Wissen Sie,“ sagte 
er, „das ist die Macht, die Macht über die andern!“ 

Ich könnte als Psychologe auch andere Wege gehen. Ich könnte den psycho- 
logischen Wurzeln naehforschen, warum jener Sophist eine Vorliebe für zerrissene 
Mäntel hatte, um seine Bescheidenheit zu demonstrieren. Dann aber käme ich auf 
ein dem Sophisten erwünschtes Nebengeleise. Ich hätte seine Eitelkeit aus den 
Augen verloren. Ich muß vielmehr ergründen, woher seine Eitelkeit stammt. 

Ob er dabei im Sinne des Vaterideals vorgeht, wenn er sich in Lumpen 
hüllt oder im Sinne des sogenannten „Ödipuskomplexes“ oder vielleicht in beider 
Sinne oder in keiner von diesen Richtungen, ist wohl recht belanglos. Auch die 
uns bekannten Tatsachen, daß einer den Vater nachahmt oder ihm zuwiderhandelt, 
haben durch eine derart mystifizierende Beleuchtung keine Bereicherung gefunden! 

Hier schließt sich unser Verständnis für die psychologische Struktur des 
Zweifels an. Auch beim Zweifel bestehen nicht etwa zwei verschiedene Ziele, 
sondern ein einziges: Stillstand! Die gleiche Überlegenheit gilt für alle soge- 
nannten nervösen Symptome. Wie eine verschleierte Bremsvorrichtung greifen sie 
in die Bewegung des Fortschrittes ein, lenken sie auf ein Nehengeleise und hemmen 
die Erfüllung von oft selbstausgesprochenen Forderungen. 

Auch in diesen Fällen finden wir als Dirigenten die Eitelkeit, die sich vor 
Verletzungen fürchtet. 

Das Ziel der Überlegenheit, bei Nervösen außerordentlich hoch angesetzt, 
formt die Individualität des Einzelnen, modifiziert seine Logik, Ästhetik uncl Moral 


1 * 


13 


Dr. ALFRED ADLER: 


und drängt ihm die zugehörigen Charakterzüge, Intelligenz, Energie und Affekte 
auf. Die leitende Idee seiner Persönlichkeit verhilft ihm zu seiner eigenartigen 
Gangart und Bewegungslinie, die wie eine ewige Melodie sein ganzes Leben 
durchzieht. Wer diese Bewegirngslinie kennt, versteht erst den Sinn jeder ein- 
zelnen Bewegung. Reißt man ein einzelnes Phänomen aus diesem Zusammenhang, 
so wird man es immer mißverstehen. Die einzelnen Töne sagen uns nichts, wenn 
wir die Melodie nicht kennen. Wer aber die Bewegungslinie eines Menschen 
kennt, für den beginnen die einzelnen Erscheinungen zu sprechen. 

Daraus folgt auch; die richtig verstandenen seelischen Phänomene können als 
Vorbereitungen für ein Ziel der Überlegenheit aufgefaßt werden. 

Über den Ursprung des Geltungsstrebens sind wir durchaus nicht im Unklaren. 
Die Dürftigkeit und Hilflosigkeit des Kindes führt regelmäßig zu einem Minder- 
wertigkeitsgefühl, das nach Erlösung drängt. Schlechte Erziehung, ungünstige 
Situation, angeborene körperliche Schwächen steigern dieses Minderwertigkeits- 
gefühl und damit auch die Sehnsucht des Kindes nach Geltung und Macht. Das 
Kind findet in seinen ersten Jahren die Schablone für seine Stellungnahme zum 
Leben, entsprechend seiner Situation, seiner Umgebung, seinem Lebensmut und 
seiner Findigkeit. Im I rotz oder im Gehorsam, immer strebt es nach der Höhe. 

Dabei ist entsprechend der Unreife des kindlichen Geistes und Verständnisses 
reichlich für Irrtümer Platz. Ja, wir werden, da das menschliche Wirken Stückwerk 
ist, eigentlich niemals den Irrtum vermissen. Nicht in der Einschätzung der 
eigenen Lage und nicht in der Wahl des Zieles. Dazu kommt noch, daß bei ehr- 
geizig Strebenden niemals Konflikte, Rückschläge und Niederlagen ausbleiben, da 
sie sich von der Logik des menschlichen Zusammenlebens, von der absoluten 
Wahrheit, also vom Gemeinschaftsgefühl allzuweit entfernt haben. Damit aber 
stellt sich die Entmutigung ein, die immer Irrtum ist, in ihren verschiedenen 
Graden und arrangierten Sicherungen abermals zu zahlreichen Irrtümern Anlaß 
gibt. Wir haben festgestellt, daß alle Nervöse entmutigte Ehrgeizige sind und 
daß die Entmutigung der Kinder und der Erwachsenen vielleicht auf 00% der 
Menschheit verteilt ist. 

Die Aufgabe der Erziehung ist es, die Schablone des Machtstrebens zu 
verhindern und die Entfaltung des angeborenen Gemeinschaftsgefühls zu fördern. 
Die individualpsychologische Behandlung der Nervösen, der" entmutigten Ehr- 
geizigen, geschieht durch Aufdeckung ihrer Irrtümer, durch Abbau ihres Macht- 
strebens und durch Hebung ihres Gemeinschaftsgefühls. 

* 


Man könnte geneigt sein, in unseren Anschauungen den Bestand einer 
Schablone zu suchen, und könnte glauben, cs genüge die Kenntnis dieser Schablone, 
etwa des Minderwertigkettsgefühles und seiner Kompensationen, um nun alle 
Katsel des Seelenlebens lösen zu können. Da vergesse man nur nicht der Unsumme 
von Kunstgi men und Listen, deren Buntheit nicht kleiner ist als das Leben selbst, 
-iii'-'ii Leitfaden, einen sicheren Führer, nicht mehr bedeuten die Grundanschau- 
imgen der Individualpsychologie. Jedesmal muß der Weg selbst gegangen werden, 
üfis Dunkel et hellt werden, bis wie durch eine Eingebung dem Suchenden und 
Lntet suchten der Zusammenhang klar ist. Es ist durchaus nicht auf den ersten 
bhek einzusehen, wo im Palle der Depression, der Melancholie das Ziel der 
L bei legen heit wirksam sei. Wir wollen es an einem Falle von „manischdepressivem 
Irresein nachzuweisen versuchen. 

Ein 40 jähriger, athletisch gebauter Mann mit langgezogener Nase und 
eiförmigem Gesicht klagt, daß er derzeit bereits zum dritten Male in einen Zustand 
der Melancholie verfallen sei. Alles widere ihn an, er könne sich mit nichts beschäf- 
tigen, sein Schlaf sei seit Beginn der melancholischen Verstimmung vor acht 
Monaten wieder wie bei den anderen zwei melancholischen Phasen vollständig 
gestört. Er trauere den ganzen Tag und die Nacht dahin, finde an nichts Gefallen 
und sei erotisch völlig unempfindlich. Alles komme ihm wie Mist vor. Im Jahre 
1918 sei er an Manie erkrankt. Wie ein Champagnerrausch sei cs über ihn 


4 


Fortschritte der Indrvidualpsychologie 


gekommen. Fr dachte, er müsse sein Vaterland retten, er sei dazu auserkoren, 
müsse Reichsverweser werden; er habe auch versucht, Verhandlungen anzubahnen, 
hatte grolle Entwürfe für Kolossal bauten ausgearbeitet, bis ihn seine Familie in 
eine Irrenanstalt sperrte. Einige Wochen nachher verfiel er in einen Zustand der 
Depression, der neun Monate währte und ganz wie der gegenwärtige verlief. 

Kaum fühlte er sich besser und dachte wieder an eine regelmäßige Arbeit, als 
die Manie wieder eintrat, ungefähr di; gleiche Zeit wie das erste Mal dauerte, 
um dann der melancholischen Phase Platz zu machen. Fast unmittelbar an diese 
reihte sich das dritte manische Zustandsbild, welches von der gegenwärtigen 
Melancholie abgelöst wurde. 

Die Ausdrucksform der völligen Entmutigung dürfte kaum zu übersehen sein. 
Der Lebenslauf dieses Mannes bot genug Verlockungen dazu und Bestätigungen 
dafür. Er war das Kind einer reichen Familie und hatte zum Taufpaten einen 
höchsten Würdenträger des Staates. Seine Mutter, eine ehrgeizige Künstlernatur, 
erklärte ihn fast in der Wiege schon als unvergleichliches Genie und stachelte 
seinen Ehrgeiz in unerhörtem Maße. Er wurde seinen anderen Geschwistern weit 
vorgezogen. Seine Phantasien in der Kindheit gingen daher ins Ungern essene. 
Am liebsten spielte er Feldherr, trommelte eine Anzahl Jiuigens zusammen 
und errichtete sich einen Feklhermhügel, von dem aus er die Schlachten 
leitete. In der Kindheit schon und später in der Mittelschule empfand er es tief 
schmerzlich, wenn ihm nicht alles leicht und glänzend von der Hand ging Von 
da an begann er seinen Aufgaben auszuweichen und vertrödelte die Zeit haupt- 
sächlich mit Teilarbeiten. Wir werden sehen, wie diese Spiele der Jugend zum 
Ausgangspunkt seiner Berufswahl wurden. Er ging später zum Militär, verließ 
aber bald seine Stellung, um sich der Bildhauerkunst zu widmen. Als er auch da 
nicht gleich zu Ruhm und Ehren gelangte, sattelte er abermals um und wurde 
Landwirt. Als solcher verwaltete er die Güter seines Vaters, ließ sich in allerlei 
Spekulationen ein und stand eines Tages vor dem völligen finanziellen Zusammen- 
bruch. Als er wegen seiner waghalsigen Unternehmungen als verrückt gescholten 
wurde, gab er das Rennen auf und zog sich zurück. 

Da kam die große Geschäftskonjunktuv der Nachkriegszeit, und alle seine 
waghalsig begonnenen, schon verloren geglaubten Unternehmungen begannen 
aufzublühen. Geld strömte ins Haus und überhob ihn jeder Sorge. Auch sein 
Prestige schien gerettet. Nun hätte er sich wieder nützlicher Arbeit widmen 
können. Da brach sein manischer Anfall aus und verhinderte jede Tätigkeit. Die 
gute Zeit traf ihn bereits im Zustande gänzlicher Entmutigung, 

Aus seinen Jünglingsjahren erinnert er sich an ein starkes Prädestinations- 
gefühl. Selbst Gedanken der Gpttähnlichkeit wagten sich an ihn heran. Seine 
Zimmer waren über und über mit Napoleonbildern geschmückt, die wir als Beweis 
seines Strebeus nach Macht gelten lassen dürfen. Als ich ihm einst zur Illustration 
seiner Bewegungslinie darauf verwies, daß er einen 1 leiden in seiner Brust trage, 
den er seit seiner Entmutigung nicht mehr auf die Probe zu stellen wage, erzählte 
er mir betroffen, daß er über der Türe seines Arbeitszimmers einen Spruch 
Nietzsches angebracht habe, der folgendermaßen lautete: ,,Bei allem, was dir heilig 
ist, bitte und beschwöre ich dich: wirf den Helden in deiner Brust nicht von dir!“ 

In einer der Hauptfragen des menschlichen Lebens, in der Berufsfrage, sehen 
wir deutlich seine fortschreitende Entmutigung infolge seines unerfüllten und 
unerfüllbaren Ehrgeizes. Wir können sie, wenn auch nicht billigen, so doch 
begreifen. Wie war es mit der zweiten Hauptfrage, mit der sozialen Verknüpftheit 
von Mensch zu Mensch? Man konnte leicht Vorhersagen, daß er auch hier scheitern 
mußte, daß sein Hochmut ihn kontaktunfähig machen mußte, so daß er im großen 
und ganzen niemandem zulieb und niemandem zuleid in einer isolierten Stellung 
verharrte. Selbst seine Geschwister und seine Kameraden wurden ebensowenig in 
seiner Nähe warm wie er in ihrer. Nur zuweilen zeigte sich im Beginne einer neuen 
Bekanntschaft ein anfängliches Interesse, um bald wieder abzuflauen. Er kannte 
die Menschen nur von ihrer schlechten Seite und hielt sie ferne. Dies und sein Ziel 
der Überlegenheit zeigte sich auch in seinen satirischen, scharf zugespitzten 
Pointen. 


Dr. ALFRED ADLER: 


In der dritten Hauptfrage des Lebens liatte er schwer Schiffbrudi gelitten. 
Er hat wohl niemals geliebt und kannte die Frau nur als Objekt. So kam es, daß 
er in jungen Jahren an Lues erkrankte, an die sich unvermerkt eine Tabes mit 
leichten Erscheinungen schloß. Dies trug nicht wenig zu seiner weiteren Ent- 
mutigung bei. Jetzt sali er sich von allen Triumphen ausgeschlossen, die er sich 
sonst im ersten Ansturm bei Frauen, beim Preisfechten, Wettschwimmen und bei 
I loclitouren geholt hatte. 

Wie er die Menschen sich entfremdet hatte, stand er nun selbst als Fremdling 
in diesem Leben, das ihm nirgends einen Kontakt bot. Seinen Irrtum einzusehen, 
zu verbessern war er nicht fähig. Sicherlich hinderte ihn auch sein Stolz, der 
1 leid in seiner Brust daran. So fand ich ihn als einen Menschen, der nach einem 
glänzenden, ja fanatischen Auftakt immer nachgelassen hatte, sobald sein Ehrgeiz 
zu fürchten begann. 

Sobald ich den Rhythmus seines Lebens, wie er unter dem Druck seines ehr- 
geizigen Strebens zustande gekommen war, erkannt liatte, wußte ich auch, daß 
alle seine seelischen Leistungen im Sinne dieses Rhythmus verlaufen mußten. Um 
die Probe darauf zu machen, ließ ick mir seine Schriftzüge zeigen. 









s j d d ilucb hier, und zwar ohne graphologische Deutungskunst, den 
jedem n Wort kt daS stätltligc Schwinden in der Größe der Buchstaben in 

be ! lso . ^^l! ig ä u ßern sich die entfernten Pole seiner Bewegungslinie in der 
‘ , (i nci Stoffe, die er plastisch gestalten wollte. Einen Sonneiianbeter wollte 
Tr, r 1 ’,-: mit ausgebreiteten Armen nach dem Höchsten greift, und die 

^ ur El i dc gebückt cm verlorenes Glück beweint. Doch nicht einmal 
' orai beiten ist er geschritten. Sein Ehrgeiz lebte weiter, war aber olin- 

mächtig geworden und verbarg sich. 

,i fr d *A Se £ bnpotent gewordene Ehrgeiz noch gestalten konnte, zumal 

SiieT 5 zur Außenwelt verloren gegangen war, sah man in der Darbietung 

“ 1 jy . d,ose - Sie beginnt mit dem manischen Auftakt, der brüllend den Mut zur 

W • bf j weisen w i 11 ’ ? erade abei durch sein Ungestüm und durch seinen 
U | 1 , S<-'g ei i die Logik uns die Entmutigung verrät. Im Rausch seiner 

rfh™™ telI f eit . E S t er dahin und zwingt die Umgebung zur Korrektur, zur 
« pi. . „m unc ! zui Hemmung, die der Kranke selbst nicht aufbringen darf, weil 
uudetei Elugeiz keine Handlung im Sinne des common sense duldet. 

rv i ■ U P d as , Sch winden dos Kraftaufwandes im Zwange seiner Lebenslinie. 
£ ri Ümut f Ü ?§ in . der mdancholischen Phase liegt klar zutage. Wo stickt nun 
iu Lin geiz. Alles ist schal. Nichts kann ihn bewegen, ihn erfreuen, nichts wirkt 
auj ihn. Allem stellt er kalt und fremd gegenüber wie annähernd scii on in seinen 
juiigeien Jameii, Die Nichtigkeit alles Irdischen, die Wertlosigkeit aller Menschen, 
aliei menschlichen Beziehungen ist die Rache seines verwundeten Ehrgeizes, mit 
Jei ei sich jeder Wirkung und Kraft der anderen entzieht, indem er sie leugnet. 

Und je mehr er über diese Entwertung klagt, um so deutlicher stellt er sie 
lest Statt sich zu erhöhen, erniedrigt er die anderen. Dem irrtümlich allzu hoch 
gesteckten Ziel seiner frühen Kindheit bot die Wirklichkeit unlösbare Schwierig- 
keiten. Nur im Spiel, in der Phantasie und in leicht und rasch erworbenen 


Fortschritte der Individualpsychologie 


Triumphen genügten sein Mut und seine Ausdauer. Nach individualpsychologischen 
Maßen gemessen, war er immer ein Typus des Entmutigten. Sein manisch-depres- 
sives Irresein ist der Ausdruck einer stärkeren Entmutigung bei gleichbleibendem 
Rhythmus seiner Bewegimgslinie. 

Zum Rätsel des zyklischen Verlaufes dieser Erkrankung sollen nächstens noch 
einige Aufklärungen folgen. Ebenso bezüglich der Behandlung. 


SU M MARY: lf h not by analysis or experimental 
mvL'slittulion nf iht forccs manifestet! in the mental life 
oJ | he iudiviüual timt wu enn yuin a proper umlerAlnmlmg 
ot Itiiti, bui ralher by itiveSliguiioE üf Ihe nimmer in 
wludi he tiflcs these forces. Tins leads imkirally io 
examinalioLi uf üie mdivldttals purpoac in 1 iSu os 
mdfcakd hy the fjonta he Ims in view and wliich he 
has adopted lo serve :ts oritnhdimi points in the f ie I U 
of life aruinid hmi. By tliis melliod of investigatiön 
llie importaiice ol causality is considejrably limited, för 
all Ihe forcca latent in ilic individual Work in ihe 
ser vice ül his individual tdeolugy and can bo tnuler- 
stood wIivji Ihe goal is discovcred. 

Nenroses nnd psyclioses are man i f es tat ious uf iudi- 
vktiuds wbo an? disemiraged in life — discouraged 
relative 1c the real detuantta of the every day life 
aronnd lliem* A rational llierapy sliuuld not carry the 
individual inlo mysfic Hehls of the wind, tlms afiordmg 
bliTJ nt oute an eacapc from diese real dem and», bui 
shotild tmcoiirage him into eontact with the activitie* 
of cooperative working, loving and playiilg which the 
logic of comniuna I Hie and the divfeiott of kib-our 


implied. A ralbnai Iherapy in die Siealment of neuroäis 
is fu^tified by Ihe fad tlial the enuses of the dis- 
tour a^em eit i art fidtouaL 

'1 he ultimate goal of ihe nervous individual is timt 
of personal super inriiy. He blrivea towards Ihis goal 
from early chihlhood, under pressure of a ieding of 
inferior! ly adsiug from organ mferiorily opprcssJv 
enviromuieiilat forces, Üfleü the goal of supertörity is 
clever ly disguised, and the traits of eharaefer luatu- 
fested in striving towards Ihe goul subtly dothed, as 
wlieii Ihe individual displays h\s vaiiily ni bis modesty. 
Individual psycho logical trentinen t dtecloses to die 
individual his yeerd Idcology, traces ii back to ils 
sojirces in early cttildliood, and poinls out wliere ii is 
in contliet witli the real logic of cowniuxial life and the 
development of social fedmg (üemdmclnflsgefühl). 
l idLication shoukl eiicourage ihe ein Id and makc Juni 
capabte of uiiimpeded contaef vvilh his feiluws and tlie 
real Problems of Hfe, by the development of bis 
social fedlng, ratlier fhaii diseourage hirn Euto slriving 
iowards the ficÜtiotis goal ol superiodty over all 
others. 


Gemeinschaft als Idee und Erlebnis 

Von Dozent RUDOLF ALLERS (Wien) 

Den Lehren der Individualpsychologie , zufolge kommt der Beziehung des 
Individuums zur Gemeinschaft grundlegende Bedeutung zu. Erscheint uns doch 
die Neurose nicht nur, sondern die Gestaltung jeglichen Lebenslaufes gewisser- 
maßen als die Resultate zweier Grundkräfte: des Geltungsstrebens einerseits und 
des Triebes zur Gemeinschaft anderseits. Wenn die mangelnde Entwicklung des 
letzteren oder die Lösung der auf ihn sieh aufbauenden Beziehungen auf die 
Artung der Persönlichkeit einen so tiefgreifenden Einfluß haben kann, wie wir dies 
alltäglich an den Neurosen beobachten können, so ist es wohl der Mühe wert zu 
fragen, worin denn die Bedeutung der Gemeinschaftsbeziehungen eigentlich 
gelegen sei. 

Diese Bedeutung ist in doppelter Hinsicht zu betrachten. Es muß erstens 
zwischen Gemeinschaft und Individuum eine wesensmäßige Beziehung bestehen, 
das heißt das Wesen: Individuum muß durch das Wesen: Gemeinschaft irgendwie 
begründet werden, unabhängig davon, daß irgendein konkretes, empirisches Indi- 
viduum Glied einer ebensolchen Gemeinschaft wäre. Es muß eine Abhängigkeit 
bestehen derart, daß ein menschliches Individuum, eine Person durch die Einord- 
nung in die Gemeinschaft überhaupt erst möglich werde. Es handelt sich also um 
eincii ideellen Zusammenhang. Zweitens ist zu fragen, ob und wie die Beziehung 
zur Gemeinschaft sicii im Erleben des einzelnen auswirke, wie dieses Erleben der 
Gemeinschaftsbeziehung auf die individuelle Seele und deren Verhalten zu anderen 
abfärbe. 

Gemeinschaft ist zunächst wohl zu unterscheiden von Gesellschaft. Gesellschaft 
ist ein Aggregat von Individuen, die durch Rechte und Pflichten, durch Normen, 
Gesetze und Formen aneinandergefügt sind. Gemeinschaft ist ausgezeichnet durch 


7 


RUDOLF ALLERS: 


die Solidarität gewisser emotionaler und willensmäßiger Einstellungen*). In der 
Gesellschaft garantiert der Bestand des Ganzen und die Beibehaltung der Richtung 
aul dessen Ziele dem einzelnen die Möglichkeit der Erreichung oder der 
Annäherung an die individuellen Ziele, die im übrigen ausnehmend verschieden 
sein können. In der Gemeinschaft garantiert die Beibehaltung der im wesentlichen 
identischen individuellen Ziele oder der Bewegung auf sic zu, die solidarische 
Fortbewegung- des Ganzen in der seinem Wesenssinne entsprechenden Linie. Oder: 
Gemeinschaft ist eine (überpersonale) Einheit von Personen, Gesellschaft eine 
(objektive) Ordnung von Subjekten des Rechtes, der Wirtschaft und dergleichen, 

Gemeinschaft ist Gemeinschaft von Personen. Sie setzt also Personen voraus. 
Aber es scheint zu zeigen möglich, daß die Person erst durch die Gemeinschaft 
möglich werde. Es konstituiert sich die Person alter erst durch jene Beziehung zu 
anderen Personen, welche wir als Gemeinschaftsbeziehung benennen. 

Oer Mensch als Person ist wesensmäßig bezogen auf den Anderen. Ohne diesen 
crson<< n icht sein. Wenn auch der strenge Beweis für diesen Satz hier nicht 
geiuhrt werden kann, 30 sei doch auf einige Punkte verwiesen, welche ihn be- 
leuchten ). Allerdings werden auch hierbei Behauptungen aufzustellen sein, die 
infolge mangelnder Begründung dogmatisch anmuten dürften: doch hoffe ich, daß 
mr binn recht allgemein sich als evident erweisen werde. 


Jedes Erlebnis — womit ein beliebiges Vorkommnis im Seelischen gemeint 
sei — erlangt seinen vollen Wirkungswert und damit seinen vollen Sinn erst durch 
die Fassung in dem ihm adäquaten Ausdruck, Dieser „Ausdruck“ muß nun nicht 
mirner ein solcher im strengen Wortsimi sein. Wenn man in irgendeiner Situation 
„sich über sich selbst klar werden“ will, so heißt das keineswegs, daß man für 
sem Wesen die cinzuhaltende oder eingehalleiie Lebenslinie, die Motive eines 
Handelns, die gesamte Attitüde Worte finden wolle und nun imstande sei sich 
ais ein Soseiender zu beschreiben. Es heißt vielmehr, daß eine Haltung zu den 
jeweils aktuellen Problemen gefunden werden soll, aus der heraus die später statt- 
tmdenden Handlungen [ließen sollen. Es soll also ein gewisses Schema gefunden 
weiden in das sich alle Einzelhandlungen einzufügen haben. Deren Gesamtheit 
tU T as p^isdruck“ der Grundhaltung, eines liebenden, hassenden, 
weltzugc wandten, asketischen - je nachdem, Das jenes Bedürfnis d-r Klärung 
iwi a ! SOSei l- e Erlebnis ist erst erledigt“, das heißt zu voller Auswirkung ge- 
wiir<lf> k? 11 ( I Pse Gesarnthaltimg, die also eine ausdrucks bestimmende ist, errungen 
Z A i 'tr anderen Fallen handelt es sich indes wirklich um eine unmittel- 
Sän,^TrS Shnd V ng A die .Formulierung nimmt, so sie gelang, das heißt als 
GHiärdt* **) u Cni i garenden Gedanken das beunruhigend Quälende; die 

„i™ d « Zärtlichkeit, das Wort der Liebe, die Drohhandlung, jegliche Affckt- 
entiashmg usw. vollenden erst die betreffenden Erlebnisse. (Daß der Begriff der 

sdien' Eflebnisses“ mancherlei Schwierigkeiten birgt, kann nicht über- 

sencn> ubei auch nicht des breiteren erörtert werden ***). 

n aHl AUSd AÜo k | ab 5 t J st , in ers f er Unie “ sowohl dem Sinne wie der Entstehung 
Ü r Jur d ie anderen, verständliche Konkretisierung des inneren V 01 - 

an eS v o^ndung des Erlebnisses im erlebenden Subjekt ist gebunden 

verstänöi vh ükU P® ^ ,eses » tladurch es dem anderen — zumindest grundsätzlich — 
TOlfÄÄ erschaubar wird. Somit ist der andere wesensmäßig in jedem sich 
AnH ;uP d fn\5r e . bl V S vo ™us£esetzt Ohne ihn ist solche Vollendung unmöglich. 

,^ neridlSte D SUb]ek lVS t te R ?? ung der Seele ist ihrem Wesen nach letzt- 
auf ilm hin andeien ' 1,n S e0K i ne * ur *d bewegt sich in ihrer immanenten Zielsetzung 


*) Vgl. Tön nies: Gemeinschaft und Gesellschaft. 

**) Die hier anzudeutendeu Gedanken habe ich wiederholt in Vorträgen behandelt und 
auch in meiner „Psychologie des Geschlechtslebens” bei Besprechung der „Liebe” heian- 
gezogen. Sie kommen weitgehend — wenn sie auch großenteils unabhängig entwickelt 
wurden — mit Lehren M. Schelers überein. Vgl. dessen: „Formalismus in der Ethik”, 
„Vom Ewigen im Menschen” u. a. 

***) Ober die grundsätzliche Einordnung der Gedanken auf den Ausdruck vgl. 
tJoemgswalds „Grundlagen der Dcnkpsydiologie”. 


8 


Gemeinschaft als Idee und Erlebnis 


Demnach ist die Fülle des Erlebens jedes einzelnen wesentlich geknüpft an 
dessen Verbundenheit mit dem anderen, das heißt das volle individuelle Erleben 
wird durch die Eingliederung in die Gemeinschaft möglich. 

Die im „Ausdruck“ — so verstanden, wie gesagt — sich kundgebenden 
wesentlichen Beziehungen zur Gemeinschaft sind aber noch in weit tieferem Sinne 
konstitutiv für die Person. Von einer solchen sprechen wir nur dort, wo die 
Verhaltungsweisen des Individuums aus ethischen Einsichten erftießen, wo sie uns 
nicht bloß als „Ausdruck“ schlechthin — dies kann auch beim Tiere der Fall sein — 
sondern als „Ausdruck“ bestimmter Wertungen erscheinen. Unter den Wertgegen- 
ständen mögen sich auch solche finden, welche allein auf den einzelnen bezogen 
sind — wie etwa die Vitalwerte der Selbsterhaltung — vor allem aber sind es 
Wertgegenstände des zwischenpersönlichen Bereiches. Gut kann ein Verhalten nur 
heißen, sofernc es in bezug auf den anderen — gleichgültig ob derselbe konkret 
beteiligt sei oder nicht — stattfindet. Und so in jeglichem anderen Verhalten auch. 

Damit ist von den Wesenszusammenhängen, -die sich zwischen Individuen und 
Gemeinschaft ausspaiuien, aber nur einer oder, richtiger, von dem einen Wesens- 
zusammenhang nur eine Seite aufgezeigt. Eine weitere ist, daß die Vereinzelung, 
die Setzung der Person als solche, ebenfalls nur vermöge der Einbettung in den 
Gemeinschaftskonnex möglich wird. So sehr die Person Eigensein und Ligenwert 
besitzt, so sehr sind diese nur durch die Gegenüberstellung des einen und des 
anderen* Ja sogai die fundamentale Abgrenzung von Person und der ihr als 
Wirkungssphäre entgegenstellenden Welt — Objcktum, „Gegenwurf“ wie Meister 
Eckhardt sagte — entspringt diesem Grundverhältnis aus Gemeinschaft. 

Es ist, glaube ich, eine verkehrte Konstruktion, wenn man dem Primitiven 
wie dem Kinde als ursprüngliche Attitüde eine Neigung zur Allbescelung zu- 
schreibt, die erst durch die erfahrungsgeborene Beschränkung allmählich sich nur 
auf Lebewesen, schließlich nur auf Menschen beziehen lerne. Vielmehr ist der 
primitiven Person der Andere oder sind die Anderen die eigentliche und ursprüng- 
lich gegebene Wirkungssphäre, nach deren Analogie erst allem, was Objekt des 
Willens wird, Seele zu geschrieben werden kann. 

Wenn nach dem bisher Ausgeführten die Beziehung des einzelnen zur Gemein- 
schaft also wesensnotwendig ist und die Person mitkonstituiert, so ist damit noeb 
nicht gesagt, daß diese Beziehung auch erlebt werde. Ja, man könnte sogar versucht 
sein, die Notwendigkeit solchen Erlebens zu bestreiten durch den Hinweis auf die 
— auch hier einleitend angemerkte — Tatsache, daß gerade die Neurose uns 
zeige, wie solche Beziehung auch fehlen oder verloren gehen könne, ohne daß 
dämm auch die Persönlichkeit verschwinde. Dieser Einwand indes wäre nicht 
stichhaltig und beruhte auf einer einseitigen und zu engen Fassung dos Begriffes 
der Beziehung. Denn diese muß ja nicht nur als positive verstanden werden. Es ist 
nämlich ein Irrtum, wenn man glaubt, eine Beziehung dadurch aus der Welt zu 
schaffen, daß man sie negiert. Auch der Empörer steht in Beziehung zu jenen 
Gewalten, gegen die er sich empört. Cromwell war nicht ohne Beziehung zum 
Königtum, Kain oder Manfred bei Byron sind nicht aus der Beziehung zu Gott 
herausgetreten. Im Gegenteil: die Negation kann eine Beziehung ebenso wirksam 
werden lassen — dem Grade nach — wie die Bejahung; nur die Alt des Bezogen- 
seins wird eine andere. So ist es denn eigentlich unrichtig, wenn man sagt, der 
Neurotiker habe die Beziehung zur Gemeinschaft verloren; dies kann er niemals, 
weil seine Person wie jede dadurch mitkonstituiert wird. Was ihn kennzeichnet, 
ist vielmehr, daß er diese Beziehung negiert (oder sich so verhält, als ob er sie 
negieren wolle), die Gemeinschaft (vergeblich) einzuklammern und mit einem 
negativen Vorzeichen zu versehen versucht. 

Das Bejahen oder Verneinen einer derartigen Beziehung muß nicht unbedingt 
ein bewußtes sein. Es ist sogar fraglich, ob es auch immer ein erlebtes sein müsse. 

Indes glaube ich, behaupten zu können, daß jedes Moment, das wir an der 
Person als Wesen wahrnehmen können, auch im Erleben sich manifestieren müsse. 
Isi, woran nicht zu zweifeln, die Person eine Ganzheit, Totalität, so muß sie als 
solche auch in jeder einzelnen Äußerung enthalten sein. Es kann das eine oder 
andere Moment in verschiedenen Äußerungen deutlicher sichtbar werden als in 


RUDOLF ALLERS: 


anderen, es können gewisse Erlebnissphären die personalen Stinkt men schärfer 
abbilden als andere, immer aber wird die Totalität unzerstuckt darin stecken*) 
wenn in der Tat die Hinordnung auf die Gemeinschaft für das Wesen der 
eison nntkonstituierend ist, so folgt, daß in jedem wie immer gearteten Akt der 
l erson diese Beziehung nuten thalteu sein müsse. Dies gilt dann sowohl von den 
„Eigenakten , che sich auf die Person selbst als solche und vereinzelte richten 
als auch von allen „Fremdakteu“, die auf die anderen als einzelne oder Giiipnen 
oder Gesamtheiten sich erstrecken. Von dieser wesentlichen Verknüpfung ist es 
nur Abbild und Spiegelung daß — wohl in allen Daseinsformen des Menschen, 
de m irgendeinem Sinne Kultur heißen dürfen - der einzelne in der Befrie’ 
chguiig aller seiner leiblichen wie geistigen Bedürfnisse an die anderen gewiesen ist 
Diese Abhängigkeit aber ist — großenteils zumindest — eine erlebte. Wenn 
auch nicht immer klar und deutlich bewußt, ist sie demnach dem Menschen vor 
u!tnJ^' r ? e . er 3 , ls arbeitender den Übrigen verbunden ist, ständig gegeu- 

steheiuirii Mmi - 3 n 1 Il 'i llt ( ta ? wil . ’ ^ en ’ n negativer üemeinschaftsbeziehiing 
S e . Neuiotiker als aut bestem Wege zur positiven ansehen dürfen, wenn 

SO Vf? a‘ I W'edergewomitti haben, rührt es, daß gerade die Berufswahl 

50 <J “. Anhub für die neurotischen Arrangements wird. 

hevieh!m,r 8 ?J? d n Uern i dafÜ *'. a t r b , ede ^ encl eindringlicher redet jegliche Liebes- 
i iS™ d ' e erotische, die Sprache der Gemeinschaft Auf ihre Be- 
sieh wohl Cei b ' euroserl P s y cbo l°S ie und Psychotherapie zu verweisen, erübrigt 

Schließlich durchdringt, wie ich glaube, die erlebte Verknüpf Hielt mit den 
a Kleien zur Gemeinschaft auch jedes andere im weitesten Sinne des Wortes sozial 
,.,! ! f; lllleiue Verhalten. Nicht weil es sozial, das heißt an anderen betätigt wird 
Betätigung an anderen bedeutet noch nicht Gemeinschaft damit. Hinweise auf 
oas Uemeinschaftseilebms als reales Vorkommnis kann man indes an mannigen 
entdecken. Etwa: ein Kind, das „spielt“, es sei der Vater oder sonst wer, 
\ci hut keineswegs seine Persönlichkeit; es bleibt jenes Ich, das es sonst ist. Aber 
v„,-k? S i° Spielen kann, zeigt, daß zu tiefst in ihm ein Wissen um eine eigenartige 
allerersf Trmö g 1 ! cid ^ M,tmenschen ri,ht > welche ihm solche „Identifikation“ 

. A n y J" ® aibeitu n g d '^, cr melir weniger aphoristischen Bemerkungen würde 
ClnriHerl mj en - bie w/ solltcn t mir andeuten, wie Erwägungen allgemeinsten 
GcsirliWnnliVtm- VO, i ü Wescn f e ,‘ me n sc h heben Person ausgehen, schließlich zu 
kommen q; ( , ttl ,j[ e an ®? n ’ we ^ ie der Indivklualpsychologie uberein- 

»M*“ u « u <;b e>n Stuck des Weges andeuten, auf dem die 
suchen «ein wiivi^iw^ ^u® Individualpsychologie vielleicht einmal zu ver- 
3 ii halt f sochcs Unternehmen nicht für fruchtlose Gedanken- 


" 1IIUHÖ (II1ULIL3 löl ClK> UUt 11 

aut dem stehend, wir als Therapeuten handeln 

SUMMARY; Since indiviüuiil psychology tcadiea flje waids (1 k tclownten and 
iiu|iürtnuce oi thu feeltilff of Community for llie origin 
nid therapy oF neuro^is, iE is inti^rtrathiur to jnquire 
v/iml reu 1 ly are Itie links bidiveen ilie single individual 
nml Uly coniiimnlly, Tlioat! links are of hvoped na t uro. 

Ilit!y are necesaory, a-prioric, mctaphysical eüiup_t> 

ÜGN;n, :)iul thfcy are moments real ly exisimg williin the 
psydtic life of the single individual- Au Ego or 
au „Person“ camiol bo llioyght as oxrsluig withoui 
tht? rctalion to others. Theist* rdation^ are essential ly 
constiUitives of the Ego» This k sliown by an analyds 
d exp ress ion which b always original ly directcd to- 


ittdispcTisablt: for die 

cotiiplutin^ oi Uic Evolution of every mental proecss. 
Mit* Ego being a toialsly and undiviaablc d cuntamed 
as such tu ev&ry ad Ion or bdinviour» U [ollows, 
t-dl all U* constitnents, also the relation io Ihc 

olhhf« must be actually present in uvery acÜon. 

I Imtu is no aclimr or bdiavlour not Involving a rc- 
lai:on lo cotutnunity , tliough Ihis may be 11 negative 
out?. The ihres: principal groirps of inlcrhtiman re* 

latiousliips are athuled at (of socieiy, love and Work) 
and tlie great theoretical and praetical importnncc of 
an cKact philosophical Foundation ts pomted out. 


t.i ehigehender ist dieser Gedanke ausgefühlt in meiner „Psychologie des Ge- 

schlechtslebens”, München 1922. 


10 


The Relation of Psychology to Education 

By YVONNE E. WINSLOW (San Francisco) 

In Hie past the study of psychology was a Technical thing, along theoretic con- 
ceptions on the purely logical meclianism of thought, that had no contact witli real 
and practica! life and whcre one could find uo explanation for human conduct. lt 
was a confused melee of literature aiul morals andhardly aiihonourto t he school of 
medccine, but of late years it has made rapid progress in America as elsewhere and 
the psydiological diagnosis of nervous diseases has now been fully accepled. We 
have learned that the study of the mind as a merely mechanical part of ourselves — 
the consciousncss, the inemory etc., is uselöss and that it hecomes efficaceous unty if 
we can apply it in tlie upbuilding of character and especially in tlie remaking of 
character when a person has grown more in one direction than another, or where 
varions experiences in lifc have confused his tiiought processes and made him 
nervous and imbalaiiced. Psychology should be uiiiquely a Science of conduct and it 
was prerisely this of whicli it ahvays folget to speak in the past. We must have 
a science of psychology that doctors, teachers and parents as well as ministers 
and philosoplieis can co-operate witli. ln this direction it is steadily gaining, in 
fact a ical icnaissaiice is taking place that boars hopoful signs of great things. 

ln America tliere are two distinct types of schoois, the public (state) and tlie 
private. The public schoois are excellent and co-educational, tlie teaching for all in 
the samc and they are attended, by all dasses, the rieh and the poor, the coloured 
and the white races - this the Americans believc is democracy. BliI the result is 
as elsewhere that the public schoois are too crowded and tliose who want more 
individual attention and more original work for tlicir children therefore send tliem 
to the private schoois. There are also „experimental“ schoois, out-of-door schoois 
and schoois for the subnormal. For a time there was much difference in regime 
between the private and public schoois, but as it was realized that the students of 
both offen met later in University, the general tedinical requirements become more 
alilte. Oenerally speaking, they pay more attention to the physical welfare of the 
child in both fliese types of schoois than is done in Europe, realizing that many 
mental defects camc from bad liealth and that there is no such tliing as a sound 
mind in and unsDund body. They have gymnasiums, vegetable gardeus, manual 
training departments and in the High School the young men are taught trades ii 
they wish, the young women cooldng, dressmaking, nursing, millinery etc. They 
try when possible to so arrange the Programme that there is a good balance 
between the mental and physical training and make an effort to lead tlie chikl in 
tlie direction his individual case may need. In the poorer districts where there is 
noticeable neglect in the public schoois tliere are visiting nurscs wlio examine the 
children and then send them needed to dentists or oculists who treat them at the 
expense of the state. 

In various parts of the States there are schoois called „vocational schoois“ 
whicli have proven a great success; tliere are schoois where in connection witli 
the regulär studies a child past twelvc can pursue courses training him in subjects 
in whicli he may be especially interested or for whicli he may Show talent, such 
as a business course, commercial course, dressmaking, cooking, carpentry, electrica! 
work, automobile mechanics etc. hi localities where young people cannot go to 
University or afford to give many years to their education, these have proven very 
practical, In tlie Universities also they have modified the regime of late years as 
the general eriticism was that when young people were graduated they were not 
conipeteiit to earn their liviug, that they had a fine general knowledge, but no specific 
training. It was then a mm ged to have tlie first year of University work the samc 
for all in respect to general culture, but that the courses in the next tliree years 
could be „elective“, that is, the students could in addition to courses of general 
intercst, choose studies that would bear lipon and give them equipement for 
their life work. 


tt 


YVONNE E. WINSLOW; 


Then the question also came up in the schools of the „special“ child — the one 
w ho was „different“ from others, he who could go faster than the general work 
peimitted, 01 lie who could not go so East; and, as we have evei'ywheie in America 
as in hurope, signs of an increase in nervous disorders, the need loi a mental 
undei standing, lox* a psychological insight into these „special“ cases, grcw, and 
tliey give now twice a year „psychological teste“ to sec if the mental progress is 
noirnal to sec whether it is lack of general Intelligence, lack of continuity, visual 
01 oial defects, oi fear repressions tliat the child is suffering from. In scliools that 

aie not too laige and where they can afford it, the child is then given private 

cssons in tue subjects m which he is behänd and he is given eveiy cliance to go on 
witn Ins dass. Classes are sometimes divided into two parts, A and B, and the 
* P L| P ll s are put in A where the work is adjusted to them, witliout their 

lealizmg they are not m the same dass and not doing the sarne work. Under- 

j.- a *i - . nei ' ¥OU ® child is always timid, sensitiv, and self-conscious, we 
L kni P , h ,m 111 an Situation where lic inay feel it is known to otliers that he 
111 his work. I he group method is also often used and the question of 
it L ^ S i° avo,tet ,v kliere is no disgiace about being changed to another group: 

I «“JP'X a of being in the place he is best litted for and where he can 

wc ? rIc ; 1 he eterual question of who is first and last, so detrimental to 
ji‘ P* °^ ress is 10 dl!s way also eliminated. If, for example, in arithmetic a pupil 
ie Problems wrang than others, it is beiter not to let it be known — to 

I, If 1IS 'c'chngs — and to try to cliscover that in which he excels and to give him 

■ it, i \ . 0 PP?j tumty to recite in those lcssons, in th is way building up his courage 

‘ . 11S ,, ai i m himself. It is so much beiter never to emphasize tlie defects, but 

P^a!se tue good points in all peoplc, so using the affirmative rather than tlie 
ftio <!!kf e ' ke Psychologien] tests are a series of questions and drills to test 

m °Dsei vation, memory and reasoning faculties, as well as the continuity of 
isculai and mental processes and are when possible given to each child alone 
^ ,f Psychologist; the results are then explained to the dass teacher and the 
U’i who are advised where the childs’ defects are and how to deal with them. 

pv „JL a c l lild l a . cks courage much can be done by story telling to show him 

w „ „P ' Ün 0 n ? m , and benefit will be clerived by explaining to him that 

•lnrl «h™ a ! Jkf1 ’ , that we al * iiave faL1,ts > b u* *hat day by day we can grow beiter 

Hrni rt-ifi /f C1 P - 11 nio , re usef pb f >r 9 ve t° the child that you want to help him rather 

surreec i«,'?™ " m ^ ou w ' d £ ain his friendship and Ins confidence without which 
success is impossibles. 

lovetn r f^"^ n ? P a l' en ^f wc must äbove all work with courselves to see if our 
found-iHnn^nV or . die c b dd and the nervous sufferer is big and real — it is the 
he ifPf.,, t,. °, ll J success and iiuless \ve can cultivate that wc will fall. They will 
knnw if wa _ , us > as . tiiey are quick to iinitate us and very surcly they will 
with nnrcsoiv ai ^ ""“S? 1)1 0l V me ^h°ds; therefore our most important work is 
doen in rTi. ■ t S *! u *. Wldl ourselves as with the children we must not go morbidly 
bv Ha j! w tf analysis, must not constantly dissect but rather upbuild the character 
by daily effort and definite methods of training, 

Ihat ^nffp.i 1 o°i U - S ^ C nP^ e . °^ e P * ack jeasoning powers, it is important to develop 
so hVlnmir H Skin *? * ieM ‘ adviee as to how to act under certain diflicult conditions, 

Sn t ?, lllink / JUt a reasonablc Solution, a thing that 
resocH ^-nn I !n lem ;. j 1 . 310 di em also to observe correctly as tfiey in this 
JJ'u se f 0m re h a ble; give them short, quick exercises frequently in 
‘ r if _ , . ’, ey iave s f cn aild heard, demanding absolute accuracy. T hese 
l n it“ always moie beneficial wlien short; a few minutes a day is sufficient. 

n] { he nervous person is quickly fatigued and whatever method we 

p y ust not be lengthy. ln admmistering reprimands which of course is at 
S »ecessary tlus should be especially remembered, as prolonged emotional 
icts are extremely liarmful and always fail in their purposc. Learu to repri- 
manü a child with perfect calmness and kindness, quickly making them realize the 
leasonableness of your request; you will in this way by force of example at the 
same time develop in them these same just, calm and reasonable faculties of which 


12 


The Relation of Psychology to Educatio» 


they are so nutcli in need; you will create for your pupil or patient a hcalthy mental 
Life. For Ute same reason lesson puriotls are better as sliort and as varied as 
possiblc, preventing fatigue and it is beneficial to conduct different lessoiis in 
different xooms as the cliangc of position and surroundings is beneficial and cou 
ducive to a new interest. A pcrson’s nervous cnergy is his Capital, not Ins deficit, 
a good and reasonable outlet, wliiclt lie only does not know himself how to 
direct wisdy and tliis we must do for liini. Nervousness becomes an illness only 
vvbere tliis inability of direction predominates for every pcrson has a great ainount 
oi nervous energy wliiclt is extremely valuable as is also bis great sensitiveness. 
It is wonderful to be full of nervous energy and sensitiveness, is is the electric part 
of us wliiclt makes us quick to think and feel — but — teacli your sensitive and 
nervous patient tliat litis be a hindrance and a defect if Ite cloes not gukle it, as 
the electricity that lights a house cait also burn it wlien the method of conducting 
it is at fault. Teach him that there are two kinds of sympathy, that wliiclt we feel 
for otliers, that one is destructive, and the other constructive, one happiness, the 
other sorrow, and one iifc the other death. Since he is generally much pre 
occupted witli Itintsclf, this lesson is ot great importance and we must so direct our 
teaching as to prevent this pre-occupation with seif, we must awakett in him the 
social instincts that are evidently dorm aut drawing to liis attention the valne of all 
human relationships and service to otliers. 

As nervous children are offen much given to daydreammg and in their thin- 
kiug will go around and around a subject rather than in a direct litte, this must 
also bc ovcrcomc as it will gradually mean lack of concentration in their ltfe wliiclt 
later as grown people will make them unable to sustain long efforts of labour or 
even t© work at all. T o Itelp them overcome this and gain in concentration I 
arranged a swinging, Standing black board : writing a list of words for spclling, 
01 an arithmefic problem on this black board, 1 allowed them to see it only a few 
seconds when 1 swung it away agatn, askitig them to write the answer on a paper. 
Wlien tliey feel there is only that one short Chance in wliicli to do that problem, 
they will concentrate intensely and work definitely. A few minutes a day of such 
exercises will bring rapid grogress in concentration, and as it has in it sometliing 
new and an element of suspense and play, it will be very populär. The same method 
can be used in oral work, reading a line of poetry only once or a page of liistory 
and askitig them to repeat it. Gradually 1 iiave beeil able to read many lines, 
even whoie verses of poetry once to a dass, which they could repeat or write 
down w ithout mistake. I found it extremly valuable witli nervous children, training 
them in this power of going in a direct liue and 1 noticed they made marked 
progress in all their other mental processes as well. T he idea was developed with 
another tcacher who took a cliild to a tircus; noticing liis great admiration for 
those wiio could do difficult things such as walking a tight-rope, we discussed 
tliis cleverness and decided that tlic reason the down could do such difficult 
things was because he paid very close attention to what lie was doing, because 
he kiiew every single attempt was important and that wlien he appeared before 
the public he liad but one Chance. 1 followed ihis tip and conclucled tliat one reason 
many of us fall beliind continually, and that many children sit in dass w ithout 
paying much attention, without this vital concentration which is the builder of 
efficieiicy, is because they always feel there will be another chance, some other 
time wlien they can do that lesson with the inan in the circus it is quite different, 
the present moment is his opportunity. 

In the analysis of character, Iet us not generalize too much; there is uo rule 
no law for the mental life. The mental lifc is as variable as the faces we see 
and it is not one thing but the sum of things that itave made us all what we 
are. Therefore Intuition and sympathy will go even farther than actua! method, 
and wisdom tempered with love will bring a more worthy under-standing of tlie 
patient and open new doors to his soul. For it is after all the soul with which 
we are dealing, the inner man which we must liberate, the spiritual man which 
we must awaken, and it is only wlien he himself sees tliat liis outer life, bis 
mental processes and physical manifestations are dependent itpon his inner life 
that his eure is at liaud and his efficiency and happiness secured, 


13 


Dr. KURT WEINMANN: 


Theiefore the school whieh deals only with the niind is not suffieient, the 
pl js cian wiio considers only the physical inanifestations may fall and the psyclio- 
irannl'tll'T' analytical methods are too dissecting will not succeed, b«t the 
.. f “ t an . t tlimg to attain js a happy coinbination in understanding and guidin«' 

will W 10 6 man ’ ea ^ ltl St° a harmonioiss developement of the entirc life whieh 
will tnean salvation, spiritual health and growth. 


ÜBERSICHT: Die wahre Psychologie als Wi&seu- 
>diail der Charakter bi Idmijj soll ihren Einzug hi die 
i cl],,lc So wird in manchen Schulen Amerikas 

den Kindern bereits eine entsprechende „eltctive" Er- 
Ziehung zuteil. Die Kinder dürfen in ihren Gruppie- 
rungen niemals Rangstufen ahnen, scIEj^i wenn sie nach 
ihrer Begabung in Klassen A und B ohigcicill werden. 
Hie ewige Frage, wer „der Erste“ sei, fest £a.u uius- 
zusdialleu. Die Ergebnisse der psycho logischen Unter- 
suctnnigen sollen dem - Lehrer und der Müller niitgeteflt 
werden, damit diese über die Schwächen des belreflenden 
Kindes und über ihre I leihmg auf dem Wege gesunder 
Uiarnkterbildting genau unterrichtet sind. Der Mangel au 


Aufmerksamkeit mul Konzentration zu überwinden, 
scheint eine geschickte Übung geeignet zu sein, zum 
Beispiel, indem man dem Kinde Dinge zeigt, von wel- 
chen es weiß, daß es seine ganze Beobacht ungskraffc 
im gegebenen Moment aufwenden muß, denn „auch 
nu anderesmal" würde es sie nicht zu sehen oder zu 
hören bekommen, Eine rasch wendbare Schwarze Tafel 
wurde bei solchen Übungen erfolgreich benützt, Hebst 
der physischen Erziehung muß ein größeres Gewicht 
auf die psychische Fürsorge und Erweckung der Zu- 
versicht, Freundschaft und des GcniiunschaftsigelühiÄs 
gelegt werden. 


Zur P sychologie nervöser und cyklothymer 
Stimmungsschwankungen *) 

Von Dr. KURT WEINMANN (München) 

wollen P ( 'i 8 1 dei Siiminung; 7.11 erörtern, darf ich wohl unterlassen — wir 
chs * L L f ‘l r ai \ tlen “ 1 1 8 e 1,1 c ‘ , n ., e n S P r a c h g e b raue li halten, wonach 
ht /eiH not i -f k endlommene Sprachbild Stimmung etwas uns allen Geläufiges 
k u n in. n ' wissen wir alle, was mit dem Worte Stimmungsschwan- 

nach 'iirm,T?n!, l i" lt . ?*» , und keimen solc ' ie Schwankungen der Stimmungslage 
eine gereizte siimllf * oßen, i ^druckte oder gehobene Stimmungen, wohl auch 
oder mimW i^!, I « II1Un ;F . a ! s eine a % em eine Erfahrungstatsache, als eine mehr 

des gesunden " lg c f CJ auc 1 mn j Eigentlich wiederkehrende Erscheinung auch 
cics gesunden, noimal zu nennenden Seelenlebens. 

eines^ Maischen unc^u« no f" ial m bezeichnen, wenn die Stimmung 
d?I „ den außeren und milc , rcn Umständen seiner Gesamtsituation 

i" epaßt erscheint. Als krankhaft verändert 
Än ? r dlC ^‘mmuiigslage an, wenn sie den Umständen nichts n g e- 

obiektivf'n L l a u ,1 . 1 S oder gehoben oder gereizt, ohne daß für den 

oDjektiven Beobachter ein adaquater Anlaß dafür gegeben wäre 

Norm { l die if e m F ? e c? n cinci qualitativen Abweichung von der 

n-tcl V <T £ «Jä? 8 - r 1 ? 4 die St, T ,J | lg würde sidl ihrer Art oder Färbung 
tuen von dei gemeiniglich zu erwartenden unterscheiden. 

muno^n t ® k t i o n auf einen adäquaten, also der gegebenen Stim- 

zli erwnrti>nd * e t nd ®? ^ na , wuide das beim Gesunden durchschnittlich 

V I e Maß l ! b P schreit en - dann sprechen wir von einer g r a d 11 e 1 1 c n, 
quantitativen Abweichung von der Norm, 

h & n?r^ r i ttes Wäre u m H iicll l und d i eser FaU ist vielleicht der p r a k t i s c h 
> ■ . e n| Uh, so se In die Alt lind der Grad der Stimimingsschwankung 

J‘ä? h ? dl , C Le^hhghed, mit der solche Störungen des seelischen Gleich- 

+ G V / C M Cn , ot | ei ' c iP cJl Seringfügigen Anlässen auf treten, 

kennzeich net die Krankhaftigkeit der betreffenden Psyche; auffallend ist ihre leichte 

, • . I Vortiagi gehalten auf dem Kongreß der Inlernatioiialcu Gesellschaft für ver- 
gleichende Iiidivtdualpsychologie (ain 10, Dezember 1022 in München), 

14 




Zjsi Psychologie nervöser und cyklolhymcr Stimmungsschwankungen 


Verletzbarkeit, ihre überempfindiiehkeit oder, um im Bilde der Dynamik zu bleiben, 
die Labilität, das heißt das mangelnde oder allzu leicht zu erschütternde 
Gleichgewicht der Stimnnmgslage. Das ist, im Gegensatz zu den physiologischen 
Stimmungsschwankmigen des Gesunden, die jeweils adäquate Veranlassungen har- 
nomiseh begleiten, in charakteristischer Weise der Fall beim nervösen, krankhaft 
reizbaren Menschen, den man früher etwa als Neurastheniker oder Hysteriker, 
neuerdings einheitlich als Neurotiker bezeichnet hat, mit dessen Psychologie wir 
uns nocii im einzelnen zu beschäftigen haben werden. 

Damit kommen wir unserem eigentlichen Thema näher, der B e- 
trachtung d e r nervösen S t i m m ungsschwan k u n g e n. 

Einige kurze Bemerkungen a 1 1 g e m einer Art muß ich liier aber 
noch einschalten: 

Wir sahen vorher, daß die Stimmungslage eines Individuums einen Sinn 
gewinnt erst in ihrer Bezogen heit auf die U m weit; wir sind gewohnt, 
sic eben danach zu beurteilen, wobei wir von zwei Gesichtspunkten ausgehen 
können. In der Regel orientieren wir uns kausal mit der Frage: Warum ist der oder 
jener Mensch so oder so gestimmt? Entspricht seine Stimmuiigslage seiner objektiv 
gegebenen Situation oder Position in der Umwelt? Demgegenüber kommt aber 
noch ein anderes Moment in Frage — man könnte es als das „dispositionelle“ 
bezeichnen, insoferne ein Individuum — scheinbar ohne äußeren Anlaß — sozu- 
sagen von innen heraus, seiner Disposition, seiner Anlage nach geeignet ist, eine 
bestimmte Stimm ungslage vorwiegend einzunehmen, der Fülle und Mannig- 
faltigkeit der äußeren Eindrücke gegenüber überwiegend nach einer be- 
stimmten Richtung hin Rechnung zu tragen. Ein solcher Mensch wird 
Eindrücke besonderer Färbung, also etwa niederdrückende oder erhebende, mit 
Vorliebe auf sicli wirken lassen, andere übersehen oder nicht beachten, so daß diese 
A ffinität zu b e s t i m m t e n Erlebnisinhalten oder Auffassungen 
seiner Gesamtpersönlichkeit eine gewisse Grundstimmung verleiht, nach der ge- 
drückten, traurigen oder gehobenen, heiteren Seite, oder aber diese Stimmungs- 
lagen wechseln in auffallender Weise, etwa periodisch, miteinander ab. Es wurde 
nach den erwähnten beiden Gesichtspunkten gesprochen von exogenen, durch 
äußere Anlässe entsandene Verstimmungen einerseits, anderseits von solchen, die 
ohne ersichtlichen Anlaß, von innen heraus, eudoge n entstehen. Oder man sprach 
von konstitutioneller V e r s t i ni in u n g im Sinne einer solchen an lage- 
mäßigen Veränderung der Stimmungslage nach der einen oder anderen Seite. 
Endlich hat die Beobachtung m c h r o d e r m Inder r e g e 1 m ä ß i g (perio- 
disch) w i e d e r k e h reu d er Störunge n der S t i m m u n g s l a g e zur 
Aufstellung des Krankheitsbegriffes des m aniscli-depressivcnode r 
periodischen Irreseins geführt, dessen leichtere und leichtesten, der Norm 
quantitativ näherstehende Formen als C y k 1 o t h y m i e, wohl auch als p e r i o~ 
d i s c h e Neurasthenie bezeichnet wurden. 

Es ist nun eine Frage von grundsätzlicher Wichtigkeit nach der Seite der 
Ätiologie sowohl wie der Prognose und Therapie, welche Bedeutung man dem 
konstitutionellen und welche dem reaktive n Faktor in der Beurteilung 
krankhafter Stimmungsschwankungen beimißt. 

Die Beantwortung dieser Frage hat sich im Laufe der Entwicklung der 
psychiatrischen Wissenschaft gewandelt; sie ist bedingt von der jeweiligen Auf- 
fassung von dem Grade der Verständlichkeit oder Einfühlimgsmöghchkeit von 
Verstimmungen, wird sich also richten nach dem Stande unserer psychologischen 
Einsicht oder je nach dem Standpunkt unserer psychologischen Beurteilung. 

In dem Maße, in dem wir uns mit einer beschreibenden, deskriptiven oder rein 
phänomenologischen Darstellung krankhafter Verstimmungen begnügen, wird sich 
unser I lauptaugenmerk auf die kennzeichnenden Einzelheiten richten, etwa auf die 
Beschleunigung oder Verlangsamung des Gedankenablaufes, der bei der Depression 
gehemmt, bei der Manie krankhaft gesteigert ist, oder auf die motorischen Aus- 
drucksvorgänge: Wir konstatieren dann, daß bei der traurigen Verstimmung ße- 
wegungsarmut, bei der gehobenen Bewegungsdrang vorliegt und dergleichen. Es 


1 & 


Dr. KURT WEINMANN: 


laßt sich dann eine Einteilung vornehmen, wie sie die klassische Psychiatrie der 
vergangenen Jahrzehnte unter dem Vorgänge Kraepelins getroffen hat, die dann 
och neben den reinen Formen der einfachen Melancholie und Manie, eine Reihe 
. lst li^nstanden besc h neben hat und zu der sehr wesentlichen Feststellung 
pin i TPitr 1 u* lst ,V da ^ i‘ l -i Zustands- oder Erkrankungsformeil sich unter einem 
fassen lassen ^ ran ^ iei ^ 1 ^ e> dem deS man * sc h*depressiven Irreseins, zusammen- 

n a ph lG ir , u- ira u Rahl V en dieses Vortrages darauf verzichten, die umstrittene Frage 

die vnr^rhip/i' 3 ^ 11 Ti ,eSei - ganz f n ^^''khcitsgruppe näher zu erörtern, worüber 
tue veisclnedensten llieorien aufgistellt wurden. 

ndP^KK in l ' nst : re J5 Zu sanimenhange ist das Problem der erblichen Belastung 
orirankri, d i e Giundlage krankhafter Stimmungsschwankungen körperlich- 

i u lst oder ob ihnen funktionelle Störungen des Stoffwechsels oder 

FMhu Ph^ nCn Drusenappai , ats zu g™ nde liegen oder oh es sieh bei den luchten 
de«? mpncMiivr 1 Lim r . eme .^bnoime Steigerung einer physiologischen Periodizität 
wo s entlLc h n ° lgamSmUS handelt ' uns ist hier die Frage 

die^elf l'r^'n i.i P/fi Cll 0 Q ?^ iSCl1 veis 1 tändI i clier Zusammenhang nachweisbar zwischen 
■inlPPr P. f 1 S ^mtmgsscliwankungen und den auf sie bezogenen und in sie 
einbezogenen ertorschbaren seelischen Vorgängen? 

„ „ o\! setzen , w,r aIs selbstverständlich voraus, daß, wie das 
kPpnlP-w Psychische Geschehen auch das krankhafte bis zu 
Li. ^wissen Gi ade e i n e n „S i n n“ habe, d a s li e i ß t psychologisch 
] . a ' . e l i v e r s t a n d 1 1 c h sei — ähnlich wie es etwa die Heidelberger 
psyclnati ische Forsch ungsnehtung unter dem Vorgänge von Jaspers*) getan hat 
i nn sie von „erstehender Psychopathologie” spricht, und im besonderen von 
j, verständlichen Zusammenhängen pathologischer Reaktionen“ 

Gut! noch einen Schritt weiter müssen wir gehen, indem wir sagen: 
t, .. U Pf re Beu !' teilu ^ abnormer Stimmungslagen hängt ab von der Be- 
de / P.y n a m i k oder Gesetzmäßigkeit des Seelen- 
P * ? s n e , ' n .5* Individuums ubc r h a u p t. D e n n e r s t i m R a h m e n 

Möglichkeit fi !, 1 \/ C ( f» S , 11 1 e V d *. e Gesamtpersönlichkeit wird die 
unÄ l/uii ,; ,nes Vers tandmsses für eine seehsche Einzelreaktion oder die Haltung 
sein • uums in emer bestimrnteu Phase des seelischen Geschehens möglich 

auch^in^m^ 1 als ° r ur F ,°?? ei ? ng einer individualpsychologischen Betrachtung 
vStändHrÄÄiS? Etnzdsituation, das heißt einer Eingliederung und 
lUhkei? h 8 d ‘ eSCl Sltuall ° n ln das Gesamtbild der Persöir- 

diesp^ndm^k 1 Si co daiaus d ' e Notwendigkeit, nicht nur zu fragen, woher kommt 
zum P,h I e « e . Stimmun h r slage eines Individuums, sondern sie ‘verstau dlich 

der fipmniimrii dU \ c c I l ” e iP ^ ensc h gegenüber dem Leben oder 

• ko naci? f ’v uberluUlp A t ’ , d , as heißt dei ; Grundrichtung nach, einzuhalten pflegt, 
dabei veifolgT V ° rgange Adiei S ZU erio «chen, welche Leitlinie ein Individuum 

eini/hSS? W c-f° ; ilS Auge fa f en ’ r Y «hinaus diel laltung eines Menschen 
n , Sltuatlon ffepnuber fuhrt worauf sic abzielt, wenn wir ver- 

gegeben " ta " eiTeicht> lst dle Möglichkeit eines vollen Verständnisses 

Voraussetzung bei unserer Betrachtungsweise ist also letztlich die durch Alfr ed 
Adler geschaffene und in seinen Schriften, speziell in seiner Arbeit Über den 
nervösen Charakter ausführlich dargestellte Auffassung d e r O e s a m t- 

Persönlichkeit als einer zielgerichteten dynamischen E i n- 

h eit. 


- « 


*) Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, Springer, 1920. 


16 


f 


Zur Psychologie nervöser und cyklolhymer Slirmmingsschwaiikungen 


Wenn wir uns bemühen, eine einzelne P h a s e iii der llalt u n g e i 11 e s 
Menschen dem Leben gegenüber ihrer psychologischen Struktur und 
Bedeutung nach zu erfassen, sic im R ahmen des 0 esamtbildes seine r 
Persönlichkeit verständlich zu machen, werden wir zweckmäßig uns nach 
einem Indikator zu n r i e n t i e r e n versuchen, cler uns - etwa wie der Zeiger 
eines Barometers — erkennen läßt, unter welchem „Druck“ das Individuum sozu- 
sagen stellt Gibt es denn im Ablauf des psychischen Geschehens einen ähnlich ver- 
lässigen Indikator für den Rhythmus, für die Kurve der Stimmungsschwankungen? 
Ich glaube, diese Frage bejahen zu können, und zwar in dem Sinne, daß die Auf- 
schlüsse, die ein Patient uns gibt über sein Selbstgefühl, ein zuver- 
lässiger Maßstab sind, gerade in ihrer subjektiven Färbung für die 
objektive, kritische Beurteilung seiner Stimm iingslage. 
Diese ist nämlich eng verknüpft mit dem Selbstgefühl. (Das Wort soll hier, unter 
Verzicht auf eine psychologische Begriffsbestimmung, nur dem allgemeinen Sprach- 
gebrauch nach verstanden werden. Es würde sich — das sei nur nebenbei be- 
merkt — in der Nomenklatur von Jaspers mit dem Persönlichkeits- 
bewußtsein im Sinne des Selbstwertgefühles decken.) Dieses 
Selbstgefühl also ist wohl auch ein k o m p I e x e r B e g r i f f, aber doch ist 
es in seiner Auswirkung einheitlich erfaßbar. Man spricht so mit Recht von 
gehobenem oder gedrucktem Selbstgefühl, von Selbstüberschätzung und Unter- 
schätzung oder Minderwertigkeitsgefühl. Dabei wird deutlich, daß dieses Selbst- 
gefühl auch kein absoluter Begriff ist, sondern wie jede Schätzung oder 
Wertung, Wertbemessttng n u r durch V e r gl e i c h en gewonnen werden 
kann. Das Vergleichsobjekt aber, an dem das Individuum .sich mißt, ist 
allemal die Umwelt. Je mehr sich der Einzelmensch der ihn umgebenden Welt, 
der unbelebten Materie sowohl wie der belebten Umgebung gegenüber in seiner 
Existenz gesichert, in seiner Geltung bestätigt, in seiner Macht anerkannt fühlt, 
desto gefestigter wird sein Selbstgefühl sein. Umgekehrt, je mehr er seine Existenz 
bedroht, seine Geltung angefochten, seine Macht in Frage gestellt glaubt, desto 
mehr wird der Barometer seines Selbstgefühles sich dem Tiefstand zimcigen. Das 
Gefühl der Existenzunmöglichkeit kann aus reinen Existenzsorgen, wie wir sie 
kennzeichnenderweise auch nennen, bis zur frei gewählten Aufgabe des Lebens, bis 
zum Selbstmord führen. Es können aber auch Konflikte mit sich oder mit den Mit- 
menschen das Gefühl des eigenen Unwertes so steigern, daß die Selbstvernichtung 
als die einzige Lösungsmöglichkeit erscheint. Immer aber — und das ist als 
das Wesentliche hervorzuheben — ist das Selbstgefühl bezogen auf 
das Verhältnis des Individuums zur U m weit. Je weniger dieser 
Gegensatz einen Widerspruch in sich birgt, je mehr er sich ergänzend dem über- 
geordneten Begriff einer Gemeinschaft einordnen läßt, je mehr es dem Menschen 
gelingt, diese Gemeinschaft als höheren Wert anzuerkennen als seine Verein- 
zelung, in dem Maß wird er sich dieser Gemeinschaft freudig, freiwillig, bejahend 
und damit wertsteigernd einordnen; er wird damit als Individuum die Er- 
lösung finden und aus seiner Vereinzelung zur Verwirklichung gelangen, zur 
Individualität, zur ausgeglichenen, harmonischen Persönlichkeit im eigentlichen 
Sinne werden. Daher verstehen wir — um das nur aphoristisch anzudeuten — 
unter einer gesunden, reifen Persönlichkeit einen Menschen, hei dem dieser Gegen- 
satz zwischen Individuum und Gemeinschaft harmonisch ausgeglichen und gestaltet 
ist — im Sinne der Dynamik ausgedrückt — rhythmisch zueinander abge- 
stimmt ist. 

Sic werden mir diese kleine Abschweifung in das Gebiet der Wertungen, der 
Ethik zugute halten. Die Anschauung vom Wesen der Persönlichkeit scheint mir 
— bewußt oder unbewußt — doch immer den Hintergrund zu bilden für die 
Beurteilung einer krankhaften Persönlichkeit, das heißt für das Urteil, inwiefern 
ein Mf'iiscti von dem als gesund bezeichneten Durchschnitts- oder Idealtypus 
abweicht. Wir können bei Betrachtung seelischer Zusammenhänge nicht ohne irgend- 
einen solchen Maßstab auskommen, der eben schon eine Wertung in sich 
schließt. Dies sei nur in Paranthese bemerkt. 

Wir wollen uns nun also mit einigen Disharmonien der menschlichen Seele 
beschäftigen; das Wesen des Mißklanges untersuchen, der uns bei den „Ver- 


2 


17 


Dr. KURT WEINMANN: 


Stimmungen“ — es ist bemerkenswert, daß die Sprache sich auch hier des musi- 
kalischen Bildes bedient — also bei krankhaften Abweichungen der Stimm ungs- 
lage nach unten oder oben — bei der Depression oder Exaltation — oder bei ihren 
oszillatorischen Zuckungen — der Gereiztheit — entgegentritt. 

Die Dynamik dieser Verstimmungen wird am deutlichsten erkennbar bei 
näherer Betrachtung einiger Einzelfälle, die ich hier an Hand charakteristischer 
Ausschnitte aus Krankengeschichten kurz zu skizzieren versuchen möchte. 

Was die Melancholie oder traurige Verstimmung betrifft, so fiat A. Adler im 
Jahre 1914 m einer grundlegenden Arbeit über Melancholie und Paranoia indi- 
vidualpsychologische Ergebnisse aus Untersuchungen von Psychosen niedergelegt, 
auf die ich hier im ganzen verweisen muß; sic findet sich in dem Bande „Praxis 
und I heorie der Individualpsychologie“, der 1920 bei Bergmann erschienen ist. 

Vielleicht darf ich für die mit den Adlerschen Arbeiten nicht Vertrauten zur 
kurzen Orientierung die Vorbemerkung zu der genannten Arbeit anführen: „Die 
von mu gefundenen und beschriebenen treibenden Kräfte der Neurosen und 
sycliosen: kindliches Minderwertigkeitsgefühl — Sicherungstendenz, Kompen- 
sationsbestreben — in der Kindheit errichtetes, hernach teleologisch wirkendes, 
tiktives Ziel der Überlegenheit — die sich ergebenden, erprobten Methoden, 
unaiakterzuge, Affekte, Symptome und Haltungen gegenüber den Forderungen des 
gesellschaftlichen Zusammenhanges — alle verwendet als Mittel zur fiktiven Er- 
höhung des Persönlichkeitsgefühles gegenüber der Umgebung - das Suchen nach 
Umwegen und nach einer Distanz zu den Erwartungen cler Gemeinschaft, um 
einer realen Wertung und persönlichen Haftung und Verantwortung zu ent- 
gehen — die neurotische Perspektive und die tendenziöse, bis zur Verrücktheit 
gehende Entwertung der Wirklichkeit führten mich und viele andere Untersuchet 
zui Aufstellung eines erklärenden Prinzips, das sich im weitesten Umfang für das 
\ erständnis der Neurosen und Psychosen als wertvoll und unerläßlich er- 
wiesen hat.“ 

eben angeführten Mechanismen finden sich ausführlich in Adlers Werk 
„Uber den nervösen Charakter“*) und in der „Studie über Minderwertigkeit von 
Organen“**) sowie in dem vorher genannten Bande dargestellt. 

In der dann folgenden Mitteilung unternimmt Adle r den Versuch, die psycho- 
logische Struktur der Melancholie und der Paranoia gemäß den angeführten Be- 
runden zur Darstellung zu bringen. Er schildert treffend die Haltung und den 
Lebensplan der zur Melancholie Disponierten als dem Gemeinschaftsgefühl zu- 
wiaerlaufend und auf einem besonders verstärkten Minderwertigkeitsgefühl auf- 
gebaut; den Ausbruch der Erkrankung bei vermeintlich drohender Niederlage und 
den Kampf gegen die schon in früher Kindheit als feindlich erlebte und dauernd 
als solche vorausgesetzte Umgebung, das „Ausreißertum“ und demzufolge „die 
uewinnung eines Nebenknegsschauplatzes“ mit der Endabsicht auf Enthebung 
von fremden Forderungen, das Abklingen der Melancholie, sobald der Patient das 
iikiive Oetuhl seiner wiedergewoimeneu Überlegenheit und' die Deckung gegenüber 
eventuellen Mißerfolgen durch die Krankheitslegitimätion erlangt hat. 

i Wenden wir uns zur Illustration dieses vorläufig gegebenen Überblickes nun 
der Betrachtung eines Einzelfalles zu: 

... wähle als erstes Beispiel den Ausschnitt aus einem 
l i a u m eines Palles von Zwangsneurose mit schweren Angst- 
zustanden und depressiven Zügen, der, symbolisch verkleidet, in der Bildsprache 
tler 1 raumphantasie wichtige seelische Konflikte und ihre Uösungsvcrsuche zur 
Darstellung bringt; 

Patient trifft in einer Gartenwirtschaft ein Mädchen und geht mit ihr in der Absicht 
eine sexuellen Aggression in eine Kegelbahn. Die Kegelbahn ist jedoch ein offener Holz- 
raum, er geht mit dem Mädchen auf dessen Vorschlag in irgend einen Saal zurück. „Ich 
weiß nicht,“ fügt er hinzu, „ob ich mit dem Vorschlag einverstanden war.“ 

*) Bergmann, Wiesbaden (2. Auf!., 1919), i. Aull., 1922. 

**) Urban und Schwarzenberg, Wien 1907. 


Zur Psychologie nervöser und cyklothymer Slimmungsschwankiingen 


Wir sammeln nun in der aus früheren Veröffentlichungen von Trauinbcispielen wohl 
genugsam bekannten Weise die Einfälle zu den einzelnen Traumbestandteilen. — Zur 
Gartenwirtschaft fällt dem Patienten ein: „Wir sind oft als Kinder in solchen Wirtschaften 
gewesen — da gab's immer schreckliche Geschichten Familiena Liftritte und Kampfszenem 
CiiL Onkel war dabei, der noch gewalttätiger war als mein Vater, er ärgerte sich einmal 
über seinen Sohn, den Vetter, der mir immer als Muster und Vorbild vurgdialteu wurde, 
und kehrte auf einem Spaziergange vor einem kleinen Berge gekrankt um und fuhr allein 
nach Hause. Das war seine Einstellung: „Wenn mips nicht paßt, steh' ich auf und geh* 
fort.“ 

Zu der Frau: „Eine Soubrette, sehr dumm und sehr klein, mit fingiertem Temperament 

— absolut ohne jeden Reiz für mich.“ 

Zu der Annäherungsabsicht: „Es ist besser, mit einer, die man nicht mag, man ist dann 
nicht gebunden, man kommt sonst zu sehr aus dem Gleichgewicht, wenn einem eine gefällt 

— es ist so, wie ein gefallener Klubkamerad sagte: >Der Koitus ist eigentlich nur eine 
andere Art der Onanie — die Onanie ist der Normalzustand/“ Zu der Kegelbahn: „Ein 
Tunnel, in den man sich verkriechen kann, aber man kommt nicht mehr heraus — die Wim- 
bachklamm bi Berchtesgaden — dort ist ein schmaler Brettersteg — mail konnte nicht um- 
kehren — links war das Wasser — rechts der Fels, vor mir und hinter mir Leute — es war 
scheußlich — ich wußte, daß mich der Schlag trifft“ 

Zu dem Zurückgehen in den Saat: „Wir sind nur bis zum Saaleingang gekommen; 
dazu fällt nur em Tanzkurs em, den wir als Gymnasiasten hatten, das heißt die Oberklasse, 
die Jüngeren standen am Saaleingang und durften nur zuschauen — daß die anderen so was 
machen dürfen — und wenn sie stolz und schwitzend aus dem Saal kamen - da hatte ich 
das Gefühl: So weit bring 3 ich 's doch nie! — Ich fall’ ja doch wieder durch. — Das haV 
ich schon ganz früh gehabt dieses ungewisse Gefühl des Traurigseins — ich hab’ dabei 
nie erkannt, daß die andern gar nicht so anders waren — ich meinte immer, ich sei ganz 

anders wie die übrigen jetzt seh’ ich mich als Buben, der furchtbar geprügelt wird, 

und mein Vater sagt zu mir: ,Ich schlag' dich halb tot vor allen Leuten l tt * 

Zu der letzten Bemerkung: „Ich weiß nicht, ob ich mit dem Vorschläge einverstanden 
war“: Das war mir von vornherein unklar, öfters, wenn ich mit einem Mädchen gegangen 
bin — er meint dabei eines seiner unzähligen, flüchtigen sexuellen Erlebnisse — hatte ich 
den Gedanken: Es hat ja doch keinen Wert! — nachher aber Reue und einen moralischen 
Katzenjammer. — Meine frühere Potenz, meinte er, ist jetzt auch sehr im Schwinden 
begriffen — ich fühle auch, das ist kein Weg für mich — aber einen anderen Weg einzu- 
sch lagen — dazu hab 1 ich mich nicht gebracht. Dabei werd’ ich immer älter er ist (erst) 
32 Jahre — und die Koronarsklerose wächst — es entwickelt sich schon in aller Stille ein 
Karzinom — NB. er ist seines Zeichens pathologischer Anatom — und setzt hinzu, ich seit 1 
es am Pylorus (am Magenpförtner) sitzen 1“ 

Wir haben hier ein typisches und, wie mir scheint, sehr lehrreiches Beispiel für eine 
neurotische Einstellung den Forderungen des Lebens gegenüber; es zeigt die enge Ver- 
knüpfung von Rückzug und trauriger Verstimmung. 

Zu Anfang des Traumbildes; Die Gartenwirtschaft erhellt wie ein Schlaglicht das 
Milieu der Kindheit: Kampf und Zwistigkeiten in der Familie — Lösung durch Gewalt 
oder Rückzug: Die charakteristische Maxime des Onkels: Wenn mips nicht paßt, kehr' ich 
um! — Als Reaktion auf den ungeheuren Druck seitens eines sehr gewalttätigen Vaters 
wich Patient schon sehr frühzeitig auf der Linie des' Trotzes von einer Bejahung seiner 
Lebensaufgabe in der Schule ab, reizte dadurch den Vater zu immer neuen Gewalttätig- 
keiten, womit die Berechtigung seines sichernden Rückzuges ja scheinbar erwiesen war. 

Wir finden ihn auch später immer bedacht, sich vor allen Anforderungen der Umwelt 
zu sichern, i m m e r b e r e i t, d e n R ü c k z u g a n z u t r e t e n. — So in seiner Haltung 
der Frau gegenüber, die deutlich im Traum hervortritt: „Es ist besser mit einer, 
die man nicht mag.“ — Das tiefste Symbol der Erotik — die körperliche Vereinigung, die 
schöpferische Verschmelzung zweier Individuen — wird entwerfet ihres Sinnes gewaltsam 
beraubt fiktiv umgedeutel als eine Art Onanie, Selbstbefriedigung die Beschränkung 
auf sich selbst als der Normalzustand proklamiert. 

Mit der Frau gehen heißt in der Sprache des Traummaterials: In eine unhaltbare 
Situation geraten, aus der es kein Zurück gibt — als einzige Rettung bleibt der Tod, der 
im „Spin uschlag“, wie Patient das fiktive Erleben eines Herzschlages nennt, den voll- 
kommenen Rückzug bedeutet. 

Ein anderer Lösungsversuch : Zum Saal zurückzukehren — wo sich als Bild des 
Gemeinschaftslebens, der Tanzkurs seiner Phantasie, darbietet — scheitert an der schon 
frühzeitig eingenommenen Position des Oütsidertums. — Er stellt beiseite — mit dem 
resignierten aber sichernden Bewußtsein: So weit bring ieh’s doch nie ich fall' ja doch 
wieder durch. — NB, macht er zum zweiten Male eine seelische Behandlung mit — die 
erste wurde au anderer Stelle ohne Erfolg abgebrochen. 


2 * 


1 » 


Dr. KURT WEINMANN: 


Charakteristischerweise setzt er seinen pessimistischen Betrachtungen hinzu: 

„Das hat/ ich schon ganz früh gehabt, dieses ungewisse Gefühl des TraurigsemsA — 
liier schon setzt er einen vermeintlichen Abstand von der Gemeinschaft — ein „anders 
sehG voraus — - und plötzlich steht als Vision vor ihm das immer wietierkefirende Erlebnis 
seine 1 Kindheit: Eine Prügelszeue, durch die er sich nicht nur körperlich mißhandelt 
iLihlt, sondern vor allen anderen herabgesetzt, entwertet, unmöglich gemacht. Dadurch 
wurde ihm der Aufbau eines natürlichen Vertrauens zum Vater, als dem wichtigsten 
männlichen Vertreter der Umwelt, in seitier Kindheit und zu sich ungeheuer erschwert* Er 
nngt noch heute um sein Selbstvertrauen. — Das Leben und seine alltäglichen Durch- 
sehn ntstorderuiigen dünkt ihn, wie er mir im Verlaufe derselben Besprechung sagte - wie 
eme Kiesen welle — „die wollte ich immer schon lernen im Tn munter rieht — aber ich 
nab sie nie fertiggebracht.“ Diese übertreibende Fiktion von der ungeheuren Schwierigkeit 
des Lebens benutzt er dauernd zur Rechtfertigung seiner zögernden, abwarlenden Haltung 
f, TT^ ei1 ^Lebens gegenüber, unterstreicht je nach Bedarf die scheinbare Noi- 
u üigKeit dieser sichernden Haltung durch einen verstärkten Krankheitsbeweis vermittelst 
senwerer Angsizustände, die ihn zeitweise an jeder Unternehmung außerhalb der vier 
wände seines Zimmers verhindert haben. 


, , D * S e We !A C Bei ?P iel betrifft eine Patientin, deren Stimmungslage in 
ci letzten oprecnstunde nicht ausgesprochen krankhaft verändert war. Das nächste- 
beuchtet s.e: Es gehe ihr schlecht. Gestern traf sie in Gesellschaft einen 
bekannten Er frug sie, wie es ihr gehe. „Mir geht es ausgezeichnet!“ — „Sie sind 
, 01 psychoanalitisch versorgt?“ — „Ja!“ — „Nach welcher Methode werden Sie 
denn behandelt. — „Nach der Adlersclien.“ — Darauf er in falscher Inter- 
pit ation der Adlerschen Auffassung: „A,th so, nach ihm müssen ja alle körperlich 
mißglückten Menschen ein Minderwertigkeitsgefühl haben.“ — An dieser Äußerung 
tippte jliie Stimmungslage sofort um: Der Gedanke an ihre vermeintliche körper- 
uclic Minderwertigkeit, die hier als selbstverständlich vorausgesetzt und erkannt 
seinen, brachte ihr Selbstgefühl aus dem Gleichgewicht — „es gellt ihr schlecht“. 



, .. " ~ w '■«'v'-» dun acin [Ji upui lrjij itrt l , ölt: luu imntu 

irnr Jt- x f ungewöhnlichen Körpergröße gelitten); „zweitens wegen meiner 
iiaiMichkeit. Man hat mir doch als Kind immer gesagt, ich sei häßlich, wie eine 
ötange dürr, ich sähe aus wie ein Mann, und wenn Theater gespielt wurde, mußte 
icn immer als Mann auftreten. Ich habe lange Jahre gedacht, ich kann überhaupt 
Keine t tau sem ein Mann müßte enttäuscht von mir sein. Ich glaubte, ich sei 

iSZlH, mcht n P ht,g gebaut, dadurch hab’ ich mir so abgewöhnt, mich als 
konkurrenzfähig zu betrachten.“ 

Frauenmilch das vor dcr Erprobung und die Sicherung vor der 

niistic?h?,\ 0 u? C l aus . d . e . utllch — wiederum aufgebaut auf einer falschen, pessi- 
Frf fl hnVnrli ^ te 1 ,nSCh ^ atz c Lu ^ T 1 ® 11 m Kindheit, die später trotz gegenteiliger 
Auswf'irh^no te ! ld i enZ, °® Kstgehatten wird. Die Ilauptentstehungsursache dieses 
KSS/ri Mer eine als sehr schmerzlich erlebte dauernde Disharmonie in 
schwur i'.xi Ehe, untei cei die I atientin als Kind und auch noch als Erwachsene 
ESyS-tenWund & s , J hr notwendig ein falsches und abschreckendes Bild 
menschlichen Gemeinschaftslebens Vortäuschen mußte. 

ff r.füM CI m. ri u nSWCrt ? e x ser Episode ist, wie sich die Patientin in ihrem Selbst- 
:' 7l]C , iire 1C1 ein f a i®. Entwertung empfundene Äußerung plötzlich und prompt 
" i ' ij‘ ^ en u jüWeifen laßt, wie ihr Wohlbefinden nicht nur augenblicklich, sondern 
„ . nac ! 1 13 bg davon beeinträchtigt wird und — wie an ihren Äußerungen 

k. T tas S? nze J mi j iliüerk iiidheit ausgebaute System von Sicherungen 

n 1 Aufgabe als Frau und Mitglied der menschlichen Gemeinschaft gewisser- 
maßen automatisch wirksam in Erscheinung tritt. 

r A ! S , , d , 1 ' i l te I s B T , eis Pj 1 :! eine Patientin, bei der die Stimmung dauernd 
Hubcist labil ist ? das I cisönljchkeitsgefühl sehr leicht zu erschüttern die bei ver^ 
meintlich drohender Entwertung oder Niederlage sofort gereizt wird und sich als- 
ba d mit Depressionen sichert, welche häufig eine sehr gewalttätige Form an- 
nehmen, mit Selbstmorddiohungen und mehr oder minder bewußt in Szene ge- 
setzten Selbstmordversuchen. 


•30 


Zur Psychologie nervöser und cvklothymur Stimimmgsschwankungen 


Charakteristisch war, wie sie sich in der ersten Konsultation einführte: Sie 
leide so unter Depressionen, sie sei deshalb schon bei vielen Ärzten gewesen, aber 
wenn ieli sic nicht behandeln wolle, wenn sie auch hier verurteilt werde, dann 
wisse sic, wo sie hinzugehen habe, dann sei ihr der Weg dahin vorgezeichnet, 
wo sic Frieden finde. — An einem anderen Arzt, der sic in der ersten Konsultation 
als Hysterie bezeichnete, rächte sie sich für diese als Entwertung empfundene 
Diagnose damit, daß sic ihm nahelegle, sich doch gleich eine thermische Ver- 
nichtungsanstalt neben seinem Sprechzimmer entrichten zu lassen — das sei wohl 
die einfachste Art, sich aus der Affäre zu ziehen! — und kam hie wieder. 

Wir sehen hier von vornherein deutlich die kämpferische Einstellung und 
gewalttätige Haltung der Umwelt gegenüber, auch da, wo die Patientin eigentlich 
1 lilfe sucht und zumindest Wohlwollen voraussetzen dürfte. Trotzdem sich diese 
Kampfeinstellung um vieles gemildert hat und die Patientin auf dem Wege ist, 
langsam mehr Vertrauen zu sich und zur Gemeinschaft zu gewinnen, stellt sich 
ihre labile Position in einem Traum noch folgendermaßen dar: 

„Mir träumte von der Isar — sie war wild und reißend und ich fuhr in 
einem Boot, das war wie eine Arche Noah — ganz allein — mit einem, der 
steuerte — - der war verdeckt ich sah sein Gesicht nicht das war so merkwürdig — 
Manchmal ging es so hinunter, wie ein Wasserfall - manchmal ging ich heraus, wie über 
einen Steg — nirgends «aber sah ich Land, und ich hatte dann das Gefühl, als würde ich die 
Ai ehe nicht luelu erreichen können* Einmal war ich in Bösenhausen — aber dann 
wußte ich wieder die Gegend nicht/ 1 

Hierzu die Einfälle: 

„Ich fürchte mich so vor dem Wassertraum — vor dem Hochwasser überhaupt — als 
Kind schon hab’ ich mich vor dem Wasser so gefürchtet — einmal sah ich mich von der 
Mutter durch Wasser getrennt. 

Es war ini Traum so komisch — ich wußte nicht, was man mit mir vorhatte — der 
Steuermann luitte so etwas wie eine Taucherglocke, wie die Maske, die die Taucher haben 

— wie ein Helm — ich sah nur das Äußere und nicht das Innere — ich wußte nicht ob 
er mir Freund war oder Feind oder was es war. — Und dann war ein Schlauch daran — 
oder es war wie ein Fahrstuhl — ein Lift, wo der Taucher so drin ist das sind alles 
gefährliche Dinge — schön aber gefährlich, modern und praktisch, aber nie sicher - es 
kann leicht was passieren: es kann das Seil reißen, man kann stecken bleiben — oder 
herausstürzen, ■ — ich bin schon oft stecken geblieben — wäre manchmal auch schon zu früh 
ausgestiegen. - Die Maske ließ nicht das wahre Gesicht erkennen. Der Helm — zeigt auch 
nicht das wahre Gesicht — es ist eine Art Uniform, kann einen gut kleiden und einen 
entstellen — er gibt einem ein ganz anderes Gepräge wie jede Uniform - erstickt das 
Individuelle — der Dokformairtel ist auch so — wenn auch nicht so arg Uniform. 

Die Arche Noah war so komisch gebaut, kein Dampfschiff und kein Segelboot — und 
ich war ganz allein mit dein Fährmann — dazu fällt mir das Segelboot in ,Peer GynF 
ein — der war in einer ähnlichen Situation — da kam der Tod, und ich weiß gar nicht, ob 
der Steuermann nicht auch der Tod ist. — Zu Arche Noah noch ein Einfall: die langweilige 
biblische Geschichte — wir hatten keine schönen Bibelstuuden bekamen sie "nur als 
Märchen erzählt, nicht so, wie sie wirklich war — ich möchte schon wirkliche Bibelstunden 
haben — der Wahrheit entsprechend — oder lieber ein Märchenbuch, dann weiß ich, daß 
es ein Märchen ist und nicht ein heiliges Buch — ich hab 1 auch ein schönes Märchenbuch 
dabei — {zeigt es mir). 

Der Wasserfall — das war so häßlich — ich habe das Gefühl, als ginge es in der 
Behandlung auch hinunter — aber dann geh Fs wieder herauf, wie wenn einem das Wasser 
verschlingen würde — das empfinde ich so, wenn’s so kritisch wird — ich bin auch so 
unsicher — es paßt ganz zu meiner gefühlsmäßigen Situation — ich mein 1 , ich muß 
ertrinken — ich kenn mich nimmer aus!” 

„Der Steg, das 1 war wie eine Aufgabe — ich sah den Sinn nicht ein, daß ich da heraus 
sollte — bei F* (sie nennt einen Namen), da gibfs einen Steg, über den ich immer 
gehen muß. 

„In Bogenhausen — cs war wie eine HaUestation — aber es war doch gar keine Station 
da — nicht wie auf der Eisenbahn — da weiß man doch, wo man an gelangt ist und wie 
weit inan vom Ziel ist — aber ich freute mich, daß ich in München bin und dachte, jetzt 
hab’ ich doch eine Ahnung — aber dann kannte ich mich gar nicht aus — im englischen 
Garten verlauf ich mich auch immer — als Kind hab’ ich mich da schon immer verlaufen 

— zum Entsetzen meiner Mutter — ich wollte immer weit fortgehen und dann kannte ich 
mich nicht mehr ans und bekam Angst und mußte andere Leute fragen, und dann durfte 


31 


Dr. KURT WEIN MANN: 


ich gar nimmer fort — gestern hatte ich auch so Angst, und dann bab’ ich das Fenster 
aulgemacht und gedacht, ich stürz’ mich hinunter!“ 

° er T . rai VJ 1 scheint mir geeignet, gewissermaßen anekdotisch ein 
liild von der u e s a m t e i ns t e 1 1 u 11 g der Patientin zu geben; er zeigt deutlich: 

* r 1 f . ,? ° r * e r il n £ 11 11 ^ K a m p f e i n S 1 1 e 1 1 u n g gegenüber der Ge m e i n- 
schal . 2. Den Ruckzug in die Depression, 'j. Das Festhalten an der 
V 1 a Ui ; 1 e i 1 E i ii s t e 1 1 u n g. 4. Das Suchen eines Weges zur U m well und 
das Abschweife n und Ausweichen in der expansiven P Li a s e. 

Die Isolierung ist plastisch dargesiellt in der Arche, in der sie mitten im Strom 
des Lebens, den sie .-übertreibend als reißendes Hochwasser schildert, ganz allein sitzt — 
m du’v maskierten Steuermann, den sie selbst nicht kennt - nicht erkennt - ihr eigenes 
■ j 1 . wußtes, wenn Sie wollen ihre fiktive Leitlinie, die richtunggebend sie vor dem 
i[!-!rhl^'£ e . ,md gegenüber den Bedrohungen des Lebens sichern soll. - Die Isar führt 
. f 1 da ™ r !* a d,e Patientin schon als Kind Angst, wie wir erfahren haben, 
deo Trim.fi w< r ,dl,r . ch f,'®/ 01 } d ®, r . 1 A ! U ! Uer s ’ cb getrennt fühlte — liier tritt schon zu Beginn 
Mutter trennt *^ aS dlld ldie Leitbild hervor: des Verlorengeheiis, wenn man sich von der 

wußS’nSKf*^ 1 Wird n n n a ! s eilie , vorwiegend passive erlebt - „es war so komisch, ich 
^ iV -l W cf 1113,1 m] KT r , Vür]lalfe “> « fehlt zunächst jede Aktivität - sie läßt sich 
t ” . ■ " .! lr Steuermann bleibt verdeckt — es trifft sie somit keine Verantwortung — er 

I mu.re " j; aucherglocke, eine Maske, einen Helm — man sieht nur das Äußere, nicht das 
ihm Mnii.,« weiß mchi, ob er ihr Freund ist oder ihr Feind unsicher über sich selbst, 
eine,- 1? X ■' ,hr „ Z j f ~ ohlle offeilc ' klare echte Beziehung zur Umwelt - mit 
dahiX 2 mXaXl! ier Un, I° rn h hinter tler sie . sidl schert, fährt sie im Strom des Lebens 
? .. r c,,l ui oder eben deshalb trägt die Situation eine merkwürdige Zweideutigkeit 
T'uu-h, . , S V S , ls<diert W[ e in einem Lift — nur durch einen Schlauch, wie ein 
sichX X i‘X der Außenwelt verbunden - schön aber gefährlich isl das — mau ist nie 
iw MniumP tU i!‘ eic ^ etwas passieren — es kann das Seil reißen und die Verbindung mit 
di«Jr 7 ™. V , g 11,1 erbrochen werden - wir wissen aus vielfältiger Erfahrung, daß 
oder i,£^«H- lenhan ? beim Neurotiker nicht sehr haltbar ist man kann stecken bleiben 
an kn^i, 1 Z! , n ode r Zl1 au ssteigen - - hier klingt schon das Motiv des Rückzuges 

| *- il-mchr-mittuns — m der Behandlung — im Leben - wo immer Sie wollen, 

NeurnoX mf- 11 Sie, wie_ fein die Verschleierung der wirklichen Triebkräfte der 
die nirhi,!: ,! n al ! e Einzelheiten in dem Steuermann symbolisiert sind: er trägt eine Maske, 
käninfei-i«, ho, Tcu S f - jesi( -‘hl erkennen läßt — ein Helm ist es anderseits als Sinnbild der 
Schein iii«io M„ * u ?^ ' er er sbckt das Individuelle, ein hübscher Ausdruck für die starre 
proii ziert ih " *t de * Neurose — es fällt ihr zur Uniform der Doktormante! ein — sie 

W - u ' . l,niiy,mc ’ maskier1e ’ i kämpferische Einstellung auf die Umwelt, auf den Arzt. 

falsch füncrr^I-moXX s *® an £cskhts solch irrtümlicher Voraussetzungen sich von dieser 
Arche Noth znrn X n U J! !WeU \ n d ‘ e Isolierung - in ihre komisch und altmodisch gebaute 
zeichnet vortroifiXh 2 '^ 1 V0 T j dei , des Lehens — aber ihr Steuermann das kenn- 

Steuerinann ist der TnX 1 aradoxe der Neurose und ihrer Sicherungstendeuz — ihr 

In den weiteren F d f ii 6S IS C1 ' ie Art larvierter Selbstmord, den sie begeht, 
ihrer kindlichen r, E'itfalleii zur Arche Noah ist anderseits eine (reffende Darstellung 
als schön erlebt J H 1 ' elll ^ cda Ii s L e ziehungeii| gegeben: die Bibelstinide — sic hat sie nicht 
sie nach dem Ton ih» W nr C ^ e ai ( cb ’ n * stinkt,v die weltfremde Erziehung des Asyls, in dem 
Wahrheit eiilgm-ec-hmi lV^ ' eiM auf ^ uchs > äLlehnend — die Bibel, als das heilige Buch, der 
_ 30 i, . | 1 r, . kennen zu fernen — nicht nur als Märchen für Kinder dargestellt 
wie ein Märchenbuch ' dcs Lebens aber me vermittelt bekommen sie liest es heute noch 

fallen — e« „ , , , • und da muß sie natürlich von einer Enttäuschung in die andere 
Gefühl als innirp rT e ’u Wasser,a11 . — da s war so häßlich — ich habe das 

wie wenn eineiwh/wl/ 61 . ® c ' iaildlim g auch hinunter, und dann geht’s wieder herauf — 
Rtickzup. . • ls Nasser verschlingen wurde“ hier der fiktive Ausgangspunkt für den 
Haltumr i„„ T ,„_ se V an schauhche Versinnbildlichung des Auf und Nieder in ihrer ganzen 
Haltung — immer aber hat sie den Untergang vor Augen 

anderer Ausweg in der Not ihrer Isolierung wäre möglich - aus ihrer Arche 
Eisenbahn 1« L® n «ber nirgends Land - keine Haltestation, wie auf der 

fragt sie ,W a ,-vf- a ”2 escfjr . ieb ? il steht wie weit man „och vom Ziel ist — Zuweilen 
fvlhl im y I wp,t sind wir denn eigentlich?“ und möchte mm erfahren, daß sie 

in S.X flemi, Üa Lf C im P rui1 ?® wdß - daB sie von einer wirklichen Einordnung 

ei e A n\ J ? a SP ' Chen "°!: h T ht W 5 lt eiltfenU ist - -öl er Steg, das war wie 

eine Aufgabe — ich sah aber den Sinn — nicht ein daß ich da 

™i e o iefllt f bei1 d . ie natürliche beim Gesunden ohne 'weiters und un- 

+ P ruc ^ 2111 Umwelt. Dann üillt ihr der Steg ein, über den sie geht, 

wenn sie abends einen Schriftsteller aufsucht, um als Nebenverdienst noch für ihn zu 


Zur Psychologie nervöser und cyklothymcr Stimmurigssehwankungen 


schreiben, Es ist ein erster Versuch, den sie spontan unternommen hat, um ihre Arbeits- 
leistung und ihr Einkommen zu steigern also ein Schritt auf dem Wege zur Anpassung 
aber auch hier tritt hemmend die Fiktion auf, als ob der Steg nirgends ans Land führte, 
als ob sie von da auch nicht mehr zurück könnte zur Arche, in ihre Isolierung. 

Da scheint es ihr, als sei eine Stalion da — Bogeiihausen; sie freut sich, daß sie auf 
heimischem Boden ist — aber von Bogeiihausen hat sie trotzdem keine Ahnung sie 
kennt die nächste Umgebung ihrer Heimatstadt nicht — ein kennzeichnender Ausdruck 
ihrer allgemeinen Wirklich keitsfremdlieit - sie verläuft sich noch heilte im englischen 
Garten, wie als Kind — das isl das fiktive Endresultat ihres Versuches zur Landung am 
üeslade der Umwelt — „ich wollte immer weil f ortgehen als Kind“, so 
erzählt sie, „und dachte, ich find’ schon weiter” — eine A n d e u t u n g d e r 
Neigung, in der expansiven Phase zu weit zu gehen, sich zu weit 
vor zu wag eil — bis die Angst als Sicherung aultritt, wenn sie sich nicht mehr aus- 
keimt; dann muß sie andere Leute fragen hier erklärt sich die Atlidiide der Ratlosigkeit 
und Hilfsbedürftigkeit, die heute noch gelegentlich als Kunstgriff gebraucht wird, um 
mittelst der kindlichen Einstellung sich zu sichern, den Arzt in ihren Dienst zu stellen 
und - scheinbar hilflos — int Grunde voll Gewalttätigkeit — wieder Herr der Situation 
zu werden. 

Zugegeben nun, die Bedeutung der Depression als Rückzug, als 
Distanzierung von der Umwelt sei einleuchtend, wie verhält es sich mit den 
Anomalien der S t i m m u n g s 1 a g e, die sozusagen „n ach oben“ 
von der Norm abweiche n, uns als krankhaft g e h o b e n, hypo- 
manisch, expansiv 'entgegentreten. Ist nicht diese Gehobenheit des Selbst- 
gefühles, diese Neigung, sich ins Leben liineinzustürzen und in vielerlei Unter- 
nehmungen geselliger oder geschäftlicher Art alte, abgebrochene Beziehungen 
wieder aufzunehmen, neue anzuknüpfen, wie wir sie in den leicht hypomanischen 
oder hyperthymischen Zuständen antreffen, ist diese Haltung nicht in ausge- 
prägten] Maße eine Lebensbejah ung, das Gegenteil einer Distanzierung der 
Umwelt und Gemeinschaft gegenüber? 

Zunächst könnte es wohl so aussehen — oft gelingt es auch solchen Typen von 
Neurotikern, nicht nur sich, sondern auch ihre Umwelt zu täuschen mau nennt 
sie wohl mit Recht „Blender“ — aber sie „tun nur so, als ob“, verbergen hinter 
der Pose einer Scheinbejahung ihrer Gemeinschaftspflichten ihre im Grunde nicht 
aufgegebene egoistische, ich-befangene, asoziale Einstellung, mögen sie sich auch 
gelegentlich ein noch so menschenfreundlich gefärbtes Mäntelchen umhängen. 

Da in dieser expansiven Haltung häufig auch gesteigerte erotische Neigungen 
sich zeigen, und eine besondere Unternehmungslust dem Sexualpartner gegenüber, 
wird nicht selten zum Beispiel eine Verlobung in solcher Stimmung abgeschlossen^ 
die aber, wenn es zu dauernder Bindung kommen soll, sich nicht als „ernst- 
gemeint“ erweist und ebenso typisdierweisc in einer darauffolgenden sichernden 
Depression abgebrochen wird. Die wohl physiologisch zu nennende idealisierende 
Selbsttäuschung Liebender, oder sagen wir vielleicht richtiger „Verliebter“, kann 
auch einen gesunden Partner über die Zuverlässigkeit und Echtheit des anderen 
irreführen. Erst der früher oder später eingeleitete Rückzug des Neurotikers pflegt 
die notwendige Enttäuschung herbeizuführen, sei es, daß dieser, wie erwähnt, 
etwa die Verlobung löst - - aus Scheu vor einem festen Band, wodurch er ver- 
fügbar wurde — sei es, daß er in einer äußerlich vollzogenen ehelichen Bindung 
sich der Ehegemeinschaft im Grunde entzieht, in ihr sozusagen ein unverheiratetes 
Dasein führt, die Ehe nur als Kampfplatz wählt, auf dem er auch sein Machtideal 
mehr oder minder zu verwirklichen versucht. 

Oder prüfen wir die scheinbare Aktivität in geschäftlichen Unternehmungen 
oder in beruflicher Tätigkeit, wir werden den in seiner Stimmungslage Gehobenen 
geneigt sehen, seine Kräfte zu überschätzen, zu zersplittern und vielerlei, für eine 
gesunde Kritik meist zu weit gehende Unternehmungen anzufangen, immer fehlt 
es an der Ausdauer, an Geduld, an der Fähigkeit, mit Felilschlägen zu rechnen 
oder sie mit Gleichmut und Besonnenheit zu ertragen, au Beharrlichkeit, wenn es 
gilt, ein reales Ziel ungeachtet fremder oder -eigener Widerstände bis zum guten 
Ende zu verfolgen. 

Sie werden vielleicht an gewisse querulante Typen oder paranoid veranlagte 
Charaktere denken, das heißt zu leicht walmhaft gefärbten Auffassungen geneigte 


23 


n 




Dr. KURT WEINMANN: 


Menschen, die unermüdlich Prozesse führen oder Eingaben machen um zu ihrem 
vermeintlichen odei auch wuklichen Recht zu kommen ■ — sie scheinen doch geeignet 
meine letzte Behauptung zu widerlegen. Und docii handelt es sich auch hier nur 
Betätigung sozusagen auf „Nebenkriegsschauplätzen“ — als ob es die 
Hauptfrage des Lebens wäre, in irgendeiner ganz ungebührlich aufgebauschten 
und in den Brennpunkt des fiktiven Interesses gerückten Angelegenheit Recht zu 
Si m, " cn t c cr zu ^halten. Der Neurotiker ist dabei seiner kämpferischen Grund- 
J dttung zufolge ganz m seinem Element, genießt die so gestaltete Wirklichkeit und 
darmt die scheinbare Bestätigung seiner Fiktion von der dauernden Bedrohung 
und Anfeindung durch die Umwelt. 

im i P CI | voddn angeführte Fall denken Sie an den Traum von der Arche Noah 
Knitehl — ist regelmäßig wenn es sich etwa um Rechtsstreitigkeiten oder 

von f -t ht'iii = ^ s s«we 1 trctiing:en handelt, wie umgewandelt, förmlich elektrisiert, 
„I i ‘ n ei Aktivität und bcli lagfertigkeit — eine etwa vorher sichernd vorge- 

Sh k ä mnW Pi r SI011 t S 1 chwi f ldet i” lt dem Augenblick, wo eine Aussicht auftaucht, 
p-diontm P ij se ^ ZU behaupten. „Da bin ich selbst mein bester Anwalt“ äußerte die 
Rtehter wunl eU nfn solchen Gelegenheit und war sich darüber Idar, daß der 
l - i 7 i»claß sie ilun mit jedem Wort einen Hieb versetzen könne“. Sie 
bei^t'iriH n ± c ^ f ln ? c * le Sache beim Mieteinigungsamt ohne Rechts- 

die ei,. «Uh ihren Gunsten durch, unterstützt durch ihre juristischen Kenntnisse, 

-enommen hS ™igk ;it Anwaltskanzleien anzueignen Gelegenheit 

IwarJX« bat. Auch diese Berufswahl war gewiß kein Zufall, sondern läßt sich 
newimf-hiin i . 8 duic i bi re Leitlinie zur fiktiven. Überlegenheit bedingt — dem 
snäter m u l lies nervösen Charakters einordnen. Interessanterweise wählte sie 
ZU11 , inender Besserung, eine T ätigkeit in einem Buchverlag die sie 
D pi ^ ‘ c auch weit mehr befriedigt. Zu ergänzen ist noch — gleichzeitig als 
Nd imuf g z u r. P s y c h o 1 o g i e der Gereiztheit — daß bei ihr neben der 
iten.lf 3 U Uepressionen und Angstzuständen sehr häufig eine äußerst gereizte 
herl ui a f Karapfniittel hervortritt, jedesmal dann, wenn sie sich in ihrer Geltung 
Auc(T'inrr^ (il i [ r ? eildwi . e entwertet glaubt. Meist schließt sich an diesen fiktiven 
-Ausgangspunkt dann eine reaktive Depression an, die sich erst wieder lockert oder 
rosr wenn ihre Sicherheit einigermaßen gewährleistet scheint. 

q P] .„ ; e _ £ an ? allgemein die Eigenart der SUmnumgslage, die wir als 

SelhdtF/'fühi 1 ^ bezeichnen, auffassen als Ausdruck beginnender Unsicherheit des 
oder unten L 2SSC , n . mehr oder minder starke Oszillationen, Zuckungen nach oben 
Dien- prt ge ® tode Gleichgewicht auch der Stimmungslage anzeigen. 
das erschütterte n e - ? * 1 “l“ u f 1 § lst . sozusagen e i n k r i t i s c h e s S t a d i u in; 
DcnresSn oir ° le, jf wicht r bann in der Folge eine Störung im Sinne einer 
beiteij 22 “ Exaltation erfahren; wir können hier häufig die traurige oder 

Ausiran^mmkf m statu nascent, b in ihrer Entstellung und an ihrem 

rai^Bwl! vom Standpunkt des Betroffenen gesehen, allemal 

sichend ^ 3,° der , 0efahrdutl S seiner Sicherheit darstellt, vor der er — sich 

kurztrpeaivt ^ u yf lc }} en versucht; sei es, in eine Depression, durch die er sich 

sich von f i,r c ik ■ f ‘ 1 P d bingsunfaiiig und unverantwortlich macht, sei es, indem er 

‘ n gClK>benem Se,bst8elülU «•>« allc 

brsn,uip!-,Pn ZilIati0l ] CR i dcr D -ei-eizten Stimmung glauben wir bei Cyklothymen eine 
triW aS SCl ? e P r dcu l, ! ls ' beimessen zu dürfen, sowohl für die Beur- 
nirinin r, Ablaufes der Emzelpliase als für die der Heilungsaussicht im allge- 
S2J vJS s arke n d ! e Ausschlage der Stimmung aus der Gleichgewichtslage in 
ntui \Y/ii-vr S M Cn i Periode sind, desto stärker ist die Spannung zwischen Fiktion 
und Wnkhchkeit, desto gereizter die Kampfeinstellung des Individuums den Mit- 
menschen gegenüber, desto größer die Neigung, die geordneten Beziehungen zur 
Umwelt abzubrechen und auf die asozialen oder antisozialen Abwege der Neurose 
octei dei 1 sychose auszuweichen. Auch so weitgehende Abwege wie Verbrechen 
oder Selbstmord werden in diesem kritischen Stadium leichter gangbar. 

Charakteristisch für die auch subjektiv gegebene Empfindung dieser kritisch 
zugespitzten Situation ist eine typisch wieclerkehrende Äußerung der oben als Bei- 


24 


Zur Psychologie nervöser und cyklolhymcr Stirn tnungsschwankungen 


spiel der Gereiztheit angeführten Patientin: Sie pflegt dann, wenn sie sieh selbst 
am Rande der Psychose oder der Selbstmordgefahr fühlt, zu sagen: Jch kann nicht 
mehr für midi garantieren“. Das ist sicher so empfunden, wenn es auch gleich- 
zeitig als tendenziöse Drohung und Warnung für den Arzt als Gegenspieler auf- 
gefaßt werden muß 

R ii c k b 1 i c k e n d können wir sagen, daß weder die Depression etwa als reine 
Verneinung, als ein Aufgeben des „Ichs”, noch die Exaltation oder hypomamsche 
Aggression als ein reines „Ja“ zur Umwelt aufzufassen ist, sondern beide Hal- 
tungen dienen, nur mit v e r s c h i e d enen A u s d r u c k s m i 1 1 e I n, als 
e i n e s e li c i n b a r e S e 1 b s t v e rne i n u n g o d e r S e 1 b s t b e j a h u n g d e m 
i ii d i vi d u e 1 1 e n Gelt u n g s- o d c r M a c h t s t r e b e n ohne R ü c ks i c h t- 
n a h me auf tl i e U m weit und ohne Einordnung in die Ge m e i n- 
schaft als eben der Aufgabe, vor tl e r ausgewicheii wird. Die 
Anerkennung der dem Individuum wie den Mitmenschen immanenten Gemein- 
sdiaftspfl ichten würde beide Haltungen entbehrlich oder u n m ö g- 
1 i c li m a c ii e n, da die freiwillige Bejahung und Betätigung dieser Gemeinschaf ts- 
pf lichten die Stimmungslage nicht in derart schwere und als krankhaft zu bezeich- 
nende Gleichgewichtsstörungen brächte. 

L)er seelische Rhythmus des Individuums würde mehr oder minder harmonieren 
mit dem der Umwelt, damit wäre auch in der Stimmungslage wie in der Gesamt- 
haltung des Einzelmenschen die Möglichkeit eines harmonischen Zusammen- 
klanges mit der Umwelt und damit auch das Gefühl individueller Ausgeglichenheit 
und Erfüllung gegeben. 

Wie wii gesehen haben, sind alle die besprochenen Haltungen, die sich in und 
ans der veränderten Stimmungslage ergeben, psychologisch betrachtet, durchaus 
folgerichtig und vom Standpunkt des in seiner Sicherheit vermeintlich bedrohten 
Menschenkindes restlos verständlich ; wir brauchen uns liier keineswegs nur mit 
der beschreibenden Feststellung zu begnügen, daß etwa bei „derart degenerativ 
veranlagten Individuen Zeiten depressiver, gereizter oder gehobener Stimmung an- 
schemend — wir wurden sagen scheinbar — ohne Grund und Ziel abwechseln. 
Auch Kmt Schneider (Köln) hat die Betrachtung der reaktiven Seite pathologischer 
Stiminungsschwankungen in den letzten Jahren mehr in den Vordergrund gerückt. 
Lilien wirklich brauchbaren Schlüssel zum Verständnis der psychologischen 
Struktur oder besser gesagt Dynamik solchen seelischen Geschehens hat uns doch 
erst die durch Alfred Adler inaugurierte Anschauungsweise in die Hand gegeben 
Mit ihr eröffnen sich uns auch therapeutische Wege, die aus der Trostlosigkeit der 
Resignation gegenüber vielen solcher psychischen Störungen herausführen die 
früher durch das diagnostische Stigma des Entartungsirreseins als therapeutisch 
mehr oder minder aussichtslos gekennzeichnet wurden. 

Lassen Sie mich zum S c li 1 u ß kurz zusammenfasse n, was sich uns 
über die psychologische Struktur oder Dynamik krankhafter Stinimungsschwan- 
uugen ergeben hat: 


1. Das volle Verständnis für die Einzelphase läßt sich n u r i m 
R a h m e n der Bet r a c h t u u g der Gesamtpersönlichkeit finden. 

2. Als I n d i k a t o r und Maßstab für die Störung der Gleichgewichtslage 
dient zweckmäßig das Selbstgefühl, dessen Schwankungen mit der Ab- 
weichung der Stimmungslage vom Gleichgewicht parallel gehen. 

3. Kurze oszillatorische Zuckungen des Selbstgefühls 
kennzeichnen das kritische Stadium der Gereiztheit, aus dem 
die Stimm uiigslage nach unten oder oben, in die Depression oder Exaltation Um- 
schlagen kann. 

4 . Der Grad dieser Gereiztheit ist in gewissen Fällen als 
Maßstab für die Prognose einer darauffolgenden Einzelphase sowohl 
als für die Heilungsaussicht der Stlmnuingslabilität im allgemeinen verwertbar» 

5. Die depressiven sowohl wie die exaltierten Stimmungsanomalien stellen 
ihrer psychologischen Bedeutung nach eine Distanzierung des Indi- 
viduums von der Gemeinschaft dar, ein Ausweichen — n u r auf 
verschiedenen Wegen — vor der Realität und ihren Forde- 
rn ngen. 


25 


Prof. D. E. OPPENHEIM: 


b. Die individualpsychologische Betrachtung (im Adlerschen Sinne) eröffnet 
Möglichkeiten zur Vertiefung unseres psychologischen Verständnisses auch der 
psychotischen Veränderungen der Stimmungslage. 

7. O t e therapeutischen Aussichten einer individual- 
psychologischen Behandlungsind bei den nervösen und den leichteren 
Fällen cyklotliymer Stimmungsschwankungen nicht ungünstiger als bei 
anderen Neurosen gleiche n Grades. 

SU M MARY: I, In referencit to the psydiological 

slmdurc und dynomics ol morbid vadikUiom of mood 
{deprtiBsion, exaltadon, Irritation): Irritation is nmrketi 


by short, öücillafory convukive UvEtches ot Nie e^u- 
leelmg; anü is vfewed as „critkal stage“, front 
whicli fht= inood may veer either upward e>r itown- 
ward, L c,, either iitlo exaüalion or into de- 
urcsaioiL 

2, Front tlie degree of tliis irrifntion we ernt, In 
cehain ease*, Eorecast not ouly the particulur phaae 


it will next ahow, btd alao the proapecb tif cviring 
tlie niood-hihUity in general. 

X Individuul-paychology approacli {in 
Adlerian sensc) opena tip possibililks o! deepening 
oiir Psychologien 1 underskmding, even oE psycho- 
t i c [Uiditfdions oE mood, 

4. Tlte therapeutie prosspeetü oE individual «Psycho- 
logien! Irealnient are no lest; iavournble in uervous 
und dtghl cascs oE cyclolhymic vaci Nation* oE mood 
ihm flwy ure in otiier neu roses of Eike degree. 


Der Mann in Schönherrs „Weibsteuf el“ 

Ein Beitrag zur Lehre vom Minderwertigkeitsgefühl 

Von Prof. D. E. OPPENHEIM (Wien) 

Die Individualpsychologie ist eine junge Wissenschaft, aber was sic lehrt, ist 
zum guten Teil uralte Weisheit ; denn sie erstrebt nichts anderes als eine Rationali- 
sierung jener ungesuchten Menschenkenntnis, die im Verkehr mit dem eigenen Ich 
und den vielerlei Du mehr oder minder einem jeden zuströmt und bei den Meistern 
uer Intuition, den Dichtern, im Überfluß hervorbricht. 

So haben zum Grundthema individualpsychologischer Untersuchungen, dem 
entscheidenden und oft genug verhängnisvollen Einfluß körperlicher Mängel auf die 
i i| Wicklung des Charakters, schon Homer und Shakespeare die wertvollsten Bei- 
tiage geliefert, jener mit einem flüchtig skizzierten, aber lebensvollen Bild des 
nucldigcn Demagogen Thersites, dieser mit der Kolossalfigur des Kronprätendenten 
Kichard 111., der seine Seele der Hölle überliefert, weil der Himmel seinen Leib 
schmählich verbildet hat. Heutzutage, unter der Vorherrschaft der Wissenschaft, 

, %. x ' on gewöhnt, sucht ein Dichter, wie Thomas Mann, sogar begriff- 
iche Kuu heit über das Verhältnis seelischer Leistungen zu ihren körperlichen 
mmdlagen und findet, daß es jedenfalls 1 leiden der Schwäche gibt. vielleicht nur 
Solche*). 

Dieser knappe i linweis zeigt schon, wie viel wertvolle Anregung der Individual- 
psychologe erhoffen darf, wenn er den Typus des Scliwaclien in der schönen 
Literatur mit allem Ernst studiert, Das Beispiel, das wir hier vorlegen, erweckt 
aber noch ein besonderes Interesse. 

Karl Schönherr, der Dichter, der es uns bietet, ist zugleich Arzt. Seine Art, die 
Menschen zu betrachten, kann davon nicht unbeeinflußt sein, Desto eher dürfte 
sie mit der Individualpsychologie zusammenstimmen, einer Lehre, die ganz und 
gar aus der Berufsarbeit eines praktischen Arztes hervorging. 

Und nun greifen wir zu Schönherrs Drama „Der Weibsteufel“**), ersehen aus 
dem Personenverzeichnis, daß hier eine Frau zwischen zwei Männern, ihrem Gatten 
und dem anderen, einem Grenzjäger, steht, und entnehmen schon dem Szenarium 
der ersten Szene, welche der drei Personen für unser Thema in Betracht kommt. Ls ist 
natürlich der Mann. Denn ihn beschreibt der Dichter folgendermaßen (S. 7, vgl. S. 47, 


*) „Der Tod in Venedig“, Novelle. S. Fischer, 1913. S. 24 ff. 

**) „Der Weibsteiifel“, Drama in fünf Akten, von Karl Schönherr. 
L. Stachmann, 1016. (11. bis 13. Tausend.) 


Leipzig, Verlag 


Der Mann in Schön herrs „ Wcibstellfel" 


90): „Noch jung, aber kränklich und schwach, mit schütterem roten Bartflaum“. Wie 
gering seine Kraft ist, bekundet er selbst wehmütig mit den Worten (S. 27): „Ich 
kenn nit einmal an Brennspan überm Knie abbrechen“. Was soll er aus- 
jichten mit einem Arm, an dein sein Weib „um kein Kreuzer Fleisch dran sieht“ 
(S. 08) und mit einer Hand, die ihr eiskalt vorkommt (S. 54, 70, 71). Auch die 
Füße werden ihm eiskalt, wenn er mir eine Zeitlang im Keller gestanden ist (S. 25), 
er muß dann schlafen gehen und eine warme Flasche für die Fiiße bekommen, 
„sonst kriegt er wieder einen Katarrh und der dauert wieder so lang“ (S.26). 
Im Winter schläft er sogar ständig mit der Wärmeflasche und ebenso regelmäßig 
ist er im Frühjahr voll Katarrh. Im Sommer leidet er an Kopfweh iS. 09), ja seine 
Beschwerden wechseln so schnell, daß die Frau dem Doktor klagt, er habe alle 
läge eine andere Krankheit (S. 79) und ihm entrüstet vorhält: „Nasse Füße und 
Rheumatismus steht heute im Kalender, Kopfweh und Bauchweh hast gestern, 
g’habt“ (S. 07). Auch recht bedenkliche Erkrankungen stellen sich bei ihm leicht 
ein. So bekam er einmal eine Lungenentzündung, weil er im Regen ohne Schirm 
draußen war (S. 77). Wie heftig stärkere Gemütsbewegungen seine Gesundheit 
bedrohen, sagt ihm die Gattin im Augenblick, wo er zärtlich werden möchte: 
„Geh, laß das, reg dich nit auf, es könnt dir nit gut tun, könntest auf ja lind nein 
wieder deinen I lerzklopfer kriegen“ (S. 48, vgl. S. 28). Nach dem Wutanfall, zu dem ihn 
Grenzjäger, sein grimmiger Rival im Kampf um das Weib, gereizt hat, klagt er 
celbst: „Das Merz klopft mir noch bis zum Mals“ (S. 07), und sic bemerkt: „Du 
bist ja weiß wie ein Leintuch“ (S. 00). Mitten in der zornigen Aufwallung hat 
er mit dem drohend gezückten Messer in der Hand gezittert ($.66, 114). Alles in 
allem ist er nach seinem eigenen und nach dem Wort des Arztes ein ewiger Kranken- 
sessel (S. 66, 8,80) oder mit seiner Frau zu reden (S. 69): „Wenn er am besten 
ist, ist er um und um nix nutz“. Ein andermal faßt sie dieses Verdamnuingsurteil 
in dem einen Kraftwort „unnutz“ zusammen und denkt dabei nicht bloß an alle 
seine Gebreste, sondern außerdem, und vor allem, an seine Unfähigkeit, aus ihr 
eine Mutter zu machen, wie es Recht und Brauch ist (S. 91). 

Wen immer auf seinem Lebenswege solche Schwäche und 1 Unfähigkeit hemmt 
und plagt, dessen Selbstgefühl muß schon deshalb tief gedrückt sein. Nun hat aber 
der Schwächling, den Schönherr zeigt, noch mehr zu tragen. Unter vier Brüdern 
stellt er als Jüngster, Und als wäre das nicht Zurücksetzung genug, sind alle 
anderen gesund und riesenstark, so daß er im Vergleich mit ihrer Fülle seinen 
Mangel desto härter empfindet (S, 27). Was aber das Schlimmste ist, sic nehmen 
ihn nicht ernst, auch dann nicht, wenn er schon alt genug ist, ein eigenes Heim 
zu gründen, sondern verlachen seine Brautwahl, weil sie auf ein blühend schönes 
Weib gefallen ist und sagen höhnisch: „So ein blutschwaches Manndl“ (S, 8). Man 
beachte das Diminutiv. Es stempelt den unglücklichen Heiratskandidaten zu einem 
Mann im verjüngten Maßstab, während er doch ein Vollmann sein müßte, um 
ein ordentlicher Ebeherr zu werden. In dieselbe Richtung zielt das Spottwort des 
Grenzjägers: „Schneider“ (S. 21, 114). Wie gut er damit die wunde Stelle des 
Gegners trifft, zeigt die Abwehrbewegung, die der Angriff auslöst (S. 05). Der 
Beleidigte greift zum Messer. Somit entspricht hier wirklich einer heillosen 
Minderwertigkeit des Leibes ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl. 

Nach Möglichkeit sucht der Mann davon loszukommen, indem er sich die 
schöne Rolle des unschuldigen Opfers zuweist und die Verantwortung für sein 
Unglück der Mutter anfhalst. Mit einem mahnenden „Gelt Mutter“ fordert er von 
ihr oder vielmehr ihrem Bildnis, zu dem er emporschaut, Bestätigung der leidigen 
Tatsache, daß er immer von klein auf ein „Krankensessel“ war ($. S) und, wenn da 
eine offene Anklage gegen die Urheberin seiner Tage noch vermieden ist, dauernd 
wahrt er nicht einmal die Rücksicht. Eine neue Demütigung durch das Entsetzen, 
das sein magerer Arm bei seiner Frau erregt, und schon schreit er es laut heraus: 
„Ich hab ja nichts besseres mit bekommen von meiner Mutter“ (S. 68). Schuld an 
seiner Schwäche sind seines F.rachtens auch die Brüder, und er nimmt wohl 
Bedacht, gerade den Vorrang, der ihnen rechtmäßig aus ihrem höheren Alter zu- 
fließt, in schiefes Licht zu setzen. Sic hätten, sagt er ständig, „seiner Mutter die 
ganze Kraft ausgsutzelt. Ihn habe sie gar nimmer stillen können, er sei mit der 
Saugflasch n aufgezogen“ (S. 21). Vernehmlich spricht aus dieser Umdeutung seiner 


27 


Prof. D. E. OPPENHEIM: 


leiblichen Unzulänglichkeit in ein moralisches Unrecht, das die Allernächsten an 
ihm begangen hätten, ein trotziges Widerstreben gegen sie und das Schicksal. 

Daß aber seine Auflehnung, weit entfernt, bei derlei Vorwürfen stellen zu 
bleiben, seinem ganzen Leben die Richtung gibt, merken wir, wenn er sich nach 
tiem Ankauf des neuen 1 lauscs vor dem Bild der Mutter aufrichtet und ihm zu- 
ruft (S. 07): „Mutter, als Elendsmandl hast mich in die Welt gsetzt. Aber ich liabs 
doch er macht“. Demnach wäre sein höchstes Ziel, aus eigenem zu ersetzen, was 
sie ihm schuldig blieb. Den Vorsprung, den ihre anderen Söhne vor ihm haben, 
hätte er damit auch schon ausgeglichen. Indes gibt er sich noch nicht zufrieden, 
wenn er auch schon so groß dasteht, daß er die Brüder mit ihren „breiten Achseln“ 
(a a. O.) nicht mehr zu beneiden braucht. Nun, da er, „der Schwächste“, außer dem 
schönsten Weib das schönste Haus besitzt, mögen sie vor Neid schnaufen und 
blasen. Denn vor dem bitteren Gefühl, viel geringer zu sein als sie, ist er erst dann 
gesichert, wenn ihr eigenes Verhalten das Gegenteil bezeugt. 

Oder legt unsere Deutung doch zu viel Sinn in prahlerische Worte, die einer, 
vom Rausch umnebelt, hinwirft? Nein, seinen Brüdern trotzte ja unser Mann schon 
c.aniit, daß er sich unbekümmert um ihre spöttischen Warnungen mit einem 
blühenden Weib vermählte. Und während das 1 laus am Marktplatz für ihn noch 
nichts war als eine lockende Hoffnung, sagte er bereits vom Neid, den er bei ihnen 
erregen werde, dasselbe wie nach vollzogenem Kauf (S, 28). Der Gedanke kommt 
nun also sicher nicht als Zufallsschöpfung einer flüchtigen Laune, der wuchs bei 
ihm zusammen mit der Mißgunst, die ihn quält, seit er sich unter „fleischklotzigen 
Brüdern (a. a. O.) seines kümmerlichen Selbst bewußt wurde. 

Doch den Triumph, nach dem sein aufgestachelter Ehrgeiz verlangt, will er 
nicht auf den engen Kreis der Familie beschränken, sondern vor der großen Öffent- 
lichkeit zur Schau stellen. Er malt sich aus, wie er einst von seinem I latis am Markt 
Sonntags zur Kirche gehen wird, mit ihm das Weib im rauschenden Seidenkittel, 
und sieht schon die Leute vor Staunen die Mäuler aufsperren (S. 9), die Mäuler, die 
sic sich zerrissen hatten, um ihm die schöne Braut abspenstig zu machen (S, 7). 
Wieder tritt die Tendenz, seine Erhöhung zum vollen Widerspiel früherer Niedrigkeit 
zu entwickeln, deutlich zu Tage. Und als Mittel zu diesem Zweck scheint er die 
Errungenschaften seines Lebens, das Haus und die Frau, zu betrachten. 

Auch die Frau nur als Mittel? Man möchte es bezweifeln. Aber, wenn sie ihn, 
von der Leidenschaft zum Grenzjäger überwältigt, fußfällig bittet, sie freizugeben, 
was antwortet er? Sie sei ihm unentbehrlich? Nein, an die Brüder denkt er, die ihn 
verspotten würden, wenn ihm sein Weib davonginge (S. 71). Stärker könnte er 
Vf. ^ ar picht beweisen, daß er sie nicht um ihrer selbst willen, sondern aus äußeren 
Rücksichten schätzt. 

A S 11 * stimmt dazu der Satz, den er dem Rivalen entgcgenhält (S. 85): 
„Mein Weib ist mein Sach; und mein Sacb iaß ich mir nit nehmen“. Den Fanatismus 
tm das Eigentum, den er hier bekundet, brauchen wir nicht lange zu erörtern. 
Denn noch m derselben Rede sagt er: „Ich hab von daheim nit viel mitbekommen“, 
u nu wenn das auch nicht seinem wirtschaftlichen, sondern seinem leiblichen „Ver- 
mögen gilt, erklärt cs doch nur um so besser, warum er solch ein Haltefest 
wurde. Daß er es aber tatsächlich ist, verriet bereits der stürmische Jubelruf : 
„Mein ist s, mein,“ den er nach glücklich vollzogenem Hauskauf hervorstieß (S. 97). 

Immerhin hat er dort den Eigentumsbegriff noch sinngemäß verwendet. 1 Iin- 
gegen überdehnt er ihn gewaltsam, sobald er sein Weib seine Sache nennt. Aber 
vielleicht entstammt diese Verneinung ihrer Menschenwürde nur einer wilden Auf- 
wallung seiner Eifersucht, Prüfen wir also, um auch dem Bedenken gerecht zu 
werden, wie er grundsätzlich zu den Mitmenschen stellt. Da er in ihrem Kreis 
schon durch sein Äußeres als traurige Ausnahme erscheint, läßt sich gar nicht 
erwarten, daß er ihnen Vertrauen und Wohlwollen entgegenbringt. Sich feindselig 
abzuschließen und eigene Wege zu gehen, liegt ihm sicher näher. Und wirklich 
sehen wir ihn, im Gegensatz zu den älteren Brüdern, die gesellig im Tale wohnen 
(S. 27), hoch oben einsam in einem „Geiernest“ hausen (S. 15), und während sich die 
anderen als ehrsame Handwerker nützlich machen (S. 97), betreibt „der Unnutz“ 
(S. 97) zum Schaden des großen Ganzen das Schmugglergewerbe und gerät so mit 
der berufenen Hüterin des Gemeindewohls, der Staatsgewalt, in böse Fehde. Ganz 


28 


Der Mann in Schonherrs „Weibsteufel“ 


isoliert ist er aber trotzdem nicht. Denn er hat Mitschuldige. Indes nimmt er selbst 
unter denen eine Sonderstellung ein. Er, den seine ! Unfähigkeit gelehrt hat, auf 
sich selbst acht zu geben (S. 84 und 80) und den Tod dermaßen zu fürchten, daß 
ihm die Aufzeichnung einer ietztwilligcn Bestimmung kalt und heiß macht (S. 100, 
102, vergl. S. 109), das Fliegen mann dl ('S. 72), das zu seinem Gehöft nur mühsam 
hinaufkeucht und doch 100 Jahre alt werden möchte (S. 96), das sollte mit 
schweren Waren ballen auf dem Rücken, von den Kugeln wachsamer Grenzjäger 
bedroht, über halsbrecherische Gebirgspfade schleichen? Dazu hat es weder Kraft 
noch Mut. Aber, ohne draußen Mühen und Gefahren mitzumachen, „daheim hinter 
dem warmen Ofen“ ein gutes Stück des Ertrages als Hehler gemächlich einzu- 
streifen, das ist seine Sache, und er betreibt sie so rücksichtslos, daß er die 
Schwärzer antreibt, wenn sie, von dem grimmen Eifer des neuen Grenzers einge- 
schüclitert, nichts mehr wagen (S. 10), Seine Mitarbeiter sind demnach für ihn 
nur Werzeuge, deren er bedarf, tun so rasch als möglich das zum Hauskauf nötige 
Geld zu verdienen. 

Und nun, da wir wissen, wie schlecht er es versteht, mit Menschen Gemein- 
schaft zu halten, betrachten wir ihn nochmals in der Ehe. 

Das Mädchen, um das er warb, besaß keine andere Mitgift als ihre Schönheit 
(S, 74). Darum war sie für ihn erreichbar, und er nahm sie, ohne zu überlegen, 
daß „einer Frau, mag ihr auch ,nix abgeheth, doch immer etwas fehlt, solange 
nicht der Mann aus ihr eine Mütter macht, wie’s Recht ist und Brauch“ (S. 92 unten, 
S. 91 oben). Nun hat er in sechsjähriger Ehe nur allzu sicher bewiesen, daß er 
zur Lösung diesei Aufgabe nicht Manns genug ist. Trotzdem trägt er kein Be- 
denken, von ihr für seine Person noch mehr Sorgfalt zu verlangen, als seine Ge- 
brechlichkeit wirklich braucht. Nicht einmal den Ärmel streift er sich selber auf, 
wenn sic ihm seinen rheumatischen Arm mit Ameisensäure einreiben soll, und 
kommt er vom Fischfang mit nassen Füssen heim, so wartet er, bis sic ihm 
kniend die Strümpfe auszieht (S. 66 f.). 

f Würde er nur ein wenig mittun, so wäre ihre Leistung kameradschaftliche 
Höfe. Da er aber gar nicht zugreift, sieht die Gattin in der eigenen Aufgabe eine 
übermäßige Fion und fragt vorwurfsvoll: „Soll denn all’s ich machen? fS, 67.) 
Stillschweigend verneint er das, indem er die verlangte Hantierung ohne Wider- 
icdc vollzieht Abei dei lasche Pückiall in die frühere Lässigkeit, der eine Wieder- 
holung der Frage erzwingt (S. 67), zeigt, daß er sic im I lenen bejaht. Offen 
in dem sicli zu änltern, hindert ihn offenbar die Feigheit. Denn aus 
dem Satz: „Mein Weib ist mein Sach“, folgt ja doch unweigerlich, auch wenn er 
es nicht einmal vor sich selbst bekennt, daß sie alles tun muß und ihm das Nichts- 
tun freisteht Natürlich darf er sein Eigentum auch ein sperren, wenn er es bedroht 
glaubt, und demgemäß bestellt er für seine Haustürc ein Schloß, das sich nur von 
außen öffnen läßt, damit ihm sein Weib nicht davongeht (S. 71, 72, 74). Gilt es aber, 
mit dem Gut, das er hat, ein anderes zu erhaschen, mag er es getrost aufs Spiel 
setzen. Und so wirft er in Gedanken an das Geld, dessen er zum I lauskauf bedarf, 
seine Gattin dem Grenzjäger als Köder hin CS. 98 und 52), damit ihn der leckere 
Anbiß zum dummen Karpfen mache (S. 33 und 63) und die Schmuggler wieder zur 
Arbeit kommen fS. 51). Die Frau ein Köder, nach dem ein Fisch schnappt? Da ist 
sie wohl nicht mehr als eine gleißende Fliege oder ein regsamer Wurm. Zeigt sie 
sich aber ungebärdig, gleich sieht er in ihr ein wildes Pferd, dem er den Zaum 
enger anlegen muß (S. 85) oder einen frechen Kläffer, den man mit „Kusch“ zur 
Ruhe weist (S. 87). Und verlangt sie gar ihre Freiheit zurück, so gibt er ihr einen 
Schlag ins Gesicht und ergänzt die handgreifliche Belehrung durch das Kraftwort: 
„Mein Sach halt i mir noch“ (S. 71). Nachdem er sie überdies zur größeren 
Sicherheit von ihrem geliebten Grenzjäger getrennt hat, indem er dessen strafweise 
Verstezung herbeiführt ('S. 86!.), erwacht bei ihr der Widerstand gegen die beharr- 
liche Verdinglichung ihres Ich. „Zuerst aufgehackt werden bis auf den Grund und 
dann zugedreht wie ein Wasserhahn“, im Selbstgespräch lehnt sie sich dagegen 
auf (S. 91). Trotzdem versucht er eben das zu erreichen. Nur der Ausdruck, den 
er gebraucht, ist anders: Sie soll alles, was gewesen, auslöschen, alles, samt dem 
Schlag ins Gesicht, der ihr ja nur gebührt habe ('S. 94). Scheinbar fügt sie sich 
dem Ansinnen, fängt aber bei nächster Gelegenheit wieder an mit den „alten 


Prof. D. E. OPPENHEIM: 


Sachen“ und läßt sich nun nicht mehr einschüclitem, sondern bekämpft seine 
bequeme Ausflucht: „Das haben wir ausglöscht“, zornglühend mit der höhnischen 
Präge (S. 98, vergl. S. 106 und 109): „Ausglöscht? Das ganze Weib mit Haut 
und Haar, mit Fleisch und Blut“. Aus der anschaulichen Form volkstümlicher 
Redeweise in die begriffliche der Gelchrtensprache umgesetzt, besagen diese Worte, 
daß der Mann seinem Weibe zumutet, ihr persönliches Sein völlig aufzugeben und 
nur noch als Objekt seines Willens zu existieren. 

, Auffällig bleibt nur, wie spät die Einsicht bei ihr dämmert. Sechs Jahre nach 
oei lochzeit hat sie ja mit ihm noch kein einziges Mal gestritten und fühlt sich 
£ a * . handelt (S. 7, 82). Wie läßt sich das mit seinem ichsüchtigen Geltungsstreben 
w/ „ n ,ng bringen? Vielleicht, wenn wir in Rücksicht ziehen, daß er seinem 
Weibe als „hilfuotiges Kind erscheint, das man liegen und pflegen und um das 
man sich sorgen muß“ (S. 8, 40, 61). Sich sorgen müssen, darin liegt ja, daß er 
einen mächtigen Zwang auf sie ausiibt, jedoch zum Widerstand fordert er damit 
nicht heraus, da er, ohne Gewalt zu brauchen, moralisch überzeugt. Ist er aber 
ui eine solche Einwirkung persönlich überhaupt haftbar? Man könnte es be- 
stiegen, da zur Anerkennung seiner kindlichen Hilfsbedürftigkeit schon der Zu- 
stand seines Körpers nötigt. Indes zeigt doch die Menge und der rastlose Wechsel 
semer R' blichen Beschwerden, daß nicht alle echt sind. Warum er sich die anderen 
ein bildet, denn an Simulation ist nicht zu denken, verrät uns die Freude, die er 
auiiert, wenn das Weib um seinetwillen besorgt scheint (S. 95 und 101). Der 
stärkere zu werden kraft seiner Schwäche — mit diesem Paradoxon glauben wir 
c«m genauesten auszudrücken, was er in der Ehe durch hypochondrische Weh- 
leidigkeit unbewußt erstrebt. 

. j 1 ” 1 Weg, den er da beschieltet, ist also krumm, aber eben deshalb für ihn 

ciiarakteristiscli Denn in dieselbe Richtung weist der Leitsatz, dem er mit ruhiger 
Uoei legenheit folgt: „Schlau muß man sein“ (S. 13, 86, 106). Klar ist auch, daß 



I | % H w | A n 1 “■ \ ’w' ■ | * I ^ | i. 1 Im L Ji j 1L CI II O l V~ 1 ! vif l— r ■. l 

volle Fertigkeit, die ihn von den „dummen Kraftlackein“ zu seinen Gunsten 
unterscheidet (S. 27, 28, vergl. S. 63). Aber mag er eile noch so eifrig herunterreißen, 
eines muß er ihnen lassen. Ihre Kraft ist jedenfalls das rechte Kennzeichen des 
starken Geschlechts oder mit einem Wort gesagt „Männlichkeit“. 

- . , lc * d'e Ehre sollte er mit ihnen nicht einmal teilen? (S. 48). Dagegen sträubt er 
!C * t cl maßen, daß er zur größeren Sicherheit sogar den „w i 1 d e n Mann“ spielt, der 
’/n SC1 - !n s ’ l ei Scndc Wut“ (S. 65) gerät und sicli dann gewaltsam Respekt schafft. 

lr - Ie von * bm fordert, desto härter drückt ihn seine Unzuläitg- 
. ~ x eit - Der eigenen Frau ins Gesicht zu schlagen, wagt er noch, freilich bloß, 
, K , sie . b,tte . nd vor i,im (S- 71). Denn schaut sie ihn auch nur „mit bei- 


. ; .r‘ ouiwauie „unscmussig zürne 

bleibt 1 hm kaum etwas anderes übrig, als sich eine intellektuelle 'Männlichkeit 
anzuüichten, die ihren besonderen Vorzug vor dem „schwachen“ Geschlecht auf 
eine Minderwertigkeit des Weiberhirns“ gründet (S. 92), Dieser Einbildung tut cs 
gar keinen Abbruch, daß er von 1 seiner Gattin „wie ein Kind gehegt und gepflegt 
wud (S. 8 40, (>1). Was sie ihm leistet, betrifft ja nur seinen Leib, Geistig; ist doch 
in seinen Äugen sie das Kind (S. 8, 93, 99) und er der Mann, der ihr zu befehlen 
’ tl4, ~ , er sich darauf versteht, scheint ihm um so sicherer, als er seine weiber- 
feindlichen Sprüchlein für köstliche Erfahrungsfülle hält (a, a, O. und S. 96). 

Würde er sie aber auch „von Grund aus kennen, die Weiber“ (S. 1 15), um die eine 
die sein ist, müßte er doch von rechtswegen am allerbesten Bescheid wissen. Indes 
zeigen schon die 1 leimiichkeiten, die sic seit dem Hochzeitstag mit einer verschlösse- 
neu 1 ruhe treibt fS. 10, 23), daß er tieferen Einblick in ihre Seele niemals erlangt hat. 
Nur merkt er das nicht früher, als bis es ihm nichts mehr nützt. Unterdessen hat sich 
nämlich gegen ilm ein solcher Widerwille bei ihr festgesetzt fS. 69, 73), daß sie, um nur 
loszukommen, ihn und den Grenzjäger planmäßig gegeneinander hetzt (S. 94). Vom 
Säbel des Rivalen tödlich getroffen, ruft er: „Weib, jetzt kenn’ ich dich erst ganz“ 


30 


Der Mann in Sciiönhcrrs „Wejbsleufcl“ 


(S. 114). Für seine furchtbare Überraschung soll natürlich ihre abgefeimte Heuchelei 
verantwortlich sein. Allein die Schuld fällt auf ihn selbst zurück. Denn wenn wir 
auch absehen von der Verkennung ihrer individuellen Eigenart, bleibt doch der 
Versuch, ihr Ich mit dein Satz: „Mein Weib ist mein Sach“ ganz wegznletignen 
1 lier zeigt sich also klar: Das zügellose Geltungsstreben, das nicht einmal die 
Gattin als Mitmenschen ansieht, und, der aufgereckte Mannesstolz, der sie achtlos 
zum grollen Haufen der Evatöchtcr wirft, sind von einander nicht zu scheiden, sondern 
bilden die einheitliche Wirkung jenes Gefühls tiefer Erniedrigung, das den Schwäch- 
ling antreibt, seine Person auf Kosten der Gemeinschaft zu einzigartiger Größe cm- 
porzuheben. 


SUMMARY: TJie „Man“ in Scliönlierrs „Dt-vil 
of a WoiMflii** (Wcibfiieuftl.) (A conlribution io ibti 
Iheory of tlic feding of inferior ily). 

Tlie inan wbo, in tbe slruggle for Uh „Wo- 
man“, jä killed by bis rival r tlie fronifer guard, 
(Qrcnziäger) h:is bcen a sic kly weakJing from birlfe 
His sLiisc of physical deficiency h fhe deeper, he- 
mmst: he te tiie youngest of iour son«, ;md fhe three 
otbers, besides bring enclownd wilh die privifege 
oi seuiority, are gilted Willi good health and strenglh. 
| Ic ttierefore iitm^ines liimsrif wronged, is füll 0 f 
repronclies Un Ute dead raofher and looks invi- 
d füll« ly on lii« brolhers. Uh sole obfecl au satlslyiiig 
Uh greai Ambition is lo rtrouse ihei r cnvy. Anxions 


lo fium?pri, linstifc mul ddianl. he opposcs nol Qrtly 
Ins femily, but soridy En general and, Jacking the 
n tvl 1 retjnired for a frontal atlack* tniins Isis inirul 
io devise nmning detours, withoul regard lo moral 
or legal Obligation«- Human b rings are for liim trnly 
fools to be usurd in fhe carrying oul of his strata- 
gems. tt TUc mosl bcautiful woifinn", „Uie niosl 
bwutifnl house^ are Ihe prizes he covds, bnl tbc 
womnn as liis „chatte!“ is for him soldy a means 
lo an nid, L e. lo «ecure Uie house* Tliis offene« 
agamst her limnan digitfty turns her mto a „tlevil 
of & woiiinu“ ( Weibs teuf el) who nitimddy proves 
lafal to (lim. 


Neurotischer Mystizismus 

Von LUDWIG BÜCHNER (Wien) 

Die Wissenschaft, die, in ihrer Unabhängigkeit von Wunsch und Willen des 
einzelnen ein Regulativ, den Wert, die Wirksamkeit und größte Machtfülle aus 
dieser Unabhängigkeit gewinnt, ist doch aus tausendfältiger Linzeiarbeit erwachsen 
und löst aus der tiefen Verstrickung des Persönlichen ihre objektiven Ergebnisse. 

Maß, Zahl und Methode bestimmen die neue Erkenntnis, die messend und 
gemessen sieb einreiht und unter dauernder Kontrolle und selbst kontrollierend ihren 
Platz hält oder wechselt. 

Aber Forschen und Erkennen ist Menschenarbeit, eingefügt in sein Streben 
und Erleben dient es dem einzelnen, der in ihm der Gemeinschaft seine Dienste 
leistet. Daher erfüllt die Beschäftigung mit der Wissenschaft im Leben des wissen- 
schaftlichen Arbeiters einen Zweck, der nichts mit deii wissenschaftlich wertvollen 
Endergebnissen zu tun hat. In der Gesamtbewegung des Psychischen ist sie ein 
Mittel wie jedes andere, welches den Anforderungen der Leitlinie entsprechend ver- 
wendet wird und Richtung halten muß. 

Daher ereignet es sich oft, daß an die Stelle wissenschaftlicher Bestrebungen 
mit einem Mal andere treten, die ihrem Wesen nach entgegengesetzt erscheinen, 
wenn sie nur einem ehrgeizigen Ziel besser zu dienen vermögen. Der Wissenschafter, 
der religiös wird, der extreme Materialist, der dem Okkultismus verfällt, sind Er- 
scheinungen der Zeit. Man versteht sie schärfer aus den Bedingungen der Zeit und 
aus der Psychologie ihrer Bekenner als aus dem Wesen von Wissenschaft, Religion, 
Okkultismus. Aus dem Gesamtspiel eines Lebens ist die Rolle zu erkennen, die diese 
darin tragieren. Die feinste Form der Sicherung kann Wissenschaft bedeuten, so 
gut wie die feinste Courage, so gut wie den feigsten Willen, sieb der Verantwortung 
zu entziehen. Auf ihrem Wege kann die schönste Gemeinschaft blühen und die 
Flucht aus der Gemeinschaft kann sich wie leicht unter der Fahne wissenschaftlicher 
Arbeit vollziehen. 

Aber gerade jene Wissenschaft, die in überheblicher Zurückgezogenheit ihre 
Bedingungen findet, gerät leicht an die Grenze des Übersinnlichen, in ihrer ge- 


hl 


LUDWIG BÜCHNER: 


wollten Vereinsamung die Berufung zu bevorzugten Einblicken und Verkehr mit 
höliern Mächten vermutend. Und unter Umständen unbeschadet des guten Glaubens 
des Forschers entsteht jene Mischung von betonter Wissenschaftlichkeit, Charla- 
r e \w- unt Y ns r inn ’ L * e man J etzt so häufig findet. Vielleicht deshalb so häufig, weil 
tue Wissenschaft, durch die erhöhte Bedeutung der täglichen Lebensfragen und 
uuica die anscheinende Unsicherheit jeglicher Voraussage in eine schwierige 
Stellung gedrängt, nur zu leicht der Anklage von Lebensfremdheit und Verschro- 
benheit ausgesetzt ist. 

Und so spiegelt sich in der sozialen Stellung jener Wissenschalter das Bild der 
f. , Ab *ege geratenen Forschung. Denn wie sie flirngespinnste mit wissenschaft- 
lchcn Methoden auszufiihren geneigt sind, so eilt ihr Hochmut von der Höhe des 
Alisa wählten und Geistersehers zur Lösung praktisch-materialistischer Fragen, 
und in dieser Psychologie trifft sich der erfahrene Schwindler mit dem törichten 
abergläubischen Bekenner. 

i „ £ er ade dieser letzte ist es, der durch die Verbindung von schlichter Treu- 
iicizigkeit und Fanatismus seinen Mitmenschen Rätsel aufgibt Und das sonderbar 
verzogene Antlitz seiner Wissenschaft wird erst erhellt durch gewisse Vorkomm- 
nisse im Menschlichen, die keinen Zweifel mehr über die Halbheit seiner Bestre- 
bungen aufkemmen lassen. 

Ein junger Naturforscher, der sich den Lehren des Okkultismus von seinem 
aUKlium zum Schein entreißen ließ, behält aus jener vorwissenschaftlichen Epoche 

fl ft WahfTPirllrtri rinn - i. « « . - i - ■ - . cv 1 



sem Liier, gegen schwindlerische Rutengänger aufzutreten, stellen ihm das beste 
i , C il^ n c S - a V s> Abei * s ' e . machen es nicht wett, das die Wünschelrute, dieses märchen- 
natte Spielzeug kindlicher Wünsche, das in geheimnisvoller Auswahl nicht jeder 
Uand gehorcht, den Glauben an die besondere, nicht kontrollierbare Veranlagung 
ihres Verkünders und an seine Wahrhaftigkeit und Selbstkontrolle fordert. 

Diese Forderung kann den Naturwissenschafter nicht gewinnen und weist dem 
nclividualpsychologen die wohlbekannten Züge persönlicher Überhebung und Wun- 
derglaubens auf Kosten von Sachlichkeit. 

• , Wenn wir aber von diesem Manne wissen, daß er von Jugend auf sich ängstlich 
un i iei ? , bendigkeit fernhielt und sein Laboratorium für diese Enthaltsamkeit 
vno ^ntschnldtgend, bald selbstbewußt verantwortlich machte, wie es der tiefen, 
von mustrauen genährten Resignation eines mutterlosen einzigen Kindes entspricht, 
i nh» e , 1 ^ n ij Wir , s Problem noch von einer anderen Seite. Denn wie in der ganzen 
troerii "«* ll 7® Cl , es ^ s Menschen e twas Leidendes liegt, wie er, in seinem Kreis zwar 
W,w , i i d °u 1 als ei P Werkzeug sich zu regen scheint, so fesselt ihn an das 
r * tenproblem auch das Ausgeliefertsein an unbekannte Mächte, die ihn zu 
, e P 1 1I , nd Werkzeug machen. Die Verantwortungslosigkeit, die er hier zum 
In i S? IC ? Problem erheben will, scheint er auch in der ganzen Art, wie er 
in- cJi, 7, ' y n bemüht war, sich fest an ein System zu binden und in der Art, wie 
li si ui an Menschen anschließt, zu erstreben, 

vnrtyln mei ^ n f WC1 ^ i auc £ } er sonst als Physiologe nicht so sehr dem Lebens- 
3 n ■ e F , V- r ,s * a . s c en Reaktionen der Lebewesen auf Naturkräfte, 
1 . zum Beispiel die in einer einseitigen Wirkung, Bewegung zum Beispiel, 
'i’ ®( a Phisch darstellbar sind: so daß auch hier das Lebendige zum registrie- 
renden Werkzeug äußerer Mächte gemacht wird. 

i . wunderlichei Weise sucht er dann eine Anforderung des Lebens seinem bis- 
hengen Erlebniskreis zu nähern. 


o., ^ ve jbebt sich in ein Mädchen und hat wenig Erfolg mit seinen Bemühungen, 
benon deshalb, weil sich hier che Ausschaltung der Verantwortlichkeit in erhöhtem 
Mabe zeigt: er versucht, die Last seiner Hilflosigkeit im Leben diesem Mädchen 
au zu laden, das er ein für allemal mit seiner Liebe und Bewunderung ausgezeichnet 
"f Y! lcl e F läßt sich scheinbar von ihrem Wesen so erfüllen, daß er jede Tatkraft 
autgibt und sich in den einfachsten Situationen auf sie verläßt. So vermag er in ihrer 
Gesellschaft nicht mehr die Straße zu überschreiten, ohne in die größte Gefahr 
überfahren zu werden, zu geraten und ist aucli nicht imstande, Weg und Richtung 


32 


N eu ro t iac he r My s l i z is m u s 


im Gedächtnis zu behalten. Sie soll die Verantwortung übernehmen, da sein Orien- 
tierungssinn sich auf sie konzentriert hat. 

Die Macht, der er hier verfallen ist, muß Wunder tun. Jedes zufällige Zusam- 
mentreffen wird in diesem Sinne gedeutet. Er selbst ist geneigt, dieses Verhältnis 
mit den geheimen Kräften, die zwischen Wünschelrute und verborgner Quelle, 
verborgnem Schatz walten, zu vergleichen und herrschend und beherrscht die wun- 
dersame Wirkung anzuklagen. 

Jedoch als Physiologe gewohnt, die Kräfte, die den lebendigen Organismus 
zum Stromfeld wählen, durch Übertragung auf Federn und Zeiger verstandes- 
gerecht zu machen, ihre Wirkung durch eine verläßliche Maschinerie zur sinnlichen 
Wahrnehmbarkeit zu bringen, zu messen und zu kontrollieren, sucht er auch diese 
zweifellos vorhandene Wirkung in einen passenden Mechanismus einzufangen, und 
findet ihn alsbald in seiner Uhr. 

Die Uhr, als Armbanduhr fest mit dem Mann verbunden, der, ein Arbeits- 
mensch, sein Leben nach der Uhr einteilt, oft Lebensvorgänge mit dem Sekunden- 
zeiger mißt, diese Uhr, fast ein Teil seines Selbst, erhält die Aufgabe, den wunder- 
baren und gefährlichen Zusammenhang zu demonstrieren, in dem jener zu seiner 
Liebsten steht. Die Uhr erhielt die gewiß nicht leichte Aufgabe, gleichen Schritt mit 
der Uhr des Mädchens zu halten. Sie mußte es verstehen, stehen zu bleiben, wenn 
die Uhr des Mädchens nicht aufgezogen war, Ja, bei einer Auseinandersetzung, die 
die Erfolglosigkeit der Wirkung dartat, zerbrach die Uhrfeder und zeigte jedem in 
nicht mißzuverstehender Symbolik das arme gebrochene Herz an. 

Der kleine Betrüger an sich und den andern hielt ruhig an dem selbstgeschaf- 
fenen Sympton fest und es belastete sein Gewissen keineswegs, rechtzeitig die 
nötigen 1 landgriffe an der Uhr vorzunelimeu. Das erinnert wieder an die unbe- 
wußten Muskelbewegungen des Rutengängers, der die Wünschelrute zum Ausschlag 
bringt. 

Es soll noch erwähnt werden, daß der Betreffende längst ein eifriger Bekämpfer 
von Okkultismus, Spiritismus, Telepathie geworden war Diese kleine Geschichte 
produzierte er unbewußt nebenher. Es ist eben auch nicht jeder geignet, ein eifriger 
Bekämpfer von Okkultismus, Spiritismus, Telepathie zu sein. 

StfMMARY: Seimilific worlcs in single hi c in- mutual penetrafion between science and mysiieisme. — 

accordinif to tlie individual aini, — Possibility to cllangu Tlie divining rod. — Similar bclinviour in questiona of 

ils in ollicr actions. — One 0 [ u lc substitutes is die Ute. — Walch maile io a bnrometer of love. 


Es handelt sich um einen Knaben, der als großes Sorgenkind galt, als schwach- 
sinnig angesehen wurde und von Haus und Schule schon weitestgehend „auf- 
gegeben“ war. Es ist kein besonderes, aber ein typisches Beispiel, und als solches 
geeignet, um au ihm einige der grundlegendsten individualpsychologischen Befunde 
und Erkenntnisse, auf ihren einfachsten Ausdruck gebracht, bestätigt zu finden 
und um zu zeigen, daß die individualpsychologische Behandlung und Erziehungs- 
arbeit auch in solch „hoffnungslosen Fällen“ schon in kürzester Zeit doch eine 
wesentliche Hebung der Schwierigkeiten und Besserung erzielen kann. 

J. R., 14 Jahre alt, einziges Kind, 8-Moiiatsgeburt, konnte nur mit aller 
Aufopferung aufgezogen werden, asymmetrische Kopfform, klein, schuppige Haut, 
zarter 1 labitus. 

Seit dem dritten Jahre zeigten sich Anfälle von Atemnot mit Schleimabgabe 
in Zwischenräumen von 14 Tagen bis 4 Wochen. Au Kinderkrankheiten hatte er 
im siebenten Jahre Masern, das Jahr darauf Schafblattern. Die zurzeit vorge- 

*) Mitteilungen aus der Erziehimgsberatungsstelle der Lehrergenieinschaft im 
20. Bezirk, Wien. 


nervöse 

Von j. VERPLOEGH CHASSE (Berlin) 



M 



3 


33 



j. V. CHASSE: 


noimnene ärztliche Untersuchung betreffend den Lungenbefund ergab zwei linsen- 
große Verkalkungsherde auf der linken Lunge, und verstärkte Pulsation der Aorta; 
ferner große Halsdrüsen. Die Anfälle sind seit zwei Jahren seltener, die letzte Zeit 
sehr seiten, und dürften nunmehr wohl ganz überwunden sein. 

Abwechselnd hat er allerlei kleine Beschwerden, Appetitlosigkeit, Kopf- 
schmerzen, größere Schmerzen in den Knieen. Er hält sich für schwächlich, An- 
strengungen nicht gewachsen, sucht folglich allen diesbezüglichen Anforderungen 
in übertriebener Ängstlichkeit und Sorge auszuweichen, 

Bis 6 Jahre war er Bettnässer, beim Essen machte er große Schwierigkeiten, 
hatte vor gewissen Speisen einen Abscheu, zum Beispiel vor Milch, stellte daher 
große Anforderungen an die Zeit und Geduld der Mutter. Wir sehen bei ihm große 
Ängstlichkeit, Schüchternheit, Unselbständigkeit, bis zum fünften Jahre wollte er 
nicht allein über Stiegen gehen und bis /.uizeit auch nicht allein im dunklen Zimmer 
bleiben. 

Sein Schlaf ist unruhig, er deckt sich oft ab, schreckt auf, der Ausdruck eines 
Gefühles der ! lilllosigkeit und Einsamkeit, was aber nicht nur zur Folge, sondern 
auch zur Absicht hatte, daß sich die Mutter auch des Nachts mit ihm abgeben 
mußte. 

Wenn wir die drei Gebiete betrachten, Mathematik, sprachlicher Ausdruck, 
Beherrschung des Körpers { f innen), auf denen sich allgemeine Unsicherheiten des 
Kindes dem Leben gegenüber oft zu zeigen pflegen, so ist zu sagen, daß er ein 
sehr schlechter Rechner ist, nach den Worten des Lehrers „sich der Logik im 
Rechnen verschließt“. Die diesbezügliche Prüfung ergab ein „sehr schwach“, doch 
könnte ich dennoch die obige Auffassung in ihrer vollen Tragweite nicht teilen. 
Der Junge reagiert eben nicht hernmungs- und vorurteilslos. Schon wie er das 
Heft hervorzieht, bekommt er einen gespannten, ängstlichen Ausdruck, roten Kopf, 
und ob er nun ganz leicht oder schwer gefragt wird; er antwortet falsch, ohne 
Überlegung, überhastet, und gibt so recht das Bild eines Menschen, von cletu man 
sagt, er bat den Kopf verloren; oder er starrt wie gebannt ins Leere und man 
erlebt, welcher Gedanke ihn nicht losläßt: ich kann nicht, ich kann nicht! Eine 
oberflächliche Aufklärung, Beruhigung und Ermutigung erwirkte schon bald, daß 
ci einfache Aufgaben ohne Fehler lösen konnte, und ich bin überzeugt, daß bei 
genügender Liebe, Geduld und dem erforderlichen Mutmachen! eine Durchschnitts- 
leistung erzielt werden könnte. Die Frage, ob er das Rechnen an sich gern oder 
ungcin habe, beantwortet er: „Wenn ich es könnte, hätte ich es wohl gern, aber 
es ist eben immer alles falsch, was ich mache, ich kann die anderen doch nicht 
mehr cmliolcn und will mich nicht immer wieder blamieren/ 4 Das weitere Gespräch 
ergab daß es nicht mir bei der Entmutigung im Rechnen geblieben war, sondern 
tao alle anderen Fächer auch davon in Mitleidenschaft gezogen worden sind. 

, !' liat slcil äußerlich damit abgefunden, ein schlechter, schwacher Schüler zu sein, 
ci betone das „äußerlich“, denn aus einem Iraum werden wir später sehen, von 
weich tiefgreifender Einwirkung diese Niederlagen für ihn waren. 

Körperlich ist er sehr unsicher, ungeschickt, steif, unfrei, eingezwängt, macht 
alle 1 lei Bewegungen mit den Schultern, die Stirn ist meistens zusammengezogen, 
der blick starr, und macht bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck, als ob 
mm etwas Feindseliges anhafte, was aber nur ein Ausdruck von größter Hilflosig- 
keit und Ängstlichkeit ist. 

Der sprachliche Ausdruck ist gut, aber auch da fühlt man ein zu intensives 
Gespanntsein, zu heftige Anstrengung. Packt ihn etwas, so spricht er gewisser- 
maßen mit dem ganzen Körper, erregt, überstürzt, gierig. Die große Phantasie, 
von der die Mutter berichtet, habe ich nicht bestätigt gefunden. Zieht man in 
Betracht, daß er manches liest, so sind die Phantasieinhalte und seine Darstellungen 
einfache, eindeutige, keineswegs phantastische zu nennen. Es liegt diesbezüglich 
eine Überwertung der Mutter vor, die einerseits sich ehrlich um das Sorgenkind 
plagt und sich über seine Eigenheiten ängstigt, anderseits sich aber über ihr 
Musterkind freut und in einem gewissen Stolze alles tut, um den Sonderling groß 
zu züchten. Da sie nicht klar erkannt hatte, daß cs ihm mit diesen Sonderlings- 
eigenschaften vor allem darum zu tun war, bei ihr zur Geltung, Anerkennung, 
Ansehen und damit Macht zu kommen, wurde sie ihm auf diesem Irrwege Gefährte 


i)4 


Das nervöse Kind 


und Spielkamerad*). Ein Erlebnis zum Beispiel, das die Mutter immer wieder als 
so absonderlich, abnormal und staunenswert erwähnte, und das auch leicht auf 
andere eine entsprechende Wirkung ausübt, ist folgendes: 

Als er drei Jahre alt war, kamen sie auf einem Spaziergang an einem Felskegel 
vorbei. 

Er: „Mutter, wer wohnt darin?“ 

Mutter: „Niemand“ 

Er: „Wer ist niemand?“ 

Mutter: „Niemand kannst du nicht sehen, niemand ist nichts.“ 

Zu Hause spielte er daun mit Niemand, wie wenn Niemand Jemand wäre, und 
der Niemand blieb sein Spielkamerad bis zu 6 Jahren. Bedenkt man, daß er ein 

einziges Kind war, in fast gänzlicher Isoliertheit aufwuchs, daß er sehr gern mit 

Puppen spielte, aber oft das Verlangen und die Sehnsucht äußerte nach einer 
Puppe, „was schreit, was lacht“, daß er, wenn er draußen kleinen Kindern be- 
gegnete, diese mitnehmen wollte, und sich oft beklagte, daß er so ganz allein sei, 

keinen Bruder, kein Schwester, n i e m a » d habe, und daß er mit 0 Jahren, offenbar 

als er in die Schule und damit auch ein wenig unter die Kinder kam, den Niemand- 
Jemancl vergaß, so ist das Zustandekommen eines solchen Inhaltes für uns nichts 
so Sonderliches und Unerklärliches. 

Ans seiner Kindheit zu erwähnen wäre noch, daß er einmal ein Unglück mit 
Bienen hatte. I r geriet in einen Schwann wildgewordener Bienen, wurde von einer 
am Hals gestochen, eine kroch ihm halb ins Ohr, ohne ihn jedoch gestochen zu 
haben. Fs ist ihm davon eine große Angst geblieben, die er nun bei allerlei 
möglichen und unmöglichen Gelegenheiten verwertet und sich nutzbar macht. So 
zum Beispiel: Als die Mutter einmal im Spital und er bei seiner Tante in Pflege 
war, schickte ihn dieselbe, eine Besorgung zu machen. I r war dies von seiner 
Mutter her nicht gewohnt, kam denn auch unverrichteter Dinge zurück, „weil vor 
dem Laden eine Biene gewesen sei“. F.r war damals 12 Jahre alt. 

Beziighch des Charakters: Er ist sehr still, ernst, ordentlich, sauber, ehrlich, 
waln hei tshebend, der Mutter gegenüber offen, sonst eher verschlossen, fügt sich 
leiclit, abgeselm allerdings von einzelnen Erscheinungen, wie Schwierigkeiten beim 
Essen, Besonderheiten in der Kleidung, Angst vor Leistungen, die er dann meist 
verweigert, wo sich der männliche Protest als Trotz, Eigensinn, üegenzwang 
auch sichtbar durchsetzt. Sonst ist sein Verhalten sehr passiv. Er ist verträglich, 
hat aber sehr geringen Anschluß, insbesondere an Gleichaltrige; so ist er auch 
ohne Freunde. Mit Erwachsenen und wieder viel Jüngeren geht es leichter, was 
in beiden Fällen auf das Großsei »wollen herauskommt. Er ist sehr besorgt 
um sein Außeres, immer gut frisiert und fällt nicht durch eine protzige, aber ich 
möchte sagen bescheidene Eitelkeit auf. Er ist ein Frühaufsteher, hat immer Angst 
zu spät zu kommen, seine Pflichten zu versäumen, strengt sich anderseits aber 
gar nicht sonderlich an, zweckmäßig zu arbeiten, um in der Schule Gutes zu 
leisten oder vorhandene Lücken aus’zufüllen. Er ist denn auch ein schwacher 
Schüler und zwei Jahre zurück; ein Jahr war er zu spät eingetreten ttnd einmal 
war er sitzen geblieben. Bei einem meiner Besuche in seiner Schule während des 
Unterrichtes zeigte er ein scheues, schüchternes, gehemmtes Wesen -- es war 
gerade Zeichenstunde — die anderen sangen und schwatzten, er war still und 
nervös besorgt um seine Zeichnung, Glaubte er sich beobachtet, schielte er auf und 
senkte gleich wieder den Blick. 

Die Leistungen in der Schule stehen sicherlich in keinem richtigen Verhältnis 
zu seiner Intelligenz. Ich habe wenig Erfahrung in Intelligenzprüfungen, aber in 
den Gesprächen, die ich mit ihm hatte, zeigte er sich ganz vernünftig und reagierte 
verständig. Aufdeckungen von mir suchte er bisweilen durch ganz gute Gegen- 
griiude zu entkräften. So machte ich ihn einmal aufmerksam, daß man ein kleines 
Unwohlsein auch arrangieren könne. Ich verwies ihn auf den Umstand, daß bei 


=* ) Ich kann nicht umhin, darauf zu verweisen, daß cs auch Pädagogen und Psycho- 
therapeuten gelegen flieh passiert, daß sie, verführt durch das „interessante Material” ihrer 
Patienten, durch Zeichnungen, Phantasien usw. ihnen folgend, stall zu Unterscheidung und 
Erkenntnis zu kommen, in ein unentwirrbares Labyrinth geraten. 


J. V. CHASSE: 


angesagten Prüfungen und Klausurarbeiten das eine oder andere Kind oft regel- 
mäßig wegen Übelkeit, Kopfweh und dergleichen fehle, um so der Aufgabe, 
eventuell einer Niederlage auszuweichen; daß andere Kinder wieder ähnliche Mittel 
verwenden, gerade um irgendetwas möglichst leicht und sicher zu erreichen, um 
ihren Kopf durchzusetzen. Er sagte darauf: „Das brauchte ich aber docli nicht, 
ich bekam immer alles, was ich wollte.“ Da er merkte, daß er wohl etwas zu viel 
gesagt habe, fügte er, etwas zögernd, die Korrektur an: „Aber nur, was gut war.“ 
Augefangene, angedeutetc Oedankeninhalte denkt er logisch weiter. Gemeinsam 
gelesene Geschichten kann er richtig wiedergeben, versteht, was wesentlich darin 
ist, und lacht auch an den richtigen Stellen. Sobald man ihm aber die Situation 
auch nur etwaszu sehr erschwer t, oder er i r r t ü in 1 i c It d u i eh eine 
falsche Einschätzung oder einen F e h 1 s c li 1 u ß zu einer solchen 
Annahme einer Schwierigkeit kam, er sich also nicht mehr so ganz 
sicher f ü h 1 1 e, wurde er unruhig, verschlossen u n d „d u tu in“. So 
ist es auch leicht zu verstehen, daß bei oberflächlicher Beurteilung, die eine Er- 
scheinung nur heraushebt, nicht aber auf Ursprung und Bestimmung erfaßt, die 
falsche Schlußfolgerung, nämlich von dem „dumm“ zum Schwachsinnigsein, nahe- 
hegt. Die Sicherungen und das sinnvolle Arrangement, das in diesem „Dumm- 
werden und -sein“ liegt, dürfte durchsichtig sein. Wenn einer dumm ist, kann man 
*i ' m V011 verlangen. Kann man nichts von ihm verlangen, dann ist er nicht 
der Möglichkeit von Niederlagen ausgesetzt. Durch die Anforderung auf vermehrte 
Aufmerksamkeit, Liebe, Geduld usw. stellt man den anderen in seihe Dienste, was 
wiederum bei Entmutigten geeignet ist, das Persönlichkeitsgefühl zu erhöhen. 


Sein Ziel und Streben geht dahin, ein braver, guter Sohn, ein 
M u s t e r v on 1 u g e n d h a f t i g k e i t zu sein, was ihm denn auch weitestgehend 
gelungen ist. Aber da cs eine Tugendhaftigkeit auf Kosten so und so vieler 
anderer Werte: Selbständigkeit, Kraft Mut einerseits, so und so viele Unwerte 
anderseits nach sich zieht: Unterwürfigkeit, Schwäche, Feigheit, so gehört sie zu 
jener Art von Tugend, an der niemand so recht und ganz froh werden kann. Es ist 
auch eine I ugendbaftigkeit, der eine zu vollkommene, ideale, heroi- 
sch e Geste a n h a f t e t, die darum nicht in die Gemeinschaft, son- 
dern in die Isolierung führt. 

ah .Y“*™ Milieu wäre an dieser Stelle zu sagen, daß der Vater oft bernfsiialbcr 
ei nü e n ^ er Knabe so fast ausschließlich in Gesellschaft seiner Mutter, 

. u? s ‘™. es > einer Henne in engster Gemeinschaft in Küche und einem Zimmer 
cm. .vm eien Eltern teilt er das Wohn-Schlafziminer und sein Bett steht neben 
ih!Ü- eril n e i n t * or E ! tern - Die drei leben so ganz füreinander, es bestehen einfache, 
«mu solide, geordnete, friedliche Zustände. Die I lauptmaeht liegt bei der Mutter, 
worauf ich später zurückkommen werde. 

sche^Einzelhe 'u sc ' 10n deutlichen Bildes noch einige cliarakteristi- 


t, f | , s * c r 1 n n erungen: Umzug vom Land in die Stadt, im dritten Jahre, 
i-i stent noch unter dem Eindruck, einen Knaben, er nannte ihn „Freund“, mit 
JJ2“ er "" gleichen Hause gewohnt, später in der Stadt nicht mehr erkannt zu 
naoen. Lun Ausdruck des Sichfremdfühlens und mangelhafter Gemeinschaftsbiiidung. 
i-in Knabe mi Hause, wo er gewohnt hatte, ist die Treppe hcruntcrgefallen, hat 
v ic i wehgetan und leicht verletzt. Wir erinnern uns der großen Ängstlichkeit und 
dal) er nicht allein über Stiegen gehen wollte. 

Li eblingsspiel: Wolf und Schaf-Spiel. Der Wolf verfolgt die Schafe, 
sic müssen sich in den Stall flüchten, ohne daß sie der Wolf erwischt, Er spielt 
beide Rollen gern, die Rolle der Schafe lieber. Unschuldig verfolgt. 

Lieblingsbuch: Roseggers „Volksleben in Steiermark“ und insbesondere: 
„Die Sonderlinge“. Als solche benennt er Menschen, die mit körperlichen oder 
geistigen Mängeln auf die Welt gekommen sind und da ein eigenes Dasein führen 
müssen. Eigenes Dasein = auffallende Eigenschaften, Gewohnheiten, Sonder- 
heiten an sich haben. Bemerkenswert ist, daß er nur den negativen Inhalt der 
Sonderlinge wiedergibt. 


3G 


Das nervöse Kind 


Schönster Beruf : Dichter, Schriftsteller, die so für sich in der Einsam- 
keit leben, schön beschreiben, wie schlecht die Welt ist und wie die Menschen 
erlöst w erd en i könnten, Worte statt Taten, Phantasien statt persönlichen Einsatzes. 

Was e r w erden will : Uärtner, Kunstgärtner, Blumenzüchter im ü 1 a s- 
h a u s. Bezeichnend ist, wie die Angst vor Bienen die so sinnig ausgeklügelte 
Berufswahl noch bedroht. Er sagt nämlich: „Ja, ich wollte schon am liebsten 
Gärtner werden, aber dann habe ich nachher gedacht: aber die Bienen!“ Es 
ist dies eine typische Berufswahlphantasie bei entmutigten, ängstlichen Kindern. 
Flucht vor dem Leben, vor den Menschen in die Einsamkeit, in die Natur, 

Als Grund, daß er keine Freunde hat, sagt er, sic seien alle so schlecht; „der 
eine stiehlt, der andere sagt Unwahres, der andere macht wüste Sachen, so will 
icii schon lieber allein sein,' sonst wird man nur verleite t“. M an sieht i h n 
also auch mit seiner Tugendhaftigkeit, seine Stärke und 

Waffe, nichtander Front, sonde min wo hlgeborge u erSic he r- 

h c i t im Glashaus. 

Trä u me : Da er in der Erziehungsberatungsstelle eine etwas üble Erfahrung 
mit einer Traumdeutung gemacht liatte^ — er wurde nämlich aufmerksam gemacht, 
daß es zwar leichter ist, im Traume Großes, aber weit fruchtbarer im Leben ein 
Bescheidenes aber Sicheres zu erreichen — wollte er zunächst nicht so recht damit 
herausrücken. Der Mutter aber, die sich wie bei den Phantasien davon imponieren 
ließ, erzählte er diese Inhalte mit Eifer und Freude. So bekam ich die ersten Mit- 
teilungen von der Mutter, aber schon nach wenigen Tagen sprachen auch wir 
ganz vertraut darüber. Ich will drei Träume anfnhren, die die Beziehung zu Schule 
und Lehrer, allgemeine Einstellung dem Leben gegenüber und seine Beziehung 
zu seinen Eltern, beziehungsweise Mutter beleuchteten. 

Erster T ra um: Er hatte eine Rechnung falsch gemacht, der Lehrer befahl: „Aus- 
radieren!” Während er radiert, erhält er eine Ohrfeige. Über diese Ungerechtigkeit ist er 
sehr entrüstet, geht zum Direktor und verklagt den Lehrer. Der Direktor sagt, er könne da 
nichts machen, der Knabe müßte zu Gericht gehen. Daselbst beschuldigt er den Lehrer 
wegen seiner Ungerechtigkeit, und sagt: „Mit dem einen Schlag hat er mir 
alles Gute hei- a u s und alles Bösehineiugeschlage n !” Er blieb sehr er- 
biilert über diese Ungerechtigkeit. 

Der Lehrer, den er jetzt hat, steht ihm sehr wohlwollend gegenüber, hatte aber den 
Irrtum und Fehler begangen, ihn als viel zu krank und hoffnungslos anzusehen. So war 
das Wohlwollen, basiert auf einer entwertenden Einschätzung und U 11- 
<r| a üben, doch eine etwas problematische Sache, Wäre er von seinen früheren Lehrern 
i m Rechnen rechtzeitig ermutigt und unterstützt worden, wäre wohl seine Beziehung zur 
Schule ganz entscheidend anders ausgefallen. L)a er 1111 Grunde, trotzdem 
e r d a s Rennen aufgegebeu hat, doch sehr ehrgeizig ist (Frühaufsteher, 
Furcht vor dem Zuspät kommen usw.), ist er über seine Niederlage nie mehr heraus- 
gekommen. Schon dieser Traum mit seiner intelligenten, scharf formulierten Problem- 
stellung, würde es mir persönlich verunmöglichen, anzunehmeu, daß der 1 räumer ein 
wirklich dummes Kind ist. Und es will mir erscheinen, als ob er in sinniger Weise die 
empfangene Ohrfeige tüchtig zurückgibt. Typisch aber für die neurotische Ein- 
stellung ist, was in diesem Traume so schön seinen Ausdruck liiidel: das Hängen- 
bleiben an einer einmal gemachten s c h 1 e c h len t r t a li r u n g u n d 
die darin bedingte und dadurch ausgelöste ausschließlich 
feindselige Affektverwert u u g. Auch der wohlwollende Lehrer ist ein Feind ! 

Zweiter Traum: „Der Vater ist eingerückt und bekommt für seine Tapferkeit 
vom Kaiser viel Geld, ein Rittergut und den Adel. Das Gut ist in Amerika. Dort fahren 
sie alle hin, per Bahn, daun übers Meer, ln Amerika zunächst wieder mit der Bahn. Sie 
werden daun abgeholt von einem Diener, der fragt, ob sie die Herrschaft seien, und sie 
au weist, per Equipage aufs Gut zu fahren. Unterwegs begegnen sie einem Reiter. Zimt 
Gasthaus geleitet, steigen sie ab, lim sich gütlich, worauf der Reitei den Weg zum Gute 
augibt. nie Ellern fahren weiter, er schwingt sich aufs Roß, reitet aber tu entgegengesetzter 
Richtung, als der Reiter angegeben hatte. Er kommt auf ein Gut, das aber nicht das 
richtige ist, wohl aber einen ganz ähnlich klingenden Namen hatte. Da schimpfte er auf den 
Inspektor» und auf dessen Frage, ob er den Boten nicht getroffen, sagt er: »Ja wir haben 
ihn augetroffen, und er hat mich hierher gewiesen P Dann reitet er zurück und kommt ans 
richtige Ziel. Er macht dem Inspektor Vorstellungen und Vorwürfe, erklärt, er sei doch 


37 


J. V. CHASSE: 


der Sohn und gehöre auf das Gut. Die Eltern waren inzwischen auch angekommen, zu- 
sammen gehen sic ins Schloß, cs gibt viele Dinge und grollen Reichtum. Er geht sofort 
auf die Suche nach der Bibliothek, und über dem Lesen der Bücher wacht er auf ” Er läßt 
den Vater arbeiten, kühne Taten im Leben vollbringen, heimst aber selbst die Früchte ein, 
läßt sich beschenken. So entschädigt er sich im Traume reichlich für sein Gefühl 
der Lebensunfähigkeit und Feigheit, wähnt sich tapfer, reich, vornehm, geadelt. (Das be- 
kannte Motiv von der fürstlichen Abkunft.) Alles spielt sich in Amerika, einer anderen, 
einer besseren, einer neuen Welt ab. In dem Passus mit dem Reiter, der ihm den Weg 
richtig unrichtig weist, zeigt sich wohl ein Ausdruck des Trotzes und Protestes gegen 
mich. Er will es besser wissen, den Weg allein finden, weicht aber der Vera n t~ 
w o r t u li g noch aus, d enn beim Mißlingen belastet erde n a n dere n. Sich 
Aulspferdschwingeii, Reiten, bekannte Motive der Überlegenheit, Mehrseinwollen als die 
anderen, auf sie herabschauen. Neben dieser Entwertung zeigt sich aber auch ein Positives, 
cm Streben nach Selbständigkeit, Ablösung von den Eltern. Sie fahren, er reitet und geht 
alleni einen anderen Weg. Alles ein Traum 1 Und der Schluß des Traumes zeigt den alten, 
gleichen Verzicht aufs i landein : Er liest und träumt das Leben, statt es z u 
lebe n. 

Von diesem Traum gibt es noch eine interessante Variante. Ich will mich aber darauf 
beschranken, nur das Wesentlichste und die im Rahmen und Sinne dieser Mitteilung 
liegenden Inhalte zu beleuchten. Die Wechselbeziehung und Bedingtheit 
X ^ J 1 Minderwertigkeitsgefühlen u n d ui ä n 11 1 i c h e m P e r s ö n 1 i e h- 
c i t s 1 d e a 1 I i u d et a I s „W mische r füll u n g i m T r a u tu e” Iber einen geradezu 
vollkommenen Ausdruck. 


n dritter 1 raum: „Der Vater ist gestorben. Die Mutter heiratet einen Beamten. 

et behandelt Ihn schlecht, verstößt ihn. Die Mutter bekommt ein kleines Kind, das haben 
oeide gern, aber er fühlt sich zurückgesetzt, mm auch von der Mutter. Er geht vom [ lause 
f Dlt > gründet sich eine Existenz, verdient viel Geld. Der Beamte verläßt die Mutter, er 
Kommt zurück, unterstützt sie, und jetzt leben sie wieder zusammen wie Früher.” 

üc i r Knabe steht nunmehr vor der Lösung des Berufsproblems, vor der Notwendigkeit, 
zu arbeiten und selbständig zu werden. Er findet sich mit einer solchen Forderung mir sehr 
suuver -- und keineswegs aus freiem Wollen ab. So lauge der Vater lebt, arbeitet, ver- 
dient und für sie sorgt, liegt auch eine zwingende Notwendigkeil nicht vor, und nur einer 
solchen würde er sich unterwerfen. Erinnern wir uns der I iauptfimktion des T raumes „als 
uue$ vereinfachten Vorversuches, Warnungen und Ermunterungen auszusprechen im Sinne 
cs neurotischen Lebensplanes behuls Lösung eines bevorstehenden Problems” (Adler, 
seh^if- UlK * [>raxis der Ad dual Psychologie”), so sehen wir hier in diesem Traume 
„ r sc hon die bevorstehende Situation, die eine Stellungnahme bedingen würde, als vor- 
whH** e S C J 1 a u ^ er Vater ist gestorben. Lösuugsversu c h ; Die Mutter heiratet 
miH lltld a]les scheinbar am selten Fleck. Es zeigen sich aber doch Zweifel 

inR W h- F il %i U geu : der Beamte, sein Stiefvater, könnte ihn lieblos behandeln und ver- 
Muter lloch e ‘ n bekommen, das sie auch liebt, was aber alles im- 

euioar ist mit der Stellung, die er bisher als geliebtes, verwöhntes, einziges Kind ein- 
genommen hatte. Er setzt den Fall, er sei auch von der Mutter verletzt und zurückgesetzt, 
eine andere Lösung wird versucht: er macht sich selbständig und wähnt sich er- 
o gi eich. Aber so ganz ausschließlich aus positiven Motiven heraus geschieht die 
osLmg doch nicht. Er läßt die Mutter schuldig werden, und als Strafe für ihre Untreue 
* mm wird sie ihrerseits von dem Beamten verlassen. Er rächt sich aber auch an seinem 
h'iV ’u u 1gt < was dieser nicht vermocht hatte, er wird reich. Diese Lösung 

J? mm s ch ein ba r vollste Genugtuung, und er triumphiert. Er kommt zurück, wohnt 
itrei mit der Mutter, aber nunmehr ist er es, der sie unterstützt, und das lieißerseiinte 
, Je ; 1 ^ rre ^ht: A bh ä n g i g k e i t der Mutter von i h in. Das Ziel erreicht? Schein- 
^at Sicher ist der zweite Lösungsversuch, gemessen an dem ersten, positiv zu werten, aber 
u i aum schließt: Lind jetzt leben sie wi eder z u & a m tu e n f wie früher! Statt 
sich wirklich eine neue Existenz zu gründen, frei und selbständig zu sein, ist er wieder in 
? ein a , bestehen zurückgekehrt! Auch hier sehen wir bei kritischer Wertung die Mo- 
ive des h ii l mutig ten gewaltig an der Arbeit und finden vollauf bestätigt, daß es 
noch „ein Lösungsversuch eines bevorstehenden Problems im Sinne des neurotischen 
Lebens pl a n es” ist. 


Die Konflikte, Probleme, Lösungsversuche, kurz das Bild des einzigen, schwäch- 
licheii, ängstlichen, verwöhnten, nervösen Kindes dürfte damit charakterisiert sein, 
w ir haben zu sehen bekommen, welches das Ziel, Lebensplan, Persönlichkeitsideal 
ist, und wie deren Erfüllung gedacht und ausgestaltet wird. Zusammenhängend 
möchte ich sagen : d u r c h schwere Gefühle der M i n d e r w e r t i g- 

k e i t bedingt und ausgelöst, einerseits wurzelnd in wirklichen körperlichen 


Das nervöse Knid 


Schwächen und Mängeln, Krankheiten, Organminderwertigkciten und unzweck- 
mäßiger Erziehung, anderseits dem Kinde, insbesondere von der Mutter, dann 
aber auch von unvorsichtigen Ärzten und Lehrern, zwar in Unkenntnis, doch in 
unzulässiger Weise suggeriert, vollständig hoffnungslos gemacht und entmutigt, 
hat er das Rennen auf der ganzen Linie der körperlichen und geistigen Entwick- 
lung, ausgenommen der Tugendhaftigkeit, aufgegeben. Man sieht nun das Kind 
in der größten Anspannung und Bemühung, wenigstens dieses eine, aber etwas 
allzu hohe und in seiner Einseitigkeit auch unfruchtbare Ziel zu behaupten und 
allen Erschwerungen und möglichen Versuchungen durch ein Djstanznehmen zur 
rat zu entgehen, auch vor jeder Niederlage sich zu sichern. Wir sehen Ängst- 
lichkeit, Schüchternheit, Feigheit, Bettnässen, Fß- und Schlafstörungen, Nervosität 
als zwar wirksame, aber im Sinne eines Schicksals mißglückte Aggressionen gegen 
die Übermacht und Überlegenheit, insbesondere der Mutter, Unselbständigkeit, An- 
lehnungsbedürfnis, Gehorsam, Unterwerfung, Unentschlossenheit, Zweifel als 
Sicherungstendenzen; der männliche Protest in seinem aktiven Ausdruck als sicht- 
barer Trotz, Eigensinn, Auflehnung wagt erst seit kurzem und noch schüchtern 
durchzubrechen. Wir sehen, daß ihm noch ein weiteres Ziel; Unterwerfung, In- 
Dienststellung der überängstlichen, tiberbesorgten Mutter unter Ausnützung der 
vorhandenen Schwächen und arrangierten Symptome in dem Zeichen, ein 
b raver S oh n aber auch ei n So n d e r 1 i n g zu sein, glänzend zu verwirk- 
lichen gelungen ist. Innerhalb der kleinen Gemeinschaft zu drei, seiner Welt, 
hat er sich dann doch die Geltung und das Ansehen zu verschaffen verstanden, 
die ihm in der Welt, zum Beispiel in der Schule, vorenthalten geblieben sind. 
Wir sehen einen zum g i ö ß t e n Teil mißglückten Kompensations- 
v e rsuc h, der statt auf kulturell fruchtbarem Wege zu geistiger und kör- 
perlichen Entwicklung und in die G c m e i n s c li a f t, in Irrt n ni 
und Schein, zum nervösen Charakter und in die Isolierung 
g e f ii li i- 1 h a t . 

Zum vollen Verständnis des Falles möchte ich liier noch ein Weniges von dem 
Milieu und seinen Eltern nachholen; Auch Vater und Mutter leben ziemlich isoliert, 
und wie die Mutter sich einmal äußerte, haben sie eigentlich alle drei etwas vom 
Sonderling an sich. Der Vater soll infolge gänzlichen I laarausfaltes an Kopf und 
Körper an einem schweren Minderwertigkeitsgefühl gelitten haben; er lebt ganz 
für seine Familie, ist ein äußerst solider, friedlicher, ernster Charakter. Auffallend 
ist, daß er, obschon ein tüchtiger Arbeiter in seinem Fach, es nie lange an einer 
Stelle aushält; am liebsten würde er von Ort zu Ort wandern. Mit 14 Jahren war 
er auf die Wanderschaft gegangen und tiatte sich seinen Weg von da ab selbst 
bahnen müssen. Die Mutter hat etwas von einer Mär tyrerr olle an sich, fühlt sich 
besser, feiner als die anderen, Sie war immer Vorzugsschülerin, hatte auch kurz 
vor ihrer Verheiratung das 1 lebammendiplom mit Auszeichnung erhalten. Sie war 
mit dem Bruder ihres Mannes verlobt. Nach seinem l ode heiratete sie den Bruder 
ihres Bräutigams, weil er ihr so leid tat und weil sich auch seine Mutter um ihn 
sorgte. Als ich ihn kennen lernen sollte, machte sie wegen seiner Entstellung viel 
Wesens. Ich sagte ihr nachher, daß er gar keinen störenden, aber äußerst sym- 
pathischen Eindruck auf mich gemacht habe, und sic meinte: „Ja. er ist auch mir 
sehr sympathisch. Er lebt so ganz für mich“, — und auch sie mit zögerndem Zu- 
satz: „und für den Kleinen“.' Man fühlte durch alles hindurch die selbstredende 
Annahme, er sei ihr zu ewigem Dank und größter Aufopferung verpflichtet, was 
ihr erleichterte Möglichkeiten bot, sich der eigenen Verantwortung zu entziehen. 
Einmal, indem sic ausschließlich die Organminderwertigkeit des Vaters sowie 
Tuberkulosefälle in seiner Familie für die gestörte Entwicklung des Sohnes be- 
lastete, dann auch weil sie aus Mitleid geheiratet, folglich sich geopfert hat. Daß 
ein solches Kind für eine so ehrgeizige Mutter ein verstärkter Konflikt bedeutet, 
liegt auf der Hand. Und auch für sie waren Ausweg und Lösung: wenn auch 
ein Sorgenkind, dann doch ein Muslerkind! Sie ist ein typisches Bei- 
spiel für die Frau, die mit der Lösung der wichtigsten Lebensfragen nicht fertig 
geworden ist, die ewig ihre unerfüllten Jugendphantasien betrauert, einerseits das 
Kind zum Ersatz ihres gestörten Lebensinhaltes auserwählt, überängstlich, über- 
besorgt ist, anderseits aber von ihm ewige Dankbarkeit und stetige Vergeltung 


39 


* 


J. V. CHASSfi: 


erwartet und verlangt. Eine kleine Begebenheit wird letzteres charakterisieren: 
Einmal war ich mit dem Jungen und einigen Schulkameraden im Walde. Wir waren 
sehr vergnügt und gingen ganz im Spiel auf. Die Mutter, statt sich mit uns und 
über ihr Kind zu freuen, saß abseits, trauernd mit deutlichem Widerstand. Plötz- 
lich rief sie laut: „Habt Ihr den Kuckuck gehört? Dreimal hat er gerufen. Noch 
drei Jahre kann ich leben.“ Eine Deutung erübrigt sich, 

Ziel und Aufgabe der Behandlung und Erziehungs- 
arbeit waren gegeben. Es galt ihn aufzukläien, ihm eine Brücke 
i n s L e b e n zu schlage n, ihn aus seiner Isoliertheit der Ge- 
rn einsebaft zu rückzugeben; ihn dem Leben und seinen Forderungen, 
Wirklichkeiten, Möglichkeiten auszusöhnen, seine Minderwertigkeitsgefühle zu be- 
heben, subjektive falsche Einschätzungen und Wertungen zu berichtigen, objektiv 
bestehende Milästände nach Möglichkeit zu beseitigen, seine körperliche und geistige 
Entwicklung zu fördern, es galt vor allein auch, ihm Mut zu machen. 

Das Wesentliche, was wir in kameradschaftlichen Gesprächen auf gemein- 
samen Spaziergängen, beim Spielen mit Kameraden, Nachhilfearbeit im Rechnen 
erreicht hatten, ist: in der Beziehung zu mir wurde er ganz frei und ungehemmt, 
verlor auch seinen starren Blick, und wir kamen ganz ohne das „Dummsein und 
-werden“ aus. Mit einem Schulkameraden hatte er gute Freundschaft geschlossen, 
kam fast täglich mit ihm zusammen. Auf Spaziergängen und beim Spiel war er 
gut eingeordnet und spielte sehr gerne mit. Er wurde selbständiger! So 
kam er den weiten Weg zu mir allein zu Fuß oder per Tram, aß besser, schloß 
auch seinen Körper nicht mehr so von Luft, Licht, Sonne, Wasser ab. Bekam ganz 
allgemein gesündere Auffassungen, wurde zuversichtlicher und traute sich mehr 
zu. Zu Hause ging es sehr viel besser, und auch in der Schule wagte sich die neue 
Kraft, wenn auch noch schüchtern und zaghaft, durch, Ein kleines Zeichen, das 
aber laut für sich spricht und mir von seinem Lehrer als wertvoll und be- 
deutsam mitgeteilt wurde: Er hatte sogar geschwätzt! 

Wegen meiner Abreise konnte ich nur ein kleines Stück des -Weges mit ihm 
gehen, und ich habe die Befürchtung, daß er noch nicht weit genug war, um un- 
gefährdet allein weiter zu kommen. So genügt es denn auch meistens nicht, 
einen Menschen der Gemeinschaft zuzuführen, es ist nötig, ihn da auch 
Wurzel schlagen zu lassen. 

fragt man sich, was aus so einem Kinde geworden wäre, wenn es statt in 
geordneten, soliden, friedlichen Verhältnissen, hauptsächlich auf der Straße, bei 
I larte und Schläge aufgcwachsen wäre, so gibt es wohl nur die Antwort: ein ver- 
wahrlostes Kind. Sieht man so, wie bei Änderung äußerer Faktoren und deren 
vvertimgen Entwicklungen möglich werden, an deren einem Ende das „Muster- 
kmd , an deren anderem Ende das „verwahrloste Kind“ steht; erinnert man sicli 
jener nicht seltenen Fälle, wo ein entmutigtes, trotziges oder ängstliches Kind, so- 
bald es ermutigt wird, sich aus einem schlechten in einen guten, ja oft „be- 
gabten“ Schüler verwandelt, so wird man ermessen können, "wieviel Unheil ge- 
stiftet wird durch Auffassungen, die, ausgehend von der Vererbbarkeit psychischer 
Eigenschaften, zur Annahme von f es t gelegten, angeborenen Cha- 
rakterantagen und Entwickln ngsmöglichk ei t e n kommen. Auch 
m unserem Falle waren Vorurteile und Verallgemeinerungen und in deren Folge 
Fehlschüsse und Taktlosigkeiten von gröbster, zerstörender Wirkung. 


SUMMARY? We see liere Ihe Problems, conHicts, 
plan of Iife, tlic „ideal cif person nliiy“ and aiim of n 
sicldy, timld, spoilcd, onl y child, who is conipleldy 
diacouragcd b y stronff fcetmgs of inferiorily. Delicafe, 
ilifficult and peculiar, but a modd of ßood behaviour, 
liu lias succcedcd ihrough making clever uso ol his 
really existrttg orgaiifC weaknesses, and .lila falsa ten- 
dentioua subjeciive valmtions, in gaining r Position 


o[ appredation and super iorily in bis hmtly circle, — > 
liis Httle World, — whidt is denied liirn in Ille grcaier 
vvoHd* — i* e, sdiool and comradesbip» 

We see herc an allumpt al compensatio n, for llic 
greater pari imaucccssM, which, instand of Icading 
alon^ cnltural lines, \o a pliysicnl and mental Uevelop- 
nient, and to a good relalion {o the collacÜvc wholc, — 
led to Pie norvoua cbaraeler and to isolalion. 


40 


REFERATE 


AN DR Ü TRI DON*) (New York): PSYCHO- 
ANALYSIS und PSYCHOANALYSIS AND 
BEHAVIOUR* 

Andre Tridon wirkte in New York als be- 
handelnder Psychologe (nicht Arzt)* Wir 
haben also hier ein Beispiel dafür, daß der 
von Paulsen in seiner Ethik ausgesprochene 
Gedanke, der Priester als Seelsorger könne 
durch einen moderneren Seelsorger ersetzt 
werden, manchmal schon in der Gegenwart 
seine Verwirklichung finde* In der Regel aller- 
dings spielt in Amerika wie in Europa der 
Nervenarzt oder Psychiater zugleich die Rolle 
des Beraters in Fragen der Lebensführung 
und der Moral; je mehr wir, besonders die 
individualpsychologische Schule, die Gleich- 
berechtigung der Seele, das heißt des Willens, 
neben dem Körper und den einzelnen Bewußt- 
seinsinhalten erkennen, um so mehr wird 
auch der Arzt selbst zum Psychologen und 
„Seelsorger“ im zweiten Berufe. 

Tridon, der auch durch Vorträge au den 
zahllosen Colleges und in Städten Amerikas 
für die „neue Seelenkunde“ wirkte, war zuerst 
ein Schüler Freuds, der aber schon 1919 heim 
Erscheinen des ersten der beiden genannten 
Bücher in seiner sehr ausführlichen Biblio- 
graphie Alfred Adler vierzehn Nummern wid- 
met. Das zweite Buch steht mehr auf dem 
Standpunkt Adlers und des diesem offen- 
bar nahestehenden Washingtoner Psychiaters 
Kempf, als auf dem Freuds. Er legt, wie Adler 
und Kempf, das 1 lauptgewicht auf die 1 lei- 
Uuig des Kranken, seine Erziehung zu Lcbeus- 
tüchtigkeit, „GUlckwürdigkeit und Glückes- 
fähigkeit“, um mit Kant zu sprechen. Für alle 
drei ist im Gegensatz zu Freud der „Primat 
der praktischen Vernunft“ charakteristisch, 
der an „den guten Willen als das einzige, das 
ohne Einschränkung gut genannt werden 
kann“, glaubt und mit Goethe-Faust die tief- 
sinnigste Bibelstdle mit „Im Anfang war die 
Tat“ übersetzt. Freud dagegen und noch mehr 
seine Schiller sind von einer ganz unmoder- 
nen, selbst dem spateren Mittelalter schon 
fremden Tendenz zum Intellektualismus und 
zur Vorliebe für rein theoretische Betrachtun- 
gen angekränkelt. Die einseitige, zu Heiluugs- 
zweejeeu oft ganz ungeeignete Bemchsiebti- 
gung des Sexualmomenies, neuerdings mit be- 
fremdender Plötzlichkeit durch den „Todes- 
trieb“ ersetzt, gehört in dieselbe Linie mit der 
übertriebenen Neigung zu mythologischen, 

1 i lera tu rgesch ichtl icfieu und biograph i sehen 
Studien, die zum Beispiel au Leonardo alles 
erklären außer seiner Größe* Mehr in der 
Schule als beim Meister selbst, aber doch 
durch dessen Schuld, herrscht jener Geist des 
„la science pour la Science“*, der dem „Fart 

+) Ben Alanen des zu früh verstorbenem edlen 
Freundes trauert der „Internationale Verein lilr IndU 
vkluatpsychologie“ nach. 


pour lart“ nächst verwandt, einem gewissen 
ästhetisch-sadistischen Snobismus Ausreden 
liefert, das Leben geistreich und politikfem zu 
vertrödeln. Dem gegenüber war es die Rich- 
tung auf den Nutzen und das Volk, die den 
Voluntarismus von Du ns Scotus über Baeo, 

I I ume, Kant, Goethe und Marx bis auf James 
und Ferdinand Schiller charakterisiert. „Prag- 
matismus“ ist eine gute Bezeichnung für die 
praktische, sachliche und weitherzige, von 
Fanatismus und Einseitigkeit freie Denkweise, 
die der individualpsychologischen Schule und 
der modernen amerikanischen Wissenschaft 
gemeinsam ist 

Diese Weitherzigkeit zeigt sich bei Tridon 
in derselben Gleichgültigkeit gegenüber Sek- 
tenstreit und Schulgehässigkeit, wie sie Adler 
ermöglicht, sich mit Friedrich Wilhelm Förster, 
William Stern und Freud verständnisvoll aus- 
einanderzuselzen. „Prüfet alles und behaltet 
das Beste“* Adler fügt aber noch viel eigenes 
hinzu. 

Ebenso vereinigt Tridon mit vielem aus 
Freud, Adler, Kempf und der Schweizer 
Schule eigene Beobachtungen bezüglich der 
amerikanischen Verhältnisse und seine sehr 
radikale Lehre über Schlaf und Traum* Die 
beiden Bücher sind daher sehr geigneie Kom- 
pendien für den gebildeten Laien und für den 
beginnenden Studenten, wenn sie die neue 
Seeienkunde, die Psychoanalyse und die lndi- 
vidualpsyciiologie kennen lernen wollen. Im 
ersten Buch wird die Geschichte dieser neuen 
Wissenschaften skizziert, dann die Lehre von 
den Trieben, Träumen, Neurosen und Abnor- 
mitäten des gesunden Lebens dargelegt und 
mit drei Abschnitten über Behandlung, Er- 
ziehung und Prophylaxe geschlossen. Das 
zweite Buch enthält keinen geschichtlichen 
Teil, aber eine viel ausführlichere biologische 
Grundlegung und einen Abschnitt, der die vier 
Lehrer als Individualitäten nebeneinander 
stellt* In beiden Büchern ist der modcni- 
wisseuscha ft liehe, also für jeden vollkommen 
verständliche und angenehme Stil gerade 
wegen der Schwierigkeit des Themas sehr 
wertvoll* Dieser, der ja früher das Privileg 
der Franzosen und Angelsachsen war, beginnt 
Gott sei Dank auch in Deutschland als eine 
der ersten Pflichten des Gelehrten zu gelten; 
Tridon hat offenbar durch seine Vorträge sich 
eine besondere Gabe der Darstellung ungeeig- 
net, Die Krankengeschiclilen, die Beispiele aus 
dein täglichen Leben, die Witze, die Hinweise 
auf politische Zusammenhänge sind meister- 
haft ausgewählt und erzählt. 

Für Individualpsychologen muß der Grund- 
gedanke eines Ruches, das neben Freud Adler 
berücksichtigt, und eines andern, das Adler 
voraustellt, nicht dargelegt werden. Auch im 
ersten spielt das Sexuelle m erfreulicher Weise 
nur ungefähr die Rolle, die ihm wirklich zu- 
kommt; der Selbsterhaltungstrieb und der 


41 


REFERATE 


Trieb zur Betätigung bilden mit dem zur Fort- 
Pflanzung eine Dreiheit, die schon nicht ganz 
psychoanalytisch ist Lind der individualpsycho- 
logischen von Sichern ngstendenz, Gemein- 
schaftsgefühl und Machtwille vorarbeitet Das 
„aller guten Dinge sind drei“ scheint irgend- 
wie sinnvoll zu sein, ln den Krankengeschich- 
ten wird die Neigung zur Flucht aus der 
Wirklichkeit, zur Regression in ein jugend- 
licheres, sogar kindliches Leben besonders be- 
tont und durch Beispiele ausführlich erläutert. 
Am belehrendsten ist die Geschichte eines 
Geistlichen von sehr kultivierter Denkweise, 
der plötzlich unter Mitnahme eines geringen 
Teiles seines Vermögens verschwindet und in 
einem anderen Staat als Kleiukrämer wieder 
aufta Licht. Fr vollzieht die weit leichteren und 
der Natur oder dem Primitiven nähersldiendeii 
Pflichten seines neuen Berufes mit Vergnügen, 
tritt sogar einmal in einer religiösen Ver- 
sammlung auf, erinnert sich aber nicht an sein 
Vorleben und sein Amt, bis er nach einigen 
Monaten wieder in sein wirkliches Lehen 
zurückerwacht. Offenbar hat die „Weisheit der 
Natur“ genauer als er selbst gewußt, wann er, 
der geistig iiberaiigestrengt war, Ferien be- 
durfte. Hier war die Neurose eigentlich selbst 
schon ein Heilungs prozeß. Verwandt, aber 
weniger erfreulich ist der Fall einer sehr ge- 
bildeten Dame, die von Zeit zu Zeit plötzlich 
alle Erinnerung an ihre Vergangenheit ver- 
liert und als Kind ein verantwortungsloses 
Lind kulturarmes Leben führt. Das Periodische 
des Falles läßt ihn als den ernsteren erschei- 
nen; interessant ist, daß das Kind die Dame 
beim Namen kennt, sie schätzt und sich freut, 
mr eine Weile wie ein Ersatzmann die Lasten 
und morgen des Lebens abzunehmeii. Hier 
glaubt man für einen Augenblick die Seele, die 
nach Friedrich Schiller und Rehiinger nie 
spricht, doch hinter den beiden so verschie- 
denen Bewußtseiiiseinheitsbäiiderii her vor treten 
und sprechen zu hören, sie, die alle ihre 
Bunde! von Vorstellungen apperzipiert, 
rejiziert, verknüpft, benützt und zum Besten 
wendet, sie, die mit Kants „gutem Willen“ 
identisch und nach dem Naturforscher Fechncr 
unsterblich ist. 

'Für die amerikanischen Verhältnisse ist cs 
bezeichnend, daß manchmal das Recht natur- 
gemäßer Denkweise und Lebenslust gegenüber 
einer engherzigen und muckerischen Um- 
gebung verfochten werden muß. Wir Euro- 
päer, die wir umgeben sind von frivoler Ver- 
schwendung und geistlosem Luxus, sehnen uns 
ott wie iolstoi nach etwas Askese und Puri- 
tanismus; umgekehrt scheint Amerika von 
letzteren Ingredienzien zu viel zu haben. So 
wird von der Notwendigkeit berichtet, die- 
jenigen zu verteidigen, die aus einem legitimen 
Wunsch nach Betätigung ihrer Begabung und 
nach starkem und reichem Erleben Schau- 
spieler zu werden wünschen, was in manchen 
Kreisen Neuenglands ähnlich verabscheut zu 
werden scheint, wie in [Deutschland zur Zeit 
Lessings und der Karoline Neuberin. Ebenso 
hören wir von einer Dame, die von ihrer Ver- 


wandtschaft halb als Kranke angesehen, halb 
geisteskrank gemacht wird, weil diese und 
auch ihr Manu selbst sie von harmloser Le\ 
bensfreude, wie sie sie in ihrer Familie 
wohnt war, abhalten wollen. Ihr Arzt heilt sK 
und mehr noch ihren Mann, indem er beicK 
vom Recht der Frau auf ein tätiges, gesundes, 
reiches und volles Leben überzeugt. Für ähiK 
liehe Falle ist vielleicht die Anmerkung gau> 
nützlich, daß im Rezept auch steht: Detut 
Interesse für die Frauenbewegung und Teils 
nähme au Propagandaarbeit und Versamnk 
lungen. Eine ähnliche Anweisung wäre vieL 
leicht manchem europäischen Arzt, der nervös^ 
Frauen oder nervöse Jünglinge behandelt, adv 
Zuraten; manchmal heilt das Leben selbst di^ 
Lebensfremdheit Eigentlich ist es ja etwas Alx 
nomies, daß der Gebildete so oft von Politik 
keine Ahnung hat; in Athen war jeder veix 
pflichtet, einer Partei anztigehören, und da$ 
Sittengesetz, identisch mit dem Naturzwaujj 
und dem geschichtlichen Zwang, hat ja detU 
deutschen Volk diesbezüglich eine deutlich^ 
Lektion gegeben, und ebenso zum Beispiel deh 
Juden. 

Zur Politik teilt Tri den mit, daß wahrem} 
des Krieges bei vielen scheinbar sehr gesun- 
den Du rchschnittsbür gern Erscheinungen zu 
beobachten waren, die sonst Neurosen, P$y* 
chosen oder Kindheit charakterisieren: Un- 
fähigkeit, dem Gegner irgendein Recht, auch 
nur das aufs Leben, zuzugesieheu, ein wilder 
Zerstör u ugstrieb und Beschädiguugstr leb, etwa 
in den Lokalen pazifistischer Arbeitervereine 
oder in Kirchen des Feindes Im Kampfgebiet. 

Aus zwei so reichen Büchern ließe sich 
noch viel anführen* Die Lehre von Schlaf tuHI 
Traum soll in einem besonderen kurzen Re- 
ferat mitgeleilt werden. Die Bücher kommen 
wie Boten von unserem Bruder, dein wissen- 
schaftlichen Geist Amerikas, über den Ozean. 
Auch die Wissenschaft kann von sich sagen, 
wie die Religion des Mittelalters von Gott: 
Vexilla regis prodeunt. Dr. Pick. 

SiEGMUND FREUD: DAS ICH UND 
DAS ES, (Wien, Leipzig, Zürich, Internationa- 
ler Psychoanalytischer Verlag, 1923. 77 Seiten;) 

Im Anschluß an seine Schrift „Jenseits des 
Lustprinzips“ und Groddeks „Das Buch vom 
Es“ entwickelt hier Freud eine neue Theorie 
des Seelischen, Das seelische Wesen gliedert 
sich demnach in ein Es, ein Ich und ein 
Über-Ich, Bekanntlich unterschied Freud bis- 
her zwei Systeme, die zusammen die Seele aus- 
machen, Das eine System bestand aus den 
bew li ß t e n und den vorbewußte n 
das heißt augenblicklich nicht bewußten, je- 
doch bewußtseinsfähigen — Inhalten, das an- 
dere umfaßte die u u b e w u ß i e u seelischen 
Inhalte, das heißt jene, welche in der Regel 
bewußtseinsunfähig, „verdrängt“ sind und nur 
nach Überwindung von Widerständen in die 
Schichte des Bewußtseins erhoben werden 
können. Das Unterscheidungsmerkmal von 
Unbewußtem und Vorbewußtem wird jetzt 
darin aufgefuuden, daß die vorbewußten In- 


12 


REFERATE 


halte mit Wort Vorstellungen verbunden sind, 
während den bewußten Inhalten keine Wörter 
entsprechen. Bewußt werden kann nur, was 
schon einmal Wahrnehmung war; alles Wis- 
sen stammt aus der Wahrnehmung. Die inne- 
ren Denkvorgänge können auch nur bewußt 
werden, indem sie durch die Wort Vorstellun- 
gen zur äußeren Wahrnehmung gemacht wer- 
den. 

Freud stell t sich nun die Frage: wer denn 
der Träger jener Widerstände sei, welche die 
Schranke, die „Zensur“ an der Grenze zwi- 
schen Unbewußtem und Vorbewußtem auf- 
recht erhalten. Die Antwort lautet: das Ich. 
Dasselbe Ich, weiches den Kern des Bewußt- 
seins bildet, entfaltet hier eine Tätigkeit, 
welche uns nicht bewußt wird. Nun wird das 
Heftige der Seele au der Hand einer schema- 
tischen Abbildung erläutert. Den größeren, 
unteren feil des etwa eiförmigen Gebildes 
nimmt das Unbewußte ein, das den neuen 
Namen „Es“ erhall. Dieses enthält die Triebe 
und wird vom Lustprinzip beherrscht. Oben 
sitzt der Figur das Bewußtsein auf, wie die 
Keimscheibe dem Ei. Unmittelbar darunter 
schließ! sich das Vorbewußte an. Das Ich aber 
breitet sich über das Bewußte, das Vor- 
bewußte und noch über einen Teil des „Es“ 
aus, woselbst es mit undeutlichen Grenzen 
endigt. Eine scharfe Grenze hat das Ich nur 
gegen das Verdrängte, welches einen beson- 
deren, kleineren Teil des Es bildet. Das Ich 
ist vor allem cm körperliches; seine funktio- 
nelle Wichtigkeit kommt darin zum Ausdruck, 
daß es die Motilität beherrscht, indem es dem 
Es gegenüber dje Vernunft präsentiert und 
das Realilätäprmzip durch zusetzen trachtet, 
gleicht es einem Reiter, der die überlegene 
Kraft des Pferdes zu zügeln hat, „Wie dem 
Reiter, will er sich nicht vom Pferde trennen, 
oft nichts anderes übrig bleibt, als cs dahin 
zu führen, wohin es gehen will, so pflegt auch 
das Ich den Willen des Es in Handlung umzu- 
setzen, als ob es der eigene wäre.“ 

Neue Schwierigkeiten ergeben sich nun 
bei der Einordnung des Über-Idis oder Ich- 
Ideals, welches Freud als eine Stufe, eine 
Differenzierung innerhalb des Ichs angenom- 
men hat, welche Funktion jedoch neuerdings 
enger an das Es als an das Ich geknüpft wird. 
Das Über-Ich wird hauptsächlich als ein Nie- 
derschlag des überwundenen doppelten (bi- 
sexuellen) Ödipuskomplexes verstanden, dessen 
Inhalt die Identifizierung mit Vater und Mut- 
ter bildet; daneben wirkt noch die lange kind- 
liche Hilflosigkeit an der Bildung des Über- 
Ichs mit. Das Über-Ich ist die Repräsentanz 
unserer Elternerziehung, es ist Ausdruck der 
Libidoschicksafe, gehört demnach ins Gebiet 
des Es. Durch Aufrichtung des Ich-Ideals ist 
das Ich gleichzeitig Herr und Diener des Es 
geworden. Das Ich repräsentiert das Reale, die 
Außenwelt; das Ich -Ideal das Psychische, die In- 
nenwelt. Das Tiefste wird so zum Höchsten, 
Aus der Libido entspringen im Wege über 
die Vatersehnsucht die Religion und das mora- 
lische Gewissen. „Die Spannung zwischen den 


Ansprüchen des Gewissens und den Leistun- 
gen des Ichs wird als Schuldgefühl empfun- 
den.“ „Die sozialen Gefühle entstehen ... 
als Überbau über die eifersüchtigen Rivali- 
tätserregimgeu gegen die Geschwister. Da die 
Feindseligkeit nicht zu befriedigen ist, stellt 
sich eine Identifizierung mit dem anfänglichen 
Rivalen her“ 

Während in Freuds älteren Arbeiten Se- 
xualtrieb (Libido) und Sei bsterlial hingst rieb, 
oder Lustprinzip und Realilätsprinzip, oder — 
in der neuesten Nomenklatur: Es und Ich ein- 
ander gegeniibergesteflt werden, hat Freud in 
seiner vorletzten Arbeit den Selbsterhaltungs- 
trieb dem Sexualtrieb oder Eros ein verleibt 
und diesem als dem Lebenstriebe den aus dem 
Sadismus hergeleiteten Todestrieb entgegen- 
gesetzt. Der Todestrieb der Eiuzelzelle wird 
nun dadurch neutralisiert, daß er durch Ver- 
mittlung eines besonderen Organes, der Mus- 
kulatur, als Destrukiionstrieb gegen die 
Außenwelt abgeleitet wird. Die beiden Trieb- 
arten sind durch Ambivalenz miteinander 
verbunden, die sich in die nahen Beziehungen, 
zwischen Liebe und Haß und zwischen 
Zeugung und Tod, ausdriiekt. 

Das Ich steht unter dreierlei Dienstbar- 
keiten, es ist dreierlei Gefahren aufgesetzt 
„Die Angst ist der Ausdruck eines Rückzuges 
vor der Gefahr“ und „das Ich ist die eigent- 
liche Angststätte/* Die Gefahren drohen von 
der Außenwelt her (Todesangst), von der 
Libido des Es her (Käst rat ionsangst) und von 
der Strenge des Über-Ichs her (Gewissens- 
angst), Das Verhalten des Ich-Ideals ist maß- 
gebend für die Schwere einer neurotischen 
Erkrankung, Die Rolle des Schuldgefühles ist 
verschieden in der Zwangsneurose, in der Me- 
lancholie und in der Hysterie. Es gibt Ver- 
brecher, die nicht nach, sondern vor der Tat 
ein mächtiges unbewußtes Schuldgefühl haben, 
von welchem sie zur Ausführung der Tal ge- 
trieben werden, wodurch sie dann erleichtert 
werden, indem sie das Schuldgefühl nun an 
etwas Reales knüpfen (sieb bewußt machen) 
können. 

Der vorliegenden Inhaltsangabe sollen mm 
einige kritische Bemerkungen folgen. Der 
Scharfsinn, der Gedankenreichtum, den wir 
bei Freud gewohnt sind, ist auch diesem 
Werke eigen. Auch hier werden neue psycho- 
logische Zusammenhänge erschaut, neue ge- 
wichtige Probleme gestellt. Die Libidolehre, 
die bereits manche Wandlung durchgemacht 
hat, dürfte sich jedoch auch in dieser Form 
kaum halten. Daß wir die strenge Scheidung 
von Unbewußtem und. Vorbewußtem nicht an- 
nehmen können, sei vor allem betont. Erfreu- 
licherweise scheint auch Freud diese ehedem 
dichtschüeßeiide Schranke beseitigt, bezieh- 
ungsweise auf das kleine Gebiet des Verdräng- 
ten beschränkt zu haben, indem nur mehr das 
Ich mit dem Es auf weiter Srecke kommuniziert. 
Es ist nun nicht mehr die Bewufitseinsfähig- 
keit, durch die die beiden Systeme auseinander 
gehalten werden; indem sie durch „Trieb“ und 
„W a h i n e h m u n g“ — wie auch schon 


REFERATE 


früher durch „Lust“ und „Realität“ — gekenn- 
zeichnet werden, nähern sie sich mehr und 
mehr der uralten psychologischen Gegen iiber- 
slelUmg von Gefühl (Affektivität) und Verstand 
{Intellekt). Während es nun überraschend und 
auf den ersten Blick unverständlich ist, daß 
das Ober -Ich wieder in das ältere und niedere 
Es versenkt wird, begreifen wir diese Ver- 
wandtschaft sofort, sobald wir die übliche 
"Terminologie benutzen und sagen: Religion, 
Moral usw. sind eben Gefühle, wenn auch 
„höhere“ Gefühle; sie werden vom denkenden 
Ich als etwas Gegensätzliches empfunden* War- 
uni aber diese höheren Gefühle gerade aus 
dem Ödipuskomplex stammen sollen, begreifen 
wir nicht* Viel wichtiger erscheint uns das 
von Freud nebenbei hervorgeholte Gefühl der 
Hilflosigkeit und Abhängigkeit beim Kinde, 
welches als Minderwertigkeitsgefühl aus Alfred 
Adlers Arbeiten längst bekannt ist* Auch, daß 
die sozialen Gefühle als Überbau über die 
K 1 va l itätsr eg ungen gegen die Geschwister eut- 
stehen hat Adler früher gesagt, nur ohne den 
liegrm der Eifersucht hnieinzumengen. Daß 
es einen Todestrieb gebe, der auf den eigenen 
lod gerichtet sei, können wir nicht glauben. 
Wenn aber Freud einen solchen Trieb jeder 
einzelnen Zelle zuschreibt, so heißt das, den 
psychologischen Triebbegriff (in der Art von 
1 laeckds „Zelkede“) auf das biologische Ge- 
biet übertragen, wodurch jenem Begriff jeder 
teste Inhalt verloren geht. Endlich macht Freud 
stellenweise von anatomischen Analogien Ge- 
brauch, die geeignet sind, Verwirrung zu 
Süden. So nennt er zum Beispiel das Ich die 
1 rojektion der eigenen Körperoberfläche, dem 
„Gehirnmäimchen“ der Anatomen zu ver- 
gleichen. Auch die seiner schematischen Ab- 
bildung „schief aufsitzende Hörkappe“ ist ein 

er kennt imtheoretisches Uiidii lg, 

Dr. Stefan v* Maday (Debrecen). 


bedeckt ist, so gelangen nur die Striche 
Geltung, die über der unbedeckten Glas, 
scheibe gemacht werden. Der Rest der Arbeit 
enthält Polemiken gegen Einwände vot* 
Dr. Friedrich und Ur. K r o n t e 1 d. 

Dr. Schwarz (Wien), 


sidney ALRUT2 gibt es eine rein 
NERVÖSE FERNWIRKUNG? Psycli.-neu- 
rolog. Wo., 1423, Nr. 11/12. 

Es handelt sich bei dieser mehr als ein 
Jahrhundert allen Streitfrage darum, ob die 
Nervensysteme wirklich so gut isoliert sind, 
daß eine Fernwirkung der nervösen Energie 
sogar auf speziell geeignete Reagenfien (id 
est Versuchspersonen) unmöglich ist. Eine 
ganz große Menge von Beobachtungen über 
die Wirkung mesmerischer Striche auf Sensi- 
bilität und Motilität der Versuchsperson im 
wachen oder hypnotischen Zustande wird ja 
als richtig zugegeben. Man erklärt sie jedoch 
als Seggestionswirkungen und daher nicht be- 
weiskräftig für die Existeus einer physiologi- 
schen Fernwirkimg. Verfasser hat sich nun 
bemüht, die Versuchsbedingungen in immer 
eindeutiger Schärfe auszubauen. Hierzu be- 
dient er sich der bekannten Tatsache, daß die 
„Nerven ströme“ durch verschiedene Substan- 
zen in verschiedenem Grade abgehalten wer- 
den. Schaltet man zum Beispiel zwischen Ex- 
perimentator und Versuchsperson eine Glas- 
scheibe, die zur Hälfte von einer Pappscheibe 


OSWALD SCHWARZ (Wien), Dlfe 
SiNNNNDUNG ALS KATEGORIE DEs 
ÄRZTLICHEN DENKENS. (Klm. Wochen 
sehr i St 1923, Nr. 24.) " 

Wenn man das ärztliche Denken charakte- 
risieren will, so geschieht dies, wie bei jetK t - 
Beiraehümgsart der Wirklichkeit, am be$le u 
durch Untersuchung der die Betrachtung lei- 
tenden Kategorie* Verfasser bespricht nun die 
Hauptzweige der Naturwissenschaft, ihn 
gegen diesen Hintergrund das der Medizin 
Wesentliche besser hervortreten zu lassen* Die 
der Physik angehörende Kategorie ist d{ e 
Kausalität; sie verlangt als Anwendungs- 
bereich eine meßbare, disperse, qualitäts1o% e 
Materie; durch das Zusammenwirken dieser 
Kategorie und dieses ihres Schemas entsteht 
das Weltbild der Physik. Die Anwendbarkeit 
der Kausalität findet ihre Grenze dort, Wo 
eine solche Aufklärung der Teile nicht mög- 
lich ist, also wo Struktur, Gestalt, Organi- 
sation au Stritt. 

Die hier zuständige Kategorie ist die des 
„Sinnes”. Der Sinn ist die Spiegelung der 
Struktur im Bewußtsein des Beschauers. Der 
Organismus besteht einesteils aus Matrielkäm 
und ist in dieser Hinsicht Objekt der physi- 
kalischen Betrachtung. Sein Wesen besKhb 
aber darin, daß durch die eigenartige Zu- 
sammensetzung dieser Teile ein immalrieller 
Faktor, eben Sinuhaüigkeit, entsteht* Die An- 
erkennung dieses Tatbestandes beinhaltet den 
Vitalisrmis, der also in dieser Fassung eine 
reine Erkeuntnismethode darstellt. Biologie in 
wahrem Sinne treiben, heißt also: Stnufiiv 
dimg in der organischen Struktur. Auch die 
heutige Medizin steht noch im Zeichen der 
traditionellen Dualität von Materie und Funk- 
üon. Die Morphologie tritt uns allerdings in 
geänderter, wenigstens in der T endenz dein 
eben geschilderten Ideal biologischer Betrach- 
tungsweise angepaßter Gestalt entgegen: als 
Konstitutionsforschung. Die Konstitution er- 
scheint in der Sprache dieser Betrachtung als 
der von der somatischen Seite sich präsen- 
tierende Ausdruck der sinnvollen Struktur. 

Die praktische Handhabung dieser Bin- 
sleikmg bleibt aber hinter der Aufgabe be- 
klagenswert weit zurück. Eine prinzipielle 
’ Fort sch rittsniöglichkeit scheint dem Verfasser 
jedoch aus der Fortbildung der Funktious- 
betracht u ng zu erwachsen, nämlich durch Er- 
weiterung der Funktion zur Handlung; unter 
letzterer ist nach Driesch ein Akt zu ver- 
stehen, der nicht nur durch den aktuellen 
Reiz, sondern auch durch die gesamte Vor- 
geschichte des Individuums bestimmt ist- 
Dieser Ausbau oder, besser gesagt, diese Neu- 
orientierung der Medizin wird nun durch du> 
neuen psycho pathologischen Systeme ang^ 


44 


CHRONIK 


bahnt. Freud betonte als erster, daß die ver- 
schiedensten Äußerungen des Menschen noch 
eine ihre primäre Erscheinung transzen- 
dierende „Bedeutung” haben, die nur aus der 
GesamlsiUiaiion des Individuums zu erfassen 
ist. Auch die Neurose ist nicht als bloße 
Summe ihrer Symptome aufzufassen, sondern 
als bedeutungsvolles Ganzes zu verstehen; sie 
ist eine Abweh rbewegung, eine Handlung, und 
als solche sinnvoll. In der Lehre Alfred 
Adlers ist nun diese Totalilätsbetraehtiiiig, 
die im Ausbau der Psychoanalyse nahezu 
ganz verloren gegangen ist, zum tragenden 
Prinzip geworden, in der Annahme eines in- 


iellegibleit Sinnes als konstruktivein Element 
der Persönlichkeit. Die gesamte Persönlich- 
keit ist der sinnfällige Ausdruck eines Lebcus- 
planes, und jede Handlung gewinnt Sinn und 
Bedeutung durch Projektion auf die Leitlinie. 
Es ergibt sich hieraus weiters, daß auch jede 
Organiunktion nur Ausdrucksbewegung wer- 
den kann, daß auch aus somatischen Sym- 
ptomen der „Sinn” zu dem Vorstehenden 
spricht (Organdialekt), Hiermit wird ein 
großer Teil der organischen Medizin zur 
Ausdruckspsychologie; die Medizin selbst 
wachst über die Pathologie hinaus zum Per- 
sonali&mus. Autoreferat, 


CHRONIK 


THE Vir INTERNATIONAL CONGRLSS 
OF PSYCI IOLOGY (at Oxford front 261h. July 
io 2nd August 1923. 

About 250 niemhers atiended, and Austria, 
Gernmny, Swilzerhuid, France, Norway, 
Sweedeii, America, Holland, Belgimn and the 
British Isles were among the countries re- 
presenfed. Dr. C. S. Myers of Cambridge and 
London was President. The meeiings were 
uccupied partly by symposia o n general 
quGStiöiis, partly by papers on special poiuts. 

I he first Symposium was concerned witli 
i fi e u a t u r e o f general A b i 1 i t y, and 
Drs. G. 1 1 . T h ö m sou, E. C 1 a p a r e d e, 
aucl L. L. T h ti r s t o it e contributed papers. 
All agreed tlial Intelligence was essentially 
a proeess of trial and error, but the different 
papers were coucerued witli different aspeets 
of the problem. Prof. Thomson discussed 
the existente of a general factor in intelli- 
gence, and concluded tha t although Statistical 
melhods showed a positive eorrdatiou be- 
tween the results of different tests, this need 
not be due to any specific general factor but 
might be caused by the concurrence of seve- 
ral separate factors. Prof. C 1 a p a r e d e di- 
sliiiguished several senses in which* general 
iiilelligence' was used, and wished to eonfine 
the term to the average perforniance of a 
persoii wheu iesled by a series of tests all of 
which were eonirned to the power io solve 
Problems, or by one which included tests of 
various kinds, as do Eine Fs tcslS- Prof. 
1* h u r s t o ii e wished to dehne mieUigence 
as the power to substitute conceptual trial and 
error for overt physical action, 

The Symposium on the elassilica- 
t i o n o f Instincts inade [t clear not ouly 
(hat sotne adequate Classification is urgently 
ueeded, but that a Classification is ouly pos- 
sible in relation to some definite end, other- 
wise it is possibte io invent any number of 
classifications all possessing a certain vali- 
dity, but no one parttcular by superioriiy the 
others. Dr. Drever not having a definite 


practical end in view, suggesled three possible 
melhods of di vision, and would classify in- 
st incts according to their relative spe- 
cificity, to wheiher they are appetitive 
or r e a c t i v e, or thirdly by their r e 1 a- 
t i o n t o emotio n. 1 le holds ihat the se- 
cond is the most important inetliod of Classi- 
fication, but he does not indicate what place 
Ins Classification holds in a general psycho- 
logical scheine. Dr. Ernest Jones naturally 
prefers a scheine of Classification which he 
fiuds born out by his practical experience as 
a psycho-analysf, and would divide instincts 
iuto ßiose of ego and sex. This scheine is 
simple and coinpreheusive and, he bdieves, 
Sorms an eiiiineutly auitablc basis for futnre 
iuvestigation of the individual instincts. 

The Symposium on the C o n c e p l i o n 
o f Mental and N e r v o u s e n er g y was 
niainly interesting for the physiological fads 
presented in Dr. 1 1 e a d’s paper, and which 
tended fo show ihat purposive adaptation and 
Integration of response was not eoivfiued to 
levels at which consciousness was present. In 
die decerebriate preparatiou of S her ring- 
t o n and his fellow workers a large number 
of discrimiiiative reactious can be obtained. 
In man, when the spinal cord bas been seve- 
red niany comparatively liigh grade reactious 
can bc obtained froni parts of the body ser- 
ved by the severed parf öS the cord. These 
reactious depeiid ou the general well heilig of 
the patient, and disappear with any change 
for the worse in his physical condition. 
Dr. llead wished to introduce the term „vi- 
gilence" for such a state of neural effL 
ciency unaccompanied by consciousness. 

The papers of Drs. L i p m a n, Cyril 
B u r t, W. M oede and L. L, T h u r s t o n e 
on „V o e a t i o n a 1 G u 1 d a n c e“ |>resented 
an admirable review of tliis field of work. 
The difficnlties to be faced are many. The 
analysis of the qualities required for the diffe- 
rent industrial occupatkms has in most cases 
still to be made, and in cases where this has 


45 


CHRONIK 


beeil doue to some extent, we ueed more effi- 
cieni tesls for discovenng these qualities in 
workers. Such knowledge as we may have is 
rendered more difficult Io apply as man y Fac- 
tors besides aptilude enier into the couside- 
ration of what profession a cliild shall adopt. 
Ihe cost of training for a profession is offen 
prohibitive, or a man ’s inierests and a bi I dies 
may not coi neide, Moreover with chitdren 
ihere is often a marked change in Interests 
during ihe period ot adolescence. The quality 
that we have mosi means of testing is tliat 
called general inlelligeuce, and in Lh is connec- 
tion Mr, Burt points out that in testing the 
Intelligence required for a certain oecupation 
we must consider the maxi in um as well as ihe 
mminumi uecessary. It is as prejudicial to effi- 
aency to have a degree of Intelligence nmch 
above thal required for a job as io have one 
below it. Emotional charaderistäcs have as 
mueh i 11 fl uence on success in a profession as 
iutellectual attainments, faut miforlunately we 
liave no satisfadory means at present oF te- 
5ling them, I ill th is has beeil achieved voca- 
tioiial guidance must reim in very teutative, 
Ainongst the other papers Dr. O. R e v e s z 
reporled some inieresting experi rn e n t s 
on hen s. I le established the fact tliat heus 
rely exclusively on visua] perceptions when 
pecking at their Food, and then attempted to 
uiseover if they were subjed to the same Vi- 
sual ülusions as men are. He seleded for ex- 
periment Jasi ro w's illusion with two cqual 
Segments, He trained liis hens to peck their 
gram always from ihe smaller of two cards 
mid then presented the two objectively equal 
Cards. In 3 L out of 36 tri als the birds pecked 
trom the eard thal would appear smaller if 
the Illusion occurecE This very Ingh percen- 
^ suecesses shows the hens perceived 
he dlusion, and we may perhaps condude 
noin Hits that the space of animals is in tnost 
i espects the same as mir own. 

Prof. Pear and his fellow workers at 
Manchester presented a paper on the psycho- 
galvaiuc rcFlex in dream analysis. Pro! Pear 
lias been using the reflex as a means of de- 
terinining which elements in a dream are 
niost highly charged with affcel. His method 
was to get the subject to write out his dream, 
or o do free assockfion in Connection with 
certain elementsof it, and to record the accom- 
patnng deflecticns of Ihe galvanometer. Il was 
fouud that at certain points the galvanometer 
„jumped“, If it could be definitely be establi- 
shed that ihese defleefions corresponded in 
size to the ainmount of affect accompanitig ihe 
memory this method should be of conside- 
rable assistance in psycho-analysis. An inter- 
nst ing development of the experi ment, if a 
suitable subject could be obtained, would be 
to iake a galvaiiometric record during sleep 
and oompaire it with Ihe apparent course of 
the dreams. 

Dr. Pieron gave an accotmt of the Pro- 
blems that need invesiigatbu in connection 


46 


with the perception o f t i in e. He esh € . 
cially stressed ilie importance of certain pC. 
siological considerations in connection 
this eslimate short period s, and also when (\^ 
tennining the subject ive order of sense i}^. 
pressions. 

On Sunday papers were read by A\ r 
T h o u I e s s o n U T he Psychology 0 j 
t li e C o ii t e m p 1 a t i v e L i f e“ and by 
non S t r e e 1 e r on (< I s Religion a P . 

choneurosis Other papers iucluti^ 
Dr. Dwelshauvers' i>aper on an o\ y 
j e c t i v e method o i registeri^g 
mental imager y, Dr. K o e h 1 e r, T h c 
1 ^ r üblem o f For in in P e r c e p t i o ,i. 
Dr. MacCurdy, I n s t i n c t s * a n d I n\ 
g e s, Mr t B a r 1 1 e 1 1, Symbolism [ u 
Folk S. o r e. 

If is inleded to publisli a complete record 
of (he proceedings of the eongress, wh| c ti 
should be ready in the auturmi. 

Mary St u r f s 

Drs. N, W. Keatings and P w B. Ballard > 5 
interesüug Symposium: ”Does Progress in 
Educational and Social Science depend pn 
Progress in Psychology?“ was strougly affir 
med in the discussion and also by Adler. 

Miss M. Stint contributed a delightful 
discourse on "The Judgement of Time in 
Sleep u . 

All auimated discussion fulluwed Dr. \ViP 
Ham BrowiFs lecture an n Mental ConfSieF- 
His conception of the causation of "conflict“ 
and the aeteology of neurosis was disputed 
with good grouud by Ja net, Adler 
others* 

C. S. Myeis 1 views 011 Ihe "Conception oi 
Mental and Nervous Energy“ proved him to 
be on right lines in theory and practice. j-fe 
was prejjared to attach g realer nuportaucc 
than before to the psychic attitude of the 
exaniinee, 

Dr. E. Mera (Barcelona) gave a hicid 
accotmt of investigations iulo the questions o' 
5, Cardio-Vascular Changes in Mental Work“ 

Dr. Pierre Jane! represented bis Schoo 
and its fundamentale with brilUaut rethoric 
in a discourse entiiled: "Psychic Aesteiiia atK- 
Atoiiy“. 

Dr. Morton Prince attempted to prove (it: 
the same way as Freud) his views 011 the 
numeroLis phases of consciotis and unconsiou? 
mind by referring to abnormal psychic phe- 
nomena. 

Dr, S. Alruk who is a moderate adhemtt 
to spirit ualism championed the cause of hyp* 
notisni with his usual enihusiasnu 

Dr. Karl Abraham discussed Freud’ > 
latest views on the primay of the moulh 
regioiu His radical regrouping caused some 
amazenient. 

Adler ? s ?T Advances in Individual Psycho- 
logy“ offerecl much that was new and were 
favourable reeeived. 


1 


CHRONIK 


C H. Griffiths and W. P* Pillbury showed 
“An Experiment on Indirect Measures of 
Fatigue“ 

T. C. Bartlelt discussed , 3 5 ymboli$m in 
Folklore“* K. Koffka "New Experiments in 
the Perception ol Movement“. 1 1. Bi uns and 
11. S. Ra per "A Com pari son of visual and 
taclile judgement in Individuals of different 
Ages and Training“. 

DIE INDIVIDUALPSYCHOLOGISCHEN 
VERANSTALTUNGEN, wie sie einander im 
Laufe einer Woche a bl Ösen, sind bis jetzk 
folgende: 

Montag, 7 bis 9 Uhr abends: Dr. Adle r s 
Psychologisch -Pädagogisches Seminar, R-, 
Volkshochschule im Staatsgymiiasium, Cir- 
kusgaase 48, 1L Stock (7 bis 9 Uhr); 

Dienstag, 7 bis 9 Uhr abends: Adler, 
Pädagogisches Institut, Vortragslesung für 
Lehrer und Heilpädagogen über „Schwer er- 
ziehbare Kinder“; 

Mittwoch, von 6 bis 7 Uhr abends: 
Dr. A d I e r s Erzieh irngsberatungsstelle, XVI., 

Koflerpark, Volksheim, Saal I; 

1 bis 8 Uhr abends: litt selben Saal, 

Dr. Adlers Vorlesung über „Menschen- 
kenntnis“; 

Freilag, 6 bis 7 Uhr abends: Erziehungs- 
bmtungssielle Dr. Lukacs, L, Anna- 
gasse IS, Saal der „Bereitschaft“; 

6 bis 7 Uhr abends: Erziehungsberatungs- 
slclle der Arbeitsgemeinschaft der Lehrer des 
Wiener XX, Bezirkes, XX. T Jägerstraße, Mäd- 
chenblirgerschule; 

Samstag, von 7,5 bis l i-& Uhr abends: 

Dr. Adlers Erziehungsberatuttgsstelle, II., 

Sperlgasse 40, „Kinderframde“; . i 

'A9 Uhr abends: Individualpsychologischer 

Verein, L, Dominika ne r baslei 10. 

Der individualpsychologische Verein ist 
eine Gemeinschaft aktiver Mitglieder, wie 
Arzte, Pädagogen, Richter, Fürsorger, Künst- 
ler und Philosophen. 

Die Teilnehmer aller anderen Veranstal- 
tungen sind Angehörige aller Stände. 

An sämtlichen Stellen ist auch das nahe 
wie das fernste Ausland durch externe Hörer 
und Mitarbeiter vertreten, wie Deutschland, 
Tschechoslowakei, Ungarn, Griechenland, 
Schweiz, Holland, England und Amerika. 

GESCHICHTE DER ORTSGRUPPE 
MÜNCHEN. Sommer 1919: Gründung 
der Gesellschaft für „angewandte Seelenkunde“, 

Vorträge 1919/20: Dr. L, Seif: Die 
Neurose als soziales Problem. — Individual* 
Psychologie und Erziehung; Dr. Eugen 
Sc h in i d i; Über die Fiktion in der Neurose; 
Dr. Else Su mp I: Die Neurose in Friedrich 
Huchs Roman „Mao“; FrL lsa Herr- 
mann: Besprechung des Romans „Demiau“ 
von Sinclair; Folkert Wilken: Die Entwick- 
lung von Freud zu Adler; Dr. A. Feigs: 
Über Persönlichkeitstypen; F. Wilken: Die 
Entwicklung von Jung zu Adler; Dr. E. von 


Gebsatlel: Über das Verhältnis des 

Analysauden zum Analytiker vom individual* 
psychologischen Standpunkt; Dr. L* Seif: 
Über Melancholie. 

Herbst 1920; Austritt der Psychoana- 
lytiker. Die Gesellschaft nennt sich von da ab: 
„Gesellschaft für vergleichende Individual- 
Psychologie" und erklärt damit ihren Beitritt 
zur Internationalen Gesellschaft für ver- 
gleichende Individualpsychologie, Zentrale 
W i e 11 . 

Vorträge 1921/22: Dr* L. Seif: Über 
die Angst; F. Wilken: Hans Blühens Welt- 
bild im Lichte der vergleichenden Iitdividual- 
psydiologie; Dr. Else Sumpf: Das Hamlet 
Problem; I lerr Sey bo th als Gast: über die 
Jugendbewegung; Hermann Häger: Über 
den Expressionismus; Alfred Appell: Über 
das Stottern und seine Behandlung; Walter 
Üra ve: Über den Eigentumsbegrift; Dr. 
Prinzessin Eleonore S a 1 m - S a l in: Zur 

Psychologie der Frauenfrage; Di\ L. Seif: 
Über den Kampf der Geschlechter; Isa Her r- 
niann: Über W. Siems Buch „Die mensch- 
liche Persönlichkeit"; F. Wilken: Der 

männliche Protest in der Handschrift; 
Dr, Else Sumpf: Die Soziologie der Leiden 
von Miiller-Lyer vom Standpunkte der Indi* 
vidualpsychologie. 

V o r trag e 1922/23: Dr. L. Seif: Zur 
Psychologie der Clique. — Individuum und Ge- 
meinschaft; F. Wilken: Über die Entwick- 
lung des Verhältnisses von Individuum und 
Gemeinschaft im antiken und modernen 
Staate; Dr. Otto Nägele: Über einen Fall 
von paranoider Quamlauz; Dr. Walter 
Grave: Wesen und Begriff der Schuld in 
seiner geschichtlichen Entwicklung; Dr. Else 
Sumpf: Über die „Typen Psychologie 11 von 
]uiig; Dr. Prinzessin Sa 1 m - Sa 1 m: Über 
„Körperbau und Charakter” von K reizseh- 
mer* Dr. L- Seif: Über Ausdruckshewegun- 
geu und Neurose; Alfred Appell: Über die 
psychische Behandlung der Stotterer; Dr* Else 
S u m ]) f: Beiträge zur Störung des Per- 

söiilichkeits wertgefühles in der Neurose; 
Frl. Isa Herr m a 11 n: Rudolf Holzapfels 

Panideal und die Indi vidualpsychologie; 
Dr. L. Sei f: Über einen Neurosen fall. 

Vom 8 . bis 10. Dezember fand in Mün- 
chen der I- internationale K n n g r e ß 
der Gesellschaft für vergleichende Individual- 
Psychologie statt, au dem die Münchener 
Ortsgruppe mH sieben Vorträgen leilnahnu 

Vorträge 1922/23: Herr Ritter: Indivi- 
dual psychologische Bemerkungen zu Stichs 
„Klassik und Romantik“, unter besonderer 
Berücksichtigung des romantischen Menschen; 
Isa H e r r m a 11 n: Die Bedeutung der Kind- 
heit für die Entstehung der Neurose, nach- 
gewiesen an Hanno Buddenbrook in Thomas 
Manns Roman; Grete Auer Seid: Be- 

sprechung von Freuds Tagebuch eines halb- 
wüchsigen Mädchens; Dr. Engen S c h in i d t: 
Minderwertigkeitsgefühle und Imperialismus 
auf politisch-wirtschaftlichem und kulturellen 


47 


CHRONIK 


Gebiet; Referendar Rheinstein als Gast; 
Ober elterliche und staatliche Erziehimgs* 
gewalt; Dr. L, Sei ft Über den Zwang im 
Leben und in der Neurose; Dr. Prinzessin 
S a 1 m -Sa! m: Über den Eigensinn; J. W. 
Schwarz als Gast: Über einen utopischen 
Roman von Samuel Butler: Erewhon; Dr. L* 
Se i t: Über einen Fall von moral insanHy; 
Frh Eßlen als Gast: Fra neu frage und Indi- 
vidual Psychologie. 

* 

Seit Oktober 1922 bestellt die erste E r- 
z i e h u n g s b e r a t u n g s s t e 1 1 e in Mün- 
clieu, zu der der Stadtschulrat ein Lokal in 
einer SeJfule zur Verfügung stellte. Sie funk- 
tioniert wöchentlich einmal und erfreut sich 
immer größerer Inanspruchnahme. An sie 
schließt sieh an seit Mai 1923 eine A r bei 1 s- 
g e m e i n s c h a f t für Erziehung mit 
emer großen, wachsenden Teilnahme aus 
den Kreisen der Lehrerschaft, der Lehramts- 
kandidaten und anderer Erziehungsmteres- 
sierter. Leiter: Dr. L. Seif. 

Amtsrichter Dr, Otto Nägele leitet seit 
zwei Jahren die Gesellschaft für 
g e r i c h 1 1 i c he Jugendfürsorge in 
gemeinsamer Arbeit mit den Studierenden 
des sozialen Amtes der Universität, Vertretern 
des städtischen Jugendamtes, mit Mitarbeitern 
ans der Ärzte- und Lehrerschaft und Mit- 
gliedern verschiedener Jugend für sorgevereine. 

Im Rahmen desselben sozialen Studenten- 
amtes der Universität hielt im Wintersemester 
1921/22 Dr. Seif wöchentlich einen Vortrag 
über verschiedene Themen ans dem Gebiete 
der Individual Psychologie: Individual Psycho- 
logie und Erziehung — Bedeutung der Örgan- 
nimderwertigkeit für die Entwicklung der 
kindlichen Persönlichkeit — Affektivität und 
Charakter — Ober den Traum — Autorität 
und Erziehung — Das vorschulpflichtige 
Kind — Das schulpflichtige Kind — Über 
Schulkind Über verwahrlos le Jugendliche, 
Sexualität und Pubertät Das nervöse 
Schulkind — über verwahrloste Jugendliche, 

Weitere Vorträge hielt Dr. Seif: Herbst 
1920 über Schüler und Lehrer in der Gesell- 
schaft für Kultur der Schule; in der katho- 
»schen Akademikerschaft: Einführung in die 
nidiyidualpsychologie — Über den Ehrgeiz — 
Idividuum und Gesellschaft usw.; Sommer 
1920 in der Gesellschaft für Neurologie und 
Psychiatrie: Ober die neurotische Persön- 
lichkeit; Herbst 1921 über Autorität und Er- 
ziehung in der Fraueiiliga für Frieden und 
Freiheit; August 1922 über Autorität und 
Schule in der Gesellschaft der Freunde in der 
Gemeinschaftsschule in Hamburg; Frühjahr 
1923 in der Eltern Vereinigung München- 
Schwabing über Erziehung zur Angst; Mai 


1923 vor der Lehrerschaft in Nürnberg 
Mutlosigkeit und Ermutigung des Kindes 

Auf Einladung der Kronacher Lehrergildu 
leitete Dr. Seif Ostern 1923 auf Schloß EL 
gesburg in Thüringen uiiler großer Teilnahme 
der Lehrerschaft aus allen Teilen Deutschland^ 
eine individualpsychologische Woche. 

hi Götti ugen (Dr. Erich Stein nnq 
Dr. Fritz v. Hippel) und N ü r über 
(Direktor W e i ti ko p f) sind iiidividuaL 
psychologische Arbeitsgemeinschaften in EjiL 
Stellung begriffen. 

P u b 1 i k a t i o n e n : 

Dr. L. Seif: Über Individualpsychologi^ 
und Erziehung (] lamburger Lehrerzeitung 
August 1922); Miss May Jacobs: Einfüh- 
rung in Adlers Individualpsychologie (Mär* 
1923 Prof* Stanley -Halls: Paedagogical Semu 
nary); Lene Crediier: Über den Trauhi 
(Het Kind 1923); Dr. Otto Nägele: Richer 
und Jugendlicher (Zeitschrift für deutsches 
Strafrecht, Juli 1923); Isa H e r ni a ti i\ : 
Grundlagen und Ziel der vergleichenden Indb 
vidualpsychologie (Die Frau im Staate 
Juli i 923). Dr. L. Seif. 

Vom 20. bis inklusive 25. August d ]. 
hielt Dr* Allred Adle r vor den Erziehern 
des Vereins „Kinder freunde** und deren ab- 
wesenden Gästen Vorlesungen über „schwer 
erziehbare Kinder“* Die Vorträge fanden % 
Schloß Kiesheim bei Salzburg statt. Als Leit- 
faden lag den Hörern ein von der Wiener 
Gruppe ausgearbeiteter Fragebogen vor, des- 
sen Besp rech u ng und Beantwortung ein klares 
Bild von den wirklichen Ursachen der Ver- 
fehlungen von Kindern gab und auch die Be- 
handlung auf richtige Bahnen lenken soll. 

Dieser Fragebogen wird in der nächsten 
Nummer dieser Zeitschrift in drei Sprachen 
vorgelegt werden, 

Dr. Alfred Adler wurde für das kom- 
mende Schuljahr zum Lehrer für das Pädago- 
gische Institut der Stadt Wien ernannt, Er 
wird jeden Dienstag von 6 bis S Uhr abends 
über „Schwer erziehbare Kinder“ lesen. 

Soeben erschien bei J. F. Bergmann, 
München, die zweite, verbesserte Auflage der 
„Praxis und Theorie der lmlividualpsycho- 
logie ff . 

The engtish editiou of Iltis book is just 
published at Routledge and Sons in London. 

Der L Jahrgang der „Zeitschrift für 
ludividualpsychologie“ (9 Hefte) kann von 
der Redaktion (Dr* L. Zilahi, Wien, UL 
Landstraße Hauptstraße 49) bezogen werden- 


Verantwortlicher Schriftleiter Dr, Ladislaus Zihilii, Wien, UI., Hauptstraße 49, — Drucks „ElbctnÜhi"j Wien IX. 



I 




LITERATUR 

DER INDIVIDUALPSYCHOLOGIE: 


DR. ALFRED ADLER: , 

Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Verlag Bergmann, 
München. II. Auflage, 1923. 

Praxis and Theory of Individualpsychology. Edition Paul Kegan, 
London 1923. 

Über den nervösen Charakter. Verlag Bergmann, München, Hl. Auf- 
lage, 1922. 

Das Problem der Homosexualität. Verlag Ernst Reinhardt, Mün- 
ch e n 1 9 1 8. 

Die andere Seite. Eine massenpsychologische Studie über die Schuld 
des Volkes. Verlag Hetdrich, Wien, 1919. 

ADLER, FURTMÜLLER und WEXBERG: 

Heilen und Bilden, Medizinisch-pädagogische Arbeiten aus dem Ge- 
biete der Individualpsychologie. Verlag Bergmann, München. II. Auf- 
lage, 1922. 

DR CARL FURTMÜLLER: 

Ethik und Psychoanalyse. Verlag Ernst Reinhardt, München. 
OTTO KAUS : 

Der Fall Gogol. Emst Reinhardt, München, 1912. 


PROF. F. ASNAOUROW: 

Sadismus und Masochismus in der Weltgeschichte. Verlag Ernst 
Reinhardt, München. 


HEDWIG SCHULHOF: 

Individualpsychologie und Frauenfrage. Verlag Ernst Reinhardt, 
München. .... 

Henrik Ibsen. Der Mensch und sein Werk im Uchte der Indi- 
vidualpsychologie. Verlag Erich Spiethoff, Reichenberg 1923. Preis 
30 tschechische Kronen. 

Der Verfasserin ist, wie das Vorwort ihres Buches eingehend darlegt, die 
venrleichende Individualpsychologie zum Ausgangspunkt einer neuen Durchdringung 
biographischer Einzelheiten und ästhetischer Erscheinungen geworden Nicht als 
ein gegebener, als ein von ihm selbst gemachter Roman zieht so das Leben Henrik 
Ibsens zieht sein Sein und Schaffen an ihr vorüber. Nach: „Ibsen als Mensch 
und Bekenner“ wird in den hierauf folgenden Abschnitten auch Hakons Führergeme, 
Jarl Skules entnervender Zweifel, werden die wechselnden Masken Gynti scher Ich- 
sucht. Stensgards politisches Gliicksrittertum und Julian Aposlatas Uo..annIich- 
keitsträume von innen heraus durchsichtig. Des Dichters gesellschaftskritische und 
symbolistische Dramen sind einem zweiten Bande Vorbehalten. 


DR. CHRISTO DUTSCHEWITSCH: 

Nervosnija Tschowek (Der nervöse Mensch). Erziehung und Be- 
handlung nach der Individualpsychologie Dr. Alfred Adlers. Herausgegeben 
von Dr. Christo Dutschewitsch. Sofia, Ni§ka ul. 1. 


WERKE VON PROFESSOR H. MUTSCHMANN (DORPAT): 

Der andere Milton. Kurt Schröder, Bonn und Leipzig, 1920. 
Milton und das Licht, Max Niemeyer, Halle a. d. Saale, 1920. 



Aus dem Inhaltsverzeichnis des I. Jahrganges der 

Zeitschrift für Individualpsychologie: 

Dr. Erwin Wexberg: Zur Verwertung der Traum- 
deutung in der Psychotherapie. — Alexander Neuer: 

Ist Individualpsychologie als Wissenschaft möglich? 

— Robert Freschl: Eine psychologische Analyse 

(Strindbergs „Corinna“ aus „Heiraten“), — Carl 
Furtmüller: Alltägliches aus dem Kinderleben. — 

Alfred Adler: Nervöse Schlafstörungen. — Alexander 
Schinid: Zum Verständnis von Schillers Frauencharak- 
teren. — Erwin Wexberg: Die Arbeitsunfähigkeit des 
Nervösen. — K. G. Szidon: Hebbels Jugend. — Hedwig 
Schulhol: Ricarda Huch. — Dr. Heinrich Zeller: Das 
Strafrecht in seinen Beziehungen zur Individualpsycho- 
logie. Dr. Otto Hinrichsen: Zur Psychologie der 
Dementia praecox. — Aus der Praxis der Psychotherapie 
und Pädagogik. 

| in J^ ni S e ^P )e «« Exemplare des I. Jahrganges können von der 
Schriftleitung (Wien, III., Landstraße Hauptstraße49) bezogen werden. 

f£ e ! s f ? r P stefreich Deutschland; ö. K 60.000. — Für das 
übrige Ausland: 16 Schweizer Franken oder 3 Dollar der Jahrgang. 

DIE NEUE GENERATION. 

ZEITSCHRIFT FÜR MUTTERSCHUTZ, SEXUALREFORM U. PAZIFISMUS. 
Publikationsorgan des Deutschen Bundes für Mutterschutz und der Inter- 
nationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform. 
Herausgeberin: Dr. phil. Helene Stöcker. 

Verlag und Redaktion: Berlin-Nicolassee, Münchowstraße l 
Postscheckkonto: Berlin NW 7, Nr. 15.875. XIX. Jahrgang. 

Im Mittelpunkt der jetzt weiter gesteckten Ziele unserer Zeitschrift steht 

DER NEUE MENSCH, 

die neue Generation, die Klärung ihrer sexualethischen, freiheitlichen politi- 
schen und menschlichen Probleme Wer an der Höherentwicklung uirnres 
individuellen, sozialen und internationalen Lebens - einer biologisch wert- 
volleren Menschheit wie seelisch verfeinerten Menschlichkeit irgendwie Anteil 

.. “Ö wird r ^ he , ^ aus der Zeitschrift schöpfen. 
Mitgliedsbeitrag zum Deutschen Bund für Mutterschutz Mk. l‘_ jährlich 
Abonnementspreis für die „Neue Generation“ . Mk 6 -— iährhVh 

beides multipliziert mit der jeweiligen Buchhändler-Schlüsselzahl. Bundes- 
mitgheder sowie Mitglieder der dem Deutschen Friedenskartell 
eenen Organisationen erhalten 50% Ermäßigung- auf dip 7 <ü t Jnul; 5”®* ° 8 " 

raa,la ” h,nen alk Buchh, " dl S a Lt XS 11 “ der 

WIENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT 

Vereinigt mit der Allgemeinen Wiener medizinischen Zeitung 

73. Jahrgang — 1923 & 

Der Verjag der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“ 
Verlagsbuchhandlung Moritz Perles Wien, I., Seilergasse 4