Internationale Zeitschrift
»für
Individualpsychologie
Arbeiten aus dem Gebiete der
Psychotherapie, Psychologie und Pädagogik
Herausgegeben von Dr. ALFRED ADLER
II. Jahrgang September 1923. Nr. 1.
Inhaltsverzeichnis:
ALFRED ADLER : F ortschritte der Individualpsychologie
RUDOLF ALLERS ; Gemeinschaft als Idee und Erlebnis
YVONNE . E. WINSLOW : The Relation of Psychology to Education
KURT WEINMANN : Zur Psychologie nervöser und cyclothymer
Stimmungsschwankungen
D. E. OPPENHEIM : Der Mann in SchÖnhen* „Wcibsteufel“
LUDWIG BÜCHNER : Neurotischer Mystizismus
j, VERPLOEGH CHASSE: Das nervöse Kind
REFERATE
CHRONIK
ABONNEMENTSPßEfSE:
Für Österreich und Deutschland: ganzjährig
4L K, GÜ.ÖDQ, halbjährig ö. K. 30.D0CL Für das
übrige Ausland: ganzjährig 10 Schw, Franken
oder 3 Dotlar, halbjährig 8 Schw, Franken oder
P/i Dollar
EINZELHEPTEr
Für Österreich und Deutschland ü. K. 15,000.
Für das übrige Ausland 3 Schw. Frauken oder
GO Cents
VERLAG INDIVIDUALPSYCHOLOGIE WIEN
VERLAGSBUCHHANDLUNG MORITZ PERLES. WIEN, L, SEILERGASSE 4
Für England und Amerika: Kegan Paul, Trcnch, Trubner & Co., Lid*> London
STÄNDIGE MITARBEITER
DER INTERNATIONALEN ZEITSCHRIFF FOR 1NDIVIDUALFSYCHOLOGIE:
Dozent RUDOLF ALLERS (Österreich), ALFRED APPELT (München), Prof. FELIX
ASNAOUROW (Argentinien), LUDWIG BAYER (Österreich), RICHARD BAYER (Öster-
reich), FERDINAND BIRNBAUM (Österreich), Dr. JOSEF BLEYER (München),
Dr. CANNABICH (Rußland), V. CHASSE (Schweiz), Prof. DELGADO (Per«), Dr. DELTA
(Griechenland), Dr. CHRISTO DUTSCHEWITSCli (Bulgarien), ANGELA ESSLEN
(München), Dr. A. FRIEDMANN (Österreich), Prof. CARL FURTMüLLER (Öster-
reich), Miß MAY JACOBS (Boston, Mass., U. S. A.), Prof. JOEDERSHOLM (Schweden),
Dr. BRUNO KRAUSE (Dortmund), Dr. PAUL KURZWEIL (Ungarn), IDA LÖWY (Öster-
reich), Dr. HUGO LUKACS (Österreich), Dr. STEPHAN v. MADAY (Ungarn), D, C.
MARAIS (Wellington, Südafrika), MARGARETHE MINOR (Österreich), Prof. HEINRICH
MUTSCHMANN (Dorpat), Dr. OTTO NÄGELE (München), CARL NOWOTNY (Öster-
reich), WILLIAM NUTTALL, B. Sc. Techn, (Rochdale, England), Prof. D. E. OPPEN-
HEIM (Österreich), Dr. OTTO RITTERSPORN (Österreich), Dr. CESAR
RUSSO (Österreich), Dr. Prinzessin ELEONORE SALM-SALM (Hamburg), Dr. ELSE
SUMPF (München), Dr. EUGEN SCHMIDT (München), HEDW1C SCHULHOF
(Tschechoslowakei), Dozent OSWALD SCHWARZ (Österreich), W. I. H. SPROTT (Cam-
bridge, England), Dr. LEONHARD SEIF (München), Dr. MANOLIS TRIANDAPHYL-
LIDIS (Griechenland), Dr. KURT WEINMANN (München), Dr. O. E. WEXBERG (Öster-
reich), Dr. FÖLKERT WILKEN (Detmold), YVONNE E. W1NSL0W (San Francisco,
U. S. A.).
Aus eigener Kraft hat sich die Individualpsychologie, nur gestützt auf die
wachsende Erkenntnis ihrer Anhänger und Mitarbeiter, Bahn gebrochen, und befruchtet
seit Jahren die Gebiete der Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie und Neurosenfor schuug,
der Philosophie, Literatur und Kunstforachung sowie der Religionspsychologie. Im engsten
Zusammenhang mit Massenpsychologie und Massenpädagogik, für die sie der sicherste
Leitfaden ist, hat sie das Gebiet jedes im Leben wirkenden Menschen, die Menschen-
kenntnis, erhellt und auf eine wissenschaftliche, erlernbare Grundlage gestellt.
Die Aufgabe dieser Zei tschrif t ist dadurch gegeben. Sie wird in Originalartikein
unserer zahlreichen Mitarbeiter die gewonnenen Resultate aus der Erforschung der Kinder-
seele, der Persönlichkeit und der Masse einem internationalen Leserkreis vermitteln. Sie
wird in kleineren Mitteilungen die Bausteine schaffen, die zum Ausbau der Menscben-
keuntuis nötig sind. Sie wird organisatorisch eingreifen und die bisher begründeten inter-
nationalen Arbeitssektionen unterstützen, ihre Erweiterung fördern und ihre Forschungs-
ergebnisse verbreiten. Sie wird die zeitgenössischen Leistungen auf dem eigenen Gebiete
sichten und kritisch zu ihnen Stellung nehmen.
Wir wollen beharrlich den Beweis führen von der tragischen Bedeutung der Herrsch-
sucht und der Entmutigung, wie sie besonders in der Neurose und in der Verwahrlosung
miteinander verbunden die Triebfedern abgeben, in allen anderen Erscheinungen des Kultur-
lebens zum Hemmschuh werden, bis wir ein allgemeines Verständnis dieser Tatsachen
erzielt haben.
Die Arbeiten können in deutscher, englischer und französischer
Sprache erscheinen. Ein kurzes Referat in einer zweiten Sprache soll auf den Haupt-
gedankengang hinweise».
Dl6S6r Nummer lie S en zwei Prospekte der INTERNATIONALEN
aCi . Aluulincr ZEITSCHRIFT FÜR INDSVIDUALPSYCHOLOGIE
bei. Wir bitten unsere Abonnenten, sie an Interessenten weiter zu stnden. Weitere
Prospekte und Probehefte stehen auf Wunsch kostenlos zur Verfügung.
a
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE UNIVERSITÄT IN BERLIN),
- 1 \ 'i
I!. JAHRGANG
WIEN, SEPTEMBER 1923
NR. 1
INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT
FÜR INDIVIDUALPSYCHOLOGIE
Fortschritte der Individualpsychologie
Vortrag, gehalten am VII. Kongreß für Psychologie in Oxford, im August 1923
Von Dr. ALFRED ADLER
In der Verfolgung unserer Forschungen gelangten wir im Laufe der letzten
Jahre zu einem immer stärkeren Ausbau unserer Standpunkte, die nunmehr der
Öffentlichkeit und ihrer Überprüfung übergeben werden sollen. Dies gilt in erster
Linie von der Grandanschauung der lndividualpsycliologie: nicht die im Seelen-
leben auffindbaren Klüfte und Phänomene, wie sie experimentell erschlossen oder
analytisch gefunden werden, ergeben ein Verständnis für eine Person. Das
Individuum kamt sie verschiedentlich benützen oder unbenutzt lassen. Was wir
den anderen Richtungen der Psychologie und Menschenkenntnis entgegenzuhalten
hatten, war die Feststellung, daß sie uns bestenfalls etwas aussagen über die
vorhandenen Kräfte, nicht aber über deren Gebrauch und Verwendungsart, nichts
über die Richtung. Das Seelenleben aber ist kein Sein, sondern ein Sollen. Durch
diesen Zwang zu einem auf ein Ziel gerichtetes Geschehen kommt in das ganze
Seelenleben ein Drang nach vorwärts, und in diesem Strom des Geschehens
erfahren alle vorhandenen seelischen Kategorien und Kräfte ihre Form, Richtung
und Modellierung.
Der Ausbau des menschlichen Seelenlebens geschieht unter Zuhilfenahme
einer fiktiven Ideologie, durch Aufstellung eines Zieles, unter dem Druck einer
teleologischen Apperzeption, und so erweist es sich am Ende, daß wir in allen
seelischen Erscheinungen den Charakter der Zielstrebigkeit wiederfinden, dem sich
alle Kräfte, Instanzen, Erfahrungen, Wünsche und Befürchtungen, Defekte und
Fähigkeiten einordnen. Daraus ergibt sich, daß ein wirkliches Verständnis für ein
seelisches Phänomen oder für eine Person mir aus einer teleologisch begründeten
Zusammenhangsbetrachtung gewonnen werden kann.
Daraus geht hervor, daß jedes Individuum handelt und leidet nach Maßgabe
seiner individuellen Teleologie, die wie ein Fatum wirkt, solange er sic nicht ver-
standen hat. Ihre Ursprünge führen bis in die erste Kindheit zurück und zeigen
sich East immer irrtümlich beeinflußt durch körperliche und seelische Schwierig-
keiten, durch Gunst und Ungunst der ersten Situationen in der Kindheit.
Durch diese Betrachtung wird die Bedeutung der Kausalität für das Ver-
ständnis des seelischen Geschehens so weit eingeschränkt, daß wir sie wolil
voraussetzen, daß wir sie aber als ungenügend erkennen bezüglich der Aufhellung
eines seelischen Rätsels und gar zur Vorhersage einer seelischen Stellungnahme.
4
Das Ziel des menschlichen Seelenlebens wird so zum Dirigenten, zur causa
finalis, und reißt alles seelisch Bewegliche in den Strom des seelischen Geschehens
hinein. 1 her ist die Wurzel der Einheit der Persönlichkeit, der Individualität. Ihre
Kräfte könnten woher immer gekommen sein, nicht woraus sie entstanden sind,
wohin sie gehen, auf was sie hinauslaufen macht ihre Eigenart aus. Ein Beispiel
soll dies erörtern: Ein vierzigjähriger höherer Beamter leidet seit seiner Kindheit
an Zwangsimpulsen. Von Zeit zu Zeit muß er mit peinlicher Pedanterie die kleinen
Aufgaben, die er sich stellt, sorgfältig auf einem Zettel niederschreiben. Dabei
entdeckt er ein heimliches Lustgefühl, das er sich nicht erklären kann. Bald wird
Dr. ALFRED ADLER:
dieses aber abgelöst durch ein heftiges Reuegefühl, wie er die Zeit mit solchen
Dingen vertrödeln könne. Und nun gibt er sich die Schuld, daß er durch diese
Abhaltungen sein Fortkommen im Leben verhindert habe. Nach kurzer Zeit wieder-
holt sich dasselbe Spiel.
Nach dem heutigen Stand der individualpsychologischen Erfahrung sind der-
artige Rätsel auf den ersten Blick lösbar. Wir sehen diesen Mann statt auf dein
Wege der Gemeinschaft, anstatt mit der Lösung seiner Probleme beschäftigt, in
unverstandene Schwierigkeiten verwickelt. Bei dieser Gelegenheit aber umgeht er
wie ein Deserteur die ihm gesetzten, gesellschaftlich notwendigen Aufgaben. Seine
Schuldgefühle, weit entfernt, seine und seiner Umgebung Lage, seine bisherigen
Fehler zu verbessern, tragen nur zur Verschlimmerung bei, weil sie ihn noch
weiter von seiner Arbeit abziehen. Sind also weitere, richtige Mittel zur Desertion
Seine bewegte Klage endlich, wie ihn sein Leiden im Fortkommen störe entbehrt
nicht des Lichtblickes, weil sie gleichbedeutend ist mit der Feststellung: „was hätte
ich alles geleistet, wenn ich dieses Obel nicht gehabt hätte!“
Wir sehen in das Arrangement eines Neben kriegsschau platzes, dessen Zweck
und Ziel es ist, den Hauptkriegsschauplatz aüszuschalten. Und alle vorhandenen
seelischen Phänomene, Zwang, Lustgefühle, Schuldgefühle. Logik und Lebens-
wandel, spottend jeder Interpretation ihres Ursprunges und ihrer ursprünglichen
Bedeutung, gehorchen ausschließlich nur der einen Aufgabe: im Vormarsch des
Lebens der Lösung der realen Fragen auszuweiehen, eine sichernde Distanz zu
ihnen zu gewinnen und den Schein einer tröstenden Reserve zu erobern: ,was ich
alles hätte leisten können, wenn — . — “
*
Neurose und Psychose sind die Ausdrucksformen entmutigter Menschen,
wem sich diese individualpsychologische Erkenntnis entschleiert hat, der wird es
rughcli vermeiden, mit entmutigten Menschen langwierige Exkursionen in mystische
1 ekler der Psyche zu unternehmen. Selbst beiläufig richtige Mutmaßungen über
primäres psychisches Geschehen würden immer nur willkommener Ausweg sein,
sich von lebenswichtigen Fragen zu entfernen. Was immerhin wirksam und törder-
!£, , ca . 1 zustande kommen kann, ist wie bei der Suggestiv- und hypnotischen
tneiapie die Ermutigung, die unverstanden (unbewußt?) aus der menschenfreiind-
hciici], geduldigen Beschäftigung des Arztes erfließt.
Diese Form einer teilweisen Ermutigung genügt in den seltensten Fällen, ist
. a -, Sleichzusetzen unserer Methode, die unabhängig und selbständig
macht, weil sie die wirksamen Ursachen der Entmutigung behebt.
Also legt die Individualpsychologie doch auch de- Ursachen einer seelischen
0ewi 1 cllt bei? Wohl denen des zu behebenden Grundphänomens,
i?, 1 t,£ ' I ! ei1 ) die als Ausdrucksmittel der Entmutigung immer nur ihrer Zweck-
m«* 8R ^ a be f-u nWe i nduug . fin 5 len l e ‘S entlic h richtig am Platze sind, solange die
Mutlosigkeit aiihalt, oder auch durch andere ersetzt werden können.
Um ateo von den Ursachen der Entmutigung zu sprechen: sie sind immer
uit tunlich. Emen völlig zureichenden Grund zur Entmutigung gibt es nicht! Nur
dieser Irrtum berechtigt uns, eine radikale Therapie der Neurosen in Angriff zu
nehmen. Im obigen Fall war es der hochmütige, henschsüchtige Vater, der den
Jungen schon in seiner Kindheit bedrückte und ihm systematisch die Hoffnung auf
ein gedeihliches Fortkommen raubte, Man wird einwenden, ob denn jedes Kind
entmutigt weiden könne? Nun, ich traue diese Kunst jedem Erzieher bei jedem
Kinde zu, insbesondere weil die ganze Menschheit zur Entmutigung neigt. Freilich
isl die aufzuwendende Kraft in jedem Falle verschieden und kann durch körper-
te Minderwertigkeiten gefördert, durch günstige Umstände gehemmt werden.
Das Ziel dieses Kindes aber war, den Vater zu übertreffeu. Da es sich dies in
offenem Streben nicht zutraute, unterfing es sich, den Schein der Überlegenheit
zu retten, suchte Umwege und fand einen Ausweg und mildernde Umstände in
seiner Zwangsneurose. *
2
Fortschritte der Individualpsychologie
Wer ist nun der wirkliche Dirigent, der vielleicht nur dort, wo es ihm paßt,
andere Ziele als das seine (Selbsterhaltung, Hunger und Liehe, Lustgewinnung)
vorschiebt, sie gelegentlich auch vertauscht? Der in allen Phänomenen sein Spiel
treibt, alle Ausdrucksformen, seelische wie körperliche, beherrscht und in seinen
Dienst stellt? Ist es nur einer? Sind es mehrere? Ist es vielleicht denkbar, daß
ein Individuum, ein Unteilbares, das wir als Einheit empfinden und verstehen,
von dem wir, was als einziges Kriterium des Verständnisses Wert besitzt, Vorher-
sagen können, wie es sich in einer bestimmten Lage benehmen wird, mehreren
Zielen nachstrebt? Wir haben es nie gefunden. Aber das double vie, die Ambi-
valenz? Sind hier nicht zwei Ziele zu sehen? Das Schwanken, der Zweifel?
immer weist uns das Geltungsstreben, im allgemeinen Sinne das Wollen,
darauf hin, daß in allem seelischen Geschehen eine Bewegung im Gange ist, die
von einem Minderwertigkeitsgefühl aus ihren Lauf nimmt," um zur 1 lohe zu
gelangen. Die individualpsychologische Lehre von der seelischen Kompensation
weist darauf hin, je stärker das Minderwertigkeitsgefühl ist, um so höher das
Ziel der persönlichen Macht.
Ist aber das Geltungsstreben mit seinem Ziel der Überlegenheit jene richtende
Kraft, die alle Bewegungen der Menschen lenkt, dann dürfen wir sie uns nicht
etwa als belanglosen I akior vorstellen. Dann ist sie mit unserem gesamten Leben
verbunden, dann stellt sie ein Streben dar auf Leben und Tod. Und in der Tat:
sie ist imstande, uuscicn Sclbsteihaltimgsti ieb, unser Lustverlangen, unseren
Wirklichkeitssinn, unsere moralischen Gefühle zu stören oder aufzuheben. Sie
findet im Selbstmord einen Weg zur Durchsetzung, sie lenkt unsere Freundschafts
und Liebesgefühle, sie läßt uns Hunger und Durst ertragen und macht uns
Schmerz, Trauer, Qualen zu Etappen unserer Triumphe. Nichts was der Mensch
genießt oder empfindet und tut, empfängt er mit Unbefangenheit. „Schön ist
häßlich, häßlich schön“, singen Macbeths Hexen. Und: „der Verstand ist listig“
erklärt 1 legel. Als Sokrates einst einen Sophisten in durchlöchertem Mantel sali’
rief er ihm zu: „Jüngling von Athen, aus den Löchern deines Mantels guckt die
Eitelkeit!“ Bescheiden und eitel zugleich! ist hier eine ehrliche Ambivalenz vor-
handen? Oder ist es nicht eine Finesse, mit zwei statt mit einem Pferde zu fahren
auch durch Bescheidenheit zu glänzen? Im double vie unterstützen sich beide Rollen*
um das Ziel der Überlegenheit erreichen zu helfen. Sowie ein Börsenspieler, je
nach Bedarf, das eine Mal in der Haltung des Haussiers, ein andermal als Baissier
auftritt, beides, um Geld, das heißt Macht zu gewinnen. So antwortete mir einmal
ein reichgewordener alter Geschäftsmann auf meine Frage, warum er noch ver-
dienen wolle, da er doch alles kaufen könne, was käuflich sei: „Wissen Sie,“ sagte
er, „das ist die Macht, die Macht über die andern!“
Ich könnte als Psychologe auch andere Wege gehen. Ich könnte den psycho-
logischen Wurzeln naehforschen, warum jener Sophist eine Vorliebe für zerrissene
Mäntel hatte, um seine Bescheidenheit zu demonstrieren. Dann aber käme ich auf
ein dem Sophisten erwünschtes Nebengeleise. Ich hätte seine Eitelkeit aus den
Augen verloren. Ich muß vielmehr ergründen, woher seine Eitelkeit stammt.
Ob er dabei im Sinne des Vaterideals vorgeht, wenn er sich in Lumpen
hüllt oder im Sinne des sogenannten „Ödipuskomplexes“ oder vielleicht in beider
Sinne oder in keiner von diesen Richtungen, ist wohl recht belanglos. Auch die
uns bekannten Tatsachen, daß einer den Vater nachahmt oder ihm zuwiderhandelt,
haben durch eine derart mystifizierende Beleuchtung keine Bereicherung gefunden!
Hier schließt sich unser Verständnis für die psychologische Struktur des
Zweifels an. Auch beim Zweifel bestehen nicht etwa zwei verschiedene Ziele,
sondern ein einziges: Stillstand! Die gleiche Überlegenheit gilt für alle soge-
nannten nervösen Symptome. Wie eine verschleierte Bremsvorrichtung greifen sie
in die Bewegung des Fortschrittes ein, lenken sie auf ein Nehengeleise und hemmen
die Erfüllung von oft selbstausgesprochenen Forderungen.
Auch in diesen Fällen finden wir als Dirigenten die Eitelkeit, die sich vor
Verletzungen fürchtet.
Das Ziel der Überlegenheit, bei Nervösen außerordentlich hoch angesetzt,
formt die Individualität des Einzelnen, modifiziert seine Logik, Ästhetik uncl Moral
1 *
13
Dr. ALFRED ADLER:
und drängt ihm die zugehörigen Charakterzüge, Intelligenz, Energie und Affekte
auf. Die leitende Idee seiner Persönlichkeit verhilft ihm zu seiner eigenartigen
Gangart und Bewegungslinie, die wie eine ewige Melodie sein ganzes Leben
durchzieht. Wer diese Bewegirngslinie kennt, versteht erst den Sinn jeder ein-
zelnen Bewegung. Reißt man ein einzelnes Phänomen aus diesem Zusammenhang,
so wird man es immer mißverstehen. Die einzelnen Töne sagen uns nichts, wenn
wir die Melodie nicht kennen. Wer aber die Bewegungslinie eines Menschen
kennt, für den beginnen die einzelnen Erscheinungen zu sprechen.
Daraus folgt auch; die richtig verstandenen seelischen Phänomene können als
Vorbereitungen für ein Ziel der Überlegenheit aufgefaßt werden.
Über den Ursprung des Geltungsstrebens sind wir durchaus nicht im Unklaren.
Die Dürftigkeit und Hilflosigkeit des Kindes führt regelmäßig zu einem Minder-
wertigkeitsgefühl, das nach Erlösung drängt. Schlechte Erziehung, ungünstige
Situation, angeborene körperliche Schwächen steigern dieses Minderwertigkeits-
gefühl und damit auch die Sehnsucht des Kindes nach Geltung und Macht. Das
Kind findet in seinen ersten Jahren die Schablone für seine Stellungnahme zum
Leben, entsprechend seiner Situation, seiner Umgebung, seinem Lebensmut und
seiner Findigkeit. Im I rotz oder im Gehorsam, immer strebt es nach der Höhe.
Dabei ist entsprechend der Unreife des kindlichen Geistes und Verständnisses
reichlich für Irrtümer Platz. Ja, wir werden, da das menschliche Wirken Stückwerk
ist, eigentlich niemals den Irrtum vermissen. Nicht in der Einschätzung der
eigenen Lage und nicht in der Wahl des Zieles. Dazu kommt noch, daß bei ehr-
geizig Strebenden niemals Konflikte, Rückschläge und Niederlagen ausbleiben, da
sie sich von der Logik des menschlichen Zusammenlebens, von der absoluten
Wahrheit, also vom Gemeinschaftsgefühl allzuweit entfernt haben. Damit aber
stellt sich die Entmutigung ein, die immer Irrtum ist, in ihren verschiedenen
Graden und arrangierten Sicherungen abermals zu zahlreichen Irrtümern Anlaß
gibt. Wir haben festgestellt, daß alle Nervöse entmutigte Ehrgeizige sind und
daß die Entmutigung der Kinder und der Erwachsenen vielleicht auf 00% der
Menschheit verteilt ist.
Die Aufgabe der Erziehung ist es, die Schablone des Machtstrebens zu
verhindern und die Entfaltung des angeborenen Gemeinschaftsgefühls zu fördern.
Die individualpsychologische Behandlung der Nervösen, der" entmutigten Ehr-
geizigen, geschieht durch Aufdeckung ihrer Irrtümer, durch Abbau ihres Macht-
strebens und durch Hebung ihres Gemeinschaftsgefühls.
*
Man könnte geneigt sein, in unseren Anschauungen den Bestand einer
Schablone zu suchen, und könnte glauben, cs genüge die Kenntnis dieser Schablone,
etwa des Minderwertigkettsgefühles und seiner Kompensationen, um nun alle
Katsel des Seelenlebens lösen zu können. Da vergesse man nur nicht der Unsumme
von Kunstgi men und Listen, deren Buntheit nicht kleiner ist als das Leben selbst,
-iii'-'ii Leitfaden, einen sicheren Führer, nicht mehr bedeuten die Grundanschau-
imgen der Individualpsychologie. Jedesmal muß der Weg selbst gegangen werden,
üfis Dunkel et hellt werden, bis wie durch eine Eingebung dem Suchenden und
Lntet suchten der Zusammenhang klar ist. Es ist durchaus nicht auf den ersten
bhek einzusehen, wo im Palle der Depression, der Melancholie das Ziel der
L bei legen heit wirksam sei. Wir wollen es an einem Falle von „manischdepressivem
Irresein nachzuweisen versuchen.
Ein 40 jähriger, athletisch gebauter Mann mit langgezogener Nase und
eiförmigem Gesicht klagt, daß er derzeit bereits zum dritten Male in einen Zustand
der Melancholie verfallen sei. Alles widere ihn an, er könne sich mit nichts beschäf-
tigen, sein Schlaf sei seit Beginn der melancholischen Verstimmung vor acht
Monaten wieder wie bei den anderen zwei melancholischen Phasen vollständig
gestört. Er trauere den ganzen Tag und die Nacht dahin, finde an nichts Gefallen
und sei erotisch völlig unempfindlich. Alles komme ihm wie Mist vor. Im Jahre
1918 sei er an Manie erkrankt. Wie ein Champagnerrausch sei cs über ihn
4
Fortschritte der Indrvidualpsychologie
gekommen. Fr dachte, er müsse sein Vaterland retten, er sei dazu auserkoren,
müsse Reichsverweser werden; er habe auch versucht, Verhandlungen anzubahnen,
hatte grolle Entwürfe für Kolossal bauten ausgearbeitet, bis ihn seine Familie in
eine Irrenanstalt sperrte. Einige Wochen nachher verfiel er in einen Zustand der
Depression, der neun Monate währte und ganz wie der gegenwärtige verlief.
Kaum fühlte er sich besser und dachte wieder an eine regelmäßige Arbeit, als
die Manie wieder eintrat, ungefähr di; gleiche Zeit wie das erste Mal dauerte,
um dann der melancholischen Phase Platz zu machen. Fast unmittelbar an diese
reihte sich das dritte manische Zustandsbild, welches von der gegenwärtigen
Melancholie abgelöst wurde.
Die Ausdrucksform der völligen Entmutigung dürfte kaum zu übersehen sein.
Der Lebenslauf dieses Mannes bot genug Verlockungen dazu und Bestätigungen
dafür. Er war das Kind einer reichen Familie und hatte zum Taufpaten einen
höchsten Würdenträger des Staates. Seine Mutter, eine ehrgeizige Künstlernatur,
erklärte ihn fast in der Wiege schon als unvergleichliches Genie und stachelte
seinen Ehrgeiz in unerhörtem Maße. Er wurde seinen anderen Geschwistern weit
vorgezogen. Seine Phantasien in der Kindheit gingen daher ins Ungern essene.
Am liebsten spielte er Feldherr, trommelte eine Anzahl Jiuigens zusammen
und errichtete sich einen Feklhermhügel, von dem aus er die Schlachten
leitete. In der Kindheit schon und später in der Mittelschule empfand er es tief
schmerzlich, wenn ihm nicht alles leicht und glänzend von der Hand ging Von
da an begann er seinen Aufgaben auszuweichen und vertrödelte die Zeit haupt-
sächlich mit Teilarbeiten. Wir werden sehen, wie diese Spiele der Jugend zum
Ausgangspunkt seiner Berufswahl wurden. Er ging später zum Militär, verließ
aber bald seine Stellung, um sich der Bildhauerkunst zu widmen. Als er auch da
nicht gleich zu Ruhm und Ehren gelangte, sattelte er abermals um und wurde
Landwirt. Als solcher verwaltete er die Güter seines Vaters, ließ sich in allerlei
Spekulationen ein und stand eines Tages vor dem völligen finanziellen Zusammen-
bruch. Als er wegen seiner waghalsigen Unternehmungen als verrückt gescholten
wurde, gab er das Rennen auf und zog sich zurück.
Da kam die große Geschäftskonjunktuv der Nachkriegszeit, und alle seine
waghalsig begonnenen, schon verloren geglaubten Unternehmungen begannen
aufzublühen. Geld strömte ins Haus und überhob ihn jeder Sorge. Auch sein
Prestige schien gerettet. Nun hätte er sich wieder nützlicher Arbeit widmen
können. Da brach sein manischer Anfall aus und verhinderte jede Tätigkeit. Die
gute Zeit traf ihn bereits im Zustande gänzlicher Entmutigung,
Aus seinen Jünglingsjahren erinnert er sich an ein starkes Prädestinations-
gefühl. Selbst Gedanken der Gpttähnlichkeit wagten sich an ihn heran. Seine
Zimmer waren über und über mit Napoleonbildern geschmückt, die wir als Beweis
seines Strebeus nach Macht gelten lassen dürfen. Als ich ihm einst zur Illustration
seiner Bewegungslinie darauf verwies, daß er einen 1 leiden in seiner Brust trage,
den er seit seiner Entmutigung nicht mehr auf die Probe zu stellen wage, erzählte
er mir betroffen, daß er über der Türe seines Arbeitszimmers einen Spruch
Nietzsches angebracht habe, der folgendermaßen lautete: ,,Bei allem, was dir heilig
ist, bitte und beschwöre ich dich: wirf den Helden in deiner Brust nicht von dir!“
In einer der Hauptfragen des menschlichen Lebens, in der Berufsfrage, sehen
wir deutlich seine fortschreitende Entmutigung infolge seines unerfüllten und
unerfüllbaren Ehrgeizes. Wir können sie, wenn auch nicht billigen, so doch
begreifen. Wie war es mit der zweiten Hauptfrage, mit der sozialen Verknüpftheit
von Mensch zu Mensch? Man konnte leicht Vorhersagen, daß er auch hier scheitern
mußte, daß sein Hochmut ihn kontaktunfähig machen mußte, so daß er im großen
und ganzen niemandem zulieb und niemandem zuleid in einer isolierten Stellung
verharrte. Selbst seine Geschwister und seine Kameraden wurden ebensowenig in
seiner Nähe warm wie er in ihrer. Nur zuweilen zeigte sich im Beginne einer neuen
Bekanntschaft ein anfängliches Interesse, um bald wieder abzuflauen. Er kannte
die Menschen nur von ihrer schlechten Seite und hielt sie ferne. Dies und sein Ziel
der Überlegenheit zeigte sich auch in seinen satirischen, scharf zugespitzten
Pointen.
Dr. ALFRED ADLER:
In der dritten Hauptfrage des Lebens liatte er schwer Schiffbrudi gelitten.
Er hat wohl niemals geliebt und kannte die Frau nur als Objekt. So kam es, daß
er in jungen Jahren an Lues erkrankte, an die sich unvermerkt eine Tabes mit
leichten Erscheinungen schloß. Dies trug nicht wenig zu seiner weiteren Ent-
mutigung bei. Jetzt sali er sich von allen Triumphen ausgeschlossen, die er sich
sonst im ersten Ansturm bei Frauen, beim Preisfechten, Wettschwimmen und bei
I loclitouren geholt hatte.
Wie er die Menschen sich entfremdet hatte, stand er nun selbst als Fremdling
in diesem Leben, das ihm nirgends einen Kontakt bot. Seinen Irrtum einzusehen,
zu verbessern war er nicht fähig. Sicherlich hinderte ihn auch sein Stolz, der
1 leid in seiner Brust daran. So fand ich ihn als einen Menschen, der nach einem
glänzenden, ja fanatischen Auftakt immer nachgelassen hatte, sobald sein Ehrgeiz
zu fürchten begann.
Sobald ich den Rhythmus seines Lebens, wie er unter dem Druck seines ehr-
geizigen Strebens zustande gekommen war, erkannt liatte, wußte ich auch, daß
alle seine seelischen Leistungen im Sinne dieses Rhythmus verlaufen mußten. Um
die Probe darauf zu machen, ließ ick mir seine Schriftzüge zeigen.
s j d d ilucb hier, und zwar ohne graphologische Deutungskunst, den
jedem n Wort kt daS stätltligc Schwinden in der Größe der Buchstaben in
be ! lso . ^^l! ig ä u ßern sich die entfernten Pole seiner Bewegungslinie in der
‘ , (i nci Stoffe, die er plastisch gestalten wollte. Einen Sonneiianbeter wollte
Tr, r 1 ’,-: mit ausgebreiteten Armen nach dem Höchsten greift, und die
^ ur El i dc gebückt cm verlorenes Glück beweint. Doch nicht einmal
' orai beiten ist er geschritten. Sein Ehrgeiz lebte weiter, war aber olin-
mächtig geworden und verbarg sich.
,i fr d *A Se £ bnpotent gewordene Ehrgeiz noch gestalten konnte, zumal
SiieT 5 zur Außenwelt verloren gegangen war, sah man in der Darbietung
“ 1 jy . d,ose - Sie beginnt mit dem manischen Auftakt, der brüllend den Mut zur
W • bf j weisen w i 11 ’ ? erade abei durch sein Ungestüm und durch seinen
U | 1 , S<-'g ei i die Logik uns die Entmutigung verrät. Im Rausch seiner
rfh™™ telI f eit . E S t er dahin und zwingt die Umgebung zur Korrektur, zur
« pi. . „m unc ! zui Hemmung, die der Kranke selbst nicht aufbringen darf, weil
uudetei Elugeiz keine Handlung im Sinne des common sense duldet.
rv i ■ U P d as , Sch winden dos Kraftaufwandes im Zwange seiner Lebenslinie.
£ ri Ümut f Ü ?§ in . der mdancholischen Phase liegt klar zutage. Wo stickt nun
iu Lin geiz. Alles ist schal. Nichts kann ihn bewegen, ihn erfreuen, nichts wirkt
auj ihn. Allem stellt er kalt und fremd gegenüber wie annähernd scii on in seinen
juiigeien Jameii, Die Nichtigkeit alles Irdischen, die Wertlosigkeit aller Menschen,
aliei menschlichen Beziehungen ist die Rache seines verwundeten Ehrgeizes, mit
Jei ei sich jeder Wirkung und Kraft der anderen entzieht, indem er sie leugnet.
Und je mehr er über diese Entwertung klagt, um so deutlicher stellt er sie
lest Statt sich zu erhöhen, erniedrigt er die anderen. Dem irrtümlich allzu hoch
gesteckten Ziel seiner frühen Kindheit bot die Wirklichkeit unlösbare Schwierig-
keiten. Nur im Spiel, in der Phantasie und in leicht und rasch erworbenen
Fortschritte der Individualpsychologie
Triumphen genügten sein Mut und seine Ausdauer. Nach individualpsychologischen
Maßen gemessen, war er immer ein Typus des Entmutigten. Sein manisch-depres-
sives Irresein ist der Ausdruck einer stärkeren Entmutigung bei gleichbleibendem
Rhythmus seiner Bewegimgslinie.
Zum Rätsel des zyklischen Verlaufes dieser Erkrankung sollen nächstens noch
einige Aufklärungen folgen. Ebenso bezüglich der Behandlung.
SU M MARY: lf h not by analysis or experimental
mvL'slittulion nf iht forccs manifestet! in the mental life
oJ | he iudiviüual timt wu enn yuin a proper umlerAlnmlmg
ot Itiiti, bui ralher by itiveSliguiioE üf Ihe nimmer in
wludi he tiflcs these forces. Tins leads imkirally io
examinalioLi uf üie mdivldttals purpoac in 1 iSu os
mdfcakd hy the fjonta he Ims in view and wliich he
has adopted lo serve :ts oritnhdimi points in the f ie I U
of life aruinid hmi. By tliis melliod of investigatiön
llie importaiice ol causality is considejrably limited, för
all Ihe forcca latent in ilic individual Work in ihe
ser vice ül his individual tdeolugy and can bo tnuler-
stood wIivji Ihe goal is discovcred.
Nenroses nnd psyclioses are man i f es tat ious uf iudi-
vktiuds wbo an? disemiraged in life — discouraged
relative 1c the real detuantta of the every day life
aronnd lliem* A rational llierapy sliuuld not carry the
individual inlo mysfic Hehls of the wind, tlms afiordmg
bliTJ nt oute an eacapc from diese real dem and», bui
shotild tmcoiirage him into eontact with the activitie*
of cooperative working, loving and playiilg which the
logic of comniuna I Hie and the divfeiott of kib-our
implied. A ralbnai Iherapy in die Siealment of neuroäis
is fu^tified by Ihe fad tlial the enuses of the dis-
tour a^em eit i art fidtouaL
'1 he ultimate goal of ihe nervous individual is timt
of personal super inriiy. He blrivea towards Ihis goal
from early chihlhood, under pressure of a ieding of
inferior! ly adsiug from organ mferiorily opprcssJv
enviromuieiilat forces, Üfleü the goal of supertörity is
clever ly disguised, and the traits of eharaefer luatu-
fested in striving towards Ihe goul subtly dothed, as
wlieii Ihe individual displays h\s vaiiily ni bis modesty.
Individual psycho logical trentinen t dtecloses to die
individual his yeerd Idcology, traces ii back to ils
sojirces in early cttildliood, and poinls out wliere ii is
in contliet witli the real logic of cowniuxial life and the
development of social fedmg (üemdmclnflsgefühl).
l idLication shoukl eiicourage ihe ein Id and makc Juni
capabte of uiiimpeded contaef vvilh his feiluws and tlie
real Problems of Hfe, by the development of bis
social fedlng, ratlier fhaii diseourage hirn Euto slriving
iowards the ficÜtiotis goal ol superiodty over all
others.
Gemeinschaft als Idee und Erlebnis
Von Dozent RUDOLF ALLERS (Wien)
Den Lehren der Individualpsychologie , zufolge kommt der Beziehung des
Individuums zur Gemeinschaft grundlegende Bedeutung zu. Erscheint uns doch
die Neurose nicht nur, sondern die Gestaltung jeglichen Lebenslaufes gewisser-
maßen als die Resultate zweier Grundkräfte: des Geltungsstrebens einerseits und
des Triebes zur Gemeinschaft anderseits. Wenn die mangelnde Entwicklung des
letzteren oder die Lösung der auf ihn sieh aufbauenden Beziehungen auf die
Artung der Persönlichkeit einen so tiefgreifenden Einfluß haben kann, wie wir dies
alltäglich an den Neurosen beobachten können, so ist es wohl der Mühe wert zu
fragen, worin denn die Bedeutung der Gemeinschaftsbeziehungen eigentlich
gelegen sei.
Diese Bedeutung ist in doppelter Hinsicht zu betrachten. Es muß erstens
zwischen Gemeinschaft und Individuum eine wesensmäßige Beziehung bestehen,
das heißt das Wesen: Individuum muß durch das Wesen: Gemeinschaft irgendwie
begründet werden, unabhängig davon, daß irgendein konkretes, empirisches Indi-
viduum Glied einer ebensolchen Gemeinschaft wäre. Es muß eine Abhängigkeit
bestehen derart, daß ein menschliches Individuum, eine Person durch die Einord-
nung in die Gemeinschaft überhaupt erst möglich werde. Es handelt sich also um
eincii ideellen Zusammenhang. Zweitens ist zu fragen, ob und wie die Beziehung
zur Gemeinschaft sicii im Erleben des einzelnen auswirke, wie dieses Erleben der
Gemeinschaftsbeziehung auf die individuelle Seele und deren Verhalten zu anderen
abfärbe.
Gemeinschaft ist zunächst wohl zu unterscheiden von Gesellschaft. Gesellschaft
ist ein Aggregat von Individuen, die durch Rechte und Pflichten, durch Normen,
Gesetze und Formen aneinandergefügt sind. Gemeinschaft ist ausgezeichnet durch
7
RUDOLF ALLERS:
die Solidarität gewisser emotionaler und willensmäßiger Einstellungen*). In der
Gesellschaft garantiert der Bestand des Ganzen und die Beibehaltung der Richtung
aul dessen Ziele dem einzelnen die Möglichkeit der Erreichung oder der
Annäherung an die individuellen Ziele, die im übrigen ausnehmend verschieden
sein können. In der Gemeinschaft garantiert die Beibehaltung der im wesentlichen
identischen individuellen Ziele oder der Bewegung auf sic zu, die solidarische
Fortbewegung- des Ganzen in der seinem Wesenssinne entsprechenden Linie. Oder:
Gemeinschaft ist eine (überpersonale) Einheit von Personen, Gesellschaft eine
(objektive) Ordnung von Subjekten des Rechtes, der Wirtschaft und dergleichen,
Gemeinschaft ist Gemeinschaft von Personen. Sie setzt also Personen voraus.
Aber es scheint zu zeigen möglich, daß die Person erst durch die Gemeinschaft
möglich werde. Es konstituiert sich die Person alter erst durch jene Beziehung zu
anderen Personen, welche wir als Gemeinschaftsbeziehung benennen.
Oer Mensch als Person ist wesensmäßig bezogen auf den Anderen. Ohne diesen
crson<< n icht sein. Wenn auch der strenge Beweis für diesen Satz hier nicht
geiuhrt werden kann, 30 sei doch auf einige Punkte verwiesen, welche ihn be-
leuchten ). Allerdings werden auch hierbei Behauptungen aufzustellen sein, die
infolge mangelnder Begründung dogmatisch anmuten dürften: doch hoffe ich, daß
mr binn recht allgemein sich als evident erweisen werde.
Jedes Erlebnis — womit ein beliebiges Vorkommnis im Seelischen gemeint
sei — erlangt seinen vollen Wirkungswert und damit seinen vollen Sinn erst durch
die Fassung in dem ihm adäquaten Ausdruck, Dieser „Ausdruck“ muß nun nicht
mirner ein solcher im strengen Wortsimi sein. Wenn man in irgendeiner Situation
„sich über sich selbst klar werden“ will, so heißt das keineswegs, daß man für
sem Wesen die cinzuhaltende oder eingehalleiie Lebenslinie, die Motive eines
Handelns, die gesamte Attitüde Worte finden wolle und nun imstande sei sich
ais ein Soseiender zu beschreiben. Es heißt vielmehr, daß eine Haltung zu den
jeweils aktuellen Problemen gefunden werden soll, aus der heraus die später statt-
tmdenden Handlungen [ließen sollen. Es soll also ein gewisses Schema gefunden
weiden in das sich alle Einzelhandlungen einzufügen haben. Deren Gesamtheit
tU T as p^isdruck“ der Grundhaltung, eines liebenden, hassenden,
weltzugc wandten, asketischen - je nachdem, Das jenes Bedürfnis d-r Klärung
iwi a ! SOSei l- e Erlebnis ist erst erledigt“, das heißt zu voller Auswirkung ge-
wiir<lf> k? 11 ( I Pse Gesarnthaltimg, die also eine ausdrucks bestimmende ist, errungen
Z A i 'tr anderen Fallen handelt es sich indes wirklich um eine unmittel-
Sän,^TrS Shnd V ng A die .Formulierung nimmt, so sie gelang, das heißt als
GHiärdt* **) u Cni i garenden Gedanken das beunruhigend Quälende; die
„i™ d « Zärtlichkeit, das Wort der Liebe, die Drohhandlung, jegliche Affckt-
entiashmg usw. vollenden erst die betreffenden Erlebnisse. (Daß der Begriff der
sdien' Eflebnisses“ mancherlei Schwierigkeiten birgt, kann nicht über-
sencn> ubei auch nicht des breiteren erörtert werden ***).
n aHl AUSd AÜo k | ab 5 t J st , in ers f er Unie “ sowohl dem Sinne wie der Entstehung
Ü r Jur d ie anderen, verständliche Konkretisierung des inneren V 01 -
an eS v o^ndung des Erlebnisses im erlebenden Subjekt ist gebunden
verstänöi vh ükU P® ^ ,eses » tladurch es dem anderen — zumindest grundsätzlich —
TOlfÄÄ erschaubar wird. Somit ist der andere wesensmäßig in jedem sich
AnH ;uP d fn\5r e . bl V S vo ™us£esetzt Ohne ihn ist solche Vollendung unmöglich.
,^ neridlSte D SUb]ek lVS t te R ?? ung der Seele ist ihrem Wesen nach letzt-
auf ilm hin andeien ' 1,n S e0K i ne * ur *d bewegt sich in ihrer immanenten Zielsetzung
*) Vgl. Tön nies: Gemeinschaft und Gesellschaft.
**) Die hier anzudeutendeu Gedanken habe ich wiederholt in Vorträgen behandelt und
auch in meiner „Psychologie des Geschlechtslebens” bei Besprechung der „Liebe” heian-
gezogen. Sie kommen weitgehend — wenn sie auch großenteils unabhängig entwickelt
wurden — mit Lehren M. Schelers überein. Vgl. dessen: „Formalismus in der Ethik”,
„Vom Ewigen im Menschen” u. a.
***) Ober die grundsätzliche Einordnung der Gedanken auf den Ausdruck vgl.
tJoemgswalds „Grundlagen der Dcnkpsydiologie”.
8
Gemeinschaft als Idee und Erlebnis
Demnach ist die Fülle des Erlebens jedes einzelnen wesentlich geknüpft an
dessen Verbundenheit mit dem anderen, das heißt das volle individuelle Erleben
wird durch die Eingliederung in die Gemeinschaft möglich.
Die im „Ausdruck“ — so verstanden, wie gesagt — sich kundgebenden
wesentlichen Beziehungen zur Gemeinschaft sind aber noch in weit tieferem Sinne
konstitutiv für die Person. Von einer solchen sprechen wir nur dort, wo die
Verhaltungsweisen des Individuums aus ethischen Einsichten erftießen, wo sie uns
nicht bloß als „Ausdruck“ schlechthin — dies kann auch beim Tiere der Fall sein —
sondern als „Ausdruck“ bestimmter Wertungen erscheinen. Unter den Wertgegen-
ständen mögen sich auch solche finden, welche allein auf den einzelnen bezogen
sind — wie etwa die Vitalwerte der Selbsterhaltung — vor allem aber sind es
Wertgegenstände des zwischenpersönlichen Bereiches. Gut kann ein Verhalten nur
heißen, sofernc es in bezug auf den anderen — gleichgültig ob derselbe konkret
beteiligt sei oder nicht — stattfindet. Und so in jeglichem anderen Verhalten auch.
Damit ist von den Wesenszusammenhängen, -die sich zwischen Individuen und
Gemeinschaft ausspaiuien, aber nur einer oder, richtiger, von dem einen Wesens-
zusammenhang nur eine Seite aufgezeigt. Eine weitere ist, daß die Vereinzelung,
die Setzung der Person als solche, ebenfalls nur vermöge der Einbettung in den
Gemeinschaftskonnex möglich wird. So sehr die Person Eigensein und Ligenwert
besitzt, so sehr sind diese nur durch die Gegenüberstellung des einen und des
anderen* Ja sogai die fundamentale Abgrenzung von Person und der ihr als
Wirkungssphäre entgegenstellenden Welt — Objcktum, „Gegenwurf“ wie Meister
Eckhardt sagte — entspringt diesem Grundverhältnis aus Gemeinschaft.
Es ist, glaube ich, eine verkehrte Konstruktion, wenn man dem Primitiven
wie dem Kinde als ursprüngliche Attitüde eine Neigung zur Allbescelung zu-
schreibt, die erst durch die erfahrungsgeborene Beschränkung allmählich sich nur
auf Lebewesen, schließlich nur auf Menschen beziehen lerne. Vielmehr ist der
primitiven Person der Andere oder sind die Anderen die eigentliche und ursprüng-
lich gegebene Wirkungssphäre, nach deren Analogie erst allem, was Objekt des
Willens wird, Seele zu geschrieben werden kann.
Wenn nach dem bisher Ausgeführten die Beziehung des einzelnen zur Gemein-
schaft also wesensnotwendig ist und die Person mitkonstituiert, so ist damit noeb
nicht gesagt, daß diese Beziehung auch erlebt werde. Ja, man könnte sogar versucht
sein, die Notwendigkeit solchen Erlebens zu bestreiten durch den Hinweis auf die
— auch hier einleitend angemerkte — Tatsache, daß gerade die Neurose uns
zeige, wie solche Beziehung auch fehlen oder verloren gehen könne, ohne daß
dämm auch die Persönlichkeit verschwinde. Dieser Einwand indes wäre nicht
stichhaltig und beruhte auf einer einseitigen und zu engen Fassung dos Begriffes
der Beziehung. Denn diese muß ja nicht nur als positive verstanden werden. Es ist
nämlich ein Irrtum, wenn man glaubt, eine Beziehung dadurch aus der Welt zu
schaffen, daß man sie negiert. Auch der Empörer steht in Beziehung zu jenen
Gewalten, gegen die er sich empört. Cromwell war nicht ohne Beziehung zum
Königtum, Kain oder Manfred bei Byron sind nicht aus der Beziehung zu Gott
herausgetreten. Im Gegenteil: die Negation kann eine Beziehung ebenso wirksam
werden lassen — dem Grade nach — wie die Bejahung; nur die Alt des Bezogen-
seins wird eine andere. So ist es denn eigentlich unrichtig, wenn man sagt, der
Neurotiker habe die Beziehung zur Gemeinschaft verloren; dies kann er niemals,
weil seine Person wie jede dadurch mitkonstituiert wird. Was ihn kennzeichnet,
ist vielmehr, daß er diese Beziehung negiert (oder sich so verhält, als ob er sie
negieren wolle), die Gemeinschaft (vergeblich) einzuklammern und mit einem
negativen Vorzeichen zu versehen versucht.
Das Bejahen oder Verneinen einer derartigen Beziehung muß nicht unbedingt
ein bewußtes sein. Es ist sogar fraglich, ob es auch immer ein erlebtes sein müsse.
Indes glaube ich, behaupten zu können, daß jedes Moment, das wir an der
Person als Wesen wahrnehmen können, auch im Erleben sich manifestieren müsse.
Isi, woran nicht zu zweifeln, die Person eine Ganzheit, Totalität, so muß sie als
solche auch in jeder einzelnen Äußerung enthalten sein. Es kann das eine oder
andere Moment in verschiedenen Äußerungen deutlicher sichtbar werden als in
RUDOLF ALLERS:
anderen, es können gewisse Erlebnissphären die personalen Stinkt men schärfer
abbilden als andere, immer aber wird die Totalität unzerstuckt darin stecken*)
wenn in der Tat die Hinordnung auf die Gemeinschaft für das Wesen der
eison nntkonstituierend ist, so folgt, daß in jedem wie immer gearteten Akt der
l erson diese Beziehung nuten thalteu sein müsse. Dies gilt dann sowohl von den
„Eigenakten , che sich auf die Person selbst als solche und vereinzelte richten
als auch von allen „Fremdakteu“, die auf die anderen als einzelne oder Giiipnen
oder Gesamtheiten sich erstrecken. Von dieser wesentlichen Verknüpfung ist es
nur Abbild und Spiegelung daß — wohl in allen Daseinsformen des Menschen,
de m irgendeinem Sinne Kultur heißen dürfen - der einzelne in der Befrie’
chguiig aller seiner leiblichen wie geistigen Bedürfnisse an die anderen gewiesen ist
Diese Abhängigkeit aber ist — großenteils zumindest — eine erlebte. Wenn
auch nicht immer klar und deutlich bewußt, ist sie demnach dem Menschen vor
u!tnJ^' r ? e . er 3 , ls arbeitender den Übrigen verbunden ist, ständig gegeu-
steheiuirii Mmi - 3 n 1 Il 'i llt ( ta ? wil . ’ ^ en ’ n negativer üemeinschaftsbeziehiing
S e . Neuiotiker als aut bestem Wege zur positiven ansehen dürfen, wenn
SO Vf? a‘ I W'edergewomitti haben, rührt es, daß gerade die Berufswahl
50 <J “. Anhub für die neurotischen Arrangements wird.
hevieh!m,r 8 ?J? d n Uern i dafÜ *'. a t r b , ede ^ encl eindringlicher redet jegliche Liebes-
i iS™ d ' e erotische, die Sprache der Gemeinschaft Auf ihre Be-
sieh wohl Cei b ' euroserl P s y cbo l°S ie und Psychotherapie zu verweisen, erübrigt
Schließlich durchdringt, wie ich glaube, die erlebte Verknüpf Hielt mit den
a Kleien zur Gemeinschaft auch jedes andere im weitesten Sinne des Wortes sozial
,.,! ! f; lllleiue Verhalten. Nicht weil es sozial, das heißt an anderen betätigt wird
Betätigung an anderen bedeutet noch nicht Gemeinschaft damit. Hinweise auf
oas Uemeinschaftseilebms als reales Vorkommnis kann man indes an mannigen
entdecken. Etwa: ein Kind, das „spielt“, es sei der Vater oder sonst wer,
\ci hut keineswegs seine Persönlichkeit; es bleibt jenes Ich, das es sonst ist. Aber
v„,-k? S i° Spielen kann, zeigt, daß zu tiefst in ihm ein Wissen um eine eigenartige
allerersf Trmö g 1 ! cid ^ M,tmenschen ri,ht > welche ihm solche „Identifikation“
. A n y J" ® aibeitu n g d '^, cr melir weniger aphoristischen Bemerkungen würde
ClnriHerl mj en - bie w/ solltcn t mir andeuten, wie Erwägungen allgemeinsten
GcsirliWnnliVtm- VO, i ü Wescn f e ,‘ me n sc h heben Person ausgehen, schließlich zu
kommen q; ( , ttl ,j[ e an ®? n ’ we ^ ie der Indivklualpsychologie uberein-
»M*“ u « u <;b e>n Stuck des Weges andeuten, auf dem die
suchen «ein wiivi^iw^ ^u® Individualpsychologie vielleicht einmal zu ver-
3 ii halt f sochcs Unternehmen nicht für fruchtlose Gedanken-
" 1IIUHÖ (II1ULIL3 löl ClK> UUt 11
aut dem stehend, wir als Therapeuten handeln
SUMMARY; Since indiviüuiil psychology tcadiea flje waids (1 k tclownten and
iiu|iürtnuce oi thu feeltilff of Community for llie origin
nid therapy oF neuro^is, iE is inti^rtrathiur to jnquire
v/iml reu 1 ly are Itie links bidiveen ilie single individual
nml Uly coniiimnlly, Tlioat! links are of hvoped na t uro.
Ilit!y are necesaory, a-prioric, mctaphysical eüiup_t>
ÜGN;n, :)iul thfcy are moments real ly exisimg williin the
psydtic life of the single individual- Au Ego or
au „Person“ camiol bo llioyght as oxrsluig withoui
tht? rctalion to others. Theist* rdation^ are essential ly
constiUitives of the Ego» This k sliown by an analyds
d exp ress ion which b always original ly directcd to-
ittdispcTisablt: for die
cotiiplutin^ oi Uic Evolution of every mental proecss.
Mit* Ego being a toialsly and undiviaablc d cuntamed
as such tu ev&ry ad Ion or bdinviour» U [ollows,
t-dl all U* constitnents, also the relation io Ihc
olhhf« must be actually present in uvery acÜon.
I Imtu is no aclimr or bdiavlour not Involving a rc-
lai:on lo cotutnunity , tliough Ihis may be 11 negative
out?. The ihres: principal groirps of inlcrhtiman re*
latiousliips are athuled at (of socieiy, love and Work)
and tlie great theoretical and praetical importnncc of
an cKact philosophical Foundation ts pomted out.
t.i ehigehender ist dieser Gedanke ausgefühlt in meiner „Psychologie des Ge-
schlechtslebens”, München 1922.
10
The Relation of Psychology to Education
By YVONNE E. WINSLOW (San Francisco)
In Hie past the study of psychology was a Technical thing, along theoretic con-
ceptions on the purely logical meclianism of thought, that had no contact witli real
and practica! life and whcre one could find uo explanation for human conduct. lt
was a confused melee of literature aiul morals andhardly aiihonourto t he school of
medccine, but of late years it has made rapid progress in America as elsewhere and
the psydiological diagnosis of nervous diseases has now been fully accepled. We
have learned that the study of the mind as a merely mechanical part of ourselves —
the consciousncss, the inemory etc., is uselöss and that it hecomes efficaceous unty if
we can apply it in tlie upbuilding of character and especially in tlie remaking of
character when a person has grown more in one direction than another, or where
varions experiences in lifc have confused his tiiought processes and made him
nervous and imbalaiiced. Psychology should be uiiiquely a Science of conduct and it
was prerisely this of whicli it ahvays folget to speak in the past. We must have
a science of psychology that doctors, teachers and parents as well as ministers
and philosoplieis can co-operate witli. ln this direction it is steadily gaining, in
fact a ical icnaissaiice is taking place that boars hopoful signs of great things.
ln America tliere are two distinct types of schoois, the public (state) and tlie
private. The public schoois are excellent and co-educational, tlie teaching for all in
the samc and they are attended, by all dasses, the rieh and the poor, the coloured
and the white races - this the Americans believc is democracy. BliI the result is
as elsewhere that the public schoois are too crowded and tliose who want more
individual attention and more original work for tlicir children therefore send tliem
to the private schoois. There are also „experimental“ schoois, out-of-door schoois
and schoois for the subnormal. For a time there was much difference in regime
between the private and public schoois, but as it was realized that the students of
both offen met later in University, the general tedinical requirements become more
alilte. Oenerally speaking, they pay more attention to the physical welfare of the
child in both fliese types of schoois than is done in Europe, realizing that many
mental defects camc from bad liealth and that there is no such tliing as a sound
mind in and unsDund body. They have gymnasiums, vegetable gardeus, manual
training departments and in the High School the young men are taught trades ii
they wish, the young women cooldng, dressmaking, nursing, millinery etc. They
try when possible to so arrange the Programme that there is a good balance
between the mental and physical training and make an effort to lead tlie chikl in
tlie direction his individual case may need. In the poorer districts where there is
noticeable neglect in the public schoois tliere are visiting nurscs wlio examine the
children and then send them needed to dentists or oculists who treat them at the
expense of the state.
In various parts of the States there are schoois called „vocational schoois“
whicli have proven a great success; tliere are schoois where in connection witli
the regulär studies a child past twelvc can pursue courses training him in subjects
in whicli he may be especially interested or for whicli he may Show talent, such
as a business course, commercial course, dressmaking, cooking, carpentry, electrica!
work, automobile mechanics etc. hi localities where young people cannot go to
University or afford to give many years to their education, these have proven very
practical, In tlie Universities also they have modified the regime of late years as
the general eriticism was that when young people were graduated they were not
conipeteiit to earn their liviug, that they had a fine general knowledge, but no specific
training. It was then a mm ged to have tlie first year of University work the samc
for all in respect to general culture, but that the courses in the next tliree years
could be „elective“, that is, the students could in addition to courses of general
intercst, choose studies that would bear lipon and give them equipement for
their life work.
tt
YVONNE E. WINSLOW;
Then the question also came up in the schools of the „special“ child — the one
w ho was „different“ from others, he who could go faster than the general work
peimitted, 01 lie who could not go so East; and, as we have evei'ywheie in America
as in hurope, signs of an increase in nervous disorders, the need loi a mental
undei standing, lox* a psychological insight into these „special“ cases, grcw, and
tliey give now twice a year „psychological teste“ to sec if the mental progress is
noirnal to sec whether it is lack of general Intelligence, lack of continuity, visual
01 oial defects, oi fear repressions tliat the child is suffering from. In scliools that
aie not too laige and where they can afford it, the child is then given private
cssons in tue subjects m which he is behänd and he is given eveiy cliance to go on
witn Ins dass. Classes are sometimes divided into two parts, A and B, and the
* P L| P ll s are put in A where the work is adjusted to them, witliout their
lealizmg they are not m the same dass and not doing the sarne work. Under-
j.- a *i - . nei ' ¥OU ® child is always timid, sensitiv, and self-conscious, we
L kni P , h ,m 111 an Situation where lic inay feel it is known to otliers that he
111 his work. I he group method is also often used and the question of
it L ^ S i° avo,tet ,v kliere is no disgiace about being changed to another group:
I «“JP'X a of being in the place he is best litted for and where he can
wc ? rIc ; 1 he eterual question of who is first and last, so detrimental to
ji‘ P* °^ ress is 10 dl!s way also eliminated. If, for example, in arithmetic a pupil
ie Problems wrang than others, it is beiter not to let it be known — to
I, If 1IS 'c'chngs — and to try to cliscover that in which he excels and to give him
■ it, i \ . 0 PP?j tumty to recite in those lcssons, in th is way building up his courage
‘ . 11S ,, ai i m himself. It is so much beiter never to emphasize tlie defects, but
P^a!se tue good points in all peoplc, so using the affirmative rather than tlie
ftio <!!kf e ' ke Psychologien] tests are a series of questions and drills to test
m °Dsei vation, memory and reasoning faculties, as well as the continuity of
isculai and mental processes and are when possible given to each child alone
^ ,f Psychologist; the results are then explained to the dass teacher and the
U’i who are advised where the childs’ defects are and how to deal with them.
pv „JL a c l lild l a . cks courage much can be done by story telling to show him
w „ „P ' Ün 0 n ? m , and benefit will be clerived by explaining to him that
•lnrl «h™ a ! Jkf1 ’ , that we al * iiave faL1,ts > b u* *hat day by day we can grow beiter
Hrni rt-ifi /f C1 P - 11 nio , re usef pb f >r 9 ve t° the child that you want to help him rather
surreec i«,'?™ " m ^ ou w ' d £ ain his friendship and Ins confidence without which
success is impossibles.
lovetn r f^"^ n ? P a l' en ^f wc must äbove all work with courselves to see if our
found-iHnn^nV or . die c b dd and the nervous sufferer is big and real — it is the
he ifPf.,, t,. °, ll J success and iiuless \ve can cultivate that wc will fall. They will
knnw if wa _ , us > as . tiiey are quick to iinitate us and very surcly they will
with nnrcsoiv ai ^ ""“S? 1)1 0l V me ^h°ds; therefore our most important work is
doen in rTi. ■ t S *! u *. Wldl ourselves as with the children we must not go morbidly
bv Ha j! w tf analysis, must not constantly dissect but rather upbuild the character
by daily effort and definite methods of training,
Ihat ^nffp.i 1 o°i U - S ^ C nP^ e . °^ e P * ack jeasoning powers, it is important to develop
so hVlnmir H Skin *? * ieM ‘ adviee as to how to act under certain diflicult conditions,
Sn t ?, lllink / JUt a reasonablc Solution, a thing that
resocH ^-nn I !n lem ;. j 1 . 310 di em also to observe correctly as tfiey in this
JJ'u se f 0m re h a ble; give them short, quick exercises frequently in
‘ r if _ , . ’, ey iave s f cn aild heard, demanding absolute accuracy. T hese
l n it“ always moie beneficial wlien short; a few minutes a day is sufficient.
n] { he nervous person is quickly fatigued and whatever method we
p y ust not be lengthy. ln admmistering reprimands which of course is at
S »ecessary tlus should be especially remembered, as prolonged emotional
icts are extremely liarmful and always fail in their purposc. Learu to repri-
manü a child with perfect calmness and kindness, quickly making them realize the
leasonableness of your request; you will in this way by force of example at the
same time develop in them these same just, calm and reasonable faculties of which
12
The Relation of Psychology to Educatio»
they are so nutcli in need; you will create for your pupil or patient a hcalthy mental
Life. For Ute same reason lesson puriotls are better as sliort and as varied as
possiblc, preventing fatigue and it is beneficial to conduct different lessoiis in
different xooms as the cliangc of position and surroundings is beneficial and cou
ducive to a new interest. A pcrson’s nervous cnergy is his Capital, not Ins deficit,
a good and reasonable outlet, wliiclt lie only does not know himself how to
direct wisdy and tliis we must do for liini. Nervousness becomes an illness only
vvbere tliis inability of direction predominates for every pcrson has a great ainount
oi nervous energy wliiclt is extremely valuable as is also bis great sensitiveness.
It is wonderful to be full of nervous energy and sensitiveness, is is the electric part
of us wliiclt makes us quick to think and feel — but — teacli your sensitive and
nervous patient tliat litis be a hindrance and a defect if Ite cloes not gukle it, as
the electricity that lights a house cait also burn it wlien the method of conducting
it is at fault. Teach him that there are two kinds of sympathy, that wliiclt we feel
for otliers, that one is destructive, and the other constructive, one happiness, the
other sorrow, and one iifc the other death. Since he is generally much pre
occupted witli Itintsclf, this lesson is ot great importance and we must so direct our
teaching as to prevent this pre-occupation with seif, we must awakett in him the
social instincts that are evidently dorm aut drawing to liis attention the valne of all
human relationships and service to otliers.
As nervous children are offen much given to daydreammg and in their thin-
kiug will go around and around a subject rather than in a direct litte, this must
also bc ovcrcomc as it will gradually mean lack of concentration in their ltfe wliiclt
later as grown people will make them unable to sustain long efforts of labour or
even t© work at all. T o Itelp them overcome this and gain in concentration I
arranged a swinging, Standing black board : writing a list of words for spclling,
01 an arithmefic problem on this black board, 1 allowed them to see it only a few
seconds when 1 swung it away agatn, askitig them to write the answer on a paper.
Wlien tliey feel there is only that one short Chance in wliicli to do that problem,
they will concentrate intensely and work definitely. A few minutes a day of such
exercises will bring rapid grogress in concentration, and as it has in it sometliing
new and an element of suspense and play, it will be very populär. The same method
can be used in oral work, reading a line of poetry only once or a page of liistory
and askitig them to repeat it. Gradually 1 iiave beeil able to read many lines,
even whoie verses of poetry once to a dass, which they could repeat or write
down w ithout mistake. I found it extremly valuable witli nervous children, training
them in this power of going in a direct liue and 1 noticed they made marked
progress in all their other mental processes as well. T he idea was developed with
another tcacher who took a cliild to a tircus; noticing liis great admiration for
those wiio could do difficult things such as walking a tight-rope, we discussed
tliis cleverness and decided that tlic reason the down could do such difficult
things was because he paid very close attention to what lie was doing, because
he kiiew every single attempt was important and that wlien he appeared before
the public he liad but one Chance. 1 followed ihis tip and conclucled tliat one reason
many of us fall beliind continually, and that many children sit in dass w ithout
paying much attention, without this vital concentration which is the builder of
efficieiicy, is because they always feel there will be another chance, some other
time wlien they can do that lesson with the inan in the circus it is quite different,
the present moment is his opportunity.
In the analysis of character, Iet us not generalize too much; there is uo rule
no law for the mental life. The mental lifc is as variable as the faces we see
and it is not one thing but the sum of things that itave made us all what we
are. Therefore Intuition and sympathy will go even farther than actua! method,
and wisdom tempered with love will bring a more worthy under-standing of tlie
patient and open new doors to his soul. For it is after all the soul with which
we are dealing, the inner man which we must liberate, the spiritual man which
we must awaken, and it is only wlien he himself sees tliat liis outer life, bis
mental processes and physical manifestations are dependent itpon his inner life
that his eure is at liaud and his efficiency and happiness secured,
13
Dr. KURT WEINMANN:
Theiefore the school whieh deals only with the niind is not suffieient, the
pl js cian wiio considers only the physical inanifestations may fall and the psyclio-
irannl'tll'T' analytical methods are too dissecting will not succeed, b«t the
.. f “ t an . t tlimg to attain js a happy coinbination in understanding and guidin«'
will W 10 6 man ’ ea ^ ltl St° a harmonioiss developement of the entirc life whieh
will tnean salvation, spiritual health and growth.
ÜBERSICHT: Die wahre Psychologie als Wi&seu-
>diail der Charakter bi Idmijj soll ihren Einzug hi die
i cl],,lc So wird in manchen Schulen Amerikas
den Kindern bereits eine entsprechende „eltctive" Er-
Ziehung zuteil. Die Kinder dürfen in ihren Gruppie-
rungen niemals Rangstufen ahnen, scIEj^i wenn sie nach
ihrer Begabung in Klassen A und B ohigcicill werden.
Hie ewige Frage, wer „der Erste“ sei, fest £a.u uius-
zusdialleu. Die Ergebnisse der psycho logischen Unter-
suctnnigen sollen dem - Lehrer und der Müller niitgeteflt
werden, damit diese über die Schwächen des belreflenden
Kindes und über ihre I leihmg auf dem Wege gesunder
Uiarnkterbildting genau unterrichtet sind. Der Mangel au
Aufmerksamkeit mul Konzentration zu überwinden,
scheint eine geschickte Übung geeignet zu sein, zum
Beispiel, indem man dem Kinde Dinge zeigt, von wel-
chen es weiß, daß es seine ganze Beobacht ungskraffc
im gegebenen Moment aufwenden muß, denn „auch
nu anderesmal" würde es sie nicht zu sehen oder zu
hören bekommen, Eine rasch wendbare Schwarze Tafel
wurde bei solchen Übungen erfolgreich benützt, Hebst
der physischen Erziehung muß ein größeres Gewicht
auf die psychische Fürsorge und Erweckung der Zu-
versicht, Freundschaft und des GcniiunschaftsigelühiÄs
gelegt werden.
Zur P sychologie nervöser und cyklothymer
Stimmungsschwankungen *)
Von Dr. KURT WEINMANN (München)
wollen P ( 'i 8 1 dei Siiminung; 7.11 erörtern, darf ich wohl unterlassen — wir
chs * L L f ‘l r ai \ tlen “ 1 1 8 e 1,1 c ‘ , n ., e n S P r a c h g e b raue li halten, wonach
ht /eiH not i -f k endlommene Sprachbild Stimmung etwas uns allen Geläufiges
k u n in. n ' wissen wir alle, was mit dem Worte Stimmungsschwan-
nach 'iirm,T?n!, l i" lt . ?*» , und keimen solc ' ie Schwankungen der Stimmungslage
eine gereizte siimllf * oßen, i ^druckte oder gehobene Stimmungen, wohl auch
oder mimW i^!, I « II1Un ;F . a ! s eine a % em eine Erfahrungstatsache, als eine mehr
des gesunden " lg c f CJ auc 1 mn j Eigentlich wiederkehrende Erscheinung auch
cics gesunden, noimal zu nennenden Seelenlebens.
eines^ Maischen unc^u« no f" ial m bezeichnen, wenn die Stimmung
d?I „ den außeren und milc , rcn Umständen seiner Gesamtsituation
i" epaßt erscheint. Als krankhaft verändert
Än ? r dlC ^‘mmuiigslage an, wenn sie den Umständen nichts n g e-
obiektivf'n L l a u ,1 . 1 S oder gehoben oder gereizt, ohne daß für den
oDjektiven Beobachter ein adaquater Anlaß dafür gegeben wäre
Norm { l die if e m F ? e c? n cinci qualitativen Abweichung von der
n-tcl V <T £ «Jä? 8 - r 1 ? 4 die St, T ,J | lg würde sidl ihrer Art oder Färbung
tuen von dei gemeiniglich zu erwartenden unterscheiden.
muno^n t ® k t i o n auf einen adäquaten, also der gegebenen Stim-
zli erwnrti>nd * e t nd ®? ^ na , wuide das beim Gesunden durchschnittlich
V I e Maß l ! b P schreit en - dann sprechen wir von einer g r a d 11 e 1 1 c n,
quantitativen Abweichung von der Norm,
h & n?r^ r i ttes Wäre u m H iicll l und d i eser FaU ist vielleicht der p r a k t i s c h
> ■ . e n| Uh, so se In die Alt lind der Grad der Stimimingsschwankung
J‘ä? h ? dl , C Le^hhghed, mit der solche Störungen des seelischen Gleich-
+ G V / C M Cn , ot | ei ' c iP cJl Seringfügigen Anlässen auf treten,
kennzeich net die Krankhaftigkeit der betreffenden Psyche; auffallend ist ihre leichte
, • . I Vortiagi gehalten auf dem Kongreß der Inlernatioiialcu Gesellschaft für ver-
gleichende Iiidivtdualpsychologie (ain 10, Dezember 1022 in München),
14
Zjsi Psychologie nervöser und cyklolhymcr Stimmungsschwankungen
Verletzbarkeit, ihre überempfindiiehkeit oder, um im Bilde der Dynamik zu bleiben,
die Labilität, das heißt das mangelnde oder allzu leicht zu erschütternde
Gleichgewicht der Stimnnmgslage. Das ist, im Gegensatz zu den physiologischen
Stimmungsschwankmigen des Gesunden, die jeweils adäquate Veranlassungen har-
nomiseh begleiten, in charakteristischer Weise der Fall beim nervösen, krankhaft
reizbaren Menschen, den man früher etwa als Neurastheniker oder Hysteriker,
neuerdings einheitlich als Neurotiker bezeichnet hat, mit dessen Psychologie wir
uns nocii im einzelnen zu beschäftigen haben werden.
Damit kommen wir unserem eigentlichen Thema näher, der B e-
trachtung d e r nervösen S t i m m ungsschwan k u n g e n.
Einige kurze Bemerkungen a 1 1 g e m einer Art muß ich liier aber
noch einschalten:
Wir sahen vorher, daß die Stimmungslage eines Individuums einen Sinn
gewinnt erst in ihrer Bezogen heit auf die U m weit; wir sind gewohnt,
sic eben danach zu beurteilen, wobei wir von zwei Gesichtspunkten ausgehen
können. In der Regel orientieren wir uns kausal mit der Frage: Warum ist der oder
jener Mensch so oder so gestimmt? Entspricht seine Stimmuiigslage seiner objektiv
gegebenen Situation oder Position in der Umwelt? Demgegenüber kommt aber
noch ein anderes Moment in Frage — man könnte es als das „dispositionelle“
bezeichnen, insoferne ein Individuum — scheinbar ohne äußeren Anlaß — sozu-
sagen von innen heraus, seiner Disposition, seiner Anlage nach geeignet ist, eine
bestimmte Stimm ungslage vorwiegend einzunehmen, der Fülle und Mannig-
faltigkeit der äußeren Eindrücke gegenüber überwiegend nach einer be-
stimmten Richtung hin Rechnung zu tragen. Ein solcher Mensch wird
Eindrücke besonderer Färbung, also etwa niederdrückende oder erhebende, mit
Vorliebe auf sicli wirken lassen, andere übersehen oder nicht beachten, so daß diese
A ffinität zu b e s t i m m t e n Erlebnisinhalten oder Auffassungen
seiner Gesamtpersönlichkeit eine gewisse Grundstimmung verleiht, nach der ge-
drückten, traurigen oder gehobenen, heiteren Seite, oder aber diese Stimmungs-
lagen wechseln in auffallender Weise, etwa periodisch, miteinander ab. Es wurde
nach den erwähnten beiden Gesichtspunkten gesprochen von exogenen, durch
äußere Anlässe entsandene Verstimmungen einerseits, anderseits von solchen, die
ohne ersichtlichen Anlaß, von innen heraus, eudoge n entstehen. Oder man sprach
von konstitutioneller V e r s t i ni in u n g im Sinne einer solchen an lage-
mäßigen Veränderung der Stimmungslage nach der einen oder anderen Seite.
Endlich hat die Beobachtung m c h r o d e r m Inder r e g e 1 m ä ß i g (perio-
disch) w i e d e r k e h reu d er Störunge n der S t i m m u n g s l a g e zur
Aufstellung des Krankheitsbegriffes des m aniscli-depressivcnode r
periodischen Irreseins geführt, dessen leichtere und leichtesten, der Norm
quantitativ näherstehende Formen als C y k 1 o t h y m i e, wohl auch als p e r i o~
d i s c h e Neurasthenie bezeichnet wurden.
Es ist nun eine Frage von grundsätzlicher Wichtigkeit nach der Seite der
Ätiologie sowohl wie der Prognose und Therapie, welche Bedeutung man dem
konstitutionellen und welche dem reaktive n Faktor in der Beurteilung
krankhafter Stimmungsschwankungen beimißt.
Die Beantwortung dieser Frage hat sich im Laufe der Entwicklung der
psychiatrischen Wissenschaft gewandelt; sie ist bedingt von der jeweiligen Auf-
fassung von dem Grade der Verständlichkeit oder Einfühlimgsmöghchkeit von
Verstimmungen, wird sich also richten nach dem Stande unserer psychologischen
Einsicht oder je nach dem Standpunkt unserer psychologischen Beurteilung.
In dem Maße, in dem wir uns mit einer beschreibenden, deskriptiven oder rein
phänomenologischen Darstellung krankhafter Verstimmungen begnügen, wird sich
unser I lauptaugenmerk auf die kennzeichnenden Einzelheiten richten, etwa auf die
Beschleunigung oder Verlangsamung des Gedankenablaufes, der bei der Depression
gehemmt, bei der Manie krankhaft gesteigert ist, oder auf die motorischen Aus-
drucksvorgänge: Wir konstatieren dann, daß bei der traurigen Verstimmung ße-
wegungsarmut, bei der gehobenen Bewegungsdrang vorliegt und dergleichen. Es
1 &
Dr. KURT WEINMANN:
laßt sich dann eine Einteilung vornehmen, wie sie die klassische Psychiatrie der
vergangenen Jahrzehnte unter dem Vorgänge Kraepelins getroffen hat, die dann
och neben den reinen Formen der einfachen Melancholie und Manie, eine Reihe
. lst li^nstanden besc h neben hat und zu der sehr wesentlichen Feststellung
pin i TPitr 1 u* lst ,V da ^ i‘ l -i Zustands- oder Erkrankungsformeil sich unter einem
fassen lassen ^ ran ^ iei ^ 1 ^ e> dem deS man * sc h*depressiven Irreseins, zusammen-
n a ph lG ir , u- ira u Rahl V en dieses Vortrages darauf verzichten, die umstrittene Frage
die vnr^rhip/i' 3 ^ 11 Ti ,eSei - ganz f n ^^''khcitsgruppe näher zu erörtern, worüber
tue veisclnedensten llieorien aufgistellt wurden.
ndP^KK in l ' nst : re J5 Zu sanimenhange ist das Problem der erblichen Belastung
orirankri, d i e Giundlage krankhafter Stimmungsschwankungen körperlich-
i u lst oder ob ihnen funktionelle Störungen des Stoffwechsels oder
FMhu Ph^ nCn Drusenappai , ats zu g™ nde liegen oder oh es sieh bei den luchten
de«? mpncMiivr 1 Lim r . eme .^bnoime Steigerung einer physiologischen Periodizität
wo s entlLc h n ° lgamSmUS handelt ' uns ist hier die Frage
die^elf l'r^'n i.i P/fi Cll 0 Q ?^ iSCl1 veis 1 tändI i clier Zusammenhang nachweisbar zwischen
■inlPPr P. f 1 S ^mtmgsscliwankungen und den auf sie bezogenen und in sie
einbezogenen ertorschbaren seelischen Vorgängen?
„ „ o\! setzen , w,r aIs selbstverständlich voraus, daß, wie das
kPpnlP-w Psychische Geschehen auch das krankhafte bis zu
Li. ^wissen Gi ade e i n e n „S i n n“ habe, d a s li e i ß t psychologisch
] . a ' . e l i v e r s t a n d 1 1 c h sei — ähnlich wie es etwa die Heidelberger
psyclnati ische Forsch ungsnehtung unter dem Vorgänge von Jaspers*) getan hat
i nn sie von „erstehender Psychopathologie” spricht, und im besonderen von
j, verständlichen Zusammenhängen pathologischer Reaktionen“
Gut! noch einen Schritt weiter müssen wir gehen, indem wir sagen:
t, .. U Pf re Beu !' teilu ^ abnormer Stimmungslagen hängt ab von der Be-
de / P.y n a m i k oder Gesetzmäßigkeit des Seelen-
P * ? s n e , ' n .5* Individuums ubc r h a u p t. D e n n e r s t i m R a h m e n
Möglichkeit fi !, 1 \/ C ( f» S , 11 1 e V d *. e Gesamtpersönlichkeit wird die
unÄ l/uii ,; ,nes Vers tandmsses für eine seehsche Einzelreaktion oder die Haltung
sein • uums in emer bestimrnteu Phase des seelischen Geschehens möglich
auch^in^m^ 1 als ° r ur F ,°?? ei ? ng einer individualpsychologischen Betrachtung
vStändHrÄÄiS? Etnzdsituation, das heißt einer Eingliederung und
lUhkei? h 8 d ‘ eSCl Sltuall ° n ln das Gesamtbild der Persöir-
diesp^ndm^k 1 Si co daiaus d ' e Notwendigkeit, nicht nur zu fragen, woher kommt
zum P,h I e « e . Stimmun h r slage eines Individuums, sondern sie ‘verstau dlich
der fipmniimrii dU \ c c I l ” e iP ^ ensc h gegenüber dem Leben oder
• ko naci? f ’v uberluUlp A t ’ , d , as heißt dei ; Grundrichtung nach, einzuhalten pflegt,
dabei veifolgT V ° rgange Adiei S ZU erio «chen, welche Leitlinie ein Individuum
eini/hSS? W c-f° ; ilS Auge fa f en ’ r Y «hinaus diel laltung eines Menschen
n , Sltuatlon ffepnuber fuhrt worauf sic abzielt, wenn wir ver-
gegeben " ta " eiTeicht> lst dle Möglichkeit eines vollen Verständnisses
Voraussetzung bei unserer Betrachtungsweise ist also letztlich die durch Alfr ed
Adler geschaffene und in seinen Schriften, speziell in seiner Arbeit Über den
nervösen Charakter ausführlich dargestellte Auffassung d e r O e s a m t-
Persönlichkeit als einer zielgerichteten dynamischen E i n-
h eit.
- «
*) Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, Springer, 1920.
16
f
Zur Psychologie nervöser und cyklolhymer Slirmmingsschwaiikungen
Wenn wir uns bemühen, eine einzelne P h a s e iii der llalt u n g e i 11 e s
Menschen dem Leben gegenüber ihrer psychologischen Struktur und
Bedeutung nach zu erfassen, sic im R ahmen des 0 esamtbildes seine r
Persönlichkeit verständlich zu machen, werden wir zweckmäßig uns nach
einem Indikator zu n r i e n t i e r e n versuchen, cler uns - etwa wie der Zeiger
eines Barometers — erkennen läßt, unter welchem „Druck“ das Individuum sozu-
sagen stellt Gibt es denn im Ablauf des psychischen Geschehens einen ähnlich ver-
lässigen Indikator für den Rhythmus, für die Kurve der Stimmungsschwankungen?
Ich glaube, diese Frage bejahen zu können, und zwar in dem Sinne, daß die Auf-
schlüsse, die ein Patient uns gibt über sein Selbstgefühl, ein zuver-
lässiger Maßstab sind, gerade in ihrer subjektiven Färbung für die
objektive, kritische Beurteilung seiner Stimm iingslage.
Diese ist nämlich eng verknüpft mit dem Selbstgefühl. (Das Wort soll hier, unter
Verzicht auf eine psychologische Begriffsbestimmung, nur dem allgemeinen Sprach-
gebrauch nach verstanden werden. Es würde sich — das sei nur nebenbei be-
merkt — in der Nomenklatur von Jaspers mit dem Persönlichkeits-
bewußtsein im Sinne des Selbstwertgefühles decken.) Dieses
Selbstgefühl also ist wohl auch ein k o m p I e x e r B e g r i f f, aber doch ist
es in seiner Auswirkung einheitlich erfaßbar. Man spricht so mit Recht von
gehobenem oder gedrucktem Selbstgefühl, von Selbstüberschätzung und Unter-
schätzung oder Minderwertigkeitsgefühl. Dabei wird deutlich, daß dieses Selbst-
gefühl auch kein absoluter Begriff ist, sondern wie jede Schätzung oder
Wertung, Wertbemessttng n u r durch V e r gl e i c h en gewonnen werden
kann. Das Vergleichsobjekt aber, an dem das Individuum .sich mißt, ist
allemal die Umwelt. Je mehr sich der Einzelmensch der ihn umgebenden Welt,
der unbelebten Materie sowohl wie der belebten Umgebung gegenüber in seiner
Existenz gesichert, in seiner Geltung bestätigt, in seiner Macht anerkannt fühlt,
desto gefestigter wird sein Selbstgefühl sein. Umgekehrt, je mehr er seine Existenz
bedroht, seine Geltung angefochten, seine Macht in Frage gestellt glaubt, desto
mehr wird der Barometer seines Selbstgefühles sich dem Tiefstand zimcigen. Das
Gefühl der Existenzunmöglichkeit kann aus reinen Existenzsorgen, wie wir sie
kennzeichnenderweise auch nennen, bis zur frei gewählten Aufgabe des Lebens, bis
zum Selbstmord führen. Es können aber auch Konflikte mit sich oder mit den Mit-
menschen das Gefühl des eigenen Unwertes so steigern, daß die Selbstvernichtung
als die einzige Lösungsmöglichkeit erscheint. Immer aber — und das ist als
das Wesentliche hervorzuheben — ist das Selbstgefühl bezogen auf
das Verhältnis des Individuums zur U m weit. Je weniger dieser
Gegensatz einen Widerspruch in sich birgt, je mehr er sich ergänzend dem über-
geordneten Begriff einer Gemeinschaft einordnen läßt, je mehr es dem Menschen
gelingt, diese Gemeinschaft als höheren Wert anzuerkennen als seine Verein-
zelung, in dem Maß wird er sich dieser Gemeinschaft freudig, freiwillig, bejahend
und damit wertsteigernd einordnen; er wird damit als Individuum die Er-
lösung finden und aus seiner Vereinzelung zur Verwirklichung gelangen, zur
Individualität, zur ausgeglichenen, harmonischen Persönlichkeit im eigentlichen
Sinne werden. Daher verstehen wir — um das nur aphoristisch anzudeuten —
unter einer gesunden, reifen Persönlichkeit einen Menschen, hei dem dieser Gegen-
satz zwischen Individuum und Gemeinschaft harmonisch ausgeglichen und gestaltet
ist — im Sinne der Dynamik ausgedrückt — rhythmisch zueinander abge-
stimmt ist.
Sic werden mir diese kleine Abschweifung in das Gebiet der Wertungen, der
Ethik zugute halten. Die Anschauung vom Wesen der Persönlichkeit scheint mir
— bewußt oder unbewußt — doch immer den Hintergrund zu bilden für die
Beurteilung einer krankhaften Persönlichkeit, das heißt für das Urteil, inwiefern
ein Mf'iiscti von dem als gesund bezeichneten Durchschnitts- oder Idealtypus
abweicht. Wir können bei Betrachtung seelischer Zusammenhänge nicht ohne irgend-
einen solchen Maßstab auskommen, der eben schon eine Wertung in sich
schließt. Dies sei nur in Paranthese bemerkt.
Wir wollen uns nun also mit einigen Disharmonien der menschlichen Seele
beschäftigen; das Wesen des Mißklanges untersuchen, der uns bei den „Ver-
2
17
Dr. KURT WEINMANN:
Stimmungen“ — es ist bemerkenswert, daß die Sprache sich auch hier des musi-
kalischen Bildes bedient — also bei krankhaften Abweichungen der Stimm ungs-
lage nach unten oder oben — bei der Depression oder Exaltation — oder bei ihren
oszillatorischen Zuckungen — der Gereiztheit — entgegentritt.
Die Dynamik dieser Verstimmungen wird am deutlichsten erkennbar bei
näherer Betrachtung einiger Einzelfälle, die ich hier an Hand charakteristischer
Ausschnitte aus Krankengeschichten kurz zu skizzieren versuchen möchte.
Was die Melancholie oder traurige Verstimmung betrifft, so fiat A. Adler im
Jahre 1914 m einer grundlegenden Arbeit über Melancholie und Paranoia indi-
vidualpsychologische Ergebnisse aus Untersuchungen von Psychosen niedergelegt,
auf die ich hier im ganzen verweisen muß; sic findet sich in dem Bande „Praxis
und I heorie der Individualpsychologie“, der 1920 bei Bergmann erschienen ist.
Vielleicht darf ich für die mit den Adlerschen Arbeiten nicht Vertrauten zur
kurzen Orientierung die Vorbemerkung zu der genannten Arbeit anführen: „Die
von mu gefundenen und beschriebenen treibenden Kräfte der Neurosen und
sycliosen: kindliches Minderwertigkeitsgefühl — Sicherungstendenz, Kompen-
sationsbestreben — in der Kindheit errichtetes, hernach teleologisch wirkendes,
tiktives Ziel der Überlegenheit — die sich ergebenden, erprobten Methoden,
unaiakterzuge, Affekte, Symptome und Haltungen gegenüber den Forderungen des
gesellschaftlichen Zusammenhanges — alle verwendet als Mittel zur fiktiven Er-
höhung des Persönlichkeitsgefühles gegenüber der Umgebung - das Suchen nach
Umwegen und nach einer Distanz zu den Erwartungen cler Gemeinschaft, um
einer realen Wertung und persönlichen Haftung und Verantwortung zu ent-
gehen — die neurotische Perspektive und die tendenziöse, bis zur Verrücktheit
gehende Entwertung der Wirklichkeit führten mich und viele andere Untersuchet
zui Aufstellung eines erklärenden Prinzips, das sich im weitesten Umfang für das
\ erständnis der Neurosen und Psychosen als wertvoll und unerläßlich er-
wiesen hat.“
eben angeführten Mechanismen finden sich ausführlich in Adlers Werk
„Uber den nervösen Charakter“*) und in der „Studie über Minderwertigkeit von
Organen“**) sowie in dem vorher genannten Bande dargestellt.
In der dann folgenden Mitteilung unternimmt Adle r den Versuch, die psycho-
logische Struktur der Melancholie und der Paranoia gemäß den angeführten Be-
runden zur Darstellung zu bringen. Er schildert treffend die Haltung und den
Lebensplan der zur Melancholie Disponierten als dem Gemeinschaftsgefühl zu-
wiaerlaufend und auf einem besonders verstärkten Minderwertigkeitsgefühl auf-
gebaut; den Ausbruch der Erkrankung bei vermeintlich drohender Niederlage und
den Kampf gegen die schon in früher Kindheit als feindlich erlebte und dauernd
als solche vorausgesetzte Umgebung, das „Ausreißertum“ und demzufolge „die
uewinnung eines Nebenknegsschauplatzes“ mit der Endabsicht auf Enthebung
von fremden Forderungen, das Abklingen der Melancholie, sobald der Patient das
iikiive Oetuhl seiner wiedergewoimeneu Überlegenheit und' die Deckung gegenüber
eventuellen Mißerfolgen durch die Krankheitslegitimätion erlangt hat.
i Wenden wir uns zur Illustration dieses vorläufig gegebenen Überblickes nun
der Betrachtung eines Einzelfalles zu:
... wähle als erstes Beispiel den Ausschnitt aus einem
l i a u m eines Palles von Zwangsneurose mit schweren Angst-
zustanden und depressiven Zügen, der, symbolisch verkleidet, in der Bildsprache
tler 1 raumphantasie wichtige seelische Konflikte und ihre Uösungsvcrsuche zur
Darstellung bringt;
Patient trifft in einer Gartenwirtschaft ein Mädchen und geht mit ihr in der Absicht
eine sexuellen Aggression in eine Kegelbahn. Die Kegelbahn ist jedoch ein offener Holz-
raum, er geht mit dem Mädchen auf dessen Vorschlag in irgend einen Saal zurück. „Ich
weiß nicht,“ fügt er hinzu, „ob ich mit dem Vorschlag einverstanden war.“
*) Bergmann, Wiesbaden (2. Auf!., 1919), i. Aull., 1922.
**) Urban und Schwarzenberg, Wien 1907.
Zur Psychologie nervöser und cyklothymer Slimmungsschwankiingen
Wir sammeln nun in der aus früheren Veröffentlichungen von Trauinbcispielen wohl
genugsam bekannten Weise die Einfälle zu den einzelnen Traumbestandteilen. — Zur
Gartenwirtschaft fällt dem Patienten ein: „Wir sind oft als Kinder in solchen Wirtschaften
gewesen — da gab's immer schreckliche Geschichten Familiena Liftritte und Kampfszenem
CiiL Onkel war dabei, der noch gewalttätiger war als mein Vater, er ärgerte sich einmal
über seinen Sohn, den Vetter, der mir immer als Muster und Vorbild vurgdialteu wurde,
und kehrte auf einem Spaziergange vor einem kleinen Berge gekrankt um und fuhr allein
nach Hause. Das war seine Einstellung: „Wenn mips nicht paßt, steh' ich auf und geh*
fort.“
Zu der Frau: „Eine Soubrette, sehr dumm und sehr klein, mit fingiertem Temperament
— absolut ohne jeden Reiz für mich.“
Zu der Annäherungsabsicht: „Es ist besser, mit einer, die man nicht mag, man ist dann
nicht gebunden, man kommt sonst zu sehr aus dem Gleichgewicht, wenn einem eine gefällt
— es ist so, wie ein gefallener Klubkamerad sagte: >Der Koitus ist eigentlich nur eine
andere Art der Onanie — die Onanie ist der Normalzustand/“ Zu der Kegelbahn: „Ein
Tunnel, in den man sich verkriechen kann, aber man kommt nicht mehr heraus — die Wim-
bachklamm bi Berchtesgaden — dort ist ein schmaler Brettersteg — mail konnte nicht um-
kehren — links war das Wasser — rechts der Fels, vor mir und hinter mir Leute — es war
scheußlich — ich wußte, daß mich der Schlag trifft“
Zu dem Zurückgehen in den Saat: „Wir sind nur bis zum Saaleingang gekommen;
dazu fällt nur em Tanzkurs em, den wir als Gymnasiasten hatten, das heißt die Oberklasse,
die Jüngeren standen am Saaleingang und durften nur zuschauen — daß die anderen so was
machen dürfen — und wenn sie stolz und schwitzend aus dem Saal kamen - da hatte ich
das Gefühl: So weit bring 3 ich 's doch nie! — Ich fall’ ja doch wieder durch. — Das haV
ich schon ganz früh gehabt dieses ungewisse Gefühl des Traurigseins — ich hab’ dabei
nie erkannt, daß die andern gar nicht so anders waren — ich meinte immer, ich sei ganz
anders wie die übrigen jetzt seh’ ich mich als Buben, der furchtbar geprügelt wird,
und mein Vater sagt zu mir: ,Ich schlag' dich halb tot vor allen Leuten l tt *
Zu der letzten Bemerkung: „Ich weiß nicht, ob ich mit dem Vorschläge einverstanden
war“: Das war mir von vornherein unklar, öfters, wenn ich mit einem Mädchen gegangen
bin — er meint dabei eines seiner unzähligen, flüchtigen sexuellen Erlebnisse — hatte ich
den Gedanken: Es hat ja doch keinen Wert! — nachher aber Reue und einen moralischen
Katzenjammer. — Meine frühere Potenz, meinte er, ist jetzt auch sehr im Schwinden
begriffen — ich fühle auch, das ist kein Weg für mich — aber einen anderen Weg einzu-
sch lagen — dazu hab 1 ich mich nicht gebracht. Dabei werd’ ich immer älter er ist (erst)
32 Jahre — und die Koronarsklerose wächst — es entwickelt sich schon in aller Stille ein
Karzinom — NB. er ist seines Zeichens pathologischer Anatom — und setzt hinzu, ich seit 1
es am Pylorus (am Magenpförtner) sitzen 1“
Wir haben hier ein typisches und, wie mir scheint, sehr lehrreiches Beispiel für eine
neurotische Einstellung den Forderungen des Lebens gegenüber; es zeigt die enge Ver-
knüpfung von Rückzug und trauriger Verstimmung.
Zu Anfang des Traumbildes; Die Gartenwirtschaft erhellt wie ein Schlaglicht das
Milieu der Kindheit: Kampf und Zwistigkeiten in der Familie — Lösung durch Gewalt
oder Rückzug: Die charakteristische Maxime des Onkels: Wenn mips nicht paßt, kehr' ich
um! — Als Reaktion auf den ungeheuren Druck seitens eines sehr gewalttätigen Vaters
wich Patient schon sehr frühzeitig auf der Linie des' Trotzes von einer Bejahung seiner
Lebensaufgabe in der Schule ab, reizte dadurch den Vater zu immer neuen Gewalttätig-
keiten, womit die Berechtigung seines sichernden Rückzuges ja scheinbar erwiesen war.
Wir finden ihn auch später immer bedacht, sich vor allen Anforderungen der Umwelt
zu sichern, i m m e r b e r e i t, d e n R ü c k z u g a n z u t r e t e n. — So in seiner Haltung
der Frau gegenüber, die deutlich im Traum hervortritt: „Es ist besser mit einer,
die man nicht mag.“ — Das tiefste Symbol der Erotik — die körperliche Vereinigung, die
schöpferische Verschmelzung zweier Individuen — wird entwerfet ihres Sinnes gewaltsam
beraubt fiktiv umgedeutel als eine Art Onanie, Selbstbefriedigung die Beschränkung
auf sich selbst als der Normalzustand proklamiert.
Mit der Frau gehen heißt in der Sprache des Traummaterials: In eine unhaltbare
Situation geraten, aus der es kein Zurück gibt — als einzige Rettung bleibt der Tod, der
im „Spin uschlag“, wie Patient das fiktive Erleben eines Herzschlages nennt, den voll-
kommenen Rückzug bedeutet.
Ein anderer Lösungsversuch : Zum Saal zurückzukehren — wo sich als Bild des
Gemeinschaftslebens, der Tanzkurs seiner Phantasie, darbietet — scheitert an der schon
frühzeitig eingenommenen Position des Oütsidertums. — Er stellt beiseite — mit dem
resignierten aber sichernden Bewußtsein: So weit bring ieh’s doch nie ich fall' ja doch
wieder durch. — NB, macht er zum zweiten Male eine seelische Behandlung mit — die
erste wurde au anderer Stelle ohne Erfolg abgebrochen.
2 *
1 »
Dr. KURT WEINMANN:
Charakteristischerweise setzt er seinen pessimistischen Betrachtungen hinzu:
„Das hat/ ich schon ganz früh gehabt, dieses ungewisse Gefühl des TraurigsemsA —
liier schon setzt er einen vermeintlichen Abstand von der Gemeinschaft — ein „anders
sehG voraus — - und plötzlich steht als Vision vor ihm das immer wietierkefirende Erlebnis
seine 1 Kindheit: Eine Prügelszeue, durch die er sich nicht nur körperlich mißhandelt
iLihlt, sondern vor allen anderen herabgesetzt, entwertet, unmöglich gemacht. Dadurch
wurde ihm der Aufbau eines natürlichen Vertrauens zum Vater, als dem wichtigsten
männlichen Vertreter der Umwelt, in seitier Kindheit und zu sich ungeheuer erschwert* Er
nngt noch heute um sein Selbstvertrauen. — Das Leben und seine alltäglichen Durch-
sehn ntstorderuiigen dünkt ihn, wie er mir im Verlaufe derselben Besprechung sagte - wie
eme Kiesen welle — „die wollte ich immer schon lernen im Tn munter rieht — aber ich
nab sie nie fertiggebracht.“ Diese übertreibende Fiktion von der ungeheuren Schwierigkeit
des Lebens benutzt er dauernd zur Rechtfertigung seiner zögernden, abwarlenden Haltung
f, TT^ ei1 ^Lebens gegenüber, unterstreicht je nach Bedarf die scheinbare Noi-
u üigKeit dieser sichernden Haltung durch einen verstärkten Krankheitsbeweis vermittelst
senwerer Angsizustände, die ihn zeitweise an jeder Unternehmung außerhalb der vier
wände seines Zimmers verhindert haben.
, , D * S e We !A C Bei ?P iel betrifft eine Patientin, deren Stimmungslage in
ci letzten oprecnstunde nicht ausgesprochen krankhaft verändert war. Das nächste-
beuchtet s.e: Es gehe ihr schlecht. Gestern traf sie in Gesellschaft einen
bekannten Er frug sie, wie es ihr gehe. „Mir geht es ausgezeichnet!“ — „Sie sind
, 01 psychoanalitisch versorgt?“ — „Ja!“ — „Nach welcher Methode werden Sie
denn behandelt. — „Nach der Adlersclien.“ — Darauf er in falscher Inter-
pit ation der Adlerschen Auffassung: „A,th so, nach ihm müssen ja alle körperlich
mißglückten Menschen ein Minderwertigkeitsgefühl haben.“ — An dieser Äußerung
tippte jliie Stimmungslage sofort um: Der Gedanke an ihre vermeintliche körper-
uclic Minderwertigkeit, die hier als selbstverständlich vorausgesetzt und erkannt
seinen, brachte ihr Selbstgefühl aus dem Gleichgewicht — „es gellt ihr schlecht“.
, .. " ~ w '■«'v'-» dun acin [Ji upui lrjij itrt l , ölt: luu imntu
irnr Jt- x f ungewöhnlichen Körpergröße gelitten); „zweitens wegen meiner
iiaiMichkeit. Man hat mir doch als Kind immer gesagt, ich sei häßlich, wie eine
ötange dürr, ich sähe aus wie ein Mann, und wenn Theater gespielt wurde, mußte
icn immer als Mann auftreten. Ich habe lange Jahre gedacht, ich kann überhaupt
Keine t tau sem ein Mann müßte enttäuscht von mir sein. Ich glaubte, ich sei
iSZlH, mcht n P ht,g gebaut, dadurch hab’ ich mir so abgewöhnt, mich als
konkurrenzfähig zu betrachten.“
Frauenmilch das vor dcr Erprobung und die Sicherung vor der
niistic?h?,\ 0 u? C l aus . d . e . utllch — wiederum aufgebaut auf einer falschen, pessi-
Frf fl hnVnrli ^ te 1 ,nSCh ^ atz c Lu ^ T 1 ® 11 m Kindheit, die später trotz gegenteiliger
Auswf'irh^no te ! ld i enZ, °® Kstgehatten wird. Die Ilauptentstehungsursache dieses
KSS/ri Mer eine als sehr schmerzlich erlebte dauernde Disharmonie in
schwur i'.xi Ehe, untei cei die I atientin als Kind und auch noch als Erwachsene
ESyS-tenWund & s , J hr notwendig ein falsches und abschreckendes Bild
menschlichen Gemeinschaftslebens Vortäuschen mußte.
ff r.füM CI m. ri u nSWCrt ? e x ser Episode ist, wie sich die Patientin in ihrem Selbst-
:' 7l]C , iire 1C1 ein f a i®. Entwertung empfundene Äußerung plötzlich und prompt
" i ' ij‘ ^ en u jüWeifen laßt, wie ihr Wohlbefinden nicht nur augenblicklich, sondern
„ . nac ! 1 13 bg davon beeinträchtigt wird und — wie an ihren Äußerungen
k. T tas S? nze J mi j iliüerk iiidheit ausgebaute System von Sicherungen
n 1 Aufgabe als Frau und Mitglied der menschlichen Gemeinschaft gewisser-
maßen automatisch wirksam in Erscheinung tritt.
r A ! S , , d , 1 ' i l te I s B T , eis Pj 1 :! eine Patientin, bei der die Stimmung dauernd
Hubcist labil ist ? das I cisönljchkeitsgefühl sehr leicht zu erschüttern die bei ver^
meintlich drohender Entwertung oder Niederlage sofort gereizt wird und sich als-
ba d mit Depressionen sichert, welche häufig eine sehr gewalttätige Form an-
nehmen, mit Selbstmorddiohungen und mehr oder minder bewußt in Szene ge-
setzten Selbstmordversuchen.
•30
Zur Psychologie nervöser und cvklothymur Stimimmgsschwankungen
Charakteristisch war, wie sie sich in der ersten Konsultation einführte: Sie
leide so unter Depressionen, sie sei deshalb schon bei vielen Ärzten gewesen, aber
wenn ieli sic nicht behandeln wolle, wenn sie auch hier verurteilt werde, dann
wisse sic, wo sie hinzugehen habe, dann sei ihr der Weg dahin vorgezeichnet,
wo sic Frieden finde. — An einem anderen Arzt, der sic in der ersten Konsultation
als Hysterie bezeichnete, rächte sie sich für diese als Entwertung empfundene
Diagnose damit, daß sic ihm nahelegle, sich doch gleich eine thermische Ver-
nichtungsanstalt neben seinem Sprechzimmer entrichten zu lassen — das sei wohl
die einfachste Art, sich aus der Affäre zu ziehen! — und kam hie wieder.
Wir sehen hier von vornherein deutlich die kämpferische Einstellung und
gewalttätige Haltung der Umwelt gegenüber, auch da, wo die Patientin eigentlich
1 lilfe sucht und zumindest Wohlwollen voraussetzen dürfte. Trotzdem sich diese
Kampfeinstellung um vieles gemildert hat und die Patientin auf dem Wege ist,
langsam mehr Vertrauen zu sich und zur Gemeinschaft zu gewinnen, stellt sich
ihre labile Position in einem Traum noch folgendermaßen dar:
„Mir träumte von der Isar — sie war wild und reißend und ich fuhr in
einem Boot, das war wie eine Arche Noah — ganz allein — mit einem, der
steuerte — - der war verdeckt ich sah sein Gesicht nicht das war so merkwürdig —
Manchmal ging es so hinunter, wie ein Wasserfall - manchmal ging ich heraus, wie über
einen Steg — nirgends «aber sah ich Land, und ich hatte dann das Gefühl, als würde ich die
Ai ehe nicht luelu erreichen können* Einmal war ich in Bösenhausen — aber dann
wußte ich wieder die Gegend nicht/ 1
Hierzu die Einfälle:
„Ich fürchte mich so vor dem Wassertraum — vor dem Hochwasser überhaupt — als
Kind schon hab’ ich mich vor dem Wasser so gefürchtet — einmal sah ich mich von der
Mutter durch Wasser getrennt.
Es war ini Traum so komisch — ich wußte nicht, was man mit mir vorhatte — der
Steuermann luitte so etwas wie eine Taucherglocke, wie die Maske, die die Taucher haben
— wie ein Helm — ich sah nur das Äußere und nicht das Innere — ich wußte nicht ob
er mir Freund war oder Feind oder was es war. — Und dann war ein Schlauch daran —
oder es war wie ein Fahrstuhl — ein Lift, wo der Taucher so drin ist das sind alles
gefährliche Dinge — schön aber gefährlich, modern und praktisch, aber nie sicher - es
kann leicht was passieren: es kann das Seil reißen, man kann stecken bleiben — oder
herausstürzen, ■ — ich bin schon oft stecken geblieben — wäre manchmal auch schon zu früh
ausgestiegen. - Die Maske ließ nicht das wahre Gesicht erkennen. Der Helm — zeigt auch
nicht das wahre Gesicht — es ist eine Art Uniform, kann einen gut kleiden und einen
entstellen — er gibt einem ein ganz anderes Gepräge wie jede Uniform - erstickt das
Individuelle — der Dokformairtel ist auch so — wenn auch nicht so arg Uniform.
Die Arche Noah war so komisch gebaut, kein Dampfschiff und kein Segelboot — und
ich war ganz allein mit dein Fährmann — dazu fällt mir das Segelboot in ,Peer GynF
ein — der war in einer ähnlichen Situation — da kam der Tod, und ich weiß gar nicht, ob
der Steuermann nicht auch der Tod ist. — Zu Arche Noah noch ein Einfall: die langweilige
biblische Geschichte — wir hatten keine schönen Bibelstuuden bekamen sie "nur als
Märchen erzählt, nicht so, wie sie wirklich war — ich möchte schon wirkliche Bibelstunden
haben — der Wahrheit entsprechend — oder lieber ein Märchenbuch, dann weiß ich, daß
es ein Märchen ist und nicht ein heiliges Buch — ich hab 1 auch ein schönes Märchenbuch
dabei — {zeigt es mir).
Der Wasserfall — das war so häßlich — ich habe das Gefühl, als ginge es in der
Behandlung auch hinunter — aber dann geh Fs wieder herauf, wie wenn einem das Wasser
verschlingen würde — das empfinde ich so, wenn’s so kritisch wird — ich bin auch so
unsicher — es paßt ganz zu meiner gefühlsmäßigen Situation — ich mein 1 , ich muß
ertrinken — ich kenn mich nimmer aus!”
„Der Steg, das 1 war wie eine Aufgabe — ich sah den Sinn nicht ein, daß ich da heraus
sollte — bei F* (sie nennt einen Namen), da gibfs einen Steg, über den ich immer
gehen muß.
„In Bogenhausen — cs war wie eine HaUestation — aber es war doch gar keine Station
da — nicht wie auf der Eisenbahn — da weiß man doch, wo man an gelangt ist und wie
weit inan vom Ziel ist — aber ich freute mich, daß ich in München bin und dachte, jetzt
hab’ ich doch eine Ahnung — aber dann kannte ich mich gar nicht aus — im englischen
Garten verlauf ich mich auch immer — als Kind hab’ ich mich da schon immer verlaufen
— zum Entsetzen meiner Mutter — ich wollte immer weit fortgehen und dann kannte ich
mich nicht mehr ans und bekam Angst und mußte andere Leute fragen, und dann durfte
31
Dr. KURT WEIN MANN:
ich gar nimmer fort — gestern hatte ich auch so Angst, und dann bab’ ich das Fenster
aulgemacht und gedacht, ich stürz’ mich hinunter!“
° er T . rai VJ 1 scheint mir geeignet, gewissermaßen anekdotisch ein
liild von der u e s a m t e i ns t e 1 1 u 11 g der Patientin zu geben; er zeigt deutlich:
* r 1 f . ,? ° r * e r il n £ 11 11 ^ K a m p f e i n S 1 1 e 1 1 u n g gegenüber der Ge m e i n-
schal . 2. Den Ruckzug in die Depression, 'j. Das Festhalten an der
V 1 a Ui ; 1 e i 1 E i ii s t e 1 1 u n g. 4. Das Suchen eines Weges zur U m well und
das Abschweife n und Ausweichen in der expansiven P Li a s e.
Die Isolierung ist plastisch dargesiellt in der Arche, in der sie mitten im Strom
des Lebens, den sie .-übertreibend als reißendes Hochwasser schildert, ganz allein sitzt —
m du’v maskierten Steuermann, den sie selbst nicht kennt - nicht erkennt - ihr eigenes
■ j 1 . wußtes, wenn Sie wollen ihre fiktive Leitlinie, die richtunggebend sie vor dem
i[!-!rhl^'£ e . ,md gegenüber den Bedrohungen des Lebens sichern soll. - Die Isar führt
. f 1 da ™ r !* a d,e Patientin schon als Kind Angst, wie wir erfahren haben,
deo Trim.fi w< r ,dl,r . ch f,'®/ 01 } d ®, r . 1 A ! U ! Uer s ’ cb getrennt fühlte — liier tritt schon zu Beginn
Mutter trennt *^ aS dlld ldie Leitbild hervor: des Verlorengeheiis, wenn man sich von der
wußS’nSKf*^ 1 Wird n n n a ! s eilie , vorwiegend passive erlebt - „es war so komisch, ich
^ iV -l W cf 1113,1 m] KT r , Vür]lalfe “> « fehlt zunächst jede Aktivität - sie läßt sich
t ” . ■ " .! lr Steuermann bleibt verdeckt — es trifft sie somit keine Verantwortung — er
I mu.re " j; aucherglocke, eine Maske, einen Helm — man sieht nur das Äußere, nicht das
ihm Mnii.,« weiß mchi, ob er ihr Freund ist oder ihr Feind unsicher über sich selbst,
eine,- 1? X ■' ,hr „ Z j f ~ ohlle offeilc ' klare echte Beziehung zur Umwelt - mit
dahiX 2 mXaXl! ier Un, I° rn h hinter tler sie . sidl schert, fährt sie im Strom des Lebens
? .. r c,,l ui oder eben deshalb trägt die Situation eine merkwürdige Zweideutigkeit
T'uu-h, . , S V S , ls<diert W[ e in einem Lift — nur durch einen Schlauch, wie ein
sichX X i‘X der Außenwelt verbunden - schön aber gefährlich isl das — mau ist nie
iw MniumP tU i!‘ eic ^ etwas passieren — es kann das Seil reißen und die Verbindung mit
di«Jr 7 ™. V , g 11,1 erbrochen werden - wir wissen aus vielfältiger Erfahrung, daß
oder i,£^«H- lenhan ? beim Neurotiker nicht sehr haltbar ist man kann stecken bleiben
an kn^i, 1 Z! , n ode r Zl1 au ssteigen - - hier klingt schon das Motiv des Rückzuges
| *- il-mchr-mittuns — m der Behandlung — im Leben - wo immer Sie wollen,
NeurnoX mf- 11 Sie, wie_ fein die Verschleierung der wirklichen Triebkräfte der
die nirhi,!: ,! n al ! e Einzelheiten in dem Steuermann symbolisiert sind: er trägt eine Maske,
käninfei-i«, ho, Tcu S f - jesi( -‘hl erkennen läßt — ein Helm ist es anderseits als Sinnbild der
Schein iii«io M„ * u ?^ ' er er sbckt das Individuelle, ein hübscher Ausdruck für die starre
proii ziert ih " *t de * Neurose — es fällt ihr zur Uniform der Doktormante! ein — sie
W - u ' . l,niiy,mc ’ maskier1e ’ i kämpferische Einstellung auf die Umwelt, auf den Arzt.
falsch füncrr^I-moXX s *® an £cskhts solch irrtümlicher Voraussetzungen sich von dieser
Arche Noth znrn X n U J! !WeU \ n d ‘ e Isolierung - in ihre komisch und altmodisch gebaute
zeichnet vortroifiXh 2 '^ 1 V0 T j dei , des Lehens — aber ihr Steuermann das kenn-
Steuerinann ist der TnX 1 aradoxe der Neurose und ihrer Sicherungstendeuz — ihr
In den weiteren F d f ii 6S IS C1 ' ie Art larvierter Selbstmord, den sie begeht,
ihrer kindlichen r, E'itfalleii zur Arche Noah ist anderseits eine (reffende Darstellung
als schön erlebt J H 1 ' elll ^ cda Ii s L e ziehungeii| gegeben: die Bibelstinide — sic hat sie nicht
sie nach dem Ton ih» W nr C ^ e ai ( cb ’ n * stinkt,v die weltfremde Erziehung des Asyls, in dem
Wahrheit eiilgm-ec-hmi lV^ ' eiM auf ^ uchs > äLlehnend — die Bibel, als das heilige Buch, der
_ 30 i, . | 1 r, . kennen zu fernen — nicht nur als Märchen für Kinder dargestellt
wie ein Märchenbuch ' dcs Lebens aber me vermittelt bekommen sie liest es heute noch
fallen — e« „ , , , • und da muß sie natürlich von einer Enttäuschung in die andere
Gefühl als innirp rT e ’u Wasser,a11 . — da s war so häßlich — ich habe das
wie wenn eineiwh/wl/ 61 . ® c ' iaildlim g auch hinunter, und dann geht’s wieder herauf —
Rtickzup. . • ls Nasser verschlingen wurde“ hier der fiktive Ausgangspunkt für den
Haltumr i„„ T ,„_ se V an schauhche Versinnbildlichung des Auf und Nieder in ihrer ganzen
Haltung — immer aber hat sie den Untergang vor Augen
anderer Ausweg in der Not ihrer Isolierung wäre möglich - aus ihrer Arche
Eisenbahn 1« L® n «ber nirgends Land - keine Haltestation, wie auf der
fragt sie ,W a ,-vf- a ”2 escfjr . ieb ? il steht wie weit man „och vom Ziel ist — Zuweilen
fvlhl im y I wp,t sind wir denn eigentlich?“ und möchte mm erfahren, daß sie
in S.X flemi, Üa Lf C im P rui1 ?® wdß - daB sie von einer wirklichen Einordnung
ei e A n\ J ? a SP ' Chen "°!: h T ht W 5 lt eiltfenU ist - -öl er Steg, das war wie
eine Aufgabe — ich sah aber den Sinn — nicht ein daß ich da
™i e o iefllt f bei1 d . ie natürliche beim Gesunden ohne 'weiters und un-
+ P ruc ^ 2111 Umwelt. Dann üillt ihr der Steg ein, über den sie geht,
wenn sie abends einen Schriftsteller aufsucht, um als Nebenverdienst noch für ihn zu
Zur Psychologie nervöser und cyklothymcr Stimmurigssehwankungen
schreiben, Es ist ein erster Versuch, den sie spontan unternommen hat, um ihre Arbeits-
leistung und ihr Einkommen zu steigern also ein Schritt auf dem Wege zur Anpassung
aber auch hier tritt hemmend die Fiktion auf, als ob der Steg nirgends ans Land führte,
als ob sie von da auch nicht mehr zurück könnte zur Arche, in ihre Isolierung.
Da scheint es ihr, als sei eine Stalion da — Bogeiihausen; sie freut sich, daß sie auf
heimischem Boden ist — aber von Bogeiihausen hat sie trotzdem keine Ahnung sie
kennt die nächste Umgebung ihrer Heimatstadt nicht — ein kennzeichnender Ausdruck
ihrer allgemeinen Wirklich keitsfremdlieit - sie verläuft sich noch heilte im englischen
Garten, wie als Kind — das isl das fiktive Endresultat ihres Versuches zur Landung am
üeslade der Umwelt — „ich wollte immer weil f ortgehen als Kind“, so
erzählt sie, „und dachte, ich find’ schon weiter” — eine A n d e u t u n g d e r
Neigung, in der expansiven Phase zu weit zu gehen, sich zu weit
vor zu wag eil — bis die Angst als Sicherung aultritt, wenn sie sich nicht mehr aus-
keimt; dann muß sie andere Leute fragen hier erklärt sich die Atlidiide der Ratlosigkeit
und Hilfsbedürftigkeit, die heute noch gelegentlich als Kunstgriff gebraucht wird, um
mittelst der kindlichen Einstellung sich zu sichern, den Arzt in ihren Dienst zu stellen
und - scheinbar hilflos — int Grunde voll Gewalttätigkeit — wieder Herr der Situation
zu werden.
Zugegeben nun, die Bedeutung der Depression als Rückzug, als
Distanzierung von der Umwelt sei einleuchtend, wie verhält es sich mit den
Anomalien der S t i m m u n g s 1 a g e, die sozusagen „n ach oben“
von der Norm abweiche n, uns als krankhaft g e h o b e n, hypo-
manisch, expansiv 'entgegentreten. Ist nicht diese Gehobenheit des Selbst-
gefühles, diese Neigung, sich ins Leben liineinzustürzen und in vielerlei Unter-
nehmungen geselliger oder geschäftlicher Art alte, abgebrochene Beziehungen
wieder aufzunehmen, neue anzuknüpfen, wie wir sie in den leicht hypomanischen
oder hyperthymischen Zuständen antreffen, ist diese Haltung nicht in ausge-
prägten] Maße eine Lebensbejah ung, das Gegenteil einer Distanzierung der
Umwelt und Gemeinschaft gegenüber?
Zunächst könnte es wohl so aussehen — oft gelingt es auch solchen Typen von
Neurotikern, nicht nur sich, sondern auch ihre Umwelt zu täuschen mau nennt
sie wohl mit Recht „Blender“ — aber sie „tun nur so, als ob“, verbergen hinter
der Pose einer Scheinbejahung ihrer Gemeinschaftspflichten ihre im Grunde nicht
aufgegebene egoistische, ich-befangene, asoziale Einstellung, mögen sie sich auch
gelegentlich ein noch so menschenfreundlich gefärbtes Mäntelchen umhängen.
Da in dieser expansiven Haltung häufig auch gesteigerte erotische Neigungen
sich zeigen, und eine besondere Unternehmungslust dem Sexualpartner gegenüber,
wird nicht selten zum Beispiel eine Verlobung in solcher Stimmung abgeschlossen^
die aber, wenn es zu dauernder Bindung kommen soll, sich nicht als „ernst-
gemeint“ erweist und ebenso typisdierweisc in einer darauffolgenden sichernden
Depression abgebrochen wird. Die wohl physiologisch zu nennende idealisierende
Selbsttäuschung Liebender, oder sagen wir vielleicht richtiger „Verliebter“, kann
auch einen gesunden Partner über die Zuverlässigkeit und Echtheit des anderen
irreführen. Erst der früher oder später eingeleitete Rückzug des Neurotikers pflegt
die notwendige Enttäuschung herbeizuführen, sei es, daß dieser, wie erwähnt,
etwa die Verlobung löst - - aus Scheu vor einem festen Band, wodurch er ver-
fügbar wurde — sei es, daß er in einer äußerlich vollzogenen ehelichen Bindung
sich der Ehegemeinschaft im Grunde entzieht, in ihr sozusagen ein unverheiratetes
Dasein führt, die Ehe nur als Kampfplatz wählt, auf dem er auch sein Machtideal
mehr oder minder zu verwirklichen versucht.
Oder prüfen wir die scheinbare Aktivität in geschäftlichen Unternehmungen
oder in beruflicher Tätigkeit, wir werden den in seiner Stimmungslage Gehobenen
geneigt sehen, seine Kräfte zu überschätzen, zu zersplittern und vielerlei, für eine
gesunde Kritik meist zu weit gehende Unternehmungen anzufangen, immer fehlt
es an der Ausdauer, an Geduld, an der Fähigkeit, mit Felilschlägen zu rechnen
oder sie mit Gleichmut und Besonnenheit zu ertragen, au Beharrlichkeit, wenn es
gilt, ein reales Ziel ungeachtet fremder oder -eigener Widerstände bis zum guten
Ende zu verfolgen.
Sie werden vielleicht an gewisse querulante Typen oder paranoid veranlagte
Charaktere denken, das heißt zu leicht walmhaft gefärbten Auffassungen geneigte
23
n
Dr. KURT WEINMANN:
Menschen, die unermüdlich Prozesse führen oder Eingaben machen um zu ihrem
vermeintlichen odei auch wuklichen Recht zu kommen ■ — sie scheinen doch geeignet
meine letzte Behauptung zu widerlegen. Und docii handelt es sich auch hier nur
Betätigung sozusagen auf „Nebenkriegsschauplätzen“ — als ob es die
Hauptfrage des Lebens wäre, in irgendeiner ganz ungebührlich aufgebauschten
und in den Brennpunkt des fiktiven Interesses gerückten Angelegenheit Recht zu
Si m, " cn t c cr zu ^halten. Der Neurotiker ist dabei seiner kämpferischen Grund-
J dttung zufolge ganz m seinem Element, genießt die so gestaltete Wirklichkeit und
darmt die scheinbare Bestätigung seiner Fiktion von der dauernden Bedrohung
und Anfeindung durch die Umwelt.
im i P CI | voddn angeführte Fall denken Sie an den Traum von der Arche Noah
Knitehl — ist regelmäßig wenn es sich etwa um Rechtsstreitigkeiten oder
von f -t ht'iii = ^ s s«we 1 trctiing:en handelt, wie umgewandelt, förmlich elektrisiert,
„I i ‘ n ei Aktivität und bcli lagfertigkeit — eine etwa vorher sichernd vorge-
Sh k ä mnW Pi r SI011 t S 1 chwi f ldet i” lt dem Augenblick, wo eine Aussicht auftaucht,
p-diontm P ij se ^ ZU behaupten. „Da bin ich selbst mein bester Anwalt“ äußerte die
Rtehter wunl eU nfn solchen Gelegenheit und war sich darüber Idar, daß der
l - i 7 i»claß sie ilun mit jedem Wort einen Hieb versetzen könne“. Sie
bei^t'iriH n ± c ^ f ln ? c * le Sache beim Mieteinigungsamt ohne Rechts-
die ei,. «Uh ihren Gunsten durch, unterstützt durch ihre juristischen Kenntnisse,
-enommen hS ™igk ;it Anwaltskanzleien anzueignen Gelegenheit
IwarJX« bat. Auch diese Berufswahl war gewiß kein Zufall, sondern läßt sich
newimf-hiin i . 8 duic i bi re Leitlinie zur fiktiven. Überlegenheit bedingt — dem
snäter m u l lies nervösen Charakters einordnen. Interessanterweise wählte sie
ZU11 , inender Besserung, eine T ätigkeit in einem Buchverlag die sie
D pi ^ ‘ c auch weit mehr befriedigt. Zu ergänzen ist noch — gleichzeitig als
Nd imuf g z u r. P s y c h o 1 o g i e der Gereiztheit — daß bei ihr neben der
iten.lf 3 U Uepressionen und Angstzuständen sehr häufig eine äußerst gereizte
herl ui a f Karapfniittel hervortritt, jedesmal dann, wenn sie sich in ihrer Geltung
Auc(T'inrr^ (il i [ r ? eildwi . e entwertet glaubt. Meist schließt sich an diesen fiktiven
-Ausgangspunkt dann eine reaktive Depression an, die sich erst wieder lockert oder
rosr wenn ihre Sicherheit einigermaßen gewährleistet scheint.
q P] .„ ; e _ £ an ? allgemein die Eigenart der SUmnumgslage, die wir als
SelhdtF/'fühi 1 ^ bezeichnen, auffassen als Ausdruck beginnender Unsicherheit des
oder unten L 2SSC , n . mehr oder minder starke Oszillationen, Zuckungen nach oben
Dien- prt ge ® tode Gleichgewicht auch der Stimmungslage anzeigen.
das erschütterte n e - ? * 1 “l“ u f 1 § lst . sozusagen e i n k r i t i s c h e s S t a d i u in;
DcnresSn oir ° le, jf wicht r bann in der Folge eine Störung im Sinne einer
beiteij 22 “ Exaltation erfahren; wir können hier häufig die traurige oder
Ausiran^mmkf m statu nascent, b in ihrer Entstellung und an ihrem
rai^Bwl! vom Standpunkt des Betroffenen gesehen, allemal
sichend ^ 3,° der , 0efahrdutl S seiner Sicherheit darstellt, vor der er — sich
kurztrpeaivt ^ u yf lc }} en versucht; sei es, in eine Depression, durch die er sich
sich von f i,r c ik ■ f ‘ 1 P d bingsunfaiiig und unverantwortlich macht, sei es, indem er
‘ n gClK>benem Se,bst8elülU «•>« allc
brsn,uip!-,Pn ZilIati0l ] CR i dcr D -ei-eizten Stimmung glauben wir bei Cyklothymen eine
triW aS SCl ? e P r dcu l, ! ls ' beimessen zu dürfen, sowohl für die Beur-
nirinin r, Ablaufes der Emzelpliase als für die der Heilungsaussicht im allge-
S2J vJS s arke n d ! e Ausschlage der Stimmung aus der Gleichgewichtslage in
ntui \Y/ii-vr S M Cn i Periode sind, desto stärker ist die Spannung zwischen Fiktion
und Wnkhchkeit, desto gereizter die Kampfeinstellung des Individuums den Mit-
menschen gegenüber, desto größer die Neigung, die geordneten Beziehungen zur
Umwelt abzubrechen und auf die asozialen oder antisozialen Abwege der Neurose
octei dei 1 sychose auszuweichen. Auch so weitgehende Abwege wie Verbrechen
oder Selbstmord werden in diesem kritischen Stadium leichter gangbar.
Charakteristisch für die auch subjektiv gegebene Empfindung dieser kritisch
zugespitzten Situation ist eine typisch wieclerkehrende Äußerung der oben als Bei-
24
Zur Psychologie nervöser und cyklolhymcr Stirn tnungsschwankungen
spiel der Gereiztheit angeführten Patientin: Sie pflegt dann, wenn sie sieh selbst
am Rande der Psychose oder der Selbstmordgefahr fühlt, zu sagen: Jch kann nicht
mehr für midi garantieren“. Das ist sicher so empfunden, wenn es auch gleich-
zeitig als tendenziöse Drohung und Warnung für den Arzt als Gegenspieler auf-
gefaßt werden muß
R ii c k b 1 i c k e n d können wir sagen, daß weder die Depression etwa als reine
Verneinung, als ein Aufgeben des „Ichs”, noch die Exaltation oder hypomamsche
Aggression als ein reines „Ja“ zur Umwelt aufzufassen ist, sondern beide Hal-
tungen dienen, nur mit v e r s c h i e d enen A u s d r u c k s m i 1 1 e I n, als
e i n e s e li c i n b a r e S e 1 b s t v e rne i n u n g o d e r S e 1 b s t b e j a h u n g d e m
i ii d i vi d u e 1 1 e n Gelt u n g s- o d c r M a c h t s t r e b e n ohne R ü c ks i c h t-
n a h me auf tl i e U m weit und ohne Einordnung in die Ge m e i n-
schaft als eben der Aufgabe, vor tl e r ausgewicheii wird. Die
Anerkennung der dem Individuum wie den Mitmenschen immanenten Gemein-
sdiaftspfl ichten würde beide Haltungen entbehrlich oder u n m ö g-
1 i c li m a c ii e n, da die freiwillige Bejahung und Betätigung dieser Gemeinschaf ts-
pf lichten die Stimmungslage nicht in derart schwere und als krankhaft zu bezeich-
nende Gleichgewichtsstörungen brächte.
L)er seelische Rhythmus des Individuums würde mehr oder minder harmonieren
mit dem der Umwelt, damit wäre auch in der Stimmungslage wie in der Gesamt-
haltung des Einzelmenschen die Möglichkeit eines harmonischen Zusammen-
klanges mit der Umwelt und damit auch das Gefühl individueller Ausgeglichenheit
und Erfüllung gegeben.
Wie wii gesehen haben, sind alle die besprochenen Haltungen, die sich in und
ans der veränderten Stimmungslage ergeben, psychologisch betrachtet, durchaus
folgerichtig und vom Standpunkt des in seiner Sicherheit vermeintlich bedrohten
Menschenkindes restlos verständlich ; wir brauchen uns liier keineswegs nur mit
der beschreibenden Feststellung zu begnügen, daß etwa bei „derart degenerativ
veranlagten Individuen Zeiten depressiver, gereizter oder gehobener Stimmung an-
schemend — wir wurden sagen scheinbar — ohne Grund und Ziel abwechseln.
Auch Kmt Schneider (Köln) hat die Betrachtung der reaktiven Seite pathologischer
Stiminungsschwankungen in den letzten Jahren mehr in den Vordergrund gerückt.
Lilien wirklich brauchbaren Schlüssel zum Verständnis der psychologischen
Struktur oder besser gesagt Dynamik solchen seelischen Geschehens hat uns doch
erst die durch Alfred Adler inaugurierte Anschauungsweise in die Hand gegeben
Mit ihr eröffnen sich uns auch therapeutische Wege, die aus der Trostlosigkeit der
Resignation gegenüber vielen solcher psychischen Störungen herausführen die
früher durch das diagnostische Stigma des Entartungsirreseins als therapeutisch
mehr oder minder aussichtslos gekennzeichnet wurden.
Lassen Sie mich zum S c li 1 u ß kurz zusammenfasse n, was sich uns
über die psychologische Struktur oder Dynamik krankhafter Stinimungsschwan-
uugen ergeben hat:
1. Das volle Verständnis für die Einzelphase läßt sich n u r i m
R a h m e n der Bet r a c h t u u g der Gesamtpersönlichkeit finden.
2. Als I n d i k a t o r und Maßstab für die Störung der Gleichgewichtslage
dient zweckmäßig das Selbstgefühl, dessen Schwankungen mit der Ab-
weichung der Stimmungslage vom Gleichgewicht parallel gehen.
3. Kurze oszillatorische Zuckungen des Selbstgefühls
kennzeichnen das kritische Stadium der Gereiztheit, aus dem
die Stimm uiigslage nach unten oder oben, in die Depression oder Exaltation Um-
schlagen kann.
4 . Der Grad dieser Gereiztheit ist in gewissen Fällen als
Maßstab für die Prognose einer darauffolgenden Einzelphase sowohl
als für die Heilungsaussicht der Stlmnuingslabilität im allgemeinen verwertbar»
5. Die depressiven sowohl wie die exaltierten Stimmungsanomalien stellen
ihrer psychologischen Bedeutung nach eine Distanzierung des Indi-
viduums von der Gemeinschaft dar, ein Ausweichen — n u r auf
verschiedenen Wegen — vor der Realität und ihren Forde-
rn ngen.
25
Prof. D. E. OPPENHEIM:
b. Die individualpsychologische Betrachtung (im Adlerschen Sinne) eröffnet
Möglichkeiten zur Vertiefung unseres psychologischen Verständnisses auch der
psychotischen Veränderungen der Stimmungslage.
7. O t e therapeutischen Aussichten einer individual-
psychologischen Behandlungsind bei den nervösen und den leichteren
Fällen cyklotliymer Stimmungsschwankungen nicht ungünstiger als bei
anderen Neurosen gleiche n Grades.
SU M MARY: I, In referencit to the psydiological
slmdurc und dynomics ol morbid vadikUiom of mood
{deprtiBsion, exaltadon, Irritation): Irritation is nmrketi
by short, öücillafory convukive UvEtches ot Nie e^u-
leelmg; anü is vfewed as „critkal stage“, front
whicli fht= inood may veer either upward e>r itown-
ward, L c,, either iitlo exaüalion or into de-
urcsaioiL
2, Front tlie degree of tliis irrifntion we ernt, In
cehain ease*, Eorecast not ouly the particulur phaae
it will next ahow, btd alao the proapecb tif cviring
tlie niood-hihUity in general.
X Individuul-paychology approacli {in
Adlerian sensc) opena tip possibililks o! deepening
oiir Psychologien 1 underskmding, even oE psycho-
t i c [Uiditfdions oE mood,
4. Tlte therapeutie prosspeetü oE individual «Psycho-
logien! Irealnient are no lest; iavournble in uervous
und dtghl cascs oE cyclolhymic vaci Nation* oE mood
ihm flwy ure in otiier neu roses of Eike degree.
Der Mann in Schönherrs „Weibsteuf el“
Ein Beitrag zur Lehre vom Minderwertigkeitsgefühl
Von Prof. D. E. OPPENHEIM (Wien)
Die Individualpsychologie ist eine junge Wissenschaft, aber was sic lehrt, ist
zum guten Teil uralte Weisheit ; denn sie erstrebt nichts anderes als eine Rationali-
sierung jener ungesuchten Menschenkenntnis, die im Verkehr mit dem eigenen Ich
und den vielerlei Du mehr oder minder einem jeden zuströmt und bei den Meistern
uer Intuition, den Dichtern, im Überfluß hervorbricht.
So haben zum Grundthema individualpsychologischer Untersuchungen, dem
entscheidenden und oft genug verhängnisvollen Einfluß körperlicher Mängel auf die
i i| Wicklung des Charakters, schon Homer und Shakespeare die wertvollsten Bei-
tiage geliefert, jener mit einem flüchtig skizzierten, aber lebensvollen Bild des
nucldigcn Demagogen Thersites, dieser mit der Kolossalfigur des Kronprätendenten
Kichard 111., der seine Seele der Hölle überliefert, weil der Himmel seinen Leib
schmählich verbildet hat. Heutzutage, unter der Vorherrschaft der Wissenschaft,
, %. x ' on gewöhnt, sucht ein Dichter, wie Thomas Mann, sogar begriff-
iche Kuu heit über das Verhältnis seelischer Leistungen zu ihren körperlichen
mmdlagen und findet, daß es jedenfalls 1 leiden der Schwäche gibt. vielleicht nur
Solche*).
Dieser knappe i linweis zeigt schon, wie viel wertvolle Anregung der Individual-
psychologe erhoffen darf, wenn er den Typus des Scliwaclien in der schönen
Literatur mit allem Ernst studiert, Das Beispiel, das wir hier vorlegen, erweckt
aber noch ein besonderes Interesse.
Karl Schönherr, der Dichter, der es uns bietet, ist zugleich Arzt. Seine Art, die
Menschen zu betrachten, kann davon nicht unbeeinflußt sein, Desto eher dürfte
sie mit der Individualpsychologie zusammenstimmen, einer Lehre, die ganz und
gar aus der Berufsarbeit eines praktischen Arztes hervorging.
Und nun greifen wir zu Schönherrs Drama „Der Weibsteufel“**), ersehen aus
dem Personenverzeichnis, daß hier eine Frau zwischen zwei Männern, ihrem Gatten
und dem anderen, einem Grenzjäger, steht, und entnehmen schon dem Szenarium
der ersten Szene, welche der drei Personen für unser Thema in Betracht kommt. Ls ist
natürlich der Mann. Denn ihn beschreibt der Dichter folgendermaßen (S. 7, vgl. S. 47,
*) „Der Tod in Venedig“, Novelle. S. Fischer, 1913. S. 24 ff.
**) „Der Weibsteiifel“, Drama in fünf Akten, von Karl Schönherr.
L. Stachmann, 1016. (11. bis 13. Tausend.)
Leipzig, Verlag
Der Mann in Schön herrs „ Wcibstellfel"
90): „Noch jung, aber kränklich und schwach, mit schütterem roten Bartflaum“. Wie
gering seine Kraft ist, bekundet er selbst wehmütig mit den Worten (S. 27): „Ich
kenn nit einmal an Brennspan überm Knie abbrechen“. Was soll er aus-
jichten mit einem Arm, an dein sein Weib „um kein Kreuzer Fleisch dran sieht“
(S. 08) und mit einer Hand, die ihr eiskalt vorkommt (S. 54, 70, 71). Auch die
Füße werden ihm eiskalt, wenn er mir eine Zeitlang im Keller gestanden ist (S. 25),
er muß dann schlafen gehen und eine warme Flasche für die Fiiße bekommen,
„sonst kriegt er wieder einen Katarrh und der dauert wieder so lang“ (S.26).
Im Winter schläft er sogar ständig mit der Wärmeflasche und ebenso regelmäßig
ist er im Frühjahr voll Katarrh. Im Sommer leidet er an Kopfweh iS. 09), ja seine
Beschwerden wechseln so schnell, daß die Frau dem Doktor klagt, er habe alle
läge eine andere Krankheit (S. 79) und ihm entrüstet vorhält: „Nasse Füße und
Rheumatismus steht heute im Kalender, Kopfweh und Bauchweh hast gestern,
g’habt“ (S. 07). Auch recht bedenkliche Erkrankungen stellen sich bei ihm leicht
ein. So bekam er einmal eine Lungenentzündung, weil er im Regen ohne Schirm
draußen war (S. 77). Wie heftig stärkere Gemütsbewegungen seine Gesundheit
bedrohen, sagt ihm die Gattin im Augenblick, wo er zärtlich werden möchte:
„Geh, laß das, reg dich nit auf, es könnt dir nit gut tun, könntest auf ja lind nein
wieder deinen I lerzklopfer kriegen“ (S. 48, vgl. S. 28). Nach dem Wutanfall, zu dem ihn
Grenzjäger, sein grimmiger Rival im Kampf um das Weib, gereizt hat, klagt er
celbst: „Das Merz klopft mir noch bis zum Mals“ (S. 07), und sic bemerkt: „Du
bist ja weiß wie ein Leintuch“ (S. 00). Mitten in der zornigen Aufwallung hat
er mit dem drohend gezückten Messer in der Hand gezittert ($.66, 114). Alles in
allem ist er nach seinem eigenen und nach dem Wort des Arztes ein ewiger Kranken-
sessel (S. 66, 8,80) oder mit seiner Frau zu reden (S. 69): „Wenn er am besten
ist, ist er um und um nix nutz“. Ein andermal faßt sie dieses Verdamnuingsurteil
in dem einen Kraftwort „unnutz“ zusammen und denkt dabei nicht bloß an alle
seine Gebreste, sondern außerdem, und vor allem, an seine Unfähigkeit, aus ihr
eine Mutter zu machen, wie es Recht und Brauch ist (S. 91).
Wen immer auf seinem Lebenswege solche Schwäche und 1 Unfähigkeit hemmt
und plagt, dessen Selbstgefühl muß schon deshalb tief gedrückt sein. Nun hat aber
der Schwächling, den Schönherr zeigt, noch mehr zu tragen. Unter vier Brüdern
stellt er als Jüngster, Und als wäre das nicht Zurücksetzung genug, sind alle
anderen gesund und riesenstark, so daß er im Vergleich mit ihrer Fülle seinen
Mangel desto härter empfindet (S, 27). Was aber das Schlimmste ist, sic nehmen
ihn nicht ernst, auch dann nicht, wenn er schon alt genug ist, ein eigenes Heim
zu gründen, sondern verlachen seine Brautwahl, weil sie auf ein blühend schönes
Weib gefallen ist und sagen höhnisch: „So ein blutschwaches Manndl“ (S, 8). Man
beachte das Diminutiv. Es stempelt den unglücklichen Heiratskandidaten zu einem
Mann im verjüngten Maßstab, während er doch ein Vollmann sein müßte, um
ein ordentlicher Ebeherr zu werden. In dieselbe Richtung zielt das Spottwort des
Grenzjägers: „Schneider“ (S. 21, 114). Wie gut er damit die wunde Stelle des
Gegners trifft, zeigt die Abwehrbewegung, die der Angriff auslöst (S. 05). Der
Beleidigte greift zum Messer. Somit entspricht hier wirklich einer heillosen
Minderwertigkeit des Leibes ein tiefes Minderwertigkeitsgefühl.
Nach Möglichkeit sucht der Mann davon loszukommen, indem er sich die
schöne Rolle des unschuldigen Opfers zuweist und die Verantwortung für sein
Unglück der Mutter anfhalst. Mit einem mahnenden „Gelt Mutter“ fordert er von
ihr oder vielmehr ihrem Bildnis, zu dem er emporschaut, Bestätigung der leidigen
Tatsache, daß er immer von klein auf ein „Krankensessel“ war ($. S) und, wenn da
eine offene Anklage gegen die Urheberin seiner Tage noch vermieden ist, dauernd
wahrt er nicht einmal die Rücksicht. Eine neue Demütigung durch das Entsetzen,
das sein magerer Arm bei seiner Frau erregt, und schon schreit er es laut heraus:
„Ich hab ja nichts besseres mit bekommen von meiner Mutter“ (S. 68). Schuld an
seiner Schwäche sind seines F.rachtens auch die Brüder, und er nimmt wohl
Bedacht, gerade den Vorrang, der ihnen rechtmäßig aus ihrem höheren Alter zu-
fließt, in schiefes Licht zu setzen. Sic hätten, sagt er ständig, „seiner Mutter die
ganze Kraft ausgsutzelt. Ihn habe sie gar nimmer stillen können, er sei mit der
Saugflasch n aufgezogen“ (S. 21). Vernehmlich spricht aus dieser Umdeutung seiner
27
Prof. D. E. OPPENHEIM:
leiblichen Unzulänglichkeit in ein moralisches Unrecht, das die Allernächsten an
ihm begangen hätten, ein trotziges Widerstreben gegen sie und das Schicksal.
Daß aber seine Auflehnung, weit entfernt, bei derlei Vorwürfen stellen zu
bleiben, seinem ganzen Leben die Richtung gibt, merken wir, wenn er sich nach
tiem Ankauf des neuen 1 lauscs vor dem Bild der Mutter aufrichtet und ihm zu-
ruft (S. 07): „Mutter, als Elendsmandl hast mich in die Welt gsetzt. Aber ich liabs
doch er macht“. Demnach wäre sein höchstes Ziel, aus eigenem zu ersetzen, was
sie ihm schuldig blieb. Den Vorsprung, den ihre anderen Söhne vor ihm haben,
hätte er damit auch schon ausgeglichen. Indes gibt er sich noch nicht zufrieden,
wenn er auch schon so groß dasteht, daß er die Brüder mit ihren „breiten Achseln“
(a a. O.) nicht mehr zu beneiden braucht. Nun, da er, „der Schwächste“, außer dem
schönsten Weib das schönste Haus besitzt, mögen sie vor Neid schnaufen und
blasen. Denn vor dem bitteren Gefühl, viel geringer zu sein als sie, ist er erst dann
gesichert, wenn ihr eigenes Verhalten das Gegenteil bezeugt.
Oder legt unsere Deutung doch zu viel Sinn in prahlerische Worte, die einer,
vom Rausch umnebelt, hinwirft? Nein, seinen Brüdern trotzte ja unser Mann schon
c.aniit, daß er sich unbekümmert um ihre spöttischen Warnungen mit einem
blühenden Weib vermählte. Und während das 1 laus am Marktplatz für ihn noch
nichts war als eine lockende Hoffnung, sagte er bereits vom Neid, den er bei ihnen
erregen werde, dasselbe wie nach vollzogenem Kauf (S, 28). Der Gedanke kommt
nun also sicher nicht als Zufallsschöpfung einer flüchtigen Laune, der wuchs bei
ihm zusammen mit der Mißgunst, die ihn quält, seit er sich unter „fleischklotzigen
Brüdern (a. a. O.) seines kümmerlichen Selbst bewußt wurde.
Doch den Triumph, nach dem sein aufgestachelter Ehrgeiz verlangt, will er
nicht auf den engen Kreis der Familie beschränken, sondern vor der großen Öffent-
lichkeit zur Schau stellen. Er malt sich aus, wie er einst von seinem I latis am Markt
Sonntags zur Kirche gehen wird, mit ihm das Weib im rauschenden Seidenkittel,
und sieht schon die Leute vor Staunen die Mäuler aufsperren (S. 9), die Mäuler, die
sic sich zerrissen hatten, um ihm die schöne Braut abspenstig zu machen (S, 7).
Wieder tritt die Tendenz, seine Erhöhung zum vollen Widerspiel früherer Niedrigkeit
zu entwickeln, deutlich zu Tage. Und als Mittel zu diesem Zweck scheint er die
Errungenschaften seines Lebens, das Haus und die Frau, zu betrachten.
Auch die Frau nur als Mittel? Man möchte es bezweifeln. Aber, wenn sie ihn,
von der Leidenschaft zum Grenzjäger überwältigt, fußfällig bittet, sie freizugeben,
was antwortet er? Sie sei ihm unentbehrlich? Nein, an die Brüder denkt er, die ihn
verspotten würden, wenn ihm sein Weib davonginge (S. 71). Stärker könnte er
Vf. ^ ar picht beweisen, daß er sie nicht um ihrer selbst willen, sondern aus äußeren
Rücksichten schätzt.
A S 11 * stimmt dazu der Satz, den er dem Rivalen entgcgenhält (S. 85):
„Mein Weib ist mein Sach; und mein Sacb iaß ich mir nit nehmen“. Den Fanatismus
tm das Eigentum, den er hier bekundet, brauchen wir nicht lange zu erörtern.
Denn noch m derselben Rede sagt er: „Ich hab von daheim nit viel mitbekommen“,
u nu wenn das auch nicht seinem wirtschaftlichen, sondern seinem leiblichen „Ver-
mögen gilt, erklärt cs doch nur um so besser, warum er solch ein Haltefest
wurde. Daß er es aber tatsächlich ist, verriet bereits der stürmische Jubelruf :
„Mein ist s, mein,“ den er nach glücklich vollzogenem Hauskauf hervorstieß (S. 97).
Immerhin hat er dort den Eigentumsbegriff noch sinngemäß verwendet. 1 Iin-
gegen überdehnt er ihn gewaltsam, sobald er sein Weib seine Sache nennt. Aber
vielleicht entstammt diese Verneinung ihrer Menschenwürde nur einer wilden Auf-
wallung seiner Eifersucht, Prüfen wir also, um auch dem Bedenken gerecht zu
werden, wie er grundsätzlich zu den Mitmenschen stellt. Da er in ihrem Kreis
schon durch sein Äußeres als traurige Ausnahme erscheint, läßt sich gar nicht
erwarten, daß er ihnen Vertrauen und Wohlwollen entgegenbringt. Sich feindselig
abzuschließen und eigene Wege zu gehen, liegt ihm sicher näher. Und wirklich
sehen wir ihn, im Gegensatz zu den älteren Brüdern, die gesellig im Tale wohnen
(S. 27), hoch oben einsam in einem „Geiernest“ hausen (S. 15), und während sich die
anderen als ehrsame Handwerker nützlich machen (S. 97), betreibt „der Unnutz“
(S. 97) zum Schaden des großen Ganzen das Schmugglergewerbe und gerät so mit
der berufenen Hüterin des Gemeindewohls, der Staatsgewalt, in böse Fehde. Ganz
28
Der Mann in Schonherrs „Weibsteufel“
isoliert ist er aber trotzdem nicht. Denn er hat Mitschuldige. Indes nimmt er selbst
unter denen eine Sonderstellung ein. Er, den seine ! Unfähigkeit gelehrt hat, auf
sich selbst acht zu geben (S. 84 und 80) und den Tod dermaßen zu fürchten, daß
ihm die Aufzeichnung einer ietztwilligcn Bestimmung kalt und heiß macht (S. 100,
102, vergl. S. 109), das Fliegen mann dl ('S. 72), das zu seinem Gehöft nur mühsam
hinaufkeucht und doch 100 Jahre alt werden möchte (S. 96), das sollte mit
schweren Waren ballen auf dem Rücken, von den Kugeln wachsamer Grenzjäger
bedroht, über halsbrecherische Gebirgspfade schleichen? Dazu hat es weder Kraft
noch Mut. Aber, ohne draußen Mühen und Gefahren mitzumachen, „daheim hinter
dem warmen Ofen“ ein gutes Stück des Ertrages als Hehler gemächlich einzu-
streifen, das ist seine Sache, und er betreibt sie so rücksichtslos, daß er die
Schwärzer antreibt, wenn sie, von dem grimmen Eifer des neuen Grenzers einge-
schüclitert, nichts mehr wagen (S. 10), Seine Mitarbeiter sind demnach für ihn
nur Werzeuge, deren er bedarf, tun so rasch als möglich das zum Hauskauf nötige
Geld zu verdienen.
Und nun, da wir wissen, wie schlecht er es versteht, mit Menschen Gemein-
schaft zu halten, betrachten wir ihn nochmals in der Ehe.
Das Mädchen, um das er warb, besaß keine andere Mitgift als ihre Schönheit
(S, 74). Darum war sie für ihn erreichbar, und er nahm sie, ohne zu überlegen,
daß „einer Frau, mag ihr auch ,nix abgeheth, doch immer etwas fehlt, solange
nicht der Mann aus ihr eine Mütter macht, wie’s Recht ist und Brauch“ (S. 92 unten,
S. 91 oben). Nun hat er in sechsjähriger Ehe nur allzu sicher bewiesen, daß er
zur Lösung diesei Aufgabe nicht Manns genug ist. Trotzdem trägt er kein Be-
denken, von ihr für seine Person noch mehr Sorgfalt zu verlangen, als seine Ge-
brechlichkeit wirklich braucht. Nicht einmal den Ärmel streift er sich selber auf,
wenn sic ihm seinen rheumatischen Arm mit Ameisensäure einreiben soll, und
kommt er vom Fischfang mit nassen Füssen heim, so wartet er, bis sic ihm
kniend die Strümpfe auszieht (S. 66 f.).
f Würde er nur ein wenig mittun, so wäre ihre Leistung kameradschaftliche
Höfe. Da er aber gar nicht zugreift, sieht die Gattin in der eigenen Aufgabe eine
übermäßige Fion und fragt vorwurfsvoll: „Soll denn all’s ich machen? fS, 67.)
Stillschweigend verneint er das, indem er die verlangte Hantierung ohne Wider-
icdc vollzieht Abei dei lasche Pückiall in die frühere Lässigkeit, der eine Wieder-
holung der Frage erzwingt (S. 67), zeigt, daß er sic im I lenen bejaht. Offen
in dem sicli zu änltern, hindert ihn offenbar die Feigheit. Denn aus
dem Satz: „Mein Weib ist mein Sach“, folgt ja doch unweigerlich, auch wenn er
es nicht einmal vor sich selbst bekennt, daß sie alles tun muß und ihm das Nichts-
tun freisteht Natürlich darf er sein Eigentum auch ein sperren, wenn er es bedroht
glaubt, und demgemäß bestellt er für seine Haustürc ein Schloß, das sich nur von
außen öffnen läßt, damit ihm sein Weib nicht davongeht (S. 71, 72, 74). Gilt es aber,
mit dem Gut, das er hat, ein anderes zu erhaschen, mag er es getrost aufs Spiel
setzen. Und so wirft er in Gedanken an das Geld, dessen er zum I lauskauf bedarf,
seine Gattin dem Grenzjäger als Köder hin CS. 98 und 52), damit ihn der leckere
Anbiß zum dummen Karpfen mache (S. 33 und 63) und die Schmuggler wieder zur
Arbeit kommen fS. 51). Die Frau ein Köder, nach dem ein Fisch schnappt? Da ist
sie wohl nicht mehr als eine gleißende Fliege oder ein regsamer Wurm. Zeigt sie
sich aber ungebärdig, gleich sieht er in ihr ein wildes Pferd, dem er den Zaum
enger anlegen muß (S. 85) oder einen frechen Kläffer, den man mit „Kusch“ zur
Ruhe weist (S. 87). Und verlangt sie gar ihre Freiheit zurück, so gibt er ihr einen
Schlag ins Gesicht und ergänzt die handgreifliche Belehrung durch das Kraftwort:
„Mein Sach halt i mir noch“ (S. 71). Nachdem er sie überdies zur größeren
Sicherheit von ihrem geliebten Grenzjäger getrennt hat, indem er dessen strafweise
Verstezung herbeiführt ('S. 86!.), erwacht bei ihr der Widerstand gegen die beharr-
liche Verdinglichung ihres Ich. „Zuerst aufgehackt werden bis auf den Grund und
dann zugedreht wie ein Wasserhahn“, im Selbstgespräch lehnt sie sich dagegen
auf (S. 91). Trotzdem versucht er eben das zu erreichen. Nur der Ausdruck, den
er gebraucht, ist anders: Sie soll alles, was gewesen, auslöschen, alles, samt dem
Schlag ins Gesicht, der ihr ja nur gebührt habe ('S. 94). Scheinbar fügt sie sich
dem Ansinnen, fängt aber bei nächster Gelegenheit wieder an mit den „alten
Prof. D. E. OPPENHEIM:
Sachen“ und läßt sich nun nicht mehr einschüclitem, sondern bekämpft seine
bequeme Ausflucht: „Das haben wir ausglöscht“, zornglühend mit der höhnischen
Präge (S. 98, vergl. S. 106 und 109): „Ausglöscht? Das ganze Weib mit Haut
und Haar, mit Fleisch und Blut“. Aus der anschaulichen Form volkstümlicher
Redeweise in die begriffliche der Gelchrtensprache umgesetzt, besagen diese Worte,
daß der Mann seinem Weibe zumutet, ihr persönliches Sein völlig aufzugeben und
nur noch als Objekt seines Willens zu existieren.
, Auffällig bleibt nur, wie spät die Einsicht bei ihr dämmert. Sechs Jahre nach
oei lochzeit hat sie ja mit ihm noch kein einziges Mal gestritten und fühlt sich
£ a * . handelt (S. 7, 82). Wie läßt sich das mit seinem ichsüchtigen Geltungsstreben
w/ „ n ,ng bringen? Vielleicht, wenn wir in Rücksicht ziehen, daß er seinem
Weibe als „hilfuotiges Kind erscheint, das man liegen und pflegen und um das
man sich sorgen muß“ (S. 8, 40, 61). Sich sorgen müssen, darin liegt ja, daß er
einen mächtigen Zwang auf sie ausiibt, jedoch zum Widerstand fordert er damit
nicht heraus, da er, ohne Gewalt zu brauchen, moralisch überzeugt. Ist er aber
ui eine solche Einwirkung persönlich überhaupt haftbar? Man könnte es be-
stiegen, da zur Anerkennung seiner kindlichen Hilfsbedürftigkeit schon der Zu-
stand seines Körpers nötigt. Indes zeigt doch die Menge und der rastlose Wechsel
semer R' blichen Beschwerden, daß nicht alle echt sind. Warum er sich die anderen
ein bildet, denn an Simulation ist nicht zu denken, verrät uns die Freude, die er
auiiert, wenn das Weib um seinetwillen besorgt scheint (S. 95 und 101). Der
stärkere zu werden kraft seiner Schwäche — mit diesem Paradoxon glauben wir
c«m genauesten auszudrücken, was er in der Ehe durch hypochondrische Weh-
leidigkeit unbewußt erstrebt.
. j 1 ” 1 Weg, den er da beschieltet, ist also krumm, aber eben deshalb für ihn
ciiarakteristiscli Denn in dieselbe Richtung weist der Leitsatz, dem er mit ruhiger
Uoei legenheit folgt: „Schlau muß man sein“ (S. 13, 86, 106). Klar ist auch, daß
I | % H w | A n 1 “■ \ ’w' ■ | * I ^ | i. 1 Im L Ji j 1L CI II O l V~ 1 ! vif l— r ■. l
volle Fertigkeit, die ihn von den „dummen Kraftlackein“ zu seinen Gunsten
unterscheidet (S. 27, 28, vergl. S. 63). Aber mag er eile noch so eifrig herunterreißen,
eines muß er ihnen lassen. Ihre Kraft ist jedenfalls das rechte Kennzeichen des
starken Geschlechts oder mit einem Wort gesagt „Männlichkeit“.
- . , lc * d'e Ehre sollte er mit ihnen nicht einmal teilen? (S. 48). Dagegen sträubt er
!C * t cl maßen, daß er zur größeren Sicherheit sogar den „w i 1 d e n Mann“ spielt, der
’/n SC1 - !n s ’ l ei Scndc Wut“ (S. 65) gerät und sicli dann gewaltsam Respekt schafft.
lr - Ie von * bm fordert, desto härter drückt ihn seine Unzuläitg-
. ~ x eit - Der eigenen Frau ins Gesicht zu schlagen, wagt er noch, freilich bloß,
, K , sie . b,tte . nd vor i,im (S- 71). Denn schaut sie ihn auch nur „mit bei-
. ; .r‘ ouiwauie „unscmussig zürne
bleibt 1 hm kaum etwas anderes übrig, als sich eine intellektuelle 'Männlichkeit
anzuüichten, die ihren besonderen Vorzug vor dem „schwachen“ Geschlecht auf
eine Minderwertigkeit des Weiberhirns“ gründet (S. 92), Dieser Einbildung tut cs
gar keinen Abbruch, daß er von 1 seiner Gattin „wie ein Kind gehegt und gepflegt
wud (S. 8 40, (>1). Was sie ihm leistet, betrifft ja nur seinen Leib, Geistig; ist doch
in seinen Äugen sie das Kind (S. 8, 93, 99) und er der Mann, der ihr zu befehlen
’ tl4, ~ , er sich darauf versteht, scheint ihm um so sicherer, als er seine weiber-
feindlichen Sprüchlein für köstliche Erfahrungsfülle hält (a, a, O. und S. 96).
Würde er sie aber auch „von Grund aus kennen, die Weiber“ (S. 1 15), um die eine
die sein ist, müßte er doch von rechtswegen am allerbesten Bescheid wissen. Indes
zeigen schon die 1 leimiichkeiten, die sic seit dem Hochzeitstag mit einer verschlösse-
neu 1 ruhe treibt fS. 10, 23), daß er tieferen Einblick in ihre Seele niemals erlangt hat.
Nur merkt er das nicht früher, als bis es ihm nichts mehr nützt. Unterdessen hat sich
nämlich gegen ilm ein solcher Widerwille bei ihr festgesetzt fS. 69, 73), daß sie, um nur
loszukommen, ihn und den Grenzjäger planmäßig gegeneinander hetzt (S. 94). Vom
Säbel des Rivalen tödlich getroffen, ruft er: „Weib, jetzt kenn’ ich dich erst ganz“
30
Der Mann in Sciiönhcrrs „Wejbsleufcl“
(S. 114). Für seine furchtbare Überraschung soll natürlich ihre abgefeimte Heuchelei
verantwortlich sein. Allein die Schuld fällt auf ihn selbst zurück. Denn wenn wir
auch absehen von der Verkennung ihrer individuellen Eigenart, bleibt doch der
Versuch, ihr Ich mit dein Satz: „Mein Weib ist mein Sach“ ganz wegznletignen
1 lier zeigt sich also klar: Das zügellose Geltungsstreben, das nicht einmal die
Gattin als Mitmenschen ansieht, und, der aufgereckte Mannesstolz, der sie achtlos
zum grollen Haufen der Evatöchtcr wirft, sind von einander nicht zu scheiden, sondern
bilden die einheitliche Wirkung jenes Gefühls tiefer Erniedrigung, das den Schwäch-
ling antreibt, seine Person auf Kosten der Gemeinschaft zu einzigartiger Größe cm-
porzuheben.
SUMMARY: TJie „Man“ in Scliönlierrs „Dt-vil
of a WoiMflii** (Wcibfiieuftl.) (A conlribution io ibti
Iheory of tlic feding of inferior ily).
Tlie inan wbo, in tbe slruggle for Uh „Wo-
man“, jä killed by bis rival r tlie fronifer guard,
(Qrcnziäger) h:is bcen a sic kly weakJing from birlfe
His sLiisc of physical deficiency h fhe deeper, he-
mmst: he te tiie youngest of iour son«, ;md fhe three
otbers, besides bring enclownd wilh die privifege
oi seuiority, are gilted Willi good health and strenglh.
| Ic ttierefore iitm^ines liimsrif wronged, is füll 0 f
repronclies Un Ute dead raofher and looks invi-
d füll« ly on lii« brolhers. Uh sole obfecl au satlslyiiig
Uh greai Ambition is lo rtrouse ihei r cnvy. Anxions
lo fium?pri, linstifc mul ddianl. he opposcs nol Qrtly
Ins femily, but soridy En general and, Jacking the
n tvl 1 retjnired for a frontal atlack* tniins Isis inirul
io devise nmning detours, withoul regard lo moral
or legal Obligation«- Human b rings are for liim trnly
fools to be usurd in fhe carrying oul of his strata-
gems. tt TUc mosl bcautiful woifinn", „Uie niosl
bwutifnl house^ are Ihe prizes he covds, bnl tbc
womnn as liis „chatte!“ is for him soldy a means
lo an nid, L e. lo «ecure Uie house* Tliis offene«
agamst her limnan digitfty turns her mto a „tlevil
of & woiiinu“ ( Weibs teuf el) who nitimddy proves
lafal to (lim.
Neurotischer Mystizismus
Von LUDWIG BÜCHNER (Wien)
Die Wissenschaft, die, in ihrer Unabhängigkeit von Wunsch und Willen des
einzelnen ein Regulativ, den Wert, die Wirksamkeit und größte Machtfülle aus
dieser Unabhängigkeit gewinnt, ist doch aus tausendfältiger Linzeiarbeit erwachsen
und löst aus der tiefen Verstrickung des Persönlichen ihre objektiven Ergebnisse.
Maß, Zahl und Methode bestimmen die neue Erkenntnis, die messend und
gemessen sieb einreiht und unter dauernder Kontrolle und selbst kontrollierend ihren
Platz hält oder wechselt.
Aber Forschen und Erkennen ist Menschenarbeit, eingefügt in sein Streben
und Erleben dient es dem einzelnen, der in ihm der Gemeinschaft seine Dienste
leistet. Daher erfüllt die Beschäftigung mit der Wissenschaft im Leben des wissen-
schaftlichen Arbeiters einen Zweck, der nichts mit deii wissenschaftlich wertvollen
Endergebnissen zu tun hat. In der Gesamtbewegung des Psychischen ist sie ein
Mittel wie jedes andere, welches den Anforderungen der Leitlinie entsprechend ver-
wendet wird und Richtung halten muß.
Daher ereignet es sich oft, daß an die Stelle wissenschaftlicher Bestrebungen
mit einem Mal andere treten, die ihrem Wesen nach entgegengesetzt erscheinen,
wenn sie nur einem ehrgeizigen Ziel besser zu dienen vermögen. Der Wissenschafter,
der religiös wird, der extreme Materialist, der dem Okkultismus verfällt, sind Er-
scheinungen der Zeit. Man versteht sie schärfer aus den Bedingungen der Zeit und
aus der Psychologie ihrer Bekenner als aus dem Wesen von Wissenschaft, Religion,
Okkultismus. Aus dem Gesamtspiel eines Lebens ist die Rolle zu erkennen, die diese
darin tragieren. Die feinste Form der Sicherung kann Wissenschaft bedeuten, so
gut wie die feinste Courage, so gut wie den feigsten Willen, sieb der Verantwortung
zu entziehen. Auf ihrem Wege kann die schönste Gemeinschaft blühen und die
Flucht aus der Gemeinschaft kann sich wie leicht unter der Fahne wissenschaftlicher
Arbeit vollziehen.
Aber gerade jene Wissenschaft, die in überheblicher Zurückgezogenheit ihre
Bedingungen findet, gerät leicht an die Grenze des Übersinnlichen, in ihrer ge-
hl
LUDWIG BÜCHNER:
wollten Vereinsamung die Berufung zu bevorzugten Einblicken und Verkehr mit
höliern Mächten vermutend. Und unter Umständen unbeschadet des guten Glaubens
des Forschers entsteht jene Mischung von betonter Wissenschaftlichkeit, Charla-
r e \w- unt Y ns r inn ’ L * e man J etzt so häufig findet. Vielleicht deshalb so häufig, weil
tue Wissenschaft, durch die erhöhte Bedeutung der täglichen Lebensfragen und
uuica die anscheinende Unsicherheit jeglicher Voraussage in eine schwierige
Stellung gedrängt, nur zu leicht der Anklage von Lebensfremdheit und Verschro-
benheit ausgesetzt ist.
Und so spiegelt sich in der sozialen Stellung jener Wissenschalter das Bild der
f. , Ab *ege geratenen Forschung. Denn wie sie flirngespinnste mit wissenschaft-
lchcn Methoden auszufiihren geneigt sind, so eilt ihr Hochmut von der Höhe des
Alisa wählten und Geistersehers zur Lösung praktisch-materialistischer Fragen,
und in dieser Psychologie trifft sich der erfahrene Schwindler mit dem törichten
abergläubischen Bekenner.
i „ £ er ade dieser letzte ist es, der durch die Verbindung von schlichter Treu-
iicizigkeit und Fanatismus seinen Mitmenschen Rätsel aufgibt Und das sonderbar
verzogene Antlitz seiner Wissenschaft wird erst erhellt durch gewisse Vorkomm-
nisse im Menschlichen, die keinen Zweifel mehr über die Halbheit seiner Bestre-
bungen aufkemmen lassen.
Ein junger Naturforscher, der sich den Lehren des Okkultismus von seinem
aUKlium zum Schein entreißen ließ, behält aus jener vorwissenschaftlichen Epoche
fl ft WahfTPirllrtri rinn - i. « « . - i - ■ - . cv 1
sem Liier, gegen schwindlerische Rutengänger aufzutreten, stellen ihm das beste
i , C il^ n c S - a V s> Abei * s ' e . machen es nicht wett, das die Wünschelrute, dieses märchen-
natte Spielzeug kindlicher Wünsche, das in geheimnisvoller Auswahl nicht jeder
Uand gehorcht, den Glauben an die besondere, nicht kontrollierbare Veranlagung
ihres Verkünders und an seine Wahrhaftigkeit und Selbstkontrolle fordert.
Diese Forderung kann den Naturwissenschafter nicht gewinnen und weist dem
nclividualpsychologen die wohlbekannten Züge persönlicher Überhebung und Wun-
derglaubens auf Kosten von Sachlichkeit.
• , Wenn wir aber von diesem Manne wissen, daß er von Jugend auf sich ängstlich
un i iei ? , bendigkeit fernhielt und sein Laboratorium für diese Enthaltsamkeit
vno ^ntschnldtgend, bald selbstbewußt verantwortlich machte, wie es der tiefen,
von mustrauen genährten Resignation eines mutterlosen einzigen Kindes entspricht,
i nh» e , 1 ^ n ij Wir , s Problem noch von einer anderen Seite. Denn wie in der ganzen
troerii "«* ll 7® Cl , es ^ s Menschen e twas Leidendes liegt, wie er, in seinem Kreis zwar
W,w , i i d °u 1 als ei P Werkzeug sich zu regen scheint, so fesselt ihn an das
r * tenproblem auch das Ausgeliefertsein an unbekannte Mächte, die ihn zu
, e P 1 1I , nd Werkzeug machen. Die Verantwortungslosigkeit, die er hier zum
In i S? IC ? Problem erheben will, scheint er auch in der ganzen Art, wie er
in- cJi, 7, ' y n bemüht war, sich fest an ein System zu binden und in der Art, wie
li si ui an Menschen anschließt, zu erstreben,
vnrtyln mei ^ n f WC1 ^ i auc £ } er sonst als Physiologe nicht so sehr dem Lebens-
3 n ■ e F , V- r ,s * a . s c en Reaktionen der Lebewesen auf Naturkräfte,
1 . zum Beispiel die in einer einseitigen Wirkung, Bewegung zum Beispiel,
'i’ ®( a Phisch darstellbar sind: so daß auch hier das Lebendige zum registrie-
renden Werkzeug äußerer Mächte gemacht wird.
i . wunderlichei Weise sucht er dann eine Anforderung des Lebens seinem bis-
hengen Erlebniskreis zu nähern.
o., ^ ve jbebt sich in ein Mädchen und hat wenig Erfolg mit seinen Bemühungen,
benon deshalb, weil sich hier che Ausschaltung der Verantwortlichkeit in erhöhtem
Mabe zeigt: er versucht, die Last seiner Hilflosigkeit im Leben diesem Mädchen
au zu laden, das er ein für allemal mit seiner Liebe und Bewunderung ausgezeichnet
"f Y! lcl e F läßt sich scheinbar von ihrem Wesen so erfüllen, daß er jede Tatkraft
autgibt und sich in den einfachsten Situationen auf sie verläßt. So vermag er in ihrer
Gesellschaft nicht mehr die Straße zu überschreiten, ohne in die größte Gefahr
überfahren zu werden, zu geraten und ist aucli nicht imstande, Weg und Richtung
32
N eu ro t iac he r My s l i z is m u s
im Gedächtnis zu behalten. Sie soll die Verantwortung übernehmen, da sein Orien-
tierungssinn sich auf sie konzentriert hat.
Die Macht, der er hier verfallen ist, muß Wunder tun. Jedes zufällige Zusam-
mentreffen wird in diesem Sinne gedeutet. Er selbst ist geneigt, dieses Verhältnis
mit den geheimen Kräften, die zwischen Wünschelrute und verborgner Quelle,
verborgnem Schatz walten, zu vergleichen und herrschend und beherrscht die wun-
dersame Wirkung anzuklagen.
Jedoch als Physiologe gewohnt, die Kräfte, die den lebendigen Organismus
zum Stromfeld wählen, durch Übertragung auf Federn und Zeiger verstandes-
gerecht zu machen, ihre Wirkung durch eine verläßliche Maschinerie zur sinnlichen
Wahrnehmbarkeit zu bringen, zu messen und zu kontrollieren, sucht er auch diese
zweifellos vorhandene Wirkung in einen passenden Mechanismus einzufangen, und
findet ihn alsbald in seiner Uhr.
Die Uhr, als Armbanduhr fest mit dem Mann verbunden, der, ein Arbeits-
mensch, sein Leben nach der Uhr einteilt, oft Lebensvorgänge mit dem Sekunden-
zeiger mißt, diese Uhr, fast ein Teil seines Selbst, erhält die Aufgabe, den wunder-
baren und gefährlichen Zusammenhang zu demonstrieren, in dem jener zu seiner
Liebsten steht. Die Uhr erhielt die gewiß nicht leichte Aufgabe, gleichen Schritt mit
der Uhr des Mädchens zu halten. Sie mußte es verstehen, stehen zu bleiben, wenn
die Uhr des Mädchens nicht aufgezogen war, Ja, bei einer Auseinandersetzung, die
die Erfolglosigkeit der Wirkung dartat, zerbrach die Uhrfeder und zeigte jedem in
nicht mißzuverstehender Symbolik das arme gebrochene Herz an.
Der kleine Betrüger an sich und den andern hielt ruhig an dem selbstgeschaf-
fenen Sympton fest und es belastete sein Gewissen keineswegs, rechtzeitig die
nötigen 1 landgriffe an der Uhr vorzunelimeu. Das erinnert wieder an die unbe-
wußten Muskelbewegungen des Rutengängers, der die Wünschelrute zum Ausschlag
bringt.
Es soll noch erwähnt werden, daß der Betreffende längst ein eifriger Bekämpfer
von Okkultismus, Spiritismus, Telepathie geworden war Diese kleine Geschichte
produzierte er unbewußt nebenher. Es ist eben auch nicht jeder geignet, ein eifriger
Bekämpfer von Okkultismus, Spiritismus, Telepathie zu sein.
StfMMARY: Seimilific worlcs in single hi c in- mutual penetrafion between science and mysiieisme. —
accordinif to tlie individual aini, — Possibility to cllangu Tlie divining rod. — Similar bclinviour in questiona of
ils in ollicr actions. — One 0 [ u lc substitutes is die Ute. — Walch maile io a bnrometer of love.
Es handelt sich um einen Knaben, der als großes Sorgenkind galt, als schwach-
sinnig angesehen wurde und von Haus und Schule schon weitestgehend „auf-
gegeben“ war. Es ist kein besonderes, aber ein typisches Beispiel, und als solches
geeignet, um au ihm einige der grundlegendsten individualpsychologischen Befunde
und Erkenntnisse, auf ihren einfachsten Ausdruck gebracht, bestätigt zu finden
und um zu zeigen, daß die individualpsychologische Behandlung und Erziehungs-
arbeit auch in solch „hoffnungslosen Fällen“ schon in kürzester Zeit doch eine
wesentliche Hebung der Schwierigkeiten und Besserung erzielen kann.
J. R., 14 Jahre alt, einziges Kind, 8-Moiiatsgeburt, konnte nur mit aller
Aufopferung aufgezogen werden, asymmetrische Kopfform, klein, schuppige Haut,
zarter 1 labitus.
Seit dem dritten Jahre zeigten sich Anfälle von Atemnot mit Schleimabgabe
in Zwischenräumen von 14 Tagen bis 4 Wochen. Au Kinderkrankheiten hatte er
im siebenten Jahre Masern, das Jahr darauf Schafblattern. Die zurzeit vorge-
*) Mitteilungen aus der Erziehimgsberatungsstelle der Lehrergenieinschaft im
20. Bezirk, Wien.
nervöse
Von j. VERPLOEGH CHASSE (Berlin)
M
3
33
j. V. CHASSE:
noimnene ärztliche Untersuchung betreffend den Lungenbefund ergab zwei linsen-
große Verkalkungsherde auf der linken Lunge, und verstärkte Pulsation der Aorta;
ferner große Halsdrüsen. Die Anfälle sind seit zwei Jahren seltener, die letzte Zeit
sehr seiten, und dürften nunmehr wohl ganz überwunden sein.
Abwechselnd hat er allerlei kleine Beschwerden, Appetitlosigkeit, Kopf-
schmerzen, größere Schmerzen in den Knieen. Er hält sich für schwächlich, An-
strengungen nicht gewachsen, sucht folglich allen diesbezüglichen Anforderungen
in übertriebener Ängstlichkeit und Sorge auszuweichen,
Bis 6 Jahre war er Bettnässer, beim Essen machte er große Schwierigkeiten,
hatte vor gewissen Speisen einen Abscheu, zum Beispiel vor Milch, stellte daher
große Anforderungen an die Zeit und Geduld der Mutter. Wir sehen bei ihm große
Ängstlichkeit, Schüchternheit, Unselbständigkeit, bis zum fünften Jahre wollte er
nicht allein über Stiegen gehen und bis /.uizeit auch nicht allein im dunklen Zimmer
bleiben.
Sein Schlaf ist unruhig, er deckt sich oft ab, schreckt auf, der Ausdruck eines
Gefühles der ! lilllosigkeit und Einsamkeit, was aber nicht nur zur Folge, sondern
auch zur Absicht hatte, daß sich die Mutter auch des Nachts mit ihm abgeben
mußte.
Wenn wir die drei Gebiete betrachten, Mathematik, sprachlicher Ausdruck,
Beherrschung des Körpers { f innen), auf denen sich allgemeine Unsicherheiten des
Kindes dem Leben gegenüber oft zu zeigen pflegen, so ist zu sagen, daß er ein
sehr schlechter Rechner ist, nach den Worten des Lehrers „sich der Logik im
Rechnen verschließt“. Die diesbezügliche Prüfung ergab ein „sehr schwach“, doch
könnte ich dennoch die obige Auffassung in ihrer vollen Tragweite nicht teilen.
Der Junge reagiert eben nicht hernmungs- und vorurteilslos. Schon wie er das
Heft hervorzieht, bekommt er einen gespannten, ängstlichen Ausdruck, roten Kopf,
und ob er nun ganz leicht oder schwer gefragt wird; er antwortet falsch, ohne
Überlegung, überhastet, und gibt so recht das Bild eines Menschen, von cletu man
sagt, er bat den Kopf verloren; oder er starrt wie gebannt ins Leere und man
erlebt, welcher Gedanke ihn nicht losläßt: ich kann nicht, ich kann nicht! Eine
oberflächliche Aufklärung, Beruhigung und Ermutigung erwirkte schon bald, daß
ci einfache Aufgaben ohne Fehler lösen konnte, und ich bin überzeugt, daß bei
genügender Liebe, Geduld und dem erforderlichen Mutmachen! eine Durchschnitts-
leistung erzielt werden könnte. Die Frage, ob er das Rechnen an sich gern oder
ungcin habe, beantwortet er: „Wenn ich es könnte, hätte ich es wohl gern, aber
es ist eben immer alles falsch, was ich mache, ich kann die anderen doch nicht
mehr cmliolcn und will mich nicht immer wieder blamieren/ 4 Das weitere Gespräch
ergab daß es nicht mir bei der Entmutigung im Rechnen geblieben war, sondern
tao alle anderen Fächer auch davon in Mitleidenschaft gezogen worden sind.
, !' liat slcil äußerlich damit abgefunden, ein schlechter, schwacher Schüler zu sein,
ci betone das „äußerlich“, denn aus einem Iraum werden wir später sehen, von
weich tiefgreifender Einwirkung diese Niederlagen für ihn waren.
Körperlich ist er sehr unsicher, ungeschickt, steif, unfrei, eingezwängt, macht
alle 1 lei Bewegungen mit den Schultern, die Stirn ist meistens zusammengezogen,
der blick starr, und macht bei oberflächlicher Betrachtung den Eindruck, als ob
mm etwas Feindseliges anhafte, was aber nur ein Ausdruck von größter Hilflosig-
keit und Ängstlichkeit ist.
Der sprachliche Ausdruck ist gut, aber auch da fühlt man ein zu intensives
Gespanntsein, zu heftige Anstrengung. Packt ihn etwas, so spricht er gewisser-
maßen mit dem ganzen Körper, erregt, überstürzt, gierig. Die große Phantasie,
von der die Mutter berichtet, habe ich nicht bestätigt gefunden. Zieht man in
Betracht, daß er manches liest, so sind die Phantasieinhalte und seine Darstellungen
einfache, eindeutige, keineswegs phantastische zu nennen. Es liegt diesbezüglich
eine Überwertung der Mutter vor, die einerseits sich ehrlich um das Sorgenkind
plagt und sich über seine Eigenheiten ängstigt, anderseits sich aber über ihr
Musterkind freut und in einem gewissen Stolze alles tut, um den Sonderling groß
zu züchten. Da sie nicht klar erkannt hatte, daß cs ihm mit diesen Sonderlings-
eigenschaften vor allem darum zu tun war, bei ihr zur Geltung, Anerkennung,
Ansehen und damit Macht zu kommen, wurde sie ihm auf diesem Irrwege Gefährte
i)4
Das nervöse Kind
und Spielkamerad*). Ein Erlebnis zum Beispiel, das die Mutter immer wieder als
so absonderlich, abnormal und staunenswert erwähnte, und das auch leicht auf
andere eine entsprechende Wirkung ausübt, ist folgendes:
Als er drei Jahre alt war, kamen sie auf einem Spaziergang an einem Felskegel
vorbei.
Er: „Mutter, wer wohnt darin?“
Mutter: „Niemand“
Er: „Wer ist niemand?“
Mutter: „Niemand kannst du nicht sehen, niemand ist nichts.“
Zu Hause spielte er daun mit Niemand, wie wenn Niemand Jemand wäre, und
der Niemand blieb sein Spielkamerad bis zu 6 Jahren. Bedenkt man, daß er ein
einziges Kind war, in fast gänzlicher Isoliertheit aufwuchs, daß er sehr gern mit
Puppen spielte, aber oft das Verlangen und die Sehnsucht äußerte nach einer
Puppe, „was schreit, was lacht“, daß er, wenn er draußen kleinen Kindern be-
gegnete, diese mitnehmen wollte, und sich oft beklagte, daß er so ganz allein sei,
keinen Bruder, kein Schwester, n i e m a » d habe, und daß er mit 0 Jahren, offenbar
als er in die Schule und damit auch ein wenig unter die Kinder kam, den Niemand-
Jemancl vergaß, so ist das Zustandekommen eines solchen Inhaltes für uns nichts
so Sonderliches und Unerklärliches.
Ans seiner Kindheit zu erwähnen wäre noch, daß er einmal ein Unglück mit
Bienen hatte. I r geriet in einen Schwann wildgewordener Bienen, wurde von einer
am Hals gestochen, eine kroch ihm halb ins Ohr, ohne ihn jedoch gestochen zu
haben. Fs ist ihm davon eine große Angst geblieben, die er nun bei allerlei
möglichen und unmöglichen Gelegenheiten verwertet und sich nutzbar macht. So
zum Beispiel: Als die Mutter einmal im Spital und er bei seiner Tante in Pflege
war, schickte ihn dieselbe, eine Besorgung zu machen. I r war dies von seiner
Mutter her nicht gewohnt, kam denn auch unverrichteter Dinge zurück, „weil vor
dem Laden eine Biene gewesen sei“. F.r war damals 12 Jahre alt.
Beziighch des Charakters: Er ist sehr still, ernst, ordentlich, sauber, ehrlich,
waln hei tshebend, der Mutter gegenüber offen, sonst eher verschlossen, fügt sich
leiclit, abgeselm allerdings von einzelnen Erscheinungen, wie Schwierigkeiten beim
Essen, Besonderheiten in der Kleidung, Angst vor Leistungen, die er dann meist
verweigert, wo sich der männliche Protest als Trotz, Eigensinn, üegenzwang
auch sichtbar durchsetzt. Sonst ist sein Verhalten sehr passiv. Er ist verträglich,
hat aber sehr geringen Anschluß, insbesondere an Gleichaltrige; so ist er auch
ohne Freunde. Mit Erwachsenen und wieder viel Jüngeren geht es leichter, was
in beiden Fällen auf das Großsei »wollen herauskommt. Er ist sehr besorgt
um sein Außeres, immer gut frisiert und fällt nicht durch eine protzige, aber ich
möchte sagen bescheidene Eitelkeit auf. Er ist ein Frühaufsteher, hat immer Angst
zu spät zu kommen, seine Pflichten zu versäumen, strengt sich anderseits aber
gar nicht sonderlich an, zweckmäßig zu arbeiten, um in der Schule Gutes zu
leisten oder vorhandene Lücken aus’zufüllen. Er ist denn auch ein schwacher
Schüler und zwei Jahre zurück; ein Jahr war er zu spät eingetreten ttnd einmal
war er sitzen geblieben. Bei einem meiner Besuche in seiner Schule während des
Unterrichtes zeigte er ein scheues, schüchternes, gehemmtes Wesen -- es war
gerade Zeichenstunde — die anderen sangen und schwatzten, er war still und
nervös besorgt um seine Zeichnung, Glaubte er sich beobachtet, schielte er auf und
senkte gleich wieder den Blick.
Die Leistungen in der Schule stehen sicherlich in keinem richtigen Verhältnis
zu seiner Intelligenz. Ich habe wenig Erfahrung in Intelligenzprüfungen, aber in
den Gesprächen, die ich mit ihm hatte, zeigte er sich ganz vernünftig und reagierte
verständig. Aufdeckungen von mir suchte er bisweilen durch ganz gute Gegen-
griiude zu entkräften. So machte ich ihn einmal aufmerksam, daß man ein kleines
Unwohlsein auch arrangieren könne. Ich verwies ihn auf den Umstand, daß bei
=* ) Ich kann nicht umhin, darauf zu verweisen, daß cs auch Pädagogen und Psycho-
therapeuten gelegen flieh passiert, daß sie, verführt durch das „interessante Material” ihrer
Patienten, durch Zeichnungen, Phantasien usw. ihnen folgend, stall zu Unterscheidung und
Erkenntnis zu kommen, in ein unentwirrbares Labyrinth geraten.
J. V. CHASSE:
angesagten Prüfungen und Klausurarbeiten das eine oder andere Kind oft regel-
mäßig wegen Übelkeit, Kopfweh und dergleichen fehle, um so der Aufgabe,
eventuell einer Niederlage auszuweichen; daß andere Kinder wieder ähnliche Mittel
verwenden, gerade um irgendetwas möglichst leicht und sicher zu erreichen, um
ihren Kopf durchzusetzen. Er sagte darauf: „Das brauchte ich aber docli nicht,
ich bekam immer alles, was ich wollte.“ Da er merkte, daß er wohl etwas zu viel
gesagt habe, fügte er, etwas zögernd, die Korrektur an: „Aber nur, was gut war.“
Augefangene, angedeutetc Oedankeninhalte denkt er logisch weiter. Gemeinsam
gelesene Geschichten kann er richtig wiedergeben, versteht, was wesentlich darin
ist, und lacht auch an den richtigen Stellen. Sobald man ihm aber die Situation
auch nur etwaszu sehr erschwer t, oder er i r r t ü in 1 i c It d u i eh eine
falsche Einschätzung oder einen F e h 1 s c li 1 u ß zu einer solchen
Annahme einer Schwierigkeit kam, er sich also nicht mehr so ganz
sicher f ü h 1 1 e, wurde er unruhig, verschlossen u n d „d u tu in“. So
ist es auch leicht zu verstehen, daß bei oberflächlicher Beurteilung, die eine Er-
scheinung nur heraushebt, nicht aber auf Ursprung und Bestimmung erfaßt, die
falsche Schlußfolgerung, nämlich von dem „dumm“ zum Schwachsinnigsein, nahe-
hegt. Die Sicherungen und das sinnvolle Arrangement, das in diesem „Dumm-
werden und -sein“ liegt, dürfte durchsichtig sein. Wenn einer dumm ist, kann man
*i ' m V011 verlangen. Kann man nichts von ihm verlangen, dann ist er nicht
der Möglichkeit von Niederlagen ausgesetzt. Durch die Anforderung auf vermehrte
Aufmerksamkeit, Liebe, Geduld usw. stellt man den anderen in seihe Dienste, was
wiederum bei Entmutigten geeignet ist, das Persönlichkeitsgefühl zu erhöhen.
Sein Ziel und Streben geht dahin, ein braver, guter Sohn, ein
M u s t e r v on 1 u g e n d h a f t i g k e i t zu sein, was ihm denn auch weitestgehend
gelungen ist. Aber da cs eine Tugendhaftigkeit auf Kosten so und so vieler
anderer Werte: Selbständigkeit, Kraft Mut einerseits, so und so viele Unwerte
anderseits nach sich zieht: Unterwürfigkeit, Schwäche, Feigheit, so gehört sie zu
jener Art von Tugend, an der niemand so recht und ganz froh werden kann. Es ist
auch eine I ugendbaftigkeit, der eine zu vollkommene, ideale, heroi-
sch e Geste a n h a f t e t, die darum nicht in die Gemeinschaft, son-
dern in die Isolierung führt.
ah .Y“*™ Milieu wäre an dieser Stelle zu sagen, daß der Vater oft bernfsiialbcr
ei nü e n ^ er Knabe so fast ausschließlich in Gesellschaft seiner Mutter,
. u? s ‘™. es > einer Henne in engster Gemeinschaft in Küche und einem Zimmer
cm. .vm eien Eltern teilt er das Wohn-Schlafziminer und sein Bett steht neben
ih!Ü- eril n e i n t * or E ! tern - Die drei leben so ganz füreinander, es bestehen einfache,
«mu solide, geordnete, friedliche Zustände. Die I lauptmaeht liegt bei der Mutter,
worauf ich später zurückkommen werde.
sche^Einzelhe 'u sc ' 10n deutlichen Bildes noch einige cliarakteristi-
t, f | , s * c r 1 n n erungen: Umzug vom Land in die Stadt, im dritten Jahre,
i-i stent noch unter dem Eindruck, einen Knaben, er nannte ihn „Freund“, mit
JJ2“ er "" gleichen Hause gewohnt, später in der Stadt nicht mehr erkannt zu
naoen. Lun Ausdruck des Sichfremdfühlens und mangelhafter Gemeinschaftsbiiidung.
i-in Knabe mi Hause, wo er gewohnt hatte, ist die Treppe hcruntcrgefallen, hat
v ic i wehgetan und leicht verletzt. Wir erinnern uns der großen Ängstlichkeit und
dal) er nicht allein über Stiegen gehen wollte.
Li eblingsspiel: Wolf und Schaf-Spiel. Der Wolf verfolgt die Schafe,
sic müssen sich in den Stall flüchten, ohne daß sie der Wolf erwischt, Er spielt
beide Rollen gern, die Rolle der Schafe lieber. Unschuldig verfolgt.
Lieblingsbuch: Roseggers „Volksleben in Steiermark“ und insbesondere:
„Die Sonderlinge“. Als solche benennt er Menschen, die mit körperlichen oder
geistigen Mängeln auf die Welt gekommen sind und da ein eigenes Dasein führen
müssen. Eigenes Dasein = auffallende Eigenschaften, Gewohnheiten, Sonder-
heiten an sich haben. Bemerkenswert ist, daß er nur den negativen Inhalt der
Sonderlinge wiedergibt.
3G
Das nervöse Kind
Schönster Beruf : Dichter, Schriftsteller, die so für sich in der Einsam-
keit leben, schön beschreiben, wie schlecht die Welt ist und wie die Menschen
erlöst w erd en i könnten, Worte statt Taten, Phantasien statt persönlichen Einsatzes.
Was e r w erden will : Uärtner, Kunstgärtner, Blumenzüchter im ü 1 a s-
h a u s. Bezeichnend ist, wie die Angst vor Bienen die so sinnig ausgeklügelte
Berufswahl noch bedroht. Er sagt nämlich: „Ja, ich wollte schon am liebsten
Gärtner werden, aber dann habe ich nachher gedacht: aber die Bienen!“ Es
ist dies eine typische Berufswahlphantasie bei entmutigten, ängstlichen Kindern.
Flucht vor dem Leben, vor den Menschen in die Einsamkeit, in die Natur,
Als Grund, daß er keine Freunde hat, sagt er, sic seien alle so schlecht; „der
eine stiehlt, der andere sagt Unwahres, der andere macht wüste Sachen, so will
icii schon lieber allein sein,' sonst wird man nur verleite t“. M an sieht i h n
also auch mit seiner Tugendhaftigkeit, seine Stärke und
Waffe, nichtander Front, sonde min wo hlgeborge u erSic he r-
h c i t im Glashaus.
Trä u me : Da er in der Erziehungsberatungsstelle eine etwas üble Erfahrung
mit einer Traumdeutung gemacht liatte^ — er wurde nämlich aufmerksam gemacht,
daß es zwar leichter ist, im Traume Großes, aber weit fruchtbarer im Leben ein
Bescheidenes aber Sicheres zu erreichen — wollte er zunächst nicht so recht damit
herausrücken. Der Mutter aber, die sich wie bei den Phantasien davon imponieren
ließ, erzählte er diese Inhalte mit Eifer und Freude. So bekam ich die ersten Mit-
teilungen von der Mutter, aber schon nach wenigen Tagen sprachen auch wir
ganz vertraut darüber. Ich will drei Träume anfnhren, die die Beziehung zu Schule
und Lehrer, allgemeine Einstellung dem Leben gegenüber und seine Beziehung
zu seinen Eltern, beziehungsweise Mutter beleuchteten.
Erster T ra um: Er hatte eine Rechnung falsch gemacht, der Lehrer befahl: „Aus-
radieren!” Während er radiert, erhält er eine Ohrfeige. Über diese Ungerechtigkeit ist er
sehr entrüstet, geht zum Direktor und verklagt den Lehrer. Der Direktor sagt, er könne da
nichts machen, der Knabe müßte zu Gericht gehen. Daselbst beschuldigt er den Lehrer
wegen seiner Ungerechtigkeit, und sagt: „Mit dem einen Schlag hat er mir
alles Gute hei- a u s und alles Bösehineiugeschlage n !” Er blieb sehr er-
biilert über diese Ungerechtigkeit.
Der Lehrer, den er jetzt hat, steht ihm sehr wohlwollend gegenüber, hatte aber den
Irrtum und Fehler begangen, ihn als viel zu krank und hoffnungslos anzusehen. So war
das Wohlwollen, basiert auf einer entwertenden Einschätzung und U 11-
<r| a üben, doch eine etwas problematische Sache, Wäre er von seinen früheren Lehrern
i m Rechnen rechtzeitig ermutigt und unterstützt worden, wäre wohl seine Beziehung zur
Schule ganz entscheidend anders ausgefallen. L)a er 1111 Grunde, trotzdem
e r d a s Rennen aufgegebeu hat, doch sehr ehrgeizig ist (Frühaufsteher,
Furcht vor dem Zuspät kommen usw.), ist er über seine Niederlage nie mehr heraus-
gekommen. Schon dieser Traum mit seiner intelligenten, scharf formulierten Problem-
stellung, würde es mir persönlich verunmöglichen, anzunehmeu, daß der 1 räumer ein
wirklich dummes Kind ist. Und es will mir erscheinen, als ob er in sinniger Weise die
empfangene Ohrfeige tüchtig zurückgibt. Typisch aber für die neurotische Ein-
stellung ist, was in diesem Traume so schön seinen Ausdruck liiidel: das Hängen-
bleiben an einer einmal gemachten s c h 1 e c h len t r t a li r u n g u n d
die darin bedingte und dadurch ausgelöste ausschließlich
feindselige Affektverwert u u g. Auch der wohlwollende Lehrer ist ein Feind !
Zweiter Traum: „Der Vater ist eingerückt und bekommt für seine Tapferkeit
vom Kaiser viel Geld, ein Rittergut und den Adel. Das Gut ist in Amerika. Dort fahren
sie alle hin, per Bahn, daun übers Meer, ln Amerika zunächst wieder mit der Bahn. Sie
werden daun abgeholt von einem Diener, der fragt, ob sie die Herrschaft seien, und sie
au weist, per Equipage aufs Gut zu fahren. Unterwegs begegnen sie einem Reiter. Zimt
Gasthaus geleitet, steigen sie ab, lim sich gütlich, worauf der Reitei den Weg zum Gute
augibt. nie Ellern fahren weiter, er schwingt sich aufs Roß, reitet aber tu entgegengesetzter
Richtung, als der Reiter angegeben hatte. Er kommt auf ein Gut, das aber nicht das
richtige ist, wohl aber einen ganz ähnlich klingenden Namen hatte. Da schimpfte er auf den
Inspektor» und auf dessen Frage, ob er den Boten nicht getroffen, sagt er: »Ja wir haben
ihn augetroffen, und er hat mich hierher gewiesen P Dann reitet er zurück und kommt ans
richtige Ziel. Er macht dem Inspektor Vorstellungen und Vorwürfe, erklärt, er sei doch
37
J. V. CHASSE:
der Sohn und gehöre auf das Gut. Die Eltern waren inzwischen auch angekommen, zu-
sammen gehen sic ins Schloß, cs gibt viele Dinge und grollen Reichtum. Er geht sofort
auf die Suche nach der Bibliothek, und über dem Lesen der Bücher wacht er auf ” Er läßt
den Vater arbeiten, kühne Taten im Leben vollbringen, heimst aber selbst die Früchte ein,
läßt sich beschenken. So entschädigt er sich im Traume reichlich für sein Gefühl
der Lebensunfähigkeit und Feigheit, wähnt sich tapfer, reich, vornehm, geadelt. (Das be-
kannte Motiv von der fürstlichen Abkunft.) Alles spielt sich in Amerika, einer anderen,
einer besseren, einer neuen Welt ab. In dem Passus mit dem Reiter, der ihm den Weg
richtig unrichtig weist, zeigt sich wohl ein Ausdruck des Trotzes und Protestes gegen
mich. Er will es besser wissen, den Weg allein finden, weicht aber der Vera n t~
w o r t u li g noch aus, d enn beim Mißlingen belastet erde n a n dere n. Sich
Aulspferdschwingeii, Reiten, bekannte Motive der Überlegenheit, Mehrseinwollen als die
anderen, auf sie herabschauen. Neben dieser Entwertung zeigt sich aber auch ein Positives,
cm Streben nach Selbständigkeit, Ablösung von den Eltern. Sie fahren, er reitet und geht
alleni einen anderen Weg. Alles ein Traum 1 Und der Schluß des Traumes zeigt den alten,
gleichen Verzicht aufs i landein : Er liest und träumt das Leben, statt es z u
lebe n.
Von diesem Traum gibt es noch eine interessante Variante. Ich will mich aber darauf
beschranken, nur das Wesentlichste und die im Rahmen und Sinne dieser Mitteilung
liegenden Inhalte zu beleuchten. Die Wechselbeziehung und Bedingtheit
X ^ J 1 Minderwertigkeitsgefühlen u n d ui ä n 11 1 i c h e m P e r s ö n 1 i e h-
c i t s 1 d e a 1 I i u d et a I s „W mische r füll u n g i m T r a u tu e” Iber einen geradezu
vollkommenen Ausdruck.
n dritter 1 raum: „Der Vater ist gestorben. Die Mutter heiratet einen Beamten.
et behandelt Ihn schlecht, verstößt ihn. Die Mutter bekommt ein kleines Kind, das haben
oeide gern, aber er fühlt sich zurückgesetzt, mm auch von der Mutter. Er geht vom [ lause
f Dlt > gründet sich eine Existenz, verdient viel Geld. Der Beamte verläßt die Mutter, er
Kommt zurück, unterstützt sie, und jetzt leben sie wieder zusammen wie Früher.”
üc i r Knabe steht nunmehr vor der Lösung des Berufsproblems, vor der Notwendigkeit,
zu arbeiten und selbständig zu werden. Er findet sich mit einer solchen Forderung mir sehr
suuver -- und keineswegs aus freiem Wollen ab. So lauge der Vater lebt, arbeitet, ver-
dient und für sie sorgt, liegt auch eine zwingende Notwendigkeil nicht vor, und nur einer
solchen würde er sich unterwerfen. Erinnern wir uns der I iauptfimktion des T raumes „als
uue$ vereinfachten Vorversuches, Warnungen und Ermunterungen auszusprechen im Sinne
cs neurotischen Lebensplanes behuls Lösung eines bevorstehenden Problems” (Adler,
seh^if- UlK * [>raxis der Ad dual Psychologie”), so sehen wir hier in diesem Traume
„ r sc hon die bevorstehende Situation, die eine Stellungnahme bedingen würde, als vor-
whH** e S C J 1 a u ^ er Vater ist gestorben. Lösuugsversu c h ; Die Mutter heiratet
miH lltld a]les scheinbar am selten Fleck. Es zeigen sich aber doch Zweifel
inR W h- F il %i U geu : der Beamte, sein Stiefvater, könnte ihn lieblos behandeln und ver-
Muter lloch e ‘ n bekommen, das sie auch liebt, was aber alles im-
euioar ist mit der Stellung, die er bisher als geliebtes, verwöhntes, einziges Kind ein-
genommen hatte. Er setzt den Fall, er sei auch von der Mutter verletzt und zurückgesetzt,
eine andere Lösung wird versucht: er macht sich selbständig und wähnt sich er-
o gi eich. Aber so ganz ausschließlich aus positiven Motiven heraus geschieht die
osLmg doch nicht. Er läßt die Mutter schuldig werden, und als Strafe für ihre Untreue
* mm wird sie ihrerseits von dem Beamten verlassen. Er rächt sich aber auch an seinem
h'iV ’u u 1gt < was dieser nicht vermocht hatte, er wird reich. Diese Lösung
J? mm s ch ein ba r vollste Genugtuung, und er triumphiert. Er kommt zurück, wohnt
itrei mit der Mutter, aber nunmehr ist er es, der sie unterstützt, und das lieißerseiinte
, Je ; 1 ^ rre ^ht: A bh ä n g i g k e i t der Mutter von i h in. Das Ziel erreicht? Schein-
^at Sicher ist der zweite Lösungsversuch, gemessen an dem ersten, positiv zu werten, aber
u i aum schließt: Lind jetzt leben sie wi eder z u & a m tu e n f wie früher! Statt
sich wirklich eine neue Existenz zu gründen, frei und selbständig zu sein, ist er wieder in
? ein a , bestehen zurückgekehrt! Auch hier sehen wir bei kritischer Wertung die Mo-
ive des h ii l mutig ten gewaltig an der Arbeit und finden vollauf bestätigt, daß es
noch „ein Lösungsversuch eines bevorstehenden Problems im Sinne des neurotischen
Lebens pl a n es” ist.
Die Konflikte, Probleme, Lösungsversuche, kurz das Bild des einzigen, schwäch-
licheii, ängstlichen, verwöhnten, nervösen Kindes dürfte damit charakterisiert sein,
w ir haben zu sehen bekommen, welches das Ziel, Lebensplan, Persönlichkeitsideal
ist, und wie deren Erfüllung gedacht und ausgestaltet wird. Zusammenhängend
möchte ich sagen : d u r c h schwere Gefühle der M i n d e r w e r t i g-
k e i t bedingt und ausgelöst, einerseits wurzelnd in wirklichen körperlichen
Das nervöse Knid
Schwächen und Mängeln, Krankheiten, Organminderwertigkciten und unzweck-
mäßiger Erziehung, anderseits dem Kinde, insbesondere von der Mutter, dann
aber auch von unvorsichtigen Ärzten und Lehrern, zwar in Unkenntnis, doch in
unzulässiger Weise suggeriert, vollständig hoffnungslos gemacht und entmutigt,
hat er das Rennen auf der ganzen Linie der körperlichen und geistigen Entwick-
lung, ausgenommen der Tugendhaftigkeit, aufgegeben. Man sieht nun das Kind
in der größten Anspannung und Bemühung, wenigstens dieses eine, aber etwas
allzu hohe und in seiner Einseitigkeit auch unfruchtbare Ziel zu behaupten und
allen Erschwerungen und möglichen Versuchungen durch ein Djstanznehmen zur
rat zu entgehen, auch vor jeder Niederlage sich zu sichern. Wir sehen Ängst-
lichkeit, Schüchternheit, Feigheit, Bettnässen, Fß- und Schlafstörungen, Nervosität
als zwar wirksame, aber im Sinne eines Schicksals mißglückte Aggressionen gegen
die Übermacht und Überlegenheit, insbesondere der Mutter, Unselbständigkeit, An-
lehnungsbedürfnis, Gehorsam, Unterwerfung, Unentschlossenheit, Zweifel als
Sicherungstendenzen; der männliche Protest in seinem aktiven Ausdruck als sicht-
barer Trotz, Eigensinn, Auflehnung wagt erst seit kurzem und noch schüchtern
durchzubrechen. Wir sehen, daß ihm noch ein weiteres Ziel; Unterwerfung, In-
Dienststellung der überängstlichen, tiberbesorgten Mutter unter Ausnützung der
vorhandenen Schwächen und arrangierten Symptome in dem Zeichen, ein
b raver S oh n aber auch ei n So n d e r 1 i n g zu sein, glänzend zu verwirk-
lichen gelungen ist. Innerhalb der kleinen Gemeinschaft zu drei, seiner Welt,
hat er sich dann doch die Geltung und das Ansehen zu verschaffen verstanden,
die ihm in der Welt, zum Beispiel in der Schule, vorenthalten geblieben sind.
Wir sehen einen zum g i ö ß t e n Teil mißglückten Kompensations-
v e rsuc h, der statt auf kulturell fruchtbarem Wege zu geistiger und kör-
perlichen Entwicklung und in die G c m e i n s c li a f t, in Irrt n ni
und Schein, zum nervösen Charakter und in die Isolierung
g e f ii li i- 1 h a t .
Zum vollen Verständnis des Falles möchte ich liier noch ein Weniges von dem
Milieu und seinen Eltern nachholen; Auch Vater und Mutter leben ziemlich isoliert,
und wie die Mutter sich einmal äußerte, haben sie eigentlich alle drei etwas vom
Sonderling an sich. Der Vater soll infolge gänzlichen I laarausfaltes an Kopf und
Körper an einem schweren Minderwertigkeitsgefühl gelitten haben; er lebt ganz
für seine Familie, ist ein äußerst solider, friedlicher, ernster Charakter. Auffallend
ist, daß er, obschon ein tüchtiger Arbeiter in seinem Fach, es nie lange an einer
Stelle aushält; am liebsten würde er von Ort zu Ort wandern. Mit 14 Jahren war
er auf die Wanderschaft gegangen und tiatte sich seinen Weg von da ab selbst
bahnen müssen. Die Mutter hat etwas von einer Mär tyrerr olle an sich, fühlt sich
besser, feiner als die anderen, Sie war immer Vorzugsschülerin, hatte auch kurz
vor ihrer Verheiratung das 1 lebammendiplom mit Auszeichnung erhalten. Sie war
mit dem Bruder ihres Mannes verlobt. Nach seinem l ode heiratete sie den Bruder
ihres Bräutigams, weil er ihr so leid tat und weil sich auch seine Mutter um ihn
sorgte. Als ich ihn kennen lernen sollte, machte sie wegen seiner Entstellung viel
Wesens. Ich sagte ihr nachher, daß er gar keinen störenden, aber äußerst sym-
pathischen Eindruck auf mich gemacht habe, und sic meinte: „Ja. er ist auch mir
sehr sympathisch. Er lebt so ganz für mich“, — und auch sie mit zögerndem Zu-
satz: „und für den Kleinen“.' Man fühlte durch alles hindurch die selbstredende
Annahme, er sei ihr zu ewigem Dank und größter Aufopferung verpflichtet, was
ihr erleichterte Möglichkeiten bot, sich der eigenen Verantwortung zu entziehen.
Einmal, indem sic ausschließlich die Organminderwertigkeit des Vaters sowie
Tuberkulosefälle in seiner Familie für die gestörte Entwicklung des Sohnes be-
lastete, dann auch weil sie aus Mitleid geheiratet, folglich sich geopfert hat. Daß
ein solches Kind für eine so ehrgeizige Mutter ein verstärkter Konflikt bedeutet,
liegt auf der Hand. Und auch für sie waren Ausweg und Lösung: wenn auch
ein Sorgenkind, dann doch ein Muslerkind! Sie ist ein typisches Bei-
spiel für die Frau, die mit der Lösung der wichtigsten Lebensfragen nicht fertig
geworden ist, die ewig ihre unerfüllten Jugendphantasien betrauert, einerseits das
Kind zum Ersatz ihres gestörten Lebensinhaltes auserwählt, überängstlich, über-
besorgt ist, anderseits aber von ihm ewige Dankbarkeit und stetige Vergeltung
39
*
J. V. CHASSfi:
erwartet und verlangt. Eine kleine Begebenheit wird letzteres charakterisieren:
Einmal war ich mit dem Jungen und einigen Schulkameraden im Walde. Wir waren
sehr vergnügt und gingen ganz im Spiel auf. Die Mutter, statt sich mit uns und
über ihr Kind zu freuen, saß abseits, trauernd mit deutlichem Widerstand. Plötz-
lich rief sie laut: „Habt Ihr den Kuckuck gehört? Dreimal hat er gerufen. Noch
drei Jahre kann ich leben.“ Eine Deutung erübrigt sich,
Ziel und Aufgabe der Behandlung und Erziehungs-
arbeit waren gegeben. Es galt ihn aufzukläien, ihm eine Brücke
i n s L e b e n zu schlage n, ihn aus seiner Isoliertheit der Ge-
rn einsebaft zu rückzugeben; ihn dem Leben und seinen Forderungen,
Wirklichkeiten, Möglichkeiten auszusöhnen, seine Minderwertigkeitsgefühle zu be-
heben, subjektive falsche Einschätzungen und Wertungen zu berichtigen, objektiv
bestehende Milästände nach Möglichkeit zu beseitigen, seine körperliche und geistige
Entwicklung zu fördern, es galt vor allein auch, ihm Mut zu machen.
Das Wesentliche, was wir in kameradschaftlichen Gesprächen auf gemein-
samen Spaziergängen, beim Spielen mit Kameraden, Nachhilfearbeit im Rechnen
erreicht hatten, ist: in der Beziehung zu mir wurde er ganz frei und ungehemmt,
verlor auch seinen starren Blick, und wir kamen ganz ohne das „Dummsein und
-werden“ aus. Mit einem Schulkameraden hatte er gute Freundschaft geschlossen,
kam fast täglich mit ihm zusammen. Auf Spaziergängen und beim Spiel war er
gut eingeordnet und spielte sehr gerne mit. Er wurde selbständiger! So
kam er den weiten Weg zu mir allein zu Fuß oder per Tram, aß besser, schloß
auch seinen Körper nicht mehr so von Luft, Licht, Sonne, Wasser ab. Bekam ganz
allgemein gesündere Auffassungen, wurde zuversichtlicher und traute sich mehr
zu. Zu Hause ging es sehr viel besser, und auch in der Schule wagte sich die neue
Kraft, wenn auch noch schüchtern und zaghaft, durch, Ein kleines Zeichen, das
aber laut für sich spricht und mir von seinem Lehrer als wertvoll und be-
deutsam mitgeteilt wurde: Er hatte sogar geschwätzt!
Wegen meiner Abreise konnte ich nur ein kleines Stück des -Weges mit ihm
gehen, und ich habe die Befürchtung, daß er noch nicht weit genug war, um un-
gefährdet allein weiter zu kommen. So genügt es denn auch meistens nicht,
einen Menschen der Gemeinschaft zuzuführen, es ist nötig, ihn da auch
Wurzel schlagen zu lassen.
fragt man sich, was aus so einem Kinde geworden wäre, wenn es statt in
geordneten, soliden, friedlichen Verhältnissen, hauptsächlich auf der Straße, bei
I larte und Schläge aufgcwachsen wäre, so gibt es wohl nur die Antwort: ein ver-
wahrlostes Kind. Sieht man so, wie bei Änderung äußerer Faktoren und deren
vvertimgen Entwicklungen möglich werden, an deren einem Ende das „Muster-
kmd , an deren anderem Ende das „verwahrloste Kind“ steht; erinnert man sicli
jener nicht seltenen Fälle, wo ein entmutigtes, trotziges oder ängstliches Kind, so-
bald es ermutigt wird, sich aus einem schlechten in einen guten, ja oft „be-
gabten“ Schüler verwandelt, so wird man ermessen können, "wieviel Unheil ge-
stiftet wird durch Auffassungen, die, ausgehend von der Vererbbarkeit psychischer
Eigenschaften, zur Annahme von f es t gelegten, angeborenen Cha-
rakterantagen und Entwickln ngsmöglichk ei t e n kommen. Auch
m unserem Falle waren Vorurteile und Verallgemeinerungen und in deren Folge
Fehlschüsse und Taktlosigkeiten von gröbster, zerstörender Wirkung.
SUMMARY? We see liere Ihe Problems, conHicts,
plan of Iife, tlic „ideal cif person nliiy“ and aiim of n
sicldy, timld, spoilcd, onl y child, who is conipleldy
diacouragcd b y stronff fcetmgs of inferiorily. Delicafe,
ilifficult and peculiar, but a modd of ßood behaviour,
liu lias succcedcd ihrough making clever uso ol his
really existrttg orgaiifC weaknesses, and .lila falsa ten-
dentioua subjeciive valmtions, in gaining r Position
o[ appredation and super iorily in bis hmtly circle, — >
liis Httle World, — whidt is denied liirn in Ille grcaier
vvoHd* — i* e, sdiool and comradesbip»
We see herc an allumpt al compensatio n, for llic
greater pari imaucccssM, which, instand of Icading
alon^ cnltural lines, \o a pliysicnl and mental Uevelop-
nient, and to a good relalion {o the collacÜvc wholc, —
led to Pie norvoua cbaraeler and to isolalion.
40
REFERATE
AN DR Ü TRI DON*) (New York): PSYCHO-
ANALYSIS und PSYCHOANALYSIS AND
BEHAVIOUR*
Andre Tridon wirkte in New York als be-
handelnder Psychologe (nicht Arzt)* Wir
haben also hier ein Beispiel dafür, daß der
von Paulsen in seiner Ethik ausgesprochene
Gedanke, der Priester als Seelsorger könne
durch einen moderneren Seelsorger ersetzt
werden, manchmal schon in der Gegenwart
seine Verwirklichung finde* In der Regel aller-
dings spielt in Amerika wie in Europa der
Nervenarzt oder Psychiater zugleich die Rolle
des Beraters in Fragen der Lebensführung
und der Moral; je mehr wir, besonders die
individualpsychologische Schule, die Gleich-
berechtigung der Seele, das heißt des Willens,
neben dem Körper und den einzelnen Bewußt-
seinsinhalten erkennen, um so mehr wird
auch der Arzt selbst zum Psychologen und
„Seelsorger“ im zweiten Berufe.
Tridon, der auch durch Vorträge au den
zahllosen Colleges und in Städten Amerikas
für die „neue Seelenkunde“ wirkte, war zuerst
ein Schüler Freuds, der aber schon 1919 heim
Erscheinen des ersten der beiden genannten
Bücher in seiner sehr ausführlichen Biblio-
graphie Alfred Adler vierzehn Nummern wid-
met. Das zweite Buch steht mehr auf dem
Standpunkt Adlers und des diesem offen-
bar nahestehenden Washingtoner Psychiaters
Kempf, als auf dem Freuds. Er legt, wie Adler
und Kempf, das 1 lauptgewicht auf die 1 lei-
Uuig des Kranken, seine Erziehung zu Lcbeus-
tüchtigkeit, „GUlckwürdigkeit und Glückes-
fähigkeit“, um mit Kant zu sprechen. Für alle
drei ist im Gegensatz zu Freud der „Primat
der praktischen Vernunft“ charakteristisch,
der an „den guten Willen als das einzige, das
ohne Einschränkung gut genannt werden
kann“, glaubt und mit Goethe-Faust die tief-
sinnigste Bibelstdle mit „Im Anfang war die
Tat“ übersetzt. Freud dagegen und noch mehr
seine Schiller sind von einer ganz unmoder-
nen, selbst dem spateren Mittelalter schon
fremden Tendenz zum Intellektualismus und
zur Vorliebe für rein theoretische Betrachtun-
gen angekränkelt. Die einseitige, zu Heiluugs-
zweejeeu oft ganz ungeeignete Bemchsiebti-
gung des Sexualmomenies, neuerdings mit be-
fremdender Plötzlichkeit durch den „Todes-
trieb“ ersetzt, gehört in dieselbe Linie mit der
übertriebenen Neigung zu mythologischen,
1 i lera tu rgesch ichtl icfieu und biograph i sehen
Studien, die zum Beispiel au Leonardo alles
erklären außer seiner Größe* Mehr in der
Schule als beim Meister selbst, aber doch
durch dessen Schuld, herrscht jener Geist des
„la science pour la Science“*, der dem „Fart
+) Ben Alanen des zu früh verstorbenem edlen
Freundes trauert der „Internationale Verein lilr IndU
vkluatpsychologie“ nach.
pour lart“ nächst verwandt, einem gewissen
ästhetisch-sadistischen Snobismus Ausreden
liefert, das Leben geistreich und politikfem zu
vertrödeln. Dem gegenüber war es die Rich-
tung auf den Nutzen und das Volk, die den
Voluntarismus von Du ns Scotus über Baeo,
I I ume, Kant, Goethe und Marx bis auf James
und Ferdinand Schiller charakterisiert. „Prag-
matismus“ ist eine gute Bezeichnung für die
praktische, sachliche und weitherzige, von
Fanatismus und Einseitigkeit freie Denkweise,
die der individualpsychologischen Schule und
der modernen amerikanischen Wissenschaft
gemeinsam ist
Diese Weitherzigkeit zeigt sich bei Tridon
in derselben Gleichgültigkeit gegenüber Sek-
tenstreit und Schulgehässigkeit, wie sie Adler
ermöglicht, sich mit Friedrich Wilhelm Förster,
William Stern und Freud verständnisvoll aus-
einanderzuselzen. „Prüfet alles und behaltet
das Beste“* Adler fügt aber noch viel eigenes
hinzu.
Ebenso vereinigt Tridon mit vielem aus
Freud, Adler, Kempf und der Schweizer
Schule eigene Beobachtungen bezüglich der
amerikanischen Verhältnisse und seine sehr
radikale Lehre über Schlaf und Traum* Die
beiden Bücher sind daher sehr geigneie Kom-
pendien für den gebildeten Laien und für den
beginnenden Studenten, wenn sie die neue
Seeienkunde, die Psychoanalyse und die lndi-
vidualpsyciiologie kennen lernen wollen. Im
ersten Buch wird die Geschichte dieser neuen
Wissenschaften skizziert, dann die Lehre von
den Trieben, Träumen, Neurosen und Abnor-
mitäten des gesunden Lebens dargelegt und
mit drei Abschnitten über Behandlung, Er-
ziehung und Prophylaxe geschlossen. Das
zweite Buch enthält keinen geschichtlichen
Teil, aber eine viel ausführlichere biologische
Grundlegung und einen Abschnitt, der die vier
Lehrer als Individualitäten nebeneinander
stellt* In beiden Büchern ist der modcni-
wisseuscha ft liehe, also für jeden vollkommen
verständliche und angenehme Stil gerade
wegen der Schwierigkeit des Themas sehr
wertvoll* Dieser, der ja früher das Privileg
der Franzosen und Angelsachsen war, beginnt
Gott sei Dank auch in Deutschland als eine
der ersten Pflichten des Gelehrten zu gelten;
Tridon hat offenbar durch seine Vorträge sich
eine besondere Gabe der Darstellung ungeeig-
net, Die Krankengeschiclilen, die Beispiele aus
dein täglichen Leben, die Witze, die Hinweise
auf politische Zusammenhänge sind meister-
haft ausgewählt und erzählt.
Für Individualpsychologen muß der Grund-
gedanke eines Ruches, das neben Freud Adler
berücksichtigt, und eines andern, das Adler
voraustellt, nicht dargelegt werden. Auch im
ersten spielt das Sexuelle m erfreulicher Weise
nur ungefähr die Rolle, die ihm wirklich zu-
kommt; der Selbsterhaltungstrieb und der
41
REFERATE
Trieb zur Betätigung bilden mit dem zur Fort-
Pflanzung eine Dreiheit, die schon nicht ganz
psychoanalytisch ist Lind der individualpsycho-
logischen von Sichern ngstendenz, Gemein-
schaftsgefühl und Machtwille vorarbeitet Das
„aller guten Dinge sind drei“ scheint irgend-
wie sinnvoll zu sein, ln den Krankengeschich-
ten wird die Neigung zur Flucht aus der
Wirklichkeit, zur Regression in ein jugend-
licheres, sogar kindliches Leben besonders be-
tont und durch Beispiele ausführlich erläutert.
Am belehrendsten ist die Geschichte eines
Geistlichen von sehr kultivierter Denkweise,
der plötzlich unter Mitnahme eines geringen
Teiles seines Vermögens verschwindet und in
einem anderen Staat als Kleiukrämer wieder
aufta Licht. Fr vollzieht die weit leichteren und
der Natur oder dem Primitiven nähersldiendeii
Pflichten seines neuen Berufes mit Vergnügen,
tritt sogar einmal in einer religiösen Ver-
sammlung auf, erinnert sich aber nicht an sein
Vorleben und sein Amt, bis er nach einigen
Monaten wieder in sein wirkliches Lehen
zurückerwacht. Offenbar hat die „Weisheit der
Natur“ genauer als er selbst gewußt, wann er,
der geistig iiberaiigestrengt war, Ferien be-
durfte. Hier war die Neurose eigentlich selbst
schon ein Heilungs prozeß. Verwandt, aber
weniger erfreulich ist der Fall einer sehr ge-
bildeten Dame, die von Zeit zu Zeit plötzlich
alle Erinnerung an ihre Vergangenheit ver-
liert und als Kind ein verantwortungsloses
Lind kulturarmes Leben führt. Das Periodische
des Falles läßt ihn als den ernsteren erschei-
nen; interessant ist, daß das Kind die Dame
beim Namen kennt, sie schätzt und sich freut,
mr eine Weile wie ein Ersatzmann die Lasten
und morgen des Lebens abzunehmeii. Hier
glaubt man für einen Augenblick die Seele, die
nach Friedrich Schiller und Rehiinger nie
spricht, doch hinter den beiden so verschie-
denen Bewußtseiiiseinheitsbäiiderii her vor treten
und sprechen zu hören, sie, die alle ihre
Bunde! von Vorstellungen apperzipiert,
rejiziert, verknüpft, benützt und zum Besten
wendet, sie, die mit Kants „gutem Willen“
identisch und nach dem Naturforscher Fechncr
unsterblich ist.
'Für die amerikanischen Verhältnisse ist cs
bezeichnend, daß manchmal das Recht natur-
gemäßer Denkweise und Lebenslust gegenüber
einer engherzigen und muckerischen Um-
gebung verfochten werden muß. Wir Euro-
päer, die wir umgeben sind von frivoler Ver-
schwendung und geistlosem Luxus, sehnen uns
ott wie iolstoi nach etwas Askese und Puri-
tanismus; umgekehrt scheint Amerika von
letzteren Ingredienzien zu viel zu haben. So
wird von der Notwendigkeit berichtet, die-
jenigen zu verteidigen, die aus einem legitimen
Wunsch nach Betätigung ihrer Begabung und
nach starkem und reichem Erleben Schau-
spieler zu werden wünschen, was in manchen
Kreisen Neuenglands ähnlich verabscheut zu
werden scheint, wie in [Deutschland zur Zeit
Lessings und der Karoline Neuberin. Ebenso
hören wir von einer Dame, die von ihrer Ver-
wandtschaft halb als Kranke angesehen, halb
geisteskrank gemacht wird, weil diese und
auch ihr Manu selbst sie von harmloser Le\
bensfreude, wie sie sie in ihrer Familie
wohnt war, abhalten wollen. Ihr Arzt heilt sK
und mehr noch ihren Mann, indem er beicK
vom Recht der Frau auf ein tätiges, gesundes,
reiches und volles Leben überzeugt. Für ähiK
liehe Falle ist vielleicht die Anmerkung gau>
nützlich, daß im Rezept auch steht: Detut
Interesse für die Frauenbewegung und Teils
nähme au Propagandaarbeit und Versamnk
lungen. Eine ähnliche Anweisung wäre vieL
leicht manchem europäischen Arzt, der nervös^
Frauen oder nervöse Jünglinge behandelt, adv
Zuraten; manchmal heilt das Leben selbst di^
Lebensfremdheit Eigentlich ist es ja etwas Alx
nomies, daß der Gebildete so oft von Politik
keine Ahnung hat; in Athen war jeder veix
pflichtet, einer Partei anztigehören, und da$
Sittengesetz, identisch mit dem Naturzwaujj
und dem geschichtlichen Zwang, hat ja detU
deutschen Volk diesbezüglich eine deutlich^
Lektion gegeben, und ebenso zum Beispiel deh
Juden.
Zur Politik teilt Tri den mit, daß wahrem}
des Krieges bei vielen scheinbar sehr gesun-
den Du rchschnittsbür gern Erscheinungen zu
beobachten waren, die sonst Neurosen, P$y*
chosen oder Kindheit charakterisieren: Un-
fähigkeit, dem Gegner irgendein Recht, auch
nur das aufs Leben, zuzugesieheu, ein wilder
Zerstör u ugstrieb und Beschädiguugstr leb, etwa
in den Lokalen pazifistischer Arbeitervereine
oder in Kirchen des Feindes Im Kampfgebiet.
Aus zwei so reichen Büchern ließe sich
noch viel anführen* Die Lehre von Schlaf tuHI
Traum soll in einem besonderen kurzen Re-
ferat mitgeleilt werden. Die Bücher kommen
wie Boten von unserem Bruder, dein wissen-
schaftlichen Geist Amerikas, über den Ozean.
Auch die Wissenschaft kann von sich sagen,
wie die Religion des Mittelalters von Gott:
Vexilla regis prodeunt. Dr. Pick.
SiEGMUND FREUD: DAS ICH UND
DAS ES, (Wien, Leipzig, Zürich, Internationa-
ler Psychoanalytischer Verlag, 1923. 77 Seiten;)
Im Anschluß an seine Schrift „Jenseits des
Lustprinzips“ und Groddeks „Das Buch vom
Es“ entwickelt hier Freud eine neue Theorie
des Seelischen, Das seelische Wesen gliedert
sich demnach in ein Es, ein Ich und ein
Über-Ich, Bekanntlich unterschied Freud bis-
her zwei Systeme, die zusammen die Seele aus-
machen, Das eine System bestand aus den
bew li ß t e n und den vorbewußte n
das heißt augenblicklich nicht bewußten, je-
doch bewußtseinsfähigen — Inhalten, das an-
dere umfaßte die u u b e w u ß i e u seelischen
Inhalte, das heißt jene, welche in der Regel
bewußtseinsunfähig, „verdrängt“ sind und nur
nach Überwindung von Widerständen in die
Schichte des Bewußtseins erhoben werden
können. Das Unterscheidungsmerkmal von
Unbewußtem und Vorbewußtem wird jetzt
darin aufgefuuden, daß die vorbewußten In-
12
REFERATE
halte mit Wort Vorstellungen verbunden sind,
während den bewußten Inhalten keine Wörter
entsprechen. Bewußt werden kann nur, was
schon einmal Wahrnehmung war; alles Wis-
sen stammt aus der Wahrnehmung. Die inne-
ren Denkvorgänge können auch nur bewußt
werden, indem sie durch die Wort Vorstellun-
gen zur äußeren Wahrnehmung gemacht wer-
den.
Freud stell t sich nun die Frage: wer denn
der Träger jener Widerstände sei, welche die
Schranke, die „Zensur“ an der Grenze zwi-
schen Unbewußtem und Vorbewußtem auf-
recht erhalten. Die Antwort lautet: das Ich.
Dasselbe Ich, weiches den Kern des Bewußt-
seins bildet, entfaltet hier eine Tätigkeit,
welche uns nicht bewußt wird. Nun wird das
Heftige der Seele au der Hand einer schema-
tischen Abbildung erläutert. Den größeren,
unteren feil des etwa eiförmigen Gebildes
nimmt das Unbewußte ein, das den neuen
Namen „Es“ erhall. Dieses enthält die Triebe
und wird vom Lustprinzip beherrscht. Oben
sitzt der Figur das Bewußtsein auf, wie die
Keimscheibe dem Ei. Unmittelbar darunter
schließ! sich das Vorbewußte an. Das Ich aber
breitet sich über das Bewußte, das Vor-
bewußte und noch über einen Teil des „Es“
aus, woselbst es mit undeutlichen Grenzen
endigt. Eine scharfe Grenze hat das Ich nur
gegen das Verdrängte, welches einen beson-
deren, kleineren Teil des Es bildet. Das Ich
ist vor allem cm körperliches; seine funktio-
nelle Wichtigkeit kommt darin zum Ausdruck,
daß es die Motilität beherrscht, indem es dem
Es gegenüber dje Vernunft präsentiert und
das Realilätäprmzip durch zusetzen trachtet,
gleicht es einem Reiter, der die überlegene
Kraft des Pferdes zu zügeln hat, „Wie dem
Reiter, will er sich nicht vom Pferde trennen,
oft nichts anderes übrig bleibt, als cs dahin
zu führen, wohin es gehen will, so pflegt auch
das Ich den Willen des Es in Handlung umzu-
setzen, als ob es der eigene wäre.“
Neue Schwierigkeiten ergeben sich nun
bei der Einordnung des Über-Idis oder Ich-
Ideals, welches Freud als eine Stufe, eine
Differenzierung innerhalb des Ichs angenom-
men hat, welche Funktion jedoch neuerdings
enger an das Es als an das Ich geknüpft wird.
Das Über-Ich wird hauptsächlich als ein Nie-
derschlag des überwundenen doppelten (bi-
sexuellen) Ödipuskomplexes verstanden, dessen
Inhalt die Identifizierung mit Vater und Mut-
ter bildet; daneben wirkt noch die lange kind-
liche Hilflosigkeit an der Bildung des Über-
Ichs mit. Das Über-Ich ist die Repräsentanz
unserer Elternerziehung, es ist Ausdruck der
Libidoschicksafe, gehört demnach ins Gebiet
des Es. Durch Aufrichtung des Ich-Ideals ist
das Ich gleichzeitig Herr und Diener des Es
geworden. Das Ich repräsentiert das Reale, die
Außenwelt; das Ich -Ideal das Psychische, die In-
nenwelt. Das Tiefste wird so zum Höchsten,
Aus der Libido entspringen im Wege über
die Vatersehnsucht die Religion und das mora-
lische Gewissen. „Die Spannung zwischen den
Ansprüchen des Gewissens und den Leistun-
gen des Ichs wird als Schuldgefühl empfun-
den.“ „Die sozialen Gefühle entstehen ...
als Überbau über die eifersüchtigen Rivali-
tätserregimgeu gegen die Geschwister. Da die
Feindseligkeit nicht zu befriedigen ist, stellt
sich eine Identifizierung mit dem anfänglichen
Rivalen her“
Während in Freuds älteren Arbeiten Se-
xualtrieb (Libido) und Sei bsterlial hingst rieb,
oder Lustprinzip und Realilätsprinzip, oder —
in der neuesten Nomenklatur: Es und Ich ein-
ander gegeniibergesteflt werden, hat Freud in
seiner vorletzten Arbeit den Selbsterhaltungs-
trieb dem Sexualtrieb oder Eros ein verleibt
und diesem als dem Lebenstriebe den aus dem
Sadismus hergeleiteten Todestrieb entgegen-
gesetzt. Der Todestrieb der Eiuzelzelle wird
nun dadurch neutralisiert, daß er durch Ver-
mittlung eines besonderen Organes, der Mus-
kulatur, als Destrukiionstrieb gegen die
Außenwelt abgeleitet wird. Die beiden Trieb-
arten sind durch Ambivalenz miteinander
verbunden, die sich in die nahen Beziehungen,
zwischen Liebe und Haß und zwischen
Zeugung und Tod, ausdriiekt.
Das Ich steht unter dreierlei Dienstbar-
keiten, es ist dreierlei Gefahren aufgesetzt
„Die Angst ist der Ausdruck eines Rückzuges
vor der Gefahr“ und „das Ich ist die eigent-
liche Angststätte/* Die Gefahren drohen von
der Außenwelt her (Todesangst), von der
Libido des Es her (Käst rat ionsangst) und von
der Strenge des Über-Ichs her (Gewissens-
angst), Das Verhalten des Ich-Ideals ist maß-
gebend für die Schwere einer neurotischen
Erkrankung, Die Rolle des Schuldgefühles ist
verschieden in der Zwangsneurose, in der Me-
lancholie und in der Hysterie. Es gibt Ver-
brecher, die nicht nach, sondern vor der Tat
ein mächtiges unbewußtes Schuldgefühl haben,
von welchem sie zur Ausführung der Tal ge-
trieben werden, wodurch sie dann erleichtert
werden, indem sie das Schuldgefühl nun an
etwas Reales knüpfen (sieb bewußt machen)
können.
Der vorliegenden Inhaltsangabe sollen mm
einige kritische Bemerkungen folgen. Der
Scharfsinn, der Gedankenreichtum, den wir
bei Freud gewohnt sind, ist auch diesem
Werke eigen. Auch hier werden neue psycho-
logische Zusammenhänge erschaut, neue ge-
wichtige Probleme gestellt. Die Libidolehre,
die bereits manche Wandlung durchgemacht
hat, dürfte sich jedoch auch in dieser Form
kaum halten. Daß wir die strenge Scheidung
von Unbewußtem und. Vorbewußtem nicht an-
nehmen können, sei vor allem betont. Erfreu-
licherweise scheint auch Freud diese ehedem
dichtschüeßeiide Schranke beseitigt, bezieh-
ungsweise auf das kleine Gebiet des Verdräng-
ten beschränkt zu haben, indem nur mehr das
Ich mit dem Es auf weiter Srecke kommuniziert.
Es ist nun nicht mehr die Bewufitseinsfähig-
keit, durch die die beiden Systeme auseinander
gehalten werden; indem sie durch „Trieb“ und
„W a h i n e h m u n g“ — wie auch schon
REFERATE
früher durch „Lust“ und „Realität“ — gekenn-
zeichnet werden, nähern sie sich mehr und
mehr der uralten psychologischen Gegen iiber-
slelUmg von Gefühl (Affektivität) und Verstand
{Intellekt). Während es nun überraschend und
auf den ersten Blick unverständlich ist, daß
das Ober -Ich wieder in das ältere und niedere
Es versenkt wird, begreifen wir diese Ver-
wandtschaft sofort, sobald wir die übliche
"Terminologie benutzen und sagen: Religion,
Moral usw. sind eben Gefühle, wenn auch
„höhere“ Gefühle; sie werden vom denkenden
Ich als etwas Gegensätzliches empfunden* War-
uni aber diese höheren Gefühle gerade aus
dem Ödipuskomplex stammen sollen, begreifen
wir nicht* Viel wichtiger erscheint uns das
von Freud nebenbei hervorgeholte Gefühl der
Hilflosigkeit und Abhängigkeit beim Kinde,
welches als Minderwertigkeitsgefühl aus Alfred
Adlers Arbeiten längst bekannt ist* Auch, daß
die sozialen Gefühle als Überbau über die
K 1 va l itätsr eg ungen gegen die Geschwister eut-
stehen hat Adler früher gesagt, nur ohne den
liegrm der Eifersucht hnieinzumengen. Daß
es einen Todestrieb gebe, der auf den eigenen
lod gerichtet sei, können wir nicht glauben.
Wenn aber Freud einen solchen Trieb jeder
einzelnen Zelle zuschreibt, so heißt das, den
psychologischen Triebbegriff (in der Art von
1 laeckds „Zelkede“) auf das biologische Ge-
biet übertragen, wodurch jenem Begriff jeder
teste Inhalt verloren geht. Endlich macht Freud
stellenweise von anatomischen Analogien Ge-
brauch, die geeignet sind, Verwirrung zu
Süden. So nennt er zum Beispiel das Ich die
1 rojektion der eigenen Körperoberfläche, dem
„Gehirnmäimchen“ der Anatomen zu ver-
gleichen. Auch die seiner schematischen Ab-
bildung „schief aufsitzende Hörkappe“ ist ein
er kennt imtheoretisches Uiidii lg,
Dr. Stefan v* Maday (Debrecen).
bedeckt ist, so gelangen nur die Striche
Geltung, die über der unbedeckten Glas,
scheibe gemacht werden. Der Rest der Arbeit
enthält Polemiken gegen Einwände vot*
Dr. Friedrich und Ur. K r o n t e 1 d.
Dr. Schwarz (Wien),
sidney ALRUT2 gibt es eine rein
NERVÖSE FERNWIRKUNG? Psycli.-neu-
rolog. Wo., 1423, Nr. 11/12.
Es handelt sich bei dieser mehr als ein
Jahrhundert allen Streitfrage darum, ob die
Nervensysteme wirklich so gut isoliert sind,
daß eine Fernwirkung der nervösen Energie
sogar auf speziell geeignete Reagenfien (id
est Versuchspersonen) unmöglich ist. Eine
ganz große Menge von Beobachtungen über
die Wirkung mesmerischer Striche auf Sensi-
bilität und Motilität der Versuchsperson im
wachen oder hypnotischen Zustande wird ja
als richtig zugegeben. Man erklärt sie jedoch
als Seggestionswirkungen und daher nicht be-
weiskräftig für die Existeus einer physiologi-
schen Fernwirkimg. Verfasser hat sich nun
bemüht, die Versuchsbedingungen in immer
eindeutiger Schärfe auszubauen. Hierzu be-
dient er sich der bekannten Tatsache, daß die
„Nerven ströme“ durch verschiedene Substan-
zen in verschiedenem Grade abgehalten wer-
den. Schaltet man zum Beispiel zwischen Ex-
perimentator und Versuchsperson eine Glas-
scheibe, die zur Hälfte von einer Pappscheibe
OSWALD SCHWARZ (Wien), Dlfe
SiNNNNDUNG ALS KATEGORIE DEs
ÄRZTLICHEN DENKENS. (Klm. Wochen
sehr i St 1923, Nr. 24.) "
Wenn man das ärztliche Denken charakte-
risieren will, so geschieht dies, wie bei jetK t -
Beiraehümgsart der Wirklichkeit, am be$le u
durch Untersuchung der die Betrachtung lei-
tenden Kategorie* Verfasser bespricht nun die
Hauptzweige der Naturwissenschaft, ihn
gegen diesen Hintergrund das der Medizin
Wesentliche besser hervortreten zu lassen* Die
der Physik angehörende Kategorie ist d{ e
Kausalität; sie verlangt als Anwendungs-
bereich eine meßbare, disperse, qualitäts1o% e
Materie; durch das Zusammenwirken dieser
Kategorie und dieses ihres Schemas entsteht
das Weltbild der Physik. Die Anwendbarkeit
der Kausalität findet ihre Grenze dort, Wo
eine solche Aufklärung der Teile nicht mög-
lich ist, also wo Struktur, Gestalt, Organi-
sation au Stritt.
Die hier zuständige Kategorie ist die des
„Sinnes”. Der Sinn ist die Spiegelung der
Struktur im Bewußtsein des Beschauers. Der
Organismus besteht einesteils aus Matrielkäm
und ist in dieser Hinsicht Objekt der physi-
kalischen Betrachtung. Sein Wesen besKhb
aber darin, daß durch die eigenartige Zu-
sammensetzung dieser Teile ein immalrieller
Faktor, eben Sinuhaüigkeit, entsteht* Die An-
erkennung dieses Tatbestandes beinhaltet den
Vitalisrmis, der also in dieser Fassung eine
reine Erkeuntnismethode darstellt. Biologie in
wahrem Sinne treiben, heißt also: Stnufiiv
dimg in der organischen Struktur. Auch die
heutige Medizin steht noch im Zeichen der
traditionellen Dualität von Materie und Funk-
üon. Die Morphologie tritt uns allerdings in
geänderter, wenigstens in der T endenz dein
eben geschilderten Ideal biologischer Betrach-
tungsweise angepaßter Gestalt entgegen: als
Konstitutionsforschung. Die Konstitution er-
scheint in der Sprache dieser Betrachtung als
der von der somatischen Seite sich präsen-
tierende Ausdruck der sinnvollen Struktur.
Die praktische Handhabung dieser Bin-
sleikmg bleibt aber hinter der Aufgabe be-
klagenswert weit zurück. Eine prinzipielle
’ Fort sch rittsniöglichkeit scheint dem Verfasser
jedoch aus der Fortbildung der Funktious-
betracht u ng zu erwachsen, nämlich durch Er-
weiterung der Funktion zur Handlung; unter
letzterer ist nach Driesch ein Akt zu ver-
stehen, der nicht nur durch den aktuellen
Reiz, sondern auch durch die gesamte Vor-
geschichte des Individuums bestimmt ist-
Dieser Ausbau oder, besser gesagt, diese Neu-
orientierung der Medizin wird nun durch du>
neuen psycho pathologischen Systeme ang^
44
CHRONIK
bahnt. Freud betonte als erster, daß die ver-
schiedensten Äußerungen des Menschen noch
eine ihre primäre Erscheinung transzen-
dierende „Bedeutung” haben, die nur aus der
GesamlsiUiaiion des Individuums zu erfassen
ist. Auch die Neurose ist nicht als bloße
Summe ihrer Symptome aufzufassen, sondern
als bedeutungsvolles Ganzes zu verstehen; sie
ist eine Abweh rbewegung, eine Handlung, und
als solche sinnvoll. In der Lehre Alfred
Adlers ist nun diese Totalilätsbetraehtiiiig,
die im Ausbau der Psychoanalyse nahezu
ganz verloren gegangen ist, zum tragenden
Prinzip geworden, in der Annahme eines in-
iellegibleit Sinnes als konstruktivein Element
der Persönlichkeit. Die gesamte Persönlich-
keit ist der sinnfällige Ausdruck eines Lebcus-
planes, und jede Handlung gewinnt Sinn und
Bedeutung durch Projektion auf die Leitlinie.
Es ergibt sich hieraus weiters, daß auch jede
Organiunktion nur Ausdrucksbewegung wer-
den kann, daß auch aus somatischen Sym-
ptomen der „Sinn” zu dem Vorstehenden
spricht (Organdialekt), Hiermit wird ein
großer Teil der organischen Medizin zur
Ausdruckspsychologie; die Medizin selbst
wachst über die Pathologie hinaus zum Per-
sonali&mus. Autoreferat,
CHRONIK
THE Vir INTERNATIONAL CONGRLSS
OF PSYCI IOLOGY (at Oxford front 261h. July
io 2nd August 1923.
About 250 niemhers atiended, and Austria,
Gernmny, Swilzerhuid, France, Norway,
Sweedeii, America, Holland, Belgimn and the
British Isles were among the countries re-
presenfed. Dr. C. S. Myers of Cambridge and
London was President. The meeiings were
uccupied partly by symposia o n general
quGStiöiis, partly by papers on special poiuts.
I he first Symposium was concerned witli
i fi e u a t u r e o f general A b i 1 i t y, and
Drs. G. 1 1 . T h ö m sou, E. C 1 a p a r e d e,
aucl L. L. T h ti r s t o it e contributed papers.
All agreed tlial Intelligence was essentially
a proeess of trial and error, but the different
papers were coucerued witli different aspeets
of the problem. Prof. Thomson discussed
the existente of a general factor in intelli-
gence, and concluded tha t although Statistical
melhods showed a positive eorrdatiou be-
tween the results of different tests, this need
not be due to any specific general factor but
might be caused by the concurrence of seve-
ral separate factors. Prof. C 1 a p a r e d e di-
sliiiguished several senses in which* general
iiilelligence' was used, and wished to eonfine
the term to the average perforniance of a
persoii wheu iesled by a series of tests all of
which were eonirned to the power io solve
Problems, or by one which included tests of
various kinds, as do Eine Fs tcslS- Prof.
1* h u r s t o ii e wished to dehne mieUigence
as the power to substitute conceptual trial and
error for overt physical action,
The Symposium on the elassilica-
t i o n o f Instincts inade [t clear not ouly
(hat sotne adequate Classification is urgently
ueeded, but that a Classification is ouly pos-
sible in relation to some definite end, other-
wise it is possibte io invent any number of
classifications all possessing a certain vali-
dity, but no one parttcular by superioriiy the
others. Dr. Drever not having a definite
practical end in view, suggesled three possible
melhods of di vision, and would classify in-
st incts according to their relative spe-
cificity, to wheiher they are appetitive
or r e a c t i v e, or thirdly by their r e 1 a-
t i o n t o emotio n. 1 le holds ihat the se-
cond is the most important inetliod of Classi-
fication, but he does not indicate what place
Ins Classification holds in a general psycho-
logical scheine. Dr. Ernest Jones naturally
prefers a scheine of Classification which he
fiuds born out by his practical experience as
a psycho-analysf, and would divide instincts
iuto ßiose of ego and sex. This scheine is
simple and coinpreheusive and, he bdieves,
Sorms an eiiiineutly auitablc basis for futnre
iuvestigation of the individual instincts.
The Symposium on the C o n c e p l i o n
o f Mental and N e r v o u s e n er g y was
niainly interesting for the physiological fads
presented in Dr. 1 1 e a d’s paper, and which
tended fo show ihat purposive adaptation and
Integration of response was not eoivfiued to
levels at which consciousness was present. In
die decerebriate preparatiou of S her ring-
t o n and his fellow workers a large number
of discrimiiiative reactious can be obtained.
In man, when the spinal cord bas been seve-
red niany comparatively liigh grade reactious
can bc obtained froni parts of the body ser-
ved by the severed parf öS the cord. These
reactious depeiid ou the general well heilig of
the patient, and disappear with any change
for the worse in his physical condition.
Dr. llead wished to introduce the term „vi-
gilence" for such a state of neural effL
ciency unaccompanied by consciousness.
The papers of Drs. L i p m a n, Cyril
B u r t, W. M oede and L. L, T h u r s t o n e
on „V o e a t i o n a 1 G u 1 d a n c e“ |>resented
an admirable review of tliis field of work.
The difficnlties to be faced are many. The
analysis of the qualities required for the diffe-
rent industrial occupatkms has in most cases
still to be made, and in cases where this has
45
CHRONIK
beeil doue to some extent, we ueed more effi-
cieni tesls for discovenng these qualities in
workers. Such knowledge as we may have is
rendered more difficult Io apply as man y Fac-
tors besides aptilude enier into the couside-
ration of what profession a cliild shall adopt.
Ihe cost of training for a profession is offen
prohibitive, or a man ’s inierests and a bi I dies
may not coi neide, Moreover with chitdren
ihere is often a marked change in Interests
during ihe period ot adolescence. The quality
that we have mosi means of testing is tliat
called general inlelligeuce, and in Lh is connec-
tion Mr, Burt points out that in testing the
Intelligence required for a certain oecupation
we must consider the maxi in um as well as ihe
mminumi uecessary. It is as prejudicial to effi-
aency to have a degree of Intelligence nmch
above thal required for a job as io have one
below it. Emotional charaderistäcs have as
mueh i 11 fl uence on success in a profession as
iutellectual attainments, faut miforlunately we
liave no satisfadory means at present oF te-
5ling them, I ill th is has beeil achieved voca-
tioiial guidance must reim in very teutative,
Ainongst the other papers Dr. O. R e v e s z
reporled some inieresting experi rn e n t s
on hen s. I le established the fact tliat heus
rely exclusively on visua] perceptions when
pecking at their Food, and then attempted to
uiseover if they were subjed to the same Vi-
sual ülusions as men are. He seleded for ex-
periment Jasi ro w's illusion with two cqual
Segments, He trained liis hens to peck their
gram always from ihe smaller of two cards
mid then presented the two objectively equal
Cards. In 3 L out of 36 tri als the birds pecked
trom the eard thal would appear smaller if
the Illusion occurecE This very Ingh percen-
^ suecesses shows the hens perceived
he dlusion, and we may perhaps condude
noin Hits that the space of animals is in tnost
i espects the same as mir own.
Prof. Pear and his fellow workers at
Manchester presented a paper on the psycho-
galvaiuc rcFlex in dream analysis. Pro! Pear
lias been using the reflex as a means of de-
terinining which elements in a dream are
niost highly charged with affcel. His method
was to get the subject to write out his dream,
or o do free assockfion in Connection with
certain elementsof it, and to record the accom-
patnng deflecticns of Ihe galvanometer. Il was
fouud that at certain points the galvanometer
„jumped“, If it could be definitely be establi-
shed that ihese defleefions corresponded in
size to the ainmount of affect accompanitig ihe
memory this method should be of conside-
rable assistance in psycho-analysis. An inter-
nst ing development of the experi ment, if a
suitable subject could be obtained, would be
to iake a galvaiiometric record during sleep
and oompaire it with Ihe apparent course of
the dreams.
Dr. Pieron gave an accotmt of the Pro-
blems that need invesiigatbu in connection
46
with the perception o f t i in e. He esh € .
cially stressed ilie importance of certain pC.
siological considerations in connection
this eslimate short period s, and also when (\^
tennining the subject ive order of sense i}^.
pressions.
On Sunday papers were read by A\ r
T h o u I e s s o n U T he Psychology 0 j
t li e C o ii t e m p 1 a t i v e L i f e“ and by
non S t r e e 1 e r on (< I s Religion a P .
choneurosis Other papers iucluti^
Dr. Dwelshauvers' i>aper on an o\ y
j e c t i v e method o i registeri^g
mental imager y, Dr. K o e h 1 e r, T h c
1 ^ r üblem o f For in in P e r c e p t i o ,i.
Dr. MacCurdy, I n s t i n c t s * a n d I n\
g e s, Mr t B a r 1 1 e 1 1, Symbolism [ u
Folk S. o r e.
If is inleded to publisli a complete record
of (he proceedings of the eongress, wh| c ti
should be ready in the auturmi.
Mary St u r f s
Drs. N, W. Keatings and P w B. Ballard > 5
interesüug Symposium: ”Does Progress in
Educational and Social Science depend pn
Progress in Psychology?“ was strougly affir
med in the discussion and also by Adler.
Miss M. Stint contributed a delightful
discourse on "The Judgement of Time in
Sleep u .
All auimated discussion fulluwed Dr. \ViP
Ham BrowiFs lecture an n Mental ConfSieF-
His conception of the causation of "conflict“
and the aeteology of neurosis was disputed
with good grouud by Ja net, Adler
others*
C. S. Myeis 1 views 011 Ihe "Conception oi
Mental and Nervous Energy“ proved him to
be on right lines in theory and practice. j-fe
was prejjared to attach g realer nuportaucc
than before to the psychic attitude of the
exaniinee,
Dr. E. Mera (Barcelona) gave a hicid
accotmt of investigations iulo the questions o'
5, Cardio-Vascular Changes in Mental Work“
Dr. Pierre Jane! represented bis Schoo
and its fundamentale with brilUaut rethoric
in a discourse entiiled: "Psychic Aesteiiia atK-
Atoiiy“.
Dr. Morton Prince attempted to prove (it:
the same way as Freud) his views 011 the
numeroLis phases of consciotis and unconsiou?
mind by referring to abnormal psychic phe-
nomena.
Dr, S. Alruk who is a moderate adhemtt
to spirit ualism championed the cause of hyp*
notisni with his usual enihusiasnu
Dr. Karl Abraham discussed Freud’ >
latest views on the primay of the moulh
regioiu His radical regrouping caused some
amazenient.
Adler ? s ?T Advances in Individual Psycho-
logy“ offerecl much that was new and were
favourable reeeived.
1
CHRONIK
C H. Griffiths and W. P* Pillbury showed
“An Experiment on Indirect Measures of
Fatigue“
T. C. Bartlelt discussed , 3 5 ymboli$m in
Folklore“* K. Koffka "New Experiments in
the Perception ol Movement“. 1 1. Bi uns and
11. S. Ra per "A Com pari son of visual and
taclile judgement in Individuals of different
Ages and Training“.
DIE INDIVIDUALPSYCHOLOGISCHEN
VERANSTALTUNGEN, wie sie einander im
Laufe einer Woche a bl Ösen, sind bis jetzk
folgende:
Montag, 7 bis 9 Uhr abends: Dr. Adle r s
Psychologisch -Pädagogisches Seminar, R-,
Volkshochschule im Staatsgymiiasium, Cir-
kusgaase 48, 1L Stock (7 bis 9 Uhr);
Dienstag, 7 bis 9 Uhr abends: Adler,
Pädagogisches Institut, Vortragslesung für
Lehrer und Heilpädagogen über „Schwer er-
ziehbare Kinder“;
Mittwoch, von 6 bis 7 Uhr abends:
Dr. A d I e r s Erzieh irngsberatungsstelle, XVI.,
Koflerpark, Volksheim, Saal I;
1 bis 8 Uhr abends: litt selben Saal,
Dr. Adlers Vorlesung über „Menschen-
kenntnis“;
Freilag, 6 bis 7 Uhr abends: Erziehungs-
bmtungssielle Dr. Lukacs, L, Anna-
gasse IS, Saal der „Bereitschaft“;
6 bis 7 Uhr abends: Erziehungsberatungs-
slclle der Arbeitsgemeinschaft der Lehrer des
Wiener XX, Bezirkes, XX. T Jägerstraße, Mäd-
chenblirgerschule;
Samstag, von 7,5 bis l i-& Uhr abends:
Dr. Adlers Erziehungsberatuttgsstelle, II.,
Sperlgasse 40, „Kinderframde“; . i
'A9 Uhr abends: Individualpsychologischer
Verein, L, Dominika ne r baslei 10.
Der individualpsychologische Verein ist
eine Gemeinschaft aktiver Mitglieder, wie
Arzte, Pädagogen, Richter, Fürsorger, Künst-
ler und Philosophen.
Die Teilnehmer aller anderen Veranstal-
tungen sind Angehörige aller Stände.
An sämtlichen Stellen ist auch das nahe
wie das fernste Ausland durch externe Hörer
und Mitarbeiter vertreten, wie Deutschland,
Tschechoslowakei, Ungarn, Griechenland,
Schweiz, Holland, England und Amerika.
GESCHICHTE DER ORTSGRUPPE
MÜNCHEN. Sommer 1919: Gründung
der Gesellschaft für „angewandte Seelenkunde“,
Vorträge 1919/20: Dr. L, Seif: Die
Neurose als soziales Problem. — Individual*
Psychologie und Erziehung; Dr. Eugen
Sc h in i d i; Über die Fiktion in der Neurose;
Dr. Else Su mp I: Die Neurose in Friedrich
Huchs Roman „Mao“; FrL lsa Herr-
mann: Besprechung des Romans „Demiau“
von Sinclair; Folkert Wilken: Die Entwick-
lung von Freud zu Adler; Dr. A. Feigs:
Über Persönlichkeitstypen; F. Wilken: Die
Entwicklung von Jung zu Adler; Dr. E. von
Gebsatlel: Über das Verhältnis des
Analysauden zum Analytiker vom individual*
psychologischen Standpunkt; Dr. L* Seif:
Über Melancholie.
Herbst 1920; Austritt der Psychoana-
lytiker. Die Gesellschaft nennt sich von da ab:
„Gesellschaft für vergleichende Individual-
Psychologie" und erklärt damit ihren Beitritt
zur Internationalen Gesellschaft für ver-
gleichende Individualpsychologie, Zentrale
W i e 11 .
Vorträge 1921/22: Dr* L. Seif: Über
die Angst; F. Wilken: Hans Blühens Welt-
bild im Lichte der vergleichenden Iitdividual-
psydiologie; Dr. Else Sumpf: Das Hamlet
Problem; I lerr Sey bo th als Gast: über die
Jugendbewegung; Hermann Häger: Über
den Expressionismus; Alfred Appell: Über
das Stottern und seine Behandlung; Walter
Üra ve: Über den Eigentumsbegrift; Dr.
Prinzessin Eleonore S a 1 m - S a l in: Zur
Psychologie der Frauenfrage; Di\ L. Seif:
Über den Kampf der Geschlechter; Isa Her r-
niann: Über W. Siems Buch „Die mensch-
liche Persönlichkeit"; F. Wilken: Der
männliche Protest in der Handschrift;
Dr, Else Sumpf: Die Soziologie der Leiden
von Miiller-Lyer vom Standpunkte der Indi*
vidualpsychologie.
V o r trag e 1922/23: Dr. L. Seif: Zur
Psychologie der Clique. — Individuum und Ge-
meinschaft; F. Wilken: Über die Entwick-
lung des Verhältnisses von Individuum und
Gemeinschaft im antiken und modernen
Staate; Dr. Otto Nägele: Über einen Fall
von paranoider Quamlauz; Dr. Walter
Grave: Wesen und Begriff der Schuld in
seiner geschichtlichen Entwicklung; Dr. Else
Sumpf: Über die „Typen Psychologie 11 von
]uiig; Dr. Prinzessin Sa 1 m - Sa 1 m: Über
„Körperbau und Charakter” von K reizseh-
mer* Dr. L- Seif: Über Ausdruckshewegun-
geu und Neurose; Alfred Appell: Über die
psychische Behandlung der Stotterer; Dr* Else
S u m ]) f: Beiträge zur Störung des Per-
söiilichkeits wertgefühles in der Neurose;
Frl. Isa Herr m a 11 n: Rudolf Holzapfels
Panideal und die Indi vidualpsychologie;
Dr. L. Sei f: Über einen Neurosen fall.
Vom 8 . bis 10. Dezember fand in Mün-
chen der I- internationale K n n g r e ß
der Gesellschaft für vergleichende Individual-
Psychologie statt, au dem die Münchener
Ortsgruppe mH sieben Vorträgen leilnahnu
Vorträge 1922/23: Herr Ritter: Indivi-
dual psychologische Bemerkungen zu Stichs
„Klassik und Romantik“, unter besonderer
Berücksichtigung des romantischen Menschen;
Isa H e r r m a 11 n: Die Bedeutung der Kind-
heit für die Entstehung der Neurose, nach-
gewiesen an Hanno Buddenbrook in Thomas
Manns Roman; Grete Auer Seid: Be-
sprechung von Freuds Tagebuch eines halb-
wüchsigen Mädchens; Dr. Engen S c h in i d t:
Minderwertigkeitsgefühle und Imperialismus
auf politisch-wirtschaftlichem und kulturellen
47
CHRONIK
Gebiet; Referendar Rheinstein als Gast;
Ober elterliche und staatliche Erziehimgs*
gewalt; Dr. L, Sei ft Über den Zwang im
Leben und in der Neurose; Dr. Prinzessin
S a 1 m -Sa! m: Über den Eigensinn; J. W.
Schwarz als Gast: Über einen utopischen
Roman von Samuel Butler: Erewhon; Dr. L*
Se i t: Über einen Fall von moral insanHy;
Frh Eßlen als Gast: Fra neu frage und Indi-
vidual Psychologie.
*
Seit Oktober 1922 bestellt die erste E r-
z i e h u n g s b e r a t u n g s s t e 1 1 e in Mün-
clieu, zu der der Stadtschulrat ein Lokal in
einer SeJfule zur Verfügung stellte. Sie funk-
tioniert wöchentlich einmal und erfreut sich
immer größerer Inanspruchnahme. An sie
schließt sieh an seit Mai 1923 eine A r bei 1 s-
g e m e i n s c h a f t für Erziehung mit
emer großen, wachsenden Teilnahme aus
den Kreisen der Lehrerschaft, der Lehramts-
kandidaten und anderer Erziehungsmteres-
sierter. Leiter: Dr. L. Seif.
Amtsrichter Dr, Otto Nägele leitet seit
zwei Jahren die Gesellschaft für
g e r i c h 1 1 i c he Jugendfürsorge in
gemeinsamer Arbeit mit den Studierenden
des sozialen Amtes der Universität, Vertretern
des städtischen Jugendamtes, mit Mitarbeitern
ans der Ärzte- und Lehrerschaft und Mit-
gliedern verschiedener Jugend für sorgevereine.
Im Rahmen desselben sozialen Studenten-
amtes der Universität hielt im Wintersemester
1921/22 Dr. Seif wöchentlich einen Vortrag
über verschiedene Themen ans dem Gebiete
der Individual Psychologie: Individual Psycho-
logie und Erziehung — Bedeutung der Örgan-
nimderwertigkeit für die Entwicklung der
kindlichen Persönlichkeit — Affektivität und
Charakter — Ober den Traum — Autorität
und Erziehung — Das vorschulpflichtige
Kind — Das schulpflichtige Kind — Über
Schulkind Über verwahrlos le Jugendliche,
Sexualität und Pubertät Das nervöse
Schulkind — über verwahrloste Jugendliche,
Weitere Vorträge hielt Dr. Seif: Herbst
1920 über Schüler und Lehrer in der Gesell-
schaft für Kultur der Schule; in der katho-
»schen Akademikerschaft: Einführung in die
nidiyidualpsychologie — Über den Ehrgeiz —
Idividuum und Gesellschaft usw.; Sommer
1920 in der Gesellschaft für Neurologie und
Psychiatrie: Ober die neurotische Persön-
lichkeit; Herbst 1921 über Autorität und Er-
ziehung in der Fraueiiliga für Frieden und
Freiheit; August 1922 über Autorität und
Schule in der Gesellschaft der Freunde in der
Gemeinschaftsschule in Hamburg; Frühjahr
1923 in der Eltern Vereinigung München-
Schwabing über Erziehung zur Angst; Mai
1923 vor der Lehrerschaft in Nürnberg
Mutlosigkeit und Ermutigung des Kindes
Auf Einladung der Kronacher Lehrergildu
leitete Dr. Seif Ostern 1923 auf Schloß EL
gesburg in Thüringen uiiler großer Teilnahme
der Lehrerschaft aus allen Teilen Deutschland^
eine individualpsychologische Woche.
hi Götti ugen (Dr. Erich Stein nnq
Dr. Fritz v. Hippel) und N ü r über
(Direktor W e i ti ko p f) sind iiidividuaL
psychologische Arbeitsgemeinschaften in EjiL
Stellung begriffen.
P u b 1 i k a t i o n e n :
Dr. L. Seif: Über Individualpsychologi^
und Erziehung (] lamburger Lehrerzeitung
August 1922); Miss May Jacobs: Einfüh-
rung in Adlers Individualpsychologie (Mär*
1923 Prof* Stanley -Halls: Paedagogical Semu
nary); Lene Crediier: Über den Trauhi
(Het Kind 1923); Dr. Otto Nägele: Richer
und Jugendlicher (Zeitschrift für deutsches
Strafrecht, Juli 1923); Isa H e r ni a ti i\ :
Grundlagen und Ziel der vergleichenden Indb
vidualpsychologie (Die Frau im Staate
Juli i 923). Dr. L. Seif.
Vom 20. bis inklusive 25. August d ].
hielt Dr* Allred Adle r vor den Erziehern
des Vereins „Kinder freunde** und deren ab-
wesenden Gästen Vorlesungen über „schwer
erziehbare Kinder“* Die Vorträge fanden %
Schloß Kiesheim bei Salzburg statt. Als Leit-
faden lag den Hörern ein von der Wiener
Gruppe ausgearbeiteter Fragebogen vor, des-
sen Besp rech u ng und Beantwortung ein klares
Bild von den wirklichen Ursachen der Ver-
fehlungen von Kindern gab und auch die Be-
handlung auf richtige Bahnen lenken soll.
Dieser Fragebogen wird in der nächsten
Nummer dieser Zeitschrift in drei Sprachen
vorgelegt werden,
Dr. Alfred Adler wurde für das kom-
mende Schuljahr zum Lehrer für das Pädago-
gische Institut der Stadt Wien ernannt, Er
wird jeden Dienstag von 6 bis S Uhr abends
über „Schwer erziehbare Kinder“ lesen.
Soeben erschien bei J. F. Bergmann,
München, die zweite, verbesserte Auflage der
„Praxis und Theorie der lmlividualpsycho-
logie ff .
The engtish editiou of Iltis book is just
published at Routledge and Sons in London.
Der L Jahrgang der „Zeitschrift für
ludividualpsychologie“ (9 Hefte) kann von
der Redaktion (Dr* L. Zilahi, Wien, UL
Landstraße Hauptstraße 49) bezogen werden-
Verantwortlicher Schriftleiter Dr, Ladislaus Zihilii, Wien, UI., Hauptstraße 49, — Drucks „ElbctnÜhi"j Wien IX.
I
LITERATUR
DER INDIVIDUALPSYCHOLOGIE:
DR. ALFRED ADLER: ,
Praxis und Theorie der Individualpsychologie. Verlag Bergmann,
München. II. Auflage, 1923.
Praxis and Theory of Individualpsychology. Edition Paul Kegan,
London 1923.
Über den nervösen Charakter. Verlag Bergmann, München, Hl. Auf-
lage, 1922.
Das Problem der Homosexualität. Verlag Ernst Reinhardt, Mün-
ch e n 1 9 1 8.
Die andere Seite. Eine massenpsychologische Studie über die Schuld
des Volkes. Verlag Hetdrich, Wien, 1919.
ADLER, FURTMÜLLER und WEXBERG:
Heilen und Bilden, Medizinisch-pädagogische Arbeiten aus dem Ge-
biete der Individualpsychologie. Verlag Bergmann, München. II. Auf-
lage, 1922.
DR CARL FURTMÜLLER:
Ethik und Psychoanalyse. Verlag Ernst Reinhardt, München.
OTTO KAUS :
Der Fall Gogol. Emst Reinhardt, München, 1912.
PROF. F. ASNAOUROW:
Sadismus und Masochismus in der Weltgeschichte. Verlag Ernst
Reinhardt, München.
HEDWIG SCHULHOF:
Individualpsychologie und Frauenfrage. Verlag Ernst Reinhardt,
München. ....
Henrik Ibsen. Der Mensch und sein Werk im Uchte der Indi-
vidualpsychologie. Verlag Erich Spiethoff, Reichenberg 1923. Preis
30 tschechische Kronen.
Der Verfasserin ist, wie das Vorwort ihres Buches eingehend darlegt, die
venrleichende Individualpsychologie zum Ausgangspunkt einer neuen Durchdringung
biographischer Einzelheiten und ästhetischer Erscheinungen geworden Nicht als
ein gegebener, als ein von ihm selbst gemachter Roman zieht so das Leben Henrik
Ibsens zieht sein Sein und Schaffen an ihr vorüber. Nach: „Ibsen als Mensch
und Bekenner“ wird in den hierauf folgenden Abschnitten auch Hakons Führergeme,
Jarl Skules entnervender Zweifel, werden die wechselnden Masken Gynti scher Ich-
sucht. Stensgards politisches Gliicksrittertum und Julian Aposlatas Uo..annIich-
keitsträume von innen heraus durchsichtig. Des Dichters gesellschaftskritische und
symbolistische Dramen sind einem zweiten Bande Vorbehalten.
DR. CHRISTO DUTSCHEWITSCH:
Nervosnija Tschowek (Der nervöse Mensch). Erziehung und Be-
handlung nach der Individualpsychologie Dr. Alfred Adlers. Herausgegeben
von Dr. Christo Dutschewitsch. Sofia, Ni§ka ul. 1.
WERKE VON PROFESSOR H. MUTSCHMANN (DORPAT):
Der andere Milton. Kurt Schröder, Bonn und Leipzig, 1920.
Milton und das Licht, Max Niemeyer, Halle a. d. Saale, 1920.
Aus dem Inhaltsverzeichnis des I. Jahrganges der
Zeitschrift für Individualpsychologie:
Dr. Erwin Wexberg: Zur Verwertung der Traum-
deutung in der Psychotherapie. — Alexander Neuer:
Ist Individualpsychologie als Wissenschaft möglich?
— Robert Freschl: Eine psychologische Analyse
(Strindbergs „Corinna“ aus „Heiraten“), — Carl
Furtmüller: Alltägliches aus dem Kinderleben. —
Alfred Adler: Nervöse Schlafstörungen. — Alexander
Schinid: Zum Verständnis von Schillers Frauencharak-
teren. — Erwin Wexberg: Die Arbeitsunfähigkeit des
Nervösen. — K. G. Szidon: Hebbels Jugend. — Hedwig
Schulhol: Ricarda Huch. — Dr. Heinrich Zeller: Das
Strafrecht in seinen Beziehungen zur Individualpsycho-
logie. Dr. Otto Hinrichsen: Zur Psychologie der
Dementia praecox. — Aus der Praxis der Psychotherapie
und Pädagogik.
| in J^ ni S e ^P )e «« Exemplare des I. Jahrganges können von der
Schriftleitung (Wien, III., Landstraße Hauptstraße49) bezogen werden.
f£ e ! s f ? r P stefreich Deutschland; ö. K 60.000. — Für das
übrige Ausland: 16 Schweizer Franken oder 3 Dollar der Jahrgang.
DIE NEUE GENERATION.
ZEITSCHRIFT FÜR MUTTERSCHUTZ, SEXUALREFORM U. PAZIFISMUS.
Publikationsorgan des Deutschen Bundes für Mutterschutz und der Inter-
nationalen Vereinigung für Mutterschutz und Sexualreform.
Herausgeberin: Dr. phil. Helene Stöcker.
Verlag und Redaktion: Berlin-Nicolassee, Münchowstraße l
Postscheckkonto: Berlin NW 7, Nr. 15.875. XIX. Jahrgang.
Im Mittelpunkt der jetzt weiter gesteckten Ziele unserer Zeitschrift steht
DER NEUE MENSCH,
die neue Generation, die Klärung ihrer sexualethischen, freiheitlichen politi-
schen und menschlichen Probleme Wer an der Höherentwicklung uirnres
individuellen, sozialen und internationalen Lebens - einer biologisch wert-
volleren Menschheit wie seelisch verfeinerten Menschlichkeit irgendwie Anteil
.. “Ö wird r ^ he , ^ aus der Zeitschrift schöpfen.
Mitgliedsbeitrag zum Deutschen Bund für Mutterschutz Mk. l‘_ jährlich
Abonnementspreis für die „Neue Generation“ . Mk 6 -— iährhVh
beides multipliziert mit der jeweiligen Buchhändler-Schlüsselzahl. Bundes-
mitgheder sowie Mitglieder der dem Deutschen Friedenskartell
eenen Organisationen erhalten 50% Ermäßigung- auf dip 7 <ü t Jnul; 5”®* ° 8 "
raa,la ” h,nen alk Buchh, " dl S a Lt XS 11 “ der
WIENER MEDIZINISCHE WOCHENSCHRIFT
Vereinigt mit der Allgemeinen Wiener medizinischen Zeitung
73. Jahrgang — 1923 &
Der Verjag der „Wiener Medizinischen Wochenschrift“
Verlagsbuchhandlung Moritz Perles Wien, I., Seilergasse 4