XIV. BanJ
I928
Heft a /3
IMAGO
.Zeitschrift für Ai
der Psvckoan al-
.nwenoung aer JT syctioanaiyse
auf die ^Natur^ und Geisteswissenschaften
Offizielles Organ der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
... HerausgegeLen von
»Sigm. Freud
ReJi giert von Sändor Rado, Hanns Sacks und A. J. Storfer
Pfister: ID ie Illusion einer Zukunft« Eine freundsdiaftlidie Aus¬
einandersetzung mit Prof. Freud / Reih: Bemerkungen zu Freuds
„Zukunft einer Illusion“ / I Vinterstein: Die Pubertätsriten der
jMLädchen und ilire »Spuren im jM-ärdien / Jelgetsma: Der Kanni-
bali smus im alten Ägypten / Löwitsch: Raumempfinden u. moderne
Bauk unst / Sterha: Zum dichterischen Ausdruck des modernen
Naturgefühls / Deutsch: Ein Frauensdiicksal — George »Sand /
Hitschmann: Von, um und über Hamsun / Franklin: Die be¬
dingten Reflexe bei Epilepsie und der Wiederholungszwang
Internationaler Psydi oanalytischer \erlag
AVien I, Börsegasse 11
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE
AUF DIE NATUR- UND GEISTESWISSENSCHAFTEN
Heft 2 / 3
XIV. Band
von
Dr. O skar Pfister
Pfarrer in Zürich
Lieber Herr Professor!
Sie haben es in der liebenswürdigen JVeise, an die Sie mich in neunzehn¬
jähriger gemeinsamer Arbeit gewöhnten, für erwünscht erklärt, daß ich meine
Einwände gegen Ihr Büchlein „Die Zukunft einer Illusion“ der Öffent¬
lichkeit vorlege, und mir mit einer Liberalität, die bei Ihrer Denkweise selbst¬
verständlich ist, zu diesem Zweck eine der von Ihnen herausgegebenen Zeit¬
schriften zur Verfügung gestellt. Ich danke Ihnen herzlich für diesen neuen
Freundschaftsbeweis, der mich in keiner JVeise überraschte. Von Anfang an
haben Sie aus Ihrem dezidierten Unglauben mir und aller JVelt gegenüber kein
Hehl gemacht, so daß Ihre jetzige Prophezeiung einer religionslosen Zukunft
mir keine Neuigkeit zuträgt. Und Sie werden lächeln, wenn ich in der von Ihnen
geschaffenen psychoanalytischen Methode ein prachtvolles Mittel erblicke, die
Religion zu läutern und zu fördern, wie Sie es zur Zeit der Hungersnot taten,
als wir bei Schneegestöber auf Beethovens Pfaden über JViens Anhöhen stapften
und einander, wie schon in früheren Jahren, in diesem Punkte luieder einmal
nicht zu überzeugen vermochten, so bereitwillig ich sonst, mit Reichtum und
Segen aus Ihrer Geistesfülle überschüttet, zu Ihren Füßen saß.
Ihr Buch war für Sie eine innere Notwendigkeit, ein Akt der Ehrlichkeit und des
Bekennermutes. Ihr titanisches Lebenswerk wäre unmöglich gewesen ohne das
Zerschlagen von Götzenbildern, mögen sie in Universitäten oder Kirchenhallen
gestanden haben. Daß Sie selbst der JVissenschaft mit einer Ehrfurcht und
Inbrunst dienen, die Ihr Studierzimmer zum Tempel erheben, weiß jeder, der
Ihnen nahezustehen die Freude hat. Frisch herausgesagt: Ich hege den bestimmten
Imago XIV.
11
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Dr. Oskar Pfister
i5o
Verdacht gegen Sie, daß Sie die Religion bekämpfen — aus Religion. Schiller
streckt Ihnen zuarm die Bruderhand entgegen ; ob Sie sie ausschlagen werden?
Und vom Standpunkt des Glaubens aus sehe ich erst recht keinen Grund, i n
das Gezeter einzelner Zionswächter einzustimmen. Wer so riesenhaft wie Sie
für die Wahrheit kämpfte und so heldenmütig um die Erlösung der Liebe stritt
der ist nun eben, ob er es an der Rede haben will oder nicht, nach evangelischem
Maßstab ein treuer Diener Gottes, und wer durch die Erschaffung der Psycho¬
analyse das Instrument schuf durch das leidenden Seelen die Fesseln durchfeilt
und die Kerkerpforten geöffnet werden, so daß sie ins Sonnenland eines leben¬
spendenden Glaubens eilen können, der ist nicht ferne vom Reiche Gottes. Jesus
erzählt ein feines Gleichnis von zwei Söhnen, von denen der eine gehorsam in
des Vaters Weinberg zu gehen verspricht, ohne Wort zu halten, der andere
aber des Vaters Zumutung widerspenstig ablehnt, aber dennoch das Gebot aus¬
führt (Matth. 21, V. 28ff.). Sie wissen, wie freundlich der Stifter der christ¬
lichen Religion den letzteren bevorzugt. Wollen Sie mir zürnen, daß ich Sie,
der Sie so herrliche Strahlen des ewigen Lichtes auffingen und sich im Ringen
um Wahrheit und Menschenliebe verzehrten, trotz Ihres angeblichen Unglaubens
bildlich gesprochen dem Throne Gottes näher sehe, als manchen Gebete murmelnden
und Zeremonien verrichtenden Kirchenmann , dem nie das Herz glühte für
Erkenntnis und Menschenwohl? Und da für den am Evangelium orientierten
Christen alles auf das Tun des göttlichen Willens, nicht auf das „Herr! Herr!“-
Sagen ankommt, verstehen Sie, daß auch ich Sie beneiden möchte?
Und doch wende ich mich mit aller Entschiedenheit gegen Ihre Beurteilung
der Religion. Ich tue es mit der Bescheidenheit, die dem Geringeren geziemt,
aber auch mit der Freudigkeit, mit der man eine heilige und geliebte Sache
verteidigt, und mit dem Wahrheitsernst, den Ihre strenge Schule gefördert hat .
Ich tue es aber auch in der Hoffnung, manche, die Ihre Verwerfung
des religiösen Glaubens von der Psychoanalyse abschreckt, mit dieser
als einer Methode und Summe erfahrungswissenschaftlicher Ein¬
sichten wieder zu befreunden.
Und so möchte ich denn nicht gegen, sondern für Sie schreiben, denn wer
für die Psychoanalyse in die Schranken tritt, kämpft für Sie. Allein ich kämpfe
auch an Ihrer Seite; denn nichts anderes liegt Ihnen, wie mir am Herzen, als
die Überwindung der Illusion durch die Wahrheit . Ob Sie mit Ihrer „Zukunft
einer Illusion , oder ich mit meiner „Illusion einer Zukunft u dem Ideal näher
kommen, wird ein höheres Tribunal entscheiden. W^ir beide schlagen nicht den
Prophetenmantel um uns, sondern begnügen uns mit der bescheidenen Rolle des
Meteorologen; aber auch Meteorologen können sich verrechnen.
Mit herzlichem Gruße
Ihr
Oskar Pfister.
Die Illusion einer Zukunft
i5l
I
Freuds Kritik der Reli
gxon
i) Die -Anklagen
Als Illusion stellt Freud in seinem Büchlein „Die Zukunft einer
Illusion die Religion hin, bestimmt aber den Begriff der Illusion anders,
als es gewöhnlich geschieht. Für gewöhnlich schließt er das Merkmal der
Täuschung und Ungültigkeit in sich. Freud aber betont: „Eine Illusion
ist nicht notwendig ein Irrtum“ (48); „wir heißen einen Glauben eine
Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die Wunscherfüllung vordrängt,
und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab, ebenso wie
die Illusion selbst auf ihre Beglaubigungen verzichtet“ (49 f.). In anderem
Zusammenhang lehnt Freud es ab, in seiner Abhandlung zum Wahrheits¬
wert der religiösen Lehren Stellung zu nehmen (52).
Darnach könnte man mit der Möglichkeit rechnen, daß der Religion
doch immer noch Gültigkeit zugebilligt werde. Freuds Beispiel von der
Illusion des Kolumbus, einen neuen Seeweg nach Indien gefunden zu
haben (48), zeigt es. Denn wenn der Entdecker Amerikas Indien auch nicht
erreichte, so taten es doch andere auf dem von ihm geöffneten Wege. Auch
erinnert der Genuese daran, daß in der Illusion sehr viel vorzügliches Real¬
denken investiert sein kann; ohne die Beobachtung der gekrümmten Meeres¬
oberfläche und der aus ihr erschlossenen Kugelgestalt der Erde wäre die
kühne Fahrt nach Westen nicht unternommen worden. Ich mache jetzt
schon auf die innige Verquickung des Wunsch- und Realdenkens aufmerksam
und sehe die Frage auftauchen, ob es in der Religion, wie in einem sehr
großen Teil der Wissenschaft überhaupt, eine reinliche Entmischung gibt,
oder ob nicht in beiden Gebieten das Realdenken sich in weitem Umkreis
vergeblich abmüht, die reine Gegenständlichkeit jenseits des Wünschens oder
aus dem Wunschergebnis herauszuschälen. Doch halt! Ich will nicht aus
der Schule schwatzen und möchte mich für das Nachfolgende in keiner Weise
jetzt schon festlegen.
Die Hoffnung, Freud habe der Religion einen Altar übrig gelassen, zu
dessen Hörnern sie sich flüchten könne, hält nicht lange vor. Denn bald
vernehmen wir, die Religion sei einer Kindheitsneurose vergleichbar, und
der Psychologe sei optimistisch genug, anzunehmen, daß die neurotische Phase
überwunden werde. Sicher sei es ja freilich nicht, aber die Hoffnung wird
ii*
Dr. Oskar Pfister
i5a
deutlich ausgedrückt (86). Genauer wird die Neurose, welche die Religion
darstellt, als „die allgemein menschliche Zwangsneurose“ beschrieben und
wie diejenige des Kindes aus dem Ödipuskomplex, der Vaterbeziehung ab¬
geleitet (70). Damit verknüpft Freud die Prognose: „Nach dieser Auffas¬
sung wäre vorauszusehen, daß sich die Abwendung von der Religion mit
der schicksalsmäßigen Unerbittlichkeit eines Wachstumsvorganges vollziehen
muß, und daß wir uns gerade jetzt mitten in dieser Entwicklungsphase
befinden“ (7of.).
Den Gipfel der Beanstandung bildet der Satz: „Bringt sie (die Religion)
einerseits Zwangseinschränkungen, wie nur eine individuelle Zwangsneu¬
rose, so enthält sie anderseits ein System von Wunschillusionen mit Ver¬
leugnung der Wirklichkeit, wie wir es isoliert nur bei einer Amentia, einer
glückseligen, halluzinatorischen Verworrenheit, finden“ (71),
Endlich wird die Religion als Kulturschutz gewürdigt, (60), jedoch als
in dieser Hinsicht ungenügend abgelehnt, zumal die Menschen durch sie
auch nicht die wünschbare Beglückung und sittliche Beschränkung erlangen.
Sehen wir uns diese Anklagen näher an!
2) D ie Religion als neurotischer Zwang
Wir beginnen mit einer Untersuchung des neurotischen Zwangs¬
charakters, den die Religion tragen soll. Fraglos hat Freud insoweit völlig
recht, und durch diese Entdeckung hat er sich ein unermeßlich großes Ver¬
dienst um die Religionspsychologie erworben, als viele Äußerungen religiösen
Lebens mit ihm behaftet sind. Diese Zwänge sind unverkennbar in manchen
primitiven Religionen, die von einer eigentlichen Kirchenbildung noch
nichts wissen, wie in den sämtlichen Orthodoxien. Wir wissen auch, daß
diese Fatalität den Religionen als Wirkung von Triebverdrängungen, die
aus dem biologisch-ethischen Fortschreiten der Menschheit als notwendige
Forderung hervorgingen, in die Wiege gelegt wurde. Es ist nun einmal
das leidige Verhängnis unseres Geschlechts, daß das Einfache und Zweck¬
mäßige meistens nur auf dem Umweg über ungeheuerliche Bizarrerien ge¬
funden wird. Die Geschichte der Sprachen und moralischen Anschauungen
zeigt es so deutlich, wie die Entwicklung der Religionen.
Aber wenn auch diese Zwangsbelastung schon im ersten Stadium der
Religion schwerlich in Abrede zu stellen ist, so fragt es sich doch, ob sie
zum Wesen gehört. Könnte nicht ganz gut dieser kollektiv-neurotische Zug
ohne Schädigung, ja sogar zum Vorteil des Ganzen fallen, etwa so, wie
Die Illusion einer Zukunft
l53
die Kaulquappen ihre Schleppe opfern, um als Frösche nur desto bequemer
durch die Welt zu hüpfen?
Trieb verzichte gehen der Religion voran. Allein ist dies nicht bei aller
Kultur der Fall? Wer sich primär ausgibt, behält für Kulturleistungen
nicht mehr die notige Energie übrig. Denken wir uns ein solches rein
triebhaftes Dasein, das übrigens schon durch die weise Kärglichkeit der
Natur, oft auch durch den Aschermittwochsprotest der Menschennatur
fast immer verwehrt wird, so bezweifeln wir keinen Augenblick, daß
es zwar dem Wesen der meisten Tiere, doch nicht der Menschennatur
entspricht. Der Begriff der Natur wird einseitig und gänzlich
ungenügend erfaßt, wenn man ihn „naturalistisch“ versteht.
Nichts berechtigt zur Behauptung, ein tierisches Vegetieren entspreche dem
Wesen des Menschen besser, als ein kulturgemäßes Heranwachsen und Sich-
betätigen. Es ist ja auch die umgebende Natur selbst, die den geistigen
Anstieg zur Notwendigkeit macht. Kultur ist immer das Produkt zweier
Naturen: der außer- und innermenschlichen. Kultur ist selbst nur ent¬
wickelte Menschennatur, wie auch die sie hervorlockenden Nöte und Ver¬
zichte Naturwirkungen darstellen. Wer den Begriff der Natur von seiner
falschen Verengerung befreit, erblickt in der Kulturentwicklung dieselbe
gegenseitige Abgestimmtheit des Menschen und der übrigen Welt, die uns
die Erkenntnislehre für den Erkenntnisprozeß nachweist.
Nicht einverstanden bin ich mit Freuds früherer Angabe, daß der
Religionsbildung Verzicht auf Betätigung egoistischer Triebe zugrunde liege,
während die Neurose die Verdrängung ausschließlich sexueller Funktionen
voraussetze. 1 Gerade die Geschichte der Ödipuseinstellung zeigt, daß die
Sexualität einen integrierenden Bestandteil der Ichtriebe ausmacht und
umgekehrt. Die Aussonderung einzelner Triebe darf stets nur als Abstrak¬
tion vorgenommen werden; sowie man die Triebe (abgesehen von ihren
primitivsten Regungen) wirklich geschieden denkt, gerät man in Irrtümer
über Irrtümer. Dieser „organische Gesichtspunkt“, wie ich die richtige
Betrachtungsweise nenne, ist für das Verständnis der Religionsgenese un¬
erläßlich. Ich glaube nicht, daß hierin heute noch eine Differenz zwischen
Freud und mir besteht. Da er jetzt die negative Vaterbindung als Haupt¬
determinante der Religion hinstellt, läßt er auch die libidinösen Kräfte zur
Geltung kommen. Ich glaube, daß man die Triebversagungen, die zur Reli¬
gion führen, in sehr weitem Umkreis suchen muß, wie anderseits auch
1>1 Zwangshandlungen und Religionsübungen. Ges. Schriften X, S. 210.
Dr. Oskar Pfister
154
die Bahnen, die bei der Religionsbildung eingeschlagen werden, eine außer-
ordentliche Mannigfaltigkeit aufweisen. Dem Totemkultus liegen ganz andere
Determinantenkomplexe zugrunde, als etwa dem sozialethischen Monotheis¬
mus der klassischen Propheten Israels, dem ästhetischen und pazifistischen
Atonglauben Echnatons ganz andere, als der Frömmigkeit spanischer Con-
questadores. Aber Trieb Versagungen, die mehr oder weniger umfängliche
und tiefe Verdrängungen hervorrufen, müssen selbstverständlich an jeder
Religionsbildung mitwirken.
Aber müssen wirklich immer Zwangsbildungen der Religion inhärieren?
Ich glaube, daß im Gegenteil die höchsten Religionsbildungen den
Zwang gerade auf heben. Man denke etwa an das genuine Christentum!
Dem zwangsneurotischen Nomismus, der mit Buchstabenglauben und pein¬
lichem Zeremonialismus ein schweres Joch auferlegt, stellt Jesus sein „Gebot
der Liebe gegenüber. „Ihr wißt, daß zu den Alten gesagt ist — ich aber
sage euch“ (Matth. 5) — da haben wir die gewaltige Erlöse'rtat. Und sie
geschieht nicht etwa kraft eines neuen Bindungsanspruchs, sondern kraft
der Autorität jener Freiheit, die vermöge siegender Liebe und Wahrheits¬
erkenntnis gewonnen wurde. Jesus hat nach gut psychoanalytischer Regel
die Kollektivneurose seines Volkes überwunden, indem er die Liebe, aller¬
dings sittlich vollendete Liebe, ins Lebenszentrum einführte. In seiner Vater¬
idee, die von den Schlacken der Ödipusbindung gänzlich gereinigt ist, sehen
wir die Heteronomie und alle Peinlichkeit der Fesselung gänzlich über¬
wunden. Was dem Menschen zugemutet wird, ist nichts anderes, als was
seinem Wesen und seiner wahren Bestimmung entspricht, das Gesamtwohl
fördert und — um auch dem biologischen Gesichtspunkt einen Platz ein¬
zuräumen — eine maximale Gesundheit des Einzelnen und der Gesamtheit
herstellt. Es ist ein arges Mißverständnis, Jesu Grundgebot: „Du sollst Gott
lieben von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst! (Matth. 22,
Vers 37 ff.) als Gesetz im Geiste des Mosaismus zu verstehen. Die Form des
Imperativs ist beibehalten, aber wer merkte nicht die feine Ironie, mit
welcher der Inhalt, das Lieben, als nur frei zu vollziehende Leistung, den
Gesetzescharakter aufhebt?
Wie fein Jesus 1900 Jahre vor Freud Psychoanalyse treibt, — man
darf den Ausdruck freilich nicht allzu streng fassen — zeigte ich ander¬
wärts (Analyt. Seelsorge, Göttingen t 9 2 7 > 20 2 4 )- erinnere daran,
daß er dem Lahmen nicht einfach das Symptom wegsuggeriert, sondern in
den ihm zugrunde liegenden sittlich-religiösen Konflikt einsteigt, ihn schlichtet
und so von innen her die Lahmheit überwindet. Sein Dämonenglaube mag
i55
Die Illusion einer .Zukunft
uns als Metaphysik befremden, als Neurologie anerkennen wir ihn. Die
historisch-psychologische Richtung, in der Jesus die biblizistische Zwangs¬
autorität prüft, findet die volle Billigung des Analytikers (z. B. Matth. 19, 8:
Das mosaische Gebot des Scheidebriefes sei um der menschlichen Herzens¬
härte willen erlassen). Die Behandlung der Übertragung, die als Liebe an¬
genommen, aber auf absolute Idealleistungen weitergeleitet wird, so daß
keine neue Bindung entsteht, verdient die Bewunderung aller Schüler Freuds,
wie auch die Aufhebung der den Zwang hervorbringenden Elternfixation
durch die Hingabe an den absoluten Vater, der Liebe ist.
Nicht, daß man Jesus, wie vorwitzige Grünschnäbel es vielleicht tun
möchten, als ersten Psychoanalytiker im Sinne Freuds hinstellen dürfte!
Aber seine Erlösungsseelsorge weist in ihren Grundzügen so entschieden
in die Richtung der Analyse, daß sich die Christen schämen sollten, einem
Nichtchristen die Verwertung dieser leuchtenden Fußspuren überlassen zu
haben. Der Grund liegt ohne Zweifel darin, daß die zwangsneurotische
Verpfuschung, die der Religion, wie allen Gebilden des Menschengeistes
droht, auch diese wundervolle Fährte verschüttete, sowie im Materialismus
der früheren Psychiatrie.
Wir könnten Jesu Beseitigung des Zwanges und die Entkräftung ihrer
Determination noch weiter verfolgen, könnten nachweisen, wie seine Vater¬
idee von allen Reaktionssymptomen gegenüber dem Ödipushaß frei ist —
Gott soll nicht mit Opfern versöhnt, sondern im Bruder geliebt werden —.
Wir könnten daran erinnern, daß Bruderliebe im tiefsten und weitesten
Sinne Kennzeichen und Stern der christlichen Lehre ausmacht. Wir könnten
daran erinnern, daß Ziel und höchstes Gut alles Strebens und Sehnens
nicht in persönlicher Befriedigung, sondern im Gottesreich, d. h. in der
Herrschaft der Liebe, Wahrheit und Gerechtigkeit im einzelnen, wie in
der Universalgemeinschaft liegen, usw. Allein, wir würden zu weit ab¬
gelenkt.
Und kann nicht von der Religion Echnatons, in gewissem Sinne so¬
gar von Buddha, ganz ähnliches gesagt werden? Liegt nicht im Prinzip
des Protestantismus mit seiner Glaubens- und Gewissensfreiheit, aber auch
mit seiner Liebesforderung ein mächtiges Erlösungsprinzip, und zwar nicht
nur im Sinne der Befreiung von religiösem Zwang, sondern auch als all¬
gemeine Heilung von Zwängen?
Es ist sehr schade, daß Freud gerade die höchsten Äußerungen der
Religion außer acht läßt. Entwicklungsgeschichtlich verhält es sich nicht
so, daß die Religion Zwänge schafft und den Menschen in der Neurose
i56 Dr. Osk ar Pfister
festhält. Vielmehr schafft das präreligiöse Lehen neurotische Zwänge, die
dann zu entsprechenden religiösen Vorstellungen und Riten führen. Die
der Religion vorangehende Magie ist noch nicht Religion. Dann aber taucht
gerade innerhalb der großartigsten Religionsentwicklung, der israelitisch¬
christlichen, immer und immer wieder eine religiöse, durch eine höhere,
ethische, darum auch sozialbiologische Einsicht angefachte religiöse Inspi¬
ration (Offenbarung) auf, welche den Zwang aufzuheben trachtet
und Befreiung schafft, bis unter Bedingungen, die niemand besser als der
Analytiker versteht, immer wieder durch die Not der Zeit neue Bande ge¬
schmiedet werden, die eine spätere religiöse Konzeption zu sprengen berufen
ist. Daß diesem religiösen Kampf um die Erlösung ein Humanisierungs¬
prozeß entspricht, läßt sich nicht verkennen. So folgen einander vorisraeliti¬
scher Animismus und Naturismus, Mosaismus, Baalismus, klassischer Pro¬
phetismus, nachexilischer Nomismus (im Pharisäismus gipfelnd), Geburt des
Christentums, Katholizismus, Reformation, altprotestantische Orthodoxie,
Pietismus und Aufklärung, sowie die gegenwärtigen Ausläufer der ver¬
schiedenen christlichen Zwangs- und Zwangsbekämpfungssysteme. Es ver¬
dient jedoch Beachtung, daß der zwangsfreie Individualismus gerade in der
Gegenwart innerhalb des Protestantismus sehr stark vertreten ist und einer¬
seits durch sein soziales Pathos, anderseits durch seine streng kritisch-wissen¬
schaftliche Arbeit bei den übrigen Fakultäten nicht geringes Ansehen erwarb.
Man vergesse auch ja nicht, daß die Religion durchaus keine in sich ab¬
geschlossene Entwicklung zurücklegen darf! Wenn die Christen in einzelnen
Zeitaltern an Grausamkeit mit den wildesten Barbaren wetteifern, so geschah
dies nicht infolge konsequenter Durchführung ihres religiösen Prinzips, son¬
dern vermöge neurotischer Erkrankungen, die die christliche Religion genau
ebenso verzerrten und verwüsteten, wie Forschen und Kunstschaffen den ab¬
scheulichsten Mißbildungen ausgesetzt waren und erlegen sind.
Daher leugne ich rundweg, daß der Religion als solcher neurotischer
Zwangscharakter eigne.
3) Religion als Ti^unschgelilcle
Für den Gedanken, daß alle Religionen nur Wunschgebilde darstellen,
nimmt Freud mit Recht keine Priorität in Anspruch (57)* Mit unüber¬
bietbarer Konsequenz hat Feuerbach 1 vor bald neunzig Jahren die These
1) L. Feuerbach: Das Wesen des Christentums. Herausgegeben von Quenzel,
Reclam, S. 40.
Die Illusion einer Zukunft
107
von der Theologie als verkappter Anthropologie und von der Religion als
Traum (43) durchgeführt. Nur hat Freud mit seinem Seelenmikroskop
diese Annahmen in manchem Punkt außerordentlich verfeinert und ge-
Icräftigt. Hierüber darf man sich keinerlei Täuschung hingeben. Schon allein
die Darlegung der latenten Wünsche und ihrer Umarbeitung zum Zwecke
der Bewußtmachung, sowie die Enthüllung der Ödipussituation, des ver¬
drängten Sadismus und Masochismus machen es ganz und gar unmöglich,
Wunschvorkehren bei der Religionsbildung zu leugnen. Erklärt sich aber
hieraus das ganze religiöse Denken? Und ist dieses Verwechseln von
Wünschen und Sein Sondergut der Religion? Oder sollten in Religion und
Wissenschaft, ja sogar letztlich in Kunst und Moral die Zurückdrängung des
Wunschdenkens durch das Realdenken und die Mobilisation des Realdenkens
durch das Wunschdenken das Ideal bilden, dem die Geistesentwicklung
keuchend, hoffend und immer wieder schmerzlich enttäuscht entgegenstrebt ?
Bevor wir uns der Untersuchung zu wenden, sehen wir uns nach einem
gemeinsamen Ausgangspunkt um. Nie vergesse ich jenen sonnigen Sonntag¬
vormittag des Frühlings 1909 im Belvederepark in Wien, als Prof. Freud
mich in seiner lieben, väterlichen Weise auf die Gefahren der von ihm
betriebenen Forschung hinwies. Schon damals erklärte ich mich bereit, das
mir teure Pfarramt niederzulegen, wenn es die Wahrheit erheische. Einen
Glauben verkündigen, den die Vernunft widerlegt, oder den Kopf zur Woh¬
nung des Unglaubens, das Herz zu einem Sitz des Glaubens einzurichten,
dies schienen mir Jongleurtricks, mit denen ich nichts zu tun haben wollte.
Ich wüßte nicht, was ich an dieser Stellung zu ändern hätte. Für Illusionen
setzt man seine Seele nicht ein.
Ich kann Freud ein gutes Stück weit entgegenkommen (Feuerbach hat
auch bei Theologen mit seiner psychologischen Kritik religiöser Lehren
Beifall gefunden). 1 Daß die Vorstellungen von Gott und Jenseits vielfach
mit Farben der Wunschpalette gemalt sind, wußte ich von jeher. Als ich
zum ersten Male in einer halluzinierten Gottes Vorstellung die Züge des
Vaters, verschiedener Pfarrer usw., 2 dahinter die Regie des Hasses auffand,
war mir die Klarheit, mit der sich der Zusammenhang nach weisen ließ,
recht interessant, aber etwas unerhört Neues und Unerwartetes empfing ich
nicht. Daß im walfischreichen Jenseits der Eskimo, in den grünen, zu
Skalpgewinn einladenden Jagdgründen der Indianer, im metgesegneten,
1) O. Pfleiderer: Geschichte der Religionsphilosophie. 5. AufL, 449.
2) Pfister: Die psychoanalytische Methode. 5. Aufl., 222 h
i58
Dr. Oskar Pfister
turnierholden Walhall der Germanen sich die Wünsche ihrer Urheber ebenso
spiegeln, wie im Betsaalhimmel des Pietisten oder im Jenseits Goethes mit
seinem sittlichen Entscheidungskampf, wußte ich längst.
Nemesis wollte, daß auch die von mir analysierten Gottesleugner außer¬
ordentlich oft vom Wunschdenken geleitet waren. Welcher Analytiker hätte
nicht oft Atheisten gefunden, deren Unglaube verkappte Vaterbeseitigung
war? Ich würde es aber für falsch halten, alle Ablehnung der Religion in
das Wunschschema zu pressen.
Und sehen wir uns die Wünsche, die zur Religion führen, etwas näher
an! Es ist zuzugeben, daß sie anfänglich großenteils egoistischer Natur
sind. Verhielte es sich bei der Wissenschaft etwa anders? Könnte man vom
Primitiven einen uninteressierten Wissensdurst erwarten? Schon beim soge¬
nannten Naturmenschen sehen wir, wie sich in Kultus und Glaube das
sittliche Bedürfnis regt, z. B. das Bedürfnis nach Sühne begangenen Un¬
rechts (z. B. der Todeswünsche gegen den Vater). Mit der sittlichen Ent¬
wicklung reift auch die religiöse. Die selbstischen Wünsche treten mehr
und mehr zurück, wenn es auch immer wieder Rückfälle in egoistisches
Denken gibt, ein Zeichen dafür, daß das Wilde und Primitive sich schwer
ausrotten läßt.
Die klassischen Propheten Altisraels verzichten auf persönliche Fortdauer
nach dem Tode; so sehr ging ihr Dichten und Trachten in ihrem Volke auf.
Im Evangelium sehen wir die Triebwünsche machtvoll bekämpft, und
zwar um so stärker, je mehr die Entwicklung Jesu in stetem Kampf mit
der Überlieferung fortschreitet. Den Lohngedanken, den Rassengedanken,
die sinnlich gefärbte Jenseitsvorstellung sehen wir zurückgedrängt, und
zwar den Lohngedanken nach Ansicht der Psychoanalyse weit geschickter
und weiser, als in der rigorosen, die Liebe verständnislos ausschüttenden
Philosophie des kategorischen Imperativs. Was Jesus im Namen seiner
Religion fordert, ist dem Egoismus großenteils direkt entgegengesetzt, wenn
auch Jesus mit großer Weisheit die Selbstliebe keineswegs ächtet, und
dem Masochismus, wie ihn die Asketen übten, keinerlei Vorschub leistet.
Die Sanftmut und Demut, die Selbstverleugnung und Ablehnung des
Schätzesammelns, die Hingabe des eigenen Lebens um der höchsten sitt¬
lichen Güter willen, kurz die ganze Lebenshaltung, wie sie der Gekreuzigte
von Golgatha von seinen Jüngern fordert, ist den Gelüsten der ursprüng¬
lichen Menschennatur diametral entgegengesetzt. Sie entspricht jedoch einer
höheren Auffassung der Menschennatur, wie sie gewiß nicht aus den
niedrigen Triebansprüchen, sondern nur aus einem unter herben Nöten er-
Die Illusion einer Zukunft
i59
kämpft en i einer grandiosen intuitiven Anthropologie und Kosmologie ent¬
sprungenen Idealrealismus hervorgehen konnte. Im Gebet Jesu verschwin¬
det alles Egoistische — die Bitte ums tägliche Brot, dieses Subsistenz-
xninimum, ist nicht mehr egoistisch, die universellen ethischen Ideale
herrschen, und zu oberst steht die Beugung unter den göttlichen Willen
(„Dein Wille geschehe!“). Buddhistische Wunschlosigkeit ist dies nicht, aber
dafür auch nicht pathogene Introversion.
Die Behauptung, daß nach christlicher Auffassung alles dasjenige, was
das Erdenleben dem Christen versage, das Jenseits wiedergebe, ist falsch.
Der Verzicht auf die Betätigung der Sexualität wird nach dem Islam, aber
keineswegs nach dem Christentum im Jenseits eingeholt. Jesus betont aus¬
drücklich, daß sinnliche Erwartungen vom Leben nach dem Tode auszu¬
schalten seien (Matth. 22, Vers 50). Sein höchstes Ideal, das Gottesreich, hat
die Erde zum Schauplatz und ideale ethische und religiöse Güter, die mit
Triebwünschen nichts zu tun haben, zum Inhalt.
Aber, wendet der Gegner vielleicht ein, entspringt die Religion dann
nicht wenigstens Wünschen höherer Art?— Ich entgegne: Man muß sich
den Unterschied zwischen Wunsch und Postulat klar machen. Der Wunsch
geht in der Halluzination u. a. durch Freud uns verständlich gemachten
Erscheinungen auf Befriedigung aus, ohne sich um die wirklichen Ver¬
hältnisse zu kümmern. So kennen wir auch viele religiöse Phänomene,
die diesen illusorischen Sprung vom Begehren zur Annahme eines Seins
machen. Es wird aber niemand behaupten, daß jeder Wunsch nur auf
solche illegitime Weise zur Befriedigung gelange. Man kann sehr wirklich¬
keitsgerecht auf Befriedigung seiner Wünsche ausgehen.
Jesus verspürte in sich Liebesimperative, die der geheiligten Überliefe¬
rung widersprachen. Wir können noch genau das Stadium beobachten, in
welchem er die Ansprüche der inneren Forderung mit derjenigen des
„mosaischen“ Gebotes in Einklang setzen zu können glaubte (Matth. 5,
Vers 17—22). Allein, wie wir schon vernahmen (Vers 27ff., 33ff., 38ff.),
drang diese Betrachtung nicht überall durch. Es mußte zum offenen Bruche
kommen. Das innere Gebot mußte das äußere umstoßen. Dann aber mußte
diese innere sittliche Notwendigkeit selbst von Gott herstammen. Und weil
sie auf Liebe ausging, mußte Gott als liebend, nicht mehr als der strenge,
eifersüchtige Gott des Alten Testamentes, erscheinen. Damit zerfiel auch,
wie oben gezeigt wurde, der angsteinflößende Zwangscharakter der Thora.
Wenn wir diesen Vorgang, der sich in Jesu Seele intuitiv, inspiratorisch
abspielte, in schwerfällige Erkenntnisakte übersetzen wollen, so kommen
i6o
Dr. Oskar Pfister
wir auf den Weg des Postulates. Dieses sagt nicht: ich wünsche dies und
das, folglich ist es wirklich. Vielmehr folgert es: dies und das ist; was
muß ich als wirklich denken, damit dieses bestimmt Existierende verständ¬
lich wird, wirklich werden konnte und wirklich sein kann? Das Postulat
geht von Seiendem aus, das als gesichert anerkannt oder vorausgesetzt wird
und schließt auf anderes Seiende, das sich aus dem ersteren logisch not¬
wendig ergibt.
Die Naturwissenschaft mit ihren Hypothesen, die bei genügender Er¬
härtung zu Theorien weitergebildet werden, geht in gewissem Sinne einen
ähnlichen Weg. Nur handelt es sich hier um Existentiale, von denen aus
zu anderen Existentialen fortgeschritten wird. Im Postulat dagegen bildet
den Ausgangspunkt eine Wertung oder ein Imperativ. Kant z. B. betrach¬
tet das kategorische „Du sollst!“ als den archimedischen Punkt und postu¬
liert von ihm aus einen Gesetzgeber. Ich selbst ging von einer» anderen
ethischen Gewißheit aus, die sich mir gerade bei der psychoanalytischen,
wie bei der soziologischen Betrachtung aufgedrängt hatte: von der Bestimmung
zur Liebe gegen den Nächsten, sich selbst und das absolute Ideal. In dieser
Norm, die sich aus der Eigenart des Menschen ergibt, weil in ihrem Sein
ein Sollen liegt, fand ich den Ort, von dem aus ich auf ein Absolutes
als den Ursprung des Seins und Sollens, wie überhaupt aller Werte, schließen
mußte. Diese philosophische Operation ist grundsätzlich nichts anderes als
die erlebnismäßig-intuitive Gottesgewißheit Jesu. Daß dabei eine Menge
von Wünschen des eigenen Geschmackes, ja sogar manche „Bedürfnisse“
der harten Wirklichkeitserkenntnis geopfert werden müssen, liegt auf der
Hand. Und wenn der Seinsgrund der Bestimmung zur Liebe im höchsten
Sinne selbst als geistig und liebend angesetzt wird, ist dies denn wirklich
denkwidrig?
Weiterhin erhebt sich die Frage: Ist nicht auch in der Wissenschaft die
sinnbildliche Phantasie ein scharadenartig verkleideter Träger gültiger
Erkenntnis? Arbeitet nicht auch das wissenschaftliche Denken mit den
vielsagenden und zugleich vielverbergenden Herolden des Anthropomor¬
phismus?
Ich beginne mit dem zuletzt aufgeworfenen Problem. Noch entsinne ich
mich des frohen Erstaunens, mit dem ich im ersten Jahrgang der „Imago“
Robitseks bedeutsame Studie über das wissenschaftliche Schaffen des
Chemikers Kekule von Stradowitz las. 1 Die Struktur- und Benzoltheorie
1) A. Robitsek: Symbolisches Denken in der chemischen Forschung. Imago I,
83—90.
Die Illusion einer Zukunft 161
entstanden danach aus visuellen Phantasien von tanzenden Pärchen und
Schlangen; aber der wache Verstand mußte die Träume prüfen.
Man muß sich davor hüten, alle primitiven Vorstellungen, die uns Real¬
denkern des zwanzigsten Jahrhunderts phantastisch Vorkommen, sogleich als
Wunschprodukte anzusehen. Wenn der Wilde im kochenden Wasser ein
lebendes Tier vermutet, welcher Wunsch sollte ihn dabei leiten? Lag es
nicht für ihn nahe, das unbekannte Sieden analog der ihm bekannten, durch
ein verborgenes Tier verursachten Wasserbewegung zu erklären?
Und wenn in die Naturerscheinungen und -Vorgänge menschenähnliche
Kräfte und Wesenheiten projiziert werden, ist dies eine Sonderaktion der
Religion, oder finden wir diesen auf Analogieschlüssen beruhenden Prozeß
nicht selbst in den stolzesten Hallen der Naturwissenschaften, ja selbst des
noch strenger disziplinierten philosophischen Denkens? Wir reden von „Kraft“,
„Ursache“, „Wirkung“, „Gesetz“ und hundert anderen Begriffen, die von der
Erkenntnistheorie längst als ziemlich plumpe, wenn auch unentbehrliche
Anthropomorphismen erfunden worden sind. Ist der Begriff der „Zensur“
nicht ebenso geartet?
Die Geschichte der Wissenschaften ist ein fortwährender Kampf mit
Anthropomorphismen und anderen unerlaubten Projektionen bekannter Tat¬
sachen in unbekannte. Warum sollten Religion und Theologie eine Aus¬
nahme bilden?
Die Frage ist nun aber, ob die Theologie, die sich mit der Religion be¬
schäftigte, mit einem Fuße im Stadium der Wünsche stecken geblieben
sei. Wenn sie es wäre, so fürchte ich ernstlich (oder sollte ich es hoffen?),
sie teilte dieses für eine Wissenschaft klägliche Los mit den übrigen Wissen¬
schaften, die Naturwissenschaften und die Geschichte nicht ausgeschlossen.
Von der Philosophie kann ich es ganz bestimmt versichern 1 und mag
ein Plus von reiner Gegenständlichkeit den streng exakten Naturwissenschaften
zugebilligt werden können, es fehlt ihnen eben doch das, was der Empirio¬
kritizismus so leidenschaftlich und erfolglos suchte: Die reine Erfahrung,
aus der die Zusätze menschlicher Subjektivität ausgemerzt wären. Dafür
endigt die naturwissenschaftliche Betrachtung bei der bitteren Einsicht, nur
ein Flecklein Oberfläche zu erkennen, das erst noch als gleißender Schein
zugestanden werden muß. Die Farben verflüchtigen sich in „Ätherschwin¬
gungen , wobei man resigniert hinzufügt, daß der Äther ein sehr zweifel¬
hafter Hilfsbegriff sei, die Töne entpuppen sich als Luftoszillationen, deren
i) Vgl. meine Schrift „Zur Psychologie des philosophischen Denkens“. Bireher, Bern
und Leipzig.
16a
Dr. Oskar Pfister
Vereinigung zur Melodie oder Symphonie in den Akten und in der Welt
der Naturwissenschaften keinen Raum hat, das Atom, das in mehrtausend¬
jährigem Experimentieren und Denken als schlechthin einfaches und un¬
veränderliches Wirklichkeitsklötzchen anerkannt und zum Träger einer angeb¬
lich naturwissenschaftlich gesicherten Weltanschauung erhoben worden war,
geht eines Vormittags in die Brüche, wie ein Brocken Steinkohle, ja es ver¬
wandelt sich in ein anderes Element; das Naturgesetz enthüllt sich der neueren
naturwissenschaftlichen Kritik als ein Produkt des Wunsches, daß ein Vor¬
gang sich unter gleichen Bedingungen immer gleich vollziehen müsse -—
man bedenke doch die Verlegenheit der Maschinen- und Brückenbauer, wenn
es sich anders verhielte! Wenn die umstürzlerischen Ansichten der neuesten
und kritischen Naturwissenschaften etwas Sicheres ergeben haben, so ist es
die Einsicht, daß wir auf ihrem Gebiete bis zum Hals im Wünschen stecken
geblieben sind, und der Pragmatismus, man mag ihn noch so naserümpfend
abweisen, hat doch wenigstens das Gute an sich, daß er das Interesse des
praktischen Amerikaners an einer ausgiebigen Nutznießung der Wirklichkeit,
also den Wunschhintergrund des Erkennens entschleierte.
Die Theologie hat sich über eine nicht geringe Bereitwilligkeit und Fähig¬
keit zur Preisgabe des Wunschdenkens reichlich ausgewiesen. Ich glaube dies
jedoch zweckmäßiger am Schluß unserer freundschaftlichen Auseinander¬
setzung dartun zu können. Mit der Theologie unterzog sich aber auch die
Religion den durchgreifendsten und für das Wünschen schmerzlichsten Opfern.
Man darf ferner nicht übersehen, daß die Religion von Anfang an das
Wissen um die Natur und die Werte reichlich in sich aufzunehmen ver¬
mochte. Wer über die stille stehende Sonne des Josua spottete, hätte be¬
achten sollen, daß der Begriff einer festgefügten und geschlossenen Natur¬
ordnung zu jenen Zeiten noch nicht existierte, sondern erst über zwei¬
einhalb Jahrtausende später in die Wissenschaft eintrat, bis sie vor kurzer
Zeit an Kredit wieder nicht unbeträchtlich verlor. Die Christenheit sträubte
sich lange, allzu lange gegen Kopernikus und die Entwicklungslehre, aber
sie fand sich schließlich mit ihnen ab. Daß sie nicht alle wissenschaftlichen
Tagesmoden mitmacht, darf man ihr nicht verübeln. Eine Reihe hervor¬
ragender Naturforscher bis auf die Gegenwart finden keinerlei Schwierig¬
keit, Religion und Naturwissenschaft in Einklang zu setzen, während Halb¬
gebildete allerdings viel leichter als große Forscher vom Range Freuds
die Inkompatibilität beider am Biertisch auskündigen.
Bewiesen ist damit für die Wahrheit oder Unwahrheit der Religion
nichts.
Die Illusion einer Zukunft
i63
Wie verhält es sich aber mit den Widersprüchen des religiösen Denkens?
Ich sprach bereits vom redlichen Bestreben der neueren Theologie, sie zu
überwinden. Ob es gelungen ist, läßt sich schwer entscheiden. Ich glaube,
zu einer Religiosität gelangt zu sein, die der Widersprüche Herr wurde,’
wenn auch ungelöste Rätsel, wie auf jedem anderen Gebiete menschlichen
Denkens, auf Schritt und Tritt übrig geblieben sind. Aber nun kehre ich
den Spieß um und frage: Strotzt denn die Erfahrungswissenschaft nicht
von faustdicken Widersprüchen? Ich will nicht einmal auf Begriffskrüppel,
wie den Äther, hinweisen, der Stoff sein soll, ohne aus Atomen zu be¬
stehen, und der dennoch von den honettesten Naturforschern als Standes¬
herr mit untertänigster Verbeugung begrüßt wurde. Aber vielleicht macht
es doch einigen Eindruck, daß sehr bedeutende Natur- und Seelenforscher,
wie z. B. Herbart und Wundt, der Philosophie keine andere Aufgabe zu-
weisen, als die, die in den Erfahrungsbegriffen liegenden Wider¬
sprüche zu beseitigen und die bereinigten Erfahrungsbegriffe miteinander
in Einklang zu bringen. Da sollte man doch wohl auch mit der Religion
der Ungebildeten und der Theologen etwas nachsichtiger verfahren.
Da Freud auf die einzelnen Widersprüche nicht einzutreten gedachte
und sich darauf beschränkt, die meisten religiösen Lehren für unbeweisbar
und unwiderlegbar zu erklären (50, 52), so kann ich auf eine Verteidigung
des religiösen Realitätsdenkens im Einzelfalle nicht eintreten. Wenn man
daran denkt, wie bescheiden die heutige Naturwissenschaft über den Be¬
reich des wirklich Beweisbaren denken gelernt hat, so wird man zugeben,
daß in unserem Problem größte Vorsicht dringend angezeigt ist, damit man
doch ja nicht von anderen Fakultäten verlange, was man in der eigenen
selbst nicht leistet, und anderen vorwirft, was man selbst begeht. Mit welcher
vorbildlichen Zurückhaltung redet Freud von der Bewiesenheit seiner Auf¬
stellungen! Auch müssen wir uns sehr davor hüten, Übereinstimmung der
Gelehrten für Abgeklärtheit und Gültigkeit einer Lehre zu halten. Sie ist
sehr oft nur eine Ermüdungserscheinung, und die Füße der Totengräber
stehen vielleicht bereits vor der Tür.
Bei diesem Sachverhalt, der unsere wirklich wissenschaftlichen Aktiva gegen¬
über den Passiva etwas bedenklich erscheinen läßt, müssen wir uns vor der
Gefahr der Mogelei erst recht hüten. Durch Wunschdenken und Zulassung
von Widersprüchen würde man seine Bilanz nicht günstiger gestalten, wohl
a 6r Se * nen Kredit noch mehr gefährden. Aber man sieht auch keinen Grund,
sein ganzes Vermögen auf der einen Bank der Wissenschaft anzulegen und
e übrigen Kulturgüter für überflüssig auszugeben. Davon später.
164
Dr. Oskar Pfister
Wenn Freud der Religion halluzinatorische Verworrenheit vor¬
wirft so hat er für einzelne, ja viele Formen von ihr unzweifelhaft recht.
Allein, trifft dies auf alle Gestaltungen der Frömmigkeit zu? Ich sehe es
nicht ein. Wieder scheint der große Meister ganz bestimmte Formen vor
Augen zu halten und zu verallgemeinern. Ich glaube fast, er war in pro¬
testantischen Gottesdiensten ein seltener Gast und hat auch die kritische
Theologie selten mit seinem Besuche beehrt. Gerade wir Analytiker, die wir
zum ersten Male mit der Psychologie des Genialen restlos ernst machen, wissen
übrigens sehr genau, daß hinter der halluzinatorischenVerworrenheit sehr Großes
und Tiefes liegen kann. Wenn Paulus bezeugt, daß seine Predigt vom Kreuz
den Heiden eine Torheit sei (1. Korr. 1, Vers 23), so ist ihm dies kein Gegen¬
argument. Mir ist ein schöpferischer dionysischer oder apollinischer Feuer¬
geist, der seine Offenbarungen nicht als abgeklärten Wein, sondern als gärenden
Most ausschenkt, viel wertvoller, als ein nüchterner Gelehrter, der seilte Lebens¬
kraft in steriler Begriffsjonglistik und pedantischer Genauigkeit verzehrt. Der
Grad der Vernünftigkeit ist nicht notwendig der Maßstab des Wertes. Die
stürmische Jugend mit ihren Tollheiten und Torheiten hat vor dem be¬
sonnenen Alter denn doch auch nicht wenig voraus. Man kann mit dem
Trinken und Essen nicht zuwarten, bis die Herren Physiologen ihre Nahrungs¬
mittelanalysen vollzogen und ihre Ernährungstheorien zu männiglicher Be
friedigung ausarbeiteten. Die radiumhaltigen Bäder leisteten ein paar Jahr¬
hunderte gute Dienste, bevor man das Radium und damit die Ursache der
Heilerfolge entdeckte. Ist es undenkbar, daß auf geistigem Gebiete das Wissen
um die Ursachen mühsam keuchend dem Besitz wertvoller Güter nachhinkte?
Mir will, offen gestanden, Vorkommen, daß wir im heutigen Protestantismus
mit seiner unerhört strengen und scharfen Kritik eher zu wenig, als zu viel
von der platonischen Raserei und vom paulinischen Skandalon übrig behielten.
Und doch kann ich nicht anders, als das Realprinzip an meinem Orte mit
unerbittlicher Strenge durchzuführen, wenn auch in beständiger Sorge, kost¬
bares Gut aus den Maschen der wissenschaftlichen Begriffsbildung zu ver¬
lieren.
Und vergesse man nicht: Wissenschaftliche Hypothesen kann man ab¬
lehnen; in den praktischen Fragen, von deren Beantwortung der Lebensausbau
abhängt, muß man Stellung beziehen, auch wo stringente Beweise fehlen.
Wie sollte man sonst eine Familie gründen, einen Beruf ergreifen usw..
So liegt auch in der Religion ein Vertrauen; aber wehe dem, der nur nach
Wünschen heiratet, einen Beruf wählt und einen religiösen Glauben an¬
nimmt, ohne der Wirklichkeit peinlich genau Rechnung zu tragen!
Die Illusion einer Zukunft l65
4) Die Religion als denlcfeindlick
Daß die Religion an sich denkfeindlich sei, will mir nicht eingehen.
Freud schreibt: „Wenn wir die Frage aufwerfen, worauf sich der Anspruch
der religiösen Lehrsätze, geglaubt zu werden, gründet, so erhalten wir drei
Antworten, die merkwürdig schlecht zueinander stimmen. Erstens, sie ver¬
dienen Glauben, weil schon unsere Urvorväter sie geglaubt haben, zweitens
besitzen wir Beweise, die uns aus eben dieser Vorzeit überliefert sind, und
drittens ist es überhaupt verboten, die Frage nach dieser Beglaubigung auf¬
zuwerfen (4°)’ Zugegeben, daß solche schauderhafte Argumentationen da
und dort aufgetaucht sind. Aber welcher gebildete Christ wollte sich damit
heute abspeisen lassen? Wir Protestanten sicherlich nicht. Wir kritisieren
Bibel und Dogmen so radikal, wie Homer oder Aristoteles. Was die Katho¬
liken anbetrifft, so setzen sie ihrer Dogmatik doch wenigstes eine Apologetik
voran, die den Ansprüchen der Vernunft Genüge leisten will. Man mag
als Philosoph ihre Denknotwendigkeit bestreiten, als Schüler Freuds sie
als Rationalisierung diagnostizieren, als Protestant wenigstens einen Teil von
ihr als lettre de cachet ablehnen, es bleibt doch immer noch eine Denk¬
arbeit übrig, die Achtung gebietet.
Wir Protestanten wissen viel zu gut, wieviel wir dem Denken für unsere
Religion zu verdanken haben, als daß wir ihm vollen Spielraum versagen
wollten. Wenn auch Luther der Vernunft die ihr zukommenden Rechte
nicht einräumte, so war er doch Theologe und wissenschaftlicher Denker,
sonst wäre er niemals Reformator geworden. Zwingli ging durch die
humanistische Schule hindurch, was seiner Theologie und Frömmigkeit
nicht nur ihre Milde, sondern auch ihre Klarheit eintrug. Sogar der finstere
Calvin, Genfs unheimlicher Großinquisitor, hat sein juristisches Denken
seiner festungsähnlichen Theologie zugänglich gemacht. Die Religion der
Reformatoren war auch das Ergebnis ihres wissenschaftlich geschulten
Professorendenkens. Die neuere Theologie, die in radikaler Verneinung Er¬
kleckliches leistete und noch leistet, ist sich bewußt, gerade durch ihr strenges
Realdenken der Religion die trefflichsten Dienste zu leisten.
Vom Verbot, über religiöse Dinge nachzusinnen, habe ich in meiner
Umgebung nie etwas zu hören bekommen. Im Gegenteil fordern wir pro¬
testantischen Pfarrer von unseren Schülern freies kritisches Denken. Bei
den Seelsorgern freier Richtung ist dies selbstverständlich, aber auch von
vielen konservativen ist es mir bekannt. Wir beruhigen erschreckte Personen,
die in Glaubensnöte gerieten, mit der Versicherung, daß Gott den aufrich-
Imago XIV.
12
i66
Dr. Oskar Pfister
tigen Zweifler liebe und daß ein durch Denken gefestigter Glaube viel mehr
wert sei, als ein einfach übernommener und angelernter. Wir fordern und
pflegen freies Denken auch in der Religion der Erwachsenen.
Das Denken soll nach Freud durch die Religion geschwächt werden.
Freilich fügt er alsbald hinzu, vielleicht sei die Wirkung des religiösen
Denkverbotes nicht so arg, wie er annehme (78). Aber immerhin hält er
dafür, es lohne sich, den Versuch einer vom süßen Gift (80) der Religion
freien Erziehung zu machen (79). — Geschichtlich sei darauf hingewiesen,
daß doch unbestreitbar eine lange Kette der tiefsten und freiesten Geister,
die das Geistesleben der Menschheit enorm bereichert haben, gleichzeitig
der Religion und der Wissenschaft beipflichteten, der Religion oft mit größter
Innigkeit, und ich kann nicht glauben, daß Freud annimmt, sie hätten
noch Größeres geschaffen, wenn sie von Religion nie etwas gehört hätten.
Mediziner wie Hermann Lotze, Wundt, Kocher, Physiker wie Descartes,
Newton, Faraday, Robert Mayer, Chemiker wie Justus Liebig, Biologen
wie Oswald Heer, Darwin, Pasteur, K. E. von Bär, Mathematiker wie
Leibnitz, Pascal, Gauß, Geographen wie Ritter, Historiker wie Johannes
von Müller, Carlyle, Niebuhr, L. von Ranke, Staatsmänner wie Lincoln,
Gladstone, Bismarck, Philosophen wie Kant, Fichte, Schelling, Hegel,
Herbart, Ruskin, Eucken, Bergson, Dichter wie Goethe, Schiller,
Rückert, Bitzius, Gottfried Keller, K. F. Meyer, Geibel — ich greife
aus einer langen Kette glänzender Namen nur hastig einige wenige heraus
verraten doch wohl keine Intelligenzdefekte, obwohl sie an Gott glauben,
und ich wüßte wirklich nicht, was zu der Annahme berechtigte, ihr Geist
hätte sich zu noch größeren Taten aufgeschwungen, wenn ihnen die Religion
nie begegnet wäre. An religiöser Innigkeit steht ein Teil der Genannten
sicherlich sehr weit über dem Durchschnitt der Gläubigen, während man
angesichts ihrer gedanklichen Großtaten eigentlich das Gegenteil annehmen
müßte, wenn die Verdummungsgefahr mit der Religion so eng verknüpft
wäre.
Wir dürfen auch jetzt schon darauf hinweisen, wie noch in jüngster
Vergangenheit bedeutende Naturforscher gerade durch ihr Denken zur Ge
wißheit oder doch Wahrscheinlichkeit eines aufbauenden Weltwillens kamen
(Einstein, Becher, Driesch). Aber auch auf diese Autoritäten werden
wir den Wahrheitsbeweis der Religion nicht gründen.
Freud legte früher Gewicht darauf, daß der Denkdrang der Kinder ge¬
schädigt werde, wenn man die Frage nach der Entstehung der Natur
gegenstände mit dem summarischen Hinweis auf Gott beantworte. Ich
Die Illusion einer Zukunft
16/
pflichte ihm bei, möchte aber fragen, ob das Ergebnis ein anderes ist,
wenn man sagt: Die Natur hat sie geschaffen, und betone, daß man im
Religi° n sunterricht stets darauf hin weist, wie Gott im Naturgeschehen
und durch menschliches Tun wirkt.
Ich selbst erinnere mich, wie mein eigenes Denken durch die Religion
reich befruchtet wurde. Unzählige Denkprobleme, die nun eben doch ein -
mal bearbeitet werden müssen, weil man auch gegenüber dem Leben nicht
Vogel Strauß spielen darf, wurden angeregt, prachtvolle historische Gestalten
mir dargeboten, der Sinn für Größe und sittliche Notwendigkeit ausgebildet.
Ich würde es als einen unersetzlich schweren Verlust empfinden, wenn
man die religiösen Erinnerungen aus meinem Leben reißen würde. Auch
daß man mir die Bibel als unfehlbares Wort Gottes hinstellte, schärfte mein
Denken; noch erinnere ich mich, wie ich als Zwölfjähriger nach einer
Lektüre der Sintflutgeschichte ins Zoologische Museum lief, um die Maße
der Arche mit denjenigen jener Glasschränke zu vergleichen und hierauf
eine kindliche Entwicklungslehre aufzustellen, aber gleichzeitig der Bibel
gegenüber eine skeptische Haltung einzunehmen, die später in freie Kritik
überging.
Was sodann das von Freud vorgeschlagene Experiment eines religions¬
losen Unterrichtes anbetrifft, so ist es ja schon sehr oft gemacht worden
und wird in kommunistischen Kreisen seit vielen Jahren massenhaft an¬
gestellt. In meinen Analysen hatte ich öfters mit religionslos Erzogenen zu
tun, kann aber wirklich nicht versichern, daß ich ein Plus von Intelligenz,
beziehungsweise eine vorteilhaftere Entwicklung der Denkanlagen angetroffen
habe, so wenig ich die Gottesleugner unter den Philosophen, etwa einen
Karl Vogt oder Moleschott (man kann bedingt auch Häckel hierher
rechnen) als die überlegenen erkannt hätte. Die Geschichte hat jedenfalls
bisher ein anderes Urteil gefällt.
5) D le R ehgion als Kulturschutz
Es bleibt uns übrig, die Religion als Kulturschutz zu prüfen. Freud
mutet ihr damit eine polizeiliche Mission zu. „Die Religion hat der mensch¬
lichen Kultur offenbar große Dienste geleistet, zur Bändigung der asozialen
Triebe viel beigetragen, aber nicht genug. Wenn es ihr gelungen wäre,
die Mehrzahl der Menschen zu beglücken, zu trösten, mit dem Leben aus¬
zusöhnen, sie zu Kulturträgern zu machen, so würde es niemand ein fallen,
nach einer Änderung der bestehenden Verhältnisse zu streben. Was sehen
i68
Dr. Oskar Pfister
1
wir anstatt dessen? Daß eine erschreckend große Anzahl von Menschen mit
der Kultur unzufrieden und in ihr unglücklich ist, sie als ein Joch empfindet,
das man abschütteln muß, daß diese Menschen entweder alle Kräfte an eine
Abänderung dieser Kultur setzen, oder in ihrer Kulturfeindschaft so weit
gehen, daß sie von Kultur und Triebeinschränkung überhaupt nichts wissen
wollen“ (60).
Ich kann Freud darin vollkommen beipflichten, daß die Religion sich
manchmal als Kulturpolizei gar nicht vorzüglich bewährte; aber ich füge
bei: Es scheint mir ein Glück, daß es sich so verhält: denn die Religion
hat Wichtigeres zu tun, als das Gemisch von Hoheit und Abscheulichkeit,
das man heute Kultur nennt, zu beschirmen.
Unter Kultur versteht Freud „all das, worin sich das menschliche
Leben über seine animalischen Redingungen erhoben hat und worin es sich
vom Leben der Tiere unterscheidet“ (6). Die Unterscheidung von Kultur
und Zivilisation wird abgelehnt. „Die Kultur umfaßt einerseits all das Wissen
und Können, das die Menschen erworben haben, um die Kräfte der Natur
zu beherrschen und ihr Güter zur Befriedigung der menschlichen Bedürf¬
nisse abzugewinnen, anderseits alle die Einrichtungen, die notwendig sind,
um die Beziehungen der Menschen zueinander, und besonders die Verteilung
der erreichbaren Güter zu regeln“ (6 f.).
Ich muß bekennen, daß sich meines Erachtens unter dem, was den
Menschen über das Tier erhebt, ungemein viel Schändliches und Schäd¬
liches befindet; das Wissen und Können, die Güter zur Befriedigung der
menschlichen Bedürfnisse, die Einrichtungen zur Regelung der sozialen Be¬
ziehungen und der Güterverteilung, alles scheint mir so sehr durchsetzt
mit Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Giftkeimen, daß die Religion wahrlich
keine Veranlassung hat, sich für die Erhaltung des Bestehenden, wie es ist,
einzusetzen. Krieg, Mammonsgeist, Genußsucht, Massenelend, Ausbeutung,
Unterdrückung und unzählige andere Schäden deuten auf die Notwendigkeit,
in dem, was man Kultur nennt, zwischen Gutem und des Schutzes Würdigem
und Bösem, das bekämpft werden muß, zu unterscheiden. Es scheint mir
sogar, daß das ernst genommene Christentum gegenüber unserer veräußer¬
lichten und an inneren Werten, besonders Gemütswerten verkümmerten
Kultur sehr tiefe Umwälzungen anstreben müsse, und das Studium der
Psychoanalyse hat mich in dieser Ansicht bestärkt. Nicht konservierende
Polizei, sondern Führerin und Leuchte zu wahrer Kultur aus unserer Schein¬
kultur sollte die Religion uns werden.
Es schiene mir auch der Religion unwürdig, wenn man ihr mit Freud
Die Illusion einer Zukunft
169
die Aufgabe zu wiese, für die von der Kultur geforderten Triebverzichte
Trost zu schaffen, gewissermaßen Maulkörbe oder Handschellen für die
asozialen Massen zu liefern (60). Die Bändigung der tierischen Instinkte
(soweit sie Menschenwohl und Menschenwürde beeinträchtigen) darf viel¬
mehr nur die Kehrseite zur Lösung einer positiven Aufgabe sein: Die
Religi 011 soll die höchsten geistigen und gemütlichen Kräfte entbinden, die
höchsten Leistungen in Kunst und Wissenschaft hervortreiben, das Leben
aller, auch der Ärmsten mit maximalen Gütern der Wahrheit, Schönheit
und Liebe füllen, die realen Lebensnöte überwinden helfen, neue gehalt¬
vollere und echtere Formen des Gesellschaftslebens anbahnen und so ein
höheres, innerlich reicheres IVIenschtum ins Leben rufen, das den wahren
Forderungen der Menschennatur und der Ethik besser entspricht als unsere
vielgepriesene Unkultur, die schon Nietzsche ein dünnes Apfelhäutchen über
einem glühenden Chaos nannte. Man verkennt das Wesen des Christentums
vollständig, wenn man meint, es biete den Himmel als Ersatz für die ihrem
Elend überlassene Erde an. „Zu uns komme dein Reich!“ betet das Unser
Vater und auferlegt die Verpflichtung, für dieses irdische Gottesreich alle
Kräfte einzusetzen, wie denn auch die Gebote des Evangeliums sehr dies¬
seitig sind. „Bevor du vor dem Altäre opferst, gehe zuerst hin und versöhne
dich mit deinem Bruder!“ fordert die Bergpredigt (Matth. 5, 24). Jesus
kann nichts dafür, daß die Christenheit dies so oft mißverstand. Freud
hat uns die Möglichkeit verschafft, einzusehen, warum die Intentionen des
Stifters der christlichen Religion durch eine zwangsneurotische Entwicklung
oft zur Karikatur entstellt wurden.
Es gibt keinen echteren Realismus als das Christentum. Nur
darf man nicht vergessen, daß zur Wirklichkeit nicht nur das Handgreifliche,
mit dem Riechorgan und anderen Seelenfensterchen Aufnehmbare gehört,
sondern auch dasjenige, was hinter den Fensterchen im Grunde der Seele
und hinter den Erregungsquellen unserer Sinne steckt. Es bedarf freilich
einer etwas tiefer eindringenden Wesensschau und Wertphilosophie, um ein¬
zusehen, daß die Vernachlässigung dieser jenseits des Handgreiflichen und
Massiven gelegenen höheren Realitäten nur zu einem schlechten Realismus
führt. Wir verschieben daher für einen Augenblick dieses Problem.
170
Dr. Oskar Pfister
II
Freuds *Scient ismus
1 J J)er Glauhe an die menschheitsleglüdcende TVissenschaft
Dem religiösen Glauben setzt Freud den Glauben an die beglückende
Macht der Wissenschaft, unter welcher Freud nur die Erfahrungs¬
wissenschaft versteht, entgegen. In ihr ist die Illusion der Wahrheit ge¬
wichen. Dabei bereitet ihm die Frage: Was ist Wissenschaft? anscheinend
weniger Sorge, als dem Pilatus das parallele Bedenken: Was ist Wahrheit?
Freud ist Positivist, und wir können Gott dafür danken. Ohne seine
konzentrierte Hingabe an das Empirische wäre er nicht der große Bahn¬
brecher geworden. Einem so erfolgreichen und genialen Pionier kann man
es zugute halten, daß er in dem Augenblick, in welchem er die religiöse
Illusion zu erdrosseln versucht, die Messianität der Wissenschaft auistellt,
ohne zu beobachten, daß auch in diesem Glauben die Illusion sich breit
macht.
Lassen wir zuerst dem Meister das Wort! Freud ist ein viel zu feiner
Kopf, als daß er sich dem vulgären unkritischen Glauben an die Allgewalt
der Naturwissenschaften blindlings anvertrauen könnte. Er schreckt vor der
Frage nicht zurück, „ob unsere Überzeugung, durch die Anwendung des
Beobachtens und Denkens in wissenschaftlicher Arbeit etwas von der äußeren
Realität erfahren zu können“, eine ausreichende Begründung hat (54). Echt
philosophisch fährt er fort: „Nichts darf uns abhalten, die Wendung der
Beobachtung auf unser eigenes Wesen und die Verwendung des Denkens zu
seiner eigenen Kritik gutzuheißen. Eine Reihe von Unterscheidungen öffnet
sich hier, deren Ausfall entscheidend für den Aufbau einer ,Weltanschauung
werden müsse. Wir ahnen auch, daß eine solche Bemühung nicht ver¬
schwendet sein und daß sie unserem Argwohn wenigstens teilweise Recht¬
fertigung bringen wird“ (54 f.). „Aber das Vermögen des Autors verweigert
sich einer so umfassenden Aufgabe, notgedrungen engt er seine Arbeit auf
die Verfolgung einer einzigen von diesen Illusionen, eben der religiösen,
ein“ (55).
Später jedoch wird der Erfahrungswissenschaft ein Optimismus en
gegengebracht, der sich bis zu kühnen Zukunftsperspektiven erhebt. Nach
Preisgabe der Religion wird der Mensch seine Macht mit Hilfe der Wissen
Die Illusion einer Zukunft
1 7 1
schaft erweitern und die großen Schicksalsnotwendigkeiten eben mit Er¬
gebung ertragen lernen (81). Freilich gibt Freud sofort zu, daß vielleicht
auch diese Hoffnung illusorischer Natur sei (85). Wie? So müßten wir
möglicherweise nur die religiöse Illusion mit der wissenschaftlichen ver¬
tauschen? Der Unterschied wäre, daß die eine sicher, die andere vielleicht
uns narrt? Wir blieben also noch immer im Zustand der Unsicherheit, und
das letzte Wort gehörte der Skepsis, die wenigstens an dem einen nicht
zweifelt, daß der Zweifel seine volle logische Berechtigung hat?
Doch Freud zeigt, daß nicht nur die Religion zu trösten vermag. Ritterlich
bricht er eine Lanze für den Intellekt: „Die Stimme des Intellekts ist
leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft. Am Ende, nach
unzählig oft wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer
der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit opti¬
mistisch sein darf, aber es bedeutet an sich nicht wenig. An ihn kann man
noch andere Hoffnungen anknüpfen. Der Primat des Intellekts liegt gewiß
in weiter, weiter, aber wahrscheinlich doch nicht in unendlicher Ferne.
Und da er sich voraussichtlich dieselben Ziele setzen wird, deren Verwirk¬
lichung Sie von Ihrem Gott erwarten — in menschlicher Ermäßigung natür¬
lich, soweit die äußere Realität, die ’AvdyxT], es gestattet —: die Menschen¬
liebe und die Einschränkung des Leidens, dürfen wir uns sagen, daß unsere
Gegnerschaft nur eine einstweilige ist, keine unversöhnliche. Wir erhoffen
dasselbe, aber Sie sind ungeduldiger und — warum soll ich es nicht sagen? —
selbstsüchtiger als ich und die Meinigen. Sie wollen die Seligkeit gleich
nach dem Tod beginnen lassen . . (87). „Wir glauben daran, daß es der
wissenschaftlichen Arbeit möglich ist, etwas über die Realität der Welt zu
erfahren, wodurch wir unsere Macht steigern und wonach wir unser Leben
einrichten können. Wenn dieser Glaube eine Illusion ist, dann sind wir
in derselben Lage, wie Sie, aber die Wissenschaft hat durch zahlreiche und
bedeutsame Erfolge den Beweis erbracht, daß sie keine Illusion ist“ (89).
„Sie wird sich weiter entwickeln und verfeinern. Eine Illusion aber wäre
es zu glauben, daß wir anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht
geben kann“ (91).
Mit diesem prächtig folgerichtigen Satz schließt Freud seine Weissagung
vom Untergang der Religion und der glorreichen Alleinherrschaft der
Wissenschaft. Gott Logos stößt den Gott der Religion vom Throne und
regiert im Reiche der Notwendigkeit, über deren Sinn wir einstweilen
noch nicht das Geringste wissen.
Dr. Oskar Pfister
2) Historische Beleuchtung
Nur in aller Flüchtigkeit sei daran erinnert, daß auch dieses Wissenschafts¬
ideal, wie Freud gewiß wohlbekannt ist, auf eine ehrwürdige Vergangen¬
heit zurückblickt. Nur hat der Schöpfer der Psychoanalyse vielleicht eine
gewisse Zuspitzung vorgenommen, sofern er in seinem Positivismus den
Wissenschaftsbegriff gegenüber der Philosophie stärker abschloß, als bisher
gebräuchlich war. Sein Empirismus ist völlig verschieden von demjenigen
der englischen Empiriker, die sich mit größter Genauigkeit der Erfahrungs¬
welt bemächtigten, daneben jedoch im Handeln dem natürlichen Instinkt
und dem Gewissen, nicht mehr der Wissenschaft, die Führung überließen,
oder gar, wie der absolut irreligiös erzogene John Stuart Mi 11, schließlich
doch noch die Anlehnung an die Religion suchten; 1 die „Zukunft einer
Illusion“ weicht auch gänzlich ab vom Positivismus eines Auguste Comte,
der zuerst die mythologische, dann die metaphysische Denkstufe zertrümmert,
um das Lob der alleinseligmachenden Einzelwissenschaften zu singen, dann
aber doch die Welt vom sittlichen Gefühl des Menschen aus erklären will
und eine höchst romantische und phantastische Menschheitsreligion kon¬
struiert, ein recht unterhaltendes Zeugnis dafür, daß er mit seinem ent¬
schieden auf breitem Fundament ruhenden Scientismus nicht auskommt.
Auch David Friedrich Strauß, der mit seinem mechanischen Materialismus
Freud ziemlich nahezukommen scheint, und nur in der Annahme eines
„vernünftigen und gütigen Universums“ einen Abstecher ins Philosophische
macht, den der Gegner der Religionsillusion kaum mitmachen könnte, ver¬
langt nach einer Ethik, die an der wissenschaftlichen Produktion keines¬
wegs volles Genüge findet. Am nächsten von den mir bekannten Philo¬
sophen kommt Freud der Baron von Holbach, der bereits die Bildung
der Gottesidee aus dem Wunsche ableitet, die Naturmächte durch Vermensch¬
lichung der Beeinflussung durch Gebet und Opfer zugänglich zu machen,
die Nützlichkeit der Religion bestreitet, ihr darum den Garaus machen
will und die dauernde Glückseligkeit als Ziel des Strebens hinstellt. 2 Daß
Freud den Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts als Empiriker turm¬
hoch überragt und sich seiner banalen Metaphysik versagt, ist selbstver¬
ständlich.
1) O. Pfleiderer: Geschichte der Religionsphilosophie. 5. Aufl., 606.
2) R. Falckenherg; Geschichte der neueren Philosophie. 208 ff.
Die Illusion einer Zukunft
1/3
3^ Freuds TFissenscJiafts Optimismus
Wir stehen nun vor der Aufgabe, Freuds Wissenschaftsoptimismus zu
prüfen. Zuerst müssen wir Har ins Auge fassen, was er unter Wissenschaft
versteht und wie weit sein Optimismus geht.
Zum ersten Punkt erhalten wir keine näheren Aufschlüsse. Bisher war
die Haltung des größten unter den neueren Pfadfindern auf dem Gebiete
des Seelenlebens der Philosophie gegenüber entschieden ablehnend. Jetzt
aber erfahre ich zu meiner Genugtuung, daß Freud der Erkenntnis¬
theorie grundsätzlich Berechtigung zuspricht, sofern sie die Frage, ob wir
über die äußere Realität etwas erfahren können, beantworten soll. Zwar
entzieht sich Freud, wie wir hörten, bescheiden der Aufgabe; aber er er¬
klärt doch, daß die Wissenschaft sich auf die Darlegung der Welt, wie sie
uns infolge der Eigenart unserer Organisation erscheinen muß, beschränken
solle (91), und daß das Problem der Weltbeschaffenheit ohne Rücksicht auf
unseren wahrnehmenden seelischen Apparat eine leere Abstraktion sei (91).
Da hatte nun Freud eben doch erkenntnistheoretische Resultate ohne
vorangehende Erkenntnistheorie geliefert. Er nimmt als selbstverständlich
an, daß wir es nur mit der Erscheinungswelt zu tun haben. Allein be¬
steht nicht das Wesen der Wissenschaft überall darin, diese Erscheinungs¬
welt aufzulosen und ihr Abstraktionen gegenüberzustellen, die uns Verständnis
für jene Welt der Sinne erst vermitteln? Die Optik löst, wie wir schon
horten, die Farben m Schwingungen farbloser „Körper“ auf, die von der
Physik und Chemie ihrer „Körperlichkeit“ wieder beraubt werden und in
Energien, Elektronen und andere unkörperliche Abstraktionsgebilde zerlegt
werden. Ursächlichkeit sehen und riechen wir nirgends, wir deuten sie in
die Erscheinungen hinein.
Man mache sich doch klar, daß der „wahrnehmende seelische Apparat“,
auf den nach Freud alle Untersuchung der Weltbeschaffenheit Rücksicht
zu nehmen hat, keineswegs ein klares, vor Täuschung geschütztes Gebilde
ist. Kann ich Temperaturen mit dem Thermometer messen, ohne der Zu¬
verlässigkeit des Instrumentes gewiß zu sein? Darf man die ganze neuere
Philosoph,egeschichte, die bei Descartes mit der absoluten Skepsis einsetzt,
bei Hume die Illusion der gesicherten Ursächlichkeit zerschlägt, bei Kant
die Illusion des Erfahrungswissens als einer Erfassung der Welt an sich um-
sturzt und in der neuesten Naturwissenschaft eine wahre Götzendämmerung
neraufbeschwor, ignorieren? Hat man noch nicht eingesehen, in was für
wissenschaftliche Labyrinthe man hineingerät, wenn man erkenntnistheoreti-
Dr. Oskar Pfiste.
sehe und metaphysische Begriffe unter der trüglichen Spitzmarke der Natur¬
wissenschaft leichtfertig herühernimmt? Vergaß man, wie uns die Natur¬
wissenschaft hinterging mit ihrem Begriff des Naturgesetzes, des Atoms, des
Äthers, der Laplaceschen Weltformel usw.?
Naturwissenschaft ohne Metaphysik gibt es nicht, hat es nie ge¬
geben und wird es nie geben. Ich bin selbst durch die Schule des Empirio¬
kritizismus hindurchgegangen und suchte ein paar Semester lang „reine
Erfahrung“ im Sinne einer Wirklichkeitserkenntnis, die von allen subjektiven
Zutaten völlig frei wäre. Eitles Unterfangen! Die Welt ist uns nur durch
unsere seelische Organisation hindurch, und zwar nicht nur durch die Tore
der Sinne, die ja noch gar keine Erkenntnis gewähren, zugänglich. Unsere
Denkkategorien, ob man sie nun in der Weise Kants oder anderswie denkt,
wirken immer mit. Also müssen wir Erkenntniskritik treiben. Wir brauchen
ferner Begriffe, wie Ursache und Wirkung, so gewiß sie nach ihrer Herkunft
als Anthropomorphismen erfunden worden sind, wir brauchen Atome und
Moleküle usw. Wer die Abstraktion scheut, muß die Finger von der Wissen¬
schaft lassen. Schon das Messen und Wägen hat mit Abstraktionen zu tun,
denn Zahlenbegriffe sind natürlich, wie alle Begriffe, abstrakt. Die Philo¬
sophie, die sofort einsetzt, wo die Erfahrung aufhört, ragt in die Erfahrungs¬
wissenschaften hinein, und wer sich mit philosophischen Problemen nicht
ernstlich auseinandersetzt, tut es eben laienhaft verworren.
Wie soll man ferner das religiöse Problem erledigen können, wenn man
die erkenntnistheoretischen Grundfragen außer acht ließ? Ist es nicht ein¬
fach ein negativer Dogmatismus, durch einen vom Zaun gerissenen Macht¬
spruch zu erklären, Weltwille und Weltsinn existieren nicht?
Glaubt man, Philosophie sei ein Spleen lebens- und wirklichkeitsferner
Köpfe, so sei darauf hingewiesen, daß die Philosophiegeschichte denn doch
eine Reihe glänzender Namen von Männern aufweist, die in der Physik,
Mathematik, Astronomie usw. Gewaltiges geleistet haben. Wenn heute noch
ein Naturforscher vom Range eines Driesch, der zwanzig Jahre ruhm¬
gekrönt Naturwissenschaft getrieben hatte, zur Philosophie übergeht, wenn
Psychiater denselben Weg Anschlägen, so sollte dies doch merken lassen,
daß die Philosophie es nicht nur mit Schrullen und Hirngespinsten zu
tun hat, sondern mit einer Wirklichkeit, deren Existenz nicht mit leichter
Handbewegung abgetan werden kann. Meines Erachtens steht diese Welt
geistiger Ordnung, die aus der Erscheinungswelt geschlossen werden kann,
gesicherter vor uns, als die ganz sicher trügerische Sinnenwelt. Man kann
es sich ja bequem machen und sich zum Agnostizismus bekennen. Aber
Die Illusion einer 2/ukunft
7 5
so leicht wird einem auch diese Bankrotterklärung des Denkens nicht
gemacht.
So weiß ich denn durch Freuds volkstümlichen Wissenschaftsbegriff
nicht, wie weit das Wissen reicht, welchen Zuverlässigkeitsgrad es erwerben
kann, und welche Chancen ihm beschieden sind. Wie soll ich also wissen,
ob es einen geistigen Urgrund und ordnenden, also denkenden Weltwillen
gibt, oder nicht? Wie kann ich wissen, ob die Ausbreitung der Macht durch
das Wissen einen Glückszuschuß für die Menschheit bedeutet?
Nun können wir uns auch mit der Wissenschaftsprognose Freuds
auseinandersetzen. Man kann nicht von einer rosenfingrigen Eos reden, die
er uns schenkt. Freud ist ein viel zu ernster und ehrlicher Mann, um Ver¬
sprechen abzulegen, die er nicht einlösen zu können überzeugt ist. Der
Mensch wird mit Hilfe der Wissenschaft seine Macht erweitern, — wie weit,
erfahren wir nicht, — und die großen Schicksalsnotwendigkeiten mit Er¬
gebung ertragen lernen. Dies ist alles, ganz alles. Aber hat nicht Freud
schon damit zu viel gesagt? Kann denn nicht die Kultur bald zusammen¬
brechen? Ist uns nicht von einem Manne, dessen reiches Wissen allseitig
anerkannt wird, der Untergang des Abendlandes geweissagt? Ist es undenkbar,
daß die nur von der Wissenschaft gelenkte Kultur den wilden Leidenschaften
erliegt, nachdem uns der Weltkrieg die in den Tiefen der Völker lauernde
Barbarei enthüllt hat? Versichern uns nicht Eduard von Hartmann und
viele andere, daß das Wachstum der Wissenschaften nur unser Elend ver¬
mehrt? Ist es so sicher ausgemacht, daß der Fortschritt der Wissenschaften
die Totalsumme menschlicher Lebensfreude bisher vermehrte, und wenn es
bisher so war, ist es sicher, daß es immer so sein wird? Ist es sicher, daß
wir uns glücklicher fühlen, als vor hundert Jahren? Ist es wenigstens bei
den Gelehrten der Fall? Fühlen sich die Arbeiter dank der Segnungen der
Wissenschaft zufriedener, als vor ein paar Menschenaltern? Oder die Hand¬
werker? Oder die Bauern? Was wird aus den schönsten Errungenschaften
der Technik, wenn sie in den Dienst menschlichen Geldhungers, mensch¬
licher Grausamkeit, unmenschlicher Genußsucht gezwungen werden?
Freuds Wissenschaftsprognose ruht auf einem bloßen Analogieschluß,
den ich nicht für gesichert halte. Er lautet: Weil bisher der Fortschritt
der Wissenschaft den Menschen Vorteile brachte, wird es auch inskünftig
so sein. Oder besser gesagt, es steckt im Hintergrund ein Glaube an die
Wissenschaft, dessen Grundlage Nietzsche mit seinem Falkenblick erspähte
und in die Worte brachte: „Man wird es begriffen haben, . . . daß es immer
noch ein metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissen-
Dr. Oskar Pfister
schaft ruht, — daß wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Anti¬
metaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein
Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christenglaube, der auch
der Glaube Platos war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich
ist ... Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird . . .P 1
Wissen wir durch einen Orakelspruch, daß das Wissen allzeit zur Hebung
des Menschenglückes beitragen wird, auch wenn böse Leidenschaften den
Ausschlag geben? Byron klagt: „Der Baum des Wissens ist nicht Baum
des Lebens!“ Kann exaktes Wissen ihn widerlegen? Und wenn ein Faustischer
Wissensdrang uns durchglüht, können uns Naturkunde und Medizin (Philo¬
sophie und Theologie scheiden aus) heute befriedigen, oder will auch dem
Faust von heute schier das Herz verbrennen?
Freud sieht voraus, man werde die großen Schicksalsnotwendig¬
keiten mit Ergebung ertragen lernen. Nun, dies konnten manche auch
ohne Wissenschaft von jeher, und wenn ich mich auch vor der Seelen¬
größe des Religionslosen beuge, der diese Ergebung auftreibt, wer sagt mir,
daß und warum gerade Ergebung das letzte Wort sein muß? Einzelne jagten
sich verzweifelt eine Kugel durch den Kopf, obwohl sie auf den stolzen
Zinnen der Wissenschaft standen. Andere verrannten sich im wilden Haß
gegen das Leben und suchten sich mit Ausschweifungen zu betäuben,
andere introvertierten mit und ohne gefällige Einladung in weltfeindliche
Mystik usw.
Ob nicht hinter Freuds Glauben an den Endsieg des Intellekts der
Wunsch steckt und seine Weissagung vom Ende einer Illusion den Auf¬
marsch einer neuen, nämlich wissenschaftlichen Illusion einschließt?
Daß der Aufmarsch bei Freud nicht mit klingendem Spiel und Fahnen-
schwenken vor sich geht, sondern sehr gedämpft und mit tastenden Schritten,
stimmt zu seiner Demut; aber ich kann mich nicht anschließen, gerade
weil mir das Realprinzip warnend in den Weg tritt.
Freuds Glauhen an die Suffizienz der JFissensdiaft
„Eine Illusion wäre es zu glauben, daß wir anderswoher bekommen
könnten, was sie (die Wissenschaft) uns nicht geben kann“ (91)* I n diesen
Worten gipfelt Freuds Glaubensbekenntnis. Aus dem Zusammenhang geht
hervor, daß er das Wissen von der Welt im Auge hat. Die Anlage des
x) Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Taschenausgabe. Bd. 6, 501.
Die Illusion einer Zukunft
1 77
ganzen Buches verrät aber, daß er dabei, wie schon früher (81), auch an
den vollgültigen Ersatz für das, was die Religion ihren Gläubigen bot, denkt.
So freudig und begeistert ich Freud auf den wundervollen Pfaden seiner
Erfahrungswissenschaft folge, an dieser Stelle ist es mir unmöglich, mit ihm
Schritt zu halten. Hier versteigt sich Freuds strahlender Intellekt zum
Intellektualismus, der, von seinen Erfolgen berauscht, seine Grenzen vergißt.
Wir Menschen sind nicht nur Denkapparate, wir sind lebende, fühlende,
wollende Wesen. Wir brauchen Güter und Werte, wir müssen etwas haben,
das unser Gemüt befriedigt, unser Wollen belebt. Auch das Denken muß
uns Werte darbieten, logische, aber auch andere. Haben wir nicht in den
Analysen oft mit klar denkenden Menschen zu tun, die bei ihrem Denken
fast verhungern und verzweifeln? Tragen wir nicht in uns ein Gewissen,
das uns richtet oder belohnt? Ist nicht gerade durch die Psychoanalyse die
Gewalt des Schuldgefühles bewiesen? Zeigt nicht Freud deutlicher als
irgend jemand in der Welt die ausschlaggebende Bedeutung der Wertung,
der Gefühle, Affekte und Triebe?
Bekanntlich versteht der Intellekt nicht zu werten. Der schärfste
Verstand kann nicht angeben, ob eine Sinfonie von Mahler oder ein Ge¬
mälde von Hodler schön sei. Der gescheiteste Mensch kann ohne inneren
Widerspruch einen gemeinen Verrat begrüßen und über einen Heldentod
im Dienste der Wahrheit spötteln. Ein herzloser Schuft kann über eine
klarblickende Intelligenz verfügen, und ein geistig Schwacher über eine
Perfidie sich empören. Die Wissenschaft ermangelt der Fähigkeit, ästhetische
und ethische Größen einzuschätzen. Ja, man meint noch immer des Aristoteles
Definition des Gehirnes als eines Kühlapparates nachklingen zu hören, wenn
das Denken nicht nur bei Spinoza — als eine gefühlsdämpfende Funktion
charakterisiert oder gepriesen wird.
Daß Freud die Gemütswerte, von denen sein eigenes Leben einen
so wundervollen Reichtum aufweist, in seinem wissenschaftlichen Lebens¬
aufbau irgendwo unterbringen muß, liegt auf der Hand. Aber ich finde
den Ort in seinem Wissenschaftsbegriff nicht.
Ich sehe auch nicht, wo er die Tempel der Kunst stehen läßt. Wäre
die Kunst wirklich nur ein Zeichen von Unanalysiertheit und Schwäche?
Könnte die Wissenschaft uns den Verlust Beethovenscher Sinfonien oder
Regerscher Sonaten ersetzen? Und die herrlichen Werke ägyptischer, hel¬
lenischer, christlicher Kunst, wir sollten sie opfern gegen wissenschaftliche
Lehrsätze und Erfindungen? Die herrlichen Dome und Kathedralen, die den
Stolz und die Wonne unseres Geschlechts ausmachen, die von christlichem
Dr. Oskar Pfister
178
Fühlen eingegebenen Gemälde eines Fra Angelico, Leonardo da Vinci,
Albrecht Dürer, Holbein, bis auf Gebhardt, Thoma, Steinhausen, die Pietk
eines Michelangelo, der Schächer oder verlorene Sohn eines Meunier usw.,
das alles sollte verschwinden? Der Born christlicher Poesie, wie er in Lessings
Nathan, Goethes Faust, Dostojewskis Idiot, Tolstojs Auferstehung usw. seine
Silberwellen entsendet, müßte versiegen, und statt der grünen Weiden bliebe
nur noch übrig die Heide der Theorie, auf der die Gespenster des Irrtums
drohend umherflattern? Dem Skeptiker, der nicht einmal mit Faust zu
seufzen vermag: „Oh, glücklich, wer noch hoffen kann, aus diesem Meer
des Irrtums aufzutauchen ! <£ — ihm würde man hartnäckig die glorreiche
Zukunft der Wissenschaft in künftigen Jahrtausenden Vorhalten?
Mir ist die Kunst noch immer die mit Seherblicken gesegnete Künderin
tiefer Geheimnisse und Offenbarerin kostbarer Schätze, die der Brille des
Gelehrten entgehen und entgehen werden, ein Speisungswunder hungernder
Seelen, eine Friedensbotschaft aus dem Reich der Ideale, die keine Denker¬
faust jemals herunterreißen kann, weil sie der wahren Wirklichkeit sicherer
angehören, als die Handgreiflichkeiten und sonstigen Vorspiegelungen der
Sinne. Dies gedanklich herauszuarbeiten, bedürfte ich langer Erörterungen,
bei denen dem Intellekt nur die Rolle des Erklärers zukäme, der dem
schaffenden Genius huldigt und dient. Oh, wie graute mir vor einem kunst¬
entleerten Gelehrtenstaat!
Und noch weniger kann uns die erfinderische Wissenschaft das Reich
der sittlichen Werte und Kräfte ersetzen. Die Wissenschaft muß sich
selbst der sittlichen Zwecksetzung eingliedern, wenn sie nicht zur zweifel¬
haften Unternehmung herabsinken soll. Daß sie bei Freud einem ethischen
Plan zugehört und ihn auszuführen hilft, wer wollte es bestreiten? Aber
in seinem Büchlein ist, wenn ich recht sehe, dieser umfassenden Betrachtung
kein Platz gewährt. Wir stehen nicht mehr auf dem sokratischen Boden
der Lehre, daß Wissen an sich schon Macht sei. Der Alkoholiker, der weiß,
daß er an seinem Laster zugrunde geht, besitzt darum noch nicht die Kraft,
mit ihm zu brechen. Auch die analytische Einsicht in die Dynamik des
Unbewußten und ihre tiefsten Wurzeln hilft, wie wir heute wissen, noch
nicht an sich zur Befreiung von seinem Banne; Freud lehrt uns, daß
durch Übertragung die eingeklemmten Triebe gleichfalls erlöst werden
müßten.
Ist es wirklich ausgemacht, daß mit zunehmender Wissenschaft auch die
Gesinnung der Menschen geläutert werde? Hat nicht Alexander von Öt
tingen nachgewiesen, daß gerade die Hochgebildeten prozentual mehr
Die Illusion einer Zukunft
179
Kriminelle aufweisen, als der geistige Mittelstand? Finden wir nicht mit¬
unter unter Akademikern unglaubliche Kleinlichkeit der Gesinnung? Als
vor bald einem Jahrhundert die Volksschule geschaffen wurde, erwartete
man eine rapide Abnahme der Kriminalität. Und heute?
Woher nehmen wir die Gewißheit, daß in Zukunft der Zuwachs an
Wissenschaft und Technik ein Anschwellen der sittlichen Kräfte herbeizaubern
werde? In der Bekämpfung der Trunksucht erlebte ich deutlich genug, wie
wenig mit wissenschaftlichen Argumenten auszurichten ist. Und selbst wenn
die Verdrängungen überwunden sein sollten, so ließe sich am Leitseil der
Wissenschaft jene Sittlichkeit, die dem Leben Würde und wahre innere
Gesundheit verleiht, nicht erzielen.
Damit habe ich auch den Grund angegeben, warum ich an den Ersatz
der Religion durch die Wissenschaft nicht glaube. Die Religion ist
die Sonne, die das herrlichste Blüxenleben der Kunst und den reichsten
Erntesegen sittlicher Gesinnung hervortrieb. Alle ganz große, gewaltige
Kunst ist Gebet und Opfer vor Gottes Thron. Gott, für den Religions¬
philosophen der Realgrund der Ideale, ist für den Frommen der Idealgrund
seines realen Schaffens, der Pfingstgeist, der in Flammenzungen auf die Erde
herniederfährt, der Offenbarer, dessen „Es werde Licht i“ auch das Dunkel
der Menschengeister mit blendender Klarheit erhellt. Wer die Religion zer¬
stören könnte, durchsägte die Pfahlwurzel der großen, den tiefsten Sinn und
die höchsten Kräfte des Lebens enthüllenden Kunst.
Und ebenso erblicken wir in der Religion einen Grundpfeiler der
Moral. Wir übersehen nicht, daß der fromme Glaube moralische Einsicht
in sich aufnahm und fort und fort in sich aufnimmt, wie z. B. die Ge¬
schichte des Christentums lehrt. Aber wir vergessen auch nicht, daß die
kühnsten und herrlichsten ethischen Fortschritte nur als Religion einsetzen
konnten. Die großen Fortschritte der Ethik sind nicht Wissenschaftlern, sondern
Religionsstiftern zu verdanken. Auch Kant, der mit seiner Ausschaltung der
Liebe einen bedenklichen Rückfall hinter die Ethik Jesu bedeutet, ist im
Grunde nur der gelehrte Sprecher des ins Puritanische abgeschwenkten Pro¬
testantismus.
Nicht einmal das ist ausgemacht, daß die Ethik selber in fortschreitender
Linie begriffen ist. Ich kann Freuds Satz nicht beistimmen, daß das Morali¬
sche sich immer von selbst verstehe. Auf das Gewissen kann man sich be¬
kanntlich gar nicht ohneweiters verlassen und in der Moral Wissenschaft fuchteln
die verschiedensten Lehren erregt gegeneinander. Platte Nützlichkeitsmoral
scheint dem Kantianer ein Greuel, der Eudämonismus mit seinen schillernden
Dr. Oskar Pfister
180
Unklarheiten irritiert den Nietzscheaner, der den Willen zur Macht als Ma߬
stab für Gut und Böse wünscht und kanonisiert usw. In den einzelnen ethi¬
schen Problemen sehen wir ein Chaos widersprechender Auffassungen; man
denke etwa an die moralische Beurteilung des Krieges, der übermäßigen
Kapitalanhäufung, der freien Liebe, der künstlichen Abtreibung usw. Das
positivistische Denken, die Wissenschaft, wie sie Freud vorzuschweben
scheint, kann uns gewiß nicht viel weiter bringen, wenn sie uns auch, wie ich
anderwärts darlegte, höchst wertvolle Bausteine für die Ethik, die allezeit
eine philosophische Disziplin bleiben wird, liefern kann, und zwar neben
der Soziologie in erster Linie Freuds Psychoanalyse. Jüngst hörte ich in
einer öffentlichen Diskussion den Wiener Juristen Kelsen ausführen, wie
der Positivismus nicht einmal eine Gesetzgebung zu schaffen vermöge
(Kelsen ist selber Positivist); wie sollte er nun gar ein ethisches Lehr¬
gebäude ins Dasein rufen können!
Die Erfahrungswissenschaft läßt uns daher im Stich bei der Bildung ethi¬
scher Begriffe. Und das Wichtigere: Die Erzeugung sittlichen Lebens
ist noch niemals mit dürren Theorien und klugen Begriffen erzielt worden.
Es wäre Schulmeisterei schlimmster Sorte, dies zu verkennen. Die Religion
mit ihren teils erhabenen, teils lieblichen Symbolen, mit ihrer poetischen
Herrlichkeit und ihren erschütternden Wirklichkeitsdeutungen, mit ihren
hinreißenden Persönlichkeiten, die durch ihre herzgewinnenden Taten und
Leiden in ihren Bann ziehen und durch ihre Mängel und Schwächen teils
warnen, teils doch auch wieder dem gefallenen Menschen Mut einflößen,
mit neuer Kraft seinem Ideal nachzustreben, die Religion mit ihren un¬
geheuren metaphysischen Hintergründen und Zukunftsperspektiven, mit ihrer
göttlichen Sanktionierung des Sittengebotes und ihrer Erlösungsbotschaft, die
einige der bedeutsamsten Errungenschaften der Psychoanalyse vorwegnimmt,
mit ihren Forderungen, die allen Widerstand der Erfahrungswelt durch die
Gewißheit einer höheren Verpflichtung und Bundesgenossenschaft überwinden,
kurz, diese ganze Idealwelt, die doch nur Ausdruck einer höheren, höchsten
Realität zu sein gewiß ist, und die mit Leichtigkeit alle Gaben der Wissen¬
schaft in sich aufnehmen kann, ihnen jedoch eine unerhörte Fülle von
anderen Kostbarkeiten, von Lebensgütern und Lebenskräften hinzufügt, ist
eine Erzieherin, die die Wissenschaft mit ihren Theorien gewiß nicht zu
ersetzen vermöchte. Aber, wenn der Glaube unwahr wäre, so müßten wir
ihn trotz seiner Leistungen bekämpfen. Besser, mit der Wahrheit in die Hölle
zu fahren, als um den Preis von Lügen in den Himmel!
Freud rühmte in seiner Duldsamkeit die Religion als Neurosenschutz ( 7 1 )*
Die Illusion einer Zukunft 181
Früher führte er aus, daß seit Entkräftung der Religionen die Neurosen sich
außerordentlich vermehrten. 1 Ob nicht die Ritterlichkeit Freud etwas zu
weit gehen ließ? Ich sehe auch in den Scharen der konzentriert Frommen
eine Unmasse von Hysterikern und Zwangsneurotikern; abgesehen davon,
daß alle Orthodoxien als kollektive Zwangsneurosen zu betrachten sind, finden
wir bei sehr frommen Christen eine große Menge von Psychoneurotikern.
Es kommt eben sehr darauf an, wie die Frömmigkeit selbst geartet ist,
wie weit sie verdrängend wirkt. Daß aber die freie Luft des genuinen Evan¬
geliums einen unentbehrlichen Schutz gegen die Gefahr der Neurose her¬
stellt, läßt sich nicht verkennen.
Allein der Rereich der Religion ist damit noch lange nicht erschöpfend
angegeben. Die Religion läßt sich nicht in Kunstenthusiasmus, Moral und
Neurosenschutz auflösen. Hinzu kommt noch so manches andere. Die Religion
befaßt sich mit der Frage nach Sinn und Wert des Lebens, mit dem Einheits¬
drang der Vernunft nach einer universellen, Sein und Sollen umspannenden
Weltbetrachtung, mit der Sehnsucht nach Heimat und Frieden, mit dem
Drang nach unio mystica mit dem Absoluten, mit den Seelenfesseln der Schuld
und dem Freiheitsdurst nach Gnade, mit dem Bedürfnis nach einer Liebe,
die der unerträglichen Unsicherheit des Irdischen entrückt ist, mit unzähligen
anderen Anliegen, die im Zustand der Nichterledigung die Seele würgen
und ängstigen, durch religiösen Ausgleich aber das Menschenleben auf
strahlende Bergeshöhen mit unbeschreiblich beglückenden Fernblicken er¬
heben, das Herz kräftigen und durch die Auferlegung sehr schwerer sitt¬
licher Verpflichtungen im Geist der Liebe den Wert des Daseins erhöhen.
Der Irreligiöse kann dies nicht nachfühlen, so wenig der Unmusikalische
den Gehalt einer Tondichtung von Brahms zu ahnen vermag. Die Religion
ist zwar bei weitem nicht so aristokratisch, wie Kunst und höhere Wissen¬
schaft. Sie ist selbst ein Strom, in dem Lämmer schwimmen und Elefanten
ertrinken können. Aber es verhält sich nun eben doch, wie das Neue Testament
sagt: „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding“ (2. Thess. 5, Vers 5). Unter
Glauben aber verstehen wir nicht nur ein Vorstellen, sondern ein Ergriffensein
des ganzen inneren Menschen.
Wie arm scheint uns die Wissenschaft gegenüber dieser Fülle, von der
wir doch nur einen ganz kleinen Teil anzudeuten vermochten, weil der
Baum zu weiterer Ausführung fehlte und Worte das Unsagbare überhaupt
nicht wiedergeben können! Mich wundert gar nicht, daß manche der be-
1) Freud: Die zukünftigen Chancen der Psychoanalyse. Ges. Schriften VI, S. 25 ff.
Imago XIV. 13
8a
Dr. Oskar Pfister
deutendsten Forscher ihr Tun als Gottesdienst auffaßten und manche der
größten Künstler und Dichter ihre Lorbeerkränze demütig vor dem Altar
Gottes niederlegten.
iScklulj
Wie sollen wir uns also die Zukunft der von Freud beanstandeten Illusion
denken? Daß sie, falls sie nur Illusion ist, fallen und verschwinden muß,
ist auch meine Ansicht. Allein Freud wollte ja die Wahrheitsfrage gar nicht
stellen; er betont ausdrücklich, daß die Illusion wahr sein könne (49).
So bin ich daher der Ansicht, es müsse das Realdenken so weit Vor¬
dringen, als es das Wesen der Realität irgend zuläßt. Wie dies etwa
geschehen kann, skizzierte ich in den knappen Andeutungen meiner Ab¬
handlung „Weltanschauung und Psychoanalyse - 1 Ich deutete an, wie sich
aus der Erfahrungswissenschaft als notwendige logische Ergänzung eine
Metaphysik ergebe, wie aber, und dies ist für die Religion noch wichtiger,
aus der sittlichen Bestimmung Rückschlüsse auf den Weltsinn und Welt¬
willen möglich, ja nötig seien.
Eine abgeklärte Religion kann nur aus einer harmonischenVerbindung
des Glaubens und des Wissens, aus einer gegenseitigen Durchdringung
des Wunsch- und des Realdenkens hervorgehen, wobei jedoch der Inhalt des
Realdenkens durch das Wunschdenken keinerlei Fälschung des Sachverhalts
und der Zusammenhänge erfahren darf.
Aber rinnt bei dieser Synthese nicht der eigentliche Gehalt der Religion
in die Tiefe? Freud vermutet es (52); allein ich kann seine Annahme nicht
teilen. Meines Erachtens wird die Substanz des Christentums in keiner Weise
angegriffen, wenn wir die Wunder im Sinne von Eingriffen Gottes in den
Naturlauf leugnen; jedenfalls ist es eine Tatsache, daß Millionen von Christen
dies seit Jahrhunderten taten und dennoch in ihrer Religion ihr Heiligstes
erblickten. Der von derben Anthropomorphismen freie Gott der philosophisch
durchgearbeiteten modernen Theologie, der Weltwille, der auf die Verwirk¬
lichung von Liebe im höchsten sittlichen Sinne ausgeht, ist erhabener als
der Gott, der in der Abendkühle lustwandelt und eigenhändig die Türe der
Arche abschließt, auch erhabener als der Gott, der die Erde als Fußschemel
benützt, und die Gleichnissprache der Frömmigkeit darf keinen Rückfall in
minderwertiges Wunschdenken enthalten. Die sittlichen Vorschriften, die wir
1) Zum Kampf um die Psychoanalyse. 289 h, 364 h
Die Illusion einer Zukunft
l83
nicht mehr einfach aus heiligen Urkunden uns diktieren lassen, sondern als
autonome Kinder Gottes aus dem Wesen des Menschen und der menschlichen
Gemeinschaft ableiten, wobei wir aber allerdings die ethische Erkenntnis der
Vorzeit pietätvoll der Prüfung unterziehen und uns jedes Recht des Ein¬
spruches und der Ablehnung Vorbehalten, sind uns nicht weniger heilig, als
die Satzungen irgendwelcher Religionsurkunden. Die. Bibel ist uns nicht
kleiner, sondern herrlicher geworden, seitdem wir sie nicht als papiernen
Papst und unfehlbares Orakel, als Rechtsgrundlage von Ketzergerichten bearg¬
wöhnen, sondern kraft der evangelischen Freiheit der unerbittlichsten Kritik
unterwerfen. Lohn und Strafe haben wir als gefährliche Erziehungsmittel
längst zurückgedrängt, wenn wir auch die Tatsache nicht leugnen, daß im
Sittengebot auch eine Hygiene liegt, die über die der individuellen und sozialen
Gesundheit drohenden Gefahren Auskunft erteilt und damit auf eine über
Glück und Leid entscheidende, für die Lebensgestaltung maßgebende Gesetz¬
mäßigkeit hinweist. Die sittliche Weltordnung ist für uns nicht ein vorhan¬
dener Zustand, sondern eine Normativität im eben genannten Sinn, eine An¬
lage und Gesetzmäßigkeit, deren Tendenz wir aus der Beobachtung der
Lebenswirklichkeit erkennen können und in sittlichen Vorschriften zum Aus¬
druck zu bringen versuchen, die wir eben als Ausdruck des höchsten kosmi¬
schen Entwicklungsstrebens ethisch formulieren und infolge einer Beziehung
auf den Schöpferwillen als gottgewollt und heilig anerkennen. So stützt sich
die Moral keineswegs auf eine heteronome Autorität, sondern auf die Auto¬
nomie des Einzelnen und der Sozietät, aber nicht auf ihr zufälliges Belieben,
sondern auf ihre Wesensart, die hinwieder auf eine letzte denkbare absolute
Instanz zurückweist.
Können wir dieser religiösen Vertiefung entraten? Wird das Vordringen
der exakten Wissenschaften sie überflüssig machen ? Der gegenwärtige Rechts¬
marsch in die Richtung der Orthodoxien soll für unser Urteil nicht aus¬
schlaggebend sein. Allein aus dem Wesen des Menschen und der engen Be-
grenzung des Intellektes muß ich Freuds Weissagung von der Zukunft einer
Illusion die nicht mehr weissagende, sondern psychologisch begründete Be¬
hauptung von der Illusion einer solchen Zukunft entgegensetzen.
Sehr erfreulich ist mir, daß Freud selber im Grunde demselben Ziele
wie ich zustrebt, er mit seinem genialen Forscherblick, ich mit meinen
geringen Mitteln. Ihn treibt sein Gott Logos, unter dem er den Intellekt
versteht, „voraussichtlich“ zum Ziele der Menschenliebe und der Ein¬
schränkung des Leidens (87), mich mein Gott Logos, den ich freilich
nht Anlehnung an das erste Kapitel des Johannesevangeliums als göttliche
Pfister : Die Illusion einer Zukunft
Weisheit und Liebe auffasse, zu denselben Zielen, denen ich nur noch
viel stärker als Freuds an Schopenhauer anklingende Angabe die Schaffung
positiver innerer und äußerer Güter an die Seite setzen möchte. Nicht das
religiöse Bekenntnis ist das wahre Kriterium des Christen, Joh. 13, Vers 35
ist ein anderes angegeben: „Daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine
Jünger seid, so ihr Liebe habt untereinander. “ Auf die Gefahr hin, von
losen Zungen bewitzelt zu werden, wage ich nochmals die Behauptung, daß
Freud im Lichte dieses Wortes mit seiner Lebensauffassung und seinem
Lebenswerk manchem abgestempelten Kirchen Christen, der ihn, wie er sich
selbst, als Heiden betrachtet, den Vorrang abläuft.
Und so vereinen sich denn „Die Zukunft einer Illusion“ und „Die
Illusion einer Zukunft“ in einem starken Glauben, dessen Credo lautet:
„Die Wahrheit wird euch frei machen!“
B emert ungen
zu Freuds „ * 2 ^ultunft einer Illusion
Referat in der Vorstandssitzung der „Wiener Psychoanalytischen Vereinigung“ im Dezember
Von
Theodor Reit
Wien
1927
Es soll nicht ein Referat des gedanklichen Inhaltes der Freudschen
Schrift gegeben werden, sondern eine Erörterung der Hauptthemen. Der
Referent glaubt nicht, daß seine Aufgabe in der Wiedergabe dieser Ge¬
danken liegt. Vergleichsweise gesprochen: er will nicht die Melodie reprodu-
zieren, sondern Begleitmusik machen.
Verfolgt man bei der wiederholten Lektüre den Gang der Freudschen
Schrift, so heben sich drei große Teile deutlich heraus: der eine beschreibt
die Kulturbedingungen, der zweite diskutiert die Religion, der dritte gibt
das Bild einer künftigen Kultur. Man meint zu bemerken, daß der erste
Teil ursprünglich den Hauptakzent trug, daß er anfänglich breiter aus¬
geführt werden sollte. Eine Stelle im Verlaufe der weiteren Diskussion
scheint die Richtigkeit dieser Vermutung zu bekräftigen. Man erkennt aber
auch, mit welcher Vorsicht und Voraussicht alles vorbereitet wurde, um den
Hauptteil von dem umfassenderen abzugrenzen, wie kunstvoll und doch wie
natürlich alles zu der Behandlung jener Probleme drängt, die der Autor
16r geben wilL Von dem bedeutungsvollen Auftakt an, dem Wunsche,
etwas von den ferneren Schicksalen unserer Kultur zu erfahren, über den
ersuch, die allgemeine Kultursituation insbesondere von psychologischen
esichtspunkten aus zu charakterisieren, der Berücksichtigung der Bedin-
gingen, unter denen Kultur möglich ist, der psychologischen Kennzeichnung
i86
Theodor Reih
der Verzichte, Verbote, Entbehrungen und Entschädigungen, welche durch
die Kultur notwendig werden, bis zum Hinweis auf das bedeutsamste Stück
des psychischen Inventars einer Kultur, ihrer religiösen Vorstellungen, reicht
die weitgespannte Einleitung des Buches, sozusagen der erste Satz, wenn
man es symphonisch zu gliedern versuchte. Es ist hier Freud geglückt,
ein umfassendes psychologisches Bild der Kulturbedingungen zu geben, das
mit besonderer Klarheit und Eindringlichkeit gesehen ist und gleich einem
Relief in die Schichtenbildungen einer Kultur Einblick gewährt. Hat
„Totem und Tabu" die analytische Zurückführung der großen Kultur¬
institutionen gezeigt, so wird hier ihre psychologische Charakterisierung
gegeben. In dieser Einleitung, diesem umfassenden, ruhevoll gesehenen
Bild des Kulturganzen, werden künftige Betrachter vielleicht das bedeu¬
tungsvollste Stück der Freudschen Schrift erkennen, nicht in der Dis¬
kussion der religiösen Fragen, die dann keine Fragen mehr sein werden.
Mag sich die Erörterung, die am Ewig-Heutigen hängt, jetzt auch gierig
auf die Stellung Freuds zu den religiösen Problemen stürzen, unser Ur¬
teil wenigstens ist von dem rasch verrauschenden Lärm solcher Aktualität
unabhängig. Wir fürchten auch keineswegs, uns in Gegensatz zu den An¬
schauungen, welche das Buch bei Analytikern und Nichtanalytikern zu er¬
regen scheint, zu setzen, wenn wir behaupten, daß dieses in seiner Fülle
und Tiefe außerordentliche Einleitungsstück einmal als der wertvollste Teil
des Freudschen Buches angesehen werden wird. Ein Vergleich mit der vor¬
letzten Schrift Freuds liegt nahe. Worin liegt ihr besonderer Wert, das, was
nach zwanzig, nach fünfzig Jahren als ihr Bedeutungsvollstes betrachtet werden
wird? Etwa in der Diskussion der Laienfrage? Etwa in der scharfsinnigen
Begründung und Erörterung eines bestimmten Standpunktes? In den theore
tischen Erwägungen zu diesem Problem? Mit nichten. Sondern darin, daß
nie vorher mit solcher Klarheit und solcher Eindringlichkeit, mit so tiefem
Blick, der alles überschaut, doch nichts übersieht, das Wesen der Analyse in
allen ihren wesentlichen Zügen dargestellt wurde. Wie hervorgehoben, ist
jener kleine Sprung, der zu zeigen scheint, daß der Autor ursprünglich weiter¬
gehende Pläne hatte, unter anderen den Plan, die Kulturillusionen im all¬
gemeinen zu diskutieren, noch deutlich. Die Komposition des Ganzen, die
von der Darstellung der umfassenden Kulturprobleme sich zur Erörterung
einer Einzelfrage einer Kultur verengt, ist bewundernswert.
Der Hauptteil beginnt mit der Frage nach der besonderen Natur der
religiösen Vorstellungen und enthält zunächst nichts, was uns nicht schon
durch andere Schriften Freuds bekannt geworden wäre. Sogar das Moment
Bemerkungen zu Freuds »Zukunft einer Illusion«
der infantilen Hilflosigkeit in der Genese der Religion, das jetzt psycho¬
logisch gewürdigt erscheint, findet sich in der „Leonardo Ä -Studie diskutiert.
Was nun folgt, ist ein Dialog, geführt mit der ganzen Gesprächskunst
und dem Scharfsinn, die wir aus der unmittelbaren Gegenwart kennen,
Argument gegen Argument. Ein Gegner wird eingeführt, der den Gedanken¬
gängen des Autors folgt, sie ergänzt, ihnen widerspricht. Wir kennen diesen
Gegner, diesen Widersacher und Widersprecher, nicht nur aus einer früheren
Schrift Freuds. Dieser Gegner war nicht immer personifiziert; er war immer
da. Wir haben es bei Freud immer beobachtet, dieses Vorwegnehmen von
Einwürfen, dieses antizipierte Widerlegen von Argumenten, diese erneute
Selbstprüfung und Selbstbehauptung, und haben diese Züge immer als Zeichen
strenger Selbstkritik betrachtet. Der Dialö^TderTün folgt, macht 'es not¬
wendig, die Art meines Berichtes zu ändern. Der Leser wird von jetzt an
nämlich zum Zuhörer, zum Zuhörer einer wissenschaftlichen Diskussion,
und er fühlt oft genug die Versuchung, sich nicht mit dieser Rolle zu¬
frieden zu geben, er spürt manchmal den Wunsch, hier den Gegner zurück¬
zuweisen, dort selbst ein Argument in die Diskussion zu werfen oder eine
Frage zu stellen. Wir sind heute in einer singulären Situation. Der Leser
hat die Lektüre des Buches beendet und ist nun auf die Gedanken ange¬
wiesen, die sich daran knüpfen. Wir sind besser daran, wir können die
Diskussion fortsetzen, sie erweitern, nach bestimmten Richtungen führen
und fühlen uns für diese Gelegenheit dankbar. Wir wollen von dieser Er¬
laubnis ausgiebig Gebrauch machen, und wäre es auch nur, um den einen
Partner noch mehr zum Sprechen zu bringen, ihn zu weiteren Ausführungen
zu reizen.
Verweilen wir noch einen Augenblick bei der Person des Gegners. Der
Gesprächspartner ist wie immer ein sehr gebildeter Intellektueller von hohem
moralischen Niveau, der Vernunft zugänglich und starken Gefühlen nicht
verschlossen. Immerhin, wir wollen unseren Eindruck nicht verbergen, als
habe Freud dieses Mal seinen Gegner etwas stiefmütterlich behandelt. Es
gab andere Einwürfe, es waren wohl auch noch andere Fragen aufzuwerfen.
Es hatte vielleicht Gegner adäquaterer Art gegeben; dort, wo es wirklich
Gegner der vorgetragenen Anschauung gibt. Ich könnte mir etwa als Gegner
einen jener geistvollen katholischen Priester denken, mit denen eine Dis¬
kussion oft genug einen Genuß bedeutet, Männer voll Lebenserfahrung, von
einer eigenartigen Feinheit des Geistes, erwachsen in der strengen Logik,
wie sie die Beschäftigung mit der Lehre des Thomas von Aquino verleiht.
Die Partner des Gespräches bei Freud sind einander an einem bestimmten
88
TKeodor Reik
Punkte ihrer Diskussion ganz nahe, kein Abgrund der Anschauungen trennt
sie mehr. An einer Stelle heißt es, daß ihr Gegensatz nur ein zeitweiliger
und kein unversöhnlicher sei. Die Diskussion mit einem dogmatisch ge¬
schulten Priester würde anders enden: in einem Gegensatz von unversöhn-
barer, ja hoffnungsloser Art. Aber vielleicht lag es gerade m der Absicht
Freuds, einen solchen weltlichen Kulturträger, etwa einen Gelehrten, als
Typ des Gegners aufzustellen. Wir dürfen ihm da nicht vorgreifen. Aber
es ist notwendig, darauf hinzuweisen, daß sich auch da die Diskussion
wesentlich anders abgespielt hätte. Die Stellung des Gebildeten unserer Zeit
zu den religiösen Problemen ist durchaus unaufrichtig; sie kann auch durch
( Diskussion nicht korrigiert werden. Ich behaupte, daß die Kulturmenschheit,
: strenge gesagt, die intellektuelle Oberschicht, jene eigenartige Schamhaftig¬
keit und Unaufrichtigkeit, die sie auf dem Gebiete der Sexualität und des
I Geldes zeigt, auch auf dem ihrer religiösen Bedürfnisse aufweist, ja daß
sie dort oft sogar schwerer auffindbar und aufzeigbar ist. Der Fromme und
der Freigeist sind oft keineswegs voneinander so verschieden, als es den
Anschein haben mag. Ihre Unaufrichtigkeit kann von verschiedenen Stand¬
punkten aus oft genug die gleiche sein. Der Fromme glaubt und macht sich
nicht viel Gedanken über seinen Glauben, der^Freigeist aber^macjrt^sich
nicht viel Gedanken über seinen Unglau ben, we ll er sich nic^
Man kann jene eigenartige Stellung zur Religion am
besten charakterisieren, wenn man sagt, die m eisten gebildet^en_Menschen
glauben nicht an Gott, aber sie fürchten ihn. Die Wissenschaft verkündet
zwar, Gott sei tot, aber er lebt unterirdisch weiter. Hier nun muß die
Forschungsarbeit der Analyse einsetzen: man muß diesen Toten exhumieren
und sich davon überzeugen, daß er wirklich tot ist. „Ce sont les morts quil
faut qu’on tue“ In Wahrheit ist es so, daß ein offizieller Unglaube sehr wohl
neben einem inoffiziellen Glauben bestehen kann.
Es sei auch hier auf das Nebeneinander von Erkennen durch Denk¬
arbeit und durch Erlebthaben verwiesen, wie es gerade in diesem Buche
Freuds an bestimmter Stelle hervorgehoben wird. Jene unbewußte Unauf¬
richtigkeit in bezug auf die Religion würde eben den Verlauf der Dis¬
kussion mit dem Partner anders gestalten. Jener Gegner würde vermutlich
die meisten Argumente und Beweisführungen Freuds anerkennen, sich selbst
als Atheisten bekennen und doch unbewußt an dem verleugneten Glauben
festhalten. Es wäre besonders schwer, ihn zu überzeugen, weil er anscheinend
der gleichen Meinung ist, genau wie manche Zwangsneurotiker in der
Analyse, welche alle Resultate der analytischen Arbeit völlig anerkennen,
Bemerkungen zu Freuds »Zukunft einer Illusioncc
189
um dennoch an ihrer Krankheit festzuhalten. Freud versichert, er selbst
halte sein Unternehmen für ungefährlich und harmlos, er weist auf die
Reaktionen hin, die sein Buch hervorrufen wird, sowie auf die Reaktionen,
welche es in bezug auf die Psychoanalyse haben dürfte. Wir fühlen hier
zum erstenmal die Versuchung, uns in die Diskussion zu mischen und zu
sagen: „Wir meinen, Sie täuschen sich in der Annahme über die Wirkungen
des Buches. Niemand wird jene unwilligen Reaktionen dagegen zeigen,
niemand Ihnen destruktive Tendenzen oder gar mangelnden Idealismus vor¬
werfen. Das Buch wird sogar in jenen Ländern des Puritanismus übersetzt
werden und die meisten Gebildeten werden Ihnen rückhaltlos zustimmen.“
Im Laufe der wenigen Wochen seit Erscheinen der Freudschen Schrift
habe ich nun die verschiedenartigsten Einwände gegen sie gehört, keinen
vom religiösen Standpunkt. Ich bin bereit, ihnen allen zu widersprechen
und nur die Einwände von religiöser Seite gelten zu lassen. Diese wider¬
sprechen sich ja selbst. Der erste Einwand weist darauf hin, daß die Religion
heute nur eine geringe Rolle spielt und ihre Bedeutung im Seelenleben
von Freud übertrieben werde. Ich glaube dies nicht, sondern meine sogar,
daß die Bedeutung der Religion im unbewußten Seelenleben von der Analyse
noch nicht genügend gewürdigt und erforscht wurde. Der Einwand meint,
die Argumentation Freuds sei im Geiste des achtzehnten Jahrhunderts ge¬
halten, sei eine direkte Fortsetzung der damaligen Aufklärungsbestrebungen
und somit vieux jeu. Bemerken Sie vor allem, daß hier der analytischen
Betrachtungsweise Mangel an Originalität vorgeworfen wird — wer hätte dies
je vorausgesagt? Der gewöhnliche Vorwurf war der umgekehrte. O quae
mutatio rerum! Nun, Freud hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß ähn¬
liche Anschauungen wie die von ihm vertretenen von großen Männern oft
und in prägnanter Form geäußert wurden. Der Einwurf trifft übrigens keines¬
wegs das Ziel: welch ein Unterschied zwischen dem leidenschaftlichen
»Itcrasez Vinfame 6 Voltaires, den mokanten, aufklärerischen Sätzen der
französischen Enzyklopädisten und der ruhigen, sachlichen Argumentation
Freuds. Und wo findet sich in der Aufklärungsliteratur des achtzehnten
Jahrhunderts eine psychologische Ableitung der religiösen Vorstellungen,
wo ihre analytische Auflösung und die Würdigung des realen Kernes, den
sie verbergen? Wie jener erste Ein wand geht auch der zweite von Leuten
aus, die vorerst anscheinend völlig mit Freuds Anschauungen über Religion
einverstanden sind. Sie akzeptieren die Ausführungen Freuds, aber dann
weisen sie auf die metaphysischen Werte der Religion hin, behaupten, daß
sie in symbolischer Form die transzendente Wahrheit enthalte und sagen,
190
Theodor Reih
daß in ihr das Absolute erscheine. Das Argument bringt das Abgewiesene
wieder durch eine Seitentür in die Diskussion zurück, denn was hier als
das Transzendente oder das Absolute erscheint, ist die verkleidete, verflüch¬
tigte, intellektualisierte Religion, deren man sich in ihrer wahren Gestalt
schämt. Im übrigen kann man über das Transzendente beliebige Behaup¬
tungen aufstellen, weil sie keines Beweises bedürfen und ihrer Natur nach
keinen zulassen. Diese Gegner wissen genau alles über die transzendenten
Dinge, was man seit jeher gewußt hatte, d. h. nämlich: nicht das Mindeste.
Der letzte Einwand erkennt die Folgerichtigkeit der Freudschen Ge¬
danken ebenso an wie die früheren, aber er bestreitet die Berechtigung,
Erkenntnisse, die aus der individuellen Analyse gewonnen wurden, auf das
kollektive Seelenleben zu übertragen. Das Schlagwort dieses Einwandes wird
durch den Hinweis auf die Methodologie gegeben. Die Analyse hat es oft
diskutiert, welche Vorsichten in der Übertragung psychologischer Forschungs¬
resultate vom Individuum auf völkerpsychologisches Gebiet zu beachten
sind, welchen Beschränkungen solche Übertragung unterliege und welche
heuristische Berechtigung sie doch besitzt. Wir wollen den Wert methodo¬
logischer Erwägungen gewiß nicht in Abrede stellen, aber es wird langsam
klar, daß Methodologie die bisher beste wissenschaftliche Ausrede ist, keine
Forschungsarbeit leisten zu müssen. Niemals früher war es möglich, sich
so vorwurfslos der bequemsten Gedankenlosigkeit hinzugeben als heute,
da man philosophischen Laien durch die Behauptung imponieren kann,
man sei mit methodologischen Erwägungen beschäftigt. Methodologie, so
heißt heute jede Flucht vor einer unzweideutigen Aussage; Methodologie
ist die bequemste Abbreviatur der gedanklichen Sterilität.
Ich habe diese Einwände hier vorgebracht, weil sie die Stellung eines
großen Teiles der Gebildeten zu den religiösen Problemen zeigen. Allen
gemeinsam ist die Verschiebung der Frage auf ein Nebengeleise. Wenn
Sie genau Zusehen, so entsprechen alle diese Einwände einigen typischen
Abwehrreaktionen, die wir in der Analyse kennen lernen. Der erste, der
die Religion nicht für so wichtig findet, ist durchaus jenem Bagatellisierungs-
mechanismus der Abwehr gleichzusetzen, der zweite, der die Metaphysik
in den Vordergrund schiebt, entspricht der zweifachen Überzeugung in der
Zwangsneurose. Der dritte Einwand, der die methodologischen Gesichts¬
punkte betont, repräsentiert die Vorluststufe der Gedankentätigkeit; er ist
eine Art wissenschaftlichen Grübelzwanges, der jede Forschung durch Hinaus¬
schieben der wesentlichen Aktion unmöglich macht. Allen diesen Einwänden
aber gemeinsam ist, daß sie vorerst die Gedankengänge Freuds akzeptieren.
Bemerkungen zu Freuds Zukunft einer Illusion« 191
Keiner jener Gebildeten, von denen diese Ein wände stammen, hat sich
auf den Standpunkt des Gläubigen gestellt; aber jeder stand unbewußt
darauf.
Die Gefahr in der Aufnahme der Freudschen Schrift liegt also nicht
etwa in dem offenen affektiven Widerstand, sondern, wie ich fürchte,
anderswo; paradox gesagt, gerade in jener beiläufigen ersten intellektuellen
Zustimmung, die gleichsam als Schutzwall des Widerstandes fungiert. Die
Zustimmung wird hier gegeben, um keine Konsequenzen ziehen zu müssen.
Das will aber besagen, daß das Buch nichts vermögen wird gegen die ge¬
dankliche Indolenz und die innere Unaufrichtigkeit, welche unausrottbar
unsere Gesellschaft regieren. Wir sind gerade in der Diskussion religiöser
Probleme. Ist es da unangemessen, wenn ich Sie an das Wunder der Fisch¬
predigt des heiligen Antonius erinnere, wie es die fromme Legende erzählt
und „Des Knaben Wunderhorn“ schlicht berichtet? Der Heilige findet die
Kirche leer und begibt sich zu den Fischen, ihnen zu predigen: die Karpfen
kommen gezogen, die Hechte, die Stockfische, Krebse, Schildkröten
„. . . sonst langsame Boten
Steigen eilig vom Grund,
Zu hören diesen Mund.
Kein Predigt niemalen
Den Stockfisch so g’fallen;
Fisch’ große, Fisch’ kleine,
Vornehm und gemeine,
Erheben die Köpfe
Wie verständ’ge Geschöpfe.“
Und dann jener Schluß, von den F-Dur-Klängen Mahlers kraftvoll und
bitter illustriert:
„Die Predigt geendet,
Ein jeder sich wendet.
Die Hechte bleiben Diebe,
Die Aale viel lieben,
Die Krebs’ geh’n zurücke,
Die Stockfisch’ bleib’n dicke,
Die Karpfen viel fressen,
Die Predigt vergessen.
Die Predigt hat g’fallen,
Sie bleiben wie allen.“
Ein anderer Punkt scheint mir in unserem Kreise der Diskussion be¬
dürftig: Freud betont, daß die Analyse eine parteilose Forschungsmethode
ist, die gewiß auch die Verteidiger der Religion an wenden können, um
193
Theodor Reit
deren affektive Bedeutung zu würdigen. Wir alle stimmen dem sicherlich
bei. Allein die Sachlage ändert sich, wenn es sich um die analytische
Praxis handelt, und sie ändert sich, wenn es sich darum handelt, den
Wahrheitsgehalt der Religion zu prüfen. In der analytischen Praxis des
Priesters vermengen sich Ansprüche aus der geistlichen Seelsorge mit denen
der weltlichen, die Ziele verschieben sich, die Gesichtspunkte erfahren all¬
mählich eine Änderung, es ergehen sich widerstreitende Aufgaben und die
Analyse bezahlt unstreitig die Kosten. Viele Priester haben unleugbar ein
weitgehendes Verständnis für die Analyse gezeigt, daneben den unbeug¬
samen, wenngleich klug verhüllten Willen, sie in den Dienst der allein¬
seligmachenden Kirche zu stellen. Für das erste danken wir ihnen, für
das zweite danken wir. Jeder, der die bezügliche Literatur verfolgt, weiß
daß die Kirche sich anschickt, sich die Psychoanalyse einzuverleiben. Es
kann aber nicht geleugnet werden, daß die Religion zu den stärksten Ver¬
drängungsmächten gehört und solche religiöse Verwertung der Analyse sie
in den Dienst der Verdrängungstendenzen stellt. Wir können in der analyti¬
schen Praxis bei Zwangsneurosen häufig beobachten, daß ein Stück neu¬
erworbenen Wissens nicht nur vom Patienten in sein System aufgenommen
und oft sehr sinnvoll verwoben wird, sondern sogar zu dessen Ausbau ver¬
wendet wird. Nun, dies ist genau das, was die religiös verwendete Analyse
macht.
Jene Toleranz auch gegen die religiöse Anschauung in allen Ehren, aber
es ist eher zu besorgen, daß sie nicht dem abweichenden Standpunkt ge¬
währt wird. Einer unserer Berliner Kollegen verkündete in einem unlängst
erschienenen Buche, der Analyse wie der Religion sei der Glaube an das
Gute gemeinsam, beide zeigen, wie mächtig und wie erfolgreich das Gute in
uns ist. Dagegen ist sicher nichts einzuwenden, es sei denn, daß man den
entgegengesetzten Standpunkt ebensowohl mit der Analyse vereinen kann.
Jemand könnte sich etwa zu dem Glauben an eine Weltordnung bekennen,
derzufolge das Gute unnachsichtlich bestraft wird, während das Böse seinen
Lohn in sich selbst trägt. Sieht der verehrte Kollege im Verlaufe des Menschen¬
schicksals deutlich den Finger Gottes, so werden wir kaum daran zweifeln
können, aber schüchtern hinzufügen, daß die Richtung, in die jener digitus
paternae dextrae weist, äußerst undeutlich ist.
An einer anderen Stelle der Diskussion würden wir gerne den Autor
eigänzen. Er verweist darauf, daß die Religion auch dazu benützt werde,
nach der Buße frei sündigen zu können. Russische Innerlichkeit hat sich
zur Folgerung aufgeschwungen, man müsse sündigen, um der göttlichen
Bemerkungen zu Freuds »Zukunft einer Illusion« ig 3
Gnade teilhaftig zu werden. Allein dies ist nicht nur die Anschauung be¬
stimmter russischer Typen; ganz im Anfänge des Christentums gab es viele
gnostische Sekten, z. B. die Kainiten, die Karpokratianer u. a., deren Ver¬
achtung des Fleisches so weit ging, daß sie zu der Konsequenz gelangten,
man müsse allen seinen Lüsten folgen, um das Fleisch zu töten. Auf den
Scheiterhaufen des Mittelalters verbrannte manches Mädchen, das von einem
Geistlichen angeklagt war, daß es in sündhafter Eitelkeit zu sehr auf den
Besitz des Hymens Wert legte und das schätzte, was angesichts des ewigen
Seelenheiles keinerlei Wertschätzung verdiene. Die gütige Mutter Kirche hat
es oft betont, daß Askese sündhaft und es frevelhafter Hochmut sei, sich
von dem ewigen Fluch des Fleisches loslösen zu wollen, der nach Gottes un-
erforschlichem Ratschluß seit Adams Tagen über die Menschheit verhängt
sei. Wir erkennen, wie hier die Religion darauf besteht, daß gesündigt
werde, und bekennen voll Inbrunst: Extra ecclesiam non est salus.
Die Diskussion der Zukunft der Religion und ihrer langsamen schicksals¬
mäßigen Zersetzung ist bei Freud so klar und so eindrucksvoll, daß wir
auf diesen Teil der Erörterung nur hin weisen wollen. Es gibt da einige
Sätze, die in ihrer kompromißlosen Entschlossenheit, ihrer monumentalen
Wucht, ihrer lapidaren Unbedingtheit an den Anfang der Beethoven sehen
C-Moll-Symphonie erinnern. So pocht das Schicksal an die Pforte einer
Kultur.
Wir wenden uns dem letzten Teil des Freudschen Buches zu, der in
uns oft den Wunsch rege macht, an der Diskussion teilzunehmen. Er be¬
schäftigt sich, wie Sie wissen, mit der Zukunft, wie sie sich nach dem
Ausscheiden der Religion aus dem Kulturzusammenhange ergeben dürfte.
Das psychologische Ideal, der Primat des Intellekts, wird aufgerichtet werden,
die Erziehung zur Realität setzt ein; der Mensch dieser Zukunft wird die
großen Schicksalsnotwendigkeiten eben mit Ergebung ertragen und auf alle
Illusionen verzichten.
Wir stehen auch hier keineswegs auf dem Standpunkte des Gegners, wir
erkennen Bedeutsamkeit und Folgerichtigkeit der Freudschen Gedanken-
gange, aber wir wollen unseren Skeptizismus nicht verbergen. Es ist kein
„Nein , das wir ihnen entgegensetzen, sondern jenes „Je doute u im sanften
Sinne Renans. Wir würden sagen: „Wir glauben mit Ihnen, daß die
Religion zum Untergang bestimmt ist, ihre Zeit ist abgelaufen, aber er¬
lauben Sie, daß wir daran zweifeln, daß der Mensch kapabel ist, sein Leben
ohne Illusion zu leben. Die Erziehung zur Realität ist gewiß ein Ziel,
aufs innigste zu wünschen, aber die hervorstechendste Eigentümlichkeit
Theodor Reit
19 4
der Realität ist ihre Unerfreulichkeit. Insgeheim fühlen wir: Realität ist
das, was der Andere anerkennen sollte. Die religiöse Illusion wird ver¬
schwinden, aber eine andere wird an ihre Stelle treten. Jener Primat des
Intellekts, den Sie vorhersehen, wäre doch in Wirklichkeit nur ein ober¬
flächlicher, im Tiefsten würden die Menschen doch von ihren Trieb¬
wünschen gelenkt werden. Es ist möglich, wir leugnen es nicht, daß viel¬
leicht die Wissenschaft einmal über die Menschen herrschen wird, aber
auch dann wird sie doch nur über Menschen herrschen, d. h. über wenig
verständige, ihren Trieben unterworfene, schwache und unbeständige Wesen,
die niemals aufhören werden, nach vergänglicher Lust zu streben. Auch
dann werden die Menschen beten: „Herr, gib uns unsere tägliche Illusion!“
Ihre Erfahrung hat Ihnen sicher gezeigt, daß die Wissenschaft die Menschen,
die sie betreiben, nicht besser, nicht geduldiger, nicht glücklicher macht,
nicht einmal weiser. Die Wissenschaft ist ja nicht identisch mit den Wissen¬
schaftlern. Darf ich an eine Stelle aus Ihren Schriften erinnern, die zeigt,
daß Ihnen diese Anschauung keineswegs so ferne liegt? „Wenn eine andere
Massenbildung an die Stelle der religiösen tritt, wie es jetzt der sozialisti¬
schen zu gelingen scheint, so wird sich dieselbe Intoleranz gegen die Außen¬
stehenden ergeben und wenn die Differenzen wissenschaftlicher Anschau¬
ungen je eine ähnliche Bedeutung für die Massen gewinnen könnten,
würde sich dasselbe Resultat für diese Motivierung wiederholen.“ Die Herr¬
schaft der Vernunft war schon einmal aufgerichtet; ihre Begleitmusik hieß
„Gz ira u und zu ihrer Glorie fielen einige tausend Menschenköpfe unter
der Guillotine. Der Primat des Intellekts wird höchstens dazu benützt
werden, jene unterirdischen Wirkungen der Triebregungen geschickter zu
verbergen und intellektuell zu verkleiden. Ich fürchte, die Herrschaft des
Logos wird niemanden daran hindern, höchst unvernünftig zu sein. Sie
überschätzen, wie ich fürchte, sowohl das Ausmaß als auch die Kraft der
menschlichen Intelligenz. Sie ist von der des Tieres kaum wesentlich ver¬
schieden und in manchen Fällen erscheint solch ein Vergleich noch als
eine Art niedriger Schmeichelei.
Doch jener Primat des Intellekts ist nur möglich, wenn sich in der
Menschheit tiefgreifende Änderungen vollziehen. Sie haben betont, daß die
menschliche Seele sicher seit den ältesten Zeiten eine Entwicklung durch¬
gemacht habe und nicht dieselbe sei wie zu Anfang der Geschichte. Zu
diesen Veränderungen rechnen Sie die Verinnerlichung des äußeren Zwanges,
die Errichtung des Über-Ichs. Niemand wird diese Entwicklung leugnen,
aber Entwicklung heißt nicht unbedingt Fortschritt. Dem, was unserem sub-
jektiven Ermessen als Fortschritt erscheint, folgen Rückschläge, Reaktionen,
die alles Erreichte in veränderter Form wieder zerstören und aufheben. Der
Gang der menschlichen Geschichte ist etwa mit dem eines Riesenpendels
zu vergleichen, der hin- und zurückschwingt, sinnlos und zwecklos wie
das Leben des Einzelnen. Der Skeptiker wird nicht einmal vor der Frage
zurückschrecken, ob die Erstarkung des Über-Ichs wirklich ein so wert¬
voller Kulturbesitz ist und ob nicht gerade durch solche Verinnerlichung
äußeren Zwanges ein Übermaß an Ichansprüchen gestellt wird, das ent¬
weder das Ich erdrückt oder allmählich zum destruktiven Triebdurchbruch
treibt. In der Neurose zumindestens sehen wir, daß die Ansprüche des
Über-Ichs den Einzelnen und somit Viele zum mindesten ebenso erfolg¬
reich von der Kulturarbeit abhalten wie die Triebansprüche, mit denen
sie sich oft genug verbinden. Es ist eben eine Frage der Proportionalität,
die hier entscheidet. Das überstrenge Über-Ich ist nicht weniger grausam
als der äußere Zwang; es hat ebensoviele Existenzen ruiniert und ebenso-
viele Morde auf dem Gewissen. Die Unterschiede sind keineswegs so tief¬
gehender Natur, als es zuerst den Anschein hat. Es ist dabei auch zu be¬
denken, daß die Triebimpulse durch solche Umwandlungen von äußeren
Zwang in inneren in ihrer Intensität keineswegs abzunehmen brauchen, ja
durch den Verdrängungsprozeß scheinen sie sogar an Intensität zu gewinnen.
Ferner würden wir gerne darauf hinweisen, daß dem durch die Kultur¬
entwicklung differenzierten und verfeinerten Organismus Reize geringerer
Intensität denselben Schaden zufügen können, der in gröberen und in
resistenteren Organismen erst durch überstarke Reize verursacht würde.
Gottes Voraussicht hat es so gefügt, daß der Elefant Lasten tragen kann,
welche den Rücken des Pferdes brechen würden. Für den Urmenschen
wäre ein Nadelstich, was für den Menschen unserer Kultur schon wie ein
Keulenschlag wirkt. Vielleicht würde der Mensch wirklich besser leben,
hätte Er ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben.“
In bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten verweist Freud auf das
Beispiel der Frauen, die vielleicht unter der Herrschaft des sexuellen Denk¬
verbotes in ihren intellektuellen Fähigkeiten beeinträchtigt wurden. Allein
die Anders Wertigkeit des Denkens der Frau braucht keine Minderwertigkeit
zu sein. Wir wissen natürlich aus der Analyse, daß die sexuelle Denk¬
hemmung einen bedeutenden Einfluß auf die Funktionen der Gedanken¬
tätigkeit ausübt, aber es ist nicht ausgemacht, daß sie allein für die be¬
sondere Art der weiblichen Intelligenz verantwortlich ist. Vielleicht ist es
auch hier so, daß die Frauen, die so viel erdnäher und in ihrem Denken
196
Theodor Reik
der materiellen Realität so viel ergebener sind als wir, durch Besonder-
heiten ihrer psychophysischen Konstitution, letzten Endes also durch ana¬
tomische Verschiedenheiten daran gehindert werden, ihre Intelligenz in der
übrigens keineswegs immer vernünftigen Art zu gebrauchen, wie es Männer
tun. Es wird sicher Fromme und Ungläubige geben, die sich der Meinung
des heiligen Hieronymus anschließen: „Tota mulier in utero “.
„Gestatten Sie mir noch für einige Minuten die Wohltat eines sanften
Zweifels, der sich übrigens keineswegs darüber täuscht, wie wenig Bedeut¬
samkeit ihm selbst gegenüber Ihren Ausführungen zukommt. Lassen Sie
mich also der Befürchtung Ausdruck geben, daß der Primat des Intellekts
nicht nur an der im Tiefsten unveränderlichen Natur des Menschen scheitern
wird, sondern auch an dem heftigen Widerstand, den er Bestrebungen dieser
Richtung entgegensetzt. Sie haben uns klar gezeigt, daß die Religion so
vieles behauptet, was sie nicht beweisen kann. Man muß indessen gerechter¬
weise zugestehen, daß es auch hier Ausnahmen gibt. Die Religion versichert:
„Selig sind die Armen im Geiste“ und sie begnügt sich nicht mit der leeren
Behauptung, viele ihrer Gläubigen liefern den glänzendsten Beweis für deren
Richtigkeit. Es gibt darunter eine große Anzahl von Heiligen und solchen
Frommen, die Gott besonders geliebt hat. Aber auch das Leben zeugt für
die Wahrheit dieses Satzes: niemals werde ich den glücklichen, ja seligen
Ausdruck eines armen Idioten auf einer psychiatrischen Klinik vergessen,
von dem, ach, nur ein schwacher Widerschein auf dem Gesichte des be¬
handelnden Arztes lag. Nein, ich glaube nicht, daß die Menschen zugunsten
eines anderen Primates auf das Glück der Dummheit Verzicht leisten werden.
Es gehört wie „ Liberte , egalite, fraternite“ zu den unveräußerlichen geheilig¬
testen Menschenrechten. Die Geschichte aller Länder, insbesondere die unseres
geliebten Vaterlandes, beweist, daß die Menschen dieses Recht nötigenfalls
mit den Waffen in der Hand zu verteidigen wissen werden.“
Freud meint, daß die Stimme des Intellekts, obwohl leise, sich endlich
doch Gehör verschaffen wird und dies wird nicht wenig bedeuten. Auch
er sieht voraus, daß der Gott Logos nicht allmächtig sein wird. Aber un¬
gleich dem Gegner braucht man darum doch nicht an der Kultur und an
der Zukunft der Menschheit verzweifeln und das Interesse an Welt und
Leben verlieren. Wir würden hier einzuwerfen wagen, daß dies auch dann
nicht der Fall zu sein braucht, wenn man einer weniger optimistischen
Ansicht über die Zukunft huldigt, denn unser Interesse an Welt und Leben
ist nur zum geringsten Teile durch intellektuelle Faktoren erweckt. Es
sind triebhafte, starke Strebungen, die es nähren. Selbst wenn man glaubt,
Bemerkungen zu Freuds »Zukunft einer Illusion«
19 7
daß nach uns die Sintflut kommt, kann unser Interesse am Leben stark
se in — ja dann sogar besonders stark.
Dürfen wir unserem Eindrücke folgen und sagen, daß Freud in den
ersten Teilen dieser Schrift Erkenntnis gegeben hat, im letzten eher Be¬
kenntnis? Wir werden voll Bewunderung auch dieses Zukunftsbild, dessen
Baustilgerechtigkeit eklatant ist, betrachten, aber es scheint uns weniger
zwingend wie das früher Gesagte. Es ist übrigens zugestandenermaßen von
subjektiven Faktoren abhängiger als das Übrige. Es ist nicht ausgeschlossen,
daß es so kommen wird, wie Freud es beschrieben hat, aber es bleibt auf¬
fällig, daß sein Zukunftsbild so viele Züge aufweist, die unseren Wünschen
nicht entgegengesetzt sind. Zeigt der Hauptteil der Freudschen Schrift
die Zukunft einer Illusion, so werden wir mit nur geringer Übertreibung
sagen können, daß dieser letzte Teil eher die Illusion einer Zukunft zeigt.
Man könnte sich getrauen, ein anderes Zukunftsbild zu entwerfen und
dabei doch der analytischen Voraussetzungen nicht entraten. Die menschliche
Kultur ist in ihren wesentlichen Zügen wie eine Zwangsneurose aufgebaut;
sie beginnt mit Reaktionsbildungen gegen die unterdrückten Triebströmungen.
Je länger eine Kultur andauert, um so deutlicher gewinnen in diesem Kon¬
flikt die gebändigten Triebimpulse die Oberhand, desto entschiedener neigen
sich die Wagschalen zu deren Gunsten. Wir können es am Untergang der
antiken Kultur studieren, daß auf der einen Seite der Logos buchstäblich und
wirklich als oberstes Prinzip erscheint, in Griechenland etwa durch Sokrates
und die Lehre von der Sophrosyne charakterisiert, in Rom durch den edlen
Marc Aurel und durch die Stoa, auf der anderen Seite aber die lange abgewehrte
Triebgewalt über die von der Vernunft zerbrochenen Schranken flutet und
den Untergang dieser Kultur vorbereitet. Andere, in ihrer Vitalität unge¬
brochene Völker, ruhiger und sicherer ihren Instinkten folgend, von der
Kultur weniger beleckt, im Kampfe mit den Verdrängungsmächten noch
nicht zermürbt, geben dann dieser Kultur den Todesstoß. Das Spiel beginnt
dann aufs neue, denn auch das, was hier neu entsteht, ist wert, daß es
zugrunde geht. Nichts hindert uns anzunehmen, daß unserer Kultur das¬
selbe Los bevorsteht, daß auch die Kultur der Bewohner dieser kleinen
Halbinsel Asiens in absehbarer Zeit zusammenbrechen wird und lebens¬
kräftigere Völker von derberer Organisation ihr Ende bringen werden. Es
ist eine Möglichkeit neben so vielen anderen und nicht unwahrscheinlicher
wie andere. Wir erinnern uns zur rechten Zeit, daß auch Freud sein
Zukunftsbild nicht etwa als Voraussage aufgefaßt wissen wollte, sondern
als eine Gedankenfolge, die wert ist, ernsthaft erwogen zu werden. Er
Imago XIV.
14
198
Retk: Bemerkungen zu Freuds »Zukunft einer Illusion«
mahnt uns ausdrücklich, diese Gedanken nicht für mehr zu nehmen als sie
sein wollen.
Die Zukunft ist uns verschlossen, wir arbeiten an unserem Kulturanteil
wie die Hochschaftweber, welche den Teppich nicht sehen, an dem sie
weben. Wir arbeiten daran, weil wir nicht anders können und — wir
wollen es nicht leugnen — weil es uns Befriedigung gibt. Die letzte Weis¬
heit bleibt: „Cultivons notre jardin .“
Die Analyse hat uns darauf hingewiesen, daß die Menschheit im Laufe
ihrer wissenschaftlichen Entwicklung drei große Enttäuschungen durch¬
gemacht hat. Vergleichen wir die Stellung, welche die representive man
dieser großen drei Desillusionierungen gegenüber den religiösen Vorstellungen
haben. Kopernikus, der bewiesen hatte, daß unser kleiner Planet wenig
Anspruch darauf hat, als Mittelpunkt des Kosmos angesehen zu werden,
schließt sein Hauptwerk mit einem schwärmerischen Hymnus an Gott,
den Schöpfer Himmels und der Erde, Darwin, der die Menschen zwang,
auf den Titel der „Krone der Schöpfung“ zu verzichten, konnte den reli¬
giösen Glauben neben der Deszendenztheorie sozusagen als Reservatgebiet
behalten. Freud zeigt ihn als Illusion, die aus dem Kulturzusammenhang
zurückgezogen werden sollte. Zur selben Zeit, da der gläubige, aber vor¬
sichtige Kopernikus es nicht wagte, sein Werk zu publizieren, führte ein
freiheitsliebender Mann eine Bewegung, die Loslösung von dem kirchlichen
Zwang forderte, soziale Rechtsgleichheit für alle Menschen verlangte, auf
alle Tröstungen im Himmel verzichtete und dafür eintrat, daß unser Reich
von dieser Welt sei. Sein schlichter, gerader und unkomplizierter Geist
hatte jene tiefe Notwendigkeit noch nicht erfaßt, derzufolge, nach den
Worten von Anatole France, „das Gesetz in seiner majestätischen Gleich¬
heit es Reichen und Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen und Brot
zu stehlen“. Wegen seiner unzweckmäßigen Gedanken wurde er von den
Stützen von Thron und Altar niedergeschlagen wie ein toller Hund. Nur
scheinbar hat sich seit jenen vierhundert Jahren Wesentliches geändert, in
Wirklichkeit leben wir in derselben geistigen Unfreiheit. Durch diese vier
Jahrhunderte aber leuchten die Worte, die ich auf dem Schwerte Florian
Geyers eingraviert sah und die als Motto auch über dieser Schrift Freuds
stehen könnten: „Nulla crux , nulla corona .“
Die Pubertätsriten der MäJA <
Spuren im AAärck en
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Von
Alfred Wi nterstein
W ien
Ein Ereignis, das heute unter dem Namen Konfirmation oder Firmung
für unsere heranwachsende Jugend im allgemeinen keine tiefere Bedeutung
mehr besitzt: der Übergang vom Kinde zum geschlechtsreifen, sozial voll¬
wertigen Menschen, kann auf einer niedrigeren Stufe der Kultur in seiner
Wichtigkeit für das Leben des Einzelnen schwerlich überschätzt werden.
Vermag man doch ruhig zu behaupten, daß der primitive Mensch Geburt,
Heirat und Tod als weniger bedeutsame „Schwellen“ereignisse betrachtet.
Diese hohe Bewertung durch den Primitiven drückt sich auf sinnfällige
Weise in der über die ganze Welt verbreiteten Einrichtung der Pubertäts¬
zeremonien aus. Es lassen sich aber nicht nur in den auf das nämliche
Geschlecht bezüglichen Bräuchen geographisch weit voneinander entfernter
Völker, sondern auch in den Bräuchen der Knaben und Mädchen eines
und desselben Stammes gemeinsame Züge aufdecken, die als Ausdrucks*
formen einer allgemein-menschlichen, dem Unbewußten angehörenden
Reaktion auf die Erlangung der Geschlechtsreife angesehen werden müssen.
Erst der psychoanalytischen Forschung blieb es Vorbehalten, den tieferen
Sinn dieser Bräuche aufzuklären, über die J. G. Frazer 1 2 einige Jahre
vorher folgendes geschrieben hatte: „ We may hope that a more exact ac-
quaintance with savage modes of thought will in time disclose this central
1) Auf Grund eines in der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 4. März
1 9 2 5 gehaltenen Vortrages.
2) J. G.Frazer: The GoldenBough. Balder the beautiful. Vol.II, p. 278. London 1913.
14*
aoo Alfred Winterstein
mystery of primitive society , and will thereby furnish the clue , not only
to totemism, but to the origin of the marriage System .“
Th. Reik hat sich in seiner grundlegenden Arbeit über „Die Pubertäts¬
riten der Wilden “ 1 darauf beschränkt, die Jünglingsweihen zu behandeln.
Als eine Ergänzung seiner auch für uns in allem Wesentlichen ma߬
gebenden Ausführungen mag der Versuch beurteilt werden, einer gleichen
Betrachtungsweise die Pubertätsfeste des weiblichen Geschlechtes zu unter¬
ziehen, die trotz mancher auch aus dem Charakter des Initiationsritus über¬
haupt abzuleitender Gemeinsamkeiten von den Bräuchen der Knaben spezi¬
fisch verschiedene Eigentümlichkeiten besitzen und vielleicht auch die
primitiveren Formen dieser Zeremonien sind.
Wir beginnen zunächst damit, typische Beispiele 2 solcher Weihefeste aus
Afrika, Australien, Amerika und Asien zu berichten. Unsere durch den
Raummangel gebotene knappe Auswahl läßt den Reichtum der vorhandenen
Kasuistik kaum ahnen.
Afrika. Unter den Amambwe, Winamwanga , Alungu und anderen Stämmen
des großen Plateaus im Westen des Tanganyikasees herrscht nachstehender
Brauch: Wenn ein junges Mädchen weiß, daß sie die Geschlechtsreife erlangt
hat, verläßt sie sogleich die Hütte ihrer Mutter und versteckt sich im hohen
Grase nächst dem Dorfe, wobei sie ihr Gesicht mit einem Tuche verhüllt und
bitterlich weint. Gegen Sonnenuntergang fo]gt ihr eine der älteren Frauen, —
die als Leiterin der Zeremonien nachimbusa genannt wird, — stellt einen
Kochtopf bei einer Straßenkreuzung auf und bereitet darin ein Gebräu aus
verschiedenen Grasarten, mit dem sie die Neophytin einreibt. Bei Einbruch
der Nacht wird das Mädchen auf dem Rücken des alten Weibes zur Hütte
seiner Mutter zurückgetragen. Nach Ablauf der üblichen Frist von ein paar
Tagen darf es wieder kochen; vorher muß das junge Mädchen aber den Boden
der Hütte weißen. Im folgenden Monat sind die Vorbereitungen für seine Ein¬
weihung beendet. Die Novizin muß während der ganzen Zeit der Initiation
in der Hütte bleiben und wird sorgfältig von den alten Frauen bewacht, die
sie, wann immer sie ihre Wohnstätte verläßt, begleiten, nachdem sie ihren
Kopf mit einem landesüblichen Tuche verdeckt haben. Die Feierlichkeiten
dauern wenigstens einen Monat. Während dieser Periode der Abgeschiedenheit
trommeln und singen die Dorffrauen in der Hütte der Mutter und kein Mann
1) Th. Reik: Probleme der Religionspsychologie, I. Teil, Internationaler Psycho¬
analytischer Verlag, Leipzig und Wien 1919, S. 59 ff. Zuerst veröffentlicht in „Imago“,
Jahrg. 1915/16, Heft 5 und 4.
2) Die zitierten Beispiele entnehme ich zum überwiegenden Teile dem ersten
Bande des angeführten Werkes von Frazer, S. 22 ff., dem zweiten Bande des Werkes
von Ploß-Renz: Das Kind, Leipzig 1912, dem ersten Bande des Werkes von Ploß-
Bartels: „Das Weib“, Leipzig 1908 (9. Auflage) und dem Werke Emest Crawleys:
The Mystic Rose. A study of primitive marriage. London 1902.
Die Pubertätsriten der jMaddien und ilire Spuren im Afärdieii
201
__ mit Ausnahme des Vaters von Zwillingen — darf eintreten. Die Zeremonien¬
aufseherin und die alteren Frauen unterweisen das junge Mädchen in den
Anfangsgründen der Lebensführung, in den ehelichen Pflichten, den Regeln
des Anstandes und der Gastfreundschaft, die eine verheiratete Frau beobachten
muß- Unter andern Dingen muß sich das junge Mädchen einer Reihe von
Prüfungen unterwerfen, als da sind: über Hindernisse springen, den Kopf
durch einen Domenkranz zwängen usw. Der Unterricht wird durch Lehm¬
figuren anschaulich gemacht, die Tiere und die gewöhnlichen Gegenstände des
häuslichen Lebens darstellen. Die Leiterin des Unterrichtes verschönert die
Mauern der Hütte mit rohen Zeichnungen, deren jede ihre besondere Bedeu-
tung und ihren besonderen Gesang besitzt, die von dem Mädchen verstanden
und gelernt werden müssen . 1 In dem vorstehenden Bericht scheint die Regel,
daß ein Mädchen im Alter der Pubertät weder die Sonne sehen noch
den Boden berühren darf, durch die Feststellung angedeutet zu sein, daß
es sich nach der ersten Wahrnehmung seines Zustandes in hohem Grase ver¬
steckt und nach Sonnenuntergang auf dem Rücken eines alten Weibes heim¬
getragen wird.
Wenn ein junges Mädchen unter den Nyanja sprechenden Stämmen von
Zentralangoniland in Britisch-Zentralafrika entdeckt, daß es eine geschlechts-
reife Frau geworden ist, bleibt es schweigend auf dem Wege, der ins Dorf
führt, stehen und verhüllt sein Gesicht mit einem Kattuntuch. Eine alte Frau,
die die Jungfrau dort findet, nimmt sie zu einem Fluß mit, um sie dort zu
baden; hierauf wird sie für sechs Tage in der Hütte der alten Frau abge¬
sondert. Sie ißt ihren Suppenbrei aus einem alten Korbe und die Zukost, in
die kein Salz gegeben werden darf, aus einer Topfscherbe. Der Korb wird
später weggeworfen. Am siebenten Tage versammeln sich die alten Frauen,
begeben sich mit dem Mädchen zu einem Fluß und werfen es ins Wasser.
Auf dem Heimwege singen sie Lieder; die alte Frau, die die Begehungen leitet,
trägt das Mädchen auf dem Rücken. Dann breiten sie eine Matte aus, holen
den Ehegatten des Mädchens, heißen die zwei sich niedersetzen und scheren
den Kopf des Mannes. Nach Einbruch der Dunkelheit begleiten die alten
Frauen das Mädchen zu der Hütte seines Gatten. Dort wird die ndiivo Zukost
am Feuer gekocht. Während der Nacht steht die Frau auf und tut etwas
Salz in den Topf. Vor der Morgendämmerung (während alles noch dunkel ist
und die Dorfbewohner noch nicht ihre Türen geöffnet haben) verläßt die
jungverheiratete Frau ihre Hütte und gibt etwas von der Zukost ihrer Mutter
und dem alten Weibe, das die Zeremonie geleitet hat. Sie stellt die Zukost
bei den Türen ihrer Hütten nieder und geht weg. Und wenn in der Frühe
die Sonne aufgegangen und alles im Dorfe hell ist, öffnen die zwei Frauen
ihre Türen und finden dort die Zukost mit dem Salze; sie nehmen davon
und reiben es auf ihre Füße und unter ihre Achselhöhlen. Und wenn kleine
Kinder im Hause sind, essen sie davon. Und wenn die junge Frau einen Bluts-
i) C. Gouldsbury and H. Sheane: The Great Plateau of Northern Nigeria
(London 1911), S. 158—160.
202
Alfred Winterstein
verwandten hat, der zur Zeit nicht im Dorfe weilt, wird etwas von der Zu¬
kost auf einen Splitter Bambusholz gestrichen und bis zu seiner Rückkehr auf¬
gehoben, damit er dann gleichfalls seine Füße damit einreiben kann. Doch
wenn die Frau ihren Mann impotent befindet, steht sie nicht zeitig auf
und geht nicht in die Dunkelheit hinaus, um die Zukost bei den Türen ihrer
Mutter und des alten Weibes niederzustellen. Und am Morgen öffnen die alten
Frauen ihre Türen, erblicken dort keine Zukost, erkennen, was geschehen ist,
und gehen nun listig zu Werke. Denn sie überreden den Ehegatten, den Wahr¬
sager zu befragen, damit er ein Mittel gegen dessen Impotenz bekanntgebe,
und während der Gatte mit dem Hexenmeister eingeschlossen ist, holen sie
einen anderen Mann herbei, der die Zeremonie mit der jungen Frau zu Ende
bringt, damit die Zukost verteilt werden kann und die Leute ihre Füße
damit einreiben können.
Tritt aber der Fall ein, daß ein Mädchen, das zur Reife gelangt, noch nicht
verlobt ist und daher keinen Bräutigam besitzt, zu dem sie gehen kann, so
sagen die alten Frauen dem Mädchen, es müsse statt dessen zu einem Lieb¬
haber gehen. Diesen Brauch nennt man chigango. Das Mädchen nimmt also
am Abend seinen Kochtopf samt Zukost und eilt in die Wohnung der Jung¬
gesellen, die aus Entgegenkommen diese Nacht anderswo schlafen. Und am
Morgen k$hrt das Mädchen zur Kuka-ttütte zurück . 1
Bei den nördlichen Clans des Thongastammes, in Südostafrika in der Gegend
der Delagoabucht, wird nachstehender Brauch beobachtet: Wenn ein Mädchen
glaubt, daß der Zeitpunkt seiner Heiratsfähigkeit gekommen ist, wählt es eine
Adoptivmutter, etwa in einem Nachbardorf. Sobald das Anzeichen sich be¬
merkbar macht, flüchtet das Mädchen aus dem eigenen Dorf und begibt sich
in das der Adoptivmutter, „um in ihrer Nähe zu weinen“. Nachher wird es
mit zahlreichen anderen Mädchen, die sich in demselben Zustande befinden,
für einen Monat abgesondert. Sie werden in eine Hütte gesperrt, und so oft sie
hinausgehen, müssen sie ein schmutziges Tuch auf ihren Gesichtem wie einen
Schleier tragen. Jeden Morgen werden sie zu einem Teich geführt und ins
Wasser bis zum Halse getaucht. Eingeweihte Mädchen oder Frauen begleiten
sie, wobei sie obszöne Lieder singen und mit Stöcken jeden Mann, der ihnen
begegnet, verjagen; denn kein Mann darf ein Mädchen während dieser Zeit
der Absonderung sehen. Würde er es erblicken, so heißt es, daß er mit Blind¬
heit geschlagen würde. Bei ihrer Rückkehr vom Flusse werden die Mädchen
wieder in der Hütte eingesperrt, wo sie vor Nässe schauernd verbleiben, denn
sie dürfen nicht zum Feuer gehen, um sich zu wärmen. Während ihrer
Abgeschiedenheit lauschen sie auf laszive Gesänge, die die erwachsenen
Frauen singen, und werden in sexuellen Dingen unterrichtet. Am Ende
des Monats bringt die Adoptivmutter das Mädchen zu seiner Mutter zurück
und beschenkt es mit einem Topfe Bier.
Uber einen primitiven Typus von Frauenzeremonien bei den Atchuabo in
1) R. Sutherland Rattray: Some Folk-Lore Stories and Songs in Chinganja
(London 1907), S. 102—105.
.Die Pubertatsriten der jMädcben und ihre Spuren im Atärchen
Portugiesisch-Ostafrika berichtet uns ausführlich P. Michel Schulien . 1 Dort
verlaufen die Mädchenweihen in fünf großen Tänzegruppen, die sich zeitlich
und inhaltlich an die großen Ereignisse im Leben des Mädchens anschließen:
erste Menstruation, Heirat, Schwangerschaft und erste Entbindung. Hauptziel
der Zeremonien ist die Erwerbung eines gewissen Etwas, das der geschlecht¬
lichen Betätigung erst die richtige Kraft verleiht, die „Kraft der Wollust“, die
dem Stamm den gesunden, starken Nachwuchs sichert. Hat ein Mädchen nach
den Zeremonien am eigenen ehelichen Herd ein Kind empfangen und geboren,
so rückt es in die Altersklasse der „Großen“ auf. Die Mittel, durch welche
diese Kraft erworben wird, sind: Betanzung, Belehrung und Beschneidung.
Sexuelle Aufklärung und Beschneidung sind bloß Nebenmittel; sie dienen der
Überleitung dieser Kraft auf die Mädchen. Das Hauptmittel aber ist der Tanz,
die Betanzung durch die namungu , die Zeremonienaufseherin, durch viele alte
Frauen, vor allem aber durch die Mutter des Mädchens. Mit dem Tanze sind
alle Teile der Zeremonien ausgefüllt. Der Tanz wird ausgeführt, um die Kraft
in die Mädchen überzuleiten. Er wird jedoch auch ausgeführt, um diese Kraft
zu schaffen, sie bereitzustellen, um sie zu ertanzen. Die namungu ist nicht nur
Lehrerin, sondern hat auch allein das Recht, bei den Zeremonien die Mädchen
zu schlagen, um sie von jugendlichen Freveltaten zu entsühnen ; 2 sie nimmt
auch die Beschneidung vor. Der Kandidatin werden ferner die Haare ge¬
schnitten und ein neuer Name beigelegt. Merkwürdig ist der Brauch, daß bei
einer bestimmten Tänzegruppe die alten Frauen mit den Mädchen auf einen
Mangobaum steigen, um alle Zweige abzureißen. Die Aufklärung erfolgt nicht
nur mit Worten, sondern auch pantomimisch, indem mit Masken angetane alte
Frauen die Begattung agieren. Während der Zeremonien wohnen die Mädchen
in einer Rundhütte, die von alten Männern, unter denen der Vater die Haupt¬
person ist, gebaut wird. Diese Hüttenform ist sonst bei den Atchuabo unbe¬
kannt und dürfte ein Überbleibsel aus einer älteren Kulturstufe (nigritischj sein
ebenso wie die Mädchenweihe selbst.
Von den Basutos in Britisch-Südafrika sei schließlich der, wie wir sehen
werden, charakteristische Zug erwähnt, daß die Mädchen im Pubertätsalter,
wenn sie von den alten Frauen in einem Flusse gebadet werden, einzeln in
den Krümmungen und Biegungen des Gewässers versteckt und angewiesen
werden, ihre Köpfe zu bedecken, da sie den Besuch einer großen Schlange 3
zu gewärtigen hätten. Ihre Glieder werden dann mit Lehm beschmiert, kleine
1) P. Michel Schulien, S. V. D.: Die Initiationszeremonien der Mädchen bei den
Atchuabo (Portugiesisch-Ostafrika). Anthropos, Bd. 18/19, 1925/24, Heft 1, 2, 5.
2) „Sie schlagen es, damit es denke, das, was ich tat, ist schlecht“, sagen die
Eingeborenen.
3) Bei den Baganda wurde die erste Menstruation als eine Heirat angesehen und
von dem Mädchen als einer Braut gesprochen. Bei den Siamesen herrscht der Glaube,
daß des Mädchens erste Menstruation von der Defloration durch Luftgeister
herrühre und daß die dadurch bewirkte Wunde jeden Monat durch den nämlichen
dämonischen Einfluß erneuert werde. (De la Loubere: Du Royaume de Siam.
Amsterdam 1691, I, S. 205.)
20-4 Alfred Wmterstein
Strohmasken auf ihre Gesichter gelegt und so geschmückt, folgen sie
einander täglich in feierlichem Zuge, melancholische Weisen singend, zu den
Feldern, um dort die landwirtschaftlichen Arbeiten zu erlernen, die
einen großen Teil ihres Lebens als Erwachsene ausfüllen werden . 1 Wir dürfen
annehmen, obwohl darüber nichts gesagt wird, daß die Strohmasken den Zweck
haben, die Gesichter der Mädchen den Blicken der Männer und den Strahlen
der Sonne zu entziehen.
Australien und Indonesien. In Kabadi, einem Distrikt von Britisch-Neu-
guinea, werden die Töchter von Häuptlingen im Alter von zwölf oder dreizehn
Jahren in häuslichem Gewahrsam gehalten, der zwei oder drei Jahre dauert
und bekommen unter gar keinem Vorwände die Erlaubnis, von ihrem Hause
hinabzusteigen; das Haus ist so beschattet, daß die Sonne sie nicht bescheinen
kann . 2
Über die Reifeweihe der Mädchen beim Stamme der Bänaro im Innern
Neuguineas verdanken wir Richard Thurnwald 3 einen ausgezeichneten, für
den Psychoanalytiker besonders aufschlußreichen Bericht, dem ich folgendes
entnehme : 4 Wenn die Mädchen mannbar werden, versorgt man sie mit einem
Gatten. Die Heirat 5 setzt den Abschluß der Reifeweihe voraus, die beim weib¬
lichen Geschlecht in ähnlicher Weise wie beim männlichen vorgenommen
wird, wenn die physiologische Pubertät erreicht ist. Die Einweihungszeremonie
erstreckt sich über einen Zeitraum von neun Monaten, während deren die
Mädchen in einer eigens eingebauten Zelle des Wohnhauses verschlossen gehalten
und nur mit Suppen von dünnem Sagoschleim ernährt werden. Zu Beginn
der Einschließung werden vom Vater einerseits und dem Mutterbruder ander¬
seits wilde Schweine gejagt und für ein Essen geliefert, bei Beendigung Haus¬
schweine für das Schluß fest geschlachtet, in ähnlicher Weise wie bei der
Jünglingsweihe. Während der ganzen Dauer der Einschließung des Mädchens
schläft dessen Vater in der „Geisterhalle “. 6 Das Ganze ist — nach Thurn¬
wald 7 — als ein Zauber zur Weibwerdung des Mädchens während der neun
Monate zu denken, während deren es, — wie im Mutterleib — in der Zelle
eingeschlossen, zum Weibe heranreifen soll und nur mit Sagoschleim ernährt wird.
Schließlich wird die Zelle von den Frauen gewaltsam erbrochen und die
Mädchen — es werden immer mehrere auf einmal der Weihe zugeführt —
1) E. Casalis: The Basutos (London 1861), S. 268.
2) J. Ghalmers andW. Wyatt: Gill, Work and Adventure in New Guinea (London
1885), S. 159.
5) Dr. Richard Thurnwald: Die Gemeinde der Bänaro. Ehe, Verwandtschaft
und Gesellschaftsbau eines Stammes im Innern von Neuguinea, Aus den Ergebnissen
einer Forschungsreise 1913—1915. Stuttgart 1921.
4) Thurnwald, a. a. O. S. 19ff.
5) Die Heirat erfolgt außerhalb des Glans, aber innerhalb des Stammes.
6) Die soziale Einheit der Niederlassung ist der Weiler. Jeder Weiler besitzt eine
besondere gemeinsame Halle (büek) als seinen religiösen und sozialen Mittelpunkt.
Die Bezeichnung „Geisterhalle“ rührt von Thurnwald her.
7) Thurnwald, a. a. O. S. 20.
Die Puhertätsriten der Afaddien und ihre Spuren im Alärchen 2,oS
freigelassen. Damit beginnen die Spiele. Die Frauen jagen die Mädchen aus
dem Haus und bewerfen sie draußen mit bereitgelegten Kokosnüssen (Be¬
fruchtungssymbole). Sie treiben sie schließlich in den Fluß, wo sie sie weiterhin
noch mit Kokosnüssen bombardieren. Schließlich lassen sie die Mädchen ans
Ufer, wo sie nun Sagobrei und Schweinefleisch, also das beste Essen bekommen.
Dann werden die Mädchen neu bekleidet und geschmückt. Hierauf tanzen die
Frauen um die schön geschmückten Mädchen.
An demselben Abend beginnt ein Nachtfest eigener Art. Nach Einbruch der
Dunkelheit versammeln sich die Männer auf den Straßen des Dorfes. Die
Alten stecken die Köpfe zusammen und einigen sich darüber, wie sie die nun
reifgewordenen Mädchen — gemäß ihrer Sitte — untereinander verteilen
sollen. Diese Sitte wurde Thurnwald folgendermaßen erklärt: Der Vater des
angelobten Bräutigams sollte zunächst eigentlich Besitz von dem Mädchen er¬
greifen. Dieses ist nämlich heute reif erklärt worden. Der Vater des Bräuti¬
gams sagt aber, er schäme sich, und bittet nun seinen „Sippenfreund“, mundü ,
von der anderen Hälfte des Clan , 1 seine Stelle einzunehmen und das Mädchen
in die Geheimnisse des ehelichen Verkehrs einzuführen. Der „Freund“ aus
der anderen Sippe stimmt zu. Und nun führt die Mutter des Mädchens dieses
dem Vater des Bräutigams zu und sagt ihr, er werde sie nach der Geisterhalle
geleiten, wo sie den „Geist“ in eigener Person treffen solle. Die Mädchen
aber — setzte Thurnwalds Gewährsmann hinzu — wissen schon, worum es
sich handelt.
Der Vater des Bräutigams führt sie nach der Geisterhalle und läßt sie ein-
treten. Sein „Leibfreund“, mundü, hat sich inzwischen schon nach der Halle
begeben und erwartet dort des Freundes künftige Schwiegertochter. Wie sie
eintritt, ergreift sie der „ mundü “ ihres künftigen Schwiegervaters an der Hand,
während der Schwiegervater selbst sich zurückzieht und die Halle verläßt.
Sie wird nun vom „mundü“ als „Geist“, „Kobold“ an den Platz geführt, an
dem die (drei bis sechs Meter) langen Bambuspfeifen verborgen aufbewahrt
werden. (Die Pfeifen, die bei vielen Zeremonien eine wichtige Rolle spielen,
werden als die Gefäße der Geisterstimme betrachtet und ihr Anblick ist dem
weiblichen Geschlechte bei Todesstrafe verboten. Die Frauen werden immer
weggescheucht, wenn die Pfeifen offen oder verhüllt getragen werden.)
Vor diesen in der Dunkelheit der Nacht und der Halle für das Mädchen
natürlich nicht sichtbaren Pfeifen findet nun der Beischlaf zwischen der Braut
und ihres künftigen Schwiegervaters „Sippenfreund“, mundü, als „Geist“ statt.
Danach wird sie vom mundü nach dem Ausgang der Halle geführt und unten
von dem wartenden Schwiegervater in Empfang genommen, der sie ihrer
Mutter zurückbringt. Der „mundü“ aber kehrt nach Haus zurück, doch nicht
auf geradem Weg zwischen den Dorfbewohnern hindurch, sondern auf einem
I Umweg, um niemandem zu begegnen, denn „er schämt sich“ — wie man sagt.
Des Bräutigams Vater begibt sich hierauf in die Geisterhalle, denn es ist
i) Der Clan ist in zwei Sippen geteilt. Die symmetrische Teilung der Geister¬
balle spiegelt die Spaltung des Clans in zwei Hälften wider.
2o6
Alfred Winterstein
jetzt an ihm, die Rolle des Geistes zu spielen. Der Sippenfreund, mundü , führt
ihm nunmehr seines Sohnes Braut zu demselben Zweck in gleicher Absicht z u
Die „Sippenfreunde“ der Schwiegerväter dürfen ihre Geisterrolle noch
wiederholt bei festlichen Gelegenheiten in der Halle ausüben, aber nur dort
Dem Bräutigam bleibt die Braut versagt, bis sie ein Kind geboren hat . 1
Das Kind, die Frucht ihres Verkehrs mit dem Sippenfreund ihres Schwieger¬
vaters, wird „Geisterkind “ 2 benannt. Kommt dieses zur Welt, so spricht die
Mutter: „Wo ist dein Vater? Wer hatte mit mir Umgang?“ Der Bräutigam
entgegnet: „Ich bin nicht sein Vater, es ist ein Geisterkind“. Sie meint dann:
„Wie ist es zugegangen, daß ich mit einem Geist zu tun hatte?“ Es scheint
also, daß die Braut auf das Ereignis der Kohabitation wie auf einen Vorgang
blickt, der ihr nicht voll zu Bewußtsein gekommen ist.
Mit Recht vermutet Thurnwald 3 in der Ablehnung der Defloration von
seiten des Vaters des Bräutigams eine Neuerung und betrachtet das Anerbieten
selbst als den Bestandteil eines alten Brauches. Danach hätte also der Vater
die Braut des Sohnes defloriert, eine Sitte, die auch in abgeschwächter Form
als Wohnen beim Schwiegervater vorkommt . 4
Auf den Marshall-Inseln waren früher mit dem Eintritt der Pubertät bei
einer Häuptlingstochter viele Zeremonien verbunden. Nach der Salbung durch
eine Zauberin nahm das Mädchen ein Bad, das sie während der zwei bis
drei Wochen dauernden Feier täglich dreimal wiederholte. Den Weg der
Häuptlingstochter zum Bad durfte sonst niemand betreten. Ihre Haltung und
ihre Lage hatten sich Tag und Nacht nach bestimmten Vorschriften zu richten.
Zum Schlüsse der Feier gab man ein großes Essen, an dem alle Untertanen
teilnahmen. Von jetzt an durften die Eltern des Mädchens, die sich während
der Feier voneinander enthalten hatten, wieder Zusammenkommen. Das Mädchen
wurde in der nächsten Nacht der Feier von einem hohen Mitglied der
Familie, das auch der eigene Vater sein konnte, defloriert und
konnte in jeder der folgenden Nächte mit ihm verkehren. In Ermanglung
eines ebenbürtigen Mannes auf der Insel holte man einen von einer anderen
Insel. Die Pubertätsfeier gewöhnlicher Mädchen durfte nur im Kreise der
1) Bei den Tai-Shan-Stämmen in China wird die Ehe erst geschlossen, wenn ein
Kind geboren worden ist. (Strzoda: Die Li auf Hainan. Zeitschr. f. Ethn. 1911,
S. 203.) Darüber, daß die Ehe als nicht vollständig betrachtet wird, solange kein
Kind geboren, vgl. E. Crawley: The Mystic Rose, S. 464.
2) Daß das erste Kind als „Geistkind“ betrachtet wird, erinnert daran, daß die
Empfängnis, die Entstehung des Kindes überhaupt, auf die Wirkung von Ahnen¬
geistern, wie z. B. oft in Australien, zurückgeführt wird. (Turnwald, a. a. O. S. 38.)
3) Thurnwald, a. a. O. S. 184.
4) Siehe Crawley: The Mystic Rose, S. 314, 347 ff. Beim Mekeo-Stamm in Neu¬
guinea wird die Braut nach dem Hause ihres künftigen Schwiegervaters gebracht,
wo sie oft zwei bis drei Monate lebt, bis die Kohabitation mit ihrem künftigen
Gatten vollzogen wird. Das Zeichen, daß die Ehe konsummiert werden darf, wird
durch ihre Anwesenheit im Garten gegeben. (W. W. Williamson, Journ. R. Anthr.
Inst. 1913, S. 276.)
Die Pubertatsriten der Afädclien und ihre Spuren im jMärchen
Familie begangen werden. Die Eltern mußten ihre Töchter am Schlüsse der
Feier dem Häuptling schicken, der eine Verweigerung strenge gestraft hätte.
Auch die jetzigen Häuptlinge machen von diesem Jus primae noctis Gebrauch . 1
Bei den Ot Danoms auf Borneo werden die Mädchen im Alter von acht
oder zehn Jahren in einem kleinen Zimmer oder einer Zelle des Hauses ein¬
gesperrt und von jedem Verkehre mit der Welt für lange Zeit abgeschlossen.
Die Zelle ist so wie das übrige Haus auf Pfählen über dem Erdboden errichtet
und empfängt ihr Licht nur durch ein einziges schmales Fenster, das auf einen
einsamen Platz hinausgeht, so daß das Mädchen in fast gänzlicher Finsternis
verbleibt. Es darf das Zimmer unter gar keinem Vorwände verlassen, nicht
einmal für die notwendigsten Bedürfnisse. Kein Familienmitglied darf das
Mädchen während dieser Zeit sehen, eine einzige Sklavin ist zu seiner Be¬
dienung da. Während der Einzelhaft, die oft sieben Jahre dauert, beschäftigt
sich das Mädchen mit dem Weben von Matten oder anderen Handarbeiten.
Sein Wachstum verkümmert infolge des jahrelangen Mangels an Bewegung,
und wenn es nach Erlangung der Geschlechtsreife herauskommt, ist seine Haut¬
farbe wachsbleich. Es werden ihm nun die Sonne, die Erde, das Wasser, die
Bäume und die Blumen gezeigt, als ob das Mädchen neu geboren wäre.
Hierauf wird ein großes Fest veranstaltet, ein Sklave getötet und das Mädchen
mit dessen Blute beschmiert (Wiedergeburtszauber ). 2
Beim Yaraikanna-S tamm der Halbinsel Kap York im nördlichen Queens¬
land muß ein mannbar gewordenes Mädchen einen Monat oder sechs Wochen
lang für sich leben; kein Mann darf sie zu Gesicht bekommen, wohl aber
jede Frau. Sie hält sich in einer Hütte oder unter einem Schutzdach auf, das
eigens für sie gebaut wurde, und liegt rücklings auf dem Boden. Sie darf die
Sonne nicht sehen und muß um die Zeit des Sonnenunterganges ihre Augen
geschlossen halten, bis die Sonne untergegangen ist; denn man glaubt, daß
andernfalls ihre Nase erkranken würde. YVahrend ihrer Absonderung darf
sie nichts essen, was in Salzwasser lebt, sonst würde eine Schlange sie
töten. Eine alte Frau betreut sie und versorgt sie mit Wurzeln, Yams und
Wasser. Einige Stämme pflegen ihre Mädchen bei solchen Gelegenheiten mehr
oder weniger tief in der Erde zu begraben, vielleicht in der Absicht,
sie vor dem Sonnenlichte zu verstecken. Wenn unter den Eingeborenen
des Pennefather-Flusses auf der Halbinsel Kap York in Queensland ein Mädchen
zum erstenmal menstruiert, wird es von der Mutter zu irgendeinem abge¬
legenen Platze geführt, die dort ein kreisrundes Loch im Sandboden unter
dem Schatten eines Baumes gräbt. In diesem Loch kauert das Mädchen
mit gekreuzten Beinen und wird bis zum Gürtel mit Sand bedeckt.
Zu beiden Seiten wird ein Grabstock fest in den Sand gepflanzt und der Platz
mit einer Einfriedigung von Strauchwerk umgeben, ausgenommen vorn, wo
1) Erdland: Die Marshall-Insulaner. München 1914.
2) C. A. C. M. Schwaner: Borneo, Beschrijving van het stromgebied van den
Banto II. (Amsterdam, 1853—1854), S. 77 ff.; W. F. A. Zimmer mann, Die Inseln
des Indischen und Stillen Meeres II. (Berlin 1864—1865), S. 632 ff.; Otto Finsch:
Neuguinea und seine Bewohner (Bremen 1865), S. 116 ff.
2o8 Alfred Wmterstein
die Mutter ein Feuer entzündet. Dort verbleibt das Mädchen den ganzen Tag,
indem es mit gekreuzten Armen dasitzt und die Handteller auf den Sand legt.
Es darf die Arme nicht bewegen, außer um Nahrung von der
Mutter zu empfangen oder um sich zu kratzen; und wenn das Mädchen
sich kratzt, darf es sich nicht mit den eigenen Händen berühren, son¬
dern muß zu diesem Zweck einen Holzsplitter benützen, der, wenn er
nicht gebraucht wird, ins Haar gesteckt wird. Sie darf nur mit ihrer
Mutter sprechen; niemand anderer würde daran denken, sich ihr zu nähern.
Am Abend ergreift das Mädchen die zwei Grabstöcke, befreit sich mit ihrer
Hilfe von dem darüberliegenden Sandgewicht und kehrt ins Lager zurück.
Tags darauf wird es wieder im Sand unter dem Schatten des Baumes begraben
und verbleibt dort bis zum Abend. Das geschieht fünf Tage lang. Nach seiner
Rückkehr am Abend des fünften Tages wird das Mädchen von der Mutter
mit einem Gürtel, einem Stirn- und einem Halsband aus Perlmuscheln ge¬
schmückt und um seine Arme, Handgelenke und über seine Brust werden
grüne Papageienfedern gebunden; der Körper selbst wird vorn und hinten
vom Gürtel aufwärts mit roten, weißen und gelben Klecksen bemalt. Nach
der zweiten und dritten Menstruation wird das Mädchen in gleicher Weise
im Sande begraben, bei der vierten darf es im Lager bleiben, indem es seinen
Zustand bloß dadurch kennzeichnet, daß es einen Korb mit leeren
Muscheln auf dem Bücken trägt . 1
Nordamerika. Bei den Akt- oder Nutka -Indianern auf Vancouver Island
werden die Mädchen nach Erreichung der Pubertät in eine Art Galerie des
Hauses gebracht und dort vollständig mit Matten umgeben, so daß weder die
Sonne noch ein Feuer gesehen werden kann. In diesem Käfig ver¬
bleiben sie viele Tage. Sie erhalten Wasser, aber keine Nahrung. Je länger
ein Mädchen in dieser Zurückgezogenheit bleibt, desto größer ist die Ehre
für die Eltern; aber das Mädchen ist fürs Leben in Ungnade gefallen, wenn
bekannt wird, daß es ein Feuer oder die Sonne während seiner Ini¬
tiationsprüfung erblickt hat . 2 Bilder des mythischen Donnervogels
werden auf die Schirme gemalt, hinter denen das Mädchen sich ver¬
steckt. (Vgl. die siamesischen Luftgeister.) Während seiner Absonderung darf es
sich weder bewegen noch niederlegen, sondern muß immer in einer hockenden
Stellung sitzen. Es darf sein Haar nicht mit den Händen berühren, wohl
aber mit einem Kamm oder einem Stück Knochen kratzen, die eigens
für diesen Zweck beschafft werden. Es ist dem Mädchen gleichfalls verboten,
seinen Körper zu kratzen, da man annimmt, daß jeder Kratzer eine Narbe
hinterlassen würde. Nachdem es die Reife erlangt hat, darf es durch acht Monate
keine frischen Speisen essen, insbesondere nicht Lachs. Ja das Mädchen muß
für sich essen und eine eigene Schale und Schüssel benützen . 3
1) Walter E. Roth: North Queensland Ethnography. Bulletin No. 5, Superstition,
Magic and Medicine (Brisbane 1903), S. 24 ff.
2) G. M. Sproat: Scenes and Studies of Savage Life (London 868), iS. 93 ff-
3) Franz Boas in Sixth Report on the North-Western Tribes of Canada, S. 40—42
(separate reprint from the Report of the British Association for the Advancement
Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märeben
209
Bei den Tlingit (Thlinkeet) oder AoZosfe-Indianern in Alaska pflegte
ein Mädchen, wenn es Zeichen der Weiblichkeit verriet, in einer kleinen
Hütte oder einem Käfig eingeschlossen zu werden, der als einzige Öff¬
nung ein kleines Luftloch besaß. In diesem dunkeln und schmutzigen
Wohnort mußte es ein Jahr verbleiben, ohne Feuer, Bewegung oder Gefährten . * 1
Nur die Mutter und eine Sklavin durften der Jungfrau Nahrung bringen. Die
Speisen wurden ihr durch das kleine Fenster hereingereicht und sie mußte
aus dem Flügelknochen eines weißköpfigen Adlers trinken. Der Zeitraum
ihrer Absonderung wurde später an manchen Orten auf sechs oder drei oder
noch weniger Monate herabgesetzt. Sie mußte eine Art Hut 2 mit breiten
Krempen tragen, damit ihr Blick nicht den Himmel beflecke; denn man glaubte,
daß sie nicht geeignet sei, von der Sonne beschienen zu werden, und daß
ihr Blick das Glück eines Jägers, Fischers oder Spielers zerstören, Gegenstände
in Stein verwandeln und anderen Unfug anstiften werde . 3 Am Ende ihrer
Isolierung wurden ihre alten Kleider verbrannt, neue angefertigt und ein Fest
veranstaltet, bei dem parallel zum Munde ein Schlitz in die Unterlippe des
Mädchens geschnitten und ein Stück Holz oder eine Muschel hineingesteckt
wurde, um den Schlitz offen zu halten . 4
Bei den Hareshin Tinneh -Indianern in Alaska wurde ein Mädchen zur Zeit
of Science, Leeds meeting 1890). Das Verbot, sich niederzulegen, wird auch von
Tsimshian-Mädchen während ihrer Zurückgezogenheit in der Pubertät beobachtet: sie
sitzen immer aufgestützt zwischen Kästen und Matten, ihre Köpfe sind mit kleinen
Matten bedeckt und sie dürfen nicht Männer, frischen Lachs und Olachen anschauen.
Bei dem Bilqula-Sta.mm in Britisch-Columbia sagt man: Ißt ein Mädchen zur kritischen
Zeit frischen Lachs, so verliert es das Bewußtsein oder sein Mund wird zu einem
langen Schnabel. — Einige Priesterkönige dürfen sich auch nicht niederlegen. Vgl.
J. G. Frazer: Taboo and the Perils of the Soul. S. 5 (Part II of The Golden Bough).
1) Bei den Eskimo auf Alaska wird das Mädchen in eine kleine Hütte eingesperrt
und muß sechs Monate auf den Händen und Knien bleiben.
2) Bei den Haida -Indianern auf Queen Charlotte Island tragen die Mädchen
während der Pubertät nahezu kegelförmige Kopfbedeckungen.
3) Bei mehreren Stämmen ist der Glauben verbreitet, daß schlechtes Wetter eintreten
würde, wenn das Mädchen auf den Himmel blickte oder sein Antlitz der Sonne zeigte.
4) Bei PIoß-Renz (Das Kind. Leipzig 1912, II. Bd., S. 746) ist von einem
Silberstift die Rede, der als Zeichen der Reife hineingesteckt wird. — G. H. von
Langsdorff: Reise um die Welt II. (Frankfurt 1812), S. 114 ff.; H. J. Holmberg:
Ethnographische Skizzen über die Völker des Russischen Amerika. Acta Societatis
Scientiarum Fennicae, IV. (Helsingfors 1856), S. 319 ff.; T. de Pauly: Descriptions
Ethnographiques des Peuples de la Russie (St. Petersbourg 1862). Peuples de l’Am&ri-
que Russe, S. 13; A. Erman: Ethnographische Wahrnehmungen und Erfahrungen an
den Küsten des Berings-Meeres. Zeitschrift für Ethnologie, II. (1870), S. 318 ff.;
H. H. Banci:oft: Native Races of the Pacific States I. (London 1875—1876), S. 110 ff.;
Rev. Sheldon J ackson: Alaska and its Inhabitants, The American Antiquarian, II.
(Chicago 1879—1880), S. 111. ff.; A. Woldt: Capitän Jacobsens Reise an der Nord¬
westküste Amerikas, 1881 —1883 (Leipzig 1884), S. 393; Aurel Krause: Die Tlinkit-
Indianer (Jena 1885), S. 217 ff.; W. M. Grant in Journal of American Folk-Lore, I.
(1888), S. 169; John R. Swanton: Social Conditions, Beliefs and Linguistic Relation-
210
Alfred Winterstein
der Pubertät für fünf Tage in einer Hütte abgesondert, die eigens für den
Zweck erbaut wurde; sie darf nur aus einer Röhre trinken, die aus den Knochen
eines Schwans verfertigt wird, und weder den Knochen eines Hasen brechen
noch Blut schmecken noch das Herz oder Fett von Tieren noch Vogeleier
essen . * 1 Bei den Tinneh-Indieinern des mittleren Yukontales in Alaska dauert
die Zeit der Klausur des Mädchens genau einen Mondmonat; denn es wird
der Tag des Monats, an dem die Symptome zuerst auftreten, aufgezeichnet
und die Novize bis zum selben Tage des nächsten Monats abgesondert. Ist es
Winter, so wird ein Winkel des Hauses für sie durch eine Decke oder ein
Segeltuch abgetrennt; ist es Sommer, für sie ein kleines Zelt in der Nähe des
gemeinsamen aufgestellt. Dort wohnt und schläft sie. Sie trägt ein langes Kleid
und eine große Kopfbedeckung, die sie, so oft sie die Hütte verläßt, über die
Augen ziehen und bis zu ihrer Rückkehr unten lassen muß. Sie darf weder
mit einem Manne sprechen noch sein Gesicht sehen, viel weniger seine
Kleider berühren oder etwas, was ihm gehört; denn täte sie das, würde ihr
zwar kein Übel widerfahren, aber der Mann würde unmännlich werden. Sie
hat ihre eigenen Schüsseln, um daraus zu essen, und darf keine anderen be¬
nützen; in Kaltag muß sie das Wasser durch den Knochen eines Schwans
einsaugen, ohne die Schale mit ihren Lippen zu berühren. Sie darf kein
frisches Fleisch und keinen Fisch essen, ausgenommen das Fleisch des Stachel¬
schweins. Sie darf sich nicht entkleiden, sondern schläft mit allen ihren Kleidern,
selbst mit ihren Handschuhen. Unter ihren Socken trägt sie unmittelbar auf
der Haut die von den Füßen eines Stachelschweins abgeschnittenen Horn¬
sohlen, damit für den Rest ihres Lebens ihre Schuhe niemals abgenützt werden.
Um die Hüften trägt sie eine Schnur, an der die Oberschenkel eines Stachel¬
schweins befestigt sind; denn von allen den Tinneh-Indianem bekannten Tieren
leidet das Stachelschwein am wenigsten beim Gebären, es läßt ein¬
fach seine Jungen niederfallen und geht oder springt weiter herum, als ob
nichts geschehen wäre. Daher läßt sich vermuten, daß ein Mädchen, das
diese Teile eines Stachelschweins um ihren Leib trägt, ebenso mühelos ent¬
binden wird wie das Tier. Falls jemand zufällig ein trächtiges Stachelschwein
während der Klausur des Mädchens tötet, wird ihr, um ganz sicher zu gehen,
der Fötus gegeben, den sie zwischen Hemd und Körper niedergleiten läßt,
damit er wie ein kleines Kind zu Boden falle . 2 Hier ist die Nachahmung der
Geburt ein Stück homöopathischer oder imitativer Magie, welche die Absicht
verfolgt, die Handlung zu erleichtern, die sie darstellt. Ähnliche Bräuche werden
von den Thompson-lndianeYn in Britisch-Columbia 3 , den MasJcohi- (Fox-) Indianern
ship of the Tlingit Indians, Twentysixth Annual Report of the Bureau of American
Ethnology (Washington 1908), S. 428.
1) Emile Petitot: Traditions Indiennes du Canada Nord-ouest (Paris 1886), S. 257 ff.
2) Fr. Julius Jette, S. J.: On the superstitions of the Ten’a Indians. Anthropos
VI. (1911), S. 700—702.
5) James Teit, The Thompsons Indians of British-Columbia, S. 511—317. (The
Jesup North Pacific Expedition, Memoir of the American Museum of Natural History,
New York, April 1900.)
Die Pubertätsriten der Afäddieii und ihre Spuren 1 ni jMarchen
des westlichen Nordamerika (Sac- und Foxreservations ) 1 und anderen Stämmen
berichtet.
Südamerika. Die Macusi in Britisch-Guayana sondern das zum erstenmal
menstruierende Mädchen als „unrein von allem Umgang mit den Bewohnern
der Hütte ab. Die Hängematte des Mädchens wird „in die äußerste Kuppel¬
spitze* der Hütte gehängt, wo die Ärmste dem ganzen Rauche, der jetzt wo¬
möglich noch vermehrt wird, ausgesetzt ist. In der ersten Zeit darf sie tagsüber
die Hängematte überhaupt nicht verlassen. Abends aber muß sie herunterkommen,
sich an ein selbst angezündetes Feuer setzen und die Nacht an diesem zu¬
bringen ; sonst bekommt sie eine Menge schlimmer Geschwüre am Halse, einen
Kropf usw. Solange die heftigsten und auffallenden Symptome des physischen
Übergangs anhalten, bleibt sie dem strengsten Fasten unterworfen. Haben die
Schmerzen nachgelassen, dann darf sie aus der Höhe herabsteigen und einen
kleinen Verschlag beziehen, der unterdessen im dunkelsten Winkel der Hütte
hergerichtet worden ist. Am Morgen kann sie sich in einem eigenen Topfe,
an einem besonderen Feuer ihren Kassaive -Brei kochen, der während der ganzen
Absonderungszeit ihre einzige Nahrung bildet, bis etwa nach zehn Tagen der
Piay (Zauberer, Arzt) erscheint und sie und alles, womit sie in Berührung
kam, entzaubert, indem er das Mädchen und die wertvolleren Sachen anbläst.
Die von ihr gebrauchten Töpfe und Trinkschalen werden zertrümmert und
die Scherben begraben. Nach der Rückkehr des Mädchens aus dem ersten Bade
muß es sich während der Nacht auf einen Stein oder Stuhl setzen, wo es
von der Mutter mit dünnen Ruten gegeißelt wird, „ohne einen Schmer-
zenslaut ausstoßen zu dürfen, der die Schläfer in der Hütte aufwecken könnte,
was ihr künftiges Wohl gefährden würde“. Während der zweiten Periode
findet diese Geißelung abermals statt, später nicht mehr. Das Mädchen kann
jetzt wieder unter den anderen Leuten erscheinen, ist rein, und wenn es
bereits versprochen sein sollte, erscheint am folgenden Tage der Bräutigam
in der Hütte und führt die junge Braut heim . 2 Bei anderen Indianern in
Guayana herrscht wieder folgender Brauch. Nachdem sie die Pubertätskandi¬
datin in ihrer Hängematte einen Monat lang unter dem Hüttendach aufge¬
hängt haben, setzen sie sie den sehr schmerzvollen Bissen gewisser großer
Ameisen aus . 3 Es heißt, daß der Zweck der Ameisenstiche der ist, sie zum
Ertragen der Last der Mutterschaft stark zu machen . 4
Bei den XJaupes (Waupes) in Brasilien werden die Mädchen bei Eintritt
der Pubertät auf eine kärgliche Kost beschränkt und im oberen Teile der
Hütte zurückgehalten, wo sie eine Emanzipationsprüfung durch schwere Streiche
1) Owen: Folk-Lore of the Musquakie Indians. London 1904.
2) R. Schomburgk: Reisen in Britisch-Guiana II. (Leipzig 1847—1848), S. 315 ff.;
C. F. Ph. von Martius: Zur Ethnographie Amerikas, zumal Brasiliens (Leipzig 1867),
S. 644.
3) Labat: Voyage du Chevalier des Marchais en Guinee, Isles voisines et ä
Cayenne IV, S. 365 ff. (Paris 1730), S. 17 ff. (Amsterdam 1731).
4) A. Caul in: Historia Corographica natural y evangelica de la Nueva Andalucia
(*779)1 S. 93.
212
Alfred Winterstein
mit schmiegsamen Ranken der Sipo-Pflanze zu überstehen haben. Sie empfangen
von jedem Familienmitgliede und Freunde mehrere Hiebe über den
ganzen nackten Leib, die oft bis zur Ohnmacht, ja zum Tode führen. Diese
Exekution wird in sechsstündigen Zwischenräumen viermal wiederholt; es gilt
als eine Beleidigung der Eltern, nicht heftig zu schlagen . 1
Bei den Guaranis in Südbrasilien, an der Grenze von Paraguay, pflegte
man ein Mädchen nach Eintritt der Pubertätssymptome in ihre Hängematte
einzunähen, wobei man nur eine kleine Öffnung zum Atemholen freiließ . 2
Eingewickelt und eingehüllt wie ein Leichnam, verblieb die Kandidatin
in dieser Verfassung zwei oder drei Tage oder solange eben ihre Symptome
dauerten, und hatte während dieser Zeit ein sehr strenges Fasten zu beobachten.
Nachher wurde sie einem alten Weibe anvertraut, das ihr die Haare schnitt
und ihr zur Pflicht machte, jeglichen Fleischgenuß 3 unbedingt zu vermeiden,
bis ihr Haar lange genug nachgewachsen wäre, um ihre Ohren zu verbergen.
Unterdessen zogen die Wahrsager Schlüsse auf ihren zukünftigen Charakter
aus den Vögeln oder Tieren, die vorüberflogen oder ihren Pfad kreuzten.
Erblickten sie einen Papagei, so sagten sie, sie sei eine Plaudertasche. Sahen
sie eine Eule, war sie faul und für häusliche Arbeiten nicht zu brauchen usw . 4
Unter ähnlichen Umständen zogen die Chiriguanos des südöstlichen Bolivien
das Mädchen in ihrer Hängematte bis zum Dache hinauf, wo es einen Monat
verblieb; im zweiten Monat wurde die Hängematte bis zur halben Höhe vom
Dache herabgelassen; und im dritten Monat betraten mit Stöcken bewaffnete
alte Weiber die Hütte und liefen dort herum, indem sie alles, was ihnen in
den Weg kam, mit der Begründung schlugen, daß sie die Schlange jagten,
die das Mädchen verwundet habe . 5 Die Lengua -Indianer im Gran Chako
(Paraguay) hängen ein Mädchen nach Eintritt der Pubertät gleichfalls unterm
Dache des Hauses auf. Ist sie genötigt, die Hängematte für kurze Zeit zu ver¬
lassen, so geben ihre Freunde sehr acht, um sie vor der Berührung des
Boyrusu zu schützen, einer Fabelschlange, die sie verschlingen würde.
Am dritten Tage läßt man sie von der Hängematte heräbsteigen, schneidet
ihre Haare und heißt sie in einem Winkel des Zimmers mit dem Gesichte
1) A. R. Wallace: Narrative of travels on the Amazon and Rio Negro, S. 496
(S. 345 of the Minerva Library edition, London 1889).
2) Bei den Coroados (Puri) im südöstlichen Brasilien sollen die Mädchen die
Zeit ihrer ersten Menstruation in einem Behälter (casca ) aus Baumrinde zubringen.
3) Bei den Indianern des südöstlichen Brasilien bestand nach den Berichten eines
Reisenden des sechzehnten Jahrhunderts das gleiche Verbot für Salz.
4) Jose Guevara: Historia del Paraguay, Rio de la Plata y Tucuman, S. 16 ff.
in Pedrö de Angelis, Goleccion de Obras y Documentos relativos a la Historia antigua
y moderna de las Provincias del Rio de la Plata, vol. I (Buenos Aires 1836);
J. F. Lafitan: Moeurs des Sauvages Ameriquains (Paris 1724), I. S. 262 ff.
5) Pere Ignace Chome in: Lettres 6difiantes et curieuses, Nouvelle edition
(Paris 1780—1783), VIII, S. 325; G.F. Phil. v. Martius: Zur Ethnographie Amerikas,
zumal Brasiliens (Leipzig 1867), S. 212 ff.; Colonel G. E. Church: Aborigines of
South America (London 1912), S. 207—227.
Die Puhertätsriten der .Mädchen und ihre Spuren im M^ärchen 2i3
gegen die Wand sitzen. Sie darf mit niemand sprechen und muß sich vom
Fisch- und Fleischgenuß enthalten. Diese strengen Bräuche muß sie
fast ein Jahr lang beobachten. Viele Mädchen sterben oder sind für ihr Leben
infolge der Mühsal beschädigt, die sie in dieser Zeit auszustehen haben. Spinnen
und Weben ist ihre einzige Beschäftigung während der Isolierung . 1
Bei den Tapuya , einem Zweig der Ges an der brasilianischen Ostküste,
fand Johann Rabe um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts folgenden
Brauch: Die Mutter meldete die eingetretene Reife ihrer Tochter den Priestern,
die das Ereignis dem Häuptling hinterbrachten. Hierauf führte man diesem
das rot angestrichene Mädchen mit bekränztem Haupte vor. Der Häuptling
beräucherte sie und sich selbst mit Tabak und schoß einen Pfeil nach dem
Kranze ab. Traf er so, daß Blut floß, dann leckte er dieses ab und das
Mädchen hatte Hoffnung auf ein langes Leben . 2
Bei den Banivas im Gebiete des Orinoco muß ein Mädchen bei seiner
ersten Menstruation einige Tage und Nächte in seiner Hängematte fast be¬
wegungslos zubringen und erhält als Speise und Trank bloß etwas Kassaive-Brei
und Wasser. Während sie dort liegt, halten die Bewerber bei ihrem Vater
um ihre Hand an und dem, der am meisten geben kann oder sich als der
tüchtigste Mann erweist, wird die Jungfrau versprochen. Ist die Fastenzeit
vorüber, betreten einige alte Männer die Hütte, verbinden der Novize die
Augen, bedecken ihren Kopf mit einem Hut, dessen Fransen auf ihre Schultern
fallen, führen sie hinaus und binden sie an einen Pfahl, der auf einem offenen
Platz aufgestellt ist. Der Kopf des Pfostens ist nach Art eines grotesken Gesichtes
geschnitzt. Nur die alten Männer dürfen Zeugen des Folgenden sein. Würde
man eine Frau beim Zuschauen ertappen, würde es ihr übel ergehen; sie
würde für die Rache des Dämons ausgezeichnet sein, der sie im nächsten
Monat ihr Vergehen mit Wahnsinn oder Tod büßen lassen würde. Jeder
Teilnehmer dieser Zeremonie erscheint bewaffnet mit einer Geißel aus Stricken
oder Fischhäuten; manche verstärken die Kraft des Werkzeuges, indem sie
kleine scharfe Steine an die Enden der Riemen binden. Dann bewegen sich
die Männer zu den gräßlichen und betäubenden Klängen von Muscheltrompeten,
die von zwei oder drei Überzähligen geblasen werden, im Kreise um den
Pfahl, wobei jeder im Vorübergehen mit seiner Geißel den Rücken des Mädchens
bearbeitet, bis das Blut in Strömen hinunterfließt. Zuletzt nähern sich die
Musikanten, indem sie gewaltige Hornstöße gegen den Dämon ertönen lassen,
und berühren den Pfosten, in dem er angeblich verkörpert ist. Dann hören
die Schläge auf; das Mädchen wird, oft in ohnmächtigem Zustande, losgebunden
und weggetragen, damit seine Wunden gewaschen und Heilkräuter aufgelegt
werden. Der jüngste der Vollzieher oder richtiger der Exorzisten beeilt sich,
den versprochenen Ehegatten von dem glücklichen Ausgang der Austreibung zu
1) A. Thouar: Explorations dans l’Amerique du Sud (Paris 1891), S. 48 ff.; G. Kurze:
Sitten und Gebräuche der Lengua-Indianer. Mitteilungen der Geographischen Gesell¬
schaft zu Jena, XXIII. (1905), S. 26 ff.
2) O. Dapper: Umständliche und eigentliche Beschreibung von Afrika. Amster¬
dam 1670.
Imago XIV.
15
Alfred VGnterstein
21-4
benachrichtigen. „Der Geist“, sagt er, „hat deine Geliebte in einen Schlaf
versenkt, der fast so tief ist wie der des Todes. Doch wir haben sie
von seinen Angriffen befreit und dort und dort niedergelegt. Geh sie suchen.“
Dann geht er durch das Dorf von Haus zu Haus und ruft den Bewohnern
zu: „Kommt, laßt uns den Dämon verbrennen, der von dem Mädchen, unserer
Freundin, Besitz ergriffen hätte . u Der Bräutigam trägt sofort seine verwundete
und leidende Braut in sein eigenes Haus; und alle Leute versammeln sich
um den Pfahl um des Vergnügens willen, ihn und den Dämon zusammen z u
verbrennen. Ein großer Scheiterhaufen ist inzwischen rundherum aufgeschichtet
worden; die Weiber rennen um den Scheiterhaufen und verfluchen mit schrillen
Stimmen den bösen Geist, der all das Übel angestiftet hat. Die Männer stimmen
mit rauheren Lauten ein und feuern einander zu dem im Gange befindlichen
Geschäfte durch tiefe Schlucke eines berauschenden Getränkes an, das für
diese Gelegenheit von den Schwiegereltern bereitgestellt wurde. Bald erscheint
der Bräutigam, nachdem er die Braut der Obhut seiner Mutter anvertraut
hat, eine entzündete Fackel schwingend, auf der Bildfläche. Er wendet sich
mit bitterem Spott und mit Vorwürfen an den Dämon, teilt ihm mit, daß
das holde Geschöpf, gegen das er verruchte Absichten hegte, jetzt seine, des
Bräutigams, blühende Braut sei, und indem er seine Fackel gegen das grinsende
Haupt auf dem Pfahle schüttelt, ruft er aus: „Dies ist die Art, wie die
Opfer deiner Verfolgung an dir Bache nehmen.“ Mit diesen Worten entzündet
er den Scheiterhaufen. Auf einmal rühren sich die Trommeln, schmettern die
Trompeten, und Männer, Weiber und Kinder beginnen zu tanzen. Sie tanzen
in zwei langen Leihen, die Männer auf einer Seite, die Frauen auf der
andern, indem sie Vorgehen, bis sie einander fast berühren, und sich dann
wieder zurückziehen. Hernach geben die zwei Reihen einander die Hände,
bilden einen großen Kreis und hüpfen rings um die Glut, bis der Pfahl mit
seinem grotesken Gesichte von den Flammen verzehrt ist und nichts vom
Scheiterhaufen übrigbleibt als ein Häufchen rotglühender Asche. „Der böse
Geist ist vernichtet worden. Auf diese Weise von ihrem Verfolger befreit,
wird die junge Frau von Krankheit verschont bleiben, nicht im Kindbette
sterben und ihrem Gatten viele Kinder gebären .“ 1 Aus diesem Berichte geht
hervor, daß die Banivas die Pubertätssymptome der Mädchen den
ihnen von einem verliebten Teufel zugefügten Wunden zuschreiben,
der nicht allein ausgetrieben, sondern am Pfahle zu Asche verbrannt werden
kann . 2
Asien. Wenn ein Hindumädchen das Alter der Reife erreicht, wird es
in einem dunkeln Zimmer vier Tage lang zurückgehalten und darf die
Sonne nicht sehen. Sie wird als unrein betrachtet; niemand darf sie be¬
rühren. Ihre Diät beschränkt sich auf gekochten Reis, Milch, Zucker, Käse¬
quark und Tamarinde ohne Salz. Am Morgen des fünften Tages geht sie
zu einer in der Nähe befindlichen Zisterne, begleitet von fünf Frauen, deren
1) J. Chaffanjon: L’Orinoque et la Gaura (Paris 1889), S. 213—215.
2) Die Bemerkung stammt von Fra2er, a. a. O., I, S. 68.
Die PnLertätsnten der ALädclieii und ihre Spuren im Märdien
216
Männer leben. Die Frauen beschmieren sich mit Gelbwurzwasser, baden und
kehren heim; die Matte und andere Dinge, die im Zimmer waren, werden
dann weggeworfen . 1 Die JWÄf-Brahmanen von Bengal nötigen ein Mädchen
in der Pubertät allein zu leben, und erlauben ihr nicht, das Gesicht eines
Mannes zu sehen. Drei Tage bleibt sie in einem dunkeln Zimmer eingesperrt
und hat gewisse Kasteiungen durchzumachen. Fisch, Fleisch und Süßspeisen
sind verboten; sie muß von Reis und zerlassener Butter leben . 2 Bei den Tiyan
in Malabar wird ein Mädchen vom Beginn seiner ersten Menstruation an
durch vier Tage für unrein gehalten. Während dieser Zeit muß sie sich auf
der Nordseite des Hauses aufhalten, wo sie auf einer besonderen Grasmatte
schläft, in einem Zimmer, das mit Girlanden aus jungen Kokosnußblättem
bekränzt ist. Ein zweites Mädchen leistet ihr Gesellschaft und schläft mit ihr,
doch darf sie keinen anderen Menschen, keinen Baum und keine Pflanze be¬
rühren. Sie darf auch nicht den Himmel sehen und wehe ihr, wenn sie
einer Krähe oder einer Katze ansichtig würde. Ihre Diät muß streng vege¬
tarisch sein, ohne Salz, Tamarinden oder Pfefferschoten. Sie ist gegen böse
Geister mit einem Messer bewaffnet, das entweder auf der Matte liegt oder
am Leibe getragen wird . 3 Bei den Kap-piliyan von Madura und Tinnevelly
gilt ein Mädchen bei seiner ersten Periode durch dreizehn Tage für unrein
und muß sich entweder in einem Winkel des Hauses auf halten, der für die
Novize von ihrem mütterlichen Onkel abgeteilt wird, oder in einer Hütte,
die eigens zu dem Zwecke von dem nämlichen Verwandten auf dem Gemeinde¬
grund errichtet wird. Am dreizehnten Tage badet sie in einer Zisterne und
schreitet beim Betreten des Hauses über eine Mörserkeule und einen Kuchen.
Nahe dem Eingänge wird eine Speise hingestellt. Ein Hund darf davon kosten,
aber sein Vergnügen wird durch Schmerzen beeinträchtigt; denn während er
frißt, erhält er eine ordentliche Tracht Prügel, und je lauter er heult, desto
besser, weil die Familie, die die junge Frau gebären wird, um so größer sein
wird; heult der Hund nicht, dann wird es keine Kinder geben. Die provi¬
sorische Hütte, in der die Novize die Tage ihrer Absonderung zubrachte, wird
niedergebrannt, die Töpfe, die sie gebrauchte, werden zu Scherben zerschlagen . 4
Ähnliche Sitten herrschen bei den Parivar am in Madura und den Pulavar von
Travancore. Bei den Singhalesen wird ein Mädchen während der ersten Men¬
struation in ein Zimmer eingeschlossen, wo es weder einen Mann sehen noch
von einem solchen gesehen werden darf. Nachdem die Klausur auf diese Weise
zwei Wochen gedauert hat, wird die Jungfrau mit verhülltem Gesichte heraus¬
geführt und von Frauen auf der Rückseite des Hauses gebadet. In der Nähe
des Badeplatzes werden Zweige irgendeines milchspendenden Baumes, gewöhn¬
lich des JhÄ;-Baumes, niedergelegt. In manchen Fällen verbleibt das Mädchen
1) Shib Chunder Bose: The Hindoos as they are (London and Calcutta 1881), S. 86.
2 ) H. H. Risley: Tribes and Castes of Bengal, Ethnographie Glossary (Calcutta
1 89 1 /9 2 ), I, S. 152.
3 ) Edgar Thurston: Castes and Tribes of Southern India VII. (Madras 1909),
S. 65 ff.
4) Edgar Thurston, a. a. O., III, S. 218.
i 5 ’
Alfred Winterstem
21G
während der Periode der Unreinheit in einer eigenen Hütte, die später nieder¬
gebrannt wird . 1
In Kambodscha wird ein Mädchen nach Eintritt der Pubertät ins Bett
unter einen Moskito Vorhang gelegt, wo sie hundert Tage verbringen sollte
Gewöhnlich hält man aber vier, fünf, zehn oder zwanzig Tage für entsprechend
lang; doch selbst das ist in einem heißen Klima und unter den dichten Maschen
des Vorhanges genügend peinlich . 2 3 Nach einem anderen Berichte treten dort
die Mädchen mit beginnender Reife „in den Schatten ein“, und während sie
vorher „Prohmacarey “, unantastbare Gattinnen Pr ah Ens (Indras) waren
gelten sie jetzt als Gattinnen Reas (Ravanas) und auch in dieser Zeit wäre
es ein Sakrilegium, sie zu verführen. Während ihrer Zurückgezogenheit, die
je nach Rang und Stellung der Familie von drei Tagen bis zu mehreren
Jahren dauert, hat die Kandidatin eine Reihe von Verhaltungsmaßregeln zu
beobachten: „Laß dich vor keinem fremden Manne sehen; schau einen solchen
selbst verstohlenerweise nicht an; nimm wie die Bonzen deine Nahrung nur
zwischen Sonnenaufgang und Mittag; iß nur Reis, Salz, Kokosnuß, Erbsen,
Sesam und Früchte; enthalte dich von Fisch und jeglichem Fleisch. Bade dich
nur, wenn die Nacht eingetreten ist, zu einer Stunde, wenn man die Menschen
nicht mehr erkennt, damit du von keinem lebenden Wesen gesehen wirst.“
Im Dunkel der Nacht darf das Mädchen in Begleitung seiner Schwestern oder
anderer Verwandter ausgehen. Sonst arbeitet es im Hause und darf weder in
die Pagode noch sonst wohin gehen. Wird es aber dunkel, dann versieht es
sich mit Betel und dem nötigen Zubehör, zündet Lichter und Räucherkerzen
an und geht fort, um Rahup den Urheber der Finsternis, anzubeten, auf daß
es glücklich werde. Dann kehrt das Mädchen wieder „in den Schatten“ zu¬
rück. Dieser Zustand der Absonderung wird auch während einer Sonnen- oder
Mondesfinsternis unterbrochen; in solchen Zeiten verläßt die Novize das Haus
und bezeigt ihre Verehrung dem Ungeheuer, von dem man annimmt, daß es
die Finsternisse dadurch verursacht, daß es die Himmelskörper zwischen seinen
Zähnen festklemmt . 4 Die Erlaubnis, die Klausur zu durchbrechen und während
einer Finsternis außer dem Hause zu erscheinen, zeigt, wie wörtlich die Ver¬
pflichtung genommen wird, die den Mädchen in der Pubertät verbietet, in die
Sonne zu schauen . 5 Zum endgültigen Austritt aus der Zurückgezogenheit wählen
wohlhabende Leute mit Vorliebe die Monate Januar, Februar oder Mai, wozu
sie Bonzen kommen und beten lassen, vor denen sich das Mädchen nieder¬
wirft. Auch Nachbarn und Freunde werden zu diesem Feste geladen. Bei
1) Arthur A. Perera; Glimpses of Singhalese Social Life. Indian Antiquary XXXI.
(1902), S. 580.
2) J. Moura: Le Royaume du Cambodge (Paris 1885), I, S. 577.
3) Aus den Berichten geht nicht mit Sicherheit hervor, ob Rahu mit Rea , dem
Gatten^ der Pubertätskandidatin, identisch ist.
4) Etienne Aymonier: Notes sur les coutumes et croyances superstitieuses des
Cambodgiens, CochinchineFrancaiserExcursions et Reconnaisances, No. 16
(Saigon 1885), S. 193 ff. — Dieses Ungeheuer ist wohl mit Rahu identisch.
5 ) ' Die Bemerkung stammt von Frazer (a. a. O., I, S. 70).
Die Puhertätsriten der Aläddien und ilire Spuren im jMärdien
dieser Gelegenheit werden dem Mädchen ferner bisweilen gleich die Zähne
gefärbt, statt, wie es die Regel ist, bis zur Hochzeit zu warten. 1
Beschneidung. Ähnlich wie die Knabenbeschneidung spielt auch die Be¬
schneidung bei den Pubertätszeremonien der Mädchen an vielen Orten eine
wichtige Rohe. Wir werden uns darauf beschränken, im nachstehenden solche
Fälle anzuführen, die auf einen Zusammenhang mit den Mädchenweihen
schließen lassen, wenn dies auch aus den Berichten nicht immer ganz klar
hervorgeht. Die zahlreichen Fälle der Beschneidung in einem anderen Alter
sowie die von der Beschneidung abweichenden sexuellen Operationen, die am
weiblichen Geschlechte bei manchen Völkern vorgenommen werden, sollen
hier unberücksichtigt bleiben (künstliche Verlängerung der weiblichen Geni¬
talien, Infibulation, Defiorierung im Kindesalter, 2 operative Eingriffe in die
Eierstöcke).
In Persien ist es nach Chardin 3 bei einigen Nomadenstämmen Brauch,
die Mädchen mit Eintritt der Pubertät zu beschneiden. Die Beschneidung der
mannbaren Mädchen war im alten Ägypten ein feierlicher Akt, nach dessen
Vollzug diese als heiratsfähig galten. Von großer ethischer, sozialer und reli¬
giöser Bedeutung ist die Beschneidung bei den Kihuyu in Britisch-Ostafrika.
Cayzac 4 bezeichnet diese Operation, der sich die Knaben und Mädchen nach
Eintritt der Geschlechtsreife unterwerfen müssen, als den wichtigsten und
feierlichsten Ritus im Leben der Kihuyu. Am Vorabend statten die Kandidaten
dem „heiligen Baum“, dem Baume Gottes und Tempel des Ortes, einen Besuch
ab, um ihm singend zu verkünden, daß sie nun das Kindesalter hinter sich
haben und zur Würde eines Mannes und eines Weibes gelangt sind. Jedes
schneidet von dem heiligen Baum einen Zweig ab, um ihn am folgenden
Tage, während der Operation, neben sich zu legen. Am Morgen des Beschnei¬
dungstages begleitet man die Kandidaten beiderlei Geschlechtes in Prozession
zu dem Fluß, in den sich diese dann stürzen. Hierauf werden sie unter Sieges¬
rufen auf die Beschneidungsstätte geführt. Auch dieses Bad ist nach Cayzac
ein Beweis für die sittlich-religiöse Bedeutung der Beschneidung. Es bedeutet
für den Kihuyu das gleiche wie diese selbst, d. h. Reinigung von der Sünde.
Daher hat dort der Ausdruck „sich in den Fluß stürzen“ den gleichen Sinn
wie „sich beschneiden lassen“. Nach der Auffassung der Kihuyu ist die durch
die Beschneidung wegzunehmende Sünde die Ursache aller Übel, auch des
Todes; mit der Sünde kann man nur Blutsverwandte infizieren, 5
die Sünde, also auch die Ursache aller Übel, wird hauptsächlich durch die
Zeugung auf die Nachkommen übertragen. Deshalb müssen beide Geschlechter
beschnitten werden, ehe sie der Zeugung fähig sind; denn nur so sind ihre
1) Anonymus im Globus, Bd. 48, S. 109 f.
2) Die künstliche Defiorierung zur Zeit der Pubertät behandle ich auch in diesem
Abschnitt, wenngleich sie nicht als Beschneidung im strengen Sinne des Wortes auf¬
zufassen ist.
5) Chardin: Voyage en Perse, X, S. 76, ed. Amsterdam.
4) Cayzac: La religion des Kihuyu (Afrique Orientale). Anthropos V, 1910
5) Von mir gesperrt.
2i 8 Alfred Winterstem
Nachkommen vor dem Übel geschützt. Es gilt als Sünde, wenn ein Mädchen
die erste Regel hat, ehe sie beschnitten ist. Der frühere Brauch, daß nach
der Beschneidung Burschen an einem abgelegenen Ort ein altes Weib zum
ersten Koitus mißbrauchten 1 und hierauf zu Tode steinigten, um den
nach Kikuyu-Glsiuben. auf den ersten Koitus folgenden Tod 1 auf dieses
Weib zu wälzen, hatte seine Parallele in dem Brauch der beschnittenen Mäd¬
chen, sich nach der Operation mit einem unbeschnittenen Knaben zu verbinden
Getötet brauchte dieser deshalb noch nicht zu werden, weil der Unbe¬
schnittene noch nicht als Mensch galt. Nachdem die Kandidaten beider
Geschlechter beschnitten sind, führen die männlichen Mitglieder des Stammes um
die Burschen, die weiblichen um die Mädchen einen Tanz auf; man hüllt
die auf der Erde sitzenden Beschnittenen so in Leder, 1 daß nur der Kopf
frei bleibt, die Angehörigen schütten ihnen Ströme von Milch 1 über den
Kopf und Körper und nun gelten die jungen Leute als Erwachsene und
Stammesmitglieder. Mädchenbeschneidung erwähnt Ploß 2 auch bei den Wa-
i kamba , Wanika und Wadschagga. Auch von den ostafrikanischen Wapokomo,
einem Nachbarvolke der Somali , den Waboni und JVasanja wird Ähnliches
berichtet, wenn sie auch dort nicht so allgemein zu sein scheint.
Über die Mädchenbeschneidung bei den im nördlichen ehemaligen Deutsch-
Ostafrika lebenden Massai und Bakulia liegen ausführliche Schilderungen vor. 3
Die Mädchenbeschneidung findet bei den Massai meist zwischen zwölf und
vierzehn Jahren statt, d. h. wenn die schon vorher im Kriegerkraal zügellos
lebenden Mädchen merken, daß ihre Reife herannaht. Dann verlassen sie den
Kraal, begeben sich zu ihren Müttern und diese verabreden sich untereinander
über den Tag einer gemeinschaftlichen Operation. Steht eine Knabenbeschnei¬
dung bevor, so wartet man diesen Tag ab, wählt jedoch einen anderen Ort,
häufig die mütterliche Hütte. Am Tage vor der Operation rasiert man den
Mädchen das Kopfhaar ab. Die Beschneidung besteht im Abtrennen der Kli¬
toris, die vorher mit kaltem Wasser unempfindlich gemacht wird. Während
der Handlung sitzt das Mädchen auf einem langen, schmucklosen Lederschurz,
der nun an Stelle der bisherigen Kleidung tritt. Als Operateurin fungiert die
weise Frau; die unbedeutende Wunde wird mit Milch gewaschen.
Die Mädchen der Bakulia werden im Alter von neun bis zwölf Jahren
beschnitten. Auch hier sind die sogenannten weisen Frauen, sonst Geburts¬
helferinnen, die Operateure. Die von den weisen Frauen gegebenen Lehren
beziehen sich besonders auf das Geschlechtsleben, doch auch auf das sonstige
Verhalten für die Zukunft. Diese Frauen bleiben die Beraterinnen der Be¬
schnittenen für das spätere Leben. Die Operation, Abtrennen der Klitoris,
findet statt, während die Mädchen sitzen. Unmittelbar darauf folgt das Rasieren
des Haupthaares. Die Heilung, die durch nichts unterstützt wird, warten die
Mädchen in den Hütten ihrer Mütter ab, worauf wie bei den Knaben große
1) Von mir gesperrt.
2) Ploß: Das Kind. 2. Aufl. I, S. 362 ff.
3) Max Weiß: Land und Leute von Mpororo. Globus 91 und 97.
Die Pubertätsriten cler Mädchen und ihre Spuren im Märchen
219
Tanzfeste stattfinden, und zwar auf dem Tanzplatze der Knaben, doch ohne
daß sich die Mädchen unter die Gruppen der Knaben mischen. Nach der
Beschneidungsfeier eröffnen die Mädchen offiziell den geschlechtlichen Verkehr;
sie empfangen die gewählten Jünglinge in den Hütten ihrer Mütter. Zu der
phantastischen Ausstattung der beschnittenen Mädchen gehört unter anderem
ein Kürbistopf (sexuelles Symbol). Zirkumzision der Mädchen erwähnt Ploß 1
von den Bewohnern Londus in Uganda (Britisch-Ostafrika); bei den Wagaya
am Victoria Nyansa (früheres Deutsch-Ostafrika) ist Exstirpation der Klitoris
gebräuchlich. Bei den Mandingo 2 am oberen Senegal und Niger findet die
Beschneidung der Jugend beiderlei Geschlechtes nach Eintritt der Pubertät
mit großer Feierlichkeit statt. In Deutsch-Togo 3 unterwerfen die Yoruba-
Stämine ihre Töchter vor der Verheiratung oder im Alter von etwa vierzehn
bis siebzehn Jahren der Exzision. Im letztgenannten Falle führen die be¬
schnittenen, noch unverheirateten Mädchen ein zügelloses Leben. Alte Frauen
vollziehen mit denselben Worten und dem gleichen Ritus wie die Männer
bei den Knaben die Operation (der Beschneider sagt nämlich, ehe er das
Präputium in das zu dem Zwecke gegrabene Grübchen legt: „Dank, Dank
gebührt Gott. Ich weiß nichts; ich bin ein kleines Kind.“) 4 Das Grüb¬
chen wird hierauf mit Erde bedeckt. Als zugestandene Vorbereitung zur Ehe
fand Archibald Hewan 5 die Mädchenbeschneidung in Alt-Calabar, Britisch-
Nordwestafrika, J. B. Douville 6 berichtete aus Loanda, Portugiesisch-Süd¬
westafrika, daß dort die Mädchen acht Tage vor der Hochzeit beschnitten
werden. Der Zauberer schließt sich in dieser Zeit mit der Braut in einer ab¬
gesondert gelegenen Hütte ein, wo er die Operation ausführt. Nach Ablauf
der acht Tage wird die Braut feierlich von ihren Verwandten abgeholt. Daß
auch in Portugiesisch-Ostafrika bei den Atchuabo Beschneidung der Mädchen
stattfindet, wissen wir bereits. Die namungu , die Zeremonienaufseherin, schnei¬
det mit einem Messer an den Geschlechtsteilen; das Blut und das, was abge¬
schnitten ist, wird begraben. Die namungu hat während der Operation, über
die nichts Näheres verlautet, eine weiße Maske vor dem Gesicht. Die Ein¬
geborenen sagen, weiß sei die Farbe der Verstorbenen, der Geister. Als Gründe
für das Schneiden werden angegeben: „damit das Mädchen Einsicht habe,
Geheimes zu reden, mit den Augen zu reden, sexuelle Dinge mit Männern
zu tun.“ 7 Bei den Bamangwato im südlichen Afrika wird die Beschneidung
an vierzehnjährigen Mädchen vorgenommen, die bei dieser Gelegenheit phan¬
tastisch gekleidet umherziehen, wobei sie eine Geißel mit Domenzweigen
schwingen, die gleichalterigen Burschen verfolgen und peitschen. Wer die
1) Ploß: Das Kind. 2. Aufl. I, S. 374.
2) Layaille : Reise nach Senegal. Weimar 1802; Mungo Park: Reisen im Innern
von Afrika. Berlin 1799, S. 238.
3) Fr. Müller: Fetischistisches aus Atakpame (Deutsch-Togo). Globus 81, S. 281.
4) Von mir gesperrt.
5) Arch. Hewan im Edinborough med. Journal 1864, CXI, S. 219.
6) J. B. Douville: Voyage au Gongo. Vol. I. Stuttgart 1832/33.
7) P. Michel Schul ien, a. a. O. S. 92.
220
Alfred Wmterstein
Marter ruhig hinnimmt, gilt als reifer Mann. 1 Auch von den Makatisses
Mädchenbeschneidung zur Pubertätszeit erwähnt. Bei den Amasoka- Kaffem
werden die Kinder bis zur Beschneidung als unrein angesehen.
Auf Java und anderen Inseln des malayischen Archipels unterwirft man die
Mädchen der Beschneidung zur Zeit des zweiten Zahnens. Die Operation besteht
nach F. Epp 2 in der Beschneidung der Nymphen. Als Grund dieser Operation
gibt Epp die bedeutende Größe und Erschlaffung der Schamteile an; beides
werde durch die dort herrschende Onanie und große Tätigkeit der Geschlechts¬
teile herbeigeführt. Über Celebes schrieb J. G. F. Riedel, 3 4 daß in den dortigen
Landschaften Holontala, Bone, Boalemo und Katringgola die Mädchen in ihrem
neunten oder zwölften oder fünfzehnten Jahr beschnitten werden. Die Operation
wird von weiblichen Personen vollzogen.
Bei den Stämmen im Innern von Australien bildet das Einreiben der
Brüste mit Fett und rotem Ocker die erste der Initiationszeremonien des
weiblichen Geschlechtes. Die zweite Zeremonie besteht im Öffnen der Vagina
welches der Subinzision des männlichen Geschlechtes entspricht und als atna
ariltha kuma bezeichnet wird. Bei allen von Spencer-Gillen* beobachteten
Stämmen, von den Urabunna im Süden bis zur Westküste des Golfes von Car-
pentaria wird das Mädchen nach der atna ariltha kuma bestimmten Männern
zur Verfügung gestellt und erst dann seinem eigentlichen Ehemann übergeben,
der die Frau aber auch wieder herleihen muß.
Was die Einzelheiten dieser Operation betrifft, so stimmen sie der Haupt¬
sache nach bei den verschiedenen Ständen überein. Das Alter der Mädchen ist
gewöhnlich vierzehn oder fünfzehn Jahre. Die Operation wird zumeist vop
einem älteren Verwandten oder von einer älteren Schwester der Kandidatin
ausgeführt. Nach der Operation verbinden sich, wie gesagt, Verwandte ver¬
schiedensten Grades mit dem Mädchen, als erster bisweilen der Operateur selbst,
als letzter regelmäßig der eigentliche Gatte. Die leiblichen Brüder sind vom
Zutritt zur Operation ausgeschlossen, die Schwiegermütter und deren Brüder
dürfen bei der Operation nicht zuschauen.
Ploß 5 erwähnt folgende australische Formen, die Vagina der Mädchen
zu öffnen: Wenn am PeakefLuß, Südaustralien, einem jungen Mädchen die
Brüste schwellen und sich ein Haarwuchs zeigt, wird sie von einigen älteren
Männern an einen einsamen Ort geführt. Dort wird sie niedergelegt, ein Mann
hält ihre Arme, zwei andere halten die Beine; der vornehmste unter ihnen
führt dann zunächst einen Finger in die Vagina, 6 dann zwei, zuletzt vier.
1) Chapman: Das Ausland, 1868, S. 1083.
2) F. Epp: Allg. med. Centralzeitung 1853, S. 37.
3) J. G. F. Riedel: Zeitschrift für Ethnologie 1871, S. 402. Ferner: De sluik-
en Kroesharige Rassen tuschen Selebes en Papua. s’Gravenhage 1886.
4) B.Spencer andJ.F. Gillen: The native tribes of Central Australia. London 1899.
5) Ploß: Das Kind. I, S. 376.
6) Bei den Stadtarabem und Fellachen in Ägypten defloriert der Bräutigam die
Braut feierlich mit dem Finger. In Kambodscha defloriert der Priester die Braut mit
einem Finger, den er in Wein getaucht hat.
Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märchen
Zurückgekehrt zum Lagerplatz, kann das arme Geschöpf infolge der Mißhand¬
lung drei bis vier Tage den Platz aus Schmerz nicht verlassen. Sobald es ihm
möglich ist, geht es fort, wird aber von den Männern in jeden Winkel ver¬
folgt und muß sich den Koitus von vier bis sechs von ihnen gefallen lassen.
Dann aber lebt derjenige, mit dem das Mädchen als Kind versprochen worden
war, mit ihr als Gattin. Bei den Einwohnern von Charlotte Waters und
Alice Springs besteht dieselbe Sitte, doch gebraucht man hier zur Zerstörung
der Hymen einen Stein und an Stelle der Finger einen Stock.
Bei den Conibos , einem Zweige der Parco-Indianer im nordöstlichen Peru,
werden nach Berichten von Alfred Reich und Felix Stegelmann 1 Zirkumzision
und Öffnung der Vagina geübt. Sobald ein Mädchen zur Reife gelangt ist, wird
ein Fest veranstaltet, bei dem der Maschato , ein aus Maniokwurzeln gebrautes
berauschendes Getränk, eine große Rolle spielt. Das Mädchen wird bis zur
Sinnlosigkeit trunken gemacht und dann der Operation unterzogen. Ein altes
Weib führt sie in Gegenwart des tobenden Stammes mit einem Bambusmesser
aus, während das Mädchen auf drei Pfählen ausgespannt liegt. Sie umschneidet
den Introitus vaginae , trennt das Jungfernhäutchen von den Schamlippen los
und legt damit die Klitoris frei. Hierauf bestreicht sie die blutenden Teile mit
Medizinkräutern und führt nach einer Weile einen aus Lehm geformten und
etwas befeuchteten Penis, der jenem des Verlobten in der Größe genau ent¬
sprechen soll, in die Scheide ein. Eine ähnliche Beschreibung 2 liegt von den
Indianern in Peru am Flusse Ucayali vor, die man mit dem Namen
Campas bezeichnet. Von den Panos „der Landschaft Maynas “ (im heutigen
Ecuador) erfuhr schon Missionar Franz Xaver Veigl 3 im achtzehnten Jahr¬
hundert, daß sie früher Mädchenbeschneidung übten. Als Grund gaben sie an,
man habe beschnittene Weiber für ihren natürlichen Beruf geschickter gehalten.
Bei den Ticunas , 4 einem aussterbenden Stamm am oberen Solimoes, erhalten die
Beschnittenen beiderlei Geschlechtes gleich nach der Operation einen Namen,
der gewöhnlich von einem Vorfahren genommen wird.
Ein so weitverbreiteter Brauch wie die Absonderung der Mädchen
zur Zeit der Pubertät scheintauch seine Spuren im Märchen hinterlassen
zu haben. Ich will damit freilich nicht behaupten, daß sich die Märchen¬
motive Zug für Zug in äußerlicher Weise als Reminiszenzen der Pubertäts¬
zeremonien darstellen müssen; vielmehr lege ich das Gewicht auf den
psychischen Inhalt dieser Zeremonien und meine, daß sich dieser Inhalt
1) Alfred Reich und Felix St egelmann: Bei den Indianern des Urubamba und
des Envira. Globus 83, S. 134!.
2) Ploß: Das Kind. 2. Aufl., I, S. 382; E. Gr an di di er: Nouvelles annales des
voyages 1861 u. 1862; v. Martius: Zur Ethnographie Amerikas, zumal Brasiliens.
Leipzig 1867.
3) Franz Xavier Veigl: Gründliche Nachricht über die Verfassung der Landschaft
von Maynas in Südamerika bis zum Jahre 1768. Nürnberg 1798.
4) v. Spix und v. Martius: Reise nach Brasilien (1817—1820). München 1823.
222
Alfred Winterstem
ebensowohl in einem Zeremoniell wie in einem Märchen aussprechen kann
wobei allerdings ein langes geübtes Zeremoniell eine gute Stütze für ein
Märchen abgeben kann. Auf den Zusammenhang zwischen diesen Isolierungs¬
bräuchen und den Märchen, namentlich jenen einer bestimmten Gattung
haben bereits verschiedene Forscher hingewiesen, so Adolf Thimme 1 '
J.G.Frazer 2 3 4 und zuletzt Herbert S i 1 b e r e r .3 Adolf Thimme schreibt (S. 40) :
„Geheimnisvoll erschien den Naturvölkern von je das Auftreten der Menstrua¬
tion bei heranwachsenden Mädchen. Das Blut wurde als ein böser Zauber¬
saft gefürchtet; infolgedessen wurden solche Mädchen oft in harter, auch
unterirdischer Gefangenschaft gehalten. Daraus entsteht das Motiv vom Gift¬
mädchen und das Motiv von den eingesperrten Mädchen, die Danae, Mandane
Rhea Silvia, Hero oder Rapunzel heißen.“ Da Frazer die Vermeidung des
Anblicks der Sonne als ein Hauptverbot des Pubertätsexils der Mädchen be¬
trachtet, führt er bloß Märchen an, die das Motiv der Befruchtung oder
Verzauberung durch die Sonne enthalten. Silberer, der sich für die Grup¬
pierung des Märchenmaterials auf eine Arbeit von Paul Arfert* stützt, er¬
innert in unserem Zusammenhänge zunächst an die Einleitung der Märchen
von der Gattung der Brangäne-Erzählung 5 (in der Tristanerzählung opfert
1) Adolf Thimme: Das Märchen. Leipzig 1909.
2) Frazer, a. a. O., Vol. I, S. 70 ff.
3) In einer nicht veröffentlichten Arbeit „Die falsche Braut«, in die ich mit freund¬
licher Erlaubnis der Witwe des Verfassers Einsicht nehmen durfte.
4) Paul Arfert: Das Motiv von der unterschobenen Braut in der internationalen
Erzählungsliteratur. Inaugural-Dissertation, Universität Rostock. Schwerin 1897. —
Josef Hanika bespricht in seiner volkskundlichen Untersuchung über „Die falsche
Braut« (Sonderdruck aus der „Heimatbildung“, Monatsblätter für heimatliches Volks¬
bildungswesen, Reichenberg) einen deutschen Brauch, den er aus dem Zusammen¬
hänge mit jenen von Arfert behandelten wohl sehr alten, gemeinindogermanischen
Bräuchen lost. Er schlägt für diesen Hochzeitsbrauch die Bezeichnung „Alte Braut«
oder „Verlassene Braut« vor. Hier spielt sich ein steinaltes Weib als verlassene Braut
des jungen Bräutigams auf. Hanikas historische Erklärung, die an sich richtig sein
mag, wird der unbewußten Bedeutung dieses Brauches natürlich nicht gerecht.
5) Unter dem Namen „Brangänemärchen« faßt Arfert Novellen, Romane und
Volkslieder zusammen, in denen das Motiv der Brautunterschiebung folgende Gestalt
angenommen hat: Eine Jungfrau, die durch List, Gewalt oder eigene Schuld ihre
Ehre verloren hat, sucht die Verlegenheit der Brautnacht dadurch zu beseitigen, daß
sie eine ihr ergebene Person bewegt, ihre Stelle im Brautbett einzunehmen. Gemein¬
sam ist den Brangänemärchen übrigens der Verlauf, „daß ein Mädchen sich bei einem
Jüngling, auf den es von früher her Ansprüche hat und der im Begriffe steht sich
zu verheiraten, unerkannt in dienender Stellung aufhält. Da sich nun die neue Braut
durch irgendwelche Umstände (in den meisten Märchen sieht sie der Geburt entgegen;
andere suchen diesen anstößigen Grund durch einen milderen zu ersetzen) verhindert
sieht, selbst die Ehe zu vollziehen, bittet sie das Mädchen, ihre Stelle bei der Hoch-
Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märchen
223
bekanntlich Brangäne an Isoldes Stelle in der Brautnacht ihre Reinheit dem
König Marke): „ Die Mehrzahl dieser Märchen zeigt den typischen Eingang,
daß die Heldin von ihrem tyrannischen Vater eine bestimmte Zeit in einem
Turm eingeschlossen wird, aus dem sie sich erst nach vielen Jahren be¬
freien kann.“ * 1 Er bemerkt ferner, daß dieses Motiv des Gefangenseins (oft
in einem Turme mit Betonung der Höhe, vgl. Rapunzel, Grimm, K.H.M. 12)
auch sonst in Märchen beliebt ist und daß dazu ein Unhold als Verwahrer
oder eine Alte im Walde als Ernährerin häufig auftritt. Das von dem
harten Schicksal betroffene Mädchen pflegt eine Prinzessin zu sein; sie wird
von einem Prinzen aus ihrem Gefängnisse befreit oder macht sich sonstwie
frei und gewinnt dann einen Prinzen zum Gemahl.
Zum besseren Verständnis der folgenden Märchen sei vorerst auf einige
typische Züge der Pubertätsriten der Mädchen nochmals verwiesen: daß
nämlich häufig das Mädchen oder eine Gruppe von Mädchen in die Obhut
einer alten Frau kommt, daß Frauen ihr das karge Essen in die Einsam¬
keit bringen, daß das Exil einer Tötung (Verschlungenwerden) und Wieder¬
geburt entspricht, daß an den Kandidatinnen verschiedenartige sexuelle Opera¬
tionen vorgenommen werden, daß die Mädchen im Exil oft Arbeiten ver¬
richten oder üben müssen, daß das Essen und Trinken unter bestimmte
Regeln gebracht ist und daß schließlich die Vorschriften bei Mädchen
hoher Herkunft (Königs- oder Häuptlingstöchtern) besonders streng gehand-
habt werden.
Nr. 1. Schwedisch: 2 Ein König schließt seine Tochter, die wider
seinen Willen einen Prinzen heiraten will, mit sieben Mädchen und Vor¬
räten für sieben Jahre in eine Hohle ein; dann zieht er in den Krieg, aus
dem er nicht wieder heimkehrt. Von den sieben Mädchen stirbt jedes Jahr eines
und nur der Prinzessin gelingt es endlich mit Hilfe eines Hundes,
lebend aus dem Turm herauszukommen. Nach langer Wanderung gelangt
sie zu einem Köhler, der ihr eine untergeordnete Stellung in dem Haus¬
halte jenes Prinzen verschafft, dem sie einst ihre Liebe geschenkt hatte.
Kurz darauf wird am Hofe eine Hochzeit gerüstet; denn der Königssohn will
sich verheiraten. Seine Braut, welche eine nicht vorwurfsfreie Vergangen¬
heit hinter sich hat, fühlt ihre Niederkunft herannahen. Auf ihre Bitte legt
die Heldin die Brautgewänder an und fährt für sie zur Kirche. Auf dem Wege
zeit einzunehmen. Dieses tritt schließlich aus seiner Verborgenheit heraus und nimmt,
nachdem alles entdeckt ist, den nun ihm gebührenden Platz als Gemahlin des Jüng¬
lings ein“ (a. a. O. S. 6 u. 34, 1).
1) Arfert, a. a. O. S. 34, 2.
2) Bondeson: Historiegubbar pä Dal. Stockholm 1886, S. 22. — Arfert, a. a. O.
S. 34.
22-4
Alfred AVinterstein
murmelt sie allerlei Sprüche, welche die rechte Braut nach dem Rücktausche
nicht wiederholen kann, auch vermag sie nicht ein Geschenk, das der Prinz in
der Kirche seiner eben angetrauten Gemahlin gegeben hat, vorzuzeigen. So er¬
folgt die Entdeckung des Brauttausches und die Heldin offenbart, wer sie ist
Nr. 2. In dem bekannten deutschen Märchen von der Gänsemagd (Grimm
K. H. M. Nr. 89) haben wir eine Anspielung auf den Glauben, daß die Über¬
tretung der Nahrungsgebote böse Wirkungen habe, in dem verderblichen Trinken
und wieder die niedrige Arbeit.
Nr. 3. Aus Hessen (Grimm, K. H. M. Nr. 49 „Die sechs Schwäne"). Ein König
verirrt sich auf der Jagd im Wald. Eine alte Hexe weist ihm den Ausweg dafür
daß er ihre Tochter, ein wunderschönes Mädchen, zur Frau nimmt. Der König
ist schon einmal verheiratet gewesen und hat von der ersten Gemahlin sechs
Knaben und ein Mädchen. Weil er nun fürchtet, die Stiefmutter möchte sie nicht
gut behandeln, verbirgt er die Kinder in einem einsamen Schloß mitten im Wald.
Der Stiefmutter fällt die häufige Abwesenheit des Königs, der seine Kinder be¬
sucht, auf. Sie kommt hinter das Geheimnis und bringt den Kindern behexte
Hemden, durch die sie in Schwäne verwandelt werden, bis auf das Mädchen, das
gerade im Innern des Waldschlosses verborgen ist. Das Mädchen macht sich auf
den Weg, die Brüder zu suchen. Es kommt im Wald in eine Wildhütte, wo es
sechs Betten findet. Es beschließt, die Nacht da zuzubringen. Bei Sonnenunter¬
gang kommen die Schwäne geflogen. „Wir können nur eine Viertelstunde lang
jeden Abend unsere Schwanenhaut ablegen.“ Die Bedingungen für die Erlösung
sind: „Du darfst sechs Jahre lang nicht sprechen und nicht lachen und
mußt in der Zeit sechs Hemden aus Sternblumen für uns zusammennähen. 4 *
Das Mädchen verläßt die Hütte, sammelt Sternblumen, geht mitten in den Wald,
steigt auf einen Baum und näht da. Jäger kommen und rufen es an; es
gibt keine Antwort. Die Jäger bringen das Mädchen dem König. Der heiratet
die scheinbar Stumme. Die böse Mutter des Königs beseitigt die Kinder, die sie
gebiert, und beschmiert ihr den Mund mit Blut, daß es aussieht, als wäre sie
eine Menschenfresserin. Beim dritten Male wird die Königin zum Tode durch
das Feuer verurteilt. Der Hinrichtungstag ist der letzte Tag der sechs Jahre, in
welchen sie nicht sprechen darf. Die sechs Hemden sind fertig, bis auf einen
Ärmel. AVie sie schon auf dem Scheiterhaufen steht, kommen die Schwäne ge¬
flogen und sind erlöst, nur dem Jüngsten bleibt statt des Armes ein Flügel. Die
Königin redet wieder, alles klärt sich auf, die böse Mutter wird verbrannt.
Nr. 4. Französisch: 1 Ein König und eine Königin haben zwei Söhne und
eine Tochter. Bei der Geburt des Mädchens haben die Feen den Eltern ver¬
kündet, daß sie ihre Brüder einst in großes Unglück stürzen würde. Der
Vater schließt sie in einen Turm, um das Unheil abzuwenden; allein, als
er gestorben ist, lassen die Brüder die Schwester frei. Eines Tages wünscht
sie sich den König der Pfauen zum Gemahl. Die Brüder wandern aus,
ihn zu suchen. Sie finden ihn endlich, er begehrt ihre Schwester zur Gemahlin.
1) Madame d’Aulnoy: Cabinet de Fees. Paris 1758, II, S. 230. — Arfert,
a. a. O. S. ii.
Die Pubertätsriten der Afädchen und ihre Spuren im Afärchen 226
Auf der Reise zu ihm wird sie von der Amme und deren Tochter ins Meer
gestoßen. Der König, entrüstet über die Häßlichkeit der falschen Braut, der
Tochter der Amme, will die Brüder töten lassen. Die wahre Braut war aber
gerettet und von einem Einsiedler aufgenommen worden. Durch ihr
kleines Hündchen, das dem Pfauenkönig das Essen wegstiehlt, kommt
Üire Anwesenheit und die Wahrheit an den Tag.
Nr. 5 * Sizilianisch: 1 Munti fiuri ist Kammerdiener beim König und zeigt
ihm das Bild seiner schönen Schwester. Der König erklärt sie sofort für seine
Braut und sendet den Bruder in die Heimat, das Mädchen zu holen. Die
Tochter einer Nachbarin begleitet sie. Da die Falsche weiß, daß Geburts¬
frauen dem Mädchen einst angewünscht haben, es solle, sobald es erwachsen
wäre, in die Gewalt der Meersirene 2 kommen, bohrt sie ein Loch
in das Schiff, in dem beide fahren. In dem Augenblick verschwindet die
Braut und der unglückliche Bruder muß sich einverstanden erklären, die hä߬
liche Tochter der Nachbarin für seine Schwester auszugeben. Der enttäuschte
König legt ihm schwere Aufgaben auf, die er mit Hilfe seiner (verzauberten)
Schwester ausführt. Er wird zum Entenhüter erniedrigt. Jeden Morgen füttert
die aus dem Meer auftauchende Schwester die Enten, die hierüber am Abend
dem Koch einen Spruch Vorsingen. Der Koch erzählt es dem König. Dieser
begibt sich an den Strand und zerhaut die Kette, an der das Mädchen von
der Meersirene gehalten wird.
Nr. 6. Finnisch: 3 Ein Hirt des Königs zeigt dem Königssohn das Bild seiner
Schwester. Er muß sie holen. Eine Hexe bewirkt durch List, daß das Mädchen
auf der Reise zum Prinzen seine Kleider ablegt und ins Meer springt. Die
Hexe bietet sich dem Prinzen als Gemahlin, der Bruder wird in die Schlangen¬
grube geworfen. Die Heldin ist vom Meerriesen aufgenommen worden,
der sie zwingen will, seine Frau zu werden. Dreimal erlaubt er ihr,
an einer Kette gefesselt an das Land zu steigen, und dreimal sendet sie durch
ihr Hündchen dem Prinzen Geschenke. Beim drittenmal zersägt der Prinz
die Kette und befreit so das Mädchen. Der Bruder wird aus der Schlangen¬
grube geholt, die Hexe kommt in einer Badestube um.
Ein anderer Märchenkreis ist nach Arfert dadurch gekennzeichnet, daß
die wahre Braut auf der Fahrt zum Verlobten durch Verstümmelung und
Blendung beseitigt wird.
Nr. 7. Griechisch: 4 Der Eingang erzählt die Verleihung von drei Wunder¬
gaben (Weinen von Perlen u. ä.). Die Heldin ist einem Prinzen in fernem
1) Laura Gonzenbach: Sizilianische Märchen. Leipzig 1870, Nr. 52. — Arfert,
a. a. O. S. 12.
2) Bedeutet das Exil.
3) Emmy Schreck: Finnische Märchen. Weimar 1877, Nr. 10. — Arfert,
a. a. O. S. 13.
4) J. G. v. Hahn: Griechische und albanesische Märchen. Leipzig 1864, Nr. 28. —
Arfert, a. a. O. S. 17.
226
-Alfred VGnterstein
Lande verlobt. Als die Zeit der Vermählung herannaht, macht sie sich mit
ihrer Amme und deren Tochter auf, um in ihr zukünftiges Königreich zu
ziehen. Die Amme hat versalzenes Brot mitgenommen, von dem sie die Braut
von Zeit zu Zeit essen läßt. Von unbezwinglichem Durste gepeinigt, gibt diese
für einen Trunk (vgl. Märchen Nr. 2) ihre Augen und für eine zweite
Labung ihreKleider hin, in denen die Tochter der Amme zu dem Prinzen
fährt. Die hilflos zurückgelassene Blinde kommt nach langem Umher¬
irren zu einer Alten im Walde. Für die Perlen, die sie weint, und die
Rosen, die sie lacht, löst diese von der falschen Königin zwei Hundeaugen
ein, die sie der Blinden einsetzt. Mit den Rosen und Perlen betrügt die
falsche Braut den Prinzen, ihren Gemahl, wenn er sich von ihren Wunder¬
gaben überzeugen will. Indessen hat das geheilte Mädchen an der Grenze des
Königreiches ein herrliches Schloß erbauen lassen, wohin der Prinz eines Tages
kommt und wo er seine wahre Braut findet.
Nr. 8. Türkisch: * 1 Ein Padischah hat drei Töchter, die sich verheiraten
sollen, als sie erwachsen sind. Die zwei älteren werden mit hohen Reichs¬
beamten vermählt, während die jüngste den Ofenheizer zum Manne erhält.
Nach einem Jahr gebiert diese ein Mädchen, dem die Peris drei Wunder¬
gaben verleihen (Lachen von Rosen usw.). Es erblüht zu wunderbarer Schön¬
heit, so daß eine Kaiserin es zur Gemahlin ihres Sohnes bestimmt und eine
Hofdame aussendet, die Braut in ihr Königreich zu geleiten. Die Hofdame
wollte gern Schwiegermutter des Kaisers werden, nimmt salzige Speise, einen
Krug und einen Sack mit, gibt der Braut von der salzigen Speise zu essen und
fordert für einen Trunk aus dem Kruge ihre Augen. Die also Geblendete
setzt sie auf einem Berge aus und bringt dann der Kaiserin ihre eigene
bräutlich geschmückte Tochter dar. Indessen findet ein Kehrichtsammler die
ausgesetzte wahre Braut, nimmt sie zu sich und wird für seine gute Tat durch
die Schätze, die sie vermöge ihrer Wundergaben hervorbringt, reich belohnt.
Für die Rosen, die sie lacht, kauft er am Hofe ihre Augen zurück und setzt
sie ihr ein. Nach einiger Zeit erfährt die Hofdame, daß die rechte Braut noch
lebt; sie läßt daher den Kehrichtsammler zu sich kommen und veranlaßt ihn,
nach dem Talisman des Lebens seines Schützlings zu forschen. Das arglose
Mädchen verrät ihm, daß sein Leben an das Herz eines gewissen Hirsches
gebunden sei. 2 Der Hirsch wird auf Betreiben der Hofdame erlegt, das Mädchen
stirbt, wird aber infolge gewisser wunderbarer Umstände wieder ins Leben
zuruckgerufen, indem die Peris ein Fragment des Herzens dem toten Mädchen
in den Mund legen.
Ein dritter Märchenkreis zeigt nachstehende Variante: Die wahre Braut
wird auf der Fahrt zum Verlobten dadurch beseitigt, daß sie dem ver-
1) Dr. Kunos Ignacz: Oszman-Török Nepkoltesi Gyüjtemeny. Budapest 1887,
Nr. 49. — Arfert, a. a. O. S. 19.
i) Der Austausch der Organe im Märchen Nr. 7 und die Verlegung der Lebens¬
kraft in ein Tier im Märchen Nr. 8 weisen auf totemistische Vorstellungen hin, die
wieder eine besondere Beziehung zur Pubertät haben.
Die Pubertätsriten aer Alädclien und ihre Spuren im Afärchen
3 27
wandelnden Sonnenstrahl ausgesetzt wird. Wie oben erwähnt, hat sich
Frazer darauf beschränkt, den Zusammenhang der Isolierbräuche bei den
Pubertätskandidatinnen mit solchen Märchen aufzuzeigen, denen die Vor¬
stellung der Befruchtung oder Verzauberung durch die Sonnenstrahlen zu¬
grunde liegt. 1
Nr. 9 * Dänisch: 2 Einer Prinzessin ist es bestimmt, von einem Hexenmeister
entführt zu werden, wenn die Sonne vor ihrem dreißigsten Jahr auf sie schiene.
Darum hält sie der König, ihr Vater, im Palast eingeschlossen und hat alle
Fenster im Osten, Süden und Wbsten vermachen lassen. Sie darf sich nur
abends nach Sonnenuntergang in dem schönen Schloßgarten ergehen. Einem
Prinzen, der um sie werben kommt, begleitet von Rittern auf gold- und silber¬
glänzenden Rossen, gibt der Vater ihre Hand unter der Bedingung, daß er mit
ihr bis zu ihrem dreißigsten Jahre in dem Schlosse wohne, dessen Fenster
nach Norden schauen. Die Braut ist erst fünfzehn Jahre alt. Mit der Zeit
sehnt sich das Paar hinaus und benützt einen trüben, sonnenlosen Tag, um
einem Turniere in einem benachbarten Schlosse beizuwohnen. Während sie
sich an der Festlichkeit erfreuen, ändert sich das Wetter und die Sonne bricht
durch die Wolken. In deren Strahlen schwindet die junge Frau dahin, und
als ihr Gatte dies entdeckt, ereilt ihn das gleiche Schicksal. Der bestürzte Vater,
der ebenfalls dem Turniere beigewohnt hatte, eilt heim und schließt sich in
sein dunkles Schloß ein, aus dem das Licht des Lebens gewichen ist. Das
junge Paar ist auf ewig verschwunden.
Nr. 10. Welschtirolisch: 3 Eine liebliche Jungfrau mit goldenem Haar war
verwünscht worden, daß sie in den Bauch eines Walfisches entrückt
werden würde, wann immer ein Sonnenstrahl auf sie fiele. Der Ruf ihrer
Schönheit drang bis zum König des Landes, der sie zur Braut begehrte; ihr
Bruder kutschierte sie hierauf in einem sorgfältig verschlossenen Wagen zu
dessen Palaste, wobei er selbst auf dem Bocke saß und die Zügel handhabte.
Unterwegs überholten sie zwei scheußliche Hexen, die müde zu sein Vorgaben
und mitgenommen werden wollten. Zuerst weigerte sich der Bruder, doch seine
weichherzige Schwester beschwor ihn, mit den zwei armen fußkranken Frauen
Mitleid zu haben. Er stieg also eher verdrießlich vom Bock herunter, öffnete
den Wagenschlag und herein schlüpften die zwei Hexen und lachten heimlich.
Kaum war der Bruder wieder auf den Bock geklettert und hatte die Rosse
mit der Peitsche angetrieben, so bohrte die eine böse Hexe ein Loch in die
geschlossene Kutsche. Sogleich fiel ein Sonnenstrahl durch das Loch auf das
schöne Fräulein, das dahinschwand und in den Bauch eines Walfisches entrückt
wurde. Als der König den Wagenschlag öffnete, um seine blühende Braut zu
begrüßen, sprangen ihm zu seinem Schrecken zwei scheußliche Hexen entgegen,
1) Frazer, a. a. O., Vol. I, S. 70 ff.
2) Svend Grundtvig: Dänische Volksmärchen, übersetzt von A. Strodtmann.
Zweite Sammlung (Leipzig 1879), S. 199 ff.
3) Christian Schneller: Märchen und Sagen aus Welschtirol (Innsbruck 1867),
Nr. 22, S. 51 ff.
L
228 Alfred Winterstein
Nr. 11. Griechisch: 1 Einer Prinzessin ist geweissagt worden, sie müsse sich
in ihrem fünfzehnten Jahre vor der Sonne in acht nehmen, denn
ihre Strahlen würden sie in eine Eidechse verwandeln.
Nr. 12. Böhmisch: 2 Eine Fee begabt die Stieftochter der Frau Jutta mit
Schönheit und mit der Eigenschaft, daß ihre Tränen zu Perlen und ihre aus¬
gekämmten Haare zu Gold werden. Sie muß aber durch einen Schleier vor
der Berührung mit der freien Luft (statt Sonne) gehütet werden. Ihr
Bruder erzählt einem Grafen von ihrer Schönheit und ihren Wundergaben
so daß dieser sie zu heiraten beschließt. Auf dem Wege zu ihrem zukünftigen
Wohnsitz wird sie durch die Unvorsichtigkeit der Stiefmutter von der Luft
berührt und augenblicklich in eine goldene Ente verwandelt. In ihrer Verlegen¬
heit schiebt Frau Jutta ihre eigene Tochter unter. Nach langer Prüfungszeit
wandelt sich die Ente in das Mädchen zurück, das nun dem Grafen zuteil wird.
Nr. 15. Griechisch: 3 Einer kinderlosen Mutter schenkt die Sonne eine Tochter
mit der Bedingung, daß sie das Kind holen werde, wenn es zwölf Jahre alt
sei. Als es dieses Alter erreicht hat, schließt die Mutter Türen und Fenster
und verstopft Ritzen und Spalten, um die Sonne an ihrem Vorhaben zu hindern.
Sie vergißt aber das Schlüsselloch; durch dieses fällt ein Sonnenstrahl und ent¬
führt das Mädchen.
Nr. 14. Sizilianisch: 4 Einem König wird von einem Seher geweissagt, er
werde eine Tochter bekommen, die in ihrem vierzehnten Jahre von der
Sonne ein Kind empfangen werde. Daher schloß der König das Kind nach
seiner Geburt in einen einsamen fensterlosen Turm ein, damit kein Sonnen¬
strahl es treffe. Als sie fast vierzehn Jahre alt war, geschah es, daß die Eltern
ihr ein Stück gebratenes Zicklein schickten, in dem sie einen spitzigen Knochen
fand. Mit diesem bohrte sie ein Loch in die Mauer, ein Sonnenstrahl drang
durch die Öffnung und befruchtete sie. 5 * *
1) Bernhard Schmidt: Griechische Märchen, Sagen und Volkslieder (Leipzig
l8 77 h s * 9 8 *
2) Gerle: Volksmärchen der Böhmen. II, S. 5.
5) J. G. v. Hahn: Griechische und albanesische Märchen (Leipzig 1864), Nr. 41,
Bd. I, S. 245 ff.
4) Laura Gonzenbach: Sizilianische Märchen (Leipzig 1870), Nr. 28, Bd. I, S. 177 ff.
5) Der Zug, daß ein Prinz oder eine Prinzessin sich mittels eines Knochens aus
einem Turme befreit, findet sich auch in anderen volkstümlichen Erzählungen. (Vgl.
J. G. v. Hahn, a. a. O. Nr. 15; L. Gonzenbach, a. a. O. Nr. 26, 27; der Pentamerone,
aus dem Neapolitanischen übertragen von Felix Lieb recht [Breslau 1846], Nr. 25,
Bd. 1, S. 294 ff.) — Bei einigen Indianerstämmen beziehen sich gewisse Gebote und
Verbote für Frauen während der Isolierung auch auf Tierknochen. So ist es bei den
Tinnef-Indianern einem Mädchen im Alter der Pubertät verboten, Hasenknochen zu
zerbrechen (siehe S. 210). Anderseits trinkt es aus einer Röhre, die aus einem Schwanen-
knochen verfertigt wird; der nämliche Brauch findet sich bei den Camer-Indianem.
In den gleichen Umständen trinkt ein T/ingzi-Mädchen aus dem Flügelknochen eines
weißköpfigen Adlers (siehe S. 209). Bei den Nutka - und Sfusu>np-Stämmen werden die
Pubertätskandidatinnen mit Knochen oder Kämmen versehen, um sich zu kratzen; denn
sie dürfen sich nicht mit den Fingern berühren.
Die Pixbertätsriten der jMadchen und ilire Spuren 1111 Afardipn
Hieher gehört nach Frazer wahrscheinlich auch die griechische Sage
von Danae, von ihrem Vater in ein unterirdisches Zimmer oder einen
ehernen Turm eingesperrt und von Zeus geschwängert wurde, der sie in
Gestalt eines Goldregens besuchte. Die griechische Sage hat ihr Gegenstück
in einer von den Ahnen der sibirischen Kirgisen.
Nr. 15. Kirgisisch: 1 Ein Khan hat eine schöne Tochter, die er in einem
dunkeln, eisernen Hause verwahrt, um sie dem Anblicke der Männer zu ent¬
ziehen. Ein altes Weib betreut sie. Herangewachsen, fragt das Mädchen die
alte Frau, wohin sie so oft gehe. „Mein Kind,“ antwortet diese, „da draußen ist
eine lichte Welt, dort leben dein Vater und deine Mutter und alle möglichen Leute;
dorthin gehe ich.“ Das Mädchen sagt: „Gute Mutter, ich will es niemand
erzählen, zeig mir diese lichte VVeit! Die alte Frau nimmt also das Vtädchen
mit hinaus. Doch als dieses die lichte Welt erblickte, wankt es und wird ohn¬
mächtig; Gottes Auge fällt auf die Jungfrau und sie wird schwanger. Der er¬
boste Vater verschließt sie in eine goldene Kiste, die er auf das weite Meer
hinaustreiben läßt.
Nr. 16. In dianis ch: 2 In einer Legende der Indianer von Guacheta in Kolumbien
wird erzählt, daß es einst hieß, die Sonne würde eine ihrer Töchter befruchten,
so daß sie ein Kind bekommen und doch eine Jungfrau bleiben würde. Der
Häuptling hatte zwei Töchter und wünschte lebhaft, daß eine davon in dieser
wunderbaren Weise empfange. Daher ließ er sie jeden Morgen einen Hügel
im Osten seines Hauses hinansteigen, damit sie von den ersten Strahlen der
aufgehenden Sonne beschienen würden. Sein Wunsch ging in Erfüllung; denn
eine der Töchter empfing und gebar einen Smaragd, den sie in Wolle wickelte
und an ihrer Brust barg. Wenige Tage darauf wurde der Stein zu einem Kinde,
das den Namen Garanchacha erhielt und allgemein als der Sohn der Sonne
galt.
Nr. 17. Samoanisch. 3 Die Samoaner berichten von einem Weibe namens
Mangamangai , das schwanger wurde, indem es die aufgehende Sonne anblickte.
Ihr Sohn wuchs heran und wurde Kind der Sonne genannt. Bei seiner Heirat
verlangte er von seiner Mutter eine Mitgift, doch sie wies ihn an seinen Vater
und sagte ihm, wie er zu ihm gelangen könne. Er nahm also eines Morgens
eine lange Ranke und machte eine Schleife; dann stieg er auf einen Baum,
warf die Schlinge über die Sonne und hielt sie fest. Der Himmelskörper, in
seinem Gange aufgehalten, fragte ihn, was er wolle, und als er erfuhr, daß
der junge Mann ein Geschenk für seine Braut wünsche, packte er einen Haufen
kostbarer Dinge in einen Korb, mit dem der Jüngling zur Erde niederstieg.
1) W. Radloff: Proben der Volksliteratur der türkischen Stämme Südsibiriens.
IH. (Petersburg 1870), S. 82 ff.
g Ternaux-Compans: Essai sur Pancien Cundinamarca (Paris, ohne Datum),
3) George Turner: Samoa, a hundred years ago and long before (London 1884),
16
Imago XIV.
a 3 o
Alfred Winterstein
Nach Frazer 1 vermögen wir selbst in den Hochzeitsbräuchen ver¬
schiedener Rassen Spuren . der Anschauung zu entdecken, daß Frauen durch
die Sonne geschwängert werden können. 2 3 So pflegte bei den C/hzco-Indianern 3
in Südamerika ein neuvermähltes Paar die erste Nacht auf dem Fell einer
Stute oder eines Ochsen mit dem Kopf gegen Westen zu schlafen, „denn
die Hochzeit wird nicht als gültig betrachtet, bevor nicht die aufgehende
Sonne seine Füße beschienen hat“. Bei den alten Hinduhochzeiten 4 war die
erste Zeremonie der „Schwängerungsritus“ (Garbhädhana ); während des
vorhergehenden Tages mußte die Braut gegen die Sonne schauen oder in
irgendeiner Weise ihren Strahlen ausgesetzt werden. Bei den Türken Si¬
biriens 5 bestand früher die Sitte, am Morgen nach der Hochzeit das junge
Paar aus der Hütte zu führen, um die aufgehende Sonne zu begrüßen. In
Iran und Zentralasien soll es auch noch heute als das sicherste Mittel zur
Beförderung der Empfängnis gelten, eine Neuvermählte den Strahlen der auf¬
gehenden Sonne auszusetzen.
Schließlich möchte ich noch eine Episode aus dem christlichen Marien¬
mythus, Marias Darbringung, erwähnen, die bereits A. J. Storfer 6 mit
der Mädchenweihe der Naturvölker in Zusammenhang gebracht hat. Als
Maria drei Jahre alt war, wurde sie (nach Überlieferung des ältesten neu-
testamentlichen Apokryphum, des Protevangelium des Jacobus) von ihren
Eltern in Begleitung von fackeltragenden Jungfrauen in den Tempel dar¬
gebracht, wo der Priester sie in Empfang nahm, küßte und segnete. Gott
goß seine Seele auf Maria und sie tanzte mit den Füßen. Maria erstieg
die fünfzehn Stufen des Tempels trotz ihrer Jugend ohne Hilfe, was ein
Zeichen göttlicher Gnade war. Auch sonst fällt ihre Frühreife auf. Marias
Tätigkeit im Tempel bestand im Weben; sie webte am Tempelvorhang.
Die Absonderung der Einzuweihenden, die öffentliche, festliche Darbrin¬
gung, die symbolische Vermählung mit dem Priester als Vertreter der Gott¬
heit, der Tanz der kleinen Maria, das analoge Stufensteigen (die Zahl 15!),
1) Frazer, a. a. O., Vol. I, S. 75.
2) Die Hindu glauben, daß, wenn Mädchen sich während ihrer Menstruation den
Sonnenstrahlen aussetzen, sie dadurch schwanger werden können. Darum stellen sich
sterile Frauen nackt in die Sonne, um auf diese Weise Kindersegen zu erhalten.
(Rieh. Schmidt: Liehe und Ehe im alten und modernen Indien. Berlin 1904.)
3) Thomas J. Hutchinson: On the Chaco and other Indians of South America.
Transactions of the Ethnological Society of London, N. S. III. (1865), S. 327.
4) Monier Williams: Religious Thought and Life in India (London 1883), S. 254.
5) H. Vämb6ry: Das Türkenvolk (Leipzig 1885), S. 112.
6) A. J. Storfer: Marias jungfräuliche Mutterschaft. Ein völkerpsychologisches
Fragment über Sexualsymbolik (Berlin 1914), S. 13 ff.
_ Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spure n im Märchen 2 3 ±
die Beschäftigung mit Webearbeiten: diese Züge sind uns bereits aus den
Berichten über die Initiationszeremonien der Frauen vertraut . 1
Zur Erklärung dieser sonderbaren Bräuche, die wir in merkwürdiger
Gleichförmigkeit bei den kulturell tieferstehenden Völkern der ganzen Erde
angetroffen und deren entstellte Abkömmlinge wir dann auch in europä¬
ischen Märchen wiedergefunden haben, ist bisher von der Fachwissenschaft
nicht allzuviel geleistet worden. Frazer, der die reichste Sammlung der
einschlägigen Sitten zusammengestellt hat, faßt das Pubertätsexil der Mädchen
als einen Spezialfall des auf dem Menstruationsblute überhaupt ruhenden
Tabus auf. Der Mann fürchtet das Menstruationsblut, namentlich aber beim
Eintritt der ersten Menstruation, weshalb die damit verbundenen Obser¬
vanzen besonders streng sind. Die Absonderung der menstruierenden Frauen
- auch dafür führt Frazer zahlreiche Beispiele an — soll die gefährlichen
Einflüsse bannen, die von ihnen in diesem Zustand ausgehen. Am wirk¬
samsten erscheint diese Isolierung, wenn die Menstruierende sozusagen
zwischen Himmel und Erde aufgehängt wird . 2 Ob sie nun in eine Hänge¬
matte gewickelt und bis zur Decke aufgezogen wird wie in Südamerika
oder in einem über dem Erdboden erhöhten finsteren, engen Käfig einge¬
schlossen wird wie in Neumecklenburg: immer wird sie als unschädlich
angesehen, sobald sie, von der Erde und von der Sonne abgesperrt, keine
dieser großen Lebensquellen durch ihre tödliche Ansteckung zu vergiften
vermag. Sie ist jetzt, in der Sprache der Elektrizität ausgedrückt, isoliert.
Die zu diesem Behufe getroffenen Vorsichtsmaßregeln sind nicht nur durch
die Rücksicht auf die anderen, sondern auch durch die auf die eigene Person
bestimmt. Denn auch die Menstruierende würde leiden, falls sie die Vor¬
schriften überträte. Zulumädchen glauben, daß sie zu Skeletten einschrumpfen
würden, wenn die Sonne sie in der Pubertät beschiene, und bei einigen
brasilianischen Stämmen glauben die jungen Frauen, daß eine Übertretung
der Vorschriften Geschwüre am Nacken und im Halse zur Folge hätte.
Kurz, die Menstruierende wird als mit einem elektrischen Strome geladen
angesehen, der, wenn nicht in Schranken gehalten, sich für sie und für
1) Wenn ein Mädchen im alten Griechenland mannbar wurde, so forderte die
itte, daß es sein Spielzeug der Göttin Aphrodite weihte und in ihrem Tempel auf-
hmg. Die Arkteia der Bärengöttin Artemis in Brauron, der Bärentanz, an dem nach
ristopbanes (Lysistrata, Vers 645) jedes zu Jahren gekommene Mädchen teilnehmen
niu te, um einen Mann zu finden, dürfte als Einweihungszeremonie aufzufassen sein.
Dle Mädchen hießen apxtoi, wiewohl sie später kein Bärenfell mehr trugen.
2 ) Vielleicht geht die Sage, wie Zeus Hera im Zorn über ihre Verfolgung des
erakles zum Himmel hinaushängte, auf einen ähnlichen Brauch zurück.
16*
a3a
Alfred Winterstein
alle, die mit ihr in Berührung kommen, verderblich erweisen kann* Das
Ziel der in Betracht kommenden Tabus ist eben, diese Kraft innerhalb
der für die Sicherheit aller notwendigen Grenzen zu bannen . 1
Frazer verwischt den spezifischen Charakter der Pubertätsriten der
Mädchen, wie mir scheint, allzusehr zugunsten der allgemeineren Blutscheu
und Erstlingsangst ; 2 eine andere Theorie, die E. Crawley 3 aufgestellt hat,
wird den Eigentümlichkeiten dieser Bräuche besser gerecht. Die Vermeidungs-
Vorschriften entspringen nach seiner Erklärung zunächst einmal einem
allgemeinen Tabu der Geschlechter, das für den Mann bei Eintritt
der Pubertät des Weibes (erste Menstruation) wirksam wird. Die besonderen,
aus dessen Geschlechtsleben folgenden Situationen wie beispielsweise die
Menstruation verstärken die Scheu vor dem Weibe immer wieder dadurch,
daß sie an seine Andersartigkeit erinnern. Diese ruft beim Manne Gefühle
der Fremdheit und Feindseligkeit hervor. Er fürchtet, vom Weibe geschwächt,
mit dessen Eigenschaften angesteckt zu werden und sich dann als untüchtig,
so namentlich bei der Jagd und im Kriege, zu erweisen. Aus dieser Einstellung
erklärt sich, daß beispielsweise die Vorschriften für menstruierende Frauen
überhaupt denen für die Pubertätskandidatinnen so ähnlich, wenn auch
zumeist weniger streng sind. Da das Sexualbedürfnis die Schranke zwischen
den Geschlechtern aber immer wieder durchbricht und der erste Sexual¬
verkehr des Mädchens mit besonderen Gefahren verbunden ist, müssen
rechtzeitig Vorkehrungen gegen die materiellen und psychischen Gefahren,
die der Primitive ja noch nicht sondert, getroffen werden. Diesem Zwecke
dienen die sexuellen Operationen (Durchbohrung des Hymen , 4 Exzision
1) Frazer meint, daß die gleiche Erklärung sich auf die ähnlichen Isolierbräuche
der Priesterkönige und Priester anwenden läßt.
2) Freud („Das Tabu der Virginität“, in „Beiträge zur Psychologie des Liebes-
lebens“, Ges. Schriften, Bd. V) schreibt: „Eine zweite Erklärung sieht gleichfalls
vom Sexuellen ab, greift aber viel weiter ins Allgemeine aus. Sie führt an, daß der
Primitive die Beute einer beständig lauernden Angstbereitschaft ist, ganz ähnlich,
wie wir es in der psychoanalytischen Neurosenlehre vom Angstneurotiker behaupten.
Diese Angstbereitschaft wird sich am stärksten bei allen Gelegenheiten zeigen, die
irgendwie vom Gewohnten abweichen, die etwas Neues, Unerwartetes, Unverstandenes,
Unheimliches mit sich bringen. Daher stammt auch das weit in die späteren Religionen
hineinreichende Zeremoniell, das mit dem Beginne jeder neuen Verrichtung, dem Anfänge
jedes Zeitabschnittes, dem Erstlings ertrag von Mensch, Tier und Frucht verknüpft ist.“
3) Emest Crawley: The Mystic Rose, a Study of primitive marriage (London 1902),
S. 190 ff. u. 294 ff.
4) Bei den Pubertätszeremonien in Ceram nimmt eine alte Frau ein Blatt und
durchbohrt es feierlich mit dem Finger als ein Symbol der Perforation des Hymen.
Nachher kann das Mädchen mit Männern verkehren; in einigen Dörfern haben alte
Die Puhertätsriten der Aiäjdien und ihre Spuren im Märien a 33
der Klitoris). Auch der Unterricht, der den Novizinnen durch alte Weiber
in sexuellen Dingen zuteil wird, soll den künftigen Geschlechtsverkehr
erleichtern. Manchmal muß dieser von den Mädchen sofort * 1 ausgeübt
werden, wodurch dann jedes Geschlecht gegen das andere dauernd immunisiert
ist. Überhaupt ist ja eine enge Beziehung zwischen Pubertätsweihen und
Hochzeitszeremonien vorhanden. Die Pubertätsriten bringen nach Crawley
jedoch auch die Anschauung der Primitiven zum Ausdruck, daß in dieser
Zeit der alte Mensch abgelegt und ein neuer angezogen wird , 2 3 4 wie ja
tatsächlich eine tiefgreifende physische und psychische Veränderung mit
den Knaben und Mädchen in der Pubertät vor sich geht. Daß z. B.
Haare abgeschnitten oder Zähne ausgeschlagen werden, soll nach Crawley
diesen Verzicht auf den alten Menschen unterstützen und die Sicherheit
des übrigen Körpers durch Opferung eines Teiles verstärken. Derselbe
Verfasser verweist darauf, daß dem Verzicht auf das frühere Leben beim
Knaben viel größere Bedeutung zukommt als beim Mädchen; denn bei
ihr ist nichts in der Vergangenheit, was ihr gefährlich werden könnte.
Sie wird nach wie vor ihr größtes Behagen und ihre beste Gesellschaft
bei der Mutter und den Freundinnen finden. Hingegen drohen dem er¬
wachsenen Mädchen vom anderen Geschlechte Gefahren, denen es begegnen
muß. Ploß-Renz tritt zunächst der Behauptung von Heinrich Schurtzä
entgegen, daß bei den Mädchen, deren zweite Altersstufe bei weitem nicht
so geschlossen und kameradschaftlich organisiert zu sein pflege wie die der
Knaben, auch die Festlichkeiten und Prüfungen stets unbedeutender seien.
Ja er führt sogar vereinzelte Beispiele dafür an, daß die Pubertätsfeier des
weiblichen Geschlechtes länger dauert als jene des männlichen.^ Die
Zeugungsfähigkeit ist der Hauptgegenstand auch der Mädchenweihen. Der
Gedanke des mystischen Todes und der Wiedergeburt beherrscht diese und
die so oft damit verbundene Mädchenbeschneidung in gleicher Weise wie
Männer noch am selben Abend Zutritt zu ihr. (J. G. F. Riedel: De sluik- en
kroesharige rassen tusschen Selebes en Papua. 1896, S. 158.)
1) Bei einigen Stämmen Zentralafrikas müssen Knaben und Mädchen nach der
Initiationsfeier sobald wie möglich miteinander verkehren; denn man glaubt, daß
Sie sonst sterben müßten. (Macdonald: Africana, I. S. 126.)
2) In Nias und Sierra Leone empfangen die Mädchen in der Pubertät einen
neuen Namen. (A. Featherman: Social history of the races of mankind. II, S. 354.)
Auf den Andamaneninseln werden diese Namen für Mädchen „Blumennamen“ genannt
(Man, in Journ. Anthrop. Inst. XII, S. 128.)
3) H. S churtz: Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grundformen
der Gesellschaft (Berlin 1902), S. 96 f.
4) So in Lukuledi (früheres Deutsch-Ostafrika).
Alfred Wmterstein
234
die Jünglingsweihen. Ploß-Renz hält es nämlich für unrichtig, die Ab¬
sonderung der Reifekandidatinnen und andere Riten, die darauf abzielen
die Mädchen dem Lichte zu entziehen, durchwegs mit ihrer „Unreinheit“ 1
zu begründen, wie das gewöhnlich der Menstruierenden überhaupt und
der Wöchnerin gegenüber geschieht, weil ja viele Völker ihre männlichen
Pubertätskandidaten gleichfalls isolieren, die deswegen aber nicht als „unrein“
bezeichnet werden. Wohl aber gelten sie als „tabu“, d. h. als heilig, ehr¬
würdig, unberührbar, eine Bezeichnung, die bei manchen Völkern auch
den isolierten Menstruierenden, Wöchnerinnen und stillenden Weibern
gegeben wird. Für beide Geschlechter findet die Wiedergeburt während
ihrer Zurückgezogenheit 2 und durch den Dämon statt. Im Exil verkehrt
der Dämon mit den Pubertätskandidaten, ja der ganze Unterricht, der den
Kandidaten von den Priestern, Zauberern, Medizinmännern usw. beider
Geschlechter dort gegeben wird, dürfte auf Dämonen zurückgeführt werden,
weil diese sich nach der regelmäßigen Auffassung der Völker durch ihre
Priester offenbaren. Dieser Unterricht dreht sich zum großen Teil um Sexuelles.
Ploß-Renz erblickt mit Recht in dem Brauch, die Kandidaten beiderlei
Geschlechtes mit Stöcken, Ruten, Riemen usw. zu schlagen, zu geißeln,
zu peitschen, keine bloße Mutprobe, sondern einen Fruchtbarkeits- oder
Geschlechtsritus. Für den Psychoanalytiker bemerkenswert ist, was Ploß-
Renz über die symbolische Bedeutung des Zahnes beim Pubertätsbrauch der
Zahnoperationen sagt. Der Zahn scheint ihm hiebei als Repräsentant des
Menschen selbst betrachtet zu werden. Das Rätselhafte dieser Auffassung
versucht er durch die Sprachforschung zu lösen. Seb. Zehetmayr hat in
seinem „Analogisch vergleichenden Wörterbuch über das Gesamtgebiet der
indogermanischen Sprachen“ (Leipzig 187g) die Wurzel unseres „Zahn“
unter anderem im Namen des Bockes Thors, Tann-griostr „der Zähne-
knirscher“, und in „Wuotan“ (penetrans, der Durchdringende) gefunden.
Bedeutungsvoll ist ferner der süddeutsche Volksausdruck Baunzan (Bauch¬
zahn) für eine Speise, die ihrer Form nach an ein Knabenglied erinnert, 3 * 5
1) Das Reinwerden wird häufig mit dem Weibwerden identifiziert; die Novize
wird durch die Menstruation rein („monatliche Reinigung“).
2) Die Isolierhütten werden von gewissen Völkern ausdrücklich als Magen oder
Bauch eines Geistes bezeichnet. Sie sind die Stätten des mystischen Todes der Un¬
reifen und ihrer mystischen Wiedergeburt als Reife. Die Absonderung scheint zum
Verkehr mit den Dämonen notwendig zu sein.
5) In Wien gibt es eine bestimmte Art von Gebäck, die „Baunzerl“ genannt wird.
Ihre Form ähnelt allerdings mehr einem weiblichen Genitale.
Die Pubertätsriten der AlaJcLen und ilire Spuren im Alärdien 235
so wie die schweizerischen „Vulvenzähne“. 1 Es scheint an eine Ähnlichkeit
der Zähne (es handelt sich bei den Zahnoperationen stets um Vorderzähne)
m it den Geschlechtsorganen gedacht zu sein. 2 Demnach würde der Zahn,
wenigstens bei gewissen Völkern, ein Abbild des Zeugungsorgans und
mittelbar ein Bild des Menschen sein. Auch die Farben, mit denen die
Pubertätskandidaten beiderlei Geschlechtes vielfach bemalt werden, bringt
Ploß-Renz in Beziehung zur Fruchtbarkeit und Sexualität. Daß den
Kandidaten der Genuß gewisser Speisen verboten ist, begründet er mit
ihrer Bedeutung als Symbol des Geschlechtsgenusses. Soferne Wasser bei
den Riten der Mädchen eine Rolle spielt, ist es vor allem als Symbol der
Fruchtbarkeit und damit als ein Element aufzufassen, welches das Weib
in sein neues Leben einführt. Auch bei zahlreichen anderen Pubertäts¬
bräuchen hebt Ploß-Renz ihre sexuelle Symbolik und ihre Beziehung
zur Fruchtbarkeit hervor.
Die oben angeführten Theorien enthalten ja zweifellos manches Rich¬
tige, wenn sie auch, wie mir scheint, Sinn und Zweck der Pubertäts¬
bräuche noch immer allzu sehr vom Standpunkte des Primitiven und zu
wenig von dem des Psychologen deuten. Wir werden uns deshalb nunmehr
des Hilfsmittels der Psychoanalyse bedienen, das seine Tauglichkeit ja
bereits bei der Untersuchung der Pubertätsriten der Knaben 3 in so hervor¬
ragendem Maße bewiesen hat. Bevor wir die Bräuche, deren typischer Ab¬
lauf dem Leser aus den vorangehenden Beispielen klar geworden sein wird,
im einzelnen betrachten, wollen wir uns noch zum besseren Verständnis
mit den Umgestaltungen des weiblichen Sexuallebens in der Pubertät be¬
schäftigen. Wir lesen hierüber in Freuds klassischen „Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie“ 4 folgendes:
„Es ist bekannt, daß erst mit der Pubertät sich die scharfe Sonderung des
männlichen und weiblichen Charakters herstellt, ein Gegensatz, der dann wie
kein anderer die Lebensgestaltung der Menschen entscheidend beeinflußt.
Männliche und weibliche Anlage sind allerdings schon im Kindesalter gut
1) In der deutschen Schweiz läßt man Kinder zur Erleichterung des Zahnens
auf Kerzen von Jungfernwachs beißen; auch reibt man das Zahnfleisch mit Wolfs-
fcähnen oder mit Blut aus dem Kamme des Haushahns oder mit dem Pfötchen einer
Schermaus ein, welche man dann dem Kind als „Füllenzähne“ oder „Vulvenzähne“
anhängt. (Ploß-Renz, a. a. O. S. 56.)
2) Vgl. Ferenczis interessante Hypothese von dem Zahn als Urpenis (Versuch
einer Genitaltheorie, S. 30).
5) Th. Reik, a. a. O. S. 59 ff.
4) Sigm. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. (Ges. Schriften, Bd. V.)
*36 Alf red Winterstein
kenntlich; die Entwicklung der Sexualhemmungen (Scham, Ekel, Mitleid usw)
erfolgt beim kleinen Mädchen frühzeitiger und gegen geringeren Widerstand
als beim Knaben; die Neigung zur Sexual Verdrängung erscheint überhaupt
größer; wo sich Partialtriebe der Sexualität bemerkbar machen, bevorzugen
sie die passive Form. Die autoerotische Betätigung der erogenen Zonen ist
aber bei beiden Geschlechtern die nämliche, und durch diese Übereinstimmung
ist die Möglichkeit eines Geschlechtsunterschiedes, wie er sich nach der Pubertät
herstellt, für die Kindheit aufgehoben. Mit Rücksicht auf die autoerotischen
und masturbatorischen Sexualäußerungen könnte man den Satz aufstellen, die
Sexualität der kleinen Mädchen habe durchaus männlichen Charakter . . . Seit¬
dem ich mit dem Gesichtspunkt der Bisexualität (durch W. Fließ) bekannt
worden bin, halte ich dieses Moment für das hier Maßgebende und meine
ohne der Bisexualität Rechnung zu tragen, wird man kaum zum Verständnis
der tatsächlich zu beobachtenden Sexualäußerungen von Mann und Weib ge¬
langen können.
Von diesem abgesehen, kann ich nur noch folgendes hinzufügen: Die leitende
erogene Zone ist auch beim weiblichen Kinde in der Klitoris gelegen, der
männlichen Genitalzone an der Eichel also homolog. Alles, was ich über
Masturbation bei kleinen Mädchen in Erfahrung bringen konnte, betraf die
Klitoris und nicht die für die späteren Geschlechtsfunktionen bedeutsamen
Partien des äußeren Genitales. Ich zweifle selbst daran, daß das weibliche
Kind unter dem Einfluß der Verführung zu etwas anderem als zur Klitoris-
masturbation gelangen kann. Die gerade bei kleinen Mädchen so häufigen
Spontanentladungen der sexuellen Erregtheit äußern sich in Zuckungen der
Klitoris, und die häufigen Erektionen derselben ermöglichen es den Mädchen,
die Sexualäußerungen des anderen Geschlechtes richtig auch ohne Unterweisung
zu beurteilen, indem sie einfach die Empfindungen der eigenen Sexualvorgänge
auf die Knaben übertragen.
Will man das Weib werden des kleinen Mädchens verstehen, so muß man
die weiteren Schicksale dieser Klitoriserregbarkeit verfolgen. Die Pubertät,
welche dem Knaben jenen großen Vorstoß der Libido bringt, kennzeichnet
sich für das Mädchen durch eine neuerliche Verdrängungswelle, von der gerade
die Klitorissexualität betroffen wird. Es ist ein Stück männlichen Sexuallebens,
was dabei der Verdrängung verfällt. 1 Die bei dieser PubertätsVerdrängung des
Weibes geschaffene Verstärkung der Sexualhemmnisse ergibt dann einen Reiz
für die Libido des Mannes und nötigt dieselbe zur Steigerung ihrer Leistungen;
mit der Höhe der Libido steigt dann auch die Sexualüberschätzung, die nur
für das sich weigernde, seine Sexualität verleugnende Weib im vollen Maße
zu haben ist . . . Ist die Übertragung der erogenen Reizbarkeit von der Klitoris
auf den Scheideneingang gelungen, so hat damit das Weib seine für die spätere
Sexualbetätigung leitende Zone gewechselt, während der Mann die seinige von
der Kindheit an beibehalten hat. In diesem Wechsel der leitenden erogenen
Zone sowie in dem Verdrängungsschub der Pubertät, der gleichsam die infantile
1) Man könnte von einem Passivitätsschub sprechen.
Die Pukertätsriten der .Mädchen und ilire Spuren im Alärclien
23y
Männlichkeit beiseite schafft, liegen die Hauptbedingungen für die Bevorzugung
des Weibes zur Neurose, insbesondere zur Hysterie. Diese Bedingungen hängen
also mit dem Wesen der Weiblichkeit innigst zusammen/ 4
Wenn wir die Ausführungen Freuds über die Verdrängung der männ¬
lichen Klitorissexualität der Mädchen im Auge behalten und uns gleich¬
zeitig der Bedeutung der inzestuösen Objektwahl in der Pubertätszeit er¬
innern, sind wir genügend vorbereitet, um an die psychoanalytische Er¬
klärung der Pubertätsriten heranzutreten. Ihre Reihenfolge läßt sich sche¬
matisch etwa so darstellen:
1) Das Mädchen wird — meistens nach Eintritt der ersten Menstruation —
isoliert (Einsamkeit, Dunkel). Oft findet sich auch die Beschränkung,
daß es nicht die Erde berühren und die Sonne schauen darf. Das Verbot
des Verkehres bezieht sich entweder nur auf bestimmte Personen (Ange¬
hörige des anderen Geschlechtes, Eltern, Verwandte) oder auf alle. Diese
für die Bräuche typische Absonderung wollen wir künftighin Mädchen¬
exil nennen.
2 ) Im Exil wird die Kandidatin im allgemeinen von einer älteren Frau
betreut, die ihr das Essen bringt usw. (bisweilen Mutter, Verwandte).
3) Sie empfängt von älteren Frauen, manchmal auch von einem Priester,
Medizinmann oder ähnlichem (theoretischen und praktischen) Unterricht
in sexuellen Dingen, aber auch in anderen nützlichen Gegenständen.
4) Sie beschäftigt sich mit dem Einüben häuslicher Tätigkeiten (Weben, 1
Flechten, Spinnen u. a.).
jj Sie darf in vielen Fällen ihren Körper nicht mit den Händen be¬
rühren (ihren Kopf nicht kratzen, die Speisen nicht selbst in den Mund
nehmen), sondern muß sich hiezu eines eigenen Instrumentes, eines Kammes,
eines Stöckchens oder eines bestimmten Knochens bedienen. (Ein solcher
dient auch bisweilen als Trinkgefäß.)
6 ) Sie muß vollkommen fasten oder sich mindestens von gewissen Speisen
enthalten (kein Fleisch, kein Fisch, häufig das Verbot, Salz zu essen). Auch
die Berührung, ja manchmal der Anblick bestimmter Tiere (Tierknochen)
ist untersagt.
7) Sie muß gewisse Prüfungen überstehen (die sogenannten Leidens- oder
Mutproben).
8 ) Sie wird bisweilen tätowiert oder bemalt.
1) Nach Bachofen („Das Mutterrecht“, „Versuch über die Gräbersymbolik der
Alten“) ist Wehen und Spinnen im Altertum das Symbol des Hetärismus, der un¬
gehemmten Zeugung.
*38
Alfred Winterstein
p) Es finden sexuelle Operationen an der Reifekandidatin statt (Exzision
der Klitoris, Beschneidung der Nymphen, künstliche Defloration).
10) Es werden gewisse Zahnoperationen an ihr vorgenommen; auch die
Haare werden manchmal abgeschnitten oder verbrannt.
11) Es werden neben der Isolierung auch andere Bräuche beobachtet
die mit der Vorstellung von Tod und Wiedergeburt Zusammenhängen (Ein¬
nehmen von Brechmitteln, Waschungen und Bäder, Erteilung eines neuen
Namens, neue Bekleidung der Kandidatin u. a.).
12) Gewisse Riten bezwecken, die Novize der Macht eines Pubertäts¬
oder Menstruationsdämons (bisweilen als Schlange oder als ein anderes
geisterhaftes Tier vorgestellt) zu entziehen.
I Magische Handlungen drücken manchmal den Wunsch nach leichter
Geburt aus.
14) Bei vielen Pubertätsweihen spielt der Tanz als Symbol des Geschlechts¬
verkehrs, als sexuelle Prüfungsleistung eine Rolle. Tänze, Gesänge und
Schmausereien bilden häufig den Abschluß der Initiationszeremonien.
Ij) Das Mädchen wird oft unmittelbar nach Beendigung des Exils in
das Geschlechtsleben eingeführt. (Bisweilen erster Sexualverkehr mit älterem
Mann, Häuptling, Priester.)
16) Bei einigen Völkern müssen die Eltern nach der ersten Menstruation
der Tochter den Beischlaf ausüben, bei anderen wieder sich davon enthalten.
Wir haben gesehen, daß zur Zeit der Pubertät die Mädchen ebenso wie
die Knaben von ihrer Familie getrennt werden, und dürfen daher auch
beim weiblichen Geschlechte die gleiche Motivierung durch die Inzest¬
konflikte annehmen. Als Grund für das Exil wird allerdings von den Primi¬
tiven selbst der Schutz namentlich der Männer vor der vermeintlichen Ge¬
fährlichkeit der zum erstenmal Menstruierenden angegeben. Die Tochter
soll vom Vater ferngehalten werden; zu diesem Behufe wird sie wieder in
den Mutterleib versetzt, 1 als dessen symbolische Darstellungen wohl die
Isolierhütten, Käfige, Behälter aus Baumrinde, 2 Hängematten, Erdlöcher zu
betrachten sind. Bisweilen scheint freilich auch die Absonderung von der
Mutter beabsichtigt zu werden; denn diesen Sinn dürfte das von Frazer
in den Vordergrund gestellte Verbot haben, nicht nur die Sonne (den
1) Auch der Gedanke der Wiedergeburt spielt hier hinein. Wenn gelegentlich
angenommen wird, daß die Kandidatin mit einem Dämon in der Einsamkeit umgeht,
so sehen wir, wie das Verdrängte wiederkehrt. Übrigens ähnelt diese Vorstellung der
Phantasie weiblicher Neurotiker, mit dem Vater im Mutterleibe zu verkehren.
2) So bei den Coroados (Puri) im südlichen Brasilien.
Die Pubertätsriten der jMädchen und ihre Spuren im Klärchen 2 3 9
Vater) 1 zu schauen, sondern auch die Erde (die Mutter) zu berühren. 2 Die
Trennung von der Mutter entspricht einer Abwehrreaktion auf den voll¬
ständigen „Elektra “-Komplex der Tochter, die ja nicht nur die Mutter in der
Liebe zum Vater als Rivalin, sondern gleichzeitig auch den Vater in der Liebe
zur Mutter als störenden Konkurrenten empfindet. Das Mädchenexil wäre
somit eigentlich als ein Kompromiß aus druck der eifersüchtigen Regungen
beider Elternteile aufzufassen, da die Novize dadurch sowohl vom Vater
als auch von der Mutter getrennt wird. Man könnte ebensogut sagen: das
Exil ist ein Kompromiß zwischen der Einschließung der Tochter für den
Vater und der Einschließung der Tochter vor dem Vater. In den Bräuchen
scheint allerdings die Absonderung vom Vater das Wesentliche zu sein;
denn das Exil selber erinnert an den Aufenthalt im Uterus der Mutter
und die alte Frau, sozusagen die Beschließerin des Gefängnisses (manchmal
auch in der Mehrzahl), die für die Ernährung und Erziehung (auch Züch¬
tigung) der Novize sorgt, ist eine Mutterfigur. Das Exil der Tochter ist
eben auch eine Einrichtung zugunsten der Mutter. Es handelt sich nämlich
bei den Mädchen nicht wie bei den Knaben darum, sie dem häuslichen,
mütterlichen Milieu zu entfremden; 3 sie üben ja auch während des Exils
häusliche Tätigkeiten (Weben, Flechten, Spinnen u. a.) als Vorbereitung
für das kommende Leben (Führung eines Haushalts als verheiratete Frau)
ein. Im Zusammenhänge mit dieser Tatsache tritt auch das soziale Moment 4
in den Pubertätsriten der Mädchen weniger hervor; sie werden vielfach
einzeln eingeweiht.
Die inzestuöse Neigung des Vaters zur Tochter, deren Abwehr das
Mädchenexil dienen soll, tritt im Gegensätze hiezu in den Mythen und
Märchen ganz offenkundig zutage: der Vater benimmt sich wie ein eifer¬
süchtiger Liebhaber der Tochter (bisweilen wird dies sogar zum Ausdruck
gebracht), gönnt sie keinem Freier und schließt sie, um sie gleichsam nur
1) Die Auffassung der Sonne als Vater- und der Erde als Muttersymbol bedarf
wohl keiner näheren Begründung mehr. — Nach einem zentralaustralischen Mythus
entsprang das Feuer dem Penis eines Euro, der sehr rotes Feuer enthielt.
2) Dieses Verbot galt ferner für gewisse Könige und Priester. Siehe Frazer,
a. a. O., I, S. 2 ff.
5) Deshalb hat auch der aus dem Exil zurückkehrende Jüngling, wenn man den
Berichten glauben darf, seine Eltern, seinen Namen, sein ganzes früheres Leben ver¬
gessen.
4) H. Schurtz (Altersklassen und Männerbünde. Eine Darstellung der Grund¬
formen der Gesellschaft. Berlin 1902, S. 96 f.) schreibt auch, daß die zweite Alters¬
stufe bei den Mädchen bei weitem nicht so geschlossen und kameradschaftlich organi¬
siert zu sein pflege wie bei den Knaben.
^4° Alfred W mt er.stein
für sich zu haben, in einen Turm ein. 1 Auch die böse, eifersüchti
Mutter 2 3 4 kennen wir (meist nur als Schwiegermutter) aus vielen Märchen 6
sie wird dem Mädchen zur „Hexe“, die das Exil bewirkt und am Schlüsse
der Geschichte zur Vergeltung verbrannt wird.
Das Mädchenexil verfolgt vor allem den Zweck, den Vater von der
Tochter fernzuhalten. Eine ähnliche Bedeutung scheint der als Punkt iß
(S. 40) erwähnte Brauch zu besitzen, daß an manchen Orten der Vater
nach der ersten Menstruation der Tochter mit seinem Weibe den Beischlaf
vollziehen muß .3 Es ist, als sollte er durch diese Sitte von der Tochter
abgelenkt werden (vielleicht aber auch ein Fruchtbarkeitszauber). Bei ein¬
zelnen Völkerschaften heißt es wieder, der Vater käme in Lebensgefahr,
wenn er die Isolierte sähe. So wie aber im neurotischen Symptom das
Verdrängte sich dennoch durchsetzt, kehrt der sozusagen verdrängte Vater
m anderen Bräuchen der Mädchenweihe unmittelbar oder mittelbar im
Wege einer Vaterfigur wieder. * Wir erinnern uns, daß auf den Marshall¬
inseln eine Häuptlingstochter mit Eintritt der Pubertät auch von ihrem
Vater defloriert werden konnte. Eine verwandte Sitte, daß die Braut von
ihrem eigenen Vater der Jungfrauschaft beraubt wird, herrscht bei den
Orang-Sakhai im Innern der Malayischen Halbinsel, bei den Battas auf
Sumatra, den Alfuren auf Celebes, ebenso auf Ceylon und auf den Mo¬
lukken. 5 Als die Vollzieher der Defloration erscheinen andernorts Priester,
Könige, Vornehme, also Personen aus der Vaterreihe, denen die Pflicht
obliegt, die Jungfrau zu deflorieren. Diese Pflicht geht wohl auf ein Recht
1) Vgl. die Märchen Nr. 1, 4, 9, 14 und 15.
2) Ein ähnliches Verhalten wie im Märchen zeigt die Mutter der Pubertätskandi¬
datin bei den Macusi, einem Zweige der Karäiben in Britisch-Guayana, die das Mäd¬
chen während der Nacht mit dünnen Ruten geißelt (siehe S. 211).
3) Umgekehrt dürfen hei den Atchuabo (Portugiesisch-Ostafrika) Vater und Mutter
wahrend der Betanzung ihrer Tochter nicht miteinander verkehren (a. a. O. S. 100).
Ähnlich auf den Marshall-Inseln (siehe S. 206).
4) Siehe auch Anmerkung 1 zu S. 238.
5) Vgl. auch Crawley, a. a. O. S. 349. - Was bei den Malayen als eine Pflicht
b , Va * erS der Braut erscheint, nimmt andernorts der Vater des Bräutigams als das
Recht des Familienoberhauptes in Anspruch. Ich verweise zunächst auf den Brauch
der Bdnaro (S. 205). Bei den indischen Sudras, besonders bei den Vellalan von Coim-
hattore besteht die Sitte, daß der Vater seinen unmündigen Sohn mit einem Mädchen
vermahlt und dann selbst bis zur Großjährigkeit des Sohnes mit ihr zusammenlebt.
Bei den Russen heißt der alte noch heute nicht erloschene Brauch, wonach die
Schwiegertochter dem Schwiegervater zur Verfügung steht, snohacestvo von snoha,
öchnur. Diese Sitte wird auch von den Osseten berichtet; Spuren finden sich gleich-
talls hpi n 12 ^ A 0
Die Pubertätsriten der Atäddien und ilire Spuren im jMärchen
zurück, nämlich auf das Recht des Vaters auf die Tochter. 1 Ein solcher
symbolischer Sinn dürfte auch dem bei den Tapuya an der brasilianischen
Ostküste (nach dem Bericht eines Reisenden aus der Mitte des siebzehnten
Jahrhunderts) herrschenden Brauch innewohnen, daß der Häuptling einen
Pfeil nach dem Kranze abschoß, den die Pubertätskandidatin auf dem
Kopfe trug. Traf er so, daß Blut floß, dann leckte er dieses ab und das
Mädchen hatte Hoffnung auf ein langes Leben (Fruchtbarkeit). 2 3 Andere
Berichte aus älterer Zeit 3 geben von einer eigentlichen Defloration durch
Priester oder Könige Kunde. Der Bolognese Ludwig von Varthema, ein
Reisender aus dem Anfänge des sechzehnten Jahrhunderts, erzählt über
die bezüglichen Gepflogenheiten in Malabar (Vorderindien) folgendes: Der
König von Kalikut wählte zur Entblumung des IVIädchens den würdigsten
der Brahmanen, der aber nicht gerne und nur gegen Bezahlung von 400
bis 500 Dukaten einwilligte. Denselben Brauch bezeugt der Venezianer
Balbi für das benachbarte Königreich Kotschin, und zwar als vom Herr¬
scher sowohl wie von den Untertanen geübt. Die früheste Nachricht über
einen solchen Brauch haben wir aus Kambodscha in der Reisebeschreibung
eines chinesischen Beamten vom Jahre 1295. Da wird ausführlich erzählt,
daß ein Buddhapriester oder ein Priester der Tao-Religion mit der De¬
floration der Braut beauftragt werde; diese Dienstleistung der heiligen
Männer nenne man tshin-than , Zurichtung des Lagers. Alljährlich ließ
der Orts Vorsteher den hiefür gewählten Tag ausrufen und alle diejenigen,
die Töchter zu verheiraten hatten, vorladen. Er gab jedem eine große
Kerze, an der ein Zeichen angebracht war: die Zeit, in welcher die Kerze
bis zu dem Zeichen herabbrannte, war für das tshin-than bestimmt. Darauf
erwählten sich die Eltern ihren priesterlichen Vertrauensmann aus dem
nächsten Kloster. Ein reiches Haus beschenkte ihn dafür mit Wein, Reis,
Leinwand, Arekanüssen, Silbergeschirren und anderen Dingen, die im
ganzen einen Wert von 1500 bis 2400 Franken ausmachten. Unter den
zehnten Teil dieses Wertes durfte auch die geringste Entlohnung nicht
1) Manche Forscher (Luhbock, Liebrecht, Giraud-Teulon) fassen den Vor¬
rang des Vaters oder der Vaterperson als ein Zugeständnis an den vorhergegangenen
Hetärismus (nach Bachofen die als die Urform der Ehe angenommene Weiber-
gemeinschaft) auf.
2) Ploß-Renz, a. a. O., II, S. 728. — S. 213 dieser Arbeit.
3) Zahlreiche Belege für diese Bräuche hei Wilhelm Hertz (Gesammelte Ab¬
handlungen, herausgegeben von Friedrich von der Leyen, Stuttgart und Berlin 1905),
und Ploß-Bartels (Das Weib in der Natur- und Völkerkunde, 9. Aufl., Leipzig 1908).
Bie Quellenangabe verdanke ich der zitierten Arbeit von H. Silber er.
2^2
.Alfred Wmterstem
heruntergehen. Die Schwierigkeit, eine solche Summe zu beschaffen, ver¬
zögerte oft die Verheiratung armer Mädchen auf Jahre hinaus. Daher galt
es für eine gute Tat, armen Jungfrauen das Geld für das tshin-than zu
schenken. Daß in neuerer Zeit bei einer Vaisnava-Se\Xe in Indien der
Oberpriester von den Gläubigen um die nämliche Gunstbezeigung ersucht
wurde, hat ein Preßprozeß in Bombay 1862 erwiesen. Ähnliches wird von
dem Angekok oder Priester bei einigen Eskimostämmen 1 und den Piaches
den Zauberärzten bei den Kariben und anderen mittel- und südamerika¬
nischen Stämmen 2 , berichtet.
Um den gleichen Dienst wie die Priester wurden bei einzelnen Völkern
die Könige gebeten. Noch in neuester Zeit wurde — um nur ein Beispiel
anzuführen — von den Ballanten in Senegambien mitgeteilt, daß dort ein
Mädchen erst nach dieser Formalität heiraten kann. Der Vater einer reiz¬
losen Tochter ist übel daran; mit ansehnlichen Geschenken und inständigen
Bitten muß er den König zu bewegen suchen, sich ihrer zu erbarmen.
Die verbreitete Institution der „Tobiasehe“ (der anfänglichen Meidung
zwischen Braut und Bräutigam) 3 ist bereits von C. G. Jung 4 und
1) Crawley, a. a. O. S. 549.
2) Weitere Beispiele und genaue Literaturbelege bei Hertz, a. a. O. S. 196 ff.
3) Solche „Tobiaszeiten“, die sich in verschiedener Weise oft über Wochen und
Monate erstrecken, werden für Neu-Guinea nicht nur von den Bdnaro (S. 206), sondern
auch von anderen Stämmen, z. B. den Massim und dem Me&eo-Stamm (S. 206, Anm. 4)
berichtet. Thurnwald vermutet mit Recht (a. a. O. S. 23), daß diese Einrichtung
auch mit dem Rechte des Schwiegervaters, die Braut zu deflorieren oder doch zu
gebrauchen, zusammenhängt. Bei Völkern, bei denen ein vorehelicher Verkehr unter
den Brautleuten durch die Sitte zugestanden wird, besteht nichtsdestoweniger die
Institution von Tobiasnächten für Wochen und Monate, während welcher die Braut
vom Schwiegervater oder einem Verwandten bewacht wird. Vgl. F. F. v. Reit zen¬
stein, Zeitschr. f. Ethnologie, 1909, S. 656, 677, 678. Reste dieser Sitte in Europa
sind zusammengestellt bei Ed. Hermann: Beiträge zu den indogermanischen Hoch-
zeitsbräuchen. Indogerman. Forschungen, 17, 1905, S. 383—385. Vgl. auch S. 240,
Anm. 5. — Nach Fertigstellung des Manuskriptes entdecke ich in der Unterhaltungs¬
beilage der „Zürcher Volkszeitung“ vom 7. Oktober 1927 einen Aufsatz, der von
merkwürdigen Hochzeitsbräuchen bei den Eingeborenenstämmen Niederländisch-
Indiens, namentlich den Makassaren und Buginesen , berichtet. Nach geschlossener
Ehe tritt dort noch eine Wartezeit ein, die mitunter auch auf vierzig Tage ausge¬
dehnt wird, ehe die Braut ihrem Lebensgefährten aus dem elterlichen Hause folgt.
Der neugebackene Ehemann läßt nach der Trauung in der Wohnung bezeichnender¬
weise als Stellvertreter seinen Galadolch zurück, den die junge Frau mit der größten
Gleichgültigkeit, ja sogar Abneigung behandelt.
4) C. G. Jung: Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen. (Jahr¬
buch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, I. Band, I. Hälfte.
Leipzig und Wien 1909.)
Die Pukertätsriten der jMäddien und ihre Spuren im jMärcken 2^3
A. J. Storfer 1 als eine Anerkennung der Vorrechte des Patriarchen ge¬
deutet worden; auch das umstrittene Jus primae noctis des mittelalterlichen
Gutsherrn führt Freud 2 auf die Fixierung der Libido der Tochter an den
Vater zurück. Es heißt bei ihm weiter: „Es entspricht dann nur unserer
Erwartung, wenn wir unter den mit der Defloration betrauten Vater¬
surrogaten auch das Götterbild finden. In manchen Gegenden von Indien
mußte die Neuvermählte das Hymen dem hölzernen Lingam opfern und
nach dem Berichte des heiligen Augustinus bestand im römischen Heirats¬
zeremoniell (seiner Zeit?) dieselbe Sitte mit der Abschwächung, daß sich
die junge Frau auf den riesigen Steinphallus des Priapus (eig. Mutunus
Tutunus) nur zu setzen brauchte.“ 3
Wir sind mit den vorstehenden Beispielen nur scheinbar über den
Rahmen unserer Untersuchung hinausgetreten; denn Hochzeitszeremonien
und Pubertätsfeierlichkeiten haben in gleicher Weise den Zweck von Vor¬
bereitungen für das Geschlechtsleben. In vielen Fällen wird ja der Eintritt
der Geschlechtsreife gleichgesetzt mit dem Beginne des Geschlechtslebens,
mit dessen Befriedigung. Mit dem Überschreiten jeder Schwelle, nament¬
lich jener, die zwischen der Welt des Kindes und der der mannbaren
Jungfrau liegt, sind aber gewisse Gefahren verbunden. Diese drohen, wie
gesagt, in besonderem Maße bei der (ersten) Menstruation und bei der
Defloration des Weibes.
Die Defloration, bei der wir zunächst noch verweilen wollen, wird '
nicht nur einem Ältesten, König, Priester, Vornehmen, also einem Vater¬
ersatz übertragen, sondern auch bisweilen einem als minderwertig ange¬
sehenen Manne, der für diese Dienstleistung entlohnt wurde, oder der
Akt wurde als eine Sache, der man sich gern entzieht, auf einem anderen
als dem natürlichen Wege, durch manuellen Eingriff, durch Instrumente,
durch den Phallus eines Götzen 4 vollzogen.
1) A. J. Storfer: Zur Sonderstellung des Vatermordes. (Schriften zur angewandten
Seelenkunde, XIII. Heft. Leipzig und Wien 1911.)
2) S. Freud: Das Tabu der Virginität. („Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens.“
Ges. Schriften, Bd. V.)
3) Ploß-B artels: a. a. O., I, S. 561, und J. A. Dulaure: Des Divinites gen6-
ratrices. Paris 1885, S. 142 ff. Der heilige Augustin identifiziert Mutunus Tutunus mit
Priapus.
4) Hier ist die Bedeutung als Phallus des Vaters deutlich erkennbar. Auch der
Flügelknochen eines weißköpfigen Adlers, aus dem die Pubertätskandidatin bei den
T/mgzt-Indianern auf Alaska trinken mußte, hat vielleicht dieselbe symbolische Be¬
ziehung zu diesem.
%44 Alfred W^nterstein
In der beliebtesten und verbreitetsten Reisebeschreibung des Mittelalters
im Buche des Sir John Mandeville (oder Maundeville), wird von einer
Insel im fernen Osten erzählt, daß dort der Bräutigam nicht selbst die
Braut defloriere, sondern hiefür einen Stellvertreter miete, der wegen der
Waghalsigkeit des Unternehmens in der Sprache des Landes cadyberis, d. h.
ein toller Verzweifelter, genannt werde. Dieser Brauch, so erklären die
Eingeborenen, stamme aus alten Zeiten, in denen die Jungfrauen kleine
Giftschlangen im Schoße verborgen getragen hätten, durch deren Biß
der erste, der ihnen beiwohnte, getötet worden sei. So im lateinischen und
englischen Text. Die deutschen Übersetzungen weichen ab. Eine von ihnen
sagt z. B. nichts von den Schlangen, sondern führt die verderbliche Wirkung
auf eine durch böse Künste angezauberte Vergiftung des jungfräulichen
Schoßes zurück. 1
Unter den Stellvertretern des Bräutigams sind vor allen gewerbsmäßige
Mietlinge auf den Philippinen hervorzuheben, die gegen Bezahlung den
Bräuten die Jungfrauschaft nahmen. Dieses seltsame Gewerbe kam dort
im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts in Abnahme. In jüngerer Zeit
wurde es z. B. in Neu-Kaledonien beobachtet.
Durch ein merkwürdiges Abenteuer wurde dem schon erwähnten Bolo¬
gneser Ludwig von Varthema um 1505 in Tenasserim in Hinterindien ein
ähnlicher Brauch bekannt. Hier waren es die Fremden, die weißen Männer,
die von den heidnischen Eingeborenen, den König nicht ausgenommen, er¬
sucht wurden, in der Brautnacht ihre Stelle einzunehmen. Varthema erzählt
ausführlich, wie ihm und seinem Begleiter, einem Perser, ein solcher Antrag
gemacht worden sei, dem dieser auch Folge geleistet hätte. Daß in Kalikut bei
den Vornehmen Ähnliches vorkam wie in Tenasserim, berichtet der Holländer
P. W. Verhuefen (um 1608). Linschoten meldet dasselbe aus Pegu und
fügt ausdrücklich hinzu, daß die Adeligen dem Fremden dafür Verehrung
zuteil werden ließen. Mandelsloh fand diesen Brauch auch bei den schwarzen
Eingeborenen von Malakka. In den birmanischen Ländern soll er sich bis in
neuere Zeit erhalten haben. Nach Richards Geschichte von Tongking sind
im Königreich Aracan im vorigen Jahrhundert namentlich holländische
Matrosen zu diesem Zwecke von den Einwohnern gedungen worden.
1) Die Beispiele entnehme ich Silber er s Arbeit. (Wilhelm Hertz, a. a. O. S. 195*
Cod. Arab. Monac. 650, fol. 21b.) — Der Kompilator dieser Reisebeschreibung war
der Lütticher Arzt Jehan de la Bourgoigne, dit ä la Barbe (*1*1372). — Das
obige Motiv klingt noch in Artur Schnitzlers Erzählung „Das Schicksal des Frei¬
herrn von Leisenbogh“ an.
Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märchen 2^5
Im allgemeinen erscheint die Defloration in diesen primitiven Bräuchen
nicht als ein gerne geübtes Recht der Großen, sondern als eine Pflicht,
zu der sie ihre hervorragende Stellung verbindet, woferne das Geschäft
nicht gar auf Outcasts , auf Sklaven und Fremde abgewälzt wird. Als einen
Bestandteil der Pubertätsriten bei australischen Stämmen und bei den Conibos ,
einem Indianerstamm in Peru, haben wir ferner die künstliche Defloration
kennengelernt, die mit dem Finger oder einem Instrument, einem Stein,
Stock oder Messer, durch eine Frau, an manchen Orten auch durch alte
Männer ausgeführt wird. 1
Die Defloration der Mädchen außerhalb der Ehe und vor dem ersten
ehelichen Verkehre scheint zunächst einmal die Absicht auszudrücken, dem
Bräutigam und späteren Ehemann eine gefährliche Leistung abzunehmen.
Wir können noch weiter gehen und sagen: Die Defloration ist für ihn
Gegenstand eines Tabu, er muß einer solchen Leistung ausweichen. Dieses
„Tabu der Virginität“ hat eine psychoanalytische Erklärung in Freuds
gleichnamiger Abhandlung 2 gefunden; wir wollen nunmehr hören, was
er uns für die Zwecke der vorliegenden Arbeit zu sagen hat.
Freud stellt als das Ergebnis seiner Untersuchung voran, daß eine
solche Gefahr, wie sie der spätere Ehemann fürchtet, wirklich vorhanden
ist, so daß der Primitive sich mit dem Tabu der Virginität gegen eine
richtig geahnte, wenn auch bloß psychische Gefahr verteidigt. Diese Ge¬
fahr besteht darin, sich die Feindseligkeit des deflorierten Weibes zuzuziehen,
und gerade der spätere Mann hat allen Grund, solche Feindseligkeit zu ver¬
meiden. Analysen namentlich frigider Frauen 3 haben Freud die Regungen
erkennen lassen, die am Zustandekommen dieses sonderbaren Verhaltens
beteiligt sind: die narzißtische Kränkung der Frau über die Zerstörung
eines Organs, 4 die Fixierung der Libido der Frau an den Vater, welche
den Ersatzmann als unbefriedigend ablehnt, schließlich die Reaktion der
unfertigen, männlichen Sexualität des Weibes, das den Mann um seinen
1) Siehe den Gebrauch auf Ceram (Fußnote 4 auf S. 232).
2) Siehe Freud: Das Tabu der Virginität. (Ges. Schriften, Bd. V.)
3) Bei der Frigidität des Weibes vereinigt sich die zärtliche Reaktion mit der
feindseligen zu einer HemmungsWirkung, ganz ähnlich, wie es an den sogenannten
„zweizeitigen“ Symptomen der Zwangsneurose längst erkannt worden ist.
4) Freud warnt mit Recht davor, dieses Moment zu überschätzen. Bei manchen
australischen Stämmen wird das Hymen von älteren Männern künstlich durchbohrt,
die dann in festgesetzter Reihenfolge einen zeremoniellen Koitus mit dem Mädchen
als Vertreter des Mannes ausführen. Offenbar soll dem Ehemann noch etwas anderes
erspart werden als die Reaktion der Frau auf die schmerzhafte Verletzung.
Imago XIV
17
2^6
Alfred Winterstein
Penis beneidet, auf den ersten Geschlechtsverkehr. Freud meint, daß das
befremdende Tabu der Virginität, die Scheu, mit der bei den Primitiven der
Ehemann der Defloration aus dem Wege geht, in dieser feindseligen Re¬
aktion der Frau ihre volle Rechtfertigung finde.
Freuds Versuch, diese Racheeinstellung aus dem Penisneide des Mäd¬
chens zu erklären, wird, wie Karen Horney in einem ausgezeichneten
Aufsatze „Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes ^ iCl ausführt, dem
.Tatsachenmaterial, das eine Analyse noch tieferer Schichten zutage fördert,
nicht völlig gerecht. Sie verweist zunächst auf eine frühere Phase inten¬
siver, ganz weiblicher Liebesbindung an den Vater, in der sich das kleine
Mädchen ein Kind vom Vater wünschte wie die Mutter. In dieser ersten
Phase phantasiert das Kind auf Grund der — feindlichen oder freund¬
lichen — Mutteridentifizierung als ontogenetische Wiederholung einer
phylogenetischen Periode eine völlige Besitzergreifung durch den Vater.
Der überwundene Penisneidkomplex der autoerotischen Periode wird aber
später in vielen Fällen wieder aktiviert, wenn diese Liebesphantasie ihre
unausbleibliche Versagung durch die Realität erfahren hat. Grübeleien
über das Nichthaben oder den Verbleib des Gliedes erzeugen dann die
im späteren Leben tief verdrängte Phantasie, durch die Liebesbeziehung
zum Vater kastriert worden zu sein. 1 2 Die Racheeinstellung gegen den
Mann findet also nach Horney ihre eigentliche Begründung in der Liebes-
enttäuschung am Vater und in der vermeintlich durch den Koitus mit
ihm erlittenen Kastration. Daß in der Analyse der Penisneid leichter preis¬
gegeben wird als die Phantasie, die den Verlust des männlichen Genitales
einem Liebesakt mit dem Vater zuschreibt, ist, wie Horney meint, um
so begreiflicher, als an dem Penisneid an sich ja gar keine Schuldgefühle
haften.
Daß diese Racheeinstellung gegen den Mann sich späterhin besonders
häufig und besonders heftig gerade gegen den die Defloration vollziehen¬
den Mann richtet, erklärt Horney daraus, daß eben für die Phantasie der
Vater der erste Mann gewesen ist und daher auch im späteren realen
Liebesieben der erste Mann in besonders hohem Maße Vaterbedeutung
1) Dr. Karen Horney: Zur Genese des weiblichen Kastrationskomplexes. Inter¬
nationale Zeitschrift für Psychoanalyse, IX. x, 1923.
2) Vielleicht steht in den Brangänemärchen und -erzählungen die Figur der Braut
mit der nicht vorwurfsfreien Vergangenheit, die ein anderes Mädchen bittet,
ihre Stelle bei der Hochzeit einzunehmen, mit jener Phantasie irgendwie in Zusam¬
menhang.
Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Miärdaen
haben muß. Dies wird ja auch darin zum Ausdruck gebracht, daß in den
Bräuchen vieler primitiver Völker die Vollziehung der Defloration wirklich
einer Vaterersatzfigur, wie wir gesehen haben, überlassen wird. Die Deflo¬
ration ist für das Unbewußte nur die Wiederholung jenes in der Phanta¬
sie erlebten Liebesaktes mit dem Vater und darum wiederholen sich an
ihr auch alle die Affekte, die zu jenem gehören: sowohl die starke Bin¬
dung als auch die Inzestabwehr wie schließlich die oben beschriebene Rache¬
einstellung wegen der Liebesenttäuschung und der vermeintlich durch
diesen Akt erlittenen Kastration . 1
Von hier aus verstehen wir nun auch besser die Vorstellung der „ge¬
fährlichen Braut“, die als Motiv einer großen Gruppe von Sagen und
Märchen anzutreffen ist. Welche Rolle dieser Aberglaube in den Bräuchen
der primitiven Völker (auch als Glaube an die Gefährlichkeit der Mädchen
mit Eintritt der Pubertät) spielt, haben wir zum Teile schon erörtert; an¬
dere Riten, die damit im Zusammenhänge zu stehen scheinen, sollen später
untersucht werden.
Als Paradigma der „gefährlichen Braut , von der in der Brautnacht ver¬
hängnisvolle Wirkungen drohen, wollen wir das sagenhafte Giftmädchen
des Alexander betrachten . 2 Die von W. Hertz ausführlich behandelte Sage
befand sich ursprünglich in einem fälschlich den Namen des Aristoteles
als Autors tragenden arabischen Buche Sirralasrdr (Geheimnis der Geheim¬
nisse; in der lateinischen Übersetzung De secretis secretorum oder De regi-
mine principum). Aus dem lateinischen Text, der in der europäischen
Literatur im zwölften Jahrhundert auftauchte, ging die Sage in zahlreiche
andere Schriftwerke über. Sie steht im ersten Teil des Buches, das Rat¬
schläge des Aristoteles an seinen Schüler Alexander enthält, und lautet : 3
„Alexander (so schreibt Aristoteles), denk an die Tat der Königin von
Indien, wie sie dir unter dem Vorwände der Freundschaft viele Angebinde
und schöne Gaben übersandte. Darunter war auch jenes wunderschöne
Mädchen, das von Kindheit auf mit Schlangengift getränkt und genährt
worden war, so daß sich seine Natur in die Natur der Schlangen verwandelt
hatte. Und hätte ich sie in jener Stunde nicht aufmerksam beobachtet und
durch meine Kunst erkannt, da sie so furchtbar ungescheut und schamlos
ihren Blick unablässig an das Antlitz der Menschen haftete, hätte ich nicht
0 Aus eigenen Analysen kann ich Horneys Ausführungen nur bestätigen.
2) Ich folge hier Silberers Abhandlung.
3) W. Hertz, a. a. O, S. 162, wiedergegeben nach einem lateinischen Inkunabel-
druck. (Münchener Bibliothek: Inc. s. a. 208, 40, c. XXVIII.)
1 7 *
2^8 Alfred 'Winterstein
daraus geschlossen, daß sie mit einem einzigen Bisse die Menschen töten
würde, was sich dir hernach durch eine angestellte Probe bestätigt hat, so
hättest du in der Hitze der Beiwohnung den Tod davon gehabt.“ J n
manchen Wiedergaben der Episode wird auf die Probe, die Alexander auf
den Rat des Aristoteles anstellt, ausführlicher eingegangen. Ein Mann, den
der König zum Versuch herbeiholen läßt, stirbt in des Mädchens Um¬
armung oder durch ihren Biß, ihren Kuß usw. In einem arabischen Ur¬
text 1 wird ausdrücklich gesagt, das Giftmädchen töte durch ihren Biß und
ihren Liebesverkehr. Hertz bezeichnet es als das poetische Hauptmotiv der
Erzählung, daß der jugendliche Held im Genüsse der Schönheit des Mädchens
vergehen sollte. Er macht auf den verbreiteten Aberglauben und die Sagen
aufmerksam, in denen (tödliche) Vergiftung im Liebesgenuß vorkommt. So
galten nach den Hochzeitssprüchen im Veda die vom Blute der Brautnacht
geröteten Hemden für giftig und bösen Zaubers voll und mußten daher
gleich am Morgen beseitigt werden. Zitternd vor ihrer dämonischen Macht,
steckte sie der Bräutigam auf die gespaltene Spitze einer Stange und
bannte so ihren Zauber fest. Sie wurden dann dem Priester zuteil, der
allein imstande war, sie wieder zu reinigen. Damit vertrieb man die bösen
Dämonen des Ehebettes und verhütete, daß die junge Frau ihrem Gatten
Schaden tue. Die Priester, die überall zugleich Zauberer (Vaterersatzfiguren)
waren wie die Piaches Mittel- und Südamerikas, mochten ganz besonders
dazu berufen erscheinen, die Abwehr jener gefährlichen Wirkungen zu
übernehmen. In der sagenhaften Fassung wird zumeist, z. B. auch in der
Reisebeschreibung des Ritters Mandeville, ausdrücklich ausgesprochen,
daß nur dem ersten, der das Mädchen umfängt, die Gefahren von dessen
giftigem Schoße drohen. Dort findet sich auch die phantastische Zutat von
dem im Schoße der Mädchen lauernden Schlangen . 2
Das Giftmädchen gehört nach Hertz Sagenstoffen an, die in Indien
von alters her verbreitet waren. Das indische Schauspiel Mudraraksasa (ent¬
standen zwischen dem siebenten und elften Jahrhundert) von Visakhadatta
enthält eine Episode, die deshalb beachtenswert ist, weil sie für die
1) Angegeben a. a. O. S. 195: Cod. Arab. Monac. 650, fol. 21b.
2) Dies erinnert Hertz (a. a. O. S. 219) an ein männliches Gegenstück in der
antiken Sage: König Minos von Kreta brachte allen seinen Geliebten den Tod, da er
statt des Samens Schlangen, Skorpione und Skolopender in sie ergoß (nach einer Er¬
zählung des Antonius Liberalis aus dem zweiten Jahrh. n. Chr. Gleiches berichtet
Apollodor, Bibliotheca III, 151)- — Plutarch (Symposiaca. L. VIII, quaestio 9) erwähnt,
sein athenischer Gastfreund Ephebos habe in einem starken Samenerguß ein haariges,
mit vielen Füßen geschwind laufendes Tierchen von sich gegeben (Spermatozoon).
Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märdien
M9
Alexandersage belangreich sein soll. In die Vorgeschichte der dramatischen
Handlung fällt ein Mordanschlag, den Raksasa, der Minister des letzten
Königs der Nanda-'Dyn&stie, gegen den Kronprätendenten Candragupta aus¬
führte. Überwunden und zum Scheine sich unterwerfend, sandte er an ihn
ein Giftmädchen, das er mit Zauberkunst hergerichtet hatte. Aber der
scharfsinnige Ratgeber Candraguptas, der Brahmane Visnugupta Cänakya ,
der den bezeichnenden Namen Kautilya (der krumme Wege liebt) führte,
durchschaute den Plan und wußte es zu veranstalten, daß ein unbequemer
Verbündeter seines Schützlings, dem die Hälfte des zu erobernden Reiches
zugesagt worden war, die Jungfrau erhielt und in ihren Armen seinen Tod
fand. Die verderbliche Eigenschaft des Mädchens äußert sich nur an dem
ersten Mann. Mit Anspielung auf eine berühmte Stelle des Mahäbhärata
sagt Raksasa : Wie der Held Karna mit Indras Speer nur einen einzigen
Gegner töten konnte,
„So ward für Candragupta auch von mir
Das Mädchen auf bewahrt, das einen nur
Umbringen konnte; doch als Opfer fiel
Ein andrer.“
Reinhold Köhler hat eine Gruppe von Märchen als „die Märchen von
den Toten und von der Rraut mit den Schlangen oder Drachen im Leibe" 1
beschrieben, ohne übrigens, wie Silberer hervorhebt, ihres Zusammen¬
hanges mit dem Giftmädchenmotiv gewahr zu werden. Ich will ein
Märchen dieser Gruppe anführen:
Nr. 18. Armenisch: 2 — Ein wohlhabender Mann reitet durch einen Wald;
da findet er einige Männer, die einen bereits verstorbenen Mann noch nach¬
träglich an einen Baum aufgehängt haben und den Leichnam entsetzlich schlagen.
Als er sie fragt, was sie zu einer solchen Entweihung des Toten treibe, antworten
sie, er sei ihnen Geld schuldig geblieben. Da bezahlt er ihnen die Schuld und
begräbt den Toten. Jahre vergehen, er wird allmählich arm. In seiner Vater¬
stadt aber wohnt ein reicher Mann, welcher eine einzige Tochter hat, der er
gern einen Mann geben möchte. Allein schon fünf Männer waren in der Hoch¬
zeitsnacht gestorben und keiner wagt mehr, um sie zu freien und ihr zu nahen.
Nun wirft der Vater sein Auge auf diesen arm gewordenen Mann und trägt
ihm die Tochter an. Der ist im Zweifel, ob er sein Leben wagen soll, und
erbittet sich Bedenkzeit. Nun kommt eines Tages ein Mann zu ihm und bietet
sich ihm als Diener an. „Wie sollt’ ich dich in Dienst nehmen, da ich ja so
arm bin, daß ich mich kaum selbst ernähren kann?“ „Ich verlange von dir
1) Reinhold Köhler: Kleinere Schriften. I. (Weimar 1898), S. 443.
2) A. v. Haxthausen: Transkaukasia. I. (Leipzig 1856), S. 333 f.
25o
Alfred W intersteiii
keinen Lohn, keine Kost, sondern nur die Hälfte von deinem künftigen Hab
und Gut!“ Sie werden darum einig. Nun rät ihm der Diener zu jener Heirat
In der Hochzeitsnacht stellt sich der Diener mit einem Schwerte ins Braut¬
gemach. „Was willst du?“ „Du weißt, nach unserem Übereinkommen gehört
mir die Hälfte von deinem künftigen Hab und Gut; ich will das Weib jetzt
nicht, aber ich will hier frei stehen bleiben.“ — Als nun die Neuvermählten
entschlafen, kriecht eine Schlange aus dem Munde der Braut hervor, um den
Bräutigam zu Tode zu stechen, allein der Diener haut ihr den Kopf ab und
zieht sie heraus. Nach einiger Zeit verlangt der Diener die Teilung alles Hab
und Guts, es wird geteilt; nun fordert er auch die Hälfte des Weibes. „Sie
soll, den Kopf nach unten, aufgehängt werden, ich werde sie mitten durch¬
spalten.“ Da gleitet ihr die zweite Schlange zum Munde heraus. Nun aber
spricht der Diener: „Es war die letzte, von nun an kannst du ohne Gefahr
und glücklich mit dem Weibe leben. Ich aber fordere von dir nichts, ich bin
der Geist des Mannes, dessen Leichnam du einst von der Schande und Qual
des Schlagens errettet und fromm begraben hast!“ Und verschwindet.
Es ist klar, daß es sich in diesem Märchen und in anderen dieser Art
um eine „gefährliche Braut“ im Sinne des Giftmädchens handelt. Daß die
Schlangen nicht aus dem Schoße, sondern aus dem Munde kommen, ist
eine „Verlegung nach oben“. Die Ähnlichkeit des Zuges, daß die Freier
der Tochter des reichen Mannes in der Hochzeitsnacht sterben, mit der
Liebesepisode im Buche Tobiae hat, wie Köhler ausführt, bereits Simrock 1
bemerkt. Es handelt sich dort um folgendes: Sarah, die Tochter Raguels
zu Ekbatana, will heiraten; nun will es ihr schlimmes Geschick, daß sie
siebenmal nacheinander einen Mann auswählt, der ihr in der Brautnacht
stirbt. Der böse Geist Asmodi , von dem sie verfolgt wird, tötet ihr die
Männer. Sie bittet Jehovah, er möge sie lieber sterben lassen, als daß sie
diese Schmach noch weiter erdulde. Sie wurde nämlich von den Mägden
ihres Vaters deshalb geschmäht. Der achte Bräutigam, Tobias, wird ihr von
Gott gesandt. Auch er wird in die Brautkammer geführt. Der alte Raguel
aber, der nur scheinbar zu Bett gegangen ist, steht wieder auf und geht
hinaus und gräbt dem Schwiegersöhne vorsorglich das Grab und am Morgen
schickt er eine Magd in das Brautgemach, um den erwarteten Todesfall
festzustellen. Diesmal aber hatte Asmodi ausgespielt, denn Tobias lebte.
Das Asmodi-Motiv ist von C. G. Jung in der obenerwähnten Arbeit 2
dahin gedeutet worden, daß es der Vater sei, der die Tochter für sich be¬
halten’ wolle, daß also das Inzestmotiv hier in der Vater-Tochter-Gestalt
1) Karl Simrock: Der gute Gerhard und die dankbaren Toten (Bonn 1856).
2) C. G. Jung: Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen, a. a. 0 .
S. 171 f.
Die Putertätsriten der Alädchen und ihre Spuren im Märdien 26 1
vorliege. Die Frage, ob Asmodi aus der giftigen Eigenschaft der Jungfrau
zu erklären ist oder sich auf einen mythisch verdrängten Gewaltsanspruch
des Vaters zurückführen läßt, ist im tieferen Sinne wohl überhaupt nicht
vorhanden: der verfolgende Dämon Asmodi personifiziert ja die unfertige,
an den Vater fixierte Sexualität der Tochter; die Schlange des Giftmädchens
stellt sozusagen den männlichen Aspekt dieser Sexualität dar (Klitorislibido).
In dem armenischen Märchen, das vom Standpunkte des Sohnes gedichtet
ist, spielt der Vater eine bedeutende Rolle, jedoch nicht der Vater der Braut,
sondern der des Bräutigams, also der Schwiegervater der Braut. Der dank¬
bare Tote (Diener) ist doch wohl eine Vaterfigur, und was die Teilung der
Braut mit dem Bräutigam anbelangt, so verweise ich auf die Anmerkung 5
zu S. 240, die die Rechte des Schwiegervaters auf die Braut bespricht. In
dem Märchen gelangt zuerst eine feindselige Phantasie zum Ausdruck: der
Verstorbene wird mißhandelt. Die Reue über dieses Vorgehen gibt sich dann
in der Pietät gegen den geschlagenen Leichnam und in dem nachträglichen
Gehorsam kund. Ein bedeutsames Motiv für den Vater-Sohn-Konflikt müssen
wir wohl in der Nötigung sehen, die Liebe der Mutter zu teilen. Die
Phantasie des Sohnes, der nach der herrschenden Sitte mit dem Vater (oder
einer Vaterfigur) die Braut teilen mußte, mochte leicht das Urbild für
diese in der Mutter erblicken. In unserem Märchen fällt die Teilungs¬
geschichte in die Sühneperiode; demgemäß ist sie auch gefärbt. Die Teilung
wird zur Wohltat, die Einmischung des Vaterersatzes (Diener), der symbolisch
von der Braut Besitz ergreift (Schwert, Durchspaltung des Weibes), zur
Rettung für den Sohn. Diese Vorstellungsreihe trifft da offenbar mit dem
Glauben an die zauberische Gefährlichkeit der Jungfrau (der ersten cohabi-
tatio) und den damit in Verbindung stehenden Bräuchen zusammen.
Daß die Beschneidung der Pubertätskandidatinnen die Beseitigung
der dem ersten Geschlechtsverkehr aus der Klitorissexualität (männlich, 1
1) Bei der weiblichen Pubertätsfeier der Basutos , eines Zweiges der Kaffem, ziehen
die Mädchen Männerklei düng an, tragen Waffen und üben am Mannsvolke aller¬
hand Mutwillen (Ploß-Renz, a. a. O. S. 734). Bei den Bamangwato im südlichen
Afrika schwingen die Mädchen eine Geißel mit Dornenzweigen, verfolgen die Bur¬
schen und peitschen sie. — Bei manchen Indianerstämmen Nordamerikas tragen die
Mädchen während des Exils hohe konische Kopfbedeckungen, die wahrscheinlich
phallische Bedeutung besitzen. Bezüglich der männlichen Parallelen verweise ich auf
meine Arbeit „Der Ursprung der Tragödie“ (Imago-Bücher, VIII, Internationaler
Psychoanalytischer Verlag, Wien 1925, S. 23). Daß Haarschur (oft gleichzeitig mit
der Beschneidung vollzogen) und Zähneoperationen Kastrationsäquivalente sind, braucht
hier wohl nicht näher begründet zu werden. (Siehe auch die Ausführungen über den
Zahn als Abbild des Zeugungsorgans auf Seite 36 f.)
Alfred "Wmterstein
Fixierung an den Vater) drohenden Gefahren bezweckt, dürfte aus dem
Vorhergehenden bereits klar geworden sein. Bisweilen wird die Operation 1
(Kastration) auch durch eine Vaterfigur (Zauberer, älterer Mann, alter Ver¬
wandter) ausgeführt. Da der Primitive ein Werden nur im Bilde von Tod
und Wiedergeburt erfassen kann, ist diese Vorstellung häufig mit der einen
Entwicklungsschub kennzeichnenden Zeremonie der Beschnei düng verbunden.
(Vgl. die Worte der beschneidenden alten Frauen in Deutsch-Tongo: „Ich
weiß nichts; ich bin ein kleines Kind.“ Bei den Akikuyu 2 schütten die
Angehörigen den Kandidaten nach der Beschneidung Ströme von Milch
über den Kopf und Körper, worauf sie als Erwachsene und Stammesmit¬
glieder gelten.)
Wenn wir uns erinnern, daß den Mädchen im Exil manchenorts ver¬
boten ist, mit den Fingern den eigenen Körper zu berühren oder
zu kratzen, und ihnen als Behelf ein Knochen, Kamm oder sonstiges In¬
strument gegeben wird, werden wir auch hierin vielleicht eine Vorkehrung
gegen die Klitorismasturbation 3 und die autoerotische Berührung des Leibes
erblicken dürfen. In dem sizilianischen Märchen 4 (Nr. 14, S. 228) bohrt
die vierzehnjährige Prinzessin mit einem Knochen ein Loch in den
Turm. Sollte der Turm in der bekannten Haussymbolik dort den jung¬
fräulich verschlossenen Leib darstellen, in den kein Loch gebohrt werden
darf? Der Knochen hätte dann die gleiche phallische Bedeutung wie der
befruchtende Sonnenstrahl und würde dem unbewußten Sinn des zuletzt
1) Vielleicht dürfen wir die Schmerzvollen Bisse gewisser großer Ameisen, denen
die weiblichen Novizen hei manchen Indianerstämmen in Guayana ausgesetzt werden,
„um sie zum Ertragen der Last der Mutterschaft stark zu machen“, auch als Kastra¬
tionsäquivalent auffassen.
2) Bei diesen bedeutet Beschneidung B.einigung von der Sünde. Welcher Art
diese Sünde ist, geht aus dem Glauben hervor, daß man mit der Sünde nur Bluts¬
verwandte infizieren könne (vgl. die Übertragung der Tabueigenschaft durch Berüh¬
rung) und daß auf den ersten Koitus der Tod (offenbar als Strafe für die Über¬
tretung des Inzesttabu) folge, weshalb die Burschen das nach der Beschneidung zum
ersten Koitus mißbrauchte alte Weib (Mutterersatz) zu Tode steinigten, um die Todes¬
strafe von sich abzuwälzen, während die Mädchen ihren ersten Sexualpartner, einen
unbeschnittenen Knaben, gar nicht zu toten brauchten, da der Unbeschnittene noch
nicht als Mensch galt. Das Abschneiden eines Zweiges vom heiligen Baum, das der
eigenen Beschneidung vorangeht, deutet symbolisch auf die Kastration des Vaters.
(Vgl. auch das Abreißen der Zweige bei der Mädchenweihe der Atchuabo, S. 202 f.)
5) Bei den Thomps on-Indianem verbringen die Mädchen die langweiligen Stunden
des Exils damit, von Tannenzapfen die Nadeln einzeln herunterzuzupfen (Mastur¬
bation säquivalent?).
4) Siehe Anm. 5 zu S. 228.
Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märdien
253
besprochenen Pubertätsbrauches, der Entwöhnung vom Autoerotismus, ent¬
sprechen. 1
Auch der Kamm, der den Mädchen im Exil gegeben wird, um sich
damit den Kopf zu kratzen, findet sich in gewissen Märchen wieder, in
denen erzählt wird, daß sich das auf einem Baume 2 sitzende, wartende
Mädchen kämmt. 3
ln unseren Zusammenhang fügt sich ferner das Märchen vom Marien¬
kind, das ich folgen lasse:
Nr. 19. Aus Hessen (Grimm, K. H. M. Nr. 3). — Ein armes Mädchen ge¬
langt durch die Gnade der Jungfrau Maria in den Himmel. Dort geht es dem
Mädchen über die Maßen wohl. Als es vierzehn Jahre alt ist, ruft Maria
es zu sich und sagt: „Liebes Kind, ich habe eine große Reise vor, da nimm
die Schlüssel zu den dreizehn Toren des Himmelreiches in Verwahrung: zwölf
davon darfst du aufschließen, das dreizehnte ist dir verboten; hüte dich wohl,
daß du es nicht aufschließest, sonst wirst du unglücklich.“ Das Mädchen ver¬
spricht, gehorsam zu sein, Maria begibt sich fort. Das Mädchen schließt alle
Türen auf, auch die verbotene dreizehnte; „es weiß es ja niemand, wenn
ich’s tue“, denkt es. Die Tür geht auf, das Mädchen sieht die Dreieinigkeit
im Feuer und Glanz sitzen. Es rührt mit dem Finger ein wenig an den
Glanz, da wird der Finger golden. Das Mädchen verspürt gewaltige Angst
und läuft davon. Die Angst will nicht wieder weichen, was das Mädchen
auch beginnen mag; das Herz klopft in einem fort und will nicht ruhig
werden; auch das Gold bleibt an dem Finger und geht nicht ab, trotz
Waschens und Reibens.
Die Jungfrau Maria kehrt zurück und befragt das Mädchen eindringlich
um sein Verhalten; sie bemerkt den goldenen Finger. Das Mädchen aber
leugnet; es wird darum aus dem Himmel verstoßen. Es versinkt in einen
Schlaf und erwacht in einer Wildnis. Es will rufen, kann aber keinen
Laut hervorbringen; es springt auf und will fortlaufen, wird aber beständig
von dichten Dornhecken zurückgehalten. Es lebt ein jämmerliches
Leben in der Einöde; ein Baum ist seine Wohnung.
Eines Tages entdeckt ein König auf der Jagd das schöne, hilflose Mädchen.
„Wer bist du?“ fragt er; es kann nicht antworten; „willst du auf mein
1) Die Ähnlichkeit des Knochens mit dem Finger zeigt, daß es sich ebenso wie
im neurotischen Symptom um eine Kompromißleistung zwischen verdrängender
Instanz und Verdrängtem handelt.
2) In manchen Gegenden müssen die Mädchen im Exil auf Bäume klettern. Ein
verwandter Brauch ist in Südamerika die Verwendung von Hängematten, die das
Mädchen zur kritischen Zeit von Himmel und Erde isolieren (vielleicht auch Schutz
vor wilden Tieren).
3) Auch im Schneewittchen-Märchen wird dem Mädchen sozusagen in sein Exil
von der bösen Königin ein Kamm gebracht. Gehört am Ende die hoch oben auf
einem Felsen sitzende, ihr Haar kämmende Loreley auch hieher?
Alfred Winterstein
2 54
Schloß?“, und es nickt nur ein wenig mit dem Kopf. Der König gewinnt
das stumme Mädchen lieb und vermählt sich mit ihm. Die Kinder, die aus
dieser Ehe entsprießen, werden jedesmal gleich nach der Geburt von Maria
in den Himmel entführt; Maria sagt zwar wiederholt zur Königin: „Willst
du gestehen, daß du die verbotene Tür geöffnet hast, so will ich dir dein
Kind wiedergeben und deine Zunge lösen“, aber die Königin bleibt verstockt
Die Leute, die von alledem nichts wissen, glauben nicht anders, als daß sie
ihre Kinder umbringe. Nachdem das dritte Kind verschwunden, läßt sich der
König von seinen Räten überreden, seine Gemahlin hinrichten zu lassen. Auf
dem brennenden Scheiterhaufen wird die Königin von Reue erfaßt und da
erhält sie die Stimme wieder. „Ja, Maria, ich habe es getan!“ ruft sie.
Da kommt ein Regen vom Himmel und löscht die Flammen. Auch die
Kinder werden ihr wiedergegeben.
In einer psychoanalytischen Untersuchung dieses Märchens 1 hat Herbert
Silberer die „Sünde“ des Mädchens als autoerotische Betätigung 2 gedeutet
und die Folgeerscheinungen der „Sünde“ als damit zusammenhängende
Symptome verständlich gemacht. Die Tür ist ein Symbol für das Genitale.
Das geöffnete Genitale führt uns wieder in den Ideenkreis des Mädchen¬
exils zurück, und zwar um so mehr, als die Katastrophe des Märchens,
eben das Öffnen der Tür und das Erblicken des Glanzes, wie das Märchen
selbst erzählt, im vierzehnten Lebensjahre des Mädchens eintritt. Das
Erblicken der Dreieinigkeit 3 im Feuer und Glanz kann ferner mit dem
verbotenen Schauen der Sonne zusammengebracht werden. Der folgende
Abschnitt des Märchens erinnert uns wieder in der dargestellten Situation
an das Mädchenexil: das Marienkind versinkt in Schlaf 4 und erwacht in
einer Wildnis (Introversion, Tod und Wiedergeburt), wohnt auf einem Baum
(zwischen Himmel und Erde), bringt keinen Laut hervor (Schweigegebot,
Stummheit als Eigenschaft der Toten), wird von dichten Dornhecken zurück¬
gehalten (die vorgeschriebene Bewegungslosigkeit der Kandidatinnen im
Exil). Der König, der sich mit dem stummen Mädchen vermählt, ist
natürlich eine Vaterfigur. Am unteren Kongo heißt es, das von der Sonne
beschienene Mädchen bleibe unfruchtbar oder bringe Ungeheuer zur Welt:
1) Herbert Silberer: Phantasie und Mythos. Jahrbuch für psychoanalytische und
psychopathologische Forschungen. II, 2 (Leipzig und Wien 1910), S. 585 h
2) Die goldige Verunreinigung, die das Mädchen in Unruhe versetzt (nervöses
Herzklopfen) und zum Waschzwang führt, ist durch die Berührung des Dreiecks
(Genitales) mit dem Finger entstanden, also eine Folge der Masturbation.
3) Die sexuelle Symbolik der Dreieinigkeit, die man sich als Dreieck dargestellt
denken kann, hebt auch Silberer hervor (a. a. O. S. 587).
4 ) Vgl. auch die Worte des Exorzisten bei den Banivas (S. 214): „Der Geist hat
deine Geliebte in einen Schlaf versenkt, der fast so tief ist wie der des Todes.“
Die Pubertätsriten der jMadcLen und ihre Spuren im Ahärchen ä55
ein solcher Gedanke (Strafe für den Inzest mit dem Vater) steckt vielleicht
auch in der Kinderentführung durch Maria; daß mit dem Verschwinden
der Kinder Mißgeburten abwechseln, lehrt uns die Vergleichung von Märchen.
Oft vertauscht die böse Mutter die Kinder, die sie beseitigt, mit Hunden
o. dgl. (z. B. Grimm, D. S., Nr. 534), so daß es den Anschein gewinnt, die
junge Königin hätte solche Tiere zur Welt gebracht. Die Feuerflammen
am Schlüsse des Märchens dürften die Bedeutung erotischer Glut haben,
die durch das Sperma des Vaters (Regen, der vom Himmel kommt) ge¬
löscht wird, aber auch jene Idee der Sühne und Reinigung (Verbrennen
des Dämons) enthalten, die sich uns am klarsten in dem Bericht Chaffanj ons
vom Orinoco 1 gezeigt hat. Während jedoch die am Ende der Märchen
häufig stehende Verbrennung der Hexe auf eine negativ betonte Mutter-
Imago 2 weist, verrät der groteske Holzdämon der Banivas Beziehungen zur
Vater-Imago. Schließlich könnte das Geständnis der Königin auf dem Scheiter¬
haufen seine Analogie in der bei manchen Völkern (z. B. bei den Basutos
in Britisch-Südafrika und den Golah und Vdi in Liberia) üblichen Sünden¬
beichte der Pubertätskandidaten finden.
Aus dem Berichte Chaffanj ons geht hervor, daß die Banivas die Pubertäts¬
symptome der Mädchen den ihnen von einem verliebten Teufel zugefügten
Wunden zuschreiben. Dieser Pubertäts- oder Menstruationsdämon wird andern¬
orts auch in Tiergestalt (häufig als Schlange oder anderes väterlich-phalli-
sches Tier) 3 vorgestellt und das Menstruationsblut selbst auf den Biß des
Dämons oder auf den Liebesakt mit ihm zurückgeführt. Einige Beispiele
sind uns bereits begegnet. Bei den Nutka -Indianern werden Bilder des mysti¬
schen Donnervogels auf die Schirme gemalt, hinter denen das Mädchen
sich versteckt; 4 bei den Basutos in Britisch-Südafrika werden die Mädchen
vor dem Besuch einer großen Schlange gewarnt; 5 bei den Chiriguanos des
südöstlichen Bolivien laufen mit Stöcken bewaffnete alte Weiber in der
Hütte der zum erstenmal Menstruierenden herum, „um die Schlange zu
schlagen, die das Mädchen verwundet hat“. 6 Schomburgk 7 erzählt von
1) S. 213 f.
2) Die böse, eifernde Mutter oder Stiefmutter, die das Exil bewirkt usw. und am
Schluß der Geschichte zur Vergeltung verbrannt wird.
3) In Neuguinea auch als Krokodil.
4) S. 208. — In diesem Zusammenhänge mag angemerkt werden, daß die sonder¬
baren phallischen Türme von Zimbabye (Südafrika) von einem Vogelkopf gekrönt
sind. (T. Bent in Journ. Anthrop. Inst, XXII, S. 125.)
5 ) S. 203.
6) S. 212.
7) O. A. Schomburgk: Reisen in Britisch-Guayana. Leipzig 1847.
2^56 Alfred Winterstein
den Mza/s£-Indianern in Britisch-Guayana, daß bei ihnen die menstruieren¬
den Frauen und Mädchen den Wald nicht betreten dürfen, weil sie sonst
den verliebten Angriffen der Schlangen ausgesetzt sein würden; bei den
Baganda wurde die erste Menstruation als eine Heirat angesehen und von
dem Mädchen als eine Braut gesprochen. 1 Bei den Siamesen herrscht der
Glaube, daß des Mädchens erste Menstruation von der Defloration durch
Luftgeister herrühre. 2 Einige australische Stämme meinen, die Menstruation
sei die Folge eines Traumes, daß ein Bandicoot die Geschlechtsteile des
Mädchens gekratzt habe. 3 In Neubritannien (Bismarck-Archipel) wird die
Menstruation auf den Biß eines göttlichen Vogels (Nashornvogel) zurück-
geführt 4 und in Portugal auf den einer Schlange. 5 Nach einem anderen
Bericht 6 hält man in Portugal dafür, daß die Frauen während des Monats¬
flusses von Eidechsen 7 gebissen werden können, und um sich vor dieser
Gefahr zu schützen, tragen die Menstruierenden Unterhosen. Eine verwandte
Vorstellung liegt dem Glauben zugrunde, daß die Frauen, insbesondere zur
Zeit der Pubertät, in Verkehr mit der Gottheit stehen. In Kambodscha
zum Beispiel gelten die noch nicht heiratsfähigen Mädchen als Gattinnen
Prah Ens (Indras) und während des Exils selbst als die Gattinnen Reas
(Ravanas) 8
Es fällt uns nicht schwer zu verstehen, wie der Primitive, von sadisti¬
schen Vorstellungen beeinflußt, dazu kam, die monatliche Blutung, nament¬
lich die erste, als Folge eines Bisses oder eines sexuellen Verkehres (De¬
floration) zu deuten. Der bewirkende Dämon oder Geist zeigt nun deutlich,
gleich dem Unhold, aus dessen Klauen die Märchenprinzessin befreit werden
muß, seine Herkunft vom Vater (oder vom väterlichen Phallus), ja bisweilen
heißt es geradezu, daß das Mädchen Eigentum des Ahnengeistes sei. (Bei
den Bdnaro wird das erste Kind Geisterkind genannt.) 9 Wenn wir die
blutige „Wunde des Mädchens als Kastrationssymptom auffassen wollen,
deckt sich die Vorstellung der Primitiven mit jener für viele neurotische
1) S. 203, Anm. 3.
2) S. 203, Anm. 3.
3) Joum. Anthrop, Inst. XXIV, S. 177.
4) Ploß und Bartels: Das Weib. II, S. 330, 334.
5) Ploß und Bartels, a. a. O.
6) Havelock Ellis: Studies in the Psychology of Sex. II, S. 237.
7) Vgl. das griechische Märchen Nr. 11 (S. 228). — Bei den zentralaustralischen
Stämmen dürfen die Knaben und Mädchen vor Eintritt der Pubertät keine großen
Eidechsen essen, da sonst ihr sexuelles Bedürfnis abnorm gesteigert würde.
8) S. 216. S S
g) Bei der Defloration wird sozusagen die Schlange des Giftmädchens vernichtet.
Die Pubertätsnten der jMadchen und ilire Spuren im Afärchen
Frauen typischen Urphantasie, durch die Liebesbeziehung zum Vater kastriert
worden zu sein. In der Auffassung, daß der blutige Monatsfluß oder das
bei der Defloration vergossene Blut durch eine Kastration 1 verursacht sei,
steckt insofern ein gutes Stück psychologischer Wahrheit, als diese beiden
Ereignisse für die männliche, unfertige Sexualität des Mädchens einen
Abschnitt bedeuten.
Der Vaterdämon begnügt sich aber nicht immer damit, die Pubertäts¬
kandidatin zu verwunden oder mit ihr zu verkehren, bei manchen Völkern
wird von ihm erzählt, daß er sie frißt und wieder von sich gibt. Ich
erwähne als Beispiel die Golah und Vcli in Liberia und die Mendt in Sierra
Leone. 2 Bei diesen ist der Gedanke des mystischen Todes und der Wieder¬
geburt von beiden Geschlechtern bezeugt; die Wiedergeburt findet für beide
Geschlechter während ihres Exils und durch den Dämon statt. Die gleiche
Vorstellung scheint einem Brauch anderer westafrikanischer Stämme zu¬
grunde zu liegen. Dort gehen die mannbar gewordenen Mädchen in einen
magischen Wald (engl. Greegree-bush ) und bleiben in ihm, bis sie ver¬
heiratet sind. Müssen sie vorübergehend den Wald verlassen, so beschmieren
sie sich mit weißem Lehm. Frazer 3 vermutet mit Recht, daß die weiße
1) Vereinzelt wird der Menstruationsdämon mit dem Monde identifiziert. Die
Eingeborenen der Murrayinseln in der Torresstraße sehen, wie uns Archibald Hunt
(Ethnographical Notes on the Murray Islands, Torres Straits. The Journal of the
Anthrop. Inst, of Great Brit. a. Ir., New Series, Vol. I, London 1899) berichtet, den
Mond für einen jungen Mann an, der zu gewissen Perioden alle Frauen und Mädchen
schändet, verursachend einen blutigen Ausfluß. Auch die Sinaugolo im Rigodistrikt in
Britisch-Neuguinea bringen die ursprüngliche Entstehung der Menstruation mit dem
Monde in Verbindung (C. G. Seligman: The medicine, surgery and midwifery of
the Sinaugolo. Joum. of the Anthrop. Inst, of Great Brit. a. Ir., Vol. XXXII, London
1 9 02 )- Daß überhaupt bei den Pubertätsriten und bei den Märchen solare und
namentlich lunare Vorstellungen (Weißmond und Schwarzmond, typische Zahlen,
Tiersymbolik usw.) eine Rolle spielen, will ich natürlich um so weniger in Abrede
stellen, als ja die Psychoanalyse die mehrfache Determiniertheit auch dieser Schöp¬
fungen des primitiven Geisteslebens von vomeherein annimmt. Manche Züge dürften
tatsächlich nur auf Beobachtungen, die am Himmel gemacht und vermenschlicht
wurden, zurückzuführen sein. Den Nachweis der astralen Beziehungen in dem vor¬
liegenden Material überlasse ich jedoch den Mythenforschern von Fach.
2) Ploß-Renz, a. a. O. S. 731. — Der Bauch des Geistes, in dem die Beschnei¬
dungskandidaten wiedergeboren werden, ist hier durch den „Teufel“ vertreten, der
die Kandidaten beiderlei Geschlechts bei Beginn des Unterrichts aufißt und sie nach
Abschluß der Lehrzeit als Wissende wieder von sich gibt. — Die Einzelheiten dieser
Initiation, darunter die Beichte, das Verbrennen der Initiationshütten usw. siehe bei
Jean Marie C es ton: Le Gree-Gree Bush chez les Nögres-Golah, Liberia. Anthropos VI,
S. 729 ff.
3) Frazer, a. a. O., II, S. 259.
a58 Alfred Winterstem
Farbe 1 die Wiedergeburt der Novize anzeigen soll, führt jedoch unrichtiger¬
weise zur Unterstützung seiner Behauptung die Tatsache an, daß das Neger¬
kind bald nach der Geburt schiefergrau wird. Das ist nicht dasselbe wie
weiß und die Sitte findet sich auch anderwärts. Auch in Okyon, Distrikt
Calabar, muß ein Mädchen mit weißem Lehm bedeckt sein, wenn es das
Masthaus verläßt. Bei den Akikuyu in Britisch-Ostafrika unterziehen sich
die Mädchen in gleicher Weise wie die Knaben dem Ritus der Wieder¬
geburt. In welchem Alter dies geschieht, hängt von der Vermögenslage ab,
in der sich der Vater des Kandidaten befindet; denn er muß eine Ziege
beschaffen, deren Gedärme bei der mimetischen Geburtszeremonie ver¬
wendet werden. 2 Bei den Ot Danoms auf Borneo werden die Mädchen
wie wir gesehen haben, 3 vor Eintritt der Geschlechtsreife in einer Zelle
eingeschlossen und von jedem Verkehr mit der Außenwelt abgesperrt. Wenn
sie nach Eintritt der Pubertät wieder herauskommen, werden ihnen die
Sonne, die Erde, das Wasser, die Bäume und die Blumen gezeigt, als ob
sie neugeboren wären. Dieser merkwürdige Zug kommt, soviel ich fest¬
stellen konnte, bei den Mädchenweihen nur ganz vereinzelt vor, während
er bei den Exilbräuchen der Jünglinge ziemlich allgemein verbreitet ist:
die aus der Verbannung Zurückkehrenden haben ihr Heim, ihre Verwandten,
ihre häuslichen Gewohnheiten, ja ihr ganzes früheres Leben vergessen 4 und
benehmen sich so wie kleine Kinder. Im Gegensätze zum Mädchen soll ja der
Knabe von der Mutter getrennt werden; denn nur so lernt er zwei Dinge
überwinden: den Inzestwunsch (mag dieser auch nicht manifest sein) und jene
Trägheit, die ihn am liebsten unter der liebevoll sorgenden Obhut der Mutter
verweilen heißt. Tatsächlich befinden sich die Knaben bis zum Exil in der
Obhut der Weiber und verlassen sie mit der Pubertätsweihe, um als Bewohner
des Klubhauses der Männer in ein gefährliches Leben der Jagd und des
Kampfes, das auch der Liebesabenteuer nicht bar ist, zu treten.
1) Der in manchen Bräuchen vorherrschende schwarze Gesichtsanstrich verrät
wiederum eine Beziehung zur Unterwelt, also zum Tod.
2) Eine ausführliche Beschreibung dieser Zeremonie bei W. and K. Routledge:
With a Prehistoric People, the Akikuyu of British East Africa (London 1910), S. 152.
Siehe auch meine Abhandlung: Der Ursprung der Tragödie (Internationaler Psycho¬
analytischer Verlag 1925, S. 80, 81).
3 ) s - 20 7 -
4) Ob das Vergessen ein bloßer Schein ist, den die Neophythen nach der Vor¬
schrift Vortäuschen müssen, oder ob eine wirkliche durch Suggestion und Gifttränke
hervorgerufene Umnebelung des Gedächtnisses vorliegt, läßt sich schwer entscheiden.
Die wirkliche Amnesie ist vielleicht das Ursprüngliche, die bloße Markierung eine
Abschwächung des Brauches.
Die Puhertatsriten der .Mädchen und ihre Spuren im Alärchen 269
Wenngleich der Gedanke der Wiedergeburt bei den Pubertätsriten der
Mädchen im allgemeinen weniger stark ausgeprägt erscheint 1 als bei denen
der Knaben, so hat doch das Exil der Mädchen in gleicher Weise wie das
der Jünglinge etwas von einem Aufenthalt in der Unterwelt, d. h. von
einer Rückkehr in die Intrauterin Situation an sich. Beispiele hiefür enthält
der erste Teil der Arbeit in großer Anzahl. Bei den Knaben heißt es viel¬
fach, ein Ungeheuer habe sie verschlungen; 2 3 bei den Mädchen klingt
diese Vorstellung nur vereinzelt an. Die Knaben werden durch Geister
geholt und getötet, auch werden durch Geister ihre Organe ausge¬
wechselt ; 5 bei den Mädchen heißt es öfters, ein Geist habe sie verwundet
(defloriert). 4
Die Exilbräuche sorgen in ausgiebiger Weise für Introversion. Dazu
tragen nicht nur Absonderung und Dunkel bei, sondern neben anderen
Mitteln auch das Fasten. Denn der Schwächezustand, der anhaltendem
Hungern folgt, erzeugt leicht Sinnestäuschungen, Visionen, Ekstasen. Diese
Dinge gestatten dem Naturmenschen, wie er glaubt, den Blick in die Zukunft
und den Verkehr mit den Geistern. Nicht überall ist aber völliges Fasten
verordnet, häufiger genügt die Enthaltung von gewissen Speisen. Das Verbot
einzelner Speisen läßt sich gewiß nicht immer aus einer Quelle erklären,
doch scheint in vielen Fällen ihre sexualsymbolische Bedeutung (Fleisch,
Fisch, 5 Reis, Eier usw.) eine Rolle zu spielen. Bei dem Indianerstamm
Bella Coola (Bilqula) in Britisch-Columbien herrscht z. B. folgender Glaube:
Äße ein Mädchen zur kritischen Zeit frischen Lachs, so würde
sein Mund in einen langen Schnabel verwandelt werden oder
1) In den Zeremonien der Atchuabo sind Tötungs- und Wiedergeburtsriten gar
nicht vorhanden.
2) Noch in der Handlung von Schillers bekannter Ballade „Der Taucher“ spricht
sich ein ähnlicher psychischer Inhalt aus wie in den Jünglingszeremonien.
3) Die Entnahme von Organen der Pubertätskandidaten zwecks Austausches mit
dem Totem klingt in der Bezeichnung des Exilhauses der Awankonde-Mä.&chen am
Nordende des Nyassa-Sees (Ostafrika) an: „Haus der Mädchen ohne Herz.“ In
dem türkischen Märchen Nr. 8 legen die Peris dem toten Mädchen ein Fragment des
Hirschherzens, an das sein Leben gebunden ist, in den Mund. Bezüglich des Aus¬
tausches von Organen verweise ich auch auf das griechische Märchen Nr. 7.
4) Dem Glauben, daß das Mädchen im Exil mit dem Dämon verkehrt, entspricht
in einer tieferen Schicht die bei neurotischen Frauen nicht selten anzutreffende
Phantasie, vom Vater im Mutterleib koitiert zu werden.
5) Die Mädchen der Likungen , „welche kurz vor der Reife stehen, dürfen von
den Fischen nicht Stücke aus der Nachbarschaft des Kopfes essen, sondern nur
Schwänze und die angrenzenden Teile, damit sie sich Glück in der Ehe sichern“
(Boas).
260 Alfred Winterstein
es würde das Bewußtsein verlieren. 1 Die dem Mädchen angedrohten
Folgen (Tierverwandlung, Tod) erinnern an jenen Vorgang, der nach der
Anschauung J. G. Frazers 2 die Essenz der Initiationsriten bildet: der
Jüngling wird als Mann getötet und in Gestalt jenes Tieres wiederbelebt
das hinfort in einer besonderen Beziehung — als Schutzgeist (Totem)_
zu ihm steht. Der Kandidat hinterlegt also nicht nur seine Seele in dem
Totem, sondern eignet sich auch das Wesen des Tieres und somit dessen
Eigenschaften an (Identifizierung). 3 4 In unserem Beispiele scheint die Tier¬
identifizierung den Charakter einer Strafe zu tragen — aber wofür? Wüßten
wir, daß bei jenem Indianerstamm der Lachs als Totem verehrt wird, so
wäre die Vermutung erlaubt, daß das obige Speiseverbot * die Absicht aus¬
drückt, das Mädchen vom Geschlechtsverkehr mit dem Vater-Totem ab¬
zuhalten (Aufrichtung der Inzestschranke auf der oralen Stufe). Die strafweise
Verwandlung des Mundes in einen langen Schnabel (Verlegung nach oben)
birgt natürlich auch eine Wunscherfüllung in sich: das Mädchen erhält
einen Penis, der so groß ist wie der des Vaters. Auf jeden Fall dürfte der
verbotene Fischgenuß hier für den verbotenen Geschlechtsgenuß stehen.
Auch Ploß-Renz 5 betont die Beziehung zur Sexualität und führt als
Beispiel die ^wm-Buschleute im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika an.
Diese verbieten ihren Söhnen und Töchtern vor deren Mannbarkeit den
Genuß von Wildbret, bei der Reifefeier ahmen sie selbst aber die Laute
brünstigen Wildes nach und von da an ist das obige Verbot für die
gereifte Jugend aufgehoben. Der Genuß von Wildbret erscheint hier demnach
als Symbol des Geschlechtsgenusses (Inzest). Beim Yaraikanna-St&mm der
Halbinsel Kap York im nördlichen Queensland darf die Reifekandidatin
während ihrer Absonderung nichts essen, was im Salzwasser lebt; sonst
würde eine Schlange sie töten. Die Schlange als der väterliche Phallus ist
1) J. G. Frazer: Balder the Beautiful. Vol. I, S. 47 (London 1913. The Golden
Bough, Part. VII).
2) Frazer, a. a. O., Vol. II, S. 272.
5) Vielleicht hängt die Tierverwandlung in den Märchen Nr. 11 und 12 mit
diesem Vorstellungskreise zusammen.
4) Die TizVmhzan-Mädchen dürfen während des Exils Männer, frischen Lachs
und Olachen (eine Fischart?) nicht einmal anschauen. Bei den Haida -Indianern
auf den Königin-Charlotte-Inseln darf die Pubertätskandidatin durch fünf Jahre
keinen Lachs essen; sonst würde der Fisch selten werden. Überhaupt ist jedes Zu¬
sammentreffen des tabuierten Mädchens mit dem Lachs, der wahrscheinlich ein
Hauptnahrungsmittel der Haida-Indianer bildet, von den schlimmsten Folgen begleitet.
Diese Begründung ist wohl für das Speiseverbot ausreichend.
5) Ploß-Renz, a. a. O., II, S. 726.
Die Putertätsnten der .Maddlen und ihre Spuren im JS/La. rdien 261
uns in diesem Zusammanhange bereits geläufig; das Töten bedeutet wohl nicht
nur die Strafe für den Inzest, sondern auch den Inzest selbst. Ob bei dem
obigen Speiseverbot der Nachdruck mehr auf die salzige Beschaffenheit des
Wassers (Meer als befruchtendes, mütterliches Element) oder auf die im
Salzwasser lebenden Tiere (Fische als phallische Symbole) zu legen ist,
läßt sich nicht entscheiden; in anderen Fällen ist der Salzgenuß das Ver¬
botene. So muß ein Hindumädchen nach Eintritt der Pubertät in seiner
Diät Salz vermeiden; dies wird auch ausdrücklich von den Tiyan in
Malabar bezeugt. Bei den Indianern der Südostküste Brasiliens durften,
wie ein Reisender des sechzehnten Jahrhunderts berichtet, 1 die Mädchen
zur kritischen Zeit weder Salz noch Fleisch kosten. Das Verbot, mit Salz
in Berührung zu kommen, besteht an manchen Orten auch für menstruierende
Frauen überhaupt. Bei den Wagogo im ehemaligen Deutsch-Ostafrika dürfen
die Frauen während des Monatsflusses kein Salz in die Speisen geben. 2
Die Anyanja in Britisch-Zentralafrika, am Südende des Nyassasees, verbieten
den Frauen zu dieser Zeit, Salz in die Speisen, die sie kochen, zu tun;
sonst würden die Leute, die davon essen, an einem bestimmten Übel
erkranken. Deshalb muß die betreffende Frau ein Kind rufen, um die
Speise zu salzen. 3 4 In Syrien darf bis zum heutigen Tage eine menstruierende
Frau weder salzen noch einpökeln.^ In Annam ist es ihr verboten, irgendein
Nahrungsmittel zu berühren, das mit Salz konserviert werden muß. 5 Wir
wissen seit E. Jones’ 6 schöner Abhandlung, daß sich bei sehr vielen Ge¬
bräuchen und abergläubischen Vorstellungen eine symbolische Beziehung
zwischen Salz einerseits und Ehe, geschlechtlichem Verkehr und Potenz 7
anderseits nachweisen läßt; für das Unbewußte besteht eine Gleichung
1) Andre Thevet: Cosmographie Universelle (Paris 1575). II, 946 B (980) ff.;
id.: Les Singularites de la France Antarcticjue, autrement nommee Ameritjue (Anvers
i 55 8 0 S. 76.
2) Rev. H. Cole: Notes on the Wagogo of German East Africa. Journal of the
Anthropological Institute. XXXII. (1902), S. 509 ff.
3) H. S. Stannus: Notes on some Tribes of British Central Africa. Journal of
the Royal Anthropological Institute, XI. (1910), S. 305.
4) Eijüb Ab ela: Beiträge zur Kenntnis abergläubischer Gebräuche in Syrien. Zeit¬
schrift des deutschen Palästina Vereins. VII. (i884\ S. 111.
5) Paul Giran: Magie et Religion Anamite (Paris 1912), S. 107 ff., 112.
6) Ernest Jones: Die Bedeutung des Salzes in Sitte und Brauch der Völker.
Imago I, 4. u. 5. Heft, 1912.
7) In dem Grimmschen Märchen von der Gänsehirtin am Brunnen (Nr. 179)
findet die dritte Tochter auf die Frage, wie lieb sie den Vater hat, keinen anderen
Ausdruck für ihre Liebe als den Vergleich mit dem Salz. (Zitiert bei Freud: Das
Motiv der Kästchenwahl. Ges. Schriften, Bd. X.)
Imago XIV.
18
Alfred Whnterstein
262
Salz = Samen = Urin. Dieser Zusammenhang zwischen sexueller Abstinenz
und Enthaltsamkeit von Salz ist auch Frazer 1 bei Besprechung der Pubertäts¬
bräuche der Mädchen, wie sie unter den Stämmen von Britisch-Zentral¬
afrika üblich sind, aufgefallen. Dort muß ein Mädchen nach Eintritt der
Geschlechtsreife mit einem Manne verkehren, gleichgültig, ob es ihr Gatte
oder ein anderer ist. Während des Exils ist ihr der Genuß von Salz verboten
nach der Vermählung aber stellt sie einen Topf mit gesalzener Zukost
vor der Hütte ihrer leiblichen oder ihrer „Exilmutter“ nieder, offenbar
zum Zeichen, daß ihr Gatte potent ist. Denn es heißt ausdrücklich, daß
diese Handlung unterbleibt, wenn die Frau ihren Mann impotent befindet.
In diesem Falle muß sie sogar einen Ehebruch begehen, damit die Zukost
verteilt werden kann und gewisse Personen ihre Füße damit einreiben
können (Fruchtbarkeitszauber, Fuß als phallisches Symbol). 2 Auch von dem
Salzverbot scheinen sich Spuren im Märchen erhalten zu haben. In dem
griechischen Märchen Nr. 7 3 kostet die Braut vom versalzenen Brot und
führt dadurch die Katastrophe herbei; die Geblendete kommt dann nach
langem Umherirren zu einer Alten im Walde (Exil). Ganz ähnlich verliert
im türkischen Märchen Nr. 8 4 die Braut infolge des Genusses der salzigen
Speise ihre Augen und wird auf einem Berg ausgesetzt. In beiden Märchen
erfolgt die Strafe (Beschädigung des Genitales) für den verbotenen Genuß
(Masturbation mit Inzestphantasien?).
Märchen wie die eben erwähnten mit dem Verlauf, daß die Braut auf
der Fahrt zum Verlobten beseitigt wird, indem sie von der Nebenbuhlerin
oder deren Mutter verstümmelt und in diesem hilflosen Zustande verlassen
wird, dürften ihrer psychischen Motivierung nach auch einen Zusammenhang
mit den vermeintlichen Mut- und Standhaftigkeitsproben der Pubertäts¬
bräuche besitzen. Ich sage „vermeintlichen“, ohne bestreiten zu wollen,
daß dieses Motiv sekundär mitwirken mag, gewöhnlich jedoch in geringerem
Maße als bei den Knaben. Die eigentliche, unbewußte Absicht dieser
raffinierten Quälereien wird hier — entsprechend der Auffassung Beiks 5 —
die Bestrafung der inzestuösen und feindseligen Regungen der weiblichen
Novizen durch die von unbewußter Vergeltungsfurcht beherrschten Mütter
1) Frazer: Balder the Beautiful. Yol. I, S. 26.
2) Frazer, a. a. O. S. 25 ff. — S. 201 f. dieser Arbeit.
3 ) s * 22 5 ‘
4) S. 226,
5) Th. Reik: Die Pubertätsriten der Wilden. (Probleme der Religionspsychologie,
I. Teil, S. 72.)
Die Pubertatsriten der Mädchen und ihre Spuren im M^ärdien a 63
sein* Damit steht die Tatsache nicht in Widerspruch, daß an manchen
Orten auch noch andere Personen an den Züchtigungen teilnehmen oder
daß man sich die feindlichen Impulse in einem Dämon verkörpert denkt,
den man auf diese Weise austreiben muß. Es ist jedoch im einzelnen
Falle schwer zu entscheiden, ob die negative Seite der Lustration oder
die positive des Fruchtbarkeitszaubers (Schlag mit der Rute) die Vor¬
stellung des Primitiven mehr beeinflußt; sie sind eben in Gedanken überhaupt
nicht recht voneinander zu trennen.
Wir erinnern uns zunächst daran, daß bei den Atchuabo in Portugiesisch'
Ostafrika die Reifekandidatin von der Zeremonienaufseherin geohrfeigt wird,
„damit sie denke, das, was ich tat, ist schlecht“ (a. a. O. S. 89, siehe S. 203
dieser Arbeit). Die Mutter sagt zur namungu: „Schlagt mein Kind; denn
es hört nicht auf das, was ich sage“ (a. a. O. S. 87).
Wir wissen ferner, daß bei den Macusi in Rritisch-Guayana das mann¬
bar gewordene Mädchen von der Mutter mit dünnen Ruten gegeißelt wird,
ohne einen Schmerzensschrei ausstoßen zu dürfen; auch wird sie den
schmerzvollen Rissen gewisser großer Ameisen ausgesetzt. 1 Solche Mut- und
Standhaftigkeitsproben, bei denen die Mädchen gegeißelt, von Ameisen ge¬
bissen 2 werden oder Schnittwunden erleiden, werden auch von vielen an¬
deren Indianerstämmen Südamerikas berichtet. 3 Rei den Uaupes in Brasilien
empfangen die Kandidatinnen von jedem Familienmitglied und Freunde
mehrere Hiebe über den ganzen nackten Leib, die bisweilen selbst zum
Tode führen; es gilt als eine Beleidigung der Eltern, nicht heftig zu
schlagen. 4 Hier scheinen also die Familienmitglieder 5 und Freunde die
Rolle der züchtigenden Eltern übernommen zu haben. Bei den Banivas
im Stromgebiete des Orinoco wurde das mannbar gewordene, an einen Pfahl
angebundene Mädchen von alten Männern blutig gegeißelt. 6 Die Schläge
waren aber dazu bestimmt, den im Pfosten verkörperten Dämon auszutreiben,
der sozusagen die inzestuöse Fixierung der Tochter darstellte. Als „Mut-
1) S. 211.
2) Der Stachel der Wespen und Ameisen erinnert Ploß-Renz (Das Kind. II,
S. 721) an die Bedeutung Wuotans als „penetrans “ (Penis).
3) Beispiele bei Frazer: Balder the Beautiful, Vol. I, S. 57 ff*
4) S. 212.
5) Auf zwei Inseln der Torres-Straits (Yam und Tutu) wird das Mädchen im
Exil von zwei Tanten väterlicherseits durchgebleut.
61 S. 213 f. — Das Anbinden am Pfahl objektiviert gleichsam die Bindung an
den Vater. Ich möchte hier auch auf die Beziehung dieser Szene zu der neuroti¬
schen Phantasievorstellung „Ein Kind wird geschlagen“ hinweisen. Siehe Freuds
gleichnamige Arbeit. (Ges. Schriften, Bd. V.)
Alfred Winterstein
264
und Standhaftigkeitsproben“ sind wohl auch die Prüfungen zu betrachten
denen sich die Mädchen unter den Stämmen des Tanganjika -Plateaus in
Afrika unterziehen: sie müssen über Zäune springen, 1 ihren Kopf in einen
Dornenkragen zwängen 2 usw. — Daß im Märchen Mißhandlungen der
Heldin und ihr auferlegte schwere Aufgaben im nämlichen Familienkonflikte
wie die ähnlichen Bräuche bei den Pubertätsweihen wurzeln und hiebei
alle möglichen Ausdrucksformen gefunden haben, bedarf nach dem Voran¬
gehenden keiner besonderen Beweise mehr. Statt der feindseligen Mutter
erscheint oft eine böse, eifernde Stiefmutter, Amme o. dgl. Auf einen Zug
möchte ich noch aufmerksam machen, der nach Arfert 3 in einer be¬
stimmten Gruppe von Märchen vertreten ist: die Heldin wird von der
neidischen Nebenbuhlerin durch einen Nadelstich in einen Vogel verwandelt.
Todes- und Deflorationsmerkmal treffen in dem Symbol zusammen; die
Tierverwandlung hat zweifellos sexuelle Bedeutung, man könnte hier aber
auch an die Beziehungen zwischen Totemismus und Initiationsriten denken. 4
Ein Beispiel dieser Art sei mitgeteilt:
Nr. 20. Walachisch. 5 „Die Ungeborene, Niegesehene.“ Eine solche Braut
ist von einer Mutter dem Sohne im Scherz versprochen worden. Er zieht
aus, sie zu suchen, und erhält von drei alten Frauen drei goldene Äpfel, aus
denen drei wunderschöne Mädchen hervorkommen. Mit dem dritten zieht er
heim und läßt es kurz vor der Stadt an einem Brunnen zurück, um die Vor¬
bereitungen zu seinem Empfange zu treffen. Die Braut fürchtet sich allein in
der Wildnis und steigt auf einen Baum. Kurz darauf kommen eine
Zigeunerin und ihre Tochter zu dem Brunnen, um Wasser zu schöpfen.
Sie sehen in der Quelle das Spiegelbild der Prinzessin und die junge Zigeunerin
glaubt, es sei das ihrige. Hierüber kann sich die Braut des Lachens nicht
erwehren 6 und wird so entdeckt. Durch schmeichlerische Reden lockt die
1) In dieser Symbolhandlung treffen drei Tendenzen zusammen: Überwindung des
Geburtstraumas, Lösung von der Mutter und Identifizierung mit dem Mann.
2) S. 201. — Die Geburtssymbolik darf neben der Kastrationsbedeutung nicht über¬
sehen werden.
5) P. Arfert, a. a. O., Gruppe I, b und c, S. 7.
4) Vgl. S. 260. — Die neidische Nebenbuhlerin würde im Märchen die Rolle des
Totemtieres, Dämons, Ahnengeists, Vaters übernehmen, der den Kandidaten tötet
und dann zu neuem Leben erweckt. Bei den Zauberer weihen in Australien, die den
Pubertätszeremonien verwandt sind, glauben die Initianden, die Geister stießen ihnen
einen Speer durch den Kopf (Befruchtungssymbolikh
5) Schott: Walachische Märchen, Nr. 25. Stuttgart-Tübingen 1845. — Arfert,
a. a. O. S. 27 f.
6) Brechen des Schweigegebots, Lachen als Lebensäußerung; den Mädchen im
Exil ist oft untersagt, mit anderen Personen als mit der sie betreuenden Frau zu
sprechen.
Die Pubertätsriten der jMädchen und ilire Spuren im .Märchen ä 65
Alte sie vom Baum herunter und sticht ihr unter dem Vorwand, ihre Haare
kämmen zu wollen, eine Nadel in den Kopf, so daß sie, in eine Taube
verwandelt, davonfliegt. Nun schmückt sich die Tochter mit ihren Kleidern
und steigt auf den Baum, wo sie von dem über diese Verwandlung erstaunten
Jüngling abgeholt wird. Sie beruhigt ihn mit der Erklärung, daß die Sonne
sie so verbrannt habe. Eines Tages kommt dem Bräutigam die Taube in
die Hände. Beim Streicheln entdeckt er die Nadel, zieht sie heraus und seine
rechte Braut steht vor ihm.
Die dunkle Gesichtsfarbe der Zigeunerin — in anderen Märchen
dieser Gruppe ist es eine Mohrin — erinnert an den schwarzen Anstrich
der Pubertätskandidaten beiderlei Geschlechtes bei manchen Völkern. 1 2 Eine
schwarze Stirnkruste erhält die Novize der Badaga im südlichen Vorder¬
indien; schwarz ist das Gesicht der Pubertätskandidatinnen der Koluschen
(Beringstraße) in ihren Isolierhütten bemalt; in Yam und Tutu, zwei Inseln
der Torres-Straits, werden die Novizen auf dem ganzen Körper mit Kohle
geschwärzt; schwarz oder dunkelblau bemalt man den südamerikanischen
Indianermädchen zu dieser Zeit den Rücken am Igana und Caiary-Uaupös,
Nebenflüssen des Rio Negro; bei den K.aua wurde den Mädchen zum
Zeichen ihrer ersten Menstruation der Rücken mit schwarzer Farbe über¬
strichen; blaue Streifen erhalten sie bei den CharuasMinuanes- und
Payaguas- Indianern. 3 4 Blau und Schwarz können sich demnach bei obigen
Indianern vertreten. Blau aber ist, wie Weygold mitteilt,** bei den nord¬
amerikanischen Dakotas die Farbe der Erde, der Fruchtbarkeit und des
Friedens (ebenso Rot). Daß Schwarz als Farbe der fruchtbaren Erde, der
Unterwelt, des Todes 5 (nach Bachofen auch des Hetärismus) für die
Pubertätsweihen Bedeutung besitzt (Tod und Wiedergeburt), ist uns ohne-
weiters verständlich. 6 Eine noch größere Rolle scheint die rote Farbe,
1) Vaterinzest. Schwarz ist die Farbe der Hitze, der Sinnlichkeit.
2) Sollte die Nadel der Zigeunerin auch einen Zusammenhang mit der hei Täto¬
wierungen verwendeten Nadel haben? Die Erlangung des Stammeszeichens könnte
als „Verwandlung“ gedeutet werden.
3) Ploß-Renz: Das Kind, II. Bd., S. 723!.; Frazer, a. a. O., I, S. 41.
4) Weygold: Die Hunkazeremonie. Archiv für Anthropologie, N. F. XI (1912),
S. 151, Anm.
5) Bachofen (Das Mutterrecht, S. 15, Stuttgart 1861) erinnert an die enge Ver¬
bindung von Leben und Tod in der Auffassung der Alten Welt und an das daraus
hervorgehende doppelte Symbol der schwarzen (und weißen) Farbe für Leben, Frucht¬
barkeit und Tod. (Zit. bei Ploß-Renz, a. a. O. S. 724, Anm. 5.) — Das Schwärzen
der Zähne der Mädchen im Kambodscha (siehe S. 217) und im ostindischen Archipel
dürfte jedenfalls auch durch die symbolische Bedeutung der Zähne determiniert sein.
6) Siehe auch S. 258, Anm. 1.
266 Alfred Winterstein
allein oder in Verbindung mit anderen Farben zu spielen. 1 Rot ist die
Farbe des (Menstruations-) Blutes, des Feuers, jedenfalls auch ein Libido¬
symbol, was seine Verwendung bei den Mannbarkeitsriten erklärlich macht.
Frazer 2 erwähnt rote Bemalung bei den Mädchen der Kaffernstämme in
Südafrika und der Stämme am unteren Kongo, bei den Mädchen der Yabim
und Bukaua in Neuguinea (rote Streifen auf weißem Grunde), in Nord¬
australien (rote Farbe kombiniert mit weißer, gelber und Kohlenfarbe) und
Victoria, auf den Inseln der Torres-Straits (rote und weiße Farbe), i n
Britisch-Columbia (Thompson- und Lilloet-Indianern); rot werden ferner
nach Ploß-Renz 3 die Pubertätskandidatinnen der Tapuya an der brasi¬
lianischen Ostküste bemalt, schwarz, weiß und rot die Novizen in Loango
(Westafrika), rot jene der Fjort im französischen Kongo und der Ama-Kosa
im südöstlichen Teil dieses Kontinents sowie die Kandidatinnen der Roro -
Papuas auf Neuguinea; auf Karesau besuchen sie tief im Wald einen Baum
mit roter Rinde, Kaimer genannt. 4 Mit den eben besprochenen Bräuchen
verwandt ist das Tatauieren. Weibliche Kandidaten werden dieser Ope¬
ration in gleicher Weise wie die männlichen unterworfen. Wir finden sie
bei Dravidas, Arabern, Negern, malayisch-polynesischen Völkern, Papuas ,
Australiern und Indianern. Bei einzelnen Völkern wird sie in einer so
qualvollen Weise, auch am weiblichen Geschlecht, ausgeführt, daß sie als
„Mut- und Standhaftigkeitsprobe“ den Geißelungen und den Ameisenbissen
nicht nachsteht. Etwas Ähnliches scheint der von einem Ansiedler des
sechzehnten Jahrhunderts 3 * * überlieferte Brauch bei den Indianern der Süd¬
ostküste Brasiliens gewesen zu sein. Wenn ein Mädchen das kritische Alter
erreicht hatte, wurden seine Haare weggebrannt oder abgeschoren. Dann
wurde sie auf einen flachen Stein gesetzt und mit dem Zahn eines Tieres
von den Schultern den ganzen Rücken hinunter geschnitten, bis sie blut¬
überströmt war. Hierauf wurde die Asche eines wilden Kürbisses in die
1) Die namungu sagt bei den Atchuabo: „Wir Weiber, wir sind rot, wir sind
schwarz, wir sind weiß, wir sind Blätter des Zitronenbaumes. Rot am Geschlechts¬
teil, weiß usw.“ (Schulien, a. a. O. S. 91).
2) Frazer: Balder the Beautiful, Vol. I, S. 50, 31, 35, 38, 39, 40, 50, 52, 78.
3) Ploß-Renz, a. a. O. S. 724.
4) Vgl. zu den vorstehenden Ausführungen Hans Christoffels Untersuchung über
„Farbensymbolik“ (Imago, Festschrift, XII. Bd., Heft 2/3, 1926). Schwarz, Rot und
vielleicht Grün sollen das männliche Prinzip, den Vater, Weiß, Blau und Gelb das
weibliche Prinzip, die Mutter symbolisieren.
5) Andr6 Thevet: Cosmographie, Universelle (Paris 1575) II, S. 946 B. (980) ff.;
id.: Les Singularites de la France Antarctique, autrement nommee Amerique (Anvers
i 55 8 )i S. 76.
Die Pubertätsriten der jVlädcben und ibre Spuren im Giardien
3 6/
Wunden verrieben, das Mädchen an Händen und Füßen gebunden und in
eine Hängematte so fest eingenäht, daß niemand sie sehen konnte. Dort
mußte sie drei Tage ohne Speise und Trank bleiben. Nach Ablauf der drei
Tage ließ sie sich auf den flachen Stein hinab; denn ihre Füße durften
den Boden nicht berühren. Verspürte sie ein menschliches Bedürfnis, so
lud eine weibliche Verwandte sie auf den Rücken und trug sie hinaus,
wobei jene eine glühende Kohle mitnahm, um zu verhindern, daß böse
Einflüsse in den Körper das Mädchens eindrängen. Nachdem sie wieder in
ihre Hängematte gelegt worden war, erhielt sie die Erlaubnis, Mehl, ge¬
kochte Wurzeln und Wasser zu genießen, doch durfte sie weder Salz noch
Fleisch kosten. So lebte sie bis zum Ende der ersten monatlichen Periode,
worauf sie auf der Brust, auf dem Bauch und über den ganzen Rücken
zerschnitten wurde. Während des zweiten Monats verblieb sie zwar noch
in der Hängematte, doch war die Observanz weniger streng und sie durfte
spinnen. Im dritten Monat wurde sie mit einem gewissen Farbstoff ge¬
schwärzt und begann so wie gewöhnlich herumzugehen.
Ästhetische, soziale und religiöse Motive dürften an dem Brauche des
Tatauierens , der auch schon im zartesten Kindesalter Anwendung findet
und bei einzelnen Völkern Jahrzehnte hindurch fortgesetzt wird, in wechseln¬
dem Ausmaße beteiligt sein; die ursprüngliche Absicht wird aber wohl eine
magische gewesen sein. Das tatauierte mannbare Mädchen will vor allem
dadurch seine glücklich erreichte Geschlechtsreife dem Manne mitteilen
und so einen Zauber auf ihn ausüben. In Tunis 1 2 lassen sich die Mädchen
beim Eintritt ihrer Reife einen Bart auf das Kinn tatauieren. Auf diese
Weise benachrichtigen sie ihre Mütter von dem Ereignis und drücken den
Wunsch aus, daß sie einen Mann möchten. Nach Mauchs 3 Bericht besteht
bei den Makalaka in Südafrika die Sitte, daß die alten Frauen das junge
Mädchen zur Pubertätszeit tatauieren. Den .Zfas.szzr'z-Mädchen im Innern von
Deutsch-Togo macht man, wenn sie das heiratsfähige Alter erreicht haben,
drei bis vier wulstige, vom Nabel strahlenförmig ausgehende Einschnitte
(Sonnensymbol?). Nach Förster 3 tatauiert man auf Tahiti die geschlechts-
reifen Mädchen, die dieses Augenblicks sehnsüchtig harren. Bei den Roro-
1) Die Schreibart „Tatauieren“ ist richtiger als die noch vielfach angewendete
Form „Tätowieren“. Über die Ursachen des Tatauierens siehe Ploß-Bartels: Das
Weib, 9. Aufl. (Leipzig 1908), I. Bd., S. 145 f.
2) Dieses Beispiel und die folgenden bei Ploß-Renz: Das Kind, II, S. 730, 731,
742 , 744, 747 , 7 5 3 , 754.
3) Zitiert bei Ploß-Bartels: Das Weib in der Natur- und Völkerkunde, 9. Aufl.
(Leipzig 1908), I. Bd., S. 456.
268
Alfred Winterstein
Papua in Britisch-Neuguinea bildet das Pubertätsfest heutzutage den Ab¬
schluß des Tatauierens, das dort vier, fünf oder noch mehr Jahre in An¬
spruch nimmt. Es beginnt im achten oder neunten Jahr der Mädchen und
erstreckt sich über den ganzen Körper. Das Gesicht wird erst vor Abhaltung
des Pubertätsfestes tatauiert. Der ganze Vorgang, insbesondere aber das Talau-
ieren des Gesichtes, ist äußerst schmerzlich. Zum Feste tun sich gewöhn¬
lich mehrere Familien zusammen. Wenn dazu alles vorbereitet ist, schließt
man die Kandidatinnen zuerst in Hütten ein, wo sie außer der Gesichts-
tatauierung einer strengen Enthaltung von gewissen Speisen und Getränken
unterworfen werden.
Die Keifekandidatinnen erscheinen nach Vernarbung der Wunden zu dem
Pubertätsfeste mit Öl und rotem Ocker vom Kopf bis zu den Füßen ge¬
salbt und mit Schmuck aus Muscheln, Eber- und Hundezähnen überladen.
Ein anderer -Stamm, nämlich die Hula , tatauiert seine Töchter mög¬
lichst reichlich und geschmackvoll, damit sich leichter ein Gatte finde.
Im Murraydistrikt im südlichen Australien mußten sich seinerzeit die Reife¬
kandidatinnen einer höchst schmerzlichen Tatauierung des Rückens unter¬
ziehen. Bei den Kadiuevo, einem Zweig der Guaicuru im westlichen Brasilien,
wurden die Mädchen früher nach Eintritt der Pubertät unter gewissen
Feierlichkeiten mit einem Dorne tatauiert. Bei den Karaja am Schingu
und Araguaya wird beiden Geschlechtern nach erreichter Mannbarkeit auf
jede Wange ein Kreis, das Stammeszeichen, ein geschnitten. Andere Zere¬
monien scheinen hier nicht stattzufinden. Auch in Paraguay war die Tatau¬
ierung der Mädchen zur Zeit der Reife üblich. Von den jetzt ausgestorbenen
Abiponern , einem Zweige der Guaicuru , berichtete Dobrizhoffer 1 Ende
des achtzehnten Jahrhunderts, daß die Pubertätskandidatinnen tatauiert
wurden. Ebenso tatauieren auch die Kaders in den Anamallybergen in
Indien die jungen Mädchen zur Zeit der Reife. 2
Nicht nur der Gedanke an das andere Geschlecht, auch der Wunsch nach
leichter Geburt findet bei einigen Völkern in den Mädchenweihen, die ja
innig mit den Hochzeitszeremonien Zusammenhängen, sinnfälligen Ausdruck.
Ich brauche hier bloß Bekanntes zu wiederholen. Bei den Tinneh -Indianern
auf Alaska trägt die Novize um die Hüften eine Schnur, an der die Ober¬
schenkel eines Stachelschweines befestigt sind; denn von allen diesen In¬
dianern bekannten Tieren wirft das Stachelschwein am mühelosesten Junge.
1) Dobrizhoffer: Geschichte der Abiponer. (Historia de Abiponibus.) Wien 1785/84.
2) Zitiert bei PIoß-Bartels, a. a. O. S. 456.
Die Pubertätsriten der Alädclien und ihre Spuren im Märchen 269
Auch wird folgender Brauch berichtet: Falls jemand zufällig ein trächtiges
Stachelschwein während des Exils des Mädchens tötet, wird ihr der Fötus
gegeben, den sie zwischen Hemd und Körper wie ein kleines Kind zu Boden
fallen läßt. 1 Bei den Thompson -Indianern in Britisch-Columbia lief die
Pubertätskandidatin am frühen Morgen viermal mit zwei kleinen Steinen
in ihrem Busen herum; dabei glitten die Steine zwischen ihrem nackten
Körper und ihren Kleidern zur Erde. Zu gleicher Zeit betete sie zur Dämme¬
rung, daß sie, wenn sie schwanger würde, ebenso leicht entbinden möge
wie von diesen Steinen. 2
Bei den benachbarten iz'ZZo^-Indianern wird der gleiche Analogiezauber
von den mannbaren Mädchen ausgeübt; ihr Gebet lautet: „Möge ich immer
leichte Geburten haben.“ Der eine Stein stellte das künftige Kind dar und
der andere die Nachgeburt. 3
Bei den Kappiliyan von Madura und Tinnevelly wird, wenn die Novize
vom rituellen Bade heimkehrt, in die Nähe der Haustür eine Speise hin¬
gestellt und ein Hund darf davon kosten, aber sein Vergnügen wird durch
Schmerzen beeinträchtigt; denn während er frißt, erhält er eine ordent¬
liche Tracht Prügel. Je lauter er heult, desto besser ist es, weil die Familie,
die die junge Frau gebären wird, um so größer sein wird. Heult der Hund
jedoch gar nicht, so wird es keine Kinder geben. 4 Es besteht offenbar ein
Zusammenhang zwischen dem Hundegebell und den Schmerzensschreien
der Frau bei der Geburt. Der fressende Hund symbolisiert vielleicht irgend¬
wie das weibliche Genitale beim Koitus; begegnen wir doch im Volks¬
glauben ganz allgemein der Anschauung, daß der Uterus ein im Körper
des Weibes lebendes Tier sei, welches gefüttert werden muß. Die Tracht
Prügel konnte auch als Strafe für Kastrationsgelüste gegenüber dem Penis
des Gatten gedeutet werden (oder Bestrafung für den Inzest?).
Wenn das Exil eines Mädchens bei den Parivar am von Madura zu Ende
geht, wird seine Isolierhütte niedergebrannt und die Töpfe, die sie benützt
hat, werden in ganz kleine Scherben zerschlagen; denn es herrscht dort
der Glaube, daß das Mädchen kinderlos bleiben würde, wenn sich Regen¬
wasser in einem der Töpfe ansammelte. 5 (Die Kinderlosigkeit ist vielleicht
1) S. 210.
2) S. 210.
3) James Teit: The Lilloet Indians (Leyden and New York 1906), S. 263—265
(The Jesup North Pacific Expedition, Memoir of the American Museum of Natural
' History, New York).
4) Edgar Thurston: Castes and Tribes of Southern India (Madras 1909), III, S. 218.
5) Edgar Thurston, a. a. O., VI, S. 157.
2 yo Alfred Winterstein
auch hier wie in anderen Fällen eine Strafe für den Inzest; das Regen-
wasser im Topf entspricht wohl der Befruchtung durch den Vater. In der
griechischen Sage empfing Danae den Besuch des Zeus in Gestalt eines
goldenen Regens.) 1
Auch bei der Pubertätsfeier der IVama-Mädchen 2 in Südafrika spielt der
Gedanke an die künftige Generation eine Rolle. Theophil Hahn 3 berichtet
uns über diese Feier folgendes: Nach der ersten Menstruation wird das
Mädchen mit einem reichgeschmückten Broak-Karoß , einer Art Mantel aus
Schakal- oder Katzenpelz, bekleidet, der sie als heiratsfähig bezeichnet. Bis
dahin war das junge Mädchen völlig nackt gegangen. Nach dieser Ein¬
kleidung sitzt sie drei Tage lang dem Eingang der Hütte gegenüber an
der Seite, wo das Hausgerät sich befindet, in einem von fußhohen Stäben
eingeschlossenen Kreis, von zweieinhalb bis drei Fuß im Durchmesser, mit
untergeschlagenen Beinen, den Mund fischmaulartig 4 vorgestreckt und
zuweilen mit ihrem Kopfe herausfordernd nickend. Am dritten Tage wird
eine junge fette Färse geschlachtet. Der nächste Anverwandte der Kandi¬
datin, gewöhnlich ihr ältester unverheirateter Vetter, erscheint mit der
Nachbarschaft zur Gratulation und zum Schmaus. Indem er ihr das Magen¬
fell des Rindes über den Kopf hängt, wünscht er ihr, so fruchtbar zu sein
wie eine junge Kuh und recht viele Kinder zu gebären. Dann kommen
ihre Freunde und Freundinnen mit ähnlichen Glückwünschen, worauf der
Festschmaus beginnt. Dieser endet mit Gesang und Tanz, wobei man sich,
wenn möglich, mit Honigbier bezecht.
Daß das Mädchenexil als eine Periode des Verzichtes, des Opfers, der
Introversion so häufig in einem Feste seinen Abschluß findet, das eine
weitgehende Triebbefriedigung ermöglicht, ist in Gesetzen des Seelenlebens
begründet, die bei Primitiven und Kulturvölkern in gleicher Weise wirksam
sind. Allerdings bedarf die Behauptung, daß das Exil asketischen Charakter
habe, einer gewissen Einschränkung, da es ja gleichfalls der Vorbereitung
für das Geschlechtsleben des erwachsenen Weibes gewidmet ist. Diese er¬
folgt aber nicht nur durch theoretischen, sondern bisweilen auch durch
praktischen Unterricht, der in der Regel von älteren Frauen 5 erteilt wird.
0 Vgl. den Kegen, der die Flammen löscht, im Märchen vom Marienkind (S. 253 f.).
2) In Lüderitzland und im Walfischbai sind nach Scobel die typischesten Hotten¬
totten.
3) Theophil Hahn: Globus 12 (1868), S. 307. (Zitiert bei PI oß-Renz, a. a. O. S. 740.)
4) Das fischmaulartige Vorstrecken des Mundes sieht wie eine Verlegung der
männlichen (Penis-) Sexualität nach oben aus.
5) Bei denBanta-Mädchen am unterenKongo von dem Operateur,dem „ngangaKumbi“.
Die Pubertätsriten der Mädchen und ilire Spuren im JMärchen
Bei den nördlichen Clans des Thonga -Stammes in Südostafrika, in der
Gegend der Delagoabucht, lauschen die Novizen während ihrer Abgeschieden¬
heit auf laszive Gesänge, die von erwachsenen Frauen gesungen werden,
u nd werden in sexuellen Dingen unterwiesen. 1 Worin dieser Unterricht
besteht, wird uns allerdings nicht berichtet. Die Mädchen der Bdkulia im
nördlichen Deutsch-Ostafrika empfangen von den sogenannten weisen Frauen,
von denen sie auch beschnitten werden, Lehren, die sich besonders auf das
Geschlechtsleben, doch auch auf ihr sonstiges Verhalten in der Zukunft
beziehen. Bei der Schlußfeier der Pubertätskandidatinnen der Völker auf
dem Makondeplateau (südöstliches ehemaliges Deutsch-Ostafrika) müssen
diese vor den Augen der Lehrerin ihre Kunst im Zittern der Gesäßpartie
zeigen; die Mädchen haben eine Unterrichtszeit von mehreren Monaten
hinter sich, die sie in einer besonderen Hütte durchmachen. 2 In Madibira
(gleichfalls südliches ehemaliges Deutsch-Ostafrika) wird den Novizen von
alten Weibern Unterricht über die Ehe erteilt. Diese fertigen hiezu eigene
Lehmfiguren an, bei denen das Geschlechtliche ganz besonders hervor¬
gehoben ist. Die zwei größten stellen Vater und Mutter dar; die anderen
teils Menschen, teils die bekanntesten Tiere, ebenfalls männlich und weib¬
lich, dann Sonne und Mond (wahrscheinlich auch als Mann und Weib
gedacht) und verschiedene Hausgeräte, besonders Töpfe. 3
In den Initiationszeremonien der Mädchen bei den Atchuabo spielt die
sexuelle Aufklärung gleichfalls eine wichtige Rolle; sie beschränkt sich
aber nicht auf Worte: mit Masken bekleidete alte Frauen begatten sich
als Mann und Frau in Gegenwart der Kandidatinnen.
Sobald bei dem iSW/^Zi-Mädchen in Sansibar die Zeichen der Mannbar¬
keit eintreten, was gewöhnlich im zwölften oder dreizehnten Jahr geschieht,
wird es noch an dem gleichen Tage von einem alten Weib gewaschen,
im Gesicht bemalt, schön frisiert, mit Schmuck behängen und von Freun¬
dinnen in der Stadt herumgeführt, wobei es Geschenke erhält, aber auch
viele Neckereien von den Gefährtinnen erdulden muß. Nach O. Kersten
werden die Mädchen von jenem alten Weibe im „Digitischa“ unterrichtet,
d. h. in der Ausführung gewisser mahlender Hüftbewegungen, welche
1) S. 202.
2) Karl Weule: Negerleben in Ostafrika. Ergebnisse einer ethnologischen For¬
schungsreise. Leipzig 1908. (Zitiert bei Ploß-Renz, a. a. O. S. 756/57.)
5) Briefliche Mitteilung des Missionars Johannes Häfliger an B. Renz (Ploß-
Renz, a. a. O. S. 758). Eine beigegebene Photographie zeigt eine Anzahl phallischer
Figuren (darunter auch den Vater).
2^2 Alfred VGnterstein
den Reiz des Koitus erhöhen sollen. Nach Velten wird dieser Unterricht
und jener über das Eheleben überhaupt in Gegenwart der anderen alters¬
gleichen Mädchen gegeben; ihn begleiten schamlose Gesänge, deren Sinn
die Novizinnen deuten müssen. Ungelehrige Mädchen bekommen von der
Lehrerin Schläge, gelehrige Lob. 1
Nach den Mitteilungen aus dem „Jahresbericht 1908 und 1911 der
Missionen der rheinisch-westfälischen Kapuzinerordensprovinz auf den Karo¬
linen-, Mariannen- und Palauinseln“ 2 wirkt der Aufenthalt in den Isolier¬
hütten entsittlichend auf die Novizen. Einzelheiten über das Tun und Treiben
in diesen Hütten scheinen den betreffenden Missionären aber nicht bekannt¬
geworden zu sein.
Das Ziel, das die Mädchenweihen der Primitiven mit so großem Auf¬
wand an Zeit und Unlust seitens der Novizen anstreben, ist das gleiche,
welches auch heute noch jede wirkliche Erziehung der jungen Mädchen
verfolgt: Ersatz der männlichen unfertigen Sexualität durch die weibliche,
Aufhebung sozial unzweckmäßiger Fixierungen sowie Vorbereitung für
das Geschlechts- und Eheleben, für den Stand der Mutter und Hausfrau.
Die Klostererziehung erinnert ja noch in mancher Beziehung an das Mäd¬
chenexil, indes der erste Fasching, den das junge Mädchen mitmacht, mit
den Festlichkeiten verglichen werden kann, die so häufig bei den Primi¬
tiven diese Periode abschließen. Firmung 3 und Konfirmation bezeichnen heute
für das christliche Mädchen symbolisch den Übergang vom Kinde zur Er¬
wachsenen. Bei einem neurotischen oder dissozialen Mädchen wird die
Erziehung freilich um so eher mißlingen, als in so vielen Fällen leider
die zur Erziehung Berufenen völlig unbewußt, ohne jedes psychologische
Verständnis zu Werke gehen. Oft verhütet bloß ein rein intuitives Eingreifen
schlimmere Folgen. Hier setzt nun die Aufgabe der Psychoanalyse ein,
deren zielbewußte Tätigkeit man mit Recht eine Nacherziehung genannt
hat. Zwischen ihrer bewußten Funktion und der unbewußten der Puber¬
tätsweihen besteht eine weitgehende Analogie. Auch die Psychoanalyse ist
1) Carl Velten: Sitten und Gebräuche der Suaheli nebst einem Anhang über
Rechtsgewohnheiten der Suaheli (Göttingen 1903).
2) Bei Ploß-Renz, a. a. O. S. 740/41.
3) Die von den Primitiven beim Übergange vom Kinde zum geschlechtsreifen
Mädchen beobachtete Farbensymbolik (S. 265 f.) lebt noch bei Kulturvölkern fort. So
wird in der „Histoire d’une grande dame du XVII e siede“ (La princesse Helöne de
Ligne. Par Lucien Perey, Paris 1889) erzählt, daß nach der ersten Kommunion ein
Tausch der weißen Bänder mit den roten stattfand. Die drei Klosterklassen hießen:
Classe blanche , bleue y rouge .
Die Pubertätsriten der Mäddien und ihre Spuren im Märdien 2/3
ein sozialer Vorgang, nach dem Ausspruche Freuds eine „Massenbildung
zU zweien“, wobei der Analytiker die Rolle spielt, die in den Mädchen¬
weihen zumeist einer älteren Frau als Vertreterin der Mutter zufällt. Die
analytische Situation stellt ebenso wie das Mädchenexil in gewisser Be¬
ziehung symbolisch den Aufenthalt im Mutterleibe dar. Erst durch die
in beiden Ersatzbildungen erfolgende Abfuhr versagter Libido lernt das
junge Mädchen auf die aktive Rückkehr zur Mutter, das Eindringen in
das Liebesobjekt mittels des männlichen Genitales (Klitoris) verzichten und
den Wunsch nach Wiederkehr des lustvollen Urzustandes auf dem Wege
der passiven Reproduktion, d. h. der Schwangerschaft und Geburt des Kindes
befriedigen. 1 Freilich unterscheidet dann die Einsicht in den psychischen
Mechanismus die Analysandin durchaus von der Pubertätskandidatin bei
den Primitiven. In der Institution der Mädchen weihen verrät sich die aus
diesem Grunde niemals völlig geglückte Bewältigung des Geburts- und
Sexualproblems auch dadurch, daß der gleiche Zweck immer wieder mittels
verschiedener Riten angestrebt wird. Ich erinnere hier an die sexuellen
Operationen, an das Zahnausschlagen, Abschneiden der Haare u. a. Die
Abtrennung eines Teiles vom übrigen Körper hat natürlich neben der
sexual symbolischen auch eine geburts symbolische Bedeutung, die gleich¬
falls bei anderen Eigentümlichkeiten der Mädchenweihen nachzuweisen ist.
So wie in der Analyse die Patientin den Analytiker aber auch an Stelle
ihres väterlichen Ideals setzt und auf diese Weise ihre infantile Ödipus¬
libido wiedererlebt (teilweise sogar neuerlebt, allerdings nur unter der Be¬
dingung des bewußten Verzichtes auf ihre unangepaßte Realisierung), bietet
sich auch in den Pubertätsriten der Mädchen eine Vaterersatzfigur (Dämon,
Priester, Häuptling, älterer Mann) der Kandidatin dar, die an jenem Reprä¬
sentanten ihre infantilen Libidoansprüche zu befriedigen trachtet, bevor sie
die weitere Übertragung auf ihren zukünftigen Gatten zustande bringt. Ge¬
legentlich wird es sogar, wie wir bei den australischen Beispielen gesehen
haben, Vorkommen, daß die Ödipuslibido am eigentlichen Objekt, am wirk¬
lichen Vater affektiv ausgelebt wird.
Endlich mag daran erinnert werden, daß, ähnlich wie das Unbewußte
des Patienten in der Analyse die Heilung als Geburtsakt auffaßt, der Primi¬
tive die Beendigung des Mädchenexils häufig in rituelle Formen kleidet,
die von der Vorstellung der Wiedergeburt deutlich beeinflußt sind.
1) O. Rank: Das Trauma der Geburt. (Internationale Psychoanalytische Bibliothek,
Bd. XIV, S. 42, 1924.)
2^4 Winterstem: Die Pubertätsriten der Mädchen und ilire Spuren im Märcken
Es ist nun sicherlich kein Zufall, daß es gerade der Psychoanalyse Vor¬
behalten geblieben ist, den unbewußten Sinn der Pubertätsriten zu deuten
da diese einen der frühesten, allerdings auch mit unzureichendem Erfolg
unternommenen Versuche darstellen, Konflikte zwischen den Triebansprüchen
des einzelnen und den Forderungen der Gesellschaft im Sinne der Kultur¬
anpassung zu überwinden. In jenen Fällen, wo die Sündenbeichte einen
Bestandteil der Pubertätszeremonien bildet, das Schuldgefühl also schon
stärker geworden ist, nähern sich die Riten in ihrer psychischen Wirkung
am meisten der analytischen Behandlung: das uns bereits bekannte Märchen
vom Marienkind 1 zeigt diesen Sachverhalt gewissermaßen an, indem es einer¬
seits mit seiner Symbolik vielfach zu den Mädchenweihen zurückweist,
anderseits durch Betonung der im Geständnisse liegenden psychischen Ent¬
lastung die psychoanalytische Erkenntnis von der Bedeutung der Bewußt-
machung des Unbewußten vorwegnimmt.
0 S. 255 f. — Wenn die Königin auf dem brennenden Scheiterhaufen die Stimme
wieder erhält, so erinnert das an die Wirkung der Übertragung (erotische Glut) auf
das Auftauchen des verdrängten Materials.
Der Kannibalismus und seine Verdrängung im
alten Ägypten
Von
H. C. «Telgersma
Leiden
In den folgenden Seiten teile ich einiges über die Sitten und Gebräuche
im alten Ägypten mit, und zwar hauptsächlich über diejenigen Einzelheiten,
von welchen ich annehme, daß sie mit dem Kannibalismus, also mit einem
sehr primitiven Triebe in Verbindung stehen. Vorher möchte ich aus der
Literatur anführen, was uns über den Kannibalismus bei früheren und heute
noch lebenden Völkern bekannt ist.
Richard Andree hat über dieses Problem eine ausführliche Arbeit ver¬
öffentlicht. 1 Aus derselben erfahren wir, daß der Kannibalismus bei primi¬
tiven Völkern in Asien, Afrika, Amerika, den Südseeinseln und in Australien
heute noch vorkommt, und daß man allen Grund hat anzunehmen, daß
es in prähistorischen Zeiten auch in Europa Kannibalen gegeben hat. Dar¬
aus ergäbe sich, daß die jetzigen zivilisierten Europäer Abstämmlinge sind
von Völkern mit kannibalistischen Gebräuchen. Diese Auffassung findet eine
Bestätigung in prähistorischen Funden, die man in durch ganz Europa zer¬
streuten Grotten gemacht hat. Die ursprünglichen Bewohner des heutigen
Departements Arveyron in Südfrankreich schmückten sich mit Halsketten
aus durchbohrten Menschenzähnen, genau so, wie die jetzt noch lebenden
Kannibalen es tun. Man fand Überreste von menschlichen Skeletten, bei
welchen die langen Markknochen mit Messern aus Feuerstein geöffnet worden
sind. Man ist allgemein der Meinung, daß man hier Überreste kannibali-
1) Die Anthropophagie. Leipzig 1887.
2yS H. C. Jelgersma
scher Mahlzeiten vor sich hat. Edouard Piette 1 beschreibt die Funde i n
der Grotte Jourdan im Departement Haute -Garonne. Hier gab es viele
menschliche Schädel mit deutlichen Schneidespuren, die darauf hin wiesen,
daß die Schädelhaut mit einem Feuersteinmesser abgezogen und dann der
Schädel geöffnet worden war, um das Gehirn aufzuessen. Aus der Tatsache,
daß man dort nur Schädel und Halswirbel fand, zieht Piette den Schluß,
daß jene Bewohner Kopfjäger waren, welche die Häupter ihrer Feinde
skalpierten und das Gehirn verzehrten.
Wolleman 2 stieß bei dem Dorfe Holzen in Deutschland auf mensch¬
liche Knochen, die durch menschliche Hände geöffnet und über das Feuer
gehalten worden waren, wieder mit derselben Absicht, das Mark zu essen.
Kleinere Knochen ohne Mark blieben unerÖffnet. Wolleman deutete diese
Funde als Überreste eines kannibalischen Festes. Diese Auffassungen wurden
natürlich durch andere Forscher bestritten, welche meinten, daß diese Reste
doch nicht mit Sicherheit auf Kannibalismus schließen lassen.
Auch zur Zeit von Herodot finden wir Mitteilungen über Kannibalis¬
mus, hauptsächlich aus Rußland und Mittelasien. Wenn bei den Massa-
geten jemand ein hohes Alter erreicht hatte, wurde er von seinen Bluts¬
verwandten zusammen mit Schafen geopfert und verzehrt. Bei den Issedonen
wurden die Väter nach ihrem natürlichen Tode von den Söhnen gleichzeitig
mit dem Fleisch von Opfertieren aufgegessen. Aristoteles berichtet von
Ähnlichem. Strabo teilt mit, daß zu seiner Zeit die Bewohner von Irland
die Sitte hatten, die verstorbenen Väter bei einem Feste, bei welchen die
Söhne öffentlich mit Mutter und Schwester kohabitierten, aufzuessen. Von
Tertullian erfahren wir, daß auf heidnischen Festen Menschenblut ge¬
trunken wurde. In der Veröffentlichung von Pyper 3 findet man viele Tat¬
sachen über den Kannibalismus in Westeuropa, außerdem gibt er ein aus¬
führliches Literaturverzeichnis.
Meiner Meinung nach ist es berechtigt, wenn Andree einen Zusammen¬
hang findet zwischen den oben beschriebenen Tatsachen und den Über¬
resten, die der Kannibalismus im Aberglauben, Märchen und Legenden der
Jetztzeit zurückgelassen hat. Auch Andree faßt die Legenden und Folklore
auf als eine ungeschriebene Geschichte aus uralten Zeiten, welche durch
die Überlieferungen ein anderes Gepräge bekommen hat. Zahlreich sind die
Märchen von Hexen und wilden Jägern, welche Menschen auffressen. Dem
1) Bulletin de la Societe d’Anthropologie 1873, 497.
2) Verhandlungen der Berliner Anthropologischen Gesellschaft 1884, 88.
3) De Evangelieverkondiging aan de menscheneters van N. W. Europa 1917*
Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten
Menschenblut, das getrunken wurde, wurde allerlei Wunderkraft zugeschrieben.
In Deutschland herrschte in den unteren Volksklassen ein ähnlicher Aber¬
glaube. Bei verschiedenen polizeilich angezeigten Grabschändungen war der
Beweggrund, Menschenfleisch, vor allem Herz und Leber zu bekommen,
u m dieselben aufzuessen. In der Umgebung Berlins galt bei Räubern und
Dieben das Herz eines ungeborenen Kindes als Schutzmittel gegen Entdeckung.
Nach Andree kommen für das Essen von Menschenfleisch folgende
Motive in Betracht: Hungersnot wohl nur in sehr vereinzelten Fällen bei
Schiffbrüchigen, bei Feinden Haß- und Rachegefühle, der hauptsächlichste
Grund sei die aus der Magie entnommene Idee, daß man durch das Ver¬
zehren eines Menschen in den Besitz seiner geistigen Kräfte komme. Er
meint fernerhin, der Kannibalismus sei eine angeborene Eigenschaft der
primitiven Völker, er gehöre zu den Kinderkrankheiten der Menschheit,
welche allmählich von der Kultur überwunden werden.
Diese Veröffentlichungen Andrees stammen aus dem Jahre 1887, einer
Zeit, wo von psychoanalytischen Einflüssen noch nicht die Rede sein kann.
Im Jahre 1923 ist das Problem des Kannibalismus von Röheim 1 und auch
von Abraham 2 vom psychoanalytischen Standpunkt beleuchtet worden.
Röheim ist im wesentlichen derselben Meinung wie Andree, doch dringt
er viel tiefer in die psychologische Begründung ein. Nach seiner Meinung
ist die ursprünglichste Form des Kannibalismus das Verzehren des Ur-Vaters
durch seine Söhne, die sich dadurch seiner Kräfte bemächtigen wollten, um,
in einer Identifikation mit ihm, in eine inzestuöse Beziehung zur Mutter,
beziehungsweise zu den Müttern treten zu können. Andree hat das Inzest¬
motiv übersehen, obwohl er das oben erwähnte Beispiel Strabos erwähnt
hat. Röheim macht auf den Bruderstreit aufmerksam, der nach dem Tode
des Urvaters ausbrechen mußte. Diese Auffassungen Röheims decken sich
mit denjenigen Freuds. 3 Nach Freud fressen die primitiven Australier bei
festlichen Gelegenheiten aus denselben Motiven — Inzest und Identifikation
mit dem Ur-Vater — das Totemtier als Symbol für den Vater. Diese Dar¬
stellung der psychoanalytischen Erklärungen über den Kannibalismus dürfte
unserem Zweck, den Nachforschungen der Zustände im alten Ägypten,
genügen.
Andree betont mit Verwunderung, aber nachdrücklich, daß trotz der
großen Verbreitung des Kannibalismus, er im alten Ägypten gefehlt habe.
1) Nach dem Tode des Urvaters, Imago 1923, Bd. IX.
2) Entwicklungsgeschichte der Libido. Internationaler Psychoanalytischer Verlag.
5) Totem und Tabu. Ges. Schriften, Bd. X.
Ima oXIV.
19
2^8 H. C. Jelgersma
Das ist aber unrichtig. Auch in zusammenfassenden Veröffentlichungen über
Ägypten und seine alte Geschichte, sowie in dem modernen Werk von
Er man und Ranke 1 finden wir hierüber fast nichts verzeichnet. Einzig
Röheim gibt eine Deutung der Osirissage. Es handelt sich dabei nicht
um einen buchstäblichen Kannibalismus. Röheim kommt nur indirekt zu
der Erkenntnis, daß Osiris von seinem Sohn geschlachtet und aufgefressen
worden ist. Im folgenden will ich zeigen, daß in den Sitten und Gebräuchen
der alten Ägypter, in ihren Legenden, gottesdienstlichen Schriften und
Totenriten viel deutlichere Beweise einer kannibalistischen Vergangenheit
zu finden sind.
Zum guten Verständnis des hier folgenden ist es notwendig, daß man
die Sitten und Gebräuche der alten Ägypter einigermaßen kennt. Eine
moderne und nicht zu ausführliche Zusammenfassung findet man in Erman
und Ranke. 1 Ich muß eine Bemerkung einschalten über die Methoden,
nach welchen die Ägyptologen arbeiten. Die Überreste des alten Ägyptens
bestehen größtenteils aus den Grabstätten der Verstorbenen, worin man die
Leiche, die mitgegebenen Gebrauchsgegenstände, Bilder, Reliefs in den
Mauern und Hieroglyphenschriften findet. Wenn man sich einen Begriff
machen will über Sitten und Denkweise der alten Ägypter, versucht man
den Sinn dieser Gebräuche zu deuten. Dabei muß man im Auge behalten,
daß die Deutung der verborgenen Motive der aus den Funden erschlossenen
Handlungen auf Vermutungen angewiesen ist und der oft recht weitführen¬
den Spekulation nicht entraten kann. Je weiter man in der ägyptischen
Geschichte zurückgeht, desto weniger Überreste findet man und um so
schwieriger ist auch die Auslegung der Funde. Bisher war die einzige
Methode, die die Ägyptologen angewandt haben, die Deutung der meistens
sehr rätselhaften Inschriften, und gerade weil sie die einzige war, sind ihre
Resultate anfechtbar. Da sie das Suchen der hinter den gedeuteten Hand¬
lungen verborgenen Motive vernachlässigt haben, oder mit dem Material
nichts anzufangen wußten, ist es wünschenswert, daß die moderne Psycho¬
logie ihr Wissen in den Dienst der Ägyptologie stellt.
Zwei große Sammlungen von Sprüchen sind erhalten geblieben, die man
wahrscheinlich anläßlich der Beerdigung der Toten hersagte. Man hat sie
in den Gräbern aufgefunden, es sind dies die Pyramidentexte, die un¬
zweifelhaft die ältesten sind, und das Totenbuch. Die ersteren sind wahr¬
scheinlich zur Zeit der ersten Dynastie geschrieben worden. Sie geben uns
1) Ägypten und ägyptisches Leben im Altertum. 1923.
Der Kannibalismus und .eine Verdrängung im alten Ägypten_ 37 g
ein Bild von den Vorstellungen, die sich die Ägypter von dem Leben nach
dem Tode gemacht haben. Die Auffassungen darüber sind sehr verschieden
und sind nicht miteinander in Übereinstimmung zu bringen. Der glück¬
liche Tote ist einmal ein Vogel, der in den Himmel fliegt, dann wieder
ein Stern, der am Himmel funkelt. Man stellt sich vor, daß bei den
Ägyptern ein Vielgöttertum geherrscht hat; die Sterne waren die Götter,
Re der Sonnengott, und der Verstorbene hat sich in einen der Götter ver¬
wandelt. Bemerkenswert ist auch, daß der Tote sich mit verschiedenen
Göttern identifizieren konnte, darauf komme ich später zurück. Eigenartig
ist nun die folgende Phantasie über das Los des Toten. 1
Der Tote kommt in den Himmel als Sohn von Rd, dem Sonnengott.
Er erscheint als Sieger, die Götter schrecken aus dem Schlafe auf, „der
große Vogel, der Schakalsgott“. „Der Himmel regnet, die Sterne kämpfen,
die Bogenträger irren umher und die Knochen des Akeru zittern . . . wenn
sie ihn gesehen haben, wie er aufgeht und eine Seele hat als Gott, der
von seinen Vätern lebt und seine Mutter ißt . . . Seine Herrlichkeit ist am
Himmel, seine Kraft ist im Horizont, wie die des Akeru, seines Vaters,
der ihn erzeugte; er erzeugte ihn als einen, der stärker ist als er selbst
Er ist es, der Menschen ißt und von Göttern lebt. Der Scheitelfasser und
der Emi-Kehuu sind es, die sie für ihn fangen; der Prachtkopf hütet sie
für ihn und treibt sie ihm zu, der Heri-Terut fesselt sie ihm, der Läufer
mit allen Messern sticht sie ihm ab und nimmt ihren Bauch aus . . . Der
Schesmu zerlegt sie ihm und kocht davon in seinen Abendkesseln, er ist
es, der ihren Zauber ißt und ihre Verklärten verschluckt. Die großen von
ihnen sind seine Morgenspeise, die mittleren sind sein Abendbrot und die
kleinen von ihnen sind sein Nachtmahl. Die Greise und die Greisinnen
von ihnen kommen in seinen Ofen. Der Große im Himmel wirft Feuer
m die Kessel, die die Schenkel ihrer Ältesten enthalten. Die Himmels¬
bewohner sind sein eigen und was er scheißt, sind Kessel mit den Beinen
ihrer Weiber ... Er verzehrt ihre satten Gedärme und genießt damit Sätti-
gung; er ißt ihre Herzen und ihre Kronen und gewinnt damit deren Kräfte,
so daß ihr Zauber in seinem Leibe ist; er verschluckt den Verstand iedes
Gottes . u
Wir müssen bedenken, daß ein Volk sich das Jenseits stets als eine Art
Idealzustand vorstellt. Daraus schließen wir, daß diese Phantasie, der Tote
zieht als Gott in den Himmel ein, erschlägt dort die anderen Götter
1) Er man: Die ägyptische Religion. 1893.
19*
H. C. Jelgersma
280
und verzehrt sie, für die Ägypter einen wünschenswerten und seligen Zu¬
stand bedeutete. Es besteht eine große Ähnlichkeit zwischen den Pyramiden¬
texten und den Angaben von Andree, Freud und Röheim. Es bestätigt
sich die Anschauung, daß das Motiv des Kannibalismus auch in diesem Falle
darin besteht, auf dem Wege der Introjektion und Identifikation in den Besitz
der geistigen und körperlichen Kräfte der anderen Götter zu gelangen.
Obwohl Re, der Sonnengott, von dem verstorbenen Sohn nicht auf¬
gefressen wird, ist in der Phantasie die Vorstellung enthalten, daß der Sohn
mächtiger ist als sein Vater und von diesem auch als ein mächtigeres Wesen
anerkannt wird. „Rö läßt nicht zu, daß er sich zu Roden werfe, denn er
weiß ja, daß er größer ist als er . . . er weiß, daß dieser unvergängliche
Verklärte sein Sohn ist und sendet göttliche Boten aus, um den Himmels¬
bewohnern zu melden, daß ein neuer Herrscher für sie erschienen ist. Er
kommt, ein vernichtungsloser Verklärter! Wenn er will, daß ihr sterbet,
so sterbet ihr; wenn er will, daß ihr lebet, so lebet ihr.
Damit ist natürlich nicht bewiesen, daß die Ägypter, welche diese
Pyramidentexte niederschrieben, tatsächlich Kannibalen waren, obwohl es
nicht ausgeschlossen ist. Wks wir aber mit Sicherheit sagen können, ist,
daß das Volk kannibalische Wünsche hatte und über das Jenseits Phantasien
hegte, die als Idealzustand kannibalische Feste zum Inhalt hatten. Der Kanni¬
balismus stand ihnen also ziemlich nahe, und ihre Ahnen waren sicherlich
Kannibalen. Wann diese gelebt haben und ob sie auf ägyptischem Boden
gewohnt haben, muß dahingestellt bleiben.
Wenden wir uns nun den religiösen Begriffen in Ägypten zu, die viel
jüngeren Datums als die obengenannten Pyramidentexte, und zwar jenen,
die im Totenbuch verzeichnet sind. Letzteres ist eine zweite Quelle für die
Kenntnisse des ägyptischen Gottesdienstes, und ist viele Jahrhunderte nach
den Pyramidentexten niedergeschrieben worden. Es enthält eine heterogene
Sammlung von Erzählungen und Anschauungen über die ägyptische Mytho
logie; sehr alte Legenden wechseln mit jüngeren ab. Es hält schwer, ihr
Alter genau festzustellen, auch ist die Übersetzung mancher sehr schwierig
und noch nicht in allen Fällen gelungen. Das 125. Kapitel ist sehr inter¬
essant, dort wird mitgeteilt, was im Jenseits mit dem Toten geschieht.
Der Tote erscheint vor Osiris; er ist aus dem Lande Ägypten gekommen
und muß, bevor er zu den Glückseligen zugelassen wird, seine Unschuld
beweisen. Neben Osiris sitzen zweiundvierzig Dämonen; jeder von ihnen
stellt die Personifikation einer speziellen Sünde dar, von der er seinen
Namen herleitet. Bevor der Tote zu Osiris gelangt, geht er die zweiund
Der Kannibalismus und seine Verdrangung im alten Ägypten 281
vierzig Dämonen entlang und beteuert jedem, daß er an seiner speziellen
Sünde unschuldig sei. Vom Standpunkt der Symbolik aus ist es interessant,
daß er vor einem Teufel, der den Namen „doppelte Schlange“ trägt, schwört,
keinen Ehebruch verübt zu haben. Für uns ist es wichtig, daß einige Dämonen
als Personifikation kannibalistischer Sünden Namen tragen, wie Blutfresser,
Schattenfresser, Knochenbrecher, Gedärmefresser und Weißzahn. Der Tote
würde daher vor diesen Dämonen schwören müssen, daß er diese Sünden
nicht begangen habe. Eigentümlich ist es, daß im Totenbuch gerade diese
Stellen nicht deutlich sind, und der Eid des Toten nicht ganz auf den Namen
des betreffenden Teufels paßt. Wir können aber mit Sicherheit annehmen,
daß ursprünglich auch bei diesen Teufeln Namen und Unschuldsbeteuerungen
zusammengepaßt haben, und daß z. B. der Tote dem Gedärmefresser gegen¬
über erklärt hat, nie Gedärme gefressen zu haben. In den Pyramidentexten
sind diese Sünden als kannibalistische Handlungen beschrieben worden.
Im Totenbuch wird der Kannibalismus als schwere Sünde dargestellt, in
den Pyramidentexten noch als ein glückseliges Fest; das ist ein schönes Bei¬
spiel von der Verdrängung einer mächtigen Triebregung durch ein ganzes
Volk.
Zum besseren Verständnis mancher Details wollen wir die Osirissage
kurz mitteilen. Der Erdgott Geb und die Himmelsgöttin Nut hatten vier
Kinder, die Götter Osiris und Seth und die Göttinnen Isis und Nephthys.
Osiris vermählte sich mit Isis und Seth mit Nephthys. Osiris bekam die Herr¬
schaft über die Erde, Seth wurde eifersüchtig und lockte durch eine List
Osiris in eine Kiste, die er zunagelte und in den See warf. Isis flüchtete
ins Moor vom Delta, wo sie einen Sohn, Horus, gebar. Später fand Seth
die Kiste mit Osiris wieder, er hackte die Leiche in vierzehn Stücke und
zerstreute sie. Um seinen Vater zu rächen, suchte Horus Seth auf, geriet
mit ihm in Streit, wobei Horus ein Auge verlor und Seth ebenfalls schwer
verwundet wurde. Nachdem Horus die Stücke des Osiris gesammelt und ihn
gerächt hatte, erwachte dieser zu neuem Leben. An dieser Stelle muß ich
darauf aufmerksam machen, daß es von der Osirissage verschiedene, nicht mit¬
einander übereinstimmende Versionen gibt. Einer anderen Fassung zufolge
sind Seth und Horus Brüder, und beide Söhne von Osiris. Seth ist der böse
Sohn, der seinen Vater schlachtet, und Horus der gute, der ihn rächt und
ihm dadurch wieder Leben gibt. Horus regiert nachher auf der Erde, und
Osiris ist König der Ewigkeit im Reiche der Toten. Diese Osirissage hat Jung 1
1) Jahrbuch der Psychoanalyse. Bd. III und IV.
schon gedeutet, später auch Röheim. 1 Während Jung hierin hauptsächlich
eine Wiedergeburt mit einer vorhergehenden Rückkehr in den Mutterleib
(die Kiste) sieht, weist Röheim darauf hin, daß wir hier, in Gedicht¬
form erzählt, die Geschichte eines Vaters vor uns haben, der durch seinen
Sohn, der die väterliche Macht* an sich reißen will, geschlachtet (und auf¬
gefressen) und durch seinen anderen Sohn gerächt und zu neuem Leben
erweckt wird. Röheim erkennt hierin den alten Gebrauch vom Schlachten
und Verzehren des Urvaters durch seine jüngeren Verwandten.
Es muß bemerkt werden, daß Osiris in der Sage nicht durch Seth auf¬
gegessen, sondern bloß geschlachtet wird. Röheim sieht in der Tatsache
daß Seth das Genitale von Osiris in den Nil geworfen hat, wo es von den
drei Fischen Lepidotos, Phagros und Oxyrhyngos, die die Ägypter sehr
verabscheuten, verzehrt wurde, eine Andeutung, daß Osiris als aufgegessen
gedacht werden muß. Es ist deutlich, daß auch das Inzestmotiv in dieser
Sage eine Rolle spielt. Sowohl Osiris als Seth haben ihre Schwestern ge¬
heiratet. Das war eine allgemeine Sitte im alten Ägypten. Nach der Ermor¬
dung von Osiris machte Seth auch den Versuch, sich nicht nur seiner
Herrschaft, sondern auch seiner Frau, Isis, zu bemächtigen; daher die über¬
eilte Flucht von Isis. Seth wird von zwei heiligen Tieren begleitet. Das
eine ist ein Nilpferd; von dem erzählt uns Plutarch, daß es seinen Vater
tötet, um mit seiner Mutter kohabitieren zu können. Das andere ist ein
schakalartiges Tier (der Schakal äst auf Leichen), das möglicherweise die
kannibalistischen Wünsche Seths zum Ausdruck bringen soll. Diese Deutung
der Osirissage ist in Übereinstimmung mit den Deutungen, die wir über
den Kannibalismus in den Pyramidentexten und im Totenbuch gegeben haben.
Doch haben wir Gelegenheit, in der Osirissage sich noch einen anderen
Prozeß entwickeln zu sehen. Zuerst wird uns erzählt von Bruder- und
Sohneshaß, von Mordgedanken und kannibalistischen Antrieben, dann sehen
wir den liebenden Sohn in den Vordergrund treten, der den getöteten Vater
wieder zum Leben erweckt. An Stelle des Kannibalismus tritt das Aufsuchen
und Zusammenfügen der zerstreuten Körperteile, und diese Entwicklung
führt schließlich zum Brauch der Mumifikation. Während in den Pyra¬
midentexten kannibalistische Handlungen Geltung haben, sind sie im Toten¬
buch bereits verpönt. Zu der Zeit war es als Reaktion auf den Kannibalismus
Sitte, die Leichen zu mumifizieren; ein aufs äußerste getriebener Versuch,
die Leichen nicht verwesen und nicht durch Würmer auffressen zu lassen.
1) Nach dem Tode des Urvaters. Imago IX, 1925.
Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten a 83
Kehren wir zur Osirissage zurück. Osiris war ursprünglich ein Gott, der
nur örtlich verehrt wurde. Im Laufe der Jahre gewann die Sage an Volks¬
tümlichkeit und wurde schließlich die bedeutendste in ganz Ägypten. Osiris
wird verehrt als Totengott, der als König der Ewigkeit im Totenreich
regiert. Er rückt an die Stelle des früheren Totengottes Anubis. Besonders
interessant ist es, daß dieser mit dem Kopf eines Schakals, also eines leichen¬
fressenden Tieres, abgebildet wird. Ich erinnere nochmals an die Pyramiden¬
texte, in welchen der Verklärte, der im Himmel seine kannibalistische
Festmahlzeit halten soll, als „Schakalgott“ angekündigt wird. Beim Ritus des
Mumifizierens und Begrabens spielt Anubis als Priester mit einer Schakal¬
maske ebenfalls eine große Rolle. Darauf komme ich später noch zurück.
Der Einfluß der Osirissage ging aber noch weiter. Erst war Osiris König
von Ägypten, später wurde es sein Sohn Horus und Osiris wurde König
der Unterwelt. Jeder ägyptische König wiederholte die Laufbahn des Osiris,
d. h. er identifizierte sich mit ihm. Später teilten die vornehmsten Männer
dieses Los; noch später wurden alle Toten zum Osiris, sogar die Frauen;
es trat also eine immer weiter durchgeführte Demokratisierung vom Jenseits
ein. Daß aber ursprünglich nur der verstorbene König als Osiris verehrt
wurde, steht im Zusammenhang mit dem alten Brauch, daß die Opfergaben
für sämtliche Tote im Namen des lebenden Königs dargebracht wurden.
Der Begräbnisritus der Ägypter hat sich im Laufe der Zeiten geändert.
Allgemein bekannt ist der Brauch der Mumifizierung; weniger bekannt ist
aber, daß er erst in späterer Zeit aufgetreten ist. In den älteren Gräbern
findet man nur Skelette, die einfach bestattet worden sind. Wie häufig bei
primitiven Völkern, sind die Leichen in kauernde Haltung gebracht worden,
es wurden ihnen Waffen und Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens
mitgegeben. Manchmal wurde der Körper in einem großen irdenen Topf
begraben, der mit einem Uterus verglichen werden kann. Die Sitte des
Mumifizierens kam erst später auf. Ihre Entstehung als Reaktionsbildung
auf die Unterdrückung kannibalistischer Antriebe habe ich bereits ange¬
deutet. In diesem Zusammenhänge wäre es freilich von besonderem Interesse,
zu erfahren, ob in Ägypten jemals Überreste gefunden worden sind, die auf
einen tatsächlichen Kannibalismus schließen lassen. Ein englischer Forscher,
Flinders Petrie, 1 beschrieb die Funde primitiver Gräber, in welchen die
Lage der Gebeine darauf schließen läßt, daß der Körper vor dem Begraben
in Stücke gehauen war. Dieser Autor kommt zu der Auffassung, daß die
1) Flinders Petrie und Quibell. London 1896.
284 H. C. Jelgersma
damaligen Ägypter Menschenfresser waren. Georg Ebers 1 trat dieser An¬
sicht mit der Begründung entgegen, daß ein so hochgebildetes Volk doch
niemals Menschenfresser hätte sein können. Er bestritt nicht die Tatsache
daß die Leichen in diesen Gräbern in Stücke geschnitten waren, er deutete
sie jedoch als eine Nachahmung der Vorgänge in der Osirissage, als eine
noch weitergehende Identifizierung mit Osiris. Ich meine aber, daß das
Zerstückeln der Leiche in der Osirissage bereits eine vorbereitende Handlung
zum Kannibalismus darstellt. Die beiden Ansichten brauchen sich also nicht
zu widersprechen. In psychologischer Hinsicht kommt es schließlich weniger
darauf an, ob die Ägypter tatsächlich Kannibalen waren oder ob ihre
kannibalistischen Antriebe sich nur in Wunschvorstellungen und in der
Symbolik geäußert haben.
Die Begräbniszeremonien der Zeit, in der der Brauch der Mumifikation
geherrscht hatte, sind kurz geschildert folgende: Der Leichnam wurde
durch einen sehr komplizierten Prozeß mumifiziert. Dabei wurde viel Salz
verwendet. Vorher mußte Brust- und Bauchhöhle geöffnet werden, das
Verfahren war also ein Kompromiß zwischen Destruktion und Konservation
der Leiche. Zur Zeit des neuen Reiches wurden manche der inneren Or¬
gane einzeln ins Grab gelegt, sie wurden in den sogenannten kanopischen
Eingeweidekrügen verwahrt. Die Krüge waren mit den Bildnissen der vier
Horuskinder verziert, eines der Kinder ist mit dem Anubiskopf abgebildet.
Hierauf wurde die Mumie in einen ebenfalls verzierten Sarg gelegt und
unter vielerlei Zeremonien zum Grab gebracht. Es wurde genau nach dem
Vorbild der Bestattung von Osiris verfahren. Die Mumie wurde während
des Abschiednehmens der Familie von einem Priester mit Schakalsmaske
gehalten. Eine solche Maske ist im Pelizaeumsmuseum zu Hildesheim er¬
halten. Auch diese Zeremonie ist eine Nachahmung des Begräbnisses von
Osiris; seine Mumie wurde durch Anubis festgehalten. Es verdient erwähnt
zu werden, daß das Amt des Mumifizierens einer bestimmten Gruppe
Menschen oblag, die dafür verachtet und gleichzeitig mit scheuer Ehrfurcht
behandelt wurden, dies ganz im Sinne der ursprünglichen Ambivalenz, die
wir bei den Äußerungen archaischer Triebregungen anzutreffen gewohnt sind.
Nach seinem Tode kommt der Verstorbene in die Unterwelt. Dort muß
er, bevor er sich zu den Verklärten zählen darf, beteuern, von allen Sünden
frei zu sein. Ich habe die Szene mit Osiris als Totenrichter und den zwei-
undvierzig Dämonen, die je eine Sünde personifizieren, schon teilweise
1) Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde. Bd. 56, 1898.
Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten
a85
beschrieben. Ein jeder von ihnen hält ein Messer in der Hand. Ich habe
schon früher erwähnt, daß auch Vertreter kannibalistischer Sünden unter
ihnen sind. Dann folgt eine recht sinnreiche Szene. Das Herz des Toten
wird auf einer Wage, die vor Osiris aufgestellt ist, gewogen, und Anubis
mit dem Schakalskopf kontrolliert das Gewicht. Ist das Herz ohne Sünde,
so geht Thot, der Schreiber unter den Göttern, daran, das freisprechende
Urteil aufzuzeichnen. Nun wird der Tote infolge seiner Identifizierung mit
Osiris selber Osiris. Auch von seinen Verwandten wird er unter Hinzu¬
fügung seines früheren Namens so genannt. Kann ein Toter infolge seiner
Sünden nicht zu den Verklärten gehören, so wird er verbrannt oder durch
ein Tier, das vor Osiris sitzt, aufgefressen. Die Lesungen gehen hier aus¬
einander.
Es war Sitte, daß man an bestimmten Festtagen am Grabe des Toten
ein Tier — meistens war es ein Stier oder eine große Antilope — opferte.
Auch dieses Tier mußte auf zeremonielle Weise geschlachtet werden. Man
bediente sich dabei eines Messers aus Feuerstein. Dieser Brauch scheint
darauf hinzuweisen, daß man das Schlachten des Opfertieres bis auf die
Steinzeit, die auch in Ägypten das prähistorische Zeitalter ist, zurückver¬
folgen kann. Am Schlüsse dieser Feierlichkeit wurde das Fleisch des Opfer¬
tieres durch die Leidtragenden verzehrt. Am Begräbnisse wurde ebenfalls
ein Stier geschlachtet und sein Fleisch anscheinend durch die Angehörigen
des Toten aufgegessen. Man hat den Toten mit dem Opfertier identifiziert,
das Aufessen des geschlachteten Tieres galt als symbolisches Aufessen des
Verstorbenen. Diese ganze Feierlichkeit erinnert an die Gebräuche primitiver
Völker, wie sie Freud in „Totem und Tabu“ beschrieben und analysiert
hat. Er man erwähnt, ohne weitere Betrachtungen daran zu knüpfen, daß
in der ältesten Zeit das Brotbacken und Bierbrauen am Begräbnistage eine
große Rolle spielte. Wir sehen auch hier einen Zusammenhang mit den
Gebräuchen der primitiven Völker, Brot und Bier wurden zum Begräbnis¬
mahl benötigt.
Eigentümlich erscheint uns die ägyptische Sitte, die Leiche völlig zu
isolieren. Die Beisetzung der Mumie erfolgte in einem Raum, der nur
durch einen Schacht erreicht werden konnte. Nach der Bestattung wurde
der Schacht zugeworfen und der Eingang unkenntlich gemacht. Bei den
älteren Königsgräbern gab es zahlreiche Einrichtungen, die nur dazu dienten,
die Grabräuber auf eine falsche Fährte zu locken. So ist eine der Pyramiden
wahrscheinlich nur der Grabrauber wegen gebaut worden; der alte Pharao
Snefroe liegt in einem schlau verborgenen Grabschacht in der Nähe. Die
Sitte, die Toten zu verbergen, kennen wir von alters her in Ägypten; ihre
Motive sind uns aber noch nicht klar geworden. Die Ägyptologen sind der
Ansicht, daß das Sichern der Kostbarkeiten, die man dem Toten mit ins
Grab gab und die den Grabschändern eine erwünschte Beute waren, diesen
Brauch erklärt. Der Grabraub ist eine klassische ägyptische Missetat. In den
Schriftstücken, die von ägyptischen Verbrechen erzählen, ist größtenteils
von Grabschändungen die Rede. Wir lesen z. B. die ausführliche Beschrei¬
bung eines großen Skandals, bei dem ausgedehnte Schändungen ans Licht
kamen. Die Tatsache, daß man einerseits die Leichen sorgsam zu verbergen
trachtete und anderseits so starke Neigungen zu Grabschändungen vorhanden
waren, gibt uns zu denken und scheint auf tiefere Motive als das Rauben
von Kostbarkeiten hinzuweisen. Wir wissen von dem früheren feindseligen
Benehmen dem Toten gegenüber, und glauben hier die Furcht vor eigenen
Gewalttätigkeiten zu sehen. Der Ägypter, der seinen Toten mumifiziert,
ist in der Beherrschung seiner destruktiven Neigungen und kannibalisti-
schen Antriebe noch nicht ganz sicher, darum versteckt er den Toten an
einem unauffindbaren Platz. Es handelt sich also wiederum um eine Reaktions¬
bildung, eine Sicherung, die die Feindschaft dem Toten gegenüber deutlich
genug erkennen läßt. In der ganzen ägyptischen Geschichte sehen wir, daß
gerade die Könige mit Feindschaft bedroht wurden. So manchmal fand die
Regierung eines Fürsten ein gewaltsames Ende, der Geschichte zufolge
waren es seine nächsten Blutsverwandten, die ihm nach dem Leben trach¬
teten und die sich seiner Herrschaft bemächtigen wollten. Der ägyptische
Hof war voll von Verrätern, die den König zu Fall bringen wollten.
Röheim beschreibt, wie bei den primitiven Völkern ständig gegen den
Herrscher konspiriert wird und sich Bruderkriege an seinen Tod anschließen.
Diese Verhältnisse stimmen auch für Ägypten.
Jedem Ägypter ist die Furcht vor Feindseligkeiten gegen seine Leiche
wie angeboren. Deshalb die Heimlichkeiten um den Begräbnisplatz. Diese
Furcht ist aber nur die Kehrseite desselben Antriebes, die ihn die Gräber
schänden ließ. Es besteht meiner Auffassung nach kein großer Unterschied
zwischen Grabschändung und Kannibalismus, sie haben ihre Wurzeln beide
in derselben psychischen Konstellation.
Im Zusammenhang mit dem Vorhergehenden sei die nachstehende Zere¬
monie angeführt: Bei dem Fest der Thronbesteigung eines neuen Fürsten
war die Redewendung gebräuchlich: „Das Recht hat das Unrecht vertrieben.“
Unter Unrecht ist allem Anschein nach der verstorbene Herrscher zu ver¬
stehen. Daß der neue Herrscher daraufhin ein Reinigungsbad nimmt, weist
Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten
287
auf das Abwaschen von Sünden hin, d. h. von Mordgedanken hinsichtlich
des toten Herrschers. Bei den heute lebenden primitiven Völkern stößt man
auf ähnliche Gebräuche.
Es ist noch zu erwähnen, welche Haltung die Ägypter im Laufe der
Jahrhunderte der Figur von Seth, dem Mörder des Osiris, gegenüber ent¬
nahmen. Seth ist der einen Lesung zufolge der Bruder, der anderen Lesung
zufolge der Sohn des Osiris. Er ist die Personifikation der destruktiven
Antriebe gegen Osiris, wohingegen Horus den braven, liebenden Sohn
verkörpert. Es befremdet uns, daß Seth trotz seiner Missetaten im alten
und im mittleren Beich als Gott verehrt wurde. Der Ägypter des alten
Reiches, der, wie aus den oben entwickelten Betrachtungen ersichtlich,
kannibalistischen Antrieben näherstand, konnte Seth nicht hassen und ver¬
achten, er gewährte ihm ruhig einen Platz unter den Göttern. Es fällt auf,
daß sich in der Spätzeit die Stellung Seths verändert hat. Sein Name und
sein Bildnis werden aus den Tempeln entfernt, er wird gehaßt und wird
Teufel und Feind aller Götter genannt.
Erman gibt folgende Beschreibung von dieser Veränderung: „Seth, den
Mörder des Osiris, ereilt jetzt (in der Spätzeit) seine Strafe. Jahrtausende
hindurch hat man es ruhig hingenommen, daß Seth den Osiris ermordet
und ungerecht verklagt hat und hat ihn trotzdem weiter unter den Göttern
geführt. Aber der böse Ruf, den die Göttersage an ihn geheftet hatte, machte
sich doch fühlbar, und als König Sethos sich sein großes Felsengrab erbaute,
da galt es schon nicht mehr passend, in diesen Räumen, wo der Totengott
Osiris herrschte, den Namen seines Mörders zu nennen; der König mußte
es sich daher gefallen lassen, in seinem eigenen Grabe nicht Sethos, der
Sethische, sondern der Osirische zu heißen. Nicht lange und der volkstüm¬
liche Abscheu gegen den Seth führte schon so weit, daß wer seinen Namen
schrieb, ihn auch selbst wieder auswischte. Schließlich tilgte man sogar
sein Bild und seinen Namen aus dem Relief der Tempel aus, denn der
alte Gott war zum Teufel geworden, dem Feind aller Götter; er hatte die
Rolle übernommen, die sonst der Gewitterdrache Apophis gespielt hätte.“
Wir sehen an diesem Beispiel, wie sich bei einem Volksganzen die sekuläre
Verdrängung abspielt.
Eine andere Seite des primitiven menschlichen Trieblebens, die der
inzestuösen Triebregungen, kommt bei den Ägytern ebenfalls deutlich zum
Ausdruck. Die alten Ägypter waren polygam und hielten einen Harem.
Eine der Frauen war in der Regel die Bevorzugteste; es war die Schwester.
Die Schwester war die angewiesene und natürliche Gemahlin des Bruders.
a88
H. C. Jelgersma
Die ägyptischen Könige waren mit ihren Schwestern verheiratet, so war es
auch bei den Göttern Osiris und Seth.
Während der ganzen Zeit vor Christi Geburt bestand die Sitte der
Schwesternehe. Aus der allerältesten Zeit bestehen Andeutungen, daß auch
die Ehe zwischen Vater und Tochter erlaubt war. Snefroe war höchstwahr¬
scheinlich mit seiner Tochter verheiratet. Ein alter Titel von Osiris war.*
„Stier seiner Mutter.“ Heute noch besteht in Ägypten die Sitte, daß man,
wenn möglich, immer seine Nichte heiratet. Wir sehen im Laufe der Jahr¬
hunderte eine fortschreitende Verschiebung der inzestuösen Objektwahl, ent¬
sprechend der Verdrängung der inzestuösen Neigungen. Man findet im alten
Ägypten auch dafür Beispiele, daß sich ein Herrscher dem Inzestgebot ent¬
zog. So hatte z. B. Amenhotep III. aus dem neuen Reich sich eine Gattin
aus einem ganz anderen Volke gewählt. Das waren aber Ausnahmen.
Die Psychoanalyse hat uns gelehrt, wie die Streitigkeiten zwischen Vater
und Sohn, König und Kronprinz mit dem Inzestproblem Zusammenhängen.
Es ist nicht verwunderlich, daß der Streit zwischen König und Kronprinz
die schärfsten Formen annahm, trat doch der Inzestkomplex so deutlich in
den Vordergrund. Trotzdem zur Zeit der Mumifikation die Verehrung des
Vaters die Oberhand über die feindlichen Regungen gewonnen hatte, blieb
der ambivalente Charakter der Vatereinstellung noch ziemlich lange erhalten.
Ein anderer Brauch stand im Zusammenhang mit diesen Familienstreitig¬
keiten. In der ersten Dynastie war es Sitte, daß die Gemahlin des ver¬
storbenen Königs ihm in den Tod folgte, wie Erman behauptet, freiwillig.
Noch heute finden wir Ähnliches in anderen Ländern. Daß eine Frau so
etwas ganz freiwillig und aus eigenem Antrieb tun würde, ist meiner
Ansicht nach unglaubwürdig. Es muß vielmehr an zwingende Vorschriften
gedacht werden. Ich glaube, daß der König seinen Erben und männlichen
Nachkommen den Besitz seiner Gemahlin nach seinem Tode nicht gönnte,
und sie darum mit ins Jenseits nehmen wollte.
Wo immer die Psychoanalyse den tieferen Gründen des Kannibalismus
nachging, stieß sie als eines der Motive auf das Inzestproblem. Da der
Inzest in Ägypten eine feststehende Tatsache war, wundern wir uns nicht
über die ambivalente Einstellung zum Vater und nicht über den Kanniba¬
lismus, dem wir in Form von Symbolen oder in durchsichtiger Verdrängung
begegnen. Inzest und Kannibalismus wurzeln in demselben Boden. Der
Kannibalismus fällt der Verdrängung viel schneller anheim als der Inzest;
dieser wurde noch ausgeübt, als von ersterem nur noch Spuren anzutreffen
waren.
Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten
289
In den religiösen Auffassungen der Ägypter stoßen wir auf Gebräuche,
di e für alle primitiven Völker charakteristisch sind. So fehlt auch nicht
die Verehrung von verschiedenen heiligen Tieren. Dieser Kult muß seinen
Höhepunkt erreicht haben in der Zeit, als Herodot Ägypten bereiste. Stiere,
Kühe, Böcke, Hunde, Katzen, Nilpferde, Krokodile, Ratten, Mäuse, Ibisse,
Falken und andere Tiere mehr wurden als heilig verehrt und nach ihrem
Tode mumifiziert. Den heiligen Stier kennen wir aus den Gottesdiensten
aus älteren Zeiten, und wie ich bereits erwähnt habe, brauchte man ihn
vorzugsweise als Opfertier bei Bestattungen. Es ist begreiflich, wenn er, als
Symbol ungezähmter Sexualität, zur Darstellung des ägyptischen Königs
verwendet wurde.
Ich habe schon berichtet, daß das Nilpferd des Inzestes und des Vater-
mordes beschuldigt wurde; das Krokodil war ein berüchtigter Menschenfresser.
Tiere mit diesen Eigenschaften sind durch die primitiven Völker tabuiert
worden. Das Krokodil hat man allem Anschein nach in Ägypten nicht ge¬
jagt, wohl aber das Nilpferd, doch wurden beide Tiere mit großer Ehrfurcht
behandelt. Der Glaube an Zauberei war in Ägypten sehr verbreitet und
spricht ebenfalls für eine primitive Denkweise dieses Volkes. Was wir über
Heilkunde und Arzneilehre bei den Ägyptern wissen, grenzt für moderne
Begriffe ans Unglaubliche. Die Magie spielte eine so große Rolle bei ihnen,
wie sie es bei heute lebenden primitiven Völkern noch tut. Den Namen
einer verhaßten Person pflegten die Ägypter aus den Grabsteinen auszu¬
meißeln, sie meinten damit seine Person zu treffen. Solche ausgemeißelte
Stellen findet man zahlreich, ein Beweis dafür, daß feindliche Gesinnungen
dem Toten gegenüber nicht selten waren. Oftmals wurde, es scheint aus
denselben Gründen, der Mumie vor dem Begräbnis der Kopf abgeschnitten.
In dem Vorhergehenden habe ich gezeigt, daß der Ägypter Denkweise
und Handeln primitiv waren. Ich verkenne selbstverständlich nicht die hohe
Bildungsstufe, die sie erreicht hatten. Jahrtausende vor Christi Geburt hatte
die Kunst in Ägypten eine solche Blüte erreicht, die uns heute noch staunen
läßt. Kunstwerke zu werten ist schwer, doch stimmen viele Kritiker darin
überein, daß die ägyptische Bildhauerkunst nie übertroffen worden ist, weder
von Griechenland noch von Rom. Wer die Reliefs aus dem alten Reich
betrachtet, ist voll tiefer Bewunderung vor der Meisterhand, die solches
schuf und vor dem Volke, das solche Künstler hervor brachte. Auch die
Produkte der Mal- und Baukunst zeugen davon; insbesondere in der Mal¬
kunst waren sie zu einer hohen Entwicklung der Technik gelangt. Die
Farben, die sie verwandten, haben ihre Glut im Laufe der Zeiten behalten.
Daß nach unseren Begriffen die Form ihrer Kunst eigenartig ist, daß die
Konvention eine alles beherrschende Rolle spielte und die Abbildungen von
Menschen und Tieren nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen, ist nicht
so sehr eine Folge technischer Unvollkommenheit, als wohl der Ausdruck
davon, daß die Physioplastik weit hinter dem ideoplastischen Faktor zurück»
stand; daß der Ägypter weniger malte und meißelte, was er sah, als das
was er dachte. Einzelne Charakterzüge der ägyptischen Kunst, unter anderem
das Fehlen der Perspektive, und die Tendenz, Dinge, die nebeneinander
gehören, übereinander zu stellen, wirken primitiv auf uns. Als Beweis der
hohen Bildung der Ägypter führe ich die Organisation ihres Staates an,
ihre vortreffliche Armee, die sie vor dem Eindringen der Nachbarvölker
schützte und die ihnen in verschiedenen Perioden zum Siege verhalf.
Sie kannten auch die Sklaverei, hatten einen ausgesprochenen Kastengeist,
die Ämter waren erblich, überhaupt zeigten sie sich urkonservativ in allen
Dingen. Solange man die Hieroglyphen nicht entziffern konnte, erwartete
man auch von der Wissenschaft Großes, man nahm an, daß die tiefsinnigsten
philosophischen Probleme erörtert worden seien und daß die Schriftzeichen
tiefe mystische Weisheiten verborgen hielten. Doch kann man seit einigen
Jahrzehnten die Hieroglyphenschrift lesen und man weiß nun, daß ihre
Wissenschaft eine unklare war und größtenteils aus Zauberei bestand.
Die Religion war ein Vielgöttertum, mit dem Sonnengott als Bedeutend¬
sten unter ihnen. Der Sonnengott war eine Vaterfigur. Die Könige waren
sowohl Staatsmänner als auch Götter, galten sie doch als Söhne des Sonnen¬
gottes. Vaterhaß und Vaterverehrung sind kennzeichnende Charaktereigen¬
tümlichkeiten. Der Gottesdienst ist im Lauf der Jahrhunderte in seinen
Formen und in seiner Symbolik erstarrt. Der religiöse Konservativismus ist
wirklich auffallend, nur einmal ist er durchbrochen worden. Es trat eine
kulturelle Strömung auf, die mit der Vielgötterei und den alten Formen
brechen wollte, ja selbst mit der Vielweiberei und der starren Kunstform.
Es war Echnaton, der diese Reform durchführen wollte. Abraham 1 hat
sie analysiert als einen Aufstand Echnatons gegen die väterliche Macht. Nach
dem Tode des aufgeklärten Herrschers verschwanden all seine Errungen¬
schaften wieder, man kehrte zu den alten Gewohnheiten zurück, die alte
Kultur wurde fester denn je im ägyptischen Boden verwurzelt. In der Spät¬
zeit kam es zu einer Bewegung, die strengste Rückkehr zu der Kultur
des alten Reiches forderte, doch ging man dann einem schnellen Ende der
1) Amenhotep IV (Echnaton). Imago, Bd. I, 1912.
O er Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten
391
Blütezeit entgegen. Nur die chinesische und die japanische Kultur vermögen
einen solchen Konservativismus aufzuweisen, wie wir ihn in der ägyptischen
Kulturgeschichte vorfinden. Darum wundert es uns nicht, daß man noch
in historischen Zeiten auf Niederschläge primitiver Antriebe und Gewohn¬
heiten stößt. Erman und Ranke sagen mit Recht, daß der alte Ägypter
den primitiven Völkern näher steht als andere Völker. Sie stützen ihre An¬
schauung darauf, daß man bei keinem anderen Volk die Geschichte so bis
ins graue Altertum verfolgen kann. Mindestens fünftausend Jahre Geschichte
sind uns erhalten geblieben.
So finden wir in Ägypten viele primitive Triebregungen. An erster Stelle
den Kannibalismus, der trotz Andrees Gegenbehauptung dort vorgekommen
ist. Ob die Ägypter aus historischer Zeit Kannibalen waren, ist zweifelhaft.
Fest steht, daß ein Volk, das religiöse Texte in die Pyramiden einmeißelte,
die kannibalistische Feste als Wunschphantasien zum Inhalt hatten, kan-
nibalistischen Triebregungen unterworfen war. Wir sahen, wie der Kanni¬
balismus im Lauf der Jahrhunderte zum Laster wurde, wir sahen auch,
wie der Bruder- und Vatermörder anfänglich als Gott verehrt wurde, um
dann später als Teufel gehaßt zu werden. Als besonders gutes Beispiel für
die Verdrängung der kannibalistischen Neigungen führte ich die außer¬
gewöhnliche Fürsorge um die Leichen an, die zur Mumifikation geführt
hat. Die Gründe habe ich an Hand der Osirissage ausführlich entwickelt.
Auch habe ich einen Zusammenhang zwischen Inzest und Kannibalismus
festgestellt.
Wir bekamen auf diese Weise ein eigenartiges Bild der ägyptischen Kultur.
Ein Volk, das einerseits durch die Entwicklung von Kunst und Technik es
zu einem kulturellen Höhepunkt gebracht hat, auf der anderen Seite aber
primitive Triebregungen und Eigenschaften aus einer frühen Stufe der Ent¬
wicklung beibehalten hat. Der nationale Konservativismus mag daran nicht
unbeteiligt sein.
*
Hiemit will ich Abschied nehmen vom alten Ägypten, um noch einen
Blick auf das moderne Europa zu werfen. Vielleicht gibt es dort noch mehr
Spuren von Kannibalismus als Andree in den Märchen und in dem Aber¬
glauben mancher Verbrecher gefunden hat. Wir haben den größten Abscheu
vor diesem Verbrechen, wenn wir es bei anderen Völkern antreffen, und
glauben nicht daran, ihm auf eigenem Boden zu begegnen. Ich erinnere
daran, daß wir das Mumifizieren in einer anderen technischen Form als
292
: Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten
Jelgersma
Einbalsamierung kennen. Die Verdrängung könnte aus denselben Motiven
wie bei den Ägyptern erfolgt sein. Bei gewöhnlichen Sterbefällen denkt der
Europäer nicht an Einbalsamieren; dieser archäische Trieb erwacht meistens
nur beim Tode großer Vaterfiguren (Könige, Führer). Übrigens haben wir
auch den Brauch einer üppigen Mahlzeit nach erfolgtem Begräbnis, bei der
die Trauerstimmung oft gar schnell verfliegt und lärmender Uneinigkeit
und Erbschaftsstreitigkeiten Platz macht.
Die Sectio cadaveris ist eine Handlung, die mit einiger Heimlichkeit vor
sich geht. In der Psyche des pathologischen Anatomen müssen bei dieser
Tätigkeit, wenn auch unbewußt, andere Gedanken als rein wissenschaftliche
Vorkommen. Wir ersehen das aus den Namen, die sie zur Beschreibung
krankhafter Organveränderungen heranziehen. Die Milz wird mit Speck,
Sago und Bauernwurst, die Leber mit Muskatnuß, Butter und Zuckerguß,
tuberkulöse Massen mit Käse, Papillomen mit Blumenkohl, Knochenmark
mit Himbeergelee, Blutgerinnsel mit Speck usw. verglichen. Die mensch¬
lichen Organe sind in der Psyche des modernen Menschen mit der Nahrung
scheinbar noch sehr eng assoziativ verbunden. Viele Menschen versuchen
die Sektion durch Possenmacherei aufzuheitern.
Ich habe einige archaische Züge aus der modernen Psyche aufgezählt,
dies soll uns ermahnen, die primitiven Bräuche der alten Ägypter nicht
allzu streng zu beurteilen, auch wir haben diese primitiven Regungen noch
nicht ganz überwunden.
Raumempfmden und moderne Baukunst
Von
Franz Löwitsck
Architekt, Diplomingenieur, Berlin
Vorangestellt seien zwei Sätze aus der Arbeit von Dr. R. Sterba, „Analyse
der Gotik“, veröffentlicht in der Sondernummer der Imago „über die bildenden
Künste“ (X. Bd., Heft 4):
„Übrigens hat mit der Beendigung der Gotik die Bedeutung der Architektur
überhaupt wesentlich abgenommen, und in unserer Zeit ist eigentlich ein
allgemeines Raumempfinden, wie es für den Menschen des gotischen Zeit¬
alters angenommen werden muß, nicht auffindbar.“
„Daß unsere Zeit eigentlich ohne architektonischen Stil ihr Auskommen
findet, erklärt sich aus einer merkwürdigen Verlegung der psychischen Valenz,
die früher der Architektur zukam, auf eine andre Kunstgattung, auf die
Musik.“
Die Tatsache ist betrüblich, aber gewiß nicht wegzuleugnen, daß das
Publikum den Werken des Architekten mit einer nie dagewesenen Indolenz,
Verständnis- und Interesselosigkeit gegenübersteht. Literaturgeschichte ist
Schulgegenstand, jedes Mädchen ohne Gehör lernt Klavierspielen, man rennt
allenfalls in Gemäldeausstellungen, aber die Verunzierung der Städte über¬
läßt man dem Fachmann und kümmert sich keinen Deut um die Wohnung,
in der man sein Leben verbringen muß. 1 2
Daraus auf einen Mangel an Raumempfinden zu schließen, scheint aber
gewagt. Näher liegt der Schluß, daß weltfremd gewordene akademische
Architekten dem Publikum eine Kunst präsentieren, die ihm nicht mehr
gefallen kann, weil ihre Symbole ihre befriedigende Kraft verloren haben.
1) Die Arbeit wurde im wesentlichen und mit Ausnahme der Anmerkungen im
Oktober 1925 vollendet, konnte aber aus formalen Gründen erst jetzt erscheinen.
2) Erfreulicherweise ändert sich dies heute bereits.
Imago XIV.
20
294
Franz Löwitsck
Daß ein Raumempfinden noch existiert, und zwar ein überaus starkes, beweist
die Tanzkunst, die eben im Begriffe ist, zur Dominante aller Künste zu
werden. Nicht verloren gegangen ist es, sondern es hat sich verändert
Eine Möglichkeit seiner Veränderung soll hier untersucht werden.
Dazu ist es nötig, den Begriff des räumlichen Empfindens zu definieren
und zu analysieren. Eine Definition dieses heute übrigens modernen Schlag¬
wortes ist Voraussetzung für jede Debatte.
Das „räumliche Empfinden“ wird in zweifachem Sinne verstanden:
1) Als die Fähigkeit, räumlich zu sehen, d. h. die originalen Empfin¬
dungen des Gesichts-, Gehör- und Tastsinnes, die an und für sich noch
keine räumlichen Daten enthalten, zu räumlichen Vorstellungen zu ver¬
arbeiten.
2) Als die Fähigkeit, von innen heraus räumliche Vorstellungen zu re¬
produzieren, zu konzipieren und darüber hinaus räumlich zu gestalten im
konkreten Werk, welches sich steigern mag bis zur Kunst, als Architektur,
Kunstgewerbe, Plastik, Tanz, Bühnenregie.
Die „räumlichen Empfindungen“ begleiten den psychischen Vorgang, der
zu einer „räumlichen Vorstellung“ führt. Im Falle einer Wahrnehmung be¬
ginnt er mit der Tätigkeit der Sinne, deren Daten, die „originalen Emp¬
findungen“, vorerst ein ungeordnetes Chaos von Sensationen bleiben, erlebte
Zustandsänderungen des eigenen Ichs. Erst der Verstand (Schopenhauer) deutet
sie als Veränderungen einer „räumlichen“ Umwelt. Dies besorgt die Ekphorie
„mnemischer Empfindungen“ (Semon). Die Homoghonie „isoliert“ aus dem
Chaos die einzelne Form, distanziert die Welt vom Ich, gibt dem Raum
Tiefe und Gestalt und körperliche Beschaffenheit. Die Tätigkeit der Ver¬
nunft macht die Form zum Gegenstand durch die weitere Ekphorie
von bewußten Erfahrungen, die als Kenntnis von Qualität und Funktion
dieses Gegenstandes mnemisch aufbewahrt sind. Hinzu tritt schließlich die
Wertungsarbeit des Gefühles; die „reinen“ Gefühle, die Affizierung der Triebe
und mnemische Lust- und Unlust quanten, deren algebraische Summe schuld
daran ist, ob wir eine Vorstellung ablehnen oder begehren, ob wir uns mit
ihrer Reproduktion gerne befassen oder nicht. In einer räumlichen Vorstellung
als „Verdichtung“ originaler und mnemischer Empfindungen überwiegen die
letzteren und sind also insbesonders verantwortlich zu machen für die Ver¬
schiedenartigkeit räumlichen Empfindens, für das „Wie ich es sehe“. Dies
sind die Voraussetzungen für die nachfolgenden Untersuchungen.
Die Zahl der mnemischen Beiträge zu einer räumlichen Vorstellung, sei
sie Wahrnehmung oder Imagination, muß unendlich sein. Sie werden aus
Raum empfinden und moderne Baukunst
r
295
bewußten und unbewußten Erfahrungen des Individuums stammen, aus
verdrängten Erlebnissen und aus pränatal und phylogenetisch erworbenen
Engrammen, die sich wohl nicht als bewußte Erinnerungen manifestieren
können, jedenfalls aber als homophone Beiträge, die die Lebhaftigkeit er¬
höhen, durch ihren Unterschied das Spezielle hervorheben und durch ihren
Gefühlswert die Vorstellung lust- oder unlustvoll machen.
So werden enthalten sein die Erlebnisse im Riemannschen Raum, deren
Phylogenesis ontogenetisch wiederholt wird im Dasein des Menschen als
Zelle, als Fötus, bis zu jenem Stadium, wo er sich von der Eiwand löst
und die sensible Oberfläche Nerven in das Innere sendet und Sinnesorgane
entwickelt. In den Sensationen der Oberfläche, im Allgemeingefühl ist schon
alles Wissen von der Umwelt enthalten: Welt und Ich fallen identisch zu¬
sammen. Diese Erlebnisse werden in der ersten Kindheit wiederholt, solange
die Fähigkeit der Tiefenempfindung noch unentwickelt ist: die Berührungen
mit der Umwelt bleiben vornehmlich Sensationen des eigenen Körpers, das
Geschaute als Oberflächenerlebnis, die Bewegung als Eigenempfindung der
Muskeln: der Sensationsraum der Zelle.
Dann die Erfahrungen des pränatalen Zustandes, in dem das Individuum
ein höhlenhaftes Dasein führt, von dem Augenblick an, da das Frucht¬
wasser es von der Wand der Mutterhöhle trennt, die den Bewegungen der
Arme und Beine eine Grenze setzt, die mit diesen wie mit Fühlern gleichsam
abgetastet wird, die erste Kenntnis liefernd von etwas, was außer ihm da
ist, es umgibt. Wieder werden sie homophon verstärkt durch die ersten
Kindheitserlebnisse, durch die Empfindungen, die die hüllenden Windeln
liefern, die Decke, die Grenze des Bettes, des Raumes, der kriechend oder
laufend durchmessen wird. Die Welt bleibt Höhle, woran auch noch die
ersten Gesichtseindrücke nicht viel ändern können, denn es stehen keine
Erfahrungen zur Verfügung, um sie anders zu deuten: höhlenhafter
Raum.
Gleichzeitig aber wird die Überzeugung von der eigenen Körperlichkeit
immer deutlicher dadurch, daß das Kind mit seinen Händen und Beinen
spielt, sie faßt, betastet, sie bewegt. Diese Empfindungen müssen wieder¬
erweckt werden, wenn das Kind nach andern festen Gegenständen greift,
nach der Hand der Mutter, nach ihrer Brust, nach der Milchflasche, dem
Spielzeug. Durch ihr homophones Mitklingen ermöglichen sie die Annahme
des Körperlichen in diesen Dingen, eine Identifikation, die sich noch später in
allen die Materie betreffenden Abstraktionen darstellt. So werden das Ich
und die Dinge der Umwelt als etwas Körperliches, Festes, in sich Geschlossenes
20*
296
Franz Löwitsdi
begriffen, deren Individualität die Möglichkeit, sich selbst und unabhängig
zu bewegen, kennzeichnet. Die Welt als Höhle, das Farbenmosaik des Gesichts¬
eindruckes löst sich auf in eine Summe solcher Dinge, die Mauer ist nicht
mehr hüllende Wand, sondern vor allem Körper, Ding, neben und hinter
dem es eine Unzahl anderer Dinge gibt, deren Kenntnis durch Fenster und
Türen dringt als Licht, Farbe und Ton von Himmel, Bäumen, Vögel, Sternen:
dinghafter Raum.
Je mehr das Kind lernt, sich und seine Glieder zu bewegen und damit
sie und die Gegenstände der Umwelt zu gebrauchen, um so mehr lernt es
sich und die Welt als etwas Wirkendes zu verstehen. Sensation, Körper und
Höhle verlieren ihre ursprüngliche Bedeutung. In dem Drange, sich der
Ümwelt zu bemächtigen, erfährt es die Kraft, die ihm selbst innewohnt,
und die Widerstände, die die Dinge der Umwelt entgegensetzen. Diese Er¬
fahrungen sammeln sich in der homophonen Reihe der Engramme, die die
Abstraktionen von Wirken, Kraft, Qualität, Energie ergeben, die von da an
die bedeutungsvollsten Attribute des Ichs, der Dinge der Umwelt, des Raumes
werden, der nicht mehr umgrenzt, nicht mehr körperlich ist, dessen Form
Struktur ist: der energetische Raum.
In jeder räumlichen Vorstellung, sei sie original oder mnemisch, ist immer
irgendwie das Element der Bewegung enthalten. Weil jedes Erlebnis im
Raum und in der Zeit ist und die Bewegungsempfindungen aus dem Simultan¬
komplex aller Empfindungen nicht herausgelöst werden können. Es dürfte
überflüssig sein, hier noch ihre Entwicklungsreihe zu zeigen, weil sie in der
der räumlichen Erlebnisse genügend enthalten ist, so daß klar wird, wie im
Riemannschen Raum die Bewegung nur als Zustandsänderung mit den Kenn¬
zeichen des Tempos und Rhythmus erlebt wird, später durch die Grenze, die
die Höhle der Bewegung gibt, im dinghaften Dasein die Attribute der Rich¬
tung und Distanz bekommt, die sich allmählich im unendlichen Raum ver¬
lieren und schließlich, wie sie im energetischen Raum als Ausdruck einer
Kraft, Qualität verstanden wird.
Alle diese Erlebnisse können in verschiedenem Maße mit Lust oder Un¬
lust verbunden gewesen sein.
Im pränatalen Dasein fehlt zum Lustgefühl der Gegensatz der Unlust.
Es muß als Vorbild einer naiven Glückseligkeit gelten. Erst im Augenblick
der Geburt, dieser plötzlichen Zustandsänderung, der größten vielleicht, die
das Individuum erlebt, mag es sein, daß die neue, ungewohnte Umwelt Unlust
erweckt, Angst und Sehnsucht nach dem verlorengegangenen Zustand, die
die Lust an seine Erinnerung verschiebt. Mit Lust verbunden ist die Ruhe
Raumempfmaen und moderne Baukunst
und der Schutz der mütterlichen Umarmung, der bergenden Hülle von
Bett, Kleid und Raum, die Kälte, Wetter und Feinde abwehren. Unter
allen späteren höhlenhaften Vorstellungen zieht das weibliche Genitale und
die Höhle, zu der es Eingang ist, das größte Interesse an sich; als Spur
erotischer Erlebnisse und Ziel erotischer Wünsche bleiben sie mit stärkster
Lust besetzt.
Aus ähnlicher Quelle stammt die Unlust, die sich an die entgegengesetzten
Vorstellungen aus dem dinghaften Raum heftet. Die Geburtsangst, die Un¬
lust am eigenen körperlichen Dasein in einem ungewohnten, freien Raum,
ohne Stütze und Schutz. Später die Gefühle der Unsicherheit des den Raum
durch die eigenen Bewegungen noch nicht beherrschenden Kindes. Aus dem
Ödipuskomplex wird der väterliche Phallos zu einem stark unlustbetonten
Vertreter körperlicher Dinge, aus der Kastrationsangst der eigene; Penisangst
der Mädchen, Ekel vor phallischen Formen: alles Gefühle, die sich steigern
mögen bis zur Zeugungsunfähigkeit, hinter welcher als Philosophie sich
schließlich ein Vernichtungswille, eine Verneinung der Fortpflanzung ver-
steckt.
Aus entgegengesetzten Quellen stammt die Lust an der eigenen Körper¬
lichkeit, die in dem Augenblick erwacht, wo die Lebenskraft die Muskeln
des Kindes spannt. Es beginnt lustvoll zu strampeln, eine Tätigkeit, die sich
steigert zu Spiel, Sport und Tanz. Diese Lust bekommt Verstärkungen aus
der Autoerotik, aus den angenehmen Hautreizen. Erogene Zonen, unter
ihnen der Phallos, werden zu lustbetonten Vertretern körperlicher Dinge.
Aus sexuellen Erlebnissen heften sich an diese Reihe der Vorstellungen
lustvolle Erinnerungen von Bewegung und Rhythmus. Lustbetont sind die
Erlebnisse des entwickelten Mannes, durch die er den Raum, seine Dinge,
ihre Distanzen, Bewegungen, Kräfte erfolgreich beherrscht, gleichgültig,
ob es sich um sadistische Perversionen oder Kulturleistungen der Subli¬
mation handelt.
Darin liegt, organisch begründet, die Unlust höhlenhafter Vorstellungen,
Erinnerungen an Hüllen, die den Menschen, der Platz für seine Betätigung
braucht, darin hemmen, begrenzen, ihn seiner Freiheit berauben, gleich¬
gültig, ob es die gutgemeinte Umarmung der Mutter ist oder die Grenze
des Zimmers. Die Geburtsangst verschiebt sich und wird zum Tabu des
weiblichen Genitales, durch homoerotische Strebungen beim Manne etwa
verstärkt.
Diese Erlebnisse sind allgemein menschlicher Natur, typisch und leihen
daher ihre Affekte ganzen Komplexen räumlicher Empfindungen. Daneben
- -
298
Franz Lö-watsdi
wären zu beachten solche, die rein persönlich bleiben und ihren Gefühls¬
wert nur einzelnen räumlichen Elementen oder konkreten Erinnerungen
geben.
Jedes räumliche Erlebnis — und jedes Erleben hat eine räumliche Seite —
erregt die Gedächtnisspuren aller vorhergehenden, sie klingen mit, und zwar
in dem Maße, das ihnen von der Homophonie der originalen und mnemi-
schen Erregungen gestattet wird. (Beim Anblick eines Tisches wird die Er¬
innerung an den Sternenhimmel nur wenig wirksam sein können.) Weiter
erhalten sie ihre Intensität aus den Affekten, mit denen sie besetzt sind.
Wenn solche mnemische Elemente mit Unlust besetzt sind, so werden sie
imstande sein, die Aufmerksamkeit von den sie ekphorierenden Wahrnehmungs¬
elementen abzuziehen, beziehungsweise später die Erinnerung an sie undeut¬
lich zu machen oder sie gar ins Ubw zu ziehen, zu verdrängen. (Die An¬
ziehungskraft des Ubw nach Freud.) Umgekehrt werden gewisse Wahr¬
nehmungselemente deutlicher werden, wenn sie zahlreiche lustbetonte ähn¬
liche Vorstellungen assoziieren.
Stärker drückt sich dieses „wie ich es sehe“ in jeder Erinnerung aus
und am stärksten in der freien Konzeption, wie beim künstlerischen Ent¬
wurf oder beim Versuch eine räumliche Abstraktion zu denken, weil hier
die Einfälle am wenigsten durch den Einfluß der Außenwelt dirigiert werden.
So merkt man dann deutlich, daß den einen Künstler beim Entwurf eines
Tisches besonders die Füße interessiert haben, den zweiten die Tischplatte,
ein dritter scheut sich nicht, den Tisch als Kasten auszubilden und denkt
dabei offenbar an das Vergnügen der Kinder, wenn sie unter den Tisch
kriechen, um sich zu verstecken, ein vierter zieht die phallische Form vor,
gibt ihm einen massiven Fuß, formt Stelen und Opferaltäre statt Tischen;
andere machen Roll wägeichen, Klapp- oder Schubtische, hauchzarte, durch¬
geistigte Konstruktionen aus Stahl und Glas, die wiederum dem Menschen
der vorhergehenden Kategorie unsympathisch sein werden, denn es soll vor¬
gekommen sein, daß solche einem Klapptisch als Attrappe einen mächtigen
Fuß geben — offenbar damit er nicht umfällt.
Die Zahl der räumlichen Erlebnisse, die sich in einem Einfall verdichten
(seine Determinanten) ist unendlich. Sie wäre vergleichbar mit der Summe
einer unendlichen konvergenten Reihe, deren Glieder (Determinanten, räum¬
liche Vorstellungselemente) einen Wert haben, der abhängig ist von zwei
Größen: von der Größe der mnemisehen und erotischen Kräfte (Libido),
die ihnen zur Verfügung stehen. So muß das Raumempfinden eines Men¬
schen zu verschiedenen Zeiten, verschiedener Personen, Generationen, Kultur
Raumempfinden und moderne Baukunst
a 99
epochen, Rassen verschieden sein. Denn es ist abhängig von den räumlichen
Erlebnissen, deren Engramme phylogenetisch ererbt, in pränataler und infan¬
tiler Zeit wiedererworben wurden, von den Schicksalen, die diese in der Ent¬
wicklung des Individuums, der Rasse, erlitten haben, und von den neuen
Erfahrungen, die während dieser Zeit hinzugetreten sind.
Die Einteilung der die psychische Konstitution eines Menschen bedin¬
genden räumlichen Erlebnisse in vier Gruppen: in die des zellen haften,
höhlenhaften, dinghaften und energetischen Raumes erscheint recht
willkürlich, weil ihre Reihenfolge jedenfalls hinsichtlich Sukzession und Form
kontinuierlich ist. Weil weiter die Kennzeichen der späteren in denen des
Riemannschen Raumes bereits enthalten sind und umgekehrt die aus ihm
stammenden räumlichen Vorstellungselemente in jeder höheren Anschauungs¬
form wiederklingen. Gerechtfertigt wird diese Einteilung dadurch, daß sie
Entwicklungsstufen entspricht, die in onto- und phylogenetischer Hinsicht
durch eine deutliche Zäsur getrennt erscheinen.
Der Übergang vom hermaphroditen Zellendasein zum Embryo, die Geburt,
das Entstehen der Vernunft, die Entwicklung vom Wickelkind zum frei be¬
weglichen Menschen, die Ablösung von der Mutterlibido, Pubertät, schließlich
die Übernahme der vollen eigenen Verantwortlichkeit im Mannesalter sind
Etappen, die solche Zäsuren darstellten, beziehungsweise wiederholen.
Man kann sich vorstellen, daß jedes solche Entwicklungsstadium dadurch
charakterisiert ist, daß die Libido auf ein bestimmtes Ziel gerichtet ist, durch
die das Ich an dieses Objekt gebunden ist. Der Übergang von einem Stadium
ins nächst höhere, die Zäsur, bedeutet dann die Trennung dieser libidinösen
Bindung und Richtung der Libido auf ein neues Ziel. Diese Ablösung wird
von der angenommenen Lebenskraft durchgeführt, die die Fortentwicklung
des Individuums zur selbständigen Persönlichkeit besorgt, woraus sich jede
Urambivalenz ergibt, unvollkommen gelungene Ablösung, das Trauma mit
dem Rest der regressiven Tendenz, dem Bestreben, das vorhergehende Stadium
wieder zu erreichen, zu reproduzieren, somit die Fixierung an dieses und
an die Liebesobjekte, die es beherrschten, also auch an die räumlichen Er¬
lebnisse dieses Stadiums, die so stark lustbetont bleiben, daß sie in jedes
weitere Erlebnis hineingesehen werden und in jeder räumlichen Phantasie,
künstlerischen Konzeption reproduziert werden.
Fährt man in dieser Spekulation fort, so wird man versucht anzunehmen,
daß die Raumvorstellung eines Menschen, eines Volkes je nach seiner sich
so ergebenden psychischen Konstitution, je nach dem onto- und phylogeneti¬
schen Entwicklungsstadium, auf das sie fixiert sind, zellenhaft, cunnisch,
3oo Franz Eöwitsdi
phallisch oder energetisch sein werden und daß weiter durch diese Kenn¬
zeichen die Stile, Kulturen sich charakterisieren lassen müssen . 1
Die Gesamtheit eines Stiles läßt sich aber dadurch nicht erfassen. Wenn
wir trotzdem in Folgendem diese Terminologie anwenden werden, also z. B.
einen Stil als phallisch bezeichnen, so soll damit nicht gesagt sein, daß er
nur Kennzeichen des dinghaften Raumempfindens enthält. Sondern daß diese
in ihm stärker hervortreten und somit stärker affektbesetzt sein müssen.
Daß er nebst anderen phallische Züge besitzt, die aber dominieren.
Weiter ist zu beachten, daß einen Stil nicht die dominierende, räum¬
liche Vorstellung allein, sondern auch noch ihre affektive Besetzung näher
kennzeichnet. Es ist nicht gleichgültig, ob etwa phallische Formen als lust¬
volle Symbole oder als Zeichen der Angst und des Schreckens gebraucht
werden; ob eine Zeit sich naiv dem Genuß der praktischen Vorteile hül¬
lender Formen, dem Reiz cunnischer Symbole hingibt, oder ob sie aus Welt¬
angst, aus Furcht vor der Freiheit im körperlichen Raum in ein höhlen-
haftes Dasein flieht. Beide Male können dieselben „RaumVorstellungen“ zwei
verschiedene „Raumgefühle“ repräsentieren, je nachdem, ob sie der Pro¬
oder Regression dienen, und wir erkennen, daß jeder der vier Arten räum¬
licher Empfindungen diese nähere Kennzeichnung als positives, beziehungs¬
weise negatives Vorzeichen zukommen kann.
Außerdem ist die Zusammensetzung eines Stiles viel zu kompliziert, als
daß sie sich durch die wenigen Begriffe, die unserem heutigen Wissen zur
Verfügung stehen, erfassen ließe. Es ist etwa nicht gleichgültig, in welcher
Weise eine Raumvorstellung reproduziert wird; dies kann z. B. für das höhlen¬
hafte Raumempfinden auf zwei Arten geschehen: einmal in der Art, daß
das Bedürfnis entsteht nach geschlossenen, stark umhüllten, abgegrenzten
Räumen, in seinem Sinne stark betont und konkret erfüllt wird durch feste
Mauern, mit wenigen Kommunikationen nach außen, kleinen Fenstern,
alles wärme-, schall- und blickdicht konstruiert. Dann aber in der Art, daß
1) Es ist das Verdienst Oswald Spenglers, erkannt zu haben, daß das Raum¬
empfinden, die Art, „die Welt zu erleben“, verschiedener Kulturen gänzlich ver¬
schieden ist. Er beschreibt den „statisch-euklidischen Raum“ der Antike, stellt da¬
neben die „Welthöhle“ frühchristlich-arabischer Zeit und als stärksten Gegensatz das
„dynamisch-faustische“ Raumempfinden des Abendlandes, und zeigt, wie diese Arten,
den Raum zu erleben, sich in gleicher Weise darstellen in Politik, Recht, Kunst,
Wissenschaft und schließlich in den mathematischen Abstraktionen des Raumbegriffes.
Was er rein physiognomisch erkannte, erschließt sich uns — trotz seiner — auf kau¬
salem Wege, wenn auch nicht in gleicher Weise.
I en un
3oi
das eigentliche Bauerfordernis auftritt als Bedürfnis nach weiten, offenen,
lichten Räumen, freien Verbindungen mit der Umgebung, ungehindert durch
die höhlenhaften Wünsche konkret erfüllt wird durch schlanke Konstruktionen,
durch ein Mindestmaß von Mauern, durch große Fenster usw.; daß aber dann
nachträglich die höhlenhafte Raumvorstellung sich einschleicht, indem z. B.
die Fenster mit solchen Ornamenten versehen werden, die die Geschlossen¬
heit vortäuschen, wie enge Sprossenteilungen, Glasmosaik usw. Während
früher die Tendenz zur Reproduktion des höhlenhaften Raumes konkret
erfüllt wird, tritt sie hier verkleidet in Symbolen auf. Im zweiten Falle
müssen ihr irgendwelche Hemmungen entgegengestanden haben, die im
ersten Falle fehlten. Die mnemischen Beiträge des räumlichen Empfindens
sind verschiedenartig gelagert; im einen Falle verdichten sie sich schon im
Baubedürfnis, bestimmen die zweckmäßige Gestalt, im andern Falle bleiben
sie isoliert, durch eine Hemmung, die sie hindert, diese Verschmelzung ein¬
zugehen, sind aber stark genug, um sich als ornamentale, symbolische Zutaten
zur Form durchzusetzen. Die psychischen Konstitutionen waren verschieden.
Worin der Unterschied besteht, ist der Inhalt von Problemen, die hier
nicht weiter erörtert werden können. Jedenfalls aber dürfte klar sein, daß
die obige Terminologie nur gewisse Züge eines Stiles, einer Bauform er¬
fassen kann, solange man nicht imstande ist, den Ausdruck für die feineren
Nuancierungen zu finden.
Ebenso gefährlich ist es, zellenhafte oder cunnische Raumkonzeptionen
schon als eine Fixierung an infantile Raumerlebnisse, als Ausdruck einer
Regression zu deuten. Bei einem Kinde sind sie eine selbstverständliche Not¬
wendigkeit im Dienste der Lebenskraft. Erst beim Manne oder Greis das
Zeichen eines Rückfalles. Generationen, Epochen, Völker haben nun ebenso
Kindheit, Jugend, Mannheit und Greisenalter. Und darum können Stile,
einzeln, wie in ihrer Gesamtheit, während ihrer Entwicklung alle vier Kenn¬
zeichen in verschiedenem Maße durchlaufen.
Insbesondere wäre es verfehlt, die Produktion oder Reproduktion Riemann¬
scher Raumerlebnisse immer als Regression zu deuten. Das mag für die
schizophrene Weltanschauung gelten, für den Autismus, der sich aus der
Welt der Realität, der er nicht gewachsen ist, zurückzieht in die Welt der
Illusion, und dort nach Herzenslust Phantasie und Wirklichkeit verwechselt,
weil ihm beide nur Sensation sind (Prinzhorn). Es gilt aber schon nicht
mehr für den Tanz, von dem ich behaupte, daß er eine autoplastische Re¬
produktion Riemannscher Raumerlebnisse enthält. Geschwindigkeit, Tempo,
Rhythmus, also reine Zustandsänderungen im Riemannschen Raum, ohne
3o2
Frans Löwitsch
besondere Beziehung auf die dabei stattfindende örtliche Veränderung sind
die primitiven Elemente des Tanzes. Die dabei erfolgenden Sensationen der
Haut, der sich bewegenden Muskeln liefern das Vergnügen. Der Sehraum
ist ausgeschaltet (ohne den eine vollkommen ding- und höhlenhafte Raum¬
empfindung unmöglich ist), denn das wäre eine schlechte Tänzerin, die im
Dunkel nicht tanzen könnte oder gar einen Spiegel braucht. Die Bewegungen
werden von innen heraus, ohne Beziehung zur Umwelt, empfunden . 1 Infantil
ist die Einstellung der Tänzerin; Vorherrschaft des Narzißmus, Eitelkeit,
Demonstrierlust, die sich vor der eigenen Nacktheit nicht scheut, sie im
Gegenteil wünscht, sind Voraussetzungen. Haut- und Muskelerotik, Tanz
als autoerotische Befriedigung. Schließlich aber das scheinbar vollkommene
Fehlen jeder sexuellen Regung. Tanzerotik steht nicht unter dem Primat
der Genitalzone. Die Tänzerin — sofern sie Künstlerin ist — will nicht
sexuell reizen, und tut es auch nicht; sie will keine Kinder, sie ist selbst
eines, ist pervers wie dieses, darum ihr dirnenhafter Charakter, scheinbar
zweckloses Streben nach Lustgewinn, reizen, ohne Erfüllung zu gewähren,
darum die Schamlosigkeit (soll kein moralisches Urteil sein!): weil sie Kind
ist! Man spürt aber, welcher Trugschluß es wäre, hier eine Regression
anzunehmen und diese Anschauung verallgemeinernd auf die moderne Zeit
und die der Antike zu übertragen, welche beide von der Tanzkunst be¬
herrscht sind. Unsere Zeit ist jung, ist ein Anfang, eine Kindheit der Zu¬
kunft, die wir noch nicht kennen. Darum die den Tanz bedingende infantile
Konstitution. Im übrigen wird der Tanz heute zum Ausfluß eines mächtigen
Betätigungsdranges, eines starken Lebenswillens, der sich nicht begnügt,
Kunst anschauend zu genießen, sondern sie tätig erleben will. Es gibt
Menschen, die deshalb nicht gerne Musik mehr hören, weil sie dabei
nicht still sitzen können ! 2
1) Vollinhaltlich gilt das für den Tanz der Primitiven (Neger, Bacchanten), der
nur vom Tänzer seihst in den originalen Bewegungsempfindungen erlebt wird, einem
„Zuschauer“ aber wenig bietet. In dem Maße aber, in dem die Gestaltung einer
sichtbaren Form an Bedeutung gewinnt, steigern sich die Beiträge aus dem ding-
und höhlenhaften Raumempfinden (Figurentänze, Reigen, Quadrille). Interessant aber,
daß die modernen Tänze sich gerne von den Rhythmen der Neger wieder anregen
lassen.
2) Reine Manifestationen des zellenhaften Raumempfindens können in der Archi¬
tektur natürlich nicht gefunden werden; denn diese ist Alloplastik, während jenem
Autoplastik entspricht. Der Tanz ist sein eigentliches Gebiet, es liefert aber wohl
auch Beiträge zu den Anfängen der bildenden Künste, die Eckart v. Sydow
(„Primitive Kunst und Psychoanalyse“, Imago-Bücher, Bd. X) in der Kunst der Pri¬
mitiven feststellt: Die Körperkunst, d. i. die Deformierung und Bemalung des eigenen
Raum empfinden und moderne Baukunst 3o3
Eine ähnliche narzißtisch-infantile Einstellung verrät zum Teil die grie¬
chische Antike im Organisationssystem des Tempelbaues. Ich verstehe darunter
die Art, nach der mehrere Einheiten zu einer höheren zusammengefügt,
organisiert werden. Der Tempel ist eine in sich abgeschlossene Einheit, be¬
ziehungslos mit der Umwelt und selbstherrlich in diese hineingestellt. Um
dies zu ermöglichen, wird er auf eine vorbereitete Plattform gestellt, damit
nur ja nicht durch das Gelände etwa die Gesamtform des Tempels verändert
würde. Ebenso selbstherrlich werden mehrere Tempel etwa auf der Akropolis
aufgestellt; keiner nimmt Rücksicht auf den andern. Daß die Griechen sich
hiebei von einer malerischen Komposition leiten ließen, halte ich für eine roman¬
tische Erfindung. Denn jeder regellose Steinhaufen wirkt malerisch, wenn es das
betrachtende Auge so will. Ein ebenso in sich abgeschlossenes Individuum ist das
architektonische Element des Tempels: die Säule. Dadurch war es möglich,
sie einzeln, als Standbild, Gedenksäule zu verwenden. Man versuche dasselbe
mit einem gotischen Bündelpfeiler! Selbst die bewunderte Komposition beim
Erechtheion stellt im Vergleich zur organischen Verbundenheit gotischer Räume
ein unverbundenes Nebeneinander selbständiger Typen dar. Diese Kennzeichen
des damaligen Raumempfindens stellen sich sonst noch im griechischen Welt¬
bild dar: Politik, Philosophie, euklidische Geometrie: ein Nebeneinander von
unteilbaren, beziehungslosen Einheiten.
Der griechische Tempel ist ein Phallos, eine dinghafte, körperliche Raum¬
konzeption! Er hat kein Innen, nur ein plastisch durchgebildetes Außen.
Für die Menge war sein Inneres, die Zella, einfach nicht da. Der Fest- und
Opferdienst fand vor und um den Tempel statt. Von außen bewunderten
die Griechen wie wir das heilige Denkmal. Ins Innere ist der gewöhnliche
Grieche nie gekommen. Wem sich diese phallische Bedeutung des Tempels
noch nicht aus der Physiognomie ergibt, dem mag ein historischer Wahrschein¬
lichkeitsbeweis dienen:
Körpers, in denen er autoerotische und narzißtische Betätigungen erblickt. Ein erster
Verdrängungsschub muß zur Darstellung der erotischen Symbole (Mutterleib, Phallos,
Haut) genötigt haben; die autoerotische Einstellung aber, beziehungsweise — wie ich
hinzufüge — die damit verbundene Vorherrschaft des zellenhaften Raumempfindens,
ermöglichte nur eine autoplastische Darstellung. Damit ist mein Standpunkt gegen¬
über dem von Sydows präzisiert: Die durch die äußere Situation bewirkte Ver¬
drängung ruft das Darstellungsbedürfnis hervor, die innere Konstitution bedingt da¬
gegen das Raumempfinden und schreibt damit die mögliche Erfüllung vor. Unter
dem Einfluß hohlenhafter Vorstellungen führt von hier aus der nächste Schritt zur
Maskierung und weiter zur Mode.
Nach v. Sydow bedeutet „die Malerei als die verhältnismäßig früheste Stufe der
Kunst“ den Anfang der Alloplastik. Ihr Ursymbol ist die erogene Zone der Haut
als Ganzes. Dies deutet schon auf einen großen Anteil des primitiven Empfindens
im Sensationsraum hin, mehr aber noch die Tatsache, daß sie sich lange Zeit mit
der Beschaffung reiner Empfindungen, Sensationen begnügt (Linien, Schraffierung
und Farben). Höhlenhaftes Raumempfinden führt von hier aus zur Innendekoration,
dinghaftes zur naturalistischen Malerei.
3o4
Frans Löwitsck
Gottfried Semper hat auf die formale Verwandtschaft zwischen Stele und
Tempel hingewiesen, die sich in der Aufeinanderfolge der Denkmäler darstellt.
Daß diese aber ein phallisches Symbol ist, wird aus der Tatsache wahrschein¬
lich, daß etwa in vormykenäischer Zeit der Phalloskult am Mittelmeer stark
verbreitet war. Die Grundform der Stele ist ein stehendes Prisma, oben zu¬
gespitzt oder dachartig abgeschrägt. Sie entwickelt sich in zwei Richtungen. In
der einen verjüngt sie sich nach oben, aus der Spitze wird ein Akanthusblatt
oder ein blütenähnliches Gebilde. Von da wahrscheinlich weiter zur Säule und
zum Leuchter. Wie der Phallos sich in eine Blüte verwandelt, kann man bei
Ed. Fuchs nachsehen und heute noch in Japan beobachten. (F. Krauß: Ja¬
panische Erotik. Liebesamulette und Brautgeschenke.) In der zweiten Art der
Entwicklung wird sie gedrungener, durch ein Rahmenomament der rechteckigen
Seitenflächen, durch ein krönendes Gesimse oder einen Giebel wird sie zum
Schrein, Opferalter; phönikische Zellentempel der Astarte (=' Demeter). Es
liegt nahe, daß die ursprünglich phallische Form cunnisch umgedeutet wurde
unter dem Einfluß einer femininen Tendenz, etwa zur gleichen Zeit, als der
Phallos, Zeugungskult, sich wandelte in den Demeter-Geburtskult. Die Zellen¬
form erfährt eine neuerliche Umdeutung unter dem männlichen Einfluß der
heroischen Zeit. Der Phallos wird wieder betont in Säule und Tempelform.
Es entsteht der dorische Stil. Das Akanthusblatt an der Spitze des Tympanons
erzählt von der Herkunft. Es sind also gewiß in der Zellaform cunnische
Phantasien enthalten. Die verschwinden aber gegenüber der Bedeutung des
Tempeläußeren. Das Innere der Zella kommt künstlerisch nicht zur Geltung
und wurde auch nicht besonders ausgestattet. Die wenigen Ausnahmen be¬
stätigen die Regel, weil sie zumeist der Zeit des jonisch-korinthischen Stiles
entstammen, in der sich auch sonst noch feminine Einflüsse bemerkbar machen,
die aber das Wesen der Tempelform nicht erheblich verändert haben . 1
Wer versucht, die griechische Antike als Reproduktion intrauteriner Phan¬
tasien zu erklären, versperrt sich den Weg zum Verständnis ihrer Formen.
Die Höhlung der Zella ist bedeutungslos, darum verschwindet auch ihr Ein¬
gang hinter der Reihe der Säulen. Die einfache Umrahmung der Tür ist kalte,
starre, unverständliche Ornamentik im Vergleich zur ausdrucksstarken Gestal¬
tung mykenäischer und später römischer Torbauten. Aus demselben Grund hat
der griechische Tempel keine Fenster, die ein Ausdruck eines Innenraumes
wären, der hier eben künstlerisch fehlt. Darum erscheinen die Versuche ge¬
wisser Archäologen, komplizierte Oberlichtskonstruktionen anzunehmen, gerade¬
zu lächerlich.
i) Gegenüber der Auffassung Ranks sieht Eckart v. Sydow in dem bereits
zitierten Buche das Ursymhol der Plastik nicht im Mutterleib, sondern im Phallos;
der Mutterleib bleibt Ursymbol der Baukunst. Wogegen ich die Ansicht vertrete,
daß beide Vorbilder für architektonische Gestaltungen sind. Bei vielen Völkern (No¬
maden, Jäger, Krieger), die weder eine äußere noch innere Nötigung zur Hülle
haben, ist die Wohnung nichts weiter als ein „Mal“, ein Pfahl, ein Spieß, ein Stein,
Kennzeichen zur Wehr dem Feinde und Weihe dem Gott. Es entwickelt sich zur
Stele, zur Säule, zum Tempel.
Raumempfinclen und moderne Baukunst
3o5
Dinghaft aufgefaßt, phallische Symbole sind Säulen, Karyatiden und Hermen,
aber durchaus keine Reproduktionen des Mutterleibes . 1 Das feinste Wunder
griechischer Kunst, der struktive Ausdruck der Säule durch die Enthasis bliebe
unverständlich. So aber wird die durch Kraft erzeugte Schwellung am Phallos
und an seinen organischen Symbolen wie Arm und Bein durch Beobachtung mittel¬
bar verstanden und durch Identifikation unmittelbar erlebt.
Dagegen ist die spätrömische, frühchristliche, byzantinische und arabisch¬
maurische Architektur stärkster Ausdruck höhlenhaften Raumempfindens. Das
Innere der Tempel und Paläste gewinnt immer mehr an Bedeutung und Aus¬
stattung durch Säulen, Bögen, Nischen, Wölbungen, Kassetten usw. Ein Nega¬
tiv zur griechischen Architekur. (O. Spengler: der römische Tempel ist ein
umgestülpter griechischer.) Die Säule verliert ihre selbständige und somit phal¬
lische Bedeutung, sie flankiert den Tor- und Fensterbogen, wird zum Symbol
der Beine und verstärkt den cunnischen Sinn der Maueröffnungen. Hier mag
alles als Reproduktion pränataler Phantasien erklärt werden. Charakteristisch
ist nur noch, daß es diesen Zeiten gelungen ist, die regressive Tendenz restlos
zu sublimieren, sie der Realität anzupassen, oder besser gesagt, die Wirklich¬
keit in ihrem Sinne, den Raum als Höhle umzudeuten. (Spengler: das mau¬
rische Weltgefühl, die Welthöhle!) In der „Welthöhle“ fühlt sich der Mensch
wohl, er hat sich’s in ihr bequem gemacht. Durch Mosaik, Marmor und
Glasinkrustationen, später durch Teppiche arabischer Bauten, bekommen die
Innenräume eine bisher noch nicht dagewesene Pracht und Wohnlichkeit. Dar¬
über ist soviel schon geschrieben worden, daß ein Mehr sich erübrigt.
Auch das ist genugsam erörtert worden, inwiefern die romanische, gotische
und barocke Baukunst durch das höhlenhafte Denken, durch die pränatale
Phantasie beherrscht wird. Es sei auf das „Trauma der Geburt“ von O. Rank
und auf die eingangs zitierte Schrift verwiesen. Neben den regressiv-höhlenhaften
Formen der Mauern, Wölbungen, Kreuzrippen treten stark progressiv-phallische
Formen auf in Diensten, Pfeilern, Türmen. Während der byzantinische Mensch
sich in der geschlossenen Welthöhle wohl fühlt, drängt .der gotische (Spengler:
die faustische Natur) aus ihr hinaus, er versucht die Mauern zu zerreißen,
aus welchem Versuch das große, mehrfach geteilte Fenster als neue Form und
das Travee als neues Grundriß System entsteht. Der antike Mensch bejahte naiv:
der Grieche, weil ihm die Regression fremd war, der Römer und Byzantiner,
weil er sie restlos sublimierte. Bewußtes Bejahen und Verneinen ist Erfindung
gotischer Zeit, deren Philosophie durch diesen Widerspruch beherrscht wird. An
der Ambivalenz pro- und regressiver Tendenzen erkrankt sie. Ihre Baukunst wird
zur neurotischen Reproduktion der ambivalent empfundenen phallischen und
höhlenhaften Raumvorstellungen. Diese Neurose mußte überwunden werden,
um die Menschheit auf die höhere Bewußtseinsstufe zu führen.
1) Dieses dinghafte Raumempfinden bestimmt auch den bereits erwähnten Mangel
an gegenseitigen Beziehungen im griechisch-antiken Organisationssystem. Die Dinge
(Atome) sind in sich geschlossene Individuen; zwischen ihnen ist „Nichts“. Der eukli¬
dische Raum wird nur soweit vorgestellt, als er von solchen „Körpern“ erfüllt ist.
3o6
Franz Löwitsch
Das Ziel der Gotik, das sie aber nicht erreichte, ahnt man aus dem letzten
Typus, den sie geschaffen hatte, dem Hallenbau, wofür ich nicht zuletzt aus
lokalpatriotischen Gründen die Stephanskirche in Wien nenne und Saint-la-
Chapelle in Paris als vornehmste Repräsentanten. Da erscheint die Idee des
gotischen Raumes am wenigsten getrübt durch Lichtgaden, Trifolien, Emporien
und sonstige Spielereien. Die reine Zweckform erhebt sich zur höchsten Sym¬
bolik und wird durchflutet von der Harmonie eines Geistes, der Schmerz und
Lust im Dasein, den Rhythmus im Leben 1 bewußt bejaht. Der Raum ist
nicht Höhle, aber auch nicht Körper; er ist durchflutet von Kraftströmen
Licht, Schwere, Festigkeit; aus ihrem Wellen und Brechen entsteht die Struk¬
tur, der energetische Raum. Man nennt das „Vergeistigen“ und „Entmateriali-
sieren“. Was der Wissenschaft erst jetzt gelungen ist, der Ersatz des starren,
statischen Körperbegriffes durch den dynamischen der Energie, was die Philo¬
sophie noch nicht erreicht hat, die Versöhnung von Bejahen Und Verneinen
in einem bewußten Positivismus, wonach die kranke Menschheit sich sehnt,
nach der Freiheit des von Traumen, Vorurteilen ungehemmten Übermenschen,
das schwebte dieser letzten Gotik als baukünstlerisches Ideal in der Vereinigung
ding- und höhlenhaften Raumempfindens, im energetischen Raum vor. Dieser
Schritt konnte ihr nicht gelingen, weil die Menschheit noch fixiert war auf
die früheren Stufen räumlichen Empfindens und Weltgefühles. Die Lehren der
aufkeimenden Wissenschaft wurden vom Papst verflucht. Nicht weil sie Regeln
der Kirche zuwider waren, sondern weil sich das Unbewußte gegen sie
empörte, richtete sich der Haß auf sie.
Nur auf kurze Zeit gelingt die „Renaissance“ naiven Welt- und Raum¬
empfindens in antiken und römischen Formen. Umsonst versucht die Barocke,
sich in einer elegant eingerichteten Welthöhle wohl zu fühlen. Sie wird den
aus der Gotik geerbten Widerspruch nicht los. Wo ihre Formen nicht mehr
die Spur des Kampfes und Krampfes zeigen, werden sie sentimental. Eins
hat die Zeit gelernt: elegant zu sterben. Zwischen Schnörkel und Blumen legt
sie sich zur Ruhe.
1) Leben ist nicht Dasein und Leben ist nicht Jenseits; Leben ist beides, ist
Rhythmus. In diesem Satz muß sich die Antinomie von Lebensbejahung und Ver¬
neinung auflosen. Eine dies erklärende psychoanalytische Parallele ließe sich aus
dem „Versuch zu einer Genitaltheorie“ von Ferenczi ableiten. Er stellt fest, daß
im Zeugungsakt zwei Tendenzen sich in rhythmischer Sukzession vereinigen: Anal-
und Urethralerotik (Amphimixis). Setzt man dafür Ich-Erhaltung und Ich-Aufgabe
und weiter deren weltanschauliche Äquivalente, Bejahung und Verneinung, so gelangt
man zu der Erkenntnis, daß im Augenblick der höchsten Lust, des gesteigertsten
Lebensgefühles Eros als Leben- und Todbringer sich offenbart in der Synthese
von Lebens- und Todestrieb, im Rhythmus. Ich glaube, daß dieser Rhythmus
das Urbild aller Rhythmen ist, Fundament des rhythmischen Gefühles und Quelle der
ungeheuren Ausdrucksgewalt rhythmischer Gestaltungen. Das Bewußtwerden dieser
Synthese bedeutet eine Gefühlsbetonung aller rhythmischen, mithin dynamischen Vor¬
stellungen und Empfindungen; daraus erklärt sich wiederum die heutige Bedeutung
des Tanzes.
Ramnempfmden tiud moderne Baukunst
Diese Entwicklung ließe sich folgendermaßen zusammenfassen: In der
griechischen Baukunst dominiert der dinghafte, in der römisch-frühchristlichen
der höhlenhafte Raum, beide mit positivem Vorzeichen, naiv bejaht. Im nordisch¬
romanischen Stil bekommt die Höhle ihr negatives Vorzeichen und wird schlie߬
lich als Symbol des „Jammertales“ abgelehnt. In dieser Ablehnung mußte die
Gotik auf phallische Formen zurückgreifen (Türme, Pfeiler). Sie versucht die Syn¬
these von Höhle und Körper, ein Versuch, der auch noch die spätere Kunst be¬
herrscht, der aber ständig mißlingt. Den Widerspruch zwischen Höhle und Körper
beseitigen heißt, beide Vorstellungen homophon zur Deckung zu bringen; das
verhinderte aber die aufs äußerste gespannte ambivalente Einstellung der Zeit.
Ihr bleibt nur ein Schwanken, Oszillieren zwischen beiden Polen, das sich bis
zur Neurose, bizarren Groteske steigert. (Siehe Semon: Simultane und alter¬
native Dichotomie.) Bei der Homophonie disparater Vorstellungen entsteht nach
Semon als Empfindungsdifferential eine neue Vorstellung; hier, zwischen
Körper und Höhle das dritte, das „ Weder-Ding-noch-Höhle“, das’Neue, der
energetische Raum. Er kann solange nicht gefunden werden, als das seelische
Interesse von den Komponenten Phallos und Vulva gefangen gehalten wird,
solange als die Aufmerksamkeit nicht freigegeben ist, um sich ihm zuzuwenden!
Ich glaube, daß die dazu nötige „Sachlichkeit“ der kommenden Zeit gelingt.
Es soll mir recht sein, wenn meine einzelnen Spekulationen nur als
persönliche Anschauungen gelten. Worauf es mir vor allem ankommt, das
ist: festzustellen, daß aus dem Reproduktionszwang pränataler Phantasien,
aus der regressiven Tendenz allein sich nicht alle Baukunst deuten läßt,
wie es die mir bekannten Analysen versuchen, indem sie die progressive
Tendenz nicht beachten . 1 Als ob diese nicht auch oft Grund genug hätte
zur künstlerischen Sublimation. Gelingt doch die Ablösung von der Mutter¬
libido oft nur teilweise, so daß ein unerfüllter Rest dieser Tendenz sich
symbolische Erfüllung holen muß. Aus der ständigen Alteration beider
Tendenzen entsteht ein Rhythmus, der uns im Wechsel von Lust und Un¬
lust, von Nacht zu Tag, von Lehen zu Tod wiegt, das Schicksal des In¬
dividuums und der Familien erfaßt und die Geschichte der Völker und
Menschheit in Wellen formt. Es ist durchaus nicht einzusehen, warum die
1) Philosophisch kann man die Regression nicht anders als Verneinung verstehen.
Diese kann aber nicht die treibende Kraft jeglichen Kunstschaffens sein. Nietzsche
stellte der dionysischen Kirnst eine apollinische gegenüber; Karl Scheffler (Der
Geist der Gotik) weist diese Polarität in der Baukunst nach: Kunst aus einem Über¬
schuß an Lust und Kunst aus großem Leiden. Eine gleiche Anschauung veranlaßt
E. v. Sydow (Primitive Kunst, S. 161 ff.) zu einer Kritik der psychoanalytischen Kunst¬
philosophie, die nach ihm „auf einen Sondertypus des künstlerischen Menschen zu¬
geschnitten ist: auf den Romantiker, der in der Tat von schmerzlichen Sehn¬
süchten, schmerzlichem Entbehren angeregt ist“. Er findet denn auch, daß z. B.
Griechentum und Klassizismus von ihr aus nicht erklärt werden können.
3o8
Franz Löwitsch
Architektur aller Zeiten der pränatalen Situation gewidmet sein muß. Viel¬
mehr muß folgerichtig — wenn man von feineren Nuancierungen absieht,
zumindest — nach jeder cunnischen Reproduktion eine phallische kommen,
eine Zeit, die die Ablösung von der Mutter bejaht. Wenn jemand das über¬
sieht und in jede Raumform eine cunnische Reproduktion hineinsehen
will und dort, wo ihm das nicht gelingt, räumliches Empfinden vermißt,
so scheint mir dies selbst als ein Fehlschluß unter dem Zwang solcher
Phantasien.
Und was nun speziell unsere Zeit anbelangt, so glaube ich, daß ihre
Zeichen, die an jeder Straßenecke unzweideutig das moderne räumliche
Empfinden verraten, auch die Tendenz andeuten. Die mütterlichen Sym¬
bole werden sadistisch zerstört, um sich die letzte Möglichkeit der Wieder¬
vereinigung mit ihr im Symbol zu nehmen. Die Tradition wird abgebrochen,
wie Brücken, um den Rückzug zu verhindern. Die höhlenhafte Architek¬
tur der Vorzeit wird reizlos, das gemütliche Halbdunkel ekelhaft, Licht,
Bewegung, Freiheit die Parole der Revolution. Tanz, Sport, Wanderlust,
modernes Fellachentum treten als konkrete und symbolische Erfüllungen
dieser Tendenz auf. Man vermeidet jede libidinöse Bindung, sei es in der
Liebe, in der Ehe oder im Staat.
Der Phallos wird formales Symbol . 1 Die Frau trägt ihn als Hutschmuck,
Hutform, Nadelkopf, Schirmgriff, sie selbst trägt sich als Mann in Kleidung,
Frisur und Gehaben. Die Versuche der Mode, im Stilkleid die „Hülle“,
das cunnische, mütterliche Symbol wieder zu Ehren zu bringen, sind kläg¬
lich gescheitert. Ebenso, wie trotz aller finsteren Prophezeiungen die An¬
zahl der Pagenköpfe ständig zunimmt. Emanzipation, Vermännlichung der
Frau in erotischer und sozialer Beziehung, besser aber Befreiung. Gleich¬
zeitig auch ein Streben, das Jugendliche, Kindliche zu betonen. Denn der
Bubikopf ist mehr noch ein kindliches als männliches Symbol. Körperkultur:
man will jung bleiben.
Sport, Spiel, Tanz, Auswirkungen eines starken Betätigungsdranges, gleich¬
zeitig wieder mit den infantilen Zügen einer spielerischen, absoluten Be¬
wegungslust, infantil wie die Ungeniertheit, Schamlosigkeit. Nacktkultur
im Bade und Theater.
1) Diesem Phallos kommt aber nicht die Bedeutung zu, wie dem jener Zeiten,
da er als Vatersymbol Ziel allgemeiner Verehrung war. Hoheit, Würde, patriarchales
und heldenhaftes Pathos sind uns gleich widerlich wie die Sentimentalität mütter¬
lich bindender Liebe. Die Zeit sucht nach Ausdruck für Jugend, zeugungskräftige
Bejahung und zerstört die Symbole des Vaters, ebenso wie die der Mutter.
Raumempfmden und moderne Bautunst
3og
Der Drang des Tatenmenschen nach kraftgespannter Bewegung, der die
Welt und ihre Kunst erfaßt hat, bis sie sich im Tanz das letzte Symbol
schuf, erfaßt auch die Bühne. Die letzten Reformbestrebungen zielen dar¬
auf hin, die Bühne aus der Tiefe des Guckkastens unmittelbar vor oder
mitten in die Menge der Zuschauer zu ziehen. Als plastische Raumbühne
wird sie selbst wieder zum phallischen Symbol. Wir geben uns nicht zu¬
frieden, uns in einer VVolkenkuckuckskunst den Ersatz für ein erkranktes
Leben zu holen. Der Blick ins vorgetäuschte Wunderland der Guckkasten¬
bühne, in eine ferne Märchenwelt, ins ersehnte Jenseits der Geburt genügt
uns nicht. Wir ziehen dieses Wunderland in unser Leben mitten hinein,
mit Gewalt will der moderne Tatenmensch die Wunder wirklich machen,
den Traum ins Leben bannen, den Himmel auf Erden aufbauen. Unge¬
hemmt von Kulissen und Vorhängen wird sich auf dieser Bühne eine
neue Bewegung, ein neuer Stil entfalten. Die barocke Guckkastenbühne
diktierte durch die Zielrichtung der Ferne Blick, Gang und Spiel des
Schauspielers: von hinten nach vorne und wieder zurück. Die Raumbühne
gibt ihn frei, indem sie ihn zwingt zur uneingeschränkten Dreidimensionalität
seiner Bewegungen.
Was die Wissenschaft getan hat, haben wir erwähnt: sie hat die Mauern
der Welthöhle eingerissen und uns gelehrt, den unendlichen Raum zu
denken, ausgefüllt von Kraft, Bewegung, Energie. Sie hat die Materie ent-
materialisiert, die Atome zerstört und durch Jonen und Elektronen und
zuletzt durch Bewegungsquanten ersetzt. An die Stelle des Begriffes der
Zahl ist der der Funktion getreten.
Solcherart mehren sich die Symbole — trotz aller Reaktion. Ausgespien
aus dem Höllenschlund der Gotik tut die Welt den ersten krampflösenden
Atemzug, wacht auf wie ein Kind zum lustvollen Bewußtsein seiner selbst,
strampelt und reckt die Glieder zum Tanz. Für das gemütliche Halbdunkel
mauerumschlossener Höhlen, für die Idylle, im Geburtswasser zu plätschern,
hat kein Tauenziengirl, aber auch kein richtiger Sportsmann etwas übrig.
Selbst Venus hat ihre Tätigkeit vom Venusberg heraus ans Wasser, auf
Berge und Wiesen verlegt. Darf man sich wundern, daß die Welt einen
Architekten mit seinem Raumempfinden allein läßt, solange er noch immer
in intrauterinen Phantasien schwelgt?
Vereinzelt aber zeigen sich auch schon die Zeichen einer neuen Bau¬
kunst : Wolkenkratzer und Luftschiffe entstehen als phallische Symbole und
Wegweiser zum Verständnis des dynamischen Raumes. Otto Wagner,
Olbrich und die deutschen Warenhausarchitekten haben begonnen, die
Imago XIV.
21
3io
Franz Löwitscfi
Mauern zu zerreißen, die Siedlungsbewegung zerreißt die Stadt, und indem
die Architektur die Erbschaft der letzten Gotik übernimmt, entwickelt sie
sich langsam — so paradox es noch klingen mag — zu einer raum¬
öffnenden Kunst!
Diese Tendenz zum Raumöffnen zeigt sich auch im Wandel der ästhetischen
Gesetze.
Gottfried Semper bemühte sich in seinem Werke „Über den Stil in den
tektonischen Künsten“ nachzuweisen, daß die ästhetischen Gesetze der Symme¬
trie und Proportion sich direkt aus Naturgesetzen ableiten lassen. Wenn
wir Tropfen, Kristalle, Blätter, Blüten symmetrisch und in einfachen Verhält¬
nissen aufgebaut finden, so liegt dies daran, daß ein in sich abgeschlossenes
Individuum nur dadurch zu einem solchen wird, indem es, d.en Gesetzen des
Gleichgewichtes zwischen seinen inneren, aufbauenden, zusammenhaltenden
Kräften einerseits und den von außen angreifenden Einflüssen anderseits folgend,
eben eine symmetrisch, einfach proportionierte Form annimmt. Symmetrie
wird so zur Folgerung aus mathematisch-physikalischen Beziehungen. Darum
zeigt auch jedes vollständig in sich abgeschlossenes künstlerische Gebilde Symme¬
trie und Proportion. Dadurch wird die Säule, der ganze griechische Tempel,
jeder Denkstein, aber auch jede künstlerisch ausgestaltete Höhlung wie irgendein
römischer, romanischer oder barocker Innenraum zum selbständigen Individuum,
daraus fließt seine künstlerische Einheit.
Das muß alles zugegeben werden. Es ist aber damit noch nicht bewiesen,
daß alle Kunst solchen Gesetzen untertan sein muß. Vielmehr folgt: daß Antike,
romanische und barocke Kunst ihre Werke so bildeten, weil sie sie zu selb¬
ständigen, in sich geschlossenen Individuen ausbilden wollten: weil ihnen der
geschlossene Körper, die geschlossene Höhle ein ästhetisches Bedürfnis waren.
Aber schon die Gotik rüttelt an diesen Gesetzen. Und noch mehr tut dies
die moderne Kunst. Die Umkehrung des obigen Satzes erklärt dies: wenn eine
Kunst sich ablöst von den Gesetzen der Symmetrie und Proportion, so folgt,
daß sie eben nicht mehr die geschlossene Körperlichkeit, die abgeschlossene
höhlenhafte Form will.
Heute erleben wir, daß die moderne Baukunst die Symmetrie gewaltsam
unterdrückt; als Ausrede wird auf der einen Seite eine romantisch-expres¬
sionistische Ästhetik vorgeschoben, auf anderer Seite eine sachlich-utilitaristische
Motivierung. In beiden Fällen werden dieselben Vorstellungsgruppen determi¬
nierend, nur dürfte ihre Gefühlsbetonung verschieden sein, auf welchen Unter¬
schied hier nicht weiter eingegangen werden soll. Die Säule als in sich ge¬
schlossene Einheit wird immer weniger, im Eisen- und Eisenbetonbau gar
nicht mehr verwendet. Hier fehlt dem Begriff von Säule und Träger als ab¬
geschlossenes Individuum jeder Sinn. So unterscheiden sich die fließenden
Konstruktionen dieser Techniken wesentlich von den geradezu kristallisch
geschlossenen Körpern antiker Baukunst. Die komplizierten Proportionen moderner
Verkehrsanlagen formen alle neuzeitliche Architektur. Weiter: Symmetrie be¬
deutet Gleichgewicht, also Ruhe. Unsymmetrie bringt Bewegung in ein Bild,
Raumempfinden und moderne Baukunst
3ll
weil selbst bedingt durch den Mangel an Gleichgewicht. Die Barocke setzte an
das Ende einer Allee z. B. einen Zielpunkt, der genau in der Symmetrieachse
lag. Dadurc gi t sie der durch die Allee vermittelten Bewegungsvorstellung
einen Ruhepunkt. Der moderne Städtebau vermeidet dies. Er setzt Türme
u. dgl. nicht in die Achse einer Straße, sondern daneben, setzt ihn nicht als
Ziel, sondern als fluchtige Station, an der der Blick vorbeigleitet, die Autos
vorbeirasen. Man vergegenwärtige sich das Bild einer Eisenbetonbahnsteighalle
(etwa mit nur einem Stiele). Hier verlangt es einige Mühe zu entscheiden, wo
ein Innen — das Kennzeichen geschlossener höhlenhafter Dinge — oder ein
Außen — Kennzeichen körperlicher Dinge — ist. An die Stelle von Körper
und Hohle tritt eine andere Raumvorstellung: die Struktur, die nichts gemein
hat mit Symmetrie und einfacher Proportion, die sich nicht in' einem Augen¬
blick, mit einem Blick erfassen läßt, wie etwa ein griechischer Tempel, sich
nicht, selbst ruhend, dem ruhenden Beschauer zur Gänze darbietet sondern
geboren aus dem Drange nach Bewegung, selbst wieder nur durch Bewegung’
auf dem Umwege starker mnemischer Bewegungsempfindungen angeschaut, ver-
standen und genossen werden kann.
Es wiederhoh sich in der Raumkunst dasselbe wie in der Raumwissenschaft,
der Physik; die als Quantentheorie den Begriff materieller Körperlichkeit und
als Astronomie seit Kopernikus bis Einstein die ptolemäische Welthöhle zer-
trümmerte.
Ein gleiches Symbol beherrscht die moderne Malerei, die noch nicht genug
hatte, durch den Impressionismus aus dem Dunkel des Zimmers in die Frei¬
heit des Lichts geführt zu werden. Nachdem dieser die Höhle zerstörte, ging
der Expressionismus daran, das Festgefügte körperlicher Dinghaftigkeit, die ge-
schlossene Form in jeder Hinsicht zu zerreißen.
Dasselbe tut die moderne Musik, indem sie die klassischen Formgesetze ver¬
achtet und damit alles das, was dort im Aufbau des Taktes, der Melodie, des
Themas, Satzes die damals künstlerische Einheit als Symbol der Geschlossen-
heit ausmachte.
Dasselbe tut das moderne Drama, das, Einheit von Zeit und Ort ablehnend,
die Welt uns als kaleidoskopisches Spiel zeigt, immer in Bewegung, immer in
Fluß, ziel- und endlos, und in diesem Fluß selbst die leitende, bettende Bahn,
das stetige Geleise zurücksetzt gegenüber einer sprunghaften Veränderlichkeit!
m ein Mißverständnis zu vermeiden: obige Kennzeichen sollen keines¬
wegs die Symbolik moderner Kunst erschöpfen. Sie zeigen nur die Stellen,
m denen sich das moderne Raumempfinden symbolisch darstellt und wo sie
daher Verwandtschaft zeigen mit moderner Baukunst.
Aus allen diesen Symbolen würde sich für das moderne Raumempfinden
ungefähr folgende Konstitution ergeben:
i) Es wird beherrscht durch die energetische Raumvorstellung insofern,
als der abstrakte Raum wie jede konkrete Raumform vor allem durch die
Vorstellung der in ihm möglichen, sie ausfüllenden Bewegungen, Kräfte,
Energien, Qualitäten, Funktionen verstanden wird.
21*
3 ia Franz Löwitsch
2) Mengen sich dinghaft-phallische Vorstellungen ein, insofern sie Symbol
sind für eine Lebensbejahung im Sinne der früheren Phalloszeugungskulte,
weiter Symbol für die als männlich anerkannte Qualität der Aktivität, des
Tatendranges; schließlich Symbol für Freiheit, für eine progressive Tendenz,
die die Regression endgültig überwunden hat, ohne einen ambivalenten Rest
zu hinterlassen.
ß) Daher haben cunnische Symbole ihre magische Kraft verloren. Die
umhüllende Form wird nur dort angewandt, wo sie auch wirklich zweck¬
mäßig ist, also Schutz gegen wirkliche Feinde, schädliche Einflüsse von
außen bietet. Außer es ist die Ambivalenz des ding- und höhlenhaften Raum¬
empfindens nicht überwunden, das energetische noch unrein, dann wird sich
noch ein Tabu auf hüllende Formen legen und die phallische wird bevorzugt
werden, selbst dann, wenn die erstere zweckmäßiger wäre . 1
4) Ist es noch gekennzeichnet durch Reiträge aus dem zellenhaften Raum¬
erlebnis, insofern diese die infantil-narzißtische Sensationslust befriedigen,
die der Zeit als einer Kindheit anhaften. (Starke Effekte, lebhafte Mode¬
farben, Feuerwerk.)
Die Verlegung der psychischen Valenz auf die Musik bedeutete also nichts
anderes als eine stärkere Affektbetonung der mnemischen und somit auch
originalen Bewegungsempfindungen, wodurch seit der Barocke die Be¬
deutung der Musik, in neuerer Zeit die des Tanzes ermöglicht wurde. Also auch
jener räumlichen Vorstellungselemente aus den Erlebnissen des energetischen
Raumes, die das moderne dynamische Raumempfinden bedingen. Aus dem
Streben des faustischen Menschen, aus der Sehnsucht der Barocke entstammt
die Bewegung, die den modernen Menschen erfaßt und die er in seine Um¬
welt hineindeutet . 2
*
1) Die moderne Einstellung zu Phallos und Vulva ist „sachlich“, weil die Kom¬
plexe, die ihre Überbetonung verursachen, im Abbau begriffen sind.
2 ) E. v. Sydow stellt fest, daß die Musik von der Psychoanalyse bisher übergangen
worden ist. Körper und Höhle, Phallos und Mutterleib haben in der Musik keine
Entsprechungen, deshalb kann eine Deutung der Musik nicht gelingen, solange man
in ihr nach diesen Dingen sucht. Erst der Geist konnte Musik machen, der nicht
mehr bestrebt war, diese Symbole zu gestalten, sondern vielmehr, sich von hemmenden
Phantasien zu befreien. Diese Befreiung ist die Musik, antizipiertes Symbol des ener¬
getischen Raumes, sie leitet sein Kommen ein.
Eine Welt, in der alles Tastbare, plastisch Gebildete und Gebaute wertlos wird.
Erst heute erleben wir, wie die moderne Lichtarchitektur und Lichtmalerei den Weg
findet zur visuellen Gestaltung dieser Welt.
Raumempfmden un d moderne Baukunst
3i3
Eine restlose Aufklärung über die psychischen Determinanten des räum¬
lichen Empfindens konnte ich natürlich hier nicht geben. Ich füge ihr noch
einiges .hinzu, aber mit dem Vorbehalt, daß ich dafür nicht eintrete, viel¬
mehr eine gründliche Analyse dem Psychologen von Fach überlasse.
Dem Erlebnis im zellenhaften Raume der Sensationen mag ein unge¬
trübter Narzißmus entsprechen (Hermaphrodysie,Autoerotismen). In körperlich-
phallischen Form Vorstellungen wird ohne Zweifel dem Vater, in cunnisch-
höhlenhaften Raumvorstellungen der Mutter ein Symbol gesetzt. Das erhellt
aus den Feststellungen, die wir Prof. Freud verdanken: daß das Kind lange
Zeit an die Eltern libidinös gebunden ist, und zwar entweder positiv an
den Vater oder an die Mutter oder negativ (ambivalent) an Vater oder Mutter;
weiter, daß den meisten iMenschen die zum sogenannten normalen Sexual¬
leben notwendige Ablösung der Libido von Vater oder Mutter nicht oder
nur teilweise gelingt, worauf als auf einem Fundament sich die Perver¬
sionen, Neurosen ergeben und als deren Sublimationen die künstlerischen
Leistungen. Wir dürfen also in Manifestationen phallisch-dinghaften Raum-
empfindens die Existenz einer Fixierung an den Vater, und in höhlen¬
haften einer solchen an die Mutter annehmen. Weitere Verschiedenheiten
werden dann wohl noch durch die Art dieser Einstellung bedingt sein, also
ob sie positiv oder ambivalent ist, weiter durch eventuelle Kombinations¬
formen dieser Einstellungen und schließlich durch die Verschiedenheiten,
die das sonstige erotische Leben einer Zeit an sich trägt. (Der Grieche
flüchtete sich aus dem Ödipuskomplex in die Homosexualität; als räum¬
liche Übersetzung mag das die Vielheit der dinghaften Gebilde ergeben,
wie Säulen, Tempel, die ebenso gleichwertig nebeneinander stehen wie die
Männer im geeinten Brüderclan, wie die Einheiten der Polis. Der Araber
flüchtet sich in die Vielweiberei; in Allah, dem absoluten Herrscher, bleibt
der Patriarch erhalten, der ihm diese erlaubt; im zentralistischen System
der Moscheen ist ihm ein Symbol gesetzt. Der Römer sublimiert in der
Verehrung der Mutter, schafft ihr ein Symbol im Demeterkult und bejaht
diese Gebundenheit naiv in seiner prächtigen höhlenhaften Architektur. In
der Gotik ist die Einstellung sowohl zum Vater als auch zur Mutter
ambivalent; die Symbole beider werden mit entgegengesetzter Ornamentik
überwuchert, die Mauer durch das Fenster, dieses durch das Maßwerk,
der Pfeiler und der Turm durch gehöhlte Krabben und Sterne zerstört,
alles Dinge, die der einen wie der andern Form und darum ihrer Symbolik
zuwider laufen.)
Eine solche Anschauung schließt aber nicht aus, fordert vielmehr, auch
3 i4 Frans Löwitsck
anzunehmen, daß in anderen Fällen die Ablösung der Libido vom Vater
als auch von der Mutter restlos gelingt. Weiter: Wie für manche Zeiten
diese Fixierung typisch ist, so müssen andere denkbar sein, in denen eine
durch elterliche Bindung nicht beschwerte Veranlagung den Menschen kenn-
zeichnet. Hier wird die Kunst von der früheren verschieden sein müssen:
in ihr kann das Dinghafte wie das Höhlenhafte als Symbol von Vater und
Mutter keine bedeutungsvolle Rolle spielen. Es scheint mir, daß wir uns
einer solchen Zeit nähern. Vielleicht können Erzieher beobachten, daß die
Fälle häufiger werden, in denen Kinder zu beiden Eltern ziemlich leidenschafts¬
los eingestellt sind. Ihr Verhältnis zu ihnen ist eine Art „vernünftiges“, das
durch Widerwillen und Ablehnung dadurch gestört werden kann, wenn die
Eltern oder andere Personen, die als Elternersatz gelten können, sich dem
Kinde mit Liebkosungsabsichten nähern. In solchen Fällen fehlt das Fun¬
dament, auf dem sich später gerne die starke libidinöse Bindung in der
Liebe wie in der Ehe, alle Sentimentalität und weiter die Regressionen und
ihre sozialen, künstlerischen und neurotischen Symbole aufbauen.
So ließe sich die moderne Konstitution, allerdings nur negativ, kenn¬
zeichnen. Positiv etwa folgendermaßen: Bei Kindern, die sich wie oben ge¬
schildert verhalten, wird man annehmen, daß alle Liebe in das eigene Ich
zurückgekehrt ist, um hier auf seine spätere Bestimmung zu warten. Die
folgende Übertragung geht dann nicht den Weg über die Vater- und Mutter¬
symbole, sondern unmittelbar vom Ich aus als Identifikation. Eine andere
Entwicklung können wir uns vorläufig nicht denken. Es hat also den An¬
schein, als ob die moderne Konstitution, die zum energetischen Raum¬
empfinden führt, vorwiegend narzißtisch gerichtet ist. Das wird sogar plau¬
sibel, wenn man sich die verschiedenen Manifestationen dieser Einstellung
in der Jetztzeit vergegenwärtigt: der Egoismus, der in jeder Art des Lebens,
in Politik und wirtschaftlicher Praxis, in Kunst und Philosophie zu einem
ausgeprägten, leidenschaftlich verteidigten Individualismus führte, (gewiß
ein nicht zu unterschätzender Untergrund der Revolutionen, sowohl der
roten wie der faschistischen) zu seinen künstlerischen Übertreibungen im Ex¬
pressionismus und Futurismus und zu den so modernen krankhaften Formen
der schizophrenen Konstitution. Ihr verdankt wohl auch der Tanz zum Teil
seine heutige Bedeutung, Höhe und Beliebtheit . 1
1) Die narzißtische Einstellung erklärt die Anziehungskraft der Kunst der Primi¬
tiven auf uns und ihren Einfluß auf unsere Kunst. Die Verquickung mit phallischen
Formen weist aber darauf hin, daß die bewegenden Triebe eher in der Pro- als in
der Regression zu suchen sind.
RaumempfinJen und moderne Baukunst 3i5
Dem Narzißmus entspricht aber das Raumerlebnis der Zelle, eine Summe
räumlicher Empfindungen, die gewiß nicht identisch sind mit denjenigen,
die den Raum energetisch interpretieren. Dieser moderne Narzißmus und
seine Reproduktionen müssen also verschieden sein von dem der Zelle. Und
zwar schon deshalb, weil der eine, den man etwa als den primären be¬
zeichnen könnte, sich auf dem noch unbeschriebenen Blatt der Seele ent¬
wickelt, während der andere sich auf dem Fundament der aufbewahrten
Engramme aus den körperlich-höhlenhaften Erlebnissen aufbaut, das phal-
lische und cunnische Raumempfinden zur Voraussetzung hat und dieses
also hier im energetischen Raumempfinden homophon zum Mitklingen
erregt wird, indes die Reproduktionen des zellenhaften Raumempfindens,
die etwa im Schlaf oder im Wahnsinn auftreten, gerade von solchen Emp¬
findungselementen, die dem Raum Tiefe und dem Körper Wirklichkeit geben,
sich lostrennen.
Dieser sekundäre Narzißmus wäre also gleichsam ein Narzißmus auf
höherer Entwicklungsstufe. Daß das ihm entsprechende energetische Raum¬
empfinden dem ding-höhlenhaften überbaut ist, zeigt sich unter anderem
in seinen philosophischen Äußerungen. Die Zelle mag Ich und Umwelt
als eins empfinden, sie erlebt in ihren Sensationen sich zugleich und
identisch mit der Umwelt. Sie zieht aus diesen Sensationen nicht den
Schluß auf eine verursachende Außenwelt. In unseren pantheistisch ge¬
färbten Weltanschauungen benehmen wir uns aber ähnlich: wir identifizieren
uns mit der Welt, Ich und Welt, Ich und Gott sind eins. Wir tun dies,
trotzdem wir den Schluß auf eine außer uns existierende Welt gezogen
haben, oder wie Hegel, indem wir im an und für sich seienden Wissen
den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt aufheben. Wir empfinden
die Welt als ein Stück von uns, oder besser, uns als ein Stück der Welt,
des absoluten Geistes . 1
Und das ist der Unterschied: Der Primitive, in dem der primäre Narzißmus
noch wirksam ist und damit das zellenhafte Raumempfinden, erfaßt die Natur
1) Der Wechsel der Einstellung spiegelt sich wider in der Entwicklung des dramati¬
schen Erlebens: das Drama der Primitiven (Dionysoskult) ist ekstatischer Tanz; im
Rauschzustand, in den eigenen Zustandsänderungen wird es erlebt. Durch Regression
in den Raum der Sensationen gelingt offenbar die Identifikation der Bacchanten mit
der Gottheit, die Aufhebung der Schranken zwischen Spieler und Zuschauer; beide
sind eins. Wie unter dem Einfluß des ding- und höhlenhaften Raumempfindens die
Welt sich spaltet in Subjekt und Objekt, so teilt sich später auch das Drama in
Handlung und Miterleben, getragen von Schauspielern und Publikum. Das moderne
Gemeinschaftstheater will diese Trennung wieder aufheben, durch Zerstörung der
3 i 6 Franz Löwitsck
auf dem Wege der Identifikation, indem er sie personifiziert, d. h. in sie
dieselbe Wesenheit hineinprojiziert, die er in sich erkannt hat. Die moderne
Naturanschauung ist wieder eine Identifikation, aber sie geht den entgegen¬
gesetzten Weg. Dem sekundären Narzißmus folgend, projizieren wir die Wesen¬
heit, die wir, in der Anwendung der ding- und höhlenhaften Raumkonzeption
in der Natur, im Geiste erkannt zu haben glauben, in uns hinein. Der
Primitive „personifiziert“ die Natur, wir „naturalisieren“ gleichsam den Men¬
schen. Es ist gleichgültig, ob man dies materialistisch oder geisteswissen¬
schaftlich, phänomenologisch nennt.
*
Die Übersetzung dieser psychoanalytisch gegebenen Konstitution in die
Sprache der Baukunst kann vollkommen nur durch das Kunstwerk selbst
gelingen. Dies zur Entschuldigung der Unzulänglichkeit der nachfolgenden
Worte, durch die versucht werden soll, die Bauform zu beschreiben, in der
sich das moderne Raumempfinden darstellen könnte.
Mehr als früher ist das, was der Architekt bildet, nicht Stein, Holz und
Eisen, sondern die Tätigkeit des Menschen, für den er baut. Indem er
seinen Raum formt, schreibt er ihm die darin möglichen Bewegungen vor,
formt er sein Leben. Nur durch das Leben, das ein Bau ermöglicht,
kann er im Sinne des modernen Raumempfindens verstanden und ent¬
worfen werden. Die künstlerische Tätigkeit besteht heute darin, dieses
Leben zu erschauen und es in Bahnen und Rhythmen zu fassen, die mit
dem Willen unserer Zeit harmonisch zusammenklingen. Der Künstler ent¬
wirft die Bewegungen, die seinem Bauwerk Leben geben, wie etwa Mary
Wigman ihre Tanzkompositionen, nur mit dem Unterschiede, daß sie nicht
von ihm selbst, sondern von den zukünftigen Bewohnern ausgeführt werden,
indem er sie zu diesen Bewegungen zwingt. (Eine Art autoplastische Re¬
aktion auf dem Umwege über die Identifikation des Künstlers mit dem Bau¬
herrn.) So wird dann die Zweckform zu einer Art Verkehrsanlage, mit Gleisen,
Bahnen, Straßen, die stetig von einer Tätigkeit in die andere hinüberführen,
die Räume untereinander und mit der Umgebung ohne Bruchpunkte verbinden.
Ähnlich erdenkt er die Bewegungen von Licht, Wärme, Wasser und
sonstiger das Bauwerk belebender Kräfte und formt ihre Bahnen zu Licht-,
Rampe und des Vorhanges den Kontakt zwischen Bühne und Zuschauer hersteilen,
das „Monodrama“ wieder verwirklichen. Im Gegensatz zum Urdrama erfolgt die
Ekstase nicht spontan von innen heraus (durch den Genuß des Rauschmittels), sondern
bleibt gebunden an ein äußeres Geschehen.
Raum empfinden und moderne Baukunst
3l Z
Wasser- und Kraftleitungen, Kanälen, Ventilationen, Heizungen, Telephon,
Stiegen, Aufzügen, die in einem modernen Bauwerk nicht nur bedeutungs¬
volle Zutaten sind, sondern sein Wesen ausmachen. Das drückt sich schon
in den Kosten dieser Anlagen aus, die die des übrigen Baues zumeist weit
überschreiten. Sie verdienen daher einen stärkeren sichtbaren Ausdruck, als
man ihnen gewöhnlich gibt. Das moderne Haus ist Maschine, beweglich,
Arbeit leistend; daß sie richtig funktioniert, ist die Hauptsache.
Schließlich sind Thema der Baukunst die übrigen anorganischen Kräfte,
die an und in dem Bau wirken, das sind die von außen kommenden Lasten,
Schnee, Wind und Wbtter, und die ihnen vom IVlaterial entgegengesetzten Wider¬
stände, Festigkeit, Elastizität der Konstruktion. Diese fängt die von außen
kommenden Kräfte auf und leitet sie als Spannungen, elastische Bewegungen
reibungslos zur Erde. Wieder sind diese Bewegungen in Form, Tempo und
Rhythmus zu erfassen und in die durch die Konstruktion verkörperten Bahnen
zu leiten, wodurch diese zu ihrem sichtbaren Ausdruck wird.
So entsteht als neues Element des Raumes, der Konstruktion und des
Organisationssystems die Straße, die Bahn, der Schlauch mit dem Kenn¬
zeichen der Kontinuität, des stetigen Verbindens, Überganges von verschiedenen
Bewegungsarten. In der Antike ist die Säule ein Ding, der Balken ein zweites
und das Gesimse ein drittes Ding, jedes selbständig und für sich verwend¬
bar. Darum konnte man sie in verschiedenen Stilarten kombinieren, konnte
sie einzeln auch weglassen. In der Gotik werden Bündelpfeiler und Kreuz¬
rippe zu einer Einheit, besonders in der Hochgotik, wo die letzten tren¬
nenden Kapitelle verschwinden, und darum zum Ausdruck einer kontinuier¬
lichen Kraftlinie, die am Schlußstein beginnt und am Pfeilerfuß endet. Am
stärksten wird dieses Kennzeichen der Kontinuität beim modernen Eisenbeton¬
hallenbau, wo man nicht mehr weiß, wo die Säule aufhört und der Träger
beginnt, wo beide Begriffe keinen Sinn mehr haben, so daß an ihre Stelle
der des Rahmens treten mußte. Gänge, Stiegen, Kran- und Rollbahnen, Kabel¬
schächte, Leitungskanäle, Aufzüge verbinden in horizontaler und vertikaler
Richtung die Räume zu einer Einheit, zerreißen ihre Geschlossenheit und
durchlöchern, zerstören die Massivität des Baues. Jeder einzelne Raum wie
ihre Gesamtheit bekommt durch sie Struktur. Die Häuser werden durch
Straße, Bahn und Auto zu einer höheren Einheit verbunden, zur Stadt,
diese selbst löst sich im Siedlungsgelände auf zum offenen Land und die
Bahnhöfe verbinden sie mit dem Reich.
Die Funktion des Raumes, die verbindende Bewegung öffnet ihn. Licht
und Luft dürfen ungehindert hinein. Das Glas- oder Lusthaus wird zum —
3i8
Franz Löwitsdi
wenn auch utopistischen — Ideal. Die Räume selbst müssen nicht groß
sein. Ihre übertriebene Größe gehört zum höhlenhaften Raumempfinden
insofern dieses es sich in einem möglichst großen Raum bequem machen
will. Wie im Siedlungshaus dürfen die Räume klein sein, weil die ganze
Welt eindringt und zum Haus gehört durch die weiten Fenster, die gemein¬
samen Anlagen, durch Telephon und Radio.
Man erkennt heute immer mehr, daß in der abgrenzenden, wehrenden
Wand das Material nicht ausgenützt wird. Die neuesten Bestrebungen zielen
dahin, die Mauern den Zellmembranen, Tier- und Pflanzenhäuten gleich¬
zubilden, die die von außen wirkenden Energien der Wärme, des Lichtes
der Elektrizität, Feuchtigkeit usw. nicht abweisen, sondern in nutzbringende
Form transformieren und so in das Innere des Körpers weiterleiten. Auch
in den konstruktiven Gliedern wird der Hauptwert auf ihre Leitungsfähig¬
keit gelegt. Sie leiten Kräfte, Bewegungen und sind selbst bewegt, sind nicht
„starr“, sondern leisten „Arbeit“. Die veränderte moderne Psyche determiniert
eine neue Zweckmäßigkeit; die neuen Bedürfnisse geben dem Raum neuen
Sinn und neue Gestalt. Das Haus ist nicht mehr Stütze und Hülle, sondern
Maschine, Transformator zwischen Kosmos und Mensch.
Ein letzter Rest von Regression lebt sich in cunnischer Gestaltung in
Cafes, Konditoreien, Bars aus. Dort mag sie am Platze sein, weil man dort
noch in „Stimmung“ macht. Es gibt aber bereits auch Menschen, die diese
in hell erleuchteten Räumen finden. Dem modernen Raumempfinden wider¬
spricht es noch nicht, wenn z. B. die Fenster eines Stiegenhauses, die in
einen häßlich verbauten Lichthof notwendig führen, durch Kunstverglasungen
symbolisch geschlossen werden, weil diese schließlich noch immer angenehmer
sein werden als die Unordnung regelloser und verwahrloster Feuermauern.
Dagegen widerspricht es unserem Empfinden, wenn etwa die großen Fenster
eines Warenhauses, anstatt mit geschliffenen Spiegelscheiben versehen, durch
zahlreiche Fenstersprossen geteilt werden, durch die der Ausdruck der „Ge¬
schlossenheit“ erreicht werden soll. Von außen mag sich ja dieses Ornament
ganz nett ansehen, von innen aber zerreißt und stört es den Ausblick und
seine Zwecklosigkeit wird sichtbar. Vollends entgegengesetzt aber ist es, in
einem Landhaus sich die Fernsicht auf eine jedenfalls ganz und gar nicht
feindliche Landschaft durch bunte Fenster oder gar Butzenscheiben wegzu¬
nehmen. Oder sollten gemalte Blumen schöner sein als wirkliche?
In Wien baut man die Wartehäuschen der Straßenbahn aus geschliffe¬
nem Spiegelglas, zwischen drei Zentimeter starken Eisenrahmen montiert.
In Deutschland macht man aus ihnen mittels vierzig Zentimeter starken
Raumempfinden und moderne Baukunst
319
Mauern, mittels Kuppeln, Mansarddächern und Türmen Mausoleen. Ich
konnte in Berlin eine Zeitlang die öffentlichen Bedürfnisanstalten nie finden,
weil ich sie in den prunkvollen Festungsbauten nicht vermutete.
Aus hysterischer Überbetonung der Progression entstehen die Utopien und
phallischen Symbole. Die letzteren entsprechen dem modernen Raumemp¬
finden, wenn sie gleichzeitig Ausdruck einer starken Bewegung werden. Der
antike Phallos der Säule ist starr, ruhig. Der gotische Turm deutet eine
Bewegung an, aber noch symbolisch, indem sie das seinen Linienzug ver¬
folgende Auge empfindet. Im Wolkenkratzer aber erlebt man sie konkret.
(Aufzüge.) „Nur Symbole sind sie in allen jenen Rathaustürmen, die sonst
keinen Sinn haben.
Im neunzehnten Jahrhundert machte es der stärker werdende Verkehr
nötig, die Festungsmauern, die die Stadtzentren umgaben, niederzureißen. In
Wien wurden sie durch die die Innere Stadt restlos öffnende Ringstraße ersetzt.
In den meisten Städten Deutschlands ließ man ihre bedeutungsvolleren Tor¬
bauten stehen. Nicht genug, man baute noch neue hinzu. So trifft man
hier oft am Zentrumsausgange einer größeren Straße mitten in einen freien
Platz hineingestellt einen Torbau, halb Mausoleum, halb phallischer Turm,
halb Triumphbogen, jedenfalls aber mit einer oder mehreren Toröffnungen,
wegen des so reizenden „Durchblickes“. Infantile Neugierde haben sie hin¬
gestellt, Sieg, Ehrfurcht vor dem Alter und Titusbögen mußten die Aus¬
rede abgeben. Der Effekt ist nun der, daß Fußgänger, Autos und Straßen¬
bahn um das Tor herum passieren müssen, der Verkehr staut sich und die
Stadtverwaltungen zerbrechen sich den Kopf über Unter- und Überführungen.
„Um ein Tor herumfahren!“ Beim Aussprechen dieses Satzes sträuben sich
die Haare. Wer diesen Gedanken dreimal denken kann, ohne sein modernes
Raumempfinden zu entdecken, dem ist nicht zu helfen.
Es wird zum Kennzeichen des vollendeten energetischen Denkens, daß es,
weil es die ding- und höhlenhaften Daseinsstufen überwunden hat, sich auf
keine dieser Formen kapriziert, also nicht phallische Formen anwendet, wenn
andere zweckmäßiger wären. Die Tendenz nach Freiheit verdichtet sich in
der reinen Zweckform, ohne sie zu vergewaltigen. Ein Haus zu bauen, in
dem man friert, ist ebenso sinnwidrig, wie ein solches, in dem man erstickt.
Das eine wie das andere entsteht, wenn das ding- beziehungsweise höhlen¬
hafte Denken neurotisch überbetont ist; wenn beide Arten als Gegensätze
empfunden werden, was sie objektiv nicht sind, sondern eben erst durch
die aus einer Verschiebung geholte Affektbesetzung werden. In der Mode
wie in der Baukunst sind die Bedürfnisse nach Um- und Enthüllung nicht
3ao
Franz Löwitsdi
unvereinbare Gegensätze, sondern Funktionen, die in bestimmtem Maße zu
erfüllen sind, und von denen die eine die andere fordert. Eine noch nicht über¬
wundene Neurose schwankt zwischen beiden Extremen, ohne das dritte, die
Erfüllung im energetischen Raum zu finden.
Eine Schwierigkeit ergibt sich ja allerdings dadurch, daß sich die Um¬
gebung eines Hauses, unseres Daseins fortwährend ändert, so daß einmal
eine starke Abgrenzung, ein andermal eine Öffnung gegen diese erwünscht
sein kann. Es wird notwendig, das Fenster schließen, weiter oder enger
öffnen zu können; im Sommer wäre bei einem Landhause es manch¬
mal vielleicht am besten, wenn man die Wände ganz zum Verschwinden
bringen könnte. Aus diesen Forderungen holt sich das moderne Raum¬
empfinden einen neuen Reitrag zu seiner das Haus durch Bewegung als
Maschine denkenden Konzeption. Schubfenster und Türen, Rollbalken, Jalu-
sien, Vorhänge, schließlich bewegliche Wände und Decken sind heute keine
Phantasien mehr.
Aus der narzißtisch infantilen Einstellung ist determiniert die Sucht nach
starken Effekten in lebhaften leuchtenden Farben, nach Formen, die durch
ungewohnte Bizarrerie stark wirken; keine Regression, sondern lebensvolle
Bejahung der lustbringenden Sensationen im Riemannschen Raum.
Aus derselben Quelle die primitive, leicht faßliche Form, der Kubismus
in der Baukunst, die Tendenz, das komplizierte durch einfachste Mittel zu
lösen.
Nicht zuletzt eine gewisse spielerische Flüchtigkeit, ein Bauen mit Pappe
und Stuck, weil das Tempo der Entwicklung zu schnell ist, als daß wir
uns getrauen dürften, für die Ewigkeit zu bauen.
In Heft ö von Wasmuths Monatsheften für Baukunst (Jahrgang 1925)
schreibt Herr Adolf Behne in seinem Artikel über Architekturkritik den
Satz: Moderne Baukunst kann nur von Menschen geschaffen werden, die
vollkommen offen sind. Darunter setzt er die Zeichnung eines Tennis¬
spielers. Die Physiognomie dieses Bildes sagt vielleicht mehr, als es ein
ganzes Buch vermag. Vorher stellt er fest, daß noch immer zuviel Archi¬
tekten Burgen und Festungen statt Wohn- und Nutzbauten entwerfen. Er
erkennt darin die Manifestation eines kriegerischen Geistes. Die Psycho-
analyse erklärt uns diese Erscheinung aus der Fixierung an pränatale Zeiten.
Wir sind gewohnt, weiter zu fragen; warum sind diese Menschen derart an
die Vergangenheit gebunden, daß sie nicht ja sagen können zur gegen¬
wärtigen Wirklichkeit, daß sie Angst haben vor Licht und Sonne und Luft,
vor allen Dingen und Menschen, die sie umgeben, in denen sie nur ihre
r
3ai
Feinde sehen, vor denen sie sich schützen müssen. Woher kommt es, daß
sich solche narzißtische Geister gekränkt und passiv zurückziehen, anstatt
sich aktiv zu betätigen. Welche Leiden der Menschheit haben sie unfähig
gemacht, die Freiheit zu genießen? Welche äußeren, sozialen und sittlichen
Verhältnisse tragen Schuld an dem inneren Konflikt? Wäre es nicht besser,
diese psychoanalytisch erkennbare Situation im Sinne der Freiheitstendenz
umzugestalten, als sich mit symbolischen Spielereien zu befriedigen?
Die Hoffnung, daß auch darauf die Psychoanalyse Antwort geben kann,
der Glaube, daß aus ihrer Gegend die Erlösung kommt, die uns durch Selbst¬
erkenntnis zur Freiheit führt, ist ein Teil unserer Weltanschauung, speku¬
lative Umsetzung unseres Wollens und so also vielleicht selbst nichts anderes
als ein Symbol unserer Zeit, nämlich der Ausdruck unseres Wunsches, uns
von der hemmenden archaischen Erbschaft zu befreien, die Freiheit im ge¬
steigerten Bewußtsein, im restlos aufgesogenen Wissen vom Ich und der Welt
zu erreichen.
Bemerkungen zum dickt eriscken Ausdruck
des modernen ^NTaturgefükls
Von
RickarJ 5terta
W’^ien
Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten.
Nichts ist drinnen , nichts ist draußen
Denn was innen, das ist außen .
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.
Goethe: Epirrhema.
Wenn hier unternommen werden soll, einiges über das Naturgefühl und
seinen'Ausdruck zu sagen, so geschieht es in der Einsicht, daß dies nichts
anderes als eine Ergänzung zu der Arbeit „Über Naturgefühl“ von Hanns
Sachs 1 sein kann, in welcher der wesentliche Inhalt des Naturgefühls und
sein Wandel von der Antike zur Moderne erschöpfend behandelt wurde.
Der Titel dieser Arbeit kündet bereits an, in welcher Richtung diese Er¬
gänzung vorgenommen werden soll; wenn Goethe dabei in den Vorder¬
grund gerückt wird, so rechtfertigt sich dies vielleicht aus dem Interesse
für die Persönlichkeit des großen Dichters und aus der Hoffnung, daß, was
dem Naturempfinder xat’ s|oxnv zukomme, in mancher Richtung auch für
viele andere typisch sei.
Hanns Sachs hat klargelegt, daß das Naturgefühl der Stufe des Narzißmus
entspricht und in seiner Personifikationstendenz einer Projektion des ver¬
drängten Narzißmus auf die Außenwelt gleichkomme. Der Unterschied
zwischen dem modernen und dem antiken Naturgefühl bestehe darin, daß
1) Diese Zeitschrift, Bd. I, 1912.
Bemerkungen zum dickterisdien Ausdruck des modernen Natixrgefülil;
3z3
der moderne Mensch seine affektive Stellungnahme zur unbelebten Natur
ausspreche, die Antike verschweige sie, die Antike werte das Objekt, nicht
das Gefühl, die Moderne werte das Gefühl, das Objekt sei ihr indifferent.
Das Merkmal des modernen Naturgefühls sei die Stimmung, diese aber
sei die Objektivierung der Empfindungen. Dieser inhaltlichen Deutung
werden wir kaum etwas zuzufügen haben, sie kann schlechthin als er¬
schöpfend bezeichnet werden. Wir haben es unternommen, uns einem for¬
malen Problem zuzuwenden und uns nach der Technik umzusehen, mittels
deren das moderne Naturgefühl von einem gerade in dieser Richtung un¬
erreicht großen Dichter zum Ausdruck gebracht und so uns übermittelt wird.
Aus der Fülle, die uns zur Untersuchung zu Gebote steht, wollen wir
eine lyrische Strophe aus der Einleitung zum zweiten Teile des Faust heraus¬
greifen, nicht ganz willkürlich, sondern weil eine naturlyrische Episode am
Beginn des zweiten Teiles des Faust vielleicht aus ihrer Stellung im Ablauf
des dramatischen Geschehens der Dichtung an sich schon für uns einiges an
Gedanken bringen oder bestätigen kann.
Die Strophe stammt aus dem Chor, der dem Gesang des Ariel „Einzeln,
zu zweien und vielen, abwechselnd und gesammelt“ antwortet. Sie ist im
Manuskript „Notturno“ überschrieben und lautet:
Nacht ist schon hereingesunken
Schließt sich heilig Stern an Stern,
Große Lichter, kleine Funken
Glitzern nah und glänzen fern;
Glitzern hier im See sich spiegelnd,
Glänzen droben klarer Nacht,
Tiefsten Rühens Glück besiegelnd
Herrscht des Mondes volle Pracht.
Man wird zugeben müssen, daß die durch sie übermittelte Empfindung
eine außerordentlich starke ist und wird sich erstaunt fragen, was dieser
Wirkung zugrunde liegt und wie sie erreicht wurde?
Da fällt es nun zunächst auf, daß diese Wirkung nicht allen Verszeilen
gleich anhaftet, sondern daß sie bei einzelnen eine Steigerung erfährt. So
in der zweiten, sechsten, sowie siebenten und achten Verszeile, von denen
wir die zweite zunächst ganz isoliert betrachten wollen:
Schließt sich heilig Stern an Stern.
Es handelt sich in dieser Zeile um die Darstellung eines alltäglichen
Naturgeschehens und es muß an der Art dieser Darstellung liegen, wenn
eine so starke Empfindung dabei übermittelt wird. — Zunächst erscheint
uns an dem so einfachen und kurzen Satz die Stellung des Wortes „heilig“
auffällig. Wir wissen im ersten Augenblick nicht recht, wem wir das Wort
zurechnen sollen. Das Nächstliegende ist es wohl, es als Ausdruck des heiligen
Empfindens zu nehmen, das im Dichter bei der Betrachtung des Abend¬
werdens rege wird. Da der Dichter aber diese heilige Empfindung nicht
von sich aussagt, sondern sie als heiliges Geschehen in der Außenwelt dar¬
stellt, dürfen wir hier jenen projektiven Vorgang annehmen, den Sachs
als das Wesentliche des Naturgefühls betrachtet. Es kann aber keinem Zweifel
unterliegen, daß die Bedeutung „heilig“ in dem Vers in erster Linie eine
adverbielle ist. Als Adverb sagt das Wort von der Tätigkeit der Sterne
aus, daß sie heilig sei, es macht das Aneinanderschließen der Sterne zu
etwas Heiligem. Über den Sinn dieses Adverbs können wir uns erst Klar¬
heit verschaffen, wenn wir eine auffällige Tatsache berücksichtigen, an der
wir bisher vorübergegangen sind. Die ganze Darstellung im Vers ist so gewählt,
daß sie das Geschehen in der Außenwelt zu einer Tätigkeit der
Außenwelt werden läßt. Das Wort „heilig“ wirkt durch seine adverbielle
Bedeutung im Sinne dieser Darstellung verstärkend, weil es eben diese Tätig¬
keit zu einer zweckvollen macht, zu einem „heiligen“ Tun. Wir werden
uns fragen müssen, ob diese so bedeutsame Folgerung aus der adverbiellen
Bedeutung des Wortes, diese gelte der Verstärkung der Darstellung eines Ge¬
schehens als Tätigkeit, nicht ein Produkt unserer Deutung sei; aber sie wird
unbestritten bleiben müssen, wenn in den folgenden Versen vom gleichen
Objekt der Darstellung, von den Himmelskörpern ähnliche zweckvolle Tätig¬
keit mit ähnlichen Darstellungsmitteln ausgesagt wird. Und dies finden wir
in der Tat; und zwar das gleiche Objekt der Darstellung als handelndes
Subjekt. Wiederum von den Sternen, diesmal als große Lichter bezeichnet,
wird im sechsten Vers gesagt:
„Glänzen droben klarer Nacht.“
Hier ist es ein nicht sofort verständlicher Dativ, der uns auffällt. Aber
sogleich bemerken wir, daß er wieder einer Verstärkung der Darstellung
eines Geschehens als Tätigkeit des dargestellten Objektes dient. Die Sterne
glänzen nicht nur, sie glänzen jemandem: der Nacht. Und wenn in den
letzten zwei Versen des Mondes volle Pracht herrscht, so geschieht es, um
„tiefsten Rühens Glück zu besiegeln“. Wir dürfen also wohl mit Recht
annehmen, daß sich in dem Wort „heilig“ hinter der Bedeutung als Aus¬
druck einer projizierten Empfindung eine andere, nicht sofort bewußt wer¬
dende verbirgt, der anscheinend die Absicht zugrunde liegt, das Geschehen
Bemerkungen sum dichterischen Ausdruck des modernen Naturgefühls 325
in der Außenwelt zu einer Tätigkeit umzudeuten, respektive diese Darstellung
als Tätigkeit, die auf Grund unserer Sprache die einzig mögliche ist, über
diese sprachliche Notwendigkeit hinaus zu verstärken.
Was also bei einer ersten Lesung der Strophe nicht oder kaum bewußt
wird, setzt bei genauerer Analyse in Erstaunen: dem kosmischen Geschehen
ist, ohne daß wir es aufs erste deutlich gewahr werden, durch die ver¬
hüllte Darstellung als zweckvolle Tätigkeit ein durchaus menschlicher Sinn
beigelegt worden, aber in tieferer Form als nur als Projektion unseres Ge¬
fühls. Wir finden, daß durch die Art des dichterischen Ausdrucks die
Außenwelt lebendig wird und durchwoben von zweckvoller harmonischer
Handlung, und zwar so, als ob das, was geschieht, in unserem Sinne getan
würde. Die dichterische Wiedergabe des Geschehens dient dazu, das, was
geschieht, als Produkt des eigenen Wüllens darzustellen, sie eröffnet den
Zugang zu einer Art kosmischer Motilität . 1 * *
Und nun erkennen wir die Möglichkeit für diese Darstellung des Ge¬
schehens als Tätigkeit und ihren Lustgewinn. Es liegt ihr eine weitest¬
gehende narzißtische Identifizierung zugrunde. Aber die Ausdrucksform
der Darstellung ist eine solche, daß die Identifizierung, diese lustbringende
narzißtische Erweiterung der durch die Außenwelt so engen Grenzen
unserer Persönlichkeit in diese einschränkende Außenwelt hinaus unbewußt
bleibt und geschehen kann, ohne daß der mächtige Wächter des Realitäts¬
prinzips ihrer gewahr wird.
Wir sind nunmehr genötigt, unseren Befund einer Revision zu unter¬
ziehen, die sich in mehrfacher Richtung erstreckt. Zunächst: ist der Aus¬
druck des Naturgefühls häufig ein solcher, wie wir ihn in unserer Strophe
gefunden haben, und spielt die Tätigkeit des dargestellten Objekts dabei
häufig wirklich diese Rolle, die ihr in der Strophe aus dem Faust nach
unserer Meinung zukommt? Im gleichen Chorgesang des Faust, dem unsere
Strophe entnommen ist, finden sich die folgenden zwei Verse:
Täler grünen, Hügel schwellen,
Buschen sich zu Schattenruh;
Gerade der Ausdruck „Buschen sich zu Schattenruh“ hat lebhafte Kontro¬
versen bei den Faust-Kommentatoren und Sprachgelehrten hervorgerufen.
Am zureichendsten erscheint mir die Erklärung in Grimms Wörterbuch zu
sein, das Wort „huschen“ bedeute „die Gestalt von Büschen annehmen“.
i) „Motilität“ wird hier und im iolgenden im Sinne der Bewegungsfähigkeit ge¬
braucht. &
Imago XIV.
22
3a6
Richard SterLa
Sie kommt der imaginären Tätigkeit, die das Wort ausdrückt, am ehesten
gleich, Das „zu Schattenruh“ zeigt wieder das Zweckvolle dieser Tätigkeit
an, die eben an vielen Stellen über das menschliche Handlungsvermögen
hinausgeht und häufig als Bewegung an sich, aber doch als zweckvolle
Bewegung die stattgefundene Identifizierung anzeigt, der der große narzi߬
tische Lustgewinn des Naturgefühls entstammt. Es kann als Maß für die
Intensität dieser Identifizierung gelten, daß zum Zwecke ihrer Darstellung
ein sonst nur im Hauptwort gebräuchlicher Stamm „Busch“ zur verbalen
Funktion erweitert wird.
Der Gesang des Ariel und der ihm antwortende Chor haben den tiefen
Sinn, die Regeneration des Faust nach dem furchtbaren Zusammenbruch
am Ende des ersten Teiles darzustellen. Faust verläßt der Tragödie ersten
Teil als ein völlig Gebrochener, an allen Versuchen gescheitert, durchaus
unbefriedigt und mit schwerstem Schuldgefühl beladen. Er soll als neuer¬
dings Strebender und kräftig Handelnder in den zweiten Teil eintreten;
dieses zu ermöglichen scheint mir der ökonomische Sinn der naturlyrischen
Episode am Beginn des zweiten Teiles zu sein. Der Weg, den seine Re¬
generation nimmt, ist der über den Narzißmus. Die narzißtische Erweiterung
der Ichgrenzen im Naturgefühl bietet die breiteste Möglichkeit der Dar¬
stellung dieser narzißtischen Regeneration. Die große Anbietung, die von
der gesamten Natur an Faust erfolgt und der Ariels Gesang und der fol¬
gende Chor dienen, ist nichts anderes als die Darstellung dessen, was im
Naturgefühl geschieht, nicht von der Seite des Empfindenden, sondern von
der Seite der Natur aus. Im Naturgefühl wird die Welt ebenso errungen,
wie sie hier sich darbietet. Daß für die in dieser Regeneration erfolgende
Erweiterung der Ichgrenzen die sprachliche Beengung durchbrochen wird,
darf wohl nicht wundernehmen. Gerade an dem Vers
Buschen sich zu Schattenruh
ist es so deutlich, daß die Motilität des dar gestellten Objekts einer narzi߬
tischen Eroberung desselben zum Zwecke des persönlichen Lustgewinnes
gleichkommt. Man begreift, daß bei dieser expansiven Erweiterung der
Ichgrenzen in dieser Episode die sprachlichen Grenzen gleichfalls über die
Norm erweitert werden müssen. Wir müssen dabei daran festhalten, daß
diese Erweiterung in das dargestellte Objekt oder Geschehen nicht nur eine
Projektion eines Affektes ist, sondern eben auf dem Wege der Darstellung,
die den Zugang zur „kosmischen Motilität“ eröffnet, ein Einbeziehen des¬
selben in die eigene Machtsphäre bedeutet. Einer solchen Darstellung liegt
Bemerkungen zum dickteriscken Ausdruck des modernen Naturgefükls
die Formel zugrunde: so wie ich mich bewege, bewegt sich unter meinem
Willen meiner Darstellung die Welt. Die ganze Tiefe der narzi߬
tischen Identifizierung geht aus dieser Formel hervor.
In dem bekannten Gedicht „An den Mond“ ist deutlich wieder die
Tätigkeit des Objekts als Ausdruck der Einbeziehung desselben in den Be¬
reich der eigenen Motilität das Wesentliche der Darstellung.
Füllest wieder Busch und Tal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz.
Hier wird die Tätigkeit des Mondes als eine lösende für die eigene Seele
empfunden. In Wirklichkeit ist der Vorgang umgekehrt; weil die Seele
sich aus ihren Grenzen gelöst und in den Kosmos hinein erweitert hat,
ist der Mond tätig geworden.
Aber wir müssen nicht bei Goethe verweilen. Die Motilität des dar¬
gestellten Objekts beim Ausdruck des Naturgefühls ist nicht für ihn allein
charakteristisch. So kommt sie in eminent hohem Maße den ergreifenden
Naturschilderungen Adalbert Stifters zu; sie macht geradezu das Spezifische
an der Stifterschen Darstellung aus und man kann gut beobachten, wie gerade
von dieser Bewegungsfähigkeit die stärkste Wirkung ausgeht. In „Brigitta“
heißt es: „Ich ging langsam dahin. Der Mond hob sich mehr und mehr und
stand endlich klar an dem warmen Sommerhimmel. Die Heide lief wie eine
fahle Scheibe unter ihm weg. Und gleich darauf: „Riesige Tannen streckten
sich gegen den Himmel und mannsdicke Eichenäste griffen herum.“ Ferner
im „Kondor : „Der Mond hatte sich endlich von den Dächern gelöset, und
stand hoch im Blau — ein Glänzen und ein Flimmern und ein Leuchten
durch den ganzen Himmel begann, durch alle Wolken schoß Silber, von allen
Blechdächern rannen breite Ströme desselben nieder, und an die Blitzableiter,
Dachspitzen und Turmkreuze waren Funken geschleudert.“
In diesen Beispielen aus Stifters Schriften, die sich leicht um einige Dutzend
vermehren ließen, ist die Rolle der Motilität des dargestellten Objekts und die
Wirkung, die gerade von ihr ausgeht, ganz besonders deutlich.
Der Schluß des Gedichts „Am Abend“ von Hölderlin zeigt sie wieder:
. . . Da rauschten
Lebendiger die Quellen, es atmeten
Der dunkeln Erde Blüten mich liebend an
Und lächelnd über Silberwolken
Neigte sich segnend herab der Äther.
22*
3*8
Ridiard SterL
Das „Mondscheinlied“ von Ludwig Tieck bringt eine Überfülle von
Tätigkeit des dargestellten Objekts:
Träuft vom Himmel der kühle Tau,
tun die Blumen die Kelche zu,
Spätrot sieht scheidend nach der Au,
flüstern die Pappeln, sinkt nieder die nächt’ge Ruh.
Kommen und gehen die Schatten,
Wolken bleiben noch spät auf
und ziehen mit schwerem, unbeholfnem Lauf
über die erfrischten Matten.
Kommen die Sterne und schwinden wieder,
blicken winkend und flüchtig nieder,
wohnt im Wald die Dunkelheit,
dehnt sich Finster weit und breit.
Hinterm Wasser wie flimmernde Flammen,
Berggipfel oben mit Gold beschienen,
neigen rauschend und ernst die grünen
Gebüsche die blinkenden Häupter zusammen.
Welle, rollst du herauf den Schein,
des Mondes rundfreundlich Angesicht?
Er merkt’s und freudig bewegt sich der Hain,
streckt die Zweig’ entgegen dem Zauberlicht.
Viel einfacher, viel universeller und wirksamer ist die Bewegung des dar¬
gestellten Objekts als Ausdruck der Identifizierung mit demselben im letzten
Vers des Gedichtes „Septembermorgen“ von Eduard Mörike:
Im Nebel ruhet noch die Welt,
noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst Du, wenn der Schleier fällt,
den blauen Himmel unverstellt,
herbstkräftig die gedämpfte Welt
in warmem Golde fließen.
In einem Gedicht von Richard Dehmel: „Die Harfe“ überschrieben, ist es
ganz deutlich, wie die Bewegung des dargestellten Objekts aus der eigenen
Motilität stammt und auf dem Wege der Identifizierung dem dar gestellten Objekt
übermittelt wird. Es seien die diesbezüglich wichtigen Strophen wiedergegeben:
Unruhig steht der hohe Kiefernforst,
die Wolken wälzen sich von Ost nach Westen;
lautlos und hastig ziehn die Krähn zu Horst,
dumpf tönt die Waldung aus den braunen Ästen,
und dumpfer tönt mein Schritt.
Bemerkungen zum diditeriscken Aiisdruck des modernen Naturge ftiU
s 339
Hier über diese Hügel ging ich schon,
als ich noch nicht den Sturm der Sehnsucht kannte,
noch nicht bei euerm urweltlichen Ton
die Arme hob und ins Erhab’ne spannte,
ihr Riesenstämme rings.
In großen Zwischenräumen, kaum bewegt,
erheben sich die graugeword’nen Schäfte;
durch ihre grüngeblieb’nen Kronen fegt
die Wucht der lauten und verhalt’nen Kräfte
wie damals.
Und eine steht, wie eines Erdgotts Hand
in fünf gewalt’ge Finger hochgespalten;
die glänzt noch goldbraun bis zum Wurzelstand
und langt noch höher als die starren alten
einsamen Stämme.
Durch die fünf Finger geht ein zäher Kampf,
als wollten sie sich aneinanderzwängen;
durch ihre Kuppen wühlt und spielt ein Krampf,
als rissen sie mit Inbrunst an den Strängen
einer verwunsch’nen Harfe.
Hier korrespondiert deutlich eine tätige Bewegung des Dichters mit einer
solchen des dargestellten Objekts. In der zweiten Strophe der Dichter:
als ich . . .
noch nicht bei euerm urweltlichen Ton
die Arme hob und ins Erhab’ne spannte
und in der vierten und fünften Strophe das dargestellte Objekt:
Und eine steht wie eines Erdgotts Hand
in fünf gewalt’ge Finger hochgespalten usw.
Die Überpflanzung des eigenen Bewegungsimpulses in das darzustellende
Objekt wird an diesem Gedicht durch die Parallele von Arm und Hand
besonders deutlich.
Von dieser Motilität gibt es fließende Übergänge zur Personifikations¬
tendenz des antiken Naturgefühls, doch ist in der Moderne das Objekt immer
mehr beseelt als vermenschlicht. Auch für Autoren der neueren Richtung
spielt die Bewegungsfähigkeit des dar gestellten Objekts eine ganz wesent¬
liche Rolle; wir erlassen uns das Zitieren, da jede Anthologie neuerer Dichter
Beispiele die Fülle bringt. Allerdings werden die Verhältnisse bei ganz
modernen Dichtern durch die Angleichung ihrer Sprache an die der Schizo-
33 o
Richard Sterba
phrenie wesentlich kompliziert. Eine Untersuchung darüber geht über de
Rahmen unserer Arbeit hinaus.
Nach diesem kurzen Überblick über das Areal der Gültigkeit unseres
Befundes wollen wir uns nach Anschlüssen an die bisherige analytische
Literatur umsehen. Helene Deutsch sagt in ihrem Innsbrucker Kongreß
vortrag „Glück, Zufriedenheit und Ekstase “: 1 „Jeder ästhetische Genuß
mag er bei der Betrachtung einer Landschaft oder eines Kunstgegenstandes
entstehen, bei der Lektüre einer Dichtung oder beim Zuhören der Musik
immer kennzeichnet er sich dadurch, daß zwischen dem Ich und dem von
der Außenwelt zuströmenden Eindruck auf dem Wege der Einfühlung eine
Ich-Weltidentität entsteht. Das Beglückende ist eben in diesem Identitätsgefühl
zu suchen. Von diesen alltäglichen Erlebnissen führt der Weg . . . zur Ekstase “
Für die ästhetische Empfindung des Naturgefühls müssen wir diese Formu¬
lierung voll bestätigen. Wir glauben aus dem Ausdruck des Naturgefühls
auch ermittelt zu haben, wie diese Einfühlung vor sich geht und welche
Rolle der Motilität des dargestellten Objekts in der Ich-Weltidentität für das
Naturgefühl zukommt. Das Naturgefühl nimmt tatsächlich eine Mittel¬
stellung zwischen Normalzustand und Ekstase ein und leitet zu letzterer
über. Dabei entspricht es unseren Ergebnissen in hohem Maße, daß, sofern
sich der Gefühlszustand des Schaffenden, oder das, was er darstellen will,
auf dem Weg über das Naturgefühl dem Ekstatischen nähert, die Bewegung
des dargestellten Objekts sich steigert und ins Phantastische wächst. Gerade
am Schluß des Faust, II. Teil, wo schon die Einführung des „Pater
ecstaticus das Ekstatisch-Religiöse der letzten Szene kennzeichnet, finden
wir eine Naturschilderung, bei der die Bewegung des dargestellten Objekts
ins Grandiose gewachsen ist:
Chor und Echo: Waldung, sie schwankt heran,
Felsen, sie lasten dran,
Wurzeln, sie klammern an
Stamm, dicht an Stamm hinan.
In Nietzsches Tanzlied „An den Mistral“ führt das ekstatische Erlebnis
des Dichters gleichfalls zu einer über das gewohnte Maß hinausgehenden
Bewegung des Objekts.
Ein Stück Vorschreiten gegen das ekstatische Erlebnis erscheint als eine
Bedingung der dichterischen Darstellung von Zuständen oder Geschehnissen
als Tätigkeit. Die bloße Beschreibung, der die tiefere „Einfühlung“, wie
1) Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. Bd. XIII (1927).
Bemerkungen zum dichterischen Ausdruck des modernen NaturgefühL
33i
sie dem Naturgefühl zukommt, mangelt, liefert daher wenig Material für
unseren Befund. Daraus erklärt es sich, daß wir in der Goetheschen Prosa
so selten die von uns untersuchte Art der Darstellung finden, da Goethe
in seiner Prosa fast durchweg beschreibt; wo die affektive Beziehung zum
dargestellten Objekt eine innigere wird, ist ihm die Darstellung in der
gehobenen poetischen Form viel adäquater.
Sachs meint, daß die Personifikationstendenz, die dem antiken Natur¬
gefühl zukommt, der Phase des primitiven Animismus entspreche. Für das
moderne Naturgefühl, wie es gerade bei Goethe in so reiner und klassi¬
scher Form zum Ausdruck kommt, gibt Sachs keine genaue Entsprechung in
der phylogenetischen Entwicklung an. Wir müssen aber aus allem, was wir
ermittelt haben, annehmen, daß die moderne Form des Naturgefühls einer
weiteren Regression über den Animismus hinaus entspricht. Wenn im
dichterischen Ausdruck durch die Wahl der sprachlichen Elemente den
Gegenständen der Darstellung unbewußt oder nur wenig deutlich eine der
eigenen gleiche, sinnvolle Motilität zugeschrieben wird, wobei diese sinnvolle
Motilität der eigenen Willkür unterworfen erscheint, so kann kein Zweifel
darüber bestehen, daß dies nur möglich ist durch eine Regression, die in
die Phase der „Allmacht der Gedanken“ führt . 1 Diese liegt nach Freud
jenseits des Animismus, der bereits einen Teil seiner Allmacht den Geistern
abgetreten hat. Ihr entspricht die Vorstellung von einer allgemeinen Belebt¬
heit der Natur, die als „Animatismus“ bezeichnet wird. Dem Animatismus
und der Allmacht der Gedanken ist als Technik die Magie zugeordnet.
Der dichterischen Wiedergabe des Naturgefühls, in der durch die Art des
Ausdrucks den Gegenständen der Außenwelt eine im eigenen Sinne zweck¬
volle Motilität zugeschrieben und ein Zustand oder ein Geschehen als Tätig¬
keit dargestellt wird, liegt das Frazersche „mistaking an ideal connexion
for a real one “ zugrunde und sie ist psychologisch einer magischen Handlung
gleichzusetzen.
Es heißt in „Totem und Tabu“: „Nur auf einem Gebiete ist auch in
unserer Kultur die ,Allmacht der Gedanken 4 erhalten geblieben, auf dem
der Kunst. In der Kunst allein kommt es noch vor, daß ein von Wün¬
schen verzehrter Mensch etwas der Befriedigung ähnliches macht, und daß
dieses Spielen — dank der künstlerischen Illusion — Affektwirkungen hervor¬
ruft, als wäre es etwas Reales. Mit Recht spricht man vom Zauber der Kunst
x) Freud: Totem und Tabu. Abschnitt Animismus, Magie und Allmacht der
Gedanken. Ges. Schriften, Bd. X.
33 a
RicLard iSterL
II
! -
i
a
und vergleicht den Künstler mit einem Zauberer. Aber dieser Vergleich ist
vielleicht bedeutsamer als er zu sein beansprucht. Die Kunst, die gewiß
nicht als Vart pour Vart begonnen hat, stand ursprünglich im Dienste von
Tendenzen, die heute zum großen Teil erloschen sind. Unter diesen lassen
sich mancherlei magische Absichten vermuten. “ Unsere Erhebungen über
bestimmte künstlerische Ausdrucksformen des Naturgefühls entsprechen einer
Bestätigung dieser Vermutung magischer Absichten in der Kunst.
So liegt dem modernen Naturgefühl, das wir als ein Zeichen hoher Ent¬
wicklung einen reifen Kultur ansehen dürfen, das wir vom Primitiven weit
entfernt glauben, dieselbe psychogenetisch frühe Tendenz zugrunde wie der
magischen Handlung des Wilden und dem Spiel des Kindes. Es verdankt
seinen Lustgewinn der Befriedigung frühkindlicher Allmachtswünsche in
einer Form, die dank der „künstlerischen Illusion“ und dem spielerischen
Ernst des Kunstwerks uns inmitten aller unsrer Realitätsnot gestattet bleibt.
Es muß wohl kaum erwähnt werden, daß unser Befund den Sachs sehen
Formulierungen von der Affektprojektion im Inhalt des Naturgefühls nicht
widerspricht, sondern nur eine Ergänzung teils in inhaltlicher, größtenteils
in formaler Richtung bedeutet.
Zusammenfassung: Am Ausdrucke des Naturgefühls bei Goethe
und anderen neueren Dichtern ist die Darstellung eines Zustandes
oder Geschehens als Tätigkeit häufig genug beobachtbar. Dieser
Darstellung als Tätigkeit — über die sprachliche Notwendigkeit hinaus —
liegt eine weitgehende Identifizierung mit dem dargestellten
Objekt zugrunde; auf dieser Erweiterung der Ichgrenzen in die
Außenwelt beruht der Lustgewinn des Naturgefühls; die aus ihr
resultierende „kosmische Motilität“ ist möglich durch eine Re¬
gression auf die Phase der Allmacht der Gedanken. Psychologisch
entspricht die Darstellung einer magischen Handlung.
Wir wollen zum Schluß unseren paradigmatischen Dichter fragen, ob
er denn nicht der Allmacht seiner Gedanken und der magischen Kraft
seiner Darstellung sich bewußt war? Wir geben hier seine Antwort aus
dem „West-östlichen Divan“ wieder:
Licht und Gebilde
Mag der Grieche seinen Ton
Zu Gestalten drücken
Und an seiner Hände Sohn
Steigern sein Entzücken;
Bemerkungen zum dichterischen Ausdruck des modernen Naturgefühf
333
Aber uns ist wonnereich,
In den Euphrat greifen
Und im flüss’gen Element
Hin und wieder schweifen.
Löscht sich so der Seele Brand,
Lied, es wird erschallen;
Schöpft des Dichters reine Hand,
Wasser wird sich ballen.
Ein Frauensckicksal
George Sand
(Öffentlicher Vortrag, gehalten am 16. März 1928 im
Großen Saal des Ingenieur- u. Architekten vereines in Wien)
von
Helene Deutsck
W^ien
Meine Damen und Herren! Was an George Sand unsterblich werden
sollte die etwa hundert Bände ihrer Schriften — scheint mir bereits
dem Tode geweiht zu sein. Das Sterblichste am Menschen: sein persönliches
Schicksal, gelangt zur Unsterblichkeit dort, wo es sich aus dem Individuellen
zum allgemein Menschlichen erhebt. Ich will Ihnen an George Sand
wie an einem Phantom neben dem rein Persönlichen die typischen
Schicksale des weiblichen Seelenlebens analytisch beleuchten.
Männer pflegen zu sagen, die Frauen seien rätselhaft, geheimnisvoll,
jede im Grunde eine Sphinx, Enigma. Kant meinte bekanntlich: die Frau
verrät ihr Geheimnis nicht. Der naiven Vorstellung erscheint die Sache so,
als würden wir Frauen alle Etwas von uns wissen; die eine flüstert es
leise der anderen ins Ohr, die Mutter vererbt es ihrer Tochter, kurz, die
Frauen bilden untereinander einen stillen Geheimbund.
Ich glaube, eines stimmt an diesem Eindruck: die Frauen sind wirklich
rätselhaft und geheimnisvoll. Es stimmt auch, daß sie ihr Geheimnis nicht
verraten. Aber sie verraten es deshalb nicht, weil sie es selbst nicht
kennen; das Geheimnisvolle an ihnen ist eben, daß ihnen ihr eigenes
Selbst verborgener, unbewußter ist. Was den Mann im Leben leitet —
oder leiten soll und seinen Persönlichkeitswert bedeutet, ist die bewußte
Beherrschung seiner Beziehung zur Realität, die mehr intellektuelle Auf¬
fassung des Daseins und die verstandesmäßige Lösung der Lebensaufgaben.
Ein Erauensdiicksal
355
Oie Frau — das Weib par excellence — unterliegt eben dort, wo sie sich
vom Manne unterscheidet, dem „Geheimnis“ ihrer weiblichen Seele: sie
agiert und reagiert aus der dunklen, geheimnisvollen Tiefe ihres Unbewußten,
also affektiv, intuitiv, rätselhaft. Das Gesagte ist natürlich kein Werturteil,
es ist die Feststellung einer Tatsache.
Es wäre richtiger, statt Frau „das Weibliche“, „das Spezifisch-Weibliche“
zu sagen. „Weiblich“ und „Männlich“ sind scharf voneinander getrennte
Begriffe, die aber das einzelne Individuum vielleicht niemals reinlich
realisiert. „Weib“ und „Mann“ sind einmal aus einer gemeinsamen
Ureinheit entstanden, die als bisexuelle Anlage in allen Menschen fortlebt.
Sie haben sich im Laufe der Entwicklung immer mehr differenziert, ohne
sich je restlos voneinander zu trennen. So beherbergt das „Weib“ stets auch
männliche, der „Mann“ hingegen weibliche Anteile in sich. Das Ausmaß der
gegengeschlechtlichen Reste ist natürlich in jedem Individuum verschieden.
Im seelischen Haushalt des Einzelnen müssen die zweierlei Komponenten:
die männlichen und die weiblichen, zu einer harmonischen Ganzheit ver¬
bunden werden. Beim Weibe müssen die weiblichen Anteile vorherrschen,
beim Manne die männlichen. Wird die Harmonie der männlichen und
weiblichen Tendenzen in einem Individuum gestört, so entsteht ein innerer
Konflikt. Dieser kann in verschiedenen Formen auftreten: als seelische Er¬
krankung, Neurose genannt, oder etwa als gestörtes Lebensschicksal. Das
letztere vor allem als Folge der Unfähigkeit, ein befriedigendes, glück¬
bringendes Verhältnis zum anderen Geschlecht herzustellen. Aus einer so
gestörten Einstellung ergibt sich besonders für die Frau die Schicksals¬
tragödie. Der Mann kann sich viel leichter entschädigen durch Ersatz¬
bildungen und Sublimierungen, d. h. indem er an Stelle der Gefühls¬
erlebnisse geistige und soziale Werte einsetzt. Das Schicksal der Frau ist
jedoch im Gefühlserlebnis verankert. Je mehr aber im psychischen Ge¬
schehen eines Menschen das Gefühlsbetonte überwiegt, desto näher liegt
dieses Geschehen dem Triebhaften, Unbewußten, Geheimnisvollen. Selbst
wenn die Frau dem Manne geistig vollkommen gleichwertig ist, sie wie er
geistige Leistungen vollbringt, kann aus dem Zwiespalte zwischen weiblich
und männlich in ihr eine schwere Störung ihres Gefühlslebens hervorgehen
und ihr Schicksal sich traurig und mißlungen gestalten.
Ich bin bei Frau Aurore Dupin, verehelichte Dudevant, vermännlichte
George Sand angelangt. Sie ist unter ihrem männlichen Pseudonym George
Sand bekannt und als Schriftsteller berühmt geworden. Sie ist die Frau, die
für jeden den klassischen Typus des Mann-Weibes darstellt, die Mißgeburt,
336
Helene Deutsck
die im weiblichen Körper eine männliche Seele zu tragen schien und trotzdem
habe ich mir sie ausgewählt, um Ihnen an ihr das Weib zu zeigen — die
Tragödie einer Frauenseele. Ich will Ihnen zu zeigen versuchen, daß die
Männlichkeit von George Sand das Produkt eines mißlungenen Ringens um
die weibliche Glückserfüllung war, ein Rettungsanker, dort wo die Weib¬
lichkeit versagte. Ich möchte Ihnen beweisen, daß dieses Versagen, dieses
Scheitern des Weibtums tief in den Ereignissen ihrer Kindheit verborgen
lag. Aus diesen Ereignissen hatte es sich ergeben, daß das Weibliche in ihr
nie zu beglückender Erfüllung kommen konnte.
Die Männlichkeit George Sands trat zum Teil von Anfang an ihrem
weiblichen Entwicklungsweg störend entgegen, zum Teil wurde diese Männ¬
lichkeit sekundär mobilisiert und verstärkt, nachdem sie in ihren weiblichen
Strebungen scheiterte. Ihr Scheitern in der Weiblichkeit war nicht ein
einmaliges Schicksal, es war eine ununterbrochene Kette von neuem Hoffen
und krampfhaftem Suchen nach dem, was für sie als Weib erfüllend sein
sollte und sich ihr immer von neuem versagte. So ergab es sich, daß
George Sand zum weiblichen Ahasverus wurde, von ewig ungestillter
Sehnsucht getrieben, ein Scheinmann, hinter dem sich das weibliche,
unerfüllte Streben nach dem Glücke verbarg. In ihren Tagebüchern erzählt
George Sand von einem Manne, den sie in ihrer Kindheit kannte. Es war
ein armer Geistesgestörter, der von Haus zu Haus, von Hof zu Hof lief
und nach Zärtlichkeit (Tendresse) suchte. Das war für ihn nicht ein ab¬
strakter Begriff, es war etwas Personifiziertes, Konkretes', eine Gestalt, der
er nacheilte, wenn man ihm sagte: „gerade ist die Zärtlichkeit ums Eck
gegangen. So suchte die arme George Sand nach Zärtlichkeit, die sie
nahm und die sie gab, um sie beim „nächsten Eck“ ihrer Erlebnisse zu
verlieren, und weiter zu suchen.
Man weiß von George Sand folgendes: sie hatte ein üppiges Liebes¬
ieben, richtete viele Männer zugrunde. Ihr Geist war fast genial, ihre
Produktivität männlich. Ihre Liebeswahl fiel auf sogenannte „feminine“
Männer. Man sagte scherzhaft: Monsieur Sand, Madame Müsset. Man wußte
auch, daß Chopin, eines ihrer Liebesopfer, feminin war. Man sah in dieser
Art von Liebhabern eine selbstverständliche Ergänzungswahl, — Ergänzung
im Sinne Weiningers, in der sich die männlichen und weiblichen En¬
gramme zueinander fanden. Also, hieß es, liebte die männliche Sand die
weiblichen Männer.
Jede einzelne von George Sands zahlreichen Liebschaften endete mit
photographischer Treue immer mit derselben Katastrophe: der Mann war
Ein FrauensducLsal
33 7
vernichtet — George Sands „männlicher“ Lebensweg führte in die Höhe.
Ich betone „männlicher“, denn es gab auch etwas anderes in ihr, etwas,
was gebrochen und vernichtet wurde. — Das Rätsel eben dieses Schicksals
wollen wir psychoanalytisch zu lösen versuchen. Sowohl für ihre eigene
Epoche, wie auch für spätere Zeiten blieb diese sonderbare Frau ein un¬
beantwortetes Fragezeichen. Man bemühte sich vielfach, die Fragen, die um
sie entstanden, zu beantworten. Nicht nur ihre eigene Persönlichkeit be¬
wirkte die Faszination. Wurde sie doch zum Verhängnis für bedeutende
Männer. Männer nahmen sich der Geschädigten an und ein Sturm von
Entwertung und Verachtung verfolgte die Dämonisch-Böse. Frauen ergriffen
die Lanze und zogen aufs Schlachtfeld der Literaturkritik, um diejenige,
mit der sie sich im Geschlechte solidarisch fühlten, in Schutz zu nehmen.
So entstanden zwei Versionen: eine glorifizierende und eine verdammende.
Jede benützte die Waffe der Psychologie und mußte versagen, denn jede
machte halt vor der verschlossenen Türe, die zu den verborgenen tief¬
liegenden Wurzeln des Unbewußten führt. Nicht mit der psychoanalytischen
Methode, — die kann nur am Lebenden und unmittelbar verwendet werden, —
aber mit analytischer Kenntnis der Seelenvorgänge bewaffnet, versuchte ich
die Lösung des Rätsels zu finden.
Zwei Quellen standen mir zur Verfügung: 1) diejenige, die George
Sand direkt geboten hat in vielen Bänden ihrer autobiographischen Schriften,
2) die große Anzahl ihrer Romane. — Was sie an wissenschaftlichen,
philosophischen und sozialen Schriften produziert hat, soll uns heute nicht
interessieren. Sie standen auf der Höhe ihres „männlichen“ Denkvermögens
und vermehrten die Schar der großen Geister, die ihre Epoche hervor¬
brachte. Sainte-Beuve und Delatouche, Pierre Leroux und Lamenais, Flaubert
und die Goncourt, Balzac und Delacroix und viele andere unter den Großen
zählten sie zu ihresgleichen.
Daß gewisse Probleme ihrer Epoche: die Befreiung der Unterdrückten von
der Macht der Herrschenden, gleiche Rechte für alle und vor allem Gleich¬
berechtigung der Frau und das Recht des unehelichen Kindes, an ihren per¬
sönlichen, affektiven Angelegenheiten rüttelten, darauf werde ich noch zurück¬
kommen. George Sand war bekanntlich die erste programmatische Feministin.
Aber dies alles war bereits ein Sublimierungsakt, d. h. spielte sich im
Geistigen ab und muß rein intellektuell bewertet werden. Dieser Teil ihrer
Persönlichkeit interessiert uns heute nicht, nur das Weib, das Schicksal
der George Sand als Frau soll unserer Betrachtung unterzogen werden, das
Ursprüngliche, Schicksalshafte.
338
Helene Deutsch
Ich sagte bereits, daß mir als Forschungsmaterial ihre autobiographischen
Schriften und ihre Romane dienten. Hier ergibt sich etwas sehr Interessantes
Trotz ihrer großen Intuition und fast genial zu nennenden psychologischen
Begabung, trotz des Bestrebens, sich selbst zu verstehen und verständlich zu
machen, bleibt doch ihre Persönlichkeit in zwei Teile scharf gespalten. Der eine
Teil, der in den autobiographischen Schriften das Material ihres bewußten
Lebens liefert, und der andere, der unbewußte, der unter verschiedenen Namen
in zahlreichen Gestalten ihrer Romane an der Oberfläche der Geschehnisse
erscheint. In diesen Gestalten wird dasjenige herausbefördert, herausprojiziert
was in tieferen Schichten der Seele ihrem bewußten Schauen unzugänglich
war. Ist doch jede schöpferische Leistung des Künstlers tief im Unbewußten
verwurzelt. Bei George Sand gelingt es mit besonderer Leichtigkeit, die
Brücke zu schlagen zwischen den Vorgängen ihres bewußten Daseins und
d e m, was aus der Tiefe des Unbewußten künstlerisch verarbeitet an der
Oberfläche der Aktion ihrer Romane und Theaterstücke erscheint. Dabei
scheint es interessant, zu bemerken, daß George Sand selbst gar nicht die
Identität ihrer dichterischen Gestalten mit sich und anderen Personen aus
ihrem realen Leben anerkennen wollte und sich energisch dagegen ver¬
wahrte, wenn man ihr vorhielt, daß sie es zu sinnfällig tue.
Es gibt seelische Störungen, bei denen der Kranke in sogenannte „Dämmer¬
zustände verfällt. In diesen Zuständen pflegt er dann Dinge zu erleben,
die sonst von seinem bewußten Dasein abgesperrt sind. Manchmal geht die
Sache so weit, daß die Persönlichkeit des Betroffenen wie verdoppelt er¬
scheint. Der Kranke führt ein Wachsein, in dem sich seine bewußte Per¬
sönlichkeit dokumentiert und ein zweites Dasein in seinen Dämmerzuständen.
Die wache Persönlichkeit weiß nichts von jener Dämmerexistenz und um¬
gekehrt. Beide leben nebeneinander — die Persönlichkeit der Dämmer¬
zustände entspricht jenen seelischen Tendenzen, die von der bewußten
Persönlichkeit abgespalten, ins Unbewußte verdrängt wurden und sich nur
im Zustande des Dämmerschlafes in Aktionen umsetzen können.
Etwas Ähnliches, nur quantitativ verschieden, spielte sich sichtlich in
George Sand ab. In ihren künstlerisch-schöpferischen Stunden verfiel sie
in eine Art somnambulen Zustand, in ein In-sich-Einkehren, in dem sie
vollkommen von der Wirklichkeit abgewendet war und das Innerlich-Erlebte
in Form von Romanen zu Papier brachte. Ja, das Niederschreiben selbst
war bereits die Rückkehr zur Realität. Denn schon vorher saß George Sand
stunden- und tagelang mit (wie man sagte) „blödem“, abgewendetem Gesichts¬
ausdruck vor sich hinbrütend, in die Erlebnisse ihrer Romanheldinnen
Ein FrauensdncLsal
33g
versunken. Sie phantasierte genau so, wie sie als kleines Kind unaufhörlich
phantasiert hatte, ein Schrecken der Umgebung, ein Rätsel schon damals für
die, die sie sahen. George Sand erzählt selbst, daß sie nie wußte, was sie
in ihren Romanen niederschrieb — so sehr war diese Leistung ihrem be¬
wußten Dasein entrückt. Aber in diesen Romanen gibt es Situationen und
Personen, die deutlich und klar jenen realen Situations- und Charakter¬
schilderungen entsprachen, welche die kritisch-kontrollierende, bewußte
Persönlichkeit George Sands in den autobiographischen Schriften nieder¬
legte. Die Heldinnen ihrer Romane konnten sofort und immer als sie selbst
agnosziert werden. Sie enthielten unzweideutig allerlei Motive aus dem
ganz aktuellen, leicht wiedererkennbaren Leben der Autorin. Dadurch ge¬
lang es mir, immer eine Parallele herzustellen zwischen ihren autobio¬
graphischen Schriften und dem, was sie in ihren Romanen schilderte. Diese
Parallele lautet dann: so war es bewußt— dort, so war es tiefer im Un¬
bewußten — hier.
Die Psychoanalyse behauptet, daß die Persönlichkeit des Menschen auf
den Entwicklungen der Kindheit aufgebaut ist. Das Krankhafte — oder
nur Unheilvolle — in der Schicksalsgestaltung ist bereits in der Kindheit
bedingt und vorgezeichnet. Wer nicht imstande war, die seelischen Vorgänge
der Kindheit günstig zu erledigen, aus ihnen sozusagen herauszuwachsen,
wer das Nichterledigte außerhalb der Schwelle seines erwachsenen bewußten
Daseins konserviert hat, dem kann es geschehen, daß er dann zum blinden
Werkzeug dieser unerledigten, seelischen Erlebnisse wird, so wie der seelisch
Kranke in seinem Dämmerzustände. Statt sich an der Sonne des realen
Lebens ein Plätzchen sichern zu können, wird er in den Nebel seines
Phantasielebens versinken. Die entscheidenden Situationen seines Daseins
verlaufen und enden jedesmal so ähnlich, daß man den Eindruck einer
immer wiederkehrenden Welle hat. Die Psychoanalyse hat entdeckt, daß
die nichterledigten, ins Unbewußte verdrängten seelischen Erlebnisse der
Kindheit die Macht haben, sich im späteren Leben immer zwanghaft zu
wiederholen. Es ist dann so, als würden die späteren Schicksale photo¬
graphische Abbildungen eines im Innern des Seelenlebens vorgezeichneten
Klischees sein.
Ich kehre nun zu unserer Heldin zurück und werde versuchen, ihr
Leben mit Hilfe dieser Einsichten zu beleuchten. Bevor sie geboren war,
hatte eine bestimmte Familienkonstellation bereits ihr Schicksal vorbestimmt.
Ihr Vater war Maurice Dupin, Sohn der Aurore de Saxe, Enkel des Prinzen
Maurice de Saxe, nach dem er benannt wurde. Prinz Maurice aber war der
natürliche Sohn des Polenkönigs Friedrich August II. und der Prinzessin Aurore
Koenigsmark, nach der sich George Sand Aurore nannte. Ich erwähne diese
Genealogie, um den Ahnenstolz der alten Madame Dupin, der Großmutter
George Sands, verständlich zu machen. Die Mutter George Sands war da¬
gegen eine kleine Plebejerin, Tochter eines Vogelhändlers aus dem Seine¬
ufer. Die Großmutter Dupin hatte ihre ganze, intensive Bindung an ihren
berühmten Vater auf den Sohn übertragen. Maurice, der Jüngere, sollte
zum Ebenbild Maurices des Älteren werden. Was an Liebesforderungen
vom Vater nicht erfüllt wurde, sollte dieser Sohn erfüllen. Eine häufige,
schwerwiegende Forderung der Mütter an ihre Söhne. Die Erwartungen
der Mütter sollen dann nach zwei Richtungen erfüllt werden. Es soll der
Ehrgeiz am Sohn befriedigt werden, ebenso der Anspruch: einzig und
konkurrenzlos geliebt zu sein. Großmutter Dupin, geistig ungewöhnlich
veranlagt, treibt ehrgeizig ihren einzigen Sohn Maurice ins eifrigste und
mühevollste Studium, sowie sie schon selbst ihren Geist nach dem väter¬
lichen Vorbild trainiert und geformt hatte.
Das heiße, intensive Liebesband zwischen Madame Dupin und Maurice
war der Intellekt, die Gemeinsamkeit, die sie geschaffen hatte im Studium,
in der Hingabe an alles, was geistig ist. Dieses Verhältnis erlitt von seiten
des Sohnes ein typisches Ende: er unternimmt einen Befreiungsversuch
und wählt sich eine Frau nach dem Gegensatz der Mutter. Diese Frau —
Sophie, Mutter George Sands, war im Gegensatz zur hocharistokratischen
Großmutter eine Proletarierin. Sie konnte kaum richtig schreiben und war
als ausgesprochener Dirnentypus der schärfste Gegensatz zu Madame Dupin,
dem Inbegriff der sexuellen Keuschheit. War die Großmutter reserviert und
beherrscht, so war Sophie undiszipliniert, unmanierlich. War die Mutter¬
schaft der Madame Dupin unbedingt an das Sakrament der Ehe gebunden,
so bekam Sophie uneheliche Kinder.
Zwischen diesen beiden Frauen entstand ein Kampf auf Leben und Tod,
wie er nur zwischen zwei Liebesrivalinnen entstehen kann. Maurice stand
zwischen den beiden Frauen, an beide gebunden. Er konnte auf keine
verzichten, denn sie entsprachen zwei getrennten Strömungen seiner Seele:
der zärtlichen, durch die Mutter verkörperten, und der sinnlichen, die
Sophie vertrat. Eine typische Spaltung der Liebesfähigkeit: da Zärtlichkeit,
dort Sinnlichkeit; dieser Spaltung fiel sein Leben im vollen Sinne des
Wortes zum Opfer. Ebenso das Schicksal seiner Tochter Aurore. Der ganze
Konkurrenzkampf um den Besitz des Mannes wurde nämlich später auf das
Kind übertragen. Um das Herz des Kindes kämpften die beiden, zu Furien
Ein Frauensdiicfcsal
3**
gewordenen Frauen, wie sie einst um Maurice gekämpft hatten. Nun ent¬
stand um die kleine Aurore eine Atmosphäre, die wohl ganz individuellen
Charakter trägt, die aber eigentlich nur eine Verzerrung von Dingen und
Situationen ist, die wir auch in einem weniger komplizierten Familien-
rnili eu zu sehen pflegen. Aurore war auch ein kleines Weibchen wie jedes
normale kleine Mädchen, auch sie wollte, wie Großmutter und Mutter,
den Einziggeliebten für sich haben und auch sie begab sich in eine ha߬
erfüllte Konkurrenzeinstellung zu beiden Frauen. Whher ich das nun weiß?
Es könnte ja auch eine, nur auf das Schema begründete analytische Be¬
hauptung sein. In den Tagebüchern ist von diesen Dingen keine Rede,
denn George Sand war sich ihrer nicht bewußt. Aber die künstlerische
Inspiration, der Dämmerzustand ihrer aufs Papier gebrachten Phantasien —
ihr unbewußter Doppelgänger, sagt dies in einer ganzen Fülle ihrer Romane.
Die kurz bemessene Zeit erlaubt mir aus der Menge des Beweismaterials
nur einiges herauszuholen. In einem Roman „Anicee und Morenita“
schildert George Sand das Verhältnis eines kleinen Mädchens Morenita zu
ihrer Ziehmutter, wie sie überhaupt mit Vorliebe die Beziehungen zu
Vater - Mutter auch sonst auf die Adoptiveltern verlegt. Aus der ganzen
Schilderung der Geburtsumstände und vor allem aus der Tatsache, daß
um die Wiege der Morenita zwei Mütter — die Großmutter und die Mutter —
stehen, von denen sie immer „meine beiden Mütter“ spricht, genau so
wie es George Sand in allen ihren eigenen Kindheitsschilderungen tut,
läßt sich die Identität der Morenita mit der George Sand feststellen. Ebenso
aus dem Umstand, daß der junge Stephan, der spätere Ziehvater der Morenita,
zuerst die Alte und erst dann die Jüngere liebt. Die kleine Morenita liebt
glühend die „Mamita“, wie sie ihre Ziehmutter nennt, bekennt aber hier
freimütig, wie sehr unter dieser heißen Liebe der Haß lauert. — Aus dem
Tagebuch der kleinen Morenita: „Warum muß ich denn immer an ihn
denken? Er hatte mich so lieb als ich kleiner war, er schaukelte mich so
zärtlich auf den Knien und sprach immer mit mir, wie ein Vater mit
seiner Tochter. Ich will mir jetzt ernstlich vornehmen, nicht mehr an ihn
zu denken, ihn nicht mehr lieb zu haben. Ich will an meinen lieben
Herzog denken. Wer weiß . . ., ob er nicht mein Vater ist?“
Nun ist dieser Herzog wirklich der Vater der kleinen Morenita, die er
einer Zigeunerin zurückgelassen hatte, um dann nach Spanien zu ziehen —
genau wie der Vater der kleinen Aurora, die er verlassen hatte und nach
Spanien mit Murat zog. Die Großmutter betrachtete Sophie immer als
eine Art Zigeunerin. Die Vatergestalt wird — wie es in der Romantechnik
Imago XIV.
23
3^2
Helene Deutsch
George Sands außerordentlich häufig vorkommt — in zwei Personen ge¬
spalten: in den Ziehvater und den wirklichen Vater. Beiden gemeinsam ist
daß sie zärtlich die kleine Tochter liehen, aber andere, erwachsene Frauen
als Liebesobjekte besitzen. Nun wendet sich der Haß der kleinen Tochter
der Mutter zu, als ihr der Vater sagt: „Du verlangst Unmögliches — es
gibt eine Person, die ich liebe und stets mehr als dich lieben werde, weil
ich sie früher als dich geliebt habe.“ Morenita in ihrem Tagebuch: „So
teuer war ihr jedes Haar an meinem Kopfe, — ach, arme Mamita — wie
gut warst du zu mir und wie ich dich hasse. Oh, wieviel Schmerz hast du
mir bereitet, grausame Mamita! Du hast mich geliebt, wie mich niemand
mehr lieben wird . . . Ach, ich vergesse immer, daß Er dem Alter der
Mamita näher steht als dem meinigen. Ihn hasse ich! Er hat mich ge-
demütigt, und es ist ihm leicht geworden, mich seiner Frau nachzusetzen.“
„Ach,“ ruft sie, „alle Mütter sollten Witwen oder alte Frauen sein.“
Wie klar in diesem Rufe der Versagungshaß dem Vater gegenüber — wie
klar der Todeswunsch! Weil er sie zu wenig liebte!
Ich kehre von der Morenita des Romans zur George Sand-Aurora zurück. —
Nun steht das kleine Mädchen zwischen den zwei kämpfenden Frauen, beide
erheben den Anspruch, von ihr allein und ungeteilt geliebt zu werden. In
diesem edlen Wettstreit ist etwas Böses geschehen. Gewöhnlich ist es so,
daß das kleine Mädchen ihre normale Entwicklung zum Weibe in der
Weise vollzieht, daß sie in ihren ersten, dunklen Liebesansprüchen an den
Vater die Mutter, wie die kleine George Sand Morenita, haßt und sich trotzdem
gerne mit der Mutter identifiziert, d. h. ihr ähnlich zu sein trachtet, um
vom Vater wie sie geliebt zu werden. Allmählich gibt sie diesen Haß auf.
Die Mutter aber behält sie als Vorbild ihrer eigenen Weiblichkeit. Nach dem
Muster der Mutter, der zärtlichen, gütigen, fürsorglichen Mutter, wie sie sie
kannte oder zu kennen glaubte, gestaltet sie in sich ein Ideal, dem sie nach¬
strebt.
Wir sprechen dann vom Ichideal und meinen damit die Forderung, die
der Mensch an sich selbst stellt: „So will und soll ich sein.“ Bei der
Bildung dieses Ichideals wird auch vom Mädchen zum Teil der Vater als
Vorbild genommen. Der starke, gerechte, allmächtige Vater, wie er ihr einst
erschienen ist. Einen Teil dieses Vaterideals nimmt sie in sich auf, d. h.
sie trachtet auch so zu werden wie er, einen Teil aber sucht sie in der
Außenwelt und richtet ihre Liebessehnsucht normalerweise einem Objekte
zu, der diesem Vaterideal entspricht. Der Persönlichkeitswert eines Men¬
schen, — Mann oder Weib, — die Festigkeit seiner Charakterbildung hängt
Ein FrauenscLicksal
343
davon ab, ob die Bildung des Ichideals nach dem Muster Vater-Mutter har¬
monisch geraten ist. Da ist die arme Aurora vollkommen gescheitert. Die
Bildung ihrer Persönlichkeit blieb ohne Harmonie, ihr Ichideal zerfiel. In
ihrer Kindheit sind zwei Mütter, beide lieben den Vater und sind vom Vater
geliebt. Nach welcher soll sie ihr mütterlich-weibliches Ideal gestalten? Nach
welcher soll sie ihre Beziehung zu Männern formen? Die Großmutter liebt
die kleine Aurora wie ihren Sohn, nennt sie „mein Sohn“ und will sie mit
allen Tugenden des Sohnes ausgestattet wissen. Sie selbst stellt ihr eine für
die Weiblichkeit der kleinen Aurora verhängnisvolle Aufgabe, in der es heißen
soll: „Ich bin wie der Vater. Aber vom Vater geliebt zu werden, — meint
die Großmutter, heißt so werden wie sie, die Alte, die er geschätzt, ge¬
ehrt und vergöttert hat. Jene, die Andere, die feindliche Fremde, die war
nur ein Sinnesrausch, ein Irrtum. Ein Stück des späteren Verhängnisses ist
vorgebildet: man liebt die Männer so, wie die Großmutter Maurice, den
Vater der kleinen Aurora, geliebt hat, also als Mutter den kleinen Knaben:
seinen Geist bildend, seine Schritte lenkend.
Aber das Funktionieren der seelischen Maschinerie ist nicht verläßlich,
es macht nicht dort halt, wo es erwünscht wäre, es geht den begonnenen
Weg weiter und schicksalshaft vollzieht sich das Weitere. Im Mutter-Sohn-
Verhältnis ihrer späteren Liebesbeziehungen muß Aurora, wie die Großmutter,
zugunsten einer Dirne verraten werden. Das ist das eine Klischee ihrer Liebes-
erlebnisse. Dieses Klischee wurde in den Ereignissen ihrer ersten Kindheit
vorgebildet und wird dann in vielfachen Auflagen ihrer späteren Erlebnisse
mit photographischer Treue immer von neuem wieder erlebt.
Auf der anderen Seite steht die Mutter: sie selbst haßt die Großmutter,
und es gelingt ihr durch ständige Entwertung derselben auch in dem un¬
reifen Herzen der kleinen Aurora den Haß einzuimpfen. Alles, was vornehm,
adelig, selbstbeherrscht ist, die ganze feudale Atmosphäre um die Großmutter
herum, die Tradition und der Ahnenstolz, alles das wird mit Verachtung
belegt, Gefühlsbeherrschung wird mit Kälte und Lieblosigkeit gleichgesetzt.
Und da erweist sich die temperamentvolle, zärtliche Sophie als Siegerin.
Alles, was an Mutterhaß in der kleinen Seele Auroras angesammelt war,
wird der „ Bonne-Maman \ wie sie die Großmutter nennt, zugetragen und die
Liebe- und Haßbeziehung zur Mutter, wie sie die Morenita im Bomane
schilderte, wird so gelöst, daß der Haß der Großmutter, die Liebe der Mutter
gilt. Wie in kommunizierenden Gefäßen wechselt dann im späteren Leben
die Liebes-Haß-Beziehung die Objekte. Später wird die Großmutter geliebt,
die enttäuschende Mutter gehaßt. Das Enttäuschtsein an der geliebten Mutter
23 *
Helene Deutsch
ist jedoch das Verhängnisvollste im Lehen George Sands. Der Kampf zwischen
den zwei Frauen endigt damit, daß Sophie das Familienhaus verläßt, um
ihrer Freiheit in Paris zu leben. Sie verläßt das einsam gewordene Kind
und macht sich durch ein gegebenes Versprechen, sie bald zu sich zu nehmen,
frei. Die kleine Aurora wartet nun auf die Einlösung des Versprechens, und
als die Bonne-Maman entdeckt, daß ihr das kleine Herz fremder denn je gegen¬
übersteht, versetzt ihre Eifersucht dem kleinen Mädchen den schwersten
Anschlag auf ihre später so mißlungene Weiblichkeit. Sie erniedrigt vor dem
Kinde die Mutter zur Dirne, schildert der Zwölfjährigen in grellsten Farben
die Vergangenheit der noch immer vom Kinde geliebten Frau und verrät
ihr geheimnisvoll, daß auch die Gegenwart der Mutter jenes Schreckliche
enthält. So bleibt die Zukunft ohne mütterliches Ideal und die bereits früher
durch die Erziehung vorgezeichnete „Männlichkeit“ der kleinen Aurora be¬
kommt neuen Zuschuß. In wilder Gier unternimmt Aurora im späteren Leben
krampfhafte, aber mißlungene Versuche, das mütterliche verdorbene Ideal auf¬
recht zu erhalten und damit ihre eigene Weiblichkeit zu retten. Wie ein
Hohn wiederholt sich in der Literaturgeschichte die Frage: wieso sind die
Heldinnengestalten George Sands so weiblich, mütterlich und gütig im
Gegensatz zu ihr selbst? So schuf Aurora in den inspiratorischen Stunden
ihres Künstlertums in ihren Büchergestalten ihr weibliches Ideal, wie sie
sein möchte und wie sie ihr Vorbild, die Mutter, haben wollte.
Und noch ein Rettungsversuch für die entthronte Weiblichkeit. Das,
was der Mutter zum Vorwurf gemacht wurde, versucht George Sand zu
einer Forderung sozialer Gerechtigkeit zu erheben: sind die Männer schlecht
und verachtet, wenn ihr Liebesieben frei und locker ist? Gleichberechtigung
für die Frauen auf allen Gebieten ist das soziale Programm der ersten
Feministin, nicht nur in der Überzeugung des Gedankens geboren, aber
in der Notwendigkeit ihres beleidigten Tochterherzens. Anerkennung des
unehelichen Kindes: ein Punkt des Programmes, entstanden als Reaktion
auf jenen Abend, an dem die erregte Großmutter der Zwölfjährigen die
dunkle Herkunft ihres Bruders Hippolyte enthüllte.
Lag es in der Absicht der Bonne-Maman, dem kleinen Mädchen das Mutter¬
ideal zu verderben, so gelang ihr Unternehmen. Sollte aber ihr eigener
Einzug in den leergewordenen Raum im Herzen des Kindes der eigentliche
Zweck ihrer Handlung gewesen sein, so hatte sie fehlgegriffen. Denn der
unbewußte Mutterhaß der kleinen Aurora entlädt sich jetzt voll auf E die
Großmutter. Alles, was die Großmutter an geistigen Werten ihr geboten
hat, wird weggeworfen. — Aurora will nicht mehr lernen und verwandelt
Ein FrauensdaicLsal
sich zu einem bösartigen, undisziplinierten, wilden Knaben. Sie verleugnet
vollkommen ihre Weiblichkeit, kleidet sich männlich und trachtet mit allen
Mitteln ihren guten Ruf als Frau zu verderben, genau wie es die Mutter
getan hat. Sie erreicht tatsächlich die volle Mißgunst der Gesellschaft, man
spricht von ihr wie von einem bösen Kobold, beschuldigt sie der Gottes¬
lästerung und der Zauberei. Diese Flucht ins Männliche wiederholt sich
im Leben Auroras mit eiserner Konsequenz immer dort, wo eine Liebes-
enttäuschung erfolgte. Dies ist die zweite Quelle ihrer Männlichkeit, auch
ihre zweite Äußerungsform.
Die erste also: Identifizierung mit dem Vater, so wie es die Großmutter
durch ihre Erziehung erreichen wollte. Diese Identifizierung steht im Dienste
ihrer ungewöhnlichen geistigen Gaben, denen sie ihre Rolle in der Kultur¬
geschichte, vielleicht sogar ein Stück Unsterblichkeit verdankt.
Die zweite Form ihrer Männlichkeit ist die böse, sadistische, die mit
Haß und Rache auf Enttäuschung reagiert. Dient die erstere, die geistige,
im späteren Leben nach jeder Liebesenttäuschung als Zuflucht, so nimmt
die zweite Form, nämlich die sadistische Rachetendenz, eine sehr unheil¬
volle Gestalt an. Mit elementarer Gewalt des inneren Zwanges das einst
Erlebte immer zu wiederholen, erwidert George Sand jede Liebesenttäuschung
mit sadistisch-knabenhafter Rache, wie damals, als sie zwölf Jahre alt war.
Beide Männlichkeitsformen — hier so sehr durch persönliche Kindheits¬
erlebnisse bedingt haben doch etwas ganz Allgemein-typisches. Auch
sonst ist die Verstärkung der männlichen Tendenzen bei der Frau eine Reaktion
auf enttäuschte Weiblichkeit. Auch im allgemeinen geht die Männlichkeit
der Frau dort, wo sie nicht zu schöpferischer Aktivität erhoben wird, mit
einer Verstärkung der sadistischen Reaktionen vor sich. George Sand selbst
hatte in einem Brief an Flaubert geschrieben, man überschätze zu sehr die
Bedeutung des anatomischen Unterschiedes der beiden Geschlechter. Im
Grunde genommen habe er keine psychologischen Konsequenzen. Die arme
George Sand. Hätte sie die Möglichkeit gehabt, mit dem Lichte der Er¬
kenntnis in ihre eigenen, aber unbewußten Konsequenzen hineinleuchten
zu können, sie hätte anders gesprochen. Sie hätte dann erkannt, daß das
Böse, das sie den Männern antat, eben eine der Folgen des anatomischen
Unterschiedes war. Denn die Männlichkeit des Mannes hat ihren Ausdruck
in der aggressiven Aktivität seines Sexuallebens. Die Aggression der weiblichen
Männlichkeit wird zum Sadismus, weil ihr zum Ausdruck der aktiven Tat
die anatomischen Mittel fehlen. Die Folge dieser Einstellung für George
Sand war, daß sie von einem Teil der Umwelt mit Fluch belegt wurde.
346
Helene Deutsch
Noch verhängnisvoller war es für sie, daß allem, was sie Böses tat, eine
furchtbare Reue folgte, ein vernichtendes Schuldgefühl, das sich zu schwersten
Depressionen mit Selbstmordabsichten steigerte. Und weil ihre Seele voll war
von alten, unüberwundenen Enttäuschungen, war sie auch voll von Wut
und Rachetendenzen und auch voll von nachfolgender Reue und Schuld¬
gefühlen, die sich in immer wiederholenden schweren Depressionen
äußerten.
Ich habe behauptet, daß die sadistisch-männlichen Enttäuschungsreaktionen
des späteren Lebens nach dem Vorbild ihrer ersten Reaktionen auf die Ver¬
nichtung des mütterlichen Ideals durch die Großmutter gebildet waren. Und
nun will ich mir wiederum eine Bestätigung für das Gesagte von George
Sand selbst holen.
In ihrem Roman: „La petite Fadette “, die Grille, schildert sie ein Mädchen,
das vollkommen diesem Bilde entspricht, wie ich es Ihnen auf Grund der
Tagebücher George Sands entworfen habe und welches die kleine Aurora
nach jener Aufklärung von seiten der Großmutter bot. Die kleine Fadette
gebärdet sich wie ein böser, sadistischer Knabe: „Die Enkelin der Mutter
Fadet wurde in der Gegend die kleine Fadette genannt, teils weil dies ihr
Familienname war, teils, weil man meinte, daß sie sich in der Zauberei
auskenne. Es wird allen bekannt sein, daß Fadette Farfadette ein boshafter
Kobold ist.“
Als die kleine Fadette zehn Jahre alt war, wurde sie von der Mutter,
die als Dirne mit den Soldaten zog, verlassen. Als Aurora zehn Jahre alt
war, wurde sie von der Mutter verlassen, die nach Paris ging, um dort ein
flottes Leben zu führen. Später erzählte ihr die Großmutter, Sophie habe
ihren Vater im Kriege kennengelernt, in den sie als Dirne mit den Soldaten
zog. Die Großmutter der Fadette versteht sich auf Kräuter und andere Wissen¬
schaften, von ihr bekommt die kleine Fadette ihre Kenntnisse. Die Gro߬
mutter der Fadette ist böse und lieblos zum Kinde, dem sie Vater und Mutter
ersetzen soll. Die Lieblosigkeit der Atmosphäre, in der die kleine Fadette-
Aurora lebt, ist dadurch erzeugt, daß alle Bewohner die Schuld der Mutter
an dem Kinde austragen, sie bösartig, unzärtlich behandeln. Dies sei das
Motiv, sagt Fadette-Aurora, für ihre boshafte Bubenhaftigkeit.
Aber Fadette verwandelt sich in ein gutartiges, schönes Weib, aus der
sadistischen Aggression wird die liebende, passive Duldsamkeit des Weibes.
Diese Umwandlung vollzieht sich, als sie von einem Manne geliebt, selbst
zur weiblichen Liebe erwacht. So erfüllte George Sand, wiederum in den
Phantasien ihrer Romane, Wünsche, die ihr das Leben versagte: durch die
Ein ErauenscLucksal
347
erprobte Liebe eines Mannes wurde sie zum Weibe, — der tiefste Wunsch
ihres Herzens, der nie in Erfüllung ging, denn bei jeder der zahlreichen
Liebesbeziehungen erwies sich der innere Zwang der Wiederholung der
erlittenen Enttäuschung stärker und die arme George Sand, wurde wieder
zur bösen Fadette. Nur in der Ekstase des künstlerischen Dämmerzustandes
erlebte sie erfüllend ihre mißlungene Weiblichkeit.
Jetzt erhebt sich die Frage: war das Verhältnis George Sands zu Männern
nur durch die katastrophale Tatsache ihrer zwei Mütter bedingt? Wird denn
nicht nach psychoanalytischen Erfahrungen die Liebe des Weibes nach dem
Muster ihrer Beziehung zum Vater gestaltet?
Mitten drin, beim Schein der glühenden Gewehrkugeln im zornigen
Getöse der Kanonen stand ein großer Held am Schlachtfelde und kämpfte
für die Freiheit des Vaterlandes. Das ganze Heldenepos, in dessen Mittel¬
punkt der Eine Napoleon stand, wurde von der glühenden Phantasie
der kleinen Aurora aufgenommen und mit der Sehnsucht nach dem abwesenden
Vater erworben. Er war der große Heros, der an der Spitze der napoleoni-
schen Soldaten, an der Seite Murats, südwärts marschierte. — In den
Analysen meiner Patientinnen beobachte ich immer wieder, daß die Er¬
innerung an die Kriegszeiten verbunden ist mit der kindlichen Vorstellung,
das ganze Schicksal des Kriegsausganges liege in den Händen des Vaters,
der in Wirklichkeit als Gefreiter oder Korporal beim Train seine Dienste
unfreiwillig versah. Und Maurice de Saxe war keine geringe Persönlich¬
keit im napoleonischen Abenteuer der Weltgeschichte.
Der Triumphbogen, der die besiegte Welt umspannte, wurde mit seiner
Hilfe erbaut, und als man am Himmel einen roten Schein sah, sagte die
Mutter der kleinen Aurora „ tiens , regarde , c'est une bataille et ton pere
y est sans doute“ (Schau, das ist eine Schlacht und dein Vater ist sicher
dabei.) Die kleine Aurora baute eine Festung aus vier Sesseln auf, in der
Mitte stand ein alter Ofen, die ganze reale Welt versank im dichten Nebel
und zwischen den Sesseln stand das dreijährige Mädchen, zupfte am Stroh
und nur der entzückte Gesichtsausdruck und die glühenden Augen ver¬
rieten ein tiefes Erleben. Dann wurde es in der Phantasiewelt lebhafter,
deutlicher, das Zupfen wurde durch Handeln ersetzt, Klein Aurora fuchtelte
mit den Händen, schlug auf den unsichtbaren Feind, versteckte sich in den
phantasierten Wäldern, sammelte grausam verstümmelte Leichen am Schlacht¬
felde ihrer Einbildungskraft — und siegreich ließ sie die Kämpfe beenden —
als Held, als Maurice de Saxe. Diese Identifizierung mit dem immer
abwesenden Vater ist der George Sand in ihren Memoiren vollkommen
3^8
Helene JDeutscIi
bewußt. Er war nicht da — und sie tat das, was wir alle häufig tun, wenn
uns das Objekt unserer Liebe entzogen wird: wir werden selbst zu diesem
Objekte, wir werden ihm gleich, um in uns selbst den Trost für den
Verlust zu finden. — So wurde die kleine Aurora kriegerisch und was uns
Frauen im Kriege erspart geblieben ist, unsere sadistischen Triebe zu be¬
friedigen, das tat Aurora in ihren phantasierten Kämpfen.
In diesen Schlachten, in denen die Aurora den Maurice de Saxe als
grausamen Helden spielte, ist der früheste und in ihrer Entwicklung älteste
Grundstein zu ihrer späteren Männlichkeit gelegen. Die Zweimüttertragödie
lieferte dann ihre Beiträge und Verstärkungen.
Die Neigungen zu voller Versunkenheit im Phantasieleben und der Zug
zur Grausamkeit ist sehr typisch für die erste ausschlaggebende Kindheit
George Sands. Den Tag verbringt sie in ihrer Festung, am Stroh zupfend,
abends liegt sie in ihrem Bettchen und zupft stundenlang am Vorhang.
Die Bänder desselben erzeugen beim Beiben ein Geräusch, eine Art musi¬
kalischer Begleitung zu ihren Phantasien. Die Mutter sagt im Nebenzimmer:
„Voila Aurore qui joue du grillage. Mitten drin in der befriedigenden
Stille der Phantasien entstehen Ängste und Beklemmungen und ein Er¬
eignis wird zum Zentrum dieser kindlichen Ängste.
Ein Polichinelle ein Wurstl in rotgoldener Kleidung — drängt sich
in ihre Einsamkeit. Aurora empfängt das Geschenk mit gemischten Gefühlen.
Im Kasten neben ihrer geliebten Puppe, ihrem kleinen Töchterchen, darf
er nicht eingesperrt werden. Sie ahnt für das kleine Weibchen etwas
Schreckliches, Unheimliches aus dem Tete-ä-tete mit dem Wurstl. Sie hängt
ihn an den Ofen, gegenüber dem Bettchen. Sein männlicher Blick verfolgt sie
bis zum Einschlafen und sie erwacht schreiend mit Angstschweiß bedeckt.
Sie träumte, der Wurstl nimmt Feuer vom Ofen und läuft brennend ihr
und ihrer Puppe nach. Seit diesem Traum leidet die Kleine an Feuer¬
phobie, d. h. an Angst vor allem, das irgendwie mit Feuer und Brennen
zu tun hat. In dieser Angst erkannte George Sand später etwas, woran alle
Kinder in irgendeiner Form leiden. Sie nannte es die große „souffrance
morale (das Seelenleiden) der Kinder. Sie meinte auch, — es gab damals
keine Psychoanalyse und somit keine Gegnerschaft, — diese Angsterlebnisse
der Kinder stünden in irgendwelcher Beziehung zu Nervenleiden, von denen
Frauen so häufig befallen werden. Man müsse gegen das Seelische ein
seelisches Mittel finden. Sie selbst barg ihr Köpfchen beim Diener Pierret
und die Angst verschwand. Dieser Pierret, den sie zärtlich liebte und der
häufig in ihren Romanen erscheint, war eine Art Vaterersatz für sie.
Em Frauenschicksal
349
Die kleine Aurora tötete die napoleonischen Feinde zwischen vier Sesseln;
sie riß ihren Puppen die Glieder aus und hatte Respekt nur vor denen,
die unzerbrechlich und solid konstruiert waren. Arme George Sand! Sie
phantasierte das ganze Leben, und während in ihrem Kopfe die Romane
entstanden, zupfte sie noch als Sechzig]ährige an irgendeinem geeigneten
Gegenstände. Männer, die sie liebte, waren für sie gebrechliche Puppen,
sie riß ihnen die Glieder aus und sehnte sich nach einem soliden Genossen
im Spiele des Lebens. Und dieser rotgoldene Wurstl, der sie feuersprühend
und angsterregend bedrängte, ich glaube, er war der einzige Mann ihres
Lebens, demgegenüber George Sand vollkommen weiblich empfand. Der
Vater kam zeitweise vom Felde und wurde von der leidenschaftlichen Sophie
eifersüchtig in Beschlag genommen. Er war ein zärtlicher Vater und ver¬
wöhnte die Kleine, wenn er nach Hause kam. Doch die Mutter stellte sich
dazwischen und verhinderte die Verwöhnung. Nein — mit Recht sagt die
Morenita im Roman: „Alle Mütter sollen alte Frauen oder Witwen sein.“
Das große Liebesbedürfnis des leidenschaftlichen Kindes scheint jede Form
der Liebesversagung bitter empfunden zu haben. Es ist sehr charakteristisch
für George Sand, wie sehr sie immer im Widerspruch zu sich selbst steht,
indem sie die Dinge, die sie mit unerhörter Intuition in sich aufnimmt
und künstlerisch verarbeitet, mit dem bewußten Wissen vollkommen über¬
sieht und verleugnet.
So schildert sie z. B. ihre Kindheit als rührend sonnig, strahlend und
glücklich. Den realen Erinnerungen aber, die sie bringt, haftet fortwährend
der Ton einer ewigen Enttäuschung an. Ein blutiger Fall aus den Armen
der Amme, ein Lied von abgeschnittenen Lorbeersträuchen, das sind die
ersten Kindheitserinnerungen, die sie behalten hat. Dieses Liedchen erfüllte
ihr Kinderherz mit einer grenzenlosen Traurigkeit und viele Jahre — viel¬
leicht das ganze Leben traten in ihre Augen Tränen und befiel sie Melan¬
cholie, wenn sie an dieses Liedchen dachte:
Nous ri’irons plus au bois , Wir gehen nicht mehr in den Wald,
Les lauriers sont coupes. Die Lorbeersträucher sind geschnitten.
„Erkläret mir“, sagt George Sand, „die Sonderbarkeiten der Kindheit. Nie
konnte ich bei der Erinnerung an dieses Lied den mysteriösen Eindruck
verwischen.“ — Die kleine Aurora bewundert ein weißes Kleidchen, sie
glaubt, es ist das schönste Wunder der Welt — die Mutter macht eine
harmlose Bemerkung: „Das Kleid ist gelblich“ — und schon versinkt die
Kleine in traurige Reaktion wie bei einer schweren Enttäuschung. So
reagieren Erwachsene und Kinder, wenn ihre Seele so voll von Enttäuschungen
ist, daß sie jeder dazu geeigneten Situation die ganze Bereitschaft zur neuer¬
lichen Enttäuschung entgegenbringen. Dann ist es schöner, bei Phantasien
zu verbleiben, denn die erfüllen alles Gewünschte. So baut George Sand
von der ersten Kindheit an die Kluft aus, die zwischen ihrem Phantasie¬
leben und der Realität auf immer entstanden war.
Mit fieberhafter Freude sieht die noch nicht Vierjährige der Reise
nach Spanien entgegen. Hier wird sie ihren heldenhaften Vater wiedersehn,
seinen herrlichen Anblick und seine Liebe genießen. Aber welche Ent¬
täuschung! Die Frau und der Beruf treten dazwischen. Die arme Kleine
fühlt sich einsamer und verlassener denn je. Sie wird als Bub, angezogen
wie der Vater, Murat vorgestellt. In den Erinnerungen verdichtet sich
wieder, wie einst Napoleon, jetzt sein Vertreter Murat mit dem Vater zu
einer Heldenfigur. Im späteren Leben — ein einziges Mal — führt sie
die Liebessehnsucht in die Arme eines männlichen, väterlichen Mannes.
Aber auch da drängt sich die verhängnisvolle Macht des unbewußten
Wiederholungszwanges dazwischen und das Schicksal stellt sie dem ge¬
liebten Manne es war der berühmte Michel — so vor, wie einst die
Mutter dem Murat: mon fils. Und Michel nennt sie „mein Sohn“; aber
Michel war ein männlicher Mann und suchte bei der Sexualpartnerin das
Weib. Dies fand er nicht, denn dem Vater-Murat-Michel stellte sie das
Schicksal als „Sohn“ vor.
Mit unerfüllter Zärtlichkeitssehnsucht in Spanien sich selbst über¬
lassen, steht das kleine Mädchen vor einem großen Spiegel und spielt mit
sich einmal den Vater, einmal die Mutter, einmal in Knabentracht, einmal
gekleidet wie die elegante Sophie. So war ihr Leben später in Mann und
Weib geteilt, so sah sich auch George Sand selbst, als sie in den Spiegel
ihrer gespaltenen Seele zu schauen lernte. Ihre kleine Stimme ruft nach
einem verstehenden Wesen, es antwortet nur ein hohler Ton, der über die
großen Hallen des Muratschen Palais schallt. Die Mutter erklärt ihr, dies
sei Echo. Freudevoll nennt die kleine Aurora den neuen Freund „hon jour
echo . So einsam war sie und so einsam blieb sie.
Diese spanische Reise, die ein Triumph für ihr kleines Mädchenherz
sein sollte, hatte einen schauderhaften Epilog. Beide: ihre MPutter Sophie
und die kleine Aurora standen mit schulderfülltem Herzen an der Wiege
eines neugeborenen blinden Knaben. Die erstere, sich schuldig fühlend,
weil sie, nicht ihrer Liebe, aber der Eifersucht auf spanische Frauen folgend,
ihrem Manne nachreiste und so das Ungeborene durch Strapazen der Reise
schädigte. Die Kleine fühlte sich schuldig, weil sie im unerfüllten Liebes-
Ein Erauensdiicksal
35i
Bedürfnis den Ungeborenen mit dem eifersüchtigen, stillen Wunsch begrüßte,
er möge doch nicht da sein. Sie hörte auch sprechen, daß die Schädigung
dadurch entstehen konnte, weil die kleine Tochter, immer auf den Knien
der Mutter sitzend, die Leibesfrucht bedrückte. Als der kleine Knabe starb,
verfiel Sophie in einen schweren Nervenzustand, in dem sie sich einbildete,
der Kleine sei lebendig begraben. Maurice mußte sich bei Nacht hinaus¬
schleichen, um die kleine Leiche zu exhumieren.
Im Unbewußten der Aurora entstand ein unheilvolles Band zwischen
ihr und der Mutter. Sie konnte sich mit der später Entwerteten nicht
identifizieren, wie es die Bildung ihres weiblichen Ichideals erfordert hätte.
Aber im Schuldgefühl wegen einer zwar unbegangenen, doch das Unbewußte
belastenden Tat waren sie identisch.
Wie ein Stein rollt jetzt die tragische Verquickung der Ereignisse.
Kurze Zeit nach dem Tode des Knaben, vielleicht im Anschluß an die
Erregungen der Ausgrabenacht, fällt Maurice so unglücklich vom Pferde,
daß er als Leiche nach Hause gebracht wird. Die vierjährige Aurora ver¬
bleibt weiter in ihrem scheinbar affektlosen Zustand der ewigen Versunkenheit.
Sie akzeptiert gar nicht in Wirklichkeit den Tod des Vaters und fragt nur
von Zeit zu Zeit ungeduldig: „Wann kommt der Vater vom Tode zurück?“
Der Tod von Maurice trägt unzweideutig den Charakter eines un¬
bewußten Selbstmordes. Denn in der Hölle der häuslichen Kämpfe der
beiden Mütter und vor allem unter der fast pathologisch zu nennenden
Eifersucht Sophies hatte der arme Mann viel zu leiden und sichtlich half
ihm das Unbewußte bei dieser Flucht in den Tod. Einer schien dies zu
wissen. Deschartes, ein väterlicher Lehrer und Freund von Maurice. Viele
Jahre später, als sich Aurora in einer ihrer typischen melancholischen
Verstimmungen mit Selbstmordgedanken herumtrug und doch den Selbst¬
mord bewußt ablehnte, geschah folgendes. Sie ritt mit Deschartes am Strand
der Indre, an einer gefährlichen Stelle bekam sie Schwindel, verlor das
Bewußtsein und fiel mit dem Pferde ins Wasser. Nur die Geschicklichkeit
ihres Pferdes Colette rettete sie vor dem Ertrinken. Als sie den Vorgang:
die Selbstmordabsichten und den Bewußtseinsverlust Deschartes, schilderte,
schrie er auf: „Ah mon Dieu! Allors c'est hereditaire“ („Mein Gott, das
ist also vererbt.“) Wie es auch sein mag, Sophies Herz war nach dem Tode
ihres Mannes voll von Schuldgefühlen; auch hierin identifizierte sich die
kleine Aurora mit der Mutter. „Alle Mütter sollen Witwen sein“, lautet
der Eifersuchtsschrei der kleinen Morenita. Ebenso scheint die Eifersucht
auf die Mutter — bei der kleinen Aurora zum Todeswunsch gegen den
35a
Helene Deutsch
Vater gesteigert — dann die schweren Schuldgefühle und Depressionen
hervorgerufen zu haben.
In einem ihrer Romane: Laura, schildert George Sand eine junge
Frau, die nach dem Tode ihres Mannes in einen Zustand der Melancholie
verfällt. Diesen Zustand empfindet die Heldin selbst als eine Art Wahnsinn, in
dem jede Fähigkeit eines Gefühles erloschen ist — alles, was Zärtlichkeit
Wärme, Gefühlsbeziehung zur Welt darstellt, wird im Innern abgeschlossen!
Laura möchte sterben, sie erlaubt sich den Selbstmord nicht, bekennt aber,
daß der „moralische Selbstmord“ — wie sie ihren Zustand benennt —-
für die Selbstquälerei einen noch stärkeren Reiz hat, als der körperliche
Selbstmord. Dieses Verhalten — eine masochistische Orgie der Selbst¬
bestrafung — ist die Folge der Tatsache, daß Laura sich am Tode ihres
Mannes, der durch den Sturz vom Pferde gestorben ist, schuldig fühlt.
Als sie ihn am Tage des Unglücks wegreiten sah, verspürte sie etwas wie
eine Ahnung es war in ihr eine Wut, daß er zu einem anderen Zwecke
als um ihretwillen das Haus verläßt.
Die äußeren Umstände dieses Todes, der Kampf zwischen der Heldin
des Romans und ihrer Schwiegermutter, der vornehmen Marquise, ist so
sehr eine Kopie der realen Situationen, daß kein Zweifel bestehen kann:
Sophie und Laura sind identisch. Anderseits ist die Charakterbildung der
Laura, die Art der Intelligenz und vor allem der melancholische Zustand
so mit der Beschreibung analog, wie sie George Sand über ihre eigenen
Melancholien an anderer Stelle gegeben hat, daß auch hier kein Zweifel
vorliegen kann: Laura ist ebenso wie mit der Sophie auch mit George
Sand selbst identisch.
Ich möchte hier bemerken, daß die Auffassung der neurotischen De¬
pression in diesem Buche genau den Erfahrungen entspricht, die uns die
Analyse über diese Zustände brachte. George Sand hatte sogar das Wissen,
daß diese Zustände dauern müssen, solange das Schuldmotiv — der nicht-
erledigte, unbewußte Haß — in der Seele wuchert. Sie selbst befreite sich
erst in den letzten Jahren ihres langen Lebens von ihrer Melancholie und
erlangte die volle Liebesfähigkeit erst bei ihren Enkeln.
Diese unterdrückte, schuldbeladene Haßbeziehung zum Vater war aber
nicht die einzige Form, in der sich die Bindung an den einst Heißgeliebten
das ganze Leben erhalten hat.
Eine sonderbare Phantasiegestalt begleitet das ganze ereignisreiche Leben
George Sands. Diese Gestalt heißt in ihrer Phantasie Corambe und ist
eigentlich eine selbstgeschaffene Gottheit, die im Zentrum ihrer großen
Ein Frauensdiicksal
353
Religiosität steht. George Sand war außerordentlich religiös, doch wehrte
sie selbst immer die Gleichsetzung ihrer eigenen Frömmigkeit mit irgend¬
einer der herrschenden Religionen ab. Sie glaubte an eine erhabene, unfehl¬
bare Gottheit. Sie glaubte aber auch an die göttliche Macht der Liebe,
der erotischen Leidenschaft. Sie war voll Sehnsucht nach einem überirdi¬
schen Wesen, aber gleichzeitig baut sie Eros — dem Gott der geschlecht¬
lichen Liebe Altäre und die Liebesleidenschaft ist für sie die tiefste
Art der Frömmigkeit. Diese zwei Religionen hatten eine parallele Strömung
in ihrer Seele und konnten sich nur in einer Gemeinsamkeit treffen: in
der nie erfüllten Sehnsucht.
Corambe, der Gott George Sands, entstand zu der Zeit, als die zwölf¬
jährige Aurora einsam, von der Mutter verlassen, für ihr gesteigertes Liebes-
bedürfnis nach einem Objekt suchte. Bei jedem Mädchen erwacht in
dieser Periode des potenzierten, aber ungestillten Liebesdranges von neuem
die ursprüngliche Sehnsucht nach dem ersten Liebesobjekte: dem Vater.
Die im Unbewußten verbleibende Sehnsucht findet dann ihre zweckent¬
sprechende Ableitung in der schwärmerischen Anbetung einer Heldenfigur
eines Romans oder der Wirklichkeit. Aber George Sand suchte nach einem
Ideal, das es auf Erden nicht geben konnte. Ihr Vater — so wie sie ihn
in ihren ersten Kindheitsphantasien sah — konnte nur durch einen Gott ver¬
treten werden. Eines Nachts nahm in ihrer Phantasie das ersehnte Ideal
den Namen Corambe an. Sie sagt, die Buchstaben legten sich vor ihrem
geistigen Auge zu diesem Worte zusammen. Dieser Name wurde zum Titel
ihres Seelenromans und zum Gott ihrer Religion. Wörtlich: „II devient
le titre de mon roman et le dieu de ma religion“ Corambe war das Ge¬
heimnis ihrer Träume und für lange Zeit ihr religiöses Ideal. Sie baute
ihm einen Altar, brachte ihm Opfergaben und ihr Leben wurde von seiner
steten Anwesenheit erfüllt. Er war immer neben ihr, beobachtete ihr Be¬
nehmen, freute und kränkte sich mit ihr. Daß Gott Corambe ihr Liebes-
objekt war, geht hervor aus der Äußerung, die sie macht: „Je crois que
j'etais devenue un peu comme ce pouvre fou qui cherchait la tendresse. u
Auf seinen Altar legte sie Liebesgaben, es durften aber nie getötete Ge¬
schöpfe sein. Sichtlich hatte Gott Corambe ihr die Befriedigung ihrer sadisti¬
schen Triebe verboten. Sie erzählte ihm lange Geschichten, — ihre Träume
und Phantasien, — nur erotische Liebesgeschichten liebte er nicht zu hören.
Mann und Weib erschienen immer nur in Freundschaft verbunden, als
Zeichen der stattgefundenen Verdrängung ihrer Sexualität.
Gott Corambe behält ihr ganzes Leben lang dieselbe Rolle. Bei ihrem
354
Helene HeutscL
künstlerischen Schaffen war er in der Feder, in der Tinte, er war das
Objekt der Inspiration. Diese platonische Beziehung zu ihrem Gotte ist
einmal in einem ekstatischen Zustand, den sie erlebte, heißer und leiden¬
schaftlicher geworden. Die bereits erwähnte Rebellion Auroras gegen die
Großmutter nach der schicksalsschweren Entwertung der Mutter endigte
damit, daß man sie ins Kloster gab. Hier wütete sie als schlimmer Knabe —-
diable — genannt, weiter. Eines Tages betete sie vor Tizians Bild mit dem
sterbenden Christus. Sie wurde von Mitgefühl für den Leidenden ergriffen,
und ein grenzenloser Schmerz bemächtigte sich ihrer. Schwindel erfaßte
sie, eine Stimme rief: tolle , lege — eine Halluzination, die sie auch als
solche erkannte. Sie erlebte die volle Glückseligkeit eines ekstatischen Zu¬
standes. Sie fühlte Gott in sich, in ihrem Herzen pochen, in ihren Adern
fließen, ein Glückstaumel erfaßte sie, sie erlebte Gnade, sie wurde mit
Gott eins — er war in ihr — sie in ihm. Sie vergleicht selbst dieses
Wunder mit dem Erlebnis der heiligen Theresa — nur eines wehrt sie ab, wie
beim Corambe. Für sie ist Gott Vater, Bruder, Ewigkeit, nie aber wie bei
den Heiligen Gemahl (epoux). Dagegen verwahrt sie sich entschieden.
Die Entstehungsgeschichte des Corambd ist klar: der ersehnte, zum Ideal
erhobene Vater wird wieder personifiziert und mit allen jenen Tugenden
ausgestattet, die die Phantasie herbeisehnt. Er wird als Sexualobjekt ver¬
leugnet und die Beziehung zu ihm wird auf die Stufe des religiösen Glaubens
erhoben. Die Ekstase, wie sie von George Sand erlebt und geschildert wurde,
ist der Psychoanalyse wohl bekannt. Es ist eine intimste, intensivste Ver¬
einigung mit Gott-Vater, eine sublimierte Form — man könnte sagen das
andere Ende — der sexuellen Verbindung.
Hier in der Religiosität George Sands im Verhältnis zu Corambd ist das
Erbe ihrer Vaterbeziehung verankert. Statt die Liebe einem leiblichen
Manne als Nachkomme des Vaters zu bringen, bleibt ihre Liebesfähigkeit
an die Kindheitsphantasie gebunden, kann nie in einem realen Erlebnis
objektiviert werden. Die größte wunscherfüllende Tugend des göttlichen
Corambe scheint zu sein, daß er sie nie verläßt, immer zugegen ist. Das
Wort Coram scheint die Bedeutung des lateinischen „in Anwesenheit**,
„zugegen zu haben. War doch George Sand zu jener Zeit eine fleißige
Lateinschülerin. Aber Be? Das ist unklar.
Als Aurora klein war und der Vater abwesend, versuchte ihr die Mutter
das Alphabet beizubringen. Die Kleine erwies sich als fleißig und begabt.
Aber eine sonderbare Schreib- und Lesestörung 'hatte sie. Der Buchstabe „5**
existierte für sie nicht, sie ließ ihn lange und hartnäckig aus dem Buch-
Ein Frauensdiicksal
355
stabenschatz aus und kein Strafen und kein Bitten war imstande, diese
Fehlleistung zu korrigieren. Wer „A“ sagt muß auch „ B “ sagen, lautet
unser Sprüchlein: oü est A est aussi B. „A“ und „B“ war das Buch¬
stabenpaar, das Aurora zuerst lernte, und als man sie frug, warum sie „ B “
nicht schreiben und lesen will, erwiderte sie in sonderbarem, bösen Trotz:
„ c’est que je ne connais pas le B“ (Weil ich das „ B“ nicht kenne.) Viel¬
leicht ist jenes in der Kindheit verdrängte „ B 6i identisch mit Be, das später
als Ergänzung zu Coram wieder auftaucht. In Anwesenheit von Be würde
es heißen. Wenn das in der Kindheit verdrängte „ B “ sich auf den abwesenden
Vater, den sie damals kaum wirklich kannte, bezog, so würde sein Auf¬
tauchen in Corambe sehr verständlich sein.
Diese Bindung an Corambe scheint also — wie schon gesagt — ein
großes Hindernis für ihr weibliches Liebesieben geworden zu sein. Alle
Liebesverhältnisse, die wir aus ihrem Leben kennen, bis auf das mißlungene
zu Michel, tragen deutlich den Charakter einer Mutter-Kind-Beziehung.
Ein typisches Beispiel ist das verhängnisvolle Verhältnis zu Müsset. Es fing
als Freundschaft an, ein zärtliches Bündnis zwischen dem genialen Knaben
und der gütigen Mutter. Sie nannte ihn immer „mein gutes“ oder „mein
böses Kind“, sie fühlte sich bei ihm in keiner sexuellen Gefahr, bis sie
mütterlich seinen Tränen unterlag und sein Begehren erfüllte. Müsset war
immer ein Muttersöhnchen und seine Liebeswahl stand unter dem Zeichen
einer neurotischen Mutterbindung.
Vor der italienischen Reise, deren schrecklicher Epilog in Venedig allen
gut bekannt sein dürfte, nahm sie ihn mütterlich aus den Händen seiner
Mutter entgegen, mit dem Versprechen, als Mutter über ihn zu wachen.
Die erste Periode dieser Beziehung war nach dem Klischee geformt: Bonne-
Maman, die Großmutter und ihr Sohn Maurice. George Sand zärtlich,
fürsorglich, anregend. In der mütterlichen Einstellung vollkommen im Kinde
aufgehend, ganz Opfer, ganz Identifizierung mit dem geliebten Kinde. Aber
das Klischee hat noch seine Fortsetzung. Die Großmutter wurde von Maurice
durch eine Dirne getrennt. Müsset beginnt in Venedig mit Dirnen die Mutter-
George zu betrügen. Er behauptet: sie, ihre Kälte, ihr Interesse an Dingen,
die außerhalb ihm lagen, trieben ihn dazu. Sie bestreitet dies. Beide haben
recht, sie tat das ihr Vorgeworfene automatisch, wieder im Sinne des Wieder¬
holungszwanges, er, um als gereiztes, anspruchsvolles Kind die Mutter zu
quälen. Auf die Erkrankung Georges reagierte Müsset, wie Kinder zu reagieren
pflegen: er war beleidigt und rächte sich. Die berühmte Nacht in Venedig:
Am Krankenbette des fiebernden Alfreds küßt 'und umarmt George den Arzt
356
Helene Deutsch
Pagello. Sie leugnet — dieses Leugnen ist aber genau so unverläßlich wie
die Fieberdelirien Alfreds — denn George Sand konnte so blind und vom
Bewußtsein unkontrolliert, ihren unbewußten Tendenzen folgen, daß sich
häufig Erinnerungsfälschungen ergaben.
Wie es auch war: in der Mutter-Kind-Beziehung konnte sie nicht nur
die gütige Mutter bleiben; wie die Mutter sie grausam verlassen hat, muß
auch sie grausam enttäuschen und wieder enttäuscht werden. Die Mutter-Kind-
Beziehung ergibt sich klar aus einem unzweideutigen Briefe Mussets: „Du
dachtest, daß du meine Geliebte bist? Aber du warst nur meine Mutter
Der Himmel schuf uns für einander, aber unsere Umarmung war ein Inzest/ 4
In ewig ungestillter Sehnsucht nach Liebe ging George Sand von einer
Beziehung in die andere. Keine konnte gelingen, denn was George Sand
zwanghaft erreichte, war die Beziehung zu schwachen, infantilen, hilfe¬
bedürftigen Knaben. Was sie suchte, war die Liebe des großen, starken,
göttlichen Vaters. Dieser mußte in der Verdrängung und in der religiösen
Sublimierung bleiben. Genau wie die Beziehung zu Müsset war auch die
zu Chopin. Sie rettet den lungenkranken Knaben, um dann als Mutter
von seiner leidenschaftlichen Eifersucht gequält zu werden. George Sand
geht auch hier in aufopfernder Liebe auf, um wieder den dunklen Mächten
ihres Unbewußten folgend, dem schwachen Spielzeug die Glieder zu brechen.
Sehnsüchtig nach dem starken Vater suchend, fand sie immer nur schwache
Söhne, selbst enttäuscht, enttäuschte sie grausam, Leid zufügend, litt sie
selbst tief und bitter.
Die Liebe jedes Weibes zum Manne wird aus zwei Quellen gespeist:
aus der Liebe zum Vater und aus der Liebe zum Sohne, auch bevor er
noch geboren wurde. Diese beiden Liebesformen müssen zusammenschmelzend
befreit von Inzestscheu einem und demselben Objekte Zuströmen. Bei der
George Sand erlitten beide Strömungen schwere Entwicklungsstörungen.
Von der ersten Jugend an ins Phantasieleben versunken, vermischte sie die
Realitäten der Außenwelt mit den Inhalten ihrer Phantasien. Nie konnte
das Liebeserlebnis sich frei von den Bindungen ihrer Phantasie erfüllen,
jedes wurde durch die Überreste der Kindheitserlebnisse determiniert und
zum tragischen Abschluß gedrängt. Auch der Versuch, ihre Weiblichkeit
durch die Ehe zu retten, mißlang. Ihren Sohn Maurice liebte sie mütter¬
lich — störte aber und komplizierte auch diese Beziehung durch diejenige
zu anderen Söhnen.
Leid zufügend hatte sie sehr unter dem Drucke der Schuldgefühle ge¬
litten. Inbrünstig sich nach Weiblichkeit sehnend, mußte sie immer, von
Em Frauensdiicksal
35/
neuem als Weib enttäuscht, zum Manne werden. Als George Sand im Geistigen,
als „Piff° e l^ im Affektiven. So nannte sie sich immer in der trostlosen Trauer
nach jedem neuen Verlust der Weiblichkeit. „Bete melancolique et abominable“
nannte sie ihren männlichen Doppelgänger und machte ihn für ihren Jammer
verantwortlich.
Meine Damen und Herren! Ich bin mit dem Bildnis George Sands fertig.
Es ist ein kleiner Abschnitt aus einer analytischen Lebensgeschichte, deren
Ganzes viele Abende ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen müßte. Wenn
man uns Frauen vorhält, daß wir geistig wenig geleistet haben, so pflegen
wir uns hinter den Schultern einiger, die mehr waren als wir Alltagsfrauen,
zu verbergen, und da berufen wir uns auch auf George Sand. Vielleicht
ist uns heute klar geworden, daß das Schicksal George Sands sie wohl zu
einem großen Geiste der Weltgeschichte machte, daß dies aber auf Kosten
ihres weiblichen Glückes geschehen mußte. Vielleicht werden wir einmal
nach langen Erkenntnissen den Mut haben, wenn man uns vorwirft, wir
schaffen keine Kulturwerte, zu sagen: „Wir haben Besseres zu tun!“
Imago XIV.
24
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Von
Ed uar d H itsckmann
Wien
Seit meiner psychoanalytischen Studie „En* Gespenst aus der Kindheit
Knut Hamsuns“ .sind mehrere Bücher über den Dichter erschienen, die
biographische Daten enthalten, auch analoge Artikel, ferner ein großer,
neuer Roman des nun fast neunundsechzigjährigen Meisters und eine
Kindergeschichte aus der Feder seiner (zweiten) Gattin, die von seinen
vier Kindern handelt.
In den Bücherläden, in denen sich bei uns Deutschen zu Weihnachten
die Käufer drängen, wird viel nach den Werken von Hamsun und über
ihn gefragt, und in den Schaufenstern prangt auf diesen vielgekauften
Büchern das neueste Porträt des von seinen Kollegen Thomas Mann und
Hermann Hesse so hochgerühmten Romanciers. Grau, aber nicht greis, den
Hut etwas verwegen aufgesetzt, den Schnurrbart gezwirbelt, in elegantem
englischen Anzug — selbstschonender Narzißmus vertreibt das Altern und
den Tod.
Der schwedische Schriftsteller John Landquist, von dem 1920 in der
„Imago“ ein interessanter Aufsatz über „Das künstlerische Symbol“ er¬
schienen ist, hat sein älteres Buch über Hamsun nun durch vom Dichter
ausgehende authentische biographische Daten sowie Ausführungen über die
neueren Werke des großen Norwegers ergänzen können. 1
Da ist zunächst festzustellen, daß in der Erzählung des Achtzehnjährigen
„Björger“, die mir seinerzeit nicht zugänglich war, schon dieselbe Ein¬
stellung zur Liebe sich findet, wie ich sie als für typisch bei Hamsun fest-
1) Knut Hamsun. Sein Leben und sein Werk. Verlag A. Fischer, Tübingen 1927.
Von, um und über Hamsun
stellen konnte: dieselbe Eifersucht, dieselbe bittere Lust, zu quälen und
gequält zu werden, derselbe Haß gegen den an Bildung oder Reichtum
überlegenen, sozial glücklicher gestellten Mitbewerber und das eifrige Be¬
mühen, ihn zu überstrahlen.
Landquist anerkennt die psychoanalytischen Konstatierungen an Hamsun
als richtig und war selbst durch den Roman „Die Weiber am Brunnen“
auf das Thema der Kastration bei unserem Dichter aufmerksam geworden.
Wie sehr dieses immer wieder fast als obligates wiederkehrt, zeigt auch der
neue Roman „Landstreicher“, 1 in dem eine der Hauptfiguren, August,
wie folgt eingeführt wird: „August hatte bei einem Unglücksfall auf dem
Schiff eine Verletzung am Mund erlitten und ein paar Zähne verloren.
Nun suchte er dies nach Möglichkeit durch einen starken Schnurrbart und
eine Reihe von Zähnen aus Gold, eine sogenannte Brücke, zu verbergen . . .
Die Mädchen hatten nichts an Augusts Zähnen auszusetzen, aber die jungen
Männer begannen zu lachen und ihn zu verhöhnen. Sie waren eifersüchtig
und böse auf diesen August, der da herkam und die Mädchen um sich
versammelte. Wie man sieht, taucht hier das Kastrationsthema als orales
auf, wie es der Gespenstergeschichte aus Hamsuns Jugend entspricht. Ist
im Roman „Die Weiber am Brunnen“ der Schiffer durch einen Unfall
auf dem Schiffe tatsächlich kastriert und lahm geworden, so ist der Schiffs¬
unfall hier hauptsächlich durch den Zahnverlust charakterisiert. Da aber
die Folgen des Unfalles auch durch den starken Schnurrbart verhüllt werden
müssen, ist wohl auch an eine Weichteilverletzung gedacht, die uns wieder
an die Hasenscharte gemahnt, die im „Segen der Erde“ eine so auffallende
Rolle spielt. Wie hochgradig also bei Hamsun der Komplex der oralen
Kastration aus der frühen Kindheit nachwirkt, bestätigt sich hier neuerlich
in unwiderleglicher Weise.
In dem neuen Roman läßt sich aber noch deutlicher als früher erkennen,
daß ein auffallend getragenes Schmuckstück des Mannes, z. B. Uhr oder
Ring, ihn erst in den Augen der Mitmenschen vollzumachen dienen soll,
sozusagen als Kastrationskompensation. So sind unzählige Male diese Schmuck¬
gegenstände als Stolz des Mannes angeführt.
Ring ist es auch, um dessentwillen eine Leiche beraubt wird; die
nächtliche Szene auf dem Friedhof gemahnt an das Gespenst aus der Jugend
Hamsuns. Beraubt wird die Leiche jener Vaterfigur eines lüsternen Schiffers,
der im Sumpf versenkt- wird, wie später genauer ausgeführt wird.
i) Verlag Albert Langen, München 1928.
24 *
36o
Eduard Hits da mann
Und sogar an den Zahnraub werden wir wieder erinnert. August, der
Besitzer jener Goldprothese, will in Todeserwartung seinen hilfreichen Freund
entschädigen: „Wenn ich tot bin, sollst du mir meine Zähne ausbrechen . . .
du sollst eine Zange nehmen und sie ausbrechen. Das ist Geldes Wert.“
Augenverlust durch Ausstechen findet sich schon auf der ersten Seite
des Romanes: allerdings ist der Drehorgelspieler nur, um Mitleid und Geld
zu erwerben, scheinbar auf einem Auge geblendet; in einer späteren Szene
sogar auf beiden.
Der Zusammenhang zwischen Kastrationskomplex und dem Kriegszustand
der Liebenden bei Hamsun ist vor allem für die Frau klar. Sie ist stolz
gegen den (durch den Penisbesitz) überlegenen Mann, läßt ihn, wenn sie
verrät, daß sie liebt, dafür wieder ihre Überlegenheit fühlen. Des Mannes
Rache, besonders wegen Verrat der Frau, entspricht seiner Enttäuschung
im Narzißmus, im Alleinbesitz der Frau. Sadistisch-anale Triebregungen
verfolgen dann zu Tode.
All dieses Abnorme scheint im realen Leben des Dichters keine Rolle zu
spielen; es liegt vielmehr wohlverdrängt wie abgekapselt in dem Reservoir,
aus dem er dichtet. Seit der Überwindung der jugendlichen Passivität gegen¬
über dem Gespenst ist sein Liebesieben männlich und stark, sein Ich souverän.
Man vergleiche daneben die auch im Leben so unglücklich-kranke Natur
Strindbergs.
Eine typische Figur kehrt auch in diesem neuen Roman wieder, der
mächtige, reiche Besitzer, der die Frauen nur einfach auf sein Lager winkt,
und sie kommen auch schon. Hier aber findet er früher, als sonst gewöhn¬
lich, sein Ende, seine Strafe. Wie, das ist echter Hamsun! Der Schiffer
Skaaro stellt auch der jungen Frau Anne Maria nach, im Walde kommt es
zu etwas, sie aber wehrt sich und verletzt ihn am Auge. (So verletzt Jo¬
hannes z. B. seinen Nebenbuhler in „Viktoria“: Augenverletzung steht für
Kastration.) Da der Schiffer sie noch ein zweites Mal auffordert, sich ihm
hinzugeben, schwankt sie, denn sie vergeht fast vor Eifersucht auf die
anderen von ihm Auserwählten. Aber ihr Stolz fühlt sich nicht genug
gebeten, d. h. der Mann erniedrigt sich nicht genug zum Bitten, — auch
er ist stolz, — und so beschließt sie, sich grausam an ihm zu rächen. Sie
lockt ihn in einen Sumpf, in dem sich einmal ein liebesenttäuschtes Mädchen
hat versinken lassen. Er kommt ins Sinken, ist aber zu stolz, sie um Hilfe
zu bitten und ertrinkt, vergebens nach Hilfe anderer brüllend. Später gesteht
sie ihr Verbrechen der Behörde und begründet es wie folgt: „Weil er mich
haben wollte, aber er bat mich nicht genug und ließ mich stehen.“
Von, um und über Hamsun
36l
War es schon oft bei Hamsun der Wanderer, der Jäger, der Reisende,
der den Helden vorstellte, so sind es hier zwei junge Leute, deren
Odyssee zu Lande und zu Wasser die „Landstreicher“ enthalten. Die Natur¬
schilderungen treten stark zurück, aber das Getriebe der Welt zieht am
Leser fesselnd vorüber, alle Todsünden treiben ihr Spiel, Betrug, Mord,
Kindesmord und Ehebruch. Verarmen ist zum Schluß das Los der Alten, denn
die Jugend kommt herauf. Ehrlichkeit und Unehrlichkeit sind vielfach das
Thema, das Werk scheint nicht ganz ohne erzieherischen Einschlag. (Werden
doch des Dichters Kinder schon größer!) Eine der schönsten Szenen ist die
Einweihung des sympathischen Jünglings in das Mysterium der Liebe durch
eine junge Mutter; aber aus diesem ehebrecherischen (inzestuösen) Bund
erwächst Leiden.
Was ich vielleicht in meiner Studie über den Dichter zu betonen nicht
hätte unterlassen sollen, ist das wiederkehrende, alle erfüllende Thema des
Besitzes und Gewinnens, des materiell Hinaufkommens, des Verdienens der
Leute. Gründen, einen Laden einrichten, eine neue Erwerbsquelle ent¬
decken, wird zum wichtigen Thema, wie es ja im Leben eines ist; aber
in der Dichtung ist es sonst nicht so selbstverständlich und — wie es sich
auch aus einer Reihe früherer Romane ergibt für Hamsun charakteristisch.
Das alte Hamsunsche Thema vom Finden wertvollen Metalles im Boden
spielt hier keine Rolle, aber die Mutter Erde ernährt ihre Kinder doch
reichlich, wenn sie sich darauf verstehen, wie der Landwirt Hamsun. Wie
im „Segen der Erde“ wird auch hier Boden urbar gemacht, aus Moor
fruchtbarer Boden gewonnen.
Hamsun beherrscht die unbewußte Symbolik; so bringt die liebesbedürftige
Frau dem Mann, auf den sie es abgesehen hat, die Pfeife zurück, die ihr
Mann ihm weggenommen hat. Eine bezeichnende Fehlhandlung begeht
auch die Frau, die das Nachthemd ihres Kindes dorthin mitbringen soll,
wo es über die Nacht eingeladen ist, aber ihr eigenes abgibt, respektive
mit jenem verwechselt hat. Sie verrät, daß sie selbst dort übernachten
möchte.
Wie so oft bei unserem Dichter, klingt das Buch nicht mit einem Ende
aus; man verharrt ungeduldig und neugierig auf ein nächstes Werk des
jung gebliebenen alten Epikers; es sieht aus, als führte er seine Helden
ein nächstes Mal nach Amerika, wo er selbst als junger „Landstreicher“
einst sich umgetrieben hat. Ruhelos, suchend damals, schwankend, denn
sein Genie mußte erst finden, daß es seinen Ausdruck im Wort, im oralen
Produkt, am besten zu geben wußte.
36z
Eduard HitscLmann
Um nun wieder auf die Bücher über Hamsun zurückzukommen, so ist
das von Landquist ein wertvolles, das von Carl David Marcus 1 durch
nichts bedeutsam, als durch die Bildbeigaben, von denen ich die des
Zwanzigjährigen und das Familienbild mit den vier Kindern und des
Dichters zweiter Frau, Marie, hervorhebe, der Autorin jenes Buches über
die Kinder, „Die Langemdkinder“. 2 Die biographischen Angaben sind
hier zum Teil unrichtig, die Paraphrasen der Werke wertlos.
Bei Landquist hingegen finden wir authentische Daten und persönliche
Äußerungen Hamsuns, sowie eine literarhistorische Einordnung von Wert.
Landquist weiß zu berichten, daß es ein charakteristischer Zug bei Hamsun
sei, daß er sich nicht für seine eigene Biographie interessiert und auch
nicht für die Selbstanalyse, die darauf ausgeht, den Entwicklungsgang der
eigenen Persönlichkeit zu erklären. Seine Zurückgezogenheit wurzele in
einem schamhaften Stolz, der unzerstörbarer Natur sei. Wenn Hamsun
dem Schriftsteller Landquist einige periphere Lebensdaten zur Verfügung
stellte, so machte er damit „zum absolut ersten Male eine Ausnahme“. Er
schreibt:
„ . . . Es ist doch wohl übrigens ganz gleichgültig, ob meine biographi¬
schen Daten korrekt sind oder nicht. Ich erhalte aus allen Ländern An¬
fragen nach diesen ganz gleichgültigen Dingen, die in Abhandlungen,
Nachschlagewerken, Büchern und Artikeln Verwendung finden sollen —
ich antworte jedesmal ablehnend oder ich antworte überhaupt nicht. Meine
Arbeiten gehen die Öffentlichkeit an, mein Privatleben scheint mir dagegen
allzu geringes Interesse für die Menschen zu haben. . . . Im Laufe der Jahre
habe ich sechs oder acht Bücher über mich erhalten, aber nicht einmal
die habe ich gelesen, die ich sprachlich verstehen konnte, die Zeit hat so
gut wie jedes Interesse für mich selbst in mir vertilgt, ich gehe mich nicht
mehr sonderlich an, geblieben ist mir nur eine große innere Scham, wenn
ich gelobt werde, ich halte es nicht aus, es zu lesen. Ich verberge meine
Augen. Es ist wohl eine gewisse Hysterie. Mag es sein, wie es will.“
Man sieht, der Dichter entschädigt sich für die Exhibition seiner buch¬
gewordenen Tagträume — durch Verbergen seiner Person: Selbstschutz des
Produktiven.
Empfehlung zur Lektüre sei noch dem reizenden Kinderbuch der Frau
Hamsun gewidmet, das in schmuckloser Form mit viel Humor Kinder
1) Knut Hamsun. Berlin-Grunewald, Horenverlag, 1926.
e) Verlag Albert Langen, München 1928.
Von, um und üter Hamsun
363
untereinander und mit Tieren, im Bauernhaus und auf der Alm darstellt;
es kann dem Besten seiner Art an die Seite gestellt werden und scheint
auf einem Tagebuch über die Kinder zu beruhen. Der ältere, dem Vater
ähnliche Sohn, liegt halbe Tage lang tagträumend auf dem Dach. Wird
er auch ein Dichter werden?
Vielleicht sind zum Schlüsse ein paar Worte zum Thema Biographie
gestattet. Kann sie noch lang sich aufs Referieren von Daten, aufs Beschreiben
beschränken!? Ist nicht auch hier das Bedürfnis allgemein geworden, zu
verstehen!? Man muß zugeben, daß es den Schaffenden selbst gar nicht
interessieren muß, vielleicht sogar darf, welche unbewußten Triebkräfte in
ihm vorhanden sind. Die Bestätigungen, die der neue Roman bringt, geben
die Beruhigung, daß die Analyse nicht fehlgegriffen hat. Als tagträumerisch,
sogar halluzinatorisch veranlagter Knabe hat Hamsun, wie das Gespenst seiner
Kindheit zeigt, intensiv das Ödipuserlebnis und die Kastrationseinstellungen
durchgemacht; vom Thema der oralen Kastration kommt seine Phantasie
nie mehr ganz los. Die orale Veranlagung aber erscheint für den Dichter
wesentlich. Aus der heftigen passiven Ödipuseinstellung erhebt sich der
Knabe zum kraftvoll und narzißtisch sich umtuenden Jüngling, der nach
Wechsel vollen Kämpfen in den Berufen spielt auch Vortragen und Predigen
ans Orale an endlich als Ureigenstes die dichterische Verwertung seiner
eigenartigen Tagträume zu seinem Lebensinhalt macht. Von Bauern ab¬
stammend, kehrt er als Gutsbesitzer wieder zur Natur zurück; die Stadt hat
er immer nur leidend ertragen, als Hypochonder, zu den ihn sein Kastrations¬
komplex gemacht hat. Öfters bezeichnete er sich als Neurastheniker, hielt das
Leben in der Stadt für schädlich und erklärte sich vorzeitig alt. Seine Natur¬
liebe, die für ihn durch die tiefst verdrängte Mutterliebe gespeist ist, ist
unwiderstehlich geblieben, nur die Natur gibt ihm Frieden. So sagt der
alte Jakob im „Segen der Erde“ zu seinen Söhnen: „Der Mensch und die
Natur bekämpfen einander nicht; sie geben einander recht, sie treten nicht
in Wettbewerb . . ., sie gehen Hand in Hand . . . Ihr liegt an einem warmen
Busen und spielt mit einer warmen Mutterhand und trinkt euch satt.“
Und Joakim im „Landstreicher“ fordert die Geschwister auf, die eigene
Erde zu bebauen, Norwegens Erde.
Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der
Wie derbolungsz wrang
Vortrag in der Ungarischen Psychoanalytischen Vereinigung in Budapest am 12. Juni 1926
Von
M arjorie E. Pran kl m
London
Dr. Ferenczi ersuchte mich, die Beobachtungen, die ich vor ungefähr
drei Jahren über eine Möglichkeit der Verwandtschaft zwischen der Epi¬
lepsie und der Physiologie der bedingten Reflexe machte, zusammenzufassen,
obgleich diese Beobachtungen mit der Psychoanalyse nur in entferntem
Zusammenhänge stehen. Mein Interesse und meine Kenntnisse wurden
durch einen am University College London im Jahre 1923 durch Dr. Anrep,
einem gewesenen Arbeitsgefährten Pawlows, gehaltenen Lehrkurs gesteigert.
Eine zufällige Bemerkung des Dr. Tylor Fox, Leiters der Lingfield
Epileptic Colony, der den Vorträgen ebenfalls beiwohnte, trug dazu
bei, in mir die Idee aufkommen zu lassen, daß zwischen beiden Gegen¬
ständen ein Zusammenhang besteht.
Für den Zweck dieser Abhandlung ist die vielumstrittene Frage der
Epilepsie als klinischer Einheit und nach ihrer differenziellen Diagnose
von geringer Bedeutung. Persönlich neige ich zur Ansicht, daß die ge¬
wöhnlich für echte Epilepsie gehaltenen Fälle und die Hysterie trotz der
Grenztypen psychisch verschieden sind, und daß sie sich auch von den
durch grobe organische Verletzungen verursachten Fällen unterscheiden.
Möglicherweise bildet die Epilepsie mehr eine Krankheitsgruppe als
eine spezifische Krankheit, deren charakteristischer Zug in einem Hange zu
konvulsiven Reaktionen besteht, die von verschiedenen, bei nicht besonders
empfindlichen Individuen unwirksamen Ursachen herrühren können. Ich
Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der VTederkoltmgszwang • 365
hatte meine Daten zu einem anderen Zwecke gesammelt, darum enthält
meine Serie nur ziemlich typische Fälle und keine Grenzfälle. Diese Ab¬
handlung jedoch unternimmt es keineswegs, die primäre Ätiologie der
Krankheit erklären zu wollen, sondern nur versuchsweise einige Andeutungen
betreffs einiger charakteristischer Züge zu geben. Unter diese reihen sich:
die Periodizität der Konvulsionen oder anderer Störungen (Kopfweh, gastro¬
intestinale, vasomotorische oder sensorische Veränderungen), die anomale
Reaktion auf einen Wechsel in Therapie und Umgebung, der manchmal
scheinbar unerklärlich zu zeitweiliger Besserung führt; zeitweiliges Auf¬
hören und Wiederkehr der Krämpfe, Wirkung der Arzneien usw.
Der bedingte Reflex wird gebildet, wenn ein äußerer Reiz durch das
wiederholte Zusammentreffen mit dem natürlichen Reize eines angeborenen
Reflexes die Macht erwirbt, dieselbe Reaktion hervorzurufen wie jener.
Die Reize können welcher Art immer sein. Wenn man z. B. einem Hunde
mit einer Speichelfistel Nahrung gab und man im selben Augenblicke
läutete, und nach vielen Wiederholungen dieses Vorganges wieder läutete,
ohne die Nahrung zu geben, gebärdete der Hund sich, als bekäme er
Nahrung, schied Magensaft und Speichel aus (deren Menge und Qualität
bestimmt wurden) usw. Entsprechendes gelingt, wenn man Lichteffekte,
Formen, Gerüche, Berührungen als Reize verwendet. Watson hat mit
Menschen die gleichen Experimente gemacht.
Die wohlbekannten Versuche in Leningrad wurden zumeist an den
Speichelreflexen von Hunden ausgeführt. Das Ergebnis war, daß die ein¬
zigen natürlichen unbedingten Reize die des Geschmackes und der all¬
gemeinen Empfindung sind; ein Hund, der noch kein Fleisch gegessen
hat, sondert, wenn er Fleisch zum erstenmal sieht, keinen Speichel ab.
Der angewendete unbedingte Reiz war eine Säure, der angewendete be¬
dingte Reiz war von verschiedener Natur: Schall (Stimmgabel von ver¬
schiedener Hohe), Licht, Geruch, Tasten, Zeitintervalle. Dieselbe Reaktion
kann der Enderfolg der verschiedensten äußeren Reize sein, d. h. dieselbe
motorische ableitende Bahn kann durch verschiedene zuleitende Bahnen
gereizt werden. Dasselbe trägt sich vermutlich bei epileptischen Anfällen
zu. Mit sorgfältiger Arbeit, welche die Hemmung assoziierter bedingter
Reflexe in sich faßt, kann eine bedeutende Unterschiedsempfindlichkeit
zwischen verwandten Reizen erlangt werden (z. B. zwischen ähnlichen
Tönen der Stimmgabel); allerdings ist die Fähigkeit hiefür eine beschränkte.
Wenn man den unterscheidenden und hemmenden Kräften zu viel zu¬
mutet, kann ein vollständiger Zusammenbruch des Gleichgewichtes
366
Alarjorie E. Franklin
und können alle bedingten Reflexe zerrüttet werden. Der Hund bricht
nieder und entwickelt eine sogenannte „experimentelle Neurasthenie“. Er
erholt sich nach einer Ruhepause, aber die Wiederherstellung der bedingten
Reflexe nimmt längere Zeit in Anspruch als das erstemal. Wenn die Unter¬
schiedsempfindlichkeit besonders erzogen wurde, neigen die bedingten Reflexe
gewöhnlich zur Diffusion, so daß dieselbe Reaktion durch Reize ähnlicher
Art erzeugt wird; z. B. durch die annähernd gleichen Töne der Stimm¬
gabel, durch Reize an nahegelegenen Hautstellen, durch gleiche Zeitinter-
valle usf.
Falls die Analogie richtig ist, müssen es gewöhnlich — etwas allgemein
gesagt — erworbene Reize sein, welche auch die Anfälle der Epilepsie be¬
einflussen, entweder nur aus der Umgebung stammende, oder äußere Reize,
kombiniert mit inneren wie psychischen, diätetischen usw. Personen, die mit
Epileptikern in enger Verbindung leben, wissen oft über die Art der Ein¬
flüsse, die wahrscheinlich Anfälle hervorrufen, zu berichten, obgleich die¬
selben individuell verschieden sind und wenig Reziehung zur vermutlichen
Ätiologie zeigen. Indessen erkenne ich an, daß die Unsicherheit der an¬
genommenen bedingten Reize und der Art und Weise, in der sie sich
mit den natürlichen Originalreizen vereinigen, schwache Punkte meiner
Theorie bleiben.
Die Psychoanalyse konnte das Problem aufklären, weshalb manche Gleich¬
zeitigkeit verschiedener Reize leicht, andere jedoch nur schwer bedingte
Reflexe in einem Individuum hervorrufen.
Manchmal begegnen wir Fällen, in welchen die Anfälle durch ganz
spezifische Reize psychischer Natur angeregt werden, die aber nichtsdesto-
weniger nach Art der bedingten Reflexe wirken. Ferenczi erwähnte
mir einen Fall, in dem etwa halbjährlich wiederkehrende Anfälle gewöhnlich
um sechs Uhr nachmittags auf dem Heimwege auftraten. Es gibt zahlreiche
ähnliche Reispiele in der ärztlichen Literatur, so wird von einem Fall
berichtet, in welchem die stärkeren Anfälle durch das Hören eines plötz¬
lichen Schalles, ein anderer, in welchem sie durch das Reiben des linken
Fußrückens hervorgerufen wurden (die Prüfung des rechten Scheitellappens
brachte keinen abnormen Befund); ein weiterer, in dem sie durch Tippen an
der linken Seite der Nase provoziert wurden. Unter den Fällen meiner Beobach¬
tung war ein, möglicherweise der Klaustrophobie verwandter Fall, von dem
berichtet wurde, daß der Patient jedesmal gerade vor dem Anfall aus dem
Hause gerannt ist, so daß die Anfälle immer außerhalb des Hauses auf¬
traten; und in drei Fällen aus einer Serie von vierzig Fällen einer Am-
Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der Wdederbolungszwang
36 /
bulanzabteilung eines Spitals für Nervenkranke, traten die Anfälle, obwohl
gelegentlich auch unabhängig davon, den Berichten nach, jedesmal nach
besonderer Änderung der Diät auf.
Pawlow stellte fest, daß zwar alle bedingten Reflexe erworben sind,
aber die Fähigkeit, sie zu bilden, angeboren ist. Einige seiner Versuche,
die er am Internationalen Physiologischen Kongreß 1923 beschrieb, scheinen,
einem verkürzten Bericht im British Medical Journal gemäß, nicht nur
eine Möglichkeit bezüglich der Beziehung von Erblichkeit und Epilepsie
zu gestatten, sondern auch von großer Wichtigkeit für das Problem der
Vererbung erworbener Eigenschaften überhaupt zu sein. Er fand, daß das
Vermögen, spezifische bedingte Reflexe zu erwerben, d. h. die Geschwin¬
digkeit ihres Erlernens, den nachfolgenden Generationen weißer Mäuse
überliefert wurde. Zum Beispiel waren bei der ersten Generation dreihundert
Wiederholungen der kombinierten Reizung für die Bildung des bedingten
Reflexes nötig, bei der zweiten hundert, der dritten dreißig, der vierten
nur fünf. Er meint, daß in einer späteren Generation der von den Vorfahren
erworbene Reflex angeboren sein mag.
Die Aufmerksamkeit mag auch auf einige weitere Züge des Verhaltens der
bedingten Reflexe gelenkt werden, die in Beziehung zur Epilepsie zu stehen
scheinen. Nicht nur eine Kombination von beliebigem äußeren Reiz und
angeborenem Originalreiz kann einen bedingten Reflex erzeugen, sondern
es kann auch ein stark festgelegter bedingter Reflex selbst wieder als Reiz
zur Bildung anderer führen, so daß es zu einer „Kettenbildung“ bedingter
Reflexe kommt. Ein bedingter Reflex wird inaktiv, wenn er nicht „sta¬
bilisiert“ wird, d. h. wenn sein Reiz nicht von Zeit zu Zeit mit dem un¬
bedingten Originalreiz, mit dem er das erstemal kombiniert worden war,
gleichzeitig gegeben wird. Es verbleibt jedoch auch vom unstabilisierten
Reflex eine Spur, die sich in leichterer Auslösbarkeit des Reflexes durch den
Originalreiz und in der Möglichkeit offenbart, den bedingten Reflex nach
einer nur geringen Zahl neuerlicher gleichzeitiger Applikationen von beiderlei
Reizen wiederzubeleben. Er war also nur unterdrückt, nicht vernichtet.
Diese interne Hemmung oder Unterdrückung des bedingten Reflexes
bei erleichterter Wiederbelebung hat in der psychoanalytischen Erfahrung
überzeugende Parallelen. Sie erinnert an die Art, in der sich die epilep¬
tischen Anfälle während des Aufenthaltes in einer Heilanstalt vermindern
oder aufhören, und schon nach kurzem Besuche zu Hause wiederkehren;
ein Kind, dessen Anfälle im Spital durch Luminal unterdrückt wurden,
hatte zu Hause trotz Luminal wieder jseine lAnfälle. Eine Frau in einer
368
Alarjorie E. Eranklm
Anstalt für Geisteskranke, die in der Anstalt keine Anfälle hatte, erlitt
außerhalb immer Rückfälle; hieher gehört auch die Wiederkehr der seit
sechzehn Jahren ausgebliebenen Anfälle bei einem Manne im Kriegsdienst
(ein Beispiel für Regression) usw.
Jeder Reiz, ob positiv oder negativ, kann einen bedingten Reflex bilden
Zum Beispiel kann der Zeitraum in folgender Art als Reiz wirken. Wenn
man dem Hunde Nahrung oder einen eine Absonderung bedingenden Reiz
m regelmäßigen Zeitspannen gibt, wird der Hund in denselben Zeitspannen
auch dann mit Speichelfluß einsetzen, wenn keine Nahrung mehr verabreicht
wird. Gleicherweise kann es gelingen, die Reaktion einen bestimmten Zeit¬
raum nach Darreichung des Reizes hervorzurufen, wenn die unmittelbare
Wirkung eine hemmende war. Die Tatsache, daß Zeitspannen einen bedingten
Reflex erregen können und daß jedem bedingten Reflex eine Periode der
Unansprechbarkeit von wechselnder Dauer folgt, während welcher das Tier
Reizen unzugänglich ist, mag mit dem Moment der Periodizität in Be¬
ziehung stehen.
Ein bedingter Reflex kann ein erregender oder ein hemmender sein.
Wenn gleichzeitig mit einem beliebigen bestimmten Reiz die sonst gewohnte
Darreichung des Futters unterbleibt, so kommt solche bedingte Hemmung
zustande und hat die Einstellung, Verminderung oder Verhinderung der Ab¬
sonderung zur Folge. Eine bedingte Hemmung ist ein aktiver Vorgang von
gleicher Natur, wie ein positiver bedingter Reflex, obgleich Versuche mit
Arzneien und anatomische Experimente gewisse Verschiedenheiten der beiden
Arten bedingter Reflexe aufwiesen. Es ist möglich, daß einem Epileptiker
die Kraft mangelt, die bedingten Hemmungen zu erwerben, und die fest¬
gesetzten Reflexe zu hemmen. Beide Typen des bedingten Reflexes, die positive
und die bedingte Hemmung, können ihrerseits wieder gehemmt werden,
und zwar kann diese Hemmung wieder eine innere oder eine äußere sein.
Die innere Hemmung kommt vor, wenn ein erworbener Reflex keine
Stabilisierung erfährt. Eine Spur davon bleibt übrig, so daß man sie unter
gewissen Umständen verhältnismäßig leicht wieder bilden kann.
Die äußere Hemmung ist eine vorübergehende und kommt vor, wenn
andere Reize zu gleicher Zeit wie der den bedingten Reflex auslösende
Reiz auf dasselbe Aufnahmsorgan einwirken. Man kann dies mit der Zer¬
streuung der Aufmerksamkeit oder der Hemmung einer Tätigkeit durch
eine andere gleichzeitige zurückführen; solcher Art sind auch die Me¬
thoden, die manchmal erfolgreich angewendet werden, um einen epilep¬
tischen Anfall abzuwehren, wie etwa Reiben der Arme oder Spazieren-
Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der \V^iederbolungszwang
36 9
gehen usw. Sowohl bezüglich der äußeren als auch der inneren Hemmung
scheinen jedoch die Epileptiker dürftig ausgerüstet zu sein.
Die Schläfrigkeit oder der tatsächliche Schlaf, welcher gewöhnlich einem
epileptischen Anfall folgt, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Pawlows
Bemerkungen über die Beziehung von bedingten Reflexen und dem Schlaf.
Er sagt, daß jeder für sich allein angewandte bedingte Reflex, der unstabili-
siert und dann innerlich gehemmt ist, früher oder später zur Schläfrig¬
keit und gelegentlich zu tatsächlichem Schlaf führt. Er meint, daß der
Schlaf das Ergebnis einer Ausstrahlung der Erschöpfung sein mag, die
zustande kommt, wenn nur gewisse Zellen allein und keine anderen gleich¬
zeitig gereizt werden, und vergleicht dies mit der Wirkung der Monotonie.
Eine der meist bekannten Eigenheiten der Epileptiker ist die zeitweilige
Heilwirkung beinahe j eder Veränderung der Umgebung oder der Behand¬
lung. Es ist nichtssagend, dies nur durch Suggestion zu erklären. Echte
Epileptiker reagieren im Gegensatz zu Hysterikern auf die bekannten Me¬
thoden der Suggestion oder der Hypnose nicht leicht (ist doch ihr Zustand
mehr eine narzißtische als eine Übertragungsneurose). Es ist daher sehr
unwahrscheinlich, daß zufällige oberflächliche suggestive Einwirkungen zu
solchen gründlichen Veränderungen führen sollten. Auf Grund der Phy¬
siologie der bedingten Reflexe jedoch würden diese Besserungen bei Än¬
derung des Milieus erklärlich. Zum Beispiel kann irgendeine Arznei, die
auf den Krampfanfall keine spezifische Wirkung hat (vielleicht durch Be¬
einflussung der Zelltätigkeit durch chemische oder Gefäß Veränderungen usw.),
auf den Organismus auf solche Art ein wirken, daß die bedingten Reflexe
für eine Weile gehemmt sind, bis Wiederanpassung stattfindet. (Dies unab¬
hängig von einer eventuell spezifischen, die Gehirntätigkeit herabsetzenden
und krampfstillenden oder sonstigen Wirkung.) Eine gleiche Theorie kann
die nach gewissen gegen Epilepsie angewendeten Operationen eintretende
vorübergehende Besserung mit nachfolgendem Rückfall erklären, z. B. nach
Exstirpation des Dickdarmes, der Nebenniere oder der Mandeldrüsen, oder
nach Trepanationen. Die gründliche Störung, die in diesen Fällen verursacht
wurde, mag die Reflexverbindungen für eine Weile desorganisiert haben.
Anderseits jedoch mag der Erfolg der Operationen vielleicht auch als eine
narzißtisch-traumatische Wirkung mit veränderter Verteilung der Libido
aufgefaßt werden. 1 In der regelmäßigen Atmosphäre einer Heilanstalt mögen
1) Siehe dazu auch die Arbeit Ferenczis „Pathoneurosen“, „Hysterie und Patho¬
neurosen“. Internationale Psychoanalytische Bibliothek II.
3/o Alarjorie E. Franklin
die schädlichen Reize beseitigt, die bedingten Reflexzuckungen innerlich ge¬
hemmt und hemmende Reflexe verstärkt werden, und so eine Besserung
sich ergeben, ohne irgendeine spezifische Wirkung auf den ursprünglichen
Zustand. Der Rückfall in derselben Umgebung nach der Intermission mag
durch die Wiederkehr der Wirksamkeit der Reize bedingt sein, welche
solange sie neu waren, neutral, also unschädlich waren.
Es wurde ziemlich viel experimentelle Arbeit zur anatomischen Loka¬
lisierung der bedingten Reflexe ausgeführt, doch sind die Ergebnisse, so
weit ich sie kenne, ungenügende. Die Meinung der Experimentatoren
scheint die zu sein, daß der Reflexbogen gewiß nicht spinal, sondern
wahrscheinlich kortikal verläuft, da die Wegnahme von Teilen der Kortex
diese Reflexe zeitweilig vernichtet und deren nachfolgende Wiederkehr als
eine Übernahme der vorher kortikalen Tätigkeit durch subkortikale Zentren
gedeutet wurde. Jedoch, die störende Wirkung solch einer Operation muß
für den ganzen Organismus, die bedingten Reflexe inbegriffen, sehr groß
sein. Auch war die Wirkung nicht für jede kortikale Gegend, oder jeden
Reflextypus die gleiche, da bedingte Hemmungen noch aufrechterhalten
blieben, wo die positiven bedingten Reflexe bereits schwanden. Die Reflexe
stellten sich zwei Jahre nach Entfernung der motorischen und sensorischen
Rindenzentren wieder ein, doch blieb diese Restitution aus, wenn nicht
nur diese Windungen, sondern die ganze Kortex entfernt worden war.
Ein motorischer Reflex kann entweder durch zeitweilige Aufhebung
höherer zerebraler Hemmungen durch niedrigere Zentren oder durch aktive
ableitende Erregung, welche die normale Hemmung überwältigt, verursacht
sein.
Der erste Fall würde mit der Theorie übereinstimmen, die die epilep¬
tischen Anfälle dem Verlust höherer Hemmungen und dem Waltenlassen
sonst gehemmter Funktionen zuschreibt, der zweite mit der älteren Ansicht,
nach der die epileptischen Anfälle von kortikaler zentrifugaler Erregung
herstammen.
Die Wirkungen von Arzneien auf bedingte Reflexe bei Hunden wurden
durch Dr. Anrep beschrieben; es ist von Interesse, daß sie in keinem
Falle der angewendeten Arzneien (nämlich Bromiden, Koffein, Alkohol,
Strychnin und Morphium) — der Annahme eines gleichen Vorganges bei
Epilepsie widersprachen, ja bei den ersten drei Medikamenten überraschende
Bestätigungen brachten.
Es wird zum Beispiel festgestellt, daß Brom beim Hunde auf den
hemmenden Mechanismus, im Sinne der Verstärkung, selektiv wirkt. Alle
Die bedingten Reflexe Lei Epilepsie und der Wiederhol,
tmgsswang
3 71
bedingten Hemmungen wurden gesteigert, die Erregungen blieben un¬
berührt. Die verabreichten Bromdosen drückten die Tätigkeit der Kortex
nicht herab, sondern vermehrten oder verstärkten ihre hemmende Tätig¬
keit. Die Wirkung dauerte eine Zeitlang, war aber am folgenden Tage bereits
schwächer.
Die Wirkung des Broms bei Epilepsie ist zu wohlbekannt, um hier er¬
örtert zu werden. In den meisten Fällen heilt es die Krankheit nicht,
und die Zuckungen neigen zur Rückkehr, wenn Brom nicht mehr ge¬
geben wird. Es ist in anderen Krankheiten nicht so wirkungsvoll wie bei
Epilepsie. Bromide verringern die Krampfreaktionen auch bei Tieren.
Auch wenn es, wie es scheint, nicht unwahrscheinlich ist, daß sich
einige Züge der Epilepsie als Offenbarungen von bedingten Reflexen er¬
weisen werden, gibt dieser Umstand, wie ich sagte, keine Aufklärung über
die vielumstrittene Frage der Grundursachen dieser Krankheit oder Krank¬
heitsgruppe, auch erklärt er die epileptischen Äquivalente nicht, in denen
die Reaktionsweise, nicht aber notwendigerweise auch der Reizablauf ver-
ändert wird.
Eine Schwierigkeit bedeutet überdies die Notwendigkeit der Voraus¬
setzung, daß gelegentlich auch bedingungslose Reflexreaktionen Vorkommen
und sich zu den bedingten hinzugesellen, wenn sie auch den gleichen Ein¬
flüssen unterstellt sein mögen wie jene. Es ist bekannt, daß die Summation
zweier bedingter Reflexe ähnlicher Art eine außerordentlich verstärkte
Reaktion hervorruft. Dasselbe mag bei der Summation eines unbedingten
Originalreflexes mit einem bedingten Reflex der Fall sein. Es mag auch
•sein, daß em bedingter Reflex stärker ist als ein entsprechender Original¬
reflex. Es erscheint also als eine mögliche Hypothese, daß es in dieser
Krankheit gelegentlich unbedingte Original-Reflexerscheinungen eines prä¬
konvulsiven Zustandes gibt (verstärkte nervöse Reizbarkeit, Steigerung der
Blutalkaleszenz usw.), die später bedingt werden, d. h. durch andere Reize
erzeugt werden. Die zunehmende Stärke der Reaktion, welche durch Ver¬
stärkung oder Anhäufung der Reize oder auf anderem Wege zustande ge¬
kommen ist, mag dann die Form einer Zuckung annehmen. Jede Än¬
derung m der Umgebung mag zur Modifikation der bedingten Reflexe
fuhren infolge des ungemein empfindlichen Organismus des Epileptikers
und der Unzulänglichkeit der Hemmungsapparate der höheren Zentren.
Es wird angenommen, daß er nicht nur auf Reize, die bei anderen
unzureichend wären, mit Zuckungen antwortet, sondern daß er im ab¬
normalen Grade durch den mehr primitiven Mechanismus der bedingten
jMarjorie E. Franklin
Reflexe, der hier geschildert wurde, beeinflußt werden kann, oder daß sein
Gleichgewicht zwischen hemmenden und erregenden Reflexen mangelhaft
ist. Die Verminderung der Symptome wäre so das Ergebnis der sich ver¬
stärkenden nützlichen Reflexe und der Unterdrückung oder Ausschaltung
schädlicher Reize, während eine gründlichere Besserung auf eine Um¬
wandlung der Formen des Verhaltens in einen weniger primitiven Typus
zurückführbar wäre.
Eine andere Form der Behandlung, welche aber gewiß weniger radikal
wäre, wäre die, die sich nach der spezifischen Ätiologie der bedingungs¬
losen Originalreflexe richtet.
Es ist möglich, daß manche der meist komplizierten psychologischen
Prozesse, ihrem Wesen nach, etwas von der Natur des bedingten Reflexes
haben; jene Form des bedingten Reflexes, die ich als für die Epilepsie
bedeutsam ansehe, ist von verhältnismäßig elementarem Typus. Dies ist
wohl im Einklang mit der ziemlich infantilen psychischen Organisation, die
die Psychoanalyse bei den Epileptikern festgestellt hat. Überdies lenkte Freud
die Aufmerksamkeit auf die Triebentmischung und das dadurch bedingte
Überwiegen des Todestriebes bei Epileptikern, und Ferenczi wies in
einer mündlichen Mitteilung auf die Möglichkeit hin, daß beim
Epileptiker ein Abwechseln der einseitigen Todes- und Lebens¬
triebäußerungen vorliegt: erstere kommen in den Anfällen , 1
letztere in den Intervallen als ethische und religiöse Über-
kompensierungsbestrebungen zur Äußerung. Er hat übrigens den
epileptischen Anfall auch mit den Wutreaktionen der frühesten Kindheit
verglichen.
Ich würde anschließend daran meinen, daß die Persönlichkeit des Epi¬
leptikers zu primitiv ist, als daß es ihm glücken könnte, einen hohen Grad
von wirklicher Sublimierung zu erreichen. Sein Streben dazu gibt sich
zwar in großer Religiosität kund, doch ist diese eher von formalem Typus.
Von ästhetischen Genüssen bevorzugt er Musik und Gesang, also auch
hier rhythmische Betätigungen; auch mag er ein tüchtiger Arbeiter sein,
doch bevorzugt er Beschäftigungen, die nur Routine erfordern. Die bedingten
Reflexe von dem hier untersuchten Typus stellen zwar eine verhältnismäßig
einfache Form der physischen Tätigkeit dar, doch bedeuten sie einen
Schritt nach vorwärts im Vergleich mit den ursprünglichen bedingungslosen
1) Nach Ferenczi wendet sich der Destruktionstrieb des Epileptikers bald gegen
die eigene Person (Konvulsionen), bald gegen die Außenwelt (Massenmorde, Zer¬
störung von Gegenständen).
Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der Wdederbolungszwang
3/3
Reflexen und können als eine elementare Sublimierung betrachtet werden.
Die bedingten Reflexe vom Erregungstypus stellen vielleicht ein Fehl¬
schlagen dieser Sublimierung dar, während die, die hemmend dem Anfall
entgegenwirken, erfolgreicher sind.
Es liegt abseits von unserem Thema, die Veränderungen der Reaktions¬
weisen bei Epileptikern zu untersuchen, daPawlows Versuche über diese
keine Aufklärung zu geben scheinen; doch kann man vielleicht andeuten,
daß die „psychischen Äquivalente“ einen Versuch von ziemlich unbefrie¬
digender Art darstellen könnten, durch eine substitutive Form des Ausdruckes
statt durch den Anfall selbst, dem Todestrieb entgegenzuwirken, während
die religiösen Übungen u. dgl. Sublimierungen eines höheren Grades sind
als die streng bedingten Reflexe; immerhin stützen auch sie sich noch —
wie gesagt — auf Wiederholung und Gewohnheit.
Vielleicht bedeutet das tonische Stadium eines großen An¬
falles ein äußerstes Bemühen, den Todestrieb aufzuhalten, be¬
vor er m der Explosion der unkoordinierten Konvulsion zur
vollen Herrschaft gelangt, die dann in Erschlaffung und Koma,
gelegentlich zum Tode, meist zum Schlaf führen. Wir werden
hier daran erinnert, daß Anfälle des Petit Mal gewöhnlich rein tonisch
sind, mit nur einen Augenblick dauerndem Verlust des Bewußtseins, aber
mit Beibehaltung der Herrschaft über die meisten niedrigeren motorischen
Zentren. Es ist möglich, daß periodische Nebenerscheinungen der Epilepsie,
z. B. gastro-intestinale Störungen oder Kopfweh usw., eigentlich konver-
sions-hysterische Symptome sind, und also einen Fortschritt von der nar¬
zißtischen zur Objektbeziehung entsprechen, also Bemühungen der Lebens¬
triebe dem Todestrieb gegenüber darstellen, d. h. das Bestreben, die Re¬
aktionsform zu ändern, einen großen Anfall zu verhüten. Indessen zeigt
sich die ungeheure Gewalt des Wiederholungszwangs sogar in diesen
Störungen, und auch diese kleineren Symptome neigen dazu, wiederzukehren,
stereotyp und bedingt zu werden.
Die Annahme, daß die Organisation der Epileptiker auf einer einfachen
Stufe des bedingten Reflexes steht, ist in Übereinstimmung mit der Stän-
digkeit ihrer Gewohnheiten, ihrer Dumpfheit und des Vorherrschens
automatischen Benehmens. Sie bezeugen oft Beharrlichkeit. Ein Epileptiker
wird seine Symptome von Jahr zu Jahr mit beinahe denselben Aus¬
drücken beschreiben, im Gegensatz zur Unbeständigkeit und zur leichten
Suggerierbarkeit eines Hysterikers. Der Epileptiker scheint sogar in den
Intervallen der Anfälle der Kraft, die schon angeregten Prozesse zu hemmen
Imago XIV.
25
jMarjorie E. Franklm
und der Anpassungsfähigkeit zu ermangeln. Ferenczi äußerte gelegentlich
daß das geschwinde Wechseln des Brennpunktes der Aufmerksamkeit von der
Fähigkeit zur raschen Hemmung anderer Erregungsabflüsse abhängen mag.
Vielleicht ist es ratsam, darauf hinzuweisen, daß ich die Tatsache, daß
nicht alle Fälle der Epilepsie den hier geschilderten „epileptischen Charakter“
aufweisen, natürlich anerkenne; d. h., daß sie nicht alle alle Kompliziertheiten
zeigen. Gelegentliche Regressionen in die Form eines epileptischen Reak¬
tionstypus mögen übrigens auch bei einer verhältnismäßig normalen Persön¬
lichkeit Vorkommen.
Die bedingten Reflexe zeigen, vom physiologischen Standpunkte gesehen,
manches von dem Gehaben, das die Analytiker schon lange von der psy¬
chischen Seite her kennen; allerdings beschäftigt sich die Psychoanalyse
nur mit den auf höherer psychischer Stufe stehenden Prozessen und nicht
mit jenen einfachen Reflexen, deren Physiologie in Laboratorien an Tieren
studiert werden kann. Ein bedingungsloser Reflex ist seiner Definition nach
ein angeborener, aber falls sich Pawlows Experimente über die Vererbung
der Lernfähigkeit als richtig erweisen, können sie in einer vorhergehenden
Generation erworben worden sein. Überdies ist sogar der allereinfachste
nervöse Reflex, nach Ansicht Ferenczis, phylogenetisch betrachtet, ein
sehr verwickelter Prozeß im Vergleich mit der allgemeinen protoplasmischen
Reizbarkeit der frühesten Lebensformen, an deren Gebaren wir durch
das Bild eines großen epileptischen Anfalles erinnert werden. Die Reiz¬
barkeit ist nach ihm wahrhaftig die einzige wirklich „unbedingte“ Form
der Reaktion.
Auf Grund des Determinismus und des allgegenwärtigen Einflusses
der Umgebung ist es verlockend, die meisten psychischen Prozesse als
eine Summe sich gegenseitig bedingender Reflexe aufzufassen, wie dies
die Behaviouristen tun. Jedoch ist es vielleicht für die wissenschaftliche
Forschung von großen Nutzen, den Begriff „bedingter Reflex“ haupt¬
sächlich auf jene einfacheren Prozesse zu beschränken, in denen es sich
um die Wiederkehr von Aktionen handelt, die ziemlich gleichförmig
im Typus und daher mehr oder weniger vorauszusehen sind. Hievon
ist aber die Epilepsie ein gutes Beispiel; vielleicht haben übrigens auch
das Unbewußte und die Neurose überhaupt mehr mit den bedingten
Reflexen zu tun als das Bewußtsein. Dr. Devine (Portsmouth) lenkte meine
Aufmerksamkeit darauf, daß man charakteristischerweise die Äußerungen
der Psychotiker viel eher voraussehen kann als die gesunder Personen.
Möglicherweise sind die Störungen des Ichs von mehr „bedingtem“ Typus
Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der W^iederbolungszwang
als die der Libido, nachdem Anpassung an äußere Objekte und besonders
an andere Persönlichkeiten mit automatischer Gleichförmigkeit unvereinbar
sind. Ich würde auch darauf hin weisen, daß sich die symptomatische Be¬
handlung hauptsächlich auf die Reize richtet, während eine radikale Psycho¬
analyse, die auch andere, möglicherweise spezifische Wirkungen hat, die
Stufe der Organisation der Libido erhöht. Sie stellt vielleicht einen Kampf
gegen Gewohnheiten dar, also eine Stärkung der Lebenstriebe gegenüber
den Todestrieben . 1
Die bedingten Reflexe zeigen den überwiegenden Einfluß des Wieder¬
holungszwanges (Freud) und des Lustprinzips; diese wurden bei den
Versuchshunden durch Nahrung provoziert, die allerdings nach der erfolgten
Festsetzung der Reflexe meist nicht mehr wirklich, sondern nur „hallu¬
zinatorisch“ gereicht wurde. Wenn die reale Befriedigung zu lange vor¬
enthalten wird, wird die gewohnheitsmäßige Reaktion meist aufgegeben
der bedingte Reflex schwindet; — doch eine Spur verbleibt als eine
„Fixierungsstelle“, zu der regrediert werden kann. Vielleicht klammert
sich der Epileptiker, gleich anderen infantilen Persönlichkeiten, hartnäckiger
an eine halluzinatorische Befriedigung als andere, oder mit anderen Worten:
die „innere Hemmung“ wird bei ihm weniger rasch etabliert (wenn nicht
die bedingten Reflexe durch reale Wiederholung „stabilisiert“ werden) als
bei Normalen. Dies ist leicht denkbar, da Anrep nachgewiesen hat, daß
unter verschiedenen Verhältnissen bedeutende individuelle Verschieden¬
heit in der Geschwindigkeit der Erwerbung innerer Hemmungen besteht.
Er zitierte auch Fälle, in denen das Tier Zeichen der Lust als Reaktion
auf schmerzliche Reize zu äußern erzogen werden konnte (elektrischer
Schlag, der anfänglich gleichzeitig mit der Nahrung, später für sich allein ge¬
geben wurde). Dies ist in einem offenbaren Zusammenhänge mit dem Maso¬
chismus und erklärt sogar, wie dies Ferenczi meint, dessen Ursprung.
Eine Lust kann von ihrer ursprünglichen Quelle auf jene Strafe oder
jenen Schmerz verschoben werden, die wiederholt mit ihr verbunden waren
und schließlich auch bei alleiniger Anwendung der Unlustreize zustande
kommen. Die Folge der Verschiebung mag etwa die sein, daß die Furcht
vor den Folgen der ursprünglichen Unlust entfällt, wenn dieselben Folgen
selbst zur Lustquelle werden. Dies zeigte sich ziemlich klar in einem Falle,
den ich analysiert habe, in dem die Kastrationsfurcht sich gelegentlich in
1) S. Ferenczi: Psychoanalyse von Sexualgewohnheiten. (Internationaler Psycho¬
analytischer Verlag.)
25*
3/6 Frankl in: Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der Wiederbolungszwang
einen Kastrationswunsch verwandelte. Derselbe Patient — ein Fall von Angst¬
hysterie — litt in seiner Kindheit an Ohnmachtsanfällen funktionalen,
aber nicht epileptiformen Charakters, die er selbst als Kundgebung seines
Wunsches, zu sterben, auslegt.
Die Assoziation, ein so grundlegender Faktor in der Psychoanalyse, ist
natürlich bedeutsam für die Bildung des bedingten Reflexes, und zwar
scheint die Häufigkeit der Wiederholung der Reize in den einfacheren
Prozessen wichtiger zu sein als ihre Intensität, die wiederum für die Psyche
von größerem Werte ist. Die freie Assoziation kann man auffassen als
eine Methode, die geeignet ist, die frühen und deswegen stärker festgesetzten
Glieder in einer Kette von sich gegenseitig bedingenden Erinnerungen,
nach der Wegräumung der neugebildeten Deckerinnerungen zum Vorschein
zu bringen. Die Wiederverstärkung und Anhäufung der Reize mag jedoch
eine physiologische Parallele zur Überdeterminierung und das Bedingt¬
sein selbst eine Form der Verschiebung sein.
Ich war bestrebt, meiner Hypothese nur vorsichtigen Ausdruck zu ver¬
leihen; da ich in den letzten zwei Jahren keinen Zugang zur Literatur
des Gegenstandes hatte, ist es möglich, daß einige meiner Bemerkungen
veraltet sind. Ich habe mich hauptsächlich auf einen beschreibenden Bericht
eingeschränkt, und es wäre für mich von außerordentlichem Interesse,
von anderen Meinungen und besonders Wegen zu hören, auf denen die
Psychoanalyse eine tiefergehende und aufklärungsreichere Darstellung dieses
Gegenstandes ermöglicht.
REFERATE
Einige Stimmen zu Sigm. Freuds „Zukunft einer Illusion“
Wenn die Psychoanalyse — bei dem starken Widerhall, der ihr nunmehr
beschieden — begreiflicherweise jetzt noch weniger denn jemals auf alle von
ihr provozierten Stimmen achten kann, auf die nicht mehr seltenen Äußerungen
der Zustimmung, auf die immerhin häufigeren Symptome der verklausulierten,
abschwächenden Rezeption und auf die jedenfalls vorherrschenden Zeichen des
Widerstandes, der mehr oder minder affektiven Ablehnung, so empfiehlt es sich
doch, zeitweilen einige von den Stimmen der Umwelt hier zu registrieren. Aus
dieser Erwägung heraus seien gerade in diesem Heft, das an der Spitze zwei
Äußerungen von psychoanalytischer Seite zu Freuds jüngster Broschüre über
Religion veröffentlicht, auch einige jener Äußerungen kurz angeführt, die „Die
Zukunft einer Illusion“ in der Umwelt provoziert hat.
In der katholischen Leo-Gesellschaft in Wien hielt Prof. Dr. O. Herget
einen Vortrag über das Freudsche Buch. Er beanstandete (nach dem Bericht der
„Reichspost vom 28. April 1928) den „schwankenden Boden“ der Freudschen
Religionstheorie. „Der Psychologismus, der die Psychologie zur Grund¬
wissenschaft machen und alles in Bewußtseinstatsachen auflösen will, hat das
Mißgeschick, stets dann im Vordergrund zu stehen, wenn die philosophische
Entwicklung in eine Verfallsepoche geraten ist; je selbsttätiger aber sich die
Philosophie entfaltet, um so ungünstiger wird die Lage des Psychologismus.
Freud huldigt einem uneingeschränkten Religionspsychologismus. Für ihn ist
Religion bloß ein Bewußtseinsphänomen; was diesem etwa Bewußtseins t r a n-
szendentes entsprechen könnte, wird von jeder Untersuchung ausgeschlossen.“
Prof. Herget will für Freuds Religionsfeindlichkeit nicht die ganze Psychoanalyse
büßen lassen: „Freuds Einstellung zur Religion entspricht nicht der Psycho¬
analyse überhaupt, sondern vielmehr seinem Naturalismus; wir werden nicht
die Psychoanalyse in Bausch und Bogen verwerfen, wohl aber die Freudsche
psychoanalytische Weltanschauung. „Die Zukunft einer Illusion“ sollte eine
Abrechnung mit der Religion werden, aber so ist aus ihr eine Abrechnung
geworden mit Freud!“
In der von Prof. Goldstein (Darmstadt) herausgegebenen jüdischen Zwei¬
monatsschrift „Der Morgen“ (4. Jg., 2. Heft, Juni 1928) beschäftigt sich der
Berliner Nervenarzt Dr. Edgar Michaelis (dessen vor einigen Jahren er-
3/8
Referate
crViipnpnes Buch „Die Menschheitsproblematik der Freudschen Psychoanalyse
in der Imago“, Bd. XI, S. 460»., besprochen wurde) mit Freuds Religions-
kritik. Michaelis findet es höchst beachtenswert, daß, während der Psychoanalyse
in den letzten Jahren gerade von religiöser Seite weittragende Bedeutung
beigemessen wurde (so schreibt z. B. der Religionsphilosoph Tillich, daß erst
die seit 1900 herauf kommende analytische Methode die kirchliche Seelsorge
von der Gefahr, eine Winkelangelegenheit zu werden, befreit), Freud selbst
mit der ihm eigenen Zähigkeit, unbekümmert um alle Versuche einer An¬
näherung, seinerseits die Religionen schlechthin zum Gegenstände des Angriffs
macht Michaelis’ Stellungnahme zur Psychoanalyse ist uns schon aus seinem
obengenannten Buche bekannt. Freud greife den Bereich werterfüllten Lebens
an, doch seien seine Anschauungen vom „Wert“ überhaupt durchweg verzerrt
und unklar. Freud befinde sich in einer „sinnlichen Befangenheit . Sie
kennt nur einen psychischen Mechanismus, der vom ungezügelten Drangen nach
Lustgewinn beherrscht wird und sich dem Drucke der äußeren Realität an¬
passen muß. Der Bereich der inneren Freiheit des Menschen ist ihr
durchaus fremd, die Möglichkeit einer nicht aus Furcht und Not entstandenen,
sondern auf Ehrfurcht gegründeten Religiosität, die aus innerem Antrieb sich
dem Höchsten, Ewigen nähert, bleibt völlig außerhalb jeder Erwägung. Aus
dem Buche von Michaelis kennen wir bereits die Version, die Freudsche Lehre
sei perspektivisch verzerrt und dies ergebe sich aus seelischen Konflikten des
Menschen Freud selbst; Freud sei wie Strindberg und Nietzsche ein «Hasser
aus Liebe“, die Analyse der Idealitätsleugnung decke die ursprüngliche Ideal¬
sehnsucht Freuds, die verborgene, nur verschüttete Menschlichkeit auf. Wenn
Freud zu große Hoffnungen auf die Wissenschaft setzt, die keine Illusion sei,
so zeigt diese Übersteigerung der Freudschen Ansprüche die innere, nicht anders
als dämonisch zu bezeichnende Getriebenheit, mit der Freud bis m die letzte
Konsequenz seinen Weg des Aufruhrs verfolgt. Trotz alledem bleibt Freuds
Anspruch zu Recht bestehen, am „Schlafe der Welt gerührt zu haben . In
ihm sei das Bild des Empörers mit dem der Erneuerung tragisch verknüpft.
Auch von ihm gilt, was von Nietzsche gesagt worden ist: Wer Gott tötet, er¬
halte ihn gerade dadurch der Menschheit. . ,
Professor Dr. Erich Stern (Gießen und Mainz) findet in der „Central-
Vereins-Zeitung“ vom 20. Juli 1928 (dem Organ „deutscher Staatsbürger jüdi¬
schen Glaubens“), daß bei Freud zwei wesentliche Fragen, die einer reinhc en
Scheidung bedürften, miteinander vermengt zu sein scheinen. „Es sind urc -
aus verschiedene Probleme zu untersuchen, wie sich eine Erkenntnis im Men¬
schen aufbaut, welchen Motiven ein spezielles Interesse entspringt, welche psyc o-
logischen Folgen eine Erkenntnis besitzt, und welche objektive Bedeutung welcher
Wahrheitsgehalt ihr eignet. Daß Furcht und Hoffnung Motive sind, welche den
Menschen zur Beschäftigung mit religiösen Dingen treiben, daß sie m ihm eine
Sehnsucht zu glauben wecken, wird zugegeben werden müssen, besagt aber nichts
gegen das Vorhandensein einer höheren Wirklichkeit, die mi en
Mitteln unseres Verstandes nicht restlos begriffen werden kann — was können
wir überhaupt restlos begreifen? . . . Freud überschreitet mit seinen u ste ung
Referate
3 79
meines Erachtens die Grenzen des wissenschaftlich überhaupt Faßbaren, er
begibt sich auf den Boden der Weltanschauung, die wissenschaftlich nicht
mehr zu begründen ist. Die Psychoanalyse ist ein parteiloses Instrument*. Ihre
Aufstellungen behalten ihren Wert auch für den, der die weltanschaulichen
Konsequenzen, die Freud hier vorlegt, ablehnt.“
Das Juniheft (25. Jg., Heft 9, Juni 1928) der von Prof. Coßman (München)
herausgegebenen „Süddeutschen Monatshefte“ (das als Sonderheft unter
dem Titel „Krisis der Religion?“ erschienen ist), enthält unter anderem
einen nicht gezeichneten Artikel „Psychoanalyse der Religion“. Der Verfasser
hält es für sicher, daß die Psychoanalyse eine Fülle von neuen Erkennt¬
nissen gebracht hat und für wahrscheinlich, daß diese die Grundlage für
Heilerfolge bieten können. Nach ärztlichen Standesbegriffen müßte der Arzt
aber eigentlich warten, bis er geholt wird. Die Psychoanalyse stellt sich aber
der gesamten Menschheit, sowohl der toten, als auch der lebenden zur Ver¬
fügung und macht sich jetzt an die Religion heran. Freud habe den Materia¬
lismus von Molleschott und Büchner nach der Seite der Seele ergänzt und
machte sich’s noch leichter durch Einführung des Unbewußten, durch den sich
fast alles erklären lasse, weil man es nach Belieben ausstatten kann. Religiöse,
soweit sie nicht Heilige sind, haben — nach dem ungenannten Referenten —
gegenüber Freud den Erkenntnis vorteil, daß sie ein Stück Freud enthalten,
während Freud den Nachteil hat, daß er, wie es scheint, nichts von dem
Religiösen enthält. „Es scheint gewiß, daß ein nicht genau zu bestimmender
Teil der Menschheit nichts anderes anstrebt als Lust und darauf beruhen die
diagnostischen Erfolge des Panschweinismus. Doch nein, das hieße schon
zu viel zugeben. Es gibt in jedem Menschen etwas, das nicht zu dem Wunsch
paßt, sich ganz kannibalisch wohl zu fühlen, und das ist vielleicht das einzig
Wesentliche. Die Ethik scheint das einzige Gebiet zu sein, in dem Freuds
Materialismus gelegentlich nicht folgerichtig durchgeführt wird. “ Es bricht
nämlich bei Freud selbst immer etwas durch, das nichts zu tun hat mit seinem
Gott Intelligenz und das er selbst einmal als Menschenliebe bezeichnet.
Wenn es keine andere Triebfeder als den Egoismus gibt, gehen einen eigentlich
die Leiden und Mißhandlungen der Mitgeschöpfe nichts an. Wozu Menschen¬
liebe, die wie jede Gefühlsregung die Alleinherrschaft des Verstandes nur stören
kann? Es scheint sich bei dieser lobenden Erwähnung der Menschenliebe um
jenes Versprechen zu handeln, das Freud für besonders aufschlußreich hält
(Fehlleistung). Es ist nach Freuds Theorie überhaupt unverständlich, warum
er die Armen bedauert. Ein leistungsfähiger Zuhälter müßte der Theorie
glücklicher erscheinen als ein kranker Kulturmensch, auch wenn die Beefsteaks,
die jener ißt, nicht aus seinem Vater angefertigt sind und die ihn aushaltende
Frau nicht seine Mutter ist.“ Die Psychoanalyse, führt der Verfasser aus, nimmt
an, daß das geistige Leben in allen seinen Teilen der animalischen Existenz
dient und kann infolgedessen, wenn Menschen in der Richtung nach dem Himmel
springen, sich nur denken, daß sie dort eine Wurst hängen sehen. Zum Schluß
wird das Bestreben der Psychoanalyse, die Religion zu erklären, dem wahn¬
witzigen Unterfangen der turmbauenden Babylonier verglichen.
38o
Referate
Bereits einige Wochen nach Erscheinen der Freudschen Schrift veröffentlichte
Medizinalrat Dr. Heinrich Haase in Wien eine Broschüre: „Religion oder
Illusion. Eine Auseinandersetzung mit dem jüngsten Buche Prof. Sigm. Freuds,
Die Zukunft einer Illusion“ (Verlag Moritz Perles, Wien). Mit Bedauern konstatiert
der Verfasser, daß hochgebildeten Männern heute häufig religiöse Bildung
abgehe. Wohl mangelt es nicht an religiöser Gesinnung: von Freud könne
man angesichts der wissenschaftlichen Betätigung und einwandfreien Lebens¬
führung (Pietät, Wohltätigkeitssinn) mit dem Dichter sagen: wer Wissenschaft
und Kunst besitzt, hat auch Religion. Doch fehlt ihm die religiöse Bildung,
die Erkenntnis der Schätze, welche die religiöse Lehre wirkt und verleiht.
Freud will das Experiment der französischen Revolution wiederholen, indem
er für den Kultus der Vernunft schwärmt. „Der Intellekt, dessen Primat Freud
anstrebt, ist auch bei höchster Entwicklung von Wissenschaft und Kunst allein
nicht imstande, den Absturz in die sittliche Verwahrlosung zu hindern, den
die Religion aufhält, allerdings nur, wenn sie das Leben durchdringt und um¬
spannt/* Dem Verfasser schwebt eine geläuterte überkonfessionelle Religion vor:
„Schaffet die Religionen ab — bewahret euch jedoch die Religion.“ Die Besse¬
rung der Menschheit durch Erziehung zur Realität, scheint ihm unmöglich.
„Auch bezweifeln wir, daß gerade jetzt die Zeit für die Inaugurierung ge¬
kommen ist. Das Bedürfnis nach innerer Ruhe und Sammlung, dem die Ein¬
ordnung in eine höhere Einheit entgegenkommt, ist heute mehr denn je
vorhanden. Man darf auch den gegenwärtigen Kampf gegen Kirche, Klerikalismus
und Dogmen nicht als gänzliche Abkehr von aller Religion im Volke deuten.
Im Wiener „Tag“ (17. November 1927) schließt Dr. Max Ermers eine
eingehende Inhaltsangabe der Freudschen Schrift mit den Worten: „Alles das
sagt uns der große Psychologe mit Eindringlichkeit und mit dem Verantwortungs¬
gefühl, das das achte Jahrzehnt des Lebens dem Wissenden diktiert. Andere
haben ähnliches gesagt. Freuds Verdienst ist es, das, was ihm notwendig und
unerläßlich schien, nochmals — mit verstehender Milde und Tapferkeit — ein¬
gebettet in das System seiner psychologischen Weltauffassung gesagt zu haben.
Es wird nicht leicht sein, auch nicht für den religiösen Menschen, an diesem
letzten Willen eines großen Mannes achtungslos vorüberzugehen.“
In der Berner „Schulreform“ zieht Dr. Gustav Hans Gräber die Lehre
Buddhas zum Vergleiche heran: „Für Buddha war das Erlebnis des Nirwana
eine Folge wissenschaftlicher Erkenntnis, psychologischer Einsicht. Auch er
lehnte die Götter bekanntlich ab. Was will Freud? Auch seine Lehre soll,
wie diejenige Buddhas, das Leid der Menschheit mildem durch psychologische
Einsicht. Auch er lehnt die Götter ab. Auch er will Erlösung durch das Wissen...
Freuds Buch hat deshalb seinen positiven Wert, trotz der negativen Kritik. Es
weist einen neuen Weg, den Weg zur Glückseligkeit des (bisher religiös genannten)
Urerlebnisses, das mittels Erkenntnis, also mittels des Intellekts, mittels der Kultur
— und verschweigen wir es nicht — vor allem mittels der Psychoanalyse erlangt
werden kann.“
Die sozialistische „Leipziger Volkszeitung“ schreibt am 20. Dezember
1927: „Es ist hochinteressant zu verfolgen, wie Freud, auch im Alter noch
Referate
381
ein Geistesriese unter den deutschen Gelehrten, von Schrift zu Schrift klarer,
erbarmungsloser, wenn man will, radikaler in der Aufdeckung der Schäden
und Fehlkonstruktionen unserer Gesellschaft wird. Freud selbst und die meisten
seiner Schüler sind keine politischen Menschen; der Wiener Meister kommt
zu einer Kritik unserer Welt ausschließlich von der psychologischen Seite her.
Da aber diese Kritik erbarmungslos objektiv, unbeeinflußt von persönlichen
oder klassenmäßigen Wünschen und Vorurteilen ist, müssen sich ihre Ergebnisse
schließlich ^ treffen mit dem, was eine marxistische Analyse der menschlichen
,Ideologien auch ergeben würde.“
Im Brünner „Tagesboten“ (29. März 1928) schreibt Dr. Hans Zweig,
das Weltbild, das Freud als Bekämpfer der Religion mit visionärer Schau ent¬
werfe, lasse irgendwie kalt, weü es tiefliegende affektive Wurzeln des mensch-
liehen Lebens nicht berücksichtige.
„Das Tagebuch , Berlin (17. Dezember 1927): „Man hat darnach gefragt,
ob die psychoanalytische Methode mehr Nutzen oder Nachteil über die Menschen
bringe; eine unnütze Frage. Sie ist notwendig, weil die Wissenschaft ihrer nicht
entraten kann. Die Wissenschaft aber kennt keine Rücksicht auf letzte Zwecke,
ebensowenig wie die Natur. Echte Wissenschaft ist rücksichtslos. Freuds neues
Buch ist darin ein Werk echter Wissenschaft. Es räumt endlich mit jener Ver¬
liebtheit auf, deren sich die Religionen bei Kritik und Geschichtsschreibung
erfreuen, seitdem man gefunden haben will, daß unter dem Gewände der
Dogmen uralte Weisheiten ruhen, die man nur des religiösen Schmuckes zu
entkleiden brauche, um ihre Gleichheit mit den Erkenntnissen der Wissenschaft
zu entdecken/ 4
Schließlich sei noch auf eine Kritik des Freudschen Buches von psycho¬
analytischer Seite hingewiesen. Carl Miiller-Braunschweig nimmt in der
„Zeitschrift für Sexualwissenschaft und Sexualpolitik“ (April 1928)
ausführlich Stellung zur „ Zukunft einer Illusion . Miiller-Braunschweig be¬
anstandet es grundsätzlich, daß Freud zwei Fragestellungen, eine psychologische
nach der Genese und eine kulturphilosophische nach dem kulturellen Wert
der religiösen Vorstellungen nicht getrennt hat. Die zweite Frage könne nur
durch eine philosophische Methodik gelöst werden. Auch auf dem rein psycho¬
logischen Gebiete bedauert der Kritiker, daß die von „Totem und Tabu“ aus¬
gehende Linie (die „folgenschwere Gefühlsreaktion 44 auf den Vatermord), die
ihm für eine Wbiterführung der psychoanalytischen Erforschung verheißungsvoll
erscheint, in den Hintergrund getreten ist. „Es ist nur halb ein Scherz, halb
aber Ernst, wenn dem Kritiker die Wendung entschlüpft, daß in Freuds Buch
der psychoanalytischen Wissenschaft nicht genügend das Vertrauen entgegen¬
gebracht wird, das sie als Mittel zur Untersuchung des religiösen Phänomens
verdiente. Freud habe sich, im Gegensatz zu seiner bisherigen psychoanalytischen
Forschung, durch eine wertende, und zwar negativ wertende Stellungnahme
in der wissenschaftlichen Behandlung beeinträchtigen und sich zur Rationali¬
sierung drängen lassen. „Es wäre merkwürdig und würde mit unseren sonstigen
psychoanalytischen Erfahrungen nicht recht zusammenstimmen, wenn Vorstel¬
lungen wie Gott und sittliche Ordnung, die doch Vorstellungen von besonderer
382
Referate
Wichtigkeit sind, sich als so einfach determiniert erweisen sollten.“ Freud habe
sich zu unrecht hauptsächlich an den Vorstellungsanteil der Religion gehalten
und die affektiven Grundeinstellungen vernachlässigt, beziehungsweise sie nur
durch Vergleich mit infantilen und pathologischen Zuständen zu verstehen ver¬
sucht. Aber es gibt auch eine „normale und gesunde Religiosität, die alles
andere eher als einen infantilen Charakter hat, vielmehr in ihrer besten Aus¬
prägung den umfassendsten Ausdruck einheitlicher Reife der Gesamtpersönlich¬
keit darstellt.“
Von sonstigen Besprechungen der „Zukunft einer Illusion“ seien noch angeführt:
„Münchener Medizinische Wochenschrift“, 1928, Heft 9 (Prof. Dr. Emst Bleuler,
Zürich).
„Deutsche Literaturzeitung“ (Prof. E. Kretschmer, Marburg).
„Frankfurter Zeitung“, 4. März 1928 (Dr. R. Drill).
„Vorwärts“, Berlin, 28. Januar 1928.
„Sonntagsblatt“, Stuttgart, 8. Juli 1928 (Dr. Erich Schairer).
„Wiener Medizinische Wochenschrift“, 16. März 1928.
„Freie Welt“, Gablonz, 26. März 1928 (E. V. Zenker).
„Der sozialistische Freidenker“, Leipzig, Februar 1928 (Richard Lehmann).
„Monistische Monatshefte“, März 1928 (Hartwig).
„Der abstinente Arbeiter“, 15. Januar 1928 (Dr. Otto Juliusburger).
„Neue Freie Presse“, Wien, 18. November 1927 (Dr. Fritz Wittels).
„Wiener Allgemeine Zeitung“, 18. November 1927 (Richard Wiener).
„Der Abend“, Wien, 5. Januar 1928.
„Basler Nachrichten“, 28./29. Januar 1928.
„Prager Tagblatt“, 22. November 1927.
„Pester Lloyd“, 18. Januar und 28. Januar 1928.
„Az Ujsäg“, 6. Januar 1928.
„La Revista Bianca“, Barcelona (M. Nettlau).
„De Groene Amsterdammer“, 26. November 1927 (Dr. F. Feenstra).
A. J. iStorfer
iS cLl eie r, Max: Die Wissensformen und die. Gesellschaft. Der neue
Geist- Verlag, Leipzig 1926.
Max S ch eler gehört zu den Denkern, deren Forschungen im innigsten Wechsel¬
verhältnis mit der Arbeit der konkreten Wissenschaften stehen. Einerseits
besitzt er eine Kraft der Synthese und Synopsis, die ihn fähig macht, die Fülle der
Ergebnisse heutiger wissenschaftlicher Forschung zu einer Einheit zusammen¬
zuschmelzen, anderseits versteht er die prinzipiellen Fragen, die in der wissen¬
schaftlichen Tagesarbeit oft ihre Schärfe verlieren, die latenten philosophischen
Voraussetzungen psychologischer, biologischer, physikalischer Theorien mit einer
Klarheit und Präzision herauszustellen, die für die speziellen Wissenschaften selber
höchst lehrreich und beachtenswert ist.
Die Psychoanalyse hat besonderen Grund, Schelers Gedanken Aufmerksamkeit
zu schenken. Trotz seiner Kritik (in „Wesen und Formen der Sympathie“)
haben seine Forschungen oft nahe Verwandtschaft mit psychoanalytischen Ein-
Referate
383
sichten gezeigt. Besonders in der letzten Zeit scheint sich in seiner Gedanken¬
welt ein Umschwung vollzogen zu haben, der auch eine positive Wendung
zu der Psychoanalyse mit sich brachte.
Die Umrißlinien seiner neuen Philosophie sind in dem Vortrag: „Die Formen
des Wissens und der Bildung“ (Cohen, Bonn 1925). zuerst angedeutet, aus¬
führlich behandelt und weitergeführt in seinem neuen Buch: „Die Wissens¬
formen und die Gesellschaft“. Vor allem der zweite große Aufsatz des
Buches und darin besonders die Kapitel über „Philosophie der Wahrnehmung“
und „Metaphysik der Wahrnehmung und das Problem der Realität“, berühren
auch für die Psychoanalyse belangvolle Problemkreise.
Die wichtigste neue Erkenntnis, die jetzt in den Mittelpunkt der Schelersehen
Philosophie rückt, ist die von der fundamentalen Bedeutung der Triebe. Die
wahre Bedeutung der Triebe sei auch heute noch — meint Scheler — mit
verschwindenden Ausnahmen total verkannt. Das Beste noch darüber will er
„bei S. Freud und seinen ernst zu nehmenden Schülern“ gefunden haben.
Einer der Gründe für die Rückständigkeit der Psychologie in der Frage der
Trieblehre ist nach ihm die falsche Identifizierung des Psychischen mit dem
Bewußtsein. Eine Bewußtseinpsychologie kann die wahren dynamischen Faktoren
des Seelenlebens selbstverständlich nicht sehen.
Scheler faßt die prinzipielle Bedeutung der Triebe in den Satz zusammen:
„Der Trieb — und insonderheit der Gefühlsdrang als seine primitivste, nach
Gefühl und Trieb noch nicht differenzierte und in Hinsicht auf Objektrichtung
noch nicht spezifizierte Artung und Vorform — konstituiert überhaupt ein
,psychisches* Wesen“ (S. 411). Und er lehrt, daß nur die Triebe die wirklich
realen Kräfte des Psychischen seien. Der Geist „west“ nur, er ist keine reali¬
sierende, sondern bloß seligierende Macht. Der geistige Wille kann nur hemmen
oder enthemmen, aber nicht er ist der wirkliche Motor des Geschehens. Auch
für jede Produktivität geistiger Art haben die Triebe die höchste Bedeutung.
„Triebe und Phantasie sind eben gemeinsam jene Fruchtbarkeit der Vitalseele,
ohne die der im letzten Grunde immer nur negative, eingrenzende, hemmende
oder enthemmende ,Geist* (als Denken, Wollen, Vorziehen usw.) kein Substrat
seiner Wirksamkeit besäße.“
Und es ist im höchsten Grade interessant, wie Scheler aus diesem Stand¬
punkt der dynamischen Theorie des Psychischen das Problem der Gegebenheit
der Realität, das in der Geschichte der Philosophie zu solch merkwürdigen
Konstruktionen geführt hat, zu lösen sucht. Auf die grundlegende Frage, was
ist das Realitätsmoment an Gegenständen, und wie ist es uns gegeben, antwortet
Scheler durchaus zutreffend und sehr im Sinne der Psychoanalyse: Real sein
ist nicht Gegenstand sein, sondern Widerstand sein. „Der nichtauflösbare Eindruck
der Realität überhaupt beruht auf der Berührung mit einem unserer spontanen
Tätigkeit — sei es schon als Wollen oder als Triebimpuls charakterisiert —
sich entgegenstemmenden ,Widerständigen*.“ Diese vage, undifferenzierte Realität
ist allem Denken und Wahmehmen vorgegeben — wie eben die gerichteten
Triebimpulse allen rezeptiven Akten vorgegeben sind.
Dieses Erlebnis des Widerstandes, in dem uns die Realität einer von uns
38^
Referate
unabhängig existierenden Welt entgegentritt, darf nicht in Empfindungen auf¬
gelöst werden. „Das Erlebnis von Widerstand ist eine echte Willenserfahrung,
die von den sie etwa begleitenden Empfindungen, z. B. Tast- und Gelenks¬
empfindungen, scharf zu scheiden ist. Nicht Empfindungen widerstehen, sondern
die Dinge selbst, die sich in ihren qualitativen Attributen empfindungsmäßig
nur manifestieren“ (S. 465).
Und hieraus eine interessante Bemerkung zum Bewußtseinproblem: Nicht
ein Trieb bewußt sein führt zum erlebten Widerstande, sondern umgekehrt
der erlebte Widerstand ruft den Akt der Reflexio, durch den der Triebimpuls
bewußtseinfähig und bewußtseinmotivierend wird, erst seinerseits hervor. „Be-
wußtwerden, oder zum Ich in Bezug kommen, ist in allen Stufen und Graden,
in denen es erfolgt, immer erst die Folge unseres Erleidens des Widerstandes der
Welt“ (S. 470).
Die Trieblehre wird so bei Scheler zu einem Knotenpunkt weiterer Theorien,
vor allem die Grundlage seiner triebmotorischen Wahrnehmungs- und Emp¬
findungstheorie, die vereint mit sehr merkwürdigen Ausführungen über die
Phantasie, den Versuch unternehmen, — der in der letzten Zeit schon von
E. R. Jaensch angebahnt wurde, — die Trieblehre und die Wahrnehmungs¬
lehre auf gemeinsame Voraussetzungen aufzubauen.
Das Ergebnis dieses Versuches faßt Scheler in die zunächst paradox an¬
mutende These zusammen, daß die „reine“ (d. h. streng reizproportionale)
Wahrnehmung ein sehr spätes Produkt der Entwicklung sei und nicht
an ihren Aufang gesetzt werden dürfe, daß ferner alle psychische und historische
Entwicklung des Menschen ein ungeheurer Ernüchterungsprozeß ist,
ein Prozeß zugleich der Enttäuschung über primär als real bezogen gesetzter
Phantasiebilder, ferner eine steigende resignative Zurückstellung ursprünglicher
Willensprojekte in die bloße Wunschsphäre.
Scheler unterstützt diese These durch die Theorie, daß es eine ursprüngliche
Trieb- und Drangphantasie gäbe, eine produktive Phantasie gegenüber der
bloß reproduktiven, deren Gegenstände spontane Schöpfungen und nicht bloße
Kombinationen von Stücken ursprünglicher Wahrnehmungselemente sind. Triebe
bringen die ihnen gemäßen Vorstellungsbilder selbst hervor. Den Trieben
kommt die Richtungs- und Zielhaftigkeit auf Gegenstände ursprünglich zu.
Und diese Differenzierung der Triebe auf solch verschiedener „Richtung auf
etwas“ setzt noch keinesfalls eine bild- oder bedeutungshafte Vorstellung dieses
Etwas voraus. Die Annahme einer primären schöpferischen Triebphantasie
bedeutet also nicht etwa auch schon die Annahme „angeborener“ Vorstellungen.
Wenn die Triebe aber ursprüngliche Richtungsbestimmtheit besitzen, so ist es
verständlich, daß sie auch unsere Vorstellungstätigkeit beeinflussen, daß ihnen
die Fähigkeit zukommt, spontan Objekte von der Art zu schaffen, die — wären
sie real — geeignet wären, Befriedigungen zu spenden. Alles reizbedingte Vor¬
stellen, Wahrnehmen, Empfinden ist für jene ursprünglichen Gebilde der
Drang- und Triebphantasie nicht vorgegebenes „Material“, aus dem jene Gebilde
aufgebaut wären, sondern bedeutet im Gegenteil für sie zunehmende Einschränkung
und Korrektur. Die Gebilde der Phantasie, die im Frühstadium der Entwicklung
Referate
385
nicht von der Realität unterschieden werden, werden erst in dem Maße als
phantasierte Gebilde erkannt, als unser Verhalten gegen ihre Gegenstände und
unsere Bewegungen auf sie unsere Erwartungen durch dauernden Mißerfolg
enttäuschen. Was die Wahrnehmung subjektiv legitimiert, ist eben nur der
Erfolg, und zwar vor allem der gesetzmäßig wiederkehrende Erfolg unseres
praktischen Verhaltens auf ihre Objekte.
Wfe erklärt sich die partielle Identität der Elemente der Phantasiebilder und
der Wahrnehmungsinhalte? Nicht daher, daß die Phantasiebilder nur Kombi¬
nationen von Teilen der Wkhrnehmungsinhalte sind, sondern an erster Stelle
daraus, daß auch die Wahmehmungsinhalte in ihrem Werden durch Trieb¬
impulse mitbedingt sind, und daß Milieustruktur und Triebstruktur des Organismus
von vornherein in strenger Korrelation stehen. Die Triebstruktur — sagt
Scheler sehr treffend ist für Phantasiewelt und Wkhrnehmungswelt eine
„dynamische Konstante“.
Auch eine Reihe physiologischer Tatsachen scheint für die Richtigkeit der
Annahme einer ursprünglichen Triebphantasie zu sprechen. Daß die Phantasie¬
tätigkeit im Traum, bei so vielen Geisteskrankheiten, in der Hypnose gesteigert
ist, daß sie durch Rauschgifte anregbar ist, legt die Auffassung nahe, daß die
Phantasietätigkeit im Gegensatz zu bewußter Empfindung, Wahrnehmung, Er¬
innerung an die Tätigkeit relativ niedriger Segmente des Nervensystems ge¬
bunden ist. Scheler zieht aus diesen Tatsachen die Folgerung, daß die höchsten
Rindenzentren und die ihnen zugehörigen Prozesse für die Phantasietätigkeit
weit mehr Isolierungen, Hemmungen und Auslese für äußere Aufgaben leisten,
als daß ihre Funktion eine positive Bedingung für ihre Entstehung wäre.
Durchaus mit Recht beruft sich hier Scheler auf die Psychoanalyse, indem
er bemerkt, „auch die gesicherten Teile der psychoanalytischen Forschungen
zwingen, eine spontane, unter wachbewußt wirksame Trieb- und Drangphantasie
anzuerkenen . (S. 440.) Ist doch die Schelersehe Theorie in den von der
Psychoanalyse aufgestellten Beziehungsreihen: „Es — Triebhaftigkeit — Halluzi¬
nation — Phantasie und „Ich — Wahrnehmung — Realitätsprüfung“ sum¬
marisch enthalten.
Die Psychoanalyse kann mit Genugtuung auf Übereinstimmungen mit diesem
tiefen und bedeutenden Forscher hinweisen. In seinem neuen Buch, aus dessen
reicher Fülle hier, bewußt einseitig, nur manches hervorgehoben werden konnte,
wird der Analytiker sicher viel Anregung finden. Gero (Budapest)
Bern f e 1 d, iSiegfried : iS o z i a 1 i smus und Psychoanalyse. Dazu
Dishussionstemerhungen von Otto Kaus, Bartara Lantos, D. Ed.
Al exander, Otto jMüller, Ernst iSimmel., Der sozialistische
Arzt. II, a/ 3 .
In dem „Verein sozialistischer Ärzte“ in Berlin, fand im Juni 1926 eine
durch ein Referat von Bernfeld eingeleitete Aussprache über „Sozialismus und
Psychoanalyse“ statt. Die „Grundgedanken“ des Bern fei d sehen Vortrages und
einige Diskussionsbemerkungen liegen nunmehr im Drucke vor.
386
Referate
Es geschieht nicht zum erstenmal, daß von sozialistischer Seite her die Frage
nach den Beziehungen der Psychoanalyse zum Sozialismus, speziell zu dessen
wissenschaftlicher Grundlage, den Lehren von Marx, gestellt wird. Sie ist sehr
verschieden beantwortet worden. Während etwa Kris che die Übereinstim¬
mungen Freud sch er und Marxscher Denkweise unterstrich, hielt Jurinetz
die Psychoanalyse als idealistisch, undialektisch und metaphysisch für vollkommen
unvereinbar mit Marxismus.
Bernfeld greift das Problem unvergleichlich tiefer und präziser an als seine
Vorgänger; er kann dies infolge seiner gründlichen Kenntnis nicht nur des
Marxismus, sondern auch der Psychoanalyse, die jenen abging. In knappster —
oft den Gedankengang nur andeutender — Form setzt er auseinander, warum ihm
die beiden in Frage stehenden wissenschaftlichen Richtungen nicht nur vereinbar,
sondern einander zugeordnet erscheinen. Er beginnt mit dem Nachweis der
Verwandtschaft in den beiden wissenschaftlichen Methoden — (wobei er beim
Leser die Kenntnis der Methodik der Marxschen Sozial Wissenschaft voraus¬
setzt, die Methodik der Psychoanalyse als ihr verwandt nachweist). Vor allem
ist die analytische Forschungsmethode eine exquisit historische, insofern sie
kein seelisches Phänomen für „ erklärt“ ansieht, dessen Genese nicht aufgedeckt
ist. Sodann ist sie aber auch eine materialistische, wenn man dieses Wort
nur im Sinne von Marx gebrauchen will und es nicht mit „mechanistisch“
verwechselt. Daß Freud die seelischenPhänome nicht als „Sekretion des Gehirns“
nimmt, psychische Tatbestände für physiologischer Forschung prinzipiell unzu¬
gänglich hält und an eine Autonomie des Psychischen glaubt, was für Jurinetz
ausreichte, um ihn als „unmaterialistisch“ zu brandmarken — ist nebensächlich.
Wesentlich ist, daß die Psychoanalyse allen „Werten“ feind ist, alles „Absolute“,
„Objektive“, „Unableitbare“ auf primitivere Elemente reduzieren will; sie be¬
hauptet nicht, daß es keine Werte gäbe; als Psychologie hat sie einzig die Aufgabe,
die Werte, als aus Elementen historisch geworden zu erweisen; ebenso wie
für Marx sind auch für Freud die erlebten Motive unseres Handelns vor¬
geschobene, die an Stelle der wirklich wirksamen unbewußten Motive stehen.
Die Psychoanalyse ist aber auch dialektisch, insofern sie stets Gegensatz¬
begriffe bildet (Sexualtriebe—Ichtriebe, Objektlibido—Narzißmus, Eros —
Todestrieb, Ich—Es, Lustprinzip—Realitätsprinzip, Individuum — Außenwelt),
die als echte Polaritäten perzipiert sind (kein Begriff ist ohne seinen Gegensatz
denkbar); sie haben den heuristischen Wert, daß mit ihnen die Wirklichkeit
psychischen Geschehens, das tatsächlich in dialektischer Bewegung fortschreitet,
erfaßt werden kann. Die analytische Entwicklungsauffassung ist dialektisch, d. h.
die Konflikte, die ein Fortschreiten in der Entwicklung erzwingen, entstehen
aus Gegensätzen, die jedes Entwicklungsstadium in sich selbst enthält; das Fort¬
schreiten geschieht mit den Mitteln des Konfliktes selbst. Diese Auffassung wird an
den Beispielen der Entstehung der Objektbesetzungen und des Über-Ichs demon¬
striert. Ist diese Auffassung in der Literatur auch noch nicht systematisch durch¬
gearbeitet, so enthält sie doch den ersten Ansatz zu einer dialektischen Psychologie.
Die Behauptung, „Totem und Tabu“ oder „Massenpsychologie und Ich-
Analyse“ widersprächen den sozologischen Auffassungen von Marx, ist falsch.
Referate
38y
Freud und Marx behandeln verschiedene Probleme. Die sozialpsychologische
Frage, „wie die psychischen Mechanismen beschaffen sind, mittels deren in
den Köpfen der lebenden und wirtschaftenden Menschen gegebene Produktions¬
verhältnisse die ihnen entsprechende Ideologie erzeugen“, ist von Marx nicht
behandelt worden. Aus der Psychoanalyse folgt keine bestimmte Weltanschauung.
Freud selbst hat sich nie zum Sozialismus und nie gegen ihn bekannt. Mag
sein Werten auch „bürgerlich beeinflußt“ sein: „Daß dies aber niemals an
einer nur einigermaßen wichtigen Stelle seiner Forschung geschah, ist ein sehr
beachtenswertes Faktum, das wohl keinem anderen bürgerlichen Forscher
nachgerühmt werden kann, gewiß keinem Psychologen.“
Die Bernfeldschen Ausführungen werden noch durch die Diskussions¬
bemerkungen zweier Analytiker ergänzt: Frau Lantos macht darauf aufmerksam,
daß der Konservativismus, der Institutionen festhalten läßt, auch wenn ihre
wirtschaftlichen Bedingungen längst geschwunden sind, und der von Marx
nicht erklärt worden ist, sich als unbewußte Fixierung, als sozialer Infantilismus
auffassen läßt. Ebenso bleibt ohne Psychoanalyse unerklärt, warum große Ge¬
sellschaftsklassen gegen ihr Klasseninteresse handeln; diese weist nach, daß da¬
bei infantiler Autoritätsglaube wirksam ist. Die Psychoanalyse untersucht die
von Marx nicht behandelte Frage der speziellen psychischen Beaktionen auf
die gegebene soziale Grundlage. — Simmel betont die Ähnlichkeit des Wider¬
standes gegen die Psychoanalyse mit dem gegen den Marxismus. Wie der
Marxismus das „Recht“ des Bürgertums gefährdet und deshalb von ihm affektiv
abgelehnt wird, so gefährdet die Psychoanalyse das „Recht“ des bewußten
Ichs auf seine intrapsychische Herrschaft und wird deshalb — von Bürger¬
lichen und Proletariern gleichermaßen — abgelehnt. In Wahrheit bringt die
Psychoanalyse dem Marxismus die wesentlichste Ergänzung durch den Nachweis,
daß auch bei sozialen Gebilden ökonomische Bedingtheiten von der libidinösen
Seite her wesentlich beeinflußt werden. Die psychoanalytische Ergänzung des
durch Marx geweckten Klassenbewußtseins wird durch die Bewußtseins¬
erweiterung jedes einzelnen Klassengenossen eine vorher nicht geahnte Ver¬
tiefung des Klassenbewußtseins bringen. Psychoanalytische Erkenntnis wird die
sozialistische Taktik richtunggebend beeinflussen. Simmel zeigt dann noch, wie
die Tatsache, daß siegreiche Revolutionen aus sich selbst heraus reaktionäre
Wellen erzeugen, mit dem Ödipuskomplex zusammenhängt, und daß die
Gesellschaftsform aus psychologischen Gründen (Projektion zielgehemmter Trieb¬
regungen) kulturell immer tiefer stehen muß als es dem Entwicklungsgrade
des einzelnen entspräche; der Kapitalismus im ganzen ist ein anal-sadistisches
Phänomen, eine kollektivistische Zwangsneurose, deren Heilung nur durch die
Erkenntnis möglich wäre, „wie weit wir noch unbewußt an unserem Leiden
selbst festhalten.“
Die Einwände der gegnerischen Diskussionsredner erklären sich meist aus
deren Unkenntnis der Psychoanalyse. Dies gilt vor allem für die Ausführungen
des Rechtsanwaltes Ed. Alexander. Er meint, daß die Hinneigung zur Psycho¬
analyse nur eine Flucht vor dem konsequenten Marxismus sei. Die Analyse
untersuche Individualseelen, „metaphysische, idealistische“ Vorstellungen, „die
388
Referate
mit dem Marxismus nichts gemein“ haben. Sie sei die „Medizin des Rentners“,
ihre Entstehung nur in Wien denkbar. — Es gilt aber auch für die Aus¬
führungen der Individualpsychologen. Otto Kaus meint nach Auseinander¬
setzungen über Übereinstimmungen bei Adler und Marx, „Freud sieht nur
die sexuelle Beziehung im Menschen und kann auch die sexuelle Beziehung
nicht als soziale Beziehung werten. Seine Psychologie ist nicht einmal zur
Apperzeption der Probleme gediehen, welche im biologischen phänomenologischen
Befund als solchen gelegen sind“. Otto Müller fragt nach der ökonomischen
Bedingtheit der Psychoanalyse. Der gemeinschaftsfeindliche Geltungswille ist das
Produkt bourgeoiser Kultur. In der Sexualsphäre tritt der Urkonflikt Gemein¬
schaftswille— Machtstreben „am deutlichsten zutage“. Deshalb habe Freud
„die Sexualsphäre zur Grundlage einer erklärenden Arbeitshypothese“ gewählt.
Durch Marx aber „wurde der Boden vorbereitet zu einer psychologischen
Arbeitshypothese, die sich auf dem Grundgedanken der Gemeinschaft als wesent¬
liches Fundament des menschlichen Lebens auf baut . . . Diese Lehre hat
Alfred Adler aufgestellt. Marxistisch gesehen, sind Freud und Adler Expo¬
nenten verschiedener Phasen der fortschreitenden Gesellschaftsentwicklung“.
Wenn Müller dann die marxistischen Psychoanalytiker auffordert, sich an einer
von den marxistischen Individualpsychologen eingerichteten Arbeitsgemeinschaft
zu beteiligen, so müßten jene also wohl ein wirkliches Studium der Schriften
Freuds und der von Freud untersuchten Phänomene verlangen, das — nach
ihren Diskussionsbemerkungen zu schließen — diese noch nicht geleistet haben.
Feme hei (Berl m)
iSaupe, Emil: Einführung in die neuere Psyc liologie. A. W. Ziele-
feldt Verlag, Osterwieck a. H. 1927.
In kurzen, gut orientierenden Abrissen werden, meist von führenden Mit¬
arbeitern, die zahlreichen Strömungen in der neueren Psychologie gemein¬
verständlich geschildert: Wundt; Die Würzburger Schule; Hoff ding-Jo dl-James;
Gestaltpsychologie; Eidetik; Assoziationspsychologie; Determinationspsychologie;
Denkpsychologie; Geisteswissenschaftliche Psychologie; Personalismus; angewandte
Psychologie; differentielle Psychologie; Psychotechnik; Religions-, Massen-, Sozial-,
Völker-, Entwicklungspsychologie; Individualpsychologie; Charakterologie und
Psychoanalyse. Diese behandelt korrekt Prof. Dr. Kutzner-Bonn, weniger
ihre Resultate darstellend, als die Widerstände bekämpfend und zum Studium auf¬
fordernd. Man vermißt in dieser dankenswerten Sammlung noch: Phänome¬
nologie, Behaviorismus, Reflexologie. Bernfeld (Berlin)
De jMan, Hendrik: Die Intellektuellen und der iSozialismus. Eugen
Diederidis, Jena 19 26.
Will im Zusammenhang mit politischer Agitation gegen den Marxismus
innerhalb des Sozialismus eine Psychologie des Intellektuellen im Sinne der
Tiefenpsychologie geben, welche er z. B. so auffaßt: „Das Ergebnis ist auf beiden
Seiten, in der Sprache der heutigen Psychologie, ein Inferioritätskomplex . . •
Referate
38 9
r
Eine Komplementarerscheinung des Inferioritätskomplexes der Intellektuellen ist,
ganz na c e ^ n c ema der Tiefenpsychologie, die Überkompensation durch
den spezifisch mtelligenzlerischen Hyperradikalismus . . . Der psychologische Ma߬
stab dieser Fähigkeit ist der Grad der Verdrängung der kapitalistischen Arbeits¬
und Lebensmotive - der persönlichen Macht- und Erwerbsvorteile mit der Komple¬
mentarerscheinung der Angst und des Minderwertigkeitsgefühls - durch die sozia¬
listischen Motive des Gemeinschaftsgefühls.“ De Mans Politik ist nicht hier
zu beurteilen; seine Psychologie ist eine Mischung jener Auffassung von Psycho¬
analyse, die englisch-amerikanischen Zeitungen geläufig ist, mit Adlers Individual-
P S y Ch0l0gle ' Bernfeld (Berlin)
Lewin, Kurt: Vorsatz, Wille und Bedürfnis. Mit Vormerkungen
über die psydiisdien Kräfte und Energien und die Struktur der Seele.
/Springer, Berlin 1926.
Es lst b ® kannt > daß die experimentelle Psychologie, die in der letzten Zeit
namentlich in Deutschland, einen großen Aufschwung genommen hat, in den
Fragen der Trieb- und Affektpsychologie bis jetzt versagte. Ob diese Unfrucht¬
barkeit m den der Methode gezogenen engen Grenzen begründet ist oder ob
nicht vielmehr bloß die Einstellung der Forscher daran Schuld trägt, soll hier
nicht erörtert werden.
Die vorliegende Arbeit Lewins scheint jedenfalls den Beweis zu erbringen
daß auch durch die experimentelle Methode Material zutage gefördert werden
kann welches bei richtiger theoretischer Deutung die Arbeit an den wesentlichen
Problemen ermöglicht. Freilich darf man die Vorzüge — oder die Mängel —
eines Forschers nicht mit den Vorzügen — oder Mängeln — einer Methode
gleichsetzen. Aber auch prinzipiell spricht die Schrift Lewins dafür, daß das
Hch^st^ S ° Wichtige Gebiet der Triebpsychologie dem Experiment zugäng-
Vor der Behandlung der eigentlich willens- und triebpsychologischen Fragen
weist Lewin auf ein Problem der psychologischen Begriffsbildung hin, das
gerade heute in der Psychologie (und in der Psychiatrie) besonders aktuell ist,
nämlich auf den Unterschied zwischen phänomenologischer und konditional¬
genetischer Begriffsbildung. „Bei Fragen des Entstehens und Vergehens, der
rsachen und Bedingungen und des sonstigen realen Zusammenhanges erweisen
sich . . . die psychischen Komplexe und Geschehnisse als nicht hinreichend durch
ihre phänomenalen Eigentümlichkeiten bestimmt . . . Hier gibt es Fälle enger
phänomenaler Verwandtschaft zwischen Gebilden, die auf recht verschiedenem
Boden und nach recht verschiedenen Gesetzmäßigkeiten erwachsen sein könnten“
. 19). Ein Beispiel aus der Willenspsychologie: Krampfhafte Willensakte können
eine geringere Durchschlagskraft, kausaldynamisch ein geringeres Gewicht haben
V ei |,i « 1Smäölg Sch r che Vorsätze oder g ar Erlebnisse, die phänomenologisch
® s „bloße Gedanken auftreten. Ebenso können Verhaltungsweisen, die sich
ur die Beobachtung phänomenologisch als sehr verwandt geben, dynamisch
außerordentlich Verschiedenes bedeuten. Die „äußeren“ und die „inneren“
Imago XIV.
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390
Referate
konkreten Geschehensabläufe und Verhaltungsweisen, die sich der Beschreibung
mit Hilfe der Erlebnisbeobachtung und der Fremdbeobachtung darbieten, ge¬
hören gleichermaßen auf die Seite der bloß phänomenologischen Begriffsbildung.
Sie geben nur die Grundlagen, auf denen die konditional-genetische Begriffs¬
bildung aufgebaut werden muß.
Die Überbetonung der phänomenologischen Fragen darf also nicht die tiefer
liegenden kausal-dynamischen Probleme verdecken. Aber die Anerkennung dieses
Satzes verpflichtet zugleich zur Bildung feinerer dynamischer Begriffe. Wie hat
die bisherige experimentelle Psychologie versucht zu den Ursachen seelischen
Geschehens vorzudringen? Man hatte dabei immer einen bestimmten Beziehungs¬
typus im Auge, den Lewin als „Adhäsion irgendwelcher Gebilde oder Gesamt¬
heiten von Gebilden** bezeichnet. Der ausgeprägteste Fall eines solchen Zu¬
sammenhangtypus stellt die Assoziation zwischen zwei psychischen Gebilden dar:
„Die Gebilde a und b sind auf Grund früherer Kontiguität eine Koppelung
eingegangen. Und diese Koppelung wird als Ursache dafür angesprochen, daß
bei Eintritt des Erlebnisses a das Erlebnis b resultiert.“ Es gibt einen anderen
Grundtypus, etwa der Art: Ein Reiz besitzt eine Adhäsion mit gewissen Re¬
aktionen. Und diese Adhäsion wird als Ursache des Geschehens angesehen.
Gegen diese Auffassung, die, wie gesagt, in der experimentellen Psychologie
bisher vorherrschend war, setzt Lewin Thesen von prinzipieller Bedeutung
entgegen: „.. . Bindungen sind nie ,Ursachen* von Geschehnissen, wo, in welcher
Form auch immer sie bestehen, sondern damit das miteinander Verbundene sich
bewege, . . . muß arbeitsfähige Energie beigesetzt werden.“ Und es . sind
allemal gewisse seelische Energien, die in der Regel auf einen Willens- oder
Bedürfnisdruck zurückgehen, also gespannte seelische Systeme die notwendige
Voraussetzung dafür, ob überhaupt das psychische Geschehen . . . abläuft“
(S. 22 f.).
Lewin bemerkt, daß er hier Begriffe wie Energie, Spannung, System als
allgemein-logische Kategorien der Dynamik verwendet, die kein Spezifikum der
Physik sind und die Frage noch ganz offen lassen, ob man dabei letzten Endes
an physikalische Kräfte und Energien denken soll oder nicht. (Man muß dabei
nur stets im Auge behalten, daß schon, wenn man vom physiologischen Energie¬
begriff handelt, — der bei triebpsychologischen Fragen oft in Betracht gezogen
werden muß, — ein Sachverhalt intendiert wird, der in einem ganz anderen
Gegenstandskreis liegt als der, der gemeint ist, wenn man von Triebkraft, Trieb¬
energie spricht.)
Man muß also bei jedem seelischen Geschehen fragen, wo die verursachenden
Energien herstammen. Geht man mit diesem Gesichtspunkt an willenspsycho¬
logische Fragen heran, so trifft man im Bereich der experimentellen Psycho¬
logie folgende Theorie (hauptsächlich von Ach vertreten) vor: Als Grundtyp
einer Willenshandlung pflegt man die Vornahmehandlung anzusehen, also einen
auf einen Motivationsprozeß gegründeten Entschluß, dem die eigentliche Aus¬
führung der Handlung folgt. Die Hypnoseversuche Achs haben hier zu einer
Theorie geführt, die die Ausführung des posthypnotischen Befehls auf eine
Koppelung zwischen „BezugsVorstellung“ (Gelegenheit, z. B. Signal) und „Ziel-
Vorstellung“ (die Ausführungshandlang) zurückführt. Nun konnte auch die
assoziationstheoretische Willenspsychologie erklären: Die Ursache des Geschehens
bei Vomahmehandlungen ist in einer Assoziation zwischen Bezugs- und Ziel¬
vorstellung ^ zu suchen. (Auch durch die Einführung der „determinierenden
Tendenzen wurde die Grundlage dieser Theorie nicht geändert.)
Es wird dem Psychoanalytiker vielleicht seltsam Vorkommen, daß — nament¬
lich im Hinblick auf das Problem der Hypnose — solche Theorien heute noch
ernsthaft diskutiert werden müssen, aber man muß die Lage in der traditio-
nellen Psychologie bedenken!
Lewin hält dieser Theorie schwerwiegende Einwände entgegen. Vornahmen
legen in der Regel weder eine bestimmte Gelegenheit, noch eine bestimmte
Ausführungsart fest. Beides kann ganz unbestimmt bleiben, ohne daß die Wirk¬
samkeit der Vornahme dadurch geschwächt würde. Wo ist hier die Koppelung
zwischen Bezugs- und Ziel Vorstellung? Zweitens: Hat man sich etwa vorgenommen,
einen Brief m den nächsten Briefkasten einzuwerfen, und hat man den Vor¬
satz auch ausgeführt, so bewegt der Anblick des nächsten Postkastens nicht
dazu, die Handlung zu wiederholen. Nach der Assoziationstheorie müßte man
erwarten, daß das Auftauchen der Bezugsvorstellung (also eines Briefkastens)
immer wieder mindestens den Ansatz zur Ausführung weckt. Endlich kommt
es, besonders bei affektiv sehr stark betonten Vornahmen vor, daß man die
Gelegenheit selbst aufsucht und nicht auf das Auftreten der Bezugsvorstellung
passiv wartet. Es scheint also, daß das Eintreten der Bezugsvorstellung doch
nicht immer die notwendige Voraussetzung dafür ist, daß die Handlung aus-
geführt wird.
Nun entwickelt Lewin auf Grund später zu veröffentlichender Versuche
seine eigene Theorie der Vornahmehandlung. Die Vornahme schöpft ihre Kraft
nicht aus einer Koppelung von Vorstellungen, sondern es besteht ein innerer
in eine bestimmte Richtung gehender Druck, der auf die Ausführung der Vor¬
nahme hindrängt. „Die Kräfte, die bei einem Vornahmeakt resultieren, zeigen
somit eine weitgehende Typenverwandtschaft mit jenen seelischen Kräften, die
man als Bedürfnisse zu bezeichnen pflegt und die auf Triebe oder zentrale
Wollungen zurückgehen. Damit bricht auch in der experimentellen
Psychologie der Gedanke durch, daß man schon beim einfachen
Laboratoriumsexperiment aus dem Gebiet der sogenannten Willenspsycho¬
logie, nicht ohne den Rekurs auf die tieferliegenden Schichten des
triebhaften Geschehens auskommen kann.
Terminus „Bedürfnis wurde wahrscheinlich nur deshalb gewählt, um
das allzu belastete Wort „Trieb“ zu vermeiden. Lewin weist ausdrücklich auf
die Analogie zwischen Bedürfnissen und Trieben hin. In beiden Fällen haben
wir es mit einem gerichteten Druck zu tun, der auf gewisse Handlungen
(Befriedigungshandlungen) hindrängt, beidemal spielen gewisse Gelegenheiten,
auf die die Triebe beziehungsweise Bedürfnisse ansprechen, eine wesentliche
Rolle, es gibt gewisse Dinge oder Ereignisse, die „anlocken“, die einen „Auf¬
forderungscharakter haben. Dieser Begriff des Aufforderungscharakters spielt
bei Lewin eine zentrale Rolle. Die sehr treffende Bezeichnung will die Tat-
26*
Referate
392
sache wiedergeben, daß ein handelndes Lebewesen nicht bloß einer aus optischen,
akustischen usw. Reizen bestehenden Welt gegenübersteht, sondern eben Dingen
und Ereignissen, die sich keinesfalls als neutrale, sondern als lockende, ab¬
stoßende oder zu bestimmten Handlungen herausfordernde perzipiert werden.
Trieben wie Bedürfnissen entspricht nicht ein bestimmt festgelegter, sondern
ein weiter und nur vag begrenzter Kreis solcher Aufforderungscharaktere.
Die enge Parallelität zwischen der Wirkung eines echten Bedürfnisses (oder
Triebes) und der Nachwirkung einer Vornahme veranlaßt Lewin bei der Vor¬
nahme von dem Vorhandensein eines Quasibedürfnisses zu sprechen. Die durch
den Vornahmeakt gesetzten Spannungen und Aufforderungscharaktere sind nichts
Ursprüngliches. Sie entstehen auf Grund irgendwelcher echten Bedürfnisse, die
auf Triebe oder übergreifende Willensziele zurückgehen. Das Quasibedürfnis
bleibt auch nach seinem Entstehen weiterhin in Kommunikation mit einem
Komplex von echten Bedürfnissen entsprechenden Spannungen. Von der Tiefe
der Verankerung des echten Bedürfnisses, in die das Quasibedürfnis
eingebettet ist, hängt im wesentlichen die Wirkung der Vornahme ab.
Die echten Bedürfnisse, die dabei in Frage kommen, sind einmal diejenigen, aus
denen die Vornahmen selbst erwachsen sind. Daneben aber machen sich nicht selten
auch Kräfte bemerkbar, die bei dem Zustandekommen der Vomahme selbst gar nicht
oder nur wenig mitgewirkt haben. Die wesentliche Leistung der Vornahme besteht
in der Vorbereitung. Durch die Vornahme werden Umstände geschaffen, die es
später erlauben, sich einfach der Wirkung der Situation zu überlassen. Eine
Vornahme tritt nur ein, wenn eine gewisse Voraussicht besteht, dann nämlich,
wenn die vorauszusetzende Situation an und für sich noch nicht jene Auf¬
forderungscharaktere enthält, die die gewünschte Handlung schon von selbst
spontan nach sich ziehen würde. Mit der Vornahme Hand in Hand geht ein
Vorgang, den man als „Entschluß “ bezeichnen kann. Ein funktionell wesent¬
licher Effekt dieses Vorganges besteht darin, daß durch ihn für eine innere
Spannung der Zugang zur Handlung, zur Motorik geschaffen wird. Beim Ent¬
schluß handelt es sich darum, daß mehrere entgegengesetzt gerichtete gespannte
Systeme in einer Person gleichzeitig vorhanden sind, und daß durch den Ent¬
schluß diese Spannungen in irgendeinem Sinne zum Ausgleich gebracht werden,
damit die Handlung von einem eindeutigen Spannungssystem beherrscht werden
kann.
Wo liegt, aus dem Aspekt der Theorie Lewins gesehen, die Differenz
zwischen Willenshandlung und Triebhandlung? Lewin wählt hier einen sehr
richtigen Gesichtspunkt: „Nicht der Umstand, ob zeitlich ein gewisser anderer
Akt (der Vornahmeakt. Ref.) vorausgegangen ist oder nicht, sondern den Charakter
des Handlungsgeschehens selbst wird man bei der Zuordnung des Geschehens
zu einem bestimmten Typus in den Vordergrund zu stellen haben.“ Aus diesem
Prinzip der Zuordnung erscheint der Typus der beherrschten Handlung als
charakteristischer Fall einer Willenshandlung. Der andere Typus wäre die Trieb¬
handlung, oder wie Lewin sie auch nennt, die Feldhandlung, als eine von
„unwillkürlichen, vom Individuum nicht beherrschten Kräften geleitete Hand¬
lung“. Die Vornahmehandlung, die keinen bestimmten Ausführungstypus, sondern
Referate
3 9 3
das Vorausgegangensein eines Vornahmeaktes zur Voraussetzung hat, steht in der
Mitte, oft näher der triebhaften als der Willenshandlung.
Aus dieser Theorie ergibt sich ungezwungen das Verständnis einiger experi¬
mentellen Befunde. Man versteht, warum Versuchspersonen die Tendenz zeigen,
eine unterbrochene Handlung, selbst wenn sie uninteressant war, wieder auf¬
zunehmen, auch wenn ein äußerer Anreiz, der sie an die Handlung erinnern
konnte, fehlt. Die Stärke der Wiederaufnahmetendenz hängt von der inneren
Stellung der Versuchsperson zu der Handlung ab. Es ist dabei wichtig, welche
zentralen Willensziele (oder Triebe) die Versuchsperson veranlaßt hatten, die
Instruktion des Versuchsleiters anzunehmen. So erklärt sich das Vergessen
von Vorsätzen: Vorsätze werden nicht vergessen, wenn die zugehörige Hand¬
lungssphäre, in die sie eingebettet sind, lebendig ist. Treten gegen einen Vor¬
satz starke natürliche Gegenbedürfnisse auf, so wird es nicht ausgeführt. (Lewin
weist hier ausdrücklich auf den Freudschen Begriff des Widerstandes hin.)
Das Phänomen der Fixierung scheint auf den ersten Blick eine assoziations¬
theoretische Erklärung zu fordern. Es sieht so aus, als läge hier eine feste
Koppelung zwischen einem Triebreiz und einer bestimmten Ausführungsart vor.
Lewin stellt dagegen durchaus mit Recht fest, daß auch hier die Energie¬
quelle ein echtes Bedürfnis und nicht die Koppelung zwischen Reiz und Aus¬
führungsart oder Gelegenheit ist. Bezeichnend für die Fixierung ist nur, daß
der Kreis der Aufforderungscharaktere gegenüber der Zahl der an sich mög¬
lichen außerordentlich eingeengt ist. Wie es zu solcher Einengung kommt, ist
allerdings problematisch.
Bei der Behandlung der trieb- und willenspsychologischen Fragen spricht
Lewin oft von „seelischen Systemen“. Damit berührt er Fragen, die innig
mit den Problemen der analytischen Ichpsychologie Zusammenhängen. In seiner
Arbeit sind darüber einige Andeutungen zu lesen, die ungewöhnlich klar
schwierige Sachverhalte klären und die Strukturprobleme des Psychischen scharf
heraussteilen. Es lohnt sich, hier einiges daraus anzuführen. Lewin bestreitet,
daß der Satz über die Einheit der Seele, der sagt, „alles hängt mit allem
zusammen“, die Verhältnisse adäquat widergibt. „Der Zusammenhang der psychi¬
schen Ereignisse untereinander und die Breite des Einflusses jedes einzelnen
Erlebnisses auf die anderen psychischen Prozesse ist nicht einfach von seiner
Stärke, nicht einmal von seiner realen Wichtigkeit abhängig. Die einzelnen
psychischen Erlebnisse sind vielmehr eingebettet in ganz bestimmte seelische
Gebilde (Komplexe), Persönlichkeitssphären und Handlungsganzheiten. Ob und
wie zwei psychische Ereignisse aufeinanderwirken, hängt davon ab, welche
Stellung diese Komplexe zueinander haben. Die Kommunikation zwischen ver¬
schiedenen Systemen ist verschieden breit. Er gibt eine erstaunlich weitgehende
Abschließung psychischer Komplexe gegeneinander. Es ist fraglich, ob das,
was man als , 1 dl*, ,Selbst 4 bezeichnen kann, nicht nur einen Kom¬
plex, respektive ein funktionelles Sondergebiet innerhalb dieser
seelischen Totalität darstellt. Es gilt, die Seele in ihrer natürlichen
Struktur zu erkennen, die psychischen Komplexe, Schichten und Sphären fest¬
zustellen; es gilt, zu erkennen, wo Ganzheiten vorhanden sind und wo nicht."
Referate
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Die Arbeit Lewins gehört zu den besten und bedeutendsten, die aus der
experimentellen Psychologie in der letzten Zeit hervorgegangen sind. Sachliche
Übereinstimmungen mit der Psychoanalyse treten deutlich hervor. Sie sind um
so höher einzuschätzen, als der Verfasser, allem Anschein nach, ziemlich unbe¬
einflußt von psychoanalytischen Theorien, zu seinen Resultaten kam. Gewiß
wäre für ihn eine innigere Bekanntschaft mit der Psychoanalyse sehr aufschlu߬
reich gewesen. Aber auch umgekehrt kann vom Psychoanalytiker dieses Buch
mit Nutzen gelesen werden. Gero (Budapest)
Barrett, E. Boyd: Tlie New Psyckology. How it Aids and Interests
(Hardmg and JMore, London 1925).
Die Geistlichkeit hat begreiflicherweise nicht gerne ihre Macht über die
verschiedenen Wissenszweige (vor allem die Medizin) aufgegeben, deren Hüter
sie einst war, und man hat lange schon eingesehen, daß der letzte und viel¬
leicht hartnäckigste Kampf mit ihr auf dem Gebiet der Psychologie und der psycho¬
logischen Medizin zu bestehen sein wird Der Autor dieses Buches, ein ge¬
lehrter Jesuit, verteidigt die hoffnungslose Position der Geistlichkeit. Er durch¬
mißt das ganze Gebiet der klinischen Psychologie und stellt für jedes schwierige
Problem nach bewährtester ex-cathedra -Art ein Gesetz auf. Er widersetzt sich
heftig den Bestrebungen, die Neurasthenie als eine Aktualneurose oder als
eine Psychoneurose aufzufassen, und belehrt uns, was sie tatsächlich ist*, er
urteilt anerkennend über den Wert der Hochfrequenzbehandlung von Arsonval
und gibt uns Anweisungen darüber, wann und aiuf welche Art die Traum¬
forschung für therapeutische Zwecke verwendet werden dürfe. Die Sicherheit
bei der Entscheidung über derartige Dinge und der Anspruch höchster Auto¬
rität, der das ganze Buch durchzieht, sind durchaus verständlich, wenn wir
daran denken, daß der Autor ein unfehlbares vade mecum zur Wahrheit be¬
sitzt: Er braucht sich bloß zu fragen, welche Lösung eines Problems am besten
mit den Lehren der katholischen Kirche übereinstimmt, — und jeder Zweifel
ist behoben. Wo es paßt, führt er ärztliche Erwägungen zur Unterstützung
seiner Behauptungen an; wo dies nicht der Fall ist, beschwört er den Donner
der Kirche und erläßt laute Schmähungen gegen die Unmoral jener, die
anders denken als er. Sein Weg ist vorgezeichnet.
Wir sehen uns jedoch gezwungen, auf einen Mangel dieser anscheinend
unanfechtbaren Stellung aufmerksam zu machen. Maßgebende Persönlichkeiten,
die sich auf dem Gebiet der wissenschaftlichen und besonders der ethischen
Allwissenheit so erhaben dünken, übernehmen dabei eine gewisse Verantwor¬
tung. Wenn es sich z. B. herausstellt, daß ihr wissenschaftliches und beson¬
ders ihr ethisches Niveau offensichtlich ein niedrigeres ist, als sie behaupten,
dann müssen sie darauf gefaßt sein, daß der einfache Mann ihre Anmaßungen
nicht weiter guten Glaubens hinnehmen, sondern sie als gewöhnliche Sterb¬
liche mit allen menschlichen Schwächen betrachten wird.
Halten wir uns an einen bestimmten Fall. Die Geschichte der religiösen
Gebote, denen der Autor unterstellt ist, beweist, daß Unzulänglichkeit in einer
bestimmten ethischen Tugend mit ihren Grundsätzen unvereinbar ist: Wir
meinen natürlich die Wahrheit. Wir müßten daher erwarten, daß der Autor,
bevor er eine wissenschaftliche Arbeit vollkommen verurteilt, sich besonders
bemühe, sich über den tatsächlichen Inhalt dieser Arbeit zu vergewissern und
ihn wahrheitsgemäß darzustellen. Wir müssen mit Bedauern wahmehmen, daß
der Autor im Gegenteil einer solchen einfachen Prüfung nicht standhält. Aus
der sehr großen Anzahl falscher Behauptungen und leicht zu vermeidender
Mißverständnisse führen wir folgende Beispiele an:
„Diesen unheilvollen Stand der Dinge verdanken wir zum großen Teil dem
groben Materialismus Freuds und seiner Anhänger in Amerika, wie A. A. Brill.. .
Für sie gibt es keine Moral im wahren Sinne; freies Ausleben, welche Form
immer es annehmen mag, vorausgesetzt, daß sie biologisch ist, dünkt ihnen
gut. Beinahe ist es ihnen schon gelungen, durch ihre beschränkten und ein¬
fältigen Theorien das überaus brauchbare Werkzeug zu verderben, mit dem
sie arbeiteten und zu dessen Vollendung sie beitragen wollten. Und so kommt es,
daß die schwierige Aufgabe auf den Schultern der christlichen Psychologen
lastet, daß sie diese brauchbare und nützliche Einrichtung oder Methode, die
Psychoanalyse, aus dem üblen Schmutz auflesen“ (S. 170). Ohne uns mit der
christlichen Wohltätigkeit, die dann hier ausgespielt wird, auseinanderzusetzen,
wollten wir nur den offenbaren Unsinn klarstellen, den diese Stelle enthält.
Wäre es so, müßte Freud Mord, Diebstahl uud andere Verbrechen, die ver¬
mutlich „biologisch“ sind, gutheißen.
Für Freuds „einseitige und begrenzte Anschauungen über die primitiven
Triebe“ zeigt der Autor wenig Sympathie und macht folgende überraschende
Bemerkung darüber: „Glücklicherweise haben sehr berühmte Psychoanalytiker
sie mit Verachtung zurückgewiesen und üben doch die Methode vom ortho¬
doxen Standpunkt aus“ (S. 173). Wir wären wirklich begierig, den Namen
eines einzigen bekannten Psychoanalytikers zu erfahren, für den dies zutrifft,
aber der Autor gewährt uns keine derartige Information. Auch an anderen
Stellen des Buches ist er äußerst katholisch in seiner Auffassung von dem, was
einen Psychoanalytiker ausmacht: Dr. Bonsfield, Crichton Miller und
Rivers reiht er hier ein; wir glauben nicht, daß einer von diesen sich so
nennen würde, und sicher ist, daß es kein anderer täte.
Von den vielen technischen Irrtümem, die sich in dem Buch finden, wollen
wir die folgenden erwähnen: Die traumatische Hysterie hat angeblich keine
psychischen Ursachen (S. 167), sondern ist eine Folge auf ein physisches Trauma,
wie etwa einen Eisenbahnzusammenstoß. Die kathartische Methode ist nicht
„heute noch von zentraler Bedeutung für die Psychoanalyse“ (S. 168), sondern
hat seit mehr als einem Vierteljahrhundert aufgehört, dies zu sein, ja man
müßte genauer sagen, sie sei es niemals gewesen, da eben an ihre Stelle die
Psychoanalyse trat. Der Autor vermag nicht zu unterscheiden zwischen der
freien Assoziation, die man allerdings als von „zentraler Bedeutung“ für die
Psychoanalyse bezeichnen kann, und dem Assoziationsexperiment, denn seine
Definition jener lautet, wie folgt: „Die freie Assoziationsmethode erfolgt in
ihrer einfachsten Form derart, daß dem Patienten mit entsprechenden Pausen
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Referate
laut ein Wort nach dem andern vorgelesen wird und er dazu aufrichtig sagen
muß, welche Gedanken oder Vorstellungsbilder dadurch bei ihm wachgerufen
werden. Die Reaktionszeit soll vermerkt werden“ (Ss. 175, 176). Auch weiß
er nicht, daß die Sublimierung ihrem Wesen nach ein unbewußter, dem Willen
nicht unterworfener Prozeß ist: „Wie können z. B. die starken sexuellen
Neigungen beim Mann und Weib ordnungsgemäß in andere Bahnen geleitet
werden, wie in philanthropische Betätigungen oder in literarische oder künst¬
lerische Arbeit, wenn nicht durch Gottes Gnade der Wille gestärkt wird, der
die Sublimierung in der richtigen Weise lenkt?“ (S. 182). Faßt man die Aus¬
drücke „unterbewußt“ und „unbewußt“ als Synonyma auf, so übersieht man
dabei die größte Entdeckung, die Freud gemacht hat, während die Behauptung,
daß die Unterscheidung zwischen den beiden „selten gewahrt wird“ (S. 31),
eine sehr oberflächliche Bekanntschaft mit der diesbezüglichen Literatur verrät.
Ebenso unrichtig ist die Erklärung, daß die Psychoanalyse sehr wohl mit der
Hypnose vereinigt werden könne (S. 274); ob — wie behauptet wird — die
Hypnose als eine Frage der Anerkennung der Psychoanalyse in Mode gekommen
ist (S. 274), ist äußerst zweifelhaft. Die Verwendung des Wortes „Zensor“
statt „Zensur“ („censor“ statt „censorships “), und die Beurteilung dieses Begriffes
auf dieser Basis ist ein bekanntes Vorgehen.
Wenn die Psychoanalyse mit Vorlesungen begonnen hat, die Freud im
Jahre 1895 hielt (S. 167), so weiß der Referent nichts von dieser Tatsache,
denn es gibt nirgends einen Bericht über solche Vorlesungen. Aber die Feind¬
seligkeit des Autors gegen Freud, die sich nebenbei darin äußert, daß er ihn
das ganze Buch hindurch „Sigismund“ nennt, ist so heftig, daß alle Behauptungen,
die sich auf Freud beziehen, zu Entstellungen neigen. „Gottlos“, „unsinnig“,
„zynisch , „wild“, „einfältig“ und „grob“ sind bloß eine kleine Auswahl der
Adjektiva, mit deren Hilfe der Autor seinen Affekt erleichtert; sein Zorn
erreicht seinen Höhepunkt im letzten Kapitel über „False Theories of Religion 6 .
Hier hat er es ganz aufgegeben, Belegstellen für seine Behauptungen anzuführen
und konstruiert so ein reines Phantasiebild von dem, was er Fr e u d s Anschauungen
über Religion nennt; es braucht nicht gesagt zu werden: Es ist eine vollendete
Komödie. E. J011 es (London)
B ü Ii 1 e r, Dr. Ctarlotte : Zwe 1 KnaLentageLüclier. ]Mit einer Ein¬
leitung üfcer die Bedeutung der Tagetüdier für die Jugendpsychologie.
Quellen und iStudien zur Jugendhunde. Heft 3. Gustav Fischer, Jena 1925.
Sehr dankenswert ist die „absolut vollständige“ Veröffentlichung des umfang¬
reichen Tagebuches: „Gedanken und Gedankensplitter, Auszüge aus Büchern,
Register und Beschwerdebuch über Haus und Schule und Welt.“ Verfasser,
sechzehn Jahre alt, führt hier durch acht Monate ein sehr reichhaltiges Diarium,
das seine religiösen Kämpfe, seine geistigen Interessen, seine erste Liebe (vom
zärtlichen Typus) höchst lebhaft schildert, seine Konflikte mit den Eltern und
seine sexuellen Schwierigkeiten aufschlußreich andeutet. Daß ein solches Dokument
für die psychoanalytische Forschung von Interesse ist, bedarf keiner Bemerkung.
Referate
097
Ein genaues Studium dieses und anderer Tagebücher dieses Typus können Auf¬
klärung mancher Detailfrage zur Psychologie der Pubertät und Liebe bringen.
Die Bestätigungen für die Freudschen Lehren sind zahlreich und durchsichtig.
Bühl er freilich findet in ihrer Einleitung, daß das Tagebuch einen sehr exakten
Beleg gegen Freuds Sublimierungstheorie liefert. In den ersten vier Monaten
berichtet der Tagebuchschreiber über lebhafte geistige Interessen, dann erst
von einbrechenden Sexualkonflikten, die zugleich eine deutliche Produktions¬
hemmung bringen. Die Sexualbeschwerden werden überwunden durch die Kon¬
zeption eines Dramas, „Brennendes Eis“, und durch eine „reine“ Liebe zu einem
unbekannten Mädchen. So schildert der Knabe seine Entwicklung, das Tage¬
buch stimmt damit objektiv überein: „Meine sexuelle Entwicklung ist in den
Mittelpunkt getreten und hat beinahe die Philosophie verdrängt", formuliert
er vor Überwindung der „tierischen“ Leidenschaften. Dies ist für Bühl er ein
exakter Beweis. Sie dekretiert: „Die geistige Interessenperiode unseres Tage¬
buchschreibers liegt vor der Periode der sexuellen Krisis. Die seelische Pro¬
blematik leitet den Pubertätsprozeß ein, und weit entfernt davon, als Subli¬
mationsprodukt der sexuellen Krisis aufzutreten, endet sie vielmehr, unwider¬
ruflich scheiternd an der stärkeren Gewalt des körperlichen Prozesses, der später
entsteht oder dessen Krisis wenigstens später liegt.“ Allerdings wird diese
sexuelle Krisis doch durch „Sublimation“ (Drama z. B.) überwunden, und zwar
so deutlich und vom Schreiber betont („meine neue Geliebte ist die Literatur¬
wissenschaft“), daß man sich doch fragen könnte, ob nicht die geistige Interessen¬
periode, mit der das Tagebuch beginnt, Folgezustand von voraufgegangenen
sexuellen Krisen ist. Was mag wohl mit der Sexualität der „ersten Pubertät"
im dritten Lebensjahr, die doch Bühl er in einem früheren Buch so rühmlich
und selbständig entdeckt hatte, geschehen sein? Ob die nicht ein wenig sub¬
limiert worden ist? Es ist entschieden übertrieben, den Anfang des Tagebuches
mit dem Anfang der Pubertät gleichzusetzen. Bühl er findet die von ihr auf¬
gestellten Phasen der Pubertät im Tagebuche wieder. Das entwertet freilich
ihre seinerzeitige Phasenaufstellung, die für den ganzen Pubertätsverlauf (eines
Typus) recht ansprechend war, aber doch nicht innerhalb acht Monaten mitten
in einer Pubertät ablaufen kann. Überhaupt bringt diese Einleitung „Über
die Bedeutung des Tagebuchs" keine Fortschritte; sie rekapituliert bloß, was
der Tagebuchschreiber sagte. Vom bearbeitenden Psychologen wäre zu fordern,
daß er über den Tagebuchschreiber mehr zu sagen wüßte, als dieser von sich
selbst ohnehin aussagt. Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie
wird überschätzt, beziehungsweise falsch gesehen. (Zum Beispiel: „Isolierungs¬
bedürfnis ist eigentlich die einzig notwendige Voraussetzung des Tagebuch¬
schreibens . . . Wir werden von einem Gesetz der Isolierung sprechen, welches
ein . . . spezifisches Verhalten des Beifungsalters bezeichnet. In der Tatsache des
Tagebuchschreibens findet es eine der möglichen Ausdrucksformen . . . Das Tage¬
buch bietet eine geschlossene Folge von Selbstbeobachtungen. Gemessen an den
Selbstbeobachtungsprotokollen in wissenschaftlichen Versuchen, weist das Tage¬
buch gewisse Vor- und Nachteile aus. Hauptmangel: . . . nicht wissenschaftlich
geschulte Versuchsperson . . .“.) Die Priorität, die Bühl er für den Gedanken
3 9 8
Referate
beansprucht, „die Auswertung von Tagebüchern als Quelle ... als methodi¬
sches Prinzip vorgeschlagen zu haben“, kann, so wenig bedeutend der Gedanke
ist, ihr doch nicht zuerkannt werden. Diese Selbsttäuschung über die Originalität
ihrer Anschauungen, kehrt in den Bühl ersehen Büchern immer wieder und
berührt den sachkundigen Leser recht wenig angenehm. Das zweite Tagebuch
(11 Seiten) ist so ausgiebig gestrichen, daß sein Wert als Tagebuch äußerst
gering ist; wohl aber bietet es einige Belege für eine Ausdrucksform des Sehn¬
suchtserlebnisses in der Pubertät. Bernfeld (Berlin)
Chadwick, Mary: Psycliology for Nurses. Introductory Lectures
for Nurses upon Psydiology and Psydioanalysis. "William Heinemann,
London 1926.
Ein Lehrbuch der Psychologie und Psychoanalyse für Krankenpflegerinnen,
das sich nicht damit begnügt, die Grundlinien der Psychoanalyse, die schon
so oft dargestellt wurden, zu vermitteln, sondern das das Problem der Kranken¬
pflege und der Pflegerin sehr ernsthaft angeht. Daher eine Arbeit, die nicht
nur für die Krankenpflegerin aufklärend und nützlich ist, sondern auch all¬
gemein viel zur Psychologie des Krankseins beiträgt. Über den Heilwert der
Übertragung, über die Motive zur Berufswahl der Krankenpflegerin, die Be¬
friedigung und die Konflikte, welche aus den unbewußten Triebkomponenten
sich für sie ergeben, über die Schwierigkeiten mit den Vorgesetzten, mit den
Widerständen der Kranken, und insbesondere über eine Reihe von Verhaltungs¬
typen kranker Kinder, Männer und Frauen sagt Chadwick eine Menge
Interessantes, zum Teil Neues. Vorbildlich erscheint mir das didaktische Prinzip
des Buches: Psychoanalyse für Krankenpflegerinnen vorzutragen als Psycho¬
analyse der Krankenpflegerin. Bernfeld (Berlin)
Reickardt, Dr. Hans: Die Früli erinnern 11g als Trägerin kindlicher
iSelkstkeokaditung in den ersten Lekensjaliren. Carl Marliold, Verlags-
kudikandlung, Halle a. d. iS. 1926.
Der Verfasser erschließt der Kinderpsychologie — und der Psychologie über¬
haupt — eine, wie sich zeigt, sehr belangvolle neue Quelle: die Autobiographie.
Die Psychoanalyse hat des öfteren auf den psychologischen Gehalt der Auto¬
biographien und auf die Möglichkeit hingewiesen, aus ihnen bestätigendes Material
für ihre Befunde zu gewinnen. Reichardt hat diesen Wunsch erfüllt. Zwei¬
tausend Biographien sind durchgearbeitet, und der ganze Schatz von Früh¬
erinnerungen. den sie enthalten, ist von Reichardt sorgfältig geborgen und
umsichtig geordnet. Von den bearbeiteten Autobiographien reichen 54% in die
erste Kindheit zurück, von diesen sind etwa 5 8°/o datierte Früherinnerungen.
Wir stehen erstaunt vor einer reichen Fülle von höchst interessanten Erinne¬
rungen, von denen eine ganze Reihe bis ins erste Lebensjahr zurückreicht.
Die Psychoanalyse darf sich dieser Publikation freuen, sie bringt für eine
recht große Zahl von ihr zuerst behaupteter Tatbestände neuartige Belege, die
Referate
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keiner Voreingenommenheit verdächtig sind. Reichardt ist in seinen theoreti¬
schen Erörterungen zum Teil völlig psychoanalytisch, zum Teil weit von Freud
entfernt, weist aber nachdrücklich darauf hin, wie deutlich viele psychoanalytische
Lehren durch sein Material gestützt werden, und hat in der Anordnung der
Früherinnerungen die wesentlichen Gedanken der Psychoanalyse akzeptiert. Diese
umfangreiche Kasuistiksammlung entzieht sich dem Referat. Einige Kapitel¬
überschriften mögen zeigen, für welche Themen sich lehrreiche Belege bei
Reichardt finden: „Geborgenheit und Furcht“ (S. 29—41), „Der Umkreis der
Erotik“ (S. 41—66), „Körpergefühl als häufiger Gedächtnisbesitz“ (S. 161 —164),
„Die geliebte Wärterin“ (S. 169—171), „Wie das Kranksein sich der Rück¬
schau darstellt“ (S. 246 — 252), „Was das Kind vom Tod versteht“ (S. 252 — 257),
„Der liebe Gott“ (S. 319—323), „Das Unverstandene als Denkreiz“ (S. 330 — 332).
Bernfeld (Berlin)
Stern, Prof. Dr. William: Anfänge der Reifezeit. Ein Knaben-
tagebudi in psychologischer Bearbeitung. Quelle & Aleyer, Leipzig 1926.
Die umfangreichen Tagebücher eines Knaben von der Mitte seines zwölften
bis zum vollendeten fünfzehnten Jahre werden in reichlichen Auszügen, vom
personalistischen Standpunkt geordnet und — gelegentlich — gedeutet. „Es
soll die wesentliche Struktur der Phase persönlichen Lebens, die wir frühe
Pubertät nennen, an einem konkreten Beispiel zur Darstellung kommen (3).
Das Material ist vielseitig und von beträchtlichem psychoanalytischen Interesse;
um so mehr, als das Tagebuch aus den Jahren 1884/86 stammt, sich also
einige Parallelen zwischen heutiger und damaliger Jugend aufdrängen. Die
minimale Relevanz der Kulturunterschiede für die wesentlichen Strukturbestand¬
teile eines Pubertätstyps wird hiebei deutlich. Bedauerlich ist, daß bloß, von
einem bestimmten Bearbeitungsgesichtspunkt gewertete, Auszüge geboten sind.
Die vollständige Publikation hätte Nachprüfung und Verwertung des wertvollen
Stoffes von anderen Gesichtspunkten aus ermöglicht. Sehr dankenswert hin¬
gegen ist, daß Stern — im Gegensatz zu den Bühl ersehen Tagebuch Veröffent¬
lichungen — ausführliche biographische Daten über den Tagebuchschreiber
und dessen Bemerkungen (von 1924) zu seinem Tagebuch bietet. Hiebei wird
festgestellt: „Es gab auch solche (Tagebuchnotizen), die mich geradezu über¬
raschten. Sie waren völlig vergessen und verschollen . . . Bei diesem unberechen¬
baren Spiel der Erinnerung ist nicht etwa die Wichtigkeit der allein ent¬
scheidende Auslesefaktor. Ein so aufregendes Erlebnis wie der Selbstmord eines
mir bekannten Knaben gehörte zu dem ganz Vergessenen (vielleicht liegt hier
eine Verdrängung vor?)“ (6). Leider ist solche — im Buch mehrfach ge¬
gebene — Bestätigung der Verdrängungslehre für Stern kein Anlaß, der Tat¬
sache der Verdrängung in seinen personalistisch-psychologischen Deutungen ernst¬
haft Berücksichtigung zu gewähren. Sehr entschieden und unseres Erachtens
sehr richtig betont Stern, daß Tagebücher nicht als „direkte Wiedergaben des
wirklichen seelischen Erlebens zu werten sind. Auch hier muß gedeutet und
umgedeutet werden . . . vor allem darf man nicht das, was im Tagebuch nicht
4oo
Referate
gesagt wird, als seelisch irrelevant ansehen. Hier wird sich erst allmählich eine
psychologische Deutungstechnik entwickeln müssen. Verfehlt wäre es, zu wähnen,
in diesen (Tagebüchern) bereits die adäquaten Seelenkonterfeis der Verfasser zu
besitzen.“ Dennoch verstößt Stern an einigen Stellen, an wenigen zwar, aber
gerade an für uns entscheidenden, gegen diese methodischen Prinzipien. So
heißt es z. B. (39): „Das geschlechtliche Moment. Ein Eindruck geht eindeutig
aus dem Tagebuch hervor: beim Vierzehnjährigen ist dies Erlebnisgebiet vor¬
handen, aber es spielt keineswegs eine zentrale Rolle.“ Im Tagebuch — müßte
es heißen, dann wäre das methodisch korrekt und würde zu der psychologisch
sehr fruchtbaren Fragestellung führen, welche Ursachen dies Tagebuchphänomen
hat und unter welchen Bedingungen andere Typen von Tagebüchern Zustande¬
kommen. Stern schließt aber hier, so scheint es, gegen seine eigene methodo¬
logische Einsicht, aus dem Verhalten des Tagebuchschreibers direkt auf dessen
psychisches Verhalten überhaupt, als wäre das Tagebuch nicht ein Objekt der
Deutung, sondern eine urkundliche Wahrheit. Bernfeld (Berlin)
Sittlich eit tind xStrafrecbt. Gegenentwurf zu Jen ^Strafbestimmungen
Jes Amtlichen Kntwurfs eines a n s emeinen Jeutschen ^Strafgesetzbuches
über geschlechtliche uncl mit dem Gesdileditsleben m Zusammenhang
stellende Handlungen, nebst Begründung herausgegeben vom Kartell
für Reform des ^Sexualstrafrechts. Berlin 1927.
Dieser in seiner Absicht wie in der Ausführung ausgezeichnete Gegenentwurf
ist vom psychoanalytischem Standpunkt in mehrfacher Hinsicht interessant. Er
ist vor allem ein Symptom für den, allerdings sehr langsam sich vollziehenden
Abbau der Zensuren und Verbote, mit denen die Gesellschaft die Sexualität
seit Jahrhunderten belegt hat, und zeigt, daß eine starke Tendenz am Werke
ist, diese Einstellung zu zerstören. Allerdings erhellt auch aus der Kritik, die
hier an dem Amtlichen Entwurf (A. E.) geübt wird, daß dieser selbst noch
durchaus einer traditionsgebundenen, kirchlich beeinflußten, die Sexualität als
etwas Unerlaubtes auffassenden Gesinnung entsprungen ist. Dies zeigt unter
anderem auch die Verwendung des Wortes „Unzucht“ zur Bezeichnung ge¬
schlechtlicher Handlungen jeder Art. Der Gegenentwurf regt ganz mit Recht
die Beseitigung dieses Ausdrucks an, der die — vielleicht unbewußte — Ein¬
stellung der Gesetzgeber zur Sexualität als etwas moralisch Verwerflichem nur
zu deutlich durchblicken läßt. Unseres Erachtens wäre noch ein zweiter Aus¬
druck auf diesem Gebiete auszumerzen, nämlich der Ausdruck „Strafrecht“
überhaupt. Es muß bei dieser Gelegenheit mit Bedauern festgestellt werden,
daß die Beiträge der Psychoanalyse zu diesem Problem im Gegenentwurf gar
nicht benützt worden sind. Bereits von Freud 1 und nach ihm von Reik 2
wurde die psychoanalytische Strafrechtstheorie aufgestellt,! daß I) die Strafe
1) Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit. Ges. Schriften, Bd. X.
2) Geständniszwang und Strafbedürfnis. Int. PsA. Verlag 1925.
Referate 401
eine psychische Folge des Verbrechens und vom Täter meist unbewußt selbst
gewünscht ist und 2 ) das Delikt begangen wird aus präexistentem Schuldgefühl
u nd um durch das Herbeiführen der Strafe das aus dem Schuldgefühl ent¬
standene Strafbedürfnis zu befriedigen. Daraus ergibt sich, daß die Strafe keines¬
wegs das geeignete Mittel ist, um Verbrechen zu verhindern, eine Erkenntnis,
die den Verfassern des Gegenentwurfs fremd zu sein scheint. Die Theorie ist
heute ziemlich einig, daß die Verhütung des Verbrechens, respektive die Siche¬
rung der Gesellschaft vor dem Verbrechen der einzige Zweck des Strafrechts
sein kann. Zeigt sich nun, daß dieses Ziel mit der Strafe nicht erreicht werden
kann, so wird man dazu kommen, andere Maßnahmen anzuwenden. So stellt
bereits der Amtliche Entwurf neben die Strafe die Sicherungsmaßnahme als
Rechtsfolge des Delikts. Damit wird aber der Name „Strafrecht“ inadäquat und
würde etwa der Titel „Gesetz zur Bekämpfung und Verhütung von Rechts¬
brüchen" passender sein. Diese terminologische Änderung empfiehlt sich vor
allem aus Gründen der Psychologie und Sozialpädagogik; die Erlebnisreihen
Verbrechen und Strafe, Tat und Vergeltung, sollen aus dem gesellschaftlichen
Bewußtsein durch konstante Aufklärung ausgemerzt werden, da sie Schuld¬
gefühl und Straf bedürfnis fördern und somit die Mechanismen, die zum Ver¬
brechen führen, stärken. An ihre Stelle soll das Wissen um die Sozialschädlich¬
keit und um das Zurückwirken der Folgen der Handlung auf den Rechtsbrecher
treten, also Verurteilung an Stelle der zum Ausbruch führenden Verdrängung.
Zu den einzelnen Vorschlägen des Gegenentwurfs sei bemerkt:
Der vorgeschlagenen Abschaffung der Strafdrohung gegen die Frucht¬
abtreibung durch die Mutter und mit Einwilligung der Mutter (§253 A. E.)
ist durchaus beizustimmen. Der Widerstand kirchlich beeinflußter Kreise da¬
gegen kann sich wohl auf keinerlei rationale Motivierung stützen und ist viel¬
leicht als eine unbewußte Reaktion auf Mordimpulse der Vatergeneration gegen
die werdenden Nachkommen aufzufassen.
Ebenso halten wir die Kritik an der Bestimmung des Amtlichen Entwurfs,
die Sadismus, der gegen Masochisten mit deren Einwilligung ausgeübt wird,
bestraft (§ 264 A. E.), für berechtigt. Nachdem, was eingangs über die Strafe
gesagt wurde, muß vor allem gezweifelt werden, ob diese Strafdrohung speziell
im vorliegenden Falle gegenüber Personen sadistisch-masochistischen Charakters
die abschreckende Wirkung haben kann. Es ist zu vermuten, daß die zu er¬
wartende Strafe die willkommene Befriedigung der Schuldgefühlsreaktion des
Sadisten bilden und so die Begehung der Tat eher fördern als hemmen wird.
Jeder Psychoanalytiker wird die Beseitigung der gegen die Homosexualität
Erwachsener gerichteten Paragraphen (296 ff. A. E.) befürworten. Nur gegen
die in der Begründung zutage tretende Auffassung soll an das Wort Freuds 1
erinnert werden: „Die psychoanalytische Auffassung widersetzt sich mit aller
Entschiedenheit dem Versuche, die Homosexuellen als eine besonders geartete
1) Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Ges. Schriften, Bd. V, S. 18, Anm. 1. Siehe
auch Ferenczi, Zur Nosologie der männlichen Homosexualität, in Bausteine zur
Psychoanalyse I, 1927.
^02
Referate
Gruppe von den anderen Menschen abzutrennen.“ Die Verfasser des Gegen¬
entwurfs halten an der hier bekämpften Auffassung der Homosexualität als
einer konstitutionellen Eigenheit fest. Für das Strafrecht bleibt sich dies wohl
gleich. Da aber der Gegenentwurf auch dazu bestimmt ist, die Gesetzgeber
über ihnen unbekannte Materien aufzuklären, so ist eine Richtigstellung dieser
Auffassung dahin notwendig, daß die Homosexualität, so wie jede Perversion
auf die Fixierung an eine frühere infantile Phase der Sexualentwicklung in¬
folge akzidenteller Momente zurückzuführen ist. 1 Die unrichtige Auffassung
des Gegenentwurfs scheint auch dahin zu führen, daß dieser in Tatsächlichem
irrt; wenn gesagt wird, „daß die pedicatio im homosexuellen Verkehr so selten
ist wie im mann-weiblichen (S. 35) “, scheint uns das ein schwerer Irrtum,
der die Bedeutung der analen Fixierung für die Homosexualität und für die
Sexualität überhaupt übersieht und wohl einer unbewußten Abwehr dieser
Erkenntnis entspringt.
Daß der Gegenentwurf, der von durchaus aufgeklärtem und fortschrittlichem
Geiste getragen ist, trotz Abmilderung des Amtlichen Entwurfs an einer Be¬
strafung des Beischlafs mit Verwandten in absteigender Linie (Gefängnis
bis zu zwei Jahren § 290 A. E.) festhält, erscheint uns unverständlich. Die
Begründung, „es dürfe kein Mittel unbenützt bleiben, um jugendliche Menschen
und in gewissen Fällen auch Erwachsene vor dem Mißbrauch zu schützen,
den autoritative Persönlichkeiten, also vor allem die Eltern, mit ihrer Autorität
zu treiben imstande sind**, ist unhaltbar, denn dafür würde die Strafdrohung
wegen Nötigung zu geschlechtlichen Handlungen (§ 255 A. E.), gegen geschlecht¬
liche Handlungen mit Kindern (§ 259 A. E.), gegen Verführung (§ 261 A. E.),
eventuell eine analoge Anwendung des § 262 A. E. (Nötigung Abhängiger zu
geschlechtlichen Handlungen) ausreichen. Keinesfalls bedarf es einer Bestrafung
des Inzests an und für sich. Die Begründung führt selbst an, daß diese in einer
ganzen Reihe von Ländern beschränkt oder abgeschafft wurde. Es ist durchaus
wesentlich, daß dieses älteste Delikt straflos gelassen wird. Die Psychoanalyse
hat gezeigt, welche überragende Rolle es im Seelenleben spielt und welche
Strafsanktionen der psychische Mechanismus auf die bloß phantasierte Tat setzt.
Die Strafsanktion des Gesetzes ist nur der reale Ausdruck dieses psychischen
Vorgangs, der als ein der Realität nicht angepaßter Überbau einmal erkannt,
nicht mehr in der sozialen Wirklichkeit wiederholt zu werden brauchte. Die
Abschaffung der Strafdrohung kann dem Absterben dieses Delikts nur förder¬
lich, die Beibehaltung infolge des dadurch befriedigten Strafbedürfnisses nur
hinderlich sein. Auch gegen den Kannibalismus, ein weiteres Urdelikt, stellt
das Gesetz keine Strafdrohung auf und trotzdem kommen Fälle von diesem
fast nicht mehr vor.
Gerade weil der Gegenentwurf von tiefer Erkenntnis seiner Verfasser und
von deren Willen zum Fortschritt zeugt, ist es bedauerlich, daß die Psycho¬
analyse in dessen Begründung gar keine Berücksichtigung gefunden hat.
Walter W^eisskopf (Wien)
1) Siehe Freud und Ferenczi a. a. O.
Referate
4o3
Herzterg, Alexander: Zur Psychologie der Philosophie und der
philo sopLen. F. jMemer Verlag, Leipzig 1926.
Das Buch hat ohne Zweifel Vorzüge, die es empfehlenswert machen: Es
ist einfach geschrieben, bringt schönes Material und führt das Thema aus
großer Vielseitigkeit heraus zu einem gewinnend einfachen Schluß:
Das philosophische Denken nämlich diene: „1) als Ersatz des praktischen
Handelns der Abfuhr unverwendeter Triebenergien; 2) es schafft an Stelle der
rauhen und unbezwinglichen, daher unbefriedigenden Wirklichkeit eine schmerz¬
freie und beherrschbare, daher befriedigende Welt; 3) es führt auf einem Umweg
zur realen Befriedigung mächtiger Interessen. Auf alle drei Weisen aber dient es
der Erhaltung seelischer Gesundheit; sein Wert ist ein seelenhygienischer.“
Zu diesen Schlüssen konnte man nun allerdings auch ohne Zuhilfenahme
psychoanalytischer Begriffe gelangen. Es scheint das Schicksal unserer Wissen¬
schaft zu sein, daß ihre Wortbegriffe oft gerade an den Stellen verschleiernd
Verwendung finden, an denen der Psychoanalytiker selbst eine psychologisch
tiefer schürfende Begründung des Tatbestandes wünschen möchte. Begriffe, wie
„Sublimierung“, „Libido“, „Verdrängung“ usw. lassen sich nun einmal nicht
einfach „nach Freud“ gebrauchen, sondern bedürfen jedesmal, wenn sie auf
ein neues Gebiet angewendet werden, der bis ins letzte gehenden psychologi¬
schen Fundierung im gegebenen Material. Was kann z. B. Herzberg letzten
Endes unter „Sublimierung“ verstehen, — so muß sich der Analytiker fragen, —
wenn er die „Hypothese vom Ursprung des Erkenntnistriebes aus sexueller
Neugier, von der Entstehung des philosophischen Denkens aus der Verdrängung
sexueller Impulse“ als unhaltbar ablehnt?
So eilt er denn auch, nachdem er den Triebmechanismus in seinen rohesten
Umrissen geschildert hat, bereits zur finalen Deutung, der Wert der Philosophie
sei ein hygienischer. Von der, für das Verständnis der Philosophen so wich¬
tigen Regression, von der homosexuellen Einstellung und ihrer Sublimierung
erfahren wir nichts. Die prägenital determinierten Triebqualitäten werden nicht
genetisch untersucht und fungieren als eidetische Begriffe. Auf diese Weise
erfahren wir natürlich vom eigentlichen tragischen Konflikt des Philosophen
und damit von seiner kulturhistorischen Bedeutung nichts. Er erfindet eben
aus der Not eigener Gehemmtheit heraus eine Sicherung, ein Ventil: seine
Lehre. Diese teilt er den anderen mit und bewahrt diese und sich damit vor
der Neurose. Die Bedeutung der Philosophie als Vorläufer eines neuen Realitäts¬
aspekts, einer Verschiebung der Ökonomie der Realbeziehung wird durch das
Buch nicht gefaßt. Bai ly (Berlin)
Zeitschrift für psy clioanalyti sclie Pädagogik.
I. Jahrgang, Heft 2 (November 1926).
Die Meng-Schn ei der sehe Zeitschrift setzt in ihrem zweiten Heft ihr
Programm fort, durch allgemeinverständliche Beiträge das Interesse der Päd¬
agogen für psychoanalytische Forschungen zu erwecken. Am meisten interessiert
eine Arbeit vonJacoby: „Muß es Unmusikalische geben?“, in der der Autor
4o4
Referate
in sehr einleuchtender Weise klarzumachen sucht, daß der „Unmusikalische“
_ w ie auch der „Unkünstlerische“ im allgemeinen — nicht an einem Mangel
an Begabung (an Fähigkeiten) leidet, sondern an Hemmungen, die er aus un¬
bewußten Motiven seinen Fähigkeiten entgegensetzt, ein Gesichtspunkt, den
seinerzeit Bernfeld in einer kleinen Arbeit vertreten hat und den auch sonst
psychoanalytische Erfahrung durchaus bestätigt. Auch Jacoby spricht aus Er¬
fahrung (wenn auch nicht aus psychoanalytischer), wenn er sagt, „daß alle
sogenannte Unbegabtheit . . . Ursachen haben kann, die der Korrektur
zugänglich sind“. Daneben weckt die von Furrer mitgeteilte Analyse eines
fünfzehnjährigen Mädchens Interesse, bei der es durch Aufdeckung des Ödipus¬
komplexes gelang, die ungemein trotzige, fast als „moral insanity “ imponierende
Patientin in ein sozial völlig angepaßtes junges Mädchen zu verwandeln. —
Ein Kapitel aus dem demnächst erscheinenden Buche „Die Befreiung des Kindes“
von Wittels wird abgedruckt, in dem die ursprüngliche Triebhaftigkeit des
Kindes, die archaischere Natur alles Affektiven gegenüber allem Intellektuellen
dargelegt wird. — Liertz (Homburg) beginnt eine Artikelserie „Uber das Traum¬
lebendie zwar durchaus auf Freud schein Standpunkt steht, aber es für
nötig hält, aus Gründen der Gemeinverständlichkeit statt „assoziativ“ „gedanken-
reihlich“, statt „manifester Trauminhalt“ „geoffenbarter Trauminhalt“ und statt
„Psychoanalyse“ und „psychoanalytisch“, „Seelenaufschließung“ und „seelen-
aufschließend“ zu sagen. — Meng begründet in einem „Gespräch mit einer
Mutter“ die Notwendigkeit, die Schlafzimmer der Eltern und Kinder zu trennen.
I. Jahrgang, Heft 3 (Dezember 1926).
Reich eröffnet eine Aufsatzreihe mit einer Arbeit über den „Erziehungs¬
zwang und seine Ursachen“. Unter „Erziehungszwang“ versteht er die Tat¬
sache, daß Erzieher unter dem Einfluß irrationaler, ihrem eigenen Unbewußten
entstammender Motive unnötige oder falsche Erziehungsmaßnahmen treffen, und er
meint, daß unter allen überhaupt vorgenommenen Erziehungsmaßnahmen solche
unbewußt determinierte einen sehr großen Prozentsatz ausmachen. Ein Beispiel
zeigt, wie eine kindliche Trotzreaktion durch das Benehmen der Mutter, die
eine feindselige Regung gegen ihren Gatten verdrängen wollte, unbewußt provo¬
ziert worden war. „Erziehen“ heißt „Versagungen setzen — und das dem
Lustprinzip unterstellte Kind kann Versagungen nur akzeptieren, wenn es objekt-
libidinöse Kompensationen erhält. Unter dem Zwange unbewußter Motive
setzen Eltern häufig unnötige Versagungen und die nötigen auf unrichtige
Weise, ohne Gelegenheit zur Kompensation; sie nennen „krankhaft“ oder
„ungehörig“, was am Benehmen des Kindes ihnen subjektiv unangenehm ist.
Zahlreiche Möglichkeiten unbewußter „Erziehungsmotivierungen“ aus der Praxis
werden erörtert. Sie bringen Reich zur Ansicht, daß größtmögliche Enthalt¬
samkeit in Erziehungsmaßnahmen überhaupt anzuraten sei. — Allerdings wird
es sehr schwierig sein, hier die Grenzen zu ziehen, und die Ansichten darüber,
welche Versagungen noch „nötig“ sind, werden sicher sehr differieren. Ein
Beispiel für diese Schwierigkeit aus Reich selbst: Einmal meint er: „Daß man
einem Kinde nicht nachgibt, das . . . die Mahlzeiten nicht regelmäßig einnehmen
Referate
4o5
will, gehört zu den notwendigen Versagungen“; dann wieder erzählt er mi߬
billigend. „Der Vater einer Patientin hatte diese immer zum Essen gezwungen,
als sie die übliche neurotische Eßstörung der Kinder hatte.“ Allerdings war
dieser Vater dabei so brutal zu Werke gegangen, daß er das Kind sogar zwang,
das Erbrochene wieder zu essen.
Bezüglich der übrigen Beiträge steht dieses Heft ganz im Zeichen kleiner kasuisti¬
scher Mitteilungen, die die typischen unbewußten Phantasien der Kinder sehr
deutlich demonstrieren: Baudouin erzählt von zwei unter der Herrschaft des
Kastrationskomplexes stehenden Kindern, Zulliger konnte denHaß eines Mädchens
gegen eine neue Mitschülerin durch Analyse der Eifersucht auf ein noch un¬
geborenes Geschwisterchen zum Schwinden bringen, Schneider erzählt von
einem kleinen Mädchen, das aus Naschhaftigkeit den Vater nach Amerika weg¬
wünschte, und „eine Mutter'* beobachtete selten unentstellte Äußerungen des
Ödipuskomplexes eines kleinen Jungen. — Endlich bringt Hermann noch
ein Referat übei die Beiträge der Psychoanalyse zur Begabungsforschung.
L Jahrgang, Heft 4 (Januar 1927).!
Eine Arbeit von Giese über „Psychoanalyse im Fabriksbetriebe'“ weist nach,
an wie vielen Stellen des industriellen Betriebes unbewußte Motive wirksam
sind, die durch Rationalisierungen verschleiert werden. Bei der Propaganda der
Psychotechnik, der Eignungsprüfungen, der Fähigkeitsschulungen werden „un¬
bewußte Tatbestände (grob egoistische Profitinteressen u. dgl.) „durch die
Ethisierung, wie sie werkpolitisch durch Schlagworte ermöglicht ward“, „ver¬
dunkelt . Am deutlichsten ist aber das Wirken „unbewußter und nur durch
Psychoanalyse klar erkennbarer Zusammenhänge“ im Gebiete der Lohnpolitik —
und zwar sowohl beim Arbeitgeber als auch beim Arbeitnehmer.
Die Fortsetzung der Arbeit von Jacob y (siehe Heft 2) zeigt nochmals über¬
zeugend, daß „Unmusikalische“ an Hemmungen, nicht an Fähigkeitsmangel
leiden, und erzählt mehr vom praktisch-pädagogischen Wirken des Autors. Der
Nachweis des Vorhandenseins musikalischen Empfindens gelinge bei jedem
Menschen; die Hemmungen der Unmusikalischen hält Jacoby sogar für „ver¬
hältnismäßig leicht überwindbar durch Aufdeckung ihres Vorhandenseins und
nachfolgender richtiger musikalischer Schulung, die nicht „die reproduktive
Beherrschung des Stoffes der Kunstmusik“, sondern „die Klangbeziehungen,
das Vergleichen von Spannungszuständen und Ruhe“ in den Mittelpunkt stellt._
Leider bleibt Jacoby an den Stellen ganz an der Oberfläche, an denen er die
Natur der psychischen Hemmungen des Musikempfindens untersucht; er sieht
mit Adler in der „Entmutigung“ die Hauptursache, in Minderwertigkeits¬
gefühlen, in Selbständigkeit unterbindender Erziehung u. dgl. Die Betonung
des Umstandes, daß zwischen Musikalität und Sexualität Beziehungen bestehen,
hilft doch nicht über den Eindruck hinweg, daß Jacoby die Bedeutung der
infantilen Sexualität noch nicht im vollen Umfang würdigt.
Außerdem enthält dieses Heft den zweiten Teil des „ Traum“artikels von
Liertz (siehe Heft 2), und ein zweites „Gespräch mit einer Mutter“ von
Meng, das über die kindliche Amnesie und Verwandtes handelt.
Imago XIV
27
Referate
4o6
I. Jahrgang, Heft 5 (Februar 1927).
Anläßlich des hundertjährigen Todestages Pestalozzis ist diese Nummer
dem großen Pädagogen gewidmet. Der Einleitungsartikel von Schneider weist
darauf hin, wie viele von den Idealen Pestalozzis heute noch unerfüllt ihrer
Realisierung harren; die nationalökonomische Lehre von Silvio Gesell und
die Psychoanalyse Freuds hält Schneider für die beiden kulturellen Be¬
wegungen, die zu dieser Realisierung helfen werden. — Eine sehr lesenswerte
Untersuchung von Bernfeld zeigt mit psychoanalytischen Überlegungen an
Hand von Pestalozzis Lehen, wie Pestalozzi einerseits vom steten Drang
nach Erfüllung seiner pädagogischen Ideale — an sich modifizierte Rettungstag¬
träumereien über ideale Kindheit, die sich erst nach Enttäuschungen im „großen
Leben“ einstellten — erfüllt war, aber aus inneren unbewußten Gründen bei
den Versuchen hiezu jedesmal Schiffbruch litt; wie er andererseits viel Gewicht
legte auf die Didaktik, die von der Persönlichkeit des Erziehers losgelöste
Methode, weil er sich so vor Durchbrüchen der lebendigen unbewußten Wünsche
schützen mußte. Immer mehr wandte er sich von der Lebendigkeit zur Didaktik,
die das Festhalten an der Pädagogik mit der Verhinderung jeder Annäherung,
die an direkte verdrängte Triebziele rühren könnte, vereinte. Die Didaktik aber
konnte weder objektiv die lebendige Persönlichkeit ersetzen noch subjektiv be¬
friedigen. „Sie ist ein Irrtum." — Der Ausweg aus dem Dilemma Pestalozzis
liege, meint Bernfeld, in einer Organisierung der Masse, in einer Schule von
der Art der freien Schulgemeinde, die „Vereinigung und Distanz (Triebbefriedi¬
gung und Zielablenkung) zugleich erzeugt“.
Baudouin meint, daß Tolstoi, der häufig sich sehr kritisch über Fröbelsehe
und verwandte, letzten Endes Pestalozzische, Gedanken geäußert hat, in
Wahrheit innerlich doch Pestalozzi sehr verwandt sei. Beide wurzeln in
Rousseau. Tolstoi hat nicht Pestalozzis Geist kennen gelernt, sondern nur
dessen scholastische Erstarrung bei seinen Nachfolgern.
Hof mann zeigt, an wie vielen Stellen Pestalozzi schon Freud sehen
Gedankengängen nahegekommen war. Er betonte stets die Bedeutung der
frühen Kinderzeit, hielt die Mutterliebe für unersetzbar, sah aber auch die
Gefahr der Fixierung. In „Lienhard und Gertrud“ „bringen“ die Erzieher dem
Schüler, „was er tausendmal vergessen, wieder zu Sinn“, der Knecht Jost in
„Christoph und Else“ beschreibt die Verdrängung; die Geschichte vom „Schneider¬
traum“ wurde in dieser Zeitschrift bereits zitiert.
Es folgen kurze ausgewählte Kapitel aus Pestalozzi selbst.
Nelly Wolffheim bespricht einige typische „Elternfehler“, die Folgen der
verbreitetsten „Komplexe“ der Eltern sind.
I. Jahrgang, Heft 6 (März 1927).
Sehr hübsche Beispiele für das Walten von „Geständnisangst und Geständnis¬
zwang bei Kindern“ bringt Zulliger. Seine „freien Aufsätze“ sind ein ganz
ausgezeichnetes Material für den Jugendpsychologen. Die theoretischen Be¬
merkungen bedürfen, wie Zulliger selbst betont, noch mancher Klärungen, um
Referate
4 ° 7
die Beziehungen von Triebäußerung und Triebabwehr, Triebabwehr und Ge¬
wissen, Strafangst und Strafbedürfnis, Strafe und Geständnis wirklich zu durch-
sc auen.. c neider stellt der „sachlichen , d. h. wirklich nur vom Erziehungs¬
ziel geleiteten Erziehung die „unsachliche“ gegenüber, die durch unbewußte
Motive des Erziehers bestimmt ist, und gibt ein Beispiel für die letztere aus
seiner analytischen Praxis. Sehr bemerkenswert ist eine anonym („von einer
Mutter ) mitgeteilte Beobachtung über die Wirkung der Urszene bei einem
eineinhalb)ahngen Mädchen, die die von Freud durch Rückschluß aus der
Analyse am Erwachsenen gewonnenen Erkenntnisse über die Wirkung der Belau-
schung des elterlichen Geschlechtsverkehrs auch auf ganz kleine Kinder durch
direkte Beobachtung am kleinen Kinde bestätigt. Reik referiert über die Be¬
ziehungen von Psychoanalyse und Mythenforschung, Hackländer über die
Wiener Diskussion über den Schülerselbstmord.
I* Jahrgang, Heft 7 — 9 (Sonderheft: Sexuelle Aufklärung).
In diesem Professor Freud gewidmeten Sonderheft werden die komplizierten
und viel umstrittenen Fragen der „sexuellen Aufklärung“ von zahlreichen Autoren
behandelt, deren Ansichten im Detail oft recht weit auseinandergehen, die aber
doch allesamt im wesentlichen übereinstimmen. Die Beiträge atmen mit voller
Settst Verständlichkeit den Geist der alten kleinen Freu d sehen Arbeit über „sexuelle
Au klarung , der damals noch revolutionär war. Die fortschreitende psycho¬
analytische Forschung konnte allerdings den damaligen Gedankengängen Freuds
— das ethisch wie neurosen-prophylaktisch Wünschenswerteste sei eine natürliche
Offenheit den Kindern gegenüber, die Beantwortung aller Fragen, sobald sie
gestellt werden, also schon im vorschulpflichtigen Alter — zwei wenig erfreu¬
liche Erfahrungen zusetzen: Erstens die, daß Kinder häufig die ihnen dar¬
gebotene Aufklärung nicht akzeptieren, sie zu verdrängen suchen, ihre infantilen
Theorien der Wahrheit vorziehen. Die Ursachen für solches überraschende Ver¬
halten der Kinder sind psychoanalytisch heute bereits wiederholt untersucht
worden. Im vorliegenden Hefte werden als typische Ursachen erwähnt: jJ Der
Kastrationskomplex: Die Anerkennung der Wahrheit bedeutete die Anerkennung
der Vagina und damit der Penislosigkeit, an die das Kind nicht glauben will.
Hitschmann betont diesen Umstand in seinem Beitrage besonders, erhofft
sich aber seltsamerweise Besserung durch Reform „der Gesundheitslehre des
Lyzeums und der Mittelschule“, also bei über zehn Jahre alten Kindern.
Abneigung gegen die Möglichkeit der Geburt weiterer Geschwister, ein
Umstand, den besonders Bernfeld betont. 3) Gebämeid der Knaben. (Eben¬
falls Bernfeld.) 4) Unbewußter Haß gegen den Vater, von dem das Kind
nicht will, daß er irgendeinen Anteil an der Entstehung der eigenen Person
haben soll, also Eifersucht (Landauer). ;J Besonders Landauer betont auch,
daß man hier die Onanieverbote nicht unterschätzen darf, die alles Genitale „tabu“
machen, besonders in Verbindung mit der Idealisierung der Eltern, die die
orstellung ausschließt, diese Idealpersonen könnten so etwas „Tierisches“ tun.
Die zweite wichtige Erfahrung ist die Erkenntnis, daß die eigentliche „Auf-
klarung , die dem Intellekt tatsächliches Wissen vermittelt, gar nicht so wichtig
27 *
A
ist. Ihre Hervorhebung, das ihr in der pädagogischen Literatur zugewandte
Interesse, findet nicht in der sachlichen Bedeutung des Problems, sondern im
Unbewußten der Pädagogen seine Erklärung. „Indem man eifrig für sexuelle
Aufklärung eintritt, . . . kann man alles übrige lassen, wie es ist. Alles übrige:
Die eigene Stellung zur Sexualität, die ,Komplexe 4 des eigenen Unbewußten ..."
(Bernfeld); auch Friedjung betont, daß sich hinter „sittlichen Bedenken“
der Erzieher „blinzelndes Behagen“, d. h. die Rücksicht auf die eigene Bequem¬
lichkeit verbirgt. — Mancher Beitrag nimmt allerdings noch ganz den Stand¬
punkt des die Aufklärung überschätzenden ethisch eingestellten Pädagogen ein,
so Liertz, dem es Selbstverständlichkeit ist, daß die „Reinhaltung des Geschlechts¬
lebens“, das „Sichbewahren für den zukünftigen Ehegatten“ das Ziel ist, in
dem „beide Geschlechter unterwiesen“ werden müssen, wobei er wieder in
störender Weise statt von „Psychoanalyse“ von „Seelenaufschließung“ redet und
die Sublimierungslehre „Erhöhungslehre aufschließender Seelenforschung nennt.
Und tatsächlich darf die Reduzierung der Bedeutung der Aufklärung auf das
richtige Maß auch nicht zu ihrer Unterschätzung verführen: „Die Erleichterung
der intellektuellen Konflikte ist Nutzen genug, den die Aufklärung leistet.“ Und:
„Sie schädigt nicht, während die Methode ... die Kinder zu belügen, oft einen
sicheren Schaden herbeiführt.“ (Beides Bernfeld.)
Darin sind sich alle Autoren einig, daß das, was wichtiger ist als die „Auf¬
klärung“ des Intellekts, das Gesamtverhalten der Erzieher der Tatsache der
infantilen Sexualität gegenüber ist. Besonders Meng hat dies in knapper und
einleuchtender Formulierung betont. Auch Wolffheim legt dar, wie die ent¬
scheidenden Momente für die Beziehungen (und Mißverständnisse) zwischen
Eltern und Kindern im Unbewußten gelegen sind.
Besonders eindrucksvoll als Beispiel für den Ursprung der pädagogischen
Schwierigkeiten im Unbewußten der Pädagogen ist die Arbeit von Reich über
die kindliche Onanie: Das Verhalten der Erwachsenen der infantilen Onanie
gegenüber ist ein Beweis dafür, daß die kindlichen Triebäußerungen eine Gefahr
für die Aufrechterhaltung der Sexualverdrängung der Erwachsenen bedeuten, und
daß dieser Umstand und nicht die Rücksicht auf das Wohl der Kinder die
Erziehungsmaßnahmen der Erwachsenen determiniert. — Eine Übersicht über
die Ergebnisse psychoanalytischer Forschung über die infantile Onanie (sie ist
normaler Ausdruck der phallischen Stufe, nicht ihr Vorhandensein, ihr Fehlen
ist pathologisch), zeigt die Unzweckmäßigkeit der üblichen pädagogischen Ein¬
griffe: Die Onanieverbote tabuieren die Exekutive der Erregung, aber gleich¬
zeitig steigern die Eltern durch ihr eigenes Benehmen fortwährend die Erregung
der Kinder, sei es durch direkt erregende Spiele, sei es durch Verbote, die im
Kinde Angst und damit „Angstlust“ erzeugen. Später, da das Kind in unbewußter
Identifizierung mit einem der Eltern onaniert, verschiebt sich noch das der be¬
gleitenden Ödipusphantasie geltende Schuldgefühl auf die Betätigung der Onanie.
Angst und Trotz, die die heutige Erziehung im Kinde weckt, unterdrücken
nicht die Onanie, sondern steigern sie oft, komplizieren sie aber stets, indem sie
das Kind zwingen, geheim zu onanieren, und dadurch zu den bekannten und
berüchtigten Gewissenskonflikten mit ihren Gefahren führen. Ein Beispiel (Analyse
Referate
409
einer Mutter, die unbewußt ihren kleinen Sohn zu onanieren wünschte) zeigt,
wie elterliche Onanieverbote durch die eigene Onanieangst der Eltern entstehen,
die ihrerseits aus der Nachwirkung der Onanieverbote der früheren Generation
und aus dem Schuldgefühl des Ödipuskomplexes stammen. Reich untersucht
dann noch die geringen realen Gefahren der Onanie, meint, daß die infantile
Onanieperiode wahrscheinlich spontan vorübergeht, und daß „das Experiment
des Gewährenlassens nicht unversucht bleiben darf“.
Wertvoll sind natürlich die Beiträge, die Einzelmaterial aus analytischer
oder analytisch-pädagogischer Erfahrung mitteilen; diese Beiträge sagen zwar
dem Psychoanalytiker wenig Neues, sind aber für die meisten Leser der Zeit¬
schrift die belangvollsten. Sie sind um so mehr zu begrüßen als in der ana¬
lytischen Fachliteratur noch immer viel zu wenig Krankengeschichten — und
noch weniger Kinderkrankengeschichten mitgeteilt sind. Hier ist an erster
Stelle der Beitrag Zulligers zu nennen, der sein Material, das fast keines
Kommentars bedarf, in einprägsamer und überzeugender Weise auseinander¬
setzt. Ein Fall von Schneider (Bettnässen bei einem kleinen Mädchen),
dessen Analyse ausführlich mitgeteilt wird, zeigte deutlich, daß die Sexual¬
forschung nicht um ihrer selbst willen betrieben wurde, sondern im Dienste
der unbewußten Angst um weitere Geschwister und des unbewußten Wunsches
stand, selbst ein Kind zu bekommen. Bei einem Fall von Landauer (Ver¬
giftungsangst eines kleinen Mädchens) stand die Aufklärung — dieser Be¬
griff weit genug genommen — im Mittelpunkt der Neurose, ein Fall von
Hollos zeigt, daß der Kampf mit den eigenen sexuellen Trieben die kind¬
liche Schlaflosigkeit verursacht; Gräber versucht an Hand eines Falles den
Nachweis, daß die Entwicklung der Sexualneugierde einen typischen Verlauf
habe, der in Phylo- und Ontogenese der gleiche sei: Erst interessiert das
Geburtsproblem, wobei die typische Folge, in der die Theorien in der kind¬
lichen Psyche auftreten, die folgende sein soll: Die Kinder kommen l) vom
lieben Gott, 2) vom Storch, ß) aus dem Gebüsch, 4) aus der Mutter, a) aus
der Brust, b) dem Mund, c) dem Anus, d) dem Nabel, e) der Vagina. —
Später erst interessiert das Zeugungsproblem, wobei die Frau erst als herm-
aphroditisch aufgefaßt wird und dann erst Theorien über orale, anale usw.
Zeugung auftauchen. — Die Frage, ob die Liebe-Gott- und die Storch-Theorie
nicht genetisch jünger sind als die Muttertheorien und erst deren Verdrängung
ihre Entstehung verdanken, wäre hier wohl aufzuwerfen.
Einige anonym erschienene Beiträge verdienen ebenfalls Interesse: Eine
Kindergärtnerin beobachtete außerordentlich drastische, grob-genitale Spielereien
der Kinder, die als Beweise für die Existenz der infantilen Sexualität wohl un¬
widerleglich sind. — In einem Fall von Pavor nocturnus ist der Zusammenhang
der Erkrankung mit einer Koitusbelauschung eklatant. — Eine Mutter erzählt
über „Gespräche“, die sie mit ihrem Jungen geführt hat, und die wirklich ein
außerordentliches Vertrauensverhältnis zwischen Mutter und Sohn offenbaren.
Diese Zusammenstellung der Ansichten verschiedener Analytiker über die
wichtigsten sexualpädagogischen Fragen ist eine wertvolle Bereicherung der
psychoanalytischen Literatur.
Referate
^lo
I. Jahrgang, Heft 10 (Juli 1927):
Pfister fordert die Errichtung von Schülerberatungsstellen, die, unabhängig
von Schule und Elternhaus, Jugendlichen in seelischen Nöten rat- und wo¬
möglich auch tatkräftig beistehen. Er könnte sich bei seiner Forderung auch
auf das wiederholt aus Jugendkreisen geäußerte Bedürfnis nach einer derartigen
Institution berufen, dessen Intensität ja auch an verschiedenen Stellen der Jugend¬
bewegung zu Selbsthilfeversuchen geführt hat. Fordert Pfister für solche Berater
psychoanalytisches Wissen, so wird ihm gewiß auch jedermann beipflichten, wir
fürchten nur, daß eine in solchem Rahmen mögliche „Beratung“ in den meisten
Fällen nicht allzuviel Hilfe wird leisten können. — Während im vorigen Hefte
der Zeitschrift die meisten Autoren sich gegen „Massenaufklärung“ in der Schule
ausgesprochen haben, versucht Frau Gravelsin zu zeigen, „wie unter Um¬
ständen eine solche Aufklärung gelingen kann“. Ihre Arbeit erscheint aber
eher geeignet, alle Bedenken gegen solche „Aufklärung“ zu wecken, besonders
wenn sie so feierlich, von oben herab, unvollständig und eigentlich — unauf¬
richtig gegeben wird. — Auch der kleine Aufsatz von Hackländer: „Zur
Psychologie des Dichters“ ist nicht sehr befriedigend; die Leser dieser Zeit¬
schrift dürfen wohl schon eine tiefergreifende Behandlung dieses Themas
fordern. — Dagegen sind die kleinen kasuistischen Beiträge auch diesesmal
sehr erfreulich. Stern bringt unverhohlene Ödipusaussprüche eines kleinen Mäd¬
chens, Frau Hollös und ein anonymer Autor Beiträge zum nachträglichen Ver¬
gessen der richtig erteilten Aufklärung. — Den Schluß des Heftes bildet ein
Aufsatz von Petersen, der, im Gegensatz zu Bernfeld, eine ausdrückliche
Bekämpfung der sogenannten Schmutz- und Schundliteratur für nötig und das
Verabreichen von Poperts „Hellmut Harringa“ oder Jostens „Der Stärkste“
an Jugendliche für die geeignetste Maßnahme dazu hält!
I. Jahrgang, Heft 11 —12 (September 1927).
In einer lesenswerten und auch für manche Psychoanalytiker sehr beherzigens¬
werten Arbeit setzt Bernfeld auseinander, daß nicht nur die Wertbegriffe
„sittlich“, „unsittlich“ u. dgl., sondern auch die „medizinischen“ Begriffe
„normal“, „neurotisch“, „psychopathisch“ abhängig sind von sozialen Wertungen,
vom wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Milieu, vom „sozialen Ort“ des
beurteilten Individuums. Bernfeld demonstriert diese Relativität an Hand einer
der Realität entnommenen Erzählung von Alexandra Kollontay, die die ver¬
schiedene Einstellung dreier Generationen zu den Problemen des Liebeslebens
aufzeigt. — Die Wertungen, die die Pädagogik braucht, kann sie gewiß nicht
von der psychologischen Wissenschaft erhalten; und was „Sittenlosigkeit“ ge¬
nannt wird, ist — psychologisch gesehen — keineswegs immer sexuelle Hem¬
mungslosigkeit, sondern kann ebenso wie ein hysterisches Symptom das Resultat
einer mißglückten Trieb Unterdrückung sein. — Frau Tamm bespricht Schwierig¬
keiten mancher sonst intelligenter Kinder beim Lesen- und Schreibenlernen,
die unter Umständen wie organische Alexien imponieren. Die Autorin meint,
was jedem Psychoanalytiker einleuchten wird, daß es neben organischen Fällen
Referate
411
auch solche gibt, bei denen psychische Hemmungen mitwirken oder allein
■wirksam sind. Die Lesefähigkeit kann wie eine musikalische oder zeichnerische
Anlage durch Verdrängungen gehemmt sein; die Hemmung kann von visuellem,
akustischem oder motorischem Typ sein. Handelt es sich um eine Hemmung
der visuellen Wortvorstellungen, so wendet die Autorin eine Methode an, die
sich bemüht, das visuelle Vorstellungsvermögen zu stärken. Stellt sich dabei
Angst ein, so muß man die peinlichen Erinnerungen eruieren, die mit den ge¬
forderten Vorstellungen assoziiert sind. „Bei Fällen, die den Neurosen nahe¬
stehen, wäre eine Psychoanalyse wohl zu empfehlen. Ich habe jedoch bei
Fällen mit Lesestörungen nie Gelegenheit gehabt, eine solche auszuführen.“
Vielleicht wären, hätten sich solche Gelegenheiten geboten, tiefergreifende Er¬
folge zu erzielen gewesen. — Schneider vollendet seinen in Heft 7 — 9 be¬
gonnenen Bericht über eine Kinderanalyse. Als Ursachen des Hauptsymptoms,
Bettnässen, fanden sich: i) Konstitutionelle Verstärkung der Urethralerotik.
2) Lieb es Verluste von seiten des Vaters, der in den Krieg mußte, und der
Mutter, die ein zweites Kind bekam; Regression als Folge dieser Versagungen.
)) Beobachtungen im elterlichen Schlafzimmer machten „nächtliches Aufstehen“
angstbesetzt, so daß die Patientin sich weigerte, zur Harnentleerung aufzustehen.
4) Identifizierung mit dem neugeborenen Brüderchen, j) Wunsch, selbst ein
Kind („Urinkind ) oder einen Penis („Urinpenis“) zu bekommen. — Miß
Chadwick publiziert ihren in London gehaltenen Vortrag über ihre Tätigkeit
in einem Londoner Proletarierkindergarten. (Referat siehe diese Zeitschrift,
Bd. XIII, S. 564.) — An Hand von zwei Fällen zeigt Boehm, daß kindliche
„Unarten nicht zu bestrafen sind, sondern zu verstehen; durch richtiges Ver¬
stehen z. B. einer unbewußten Abneigung gegen eine Schwangerschaft der
Mutter können spätere Neurosen verhindert werden. — Behn-Eschenburg
bespricht in einem Vortrag, den er vor Lehrern hielt, die kindliche Sexual¬
neugierde und tritt für eine frühzeitige und wahrheitsgemäße Aufklärung ein.
Dieser Vortrag wird illustriert durch einige „freie Aufsätze“, die Zulliger zum
Thema „Kindliche Sexualforschung“ zur Verfügung stellte. — Es folgen noch
einige interessante kasuistische Beiträge. Ein Zeremoniell nach einem Diebstahl
erweist sich — nach einer weiteren Mitteilung von Zulliger — als Gegen¬
reaktion gegen das schlechte Gewissen. — Fromm zeigt, wie in einem Falle
eine zu strenge Reinlichkeitserziehung, in einem zweiten der Wahrheitsfanatis¬
mus der Mutter Ausgangspunkt einer Charakterfehlentwicklung geworden ist. —
Helene Piutti erzählt von einem zehnjährigen Jungen, der eine Schwanger¬
schaft der Mutter mit einer eigenen hysterischen Schwangerschaft beantwortete:
Er bekam einen aufgetriebenen Bauch, Leibschmerzen, Erbrechen und verlor
schließlich diese Symptome in einer „Explosion“, einem Anfall, der mit all¬
gemeinen Krämpfen und enormen Stuhl-, Gas- und Urinentleerungen einher¬
ging. — Analytisch weniger bedeutungsvoll sind die Beiträge von H. Müller,
der von einem kleinen pädagogischen Kunstgriff berichtet, den er erfolgreich
anwandte, als ein Kind sein kleines Geschwisterchen verleumdete, und von
L. Schwarz, der eine kindliche Trotzreaktion als durch Eifersucht auf eine
Schulkameradin bedingt erkannte.
II. Jahrgang, Heft 1 (Oktober 1927).
Dieses Heft behandelt vorwiegend das Thema „Kinderfehler“. Über trieb¬
haftes Stehlen bei Kindern spricht Frau Tamm. Drei Fälle von infantiler
Kleptomanie konnten, nachdem alle nichtanalytischen pädagogischen Maßnahmen
versagt hatten, mit Hilfe von Traumanalysen leicht verständlich gemacht und
auch geheilt werden. — Ein Fall von Boehm war zum Stehlen gekommen
durch das Sprichwort: „Wer lügt, der stiehlt auch.“ Der wesentliche Zwangs¬
impuls der kleinen Patientin (die erst in erwachsenem Alter analysiert wurde)
war der, zu lügen. Die Patientin war bei Pflegeeltem aufgewachsen, die sie
während der Kinderjahre angeblich für ihre wahren Eltern gehalten hatte.
Die Analyse wies nach, daß die Patientin ihren leiblichen Vater gut gekannt
diese Kenntnis nur verdrängt hatte, und zwar zunächst, um den Pflegevater
nicht zu kränken, in tieferer Schichte aber, wie die Analyse nachwies, aus
Ödipusschuldgefühl. Sie mußte lügen, weil ihr ganzes Leben auf einer (nicht
bewußten) Lüge aufgebaut war, nämlich auf der angeblichen Gleichgültig¬
keit ihrem leiblichen Vater gegenüber. Sie verübte kleine Lügen, um ihr
schlechtes Gewissen wegen der verdrängten großen Lüge zu entlasten. _
„Schulstreiche" erwiesen sich nach Schneider bei einem Knaben als Ver¬
wirklichung von auf die Eltern gerichteten Rachephantasien, nachdem der
Junge vorher selbst von den Eltern gehänselt worden war. Sie waren „der
erste Schritt von der passiven Lebenshaltung und dem Verträumtsein zu einer
aktiven und bejahenden Lebenseinstellung“. — Ein kleiner „Prahlhans“ war
nach Zulliger zu seinem Verhalten durch seinen „Familienroman“ ge¬
zwungen; „seine häuslichen Verhältnisse drückten ihn dermaßen, daß er sich
bei seinen geringen Schulleistungsfähigkeiten durch Prahlen ein innerliches
Gleichgewicht schaffen mußte . (In dieser Arbeit ein bemerkenswertes Bei¬
spiel für eine Trotzreaktion auf einen Verdacht. Ein Kind sagt: „Wenn
du glaubst, ich habe Birnen gestohlen, und es ist nicht wahr, dann stehle
ich das nächstemal aber sicher!“) — Der interessanteste Beitrag dieses Heftes
stammt von Fried jung, der mitteilt, daß er bei einem Kinde von sechzehn
Monaten zufällig einen ausgesprochenen Wäschefetischismus entdeckte. Das
Kind hatte seit einigen Monaten, vielleicht seit der Entwöhnung, eine eigen¬
artige Einschlafbedingung: „Man muß ihm einen von der Mutter abge¬
legten Strumpf oder solch ein Miederleibchen reichen. Diesen Gegenstand
preßt er dann zwischen beide Hände, steckt den einen Daumen zum Ludeln
in den^ Mund und schläft rasch ein. „Verweigerung ruft einen Zornanfall
hervor. “
Das Heft enthält dann noch einen Bericht von Meng über die „psycho¬
analytische Woche , die im August 1927 unter der Leitung von Meng und
Schneider in Stuttgart stattgefunden hat. Es nahmen an ihr zweiundsiebzig
Hörer, hauptsächlich aus pädagogischen Kreisen, teil; außer den Veranstaltern
trugen Bernfeld, Landauer, Pfister und Zulliger vor. Die Woche war
in jeder Beziehung ein voller Erfolg. Am Ende wünschte die Hörerschaft die
Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft der Hörer“, ein — wie Meng sagt —
sehr schwieriges Problem. Zunächst wurde beschlossen, daß die Hörer in der
Referate
4* 3
Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik ihre Meinungen austauschen und
entscheiden sollen, ob und in welchen Abständen solche Kurse wiederholt
werden sollen.
II. Jahrgang, Heft 2 (November 1927).
Das Heft wird von einer kritischen Beleuchtung des Strafvollzuges durch
Landauer eingeleitet. Strafrechtstheoretisch verurteilt Landauer vor allem
das immer noch wirksame „Rachegefühl, das man schamhaft Vergeltungs- oder
auch Abschreckungsprinzip nennt“, psychologisch-pädagogisch meint er, daß
die Anerkennung des Unbewußten einen Wandel im Strafvollzug mit sich
bringen müßte. Es gibt keinen Verbrecher, keinen „Gesellschaftskranken“, der
kein Schuldgefühl hätte. Es müßte Sache einer richtigen „Führung“ sein, die
in falsche Zusammenhänge verschobenen Schuldgefühle wieder zu gesellschafts-
fördemden zu machen. — Fritz Kleist versucht am Fall eines jugendlichen
Rückfall Verbrechers die praktische Möglichkeit eines tieferen Verständnisses der
Asozialen zu demonstrieren, bleibt dabei aber leider bei der Erkenntnis der
„Entmutigung“ im Sinne von Adler stecken. — Einen außerordentlich inter¬
essanten Fall einer Frühneurose im zweiten Lebensjahre teilt Levy-Suhl mit:
Ein kleines Mädchen erkrankt ganz plötzlich, während sie im Bette neben
dem Vater liegt, an einer Angst vor der „Mieschekatze“. Es wird klar, daß
das Angsttier den behaarten Körper des Vaters darstellt. Die nähere Anamnese
ergibt, daß das Kind wahrscheinlich knapp vor Ausbruch der Angst einem
Koitus seines Kindermädchens beigewohnt hatte. — An einem passiv-homo-
sexuellen masochistischen Jungen zeigt Gräber, daß seine Triebeinstellung aus
einer Rückwendung starker aggressiver Tendenzen gegen das eigene Ich ent¬
standen ist. — Bemerkenswerte kleine Beobachtungen teilen ferner mit Imre
Hermann (ein Kind hält am Storchenmärchen mit der Begründung fest:
„Wenn das Kind im Bauch wächst, warum habe ich dann keines?“), Martha
Zulliger (Badehemmung eines kleinen Mädchens im Zusammenhang mit
Kastrationsideen), Reik (Aussprüche eines Jungen über den lieben Gott), Mann¬
heim (Allmacht der Gedanken: Ein dreijähriges Kind verlangt nach einem
Gewitter vom Vater, er solle donnern und blitzen, und sagt dann auf einen
eigenen Flatus: „Dann eben ich donnern“).
II. Jahrgang, Heft 3 (Dezember 1927).
Interessant sind in diesem Heft die Kinderbeobachtungen von Frau Spiel¬
rein (Reaktionen auf Versagungen, primitive feindselige Regungen und ihre
Gefühlskompensationen, leicht verständliche Träume) ; daneben eine Arbeit von
Landauer, die von einem scheinbar unentstellten Ödipustraum erzählt, dessen
Analyse ergab, daß die scheinbaren Ödipusgedanken in Wahrheit aus dem vor¬
bewußten Wissen stammten, und daß der Traum, dessen Fassade den Analy¬
tiker irreführen sollte, einen ganz anderen Sinn hatte, und eine von Frau
Happel, die die Realität der Mutterleibssehnsucht am Beispiel eines Mannes
erörtert, der, Zeitungsberichten zufolge, nach einer Liebesenttäuschung acht¬
zehn Jahre lang in den Pariser Kanälen gelebt hatte.
4U
Referate
Im übrigen ist das Heft, wie leider zum Teil auch schon die früheren
dieser Zeitschrift, auf einem bedauerlich niedrigeren Niveau als der erste Jahr¬
gang und für den Psychoanalytiker kaum belangvoll. Hitschmann verurteilt
Überstrenge, Übergüte, übertriebene Einschüchterung und Unterlassung der
sexuellen Aufklärung als gröbste Erziehungsfehler; Lehrer Kuendig (Bern)
teilt nach einleitenden Ausführungen über Psychoanalyse und Schulbetrieb, i n
denen er sich zu den Zulligersehen Ansichten bekennt, Episoden aus dem
Unterricht mit, die zum Teil mit Psychoanalyse nichts zu tun haben (z. B. das
Stellen sexueller Fragen durch die Kinder), zum Teil in Traumanalysen vor
dem Plenum der Klasse bestehen; A. Stern berichtet von einem passagere
asozialen Kind in psychoanalytisch völlig unbefriedigender Weise (er verurteilt
die Individualpsychologie ausdrücklich, scheint ihr aber dennoch noch recht
nahezustehen); Wolffheim verspricht sich eine Besserung der heute so trost¬
losen Erziehungsverhältnisse durch eine „Elternerziehung“; Stein untersucht
in einer kleinen Arbeit die Verwendung von Namen in der Bibel und kommt
zum Resultat, daß die Benennungen „fortlaufend bestimmt“ sind „durch die
gemütliche Einstellung der Sprechenden gegenüber den Angesprochenen“.
F e n i c li e 1 (Berlin)
Zu lliger, Hans: Geloste Fesseln. Alwin Hulile, Dresden 1927.
Der Psychoanalytiker kennt die erfreuliche Arbeit Zulligers bereits aus seinen
früheren Publikationen. Das vorliegende Buch stellt sie nochmals an Hand von
zahlreichen Beispielen voraussetzungslos dar und man lernt seine Arbeitsmethoden
bei der Lektüre neu und tiefer kennen. Das Buch ist für Lehrer ohne jede
psychoanalytische Bildung gedacht und erscheint in einer pädagogischen Schriften¬
reihe „Künftige Ernten“.
Zulliger benutzt bei seiner Tätigkeit als Lehrer in einem Vorort-Dorf von
Bern seine tiefe und gründliche Kenntnis der Psychoanalyse — er spricht von
einer „Fruchtbarmachung der Freudschen Lehren für die Volksschulpädagogik“ —
in zweifacher Hinsicht: Einmal, indem er sein Wissen um das unbewußte Seelen¬
leben der Kinder bei seiner pädagogischen Arbeit — mag diese nun der Charakter¬
bildung oder der Wissensvermittlung oder wem immer dienen — mitbenutzt,
dann, indem er richtige kleine Psychoanalysen, Symptomanalysen macht, wenn
Unarten, Eigenheiten, Fachhemmungen u. dgl. den Fortschritt eines Kindes
hemmen, beides — wie er berichten kann — mit guten Erfolgen. Zulliger
schätzt diese beiden Anwendungen der Psychoanalyse so hoch ein, daß er meint:
„Die endgültige Auswirkung der Freudschen Lehren ist heute noch nicht
überblickbar — möglicherweise nimmt jedoch die Pädagogik aus ihnen den
wertvollsten Gewinn, nicht die Medizin“ (S. 222).
Seine pädagogischen Ziele entnimmt Zulliger natürlich nicht der Psycho¬
analyse, weder einer Naturwissenschaft noch einer therapeutischen Methode
könnten solche Ziele entnommen werden, — doch scheint es, als ob Zulliger
selbst sich nicht immer völlig klar darüber wäre, daß auch sein pädagogischer
Gegner „psychoanalytisch arbeiten könnte. Immerhin bespricht er ausdrücklich,
]
Referate
4i5
daß Psychoanalyse niemals etwa Pädagogik ersetzen könnte (S. 218). Man lernt
diese pädagogischen Ziele hauptsächlich im Einleitungs- und Schlußkapitel kennen,
w o sich Zulliger diesbezüglich auf Häberlin beruft. Er erhofft sich von der
richtigen Erziehung in sehr optimistischer Weise eine ideale Einordnung des
Individuums in die Gemeinschaft und in die Kultur überhaupt. Man muß sich
über diesen Optimismus, auch wenn man ihn nicht teilt, ebenso freuen, wie
über die umfassende und herzliche Kinder- und Menschenliebe, die aus den
Zeilen des ganzen Buches spricht (siehe z. B. das Kapitel „Schülerliebe", S. 156 ff.).
Der Leser spürt die herzliche, einfache, offene Atmosphäre in Zulligers Schul¬
stube und Zulliger selbst erkennt in dieser Atmosphäre die Voraussetzung für
seine Erfolge (siehe z. B. S. 15 ff.).
Was die erste der beiden charakterisierten pädagogischen Anwendungsarten
der Analyse betrifft, so wird sie in solcher Atmosphäre sicher gut gedeihen.
In ihr ist die Garantie dafür geboten, daß das Wissen des Lehrers um das
kindliche Triebleben nicht theoretisch und wirklichkeitsfremd bleibt, sondern
daß hier im Lehrer den Kindern ein Mensch gegenübersteht, der endlich für
ihre wahren Nöte Verständnis hat.
Die zweite Anwendungsart läßt sich nicht scharf von der eigentlichen thera¬
peutischen Kinderanalyse trennen, obwohl Zulliger, übervorsichtig wie er ist,
eine solche Trennung versucht (siehe z. B. S. 113). Diese Anwendung ist schon
eigentliche Analyse. Zulliger hält mit ihr auch sehr zurück: „Ich halte es
mit dem analytischen Vorgehen so wie die Frauen unseres Volkes mit der
Chirurgie. Ich habe einen gewaltigen Respekt davor. Denn es könnten Operationen
mißraten ... (S. 127). Diese „kleine Analyse u wird aber, wie wohl auch
Zulliger zu meinen scheint, wahrscheinlich nie von den großen Lehrermassen
angewendet werden können, schon deshalb nicht, weil sie — wie Zulliger
mit Recht betont — die vollendete eigene Analyse des Lehrers voraussetzt.
Zulliger warnt auch die Leser des Buches wiederholt vor ihrer Anwendung,
hält sie z. B. nur für erlaubt, „wenn jemand von Haus aus ein gut Stück
intuitiver Einfühlungsfähigkeit besitzt, sich selber einer Psychoanalyse bei einem
tüchtigen Schüler Freuds unterzogen hat, sich in jahrelangem Studium der
psychoanalytischen Literatur bemächtigte und Gelegenheit hat, mit einem Psycho¬
analytiker oder einem Kreise von solchen in naher Verbindung zu stehen,
denen er über seine Unternehmungen berichten und bei ihnen Rat holen kann“
(S. 4). Auch an anderen Stellen gibt er eingehende Warnungen (z. B. S. 113),
insbesondere vor Nachäffung: „Gehe jeder seinen eigenen Weg, gestalte er die
Schule nach den Möglichkeiten und Besonderheiten seines eigenen Selbst“
(S. 223). Daß aber ein Mensch vom Charakter und Verständnis Zulligers sie
anwenden kann und darf, erscheint uns, abgesehen davon, daß es einer alten
Forderung Freuds entspricht, durch dieses Buch selbst wieder vollauf gerecht¬
fertigt. Zulligers Beispiele überzeugen, da sie nicht nur die Resultate, sondern
auch den Einzelverlauf der kleinen Analysen genau wiedergeben (deshalb ist
ihr Material auch so geeignet zur Demonstration des unbewußten Seelenlebens).
Instruktiv ist z. B. die Zurückführung einer sich immer wiederholenden Zahlen¬
verwechslung auf den unbewußten Geschwisterneid (S. 30 ff.), eines Hasses gegen
Referate
416
den Religionsunterricht auf den gegen den Vater (S. 34 ff.), von Schrifteigen¬
heiten auf Sexualneugierde (S. 50 ff.) oder auf Ehrgeiz (S. 58 ff.), von Gesang¬
störungen auf den Penisneid (S. 61 ff.), der Lesewut eines Unehelichen auf
seinen Wunsch, über seine Abstammung etwas zu erfahren (S. 62 ff.). Mehr in
die Tiefe gehen die Analysen eines „Vielfraßes“ (S. 98 ff.) und einer „Schreck¬
haftigkeit beim Aufruf“ (S. 121 ff.) und die mehrerer Phobien (S. 99 ff.). Einige
Beispiele, wie das vom „Mädchenstreit“ (S. 73 ff.), von der „Seekrankheit“
(S. 149 ff.) und vom kindlichen Gewissen (S. 162 ff.) sind schon vorher in
der Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik publiziert und in dieser Zeit¬
schrift bereits referiert worden. — Hilft die analytische Aussprache allein nicht
so versucht es Zulliger mit einer seinen analytischen Funden entsprechenden
Änderung seines eigenen Verhaltens (auch die Gefahren der Übertragung werden
an einem Beispiel demonstriert, S. 66 ff.) oder des Milieus des Kindes. Auch
gelegentliche Mißerfolge werden offen zugegeben (S. 206 ff.).
Eine dritte Beziehung von Pädagogik und Psychoanalyse, auf die Zulliger
reflektierend scheinbar am wenigsten Gewicht legt, wird vielleicht dem psycho¬
analytischen Leser am deutlichsten. Dem Lehrer steht eine Fülle von Material
von einer anderen Art zur Verfügung als dem Psychoanalytiker, das, mit psycho¬
analytischen Augen gesehen, viele noch ungelöste Rätsel der Kinderpsychologie
wird lösen helfen. Und schon allein des Materials wegen ist die Lektüre dieses
„populären“ Buches auch jedem Psychoanalytiker zu empfehlen.
FenicLel (Berlin)
Bernfeld, ^Siegfried: Die Formen der Disziplin in Erziehungs¬
anstalten. Zeitschrift für Kinderforschung, Band 33, Heft 3.
Die Tatsache, die der Autor dieser Arbeit einleitend erwähnt, daß eine er¬
ziehungswissenschaftliche Untersuchung über die Disziplin in Erziehungsanstalten
bisher noch nicht vorliegt, ist geeignet, wieder einmal zu demonstrieren, wie
wenig die praktische Erziehungstätigkeit (nach Bernfeld „Pädagogie“) mit Grund¬
sätzen der Wissenschaft („Pädagogik“), wie sehr mit solchen des Affektes arbeitet.
Soll eine solche Untersuchung erfolgreich sein, so setzt sie allerdings eine tiefe
Kenntnis sowohl der soziologischen Fakten als auch der Kinder- und Jugend¬
psychologie — d. h. der Psychoanalyse — voraus, die nicht vielen pädagogischen
Autoren so wie Bernfeld eigen sein dürften. Bernfeld geht so vor, daß er
erst eine Deskription der heute üblichen Disziplinformen zu geben versucht,
um dann erst die Frage nach ihren spezifischen Wirkungen zu stellen. Die
Deskription verlangt wieder als Vorarbeit die deskriptive Untersuchung der Vor¬
bilder, deren sich die Disziplinformen bedienen: der Ordnung im Haushalt
(familielle), in der Kaserne (militärische), in der Republik (demrokratisch-bureau-
kratische), in der Fabrik (industrielle), in der Lernschule (didaktische Disziplin¬
form). Alle diese Ordnungen werden soziologisch und psychologisch klar charak¬
terisiert. In den Erziehungsanstalten gibt es fast nur verschiedene Kombinationen
dieser Vorbilder, am häufigsten Mischungen der militärischen und der familiellen,
eventuell auch der demokratischen Formen. Kompliziert wird der Sachverhalt
Referate
4*7
noch dadurch, daß in Erziehungsanstalten häufig Disziplinformen einer bestimm¬
ten Art unter der Fassade einer anderen Disziplinform angetroffen werden,
z B. stellt die Institution von Schlafsaalpräfekten, die unter dem Einfluß des
Anstaltsleiters gewählt werden, eine Maßnahme der militärischen Disziplin unter
demokratischer Fassade vor. Wie weit sind nun die verschiedenen Methoden
rational zweckmäßig zur Erreichung bestimmter pädagogischer Ziele (die auf¬
zustellen natürlich nicht Aufgabe der Erziehungswissenschaft sein kann)?
Bernfeld hält diesbezüglich die Verantwortlichkeit des Anstaltsleiters gegenüber
Behörden für sehr bedeutungsvoll: Die familielle Form ist z. B. nur bei kleinem
Umfang der Anstalt möglich, die demokratische nur bei wohlwollenden Behörden;
dagegen entsteht die militärische Disziplinform bei großer Zöglingszahl und Ver¬
antwortlichkeit des Leiters ganz von selbst, wenn sie nicht mit besonderer Sorg¬
falt vermieden wird. Sie ist für den Anstaltsleiter die rationalste Disziplinform,
die er auch wegen der psychologischen Befriedigung, die sie seinem Narzißmus
gewährt, vorziehen wird.
Der Wirkung nach kann die militärische Disziplin die Erzielung von Hand¬
lungen bewirken, also z. B. die pünktliche Einhaltung der Disziplinvorschriften
selbst. Die Ordnung ist ja aber immer nur ein Teil der pädagogischen Auf¬
gabe; auch erleben die Kinder eine solche Ordnung als ihnen zwangsmäßig
aufgedrängt. Will gar der gleiche Leiter militärisch und familiell zugleich wirken,
Befehlshaber und Vater in einer Person sein, so erhöht er damit noch den
Willkürcharakter aller Maßnahmen. Die demokratische Disziplin garantiert keine
Anstaltsordnung. Dafür entspricht sie einer dynamischen Auffassung des kind¬
lichen beziehungsweise jugendlichen Seelenlebens; sie bietet Chancen, daß sich
in den Zöglingen eine Gesinnung der Ordnung entwickle. Die familielle Dis¬
ziplin wirkt am ehesten zur Erreichung der nicht rationalen pädagogischen
Aufgaben. Am ehesten erzieht die demokratische Form zur heutigen Gesellschaft
mit der Neigung zur Bejahung ihrer Entwicklungstendenz, die familielle zur
heutigen Gesellschaft mit der Neigung zur Verneinung ihrer Entwicklungs¬
tendenz, die militärische an sich zu gar keiner Tendenz, die militaristische, d. h.
die ideologisch verklärte militärische, zu nur von einigen Schichten gewünschten
Tendenzen. Fenicliel (Berlin)
Bernfeld, Siegfried: Einige spekulative B emerkungen üter die
psyckologisclie Bewertung telepatkiscker Prozesse. Zeitschrift
für die gesamte Neurologie und Psychiatrie. 111, l/a.
Das Wort „Telepathie“ erinnert an Dinge wie „Okkultismus“, Übersinnlich¬
keit, Mystik, so daß sich der redliche psychologische Forscher nicht gerne damit
abgibt. Bernfeld versucht eine „Schutzhypothese“, die die telepathischen Phäno¬
mene, vorausgesetzt, daß sie existieren, dem Psychologen dadurch verlockender
machen soll, daß sie sie „entwertet“, sie als nüchtern, diesseitig, nicht nur nicht
als übermenschlich, sondern eher als untermenschlich erweist.
Telepathie ist ein Phänomen des Empfängers, nicht des Senders. Ihre Er¬
scheinungen gehören in das Gebiet der Wahrnehmungslehre, denn sie vermitteln
4 i 8
Referate
dem Empfänger Kenntnisse über die Außenwelt. Die telepathischen, beziehungs¬
weise die ihnen nahestehenden intuitiven Wahrnehmungen werden uns in der
gleichen Weise bewußt wie Abkömmlinge des Verdrängten, sie sind im Grunde
innere Wahrnehmungen, das Ich wird sich eines Vorgangs im Es bewußt
Handelt es sich nun um richtige Erkenntnisse über die Außenwelt (und das
wird ja vorausgesetzt), so muß dieser Selbstwahrnehmung eine direkte äußere
Wahrnehmung des Es vorausgegangen sein, an der das Ich nicht beteiligt war.
Telepathische Wahrnehmungen „sind direkte Wahrnehmungen des Es“. Als
solche sind sie „primitiver, ursprünglicher und allgemeiner“ als gewöhnliche
Wahrnehmungen, spielen in der Welt der Kinder, Säuglinge und vermutlich
Tiere eine große Rolle und sind beim Erwachsenen atavistisch, regressiv. Wir
würden etwa sagen, die telepathischen Es-Wahrnehmungen verhalten sich zu
eigentlichen Ich-Wahrnehmungen wie die allgemeine Irritabilität aller organi¬
schen Substanz zur Irritabilität der Nervenfaser. Fenichel (Berlin)
Kaplan, Leo: Das Problem der Magie und die Psychoanalyse.
Eine ethnopsychologische und psychoanalytische Untersuchung. Heidel¬
berg, Merlin-Verlag.
Kaplan gibt in diesem Buche eine deskriptive und theoretische Darstellung
des Gesamtgebietes der Magie, die den Psychoanalytiker aus zwei Gründen
besonders interessieren muß: Erstens weil er in systematischer Weise über ein
Erscheinungsgebiet unterrichtet wird, dessen Kenntnis erst das Verständnis vieler
neurotischer Erscheinungen ermöglicht, zweitens, weil die theoretischen Auf¬
fassungen des Autors auf psychoanalytischen Lehren fußen. Sie versuchen —
nach Darlegung der Unzulänglichkeit der voranalytischen Theorien über die
Magie (S. 6 ff.) Freuds Gedanken folgend das magische Denken aus der
„Allmacht der Gedanken“, aus dem Narzißmus der magisch Denkenden ab¬
zuleiten. Das magische Denken wird definiert als die Meinung, „das objektive
Geschehen könne nach assoziativer Gesetzmäßigkeit vor sich gehen“ (S. 4).
Daß gerade der Narzißt „den Kosmos mit seiner Ichheit besetzt“ und dadurch
zu „Verwechslung von Subjektivität und Objektivität“ (S. 9) gelangt, ist plausibel.
Nur ist für das Zustandekommen der Magie nach Kaplan außer der narzi߬
tischen Grundlage auch eine „magische Bereitschaft der Umwelt“ nötig. Das
heißt in einer Gesellschaft von Narzißten schreibt nicht nur jeder sich selbst
Allmacht zu, sondern jeder hält auch jeden anderen für allmächtig: „Die
drohende Gebärde des Feindes wurde als wirklicher Schlag empfunden, weil man
sich dieselbe Macht zutraute, den Feind durch bloße Wut zu zerschmettern“
(S. 24). Dadurch entwickelte sich die magische Empirie, die nicht allein mit
Hilfe der Psychologie des Magiers verständlich gemacht werden kann, sondern
nur durch Mitberücksichtigung der Psychologie des magisch Beeinflußten.
Diese Erklärungen gelten für alle Arten der Magie, die dem Leser an Hand
eines zahlreichen interessanten ethnologischen, folkloristischen und auch neuroti-
sehen Materials vorgeführt werden. Imitative Magie, Wort- und Namensmagie,
kontagiöse Magie und „Anfangszauber“, negative und defensive (abwehrende)
Referate
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Magie, Werkzeugmagie und „Organprojektion“ (die ethnologische Parallele zum
schizophrenen Beeinflussungsapparat nachTausk) werden besprochen, die „Kraft¬
stoffe (Mana u. dgl.) der Primitiven und die Mesmer sehe Lehre vom tierischen
Magnetismus mit der „Emanations theorie der Magie in Zusammenhang gebracht,
die Veränderungen, die diese magischen Gedanken später unter animistischem
und religiösem Einfluß durchmachten, untersucht. Es ist für die Entstehung
unseres „exakt realistischen" Denkens sehr charakteristisch, wie nahe die noch
dem „Mana" nahestehende altindische Gottheit Rta unserem modernen Begriff
„Naturgesetz" kommt (S. 56 f.). Immer wieder erstaunt man über die weit¬
gehenden Analogien zwischen Magie und Zwangsneurose; z. B. erscheint die
„defensive Magie“ nach Kaplans Darstellung als identisch mit der Freud sehen
Triebabwehrart des „Ungeschehenmachens“. Besonderes Interesse schenkt Kaplan
den Zauberbedeutungen von Feuer (Sonne) und Wasser (Unterwelt), dadurch
kommt er auch ausführlich auf die Problemkreise der magischen Tötung und
der Wiedergeburt zu sprechen und auf die Wandlung dieser Gedanken in der
Entwicklung von der Magie über den Animismus zur Religion. (Veränderungen
der Auffassungen über das Opfer.) Dem Narzißmus entspricht es, daß die Körper¬
funktionen und ihre Produkte in der magischen Welt eine exzeptionelle Stellung
einnehmen. Auch dieses Erscheinungsgebiet, das Röheim in seiner Arbeit „Das
Selbst (auf die sich Kaplan nicht bezieht) untersucht hat, wird — vielleicht
weniger gründlich, aber übersichtlicher und für den Nichtfachmann leichter ver¬
ständlich — dargestellt: Die Rolle von Sperma (Koitus, Fruchtbarkeitszauber), Kot,
Speichel, Blut erklärt sich daraus, daß dem Narzißten alles, was sich im Innern
des Menschen befindet oder von dort stammt, das gesamte Ich repräsentiert.
Der Schlußteil des Buches untersucht die Beziehungen von Magie und Animis¬
mus. Die mit „Ichheit besetzten Exkrete sind die Vorläufer der animistischen
„Seele . Das magische Tun ist älter als der Dämonenglaube, „aber das magische
Denken kommt in seiner folgerichtigen Entwicklung zu der Weltanschauung des
Animismus (S. 11 o), nur ist diese Entwicklung nicht linear, sondern kompliziert.
Wird der Allmachtsgedanke vom Ich in die Außenwelt, auf „Götter^ projiziert,
so entsteht die religiöse Weltanschauung. „Mystik" ist die Magie, die darauf
hinzielt, Dämonen oder Götter zu beeinflussen. Sie arbeitet, wie ausführlich ge¬
zeigt wird, mit den gleichen Methoden wie die präanimistische Magie. Das
Material der magischen Medizin inklusive der animistischen und religiösen Krank¬
heitsauffassungen und ihr Wiederauftauchen in den modernen Erörterungen über
Suggestion und Hellsehen werden noch in einigen Kapiteln behandelt. Für das
allmähliche Schwinden der magischen Denkweise macht Kaplan mehrere
Momente verantwortlich: Die Gefahren eines eventuellen Mißbrauchs der Magie
(Ursache der Geheimlehren, der Mysterien), den Einfluß der Inzestscheu, die
z. B. das Ackern seines magischen Gehalts entkleiden mußte, die Wirkung der
Industrialisierung und schließlich die progressive Überwindung des Narzißmus
in der psychologischen Entwicklung der Menschheit.
Es ist schade, daß dem Psychoanalytiker die Lektüre dieses interessanten
Buches an einigen Stellen dadurch getrübt wird, daß der Autor, wenn er psycho¬
analytische Deutungen vomimmt, in bedauerlicherweise an der Oberfläche bleibt.
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Referate
So scheint vor allem die von Freud als für das magische Denken so charak¬
teristisch hervorgehobene Ambivalenz zu kurz gekommen. So übersieht Kaplan
bei einem Zwangsimpuls, der Mutter „nachträglich gehorsam“ zu sein, weil
sonst die Mutter stürbe, die gegen die Mutter gerichtete Feindseligkeit (S. 63)
ebenso übersieht er die Ambivalenz bei Besprechung des Zwangslachens als
Reaktion auf Todesnachrichten (S. 66). Auch weiß Kaplan nichts von der
regressiven Psychogenese der „analen Kastrationsangst“ (S. 99) und erkennt
nicht die anale Note in der neurotischen bezw. magischen Spermaretention
(S. 96). Auch der Ansicht, die Ödipustat sei als Konsequenz magischen Frucht¬
barkeitszaubers aufzufassen (S. 172), wird der Psychoanalytiker nicht bei-
pflichten können.
Trotzdem bleibt das Buch aber sehr empfehlenswert, besonders auch als Ein¬
führung für den Mediziner in ein Gebiet, über das er bei seiner Ausbildung
nichts erfährt und dessen Kenntnis er doch in seiner Praxis sehr benötigt.
Fern ekel (Berlin)
Veimer, D. Hermann: Fehlerbeliandlung und EeUerL e wertung.
Verlag Jul. Klinltliardt, Leipzig 1926.
Auf Grund seiner — an anderem Ort mitgeteilten — psychologischen Unter¬
suchungen zur „Fehlerkunde“, gibt Weimer eine ins einzelne gehende Anweisung
für die pädagogische Behandlung der Fehler im Schulunterricht. Die „Gesinnung
dieser Fehlerbewertung ist innerhalb des bestehenden Rahmens: der Schule gewiß
wünschenswert; die Einzelanweisungen entstammen einer offenbar umfang¬
reichen Erfahrung. Der „Freudschen Verdrängung“ wird ein winziges Plätzchen
— aber immerhin — in der Psychologie des Fehlers eingeräumt. Wie fehler¬
haft Organisation und Struktur der Schule als Ganzes ist, wird aus dieser Schrift
aufs neue deutlich. Eine Konsequenz, die Weimer femliegt. Er bescheidet sich
mit der Reform der Verbesserung von Fehlern, die die Schüler machen, geht
dabei aber doch ein wenig zu unbescheiden, meines Erachtens, ins Große; indem
er eine Fehlerforschung, Fehlerkunde inauguriert, den „Versuch, ein Schrifttum
der Fehlerbekämpfung zu begründen“ unternimmt. Nicht etwa die Gering¬
fügigkeit des Gegenstandes seiner Forschung, wogegen sich Weimer mit Recht
verteidigt, ergibt die leicht-komische Wirkung solcher Formulierungen, sondern
der Widerspruch zwischen dem Aufwand an Wissenschaft und der Relevanz
ihres Objektes. Ein Schicksal, das alle didaktischen Bemühungen, aus der psycho¬
analytischen Perspektive gesehen, leicht erfahren. Bernfeld (Berlin)
IMAGO, Band XIV ( 1928 ), Heft Ä /3
(Ausgegeben Ende August 1918)
Seite
-Pyisf^r: Die Illusion einer Zukunft ljirt
' * 4 * * * 1 ■ ■ * i 4 y
Theodor Reik: Bemerkungen zu Freuds „Zukunft einer Illusion“. iß-.
Alfred Winterstein: Die Pubertätsriten der Mädchen und ihre Spuren im Märchen 199
H, C. Jelgersma: Der Kannibalismus und seine Verdrängung im alten Ägypten , , , 275
Franz Löwitsck: Raumempfinden und moderne Baukunst ..
Richard Sterba: Zum dichterischen Ausdruck des modernen Naturgefühls 32a
Helene Deutsch: Ein Frauen Schicksal — George Sand . ... 354’
Eduard Hitsckmann: Von, um und über Hamsun .. ^58
Marjorie E. Franklin Die bedingten Reflexe bei Epilepsie und der Wiederhöhings-
zwan e.*.-.. . 3 d 4
REFERATE
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formen und die Gesellschaft (Gerb) 582. — Bernfeld; Sozialismus und Psychoanalyse (Fmichel) 385. _
Saupe; Einführung in die neuere Psychologie (Bemfdd) 588. - De Man: Die Intellektuellen und der
Sozialismus (Bernfeld) 388. — Lewin: Vorsatz, Wille und Bedürfnis (Gero) 389. — Barrett: The New
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beobachtung in den ersten Lebensjahren (Bernfeld) 398. — Stern: Anfänge der Reifezeit ßemfeld) 399. —
Sittlichkeit und Strafrecht. Gegenentwurf zu den Strafbestimmungen des amtlichen Entwurfs,
herausgegeben vom Kartell für Reform des Sexualstrafrechts (Weitskopf) 400, — Herzberg: Zur Psycho¬
logie der Philosophie und der Philosophen (Bally) 403. — Zeitschrift fÜT psychoanalytische
Pädagogik, I. Jahrgang; II. Jahrgang, Heft 1—3 (Fmichel) 405. — Zulliger; Gelöste Fesseln (Fenichel)
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spekulative Bemerkungen über die psychologische Bewertung telepathischer Prozesse (Fenichel) 417 —
Kaplan: Das Problem der Magie und die Psychoanalyse (Fmichel) 4x8. - Weimer: Fehlerbehandlung
und Fehlerbewertung (Bernfeld) 420,
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Dr. jS an clor Ratio, Berlin- Orune wald, ILmenauer iStralje a,
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Copyngkt 1948 ly „Internationaler PsyckoanaJjtiscker Verlag, Ges. in, b. H.“, Wien
Eigentümer und Verleger: Internationaler Psychoanalytischer Vertag, Ges.m.b.H„Wien I, Büriefjasse n
Herausgeber.• Prof. Dr. Sigm Freud, Wien. - Verantwort!, für die Redaktion: Dr. Paul Federn, Wien I, Riem erg«,e .
Gedruckt b*i Chriitoph Rutnjeri Söhuen, Wien V, Arbeit erfasse 1—7