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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften XIV 1928 Heft 2/3"

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XIV. BanJ 


I928 


Heft a /3 


IMAGO 


.Zeitschrift für Ai 


der Psvckoan al- 


.nwenoung aer JT syctioanaiyse 
auf die ^Natur^ und Geisteswissenschaften 

Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 

... HerausgegeLen von 

»Sigm. Freud 

ReJi giert von Sändor Rado, Hanns Sacks und A. J. Storfer 



Pfister: ID ie Illusion einer Zukunft« Eine freundsdiaftlidie Aus¬ 
einandersetzung mit Prof. Freud / Reih: Bemerkungen zu Freuds 
„Zukunft einer Illusion“ / I Vinterstein: Die Pubertätsriten der 
jMLädchen und ilire »Spuren im jM-ärdien / Jelgetsma: Der Kanni- 
bali smus im alten Ägypten / Löwitsch: Raumempfinden u. moderne 
Bauk unst / Sterha: Zum dichterischen Ausdruck des modernen 
Naturgefühls / Deutsch: Ein Frauensdiicksal — George »Sand / 
Hitschmann: Von, um und über Hamsun / Franklin: Die be¬ 
dingten Reflexe bei Epilepsie und der Wiederholungszwang 


Internationaler Psydi oanalytischer \erlag 


AVien I, Börsegasse 11 










IMAGO 


ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE 
AUF DIE NATUR- UND GEISTESWISSENSCHAFTEN 


Heft 2 / 3 



XIV. Band 




von 


Dr. O skar Pfister 


Pfarrer in Zürich 


Lieber Herr Professor! 

Sie haben es in der liebenswürdigen JVeise, an die Sie mich in neunzehn¬ 
jähriger gemeinsamer Arbeit gewöhnten, für erwünscht erklärt, daß ich meine 
Einwände gegen Ihr Büchlein „Die Zukunft einer Illusion“ der Öffent¬ 
lichkeit vorlege, und mir mit einer Liberalität, die bei Ihrer Denkweise selbst¬ 
verständlich ist, zu diesem Zweck eine der von Ihnen herausgegebenen Zeit¬ 
schriften zur Verfügung gestellt. Ich danke Ihnen herzlich für diesen neuen 
Freundschaftsbeweis, der mich in keiner JVeise überraschte. Von Anfang an 
haben Sie aus Ihrem dezidierten Unglauben mir und aller JVelt gegenüber kein 
Hehl gemacht, so daß Ihre jetzige Prophezeiung einer religionslosen Zukunft 
mir keine Neuigkeit zuträgt. Und Sie werden lächeln, wenn ich in der von Ihnen 
geschaffenen psychoanalytischen Methode ein prachtvolles Mittel erblicke, die 
Religion zu läutern und zu fördern, wie Sie es zur Zeit der Hungersnot taten, 
als wir bei Schneegestöber auf Beethovens Pfaden über JViens Anhöhen stapften 
und einander, wie schon in früheren Jahren, in diesem Punkte luieder einmal 
nicht zu überzeugen vermochten, so bereitwillig ich sonst, mit Reichtum und 
Segen aus Ihrer Geistesfülle überschüttet, zu Ihren Füßen saß. 

Ihr Buch war für Sie eine innere Notwendigkeit, ein Akt der Ehrlichkeit und des 
Bekennermutes. Ihr titanisches Lebenswerk wäre unmöglich gewesen ohne das 
Zerschlagen von Götzenbildern, mögen sie in Universitäten oder Kirchenhallen 
gestanden haben. Daß Sie selbst der JVissenschaft mit einer Ehrfurcht und 
Inbrunst dienen, die Ihr Studierzimmer zum Tempel erheben, weiß jeder, der 
Ihnen nahezustehen die Freude hat. Frisch herausgesagt: Ich hege den bestimmten 


Imago XIV. 



11 


INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 


DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 







Dr. Oskar Pfister 


i5o 


Verdacht gegen Sie, daß Sie die Religion bekämpfen — aus Religion. Schiller 
streckt Ihnen zuarm die Bruderhand entgegen ; ob Sie sie ausschlagen werden? 

Und vom Standpunkt des Glaubens aus sehe ich erst recht keinen Grund, i n 
das Gezeter einzelner Zionswächter einzustimmen. Wer so riesenhaft wie Sie 
für die Wahrheit kämpfte und so heldenmütig um die Erlösung der Liebe stritt 
der ist nun eben, ob er es an der Rede haben will oder nicht, nach evangelischem 
Maßstab ein treuer Diener Gottes, und wer durch die Erschaffung der Psycho¬ 
analyse das Instrument schuf durch das leidenden Seelen die Fesseln durchfeilt 
und die Kerkerpforten geöffnet werden, so daß sie ins Sonnenland eines leben¬ 
spendenden Glaubens eilen können, der ist nicht ferne vom Reiche Gottes. Jesus 
erzählt ein feines Gleichnis von zwei Söhnen, von denen der eine gehorsam in 
des Vaters Weinberg zu gehen verspricht, ohne Wort zu halten, der andere 
aber des Vaters Zumutung widerspenstig ablehnt, aber dennoch das Gebot aus¬ 
führt (Matth. 21, V. 28ff.). Sie wissen, wie freundlich der Stifter der christ¬ 
lichen Religion den letzteren bevorzugt. Wollen Sie mir zürnen, daß ich Sie, 
der Sie so herrliche Strahlen des ewigen Lichtes auffingen und sich im Ringen 
um Wahrheit und Menschenliebe verzehrten, trotz Ihres angeblichen Unglaubens 
bildlich gesprochen dem Throne Gottes näher sehe, als manchen Gebete murmelnden 
und Zeremonien verrichtenden Kirchenmann , dem nie das Herz glühte für 
Erkenntnis und Menschenwohl? Und da für den am Evangelium orientierten 
Christen alles auf das Tun des göttlichen Willens, nicht auf das „Herr! Herr!“- 
Sagen ankommt, verstehen Sie, daß auch ich Sie beneiden möchte? 

Und doch wende ich mich mit aller Entschiedenheit gegen Ihre Beurteilung 
der Religion. Ich tue es mit der Bescheidenheit, die dem Geringeren geziemt, 
aber auch mit der Freudigkeit, mit der man eine heilige und geliebte Sache 
verteidigt, und mit dem Wahrheitsernst, den Ihre strenge Schule gefördert hat . 
Ich tue es aber auch in der Hoffnung, manche, die Ihre Verwerfung 
des religiösen Glaubens von der Psychoanalyse abschreckt, mit dieser 
als einer Methode und Summe erfahrungswissenschaftlicher Ein¬ 
sichten wieder zu befreunden. 

Und so möchte ich denn nicht gegen, sondern für Sie schreiben, denn wer 
für die Psychoanalyse in die Schranken tritt, kämpft für Sie. Allein ich kämpfe 
auch an Ihrer Seite; denn nichts anderes liegt Ihnen, wie mir am Herzen, als 
die Überwindung der Illusion durch die Wahrheit . Ob Sie mit Ihrer „Zukunft 
einer Illusion , oder ich mit meiner „Illusion einer Zukunft u dem Ideal näher 
kommen, wird ein höheres Tribunal entscheiden. W^ir beide schlagen nicht den 
Prophetenmantel um uns, sondern begnügen uns mit der bescheidenen Rolle des 
Meteorologen; aber auch Meteorologen können sich verrechnen. 

Mit herzlichem Gruße 

Ihr 


Oskar Pfister. 



























































Die Illusion einer Zukunft 


i5l 


I 


Freuds Kritik der Reli 


gxon 


i) Die -Anklagen 

Als Illusion stellt Freud in seinem Büchlein „Die Zukunft einer 
Illusion die Religion hin, bestimmt aber den Begriff der Illusion anders, 
als es gewöhnlich geschieht. Für gewöhnlich schließt er das Merkmal der 
Täuschung und Ungültigkeit in sich. Freud aber betont: „Eine Illusion 
ist nicht notwendig ein Irrtum“ (48); „wir heißen einen Glauben eine 
Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt, 
und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab, ebenso wie 
die Illusion selbst auf ihre Beglaubigungen verzichtet“ (49 f.). In anderem 
Zusammenhang lehnt Freud es ab, in seiner Abhandlung zum Wahrheits¬ 
wert der religiösen Lehren Stellung zu nehmen (52). 

Darnach könnte man mit der Möglichkeit rechnen, daß der Religion 
doch immer noch Gültigkeit zugebilligt werde. Freuds Beispiel von der 
Illusion des Kolumbus, einen neuen Seeweg nach Indien gefunden zu 
haben (48), zeigt es. Denn wenn der Entdecker Amerikas Indien auch nicht 
erreichte, so taten es doch andere auf dem von ihm geöffneten Wege. Auch 
erinnert der Genuese daran, daß in der Illusion sehr viel vorzügliches Real¬ 
denken investiert sein kann; ohne die Beobachtung der gekrümmten Meeres¬ 
oberfläche und der aus ihr erschlossenen Kugelgestalt der Erde wäre die 
kühne Fahrt nach Westen nicht unternommen worden. Ich mache jetzt 
schon auf die innige Verquickung des Wunsch- und Realdenkens aufmerksam 
und sehe die Frage auftauchen, ob es in der Religion, wie in einem sehr 
großen Teil der Wissenschaft überhaupt, eine reinliche Entmischung gibt, 
oder ob nicht in beiden Gebieten das Realdenken sich in weitem Umkreis 
vergeblich abmüht, die reine Gegenständlichkeit jenseits des Wünschens oder 
aus dem Wunschergebnis herauszuschälen. Doch halt! Ich will nicht aus 
der Schule schwatzen und möchte mich für das Nachfolgende in keiner Weise 
jetzt schon festlegen. 

Die Hoffnung, Freud habe der Religion einen Altar übrig gelassen, zu 
dessen Hörnern sie sich flüchten könne, hält nicht lange vor. Denn bald 
vernehmen wir, die Religion sei einer Kindheitsneurose vergleichbar, und 
der Psychologe sei optimistisch genug, anzunehmen, daß die neurotische Phase 
überwunden werde. Sicher sei es ja freilich nicht, aber die Hoffnung wird 


ii* 












Dr. Oskar Pfister 


i5a 


deutlich ausgedrückt (86). Genauer wird die Neurose, welche die Religion 
darstellt, als „die allgemein menschliche Zwangsneurose“ beschrieben und 
wie diejenige des Kindes aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung ab¬ 
geleitet (70). Damit verknüpft Freud die Prognose: „Nach dieser Auffas¬ 
sung wäre vorauszusehen, daß sich die Abwendung von der Religion mit 
der schicksalsmäßigen Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorganges vollziehen 
muß, und daß wir uns gerade jetzt mitten in dieser Entwicklungsphase 
befinden“ (7of.). 

Den Gipfel der Beanstandung bildet der Satz: „Bringt sie (die Religion) 
einerseits Zwangseinschränkungen, wie nur eine individuelle Zwangsneu¬ 
rose, so enthält sie anderseits ein System von Wunschillusionen mit Ver¬ 
leugnung der Wirklichkeit, wie wir es isoliert nur bei einer Amentia, einer 
glückseligen, halluzinatorischen Verworrenheit, finden“ (71), 

Endlich wird die Religion als Kulturschutz gewürdigt, (60), jedoch als 
in dieser Hinsicht ungenügend abgelehnt, zumal die Menschen durch sie 
auch nicht die wünschbare Beglückung und sittliche Beschränkung erlangen. 

Sehen wir uns diese Anklagen näher an! 


2) D ie Religion als neurotischer Zwang 

Wir beginnen mit einer Untersuchung des neurotischen Zwangs¬ 
charakters, den die Religion tragen soll. Fraglos hat Freud insoweit völlig 
recht, und durch diese Entdeckung hat er sich ein unermeßlich großes Ver¬ 
dienst um die Religionspsychologie erworben, als viele Äußerungen religiösen 
Lebens mit ihm behaftet sind. Diese Zwänge sind unverkennbar in manchen 
primitiven Religionen, die von einer eigentlichen Kirchenbildung noch 
nichts wissen, wie in den sämtlichen Orthodoxien. Wir wissen auch, daß 
diese Fatalität den Religionen als Wirkung von Triebverdrängungen, die 
aus dem biologisch-ethischen Fortschreiten der Menschheit als notwendige 
Forderung hervorgingen, in die Wiege gelegt wurde. Es ist nun einmal 
das leidige Verhängnis unseres Geschlechts, daß das Einfache und Zweck¬ 
mäßige meistens nur auf dem Umweg über ungeheuerliche Bizarrerien ge¬ 
funden wird. Die Geschichte der Sprachen und moralischen Anschauungen 
zeigt es so deutlich, wie die Entwicklung der Religionen. 

Aber wenn auch diese Zwangsbelastung schon im ersten Stadium der 
Religion schwerlich in Abrede zu stellen ist, so fragt es sich doch, ob sie 
zum Wesen gehört. Könnte nicht ganz gut dieser kollektiv-neurotische Zug 
ohne Schädigung, ja sogar zum Vorteil des Ganzen fallen, etwa so, wie 


















Die Illusion einer Zukunft 


l53 


die Kaulquappen ihre Schleppe opfern, um als Frösche nur desto bequemer 
durch die Welt zu hüpfen? 

Trieb verzichte gehen der Religion voran. Allein ist dies nicht bei aller 
Kultur der Fall? Wer sich primär ausgibt, behält für Kulturleistungen 
nicht mehr die notige Energie übrig. Denken wir uns ein solches rein 
triebhaftes Dasein, das übrigens schon durch die weise Kärglichkeit der 
Natur, oft auch durch den Aschermittwochsprotest der Menschennatur 
fast immer verwehrt wird, so bezweifeln wir keinen Augenblick, daß 
es zwar dem Wesen der meisten Tiere, doch nicht der Menschennatur 
entspricht. Der Begriff der Natur wird einseitig und gänzlich 
ungenügend erfaßt, wenn man ihn „naturalistisch“ versteht. 
Nichts berechtigt zur Behauptung, ein tierisches Vegetieren entspreche dem 
Wesen des Menschen besser, als ein kulturgemäßes Heranwachsen und Sich- 
betätigen. Es ist ja auch die umgebende Natur selbst, die den geistigen 
Anstieg zur Notwendigkeit macht. Kultur ist immer das Produkt zweier 
Naturen: der außer- und innermenschlichen. Kultur ist selbst nur ent¬ 
wickelte Menschennatur, wie auch die sie hervorlockenden Nöte und Ver¬ 
zichte Naturwirkungen darstellen. Wer den Begriff der Natur von seiner 
falschen Verengerung befreit, erblickt in der Kulturentwicklung dieselbe 
gegenseitige Abgestimmtheit des Menschen und der übrigen Welt, die uns 
die Erkenntnislehre für den Erkenntnisprozeß nachweist. 

Nicht einverstanden bin ich mit Freuds früherer Angabe, daß der 
Religionsbildung Verzicht auf Betätigung egoistischer Triebe zugrunde liege, 
während die Neurose die Verdrängung ausschließlich sexueller Funktionen 
voraussetze. 1 Gerade die Geschichte der Ödipuseinstellung zeigt, daß die 
Sexualität einen integrierenden Bestandteil der Ichtriebe ausmacht und 
umgekehrt. Die Aussonderung einzelner Triebe darf stets nur als Abstrak¬ 
tion vorgenommen werden; sowie man die Triebe (abgesehen von ihren 
primitivsten Regungen) wirklich geschieden denkt, gerät man in Irrtümer 
über Irrtümer. Dieser „organische Gesichtspunkt“, wie ich die richtige 
Betrachtungsweise nenne, ist für das Verständnis der Religionsgenese un¬ 
erläßlich. Ich glaube nicht, daß hierin heute noch eine Differenz zwischen 
Freud und mir besteht. Da er jetzt die negative Vaterbindung als Haupt¬ 
determinante der Religion hinstellt, läßt er auch die libidinösen Kräfte zur 
Geltung kommen. Ich glaube, daß man die Triebversagungen, die zur Reli¬ 
gion führen, in sehr weitem Umkreis suchen muß, wie anderseits auch 


1>1 Zwangshandlungen und Religionsübungen. Ges. Schriften X, S. 210. 




















Dr. Oskar Pfister 


154 

die Bahnen, die bei der Religionsbildung eingeschlagen werden, eine außer- 
ordentliche Mannigfaltigkeit aufweisen. Dem Totemkultus liegen ganz andere 
Determinantenkomplexe zugrunde, als etwa dem sozialethischen Monotheis¬ 
mus der klassischen Propheten Israels, dem ästhetischen und pazifistischen 
Atonglauben Echnatons ganz andere, als der Frömmigkeit spanischer Con- 
questadores. Aber Trieb Versagungen, die mehr oder weniger umfängliche 
und tiefe Verdrängungen hervorrufen, müssen selbstverständlich an jeder 
Religionsbildung mitwirken. 

Aber müssen wirklich immer Zwangsbildungen der Religion inhärieren? 
Ich glaube, daß im Gegenteil die höchsten Religionsbildungen den 
Zwang gerade auf heben. Man denke etwa an das genuine Christentum! 
Dem zwangsneurotischen Nomismus, der mit Buchstabenglauben und pein¬ 
lichem Zeremonialismus ein schweres Joch auferlegt, stellt Jesus sein „Gebot 
der Liebe gegenüber. „Ihr wißt, daß zu den Alten gesagt ist — ich aber 
sage euch“ (Matth. 5) — da haben wir die gewaltige Erlöse'rtat. Und sie 
geschieht nicht etwa kraft eines neuen Bindungsanspruchs, sondern kraft 
der Autorität jener Freiheit, die vermöge siegender Liebe und Wahrheits¬ 
erkenntnis gewonnen wurde. Jesus hat nach gut psychoanalytischer Regel 
die Kollektivneurose seines Volkes überwunden, indem er die Liebe, aller¬ 
dings sittlich vollendete Liebe, ins Lebenszentrum einführte. In seiner Vater¬ 
idee, die von den Schlacken der Ödipusbindung gänzlich gereinigt ist, sehen 
wir die Heteronomie und alle Peinlichkeit der Fesselung gänzlich über¬ 
wunden. Was dem Menschen zugemutet wird, ist nichts anderes, als was 
seinem Wesen und seiner wahren Bestimmung entspricht, das Gesamtwohl 
fördert und — um auch dem biologischen Gesichtspunkt einen Platz ein¬ 
zuräumen — eine maximale Gesundheit des Einzelnen und der Gesamtheit 
herstellt. Es ist ein arges Mißverständnis, Jesu Grundgebot: „Du sollst Gott 
lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst! (Matth. 22, 
Vers 37 ff.) als Gesetz im Geiste des Mosaismus zu verstehen. Die Form des 
Imperativs ist beibehalten, aber wer merkte nicht die feine Ironie, mit 
welcher der Inhalt, das Lieben, als nur frei zu vollziehende Leistung, den 
Gesetzescharakter aufhebt? 

Wie fein Jesus 1900 Jahre vor Freud Psychoanalyse treibt, — man 
darf den Ausdruck freilich nicht allzu streng fassen — zeigte ich ander¬ 
wärts (Analyt. Seelsorge, Göttingen t 9 2 7 > 20 2 4 )- erinnere daran, 

daß er dem Lahmen nicht einfach das Symptom wegsuggeriert, sondern in 
den ihm zugrunde liegenden sittlich-religiösen Konflikt einsteigt, ihn schlichtet 
und so von innen her die Lahmheit überwindet. Sein Dämonenglaube mag 


























i55 


Die Illusion einer .Zukunft 


uns als Metaphysik befremden, als Neurologie anerkennen wir ihn. Die 
historisch-psychologische Richtung, in der Jesus die biblizistische Zwangs¬ 
autorität prüft, findet die volle Billigung des Analytikers (z. B. Matth. 19, 8: 
Das mosaische Gebot des Scheidebriefes sei um der menschlichen Herzens¬ 
härte willen erlassen). Die Behandlung der Übertragung, die als Liebe an¬ 
genommen, aber auf absolute Idealleistungen weitergeleitet wird, so daß 
keine neue Bindung entsteht, verdient die Bewunderung aller Schüler Freuds, 
wie auch die Aufhebung der den Zwang hervorbringenden Elternfixation 
durch die Hingabe an den absoluten Vater, der Liebe ist. 

Nicht, daß man Jesus, wie vorwitzige Grünschnäbel es vielleicht tun 
möchten, als ersten Psychoanalytiker im Sinne Freuds hinstellen dürfte! 
Aber seine Erlösungsseelsorge weist in ihren Grundzügen so entschieden 
in die Richtung der Analyse, daß sich die Christen schämen sollten, einem 
Nichtchristen die Verwertung dieser leuchtenden Fußspuren überlassen zu 
haben. Der Grund liegt ohne Zweifel darin, daß die zwangsneurotische 
Verpfuschung, die der Religion, wie allen Gebilden des Menschengeistes 
droht, auch diese wundervolle Fährte verschüttete, sowie im Materialismus 
der früheren Psychiatrie. 

Wir könnten Jesu Beseitigung des Zwanges und die Entkräftung ihrer 
Determination noch weiter verfolgen, könnten nachweisen, wie seine Vater¬ 
idee von allen Reaktionssymptomen gegenüber dem Ödipushaß frei ist — 
Gott soll nicht mit Opfern versöhnt, sondern im Bruder geliebt werden —. 
Wir könnten daran erinnern, daß Bruderliebe im tiefsten und weitesten 
Sinne Kennzeichen und Stern der christlichen Lehre ausmacht. Wir könnten 
daran erinnern, daß Ziel und höchstes Gut alles Strebens und Sehnens 
nicht in persönlicher Befriedigung, sondern im Gottesreich, d. h. in der 
Herrschaft der Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit im einzelnen, wie in 
der Universalgemeinschaft liegen, usw. Allein, wir würden zu weit ab¬ 
gelenkt. 

Und kann nicht von der Religion Echnatons, in gewissem Sinne so¬ 
gar von Buddha, ganz ähnliches gesagt werden? Liegt nicht im Prinzip 
des Protestantismus mit seiner Glaubens- und Gewissensfreiheit, aber auch 
mit seiner Liebesforderung ein mächtiges Erlösungsprinzip, und zwar nicht 
nur im Sinne der Befreiung von religiösem Zwang, sondern auch als all¬ 
gemeine Heilung von Zwängen? 

Es ist sehr schade, daß Freud gerade die höchsten Äußerungen der 
Religion außer acht läßt. Entwicklungsgeschichtlich verhält es sich nicht 
so, daß die Religion Zwänge schafft und den Menschen in der Neurose 

















i56 Dr. Osk ar Pfister 


festhält. Vielmehr schafft das präreligiöse Lehen neurotische Zwänge, die 
dann zu entsprechenden religiösen Vorstellungen und Riten führen. Die 
der Religion vorangehende Magie ist noch nicht Religion. Dann aber taucht 
gerade innerhalb der großartigsten Religionsentwicklung, der israelitisch¬ 
christlichen, immer und immer wieder eine religiöse, durch eine höhere, 
ethische, darum auch sozialbiologische Einsicht angefachte religiöse Inspi¬ 
ration (Offenbarung) auf, welche den Zwang aufzuheben trachtet 
und Befreiung schafft, bis unter Bedingungen, die niemand besser als der 
Analytiker versteht, immer wieder durch die Not der Zeit neue Bande ge¬ 
schmiedet werden, die eine spätere religiöse Konzeption zu sprengen berufen 
ist. Daß diesem religiösen Kampf um die Erlösung ein Humanisierungs¬ 
prozeß entspricht, läßt sich nicht verkennen. So folgen einander vorisraeliti¬ 
scher Animismus und Naturismus, Mosaismus, Baalismus, klassischer Pro¬ 
phetismus, nachexilischer Nomismus (im Pharisäismus gipfelnd), Geburt des 
Christentums, Katholizismus, Reformation, altprotestantische Orthodoxie, 
Pietismus und Aufklärung, sowie die gegenwärtigen Ausläufer der ver¬ 
schiedenen christlichen Zwangs- und Zwangsbekämpfungssysteme. Es ver¬ 
dient jedoch Beachtung, daß der zwangsfreie Individualismus gerade in der 
Gegenwart innerhalb des Protestantismus sehr stark vertreten ist und einer¬ 
seits durch sein soziales Pathos, anderseits durch seine streng kritisch-wissen¬ 
schaftliche Arbeit bei den übrigen Fakultäten nicht geringes Ansehen erwarb. 

Man vergesse auch ja nicht, daß die Religion durchaus keine in sich ab¬ 
geschlossene Entwicklung zurücklegen darf! Wenn die Christen in einzelnen 
Zeitaltern an Grausamkeit mit den wildesten Barbaren wetteifern, so geschah 
dies nicht infolge konsequenter Durchführung ihres religiösen Prinzips, son¬ 
dern vermöge neurotischer Erkrankungen, die die christliche Religion genau 
ebenso verzerrten und verwüsteten, wie Forschen und Kunstschaffen den ab¬ 
scheulichsten Mißbildungen ausgesetzt waren und erlegen sind. 

Daher leugne ich rundweg, daß der Religion als solcher neurotischer 
Zwangscharakter eigne. 

3) Religion als Ti^unschgelilcle 

Für den Gedanken, daß alle Religionen nur Wunschgebilde darstellen, 
nimmt Freud mit Recht keine Priorität in Anspruch (57)* Mit unüber¬ 
bietbarer Konsequenz hat Feuerbach 1 vor bald neunzig Jahren die These 


1) L. Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Herausgegeben von Quenzel, 
Reclam, S. 40. 
































Die Illusion einer Zukunft 


107 


von der Theologie als verkappter Anthropologie und von der Religion als 
Traum (43) durchgeführt. Nur hat Freud mit seinem Seelenmikroskop 
diese Annahmen in manchem Punkt außerordentlich verfeinert und ge- 
Icräftigt. Hierüber darf man sich keinerlei Täuschung hingeben. Schon allein 
die Darlegung der latenten Wünsche und ihrer Umarbeitung zum Zwecke 
der Bewußtmachung, sowie die Enthüllung der Ödipussituation, des ver¬ 
drängten Sadismus und Masochismus machen es ganz und gar unmöglich, 
Wunschvorkehren bei der Religionsbildung zu leugnen. Erklärt sich aber 
hieraus das ganze religiöse Denken? Und ist dieses Verwechseln von 
Wünschen und Sein Sondergut der Religion? Oder sollten in Religion und 
Wissenschaft, ja sogar letztlich in Kunst und Moral die Zurückdrängung des 
Wunschdenkens durch das Realdenken und die Mobilisation des Realdenkens 
durch das Wunschdenken das Ideal bilden, dem die Geistesentwicklung 
keuchend, hoffend und immer wieder schmerzlich enttäuscht entgegenstrebt ? 

Bevor wir uns der Untersuchung zu wenden, sehen wir uns nach einem 
gemeinsamen Ausgangspunkt um. Nie vergesse ich jenen sonnigen Sonntag¬ 
vormittag des Frühlings 1909 im Belvederepark in Wien, als Prof. Freud 
mich in seiner lieben, väterlichen Weise auf die Gefahren der von ihm 
betriebenen Forschung hinwies. Schon damals erklärte ich mich bereit, das 
mir teure Pfarramt niederzulegen, wenn es die Wahrheit erheische. Einen 
Glauben verkündigen, den die Vernunft widerlegt, oder den Kopf zur Woh¬ 
nung des Unglaubens, das Herz zu einem Sitz des Glaubens einzurichten, 
dies schienen mir Jongleurtricks, mit denen ich nichts zu tun haben wollte. 
Ich wüßte nicht, was ich an dieser Stellung zu ändern hätte. Für Illusionen 
setzt man seine Seele nicht ein. 

Ich kann Freud ein gutes Stück weit entgegenkommen (Feuerbach hat 
auch bei Theologen mit seiner psychologischen Kritik religiöser Lehren 
Beifall gefunden). 1 Daß die Vorstellungen von Gott und Jenseits vielfach 
mit Farben der Wunschpalette gemalt sind, wußte ich von jeher. Als ich 
zum ersten Male in einer halluzinierten Gottes Vorstellung die Züge des 
Vaters, verschiedener Pfarrer usw., 2 dahinter die Regie des Hasses auffand, 
war mir die Klarheit, mit der sich der Zusammenhang nach weisen ließ, 
recht interessant, aber etwas unerhört Neues und Unerwartetes empfing ich 
nicht. Daß im walfischreichen Jenseits der Eskimo, in den grünen, zu 
Skalpgewinn einladenden Jagdgründen der Indianer, im metgesegneten, 


1) O. Pfleiderer: Geschichte der Religionsphilosophie. 5. AufL, 449. 

2) Pfister: Die psychoanalytische Methode. 5. Aufl., 222 h 
















i58 


Dr. Oskar Pfister 


turnierholden Walhall der Germanen sich die Wünsche ihrer Urheber ebenso 
spiegeln, wie im Betsaalhimmel des Pietisten oder im Jenseits Goethes mit 
seinem sittlichen Entscheidungskampf, wußte ich längst. 

Nemesis wollte, daß auch die von mir analysierten Gottesleugner außer¬ 
ordentlich oft vom Wunschdenken geleitet waren. Welcher Analytiker hätte 
nicht oft Atheisten gefunden, deren Unglaube verkappte Vaterbeseitigung 
war? Ich würde es aber für falsch halten, alle Ablehnung der Religion in 
das Wunschschema zu pressen. 

Und sehen wir uns die Wünsche, die zur Religion führen, etwas näher 
an! Es ist zuzugeben, daß sie anfänglich großenteils egoistischer Natur 
sind. Verhielte es sich bei der Wissenschaft etwa anders? Könnte man vom 
Primitiven einen uninteressierten Wissensdurst erwarten? Schon beim soge¬ 
nannten Naturmenschen sehen wir, wie sich in Kultus und Glaube das 
sittliche Bedürfnis regt, z. B. das Bedürfnis nach Sühne begangenen Un¬ 
rechts (z. B. der Todeswünsche gegen den Vater). Mit der sittlichen Ent¬ 
wicklung reift auch die religiöse. Die selbstischen Wünsche treten mehr 
und mehr zurück, wenn es auch immer wieder Rückfälle in egoistisches 
Denken gibt, ein Zeichen dafür, daß das Wilde und Primitive sich schwer 
ausrotten läßt. 

Die klassischen Propheten Altisraels verzichten auf persönliche Fortdauer 
nach dem Tode; so sehr ging ihr Dichten und Trachten in ihrem Volke auf. 

Im Evangelium sehen wir die Triebwünsche machtvoll bekämpft, und 
zwar um so stärker, je mehr die Entwicklung Jesu in stetem Kampf mit 
der Überlieferung fortschreitet. Den Lohngedanken, den Rassengedanken, 
die sinnlich gefärbte Jenseitsvorstellung sehen wir zurückgedrängt, und 
zwar den Lohngedanken nach Ansicht der Psychoanalyse weit geschickter 
und weiser, als in der rigorosen, die Liebe verständnislos ausschüttenden 
Philosophie des kategorischen Imperativs. Was Jesus im Namen seiner 
Religion fordert, ist dem Egoismus großenteils direkt entgegengesetzt, wenn 
auch Jesus mit großer Weisheit die Selbstliebe keineswegs ächtet, und 
dem Masochismus, wie ihn die Asketen übten, keinerlei Vorschub leistet. 
Die Sanftmut und Demut, die Selbstverleugnung und Ablehnung des 
Schätzesammelns, die Hingabe des eigenen Lebens um der höchsten sitt¬ 
lichen Güter willen, kurz die ganze Lebenshaltung, wie sie der Gekreuzigte 
von Golgatha von seinen Jüngern fordert, ist den Gelüsten der ursprüng¬ 
lichen Menschennatur diametral entgegengesetzt. Sie entspricht jedoch einer 
höheren Auffassung der Menschennatur, wie sie gewiß nicht aus den 
niedrigen Triebansprüchen, sondern nur aus einem unter herben Nöten er- 
































Die Illusion einer Zukunft 


i59 


kämpft en i einer grandiosen intuitiven Anthropologie und Kosmologie ent¬ 
sprungenen Idealrealismus hervorgehen konnte. Im Gebet Jesu verschwin¬ 
det alles Egoistische — die Bitte ums tägliche Brot, dieses Subsistenz- 
xninimum, ist nicht mehr egoistisch, die universellen ethischen Ideale 
herrschen, und zu oberst steht die Beugung unter den göttlichen Willen 
(„Dein Wille geschehe!“). Buddhistische Wunschlosigkeit ist dies nicht, aber 
dafür auch nicht pathogene Introversion. 

Die Behauptung, daß nach christlicher Auffassung alles dasjenige, was 
das Erdenleben dem Christen versage, das Jenseits wiedergebe, ist falsch. 
Der Verzicht auf die Betätigung der Sexualität wird nach dem Islam, aber 
keineswegs nach dem Christentum im Jenseits eingeholt. Jesus betont aus¬ 
drücklich, daß sinnliche Erwartungen vom Leben nach dem Tode auszu¬ 
schalten seien (Matth. 22, Vers 50). Sein höchstes Ideal, das Gottesreich, hat 
die Erde zum Schauplatz und ideale ethische und religiöse Güter, die mit 
Triebwünschen nichts zu tun haben, zum Inhalt. 

Aber, wendet der Gegner vielleicht ein, entspringt die Religion dann 
nicht wenigstens Wünschen höherer Art?— Ich entgegne: Man muß sich 
den Unterschied zwischen Wunsch und Postulat klar machen. Der Wunsch 
geht in der Halluzination u. a. durch Freud uns verständlich gemachten 
Erscheinungen auf Befriedigung aus, ohne sich um die wirklichen Ver¬ 
hältnisse zu kümmern. So kennen wir auch viele religiöse Phänomene, 
die diesen illusorischen Sprung vom Begehren zur Annahme eines Seins 
machen. Es wird aber niemand behaupten, daß jeder Wunsch nur auf 
solche illegitime Weise zur Befriedigung gelange. Man kann sehr wirklich¬ 
keitsgerecht auf Befriedigung seiner Wünsche ausgehen. 

Jesus verspürte in sich Liebesimperative, die der geheiligten Überliefe¬ 
rung widersprachen. Wir können noch genau das Stadium beobachten, in 
welchem er die Ansprüche der inneren Forderung mit derjenigen des 
„mosaischen“ Gebotes in Einklang setzen zu können glaubte (Matth. 5, 
Vers 17—22). Allein, wie wir schon vernahmen (Vers 27ff., 33ff., 38ff.), 
drang diese Betrachtung nicht überall durch. Es mußte zum offenen Bruche 
kommen. Das innere Gebot mußte das äußere umstoßen. Dann aber mußte 
diese innere sittliche Notwendigkeit selbst von Gott herstammen. Und weil 
sie auf Liebe ausging, mußte Gott als liebend, nicht mehr als der strenge, 
eifersüchtige Gott des Alten Testamentes, erscheinen. Damit zerfiel auch, 
wie oben gezeigt wurde, der angsteinflößende Zwangscharakter der Thora. 

Wenn wir diesen Vorgang, der sich in Jesu Seele intuitiv, inspiratorisch 
abspielte, in schwerfällige Erkenntnisakte übersetzen wollen, so kommen 















i6o 


Dr. Oskar Pfister 


wir auf den Weg des Postulates. Dieses sagt nicht: ich wünsche dies und 
das, folglich ist es wirklich. Vielmehr folgert es: dies und das ist; was 
muß ich als wirklich denken, damit dieses bestimmt Existierende verständ¬ 
lich wird, wirklich werden konnte und wirklich sein kann? Das Postulat 
geht von Seiendem aus, das als gesichert anerkannt oder vorausgesetzt wird 
und schließt auf anderes Seiende, das sich aus dem ersteren logisch not¬ 
wendig ergibt. 

Die Naturwissenschaft mit ihren Hypothesen, die bei genügender Er¬ 
härtung zu Theorien weitergebildet werden, geht in gewissem Sinne einen 
ähnlichen Weg. Nur handelt es sich hier um Existentiale, von denen aus 
zu anderen Existentialen fortgeschritten wird. Im Postulat dagegen bildet 
den Ausgangspunkt eine Wertung oder ein Imperativ. Kant z. B. betrach¬ 
tet das kategorische „Du sollst!“ als den archimedischen Punkt und postu¬ 
liert von ihm aus einen Gesetzgeber. Ich selbst ging von einer» anderen 
ethischen Gewißheit aus, die sich mir gerade bei der psychoanalytischen, 
wie bei der soziologischen Betrachtung aufgedrängt hatte: von der Bestimmung 
zur Liebe gegen den Nächsten, sich selbst und das absolute Ideal. In dieser 
Norm, die sich aus der Eigenart des Menschen ergibt, weil in ihrem Sein 
ein Sollen liegt, fand ich den Ort, von dem aus ich auf ein Absolutes 
als den Ursprung des Seins und Sollens, wie überhaupt aller Werte, schließen 
mußte. Diese philosophische Operation ist grundsätzlich nichts anderes als 
die erlebnismäßig-intuitive Gottesgewißheit Jesu. Daß dabei eine Menge 
von Wünschen des eigenen Geschmackes, ja sogar manche „Bedürfnisse“ 
der harten Wirklichkeitserkenntnis geopfert werden müssen, liegt auf der 
Hand. Und wenn der Seinsgrund der Bestimmung zur Liebe im höchsten 
Sinne selbst als geistig und liebend angesetzt wird, ist dies denn wirklich 
denkwidrig? 

Weiterhin erhebt sich die Frage: Ist nicht auch in der Wissenschaft die 
sinnbildliche Phantasie ein scharadenartig verkleideter Träger gültiger 
Erkenntnis? Arbeitet nicht auch das wissenschaftliche Denken mit den 
vielsagenden und zugleich vielverbergenden Herolden des Anthropomor¬ 
phismus? 

Ich beginne mit dem zuletzt aufgeworfenen Problem. Noch entsinne ich 
mich des frohen Erstaunens, mit dem ich im ersten Jahrgang der „Imago“ 
Robitseks bedeutsame Studie über das wissenschaftliche Schaffen des 
Chemikers Kekule von Stradowitz las. 1 Die Struktur- und Benzoltheorie 

1) A. Robitsek: Symbolisches Denken in der chemischen Forschung. Imago I, 
83—90. 



























Die Illusion einer Zukunft 161 


entstanden danach aus visuellen Phantasien von tanzenden Pärchen und 
Schlangen; aber der wache Verstand mußte die Träume prüfen. 

Man muß sich davor hüten, alle primitiven Vorstellungen, die uns Real¬ 
denkern des zwanzigsten Jahrhunderts phantastisch Vorkommen, sogleich als 
Wunschprodukte anzusehen. Wenn der Wilde im kochenden Wasser ein 
lebendes Tier vermutet, welcher Wunsch sollte ihn dabei leiten? Lag es 
nicht für ihn nahe, das unbekannte Sieden analog der ihm bekannten, durch 
ein verborgenes Tier verursachten Wasserbewegung zu erklären? 

Und wenn in die Naturerscheinungen und -Vorgänge menschenähnliche 
Kräfte und Wesenheiten projiziert werden, ist dies eine Sonderaktion der 
Religion, oder finden wir diesen auf Analogieschlüssen beruhenden Prozeß 
nicht selbst in den stolzesten Hallen der Naturwissenschaften, ja selbst des 
noch strenger disziplinierten philosophischen Denkens? Wir reden von „Kraft“, 
„Ursache“, „Wirkung“, „Gesetz“ und hundert anderen Begriffen, die von der 
Erkenntnistheorie längst als ziemlich plumpe, wenn auch unentbehrliche 
Anthropomorphismen erfunden worden sind. Ist der Begriff der „Zensur“ 
nicht ebenso geartet? 

Die Geschichte der Wissenschaften ist ein fortwährender Kampf mit 
Anthropomorphismen und anderen unerlaubten Projektionen bekannter Tat¬ 
sachen in unbekannte. Warum sollten Religion und Theologie eine Aus¬ 
nahme bilden? 

Die Frage ist nun aber, ob die Theologie, die sich mit der Religion be¬ 
schäftigte, mit einem Fuße im Stadium der Wünsche stecken geblieben 
sei. Wenn sie es wäre, so fürchte ich ernstlich (oder sollte ich es hoffen?), 
sie teilte dieses für eine Wissenschaft klägliche Los mit den übrigen Wissen¬ 
schaften, die Naturwissenschaften und die Geschichte nicht ausgeschlossen. 
Von der Philosophie kann ich es ganz bestimmt versichern 1 und mag 
ein Plus von reiner Gegenständlichkeit den streng exakten Naturwissenschaften 
zugebilligt werden können, es fehlt ihnen eben doch das, was der Empirio¬ 
kritizismus so leidenschaftlich und erfolglos suchte: Die reine Erfahrung, 
aus der die Zusätze menschlicher Subjektivität ausgemerzt wären. Dafür 
endigt die naturwissenschaftliche Betrachtung bei der bitteren Einsicht, nur 
ein Flecklein Oberfläche zu erkennen, das erst noch als gleißender Schein 
zugestanden werden muß. Die Farben verflüchtigen sich in „Ätherschwin¬ 
gungen , wobei man resigniert hinzufügt, daß der Äther ein sehr zweifel¬ 
hafter Hilfsbegriff sei, die Töne entpuppen sich als Luftoszillationen, deren 

i) Vgl. meine Schrift „Zur Psychologie des philosophischen Denkens“. Bireher, Bern 
und Leipzig. 
















16a 


Dr. Oskar Pfister 


Vereinigung zur Melodie oder Symphonie in den Akten und in der Welt 
der Naturwissenschaften keinen Raum hat, das Atom, das in mehrtausend¬ 
jährigem Experimentieren und Denken als schlechthin einfaches und un¬ 
veränderliches Wirklichkeitsklötzchen anerkannt und zum Träger einer angeb¬ 
lich naturwissenschaftlich gesicherten Weltanschauung erhoben worden war, 
geht eines Vormittags in die Brüche, wie ein Brocken Steinkohle, ja es ver¬ 
wandelt sich in ein anderes Element; das Naturgesetz enthüllt sich der neueren 
naturwissenschaftlichen Kritik als ein Produkt des Wunsches, daß ein Vor¬ 
gang sich unter gleichen Bedingungen immer gleich vollziehen müsse -— 
man bedenke doch die Verlegenheit der Maschinen- und Brückenbauer, wenn 
es sich anders verhielte! Wenn die umstürzlerischen Ansichten der neuesten 
und kritischen Naturwissenschaften etwas Sicheres ergeben haben, so ist es 
die Einsicht, daß wir auf ihrem Gebiete bis zum Hals im Wünschen stecken 
geblieben sind, und der Pragmatismus, man mag ihn noch so naserümpfend 
abweisen, hat doch wenigstens das Gute an sich, daß er das Interesse des 
praktischen Amerikaners an einer ausgiebigen Nutznießung der Wirklichkeit, 
also den Wunschhintergrund des Erkennens entschleierte. 

Die Theologie hat sich über eine nicht geringe Bereitwilligkeit und Fähig¬ 
keit zur Preisgabe des Wunschdenkens reichlich ausgewiesen. Ich glaube dies 
jedoch zweckmäßiger am Schluß unserer freundschaftlichen Auseinander¬ 
setzung dartun zu können. Mit der Theologie unterzog sich aber auch die 
Religion den durchgreifendsten und für das Wünschen schmerzlichsten Opfern. 

Man darf ferner nicht übersehen, daß die Religion von Anfang an das 
Wissen um die Natur und die Werte reichlich in sich aufzunehmen ver¬ 
mochte. Wer über die stille stehende Sonne des Josua spottete, hätte be¬ 
achten sollen, daß der Begriff einer festgefügten und geschlossenen Natur¬ 
ordnung zu jenen Zeiten noch nicht existierte, sondern erst über zwei¬ 
einhalb Jahrtausende später in die Wissenschaft eintrat, bis sie vor kurzer 
Zeit an Kredit wieder nicht unbeträchtlich verlor. Die Christenheit sträubte 
sich lange, allzu lange gegen Kopernikus und die Entwicklungslehre, aber 
sie fand sich schließlich mit ihnen ab. Daß sie nicht alle wissenschaftlichen 
Tagesmoden mitmacht, darf man ihr nicht verübeln. Eine Reihe hervor¬ 
ragender Naturforscher bis auf die Gegenwart finden keinerlei Schwierig¬ 
keit, Religion und Naturwissenschaft in Einklang zu setzen, während Halb¬ 
gebildete allerdings viel leichter als große Forscher vom Range Freuds 
die Inkompatibilität beider am Biertisch auskündigen. 

Bewiesen ist damit für die Wahrheit oder Unwahrheit der Religion 
nichts. 






































Die Illusion einer Zukunft 


i63 


Wie verhält es sich aber mit den Widersprüchen des religiösen Denkens? 
Ich sprach bereits vom redlichen Bestreben der neueren Theologie, sie zu 
überwinden. Ob es gelungen ist, läßt sich schwer entscheiden. Ich glaube, 
zu einer Religiosität gelangt zu sein, die der Widersprüche Herr wurde,’ 
wenn auch ungelöste Rätsel, wie auf jedem anderen Gebiete menschlichen 
Denkens, auf Schritt und Tritt übrig geblieben sind. Aber nun kehre ich 
den Spieß um und frage: Strotzt denn die Erfahrungswissenschaft nicht 
von faustdicken Widersprüchen? Ich will nicht einmal auf Begriffskrüppel, 
wie den Äther, hinweisen, der Stoff sein soll, ohne aus Atomen zu be¬ 
stehen, und der dennoch von den honettesten Naturforschern als Standes¬ 
herr mit untertänigster Verbeugung begrüßt wurde. Aber vielleicht macht 
es doch einigen Eindruck, daß sehr bedeutende Natur- und Seelenforscher, 
wie z. B. Herbart und Wundt, der Philosophie keine andere Aufgabe zu- 
weisen, als die, die in den Erfahrungsbegriffen liegenden Wider¬ 
sprüche zu beseitigen und die bereinigten Erfahrungsbegriffe miteinander 
in Einklang zu bringen. Da sollte man doch wohl auch mit der Religion 
der Ungebildeten und der Theologen etwas nachsichtiger verfahren. 

Da Freud auf die einzelnen Widersprüche nicht einzutreten gedachte 
und sich darauf beschränkt, die meisten religiösen Lehren für unbeweisbar 
und unwiderlegbar zu erklären (50, 52), so kann ich auf eine Verteidigung 
des religiösen Realitätsdenkens im Einzelfalle nicht eintreten. Wenn man 
daran denkt, wie bescheiden die heutige Naturwissenschaft über den Be¬ 
reich des wirklich Beweisbaren denken gelernt hat, so wird man zugeben, 
daß in unserem Problem größte Vorsicht dringend angezeigt ist, damit man 
doch ja nicht von anderen Fakultäten verlange, was man in der eigenen 
selbst nicht leistet, und anderen vorwirft, was man selbst begeht. Mit welcher 
vorbildlichen Zurückhaltung redet Freud von der Bewiesenheit seiner Auf¬ 
stellungen! Auch müssen wir uns sehr davor hüten, Übereinstimmung der 
Gelehrten für Abgeklärtheit und Gültigkeit einer Lehre zu halten. Sie ist 
sehr oft nur eine Ermüdungserscheinung, und die Füße der Totengräber 
stehen vielleicht bereits vor der Tür. 

Bei diesem Sachverhalt, der unsere wirklich wissenschaftlichen Aktiva gegen¬ 
über den Passiva etwas bedenklich erscheinen läßt, müssen wir uns vor der 
Gefahr der Mogelei erst recht hüten. Durch Wunschdenken und Zulassung 
von Widersprüchen würde man seine Bilanz nicht günstiger gestalten, wohl 
a 6r Se * nen Kredit noch mehr gefährden. Aber man sieht auch keinen Grund, 
sein ganzes Vermögen auf der einen Bank der Wissenschaft anzulegen und 
e übrigen Kulturgüter für überflüssig auszugeben. Davon später. 


















164 


Dr. Oskar Pfister 


Wenn Freud der Religion halluzinatorische Verworrenheit vor¬ 
wirft so hat er für einzelne, ja viele Formen von ihr unzweifelhaft recht. 
Allein, trifft dies auf alle Gestaltungen der Frömmigkeit zu? Ich sehe es 
nicht ein. Wieder scheint der große Meister ganz bestimmte Formen vor 
Augen zu halten und zu verallgemeinern. Ich glaube fast, er war in pro¬ 
testantischen Gottesdiensten ein seltener Gast und hat auch die kritische 
Theologie selten mit seinem Besuche beehrt. Gerade wir Analytiker, die wir 
zum ersten Male mit der Psychologie des Genialen restlos ernst machen, wissen 
übrigens sehr genau, daß hinter der halluzinatorischenVerworrenheit sehr Großes 
und Tiefes liegen kann. Wenn Paulus bezeugt, daß seine Predigt vom Kreuz 
den Heiden eine Torheit sei (1. Korr. 1, Vers 23), so ist ihm dies kein Gegen¬ 
argument. Mir ist ein schöpferischer dionysischer oder apollinischer Feuer¬ 
geist, der seine Offenbarungen nicht als abgeklärten Wein, sondern als gärenden 
Most ausschenkt, viel wertvoller, als ein nüchterner Gelehrter, der seilte Lebens¬ 
kraft in steriler Begriffsjonglistik und pedantischer Genauigkeit verzehrt. Der 
Grad der Vernünftigkeit ist nicht notwendig der Maßstab des Wertes. Die 


stürmische Jugend mit ihren Tollheiten und Torheiten hat vor dem be¬ 
sonnenen Alter denn doch auch nicht wenig voraus. Man kann mit dem 
Trinken und Essen nicht zuwarten, bis die Herren Physiologen ihre Nahrungs¬ 
mittelanalysen vollzogen und ihre Ernährungstheorien zu männiglicher Be 
friedigung ausarbeiteten. Die radiumhaltigen Bäder leisteten ein paar Jahr¬ 
hunderte gute Dienste, bevor man das Radium und damit die Ursache der 
Heilerfolge entdeckte. Ist es undenkbar, daß auf geistigem Gebiete das Wissen 
um die Ursachen mühsam keuchend dem Besitz wertvoller Güter nachhinkte? 
Mir will, offen gestanden, Vorkommen, daß wir im heutigen Protestantismus 
mit seiner unerhört strengen und scharfen Kritik eher zu wenig, als zu viel 
von der platonischen Raserei und vom paulinischen Skandalon übrig behielten. 
Und doch kann ich nicht anders, als das Realprinzip an meinem Orte mit 
unerbittlicher Strenge durchzuführen, wenn auch in beständiger Sorge, kost¬ 
bares Gut aus den Maschen der wissenschaftlichen Begriffsbildung zu ver¬ 
lieren. 

Und vergesse man nicht: Wissenschaftliche Hypothesen kann man ab¬ 
lehnen; in den praktischen Fragen, von deren Beantwortung der Lebensausbau 
abhängt, muß man Stellung beziehen, auch wo stringente Beweise fehlen. 
Wie sollte man sonst eine Familie gründen, einen Beruf ergreifen usw.. 
So liegt auch in der Religion ein Vertrauen; aber wehe dem, der nur nach 
Wünschen heiratet, einen Beruf wählt und einen religiösen Glauben an¬ 
nimmt, ohne der Wirklichkeit peinlich genau Rechnung zu tragen! 





























Die Illusion einer Zukunft l65 

4) Die Religion als denlcfeindlick 

Daß die Religion an sich denkfeindlich sei, will mir nicht eingehen. 
Freud schreibt: „Wenn wir die Frage aufwerfen, worauf sich der Anspruch 
der religiösen Lehrsätze, geglaubt zu werden, gründet, so erhalten wir drei 
Antworten, die merkwürdig schlecht zueinander stimmen. Erstens, sie ver¬ 
dienen Glauben, weil schon unsere Urvorväter sie geglaubt haben, zweitens 
besitzen wir Beweise, die uns aus eben dieser Vorzeit überliefert sind, und 
drittens ist es überhaupt verboten, die Frage nach dieser Beglaubigung auf¬ 
zuwerfen (4°)’ Zugegeben, daß solche schauderhafte Argumentationen da 
und dort aufgetaucht sind. Aber welcher gebildete Christ wollte sich damit 
heute abspeisen lassen? Wir Protestanten sicherlich nicht. Wir kritisieren 
Bibel und Dogmen so radikal, wie Homer oder Aristoteles. Was die Katho¬ 
liken anbetrifft, so setzen sie ihrer Dogmatik doch wenigstes eine Apologetik 
voran, die den Ansprüchen der Vernunft Genüge leisten will. Man mag 
als Philosoph ihre Denknotwendigkeit bestreiten, als Schüler Freuds sie 
als Rationalisierung diagnostizieren, als Protestant wenigstens einen Teil von 
ihr als lettre de cachet ablehnen, es bleibt doch immer noch eine Denk¬ 
arbeit übrig, die Achtung gebietet. 

Wir Protestanten wissen viel zu gut, wieviel wir dem Denken für unsere 
Religion zu verdanken haben, als daß wir ihm vollen Spielraum versagen 
wollten. Wenn auch Luther der Vernunft die ihr zukommenden Rechte 
nicht einräumte, so war er doch Theologe und wissenschaftlicher Denker, 
sonst wäre er niemals Reformator geworden. Zwingli ging durch die 
humanistische Schule hindurch, was seiner Theologie und Frömmigkeit 
nicht nur ihre Milde, sondern auch ihre Klarheit eintrug. Sogar der finstere 
Calvin, Genfs unheimlicher Großinquisitor, hat sein juristisches Denken 
seiner festungsähnlichen Theologie zugänglich gemacht. Die Religion der 
Reformatoren war auch das Ergebnis ihres wissenschaftlich geschulten 
Professorendenkens. Die neuere Theologie, die in radikaler Verneinung Er¬ 
kleckliches leistete und noch leistet, ist sich bewußt, gerade durch ihr strenges 
Realdenken der Religion die trefflichsten Dienste zu leisten. 

Vom Verbot, über religiöse Dinge nachzusinnen, habe ich in meiner 
Umgebung nie etwas zu hören bekommen. Im Gegenteil fordern wir pro¬ 
testantischen Pfarrer von unseren Schülern freies kritisches Denken. Bei 
den Seelsorgern freier Richtung ist dies selbstverständlich, aber auch von 
vielen konservativen ist es mir bekannt. Wir beruhigen erschreckte Personen, 
die in Glaubensnöte gerieten, mit der Versicherung, daß Gott den aufrich- 



Imago XIV. 


12 














i66 


Dr. Oskar Pfister 


tigen Zweifler liebe und daß ein durch Denken gefestigter Glaube viel mehr 
wert sei, als ein einfach übernommener und angelernter. Wir fordern und 
pflegen freies Denken auch in der Religion der Erwachsenen. 

Das Denken soll nach Freud durch die Religion geschwächt werden. 
Freilich fügt er alsbald hinzu, vielleicht sei die Wirkung des religiösen 
Denkverbotes nicht so arg, wie er annehme (78). Aber immerhin hält er 
dafür, es lohne sich, den Versuch einer vom süßen Gift (80) der Religion 
freien Erziehung zu machen (79). — Geschichtlich sei darauf hingewiesen, 
daß doch unbestreitbar eine lange Kette der tiefsten und freiesten Geister, 
die das Geistesleben der Menschheit enorm bereichert haben, gleichzeitig 
der Religion und der Wissenschaft beipflichteten, der Religion oft mit größter 
Innigkeit, und ich kann nicht glauben, daß Freud annimmt, sie hätten 
noch Größeres geschaffen, wenn sie von Religion nie etwas gehört hätten. 
Mediziner wie Hermann Lotze, Wundt, Kocher, Physiker wie Descartes, 
Newton, Faraday, Robert Mayer, Chemiker wie Justus Liebig, Biologen 
wie Oswald Heer, Darwin, Pasteur, K. E. von Bär, Mathematiker wie 
Leibnitz, Pascal, Gauß, Geographen wie Ritter, Historiker wie Johannes 
von Müller, Carlyle, Niebuhr, L. von Ranke, Staatsmänner wie Lincoln, 
Gladstone, Bismarck, Philosophen wie Kant, Fichte, Schelling, Hegel, 
Herbart, Ruskin, Eucken, Bergson, Dichter wie Goethe, Schiller, 
Rückert, Bitzius, Gottfried Keller, K. F. Meyer, Geibel — ich greife 
aus einer langen Kette glänzender Namen nur hastig einige wenige heraus 
verraten doch wohl keine Intelligenzdefekte, obwohl sie an Gott glauben, 
und ich wüßte wirklich nicht, was zu der Annahme berechtigte, ihr Geist 
hätte sich zu noch größeren Taten aufgeschwungen, wenn ihnen die Religion 
nie begegnet wäre. An religiöser Innigkeit steht ein Teil der Genannten 
sicherlich sehr weit über dem Durchschnitt der Gläubigen, während man 
angesichts ihrer gedanklichen Großtaten eigentlich das Gegenteil annehmen 
müßte, wenn die Verdummungsgefahr mit der Religion so eng verknüpft 
wäre. 

Wir dürfen auch jetzt schon darauf hinweisen, wie noch in jüngster 
Vergangenheit bedeutende Naturforscher gerade durch ihr Denken zur Ge 
wißheit oder doch Wahrscheinlichkeit eines aufbauenden Weltwillens kamen 
(Einstein, Becher, Driesch). Aber auch auf diese Autoritäten werden 
wir den Wahrheitsbeweis der Religion nicht gründen. 

Freud legte früher Gewicht darauf, daß der Denkdrang der Kinder ge¬ 
schädigt werde, wenn man die Frage nach der Entstehung der Natur 
gegenstände mit dem summarischen Hinweis auf Gott beantworte. Ich 



































Die Illusion einer Zukunft 


16/ 


pflichte ihm bei, möchte aber fragen, ob das Ergebnis ein anderes ist, 
wenn man sagt: Die Natur hat sie geschaffen, und betone, daß man im 
Religi° n sunterricht stets darauf hin weist, wie Gott im Naturgeschehen 
und durch menschliches Tun wirkt. 

Ich selbst erinnere mich, wie mein eigenes Denken durch die Religion 
reich befruchtet wurde. Unzählige Denkprobleme, die nun eben doch ein - 
mal bearbeitet werden müssen, weil man auch gegenüber dem Leben nicht 
Vogel Strauß spielen darf, wurden angeregt, prachtvolle historische Gestalten 
mir dargeboten, der Sinn für Größe und sittliche Notwendigkeit ausgebildet. 
Ich würde es als einen unersetzlich schweren Verlust empfinden, wenn 
man die religiösen Erinnerungen aus meinem Leben reißen würde. Auch 
daß man mir die Bibel als unfehlbares Wort Gottes hinstellte, schärfte mein 
Denken; noch erinnere ich mich, wie ich als Zwölfjähriger nach einer 
Lektüre der Sintflutgeschichte ins Zoologische Museum lief, um die Maße 
der Arche mit denjenigen jener Glasschränke zu vergleichen und hierauf 
eine kindliche Entwicklungslehre aufzustellen, aber gleichzeitig der Bibel 
gegenüber eine skeptische Haltung einzunehmen, die später in freie Kritik 
überging. 

Was sodann das von Freud vorgeschlagene Experiment eines religions¬ 
losen Unterrichtes anbetrifft, so ist es ja schon sehr oft gemacht worden 
und wird in kommunistischen Kreisen seit vielen Jahren massenhaft an¬ 
gestellt. In meinen Analysen hatte ich öfters mit religionslos Erzogenen zu 
tun, kann aber wirklich nicht versichern, daß ich ein Plus von Intelligenz, 
beziehungsweise eine vorteilhaftere Entwicklung der Denkanlagen angetroffen 
habe, so wenig ich die Gottesleugner unter den Philosophen, etwa einen 
Karl Vogt oder Moleschott (man kann bedingt auch Häckel hierher 
rechnen) als die überlegenen erkannt hätte. Die Geschichte hat jedenfalls 
bisher ein anderes Urteil gefällt. 


5) D le R ehgion als Kulturschutz 

Es bleibt uns übrig, die Religion als Kulturschutz zu prüfen. Freud 
mutet ihr damit eine polizeiliche Mission zu. „Die Religion hat der mensch¬ 
lichen Kultur offenbar große Dienste geleistet, zur Bändigung der asozialen 
Triebe viel beigetragen, aber nicht genug. Wenn es ihr gelungen wäre, 
die Mehrzahl der Menschen zu beglücken, zu trösten, mit dem Leben aus¬ 
zusöhnen, sie zu Kulturträgern zu machen, so würde es niemand ein fallen, 
nach einer Änderung der bestehenden Verhältnisse zu streben. Was sehen 



















i68 


Dr. Oskar Pfister 


1 


wir anstatt dessen? Daß eine erschreckend große Anzahl von Menschen mit 
der Kultur unzufrieden und in ihr unglücklich ist, sie als ein Joch empfindet, 
das man abschütteln muß, daß diese Menschen entweder alle Kräfte an eine 
Abänderung dieser Kultur setzen, oder in ihrer Kulturfeindschaft so weit 
gehen, daß sie von Kultur und Triebeinschränkung überhaupt nichts wissen 
wollen“ (60). 

Ich kann Freud darin vollkommen beipflichten, daß die Religion sich 
manchmal als Kulturpolizei gar nicht vorzüglich bewährte; aber ich füge 
bei: Es scheint mir ein Glück, daß es sich so verhält: denn die Religion 
hat Wichtigeres zu tun, als das Gemisch von Hoheit und Abscheulichkeit, 
das man heute Kultur nennt, zu beschirmen. 

Unter Kultur versteht Freud „all das, worin sich das menschliche 
Leben über seine animalischen Redingungen erhoben hat und worin es sich 
vom Leben der Tiere unterscheidet“ (6). Die Unterscheidung von Kultur 
und Zivilisation wird abgelehnt. „Die Kultur umfaßt einerseits all das Wissen 
und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur 
zu beherrschen und ihr Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürf¬ 
nisse abzugewinnen, anderseits alle die Einrichtungen, die notwendig sind, 
um die Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung 
der erreichbaren Güter zu regeln“ (6 f.). 

Ich muß bekennen, daß sich meines Erachtens unter dem, was den 
Menschen über das Tier erhebt, ungemein viel Schändliches und Schäd¬ 
liches befindet; das Wissen und Können, die Güter zur Befriedigung der 
menschlichen Bedürfnisse, die Einrichtungen zur Regelung der sozialen Be¬ 
ziehungen und der Güterverteilung, alles scheint mir so sehr durchsetzt 
mit Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Giftkeimen, daß die Religion wahrlich 
keine Veranlassung hat, sich für die Erhaltung des Bestehenden, wie es ist, 
einzusetzen. Krieg, Mammonsgeist, Genußsucht, Massenelend, Ausbeutung, 
Unterdrückung und unzählige andere Schäden deuten auf die Notwendigkeit, 
in dem, was man Kultur nennt, zwischen Gutem und des Schutzes Würdigem 
und Bösem, das bekämpft werden muß, zu unterscheiden. Es scheint mir 
sogar, daß das ernst genommene Christentum gegenüber unserer veräußer¬ 
lichten und an inneren Werten, besonders Gemütswerten verkümmerten 
Kultur sehr tiefe Umwälzungen anstreben müsse, und das Studium der 
Psychoanalyse hat mich in dieser Ansicht bestärkt. Nicht konservierende 
Polizei, sondern Führerin und Leuchte zu wahrer Kultur aus unserer Schein¬ 
kultur sollte die Religion uns werden. 

Es schiene mir auch der Religion unwürdig, wenn man ihr mit Freud 








































Die Illusion einer Zukunft 


169 


die Aufgabe zu wiese, für die von der Kultur geforderten Triebverzichte 
Trost zu schaffen, gewissermaßen Maulkörbe oder Handschellen für die 
asozialen Massen zu liefern (60). Die Bändigung der tierischen Instinkte 
(soweit sie Menschenwohl und Menschenwürde beeinträchtigen) darf viel¬ 
mehr nur die Kehrseite zur Lösung einer positiven Aufgabe sein: Die 
Religi 011 soll die höchsten geistigen und gemütlichen Kräfte entbinden, die 
höchsten Leistungen in Kunst und Wissenschaft hervortreiben, das Leben 
aller, auch der Ärmsten mit maximalen Gütern der Wahrheit, Schönheit 
und Liebe füllen, die realen Lebensnöte überwinden helfen, neue gehalt¬ 
vollere und echtere Formen des Gesellschaftslebens anbahnen und so ein 
höheres, innerlich reicheres IVIenschtum ins Leben rufen, das den wahren 
Forderungen der Menschennatur und der Ethik besser entspricht als unsere 
vielgepriesene Unkultur, die schon Nietzsche ein dünnes Apfelhäutchen über 
einem glühenden Chaos nannte. Man verkennt das Wesen des Christentums 
vollständig, wenn man meint, es biete den Himmel als Ersatz für die ihrem 
Elend überlassene Erde an. „Zu uns komme dein Reich!“ betet das Unser 
Vater und auferlegt die Verpflichtung, für dieses irdische Gottesreich alle 
Kräfte einzusetzen, wie denn auch die Gebote des Evangeliums sehr dies¬ 
seitig sind. „Bevor du vor dem Altäre opferst, gehe zuerst hin und versöhne 
dich mit deinem Bruder!“ fordert die Bergpredigt (Matth. 5, 24). Jesus 
kann nichts dafür, daß die Christenheit dies so oft mißverstand. Freud 
hat uns die Möglichkeit verschafft, einzusehen, warum die Intentionen des 
Stifters der christlichen Religion durch eine zwangsneurotische Entwicklung 
oft zur Karikatur entstellt wurden. 

Es gibt keinen echteren Realismus als das Christentum. Nur 
darf man nicht vergessen, daß zur Wirklichkeit nicht nur das Handgreifliche, 
mit dem Riechorgan und anderen Seelenfensterchen Aufnehmbare gehört, 
sondern auch dasjenige, was hinter den Fensterchen im Grunde der Seele 
und hinter den Erregungsquellen unserer Sinne steckt. Es bedarf freilich 
einer etwas tiefer eindringenden Wesensschau und Wertphilosophie, um ein¬ 
zusehen, daß die Vernachlässigung dieser jenseits des Handgreiflichen und 
Massiven gelegenen höheren Realitäten nur zu einem schlechten Realismus 
führt. Wir verschieben daher für einen Augenblick dieses Problem. 












170 


Dr. Oskar Pfister 


II 

Freuds *Scient ismus 

1 J J)er Glauhe an die menschheitsleglüdcende TVissenschaft 

Dem religiösen Glauben setzt Freud den Glauben an die beglückende 
Macht der Wissenschaft, unter welcher Freud nur die Erfahrungs¬ 
wissenschaft versteht, entgegen. In ihr ist die Illusion der Wahrheit ge¬ 
wichen. Dabei bereitet ihm die Frage: Was ist Wissenschaft? anscheinend 
weniger Sorge, als dem Pilatus das parallele Bedenken: Was ist Wahrheit? 
Freud ist Positivist, und wir können Gott dafür danken. Ohne seine 
konzentrierte Hingabe an das Empirische wäre er nicht der große Bahn¬ 
brecher geworden. Einem so erfolgreichen und genialen Pionier kann man 
es zugute halten, daß er in dem Augenblick, in welchem er die religiöse 
Illusion zu erdrosseln versucht, die Messianität der Wissenschaft auistellt, 
ohne zu beobachten, daß auch in diesem Glauben die Illusion sich breit 
macht. 

Lassen wir zuerst dem Meister das Wort! Freud ist ein viel zu feiner 
Kopf, als daß er sich dem vulgären unkritischen Glauben an die Allgewalt 
der Naturwissenschaften blindlings anvertrauen könnte. Er schreckt vor der 
Frage nicht zurück, „ob unsere Überzeugung, durch die Anwendung des 
Beobachtens und Denkens in wissenschaftlicher Arbeit etwas von der äußeren 
Realität erfahren zu können“, eine ausreichende Begründung hat (54). Echt 
philosophisch fährt er fort: „Nichts darf uns abhalten, die Wendung der 
Beobachtung auf unser eigenes Wesen und die Verwendung des Denkens zu 
seiner eigenen Kritik gutzuheißen. Eine Reihe von Unterscheidungen öffnet 
sich hier, deren Ausfall entscheidend für den Aufbau einer ,Weltanschauung 
werden müsse. Wir ahnen auch, daß eine solche Bemühung nicht ver¬ 
schwendet sein und daß sie unserem Argwohn wenigstens teilweise Recht¬ 
fertigung bringen wird“ (54 f.). „Aber das Vermögen des Autors verweigert 
sich einer so umfassenden Aufgabe, notgedrungen engt er seine Arbeit auf 
die Verfolgung einer einzigen von diesen Illusionen, eben der religiösen, 

ein“ (55). 

Später jedoch wird der Erfahrungswissenschaft ein Optimismus en 
gegengebracht, der sich bis zu kühnen Zukunftsperspektiven erhebt. Nach 
Preisgabe der Religion wird der Mensch seine Macht mit Hilfe der Wissen 



























Die Illusion einer Zukunft 


1 7 1 


schaft erweitern und die großen Schicksalsnotwendigkeiten eben mit Er¬ 
gebung ertragen lernen (81). Freilich gibt Freud sofort zu, daß vielleicht 
auch diese Hoffnung illusorischer Natur sei (85). Wie? So müßten wir 
möglicherweise nur die religiöse Illusion mit der wissenschaftlichen ver¬ 
tauschen? Der Unterschied wäre, daß die eine sicher, die andere vielleicht 
uns narrt? Wir blieben also noch immer im Zustand der Unsicherheit, und 
das letzte Wort gehörte der Skepsis, die wenigstens an dem einen nicht 
zweifelt, daß der Zweifel seine volle logische Berechtigung hat? 

Doch Freud zeigt, daß nicht nur die Religion zu trösten vermag. Ritterlich 
bricht er eine Lanze für den Intellekt: „Die Stimme des Intellekts ist 
leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft. Am Ende, nach 
unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer 
der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit opti¬ 
mistisch sein darf, aber es bedeutet an sich nicht wenig. An ihn kann man 
noch andere Hoffnungen anknüpfen. Der Primat des Intellekts liegt gewiß 
in weiter, weiter, aber wahrscheinlich doch nicht in unendlicher Ferne. 
Und da er sich voraussichtlich dieselben Ziele setzen wird, deren Verwirk¬ 
lichung Sie von Ihrem Gott erwarten — in menschlicher Ermäßigung natür¬ 
lich, soweit die äußere Realität, die ’AvdyxT], es gestattet —: die Menschen¬ 
liebe und die Einschränkung des Leidens, dürfen wir uns sagen, daß unsere 
Gegnerschaft nur eine einstweilige ist, keine unversöhnliche. Wir erhoffen 
dasselbe, aber Sie sind ungeduldiger und — warum soll ich es nicht sagen? — 
selbstsüchtiger als ich und die Meinigen. Sie wollen die Seligkeit gleich 
nach dem Tod beginnen lassen . . (87). „Wir glauben daran, daß es der 

wissenschaftlichen Arbeit möglich ist, etwas über die Realität der Welt zu 
erfahren, wodurch wir unsere Macht steigern und wonach wir unser Leben 
einrichten können. Wenn dieser Glaube eine Illusion ist, dann sind wir 
in derselben Lage, wie Sie, aber die Wissenschaft hat durch zahlreiche und 
bedeutsame Erfolge den Beweis erbracht, daß sie keine Illusion ist“ (89). 
„Sie wird sich weiter entwickeln und verfeinern. Eine Illusion aber wäre 
es zu glauben, daß wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht 
geben kann“ (91). 

Mit diesem prächtig folgerichtigen Satz schließt Freud seine Weissagung 
vom Untergang der Religion und der glorreichen Alleinherrschaft der 
Wissenschaft. Gott Logos stößt den Gott der Religion vom Throne und 
regiert im Reiche der Notwendigkeit, über deren Sinn wir einstweilen 
noch nicht das Geringste wissen. 

















Dr. Oskar Pfister 


2) Historische Beleuchtung 

Nur in aller Flüchtigkeit sei daran erinnert, daß auch dieses Wissenschafts¬ 
ideal, wie Freud gewiß wohlbekannt ist, auf eine ehrwürdige Vergangen¬ 
heit zurückblickt. Nur hat der Schöpfer der Psychoanalyse vielleicht eine 
gewisse Zuspitzung vorgenommen, sofern er in seinem Positivismus den 
Wissenschaftsbegriff gegenüber der Philosophie stärker abschloß, als bisher 
gebräuchlich war. Sein Empirismus ist völlig verschieden von demjenigen 
der englischen Empiriker, die sich mit größter Genauigkeit der Erfahrungs¬ 
welt bemächtigten, daneben jedoch im Handeln dem natürlichen Instinkt 
und dem Gewissen, nicht mehr der Wissenschaft, die Führung überließen, 
oder gar, wie der absolut irreligiös erzogene John Stuart Mi 11, schließlich 
doch noch die Anlehnung an die Religion suchten; 1 die „Zukunft einer 
Illusion“ weicht auch gänzlich ab vom Positivismus eines Auguste Comte, 
der zuerst die mythologische, dann die metaphysische Denkstufe zertrümmert, 
um das Lob der alleinseligmachenden Einzelwissenschaften zu singen, dann 
aber doch die Welt vom sittlichen Gefühl des Menschen aus erklären will 
und eine höchst romantische und phantastische Menschheitsreligion kon¬ 
struiert, ein recht unterhaltendes Zeugnis dafür, daß er mit seinem ent¬ 
schieden auf breitem Fundament ruhenden Scientismus nicht auskommt. 
Auch David Friedrich Strauß, der mit seinem mechanischen Materialismus 
Freud ziemlich nahezukommen scheint, und nur in der Annahme eines 
„vernünftigen und gütigen Universums“ einen Abstecher ins Philosophische 
macht, den der Gegner der Religionsillusion kaum mitmachen könnte, ver¬ 
langt nach einer Ethik, die an der wissenschaftlichen Produktion keines¬ 
wegs volles Genüge findet. Am nächsten von den mir bekannten Philo¬ 
sophen kommt Freud der Baron von Holbach, der bereits die Bildung 
der Gottesidee aus dem Wunsche ableitet, die Naturmächte durch Vermensch¬ 
lichung der Beeinflussung durch Gebet und Opfer zugänglich zu machen, 
die Nützlichkeit der Religion bestreitet, ihr darum den Garaus machen 
will und die dauernde Glückseligkeit als Ziel des Strebens hinstellt. 2 Daß 
Freud den Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts als Empiriker turm¬ 
hoch überragt und sich seiner banalen Metaphysik versagt, ist selbstver¬ 
ständlich. 


1) O. Pfleiderer: Geschichte der Religionsphilosophie. 5. Aufl., 606. 

2) R. Falckenherg; Geschichte der neueren Philosophie. 208 ff. 



























Die Illusion einer Zukunft 


1/3 


3^ Freuds TFissenscJiafts Optimismus 

Wir stehen nun vor der Aufgabe, Freuds Wissenschaftsoptimismus zu 
prüfen. Zuerst müssen wir Har ins Auge fassen, was er unter Wissenschaft 
versteht und wie weit sein Optimismus geht. 

Zum ersten Punkt erhalten wir keine näheren Aufschlüsse. Bisher war 
die Haltung des größten unter den neueren Pfadfindern auf dem Gebiete 
des Seelenlebens der Philosophie gegenüber entschieden ablehnend. Jetzt 
aber erfahre ich zu meiner Genugtuung, daß Freud der Erkenntnis¬ 
theorie grundsätzlich Berechtigung zuspricht, sofern sie die Frage, ob wir 
über die äußere Realität etwas erfahren können, beantworten soll. Zwar 
entzieht sich Freud, wie wir hörten, bescheiden der Aufgabe; aber er er¬ 
klärt doch, daß die Wissenschaft sich auf die Darlegung der Welt, wie sie 
uns infolge der Eigenart unserer Organisation erscheinen muß, beschränken 
solle (91), und daß das Problem der Weltbeschaffenheit ohne Rücksicht auf 
unseren wahrnehmenden seelischen Apparat eine leere Abstraktion sei (91). 

Da hatte nun Freud eben doch erkenntnistheoretische Resultate ohne 
vorangehende Erkenntnistheorie geliefert. Er nimmt als selbstverständlich 
an, daß wir es nur mit der Erscheinungswelt zu tun haben. Allein be¬ 
steht nicht das Wesen der Wissenschaft überall darin, diese Erscheinungs¬ 
welt aufzulosen und ihr Abstraktionen gegenüberzustellen, die uns Verständnis 
für jene Welt der Sinne erst vermitteln? Die Optik löst, wie wir schon 
horten, die Farben m Schwingungen farbloser „Körper“ auf, die von der 
Physik und Chemie ihrer „Körperlichkeit“ wieder beraubt werden und in 
Energien, Elektronen und andere unkörperliche Abstraktionsgebilde zerlegt 
werden. Ursächlichkeit sehen und riechen wir nirgends, wir deuten sie in 
die Erscheinungen hinein. 

Man mache sich doch klar, daß der „wahrnehmende seelische Apparat“, 
auf den nach Freud alle Untersuchung der Weltbeschaffenheit Rücksicht 
zu nehmen hat, keineswegs ein klares, vor Täuschung geschütztes Gebilde 
ist. Kann ich Temperaturen mit dem Thermometer messen, ohne der Zu¬ 
verlässigkeit des Instrumentes gewiß zu sein? Darf man die ganze neuere 
Philosoph,egeschichte, die bei Descartes mit der absoluten Skepsis einsetzt, 
bei Hume die Illusion der gesicherten Ursächlichkeit zerschlägt, bei Kant 
die Illusion des Erfahrungswissens als einer Erfassung der Welt an sich um- 
sturzt und in der neuesten Naturwissenschaft eine wahre Götzendämmerung 
neraufbeschwor, ignorieren? Hat man noch nicht eingesehen, in was für 
wissenschaftliche Labyrinthe man hineingerät, wenn man erkenntnistheoreti- 















Dr. Oskar Pfiste. 


sehe und metaphysische Begriffe unter der trüglichen Spitzmarke der Natur¬ 
wissenschaft leichtfertig herühernimmt? Vergaß man, wie uns die Natur¬ 
wissenschaft hinterging mit ihrem Begriff des Naturgesetzes, des Atoms, des 
Äthers, der Laplaceschen Weltformel usw.? 

Naturwissenschaft ohne Metaphysik gibt es nicht, hat es nie ge¬ 
geben und wird es nie geben. Ich bin selbst durch die Schule des Empirio¬ 
kritizismus hindurchgegangen und suchte ein paar Semester lang „reine 
Erfahrung“ im Sinne einer Wirklichkeitserkenntnis, die von allen subjektiven 
Zutaten völlig frei wäre. Eitles Unterfangen! Die Welt ist uns nur durch 
unsere seelische Organisation hindurch, und zwar nicht nur durch die Tore 
der Sinne, die ja noch gar keine Erkenntnis gewähren, zugänglich. Unsere 
Denkkategorien, ob man sie nun in der Weise Kants oder anderswie denkt, 
wirken immer mit. Also müssen wir Erkenntniskritik treiben. Wir brauchen 
ferner Begriffe, wie Ursache und Wirkung, so gewiß sie nach ihrer Herkunft 
als Anthropomorphismen erfunden worden sind, wir brauchen Atome und 
Moleküle usw. Wer die Abstraktion scheut, muß die Finger von der Wissen¬ 
schaft lassen. Schon das Messen und Wägen hat mit Abstraktionen zu tun, 
denn Zahlenbegriffe sind natürlich, wie alle Begriffe, abstrakt. Die Philo¬ 
sophie, die sofort einsetzt, wo die Erfahrung aufhört, ragt in die Erfahrungs¬ 
wissenschaften hinein, und wer sich mit philosophischen Problemen nicht 
ernstlich auseinandersetzt, tut es eben laienhaft verworren. 

Wie soll man ferner das religiöse Problem erledigen können, wenn man 
die erkenntnistheoretischen Grundfragen außer acht ließ? Ist es nicht ein¬ 
fach ein negativer Dogmatismus, durch einen vom Zaun gerissenen Macht¬ 
spruch zu erklären, Weltwille und Weltsinn existieren nicht? 

Glaubt man, Philosophie sei ein Spleen lebens- und wirklichkeitsferner 
Köpfe, so sei darauf hingewiesen, daß die Philosophiegeschichte denn doch 
eine Reihe glänzender Namen von Männern aufweist, die in der Physik, 
Mathematik, Astronomie usw. Gewaltiges geleistet haben. Wenn heute noch 
ein Naturforscher vom Range eines Driesch, der zwanzig Jahre ruhm¬ 
gekrönt Naturwissenschaft getrieben hatte, zur Philosophie übergeht, wenn 
Psychiater denselben Weg Anschlägen, so sollte dies doch merken lassen, 
daß die Philosophie es nicht nur mit Schrullen und Hirngespinsten zu 
tun hat, sondern mit einer Wirklichkeit, deren Existenz nicht mit leichter 
Handbewegung abgetan werden kann. Meines Erachtens steht diese Welt 
geistiger Ordnung, die aus der Erscheinungswelt geschlossen werden kann, 
gesicherter vor uns, als die ganz sicher trügerische Sinnenwelt. Man kann 
es sich ja bequem machen und sich zum Agnostizismus bekennen. Aber 






















Die Illusion einer 2/ukunft 


7 5 


so leicht wird einem auch diese Bankrotterklärung des Denkens nicht 
gemacht. 

So weiß ich denn durch Freuds volkstümlichen Wissenschaftsbegriff 
nicht, wie weit das Wissen reicht, welchen Zuverlässigkeitsgrad es erwerben 
kann, und welche Chancen ihm beschieden sind. Wie soll ich also wissen, 
ob es einen geistigen Urgrund und ordnenden, also denkenden Weltwillen 
gibt, oder nicht? Wie kann ich wissen, ob die Ausbreitung der Macht durch 
das Wissen einen Glückszuschuß für die Menschheit bedeutet? 

Nun können wir uns auch mit der Wissenschaftsprognose Freuds 
auseinandersetzen. Man kann nicht von einer rosenfingrigen Eos reden, die 
er uns schenkt. Freud ist ein viel zu ernster und ehrlicher Mann, um Ver¬ 
sprechen abzulegen, die er nicht einlösen zu können überzeugt ist. Der 
Mensch wird mit Hilfe der Wissenschaft seine Macht erweitern, — wie weit, 
erfahren wir nicht, — und die großen Schicksalsnotwendigkeiten mit Er¬ 
gebung ertragen lernen. Dies ist alles, ganz alles. Aber hat nicht Freud 
schon damit zu viel gesagt? Kann denn nicht die Kultur bald zusammen¬ 
brechen? Ist uns nicht von einem Manne, dessen reiches Wissen allseitig 
anerkannt wird, der Untergang des Abendlandes geweissagt? Ist es undenkbar, 
daß die nur von der Wissenschaft gelenkte Kultur den wilden Leidenschaften 
erliegt, nachdem uns der Weltkrieg die in den Tiefen der Völker lauernde 
Barbarei enthüllt hat? Versichern uns nicht Eduard von Hartmann und 
viele andere, daß das Wachstum der Wissenschaften nur unser Elend ver¬ 
mehrt? Ist es so sicher ausgemacht, daß der Fortschritt der Wissenschaften 
die Totalsumme menschlicher Lebensfreude bisher vermehrte, und wenn es 
bisher so war, ist es sicher, daß es immer so sein wird? Ist es sicher, daß 
wir uns glücklicher fühlen, als vor hundert Jahren? Ist es wenigstens bei 
den Gelehrten der Fall? Fühlen sich die Arbeiter dank der Segnungen der 
Wissenschaft zufriedener, als vor ein paar Menschenaltern? Oder die Hand¬ 
werker? Oder die Bauern? Was wird aus den schönsten Errungenschaften 
der Technik, wenn sie in den Dienst menschlichen Geldhungers, mensch¬ 
licher Grausamkeit, unmenschlicher Genußsucht gezwungen werden? 

Freuds Wissenschaftsprognose ruht auf einem bloßen Analogieschluß, 
den ich nicht für gesichert halte. Er lautet: Weil bisher der Fortschritt 
der Wissenschaft den Menschen Vorteile brachte, wird es auch inskünftig 
so sein. Oder besser gesagt, es steckt im Hintergrund ein Glaube an die 
Wissenschaft, dessen Grundlage Nietzsche mit seinem Falkenblick erspähte 
und in die Worte brachte: „Man wird es begriffen haben, . . . daß es immer 
noch ein metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissen- 













Dr. Oskar Pfister 


schaft ruht, — daß wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Anti¬ 
metaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein 
Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christenglaube, der auch 
der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich 
ist ... Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird . . .P 1 

Wissen wir durch einen Orakelspruch, daß das Wissen allzeit zur Hebung 
des Menschenglückes beitragen wird, auch wenn böse Leidenschaften den 
Ausschlag geben? Byron klagt: „Der Baum des Wissens ist nicht Baum 
des Lebens!“ Kann exaktes Wissen ihn widerlegen? Und wenn ein Faustischer 
Wissensdrang uns durchglüht, können uns Naturkunde und Medizin (Philo¬ 
sophie und Theologie scheiden aus) heute befriedigen, oder will auch dem 
Faust von heute schier das Herz verbrennen? 

Freud sieht voraus, man werde die großen Schicksalsnotwendig¬ 
keiten mit Ergebung ertragen lernen. Nun, dies konnten manche auch 
ohne Wissenschaft von jeher, und wenn ich mich auch vor der Seelen¬ 
größe des Religionslosen beuge, der diese Ergebung auftreibt, wer sagt mir, 
daß und warum gerade Ergebung das letzte Wort sein muß? Einzelne jagten 
sich verzweifelt eine Kugel durch den Kopf, obwohl sie auf den stolzen 
Zinnen der Wissenschaft standen. Andere verrannten sich im wilden Haß 
gegen das Leben und suchten sich mit Ausschweifungen zu betäuben, 
andere introvertierten mit und ohne gefällige Einladung in weltfeindliche 
Mystik usw. 

Ob nicht hinter Freuds Glauben an den Endsieg des Intellekts der 
Wunsch steckt und seine Weissagung vom Ende einer Illusion den Auf¬ 
marsch einer neuen, nämlich wissenschaftlichen Illusion einschließt? 
Daß der Aufmarsch bei Freud nicht mit klingendem Spiel und Fahnen- 
schwenken vor sich geht, sondern sehr gedämpft und mit tastenden Schritten, 
stimmt zu seiner Demut; aber ich kann mich nicht anschließen, gerade 
weil mir das Realprinzip warnend in den Weg tritt. 


Freuds Glauhen an die Suffizienz der JFissensdiaft 


„Eine Illusion wäre es zu glauben, daß wir anderswoher bekommen 
könnten, was sie (die Wissenschaft) uns nicht geben kann“ (91)* I n diesen 
Worten gipfelt Freuds Glaubensbekenntnis. Aus dem Zusammenhang geht 
hervor, daß er das Wissen von der Welt im Auge hat. Die Anlage des 


x) Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Taschenausgabe. Bd. 6, 501. 





























Die Illusion einer Zukunft 


1 77 


ganzen Buches verrät aber, daß er dabei, wie schon früher (81), auch an 
den vollgültigen Ersatz für das, was die Religion ihren Gläubigen bot, denkt. 

So freudig und begeistert ich Freud auf den wundervollen Pfaden seiner 
Erfahrungswissenschaft folge, an dieser Stelle ist es mir unmöglich, mit ihm 
Schritt zu halten. Hier versteigt sich Freuds strahlender Intellekt zum 
Intellektualismus, der, von seinen Erfolgen berauscht, seine Grenzen vergißt. 

Wir Menschen sind nicht nur Denkapparate, wir sind lebende, fühlende, 
wollende Wesen. Wir brauchen Güter und Werte, wir müssen etwas haben, 
das unser Gemüt befriedigt, unser Wollen belebt. Auch das Denken muß 
uns Werte darbieten, logische, aber auch andere. Haben wir nicht in den 
Analysen oft mit klar denkenden Menschen zu tun, die bei ihrem Denken 
fast verhungern und verzweifeln? Tragen wir nicht in uns ein Gewissen, 
das uns richtet oder belohnt? Ist nicht gerade durch die Psychoanalyse die 
Gewalt des Schuldgefühles bewiesen? Zeigt nicht Freud deutlicher als 
irgend jemand in der Welt die ausschlaggebende Bedeutung der Wertung, 
der Gefühle, Affekte und Triebe? 

Bekanntlich versteht der Intellekt nicht zu werten. Der schärfste 
Verstand kann nicht angeben, ob eine Sinfonie von Mahler oder ein Ge¬ 
mälde von Hodler schön sei. Der gescheiteste Mensch kann ohne inneren 
Widerspruch einen gemeinen Verrat begrüßen und über einen Heldentod 
im Dienste der Wahrheit spötteln. Ein herzloser Schuft kann über eine 
klarblickende Intelligenz verfügen, und ein geistig Schwacher über eine 
Perfidie sich empören. Die Wissenschaft ermangelt der Fähigkeit, ästhetische 
und ethische Größen einzuschätzen. Ja, man meint noch immer des Aristoteles 
Definition des Gehirnes als eines Kühlapparates nachklingen zu hören, wenn 
das Denken nicht nur bei Spinoza — als eine gefühlsdämpfende Funktion 
charakterisiert oder gepriesen wird. 

Daß Freud die Gemütswerte, von denen sein eigenes Leben einen 
so wundervollen Reichtum aufweist, in seinem wissenschaftlichen Lebens¬ 
aufbau irgendwo unterbringen muß, liegt auf der Hand. Aber ich finde 
den Ort in seinem Wissenschaftsbegriff nicht. 

Ich sehe auch nicht, wo er die Tempel der Kunst stehen läßt. Wäre 
die Kunst wirklich nur ein Zeichen von Unanalysiertheit und Schwäche? 
Könnte die Wissenschaft uns den Verlust Beethovenscher Sinfonien oder 
Regerscher Sonaten ersetzen? Und die herrlichen Werke ägyptischer, hel¬ 
lenischer, christlicher Kunst, wir sollten sie opfern gegen wissenschaftliche 
Lehrsätze und Erfindungen? Die herrlichen Dome und Kathedralen, die den 
Stolz und die Wonne unseres Geschlechts ausmachen, die von christlichem 


















Dr. Oskar Pfister 


178 


Fühlen eingegebenen Gemälde eines Fra Angelico, Leonardo da Vinci, 
Albrecht Dürer, Holbein, bis auf Gebhardt, Thoma, Steinhausen, die Pietk 
eines Michelangelo, der Schächer oder verlorene Sohn eines Meunier usw., 
das alles sollte verschwinden? Der Born christlicher Poesie, wie er in Lessings 
Nathan, Goethes Faust, Dostojewskis Idiot, Tolstojs Auferstehung usw. seine 
Silberwellen entsendet, müßte versiegen, und statt der grünen Weiden bliebe 
nur noch übrig die Heide der Theorie, auf der die Gespenster des Irrtums 
drohend umherflattern? Dem Skeptiker, der nicht einmal mit Faust zu 
seufzen vermag: „Oh, glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer 
des Irrtums aufzutauchen ! <£ — ihm würde man hartnäckig die glorreiche 
Zukunft der Wissenschaft in künftigen Jahrtausenden Vorhalten? 

Mir ist die Kunst noch immer die mit Seherblicken gesegnete Künderin 
tiefer Geheimnisse und Offenbarerin kostbarer Schätze, die der Brille des 
Gelehrten entgehen und entgehen werden, ein Speisungswunder hungernder 
Seelen, eine Friedensbotschaft aus dem Reich der Ideale, die keine Denker¬ 
faust jemals herunterreißen kann, weil sie der wahren Wirklichkeit sicherer 
angehören, als die Handgreiflichkeiten und sonstigen Vorspiegelungen der 
Sinne. Dies gedanklich herauszuarbeiten, bedürfte ich langer Erörterungen, 
bei denen dem Intellekt nur die Rolle des Erklärers zukäme, der dem 
schaffenden Genius huldigt und dient. Oh, wie graute mir vor einem kunst¬ 


entleerten Gelehrtenstaat! 

Und noch weniger kann uns die erfinderische Wissenschaft das Reich 
der sittlichen Werte und Kräfte ersetzen. Die Wissenschaft muß sich 
selbst der sittlichen Zwecksetzung eingliedern, wenn sie nicht zur zweifel¬ 
haften Unternehmung herabsinken soll. Daß sie bei Freud einem ethischen 
Plan zugehört und ihn auszuführen hilft, wer wollte es bestreiten? Aber 
in seinem Büchlein ist, wenn ich recht sehe, dieser umfassenden Betrachtung 


kein Platz gewährt. Wir stehen nicht mehr auf dem sokratischen Boden 
der Lehre, daß Wissen an sich schon Macht sei. Der Alkoholiker, der weiß, 
daß er an seinem Laster zugrunde geht, besitzt darum noch nicht die Kraft, 
mit ihm zu brechen. Auch die analytische Einsicht in die Dynamik des 
Unbewußten und ihre tiefsten Wurzeln hilft, wie wir heute wissen, noch 
nicht an sich zur Befreiung von seinem Banne; Freud lehrt uns, daß 
durch Übertragung die eingeklemmten Triebe gleichfalls erlöst werden 
müßten. 

Ist es wirklich ausgemacht, daß mit zunehmender Wissenschaft auch die 
Gesinnung der Menschen geläutert werde? Hat nicht Alexander von Öt 
tingen nachgewiesen, daß gerade die Hochgebildeten prozentual mehr 



























Die Illusion einer Zukunft 


179 


Kriminelle aufweisen, als der geistige Mittelstand? Finden wir nicht mit¬ 
unter unter Akademikern unglaubliche Kleinlichkeit der Gesinnung? Als 
vor bald einem Jahrhundert die Volksschule geschaffen wurde, erwartete 
man eine rapide Abnahme der Kriminalität. Und heute? 

Woher nehmen wir die Gewißheit, daß in Zukunft der Zuwachs an 
Wissenschaft und Technik ein Anschwellen der sittlichen Kräfte herbeizaubern 
werde? In der Bekämpfung der Trunksucht erlebte ich deutlich genug, wie 
wenig mit wissenschaftlichen Argumenten auszurichten ist. Und selbst wenn 
die Verdrängungen überwunden sein sollten, so ließe sich am Leitseil der 
Wissenschaft jene Sittlichkeit, die dem Leben Würde und wahre innere 
Gesundheit verleiht, nicht erzielen. 

Damit habe ich auch den Grund angegeben, warum ich an den Ersatz 
der Religion durch die Wissenschaft nicht glaube. Die Religion ist 
die Sonne, die das herrlichste Blüxenleben der Kunst und den reichsten 
Erntesegen sittlicher Gesinnung hervortrieb. Alle ganz große, gewaltige 
Kunst ist Gebet und Opfer vor Gottes Thron. Gott, für den Religions¬ 
philosophen der Realgrund der Ideale, ist für den Frommen der Idealgrund 
seines realen Schaffens, der Pfingstgeist, der in Flammenzungen auf die Erde 
herniederfährt, der Offenbarer, dessen „Es werde Licht i“ auch das Dunkel 
der Menschengeister mit blendender Klarheit erhellt. Wer die Religion zer¬ 
stören könnte, durchsägte die Pfahlwurzel der großen, den tiefsten Sinn und 
die höchsten Kräfte des Lebens enthüllenden Kunst. 

Und ebenso erblicken wir in der Religion einen Grundpfeiler der 
Moral. Wir übersehen nicht, daß der fromme Glaube moralische Einsicht 
in sich aufnahm und fort und fort in sich aufnimmt, wie z. B. die Ge¬ 
schichte des Christentums lehrt. Aber wir vergessen auch nicht, daß die 
kühnsten und herrlichsten ethischen Fortschritte nur als Religion einsetzen 
konnten. Die großen Fortschritte der Ethik sind nicht Wissenschaftlern, sondern 
Religionsstiftern zu verdanken. Auch Kant, der mit seiner Ausschaltung der 
Liebe einen bedenklichen Rückfall hinter die Ethik Jesu bedeutet, ist im 
Grunde nur der gelehrte Sprecher des ins Puritanische abgeschwenkten Pro¬ 
testantismus. 

Nicht einmal das ist ausgemacht, daß die Ethik selber in fortschreitender 
Linie begriffen ist. Ich kann Freuds Satz nicht beistimmen, daß das Morali¬ 
sche sich immer von selbst verstehe. Auf das Gewissen kann man sich be¬ 
kanntlich gar nicht ohneweiters verlassen und in der Moral Wissenschaft fuchteln 
die verschiedensten Lehren erregt gegeneinander. Platte Nützlichkeitsmoral 
scheint dem Kantianer ein Greuel, der Eudämonismus mit seinen schillernden 














Dr. Oskar Pfister 


180 




Unklarheiten irritiert den Nietzscheaner, der den Willen zur Macht als Ma߬ 
stab für Gut und Böse wünscht und kanonisiert usw. In den einzelnen ethi¬ 
schen Problemen sehen wir ein Chaos widersprechender Auffassungen; man 
denke etwa an die moralische Beurteilung des Krieges, der übermäßigen 
Kapitalanhäufung, der freien Liebe, der künstlichen Abtreibung usw. Das 
positivistische Denken, die Wissenschaft, wie sie Freud vorzuschweben 
scheint, kann uns gewiß nicht viel weiter bringen, wenn sie uns auch, wie ich 
anderwärts darlegte, höchst wertvolle Bausteine für die Ethik, die allezeit 
eine philosophische Disziplin bleiben wird, liefern kann, und zwar neben 
der Soziologie in erster Linie Freuds Psychoanalyse. Jüngst hörte ich in 
einer öffentlichen Diskussion den Wiener Juristen Kelsen ausführen, wie 
der Positivismus nicht einmal eine Gesetzgebung zu schaffen vermöge 
(Kelsen ist selber Positivist); wie sollte er nun gar ein ethisches Lehr¬ 
gebäude ins Dasein rufen können! 

Die Erfahrungswissenschaft läßt uns daher im Stich bei der Bildung ethi¬ 
scher Begriffe. Und das Wichtigere: Die Erzeugung sittlichen Lebens 
ist noch niemals mit dürren Theorien und klugen Begriffen erzielt worden. 
Es wäre Schulmeisterei schlimmster Sorte, dies zu verkennen. Die Religion 
mit ihren teils erhabenen, teils lieblichen Symbolen, mit ihrer poetischen 
Herrlichkeit und ihren erschütternden Wirklichkeitsdeutungen, mit ihren 
hinreißenden Persönlichkeiten, die durch ihre herzgewinnenden Taten und 
Leiden in ihren Bann ziehen und durch ihre Mängel und Schwächen teils 
warnen, teils doch auch wieder dem gefallenen Menschen Mut einflößen, 
mit neuer Kraft seinem Ideal nachzustreben, die Religion mit ihren un¬ 
geheuren metaphysischen Hintergründen und Zukunftsperspektiven, mit ihrer 
göttlichen Sanktionierung des Sittengebotes und ihrer Erlösungsbotschaft, die 
einige der bedeutsamsten Errungenschaften der Psychoanalyse vorwegnimmt, 
mit ihren Forderungen, die allen Widerstand der Erfahrungswelt durch die 
Gewißheit einer höheren Verpflichtung und Bundesgenossenschaft überwinden, 
kurz, diese ganze Idealwelt, die doch nur Ausdruck einer höheren, höchsten 
Realität zu sein gewiß ist, und die mit Leichtigkeit alle Gaben der Wissen¬ 
schaft in sich aufnehmen kann, ihnen jedoch eine unerhörte Fülle von 
anderen Kostbarkeiten, von Lebensgütern und Lebenskräften hinzufügt, ist 
eine Erzieherin, die die Wissenschaft mit ihren Theorien gewiß nicht zu 
ersetzen vermöchte. Aber, wenn der Glaube unwahr wäre, so müßten wir 
ihn trotz seiner Leistungen bekämpfen. Besser, mit der Wahrheit in die Hölle 
zu fahren, als um den Preis von Lügen in den Himmel! 

Freud rühmte in seiner Duldsamkeit die Religion als Neurosenschutz ( 7 1 )* 

































Die Illusion einer Zukunft 181 


Früher führte er aus, daß seit Entkräftung der Religionen die Neurosen sich 
außerordentlich vermehrten. 1 Ob nicht die Ritterlichkeit Freud etwas zu 
weit gehen ließ? Ich sehe auch in den Scharen der konzentriert Frommen 
eine Unmasse von Hysterikern und Zwangsneurotikern; abgesehen davon, 
daß alle Orthodoxien als kollektive Zwangsneurosen zu betrachten sind, finden 
wir bei sehr frommen Christen eine große Menge von Psychoneurotikern. 
Es kommt eben sehr darauf an, wie die Frömmigkeit selbst geartet ist, 
wie weit sie verdrängend wirkt. Daß aber die freie Luft des genuinen Evan¬ 
geliums einen unentbehrlichen Schutz gegen die Gefahr der Neurose her¬ 
stellt, läßt sich nicht verkennen. 

Allein der Rereich der Religion ist damit noch lange nicht erschöpfend 
angegeben. Die Religion läßt sich nicht in Kunstenthusiasmus, Moral und 
Neurosenschutz auflösen. Hinzu kommt noch so manches andere. Die Religion 
befaßt sich mit der Frage nach Sinn und Wert des Lebens, mit dem Einheits¬ 
drang der Vernunft nach einer universellen, Sein und Sollen umspannenden 
Weltbetrachtung, mit der Sehnsucht nach Heimat und Frieden, mit dem 
Drang nach unio mystica mit dem Absoluten, mit den Seelenfesseln der Schuld 
und dem Freiheitsdurst nach Gnade, mit dem Bedürfnis nach einer Liebe, 
die der unerträglichen Unsicherheit des Irdischen entrückt ist, mit unzähligen 
anderen Anliegen, die im Zustand der Nichterledigung die Seele würgen 
und ängstigen, durch religiösen Ausgleich aber das Menschenleben auf 
strahlende Bergeshöhen mit unbeschreiblich beglückenden Fernblicken er¬ 
heben, das Herz kräftigen und durch die Auferlegung sehr schwerer sitt¬ 
licher Verpflichtungen im Geist der Liebe den Wert des Daseins erhöhen. 
Der Irreligiöse kann dies nicht nachfühlen, so wenig der Unmusikalische 
den Gehalt einer Tondichtung von Brahms zu ahnen vermag. Die Religion 
ist zwar bei weitem nicht so aristokratisch, wie Kunst und höhere Wissen¬ 
schaft. Sie ist selbst ein Strom, in dem Lämmer schwimmen und Elefanten 
ertrinken können. Aber es verhält sich nun eben doch, wie das Neue Testament 
sagt: „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding“ (2. Thess. 5, Vers 5). Unter 
Glauben aber verstehen wir nicht nur ein Vorstellen, sondern ein Ergriffensein 
des ganzen inneren Menschen. 

Wie arm scheint uns die Wissenschaft gegenüber dieser Fülle, von der 
wir doch nur einen ganz kleinen Teil anzudeuten vermochten, weil der 
Baum zu weiterer Ausführung fehlte und Worte das Unsagbare überhaupt 
nicht wiedergeben können! Mich wundert gar nicht, daß manche der be- 


1) Freud: Die zukünftigen Chancen der Psychoanalyse. Ges. Schriften VI, S. 25 ff. 
Imago XIV. 13 


















8a 


Dr. Oskar Pfister 


deutendsten Forscher ihr Tun als Gottesdienst auffaßten und manche der 
größten Künstler und Dichter ihre Lorbeerkränze demütig vor dem Altar 
Gottes niederlegten. 


iScklulj 

Wie sollen wir uns also die Zukunft der von Freud beanstandeten Illusion 
denken? Daß sie, falls sie nur Illusion ist, fallen und verschwinden muß, 
ist auch meine Ansicht. Allein Freud wollte ja die Wahrheitsfrage gar nicht 
stellen; er betont ausdrücklich, daß die Illusion wahr sein könne (49). 

So bin ich daher der Ansicht, es müsse das Realdenken so weit Vor¬ 
dringen, als es das Wesen der Realität irgend zuläßt. Wie dies etwa 
geschehen kann, skizzierte ich in den knappen Andeutungen meiner Ab¬ 
handlung „Weltanschauung und Psychoanalyse - 1 Ich deutete an, wie sich 
aus der Erfahrungswissenschaft als notwendige logische Ergänzung eine 
Metaphysik ergebe, wie aber, und dies ist für die Religion noch wichtiger, 
aus der sittlichen Bestimmung Rückschlüsse auf den Weltsinn und Welt¬ 
willen möglich, ja nötig seien. 

Eine abgeklärte Religion kann nur aus einer harmonischenVerbindung 
des Glaubens und des Wissens, aus einer gegenseitigen Durchdringung 
des Wunsch- und des Realdenkens hervorgehen, wobei jedoch der Inhalt des 
Realdenkens durch das Wunschdenken keinerlei Fälschung des Sachverhalts 
und der Zusammenhänge erfahren darf. 

Aber rinnt bei dieser Synthese nicht der eigentliche Gehalt der Religion 
in die Tiefe? Freud vermutet es (52); allein ich kann seine Annahme nicht 
teilen. Meines Erachtens wird die Substanz des Christentums in keiner Weise 
angegriffen, wenn wir die Wunder im Sinne von Eingriffen Gottes in den 
Naturlauf leugnen; jedenfalls ist es eine Tatsache, daß Millionen von Christen 
dies seit Jahrhunderten taten und dennoch in ihrer Religion ihr Heiligstes 
erblickten. Der von derben Anthropomorphismen freie Gott der philosophisch 
durchgearbeiteten modernen Theologie, der Weltwille, der auf die Verwirk¬ 
lichung von Liebe im höchsten sittlichen Sinne ausgeht, ist erhabener als 
der Gott, der in der Abendkühle lustwandelt und eigenhändig die Türe der 
Arche abschließt, auch erhabener als der Gott, der die Erde als Fußschemel 
benützt, und die Gleichnissprache der Frömmigkeit darf keinen Rückfall in 
minderwertiges Wunschdenken enthalten. Die sittlichen Vorschriften, die wir 


1) Zum Kampf um die Psychoanalyse. 289 h, 364 h 

































Die Illusion einer Zukunft 


l83 


nicht mehr einfach aus heiligen Urkunden uns diktieren lassen, sondern als 
autonome Kinder Gottes aus dem Wesen des Menschen und der menschlichen 
Gemeinschaft ableiten, wobei wir aber allerdings die ethische Erkenntnis der 
Vorzeit pietätvoll der Prüfung unterziehen und uns jedes Recht des Ein¬ 
spruches und der Ablehnung Vorbehalten, sind uns nicht weniger heilig, als 
die Satzungen irgendwelcher Religionsurkunden. Die. Bibel ist uns nicht 
kleiner, sondern herrlicher geworden, seitdem wir sie nicht als papiernen 
Papst und unfehlbares Orakel, als Rechtsgrundlage von Ketzergerichten bearg¬ 
wöhnen, sondern kraft der evangelischen Freiheit der unerbittlichsten Kritik 
unterwerfen. Lohn und Strafe haben wir als gefährliche Erziehungsmittel 
längst zurückgedrängt, wenn wir auch die Tatsache nicht leugnen, daß im 
Sittengebot auch eine Hygiene liegt, die über die der individuellen und sozialen 
Gesundheit drohenden Gefahren Auskunft erteilt und damit auf eine über 
Glück und Leid entscheidende, für die Lebensgestaltung maßgebende Gesetz¬ 
mäßigkeit hinweist. Die sittliche Weltordnung ist für uns nicht ein vorhan¬ 
dener Zustand, sondern eine Normativität im eben genannten Sinn, eine An¬ 
lage und Gesetzmäßigkeit, deren Tendenz wir aus der Beobachtung der 
Lebenswirklichkeit erkennen können und in sittlichen Vorschriften zum Aus¬ 
druck zu bringen versuchen, die wir eben als Ausdruck des höchsten kosmi¬ 
schen Entwicklungsstrebens ethisch formulieren und infolge einer Beziehung 
auf den Schöpferwillen als gottgewollt und heilig anerkennen. So stützt sich 
die Moral keineswegs auf eine heteronome Autorität, sondern auf die Auto¬ 
nomie des Einzelnen und der Sozietät, aber nicht auf ihr zufälliges Belieben, 
sondern auf ihre Wesensart, die hinwieder auf eine letzte denkbare absolute 
Instanz zurückweist. 

Können wir dieser religiösen Vertiefung entraten? Wird das Vordringen 
der exakten Wissenschaften sie überflüssig machen ? Der gegenwärtige Rechts¬ 
marsch in die Richtung der Orthodoxien soll für unser Urteil nicht aus¬ 
schlaggebend sein. Allein aus dem Wesen des Menschen und der engen Be- 
grenzung des Intellektes muß ich Freuds Weissagung von der Zukunft einer 
Illusion die nicht mehr weissagende, sondern psychologisch begründete Be¬ 
hauptung von der Illusion einer solchen Zukunft entgegensetzen. 

Sehr erfreulich ist mir, daß Freud selber im Grunde demselben Ziele 
wie ich zustrebt, er mit seinem genialen Forscherblick, ich mit meinen 
geringen Mitteln. Ihn treibt sein Gott Logos, unter dem er den Intellekt 
versteht, „voraussichtlich“ zum Ziele der Menschenliebe und der Ein¬ 
schränkung des Leidens (87), mich mein Gott Logos, den ich freilich 
nht Anlehnung an das erste Kapitel des Johannesevangeliums als göttliche 
















Pfister : Die Illusion einer Zukunft 


Weisheit und Liebe auffasse, zu denselben Zielen, denen ich nur noch 
viel stärker als Freuds an Schopenhauer anklingende Angabe die Schaffung 
positiver innerer und äußerer Güter an die Seite setzen möchte. Nicht das 
religiöse Bekenntnis ist das wahre Kriterium des Christen, Joh. 13, Vers 35 
ist ein anderes angegeben: „Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine 
Jünger seid, so ihr Liebe habt untereinander. “ Auf die Gefahr hin, von 
losen Zungen bewitzelt zu werden, wage ich nochmals die Behauptung, daß 
Freud im Lichte dieses Wortes mit seiner Lebensauffassung und seinem 
Lebenswerk manchem abgestempelten Kirchen Christen, der ihn, wie er sich 
selbst, als Heiden betrachtet, den Vorrang abläuft. 

Und so vereinen sich denn „Die Zukunft einer Illusion“ und „Die 
Illusion einer Zukunft“ in einem starken Glauben, dessen Credo lautet: 

„Die Wahrheit wird euch frei machen!“ 









































B emert ungen 

zu Freuds „ * 2 ^ultunft einer Illusion 

Referat in der Vorstandssitzung der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ im Dezember 

Von 

Theodor Reit 

Wien 


1927 


Es soll nicht ein Referat des gedanklichen Inhaltes der Freudschen 
Schrift gegeben werden, sondern eine Erörterung der Hauptthemen. Der 
Referent glaubt nicht, daß seine Aufgabe in der Wiedergabe dieser Ge¬ 
danken liegt. Vergleichsweise gesprochen: er will nicht die Melodie reprodu- 
zieren, sondern Begleitmusik machen. 

Verfolgt man bei der wiederholten Lektüre den Gang der Freudschen 
Schrift, so heben sich drei große Teile deutlich heraus: der eine beschreibt 
die Kulturbedingungen, der zweite diskutiert die Religion, der dritte gibt 
das Bild einer künftigen Kultur. Man meint zu bemerken, daß der erste 
Teil ursprünglich den Hauptakzent trug, daß er anfänglich breiter aus¬ 
geführt werden sollte. Eine Stelle im Verlaufe der weiteren Diskussion 
scheint die Richtigkeit dieser Vermutung zu bekräftigen. Man erkennt aber 
auch, mit welcher Vorsicht und Voraussicht alles vorbereitet wurde, um den 
Hauptteil von dem umfassenderen abzugrenzen, wie kunstvoll und doch wie 
natürlich alles zu der Behandlung jener Probleme drängt, die der Autor 
16r geben wilL Von dem bedeutungsvollen Auftakt an, dem Wunsche, 
etwas von den ferneren Schicksalen unserer Kultur zu erfahren, über den 
ersuch, die allgemeine Kultursituation insbesondere von psychologischen 
esichtspunkten aus zu charakterisieren, der Berücksichtigung der Bedin- 
gingen, unter denen Kultur möglich ist, der psychologischen Kennzeichnung 















i86 


Theodor Reih 


der Verzichte, Verbote, Entbehrungen und Entschädigungen, welche durch 
die Kultur notwendig werden, bis zum Hinweis auf das bedeutsamste Stück 
des psychischen Inventars einer Kultur, ihrer religiösen Vorstellungen, reicht 
die weitgespannte Einleitung des Buches, sozusagen der erste Satz, wenn 
man es symphonisch zu gliedern versuchte. Es ist hier Freud geglückt, 
ein umfassendes psychologisches Bild der Kulturbedingungen zu geben, das 
mit besonderer Klarheit und Eindringlichkeit gesehen ist und gleich einem 
Relief in die Schichtenbildungen einer Kultur Einblick gewährt. Hat 
„Totem und Tabu" die analytische Zurückführung der großen Kultur¬ 
institutionen gezeigt, so wird hier ihre psychologische Charakterisierung 
gegeben. In dieser Einleitung, diesem umfassenden, ruhevoll gesehenen 
Bild des Kulturganzen, werden künftige Betrachter vielleicht das bedeu¬ 
tungsvollste Stück der Freudschen Schrift erkennen, nicht in der Dis¬ 
kussion der religiösen Fragen, die dann keine Fragen mehr sein werden. 
Mag sich die Erörterung, die am Ewig-Heutigen hängt, jetzt auch gierig 
auf die Stellung Freuds zu den religiösen Problemen stürzen, unser Ur¬ 
teil wenigstens ist von dem rasch verrauschenden Lärm solcher Aktualität 
unabhängig. Wir fürchten auch keineswegs, uns in Gegensatz zu den An¬ 
schauungen, welche das Buch bei Analytikern und Nichtanalytikern zu er¬ 
regen scheint, zu setzen, wenn wir behaupten, daß dieses in seiner Fülle 
und Tiefe außerordentliche Einleitungsstück einmal als der wertvollste Teil 
des Freudschen Buches angesehen werden wird. Ein Vergleich mit der vor¬ 
letzten Schrift Freuds liegt nahe. Worin liegt ihr besonderer Wert, das, was 
nach zwanzig, nach fünfzig Jahren als ihr Bedeutungsvollstes betrachtet werden 
wird? Etwa in der Diskussion der Laienfrage? Etwa in der scharfsinnigen 
Begründung und Erörterung eines bestimmten Standpunktes? In den theore 
tischen Erwägungen zu diesem Problem? Mit nichten. Sondern darin, daß 
nie vorher mit solcher Klarheit und solcher Eindringlichkeit, mit so tiefem 
Blick, der alles überschaut, doch nichts übersieht, das Wesen der Analyse in 
allen ihren wesentlichen Zügen dargestellt wurde. Wie hervorgehoben, ist 
jener kleine Sprung, der zu zeigen scheint, daß der Autor ursprünglich weiter¬ 
gehende Pläne hatte, unter anderen den Plan, die Kulturillusionen im all¬ 
gemeinen zu diskutieren, noch deutlich. Die Komposition des Ganzen, die 
von der Darstellung der umfassenden Kulturprobleme sich zur Erörterung 
einer Einzelfrage einer Kultur verengt, ist bewundernswert. 

Der Hauptteil beginnt mit der Frage nach der besonderen Natur der 
religiösen Vorstellungen und enthält zunächst nichts, was uns nicht schon 
durch andere Schriften Freuds bekannt geworden wäre. Sogar das Moment 




























Bemerkungen zu Freuds »Zukunft einer Illusion« 


der infantilen Hilflosigkeit in der Genese der Religion, das jetzt psycho¬ 
logisch gewürdigt erscheint, findet sich in der „Leonardo Ä -Studie diskutiert. 

Was nun folgt, ist ein Dialog, geführt mit der ganzen Gesprächskunst 
und dem Scharfsinn, die wir aus der unmittelbaren Gegenwart kennen, 
Argument gegen Argument. Ein Gegner wird eingeführt, der den Gedanken¬ 
gängen des Autors folgt, sie ergänzt, ihnen widerspricht. Wir kennen diesen 
Gegner, diesen Widersacher und Widersprecher, nicht nur aus einer früheren 
Schrift Freuds. Dieser Gegner war nicht immer personifiziert; er war immer 
da. Wir haben es bei Freud immer beobachtet, dieses Vorwegnehmen von 
Einwürfen, dieses antizipierte Widerlegen von Argumenten, diese erneute 
Selbstprüfung und Selbstbehauptung, und haben diese Züge immer als Zeichen 
strenger Selbstkritik betrachtet. Der Dialö^TderTün folgt, macht 'es not¬ 
wendig, die Art meines Berichtes zu ändern. Der Leser wird von jetzt an 
nämlich zum Zuhörer, zum Zuhörer einer wissenschaftlichen Diskussion, 
und er fühlt oft genug die Versuchung, sich nicht mit dieser Rolle zu¬ 
frieden zu geben, er spürt manchmal den Wunsch, hier den Gegner zurück¬ 
zuweisen, dort selbst ein Argument in die Diskussion zu werfen oder eine 
Frage zu stellen. Wir sind heute in einer singulären Situation. Der Leser 
hat die Lektüre des Buches beendet und ist nun auf die Gedanken ange¬ 
wiesen, die sich daran knüpfen. Wir sind besser daran, wir können die 
Diskussion fortsetzen, sie erweitern, nach bestimmten Richtungen führen 
und fühlen uns für diese Gelegenheit dankbar. Wir wollen von dieser Er¬ 
laubnis ausgiebig Gebrauch machen, und wäre es auch nur, um den einen 
Partner noch mehr zum Sprechen zu bringen, ihn zu weiteren Ausführungen 
zu reizen. 

Verweilen wir noch einen Augenblick bei der Person des Gegners. Der 
Gesprächspartner ist wie immer ein sehr gebildeter Intellektueller von hohem 
moralischen Niveau, der Vernunft zugänglich und starken Gefühlen nicht 
verschlossen. Immerhin, wir wollen unseren Eindruck nicht verbergen, als 
habe Freud dieses Mal seinen Gegner etwas stiefmütterlich behandelt. Es 
gab andere Einwürfe, es waren wohl auch noch andere Fragen aufzuwerfen. 
Es hatte vielleicht Gegner adäquaterer Art gegeben; dort, wo es wirklich 
Gegner der vorgetragenen Anschauung gibt. Ich könnte mir etwa als Gegner 
einen jener geistvollen katholischen Priester denken, mit denen eine Dis¬ 
kussion oft genug einen Genuß bedeutet, Männer voll Lebenserfahrung, von 
einer eigenartigen Feinheit des Geistes, erwachsen in der strengen Logik, 
wie sie die Beschäftigung mit der Lehre des Thomas von Aquino verleiht. 
Die Partner des Gespräches bei Freud sind einander an einem bestimmten 

















88 


TKeodor Reik 


Punkte ihrer Diskussion ganz nahe, kein Abgrund der Anschauungen trennt 
sie mehr. An einer Stelle heißt es, daß ihr Gegensatz nur ein zeitweiliger 
und kein unversöhnlicher sei. Die Diskussion mit einem dogmatisch ge¬ 
schulten Priester würde anders enden: in einem Gegensatz von unversöhn- 
barer, ja hoffnungsloser Art. Aber vielleicht lag es gerade m der Absicht 
Freuds, einen solchen weltlichen Kulturträger, etwa einen Gelehrten, als 
Typ des Gegners aufzustellen. Wir dürfen ihm da nicht vorgreifen. Aber 
es ist notwendig, darauf hinzuweisen, daß sich auch da die Diskussion 
wesentlich anders abgespielt hätte. Die Stellung des Gebildeten unserer Zeit 
zu den religiösen Problemen ist durchaus unaufrichtig; sie kann auch durch 
( Diskussion nicht korrigiert werden. Ich behaupte, daß die Kulturmenschheit, 

: strenge gesagt, die intellektuelle Oberschicht, jene eigenartige Schamhaftig¬ 
keit und Unaufrichtigkeit, die sie auf dem Gebiete der Sexualität und des 
I Geldes zeigt, auch auf dem ihrer religiösen Bedürfnisse aufweist, ja daß 
sie dort oft sogar schwerer auffindbar und aufzeigbar ist. Der Fromme und 
der Freigeist sind oft keineswegs voneinander so verschieden, als es den 
Anschein haben mag. Ihre Unaufrichtigkeit kann von verschiedenen Stand¬ 
punkten aus oft genug die gleiche sein. Der Fromme glaubt und macht sich 
nicht viel Gedanken über seinen Glauben, der^Freigeist aber^macjrt^sich 
nicht viel Gedanken über seinen Unglau ben, we ll er sich nic^ 

Man kann jene eigenartige Stellung zur Religion am 
besten charakterisieren, wenn man sagt, die m eisten gebildet^en_Menschen 
glauben nicht an Gott, aber sie fürchten ihn. Die Wissenschaft verkündet 
zwar, Gott sei tot, aber er lebt unterirdisch weiter. Hier nun muß die 
Forschungsarbeit der Analyse einsetzen: man muß diesen Toten exhumieren 
und sich davon überzeugen, daß er wirklich tot ist. „Ce sont les morts quil 
faut qu’on tue“ In Wahrheit ist es so, daß ein offizieller Unglaube sehr wohl 
neben einem inoffiziellen Glauben bestehen kann. 

Es sei auch hier auf das Nebeneinander von Erkennen durch Denk¬ 
arbeit und durch Erlebthaben verwiesen, wie es gerade in diesem Buche 
Freuds an bestimmter Stelle hervorgehoben wird. Jene unbewußte Unauf¬ 
richtigkeit in bezug auf die Religion würde eben den Verlauf der Dis¬ 
kussion mit dem Partner anders gestalten. Jener Gegner würde vermutlich 
die meisten Argumente und Beweisführungen Freuds anerkennen, sich selbst 
als Atheisten bekennen und doch unbewußt an dem verleugneten Glauben 
festhalten. Es wäre besonders schwer, ihn zu überzeugen, weil er anscheinend 
der gleichen Meinung ist, genau wie manche Zwangsneurotiker in der 
Analyse, welche alle Resultate der analytischen Arbeit völlig anerkennen, 
























Bemerkungen zu Freuds »Zukunft einer Illusioncc 


189 


um dennoch an ihrer Krankheit festzuhalten. Freud versichert, er selbst 
halte sein Unternehmen für ungefährlich und harmlos, er weist auf die 
Reaktionen hin, die sein Buch hervorrufen wird, sowie auf die Reaktionen, 
welche es in bezug auf die Psychoanalyse haben dürfte. Wir fühlen hier 
zum erstenmal die Versuchung, uns in die Diskussion zu mischen und zu 
sagen: „Wir meinen, Sie täuschen sich in der Annahme über die Wirkungen 
des Buches. Niemand wird jene unwilligen Reaktionen dagegen zeigen, 
niemand Ihnen destruktive Tendenzen oder gar mangelnden Idealismus vor¬ 
werfen. Das Buch wird sogar in jenen Ländern des Puritanismus übersetzt 
werden und die meisten Gebildeten werden Ihnen rückhaltlos zustimmen.“ 
Im Laufe der wenigen Wochen seit Erscheinen der Freudschen Schrift 
habe ich nun die verschiedenartigsten Einwände gegen sie gehört, keinen 
vom religiösen Standpunkt. Ich bin bereit, ihnen allen zu widersprechen 
und nur die Einwände von religiöser Seite gelten zu lassen. Diese wider¬ 
sprechen sich ja selbst. Der erste Einwand weist darauf hin, daß die Religion 
heute nur eine geringe Rolle spielt und ihre Bedeutung im Seelenleben 
von Freud übertrieben werde. Ich glaube dies nicht, sondern meine sogar, 
daß die Bedeutung der Religion im unbewußten Seelenleben von der Analyse 
noch nicht genügend gewürdigt und erforscht wurde. Der Einwand meint, 
die Argumentation Freuds sei im Geiste des achtzehnten Jahrhunderts ge¬ 
halten, sei eine direkte Fortsetzung der damaligen Aufklärungsbestrebungen 
und somit vieux jeu. Bemerken Sie vor allem, daß hier der analytischen 
Betrachtungsweise Mangel an Originalität vorgeworfen wird — wer hätte dies 
je vorausgesagt? Der gewöhnliche Vorwurf war der umgekehrte. O quae 
mutatio rerum! Nun, Freud hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß ähn¬ 
liche Anschauungen wie die von ihm vertretenen von großen Männern oft 
und in prägnanter Form geäußert wurden. Der Einwurf trifft übrigens keines¬ 
wegs das Ziel: welch ein Unterschied zwischen dem leidenschaftlichen 
»Itcrasez Vinfame 6 Voltaires, den mokanten, aufklärerischen Sätzen der 
französischen Enzyklopädisten und der ruhigen, sachlichen Argumentation 
Freuds. Und wo findet sich in der Aufklärungsliteratur des achtzehnten 
Jahrhunderts eine psychologische Ableitung der religiösen Vorstellungen, 
wo ihre analytische Auflösung und die Würdigung des realen Kernes, den 
sie verbergen? Wie jener erste Ein wand geht auch der zweite von Leuten 
aus, die vorerst anscheinend völlig mit Freuds Anschauungen über Religion 
einverstanden sind. Sie akzeptieren die Ausführungen Freuds, aber dann 
weisen sie auf die metaphysischen Werte der Religion hin, behaupten, daß 
sie in symbolischer Form die transzendente Wahrheit enthalte und sagen, 
















190 


Theodor Reih 


daß in ihr das Absolute erscheine. Das Argument bringt das Abgewiesene 
wieder durch eine Seitentür in die Diskussion zurück, denn was hier als 
das Transzendente oder das Absolute erscheint, ist die verkleidete, verflüch¬ 
tigte, intellektualisierte Religion, deren man sich in ihrer wahren Gestalt 
schämt. Im übrigen kann man über das Transzendente beliebige Behaup¬ 
tungen aufstellen, weil sie keines Beweises bedürfen und ihrer Natur nach 
keinen zulassen. Diese Gegner wissen genau alles über die transzendenten 
Dinge, was man seit jeher gewußt hatte, d. h. nämlich: nicht das Mindeste. 

Der letzte Einwand erkennt die Folgerichtigkeit der Freudschen Ge¬ 
danken ebenso an wie die früheren, aber er bestreitet die Berechtigung, 
Erkenntnisse, die aus der individuellen Analyse gewonnen wurden, auf das 
kollektive Seelenleben zu übertragen. Das Schlagwort dieses Einwandes wird 
durch den Hinweis auf die Methodologie gegeben. Die Analyse hat es oft 
diskutiert, welche Vorsichten in der Übertragung psychologischer Forschungs¬ 
resultate vom Individuum auf völkerpsychologisches Gebiet zu beachten 
sind, welchen Beschränkungen solche Übertragung unterliege und welche 
heuristische Berechtigung sie doch besitzt. Wir wollen den Wert methodo¬ 
logischer Erwägungen gewiß nicht in Abrede stellen, aber es wird langsam 
klar, daß Methodologie die bisher beste wissenschaftliche Ausrede ist, keine 
Forschungsarbeit leisten zu müssen. Niemals früher war es möglich, sich 
so vorwurfslos der bequemsten Gedankenlosigkeit hinzugeben als heute, 
da man philosophischen Laien durch die Behauptung imponieren kann, 
man sei mit methodologischen Erwägungen beschäftigt. Methodologie, so 
heißt heute jede Flucht vor einer unzweideutigen Aussage; Methodologie 
ist die bequemste Abbreviatur der gedanklichen Sterilität. 

Ich habe diese Einwände hier vorgebracht, weil sie die Stellung eines 
großen Teiles der Gebildeten zu den religiösen Problemen zeigen. Allen 
gemeinsam ist die Verschiebung der Frage auf ein Nebengeleise. Wenn 
Sie genau Zusehen, so entsprechen alle diese Einwände einigen typischen 
Abwehrreaktionen, die wir in der Analyse kennen lernen. Der erste, der 
die Religion nicht für so wichtig findet, ist durchaus jenem Bagatellisierungs- 
mechanismus der Abwehr gleichzusetzen, der zweite, der die Metaphysik 
in den Vordergrund schiebt, entspricht der zweifachen Überzeugung in der 
Zwangsneurose. Der dritte Einwand, der die methodologischen Gesichts¬ 
punkte betont, repräsentiert die Vorluststufe der Gedankentätigkeit; er ist 
eine Art wissenschaftlichen Grübelzwanges, der jede Forschung durch Hinaus¬ 
schieben der wesentlichen Aktion unmöglich macht. Allen diesen Einwänden 
aber gemeinsam ist, daß sie vorerst die Gedankengänge Freuds akzeptieren. 



























Bemerkungen zu Freuds Zukunft einer Illusion« 191 

Keiner jener Gebildeten, von denen diese Ein wände stammen, hat sich 
auf den Standpunkt des Gläubigen gestellt; aber jeder stand unbewußt 
darauf. 

Die Gefahr in der Aufnahme der Freudschen Schrift liegt also nicht 
etwa in dem offenen affektiven Widerstand, sondern, wie ich fürchte, 
anderswo; paradox gesagt, gerade in jener beiläufigen ersten intellektuellen 
Zustimmung, die gleichsam als Schutzwall des Widerstandes fungiert. Die 
Zustimmung wird hier gegeben, um keine Konsequenzen ziehen zu müssen. 
Das will aber besagen, daß das Buch nichts vermögen wird gegen die ge¬ 
dankliche Indolenz und die innere Unaufrichtigkeit, welche unausrottbar 
unsere Gesellschaft regieren. Wir sind gerade in der Diskussion religiöser 
Probleme. Ist es da unangemessen, wenn ich Sie an das Wunder der Fisch¬ 
predigt des heiligen Antonius erinnere, wie es die fromme Legende erzählt 
und „Des Knaben Wunderhorn“ schlicht berichtet? Der Heilige findet die 
Kirche leer und begibt sich zu den Fischen, ihnen zu predigen: die Karpfen 
kommen gezogen, die Hechte, die Stockfische, Krebse, Schildkröten 

„. . . sonst langsame Boten 
Steigen eilig vom Grund, 

Zu hören diesen Mund. 

Kein Predigt niemalen 
Den Stockfisch so g’fallen; 

Fisch’ große, Fisch’ kleine, 

Vornehm und gemeine, 

Erheben die Köpfe 

Wie verständ’ge Geschöpfe.“ 

Und dann jener Schluß, von den F-Dur-Klängen Mahlers kraftvoll und 
bitter illustriert: 

„Die Predigt geendet, 

Ein jeder sich wendet. 

Die Hechte bleiben Diebe, 

Die Aale viel lieben, 

Die Krebs’ geh’n zurücke, 

Die Stockfisch’ bleib’n dicke, 

Die Karpfen viel fressen, 

Die Predigt vergessen. 

Die Predigt hat g’fallen, 

Sie bleiben wie allen.“ 

Ein anderer Punkt scheint mir in unserem Kreise der Diskussion be¬ 
dürftig: Freud betont, daß die Analyse eine parteilose Forschungsmethode 
ist, die gewiß auch die Verteidiger der Religion an wenden können, um 















193 


Theodor Reit 


deren affektive Bedeutung zu würdigen. Wir alle stimmen dem sicherlich 
bei. Allein die Sachlage ändert sich, wenn es sich um die analytische 
Praxis handelt, und sie ändert sich, wenn es sich darum handelt, den 
Wahrheitsgehalt der Religion zu prüfen. In der analytischen Praxis des 
Priesters vermengen sich Ansprüche aus der geistlichen Seelsorge mit denen 
der weltlichen, die Ziele verschieben sich, die Gesichtspunkte erfahren all¬ 
mählich eine Änderung, es ergehen sich widerstreitende Aufgaben und die 
Analyse bezahlt unstreitig die Kosten. Viele Priester haben unleugbar ein 
weitgehendes Verständnis für die Analyse gezeigt, daneben den unbeug¬ 
samen, wenngleich klug verhüllten Willen, sie in den Dienst der allein¬ 
seligmachenden Kirche zu stellen. Für das erste danken wir ihnen, für 
das zweite danken wir. Jeder, der die bezügliche Literatur verfolgt, weiß 
daß die Kirche sich anschickt, sich die Psychoanalyse einzuverleiben. Es 
kann aber nicht geleugnet werden, daß die Religion zu den stärksten Ver¬ 
drängungsmächten gehört und solche religiöse Verwertung der Analyse sie 
in den Dienst der Verdrängungstendenzen stellt. Wir können in der analyti¬ 
schen Praxis bei Zwangsneurosen häufig beobachten, daß ein Stück neu¬ 
erworbenen Wissens nicht nur vom Patienten in sein System aufgenommen 
und oft sehr sinnvoll verwoben wird, sondern sogar zu dessen Ausbau ver¬ 
wendet wird. Nun, dies ist genau das, was die religiös verwendete Analyse 
macht. 

Jene Toleranz auch gegen die religiöse Anschauung in allen Ehren, aber 
es ist eher zu besorgen, daß sie nicht dem abweichenden Standpunkt ge¬ 
währt wird. Einer unserer Berliner Kollegen verkündete in einem unlängst 
erschienenen Buche, der Analyse wie der Religion sei der Glaube an das 
Gute gemeinsam, beide zeigen, wie mächtig und wie erfolgreich das Gute in 
uns ist. Dagegen ist sicher nichts einzuwenden, es sei denn, daß man den 
entgegengesetzten Standpunkt ebensowohl mit der Analyse vereinen kann. 
Jemand könnte sich etwa zu dem Glauben an eine Weltordnung bekennen, 
derzufolge das Gute unnachsichtlich bestraft wird, während das Böse seinen 
Lohn in sich selbst trägt. Sieht der verehrte Kollege im Verlaufe des Menschen¬ 
schicksals deutlich den Finger Gottes, so werden wir kaum daran zweifeln 
können, aber schüchtern hinzufügen, daß die Richtung, in die jener digitus 
paternae dextrae weist, äußerst undeutlich ist. 

An einer anderen Stelle der Diskussion würden wir gerne den Autor 
eigänzen. Er verweist darauf, daß die Religion auch dazu benützt werde, 
nach der Buße frei sündigen zu können. Russische Innerlichkeit hat sich 
zur Folgerung aufgeschwungen, man müsse sündigen, um der göttlichen 





















Bemerkungen zu Freuds »Zukunft einer Illusion« ig 3 


Gnade teilhaftig zu werden. Allein dies ist nicht nur die Anschauung be¬ 
stimmter russischer Typen; ganz im Anfänge des Christentums gab es viele 
gnostische Sekten, z. B. die Kainiten, die Karpokratianer u. a., deren Ver¬ 
achtung des Fleisches so weit ging, daß sie zu der Konsequenz gelangten, 
man müsse allen seinen Lüsten folgen, um das Fleisch zu töten. Auf den 
Scheiterhaufen des Mittelalters verbrannte manches Mädchen, das von einem 
Geistlichen angeklagt war, daß es in sündhafter Eitelkeit zu sehr auf den 
Besitz des Hymens Wert legte und das schätzte, was angesichts des ewigen 
Seelenheiles keinerlei Wertschätzung verdiene. Die gütige Mutter Kirche hat 
es oft betont, daß Askese sündhaft und es frevelhafter Hochmut sei, sich 
von dem ewigen Fluch des Fleisches loslösen zu wollen, der nach Gottes un- 
erforschlichem Ratschluß seit Adams Tagen über die Menschheit verhängt 
sei. Wir erkennen, wie hier die Religion darauf besteht, daß gesündigt 
werde, und bekennen voll Inbrunst: Extra ecclesiam non est salus. 

Die Diskussion der Zukunft der Religion und ihrer langsamen schicksals¬ 
mäßigen Zersetzung ist bei Freud so klar und so eindrucksvoll, daß wir 
auf diesen Teil der Erörterung nur hin weisen wollen. Es gibt da einige 
Sätze, die in ihrer kompromißlosen Entschlossenheit, ihrer monumentalen 
Wucht, ihrer lapidaren Unbedingtheit an den Anfang der Beethoven sehen 
C-Moll-Symphonie erinnern. So pocht das Schicksal an die Pforte einer 
Kultur. 

Wir wenden uns dem letzten Teil des Freudschen Buches zu, der in 
uns oft den Wunsch rege macht, an der Diskussion teilzunehmen. Er be¬ 
schäftigt sich, wie Sie wissen, mit der Zukunft, wie sie sich nach dem 
Ausscheiden der Religion aus dem Kulturzusammenhange ergeben dürfte. 
Das psychologische Ideal, der Primat des Intellekts, wird aufgerichtet werden, 
die Erziehung zur Realität setzt ein; der Mensch dieser Zukunft wird die 
großen Schicksalsnotwendigkeiten eben mit Ergebung ertragen und auf alle 
Illusionen verzichten. 

Wir stehen auch hier keineswegs auf dem Standpunkte des Gegners, wir 
erkennen Bedeutsamkeit und Folgerichtigkeit der Freudschen Gedanken- 
gange, aber wir wollen unseren Skeptizismus nicht verbergen. Es ist kein 
„Nein , das wir ihnen entgegensetzen, sondern jenes „Je doute u im sanften 
Sinne Renans. Wir würden sagen: „Wir glauben mit Ihnen, daß die 
Religion zum Untergang bestimmt ist, ihre Zeit ist abgelaufen, aber er¬ 
lauben Sie, daß wir daran zweifeln, daß der Mensch kapabel ist, sein Leben 
ohne Illusion zu leben. Die Erziehung zur Realität ist gewiß ein Ziel, 
aufs innigste zu wünschen, aber die hervorstechendste Eigentümlichkeit 
















Theodor Reit 


19 4 


der Realität ist ihre Unerfreulichkeit. Insgeheim fühlen wir: Realität ist 
das, was der Andere anerkennen sollte. Die religiöse Illusion wird ver¬ 
schwinden, aber eine andere wird an ihre Stelle treten. Jener Primat des 
Intellekts, den Sie vorhersehen, wäre doch in Wirklichkeit nur ein ober¬ 
flächlicher, im Tiefsten würden die Menschen doch von ihren Trieb¬ 
wünschen gelenkt werden. Es ist möglich, wir leugnen es nicht, daß viel¬ 
leicht die Wissenschaft einmal über die Menschen herrschen wird, aber 
auch dann wird sie doch nur über Menschen herrschen, d. h. über wenig 
verständige, ihren Trieben unterworfene, schwache und unbeständige Wesen, 
die niemals aufhören werden, nach vergänglicher Lust zu streben. Auch 
dann werden die Menschen beten: „Herr, gib uns unsere tägliche Illusion!“ 
Ihre Erfahrung hat Ihnen sicher gezeigt, daß die Wissenschaft die Menschen, 
die sie betreiben, nicht besser, nicht geduldiger, nicht glücklicher macht, 
nicht einmal weiser. Die Wissenschaft ist ja nicht identisch mit den Wissen¬ 
schaftlern. Darf ich an eine Stelle aus Ihren Schriften erinnern, die zeigt, 
daß Ihnen diese Anschauung keineswegs so ferne liegt? „Wenn eine andere 
Massenbildung an die Stelle der religiösen tritt, wie es jetzt der sozialisti¬ 
schen zu gelingen scheint, so wird sich dieselbe Intoleranz gegen die Außen¬ 
stehenden ergeben und wenn die Differenzen wissenschaftlicher Anschau¬ 
ungen je eine ähnliche Bedeutung für die Massen gewinnen könnten, 
würde sich dasselbe Resultat für diese Motivierung wiederholen.“ Die Herr¬ 
schaft der Vernunft war schon einmal aufgerichtet; ihre Begleitmusik hieß 
„Gz ira u und zu ihrer Glorie fielen einige tausend Menschenköpfe unter 
der Guillotine. Der Primat des Intellekts wird höchstens dazu benützt 
werden, jene unterirdischen Wirkungen der Triebregungen geschickter zu 
verbergen und intellektuell zu verkleiden. Ich fürchte, die Herrschaft des 
Logos wird niemanden daran hindern, höchst unvernünftig zu sein. Sie 
überschätzen, wie ich fürchte, sowohl das Ausmaß als auch die Kraft der 
menschlichen Intelligenz. Sie ist von der des Tieres kaum wesentlich ver¬ 
schieden und in manchen Fällen erscheint solch ein Vergleich noch als 
eine Art niedriger Schmeichelei. 

Doch jener Primat des Intellekts ist nur möglich, wenn sich in der 
Menschheit tiefgreifende Änderungen vollziehen. Sie haben betont, daß die 
menschliche Seele sicher seit den ältesten Zeiten eine Entwicklung durch¬ 
gemacht habe und nicht dieselbe sei wie zu Anfang der Geschichte. Zu 
diesen Veränderungen rechnen Sie die Verinnerlichung des äußeren Zwanges, 
die Errichtung des Über-Ichs. Niemand wird diese Entwicklung leugnen, 
aber Entwicklung heißt nicht unbedingt Fortschritt. Dem, was unserem sub- 













































jektiven Ermessen als Fortschritt erscheint, folgen Rückschläge, Reaktionen, 
die alles Erreichte in veränderter Form wieder zerstören und aufheben. Der 
Gang der menschlichen Geschichte ist etwa mit dem eines Riesenpendels 
zu vergleichen, der hin- und zurückschwingt, sinnlos und zwecklos wie 
das Leben des Einzelnen. Der Skeptiker wird nicht einmal vor der Frage 
zurückschrecken, ob die Erstarkung des Über-Ichs wirklich ein so wert¬ 
voller Kulturbesitz ist und ob nicht gerade durch solche Verinnerlichung 
äußeren Zwanges ein Übermaß an Ichansprüchen gestellt wird, das ent¬ 
weder das Ich erdrückt oder allmählich zum destruktiven Triebdurchbruch 
treibt. In der Neurose zumindestens sehen wir, daß die Ansprüche des 
Über-Ichs den Einzelnen und somit Viele zum mindesten ebenso erfolg¬ 
reich von der Kulturarbeit abhalten wie die Triebansprüche, mit denen 
sie sich oft genug verbinden. Es ist eben eine Frage der Proportionalität, 
die hier entscheidet. Das überstrenge Über-Ich ist nicht weniger grausam 
als der äußere Zwang; es hat ebensoviele Existenzen ruiniert und ebenso- 
viele Morde auf dem Gewissen. Die Unterschiede sind keineswegs so tief¬ 
gehender Natur, als es zuerst den Anschein hat. Es ist dabei auch zu be¬ 
denken, daß die Triebimpulse durch solche Umwandlungen von äußeren 
Zwang in inneren in ihrer Intensität keineswegs abzunehmen brauchen, ja 
durch den Verdrängungsprozeß scheinen sie sogar an Intensität zu gewinnen. 
Ferner würden wir gerne darauf hinweisen, daß dem durch die Kultur¬ 
entwicklung differenzierten und verfeinerten Organismus Reize geringerer 
Intensität denselben Schaden zufügen können, der in gröberen und in 
resistenteren Organismen erst durch überstarke Reize verursacht würde. 
Gottes Voraussicht hat es so gefügt, daß der Elefant Lasten tragen kann, 
welche den Rücken des Pferdes brechen würden. Für den Urmenschen 
wäre ein Nadelstich, was für den Menschen unserer Kultur schon wie ein 
Keulenschlag wirkt. Vielleicht würde der Mensch wirklich besser leben, 
hätte Er ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben.“ 

In bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten verweist Freud auf das 
Beispiel der Frauen, die vielleicht unter der Herrschaft des sexuellen Denk¬ 
verbotes in ihren intellektuellen Fähigkeiten beeinträchtigt wurden. Allein 
die Anders Wertigkeit des Denkens der Frau braucht keine Minderwertigkeit 
zu sein. Wir wissen natürlich aus der Analyse, daß die sexuelle Denk¬ 
hemmung einen bedeutenden Einfluß auf die Funktionen der Gedanken¬ 
tätigkeit ausübt, aber es ist nicht ausgemacht, daß sie allein für die be¬ 
sondere Art der weiblichen Intelligenz verantwortlich ist. Vielleicht ist es 
auch hier so, daß die Frauen, die so viel erdnäher und in ihrem Denken 















196 


Theodor Reik 


der materiellen Realität so viel ergebener sind als wir, durch Besonder- 
heiten ihrer psychophysischen Konstitution, letzten Endes also durch ana¬ 
tomische Verschiedenheiten daran gehindert werden, ihre Intelligenz in der 
übrigens keineswegs immer vernünftigen Art zu gebrauchen, wie es Männer 
tun. Es wird sicher Fromme und Ungläubige geben, die sich der Meinung 
des heiligen Hieronymus anschließen: „Tota mulier in utero “. 

„Gestatten Sie mir noch für einige Minuten die Wohltat eines sanften 
Zweifels, der sich übrigens keineswegs darüber täuscht, wie wenig Bedeut¬ 
samkeit ihm selbst gegenüber Ihren Ausführungen zukommt. Lassen Sie 
mich also der Befürchtung Ausdruck geben, daß der Primat des Intellekts 
nicht nur an der im Tiefsten unveränderlichen Natur des Menschen scheitern 
wird, sondern auch an dem heftigen Widerstand, den er Bestrebungen dieser 
Richtung entgegensetzt. Sie haben uns klar gezeigt, daß die Religion so 
vieles behauptet, was sie nicht beweisen kann. Man muß indessen gerechter¬ 
weise zugestehen, daß es auch hier Ausnahmen gibt. Die Religion versichert: 
„Selig sind die Armen im Geiste“ und sie begnügt sich nicht mit der leeren 
Behauptung, viele ihrer Gläubigen liefern den glänzendsten Beweis für deren 
Richtigkeit. Es gibt darunter eine große Anzahl von Heiligen und solchen 
Frommen, die Gott besonders geliebt hat. Aber auch das Leben zeugt für 
die Wahrheit dieses Satzes: niemals werde ich den glücklichen, ja seligen 
Ausdruck eines armen Idioten auf einer psychiatrischen Klinik vergessen, 
von dem, ach, nur ein schwacher Widerschein auf dem Gesichte des be¬ 
handelnden Arztes lag. Nein, ich glaube nicht, daß die Menschen zugunsten 
eines anderen Primates auf das Glück der Dummheit Verzicht leisten werden. 
Es gehört wie „ Liberte , egalite, fraternite“ zu den unveräußerlichen geheilig¬ 
testen Menschenrechten. Die Geschichte aller Länder, insbesondere die unseres 
geliebten Vaterlandes, beweist, daß die Menschen dieses Recht nötigenfalls 
mit den Waffen in der Hand zu verteidigen wissen werden.“ 

Freud meint, daß die Stimme des Intellekts, obwohl leise, sich endlich 
doch Gehör verschaffen wird und dies wird nicht wenig bedeuten. Auch 
er sieht voraus, daß der Gott Logos nicht allmächtig sein wird. Aber un¬ 
gleich dem Gegner braucht man darum doch nicht an der Kultur und an 
der Zukunft der Menschheit verzweifeln und das Interesse an Welt und 
Leben verlieren. Wir würden hier einzuwerfen wagen, daß dies auch dann 
nicht der Fall zu sein braucht, wenn man einer weniger optimistischen 
Ansicht über die Zukunft huldigt, denn unser Interesse an Welt und Leben 
ist nur zum geringsten Teile durch intellektuelle Faktoren erweckt. Es 
sind triebhafte, starke Strebungen, die es nähren. Selbst wenn man glaubt, 



















Bemerkungen zu Freuds »Zukunft einer Illusion« 


19 7 


daß nach uns die Sintflut kommt, kann unser Interesse am Leben stark 
se in — ja dann sogar besonders stark. 

Dürfen wir unserem Eindrücke folgen und sagen, daß Freud in den 
ersten Teilen dieser Schrift Erkenntnis gegeben hat, im letzten eher Be¬ 
kenntnis? Wir werden voll Bewunderung auch dieses Zukunftsbild, dessen 
Baustilgerechtigkeit eklatant ist, betrachten, aber es scheint uns weniger 
zwingend wie das früher Gesagte. Es ist übrigens zugestandenermaßen von 
subjektiven Faktoren abhängiger als das Übrige. Es ist nicht ausgeschlossen, 
daß es so kommen wird, wie Freud es beschrieben hat, aber es bleibt auf¬ 
fällig, daß sein Zukunftsbild so viele Züge aufweist, die unseren Wünschen 
nicht entgegengesetzt sind. Zeigt der Hauptteil der Freudschen Schrift 
die Zukunft einer Illusion, so werden wir mit nur geringer Übertreibung 
sagen können, daß dieser letzte Teil eher die Illusion einer Zukunft zeigt. 

Man könnte sich getrauen, ein anderes Zukunftsbild zu entwerfen und 
dabei doch der analytischen Voraussetzungen nicht entraten. Die menschliche 
Kultur ist in ihren wesentlichen Zügen wie eine Zwangsneurose aufgebaut; 
sie beginnt mit Reaktionsbildungen gegen die unterdrückten Triebströmungen. 
Je länger eine Kultur andauert, um so deutlicher gewinnen in diesem Kon¬ 
flikt die gebändigten Triebimpulse die Oberhand, desto entschiedener neigen 
sich die Wagschalen zu deren Gunsten. Wir können es am Untergang der 
antiken Kultur studieren, daß auf der einen Seite der Logos buchstäblich und 
wirklich als oberstes Prinzip erscheint, in Griechenland etwa durch Sokrates 
und die Lehre von der Sophrosyne charakterisiert, in Rom durch den edlen 
Marc Aurel und durch die Stoa, auf der anderen Seite aber die lange abgewehrte 
Triebgewalt über die von der Vernunft zerbrochenen Schranken flutet und 
den Untergang dieser Kultur vorbereitet. Andere, in ihrer Vitalität unge¬ 
brochene Völker, ruhiger und sicherer ihren Instinkten folgend, von der 
Kultur weniger beleckt, im Kampfe mit den Verdrängungsmächten noch 
nicht zermürbt, geben dann dieser Kultur den Todesstoß. Das Spiel beginnt 
dann aufs neue, denn auch das, was hier neu entsteht, ist wert, daß es 
zugrunde geht. Nichts hindert uns anzunehmen, daß unserer Kultur das¬ 
selbe Los bevorsteht, daß auch die Kultur der Bewohner dieser kleinen 
Halbinsel Asiens in absehbarer Zeit zusammenbrechen wird und lebens¬ 
kräftigere Völker von derberer Organisation ihr Ende bringen werden. Es 
ist eine Möglichkeit neben so vielen anderen und nicht unwahrscheinlicher 
wie andere. Wir erinnern uns zur rechten Zeit, daß auch Freud sein 
Zukunftsbild nicht etwa als Voraussage aufgefaßt wissen wollte, sondern 
als eine Gedankenfolge, die wert ist, ernsthaft erwogen zu werden. Er 


Imago XIV. 


14 













198 


Retk: Bemerkungen zu Freuds »Zukunft einer Illusion« 


mahnt uns ausdrücklich, diese Gedanken nicht für mehr zu nehmen als sie 
sein wollen. 

Die Zukunft ist uns verschlossen, wir arbeiten an unserem Kulturanteil 
wie die Hochschaftweber, welche den Teppich nicht sehen, an dem sie 
weben. Wir arbeiten daran, weil wir nicht anders können und — wir 
wollen es nicht leugnen — weil es uns Befriedigung gibt. Die letzte Weis¬ 
heit bleibt: „Cultivons notre jardin .“ 

Die Analyse hat uns darauf hingewiesen, daß die Menschheit im Laufe 
ihrer wissenschaftlichen Entwicklung drei große Enttäuschungen durch¬ 
gemacht hat. Vergleichen wir die Stellung, welche die representive man 
dieser großen drei Desillusionierungen gegenüber den religiösen Vorstellungen 
haben. Kopernikus, der bewiesen hatte, daß unser kleiner Planet wenig 
Anspruch darauf hat, als Mittelpunkt des Kosmos angesehen zu werden, 
schließt sein Hauptwerk mit einem schwärmerischen Hymnus an Gott, 
den Schöpfer Himmels und der Erde, Darwin, der die Menschen zwang, 
auf den Titel der „Krone der Schöpfung“ zu verzichten, konnte den reli¬ 
giösen Glauben neben der Deszendenztheorie sozusagen als Reservatgebiet 
behalten. Freud zeigt ihn als Illusion, die aus dem Kulturzusammenhang 
zurückgezogen werden sollte. Zur selben Zeit, da der gläubige, aber vor¬ 
sichtige Kopernikus es nicht wagte, sein Werk zu publizieren, führte ein 
freiheitsliebender Mann eine Bewegung, die Loslösung von dem kirchlichen 
Zwang forderte, soziale Rechtsgleichheit für alle Menschen verlangte, auf 
alle Tröstungen im Himmel verzichtete und dafür eintrat, daß unser Reich 
von dieser Welt sei. Sein schlichter, gerader und unkomplizierter Geist 
hatte jene tiefe Notwendigkeit noch nicht erfaßt, derzufolge, nach den 
Worten von Anatole France, „das Gesetz in seiner majestätischen Gleich¬ 
heit es Reichen und Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen und Brot 
zu stehlen“. Wegen seiner unzweckmäßigen Gedanken wurde er von den 
Stützen von Thron und Altar niedergeschlagen wie ein toller Hund. Nur 
scheinbar hat sich seit jenen vierhundert Jahren Wesentliches geändert, in 
Wirklichkeit leben wir in derselben geistigen Unfreiheit. Durch diese vier 
Jahrhunderte aber leuchten die Worte, die ich auf dem Schwerte Florian 
Geyers eingraviert sah und die als Motto auch über dieser Schrift Freuds 
stehen könnten: „Nulla crux , nulla corona .“ 















Die Pubertätsriten der MäJA < 
Spuren im AAärck en 


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re 


Von 

Alfred Wi nterstein 

W ien 


Ein Ereignis, das heute unter dem Namen Konfirmation oder Firmung 
für unsere heranwachsende Jugend im allgemeinen keine tiefere Bedeutung 
mehr besitzt: der Übergang vom Kinde zum geschlechtsreifen, sozial voll¬ 
wertigen Menschen, kann auf einer niedrigeren Stufe der Kultur in seiner 
Wichtigkeit für das Leben des Einzelnen schwerlich überschätzt werden. 
Vermag man doch ruhig zu behaupten, daß der primitive Mensch Geburt, 
Heirat und Tod als weniger bedeutsame „Schwellen“ereignisse betrachtet. 
Diese hohe Bewertung durch den Primitiven drückt sich auf sinnfällige 
Weise in der über die ganze Welt verbreiteten Einrichtung der Pubertäts¬ 
zeremonien aus. Es lassen sich aber nicht nur in den auf das nämliche 
Geschlecht bezüglichen Bräuchen geographisch weit voneinander entfernter 
Völker, sondern auch in den Bräuchen der Knaben und Mädchen eines 
und desselben Stammes gemeinsame Züge aufdecken, die als Ausdrucks* 
formen einer allgemein-menschlichen, dem Unbewußten angehörenden 
Reaktion auf die Erlangung der Geschlechtsreife angesehen werden müssen. 

Erst der psychoanalytischen Forschung blieb es Vorbehalten, den tieferen 
Sinn dieser Bräuche aufzuklären, über die J. G. Frazer 1 2 einige Jahre 
vorher folgendes geschrieben hatte: „ We may hope that a more exact ac- 
quaintance with savage modes of thought will in time disclose this central 

1) Auf Grund eines in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 4. März 
1 9 2 5 gehaltenen Vortrages. 

2) J. G.Frazer: The GoldenBough. Balder the beautiful. Vol.II, p. 278. London 1913. 


14* 

















aoo Alfred Winterstein 


mystery of primitive society , and will thereby furnish the clue , not only 
to totemism, but to the origin of the marriage System .“ 

Th. Reik hat sich in seiner grundlegenden Arbeit über „Die Pubertäts¬ 
riten der Wilden “ 1 darauf beschränkt, die Jünglingsweihen zu behandeln. 
Als eine Ergänzung seiner auch für uns in allem Wesentlichen ma߬ 
gebenden Ausführungen mag der Versuch beurteilt werden, einer gleichen 
Betrachtungsweise die Pubertätsfeste des weiblichen Geschlechtes zu unter¬ 
ziehen, die trotz mancher auch aus dem Charakter des Initiationsritus über¬ 
haupt abzuleitender Gemeinsamkeiten von den Bräuchen der Knaben spezi¬ 
fisch verschiedene Eigentümlichkeiten besitzen und vielleicht auch die 
primitiveren Formen dieser Zeremonien sind. 

Wir beginnen zunächst damit, typische Beispiele 2 solcher Weihefeste aus 
Afrika, Australien, Amerika und Asien zu berichten. Unsere durch den 
Raummangel gebotene knappe Auswahl läßt den Reichtum der vorhandenen 
Kasuistik kaum ahnen. 

Afrika. Unter den Amambwe, Winamwanga , Alungu und anderen Stämmen 
des großen Plateaus im Westen des Tanganyikasees herrscht nachstehender 
Brauch: Wenn ein junges Mädchen weiß, daß sie die Geschlechtsreife erlangt 
hat, verläßt sie sogleich die Hütte ihrer Mutter und versteckt sich im hohen 
Grase nächst dem Dorfe, wobei sie ihr Gesicht mit einem Tuche verhüllt und 
bitterlich weint. Gegen Sonnenuntergang fo]gt ihr eine der älteren Frauen, — 
die als Leiterin der Zeremonien nachimbusa genannt wird, — stellt einen 
Kochtopf bei einer Straßenkreuzung auf und bereitet darin ein Gebräu aus 
verschiedenen Grasarten, mit dem sie die Neophytin einreibt. Bei Einbruch 
der Nacht wird das Mädchen auf dem Rücken des alten Weibes zur Hütte 
seiner Mutter zurückgetragen. Nach Ablauf der üblichen Frist von ein paar 
Tagen darf es wieder kochen; vorher muß das junge Mädchen aber den Boden 
der Hütte weißen. Im folgenden Monat sind die Vorbereitungen für seine Ein¬ 
weihung beendet. Die Novizin muß während der ganzen Zeit der Initiation 
in der Hütte bleiben und wird sorgfältig von den alten Frauen bewacht, die 
sie, wann immer sie ihre Wohnstätte verläßt, begleiten, nachdem sie ihren 
Kopf mit einem landesüblichen Tuche verdeckt haben. Die Feierlichkeiten 
dauern wenigstens einen Monat. Während dieser Periode der Abgeschiedenheit 
trommeln und singen die Dorffrauen in der Hütte der Mutter und kein Mann 

1) Th. Reik: Probleme der Religionspsychologie, I. Teil, Internationaler Psycho¬ 
analytischer Verlag, Leipzig und Wien 1919, S. 59 ff. Zuerst veröffentlicht in „Imago“, 
Jahrg. 1915/16, Heft 5 und 4. 

2) Die zitierten Beispiele entnehme ich zum überwiegenden Teile dem ersten 
Bande des angeführten Werkes von Frazer, S. 22 ff., dem zweiten Bande des Werkes 
von Ploß-Renz: Das Kind, Leipzig 1912, dem ersten Bande des Werkes von Ploß- 
Bartels: „Das Weib“, Leipzig 1908 (9. Auflage) und dem Werke Emest Crawleys: 
The Mystic Rose. A study of primitive marriage. London 1902. 






















Die Pubertätsriten der jMaddien und ilire Spuren im Afärdieii 


201 


__ mit Ausnahme des Vaters von Zwillingen — darf eintreten. Die Zeremonien¬ 
aufseherin und die alteren Frauen unterweisen das junge Mädchen in den 
Anfangsgründen der Lebensführung, in den ehelichen Pflichten, den Regeln 
des Anstandes und der Gastfreundschaft, die eine verheiratete Frau beobachten 
muß- Unter andern Dingen muß sich das junge Mädchen einer Reihe von 
Prüfungen unterwerfen, als da sind: über Hindernisse springen, den Kopf 
durch einen Domenkranz zwängen usw. Der Unterricht wird durch Lehm¬ 
figuren anschaulich gemacht, die Tiere und die gewöhnlichen Gegenstände des 
häuslichen Lebens darstellen. Die Leiterin des Unterrichtes verschönert die 
Mauern der Hütte mit rohen Zeichnungen, deren jede ihre besondere Bedeu- 
tung und ihren besonderen Gesang besitzt, die von dem Mädchen verstanden 
und gelernt werden müssen . 1 In dem vorstehenden Bericht scheint die Regel, 
daß ein Mädchen im Alter der Pubertät weder die Sonne sehen noch 
den Boden berühren darf, durch die Feststellung angedeutet zu sein, daß 
es sich nach der ersten Wahrnehmung seines Zustandes in hohem Grase ver¬ 
steckt und nach Sonnenuntergang auf dem Rücken eines alten Weibes heim¬ 
getragen wird. 

Wenn ein junges Mädchen unter den Nyanja sprechenden Stämmen von 
Zentralangoniland in Britisch-Zentralafrika entdeckt, daß es eine geschlechts- 
reife Frau geworden ist, bleibt es schweigend auf dem Wege, der ins Dorf 
führt, stehen und verhüllt sein Gesicht mit einem Kattuntuch. Eine alte Frau, 
die die Jungfrau dort findet, nimmt sie zu einem Fluß mit, um sie dort zu 
baden; hierauf wird sie für sechs Tage in der Hütte der alten Frau abge¬ 
sondert. Sie ißt ihren Suppenbrei aus einem alten Korbe und die Zukost, in 
die kein Salz gegeben werden darf, aus einer Topfscherbe. Der Korb wird 
später weggeworfen. Am siebenten Tage versammeln sich die alten Frauen, 
begeben sich mit dem Mädchen zu einem Fluß und werfen es ins Wasser. 
Auf dem Heimwege singen sie Lieder; die alte Frau, die die Begehungen leitet, 
trägt das Mädchen auf dem Rücken. Dann breiten sie eine Matte aus, holen 
den Ehegatten des Mädchens, heißen die zwei sich niedersetzen und scheren 
den Kopf des Mannes. Nach Einbruch der Dunkelheit begleiten die alten 
Frauen das Mädchen zu der Hütte seines Gatten. Dort wird die ndiivo Zukost 
am Feuer gekocht. Während der Nacht steht die Frau auf und tut etwas 
Salz in den Topf. Vor der Morgendämmerung (während alles noch dunkel ist 
und die Dorfbewohner noch nicht ihre Türen geöffnet haben) verläßt die 
jungverheiratete Frau ihre Hütte und gibt etwas von der Zukost ihrer Mutter 
und dem alten Weibe, das die Zeremonie geleitet hat. Sie stellt die Zukost 
bei den Türen ihrer Hütten nieder und geht weg. Und wenn in der Frühe 
die Sonne aufgegangen und alles im Dorfe hell ist, öffnen die zwei Frauen 
ihre Türen und finden dort die Zukost mit dem Salze; sie nehmen davon 
und reiben es auf ihre Füße und unter ihre Achselhöhlen. Und wenn kleine 
Kinder im Hause sind, essen sie davon. Und wenn die junge Frau einen Bluts- 


i) C. Gouldsbury and H. Sheane: The Great Plateau of Northern Nigeria 
(London 1911), S. 158—160. 

















202 


Alfred Winterstein 


verwandten hat, der zur Zeit nicht im Dorfe weilt, wird etwas von der Zu¬ 
kost auf einen Splitter Bambusholz gestrichen und bis zu seiner Rückkehr auf¬ 
gehoben, damit er dann gleichfalls seine Füße damit einreiben kann. Doch 
wenn die Frau ihren Mann impotent befindet, steht sie nicht zeitig auf 
und geht nicht in die Dunkelheit hinaus, um die Zukost bei den Türen ihrer 
Mutter und des alten Weibes niederzustellen. Und am Morgen öffnen die alten 
Frauen ihre Türen, erblicken dort keine Zukost, erkennen, was geschehen ist, 
und gehen nun listig zu Werke. Denn sie überreden den Ehegatten, den Wahr¬ 
sager zu befragen, damit er ein Mittel gegen dessen Impotenz bekanntgebe, 
und während der Gatte mit dem Hexenmeister eingeschlossen ist, holen sie 
einen anderen Mann herbei, der die Zeremonie mit der jungen Frau zu Ende 
bringt, damit die Zukost verteilt werden kann und die Leute ihre Füße 
damit einreiben können. 

Tritt aber der Fall ein, daß ein Mädchen, das zur Reife gelangt, noch nicht 
verlobt ist und daher keinen Bräutigam besitzt, zu dem sie gehen kann, so 
sagen die alten Frauen dem Mädchen, es müsse statt dessen zu einem Lieb¬ 
haber gehen. Diesen Brauch nennt man chigango. Das Mädchen nimmt also 
am Abend seinen Kochtopf samt Zukost und eilt in die Wohnung der Jung¬ 
gesellen, die aus Entgegenkommen diese Nacht anderswo schlafen. Und am 
Morgen k$hrt das Mädchen zur Kuka-ttütte zurück . 1 

Bei den nördlichen Clans des Thongastammes, in Südostafrika in der Gegend 
der Delagoabucht, wird nachstehender Brauch beobachtet: Wenn ein Mädchen 
glaubt, daß der Zeitpunkt seiner Heiratsfähigkeit gekommen ist, wählt es eine 
Adoptivmutter, etwa in einem Nachbardorf. Sobald das Anzeichen sich be¬ 
merkbar macht, flüchtet das Mädchen aus dem eigenen Dorf und begibt sich 
in das der Adoptivmutter, „um in ihrer Nähe zu weinen“. Nachher wird es 
mit zahlreichen anderen Mädchen, die sich in demselben Zustande befinden, 
für einen Monat abgesondert. Sie werden in eine Hütte gesperrt, und so oft sie 
hinausgehen, müssen sie ein schmutziges Tuch auf ihren Gesichtem wie einen 
Schleier tragen. Jeden Morgen werden sie zu einem Teich geführt und ins 
Wasser bis zum Halse getaucht. Eingeweihte Mädchen oder Frauen begleiten 
sie, wobei sie obszöne Lieder singen und mit Stöcken jeden Mann, der ihnen 
begegnet, verjagen; denn kein Mann darf ein Mädchen während dieser Zeit 
der Absonderung sehen. Würde er es erblicken, so heißt es, daß er mit Blind¬ 
heit geschlagen würde. Bei ihrer Rückkehr vom Flusse werden die Mädchen 
wieder in der Hütte eingesperrt, wo sie vor Nässe schauernd verbleiben, denn 
sie dürfen nicht zum Feuer gehen, um sich zu wärmen. Während ihrer 
Abgeschiedenheit lauschen sie auf laszive Gesänge, die die erwachsenen 
Frauen singen, und werden in sexuellen Dingen unterrichtet. Am Ende 
des Monats bringt die Adoptivmutter das Mädchen zu seiner Mutter zurück 
und beschenkt es mit einem Topfe Bier. 

Uber einen primitiven Typus von Frauenzeremonien bei den Atchuabo in 


1) R. Sutherland Rattray: Some Folk-Lore Stories and Songs in Chinganja 
(London 1907), S. 102—105. 



























.Die Pubertatsriten der jMädcben und ihre Spuren im Atärchen 


Portugiesisch-Ostafrika berichtet uns ausführlich P. Michel Schulien . 1 Dort 
verlaufen die Mädchenweihen in fünf großen Tänzegruppen, die sich zeitlich 
und inhaltlich an die großen Ereignisse im Leben des Mädchens anschließen: 
erste Menstruation, Heirat, Schwangerschaft und erste Entbindung. Hauptziel 
der Zeremonien ist die Erwerbung eines gewissen Etwas, das der geschlecht¬ 
lichen Betätigung erst die richtige Kraft verleiht, die „Kraft der Wollust“, die 
dem Stamm den gesunden, starken Nachwuchs sichert. Hat ein Mädchen nach 
den Zeremonien am eigenen ehelichen Herd ein Kind empfangen und geboren, 
so rückt es in die Altersklasse der „Großen“ auf. Die Mittel, durch welche 
diese Kraft erworben wird, sind: Betanzung, Belehrung und Beschneidung. 
Sexuelle Aufklärung und Beschneidung sind bloß Nebenmittel; sie dienen der 
Überleitung dieser Kraft auf die Mädchen. Das Hauptmittel aber ist der Tanz, 
die Betanzung durch die namungu , die Zeremonienaufseherin, durch viele alte 
Frauen, vor allem aber durch die Mutter des Mädchens. Mit dem Tanze sind 
alle Teile der Zeremonien ausgefüllt. Der Tanz wird ausgeführt, um die Kraft 
in die Mädchen überzuleiten. Er wird jedoch auch ausgeführt, um diese Kraft 
zu schaffen, sie bereitzustellen, um sie zu ertanzen. Die namungu ist nicht nur 
Lehrerin, sondern hat auch allein das Recht, bei den Zeremonien die Mädchen 
zu schlagen, um sie von jugendlichen Freveltaten zu entsühnen ; 2 sie nimmt 
auch die Beschneidung vor. Der Kandidatin werden ferner die Haare ge¬ 
schnitten und ein neuer Name beigelegt. Merkwürdig ist der Brauch, daß bei 
einer bestimmten Tänzegruppe die alten Frauen mit den Mädchen auf einen 
Mangobaum steigen, um alle Zweige abzureißen. Die Aufklärung erfolgt nicht 
nur mit Worten, sondern auch pantomimisch, indem mit Masken angetane alte 
Frauen die Begattung agieren. Während der Zeremonien wohnen die Mädchen 
in einer Rundhütte, die von alten Männern, unter denen der Vater die Haupt¬ 
person ist, gebaut wird. Diese Hüttenform ist sonst bei den Atchuabo unbe¬ 
kannt und dürfte ein Überbleibsel aus einer älteren Kulturstufe (nigritischj sein 
ebenso wie die Mädchenweihe selbst. 

Von den Basutos in Britisch-Südafrika sei schließlich der, wie wir sehen 
werden, charakteristische Zug erwähnt, daß die Mädchen im Pubertätsalter, 
wenn sie von den alten Frauen in einem Flusse gebadet werden, einzeln in 
den Krümmungen und Biegungen des Gewässers versteckt und angewiesen 
werden, ihre Köpfe zu bedecken, da sie den Besuch einer großen Schlange 3 
zu gewärtigen hätten. Ihre Glieder werden dann mit Lehm beschmiert, kleine 


1) P. Michel Schulien, S. V. D.: Die Initiationszeremonien der Mädchen bei den 
Atchuabo (Portugiesisch-Ostafrika). Anthropos, Bd. 18/19, 1925/24, Heft 1, 2, 5. 

2) „Sie schlagen es, damit es denke, das, was ich tat, ist schlecht“, sagen die 
Eingeborenen. 

3) Bei den Baganda wurde die erste Menstruation als eine Heirat angesehen und 
von dem Mädchen als einer Braut gesprochen. Bei den Siamesen herrscht der Glaube, 
daß des Mädchens erste Menstruation von der Defloration durch Luftgeister 
herrühre und daß die dadurch bewirkte Wunde jeden Monat durch den nämlichen 
dämonischen Einfluß erneuert werde. (De la Loubere: Du Royaume de Siam. 
Amsterdam 1691, I, S. 205.) 














20-4 Alfred Wmterstein 


Strohmasken auf ihre Gesichter gelegt und so geschmückt, folgen sie 
einander täglich in feierlichem Zuge, melancholische Weisen singend, zu den 
Feldern, um dort die landwirtschaftlichen Arbeiten zu erlernen, die 
einen großen Teil ihres Lebens als Erwachsene ausfüllen werden . 1 Wir dürfen 
annehmen, obwohl darüber nichts gesagt wird, daß die Strohmasken den Zweck 
haben, die Gesichter der Mädchen den Blicken der Männer und den Strahlen 
der Sonne zu entziehen. 

Australien und Indonesien. In Kabadi, einem Distrikt von Britisch-Neu- 
guinea, werden die Töchter von Häuptlingen im Alter von zwölf oder dreizehn 
Jahren in häuslichem Gewahrsam gehalten, der zwei oder drei Jahre dauert 
und bekommen unter gar keinem Vorwände die Erlaubnis, von ihrem Hause 
hinabzusteigen; das Haus ist so beschattet, daß die Sonne sie nicht bescheinen 
kann . 2 

Über die Reifeweihe der Mädchen beim Stamme der Bänaro im Innern 
Neuguineas verdanken wir Richard Thurnwald 3 einen ausgezeichneten, für 
den Psychoanalytiker besonders aufschlußreichen Bericht, dem ich folgendes 
entnehme : 4 Wenn die Mädchen mannbar werden, versorgt man sie mit einem 
Gatten. Die Heirat 5 setzt den Abschluß der Reifeweihe voraus, die beim weib¬ 
lichen Geschlecht in ähnlicher Weise wie beim männlichen vorgenommen 
wird, wenn die physiologische Pubertät erreicht ist. Die Einweihungszeremonie 
erstreckt sich über einen Zeitraum von neun Monaten, während deren die 
Mädchen in einer eigens eingebauten Zelle des Wohnhauses verschlossen gehalten 
und nur mit Suppen von dünnem Sagoschleim ernährt werden. Zu Beginn 
der Einschließung werden vom Vater einerseits und dem Mutterbruder ander¬ 
seits wilde Schweine gejagt und für ein Essen geliefert, bei Beendigung Haus¬ 
schweine für das Schluß fest geschlachtet, in ähnlicher Weise wie bei der 
Jünglingsweihe. Während der ganzen Dauer der Einschließung des Mädchens 
schläft dessen Vater in der „Geisterhalle “. 6 Das Ganze ist — nach Thurn¬ 
wald 7 — als ein Zauber zur Weibwerdung des Mädchens während der neun 
Monate zu denken, während deren es, — wie im Mutterleib — in der Zelle 
eingeschlossen, zum Weibe heranreifen soll und nur mit Sagoschleim ernährt wird. 

Schließlich wird die Zelle von den Frauen gewaltsam erbrochen und die 
Mädchen — es werden immer mehrere auf einmal der Weihe zugeführt — 


1) E. Casalis: The Basutos (London 1861), S. 268. 

2) J. Ghalmers andW. Wyatt: Gill, Work and Adventure in New Guinea (London 
1885), S. 159. 

5) Dr. Richard Thurnwald: Die Gemeinde der Bänaro. Ehe, Verwandtschaft 
und Gesellschaftsbau eines Stammes im Innern von Neuguinea, Aus den Ergebnissen 
einer Forschungsreise 1913—1915. Stuttgart 1921. 

4) Thurnwald, a. a. O. S. 19ff. 

5) Die Heirat erfolgt außerhalb des Glans, aber innerhalb des Stammes. 

6) Die soziale Einheit der Niederlassung ist der Weiler. Jeder Weiler besitzt eine 
besondere gemeinsame Halle (büek) als seinen religiösen und sozialen Mittelpunkt. 
Die Bezeichnung „Geisterhalle“ rührt von Thurnwald her. 

7) Thurnwald, a. a. O. S. 20. 




























Die Puhertätsriten der Afaddien und ihre Spuren im Alärchen 2,oS 


freigelassen. Damit beginnen die Spiele. Die Frauen jagen die Mädchen aus 
dem Haus und bewerfen sie draußen mit bereitgelegten Kokosnüssen (Be¬ 
fruchtungssymbole). Sie treiben sie schließlich in den Fluß, wo sie sie weiterhin 
noch mit Kokosnüssen bombardieren. Schließlich lassen sie die Mädchen ans 
Ufer, wo sie nun Sagobrei und Schweinefleisch, also das beste Essen bekommen. 
Dann werden die Mädchen neu bekleidet und geschmückt. Hierauf tanzen die 
Frauen um die schön geschmückten Mädchen. 

An demselben Abend beginnt ein Nachtfest eigener Art. Nach Einbruch der 
Dunkelheit versammeln sich die Männer auf den Straßen des Dorfes. Die 
Alten stecken die Köpfe zusammen und einigen sich darüber, wie sie die nun 
reifgewordenen Mädchen — gemäß ihrer Sitte — untereinander verteilen 
sollen. Diese Sitte wurde Thurnwald folgendermaßen erklärt: Der Vater des 
angelobten Bräutigams sollte zunächst eigentlich Besitz von dem Mädchen er¬ 
greifen. Dieses ist nämlich heute reif erklärt worden. Der Vater des Bräuti¬ 
gams sagt aber, er schäme sich, und bittet nun seinen „Sippenfreund“, mundü , 
von der anderen Hälfte des Clan , 1 seine Stelle einzunehmen und das Mädchen 
in die Geheimnisse des ehelichen Verkehrs einzuführen. Der „Freund“ aus 
der anderen Sippe stimmt zu. Und nun führt die Mutter des Mädchens dieses 
dem Vater des Bräutigams zu und sagt ihr, er werde sie nach der Geisterhalle 
geleiten, wo sie den „Geist“ in eigener Person treffen solle. Die Mädchen 
aber — setzte Thurnwalds Gewährsmann hinzu — wissen schon, worum es 
sich handelt. 

Der Vater des Bräutigams führt sie nach der Geisterhalle und läßt sie ein- 
treten. Sein „Leibfreund“, mundü, hat sich inzwischen schon nach der Halle 
begeben und erwartet dort des Freundes künftige Schwiegertochter. Wie sie 
eintritt, ergreift sie der „ mundü “ ihres künftigen Schwiegervaters an der Hand, 
während der Schwiegervater selbst sich zurückzieht und die Halle verläßt. 
Sie wird nun vom „mundü“ als „Geist“, „Kobold“ an den Platz geführt, an 
dem die (drei bis sechs Meter) langen Bambuspfeifen verborgen aufbewahrt 
werden. (Die Pfeifen, die bei vielen Zeremonien eine wichtige Rolle spielen, 
werden als die Gefäße der Geisterstimme betrachtet und ihr Anblick ist dem 
weiblichen Geschlechte bei Todesstrafe verboten. Die Frauen werden immer 
weggescheucht, wenn die Pfeifen offen oder verhüllt getragen werden.) 

Vor diesen in der Dunkelheit der Nacht und der Halle für das Mädchen 
natürlich nicht sichtbaren Pfeifen findet nun der Beischlaf zwischen der Braut 
und ihres künftigen Schwiegervaters „Sippenfreund“, mundü, als „Geist“ statt. 
Danach wird sie vom mundü nach dem Ausgang der Halle geführt und unten 
von dem wartenden Schwiegervater in Empfang genommen, der sie ihrer 
Mutter zurückbringt. Der „mundü“ aber kehrt nach Haus zurück, doch nicht 
auf geradem Weg zwischen den Dorfbewohnern hindurch, sondern auf einem 

I Umweg, um niemandem zu begegnen, denn „er schämt sich“ — wie man sagt. 

Des Bräutigams Vater begibt sich hierauf in die Geisterhalle, denn es ist 


i) Der Clan ist in zwei Sippen geteilt. Die symmetrische Teilung der Geister¬ 
balle spiegelt die Spaltung des Clans in zwei Hälften wider. 



















2o6 


Alfred Winterstein 


jetzt an ihm, die Rolle des Geistes zu spielen. Der Sippenfreund, mundü , führt 
ihm nunmehr seines Sohnes Braut zu demselben Zweck in gleicher Absicht z u 
Die „Sippenfreunde“ der Schwiegerväter dürfen ihre Geisterrolle noch 
wiederholt bei festlichen Gelegenheiten in der Halle ausüben, aber nur dort 
Dem Bräutigam bleibt die Braut versagt, bis sie ein Kind geboren hat . 1 
Das Kind, die Frucht ihres Verkehrs mit dem Sippenfreund ihres Schwieger¬ 
vaters, wird „Geisterkind “ 2 benannt. Kommt dieses zur Welt, so spricht die 
Mutter: „Wo ist dein Vater? Wer hatte mit mir Umgang?“ Der Bräutigam 
entgegnet: „Ich bin nicht sein Vater, es ist ein Geisterkind“. Sie meint dann: 
„Wie ist es zugegangen, daß ich mit einem Geist zu tun hatte?“ Es scheint 
also, daß die Braut auf das Ereignis der Kohabitation wie auf einen Vorgang 
blickt, der ihr nicht voll zu Bewußtsein gekommen ist. 

Mit Recht vermutet Thurnwald 3 in der Ablehnung der Defloration von 
seiten des Vaters des Bräutigams eine Neuerung und betrachtet das Anerbieten 
selbst als den Bestandteil eines alten Brauches. Danach hätte also der Vater 
die Braut des Sohnes defloriert, eine Sitte, die auch in abgeschwächter Form 
als Wohnen beim Schwiegervater vorkommt . 4 

Auf den Marshall-Inseln waren früher mit dem Eintritt der Pubertät bei 
einer Häuptlingstochter viele Zeremonien verbunden. Nach der Salbung durch 
eine Zauberin nahm das Mädchen ein Bad, das sie während der zwei bis 
drei Wochen dauernden Feier täglich dreimal wiederholte. Den Weg der 
Häuptlingstochter zum Bad durfte sonst niemand betreten. Ihre Haltung und 
ihre Lage hatten sich Tag und Nacht nach bestimmten Vorschriften zu richten. 
Zum Schlüsse der Feier gab man ein großes Essen, an dem alle Untertanen 
teilnahmen. Von jetzt an durften die Eltern des Mädchens, die sich während 
der Feier voneinander enthalten hatten, wieder Zusammenkommen. Das Mädchen 
wurde in der nächsten Nacht der Feier von einem hohen Mitglied der 
Familie, das auch der eigene Vater sein konnte, defloriert und 
konnte in jeder der folgenden Nächte mit ihm verkehren. In Ermanglung 
eines ebenbürtigen Mannes auf der Insel holte man einen von einer anderen 
Insel. Die Pubertätsfeier gewöhnlicher Mädchen durfte nur im Kreise der 


1) Bei den Tai-Shan-Stämmen in China wird die Ehe erst geschlossen, wenn ein 
Kind geboren worden ist. (Strzoda: Die Li auf Hainan. Zeitschr. f. Ethn. 1911, 
S. 203.) Darüber, daß die Ehe als nicht vollständig betrachtet wird, solange kein 
Kind geboren, vgl. E. Crawley: The Mystic Rose, S. 464. 

2) Daß das erste Kind als „Geistkind“ betrachtet wird, erinnert daran, daß die 
Empfängnis, die Entstehung des Kindes überhaupt, auf die Wirkung von Ahnen¬ 
geistern, wie z. B. oft in Australien, zurückgeführt wird. (Turnwald, a. a. O. S. 38.) 

3) Thurnwald, a. a. O. S. 184. 

4) Siehe Crawley: The Mystic Rose, S. 314, 347 ff. Beim Mekeo-Stamm in Neu¬ 
guinea wird die Braut nach dem Hause ihres künftigen Schwiegervaters gebracht, 
wo sie oft zwei bis drei Monate lebt, bis die Kohabitation mit ihrem künftigen 
Gatten vollzogen wird. Das Zeichen, daß die Ehe konsummiert werden darf, wird 
durch ihre Anwesenheit im Garten gegeben. (W. W. Williamson, Journ. R. Anthr. 
Inst. 1913, S. 276.) 




















Die Pubertatsriten der Afädclien und ihre Spuren im jMärchen 


Familie begangen werden. Die Eltern mußten ihre Töchter am Schlüsse der 
Feier dem Häuptling schicken, der eine Verweigerung strenge gestraft hätte. 
Auch die jetzigen Häuptlinge machen von diesem Jus primae noctis Gebrauch . 1 

Bei den Ot Danoms auf Borneo werden die Mädchen im Alter von acht 
oder zehn Jahren in einem kleinen Zimmer oder einer Zelle des Hauses ein¬ 
gesperrt und von jedem Verkehre mit der Welt für lange Zeit abgeschlossen. 
Die Zelle ist so wie das übrige Haus auf Pfählen über dem Erdboden errichtet 
und empfängt ihr Licht nur durch ein einziges schmales Fenster, das auf einen 
einsamen Platz hinausgeht, so daß das Mädchen in fast gänzlicher Finsternis 
verbleibt. Es darf das Zimmer unter gar keinem Vorwände verlassen, nicht 
einmal für die notwendigsten Bedürfnisse. Kein Familienmitglied darf das 
Mädchen während dieser Zeit sehen, eine einzige Sklavin ist zu seiner Be¬ 
dienung da. Während der Einzelhaft, die oft sieben Jahre dauert, beschäftigt 
sich das Mädchen mit dem Weben von Matten oder anderen Handarbeiten. 
Sein Wachstum verkümmert infolge des jahrelangen Mangels an Bewegung, 
und wenn es nach Erlangung der Geschlechtsreife herauskommt, ist seine Haut¬ 
farbe wachsbleich. Es werden ihm nun die Sonne, die Erde, das Wasser, die 
Bäume und die Blumen gezeigt, als ob das Mädchen neu geboren wäre. 
Hierauf wird ein großes Fest veranstaltet, ein Sklave getötet und das Mädchen 
mit dessen Blute beschmiert (Wiedergeburtszauber ). 2 

Beim Yaraikanna-S tamm der Halbinsel Kap York im nördlichen Queens¬ 
land muß ein mannbar gewordenes Mädchen einen Monat oder sechs Wochen 
lang für sich leben; kein Mann darf sie zu Gesicht bekommen, wohl aber 
jede Frau. Sie hält sich in einer Hütte oder unter einem Schutzdach auf, das 
eigens für sie gebaut wurde, und liegt rücklings auf dem Boden. Sie darf die 
Sonne nicht sehen und muß um die Zeit des Sonnenunterganges ihre Augen 
geschlossen halten, bis die Sonne untergegangen ist; denn man glaubt, daß 
andernfalls ihre Nase erkranken würde. YVahrend ihrer Absonderung darf 
sie nichts essen, was in Salzwasser lebt, sonst würde eine Schlange sie 
töten. Eine alte Frau betreut sie und versorgt sie mit Wurzeln, Yams und 
Wasser. Einige Stämme pflegen ihre Mädchen bei solchen Gelegenheiten mehr 
oder weniger tief in der Erde zu begraben, vielleicht in der Absicht, 
sie vor dem Sonnenlichte zu verstecken. Wenn unter den Eingeborenen 
des Pennefather-Flusses auf der Halbinsel Kap York in Queensland ein Mädchen 
zum erstenmal menstruiert, wird es von der Mutter zu irgendeinem abge¬ 
legenen Platze geführt, die dort ein kreisrundes Loch im Sandboden unter 
dem Schatten eines Baumes gräbt. In diesem Loch kauert das Mädchen 
mit gekreuzten Beinen und wird bis zum Gürtel mit Sand bedeckt. 
Zu beiden Seiten wird ein Grabstock fest in den Sand gepflanzt und der Platz 
mit einer Einfriedigung von Strauchwerk umgeben, ausgenommen vorn, wo 

1) Erdland: Die Marshall-Insulaner. München 1914. 

2) C. A. C. M. Schwaner: Borneo, Beschrijving van het stromgebied van den 
Banto II. (Amsterdam, 1853—1854), S. 77 ff.; W. F. A. Zimmer mann, Die Inseln 
des Indischen und Stillen Meeres II. (Berlin 1864—1865), S. 632 ff.; Otto Finsch: 
Neuguinea und seine Bewohner (Bremen 1865), S. 116 ff. 















2o8 Alfred Wmterstein 


die Mutter ein Feuer entzündet. Dort verbleibt das Mädchen den ganzen Tag, 
indem es mit gekreuzten Armen dasitzt und die Handteller auf den Sand legt. 
Es darf die Arme nicht bewegen, außer um Nahrung von der 
Mutter zu empfangen oder um sich zu kratzen; und wenn das Mädchen 
sich kratzt, darf es sich nicht mit den eigenen Händen berühren, son¬ 
dern muß zu diesem Zweck einen Holzsplitter benützen, der, wenn er 
nicht gebraucht wird, ins Haar gesteckt wird. Sie darf nur mit ihrer 
Mutter sprechen; niemand anderer würde daran denken, sich ihr zu nähern. 
Am Abend ergreift das Mädchen die zwei Grabstöcke, befreit sich mit ihrer 
Hilfe von dem darüberliegenden Sandgewicht und kehrt ins Lager zurück. 
Tags darauf wird es wieder im Sand unter dem Schatten des Baumes begraben 
und verbleibt dort bis zum Abend. Das geschieht fünf Tage lang. Nach seiner 
Rückkehr am Abend des fünften Tages wird das Mädchen von der Mutter 
mit einem Gürtel, einem Stirn- und einem Halsband aus Perlmuscheln ge¬ 
schmückt und um seine Arme, Handgelenke und über seine Brust werden 
grüne Papageienfedern gebunden; der Körper selbst wird vorn und hinten 
vom Gürtel aufwärts mit roten, weißen und gelben Klecksen bemalt. Nach 
der zweiten und dritten Menstruation wird das Mädchen in gleicher Weise 
im Sande begraben, bei der vierten darf es im Lager bleiben, indem es seinen 
Zustand bloß dadurch kennzeichnet, daß es einen Korb mit leeren 
Muscheln auf dem Bücken trägt . 1 

Nordamerika. Bei den Akt- oder Nutka -Indianern auf Vancouver Island 
werden die Mädchen nach Erreichung der Pubertät in eine Art Galerie des 
Hauses gebracht und dort vollständig mit Matten umgeben, so daß weder die 
Sonne noch ein Feuer gesehen werden kann. In diesem Käfig ver¬ 
bleiben sie viele Tage. Sie erhalten Wasser, aber keine Nahrung. Je länger 
ein Mädchen in dieser Zurückgezogenheit bleibt, desto größer ist die Ehre 
für die Eltern; aber das Mädchen ist fürs Leben in Ungnade gefallen, wenn 
bekannt wird, daß es ein Feuer oder die Sonne während seiner Ini¬ 
tiationsprüfung erblickt hat . 2 Bilder des mythischen Donnervogels 
werden auf die Schirme gemalt, hinter denen das Mädchen sich ver¬ 
steckt. (Vgl. die siamesischen Luftgeister.) Während seiner Absonderung darf es 
sich weder bewegen noch niederlegen, sondern muß immer in einer hockenden 
Stellung sitzen. Es darf sein Haar nicht mit den Händen berühren, wohl 
aber mit einem Kamm oder einem Stück Knochen kratzen, die eigens 
für diesen Zweck beschafft werden. Es ist dem Mädchen gleichfalls verboten, 
seinen Körper zu kratzen, da man annimmt, daß jeder Kratzer eine Narbe 
hinterlassen würde. Nachdem es die Reife erlangt hat, darf es durch acht Monate 
keine frischen Speisen essen, insbesondere nicht Lachs. Ja das Mädchen muß 
für sich essen und eine eigene Schale und Schüssel benützen . 3 

1) Walter E. Roth: North Queensland Ethnography. Bulletin No. 5, Superstition, 
Magic and Medicine (Brisbane 1903), S. 24 ff. 

2) G. M. Sproat: Scenes and Studies of Savage Life (London 868), iS. 93 ff- 

3) Franz Boas in Sixth Report on the North-Western Tribes of Canada, S. 40—42 
(separate reprint from the Report of the British Association for the Advancement 





























Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märeben 


209 


Bei den Tlingit (Thlinkeet) oder AoZosfe-Indianern in Alaska pflegte 
ein Mädchen, wenn es Zeichen der Weiblichkeit verriet, in einer kleinen 
Hütte oder einem Käfig eingeschlossen zu werden, der als einzige Öff¬ 
nung ein kleines Luftloch besaß. In diesem dunkeln und schmutzigen 
Wohnort mußte es ein Jahr verbleiben, ohne Feuer, Bewegung oder Gefährten . * 1 
Nur die Mutter und eine Sklavin durften der Jungfrau Nahrung bringen. Die 
Speisen wurden ihr durch das kleine Fenster hereingereicht und sie mußte 
aus dem Flügelknochen eines weißköpfigen Adlers trinken. Der Zeitraum 
ihrer Absonderung wurde später an manchen Orten auf sechs oder drei oder 
noch weniger Monate herabgesetzt. Sie mußte eine Art Hut 2 mit breiten 
Krempen tragen, damit ihr Blick nicht den Himmel beflecke; denn man glaubte, 
daß sie nicht geeignet sei, von der Sonne beschienen zu werden, und daß 
ihr Blick das Glück eines Jägers, Fischers oder Spielers zerstören, Gegenstände 
in Stein verwandeln und anderen Unfug anstiften werde . 3 Am Ende ihrer 
Isolierung wurden ihre alten Kleider verbrannt, neue angefertigt und ein Fest 
veranstaltet, bei dem parallel zum Munde ein Schlitz in die Unterlippe des 
Mädchens geschnitten und ein Stück Holz oder eine Muschel hineingesteckt 
wurde, um den Schlitz offen zu halten . 4 

Bei den Hareshin Tinneh -Indianern in Alaska wurde ein Mädchen zur Zeit 


of Science, Leeds meeting 1890). Das Verbot, sich niederzulegen, wird auch von 
Tsimshian-Mädchen während ihrer Zurückgezogenheit in der Pubertät beobachtet: sie 
sitzen immer aufgestützt zwischen Kästen und Matten, ihre Köpfe sind mit kleinen 
Matten bedeckt und sie dürfen nicht Männer, frischen Lachs und Olachen anschauen. 
Bei dem Bilqula-Sta.mm in Britisch-Columbia sagt man: Ißt ein Mädchen zur kritischen 
Zeit frischen Lachs, so verliert es das Bewußtsein oder sein Mund wird zu einem 
langen Schnabel. — Einige Priesterkönige dürfen sich auch nicht niederlegen. Vgl. 
J. G. Frazer: Taboo and the Perils of the Soul. S. 5 (Part II of The Golden Bough). 

1) Bei den Eskimo auf Alaska wird das Mädchen in eine kleine Hütte eingesperrt 
und muß sechs Monate auf den Händen und Knien bleiben. 

2) Bei den Haida -Indianern auf Queen Charlotte Island tragen die Mädchen 
während der Pubertät nahezu kegelförmige Kopfbedeckungen. 

3) Bei mehreren Stämmen ist der Glauben verbreitet, daß schlechtes Wetter eintreten 
würde, wenn das Mädchen auf den Himmel blickte oder sein Antlitz der Sonne zeigte. 

4) Bei PIoß-Renz (Das Kind. Leipzig 1912, II. Bd., S. 746) ist von einem 
Silberstift die Rede, der als Zeichen der Reife hineingesteckt wird. — G. H. von 
Langsdorff: Reise um die Welt II. (Frankfurt 1812), S. 114 ff.; H. J. Holmberg: 
Ethnographische Skizzen über die Völker des Russischen Amerika. Acta Societatis 
Scientiarum Fennicae, IV. (Helsingfors 1856), S. 319 ff.; T. de Pauly: Descriptions 
Ethnographiques des Peuples de la Russie (St. Petersbourg 1862). Peuples de l’Am&ri- 
que Russe, S. 13; A. Erman: Ethnographische Wahrnehmungen und Erfahrungen an 
den Küsten des Berings-Meeres. Zeitschrift für Ethnologie, II. (1870), S. 318 ff.; 
H. H. Banci:oft: Native Races of the Pacific States I. (London 1875—1876), S. 110 ff.; 
Rev. Sheldon J ackson: Alaska and its Inhabitants, The American Antiquarian, II. 
(Chicago 1879—1880), S. 111. ff.; A. Woldt: Capitän Jacobsens Reise an der Nord¬ 
westküste Amerikas, 1881 —1883 (Leipzig 1884), S. 393; Aurel Krause: Die Tlinkit- 
Indianer (Jena 1885), S. 217 ff.; W. M. Grant in Journal of American Folk-Lore, I. 
(1888), S. 169; John R. Swanton: Social Conditions, Beliefs and Linguistic Relation- 


















210 


Alfred Winterstein 


der Pubertät für fünf Tage in einer Hütte abgesondert, die eigens für den 
Zweck erbaut wurde; sie darf nur aus einer Röhre trinken, die aus den Knochen 
eines Schwans verfertigt wird, und weder den Knochen eines Hasen brechen 
noch Blut schmecken noch das Herz oder Fett von Tieren noch Vogeleier 
essen . * 1 Bei den Tinneh-Indieinern des mittleren Yukontales in Alaska dauert 
die Zeit der Klausur des Mädchens genau einen Mondmonat; denn es wird 
der Tag des Monats, an dem die Symptome zuerst auftreten, aufgezeichnet 
und die Novize bis zum selben Tage des nächsten Monats abgesondert. Ist es 
Winter, so wird ein Winkel des Hauses für sie durch eine Decke oder ein 
Segeltuch abgetrennt; ist es Sommer, für sie ein kleines Zelt in der Nähe des 
gemeinsamen aufgestellt. Dort wohnt und schläft sie. Sie trägt ein langes Kleid 
und eine große Kopfbedeckung, die sie, so oft sie die Hütte verläßt, über die 
Augen ziehen und bis zu ihrer Rückkehr unten lassen muß. Sie darf weder 
mit einem Manne sprechen noch sein Gesicht sehen, viel weniger seine 
Kleider berühren oder etwas, was ihm gehört; denn täte sie das, würde ihr 
zwar kein Übel widerfahren, aber der Mann würde unmännlich werden. Sie 
hat ihre eigenen Schüsseln, um daraus zu essen, und darf keine anderen be¬ 
nützen; in Kaltag muß sie das Wasser durch den Knochen eines Schwans 
einsaugen, ohne die Schale mit ihren Lippen zu berühren. Sie darf kein 
frisches Fleisch und keinen Fisch essen, ausgenommen das Fleisch des Stachel¬ 
schweins. Sie darf sich nicht entkleiden, sondern schläft mit allen ihren Kleidern, 
selbst mit ihren Handschuhen. Unter ihren Socken trägt sie unmittelbar auf 
der Haut die von den Füßen eines Stachelschweins abgeschnittenen Horn¬ 
sohlen, damit für den Rest ihres Lebens ihre Schuhe niemals abgenützt werden. 
Um die Hüften trägt sie eine Schnur, an der die Oberschenkel eines Stachel¬ 
schweins befestigt sind; denn von allen den Tinneh-Indianem bekannten Tieren 
leidet das Stachelschwein am wenigsten beim Gebären, es läßt ein¬ 
fach seine Jungen niederfallen und geht oder springt weiter herum, als ob 
nichts geschehen wäre. Daher läßt sich vermuten, daß ein Mädchen, das 
diese Teile eines Stachelschweins um ihren Leib trägt, ebenso mühelos ent¬ 
binden wird wie das Tier. Falls jemand zufällig ein trächtiges Stachelschwein 
während der Klausur des Mädchens tötet, wird ihr, um ganz sicher zu gehen, 
der Fötus gegeben, den sie zwischen Hemd und Körper niedergleiten läßt, 
damit er wie ein kleines Kind zu Boden falle . 2 Hier ist die Nachahmung der 
Geburt ein Stück homöopathischer oder imitativer Magie, welche die Absicht 
verfolgt, die Handlung zu erleichtern, die sie darstellt. Ähnliche Bräuche werden 
von den Thompson-lndianeYn in Britisch-Columbia 3 , den MasJcohi- (Fox-) Indianern 


ship of the Tlingit Indians, Twentysixth Annual Report of the Bureau of American 
Ethnology (Washington 1908), S. 428. 

1) Emile Petitot: Traditions Indiennes du Canada Nord-ouest (Paris 1886), S. 257 ff. 

2) Fr. Julius Jette, S. J.: On the superstitions of the Ten’a Indians. Anthropos 
VI. (1911), S. 700—702. 

5) James Teit, The Thompsons Indians of British-Columbia, S. 511—317. (The 
Jesup North Pacific Expedition, Memoir of the American Museum of Natural History, 
New York, April 1900.) 































Die Pubertätsriten der Afäddieii und ihre Spuren 1 ni jMarchen 


des westlichen Nordamerika (Sac- und Foxreservations ) 1 und anderen Stämmen 

berichtet. 

Südamerika. Die Macusi in Britisch-Guayana sondern das zum erstenmal 
menstruierende Mädchen als „unrein von allem Umgang mit den Bewohnern 
der Hütte ab. Die Hängematte des Mädchens wird „in die äußerste Kuppel¬ 
spitze* der Hütte gehängt, wo die Ärmste dem ganzen Rauche, der jetzt wo¬ 
möglich noch vermehrt wird, ausgesetzt ist. In der ersten Zeit darf sie tagsüber 
die Hängematte überhaupt nicht verlassen. Abends aber muß sie herunterkommen, 
sich an ein selbst angezündetes Feuer setzen und die Nacht an diesem zu¬ 
bringen ; sonst bekommt sie eine Menge schlimmer Geschwüre am Halse, einen 
Kropf usw. Solange die heftigsten und auffallenden Symptome des physischen 
Übergangs anhalten, bleibt sie dem strengsten Fasten unterworfen. Haben die 
Schmerzen nachgelassen, dann darf sie aus der Höhe herabsteigen und einen 
kleinen Verschlag beziehen, der unterdessen im dunkelsten Winkel der Hütte 
hergerichtet worden ist. Am Morgen kann sie sich in einem eigenen Topfe, 
an einem besonderen Feuer ihren Kassaive -Brei kochen, der während der ganzen 
Absonderungszeit ihre einzige Nahrung bildet, bis etwa nach zehn Tagen der 
Piay (Zauberer, Arzt) erscheint und sie und alles, womit sie in Berührung 
kam, entzaubert, indem er das Mädchen und die wertvolleren Sachen anbläst. 
Die von ihr gebrauchten Töpfe und Trinkschalen werden zertrümmert und 
die Scherben begraben. Nach der Rückkehr des Mädchens aus dem ersten Bade 
muß es sich während der Nacht auf einen Stein oder Stuhl setzen, wo es 
von der Mutter mit dünnen Ruten gegeißelt wird, „ohne einen Schmer- 
zenslaut ausstoßen zu dürfen, der die Schläfer in der Hütte aufwecken könnte, 
was ihr künftiges Wohl gefährden würde“. Während der zweiten Periode 
findet diese Geißelung abermals statt, später nicht mehr. Das Mädchen kann 
jetzt wieder unter den anderen Leuten erscheinen, ist rein, und wenn es 
bereits versprochen sein sollte, erscheint am folgenden Tage der Bräutigam 
in der Hütte und führt die junge Braut heim . 2 Bei anderen Indianern in 
Guayana herrscht wieder folgender Brauch. Nachdem sie die Pubertätskandi¬ 
datin in ihrer Hängematte einen Monat lang unter dem Hüttendach aufge¬ 
hängt haben, setzen sie sie den sehr schmerzvollen Bissen gewisser großer 
Ameisen aus . 3 Es heißt, daß der Zweck der Ameisenstiche der ist, sie zum 
Ertragen der Last der Mutterschaft stark zu machen . 4 

Bei den XJaupes (Waupes) in Brasilien werden die Mädchen bei Eintritt 
der Pubertät auf eine kärgliche Kost beschränkt und im oberen Teile der 
Hütte zurückgehalten, wo sie eine Emanzipationsprüfung durch schwere Streiche 


1) Owen: Folk-Lore of the Musquakie Indians. London 1904. 

2) R. Schomburgk: Reisen in Britisch-Guiana II. (Leipzig 1847—1848), S. 315 ff.; 
C. F. Ph. von Martius: Zur Ethnographie Amerikas, zumal Brasiliens (Leipzig 1867), 
S. 644. 

3) Labat: Voyage du Chevalier des Marchais en Guinee, Isles voisines et ä 
Cayenne IV, S. 365 ff. (Paris 1730), S. 17 ff. (Amsterdam 1731). 

4) A. Caul in: Historia Corographica natural y evangelica de la Nueva Andalucia 
(*779)1 S. 93. 










212 


Alfred Winterstein 


mit schmiegsamen Ranken der Sipo-Pflanze zu überstehen haben. Sie empfangen 
von jedem Familienmitgliede und Freunde mehrere Hiebe über den 
ganzen nackten Leib, die oft bis zur Ohnmacht, ja zum Tode führen. Diese 
Exekution wird in sechsstündigen Zwischenräumen viermal wiederholt; es gilt 
als eine Beleidigung der Eltern, nicht heftig zu schlagen . 1 

Bei den Guaranis in Südbrasilien, an der Grenze von Paraguay, pflegte 
man ein Mädchen nach Eintritt der Pubertätssymptome in ihre Hängematte 
einzunähen, wobei man nur eine kleine Öffnung zum Atemholen freiließ . 2 
Eingewickelt und eingehüllt wie ein Leichnam, verblieb die Kandidatin 
in dieser Verfassung zwei oder drei Tage oder solange eben ihre Symptome 
dauerten, und hatte während dieser Zeit ein sehr strenges Fasten zu beobachten. 
Nachher wurde sie einem alten Weibe anvertraut, das ihr die Haare schnitt 
und ihr zur Pflicht machte, jeglichen Fleischgenuß 3 unbedingt zu vermeiden, 
bis ihr Haar lange genug nachgewachsen wäre, um ihre Ohren zu verbergen. 
Unterdessen zogen die Wahrsager Schlüsse auf ihren zukünftigen Charakter 
aus den Vögeln oder Tieren, die vorüberflogen oder ihren Pfad kreuzten. 
Erblickten sie einen Papagei, so sagten sie, sie sei eine Plaudertasche. Sahen 
sie eine Eule, war sie faul und für häusliche Arbeiten nicht zu brauchen usw . 4 
Unter ähnlichen Umständen zogen die Chiriguanos des südöstlichen Bolivien 
das Mädchen in ihrer Hängematte bis zum Dache hinauf, wo es einen Monat 
verblieb; im zweiten Monat wurde die Hängematte bis zur halben Höhe vom 
Dache herabgelassen; und im dritten Monat betraten mit Stöcken bewaffnete 
alte Weiber die Hütte und liefen dort herum, indem sie alles, was ihnen in 
den Weg kam, mit der Begründung schlugen, daß sie die Schlange jagten, 
die das Mädchen verwundet habe . 5 Die Lengua -Indianer im Gran Chako 
(Paraguay) hängen ein Mädchen nach Eintritt der Pubertät gleichfalls unterm 
Dache des Hauses auf. Ist sie genötigt, die Hängematte für kurze Zeit zu ver¬ 
lassen, so geben ihre Freunde sehr acht, um sie vor der Berührung des 
Boyrusu zu schützen, einer Fabelschlange, die sie verschlingen würde. 
Am dritten Tage läßt man sie von der Hängematte heräbsteigen, schneidet 
ihre Haare und heißt sie in einem Winkel des Zimmers mit dem Gesichte 


1) A. R. Wallace: Narrative of travels on the Amazon and Rio Negro, S. 496 
(S. 345 of the Minerva Library edition, London 1889). 

2) Bei den Coroados (Puri) im südöstlichen Brasilien sollen die Mädchen die 
Zeit ihrer ersten Menstruation in einem Behälter (casca ) aus Baumrinde zubringen. 

3) Bei den Indianern des südöstlichen Brasilien bestand nach den Berichten eines 
Reisenden des sechzehnten Jahrhunderts das gleiche Verbot für Salz. 

4) Jose Guevara: Historia del Paraguay, Rio de la Plata y Tucuman, S. 16 ff. 
in Pedrö de Angelis, Goleccion de Obras y Documentos relativos a la Historia antigua 
y moderna de las Provincias del Rio de la Plata, vol. I (Buenos Aires 1836); 
J. F. Lafitan: Moeurs des Sauvages Ameriquains (Paris 1724), I. S. 262 ff. 

5) Pere Ignace Chome in: Lettres 6difiantes et curieuses, Nouvelle edition 
(Paris 1780—1783), VIII, S. 325; G.F. Phil. v. Martius: Zur Ethnographie Amerikas, 
zumal Brasiliens (Leipzig 1867), S. 212 ff.; Colonel G. E. Church: Aborigines of 
South America (London 1912), S. 207—227. 




















Die Puhertätsriten der .Mädchen und ihre Spuren im M^ärchen 2i3 


gegen die Wand sitzen. Sie darf mit niemand sprechen und muß sich vom 
Fisch- und Fleischgenuß enthalten. Diese strengen Bräuche muß sie 
fast ein Jahr lang beobachten. Viele Mädchen sterben oder sind für ihr Leben 
infolge der Mühsal beschädigt, die sie in dieser Zeit auszustehen haben. Spinnen 
und Weben ist ihre einzige Beschäftigung während der Isolierung . 1 

Bei den Tapuya , einem Zweig der Ges an der brasilianischen Ostküste, 
fand Johann Rabe um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts folgenden 
Brauch: Die Mutter meldete die eingetretene Reife ihrer Tochter den Priestern, 
die das Ereignis dem Häuptling hinterbrachten. Hierauf führte man diesem 
das rot angestrichene Mädchen mit bekränztem Haupte vor. Der Häuptling 
beräucherte sie und sich selbst mit Tabak und schoß einen Pfeil nach dem 
Kranze ab. Traf er so, daß Blut floß, dann leckte er dieses ab und das 
Mädchen hatte Hoffnung auf ein langes Leben . 2 

Bei den Banivas im Gebiete des Orinoco muß ein Mädchen bei seiner 
ersten Menstruation einige Tage und Nächte in seiner Hängematte fast be¬ 
wegungslos zubringen und erhält als Speise und Trank bloß etwas Kassaive-Brei 
und Wasser. Während sie dort liegt, halten die Bewerber bei ihrem Vater 
um ihre Hand an und dem, der am meisten geben kann oder sich als der 
tüchtigste Mann erweist, wird die Jungfrau versprochen. Ist die Fastenzeit 
vorüber, betreten einige alte Männer die Hütte, verbinden der Novize die 
Augen, bedecken ihren Kopf mit einem Hut, dessen Fransen auf ihre Schultern 
fallen, führen sie hinaus und binden sie an einen Pfahl, der auf einem offenen 
Platz aufgestellt ist. Der Kopf des Pfostens ist nach Art eines grotesken Gesichtes 
geschnitzt. Nur die alten Männer dürfen Zeugen des Folgenden sein. Würde 
man eine Frau beim Zuschauen ertappen, würde es ihr übel ergehen; sie 
würde für die Rache des Dämons ausgezeichnet sein, der sie im nächsten 
Monat ihr Vergehen mit Wahnsinn oder Tod büßen lassen würde. Jeder 
Teilnehmer dieser Zeremonie erscheint bewaffnet mit einer Geißel aus Stricken 
oder Fischhäuten; manche verstärken die Kraft des Werkzeuges, indem sie 
kleine scharfe Steine an die Enden der Riemen binden. Dann bewegen sich 
die Männer zu den gräßlichen und betäubenden Klängen von Muscheltrompeten, 
die von zwei oder drei Überzähligen geblasen werden, im Kreise um den 
Pfahl, wobei jeder im Vorübergehen mit seiner Geißel den Rücken des Mädchens 
bearbeitet, bis das Blut in Strömen hinunterfließt. Zuletzt nähern sich die 
Musikanten, indem sie gewaltige Hornstöße gegen den Dämon ertönen lassen, 
und berühren den Pfosten, in dem er angeblich verkörpert ist. Dann hören 
die Schläge auf; das Mädchen wird, oft in ohnmächtigem Zustande, losgebunden 
und weggetragen, damit seine Wunden gewaschen und Heilkräuter aufgelegt 
werden. Der jüngste der Vollzieher oder richtiger der Exorzisten beeilt sich, 
den versprochenen Ehegatten von dem glücklichen Ausgang der Austreibung zu 

1) A. Thouar: Explorations dans l’Amerique du Sud (Paris 1891), S. 48 ff.; G. Kurze: 
Sitten und Gebräuche der Lengua-Indianer. Mitteilungen der Geographischen Gesell¬ 
schaft zu Jena, XXIII. (1905), S. 26 ff. 

2) O. Dapper: Umständliche und eigentliche Beschreibung von Afrika. Amster¬ 
dam 1670. 


Imago XIV. 


15 















Alfred VGnterstein 


21-4 


benachrichtigen. „Der Geist“, sagt er, „hat deine Geliebte in einen Schlaf 
versenkt, der fast so tief ist wie der des Todes. Doch wir haben sie 
von seinen Angriffen befreit und dort und dort niedergelegt. Geh sie suchen.“ 
Dann geht er durch das Dorf von Haus zu Haus und ruft den Bewohnern 
zu: „Kommt, laßt uns den Dämon verbrennen, der von dem Mädchen, unserer 
Freundin, Besitz ergriffen hätte . u Der Bräutigam trägt sofort seine verwundete 
und leidende Braut in sein eigenes Haus; und alle Leute versammeln sich 
um den Pfahl um des Vergnügens willen, ihn und den Dämon zusammen z u 
verbrennen. Ein großer Scheiterhaufen ist inzwischen rundherum aufgeschichtet 
worden; die Weiber rennen um den Scheiterhaufen und verfluchen mit schrillen 
Stimmen den bösen Geist, der all das Übel angestiftet hat. Die Männer stimmen 
mit rauheren Lauten ein und feuern einander zu dem im Gange befindlichen 
Geschäfte durch tiefe Schlucke eines berauschenden Getränkes an, das für 
diese Gelegenheit von den Schwiegereltern bereitgestellt wurde. Bald erscheint 
der Bräutigam, nachdem er die Braut der Obhut seiner Mutter anvertraut 
hat, eine entzündete Fackel schwingend, auf der Bildfläche. Er wendet sich 
mit bitterem Spott und mit Vorwürfen an den Dämon, teilt ihm mit, daß 
das holde Geschöpf, gegen das er verruchte Absichten hegte, jetzt seine, des 
Bräutigams, blühende Braut sei, und indem er seine Fackel gegen das grinsende 
Haupt auf dem Pfahle schüttelt, ruft er aus: „Dies ist die Art, wie die 
Opfer deiner Verfolgung an dir Bache nehmen.“ Mit diesen Worten entzündet 
er den Scheiterhaufen. Auf einmal rühren sich die Trommeln, schmettern die 
Trompeten, und Männer, Weiber und Kinder beginnen zu tanzen. Sie tanzen 
in zwei langen Leihen, die Männer auf einer Seite, die Frauen auf der 
andern, indem sie Vorgehen, bis sie einander fast berühren, und sich dann 
wieder zurückziehen. Hernach geben die zwei Reihen einander die Hände, 
bilden einen großen Kreis und hüpfen rings um die Glut, bis der Pfahl mit 
seinem grotesken Gesichte von den Flammen verzehrt ist und nichts vom 
Scheiterhaufen übrigbleibt als ein Häufchen rotglühender Asche. „Der böse 
Geist ist vernichtet worden. Auf diese Weise von ihrem Verfolger befreit, 
wird die junge Frau von Krankheit verschont bleiben, nicht im Kindbette 
sterben und ihrem Gatten viele Kinder gebären .“ 1 Aus diesem Berichte geht 
hervor, daß die Banivas die Pubertätssymptome der Mädchen den 
ihnen von einem verliebten Teufel zugefügten Wunden zuschreiben, 
der nicht allein ausgetrieben, sondern am Pfahle zu Asche verbrannt werden 
kann . 2 

Asien. Wenn ein Hindumädchen das Alter der Reife erreicht, wird es 
in einem dunkeln Zimmer vier Tage lang zurückgehalten und darf die 
Sonne nicht sehen. Sie wird als unrein betrachtet; niemand darf sie be¬ 
rühren. Ihre Diät beschränkt sich auf gekochten Reis, Milch, Zucker, Käse¬ 
quark und Tamarinde ohne Salz. Am Morgen des fünften Tages geht sie 
zu einer in der Nähe befindlichen Zisterne, begleitet von fünf Frauen, deren 


1) J. Chaffanjon: L’Orinoque et la Gaura (Paris 1889), S. 213—215. 

2) Die Bemerkung stammt von Fra2er, a. a. O., I, S. 68. 










































Die PnLertätsnten der ALädclieii und ihre Spuren im Märdien 


216 


Männer leben. Die Frauen beschmieren sich mit Gelbwurzwasser, baden und 
kehren heim; die Matte und andere Dinge, die im Zimmer waren, werden 
dann weggeworfen . 1 Die JWÄf-Brahmanen von Bengal nötigen ein Mädchen 
in der Pubertät allein zu leben, und erlauben ihr nicht, das Gesicht eines 
Mannes zu sehen. Drei Tage bleibt sie in einem dunkeln Zimmer eingesperrt 
und hat gewisse Kasteiungen durchzumachen. Fisch, Fleisch und Süßspeisen 
sind verboten; sie muß von Reis und zerlassener Butter leben . 2 Bei den Tiyan 
in Malabar wird ein Mädchen vom Beginn seiner ersten Menstruation an 
durch vier Tage für unrein gehalten. Während dieser Zeit muß sie sich auf 
der Nordseite des Hauses aufhalten, wo sie auf einer besonderen Grasmatte 
schläft, in einem Zimmer, das mit Girlanden aus jungen Kokosnußblättem 
bekränzt ist. Ein zweites Mädchen leistet ihr Gesellschaft und schläft mit ihr, 
doch darf sie keinen anderen Menschen, keinen Baum und keine Pflanze be¬ 
rühren. Sie darf auch nicht den Himmel sehen und wehe ihr, wenn sie 
einer Krähe oder einer Katze ansichtig würde. Ihre Diät muß streng vege¬ 
tarisch sein, ohne Salz, Tamarinden oder Pfefferschoten. Sie ist gegen böse 
Geister mit einem Messer bewaffnet, das entweder auf der Matte liegt oder 
am Leibe getragen wird . 3 Bei den Kap-piliyan von Madura und Tinnevelly 
gilt ein Mädchen bei seiner ersten Periode durch dreizehn Tage für unrein 
und muß sich entweder in einem Winkel des Hauses auf halten, der für die 
Novize von ihrem mütterlichen Onkel abgeteilt wird, oder in einer Hütte, 
die eigens zu dem Zwecke von dem nämlichen Verwandten auf dem Gemeinde¬ 
grund errichtet wird. Am dreizehnten Tage badet sie in einer Zisterne und 
schreitet beim Betreten des Hauses über eine Mörserkeule und einen Kuchen. 
Nahe dem Eingänge wird eine Speise hingestellt. Ein Hund darf davon kosten, 
aber sein Vergnügen wird durch Schmerzen beeinträchtigt; denn während er 
frißt, erhält er eine ordentliche Tracht Prügel, und je lauter er heult, desto 
besser, weil die Familie, die die junge Frau gebären wird, um so größer sein 
wird; heult der Hund nicht, dann wird es keine Kinder geben. Die provi¬ 
sorische Hütte, in der die Novize die Tage ihrer Absonderung zubrachte, wird 
niedergebrannt, die Töpfe, die sie gebrauchte, werden zu Scherben zerschlagen . 4 
Ähnliche Sitten herrschen bei den Parivar am in Madura und den Pulavar von 
Travancore. Bei den Singhalesen wird ein Mädchen während der ersten Men¬ 
struation in ein Zimmer eingeschlossen, wo es weder einen Mann sehen noch 
von einem solchen gesehen werden darf. Nachdem die Klausur auf diese Weise 
zwei Wochen gedauert hat, wird die Jungfrau mit verhülltem Gesichte heraus¬ 
geführt und von Frauen auf der Rückseite des Hauses gebadet. In der Nähe 
des Badeplatzes werden Zweige irgendeines milchspendenden Baumes, gewöhn¬ 
lich des JhÄ;-Baumes, niedergelegt. In manchen Fällen verbleibt das Mädchen 

1) Shib Chunder Bose: The Hindoos as they are (London and Calcutta 1881), S. 86. 

2 ) H. H. Risley: Tribes and Castes of Bengal, Ethnographie Glossary (Calcutta 
1 89 1 /9 2 ), I, S. 152. 

3 ) Edgar Thurston: Castes and Tribes of Southern India VII. (Madras 1909), 
S. 65 ff. 

4) Edgar Thurston, a. a. O., III, S. 218. 


i 5 ’ 














Alfred Winterstem 


21G 


während der Periode der Unreinheit in einer eigenen Hütte, die später nieder¬ 
gebrannt wird . 1 

In Kambodscha wird ein Mädchen nach Eintritt der Pubertät ins Bett 
unter einen Moskito Vorhang gelegt, wo sie hundert Tage verbringen sollte 
Gewöhnlich hält man aber vier, fünf, zehn oder zwanzig Tage für entsprechend 
lang; doch selbst das ist in einem heißen Klima und unter den dichten Maschen 
des Vorhanges genügend peinlich . 2 3 Nach einem anderen Berichte treten dort 
die Mädchen mit beginnender Reife „in den Schatten ein“, und während sie 
vorher „Prohmacarey “, unantastbare Gattinnen Pr ah Ens (Indras) waren 
gelten sie jetzt als Gattinnen Reas (Ravanas) und auch in dieser Zeit wäre 
es ein Sakrilegium, sie zu verführen. Während ihrer Zurückgezogenheit, die 
je nach Rang und Stellung der Familie von drei Tagen bis zu mehreren 
Jahren dauert, hat die Kandidatin eine Reihe von Verhaltungsmaßregeln zu 
beobachten: „Laß dich vor keinem fremden Manne sehen; schau einen solchen 
selbst verstohlenerweise nicht an; nimm wie die Bonzen deine Nahrung nur 
zwischen Sonnenaufgang und Mittag; iß nur Reis, Salz, Kokosnuß, Erbsen, 
Sesam und Früchte; enthalte dich von Fisch und jeglichem Fleisch. Bade dich 
nur, wenn die Nacht eingetreten ist, zu einer Stunde, wenn man die Menschen 
nicht mehr erkennt, damit du von keinem lebenden Wesen gesehen wirst.“ 
Im Dunkel der Nacht darf das Mädchen in Begleitung seiner Schwestern oder 
anderer Verwandter ausgehen. Sonst arbeitet es im Hause und darf weder in 
die Pagode noch sonst wohin gehen. Wird es aber dunkel, dann versieht es 
sich mit Betel und dem nötigen Zubehör, zündet Lichter und Räucherkerzen 
an und geht fort, um Rahup den Urheber der Finsternis, anzubeten, auf daß 
es glücklich werde. Dann kehrt das Mädchen wieder „in den Schatten“ zu¬ 
rück. Dieser Zustand der Absonderung wird auch während einer Sonnen- oder 
Mondesfinsternis unterbrochen; in solchen Zeiten verläßt die Novize das Haus 
und bezeigt ihre Verehrung dem Ungeheuer, von dem man annimmt, daß es 
die Finsternisse dadurch verursacht, daß es die Himmelskörper zwischen seinen 
Zähnen festklemmt . 4 Die Erlaubnis, die Klausur zu durchbrechen und während 
einer Finsternis außer dem Hause zu erscheinen, zeigt, wie wörtlich die Ver¬ 
pflichtung genommen wird, die den Mädchen in der Pubertät verbietet, in die 
Sonne zu schauen . 5 Zum endgültigen Austritt aus der Zurückgezogenheit wählen 
wohlhabende Leute mit Vorliebe die Monate Januar, Februar oder Mai, wozu 
sie Bonzen kommen und beten lassen, vor denen sich das Mädchen nieder¬ 
wirft. Auch Nachbarn und Freunde werden zu diesem Feste geladen. Bei 


1) Arthur A. Perera; Glimpses of Singhalese Social Life. Indian Antiquary XXXI. 
(1902), S. 580. 

2) J. Moura: Le Royaume du Cambodge (Paris 1885), I, S. 577. 

3) Aus den Berichten geht nicht mit Sicherheit hervor, ob Rahu mit Rea , dem 
Gatten^ der Pubertätskandidatin, identisch ist. 

4) Etienne Aymonier: Notes sur les coutumes et croyances superstitieuses des 
Cambodgiens, CochinchineFrancaiserExcursions et Reconnaisances, No. 16 
(Saigon 1885), S. 193 ff. — Dieses Ungeheuer ist wohl mit Rahu identisch. 

5 ) ' Die Bemerkung stammt von Frazer (a. a. O., I, S. 70). 

















Die Puhertätsriten der Aläddien und ilire Spuren im jMärdien 


dieser Gelegenheit werden dem Mädchen ferner bisweilen gleich die Zähne 
gefärbt, statt, wie es die Regel ist, bis zur Hochzeit zu warten. 1 

Beschneidung. Ähnlich wie die Knabenbeschneidung spielt auch die Be¬ 
schneidung bei den Pubertätszeremonien der Mädchen an vielen Orten eine 
wichtige Rohe. Wir werden uns darauf beschränken, im nachstehenden solche 
Fälle anzuführen, die auf einen Zusammenhang mit den Mädchenweihen 
schließen lassen, wenn dies auch aus den Berichten nicht immer ganz klar 
hervorgeht. Die zahlreichen Fälle der Beschneidung in einem anderen Alter 
sowie die von der Beschneidung abweichenden sexuellen Operationen, die am 
weiblichen Geschlechte bei manchen Völkern vorgenommen werden, sollen 
hier unberücksichtigt bleiben (künstliche Verlängerung der weiblichen Geni¬ 
talien, Infibulation, Defiorierung im Kindesalter, 2 operative Eingriffe in die 
Eierstöcke). 

In Persien ist es nach Chardin 3 bei einigen Nomadenstämmen Brauch, 
die Mädchen mit Eintritt der Pubertät zu beschneiden. Die Beschneidung der 
mannbaren Mädchen war im alten Ägypten ein feierlicher Akt, nach dessen 
Vollzug diese als heiratsfähig galten. Von großer ethischer, sozialer und reli¬ 
giöser Bedeutung ist die Beschneidung bei den Kihuyu in Britisch-Ostafrika. 
Cayzac 4 bezeichnet diese Operation, der sich die Knaben und Mädchen nach 
Eintritt der Geschlechtsreife unterwerfen müssen, als den wichtigsten und 
feierlichsten Ritus im Leben der Kihuyu. Am Vorabend statten die Kandidaten 
dem „heiligen Baum“, dem Baume Gottes und Tempel des Ortes, einen Besuch 
ab, um ihm singend zu verkünden, daß sie nun das Kindesalter hinter sich 
haben und zur Würde eines Mannes und eines Weibes gelangt sind. Jedes 
schneidet von dem heiligen Baum einen Zweig ab, um ihn am folgenden 
Tage, während der Operation, neben sich zu legen. Am Morgen des Beschnei¬ 
dungstages begleitet man die Kandidaten beiderlei Geschlechtes in Prozession 
zu dem Fluß, in den sich diese dann stürzen. Hierauf werden sie unter Sieges¬ 
rufen auf die Beschneidungsstätte geführt. Auch dieses Bad ist nach Cayzac 
ein Beweis für die sittlich-religiöse Bedeutung der Beschneidung. Es bedeutet 
für den Kihuyu das gleiche wie diese selbst, d. h. Reinigung von der Sünde. 
Daher hat dort der Ausdruck „sich in den Fluß stürzen“ den gleichen Sinn 
wie „sich beschneiden lassen“. Nach der Auffassung der Kihuyu ist die durch 
die Beschneidung wegzunehmende Sünde die Ursache aller Übel, auch des 
Todes; mit der Sünde kann man nur Blutsverwandte infizieren, 5 
die Sünde, also auch die Ursache aller Übel, wird hauptsächlich durch die 
Zeugung auf die Nachkommen übertragen. Deshalb müssen beide Geschlechter 
beschnitten werden, ehe sie der Zeugung fähig sind; denn nur so sind ihre 

1) Anonymus im Globus, Bd. 48, S. 109 f. 

2) Die künstliche Defiorierung zur Zeit der Pubertät behandle ich auch in diesem 
Abschnitt, wenngleich sie nicht als Beschneidung im strengen Sinne des Wortes auf¬ 
zufassen ist. 

5) Chardin: Voyage en Perse, X, S. 76, ed. Amsterdam. 

4) Cayzac: La religion des Kihuyu (Afrique Orientale). Anthropos V, 1910 

5) Von mir gesperrt. 
















2i 8 Alfred Winterstem 


Nachkommen vor dem Übel geschützt. Es gilt als Sünde, wenn ein Mädchen 
die erste Regel hat, ehe sie beschnitten ist. Der frühere Brauch, daß nach 
der Beschneidung Burschen an einem abgelegenen Ort ein altes Weib zum 
ersten Koitus mißbrauchten 1 und hierauf zu Tode steinigten, um den 
nach Kikuyu-Glsiuben. auf den ersten Koitus folgenden Tod 1 auf dieses 
Weib zu wälzen, hatte seine Parallele in dem Brauch der beschnittenen Mäd¬ 
chen, sich nach der Operation mit einem unbeschnittenen Knaben zu verbinden 
Getötet brauchte dieser deshalb noch nicht zu werden, weil der Unbe¬ 
schnittene noch nicht als Mensch galt. Nachdem die Kandidaten beider 
Geschlechter beschnitten sind, führen die männlichen Mitglieder des Stammes um 
die Burschen, die weiblichen um die Mädchen einen Tanz auf; man hüllt 
die auf der Erde sitzenden Beschnittenen so in Leder, 1 daß nur der Kopf 
frei bleibt, die Angehörigen schütten ihnen Ströme von Milch 1 über den 
Kopf und Körper und nun gelten die jungen Leute als Erwachsene und 
Stammesmitglieder. Mädchenbeschneidung erwähnt Ploß 2 auch bei den Wa- 
i kamba , Wanika und Wadschagga. Auch von den ostafrikanischen Wapokomo, 
einem Nachbarvolke der Somali , den Waboni und JVasanja wird Ähnliches 
berichtet, wenn sie auch dort nicht so allgemein zu sein scheint. 

Über die Mädchenbeschneidung bei den im nördlichen ehemaligen Deutsch- 
Ostafrika lebenden Massai und Bakulia liegen ausführliche Schilderungen vor. 3 
Die Mädchenbeschneidung findet bei den Massai meist zwischen zwölf und 
vierzehn Jahren statt, d. h. wenn die schon vorher im Kriegerkraal zügellos 
lebenden Mädchen merken, daß ihre Reife herannaht. Dann verlassen sie den 
Kraal, begeben sich zu ihren Müttern und diese verabreden sich untereinander 
über den Tag einer gemeinschaftlichen Operation. Steht eine Knabenbeschnei¬ 
dung bevor, so wartet man diesen Tag ab, wählt jedoch einen anderen Ort, 
häufig die mütterliche Hütte. Am Tage vor der Operation rasiert man den 
Mädchen das Kopfhaar ab. Die Beschneidung besteht im Abtrennen der Kli¬ 
toris, die vorher mit kaltem Wasser unempfindlich gemacht wird. Während 
der Handlung sitzt das Mädchen auf einem langen, schmucklosen Lederschurz, 
der nun an Stelle der bisherigen Kleidung tritt. Als Operateurin fungiert die 
weise Frau; die unbedeutende Wunde wird mit Milch gewaschen. 

Die Mädchen der Bakulia werden im Alter von neun bis zwölf Jahren 
beschnitten. Auch hier sind die sogenannten weisen Frauen, sonst Geburts¬ 
helferinnen, die Operateure. Die von den weisen Frauen gegebenen Lehren 
beziehen sich besonders auf das Geschlechtsleben, doch auch auf das sonstige 
Verhalten für die Zukunft. Diese Frauen bleiben die Beraterinnen der Be¬ 
schnittenen für das spätere Leben. Die Operation, Abtrennen der Klitoris, 
findet statt, während die Mädchen sitzen. Unmittelbar darauf folgt das Rasieren 
des Haupthaares. Die Heilung, die durch nichts unterstützt wird, warten die 
Mädchen in den Hütten ihrer Mütter ab, worauf wie bei den Knaben große 


1) Von mir gesperrt. 

2) Ploß: Das Kind. 2. Aufl. I, S. 362 ff. 

3) Max Weiß: Land und Leute von Mpororo. Globus 91 und 97. 




























Die Pubertätsriten cler Mädchen und ihre Spuren im Märchen 


219 


Tanzfeste stattfinden, und zwar auf dem Tanzplatze der Knaben, doch ohne 
daß sich die Mädchen unter die Gruppen der Knaben mischen. Nach der 
Beschneidungsfeier eröffnen die Mädchen offiziell den geschlechtlichen Verkehr; 
sie empfangen die gewählten Jünglinge in den Hütten ihrer Mütter. Zu der 
phantastischen Ausstattung der beschnittenen Mädchen gehört unter anderem 
ein Kürbistopf (sexuelles Symbol). Zirkumzision der Mädchen erwähnt Ploß 1 
von den Bewohnern Londus in Uganda (Britisch-Ostafrika); bei den Wagaya 
am Victoria Nyansa (früheres Deutsch-Ostafrika) ist Exstirpation der Klitoris 
gebräuchlich. Bei den Mandingo 2 am oberen Senegal und Niger findet die 
Beschneidung der Jugend beiderlei Geschlechtes nach Eintritt der Pubertät 
mit großer Feierlichkeit statt. In Deutsch-Togo 3 unterwerfen die Yoruba- 
Stämine ihre Töchter vor der Verheiratung oder im Alter von etwa vierzehn 
bis siebzehn Jahren der Exzision. Im letztgenannten Falle führen die be¬ 
schnittenen, noch unverheirateten Mädchen ein zügelloses Leben. Alte Frauen 
vollziehen mit denselben Worten und dem gleichen Ritus wie die Männer 
bei den Knaben die Operation (der Beschneider sagt nämlich, ehe er das 
Präputium in das zu dem Zwecke gegrabene Grübchen legt: „Dank, Dank 
gebührt Gott. Ich weiß nichts; ich bin ein kleines Kind.“) 4 Das Grüb¬ 
chen wird hierauf mit Erde bedeckt. Als zugestandene Vorbereitung zur Ehe 
fand Archibald Hewan 5 die Mädchenbeschneidung in Alt-Calabar, Britisch- 
Nordwestafrika, J. B. Douville 6 berichtete aus Loanda, Portugiesisch-Süd¬ 
westafrika, daß dort die Mädchen acht Tage vor der Hochzeit beschnitten 
werden. Der Zauberer schließt sich in dieser Zeit mit der Braut in einer ab¬ 
gesondert gelegenen Hütte ein, wo er die Operation ausführt. Nach Ablauf 
der acht Tage wird die Braut feierlich von ihren Verwandten abgeholt. Daß 
auch in Portugiesisch-Ostafrika bei den Atchuabo Beschneidung der Mädchen 
stattfindet, wissen wir bereits. Die namungu , die Zeremonienaufseherin, schnei¬ 
det mit einem Messer an den Geschlechtsteilen; das Blut und das, was abge¬ 
schnitten ist, wird begraben. Die namungu hat während der Operation, über 
die nichts Näheres verlautet, eine weiße Maske vor dem Gesicht. Die Ein¬ 
geborenen sagen, weiß sei die Farbe der Verstorbenen, der Geister. Als Gründe 
für das Schneiden werden angegeben: „damit das Mädchen Einsicht habe, 
Geheimes zu reden, mit den Augen zu reden, sexuelle Dinge mit Männern 
zu tun.“ 7 Bei den Bamangwato im südlichen Afrika wird die Beschneidung 
an vierzehnjährigen Mädchen vorgenommen, die bei dieser Gelegenheit phan¬ 
tastisch gekleidet umherziehen, wobei sie eine Geißel mit Domenzweigen 
schwingen, die gleichalterigen Burschen verfolgen und peitschen. Wer die 


1) Ploß: Das Kind. 2. Aufl. I, S. 374. 

2) Layaille : Reise nach Senegal. Weimar 1802; Mungo Park: Reisen im Innern 
von Afrika. Berlin 1799, S. 238. 

3) Fr. Müller: Fetischistisches aus Atakpame (Deutsch-Togo). Globus 81, S. 281. 

4) Von mir gesperrt. 

5) Arch. Hewan im Edinborough med. Journal 1864, CXI, S. 219. 

6) J. B. Douville: Voyage au Gongo. Vol. I. Stuttgart 1832/33. 

7) P. Michel Schul ien, a. a. O. S. 92. 















220 


Alfred Wmterstein 


Marter ruhig hinnimmt, gilt als reifer Mann. 1 Auch von den Makatisses 
Mädchenbeschneidung zur Pubertätszeit erwähnt. Bei den Amasoka- Kaffem 
werden die Kinder bis zur Beschneidung als unrein angesehen. 

Auf Java und anderen Inseln des malayischen Archipels unterwirft man die 
Mädchen der Beschneidung zur Zeit des zweiten Zahnens. Die Operation besteht 
nach F. Epp 2 in der Beschneidung der Nymphen. Als Grund dieser Operation 
gibt Epp die bedeutende Größe und Erschlaffung der Schamteile an; beides 
werde durch die dort herrschende Onanie und große Tätigkeit der Geschlechts¬ 
teile herbeigeführt. Über Celebes schrieb J. G. F. Riedel, 3 4 daß in den dortigen 
Landschaften Holontala, Bone, Boalemo und Katringgola die Mädchen in ihrem 
neunten oder zwölften oder fünfzehnten Jahr beschnitten werden. Die Operation 
wird von weiblichen Personen vollzogen. 

Bei den Stämmen im Innern von Australien bildet das Einreiben der 
Brüste mit Fett und rotem Ocker die erste der Initiationszeremonien des 
weiblichen Geschlechtes. Die zweite Zeremonie besteht im Öffnen der Vagina 
welches der Subinzision des männlichen Geschlechtes entspricht und als atna 
ariltha kuma bezeichnet wird. Bei allen von Spencer-Gillen* beobachteten 
Stämmen, von den Urabunna im Süden bis zur Westküste des Golfes von Car- 
pentaria wird das Mädchen nach der atna ariltha kuma bestimmten Männern 
zur Verfügung gestellt und erst dann seinem eigentlichen Ehemann übergeben, 
der die Frau aber auch wieder herleihen muß. 

Was die Einzelheiten dieser Operation betrifft, so stimmen sie der Haupt¬ 
sache nach bei den verschiedenen Ständen überein. Das Alter der Mädchen ist 
gewöhnlich vierzehn oder fünfzehn Jahre. Die Operation wird zumeist vop 
einem älteren Verwandten oder von einer älteren Schwester der Kandidatin 
ausgeführt. Nach der Operation verbinden sich, wie gesagt, Verwandte ver¬ 
schiedensten Grades mit dem Mädchen, als erster bisweilen der Operateur selbst, 
als letzter regelmäßig der eigentliche Gatte. Die leiblichen Brüder sind vom 
Zutritt zur Operation ausgeschlossen, die Schwiegermütter und deren Brüder 
dürfen bei der Operation nicht zuschauen. 

Ploß 5 erwähnt folgende australische Formen, die Vagina der Mädchen 
zu öffnen: Wenn am PeakefLuß, Südaustralien, einem jungen Mädchen die 
Brüste schwellen und sich ein Haarwuchs zeigt, wird sie von einigen älteren 
Männern an einen einsamen Ort geführt. Dort wird sie niedergelegt, ein Mann 
hält ihre Arme, zwei andere halten die Beine; der vornehmste unter ihnen 
führt dann zunächst einen Finger in die Vagina, 6 dann zwei, zuletzt vier. 


1) Chapman: Das Ausland, 1868, S. 1083. 

2) F. Epp: Allg. med. Centralzeitung 1853, S. 37. 

3) J. G. F. Riedel: Zeitschrift für Ethnologie 1871, S. 402. Ferner: De sluik- 
en Kroesharige Rassen tuschen Selebes en Papua. s’Gravenhage 1886. 

4) B.Spencer andJ.F. Gillen: The native tribes of Central Australia. London 1899. 

5) Ploß: Das Kind. I, S. 376. 

6) Bei den Stadtarabem und Fellachen in Ägypten defloriert der Bräutigam die 
Braut feierlich mit dem Finger. In Kambodscha defloriert der Priester die Braut mit 
einem Finger, den er in Wein getaucht hat. 





















Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märchen 


Zurückgekehrt zum Lagerplatz, kann das arme Geschöpf infolge der Mißhand¬ 
lung drei bis vier Tage den Platz aus Schmerz nicht verlassen. Sobald es ihm 
möglich ist, geht es fort, wird aber von den Männern in jeden Winkel ver¬ 
folgt und muß sich den Koitus von vier bis sechs von ihnen gefallen lassen. 
Dann aber lebt derjenige, mit dem das Mädchen als Kind versprochen worden 
war, mit ihr als Gattin. Bei den Einwohnern von Charlotte Waters und 
Alice Springs besteht dieselbe Sitte, doch gebraucht man hier zur Zerstörung 
der Hymen einen Stein und an Stelle der Finger einen Stock. 

Bei den Conibos , einem Zweige der Parco-Indianer im nordöstlichen Peru, 
werden nach Berichten von Alfred Reich und Felix Stegelmann 1 Zirkumzision 
und Öffnung der Vagina geübt. Sobald ein Mädchen zur Reife gelangt ist, wird 
ein Fest veranstaltet, bei dem der Maschato , ein aus Maniokwurzeln gebrautes 
berauschendes Getränk, eine große Rolle spielt. Das Mädchen wird bis zur 
Sinnlosigkeit trunken gemacht und dann der Operation unterzogen. Ein altes 
Weib führt sie in Gegenwart des tobenden Stammes mit einem Bambusmesser 
aus, während das Mädchen auf drei Pfählen ausgespannt liegt. Sie umschneidet 
den Introitus vaginae , trennt das Jungfernhäutchen von den Schamlippen los 
und legt damit die Klitoris frei. Hierauf bestreicht sie die blutenden Teile mit 
Medizinkräutern und führt nach einer Weile einen aus Lehm geformten und 
etwas befeuchteten Penis, der jenem des Verlobten in der Größe genau ent¬ 
sprechen soll, in die Scheide ein. Eine ähnliche Beschreibung 2 liegt von den 
Indianern in Peru am Flusse Ucayali vor, die man mit dem Namen 
Campas bezeichnet. Von den Panos „der Landschaft Maynas “ (im heutigen 
Ecuador) erfuhr schon Missionar Franz Xaver Veigl 3 im achtzehnten Jahr¬ 
hundert, daß sie früher Mädchenbeschneidung übten. Als Grund gaben sie an, 
man habe beschnittene Weiber für ihren natürlichen Beruf geschickter gehalten. 
Bei den Ticunas , 4 einem aussterbenden Stamm am oberen Solimoes, erhalten die 
Beschnittenen beiderlei Geschlechtes gleich nach der Operation einen Namen, 
der gewöhnlich von einem Vorfahren genommen wird. 

Ein so weitverbreiteter Brauch wie die Absonderung der Mädchen 
zur Zeit der Pubertät scheintauch seine Spuren im Märchen hinterlassen 
zu haben. Ich will damit freilich nicht behaupten, daß sich die Märchen¬ 
motive Zug für Zug in äußerlicher Weise als Reminiszenzen der Pubertäts¬ 
zeremonien darstellen müssen; vielmehr lege ich das Gewicht auf den 
psychischen Inhalt dieser Zeremonien und meine, daß sich dieser Inhalt 


1) Alfred Reich und Felix St egelmann: Bei den Indianern des Urubamba und 
des Envira. Globus 83, S. 134!. 

2) Ploß: Das Kind. 2. Aufl., I, S. 382; E. Gr an di di er: Nouvelles annales des 
voyages 1861 u. 1862; v. Martius: Zur Ethnographie Amerikas, zumal Brasiliens. 
Leipzig 1867. 

3) Franz Xavier Veigl: Gründliche Nachricht über die Verfassung der Landschaft 
von Maynas in Südamerika bis zum Jahre 1768. Nürnberg 1798. 

4) v. Spix und v. Martius: Reise nach Brasilien (1817—1820). München 1823. 













222 


Alfred Winterstem 


ebensowohl in einem Zeremoniell wie in einem Märchen aussprechen kann 
wobei allerdings ein langes geübtes Zeremoniell eine gute Stütze für ein 
Märchen abgeben kann. Auf den Zusammenhang zwischen diesen Isolierungs¬ 
bräuchen und den Märchen, namentlich jenen einer bestimmten Gattung 
haben bereits verschiedene Forscher hingewiesen, so Adolf Thimme 1 ' 
J.G.Frazer 2 3 4 und zuletzt Herbert S i 1 b e r e r .3 Adolf Thimme schreibt (S. 40) : 
„Geheimnisvoll erschien den Naturvölkern von je das Auftreten der Menstrua¬ 
tion bei heranwachsenden Mädchen. Das Blut wurde als ein böser Zauber¬ 
saft gefürchtet; infolgedessen wurden solche Mädchen oft in harter, auch 
unterirdischer Gefangenschaft gehalten. Daraus entsteht das Motiv vom Gift¬ 
mädchen und das Motiv von den eingesperrten Mädchen, die Danae, Mandane 
Rhea Silvia, Hero oder Rapunzel heißen.“ Da Frazer die Vermeidung des 
Anblicks der Sonne als ein Hauptverbot des Pubertätsexils der Mädchen be¬ 
trachtet, führt er bloß Märchen an, die das Motiv der Befruchtung oder 
Verzauberung durch die Sonne enthalten. Silberer, der sich für die Grup¬ 
pierung des Märchenmaterials auf eine Arbeit von Paul Arfert* stützt, er¬ 
innert in unserem Zusammenhänge zunächst an die Einleitung der Märchen 
von der Gattung der Brangäne-Erzählung 5 (in der Tristanerzählung opfert 

1) Adolf Thimme: Das Märchen. Leipzig 1909. 

2) Frazer, a. a. O., Vol. I, S. 70 ff. 

3) In einer nicht veröffentlichten Arbeit „Die falsche Braut«, in die ich mit freund¬ 
licher Erlaubnis der Witwe des Verfassers Einsicht nehmen durfte. 

4) Paul Arfert: Das Motiv von der unterschobenen Braut in der internationalen 
Erzählungsliteratur. Inaugural-Dissertation, Universität Rostock. Schwerin 1897. — 
Josef Hanika bespricht in seiner volkskundlichen Untersuchung über „Die falsche 
Braut« (Sonderdruck aus der „Heimatbildung“, Monatsblätter für heimatliches Volks¬ 
bildungswesen, Reichenberg) einen deutschen Brauch, den er aus dem Zusammen¬ 
hänge mit jenen von Arfert behandelten wohl sehr alten, gemeinindogermanischen 
Bräuchen lost. Er schlägt für diesen Hochzeitsbrauch die Bezeichnung „Alte Braut« 
oder „Verlassene Braut« vor. Hier spielt sich ein steinaltes Weib als verlassene Braut 
des jungen Bräutigams auf. Hanikas historische Erklärung, die an sich richtig sein 
mag, wird der unbewußten Bedeutung dieses Brauches natürlich nicht gerecht. 

5) Unter dem Namen „Brangänemärchen« faßt Arfert Novellen, Romane und 
Volkslieder zusammen, in denen das Motiv der Brautunterschiebung folgende Gestalt 
angenommen hat: Eine Jungfrau, die durch List, Gewalt oder eigene Schuld ihre 
Ehre verloren hat, sucht die Verlegenheit der Brautnacht dadurch zu beseitigen, daß 
sie eine ihr ergebene Person bewegt, ihre Stelle im Brautbett einzunehmen. Gemein¬ 
sam ist den Brangänemärchen übrigens der Verlauf, „daß ein Mädchen sich bei einem 
Jüngling, auf den es von früher her Ansprüche hat und der im Begriffe steht sich 
zu verheiraten, unerkannt in dienender Stellung aufhält. Da sich nun die neue Braut 
durch irgendwelche Umstände (in den meisten Märchen sieht sie der Geburt entgegen; 
andere suchen diesen anstößigen Grund durch einen milderen zu ersetzen) verhindert 
sieht, selbst die Ehe zu vollziehen, bittet sie das Mädchen, ihre Stelle bei der Hoch- 




















Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märchen 


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bekanntlich Brangäne an Isoldes Stelle in der Brautnacht ihre Reinheit dem 
König Marke): „ Die Mehrzahl dieser Märchen zeigt den typischen Eingang, 
daß die Heldin von ihrem tyrannischen Vater eine bestimmte Zeit in einem 
Turm eingeschlossen wird, aus dem sie sich erst nach vielen Jahren be¬ 
freien kann.“ * 1 Er bemerkt ferner, daß dieses Motiv des Gefangenseins (oft 
in einem Turme mit Betonung der Höhe, vgl. Rapunzel, Grimm, K.H.M. 12) 
auch sonst in Märchen beliebt ist und daß dazu ein Unhold als Verwahrer 
oder eine Alte im Walde als Ernährerin häufig auftritt. Das von dem 
harten Schicksal betroffene Mädchen pflegt eine Prinzessin zu sein; sie wird 
von einem Prinzen aus ihrem Gefängnisse befreit oder macht sich sonstwie 
frei und gewinnt dann einen Prinzen zum Gemahl. 

Zum besseren Verständnis der folgenden Märchen sei vorerst auf einige 
typische Züge der Pubertätsriten der Mädchen nochmals verwiesen: daß 
nämlich häufig das Mädchen oder eine Gruppe von Mädchen in die Obhut 
einer alten Frau kommt, daß Frauen ihr das karge Essen in die Einsam¬ 
keit bringen, daß das Exil einer Tötung (Verschlungenwerden) und Wieder¬ 
geburt entspricht, daß an den Kandidatinnen verschiedenartige sexuelle Opera¬ 
tionen vorgenommen werden, daß die Mädchen im Exil oft Arbeiten ver¬ 
richten oder üben müssen, daß das Essen und Trinken unter bestimmte 
Regeln gebracht ist und daß schließlich die Vorschriften bei Mädchen 
hoher Herkunft (Königs- oder Häuptlingstöchtern) besonders streng gehand- 
habt werden. 

Nr. 1. Schwedisch: 2 Ein König schließt seine Tochter, die wider 
seinen Willen einen Prinzen heiraten will, mit sieben Mädchen und Vor¬ 
räten für sieben Jahre in eine Hohle ein; dann zieht er in den Krieg, aus 
dem er nicht wieder heimkehrt. Von den sieben Mädchen stirbt jedes Jahr eines 
und nur der Prinzessin gelingt es endlich mit Hilfe eines Hundes, 
lebend aus dem Turm herauszukommen. Nach langer Wanderung gelangt 
sie zu einem Köhler, der ihr eine untergeordnete Stellung in dem Haus¬ 
halte jenes Prinzen verschafft, dem sie einst ihre Liebe geschenkt hatte. 
Kurz darauf wird am Hofe eine Hochzeit gerüstet; denn der Königssohn will 
sich verheiraten. Seine Braut, welche eine nicht vorwurfsfreie Vergangen¬ 
heit hinter sich hat, fühlt ihre Niederkunft herannahen. Auf ihre Bitte legt 
die Heldin die Brautgewänder an und fährt für sie zur Kirche. Auf dem Wege 


zeit einzunehmen. Dieses tritt schließlich aus seiner Verborgenheit heraus und nimmt, 
nachdem alles entdeckt ist, den nun ihm gebührenden Platz als Gemahlin des Jüng¬ 
lings ein“ (a. a. O. S. 6 u. 34, 1). 

1) Arfert, a. a. O. S. 34, 2. 

2) Bondeson: Historiegubbar pä Dal. Stockholm 1886, S. 22. — Arfert, a. a. O. 
S. 34. 















22-4 


Alfred AVinterstein 


murmelt sie allerlei Sprüche, welche die rechte Braut nach dem Rücktausche 
nicht wiederholen kann, auch vermag sie nicht ein Geschenk, das der Prinz in 
der Kirche seiner eben angetrauten Gemahlin gegeben hat, vorzuzeigen. So er¬ 
folgt die Entdeckung des Brauttausches und die Heldin offenbart, wer sie ist 

Nr. 2. In dem bekannten deutschen Märchen von der Gänsemagd (Grimm 
K. H. M. Nr. 89) haben wir eine Anspielung auf den Glauben, daß die Über¬ 
tretung der Nahrungsgebote böse Wirkungen habe, in dem verderblichen Trinken 
und wieder die niedrige Arbeit. 

Nr. 3. Aus Hessen (Grimm, K. H. M. Nr. 49 „Die sechs Schwäne"). Ein König 
verirrt sich auf der Jagd im Wald. Eine alte Hexe weist ihm den Ausweg dafür 
daß er ihre Tochter, ein wunderschönes Mädchen, zur Frau nimmt. Der König 
ist schon einmal verheiratet gewesen und hat von der ersten Gemahlin sechs 
Knaben und ein Mädchen. Weil er nun fürchtet, die Stiefmutter möchte sie nicht 
gut behandeln, verbirgt er die Kinder in einem einsamen Schloß mitten im Wald. 
Der Stiefmutter fällt die häufige Abwesenheit des Königs, der seine Kinder be¬ 
sucht, auf. Sie kommt hinter das Geheimnis und bringt den Kindern behexte 
Hemden, durch die sie in Schwäne verwandelt werden, bis auf das Mädchen, das 
gerade im Innern des Waldschlosses verborgen ist. Das Mädchen macht sich auf 
den Weg, die Brüder zu suchen. Es kommt im Wald in eine Wildhütte, wo es 
sechs Betten findet. Es beschließt, die Nacht da zuzubringen. Bei Sonnenunter¬ 
gang kommen die Schwäne geflogen. „Wir können nur eine Viertelstunde lang 
jeden Abend unsere Schwanenhaut ablegen.“ Die Bedingungen für die Erlösung 
sind: „Du darfst sechs Jahre lang nicht sprechen und nicht lachen und 
mußt in der Zeit sechs Hemden aus Sternblumen für uns zusammennähen. 4 * 
Das Mädchen verläßt die Hütte, sammelt Sternblumen, geht mitten in den Wald, 
steigt auf einen Baum und näht da. Jäger kommen und rufen es an; es 
gibt keine Antwort. Die Jäger bringen das Mädchen dem König. Der heiratet 
die scheinbar Stumme. Die böse Mutter des Königs beseitigt die Kinder, die sie 
gebiert, und beschmiert ihr den Mund mit Blut, daß es aussieht, als wäre sie 
eine Menschenfresserin. Beim dritten Male wird die Königin zum Tode durch 
das Feuer verurteilt. Der Hinrichtungstag ist der letzte Tag der sechs Jahre, in 
welchen sie nicht sprechen darf. Die sechs Hemden sind fertig, bis auf einen 
Ärmel. AVie sie schon auf dem Scheiterhaufen steht, kommen die Schwäne ge¬ 
flogen und sind erlöst, nur dem Jüngsten bleibt statt des Armes ein Flügel. Die 
Königin redet wieder, alles klärt sich auf, die böse Mutter wird verbrannt. 

Nr. 4. Französisch: 1 Ein König und eine Königin haben zwei Söhne und 
eine Tochter. Bei der Geburt des Mädchens haben die Feen den Eltern ver¬ 
kündet, daß sie ihre Brüder einst in großes Unglück stürzen würde. Der 
Vater schließt sie in einen Turm, um das Unheil abzuwenden; allein, als 
er gestorben ist, lassen die Brüder die Schwester frei. Eines Tages wünscht 
sie sich den König der Pfauen zum Gemahl. Die Brüder wandern aus, 
ihn zu suchen. Sie finden ihn endlich, er begehrt ihre Schwester zur Gemahlin. 


1) Madame d’Aulnoy: Cabinet de Fees. Paris 1758, II, S. 230. — Arfert, 
a. a. O. S. ii. 





















Die Pubertätsriten der Afädchen und ihre Spuren im Afärchen 226 


Auf der Reise zu ihm wird sie von der Amme und deren Tochter ins Meer 
gestoßen. Der König, entrüstet über die Häßlichkeit der falschen Braut, der 
Tochter der Amme, will die Brüder töten lassen. Die wahre Braut war aber 
gerettet und von einem Einsiedler aufgenommen worden. Durch ihr 
kleines Hündchen, das dem Pfauenkönig das Essen wegstiehlt, kommt 
Üire Anwesenheit und die Wahrheit an den Tag. 

Nr. 5 * Sizilianisch: 1 Munti fiuri ist Kammerdiener beim König und zeigt 
ihm das Bild seiner schönen Schwester. Der König erklärt sie sofort für seine 
Braut und sendet den Bruder in die Heimat, das Mädchen zu holen. Die 
Tochter einer Nachbarin begleitet sie. Da die Falsche weiß, daß Geburts¬ 
frauen dem Mädchen einst angewünscht haben, es solle, sobald es erwachsen 
wäre, in die Gewalt der Meersirene 2 kommen, bohrt sie ein Loch 
in das Schiff, in dem beide fahren. In dem Augenblick verschwindet die 
Braut und der unglückliche Bruder muß sich einverstanden erklären, die hä߬ 
liche Tochter der Nachbarin für seine Schwester auszugeben. Der enttäuschte 
König legt ihm schwere Aufgaben auf, die er mit Hilfe seiner (verzauberten) 
Schwester ausführt. Er wird zum Entenhüter erniedrigt. Jeden Morgen füttert 
die aus dem Meer auftauchende Schwester die Enten, die hierüber am Abend 
dem Koch einen Spruch Vorsingen. Der Koch erzählt es dem König. Dieser 
begibt sich an den Strand und zerhaut die Kette, an der das Mädchen von 
der Meersirene gehalten wird. 

Nr. 6. Finnisch: 3 Ein Hirt des Königs zeigt dem Königssohn das Bild seiner 
Schwester. Er muß sie holen. Eine Hexe bewirkt durch List, daß das Mädchen 
auf der Reise zum Prinzen seine Kleider ablegt und ins Meer springt. Die 
Hexe bietet sich dem Prinzen als Gemahlin, der Bruder wird in die Schlangen¬ 
grube geworfen. Die Heldin ist vom Meerriesen aufgenommen worden, 
der sie zwingen will, seine Frau zu werden. Dreimal erlaubt er ihr, 
an einer Kette gefesselt an das Land zu steigen, und dreimal sendet sie durch 
ihr Hündchen dem Prinzen Geschenke. Beim drittenmal zersägt der Prinz 
die Kette und befreit so das Mädchen. Der Bruder wird aus der Schlangen¬ 
grube geholt, die Hexe kommt in einer Badestube um. 

Ein anderer Märchenkreis ist nach Arfert dadurch gekennzeichnet, daß 
die wahre Braut auf der Fahrt zum Verlobten durch Verstümmelung und 
Blendung beseitigt wird. 

Nr. 7. Griechisch: 4 Der Eingang erzählt die Verleihung von drei Wunder¬ 
gaben (Weinen von Perlen u. ä.). Die Heldin ist einem Prinzen in fernem 


1) Laura Gonzenbach: Sizilianische Märchen. Leipzig 1870, Nr. 52. — Arfert, 
a. a. O. S. 12. 

2) Bedeutet das Exil. 

3) Emmy Schreck: Finnische Märchen. Weimar 1877, Nr. 10. — Arfert, 
a. a. O. S. 13. 

4) J. G. v. Hahn: Griechische und albanesische Märchen. Leipzig 1864, Nr. 28. — 
Arfert, a. a. O. S. 17. 










226 


-Alfred VGnterstein 


Lande verlobt. Als die Zeit der Vermählung herannaht, macht sie sich mit 
ihrer Amme und deren Tochter auf, um in ihr zukünftiges Königreich zu 
ziehen. Die Amme hat versalzenes Brot mitgenommen, von dem sie die Braut 
von Zeit zu Zeit essen läßt. Von unbezwinglichem Durste gepeinigt, gibt diese 
für einen Trunk (vgl. Märchen Nr. 2) ihre Augen und für eine zweite 
Labung ihreKleider hin, in denen die Tochter der Amme zu dem Prinzen 
fährt. Die hilflos zurückgelassene Blinde kommt nach langem Umher¬ 
irren zu einer Alten im Walde. Für die Perlen, die sie weint, und die 
Rosen, die sie lacht, löst diese von der falschen Königin zwei Hundeaugen 
ein, die sie der Blinden einsetzt. Mit den Rosen und Perlen betrügt die 
falsche Braut den Prinzen, ihren Gemahl, wenn er sich von ihren Wunder¬ 
gaben überzeugen will. Indessen hat das geheilte Mädchen an der Grenze des 
Königreiches ein herrliches Schloß erbauen lassen, wohin der Prinz eines Tages 
kommt und wo er seine wahre Braut findet. 

Nr. 8. Türkisch: * 1 Ein Padischah hat drei Töchter, die sich verheiraten 
sollen, als sie erwachsen sind. Die zwei älteren werden mit hohen Reichs¬ 
beamten vermählt, während die jüngste den Ofenheizer zum Manne erhält. 
Nach einem Jahr gebiert diese ein Mädchen, dem die Peris drei Wunder¬ 
gaben verleihen (Lachen von Rosen usw.). Es erblüht zu wunderbarer Schön¬ 
heit, so daß eine Kaiserin es zur Gemahlin ihres Sohnes bestimmt und eine 
Hofdame aussendet, die Braut in ihr Königreich zu geleiten. Die Hofdame 
wollte gern Schwiegermutter des Kaisers werden, nimmt salzige Speise, einen 
Krug und einen Sack mit, gibt der Braut von der salzigen Speise zu essen und 
fordert für einen Trunk aus dem Kruge ihre Augen. Die also Geblendete 
setzt sie auf einem Berge aus und bringt dann der Kaiserin ihre eigene 
bräutlich geschmückte Tochter dar. Indessen findet ein Kehrichtsammler die 
ausgesetzte wahre Braut, nimmt sie zu sich und wird für seine gute Tat durch 
die Schätze, die sie vermöge ihrer Wundergaben hervorbringt, reich belohnt. 
Für die Rosen, die sie lacht, kauft er am Hofe ihre Augen zurück und setzt 
sie ihr ein. Nach einiger Zeit erfährt die Hofdame, daß die rechte Braut noch 
lebt; sie läßt daher den Kehrichtsammler zu sich kommen und veranlaßt ihn, 
nach dem Talisman des Lebens seines Schützlings zu forschen. Das arglose 
Mädchen verrät ihm, daß sein Leben an das Herz eines gewissen Hirsches 
gebunden sei. 2 Der Hirsch wird auf Betreiben der Hofdame erlegt, das Mädchen 
stirbt, wird aber infolge gewisser wunderbarer Umstände wieder ins Leben 
zuruckgerufen, indem die Peris ein Fragment des Herzens dem toten Mädchen 
in den Mund legen. 

Ein dritter Märchenkreis zeigt nachstehende Variante: Die wahre Braut 
wird auf der Fahrt zum Verlobten dadurch beseitigt, daß sie dem ver- 

1) Dr. Kunos Ignacz: Oszman-Török Nepkoltesi Gyüjtemeny. Budapest 1887, 
Nr. 49. — Arfert, a. a. O. S. 19. 

i) Der Austausch der Organe im Märchen Nr. 7 und die Verlegung der Lebens¬ 
kraft in ein Tier im Märchen Nr. 8 weisen auf totemistische Vorstellungen hin, die 

wieder eine besondere Beziehung zur Pubertät haben. 




























Die Pubertätsriten aer Alädclien und ihre Spuren im Afärchen 


3 27 


wandelnden Sonnenstrahl ausgesetzt wird. Wie oben erwähnt, hat sich 
Frazer darauf beschränkt, den Zusammenhang der Isolierbräuche bei den 
Pubertätskandidatinnen mit solchen Märchen aufzuzeigen, denen die Vor¬ 
stellung der Befruchtung oder Verzauberung durch die Sonnenstrahlen zu¬ 
grunde liegt. 1 

Nr. 9 * Dänisch: 2 Einer Prinzessin ist es bestimmt, von einem Hexenmeister 
entführt zu werden, wenn die Sonne vor ihrem dreißigsten Jahr auf sie schiene. 
Darum hält sie der König, ihr Vater, im Palast eingeschlossen und hat alle 
Fenster im Osten, Süden und Wbsten vermachen lassen. Sie darf sich nur 
abends nach Sonnenuntergang in dem schönen Schloßgarten ergehen. Einem 
Prinzen, der um sie werben kommt, begleitet von Rittern auf gold- und silber¬ 
glänzenden Rossen, gibt der Vater ihre Hand unter der Bedingung, daß er mit 
ihr bis zu ihrem dreißigsten Jahre in dem Schlosse wohne, dessen Fenster 
nach Norden schauen. Die Braut ist erst fünfzehn Jahre alt. Mit der Zeit 
sehnt sich das Paar hinaus und benützt einen trüben, sonnenlosen Tag, um 
einem Turniere in einem benachbarten Schlosse beizuwohnen. Während sie 
sich an der Festlichkeit erfreuen, ändert sich das Wetter und die Sonne bricht 
durch die Wolken. In deren Strahlen schwindet die junge Frau dahin, und 
als ihr Gatte dies entdeckt, ereilt ihn das gleiche Schicksal. Der bestürzte Vater, 
der ebenfalls dem Turniere beigewohnt hatte, eilt heim und schließt sich in 
sein dunkles Schloß ein, aus dem das Licht des Lebens gewichen ist. Das 
junge Paar ist auf ewig verschwunden. 

Nr. 10. Welschtirolisch: 3 Eine liebliche Jungfrau mit goldenem Haar war 
verwünscht worden, daß sie in den Bauch eines Walfisches entrückt 
werden würde, wann immer ein Sonnenstrahl auf sie fiele. Der Ruf ihrer 
Schönheit drang bis zum König des Landes, der sie zur Braut begehrte; ihr 
Bruder kutschierte sie hierauf in einem sorgfältig verschlossenen Wagen zu 
dessen Palaste, wobei er selbst auf dem Bocke saß und die Zügel handhabte. 
Unterwegs überholten sie zwei scheußliche Hexen, die müde zu sein Vorgaben 
und mitgenommen werden wollten. Zuerst weigerte sich der Bruder, doch seine 
weichherzige Schwester beschwor ihn, mit den zwei armen fußkranken Frauen 
Mitleid zu haben. Er stieg also eher verdrießlich vom Bock herunter, öffnete 
den Wagenschlag und herein schlüpften die zwei Hexen und lachten heimlich. 
Kaum war der Bruder wieder auf den Bock geklettert und hatte die Rosse 
mit der Peitsche angetrieben, so bohrte die eine böse Hexe ein Loch in die 
geschlossene Kutsche. Sogleich fiel ein Sonnenstrahl durch das Loch auf das 
schöne Fräulein, das dahinschwand und in den Bauch eines Walfisches entrückt 
wurde. Als der König den Wagenschlag öffnete, um seine blühende Braut zu 
begrüßen, sprangen ihm zu seinem Schrecken zwei scheußliche Hexen entgegen, 

1) Frazer, a. a. O., Vol. I, S. 70 ff. 

2) Svend Grundtvig: Dänische Volksmärchen, übersetzt von A. Strodtmann. 
Zweite Sammlung (Leipzig 1879), S. 199 ff. 

3) Christian Schneller: Märchen und Sagen aus Welschtirol (Innsbruck 1867), 
Nr. 22, S. 51 ff. 


L 















228 Alfred Winterstein 


Nr. 11. Griechisch: 1 Einer Prinzessin ist geweissagt worden, sie müsse sich 
in ihrem fünfzehnten Jahre vor der Sonne in acht nehmen, denn 
ihre Strahlen würden sie in eine Eidechse verwandeln. 

Nr. 12. Böhmisch: 2 Eine Fee begabt die Stieftochter der Frau Jutta mit 
Schönheit und mit der Eigenschaft, daß ihre Tränen zu Perlen und ihre aus¬ 
gekämmten Haare zu Gold werden. Sie muß aber durch einen Schleier vor 
der Berührung mit der freien Luft (statt Sonne) gehütet werden. Ihr 
Bruder erzählt einem Grafen von ihrer Schönheit und ihren Wundergaben 
so daß dieser sie zu heiraten beschließt. Auf dem Wege zu ihrem zukünftigen 
Wohnsitz wird sie durch die Unvorsichtigkeit der Stiefmutter von der Luft 
berührt und augenblicklich in eine goldene Ente verwandelt. In ihrer Verlegen¬ 
heit schiebt Frau Jutta ihre eigene Tochter unter. Nach langer Prüfungszeit 
wandelt sich die Ente in das Mädchen zurück, das nun dem Grafen zuteil wird. 

Nr. 15. Griechisch: 3 Einer kinderlosen Mutter schenkt die Sonne eine Tochter 
mit der Bedingung, daß sie das Kind holen werde, wenn es zwölf Jahre alt 
sei. Als es dieses Alter erreicht hat, schließt die Mutter Türen und Fenster 
und verstopft Ritzen und Spalten, um die Sonne an ihrem Vorhaben zu hindern. 
Sie vergißt aber das Schlüsselloch; durch dieses fällt ein Sonnenstrahl und ent¬ 
führt das Mädchen. 

Nr. 14. Sizilianisch: 4 Einem König wird von einem Seher geweissagt, er 
werde eine Tochter bekommen, die in ihrem vierzehnten Jahre von der 
Sonne ein Kind empfangen werde. Daher schloß der König das Kind nach 
seiner Geburt in einen einsamen fensterlosen Turm ein, damit kein Sonnen¬ 
strahl es treffe. Als sie fast vierzehn Jahre alt war, geschah es, daß die Eltern 
ihr ein Stück gebratenes Zicklein schickten, in dem sie einen spitzigen Knochen 
fand. Mit diesem bohrte sie ein Loch in die Mauer, ein Sonnenstrahl drang 
durch die Öffnung und befruchtete sie. 5 * * 


1) Bernhard Schmidt: Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder (Leipzig 
l8 77 h s * 9 8 * 

2) Gerle: Volksmärchen der Böhmen. II, S. 5. 

5) J. G. v. Hahn: Griechische und albanesische Märchen (Leipzig 1864), Nr. 41, 
Bd. I, S. 245 ff. 

4) Laura Gonzenbach: Sizilianische Märchen (Leipzig 1870), Nr. 28, Bd. I, S. 177 ff. 

5) Der Zug, daß ein Prinz oder eine Prinzessin sich mittels eines Knochens aus 

einem Turme befreit, findet sich auch in anderen volkstümlichen Erzählungen. (Vgl. 
J. G. v. Hahn, a. a. O. Nr. 15; L. Gonzenbach, a. a. O. Nr. 26, 27; der Pentamerone, 
aus dem Neapolitanischen übertragen von Felix Lieb recht [Breslau 1846], Nr. 25, 
Bd. 1, S. 294 ff.) — Bei einigen Indianerstämmen beziehen sich gewisse Gebote und 

Verbote für Frauen während der Isolierung auch auf Tierknochen. So ist es bei den 
Tinnef-Indianern einem Mädchen im Alter der Pubertät verboten, Hasenknochen zu 

zerbrechen (siehe S. 210). Anderseits trinkt es aus einer Röhre, die aus einem Schwanen- 
knochen verfertigt wird; der nämliche Brauch findet sich bei den Camer-Indianem. 
In den gleichen Umständen trinkt ein T/ingzi-Mädchen aus dem Flügelknochen eines 
weißköpfigen Adlers (siehe S. 209). Bei den Nutka - und Sfusu>np-Stämmen werden die 
Pubertätskandidatinnen mit Knochen oder Kämmen versehen, um sich zu kratzen; denn 
sie dürfen sich nicht mit den Fingern berühren. 

























Die Pixbertätsriten der jMadchen und ilire Spuren 1111 Afardipn 


Hieher gehört nach Frazer wahrscheinlich auch die griechische Sage 
von Danae, von ihrem Vater in ein unterirdisches Zimmer oder einen 
ehernen Turm eingesperrt und von Zeus geschwängert wurde, der sie in 
Gestalt eines Goldregens besuchte. Die griechische Sage hat ihr Gegenstück 
in einer von den Ahnen der sibirischen Kirgisen. 

Nr. 15. Kirgisisch: 1 Ein Khan hat eine schöne Tochter, die er in einem 
dunkeln, eisernen Hause verwahrt, um sie dem Anblicke der Männer zu ent¬ 
ziehen. Ein altes Weib betreut sie. Herangewachsen, fragt das Mädchen die 
alte Frau, wohin sie so oft gehe. „Mein Kind,“ antwortet diese, „da draußen ist 
eine lichte Welt, dort leben dein Vater und deine Mutter und alle möglichen Leute; 
dorthin gehe ich.“ Das Mädchen sagt: „Gute Mutter, ich will es niemand 
erzählen, zeig mir diese lichte VVeit! Die alte Frau nimmt also das Vtädchen 
mit hinaus. Doch als dieses die lichte Welt erblickte, wankt es und wird ohn¬ 
mächtig; Gottes Auge fällt auf die Jungfrau und sie wird schwanger. Der er¬ 
boste Vater verschließt sie in eine goldene Kiste, die er auf das weite Meer 
hinaustreiben läßt. 

Nr. 16. In dianis ch: 2 In einer Legende der Indianer von Guacheta in Kolumbien 
wird erzählt, daß es einst hieß, die Sonne würde eine ihrer Töchter befruchten, 
so daß sie ein Kind bekommen und doch eine Jungfrau bleiben würde. Der 
Häuptling hatte zwei Töchter und wünschte lebhaft, daß eine davon in dieser 
wunderbaren Weise empfange. Daher ließ er sie jeden Morgen einen Hügel 
im Osten seines Hauses hinansteigen, damit sie von den ersten Strahlen der 
aufgehenden Sonne beschienen würden. Sein Wunsch ging in Erfüllung; denn 
eine der Töchter empfing und gebar einen Smaragd, den sie in Wolle wickelte 
und an ihrer Brust barg. Wenige Tage darauf wurde der Stein zu einem Kinde, 
das den Namen Garanchacha erhielt und allgemein als der Sohn der Sonne 
galt. 

Nr. 17. Samoanisch. 3 Die Samoaner berichten von einem Weibe namens 
Mangamangai , das schwanger wurde, indem es die aufgehende Sonne anblickte. 
Ihr Sohn wuchs heran und wurde Kind der Sonne genannt. Bei seiner Heirat 
verlangte er von seiner Mutter eine Mitgift, doch sie wies ihn an seinen Vater 
und sagte ihm, wie er zu ihm gelangen könne. Er nahm also eines Morgens 
eine lange Ranke und machte eine Schleife; dann stieg er auf einen Baum, 
warf die Schlinge über die Sonne und hielt sie fest. Der Himmelskörper, in 
seinem Gange aufgehalten, fragte ihn, was er wolle, und als er erfuhr, daß 
der junge Mann ein Geschenk für seine Braut wünsche, packte er einen Haufen 
kostbarer Dinge in einen Korb, mit dem der Jüngling zur Erde niederstieg. 


1) W. Radloff: Proben der Volksliteratur der türkischen Stämme Südsibiriens. 
IH. (Petersburg 1870), S. 82 ff. 

g Ternaux-Compans: Essai sur Pancien Cundinamarca (Paris, ohne Datum), 

3) George Turner: Samoa, a hundred years ago and long before (London 1884), 


16 


Imago XIV. 

















a 3 o 


Alfred Winterstein 


Nach Frazer 1 vermögen wir selbst in den Hochzeitsbräuchen ver¬ 
schiedener Rassen Spuren . der Anschauung zu entdecken, daß Frauen durch 
die Sonne geschwängert werden können. 2 3 So pflegte bei den C/hzco-Indianern 3 
in Südamerika ein neuvermähltes Paar die erste Nacht auf dem Fell einer 
Stute oder eines Ochsen mit dem Kopf gegen Westen zu schlafen, „denn 
die Hochzeit wird nicht als gültig betrachtet, bevor nicht die aufgehende 
Sonne seine Füße beschienen hat“. Bei den alten Hinduhochzeiten 4 war die 
erste Zeremonie der „Schwängerungsritus“ (Garbhädhana ); während des 
vorhergehenden Tages mußte die Braut gegen die Sonne schauen oder in 
irgendeiner Weise ihren Strahlen ausgesetzt werden. Bei den Türken Si¬ 
biriens 5 bestand früher die Sitte, am Morgen nach der Hochzeit das junge 
Paar aus der Hütte zu führen, um die aufgehende Sonne zu begrüßen. In 
Iran und Zentralasien soll es auch noch heute als das sicherste Mittel zur 
Beförderung der Empfängnis gelten, eine Neuvermählte den Strahlen der auf¬ 
gehenden Sonne auszusetzen. 

Schließlich möchte ich noch eine Episode aus dem christlichen Marien¬ 
mythus, Marias Darbringung, erwähnen, die bereits A. J. Storfer 6 mit 
der Mädchenweihe der Naturvölker in Zusammenhang gebracht hat. Als 
Maria drei Jahre alt war, wurde sie (nach Überlieferung des ältesten neu- 
testamentlichen Apokryphum, des Protevangelium des Jacobus) von ihren 
Eltern in Begleitung von fackeltragenden Jungfrauen in den Tempel dar¬ 
gebracht, wo der Priester sie in Empfang nahm, küßte und segnete. Gott 
goß seine Seele auf Maria und sie tanzte mit den Füßen. Maria erstieg 
die fünfzehn Stufen des Tempels trotz ihrer Jugend ohne Hilfe, was ein 
Zeichen göttlicher Gnade war. Auch sonst fällt ihre Frühreife auf. Marias 
Tätigkeit im Tempel bestand im Weben; sie webte am Tempelvorhang. 
Die Absonderung der Einzuweihenden, die öffentliche, festliche Darbrin¬ 
gung, die symbolische Vermählung mit dem Priester als Vertreter der Gott¬ 
heit, der Tanz der kleinen Maria, das analoge Stufensteigen (die Zahl 15!), 

1) Frazer, a. a. O., Vol. I, S. 75. 

2) Die Hindu glauben, daß, wenn Mädchen sich während ihrer Menstruation den 
Sonnenstrahlen aussetzen, sie dadurch schwanger werden können. Darum stellen sich 
sterile Frauen nackt in die Sonne, um auf diese Weise Kindersegen zu erhalten. 
(Rieh. Schmidt: Liehe und Ehe im alten und modernen Indien. Berlin 1904.) 

3) Thomas J. Hutchinson: On the Chaco and other Indians of South America. 
Transactions of the Ethnological Society of London, N. S. III. (1865), S. 327. 

4) Monier Williams: Religious Thought and Life in India (London 1883), S. 254. 

5) H. Vämb6ry: Das Türkenvolk (Leipzig 1885), S. 112. 

6) A. J. Storfer: Marias jungfräuliche Mutterschaft. Ein völkerpsychologisches 
Fragment über Sexualsymbolik (Berlin 1914), S. 13 ff. 

















_ Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spure n im Märchen 2 3 ± 

die Beschäftigung mit Webearbeiten: diese Züge sind uns bereits aus den 
Berichten über die Initiationszeremonien der Frauen vertraut . 1 

Zur Erklärung dieser sonderbaren Bräuche, die wir in merkwürdiger 
Gleichförmigkeit bei den kulturell tieferstehenden Völkern der ganzen Erde 
angetroffen und deren entstellte Abkömmlinge wir dann auch in europä¬ 
ischen Märchen wiedergefunden haben, ist bisher von der Fachwissenschaft 
nicht allzuviel geleistet worden. Frazer, der die reichste Sammlung der 
einschlägigen Sitten zusammengestellt hat, faßt das Pubertätsexil der Mädchen 
als einen Spezialfall des auf dem Menstruationsblute überhaupt ruhenden 
Tabus auf. Der Mann fürchtet das Menstruationsblut, namentlich aber beim 
Eintritt der ersten Menstruation, weshalb die damit verbundenen Obser¬ 
vanzen besonders streng sind. Die Absonderung der menstruierenden Frauen 
- auch dafür führt Frazer zahlreiche Beispiele an — soll die gefährlichen 
Einflüsse bannen, die von ihnen in diesem Zustand ausgehen. Am wirk¬ 
samsten erscheint diese Isolierung, wenn die Menstruierende sozusagen 
zwischen Himmel und Erde aufgehängt wird . 2 Ob sie nun in eine Hänge¬ 
matte gewickelt und bis zur Decke aufgezogen wird wie in Südamerika 
oder in einem über dem Erdboden erhöhten finsteren, engen Käfig einge¬ 
schlossen wird wie in Neumecklenburg: immer wird sie als unschädlich 
angesehen, sobald sie, von der Erde und von der Sonne abgesperrt, keine 
dieser großen Lebensquellen durch ihre tödliche Ansteckung zu vergiften 
vermag. Sie ist jetzt, in der Sprache der Elektrizität ausgedrückt, isoliert. 
Die zu diesem Behufe getroffenen Vorsichtsmaßregeln sind nicht nur durch 
die Rücksicht auf die anderen, sondern auch durch die auf die eigene Person 
bestimmt. Denn auch die Menstruierende würde leiden, falls sie die Vor¬ 
schriften überträte. Zulumädchen glauben, daß sie zu Skeletten einschrumpfen 
würden, wenn die Sonne sie in der Pubertät beschiene, und bei einigen 
brasilianischen Stämmen glauben die jungen Frauen, daß eine Übertretung 
der Vorschriften Geschwüre am Nacken und im Halse zur Folge hätte. 
Kurz, die Menstruierende wird als mit einem elektrischen Strome geladen 
angesehen, der, wenn nicht in Schranken gehalten, sich für sie und für 

1) Wenn ein Mädchen im alten Griechenland mannbar wurde, so forderte die 
itte, daß es sein Spielzeug der Göttin Aphrodite weihte und in ihrem Tempel auf- 

hmg. Die Arkteia der Bärengöttin Artemis in Brauron, der Bärentanz, an dem nach 
ristopbanes (Lysistrata, Vers 645) jedes zu Jahren gekommene Mädchen teilnehmen 
niu te, um einen Mann zu finden, dürfte als Einweihungszeremonie aufzufassen sein. 
Dle Mädchen hießen apxtoi, wiewohl sie später kein Bärenfell mehr trugen. 

2 ) Vielleicht geht die Sage, wie Zeus Hera im Zorn über ihre Verfolgung des 
erakles zum Himmel hinaushängte, auf einen ähnlichen Brauch zurück. 

16* 


















a3a 


Alfred Winterstein 


alle, die mit ihr in Berührung kommen, verderblich erweisen kann* Das 
Ziel der in Betracht kommenden Tabus ist eben, diese Kraft innerhalb 
der für die Sicherheit aller notwendigen Grenzen zu bannen . 1 

Frazer verwischt den spezifischen Charakter der Pubertätsriten der 
Mädchen, wie mir scheint, allzusehr zugunsten der allgemeineren Blutscheu 
und Erstlingsangst ; 2 eine andere Theorie, die E. Crawley 3 aufgestellt hat, 
wird den Eigentümlichkeiten dieser Bräuche besser gerecht. Die Vermeidungs- 
Vorschriften entspringen nach seiner Erklärung zunächst einmal einem 
allgemeinen Tabu der Geschlechter, das für den Mann bei Eintritt 
der Pubertät des Weibes (erste Menstruation) wirksam wird. Die besonderen, 
aus dessen Geschlechtsleben folgenden Situationen wie beispielsweise die 
Menstruation verstärken die Scheu vor dem Weibe immer wieder dadurch, 
daß sie an seine Andersartigkeit erinnern. Diese ruft beim Manne Gefühle 
der Fremdheit und Feindseligkeit hervor. Er fürchtet, vom Weibe geschwächt, 
mit dessen Eigenschaften angesteckt zu werden und sich dann als untüchtig, 
so namentlich bei der Jagd und im Kriege, zu erweisen. Aus dieser Einstellung 
erklärt sich, daß beispielsweise die Vorschriften für menstruierende Frauen 
überhaupt denen für die Pubertätskandidatinnen so ähnlich, wenn auch 
zumeist weniger streng sind. Da das Sexualbedürfnis die Schranke zwischen 
den Geschlechtern aber immer wieder durchbricht und der erste Sexual¬ 
verkehr des Mädchens mit besonderen Gefahren verbunden ist, müssen 
rechtzeitig Vorkehrungen gegen die materiellen und psychischen Gefahren, 
die der Primitive ja noch nicht sondert, getroffen werden. Diesem Zwecke 
dienen die sexuellen Operationen (Durchbohrung des Hymen , 4 Exzision 


1) Frazer meint, daß die gleiche Erklärung sich auf die ähnlichen Isolierbräuche 
der Priesterkönige und Priester anwenden läßt. 

2) Freud („Das Tabu der Virginität“, in „Beiträge zur Psychologie des Liebes- 
lebens“, Ges. Schriften, Bd. V) schreibt: „Eine zweite Erklärung sieht gleichfalls 
vom Sexuellen ab, greift aber viel weiter ins Allgemeine aus. Sie führt an, daß der 
Primitive die Beute einer beständig lauernden Angstbereitschaft ist, ganz ähnlich, 
wie wir es in der psychoanalytischen Neurosenlehre vom Angstneurotiker behaupten. 
Diese Angstbereitschaft wird sich am stärksten bei allen Gelegenheiten zeigen, die 
irgendwie vom Gewohnten abweichen, die etwas Neues, Unerwartetes, Unverstandenes, 
Unheimliches mit sich bringen. Daher stammt auch das weit in die späteren Religionen 
hineinreichende Zeremoniell, das mit dem Beginne jeder neuen Verrichtung, dem Anfänge 
jedes Zeitabschnittes, dem Erstlings ertrag von Mensch, Tier und Frucht verknüpft ist.“ 

3) Emest Crawley: The Mystic Rose, a Study of primitive marriage (London 1902), 
S. 190 ff. u. 294 ff. 

4) Bei den Pubertätszeremonien in Ceram nimmt eine alte Frau ein Blatt und 
durchbohrt es feierlich mit dem Finger als ein Symbol der Perforation des Hymen. 
Nachher kann das Mädchen mit Männern verkehren; in einigen Dörfern haben alte 




















Die Puhertätsriten der Aiäjdien und ihre Spuren im Märien a 33 


der Klitoris). Auch der Unterricht, der den Novizinnen durch alte Weiber 
in sexuellen Dingen zuteil wird, soll den künftigen Geschlechtsverkehr 
erleichtern. Manchmal muß dieser von den Mädchen sofort * 1 ausgeübt 
werden, wodurch dann jedes Geschlecht gegen das andere dauernd immunisiert 
ist. Überhaupt ist ja eine enge Beziehung zwischen Pubertätsweihen und 
Hochzeitszeremonien vorhanden. Die Pubertätsriten bringen nach Crawley 
jedoch auch die Anschauung der Primitiven zum Ausdruck, daß in dieser 
Zeit der alte Mensch abgelegt und ein neuer angezogen wird , 2 3 4 wie ja 
tatsächlich eine tiefgreifende physische und psychische Veränderung mit 
den Knaben und Mädchen in der Pubertät vor sich geht. Daß z. B. 
Haare abgeschnitten oder Zähne ausgeschlagen werden, soll nach Crawley 
diesen Verzicht auf den alten Menschen unterstützen und die Sicherheit 
des übrigen Körpers durch Opferung eines Teiles verstärken. Derselbe 
Verfasser verweist darauf, daß dem Verzicht auf das frühere Leben beim 
Knaben viel größere Bedeutung zukommt als beim Mädchen; denn bei 
ihr ist nichts in der Vergangenheit, was ihr gefährlich werden könnte. 
Sie wird nach wie vor ihr größtes Behagen und ihre beste Gesellschaft 
bei der Mutter und den Freundinnen finden. Hingegen drohen dem er¬ 
wachsenen Mädchen vom anderen Geschlechte Gefahren, denen es begegnen 
muß. Ploß-Renz tritt zunächst der Behauptung von Heinrich Schurtzä 
entgegen, daß bei den Mädchen, deren zweite Altersstufe bei weitem nicht 
so geschlossen und kameradschaftlich organisiert zu sein pflege wie die der 
Knaben, auch die Festlichkeiten und Prüfungen stets unbedeutender seien. 
Ja er führt sogar vereinzelte Beispiele dafür an, daß die Pubertätsfeier des 
weiblichen Geschlechtes länger dauert als jene des männlichen.^ Die 
Zeugungsfähigkeit ist der Hauptgegenstand auch der Mädchenweihen. Der 
Gedanke des mystischen Todes und der Wiedergeburt beherrscht diese und 
die so oft damit verbundene Mädchenbeschneidung in gleicher Weise wie 

Männer noch am selben Abend Zutritt zu ihr. (J. G. F. Riedel: De sluik- en 
kroesharige rassen tusschen Selebes en Papua. 1896, S. 158.) 

1) Bei einigen Stämmen Zentralafrikas müssen Knaben und Mädchen nach der 
Initiationsfeier sobald wie möglich miteinander verkehren; denn man glaubt, daß 
Sie sonst sterben müßten. (Macdonald: Africana, I. S. 126.) 

2) In Nias und Sierra Leone empfangen die Mädchen in der Pubertät einen 
neuen Namen. (A. Featherman: Social history of the races of mankind. II, S. 354.) 
Auf den Andamaneninseln werden diese Namen für Mädchen „Blumennamen“ genannt 
(Man, in Journ. Anthrop. Inst. XII, S. 128.) 

3) H. S churtz: Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen 
der Gesellschaft (Berlin 1902), S. 96 f. 

4) So in Lukuledi (früheres Deutsch-Ostafrika). 






















Alfred Wmterstein 


234 


die Jünglingsweihen. Ploß-Renz hält es nämlich für unrichtig, die Ab¬ 
sonderung der Reifekandidatinnen und andere Riten, die darauf abzielen 
die Mädchen dem Lichte zu entziehen, durchwegs mit ihrer „Unreinheit“ 1 
zu begründen, wie das gewöhnlich der Menstruierenden überhaupt und 
der Wöchnerin gegenüber geschieht, weil ja viele Völker ihre männlichen 
Pubertätskandidaten gleichfalls isolieren, die deswegen aber nicht als „unrein“ 
bezeichnet werden. Wohl aber gelten sie als „tabu“, d. h. als heilig, ehr¬ 
würdig, unberührbar, eine Bezeichnung, die bei manchen Völkern auch 
den isolierten Menstruierenden, Wöchnerinnen und stillenden Weibern 
gegeben wird. Für beide Geschlechter findet die Wiedergeburt während 
ihrer Zurückgezogenheit 2 und durch den Dämon statt. Im Exil verkehrt 
der Dämon mit den Pubertätskandidaten, ja der ganze Unterricht, der den 
Kandidaten von den Priestern, Zauberern, Medizinmännern usw. beider 
Geschlechter dort gegeben wird, dürfte auf Dämonen zurückgeführt werden, 
weil diese sich nach der regelmäßigen Auffassung der Völker durch ihre 
Priester offenbaren. Dieser Unterricht dreht sich zum großen Teil um Sexuelles. 
Ploß-Renz erblickt mit Recht in dem Brauch, die Kandidaten beiderlei 
Geschlechtes mit Stöcken, Ruten, Riemen usw. zu schlagen, zu geißeln, 
zu peitschen, keine bloße Mutprobe, sondern einen Fruchtbarkeits- oder 
Geschlechtsritus. Für den Psychoanalytiker bemerkenswert ist, was Ploß- 
Renz über die symbolische Bedeutung des Zahnes beim Pubertätsbrauch der 
Zahnoperationen sagt. Der Zahn scheint ihm hiebei als Repräsentant des 
Menschen selbst betrachtet zu werden. Das Rätselhafte dieser Auffassung 
versucht er durch die Sprachforschung zu lösen. Seb. Zehetmayr hat in 
seinem „Analogisch vergleichenden Wörterbuch über das Gesamtgebiet der 
indogermanischen Sprachen“ (Leipzig 187g) die Wurzel unseres „Zahn“ 
unter anderem im Namen des Bockes Thors, Tann-griostr „der Zähne- 
knirscher“, und in „Wuotan“ (penetrans, der Durchdringende) gefunden. 
Bedeutungsvoll ist ferner der süddeutsche Volksausdruck Baunzan (Bauch¬ 
zahn) für eine Speise, die ihrer Form nach an ein Knabenglied erinnert, 3 * 5 


1) Das Reinwerden wird häufig mit dem Weibwerden identifiziert; die Novize 
wird durch die Menstruation rein („monatliche Reinigung“). 

2) Die Isolierhütten werden von gewissen Völkern ausdrücklich als Magen oder 

Bauch eines Geistes bezeichnet. Sie sind die Stätten des mystischen Todes der Un¬ 
reifen und ihrer mystischen Wiedergeburt als Reife. Die Absonderung scheint zum 

Verkehr mit den Dämonen notwendig zu sein. 

5) In Wien gibt es eine bestimmte Art von Gebäck, die „Baunzerl“ genannt wird. 
Ihre Form ähnelt allerdings mehr einem weiblichen Genitale. 


























Die Pubertätsriten der AlaJcLen und ilire Spuren im Alärdien 235 


so wie die schweizerischen „Vulvenzähne“. 1 Es scheint an eine Ähnlichkeit 
der Zähne (es handelt sich bei den Zahnoperationen stets um Vorderzähne) 
m it den Geschlechtsorganen gedacht zu sein. 2 Demnach würde der Zahn, 
wenigstens bei gewissen Völkern, ein Abbild des Zeugungsorgans und 
mittelbar ein Bild des Menschen sein. Auch die Farben, mit denen die 
Pubertätskandidaten beiderlei Geschlechtes vielfach bemalt werden, bringt 
Ploß-Renz in Beziehung zur Fruchtbarkeit und Sexualität. Daß den 
Kandidaten der Genuß gewisser Speisen verboten ist, begründet er mit 
ihrer Bedeutung als Symbol des Geschlechtsgenusses. Soferne Wasser bei 
den Riten der Mädchen eine Rolle spielt, ist es vor allem als Symbol der 
Fruchtbarkeit und damit als ein Element aufzufassen, welches das Weib 
in sein neues Leben einführt. Auch bei zahlreichen anderen Pubertäts¬ 
bräuchen hebt Ploß-Renz ihre sexuelle Symbolik und ihre Beziehung 
zur Fruchtbarkeit hervor. 

Die oben angeführten Theorien enthalten ja zweifellos manches Rich¬ 
tige, wenn sie auch, wie mir scheint, Sinn und Zweck der Pubertäts¬ 
bräuche noch immer allzu sehr vom Standpunkte des Primitiven und zu 
wenig von dem des Psychologen deuten. Wir werden uns deshalb nunmehr 
des Hilfsmittels der Psychoanalyse bedienen, das seine Tauglichkeit ja 
bereits bei der Untersuchung der Pubertätsriten der Knaben 3 in so hervor¬ 
ragendem Maße bewiesen hat. Bevor wir die Bräuche, deren typischer Ab¬ 
lauf dem Leser aus den vorangehenden Beispielen klar geworden sein wird, 
im einzelnen betrachten, wollen wir uns noch zum besseren Verständnis 
mit den Umgestaltungen des weiblichen Sexuallebens in der Pubertät be¬ 
schäftigen. Wir lesen hierüber in Freuds klassischen „Drei Abhandlungen 
zur Sexualtheorie“ 4 folgendes: 

„Es ist bekannt, daß erst mit der Pubertät sich die scharfe Sonderung des 
männlichen und weiblichen Charakters herstellt, ein Gegensatz, der dann wie 
kein anderer die Lebensgestaltung der Menschen entscheidend beeinflußt. 
Männliche und weibliche Anlage sind allerdings schon im Kindesalter gut 


1) In der deutschen Schweiz läßt man Kinder zur Erleichterung des Zahnens 
auf Kerzen von Jungfernwachs beißen; auch reibt man das Zahnfleisch mit Wolfs- 
fcähnen oder mit Blut aus dem Kamme des Haushahns oder mit dem Pfötchen einer 
Schermaus ein, welche man dann dem Kind als „Füllenzähne“ oder „Vulvenzähne“ 
anhängt. (Ploß-Renz, a. a. O. S. 56.) 

2) Vgl. Ferenczis interessante Hypothese von dem Zahn als Urpenis (Versuch 
einer Genitaltheorie, S. 30). 

5) Th. Reik, a. a. O. S. 59 ff. 

4) Sigm. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. (Ges. Schriften, Bd. V.) 











*36 Alf red Winterstein 


kenntlich; die Entwicklung der Sexualhemmungen (Scham, Ekel, Mitleid usw) 
erfolgt beim kleinen Mädchen frühzeitiger und gegen geringeren Widerstand 
als beim Knaben; die Neigung zur Sexual Verdrängung erscheint überhaupt 
größer; wo sich Partialtriebe der Sexualität bemerkbar machen, bevorzugen 
sie die passive Form. Die autoerotische Betätigung der erogenen Zonen ist 
aber bei beiden Geschlechtern die nämliche, und durch diese Übereinstimmung 
ist die Möglichkeit eines Geschlechtsunterschiedes, wie er sich nach der Pubertät 
herstellt, für die Kindheit aufgehoben. Mit Rücksicht auf die autoerotischen 
und masturbatorischen Sexualäußerungen könnte man den Satz aufstellen, die 
Sexualität der kleinen Mädchen habe durchaus männlichen Charakter . . . Seit¬ 
dem ich mit dem Gesichtspunkt der Bisexualität (durch W. Fließ) bekannt 
worden bin, halte ich dieses Moment für das hier Maßgebende und meine 
ohne der Bisexualität Rechnung zu tragen, wird man kaum zum Verständnis 
der tatsächlich zu beobachtenden Sexualäußerungen von Mann und Weib ge¬ 
langen können. 

Von diesem abgesehen, kann ich nur noch folgendes hinzufügen: Die leitende 
erogene Zone ist auch beim weiblichen Kinde in der Klitoris gelegen, der 
männlichen Genitalzone an der Eichel also homolog. Alles, was ich über 
Masturbation bei kleinen Mädchen in Erfahrung bringen konnte, betraf die 
Klitoris und nicht die für die späteren Geschlechtsfunktionen bedeutsamen 
Partien des äußeren Genitales. Ich zweifle selbst daran, daß das weibliche 
Kind unter dem Einfluß der Verführung zu etwas anderem als zur Klitoris- 
masturbation gelangen kann. Die gerade bei kleinen Mädchen so häufigen 
Spontanentladungen der sexuellen Erregtheit äußern sich in Zuckungen der 
Klitoris, und die häufigen Erektionen derselben ermöglichen es den Mädchen, 
die Sexualäußerungen des anderen Geschlechtes richtig auch ohne Unterweisung 
zu beurteilen, indem sie einfach die Empfindungen der eigenen Sexualvorgänge 
auf die Knaben übertragen. 

Will man das Weib werden des kleinen Mädchens verstehen, so muß man 
die weiteren Schicksale dieser Klitoriserregbarkeit verfolgen. Die Pubertät, 
welche dem Knaben jenen großen Vorstoß der Libido bringt, kennzeichnet 
sich für das Mädchen durch eine neuerliche Verdrängungswelle, von der gerade 
die Klitorissexualität betroffen wird. Es ist ein Stück männlichen Sexuallebens, 
was dabei der Verdrängung verfällt. 1 Die bei dieser PubertätsVerdrängung des 
Weibes geschaffene Verstärkung der Sexualhemmnisse ergibt dann einen Reiz 
für die Libido des Mannes und nötigt dieselbe zur Steigerung ihrer Leistungen; 
mit der Höhe der Libido steigt dann auch die Sexualüberschätzung, die nur 
für das sich weigernde, seine Sexualität verleugnende Weib im vollen Maße 
zu haben ist . . . Ist die Übertragung der erogenen Reizbarkeit von der Klitoris 
auf den Scheideneingang gelungen, so hat damit das Weib seine für die spätere 
Sexualbetätigung leitende Zone gewechselt, während der Mann die seinige von 
der Kindheit an beibehalten hat. In diesem Wechsel der leitenden erogenen 
Zone sowie in dem Verdrängungsschub der Pubertät, der gleichsam die infantile 


1) Man könnte von einem Passivitätsschub sprechen. 

















Die Pukertätsriten der .Mädchen und ilire Spuren im Alärclien 


23y 


Männlichkeit beiseite schafft, liegen die Hauptbedingungen für die Bevorzugung 
des Weibes zur Neurose, insbesondere zur Hysterie. Diese Bedingungen hängen 
also mit dem Wesen der Weiblichkeit innigst zusammen/ 4 


Wenn wir die Ausführungen Freuds über die Verdrängung der männ¬ 
lichen Klitorissexualität der Mädchen im Auge behalten und uns gleich¬ 
zeitig der Bedeutung der inzestuösen Objektwahl in der Pubertätszeit er¬ 
innern, sind wir genügend vorbereitet, um an die psychoanalytische Er¬ 
klärung der Pubertätsriten heranzutreten. Ihre Reihenfolge läßt sich sche¬ 
matisch etwa so darstellen: 

1) Das Mädchen wird — meistens nach Eintritt der ersten Menstruation — 
isoliert (Einsamkeit, Dunkel). Oft findet sich auch die Beschränkung, 
daß es nicht die Erde berühren und die Sonne schauen darf. Das Verbot 
des Verkehres bezieht sich entweder nur auf bestimmte Personen (Ange¬ 
hörige des anderen Geschlechtes, Eltern, Verwandte) oder auf alle. Diese 
für die Bräuche typische Absonderung wollen wir künftighin Mädchen¬ 
exil nennen. 

2 ) Im Exil wird die Kandidatin im allgemeinen von einer älteren Frau 
betreut, die ihr das Essen bringt usw. (bisweilen Mutter, Verwandte). 

3) Sie empfängt von älteren Frauen, manchmal auch von einem Priester, 
Medizinmann oder ähnlichem (theoretischen und praktischen) Unterricht 
in sexuellen Dingen, aber auch in anderen nützlichen Gegenständen. 

4) Sie beschäftigt sich mit dem Einüben häuslicher Tätigkeiten (Weben, 1 
Flechten, Spinnen u. a.). 

jj Sie darf in vielen Fällen ihren Körper nicht mit den Händen be¬ 
rühren (ihren Kopf nicht kratzen, die Speisen nicht selbst in den Mund 
nehmen), sondern muß sich hiezu eines eigenen Instrumentes, eines Kammes, 
eines Stöckchens oder eines bestimmten Knochens bedienen. (Ein solcher 
dient auch bisweilen als Trinkgefäß.) 

6 ) Sie muß vollkommen fasten oder sich mindestens von gewissen Speisen 
enthalten (kein Fleisch, kein Fisch, häufig das Verbot, Salz zu essen). Auch 
die Berührung, ja manchmal der Anblick bestimmter Tiere (Tierknochen) 
ist untersagt. 

7) Sie muß gewisse Prüfungen überstehen (die sogenannten Leidens- oder 
Mutproben). 

8 ) Sie wird bisweilen tätowiert oder bemalt. 


1) Nach Bachofen („Das Mutterrecht“, „Versuch über die Gräbersymbolik der 
Alten“) ist Wehen und Spinnen im Altertum das Symbol des Hetärismus, der un¬ 
gehemmten Zeugung. 












*38 


Alfred Winterstein 


p) Es finden sexuelle Operationen an der Reifekandidatin statt (Exzision 
der Klitoris, Beschneidung der Nymphen, künstliche Defloration). 

10) Es werden gewisse Zahnoperationen an ihr vorgenommen; auch die 
Haare werden manchmal abgeschnitten oder verbrannt. 

11) Es werden neben der Isolierung auch andere Bräuche beobachtet 
die mit der Vorstellung von Tod und Wiedergeburt Zusammenhängen (Ein¬ 
nehmen von Brechmitteln, Waschungen und Bäder, Erteilung eines neuen 
Namens, neue Bekleidung der Kandidatin u. a.). 

12) Gewisse Riten bezwecken, die Novize der Macht eines Pubertäts¬ 
oder Menstruationsdämons (bisweilen als Schlange oder als ein anderes 
geisterhaftes Tier vorgestellt) zu entziehen. 

I Magische Handlungen drücken manchmal den Wunsch nach leichter 
Geburt aus. 

14) Bei vielen Pubertätsweihen spielt der Tanz als Symbol des Geschlechts¬ 
verkehrs, als sexuelle Prüfungsleistung eine Rolle. Tänze, Gesänge und 
Schmausereien bilden häufig den Abschluß der Initiationszeremonien. 

Ij) Das Mädchen wird oft unmittelbar nach Beendigung des Exils in 
das Geschlechtsleben eingeführt. (Bisweilen erster Sexualverkehr mit älterem 
Mann, Häuptling, Priester.) 

16) Bei einigen Völkern müssen die Eltern nach der ersten Menstruation 
der Tochter den Beischlaf ausüben, bei anderen wieder sich davon enthalten. 

Wir haben gesehen, daß zur Zeit der Pubertät die Mädchen ebenso wie 
die Knaben von ihrer Familie getrennt werden, und dürfen daher auch 
beim weiblichen Geschlechte die gleiche Motivierung durch die Inzest¬ 
konflikte annehmen. Als Grund für das Exil wird allerdings von den Primi¬ 
tiven selbst der Schutz namentlich der Männer vor der vermeintlichen Ge¬ 
fährlichkeit der zum erstenmal Menstruierenden angegeben. Die Tochter 
soll vom Vater ferngehalten werden; zu diesem Behufe wird sie wieder in 
den Mutterleib versetzt, 1 als dessen symbolische Darstellungen wohl die 
Isolierhütten, Käfige, Behälter aus Baumrinde, 2 Hängematten, Erdlöcher zu 
betrachten sind. Bisweilen scheint freilich auch die Absonderung von der 
Mutter beabsichtigt zu werden; denn diesen Sinn dürfte das von Frazer 
in den Vordergrund gestellte Verbot haben, nicht nur die Sonne (den 


1) Auch der Gedanke der Wiedergeburt spielt hier hinein. Wenn gelegentlich 
angenommen wird, daß die Kandidatin mit einem Dämon in der Einsamkeit umgeht, 
so sehen wir, wie das Verdrängte wiederkehrt. Übrigens ähnelt diese Vorstellung der 
Phantasie weiblicher Neurotiker, mit dem Vater im Mutterleibe zu verkehren. 

2) So bei den Coroados (Puri) im südlichen Brasilien. 






















Die Pubertätsriten der jMädchen und ihre Spuren im Klärchen 2 3 9 


Vater) 1 zu schauen, sondern auch die Erde (die Mutter) zu berühren. 2 Die 
Trennung von der Mutter entspricht einer Abwehrreaktion auf den voll¬ 
ständigen „Elektra “-Komplex der Tochter, die ja nicht nur die Mutter in der 
Liebe zum Vater als Rivalin, sondern gleichzeitig auch den Vater in der Liebe 
zur Mutter als störenden Konkurrenten empfindet. Das Mädchenexil wäre 
somit eigentlich als ein Kompromiß aus druck der eifersüchtigen Regungen 
beider Elternteile aufzufassen, da die Novize dadurch sowohl vom Vater 
als auch von der Mutter getrennt wird. Man könnte ebensogut sagen: das 
Exil ist ein Kompromiß zwischen der Einschließung der Tochter für den 
Vater und der Einschließung der Tochter vor dem Vater. In den Bräuchen 
scheint allerdings die Absonderung vom Vater das Wesentliche zu sein; 
denn das Exil selber erinnert an den Aufenthalt im Uterus der Mutter 
und die alte Frau, sozusagen die Beschließerin des Gefängnisses (manchmal 
auch in der Mehrzahl), die für die Ernährung und Erziehung (auch Züch¬ 
tigung) der Novize sorgt, ist eine Mutterfigur. Das Exil der Tochter ist 
eben auch eine Einrichtung zugunsten der Mutter. Es handelt sich nämlich 
bei den Mädchen nicht wie bei den Knaben darum, sie dem häuslichen, 
mütterlichen Milieu zu entfremden; 3 sie üben ja auch während des Exils 
häusliche Tätigkeiten (Weben, Flechten, Spinnen u. a.) als Vorbereitung 
für das kommende Leben (Führung eines Haushalts als verheiratete Frau) 
ein. Im Zusammenhänge mit dieser Tatsache tritt auch das soziale Moment 4 
in den Pubertätsriten der Mädchen weniger hervor; sie werden vielfach 
einzeln eingeweiht. 

Die inzestuöse Neigung des Vaters zur Tochter, deren Abwehr das 
Mädchenexil dienen soll, tritt im Gegensätze hiezu in den Mythen und 
Märchen ganz offenkundig zutage: der Vater benimmt sich wie ein eifer¬ 
süchtiger Liebhaber der Tochter (bisweilen wird dies sogar zum Ausdruck 
gebracht), gönnt sie keinem Freier und schließt sie, um sie gleichsam nur 

1) Die Auffassung der Sonne als Vater- und der Erde als Muttersymbol bedarf 
wohl keiner näheren Begründung mehr. — Nach einem zentralaustralischen Mythus 
entsprang das Feuer dem Penis eines Euro, der sehr rotes Feuer enthielt. 

2) Dieses Verbot galt ferner für gewisse Könige und Priester. Siehe Frazer, 
a. a. O., I, S. 2 ff. 

5) Deshalb hat auch der aus dem Exil zurückkehrende Jüngling, wenn man den 
Berichten glauben darf, seine Eltern, seinen Namen, sein ganzes früheres Leben ver¬ 
gessen. 

4) H. Schurtz (Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grund¬ 
formen der Gesellschaft. Berlin 1902, S. 96 f.) schreibt auch, daß die zweite Alters¬ 
stufe bei den Mädchen bei weitem nicht so geschlossen und kameradschaftlich organi¬ 
siert zu sein pflege wie bei den Knaben. 















^4° Alfred W mt er.stein 


für sich zu haben, in einen Turm ein. 1 Auch die böse, eifersüchti 
Mutter 2 3 4 kennen wir (meist nur als Schwiegermutter) aus vielen Märchen 6 
sie wird dem Mädchen zur „Hexe“, die das Exil bewirkt und am Schlüsse 
der Geschichte zur Vergeltung verbrannt wird. 

Das Mädchenexil verfolgt vor allem den Zweck, den Vater von der 
Tochter fernzuhalten. Eine ähnliche Bedeutung scheint der als Punkt iß 
(S. 40) erwähnte Brauch zu besitzen, daß an manchen Orten der Vater 
nach der ersten Menstruation der Tochter mit seinem Weibe den Beischlaf 
vollziehen muß .3 Es ist, als sollte er durch diese Sitte von der Tochter 
abgelenkt werden (vielleicht aber auch ein Fruchtbarkeitszauber). Bei ein¬ 
zelnen Völkerschaften heißt es wieder, der Vater käme in Lebensgefahr, 
wenn er die Isolierte sähe. So wie aber im neurotischen Symptom das 
Verdrängte sich dennoch durchsetzt, kehrt der sozusagen verdrängte Vater 
m anderen Bräuchen der Mädchenweihe unmittelbar oder mittelbar im 
Wege einer Vaterfigur wieder. * Wir erinnern uns, daß auf den Marshall¬ 
inseln eine Häuptlingstochter mit Eintritt der Pubertät auch von ihrem 
Vater defloriert werden konnte. Eine verwandte Sitte, daß die Braut von 
ihrem eigenen Vater der Jungfrauschaft beraubt wird, herrscht bei den 
Orang-Sakhai im Innern der Malayischen Halbinsel, bei den Battas auf 
Sumatra, den Alfuren auf Celebes, ebenso auf Ceylon und auf den Mo¬ 
lukken. 5 Als die Vollzieher der Defloration erscheinen andernorts Priester, 
Könige, Vornehme, also Personen aus der Vaterreihe, denen die Pflicht 
obliegt, die Jungfrau zu deflorieren. Diese Pflicht geht wohl auf ein Recht 


1) Vgl. die Märchen Nr. 1, 4, 9, 14 und 15. 

2) Ein ähnliches Verhalten wie im Märchen zeigt die Mutter der Pubertätskandi¬ 
datin bei den Macusi, einem Zweige der Karäiben in Britisch-Guayana, die das Mäd¬ 
chen während der Nacht mit dünnen Ruten geißelt (siehe S. 211). 

3) Umgekehrt dürfen hei den Atchuabo (Portugiesisch-Ostafrika) Vater und Mutter 
wahrend der Betanzung ihrer Tochter nicht miteinander verkehren (a. a. O. S. 100). 
Ähnlich auf den Marshall-Inseln (siehe S. 206). 

4) Siehe auch Anmerkung 1 zu S. 238. 

5) Vgl. auch Crawley, a. a. O. S. 349. - Was bei den Malayen als eine Pflicht 
b , Va * erS der Braut erscheint, nimmt andernorts der Vater des Bräutigams als das 
Recht des Familienoberhauptes in Anspruch. Ich verweise zunächst auf den Brauch 
der Bdnaro (S. 205). Bei den indischen Sudras, besonders bei den Vellalan von Coim- 
hattore besteht die Sitte, daß der Vater seinen unmündigen Sohn mit einem Mädchen 
vermahlt und dann selbst bis zur Großjährigkeit des Sohnes mit ihr zusammenlebt. 
Bei den Russen heißt der alte noch heute nicht erloschene Brauch, wonach die 
Schwiegertochter dem Schwiegervater zur Verfügung steht, snohacestvo von snoha, 
öchnur. Diese Sitte wird auch von den Osseten berichtet; Spuren finden sich gleich- 

talls hpi n 12 ^ A 0 






















Die Pubertätsriten der Atäddien und ilire Spuren im jMärchen 


zurück, nämlich auf das Recht des Vaters auf die Tochter. 1 Ein solcher 
symbolischer Sinn dürfte auch dem bei den Tapuya an der brasilianischen 
Ostküste (nach dem Bericht eines Reisenden aus der Mitte des siebzehnten 
Jahrhunderts) herrschenden Brauch innewohnen, daß der Häuptling einen 
Pfeil nach dem Kranze abschoß, den die Pubertätskandidatin auf dem 
Kopfe trug. Traf er so, daß Blut floß, dann leckte er dieses ab und das 
Mädchen hatte Hoffnung auf ein langes Leben (Fruchtbarkeit). 2 3 Andere 
Berichte aus älterer Zeit 3 geben von einer eigentlichen Defloration durch 
Priester oder Könige Kunde. Der Bolognese Ludwig von Varthema, ein 
Reisender aus dem Anfänge des sechzehnten Jahrhunderts, erzählt über 
die bezüglichen Gepflogenheiten in Malabar (Vorderindien) folgendes: Der 
König von Kalikut wählte zur Entblumung des IVIädchens den würdigsten 
der Brahmanen, der aber nicht gerne und nur gegen Bezahlung von 400 
bis 500 Dukaten einwilligte. Denselben Brauch bezeugt der Venezianer 
Balbi für das benachbarte Königreich Kotschin, und zwar als vom Herr¬ 
scher sowohl wie von den Untertanen geübt. Die früheste Nachricht über 
einen solchen Brauch haben wir aus Kambodscha in der Reisebeschreibung 
eines chinesischen Beamten vom Jahre 1295. Da wird ausführlich erzählt, 
daß ein Buddhapriester oder ein Priester der Tao-Religion mit der De¬ 
floration der Braut beauftragt werde; diese Dienstleistung der heiligen 
Männer nenne man tshin-than , Zurichtung des Lagers. Alljährlich ließ 
der Orts Vorsteher den hiefür gewählten Tag ausrufen und alle diejenigen, 
die Töchter zu verheiraten hatten, vorladen. Er gab jedem eine große 
Kerze, an der ein Zeichen angebracht war: die Zeit, in welcher die Kerze 
bis zu dem Zeichen herabbrannte, war für das tshin-than bestimmt. Darauf 
erwählten sich die Eltern ihren priesterlichen Vertrauensmann aus dem 
nächsten Kloster. Ein reiches Haus beschenkte ihn dafür mit Wein, Reis, 
Leinwand, Arekanüssen, Silbergeschirren und anderen Dingen, die im 
ganzen einen Wert von 1500 bis 2400 Franken ausmachten. Unter den 
zehnten Teil dieses Wertes durfte auch die geringste Entlohnung nicht 


1) Manche Forscher (Luhbock, Liebrecht, Giraud-Teulon) fassen den Vor¬ 
rang des Vaters oder der Vaterperson als ein Zugeständnis an den vorhergegangenen 
Hetärismus (nach Bachofen die als die Urform der Ehe angenommene Weiber- 
gemeinschaft) auf. 

2) Ploß-Renz, a. a. O., II, S. 728. — S. 213 dieser Arbeit. 

3) Zahlreiche Belege für diese Bräuche hei Wilhelm Hertz (Gesammelte Ab¬ 
handlungen, herausgegeben von Friedrich von der Leyen, Stuttgart und Berlin 1905), 
und Ploß-Bartels (Das Weib in der Natur- und Völkerkunde, 9. Aufl., Leipzig 1908). 
Bie Quellenangabe verdanke ich der zitierten Arbeit von H. Silber er. 















2^2 


.Alfred Wmterstem 


heruntergehen. Die Schwierigkeit, eine solche Summe zu beschaffen, ver¬ 
zögerte oft die Verheiratung armer Mädchen auf Jahre hinaus. Daher galt 
es für eine gute Tat, armen Jungfrauen das Geld für das tshin-than zu 
schenken. Daß in neuerer Zeit bei einer Vaisnava-Se\Xe in Indien der 
Oberpriester von den Gläubigen um die nämliche Gunstbezeigung ersucht 
wurde, hat ein Preßprozeß in Bombay 1862 erwiesen. Ähnliches wird von 
dem Angekok oder Priester bei einigen Eskimostämmen 1 und den Piaches 
den Zauberärzten bei den Kariben und anderen mittel- und südamerika¬ 
nischen Stämmen 2 , berichtet. 

Um den gleichen Dienst wie die Priester wurden bei einzelnen Völkern 
die Könige gebeten. Noch in neuester Zeit wurde — um nur ein Beispiel 
anzuführen — von den Ballanten in Senegambien mitgeteilt, daß dort ein 
Mädchen erst nach dieser Formalität heiraten kann. Der Vater einer reiz¬ 
losen Tochter ist übel daran; mit ansehnlichen Geschenken und inständigen 
Bitten muß er den König zu bewegen suchen, sich ihrer zu erbarmen. 

Die verbreitete Institution der „Tobiasehe“ (der anfänglichen Meidung 
zwischen Braut und Bräutigam) 3 ist bereits von C. G. Jung 4 und 

1) Crawley, a. a. O. S. 549. 

2) Weitere Beispiele und genaue Literaturbelege bei Hertz, a. a. O. S. 196 ff. 

3) Solche „Tobiaszeiten“, die sich in verschiedener Weise oft über Wochen und 
Monate erstrecken, werden für Neu-Guinea nicht nur von den Bdnaro (S. 206), sondern 
auch von anderen Stämmen, z. B. den Massim und dem Me&eo-Stamm (S. 206, Anm. 4) 
berichtet. Thurnwald vermutet mit Recht (a. a. O. S. 23), daß diese Einrichtung 
auch mit dem Rechte des Schwiegervaters, die Braut zu deflorieren oder doch zu 
gebrauchen, zusammenhängt. Bei Völkern, bei denen ein vorehelicher Verkehr unter 
den Brautleuten durch die Sitte zugestanden wird, besteht nichtsdestoweniger die 
Institution von Tobiasnächten für Wochen und Monate, während welcher die Braut 
vom Schwiegervater oder einem Verwandten bewacht wird. Vgl. F. F. v. Reit zen¬ 
stein, Zeitschr. f. Ethnologie, 1909, S. 656, 677, 678. Reste dieser Sitte in Europa 
sind zusammengestellt bei Ed. Hermann: Beiträge zu den indogermanischen Hoch- 
zeitsbräuchen. Indogerman. Forschungen, 17, 1905, S. 383—385. Vgl. auch S. 240, 
Anm. 5. — Nach Fertigstellung des Manuskriptes entdecke ich in der Unterhaltungs¬ 
beilage der „Zürcher Volkszeitung“ vom 7. Oktober 1927 einen Aufsatz, der von 
merkwürdigen Hochzeitsbräuchen bei den Eingeborenenstämmen Niederländisch- 
Indiens, namentlich den Makassaren und Buginesen , berichtet. Nach geschlossener 
Ehe tritt dort noch eine Wartezeit ein, die mitunter auch auf vierzig Tage ausge¬ 
dehnt wird, ehe die Braut ihrem Lebensgefährten aus dem elterlichen Hause folgt. 
Der neugebackene Ehemann läßt nach der Trauung in der Wohnung bezeichnender¬ 
weise als Stellvertreter seinen Galadolch zurück, den die junge Frau mit der größten 
Gleichgültigkeit, ja sogar Abneigung behandelt. 

4) C. G. Jung: Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen. (Jahr¬ 
buch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, I. Band, I. Hälfte. 
Leipzig und Wien 1909.) 





















Die Pukertätsriten der jMäddien und ihre Spuren im jMärcken 2^3 

A. J. Storfer 1 als eine Anerkennung der Vorrechte des Patriarchen ge¬ 
deutet worden; auch das umstrittene Jus primae noctis des mittelalterlichen 
Gutsherrn führt Freud 2 auf die Fixierung der Libido der Tochter an den 
Vater zurück. Es heißt bei ihm weiter: „Es entspricht dann nur unserer 
Erwartung, wenn wir unter den mit der Defloration betrauten Vater¬ 
surrogaten auch das Götterbild finden. In manchen Gegenden von Indien 
mußte die Neuvermählte das Hymen dem hölzernen Lingam opfern und 
nach dem Berichte des heiligen Augustinus bestand im römischen Heirats¬ 
zeremoniell (seiner Zeit?) dieselbe Sitte mit der Abschwächung, daß sich 
die junge Frau auf den riesigen Steinphallus des Priapus (eig. Mutunus 
Tutunus) nur zu setzen brauchte.“ 3 

Wir sind mit den vorstehenden Beispielen nur scheinbar über den 
Rahmen unserer Untersuchung hinausgetreten; denn Hochzeitszeremonien 
und Pubertätsfeierlichkeiten haben in gleicher Weise den Zweck von Vor¬ 
bereitungen für das Geschlechtsleben. In vielen Fällen wird ja der Eintritt 
der Geschlechtsreife gleichgesetzt mit dem Beginne des Geschlechtslebens, 
mit dessen Befriedigung. Mit dem Überschreiten jeder Schwelle, nament¬ 
lich jener, die zwischen der Welt des Kindes und der der mannbaren 
Jungfrau liegt, sind aber gewisse Gefahren verbunden. Diese drohen, wie 
gesagt, in besonderem Maße bei der (ersten) Menstruation und bei der 
Defloration des Weibes. 

Die Defloration, bei der wir zunächst noch verweilen wollen, wird ' 
nicht nur einem Ältesten, König, Priester, Vornehmen, also einem Vater¬ 
ersatz übertragen, sondern auch bisweilen einem als minderwertig ange¬ 
sehenen Manne, der für diese Dienstleistung entlohnt wurde, oder der 
Akt wurde als eine Sache, der man sich gern entzieht, auf einem anderen 
als dem natürlichen Wege, durch manuellen Eingriff, durch Instrumente, 
durch den Phallus eines Götzen 4 vollzogen. 


1) A. J. Storfer: Zur Sonderstellung des Vatermordes. (Schriften zur angewandten 
Seelenkunde, XIII. Heft. Leipzig und Wien 1911.) 

2) S. Freud: Das Tabu der Virginität. („Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens.“ 
Ges. Schriften, Bd. V.) 

3) Ploß-B artels: a. a. O., I, S. 561, und J. A. Dulaure: Des Divinites gen6- 
ratrices. Paris 1885, S. 142 ff. Der heilige Augustin identifiziert Mutunus Tutunus mit 
Priapus. 

4) Hier ist die Bedeutung als Phallus des Vaters deutlich erkennbar. Auch der 
Flügelknochen eines weißköpfigen Adlers, aus dem die Pubertätskandidatin bei den 
T/mgzt-Indianern auf Alaska trinken mußte, hat vielleicht dieselbe symbolische Be¬ 
ziehung zu diesem. 

















%44 Alfred W^nterstein 


In der beliebtesten und verbreitetsten Reisebeschreibung des Mittelalters 
im Buche des Sir John Mandeville (oder Maundeville), wird von einer 
Insel im fernen Osten erzählt, daß dort der Bräutigam nicht selbst die 
Braut defloriere, sondern hiefür einen Stellvertreter miete, der wegen der 
Waghalsigkeit des Unternehmens in der Sprache des Landes cadyberis, d. h. 
ein toller Verzweifelter, genannt werde. Dieser Brauch, so erklären die 
Eingeborenen, stamme aus alten Zeiten, in denen die Jungfrauen kleine 
Giftschlangen im Schoße verborgen getragen hätten, durch deren Biß 
der erste, der ihnen beiwohnte, getötet worden sei. So im lateinischen und 
englischen Text. Die deutschen Übersetzungen weichen ab. Eine von ihnen 
sagt z. B. nichts von den Schlangen, sondern führt die verderbliche Wirkung 
auf eine durch böse Künste angezauberte Vergiftung des jungfräulichen 
Schoßes zurück. 1 

Unter den Stellvertretern des Bräutigams sind vor allen gewerbsmäßige 
Mietlinge auf den Philippinen hervorzuheben, die gegen Bezahlung den 
Bräuten die Jungfrauschaft nahmen. Dieses seltsame Gewerbe kam dort 
im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts in Abnahme. In jüngerer Zeit 
wurde es z. B. in Neu-Kaledonien beobachtet. 

Durch ein merkwürdiges Abenteuer wurde dem schon erwähnten Bolo¬ 
gneser Ludwig von Varthema um 1505 in Tenasserim in Hinterindien ein 
ähnlicher Brauch bekannt. Hier waren es die Fremden, die weißen Männer, 
die von den heidnischen Eingeborenen, den König nicht ausgenommen, er¬ 
sucht wurden, in der Brautnacht ihre Stelle einzunehmen. Varthema erzählt 
ausführlich, wie ihm und seinem Begleiter, einem Perser, ein solcher Antrag 
gemacht worden sei, dem dieser auch Folge geleistet hätte. Daß in Kalikut bei 
den Vornehmen Ähnliches vorkam wie in Tenasserim, berichtet der Holländer 
P. W. Verhuefen (um 1608). Linschoten meldet dasselbe aus Pegu und 
fügt ausdrücklich hinzu, daß die Adeligen dem Fremden dafür Verehrung 
zuteil werden ließen. Mandelsloh fand diesen Brauch auch bei den schwarzen 
Eingeborenen von Malakka. In den birmanischen Ländern soll er sich bis in 
neuere Zeit erhalten haben. Nach Richards Geschichte von Tongking sind 
im Königreich Aracan im vorigen Jahrhundert namentlich holländische 
Matrosen zu diesem Zwecke von den Einwohnern gedungen worden. 


1) Die Beispiele entnehme ich Silber er s Arbeit. (Wilhelm Hertz, a. a. O. S. 195* 
Cod. Arab. Monac. 650, fol. 21b.) — Der Kompilator dieser Reisebeschreibung war 
der Lütticher Arzt Jehan de la Bourgoigne, dit ä la Barbe (*1*1372). — Das 
obige Motiv klingt noch in Artur Schnitzlers Erzählung „Das Schicksal des Frei¬ 
herrn von Leisenbogh“ an. 























Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märchen 2^5 


Im allgemeinen erscheint die Defloration in diesen primitiven Bräuchen 
nicht als ein gerne geübtes Recht der Großen, sondern als eine Pflicht, 
zu der sie ihre hervorragende Stellung verbindet, woferne das Geschäft 
nicht gar auf Outcasts , auf Sklaven und Fremde abgewälzt wird. Als einen 
Bestandteil der Pubertätsriten bei australischen Stämmen und bei den Conibos , 
einem Indianerstamm in Peru, haben wir ferner die künstliche Defloration 
kennengelernt, die mit dem Finger oder einem Instrument, einem Stein, 
Stock oder Messer, durch eine Frau, an manchen Orten auch durch alte 
Männer ausgeführt wird. 1 

Die Defloration der Mädchen außerhalb der Ehe und vor dem ersten 
ehelichen Verkehre scheint zunächst einmal die Absicht auszudrücken, dem 
Bräutigam und späteren Ehemann eine gefährliche Leistung abzunehmen. 
Wir können noch weiter gehen und sagen: Die Defloration ist für ihn 
Gegenstand eines Tabu, er muß einer solchen Leistung ausweichen. Dieses 
„Tabu der Virginität“ hat eine psychoanalytische Erklärung in Freuds 
gleichnamiger Abhandlung 2 gefunden; wir wollen nunmehr hören, was 
er uns für die Zwecke der vorliegenden Arbeit zu sagen hat. 

Freud stellt als das Ergebnis seiner Untersuchung voran, daß eine 
solche Gefahr, wie sie der spätere Ehemann fürchtet, wirklich vorhanden 
ist, so daß der Primitive sich mit dem Tabu der Virginität gegen eine 
richtig geahnte, wenn auch bloß psychische Gefahr verteidigt. Diese Ge¬ 
fahr besteht darin, sich die Feindseligkeit des deflorierten Weibes zuzuziehen, 
und gerade der spätere Mann hat allen Grund, solche Feindseligkeit zu ver¬ 
meiden. Analysen namentlich frigider Frauen 3 haben Freud die Regungen 
erkennen lassen, die am Zustandekommen dieses sonderbaren Verhaltens 
beteiligt sind: die narzißtische Kränkung der Frau über die Zerstörung 
eines Organs, 4 die Fixierung der Libido der Frau an den Vater, welche 
den Ersatzmann als unbefriedigend ablehnt, schließlich die Reaktion der 
unfertigen, männlichen Sexualität des Weibes, das den Mann um seinen 


1) Siehe den Gebrauch auf Ceram (Fußnote 4 auf S. 232). 

2) Siehe Freud: Das Tabu der Virginität. (Ges. Schriften, Bd. V.) 

3) Bei der Frigidität des Weibes vereinigt sich die zärtliche Reaktion mit der 
feindseligen zu einer HemmungsWirkung, ganz ähnlich, wie es an den sogenannten 
„zweizeitigen“ Symptomen der Zwangsneurose längst erkannt worden ist. 

4) Freud warnt mit Recht davor, dieses Moment zu überschätzen. Bei manchen 
australischen Stämmen wird das Hymen von älteren Männern künstlich durchbohrt, 
die dann in festgesetzter Reihenfolge einen zeremoniellen Koitus mit dem Mädchen 
als Vertreter des Mannes ausführen. Offenbar soll dem Ehemann noch etwas anderes 
erspart werden als die Reaktion der Frau auf die schmerzhafte Verletzung. 



Imago XIV 


17 




















2^6 


Alfred Winterstein 


Penis beneidet, auf den ersten Geschlechtsverkehr. Freud meint, daß das 
befremdende Tabu der Virginität, die Scheu, mit der bei den Primitiven der 
Ehemann der Defloration aus dem Wege geht, in dieser feindseligen Re¬ 
aktion der Frau ihre volle Rechtfertigung finde. 

Freuds Versuch, diese Racheeinstellung aus dem Penisneide des Mäd¬ 
chens zu erklären, wird, wie Karen Horney in einem ausgezeichneten 
Aufsatze „Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes ^ iCl ausführt, dem 
.Tatsachenmaterial, das eine Analyse noch tieferer Schichten zutage fördert, 
nicht völlig gerecht. Sie verweist zunächst auf eine frühere Phase inten¬ 
siver, ganz weiblicher Liebesbindung an den Vater, in der sich das kleine 
Mädchen ein Kind vom Vater wünschte wie die Mutter. In dieser ersten 
Phase phantasiert das Kind auf Grund der — feindlichen oder freund¬ 
lichen — Mutteridentifizierung als ontogenetische Wiederholung einer 
phylogenetischen Periode eine völlige Besitzergreifung durch den Vater. 
Der überwundene Penisneidkomplex der autoerotischen Periode wird aber 
später in vielen Fällen wieder aktiviert, wenn diese Liebesphantasie ihre 
unausbleibliche Versagung durch die Realität erfahren hat. Grübeleien 
über das Nichthaben oder den Verbleib des Gliedes erzeugen dann die 
im späteren Leben tief verdrängte Phantasie, durch die Liebesbeziehung 
zum Vater kastriert worden zu sein. 1 2 Die Racheeinstellung gegen den 
Mann findet also nach Horney ihre eigentliche Begründung in der Liebes- 
enttäuschung am Vater und in der vermeintlich durch den Koitus mit 
ihm erlittenen Kastration. Daß in der Analyse der Penisneid leichter preis¬ 
gegeben wird als die Phantasie, die den Verlust des männlichen Genitales 
einem Liebesakt mit dem Vater zuschreibt, ist, wie Horney meint, um 
so begreiflicher, als an dem Penisneid an sich ja gar keine Schuldgefühle 
haften. 

Daß diese Racheeinstellung gegen den Mann sich späterhin besonders 
häufig und besonders heftig gerade gegen den die Defloration vollziehen¬ 
den Mann richtet, erklärt Horney daraus, daß eben für die Phantasie der 
Vater der erste Mann gewesen ist und daher auch im späteren realen 
Liebesieben der erste Mann in besonders hohem Maße Vaterbedeutung 


1) Dr. Karen Horney: Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes. Inter¬ 
nationale Zeitschrift für Psychoanalyse, IX. x, 1923. 

2) Vielleicht steht in den Brangänemärchen und -erzählungen die Figur der Braut 
mit der nicht vorwurfsfreien Vergangenheit, die ein anderes Mädchen bittet, 
ihre Stelle bei der Hochzeit einzunehmen, mit jener Phantasie irgendwie in Zusam¬ 
menhang. 























Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Miärdaen 


haben muß. Dies wird ja auch darin zum Ausdruck gebracht, daß in den 
Bräuchen vieler primitiver Völker die Vollziehung der Defloration wirklich 
einer Vaterersatzfigur, wie wir gesehen haben, überlassen wird. Die Deflo¬ 
ration ist für das Unbewußte nur die Wiederholung jenes in der Phanta¬ 
sie erlebten Liebesaktes mit dem Vater und darum wiederholen sich an 
ihr auch alle die Affekte, die zu jenem gehören: sowohl die starke Bin¬ 
dung als auch die Inzestabwehr wie schließlich die oben beschriebene Rache¬ 
einstellung wegen der Liebesenttäuschung und der vermeintlich durch 
diesen Akt erlittenen Kastration . 1 

Von hier aus verstehen wir nun auch besser die Vorstellung der „ge¬ 
fährlichen Braut“, die als Motiv einer großen Gruppe von Sagen und 
Märchen anzutreffen ist. Welche Rolle dieser Aberglaube in den Bräuchen 
der primitiven Völker (auch als Glaube an die Gefährlichkeit der Mädchen 
mit Eintritt der Pubertät) spielt, haben wir zum Teile schon erörtert; an¬ 
dere Riten, die damit im Zusammenhänge zu stehen scheinen, sollen später 
untersucht werden. 

Als Paradigma der „gefährlichen Braut , von der in der Brautnacht ver¬ 
hängnisvolle Wirkungen drohen, wollen wir das sagenhafte Giftmädchen 
des Alexander betrachten . 2 Die von W. Hertz ausführlich behandelte Sage 
befand sich ursprünglich in einem fälschlich den Namen des Aristoteles 
als Autors tragenden arabischen Buche Sirralasrdr (Geheimnis der Geheim¬ 
nisse; in der lateinischen Übersetzung De secretis secretorum oder De regi- 
mine principum). Aus dem lateinischen Text, der in der europäischen 
Literatur im zwölften Jahrhundert auftauchte, ging die Sage in zahlreiche 
andere Schriftwerke über. Sie steht im ersten Teil des Buches, das Rat¬ 
schläge des Aristoteles an seinen Schüler Alexander enthält, und lautet : 3 

„Alexander (so schreibt Aristoteles), denk an die Tat der Königin von 
Indien, wie sie dir unter dem Vorwände der Freundschaft viele Angebinde 
und schöne Gaben übersandte. Darunter war auch jenes wunderschöne 
Mädchen, das von Kindheit auf mit Schlangengift getränkt und genährt 
worden war, so daß sich seine Natur in die Natur der Schlangen verwandelt 
hatte. Und hätte ich sie in jener Stunde nicht aufmerksam beobachtet und 
durch meine Kunst erkannt, da sie so furchtbar ungescheut und schamlos 
ihren Blick unablässig an das Antlitz der Menschen haftete, hätte ich nicht 


0 Aus eigenen Analysen kann ich Horneys Ausführungen nur bestätigen. 

2) Ich folge hier Silberers Abhandlung. 

3) W. Hertz, a. a. O, S. 162, wiedergegeben nach einem lateinischen Inkunabel- 
druck. (Münchener Bibliothek: Inc. s. a. 208, 40, c. XXVIII.) 


1 7 * 

















2^8 Alfred 'Winterstein 


daraus geschlossen, daß sie mit einem einzigen Bisse die Menschen töten 
würde, was sich dir hernach durch eine angestellte Probe bestätigt hat, so 
hättest du in der Hitze der Beiwohnung den Tod davon gehabt.“ J n 
manchen Wiedergaben der Episode wird auf die Probe, die Alexander auf 
den Rat des Aristoteles anstellt, ausführlicher eingegangen. Ein Mann, den 
der König zum Versuch herbeiholen läßt, stirbt in des Mädchens Um¬ 
armung oder durch ihren Biß, ihren Kuß usw. In einem arabischen Ur¬ 
text 1 wird ausdrücklich gesagt, das Giftmädchen töte durch ihren Biß und 
ihren Liebesverkehr. Hertz bezeichnet es als das poetische Hauptmotiv der 
Erzählung, daß der jugendliche Held im Genüsse der Schönheit des Mädchens 
vergehen sollte. Er macht auf den verbreiteten Aberglauben und die Sagen 
aufmerksam, in denen (tödliche) Vergiftung im Liebesgenuß vorkommt. So 
galten nach den Hochzeitssprüchen im Veda die vom Blute der Brautnacht 
geröteten Hemden für giftig und bösen Zaubers voll und mußten daher 
gleich am Morgen beseitigt werden. Zitternd vor ihrer dämonischen Macht, 
steckte sie der Bräutigam auf die gespaltene Spitze einer Stange und 
bannte so ihren Zauber fest. Sie wurden dann dem Priester zuteil, der 
allein imstande war, sie wieder zu reinigen. Damit vertrieb man die bösen 
Dämonen des Ehebettes und verhütete, daß die junge Frau ihrem Gatten 
Schaden tue. Die Priester, die überall zugleich Zauberer (Vaterersatzfiguren) 
waren wie die Piaches Mittel- und Südamerikas, mochten ganz besonders 
dazu berufen erscheinen, die Abwehr jener gefährlichen Wirkungen zu 
übernehmen. In der sagenhaften Fassung wird zumeist, z. B. auch in der 
Reisebeschreibung des Ritters Mandeville, ausdrücklich ausgesprochen, 
daß nur dem ersten, der das Mädchen umfängt, die Gefahren von dessen 
giftigem Schoße drohen. Dort findet sich auch die phantastische Zutat von 
dem im Schoße der Mädchen lauernden Schlangen . 2 

Das Giftmädchen gehört nach Hertz Sagenstoffen an, die in Indien 
von alters her verbreitet waren. Das indische Schauspiel Mudraraksasa (ent¬ 
standen zwischen dem siebenten und elften Jahrhundert) von Visakhadatta 
enthält eine Episode, die deshalb beachtenswert ist, weil sie für die 


1) Angegeben a. a. O. S. 195: Cod. Arab. Monac. 650, fol. 21b. 

2) Dies erinnert Hertz (a. a. O. S. 219) an ein männliches Gegenstück in der 
antiken Sage: König Minos von Kreta brachte allen seinen Geliebten den Tod, da er 
statt des Samens Schlangen, Skorpione und Skolopender in sie ergoß (nach einer Er¬ 
zählung des Antonius Liberalis aus dem zweiten Jahrh. n. Chr. Gleiches berichtet 
Apollodor, Bibliotheca III, 151)- — Plutarch (Symposiaca. L. VIII, quaestio 9) erwähnt, 
sein athenischer Gastfreund Ephebos habe in einem starken Samenerguß ein haariges, 
mit vielen Füßen geschwind laufendes Tierchen von sich gegeben (Spermatozoon). 





































Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märdien 


M9 


Alexandersage belangreich sein soll. In die Vorgeschichte der dramatischen 
Handlung fällt ein Mordanschlag, den Raksasa, der Minister des letzten 


Königs der Nanda-'Dyn&stie, gegen den Kronprätendenten Candragupta aus¬ 
führte. Überwunden und zum Scheine sich unterwerfend, sandte er an ihn 
ein Giftmädchen, das er mit Zauberkunst hergerichtet hatte. Aber der 
scharfsinnige Ratgeber Candraguptas, der Brahmane Visnugupta Cänakya , 
der den bezeichnenden Namen Kautilya (der krumme Wege liebt) führte, 
durchschaute den Plan und wußte es zu veranstalten, daß ein unbequemer 
Verbündeter seines Schützlings, dem die Hälfte des zu erobernden Reiches 
zugesagt worden war, die Jungfrau erhielt und in ihren Armen seinen Tod 
fand. Die verderbliche Eigenschaft des Mädchens äußert sich nur an dem 
ersten Mann. Mit Anspielung auf eine berühmte Stelle des Mahäbhärata 
sagt Raksasa : Wie der Held Karna mit Indras Speer nur einen einzigen 
Gegner töten konnte, 


„So ward für Candragupta auch von mir 
Das Mädchen auf bewahrt, das einen nur 
Umbringen konnte; doch als Opfer fiel 
Ein andrer.“ 


Reinhold Köhler hat eine Gruppe von Märchen als „die Märchen von 
den Toten und von der Rraut mit den Schlangen oder Drachen im Leibe" 1 
beschrieben, ohne übrigens, wie Silberer hervorhebt, ihres Zusammen¬ 
hanges mit dem Giftmädchenmotiv gewahr zu werden. Ich will ein 
Märchen dieser Gruppe anführen: 

Nr. 18. Armenisch: 2 — Ein wohlhabender Mann reitet durch einen Wald; 
da findet er einige Männer, die einen bereits verstorbenen Mann noch nach¬ 
träglich an einen Baum aufgehängt haben und den Leichnam entsetzlich schlagen. 
Als er sie fragt, was sie zu einer solchen Entweihung des Toten treibe, antworten 
sie, er sei ihnen Geld schuldig geblieben. Da bezahlt er ihnen die Schuld und 
begräbt den Toten. Jahre vergehen, er wird allmählich arm. In seiner Vater¬ 
stadt aber wohnt ein reicher Mann, welcher eine einzige Tochter hat, der er 
gern einen Mann geben möchte. Allein schon fünf Männer waren in der Hoch¬ 
zeitsnacht gestorben und keiner wagt mehr, um sie zu freien und ihr zu nahen. 
Nun wirft der Vater sein Auge auf diesen arm gewordenen Mann und trägt 
ihm die Tochter an. Der ist im Zweifel, ob er sein Leben wagen soll, und 
erbittet sich Bedenkzeit. Nun kommt eines Tages ein Mann zu ihm und bietet 
sich ihm als Diener an. „Wie sollt’ ich dich in Dienst nehmen, da ich ja so 
arm bin, daß ich mich kaum selbst ernähren kann?“ „Ich verlange von dir 


1) Reinhold Köhler: Kleinere Schriften. I. (Weimar 1898), S. 443. 

2) A. v. Haxthausen: Transkaukasia. I. (Leipzig 1856), S. 333 f. 






















25o 


Alfred W intersteiii 


keinen Lohn, keine Kost, sondern nur die Hälfte von deinem künftigen Hab 
und Gut!“ Sie werden darum einig. Nun rät ihm der Diener zu jener Heirat 
In der Hochzeitsnacht stellt sich der Diener mit einem Schwerte ins Braut¬ 
gemach. „Was willst du?“ „Du weißt, nach unserem Übereinkommen gehört 
mir die Hälfte von deinem künftigen Hab und Gut; ich will das Weib jetzt 
nicht, aber ich will hier frei stehen bleiben.“ — Als nun die Neuvermählten 
entschlafen, kriecht eine Schlange aus dem Munde der Braut hervor, um den 
Bräutigam zu Tode zu stechen, allein der Diener haut ihr den Kopf ab und 
zieht sie heraus. Nach einiger Zeit verlangt der Diener die Teilung alles Hab 
und Guts, es wird geteilt; nun fordert er auch die Hälfte des Weibes. „Sie 
soll, den Kopf nach unten, aufgehängt werden, ich werde sie mitten durch¬ 
spalten.“ Da gleitet ihr die zweite Schlange zum Munde heraus. Nun aber 
spricht der Diener: „Es war die letzte, von nun an kannst du ohne Gefahr 
und glücklich mit dem Weibe leben. Ich aber fordere von dir nichts, ich bin 
der Geist des Mannes, dessen Leichnam du einst von der Schande und Qual 
des Schlagens errettet und fromm begraben hast!“ Und verschwindet. 

Es ist klar, daß es sich in diesem Märchen und in anderen dieser Art 
um eine „gefährliche Braut“ im Sinne des Giftmädchens handelt. Daß die 
Schlangen nicht aus dem Schoße, sondern aus dem Munde kommen, ist 
eine „Verlegung nach oben“. Die Ähnlichkeit des Zuges, daß die Freier 
der Tochter des reichen Mannes in der Hochzeitsnacht sterben, mit der 
Liebesepisode im Buche Tobiae hat, wie Köhler ausführt, bereits Simrock 1 
bemerkt. Es handelt sich dort um folgendes: Sarah, die Tochter Raguels 
zu Ekbatana, will heiraten; nun will es ihr schlimmes Geschick, daß sie 
siebenmal nacheinander einen Mann auswählt, der ihr in der Brautnacht 
stirbt. Der böse Geist Asmodi , von dem sie verfolgt wird, tötet ihr die 
Männer. Sie bittet Jehovah, er möge sie lieber sterben lassen, als daß sie 
diese Schmach noch weiter erdulde. Sie wurde nämlich von den Mägden 
ihres Vaters deshalb geschmäht. Der achte Bräutigam, Tobias, wird ihr von 
Gott gesandt. Auch er wird in die Brautkammer geführt. Der alte Raguel 
aber, der nur scheinbar zu Bett gegangen ist, steht wieder auf und geht 
hinaus und gräbt dem Schwiegersöhne vorsorglich das Grab und am Morgen 
schickt er eine Magd in das Brautgemach, um den erwarteten Todesfall 
festzustellen. Diesmal aber hatte Asmodi ausgespielt, denn Tobias lebte. 

Das Asmodi-Motiv ist von C. G. Jung in der obenerwähnten Arbeit 2 
dahin gedeutet worden, daß es der Vater sei, der die Tochter für sich be¬ 
halten’ wolle, daß also das Inzestmotiv hier in der Vater-Tochter-Gestalt 


1) Karl Simrock: Der gute Gerhard und die dankbaren Toten (Bonn 1856). 

2) C. G. Jung: Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen, a. a. 0 . 
S. 171 f. 





























Die Putertätsriten der Alädchen und ihre Spuren im Märdien 26 1 


vorliege. Die Frage, ob Asmodi aus der giftigen Eigenschaft der Jungfrau 
zu erklären ist oder sich auf einen mythisch verdrängten Gewaltsanspruch 
des Vaters zurückführen läßt, ist im tieferen Sinne wohl überhaupt nicht 
vorhanden: der verfolgende Dämon Asmodi personifiziert ja die unfertige, 
an den Vater fixierte Sexualität der Tochter; die Schlange des Giftmädchens 
stellt sozusagen den männlichen Aspekt dieser Sexualität dar (Klitorislibido). 

In dem armenischen Märchen, das vom Standpunkte des Sohnes gedichtet 
ist, spielt der Vater eine bedeutende Rolle, jedoch nicht der Vater der Braut, 
sondern der des Bräutigams, also der Schwiegervater der Braut. Der dank¬ 
bare Tote (Diener) ist doch wohl eine Vaterfigur, und was die Teilung der 
Braut mit dem Bräutigam anbelangt, so verweise ich auf die Anmerkung 5 
zu S. 240, die die Rechte des Schwiegervaters auf die Braut bespricht. In 
dem Märchen gelangt zuerst eine feindselige Phantasie zum Ausdruck: der 
Verstorbene wird mißhandelt. Die Reue über dieses Vorgehen gibt sich dann 
in der Pietät gegen den geschlagenen Leichnam und in dem nachträglichen 
Gehorsam kund. Ein bedeutsames Motiv für den Vater-Sohn-Konflikt müssen 
wir wohl in der Nötigung sehen, die Liebe der Mutter zu teilen. Die 
Phantasie des Sohnes, der nach der herrschenden Sitte mit dem Vater (oder 
einer Vaterfigur) die Braut teilen mußte, mochte leicht das Urbild für 
diese in der Mutter erblicken. In unserem Märchen fällt die Teilungs¬ 
geschichte in die Sühneperiode; demgemäß ist sie auch gefärbt. Die Teilung 
wird zur Wohltat, die Einmischung des Vaterersatzes (Diener), der symbolisch 
von der Braut Besitz ergreift (Schwert, Durchspaltung des Weibes), zur 
Rettung für den Sohn. Diese Vorstellungsreihe trifft da offenbar mit dem 
Glauben an die zauberische Gefährlichkeit der Jungfrau (der ersten cohabi- 
tatio) und den damit in Verbindung stehenden Bräuchen zusammen. 

Daß die Beschneidung der Pubertätskandidatinnen die Beseitigung 
der dem ersten Geschlechtsverkehr aus der Klitorissexualität (männlich, 1 

1) Bei der weiblichen Pubertätsfeier der Basutos , eines Zweiges der Kaffem, ziehen 
die Mädchen Männerklei düng an, tragen Waffen und üben am Mannsvolke aller¬ 
hand Mutwillen (Ploß-Renz, a. a. O. S. 734). Bei den Bamangwato im südlichen 
Afrika schwingen die Mädchen eine Geißel mit Dornenzweigen, verfolgen die Bur¬ 
schen und peitschen sie. — Bei manchen Indianerstämmen Nordamerikas tragen die 
Mädchen während des Exils hohe konische Kopfbedeckungen, die wahrscheinlich 
phallische Bedeutung besitzen. Bezüglich der männlichen Parallelen verweise ich auf 
meine Arbeit „Der Ursprung der Tragödie“ (Imago-Bücher, VIII, Internationaler 
Psychoanalytischer Verlag, Wien 1925, S. 23). Daß Haarschur (oft gleichzeitig mit 
der Beschneidung vollzogen) und Zähneoperationen Kastrationsäquivalente sind, braucht 
hier wohl nicht näher begründet zu werden. (Siehe auch die Ausführungen über den 
Zahn als Abbild des Zeugungsorgans auf Seite 36 f.) 















Alfred "Wmterstein 




Fixierung an den Vater) drohenden Gefahren bezweckt, dürfte aus dem 
Vorhergehenden bereits klar geworden sein. Bisweilen wird die Operation 1 
(Kastration) auch durch eine Vaterfigur (Zauberer, älterer Mann, alter Ver¬ 
wandter) ausgeführt. Da der Primitive ein Werden nur im Bilde von Tod 
und Wiedergeburt erfassen kann, ist diese Vorstellung häufig mit der einen 
Entwicklungsschub kennzeichnenden Zeremonie der Beschnei düng verbunden. 
(Vgl. die Worte der beschneidenden alten Frauen in Deutsch-Tongo: „Ich 
weiß nichts; ich bin ein kleines Kind.“ Bei den Akikuyu 2 schütten die 
Angehörigen den Kandidaten nach der Beschneidung Ströme von Milch 
über den Kopf und Körper, worauf sie als Erwachsene und Stammesmit¬ 
glieder gelten.) 

Wenn wir uns erinnern, daß den Mädchen im Exil manchenorts ver¬ 
boten ist, mit den Fingern den eigenen Körper zu berühren oder 
zu kratzen, und ihnen als Behelf ein Knochen, Kamm oder sonstiges In¬ 
strument gegeben wird, werden wir auch hierin vielleicht eine Vorkehrung 
gegen die Klitorismasturbation 3 und die autoerotische Berührung des Leibes 
erblicken dürfen. In dem sizilianischen Märchen 4 (Nr. 14, S. 228) bohrt 
die vierzehnjährige Prinzessin mit einem Knochen ein Loch in den 
Turm. Sollte der Turm in der bekannten Haussymbolik dort den jung¬ 
fräulich verschlossenen Leib darstellen, in den kein Loch gebohrt werden 
darf? Der Knochen hätte dann die gleiche phallische Bedeutung wie der 
befruchtende Sonnenstrahl und würde dem unbewußten Sinn des zuletzt 


1) Vielleicht dürfen wir die Schmerzvollen Bisse gewisser großer Ameisen, denen 
die weiblichen Novizen hei manchen Indianerstämmen in Guayana ausgesetzt werden, 
„um sie zum Ertragen der Last der Mutterschaft stark zu machen“, auch als Kastra¬ 
tionsäquivalent auffassen. 

2) Bei diesen bedeutet Beschneidung B.einigung von der Sünde. Welcher Art 
diese Sünde ist, geht aus dem Glauben hervor, daß man mit der Sünde nur Bluts¬ 
verwandte infizieren könne (vgl. die Übertragung der Tabueigenschaft durch Berüh¬ 
rung) und daß auf den ersten Koitus der Tod (offenbar als Strafe für die Über¬ 
tretung des Inzesttabu) folge, weshalb die Burschen das nach der Beschneidung zum 
ersten Koitus mißbrauchte alte Weib (Mutterersatz) zu Tode steinigten, um die Todes¬ 
strafe von sich abzuwälzen, während die Mädchen ihren ersten Sexualpartner, einen 
unbeschnittenen Knaben, gar nicht zu toten brauchten, da der Unbeschnittene noch 
nicht als Mensch galt. Das Abschneiden eines Zweiges vom heiligen Baum, das der 
eigenen Beschneidung vorangeht, deutet symbolisch auf die Kastration des Vaters. 
(Vgl. auch das Abreißen der Zweige bei der Mädchenweihe der Atchuabo, S. 202 f.) 

5) Bei den Thomps on-Indianem verbringen die Mädchen die langweiligen Stunden 
des Exils damit, von Tannenzapfen die Nadeln einzeln herunterzuzupfen (Mastur¬ 
bation säquivalent?). 

4) Siehe Anm. 5 zu S. 228. 
























Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märdien 


253 



besprochenen Pubertätsbrauches, der Entwöhnung vom Autoerotismus, ent¬ 
sprechen. 1 

Auch der Kamm, der den Mädchen im Exil gegeben wird, um sich 
damit den Kopf zu kratzen, findet sich in gewissen Märchen wieder, in 
denen erzählt wird, daß sich das auf einem Baume 2 sitzende, wartende 
Mädchen kämmt. 3 

ln unseren Zusammenhang fügt sich ferner das Märchen vom Marien¬ 
kind, das ich folgen lasse: 


Nr. 19. Aus Hessen (Grimm, K. H. M. Nr. 3). — Ein armes Mädchen ge¬ 
langt durch die Gnade der Jungfrau Maria in den Himmel. Dort geht es dem 
Mädchen über die Maßen wohl. Als es vierzehn Jahre alt ist, ruft Maria 
es zu sich und sagt: „Liebes Kind, ich habe eine große Reise vor, da nimm 
die Schlüssel zu den dreizehn Toren des Himmelreiches in Verwahrung: zwölf 
davon darfst du aufschließen, das dreizehnte ist dir verboten; hüte dich wohl, 
daß du es nicht aufschließest, sonst wirst du unglücklich.“ Das Mädchen ver¬ 
spricht, gehorsam zu sein, Maria begibt sich fort. Das Mädchen schließt alle 
Türen auf, auch die verbotene dreizehnte; „es weiß es ja niemand, wenn 
ich’s tue“, denkt es. Die Tür geht auf, das Mädchen sieht die Dreieinigkeit 
im Feuer und Glanz sitzen. Es rührt mit dem Finger ein wenig an den 
Glanz, da wird der Finger golden. Das Mädchen verspürt gewaltige Angst 
und läuft davon. Die Angst will nicht wieder weichen, was das Mädchen 
auch beginnen mag; das Herz klopft in einem fort und will nicht ruhig 
werden; auch das Gold bleibt an dem Finger und geht nicht ab, trotz 
Waschens und Reibens. 

Die Jungfrau Maria kehrt zurück und befragt das Mädchen eindringlich 
um sein Verhalten; sie bemerkt den goldenen Finger. Das Mädchen aber 
leugnet; es wird darum aus dem Himmel verstoßen. Es versinkt in einen 
Schlaf und erwacht in einer Wildnis. Es will rufen, kann aber keinen 
Laut hervorbringen; es springt auf und will fortlaufen, wird aber beständig 
von dichten Dornhecken zurückgehalten. Es lebt ein jämmerliches 
Leben in der Einöde; ein Baum ist seine Wohnung. 

Eines Tages entdeckt ein König auf der Jagd das schöne, hilflose Mädchen. 
„Wer bist du?“ fragt er; es kann nicht antworten; „willst du auf mein 


1) Die Ähnlichkeit des Knochens mit dem Finger zeigt, daß es sich ebenso wie 
im neurotischen Symptom um eine Kompromißleistung zwischen verdrängender 
Instanz und Verdrängtem handelt. 

2) In manchen Gegenden müssen die Mädchen im Exil auf Bäume klettern. Ein 
verwandter Brauch ist in Südamerika die Verwendung von Hängematten, die das 
Mädchen zur kritischen Zeit von Himmel und Erde isolieren (vielleicht auch Schutz 
vor wilden Tieren). 

3) Auch im Schneewittchen-Märchen wird dem Mädchen sozusagen in sein Exil 
von der bösen Königin ein Kamm gebracht. Gehört am Ende die hoch oben auf 
einem Felsen sitzende, ihr Haar kämmende Loreley auch hieher? 














Alfred Winterstein 


2 54 


Schloß?“, und es nickt nur ein wenig mit dem Kopf. Der König gewinnt 
das stumme Mädchen lieb und vermählt sich mit ihm. Die Kinder, die aus 
dieser Ehe entsprießen, werden jedesmal gleich nach der Geburt von Maria 
in den Himmel entführt; Maria sagt zwar wiederholt zur Königin: „Willst 
du gestehen, daß du die verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir dein 
Kind wiedergeben und deine Zunge lösen“, aber die Königin bleibt verstockt 
Die Leute, die von alledem nichts wissen, glauben nicht anders, als daß sie 
ihre Kinder umbringe. Nachdem das dritte Kind verschwunden, läßt sich der 
König von seinen Räten überreden, seine Gemahlin hinrichten zu lassen. Auf 
dem brennenden Scheiterhaufen wird die Königin von Reue erfaßt und da 
erhält sie die Stimme wieder. „Ja, Maria, ich habe es getan!“ ruft sie. 
Da kommt ein Regen vom Himmel und löscht die Flammen. Auch die 
Kinder werden ihr wiedergegeben. 

In einer psychoanalytischen Untersuchung dieses Märchens 1 hat Herbert 
Silberer die „Sünde“ des Mädchens als autoerotische Betätigung 2 gedeutet 
und die Folgeerscheinungen der „Sünde“ als damit zusammenhängende 
Symptome verständlich gemacht. Die Tür ist ein Symbol für das Genitale. 
Das geöffnete Genitale führt uns wieder in den Ideenkreis des Mädchen¬ 
exils zurück, und zwar um so mehr, als die Katastrophe des Märchens, 
eben das Öffnen der Tür und das Erblicken des Glanzes, wie das Märchen 
selbst erzählt, im vierzehnten Lebensjahre des Mädchens eintritt. Das 
Erblicken der Dreieinigkeit 3 im Feuer und Glanz kann ferner mit dem 
verbotenen Schauen der Sonne zusammengebracht werden. Der folgende 
Abschnitt des Märchens erinnert uns wieder in der dargestellten Situation 
an das Mädchenexil: das Marienkind versinkt in Schlaf 4 und erwacht in 
einer Wildnis (Introversion, Tod und Wiedergeburt), wohnt auf einem Baum 
(zwischen Himmel und Erde), bringt keinen Laut hervor (Schweigegebot, 
Stummheit als Eigenschaft der Toten), wird von dichten Dornhecken zurück¬ 
gehalten (die vorgeschriebene Bewegungslosigkeit der Kandidatinnen im 
Exil). Der König, der sich mit dem stummen Mädchen vermählt, ist 
natürlich eine Vaterfigur. Am unteren Kongo heißt es, das von der Sonne 
beschienene Mädchen bleibe unfruchtbar oder bringe Ungeheuer zur Welt: 


1) Herbert Silberer: Phantasie und Mythos. Jahrbuch für psychoanalytische und 
psychopathologische Forschungen. II, 2 (Leipzig und Wien 1910), S. 585 h 

2) Die goldige Verunreinigung, die das Mädchen in Unruhe versetzt (nervöses 
Herzklopfen) und zum Waschzwang führt, ist durch die Berührung des Dreiecks 
(Genitales) mit dem Finger entstanden, also eine Folge der Masturbation. 

3) Die sexuelle Symbolik der Dreieinigkeit, die man sich als Dreieck dargestellt 
denken kann, hebt auch Silberer hervor (a. a. O. S. 587). 

4 ) Vgl. auch die Worte des Exorzisten bei den Banivas (S. 214): „Der Geist hat 
deine Geliebte in einen Schlaf versenkt, der fast so tief ist wie der des Todes.“ 































Die Pubertätsriten der jMadcLen und ihre Spuren im Ahärchen ä55 


ein solcher Gedanke (Strafe für den Inzest mit dem Vater) steckt vielleicht 
auch in der Kinderentführung durch Maria; daß mit dem Verschwinden 
der Kinder Mißgeburten abwechseln, lehrt uns die Vergleichung von Märchen. 
Oft vertauscht die böse Mutter die Kinder, die sie beseitigt, mit Hunden 
o. dgl. (z. B. Grimm, D. S., Nr. 534), so daß es den Anschein gewinnt, die 
junge Königin hätte solche Tiere zur Welt gebracht. Die Feuerflammen 
am Schlüsse des Märchens dürften die Bedeutung erotischer Glut haben, 
die durch das Sperma des Vaters (Regen, der vom Himmel kommt) ge¬ 
löscht wird, aber auch jene Idee der Sühne und Reinigung (Verbrennen 
des Dämons) enthalten, die sich uns am klarsten in dem Bericht Chaffanj ons 
vom Orinoco 1 gezeigt hat. Während jedoch die am Ende der Märchen 
häufig stehende Verbrennung der Hexe auf eine negativ betonte Mutter- 
Imago 2 weist, verrät der groteske Holzdämon der Banivas Beziehungen zur 
Vater-Imago. Schließlich könnte das Geständnis der Königin auf dem Scheiter¬ 
haufen seine Analogie in der bei manchen Völkern (z. B. bei den Basutos 
in Britisch-Südafrika und den Golah und Vdi in Liberia) üblichen Sünden¬ 
beichte der Pubertätskandidaten finden. 

Aus dem Berichte Chaffanj ons geht hervor, daß die Banivas die Pubertäts¬ 
symptome der Mädchen den ihnen von einem verliebten Teufel zugefügten 
Wunden zuschreiben. Dieser Pubertäts- oder Menstruationsdämon wird andern¬ 
orts auch in Tiergestalt (häufig als Schlange oder anderes väterlich-phalli- 
sches Tier) 3 vorgestellt und das Menstruationsblut selbst auf den Biß des 
Dämons oder auf den Liebesakt mit ihm zurückgeführt. Einige Beispiele 
sind uns bereits begegnet. Bei den Nutka -Indianern werden Bilder des mysti¬ 
schen Donnervogels auf die Schirme gemalt, hinter denen das Mädchen 
sich versteckt; 4 bei den Basutos in Britisch-Südafrika werden die Mädchen 
vor dem Besuch einer großen Schlange gewarnt; 5 bei den Chiriguanos des 
südöstlichen Bolivien laufen mit Stöcken bewaffnete alte Weiber in der 
Hütte der zum erstenmal Menstruierenden herum, „um die Schlange zu 
schlagen, die das Mädchen verwundet hat“. 6 Schomburgk 7 erzählt von 

1) S. 213 f. 

2) Die böse, eifernde Mutter oder Stiefmutter, die das Exil bewirkt usw. und am 
Schluß der Geschichte zur Vergeltung verbrannt wird. 

3) In Neuguinea auch als Krokodil. 

4) S. 208. — In diesem Zusammenhänge mag angemerkt werden, daß die sonder¬ 
baren phallischen Türme von Zimbabye (Südafrika) von einem Vogelkopf gekrönt 
sind. (T. Bent in Journ. Anthrop. Inst, XXII, S. 125.) 

5 ) S. 203. 

6) S. 212. 

7) O. A. Schomburgk: Reisen in Britisch-Guayana. Leipzig 1847. 















2^56 Alfred Winterstein 


den Mza/s£-Indianern in Britisch-Guayana, daß bei ihnen die menstruieren¬ 
den Frauen und Mädchen den Wald nicht betreten dürfen, weil sie sonst 
den verliebten Angriffen der Schlangen ausgesetzt sein würden; bei den 
Baganda wurde die erste Menstruation als eine Heirat angesehen und von 
dem Mädchen als eine Braut gesprochen. 1 Bei den Siamesen herrscht der 
Glaube, daß des Mädchens erste Menstruation von der Defloration durch 
Luftgeister herrühre. 2 Einige australische Stämme meinen, die Menstruation 
sei die Folge eines Traumes, daß ein Bandicoot die Geschlechtsteile des 
Mädchens gekratzt habe. 3 In Neubritannien (Bismarck-Archipel) wird die 
Menstruation auf den Biß eines göttlichen Vogels (Nashornvogel) zurück- 
geführt 4 und in Portugal auf den einer Schlange. 5 Nach einem anderen 
Bericht 6 hält man in Portugal dafür, daß die Frauen während des Monats¬ 
flusses von Eidechsen 7 gebissen werden können, und um sich vor dieser 
Gefahr zu schützen, tragen die Menstruierenden Unterhosen. Eine verwandte 
Vorstellung liegt dem Glauben zugrunde, daß die Frauen, insbesondere zur 
Zeit der Pubertät, in Verkehr mit der Gottheit stehen. In Kambodscha 
zum Beispiel gelten die noch nicht heiratsfähigen Mädchen als Gattinnen 
Prah Ens (Indras) und während des Exils selbst als die Gattinnen Reas 
(Ravanas) 8 

Es fällt uns nicht schwer zu verstehen, wie der Primitive, von sadisti¬ 
schen Vorstellungen beeinflußt, dazu kam, die monatliche Blutung, nament¬ 
lich die erste, als Folge eines Bisses oder eines sexuellen Verkehres (De¬ 
floration) zu deuten. Der bewirkende Dämon oder Geist zeigt nun deutlich, 
gleich dem Unhold, aus dessen Klauen die Märchenprinzessin befreit werden 
muß, seine Herkunft vom Vater (oder vom väterlichen Phallus), ja bisweilen 
heißt es geradezu, daß das Mädchen Eigentum des Ahnengeistes sei. (Bei 
den Bdnaro wird das erste Kind Geisterkind genannt.) 9 Wenn wir die 
blutige „Wunde des Mädchens als Kastrationssymptom auffassen wollen, 
deckt sich die Vorstellung der Primitiven mit jener für viele neurotische 

1) S. 203, Anm. 3. 

2) S. 203, Anm. 3. 

3) Joum. Anthrop, Inst. XXIV, S. 177. 

4) Ploß und Bartels: Das Weib. II, S. 330, 334. 

5) Ploß und Bartels, a. a. O. 

6) Havelock Ellis: Studies in the Psychology of Sex. II, S. 237. 

7) Vgl. das griechische Märchen Nr. 11 (S. 228). — Bei den zentralaustralischen 
Stämmen dürfen die Knaben und Mädchen vor Eintritt der Pubertät keine großen 
Eidechsen essen, da sonst ihr sexuelles Bedürfnis abnorm gesteigert würde. 

8) S. 216. S S 

g) Bei der Defloration wird sozusagen die Schlange des Giftmädchens vernichtet. 


































Die Pubertätsnten der jMadchen und ilire Spuren im Afärchen 


Frauen typischen Urphantasie, durch die Liebesbeziehung zum Vater kastriert 
worden zu sein. In der Auffassung, daß der blutige Monatsfluß oder das 
bei der Defloration vergossene Blut durch eine Kastration 1 verursacht sei, 
steckt insofern ein gutes Stück psychologischer Wahrheit, als diese beiden 
Ereignisse für die männliche, unfertige Sexualität des Mädchens einen 
Abschnitt bedeuten. 

Der Vaterdämon begnügt sich aber nicht immer damit, die Pubertäts¬ 
kandidatin zu verwunden oder mit ihr zu verkehren, bei manchen Völkern 
wird von ihm erzählt, daß er sie frißt und wieder von sich gibt. Ich 
erwähne als Beispiel die Golah und Vcli in Liberia und die Mendt in Sierra 
Leone. 2 Bei diesen ist der Gedanke des mystischen Todes und der Wieder¬ 
geburt von beiden Geschlechtern bezeugt; die Wiedergeburt findet für beide 
Geschlechter während ihres Exils und durch den Dämon statt. Die gleiche 
Vorstellung scheint einem Brauch anderer westafrikanischer Stämme zu¬ 
grunde zu liegen. Dort gehen die mannbar gewordenen Mädchen in einen 
magischen Wald (engl. Greegree-bush ) und bleiben in ihm, bis sie ver¬ 
heiratet sind. Müssen sie vorübergehend den Wald verlassen, so beschmieren 
sie sich mit weißem Lehm. Frazer 3 vermutet mit Recht, daß die weiße 


1) Vereinzelt wird der Menstruationsdämon mit dem Monde identifiziert. Die 
Eingeborenen der Murrayinseln in der Torresstraße sehen, wie uns Archibald Hunt 
(Ethnographical Notes on the Murray Islands, Torres Straits. The Journal of the 
Anthrop. Inst, of Great Brit. a. Ir., New Series, Vol. I, London 1899) berichtet, den 
Mond für einen jungen Mann an, der zu gewissen Perioden alle Frauen und Mädchen 
schändet, verursachend einen blutigen Ausfluß. Auch die Sinaugolo im Rigodistrikt in 
Britisch-Neuguinea bringen die ursprüngliche Entstehung der Menstruation mit dem 
Monde in Verbindung (C. G. Seligman: The medicine, surgery and midwifery of 
the Sinaugolo. Joum. of the Anthrop. Inst, of Great Brit. a. Ir., Vol. XXXII, London 
1 9 02 )- Daß überhaupt bei den Pubertätsriten und bei den Märchen solare und 
namentlich lunare Vorstellungen (Weißmond und Schwarzmond, typische Zahlen, 
Tiersymbolik usw.) eine Rolle spielen, will ich natürlich um so weniger in Abrede 
stellen, als ja die Psychoanalyse die mehrfache Determiniertheit auch dieser Schöp¬ 
fungen des primitiven Geisteslebens von vomeherein annimmt. Manche Züge dürften 
tatsächlich nur auf Beobachtungen, die am Himmel gemacht und vermenschlicht 
wurden, zurückzuführen sein. Den Nachweis der astralen Beziehungen in dem vor¬ 
liegenden Material überlasse ich jedoch den Mythenforschern von Fach. 

2) Ploß-Renz, a. a. O. S. 731. — Der Bauch des Geistes, in dem die Beschnei¬ 
dungskandidaten wiedergeboren werden, ist hier durch den „Teufel“ vertreten, der 
die Kandidaten beiderlei Geschlechts bei Beginn des Unterrichts aufißt und sie nach 
Abschluß der Lehrzeit als Wissende wieder von sich gibt. — Die Einzelheiten dieser 
Initiation, darunter die Beichte, das Verbrennen der Initiationshütten usw. siehe bei 
Jean Marie C es ton: Le Gree-Gree Bush chez les Nögres-Golah, Liberia. Anthropos VI, 
S. 729 ff. 

3) Frazer, a. a. O., II, S. 259. 

















a58 Alfred Winterstem 


Farbe 1 die Wiedergeburt der Novize anzeigen soll, führt jedoch unrichtiger¬ 
weise zur Unterstützung seiner Behauptung die Tatsache an, daß das Neger¬ 
kind bald nach der Geburt schiefergrau wird. Das ist nicht dasselbe wie 
weiß und die Sitte findet sich auch anderwärts. Auch in Okyon, Distrikt 
Calabar, muß ein Mädchen mit weißem Lehm bedeckt sein, wenn es das 
Masthaus verläßt. Bei den Akikuyu in Britisch-Ostafrika unterziehen sich 
die Mädchen in gleicher Weise wie die Knaben dem Ritus der Wieder¬ 
geburt. In welchem Alter dies geschieht, hängt von der Vermögenslage ab, 
in der sich der Vater des Kandidaten befindet; denn er muß eine Ziege 
beschaffen, deren Gedärme bei der mimetischen Geburtszeremonie ver¬ 
wendet werden. 2 Bei den Ot Danoms auf Borneo werden die Mädchen 
wie wir gesehen haben, 3 vor Eintritt der Geschlechtsreife in einer Zelle 
eingeschlossen und von jedem Verkehr mit der Außenwelt abgesperrt. Wenn 
sie nach Eintritt der Pubertät wieder herauskommen, werden ihnen die 
Sonne, die Erde, das Wasser, die Bäume und die Blumen gezeigt, als ob 
sie neugeboren wären. Dieser merkwürdige Zug kommt, soviel ich fest¬ 
stellen konnte, bei den Mädchenweihen nur ganz vereinzelt vor, während 
er bei den Exilbräuchen der Jünglinge ziemlich allgemein verbreitet ist: 
die aus der Verbannung Zurückkehrenden haben ihr Heim, ihre Verwandten, 
ihre häuslichen Gewohnheiten, ja ihr ganzes früheres Leben vergessen 4 und 
benehmen sich so wie kleine Kinder. Im Gegensätze zum Mädchen soll ja der 
Knabe von der Mutter getrennt werden; denn nur so lernt er zwei Dinge 
überwinden: den Inzestwunsch (mag dieser auch nicht manifest sein) und jene 
Trägheit, die ihn am liebsten unter der liebevoll sorgenden Obhut der Mutter 
verweilen heißt. Tatsächlich befinden sich die Knaben bis zum Exil in der 
Obhut der Weiber und verlassen sie mit der Pubertätsweihe, um als Bewohner 
des Klubhauses der Männer in ein gefährliches Leben der Jagd und des 
Kampfes, das auch der Liebesabenteuer nicht bar ist, zu treten. 


1) Der in manchen Bräuchen vorherrschende schwarze Gesichtsanstrich verrät 
wiederum eine Beziehung zur Unterwelt, also zum Tod. 

2) Eine ausführliche Beschreibung dieser Zeremonie bei W. and K. Routledge: 
With a Prehistoric People, the Akikuyu of British East Africa (London 1910), S. 152. 
Siehe auch meine Abhandlung: Der Ursprung der Tragödie (Internationaler Psycho¬ 
analytischer Verlag 1925, S. 80, 81). 

3 ) s - 20 7 - 

4) Ob das Vergessen ein bloßer Schein ist, den die Neophythen nach der Vor¬ 
schrift Vortäuschen müssen, oder ob eine wirkliche durch Suggestion und Gifttränke 
hervorgerufene Umnebelung des Gedächtnisses vorliegt, läßt sich schwer entscheiden. 
Die wirkliche Amnesie ist vielleicht das Ursprüngliche, die bloße Markierung eine 
Abschwächung des Brauches. 




























Die Puhertatsriten der .Mädchen und ihre Spuren im Alärchen 269 


Wenngleich der Gedanke der Wiedergeburt bei den Pubertätsriten der 
Mädchen im allgemeinen weniger stark ausgeprägt erscheint 1 als bei denen 
der Knaben, so hat doch das Exil der Mädchen in gleicher Weise wie das 
der Jünglinge etwas von einem Aufenthalt in der Unterwelt, d. h. von 
einer Rückkehr in die Intrauterin Situation an sich. Beispiele hiefür enthält 
der erste Teil der Arbeit in großer Anzahl. Bei den Knaben heißt es viel¬ 
fach, ein Ungeheuer habe sie verschlungen; 2 3 bei den Mädchen klingt 
diese Vorstellung nur vereinzelt an. Die Knaben werden durch Geister 
geholt und getötet, auch werden durch Geister ihre Organe ausge¬ 
wechselt ; 5 bei den Mädchen heißt es öfters, ein Geist habe sie verwundet 
(defloriert). 4 

Die Exilbräuche sorgen in ausgiebiger Weise für Introversion. Dazu 
tragen nicht nur Absonderung und Dunkel bei, sondern neben anderen 
Mitteln auch das Fasten. Denn der Schwächezustand, der anhaltendem 
Hungern folgt, erzeugt leicht Sinnestäuschungen, Visionen, Ekstasen. Diese 
Dinge gestatten dem Naturmenschen, wie er glaubt, den Blick in die Zukunft 
und den Verkehr mit den Geistern. Nicht überall ist aber völliges Fasten 
verordnet, häufiger genügt die Enthaltung von gewissen Speisen. Das Verbot 
einzelner Speisen läßt sich gewiß nicht immer aus einer Quelle erklären, 
doch scheint in vielen Fällen ihre sexualsymbolische Bedeutung (Fleisch, 
Fisch, 5 Reis, Eier usw.) eine Rolle zu spielen. Bei dem Indianerstamm 
Bella Coola (Bilqula) in Britisch-Columbien herrscht z. B. folgender Glaube: 
Äße ein Mädchen zur kritischen Zeit frischen Lachs, so würde 
sein Mund in einen langen Schnabel verwandelt werden oder 


1) In den Zeremonien der Atchuabo sind Tötungs- und Wiedergeburtsriten gar 
nicht vorhanden. 

2) Noch in der Handlung von Schillers bekannter Ballade „Der Taucher“ spricht 
sich ein ähnlicher psychischer Inhalt aus wie in den Jünglingszeremonien. 

3) Die Entnahme von Organen der Pubertätskandidaten zwecks Austausches mit 
dem Totem klingt in der Bezeichnung des Exilhauses der Awankonde-Mä.&chen am 
Nordende des Nyassa-Sees (Ostafrika) an: „Haus der Mädchen ohne Herz.“ In 
dem türkischen Märchen Nr. 8 legen die Peris dem toten Mädchen ein Fragment des 
Hirschherzens, an das sein Leben gebunden ist, in den Mund. Bezüglich des Aus¬ 
tausches von Organen verweise ich auch auf das griechische Märchen Nr. 7. 

4) Dem Glauben, daß das Mädchen im Exil mit dem Dämon verkehrt, entspricht 
in einer tieferen Schicht die bei neurotischen Frauen nicht selten anzutreffende 
Phantasie, vom Vater im Mutterleib koitiert zu werden. 

5) Die Mädchen der Likungen , „welche kurz vor der Reife stehen, dürfen von 
den Fischen nicht Stücke aus der Nachbarschaft des Kopfes essen, sondern nur 
Schwänze und die angrenzenden Teile, damit sie sich Glück in der Ehe sichern“ 
(Boas). 














260 Alfred Winterstein 


es würde das Bewußtsein verlieren. 1 Die dem Mädchen angedrohten 
Folgen (Tierverwandlung, Tod) erinnern an jenen Vorgang, der nach der 
Anschauung J. G. Frazers 2 die Essenz der Initiationsriten bildet: der 
Jüngling wird als Mann getötet und in Gestalt jenes Tieres wiederbelebt 

das hinfort in einer besonderen Beziehung — als Schutzgeist (Totem)_ 

zu ihm steht. Der Kandidat hinterlegt also nicht nur seine Seele in dem 
Totem, sondern eignet sich auch das Wesen des Tieres und somit dessen 
Eigenschaften an (Identifizierung). 3 4 In unserem Beispiele scheint die Tier¬ 
identifizierung den Charakter einer Strafe zu tragen — aber wofür? Wüßten 
wir, daß bei jenem Indianerstamm der Lachs als Totem verehrt wird, so 
wäre die Vermutung erlaubt, daß das obige Speiseverbot * die Absicht aus¬ 
drückt, das Mädchen vom Geschlechtsverkehr mit dem Vater-Totem ab¬ 
zuhalten (Aufrichtung der Inzestschranke auf der oralen Stufe). Die strafweise 
Verwandlung des Mundes in einen langen Schnabel (Verlegung nach oben) 
birgt natürlich auch eine Wunscherfüllung in sich: das Mädchen erhält 
einen Penis, der so groß ist wie der des Vaters. Auf jeden Fall dürfte der 
verbotene Fischgenuß hier für den verbotenen Geschlechtsgenuß stehen. 
Auch Ploß-Renz 5 betont die Beziehung zur Sexualität und führt als 
Beispiel die ^wm-Buschleute im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika an. 
Diese verbieten ihren Söhnen und Töchtern vor deren Mannbarkeit den 
Genuß von Wildbret, bei der Reifefeier ahmen sie selbst aber die Laute 
brünstigen Wildes nach und von da an ist das obige Verbot für die 
gereifte Jugend aufgehoben. Der Genuß von Wildbret erscheint hier demnach 
als Symbol des Geschlechtsgenusses (Inzest). Beim Yaraikanna-St&mm der 
Halbinsel Kap York im nördlichen Queensland darf die Reifekandidatin 
während ihrer Absonderung nichts essen, was im Salzwasser lebt; sonst 
würde eine Schlange sie töten. Die Schlange als der väterliche Phallus ist 


1) J. G. Frazer: Balder the Beautiful. Vol. I, S. 47 (London 1913. The Golden 
Bough, Part. VII). 

2) Frazer, a. a. O., Vol. II, S. 272. 

5) Vielleicht hängt die Tierverwandlung in den Märchen Nr. 11 und 12 mit 
diesem Vorstellungskreise zusammen. 

4) Die TizVmhzan-Mädchen dürfen während des Exils Männer, frischen Lachs 
und Olachen (eine Fischart?) nicht einmal anschauen. Bei den Haida -Indianern 
auf den Königin-Charlotte-Inseln darf die Pubertätskandidatin durch fünf Jahre 
keinen Lachs essen; sonst würde der Fisch selten werden. Überhaupt ist jedes Zu¬ 
sammentreffen des tabuierten Mädchens mit dem Lachs, der wahrscheinlich ein 
Hauptnahrungsmittel der Haida-Indianer bildet, von den schlimmsten Folgen begleitet. 
Diese Begründung ist wohl für das Speiseverbot ausreichend. 

5) Ploß-Renz, a. a. O., II, S. 726. 






































Die Putertätsnten der .Maddlen und ihre Spuren im JS/La. rdien 261 


uns in diesem Zusammanhange bereits geläufig; das Töten bedeutet wohl nicht 
nur die Strafe für den Inzest, sondern auch den Inzest selbst. Ob bei dem 
obigen Speiseverbot der Nachdruck mehr auf die salzige Beschaffenheit des 
Wassers (Meer als befruchtendes, mütterliches Element) oder auf die im 
Salzwasser lebenden Tiere (Fische als phallische Symbole) zu legen ist, 
läßt sich nicht entscheiden; in anderen Fällen ist der Salzgenuß das Ver¬ 
botene. So muß ein Hindumädchen nach Eintritt der Pubertät in seiner 
Diät Salz vermeiden; dies wird auch ausdrücklich von den Tiyan in 
Malabar bezeugt. Bei den Indianern der Südostküste Brasiliens durften, 
wie ein Reisender des sechzehnten Jahrhunderts berichtet, 1 die Mädchen 
zur kritischen Zeit weder Salz noch Fleisch kosten. Das Verbot, mit Salz 
in Berührung zu kommen, besteht an manchen Orten auch für menstruierende 
Frauen überhaupt. Bei den Wagogo im ehemaligen Deutsch-Ostafrika dürfen 
die Frauen während des Monatsflusses kein Salz in die Speisen geben. 2 
Die Anyanja in Britisch-Zentralafrika, am Südende des Nyassasees, verbieten 
den Frauen zu dieser Zeit, Salz in die Speisen, die sie kochen, zu tun; 
sonst würden die Leute, die davon essen, an einem bestimmten Übel 
erkranken. Deshalb muß die betreffende Frau ein Kind rufen, um die 
Speise zu salzen. 3 4 In Syrien darf bis zum heutigen Tage eine menstruierende 
Frau weder salzen noch einpökeln.^ In Annam ist es ihr verboten, irgendein 
Nahrungsmittel zu berühren, das mit Salz konserviert werden muß. 5 Wir 
wissen seit E. Jones’ 6 schöner Abhandlung, daß sich bei sehr vielen Ge¬ 
bräuchen und abergläubischen Vorstellungen eine symbolische Beziehung 
zwischen Salz einerseits und Ehe, geschlechtlichem Verkehr und Potenz 7 
anderseits nachweisen läßt; für das Unbewußte besteht eine Gleichung 


1) Andre Thevet: Cosmographie Universelle (Paris 1575). II, 946 B (980) ff.; 
id.: Les Singularites de la France Antarcticjue, autrement nommee Ameritjue (Anvers 
i 55 8 0 S. 76. 

2) Rev. H. Cole: Notes on the Wagogo of German East Africa. Journal of the 
Anthropological Institute. XXXII. (1902), S. 509 ff. 

3) H. S. Stannus: Notes on some Tribes of British Central Africa. Journal of 
the Royal Anthropological Institute, XI. (1910), S. 305. 

4) Eijüb Ab ela: Beiträge zur Kenntnis abergläubischer Gebräuche in Syrien. Zeit¬ 
schrift des deutschen Palästina Vereins. VII. (i884\ S. 111. 

5) Paul Giran: Magie et Religion Anamite (Paris 1912), S. 107 ff., 112. 

6) Ernest Jones: Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker. 
Imago I, 4. u. 5. Heft, 1912. 

7) In dem Grimmschen Märchen von der Gänsehirtin am Brunnen (Nr. 179) 
findet die dritte Tochter auf die Frage, wie lieb sie den Vater hat, keinen anderen 
Ausdruck für ihre Liebe als den Vergleich mit dem Salz. (Zitiert bei Freud: Das 
Motiv der Kästchenwahl. Ges. Schriften, Bd. X.) 


Imago XIV. 


18 















Alfred Whnterstein 


262 


Salz = Samen = Urin. Dieser Zusammenhang zwischen sexueller Abstinenz 
und Enthaltsamkeit von Salz ist auch Frazer 1 bei Besprechung der Pubertäts¬ 
bräuche der Mädchen, wie sie unter den Stämmen von Britisch-Zentral¬ 
afrika üblich sind, aufgefallen. Dort muß ein Mädchen nach Eintritt der 
Geschlechtsreife mit einem Manne verkehren, gleichgültig, ob es ihr Gatte 
oder ein anderer ist. Während des Exils ist ihr der Genuß von Salz verboten 
nach der Vermählung aber stellt sie einen Topf mit gesalzener Zukost 
vor der Hütte ihrer leiblichen oder ihrer „Exilmutter“ nieder, offenbar 
zum Zeichen, daß ihr Gatte potent ist. Denn es heißt ausdrücklich, daß 
diese Handlung unterbleibt, wenn die Frau ihren Mann impotent befindet. 
In diesem Falle muß sie sogar einen Ehebruch begehen, damit die Zukost 
verteilt werden kann und gewisse Personen ihre Füße damit einreiben 
können (Fruchtbarkeitszauber, Fuß als phallisches Symbol). 2 Auch von dem 
Salzverbot scheinen sich Spuren im Märchen erhalten zu haben. In dem 
griechischen Märchen Nr. 7 3 kostet die Braut vom versalzenen Brot und 
führt dadurch die Katastrophe herbei; die Geblendete kommt dann nach 
langem Umherirren zu einer Alten im Walde (Exil). Ganz ähnlich verliert 
im türkischen Märchen Nr. 8 4 die Braut infolge des Genusses der salzigen 
Speise ihre Augen und wird auf einem Berg ausgesetzt. In beiden Märchen 
erfolgt die Strafe (Beschädigung des Genitales) für den verbotenen Genuß 
(Masturbation mit Inzestphantasien?). 

Märchen wie die eben erwähnten mit dem Verlauf, daß die Braut auf 
der Fahrt zum Verlobten beseitigt wird, indem sie von der Nebenbuhlerin 
oder deren Mutter verstümmelt und in diesem hilflosen Zustande verlassen 
wird, dürften ihrer psychischen Motivierung nach auch einen Zusammenhang 
mit den vermeintlichen Mut- und Standhaftigkeitsproben der Pubertäts¬ 
bräuche besitzen. Ich sage „vermeintlichen“, ohne bestreiten zu wollen, 
daß dieses Motiv sekundär mitwirken mag, gewöhnlich jedoch in geringerem 
Maße als bei den Knaben. Die eigentliche, unbewußte Absicht dieser 
raffinierten Quälereien wird hier — entsprechend der Auffassung Beiks 5 — 
die Bestrafung der inzestuösen und feindseligen Regungen der weiblichen 
Novizen durch die von unbewußter Vergeltungsfurcht beherrschten Mütter 


1) Frazer: Balder the Beautiful. Yol. I, S. 26. 

2) Frazer, a. a. O. S. 25 ff. — S. 201 f. dieser Arbeit. 

3 ) s * 22 5 ‘ 

4) S. 226, 

5) Th. Reik: Die Pubertätsriten der Wilden. (Probleme der Religionspsychologie, 
I. Teil, S. 72.) 





























Die Pubertatsriten der Mädchen und ihre Spuren im M^ärdien a 63 


sein* Damit steht die Tatsache nicht in Widerspruch, daß an manchen 
Orten auch noch andere Personen an den Züchtigungen teilnehmen oder 
daß man sich die feindlichen Impulse in einem Dämon verkörpert denkt, 
den man auf diese Weise austreiben muß. Es ist jedoch im einzelnen 
Falle schwer zu entscheiden, ob die negative Seite der Lustration oder 
die positive des Fruchtbarkeitszaubers (Schlag mit der Rute) die Vor¬ 
stellung des Primitiven mehr beeinflußt; sie sind eben in Gedanken überhaupt 
nicht recht voneinander zu trennen. 

Wir erinnern uns zunächst daran, daß bei den Atchuabo in Portugiesisch' 
Ostafrika die Reifekandidatin von der Zeremonienaufseherin geohrfeigt wird, 
„damit sie denke, das, was ich tat, ist schlecht“ (a. a. O. S. 89, siehe S. 203 

dieser Arbeit). Die Mutter sagt zur namungu: „Schlagt mein Kind; denn 

es hört nicht auf das, was ich sage“ (a. a. O. S. 87). 

Wir wissen ferner, daß bei den Macusi in Rritisch-Guayana das mann¬ 

bar gewordene Mädchen von der Mutter mit dünnen Ruten gegeißelt wird, 
ohne einen Schmerzensschrei ausstoßen zu dürfen; auch wird sie den 
schmerzvollen Rissen gewisser großer Ameisen ausgesetzt. 1 Solche Mut- und 
Standhaftigkeitsproben, bei denen die Mädchen gegeißelt, von Ameisen ge¬ 
bissen 2 werden oder Schnittwunden erleiden, werden auch von vielen an¬ 
deren Indianerstämmen Südamerikas berichtet. 3 Rei den Uaupes in Brasilien 
empfangen die Kandidatinnen von jedem Familienmitglied und Freunde 
mehrere Hiebe über den ganzen nackten Leib, die bisweilen selbst zum 
Tode führen; es gilt als eine Beleidigung der Eltern, nicht heftig zu 
schlagen. 4 Hier scheinen also die Familienmitglieder 5 und Freunde die 
Rolle der züchtigenden Eltern übernommen zu haben. Bei den Banivas 
im Stromgebiete des Orinoco wurde das mannbar gewordene, an einen Pfahl 
angebundene Mädchen von alten Männern blutig gegeißelt. 6 Die Schläge 
waren aber dazu bestimmt, den im Pfosten verkörperten Dämon auszutreiben, 
der sozusagen die inzestuöse Fixierung der Tochter darstellte. Als „Mut- 

1) S. 211. 

2) Der Stachel der Wespen und Ameisen erinnert Ploß-Renz (Das Kind. II, 
S. 721) an die Bedeutung Wuotans als „penetrans “ (Penis). 

3) Beispiele bei Frazer: Balder the Beautiful, Vol. I, S. 57 ff* 

4) S. 212. 

5) Auf zwei Inseln der Torres-Straits (Yam und Tutu) wird das Mädchen im 
Exil von zwei Tanten väterlicherseits durchgebleut. 

61 S. 213 f. — Das Anbinden am Pfahl objektiviert gleichsam die Bindung an 
den Vater. Ich möchte hier auch auf die Beziehung dieser Szene zu der neuroti¬ 
schen Phantasievorstellung „Ein Kind wird geschlagen“ hinweisen. Siehe Freuds 
gleichnamige Arbeit. (Ges. Schriften, Bd. V.) 














Alfred Winterstein 


264 



und Standhaftigkeitsproben“ sind wohl auch die Prüfungen zu betrachten 
denen sich die Mädchen unter den Stämmen des Tanganjika -Plateaus in 
Afrika unterziehen: sie müssen über Zäune springen, 1 ihren Kopf in einen 
Dornenkragen zwängen 2 usw. — Daß im Märchen Mißhandlungen der 
Heldin und ihr auferlegte schwere Aufgaben im nämlichen Familienkonflikte 
wie die ähnlichen Bräuche bei den Pubertätsweihen wurzeln und hiebei 
alle möglichen Ausdrucksformen gefunden haben, bedarf nach dem Voran¬ 
gehenden keiner besonderen Beweise mehr. Statt der feindseligen Mutter 
erscheint oft eine böse, eifernde Stiefmutter, Amme o. dgl. Auf einen Zug 
möchte ich noch aufmerksam machen, der nach Arfert 3 in einer be¬ 
stimmten Gruppe von Märchen vertreten ist: die Heldin wird von der 
neidischen Nebenbuhlerin durch einen Nadelstich in einen Vogel verwandelt. 
Todes- und Deflorationsmerkmal treffen in dem Symbol zusammen; die 
Tierverwandlung hat zweifellos sexuelle Bedeutung, man könnte hier aber 
auch an die Beziehungen zwischen Totemismus und Initiationsriten denken. 4 
Ein Beispiel dieser Art sei mitgeteilt: 

Nr. 20. Walachisch. 5 „Die Ungeborene, Niegesehene.“ Eine solche Braut 
ist von einer Mutter dem Sohne im Scherz versprochen worden. Er zieht 
aus, sie zu suchen, und erhält von drei alten Frauen drei goldene Äpfel, aus 
denen drei wunderschöne Mädchen hervorkommen. Mit dem dritten zieht er 
heim und läßt es kurz vor der Stadt an einem Brunnen zurück, um die Vor¬ 
bereitungen zu seinem Empfange zu treffen. Die Braut fürchtet sich allein in 
der Wildnis und steigt auf einen Baum. Kurz darauf kommen eine 
Zigeunerin und ihre Tochter zu dem Brunnen, um Wasser zu schöpfen. 
Sie sehen in der Quelle das Spiegelbild der Prinzessin und die junge Zigeunerin 
glaubt, es sei das ihrige. Hierüber kann sich die Braut des Lachens nicht 
erwehren 6 und wird so entdeckt. Durch schmeichlerische Reden lockt die 


1) In dieser Symbolhandlung treffen drei Tendenzen zusammen: Überwindung des 
Geburtstraumas, Lösung von der Mutter und Identifizierung mit dem Mann. 

2) S. 201. — Die Geburtssymbolik darf neben der Kastrationsbedeutung nicht über¬ 
sehen werden. 

5) P. Arfert, a. a. O., Gruppe I, b und c, S. 7. 

4) Vgl. S. 260. — Die neidische Nebenbuhlerin würde im Märchen die Rolle des 
Totemtieres, Dämons, Ahnengeists, Vaters übernehmen, der den Kandidaten tötet 
und dann zu neuem Leben erweckt. Bei den Zauberer weihen in Australien, die den 
Pubertätszeremonien verwandt sind, glauben die Initianden, die Geister stießen ihnen 
einen Speer durch den Kopf (Befruchtungssymbolikh 

5) Schott: Walachische Märchen, Nr. 25. Stuttgart-Tübingen 1845. — Arfert, 
a. a. O. S. 27 f. 

6) Brechen des Schweigegebots, Lachen als Lebensäußerung; den Mädchen im 
Exil ist oft untersagt, mit anderen Personen als mit der sie betreuenden Frau zu 
sprechen. 




















Die Pubertätsriten der jMädchen und ilire Spuren im .Märchen ä 65 


Alte sie vom Baum herunter und sticht ihr unter dem Vorwand, ihre Haare 
kämmen zu wollen, eine Nadel in den Kopf, so daß sie, in eine Taube 
verwandelt, davonfliegt. Nun schmückt sich die Tochter mit ihren Kleidern 
und steigt auf den Baum, wo sie von dem über diese Verwandlung erstaunten 
Jüngling abgeholt wird. Sie beruhigt ihn mit der Erklärung, daß die Sonne 
sie so verbrannt habe. Eines Tages kommt dem Bräutigam die Taube in 
die Hände. Beim Streicheln entdeckt er die Nadel, zieht sie heraus und seine 
rechte Braut steht vor ihm. 

Die dunkle Gesichtsfarbe der Zigeunerin — in anderen Märchen 
dieser Gruppe ist es eine Mohrin — erinnert an den schwarzen Anstrich 
der Pubertätskandidaten beiderlei Geschlechtes bei manchen Völkern. 1 2 Eine 
schwarze Stirnkruste erhält die Novize der Badaga im südlichen Vorder¬ 
indien; schwarz ist das Gesicht der Pubertätskandidatinnen der Koluschen 
(Beringstraße) in ihren Isolierhütten bemalt; in Yam und Tutu, zwei Inseln 
der Torres-Straits, werden die Novizen auf dem ganzen Körper mit Kohle 
geschwärzt; schwarz oder dunkelblau bemalt man den südamerikanischen 
Indianermädchen zu dieser Zeit den Rücken am Igana und Caiary-Uaupös, 
Nebenflüssen des Rio Negro; bei den K.aua wurde den Mädchen zum 
Zeichen ihrer ersten Menstruation der Rücken mit schwarzer Farbe über¬ 
strichen; blaue Streifen erhalten sie bei den CharuasMinuanes- und 
Payaguas- Indianern. 3 4 Blau und Schwarz können sich demnach bei obigen 
Indianern vertreten. Blau aber ist, wie Weygold mitteilt,** bei den nord¬ 
amerikanischen Dakotas die Farbe der Erde, der Fruchtbarkeit und des 
Friedens (ebenso Rot). Daß Schwarz als Farbe der fruchtbaren Erde, der 
Unterwelt, des Todes 5 (nach Bachofen auch des Hetärismus) für die 
Pubertätsweihen Bedeutung besitzt (Tod und Wiedergeburt), ist uns ohne- 
weiters verständlich. 6 Eine noch größere Rolle scheint die rote Farbe, 


1) Vaterinzest. Schwarz ist die Farbe der Hitze, der Sinnlichkeit. 

2) Sollte die Nadel der Zigeunerin auch einen Zusammenhang mit der hei Täto¬ 
wierungen verwendeten Nadel haben? Die Erlangung des Stammeszeichens könnte 
als „Verwandlung“ gedeutet werden. 

3) Ploß-Renz: Das Kind, II. Bd., S. 723!.; Frazer, a. a. O., I, S. 41. 

4) Weygold: Die Hunkazeremonie. Archiv für Anthropologie, N. F. XI (1912), 
S. 151, Anm. 

5) Bachofen (Das Mutterrecht, S. 15, Stuttgart 1861) erinnert an die enge Ver¬ 
bindung von Leben und Tod in der Auffassung der Alten Welt und an das daraus 
hervorgehende doppelte Symbol der schwarzen (und weißen) Farbe für Leben, Frucht¬ 
barkeit und Tod. (Zit. bei Ploß-Renz, a. a. O. S. 724, Anm. 5.) — Das Schwärzen 
der Zähne der Mädchen im Kambodscha (siehe S. 217) und im ostindischen Archipel 
dürfte jedenfalls auch durch die symbolische Bedeutung der Zähne determiniert sein. 

6) Siehe auch S. 258, Anm. 1. 


















266 Alfred Winterstein 


allein oder in Verbindung mit anderen Farben zu spielen. 1 Rot ist die 
Farbe des (Menstruations-) Blutes, des Feuers, jedenfalls auch ein Libido¬ 
symbol, was seine Verwendung bei den Mannbarkeitsriten erklärlich macht. 
Frazer 2 erwähnt rote Bemalung bei den Mädchen der Kaffernstämme in 
Südafrika und der Stämme am unteren Kongo, bei den Mädchen der Yabim 
und Bukaua in Neuguinea (rote Streifen auf weißem Grunde), in Nord¬ 
australien (rote Farbe kombiniert mit weißer, gelber und Kohlenfarbe) und 
Victoria, auf den Inseln der Torres-Straits (rote und weiße Farbe), i n 
Britisch-Columbia (Thompson- und Lilloet-Indianern); rot werden ferner 
nach Ploß-Renz 3 die Pubertätskandidatinnen der Tapuya an der brasi¬ 
lianischen Ostküste bemalt, schwarz, weiß und rot die Novizen in Loango 
(Westafrika), rot jene der Fjort im französischen Kongo und der Ama-Kosa 
im südöstlichen Teil dieses Kontinents sowie die Kandidatinnen der Roro - 
Papuas auf Neuguinea; auf Karesau besuchen sie tief im Wald einen Baum 
mit roter Rinde, Kaimer genannt. 4 Mit den eben besprochenen Bräuchen 
verwandt ist das Tatauieren. Weibliche Kandidaten werden dieser Ope¬ 
ration in gleicher Weise wie die männlichen unterworfen. Wir finden sie 
bei Dravidas, Arabern, Negern, malayisch-polynesischen Völkern, Papuas , 
Australiern und Indianern. Bei einzelnen Völkern wird sie in einer so 
qualvollen Weise, auch am weiblichen Geschlecht, ausgeführt, daß sie als 
„Mut- und Standhaftigkeitsprobe“ den Geißelungen und den Ameisenbissen 
nicht nachsteht. Etwas Ähnliches scheint der von einem Ansiedler des 
sechzehnten Jahrhunderts 3 * * überlieferte Brauch bei den Indianern der Süd¬ 
ostküste Brasiliens gewesen zu sein. Wenn ein Mädchen das kritische Alter 
erreicht hatte, wurden seine Haare weggebrannt oder abgeschoren. Dann 
wurde sie auf einen flachen Stein gesetzt und mit dem Zahn eines Tieres 
von den Schultern den ganzen Rücken hinunter geschnitten, bis sie blut¬ 
überströmt war. Hierauf wurde die Asche eines wilden Kürbisses in die 

1) Die namungu sagt bei den Atchuabo: „Wir Weiber, wir sind rot, wir sind 
schwarz, wir sind weiß, wir sind Blätter des Zitronenbaumes. Rot am Geschlechts¬ 
teil, weiß usw.“ (Schulien, a. a. O. S. 91). 

2) Frazer: Balder the Beautiful, Vol. I, S. 50, 31, 35, 38, 39, 40, 50, 52, 78. 

3) Ploß-Renz, a. a. O. S. 724. 

4) Vgl. zu den vorstehenden Ausführungen Hans Christoffels Untersuchung über 
„Farbensymbolik“ (Imago, Festschrift, XII. Bd., Heft 2/3, 1926). Schwarz, Rot und 
vielleicht Grün sollen das männliche Prinzip, den Vater, Weiß, Blau und Gelb das 
weibliche Prinzip, die Mutter symbolisieren. 

5) Andr6 Thevet: Cosmographie, Universelle (Paris 1575) II, S. 946 B. (980) ff.; 

id.: Les Singularites de la France Antarctique, autrement nommee Amerique (Anvers 

i 55 8 )i S. 76. 














Die Pubertätsriten der jVlädcben und ibre Spuren im Giardien 


3 6/ 


Wunden verrieben, das Mädchen an Händen und Füßen gebunden und in 
eine Hängematte so fest eingenäht, daß niemand sie sehen konnte. Dort 
mußte sie drei Tage ohne Speise und Trank bleiben. Nach Ablauf der drei 
Tage ließ sie sich auf den flachen Stein hinab; denn ihre Füße durften 
den Boden nicht berühren. Verspürte sie ein menschliches Bedürfnis, so 
lud eine weibliche Verwandte sie auf den Rücken und trug sie hinaus, 
wobei jene eine glühende Kohle mitnahm, um zu verhindern, daß böse 
Einflüsse in den Körper das Mädchens eindrängen. Nachdem sie wieder in 
ihre Hängematte gelegt worden war, erhielt sie die Erlaubnis, Mehl, ge¬ 
kochte Wurzeln und Wasser zu genießen, doch durfte sie weder Salz noch 
Fleisch kosten. So lebte sie bis zum Ende der ersten monatlichen Periode, 
worauf sie auf der Brust, auf dem Bauch und über den ganzen Rücken 
zerschnitten wurde. Während des zweiten Monats verblieb sie zwar noch 
in der Hängematte, doch war die Observanz weniger streng und sie durfte 
spinnen. Im dritten Monat wurde sie mit einem gewissen Farbstoff ge¬ 
schwärzt und begann so wie gewöhnlich herumzugehen. 

Ästhetische, soziale und religiöse Motive dürften an dem Brauche des 
Tatauierens , der auch schon im zartesten Kindesalter Anwendung findet 
und bei einzelnen Völkern Jahrzehnte hindurch fortgesetzt wird, in wechseln¬ 
dem Ausmaße beteiligt sein; die ursprüngliche Absicht wird aber wohl eine 
magische gewesen sein. Das tatauierte mannbare Mädchen will vor allem 
dadurch seine glücklich erreichte Geschlechtsreife dem Manne mitteilen 
und so einen Zauber auf ihn ausüben. In Tunis 1 2 lassen sich die Mädchen 
beim Eintritt ihrer Reife einen Bart auf das Kinn tatauieren. Auf diese 
Weise benachrichtigen sie ihre Mütter von dem Ereignis und drücken den 
Wunsch aus, daß sie einen Mann möchten. Nach Mauchs 3 Bericht besteht 
bei den Makalaka in Südafrika die Sitte, daß die alten Frauen das junge 
Mädchen zur Pubertätszeit tatauieren. Den .Zfas.szzr'z-Mädchen im Innern von 
Deutsch-Togo macht man, wenn sie das heiratsfähige Alter erreicht haben, 
drei bis vier wulstige, vom Nabel strahlenförmig ausgehende Einschnitte 
(Sonnensymbol?). Nach Förster 3 tatauiert man auf Tahiti die geschlechts- 
reifen Mädchen, die dieses Augenblicks sehnsüchtig harren. Bei den Roro- 

1) Die Schreibart „Tatauieren“ ist richtiger als die noch vielfach angewendete 
Form „Tätowieren“. Über die Ursachen des Tatauierens siehe Ploß-Bartels: Das 
Weib, 9. Aufl. (Leipzig 1908), I. Bd., S. 145 f. 

2) Dieses Beispiel und die folgenden bei Ploß-Renz: Das Kind, II, S. 730, 731, 

742 , 744, 747 , 7 5 3 , 754. 

3) Zitiert bei Ploß-Bartels: Das Weib in der Natur- und Völkerkunde, 9. Aufl. 
(Leipzig 1908), I. Bd., S. 456. 


















268 


Alfred Winterstein 


Papua in Britisch-Neuguinea bildet das Pubertätsfest heutzutage den Ab¬ 
schluß des Tatauierens, das dort vier, fünf oder noch mehr Jahre in An¬ 
spruch nimmt. Es beginnt im achten oder neunten Jahr der Mädchen und 
erstreckt sich über den ganzen Körper. Das Gesicht wird erst vor Abhaltung 
des Pubertätsfestes tatauiert. Der ganze Vorgang, insbesondere aber das Talau- 
ieren des Gesichtes, ist äußerst schmerzlich. Zum Feste tun sich gewöhn¬ 
lich mehrere Familien zusammen. Wenn dazu alles vorbereitet ist, schließt 
man die Kandidatinnen zuerst in Hütten ein, wo sie außer der Gesichts- 
tatauierung einer strengen Enthaltung von gewissen Speisen und Getränken 
unterworfen werden. 

Die Keifekandidatinnen erscheinen nach Vernarbung der Wunden zu dem 
Pubertätsfeste mit Öl und rotem Ocker vom Kopf bis zu den Füßen ge¬ 
salbt und mit Schmuck aus Muscheln, Eber- und Hundezähnen überladen. 
Ein anderer -Stamm, nämlich die Hula , tatauiert seine Töchter mög¬ 

lichst reichlich und geschmackvoll, damit sich leichter ein Gatte finde. 
Im Murraydistrikt im südlichen Australien mußten sich seinerzeit die Reife¬ 
kandidatinnen einer höchst schmerzlichen Tatauierung des Rückens unter¬ 
ziehen. Bei den Kadiuevo, einem Zweig der Guaicuru im westlichen Brasilien, 
wurden die Mädchen früher nach Eintritt der Pubertät unter gewissen 
Feierlichkeiten mit einem Dorne tatauiert. Bei den Karaja am Schingu 
und Araguaya wird beiden Geschlechtern nach erreichter Mannbarkeit auf 
jede Wange ein Kreis, das Stammeszeichen, ein geschnitten. Andere Zere¬ 
monien scheinen hier nicht stattzufinden. Auch in Paraguay war die Tatau¬ 
ierung der Mädchen zur Zeit der Reife üblich. Von den jetzt ausgestorbenen 
Abiponern , einem Zweige der Guaicuru , berichtete Dobrizhoffer 1 Ende 
des achtzehnten Jahrhunderts, daß die Pubertätskandidatinnen tatauiert 
wurden. Ebenso tatauieren auch die Kaders in den Anamallybergen in 
Indien die jungen Mädchen zur Zeit der Reife. 2 

Nicht nur der Gedanke an das andere Geschlecht, auch der Wunsch nach 
leichter Geburt findet bei einigen Völkern in den Mädchenweihen, die ja 
innig mit den Hochzeitszeremonien Zusammenhängen, sinnfälligen Ausdruck. 
Ich brauche hier bloß Bekanntes zu wiederholen. Bei den Tinneh -Indianern 
auf Alaska trägt die Novize um die Hüften eine Schnur, an der die Ober¬ 
schenkel eines Stachelschweines befestigt sind; denn von allen diesen In¬ 
dianern bekannten Tieren wirft das Stachelschwein am mühelosesten Junge. 


1) Dobrizhoffer: Geschichte der Abiponer. (Historia de Abiponibus.) Wien 1785/84. 

2) Zitiert bei PIoß-Bartels, a. a. O. S. 456. 



















Die Pubertätsriten der Alädclien und ihre Spuren im Märchen 269 


Auch wird folgender Brauch berichtet: Falls jemand zufällig ein trächtiges 
Stachelschwein während des Exils des Mädchens tötet, wird ihr der Fötus 
gegeben, den sie zwischen Hemd und Körper wie ein kleines Kind zu Boden 
fallen läßt. 1 Bei den Thompson -Indianern in Britisch-Columbia lief die 
Pubertätskandidatin am frühen Morgen viermal mit zwei kleinen Steinen 
in ihrem Busen herum; dabei glitten die Steine zwischen ihrem nackten 
Körper und ihren Kleidern zur Erde. Zu gleicher Zeit betete sie zur Dämme¬ 
rung, daß sie, wenn sie schwanger würde, ebenso leicht entbinden möge 
wie von diesen Steinen. 2 

Bei den benachbarten iz'ZZo^-Indianern wird der gleiche Analogiezauber 
von den mannbaren Mädchen ausgeübt; ihr Gebet lautet: „Möge ich immer 
leichte Geburten haben.“ Der eine Stein stellte das künftige Kind dar und 
der andere die Nachgeburt. 3 

Bei den Kappiliyan von Madura und Tinnevelly wird, wenn die Novize 
vom rituellen Bade heimkehrt, in die Nähe der Haustür eine Speise hin¬ 
gestellt und ein Hund darf davon kosten, aber sein Vergnügen wird durch 
Schmerzen beeinträchtigt; denn während er frißt, erhält er eine ordent¬ 
liche Tracht Prügel. Je lauter er heult, desto besser ist es, weil die Familie, 
die die junge Frau gebären wird, um so größer sein wird. Heult der Hund 
jedoch gar nicht, so wird es keine Kinder geben. 4 Es besteht offenbar ein 
Zusammenhang zwischen dem Hundegebell und den Schmerzensschreien 
der Frau bei der Geburt. Der fressende Hund symbolisiert vielleicht irgend¬ 
wie das weibliche Genitale beim Koitus; begegnen wir doch im Volks¬ 
glauben ganz allgemein der Anschauung, daß der Uterus ein im Körper 
des Weibes lebendes Tier sei, welches gefüttert werden muß. Die Tracht 
Prügel konnte auch als Strafe für Kastrationsgelüste gegenüber dem Penis 
des Gatten gedeutet werden (oder Bestrafung für den Inzest?). 

Wenn das Exil eines Mädchens bei den Parivar am von Madura zu Ende 
geht, wird seine Isolierhütte niedergebrannt und die Töpfe, die sie benützt 
hat, werden in ganz kleine Scherben zerschlagen; denn es herrscht dort 
der Glaube, daß das Mädchen kinderlos bleiben würde, wenn sich Regen¬ 
wasser in einem der Töpfe ansammelte. 5 (Die Kinderlosigkeit ist vielleicht 

1) S. 210. 

2) S. 210. 

3) James Teit: The Lilloet Indians (Leyden and New York 1906), S. 263—265 
(The Jesup North Pacific Expedition, Memoir of the American Museum of Natural 

' History, New York). 

4) Edgar Thurston: Castes and Tribes of Southern India (Madras 1909), III, S. 218. 

5) Edgar Thurston, a. a. O., VI, S. 157. 















2 yo Alfred Winterstein 


auch hier wie in anderen Fällen eine Strafe für den Inzest; das Regen- 
wasser im Topf entspricht wohl der Befruchtung durch den Vater. In der 
griechischen Sage empfing Danae den Besuch des Zeus in Gestalt eines 
goldenen Regens.) 1 

Auch bei der Pubertätsfeier der IVama-Mädchen 2 in Südafrika spielt der 
Gedanke an die künftige Generation eine Rolle. Theophil Hahn 3 berichtet 
uns über diese Feier folgendes: Nach der ersten Menstruation wird das 
Mädchen mit einem reichgeschmückten Broak-Karoß , einer Art Mantel aus 
Schakal- oder Katzenpelz, bekleidet, der sie als heiratsfähig bezeichnet. Bis 
dahin war das junge Mädchen völlig nackt gegangen. Nach dieser Ein¬ 
kleidung sitzt sie drei Tage lang dem Eingang der Hütte gegenüber an 
der Seite, wo das Hausgerät sich befindet, in einem von fußhohen Stäben 
eingeschlossenen Kreis, von zweieinhalb bis drei Fuß im Durchmesser, mit 
untergeschlagenen Beinen, den Mund fischmaulartig 4 vorgestreckt und 
zuweilen mit ihrem Kopfe herausfordernd nickend. Am dritten Tage wird 
eine junge fette Färse geschlachtet. Der nächste Anverwandte der Kandi¬ 
datin, gewöhnlich ihr ältester unverheirateter Vetter, erscheint mit der 
Nachbarschaft zur Gratulation und zum Schmaus. Indem er ihr das Magen¬ 
fell des Rindes über den Kopf hängt, wünscht er ihr, so fruchtbar zu sein 
wie eine junge Kuh und recht viele Kinder zu gebären. Dann kommen 
ihre Freunde und Freundinnen mit ähnlichen Glückwünschen, worauf der 
Festschmaus beginnt. Dieser endet mit Gesang und Tanz, wobei man sich, 
wenn möglich, mit Honigbier bezecht. 

Daß das Mädchenexil als eine Periode des Verzichtes, des Opfers, der 
Introversion so häufig in einem Feste seinen Abschluß findet, das eine 
weitgehende Triebbefriedigung ermöglicht, ist in Gesetzen des Seelenlebens 
begründet, die bei Primitiven und Kulturvölkern in gleicher Weise wirksam 
sind. Allerdings bedarf die Behauptung, daß das Exil asketischen Charakter 
habe, einer gewissen Einschränkung, da es ja gleichfalls der Vorbereitung 
für das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes gewidmet ist. Diese er¬ 
folgt aber nicht nur durch theoretischen, sondern bisweilen auch durch 
praktischen Unterricht, der in der Regel von älteren Frauen 5 erteilt wird. 

0 Vgl. den Kegen, der die Flammen löscht, im Märchen vom Marienkind (S. 253 f.). 

2) In Lüderitzland und im Walfischbai sind nach Scobel die typischesten Hotten¬ 
totten. 

3) Theophil Hahn: Globus 12 (1868), S. 307. (Zitiert bei PI oß-Renz, a. a. O. S. 740.) 

4) Das fischmaulartige Vorstrecken des Mundes sieht wie eine Verlegung der 
männlichen (Penis-) Sexualität nach oben aus. 

5) Bei denBanta-Mädchen am unterenKongo von dem Operateur,dem „ngangaKumbi“. 

















Die Pubertätsriten der Mädchen und ilire Spuren im JMärchen 


Bei den nördlichen Clans des Thonga -Stammes in Südostafrika, in der 
Gegend der Delagoabucht, lauschen die Novizen während ihrer Abgeschieden¬ 
heit auf laszive Gesänge, die von erwachsenen Frauen gesungen werden, 
u nd werden in sexuellen Dingen unterwiesen. 1 Worin dieser Unterricht 
besteht, wird uns allerdings nicht berichtet. Die Mädchen der Bdkulia im 
nördlichen Deutsch-Ostafrika empfangen von den sogenannten weisen Frauen, 
von denen sie auch beschnitten werden, Lehren, die sich besonders auf das 
Geschlechtsleben, doch auch auf ihr sonstiges Verhalten in der Zukunft 
beziehen. Bei der Schlußfeier der Pubertätskandidatinnen der Völker auf 
dem Makondeplateau (südöstliches ehemaliges Deutsch-Ostafrika) müssen 
diese vor den Augen der Lehrerin ihre Kunst im Zittern der Gesäßpartie 
zeigen; die Mädchen haben eine Unterrichtszeit von mehreren Monaten 
hinter sich, die sie in einer besonderen Hütte durchmachen. 2 In Madibira 
(gleichfalls südliches ehemaliges Deutsch-Ostafrika) wird den Novizen von 
alten Weibern Unterricht über die Ehe erteilt. Diese fertigen hiezu eigene 
Lehmfiguren an, bei denen das Geschlechtliche ganz besonders hervor¬ 
gehoben ist. Die zwei größten stellen Vater und Mutter dar; die anderen 
teils Menschen, teils die bekanntesten Tiere, ebenfalls männlich und weib¬ 
lich, dann Sonne und Mond (wahrscheinlich auch als Mann und Weib 
gedacht) und verschiedene Hausgeräte, besonders Töpfe. 3 

In den Initiationszeremonien der Mädchen bei den Atchuabo spielt die 
sexuelle Aufklärung gleichfalls eine wichtige Rolle; sie beschränkt sich 
aber nicht auf Worte: mit Masken bekleidete alte Frauen begatten sich 
als Mann und Frau in Gegenwart der Kandidatinnen. 

Sobald bei dem iSW/^Zi-Mädchen in Sansibar die Zeichen der Mannbar¬ 
keit eintreten, was gewöhnlich im zwölften oder dreizehnten Jahr geschieht, 
wird es noch an dem gleichen Tage von einem alten Weib gewaschen, 
im Gesicht bemalt, schön frisiert, mit Schmuck behängen und von Freun¬ 
dinnen in der Stadt herumgeführt, wobei es Geschenke erhält, aber auch 
viele Neckereien von den Gefährtinnen erdulden muß. Nach O. Kersten 
werden die Mädchen von jenem alten Weibe im „Digitischa“ unterrichtet, 
d. h. in der Ausführung gewisser mahlender Hüftbewegungen, welche 


1) S. 202. 

2) Karl Weule: Negerleben in Ostafrika. Ergebnisse einer ethnologischen For¬ 
schungsreise. Leipzig 1908. (Zitiert bei Ploß-Renz, a. a. O. S. 756/57.) 

5) Briefliche Mitteilung des Missionars Johannes Häfliger an B. Renz (Ploß- 
Renz, a. a. O. S. 758). Eine beigegebene Photographie zeigt eine Anzahl phallischer 
Figuren (darunter auch den Vater). 


















2^2 Alfred VGnterstein 


den Reiz des Koitus erhöhen sollen. Nach Velten wird dieser Unterricht 
und jener über das Eheleben überhaupt in Gegenwart der anderen alters¬ 
gleichen Mädchen gegeben; ihn begleiten schamlose Gesänge, deren Sinn 
die Novizinnen deuten müssen. Ungelehrige Mädchen bekommen von der 
Lehrerin Schläge, gelehrige Lob. 1 

Nach den Mitteilungen aus dem „Jahresbericht 1908 und 1911 der 
Missionen der rheinisch-westfälischen Kapuzinerordensprovinz auf den Karo¬ 
linen-, Mariannen- und Palauinseln“ 2 wirkt der Aufenthalt in den Isolier¬ 
hütten entsittlichend auf die Novizen. Einzelheiten über das Tun und Treiben 
in diesen Hütten scheinen den betreffenden Missionären aber nicht bekannt¬ 
geworden zu sein. 

Das Ziel, das die Mädchenweihen der Primitiven mit so großem Auf¬ 
wand an Zeit und Unlust seitens der Novizen anstreben, ist das gleiche, 
welches auch heute noch jede wirkliche Erziehung der jungen Mädchen 
verfolgt: Ersatz der männlichen unfertigen Sexualität durch die weibliche, 
Aufhebung sozial unzweckmäßiger Fixierungen sowie Vorbereitung für 
das Geschlechts- und Eheleben, für den Stand der Mutter und Hausfrau. 
Die Klostererziehung erinnert ja noch in mancher Beziehung an das Mäd¬ 
chenexil, indes der erste Fasching, den das junge Mädchen mitmacht, mit 
den Festlichkeiten verglichen werden kann, die so häufig bei den Primi¬ 
tiven diese Periode abschließen. Firmung 3 und Konfirmation bezeichnen heute 
für das christliche Mädchen symbolisch den Übergang vom Kinde zur Er¬ 
wachsenen. Bei einem neurotischen oder dissozialen Mädchen wird die 
Erziehung freilich um so eher mißlingen, als in so vielen Fällen leider 
die zur Erziehung Berufenen völlig unbewußt, ohne jedes psychologische 
Verständnis zu Werke gehen. Oft verhütet bloß ein rein intuitives Eingreifen 
schlimmere Folgen. Hier setzt nun die Aufgabe der Psychoanalyse ein, 
deren zielbewußte Tätigkeit man mit Recht eine Nacherziehung genannt 
hat. Zwischen ihrer bewußten Funktion und der unbewußten der Puber¬ 
tätsweihen besteht eine weitgehende Analogie. Auch die Psychoanalyse ist 


1) Carl Velten: Sitten und Gebräuche der Suaheli nebst einem Anhang über 
Rechtsgewohnheiten der Suaheli (Göttingen 1903). 

2) Bei Ploß-Renz, a. a. O. S. 740/41. 

3) Die von den Primitiven beim Übergange vom Kinde zum geschlechtsreifen 
Mädchen beobachtete Farbensymbolik (S. 265 f.) lebt noch bei Kulturvölkern fort. So 
wird in der „Histoire d’une grande dame du XVII e siede“ (La princesse Helöne de 
Ligne. Par Lucien Perey, Paris 1889) erzählt, daß nach der ersten Kommunion ein 
Tausch der weißen Bänder mit den roten stattfand. Die drei Klosterklassen hießen: 
Classe blanche , bleue y rouge . 















Die Pubertätsriten der Mäddien und ihre Spuren im Märdien 2/3 


ein sozialer Vorgang, nach dem Ausspruche Freuds eine „Massenbildung 
zU zweien“, wobei der Analytiker die Rolle spielt, die in den Mädchen¬ 
weihen zumeist einer älteren Frau als Vertreterin der Mutter zufällt. Die 
analytische Situation stellt ebenso wie das Mädchenexil in gewisser Be¬ 
ziehung symbolisch den Aufenthalt im Mutterleibe dar. Erst durch die 
in beiden Ersatzbildungen erfolgende Abfuhr versagter Libido lernt das 
junge Mädchen auf die aktive Rückkehr zur Mutter, das Eindringen in 
das Liebesobjekt mittels des männlichen Genitales (Klitoris) verzichten und 
den Wunsch nach Wiederkehr des lustvollen Urzustandes auf dem Wege 
der passiven Reproduktion, d. h. der Schwangerschaft und Geburt des Kindes 
befriedigen. 1 Freilich unterscheidet dann die Einsicht in den psychischen 
Mechanismus die Analysandin durchaus von der Pubertätskandidatin bei 
den Primitiven. In der Institution der Mädchen weihen verrät sich die aus 
diesem Grunde niemals völlig geglückte Bewältigung des Geburts- und 
Sexualproblems auch dadurch, daß der gleiche Zweck immer wieder mittels 
verschiedener Riten angestrebt wird. Ich erinnere hier an die sexuellen 
Operationen, an das Zahnausschlagen, Abschneiden der Haare u. a. Die 
Abtrennung eines Teiles vom übrigen Körper hat natürlich neben der 
sexual symbolischen auch eine geburts symbolische Bedeutung, die gleich¬ 
falls bei anderen Eigentümlichkeiten der Mädchenweihen nachzuweisen ist. 

So wie in der Analyse die Patientin den Analytiker aber auch an Stelle 
ihres väterlichen Ideals setzt und auf diese Weise ihre infantile Ödipus¬ 
libido wiedererlebt (teilweise sogar neuerlebt, allerdings nur unter der Be¬ 
dingung des bewußten Verzichtes auf ihre unangepaßte Realisierung), bietet 
sich auch in den Pubertätsriten der Mädchen eine Vaterersatzfigur (Dämon, 
Priester, Häuptling, älterer Mann) der Kandidatin dar, die an jenem Reprä¬ 
sentanten ihre infantilen Libidoansprüche zu befriedigen trachtet, bevor sie 
die weitere Übertragung auf ihren zukünftigen Gatten zustande bringt. Ge¬ 
legentlich wird es sogar, wie wir bei den australischen Beispielen gesehen 
haben, Vorkommen, daß die Ödipuslibido am eigentlichen Objekt, am wirk¬ 
lichen Vater affektiv ausgelebt wird. 

Endlich mag daran erinnert werden, daß, ähnlich wie das Unbewußte 
des Patienten in der Analyse die Heilung als Geburtsakt auffaßt, der Primi¬ 
tive die Beendigung des Mädchenexils häufig in rituelle Formen kleidet, 
die von der Vorstellung der Wiedergeburt deutlich beeinflußt sind. 


1) O. Rank: Das Trauma der Geburt. (Internationale Psychoanalytische Bibliothek, 
Bd. XIV, S. 42, 1924.) 



















2^4 Winterstem: Die Pubertätsriten der Mädchen und ilire Spuren im Märcken 


Es ist nun sicherlich kein Zufall, daß es gerade der Psychoanalyse Vor¬ 
behalten geblieben ist, den unbewußten Sinn der Pubertätsriten zu deuten 
da diese einen der frühesten, allerdings auch mit unzureichendem Erfolg 
unternommenen Versuche darstellen, Konflikte zwischen den Triebansprüchen 
des einzelnen und den Forderungen der Gesellschaft im Sinne der Kultur¬ 
anpassung zu überwinden. In jenen Fällen, wo die Sündenbeichte einen 
Bestandteil der Pubertätszeremonien bildet, das Schuldgefühl also schon 
stärker geworden ist, nähern sich die Riten in ihrer psychischen Wirkung 
am meisten der analytischen Behandlung: das uns bereits bekannte Märchen 
vom Marienkind 1 zeigt diesen Sachverhalt gewissermaßen an, indem es einer¬ 
seits mit seiner Symbolik vielfach zu den Mädchenweihen zurückweist, 
anderseits durch Betonung der im Geständnisse liegenden psychischen Ent¬ 
lastung die psychoanalytische Erkenntnis von der Bedeutung der Bewußt- 
machung des Unbewußten vorwegnimmt. 


0 S. 255 f. — Wenn die Königin auf dem brennenden Scheiterhaufen die Stimme 
wieder erhält, so erinnert das an die Wirkung der Übertragung (erotische Glut) auf 
das Auftauchen des verdrängten Materials. 













Der Kannibalismus und seine Verdrängung im 

alten Ägypten 

Von 

H. C. «Telgersma 

Leiden 

In den folgenden Seiten teile ich einiges über die Sitten und Gebräuche 
im alten Ägypten mit, und zwar hauptsächlich über diejenigen Einzelheiten, 
von welchen ich annehme, daß sie mit dem Kannibalismus, also mit einem 
sehr primitiven Triebe in Verbindung stehen. Vorher möchte ich aus der 
Literatur anführen, was uns über den Kannibalismus bei früheren und heute 
noch lebenden Völkern bekannt ist. 

Richard Andree hat über dieses Problem eine ausführliche Arbeit ver¬ 
öffentlicht. 1 Aus derselben erfahren wir, daß der Kannibalismus bei primi¬ 
tiven Völkern in Asien, Afrika, Amerika, den Südseeinseln und in Australien 
heute noch vorkommt, und daß man allen Grund hat anzunehmen, daß 
es in prähistorischen Zeiten auch in Europa Kannibalen gegeben hat. Dar¬ 
aus ergäbe sich, daß die jetzigen zivilisierten Europäer Abstämmlinge sind 
von Völkern mit kannibalistischen Gebräuchen. Diese Auffassung findet eine 
Bestätigung in prähistorischen Funden, die man in durch ganz Europa zer¬ 
streuten Grotten gemacht hat. Die ursprünglichen Bewohner des heutigen 
Departements Arveyron in Südfrankreich schmückten sich mit Halsketten 
aus durchbohrten Menschenzähnen, genau so, wie die jetzt noch lebenden 
Kannibalen es tun. Man fand Überreste von menschlichen Skeletten, bei 
welchen die langen Markknochen mit Messern aus Feuerstein geöffnet worden 
sind. Man ist allgemein der Meinung, daß man hier Überreste kannibali- 


1) Die Anthropophagie. Leipzig 1887. 















2yS H. C. Jelgersma 

scher Mahlzeiten vor sich hat. Edouard Piette 1 beschreibt die Funde i n 
der Grotte Jourdan im Departement Haute -Garonne. Hier gab es viele 
menschliche Schädel mit deutlichen Schneidespuren, die darauf hin wiesen, 
daß die Schädelhaut mit einem Feuersteinmesser abgezogen und dann der 
Schädel geöffnet worden war, um das Gehirn aufzuessen. Aus der Tatsache, 
daß man dort nur Schädel und Halswirbel fand, zieht Piette den Schluß, 
daß jene Bewohner Kopfjäger waren, welche die Häupter ihrer Feinde 
skalpierten und das Gehirn verzehrten. 

Wolleman 2 stieß bei dem Dorfe Holzen in Deutschland auf mensch¬ 
liche Knochen, die durch menschliche Hände geöffnet und über das Feuer 
gehalten worden waren, wieder mit derselben Absicht, das Mark zu essen. 
Kleinere Knochen ohne Mark blieben unerÖffnet. Wolleman deutete diese 
Funde als Überreste eines kannibalischen Festes. Diese Auffassungen wurden 
natürlich durch andere Forscher bestritten, welche meinten, daß diese Reste 
doch nicht mit Sicherheit auf Kannibalismus schließen lassen. 

Auch zur Zeit von Herodot finden wir Mitteilungen über Kannibalis¬ 
mus, hauptsächlich aus Rußland und Mittelasien. Wenn bei den Massa- 
geten jemand ein hohes Alter erreicht hatte, wurde er von seinen Bluts¬ 
verwandten zusammen mit Schafen geopfert und verzehrt. Bei den Issedonen 
wurden die Väter nach ihrem natürlichen Tode von den Söhnen gleichzeitig 
mit dem Fleisch von Opfertieren aufgegessen. Aristoteles berichtet von 
Ähnlichem. Strabo teilt mit, daß zu seiner Zeit die Bewohner von Irland 
die Sitte hatten, die verstorbenen Väter bei einem Feste, bei welchen die 
Söhne öffentlich mit Mutter und Schwester kohabitierten, aufzuessen. Von 
Tertullian erfahren wir, daß auf heidnischen Festen Menschenblut ge¬ 
trunken wurde. In der Veröffentlichung von Pyper 3 findet man viele Tat¬ 
sachen über den Kannibalismus in Westeuropa, außerdem gibt er ein aus¬ 
führliches Literaturverzeichnis. 

Meiner Meinung nach ist es berechtigt, wenn Andree einen Zusammen¬ 
hang findet zwischen den oben beschriebenen Tatsachen und den Über¬ 
resten, die der Kannibalismus im Aberglauben, Märchen und Legenden der 
Jetztzeit zurückgelassen hat. Auch Andree faßt die Legenden und Folklore 
auf als eine ungeschriebene Geschichte aus uralten Zeiten, welche durch 
die Überlieferungen ein anderes Gepräge bekommen hat. Zahlreich sind die 
Märchen von Hexen und wilden Jägern, welche Menschen auffressen. Dem 

1) Bulletin de la Societe d’Anthropologie 1873, 497. 

2) Verhandlungen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft 1884, 88. 

3) De Evangelieverkondiging aan de menscheneters van N. W. Europa 1917* 



















Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten 


Menschenblut, das getrunken wurde, wurde allerlei Wunderkraft zugeschrieben. 
In Deutschland herrschte in den unteren Volksklassen ein ähnlicher Aber¬ 
glaube. Bei verschiedenen polizeilich angezeigten Grabschändungen war der 
Beweggrund, Menschenfleisch, vor allem Herz und Leber zu bekommen, 
u m dieselben aufzuessen. In der Umgebung Berlins galt bei Räubern und 
Dieben das Herz eines ungeborenen Kindes als Schutzmittel gegen Entdeckung. 

Nach Andree kommen für das Essen von Menschenfleisch folgende 
Motive in Betracht: Hungersnot wohl nur in sehr vereinzelten Fällen bei 
Schiffbrüchigen, bei Feinden Haß- und Rachegefühle, der hauptsächlichste 
Grund sei die aus der Magie entnommene Idee, daß man durch das Ver¬ 
zehren eines Menschen in den Besitz seiner geistigen Kräfte komme. Er 
meint fernerhin, der Kannibalismus sei eine angeborene Eigenschaft der 
primitiven Völker, er gehöre zu den Kinderkrankheiten der Menschheit, 
welche allmählich von der Kultur überwunden werden. 

Diese Veröffentlichungen Andrees stammen aus dem Jahre 1887, einer 
Zeit, wo von psychoanalytischen Einflüssen noch nicht die Rede sein kann. 
Im Jahre 1923 ist das Problem des Kannibalismus von Röheim 1 und auch 
von Abraham 2 vom psychoanalytischen Standpunkt beleuchtet worden. 
Röheim ist im wesentlichen derselben Meinung wie Andree, doch dringt 
er viel tiefer in die psychologische Begründung ein. Nach seiner Meinung 
ist die ursprünglichste Form des Kannibalismus das Verzehren des Ur-Vaters 
durch seine Söhne, die sich dadurch seiner Kräfte bemächtigen wollten, um, 
in einer Identifikation mit ihm, in eine inzestuöse Beziehung zur Mutter, 
beziehungsweise zu den Müttern treten zu können. Andree hat das Inzest¬ 
motiv übersehen, obwohl er das oben erwähnte Beispiel Strabos erwähnt 
hat. Röheim macht auf den Bruderstreit aufmerksam, der nach dem Tode 
des Urvaters ausbrechen mußte. Diese Auffassungen Röheims decken sich 
mit denjenigen Freuds. 3 Nach Freud fressen die primitiven Australier bei 
festlichen Gelegenheiten aus denselben Motiven — Inzest und Identifikation 
mit dem Ur-Vater — das Totemtier als Symbol für den Vater. Diese Dar¬ 
stellung der psychoanalytischen Erklärungen über den Kannibalismus dürfte 
unserem Zweck, den Nachforschungen der Zustände im alten Ägypten, 
genügen. 

Andree betont mit Verwunderung, aber nachdrücklich, daß trotz der 
großen Verbreitung des Kannibalismus, er im alten Ägypten gefehlt habe. 

1) Nach dem Tode des Urvaters, Imago 1923, Bd. IX. 

2) Entwicklungsgeschichte der Libido. Internationaler Psychoanalytischer Verlag. 

5) Totem und Tabu. Ges. Schriften, Bd. X. 


Ima oXIV. 


19 










2^8 H. C. Jelgersma 


Das ist aber unrichtig. Auch in zusammenfassenden Veröffentlichungen über 
Ägypten und seine alte Geschichte, sowie in dem modernen Werk von 
Er man und Ranke 1 finden wir hierüber fast nichts verzeichnet. Einzig 
Röheim gibt eine Deutung der Osirissage. Es handelt sich dabei nicht 
um einen buchstäblichen Kannibalismus. Röheim kommt nur indirekt zu 
der Erkenntnis, daß Osiris von seinem Sohn geschlachtet und aufgefressen 
worden ist. Im folgenden will ich zeigen, daß in den Sitten und Gebräuchen 
der alten Ägypter, in ihren Legenden, gottesdienstlichen Schriften und 
Totenriten viel deutlichere Beweise einer kannibalistischen Vergangenheit 
zu finden sind. 

Zum guten Verständnis des hier folgenden ist es notwendig, daß man 
die Sitten und Gebräuche der alten Ägypter einigermaßen kennt. Eine 
moderne und nicht zu ausführliche Zusammenfassung findet man in Erman 
und Ranke. 1 Ich muß eine Bemerkung einschalten über die Methoden, 
nach welchen die Ägyptologen arbeiten. Die Überreste des alten Ägyptens 
bestehen größtenteils aus den Grabstätten der Verstorbenen, worin man die 
Leiche, die mitgegebenen Gebrauchsgegenstände, Bilder, Reliefs in den 
Mauern und Hieroglyphenschriften findet. Wenn man sich einen Begriff 
machen will über Sitten und Denkweise der alten Ägypter, versucht man 
den Sinn dieser Gebräuche zu deuten. Dabei muß man im Auge behalten, 
daß die Deutung der verborgenen Motive der aus den Funden erschlossenen 
Handlungen auf Vermutungen angewiesen ist und der oft recht weitführen¬ 
den Spekulation nicht entraten kann. Je weiter man in der ägyptischen 
Geschichte zurückgeht, desto weniger Überreste findet man und um so 
schwieriger ist auch die Auslegung der Funde. Bisher war die einzige 
Methode, die die Ägyptologen angewandt haben, die Deutung der meistens 
sehr rätselhaften Inschriften, und gerade weil sie die einzige war, sind ihre 
Resultate anfechtbar. Da sie das Suchen der hinter den gedeuteten Hand¬ 
lungen verborgenen Motive vernachlässigt haben, oder mit dem Material 
nichts anzufangen wußten, ist es wünschenswert, daß die moderne Psycho¬ 
logie ihr Wissen in den Dienst der Ägyptologie stellt. 

Zwei große Sammlungen von Sprüchen sind erhalten geblieben, die man 
wahrscheinlich anläßlich der Beerdigung der Toten hersagte. Man hat sie 
in den Gräbern aufgefunden, es sind dies die Pyramidentexte, die un¬ 
zweifelhaft die ältesten sind, und das Totenbuch. Die ersteren sind wahr¬ 
scheinlich zur Zeit der ersten Dynastie geschrieben worden. Sie geben uns 


1) Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum. 1923. 














Der Kannibalismus und .eine Verdrängung im alten Ägypten_ 37 g 

ein Bild von den Vorstellungen, die sich die Ägypter von dem Leben nach 
dem Tode gemacht haben. Die Auffassungen darüber sind sehr verschieden 
und sind nicht miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Der glück¬ 
liche Tote ist einmal ein Vogel, der in den Himmel fliegt, dann wieder 
ein Stern, der am Himmel funkelt. Man stellt sich vor, daß bei den 
Ägyptern ein Vielgöttertum geherrscht hat; die Sterne waren die Götter, 
Re der Sonnengott, und der Verstorbene hat sich in einen der Götter ver¬ 
wandelt. Bemerkenswert ist auch, daß der Tote sich mit verschiedenen 
Göttern identifizieren konnte, darauf komme ich später zurück. Eigenartig 
ist nun die folgende Phantasie über das Los des Toten. 1 

Der Tote kommt in den Himmel als Sohn von Rd, dem Sonnengott. 
Er erscheint als Sieger, die Götter schrecken aus dem Schlafe auf, „der 
große Vogel, der Schakalsgott“. „Der Himmel regnet, die Sterne kämpfen, 
die Bogenträger irren umher und die Knochen des Akeru zittern . . . wenn 
sie ihn gesehen haben, wie er aufgeht und eine Seele hat als Gott, der 
von seinen Vätern lebt und seine Mutter ißt . . . Seine Herrlichkeit ist am 
Himmel, seine Kraft ist im Horizont, wie die des Akeru, seines Vaters, 
der ihn erzeugte; er erzeugte ihn als einen, der stärker ist als er selbst 
Er ist es, der Menschen ißt und von Göttern lebt. Der Scheitelfasser und 
der Emi-Kehuu sind es, die sie für ihn fangen; der Prachtkopf hütet sie 
für ihn und treibt sie ihm zu, der Heri-Terut fesselt sie ihm, der Läufer 
mit allen Messern sticht sie ihm ab und nimmt ihren Bauch aus . . . Der 
Schesmu zerlegt sie ihm und kocht davon in seinen Abendkesseln, er ist 
es, der ihren Zauber ißt und ihre Verklärten verschluckt. Die großen von 
ihnen sind seine Morgenspeise, die mittleren sind sein Abendbrot und die 
kleinen von ihnen sind sein Nachtmahl. Die Greise und die Greisinnen 
von ihnen kommen in seinen Ofen. Der Große im Himmel wirft Feuer 
m die Kessel, die die Schenkel ihrer Ältesten enthalten. Die Himmels¬ 
bewohner sind sein eigen und was er scheißt, sind Kessel mit den Beinen 
ihrer Weiber ... Er verzehrt ihre satten Gedärme und genießt damit Sätti- 
gung; er ißt ihre Herzen und ihre Kronen und gewinnt damit deren Kräfte, 

so daß ihr Zauber in seinem Leibe ist; er verschluckt den Verstand iedes 
Gottes . u 

Wir müssen bedenken, daß ein Volk sich das Jenseits stets als eine Art 
Idealzustand vorstellt. Daraus schließen wir, daß diese Phantasie, der Tote 
zieht als Gott in den Himmel ein, erschlägt dort die anderen Götter 


1) Er man: Die ägyptische Religion. 1893. 


19* 

















H. C. Jelgersma 


280 


und verzehrt sie, für die Ägypter einen wünschenswerten und seligen Zu¬ 
stand bedeutete. Es besteht eine große Ähnlichkeit zwischen den Pyramiden¬ 
texten und den Angaben von Andree, Freud und Röheim. Es bestätigt 
sich die Anschauung, daß das Motiv des Kannibalismus auch in diesem Falle 
darin besteht, auf dem Wege der Introjektion und Identifikation in den Besitz 
der geistigen und körperlichen Kräfte der anderen Götter zu gelangen. 

Obwohl Re, der Sonnengott, von dem verstorbenen Sohn nicht auf¬ 
gefressen wird, ist in der Phantasie die Vorstellung enthalten, daß der Sohn 
mächtiger ist als sein Vater und von diesem auch als ein mächtigeres Wesen 
anerkannt wird. „Rö läßt nicht zu, daß er sich zu Roden werfe, denn er 
weiß ja, daß er größer ist als er . . . er weiß, daß dieser unvergängliche 
Verklärte sein Sohn ist und sendet göttliche Boten aus, um den Himmels¬ 
bewohnern zu melden, daß ein neuer Herrscher für sie erschienen ist. Er 
kommt, ein vernichtungsloser Verklärter! Wenn er will, daß ihr sterbet, 
so sterbet ihr; wenn er will, daß ihr lebet, so lebet ihr. 

Damit ist natürlich nicht bewiesen, daß die Ägypter, welche diese 
Pyramidentexte niederschrieben, tatsächlich Kannibalen waren, obwohl es 
nicht ausgeschlossen ist. Wks wir aber mit Sicherheit sagen können, ist, 
daß das Volk kannibalische Wünsche hatte und über das Jenseits Phantasien 
hegte, die als Idealzustand kannibalische Feste zum Inhalt hatten. Der Kanni¬ 
balismus stand ihnen also ziemlich nahe, und ihre Ahnen waren sicherlich 
Kannibalen. Wann diese gelebt haben und ob sie auf ägyptischem Boden 
gewohnt haben, muß dahingestellt bleiben. 

Wenden wir uns nun den religiösen Begriffen in Ägypten zu, die viel 
jüngeren Datums als die obengenannten Pyramidentexte, und zwar jenen, 
die im Totenbuch verzeichnet sind. Letzteres ist eine zweite Quelle für die 
Kenntnisse des ägyptischen Gottesdienstes, und ist viele Jahrhunderte nach 
den Pyramidentexten niedergeschrieben worden. Es enthält eine heterogene 
Sammlung von Erzählungen und Anschauungen über die ägyptische Mytho 
logie; sehr alte Legenden wechseln mit jüngeren ab. Es hält schwer, ihr 
Alter genau festzustellen, auch ist die Übersetzung mancher sehr schwierig 
und noch nicht in allen Fällen gelungen. Das 125. Kapitel ist sehr inter¬ 
essant, dort wird mitgeteilt, was im Jenseits mit dem Toten geschieht. 

Der Tote erscheint vor Osiris; er ist aus dem Lande Ägypten gekommen 
und muß, bevor er zu den Glückseligen zugelassen wird, seine Unschuld 
beweisen. Neben Osiris sitzen zweiundvierzig Dämonen; jeder von ihnen 
stellt die Personifikation einer speziellen Sünde dar, von der er seinen 
Namen herleitet. Bevor der Tote zu Osiris gelangt, geht er die zweiund 



















Der Kannibalismus und seine Verdrangung im alten Ägypten 281 


vierzig Dämonen entlang und beteuert jedem, daß er an seiner speziellen 
Sünde unschuldig sei. Vom Standpunkt der Symbolik aus ist es interessant, 
daß er vor einem Teufel, der den Namen „doppelte Schlange“ trägt, schwört, 
keinen Ehebruch verübt zu haben. Für uns ist es wichtig, daß einige Dämonen 
als Personifikation kannibalistischer Sünden Namen tragen, wie Blutfresser, 
Schattenfresser, Knochenbrecher, Gedärmefresser und Weißzahn. Der Tote 
würde daher vor diesen Dämonen schwören müssen, daß er diese Sünden 
nicht begangen habe. Eigentümlich ist es, daß im Totenbuch gerade diese 
Stellen nicht deutlich sind, und der Eid des Toten nicht ganz auf den Namen 
des betreffenden Teufels paßt. Wir können aber mit Sicherheit annehmen, 
daß ursprünglich auch bei diesen Teufeln Namen und Unschuldsbeteuerungen 
zusammengepaßt haben, und daß z. B. der Tote dem Gedärmefresser gegen¬ 
über erklärt hat, nie Gedärme gefressen zu haben. In den Pyramidentexten 
sind diese Sünden als kannibalistische Handlungen beschrieben worden. 

Im Totenbuch wird der Kannibalismus als schwere Sünde dargestellt, in 
den Pyramidentexten noch als ein glückseliges Fest; das ist ein schönes Bei¬ 
spiel von der Verdrängung einer mächtigen Triebregung durch ein ganzes 
Volk. 

Zum besseren Verständnis mancher Details wollen wir die Osirissage 
kurz mitteilen. Der Erdgott Geb und die Himmelsgöttin Nut hatten vier 
Kinder, die Götter Osiris und Seth und die Göttinnen Isis und Nephthys. 
Osiris vermählte sich mit Isis und Seth mit Nephthys. Osiris bekam die Herr¬ 
schaft über die Erde, Seth wurde eifersüchtig und lockte durch eine List 
Osiris in eine Kiste, die er zunagelte und in den See warf. Isis flüchtete 
ins Moor vom Delta, wo sie einen Sohn, Horus, gebar. Später fand Seth 
die Kiste mit Osiris wieder, er hackte die Leiche in vierzehn Stücke und 
zerstreute sie. Um seinen Vater zu rächen, suchte Horus Seth auf, geriet 
mit ihm in Streit, wobei Horus ein Auge verlor und Seth ebenfalls schwer 
verwundet wurde. Nachdem Horus die Stücke des Osiris gesammelt und ihn 
gerächt hatte, erwachte dieser zu neuem Leben. An dieser Stelle muß ich 
darauf aufmerksam machen, daß es von der Osirissage verschiedene, nicht mit¬ 
einander übereinstimmende Versionen gibt. Einer anderen Fassung zufolge 
sind Seth und Horus Brüder, und beide Söhne von Osiris. Seth ist der böse 
Sohn, der seinen Vater schlachtet, und Horus der gute, der ihn rächt und 
ihm dadurch wieder Leben gibt. Horus regiert nachher auf der Erde, und 
Osiris ist König der Ewigkeit im Reiche der Toten. Diese Osirissage hat Jung 1 


1) Jahrbuch der Psychoanalyse. Bd. III und IV. 















schon gedeutet, später auch Röheim. 1 Während Jung hierin hauptsächlich 
eine Wiedergeburt mit einer vorhergehenden Rückkehr in den Mutterleib 
(die Kiste) sieht, weist Röheim darauf hin, daß wir hier, in Gedicht¬ 
form erzählt, die Geschichte eines Vaters vor uns haben, der durch seinen 
Sohn, der die väterliche Macht* an sich reißen will, geschlachtet (und auf¬ 
gefressen) und durch seinen anderen Sohn gerächt und zu neuem Leben 
erweckt wird. Röheim erkennt hierin den alten Gebrauch vom Schlachten 
und Verzehren des Urvaters durch seine jüngeren Verwandten. 

Es muß bemerkt werden, daß Osiris in der Sage nicht durch Seth auf¬ 
gegessen, sondern bloß geschlachtet wird. Röheim sieht in der Tatsache 
daß Seth das Genitale von Osiris in den Nil geworfen hat, wo es von den 
drei Fischen Lepidotos, Phagros und Oxyrhyngos, die die Ägypter sehr 
verabscheuten, verzehrt wurde, eine Andeutung, daß Osiris als aufgegessen 
gedacht werden muß. Es ist deutlich, daß auch das Inzestmotiv in dieser 
Sage eine Rolle spielt. Sowohl Osiris als Seth haben ihre Schwestern ge¬ 
heiratet. Das war eine allgemeine Sitte im alten Ägypten. Nach der Ermor¬ 
dung von Osiris machte Seth auch den Versuch, sich nicht nur seiner 
Herrschaft, sondern auch seiner Frau, Isis, zu bemächtigen; daher die über¬ 
eilte Flucht von Isis. Seth wird von zwei heiligen Tieren begleitet. Das 
eine ist ein Nilpferd; von dem erzählt uns Plutarch, daß es seinen Vater 
tötet, um mit seiner Mutter kohabitieren zu können. Das andere ist ein 
schakalartiges Tier (der Schakal äst auf Leichen), das möglicherweise die 
kannibalistischen Wünsche Seths zum Ausdruck bringen soll. Diese Deutung 
der Osirissage ist in Übereinstimmung mit den Deutungen, die wir über 
den Kannibalismus in den Pyramidentexten und im Totenbuch gegeben haben. 

Doch haben wir Gelegenheit, in der Osirissage sich noch einen anderen 
Prozeß entwickeln zu sehen. Zuerst wird uns erzählt von Bruder- und 
Sohneshaß, von Mordgedanken und kannibalistischen Antrieben, dann sehen 
wir den liebenden Sohn in den Vordergrund treten, der den getöteten Vater 
wieder zum Leben erweckt. An Stelle des Kannibalismus tritt das Aufsuchen 
und Zusammenfügen der zerstreuten Körperteile, und diese Entwicklung 
führt schließlich zum Brauch der Mumifikation. Während in den Pyra¬ 
midentexten kannibalistische Handlungen Geltung haben, sind sie im Toten¬ 
buch bereits verpönt. Zu der Zeit war es als Reaktion auf den Kannibalismus 
Sitte, die Leichen zu mumifizieren; ein aufs äußerste getriebener Versuch, 
die Leichen nicht verwesen und nicht durch Würmer auffressen zu lassen. 


1) Nach dem Tode des Urvaters. Imago IX, 1925. 























Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten a 83 


Kehren wir zur Osirissage zurück. Osiris war ursprünglich ein Gott, der 
nur örtlich verehrt wurde. Im Laufe der Jahre gewann die Sage an Volks¬ 
tümlichkeit und wurde schließlich die bedeutendste in ganz Ägypten. Osiris 
wird verehrt als Totengott, der als König der Ewigkeit im Totenreich 
regiert. Er rückt an die Stelle des früheren Totengottes Anubis. Besonders 
interessant ist es, daß dieser mit dem Kopf eines Schakals, also eines leichen¬ 
fressenden Tieres, abgebildet wird. Ich erinnere nochmals an die Pyramiden¬ 
texte, in welchen der Verklärte, der im Himmel seine kannibalistische 
Festmahlzeit halten soll, als „Schakalgott“ angekündigt wird. Beim Ritus des 
Mumifizierens und Begrabens spielt Anubis als Priester mit einer Schakal¬ 
maske ebenfalls eine große Rolle. Darauf komme ich später noch zurück. 

Der Einfluß der Osirissage ging aber noch weiter. Erst war Osiris König 
von Ägypten, später wurde es sein Sohn Horus und Osiris wurde König 
der Unterwelt. Jeder ägyptische König wiederholte die Laufbahn des Osiris, 
d. h. er identifizierte sich mit ihm. Später teilten die vornehmsten Männer 
dieses Los; noch später wurden alle Toten zum Osiris, sogar die Frauen; 
es trat also eine immer weiter durchgeführte Demokratisierung vom Jenseits 
ein. Daß aber ursprünglich nur der verstorbene König als Osiris verehrt 
wurde, steht im Zusammenhang mit dem alten Brauch, daß die Opfergaben 
für sämtliche Tote im Namen des lebenden Königs dargebracht wurden. 

Der Begräbnisritus der Ägypter hat sich im Laufe der Zeiten geändert. 
Allgemein bekannt ist der Brauch der Mumifizierung; weniger bekannt ist 
aber, daß er erst in späterer Zeit aufgetreten ist. In den älteren Gräbern 
findet man nur Skelette, die einfach bestattet worden sind. Wie häufig bei 
primitiven Völkern, sind die Leichen in kauernde Haltung gebracht worden, 
es wurden ihnen Waffen und Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens 
mitgegeben. Manchmal wurde der Körper in einem großen irdenen Topf 
begraben, der mit einem Uterus verglichen werden kann. Die Sitte des 
Mumifizierens kam erst später auf. Ihre Entstehung als Reaktionsbildung 
auf die Unterdrückung kannibalistischer Antriebe habe ich bereits ange¬ 
deutet. In diesem Zusammenhänge wäre es freilich von besonderem Interesse, 
zu erfahren, ob in Ägypten jemals Überreste gefunden worden sind, die auf 
einen tatsächlichen Kannibalismus schließen lassen. Ein englischer Forscher, 
Flinders Petrie, 1 beschrieb die Funde primitiver Gräber, in welchen die 
Lage der Gebeine darauf schließen läßt, daß der Körper vor dem Begraben 
in Stücke gehauen war. Dieser Autor kommt zu der Auffassung, daß die 


1) Flinders Petrie und Quibell. London 1896. 















284 H. C. Jelgersma 


damaligen Ägypter Menschenfresser waren. Georg Ebers 1 trat dieser An¬ 
sicht mit der Begründung entgegen, daß ein so hochgebildetes Volk doch 
niemals Menschenfresser hätte sein können. Er bestritt nicht die Tatsache 
daß die Leichen in diesen Gräbern in Stücke geschnitten waren, er deutete 
sie jedoch als eine Nachahmung der Vorgänge in der Osirissage, als eine 
noch weitergehende Identifizierung mit Osiris. Ich meine aber, daß das 
Zerstückeln der Leiche in der Osirissage bereits eine vorbereitende Handlung 
zum Kannibalismus darstellt. Die beiden Ansichten brauchen sich also nicht 
zu widersprechen. In psychologischer Hinsicht kommt es schließlich weniger 
darauf an, ob die Ägypter tatsächlich Kannibalen waren oder ob ihre 
kannibalistischen Antriebe sich nur in Wunschvorstellungen und in der 
Symbolik geäußert haben. 

Die Begräbniszeremonien der Zeit, in der der Brauch der Mumifikation 
geherrscht hatte, sind kurz geschildert folgende: Der Leichnam wurde 
durch einen sehr komplizierten Prozeß mumifiziert. Dabei wurde viel Salz 
verwendet. Vorher mußte Brust- und Bauchhöhle geöffnet werden, das 
Verfahren war also ein Kompromiß zwischen Destruktion und Konservation 
der Leiche. Zur Zeit des neuen Reiches wurden manche der inneren Or¬ 
gane einzeln ins Grab gelegt, sie wurden in den sogenannten kanopischen 
Eingeweidekrügen verwahrt. Die Krüge waren mit den Bildnissen der vier 
Horuskinder verziert, eines der Kinder ist mit dem Anubiskopf abgebildet. 
Hierauf wurde die Mumie in einen ebenfalls verzierten Sarg gelegt und 
unter vielerlei Zeremonien zum Grab gebracht. Es wurde genau nach dem 
Vorbild der Bestattung von Osiris verfahren. Die Mumie wurde während 
des Abschiednehmens der Familie von einem Priester mit Schakalsmaske 
gehalten. Eine solche Maske ist im Pelizaeumsmuseum zu Hildesheim er¬ 
halten. Auch diese Zeremonie ist eine Nachahmung des Begräbnisses von 
Osiris; seine Mumie wurde durch Anubis festgehalten. Es verdient erwähnt 
zu werden, daß das Amt des Mumifizierens einer bestimmten Gruppe 
Menschen oblag, die dafür verachtet und gleichzeitig mit scheuer Ehrfurcht 
behandelt wurden, dies ganz im Sinne der ursprünglichen Ambivalenz, die 
wir bei den Äußerungen archaischer Triebregungen anzutreffen gewohnt sind. 

Nach seinem Tode kommt der Verstorbene in die Unterwelt. Dort muß 
er, bevor er sich zu den Verklärten zählen darf, beteuern, von allen Sünden 
frei zu sein. Ich habe die Szene mit Osiris als Totenrichter und den zwei- 
undvierzig Dämonen, die je eine Sünde personifizieren, schon teilweise 


1) Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde. Bd. 56, 1898. 













Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten 


a85 


beschrieben. Ein jeder von ihnen hält ein Messer in der Hand. Ich habe 
schon früher erwähnt, daß auch Vertreter kannibalistischer Sünden unter 
ihnen sind. Dann folgt eine recht sinnreiche Szene. Das Herz des Toten 
wird auf einer Wage, die vor Osiris aufgestellt ist, gewogen, und Anubis 
mit dem Schakalskopf kontrolliert das Gewicht. Ist das Herz ohne Sünde, 
so geht Thot, der Schreiber unter den Göttern, daran, das freisprechende 
Urteil aufzuzeichnen. Nun wird der Tote infolge seiner Identifizierung mit 
Osiris selber Osiris. Auch von seinen Verwandten wird er unter Hinzu¬ 
fügung seines früheren Namens so genannt. Kann ein Toter infolge seiner 
Sünden nicht zu den Verklärten gehören, so wird er verbrannt oder durch 
ein Tier, das vor Osiris sitzt, aufgefressen. Die Lesungen gehen hier aus¬ 
einander. 

Es war Sitte, daß man an bestimmten Festtagen am Grabe des Toten 
ein Tier — meistens war es ein Stier oder eine große Antilope — opferte. 
Auch dieses Tier mußte auf zeremonielle Weise geschlachtet werden. Man 
bediente sich dabei eines Messers aus Feuerstein. Dieser Brauch scheint 
darauf hinzuweisen, daß man das Schlachten des Opfertieres bis auf die 
Steinzeit, die auch in Ägypten das prähistorische Zeitalter ist, zurückver¬ 
folgen kann. Am Schlüsse dieser Feierlichkeit wurde das Fleisch des Opfer¬ 
tieres durch die Leidtragenden verzehrt. Am Begräbnisse wurde ebenfalls 
ein Stier geschlachtet und sein Fleisch anscheinend durch die Angehörigen 
des Toten aufgegessen. Man hat den Toten mit dem Opfertier identifiziert, 
das Aufessen des geschlachteten Tieres galt als symbolisches Aufessen des 
Verstorbenen. Diese ganze Feierlichkeit erinnert an die Gebräuche primitiver 
Völker, wie sie Freud in „Totem und Tabu“ beschrieben und analysiert 
hat. Er man erwähnt, ohne weitere Betrachtungen daran zu knüpfen, daß 
in der ältesten Zeit das Brotbacken und Bierbrauen am Begräbnistage eine 
große Rolle spielte. Wir sehen auch hier einen Zusammenhang mit den 
Gebräuchen der primitiven Völker, Brot und Bier wurden zum Begräbnis¬ 
mahl benötigt. 

Eigentümlich erscheint uns die ägyptische Sitte, die Leiche völlig zu 
isolieren. Die Beisetzung der Mumie erfolgte in einem Raum, der nur 
durch einen Schacht erreicht werden konnte. Nach der Bestattung wurde 
der Schacht zugeworfen und der Eingang unkenntlich gemacht. Bei den 
älteren Königsgräbern gab es zahlreiche Einrichtungen, die nur dazu dienten, 
die Grabräuber auf eine falsche Fährte zu locken. So ist eine der Pyramiden 
wahrscheinlich nur der Grabrauber wegen gebaut worden; der alte Pharao 
Snefroe liegt in einem schlau verborgenen Grabschacht in der Nähe. Die 












Sitte, die Toten zu verbergen, kennen wir von alters her in Ägypten; ihre 
Motive sind uns aber noch nicht klar geworden. Die Ägyptologen sind der 
Ansicht, daß das Sichern der Kostbarkeiten, die man dem Toten mit ins 
Grab gab und die den Grabschändern eine erwünschte Beute waren, diesen 
Brauch erklärt. Der Grabraub ist eine klassische ägyptische Missetat. In den 
Schriftstücken, die von ägyptischen Verbrechen erzählen, ist größtenteils 
von Grabschändungen die Rede. Wir lesen z. B. die ausführliche Beschrei¬ 
bung eines großen Skandals, bei dem ausgedehnte Schändungen ans Licht 
kamen. Die Tatsache, daß man einerseits die Leichen sorgsam zu verbergen 
trachtete und anderseits so starke Neigungen zu Grabschändungen vorhanden 
waren, gibt uns zu denken und scheint auf tiefere Motive als das Rauben 
von Kostbarkeiten hinzuweisen. Wir wissen von dem früheren feindseligen 
Benehmen dem Toten gegenüber, und glauben hier die Furcht vor eigenen 
Gewalttätigkeiten zu sehen. Der Ägypter, der seinen Toten mumifiziert, 
ist in der Beherrschung seiner destruktiven Neigungen und kannibalisti- 
schen Antriebe noch nicht ganz sicher, darum versteckt er den Toten an 
einem unauffindbaren Platz. Es handelt sich also wiederum um eine Reaktions¬ 
bildung, eine Sicherung, die die Feindschaft dem Toten gegenüber deutlich 
genug erkennen läßt. In der ganzen ägyptischen Geschichte sehen wir, daß 
gerade die Könige mit Feindschaft bedroht wurden. So manchmal fand die 
Regierung eines Fürsten ein gewaltsames Ende, der Geschichte zufolge 
waren es seine nächsten Blutsverwandten, die ihm nach dem Leben trach¬ 
teten und die sich seiner Herrschaft bemächtigen wollten. Der ägyptische 
Hof war voll von Verrätern, die den König zu Fall bringen wollten. 
Röheim beschreibt, wie bei den primitiven Völkern ständig gegen den 
Herrscher konspiriert wird und sich Bruderkriege an seinen Tod anschließen. 
Diese Verhältnisse stimmen auch für Ägypten. 

Jedem Ägypter ist die Furcht vor Feindseligkeiten gegen seine Leiche 
wie angeboren. Deshalb die Heimlichkeiten um den Begräbnisplatz. Diese 
Furcht ist aber nur die Kehrseite desselben Antriebes, die ihn die Gräber 
schänden ließ. Es besteht meiner Auffassung nach kein großer Unterschied 
zwischen Grabschändung und Kannibalismus, sie haben ihre Wurzeln beide 
in derselben psychischen Konstellation. 

Im Zusammenhang mit dem Vorhergehenden sei die nachstehende Zere¬ 
monie angeführt: Bei dem Fest der Thronbesteigung eines neuen Fürsten 
war die Redewendung gebräuchlich: „Das Recht hat das Unrecht vertrieben.“ 
Unter Unrecht ist allem Anschein nach der verstorbene Herrscher zu ver¬ 
stehen. Daß der neue Herrscher daraufhin ein Reinigungsbad nimmt, weist 















Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten 


287 


auf das Abwaschen von Sünden hin, d. h. von Mordgedanken hinsichtlich 
des toten Herrschers. Bei den heute lebenden primitiven Völkern stößt man 
auf ähnliche Gebräuche. 

Es ist noch zu erwähnen, welche Haltung die Ägypter im Laufe der 
Jahrhunderte der Figur von Seth, dem Mörder des Osiris, gegenüber ent¬ 
nahmen. Seth ist der einen Lesung zufolge der Bruder, der anderen Lesung 
zufolge der Sohn des Osiris. Er ist die Personifikation der destruktiven 
Antriebe gegen Osiris, wohingegen Horus den braven, liebenden Sohn 
verkörpert. Es befremdet uns, daß Seth trotz seiner Missetaten im alten 
und im mittleren Beich als Gott verehrt wurde. Der Ägypter des alten 
Reiches, der, wie aus den oben entwickelten Betrachtungen ersichtlich, 
kannibalistischen Antrieben näherstand, konnte Seth nicht hassen und ver¬ 
achten, er gewährte ihm ruhig einen Platz unter den Göttern. Es fällt auf, 
daß sich in der Spätzeit die Stellung Seths verändert hat. Sein Name und 
sein Bildnis werden aus den Tempeln entfernt, er wird gehaßt und wird 
Teufel und Feind aller Götter genannt. 

Erman gibt folgende Beschreibung von dieser Veränderung: „Seth, den 
Mörder des Osiris, ereilt jetzt (in der Spätzeit) seine Strafe. Jahrtausende 
hindurch hat man es ruhig hingenommen, daß Seth den Osiris ermordet 
und ungerecht verklagt hat und hat ihn trotzdem weiter unter den Göttern 
geführt. Aber der böse Ruf, den die Göttersage an ihn geheftet hatte, machte 
sich doch fühlbar, und als König Sethos sich sein großes Felsengrab erbaute, 
da galt es schon nicht mehr passend, in diesen Räumen, wo der Totengott 
Osiris herrschte, den Namen seines Mörders zu nennen; der König mußte 
es sich daher gefallen lassen, in seinem eigenen Grabe nicht Sethos, der 
Sethische, sondern der Osirische zu heißen. Nicht lange und der volkstüm¬ 
liche Abscheu gegen den Seth führte schon so weit, daß wer seinen Namen 
schrieb, ihn auch selbst wieder auswischte. Schließlich tilgte man sogar 
sein Bild und seinen Namen aus dem Relief der Tempel aus, denn der 
alte Gott war zum Teufel geworden, dem Feind aller Götter; er hatte die 
Rolle übernommen, die sonst der Gewitterdrache Apophis gespielt hätte.“ 
Wir sehen an diesem Beispiel, wie sich bei einem Volksganzen die sekuläre 
Verdrängung abspielt. 

Eine andere Seite des primitiven menschlichen Trieblebens, die der 
inzestuösen Triebregungen, kommt bei den Ägytern ebenfalls deutlich zum 
Ausdruck. Die alten Ägypter waren polygam und hielten einen Harem. 
Eine der Frauen war in der Regel die Bevorzugteste; es war die Schwester. 
Die Schwester war die angewiesene und natürliche Gemahlin des Bruders. 















a88 


H. C. Jelgersma 


Die ägyptischen Könige waren mit ihren Schwestern verheiratet, so war es 
auch bei den Göttern Osiris und Seth. 

Während der ganzen Zeit vor Christi Geburt bestand die Sitte der 
Schwesternehe. Aus der allerältesten Zeit bestehen Andeutungen, daß auch 
die Ehe zwischen Vater und Tochter erlaubt war. Snefroe war höchstwahr¬ 
scheinlich mit seiner Tochter verheiratet. Ein alter Titel von Osiris war.* 
„Stier seiner Mutter.“ Heute noch besteht in Ägypten die Sitte, daß man, 
wenn möglich, immer seine Nichte heiratet. Wir sehen im Laufe der Jahr¬ 
hunderte eine fortschreitende Verschiebung der inzestuösen Objektwahl, ent¬ 
sprechend der Verdrängung der inzestuösen Neigungen. Man findet im alten 
Ägypten auch dafür Beispiele, daß sich ein Herrscher dem Inzestgebot ent¬ 
zog. So hatte z. B. Amenhotep III. aus dem neuen Reich sich eine Gattin 
aus einem ganz anderen Volke gewählt. Das waren aber Ausnahmen. 

Die Psychoanalyse hat uns gelehrt, wie die Streitigkeiten zwischen Vater 
und Sohn, König und Kronprinz mit dem Inzestproblem Zusammenhängen. 
Es ist nicht verwunderlich, daß der Streit zwischen König und Kronprinz 
die schärfsten Formen annahm, trat doch der Inzestkomplex so deutlich in 
den Vordergrund. Trotzdem zur Zeit der Mumifikation die Verehrung des 
Vaters die Oberhand über die feindlichen Regungen gewonnen hatte, blieb 
der ambivalente Charakter der Vatereinstellung noch ziemlich lange erhalten. 

Ein anderer Brauch stand im Zusammenhang mit diesen Familienstreitig¬ 
keiten. In der ersten Dynastie war es Sitte, daß die Gemahlin des ver¬ 
storbenen Königs ihm in den Tod folgte, wie Erman behauptet, freiwillig. 
Noch heute finden wir Ähnliches in anderen Ländern. Daß eine Frau so 
etwas ganz freiwillig und aus eigenem Antrieb tun würde, ist meiner 
Ansicht nach unglaubwürdig. Es muß vielmehr an zwingende Vorschriften 
gedacht werden. Ich glaube, daß der König seinen Erben und männlichen 
Nachkommen den Besitz seiner Gemahlin nach seinem Tode nicht gönnte, 
und sie darum mit ins Jenseits nehmen wollte. 

Wo immer die Psychoanalyse den tieferen Gründen des Kannibalismus 
nachging, stieß sie als eines der Motive auf das Inzestproblem. Da der 
Inzest in Ägypten eine feststehende Tatsache war, wundern wir uns nicht 
über die ambivalente Einstellung zum Vater und nicht über den Kanniba¬ 
lismus, dem wir in Form von Symbolen oder in durchsichtiger Verdrängung 
begegnen. Inzest und Kannibalismus wurzeln in demselben Boden. Der 
Kannibalismus fällt der Verdrängung viel schneller anheim als der Inzest; 
dieser wurde noch ausgeübt, als von ersterem nur noch Spuren anzutreffen 


waren. 














Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten 


289 


In den religiösen Auffassungen der Ägypter stoßen wir auf Gebräuche, 
di e für alle primitiven Völker charakteristisch sind. So fehlt auch nicht 
die Verehrung von verschiedenen heiligen Tieren. Dieser Kult muß seinen 
Höhepunkt erreicht haben in der Zeit, als Herodot Ägypten bereiste. Stiere, 
Kühe, Böcke, Hunde, Katzen, Nilpferde, Krokodile, Ratten, Mäuse, Ibisse, 
Falken und andere Tiere mehr wurden als heilig verehrt und nach ihrem 
Tode mumifiziert. Den heiligen Stier kennen wir aus den Gottesdiensten 
aus älteren Zeiten, und wie ich bereits erwähnt habe, brauchte man ihn 
vorzugsweise als Opfertier bei Bestattungen. Es ist begreiflich, wenn er, als 
Symbol ungezähmter Sexualität, zur Darstellung des ägyptischen Königs 
verwendet wurde. 

Ich habe schon berichtet, daß das Nilpferd des Inzestes und des Vater- 
mordes beschuldigt wurde; das Krokodil war ein berüchtigter Menschenfresser. 
Tiere mit diesen Eigenschaften sind durch die primitiven Völker tabuiert 
worden. Das Krokodil hat man allem Anschein nach in Ägypten nicht ge¬ 
jagt, wohl aber das Nilpferd, doch wurden beide Tiere mit großer Ehrfurcht 
behandelt. Der Glaube an Zauberei war in Ägypten sehr verbreitet und 
spricht ebenfalls für eine primitive Denkweise dieses Volkes. Was wir über 
Heilkunde und Arzneilehre bei den Ägyptern wissen, grenzt für moderne 
Begriffe ans Unglaubliche. Die Magie spielte eine so große Rolle bei ihnen, 
wie sie es bei heute lebenden primitiven Völkern noch tut. Den Namen 
einer verhaßten Person pflegten die Ägypter aus den Grabsteinen auszu¬ 
meißeln, sie meinten damit seine Person zu treffen. Solche ausgemeißelte 
Stellen findet man zahlreich, ein Beweis dafür, daß feindliche Gesinnungen 
dem Toten gegenüber nicht selten waren. Oftmals wurde, es scheint aus 
denselben Gründen, der Mumie vor dem Begräbnis der Kopf abgeschnitten. 

In dem Vorhergehenden habe ich gezeigt, daß der Ägypter Denkweise 
und Handeln primitiv waren. Ich verkenne selbstverständlich nicht die hohe 
Bildungsstufe, die sie erreicht hatten. Jahrtausende vor Christi Geburt hatte 
die Kunst in Ägypten eine solche Blüte erreicht, die uns heute noch staunen 
läßt. Kunstwerke zu werten ist schwer, doch stimmen viele Kritiker darin 
überein, daß die ägyptische Bildhauerkunst nie übertroffen worden ist, weder 
von Griechenland noch von Rom. Wer die Reliefs aus dem alten Reich 
betrachtet, ist voll tiefer Bewunderung vor der Meisterhand, die solches 
schuf und vor dem Volke, das solche Künstler hervor brachte. Auch die 
Produkte der Mal- und Baukunst zeugen davon; insbesondere in der Mal¬ 
kunst waren sie zu einer hohen Entwicklung der Technik gelangt. Die 
Farben, die sie verwandten, haben ihre Glut im Laufe der Zeiten behalten. 













Daß nach unseren Begriffen die Form ihrer Kunst eigenartig ist, daß die 
Konvention eine alles beherrschende Rolle spielte und die Abbildungen von 
Menschen und Tieren nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, ist nicht 
so sehr eine Folge technischer Unvollkommenheit, als wohl der Ausdruck 
davon, daß die Physioplastik weit hinter dem ideoplastischen Faktor zurück» 
stand; daß der Ägypter weniger malte und meißelte, was er sah, als das 
was er dachte. Einzelne Charakterzüge der ägyptischen Kunst, unter anderem 
das Fehlen der Perspektive, und die Tendenz, Dinge, die nebeneinander 
gehören, übereinander zu stellen, wirken primitiv auf uns. Als Beweis der 
hohen Bildung der Ägypter führe ich die Organisation ihres Staates an, 
ihre vortreffliche Armee, die sie vor dem Eindringen der Nachbarvölker 
schützte und die ihnen in verschiedenen Perioden zum Siege verhalf. 

Sie kannten auch die Sklaverei, hatten einen ausgesprochenen Kastengeist, 
die Ämter waren erblich, überhaupt zeigten sie sich urkonservativ in allen 
Dingen. Solange man die Hieroglyphen nicht entziffern konnte, erwartete 
man auch von der Wissenschaft Großes, man nahm an, daß die tiefsinnigsten 
philosophischen Probleme erörtert worden seien und daß die Schriftzeichen 
tiefe mystische Weisheiten verborgen hielten. Doch kann man seit einigen 
Jahrzehnten die Hieroglyphenschrift lesen und man weiß nun, daß ihre 
Wissenschaft eine unklare war und größtenteils aus Zauberei bestand. 

Die Religion war ein Vielgöttertum, mit dem Sonnengott als Bedeutend¬ 
sten unter ihnen. Der Sonnengott war eine Vaterfigur. Die Könige waren 
sowohl Staatsmänner als auch Götter, galten sie doch als Söhne des Sonnen¬ 
gottes. Vaterhaß und Vaterverehrung sind kennzeichnende Charaktereigen¬ 
tümlichkeiten. Der Gottesdienst ist im Lauf der Jahrhunderte in seinen 
Formen und in seiner Symbolik erstarrt. Der religiöse Konservativismus ist 
wirklich auffallend, nur einmal ist er durchbrochen worden. Es trat eine 
kulturelle Strömung auf, die mit der Vielgötterei und den alten Formen 
brechen wollte, ja selbst mit der Vielweiberei und der starren Kunstform. 
Es war Echnaton, der diese Reform durchführen wollte. Abraham 1 hat 
sie analysiert als einen Aufstand Echnatons gegen die väterliche Macht. Nach 
dem Tode des aufgeklärten Herrschers verschwanden all seine Errungen¬ 
schaften wieder, man kehrte zu den alten Gewohnheiten zurück, die alte 
Kultur wurde fester denn je im ägyptischen Boden verwurzelt. In der Spät¬ 
zeit kam es zu einer Bewegung, die strengste Rückkehr zu der Kultur 
des alten Reiches forderte, doch ging man dann einem schnellen Ende der 


1) Amenhotep IV (Echnaton). Imago, Bd. I, 1912. 


























O er Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten 


391 



Blütezeit entgegen. Nur die chinesische und die japanische Kultur vermögen 
einen solchen Konservativismus aufzuweisen, wie wir ihn in der ägyptischen 
Kulturgeschichte vorfinden. Darum wundert es uns nicht, daß man noch 
in historischen Zeiten auf Niederschläge primitiver Antriebe und Gewohn¬ 
heiten stößt. Erman und Ranke sagen mit Recht, daß der alte Ägypter 
den primitiven Völkern näher steht als andere Völker. Sie stützen ihre An¬ 
schauung darauf, daß man bei keinem anderen Volk die Geschichte so bis 
ins graue Altertum verfolgen kann. Mindestens fünftausend Jahre Geschichte 
sind uns erhalten geblieben. 

So finden wir in Ägypten viele primitive Triebregungen. An erster Stelle 
den Kannibalismus, der trotz Andrees Gegenbehauptung dort vorgekommen 
ist. Ob die Ägypter aus historischer Zeit Kannibalen waren, ist zweifelhaft. 
Fest steht, daß ein Volk, das religiöse Texte in die Pyramiden einmeißelte, 
die kannibalistische Feste als Wunschphantasien zum Inhalt hatten, kan- 
nibalistischen Triebregungen unterworfen war. Wir sahen, wie der Kanni¬ 
balismus im Lauf der Jahrhunderte zum Laster wurde, wir sahen auch, 
wie der Bruder- und Vatermörder anfänglich als Gott verehrt wurde, um 
dann später als Teufel gehaßt zu werden. Als besonders gutes Beispiel für 
die Verdrängung der kannibalistischen Neigungen führte ich die außer¬ 
gewöhnliche Fürsorge um die Leichen an, die zur Mumifikation geführt 
hat. Die Gründe habe ich an Hand der Osirissage ausführlich entwickelt. 
Auch habe ich einen Zusammenhang zwischen Inzest und Kannibalismus 
festgestellt. 

Wir bekamen auf diese Weise ein eigenartiges Bild der ägyptischen Kultur. 
Ein Volk, das einerseits durch die Entwicklung von Kunst und Technik es 
zu einem kulturellen Höhepunkt gebracht hat, auf der anderen Seite aber 
primitive Triebregungen und Eigenschaften aus einer frühen Stufe der Ent¬ 
wicklung beibehalten hat. Der nationale Konservativismus mag daran nicht 
unbeteiligt sein. 

* 


Hiemit will ich Abschied nehmen vom alten Ägypten, um noch einen 
Blick auf das moderne Europa zu werfen. Vielleicht gibt es dort noch mehr 
Spuren von Kannibalismus als Andree in den Märchen und in dem Aber¬ 
glauben mancher Verbrecher gefunden hat. Wir haben den größten Abscheu 
vor diesem Verbrechen, wenn wir es bei anderen Völkern antreffen, und 
glauben nicht daran, ihm auf eigenem Boden zu begegnen. Ich erinnere 
daran, daß wir das Mumifizieren in einer anderen technischen Form als 

















292 


: Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten 


Jelgersma 

Einbalsamierung kennen. Die Verdrängung könnte aus denselben Motiven 
wie bei den Ägyptern erfolgt sein. Bei gewöhnlichen Sterbefällen denkt der 
Europäer nicht an Einbalsamieren; dieser archäische Trieb erwacht meistens 
nur beim Tode großer Vaterfiguren (Könige, Führer). Übrigens haben wir 
auch den Brauch einer üppigen Mahlzeit nach erfolgtem Begräbnis, bei der 
die Trauerstimmung oft gar schnell verfliegt und lärmender Uneinigkeit 
und Erbschaftsstreitigkeiten Platz macht. 

Die Sectio cadaveris ist eine Handlung, die mit einiger Heimlichkeit vor 
sich geht. In der Psyche des pathologischen Anatomen müssen bei dieser 
Tätigkeit, wenn auch unbewußt, andere Gedanken als rein wissenschaftliche 
Vorkommen. Wir ersehen das aus den Namen, die sie zur Beschreibung 
krankhafter Organveränderungen heranziehen. Die Milz wird mit Speck, 
Sago und Bauernwurst, die Leber mit Muskatnuß, Butter und Zuckerguß, 
tuberkulöse Massen mit Käse, Papillomen mit Blumenkohl, Knochenmark 
mit Himbeergelee, Blutgerinnsel mit Speck usw. verglichen. Die mensch¬ 
lichen Organe sind in der Psyche des modernen Menschen mit der Nahrung 
scheinbar noch sehr eng assoziativ verbunden. Viele Menschen versuchen 
die Sektion durch Possenmacherei aufzuheitern. 

Ich habe einige archaische Züge aus der modernen Psyche aufgezählt, 
dies soll uns ermahnen, die primitiven Bräuche der alten Ägypter nicht 
allzu streng zu beurteilen, auch wir haben diese primitiven Regungen noch 
nicht ganz überwunden. 























Raumempfmden und moderne Baukunst 


Von 

Franz Löwitsck 

Architekt, Diplomingenieur, Berlin 


Vorangestellt seien zwei Sätze aus der Arbeit von Dr. R. Sterba, „Analyse 
der Gotik“, veröffentlicht in der Sondernummer der Imago „über die bildenden 
Künste“ (X. Bd., Heft 4): 

„Übrigens hat mit der Beendigung der Gotik die Bedeutung der Architektur 
überhaupt wesentlich abgenommen, und in unserer Zeit ist eigentlich ein 
allgemeines Raumempfinden, wie es für den Menschen des gotischen Zeit¬ 
alters angenommen werden muß, nicht auffindbar.“ 

„Daß unsere Zeit eigentlich ohne architektonischen Stil ihr Auskommen 
findet, erklärt sich aus einer merkwürdigen Verlegung der psychischen Valenz, 
die früher der Architektur zukam, auf eine andre Kunstgattung, auf die 
Musik.“ 

Die Tatsache ist betrüblich, aber gewiß nicht wegzuleugnen, daß das 
Publikum den Werken des Architekten mit einer nie dagewesenen Indolenz, 
Verständnis- und Interesselosigkeit gegenübersteht. Literaturgeschichte ist 
Schulgegenstand, jedes Mädchen ohne Gehör lernt Klavierspielen, man rennt 
allenfalls in Gemäldeausstellungen, aber die Verunzierung der Städte über¬ 
läßt man dem Fachmann und kümmert sich keinen Deut um die Wohnung, 
in der man sein Leben verbringen muß. 1 2 

Daraus auf einen Mangel an Raumempfinden zu schließen, scheint aber 
gewagt. Näher liegt der Schluß, daß weltfremd gewordene akademische 
Architekten dem Publikum eine Kunst präsentieren, die ihm nicht mehr 
gefallen kann, weil ihre Symbole ihre befriedigende Kraft verloren haben. 

1) Die Arbeit wurde im wesentlichen und mit Ausnahme der Anmerkungen im 
Oktober 1925 vollendet, konnte aber aus formalen Gründen erst jetzt erscheinen. 

2) Erfreulicherweise ändert sich dies heute bereits. 


Imago XIV. 


20 










294 


Franz Löwitsck 


Daß ein Raumempfinden noch existiert, und zwar ein überaus starkes, beweist 
die Tanzkunst, die eben im Begriffe ist, zur Dominante aller Künste zu 
werden. Nicht verloren gegangen ist es, sondern es hat sich verändert 
Eine Möglichkeit seiner Veränderung soll hier untersucht werden. 

Dazu ist es nötig, den Begriff des räumlichen Empfindens zu definieren 
und zu analysieren. Eine Definition dieses heute übrigens modernen Schlag¬ 
wortes ist Voraussetzung für jede Debatte. 

Das „räumliche Empfinden“ wird in zweifachem Sinne verstanden: 

1) Als die Fähigkeit, räumlich zu sehen, d. h. die originalen Empfin¬ 
dungen des Gesichts-, Gehör- und Tastsinnes, die an und für sich noch 
keine räumlichen Daten enthalten, zu räumlichen Vorstellungen zu ver¬ 
arbeiten. 

2) Als die Fähigkeit, von innen heraus räumliche Vorstellungen zu re¬ 
produzieren, zu konzipieren und darüber hinaus räumlich zu gestalten im 
konkreten Werk, welches sich steigern mag bis zur Kunst, als Architektur, 
Kunstgewerbe, Plastik, Tanz, Bühnenregie. 

Die „räumlichen Empfindungen“ begleiten den psychischen Vorgang, der 
zu einer „räumlichen Vorstellung“ führt. Im Falle einer Wahrnehmung be¬ 
ginnt er mit der Tätigkeit der Sinne, deren Daten, die „originalen Emp¬ 
findungen“, vorerst ein ungeordnetes Chaos von Sensationen bleiben, erlebte 
Zustandsänderungen des eigenen Ichs. Erst der Verstand (Schopenhauer) deutet 
sie als Veränderungen einer „räumlichen“ Umwelt. Dies besorgt die Ekphorie 
„mnemischer Empfindungen“ (Semon). Die Homoghonie „isoliert“ aus dem 
Chaos die einzelne Form, distanziert die Welt vom Ich, gibt dem Raum 
Tiefe und Gestalt und körperliche Beschaffenheit. Die Tätigkeit der Ver¬ 
nunft macht die Form zum Gegenstand durch die weitere Ekphorie 
von bewußten Erfahrungen, die als Kenntnis von Qualität und Funktion 
dieses Gegenstandes mnemisch aufbewahrt sind. Hinzu tritt schließlich die 
Wertungsarbeit des Gefühles; die „reinen“ Gefühle, die Affizierung der Triebe 
und mnemische Lust- und Unlust quanten, deren algebraische Summe schuld 
daran ist, ob wir eine Vorstellung ablehnen oder begehren, ob wir uns mit 
ihrer Reproduktion gerne befassen oder nicht. In einer räumlichen Vorstellung 
als „Verdichtung“ originaler und mnemischer Empfindungen überwiegen die 
letzteren und sind also insbesonders verantwortlich zu machen für die Ver¬ 
schiedenartigkeit räumlichen Empfindens, für das „Wie ich es sehe“. Dies 
sind die Voraussetzungen für die nachfolgenden Untersuchungen. 

Die Zahl der mnemischen Beiträge zu einer räumlichen Vorstellung, sei 
sie Wahrnehmung oder Imagination, muß unendlich sein. Sie werden aus 





















Raum empfinden und moderne Baukunst 


r 


295 


bewußten und unbewußten Erfahrungen des Individuums stammen, aus 
verdrängten Erlebnissen und aus pränatal und phylogenetisch erworbenen 
Engrammen, die sich wohl nicht als bewußte Erinnerungen manifestieren 
können, jedenfalls aber als homophone Beiträge, die die Lebhaftigkeit er¬ 
höhen, durch ihren Unterschied das Spezielle hervorheben und durch ihren 
Gefühlswert die Vorstellung lust- oder unlustvoll machen. 

So werden enthalten sein die Erlebnisse im Riemannschen Raum, deren 
Phylogenesis ontogenetisch wiederholt wird im Dasein des Menschen als 
Zelle, als Fötus, bis zu jenem Stadium, wo er sich von der Eiwand löst 
und die sensible Oberfläche Nerven in das Innere sendet und Sinnesorgane 
entwickelt. In den Sensationen der Oberfläche, im Allgemeingefühl ist schon 
alles Wissen von der Umwelt enthalten: Welt und Ich fallen identisch zu¬ 
sammen. Diese Erlebnisse werden in der ersten Kindheit wiederholt, solange 
die Fähigkeit der Tiefenempfindung noch unentwickelt ist: die Berührungen 
mit der Umwelt bleiben vornehmlich Sensationen des eigenen Körpers, das 
Geschaute als Oberflächenerlebnis, die Bewegung als Eigenempfindung der 
Muskeln: der Sensationsraum der Zelle. 

Dann die Erfahrungen des pränatalen Zustandes, in dem das Individuum 
ein höhlenhaftes Dasein führt, von dem Augenblick an, da das Frucht¬ 
wasser es von der Wand der Mutterhöhle trennt, die den Bewegungen der 
Arme und Beine eine Grenze setzt, die mit diesen wie mit Fühlern gleichsam 
abgetastet wird, die erste Kenntnis liefernd von etwas, was außer ihm da 
ist, es umgibt. Wieder werden sie homophon verstärkt durch die ersten 
Kindheitserlebnisse, durch die Empfindungen, die die hüllenden Windeln 
liefern, die Decke, die Grenze des Bettes, des Raumes, der kriechend oder 
laufend durchmessen wird. Die Welt bleibt Höhle, woran auch noch die 
ersten Gesichtseindrücke nicht viel ändern können, denn es stehen keine 
Erfahrungen zur Verfügung, um sie anders zu deuten: höhlenhafter 
Raum. 

Gleichzeitig aber wird die Überzeugung von der eigenen Körperlichkeit 
immer deutlicher dadurch, daß das Kind mit seinen Händen und Beinen 
spielt, sie faßt, betastet, sie bewegt. Diese Empfindungen müssen wieder¬ 
erweckt werden, wenn das Kind nach andern festen Gegenständen greift, 
nach der Hand der Mutter, nach ihrer Brust, nach der Milchflasche, dem 
Spielzeug. Durch ihr homophones Mitklingen ermöglichen sie die Annahme 
des Körperlichen in diesen Dingen, eine Identifikation, die sich noch später in 
allen die Materie betreffenden Abstraktionen darstellt. So werden das Ich 
und die Dinge der Umwelt als etwas Körperliches, Festes, in sich Geschlossenes 


20* 















296 


Franz Löwitsdi 


begriffen, deren Individualität die Möglichkeit, sich selbst und unabhängig 
zu bewegen, kennzeichnet. Die Welt als Höhle, das Farbenmosaik des Gesichts¬ 
eindruckes löst sich auf in eine Summe solcher Dinge, die Mauer ist nicht 
mehr hüllende Wand, sondern vor allem Körper, Ding, neben und hinter 
dem es eine Unzahl anderer Dinge gibt, deren Kenntnis durch Fenster und 
Türen dringt als Licht, Farbe und Ton von Himmel, Bäumen, Vögel, Sternen: 
dinghafter Raum. 

Je mehr das Kind lernt, sich und seine Glieder zu bewegen und damit 
sie und die Gegenstände der Umwelt zu gebrauchen, um so mehr lernt es 
sich und die Welt als etwas Wirkendes zu verstehen. Sensation, Körper und 
Höhle verlieren ihre ursprüngliche Bedeutung. In dem Drange, sich der 
Ümwelt zu bemächtigen, erfährt es die Kraft, die ihm selbst innewohnt, 
und die Widerstände, die die Dinge der Umwelt entgegensetzen. Diese Er¬ 
fahrungen sammeln sich in der homophonen Reihe der Engramme, die die 
Abstraktionen von Wirken, Kraft, Qualität, Energie ergeben, die von da an 
die bedeutungsvollsten Attribute des Ichs, der Dinge der Umwelt, des Raumes 
werden, der nicht mehr umgrenzt, nicht mehr körperlich ist, dessen Form 
Struktur ist: der energetische Raum. 

In jeder räumlichen Vorstellung, sei sie original oder mnemisch, ist immer 
irgendwie das Element der Bewegung enthalten. Weil jedes Erlebnis im 
Raum und in der Zeit ist und die Bewegungsempfindungen aus dem Simultan¬ 
komplex aller Empfindungen nicht herausgelöst werden können. Es dürfte 
überflüssig sein, hier noch ihre Entwicklungsreihe zu zeigen, weil sie in der 
der räumlichen Erlebnisse genügend enthalten ist, so daß klar wird, wie im 
Riemannschen Raum die Bewegung nur als Zustandsänderung mit den Kenn¬ 
zeichen des Tempos und Rhythmus erlebt wird, später durch die Grenze, die 
die Höhle der Bewegung gibt, im dinghaften Dasein die Attribute der Rich¬ 
tung und Distanz bekommt, die sich allmählich im unendlichen Raum ver¬ 
lieren und schließlich, wie sie im energetischen Raum als Ausdruck einer 
Kraft, Qualität verstanden wird. 

Alle diese Erlebnisse können in verschiedenem Maße mit Lust oder Un¬ 
lust verbunden gewesen sein. 

Im pränatalen Dasein fehlt zum Lustgefühl der Gegensatz der Unlust. 
Es muß als Vorbild einer naiven Glückseligkeit gelten. Erst im Augenblick 
der Geburt, dieser plötzlichen Zustandsänderung, der größten vielleicht, die 
das Individuum erlebt, mag es sein, daß die neue, ungewohnte Umwelt Unlust 
erweckt, Angst und Sehnsucht nach dem verlorengegangenen Zustand, die 
die Lust an seine Erinnerung verschiebt. Mit Lust verbunden ist die Ruhe 



















Raumempfmaen und moderne Baukunst 


und der Schutz der mütterlichen Umarmung, der bergenden Hülle von 
Bett, Kleid und Raum, die Kälte, Wetter und Feinde abwehren. Unter 
allen späteren höhlenhaften Vorstellungen zieht das weibliche Genitale und 
die Höhle, zu der es Eingang ist, das größte Interesse an sich; als Spur 
erotischer Erlebnisse und Ziel erotischer Wünsche bleiben sie mit stärkster 
Lust besetzt. 

Aus ähnlicher Quelle stammt die Unlust, die sich an die entgegengesetzten 
Vorstellungen aus dem dinghaften Raum heftet. Die Geburtsangst, die Un¬ 
lust am eigenen körperlichen Dasein in einem ungewohnten, freien Raum, 
ohne Stütze und Schutz. Später die Gefühle der Unsicherheit des den Raum 
durch die eigenen Bewegungen noch nicht beherrschenden Kindes. Aus dem 
Ödipuskomplex wird der väterliche Phallos zu einem stark unlustbetonten 
Vertreter körperlicher Dinge, aus der Kastrationsangst der eigene; Penisangst 
der Mädchen, Ekel vor phallischen Formen: alles Gefühle, die sich steigern 
mögen bis zur Zeugungsunfähigkeit, hinter welcher als Philosophie sich 
schließlich ein Vernichtungswille, eine Verneinung der Fortpflanzung ver- 
steckt. 

Aus entgegengesetzten Quellen stammt die Lust an der eigenen Körper¬ 
lichkeit, die in dem Augenblick erwacht, wo die Lebenskraft die Muskeln 
des Kindes spannt. Es beginnt lustvoll zu strampeln, eine Tätigkeit, die sich 
steigert zu Spiel, Sport und Tanz. Diese Lust bekommt Verstärkungen aus 
der Autoerotik, aus den angenehmen Hautreizen. Erogene Zonen, unter 
ihnen der Phallos, werden zu lustbetonten Vertretern körperlicher Dinge. 
Aus sexuellen Erlebnissen heften sich an diese Reihe der Vorstellungen 
lustvolle Erinnerungen von Bewegung und Rhythmus. Lustbetont sind die 
Erlebnisse des entwickelten Mannes, durch die er den Raum, seine Dinge, 
ihre Distanzen, Bewegungen, Kräfte erfolgreich beherrscht, gleichgültig, 
ob es sich um sadistische Perversionen oder Kulturleistungen der Subli¬ 
mation handelt. 

Darin liegt, organisch begründet, die Unlust höhlenhafter Vorstellungen, 
Erinnerungen an Hüllen, die den Menschen, der Platz für seine Betätigung 
braucht, darin hemmen, begrenzen, ihn seiner Freiheit berauben, gleich¬ 
gültig, ob es die gutgemeinte Umarmung der Mutter ist oder die Grenze 
des Zimmers. Die Geburtsangst verschiebt sich und wird zum Tabu des 
weiblichen Genitales, durch homoerotische Strebungen beim Manne etwa 
verstärkt. 

Diese Erlebnisse sind allgemein menschlicher Natur, typisch und leihen 
daher ihre Affekte ganzen Komplexen räumlicher Empfindungen. Daneben 




- - 

















298 


Franz Lö-watsdi 


wären zu beachten solche, die rein persönlich bleiben und ihren Gefühls¬ 
wert nur einzelnen räumlichen Elementen oder konkreten Erinnerungen 
geben. 

Jedes räumliche Erlebnis — und jedes Erleben hat eine räumliche Seite — 
erregt die Gedächtnisspuren aller vorhergehenden, sie klingen mit, und zwar 
in dem Maße, das ihnen von der Homophonie der originalen und mnemi- 
schen Erregungen gestattet wird. (Beim Anblick eines Tisches wird die Er¬ 
innerung an den Sternenhimmel nur wenig wirksam sein können.) Weiter 
erhalten sie ihre Intensität aus den Affekten, mit denen sie besetzt sind. 
Wenn solche mnemische Elemente mit Unlust besetzt sind, so werden sie 
imstande sein, die Aufmerksamkeit von den sie ekphorierenden Wahrnehmungs¬ 
elementen abzuziehen, beziehungsweise später die Erinnerung an sie undeut¬ 
lich zu machen oder sie gar ins Ubw zu ziehen, zu verdrängen. (Die An¬ 
ziehungskraft des Ubw nach Freud.) Umgekehrt werden gewisse Wahr¬ 
nehmungselemente deutlicher werden, wenn sie zahlreiche lustbetonte ähn¬ 
liche Vorstellungen assoziieren. 

Stärker drückt sich dieses „wie ich es sehe“ in jeder Erinnerung aus 
und am stärksten in der freien Konzeption, wie beim künstlerischen Ent¬ 
wurf oder beim Versuch eine räumliche Abstraktion zu denken, weil hier 
die Einfälle am wenigsten durch den Einfluß der Außenwelt dirigiert werden. 
So merkt man dann deutlich, daß den einen Künstler beim Entwurf eines 
Tisches besonders die Füße interessiert haben, den zweiten die Tischplatte, 
ein dritter scheut sich nicht, den Tisch als Kasten auszubilden und denkt 
dabei offenbar an das Vergnügen der Kinder, wenn sie unter den Tisch 
kriechen, um sich zu verstecken, ein vierter zieht die phallische Form vor, 
gibt ihm einen massiven Fuß, formt Stelen und Opferaltäre statt Tischen; 
andere machen Roll wägeichen, Klapp- oder Schubtische, hauchzarte, durch¬ 
geistigte Konstruktionen aus Stahl und Glas, die wiederum dem Menschen 
der vorhergehenden Kategorie unsympathisch sein werden, denn es soll vor¬ 
gekommen sein, daß solche einem Klapptisch als Attrappe einen mächtigen 
Fuß geben — offenbar damit er nicht umfällt. 

Die Zahl der räumlichen Erlebnisse, die sich in einem Einfall verdichten 
(seine Determinanten) ist unendlich. Sie wäre vergleichbar mit der Summe 
einer unendlichen konvergenten Reihe, deren Glieder (Determinanten, räum¬ 
liche Vorstellungselemente) einen Wert haben, der abhängig ist von zwei 
Größen: von der Größe der mnemisehen und erotischen Kräfte (Libido), 
die ihnen zur Verfügung stehen. So muß das Raumempfinden eines Men¬ 
schen zu verschiedenen Zeiten, verschiedener Personen, Generationen, Kultur 























Raumempfinden und moderne Baukunst 


a 99 


epochen, Rassen verschieden sein. Denn es ist abhängig von den räumlichen 
Erlebnissen, deren Engramme phylogenetisch ererbt, in pränataler und infan¬ 
tiler Zeit wiedererworben wurden, von den Schicksalen, die diese in der Ent¬ 
wicklung des Individuums, der Rasse, erlitten haben, und von den neuen 
Erfahrungen, die während dieser Zeit hinzugetreten sind. 

Die Einteilung der die psychische Konstitution eines Menschen bedin¬ 
genden räumlichen Erlebnisse in vier Gruppen: in die des zellen haften, 
höhlenhaften, dinghaften und energetischen Raumes erscheint recht 
willkürlich, weil ihre Reihenfolge jedenfalls hinsichtlich Sukzession und Form 
kontinuierlich ist. Weil weiter die Kennzeichen der späteren in denen des 
Riemannschen Raumes bereits enthalten sind und umgekehrt die aus ihm 
stammenden räumlichen Vorstellungselemente in jeder höheren Anschauungs¬ 
form wiederklingen. Gerechtfertigt wird diese Einteilung dadurch, daß sie 
Entwicklungsstufen entspricht, die in onto- und phylogenetischer Hinsicht 
durch eine deutliche Zäsur getrennt erscheinen. 

Der Übergang vom hermaphroditen Zellendasein zum Embryo, die Geburt, 
das Entstehen der Vernunft, die Entwicklung vom Wickelkind zum frei be¬ 
weglichen Menschen, die Ablösung von der Mutterlibido, Pubertät, schließlich 
die Übernahme der vollen eigenen Verantwortlichkeit im Mannesalter sind 
Etappen, die solche Zäsuren darstellten, beziehungsweise wiederholen. 

Man kann sich vorstellen, daß jedes solche Entwicklungsstadium dadurch 
charakterisiert ist, daß die Libido auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist, durch 
die das Ich an dieses Objekt gebunden ist. Der Übergang von einem Stadium 
ins nächst höhere, die Zäsur, bedeutet dann die Trennung dieser libidinösen 
Bindung und Richtung der Libido auf ein neues Ziel. Diese Ablösung wird 
von der angenommenen Lebenskraft durchgeführt, die die Fortentwicklung 
des Individuums zur selbständigen Persönlichkeit besorgt, woraus sich jede 
Urambivalenz ergibt, unvollkommen gelungene Ablösung, das Trauma mit 
dem Rest der regressiven Tendenz, dem Bestreben, das vorhergehende Stadium 
wieder zu erreichen, zu reproduzieren, somit die Fixierung an dieses und 
an die Liebesobjekte, die es beherrschten, also auch an die räumlichen Er¬ 
lebnisse dieses Stadiums, die so stark lustbetont bleiben, daß sie in jedes 
weitere Erlebnis hineingesehen werden und in jeder räumlichen Phantasie, 
künstlerischen Konzeption reproduziert werden. 

Fährt man in dieser Spekulation fort, so wird man versucht anzunehmen, 
daß die Raumvorstellung eines Menschen, eines Volkes je nach seiner sich 
so ergebenden psychischen Konstitution, je nach dem onto- und phylogeneti¬ 
schen Entwicklungsstadium, auf das sie fixiert sind, zellenhaft, cunnisch, 















3oo Franz Eöwitsdi 


phallisch oder energetisch sein werden und daß weiter durch diese Kenn¬ 
zeichen die Stile, Kulturen sich charakterisieren lassen müssen . 1 

Die Gesamtheit eines Stiles läßt sich aber dadurch nicht erfassen. Wenn 
wir trotzdem in Folgendem diese Terminologie anwenden werden, also z. B. 
einen Stil als phallisch bezeichnen, so soll damit nicht gesagt sein, daß er 
nur Kennzeichen des dinghaften Raumempfindens enthält. Sondern daß diese 
in ihm stärker hervortreten und somit stärker affektbesetzt sein müssen. 
Daß er nebst anderen phallische Züge besitzt, die aber dominieren. 

Weiter ist zu beachten, daß einen Stil nicht die dominierende, räum¬ 
liche Vorstellung allein, sondern auch noch ihre affektive Besetzung näher 
kennzeichnet. Es ist nicht gleichgültig, ob etwa phallische Formen als lust¬ 
volle Symbole oder als Zeichen der Angst und des Schreckens gebraucht 
werden; ob eine Zeit sich naiv dem Genuß der praktischen Vorteile hül¬ 
lender Formen, dem Reiz cunnischer Symbole hingibt, oder ob sie aus Welt¬ 
angst, aus Furcht vor der Freiheit im körperlichen Raum in ein höhlen- 
haftes Dasein flieht. Beide Male können dieselben „RaumVorstellungen“ zwei 
verschiedene „Raumgefühle“ repräsentieren, je nachdem, ob sie der Pro¬ 
oder Regression dienen, und wir erkennen, daß jeder der vier Arten räum¬ 
licher Empfindungen diese nähere Kennzeichnung als positives, beziehungs¬ 
weise negatives Vorzeichen zukommen kann. 

Außerdem ist die Zusammensetzung eines Stiles viel zu kompliziert, als 
daß sie sich durch die wenigen Begriffe, die unserem heutigen Wissen zur 
Verfügung stehen, erfassen ließe. Es ist etwa nicht gleichgültig, in welcher 
Weise eine Raumvorstellung reproduziert wird; dies kann z. B. für das höhlen¬ 
hafte Raumempfinden auf zwei Arten geschehen: einmal in der Art, daß 
das Bedürfnis entsteht nach geschlossenen, stark umhüllten, abgegrenzten 
Räumen, in seinem Sinne stark betont und konkret erfüllt wird durch feste 
Mauern, mit wenigen Kommunikationen nach außen, kleinen Fenstern, 
alles wärme-, schall- und blickdicht konstruiert. Dann aber in der Art, daß 


1) Es ist das Verdienst Oswald Spenglers, erkannt zu haben, daß das Raum¬ 
empfinden, die Art, „die Welt zu erleben“, verschiedener Kulturen gänzlich ver¬ 
schieden ist. Er beschreibt den „statisch-euklidischen Raum“ der Antike, stellt da¬ 
neben die „Welthöhle“ frühchristlich-arabischer Zeit und als stärksten Gegensatz das 
„dynamisch-faustische“ Raumempfinden des Abendlandes, und zeigt, wie diese Arten, 
den Raum zu erleben, sich in gleicher Weise darstellen in Politik, Recht, Kunst, 
Wissenschaft und schließlich in den mathematischen Abstraktionen des Raumbegriffes. 
Was er rein physiognomisch erkannte, erschließt sich uns — trotz seiner — auf kau¬ 
salem Wege, wenn auch nicht in gleicher Weise. 


























I en un 



3oi 


das eigentliche Bauerfordernis auftritt als Bedürfnis nach weiten, offenen, 
lichten Räumen, freien Verbindungen mit der Umgebung, ungehindert durch 
die höhlenhaften Wünsche konkret erfüllt wird durch schlanke Konstruktionen, 
durch ein Mindestmaß von Mauern, durch große Fenster usw.; daß aber dann 
nachträglich die höhlenhafte Raumvorstellung sich einschleicht, indem z. B. 
die Fenster mit solchen Ornamenten versehen werden, die die Geschlossen¬ 
heit vortäuschen, wie enge Sprossenteilungen, Glasmosaik usw. Während 
früher die Tendenz zur Reproduktion des höhlenhaften Raumes konkret 
erfüllt wird, tritt sie hier verkleidet in Symbolen auf. Im zweiten Falle 
müssen ihr irgendwelche Hemmungen entgegengestanden haben, die im 
ersten Falle fehlten. Die mnemischen Beiträge des räumlichen Empfindens 
sind verschiedenartig gelagert; im einen Falle verdichten sie sich schon im 
Baubedürfnis, bestimmen die zweckmäßige Gestalt, im andern Falle bleiben 
sie isoliert, durch eine Hemmung, die sie hindert, diese Verschmelzung ein¬ 
zugehen, sind aber stark genug, um sich als ornamentale, symbolische Zutaten 
zur Form durchzusetzen. Die psychischen Konstitutionen waren verschieden. 
Worin der Unterschied besteht, ist der Inhalt von Problemen, die hier 
nicht weiter erörtert werden können. Jedenfalls aber dürfte klar sein, daß 
die obige Terminologie nur gewisse Züge eines Stiles, einer Bauform er¬ 
fassen kann, solange man nicht imstande ist, den Ausdruck für die feineren 
Nuancierungen zu finden. 

Ebenso gefährlich ist es, zellenhafte oder cunnische Raumkonzeptionen 
schon als eine Fixierung an infantile Raumerlebnisse, als Ausdruck einer 
Regression zu deuten. Bei einem Kinde sind sie eine selbstverständliche Not¬ 
wendigkeit im Dienste der Lebenskraft. Erst beim Manne oder Greis das 
Zeichen eines Rückfalles. Generationen, Epochen, Völker haben nun ebenso 
Kindheit, Jugend, Mannheit und Greisenalter. Und darum können Stile, 
einzeln, wie in ihrer Gesamtheit, während ihrer Entwicklung alle vier Kenn¬ 
zeichen in verschiedenem Maße durchlaufen. 

Insbesondere wäre es verfehlt, die Produktion oder Reproduktion Riemann¬ 
scher Raumerlebnisse immer als Regression zu deuten. Das mag für die 
schizophrene Weltanschauung gelten, für den Autismus, der sich aus der 
Welt der Realität, der er nicht gewachsen ist, zurückzieht in die Welt der 
Illusion, und dort nach Herzenslust Phantasie und Wirklichkeit verwechselt, 
weil ihm beide nur Sensation sind (Prinzhorn). Es gilt aber schon nicht 
mehr für den Tanz, von dem ich behaupte, daß er eine autoplastische Re¬ 
produktion Riemannscher Raumerlebnisse enthält. Geschwindigkeit, Tempo, 
Rhythmus, also reine Zustandsänderungen im Riemannschen Raum, ohne 














3o2 


Frans Löwitsch 


besondere Beziehung auf die dabei stattfindende örtliche Veränderung sind 
die primitiven Elemente des Tanzes. Die dabei erfolgenden Sensationen der 
Haut, der sich bewegenden Muskeln liefern das Vergnügen. Der Sehraum 
ist ausgeschaltet (ohne den eine vollkommen ding- und höhlenhafte Raum¬ 
empfindung unmöglich ist), denn das wäre eine schlechte Tänzerin, die im 
Dunkel nicht tanzen könnte oder gar einen Spiegel braucht. Die Bewegungen 
werden von innen heraus, ohne Beziehung zur Umwelt, empfunden . 1 Infantil 
ist die Einstellung der Tänzerin; Vorherrschaft des Narzißmus, Eitelkeit, 
Demonstrierlust, die sich vor der eigenen Nacktheit nicht scheut, sie im 
Gegenteil wünscht, sind Voraussetzungen. Haut- und Muskelerotik, Tanz 
als autoerotische Befriedigung. Schließlich aber das scheinbar vollkommene 
Fehlen jeder sexuellen Regung. Tanzerotik steht nicht unter dem Primat 
der Genitalzone. Die Tänzerin — sofern sie Künstlerin ist — will nicht 
sexuell reizen, und tut es auch nicht; sie will keine Kinder, sie ist selbst 
eines, ist pervers wie dieses, darum ihr dirnenhafter Charakter, scheinbar 
zweckloses Streben nach Lustgewinn, reizen, ohne Erfüllung zu gewähren, 
darum die Schamlosigkeit (soll kein moralisches Urteil sein!): weil sie Kind 
ist! Man spürt aber, welcher Trugschluß es wäre, hier eine Regression 
anzunehmen und diese Anschauung verallgemeinernd auf die moderne Zeit 
und die der Antike zu übertragen, welche beide von der Tanzkunst be¬ 
herrscht sind. Unsere Zeit ist jung, ist ein Anfang, eine Kindheit der Zu¬ 
kunft, die wir noch nicht kennen. Darum die den Tanz bedingende infantile 
Konstitution. Im übrigen wird der Tanz heute zum Ausfluß eines mächtigen 
Betätigungsdranges, eines starken Lebenswillens, der sich nicht begnügt, 
Kunst anschauend zu genießen, sondern sie tätig erleben will. Es gibt 
Menschen, die deshalb nicht gerne Musik mehr hören, weil sie dabei 
nicht still sitzen können ! 2 


1) Vollinhaltlich gilt das für den Tanz der Primitiven (Neger, Bacchanten), der 
nur vom Tänzer seihst in den originalen Bewegungsempfindungen erlebt wird, einem 
„Zuschauer“ aber wenig bietet. In dem Maße aber, in dem die Gestaltung einer 
sichtbaren Form an Bedeutung gewinnt, steigern sich die Beiträge aus dem ding- 
und höhlenhaften Raumempfinden (Figurentänze, Reigen, Quadrille). Interessant aber, 
daß die modernen Tänze sich gerne von den Rhythmen der Neger wieder anregen 
lassen. 

2) Reine Manifestationen des zellenhaften Raumempfindens können in der Archi¬ 
tektur natürlich nicht gefunden werden; denn diese ist Alloplastik, während jenem 
Autoplastik entspricht. Der Tanz ist sein eigentliches Gebiet, es liefert aber wohl 
auch Beiträge zu den Anfängen der bildenden Künste, die Eckart v. Sydow 
(„Primitive Kunst und Psychoanalyse“, Imago-Bücher, Bd. X) in der Kunst der Pri¬ 
mitiven feststellt: Die Körperkunst, d. i. die Deformierung und Bemalung des eigenen 























Raum empfinden und moderne Baukunst 3o3 


Eine ähnliche narzißtisch-infantile Einstellung verrät zum Teil die grie¬ 
chische Antike im Organisationssystem des Tempelbaues. Ich verstehe darunter 
die Art, nach der mehrere Einheiten zu einer höheren zusammengefügt, 
organisiert werden. Der Tempel ist eine in sich abgeschlossene Einheit, be¬ 
ziehungslos mit der Umwelt und selbstherrlich in diese hineingestellt. Um 
dies zu ermöglichen, wird er auf eine vorbereitete Plattform gestellt, damit 
nur ja nicht durch das Gelände etwa die Gesamtform des Tempels verändert 
würde. Ebenso selbstherrlich werden mehrere Tempel etwa auf der Akropolis 
aufgestellt; keiner nimmt Rücksicht auf den andern. Daß die Griechen sich 
hiebei von einer malerischen Komposition leiten ließen, halte ich für eine roman¬ 
tische Erfindung. Denn jeder regellose Steinhaufen wirkt malerisch, wenn es das 
betrachtende Auge so will. Ein ebenso in sich abgeschlossenes Individuum ist das 
architektonische Element des Tempels: die Säule. Dadurch war es möglich, 
sie einzeln, als Standbild, Gedenksäule zu verwenden. Man versuche dasselbe 
mit einem gotischen Bündelpfeiler! Selbst die bewunderte Komposition beim 
Erechtheion stellt im Vergleich zur organischen Verbundenheit gotischer Räume 
ein unverbundenes Nebeneinander selbständiger Typen dar. Diese Kennzeichen 
des damaligen Raumempfindens stellen sich sonst noch im griechischen Welt¬ 
bild dar: Politik, Philosophie, euklidische Geometrie: ein Nebeneinander von 
unteilbaren, beziehungslosen Einheiten. 

Der griechische Tempel ist ein Phallos, eine dinghafte, körperliche Raum¬ 
konzeption! Er hat kein Innen, nur ein plastisch durchgebildetes Außen. 
Für die Menge war sein Inneres, die Zella, einfach nicht da. Der Fest- und 
Opferdienst fand vor und um den Tempel statt. Von außen bewunderten 
die Griechen wie wir das heilige Denkmal. Ins Innere ist der gewöhnliche 
Grieche nie gekommen. Wem sich diese phallische Bedeutung des Tempels 
noch nicht aus der Physiognomie ergibt, dem mag ein historischer Wahrschein¬ 
lichkeitsbeweis dienen: 


Körpers, in denen er autoerotische und narzißtische Betätigungen erblickt. Ein erster 
Verdrängungsschub muß zur Darstellung der erotischen Symbole (Mutterleib, Phallos, 
Haut) genötigt haben; die autoerotische Einstellung aber, beziehungsweise — wie ich 
hinzufüge — die damit verbundene Vorherrschaft des zellenhaften Raumempfindens, 
ermöglichte nur eine autoplastische Darstellung. Damit ist mein Standpunkt gegen¬ 
über dem von Sydows präzisiert: Die durch die äußere Situation bewirkte Ver¬ 
drängung ruft das Darstellungsbedürfnis hervor, die innere Konstitution bedingt da¬ 
gegen das Raumempfinden und schreibt damit die mögliche Erfüllung vor. Unter 
dem Einfluß hohlenhafter Vorstellungen führt von hier aus der nächste Schritt zur 
Maskierung und weiter zur Mode. 

Nach v. Sydow bedeutet „die Malerei als die verhältnismäßig früheste Stufe der 
Kunst“ den Anfang der Alloplastik. Ihr Ursymbol ist die erogene Zone der Haut 
als Ganzes. Dies deutet schon auf einen großen Anteil des primitiven Empfindens 
im Sensationsraum hin, mehr aber noch die Tatsache, daß sie sich lange Zeit mit 
der Beschaffung reiner Empfindungen, Sensationen begnügt (Linien, Schraffierung 
und Farben). Höhlenhaftes Raumempfinden führt von hier aus zur Innendekoration, 
dinghaftes zur naturalistischen Malerei. 
















3o4 


Frans Löwitsck 


Gottfried Semper hat auf die formale Verwandtschaft zwischen Stele und 
Tempel hingewiesen, die sich in der Aufeinanderfolge der Denkmäler darstellt. 
Daß diese aber ein phallisches Symbol ist, wird aus der Tatsache wahrschein¬ 
lich, daß etwa in vormykenäischer Zeit der Phalloskult am Mittelmeer stark 
verbreitet war. Die Grundform der Stele ist ein stehendes Prisma, oben zu¬ 
gespitzt oder dachartig abgeschrägt. Sie entwickelt sich in zwei Richtungen. In 
der einen verjüngt sie sich nach oben, aus der Spitze wird ein Akanthusblatt 
oder ein blütenähnliches Gebilde. Von da wahrscheinlich weiter zur Säule und 
zum Leuchter. Wie der Phallos sich in eine Blüte verwandelt, kann man bei 
Ed. Fuchs nachsehen und heute noch in Japan beobachten. (F. Krauß: Ja¬ 
panische Erotik. Liebesamulette und Brautgeschenke.) In der zweiten Art der 
Entwicklung wird sie gedrungener, durch ein Rahmenomament der rechteckigen 
Seitenflächen, durch ein krönendes Gesimse oder einen Giebel wird sie zum 
Schrein, Opferalter; phönikische Zellentempel der Astarte (=' Demeter). Es 
liegt nahe, daß die ursprünglich phallische Form cunnisch umgedeutet wurde 
unter dem Einfluß einer femininen Tendenz, etwa zur gleichen Zeit, als der 
Phallos, Zeugungskult, sich wandelte in den Demeter-Geburtskult. Die Zellen¬ 
form erfährt eine neuerliche Umdeutung unter dem männlichen Einfluß der 
heroischen Zeit. Der Phallos wird wieder betont in Säule und Tempelform. 
Es entsteht der dorische Stil. Das Akanthusblatt an der Spitze des Tympanons 
erzählt von der Herkunft. Es sind also gewiß in der Zellaform cunnische 
Phantasien enthalten. Die verschwinden aber gegenüber der Bedeutung des 
Tempeläußeren. Das Innere der Zella kommt künstlerisch nicht zur Geltung 
und wurde auch nicht besonders ausgestattet. Die wenigen Ausnahmen be¬ 
stätigen die Regel, weil sie zumeist der Zeit des jonisch-korinthischen Stiles 
entstammen, in der sich auch sonst noch feminine Einflüsse bemerkbar machen, 
die aber das Wesen der Tempelform nicht erheblich verändert haben . 1 

Wer versucht, die griechische Antike als Reproduktion intrauteriner Phan¬ 
tasien zu erklären, versperrt sich den Weg zum Verständnis ihrer Formen. 
Die Höhlung der Zella ist bedeutungslos, darum verschwindet auch ihr Ein¬ 
gang hinter der Reihe der Säulen. Die einfache Umrahmung der Tür ist kalte, 
starre, unverständliche Ornamentik im Vergleich zur ausdrucksstarken Gestal¬ 
tung mykenäischer und später römischer Torbauten. Aus demselben Grund hat 
der griechische Tempel keine Fenster, die ein Ausdruck eines Innenraumes 
wären, der hier eben künstlerisch fehlt. Darum erscheinen die Versuche ge¬ 
wisser Archäologen, komplizierte Oberlichtskonstruktionen anzunehmen, gerade¬ 
zu lächerlich. 


i) Gegenüber der Auffassung Ranks sieht Eckart v. Sydow in dem bereits 
zitierten Buche das Ursymhol der Plastik nicht im Mutterleib, sondern im Phallos; 
der Mutterleib bleibt Ursymbol der Baukunst. Wogegen ich die Ansicht vertrete, 
daß beide Vorbilder für architektonische Gestaltungen sind. Bei vielen Völkern (No¬ 
maden, Jäger, Krieger), die weder eine äußere noch innere Nötigung zur Hülle 
haben, ist die Wohnung nichts weiter als ein „Mal“, ein Pfahl, ein Spieß, ein Stein, 
Kennzeichen zur Wehr dem Feinde und Weihe dem Gott. Es entwickelt sich zur 
Stele, zur Säule, zum Tempel. 














Raumempfinclen und moderne Baukunst 


3o5 


Dinghaft aufgefaßt, phallische Symbole sind Säulen, Karyatiden und Hermen, 
aber durchaus keine Reproduktionen des Mutterleibes . 1 Das feinste Wunder 
griechischer Kunst, der struktive Ausdruck der Säule durch die Enthasis bliebe 
unverständlich. So aber wird die durch Kraft erzeugte Schwellung am Phallos 
und an seinen organischen Symbolen wie Arm und Bein durch Beobachtung mittel¬ 
bar verstanden und durch Identifikation unmittelbar erlebt. 

Dagegen ist die spätrömische, frühchristliche, byzantinische und arabisch¬ 
maurische Architektur stärkster Ausdruck höhlenhaften Raumempfindens. Das 
Innere der Tempel und Paläste gewinnt immer mehr an Bedeutung und Aus¬ 
stattung durch Säulen, Bögen, Nischen, Wölbungen, Kassetten usw. Ein Nega¬ 
tiv zur griechischen Architekur. (O. Spengler: der römische Tempel ist ein 
umgestülpter griechischer.) Die Säule verliert ihre selbständige und somit phal¬ 
lische Bedeutung, sie flankiert den Tor- und Fensterbogen, wird zum Symbol 
der Beine und verstärkt den cunnischen Sinn der Maueröffnungen. Hier mag 
alles als Reproduktion pränataler Phantasien erklärt werden. Charakteristisch 
ist nur noch, daß es diesen Zeiten gelungen ist, die regressive Tendenz restlos 
zu sublimieren, sie der Realität anzupassen, oder besser gesagt, die Wirklich¬ 
keit in ihrem Sinne, den Raum als Höhle umzudeuten. (Spengler: das mau¬ 
rische Weltgefühl, die Welthöhle!) In der „Welthöhle“ fühlt sich der Mensch 
wohl, er hat sich’s in ihr bequem gemacht. Durch Mosaik, Marmor und 
Glasinkrustationen, später durch Teppiche arabischer Bauten, bekommen die 
Innenräume eine bisher noch nicht dagewesene Pracht und Wohnlichkeit. Dar¬ 
über ist soviel schon geschrieben worden, daß ein Mehr sich erübrigt. 

Auch das ist genugsam erörtert worden, inwiefern die romanische, gotische 
und barocke Baukunst durch das höhlenhafte Denken, durch die pränatale 
Phantasie beherrscht wird. Es sei auf das „Trauma der Geburt“ von O. Rank 
und auf die eingangs zitierte Schrift verwiesen. Neben den regressiv-höhlenhaften 
Formen der Mauern, Wölbungen, Kreuzrippen treten stark progressiv-phallische 
Formen auf in Diensten, Pfeilern, Türmen. Während der byzantinische Mensch 
sich in der geschlossenen Welthöhle wohl fühlt, drängt .der gotische (Spengler: 
die faustische Natur) aus ihr hinaus, er versucht die Mauern zu zerreißen, 
aus welchem Versuch das große, mehrfach geteilte Fenster als neue Form und 
das Travee als neues Grundriß System entsteht. Der antike Mensch bejahte naiv: 
der Grieche, weil ihm die Regression fremd war, der Römer und Byzantiner, 
weil er sie restlos sublimierte. Bewußtes Bejahen und Verneinen ist Erfindung 
gotischer Zeit, deren Philosophie durch diesen Widerspruch beherrscht wird. An 
der Ambivalenz pro- und regressiver Tendenzen erkrankt sie. Ihre Baukunst wird 
zur neurotischen Reproduktion der ambivalent empfundenen phallischen und 
höhlenhaften Raumvorstellungen. Diese Neurose mußte überwunden werden, 
um die Menschheit auf die höhere Bewußtseinsstufe zu führen. 


1) Dieses dinghafte Raumempfinden bestimmt auch den bereits erwähnten Mangel 
an gegenseitigen Beziehungen im griechisch-antiken Organisationssystem. Die Dinge 
(Atome) sind in sich geschlossene Individuen; zwischen ihnen ist „Nichts“. Der eukli¬ 
dische Raum wird nur soweit vorgestellt, als er von solchen „Körpern“ erfüllt ist. 

















3o6 


Franz Löwitsch 


Das Ziel der Gotik, das sie aber nicht erreichte, ahnt man aus dem letzten 
Typus, den sie geschaffen hatte, dem Hallenbau, wofür ich nicht zuletzt aus 
lokalpatriotischen Gründen die Stephanskirche in Wien nenne und Saint-la- 
Chapelle in Paris als vornehmste Repräsentanten. Da erscheint die Idee des 
gotischen Raumes am wenigsten getrübt durch Lichtgaden, Trifolien, Emporien 
und sonstige Spielereien. Die reine Zweckform erhebt sich zur höchsten Sym¬ 
bolik und wird durchflutet von der Harmonie eines Geistes, der Schmerz und 
Lust im Dasein, den Rhythmus im Leben 1 bewußt bejaht. Der Raum ist 
nicht Höhle, aber auch nicht Körper; er ist durchflutet von Kraftströmen 
Licht, Schwere, Festigkeit; aus ihrem Wellen und Brechen entsteht die Struk¬ 
tur, der energetische Raum. Man nennt das „Vergeistigen“ und „Entmateriali- 
sieren“. Was der Wissenschaft erst jetzt gelungen ist, der Ersatz des starren, 
statischen Körperbegriffes durch den dynamischen der Energie, was die Philo¬ 
sophie noch nicht erreicht hat, die Versöhnung von Bejahen Und Verneinen 
in einem bewußten Positivismus, wonach die kranke Menschheit sich sehnt, 
nach der Freiheit des von Traumen, Vorurteilen ungehemmten Übermenschen, 
das schwebte dieser letzten Gotik als baukünstlerisches Ideal in der Vereinigung 
ding- und höhlenhaften Raumempfindens, im energetischen Raum vor. Dieser 
Schritt konnte ihr nicht gelingen, weil die Menschheit noch fixiert war auf 
die früheren Stufen räumlichen Empfindens und Weltgefühles. Die Lehren der 
aufkeimenden Wissenschaft wurden vom Papst verflucht. Nicht weil sie Regeln 
der Kirche zuwider waren, sondern weil sich das Unbewußte gegen sie 
empörte, richtete sich der Haß auf sie. 

Nur auf kurze Zeit gelingt die „Renaissance“ naiven Welt- und Raum¬ 
empfindens in antiken und römischen Formen. Umsonst versucht die Barocke, 
sich in einer elegant eingerichteten Welthöhle wohl zu fühlen. Sie wird den 
aus der Gotik geerbten Widerspruch nicht los. Wo ihre Formen nicht mehr 
die Spur des Kampfes und Krampfes zeigen, werden sie sentimental. Eins 
hat die Zeit gelernt: elegant zu sterben. Zwischen Schnörkel und Blumen legt 
sie sich zur Ruhe. 


1) Leben ist nicht Dasein und Leben ist nicht Jenseits; Leben ist beides, ist 
Rhythmus. In diesem Satz muß sich die Antinomie von Lebensbejahung und Ver¬ 
neinung auflosen. Eine dies erklärende psychoanalytische Parallele ließe sich aus 
dem „Versuch zu einer Genitaltheorie“ von Ferenczi ableiten. Er stellt fest, daß 
im Zeugungsakt zwei Tendenzen sich in rhythmischer Sukzession vereinigen: Anal- 
und Urethralerotik (Amphimixis). Setzt man dafür Ich-Erhaltung und Ich-Aufgabe 
und weiter deren weltanschauliche Äquivalente, Bejahung und Verneinung, so gelangt 
man zu der Erkenntnis, daß im Augenblick der höchsten Lust, des gesteigertsten 
Lebensgefühles Eros als Leben- und Todbringer sich offenbart in der Synthese 
von Lebens- und Todestrieb, im Rhythmus. Ich glaube, daß dieser Rhythmus 
das Urbild aller Rhythmen ist, Fundament des rhythmischen Gefühles und Quelle der 
ungeheuren Ausdrucksgewalt rhythmischer Gestaltungen. Das Bewußtwerden dieser 
Synthese bedeutet eine Gefühlsbetonung aller rhythmischen, mithin dynamischen Vor¬ 
stellungen und Empfindungen; daraus erklärt sich wiederum die heutige Bedeutung 
des Tanzes. 
























Ramnempfmden tiud moderne Baukunst 


Diese Entwicklung ließe sich folgendermaßen zusammenfassen: In der 
griechischen Baukunst dominiert der dinghafte, in der römisch-frühchristlichen 
der höhlenhafte Raum, beide mit positivem Vorzeichen, naiv bejaht. Im nordisch¬ 
romanischen Stil bekommt die Höhle ihr negatives Vorzeichen und wird schlie߬ 
lich als Symbol des „Jammertales“ abgelehnt. In dieser Ablehnung mußte die 
Gotik auf phallische Formen zurückgreifen (Türme, Pfeiler). Sie versucht die Syn¬ 
these von Höhle und Körper, ein Versuch, der auch noch die spätere Kunst be¬ 
herrscht, der aber ständig mißlingt. Den Widerspruch zwischen Höhle und Körper 
beseitigen heißt, beide Vorstellungen homophon zur Deckung zu bringen; das 
verhinderte aber die aufs äußerste gespannte ambivalente Einstellung der Zeit. 
Ihr bleibt nur ein Schwanken, Oszillieren zwischen beiden Polen, das sich bis 
zur Neurose, bizarren Groteske steigert. (Siehe Semon: Simultane und alter¬ 
native Dichotomie.) Bei der Homophonie disparater Vorstellungen entsteht nach 
Semon als Empfindungsdifferential eine neue Vorstellung; hier, zwischen 
Körper und Höhle das dritte, das „ Weder-Ding-noch-Höhle“, das’Neue, der 
energetische Raum. Er kann solange nicht gefunden werden, als das seelische 
Interesse von den Komponenten Phallos und Vulva gefangen gehalten wird, 
solange als die Aufmerksamkeit nicht freigegeben ist, um sich ihm zuzuwenden! 
Ich glaube, daß die dazu nötige „Sachlichkeit“ der kommenden Zeit gelingt. 

Es soll mir recht sein, wenn meine einzelnen Spekulationen nur als 
persönliche Anschauungen gelten. Worauf es mir vor allem ankommt, das 
ist: festzustellen, daß aus dem Reproduktionszwang pränataler Phantasien, 
aus der regressiven Tendenz allein sich nicht alle Baukunst deuten läßt, 
wie es die mir bekannten Analysen versuchen, indem sie die progressive 
Tendenz nicht beachten . 1 Als ob diese nicht auch oft Grund genug hätte 
zur künstlerischen Sublimation. Gelingt doch die Ablösung von der Mutter¬ 
libido oft nur teilweise, so daß ein unerfüllter Rest dieser Tendenz sich 
symbolische Erfüllung holen muß. Aus der ständigen Alteration beider 
Tendenzen entsteht ein Rhythmus, der uns im Wechsel von Lust und Un¬ 
lust, von Nacht zu Tag, von Lehen zu Tod wiegt, das Schicksal des In¬ 
dividuums und der Familien erfaßt und die Geschichte der Völker und 
Menschheit in Wellen formt. Es ist durchaus nicht einzusehen, warum die 


1) Philosophisch kann man die Regression nicht anders als Verneinung verstehen. 
Diese kann aber nicht die treibende Kraft jeglichen Kunstschaffens sein. Nietzsche 
stellte der dionysischen Kirnst eine apollinische gegenüber; Karl Scheffler (Der 
Geist der Gotik) weist diese Polarität in der Baukunst nach: Kunst aus einem Über¬ 
schuß an Lust und Kunst aus großem Leiden. Eine gleiche Anschauung veranlaßt 
E. v. Sydow (Primitive Kunst, S. 161 ff.) zu einer Kritik der psychoanalytischen Kunst¬ 
philosophie, die nach ihm „auf einen Sondertypus des künstlerischen Menschen zu¬ 
geschnitten ist: auf den Romantiker, der in der Tat von schmerzlichen Sehn¬ 
süchten, schmerzlichem Entbehren angeregt ist“. Er findet denn auch, daß z. B. 
Griechentum und Klassizismus von ihr aus nicht erklärt werden können. 




















3o8 


Franz Löwitsch 


Architektur aller Zeiten der pränatalen Situation gewidmet sein muß. Viel¬ 
mehr muß folgerichtig — wenn man von feineren Nuancierungen absieht, 
zumindest — nach jeder cunnischen Reproduktion eine phallische kommen, 
eine Zeit, die die Ablösung von der Mutter bejaht. Wenn jemand das über¬ 
sieht und in jede Raumform eine cunnische Reproduktion hineinsehen 
will und dort, wo ihm das nicht gelingt, räumliches Empfinden vermißt, 
so scheint mir dies selbst als ein Fehlschluß unter dem Zwang solcher 
Phantasien. 

Und was nun speziell unsere Zeit anbelangt, so glaube ich, daß ihre 
Zeichen, die an jeder Straßenecke unzweideutig das moderne räumliche 
Empfinden verraten, auch die Tendenz andeuten. Die mütterlichen Sym¬ 
bole werden sadistisch zerstört, um sich die letzte Möglichkeit der Wieder¬ 
vereinigung mit ihr im Symbol zu nehmen. Die Tradition wird abgebrochen, 
wie Brücken, um den Rückzug zu verhindern. Die höhlenhafte Architek¬ 
tur der Vorzeit wird reizlos, das gemütliche Halbdunkel ekelhaft, Licht, 
Bewegung, Freiheit die Parole der Revolution. Tanz, Sport, Wanderlust, 
modernes Fellachentum treten als konkrete und symbolische Erfüllungen 
dieser Tendenz auf. Man vermeidet jede libidinöse Bindung, sei es in der 
Liebe, in der Ehe oder im Staat. 

Der Phallos wird formales Symbol . 1 Die Frau trägt ihn als Hutschmuck, 
Hutform, Nadelkopf, Schirmgriff, sie selbst trägt sich als Mann in Kleidung, 
Frisur und Gehaben. Die Versuche der Mode, im Stilkleid die „Hülle“, 
das cunnische, mütterliche Symbol wieder zu Ehren zu bringen, sind kläg¬ 
lich gescheitert. Ebenso, wie trotz aller finsteren Prophezeiungen die An¬ 
zahl der Pagenköpfe ständig zunimmt. Emanzipation, Vermännlichung der 
Frau in erotischer und sozialer Beziehung, besser aber Befreiung. Gleich¬ 
zeitig auch ein Streben, das Jugendliche, Kindliche zu betonen. Denn der 
Bubikopf ist mehr noch ein kindliches als männliches Symbol. Körperkultur: 
man will jung bleiben. 

Sport, Spiel, Tanz, Auswirkungen eines starken Betätigungsdranges, gleich¬ 
zeitig wieder mit den infantilen Zügen einer spielerischen, absoluten Be¬ 
wegungslust, infantil wie die Ungeniertheit, Schamlosigkeit. Nacktkultur 
im Bade und Theater. 


1) Diesem Phallos kommt aber nicht die Bedeutung zu, wie dem jener Zeiten, 
da er als Vatersymbol Ziel allgemeiner Verehrung war. Hoheit, Würde, patriarchales 
und heldenhaftes Pathos sind uns gleich widerlich wie die Sentimentalität mütter¬ 
lich bindender Liebe. Die Zeit sucht nach Ausdruck für Jugend, zeugungskräftige 
Bejahung und zerstört die Symbole des Vaters, ebenso wie die der Mutter. 















Raumempfmden und moderne Bautunst 



3og 


Der Drang des Tatenmenschen nach kraftgespannter Bewegung, der die 
Welt und ihre Kunst erfaßt hat, bis sie sich im Tanz das letzte Symbol 
schuf, erfaßt auch die Bühne. Die letzten Reformbestrebungen zielen dar¬ 
auf hin, die Bühne aus der Tiefe des Guckkastens unmittelbar vor oder 
mitten in die Menge der Zuschauer zu ziehen. Als plastische Raumbühne 
wird sie selbst wieder zum phallischen Symbol. Wir geben uns nicht zu¬ 
frieden, uns in einer VVolkenkuckuckskunst den Ersatz für ein erkranktes 
Leben zu holen. Der Blick ins vorgetäuschte Wunderland der Guckkasten¬ 
bühne, in eine ferne Märchenwelt, ins ersehnte Jenseits der Geburt genügt 
uns nicht. Wir ziehen dieses Wunderland in unser Leben mitten hinein, 
mit Gewalt will der moderne Tatenmensch die Wunder wirklich machen, 
den Traum ins Leben bannen, den Himmel auf Erden aufbauen. Unge¬ 
hemmt von Kulissen und Vorhängen wird sich auf dieser Bühne eine 
neue Bewegung, ein neuer Stil entfalten. Die barocke Guckkastenbühne 
diktierte durch die Zielrichtung der Ferne Blick, Gang und Spiel des 
Schauspielers: von hinten nach vorne und wieder zurück. Die Raumbühne 
gibt ihn frei, indem sie ihn zwingt zur uneingeschränkten Dreidimensionalität 
seiner Bewegungen. 

Was die Wissenschaft getan hat, haben wir erwähnt: sie hat die Mauern 
der Welthöhle eingerissen und uns gelehrt, den unendlichen Raum zu 
denken, ausgefüllt von Kraft, Bewegung, Energie. Sie hat die Materie ent- 
materialisiert, die Atome zerstört und durch Jonen und Elektronen und 
zuletzt durch Bewegungsquanten ersetzt. An die Stelle des Begriffes der 
Zahl ist der der Funktion getreten. 

Solcherart mehren sich die Symbole — trotz aller Reaktion. Ausgespien 
aus dem Höllenschlund der Gotik tut die Welt den ersten krampflösenden 
Atemzug, wacht auf wie ein Kind zum lustvollen Bewußtsein seiner selbst, 
strampelt und reckt die Glieder zum Tanz. Für das gemütliche Halbdunkel 
mauerumschlossener Höhlen, für die Idylle, im Geburtswasser zu plätschern, 
hat kein Tauenziengirl, aber auch kein richtiger Sportsmann etwas übrig. 
Selbst Venus hat ihre Tätigkeit vom Venusberg heraus ans Wasser, auf 
Berge und Wiesen verlegt. Darf man sich wundern, daß die Welt einen 
Architekten mit seinem Raumempfinden allein läßt, solange er noch immer 
in intrauterinen Phantasien schwelgt? 

Vereinzelt aber zeigen sich auch schon die Zeichen einer neuen Bau¬ 
kunst : Wolkenkratzer und Luftschiffe entstehen als phallische Symbole und 
Wegweiser zum Verständnis des dynamischen Raumes. Otto Wagner, 
Olbrich und die deutschen Warenhausarchitekten haben begonnen, die 

Imago XIV. 


21 













3io 


Franz Löwitscfi 


Mauern zu zerreißen, die Siedlungsbewegung zerreißt die Stadt, und indem 
die Architektur die Erbschaft der letzten Gotik übernimmt, entwickelt sie 
sich langsam — so paradox es noch klingen mag — zu einer raum¬ 
öffnenden Kunst! 

Diese Tendenz zum Raumöffnen zeigt sich auch im Wandel der ästhetischen 
Gesetze. 

Gottfried Semper bemühte sich in seinem Werke „Über den Stil in den 
tektonischen Künsten“ nachzuweisen, daß die ästhetischen Gesetze der Symme¬ 
trie und Proportion sich direkt aus Naturgesetzen ableiten lassen. Wenn 
wir Tropfen, Kristalle, Blätter, Blüten symmetrisch und in einfachen Verhält¬ 
nissen aufgebaut finden, so liegt dies daran, daß ein in sich abgeschlossenes 
Individuum nur dadurch zu einem solchen wird, indem es, d.en Gesetzen des 
Gleichgewichtes zwischen seinen inneren, aufbauenden, zusammenhaltenden 
Kräften einerseits und den von außen angreifenden Einflüssen anderseits folgend, 
eben eine symmetrisch, einfach proportionierte Form annimmt. Symmetrie 
wird so zur Folgerung aus mathematisch-physikalischen Beziehungen. Darum 
zeigt auch jedes vollständig in sich abgeschlossenes künstlerische Gebilde Symme¬ 
trie und Proportion. Dadurch wird die Säule, der ganze griechische Tempel, 
jeder Denkstein, aber auch jede künstlerisch ausgestaltete Höhlung wie irgendein 
römischer, romanischer oder barocker Innenraum zum selbständigen Individuum, 
daraus fließt seine künstlerische Einheit. 

Das muß alles zugegeben werden. Es ist aber damit noch nicht bewiesen, 
daß alle Kunst solchen Gesetzen untertan sein muß. Vielmehr folgt: daß Antike, 
romanische und barocke Kunst ihre Werke so bildeten, weil sie sie zu selb¬ 
ständigen, in sich geschlossenen Individuen ausbilden wollten: weil ihnen der 
geschlossene Körper, die geschlossene Höhle ein ästhetisches Bedürfnis waren. 
Aber schon die Gotik rüttelt an diesen Gesetzen. Und noch mehr tut dies 
die moderne Kunst. Die Umkehrung des obigen Satzes erklärt dies: wenn eine 
Kunst sich ablöst von den Gesetzen der Symmetrie und Proportion, so folgt, 
daß sie eben nicht mehr die geschlossene Körperlichkeit, die abgeschlossene 
höhlenhafte Form will. 

Heute erleben wir, daß die moderne Baukunst die Symmetrie gewaltsam 
unterdrückt; als Ausrede wird auf der einen Seite eine romantisch-expres¬ 
sionistische Ästhetik vorgeschoben, auf anderer Seite eine sachlich-utilitaristische 
Motivierung. In beiden Fällen werden dieselben Vorstellungsgruppen determi¬ 
nierend, nur dürfte ihre Gefühlsbetonung verschieden sein, auf welchen Unter¬ 
schied hier nicht weiter eingegangen werden soll. Die Säule als in sich ge¬ 
schlossene Einheit wird immer weniger, im Eisen- und Eisenbetonbau gar 
nicht mehr verwendet. Hier fehlt dem Begriff von Säule und Träger als ab¬ 
geschlossenes Individuum jeder Sinn. So unterscheiden sich die fließenden 
Konstruktionen dieser Techniken wesentlich von den geradezu kristallisch 
geschlossenen Körpern antiker Baukunst. Die komplizierten Proportionen moderner 
Verkehrsanlagen formen alle neuzeitliche Architektur. Weiter: Symmetrie be¬ 
deutet Gleichgewicht, also Ruhe. Unsymmetrie bringt Bewegung in ein Bild, 












Raumempfinden und moderne Baukunst 


3ll 


weil selbst bedingt durch den Mangel an Gleichgewicht. Die Barocke setzte an 
das Ende einer Allee z. B. einen Zielpunkt, der genau in der Symmetrieachse 
lag. Dadurc gi t sie der durch die Allee vermittelten Bewegungsvorstellung 
einen Ruhepunkt. Der moderne Städtebau vermeidet dies. Er setzt Türme 
u. dgl. nicht in die Achse einer Straße, sondern daneben, setzt ihn nicht als 
Ziel, sondern als fluchtige Station, an der der Blick vorbeigleitet, die Autos 
vorbeirasen. Man vergegenwärtige sich das Bild einer Eisenbetonbahnsteighalle 
(etwa mit nur einem Stiele). Hier verlangt es einige Mühe zu entscheiden, wo 
ein Innen — das Kennzeichen geschlossener höhlenhafter Dinge — oder ein 
Außen — Kennzeichen körperlicher Dinge — ist. An die Stelle von Körper 
und Hohle tritt eine andere Raumvorstellung: die Struktur, die nichts gemein 
hat mit Symmetrie und einfacher Proportion, die sich nicht in' einem Augen¬ 
blick, mit einem Blick erfassen läßt, wie etwa ein griechischer Tempel, sich 
nicht, selbst ruhend, dem ruhenden Beschauer zur Gänze darbietet sondern 
geboren aus dem Drange nach Bewegung, selbst wieder nur durch Bewegung’ 
auf dem Umwege starker mnemischer Bewegungsempfindungen angeschaut, ver- 
standen und genossen werden kann. 

Es wiederhoh sich in der Raumkunst dasselbe wie in der Raumwissenschaft, 
der Physik; die als Quantentheorie den Begriff materieller Körperlichkeit und 
als Astronomie seit Kopernikus bis Einstein die ptolemäische Welthöhle zer- 
trümmerte. 

Ein gleiches Symbol beherrscht die moderne Malerei, die noch nicht genug 
hatte, durch den Impressionismus aus dem Dunkel des Zimmers in die Frei¬ 
heit des Lichts geführt zu werden. Nachdem dieser die Höhle zerstörte, ging 
der Expressionismus daran, das Festgefügte körperlicher Dinghaftigkeit, die ge- 
schlossene Form in jeder Hinsicht zu zerreißen. 

Dasselbe tut die moderne Musik, indem sie die klassischen Formgesetze ver¬ 
achtet und damit alles das, was dort im Aufbau des Taktes, der Melodie, des 

Themas, Satzes die damals künstlerische Einheit als Symbol der Geschlossen- 

heit ausmachte. 

Dasselbe tut das moderne Drama, das, Einheit von Zeit und Ort ablehnend, 
die Welt uns als kaleidoskopisches Spiel zeigt, immer in Bewegung, immer in 
Fluß, ziel- und endlos, und in diesem Fluß selbst die leitende, bettende Bahn, 
das stetige Geleise zurücksetzt gegenüber einer sprunghaften Veränderlichkeit! 

m ein Mißverständnis zu vermeiden: obige Kennzeichen sollen keines¬ 
wegs die Symbolik moderner Kunst erschöpfen. Sie zeigen nur die Stellen, 

m denen sich das moderne Raumempfinden symbolisch darstellt und wo sie 

daher Verwandtschaft zeigen mit moderner Baukunst. 

Aus allen diesen Symbolen würde sich für das moderne Raumempfinden 
ungefähr folgende Konstitution ergeben: 

i) Es wird beherrscht durch die energetische Raumvorstellung insofern, 
als der abstrakte Raum wie jede konkrete Raumform vor allem durch die 
Vorstellung der in ihm möglichen, sie ausfüllenden Bewegungen, Kräfte, 
Energien, Qualitäten, Funktionen verstanden wird. 


21* 












3 ia Franz Löwitsch 


2) Mengen sich dinghaft-phallische Vorstellungen ein, insofern sie Symbol 
sind für eine Lebensbejahung im Sinne der früheren Phalloszeugungskulte, 
weiter Symbol für die als männlich anerkannte Qualität der Aktivität, des 
Tatendranges; schließlich Symbol für Freiheit, für eine progressive Tendenz, 
die die Regression endgültig überwunden hat, ohne einen ambivalenten Rest 
zu hinterlassen. 

ß) Daher haben cunnische Symbole ihre magische Kraft verloren. Die 
umhüllende Form wird nur dort angewandt, wo sie auch wirklich zweck¬ 
mäßig ist, also Schutz gegen wirkliche Feinde, schädliche Einflüsse von 
außen bietet. Außer es ist die Ambivalenz des ding- und höhlenhaften Raum¬ 
empfindens nicht überwunden, das energetische noch unrein, dann wird sich 
noch ein Tabu auf hüllende Formen legen und die phallische wird bevorzugt 
werden, selbst dann, wenn die erstere zweckmäßiger wäre . 1 

4) Ist es noch gekennzeichnet durch Reiträge aus dem zellenhaften Raum¬ 
erlebnis, insofern diese die infantil-narzißtische Sensationslust befriedigen, 
die der Zeit als einer Kindheit anhaften. (Starke Effekte, lebhafte Mode¬ 
farben, Feuerwerk.) 

Die Verlegung der psychischen Valenz auf die Musik bedeutete also nichts 
anderes als eine stärkere Affektbetonung der mnemischen und somit auch 
originalen Bewegungsempfindungen, wodurch seit der Barocke die Be¬ 
deutung der Musik, in neuerer Zeit die des Tanzes ermöglicht wurde. Also auch 
jener räumlichen Vorstellungselemente aus den Erlebnissen des energetischen 
Raumes, die das moderne dynamische Raumempfinden bedingen. Aus dem 
Streben des faustischen Menschen, aus der Sehnsucht der Barocke entstammt 
die Bewegung, die den modernen Menschen erfaßt und die er in seine Um¬ 
welt hineindeutet . 2 

* 


1) Die moderne Einstellung zu Phallos und Vulva ist „sachlich“, weil die Kom¬ 
plexe, die ihre Überbetonung verursachen, im Abbau begriffen sind. 

2 ) E. v. Sydow stellt fest, daß die Musik von der Psychoanalyse bisher übergangen 
worden ist. Körper und Höhle, Phallos und Mutterleib haben in der Musik keine 
Entsprechungen, deshalb kann eine Deutung der Musik nicht gelingen, solange man 
in ihr nach diesen Dingen sucht. Erst der Geist konnte Musik machen, der nicht 
mehr bestrebt war, diese Symbole zu gestalten, sondern vielmehr, sich von hemmenden 
Phantasien zu befreien. Diese Befreiung ist die Musik, antizipiertes Symbol des ener¬ 
getischen Raumes, sie leitet sein Kommen ein. 

Eine Welt, in der alles Tastbare, plastisch Gebildete und Gebaute wertlos wird. 
Erst heute erleben wir, wie die moderne Lichtarchitektur und Lichtmalerei den Weg 
findet zur visuellen Gestaltung dieser Welt. 

















Raumempfmden un d moderne Baukunst 


3i3 


Eine restlose Aufklärung über die psychischen Determinanten des räum¬ 
lichen Empfindens konnte ich natürlich hier nicht geben. Ich füge ihr noch 
einiges .hinzu, aber mit dem Vorbehalt, daß ich dafür nicht eintrete, viel¬ 
mehr eine gründliche Analyse dem Psychologen von Fach überlasse. 

Dem Erlebnis im zellenhaften Raume der Sensationen mag ein unge¬ 
trübter Narzißmus entsprechen (Hermaphrodysie,Autoerotismen). In körperlich- 
phallischen Form Vorstellungen wird ohne Zweifel dem Vater, in cunnisch- 
höhlenhaften Raumvorstellungen der Mutter ein Symbol gesetzt. Das erhellt 
aus den Feststellungen, die wir Prof. Freud verdanken: daß das Kind lange 
Zeit an die Eltern libidinös gebunden ist, und zwar entweder positiv an 
den Vater oder an die Mutter oder negativ (ambivalent) an Vater oder Mutter; 
weiter, daß den meisten iMenschen die zum sogenannten normalen Sexual¬ 
leben notwendige Ablösung der Libido von Vater oder Mutter nicht oder 
nur teilweise gelingt, worauf als auf einem Fundament sich die Perver¬ 
sionen, Neurosen ergeben und als deren Sublimationen die künstlerischen 
Leistungen. Wir dürfen also in Manifestationen phallisch-dinghaften Raum- 
empfindens die Existenz einer Fixierung an den Vater, und in höhlen¬ 
haften einer solchen an die Mutter annehmen. Weitere Verschiedenheiten 
werden dann wohl noch durch die Art dieser Einstellung bedingt sein, also 
ob sie positiv oder ambivalent ist, weiter durch eventuelle Kombinations¬ 
formen dieser Einstellungen und schließlich durch die Verschiedenheiten, 
die das sonstige erotische Leben einer Zeit an sich trägt. (Der Grieche 
flüchtete sich aus dem Ödipuskomplex in die Homosexualität; als räum¬ 
liche Übersetzung mag das die Vielheit der dinghaften Gebilde ergeben, 
wie Säulen, Tempel, die ebenso gleichwertig nebeneinander stehen wie die 
Männer im geeinten Brüderclan, wie die Einheiten der Polis. Der Araber 
flüchtet sich in die Vielweiberei; in Allah, dem absoluten Herrscher, bleibt 
der Patriarch erhalten, der ihm diese erlaubt; im zentralistischen System 
der Moscheen ist ihm ein Symbol gesetzt. Der Römer sublimiert in der 
Verehrung der Mutter, schafft ihr ein Symbol im Demeterkult und bejaht 
diese Gebundenheit naiv in seiner prächtigen höhlenhaften Architektur. In 
der Gotik ist die Einstellung sowohl zum Vater als auch zur Mutter 
ambivalent; die Symbole beider werden mit entgegengesetzter Ornamentik 
überwuchert, die Mauer durch das Fenster, dieses durch das Maßwerk, 
der Pfeiler und der Turm durch gehöhlte Krabben und Sterne zerstört, 
alles Dinge, die der einen wie der andern Form und darum ihrer Symbolik 
zuwider laufen.) 

Eine solche Anschauung schließt aber nicht aus, fordert vielmehr, auch 









3 i4 Frans Löwitsck 

anzunehmen, daß in anderen Fällen die Ablösung der Libido vom Vater 
als auch von der Mutter restlos gelingt. Weiter: Wie für manche Zeiten 
diese Fixierung typisch ist, so müssen andere denkbar sein, in denen eine 
durch elterliche Bindung nicht beschwerte Veranlagung den Menschen kenn- 
zeichnet. Hier wird die Kunst von der früheren verschieden sein müssen: 
in ihr kann das Dinghafte wie das Höhlenhafte als Symbol von Vater und 
Mutter keine bedeutungsvolle Rolle spielen. Es scheint mir, daß wir uns 
einer solchen Zeit nähern. Vielleicht können Erzieher beobachten, daß die 
Fälle häufiger werden, in denen Kinder zu beiden Eltern ziemlich leidenschafts¬ 
los eingestellt sind. Ihr Verhältnis zu ihnen ist eine Art „vernünftiges“, das 
durch Widerwillen und Ablehnung dadurch gestört werden kann, wenn die 
Eltern oder andere Personen, die als Elternersatz gelten können, sich dem 
Kinde mit Liebkosungsabsichten nähern. In solchen Fällen fehlt das Fun¬ 
dament, auf dem sich später gerne die starke libidinöse Bindung in der 
Liebe wie in der Ehe, alle Sentimentalität und weiter die Regressionen und 
ihre sozialen, künstlerischen und neurotischen Symbole aufbauen. 

So ließe sich die moderne Konstitution, allerdings nur negativ, kenn¬ 
zeichnen. Positiv etwa folgendermaßen: Bei Kindern, die sich wie oben ge¬ 
schildert verhalten, wird man annehmen, daß alle Liebe in das eigene Ich 
zurückgekehrt ist, um hier auf seine spätere Bestimmung zu warten. Die 
folgende Übertragung geht dann nicht den Weg über die Vater- und Mutter¬ 
symbole, sondern unmittelbar vom Ich aus als Identifikation. Eine andere 
Entwicklung können wir uns vorläufig nicht denken. Es hat also den An¬ 
schein, als ob die moderne Konstitution, die zum energetischen Raum¬ 
empfinden führt, vorwiegend narzißtisch gerichtet ist. Das wird sogar plau¬ 
sibel, wenn man sich die verschiedenen Manifestationen dieser Einstellung 
in der Jetztzeit vergegenwärtigt: der Egoismus, der in jeder Art des Lebens, 
in Politik und wirtschaftlicher Praxis, in Kunst und Philosophie zu einem 
ausgeprägten, leidenschaftlich verteidigten Individualismus führte, (gewiß 
ein nicht zu unterschätzender Untergrund der Revolutionen, sowohl der 
roten wie der faschistischen) zu seinen künstlerischen Übertreibungen im Ex¬ 
pressionismus und Futurismus und zu den so modernen krankhaften Formen 
der schizophrenen Konstitution. Ihr verdankt wohl auch der Tanz zum Teil 
seine heutige Bedeutung, Höhe und Beliebtheit . 1 


1) Die narzißtische Einstellung erklärt die Anziehungskraft der Kunst der Primi¬ 
tiven auf uns und ihren Einfluß auf unsere Kunst. Die Verquickung mit phallischen 
Formen weist aber darauf hin, daß die bewegenden Triebe eher in der Pro- als in 
der Regression zu suchen sind. 














RaumempfinJen und moderne Baukunst 3i5 


Dem Narzißmus entspricht aber das Raumerlebnis der Zelle, eine Summe 
räumlicher Empfindungen, die gewiß nicht identisch sind mit denjenigen, 
die den Raum energetisch interpretieren. Dieser moderne Narzißmus und 
seine Reproduktionen müssen also verschieden sein von dem der Zelle. Und 
zwar schon deshalb, weil der eine, den man etwa als den primären be¬ 
zeichnen könnte, sich auf dem noch unbeschriebenen Blatt der Seele ent¬ 
wickelt, während der andere sich auf dem Fundament der aufbewahrten 
Engramme aus den körperlich-höhlenhaften Erlebnissen aufbaut, das phal- 
lische und cunnische Raumempfinden zur Voraussetzung hat und dieses 
also hier im energetischen Raumempfinden homophon zum Mitklingen 
erregt wird, indes die Reproduktionen des zellenhaften Raumempfindens, 
die etwa im Schlaf oder im Wahnsinn auftreten, gerade von solchen Emp¬ 
findungselementen, die dem Raum Tiefe und dem Körper Wirklichkeit geben, 
sich lostrennen. 

Dieser sekundäre Narzißmus wäre also gleichsam ein Narzißmus auf 
höherer Entwicklungsstufe. Daß das ihm entsprechende energetische Raum¬ 
empfinden dem ding-höhlenhaften überbaut ist, zeigt sich unter anderem 
in seinen philosophischen Äußerungen. Die Zelle mag Ich und Umwelt 
als eins empfinden, sie erlebt in ihren Sensationen sich zugleich und 
identisch mit der Umwelt. Sie zieht aus diesen Sensationen nicht den 
Schluß auf eine verursachende Außenwelt. In unseren pantheistisch ge¬ 
färbten Weltanschauungen benehmen wir uns aber ähnlich: wir identifizieren 
uns mit der Welt, Ich und Welt, Ich und Gott sind eins. Wir tun dies, 
trotzdem wir den Schluß auf eine außer uns existierende Welt gezogen 
haben, oder wie Hegel, indem wir im an und für sich seienden Wissen 
den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt aufheben. Wir empfinden 
die Welt als ein Stück von uns, oder besser, uns als ein Stück der Welt, 
des absoluten Geistes . 1 

Und das ist der Unterschied: Der Primitive, in dem der primäre Narzißmus 
noch wirksam ist und damit das zellenhafte Raumempfinden, erfaßt die Natur 


1) Der Wechsel der Einstellung spiegelt sich wider in der Entwicklung des dramati¬ 
schen Erlebens: das Drama der Primitiven (Dionysoskult) ist ekstatischer Tanz; im 
Rauschzustand, in den eigenen Zustandsänderungen wird es erlebt. Durch Regression 
in den Raum der Sensationen gelingt offenbar die Identifikation der Bacchanten mit 
der Gottheit, die Aufhebung der Schranken zwischen Spieler und Zuschauer; beide 
sind eins. Wie unter dem Einfluß des ding- und höhlenhaften Raumempfindens die 
Welt sich spaltet in Subjekt und Objekt, so teilt sich später auch das Drama in 
Handlung und Miterleben, getragen von Schauspielern und Publikum. Das moderne 
Gemeinschaftstheater will diese Trennung wieder aufheben, durch Zerstörung der 











3 i 6 Franz Löwitsck 


auf dem Wege der Identifikation, indem er sie personifiziert, d. h. in sie 
dieselbe Wesenheit hineinprojiziert, die er in sich erkannt hat. Die moderne 
Naturanschauung ist wieder eine Identifikation, aber sie geht den entgegen¬ 
gesetzten Weg. Dem sekundären Narzißmus folgend, projizieren wir die Wesen¬ 
heit, die wir, in der Anwendung der ding- und höhlenhaften Raumkonzeption 
in der Natur, im Geiste erkannt zu haben glauben, in uns hinein. Der 
Primitive „personifiziert“ die Natur, wir „naturalisieren“ gleichsam den Men¬ 
schen. Es ist gleichgültig, ob man dies materialistisch oder geisteswissen¬ 
schaftlich, phänomenologisch nennt. 


* 

Die Übersetzung dieser psychoanalytisch gegebenen Konstitution in die 
Sprache der Baukunst kann vollkommen nur durch das Kunstwerk selbst 
gelingen. Dies zur Entschuldigung der Unzulänglichkeit der nachfolgenden 
Worte, durch die versucht werden soll, die Bauform zu beschreiben, in der 
sich das moderne Raumempfinden darstellen könnte. 

Mehr als früher ist das, was der Architekt bildet, nicht Stein, Holz und 
Eisen, sondern die Tätigkeit des Menschen, für den er baut. Indem er 
seinen Raum formt, schreibt er ihm die darin möglichen Bewegungen vor, 
formt er sein Leben. Nur durch das Leben, das ein Bau ermöglicht, 
kann er im Sinne des modernen Raumempfindens verstanden und ent¬ 
worfen werden. Die künstlerische Tätigkeit besteht heute darin, dieses 
Leben zu erschauen und es in Bahnen und Rhythmen zu fassen, die mit 
dem Willen unserer Zeit harmonisch zusammenklingen. Der Künstler ent¬ 
wirft die Bewegungen, die seinem Bauwerk Leben geben, wie etwa Mary 
Wigman ihre Tanzkompositionen, nur mit dem Unterschiede, daß sie nicht 
von ihm selbst, sondern von den zukünftigen Bewohnern ausgeführt werden, 
indem er sie zu diesen Bewegungen zwingt. (Eine Art autoplastische Re¬ 
aktion auf dem Umwege über die Identifikation des Künstlers mit dem Bau¬ 
herrn.) So wird dann die Zweckform zu einer Art Verkehrsanlage, mit Gleisen, 
Bahnen, Straßen, die stetig von einer Tätigkeit in die andere hinüberführen, 
die Räume untereinander und mit der Umgebung ohne Bruchpunkte verbinden. 

Ähnlich erdenkt er die Bewegungen von Licht, Wärme, Wasser und 
sonstiger das Bauwerk belebender Kräfte und formt ihre Bahnen zu Licht-, 

Rampe und des Vorhanges den Kontakt zwischen Bühne und Zuschauer hersteilen, 
das „Monodrama“ wieder verwirklichen. Im Gegensatz zum Urdrama erfolgt die 
Ekstase nicht spontan von innen heraus (durch den Genuß des Rauschmittels), sondern 
bleibt gebunden an ein äußeres Geschehen. 


















Raum empfinden und moderne Baukunst 


3l Z 


Wasser- und Kraftleitungen, Kanälen, Ventilationen, Heizungen, Telephon, 
Stiegen, Aufzügen, die in einem modernen Bauwerk nicht nur bedeutungs¬ 
volle Zutaten sind, sondern sein Wesen ausmachen. Das drückt sich schon 
in den Kosten dieser Anlagen aus, die die des übrigen Baues zumeist weit 
überschreiten. Sie verdienen daher einen stärkeren sichtbaren Ausdruck, als 
man ihnen gewöhnlich gibt. Das moderne Haus ist Maschine, beweglich, 
Arbeit leistend; daß sie richtig funktioniert, ist die Hauptsache. 

Schließlich sind Thema der Baukunst die übrigen anorganischen Kräfte, 
die an und in dem Bau wirken, das sind die von außen kommenden Lasten, 
Schnee, Wind und Wbtter, und die ihnen vom IVlaterial entgegengesetzten Wider¬ 
stände, Festigkeit, Elastizität der Konstruktion. Diese fängt die von außen 
kommenden Kräfte auf und leitet sie als Spannungen, elastische Bewegungen 
reibungslos zur Erde. Wieder sind diese Bewegungen in Form, Tempo und 
Rhythmus zu erfassen und in die durch die Konstruktion verkörperten Bahnen 
zu leiten, wodurch diese zu ihrem sichtbaren Ausdruck wird. 

So entsteht als neues Element des Raumes, der Konstruktion und des 
Organisationssystems die Straße, die Bahn, der Schlauch mit dem Kenn¬ 
zeichen der Kontinuität, des stetigen Verbindens, Überganges von verschiedenen 
Bewegungsarten. In der Antike ist die Säule ein Ding, der Balken ein zweites 
und das Gesimse ein drittes Ding, jedes selbständig und für sich verwend¬ 
bar. Darum konnte man sie in verschiedenen Stilarten kombinieren, konnte 
sie einzeln auch weglassen. In der Gotik werden Bündelpfeiler und Kreuz¬ 
rippe zu einer Einheit, besonders in der Hochgotik, wo die letzten tren¬ 
nenden Kapitelle verschwinden, und darum zum Ausdruck einer kontinuier¬ 
lichen Kraftlinie, die am Schlußstein beginnt und am Pfeilerfuß endet. Am 
stärksten wird dieses Kennzeichen der Kontinuität beim modernen Eisenbeton¬ 
hallenbau, wo man nicht mehr weiß, wo die Säule aufhört und der Träger 
beginnt, wo beide Begriffe keinen Sinn mehr haben, so daß an ihre Stelle 
der des Rahmens treten mußte. Gänge, Stiegen, Kran- und Rollbahnen, Kabel¬ 
schächte, Leitungskanäle, Aufzüge verbinden in horizontaler und vertikaler 
Richtung die Räume zu einer Einheit, zerreißen ihre Geschlossenheit und 
durchlöchern, zerstören die Massivität des Baues. Jeder einzelne Raum wie 
ihre Gesamtheit bekommt durch sie Struktur. Die Häuser werden durch 
Straße, Bahn und Auto zu einer höheren Einheit verbunden, zur Stadt, 
diese selbst löst sich im Siedlungsgelände auf zum offenen Land und die 
Bahnhöfe verbinden sie mit dem Reich. 

Die Funktion des Raumes, die verbindende Bewegung öffnet ihn. Licht 
und Luft dürfen ungehindert hinein. Das Glas- oder Lusthaus wird zum — 












3i8 


Franz Löwitsdi 


wenn auch utopistischen — Ideal. Die Räume selbst müssen nicht groß 
sein. Ihre übertriebene Größe gehört zum höhlenhaften Raumempfinden 
insofern dieses es sich in einem möglichst großen Raum bequem machen 
will. Wie im Siedlungshaus dürfen die Räume klein sein, weil die ganze 
Welt eindringt und zum Haus gehört durch die weiten Fenster, die gemein¬ 
samen Anlagen, durch Telephon und Radio. 

Man erkennt heute immer mehr, daß in der abgrenzenden, wehrenden 
Wand das Material nicht ausgenützt wird. Die neuesten Bestrebungen zielen 
dahin, die Mauern den Zellmembranen, Tier- und Pflanzenhäuten gleich¬ 
zubilden, die die von außen wirkenden Energien der Wärme, des Lichtes 
der Elektrizität, Feuchtigkeit usw. nicht abweisen, sondern in nutzbringende 
Form transformieren und so in das Innere des Körpers weiterleiten. Auch 
in den konstruktiven Gliedern wird der Hauptwert auf ihre Leitungsfähig¬ 
keit gelegt. Sie leiten Kräfte, Bewegungen und sind selbst bewegt, sind nicht 
„starr“, sondern leisten „Arbeit“. Die veränderte moderne Psyche determiniert 
eine neue Zweckmäßigkeit; die neuen Bedürfnisse geben dem Raum neuen 
Sinn und neue Gestalt. Das Haus ist nicht mehr Stütze und Hülle, sondern 
Maschine, Transformator zwischen Kosmos und Mensch. 

Ein letzter Rest von Regression lebt sich in cunnischer Gestaltung in 
Cafes, Konditoreien, Bars aus. Dort mag sie am Platze sein, weil man dort 
noch in „Stimmung“ macht. Es gibt aber bereits auch Menschen, die diese 
in hell erleuchteten Räumen finden. Dem modernen Raumempfinden wider¬ 
spricht es noch nicht, wenn z. B. die Fenster eines Stiegenhauses, die in 
einen häßlich verbauten Lichthof notwendig führen, durch Kunstverglasungen 
symbolisch geschlossen werden, weil diese schließlich noch immer angenehmer 
sein werden als die Unordnung regelloser und verwahrloster Feuermauern. 
Dagegen widerspricht es unserem Empfinden, wenn etwa die großen Fenster 
eines Warenhauses, anstatt mit geschliffenen Spiegelscheiben versehen, durch 
zahlreiche Fenstersprossen geteilt werden, durch die der Ausdruck der „Ge¬ 
schlossenheit“ erreicht werden soll. Von außen mag sich ja dieses Ornament 
ganz nett ansehen, von innen aber zerreißt und stört es den Ausblick und 
seine Zwecklosigkeit wird sichtbar. Vollends entgegengesetzt aber ist es, in 
einem Landhaus sich die Fernsicht auf eine jedenfalls ganz und gar nicht 
feindliche Landschaft durch bunte Fenster oder gar Butzenscheiben wegzu¬ 
nehmen. Oder sollten gemalte Blumen schöner sein als wirkliche? 

In Wien baut man die Wartehäuschen der Straßenbahn aus geschliffe¬ 
nem Spiegelglas, zwischen drei Zentimeter starken Eisenrahmen montiert. 
In Deutschland macht man aus ihnen mittels vierzig Zentimeter starken 














Raumempfinden und moderne Baukunst 


319 

Mauern, mittels Kuppeln, Mansarddächern und Türmen Mausoleen. Ich 
konnte in Berlin eine Zeitlang die öffentlichen Bedürfnisanstalten nie finden, 
weil ich sie in den prunkvollen Festungsbauten nicht vermutete. 

Aus hysterischer Überbetonung der Progression entstehen die Utopien und 
phallischen Symbole. Die letzteren entsprechen dem modernen Raumemp¬ 
finden, wenn sie gleichzeitig Ausdruck einer starken Bewegung werden. Der 
antike Phallos der Säule ist starr, ruhig. Der gotische Turm deutet eine 
Bewegung an, aber noch symbolisch, indem sie das seinen Linienzug ver¬ 
folgende Auge empfindet. Im Wolkenkratzer aber erlebt man sie konkret. 
(Aufzüge.) „Nur Symbole sind sie in allen jenen Rathaustürmen, die sonst 
keinen Sinn haben. 

Im neunzehnten Jahrhundert machte es der stärker werdende Verkehr 
nötig, die Festungsmauern, die die Stadtzentren umgaben, niederzureißen. In 
Wien wurden sie durch die die Innere Stadt restlos öffnende Ringstraße ersetzt. 
In den meisten Städten Deutschlands ließ man ihre bedeutungsvolleren Tor¬ 
bauten stehen. Nicht genug, man baute noch neue hinzu. So trifft man 
hier oft am Zentrumsausgange einer größeren Straße mitten in einen freien 
Platz hineingestellt einen Torbau, halb Mausoleum, halb phallischer Turm, 
halb Triumphbogen, jedenfalls aber mit einer oder mehreren Toröffnungen, 
wegen des so reizenden „Durchblickes“. Infantile Neugierde haben sie hin¬ 
gestellt, Sieg, Ehrfurcht vor dem Alter und Titusbögen mußten die Aus¬ 
rede abgeben. Der Effekt ist nun der, daß Fußgänger, Autos und Straßen¬ 
bahn um das Tor herum passieren müssen, der Verkehr staut sich und die 
Stadtverwaltungen zerbrechen sich den Kopf über Unter- und Überführungen. 
„Um ein Tor herumfahren!“ Beim Aussprechen dieses Satzes sträuben sich 
die Haare. Wer diesen Gedanken dreimal denken kann, ohne sein modernes 
Raumempfinden zu entdecken, dem ist nicht zu helfen. 

Es wird zum Kennzeichen des vollendeten energetischen Denkens, daß es, 
weil es die ding- und höhlenhaften Daseinsstufen überwunden hat, sich auf 
keine dieser Formen kapriziert, also nicht phallische Formen anwendet, wenn 
andere zweckmäßiger wären. Die Tendenz nach Freiheit verdichtet sich in 
der reinen Zweckform, ohne sie zu vergewaltigen. Ein Haus zu bauen, in 
dem man friert, ist ebenso sinnwidrig, wie ein solches, in dem man erstickt. 
Das eine wie das andere entsteht, wenn das ding- beziehungsweise höhlen¬ 
hafte Denken neurotisch überbetont ist; wenn beide Arten als Gegensätze 
empfunden werden, was sie objektiv nicht sind, sondern eben erst durch 
die aus einer Verschiebung geholte Affektbesetzung werden. In der Mode 
wie in der Baukunst sind die Bedürfnisse nach Um- und Enthüllung nicht 








3ao 


Franz Löwitsdi 


unvereinbare Gegensätze, sondern Funktionen, die in bestimmtem Maße zu 
erfüllen sind, und von denen die eine die andere fordert. Eine noch nicht über¬ 
wundene Neurose schwankt zwischen beiden Extremen, ohne das dritte, die 
Erfüllung im energetischen Raum zu finden. 

Eine Schwierigkeit ergibt sich ja allerdings dadurch, daß sich die Um¬ 
gebung eines Hauses, unseres Daseins fortwährend ändert, so daß einmal 
eine starke Abgrenzung, ein andermal eine Öffnung gegen diese erwünscht 
sein kann. Es wird notwendig, das Fenster schließen, weiter oder enger 
öffnen zu können; im Sommer wäre bei einem Landhause es manch¬ 
mal vielleicht am besten, wenn man die Wände ganz zum Verschwinden 
bringen könnte. Aus diesen Forderungen holt sich das moderne Raum¬ 
empfinden einen neuen Reitrag zu seiner das Haus durch Bewegung als 
Maschine denkenden Konzeption. Schubfenster und Türen, Rollbalken, Jalu- 
sien, Vorhänge, schließlich bewegliche Wände und Decken sind heute keine 
Phantasien mehr. 

Aus der narzißtisch infantilen Einstellung ist determiniert die Sucht nach 
starken Effekten in lebhaften leuchtenden Farben, nach Formen, die durch 
ungewohnte Bizarrerie stark wirken; keine Regression, sondern lebensvolle 
Bejahung der lustbringenden Sensationen im Riemannschen Raum. 

Aus derselben Quelle die primitive, leicht faßliche Form, der Kubismus 
in der Baukunst, die Tendenz, das komplizierte durch einfachste Mittel zu 
lösen. 

Nicht zuletzt eine gewisse spielerische Flüchtigkeit, ein Bauen mit Pappe 
und Stuck, weil das Tempo der Entwicklung zu schnell ist, als daß wir 
uns getrauen dürften, für die Ewigkeit zu bauen. 

In Heft ö von Wasmuths Monatsheften für Baukunst (Jahrgang 1925) 
schreibt Herr Adolf Behne in seinem Artikel über Architekturkritik den 
Satz: Moderne Baukunst kann nur von Menschen geschaffen werden, die 
vollkommen offen sind. Darunter setzt er die Zeichnung eines Tennis¬ 
spielers. Die Physiognomie dieses Bildes sagt vielleicht mehr, als es ein 
ganzes Buch vermag. Vorher stellt er fest, daß noch immer zuviel Archi¬ 
tekten Burgen und Festungen statt Wohn- und Nutzbauten entwerfen. Er 
erkennt darin die Manifestation eines kriegerischen Geistes. Die Psycho- 
analyse erklärt uns diese Erscheinung aus der Fixierung an pränatale Zeiten. 
Wir sind gewohnt, weiter zu fragen; warum sind diese Menschen derart an 
die Vergangenheit gebunden, daß sie nicht ja sagen können zur gegen¬ 
wärtigen Wirklichkeit, daß sie Angst haben vor Licht und Sonne und Luft, 
vor allen Dingen und Menschen, die sie umgeben, in denen sie nur ihre 




















r 



3ai 


Feinde sehen, vor denen sie sich schützen müssen. Woher kommt es, daß 
sich solche narzißtische Geister gekränkt und passiv zurückziehen, anstatt 
sich aktiv zu betätigen. Welche Leiden der Menschheit haben sie unfähig 
gemacht, die Freiheit zu genießen? Welche äußeren, sozialen und sittlichen 
Verhältnisse tragen Schuld an dem inneren Konflikt? Wäre es nicht besser, 
diese psychoanalytisch erkennbare Situation im Sinne der Freiheitstendenz 
umzugestalten, als sich mit symbolischen Spielereien zu befriedigen? 

Die Hoffnung, daß auch darauf die Psychoanalyse Antwort geben kann, 
der Glaube, daß aus ihrer Gegend die Erlösung kommt, die uns durch Selbst¬ 
erkenntnis zur Freiheit führt, ist ein Teil unserer Weltanschauung, speku¬ 
lative Umsetzung unseres Wollens und so also vielleicht selbst nichts anderes 
als ein Symbol unserer Zeit, nämlich der Ausdruck unseres Wunsches, uns 
von der hemmenden archaischen Erbschaft zu befreien, die Freiheit im ge¬ 
steigerten Bewußtsein, im restlos aufgesogenen Wissen vom Ich und der Welt 
zu erreichen. 













Bemerkungen zum dickt eriscken Ausdruck 
des modernen ^NTaturgefükls 

Von 

RickarJ 5terta 

W’^ien 

Müsset im Naturbetrachten 
Immer eins wie alles achten. 

Nichts ist drinnen , nichts ist draußen 
Denn was innen, das ist außen . 

So ergreifet ohne Säumnis 
Heilig öffentlich Geheimnis. 

Goethe: Epirrhema. 

Wenn hier unternommen werden soll, einiges über das Naturgefühl und 
seinen'Ausdruck zu sagen, so geschieht es in der Einsicht, daß dies nichts 
anderes als eine Ergänzung zu der Arbeit „Über Naturgefühl“ von Hanns 
Sachs 1 sein kann, in welcher der wesentliche Inhalt des Naturgefühls und 
sein Wandel von der Antike zur Moderne erschöpfend behandelt wurde. 
Der Titel dieser Arbeit kündet bereits an, in welcher Richtung diese Er¬ 
gänzung vorgenommen werden soll; wenn Goethe dabei in den Vorder¬ 
grund gerückt wird, so rechtfertigt sich dies vielleicht aus dem Interesse 
für die Persönlichkeit des großen Dichters und aus der Hoffnung, daß, was 
dem Naturempfinder xat’ s|oxnv zukomme, in mancher Richtung auch für 
viele andere typisch sei. 

Hanns Sachs hat klargelegt, daß das Naturgefühl der Stufe des Narzißmus 
entspricht und in seiner Personifikationstendenz einer Projektion des ver¬ 
drängten Narzißmus auf die Außenwelt gleichkomme. Der Unterschied 
zwischen dem modernen und dem antiken Naturgefühl bestehe darin, daß 


1) Diese Zeitschrift, Bd. I, 1912. 










Bemerkungen zum dickterisdien Ausdruck des modernen Natixrgefülil; 


3z3 


der moderne Mensch seine affektive Stellungnahme zur unbelebten Natur 
ausspreche, die Antike verschweige sie, die Antike werte das Objekt, nicht 
das Gefühl, die Moderne werte das Gefühl, das Objekt sei ihr indifferent. 
Das Merkmal des modernen Naturgefühls sei die Stimmung, diese aber 
sei die Objektivierung der Empfindungen. Dieser inhaltlichen Deutung 
werden wir kaum etwas zuzufügen haben, sie kann schlechthin als er¬ 
schöpfend bezeichnet werden. Wir haben es unternommen, uns einem for¬ 
malen Problem zuzuwenden und uns nach der Technik umzusehen, mittels 
deren das moderne Naturgefühl von einem gerade in dieser Richtung un¬ 
erreicht großen Dichter zum Ausdruck gebracht und so uns übermittelt wird. 

Aus der Fülle, die uns zur Untersuchung zu Gebote steht, wollen wir 
eine lyrische Strophe aus der Einleitung zum zweiten Teile des Faust heraus¬ 
greifen, nicht ganz willkürlich, sondern weil eine naturlyrische Episode am 
Beginn des zweiten Teiles des Faust vielleicht aus ihrer Stellung im Ablauf 
des dramatischen Geschehens der Dichtung an sich schon für uns einiges an 
Gedanken bringen oder bestätigen kann. 

Die Strophe stammt aus dem Chor, der dem Gesang des Ariel „Einzeln, 
zu zweien und vielen, abwechselnd und gesammelt“ antwortet. Sie ist im 
Manuskript „Notturno“ überschrieben und lautet: 

Nacht ist schon hereingesunken 
Schließt sich heilig Stern an Stern, 

Große Lichter, kleine Funken 
Glitzern nah und glänzen fern; 

Glitzern hier im See sich spiegelnd, 

Glänzen droben klarer Nacht, 

Tiefsten Rühens Glück besiegelnd 
Herrscht des Mondes volle Pracht. 

Man wird zugeben müssen, daß die durch sie übermittelte Empfindung 
eine außerordentlich starke ist und wird sich erstaunt fragen, was dieser 
Wirkung zugrunde liegt und wie sie erreicht wurde? 

Da fällt es nun zunächst auf, daß diese Wirkung nicht allen Verszeilen 
gleich anhaftet, sondern daß sie bei einzelnen eine Steigerung erfährt. So 
in der zweiten, sechsten, sowie siebenten und achten Verszeile, von denen 
wir die zweite zunächst ganz isoliert betrachten wollen: 

Schließt sich heilig Stern an Stern. 

Es handelt sich in dieser Zeile um die Darstellung eines alltäglichen 
Naturgeschehens und es muß an der Art dieser Darstellung liegen, wenn 
eine so starke Empfindung dabei übermittelt wird. — Zunächst erscheint 












uns an dem so einfachen und kurzen Satz die Stellung des Wortes „heilig“ 
auffällig. Wir wissen im ersten Augenblick nicht recht, wem wir das Wort 
zurechnen sollen. Das Nächstliegende ist es wohl, es als Ausdruck des heiligen 
Empfindens zu nehmen, das im Dichter bei der Betrachtung des Abend¬ 
werdens rege wird. Da der Dichter aber diese heilige Empfindung nicht 
von sich aussagt, sondern sie als heiliges Geschehen in der Außenwelt dar¬ 
stellt, dürfen wir hier jenen projektiven Vorgang annehmen, den Sachs 
als das Wesentliche des Naturgefühls betrachtet. Es kann aber keinem Zweifel 
unterliegen, daß die Bedeutung „heilig“ in dem Vers in erster Linie eine 
adverbielle ist. Als Adverb sagt das Wort von der Tätigkeit der Sterne 
aus, daß sie heilig sei, es macht das Aneinanderschließen der Sterne zu 
etwas Heiligem. Über den Sinn dieses Adverbs können wir uns erst Klar¬ 
heit verschaffen, wenn wir eine auffällige Tatsache berücksichtigen, an der 
wir bisher vorübergegangen sind. Die ganze Darstellung im Vers ist so gewählt, 
daß sie das Geschehen in der Außenwelt zu einer Tätigkeit der 
Außenwelt werden läßt. Das Wort „heilig“ wirkt durch seine adverbielle 
Bedeutung im Sinne dieser Darstellung verstärkend, weil es eben diese Tätig¬ 
keit zu einer zweckvollen macht, zu einem „heiligen“ Tun. Wir werden 
uns fragen müssen, ob diese so bedeutsame Folgerung aus der adverbiellen 
Bedeutung des Wortes, diese gelte der Verstärkung der Darstellung eines Ge¬ 
schehens als Tätigkeit, nicht ein Produkt unserer Deutung sei; aber sie wird 
unbestritten bleiben müssen, wenn in den folgenden Versen vom gleichen 
Objekt der Darstellung, von den Himmelskörpern ähnliche zweckvolle Tätig¬ 
keit mit ähnlichen Darstellungsmitteln ausgesagt wird. Und dies finden wir 
in der Tat; und zwar das gleiche Objekt der Darstellung als handelndes 
Subjekt. Wiederum von den Sternen, diesmal als große Lichter bezeichnet, 
wird im sechsten Vers gesagt: 

„Glänzen droben klarer Nacht.“ 

Hier ist es ein nicht sofort verständlicher Dativ, der uns auffällt. Aber 
sogleich bemerken wir, daß er wieder einer Verstärkung der Darstellung 
eines Geschehens als Tätigkeit des dargestellten Objektes dient. Die Sterne 
glänzen nicht nur, sie glänzen jemandem: der Nacht. Und wenn in den 
letzten zwei Versen des Mondes volle Pracht herrscht, so geschieht es, um 
„tiefsten Rühens Glück zu besiegeln“. Wir dürfen also wohl mit Recht 
annehmen, daß sich in dem Wort „heilig“ hinter der Bedeutung als Aus¬ 
druck einer projizierten Empfindung eine andere, nicht sofort bewußt wer¬ 
dende verbirgt, der anscheinend die Absicht zugrunde liegt, das Geschehen 






















Bemerkungen sum dichterischen Ausdruck des modernen Naturgefühls 325 


in der Außenwelt zu einer Tätigkeit umzudeuten, respektive diese Darstellung 
als Tätigkeit, die auf Grund unserer Sprache die einzig mögliche ist, über 
diese sprachliche Notwendigkeit hinaus zu verstärken. 

Was also bei einer ersten Lesung der Strophe nicht oder kaum bewußt 
wird, setzt bei genauerer Analyse in Erstaunen: dem kosmischen Geschehen 
ist, ohne daß wir es aufs erste deutlich gewahr werden, durch die ver¬ 
hüllte Darstellung als zweckvolle Tätigkeit ein durchaus menschlicher Sinn 
beigelegt worden, aber in tieferer Form als nur als Projektion unseres Ge¬ 
fühls. Wir finden, daß durch die Art des dichterischen Ausdrucks die 
Außenwelt lebendig wird und durchwoben von zweckvoller harmonischer 
Handlung, und zwar so, als ob das, was geschieht, in unserem Sinne getan 
würde. Die dichterische Wiedergabe des Geschehens dient dazu, das, was 
geschieht, als Produkt des eigenen Wüllens darzustellen, sie eröffnet den 
Zugang zu einer Art kosmischer Motilität . 1 * * 

Und nun erkennen wir die Möglichkeit für diese Darstellung des Ge¬ 
schehens als Tätigkeit und ihren Lustgewinn. Es liegt ihr eine weitest¬ 
gehende narzißtische Identifizierung zugrunde. Aber die Ausdrucksform 
der Darstellung ist eine solche, daß die Identifizierung, diese lustbringende 
narzißtische Erweiterung der durch die Außenwelt so engen Grenzen 
unserer Persönlichkeit in diese einschränkende Außenwelt hinaus unbewußt 
bleibt und geschehen kann, ohne daß der mächtige Wächter des Realitäts¬ 
prinzips ihrer gewahr wird. 

Wir sind nunmehr genötigt, unseren Befund einer Revision zu unter¬ 
ziehen, die sich in mehrfacher Richtung erstreckt. Zunächst: ist der Aus¬ 
druck des Naturgefühls häufig ein solcher, wie wir ihn in unserer Strophe 
gefunden haben, und spielt die Tätigkeit des dargestellten Objekts dabei 
häufig wirklich diese Rolle, die ihr in der Strophe aus dem Faust nach 
unserer Meinung zukommt? Im gleichen Chorgesang des Faust, dem unsere 
Strophe entnommen ist, finden sich die folgenden zwei Verse: 

Täler grünen, Hügel schwellen, 

Buschen sich zu Schattenruh; 

Gerade der Ausdruck „Buschen sich zu Schattenruh“ hat lebhafte Kontro¬ 
versen bei den Faust-Kommentatoren und Sprachgelehrten hervorgerufen. 
Am zureichendsten erscheint mir die Erklärung in Grimms Wörterbuch zu 
sein, das Wort „huschen“ bedeute „die Gestalt von Büschen annehmen“. 


i) „Motilität“ wird hier und im iolgenden im Sinne der Bewegungsfähigkeit ge¬ 

braucht. & 


Imago XIV. 


22 














3a6 


Richard SterLa 


Sie kommt der imaginären Tätigkeit, die das Wort ausdrückt, am ehesten 
gleich, Das „zu Schattenruh“ zeigt wieder das Zweckvolle dieser Tätigkeit 
an, die eben an vielen Stellen über das menschliche Handlungsvermögen 
hinausgeht und häufig als Bewegung an sich, aber doch als zweckvolle 
Bewegung die stattgefundene Identifizierung anzeigt, der der große narzi߬ 
tische Lustgewinn des Naturgefühls entstammt. Es kann als Maß für die 
Intensität dieser Identifizierung gelten, daß zum Zwecke ihrer Darstellung 
ein sonst nur im Hauptwort gebräuchlicher Stamm „Busch“ zur verbalen 
Funktion erweitert wird. 

Der Gesang des Ariel und der ihm antwortende Chor haben den tiefen 
Sinn, die Regeneration des Faust nach dem furchtbaren Zusammenbruch 
am Ende des ersten Teiles darzustellen. Faust verläßt der Tragödie ersten 
Teil als ein völlig Gebrochener, an allen Versuchen gescheitert, durchaus 
unbefriedigt und mit schwerstem Schuldgefühl beladen. Er soll als neuer¬ 
dings Strebender und kräftig Handelnder in den zweiten Teil eintreten; 
dieses zu ermöglichen scheint mir der ökonomische Sinn der naturlyrischen 
Episode am Beginn des zweiten Teiles zu sein. Der Weg, den seine Re¬ 
generation nimmt, ist der über den Narzißmus. Die narzißtische Erweiterung 
der Ichgrenzen im Naturgefühl bietet die breiteste Möglichkeit der Dar¬ 
stellung dieser narzißtischen Regeneration. Die große Anbietung, die von 
der gesamten Natur an Faust erfolgt und der Ariels Gesang und der fol¬ 
gende Chor dienen, ist nichts anderes als die Darstellung dessen, was im 
Naturgefühl geschieht, nicht von der Seite des Empfindenden, sondern von 
der Seite der Natur aus. Im Naturgefühl wird die Welt ebenso errungen, 
wie sie hier sich darbietet. Daß für die in dieser Regeneration erfolgende 
Erweiterung der Ichgrenzen die sprachliche Beengung durchbrochen wird, 
darf wohl nicht wundernehmen. Gerade an dem Vers 

Buschen sich zu Schattenruh 

ist es so deutlich, daß die Motilität des dar gestellten Objekts einer narzi߬ 
tischen Eroberung desselben zum Zwecke des persönlichen Lustgewinnes 
gleichkommt. Man begreift, daß bei dieser expansiven Erweiterung der 
Ichgrenzen in dieser Episode die sprachlichen Grenzen gleichfalls über die 
Norm erweitert werden müssen. Wir müssen dabei daran festhalten, daß 
diese Erweiterung in das dargestellte Objekt oder Geschehen nicht nur eine 
Projektion eines Affektes ist, sondern eben auf dem Wege der Darstellung, 
die den Zugang zur „kosmischen Motilität“ eröffnet, ein Einbeziehen des¬ 
selben in die eigene Machtsphäre bedeutet. Einer solchen Darstellung liegt 

















Bemerkungen zum dickteriscken Ausdruck des modernen Naturgefükls 




die Formel zugrunde: so wie ich mich bewege, bewegt sich unter meinem 
Willen meiner Darstellung die Welt. Die ganze Tiefe der narzi߬ 
tischen Identifizierung geht aus dieser Formel hervor. 

In dem bekannten Gedicht „An den Mond“ ist deutlich wieder die 
Tätigkeit des Objekts als Ausdruck der Einbeziehung desselben in den Be¬ 
reich der eigenen Motilität das Wesentliche der Darstellung. 

Füllest wieder Busch und Tal 
Still mit Nebelglanz, 

Lösest endlich auch einmal 
Meine Seele ganz. 

Hier wird die Tätigkeit des Mondes als eine lösende für die eigene Seele 
empfunden. In Wirklichkeit ist der Vorgang umgekehrt; weil die Seele 
sich aus ihren Grenzen gelöst und in den Kosmos hinein erweitert hat, 
ist der Mond tätig geworden. 

Aber wir müssen nicht bei Goethe verweilen. Die Motilität des dar¬ 
gestellten Objekts beim Ausdruck des Naturgefühls ist nicht für ihn allein 
charakteristisch. So kommt sie in eminent hohem Maße den ergreifenden 
Naturschilderungen Adalbert Stifters zu; sie macht geradezu das Spezifische 
an der Stifterschen Darstellung aus und man kann gut beobachten, wie gerade 
von dieser Bewegungsfähigkeit die stärkste Wirkung ausgeht. In „Brigitta“ 
heißt es: „Ich ging langsam dahin. Der Mond hob sich mehr und mehr und 
stand endlich klar an dem warmen Sommerhimmel. Die Heide lief wie eine 
fahle Scheibe unter ihm weg. Und gleich darauf: „Riesige Tannen streckten 
sich gegen den Himmel und mannsdicke Eichenäste griffen herum.“ Ferner 
im „Kondor : „Der Mond hatte sich endlich von den Dächern gelöset, und 
stand hoch im Blau — ein Glänzen und ein Flimmern und ein Leuchten 
durch den ganzen Himmel begann, durch alle Wolken schoß Silber, von allen 
Blechdächern rannen breite Ströme desselben nieder, und an die Blitzableiter, 
Dachspitzen und Turmkreuze waren Funken geschleudert.“ 

In diesen Beispielen aus Stifters Schriften, die sich leicht um einige Dutzend 
vermehren ließen, ist die Rolle der Motilität des dargestellten Objekts und die 
Wirkung, die gerade von ihr ausgeht, ganz besonders deutlich. 

Der Schluß des Gedichts „Am Abend“ von Hölderlin zeigt sie wieder: 

. . . Da rauschten 

Lebendiger die Quellen, es atmeten 
Der dunkeln Erde Blüten mich liebend an 
Und lächelnd über Silberwolken 
Neigte sich segnend herab der Äther. 


22* 










3*8 


Ridiard SterL 


Das „Mondscheinlied“ von Ludwig Tieck bringt eine Überfülle von 
Tätigkeit des dargestellten Objekts: 

Träuft vom Himmel der kühle Tau, 
tun die Blumen die Kelche zu, 

Spätrot sieht scheidend nach der Au, 

flüstern die Pappeln, sinkt nieder die nächt’ge Ruh. 

Kommen und gehen die Schatten, 

Wolken bleiben noch spät auf 

und ziehen mit schwerem, unbeholfnem Lauf 

über die erfrischten Matten. 

Kommen die Sterne und schwinden wieder, 
blicken winkend und flüchtig nieder, 
wohnt im Wald die Dunkelheit, 
dehnt sich Finster weit und breit. 

Hinterm Wasser wie flimmernde Flammen, 

Berggipfel oben mit Gold beschienen, 
neigen rauschend und ernst die grünen 
Gebüsche die blinkenden Häupter zusammen. 

Welle, rollst du herauf den Schein, 
des Mondes rundfreundlich Angesicht? 

Er merkt’s und freudig bewegt sich der Hain, 
streckt die Zweig’ entgegen dem Zauberlicht. 

Viel einfacher, viel universeller und wirksamer ist die Bewegung des dar¬ 
gestellten Objekts als Ausdruck der Identifizierung mit demselben im letzten 
Vers des Gedichtes „Septembermorgen“ von Eduard Mörike: 

Im Nebel ruhet noch die Welt, 
noch träumen Wald und Wiesen: 

Bald siehst Du, wenn der Schleier fällt, 
den blauen Himmel unverstellt, 
herbstkräftig die gedämpfte Welt 
in warmem Golde fließen. 

In einem Gedicht von Richard Dehmel: „Die Harfe“ überschrieben, ist es 
ganz deutlich, wie die Bewegung des dargestellten Objekts aus der eigenen 
Motilität stammt und auf dem Wege der Identifizierung dem dar gestellten Objekt 
übermittelt wird. Es seien die diesbezüglich wichtigen Strophen wiedergegeben: 

Unruhig steht der hohe Kiefernforst, 
die Wolken wälzen sich von Ost nach Westen; 
lautlos und hastig ziehn die Krähn zu Horst, 
dumpf tönt die Waldung aus den braunen Ästen, 
und dumpfer tönt mein Schritt. 




























Bemerkungen zum diditeriscken Aiisdruck des modernen Naturge ftiU 



s 339 


Hier über diese Hügel ging ich schon, 

als ich noch nicht den Sturm der Sehnsucht kannte, 

noch nicht bei euerm urweltlichen Ton 

die Arme hob und ins Erhab’ne spannte, 

ihr Riesenstämme rings. 

In großen Zwischenräumen, kaum bewegt, 
erheben sich die graugeword’nen Schäfte; 
durch ihre grüngeblieb’nen Kronen fegt 
die Wucht der lauten und verhalt’nen Kräfte 
wie damals. 

Und eine steht, wie eines Erdgotts Hand 
in fünf gewalt’ge Finger hochgespalten; 
die glänzt noch goldbraun bis zum Wurzelstand 
und langt noch höher als die starren alten 
einsamen Stämme. 

Durch die fünf Finger geht ein zäher Kampf, 
als wollten sie sich aneinanderzwängen; 
durch ihre Kuppen wühlt und spielt ein Krampf, 
als rissen sie mit Inbrunst an den Strängen 
einer verwunsch’nen Harfe. 

Hier korrespondiert deutlich eine tätige Bewegung des Dichters mit einer 
solchen des dargestellten Objekts. In der zweiten Strophe der Dichter: 

als ich . . . 

noch nicht bei euerm urweltlichen Ton 
die Arme hob und ins Erhab’ne spannte 

und in der vierten und fünften Strophe das dargestellte Objekt: 

Und eine steht wie eines Erdgotts Hand 
in fünf gewalt’ge Finger hochgespalten usw. 

Die Überpflanzung des eigenen Bewegungsimpulses in das darzustellende 
Objekt wird an diesem Gedicht durch die Parallele von Arm und Hand 
besonders deutlich. 

Von dieser Motilität gibt es fließende Übergänge zur Personifikations¬ 
tendenz des antiken Naturgefühls, doch ist in der Moderne das Objekt immer 
mehr beseelt als vermenschlicht. Auch für Autoren der neueren Richtung 
spielt die Bewegungsfähigkeit des dar gestellten Objekts eine ganz wesent¬ 
liche Rolle; wir erlassen uns das Zitieren, da jede Anthologie neuerer Dichter 
Beispiele die Fülle bringt. Allerdings werden die Verhältnisse bei ganz 
modernen Dichtern durch die Angleichung ihrer Sprache an die der Schizo- 












33 o 


Richard Sterba 


phrenie wesentlich kompliziert. Eine Untersuchung darüber geht über de 
Rahmen unserer Arbeit hinaus. 

Nach diesem kurzen Überblick über das Areal der Gültigkeit unseres 
Befundes wollen wir uns nach Anschlüssen an die bisherige analytische 
Literatur umsehen. Helene Deutsch sagt in ihrem Innsbrucker Kongreß 
vortrag „Glück, Zufriedenheit und Ekstase “: 1 „Jeder ästhetische Genuß 
mag er bei der Betrachtung einer Landschaft oder eines Kunstgegenstandes 
entstehen, bei der Lektüre einer Dichtung oder beim Zuhören der Musik 
immer kennzeichnet er sich dadurch, daß zwischen dem Ich und dem von 
der Außenwelt zuströmenden Eindruck auf dem Wege der Einfühlung eine 
Ich-Weltidentität entsteht. Das Beglückende ist eben in diesem Identitätsgefühl 
zu suchen. Von diesen alltäglichen Erlebnissen führt der Weg . . . zur Ekstase “ 
Für die ästhetische Empfindung des Naturgefühls müssen wir diese Formu¬ 
lierung voll bestätigen. Wir glauben aus dem Ausdruck des Naturgefühls 
auch ermittelt zu haben, wie diese Einfühlung vor sich geht und welche 
Rolle der Motilität des dargestellten Objekts in der Ich-Weltidentität für das 
Naturgefühl zukommt. Das Naturgefühl nimmt tatsächlich eine Mittel¬ 
stellung zwischen Normalzustand und Ekstase ein und leitet zu letzterer 
über. Dabei entspricht es unseren Ergebnissen in hohem Maße, daß, sofern 
sich der Gefühlszustand des Schaffenden, oder das, was er darstellen will, 
auf dem Weg über das Naturgefühl dem Ekstatischen nähert, die Bewegung 
des dargestellten Objekts sich steigert und ins Phantastische wächst. Gerade 
am Schluß des Faust, II. Teil, wo schon die Einführung des „Pater 
ecstaticus das Ekstatisch-Religiöse der letzten Szene kennzeichnet, finden 
wir eine Naturschilderung, bei der die Bewegung des dargestellten Objekts 
ins Grandiose gewachsen ist: 

Chor und Echo: Waldung, sie schwankt heran, 

Felsen, sie lasten dran, 

Wurzeln, sie klammern an 
Stamm, dicht an Stamm hinan. 

In Nietzsches Tanzlied „An den Mistral“ führt das ekstatische Erlebnis 
des Dichters gleichfalls zu einer über das gewohnte Maß hinausgehenden 
Bewegung des Objekts. 

Ein Stück Vorschreiten gegen das ekstatische Erlebnis erscheint als eine 
Bedingung der dichterischen Darstellung von Zuständen oder Geschehnissen 
als Tätigkeit. Die bloße Beschreibung, der die tiefere „Einfühlung“, wie 

1) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. Bd. XIII (1927). 


























Bemerkungen zum dichterischen Ausdruck des modernen NaturgefühL 


33i 


sie dem Naturgefühl zukommt, mangelt, liefert daher wenig Material für 
unseren Befund. Daraus erklärt es sich, daß wir in der Goetheschen Prosa 
so selten die von uns untersuchte Art der Darstellung finden, da Goethe 
in seiner Prosa fast durchweg beschreibt; wo die affektive Beziehung zum 
dargestellten Objekt eine innigere wird, ist ihm die Darstellung in der 
gehobenen poetischen Form viel adäquater. 

Sachs meint, daß die Personifikationstendenz, die dem antiken Natur¬ 
gefühl zukommt, der Phase des primitiven Animismus entspreche. Für das 
moderne Naturgefühl, wie es gerade bei Goethe in so reiner und klassi¬ 
scher Form zum Ausdruck kommt, gibt Sachs keine genaue Entsprechung in 
der phylogenetischen Entwicklung an. Wir müssen aber aus allem, was wir 
ermittelt haben, annehmen, daß die moderne Form des Naturgefühls einer 
weiteren Regression über den Animismus hinaus entspricht. Wenn im 
dichterischen Ausdruck durch die Wahl der sprachlichen Elemente den 
Gegenständen der Darstellung unbewußt oder nur wenig deutlich eine der 
eigenen gleiche, sinnvolle Motilität zugeschrieben wird, wobei diese sinnvolle 
Motilität der eigenen Willkür unterworfen erscheint, so kann kein Zweifel 
darüber bestehen, daß dies nur möglich ist durch eine Regression, die in 
die Phase der „Allmacht der Gedanken“ führt . 1 Diese liegt nach Freud 
jenseits des Animismus, der bereits einen Teil seiner Allmacht den Geistern 
abgetreten hat. Ihr entspricht die Vorstellung von einer allgemeinen Belebt¬ 
heit der Natur, die als „Animatismus“ bezeichnet wird. Dem Animatismus 
und der Allmacht der Gedanken ist als Technik die Magie zugeordnet. 
Der dichterischen Wiedergabe des Naturgefühls, in der durch die Art des 
Ausdrucks den Gegenständen der Außenwelt eine im eigenen Sinne zweck¬ 
volle Motilität zugeschrieben und ein Zustand oder ein Geschehen als Tätig¬ 
keit dargestellt wird, liegt das Frazersche „mistaking an ideal connexion 
for a real one “ zugrunde und sie ist psychologisch einer magischen Handlung 
gleichzusetzen. 

Es heißt in „Totem und Tabu“: „Nur auf einem Gebiete ist auch in 
unserer Kultur die ,Allmacht der Gedanken 4 erhalten geblieben, auf dem 
der Kunst. In der Kunst allein kommt es noch vor, daß ein von Wün¬ 
schen verzehrter Mensch etwas der Befriedigung ähnliches macht, und daß 
dieses Spielen — dank der künstlerischen Illusion — Affektwirkungen hervor¬ 
ruft, als wäre es etwas Reales. Mit Recht spricht man vom Zauber der Kunst 


x) Freud: Totem und Tabu. Abschnitt Animismus, Magie und Allmacht der 
Gedanken. Ges. Schriften, Bd. X. 










33 a 


RicLard iSterL 


II 


! - 






i 




a 



und vergleicht den Künstler mit einem Zauberer. Aber dieser Vergleich ist 
vielleicht bedeutsamer als er zu sein beansprucht. Die Kunst, die gewiß 
nicht als Vart pour Vart begonnen hat, stand ursprünglich im Dienste von 
Tendenzen, die heute zum großen Teil erloschen sind. Unter diesen lassen 
sich mancherlei magische Absichten vermuten. “ Unsere Erhebungen über 
bestimmte künstlerische Ausdrucksformen des Naturgefühls entsprechen einer 
Bestätigung dieser Vermutung magischer Absichten in der Kunst. 

So liegt dem modernen Naturgefühl, das wir als ein Zeichen hoher Ent¬ 
wicklung einen reifen Kultur ansehen dürfen, das wir vom Primitiven weit 
entfernt glauben, dieselbe psychogenetisch frühe Tendenz zugrunde wie der 
magischen Handlung des Wilden und dem Spiel des Kindes. Es verdankt 
seinen Lustgewinn der Befriedigung frühkindlicher Allmachtswünsche in 
einer Form, die dank der „künstlerischen Illusion“ und dem spielerischen 
Ernst des Kunstwerks uns inmitten aller unsrer Realitätsnot gestattet bleibt. 

Es muß wohl kaum erwähnt werden, daß unser Befund den Sachs sehen 
Formulierungen von der Affektprojektion im Inhalt des Naturgefühls nicht 
widerspricht, sondern nur eine Ergänzung teils in inhaltlicher, größtenteils 
in formaler Richtung bedeutet. 

Zusammenfassung: Am Ausdrucke des Naturgefühls bei Goethe 
und anderen neueren Dichtern ist die Darstellung eines Zustandes 
oder Geschehens als Tätigkeit häufig genug beobachtbar. Dieser 
Darstellung als Tätigkeit — über die sprachliche Notwendigkeit hinaus — 
liegt eine weitgehende Identifizierung mit dem dargestellten 
Objekt zugrunde; auf dieser Erweiterung der Ichgrenzen in die 
Außenwelt beruht der Lustgewinn des Naturgefühls; die aus ihr 
resultierende „kosmische Motilität“ ist möglich durch eine Re¬ 
gression auf die Phase der Allmacht der Gedanken. Psychologisch 
entspricht die Darstellung einer magischen Handlung. 

Wir wollen zum Schluß unseren paradigmatischen Dichter fragen, ob 
er denn nicht der Allmacht seiner Gedanken und der magischen Kraft 
seiner Darstellung sich bewußt war? Wir geben hier seine Antwort aus 
dem „West-östlichen Divan“ wieder: 


Licht und Gebilde 

Mag der Grieche seinen Ton 
Zu Gestalten drücken 
Und an seiner Hände Sohn 
Steigern sein Entzücken; 

































Bemerkungen zum dichterischen Ausdruck des modernen Naturgefühf 


333 



Aber uns ist wonnereich, 

In den Euphrat greifen 
Und im flüss’gen Element 
Hin und wieder schweifen. 

Löscht sich so der Seele Brand, 

Lied, es wird erschallen; 

Schöpft des Dichters reine Hand, 
Wasser wird sich ballen. 


















Ein Frauensckicksal 

George Sand 

(Öffentlicher Vortrag, gehalten am 16. März 1928 im 
Großen Saal des Ingenieur- u. Architekten vereines in Wien) 

von 

Helene Deutsck 

W^ien 

Meine Damen und Herren! Was an George Sand unsterblich werden 
sollte die etwa hundert Bände ihrer Schriften — scheint mir bereits 
dem Tode geweiht zu sein. Das Sterblichste am Menschen: sein persönliches 
Schicksal, gelangt zur Unsterblichkeit dort, wo es sich aus dem Individuellen 
zum allgemein Menschlichen erhebt. Ich will Ihnen an George Sand 
wie an einem Phantom neben dem rein Persönlichen die typischen 
Schicksale des weiblichen Seelenlebens analytisch beleuchten. 

Männer pflegen zu sagen, die Frauen seien rätselhaft, geheimnisvoll, 
jede im Grunde eine Sphinx, Enigma. Kant meinte bekanntlich: die Frau 
verrät ihr Geheimnis nicht. Der naiven Vorstellung erscheint die Sache so, 
als würden wir Frauen alle Etwas von uns wissen; die eine flüstert es 
leise der anderen ins Ohr, die Mutter vererbt es ihrer Tochter, kurz, die 
Frauen bilden untereinander einen stillen Geheimbund. 

Ich glaube, eines stimmt an diesem Eindruck: die Frauen sind wirklich 
rätselhaft und geheimnisvoll. Es stimmt auch, daß sie ihr Geheimnis nicht 
verraten. Aber sie verraten es deshalb nicht, weil sie es selbst nicht 
kennen; das Geheimnisvolle an ihnen ist eben, daß ihnen ihr eigenes 
Selbst verborgener, unbewußter ist. Was den Mann im Leben leitet — 
oder leiten soll und seinen Persönlichkeitswert bedeutet, ist die bewußte 
Beherrschung seiner Beziehung zur Realität, die mehr intellektuelle Auf¬ 
fassung des Daseins und die verstandesmäßige Lösung der Lebensaufgaben. 






























Ein Erauensdiicksal 


355 


Oie Frau — das Weib par excellence — unterliegt eben dort, wo sie sich 
vom Manne unterscheidet, dem „Geheimnis“ ihrer weiblichen Seele: sie 
agiert und reagiert aus der dunklen, geheimnisvollen Tiefe ihres Unbewußten, 
also affektiv, intuitiv, rätselhaft. Das Gesagte ist natürlich kein Werturteil, 
es ist die Feststellung einer Tatsache. 

Es wäre richtiger, statt Frau „das Weibliche“, „das Spezifisch-Weibliche“ 
zu sagen. „Weiblich“ und „Männlich“ sind scharf voneinander getrennte 
Begriffe, die aber das einzelne Individuum vielleicht niemals reinlich 
realisiert. „Weib“ und „Mann“ sind einmal aus einer gemeinsamen 
Ureinheit entstanden, die als bisexuelle Anlage in allen Menschen fortlebt. 
Sie haben sich im Laufe der Entwicklung immer mehr differenziert, ohne 
sich je restlos voneinander zu trennen. So beherbergt das „Weib“ stets auch 
männliche, der „Mann“ hingegen weibliche Anteile in sich. Das Ausmaß der 
gegengeschlechtlichen Reste ist natürlich in jedem Individuum verschieden. 

Im seelischen Haushalt des Einzelnen müssen die zweierlei Komponenten: 
die männlichen und die weiblichen, zu einer harmonischen Ganzheit ver¬ 
bunden werden. Beim Weibe müssen die weiblichen Anteile vorherrschen, 
beim Manne die männlichen. Wird die Harmonie der männlichen und 
weiblichen Tendenzen in einem Individuum gestört, so entsteht ein innerer 
Konflikt. Dieser kann in verschiedenen Formen auftreten: als seelische Er¬ 
krankung, Neurose genannt, oder etwa als gestörtes Lebensschicksal. Das 
letztere vor allem als Folge der Unfähigkeit, ein befriedigendes, glück¬ 
bringendes Verhältnis zum anderen Geschlecht herzustellen. Aus einer so 
gestörten Einstellung ergibt sich besonders für die Frau die Schicksals¬ 
tragödie. Der Mann kann sich viel leichter entschädigen durch Ersatz¬ 
bildungen und Sublimierungen, d. h. indem er an Stelle der Gefühls¬ 
erlebnisse geistige und soziale Werte einsetzt. Das Schicksal der Frau ist 
jedoch im Gefühlserlebnis verankert. Je mehr aber im psychischen Ge¬ 
schehen eines Menschen das Gefühlsbetonte überwiegt, desto näher liegt 
dieses Geschehen dem Triebhaften, Unbewußten, Geheimnisvollen. Selbst 
wenn die Frau dem Manne geistig vollkommen gleichwertig ist, sie wie er 
geistige Leistungen vollbringt, kann aus dem Zwiespalte zwischen weiblich 
und männlich in ihr eine schwere Störung ihres Gefühlslebens hervorgehen 
und ihr Schicksal sich traurig und mißlungen gestalten. 

Ich bin bei Frau Aurore Dupin, verehelichte Dudevant, vermännlichte 
George Sand angelangt. Sie ist unter ihrem männlichen Pseudonym George 
Sand bekannt und als Schriftsteller berühmt geworden. Sie ist die Frau, die 
für jeden den klassischen Typus des Mann-Weibes darstellt, die Mißgeburt, 









336 


Helene Deutsck 


die im weiblichen Körper eine männliche Seele zu tragen schien und trotzdem 
habe ich mir sie ausgewählt, um Ihnen an ihr das Weib zu zeigen — die 
Tragödie einer Frauenseele. Ich will Ihnen zu zeigen versuchen, daß die 
Männlichkeit von George Sand das Produkt eines mißlungenen Ringens um 
die weibliche Glückserfüllung war, ein Rettungsanker, dort wo die Weib¬ 
lichkeit versagte. Ich möchte Ihnen beweisen, daß dieses Versagen, dieses 
Scheitern des Weibtums tief in den Ereignissen ihrer Kindheit verborgen 
lag. Aus diesen Ereignissen hatte es sich ergeben, daß das Weibliche in ihr 
nie zu beglückender Erfüllung kommen konnte. 

Die Männlichkeit George Sands trat zum Teil von Anfang an ihrem 
weiblichen Entwicklungsweg störend entgegen, zum Teil wurde diese Männ¬ 
lichkeit sekundär mobilisiert und verstärkt, nachdem sie in ihren weiblichen 
Strebungen scheiterte. Ihr Scheitern in der Weiblichkeit war nicht ein 
einmaliges Schicksal, es war eine ununterbrochene Kette von neuem Hoffen 
und krampfhaftem Suchen nach dem, was für sie als Weib erfüllend sein 
sollte und sich ihr immer von neuem versagte. So ergab es sich, daß 
George Sand zum weiblichen Ahasverus wurde, von ewig ungestillter 
Sehnsucht getrieben, ein Scheinmann, hinter dem sich das weibliche, 
unerfüllte Streben nach dem Glücke verbarg. In ihren Tagebüchern erzählt 
George Sand von einem Manne, den sie in ihrer Kindheit kannte. Es war 
ein armer Geistesgestörter, der von Haus zu Haus, von Hof zu Hof lief 
und nach Zärtlichkeit (Tendresse) suchte. Das war für ihn nicht ein ab¬ 
strakter Begriff, es war etwas Personifiziertes, Konkretes', eine Gestalt, der 
er nacheilte, wenn man ihm sagte: „gerade ist die Zärtlichkeit ums Eck 
gegangen. So suchte die arme George Sand nach Zärtlichkeit, die sie 
nahm und die sie gab, um sie beim „nächsten Eck“ ihrer Erlebnisse zu 
verlieren, und weiter zu suchen. 

Man weiß von George Sand folgendes: sie hatte ein üppiges Liebes¬ 
ieben, richtete viele Männer zugrunde. Ihr Geist war fast genial, ihre 
Produktivität männlich. Ihre Liebeswahl fiel auf sogenannte „feminine“ 
Männer. Man sagte scherzhaft: Monsieur Sand, Madame Müsset. Man wußte 
auch, daß Chopin, eines ihrer Liebesopfer, feminin war. Man sah in dieser 
Art von Liebhabern eine selbstverständliche Ergänzungswahl, — Ergänzung 
im Sinne Weiningers, in der sich die männlichen und weiblichen En¬ 
gramme zueinander fanden. Also, hieß es, liebte die männliche Sand die 
weiblichen Männer. 

Jede einzelne von George Sands zahlreichen Liebschaften endete mit 
photographischer Treue immer mit derselben Katastrophe: der Mann war 






























Ein FrauensducLsal 



33 7 


vernichtet — George Sands „männlicher“ Lebensweg führte in die Höhe. 
Ich betone „männlicher“, denn es gab auch etwas anderes in ihr, etwas, 
was gebrochen und vernichtet wurde. — Das Rätsel eben dieses Schicksals 
wollen wir psychoanalytisch zu lösen versuchen. Sowohl für ihre eigene 
Epoche, wie auch für spätere Zeiten blieb diese sonderbare Frau ein un¬ 
beantwortetes Fragezeichen. Man bemühte sich vielfach, die Fragen, die um 
sie entstanden, zu beantworten. Nicht nur ihre eigene Persönlichkeit be¬ 
wirkte die Faszination. Wurde sie doch zum Verhängnis für bedeutende 
Männer. Männer nahmen sich der Geschädigten an und ein Sturm von 
Entwertung und Verachtung verfolgte die Dämonisch-Böse. Frauen ergriffen 
die Lanze und zogen aufs Schlachtfeld der Literaturkritik, um diejenige, 
mit der sie sich im Geschlechte solidarisch fühlten, in Schutz zu nehmen. 
So entstanden zwei Versionen: eine glorifizierende und eine verdammende. 
Jede benützte die Waffe der Psychologie und mußte versagen, denn jede 
machte halt vor der verschlossenen Türe, die zu den verborgenen tief¬ 
liegenden Wurzeln des Unbewußten führt. Nicht mit der psychoanalytischen 
Methode, — die kann nur am Lebenden und unmittelbar verwendet werden, — 
aber mit analytischer Kenntnis der Seelenvorgänge bewaffnet, versuchte ich 
die Lösung des Rätsels zu finden. 

Zwei Quellen standen mir zur Verfügung: 1) diejenige, die George 
Sand direkt geboten hat in vielen Bänden ihrer autobiographischen Schriften, 
2) die große Anzahl ihrer Romane. — Was sie an wissenschaftlichen, 
philosophischen und sozialen Schriften produziert hat, soll uns heute nicht 
interessieren. Sie standen auf der Höhe ihres „männlichen“ Denkvermögens 
und vermehrten die Schar der großen Geister, die ihre Epoche hervor¬ 
brachte. Sainte-Beuve und Delatouche, Pierre Leroux und Lamenais, Flaubert 
und die Goncourt, Balzac und Delacroix und viele andere unter den Großen 
zählten sie zu ihresgleichen. 

Daß gewisse Probleme ihrer Epoche: die Befreiung der Unterdrückten von 
der Macht der Herrschenden, gleiche Rechte für alle und vor allem Gleich¬ 
berechtigung der Frau und das Recht des unehelichen Kindes, an ihren per¬ 
sönlichen, affektiven Angelegenheiten rüttelten, darauf werde ich noch zurück¬ 
kommen. George Sand war bekanntlich die erste programmatische Feministin. 

Aber dies alles war bereits ein Sublimierungsakt, d. h. spielte sich im 
Geistigen ab und muß rein intellektuell bewertet werden. Dieser Teil ihrer 
Persönlichkeit interessiert uns heute nicht, nur das Weib, das Schicksal 
der George Sand als Frau soll unserer Betrachtung unterzogen werden, das 
Ursprüngliche, Schicksalshafte. 
















338 


Helene Deutsch 


Ich sagte bereits, daß mir als Forschungsmaterial ihre autobiographischen 
Schriften und ihre Romane dienten. Hier ergibt sich etwas sehr Interessantes 
Trotz ihrer großen Intuition und fast genial zu nennenden psychologischen 
Begabung, trotz des Bestrebens, sich selbst zu verstehen und verständlich zu 
machen, bleibt doch ihre Persönlichkeit in zwei Teile scharf gespalten. Der eine 
Teil, der in den autobiographischen Schriften das Material ihres bewußten 
Lebens liefert, und der andere, der unbewußte, der unter verschiedenen Namen 
in zahlreichen Gestalten ihrer Romane an der Oberfläche der Geschehnisse 
erscheint. In diesen Gestalten wird dasjenige herausbefördert, herausprojiziert 
was in tieferen Schichten der Seele ihrem bewußten Schauen unzugänglich 
war. Ist doch jede schöpferische Leistung des Künstlers tief im Unbewußten 
verwurzelt. Bei George Sand gelingt es mit besonderer Leichtigkeit, die 
Brücke zu schlagen zwischen den Vorgängen ihres bewußten Daseins und 
d e m, was aus der Tiefe des Unbewußten künstlerisch verarbeitet an der 
Oberfläche der Aktion ihrer Romane und Theaterstücke erscheint. Dabei 
scheint es interessant, zu bemerken, daß George Sand selbst gar nicht die 
Identität ihrer dichterischen Gestalten mit sich und anderen Personen aus 
ihrem realen Leben anerkennen wollte und sich energisch dagegen ver¬ 
wahrte, wenn man ihr vorhielt, daß sie es zu sinnfällig tue. 

Es gibt seelische Störungen, bei denen der Kranke in sogenannte „Dämmer¬ 
zustände verfällt. In diesen Zuständen pflegt er dann Dinge zu erleben, 
die sonst von seinem bewußten Dasein abgesperrt sind. Manchmal geht die 
Sache so weit, daß die Persönlichkeit des Betroffenen wie verdoppelt er¬ 
scheint. Der Kranke führt ein Wachsein, in dem sich seine bewußte Per¬ 
sönlichkeit dokumentiert und ein zweites Dasein in seinen Dämmerzuständen. 
Die wache Persönlichkeit weiß nichts von jener Dämmerexistenz und um¬ 
gekehrt. Beide leben nebeneinander — die Persönlichkeit der Dämmer¬ 
zustände entspricht jenen seelischen Tendenzen, die von der bewußten 
Persönlichkeit abgespalten, ins Unbewußte verdrängt wurden und sich nur 
im Zustande des Dämmerschlafes in Aktionen umsetzen können. 

Etwas Ähnliches, nur quantitativ verschieden, spielte sich sichtlich in 
George Sand ab. In ihren künstlerisch-schöpferischen Stunden verfiel sie 
in eine Art somnambulen Zustand, in ein In-sich-Einkehren, in dem sie 
vollkommen von der Wirklichkeit abgewendet war und das Innerlich-Erlebte 
in Form von Romanen zu Papier brachte. Ja, das Niederschreiben selbst 
war bereits die Rückkehr zur Realität. Denn schon vorher saß George Sand 
stunden- und tagelang mit (wie man sagte) „blödem“, abgewendetem Gesichts¬ 
ausdruck vor sich hinbrütend, in die Erlebnisse ihrer Romanheldinnen 



































Ein FrauensdncLsal 


33g 


versunken. Sie phantasierte genau so, wie sie als kleines Kind unaufhörlich 
phantasiert hatte, ein Schrecken der Umgebung, ein Rätsel schon damals für 
die, die sie sahen. George Sand erzählt selbst, daß sie nie wußte, was sie 
in ihren Romanen niederschrieb — so sehr war diese Leistung ihrem be¬ 
wußten Dasein entrückt. Aber in diesen Romanen gibt es Situationen und 
Personen, die deutlich und klar jenen realen Situations- und Charakter¬ 
schilderungen entsprachen, welche die kritisch-kontrollierende, bewußte 
Persönlichkeit George Sands in den autobiographischen Schriften nieder¬ 
legte. Die Heldinnen ihrer Romane konnten sofort und immer als sie selbst 
agnosziert werden. Sie enthielten unzweideutig allerlei Motive aus dem 
ganz aktuellen, leicht wiedererkennbaren Leben der Autorin. Dadurch ge¬ 
lang es mir, immer eine Parallele herzustellen zwischen ihren autobio¬ 
graphischen Schriften und dem, was sie in ihren Romanen schilderte. Diese 
Parallele lautet dann: so war es bewußt— dort, so war es tiefer im Un¬ 
bewußten — hier. 

Die Psychoanalyse behauptet, daß die Persönlichkeit des Menschen auf 
den Entwicklungen der Kindheit aufgebaut ist. Das Krankhafte — oder 
nur Unheilvolle — in der Schicksalsgestaltung ist bereits in der Kindheit 
bedingt und vorgezeichnet. Wer nicht imstande war, die seelischen Vorgänge 
der Kindheit günstig zu erledigen, aus ihnen sozusagen herauszuwachsen, 
wer das Nichterledigte außerhalb der Schwelle seines erwachsenen bewußten 
Daseins konserviert hat, dem kann es geschehen, daß er dann zum blinden 
Werkzeug dieser unerledigten, seelischen Erlebnisse wird, so wie der seelisch 
Kranke in seinem Dämmerzustände. Statt sich an der Sonne des realen 
Lebens ein Plätzchen sichern zu können, wird er in den Nebel seines 
Phantasielebens versinken. Die entscheidenden Situationen seines Daseins 
verlaufen und enden jedesmal so ähnlich, daß man den Eindruck einer 
immer wiederkehrenden Welle hat. Die Psychoanalyse hat entdeckt, daß 
die nichterledigten, ins Unbewußte verdrängten seelischen Erlebnisse der 
Kindheit die Macht haben, sich im späteren Leben immer zwanghaft zu 
wiederholen. Es ist dann so, als würden die späteren Schicksale photo¬ 
graphische Abbildungen eines im Innern des Seelenlebens vorgezeichneten 
Klischees sein. 

Ich kehre nun zu unserer Heldin zurück und werde versuchen, ihr 
Leben mit Hilfe dieser Einsichten zu beleuchten. Bevor sie geboren war, 
hatte eine bestimmte Familienkonstellation bereits ihr Schicksal vorbestimmt. 
Ihr Vater war Maurice Dupin, Sohn der Aurore de Saxe, Enkel des Prinzen 
Maurice de Saxe, nach dem er benannt wurde. Prinz Maurice aber war der 








natürliche Sohn des Polenkönigs Friedrich August II. und der Prinzessin Aurore 
Koenigsmark, nach der sich George Sand Aurore nannte. Ich erwähne diese 
Genealogie, um den Ahnenstolz der alten Madame Dupin, der Großmutter 
George Sands, verständlich zu machen. Die Mutter George Sands war da¬ 
gegen eine kleine Plebejerin, Tochter eines Vogelhändlers aus dem Seine¬ 
ufer. Die Großmutter Dupin hatte ihre ganze, intensive Bindung an ihren 
berühmten Vater auf den Sohn übertragen. Maurice, der Jüngere, sollte 
zum Ebenbild Maurices des Älteren werden. Was an Liebesforderungen 
vom Vater nicht erfüllt wurde, sollte dieser Sohn erfüllen. Eine häufige, 
schwerwiegende Forderung der Mütter an ihre Söhne. Die Erwartungen 
der Mütter sollen dann nach zwei Richtungen erfüllt werden. Es soll der 
Ehrgeiz am Sohn befriedigt werden, ebenso der Anspruch: einzig und 
konkurrenzlos geliebt zu sein. Großmutter Dupin, geistig ungewöhnlich 
veranlagt, treibt ehrgeizig ihren einzigen Sohn Maurice ins eifrigste und 
mühevollste Studium, sowie sie schon selbst ihren Geist nach dem väter¬ 
lichen Vorbild trainiert und geformt hatte. 

Das heiße, intensive Liebesband zwischen Madame Dupin und Maurice 
war der Intellekt, die Gemeinsamkeit, die sie geschaffen hatte im Studium, 
in der Hingabe an alles, was geistig ist. Dieses Verhältnis erlitt von seiten 
des Sohnes ein typisches Ende: er unternimmt einen Befreiungsversuch 
und wählt sich eine Frau nach dem Gegensatz der Mutter. Diese Frau — 
Sophie, Mutter George Sands, war im Gegensatz zur hocharistokratischen 
Großmutter eine Proletarierin. Sie konnte kaum richtig schreiben und war 
als ausgesprochener Dirnentypus der schärfste Gegensatz zu Madame Dupin, 
dem Inbegriff der sexuellen Keuschheit. War die Großmutter reserviert und 
beherrscht, so war Sophie undiszipliniert, unmanierlich. War die Mutter¬ 
schaft der Madame Dupin unbedingt an das Sakrament der Ehe gebunden, 
so bekam Sophie uneheliche Kinder. 

Zwischen diesen beiden Frauen entstand ein Kampf auf Leben und Tod, 
wie er nur zwischen zwei Liebesrivalinnen entstehen kann. Maurice stand 
zwischen den beiden Frauen, an beide gebunden. Er konnte auf keine 
verzichten, denn sie entsprachen zwei getrennten Strömungen seiner Seele: 
der zärtlichen, durch die Mutter verkörperten, und der sinnlichen, die 
Sophie vertrat. Eine typische Spaltung der Liebesfähigkeit: da Zärtlichkeit, 
dort Sinnlichkeit; dieser Spaltung fiel sein Leben im vollen Sinne des 
Wortes zum Opfer. Ebenso das Schicksal seiner Tochter Aurore. Der ganze 
Konkurrenzkampf um den Besitz des Mannes wurde nämlich später auf das 
Kind übertragen. Um das Herz des Kindes kämpften die beiden, zu Furien 






























Ein Frauensdiicfcsal 


3** 


gewordenen Frauen, wie sie einst um Maurice gekämpft hatten. Nun ent¬ 
stand um die kleine Aurore eine Atmosphäre, die wohl ganz individuellen 
Charakter trägt, die aber eigentlich nur eine Verzerrung von Dingen und 
Situationen ist, die wir auch in einem weniger komplizierten Familien- 
rnili eu zu sehen pflegen. Aurore war auch ein kleines Weibchen wie jedes 
normale kleine Mädchen, auch sie wollte, wie Großmutter und Mutter, 
den Einziggeliebten für sich haben und auch sie begab sich in eine ha߬ 
erfüllte Konkurrenzeinstellung zu beiden Frauen. Whher ich das nun weiß? 
Es könnte ja auch eine, nur auf das Schema begründete analytische Be¬ 
hauptung sein. In den Tagebüchern ist von diesen Dingen keine Rede, 
denn George Sand war sich ihrer nicht bewußt. Aber die künstlerische 
Inspiration, der Dämmerzustand ihrer aufs Papier gebrachten Phantasien — 
ihr unbewußter Doppelgänger, sagt dies in einer ganzen Fülle ihrer Romane. 
Die kurz bemessene Zeit erlaubt mir aus der Menge des Beweismaterials 
nur einiges herauszuholen. In einem Roman „Anicee und Morenita“ 
schildert George Sand das Verhältnis eines kleinen Mädchens Morenita zu 
ihrer Ziehmutter, wie sie überhaupt mit Vorliebe die Beziehungen zu 
Vater - Mutter auch sonst auf die Adoptiveltern verlegt. Aus der ganzen 
Schilderung der Geburtsumstände und vor allem aus der Tatsache, daß 
um die Wiege der Morenita zwei Mütter — die Großmutter und die Mutter — 
stehen, von denen sie immer „meine beiden Mütter“ spricht, genau so 
wie es George Sand in allen ihren eigenen Kindheitsschilderungen tut, 
läßt sich die Identität der Morenita mit der George Sand feststellen. Ebenso 
aus dem Umstand, daß der junge Stephan, der spätere Ziehvater der Morenita, 
zuerst die Alte und erst dann die Jüngere liebt. Die kleine Morenita liebt 
glühend die „Mamita“, wie sie ihre Ziehmutter nennt, bekennt aber hier 
freimütig, wie sehr unter dieser heißen Liebe der Haß lauert. — Aus dem 
Tagebuch der kleinen Morenita: „Warum muß ich denn immer an ihn 
denken? Er hatte mich so lieb als ich kleiner war, er schaukelte mich so 
zärtlich auf den Knien und sprach immer mit mir, wie ein Vater mit 
seiner Tochter. Ich will mir jetzt ernstlich vornehmen, nicht mehr an ihn 
zu denken, ihn nicht mehr lieb zu haben. Ich will an meinen lieben 
Herzog denken. Wer weiß . . ., ob er nicht mein Vater ist?“ 

Nun ist dieser Herzog wirklich der Vater der kleinen Morenita, die er 
einer Zigeunerin zurückgelassen hatte, um dann nach Spanien zu ziehen — 
genau wie der Vater der kleinen Aurora, die er verlassen hatte und nach 
Spanien mit Murat zog. Die Großmutter betrachtete Sophie immer als 
eine Art Zigeunerin. Die Vatergestalt wird — wie es in der Romantechnik 


Imago XIV. 


23 













3^2 


Helene Deutsch 


George Sands außerordentlich häufig vorkommt — in zwei Personen ge¬ 
spalten: in den Ziehvater und den wirklichen Vater. Beiden gemeinsam ist 
daß sie zärtlich die kleine Tochter liehen, aber andere, erwachsene Frauen 
als Liebesobjekte besitzen. Nun wendet sich der Haß der kleinen Tochter 
der Mutter zu, als ihr der Vater sagt: „Du verlangst Unmögliches — es 
gibt eine Person, die ich liebe und stets mehr als dich lieben werde, weil 
ich sie früher als dich geliebt habe.“ Morenita in ihrem Tagebuch: „So 
teuer war ihr jedes Haar an meinem Kopfe, — ach, arme Mamita — wie 
gut warst du zu mir und wie ich dich hasse. Oh, wieviel Schmerz hast du 
mir bereitet, grausame Mamita! Du hast mich geliebt, wie mich niemand 
mehr lieben wird . . . Ach, ich vergesse immer, daß Er dem Alter der 
Mamita näher steht als dem meinigen. Ihn hasse ich! Er hat mich ge- 
demütigt, und es ist ihm leicht geworden, mich seiner Frau nachzusetzen.“ 
„Ach,“ ruft sie, „alle Mütter sollten Witwen oder alte Frauen sein.“ 
Wie klar in diesem Rufe der Versagungshaß dem Vater gegenüber — wie 
klar der Todeswunsch! Weil er sie zu wenig liebte! 

Ich kehre von der Morenita des Romans zur George Sand-Aurora zurück. — 
Nun steht das kleine Mädchen zwischen den zwei kämpfenden Frauen, beide 
erheben den Anspruch, von ihr allein und ungeteilt geliebt zu werden. In 
diesem edlen Wettstreit ist etwas Böses geschehen. Gewöhnlich ist es so, 
daß das kleine Mädchen ihre normale Entwicklung zum Weibe in der 
Weise vollzieht, daß sie in ihren ersten, dunklen Liebesansprüchen an den 
Vater die Mutter, wie die kleine George Sand Morenita, haßt und sich trotzdem 
gerne mit der Mutter identifiziert, d. h. ihr ähnlich zu sein trachtet, um 
vom Vater wie sie geliebt zu werden. Allmählich gibt sie diesen Haß auf. 
Die Mutter aber behält sie als Vorbild ihrer eigenen Weiblichkeit. Nach dem 
Muster der Mutter, der zärtlichen, gütigen, fürsorglichen Mutter, wie sie sie 
kannte oder zu kennen glaubte, gestaltet sie in sich ein Ideal, dem sie nach¬ 
strebt. 

Wir sprechen dann vom Ichideal und meinen damit die Forderung, die 
der Mensch an sich selbst stellt: „So will und soll ich sein.“ Bei der 
Bildung dieses Ichideals wird auch vom Mädchen zum Teil der Vater als 
Vorbild genommen. Der starke, gerechte, allmächtige Vater, wie er ihr einst 
erschienen ist. Einen Teil dieses Vaterideals nimmt sie in sich auf, d. h. 
sie trachtet auch so zu werden wie er, einen Teil aber sucht sie in der 
Außenwelt und richtet ihre Liebessehnsucht normalerweise einem Objekte 
zu, der diesem Vaterideal entspricht. Der Persönlichkeitswert eines Men¬ 
schen, — Mann oder Weib, — die Festigkeit seiner Charakterbildung hängt 

































Ein FrauenscLicksal 


343 


davon ab, ob die Bildung des Ichideals nach dem Muster Vater-Mutter har¬ 
monisch geraten ist. Da ist die arme Aurora vollkommen gescheitert. Die 
Bildung ihrer Persönlichkeit blieb ohne Harmonie, ihr Ichideal zerfiel. In 
ihrer Kindheit sind zwei Mütter, beide lieben den Vater und sind vom Vater 
geliebt. Nach welcher soll sie ihr mütterlich-weibliches Ideal gestalten? Nach 
welcher soll sie ihre Beziehung zu Männern formen? Die Großmutter liebt 
die kleine Aurora wie ihren Sohn, nennt sie „mein Sohn“ und will sie mit 
allen Tugenden des Sohnes ausgestattet wissen. Sie selbst stellt ihr eine für 
die Weiblichkeit der kleinen Aurora verhängnisvolle Aufgabe, in der es heißen 
soll: „Ich bin wie der Vater. Aber vom Vater geliebt zu werden, — meint 
die Großmutter, heißt so werden wie sie, die Alte, die er geschätzt, ge¬ 
ehrt und vergöttert hat. Jene, die Andere, die feindliche Fremde, die war 
nur ein Sinnesrausch, ein Irrtum. Ein Stück des späteren Verhängnisses ist 
vorgebildet: man liebt die Männer so, wie die Großmutter Maurice, den 
Vater der kleinen Aurora, geliebt hat, also als Mutter den kleinen Knaben: 
seinen Geist bildend, seine Schritte lenkend. 

Aber das Funktionieren der seelischen Maschinerie ist nicht verläßlich, 
es macht nicht dort halt, wo es erwünscht wäre, es geht den begonnenen 
Weg weiter und schicksalshaft vollzieht sich das Weitere. Im Mutter-Sohn- 
Verhältnis ihrer späteren Liebesbeziehungen muß Aurora, wie die Großmutter, 
zugunsten einer Dirne verraten werden. Das ist das eine Klischee ihrer Liebes- 
erlebnisse. Dieses Klischee wurde in den Ereignissen ihrer ersten Kindheit 
vorgebildet und wird dann in vielfachen Auflagen ihrer späteren Erlebnisse 
mit photographischer Treue immer von neuem wieder erlebt. 

Auf der anderen Seite steht die Mutter: sie selbst haßt die Großmutter, 
und es gelingt ihr durch ständige Entwertung derselben auch in dem un¬ 
reifen Herzen der kleinen Aurora den Haß einzuimpfen. Alles, was vornehm, 
adelig, selbstbeherrscht ist, die ganze feudale Atmosphäre um die Großmutter 
herum, die Tradition und der Ahnenstolz, alles das wird mit Verachtung 
belegt, Gefühlsbeherrschung wird mit Kälte und Lieblosigkeit gleichgesetzt. 
Und da erweist sich die temperamentvolle, zärtliche Sophie als Siegerin. 
Alles, was an Mutterhaß in der kleinen Seele Auroras angesammelt war, 
wird der „ Bonne-Maman \ wie sie die Großmutter nennt, zugetragen und die 
Liebe- und Haßbeziehung zur Mutter, wie sie die Morenita im Bomane 
schilderte, wird so gelöst, daß der Haß der Großmutter, die Liebe der Mutter 
gilt. Wie in kommunizierenden Gefäßen wechselt dann im späteren Leben 
die Liebes-Haß-Beziehung die Objekte. Später wird die Großmutter geliebt, 
die enttäuschende Mutter gehaßt. Das Enttäuschtsein an der geliebten Mutter 


23 * 















Helene Deutsch 


ist jedoch das Verhängnisvollste im Lehen George Sands. Der Kampf zwischen 
den zwei Frauen endigt damit, daß Sophie das Familienhaus verläßt, um 
ihrer Freiheit in Paris zu leben. Sie verläßt das einsam gewordene Kind 
und macht sich durch ein gegebenes Versprechen, sie bald zu sich zu nehmen, 
frei. Die kleine Aurora wartet nun auf die Einlösung des Versprechens, und 
als die Bonne-Maman entdeckt, daß ihr das kleine Herz fremder denn je gegen¬ 
übersteht, versetzt ihre Eifersucht dem kleinen Mädchen den schwersten 
Anschlag auf ihre später so mißlungene Weiblichkeit. Sie erniedrigt vor dem 
Kinde die Mutter zur Dirne, schildert der Zwölfjährigen in grellsten Farben 
die Vergangenheit der noch immer vom Kinde geliebten Frau und verrät 
ihr geheimnisvoll, daß auch die Gegenwart der Mutter jenes Schreckliche 
enthält. So bleibt die Zukunft ohne mütterliches Ideal und die bereits früher 
durch die Erziehung vorgezeichnete „Männlichkeit“ der kleinen Aurora be¬ 
kommt neuen Zuschuß. In wilder Gier unternimmt Aurora im späteren Leben 
krampfhafte, aber mißlungene Versuche, das mütterliche verdorbene Ideal auf¬ 
recht zu erhalten und damit ihre eigene Weiblichkeit zu retten. Wie ein 
Hohn wiederholt sich in der Literaturgeschichte die Frage: wieso sind die 
Heldinnengestalten George Sands so weiblich, mütterlich und gütig im 
Gegensatz zu ihr selbst? So schuf Aurora in den inspiratorischen Stunden 
ihres Künstlertums in ihren Büchergestalten ihr weibliches Ideal, wie sie 
sein möchte und wie sie ihr Vorbild, die Mutter, haben wollte. 

Und noch ein Rettungsversuch für die entthronte Weiblichkeit. Das, 
was der Mutter zum Vorwurf gemacht wurde, versucht George Sand zu 
einer Forderung sozialer Gerechtigkeit zu erheben: sind die Männer schlecht 
und verachtet, wenn ihr Liebesieben frei und locker ist? Gleichberechtigung 
für die Frauen auf allen Gebieten ist das soziale Programm der ersten 
Feministin, nicht nur in der Überzeugung des Gedankens geboren, aber 
in der Notwendigkeit ihres beleidigten Tochterherzens. Anerkennung des 
unehelichen Kindes: ein Punkt des Programmes, entstanden als Reaktion 
auf jenen Abend, an dem die erregte Großmutter der Zwölfjährigen die 
dunkle Herkunft ihres Bruders Hippolyte enthüllte. 

Lag es in der Absicht der Bonne-Maman, dem kleinen Mädchen das Mutter¬ 
ideal zu verderben, so gelang ihr Unternehmen. Sollte aber ihr eigener 
Einzug in den leergewordenen Raum im Herzen des Kindes der eigentliche 
Zweck ihrer Handlung gewesen sein, so hatte sie fehlgegriffen. Denn der 
unbewußte Mutterhaß der kleinen Aurora entlädt sich jetzt voll auf E die 
Großmutter. Alles, was die Großmutter an geistigen Werten ihr geboten 
hat, wird weggeworfen. — Aurora will nicht mehr lernen und verwandelt 



































Ein FrauensdaicLsal 





sich zu einem bösartigen, undisziplinierten, wilden Knaben. Sie verleugnet 
vollkommen ihre Weiblichkeit, kleidet sich männlich und trachtet mit allen 
Mitteln ihren guten Ruf als Frau zu verderben, genau wie es die Mutter 
getan hat. Sie erreicht tatsächlich die volle Mißgunst der Gesellschaft, man 
spricht von ihr wie von einem bösen Kobold, beschuldigt sie der Gottes¬ 
lästerung und der Zauberei. Diese Flucht ins Männliche wiederholt sich 
im Leben Auroras mit eiserner Konsequenz immer dort, wo eine Liebes- 
enttäuschung erfolgte. Dies ist die zweite Quelle ihrer Männlichkeit, auch 
ihre zweite Äußerungsform. 

Die erste also: Identifizierung mit dem Vater, so wie es die Großmutter 
durch ihre Erziehung erreichen wollte. Diese Identifizierung steht im Dienste 
ihrer ungewöhnlichen geistigen Gaben, denen sie ihre Rolle in der Kultur¬ 
geschichte, vielleicht sogar ein Stück Unsterblichkeit verdankt. 

Die zweite Form ihrer Männlichkeit ist die böse, sadistische, die mit 
Haß und Rache auf Enttäuschung reagiert. Dient die erstere, die geistige, 
im späteren Leben nach jeder Liebesenttäuschung als Zuflucht, so nimmt 
die zweite Form, nämlich die sadistische Rachetendenz, eine sehr unheil¬ 
volle Gestalt an. Mit elementarer Gewalt des inneren Zwanges das einst 
Erlebte immer zu wiederholen, erwidert George Sand jede Liebesenttäuschung 
mit sadistisch-knabenhafter Rache, wie damals, als sie zwölf Jahre alt war. 
Beide Männlichkeitsformen — hier so sehr durch persönliche Kindheits¬ 
erlebnisse bedingt haben doch etwas ganz Allgemein-typisches. Auch 
sonst ist die Verstärkung der männlichen Tendenzen bei der Frau eine Reaktion 
auf enttäuschte Weiblichkeit. Auch im allgemeinen geht die Männlichkeit 
der Frau dort, wo sie nicht zu schöpferischer Aktivität erhoben wird, mit 
einer Verstärkung der sadistischen Reaktionen vor sich. George Sand selbst 
hatte in einem Brief an Flaubert geschrieben, man überschätze zu sehr die 
Bedeutung des anatomischen Unterschiedes der beiden Geschlechter. Im 
Grunde genommen habe er keine psychologischen Konsequenzen. Die arme 
George Sand. Hätte sie die Möglichkeit gehabt, mit dem Lichte der Er¬ 
kenntnis in ihre eigenen, aber unbewußten Konsequenzen hineinleuchten 
zu können, sie hätte anders gesprochen. Sie hätte dann erkannt, daß das 
Böse, das sie den Männern antat, eben eine der Folgen des anatomischen 
Unterschiedes war. Denn die Männlichkeit des Mannes hat ihren Ausdruck 
in der aggressiven Aktivität seines Sexuallebens. Die Aggression der weiblichen 
Männlichkeit wird zum Sadismus, weil ihr zum Ausdruck der aktiven Tat 
die anatomischen Mittel fehlen. Die Folge dieser Einstellung für George 
Sand war, daß sie von einem Teil der Umwelt mit Fluch belegt wurde. 














346 


Helene Deutsch 


Noch verhängnisvoller war es für sie, daß allem, was sie Böses tat, eine 
furchtbare Reue folgte, ein vernichtendes Schuldgefühl, das sich zu schwersten 
Depressionen mit Selbstmordabsichten steigerte. Und weil ihre Seele voll war 
von alten, unüberwundenen Enttäuschungen, war sie auch voll von Wut 
und Rachetendenzen und auch voll von nachfolgender Reue und Schuld¬ 
gefühlen, die sich in immer wiederholenden schweren Depressionen 
äußerten. 

Ich habe behauptet, daß die sadistisch-männlichen Enttäuschungsreaktionen 
des späteren Lebens nach dem Vorbild ihrer ersten Reaktionen auf die Ver¬ 
nichtung des mütterlichen Ideals durch die Großmutter gebildet waren. Und 
nun will ich mir wiederum eine Bestätigung für das Gesagte von George 
Sand selbst holen. 

In ihrem Roman: „La petite Fadette “, die Grille, schildert sie ein Mädchen, 
das vollkommen diesem Bilde entspricht, wie ich es Ihnen auf Grund der 
Tagebücher George Sands entworfen habe und welches die kleine Aurora 
nach jener Aufklärung von seiten der Großmutter bot. Die kleine Fadette 
gebärdet sich wie ein böser, sadistischer Knabe: „Die Enkelin der Mutter 
Fadet wurde in der Gegend die kleine Fadette genannt, teils weil dies ihr 
Familienname war, teils, weil man meinte, daß sie sich in der Zauberei 
auskenne. Es wird allen bekannt sein, daß Fadette Farfadette ein boshafter 
Kobold ist.“ 

Als die kleine Fadette zehn Jahre alt war, wurde sie von der Mutter, 
die als Dirne mit den Soldaten zog, verlassen. Als Aurora zehn Jahre alt 
war, wurde sie von der Mutter verlassen, die nach Paris ging, um dort ein 
flottes Leben zu führen. Später erzählte ihr die Großmutter, Sophie habe 
ihren Vater im Kriege kennengelernt, in den sie als Dirne mit den Soldaten 
zog. Die Großmutter der Fadette versteht sich auf Kräuter und andere Wissen¬ 
schaften, von ihr bekommt die kleine Fadette ihre Kenntnisse. Die Gro߬ 
mutter der Fadette ist böse und lieblos zum Kinde, dem sie Vater und Mutter 
ersetzen soll. Die Lieblosigkeit der Atmosphäre, in der die kleine Fadette- 
Aurora lebt, ist dadurch erzeugt, daß alle Bewohner die Schuld der Mutter 
an dem Kinde austragen, sie bösartig, unzärtlich behandeln. Dies sei das 
Motiv, sagt Fadette-Aurora, für ihre boshafte Bubenhaftigkeit. 

Aber Fadette verwandelt sich in ein gutartiges, schönes Weib, aus der 
sadistischen Aggression wird die liebende, passive Duldsamkeit des Weibes. 
Diese Umwandlung vollzieht sich, als sie von einem Manne geliebt, selbst 
zur weiblichen Liebe erwacht. So erfüllte George Sand, wiederum in den 
Phantasien ihrer Romane, Wünsche, die ihr das Leben versagte: durch die 














































Ein ErauenscLucksal 



347 


erprobte Liebe eines Mannes wurde sie zum Weibe, — der tiefste Wunsch 
ihres Herzens, der nie in Erfüllung ging, denn bei jeder der zahlreichen 
Liebesbeziehungen erwies sich der innere Zwang der Wiederholung der 
erlittenen Enttäuschung stärker und die arme George Sand, wurde wieder 
zur bösen Fadette. Nur in der Ekstase des künstlerischen Dämmerzustandes 
erlebte sie erfüllend ihre mißlungene Weiblichkeit. 

Jetzt erhebt sich die Frage: war das Verhältnis George Sands zu Männern 
nur durch die katastrophale Tatsache ihrer zwei Mütter bedingt? Wird denn 
nicht nach psychoanalytischen Erfahrungen die Liebe des Weibes nach dem 
Muster ihrer Beziehung zum Vater gestaltet? 

Mitten drin, beim Schein der glühenden Gewehrkugeln im zornigen 
Getöse der Kanonen stand ein großer Held am Schlachtfelde und kämpfte 
für die Freiheit des Vaterlandes. Das ganze Heldenepos, in dessen Mittel¬ 
punkt der Eine Napoleon stand, wurde von der glühenden Phantasie 
der kleinen Aurora aufgenommen und mit der Sehnsucht nach dem abwesenden 
Vater erworben. Er war der große Heros, der an der Spitze der napoleoni- 
schen Soldaten, an der Seite Murats, südwärts marschierte. — In den 
Analysen meiner Patientinnen beobachte ich immer wieder, daß die Er¬ 
innerung an die Kriegszeiten verbunden ist mit der kindlichen Vorstellung, 
das ganze Schicksal des Kriegsausganges liege in den Händen des Vaters, 
der in Wirklichkeit als Gefreiter oder Korporal beim Train seine Dienste 
unfreiwillig versah. Und Maurice de Saxe war keine geringe Persönlich¬ 
keit im napoleonischen Abenteuer der Weltgeschichte. 

Der Triumphbogen, der die besiegte Welt umspannte, wurde mit seiner 
Hilfe erbaut, und als man am Himmel einen roten Schein sah, sagte die 
Mutter der kleinen Aurora „ tiens , regarde , c'est une bataille et ton pere 
y est sans doute“ (Schau, das ist eine Schlacht und dein Vater ist sicher 
dabei.) Die kleine Aurora baute eine Festung aus vier Sesseln auf, in der 
Mitte stand ein alter Ofen, die ganze reale Welt versank im dichten Nebel 
und zwischen den Sesseln stand das dreijährige Mädchen, zupfte am Stroh 
und nur der entzückte Gesichtsausdruck und die glühenden Augen ver¬ 
rieten ein tiefes Erleben. Dann wurde es in der Phantasiewelt lebhafter, 
deutlicher, das Zupfen wurde durch Handeln ersetzt, Klein Aurora fuchtelte 
mit den Händen, schlug auf den unsichtbaren Feind, versteckte sich in den 
phantasierten Wäldern, sammelte grausam verstümmelte Leichen am Schlacht¬ 
felde ihrer Einbildungskraft — und siegreich ließ sie die Kämpfe beenden — 
als Held, als Maurice de Saxe. Diese Identifizierung mit dem immer 
abwesenden Vater ist der George Sand in ihren Memoiren vollkommen 

















3^8 


Helene JDeutscIi 


bewußt. Er war nicht da — und sie tat das, was wir alle häufig tun, wenn 
uns das Objekt unserer Liebe entzogen wird: wir werden selbst zu diesem 
Objekte, wir werden ihm gleich, um in uns selbst den Trost für den 
Verlust zu finden. — So wurde die kleine Aurora kriegerisch und was uns 
Frauen im Kriege erspart geblieben ist, unsere sadistischen Triebe zu be¬ 
friedigen, das tat Aurora in ihren phantasierten Kämpfen. 

In diesen Schlachten, in denen die Aurora den Maurice de Saxe als 
grausamen Helden spielte, ist der früheste und in ihrer Entwicklung älteste 
Grundstein zu ihrer späteren Männlichkeit gelegen. Die Zweimüttertragödie 
lieferte dann ihre Beiträge und Verstärkungen. 

Die Neigungen zu voller Versunkenheit im Phantasieleben und der Zug 
zur Grausamkeit ist sehr typisch für die erste ausschlaggebende Kindheit 
George Sands. Den Tag verbringt sie in ihrer Festung, am Stroh zupfend, 
abends liegt sie in ihrem Bettchen und zupft stundenlang am Vorhang. 
Die Bänder desselben erzeugen beim Beiben ein Geräusch, eine Art musi¬ 
kalischer Begleitung zu ihren Phantasien. Die Mutter sagt im Nebenzimmer: 
„Voila Aurore qui joue du grillage. Mitten drin in der befriedigenden 
Stille der Phantasien entstehen Ängste und Beklemmungen und ein Er¬ 
eignis wird zum Zentrum dieser kindlichen Ängste. 

Ein Polichinelle ein Wurstl in rotgoldener Kleidung — drängt sich 
in ihre Einsamkeit. Aurora empfängt das Geschenk mit gemischten Gefühlen. 
Im Kasten neben ihrer geliebten Puppe, ihrem kleinen Töchterchen, darf 
er nicht eingesperrt werden. Sie ahnt für das kleine Weibchen etwas 
Schreckliches, Unheimliches aus dem Tete-ä-tete mit dem Wurstl. Sie hängt 
ihn an den Ofen, gegenüber dem Bettchen. Sein männlicher Blick verfolgt sie 
bis zum Einschlafen und sie erwacht schreiend mit Angstschweiß bedeckt. 
Sie träumte, der Wurstl nimmt Feuer vom Ofen und läuft brennend ihr 
und ihrer Puppe nach. Seit diesem Traum leidet die Kleine an Feuer¬ 
phobie, d. h. an Angst vor allem, das irgendwie mit Feuer und Brennen 
zu tun hat. In dieser Angst erkannte George Sand später etwas, woran alle 
Kinder in irgendeiner Form leiden. Sie nannte es die große „souffrance 
morale (das Seelenleiden) der Kinder. Sie meinte auch, — es gab damals 
keine Psychoanalyse und somit keine Gegnerschaft, — diese Angsterlebnisse 
der Kinder stünden in irgendwelcher Beziehung zu Nervenleiden, von denen 
Frauen so häufig befallen werden. Man müsse gegen das Seelische ein 
seelisches Mittel finden. Sie selbst barg ihr Köpfchen beim Diener Pierret 
und die Angst verschwand. Dieser Pierret, den sie zärtlich liebte und der 
häufig in ihren Romanen erscheint, war eine Art Vaterersatz für sie. 


































Em Frauenschicksal 


349 


Die kleine Aurora tötete die napoleonischen Feinde zwischen vier Sesseln; 
sie riß ihren Puppen die Glieder aus und hatte Respekt nur vor denen, 
die unzerbrechlich und solid konstruiert waren. Arme George Sand! Sie 
phantasierte das ganze Leben, und während in ihrem Kopfe die Romane 
entstanden, zupfte sie noch als Sechzig]ährige an irgendeinem geeigneten 
Gegenstände. Männer, die sie liebte, waren für sie gebrechliche Puppen, 
sie riß ihnen die Glieder aus und sehnte sich nach einem soliden Genossen 
im Spiele des Lebens. Und dieser rotgoldene Wurstl, der sie feuersprühend 
und angsterregend bedrängte, ich glaube, er war der einzige Mann ihres 
Lebens, demgegenüber George Sand vollkommen weiblich empfand. Der 
Vater kam zeitweise vom Felde und wurde von der leidenschaftlichen Sophie 
eifersüchtig in Beschlag genommen. Er war ein zärtlicher Vater und ver¬ 
wöhnte die Kleine, wenn er nach Hause kam. Doch die Mutter stellte sich 
dazwischen und verhinderte die Verwöhnung. Nein — mit Recht sagt die 
Morenita im Roman: „Alle Mütter sollen alte Frauen oder Witwen sein.“ 
Das große Liebesbedürfnis des leidenschaftlichen Kindes scheint jede Form 
der Liebesversagung bitter empfunden zu haben. Es ist sehr charakteristisch 
für George Sand, wie sehr sie immer im Widerspruch zu sich selbst steht, 
indem sie die Dinge, die sie mit unerhörter Intuition in sich aufnimmt 
und künstlerisch verarbeitet, mit dem bewußten Wissen vollkommen über¬ 
sieht und verleugnet. 

So schildert sie z. B. ihre Kindheit als rührend sonnig, strahlend und 
glücklich. Den realen Erinnerungen aber, die sie bringt, haftet fortwährend 
der Ton einer ewigen Enttäuschung an. Ein blutiger Fall aus den Armen 
der Amme, ein Lied von abgeschnittenen Lorbeersträuchen, das sind die 
ersten Kindheitserinnerungen, die sie behalten hat. Dieses Liedchen erfüllte 
ihr Kinderherz mit einer grenzenlosen Traurigkeit und viele Jahre — viel¬ 
leicht das ganze Leben traten in ihre Augen Tränen und befiel sie Melan¬ 
cholie, wenn sie an dieses Liedchen dachte: 

Nous ri’irons plus au bois , Wir gehen nicht mehr in den Wald, 

Les lauriers sont coupes. Die Lorbeersträucher sind geschnitten. 

„Erkläret mir“, sagt George Sand, „die Sonderbarkeiten der Kindheit. Nie 
konnte ich bei der Erinnerung an dieses Lied den mysteriösen Eindruck 
verwischen.“ — Die kleine Aurora bewundert ein weißes Kleidchen, sie 
glaubt, es ist das schönste Wunder der Welt — die Mutter macht eine 
harmlose Bemerkung: „Das Kleid ist gelblich“ — und schon versinkt die 
Kleine in traurige Reaktion wie bei einer schweren Enttäuschung. So 
reagieren Erwachsene und Kinder, wenn ihre Seele so voll von Enttäuschungen 














ist, daß sie jeder dazu geeigneten Situation die ganze Bereitschaft zur neuer¬ 
lichen Enttäuschung entgegenbringen. Dann ist es schöner, bei Phantasien 
zu verbleiben, denn die erfüllen alles Gewünschte. So baut George Sand 
von der ersten Kindheit an die Kluft aus, die zwischen ihrem Phantasie¬ 
leben und der Realität auf immer entstanden war. 

Mit fieberhafter Freude sieht die noch nicht Vierjährige der Reise 
nach Spanien entgegen. Hier wird sie ihren heldenhaften Vater wiedersehn, 
seinen herrlichen Anblick und seine Liebe genießen. Aber welche Ent¬ 
täuschung! Die Frau und der Beruf treten dazwischen. Die arme Kleine 
fühlt sich einsamer und verlassener denn je. Sie wird als Bub, angezogen 
wie der Vater, Murat vorgestellt. In den Erinnerungen verdichtet sich 
wieder, wie einst Napoleon, jetzt sein Vertreter Murat mit dem Vater zu 
einer Heldenfigur. Im späteren Leben — ein einziges Mal — führt sie 
die Liebessehnsucht in die Arme eines männlichen, väterlichen Mannes. 
Aber auch da drängt sich die verhängnisvolle Macht des unbewußten 
Wiederholungszwanges dazwischen und das Schicksal stellt sie dem ge¬ 
liebten Manne es war der berühmte Michel — so vor, wie einst die 
Mutter dem Murat: mon fils. Und Michel nennt sie „mein Sohn“; aber 
Michel war ein männlicher Mann und suchte bei der Sexualpartnerin das 
Weib. Dies fand er nicht, denn dem Vater-Murat-Michel stellte sie das 
Schicksal als „Sohn“ vor. 

Mit unerfüllter Zärtlichkeitssehnsucht in Spanien sich selbst über¬ 
lassen, steht das kleine Mädchen vor einem großen Spiegel und spielt mit 
sich einmal den Vater, einmal die Mutter, einmal in Knabentracht, einmal 
gekleidet wie die elegante Sophie. So war ihr Leben später in Mann und 
Weib geteilt, so sah sich auch George Sand selbst, als sie in den Spiegel 
ihrer gespaltenen Seele zu schauen lernte. Ihre kleine Stimme ruft nach 
einem verstehenden Wesen, es antwortet nur ein hohler Ton, der über die 
großen Hallen des Muratschen Palais schallt. Die Mutter erklärt ihr, dies 
sei Echo. Freudevoll nennt die kleine Aurora den neuen Freund „hon jour 
echo . So einsam war sie und so einsam blieb sie. 

Diese spanische Reise, die ein Triumph für ihr kleines Mädchenherz 
sein sollte, hatte einen schauderhaften Epilog. Beide: ihre MPutter Sophie 
und die kleine Aurora standen mit schulderfülltem Herzen an der Wiege 
eines neugeborenen blinden Knaben. Die erstere, sich schuldig fühlend, 
weil sie, nicht ihrer Liebe, aber der Eifersucht auf spanische Frauen folgend, 
ihrem Manne nachreiste und so das Ungeborene durch Strapazen der Reise 
schädigte. Die Kleine fühlte sich schuldig, weil sie im unerfüllten Liebes- 










































Ein Erauensdiicksal 


35i 


Bedürfnis den Ungeborenen mit dem eifersüchtigen, stillen Wunsch begrüßte, 
er möge doch nicht da sein. Sie hörte auch sprechen, daß die Schädigung 
dadurch entstehen konnte, weil die kleine Tochter, immer auf den Knien 
der Mutter sitzend, die Leibesfrucht bedrückte. Als der kleine Knabe starb, 
verfiel Sophie in einen schweren Nervenzustand, in dem sie sich einbildete, 
der Kleine sei lebendig begraben. Maurice mußte sich bei Nacht hinaus¬ 
schleichen, um die kleine Leiche zu exhumieren. 

Im Unbewußten der Aurora entstand ein unheilvolles Band zwischen 
ihr und der Mutter. Sie konnte sich mit der später Entwerteten nicht 
identifizieren, wie es die Bildung ihres weiblichen Ichideals erfordert hätte. 
Aber im Schuldgefühl wegen einer zwar unbegangenen, doch das Unbewußte 
belastenden Tat waren sie identisch. 

Wie ein Stein rollt jetzt die tragische Verquickung der Ereignisse. 
Kurze Zeit nach dem Tode des Knaben, vielleicht im Anschluß an die 
Erregungen der Ausgrabenacht, fällt Maurice so unglücklich vom Pferde, 
daß er als Leiche nach Hause gebracht wird. Die vierjährige Aurora ver¬ 
bleibt weiter in ihrem scheinbar affektlosen Zustand der ewigen Versunkenheit. 
Sie akzeptiert gar nicht in Wirklichkeit den Tod des Vaters und fragt nur 
von Zeit zu Zeit ungeduldig: „Wann kommt der Vater vom Tode zurück?“ 

Der Tod von Maurice trägt unzweideutig den Charakter eines un¬ 
bewußten Selbstmordes. Denn in der Hölle der häuslichen Kämpfe der 
beiden Mütter und vor allem unter der fast pathologisch zu nennenden 
Eifersucht Sophies hatte der arme Mann viel zu leiden und sichtlich half 
ihm das Unbewußte bei dieser Flucht in den Tod. Einer schien dies zu 
wissen. Deschartes, ein väterlicher Lehrer und Freund von Maurice. Viele 
Jahre später, als sich Aurora in einer ihrer typischen melancholischen 
Verstimmungen mit Selbstmordgedanken herumtrug und doch den Selbst¬ 
mord bewußt ablehnte, geschah folgendes. Sie ritt mit Deschartes am Strand 
der Indre, an einer gefährlichen Stelle bekam sie Schwindel, verlor das 
Bewußtsein und fiel mit dem Pferde ins Wasser. Nur die Geschicklichkeit 
ihres Pferdes Colette rettete sie vor dem Ertrinken. Als sie den Vorgang: 
die Selbstmordabsichten und den Bewußtseinsverlust Deschartes, schilderte, 
schrie er auf: „Ah mon Dieu! Allors c'est hereditaire“ („Mein Gott, das 
ist also vererbt.“) Wie es auch sein mag, Sophies Herz war nach dem Tode 
ihres Mannes voll von Schuldgefühlen; auch hierin identifizierte sich die 
kleine Aurora mit der Mutter. „Alle Mütter sollen Witwen sein“, lautet 
der Eifersuchtsschrei der kleinen Morenita. Ebenso scheint die Eifersucht 
auf die Mutter — bei der kleinen Aurora zum Todeswunsch gegen den 














35a 


Helene Deutsch 


Vater gesteigert — dann die schweren Schuldgefühle und Depressionen 
hervorgerufen zu haben. 

In einem ihrer Romane: Laura, schildert George Sand eine junge 
Frau, die nach dem Tode ihres Mannes in einen Zustand der Melancholie 
verfällt. Diesen Zustand empfindet die Heldin selbst als eine Art Wahnsinn, in 
dem jede Fähigkeit eines Gefühles erloschen ist — alles, was Zärtlichkeit 
Wärme, Gefühlsbeziehung zur Welt darstellt, wird im Innern abgeschlossen! 
Laura möchte sterben, sie erlaubt sich den Selbstmord nicht, bekennt aber, 
daß der „moralische Selbstmord“ — wie sie ihren Zustand benennt —- 
für die Selbstquälerei einen noch stärkeren Reiz hat, als der körperliche 
Selbstmord. Dieses Verhalten — eine masochistische Orgie der Selbst¬ 
bestrafung — ist die Folge der Tatsache, daß Laura sich am Tode ihres 
Mannes, der durch den Sturz vom Pferde gestorben ist, schuldig fühlt. 
Als sie ihn am Tage des Unglücks wegreiten sah, verspürte sie etwas wie 
eine Ahnung es war in ihr eine Wut, daß er zu einem anderen Zwecke 
als um ihretwillen das Haus verläßt. 

Die äußeren Umstände dieses Todes, der Kampf zwischen der Heldin 
des Romans und ihrer Schwiegermutter, der vornehmen Marquise, ist so 
sehr eine Kopie der realen Situationen, daß kein Zweifel bestehen kann: 
Sophie und Laura sind identisch. Anderseits ist die Charakterbildung der 
Laura, die Art der Intelligenz und vor allem der melancholische Zustand 
so mit der Beschreibung analog, wie sie George Sand über ihre eigenen 
Melancholien an anderer Stelle gegeben hat, daß auch hier kein Zweifel 
vorliegen kann: Laura ist ebenso wie mit der Sophie auch mit George 
Sand selbst identisch. 

Ich möchte hier bemerken, daß die Auffassung der neurotischen De¬ 
pression in diesem Buche genau den Erfahrungen entspricht, die uns die 
Analyse über diese Zustände brachte. George Sand hatte sogar das Wissen, 
daß diese Zustände dauern müssen, solange das Schuldmotiv — der nicht- 
erledigte, unbewußte Haß — in der Seele wuchert. Sie selbst befreite sich 
erst in den letzten Jahren ihres langen Lebens von ihrer Melancholie und 
erlangte die volle Liebesfähigkeit erst bei ihren Enkeln. 

Diese unterdrückte, schuldbeladene Haßbeziehung zum Vater war aber 
nicht die einzige Form, in der sich die Bindung an den einst Heißgeliebten 
das ganze Leben erhalten hat. 

Eine sonderbare Phantasiegestalt begleitet das ganze ereignisreiche Leben 
George Sands. Diese Gestalt heißt in ihrer Phantasie Corambe und ist 
eigentlich eine selbstgeschaffene Gottheit, die im Zentrum ihrer großen 





































Ein Frauensdiicksal 


353 


Religiosität steht. George Sand war außerordentlich religiös, doch wehrte 
sie selbst immer die Gleichsetzung ihrer eigenen Frömmigkeit mit irgend¬ 
einer der herrschenden Religionen ab. Sie glaubte an eine erhabene, unfehl¬ 
bare Gottheit. Sie glaubte aber auch an die göttliche Macht der Liebe, 
der erotischen Leidenschaft. Sie war voll Sehnsucht nach einem überirdi¬ 
schen Wesen, aber gleichzeitig baut sie Eros — dem Gott der geschlecht¬ 
lichen Liebe Altäre und die Liebesleidenschaft ist für sie die tiefste 
Art der Frömmigkeit. Diese zwei Religionen hatten eine parallele Strömung 
in ihrer Seele und konnten sich nur in einer Gemeinsamkeit treffen: in 
der nie erfüllten Sehnsucht. 

Corambe, der Gott George Sands, entstand zu der Zeit, als die zwölf¬ 
jährige Aurora einsam, von der Mutter verlassen, für ihr gesteigertes Liebes- 
bedürfnis nach einem Objekt suchte. Bei jedem Mädchen erwacht in 
dieser Periode des potenzierten, aber ungestillten Liebesdranges von neuem 
die ursprüngliche Sehnsucht nach dem ersten Liebesobjekte: dem Vater. 
Die im Unbewußten verbleibende Sehnsucht findet dann ihre zweckent¬ 
sprechende Ableitung in der schwärmerischen Anbetung einer Heldenfigur 
eines Romans oder der Wirklichkeit. Aber George Sand suchte nach einem 
Ideal, das es auf Erden nicht geben konnte. Ihr Vater — so wie sie ihn 
in ihren ersten Kindheitsphantasien sah — konnte nur durch einen Gott ver¬ 
treten werden. Eines Nachts nahm in ihrer Phantasie das ersehnte Ideal 
den Namen Corambe an. Sie sagt, die Buchstaben legten sich vor ihrem 
geistigen Auge zu diesem Worte zusammen. Dieser Name wurde zum Titel 
ihres Seelenromans und zum Gott ihrer Religion. Wörtlich: „II devient 
le titre de mon roman et le dieu de ma religion“ Corambe war das Ge¬ 
heimnis ihrer Träume und für lange Zeit ihr religiöses Ideal. Sie baute 
ihm einen Altar, brachte ihm Opfergaben und ihr Leben wurde von seiner 
steten Anwesenheit erfüllt. Er war immer neben ihr, beobachtete ihr Be¬ 
nehmen, freute und kränkte sich mit ihr. Daß Gott Corambe ihr Liebes- 
objekt war, geht hervor aus der Äußerung, die sie macht: „Je crois que 
j'etais devenue un peu comme ce pouvre fou qui cherchait la tendresse. u 
Auf seinen Altar legte sie Liebesgaben, es durften aber nie getötete Ge¬ 
schöpfe sein. Sichtlich hatte Gott Corambe ihr die Befriedigung ihrer sadisti¬ 
schen Triebe verboten. Sie erzählte ihm lange Geschichten, — ihre Träume 
und Phantasien, — nur erotische Liebesgeschichten liebte er nicht zu hören. 
Mann und Weib erschienen immer nur in Freundschaft verbunden, als 
Zeichen der stattgefundenen Verdrängung ihrer Sexualität. 

Gott Corambe behält ihr ganzes Leben lang dieselbe Rolle. Bei ihrem 










354 


Helene HeutscL 


künstlerischen Schaffen war er in der Feder, in der Tinte, er war das 
Objekt der Inspiration. Diese platonische Beziehung zu ihrem Gotte ist 
einmal in einem ekstatischen Zustand, den sie erlebte, heißer und leiden¬ 
schaftlicher geworden. Die bereits erwähnte Rebellion Auroras gegen die 
Großmutter nach der schicksalsschweren Entwertung der Mutter endigte 
damit, daß man sie ins Kloster gab. Hier wütete sie als schlimmer Knabe —- 
diable — genannt, weiter. Eines Tages betete sie vor Tizians Bild mit dem 
sterbenden Christus. Sie wurde von Mitgefühl für den Leidenden ergriffen, 
und ein grenzenloser Schmerz bemächtigte sich ihrer. Schwindel erfaßte 
sie, eine Stimme rief: tolle , lege — eine Halluzination, die sie auch als 
solche erkannte. Sie erlebte die volle Glückseligkeit eines ekstatischen Zu¬ 
standes. Sie fühlte Gott in sich, in ihrem Herzen pochen, in ihren Adern 
fließen, ein Glückstaumel erfaßte sie, sie erlebte Gnade, sie wurde mit 
Gott eins — er war in ihr — sie in ihm. Sie vergleicht selbst dieses 
Wunder mit dem Erlebnis der heiligen Theresa — nur eines wehrt sie ab, wie 
beim Corambe. Für sie ist Gott Vater, Bruder, Ewigkeit, nie aber wie bei 
den Heiligen Gemahl (epoux). Dagegen verwahrt sie sich entschieden. 

Die Entstehungsgeschichte des Corambd ist klar: der ersehnte, zum Ideal 
erhobene Vater wird wieder personifiziert und mit allen jenen Tugenden 
ausgestattet, die die Phantasie herbeisehnt. Er wird als Sexualobjekt ver¬ 
leugnet und die Beziehung zu ihm wird auf die Stufe des religiösen Glaubens 
erhoben. Die Ekstase, wie sie von George Sand erlebt und geschildert wurde, 
ist der Psychoanalyse wohl bekannt. Es ist eine intimste, intensivste Ver¬ 
einigung mit Gott-Vater, eine sublimierte Form — man könnte sagen das 
andere Ende — der sexuellen Verbindung. 

Hier in der Religiosität George Sands im Verhältnis zu Corambd ist das 
Erbe ihrer Vaterbeziehung verankert. Statt die Liebe einem leiblichen 
Manne als Nachkomme des Vaters zu bringen, bleibt ihre Liebesfähigkeit 
an die Kindheitsphantasie gebunden, kann nie in einem realen Erlebnis 
objektiviert werden. Die größte wunscherfüllende Tugend des göttlichen 
Corambe scheint zu sein, daß er sie nie verläßt, immer zugegen ist. Das 
Wort Coram scheint die Bedeutung des lateinischen „in Anwesenheit**, 
„zugegen zu haben. War doch George Sand zu jener Zeit eine fleißige 
Lateinschülerin. Aber Be? Das ist unklar. 

Als Aurora klein war und der Vater abwesend, versuchte ihr die Mutter 
das Alphabet beizubringen. Die Kleine erwies sich als fleißig und begabt. 
Aber eine sonderbare Schreib- und Lesestörung 'hatte sie. Der Buchstabe „5** 
existierte für sie nicht, sie ließ ihn lange und hartnäckig aus dem Buch- 



















Ein Frauensdiicksal 


355 


stabenschatz aus und kein Strafen und kein Bitten war imstande, diese 
Fehlleistung zu korrigieren. Wer „A“ sagt muß auch „ B “ sagen, lautet 
unser Sprüchlein: oü est A est aussi B. „A“ und „B“ war das Buch¬ 
stabenpaar, das Aurora zuerst lernte, und als man sie frug, warum sie „ B “ 
nicht schreiben und lesen will, erwiderte sie in sonderbarem, bösen Trotz: 
„ c’est que je ne connais pas le B“ (Weil ich das „ B“ nicht kenne.) Viel¬ 
leicht ist jenes in der Kindheit verdrängte „ B 6i identisch mit Be, das später 
als Ergänzung zu Coram wieder auftaucht. In Anwesenheit von Be würde 
es heißen. Wenn das in der Kindheit verdrängte „ B “ sich auf den abwesenden 
Vater, den sie damals kaum wirklich kannte, bezog, so würde sein Auf¬ 
tauchen in Corambe sehr verständlich sein. 

Diese Bindung an Corambe scheint also — wie schon gesagt — ein 
großes Hindernis für ihr weibliches Liebesieben geworden zu sein. Alle 
Liebesverhältnisse, die wir aus ihrem Leben kennen, bis auf das mißlungene 
zu Michel, tragen deutlich den Charakter einer Mutter-Kind-Beziehung. 
Ein typisches Beispiel ist das verhängnisvolle Verhältnis zu Müsset. Es fing 
als Freundschaft an, ein zärtliches Bündnis zwischen dem genialen Knaben 
und der gütigen Mutter. Sie nannte ihn immer „mein gutes“ oder „mein 
böses Kind“, sie fühlte sich bei ihm in keiner sexuellen Gefahr, bis sie 
mütterlich seinen Tränen unterlag und sein Begehren erfüllte. Müsset war 
immer ein Muttersöhnchen und seine Liebeswahl stand unter dem Zeichen 
einer neurotischen Mutterbindung. 

Vor der italienischen Reise, deren schrecklicher Epilog in Venedig allen 
gut bekannt sein dürfte, nahm sie ihn mütterlich aus den Händen seiner 
Mutter entgegen, mit dem Versprechen, als Mutter über ihn zu wachen. 

Die erste Periode dieser Beziehung war nach dem Klischee geformt: Bonne- 
Maman, die Großmutter und ihr Sohn Maurice. George Sand zärtlich, 
fürsorglich, anregend. In der mütterlichen Einstellung vollkommen im Kinde 
aufgehend, ganz Opfer, ganz Identifizierung mit dem geliebten Kinde. Aber 
das Klischee hat noch seine Fortsetzung. Die Großmutter wurde von Maurice 
durch eine Dirne getrennt. Müsset beginnt in Venedig mit Dirnen die Mutter- 
George zu betrügen. Er behauptet: sie, ihre Kälte, ihr Interesse an Dingen, 
die außerhalb ihm lagen, trieben ihn dazu. Sie bestreitet dies. Beide haben 
recht, sie tat das ihr Vorgeworfene automatisch, wieder im Sinne des Wieder¬ 
holungszwanges, er, um als gereiztes, anspruchsvolles Kind die Mutter zu 
quälen. Auf die Erkrankung Georges reagierte Müsset, wie Kinder zu reagieren 
pflegen: er war beleidigt und rächte sich. Die berühmte Nacht in Venedig: 
Am Krankenbette des fiebernden Alfreds küßt 'und umarmt George den Arzt 















356 


Helene Deutsch 


Pagello. Sie leugnet — dieses Leugnen ist aber genau so unverläßlich wie 
die Fieberdelirien Alfreds — denn George Sand konnte so blind und vom 
Bewußtsein unkontrolliert, ihren unbewußten Tendenzen folgen, daß sich 
häufig Erinnerungsfälschungen ergaben. 

Wie es auch war: in der Mutter-Kind-Beziehung konnte sie nicht nur 
die gütige Mutter bleiben; wie die Mutter sie grausam verlassen hat, muß 
auch sie grausam enttäuschen und wieder enttäuscht werden. Die Mutter-Kind- 
Beziehung ergibt sich klar aus einem unzweideutigen Briefe Mussets: „Du 
dachtest, daß du meine Geliebte bist? Aber du warst nur meine Mutter 
Der Himmel schuf uns für einander, aber unsere Umarmung war ein Inzest/ 4 

In ewig ungestillter Sehnsucht nach Liebe ging George Sand von einer 
Beziehung in die andere. Keine konnte gelingen, denn was George Sand 
zwanghaft erreichte, war die Beziehung zu schwachen, infantilen, hilfe¬ 
bedürftigen Knaben. Was sie suchte, war die Liebe des großen, starken, 
göttlichen Vaters. Dieser mußte in der Verdrängung und in der religiösen 
Sublimierung bleiben. Genau wie die Beziehung zu Müsset war auch die 
zu Chopin. Sie rettet den lungenkranken Knaben, um dann als Mutter 
von seiner leidenschaftlichen Eifersucht gequält zu werden. George Sand 
geht auch hier in aufopfernder Liebe auf, um wieder den dunklen Mächten 
ihres Unbewußten folgend, dem schwachen Spielzeug die Glieder zu brechen. 
Sehnsüchtig nach dem starken Vater suchend, fand sie immer nur schwache 
Söhne, selbst enttäuscht, enttäuschte sie grausam, Leid zufügend, litt sie 
selbst tief und bitter. 

Die Liebe jedes Weibes zum Manne wird aus zwei Quellen gespeist: 
aus der Liebe zum Vater und aus der Liebe zum Sohne, auch bevor er 
noch geboren wurde. Diese beiden Liebesformen müssen zusammenschmelzend 
befreit von Inzestscheu einem und demselben Objekte Zuströmen. Bei der 
George Sand erlitten beide Strömungen schwere Entwicklungsstörungen. 
Von der ersten Jugend an ins Phantasieleben versunken, vermischte sie die 
Realitäten der Außenwelt mit den Inhalten ihrer Phantasien. Nie konnte 
das Liebeserlebnis sich frei von den Bindungen ihrer Phantasie erfüllen, 
jedes wurde durch die Überreste der Kindheitserlebnisse determiniert und 
zum tragischen Abschluß gedrängt. Auch der Versuch, ihre Weiblichkeit 
durch die Ehe zu retten, mißlang. Ihren Sohn Maurice liebte sie mütter¬ 
lich — störte aber und komplizierte auch diese Beziehung durch diejenige 
zu anderen Söhnen. 

Leid zufügend hatte sie sehr unter dem Drucke der Schuldgefühle ge¬ 
litten. Inbrünstig sich nach Weiblichkeit sehnend, mußte sie immer, von 







































Em Frauensdiicksal 


35/ 


neuem als Weib enttäuscht, zum Manne werden. Als George Sand im Geistigen, 
als „Piff° e l^ im Affektiven. So nannte sie sich immer in der trostlosen Trauer 
nach jedem neuen Verlust der Weiblichkeit. „Bete melancolique et abominable“ 
nannte sie ihren männlichen Doppelgänger und machte ihn für ihren Jammer 

verantwortlich. 

Meine Damen und Herren! Ich bin mit dem Bildnis George Sands fertig. 
Es ist ein kleiner Abschnitt aus einer analytischen Lebensgeschichte, deren 
Ganzes viele Abende ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen müßte. Wenn 
man uns Frauen vorhält, daß wir geistig wenig geleistet haben, so pflegen 
wir uns hinter den Schultern einiger, die mehr waren als wir Alltagsfrauen, 
zu verbergen, und da berufen wir uns auch auf George Sand. Vielleicht 
ist uns heute klar geworden, daß das Schicksal George Sands sie wohl zu 
einem großen Geiste der Weltgeschichte machte, daß dies aber auf Kosten 
ihres weiblichen Glückes geschehen mußte. Vielleicht werden wir einmal 
nach langen Erkenntnissen den Mut haben, wenn man uns vorwirft, wir 
schaffen keine Kulturwerte, zu sagen: „Wir haben Besseres zu tun!“ 


Imago XIV. 


24 
















Vc 


on, um un 


d über H 


am sun 


Von 

Ed uar d H itsckmann 

Wien 


Seit meiner psychoanalytischen Studie „En* Gespenst aus der Kindheit 
Knut Hamsuns“ .sind mehrere Bücher über den Dichter erschienen, die 
biographische Daten enthalten, auch analoge Artikel, ferner ein großer, 
neuer Roman des nun fast neunundsechzigjährigen Meisters und eine 
Kindergeschichte aus der Feder seiner (zweiten) Gattin, die von seinen 
vier Kindern handelt. 

In den Bücherläden, in denen sich bei uns Deutschen zu Weihnachten 
die Käufer drängen, wird viel nach den Werken von Hamsun und über 
ihn gefragt, und in den Schaufenstern prangt auf diesen vielgekauften 
Büchern das neueste Porträt des von seinen Kollegen Thomas Mann und 
Hermann Hesse so hochgerühmten Romanciers. Grau, aber nicht greis, den 
Hut etwas verwegen aufgesetzt, den Schnurrbart gezwirbelt, in elegantem 
englischen Anzug — selbstschonender Narzißmus vertreibt das Altern und 
den Tod. 

Der schwedische Schriftsteller John Landquist, von dem 1920 in der 
„Imago“ ein interessanter Aufsatz über „Das künstlerische Symbol“ er¬ 
schienen ist, hat sein älteres Buch über Hamsun nun durch vom Dichter 
ausgehende authentische biographische Daten sowie Ausführungen über die 
neueren Werke des großen Norwegers ergänzen können. 1 

Da ist zunächst festzustellen, daß in der Erzählung des Achtzehnjährigen 
„Björger“, die mir seinerzeit nicht zugänglich war, schon dieselbe Ein¬ 
stellung zur Liebe sich findet, wie ich sie als für typisch bei Hamsun fest- 


1) Knut Hamsun. Sein Leben und sein Werk. Verlag A. Fischer, Tübingen 1927. 













Von, um und über Hamsun 


stellen konnte: dieselbe Eifersucht, dieselbe bittere Lust, zu quälen und 
gequält zu werden, derselbe Haß gegen den an Bildung oder Reichtum 
überlegenen, sozial glücklicher gestellten Mitbewerber und das eifrige Be¬ 
mühen, ihn zu überstrahlen. 

Landquist anerkennt die psychoanalytischen Konstatierungen an Hamsun 
als richtig und war selbst durch den Roman „Die Weiber am Brunnen“ 
auf das Thema der Kastration bei unserem Dichter aufmerksam geworden. 
Wie sehr dieses immer wieder fast als obligates wiederkehrt, zeigt auch der 
neue Roman „Landstreicher“, 1 in dem eine der Hauptfiguren, August, 
wie folgt eingeführt wird: „August hatte bei einem Unglücksfall auf dem 
Schiff eine Verletzung am Mund erlitten und ein paar Zähne verloren. 
Nun suchte er dies nach Möglichkeit durch einen starken Schnurrbart und 
eine Reihe von Zähnen aus Gold, eine sogenannte Brücke, zu verbergen . . . 
Die Mädchen hatten nichts an Augusts Zähnen auszusetzen, aber die jungen 
Männer begannen zu lachen und ihn zu verhöhnen. Sie waren eifersüchtig 
und böse auf diesen August, der da herkam und die Mädchen um sich 
versammelte. Wie man sieht, taucht hier das Kastrationsthema als orales 
auf, wie es der Gespenstergeschichte aus Hamsuns Jugend entspricht. Ist 
im Roman „Die Weiber am Brunnen“ der Schiffer durch einen Unfall 
auf dem Schiffe tatsächlich kastriert und lahm geworden, so ist der Schiffs¬ 
unfall hier hauptsächlich durch den Zahnverlust charakterisiert. Da aber 
die Folgen des Unfalles auch durch den starken Schnurrbart verhüllt werden 
müssen, ist wohl auch an eine Weichteilverletzung gedacht, die uns wieder 
an die Hasenscharte gemahnt, die im „Segen der Erde“ eine so auffallende 
Rolle spielt. Wie hochgradig also bei Hamsun der Komplex der oralen 
Kastration aus der frühen Kindheit nachwirkt, bestätigt sich hier neuerlich 
in unwiderleglicher Weise. 

In dem neuen Roman läßt sich aber noch deutlicher als früher erkennen, 
daß ein auffallend getragenes Schmuckstück des Mannes, z. B. Uhr oder 
Ring, ihn erst in den Augen der Mitmenschen vollzumachen dienen soll, 
sozusagen als Kastrationskompensation. So sind unzählige Male diese Schmuck¬ 
gegenstände als Stolz des Mannes angeführt. 

Ring ist es auch, um dessentwillen eine Leiche beraubt wird; die 
nächtliche Szene auf dem Friedhof gemahnt an das Gespenst aus der Jugend 
Hamsuns. Beraubt wird die Leiche jener Vaterfigur eines lüsternen Schiffers, 
der im Sumpf versenkt- wird, wie später genauer ausgeführt wird. 



i) Verlag Albert Langen, München 1928. 


24 * 














36o 


Eduard Hits da mann 



Und sogar an den Zahnraub werden wir wieder erinnert. August, der 
Besitzer jener Goldprothese, will in Todeserwartung seinen hilfreichen Freund 
entschädigen: „Wenn ich tot bin, sollst du mir meine Zähne ausbrechen . . . 
du sollst eine Zange nehmen und sie ausbrechen. Das ist Geldes Wert.“ 

Augenverlust durch Ausstechen findet sich schon auf der ersten Seite 
des Romanes: allerdings ist der Drehorgelspieler nur, um Mitleid und Geld 
zu erwerben, scheinbar auf einem Auge geblendet; in einer späteren Szene 
sogar auf beiden. 

Der Zusammenhang zwischen Kastrationskomplex und dem Kriegszustand 
der Liebenden bei Hamsun ist vor allem für die Frau klar. Sie ist stolz 
gegen den (durch den Penisbesitz) überlegenen Mann, läßt ihn, wenn sie 
verrät, daß sie liebt, dafür wieder ihre Überlegenheit fühlen. Des Mannes 
Rache, besonders wegen Verrat der Frau, entspricht seiner Enttäuschung 
im Narzißmus, im Alleinbesitz der Frau. Sadistisch-anale Triebregungen 
verfolgen dann zu Tode. 

All dieses Abnorme scheint im realen Leben des Dichters keine Rolle zu 
spielen; es liegt vielmehr wohlverdrängt wie abgekapselt in dem Reservoir, 
aus dem er dichtet. Seit der Überwindung der jugendlichen Passivität gegen¬ 
über dem Gespenst ist sein Liebesieben männlich und stark, sein Ich souverän. 
Man vergleiche daneben die auch im Leben so unglücklich-kranke Natur 
Strindbergs. 

Eine typische Figur kehrt auch in diesem neuen Roman wieder, der 
mächtige, reiche Besitzer, der die Frauen nur einfach auf sein Lager winkt, 
und sie kommen auch schon. Hier aber findet er früher, als sonst gewöhn¬ 
lich, sein Ende, seine Strafe. Wie, das ist echter Hamsun! Der Schiffer 
Skaaro stellt auch der jungen Frau Anne Maria nach, im Walde kommt es 
zu etwas, sie aber wehrt sich und verletzt ihn am Auge. (So verletzt Jo¬ 
hannes z. B. seinen Nebenbuhler in „Viktoria“: Augenverletzung steht für 
Kastration.) Da der Schiffer sie noch ein zweites Mal auffordert, sich ihm 
hinzugeben, schwankt sie, denn sie vergeht fast vor Eifersucht auf die 
anderen von ihm Auserwählten. Aber ihr Stolz fühlt sich nicht genug 
gebeten, d. h. der Mann erniedrigt sich nicht genug zum Bitten, — auch 
er ist stolz, — und so beschließt sie, sich grausam an ihm zu rächen. Sie 
lockt ihn in einen Sumpf, in dem sich einmal ein liebesenttäuschtes Mädchen 
hat versinken lassen. Er kommt ins Sinken, ist aber zu stolz, sie um Hilfe 
zu bitten und ertrinkt, vergebens nach Hilfe anderer brüllend. Später gesteht 
sie ihr Verbrechen der Behörde und begründet es wie folgt: „Weil er mich 
haben wollte, aber er bat mich nicht genug und ließ mich stehen.“ 





















































Von, um und über Hamsun 


36l 


War es schon oft bei Hamsun der Wanderer, der Jäger, der Reisende, 
der den Helden vorstellte, so sind es hier zwei junge Leute, deren 
Odyssee zu Lande und zu Wasser die „Landstreicher“ enthalten. Die Natur¬ 
schilderungen treten stark zurück, aber das Getriebe der Welt zieht am 
Leser fesselnd vorüber, alle Todsünden treiben ihr Spiel, Betrug, Mord, 
Kindesmord und Ehebruch. Verarmen ist zum Schluß das Los der Alten, denn 
die Jugend kommt herauf. Ehrlichkeit und Unehrlichkeit sind vielfach das 
Thema, das Werk scheint nicht ganz ohne erzieherischen Einschlag. (Werden 
doch des Dichters Kinder schon größer!) Eine der schönsten Szenen ist die 
Einweihung des sympathischen Jünglings in das Mysterium der Liebe durch 
eine junge Mutter; aber aus diesem ehebrecherischen (inzestuösen) Bund 
erwächst Leiden. 

Was ich vielleicht in meiner Studie über den Dichter zu betonen nicht 
hätte unterlassen sollen, ist das wiederkehrende, alle erfüllende Thema des 
Besitzes und Gewinnens, des materiell Hinaufkommens, des Verdienens der 
Leute. Gründen, einen Laden einrichten, eine neue Erwerbsquelle ent¬ 
decken, wird zum wichtigen Thema, wie es ja im Leben eines ist; aber 
in der Dichtung ist es sonst nicht so selbstverständlich und — wie es sich 
auch aus einer Reihe früherer Romane ergibt für Hamsun charakteristisch. 

Das alte Hamsunsche Thema vom Finden wertvollen Metalles im Boden 
spielt hier keine Rolle, aber die Mutter Erde ernährt ihre Kinder doch 
reichlich, wenn sie sich darauf verstehen, wie der Landwirt Hamsun. Wie 
im „Segen der Erde“ wird auch hier Boden urbar gemacht, aus Moor 
fruchtbarer Boden gewonnen. 

Hamsun beherrscht die unbewußte Symbolik; so bringt die liebesbedürftige 
Frau dem Mann, auf den sie es abgesehen hat, die Pfeife zurück, die ihr 
Mann ihm weggenommen hat. Eine bezeichnende Fehlhandlung begeht 
auch die Frau, die das Nachthemd ihres Kindes dorthin mitbringen soll, 
wo es über die Nacht eingeladen ist, aber ihr eigenes abgibt, respektive 
mit jenem verwechselt hat. Sie verrät, daß sie selbst dort übernachten 
möchte. 

Wie so oft bei unserem Dichter, klingt das Buch nicht mit einem Ende 
aus; man verharrt ungeduldig und neugierig auf ein nächstes Werk des 
jung gebliebenen alten Epikers; es sieht aus, als führte er seine Helden 
ein nächstes Mal nach Amerika, wo er selbst als junger „Landstreicher“ 
einst sich umgetrieben hat. Ruhelos, suchend damals, schwankend, denn 
sein Genie mußte erst finden, daß es seinen Ausdruck im Wort, im oralen 
Produkt, am besten zu geben wußte. 














36z 


Eduard HitscLmann 


Um nun wieder auf die Bücher über Hamsun zurückzukommen, so ist 
das von Landquist ein wertvolles, das von Carl David Marcus 1 durch 
nichts bedeutsam, als durch die Bildbeigaben, von denen ich die des 
Zwanzigjährigen und das Familienbild mit den vier Kindern und des 
Dichters zweiter Frau, Marie, hervorhebe, der Autorin jenes Buches über 
die Kinder, „Die Langemdkinder“. 2 Die biographischen Angaben sind 
hier zum Teil unrichtig, die Paraphrasen der Werke wertlos. 

Bei Landquist hingegen finden wir authentische Daten und persönliche 
Äußerungen Hamsuns, sowie eine literarhistorische Einordnung von Wert. 
Landquist weiß zu berichten, daß es ein charakteristischer Zug bei Hamsun 
sei, daß er sich nicht für seine eigene Biographie interessiert und auch 
nicht für die Selbstanalyse, die darauf ausgeht, den Entwicklungsgang der 
eigenen Persönlichkeit zu erklären. Seine Zurückgezogenheit wurzele in 
einem schamhaften Stolz, der unzerstörbarer Natur sei. Wenn Hamsun 
dem Schriftsteller Landquist einige periphere Lebensdaten zur Verfügung 
stellte, so machte er damit „zum absolut ersten Male eine Ausnahme“. Er 
schreibt: 

„ . . . Es ist doch wohl übrigens ganz gleichgültig, ob meine biographi¬ 
schen Daten korrekt sind oder nicht. Ich erhalte aus allen Ländern An¬ 
fragen nach diesen ganz gleichgültigen Dingen, die in Abhandlungen, 
Nachschlagewerken, Büchern und Artikeln Verwendung finden sollen — 
ich antworte jedesmal ablehnend oder ich antworte überhaupt nicht. Meine 
Arbeiten gehen die Öffentlichkeit an, mein Privatleben scheint mir dagegen 
allzu geringes Interesse für die Menschen zu haben. . . . Im Laufe der Jahre 
habe ich sechs oder acht Bücher über mich erhalten, aber nicht einmal 
die habe ich gelesen, die ich sprachlich verstehen konnte, die Zeit hat so 
gut wie jedes Interesse für mich selbst in mir vertilgt, ich gehe mich nicht 
mehr sonderlich an, geblieben ist mir nur eine große innere Scham, wenn 
ich gelobt werde, ich halte es nicht aus, es zu lesen. Ich verberge meine 
Augen. Es ist wohl eine gewisse Hysterie. Mag es sein, wie es will.“ 

Man sieht, der Dichter entschädigt sich für die Exhibition seiner buch¬ 
gewordenen Tagträume — durch Verbergen seiner Person: Selbstschutz des 
Produktiven. 

Empfehlung zur Lektüre sei noch dem reizenden Kinderbuch der Frau 
Hamsun gewidmet, das in schmuckloser Form mit viel Humor Kinder 


1) Knut Hamsun. Berlin-Grunewald, Horenverlag, 1926. 

e) Verlag Albert Langen, München 1928. 





































Von, um und üter Hamsun 


363 


untereinander und mit Tieren, im Bauernhaus und auf der Alm darstellt; 
es kann dem Besten seiner Art an die Seite gestellt werden und scheint 
auf einem Tagebuch über die Kinder zu beruhen. Der ältere, dem Vater 
ähnliche Sohn, liegt halbe Tage lang tagträumend auf dem Dach. Wird 
er auch ein Dichter werden? 

Vielleicht sind zum Schlüsse ein paar Worte zum Thema Biographie 
gestattet. Kann sie noch lang sich aufs Referieren von Daten, aufs Beschreiben 
beschränken!? Ist nicht auch hier das Bedürfnis allgemein geworden, zu 
verstehen!? Man muß zugeben, daß es den Schaffenden selbst gar nicht 
interessieren muß, vielleicht sogar darf, welche unbewußten Triebkräfte in 
ihm vorhanden sind. Die Bestätigungen, die der neue Roman bringt, geben 
die Beruhigung, daß die Analyse nicht fehlgegriffen hat. Als tagträumerisch, 
sogar halluzinatorisch veranlagter Knabe hat Hamsun, wie das Gespenst seiner 
Kindheit zeigt, intensiv das Ödipuserlebnis und die Kastrationseinstellungen 
durchgemacht; vom Thema der oralen Kastration kommt seine Phantasie 
nie mehr ganz los. Die orale Veranlagung aber erscheint für den Dichter 
wesentlich. Aus der heftigen passiven Ödipuseinstellung erhebt sich der 
Knabe zum kraftvoll und narzißtisch sich umtuenden Jüngling, der nach 
Wechsel vollen Kämpfen in den Berufen spielt auch Vortragen und Predigen 
ans Orale an endlich als Ureigenstes die dichterische Verwertung seiner 
eigenartigen Tagträume zu seinem Lebensinhalt macht. Von Bauern ab¬ 
stammend, kehrt er als Gutsbesitzer wieder zur Natur zurück; die Stadt hat 
er immer nur leidend ertragen, als Hypochonder, zu den ihn sein Kastrations¬ 
komplex gemacht hat. Öfters bezeichnete er sich als Neurastheniker, hielt das 
Leben in der Stadt für schädlich und erklärte sich vorzeitig alt. Seine Natur¬ 
liebe, die für ihn durch die tiefst verdrängte Mutterliebe gespeist ist, ist 
unwiderstehlich geblieben, nur die Natur gibt ihm Frieden. So sagt der 
alte Jakob im „Segen der Erde“ zu seinen Söhnen: „Der Mensch und die 
Natur bekämpfen einander nicht; sie geben einander recht, sie treten nicht 
in Wettbewerb . . ., sie gehen Hand in Hand . . . Ihr liegt an einem warmen 
Busen und spielt mit einer warmen Mutterhand und trinkt euch satt.“ 
Und Joakim im „Landstreicher“ fordert die Geschwister auf, die eigene 
Erde zu bebauen, Norwegens Erde. 











Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der 
Wie derbolungsz wrang 

Vortrag in der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung in Budapest am 12. Juni 1926 

Von 

M arjorie E. Pran kl m 

London 


Dr. Ferenczi ersuchte mich, die Beobachtungen, die ich vor ungefähr 
drei Jahren über eine Möglichkeit der Verwandtschaft zwischen der Epi¬ 
lepsie und der Physiologie der bedingten Reflexe machte, zusammenzufassen, 
obgleich diese Beobachtungen mit der Psychoanalyse nur in entferntem 
Zusammenhänge stehen. Mein Interesse und meine Kenntnisse wurden 
durch einen am University College London im Jahre 1923 durch Dr. Anrep, 
einem gewesenen Arbeitsgefährten Pawlows, gehaltenen Lehrkurs gesteigert. 
Eine zufällige Bemerkung des Dr. Tylor Fox, Leiters der Lingfield 
Epileptic Colony, der den Vorträgen ebenfalls beiwohnte, trug dazu 
bei, in mir die Idee aufkommen zu lassen, daß zwischen beiden Gegen¬ 
ständen ein Zusammenhang besteht. 

Für den Zweck dieser Abhandlung ist die vielumstrittene Frage der 
Epilepsie als klinischer Einheit und nach ihrer differenziellen Diagnose 
von geringer Bedeutung. Persönlich neige ich zur Ansicht, daß die ge¬ 
wöhnlich für echte Epilepsie gehaltenen Fälle und die Hysterie trotz der 
Grenztypen psychisch verschieden sind, und daß sie sich auch von den 
durch grobe organische Verletzungen verursachten Fällen unterscheiden. 
Möglicherweise bildet die Epilepsie mehr eine Krankheitsgruppe als 
eine spezifische Krankheit, deren charakteristischer Zug in einem Hange zu 
konvulsiven Reaktionen besteht, die von verschiedenen, bei nicht besonders 
empfindlichen Individuen unwirksamen Ursachen herrühren können. Ich 







































Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der VTederkoltmgszwang • 365 

hatte meine Daten zu einem anderen Zwecke gesammelt, darum enthält 
meine Serie nur ziemlich typische Fälle und keine Grenzfälle. Diese Ab¬ 
handlung jedoch unternimmt es keineswegs, die primäre Ätiologie der 
Krankheit erklären zu wollen, sondern nur versuchsweise einige Andeutungen 
betreffs einiger charakteristischer Züge zu geben. Unter diese reihen sich: 
die Periodizität der Konvulsionen oder anderer Störungen (Kopfweh, gastro¬ 
intestinale, vasomotorische oder sensorische Veränderungen), die anomale 
Reaktion auf einen Wechsel in Therapie und Umgebung, der manchmal 
scheinbar unerklärlich zu zeitweiliger Besserung führt; zeitweiliges Auf¬ 
hören und Wiederkehr der Krämpfe, Wirkung der Arzneien usw. 

Der bedingte Reflex wird gebildet, wenn ein äußerer Reiz durch das 
wiederholte Zusammentreffen mit dem natürlichen Reize eines angeborenen 
Reflexes die Macht erwirbt, dieselbe Reaktion hervorzurufen wie jener. 
Die Reize können welcher Art immer sein. Wenn man z. B. einem Hunde 
mit einer Speichelfistel Nahrung gab und man im selben Augenblicke 
läutete, und nach vielen Wiederholungen dieses Vorganges wieder läutete, 
ohne die Nahrung zu geben, gebärdete der Hund sich, als bekäme er 
Nahrung, schied Magensaft und Speichel aus (deren Menge und Qualität 
bestimmt wurden) usw. Entsprechendes gelingt, wenn man Lichteffekte, 
Formen, Gerüche, Berührungen als Reize verwendet. Watson hat mit 
Menschen die gleichen Experimente gemacht. 

Die wohlbekannten Versuche in Leningrad wurden zumeist an den 
Speichelreflexen von Hunden ausgeführt. Das Ergebnis war, daß die ein¬ 
zigen natürlichen unbedingten Reize die des Geschmackes und der all¬ 
gemeinen Empfindung sind; ein Hund, der noch kein Fleisch gegessen 
hat, sondert, wenn er Fleisch zum erstenmal sieht, keinen Speichel ab. 
Der angewendete unbedingte Reiz war eine Säure, der angewendete be¬ 
dingte Reiz war von verschiedener Natur: Schall (Stimmgabel von ver¬ 
schiedener Hohe), Licht, Geruch, Tasten, Zeitintervalle. Dieselbe Reaktion 
kann der Enderfolg der verschiedensten äußeren Reize sein, d. h. dieselbe 
motorische ableitende Bahn kann durch verschiedene zuleitende Bahnen 
gereizt werden. Dasselbe trägt sich vermutlich bei epileptischen Anfällen 
zu. Mit sorgfältiger Arbeit, welche die Hemmung assoziierter bedingter 
Reflexe in sich faßt, kann eine bedeutende Unterschiedsempfindlichkeit 
zwischen verwandten Reizen erlangt werden (z. B. zwischen ähnlichen 
Tönen der Stimmgabel); allerdings ist die Fähigkeit hiefür eine beschränkte. 
Wenn man den unterscheidenden und hemmenden Kräften zu viel zu¬ 
mutet, kann ein vollständiger Zusammenbruch des Gleichgewichtes 













366 


Alarjorie E. Franklin 


und können alle bedingten Reflexe zerrüttet werden. Der Hund bricht 
nieder und entwickelt eine sogenannte „experimentelle Neurasthenie“. Er 
erholt sich nach einer Ruhepause, aber die Wiederherstellung der bedingten 
Reflexe nimmt längere Zeit in Anspruch als das erstemal. Wenn die Unter¬ 
schiedsempfindlichkeit besonders erzogen wurde, neigen die bedingten Reflexe 
gewöhnlich zur Diffusion, so daß dieselbe Reaktion durch Reize ähnlicher 
Art erzeugt wird; z. B. durch die annähernd gleichen Töne der Stimm¬ 
gabel, durch Reize an nahegelegenen Hautstellen, durch gleiche Zeitinter- 
valle usf. 

Falls die Analogie richtig ist, müssen es gewöhnlich — etwas allgemein 
gesagt — erworbene Reize sein, welche auch die Anfälle der Epilepsie be¬ 
einflussen, entweder nur aus der Umgebung stammende, oder äußere Reize, 
kombiniert mit inneren wie psychischen, diätetischen usw. Personen, die mit 
Epileptikern in enger Verbindung leben, wissen oft über die Art der Ein¬ 
flüsse, die wahrscheinlich Anfälle hervorrufen, zu berichten, obgleich die¬ 
selben individuell verschieden sind und wenig Reziehung zur vermutlichen 
Ätiologie zeigen. Indessen erkenne ich an, daß die Unsicherheit der an¬ 
genommenen bedingten Reize und der Art und Weise, in der sie sich 
mit den natürlichen Originalreizen vereinigen, schwache Punkte meiner 
Theorie bleiben. 

Die Psychoanalyse konnte das Problem aufklären, weshalb manche Gleich¬ 
zeitigkeit verschiedener Reize leicht, andere jedoch nur schwer bedingte 
Reflexe in einem Individuum hervorrufen. 

Manchmal begegnen wir Fällen, in welchen die Anfälle durch ganz 
spezifische Reize psychischer Natur angeregt werden, die aber nichtsdesto- 
weniger nach Art der bedingten Reflexe wirken. Ferenczi erwähnte 
mir einen Fall, in dem etwa halbjährlich wiederkehrende Anfälle gewöhnlich 
um sechs Uhr nachmittags auf dem Heimwege auftraten. Es gibt zahlreiche 
ähnliche Reispiele in der ärztlichen Literatur, so wird von einem Fall 
berichtet, in welchem die stärkeren Anfälle durch das Hören eines plötz¬ 
lichen Schalles, ein anderer, in welchem sie durch das Reiben des linken 
Fußrückens hervorgerufen wurden (die Prüfung des rechten Scheitellappens 
brachte keinen abnormen Befund); ein weiterer, in dem sie durch Tippen an 
der linken Seite der Nase provoziert wurden. Unter den Fällen meiner Beobach¬ 
tung war ein, möglicherweise der Klaustrophobie verwandter Fall, von dem 
berichtet wurde, daß der Patient jedesmal gerade vor dem Anfall aus dem 
Hause gerannt ist, so daß die Anfälle immer außerhalb des Hauses auf¬ 
traten; und in drei Fällen aus einer Serie von vierzig Fällen einer Am- 





















Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der Wdederbolungszwang 


36 / 


bulanzabteilung eines Spitals für Nervenkranke, traten die Anfälle, obwohl 
gelegentlich auch unabhängig davon, den Berichten nach, jedesmal nach 
besonderer Änderung der Diät auf. 

Pawlow stellte fest, daß zwar alle bedingten Reflexe erworben sind, 
aber die Fähigkeit, sie zu bilden, angeboren ist. Einige seiner Versuche, 
die er am Internationalen Physiologischen Kongreß 1923 beschrieb, scheinen, 
einem verkürzten Bericht im British Medical Journal gemäß, nicht nur 
eine Möglichkeit bezüglich der Beziehung von Erblichkeit und Epilepsie 
zu gestatten, sondern auch von großer Wichtigkeit für das Problem der 
Vererbung erworbener Eigenschaften überhaupt zu sein. Er fand, daß das 
Vermögen, spezifische bedingte Reflexe zu erwerben, d. h. die Geschwin¬ 
digkeit ihres Erlernens, den nachfolgenden Generationen weißer Mäuse 
überliefert wurde. Zum Beispiel waren bei der ersten Generation dreihundert 
Wiederholungen der kombinierten Reizung für die Bildung des bedingten 
Reflexes nötig, bei der zweiten hundert, der dritten dreißig, der vierten 
nur fünf. Er meint, daß in einer späteren Generation der von den Vorfahren 
erworbene Reflex angeboren sein mag. 

Die Aufmerksamkeit mag auch auf einige weitere Züge des Verhaltens der 
bedingten Reflexe gelenkt werden, die in Beziehung zur Epilepsie zu stehen 
scheinen. Nicht nur eine Kombination von beliebigem äußeren Reiz und 
angeborenem Originalreiz kann einen bedingten Reflex erzeugen, sondern 
es kann auch ein stark festgelegter bedingter Reflex selbst wieder als Reiz 
zur Bildung anderer führen, so daß es zu einer „Kettenbildung“ bedingter 
Reflexe kommt. Ein bedingter Reflex wird inaktiv, wenn er nicht „sta¬ 
bilisiert“ wird, d. h. wenn sein Reiz nicht von Zeit zu Zeit mit dem un¬ 
bedingten Originalreiz, mit dem er das erstemal kombiniert worden war, 
gleichzeitig gegeben wird. Es verbleibt jedoch auch vom unstabilisierten 
Reflex eine Spur, die sich in leichterer Auslösbarkeit des Reflexes durch den 
Originalreiz und in der Möglichkeit offenbart, den bedingten Reflex nach 
einer nur geringen Zahl neuerlicher gleichzeitiger Applikationen von beiderlei 
Reizen wiederzubeleben. Er war also nur unterdrückt, nicht vernichtet. 

Diese interne Hemmung oder Unterdrückung des bedingten Reflexes 
bei erleichterter Wiederbelebung hat in der psychoanalytischen Erfahrung 
überzeugende Parallelen. Sie erinnert an die Art, in der sich die epilep¬ 
tischen Anfälle während des Aufenthaltes in einer Heilanstalt vermindern 
oder aufhören, und schon nach kurzem Besuche zu Hause wiederkehren; 
ein Kind, dessen Anfälle im Spital durch Luminal unterdrückt wurden, 
hatte zu Hause trotz Luminal wieder jseine lAnfälle. Eine Frau in einer 












368 


Alarjorie E. Eranklm 


Anstalt für Geisteskranke, die in der Anstalt keine Anfälle hatte, erlitt 
außerhalb immer Rückfälle; hieher gehört auch die Wiederkehr der seit 
sechzehn Jahren ausgebliebenen Anfälle bei einem Manne im Kriegsdienst 
(ein Beispiel für Regression) usw. 

Jeder Reiz, ob positiv oder negativ, kann einen bedingten Reflex bilden 
Zum Beispiel kann der Zeitraum in folgender Art als Reiz wirken. Wenn 
man dem Hunde Nahrung oder einen eine Absonderung bedingenden Reiz 
m regelmäßigen Zeitspannen gibt, wird der Hund in denselben Zeitspannen 
auch dann mit Speichelfluß einsetzen, wenn keine Nahrung mehr verabreicht 
wird. Gleicherweise kann es gelingen, die Reaktion einen bestimmten Zeit¬ 
raum nach Darreichung des Reizes hervorzurufen, wenn die unmittelbare 
Wirkung eine hemmende war. Die Tatsache, daß Zeitspannen einen bedingten 
Reflex erregen können und daß jedem bedingten Reflex eine Periode der 
Unansprechbarkeit von wechselnder Dauer folgt, während welcher das Tier 
Reizen unzugänglich ist, mag mit dem Moment der Periodizität in Be¬ 
ziehung stehen. 

Ein bedingter Reflex kann ein erregender oder ein hemmender sein. 
Wenn gleichzeitig mit einem beliebigen bestimmten Reiz die sonst gewohnte 
Darreichung des Futters unterbleibt, so kommt solche bedingte Hemmung 
zustande und hat die Einstellung, Verminderung oder Verhinderung der Ab¬ 
sonderung zur Folge. Eine bedingte Hemmung ist ein aktiver Vorgang von 
gleicher Natur, wie ein positiver bedingter Reflex, obgleich Versuche mit 
Arzneien und anatomische Experimente gewisse Verschiedenheiten der beiden 
Arten bedingter Reflexe aufwiesen. Es ist möglich, daß einem Epileptiker 
die Kraft mangelt, die bedingten Hemmungen zu erwerben, und die fest¬ 
gesetzten Reflexe zu hemmen. Beide Typen des bedingten Reflexes, die positive 
und die bedingte Hemmung, können ihrerseits wieder gehemmt werden, 
und zwar kann diese Hemmung wieder eine innere oder eine äußere sein. 

Die innere Hemmung kommt vor, wenn ein erworbener Reflex keine 
Stabilisierung erfährt. Eine Spur davon bleibt übrig, so daß man sie unter 
gewissen Umständen verhältnismäßig leicht wieder bilden kann. 

Die äußere Hemmung ist eine vorübergehende und kommt vor, wenn 
andere Reize zu gleicher Zeit wie der den bedingten Reflex auslösende 
Reiz auf dasselbe Aufnahmsorgan einwirken. Man kann dies mit der Zer¬ 
streuung der Aufmerksamkeit oder der Hemmung einer Tätigkeit durch 
eine andere gleichzeitige zurückführen; solcher Art sind auch die Me¬ 
thoden, die manchmal erfolgreich angewendet werden, um einen epilep¬ 
tischen Anfall abzuwehren, wie etwa Reiben der Arme oder Spazieren- 

















Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der \V^iederbolungszwang 


36 9 


gehen usw. Sowohl bezüglich der äußeren als auch der inneren Hemmung 
scheinen jedoch die Epileptiker dürftig ausgerüstet zu sein. 

Die Schläfrigkeit oder der tatsächliche Schlaf, welcher gewöhnlich einem 
epileptischen Anfall folgt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Pawlows 
Bemerkungen über die Beziehung von bedingten Reflexen und dem Schlaf. 
Er sagt, daß jeder für sich allein angewandte bedingte Reflex, der unstabili- 
siert und dann innerlich gehemmt ist, früher oder später zur Schläfrig¬ 
keit und gelegentlich zu tatsächlichem Schlaf führt. Er meint, daß der 
Schlaf das Ergebnis einer Ausstrahlung der Erschöpfung sein mag, die 
zustande kommt, wenn nur gewisse Zellen allein und keine anderen gleich¬ 
zeitig gereizt werden, und vergleicht dies mit der Wirkung der Monotonie. 

Eine der meist bekannten Eigenheiten der Epileptiker ist die zeitweilige 
Heilwirkung beinahe j eder Veränderung der Umgebung oder der Behand¬ 
lung. Es ist nichtssagend, dies nur durch Suggestion zu erklären. Echte 
Epileptiker reagieren im Gegensatz zu Hysterikern auf die bekannten Me¬ 
thoden der Suggestion oder der Hypnose nicht leicht (ist doch ihr Zustand 
mehr eine narzißtische als eine Übertragungsneurose). Es ist daher sehr 
unwahrscheinlich, daß zufällige oberflächliche suggestive Einwirkungen zu 
solchen gründlichen Veränderungen führen sollten. Auf Grund der Phy¬ 
siologie der bedingten Reflexe jedoch würden diese Besserungen bei Än¬ 
derung des Milieus erklärlich. Zum Beispiel kann irgendeine Arznei, die 
auf den Krampfanfall keine spezifische Wirkung hat (vielleicht durch Be¬ 
einflussung der Zelltätigkeit durch chemische oder Gefäß Veränderungen usw.), 
auf den Organismus auf solche Art ein wirken, daß die bedingten Reflexe 
für eine Weile gehemmt sind, bis Wiederanpassung stattfindet. (Dies unab¬ 
hängig von einer eventuell spezifischen, die Gehirntätigkeit herabsetzenden 
und krampfstillenden oder sonstigen Wirkung.) Eine gleiche Theorie kann 
die nach gewissen gegen Epilepsie angewendeten Operationen eintretende 
vorübergehende Besserung mit nachfolgendem Rückfall erklären, z. B. nach 
Exstirpation des Dickdarmes, der Nebenniere oder der Mandeldrüsen, oder 
nach Trepanationen. Die gründliche Störung, die in diesen Fällen verursacht 
wurde, mag die Reflexverbindungen für eine Weile desorganisiert haben. 
Anderseits jedoch mag der Erfolg der Operationen vielleicht auch als eine 
narzißtisch-traumatische Wirkung mit veränderter Verteilung der Libido 
aufgefaßt werden. 1 In der regelmäßigen Atmosphäre einer Heilanstalt mögen 


1) Siehe dazu auch die Arbeit Ferenczis „Pathoneurosen“, „Hysterie und Patho¬ 
neurosen“. Internationale Psychoanalytische Bibliothek II. 










3/o Alarjorie E. Franklin 


die schädlichen Reize beseitigt, die bedingten Reflexzuckungen innerlich ge¬ 
hemmt und hemmende Reflexe verstärkt werden, und so eine Besserung 
sich ergeben, ohne irgendeine spezifische Wirkung auf den ursprünglichen 
Zustand. Der Rückfall in derselben Umgebung nach der Intermission mag 
durch die Wiederkehr der Wirksamkeit der Reize bedingt sein, welche 
solange sie neu waren, neutral, also unschädlich waren. 

Es wurde ziemlich viel experimentelle Arbeit zur anatomischen Loka¬ 
lisierung der bedingten Reflexe ausgeführt, doch sind die Ergebnisse, so 
weit ich sie kenne, ungenügende. Die Meinung der Experimentatoren 
scheint die zu sein, daß der Reflexbogen gewiß nicht spinal, sondern 
wahrscheinlich kortikal verläuft, da die Wegnahme von Teilen der Kortex 
diese Reflexe zeitweilig vernichtet und deren nachfolgende Wiederkehr als 
eine Übernahme der vorher kortikalen Tätigkeit durch subkortikale Zentren 
gedeutet wurde. Jedoch, die störende Wirkung solch einer Operation muß 
für den ganzen Organismus, die bedingten Reflexe inbegriffen, sehr groß 
sein. Auch war die Wirkung nicht für jede kortikale Gegend, oder jeden 
Reflextypus die gleiche, da bedingte Hemmungen noch aufrechterhalten 
blieben, wo die positiven bedingten Reflexe bereits schwanden. Die Reflexe 
stellten sich zwei Jahre nach Entfernung der motorischen und sensorischen 
Rindenzentren wieder ein, doch blieb diese Restitution aus, wenn nicht 
nur diese Windungen, sondern die ganze Kortex entfernt worden war. 

Ein motorischer Reflex kann entweder durch zeitweilige Aufhebung 
höherer zerebraler Hemmungen durch niedrigere Zentren oder durch aktive 
ableitende Erregung, welche die normale Hemmung überwältigt, verursacht 
sein. 

Der erste Fall würde mit der Theorie übereinstimmen, die die epilep¬ 
tischen Anfälle dem Verlust höherer Hemmungen und dem Waltenlassen 
sonst gehemmter Funktionen zuschreibt, der zweite mit der älteren Ansicht, 
nach der die epileptischen Anfälle von kortikaler zentrifugaler Erregung 
herstammen. 

Die Wirkungen von Arzneien auf bedingte Reflexe bei Hunden wurden 
durch Dr. Anrep beschrieben; es ist von Interesse, daß sie in keinem 
Falle der angewendeten Arzneien (nämlich Bromiden, Koffein, Alkohol, 
Strychnin und Morphium) — der Annahme eines gleichen Vorganges bei 
Epilepsie widersprachen, ja bei den ersten drei Medikamenten überraschende 
Bestätigungen brachten. 

Es wird zum Beispiel festgestellt, daß Brom beim Hunde auf den 
hemmenden Mechanismus, im Sinne der Verstärkung, selektiv wirkt. Alle 






















Die bedingten Reflexe Lei Epilepsie und der Wiederhol, 


tmgsswang 


3 71 


bedingten Hemmungen wurden gesteigert, die Erregungen blieben un¬ 
berührt. Die verabreichten Bromdosen drückten die Tätigkeit der Kortex 
nicht herab, sondern vermehrten oder verstärkten ihre hemmende Tätig¬ 
keit. Die Wirkung dauerte eine Zeitlang, war aber am folgenden Tage bereits 

schwächer. 

Die Wirkung des Broms bei Epilepsie ist zu wohlbekannt, um hier er¬ 
örtert zu werden. In den meisten Fällen heilt es die Krankheit nicht, 
und die Zuckungen neigen zur Rückkehr, wenn Brom nicht mehr ge¬ 
geben wird. Es ist in anderen Krankheiten nicht so wirkungsvoll wie bei 
Epilepsie. Bromide verringern die Krampfreaktionen auch bei Tieren. 

Auch wenn es, wie es scheint, nicht unwahrscheinlich ist, daß sich 
einige Züge der Epilepsie als Offenbarungen von bedingten Reflexen er¬ 
weisen werden, gibt dieser Umstand, wie ich sagte, keine Aufklärung über 
die vielumstrittene Frage der Grundursachen dieser Krankheit oder Krank¬ 
heitsgruppe, auch erklärt er die epileptischen Äquivalente nicht, in denen 
die Reaktionsweise, nicht aber notwendigerweise auch der Reizablauf ver- 
ändert wird. 

Eine Schwierigkeit bedeutet überdies die Notwendigkeit der Voraus¬ 
setzung, daß gelegentlich auch bedingungslose Reflexreaktionen Vorkommen 
und sich zu den bedingten hinzugesellen, wenn sie auch den gleichen Ein¬ 
flüssen unterstellt sein mögen wie jene. Es ist bekannt, daß die Summation 
zweier bedingter Reflexe ähnlicher Art eine außerordentlich verstärkte 
Reaktion hervorruft. Dasselbe mag bei der Summation eines unbedingten 
Originalreflexes mit einem bedingten Reflex der Fall sein. Es mag auch 
•sein, daß em bedingter Reflex stärker ist als ein entsprechender Original¬ 
reflex. Es erscheint also als eine mögliche Hypothese, daß es in dieser 
Krankheit gelegentlich unbedingte Original-Reflexerscheinungen eines prä¬ 
konvulsiven Zustandes gibt (verstärkte nervöse Reizbarkeit, Steigerung der 
Blutalkaleszenz usw.), die später bedingt werden, d. h. durch andere Reize 
erzeugt werden. Die zunehmende Stärke der Reaktion, welche durch Ver¬ 
stärkung oder Anhäufung der Reize oder auf anderem Wege zustande ge¬ 
kommen ist, mag dann die Form einer Zuckung annehmen. Jede Än¬ 
derung m der Umgebung mag zur Modifikation der bedingten Reflexe 
fuhren infolge des ungemein empfindlichen Organismus des Epileptikers 
und der Unzulänglichkeit der Hemmungsapparate der höheren Zentren. 
Es wird angenommen, daß er nicht nur auf Reize, die bei anderen 
unzureichend wären, mit Zuckungen antwortet, sondern daß er im ab¬ 
normalen Grade durch den mehr primitiven Mechanismus der bedingten 

















jMarjorie E. Franklin 


Reflexe, der hier geschildert wurde, beeinflußt werden kann, oder daß sein 
Gleichgewicht zwischen hemmenden und erregenden Reflexen mangelhaft 
ist. Die Verminderung der Symptome wäre so das Ergebnis der sich ver¬ 
stärkenden nützlichen Reflexe und der Unterdrückung oder Ausschaltung 
schädlicher Reize, während eine gründlichere Besserung auf eine Um¬ 
wandlung der Formen des Verhaltens in einen weniger primitiven Typus 
zurückführbar wäre. 

Eine andere Form der Behandlung, welche aber gewiß weniger radikal 
wäre, wäre die, die sich nach der spezifischen Ätiologie der bedingungs¬ 
losen Originalreflexe richtet. 

Es ist möglich, daß manche der meist komplizierten psychologischen 
Prozesse, ihrem Wesen nach, etwas von der Natur des bedingten Reflexes 
haben; jene Form des bedingten Reflexes, die ich als für die Epilepsie 
bedeutsam ansehe, ist von verhältnismäßig elementarem Typus. Dies ist 
wohl im Einklang mit der ziemlich infantilen psychischen Organisation, die 
die Psychoanalyse bei den Epileptikern festgestellt hat. Überdies lenkte Freud 
die Aufmerksamkeit auf die Triebentmischung und das dadurch bedingte 
Überwiegen des Todestriebes bei Epileptikern, und Ferenczi wies in 
einer mündlichen Mitteilung auf die Möglichkeit hin, daß beim 
Epileptiker ein Abwechseln der einseitigen Todes- und Lebens¬ 
triebäußerungen vorliegt: erstere kommen in den Anfällen , 1 
letztere in den Intervallen als ethische und religiöse Über- 
kompensierungsbestrebungen zur Äußerung. Er hat übrigens den 
epileptischen Anfall auch mit den Wutreaktionen der frühesten Kindheit 
verglichen. 

Ich würde anschließend daran meinen, daß die Persönlichkeit des Epi¬ 
leptikers zu primitiv ist, als daß es ihm glücken könnte, einen hohen Grad 
von wirklicher Sublimierung zu erreichen. Sein Streben dazu gibt sich 
zwar in großer Religiosität kund, doch ist diese eher von formalem Typus. 
Von ästhetischen Genüssen bevorzugt er Musik und Gesang, also auch 
hier rhythmische Betätigungen; auch mag er ein tüchtiger Arbeiter sein, 
doch bevorzugt er Beschäftigungen, die nur Routine erfordern. Die bedingten 
Reflexe von dem hier untersuchten Typus stellen zwar eine verhältnismäßig 
einfache Form der physischen Tätigkeit dar, doch bedeuten sie einen 
Schritt nach vorwärts im Vergleich mit den ursprünglichen bedingungslosen 

1) Nach Ferenczi wendet sich der Destruktionstrieb des Epileptikers bald gegen 
die eigene Person (Konvulsionen), bald gegen die Außenwelt (Massenmorde, Zer¬ 
störung von Gegenständen). 









































Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der Wdederbolungszwang 


3/3 


Reflexen und können als eine elementare Sublimierung betrachtet werden. 
Die bedingten Reflexe vom Erregungstypus stellen vielleicht ein Fehl¬ 
schlagen dieser Sublimierung dar, während die, die hemmend dem Anfall 
entgegenwirken, erfolgreicher sind. 

Es liegt abseits von unserem Thema, die Veränderungen der Reaktions¬ 
weisen bei Epileptikern zu untersuchen, daPawlows Versuche über diese 
keine Aufklärung zu geben scheinen; doch kann man vielleicht andeuten, 
daß die „psychischen Äquivalente“ einen Versuch von ziemlich unbefrie¬ 
digender Art darstellen könnten, durch eine substitutive Form des Ausdruckes 
statt durch den Anfall selbst, dem Todestrieb entgegenzuwirken, während 
die religiösen Übungen u. dgl. Sublimierungen eines höheren Grades sind 
als die streng bedingten Reflexe; immerhin stützen auch sie sich noch — 
wie gesagt — auf Wiederholung und Gewohnheit. 

Vielleicht bedeutet das tonische Stadium eines großen An¬ 
falles ein äußerstes Bemühen, den Todestrieb aufzuhalten, be¬ 
vor er m der Explosion der unkoordinierten Konvulsion zur 
vollen Herrschaft gelangt, die dann in Erschlaffung und Koma, 
gelegentlich zum Tode, meist zum Schlaf führen. Wir werden 
hier daran erinnert, daß Anfälle des Petit Mal gewöhnlich rein tonisch 
sind, mit nur einen Augenblick dauerndem Verlust des Bewußtseins, aber 
mit Beibehaltung der Herrschaft über die meisten niedrigeren motorischen 
Zentren. Es ist möglich, daß periodische Nebenerscheinungen der Epilepsie, 
z. B. gastro-intestinale Störungen oder Kopfweh usw., eigentlich konver- 
sions-hysterische Symptome sind, und also einen Fortschritt von der nar¬ 
zißtischen zur Objektbeziehung entsprechen, also Bemühungen der Lebens¬ 
triebe dem Todestrieb gegenüber darstellen, d. h. das Bestreben, die Re¬ 
aktionsform zu ändern, einen großen Anfall zu verhüten. Indessen zeigt 
sich die ungeheure Gewalt des Wiederholungszwangs sogar in diesen 
Störungen, und auch diese kleineren Symptome neigen dazu, wiederzukehren, 
stereotyp und bedingt zu werden. 

Die Annahme, daß die Organisation der Epileptiker auf einer einfachen 
Stufe des bedingten Reflexes steht, ist in Übereinstimmung mit der Stän- 
digkeit ihrer Gewohnheiten, ihrer Dumpfheit und des Vorherrschens 
automatischen Benehmens. Sie bezeugen oft Beharrlichkeit. Ein Epileptiker 
wird seine Symptome von Jahr zu Jahr mit beinahe denselben Aus¬ 
drücken beschreiben, im Gegensatz zur Unbeständigkeit und zur leichten 
Suggerierbarkeit eines Hysterikers. Der Epileptiker scheint sogar in den 
Intervallen der Anfälle der Kraft, die schon angeregten Prozesse zu hemmen 

Imago XIV. 


25 










jMarjorie E. Franklm 


und der Anpassungsfähigkeit zu ermangeln. Ferenczi äußerte gelegentlich 
daß das geschwinde Wechseln des Brennpunktes der Aufmerksamkeit von der 
Fähigkeit zur raschen Hemmung anderer Erregungsabflüsse abhängen mag. 

Vielleicht ist es ratsam, darauf hinzuweisen, daß ich die Tatsache, daß 
nicht alle Fälle der Epilepsie den hier geschilderten „epileptischen Charakter“ 
aufweisen, natürlich anerkenne; d. h., daß sie nicht alle alle Kompliziertheiten 
zeigen. Gelegentliche Regressionen in die Form eines epileptischen Reak¬ 
tionstypus mögen übrigens auch bei einer verhältnismäßig normalen Persön¬ 
lichkeit Vorkommen. 

Die bedingten Reflexe zeigen, vom physiologischen Standpunkte gesehen, 
manches von dem Gehaben, das die Analytiker schon lange von der psy¬ 
chischen Seite her kennen; allerdings beschäftigt sich die Psychoanalyse 
nur mit den auf höherer psychischer Stufe stehenden Prozessen und nicht 
mit jenen einfachen Reflexen, deren Physiologie in Laboratorien an Tieren 
studiert werden kann. Ein bedingungsloser Reflex ist seiner Definition nach 
ein angeborener, aber falls sich Pawlows Experimente über die Vererbung 
der Lernfähigkeit als richtig erweisen, können sie in einer vorhergehenden 
Generation erworben worden sein. Überdies ist sogar der allereinfachste 
nervöse Reflex, nach Ansicht Ferenczis, phylogenetisch betrachtet, ein 
sehr verwickelter Prozeß im Vergleich mit der allgemeinen protoplasmischen 
Reizbarkeit der frühesten Lebensformen, an deren Gebaren wir durch 
das Bild eines großen epileptischen Anfalles erinnert werden. Die Reiz¬ 
barkeit ist nach ihm wahrhaftig die einzige wirklich „unbedingte“ Form 
der Reaktion. 

Auf Grund des Determinismus und des allgegenwärtigen Einflusses 
der Umgebung ist es verlockend, die meisten psychischen Prozesse als 
eine Summe sich gegenseitig bedingender Reflexe aufzufassen, wie dies 
die Behaviouristen tun. Jedoch ist es vielleicht für die wissenschaftliche 
Forschung von großen Nutzen, den Begriff „bedingter Reflex“ haupt¬ 
sächlich auf jene einfacheren Prozesse zu beschränken, in denen es sich 
um die Wiederkehr von Aktionen handelt, die ziemlich gleichförmig 
im Typus und daher mehr oder weniger vorauszusehen sind. Hievon 
ist aber die Epilepsie ein gutes Beispiel; vielleicht haben übrigens auch 
das Unbewußte und die Neurose überhaupt mehr mit den bedingten 
Reflexen zu tun als das Bewußtsein. Dr. Devine (Portsmouth) lenkte meine 
Aufmerksamkeit darauf, daß man charakteristischerweise die Äußerungen 
der Psychotiker viel eher voraussehen kann als die gesunder Personen. 
Möglicherweise sind die Störungen des Ichs von mehr „bedingtem“ Typus 


























Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der W^iederbolungszwang 


als die der Libido, nachdem Anpassung an äußere Objekte und besonders 
an andere Persönlichkeiten mit automatischer Gleichförmigkeit unvereinbar 
sind. Ich würde auch darauf hin weisen, daß sich die symptomatische Be¬ 
handlung hauptsächlich auf die Reize richtet, während eine radikale Psycho¬ 
analyse, die auch andere, möglicherweise spezifische Wirkungen hat, die 
Stufe der Organisation der Libido erhöht. Sie stellt vielleicht einen Kampf 
gegen Gewohnheiten dar, also eine Stärkung der Lebenstriebe gegenüber 
den Todestrieben . 1 

Die bedingten Reflexe zeigen den überwiegenden Einfluß des Wieder¬ 
holungszwanges (Freud) und des Lustprinzips; diese wurden bei den 
Versuchshunden durch Nahrung provoziert, die allerdings nach der erfolgten 
Festsetzung der Reflexe meist nicht mehr wirklich, sondern nur „hallu¬ 
zinatorisch“ gereicht wurde. Wenn die reale Befriedigung zu lange vor¬ 
enthalten wird, wird die gewohnheitsmäßige Reaktion meist aufgegeben 
der bedingte Reflex schwindet; — doch eine Spur verbleibt als eine 
„Fixierungsstelle“, zu der regrediert werden kann. Vielleicht klammert 
sich der Epileptiker, gleich anderen infantilen Persönlichkeiten, hartnäckiger 
an eine halluzinatorische Befriedigung als andere, oder mit anderen Worten: 
die „innere Hemmung“ wird bei ihm weniger rasch etabliert (wenn nicht 
die bedingten Reflexe durch reale Wiederholung „stabilisiert“ werden) als 
bei Normalen. Dies ist leicht denkbar, da Anrep nachgewiesen hat, daß 
unter verschiedenen Verhältnissen bedeutende individuelle Verschieden¬ 
heit in der Geschwindigkeit der Erwerbung innerer Hemmungen besteht. 
Er zitierte auch Fälle, in denen das Tier Zeichen der Lust als Reaktion 
auf schmerzliche Reize zu äußern erzogen werden konnte (elektrischer 
Schlag, der anfänglich gleichzeitig mit der Nahrung, später für sich allein ge¬ 
geben wurde). Dies ist in einem offenbaren Zusammenhänge mit dem Maso¬ 
chismus und erklärt sogar, wie dies Ferenczi meint, dessen Ursprung. 
Eine Lust kann von ihrer ursprünglichen Quelle auf jene Strafe oder 
jenen Schmerz verschoben werden, die wiederholt mit ihr verbunden waren 
und schließlich auch bei alleiniger Anwendung der Unlustreize zustande 
kommen. Die Folge der Verschiebung mag etwa die sein, daß die Furcht 
vor den Folgen der ursprünglichen Unlust entfällt, wenn dieselben Folgen 
selbst zur Lustquelle werden. Dies zeigte sich ziemlich klar in einem Falle, 
den ich analysiert habe, in dem die Kastrationsfurcht sich gelegentlich in 


1) S. Ferenczi: Psychoanalyse von Sexualgewohnheiten. (Internationaler Psycho¬ 
analytischer Verlag.) 


25* 














3/6 Frankl in: Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der Wiederbolungszwang 


einen Kastrationswunsch verwandelte. Derselbe Patient — ein Fall von Angst¬ 
hysterie — litt in seiner Kindheit an Ohnmachtsanfällen funktionalen, 
aber nicht epileptiformen Charakters, die er selbst als Kundgebung seines 
Wunsches, zu sterben, auslegt. 

Die Assoziation, ein so grundlegender Faktor in der Psychoanalyse, ist 
natürlich bedeutsam für die Bildung des bedingten Reflexes, und zwar 
scheint die Häufigkeit der Wiederholung der Reize in den einfacheren 
Prozessen wichtiger zu sein als ihre Intensität, die wiederum für die Psyche 
von größerem Werte ist. Die freie Assoziation kann man auffassen als 
eine Methode, die geeignet ist, die frühen und deswegen stärker festgesetzten 
Glieder in einer Kette von sich gegenseitig bedingenden Erinnerungen, 
nach der Wegräumung der neugebildeten Deckerinnerungen zum Vorschein 
zu bringen. Die Wiederverstärkung und Anhäufung der Reize mag jedoch 
eine physiologische Parallele zur Überdeterminierung und das Bedingt¬ 
sein selbst eine Form der Verschiebung sein. 

Ich war bestrebt, meiner Hypothese nur vorsichtigen Ausdruck zu ver¬ 
leihen; da ich in den letzten zwei Jahren keinen Zugang zur Literatur 
des Gegenstandes hatte, ist es möglich, daß einige meiner Bemerkungen 
veraltet sind. Ich habe mich hauptsächlich auf einen beschreibenden Bericht 
eingeschränkt, und es wäre für mich von außerordentlichem Interesse, 
von anderen Meinungen und besonders Wegen zu hören, auf denen die 
Psychoanalyse eine tiefergehende und aufklärungsreichere Darstellung dieses 
Gegenstandes ermöglicht. 




























REFERATE 


Einige Stimmen zu Sigm. Freuds „Zukunft einer Illusion“ 

Wenn die Psychoanalyse — bei dem starken Widerhall, der ihr nunmehr 
beschieden — begreiflicherweise jetzt noch weniger denn jemals auf alle von 
ihr provozierten Stimmen achten kann, auf die nicht mehr seltenen Äußerungen 
der Zustimmung, auf die immerhin häufigeren Symptome der verklausulierten, 
abschwächenden Rezeption und auf die jedenfalls vorherrschenden Zeichen des 
Widerstandes, der mehr oder minder affektiven Ablehnung, so empfiehlt es sich 
doch, zeitweilen einige von den Stimmen der Umwelt hier zu registrieren. Aus 
dieser Erwägung heraus seien gerade in diesem Heft, das an der Spitze zwei 
Äußerungen von psychoanalytischer Seite zu Freuds jüngster Broschüre über 
Religion veröffentlicht, auch einige jener Äußerungen kurz angeführt, die „Die 
Zukunft einer Illusion“ in der Umwelt provoziert hat. 

In der katholischen Leo-Gesellschaft in Wien hielt Prof. Dr. O. Herget 
einen Vortrag über das Freudsche Buch. Er beanstandete (nach dem Bericht der 
„Reichspost vom 28. April 1928) den „schwankenden Boden“ der Freudschen 
Religionstheorie. „Der Psychologismus, der die Psychologie zur Grund¬ 
wissenschaft machen und alles in Bewußtseinstatsachen auflösen will, hat das 
Mißgeschick, stets dann im Vordergrund zu stehen, wenn die philosophische 
Entwicklung in eine Verfallsepoche geraten ist; je selbsttätiger aber sich die 
Philosophie entfaltet, um so ungünstiger wird die Lage des Psychologismus. 
Freud huldigt einem uneingeschränkten Religionspsychologismus. Für ihn ist 
Religion bloß ein Bewußtseinsphänomen; was diesem etwa Bewußtseins t r a n- 
szendentes entsprechen könnte, wird von jeder Untersuchung ausgeschlossen.“ 
Prof. Herget will für Freuds Religionsfeindlichkeit nicht die ganze Psychoanalyse 
büßen lassen: „Freuds Einstellung zur Religion entspricht nicht der Psycho¬ 
analyse überhaupt, sondern vielmehr seinem Naturalismus; wir werden nicht 
die Psychoanalyse in Bausch und Bogen verwerfen, wohl aber die Freudsche 
psychoanalytische Weltanschauung. „Die Zukunft einer Illusion“ sollte eine 
Abrechnung mit der Religion werden, aber so ist aus ihr eine Abrechnung 
geworden mit Freud!“ 

In der von Prof. Goldstein (Darmstadt) herausgegebenen jüdischen Zwei¬ 
monatsschrift „Der Morgen“ (4. Jg., 2. Heft, Juni 1928) beschäftigt sich der 
Berliner Nervenarzt Dr. Edgar Michaelis (dessen vor einigen Jahren er- 













3/8 


Referate 


crViipnpnes Buch „Die Menschheitsproblematik der Freudschen Psychoanalyse 
in der Imago“, Bd. XI, S. 460»., besprochen wurde) mit Freuds Religions- 
kritik. Michaelis findet es höchst beachtenswert, daß, während der Psychoanalyse 
in den letzten Jahren gerade von religiöser Seite weittragende Bedeutung 
beigemessen wurde (so schreibt z. B. der Religionsphilosoph Tillich, daß erst 
die seit 1900 herauf kommende analytische Methode die kirchliche Seelsorge 
von der Gefahr, eine Winkelangelegenheit zu werden, befreit), Freud selbst 
mit der ihm eigenen Zähigkeit, unbekümmert um alle Versuche einer An¬ 
näherung, seinerseits die Religionen schlechthin zum Gegenstände des Angriffs 
macht Michaelis’ Stellungnahme zur Psychoanalyse ist uns schon aus seinem 
obengenannten Buche bekannt. Freud greife den Bereich werterfüllten Lebens 
an, doch seien seine Anschauungen vom „Wert“ überhaupt durchweg verzerrt 
und unklar. Freud befinde sich in einer „sinnlichen Befangenheit . Sie 
kennt nur einen psychischen Mechanismus, der vom ungezügelten Drangen nach 
Lustgewinn beherrscht wird und sich dem Drucke der äußeren Realität an¬ 
passen muß. Der Bereich der inneren Freiheit des Menschen ist ihr 
durchaus fremd, die Möglichkeit einer nicht aus Furcht und Not entstandenen, 
sondern auf Ehrfurcht gegründeten Religiosität, die aus innerem Antrieb sich 
dem Höchsten, Ewigen nähert, bleibt völlig außerhalb jeder Erwägung. Aus 
dem Buche von Michaelis kennen wir bereits die Version, die Freudsche Lehre 
sei perspektivisch verzerrt und dies ergebe sich aus seelischen Konflikten des 
Menschen Freud selbst; Freud sei wie Strindberg und Nietzsche ein «Hasser 
aus Liebe“, die Analyse der Idealitätsleugnung decke die ursprüngliche Ideal¬ 
sehnsucht Freuds, die verborgene, nur verschüttete Menschlichkeit auf. Wenn 
Freud zu große Hoffnungen auf die Wissenschaft setzt, die keine Illusion sei, 
so zeigt diese Übersteigerung der Freudschen Ansprüche die innere, nicht anders 
als dämonisch zu bezeichnende Getriebenheit, mit der Freud bis m die letzte 
Konsequenz seinen Weg des Aufruhrs verfolgt. Trotz alledem bleibt Freuds 
Anspruch zu Recht bestehen, am „Schlafe der Welt gerührt zu haben . In 
ihm sei das Bild des Empörers mit dem der Erneuerung tragisch verknüpft. 
Auch von ihm gilt, was von Nietzsche gesagt worden ist: Wer Gott tötet, er¬ 
halte ihn gerade dadurch der Menschheit. . , 

Professor Dr. Erich Stern (Gießen und Mainz) findet in der „Central- 
Vereins-Zeitung“ vom 20. Juli 1928 (dem Organ „deutscher Staatsbürger jüdi¬ 
schen Glaubens“), daß bei Freud zwei wesentliche Fragen, die einer reinhc en 
Scheidung bedürften, miteinander vermengt zu sein scheinen. „Es sind urc - 
aus verschiedene Probleme zu untersuchen, wie sich eine Erkenntnis im Men¬ 
schen aufbaut, welchen Motiven ein spezielles Interesse entspringt, welche psyc o- 
logischen Folgen eine Erkenntnis besitzt, und welche objektive Bedeutung welcher 
Wahrheitsgehalt ihr eignet. Daß Furcht und Hoffnung Motive sind, welche den 
Menschen zur Beschäftigung mit religiösen Dingen treiben, daß sie m ihm eine 
Sehnsucht zu glauben wecken, wird zugegeben werden müssen, besagt aber nichts 
gegen das Vorhandensein einer höheren Wirklichkeit, die mi en 
Mitteln unseres Verstandes nicht restlos begriffen werden kann — was können 
wir überhaupt restlos begreifen? . . . Freud überschreitet mit seinen u ste ung 




































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meines Erachtens die Grenzen des wissenschaftlich überhaupt Faßbaren, er 
begibt sich auf den Boden der Weltanschauung, die wissenschaftlich nicht 
mehr zu begründen ist. Die Psychoanalyse ist ein parteiloses Instrument*. Ihre 
Aufstellungen behalten ihren Wert auch für den, der die weltanschaulichen 
Konsequenzen, die Freud hier vorlegt, ablehnt.“ 

Das Juniheft (25. Jg., Heft 9, Juni 1928) der von Prof. Coßman (München) 
herausgegebenen „Süddeutschen Monatshefte“ (das als Sonderheft unter 
dem Titel „Krisis der Religion?“ erschienen ist), enthält unter anderem 
einen nicht gezeichneten Artikel „Psychoanalyse der Religion“. Der Verfasser 
hält es für sicher, daß die Psychoanalyse eine Fülle von neuen Erkennt¬ 
nissen gebracht hat und für wahrscheinlich, daß diese die Grundlage für 
Heilerfolge bieten können. Nach ärztlichen Standesbegriffen müßte der Arzt 
aber eigentlich warten, bis er geholt wird. Die Psychoanalyse stellt sich aber 
der gesamten Menschheit, sowohl der toten, als auch der lebenden zur Ver¬ 
fügung und macht sich jetzt an die Religion heran. Freud habe den Materia¬ 
lismus von Molleschott und Büchner nach der Seite der Seele ergänzt und 
machte sich’s noch leichter durch Einführung des Unbewußten, durch den sich 
fast alles erklären lasse, weil man es nach Belieben ausstatten kann. Religiöse, 
soweit sie nicht Heilige sind, haben — nach dem ungenannten Referenten — 
gegenüber Freud den Erkenntnis vorteil, daß sie ein Stück Freud enthalten, 
während Freud den Nachteil hat, daß er, wie es scheint, nichts von dem 
Religiösen enthält. „Es scheint gewiß, daß ein nicht genau zu bestimmender 
Teil der Menschheit nichts anderes anstrebt als Lust und darauf beruhen die 
diagnostischen Erfolge des Panschweinismus. Doch nein, das hieße schon 
zu viel zugeben. Es gibt in jedem Menschen etwas, das nicht zu dem Wunsch 
paßt, sich ganz kannibalisch wohl zu fühlen, und das ist vielleicht das einzig 
Wesentliche. Die Ethik scheint das einzige Gebiet zu sein, in dem Freuds 
Materialismus gelegentlich nicht folgerichtig durchgeführt wird. “ Es bricht 
nämlich bei Freud selbst immer etwas durch, das nichts zu tun hat mit seinem 
Gott Intelligenz und das er selbst einmal als Menschenliebe bezeichnet. 
Wenn es keine andere Triebfeder als den Egoismus gibt, gehen einen eigentlich 
die Leiden und Mißhandlungen der Mitgeschöpfe nichts an. Wozu Menschen¬ 
liebe, die wie jede Gefühlsregung die Alleinherrschaft des Verstandes nur stören 
kann? Es scheint sich bei dieser lobenden Erwähnung der Menschenliebe um 
jenes Versprechen zu handeln, das Freud für besonders aufschlußreich hält 
(Fehlleistung). Es ist nach Freuds Theorie überhaupt unverständlich, warum 
er die Armen bedauert. Ein leistungsfähiger Zuhälter müßte der Theorie 
glücklicher erscheinen als ein kranker Kulturmensch, auch wenn die Beefsteaks, 
die jener ißt, nicht aus seinem Vater angefertigt sind und die ihn aushaltende 
Frau nicht seine Mutter ist.“ Die Psychoanalyse, führt der Verfasser aus, nimmt 
an, daß das geistige Leben in allen seinen Teilen der animalischen Existenz 
dient und kann infolgedessen, wenn Menschen in der Richtung nach dem Himmel 
springen, sich nur denken, daß sie dort eine Wurst hängen sehen. Zum Schluß 
wird das Bestreben der Psychoanalyse, die Religion zu erklären, dem wahn¬ 
witzigen Unterfangen der turmbauenden Babylonier verglichen. 












38o 


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Bereits einige Wochen nach Erscheinen der Freudschen Schrift veröffentlichte 
Medizinalrat Dr. Heinrich Haase in Wien eine Broschüre: „Religion oder 
Illusion. Eine Auseinandersetzung mit dem jüngsten Buche Prof. Sigm. Freuds, 
Die Zukunft einer Illusion“ (Verlag Moritz Perles, Wien). Mit Bedauern konstatiert 
der Verfasser, daß hochgebildeten Männern heute häufig religiöse Bildung 
abgehe. Wohl mangelt es nicht an religiöser Gesinnung: von Freud könne 
man angesichts der wissenschaftlichen Betätigung und einwandfreien Lebens¬ 
führung (Pietät, Wohltätigkeitssinn) mit dem Dichter sagen: wer Wissenschaft 
und Kunst besitzt, hat auch Religion. Doch fehlt ihm die religiöse Bildung, 
die Erkenntnis der Schätze, welche die religiöse Lehre wirkt und verleiht. 
Freud will das Experiment der französischen Revolution wiederholen, indem 
er für den Kultus der Vernunft schwärmt. „Der Intellekt, dessen Primat Freud 
anstrebt, ist auch bei höchster Entwicklung von Wissenschaft und Kunst allein 
nicht imstande, den Absturz in die sittliche Verwahrlosung zu hindern, den 
die Religion aufhält, allerdings nur, wenn sie das Leben durchdringt und um¬ 
spannt/* Dem Verfasser schwebt eine geläuterte überkonfessionelle Religion vor: 
„Schaffet die Religionen ab — bewahret euch jedoch die Religion.“ Die Besse¬ 
rung der Menschheit durch Erziehung zur Realität, scheint ihm unmöglich. 
„Auch bezweifeln wir, daß gerade jetzt die Zeit für die Inaugurierung ge¬ 
kommen ist. Das Bedürfnis nach innerer Ruhe und Sammlung, dem die Ein¬ 
ordnung in eine höhere Einheit entgegenkommt, ist heute mehr denn je 
vorhanden. Man darf auch den gegenwärtigen Kampf gegen Kirche, Klerikalismus 
und Dogmen nicht als gänzliche Abkehr von aller Religion im Volke deuten. 

Im Wiener „Tag“ (17. November 1927) schließt Dr. Max Ermers eine 
eingehende Inhaltsangabe der Freudschen Schrift mit den Worten: „Alles das 
sagt uns der große Psychologe mit Eindringlichkeit und mit dem Verantwortungs¬ 
gefühl, das das achte Jahrzehnt des Lebens dem Wissenden diktiert. Andere 
haben ähnliches gesagt. Freuds Verdienst ist es, das, was ihm notwendig und 
unerläßlich schien, nochmals — mit verstehender Milde und Tapferkeit — ein¬ 
gebettet in das System seiner psychologischen Weltauffassung gesagt zu haben. 
Es wird nicht leicht sein, auch nicht für den religiösen Menschen, an diesem 
letzten Willen eines großen Mannes achtungslos vorüberzugehen.“ 

In der Berner „Schulreform“ zieht Dr. Gustav Hans Gräber die Lehre 
Buddhas zum Vergleiche heran: „Für Buddha war das Erlebnis des Nirwana 
eine Folge wissenschaftlicher Erkenntnis, psychologischer Einsicht. Auch er 
lehnte die Götter bekanntlich ab. Was will Freud? Auch seine Lehre soll, 
wie diejenige Buddhas, das Leid der Menschheit mildem durch psychologische 
Einsicht. Auch er lehnt die Götter ab. Auch er will Erlösung durch das Wissen... 
Freuds Buch hat deshalb seinen positiven Wert, trotz der negativen Kritik. Es 
weist einen neuen Weg, den Weg zur Glückseligkeit des (bisher religiös genannten) 
Urerlebnisses, das mittels Erkenntnis, also mittels des Intellekts, mittels der Kultur 
— und verschweigen wir es nicht — vor allem mittels der Psychoanalyse erlangt 
werden kann.“ 

Die sozialistische „Leipziger Volkszeitung“ schreibt am 20. Dezember 
1927: „Es ist hochinteressant zu verfolgen, wie Freud, auch im Alter noch 




















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381 


ein Geistesriese unter den deutschen Gelehrten, von Schrift zu Schrift klarer, 
erbarmungsloser, wenn man will, radikaler in der Aufdeckung der Schäden 
und Fehlkonstruktionen unserer Gesellschaft wird. Freud selbst und die meisten 
seiner Schüler sind keine politischen Menschen; der Wiener Meister kommt 
zu einer Kritik unserer Welt ausschließlich von der psychologischen Seite her. 
Da aber diese Kritik erbarmungslos objektiv, unbeeinflußt von persönlichen 
oder klassenmäßigen Wünschen und Vorurteilen ist, müssen sich ihre Ergebnisse 
schließlich ^ treffen mit dem, was eine marxistische Analyse der menschlichen 
,Ideologien auch ergeben würde.“ 

Im Brünner „Tagesboten“ (29. März 1928) schreibt Dr. Hans Zweig, 
das Weltbild, das Freud als Bekämpfer der Religion mit visionärer Schau ent¬ 
werfe, lasse irgendwie kalt, weü es tiefliegende affektive Wurzeln des mensch- 
liehen Lebens nicht berücksichtige. 

„Das Tagebuch , Berlin (17. Dezember 1927): „Man hat darnach gefragt, 
ob die psychoanalytische Methode mehr Nutzen oder Nachteil über die Menschen 
bringe; eine unnütze Frage. Sie ist notwendig, weil die Wissenschaft ihrer nicht 
entraten kann. Die Wissenschaft aber kennt keine Rücksicht auf letzte Zwecke, 
ebensowenig wie die Natur. Echte Wissenschaft ist rücksichtslos. Freuds neues 
Buch ist darin ein Werk echter Wissenschaft. Es räumt endlich mit jener Ver¬ 
liebtheit auf, deren sich die Religionen bei Kritik und Geschichtsschreibung 
erfreuen, seitdem man gefunden haben will, daß unter dem Gewände der 
Dogmen uralte Weisheiten ruhen, die man nur des religiösen Schmuckes zu 
entkleiden brauche, um ihre Gleichheit mit den Erkenntnissen der Wissenschaft 
zu entdecken/ 4 

Schließlich sei noch auf eine Kritik des Freudschen Buches von psycho¬ 
analytischer Seite hingewiesen. Carl Miiller-Braunschweig nimmt in der 
„Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik“ (April 1928) 
ausführlich Stellung zur „ Zukunft einer Illusion . Miiller-Braunschweig be¬ 
anstandet es grundsätzlich, daß Freud zwei Fragestellungen, eine psychologische 
nach der Genese und eine kulturphilosophische nach dem kulturellen Wert 
der religiösen Vorstellungen nicht getrennt hat. Die zweite Frage könne nur 
durch eine philosophische Methodik gelöst werden. Auch auf dem rein psycho¬ 
logischen Gebiete bedauert der Kritiker, daß die von „Totem und Tabu“ aus¬ 
gehende Linie (die „folgenschwere Gefühlsreaktion 44 auf den Vatermord), die 
ihm für eine Wbiterführung der psychoanalytischen Erforschung verheißungsvoll 
erscheint, in den Hintergrund getreten ist. „Es ist nur halb ein Scherz, halb 
aber Ernst, wenn dem Kritiker die Wendung entschlüpft, daß in Freuds Buch 
der psychoanalytischen Wissenschaft nicht genügend das Vertrauen entgegen¬ 
gebracht wird, das sie als Mittel zur Untersuchung des religiösen Phänomens 
verdiente. Freud habe sich, im Gegensatz zu seiner bisherigen psychoanalytischen 
Forschung, durch eine wertende, und zwar negativ wertende Stellungnahme 
in der wissenschaftlichen Behandlung beeinträchtigen und sich zur Rationali¬ 
sierung drängen lassen. „Es wäre merkwürdig und würde mit unseren sonstigen 
psychoanalytischen Erfahrungen nicht recht zusammenstimmen, wenn Vorstel¬ 
lungen wie Gott und sittliche Ordnung, die doch Vorstellungen von besonderer 
















382 


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Wichtigkeit sind, sich als so einfach determiniert erweisen sollten.“ Freud habe 
sich zu unrecht hauptsächlich an den Vorstellungsanteil der Religion gehalten 
und die affektiven Grundeinstellungen vernachlässigt, beziehungsweise sie nur 
durch Vergleich mit infantilen und pathologischen Zuständen zu verstehen ver¬ 
sucht. Aber es gibt auch eine „normale und gesunde Religiosität, die alles 
andere eher als einen infantilen Charakter hat, vielmehr in ihrer besten Aus¬ 
prägung den umfassendsten Ausdruck einheitlicher Reife der Gesamtpersönlich¬ 
keit darstellt.“ 

Von sonstigen Besprechungen der „Zukunft einer Illusion“ seien noch angeführt: 

„Münchener Medizinische Wochenschrift“, 1928, Heft 9 (Prof. Dr. Emst Bleuler, 
Zürich). 

„Deutsche Literaturzeitung“ (Prof. E. Kretschmer, Marburg). 

„Frankfurter Zeitung“, 4. März 1928 (Dr. R. Drill). 

„Vorwärts“, Berlin, 28. Januar 1928. 

„Sonntagsblatt“, Stuttgart, 8. Juli 1928 (Dr. Erich Schairer). 

„Wiener Medizinische Wochenschrift“, 16. März 1928. 

„Freie Welt“, Gablonz, 26. März 1928 (E. V. Zenker). 

„Der sozialistische Freidenker“, Leipzig, Februar 1928 (Richard Lehmann). 

„Monistische Monatshefte“, März 1928 (Hartwig). 

„Der abstinente Arbeiter“, 15. Januar 1928 (Dr. Otto Juliusburger). 

„Neue Freie Presse“, Wien, 18. November 1927 (Dr. Fritz Wittels). 

„Wiener Allgemeine Zeitung“, 18. November 1927 (Richard Wiener). 

„Der Abend“, Wien, 5. Januar 1928. 

„Basler Nachrichten“, 28./29. Januar 1928. 

„Prager Tagblatt“, 22. November 1927. 

„Pester Lloyd“, 18. Januar und 28. Januar 1928. 

„Az Ujsäg“, 6. Januar 1928. 

„La Revista Bianca“, Barcelona (M. Nettlau). 

„De Groene Amsterdammer“, 26. November 1927 (Dr. F. Feenstra). 

A. J. iStorfer 

iS cLl eie r, Max: Die Wissensformen und die. Gesellschaft. Der neue 

Geist- Verlag, Leipzig 1926. 

Max S ch eler gehört zu den Denkern, deren Forschungen im innigsten Wechsel¬ 
verhältnis mit der Arbeit der konkreten Wissenschaften stehen. Einerseits 
besitzt er eine Kraft der Synthese und Synopsis, die ihn fähig macht, die Fülle der 
Ergebnisse heutiger wissenschaftlicher Forschung zu einer Einheit zusammen¬ 
zuschmelzen, anderseits versteht er die prinzipiellen Fragen, die in der wissen¬ 
schaftlichen Tagesarbeit oft ihre Schärfe verlieren, die latenten philosophischen 
Voraussetzungen psychologischer, biologischer, physikalischer Theorien mit einer 
Klarheit und Präzision herauszustellen, die für die speziellen Wissenschaften selber 
höchst lehrreich und beachtenswert ist. 

Die Psychoanalyse hat besonderen Grund, Schelers Gedanken Aufmerksamkeit 
zu schenken. Trotz seiner Kritik (in „Wesen und Formen der Sympathie“) 
haben seine Forschungen oft nahe Verwandtschaft mit psychoanalytischen Ein- 






























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383 


sichten gezeigt. Besonders in der letzten Zeit scheint sich in seiner Gedanken¬ 
welt ein Umschwung vollzogen zu haben, der auch eine positive Wendung 
zu der Psychoanalyse mit sich brachte. 

Die Umrißlinien seiner neuen Philosophie sind in dem Vortrag: „Die Formen 
des Wissens und der Bildung“ (Cohen, Bonn 1925). zuerst angedeutet, aus¬ 
führlich behandelt und weitergeführt in seinem neuen Buch: „Die Wissens¬ 
formen und die Gesellschaft“. Vor allem der zweite große Aufsatz des 
Buches und darin besonders die Kapitel über „Philosophie der Wahrnehmung“ 
und „Metaphysik der Wahrnehmung und das Problem der Realität“, berühren 
auch für die Psychoanalyse belangvolle Problemkreise. 

Die wichtigste neue Erkenntnis, die jetzt in den Mittelpunkt der Schelersehen 
Philosophie rückt, ist die von der fundamentalen Bedeutung der Triebe. Die 
wahre Bedeutung der Triebe sei auch heute noch — meint Scheler — mit 
verschwindenden Ausnahmen total verkannt. Das Beste noch darüber will er 
„bei S. Freud und seinen ernst zu nehmenden Schülern“ gefunden haben. 
Einer der Gründe für die Rückständigkeit der Psychologie in der Frage der 
Trieblehre ist nach ihm die falsche Identifizierung des Psychischen mit dem 
Bewußtsein. Eine Bewußtseinpsychologie kann die wahren dynamischen Faktoren 
des Seelenlebens selbstverständlich nicht sehen. 

Scheler faßt die prinzipielle Bedeutung der Triebe in den Satz zusammen: 
„Der Trieb — und insonderheit der Gefühlsdrang als seine primitivste, nach 
Gefühl und Trieb noch nicht differenzierte und in Hinsicht auf Objektrichtung 
noch nicht spezifizierte Artung und Vorform — konstituiert überhaupt ein 
,psychisches* Wesen“ (S. 411). Und er lehrt, daß nur die Triebe die wirklich 
realen Kräfte des Psychischen seien. Der Geist „west“ nur, er ist keine reali¬ 
sierende, sondern bloß seligierende Macht. Der geistige Wille kann nur hemmen 
oder enthemmen, aber nicht er ist der wirkliche Motor des Geschehens. Auch 
für jede Produktivität geistiger Art haben die Triebe die höchste Bedeutung. 
„Triebe und Phantasie sind eben gemeinsam jene Fruchtbarkeit der Vitalseele, 
ohne die der im letzten Grunde immer nur negative, eingrenzende, hemmende 
oder enthemmende ,Geist* (als Denken, Wollen, Vorziehen usw.) kein Substrat 
seiner Wirksamkeit besäße.“ 

Und es ist im höchsten Grade interessant, wie Scheler aus diesem Stand¬ 
punkt der dynamischen Theorie des Psychischen das Problem der Gegebenheit 
der Realität, das in der Geschichte der Philosophie zu solch merkwürdigen 
Konstruktionen geführt hat, zu lösen sucht. Auf die grundlegende Frage, was 
ist das Realitätsmoment an Gegenständen, und wie ist es uns gegeben, antwortet 
Scheler durchaus zutreffend und sehr im Sinne der Psychoanalyse: Real sein 
ist nicht Gegenstand sein, sondern Widerstand sein. „Der nichtauflösbare Eindruck 
der Realität überhaupt beruht auf der Berührung mit einem unserer spontanen 
Tätigkeit — sei es schon als Wollen oder als Triebimpuls charakterisiert — 
sich entgegenstemmenden ,Widerständigen*.“ Diese vage, undifferenzierte Realität 
ist allem Denken und Wahmehmen vorgegeben — wie eben die gerichteten 
Triebimpulse allen rezeptiven Akten vorgegeben sind. 

Dieses Erlebnis des Widerstandes, in dem uns die Realität einer von uns 









38^ 


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unabhängig existierenden Welt entgegentritt, darf nicht in Empfindungen auf¬ 
gelöst werden. „Das Erlebnis von Widerstand ist eine echte Willenserfahrung, 
die von den sie etwa begleitenden Empfindungen, z. B. Tast- und Gelenks¬ 
empfindungen, scharf zu scheiden ist. Nicht Empfindungen widerstehen, sondern 
die Dinge selbst, die sich in ihren qualitativen Attributen empfindungsmäßig 
nur manifestieren“ (S. 465). 

Und hieraus eine interessante Bemerkung zum Bewußtseinproblem: Nicht 
ein Trieb bewußt sein führt zum erlebten Widerstande, sondern umgekehrt 
der erlebte Widerstand ruft den Akt der Reflexio, durch den der Triebimpuls 
bewußtseinfähig und bewußtseinmotivierend wird, erst seinerseits hervor. „Be- 
wußtwerden, oder zum Ich in Bezug kommen, ist in allen Stufen und Graden, 
in denen es erfolgt, immer erst die Folge unseres Erleidens des Widerstandes der 
Welt“ (S. 470). 

Die Trieblehre wird so bei Scheler zu einem Knotenpunkt weiterer Theorien, 
vor allem die Grundlage seiner triebmotorischen Wahrnehmungs- und Emp¬ 
findungstheorie, die vereint mit sehr merkwürdigen Ausführungen über die 
Phantasie, den Versuch unternehmen, — der in der letzten Zeit schon von 
E. R. Jaensch angebahnt wurde, — die Trieblehre und die Wahrnehmungs¬ 
lehre auf gemeinsame Voraussetzungen aufzubauen. 

Das Ergebnis dieses Versuches faßt Scheler in die zunächst paradox an¬ 
mutende These zusammen, daß die „reine“ (d. h. streng reizproportionale) 
Wahrnehmung ein sehr spätes Produkt der Entwicklung sei und nicht 
an ihren Aufang gesetzt werden dürfe, daß ferner alle psychische und historische 
Entwicklung des Menschen ein ungeheurer Ernüchterungsprozeß ist, 
ein Prozeß zugleich der Enttäuschung über primär als real bezogen gesetzter 
Phantasiebilder, ferner eine steigende resignative Zurückstellung ursprünglicher 
Willensprojekte in die bloße Wunschsphäre. 

Scheler unterstützt diese These durch die Theorie, daß es eine ursprüngliche 
Trieb- und Drangphantasie gäbe, eine produktive Phantasie gegenüber der 
bloß reproduktiven, deren Gegenstände spontane Schöpfungen und nicht bloße 
Kombinationen von Stücken ursprünglicher Wahrnehmungselemente sind. Triebe 
bringen die ihnen gemäßen Vorstellungsbilder selbst hervor. Den Trieben 
kommt die Richtungs- und Zielhaftigkeit auf Gegenstände ursprünglich zu. 
Und diese Differenzierung der Triebe auf solch verschiedener „Richtung auf 
etwas“ setzt noch keinesfalls eine bild- oder bedeutungshafte Vorstellung dieses 
Etwas voraus. Die Annahme einer primären schöpferischen Triebphantasie 
bedeutet also nicht etwa auch schon die Annahme „angeborener“ Vorstellungen. 
Wenn die Triebe aber ursprüngliche Richtungsbestimmtheit besitzen, so ist es 
verständlich, daß sie auch unsere Vorstellungstätigkeit beeinflussen, daß ihnen 
die Fähigkeit zukommt, spontan Objekte von der Art zu schaffen, die — wären 
sie real — geeignet wären, Befriedigungen zu spenden. Alles reizbedingte Vor¬ 
stellen, Wahrnehmen, Empfinden ist für jene ursprünglichen Gebilde der 
Drang- und Triebphantasie nicht vorgegebenes „Material“, aus dem jene Gebilde 
aufgebaut wären, sondern bedeutet im Gegenteil für sie zunehmende Einschränkung 
und Korrektur. Die Gebilde der Phantasie, die im Frühstadium der Entwicklung 















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385 


nicht von der Realität unterschieden werden, werden erst in dem Maße als 
phantasierte Gebilde erkannt, als unser Verhalten gegen ihre Gegenstände und 
unsere Bewegungen auf sie unsere Erwartungen durch dauernden Mißerfolg 
enttäuschen. Was die Wahrnehmung subjektiv legitimiert, ist eben nur der 
Erfolg, und zwar vor allem der gesetzmäßig wiederkehrende Erfolg unseres 
praktischen Verhaltens auf ihre Objekte. 

Wfe erklärt sich die partielle Identität der Elemente der Phantasiebilder und 
der Wahrnehmungsinhalte? Nicht daher, daß die Phantasiebilder nur Kombi¬ 
nationen von Teilen der Wkhrnehmungsinhalte sind, sondern an erster Stelle 
daraus, daß auch die Wahmehmungsinhalte in ihrem Werden durch Trieb¬ 
impulse mitbedingt sind, und daß Milieustruktur und Triebstruktur des Organismus 
von vornherein in strenger Korrelation stehen. Die Triebstruktur — sagt 
Scheler sehr treffend ist für Phantasiewelt und Wkhrnehmungswelt eine 
„dynamische Konstante“. 

Auch eine Reihe physiologischer Tatsachen scheint für die Richtigkeit der 
Annahme einer ursprünglichen Triebphantasie zu sprechen. Daß die Phantasie¬ 
tätigkeit im Traum, bei so vielen Geisteskrankheiten, in der Hypnose gesteigert 
ist, daß sie durch Rauschgifte anregbar ist, legt die Auffassung nahe, daß die 
Phantasietätigkeit im Gegensatz zu bewußter Empfindung, Wahrnehmung, Er¬ 
innerung an die Tätigkeit relativ niedriger Segmente des Nervensystems ge¬ 
bunden ist. Scheler zieht aus diesen Tatsachen die Folgerung, daß die höchsten 
Rindenzentren und die ihnen zugehörigen Prozesse für die Phantasietätigkeit 
weit mehr Isolierungen, Hemmungen und Auslese für äußere Aufgaben leisten, 
als daß ihre Funktion eine positive Bedingung für ihre Entstehung wäre. 

Durchaus mit Recht beruft sich hier Scheler auf die Psychoanalyse, indem 
er bemerkt, „auch die gesicherten Teile der psychoanalytischen Forschungen 
zwingen, eine spontane, unter wachbewußt wirksame Trieb- und Drangphantasie 
anzuerkenen . (S. 440.) Ist doch die Schelersehe Theorie in den von der 
Psychoanalyse aufgestellten Beziehungsreihen: „Es — Triebhaftigkeit — Halluzi¬ 
nation — Phantasie und „Ich — Wahrnehmung — Realitätsprüfung“ sum¬ 
marisch enthalten. 

Die Psychoanalyse kann mit Genugtuung auf Übereinstimmungen mit diesem 
tiefen und bedeutenden Forscher hinweisen. In seinem neuen Buch, aus dessen 
reicher Fülle hier, bewußt einseitig, nur manches hervorgehoben werden konnte, 
wird der Analytiker sicher viel Anregung finden. Gero (Budapest) 

Bern f e 1 d, iSiegfried : iS o z i a 1 i smus und Psychoanalyse. Dazu 

Dishussionstemerhungen von Otto Kaus, Bartara Lantos, D. Ed. 

Al exander, Otto jMüller, Ernst iSimmel., Der sozialistische 
Arzt. II, a/ 3 . 

In dem „Verein sozialistischer Ärzte“ in Berlin, fand im Juni 1926 eine 
durch ein Referat von Bernfeld eingeleitete Aussprache über „Sozialismus und 
Psychoanalyse“ statt. Die „Grundgedanken“ des Bern fei d sehen Vortrages und 
einige Diskussionsbemerkungen liegen nunmehr im Drucke vor. 










386 


Referate 


Es geschieht nicht zum erstenmal, daß von sozialistischer Seite her die Frage 
nach den Beziehungen der Psychoanalyse zum Sozialismus, speziell zu dessen 
wissenschaftlicher Grundlage, den Lehren von Marx, gestellt wird. Sie ist sehr 
verschieden beantwortet worden. Während etwa Kris che die Übereinstim¬ 
mungen Freud sch er und Marxscher Denkweise unterstrich, hielt Jurinetz 
die Psychoanalyse als idealistisch, undialektisch und metaphysisch für vollkommen 
unvereinbar mit Marxismus. 

Bernfeld greift das Problem unvergleichlich tiefer und präziser an als seine 
Vorgänger; er kann dies infolge seiner gründlichen Kenntnis nicht nur des 
Marxismus, sondern auch der Psychoanalyse, die jenen abging. In knappster — 
oft den Gedankengang nur andeutender — Form setzt er auseinander, warum ihm 
die beiden in Frage stehenden wissenschaftlichen Richtungen nicht nur vereinbar, 
sondern einander zugeordnet erscheinen. Er beginnt mit dem Nachweis der 
Verwandtschaft in den beiden wissenschaftlichen Methoden — (wobei er beim 
Leser die Kenntnis der Methodik der Marxschen Sozial Wissenschaft voraus¬ 
setzt, die Methodik der Psychoanalyse als ihr verwandt nachweist). Vor allem 
ist die analytische Forschungsmethode eine exquisit historische, insofern sie 
kein seelisches Phänomen für „ erklärt“ ansieht, dessen Genese nicht aufgedeckt 
ist. Sodann ist sie aber auch eine materialistische, wenn man dieses Wort 
nur im Sinne von Marx gebrauchen will und es nicht mit „mechanistisch“ 
verwechselt. Daß Freud die seelischenPhänome nicht als „Sekretion des Gehirns“ 
nimmt, psychische Tatbestände für physiologischer Forschung prinzipiell unzu¬ 
gänglich hält und an eine Autonomie des Psychischen glaubt, was für Jurinetz 
ausreichte, um ihn als „unmaterialistisch“ zu brandmarken — ist nebensächlich. 
Wesentlich ist, daß die Psychoanalyse allen „Werten“ feind ist, alles „Absolute“, 
„Objektive“, „Unableitbare“ auf primitivere Elemente reduzieren will; sie be¬ 
hauptet nicht, daß es keine Werte gäbe; als Psychologie hat sie einzig die Aufgabe, 
die Werte, als aus Elementen historisch geworden zu erweisen; ebenso wie 
für Marx sind auch für Freud die erlebten Motive unseres Handelns vor¬ 
geschobene, die an Stelle der wirklich wirksamen unbewußten Motive stehen. 
Die Psychoanalyse ist aber auch dialektisch, insofern sie stets Gegensatz¬ 
begriffe bildet (Sexualtriebe—Ichtriebe, Objektlibido—Narzißmus, Eros — 
Todestrieb, Ich—Es, Lustprinzip—Realitätsprinzip, Individuum — Außenwelt), 
die als echte Polaritäten perzipiert sind (kein Begriff ist ohne seinen Gegensatz 
denkbar); sie haben den heuristischen Wert, daß mit ihnen die Wirklichkeit 
psychischen Geschehens, das tatsächlich in dialektischer Bewegung fortschreitet, 
erfaßt werden kann. Die analytische Entwicklungsauffassung ist dialektisch, d. h. 
die Konflikte, die ein Fortschreiten in der Entwicklung erzwingen, entstehen 
aus Gegensätzen, die jedes Entwicklungsstadium in sich selbst enthält; das Fort¬ 
schreiten geschieht mit den Mitteln des Konfliktes selbst. Diese Auffassung wird an 
den Beispielen der Entstehung der Objektbesetzungen und des Über-Ichs demon¬ 
striert. Ist diese Auffassung in der Literatur auch noch nicht systematisch durch¬ 
gearbeitet, so enthält sie doch den ersten Ansatz zu einer dialektischen Psychologie. 

Die Behauptung, „Totem und Tabu“ oder „Massenpsychologie und Ich- 
Analyse“ widersprächen den sozologischen Auffassungen von Marx, ist falsch. 

















Referate 


38y 


Freud und Marx behandeln verschiedene Probleme. Die sozialpsychologische 
Frage, „wie die psychischen Mechanismen beschaffen sind, mittels deren in 
den Köpfen der lebenden und wirtschaftenden Menschen gegebene Produktions¬ 
verhältnisse die ihnen entsprechende Ideologie erzeugen“, ist von Marx nicht 
behandelt worden. Aus der Psychoanalyse folgt keine bestimmte Weltanschauung. 
Freud selbst hat sich nie zum Sozialismus und nie gegen ihn bekannt. Mag 
sein Werten auch „bürgerlich beeinflußt“ sein: „Daß dies aber niemals an 
einer nur einigermaßen wichtigen Stelle seiner Forschung geschah, ist ein sehr 
beachtenswertes Faktum, das wohl keinem anderen bürgerlichen Forscher 
nachgerühmt werden kann, gewiß keinem Psychologen.“ 

Die Bernfeldschen Ausführungen werden noch durch die Diskussions¬ 
bemerkungen zweier Analytiker ergänzt: Frau Lantos macht darauf aufmerksam, 
daß der Konservativismus, der Institutionen festhalten läßt, auch wenn ihre 
wirtschaftlichen Bedingungen längst geschwunden sind, und der von Marx 
nicht erklärt worden ist, sich als unbewußte Fixierung, als sozialer Infantilismus 
auffassen läßt. Ebenso bleibt ohne Psychoanalyse unerklärt, warum große Ge¬ 
sellschaftsklassen gegen ihr Klasseninteresse handeln; diese weist nach, daß da¬ 
bei infantiler Autoritätsglaube wirksam ist. Die Psychoanalyse untersucht die 
von Marx nicht behandelte Frage der speziellen psychischen Beaktionen auf 
die gegebene soziale Grundlage. — Simmel betont die Ähnlichkeit des Wider¬ 
standes gegen die Psychoanalyse mit dem gegen den Marxismus. Wie der 
Marxismus das „Recht“ des Bürgertums gefährdet und deshalb von ihm affektiv 
abgelehnt wird, so gefährdet die Psychoanalyse das „Recht“ des bewußten 
Ichs auf seine intrapsychische Herrschaft und wird deshalb — von Bürger¬ 
lichen und Proletariern gleichermaßen — abgelehnt. In Wahrheit bringt die 
Psychoanalyse dem Marxismus die wesentlichste Ergänzung durch den Nachweis, 
daß auch bei sozialen Gebilden ökonomische Bedingtheiten von der libidinösen 
Seite her wesentlich beeinflußt werden. Die psychoanalytische Ergänzung des 
durch Marx geweckten Klassenbewußtseins wird durch die Bewußtseins¬ 
erweiterung jedes einzelnen Klassengenossen eine vorher nicht geahnte Ver¬ 
tiefung des Klassenbewußtseins bringen. Psychoanalytische Erkenntnis wird die 
sozialistische Taktik richtunggebend beeinflussen. Simmel zeigt dann noch, wie 
die Tatsache, daß siegreiche Revolutionen aus sich selbst heraus reaktionäre 
Wellen erzeugen, mit dem Ödipuskomplex zusammenhängt, und daß die 
Gesellschaftsform aus psychologischen Gründen (Projektion zielgehemmter Trieb¬ 
regungen) kulturell immer tiefer stehen muß als es dem Entwicklungsgrade 
des einzelnen entspräche; der Kapitalismus im ganzen ist ein anal-sadistisches 
Phänomen, eine kollektivistische Zwangsneurose, deren Heilung nur durch die 
Erkenntnis möglich wäre, „wie weit wir noch unbewußt an unserem Leiden 
selbst festhalten.“ 

Die Einwände der gegnerischen Diskussionsredner erklären sich meist aus 
deren Unkenntnis der Psychoanalyse. Dies gilt vor allem für die Ausführungen 
des Rechtsanwaltes Ed. Alexander. Er meint, daß die Hinneigung zur Psycho¬ 
analyse nur eine Flucht vor dem konsequenten Marxismus sei. Die Analyse 
untersuche Individualseelen, „metaphysische, idealistische“ Vorstellungen, „die 



















388 


Referate 


mit dem Marxismus nichts gemein“ haben. Sie sei die „Medizin des Rentners“, 
ihre Entstehung nur in Wien denkbar. — Es gilt aber auch für die Aus¬ 
führungen der Individualpsychologen. Otto Kaus meint nach Auseinander¬ 
setzungen über Übereinstimmungen bei Adler und Marx, „Freud sieht nur 
die sexuelle Beziehung im Menschen und kann auch die sexuelle Beziehung 
nicht als soziale Beziehung werten. Seine Psychologie ist nicht einmal zur 
Apperzeption der Probleme gediehen, welche im biologischen phänomenologischen 
Befund als solchen gelegen sind“. Otto Müller fragt nach der ökonomischen 
Bedingtheit der Psychoanalyse. Der gemeinschaftsfeindliche Geltungswille ist das 
Produkt bourgeoiser Kultur. In der Sexualsphäre tritt der Urkonflikt Gemein¬ 
schaftswille— Machtstreben „am deutlichsten zutage“. Deshalb habe Freud 
„die Sexualsphäre zur Grundlage einer erklärenden Arbeitshypothese“ gewählt. 
Durch Marx aber „wurde der Boden vorbereitet zu einer psychologischen 
Arbeitshypothese, die sich auf dem Grundgedanken der Gemeinschaft als wesent¬ 
liches Fundament des menschlichen Lebens auf baut . . . Diese Lehre hat 
Alfred Adler aufgestellt. Marxistisch gesehen, sind Freud und Adler Expo¬ 
nenten verschiedener Phasen der fortschreitenden Gesellschaftsentwicklung“. 
Wenn Müller dann die marxistischen Psychoanalytiker auffordert, sich an einer 
von den marxistischen Individualpsychologen eingerichteten Arbeitsgemeinschaft 
zu beteiligen, so müßten jene also wohl ein wirkliches Studium der Schriften 
Freuds und der von Freud untersuchten Phänomene verlangen, das — nach 
ihren Diskussionsbemerkungen zu schließen — diese noch nicht geleistet haben. 

Feme hei (Berl m) 

iSaupe, Emil: Einführung in die neuere Psyc liologie. A. W. Ziele- 

feldt Verlag, Osterwieck a. H. 1927. 

In kurzen, gut orientierenden Abrissen werden, meist von führenden Mit¬ 
arbeitern, die zahlreichen Strömungen in der neueren Psychologie gemein¬ 
verständlich geschildert: Wundt; Die Würzburger Schule; Hoff ding-Jo dl-James; 
Gestaltpsychologie; Eidetik; Assoziationspsychologie; Determinationspsychologie; 
Denkpsychologie; Geisteswissenschaftliche Psychologie; Personalismus; angewandte 
Psychologie; differentielle Psychologie; Psychotechnik; Religions-, Massen-, Sozial-, 
Völker-, Entwicklungspsychologie; Individualpsychologie; Charakterologie und 
Psychoanalyse. Diese behandelt korrekt Prof. Dr. Kutzner-Bonn, weniger 
ihre Resultate darstellend, als die Widerstände bekämpfend und zum Studium auf¬ 
fordernd. Man vermißt in dieser dankenswerten Sammlung noch: Phänome¬ 
nologie, Behaviorismus, Reflexologie. Bernfeld (Berlin) 

De jMan, Hendrik: Die Intellektuellen und der iSozialismus. Eugen 

Diederidis, Jena 19 26. 

Will im Zusammenhang mit politischer Agitation gegen den Marxismus 
innerhalb des Sozialismus eine Psychologie des Intellektuellen im Sinne der 
Tiefenpsychologie geben, welche er z. B. so auffaßt: „Das Ergebnis ist auf beiden 
Seiten, in der Sprache der heutigen Psychologie, ein Inferioritätskomplex . . • 












Referate 


38 9 


r 


Eine Komplementarerscheinung des Inferioritätskomplexes der Intellektuellen ist, 
ganz na c e ^ n c ema der Tiefenpsychologie, die Überkompensation durch 
den spezifisch mtelligenzlerischen Hyperradikalismus . . . Der psychologische Ma߬ 
stab dieser Fähigkeit ist der Grad der Verdrängung der kapitalistischen Arbeits¬ 
und Lebensmotive - der persönlichen Macht- und Erwerbsvorteile mit der Komple¬ 
mentarerscheinung der Angst und des Minderwertigkeitsgefühls - durch die sozia¬ 
listischen Motive des Gemeinschaftsgefühls.“ De Mans Politik ist nicht hier 
zu beurteilen; seine Psychologie ist eine Mischung jener Auffassung von Psycho¬ 
analyse, die englisch-amerikanischen Zeitungen geläufig ist, mit Adlers Individual- 
P S y Ch0l0gle ' Bernfeld (Berlin) 

Lewin, Kurt: Vorsatz, Wille und Bedürfnis. Mit Vormerkungen 

über die psydiisdien Kräfte und Energien und die Struktur der Seele. 

/Springer, Berlin 1926. 

Es lst b ® kannt > daß die experimentelle Psychologie, die in der letzten Zeit 
namentlich in Deutschland, einen großen Aufschwung genommen hat, in den 
Fragen der Trieb- und Affektpsychologie bis jetzt versagte. Ob diese Unfrucht¬ 
barkeit m den der Methode gezogenen engen Grenzen begründet ist oder ob 
nicht vielmehr bloß die Einstellung der Forscher daran Schuld trägt, soll hier 
nicht erörtert werden. 

Die vorliegende Arbeit Lewins scheint jedenfalls den Beweis zu erbringen 
daß auch durch die experimentelle Methode Material zutage gefördert werden 
kann welches bei richtiger theoretischer Deutung die Arbeit an den wesentlichen 
Problemen ermöglicht. Freilich darf man die Vorzüge — oder die Mängel — 
eines Forschers nicht mit den Vorzügen — oder Mängeln — einer Methode 
gleichsetzen. Aber auch prinzipiell spricht die Schrift Lewins dafür, daß das 
Hch^st^ S ° Wichtige Gebiet der Triebpsychologie dem Experiment zugäng- 

Vor der Behandlung der eigentlich willens- und triebpsychologischen Fragen 
weist Lewin auf ein Problem der psychologischen Begriffsbildung hin, das 
gerade heute in der Psychologie (und in der Psychiatrie) besonders aktuell ist, 
nämlich auf den Unterschied zwischen phänomenologischer und konditional¬ 
genetischer Begriffsbildung. „Bei Fragen des Entstehens und Vergehens, der 
rsachen und Bedingungen und des sonstigen realen Zusammenhanges erweisen 
sich . . . die psychischen Komplexe und Geschehnisse als nicht hinreichend durch 
ihre phänomenalen Eigentümlichkeiten bestimmt . . . Hier gibt es Fälle enger 
phänomenaler Verwandtschaft zwischen Gebilden, die auf recht verschiedenem 
Boden und nach recht verschiedenen Gesetzmäßigkeiten erwachsen sein könnten“ 

. 19). Ein Beispiel aus der Willenspsychologie: Krampfhafte Willensakte können 
eine geringere Durchschlagskraft, kausaldynamisch ein geringeres Gewicht haben 

V ei |,i « 1Smäölg Sch r che Vorsätze oder g ar Erlebnisse, die phänomenologisch 
® s „bloße Gedanken auftreten. Ebenso können Verhaltungsweisen, die sich 
ur die Beobachtung phänomenologisch als sehr verwandt geben, dynamisch 
außerordentlich Verschiedenes bedeuten. Die „äußeren“ und die „inneren“ 


Imago XIV. 


26 













390 


Referate 


konkreten Geschehensabläufe und Verhaltungsweisen, die sich der Beschreibung 
mit Hilfe der Erlebnisbeobachtung und der Fremdbeobachtung darbieten, ge¬ 
hören gleichermaßen auf die Seite der bloß phänomenologischen Begriffsbildung. 
Sie geben nur die Grundlagen, auf denen die konditional-genetische Begriffs¬ 
bildung aufgebaut werden muß. 

Die Überbetonung der phänomenologischen Fragen darf also nicht die tiefer 
liegenden kausal-dynamischen Probleme verdecken. Aber die Anerkennung dieses 
Satzes verpflichtet zugleich zur Bildung feinerer dynamischer Begriffe. Wie hat 
die bisherige experimentelle Psychologie versucht zu den Ursachen seelischen 
Geschehens vorzudringen? Man hatte dabei immer einen bestimmten Beziehungs¬ 
typus im Auge, den Lewin als „Adhäsion irgendwelcher Gebilde oder Gesamt¬ 
heiten von Gebilden** bezeichnet. Der ausgeprägteste Fall eines solchen Zu¬ 
sammenhangtypus stellt die Assoziation zwischen zwei psychischen Gebilden dar: 
„Die Gebilde a und b sind auf Grund früherer Kontiguität eine Koppelung 
eingegangen. Und diese Koppelung wird als Ursache dafür angesprochen, daß 
bei Eintritt des Erlebnisses a das Erlebnis b resultiert.“ Es gibt einen anderen 
Grundtypus, etwa der Art: Ein Reiz besitzt eine Adhäsion mit gewissen Re¬ 
aktionen. Und diese Adhäsion wird als Ursache des Geschehens angesehen. 

Gegen diese Auffassung, die, wie gesagt, in der experimentellen Psychologie 
bisher vorherrschend war, setzt Lewin Thesen von prinzipieller Bedeutung 
entgegen: „.. . Bindungen sind nie ,Ursachen* von Geschehnissen, wo, in welcher 
Form auch immer sie bestehen, sondern damit das miteinander Verbundene sich 
bewege, . . . muß arbeitsfähige Energie beigesetzt werden.“ Und es . sind 
allemal gewisse seelische Energien, die in der Regel auf einen Willens- oder 
Bedürfnisdruck zurückgehen, also gespannte seelische Systeme die notwendige 
Voraussetzung dafür, ob überhaupt das psychische Geschehen . . . abläuft“ 
(S. 22 f.). 

Lewin bemerkt, daß er hier Begriffe wie Energie, Spannung, System als 
allgemein-logische Kategorien der Dynamik verwendet, die kein Spezifikum der 
Physik sind und die Frage noch ganz offen lassen, ob man dabei letzten Endes 
an physikalische Kräfte und Energien denken soll oder nicht. (Man muß dabei 
nur stets im Auge behalten, daß schon, wenn man vom physiologischen Energie¬ 
begriff handelt, — der bei triebpsychologischen Fragen oft in Betracht gezogen 
werden muß, — ein Sachverhalt intendiert wird, der in einem ganz anderen 
Gegenstandskreis liegt als der, der gemeint ist, wenn man von Triebkraft, Trieb¬ 
energie spricht.) 

Man muß also bei jedem seelischen Geschehen fragen, wo die verursachenden 
Energien herstammen. Geht man mit diesem Gesichtspunkt an willenspsycho¬ 
logische Fragen heran, so trifft man im Bereich der experimentellen Psycho¬ 
logie folgende Theorie (hauptsächlich von Ach vertreten) vor: Als Grundtyp 
einer Willenshandlung pflegt man die Vornahmehandlung anzusehen, also einen 
auf einen Motivationsprozeß gegründeten Entschluß, dem die eigentliche Aus¬ 
führung der Handlung folgt. Die Hypnoseversuche Achs haben hier zu einer 
Theorie geführt, die die Ausführung des posthypnotischen Befehls auf eine 
Koppelung zwischen „BezugsVorstellung“ (Gelegenheit, z. B. Signal) und „Ziel- 





























Vorstellung“ (die Ausführungshandlang) zurückführt. Nun konnte auch die 
assoziationstheoretische Willenspsychologie erklären: Die Ursache des Geschehens 
bei Vomahmehandlungen ist in einer Assoziation zwischen Bezugs- und Ziel¬ 
vorstellung ^ zu suchen. (Auch durch die Einführung der „determinierenden 
Tendenzen wurde die Grundlage dieser Theorie nicht geändert.) 

Es wird dem Psychoanalytiker vielleicht seltsam Vorkommen, daß — nament¬ 
lich im Hinblick auf das Problem der Hypnose — solche Theorien heute noch 
ernsthaft diskutiert werden müssen, aber man muß die Lage in der traditio- 
nellen Psychologie bedenken! 

Lewin hält dieser Theorie schwerwiegende Einwände entgegen. Vornahmen 
legen in der Regel weder eine bestimmte Gelegenheit, noch eine bestimmte 
Ausführungsart fest. Beides kann ganz unbestimmt bleiben, ohne daß die Wirk¬ 
samkeit der Vornahme dadurch geschwächt würde. Wo ist hier die Koppelung 
zwischen Bezugs- und Ziel Vorstellung? Zweitens: Hat man sich etwa vorgenommen, 
einen Brief m den nächsten Briefkasten einzuwerfen, und hat man den Vor¬ 
satz auch ausgeführt, so bewegt der Anblick des nächsten Postkastens nicht 
dazu, die Handlung zu wiederholen. Nach der Assoziationstheorie müßte man 
erwarten, daß das Auftauchen der Bezugsvorstellung (also eines Briefkastens) 
immer wieder mindestens den Ansatz zur Ausführung weckt. Endlich kommt 
es, besonders bei affektiv sehr stark betonten Vornahmen vor, daß man die 
Gelegenheit selbst aufsucht und nicht auf das Auftreten der Bezugsvorstellung 
passiv wartet. Es scheint also, daß das Eintreten der Bezugsvorstellung doch 
nicht immer die notwendige Voraussetzung dafür ist, daß die Handlung aus- 
geführt wird. 

Nun entwickelt Lewin auf Grund später zu veröffentlichender Versuche 
seine eigene Theorie der Vornahmehandlung. Die Vornahme schöpft ihre Kraft 
nicht aus einer Koppelung von Vorstellungen, sondern es besteht ein innerer 
in eine bestimmte Richtung gehender Druck, der auf die Ausführung der Vor¬ 
nahme hindrängt. „Die Kräfte, die bei einem Vornahmeakt resultieren, zeigen 
somit eine weitgehende Typenverwandtschaft mit jenen seelischen Kräften, die 
man als Bedürfnisse zu bezeichnen pflegt und die auf Triebe oder zentrale 
Wollungen zurückgehen. Damit bricht auch in der experimentellen 
Psychologie der Gedanke durch, daß man schon beim einfachen 
Laboratoriumsexperiment aus dem Gebiet der sogenannten Willenspsycho¬ 
logie, nicht ohne den Rekurs auf die tieferliegenden Schichten des 
triebhaften Geschehens auskommen kann. 

Terminus „Bedürfnis wurde wahrscheinlich nur deshalb gewählt, um 
das allzu belastete Wort „Trieb“ zu vermeiden. Lewin weist ausdrücklich auf 
die Analogie zwischen Bedürfnissen und Trieben hin. In beiden Fällen haben 
wir es mit einem gerichteten Druck zu tun, der auf gewisse Handlungen 
(Befriedigungshandlungen) hindrängt, beidemal spielen gewisse Gelegenheiten, 
auf die die Triebe beziehungsweise Bedürfnisse ansprechen, eine wesentliche 
Rolle, es gibt gewisse Dinge oder Ereignisse, die „anlocken“, die einen „Auf¬ 
forderungscharakter haben. Dieser Begriff des Aufforderungscharakters spielt 
bei Lewin eine zentrale Rolle. Die sehr treffende Bezeichnung will die Tat- 




26* 
















Referate 


392 

sache wiedergeben, daß ein handelndes Lebewesen nicht bloß einer aus optischen, 
akustischen usw. Reizen bestehenden Welt gegenübersteht, sondern eben Dingen 
und Ereignissen, die sich keinesfalls als neutrale, sondern als lockende, ab¬ 
stoßende oder zu bestimmten Handlungen herausfordernde perzipiert werden. 
Trieben wie Bedürfnissen entspricht nicht ein bestimmt festgelegter, sondern 
ein weiter und nur vag begrenzter Kreis solcher Aufforderungscharaktere. 

Die enge Parallelität zwischen der Wirkung eines echten Bedürfnisses (oder 
Triebes) und der Nachwirkung einer Vornahme veranlaßt Lewin bei der Vor¬ 
nahme von dem Vorhandensein eines Quasibedürfnisses zu sprechen. Die durch 
den Vornahmeakt gesetzten Spannungen und Aufforderungscharaktere sind nichts 
Ursprüngliches. Sie entstehen auf Grund irgendwelcher echten Bedürfnisse, die 
auf Triebe oder übergreifende Willensziele zurückgehen. Das Quasibedürfnis 
bleibt auch nach seinem Entstehen weiterhin in Kommunikation mit einem 
Komplex von echten Bedürfnissen entsprechenden Spannungen. Von der Tiefe 
der Verankerung des echten Bedürfnisses, in die das Quasibedürfnis 
eingebettet ist, hängt im wesentlichen die Wirkung der Vornahme ab. 
Die echten Bedürfnisse, die dabei in Frage kommen, sind einmal diejenigen, aus 
denen die Vornahmen selbst erwachsen sind. Daneben aber machen sich nicht selten 
auch Kräfte bemerkbar, die bei dem Zustandekommen der Vomahme selbst gar nicht 
oder nur wenig mitgewirkt haben. Die wesentliche Leistung der Vornahme besteht 
in der Vorbereitung. Durch die Vornahme werden Umstände geschaffen, die es 
später erlauben, sich einfach der Wirkung der Situation zu überlassen. Eine 
Vornahme tritt nur ein, wenn eine gewisse Voraussicht besteht, dann nämlich, 
wenn die vorauszusetzende Situation an und für sich noch nicht jene Auf¬ 
forderungscharaktere enthält, die die gewünschte Handlung schon von selbst 
spontan nach sich ziehen würde. Mit der Vornahme Hand in Hand geht ein 
Vorgang, den man als „Entschluß “ bezeichnen kann. Ein funktionell wesent¬ 
licher Effekt dieses Vorganges besteht darin, daß durch ihn für eine innere 
Spannung der Zugang zur Handlung, zur Motorik geschaffen wird. Beim Ent¬ 
schluß handelt es sich darum, daß mehrere entgegengesetzt gerichtete gespannte 
Systeme in einer Person gleichzeitig vorhanden sind, und daß durch den Ent¬ 
schluß diese Spannungen in irgendeinem Sinne zum Ausgleich gebracht werden, 
damit die Handlung von einem eindeutigen Spannungssystem beherrscht werden 
kann. 

Wo liegt, aus dem Aspekt der Theorie Lewins gesehen, die Differenz 
zwischen Willenshandlung und Triebhandlung? Lewin wählt hier einen sehr 
richtigen Gesichtspunkt: „Nicht der Umstand, ob zeitlich ein gewisser anderer 
Akt (der Vornahmeakt. Ref.) vorausgegangen ist oder nicht, sondern den Charakter 
des Handlungsgeschehens selbst wird man bei der Zuordnung des Geschehens 
zu einem bestimmten Typus in den Vordergrund zu stellen haben.“ Aus diesem 
Prinzip der Zuordnung erscheint der Typus der beherrschten Handlung als 
charakteristischer Fall einer Willenshandlung. Der andere Typus wäre die Trieb¬ 
handlung, oder wie Lewin sie auch nennt, die Feldhandlung, als eine von 
„unwillkürlichen, vom Individuum nicht beherrschten Kräften geleitete Hand¬ 
lung“. Die Vornahmehandlung, die keinen bestimmten Ausführungstypus, sondern 



























Referate 


3 9 3 


das Vorausgegangensein eines Vornahmeaktes zur Voraussetzung hat, steht in der 
Mitte, oft näher der triebhaften als der Willenshandlung. 

Aus dieser Theorie ergibt sich ungezwungen das Verständnis einiger experi¬ 
mentellen Befunde. Man versteht, warum Versuchspersonen die Tendenz zeigen, 
eine unterbrochene Handlung, selbst wenn sie uninteressant war, wieder auf¬ 
zunehmen, auch wenn ein äußerer Anreiz, der sie an die Handlung erinnern 
konnte, fehlt. Die Stärke der Wiederaufnahmetendenz hängt von der inneren 
Stellung der Versuchsperson zu der Handlung ab. Es ist dabei wichtig, welche 
zentralen Willensziele (oder Triebe) die Versuchsperson veranlaßt hatten, die 
Instruktion des Versuchsleiters anzunehmen. So erklärt sich das Vergessen 
von Vorsätzen: Vorsätze werden nicht vergessen, wenn die zugehörige Hand¬ 
lungssphäre, in die sie eingebettet sind, lebendig ist. Treten gegen einen Vor¬ 
satz starke natürliche Gegenbedürfnisse auf, so wird es nicht ausgeführt. (Lewin 
weist hier ausdrücklich auf den Freudschen Begriff des Widerstandes hin.) 

Das Phänomen der Fixierung scheint auf den ersten Blick eine assoziations¬ 
theoretische Erklärung zu fordern. Es sieht so aus, als läge hier eine feste 
Koppelung zwischen einem Triebreiz und einer bestimmten Ausführungsart vor. 
Lewin stellt dagegen durchaus mit Recht fest, daß auch hier die Energie¬ 
quelle ein echtes Bedürfnis und nicht die Koppelung zwischen Reiz und Aus¬ 
führungsart oder Gelegenheit ist. Bezeichnend für die Fixierung ist nur, daß 
der Kreis der Aufforderungscharaktere gegenüber der Zahl der an sich mög¬ 
lichen außerordentlich eingeengt ist. Wie es zu solcher Einengung kommt, ist 
allerdings problematisch. 

Bei der Behandlung der trieb- und willenspsychologischen Fragen spricht 
Lewin oft von „seelischen Systemen“. Damit berührt er Fragen, die innig 
mit den Problemen der analytischen Ichpsychologie Zusammenhängen. In seiner 
Arbeit sind darüber einige Andeutungen zu lesen, die ungewöhnlich klar 
schwierige Sachverhalte klären und die Strukturprobleme des Psychischen scharf 
heraussteilen. Es lohnt sich, hier einiges daraus anzuführen. Lewin bestreitet, 
daß der Satz über die Einheit der Seele, der sagt, „alles hängt mit allem 
zusammen“, die Verhältnisse adäquat widergibt. „Der Zusammenhang der psychi¬ 
schen Ereignisse untereinander und die Breite des Einflusses jedes einzelnen 
Erlebnisses auf die anderen psychischen Prozesse ist nicht einfach von seiner 
Stärke, nicht einmal von seiner realen Wichtigkeit abhängig. Die einzelnen 
psychischen Erlebnisse sind vielmehr eingebettet in ganz bestimmte seelische 
Gebilde (Komplexe), Persönlichkeitssphären und Handlungsganzheiten. Ob und 
wie zwei psychische Ereignisse aufeinanderwirken, hängt davon ab, welche 
Stellung diese Komplexe zueinander haben. Die Kommunikation zwischen ver¬ 
schiedenen Systemen ist verschieden breit. Er gibt eine erstaunlich weitgehende 
Abschließung psychischer Komplexe gegeneinander. Es ist fraglich, ob das, 
was man als , 1 dl*, ,Selbst 4 bezeichnen kann, nicht nur einen Kom¬ 
plex, respektive ein funktionelles Sondergebiet innerhalb dieser 
seelischen Totalität darstellt. Es gilt, die Seele in ihrer natürlichen 
Struktur zu erkennen, die psychischen Komplexe, Schichten und Sphären fest¬ 
zustellen; es gilt, zu erkennen, wo Ganzheiten vorhanden sind und wo nicht." 

















Referate 


394 


Die Arbeit Lewins gehört zu den besten und bedeutendsten, die aus der 
experimentellen Psychologie in der letzten Zeit hervorgegangen sind. Sachliche 
Übereinstimmungen mit der Psychoanalyse treten deutlich hervor. Sie sind um 
so höher einzuschätzen, als der Verfasser, allem Anschein nach, ziemlich unbe¬ 
einflußt von psychoanalytischen Theorien, zu seinen Resultaten kam. Gewiß 
wäre für ihn eine innigere Bekanntschaft mit der Psychoanalyse sehr aufschlu߬ 
reich gewesen. Aber auch umgekehrt kann vom Psychoanalytiker dieses Buch 
mit Nutzen gelesen werden. Gero (Budapest) 

Barrett, E. Boyd: Tlie New Psyckology. How it Aids and Interests 

(Hardmg and JMore, London 1925). 

Die Geistlichkeit hat begreiflicherweise nicht gerne ihre Macht über die 
verschiedenen Wissenszweige (vor allem die Medizin) aufgegeben, deren Hüter 
sie einst war, und man hat lange schon eingesehen, daß der letzte und viel¬ 
leicht hartnäckigste Kampf mit ihr auf dem Gebiet der Psychologie und der psycho¬ 
logischen Medizin zu bestehen sein wird Der Autor dieses Buches, ein ge¬ 
lehrter Jesuit, verteidigt die hoffnungslose Position der Geistlichkeit. Er durch¬ 
mißt das ganze Gebiet der klinischen Psychologie und stellt für jedes schwierige 
Problem nach bewährtester ex-cathedra -Art ein Gesetz auf. Er widersetzt sich 
heftig den Bestrebungen, die Neurasthenie als eine Aktualneurose oder als 
eine Psychoneurose aufzufassen, und belehrt uns, was sie tatsächlich ist*, er 
urteilt anerkennend über den Wert der Hochfrequenzbehandlung von Arsonval 
und gibt uns Anweisungen darüber, wann und aiuf welche Art die Traum¬ 
forschung für therapeutische Zwecke verwendet werden dürfe. Die Sicherheit 
bei der Entscheidung über derartige Dinge und der Anspruch höchster Auto¬ 
rität, der das ganze Buch durchzieht, sind durchaus verständlich, wenn wir 
daran denken, daß der Autor ein unfehlbares vade mecum zur Wahrheit be¬ 
sitzt: Er braucht sich bloß zu fragen, welche Lösung eines Problems am besten 
mit den Lehren der katholischen Kirche übereinstimmt, — und jeder Zweifel 
ist behoben. Wo es paßt, führt er ärztliche Erwägungen zur Unterstützung 
seiner Behauptungen an; wo dies nicht der Fall ist, beschwört er den Donner 
der Kirche und erläßt laute Schmähungen gegen die Unmoral jener, die 
anders denken als er. Sein Weg ist vorgezeichnet. 

Wir sehen uns jedoch gezwungen, auf einen Mangel dieser anscheinend 
unanfechtbaren Stellung aufmerksam zu machen. Maßgebende Persönlichkeiten, 
die sich auf dem Gebiet der wissenschaftlichen und besonders der ethischen 
Allwissenheit so erhaben dünken, übernehmen dabei eine gewisse Verantwor¬ 
tung. Wenn es sich z. B. herausstellt, daß ihr wissenschaftliches und beson¬ 
ders ihr ethisches Niveau offensichtlich ein niedrigeres ist, als sie behaupten, 
dann müssen sie darauf gefaßt sein, daß der einfache Mann ihre Anmaßungen 
nicht weiter guten Glaubens hinnehmen, sondern sie als gewöhnliche Sterb¬ 
liche mit allen menschlichen Schwächen betrachten wird. 

Halten wir uns an einen bestimmten Fall. Die Geschichte der religiösen 
Gebote, denen der Autor unterstellt ist, beweist, daß Unzulänglichkeit in einer 






















bestimmten ethischen Tugend mit ihren Grundsätzen unvereinbar ist: Wir 
meinen natürlich die Wahrheit. Wir müßten daher erwarten, daß der Autor, 
bevor er eine wissenschaftliche Arbeit vollkommen verurteilt, sich besonders 
bemühe, sich über den tatsächlichen Inhalt dieser Arbeit zu vergewissern und 
ihn wahrheitsgemäß darzustellen. Wir müssen mit Bedauern wahmehmen, daß 
der Autor im Gegenteil einer solchen einfachen Prüfung nicht standhält. Aus 
der sehr großen Anzahl falscher Behauptungen und leicht zu vermeidender 
Mißverständnisse führen wir folgende Beispiele an: 

„Diesen unheilvollen Stand der Dinge verdanken wir zum großen Teil dem 
groben Materialismus Freuds und seiner Anhänger in Amerika, wie A. A. Brill.. . 
Für sie gibt es keine Moral im wahren Sinne; freies Ausleben, welche Form 
immer es annehmen mag, vorausgesetzt, daß sie biologisch ist, dünkt ihnen 
gut. Beinahe ist es ihnen schon gelungen, durch ihre beschränkten und ein¬ 
fältigen Theorien das überaus brauchbare Werkzeug zu verderben, mit dem 
sie arbeiteten und zu dessen Vollendung sie beitragen wollten. Und so kommt es, 
daß die schwierige Aufgabe auf den Schultern der christlichen Psychologen 
lastet, daß sie diese brauchbare und nützliche Einrichtung oder Methode, die 
Psychoanalyse, aus dem üblen Schmutz auflesen“ (S. 170). Ohne uns mit der 
christlichen Wohltätigkeit, die dann hier ausgespielt wird, auseinanderzusetzen, 
wollten wir nur den offenbaren Unsinn klarstellen, den diese Stelle enthält. 
Wäre es so, müßte Freud Mord, Diebstahl uud andere Verbrechen, die ver¬ 
mutlich „biologisch“ sind, gutheißen. 

Für Freuds „einseitige und begrenzte Anschauungen über die primitiven 
Triebe“ zeigt der Autor wenig Sympathie und macht folgende überraschende 
Bemerkung darüber: „Glücklicherweise haben sehr berühmte Psychoanalytiker 
sie mit Verachtung zurückgewiesen und üben doch die Methode vom ortho¬ 
doxen Standpunkt aus“ (S. 173). Wir wären wirklich begierig, den Namen 
eines einzigen bekannten Psychoanalytikers zu erfahren, für den dies zutrifft, 
aber der Autor gewährt uns keine derartige Information. Auch an anderen 
Stellen des Buches ist er äußerst katholisch in seiner Auffassung von dem, was 
einen Psychoanalytiker ausmacht: Dr. Bonsfield, Crichton Miller und 
Rivers reiht er hier ein; wir glauben nicht, daß einer von diesen sich so 
nennen würde, und sicher ist, daß es kein anderer täte. 

Von den vielen technischen Irrtümem, die sich in dem Buch finden, wollen 
wir die folgenden erwähnen: Die traumatische Hysterie hat angeblich keine 
psychischen Ursachen (S. 167), sondern ist eine Folge auf ein physisches Trauma, 
wie etwa einen Eisenbahnzusammenstoß. Die kathartische Methode ist nicht 
„heute noch von zentraler Bedeutung für die Psychoanalyse“ (S. 168), sondern 
hat seit mehr als einem Vierteljahrhundert aufgehört, dies zu sein, ja man 
müßte genauer sagen, sie sei es niemals gewesen, da eben an ihre Stelle die 
Psychoanalyse trat. Der Autor vermag nicht zu unterscheiden zwischen der 
freien Assoziation, die man allerdings als von „zentraler Bedeutung“ für die 
Psychoanalyse bezeichnen kann, und dem Assoziationsexperiment, denn seine 
Definition jener lautet, wie folgt: „Die freie Assoziationsmethode erfolgt in 
ihrer einfachsten Form derart, daß dem Patienten mit entsprechenden Pausen 

















3 9 6 


Referate 


laut ein Wort nach dem andern vorgelesen wird und er dazu aufrichtig sagen 
muß, welche Gedanken oder Vorstellungsbilder dadurch bei ihm wachgerufen 
werden. Die Reaktionszeit soll vermerkt werden“ (Ss. 175, 176). Auch weiß 
er nicht, daß die Sublimierung ihrem Wesen nach ein unbewußter, dem Willen 
nicht unterworfener Prozeß ist: „Wie können z. B. die starken sexuellen 
Neigungen beim Mann und Weib ordnungsgemäß in andere Bahnen geleitet 
werden, wie in philanthropische Betätigungen oder in literarische oder künst¬ 
lerische Arbeit, wenn nicht durch Gottes Gnade der Wille gestärkt wird, der 
die Sublimierung in der richtigen Weise lenkt?“ (S. 182). Faßt man die Aus¬ 
drücke „unterbewußt“ und „unbewußt“ als Synonyma auf, so übersieht man 
dabei die größte Entdeckung, die Freud gemacht hat, während die Behauptung, 
daß die Unterscheidung zwischen den beiden „selten gewahrt wird“ (S. 31), 
eine sehr oberflächliche Bekanntschaft mit der diesbezüglichen Literatur verrät. 
Ebenso unrichtig ist die Erklärung, daß die Psychoanalyse sehr wohl mit der 
Hypnose vereinigt werden könne (S. 274); ob — wie behauptet wird — die 
Hypnose als eine Frage der Anerkennung der Psychoanalyse in Mode gekommen 
ist (S. 274), ist äußerst zweifelhaft. Die Verwendung des Wortes „Zensor“ 
statt „Zensur“ („censor“ statt „censorships “), und die Beurteilung dieses Begriffes 
auf dieser Basis ist ein bekanntes Vorgehen. 

Wenn die Psychoanalyse mit Vorlesungen begonnen hat, die Freud im 
Jahre 1895 hielt (S. 167), so weiß der Referent nichts von dieser Tatsache, 
denn es gibt nirgends einen Bericht über solche Vorlesungen. Aber die Feind¬ 
seligkeit des Autors gegen Freud, die sich nebenbei darin äußert, daß er ihn 
das ganze Buch hindurch „Sigismund“ nennt, ist so heftig, daß alle Behauptungen, 
die sich auf Freud beziehen, zu Entstellungen neigen. „Gottlos“, „unsinnig“, 
„zynisch , „wild“, „einfältig“ und „grob“ sind bloß eine kleine Auswahl der 
Adjektiva, mit deren Hilfe der Autor seinen Affekt erleichtert; sein Zorn 
erreicht seinen Höhepunkt im letzten Kapitel über „False Theories of Religion 6 . 
Hier hat er es ganz aufgegeben, Belegstellen für seine Behauptungen anzuführen 
und konstruiert so ein reines Phantasiebild von dem, was er Fr e u d s Anschauungen 
über Religion nennt; es braucht nicht gesagt zu werden: Es ist eine vollendete 
Komödie. E. J011 es (London) 

B ü Ii 1 e r, Dr. Ctarlotte : Zwe 1 KnaLentageLüclier. ]Mit einer Ein¬ 
leitung üfcer die Bedeutung der Tagetüdier für die Jugendpsychologie. 

Quellen und iStudien zur Jugendhunde. Heft 3. Gustav Fischer, Jena 1925. 

Sehr dankenswert ist die „absolut vollständige“ Veröffentlichung des umfang¬ 
reichen Tagebuches: „Gedanken und Gedankensplitter, Auszüge aus Büchern, 
Register und Beschwerdebuch über Haus und Schule und Welt.“ Verfasser, 
sechzehn Jahre alt, führt hier durch acht Monate ein sehr reichhaltiges Diarium, 
das seine religiösen Kämpfe, seine geistigen Interessen, seine erste Liebe (vom 
zärtlichen Typus) höchst lebhaft schildert, seine Konflikte mit den Eltern und 
seine sexuellen Schwierigkeiten aufschlußreich andeutet. Daß ein solches Dokument 
für die psychoanalytische Forschung von Interesse ist, bedarf keiner Bemerkung. 































Referate 


097 

Ein genaues Studium dieses und anderer Tagebücher dieses Typus können Auf¬ 
klärung mancher Detailfrage zur Psychologie der Pubertät und Liebe bringen. 
Die Bestätigungen für die Freudschen Lehren sind zahlreich und durchsichtig. 
Bühl er freilich findet in ihrer Einleitung, daß das Tagebuch einen sehr exakten 
Beleg gegen Freuds Sublimierungstheorie liefert. In den ersten vier Monaten 
berichtet der Tagebuchschreiber über lebhafte geistige Interessen, dann erst 
von einbrechenden Sexualkonflikten, die zugleich eine deutliche Produktions¬ 
hemmung bringen. Die Sexualbeschwerden werden überwunden durch die Kon¬ 
zeption eines Dramas, „Brennendes Eis“, und durch eine „reine“ Liebe zu einem 
unbekannten Mädchen. So schildert der Knabe seine Entwicklung, das Tage¬ 
buch stimmt damit objektiv überein: „Meine sexuelle Entwicklung ist in den 
Mittelpunkt getreten und hat beinahe die Philosophie verdrängt", formuliert 
er vor Überwindung der „tierischen“ Leidenschaften. Dies ist für Bühl er ein 
exakter Beweis. Sie dekretiert: „Die geistige Interessenperiode unseres Tage¬ 
buchschreibers liegt vor der Periode der sexuellen Krisis. Die seelische Pro¬ 
blematik leitet den Pubertätsprozeß ein, und weit entfernt davon, als Subli¬ 
mationsprodukt der sexuellen Krisis aufzutreten, endet sie vielmehr, unwider¬ 
ruflich scheiternd an der stärkeren Gewalt des körperlichen Prozesses, der später 
entsteht oder dessen Krisis wenigstens später liegt.“ Allerdings wird diese 
sexuelle Krisis doch durch „Sublimation“ (Drama z. B.) überwunden, und zwar 
so deutlich und vom Schreiber betont („meine neue Geliebte ist die Literatur¬ 
wissenschaft“), daß man sich doch fragen könnte, ob nicht die geistige Interessen¬ 
periode, mit der das Tagebuch beginnt, Folgezustand von voraufgegangenen 
sexuellen Krisen ist. Was mag wohl mit der Sexualität der „ersten Pubertät" 
im dritten Lebensjahr, die doch Bühl er in einem früheren Buch so rühmlich 
und selbständig entdeckt hatte, geschehen sein? Ob die nicht ein wenig sub¬ 
limiert worden ist? Es ist entschieden übertrieben, den Anfang des Tagebuches 
mit dem Anfang der Pubertät gleichzusetzen. Bühl er findet die von ihr auf¬ 
gestellten Phasen der Pubertät im Tagebuche wieder. Das entwertet freilich 
ihre seinerzeitige Phasenaufstellung, die für den ganzen Pubertätsverlauf (eines 
Typus) recht ansprechend war, aber doch nicht innerhalb acht Monaten mitten 
in einer Pubertät ablaufen kann. Überhaupt bringt diese Einleitung „Über 
die Bedeutung des Tagebuchs" keine Fortschritte; sie rekapituliert bloß, was 
der Tagebuchschreiber sagte. Vom bearbeitenden Psychologen wäre zu fordern, 
daß er über den Tagebuchschreiber mehr zu sagen wüßte, als dieser von sich 
selbst ohnehin aussagt. Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie 
wird überschätzt, beziehungsweise falsch gesehen. (Zum Beispiel: „Isolierungs¬ 
bedürfnis ist eigentlich die einzig notwendige Voraussetzung des Tagebuch¬ 
schreibens . . . Wir werden von einem Gesetz der Isolierung sprechen, welches 
ein . . . spezifisches Verhalten des Beifungsalters bezeichnet. In der Tatsache des 
Tagebuchschreibens findet es eine der möglichen Ausdrucksformen . . . Das Tage¬ 
buch bietet eine geschlossene Folge von Selbstbeobachtungen. Gemessen an den 
Selbstbeobachtungsprotokollen in wissenschaftlichen Versuchen, weist das Tage¬ 
buch gewisse Vor- und Nachteile aus. Hauptmangel: . . . nicht wissenschaftlich 
geschulte Versuchsperson . . .“.) Die Priorität, die Bühl er für den Gedanken 















3 9 8 


Referate 


beansprucht, „die Auswertung von Tagebüchern als Quelle ... als methodi¬ 
sches Prinzip vorgeschlagen zu haben“, kann, so wenig bedeutend der Gedanke 
ist, ihr doch nicht zuerkannt werden. Diese Selbsttäuschung über die Originalität 
ihrer Anschauungen, kehrt in den Bühl ersehen Büchern immer wieder und 
berührt den sachkundigen Leser recht wenig angenehm. Das zweite Tagebuch 
(11 Seiten) ist so ausgiebig gestrichen, daß sein Wert als Tagebuch äußerst 
gering ist; wohl aber bietet es einige Belege für eine Ausdrucksform des Sehn¬ 
suchtserlebnisses in der Pubertät. Bernfeld (Berlin) 

Chadwick, Mary: Psycliology for Nurses. Introductory Lectures 
for Nurses upon Psydiology and Psydioanalysis. "William Heinemann, 
London 1926. 

Ein Lehrbuch der Psychologie und Psychoanalyse für Krankenpflegerinnen, 
das sich nicht damit begnügt, die Grundlinien der Psychoanalyse, die schon 
so oft dargestellt wurden, zu vermitteln, sondern das das Problem der Kranken¬ 
pflege und der Pflegerin sehr ernsthaft angeht. Daher eine Arbeit, die nicht 
nur für die Krankenpflegerin aufklärend und nützlich ist, sondern auch all¬ 
gemein viel zur Psychologie des Krankseins beiträgt. Über den Heilwert der 
Übertragung, über die Motive zur Berufswahl der Krankenpflegerin, die Be¬ 
friedigung und die Konflikte, welche aus den unbewußten Triebkomponenten 
sich für sie ergeben, über die Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten, mit den 
Widerständen der Kranken, und insbesondere über eine Reihe von Verhaltungs¬ 
typen kranker Kinder, Männer und Frauen sagt Chadwick eine Menge 
Interessantes, zum Teil Neues. Vorbildlich erscheint mir das didaktische Prinzip 
des Buches: Psychoanalyse für Krankenpflegerinnen vorzutragen als Psycho¬ 
analyse der Krankenpflegerin. Bernfeld (Berlin) 

Reickardt, Dr. Hans: Die Früli erinnern 11g als Trägerin kindlicher 
iSelkstkeokaditung in den ersten Lekensjaliren. Carl Marliold, Verlags- 
kudikandlung, Halle a. d. iS. 1926. 

Der Verfasser erschließt der Kinderpsychologie — und der Psychologie über¬ 
haupt — eine, wie sich zeigt, sehr belangvolle neue Quelle: die Autobiographie. 
Die Psychoanalyse hat des öfteren auf den psychologischen Gehalt der Auto¬ 
biographien und auf die Möglichkeit hingewiesen, aus ihnen bestätigendes Material 
für ihre Befunde zu gewinnen. Reichardt hat diesen Wunsch erfüllt. Zwei¬ 
tausend Biographien sind durchgearbeitet, und der ganze Schatz von Früh¬ 
erinnerungen. den sie enthalten, ist von Reichardt sorgfältig geborgen und 
umsichtig geordnet. Von den bearbeiteten Autobiographien reichen 54% in die 
erste Kindheit zurück, von diesen sind etwa 5 8°/o datierte Früherinnerungen. 
Wir stehen erstaunt vor einer reichen Fülle von höchst interessanten Erinne¬ 
rungen, von denen eine ganze Reihe bis ins erste Lebensjahr zurückreicht. 
Die Psychoanalyse darf sich dieser Publikation freuen, sie bringt für eine 
recht große Zahl von ihr zuerst behaupteter Tatbestände neuartige Belege, die 
















Referate 


399 


keiner Voreingenommenheit verdächtig sind. Reichardt ist in seinen theoreti¬ 
schen Erörterungen zum Teil völlig psychoanalytisch, zum Teil weit von Freud 
entfernt, weist aber nachdrücklich darauf hin, wie deutlich viele psychoanalytische 
Lehren durch sein Material gestützt werden, und hat in der Anordnung der 
Früherinnerungen die wesentlichen Gedanken der Psychoanalyse akzeptiert. Diese 
umfangreiche Kasuistiksammlung entzieht sich dem Referat. Einige Kapitel¬ 
überschriften mögen zeigen, für welche Themen sich lehrreiche Belege bei 
Reichardt finden: „Geborgenheit und Furcht“ (S. 29—41), „Der Umkreis der 
Erotik“ (S. 41—66), „Körpergefühl als häufiger Gedächtnisbesitz“ (S. 161 —164), 
„Die geliebte Wärterin“ (S. 169—171), „Wie das Kranksein sich der Rück¬ 
schau darstellt“ (S. 246 — 252), „Was das Kind vom Tod versteht“ (S. 252 — 257), 
„Der liebe Gott“ (S. 319—323), „Das Unverstandene als Denkreiz“ (S. 330 — 332). 

Bernfeld (Berlin) 

Stern, Prof. Dr. William: Anfänge der Reifezeit. Ein Knaben- 

tagebudi in psychologischer Bearbeitung. Quelle & Aleyer, Leipzig 1926. 

Die umfangreichen Tagebücher eines Knaben von der Mitte seines zwölften 
bis zum vollendeten fünfzehnten Jahre werden in reichlichen Auszügen, vom 
personalistischen Standpunkt geordnet und — gelegentlich — gedeutet. „Es 
soll die wesentliche Struktur der Phase persönlichen Lebens, die wir frühe 
Pubertät nennen, an einem konkreten Beispiel zur Darstellung kommen (3). 
Das Material ist vielseitig und von beträchtlichem psychoanalytischen Interesse; 
um so mehr, als das Tagebuch aus den Jahren 1884/86 stammt, sich also 
einige Parallelen zwischen heutiger und damaliger Jugend aufdrängen. Die 
minimale Relevanz der Kulturunterschiede für die wesentlichen Strukturbestand¬ 
teile eines Pubertätstyps wird hiebei deutlich. Bedauerlich ist, daß bloß, von 
einem bestimmten Bearbeitungsgesichtspunkt gewertete, Auszüge geboten sind. 
Die vollständige Publikation hätte Nachprüfung und Verwertung des wertvollen 
Stoffes von anderen Gesichtspunkten aus ermöglicht. Sehr dankenswert hin¬ 
gegen ist, daß Stern — im Gegensatz zu den Bühl ersehen Tagebuch Veröffent¬ 
lichungen — ausführliche biographische Daten über den Tagebuchschreiber 
und dessen Bemerkungen (von 1924) zu seinem Tagebuch bietet. Hiebei wird 
festgestellt: „Es gab auch solche (Tagebuchnotizen), die mich geradezu über¬ 
raschten. Sie waren völlig vergessen und verschollen . . . Bei diesem unberechen¬ 
baren Spiel der Erinnerung ist nicht etwa die Wichtigkeit der allein ent¬ 
scheidende Auslesefaktor. Ein so aufregendes Erlebnis wie der Selbstmord eines 
mir bekannten Knaben gehörte zu dem ganz Vergessenen (vielleicht liegt hier 
eine Verdrängung vor?)“ (6). Leider ist solche — im Buch mehrfach ge¬ 
gebene — Bestätigung der Verdrängungslehre für Stern kein Anlaß, der Tat¬ 
sache der Verdrängung in seinen personalistisch-psychologischen Deutungen ernst¬ 
haft Berücksichtigung zu gewähren. Sehr entschieden und unseres Erachtens 
sehr richtig betont Stern, daß Tagebücher nicht als „direkte Wiedergaben des 
wirklichen seelischen Erlebens zu werten sind. Auch hier muß gedeutet und 
umgedeutet werden . . . vor allem darf man nicht das, was im Tagebuch nicht 












4oo 


Referate 


gesagt wird, als seelisch irrelevant ansehen. Hier wird sich erst allmählich eine 
psychologische Deutungstechnik entwickeln müssen. Verfehlt wäre es, zu wähnen, 
in diesen (Tagebüchern) bereits die adäquaten Seelenkonterfeis der Verfasser zu 
besitzen.“ Dennoch verstößt Stern an einigen Stellen, an wenigen zwar, aber 
gerade an für uns entscheidenden, gegen diese methodischen Prinzipien. So 
heißt es z. B. (39): „Das geschlechtliche Moment. Ein Eindruck geht eindeutig 
aus dem Tagebuch hervor: beim Vierzehnjährigen ist dies Erlebnisgebiet vor¬ 
handen, aber es spielt keineswegs eine zentrale Rolle.“ Im Tagebuch — müßte 
es heißen, dann wäre das methodisch korrekt und würde zu der psychologisch 
sehr fruchtbaren Fragestellung führen, welche Ursachen dies Tagebuchphänomen 
hat und unter welchen Bedingungen andere Typen von Tagebüchern Zustande¬ 
kommen. Stern schließt aber hier, so scheint es, gegen seine eigene methodo¬ 
logische Einsicht, aus dem Verhalten des Tagebuchschreibers direkt auf dessen 
psychisches Verhalten überhaupt, als wäre das Tagebuch nicht ein Objekt der 
Deutung, sondern eine urkundliche Wahrheit. Bernfeld (Berlin) 

Sittlich eit tind xStrafrecbt. Gegenentwurf zu Jen ^Strafbestimmungen 
Jes Amtlichen Kntwurfs eines a n s emeinen Jeutschen ^Strafgesetzbuches 
über geschlechtliche uncl mit dem Gesdileditsleben m Zusammenhang 
stellende Handlungen, nebst Begründung herausgegeben vom Kartell 
für Reform des ^Sexualstrafrechts. Berlin 1927. 

Dieser in seiner Absicht wie in der Ausführung ausgezeichnete Gegenentwurf 
ist vom psychoanalytischem Standpunkt in mehrfacher Hinsicht interessant. Er 
ist vor allem ein Symptom für den, allerdings sehr langsam sich vollziehenden 
Abbau der Zensuren und Verbote, mit denen die Gesellschaft die Sexualität 
seit Jahrhunderten belegt hat, und zeigt, daß eine starke Tendenz am Werke 
ist, diese Einstellung zu zerstören. Allerdings erhellt auch aus der Kritik, die 
hier an dem Amtlichen Entwurf (A. E.) geübt wird, daß dieser selbst noch 
durchaus einer traditionsgebundenen, kirchlich beeinflußten, die Sexualität als 
etwas Unerlaubtes auffassenden Gesinnung entsprungen ist. Dies zeigt unter 
anderem auch die Verwendung des Wortes „Unzucht“ zur Bezeichnung ge¬ 
schlechtlicher Handlungen jeder Art. Der Gegenentwurf regt ganz mit Recht 
die Beseitigung dieses Ausdrucks an, der die — vielleicht unbewußte — Ein¬ 
stellung der Gesetzgeber zur Sexualität als etwas moralisch Verwerflichem nur 
zu deutlich durchblicken läßt. Unseres Erachtens wäre noch ein zweiter Aus¬ 
druck auf diesem Gebiete auszumerzen, nämlich der Ausdruck „Strafrecht“ 
überhaupt. Es muß bei dieser Gelegenheit mit Bedauern festgestellt werden, 
daß die Beiträge der Psychoanalyse zu diesem Problem im Gegenentwurf gar 
nicht benützt worden sind. Bereits von Freud 1 und nach ihm von Reik 2 
wurde die psychoanalytische Strafrechtstheorie aufgestellt,! daß I) die Strafe 


1) Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit. Ges. Schriften, Bd. X. 

2) Geständniszwang und Strafbedürfnis. Int. PsA. Verlag 1925. 



















Referate 401 


eine psychische Folge des Verbrechens und vom Täter meist unbewußt selbst 
gewünscht ist und 2 ) das Delikt begangen wird aus präexistentem Schuldgefühl 
u nd um durch das Herbeiführen der Strafe das aus dem Schuldgefühl ent¬ 
standene Strafbedürfnis zu befriedigen. Daraus ergibt sich, daß die Strafe keines¬ 
wegs das geeignete Mittel ist, um Verbrechen zu verhindern, eine Erkenntnis, 
die den Verfassern des Gegenentwurfs fremd zu sein scheint. Die Theorie ist 
heute ziemlich einig, daß die Verhütung des Verbrechens, respektive die Siche¬ 
rung der Gesellschaft vor dem Verbrechen der einzige Zweck des Strafrechts 
sein kann. Zeigt sich nun, daß dieses Ziel mit der Strafe nicht erreicht werden 
kann, so wird man dazu kommen, andere Maßnahmen anzuwenden. So stellt 
bereits der Amtliche Entwurf neben die Strafe die Sicherungsmaßnahme als 
Rechtsfolge des Delikts. Damit wird aber der Name „Strafrecht“ inadäquat und 
würde etwa der Titel „Gesetz zur Bekämpfung und Verhütung von Rechts¬ 
brüchen" passender sein. Diese terminologische Änderung empfiehlt sich vor 
allem aus Gründen der Psychologie und Sozialpädagogik; die Erlebnisreihen 
Verbrechen und Strafe, Tat und Vergeltung, sollen aus dem gesellschaftlichen 
Bewußtsein durch konstante Aufklärung ausgemerzt werden, da sie Schuld¬ 
gefühl und Straf bedürfnis fördern und somit die Mechanismen, die zum Ver¬ 
brechen führen, stärken. An ihre Stelle soll das Wissen um die Sozialschädlich¬ 
keit und um das Zurückwirken der Folgen der Handlung auf den Rechtsbrecher 
treten, also Verurteilung an Stelle der zum Ausbruch führenden Verdrängung. 

Zu den einzelnen Vorschlägen des Gegenentwurfs sei bemerkt: 

Der vorgeschlagenen Abschaffung der Strafdrohung gegen die Frucht¬ 
abtreibung durch die Mutter und mit Einwilligung der Mutter (§253 A. E.) 
ist durchaus beizustimmen. Der Widerstand kirchlich beeinflußter Kreise da¬ 
gegen kann sich wohl auf keinerlei rationale Motivierung stützen und ist viel¬ 
leicht als eine unbewußte Reaktion auf Mordimpulse der Vatergeneration gegen 
die werdenden Nachkommen aufzufassen. 

Ebenso halten wir die Kritik an der Bestimmung des Amtlichen Entwurfs, 
die Sadismus, der gegen Masochisten mit deren Einwilligung ausgeübt wird, 
bestraft (§ 264 A. E.), für berechtigt. Nachdem, was eingangs über die Strafe 
gesagt wurde, muß vor allem gezweifelt werden, ob diese Strafdrohung speziell 
im vorliegenden Falle gegenüber Personen sadistisch-masochistischen Charakters 
die abschreckende Wirkung haben kann. Es ist zu vermuten, daß die zu er¬ 
wartende Strafe die willkommene Befriedigung der Schuldgefühlsreaktion des 
Sadisten bilden und so die Begehung der Tat eher fördern als hemmen wird. 

Jeder Psychoanalytiker wird die Beseitigung der gegen die Homosexualität 
Erwachsener gerichteten Paragraphen (296 ff. A. E.) befürworten. Nur gegen 
die in der Begründung zutage tretende Auffassung soll an das Wort Freuds 1 
erinnert werden: „Die psychoanalytische Auffassung widersetzt sich mit aller 
Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete 


1) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Ges. Schriften, Bd. V, S. 18, Anm. 1. Siehe 
auch Ferenczi, Zur Nosologie der männlichen Homosexualität, in Bausteine zur 
Psychoanalyse I, 1927. 















^02 


Referate 


Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen.“ Die Verfasser des Gegen¬ 
entwurfs halten an der hier bekämpften Auffassung der Homosexualität als 
einer konstitutionellen Eigenheit fest. Für das Strafrecht bleibt sich dies wohl 
gleich. Da aber der Gegenentwurf auch dazu bestimmt ist, die Gesetzgeber 
über ihnen unbekannte Materien aufzuklären, so ist eine Richtigstellung dieser 
Auffassung dahin notwendig, daß die Homosexualität, so wie jede Perversion 
auf die Fixierung an eine frühere infantile Phase der Sexualentwicklung in¬ 
folge akzidenteller Momente zurückzuführen ist. 1 Die unrichtige Auffassung 
des Gegenentwurfs scheint auch dahin zu führen, daß dieser in Tatsächlichem 
irrt; wenn gesagt wird, „daß die pedicatio im homosexuellen Verkehr so selten 
ist wie im mann-weiblichen (S. 35) “, scheint uns das ein schwerer Irrtum, 
der die Bedeutung der analen Fixierung für die Homosexualität und für die 
Sexualität überhaupt übersieht und wohl einer unbewußten Abwehr dieser 
Erkenntnis entspringt. 

Daß der Gegenentwurf, der von durchaus aufgeklärtem und fortschrittlichem 
Geiste getragen ist, trotz Abmilderung des Amtlichen Entwurfs an einer Be¬ 
strafung des Beischlafs mit Verwandten in absteigender Linie (Gefängnis 
bis zu zwei Jahren § 290 A. E.) festhält, erscheint uns unverständlich. Die 
Begründung, „es dürfe kein Mittel unbenützt bleiben, um jugendliche Menschen 
und in gewissen Fällen auch Erwachsene vor dem Mißbrauch zu schützen, 
den autoritative Persönlichkeiten, also vor allem die Eltern, mit ihrer Autorität 
zu treiben imstande sind**, ist unhaltbar, denn dafür würde die Strafdrohung 
wegen Nötigung zu geschlechtlichen Handlungen (§ 255 A. E.), gegen geschlecht¬ 
liche Handlungen mit Kindern (§ 259 A. E.), gegen Verführung (§ 261 A. E.), 
eventuell eine analoge Anwendung des § 262 A. E. (Nötigung Abhängiger zu 
geschlechtlichen Handlungen) ausreichen. Keinesfalls bedarf es einer Bestrafung 
des Inzests an und für sich. Die Begründung führt selbst an, daß diese in einer 
ganzen Reihe von Ländern beschränkt oder abgeschafft wurde. Es ist durchaus 
wesentlich, daß dieses älteste Delikt straflos gelassen wird. Die Psychoanalyse 
hat gezeigt, welche überragende Rolle es im Seelenleben spielt und welche 
Strafsanktionen der psychische Mechanismus auf die bloß phantasierte Tat setzt. 
Die Strafsanktion des Gesetzes ist nur der reale Ausdruck dieses psychischen 
Vorgangs, der als ein der Realität nicht angepaßter Überbau einmal erkannt, 
nicht mehr in der sozialen Wirklichkeit wiederholt zu werden brauchte. Die 
Abschaffung der Strafdrohung kann dem Absterben dieses Delikts nur förder¬ 
lich, die Beibehaltung infolge des dadurch befriedigten Strafbedürfnisses nur 
hinderlich sein. Auch gegen den Kannibalismus, ein weiteres Urdelikt, stellt 
das Gesetz keine Strafdrohung auf und trotzdem kommen Fälle von diesem 
fast nicht mehr vor. 

Gerade weil der Gegenentwurf von tiefer Erkenntnis seiner Verfasser und 
von deren Willen zum Fortschritt zeugt, ist es bedauerlich, daß die Psycho¬ 
analyse in dessen Begründung gar keine Berücksichtigung gefunden hat. 

Walter W^eisskopf (Wien) 


1) Siehe Freud und Ferenczi a. a. O. 
































Referate 


4o3 


Herzterg, Alexander: Zur Psychologie der Philosophie und der 
philo sopLen. F. jMemer Verlag, Leipzig 1926. 

Das Buch hat ohne Zweifel Vorzüge, die es empfehlenswert machen: Es 
ist einfach geschrieben, bringt schönes Material und führt das Thema aus 
großer Vielseitigkeit heraus zu einem gewinnend einfachen Schluß: 

Das philosophische Denken nämlich diene: „1) als Ersatz des praktischen 
Handelns der Abfuhr unverwendeter Triebenergien; 2) es schafft an Stelle der 
rauhen und unbezwinglichen, daher unbefriedigenden Wirklichkeit eine schmerz¬ 
freie und beherrschbare, daher befriedigende Welt; 3) es führt auf einem Umweg 
zur realen Befriedigung mächtiger Interessen. Auf alle drei Weisen aber dient es 
der Erhaltung seelischer Gesundheit; sein Wert ist ein seelenhygienischer.“ 

Zu diesen Schlüssen konnte man nun allerdings auch ohne Zuhilfenahme 
psychoanalytischer Begriffe gelangen. Es scheint das Schicksal unserer Wissen¬ 
schaft zu sein, daß ihre Wortbegriffe oft gerade an den Stellen verschleiernd 
Verwendung finden, an denen der Psychoanalytiker selbst eine psychologisch 
tiefer schürfende Begründung des Tatbestandes wünschen möchte. Begriffe, wie 
„Sublimierung“, „Libido“, „Verdrängung“ usw. lassen sich nun einmal nicht 
einfach „nach Freud“ gebrauchen, sondern bedürfen jedesmal, wenn sie auf 
ein neues Gebiet angewendet werden, der bis ins letzte gehenden psychologi¬ 
schen Fundierung im gegebenen Material. Was kann z. B. Herzberg letzten 
Endes unter „Sublimierung“ verstehen, — so muß sich der Analytiker fragen, — 
wenn er die „Hypothese vom Ursprung des Erkenntnistriebes aus sexueller 
Neugier, von der Entstehung des philosophischen Denkens aus der Verdrängung 
sexueller Impulse“ als unhaltbar ablehnt? 

So eilt er denn auch, nachdem er den Triebmechanismus in seinen rohesten 
Umrissen geschildert hat, bereits zur finalen Deutung, der Wert der Philosophie 
sei ein hygienischer. Von der, für das Verständnis der Philosophen so wich¬ 
tigen Regression, von der homosexuellen Einstellung und ihrer Sublimierung 
erfahren wir nichts. Die prägenital determinierten Triebqualitäten werden nicht 
genetisch untersucht und fungieren als eidetische Begriffe. Auf diese Weise 
erfahren wir natürlich vom eigentlichen tragischen Konflikt des Philosophen 
und damit von seiner kulturhistorischen Bedeutung nichts. Er erfindet eben 
aus der Not eigener Gehemmtheit heraus eine Sicherung, ein Ventil: seine 
Lehre. Diese teilt er den anderen mit und bewahrt diese und sich damit vor 
der Neurose. Die Bedeutung der Philosophie als Vorläufer eines neuen Realitäts¬ 
aspekts, einer Verschiebung der Ökonomie der Realbeziehung wird durch das 
Buch nicht gefaßt. Bai ly (Berlin) 

Zeitschrift für psy clioanalyti sclie Pädagogik. 

I. Jahrgang, Heft 2 (November 1926). 

Die Meng-Schn ei der sehe Zeitschrift setzt in ihrem zweiten Heft ihr 
Programm fort, durch allgemeinverständliche Beiträge das Interesse der Päd¬ 
agogen für psychoanalytische Forschungen zu erwecken. Am meisten interessiert 
eine Arbeit vonJacoby: „Muß es Unmusikalische geben?“, in der der Autor 















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Referate 


in sehr einleuchtender Weise klarzumachen sucht, daß der „Unmusikalische“ 

_ w ie auch der „Unkünstlerische“ im allgemeinen — nicht an einem Mangel 

an Begabung (an Fähigkeiten) leidet, sondern an Hemmungen, die er aus un¬ 
bewußten Motiven seinen Fähigkeiten entgegensetzt, ein Gesichtspunkt, den 
seinerzeit Bernfeld in einer kleinen Arbeit vertreten hat und den auch sonst 
psychoanalytische Erfahrung durchaus bestätigt. Auch Jacoby spricht aus Er¬ 
fahrung (wenn auch nicht aus psychoanalytischer), wenn er sagt, „daß alle 
sogenannte Unbegabtheit . . . Ursachen haben kann, die der Korrektur 
zugänglich sind“. Daneben weckt die von Furrer mitgeteilte Analyse eines 
fünfzehnjährigen Mädchens Interesse, bei der es durch Aufdeckung des Ödipus¬ 
komplexes gelang, die ungemein trotzige, fast als „moral insanity “ imponierende 
Patientin in ein sozial völlig angepaßtes junges Mädchen zu verwandeln. — 
Ein Kapitel aus dem demnächst erscheinenden Buche „Die Befreiung des Kindes“ 
von Wittels wird abgedruckt, in dem die ursprüngliche Triebhaftigkeit des 
Kindes, die archaischere Natur alles Affektiven gegenüber allem Intellektuellen 
dargelegt wird. — Liertz (Homburg) beginnt eine Artikelserie „Uber das Traum¬ 
lebendie zwar durchaus auf Freud schein Standpunkt steht, aber es für 
nötig hält, aus Gründen der Gemeinverständlichkeit statt „assoziativ“ „gedanken- 
reihlich“, statt „manifester Trauminhalt“ „geoffenbarter Trauminhalt“ und statt 
„Psychoanalyse“ und „psychoanalytisch“, „Seelenaufschließung“ und „seelen- 
aufschließend“ zu sagen. — Meng begründet in einem „Gespräch mit einer 
Mutter“ die Notwendigkeit, die Schlafzimmer der Eltern und Kinder zu trennen. 

I. Jahrgang, Heft 3 (Dezember 1926). 

Reich eröffnet eine Aufsatzreihe mit einer Arbeit über den „Erziehungs¬ 
zwang und seine Ursachen“. Unter „Erziehungszwang“ versteht er die Tat¬ 
sache, daß Erzieher unter dem Einfluß irrationaler, ihrem eigenen Unbewußten 
entstammender Motive unnötige oder falsche Erziehungsmaßnahmen treffen, und er 
meint, daß unter allen überhaupt vorgenommenen Erziehungsmaßnahmen solche 
unbewußt determinierte einen sehr großen Prozentsatz ausmachen. Ein Beispiel 
zeigt, wie eine kindliche Trotzreaktion durch das Benehmen der Mutter, die 
eine feindselige Regung gegen ihren Gatten verdrängen wollte, unbewußt provo¬ 
ziert worden war. „Erziehen“ heißt „Versagungen setzen — und das dem 
Lustprinzip unterstellte Kind kann Versagungen nur akzeptieren, wenn es objekt- 
libidinöse Kompensationen erhält. Unter dem Zwange unbewußter Motive 
setzen Eltern häufig unnötige Versagungen und die nötigen auf unrichtige 
Weise, ohne Gelegenheit zur Kompensation; sie nennen „krankhaft“ oder 
„ungehörig“, was am Benehmen des Kindes ihnen subjektiv unangenehm ist. 
Zahlreiche Möglichkeiten unbewußter „Erziehungsmotivierungen“ aus der Praxis 
werden erörtert. Sie bringen Reich zur Ansicht, daß größtmögliche Enthalt¬ 
samkeit in Erziehungsmaßnahmen überhaupt anzuraten sei. — Allerdings wird 
es sehr schwierig sein, hier die Grenzen zu ziehen, und die Ansichten darüber, 
welche Versagungen noch „nötig“ sind, werden sicher sehr differieren. Ein 
Beispiel für diese Schwierigkeit aus Reich selbst: Einmal meint er: „Daß man 
einem Kinde nicht nachgibt, das . . . die Mahlzeiten nicht regelmäßig einnehmen 







































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4o5 


will, gehört zu den notwendigen Versagungen“; dann wieder erzählt er mi߬ 
billigend. „Der Vater einer Patientin hatte diese immer zum Essen gezwungen, 
als sie die übliche neurotische Eßstörung der Kinder hatte.“ Allerdings war 
dieser Vater dabei so brutal zu Werke gegangen, daß er das Kind sogar zwang, 
das Erbrochene wieder zu essen. 

Bezüglich der übrigen Beiträge steht dieses Heft ganz im Zeichen kleiner kasuisti¬ 
scher Mitteilungen, die die typischen unbewußten Phantasien der Kinder sehr 
deutlich demonstrieren: Baudouin erzählt von zwei unter der Herrschaft des 
Kastrationskomplexes stehenden Kindern, Zulliger konnte denHaß eines Mädchens 
gegen eine neue Mitschülerin durch Analyse der Eifersucht auf ein noch un¬ 
geborenes Geschwisterchen zum Schwinden bringen, Schneider erzählt von 
einem kleinen Mädchen, das aus Naschhaftigkeit den Vater nach Amerika weg¬ 
wünschte, und „eine Mutter'* beobachtete selten unentstellte Äußerungen des 
Ödipuskomplexes eines kleinen Jungen. — Endlich bringt Hermann noch 
ein Referat übei die Beiträge der Psychoanalyse zur Begabungsforschung. 

L Jahrgang, Heft 4 (Januar 1927).! 

Eine Arbeit von Giese über „Psychoanalyse im Fabriksbetriebe'“ weist nach, 
an wie vielen Stellen des industriellen Betriebes unbewußte Motive wirksam 
sind, die durch Rationalisierungen verschleiert werden. Bei der Propaganda der 
Psychotechnik, der Eignungsprüfungen, der Fähigkeitsschulungen werden „un¬ 
bewußte Tatbestände (grob egoistische Profitinteressen u. dgl.) „durch die 
Ethisierung, wie sie werkpolitisch durch Schlagworte ermöglicht ward“, „ver¬ 
dunkelt . Am deutlichsten ist aber das Wirken „unbewußter und nur durch 
Psychoanalyse klar erkennbarer Zusammenhänge“ im Gebiete der Lohnpolitik — 
und zwar sowohl beim Arbeitgeber als auch beim Arbeitnehmer. 

Die Fortsetzung der Arbeit von Jacob y (siehe Heft 2) zeigt nochmals über¬ 
zeugend, daß „Unmusikalische“ an Hemmungen, nicht an Fähigkeitsmangel 
leiden, und erzählt mehr vom praktisch-pädagogischen Wirken des Autors. Der 
Nachweis des Vorhandenseins musikalischen Empfindens gelinge bei jedem 
Menschen; die Hemmungen der Unmusikalischen hält Jacoby sogar für „ver¬ 
hältnismäßig leicht überwindbar durch Aufdeckung ihres Vorhandenseins und 
nachfolgender richtiger musikalischer Schulung, die nicht „die reproduktive 
Beherrschung des Stoffes der Kunstmusik“, sondern „die Klangbeziehungen, 

das Vergleichen von Spannungszuständen und Ruhe“ in den Mittelpunkt stellt._ 

Leider bleibt Jacoby an den Stellen ganz an der Oberfläche, an denen er die 
Natur der psychischen Hemmungen des Musikempfindens untersucht; er sieht 
mit Adler in der „Entmutigung“ die Hauptursache, in Minderwertigkeits¬ 
gefühlen, in Selbständigkeit unterbindender Erziehung u. dgl. Die Betonung 
des Umstandes, daß zwischen Musikalität und Sexualität Beziehungen bestehen, 
hilft doch nicht über den Eindruck hinweg, daß Jacoby die Bedeutung der 
infantilen Sexualität noch nicht im vollen Umfang würdigt. 

Außerdem enthält dieses Heft den zweiten Teil des „ Traum“artikels von 
Liertz (siehe Heft 2), und ein zweites „Gespräch mit einer Mutter“ von 
Meng, das über die kindliche Amnesie und Verwandtes handelt. 


Imago XIV 


27 
















Referate 


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I. Jahrgang, Heft 5 (Februar 1927). 

Anläßlich des hundertjährigen Todestages Pestalozzis ist diese Nummer 
dem großen Pädagogen gewidmet. Der Einleitungsartikel von Schneider weist 
darauf hin, wie viele von den Idealen Pestalozzis heute noch unerfüllt ihrer 
Realisierung harren; die nationalökonomische Lehre von Silvio Gesell und 
die Psychoanalyse Freuds hält Schneider für die beiden kulturellen Be¬ 
wegungen, die zu dieser Realisierung helfen werden. — Eine sehr lesenswerte 
Untersuchung von Bernfeld zeigt mit psychoanalytischen Überlegungen an 
Hand von Pestalozzis Lehen, wie Pestalozzi einerseits vom steten Drang 
nach Erfüllung seiner pädagogischen Ideale — an sich modifizierte Rettungstag¬ 
träumereien über ideale Kindheit, die sich erst nach Enttäuschungen im „großen 
Leben“ einstellten — erfüllt war, aber aus inneren unbewußten Gründen bei 
den Versuchen hiezu jedesmal Schiffbruch litt; wie er andererseits viel Gewicht 
legte auf die Didaktik, die von der Persönlichkeit des Erziehers losgelöste 
Methode, weil er sich so vor Durchbrüchen der lebendigen unbewußten Wünsche 
schützen mußte. Immer mehr wandte er sich von der Lebendigkeit zur Didaktik, 
die das Festhalten an der Pädagogik mit der Verhinderung jeder Annäherung, 
die an direkte verdrängte Triebziele rühren könnte, vereinte. Die Didaktik aber 
konnte weder objektiv die lebendige Persönlichkeit ersetzen noch subjektiv be¬ 
friedigen. „Sie ist ein Irrtum." — Der Ausweg aus dem Dilemma Pestalozzis 
liege, meint Bernfeld, in einer Organisierung der Masse, in einer Schule von 
der Art der freien Schulgemeinde, die „Vereinigung und Distanz (Triebbefriedi¬ 
gung und Zielablenkung) zugleich erzeugt“. 

Baudouin meint, daß Tolstoi, der häufig sich sehr kritisch über Fröbelsehe 
und verwandte, letzten Endes Pestalozzische, Gedanken geäußert hat, in 
Wahrheit innerlich doch Pestalozzi sehr verwandt sei. Beide wurzeln in 
Rousseau. Tolstoi hat nicht Pestalozzis Geist kennen gelernt, sondern nur 
dessen scholastische Erstarrung bei seinen Nachfolgern. 

Hof mann zeigt, an wie vielen Stellen Pestalozzi schon Freud sehen 
Gedankengängen nahegekommen war. Er betonte stets die Bedeutung der 
frühen Kinderzeit, hielt die Mutterliebe für unersetzbar, sah aber auch die 
Gefahr der Fixierung. In „Lienhard und Gertrud“ „bringen“ die Erzieher dem 
Schüler, „was er tausendmal vergessen, wieder zu Sinn“, der Knecht Jost in 
„Christoph und Else“ beschreibt die Verdrängung; die Geschichte vom „Schneider¬ 
traum“ wurde in dieser Zeitschrift bereits zitiert. 

Es folgen kurze ausgewählte Kapitel aus Pestalozzi selbst. 

Nelly Wolffheim bespricht einige typische „Elternfehler“, die Folgen der 
verbreitetsten „Komplexe“ der Eltern sind. 

I. Jahrgang, Heft 6 (März 1927). 

Sehr hübsche Beispiele für das Walten von „Geständnisangst und Geständnis¬ 
zwang bei Kindern“ bringt Zulliger. Seine „freien Aufsätze“ sind ein ganz 
ausgezeichnetes Material für den Jugendpsychologen. Die theoretischen Be¬ 
merkungen bedürfen, wie Zulliger selbst betont, noch mancher Klärungen, um 























Referate 


4 ° 7 


die Beziehungen von Triebäußerung und Triebabwehr, Triebabwehr und Ge¬ 
wissen, Strafangst und Strafbedürfnis, Strafe und Geständnis wirklich zu durch- 
sc auen.. c neider stellt der „sachlichen , d. h. wirklich nur vom Erziehungs¬ 
ziel geleiteten Erziehung die „unsachliche“ gegenüber, die durch unbewußte 
Motive des Erziehers bestimmt ist, und gibt ein Beispiel für die letztere aus 
seiner analytischen Praxis. Sehr bemerkenswert ist eine anonym („von einer 
Mutter ) mitgeteilte Beobachtung über die Wirkung der Urszene bei einem 
eineinhalb)ahngen Mädchen, die die von Freud durch Rückschluß aus der 
Analyse am Erwachsenen gewonnenen Erkenntnisse über die Wirkung der Belau- 
schung des elterlichen Geschlechtsverkehrs auch auf ganz kleine Kinder durch 
direkte Beobachtung am kleinen Kinde bestätigt. Reik referiert über die Be¬ 
ziehungen von Psychoanalyse und Mythenforschung, Hackländer über die 
Wiener Diskussion über den Schülerselbstmord. 


I* Jahrgang, Heft 7 — 9 (Sonderheft: Sexuelle Aufklärung). 

In diesem Professor Freud gewidmeten Sonderheft werden die komplizierten 
und viel umstrittenen Fragen der „sexuellen Aufklärung“ von zahlreichen Autoren 
behandelt, deren Ansichten im Detail oft recht weit auseinandergehen, die aber 
doch allesamt im wesentlichen übereinstimmen. Die Beiträge atmen mit voller 
Settst Verständlichkeit den Geist der alten kleinen Freu d sehen Arbeit über „sexuelle 
Au klarung , der damals noch revolutionär war. Die fortschreitende psycho¬ 
analytische Forschung konnte allerdings den damaligen Gedankengängen Freuds 
— das ethisch wie neurosen-prophylaktisch Wünschenswerteste sei eine natürliche 
Offenheit den Kindern gegenüber, die Beantwortung aller Fragen, sobald sie 
gestellt werden, also schon im vorschulpflichtigen Alter — zwei wenig erfreu¬ 
liche Erfahrungen zusetzen: Erstens die, daß Kinder häufig die ihnen dar¬ 
gebotene Aufklärung nicht akzeptieren, sie zu verdrängen suchen, ihre infantilen 
Theorien der Wahrheit vorziehen. Die Ursachen für solches überraschende Ver¬ 
halten der Kinder sind psychoanalytisch heute bereits wiederholt untersucht 
worden. Im vorliegenden Hefte werden als typische Ursachen erwähnt: jJ Der 
Kastrationskomplex: Die Anerkennung der Wahrheit bedeutete die Anerkennung 
der Vagina und damit der Penislosigkeit, an die das Kind nicht glauben will. 
Hitschmann betont diesen Umstand in seinem Beitrage besonders, erhofft 
sich aber seltsamerweise Besserung durch Reform „der Gesundheitslehre des 
Lyzeums und der Mittelschule“, also bei über zehn Jahre alten Kindern. 

Abneigung gegen die Möglichkeit der Geburt weiterer Geschwister, ein 
Umstand, den besonders Bernfeld betont. 3) Gebämeid der Knaben. (Eben¬ 
falls Bernfeld.) 4) Unbewußter Haß gegen den Vater, von dem das Kind 
nicht will, daß er irgendeinen Anteil an der Entstehung der eigenen Person 
haben soll, also Eifersucht (Landauer). ;J Besonders Landauer betont auch, 
daß man hier die Onanieverbote nicht unterschätzen darf, die alles Genitale „tabu“ 
machen, besonders in Verbindung mit der Idealisierung der Eltern, die die 
orstellung ausschließt, diese Idealpersonen könnten so etwas „Tierisches“ tun. 

Die zweite wichtige Erfahrung ist die Erkenntnis, daß die eigentliche „Auf- 
klarung , die dem Intellekt tatsächliches Wissen vermittelt, gar nicht so wichtig 


27 * 


A 

















ist. Ihre Hervorhebung, das ihr in der pädagogischen Literatur zugewandte 
Interesse, findet nicht in der sachlichen Bedeutung des Problems, sondern im 
Unbewußten der Pädagogen seine Erklärung. „Indem man eifrig für sexuelle 
Aufklärung eintritt, . . . kann man alles übrige lassen, wie es ist. Alles übrige: 
Die eigene Stellung zur Sexualität, die ,Komplexe 4 des eigenen Unbewußten ..." 
(Bernfeld); auch Friedjung betont, daß sich hinter „sittlichen Bedenken“ 
der Erzieher „blinzelndes Behagen“, d. h. die Rücksicht auf die eigene Bequem¬ 
lichkeit verbirgt. — Mancher Beitrag nimmt allerdings noch ganz den Stand¬ 
punkt des die Aufklärung überschätzenden ethisch eingestellten Pädagogen ein, 
so Liertz, dem es Selbstverständlichkeit ist, daß die „Reinhaltung des Geschlechts¬ 
lebens“, das „Sichbewahren für den zukünftigen Ehegatten“ das Ziel ist, in 
dem „beide Geschlechter unterwiesen“ werden müssen, wobei er wieder in 
störender Weise statt von „Psychoanalyse“ von „Seelenaufschließung“ redet und 
die Sublimierungslehre „Erhöhungslehre aufschließender Seelenforschung nennt. 
Und tatsächlich darf die Reduzierung der Bedeutung der Aufklärung auf das 
richtige Maß auch nicht zu ihrer Unterschätzung verführen: „Die Erleichterung 
der intellektuellen Konflikte ist Nutzen genug, den die Aufklärung leistet.“ Und: 
„Sie schädigt nicht, während die Methode ... die Kinder zu belügen, oft einen 
sicheren Schaden herbeiführt.“ (Beides Bernfeld.) 

Darin sind sich alle Autoren einig, daß das, was wichtiger ist als die „Auf¬ 
klärung“ des Intellekts, das Gesamtverhalten der Erzieher der Tatsache der 
infantilen Sexualität gegenüber ist. Besonders Meng hat dies in knapper und 
einleuchtender Formulierung betont. Auch Wolffheim legt dar, wie die ent¬ 
scheidenden Momente für die Beziehungen (und Mißverständnisse) zwischen 
Eltern und Kindern im Unbewußten gelegen sind. 

Besonders eindrucksvoll als Beispiel für den Ursprung der pädagogischen 
Schwierigkeiten im Unbewußten der Pädagogen ist die Arbeit von Reich über 
die kindliche Onanie: Das Verhalten der Erwachsenen der infantilen Onanie 
gegenüber ist ein Beweis dafür, daß die kindlichen Triebäußerungen eine Gefahr 
für die Aufrechterhaltung der Sexualverdrängung der Erwachsenen bedeuten, und 
daß dieser Umstand und nicht die Rücksicht auf das Wohl der Kinder die 
Erziehungsmaßnahmen der Erwachsenen determiniert. — Eine Übersicht über 
die Ergebnisse psychoanalytischer Forschung über die infantile Onanie (sie ist 
normaler Ausdruck der phallischen Stufe, nicht ihr Vorhandensein, ihr Fehlen 
ist pathologisch), zeigt die Unzweckmäßigkeit der üblichen pädagogischen Ein¬ 
griffe: Die Onanieverbote tabuieren die Exekutive der Erregung, aber gleich¬ 
zeitig steigern die Eltern durch ihr eigenes Benehmen fortwährend die Erregung 
der Kinder, sei es durch direkt erregende Spiele, sei es durch Verbote, die im 
Kinde Angst und damit „Angstlust“ erzeugen. Später, da das Kind in unbewußter 
Identifizierung mit einem der Eltern onaniert, verschiebt sich noch das der be¬ 
gleitenden Ödipusphantasie geltende Schuldgefühl auf die Betätigung der Onanie. 
Angst und Trotz, die die heutige Erziehung im Kinde weckt, unterdrücken 
nicht die Onanie, sondern steigern sie oft, komplizieren sie aber stets, indem sie 
das Kind zwingen, geheim zu onanieren, und dadurch zu den bekannten und 
berüchtigten Gewissenskonflikten mit ihren Gefahren führen. Ein Beispiel (Analyse 
































Referate 


409 


einer Mutter, die unbewußt ihren kleinen Sohn zu onanieren wünschte) zeigt, 
wie elterliche Onanieverbote durch die eigene Onanieangst der Eltern entstehen, 
die ihrerseits aus der Nachwirkung der Onanieverbote der früheren Generation 
und aus dem Schuldgefühl des Ödipuskomplexes stammen. Reich untersucht 
dann noch die geringen realen Gefahren der Onanie, meint, daß die infantile 
Onanieperiode wahrscheinlich spontan vorübergeht, und daß „das Experiment 
des Gewährenlassens nicht unversucht bleiben darf“. 

Wertvoll sind natürlich die Beiträge, die Einzelmaterial aus analytischer 
oder analytisch-pädagogischer Erfahrung mitteilen; diese Beiträge sagen zwar 
dem Psychoanalytiker wenig Neues, sind aber für die meisten Leser der Zeit¬ 
schrift die belangvollsten. Sie sind um so mehr zu begrüßen als in der ana¬ 
lytischen Fachliteratur noch immer viel zu wenig Krankengeschichten — und 
noch weniger Kinderkrankengeschichten mitgeteilt sind. Hier ist an erster 
Stelle der Beitrag Zulligers zu nennen, der sein Material, das fast keines 
Kommentars bedarf, in einprägsamer und überzeugender Weise auseinander¬ 
setzt. Ein Fall von Schneider (Bettnässen bei einem kleinen Mädchen), 
dessen Analyse ausführlich mitgeteilt wird, zeigte deutlich, daß die Sexual¬ 
forschung nicht um ihrer selbst willen betrieben wurde, sondern im Dienste 
der unbewußten Angst um weitere Geschwister und des unbewußten Wunsches 
stand, selbst ein Kind zu bekommen. Bei einem Fall von Landauer (Ver¬ 
giftungsangst eines kleinen Mädchens) stand die Aufklärung — dieser Be¬ 
griff weit genug genommen — im Mittelpunkt der Neurose, ein Fall von 
Hollos zeigt, daß der Kampf mit den eigenen sexuellen Trieben die kind¬ 
liche Schlaflosigkeit verursacht; Gräber versucht an Hand eines Falles den 
Nachweis, daß die Entwicklung der Sexualneugierde einen typischen Verlauf 
habe, der in Phylo- und Ontogenese der gleiche sei: Erst interessiert das 
Geburtsproblem, wobei die typische Folge, in der die Theorien in der kind¬ 
lichen Psyche auftreten, die folgende sein soll: Die Kinder kommen l) vom 
lieben Gott, 2) vom Storch, ß) aus dem Gebüsch, 4) aus der Mutter, a) aus 
der Brust, b) dem Mund, c) dem Anus, d) dem Nabel, e) der Vagina. — 
Später erst interessiert das Zeugungsproblem, wobei die Frau erst als herm- 
aphroditisch aufgefaßt wird und dann erst Theorien über orale, anale usw. 
Zeugung auftauchen. — Die Frage, ob die Liebe-Gott- und die Storch-Theorie 
nicht genetisch jünger sind als die Muttertheorien und erst deren Verdrängung 
ihre Entstehung verdanken, wäre hier wohl aufzuwerfen. 

Einige anonym erschienene Beiträge verdienen ebenfalls Interesse: Eine 
Kindergärtnerin beobachtete außerordentlich drastische, grob-genitale Spielereien 
der Kinder, die als Beweise für die Existenz der infantilen Sexualität wohl un¬ 
widerleglich sind. — In einem Fall von Pavor nocturnus ist der Zusammenhang 
der Erkrankung mit einer Koitusbelauschung eklatant. — Eine Mutter erzählt 
über „Gespräche“, die sie mit ihrem Jungen geführt hat, und die wirklich ein 
außerordentliches Vertrauensverhältnis zwischen Mutter und Sohn offenbaren. 

Diese Zusammenstellung der Ansichten verschiedener Analytiker über die 
wichtigsten sexualpädagogischen Fragen ist eine wertvolle Bereicherung der 
psychoanalytischen Literatur. 













Referate 


^lo 


I. Jahrgang, Heft 10 (Juli 1927): 

Pfister fordert die Errichtung von Schülerberatungsstellen, die, unabhängig 
von Schule und Elternhaus, Jugendlichen in seelischen Nöten rat- und wo¬ 
möglich auch tatkräftig beistehen. Er könnte sich bei seiner Forderung auch 
auf das wiederholt aus Jugendkreisen geäußerte Bedürfnis nach einer derartigen 
Institution berufen, dessen Intensität ja auch an verschiedenen Stellen der Jugend¬ 
bewegung zu Selbsthilfeversuchen geführt hat. Fordert Pfister für solche Berater 
psychoanalytisches Wissen, so wird ihm gewiß auch jedermann beipflichten, wir 
fürchten nur, daß eine in solchem Rahmen mögliche „Beratung“ in den meisten 
Fällen nicht allzuviel Hilfe wird leisten können. — Während im vorigen Hefte 
der Zeitschrift die meisten Autoren sich gegen „Massenaufklärung“ in der Schule 
ausgesprochen haben, versucht Frau Gravelsin zu zeigen, „wie unter Um¬ 
ständen eine solche Aufklärung gelingen kann“. Ihre Arbeit erscheint aber 
eher geeignet, alle Bedenken gegen solche „Aufklärung“ zu wecken, besonders 
wenn sie so feierlich, von oben herab, unvollständig und eigentlich — unauf¬ 
richtig gegeben wird. — Auch der kleine Aufsatz von Hackländer: „Zur 
Psychologie des Dichters“ ist nicht sehr befriedigend; die Leser dieser Zeit¬ 
schrift dürfen wohl schon eine tiefergreifende Behandlung dieses Themas 
fordern. — Dagegen sind die kleinen kasuistischen Beiträge auch diesesmal 
sehr erfreulich. Stern bringt unverhohlene Ödipusaussprüche eines kleinen Mäd¬ 
chens, Frau Hollös und ein anonymer Autor Beiträge zum nachträglichen Ver¬ 
gessen der richtig erteilten Aufklärung. — Den Schluß des Heftes bildet ein 
Aufsatz von Petersen, der, im Gegensatz zu Bernfeld, eine ausdrückliche 
Bekämpfung der sogenannten Schmutz- und Schundliteratur für nötig und das 
Verabreichen von Poperts „Hellmut Harringa“ oder Jostens „Der Stärkste“ 
an Jugendliche für die geeignetste Maßnahme dazu hält! 

I. Jahrgang, Heft 11 —12 (September 1927). 

In einer lesenswerten und auch für manche Psychoanalytiker sehr beherzigens¬ 
werten Arbeit setzt Bernfeld auseinander, daß nicht nur die Wertbegriffe 
„sittlich“, „unsittlich“ u. dgl., sondern auch die „medizinischen“ Begriffe 
„normal“, „neurotisch“, „psychopathisch“ abhängig sind von sozialen Wertungen, 
vom wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Milieu, vom „sozialen Ort“ des 
beurteilten Individuums. Bernfeld demonstriert diese Relativität an Hand einer 
der Realität entnommenen Erzählung von Alexandra Kollontay, die die ver¬ 
schiedene Einstellung dreier Generationen zu den Problemen des Liebeslebens 
aufzeigt. — Die Wertungen, die die Pädagogik braucht, kann sie gewiß nicht 
von der psychologischen Wissenschaft erhalten; und was „Sittenlosigkeit“ ge¬ 
nannt wird, ist — psychologisch gesehen — keineswegs immer sexuelle Hem¬ 
mungslosigkeit, sondern kann ebenso wie ein hysterisches Symptom das Resultat 
einer mißglückten Trieb Unterdrückung sein. — Frau Tamm bespricht Schwierig¬ 
keiten mancher sonst intelligenter Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen, 
die unter Umständen wie organische Alexien imponieren. Die Autorin meint, 
was jedem Psychoanalytiker einleuchten wird, daß es neben organischen Fällen 



























Referate 


411 


auch solche gibt, bei denen psychische Hemmungen mitwirken oder allein 
■wirksam sind. Die Lesefähigkeit kann wie eine musikalische oder zeichnerische 
Anlage durch Verdrängungen gehemmt sein; die Hemmung kann von visuellem, 
akustischem oder motorischem Typ sein. Handelt es sich um eine Hemmung 
der visuellen Wortvorstellungen, so wendet die Autorin eine Methode an, die 
sich bemüht, das visuelle Vorstellungsvermögen zu stärken. Stellt sich dabei 
Angst ein, so muß man die peinlichen Erinnerungen eruieren, die mit den ge¬ 
forderten Vorstellungen assoziiert sind. „Bei Fällen, die den Neurosen nahe¬ 
stehen, wäre eine Psychoanalyse wohl zu empfehlen. Ich habe jedoch bei 
Fällen mit Lesestörungen nie Gelegenheit gehabt, eine solche auszuführen.“ 
Vielleicht wären, hätten sich solche Gelegenheiten geboten, tiefergreifende Er¬ 
folge zu erzielen gewesen. — Schneider vollendet seinen in Heft 7 — 9 be¬ 
gonnenen Bericht über eine Kinderanalyse. Als Ursachen des Hauptsymptoms, 
Bettnässen, fanden sich: i) Konstitutionelle Verstärkung der Urethralerotik. 
2) Lieb es Verluste von seiten des Vaters, der in den Krieg mußte, und der 
Mutter, die ein zweites Kind bekam; Regression als Folge dieser Versagungen. 
)) Beobachtungen im elterlichen Schlafzimmer machten „nächtliches Aufstehen“ 
angstbesetzt, so daß die Patientin sich weigerte, zur Harnentleerung aufzustehen. 
4) Identifizierung mit dem neugeborenen Brüderchen, j) Wunsch, selbst ein 
Kind („Urinkind ) oder einen Penis („Urinpenis“) zu bekommen. — Miß 
Chadwick publiziert ihren in London gehaltenen Vortrag über ihre Tätigkeit 
in einem Londoner Proletarierkindergarten. (Referat siehe diese Zeitschrift, 
Bd. XIII, S. 564.) — An Hand von zwei Fällen zeigt Boehm, daß kindliche 
„Unarten nicht zu bestrafen sind, sondern zu verstehen; durch richtiges Ver¬ 
stehen z. B. einer unbewußten Abneigung gegen eine Schwangerschaft der 
Mutter können spätere Neurosen verhindert werden. — Behn-Eschenburg 
bespricht in einem Vortrag, den er vor Lehrern hielt, die kindliche Sexual¬ 
neugierde und tritt für eine frühzeitige und wahrheitsgemäße Aufklärung ein. 
Dieser Vortrag wird illustriert durch einige „freie Aufsätze“, die Zulliger zum 
Thema „Kindliche Sexualforschung“ zur Verfügung stellte. — Es folgen noch 
einige interessante kasuistische Beiträge. Ein Zeremoniell nach einem Diebstahl 
erweist sich — nach einer weiteren Mitteilung von Zulliger — als Gegen¬ 
reaktion gegen das schlechte Gewissen. — Fromm zeigt, wie in einem Falle 
eine zu strenge Reinlichkeitserziehung, in einem zweiten der Wahrheitsfanatis¬ 
mus der Mutter Ausgangspunkt einer Charakterfehlentwicklung geworden ist. — 
Helene Piutti erzählt von einem zehnjährigen Jungen, der eine Schwanger¬ 
schaft der Mutter mit einer eigenen hysterischen Schwangerschaft beantwortete: 
Er bekam einen aufgetriebenen Bauch, Leibschmerzen, Erbrechen und verlor 
schließlich diese Symptome in einer „Explosion“, einem Anfall, der mit all¬ 
gemeinen Krämpfen und enormen Stuhl-, Gas- und Urinentleerungen einher¬ 
ging. — Analytisch weniger bedeutungsvoll sind die Beiträge von H. Müller, 
der von einem kleinen pädagogischen Kunstgriff berichtet, den er erfolgreich 
anwandte, als ein Kind sein kleines Geschwisterchen verleumdete, und von 
L. Schwarz, der eine kindliche Trotzreaktion als durch Eifersucht auf eine 
Schulkameradin bedingt erkannte. 











II. Jahrgang, Heft 1 (Oktober 1927). 

Dieses Heft behandelt vorwiegend das Thema „Kinderfehler“. Über trieb¬ 
haftes Stehlen bei Kindern spricht Frau Tamm. Drei Fälle von infantiler 
Kleptomanie konnten, nachdem alle nichtanalytischen pädagogischen Maßnahmen 
versagt hatten, mit Hilfe von Traumanalysen leicht verständlich gemacht und 
auch geheilt werden. — Ein Fall von Boehm war zum Stehlen gekommen 
durch das Sprichwort: „Wer lügt, der stiehlt auch.“ Der wesentliche Zwangs¬ 
impuls der kleinen Patientin (die erst in erwachsenem Alter analysiert wurde) 
war der, zu lügen. Die Patientin war bei Pflegeeltem aufgewachsen, die sie 
während der Kinderjahre angeblich für ihre wahren Eltern gehalten hatte. 
Die Analyse wies nach, daß die Patientin ihren leiblichen Vater gut gekannt 
diese Kenntnis nur verdrängt hatte, und zwar zunächst, um den Pflegevater 
nicht zu kränken, in tieferer Schichte aber, wie die Analyse nachwies, aus 
Ödipusschuldgefühl. Sie mußte lügen, weil ihr ganzes Leben auf einer (nicht 
bewußten) Lüge aufgebaut war, nämlich auf der angeblichen Gleichgültig¬ 
keit ihrem leiblichen Vater gegenüber. Sie verübte kleine Lügen, um ihr 

schlechtes Gewissen wegen der verdrängten großen Lüge zu entlasten. _ 

„Schulstreiche" erwiesen sich nach Schneider bei einem Knaben als Ver¬ 
wirklichung von auf die Eltern gerichteten Rachephantasien, nachdem der 
Junge vorher selbst von den Eltern gehänselt worden war. Sie waren „der 
erste Schritt von der passiven Lebenshaltung und dem Verträumtsein zu einer 
aktiven und bejahenden Lebenseinstellung“. — Ein kleiner „Prahlhans“ war 
nach Zulliger zu seinem Verhalten durch seinen „Familienroman“ ge¬ 
zwungen; „seine häuslichen Verhältnisse drückten ihn dermaßen, daß er sich 
bei seinen geringen Schulleistungsfähigkeiten durch Prahlen ein innerliches 
Gleichgewicht schaffen mußte . (In dieser Arbeit ein bemerkenswertes Bei¬ 
spiel für eine Trotzreaktion auf einen Verdacht. Ein Kind sagt: „Wenn 
du glaubst, ich habe Birnen gestohlen, und es ist nicht wahr, dann stehle 
ich das nächstemal aber sicher!“) — Der interessanteste Beitrag dieses Heftes 
stammt von Fried jung, der mitteilt, daß er bei einem Kinde von sechzehn 
Monaten zufällig einen ausgesprochenen Wäschefetischismus entdeckte. Das 
Kind hatte seit einigen Monaten, vielleicht seit der Entwöhnung, eine eigen¬ 
artige Einschlafbedingung: „Man muß ihm einen von der Mutter abge¬ 
legten Strumpf oder solch ein Miederleibchen reichen. Diesen Gegenstand 
preßt er dann zwischen beide Hände, steckt den einen Daumen zum Ludeln 
in den^ Mund und schläft rasch ein. „Verweigerung ruft einen Zornanfall 
hervor. “ 

Das Heft enthält dann noch einen Bericht von Meng über die „psycho¬ 
analytische Woche , die im August 1927 unter der Leitung von Meng und 
Schneider in Stuttgart stattgefunden hat. Es nahmen an ihr zweiundsiebzig 
Hörer, hauptsächlich aus pädagogischen Kreisen, teil; außer den Veranstaltern 
trugen Bernfeld, Landauer, Pfister und Zulliger vor. Die Woche war 
in jeder Beziehung ein voller Erfolg. Am Ende wünschte die Hörerschaft die 
Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft der Hörer“, ein — wie Meng sagt — 
sehr schwieriges Problem. Zunächst wurde beschlossen, daß die Hörer in der 












Referate 


4* 3 


Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik ihre Meinungen austauschen und 
entscheiden sollen, ob und in welchen Abständen solche Kurse wiederholt 
werden sollen. 

II. Jahrgang, Heft 2 (November 1927). 

Das Heft wird von einer kritischen Beleuchtung des Strafvollzuges durch 
Landauer eingeleitet. Strafrechtstheoretisch verurteilt Landauer vor allem 
das immer noch wirksame „Rachegefühl, das man schamhaft Vergeltungs- oder 
auch Abschreckungsprinzip nennt“, psychologisch-pädagogisch meint er, daß 
die Anerkennung des Unbewußten einen Wandel im Strafvollzug mit sich 
bringen müßte. Es gibt keinen Verbrecher, keinen „Gesellschaftskranken“, der 
kein Schuldgefühl hätte. Es müßte Sache einer richtigen „Führung“ sein, die 
in falsche Zusammenhänge verschobenen Schuldgefühle wieder zu gesellschafts- 
fördemden zu machen. — Fritz Kleist versucht am Fall eines jugendlichen 
Rückfall Verbrechers die praktische Möglichkeit eines tieferen Verständnisses der 
Asozialen zu demonstrieren, bleibt dabei aber leider bei der Erkenntnis der 
„Entmutigung“ im Sinne von Adler stecken. — Einen außerordentlich inter¬ 
essanten Fall einer Frühneurose im zweiten Lebensjahre teilt Levy-Suhl mit: 
Ein kleines Mädchen erkrankt ganz plötzlich, während sie im Bette neben 
dem Vater liegt, an einer Angst vor der „Mieschekatze“. Es wird klar, daß 
das Angsttier den behaarten Körper des Vaters darstellt. Die nähere Anamnese 
ergibt, daß das Kind wahrscheinlich knapp vor Ausbruch der Angst einem 
Koitus seines Kindermädchens beigewohnt hatte. — An einem passiv-homo- 
sexuellen masochistischen Jungen zeigt Gräber, daß seine Triebeinstellung aus 
einer Rückwendung starker aggressiver Tendenzen gegen das eigene Ich ent¬ 
standen ist. — Bemerkenswerte kleine Beobachtungen teilen ferner mit Imre 
Hermann (ein Kind hält am Storchenmärchen mit der Begründung fest: 
„Wenn das Kind im Bauch wächst, warum habe ich dann keines?“), Martha 
Zulliger (Badehemmung eines kleinen Mädchens im Zusammenhang mit 
Kastrationsideen), Reik (Aussprüche eines Jungen über den lieben Gott), Mann¬ 
heim (Allmacht der Gedanken: Ein dreijähriges Kind verlangt nach einem 
Gewitter vom Vater, er solle donnern und blitzen, und sagt dann auf einen 
eigenen Flatus: „Dann eben ich donnern“). 

II. Jahrgang, Heft 3 (Dezember 1927). 

Interessant sind in diesem Heft die Kinderbeobachtungen von Frau Spiel¬ 
rein (Reaktionen auf Versagungen, primitive feindselige Regungen und ihre 
Gefühlskompensationen, leicht verständliche Träume) ; daneben eine Arbeit von 
Landauer, die von einem scheinbar unentstellten Ödipustraum erzählt, dessen 
Analyse ergab, daß die scheinbaren Ödipusgedanken in Wahrheit aus dem vor¬ 
bewußten Wissen stammten, und daß der Traum, dessen Fassade den Analy¬ 
tiker irreführen sollte, einen ganz anderen Sinn hatte, und eine von Frau 
Happel, die die Realität der Mutterleibssehnsucht am Beispiel eines Mannes 
erörtert, der, Zeitungsberichten zufolge, nach einer Liebesenttäuschung acht¬ 
zehn Jahre lang in den Pariser Kanälen gelebt hatte. 














4U 


Referate 


Im übrigen ist das Heft, wie leider zum Teil auch schon die früheren 
dieser Zeitschrift, auf einem bedauerlich niedrigeren Niveau als der erste Jahr¬ 
gang und für den Psychoanalytiker kaum belangvoll. Hitschmann verurteilt 
Überstrenge, Übergüte, übertriebene Einschüchterung und Unterlassung der 
sexuellen Aufklärung als gröbste Erziehungsfehler; Lehrer Kuendig (Bern) 
teilt nach einleitenden Ausführungen über Psychoanalyse und Schulbetrieb, i n 
denen er sich zu den Zulligersehen Ansichten bekennt, Episoden aus dem 
Unterricht mit, die zum Teil mit Psychoanalyse nichts zu tun haben (z. B. das 
Stellen sexueller Fragen durch die Kinder), zum Teil in Traumanalysen vor 
dem Plenum der Klasse bestehen; A. Stern berichtet von einem passagere 
asozialen Kind in psychoanalytisch völlig unbefriedigender Weise (er verurteilt 
die Individualpsychologie ausdrücklich, scheint ihr aber dennoch noch recht 
nahezustehen); Wolffheim verspricht sich eine Besserung der heute so trost¬ 
losen Erziehungsverhältnisse durch eine „Elternerziehung“; Stein untersucht 
in einer kleinen Arbeit die Verwendung von Namen in der Bibel und kommt 
zum Resultat, daß die Benennungen „fortlaufend bestimmt“ sind „durch die 
gemütliche Einstellung der Sprechenden gegenüber den Angesprochenen“. 

F e n i c li e 1 (Berlin) 

Zu lliger, Hans: Geloste Fesseln. Alwin Hulile, Dresden 1927. 

Der Psychoanalytiker kennt die erfreuliche Arbeit Zulligers bereits aus seinen 
früheren Publikationen. Das vorliegende Buch stellt sie nochmals an Hand von 
zahlreichen Beispielen voraussetzungslos dar und man lernt seine Arbeitsmethoden 
bei der Lektüre neu und tiefer kennen. Das Buch ist für Lehrer ohne jede 
psychoanalytische Bildung gedacht und erscheint in einer pädagogischen Schriften¬ 
reihe „Künftige Ernten“. 

Zulliger benutzt bei seiner Tätigkeit als Lehrer in einem Vorort-Dorf von 
Bern seine tiefe und gründliche Kenntnis der Psychoanalyse — er spricht von 
einer „Fruchtbarmachung der Freudschen Lehren für die Volksschulpädagogik“ — 
in zweifacher Hinsicht: Einmal, indem er sein Wissen um das unbewußte Seelen¬ 
leben der Kinder bei seiner pädagogischen Arbeit — mag diese nun der Charakter¬ 
bildung oder der Wissensvermittlung oder wem immer dienen — mitbenutzt, 
dann, indem er richtige kleine Psychoanalysen, Symptomanalysen macht, wenn 
Unarten, Eigenheiten, Fachhemmungen u. dgl. den Fortschritt eines Kindes 
hemmen, beides — wie er berichten kann — mit guten Erfolgen. Zulliger 
schätzt diese beiden Anwendungen der Psychoanalyse so hoch ein, daß er meint: 
„Die endgültige Auswirkung der Freudschen Lehren ist heute noch nicht 
überblickbar — möglicherweise nimmt jedoch die Pädagogik aus ihnen den 
wertvollsten Gewinn, nicht die Medizin“ (S. 222). 

Seine pädagogischen Ziele entnimmt Zulliger natürlich nicht der Psycho¬ 
analyse, weder einer Naturwissenschaft noch einer therapeutischen Methode 
könnten solche Ziele entnommen werden, — doch scheint es, als ob Zulliger 
selbst sich nicht immer völlig klar darüber wäre, daß auch sein pädagogischer 
Gegner „psychoanalytisch arbeiten könnte. Immerhin bespricht er ausdrücklich, 




















] 



Referate 


4i5 


daß Psychoanalyse niemals etwa Pädagogik ersetzen könnte (S. 218). Man lernt 
diese pädagogischen Ziele hauptsächlich im Einleitungs- und Schlußkapitel kennen, 
w o sich Zulliger diesbezüglich auf Häberlin beruft. Er erhofft sich von der 
richtigen Erziehung in sehr optimistischer Weise eine ideale Einordnung des 
Individuums in die Gemeinschaft und in die Kultur überhaupt. Man muß sich 
über diesen Optimismus, auch wenn man ihn nicht teilt, ebenso freuen, wie 
über die umfassende und herzliche Kinder- und Menschenliebe, die aus den 
Zeilen des ganzen Buches spricht (siehe z. B. das Kapitel „Schülerliebe", S. 156 ff.). 
Der Leser spürt die herzliche, einfache, offene Atmosphäre in Zulligers Schul¬ 
stube und Zulliger selbst erkennt in dieser Atmosphäre die Voraussetzung für 
seine Erfolge (siehe z. B. S. 15 ff.). 

Was die erste der beiden charakterisierten pädagogischen Anwendungsarten 
der Analyse betrifft, so wird sie in solcher Atmosphäre sicher gut gedeihen. 
In ihr ist die Garantie dafür geboten, daß das Wissen des Lehrers um das 
kindliche Triebleben nicht theoretisch und wirklichkeitsfremd bleibt, sondern 
daß hier im Lehrer den Kindern ein Mensch gegenübersteht, der endlich für 
ihre wahren Nöte Verständnis hat. 

Die zweite Anwendungsart läßt sich nicht scharf von der eigentlichen thera¬ 
peutischen Kinderanalyse trennen, obwohl Zulliger, übervorsichtig wie er ist, 
eine solche Trennung versucht (siehe z. B. S. 113). Diese Anwendung ist schon 
eigentliche Analyse. Zulliger hält mit ihr auch sehr zurück: „Ich halte es 
mit dem analytischen Vorgehen so wie die Frauen unseres Volkes mit der 
Chirurgie. Ich habe einen gewaltigen Respekt davor. Denn es könnten Operationen 
mißraten ... (S. 127). Diese „kleine Analyse u wird aber, wie wohl auch 

Zulliger zu meinen scheint, wahrscheinlich nie von den großen Lehrermassen 
angewendet werden können, schon deshalb nicht, weil sie — wie Zulliger 
mit Recht betont — die vollendete eigene Analyse des Lehrers voraussetzt. 
Zulliger warnt auch die Leser des Buches wiederholt vor ihrer Anwendung, 
hält sie z. B. nur für erlaubt, „wenn jemand von Haus aus ein gut Stück 
intuitiver Einfühlungsfähigkeit besitzt, sich selber einer Psychoanalyse bei einem 
tüchtigen Schüler Freuds unterzogen hat, sich in jahrelangem Studium der 
psychoanalytischen Literatur bemächtigte und Gelegenheit hat, mit einem Psycho¬ 
analytiker oder einem Kreise von solchen in naher Verbindung zu stehen, 
denen er über seine Unternehmungen berichten und bei ihnen Rat holen kann“ 
(S. 4). Auch an anderen Stellen gibt er eingehende Warnungen (z. B. S. 113), 
insbesondere vor Nachäffung: „Gehe jeder seinen eigenen Weg, gestalte er die 
Schule nach den Möglichkeiten und Besonderheiten seines eigenen Selbst“ 
(S. 223). Daß aber ein Mensch vom Charakter und Verständnis Zulligers sie 
anwenden kann und darf, erscheint uns, abgesehen davon, daß es einer alten 
Forderung Freuds entspricht, durch dieses Buch selbst wieder vollauf gerecht¬ 
fertigt. Zulligers Beispiele überzeugen, da sie nicht nur die Resultate, sondern 
auch den Einzelverlauf der kleinen Analysen genau wiedergeben (deshalb ist 
ihr Material auch so geeignet zur Demonstration des unbewußten Seelenlebens). 
Instruktiv ist z. B. die Zurückführung einer sich immer wiederholenden Zahlen¬ 
verwechslung auf den unbewußten Geschwisterneid (S. 30 ff.), eines Hasses gegen 













Referate 


416 


den Religionsunterricht auf den gegen den Vater (S. 34 ff.), von Schrifteigen¬ 
heiten auf Sexualneugierde (S. 50 ff.) oder auf Ehrgeiz (S. 58 ff.), von Gesang¬ 
störungen auf den Penisneid (S. 61 ff.), der Lesewut eines Unehelichen auf 
seinen Wunsch, über seine Abstammung etwas zu erfahren (S. 62 ff.). Mehr in 
die Tiefe gehen die Analysen eines „Vielfraßes“ (S. 98 ff.) und einer „Schreck¬ 
haftigkeit beim Aufruf“ (S. 121 ff.) und die mehrerer Phobien (S. 99 ff.). Einige 
Beispiele, wie das vom „Mädchenstreit“ (S. 73 ff.), von der „Seekrankheit“ 
(S. 149 ff.) und vom kindlichen Gewissen (S. 162 ff.) sind schon vorher in 
der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik publiziert und in dieser Zeit¬ 
schrift bereits referiert worden. — Hilft die analytische Aussprache allein nicht 
so versucht es Zulliger mit einer seinen analytischen Funden entsprechenden 
Änderung seines eigenen Verhaltens (auch die Gefahren der Übertragung werden 
an einem Beispiel demonstriert, S. 66 ff.) oder des Milieus des Kindes. Auch 
gelegentliche Mißerfolge werden offen zugegeben (S. 206 ff.). 

Eine dritte Beziehung von Pädagogik und Psychoanalyse, auf die Zulliger 
reflektierend scheinbar am wenigsten Gewicht legt, wird vielleicht dem psycho¬ 
analytischen Leser am deutlichsten. Dem Lehrer steht eine Fülle von Material 
von einer anderen Art zur Verfügung als dem Psychoanalytiker, das, mit psycho¬ 
analytischen Augen gesehen, viele noch ungelöste Rätsel der Kinderpsychologie 
wird lösen helfen. Und schon allein des Materials wegen ist die Lektüre dieses 
„populären“ Buches auch jedem Psychoanalytiker zu empfehlen. 

FenicLel (Berlin) 

Bernfeld, ^Siegfried: Die Formen der Disziplin in Erziehungs¬ 
anstalten. Zeitschrift für Kinderforschung, Band 33, Heft 3. 

Die Tatsache, die der Autor dieser Arbeit einleitend erwähnt, daß eine er¬ 
ziehungswissenschaftliche Untersuchung über die Disziplin in Erziehungsanstalten 
bisher noch nicht vorliegt, ist geeignet, wieder einmal zu demonstrieren, wie 
wenig die praktische Erziehungstätigkeit (nach Bernfeld „Pädagogie“) mit Grund¬ 
sätzen der Wissenschaft („Pädagogik“), wie sehr mit solchen des Affektes arbeitet. 
Soll eine solche Untersuchung erfolgreich sein, so setzt sie allerdings eine tiefe 
Kenntnis sowohl der soziologischen Fakten als auch der Kinder- und Jugend¬ 
psychologie — d. h. der Psychoanalyse — voraus, die nicht vielen pädagogischen 
Autoren so wie Bernfeld eigen sein dürften. Bernfeld geht so vor, daß er 
erst eine Deskription der heute üblichen Disziplinformen zu geben versucht, 
um dann erst die Frage nach ihren spezifischen Wirkungen zu stellen. Die 
Deskription verlangt wieder als Vorarbeit die deskriptive Untersuchung der Vor¬ 
bilder, deren sich die Disziplinformen bedienen: der Ordnung im Haushalt 
(familielle), in der Kaserne (militärische), in der Republik (demrokratisch-bureau- 
kratische), in der Fabrik (industrielle), in der Lernschule (didaktische Disziplin¬ 
form). Alle diese Ordnungen werden soziologisch und psychologisch klar charak¬ 
terisiert. In den Erziehungsanstalten gibt es fast nur verschiedene Kombinationen 
dieser Vorbilder, am häufigsten Mischungen der militärischen und der familiellen, 
eventuell auch der demokratischen Formen. Kompliziert wird der Sachverhalt 












Referate 


4*7 


noch dadurch, daß in Erziehungsanstalten häufig Disziplinformen einer bestimm¬ 
ten Art unter der Fassade einer anderen Disziplinform angetroffen werden, 
z B. stellt die Institution von Schlafsaalpräfekten, die unter dem Einfluß des 
Anstaltsleiters gewählt werden, eine Maßnahme der militärischen Disziplin unter 
demokratischer Fassade vor. Wie weit sind nun die verschiedenen Methoden 
rational zweckmäßig zur Erreichung bestimmter pädagogischer Ziele (die auf¬ 
zustellen natürlich nicht Aufgabe der Erziehungswissenschaft sein kann)? 
Bernfeld hält diesbezüglich die Verantwortlichkeit des Anstaltsleiters gegenüber 
Behörden für sehr bedeutungsvoll: Die familielle Form ist z. B. nur bei kleinem 
Umfang der Anstalt möglich, die demokratische nur bei wohlwollenden Behörden; 
dagegen entsteht die militärische Disziplinform bei großer Zöglingszahl und Ver¬ 
antwortlichkeit des Leiters ganz von selbst, wenn sie nicht mit besonderer Sorg¬ 
falt vermieden wird. Sie ist für den Anstaltsleiter die rationalste Disziplinform, 
die er auch wegen der psychologischen Befriedigung, die sie seinem Narzißmus 
gewährt, vorziehen wird. 

Der Wirkung nach kann die militärische Disziplin die Erzielung von Hand¬ 
lungen bewirken, also z. B. die pünktliche Einhaltung der Disziplinvorschriften 
selbst. Die Ordnung ist ja aber immer nur ein Teil der pädagogischen Auf¬ 
gabe; auch erleben die Kinder eine solche Ordnung als ihnen zwangsmäßig 
aufgedrängt. Will gar der gleiche Leiter militärisch und familiell zugleich wirken, 
Befehlshaber und Vater in einer Person sein, so erhöht er damit noch den 
Willkürcharakter aller Maßnahmen. Die demokratische Disziplin garantiert keine 
Anstaltsordnung. Dafür entspricht sie einer dynamischen Auffassung des kind¬ 
lichen beziehungsweise jugendlichen Seelenlebens; sie bietet Chancen, daß sich 
in den Zöglingen eine Gesinnung der Ordnung entwickle. Die familielle Dis¬ 
ziplin wirkt am ehesten zur Erreichung der nicht rationalen pädagogischen 
Aufgaben. Am ehesten erzieht die demokratische Form zur heutigen Gesellschaft 
mit der Neigung zur Bejahung ihrer Entwicklungstendenz, die familielle zur 
heutigen Gesellschaft mit der Neigung zur Verneinung ihrer Entwicklungs¬ 
tendenz, die militärische an sich zu gar keiner Tendenz, die militaristische, d. h. 
die ideologisch verklärte militärische, zu nur von einigen Schichten gewünschten 
Tendenzen. Fenicliel (Berlin) 

Bernfeld, Siegfried: Einige spekulative B emerkungen üter die 

psyckologisclie Bewertung telepatkiscker Prozesse. Zeitschrift 

für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 111, l/a. 

Das Wort „Telepathie“ erinnert an Dinge wie „Okkultismus“, Übersinnlich¬ 
keit, Mystik, so daß sich der redliche psychologische Forscher nicht gerne damit 
abgibt. Bernfeld versucht eine „Schutzhypothese“, die die telepathischen Phäno¬ 
mene, vorausgesetzt, daß sie existieren, dem Psychologen dadurch verlockender 
machen soll, daß sie sie „entwertet“, sie als nüchtern, diesseitig, nicht nur nicht 
als übermenschlich, sondern eher als untermenschlich erweist. 

Telepathie ist ein Phänomen des Empfängers, nicht des Senders. Ihre Er¬ 
scheinungen gehören in das Gebiet der Wahrnehmungslehre, denn sie vermitteln 













4 i 8 


Referate 


dem Empfänger Kenntnisse über die Außenwelt. Die telepathischen, beziehungs¬ 
weise die ihnen nahestehenden intuitiven Wahrnehmungen werden uns in der 
gleichen Weise bewußt wie Abkömmlinge des Verdrängten, sie sind im Grunde 
innere Wahrnehmungen, das Ich wird sich eines Vorgangs im Es bewußt 
Handelt es sich nun um richtige Erkenntnisse über die Außenwelt (und das 
wird ja vorausgesetzt), so muß dieser Selbstwahrnehmung eine direkte äußere 
Wahrnehmung des Es vorausgegangen sein, an der das Ich nicht beteiligt war. 
Telepathische Wahrnehmungen „sind direkte Wahrnehmungen des Es“. Als 
solche sind sie „primitiver, ursprünglicher und allgemeiner“ als gewöhnliche 
Wahrnehmungen, spielen in der Welt der Kinder, Säuglinge und vermutlich 
Tiere eine große Rolle und sind beim Erwachsenen atavistisch, regressiv. Wir 
würden etwa sagen, die telepathischen Es-Wahrnehmungen verhalten sich zu 
eigentlichen Ich-Wahrnehmungen wie die allgemeine Irritabilität aller organi¬ 
schen Substanz zur Irritabilität der Nervenfaser. Fenichel (Berlin) 

Kaplan, Leo: Das Problem der Magie und die Psychoanalyse. 

Eine ethnopsychologische und psychoanalytische Untersuchung. Heidel¬ 
berg, Merlin-Verlag. 

Kaplan gibt in diesem Buche eine deskriptive und theoretische Darstellung 
des Gesamtgebietes der Magie, die den Psychoanalytiker aus zwei Gründen 
besonders interessieren muß: Erstens weil er in systematischer Weise über ein 
Erscheinungsgebiet unterrichtet wird, dessen Kenntnis erst das Verständnis vieler 
neurotischer Erscheinungen ermöglicht, zweitens, weil die theoretischen Auf¬ 
fassungen des Autors auf psychoanalytischen Lehren fußen. Sie versuchen — 
nach Darlegung der Unzulänglichkeit der voranalytischen Theorien über die 
Magie (S. 6 ff.) Freuds Gedanken folgend das magische Denken aus der 
„Allmacht der Gedanken“, aus dem Narzißmus der magisch Denkenden ab¬ 
zuleiten. Das magische Denken wird definiert als die Meinung, „das objektive 
Geschehen könne nach assoziativer Gesetzmäßigkeit vor sich gehen“ (S. 4). 
Daß gerade der Narzißt „den Kosmos mit seiner Ichheit besetzt“ und dadurch 
zu „Verwechslung von Subjektivität und Objektivität“ (S. 9) gelangt, ist plausibel. 
Nur ist für das Zustandekommen der Magie nach Kaplan außer der narzi߬ 
tischen Grundlage auch eine „magische Bereitschaft der Umwelt“ nötig. Das 
heißt in einer Gesellschaft von Narzißten schreibt nicht nur jeder sich selbst 
Allmacht zu, sondern jeder hält auch jeden anderen für allmächtig: „Die 
drohende Gebärde des Feindes wurde als wirklicher Schlag empfunden, weil man 
sich dieselbe Macht zutraute, den Feind durch bloße Wut zu zerschmettern“ 
(S. 24). Dadurch entwickelte sich die magische Empirie, die nicht allein mit 
Hilfe der Psychologie des Magiers verständlich gemacht werden kann, sondern 
nur durch Mitberücksichtigung der Psychologie des magisch Beeinflußten. 

Diese Erklärungen gelten für alle Arten der Magie, die dem Leser an Hand 
eines zahlreichen interessanten ethnologischen, folkloristischen und auch neuroti- 
sehen Materials vorgeführt werden. Imitative Magie, Wort- und Namensmagie, 
kontagiöse Magie und „Anfangszauber“, negative und defensive (abwehrende) 























Referate 


419 


Magie, Werkzeugmagie und „Organprojektion“ (die ethnologische Parallele zum 
schizophrenen Beeinflussungsapparat nachTausk) werden besprochen, die „Kraft¬ 
stoffe (Mana u. dgl.) der Primitiven und die Mesmer sehe Lehre vom tierischen 
Magnetismus mit der „Emanations theorie der Magie in Zusammenhang gebracht, 
die Veränderungen, die diese magischen Gedanken später unter animistischem 
und religiösem Einfluß durchmachten, untersucht. Es ist für die Entstehung 
unseres „exakt realistischen" Denkens sehr charakteristisch, wie nahe die noch 
dem „Mana" nahestehende altindische Gottheit Rta unserem modernen Begriff 
„Naturgesetz" kommt (S. 56 f.). Immer wieder erstaunt man über die weit¬ 
gehenden Analogien zwischen Magie und Zwangsneurose; z. B. erscheint die 
„defensive Magie“ nach Kaplans Darstellung als identisch mit der Freud sehen 
Triebabwehrart des „Ungeschehenmachens“. Besonderes Interesse schenkt Kaplan 
den Zauberbedeutungen von Feuer (Sonne) und Wasser (Unterwelt), dadurch 
kommt er auch ausführlich auf die Problemkreise der magischen Tötung und 
der Wiedergeburt zu sprechen und auf die Wandlung dieser Gedanken in der 
Entwicklung von der Magie über den Animismus zur Religion. (Veränderungen 
der Auffassungen über das Opfer.) Dem Narzißmus entspricht es, daß die Körper¬ 
funktionen und ihre Produkte in der magischen Welt eine exzeptionelle Stellung 
einnehmen. Auch dieses Erscheinungsgebiet, das Röheim in seiner Arbeit „Das 
Selbst (auf die sich Kaplan nicht bezieht) untersucht hat, wird — vielleicht 
weniger gründlich, aber übersichtlicher und für den Nichtfachmann leichter ver¬ 
ständlich — dargestellt: Die Rolle von Sperma (Koitus, Fruchtbarkeitszauber), Kot, 
Speichel, Blut erklärt sich daraus, daß dem Narzißten alles, was sich im Innern 
des Menschen befindet oder von dort stammt, das gesamte Ich repräsentiert. 

Der Schlußteil des Buches untersucht die Beziehungen von Magie und Animis¬ 
mus. Die mit „Ichheit besetzten Exkrete sind die Vorläufer der animistischen 
„Seele . Das magische Tun ist älter als der Dämonenglaube, „aber das magische 
Denken kommt in seiner folgerichtigen Entwicklung zu der Weltanschauung des 
Animismus (S. 11 o), nur ist diese Entwicklung nicht linear, sondern kompliziert. 
Wird der Allmachtsgedanke vom Ich in die Außenwelt, auf „Götter^ projiziert, 
so entsteht die religiöse Weltanschauung. „Mystik" ist die Magie, die darauf 
hinzielt, Dämonen oder Götter zu beeinflussen. Sie arbeitet, wie ausführlich ge¬ 
zeigt wird, mit den gleichen Methoden wie die präanimistische Magie. Das 
Material der magischen Medizin inklusive der animistischen und religiösen Krank¬ 
heitsauffassungen und ihr Wiederauftauchen in den modernen Erörterungen über 
Suggestion und Hellsehen werden noch in einigen Kapiteln behandelt. Für das 
allmähliche Schwinden der magischen Denkweise macht Kaplan mehrere 
Momente verantwortlich: Die Gefahren eines eventuellen Mißbrauchs der Magie 
(Ursache der Geheimlehren, der Mysterien), den Einfluß der Inzestscheu, die 
z. B. das Ackern seines magischen Gehalts entkleiden mußte, die Wirkung der 
Industrialisierung und schließlich die progressive Überwindung des Narzißmus 
in der psychologischen Entwicklung der Menschheit. 

Es ist schade, daß dem Psychoanalytiker die Lektüre dieses interessanten 
Buches an einigen Stellen dadurch getrübt wird, daß der Autor, wenn er psycho¬ 
analytische Deutungen vomimmt, in bedauerlicherweise an der Oberfläche bleibt. 











^20 


Referate 


So scheint vor allem die von Freud als für das magische Denken so charak¬ 
teristisch hervorgehobene Ambivalenz zu kurz gekommen. So übersieht Kaplan 
bei einem Zwangsimpuls, der Mutter „nachträglich gehorsam“ zu sein, weil 
sonst die Mutter stürbe, die gegen die Mutter gerichtete Feindseligkeit (S. 63) 
ebenso übersieht er die Ambivalenz bei Besprechung des Zwangslachens als 
Reaktion auf Todesnachrichten (S. 66). Auch weiß Kaplan nichts von der 
regressiven Psychogenese der „analen Kastrationsangst“ (S. 99) und erkennt 
nicht die anale Note in der neurotischen bezw. magischen Spermaretention 
(S. 96). Auch der Ansicht, die Ödipustat sei als Konsequenz magischen Frucht¬ 
barkeitszaubers aufzufassen (S. 172), wird der Psychoanalytiker nicht bei- 

pflichten können. 

Trotzdem bleibt das Buch aber sehr empfehlenswert, besonders auch als Ein¬ 
führung für den Mediziner in ein Gebiet, über das er bei seiner Ausbildung 
nichts erfährt und dessen Kenntnis er doch in seiner Praxis sehr benötigt. 

Fern ekel (Berlin) 

Veimer, D. Hermann: Fehlerbeliandlung und EeUerL e wertung. 

Verlag Jul. Klinltliardt, Leipzig 1926. 

Auf Grund seiner — an anderem Ort mitgeteilten — psychologischen Unter¬ 
suchungen zur „Fehlerkunde“, gibt Weimer eine ins einzelne gehende Anweisung 
für die pädagogische Behandlung der Fehler im Schulunterricht. Die „Gesinnung 
dieser Fehlerbewertung ist innerhalb des bestehenden Rahmens: der Schule gewiß 
wünschenswert; die Einzelanweisungen entstammen einer offenbar umfang¬ 
reichen Erfahrung. Der „Freudschen Verdrängung“ wird ein winziges Plätzchen 
— aber immerhin — in der Psychologie des Fehlers eingeräumt. Wie fehler¬ 
haft Organisation und Struktur der Schule als Ganzes ist, wird aus dieser Schrift 
aufs neue deutlich. Eine Konsequenz, die Weimer femliegt. Er bescheidet sich 
mit der Reform der Verbesserung von Fehlern, die die Schüler machen, geht 
dabei aber doch ein wenig zu unbescheiden, meines Erachtens, ins Große; indem 
er eine Fehlerforschung, Fehlerkunde inauguriert, den „Versuch, ein Schrifttum 
der Fehlerbekämpfung zu begründen“ unternimmt. Nicht etwa die Gering¬ 
fügigkeit des Gegenstandes seiner Forschung, wogegen sich Weimer mit Recht 
verteidigt, ergibt die leicht-komische Wirkung solcher Formulierungen, sondern 
der Widerspruch zwischen dem Aufwand an Wissenschaft und der Relevanz 
ihres Objektes. Ein Schicksal, das alle didaktischen Bemühungen, aus der psycho¬ 
analytischen Perspektive gesehen, leicht erfahren. Bernfeld (Berlin) 












































IMAGO, Band XIV ( 1928 ), Heft Ä /3 


(Ausgegeben Ende August 1918) 


Seite 

-Pyisf^r: Die Illusion einer Zukunft ljirt 

' * 4 * * * 1 ■ ■ * i 4 y 

Theodor Reik: Bemerkungen zu Freuds „Zukunft einer Illusion“. iß-. 

Alfred Winterstein: Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märchen 199 
H, C. Jelgersma: Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten , , , 275 

Franz Löwitsck: Raumempfinden und moderne Baukunst .. 

Richard Sterba: Zum dichterischen Ausdruck des modernen Naturgefühls 32a 

Helene Deutsch: Ein Frauen Schicksal — George Sand . ... 354’ 

Eduard Hitsckmann: Von, um und über Hamsun .. ^58 

Marjorie E. Franklin Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der Wiederhöhings- 

zwan e.*.-.. . 3 d 4 


REFERATE 

Einige Stimmen zu Sigm. Freuds „Zukunft einer Illusion“ (Storftr) 577. — Scheler; Die Wissens¬ 
formen und die Gesellschaft (Gerb) 582. — Bernfeld; Sozialismus und Psychoanalyse (Fmichel) 385. _ 

Saupe; Einführung in die neuere Psychologie (Bemfdd) 588. - De Man: Die Intellektuellen und der 
Sozialismus (Bernfeld) 388. — Lewin: Vorsatz, Wille und Bedürfnis (Gero) 389. — Barrett: The New 
Psycliology (Jom,) 394. - Bühler, Charlotte: Zwei Knabentagebücher (Bemfdd) 396. - Chadwick; 
Psychology for Nurses (Bentfeld) 398. — Reichardt: Die Früheriimerung als Trägerin kindlicher Selbst¬ 
beobachtung in den ersten Lebensjahren (Bernfeld) 398. — Stern: Anfänge der Reifezeit ßemfeld) 399. — 
Sittlichkeit und Strafrecht. Gegenentwurf zu den Strafbestimmungen des amtlichen Entwurfs, 
herausgegeben vom Kartell für Reform des Sexualstrafrechts (Weitskopf) 400, — Herzberg: Zur Psycho¬ 
logie der Philosophie und der Philosophen (Bally) 403. — Zeitschrift fÜT psychoanalytische 
Pädagogik, I. Jahrgang; II. Jahrgang, Heft 1—3 (Fmichel) 405. — Zulliger; Gelöste Fesseln (Fenichel) 
4 H- — Bern fei d: Die Formen der Disziplin in Erziehungsanstalten (Fenichel) 416. — Bernfeld: Einige 
spekulative Bemerkungen über die psychologische Bewertung telepathischer Prozesse (Fenichel) 417 — 
Kaplan: Das Problem der Magie und die Psychoanalyse (Fmichel) 4x8. - Weimer: Fehlerbehandlung 
und Fehlerbewertung (Bernfeld) 420, 


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Herausgeber.• Prof. Dr. Sigm Freud, Wien. - Verantwort!, für die Redaktion: Dr. Paul Federn, Wien I, Riem erg«,e . 
Gedruckt b*i Chriitoph Rutnjeri Söhuen, Wien V, Arbeit erfasse 1—7