IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO-
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON
Prof. Dr. SIGM. FREUD
REDIGIERT VON DR. OTTO RANK U. DR. HANNS SACHS
Kunstpsychologisch-ästhetisches Heft
Alice Bälint .Die mexikanische Kriegshiero¬
glyphe atl-tlachinolli
P.C.van der JVolk Der Tanz des Ciwa
A. van der Cliijs .. Infantilismus in der Malerei
Sigm. Pfeifer .MusikpsychologischeProbleme
G. H. Gräber .Über Regression und Dreizahl
Aurel Kolnai .Gontscharows „Oblomow“
DJ. Ossipow .Uber Leo Tolstois Seelenleiden
E. Hitschmann ... Zum Tagträumen der Dichter
Bücherreferate
.
IX. BAND
1 9 2 3
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
WIEN VII, ANDREASGASSE 5
Alle für die Redaktion bestimmten Zuschriften und Sendungen sind zu richten an
Dr. OTTO RANK, Wien, I., Grünangergasse 5 — 5
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Alle Zuschriften und Sendungen in Referat-Angelegenheiten an die
„Zentralstelle für psychoanalytische Literatur“
(Dr. TH. REIK), Wien, IX., Lackierergasse 1 a
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Manuskripte sind vollständig druckfertig einzusenden
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Die Autoren der Originalarbeiten erhalten
außer dem Honorar 10 Freiexemplare des betreffenden Imago-Heftes.
(Separatabzüge werden nicht angefertigt)
Nachdruck sämtlicher Beiträge verboten / Übersetzungsrecht in alle Sprachen Vorbehalten
Copyright 1925 by »Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m.b. H.“ Wien
Gleichzeitig erschien:
INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT
FÜR PSYCHOANALYSE
IX. Band, Heft 4
mit folgendem Inhalt:
Dr. Otto Rank: Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang / Dr. A. Kiel¬
holz (Königsfelden): Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns / Dozent Dr. Felix
Deutsch (Wien): Experimentelle Studien zur Psychoanalyse / Dr. Felix Boehm (Berlin):
Bemerkungen über Transvestitismus / Paul Schilder: Zur Lehre vom Persönlichkeits¬
bewußtsein / Dr. E. Hits chm ann: Experimentelle Wiederholung der infantilen Schlaf¬
situation zur Förderung analytischer Traumdeutung/Ludwig Bin swanger: Bemerkungen
zu Hermann Rohrscbachs „Psychodiagnostik“ / Kritiken und Referate / Zur psychoanaly¬
tischen Bewegung / Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Mitteilungen des Internationalen Psychoanalytischen Verlages.
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der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ zu beziehen durch den Verlag.
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO¬
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
IX. BAND _ 1925__ HEFT 4
DIE MEXIKANISCHE KRIEGSHIEROGLYPHE
ATL-TLACHINOLLF
Von ALICE BALINT (Berlin)
I
Die religiösen Bilderschriften der Mexikaner, die das Hauptmaterial
diesesVortrages bilden, sind eigentlich Kalender- undWahrsage-Bücher,
sie enthalten in der Regel die fortlaufende Reihe der Tageszeichen,
genannt das Tonalamatl , Buch der Sonnen oder der Tage (in übertrage
nem Sinn auch Buch des Schicksals) und allerlei Bilder, die die Be¬
ziehungen der verschiedenen Götter und ihrer Symbole zu den Tages¬
zeichen, Wochen und größeren Abschnitten des Jahres, sowie zu den
Jahresfesten und den wichtigsten Gestirnen darstellen. Wortzeichen
gibt es nicht, außer einigen Namenshieroglyphen. Das Verständnis
der Bilderschriften wurde uns in erster Reihe durch die Aufzeich¬
nungen des Pater B. deSahagun ermöglicht, die in aztekischer Spra¬
che, unmittelbar nach den Mitteilungen der Indianer niedergeschrie¬
ben und mit deren Zeichnungen versehen, eine einzig dastehende
große Enzyklopädie der geschichtlichen und kulturellen Verhältnisse
der Mexikaner sind. (Der Pater kam kurz nach der Eroberung, schon
1) Vortrag gehalten in der Berliner und Budapester Psychoanalytischen Vereinigung.
Frühjahr 19*3.
26 Imag-o IXJ4
^ A. BÄLINT
im Jahre 1529 nach Mexiko.) Einige Codices, die neben den Bildern
erklärende Bemerkungen der Missionäre enthalten, bilden außerdem
die wichtigsten Quellen, mit deren Hilfe Prof. Eduard Sei er, der eigent¬
liche Begründer der mexikanischen Altertumsforschung, eine fast voll¬
ständige Identifizierung der zahlreichen Gestalten und Symbole in
den wichtigsten Codices durchgeführt hat. 1
Das atl-tlachinolli genannte Zeichen ist die bildliche Darstellung'
eines Ausdrucks, mit dem in den mexikanischen Texten häufig der
Abb. 1
Abb. 2
Die Feuergöttin Xantico
Cod. Borbonicus 15
Krieg (yaoyotl) bezeichnet wird, Atl-tlachinolli übersetzt Seler mit
Wasser (atl) und Verbranntes (tlachinolli'). In den Bilderschriften wird
diese Phrase entsprechend durch einen Wasserstrom und etwas Ver-
1) Als Hauptquellen kommen in Betracht: Sahagun, Historia de las cosas de nueva
Espana. — Duran, Historia de las Indias de Nueva Espana. — Mendi eta, Historia Eccle-
siastica Indiana.— Tezozomoc, Cronica Mexicana. — Historia de los Mexicanos porsus
pinturas. Hgg. J. G. Ycazbalzeta, Nueva Coleccion. — Historia de los Reynos de Col-
huacan y de Mexico. Hgg. W. Lehmann. Journ. d. 1 . Soc. d. Am^ricanistes N. S. tome
11. — Cod. Telleriano Remensis, Cod. Vaticanus A., Cod. Borbonicus, Cod. Magliabee-
chiano, Tonalamatl der Aubinschen Sammlung, Cod. Borgia, Cod. Vaticanus B. (5775)
usw., die dazugehörigen Kommentare von Prof. Ed. Seler. — Seler, Gesammelte Ab¬
handlungen. — K. Th. Preuß, Eine Kriegshieroglyphe der Mex. Bilderhandschr. Z. f.
Ethn. 1900. usw.
V
DLE MEXIKANISCHE K R IEGSHIERÖgLYPHE ATL-TLACHINOLLT -^
Abb. 3
branntes oder Brennendes veranschaulicht. Was wir in den Bilder¬
schriften als Darstellungen des atl-tlachinolli zu betrachten haben
wurde von Seler durch sorgfältige Studien festgestellt und die Bilder,
die ich im folgenden kurz beschreibe, sind sämtlich seiner Arbeit über
diese Kriegshieroglyphe entnommen. 1
Die Formen des atl-tlachinolli sind in den einzelnen Bilderschriften
recht verschieden. Der für das eigent¬
liche Hochtal von Mexiko bezeich¬
nendste Typus besteht aus einem Was¬
serstrom und einem Feuerstreifen, die
sich in der Regel miteinander ver¬
schlingen, aber auch nebeneinander
und in ganz seltenen Fällen getrennt
voneinander Vorkommen. Der Feuer¬
streifen (tlachinolli) wird meistens in
dunkle und helle Felder geteilt, deren
Fläche mit schwarzen Häkchen und
Pünktchen erfüllt ist (in der näm¬
lichen Weise wird in den Bilder¬
schriften die Ackererde gezeichnet),
am Ende des Feuerstreifens sind Feuer¬
zungen, die auf den sorgfältiger ge¬
zeichneten Bildern die Form eines
Schmetterlings annehmen. Den Wasserstreifen (atl) finden wir oft
mit Pfeilen kombiniert. Die Farbe des atl ist blau, die des tlachinolli
braun oder gelb. Diesen Typus zeigen die Bilder 1—3.
In den Bilderschriften der sogenannten „ Codex-Borgia-Gruppe“
treffen wir sehr interessante Varianten des Zeichens atl-tlachinolli.
Als neues Element tritt zunächst die aus kleinen gelben Schnörkeln
bestehende Hieroglyphe des Exkrements (cuitlatl) auf. Solche Ex¬
krementfiguren finden wir fast immer am Rand des Wasserstromes
( Abb. 4 a). Auf Blatt 69 des Cod. Borgia ist die Exkrement-
j) Seler, Ges. Abh. Bd. HI. Die Pauke von Malinalco mid~d 7 * Zeichen atl-tlechinolU.
tlachinolli
Bilderschrift von' Huamantla
(Humboldt-Handschriften)
404
A. BÄLINT
Hieroglyphe in etwas größerer Form und mit Feuerzungen versehen
auch neben dem tlachinolli angegeben.
Die Ackererde-Zeichnung, die auf den Bildern der ersten Gruppe
in der Regel das tlachinolli charakterisierte, fehlt hier. Der tlachinolli-
Streifen besteht entweder aus Feuer und Rauchwolken, oder er wird
einfach wie ein gelber Strom (ganz ähnlich dem Wasserstrom) gezeich¬
net (Abb. 4 a). Auf manchen dieser Bilder schwimmt außer den Pfeilen
auch ein Skorpion im Wasser.
Endlich treffen wir in diesen Bilderschriften das Zeichen atl-tlachi-
nolli dargestellt durch einen Wasserstrom und ein brennendes Haus,
■ * ! ■ ' ■
1 Abb. 4a
tlachinolli
atl
teoatl-tlachinoUi von der tzitzimitl (Stern-
Göttin) des Nordens heruntergebracht
Cod. Borgia 50
Abb. 4 b
Brennendes Exkrement als Symbol des
Feuergottes.
Cod. Bologna i— 8
in dem eine kleine menschliche Gestalt kauert* (Cod. Borgia 15 und
Cod. Vat. 3773,323 beide Bilder neben dem Feuergott als Regent des
9. Tageszeichens all- Wasser). Neben dem Haus ist ein Wasserstrom,
in dem Flammenzungen (Abb. 5) oder Rauchwolken, Schnecken¬
gehäuse und andere nicht näher definierbare Gebilde (Cod. Vat* 5775)
1) Seler führt in diesem Zusammenhang aus, daß in den Bilderschriften das Exkre-
ment außer der ursprünglichen Bedeutung von Unrat und Sünde auch Feuer bezeichnen
kann. Er gründet diese Ansicht auf ein reiches bildliches Material (brennendes Exkrement
als Symbol des Feuergottes im Cod. Bologna, Exkrementzeichen an Schwanz- und Scheren¬
ende dqs Skorpions, der ein Feuertier istj große Ähnlichkeit zwischen Feuerzungen und
Exkrementhieroglyphe usw.), und als Ergebnis seiner Untersuchung stellt er fest, daß „das
Exkrement^ insbesondere das brennende geradezu und nichts als Feuer“ bedeute (Seler
Ges. Abh. Bd. III. 261—74h
DIE MEXIKANISCHE^ KRIEGSHIEROGL YPHE ATL-TLACHINOLLI 405
schwimmen. Im Cod. Borgia 47 ist bei der Tla^olteotl (Erdgöttin) des
Ostens das atl-tlachinolli dargestellt, bestehend aus einem brennenden
Haus, in dem ein Menschlein kauert, und einem Wasserbecken, in
dem eine nackte weibliche Gestalt steht.
Abb. 5
Skorpion tlachinolli atl
II
1. Die Götter, bei denen wir in der Regel das atl-tlachinolli-Zeichen antreffen,
sind der Feuergott Xiuhtecutli „der Türkisherr“ oder „blaue Herr“, auch Ixco-
cauqui , „der Gelbgesichtige“ oder Cuecaltzin „die Flamme“ genannt; die Feuer¬
göttin Xantico; Tlauizcalpantecutli „der Herr im Hause des Hellwerdens“, der
Gott des Morgensterns, und Tonatiuh, der Sonnengott.
Alle diese Gestalten stehn in mehr oder weniger direkter Beziehung zum
Kriege. Der Feuergott wird von dem Interpreten des Cod. Vat. A. „ avvocato della
guerra“ genannt, seine Verbindung mit dem Kriege ergibt sich in der Haupt¬
sache daraus, daß er der „alte Gott“ ueueteotl, der „erste Mensch“, der „erste
Gestorbene“ ist. Er repräsentiert die toten Ahnen, und die Mumienbündel der
gefallenen Krieger werden mit Emblemen des Feuergottes ausgestattet. Sein Tier
ist der rote Hund (eine Verkörperung des Blitzes. Sei er, Ges. Abh. Bd. III 167,
V 181—83), der die Toten in die Unterwelt hinabführt. In der mexikanischen
Götterwelt gehört der Feuergott zu den unpersönlichen Gestalten. Es werden
von ihm keine Geschichten erzählt, die von seinen Taten und Schicksalen be¬
richten, er spielte aber eine große Rolle im täglichen Kultus und wurde in jedem
406 ~A. BÄLIN1
Hause in Gestalt des Herdfeuers verehrt. Von ihm, der „die Mutter, der Vater
(d. h. der König) der Götter“ genannt wurde, der „im Nabel der Erde wohnt“
(Sahagun B. VI. cap. 17), erbaten die Mexikaner sich Reichtum und Wohlergehn,
er ist auch einer der Götter, die mit der mexikanischen Königskrone dargestellt
werden, und ist allem Anschein nach dem Tonacatecutli, dem „Herrn unsres
Fleisches“, dem Gott der Lebensmittel und der Zeugung, gleichzustellen. In
einer ganz besonderen Weise steht aber der Feuergott mit dem atl-tlachinolli-
Zeichen selbst in Beziehung. In der Gestalt des Feuergottes finden wir nämlich
dieselbe Verbindung von Feuer und Wasser, die das Wesen unserer Kriegshiero¬
glyphe ausmacht. Seler weist wiederholt auf die interessante Tatsache hin, daß
der Regent des neunten Tageszeichens atl „Wasser“ der Feuergott ist, während
der Herr des siebenten Tageszeichens rnagatl „Hirsch“, der die Hitze, die Dürre
und insbesondere die Feuergöttinnen repräsentiert, der Regen- und Gewittergott
Tlaloc ist. Tlaloc und der Feuergott vertreten einander auch in den Legenden
von den vier prähistorischen Zeitaltern, denn als Herr der „Regensonne“, unter
dessen Herrschaft die Welt durch Feuerregen zugrunde geht, wird bald der Regen¬
gott, bald der Feuergott genannt. Die Beziehung des Feuergottes zum Wasser
kommt auch in der oben zitierten Stelle des Sahagun-Werkes zum Ausdruck,
da heißt es nämlich weiter von dem Feuergott, daß er „in die blaue Steinpyra¬
mide eingeht, mit türkis vogel farbenem Wasser das Gesicht umschlossen hat“,
und an entsprechender Stelle der spanischen Ausgabe: „el padre de todos los
dioses , que reside en el albergue de la agua, y entre las flores que son las paredes
almenadas entre unas nubes de agua. . Die „paredes almenadas “, die mit
Zinnen besetzten Mauern, sind die Mauern des Herdes, der durch die Zinnen,
die den Mexikanern Wolken bedeuteten, zu einem Nebel- oder Wolkenhaus ge¬
macht wurde. Aus einer mit Zinnen besetzten Scheibe sehn wir im Cod. Borg.
(ö7> 58) und im Cod. Nuttall (15, 17, 18, 19) den Xiuhcouatl, die „blaue Feuer¬
schlange“, das Tier und die Verkleidung des Feuergottes, hervorkommen. (Im
Cod. Borg, werden diese Bilder insbesondere mit dem hundsköpfigen Blitzgott
Xolotl in Zusammenhang gebracht.) Aus einer mit Zinnen besetzten Scheibe
kommt auf einem Blatt des Cod. Nutt. das eben geborene Kind heraus. Seler
weist nach (Cod. Borg. p. 58), daß diese Scheiben Abbildungen des Feuerherdes sind.
Aus all dem können wir folgern, daß der feuchte Ort, der „Nabel
der Erde“, in dem der Feuergott wohnt, die Vagina bedeutet, in die er
als Penis (Feuerschlange, Blitz) hineinfährt, oder aus der er als das
Kind, das neuentzündete Feuer, hervorkommt. 1
1) Im Cod. Nutt. findet sich ein Bild, auf dem der Sonnengott mit einer Feuerschlange
eine in einem großen Wassergefaß sitzende Göttin befruchtet. (Es ist dieselbe Göttin, deren
DIE MEXIKANISCHE KRIE GSHIERO GL YPHE A TL- TLACHINOLLI 407
2. Die Feuergöttin Xantico ist zum Teil die weibliche Parallele des Feuer¬
gottes, und wurde hauptsächlich in Xochimilco verehrt. Ihr Name Xantico be¬
deutet „im Hause“ und ihr Tempel hieß Tlillan „der schwarze oder dunkle Ort“,
er hatte keine Fenster und eine so kleine Türöffnung, daß der Priester auf allen
Vieren hineinkriechen mußte. In diesem Tempel steht das Idol der Feuergöttin,
welches von Du ran als ein Ungeheuer mit offenem Maul und fletschenden Raub¬
tierzähnen beschrieben wird. Ringsherum an den Wänden lehnen die Abbilder
der kleinen Berg- und Regengötter (Duran, Hist. d. 1 . Ind. cap. XCI. p. 17).
Wir treffen hier also wieder die Verbindung von Feuer und Wasser. Diese Göttin
ist in erster Reihe die Verkörperung des fressenden Feuers, sie ist außerdem aber
auch die Göttin des Capiscumpfeffers; dies ist ein rotes brennend-scharfes Ge¬
würz, welches von den Mexikanern mit großer Vorliebe gebraucht wird. Das
Fasten bestand in der Hauptsache darin, daß die Speisen ohne Capiscumpfeffer
zubereitet werden mußten. Nach einer Legende die uns im Cod. Tel. Rem. er¬
halten ist, wird erzählt, daß Xantico die erste Fastenbrecherin gewesen sei, da
sie vor dem Opfer (d. h. in der Fastenzeit) einen Fisch aß. (In der Hist. d. 1 .
Reynos d. Colh. y de Mex. wird dasselbe von dem ersten Menschenpaar erzählt.)
Ich verweise hier auf Jones’ Ausführungen * 1 über die Bedeutung des
Salzes und möchte die von ihm gefundene Deutung Salz = Sperma
auf das mexikanische Lieblingsgewürz ausdehnen. Dadurch gewinnt das
Verbot, während der Fasten (die außerdem immer mit der Enthaltung
vom Geschlechtsverkehr verbunden sind) den Pfeifer zu gebrauchen,
eine symbolische Bedeutung, die der des Fischessens analog ist.
Um aber auf die uns interessierende Wasser-Feuer-Beziehung zu¬
rückzukommen, will ich noch darauf hinweisen, daß das Salz sowohl
wie der Pfeffer ein Gefühl des Brennens verursachen. Die Bedeutung
des „brennenden Reizes“ ist uns aus der Analyse von Harnreizträu¬
men bekannt. 2 Dem Urindrang liegt aber in der Regel der Wunsch
Kind auf demselben Blatt aus der mit Zinnen besetzten Scheibe hervorkommt.) Vgl. dazu
auch die christliche Wasserweihe, H, Usener Kl. Sehr. Bd. IV. p. 435: der Geistliche
bekreuzt das Wasser, nimmt jetzt eine brennende Wachskerze und singt, während er sie
ein wenig ins Wasser senkt . . . Descendat in hanc plenitudinem fontis virtus Spiritus tui et totam
huius substantiam regenerandi fecundet ejfectu ... er wiederholt dies dreimal, die Kerze immer
tiefer tauchend; zum drittenmal stößt er sie bis auf den Grund. (Den Hinweis auf diese
Parallele verdanke ich Herrn Dr. G. Röheim.)
1) S. Jones, Die Bed. d. Jahres in Sitte u. Brauch (Imago, Bd. 1,4).
2) S. Rank, Die Symbolschichtung im Wecktraum und ihre Wiederkehr im mythi¬
schen Denken. Jahrbuch Bd. IV, 1912.
4’o8_ A. BAL INT
nach der geschlechtlichen Vereinigung (d. h. Entleerung) zugrunde.
(Urinieren ist eine unreife Form der Pollution [Rank]). Das Verbot,
den Capiscumpfeffer in der Fastenzeit zu gebrauchen, hat also wahr¬
scheinlich den Zweck, eine Reizung der sexuellen Libido zu vermeiden.
Auf die Beziehung dieser Göttin zum Kriege werde ich an anderer
Stelle noch zu sprechen kommen.
3. Der Gott des Morgensterns und der Sonnengott spielen eine wichtige Rolle
in den Mythen, die von der Entstehung des Krieges, oder den Kämpfen zwischen
den Göttern erzählen. Der Morgenstern ist in der Regel Widerpart der Sonne
und wir können in ihm deutlich den gegen den Vater sich erhebenden Sohn er¬
kennen. (S. Sonnenensage der Hist. d. 1. Reyn. d. Golh. y d. Mex. und Mendieta,
Lib. sec. cap. II.)
Es ist interessant, daß der Gott des Morgensterns in der Gestalt Quetzalcouatls
den fügsamen Sohn darstellt, der als erster den Kultus des Urgötterpaares ein¬
führt, als erster zu ihnen betet und opfert und den Menschen die Kasteiungen
und Blutentziehungen lehrt. Daß trotzdem eine Schuld auf ihm lastet, ersehen
wir daraus, daß er, der als der gütige und gerechte Herrscher von Tollan ge¬
priesen wird, am Ende seiner Herrschaft von allerlei Unheil heimgesucht, und
von dem Dämon Tezcatlipoca aus dem Toltekenlande vertrieben und gezwungen
wird, sich selbst zu verbrennen.
In der Sage von den vier prähistorischen Sonnen, wie sie in der Hist. d. 1.
Mexicanos p. s. pint. erzählt wird, zeigt sich, welcher Art diese Schuld ist. Tez-
catlipoca war zuerst Sonne, wurde aber von Quetzalcouatl in das Wasser gestürzt,
und verwandelte sich da in einen Jaguar. Aber am Ende ist er es wieder, der den
Quetzalcouatl, der nach ihm Sonne wurde, seiner Herrschaft beraubt. Somit er¬
scheint die Toltekensage als der zweite Teil »der vollständigeren Sage von den
prähistorischen Sonnen. 1 Daß es sich auch in der Toltekensage um einen Mord
handelt, können wir auch daraus vermuten, daß ein unheilvolles Vorzeichen,
das von Tezcatlipoca geschickt wird, das Erscheinen eines stinkenden Leichnams
ist, der so schwer ist, daß er nicht fortgeschafft werden kann, und eine große An¬
zahl Menschen bei dem Versuche zugrunde gehn. 2
Eine interessante Umwandlung erfährt dje Gestalt des Morgensterns in einer
Sage, die in der Hist, d. 1. R. d. Colh. y Mex. enthalten ist: da erscheint der Morgen-
1) Der Vergleich wird noch unterstützt durch die. Angabe, daß Tezcatlipoca als Zauberer
in Tollan erschien, denn der Jaguar, in den er sich in der zweiten Sage verwandelt, ist die
Gestalt, die die Zauberer nach dem mexikanischen Volksglauben annehmen,
2) Sa ha gun, Hist, general: Cod. Vat. A.
DIE MEXIK ANISCHE KRIEGSHIEROGL VPHE ATL-T LA CHIN OLLI 409
stern unter dem Namen CeAcatl (— 1. Rohr) als Feldherr und Rächer des Vaters,
ähnlich dem Erzengel Michael der christlichen Legende.
Ich will nicht weiter auf die ziemlich große Anzahl von Mythen
eingehn, die alle den Kampf zwischen Vater und Sohn auf die ver¬
schiedenste Art verarbeiten. Bevor ich aber mit der Analyse des Zei¬
chens atl-tlachinolli beginne, will ich noch eine Sage erwähnen, die
insofern vollständiger ist, als sie auch den Grund des Kampfes angibt.
Im Cod. Tel. Rem. Fol. i8 V0 findet sich bei dem Bilde der Göttin Itzpapalotl
und der Urheimat Tamoanchan folgende Aufzeichnung: este lugar que se dize
tamoancha y xuchitlycacan es el lugar donde fueron criados estos dioses que ellos
t.enian que casi es tanto como dezir el parayso terrenaly asi dizen que estando estos
dioses en aquel lugar se desmandavan en cortar rosas y ramos de los arvolesy que
por esto se enojo rrmcho el tonacatecutli y la muger tonacaciuatl y que los echo de
aquel lugar. . . Das ist: „dieser Ort, der Tamoanchan (Haus des Herabkommens)
und Xuchitlycacan (wo die Blumen stehen) genannt wird, ist der Ort, wo diese
Götter, die sie hatten, erschaffen wurden, das ist soviel wie das irdische Paradies,
und so, sagen sie, versündigten sich diese Götter, daß sie, als sie sich da aufhielten,
Rosen und Zweige von den Bäumen brachen und daß deshalb Tonacatecutli und
die Frau Tonacaciuatl sich sehr erzürnten und sie von diesem Ort vertrieben.. .“
Blumenbrechen hat sowohl für die Mexikaner wie für die ihnen
verwandten Cora-Indianer die Bedeutung „Geschlechtsverkehr mit
einer Frau haben“. 1
Die Erzählung wird demnach von Dr. J. Löwenthal, der sich ein¬
gehend mit dieser Sage befaßt, folgendermaßen gedeutet: „In der Ur¬
heimat drangen die Söhne des Urelternpaares . . . den Eltern in das
Gehege, und hatten Geschlechtsverkehr mit Frauen, deshalb wurden
sie von den Eltern aus der Urheimat gejagt“. Daß dieser Geschlechts¬
verkehr ein inzestuöser war, wird von demselben Autor in überzeugen¬
der Weise dargelegt. 2
Fol. 5 V0 desselben Codex, finden wir die Bemerkung, daß von jenem
Krieg im Himmel, auch der Krieg auf der Erde herkäme. In diesen
Überlieferungen wird also der Ursprung des Krieges auf den Kampf
der Söhne um den Koitus zurückgeführt.
0 Preuß, Cora p. LXIII; p. 165, Anm. 5
2) 3 . LoewenthaL Zur Mytbol. d. jungen Helden. Ztscluvf. Etbnol. 1918.
^ bälint~ ~ ~ ~
m
Wenden wir uns nunmehr der Analyse der in Frage stehenden
Kriegshieroglyphe zu, und versuchen wir die Vorstellungen zu erraten,
die zu seiner speziellen Ausgestaltung vermutlich beigetragen haben.
Versuchen wir zunächst aus den Bildern selbst einen Sinn heraus¬
zuschälen. Wenn wir von der Variante mit dem brennenden Haus
absehen, bleibt als Hauptcharakteristikum unserer Hieroglyphe, daß
sie aus einem blauen und braunen, oder gelben Streifen besteht.
Dieselbe Zustammenstellung finden wir auf den Bildern der Codices,
auf denen eine Harn und Exkremente lassende Gestalt gezeichnet ist.
Diese Bilder bedeuten nach den Kommentaren Selers je nach dem
Zusammenhang, in dem sie auftreten, Krankheit und Tod, oder ge¬
schlechtliche Ausschweifung. Auffallend ist, daß der Urin in den
Bilderschriften ausnahmslos blau, und auch sonst genau so wie das
Wasser gezeichnet wird. Wir könnten sogar, zumal wenn wir noch
die innige Verwandschaft, die in den Bilderschriften zwischen Feuer
und Kot besteht, hinzu nehmen, auch in diesen Bildern Darstellungen
des atl~tlachinolli vermuten.
Die Bilder die den Regengott Tlaloc darstellen, der Regen und
Blitz auf die Erde herabkommen läßt, führen uns noch weiter in
dieser Richtung. Der Regen als Harn irgendeiner Person ist eine so
weitverbreitete Vorstellung und ist auch für Mexiko so leicht zu er¬
weisen, daß ich darauf nicht näher einzugehen brauche. 1 Ungewöhn¬
licher ist es aber, daß der Blitz sehr häufig als Kotstange gezeichnet
wird. „Im Codex Vat. 5775 (Blatt 23, 36, 44—46) finden sich sechs
TlaZocgestalten, um die herum von den Wolken bis zur Erde und auch
in horizontaler Richtung lange Streifen verlaufen, die in bezug auf
Form und Farbe, d. h. also in jeder Beziehung genau so aussehen, wie
die langen Cwz’?ZarZ-(Exkrement-)streifen, die aus dem After der Sün-
1) So z. B. Cod. Borg. 28, wo der Regen aus den erhobenen Händen und aus dem Penis
des Regengottes herabfließt; der aus dem Penis kommende Strom geht in den Mund einer
über einem Erddrachen sitzenden Göttin. — Der Regen, als das befruchtende Element,
bedeutet hier natürlich auch das Sperma.
DIE MEXIKANISCHE KR IE GSHIERO GL YPHE ATL-TLACIilNOLLI 41 /
der ausgehen. Manchmal kommen sie aus dem Munde Tlaloc’s, ein¬
mal aus dem Rachen der Schlange, die Tlaloc in der Hand hält, und
einmal (Cod. Vat. 3775- 36) umfaßt Tlaloc selbst einen kurzen Streifen.
Das nächstliegende ist, diese Streifen für den Blitz zu erklären . .
Als Blitze sind diese Cuitlatlstreiien auch von Seler erklärt worden.“ 1
Im Cod. Borg. Bl. 28 sind in dem Regenstrom der von den Händen
des Regengottes herabströmt, brennende cuitlatl gezeichnet. In diesem
Fall können Wasser (Regen) und Feuer (Blitz) mit Leichtigkeit als
Urin und Kot gedeutet werden.
Von hier aus ist es nun kein großer Schritt, den ganzen tlachinolli-
streifen als Kot und den Wasserstrom als Urinstrahl zu betrachten,
und wir werden darin durch eine Reihe von Details noch bestärkt :
es wird, wie ich schon bemerkt habe, kein Unterschied in der Zeich¬
nung von Wasser und Urin gemacht; das Wort atl selbst ist unter
anderem auch eine Bezeichnung für Urin. Auf dem ersten Bild sehen
wir, daß der tlachin o/Z/streifen die genaue Fortsetzung des hinteren
Zipfels der Schambinde des Morgensterngottes bildet, und wir können
annehmen, daß das atl nur aus Raummangel so hoch hinaufgeraten
ist, und eigentlich bei dem vorderen Schambindenende seinen Platz
hätte. Wenn wir uns die Zeichnung mit dieser kleinen Korrektur
vorstellen, so ergibt sich zw anglos das Bild einer Harn und Exkremente
lassenden Gestalt, wobei der Harn durch das atl , der Kot durch das
tlachinolli dargestellt wird. 2 Das atl-tlachinolli als Kopfschmuck ist
demnach als eine „Verschiebung von Unten nach Oben“ zu betrach¬
ten. Die Ackererdezeichnung auf dem llachinollistreiien und die den
Wasserstrom verzierenden Exkrementfiguren, unterstützen ebenfalls
diese Auffassung,
Damit sind wir aber bei unserem Problem erst angelangt. Wie ist
dieses urethroanale Symbol zum Kriegssymbol geworden? Dienächst-
1) Preuß, Feuergötter, p. 219—20, Mitteil. d. anthr. Ges., Wien 1905, Bd. 33.
2) Für diejenigen, die mit dem Stil der mexikanischen Bilderschriften vertraut sind,
wird diese Beweisführung noch dadurch unterstützt, daß wir nach der vorgeschlagenen
Korrektur die für unsere Hieroglyphe charakteristische Verschlingung der beiden Elemente
des Zeichens erhalten.
1*2 a. UEmT
liegende Antwort ist, daß die Exkremente eben die primitivsten Waffen
sind, dies wird uns sowohl durch die Kinderpsychologie wie durch
Erzählungen und Gebräuche der primitiven Völker bestätigt. 1
Ein interessanter Hinweis auf diesen Sachverhalt findet sich bei
dem Wort. atl. Atl wird in dem aztekisch-spanischen Vokabular des
P. Molina mit Wasser, Urin, Krieg, Scheitel übersetzt. Von der Be¬
deutung des Wortes atl im Ausdruck ail-tlachinolli sagt Seler folgen¬
des: „beiläufig bemerke ich, daß atl in dieser Phase natürlich nichi
Wasser bedeuten kann. Nach Molina heißt atl = Wasser, Krieg,
Scheitel (die Urinbedeutung wird von Seler außer acht gelassen) und
für das abgeleitete Zeitwort atiha gibt dasselbe Wörterbuch die zwei
Bedeutungen: ,schmelzen, flüssigmachen* und ,den Bogen spannen*. 2
Mir scheint demnach als Grundbedeutung von atl, ,losgehen*,,hervor¬
brechen*, bzw.,herausgeschleudert werden*, — angenommen werden
zu müssen. Daraus werden sich die drei oben angegebenen Bedeu¬
tungen erklären lassen**. 3 Ich glaube, man könnte die Urethralerotik
kaum besser charakterisieren.
In den Bilderschriften begleitet manchmal je ein Wasserstrom zwei
gegeneinander vorrückende Heere. 4 DieserWasserstrom bedeutet wahr¬
scheinlich nicht sowohl den Krieg selbst, sondern einen der Haupt¬
impulse, die im Kampf eine Rolle spielen, eben das „Drauflosgehen**,
das Heranstürmen der Krieger. Dies entspricht auch der analytischen
Auffassung nach der ein Hauptmerkmal der Urethralerotik gerade
das „Losgehen** ist.
Beachten wir nun auch den Umstand, daß die zwei Elemente unserer
Kriegshieroglyphe eine Einheit bilden, so erhebt sich die Frage, ob
1) In einer sehr hübschen Geschichte, die mein verehrter Lehrer Prof. Preuß bei den
heutigen Mexicano aufgezeichnet hat, wird erzählt, daß ein Kind, welches von seiner Mutter
bestraft wurde, wegläuft, dann als Gewitterwolke zurückkehrt und mit heftigem Regen
und Blitz seine ganze Familie vernichtet. (Dasselbe bei den Cora, Preuß, uned.l
2) Dr. Abraham machte mich darauf aufmerksam, daß „den Bogen spannen“ eine
Bezeichnung für „urinieren“ ist.
5) Seler ges. Abh. Bd. 2, p. 668 (Anmerkung).
4) Cod. Femandez Leal fol. 6 h. God. Porfirio Diaz i/h. (ln dem Wasserstrom schwim¬
men Speerc.)
DIE MEXIKANISCH'E KR 1 EGSHIEROGL YPHE ATL-TL ACHINOLLI 413
dieser innigen Vereinigung von Urin und Kot nicht noch ein weiterer
Sinn zugrunde liegt. Die Genitaltheorie, die Dr. S. Ferenczi am Ber¬
liner Int. Psychoan. Kongreß (Sept. 1922) vorgetragen hat, ermöglicht
es uns noch einen Schritt weiter zu tun. Diese Theorie besagt unter
anderem, daß die Vorgänge bei dem Geschlechtsakt aus dem Inein¬
andergreifen urethraler und analer Triebregungen erklärt werden
können. Durch die „ Amphimixis“ der beiden Partialtriebe ist der eigen¬
artige Ablauf des Begattungsaktes bedingt. Die Ejakulation ist der Sieg
des Urethralen gegenüber dem Analen.
Daß das Kriegführen (wie wohl jede menschliche Tätigkeit) für
das Unbewußte Koitusäquivalent ist, wird uns auch durch mexikani¬
sche Kriegsgebräuche und Kriegsdarstellungen nahegelegt. Die mexi¬
kanischen Könige zogen in der Tracht des Erd- und Fruchtbarkeits¬
gottes Xipe-Totec in den Krieg und trugen in der Hand das Rassel¬
brett xicauaztlL (= womit etwas kräftig [d. h. fruchtbar] gemacht wird). 1 2
Nach einigen Mythen wird der Krieg geradezu der Bestellung des
Ackers gleichgesetzt. 4 Scheinkämpfe, die eigentlich den Geschlechtsakt
symbolisieren, spielen eine große Rolle an den Festen der Erdgöttin. 3
In den bildlichen Darstellungen wird der Feind in der Regel durch
die Hieroglyphe der feindlichen Stadt dargestellt. Diese Städtehiero¬
glyphen bestehen aus einem Berg, über dem der Name der Stadt an¬
gegeben ist. Der Berg selbst hat einen großen Rachen und wo er
von dem Speer des Kriegers getroffen wird, fließt in zahlreichen
Bildern Wasser und Blut aus der Wunde, oder auch nur Wasser aus
dem Bergrachen heraus. Stadt und Berg sind allbekannte weibliche
Symbole 4 und der Krieg gegen die Stadt, ist ein sadistisch aufgefaßter
Koitus. In einem Liede an den Kriegsgott Uitzilopochtli wird das teoatl-
tlachinolli d. h. der Krieg, dem Feuerreibzeug gleichgesetzt. 5 Das Feuer-
1) Seler ges. Abh. Bd. 2, p. 294—96.
2) Th^vet; Hist du mechique. Chap. VII, p. 30—31.
3) Seler: Cod. Borg. Bd. I., p. 165.
4) & Rank: „Um Städte werben“ in Psychoanal. Beitr. zur Mythenforschung und
Jung: Wandlungen und Symbole der Libido, Jahrbuch f. Psychoanalyse, 1912.
5) Sahagun, cap. 1. Seler. Aubin Tonalamatl p. 77.
414 A. BÄLINT
reibzeug ist bekanntlich eines der allgemeinsten Symbole der ge¬
schlechtlichen Vereinigung. — Den urethroanalen Elementen in un¬
serer Kriegshieroglyphe käme demnach eine doppelte Bedeutung zu,
sie weisen einerseits auf diejenigen Partialtriebe hin, mit denen der
Sadismus in erster Reihe vergesellschaftet ist, und veranschaulichen
andererseits die genitale Libido im Sinne der Amphimixis-Theorie.
Endlich ist es als eine interessante Analogie zu verzeichnen, daß wir
die beiden Faktoren, aus deren Kampf nach Ferenczi die Genitali-
tät entstanden ist, als Elemente eines Kriegssymbols antreffen.
IV
** Die so erhaltene Deutung des Symbols ist nun sicher nicht voll¬
ständig, eine ganze Reihe von Einzelheiten, die Mannigfaltigkeit in
der Darstellungslorm, seine Rolle in der Religion und Mythologie sind
noch unerklärt. Um den ganzen Sinn unseres Symbols herausschälen
zu können, müssen wir es im Rahmen der religiösen und mythischen
Anschauungen der Mexikaner über Krieg und Kriegertod betrachten.
Es ist bekannt, daß für den primitiven Menschen das Töten des
Heindes, sogar der wilden Tiere, mit starkem Schuldgefühl und ent¬
sprechenden Sühnezeremonien verbunden ist; bei den Mexikanern
linden wir einen, allerdings nicht sehr geglückten, Modus die so ent¬
standene Angst zu binden. Im alten Mexiko wurde das Kriegführen
zur wichtigsten religiösen Tat erhoben. In den Mythen wird erzählt,
daß die Menschen noch vor der Geburt der Sonne eigens dazu er¬
schaffen wurden, um Krieg zu führen, und die Sonne mit ihrem Blut
und ihrem Herzen zu ernähren. 1 Der Krieger ist also Speise des
Gottes, Kriegertod ist Opfertod und umgekehrt wurde der Tod auf
dem Opferstein dem Tod auf dem Schlachtfelde gleichgestellt. Am
zweiten Jahresfest, das mit diesen Vorstellungen in der engsten Ver¬
bindung steht, kämpfte man mit dem zu opfernden Kriegsgefangenen,
bevor er getötet und nachher gegessen wurde. 2
1) Historia de los Mexicanos por sus pinturas Gap. VI, Gap. VIII.
2) Seler: Die 18 Jahresfeste d. Mexik. Veröffentl. d* k. Mus. f. Völkerk. Bd. VL
DIE MEXIKANISCHE KRIEGSHIEROGL YPHE ATL-TLACHINOLU 415
Wir sehn in diesen Vorstellungen das Moment des Essens sehr
stark hervortreten, der Tod im Kriege ist ein Gegessenwerden durch
die Sonne, der Opfertod desgleichen, und am zweiten Jahresfest wur¬
den die geopferten Krieger auch wirklich gegessen.
Dieselben Mythen enthalten aber noch eine seltsame Angabe, es
wird nämlich erzählt, daß „ Xochiquetzal , erste Frau des Sohnes des
ersten Menschen, im Kriege starb und sie war die erste, die im Kriege
gestorben ist und die Tapferste unter allen die da starben.“ 1
Als das erste Opfer des Kriegs wird auch die Göttin Ciuacoatl Qui-
laztli genannt, von der weiterhin noch die Rede sein wird.
Diese mit großer Regelmäßigkeit in allen Überlieferungen wieder¬
kehrende Vorstellung wird von Sei er mit der den Mexikanern eigen¬
tümlichen Auffassung der Weiblichkeit in Beziehung gebracht. Die
Frau, insbesondere die Gebärende, war für die Mexikaner die Krie¬
gerin, und in den Bilderschriften werden die Muttergottheiten fast
immer mit dem Schmuck und der Rüstung der Krieger dargestellt.
„ ... das Gebären eines Kindes durch eine Frau wurde dem Erbeuten
eines Gefangenen durch den Krieger verglichen. Wenn die Geburt
glücklich zustande gekommen ist, so stößt die Hebamme einen Kriegs-
ruf aus — ,und damit will die Hebamme sagen, daß die Patientin in
tapferer Weise den Sieg davongetragen hat, und daß sie ein Kind ge¬
fangen hat 4 (Sahagun; Cap. 56) — und wenn eine Frau bei der
Geburt starb, so nannte man sie mociuaquetzqui , . . . d. h. ,Krieger
in der Gestalt einer Frau 4 , oder ,muger valerosat , wie das von den
spanischen Schriftstellern immer übersetzt wird. . .. die Frau, die im
Kindbett gestorben ist, ist der Krieger, der in die Hände der Feinde
gefallen und auf dem Opferstein geschlachtet worden ist.“ (Seler,
Cod.Vat. 5773, p. 251.) In den Leichenreden wird sie daher folgen¬
dermaßen angeredet: „Du dunkle Schmuckfeder, mein jüngstes Kind,
du Kriegerin, du Feine ... du hast gearbeitet, du hast dich gemüht,
ein mühseliges Los ist auf dich gefallen, du hast dich gesellt deiner
Mutter, der Fürstin, der Kriegerin, der Ciuacouatl ,, der Quüaztli, du
1) Hist. d. L Mex. Cap. VI, p. 335.
416 A • iAAAiL
hast den Schild, den Schild der Göttin ergriffen, hast an ihn deine
Kraft gesetzt, den deine Mutter, die Fürstin, in deine Hand gelegt
hat: . . . erhebe dich, steh auf, mach dich bereit, geh nach dem güten
Orte in das Haus deiner Mutter, deines Vaters, der Sonne . . . “V Und
die Verwandten der Toten freuten sich, denn die Seele der im Kind¬
bette gestorbenen Frauen wurde, wie die Seelen der toten Krieger,
zu einem göttlichen Wesen ( Ciuateotl ). Ihr Tod war ehrenvoll, denn
es hieß, die Sonne hätte sie wegen ihrer außerordentlichen Tapfer¬
keit zu sich genommen. Außer diesen freundlichen und verherrli¬
chenden Zügen werden diese zu Göttinnen gewordenen Frauen aber
auch mit unheilvollen und schreckenerregenden Eigenschaften aus¬
gestattet.
Interessant ist der Gegensatz, der zwischen ihnen und den männ¬
lichen Toten, den Seelen der gefallenen und geopferten Krieger be¬
steht. Die toten Krieger wohnten im Osten und begleiteten die Sonne
bis zum Zenith, in der Mittagszeit kamen sie als bunte Vögel und
Schmetterlinge zur Erde herab, um den Honig der Blumen zu saugen.
(Sahagun.) „Es sind unschuldige, harmlose Wesen, Abbilder der
Leben und Wärme spendenden Sonne, denen man mit Freude be¬
gegnete und die man mit Rücksicht darauf, daß sie Verkörperungen
der Seelen geliebter Toten sein könnten, mit dem Blasrohre verschonte.“
Das Reich der Frauen lag im Westen, ihnen wurde die Sonne am
Mittag übergeben und sie geleiteten sie in die Unterwelt. Und „ . . .
wenn sie die Sonne den Bewohnern des Totenlandes übergeben
hatten, so zerstreuen sie sich auch, und kommen zur Erde herunter...
erscheinen in der falschen Gestalt von Schreckgestalten und Gespen¬
stern . . (Sahagun.) „Die Ciuapipiltin waren auch die Dämonen^
die zur Unzucht, zum Ehebruch, zur Sünde verführten. Von den Tagen,
an denen sie mächtig waren, wo sie zur Erde herabkamen, gibt der
Berichterstatter an, daß sie ,suciedades y torpezas" hervorriefen.“ An
solchen Tagen ließ man die Kinder nicht aus dem Hause, denn
1) Zit. aus Sahagun, Mscr. 6, Cap. 29, bei Seler Cod, Borg., Bd.n, p. 57.
DIE MEXIKANISCHE KRIEGSHIERÖGLYPIiE A 7L~ TL A C HI /VO r T 7 -
man befürchtete, daß die unheimlichen Frauen sie mit Epilepsie
schlagen werden.’
Die eigentlich einheimische Form der Erdgöttin im Hochtale von
Mexiko (die Ciuacoatl) ist zugleich die Hauptrepräsentantin der Ciua-
pipiltin der „Seelen der im Kindbett gestorbenen Frauen“. Ciua¬
coatl bedeutet „Schlangenfrau“ und Mendieta erzählt von ihr, daß
sie bald die Gestalt einer Schlange annähme, bald als eine schöne
f*rau auf dem Markte erscheint, um die Jünglinge zu verführen und
sie nachher zu töten.
Sie wird auch Adlerfrau (Quauhciuatl) oder Kriegerin (YaociuatD
genannt, die Krieger erflehen von ihr den Sieg, und wenn man ihre
Stimme in der Nacht aus den Lüften vernahm, so bedeutete das Krieg.
Diese Göttin brauchte jeden achten Tag einen Kriegsgefangenen, um
ihren Hunger zu stillen, blieb dies für eine längere Zeit aus, so kamen
ihre Priester zum König und ermahnten ihn, dafür Sorge zu tragen,
daß durch einen Krieg die nötigen Opfer herbeigeschafft werden. —
(Duran, Cap. XCI, p. 176.) Ihren Hunger tut die Göttin dadurch
kund, daß sie eine Kindertrage mit einem Steinmesser auf dem Markte
läßt; ihr Hunger bedeutet also den Wunsch nach dem Penis, d. h. dem
Koitus, und dem Kind. Das gemeinsame Symbol beider Wünsche
ist das Steinmesser.
Sie ist aber auch, wie schon erwähnt, das erste Opfer des Krieges,
ln der Hist. d. 1. Mex. por sus pinturas, erscheint sie in Hirschgestalt,
und wird von dem Kriegsgott Camaxtli besiegt, der dann mit ihr als
Rückendevise (oder in ihrer Haut?) seine weiteren Siege erficht.
Die Hirschgestalt, sowie der Name Quilaztli , bringen diese Göttin mit
den Feuergöttinnen insbesondere mit der Xantico in Beziehung.®
Als die Seele einer im Kindbett gestorbenen Frau erscheint die
Xantico im Cod. Tel. Rem., hier wird sie nämlich mit dem Kopf¬
schmuck der Krieger und dem maxtlatl , der Schambinde der Männer
ausgestattet. Die Schambinde der Männer gehört in der Regel zur Aus-
1) Seler, Cod. Borg., Bd. 11, p. 89, 90.
2) Seler, Ges. Abh., Bd. II, p. 1052.
Imago IXU
418 A . BAHN T _
stattung der Ciuateteo , auf diese Weise werden sie auf zahlreichen
Abbildungen dargestellt.
Die Erdgöttin ist aber nicht nur die erste im Kriege Gestorbene,
sondern nach der Angabe der Anales de Quauhtitlan auch die erste,
die im Kriege Gefangene gemacht hat und das Opfern der Kriegsgefan¬
genen einführte, um mit ihnen die Erde zu begatten. Es würde uns
zu weit führen, auf alle die Sagen einzugehn, die von den Kämpfen
der Erdgöttin berichtenj daß dieser Kampf das Gebären bedeutet,
wird von Sei er wiederholt hervorgehoben, es bedeutet aber auch
den Koitus (S. den Kampf Mixcoatls mit der Chimalman , Hist. d. 1 .
Reyn. d. Colh. y Mex.). Und das Erbeuten des Gefangenen mag wohl
ursprünglich die Empfängnis, das Einschließen des Kindes in den
Mutterleib bedeuten.
Der Gleichstellung der gebärenden Frau mit dem Krieger entspricht
umgekehrt die Gleichsetzung des Kriegers, der einen Gefangenen
gemacht hat, mit der Frau, die ein Kind zur Welt brachte. Der Ge¬
fangene wurde als der Sohn des Fängers betrachtet, und nachdem
man ihn geopfert hat, wie ein Kind von der ganzen Familie betrauert. 1
Die tlamamme, die „Fänger“, trugen bei der einmaligen öffent¬
lichen Zeremonie, wo sie vor allen als Krieger, die allein und ohne
Mithilfe anderer einen Gefangenen gemacht haben, anerkannt wur¬
den, die Bemalung der Göttin Ciuacoatl Quilazüi . 2
V
In den Bilderschriften wird noch eine andere weibliche Gottheit
mit dem Kriegertod in Verbindung gebracht. Als Regentin der fünften
Woche wird in den Codices Chalchiutlicue — „die mit dem grünen
(Edelstein) Gewand“, die Göttin des fließenden Wassers abgebildet.
Diese Bilder zeigen die Göttin in der Regel auf einem Stuhle sitzend, unter
dem ein starker Wasserstrom hervorbricht. 3 Im Cod. Tel. Rem. ist die Chalchiutl-
1) Seler, Die 18 Jahresfeste . . . Tlacaxipeualizth.
2) Seler, Ges. Abh., Bd. I, p. 233—234.
3) Im Cod. Vat. 3773, 53 steht am Ende des Wasserstromes ein Mann mit einem Speer-
biindel — „eine Figur, die vielleicht das Schießende, die schnelle Bewegung des Wassers
veranschaulichen soll.“ Seler, Cod. Vat. 5775» P- 253.
DTE MEXIKANISCHE KRIEGSHIEROGL YPHE ATL-TLACHINOLLI 7 n>
icue stehend dargestellt und der Wasserstrom kommt unter ihrem Gewand her¬
vor. In dem Wasserstrom schwimmt ein Mann, eine Frau und eine Edelstein¬
kette (statt des letzteren wird auch ein Koffer mit Edelsteinen oder der Kopfputz
der Erdgöttin [Cod. Borbonicus] gezeichnet). Außerdem wird auf diesen Blättern
fast immer die Göttin des Unrats in irgendeiner Weise angegeben. Dank den Auf¬
zeichnungen im Cod Tel. Rem. kennen wir die genaue Bezeichnung der ein¬
zelnen Elemente dieser Bilder. Der Wasserstrom heißt atocoua „alles wird vom
Wasser fortgerissen“,' der Mann im Wasser bedeutet „Tod im Kriege“, die Frau
„Verkauf in die Sklaverei“ d. h. Armut, die Edelsteine wiederum „Armut“,
Edelsteinkette oder Edelstein ist außerdem eine im alten Mexiko übliche Be¬
zeichnung des Kindes. 1 2
Die Edelsteine haben aber auf diesen Bildern auch eine ziemlich deutliche
Beziehung zum Kot (weggeschwemmt werden durch das Wasser, Armut), in einem
Fall werden sie ja auch direkt durch die Embleme der Erdgöttin, die zugleich
Göttin des Unrats ist, ersetzt. Die Beziehung zum Kot wird vermutlich für alle
vom Wasser fortgerissenen Gestalten von Bedeutung sein, da ja alle in der
gleichen Weise behandelt werden.
Das ganze Bild mutet wie eine Geburtsdarstellung an, 3 aber die
Namen der einzelnen Elemente weisen auf Tod und Armut und auch
die Bezeichnung des Wasserstromes hat etwas durchaus feindseliges
an sich. Eine interessante Analogie zu diesen Darstellungen finden
wir in einem, von Dr. Abraham mitgeteilten, urethralerotischen
Traum: die Träumerin sitzt in einem Korbstuhl unmittelbar auf dem
Wasser eines großen Sees, in dem viele Menschen teils schwimmen,
teils in Booten fahren. Es entsteht ein Windstoß, die Leute werden
1) Sei er, Aubin Tonalamatl.
2) Seler, Cod. Borg. p. 240 von dem Kind wird gesagt „du bist gegossen, durchbohrt,
geschliffen, wie eine goldene Perle." Zit aus Olmos Gram. Ed. R. Simeon p. 212. S. auch
Seler, Cod. Vat. 5775, p. 250.
3) Das Radikal chal bedeutet Mund, Schlund „Öffnung*- . . . chalchiuitl ~ der „grüne
Edelstein" ist eigentlich „der (Stein), in dem eine Öffnung gemacht ist“, „der durchbohrte
(Stein)“ . . . Seler, Ges. Abh., Bd. 111, p. 46. Der chalchiuitl wird manchmal auch mit
einem Rachen gezeichnet. (Kreichgauer, Die Klapptore . . . Anthropos, Bd. XII, XIII,
272.) Der „durchbohrte Stein“ gemahnt uns an die Vagina, wenn also der Wasserstrom
unter dem Gewand aus chalchiuitl herausströmt, so mag damit angedeutet sein daß es
eben aus der Vagina hervorbricht Ckalchiuitl chpazco — „in der grünen Edelsteinschale“
wird auch die Höhle genannt, aus der n. d. Lienzo de Jucutacato die Geschlechter der Men¬
schen hervorkommen. fSeler — p. 44.^
37*
420 A. BA LINT ___
von den Wellen fortgerissen und alle finden ihren Tod im Wasser.
Der uns interessierende Teil der Deutung ergibt, daß das Wasser
Urin, der Wind den Flatus bedeutet. „. . . Blasen und Darmfunktiou
sind hier in den ausschließlichen Dienst des Sadismus gestellt, Urin
und Flatus treten als Werkzeuge des Sadismus auf/
Wir sehen also sowohl im Bilde wie im Traume das Wasser als ein
vom Weibe regiertes, mächtiges und todbringendes Element. Auf dem
Bild kommt die lebenspendende Bedeutung des Wassers auch zur
Geltung, und zwar im Kindsymbol, die Kot- und Todessymbolik ist
jedoch vorherrschend5 es scheint eine Verdichtung des feindseligen
Urins und des Geburtswassers zu sein.
Wie kommt nun der tote Krieger in dieses Wasser?
Die Leiche auf dem Bild wird offenbar dem Kot gleichgesetzt.
Dr. G. Rdheim zeigte in seinen Vorträgen über die Australier (in
der Berliner Psa. Vereinig., Okt. 1922), daß diese Gleichsetzung da¬
durch zustande kommt, daß ursprünglich die Toten gegessen wurden,
ln unserem Falle wird gerade die Leiche eines Kriegers mit Kot
identifiziert und das stimmt gut zu der Tatsache, daß in Mexiko das
Aufessen der Toten speziell mit der Kriegerleiche verbunden war,
denn die Gefallenen wurden als die Speise der Sonne betrachtet und
die Gefangenen und am zweiten .lahresfest geopferten Krieger wurden
gegessen."
Das Bild enthält aber auch die Gleichsetzung von Leiche und Kind.
Dies können wir uns leicht auf dem Umweg über die bekannte Glei¬
chung Kind-Kot erklären, wobei noch besonders hervorzuheben
ist, daß diese Gleichung mit der infantilen Sexualtheorie der oralen
Empfängnis in enger Beziehung steht. Leiche und Kind sind also
beide etwas Gegessenes, daher — Kot.
1) Abraham, Klinische Beiträge, p. 288—289.
2) Eine allgemeine Menschenfresserei ist nur an diesem Feste bekannt, doch wurde
diese Sitte von den Priestern in weit ausgedehnteren! Maße geübt. Duran (Hist. d. 1 .
Ind. . . . cap. XCL) gibt an, daß die Göttin Ciuacouail Quilazili alle acht Tage einen Ge¬
fangenen brauchte, um ihren Hunger zu stillen, und dieser wurde in Vertretung der Göttin
von ihren Priestern gegessen.
DIE MEXIKANISCHE KRIEGSHJEROGL YPHE ATL-TLACHINOLLI 421
Eine andere Determinierung der Gleichsetzung von Leiche und
Kind ergibt sich aus der primitiven, bei Kindern so oft beobachteten
Form des Todes Wunsches: „Der Storch soll es wieder mitnehmen“,
d. h. „Du sollst zurückgehn, woher du gekommen bist“. Ein Töten,
das eigentlich die Rückgängigmachung der Geburt ist, finden wir häufig
in den Mythen Nord-West-Amerikas. Meistens werden Knaben durch
irgendeine Vatergestalt in den Mutterleib zurückbefördert. 1 Eine selt¬
same Konsequenz dieserTodesvorstellung ist, daß sie dasTöten eigentlich
unmöglich macht. In einer kalifornischen Indianergeschichte wird z. B.
erzählt, daß der Coyote den Kolibri töten wollte. Erst erschlägt er
ihn, doch der Vogel lebt wieder auf, da wirft er ihn ins Feuer, der
Kolibri kommt jedoch aus der Asche unversehrt wieder hervor. Nun
fragt derCoyote die Leute: „was in allerWelt soll ich mit ihm machen?“
— und die sagen ihm: „Du mußt ihn eben aufessen!“ Er verschluckt
nun den Kolibri, doch da dieser ihn im Darm zwickt, muß er ihn
durch den After herauslassen, und so kommt der Vogel wohlbehalten
wieder zum Vorschein. 2
Wir sehen in dieser kleinen Geschichte das Aufessen als die höchste
Stufe der Vernichtung, und gerade dabei kommt die Auferstehung
am prägnantesten zum Ausdruck, — erstens weil das „in den Mund
hinein und durch den After heraus“ ein wohlbekanntes Nacheinander
ist, und zweitens weil nach der überall verbreiteten oralen Befruch¬
tungstheorie auch das Gegessenwerden die Bedeutung einer Rück¬
kehr in den Mutterleib haben kann. 3
1) In einer Flutsage aus Nord-West-Amerika werden z. B. die Kinder in einem ver-
pichten Kanu aus der Flut gerettet. (Boas, Journ. Amer. Folk-Lore IX, p. 262). In einer
anderen Sage aus derselben Gegend tötet der eifersüchtige Onkel seine Neffen auf die
Weise, daß er sie in ein halbfertiges Kanu einschließt (Erman, Ethnogr. Wahrnehmun¬
gen . . . Zeitschr. f. Ethnol., II, 1870.)
2) Kroeber, Myths of South-Centr. Kalifornia, p. 201.
5) Dr. Rdheim machte mich in einem Gespräch darauf aufmerksam, daß die Gleich¬
setzung von Leiche und Kind noch eine dritte Quelle hat, die Vorstellung nämlich, daß
die Kinder eigentlich die Reinkarnation der Vorfahren sind. Dieser Glaube kann auch
für Mexiko belegt werden. Nach den meisten Überlieferungen werden die Menschen aus
der Asche oder einem Knochen der Toten erschaffen. (Mendieta, Hist. Eccl. Ind. Lib.
sec., cap. 11, Hystoria de los Reynos de Golhuacan y de Mexico, usw.)
422
A. BALINT
Wenn wir demnach den toten Krieger zusammen mit Kind und
Kot im Wasser schwimmen sehen, erklärt sich die Todesbedeutuhg
dieses Wassers geradezu aus seiner Mutterleibsbedeutung. 1 2
Unser Bild scheint also zu sagen, der Krieger wurde getötet, d. h.
er wurde gegessen, ist in den Mutterleib zurückgekehrt, ist zum un¬
geborenen Kind geworden.
Wollen wir nun all dies auf das atl-tlachinolli anwenden, so können
wir vermuten, daß der tlachinolli- Streifen, den wir schon als Kot¬
symbol erkannten, gleichzeitig auch Leiche und Kind bedeutet, wäh¬
rend das atl im Einklang mit dem, was wir über die verschiedenen
Bedeutungen dieses Wortes erfahren haben, im wesentlichen dieselbe
Rolle spielt, wie der atocua genannte Wasserstrom.
Eine sehr interessante Form des atl-tlachinolli läßt eine solche Anwendung
der bei dem Bild der Wassergöttin gefundenen Ergebnisse auf unser Problem
noch besonders berechtigt erscheinen. Sie findet sich auf einem von Sei er be¬
schriebenen steinernen Trinkgefäß, auf dem eine Göttin dargestellt ist, zwischen
deren Beinen das atl-tlachinolli in zwei mächtigen Strömen hervorkommt.
Seler selbst verweist auf die Ähnlichkeit dieses Reliefbildes mit der jetzt be¬
handelten Darstellung der Wassergöttin. — Da sich aber dieses Reliefbild auf
einem Pulque gefäß befindet, liegt die Vermutung nahe, daß das atl-tlachinolli
mit dem Pulque , dem berauschenden Getränk der Mexikaner, irgendwie in
Verbindung gebracht wurde. — Der Pulque steht insbesondere mit der Ge¬
schlechtlichkeit in Beziehung, sein unerlaubter Genuß ist Sünde, doch gibt es
hruchtbarkeitszeremonien, wo eine allgemeine Trunkenheit sogar der Kinder
zum Kultus gehört. (Preuß, Phallische Fruchtbarkeitsdämonen.) Die Bedeutung
des mexikanischen Pulque entspricht dem des nawä der benachbarten Cora-
Indianer, der auch direkt als wäwiri d. h. „Lebenswasser“ bezeichnet wird.
(Preuß, Rel. d. Cora p. XXXVI. p. 24.) Dieses „Lebenswasser“ ist das
alles Leben in sich bergende Nass,* das im Penis als Sperma, in der Mamma als
Milch und im Mutterleib als das Fruchtwasser erscheint. Das atl oder teo-atl
1) Siehe dazu Rank: Der Mythus von der Geburt des Helden, 1908, und Die Lohen-
grinsage, 1911.
2) Bei den Cora ist rurikan die Bezeichnung für „lebendig 11 und „naß“; mit „Leben
besprengen“ heißt mit „Wasser besprengen“; Lebenswasser wird der Regen genannt und
auch das Wasser im Westen, aus dem der Morgenstern geboren wird. Die Cora beten
zu der Göttermutter Titewan, daß sie ihnen ihr „Leben“ d. h, ihr Wasser gebe usw. Preu ß.
Rel. d. Cora.
DIE MEXIKANISCHE KRIEGSHIEROGL YPHE ATL-TLACHINOLLI 423
unserer Hieroglyphe mag wohl dieses himmlische Wasser bezeichnen, und wie
das Soma der Inder mit dem Feuer d. h. dem Kind zugleich vom Himmel
kommt, so erscheint auch derPulque (teoatl.) zusammen mit dem Kind (’tlachi -
nolli) (Kuhn, Herabk. d. Feuers und des Göttertrankes).
Die naturmythologische Bedeutung des Soma und Agni als Regen
und Blitz ergibt sich aus dem bisher Gesagten ohne weiteres für das
atl-llachmolli. Ein schönes Beispiel für das Verschmelzen des leben¬
spendenden Spermas und des Fruchtwassers finden wir auf einem
Bilde des Werkes von Duran, wo das Fest Atemoztli , d. h. die An¬
kunft des Regens, durch die Herabkunft eines Kindes aus den Wolken
veranschaulicht wird. 1
Betrachten wir nun der Reihe nach die verschiedenen atl-tlachi-
/zoZA'-Bilder, so werden wir sehen, daß die großen Unterschiede in
der Darstellungsform unseres Kriegssymbols sich dadurch erklären
lassen, daß es die Verdichtung dieser drei Vorstellungsinhalte ist, die
in den verschiedenen Bildern abwechselnd in den Vordergrund treten.
Die aus zwei verschlungenen Streifen bestehenden Bilder lassen uns in erster
Reihe an die Urin-Kot-Bedeutung denken. Die Leichenbedeutung des tlachinolli
wird besonders betont in den Bildern, wo dieser Streifen mit Federbällen ver¬
ziert ist, denn Federbälle oder Federn (in erster Reihe Flaumfedern) sind noch
weit über Mexikos Grenzen hinaus bekannte Todessymbole. 2
Und endlich können wir nun auch diejenigen Darstellungen, wo das tlachi¬
nolli durch ein brennendes Haus mit einem darin kauernden Menschlein ver¬
anschaulicht wird, in den übrigen Zusammenhang einreihen. Das im Hause
brennende Menschlein bringt wohl sicher die Kindbedeutung des tlachinolli
zum Ausdruck.
1) Duran, Calendario, p. 500. Ich erinnere zugleich daran, daß atl (Wasser) unter
anderem auch „Scheitel“ bedeutet; der Scheitel ist derjenige Körperteil des Kindes, der
bei der Geburt normalerweise zuerst erscheint.
2) Der Federball hat aber auch noch eine andere Bedeutung. Der Kriegsgott Uitzilopocktli
wird durch einen vom Himmel herabfallenden Federball empfangen und im Augenblick
seiner Geburt erscheint er ganz mit Federn beklebt und hält den mit Federbällen verzierten
Schild in der Hand. Denselben Aufputz tragen die zum Sacrificio-gladiatorio bestimmten
Opfer am 2. Jahresfeste. Dieses 2. Jahresfest ist aber ein Fruchtbarkeitsfest, das Fest der
jungen Aussaat, wo die Kindbedeutung der Leiche eine wichtige Rolle spielt. Diese Ver¬
dichtung von Tod- und Kindsymbol wurzelt wahrscheinlich in der schon erwähnten Vor¬
stellung, die Kinder seien die wiedergeborenen Ahnen.
434' A. BÄLINT
Der weitaus einförmigeren Darstellung des atl entspricht seine im wesen t-
liehen immer gleich bleibende Bedeutung als der hervor brechende Urinstrahl
oder das alles mit sich fortreißende Geburts- und Todeswasser.
Durch die Leichen- und Kindbedeutung des llachinolli wird unser
Symbol zur Darstellung des Kriegertodes mit Hilfe einer Geburts¬
symbolik, und dies entspricht genau der eingangs behandelten Auf¬
fassung der Mexikaner, denen ja das Neugeborene und der Kriegs¬
gefangene dasselbe waren . 1
VI
Bevor wir nun weitergehn, will ich noch die Frage erledigen, welche
besondere Rolle das Feuer in diesem ganzen Ideenkomplex spielt, was
also der Sinn des Ausdrucks llachinolli = Verbranntes eigentlich ist.
Wir haben das llachinolli als Kot, Leiche und Kind gedeutet und
sahen, daß das Bild des tlachinolli wechselt, je nachdem eine dieser
Bedeutungen in den Vordergrund tritt, haben aber wenig beachtet,
daß allen diesen Darstellungen die Bezeichnung „Verbranntes“ in
gleicherweise zukommt. Sind aber Kot, Kind und Leiche etwas Ver¬
branntes, so wird das, was sie dazu gemacht hat, durch das Feuer
repräsentiert. Der Zusammenhang wird uns sofort verständlich, wenn
wir nicht bloß die äußere Erscheinung des Feuers und die durch das
Feuer verursachte Hitze, sondern seine Eigenschaft, alles zu fressen
und zu verzehren, vor Augen haben.“
i) Jene Kriegsdarstellungen, bei denen ein Wasserstrom das vorrückende Heer begleitet,
können als Bindeglieder herangezogen werden. Es ist denkbar, daß auf diesen Bildern
die Kriegerschar selbst das tlachinolli vertritt, und somit stünden diese Bilder in der Mitte
zwischen den besprochenen Darstellungen der Wassergöttin und den eigentlichen atl-
t lackinclli - Bild uni.
Den Zusammenhang zwischen Feuer und Kot erklärt Seler mit der Tatsache, daß
Aztekischen nur die Silbe teo = göttlich, wahr, kostbar, die Bezeichnung von Gold
teocu ^ at 0 un d Exkrement (= cuitlatl) unterscheidet. Gold und Kot wird also in ge¬
wissem Sinne identiliziert, und das glänzende Metall bidet dann den Übergang zur leuch¬
tenden Hamme. 'Seler, Ges. Abh., Bd, m, p, 264—266.) Preuß hingegen betrachtet
als Bindeglied zwischen Feuer und Exkrement den Begriff der Sünde. Cuitlatl ist das Sym¬
bol, Feuer das Strafmittel der Sünde. ♦.. „ Cuitlatl und anderer Unrat, der die Sünde kenn¬
zeichnet, ist aber nicht identisch mit Feuer. Cuitlatl ist nicht selbst Feuer, sondern brennt
mir . . (ist) Stoff des Feuers/- Preuß, Feuergötter, M. d. A. G. i. Wien, ßd. 33, p t 21^^218.
DIE MEXIKANISCHE KRIEGS HIER 0 GL YPHE A TL- TLA CHI NOLLI 425
Der Kot ist etwas Verbranntes, weil er mit der Asche, dem End¬
produkt der Mahlzeit des Feuers identifiziert wird. Die Verwandlung
in Farbe, Geruch und Geschmack, die durch das Feuer bewirkt wor¬
den ist, wird der Verwandlung gleichgesetzt, die der Verdauungs¬
prozeß an den Speisen vollzieht (Exkrementum).
An dieser Stelle möchte ich darauf verweisen, daß für die kulturgeschichtlich
so bedeutsame Entwicklung, die bei der Zubereitung der Nahrung zur Verwen¬
dung des Feuers geführt hat, die ubw. Gleichsetzung: Kot = Verbranntes mög¬
licherweise ein entscheidendes Motiv abgab. Das Feuer verwandelte die Speisen
in Kot, und im Essen von gekochten, gebratenen oder gerösteten Speisen feierte
das Kotessen seine Auferstehung. Dies ist vorläufig eine bloße Vermutung, die
ich nicht genügend belegen kann, doch spricht manches für ihre Wahrschein¬
lichkeit. Mit Hilfe der analytischen Betrachtungsweise kommen wir immer
mehr zu der Überzeugung, daß jede menschliche Tätigkeit mit libidinösen Re¬
gungen begleitet wird. Die Zubereitung der Speisen bildet wahrscheinlich keine
Ausnahme in dieser Hinsicht. Die ungeheure Rolle, die das Kotessen sowohl
in Mexiko (s. die zahlreichen Bilder, die die verbotene Lust in der Form des
Kotessens veranschaulichen) wie in den Erzählungen und Mythen Nordwest¬
amerikas spielt, läßt die große libidinöse Bedeutung dieser Triebregung ahnen.
Einen Hinweis darauf, daß Darm und Anus als die ursprünglichen Kochgruben
gelten, sehe ich auch in den Sagen, in denen erzählt wird, daß die Leute, be¬
vor sie das Feuer kannten, ihr Essen in der Achselhöhle oder der Kniekehle
gekocht haben. Die Achselhöhle bedeutet außerdem und wohl in erster Reihe
die Vagina, dies führt uns aber schon zur Gleichung Kind = Verbranntes.
(S. z. B. Preuß, Rel. d. Uitoto p. 17g—80, 184.)
Gegessen und verdaut wird aber auch das Kind. Im aztekischen
ist temo „herabkommen“ ein Synonym für tlacati „geborenwerden“;
tamoanchan „das Haus des Herabsteigens“ bedeutet eigentlich „Ort
der Geburt“; auch die Bilderschriften zeigen das Kind von oben herab¬
kommend (am deutlichsten Cod. Borbon. 15); temo bedeutet aber nach
dem Vokabular des P. Molina auch „verdauen“, „digerirse la co mid a “ 1
1) In einer Tsimschiansage wird folgendes erzählt: Ein Knabe fliegt als Vogel durch
ein Loch, das sich viermal öffnet und viermal schließt (Symplegadenmotiv), in den Himmel
hier schwängert er die Tochter der Sonne, diese klagt einmal über Bauchschmerzen und
nimmt ihren Mann mit zum langen Stamm am Ufer (Abort), er hält sie und sie gebiert
ein Kind, das sogleich auf die Erde fällt und von einer Häuptlingsfrau an Stelle ihres toten
Sohnes angenommen wird (Boas, Ind. Sagen, p. 272—78). S. in derselben Sagensammlung
426 A. BÄLINT
Die oral befruchtete und anal gebärende Mutter wurde mit dem
fressenden Element, dem Feuer identifiziert, und so kam man dazu, das
Kind als etwas Verbranntes zu betrachten. In Mexiko wurden tat¬
sächlich fast alle Göttinnen mit dem Feuer in Beziehung gebracht.
Die alte Göttermutter Teteo Innan wird in ihrem Liede mit der Itz-
papalotl, der Göttin des tamoanchan und der hirschgestaltigen chichi-
mekisehen Göttin, die beide Feuergöttinnen sind, identifiziert. Die
Gestalt der Ciuacoatl-QuilaztLi verschmilzt mit der der Feuer¬
göttin Xantico , auch die ciuateteo — die „Seelen der im Kindbett
gestorbenen Frauen“ — stehen mit dem Feuer in Beziehung (Schmet¬
terlings- und Blitzfiguren sind ihre Opfer) und im Cod. Magliabec-
chiano wird ihre Repräsentantin, die Göttin des Tititl-Festes mit
dem Brustschmuck des Feuergottes gezeichnet. 1
Die Gleichsetzung von Leiche, Kot und Kind und die jetzt be¬
sprochene Bedeutung des verzehrenden Feuers gibt auch eine Erklä¬
rung der Idee von der Wiedergeburt durch das Feuer. Wir sahen ja,
daß die Wiedergeburt aus der Asche, als deren klassisches Beispiel wir
die Phönixlegende kennen, wesensgleich mit der analen Geburt des
Kotkindes ist. (S. dazu das Verbrennen des Quetzalcoatl und sein
Wiederaufleben als Morgenstern; bezeichnend ist auch, daß der Dämon
dem geängstigten Quetzalcoatl versichert, daß er wieder wie ein
kleines Kind sein werde. (Sahagun, B. 5, cap. 4.) — Die Ent-
die Geschichten, in denen einer einen Besuch im Himmel macht, dann „herunterfallt 44
und sich als eben geborenes Kind auf der Erde befindet. Der in der vorigen Sage sogar
zweimal angegebene Koitus wird in diesen Geschichten durch einen einfachen Besuch
ersetzt.
1) Aus der Vorstellung, daß die Kinder durch Essen und Verdauen entstehn, ist wohl
auch die Phantasie von der kinderessenden oder vielmehr kinderkochenden Kannibalfrau
entstanden. Das Kochen der Kinder spielt bekanntlich in diesen Geschichten eine weit
wichtigere Rolle als das Essen derselben, und immer werden die Kinder im letzten Augen¬
blick gerettet oder ihre Knochen zusammengesucht und wiederbelebt. Dieses in der alten
Welt so bekannte Märchenmotiv finden wir auch in den mexikanischen Sagen. Die An -
nales de Quauhtitlan geben an, daß der weibliche Dämon Itzpapalotl die 400 Mimix-
coua fraß; Iztac Mixcouatl (= „weiße Wolkenschlange“) der Jüngste versteckt sich in einem
Kugelkaktus (ein in den Mythen häufig wiederkehrendes Symbol des Mutterleibes), macht
die übrigen lebendig und sie erschießen die ItzpapalotL (Seier, Ges. Abh«. Bd. 5, p. 192.)
DIE MEXIKANISCHE KRIEGSHIEROGLYPHE ATL-TLACHINOLLI 427
stehung der Sonne durch die Selbstverbrennung des Nanauatzin.
(Hist. d. 1 . Mex. cap. VII, Mendieta, cap. 11.)
Dieser Wiedergeburtssymbolik auf oral-analer Basis verdankt das
Feuer wohl auch seine große Rolle bei den Bestattungsbräuchen. Das
Verbrennen macht eben genau so wie das Aufessen die Leiche zum
Kinde. In der erwähnten Geschichte von dem Coyote und Kolibri
kommt dieser Zusammenhang sehr schön zum Ausdruck.
Das Bisherige zusammenfassend, ergibt sich nun folgende Deutung:
Das atl-tlachinolli ist eigentlich ein Geburtssymbol, welches durch
die mit dem Kind und der Leiche in gleicher Weise verknüpften
oralen und analen Vorstellungen mit dem Kriegertod in Verbindung
gebracht und schließlich eine Darstellung desselben wurde.
vn
Ich will nun noch ein Bild beschreiben, auf dem die Geburtsbe¬
deutung des atl-tlachinolli besonders klar hervortritt.
Als Regent der 5. Woche wird in den Bilderschriften der Höhlengott
Tepeyollotli gezeichnet. Auf Bl. 3 des Tonalamatl der Au bin sehen Sammlung
steht ihm gegenüber der Gott Quetzalcouatl, der mit der einen Hand einen
Menschen dem jaguargestaltigen Höhlengott hinreicht, in der anderen hält er
das Symbol des Exkrements; zwischen den beiden Göttern findet sich ein Meer¬
schneckengehäuse und über ihren Köpfen das Zeichen atl-tlachinolli. In den
Bilderschriften der Cod. Borgia-Gruppe ist an entsprechender Stelle die Erd¬
göttin selbst gezeichnet, ebenfalls ein Menschlein dem Höhlengott darreichend,
und über ihnen sieht man die aus Schild und Speeren bestehende einfache
4
Hieroglyphe des Krieges. Sei er deutet diese Bilder folgendermaßen: „Dem Gott
der Höhlen Tepeyollotli ist die Tlacolteotl gesellt, weil diese den Mutterschoß
repräsentiert. Und weil dies das Verhältnis dei* beiden Personen ist, darum ver¬
steht man auch, daß in den im engeren Sinne mexikanischen Bilderschriften,
dem Telleriano-Remensis, dem Codex Borbonicus und dem Tonamalatl der
Aubinschen Sammlung, die Tlacolteotl bei diesem Zeichen durch den einen
Gefangenen oder richtiger wohl einen kleinen Menschen heranschleppenden
Windgott Quetzalcouatl ersetzt ist. Statt der Gebärerin Tlacolteotl haben diese
Handschriften eben den Menschenschöpfer Quetzalcouatl gezeichnet. Und wenn
diese selben Handschriften dem Gotte Quetzalcouatl in die andere Hand das
Zeichen cuitlat .1 geben, das .Exkremente, |Unrat, Schmutz, Sünde‘ bedeutet.
4*8 A. BÄLINT
so ist das sicher weiter nichts als ein Hinweis auf die Tlacolteotl, die ,Göttin
des Unrats*, die Tlaelquani, die ,Dreckfresserin*. Es will sagen, daß durch die
Tlacolteotl, oder, wenn man will, durch den cuitlatl, durch den obszönen Akt,
das Kind zustande gekommen ist. Und das ist auch der Grund, der mir früher
nicht klar war, daß neben diesem Quetzalcouatl das Meerschneckengehäuse
(tecciztli) dargestellt ist, da ,asi como sale del hueso el caracol, asi saleel hombre
del vientre de su madre*. (Cod. Tel. Rem.)“ 1
Diese zwei Bilder zeigen deutlicher als alles andere, daß das atl-
tlachinolli die Geburt bedeutet, denn wir fanden, daß, wo durch die
Gestalt der Erdgöttin, die einen Gefangenen macht, die Geburt dar¬
gestellt ist, diese durch die einfache Hieroglyphe des Krieges als ein
Kampf bezeichnet wird, während dort, wo an entsprechender Stelle
die Frau nur symbolisch durch das Meerschneckengehäuse und Ex¬
krementzeichen angedeutet ist, das atl-tlachinolli , der symbolische
Ausdruck für Geburt und Kampf, gezeichnet wird.
Das atl-tlachinolli bedeutet also tatsächlich Krieg und Kampf, aber
der Kampf ist in unserem Falle eben die Geburt.
Die enge Beziehung zwischen Kampf und Geburt sahen wir schon
in den Vorstellungen, die die Mexikaner mit dem Kindergebären ver¬
knüpften. Jetzt bleibt also noch die Frage zu beantworten, wie diese
Gleichsetzung von Geburt und Kampf entstehen konnte.
Die Antwort gibt uns der schöne Mythus von der Geburt des
Kriegsgottes Uitzilopochtli , des eigentlichen Stammgottes der Mexi¬
kaner.
VIII.
Uitzilopochtli wurde von seiner Mutter Couatlicue, der „Frau mit dem
Schlangengewand“, durch einen vom Himmel herabfallenden Federball emp¬
fangen, als sie den Göttern dienend auf dem Couatepetl , dem „Schlangenberge“
lebte. Wie sie nun mit dem Gotte schwanger ging, wurden ihre 400 Söhne, die
CentzonUitznaua, von der ältesten Tochter namens Coyolxauhqui aufgestachelt,
die Schande zu rächen und Mutter und Kind zu töten. Die feindliche Schar
rückt unter Führung der Coyolxauhqui immer näher und näher den Schlangen¬
berg heran, aber im entscheidenden Augenblick wird der Kriegsgott in voller
Wehr und Rüstung geboren, sein Diener zündet ihm den Xiuhcoatl, die „Feuer-
1) Sei er, Cod. Vat. 5773 p. 251.
DJE MEXIKANISCHE KR IE GSHIERO GL YPHE A TL- TLA CHI NOLL/ ^
schlänge“ an, damit sticht er die Coyolxauh und schlägt ihr den Kopf ab, den
zerstückelten Leichnam läßt er den Abhang herunterrollen, der Kopf bleibt
aber auf dem Schlangenberge liegen. Die Brüder werden verjagt, getötet und
ihres Schmuckes beraubt, den sich der Gott nun selber anlegt. 1
Bei Tezozomoc (Cronica Mexicana cap. 11.) finden wir folgende Version
der Sage: Die Mexikaner kommen auf ihrer Wanderung zum Couatepetl (d. i.
derselbe Ort, wo Uitzilopochtli in der Erzählung beiSahagun geboren wird)
und erbauen daselbst auf den Rat ihres Gottes eine Stadt, die nach der Be¬
schreibung genau so aussah wie Mexico-Tenochtitlan. Sie errichten ihrem
Gotte eine Pyramide und darunter einen Ballspielplatz mit dem Loche in der
Mitte. In diesem Loche wird ein Dreieck mit Furchen abgegrenzt, das der
„Brunnen“ genannt wird, und dieses Dreieck füllen sie mit Wasser „zum
Zeichen (por sehal). Dies alles tun sie auf Befehl des Gottes Uitzilopochtli
Der Gott, den sie nicht sehen, spricht nun zu den Mexikanern und sagt ihnen,
daß sie sich hier niederlassen mögen. Er sagt auch, daß der rote Wurm izcahuitl,
der im Wasser lebt, sein Fleisch und sein Blut sei. Die Stadt steht nun da in
ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit, und die Mexikaner bedanken sich voller
Ehrfurcht bei ihrem Gotte.
Es kommt nun eine ziemlich dunkle Stelle des Berichtes, wo auf einmal der
Gott zornig wird und davon redet, daß er nunmehr anfängt zu erstarken und daß
die Centzon napam (die Mexikaner) sich gegen ihn, der er Uitzilopochtli ist,
erheben, und daß sie auf dem Ballspielplatze „ihre Väter fressen“, und daß sich
eine Frau namens Coyolxauh gegen sie (?) verschwört. . . , und auf demselben
Platz dem Tlachco in dem Wasserloche ergreift Uitzilopochtli die Coyolxauh,
tötet sie und schneidet ihr den Kopf ab. Und am nächsten Morgen sehen sich die
Centzon napas, die Mexikaner ausgehöhlt, denn ihre Herzen hatte Uitzilopochtli,
der sich in einen großen Zauberer verwandelte, gefressen (d. h. er hatte sie
durch Zauberei getötet). Dann zerbrach er die Röhre oder den Fluß des Wasser¬
quells, den es dort gab (als die Bedeutung und das Mysterium des tlachVi, d. h.
des Ballspiels) und der zu einem großen See wurde, und nachdem er ein Loch
hineingemacht hatte, ging das Wasser heraus und die Vögel, Fische, Bäume
und Pflanzen, alles vertrocknete auf einmal und ging wie in Rauch auf
Daß es sich auch in dieser Sage um die Geburt des Gottes Uitzilo¬
pochtli handelt, wird schon von Sei er angenommen, der die an¬
fängliche Unsichtbarkeit des Gottes damit erklärt, daß er eben noch
nicht geboren ist. (Auch in der Sahagunschen Erzählung spricht
1) Sahagun, Ms. B. 5, cap. 1. § 1.
430 A. BÄLINT
der Gott mit seinem Diener, ehe er geboren ist.) Die Pyramide, in
der sich der Gott verborgen hält, mag hier die fehlende Mutter sym¬
bolisieren. (Die Pyramide Uitzilopochtlis in Mexiko wurde der
Schlangenberg genannt. Die Gleichsetzung des Schlangenberges der
Sage und der Tempelpyramide in Mexiko kommt auch in der Saha-
gunversion zum Ausdruck, denn die Orte, die die vorrückenden Cen-
tzon Uitznaua passieren, entsprechen genau den Orten im Tempel¬
viertel zu Mexiko.)
Den Ethnologen fiel an dieser Sage in erster Reihe die Todesart
der Coyolxauhqui auf, denn mit dem Köpfen hat es in Mexiko eine
ganz besondere Bewandtnis. Sonst werden in den Mythen die Be¬
siegten durch Aufschneiden der Brust und Herausreißen des Herzens
getötet, welches die übliche Art der Opferung bei den Mexikanern
war$ nur am großen Fest der alten Mond- und Erdgöttin wurde eine
Ausnahme gemacht, denn die Frau, die an diesem Feste die Göttin,
repräsentierte, wurde geköpft. Die Statuen und bilderschriftlichen
Darstellungen dieser Göttin zeigen sie auch häufig mit abgeschnitte¬
nem, hinten herabhängendem Kopfe. 1
In dem Uitzüopochtli- Mythus tritt die Coyolxauhqui als die ge¬
köpfte Göttin auf und wird daher von Sei er, wohl mit Recht, mit
der Erd- und Mondgöttin identifiziert, und der Mythus als Sonnen-
sage gedeutet, in dem Uitzüopochtli die junge siegreiche Sonne,
Coyolxauhqui der besiegte Mond ist. (Seler, Ges. Abh., Band III,
P- 523—30.)
Nun ist aber eines der bestbekannten und berühmtesten Monu¬
mente aus dem alten Mexiko eine Kolossalstatue, welche die Couatl-
icue, die „Frau mit dem Schlangenrock“, mit abgehauenem Kopfe
darstellt. Die Mutter des Kriegsgottes ist demnach ebenfalls mit der
Mond- und Erdgöttin identisch.
Im Mythus tritt also die Mondgöttin in zwei Gestalten auf, als
die Mutter und die feindliche Schwester Uitzilopochtlis. Ich möchte
nun die Coyolxauhqui als Repräsentant des abgeschlagenen Kopfes
l - » Seler, Ges. Abh., Bd.III, p. 321.
DIE MEXIKANISCHE KRIEGSHIEROGL YPHE A TL- TLACHINOLLI 431
der Mondgöttin betrachten $ diese Annahme wird auch dadurch unter¬
stützt, daß die einzige bekannte Darstellung der Coyolxauhqui ein
riesiger Steinkopf ist, der aber kein abgebrochener Teil einer Statue,
sondern als bloßer Kopf gearbeitet ist.
Die symbolische Bedeutung des Kopfes und Kopfabschlagens er¬
hellt aus dem Opferzeremoniell an dem schon erwähnten Fest der
Mond- und Erdgöttin. Die zum Opfer bestimmte Frau wurde in die
Tracht der Göttin gekleidet, und man ließ sie glauben, sie werde mit
dem König schlafen. Um Mitternacht nahm sie dann ein Priester
auf den Rücken, und ein anderer schlug ihr von hinten den Kopf ab.
Im weiteren Verlauf des Festes wird der in die Haut des Opfers ge¬
kleidete und die geköpfte Göttin repräsentierende Priester unter
Scheinkämpfen zum Abbild Uitzilopochtlis geführt und empfängt
und gebiert dort den jungen Maisgott. 1 2
Wir sehn in diesem Ritus die Defloration der Braut durch ihre
Kastration ersetzt, und der Kopf spielt hier die Rolle des gefährlichen
weiblichen Penis, der erst abgeschnitten werden muß, um die Frau
für ihre weibliche Rolle brauchbar zu machen. (Ich will hier nicht
näher auf die psychoanalytische Erklärung der Vorstellung von einem
weiblichen Penis eingehen. — Wir wollen nur feststellen, daß diese
Vorstellung bei den Mexikanern tatsächlich vorhanden gewesen ist
und eine lebendige Wirkung auf die Mythenbildung ausgeübt hat.) 1
Kehren wir aber zu dem Uitzilopochtli-Mythus zurück 5 das Kopf-
abschneiden erfolgt hier im Augenblick der Geburt, die Geburt wird
also als ein Kampf zwischen Mutter und Kind aufgefaßt. Die Frau
bedroht das Kind mit ihrem Penis (oder wir können auch sagen, ihrer
Penislosigkeit, d. h. ihrem Penisneid), die Verkörperung dieser feind¬
seligen Regungen ist die Coyolxauhqui , doch das Kind wird geboren
und siegt, indem er die Mutter mit dem eigenen Gliede (der Feuer¬
schlange) kastriert. Diese Deutung wird noch unterstützt durch die
andere Version dieser Sage, in der das Köpfen der Coyolxauhqui über
1) Seler, Aubin, Tonalam,, p, 291—93.
2) S. dazu Böhm: Beitr. z. Psychol. d. Homosexualität. Int. Zschr. f. PsA. 1922, g.
43 2 A. BÄUNT
dem mit Wasser ausgefüllten Loch geschieht, das sich in der Mitte
des Ballspielplatzes befindet. Die symbolische Bedeutung dieses Loches
am Ballspielplatz als die Vagina kann leicht bewiesen werden.
In der von uns behandelten Version ist der Schauplatz des ent¬
scheidenden Kampfes der Couatepetl , der Schlangenberg $ der Berg
ist bei den Mexikanern in ganz ausgeprägtem Maße Muttersymbol
und die Verwandschaft zwischen Schlangenberg und Frau mit dem
Schlangenrock ist auch deutlich genug.
Dieses Zusammenfallen von Geburt und Kampf mit dem weib¬
lichen Penis ist zwiefach determiniert, nämlich sowohl von der Seite
des männlichen wie des weiblichen Kastrationskomplexes.
Für das Unbewußte des Mannes ist die Geburt der symbolische
Ausdruck für den Koitus mit der Mutter. Durch die Einbeziehung
der Geburt in den Vorstellungskreis der Inzestliebe gerät sie mit der
Kastrationsangst in Verbindung.
Bei der Frau hingegen ist das Kind der Ersatz für das fehlende Glied,
und sein Verlieren durch die Geburt eine neue, schmerzliche Kastration.
Das im Mutterleib befindliche oder eben geborene Kind wird in
den Bilderschriften oft durch ein Steinmesser, also ein deutliches Pe¬
nissymbol, dargestellt. Auch am Fest der Mondgöttin tritt der eben
geborene Maisgott als der Steinmessergott auf. (Seier, Aubin Tona-
larnatly p. 2g2—95.)
Nun verstehn wir auch, warum gerade die im Kindbette verstor¬
benen Frauen die Frauen mit dem Penis sind, die auch die Scham¬
binde der Männer tragen, — sie haben das Kind nicht zur Welt
gebracht, haben ihren Penis behalten/
1) Daß dieser unheimliche Penis der Frau für eine recht gefährliche Waffe gehalten
wurde, ersehn wir aus folgendem Brauch: wenn eine Frau im Kindbette starb, folgten die
Krieger ihrer Leiche und kämpften mit den Hebammen, die die Tote begleiteten, um den
Mittelfinger der linken Hand oder die Haare der Toten zu bekommen, denn durch diese
wurden sie kräftig und unbesiegbar. Sie befestigten den Finger oder das Haar auf ihrem
Schild, denn . . . „man sagte, daß das Haar, der Finger der im Kindbett gestorbenen Frau
(Kraft) aushaucht, man sagte, daß sie den Fuß ihrer Feinde lähme. M S. auch die erwähnte
Sage von dem Gott Camaxtli, der mit der hirschgestaltigen Erdgöttin als Rückendevise
seine Feinde besiegt. — Sahagun, Bd. I, cap. 10. Zit.bei S eler, Cod. Borg., Bd. 11, p.89.
DIE MEXIKANISCHE KRIEGSHIERQ GL YPHE ATL-TLACHINOT~ -^
Der Zusammenhang des Uitzilopochtli- Mythus mit dem Zeichen
atl-tlachinolli, kann durch zwei Tatsachen direkt bewiesen werden"
erstens, daß der große Steinkopf der Coyolxauhqui auf der Unter¬
seite (also dort, wo der Hals abgeschnitten ist) das Reliefbild des atl-
tlachinolli trägt, und zweitens, daß die bei der Deutung des Bildes
der Wassergöttin erwähnte weibliche Gestalt, zwischen deren Beinen
das atl-tlachinolli hervorkommt, die Frau mit dem Schlangengewand,
die Mutter des Kriegsgottes ist, die auch hier mit nach hinten hängen¬
dem, d. h. abgeschnittenem Kopfe dargestellt ist.
Vielleicht gehört auch in diesen Zusammenhang, daß Uitzilopochtli
eine blau und gelb gestreifte Gesichts- und Körperbemalung trägt,
also genau die Farben des atl-tlachinolli. Und von ihm wird gesagt:
„er trägt seine Kinderbemalung ( pilnechiual ), ist mit seinem Kinder¬
schmutz (iconecuitl) bemalt.“ (Sahagun, Ms. B. 3, cap. 1, § 1.) Diese
Bemalung charakterisiert Uitzilopochtli als den jungen Gott, als das
Kind, dessen einzige und größte Heldentat seine Geburt* und sieg¬
reicher Kampf auf dem Schlangenberge war.
IX
Die Koitusbedeutung der Geburt läßt sich besonders klar am fol¬
genden Material nachweisen, das uns zugleich gestattet, das atl-tla-
chinolli in einen allgemeineren Zusammenhang einzuordnen.
Im Cod. Borg, ist über der Abbildung des Regengottes eine Zeichnung zu
sehen, welche eine auffallende Ähnlichkeit mit dem atl-tlachinolli-Eilde auf¬
weist, das ich in Abb. 5 wiedergegeben habe. Sie zeigt ebenfalls ein brennendes
Haus und daneben einen Wasserstrom; auf dem Dache des Hauses liegt eine
brennende Axt, die im Hause kauernde Gestalt fehlt jedoch. Durch eine feurige
Axt wird in den Bilderschriften in der Regel der Blitz dargestellt. Se 1 er deutet dies
Bild im Anschluß an ein anderes, auf dem eine brennende Axt in ein Wasserbecken
einschlägt, als „Ort des Wassers und des Nebels“, das ein Synonym für Ort
der Geburt“ ist. (Vergl. dazu das von dem im Nebelhaus wohnenden Feuergott
Gesagte.) Der Ort der Geburt wird mit anderen Worten auch „der Ort, wo die
Kinder der Menschen gemacht werden“ (tlacapillachivaloyan), genannt. Der-
sel be Ort h e ißt weiter „das Haus, w o die Blumen stehen“; dieser Name erinnert
l) Siehe Rank: Der Mythus von der Geburt des Helden. 1908.
26 ftnag'O IX/4
434
A. BA U NT
uns an die Sünde der Söhne des Urgötterpaares, die verbotenerweise Blumen
gebrochen haben. Wenn wir nun erfahren, daß sie zur Strafe aus diesem Blumen¬
haus „herunterkommen“ mußten, „herunterkommen aber im Aztekischen
soviel wie „geboren wer den“ bedeutet, so sehen wir hier, daß der erste sündige
Geschlechtsverkehr mit der Geburt identifiziert wird. Dieser zweifachen Be¬
deutung der Geburt werden auch die bildlichen Darstellungen der Urheimat
Tamoanchan, „desHauses des Herabkommens“, des „Ortes der Geburt“ gerecht.
Das Sinnbild des Tamoanchan ist ein zerbrochener Blüten bäum, aus dem Blut
fließt, dieser gebrochene Baum wird allgemein als das gleichzeitige Symbol für
die Geburt und den Sündenfall betrachtet.
Ist aber die Geburt der Koitus mit der Mutter, so liegt dem atl-
tlachinolli (d. h. der Geburt) als Kampfsymbol und dem Uitzilopochtli-
Mythus dieselbe Grundanschauung zugrunde, die wir in der Sage
von Tamoanchan gefunden haben, daß der Ursprung des Kampfes
der Kampf um den Koitus ist.
X
Die Untersuchung der Uitzilopochtli -Mythen und der Darstellun¬
gen des atl-tlachinolli -Zeichens hat uns mit einer Reihe von Vor¬
stellungen vertraut gemacht, die über das behandelte Material hinaus
für das Verständnis der alt-mexikanischen Kultur überhaupt von Be¬
deutung sind.
Wir sahen die charakteristischen seelischen Vorgänge, die bei den
Mexikanern die Überwindung der Tötungsangst, und somit ihre Ent¬
wicklung zum gefürchteten Eroberervolk herbeigeführt haben. Diese
Vorgänge lassen sich folgender weise skizzieren: Die Tötungsangst ist
bekanntlich Vergeltungsangst, Angst vor dem Getötetwerden. Durch
ausgiebige Regression auf die oral-anale Stufe wird der Tod aus der
Welt geschafft, denn alles „Töten“ (Getötetwerden) ist „Essen“,
und „Essen“ bedeutet „Befruchtetwerden“, somit wird jeder Ge¬
tötete („Gegessene“) zum Embryo, der Mörder zur Mutter. Das Ge¬
tötetwerden als Vergeltung führt zur Wiedergeburt, während die
in der Tötungsangst wirksame Kastrationsangst sich in Geburtsangst
verwandelt.
DIE MEXIKANISCHE^ KRIEGSHIEROGL YPflE ÄTL-TLACHINOLLI 435
Auf diese Weise wird uns die seltsame Tatsache erklärlich, daß
sich die Krieger, die einen Gefangenen gemacht haben, mit den kinder-
gebärenden Frauen identifizieren. (Es ist auch bemerkenswert, daß
nicht das Töten des Feindes, sondern seine Gefangennahme das Haupt¬
ziel des Kriegers war; der Gefangene wurde nämlich geopfert, d. h.
in der Regel gegessen.)
Andrerseits wird aber auch der Feind mit der Mutter identifiziert,
und der Gefangene, der gemacht wurde, war der der Mutter ent¬
rissene Penis und zugleich das mit der Mutter gezeugte Kind. 1
Diese Umgestaltungen führen in weiterer Folge zur Auflös un g
der Dreiheit: Vater—Mutter—Kind, indem die Gestalten von Vater
und Kind (Sohn) vollends miteinander verschmelzen. Am krassesten
kommt dies in der bei Sahagun überlieferten Form des Uitzilopochtli-
Mythus zum Ausdruck, da hier schlechterdings nur die Mutter und
die Kinderschar auftritt, während der Vater bloß symbolisch durch
den Federball angedeutet wird. Der befruchtende Federball ist wahr¬
scheinlich Uitzilopochtli selbst, denn er erscheint bei seiner Geburt
über und über mit Federn beklebt. Die Sünde der Söhne, das Auf¬
essen des Vaters, die das größte Hindernis dieser Identifizierung bilden
würde, wird auf die Mutter verschoben. Die vaterfressenden Söhne
(vergl.die Centzon napas bei Tezozomoc und die Sternenjaguare/^ tzitzi-
mime ], die nach mexikanischem Glauben bei einer Sonnenfinsternis
die Sonne gefressen haben, Seler, Ges. Abh., Bd.I, 439, 543; II812;
HI 5 2 9)? werden immer mehr von den kinderfressenden weiblichen
Dämonen verdrängt, 2 als deren Repräsentant die im Westen hausende
1) Dies wurde auch in der Art des Opferns dargestellt, der Gefangene, dem die Brust
mit dem Steinmesser (Penis) geöffnet wurde, war die Frau und das herausgerissene Herz
das Kind. — Die Behandlung der in diesen Vorstellungskreis gehörenden Gestalt des
Gottes Tescatlipoca, insbesondere seiner wichtigsten Merkmale, d. i. des abgeschnittenen
Fußes und des „rauchenden Spiegels“ (= tezcatlipoca) soll in einer späteren Arbeit folgen.
2) Am Ende einer zweiundfünfzigjährigen mexikanischen Periode, wenn alle Feuer
verlöscht werden und das Volk in Angst und Bangen die Erbohrung des neuen Feuers er¬
wartet, wodurch das Bestehen der Welt für weitere zweiundfünfzig Jahre gesichert wird,
schloß man die schwangeren Frauen in die großen Maisbehälter ein, denn man befürchtete’
daß sie sich in derZeit der Dunkelheit in Dämonen verwandeln und die Menschen fressen
würden. (Seler, Ges. Abh., Bd. II, 761.)
436 A. BÄ LI NT
Erdgöttin erscheint, die in der Nacht das Steinmesser, d. h. das Licht,
verschluckt, um es am Morgen wieder zu gebären.
Das Ergebnis dieser seelischen Prozesse ist ein Weltbild, in dem
auf der einen Seite eine gewaltige, durch fortwährende Befruchtungen
und Geburten immer wieder zerstörte und doch unzerstörbare Mut¬
terimago steht, die durch die Erde symbolisiert wird 5 und ihr gegen¬
über die vorwiegend männlich gedachte Schar der übrigen Wesen,
die, sie befruchtend und aus ihr geboren, in ewigem Kreislauf durch
sie hindurchgehn, symbolisiert durch die auf- und niedergehenden
Gestirne. —
DER TANZ DES giWA
Von P. C. VAN DER WOLK, Batavia (Java)
„O Sudalaiyadi (Tänzer auf dem brennenden Boden = £iwa), der
Du die Flammen liebst, die rauschend aus dem Boden aufschießen,
worauf Du Deine heiligen Füße setzest, die die Tanzschritte aus¬
führen.
Ihr Menschen, wißt die göttlichen Füße zu erkennen, die tanzen
beim Schall der klingenden Schellen und bei den Gesängen, die die
verschiedenen Tanzschritte begleiten! Versucht all dieses in Euch
selbst zu finden, so werden die Schuppen von den Augen Eurer Seele
fallen.
Ciwa ist überall, und überall ist sein Tanz.
Allenthalben klingen die Schritte von Ciwas zierlichem Tanz,
dem heiligen Tanz, den ein jeder erfassen kann, der die Erkenntnis
erlangt und die Schleier von sich geworfen hat.
Unser Herr, der den brennenden Boden liebt, ist der Tänzer, der
das Feuer in unserer Seele entfacht und macht, daß auch diese tanzt
und dadurch die Dämonen des Todes von sich schüttelt!
O Ciwa, der Du mit Deinem Tanze die Fesseln vernich¬
test, die unsere Seele an den Tod binden!“
Wundersam, tief und voll Rührung klingen diese Worte der alten
indischen Gesänge. Man fühlt in ihnen deutlich dunkle Mächte,
Dämonen, die die Seele mit Gedanken an den Tod beschweren und
mehr noch mit Sehnsucht nach demselben erfüllen. „O Nataraja
43&
P. C. VAH DER WOLK
(Herr der 'Tanzer), der Du mit Deinem Tanze die Fesseln vernichtest,
die unsere Seele an den Tod binden.“
Unsere Seele! Es sind dies keine Worte, die voll gemeiner Alltäg¬
lichkeit den gewöhnlichen Kampf ums Dasein zum Ausdruck bringen
wollen, den Kampf gegen Krankheiten und Feinde und den Tod,
die von außen den Körper bedrohen. Es handelt sich um etwas viel
Tieferes5 es handelt sich um einen dunklen Seelenkonflikt. Der Tanz
des Ciwa stellt einen Kampf gegen innere Gefühle, geheime, unbe¬
wußte Kräfte und Instinkte dar, die die Seele in die Arme des Todes
treiben und gegen welche sich das Leben aus Leibeskräften zu wehren
pflegt. Die Gesänge, die das Dasein von „Fesseln, die unsere Seele
an den Tod binden“, zum Ausdruck bringen (als einen Zustand, der
im Wesen des inneren Lebens liegt), Gesänge, die zeugen von „Dä¬
monen des Todes, die an der Seele nagen“ (womit deutlich ein
Seelenkonflikt und nicht eine gewöhnliche, körperliche Krankheit
gemeint ist), lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig! Ciwas
Tanz, nach dem Takte der Musik, des Gesanges und des rhyth¬
mischen Händeklatschens der zuschauenden Götter und Himmels¬
bewohner — er ist eine lachende Maske, ein Possenspiel, das das
Verlangen vernichten und verbergen will, ein geheimnisvolles, un¬
bewußtes, unverstandenes Sehnen, das Haupt niederzulegen zur
ewigen Ruhe. Löwe, Schlange und Ungeheuer: Ciwa beherrscht sie
durch den Tanz. Und ringsum flackern die Flammen züngelnd auf,
die Flammen des Lebens. Denn das ist Ciwa, der Gott des Lebens.
Aber auch Ciwa kämpft. Ciwa kämpft ums eigene Dasein. Der
ruhende Ciwa — ist kein Ciw a mehr, sondern der Tod! Ist also Ciwa,
ist also das Leben nicht ein primäres, an und für sich bestehendes
Prinzip? Ist es also nicht ein an sich bestehendes Prinzip neben und
unabhängig vom Tode? Ist das Leben da, weil der Tod da ist? Isl
also nur der Tod das einzige große primäre Prinzip, und das Leben
nur sekundär? Der Tod stürmt gegen die Seele an5 mehr noch: es
zeigt sich, daß die Seele eine Funktion des Todes ist5 es ist der Körper,
als Inkarnation des Lebens, der den Streit gegen die Seele anfängt.
DER TANZ DES QI WA
439
Der Körper rettet sich durch den Tanz, den mystischen Tanz, der
die Lebensflammen auflodern läßt, die erlöschen werden, wenn der
Tanz zu Ende ist. Und all diese Musik und Himmelsfröhlichkeit isl
nur ein Lebensrausch, ein verzweifelter Versuch, den Tod zu ver¬
gessen, der als ein Todesverlangen in der Seele schlummert.
Die indische Mythologie unterscheidet verschiedene Ciwa-Tänze.
Sie wurden durch besondere Schritte und Bewegungen, durch be¬
sondere Musik und Begleitung gekennzeichnet, und waren an be¬
stimmte Tagesstunden und an bestimmte religiöse Zeremonien ge¬
bunden. Auf bestimmten religiösen Festen wurden sie von Priestern
ausgeführt, die Ciwa darstellen. Es waren Feste, die viele Tage zu
dauern pflegten und im Zentrum des zeremoniell-religiösen Lebens
der alten Hindus standen. Die Art und Weise der Ausführung war
an die Legenden gebunden, die sich um die verschiedenen Tänze des
großen Gottes gesponnen hatten. Unter den bekanntesten dieser Tänze
sei zuvörderst der Abendtanz genannt, wie ihn Ciwa auf dem Hima¬
laja in der Dämmerstunde auszuführen pflegt. Der Tanz findet auf
einer goldenen, mit Edelsteinen geschmückten Thronplattform statt.
Alle die andern Götter sitzen rings um ihn herum: Indra spielt auf
der Flöte, Brahma gibt den Takt an auf einer Zimbel, Vishnu rührt
die große Trommel, Lakshmi singt und Sarasvati spielt auf dem
Xylophon. Ringsum stehen dicht gedrängt die Himmelsbürger. Gand-
harven und Apsarasen, Widodaris und Yakshas, im Chor mitsingend
und rhythmisch in die Hände klatschend. Und Ciwa tanzt — tanzt —.
Die Geschöpfe dort unten auf Erden, welche die Erkenntnis besitzen,
lauschen der friedlichen Stille der Dämmerung. Sie horchen auf Ci was
Lebenstanz. Die Einsamkeit der hereinbrechenden Nacht läßt selt¬
same Gefühle aus dem Herzen aufsteigen, Gefühle der Wehmut, der
Erinnerung, dunklen Weltschmerzes . . . die Trabanten eines unbe¬
stimmten, unbewußten Todesverlangens. Aber horch, Ciwa hat den
Abendtanz begonnen. Das Leben erhebt sich erzitternd im leichten,
schwebenden Tanz und im Klang des Gesanges, des Flöten- und
Saitenspieles aus der abendlichen Seelendämmerung.
440
P. C. VAN DER WOLK
Bekannt ist auch der Tandava-Tanz des Ciwa. Der große Gott isl
hier zehnarmig. Äußerst wild ist dieser Tanz wie der eines unge¬
heuerlichen Dämons im höllischen Todeskampf. Rings um ihn her
trippeln Schwärme kleiner Kobolde, die ihn zu beißen, zu verwunden
und zu töten suchen; aber ohnmächtig werden sie, wenn Ciwa tanzt,
und solange Ciwa tanzt. Es ist der Tanz der Nacht. Überall schlagen
wilde Flammen aus dem Boden auf. Dies ist wahrscheinlich die älteste
Darstellung des Ciwa-Tanzes. Nur auf sehr alten Bauwerken aus prä¬
arischer Zeit findet man diesen Tanz abgebiidet. Oft tanzt Ciwa ihn
zusammen mitDurga, was den Todesdrang noch schärfer hervortreten
läßt, weil diese Göttin, Ciwas Gemahlin, die großartigste Personifizie¬
rung des Todes ist. Und ist dies denn überhaupt ein Tanz zwischen
Ciwa und seiner Gemahlin? Es sieht oft einem stilisierten Ring¬
kampf, einem wilden Gefecht ähnlich, worin der Herr von all den
sinnbildlichen Darstellungen der Durga bedroht wird; dem Löwen,
als Durgas Reittier; der Brillenschlange, dem Durga-Attribut par
excellence, als der Vereinigung von Sexual- und Todessymbol; den
Fledermäusen, als Durgas Boten, die wie ein Heer von Kobolden den
1 anz des Lebens zu vernichten suchen. In Stein gemeißelt, geben sie
noch jetzt einen Eindruck von dem großartigen Charakter jener alt¬
indischen Theatervorstellungen, Mysterien, an denen eine große Zahl
von Spielern teilnahm.
Der bekannteste und volkstümlichste der Ciwatänze ist die Nadanta,
im goldnen Saal des Chidambaram oderTillai, des Zentrums des Welt¬
alls, ausgeführt. Die hiemit verbundene Legende ist diese: In dem
Walde von Taragam wohnte eine Ansiedlung von ketzerischen Mön¬
chen, Jüngern Mimamsas. Ciwa wurde nun von den andern Göttern
ausgesandt, um sie zu demütigen; er zog vermummt hin, von Ati-
Seshan und Vishnu begleitet, letzterer als eine schöne Frau verkleidet.
A nfangs entspann sich zwischen Ciwa, der nicht erkannt wurde, und
den Ketzern ein heftiger Wortstreit, aber allmählich flammte der Haß
gegen Ciwa so auf, daß die Mönche beschlossen, ihn mittels ihrer
Zaubereien zu vernichten. Aus magischen Opferfeuern machten sie
DER TANZ DES QI WA
44'
erst einen gewaltigen Löwen, den sie gegen ihn auf hetzten und auf
den verkleideten Gott losließen. Aber siehe, Ciwa begann zu tanzen,
und lächelnd den Löwen ergreifend zog er dem Untier mit dem Nagel
seines kleinen Fingers die Haut ab und schlug die Haut um sich wie
ein seidenes Gewand. Darauf machten die Mönche aus ihren magi¬
schen Feuern eine ungeheuere Brillenschlange, die sich mit ent¬
blößten Giftzähnen auf Ciwa warf. Aber aufs neue begann dieser zu
tanzen, und indem er der Schlange das Rückgrat zerbrach, legte er
sich dieses wie eine Schnur um den Hals. In völliger Ratlosigkeit
machten die Mönche jezt den Zwerg Muyalaka, ein menschliches
Monstrum von furchtbarer, magischer Todeskraft. Und abermals be¬
gann Ciwa seinen mystischen Tanz, warf den Unhold mit seiner großen
Zehe zu Boden und zertrat ihn unter seinen t anzenden Füßen. Da
kam den ketzerischen Mönchen endlich die Erkenntnis, und sie de¬
mütigten sich. Erstaunt und entzückt über diesen wunderbaren Tanz
wußten Vishnu und Ati-Seshan die Götter zu bereden, Ciwa dazu zu
bringen, diesen Tanz zu wiederholen, vor allen Himmlischen, im hei¬
ligen Tillai, dem Zentrum des Weltalls, welches auch geschah.
Es ist vor allem dieser Tanz, der das Motiv der südindischen Kupfer-
und Bronzebildchen aus früheren Jahrhunderten bis auf heute bildet:
Nataradja (Herr der Tänzer), die Nadanta tanzend, sei es nur den
Muyalaka zertretend, der bisweilen eine Kobra in der Hand hält, sei
es in Stein- oder Holzrelief von einem Löwen- oder Schlangenmotiv
in Angriffsstellung begleitet, alles dies auf einem Lotuspiedestal
stehend, aus dessen Rand die Flammen züngeln; übrigens aber zeigt
die Tanzfigur selbst einen allgemeinen Habitus von merkwürdiger
und in der Tat auffallender Uniformität. Die Kleidung ist sehr ein¬
fach; sie besteht nur aus einer eng anliegenden Hose oder einem
Schamschurz und einigen Schmucksachen um Hals, Arme und Knöchel
und an den Ohren. Merkwürdig aber sind einige stereotype Attri¬
bute oben auf dem Kopfe. Immer sind es dieselben drei Dinge, die
aus den Haaren zum Vorschein kommen: in der Mitte über der
Stirne ein Totenkopf, links davon eine aufgerichtete, zum Angriff
44*
P. C. VAN DER IVOLK
bereitstehende Kobra, und rechts die Büste der Durga, alles Todes¬
symbole ohnegleichen; und wenn dieser merkwürdige Schmuck an
dem Kopfe eine Vorstellung geben soll von dem, was innerhalb des
Kopfes, im Hirn, vorgeht, so ist es den alten Indern vorzüglich ge¬
lungen, in dem Kopfschmuck ihres tanzenden Ciwa eine Vorstellung
von dem Todesgedanken zu geben, der unbewußt an der Seele nagt .
Wir stehen hier mitten in dem Problem des Todestriebes, wie
dieser von Freud in: „Jenseits des Lustprinzips“ dargestellt worden
ist. Haben die alten Inder, deren unfehlbares Aufspüren der tiefver¬
borgenen Regungen des menschlichen Lebens sich in der Symbolik
der alten Götterbilder oft auf erstaunliche Weise geäußert hat, schon
wie einen reellen Instinkt den Drang nach dem Tode als einen wesent¬
lichen Teil des Lebens, der Seelenäußerungen, erfaßt? Es ist dies fast
sicher zu bejahen. Es braucht nicht wieder darauf hingewiesen zu
werden, daß es den Völkern in ihren symbolischen Äußerungen, in
ihren Mythen und Legenden, nie darum zu tun ist, Naturerschei¬
nungen zu erklären. Es ist den Völkern und dem individuellen Men¬
schen nicht darum zu tun, ein Bild von dem l ode zu geben, wie
dieser in äußerlichen Gefahren das Leben bedroht. Der Mensch be¬
darf der Darstellung solcher völlig offen daliegender Erscheinungen
nicht. Dagegen aber wirkt wohl ein Drang in ihm, sich zu äußern,
was die unterbewußten Obsessionen der Seele betrifft, Obsessionen,
die gerade durch ihr Unterbewußtsein eine Vergütung des inneren
Lebens bedeuten. Eine Äußerung derselben (wenn auch der Person
selbst die wesentliche, tiefere Bedeutung unbewußt ist und nur in
einer „.Symbolik“ zum Ausdruck kommt) ist nichts anderes als eine
Erleichterung, eine Entlastung des inneren Lebens. Eine solche Äuße¬
rung ist also für den allgemeinen Lebenszustand von größter Wichtig¬
keit. Und ausschließlich in diesem Sinne haben wir also die zere¬
monielle Kunst, die Mysterien und die große Religionssymbolik zu
verstehen.
In dem tanzenden Ciwa ist das eigene, verborgene Seelenleben
ausgedrückt. Qiwa selbst verkörpert im allgemeinen das für sich be-
DER TANZ DES giWA
443
stehende Lebensprinzip, das also frei vom Tode ist. Durga ist das für
sich bestehende Todesprinzip. 1 Beide stehen nebeneinander und
schließen einander gleichzeitig aus. Ciwa als das Leben, dem die Durga
mit dem Tode droht, letzteres in dem Sinne des gewöhnlichen Kampfes
ums Dasein, ist also eine offenbare U nwahrscheinlichkeit. Aber, der Ein -
blick, den der Ciwatanz in das verborgene Leben der Seele gewährt,
gibt uns ein symbolisiertes Bild von einem Tode, der einen wesent¬
lichen Teil des Lebensprinzipes bildet. Nur wenn dem Leben selbst
ein verborgener, eigener Todesinstinkt zugeschrieben wird, ist es
möglich, den Lebensgott in einem Kampf gegen den Tod, das ist gegen
eigene Todesgedanken, den eigenen Todestrieb, darzustellen.
Was ist das Leben anderes als eine fortwährende Reaktion auf
Reize, die anfänglich alle von außen kommen und in scheinbar innere
Reize umgewandelt werden können. Ohne diese Reize besteht das
Leben nicht und fällt ins Leblose zurück. Das Leben ist das Produkt
eines immer währenden und ununterbrochen wirkenden Antriebes, sich
gegen jenen Zustand absoluten Gleichgewichtes und ewiger Ruhe, wo¬
nach alle Bewegung gerichtet ist und den wir den Tod nennen, zu
erhalten. Das Leben ist ein sekundärer, „künstlicher“ Zustand, der als
solcher gerade am typischsten dadurch gekennzeichnet wird, daß er
dem Tode widerstrebt. Das Leben ist als solches ein Kampf gegen
den Tod, aber ein Kampf gegen einen primären Ruhezustand und ist
also trotz des „künstlichen“ Aufpeitschens, welches sich in der Emp¬
findlichkeit für allerlei Reize äußert, dem Tode geweiht. Dieser Zu¬
stand der Ruhe, des Gleichgewichtes, der Untätigkeit wurzelt also
als primärer Drang in dem Wesen jedes Lebens, des Protoplasmas,
jeder Zelle, jedes Organs, daher des ganzen Individuums. Es ist eine
Kraft, die fortwährend wirkt und sich der Reaktion eines jeden Reizes
entgegenstemmt, eine reelle Kraft, die wir als ein elementares Todes¬
gefühl bezeichnen können, das im Protoplasma, in jedem Lebendigen
vorhanden ist. Es fragt sich, ob dieses elementare Todesgefühl im
1) Ausführlich auseinandergesetzt in: ..Das Tri-theon der alten Inder“ (Imago VII,
Jahrgang 1921t
444
P. C. VAN DER WOLK
Gehirn in einen Todesgedanken verwandelt werden kann, welcher
die Möglichkeit in sich birgt, auf irgendwelche Weise ins Bewußtsein
zu treten. Ebenso ist es fraglich, ob wir dieses elementare Todesge¬
fühl ins Unterbewußtsein verlegen dürfen, ohne dadurch zwei prin¬
zipiell verschiedene Funktionen unrichtiger weise zu identifizieren:
denn das Unterbewußtsein pflegen wir als eine psychische Funktion
zu betrachten, während das elementare Todesgefühl einen physiolo¬
gischen Zust and voraussetzt. Wäre es möglich, daß in diesem physio¬
logischen Zustand das Weseu „des Triebes“ wurzelt? Und daß der
„Trieb“ also ein im primären Sinne somatisches Gefühl ist, entweder
in das Gehirn projiziert oder nicht, und dort in ersterem Falle in ein
psychisches Element umgewandelt? Eine unumstößliche Tatsache ist
es, daß viele Menschen kurze Zeit vor dem Hinscheiden mit Gewi߬
heit den bevorstehenden Tod fühlen, als Zustand, nicht als Gedanken.
Diese merkwürdige Gewißheit ist treffend, denn von keinem von ihnen
kann man sagen, daß er dieses Gefühl schon früher gehabt hätte. Es
ist ein Zustand, der sich in diesen Augenblicken des ganzen Körpers be¬
mächtigt, jetzt, da er mit Gewißheit seiner Gleichgewichtsruhe ent-
gegengeht, ein Zustand,der alsoinsBewußtsein ü bertragen werden kann.
Das ganze Leben hindurch herrscht dieses Todesgefühl, tief ins
Unterbewußtsein hinabgetaucht, aber darum nicht weniger aktiv.
Weil es in seinem ersten Anfänge nicht psychisch ist, sondern phy¬
siologisch, ist es schwer, ohne weiteres von einem instinktiven Todes¬
gedanken, von einem Todesverlangen zu sprechen. Daß aber praktisch
das elementare Todesgefühl in der Tat als ein instinktiver Gedanke,
als ein unbewußtes T. odesverlangen im Körper wirkt, ist gewiß. Sind
doch die Beispiele zahllos, aus denen sich ein dunkles Todesverlangen
beim Menschen unwiderleglich zeigt. Mehr als man es sich wohl
denkt, kommt unter den Menschen ein unbewußtes Sich-in-den-Tod-
Werfen vor, wenn auch das Bewußtsein nichts davon wissen will,
wenn auch das Bewußtsein sich dagegen sträubt, und wenn auch die
Umstände den Eindruck eines Unfalles, der Verzweiflung, des Wahn¬
sinns geben. Die tragischen Umstände und sogenannten üblen Zu-
DER TANZ DES QIWA
445
fälle sind ein Versteckenspiel. Mit Raffiniertheit schafft der unbe¬
wußte Drang nach dem Tode die Umstände und Zutälligkeiten: sei
es eine Liebestragödie, eine sublime Aufopferung, ein Verbrechen, das
zu wahnsinniger Verzweiflung führt, eine verzweifelte Schwermut
oder eine Tat von phänomenalem Mut. Die betreffende Person ist
in der Tat verzweifelt, mutig, wahnsinnig, aber trotzdem ist alles dies
mn schreckliches, von einem unbewußten Drang in Szene gesetztes
Komödienspiel, um dem Leben gegenüber einen gut argumentierten
Grund zu haben, sich zu morden. Und wo das Leben sich dennoch
als zu stark erwies, da führen die „Umstände“, wo nicht zum Tode,
so doch zu etwas Verhängnisvollem, einer Katastrophe; es gibt Men¬
schen, die ihr ganzes Leben vom „Schicksal“ verfolgt werden, ein¬
mal übers andere. Sie selbst und die Umstehenden mit ihnen ver¬
muten nicht im geringsten, daß das Schicksal forciert wird; der
Charakter, der solchen Leuten selbst qualvoll ist, ist die Äußerung
eines tragischen Konfliktes zwischen dem bewußten Lebensdrang und
dem unbewußten Todesverlangen. Man erkennt ihn an der unnötigen,
zwecklosen Selbstmarter von Geist und Körper; am Masochismus,
aber auch am Sadismus, an der Grausamkeit. Man erkennt das Suchen,
wenigstens das Aufsuchen des Todes an jener schwermütigen „Todes¬
sucht“, die einen innigen Gefallen findet am Besuch von Kirchhöfen,
am Spazieren zwischen Gräbern, und, wie wir es in „krankhafter“
Form in einigen alten Dynastien kennen, im einsamen Verweilen in
den unheimlichen, düstern Grabkellern, wo die sinnliche Berührung
mit dem Tode eine fast wirkliche ist. Und dann ist die Religion, die
den Tod zu etwas Anziehendem, etwas Wünschenswertem macht,
auch eine Rationalisierung des Todes Verlangens der Opposition des
Lebens gegenüber. Ebenso die Askese, die Abtötung der Begierden,
aber auch die Mystik.
Es wird ein neues, schwieriges Problem in der Lehre der Verdrän¬
gungen, Sublimationen und Symbolik sein, näher zu analysieren, ob
und in welchem Grade die Handlungen, das Betragen und das Geistes¬
leben der Menschen im tiefsten Wesen im Todesgefühl wurzeln; ob
446
P. C. VAN DER WOLK
es infolgedessen der direkte Untergrund einiger Psychosen werden
kann. Wäre es aber dann möglich, um der Genesung willen das
Todesgefühl ins Bewußtsein zu bringen?
Das Leben hat sich mit aller Macht gegen den Tod zu wehren.
Der Todestrieb, der überall in einem verborgenen Winkel lauert, um
das Leben zu überrumpeln, ist dem Leben fatal} letzteres wird langsam,
aber sicher untergraben. Das Leben wird alles aufbieten, um den
Todesgedanken, das unbewußte Todesverlangen unschädlich zu
machen. Und in der Tat, das Leben verfügt in dieser Hinsicht über
ein vorzügliches und mächtiges Mittel, nämlich die Übertragung.
Nichts beherrscht das Leben in stärkerem Maße als diese Übertragung,
dieses Abstößen von Gefühlen, die es beschweren. Dies ist das Sicher¬
heitsventil des innern Lebens, ohne welches der Mensch körperlich
und geistig vernichtet würde. Es handelt sich hier, bei dem elementaren
I odesgedanken selbstverständlich nicht um eine von außen eingeführte,
gewöhnliche Verdrängung} sondern diese ist primär und wurzelt im
Körper. Wohl aber hat sie mit der gewöhnlichen Verdrängung die
ernstliche Beschwerung des unterbewußten Seelenlebens gemein,
welches auf das Leben und das Am-Leben-Bleiben eingestellt ist. Und
auch gegen dasTodesverlangen wird das Leben von diesem mächtigen
ihm zu Gebote stehenden Heilmittel Gebrauch machen. Die Über¬
tragung soll zweckmäßig sein} sie muß das Übertragungsobjekt gänz¬
lich damit ausfüllen, wenn das Individuum sich selbst davon befreien
will. Als Todesverlangen in reiner Form würde die Übertragung keine
Aussicht auf Erfolg haben. Es muß sich transformieren und tut es auf
gewaltige Weise, nämlich in die Sexualität. Mittels der sexuellen
Begierde weiß sich der Todestrieb auf eine andere Person zu über¬
tragen, die ihn mit gierigen Händen annimmt. Im Koitus findet diese
Übertragung ihr höchstes Ziel. Die heftige sexuelle Spannung ist die
Gespanntheit des wachsenden Todesverlangens: es entlädt sich, wird
entspannt in der heftigsten der Übertragungen, über die der Körper
verfügt. Dem körperlichen Todesgefühl, das gleichsam diffus über den
Körper verbreitet ist, als ein allgemeines Gefühl, das allem lebenden
447
DjER TjANJ^ PILS giWA
Stoff eigen ist, kann nichts anderes gegenüberstehen als ein ebenso
körperliches, ebenso diffus über den lebenden Stoff verbreitetes Ge¬
fühl, das in seiner Befriedigung denn auch die gänzliche Befrie¬
digung über den ganzen Körper gibt, wie es die sexuelle Befriedig ung
tut. Die sexuelle Befriedigung ist denn auch im höchsten Grade
eine Gefühlsbefriedigung und wie keine andere dazu geeignet, von
einer Person auf die andere übertragen zu werden. Die Befriedigung
ist nicht ein Empfangen, sondern eine Befreiung, eine Entlastung,
ein von sich Werfen einer unterbewußten Obsession, die das körper¬
liche, sowie „das Seelenleben“ zu vergiften und zu vernichten
droht: des Todestriebes! Die Sexualität gleicht einem primären
Lebenstrieb in höchster Potenz $ sie ist aber in Wirklichkeit der Todes¬
trieb, der sich einem andern transformiert übergibt, um das eigene
Leben möglich zu machen. Und wenn der Körper, das Leben in
dieser körperlichen Übertragung die beste und einzige Lösung ge¬
funden hat, das Leben von einem vernichtenden Prinzip zu befreien,
so können wir hieraus keine andere Folgerung ziehen, als daß wir
in der Einteilung der Lebewesen in Geschlechter den Einfluß des
Todestriebes zu sehen haben. Dieser ist es, der den lebenden Stoff
genötigt, hatj sich zu teilen in Männchen und Weibchen. Sexualität
ist, wenn man will, „sublimierter“ Todestrieb, insofern sie natürlich
dem Leben nützlich geworden ist und insofern die ursprüngliche
Übertragungsmethode möglicherweise das Töten anderer Wesen war,
eine Methode, die vielleicht ihrer sozialen Unzweckmäßigkeit wegen
entwicklungsgeschichtlich in Sexualität transformiert wurde, wobei
die sexuelle Tat, der Koitus, eigentlich mit einer Tötungstat identisch
ist. Sexualität und Tod! Ihrer beider Gemeinschaftlichkeit ist selbst
für das bewußte Leben nicht zu verbergen. Hunderte von Tatsachen
beweisen, in wievielen Fäden die Sexualität mit der Todesidee ver¬
bunden ist. Sexuelle Missetaten, sexuelle Aberrationen, der Sadismus
in allen seinen Schattierungen von der Spielerei bis zum Morde: eine
düstere Bilderreihe aus dem Leben des Menschen. Und welch eine
merkwürdige Verwandtschaft besteht zwischen Kränklichkeit und
448
P. C. VAN DER WOLK
Sexualität. Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß Menschen, deren
Körper langsam aber sicher infolge einer aufreibenden Krankheit dem
Tode entgegengeht, außerordentlich leidenschaftlich und sinnlich sind.
Es ist eine ebenso unumstößliche als treffende Tatsache, daß normale,
gesunde Personen eine Erhöhung des sexuellen Verlangens vor Eintritt
einer Krankheit erfahren, wenn diese auch nur eine gewöhnliche Er¬
kältung ist. Daß Soldaten in der Schlacht bei einem befohlenen Angriff?
also angesichts des Todes, von heftigen Erektionen belästigt werden, ist
eine Tatsache, die nach dem letzten Kriege öfters in der Literatur zur
Sprache gekommen ist, und die sexuellen Ausschweifungen beim An¬
griff und bei Plünderungen von Dörfern im Kriege, von denen immer
so viel Aufhebens gemacht wird, sind im Lichte des oben Mitgeteilten
nicht so sehr eine Äußerung charakterloser Bestialität, als wohl ein
nicht zu unterdrückender Reflex bei Leuten, deren Körper durch den
heftigen Todesgedanken in äußerste Spannung versetzt worden ist.
Je stärker der Todesreiz, um so stärker die Neigung des Lebens,
diesen Reiz durch Übertragung, durch Verstärkung der Sexualtriebe
zu vernichten. Und wurzelt die Sexualität, der sexuelle Konflikt, wirk¬
lich im Todes verlangen, so muß die psychische Analyse des Patienten
auf eine noch tiefer liegende Stufe gestellt werden, als das Bewußt¬
werden des sexuellen Konfliktes. Es ist dies vielleicht der Weg der
Psychoanalyse hinsichtlich der bis jetzt unheilbar Irrsinnigen.
Wenn die Sexualität die Überwinderin, die Vernichterin des Todes¬
verlangens ist, so wird die Deutung von Ciwas Tanz klarer. Wenn
Ci was Tanz die Vernich tung der auf den Gott ein wirkenden Todes¬
gedanken darstellt, so ist dieser Tanz nichts als die sich auswirkende
Sexualität, d. h. der Koitus. Dann aber erkennen wir Ciwa auch wieder
als den großen Gott des Lebens, den Lebenspender, den Geliebten
des flammenden Bodens, den Mittelpunkt; der Orgien des alten Ciwa-
dienstes. Gewaltig ist der Anblick jener alten Holzskulptur: Qiwa im
Ornat des Lebensgottes, um ihn herum die lechzenden, wilden Flam¬
men, in den vielen Armen die eigentümlichen Attribute des phalli-
schen Gottes: Keule, Wurfscheibe, Fackel, Dreizack, Krug, Waffen;
er selbst angegriffen von einem Löwen, umschlungen von einer Riesen¬
schlange, belauert von einem abscheulichen Zwerg, in wildem sug¬
gestivem Tanze: der Koitus, der das von allen Seiten angreifende
Todesverlangen beschwört. Es haben sich besonders um den tanzen¬
den Ciwa die berüchtigten Orgien des Ciwadienstes konzentriert. Der
tanzende Ciwa war der Phallusgott im wahrsten Sinne des Wortes.
Sehr deutlich finden wir diese Symbolik in einer Episode von Ciwas
oben erwähnter Sendung bei den ketzerischen Mönchen im Walde von
Taragam. Ciwa war, wie gesagt, nicht nur begleitet von Vishnu, son¬
dern auch von Ati-Seshan, der Weltschlange, der Weltkobra, die u. a.
in der bekannten Legende vom Buttern des Ozeans eine Rolle spielte.
Als Ciwa den Tanz vor den Mönchen anfing, wurde diese Brillen¬
schlange Ati-Seshan so von der Schönheit und mystischen Kraft des¬
selben ergriffen, daß sie sich starr erhob und in diesem Zustande ge¬
rührt und ehrfurchtsvoll den göttlichen Tänzer anstarrte. (Symbol
der Erektion im Koitus.) Erst als der Tanz beendigt war, fiel Ati-
Seshan in völliger Erschöpfung zu Boden, das Lob von Ciwas
Macht und Größe verkündigend. Er stellte sich dem Gott ganz zur
Verfügung, wollte nur ihm noch dienen, legte all seine Zieraten und
himmlischen Attribute ab, zog sich ganz nackt in Buße zurück. Aber
jedesmal, wenn Ciwa den Tanz vorführt im Himmelspalast des Chic-
tambaram, erhebt sich Ati-Seshan, um Zeuge des mystischen Tanzes
zu sein. Und so sind Kobra und tanzender Ciwa untrennbar geworden
in Legende und altem Kultus. Die aufgerichtete Brillenschlange ist
ein wesentlicher Teil des Ciwatanzes. Seit undenklichen Zeiten wurde
bei den alten Indiern der Ciwatanz mit einer heiligen Kobra als Mittel¬
punkt vorgeführt. Ein Priester verstand es, mittels eines monotonen
Pfeifens auf einem flötenartigen Instrument die Schlange zur starren
Erhebung zu hypnotisieren; um sie herum führte ein Priester, der
Ciwa vorstellte, den mystischen Tanz auf: den Koitus, der sich mit
dem aufgerichteten Penis als Mittelpunkt 1 vollzieht. Eine große Zahl
1) Die Kobra ist bis heute ein sehr wichtiges phallisches Tier, nicht nur wegen ihrer
Eigenschaft sich erheben zu können, sondern auch besonders wegen der bekannten flügel-
29 Imago IX I4
4$o P. C. VAN DER WCNLK^ _____
niederer Priester und Tempelmädchen beteiligten sich als Götter und
himmlische Wesen am Tanze. Inzwischen wurde auf einem Altar über
einen steinernen Phallus mit Yoni die weiße Soma gegossen, eine
Symbolhandlung für die Ergießung des Samens. Dann geschah es in
einer Art sexueller Ekstase, daß Mädchen und Priester sich mit dieser
betäubenden Flüssigkeit beschmierten und sie tranken, welchem Bei¬
spiel von den Tausenden Besuchern gefolgt wurde, was wegen des
Rausches schließlich in zügellose Orgien entartete, wobei die Priester
und die Tempelmädchen vorangingen. * 1 So wurde besonders der Tanz
des Ciwa das eigentliche Zeremoniell des orgiastischen Ciwadienstes.
So wurden die Stein- und Erzbilder, die den tanzenden Ciwa vor¬
stellten, prächtige Bronzen von i — 1 1 / 2 m Höhe, der Hauptschmuck
der Tempel der alten ciwaitischen Inder; sie sind das Symbol des
koitierenden Ciwa, aber auch die Vorstellung des Koitus als solche des
sexuellen Hauptmomentes.
Aber sind nicht überhaupt dergleichen Zeremonien die Symbo-
lisierung der von der Gesellschaft verachteten Wünsche und Begier¬
den? Sind dergleichen Symbolisierungen nicht die heimtückische Er¬
füllung verbotener Wünsche? Aber wo ist je die gewohnte Sexuali¬
tät (sofern sie innerhalb der Anstandsgrenzen gehalten wurde) ver¬
boten worden? Wenigstens derart verboten, daß der Mensch nur auf
symbolischem Wege sie heimlich zu befriedigen vermag? Wenn etwas
symbolisch vorgestellt wird, so handelt es sich im wesentlichen um
Verdrängungen, und diese beziehen sich doch gewiß nicht auf die
gewohnte normale Sexualität, weder im Norden und Westen, noch im
Süden und Osten! Können also die ciwaitischen Sexualitäten Sym¬
bolisierungen der gewohnten Sexualität sein ? Dies ist psychologisch
eine Ungereimtheit. Aber was steckt denn hinter den berüchtigten
sexuellen ciwaitischen Ausschweifungen ? Dahinter steckt ein Wunsch,
artigen Verbreiterung am Halse, die die beiden Hoden vorstellen. Nicht selten sind Ab¬
bildungen einer Kobra mit zwei deutlichen Flügeln unter dem Kopf statt der gewöhnlichen
Verbreiterung, vielleicht der Urtypus des Drachen.
1) Einen tieferen Einblick in die Tempelprostitution bietet: „Zur Psychoanalyse
des Ra lieh Opfers“. (Imago VII. Jahrg. 1921.)
DER TANZ DES giWA
45 *
der nicht nur von der Gesellschaft (als Selbstmord), sondern auch vom
eigenen Leben „verboten“ ist: das Verlangen nach dem Tode! ln
der sexuellen Ausschweifung jedes Menschen steckt der verzweifelte
Versuch des Körpers, sich dem Todesverlangen zu entziehen; in dieser
zügellosen Ausschweifung, in dieser rücksichtslosen Hingabe an
das Gegenteil, liegt voll heftiger Affektwerte das Verlangen nach
dem Tode verborgen.
Die alten Bilder, Reliefs, Bronzen, Holzskulpturen des Ciwatanzes
der Hindus sind wahrscheinlich die ältesten Formen des „Totentanzes“
in der Kunst, ein Genre, das in der europäischen Kunst, besonders in
früherer Zeit, eine wichtige Rolle gespielt hat und sehr beliebt war.
Bei den Hindus wurden Leben und Tod zusammen in einer Person,
einer lebenden Person, dargestellt, indem der Tod durch sinnbildliche
Tiere und einen sinnbildlichen Kopfschmuck angedeutet wurde und
begleitende Gesänge, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig
ließen, den Eindruck und den Sinn vervollkommneten. Bei unseren
abendländischen Künstlern sind das Leben und der Tod getrennt, der
Tod wird durch ein handelndes Gerippe dargestellt. Die Betrachtung
dieser Totentänze überzeugt uns aber auch unmittelbar davon, daß
hier nicht ohne weiteres der gewöhnliche äußerliche Tod durch
Krankheiten und durch den alltäglichen Kampf ums Dasein gemeint
wird, sondern ein Tod, der aktiv in unsere Handlungen eingreift, der der
Führer unserer Taten ist. Wir sehen den Tod mit seiner berühm¬
ten Geige als Anreger zum wilden Tanz; gesunde, fröhliche Men¬
schen tanzen in wildem Rausch um den spielenden Tod herum; sie
lauschen diesem Spiele, das ihnen auch die Liebe eingießt, welcher
sie sich nachher mit ungezügelter Leidenschaft hingeben werden.
Unerschöpflich ist in den Totentänzen das Motiv von „Tod und Liebe“,
der Tod als direkter Verführer mit seinen unzüchtigen Handgriffen,
der Tod als Kuppler, der Tod, der als unfehlbarer und sachkundiger
Führer die lebensfrohen Menschen zur Liebe und Wollust führt.
Wir sehen den Tod als Anführer auf dem Schlachtfeld oder auf den
Barrikaden, der Tod ist der Leiter, der Tod ist nicht das, was wartet,
29*
452
P. C. VAN DER WO LN
sondern der aktive Leiter; man sieht das Volk, den Menschen ihm
und seinem Rufe folgen, der Tod lenkt unsere Handlungen, unsere
Schritte. Wir sehen den Tod dem Ohr einer andächtig lauschenden
Person, die in der Blüte des Lebens steht und die Augen in unbestimmte
Fernen richtet, ein Lied spielen, den dunklen, unterbewußten Todes¬
gedanken, das Todesverlangen, das der Grundton jeden Lebens ist.
Was sie eigentlich im tiefsten Wesen zeichneten, wußten unsere Künst¬
ler nicht. Sie mögen wohl alle an den gewöhnlichen Tod gedacht
haben, als Versinnbildlichung der Hinfälligkeit des Lebens. Aber daß
in fast all diesen Totentänzen der Tod unbewußt als der Leiter, der
Anführer, der Versucher, der Verführer, als aktive Kraft in unserem
Leben dargestellt wird, beweist unzweideutig, daß ihnen das dunkle
Gefühl des Todestriebes vorschwebte. In treffender Wirkung wußten
unsere Künstler dies darzustellen.
Und was ist das Ende des tanzenden Ciwa? In diesem Ende liegt
bei den Hindus wieder ein Gedanke, der ebenso superb als konsequent
ist: das Nirwana. Alle Menschen gehen früher oder später ins Nir¬
wana ein, also auch die Götter. Die Götter sind bekanntlich bei den
Hindus die letzten Lebensphasen einiger besonderer, bevorzugter
Menschen. Wenn ihre Zeit vollbracht ist, gehen auch die Götter ins
Nirwana ein, und andere folgen ihnen nach, die denselben Namen
beibehalten. Der Nirwanabegriff ist eine Folgerung des Gedankens,
der dem Ciwatanz zu Grunde liegt. Wenn der Tanz aufgehört hat,
bringt; der Todestrieb das alles stillende Gleichgewicht. Aber es mußte
mit der menschlichen Unsterblichkeit ein Kompromiß geschlossen
werden. Das Nirwana nun hat dieses Problem glänzend gelöst: die
gänzliche Gleichgewichtsstille innerhalb des Lebens, der Tod inner¬
halb des Lebens, das zur Ruhe gelangte Leben innerhalb des Todes.
Der siegende Todestrieb innerhalb des ewigen Lebens. Gewiß, die
Hindus haben das Leben und den Tod in ihren tiefsten Tiefen empfun¬
den. Das Nirwana ist Ciwa, wenn sein Tanz zu Ende ist.
Batavia (Java), Mai 1923.
MUSIKPSYCHOLOGISCHE PROBLEME 1
Von Dr. SIGMUND PFEIFER (Budapest)
(Vorgetragen auf dein VII. Int. Psychoanalytischen Kongreß in Berlin)
I
Die Psychologie der Musik wurzelt in der Biologie. Diesen Zu¬
sammenhang haben die meisten Biologen und Psychologen bestätigt,
die sich mit Musik befaßt haben, um nur Darwin, Spencer, Wallace,
K. Groos, R. Lach zu nennen. Deshalb wiederhole ich hier kurz die
Grundzüge einer Entwicklungstheorie der Musik, die ich schon im
Ungarischen Psychoanalytischen Verein vorgetragen habe.
Wir müssen Darwin darin beistimmen, daß die Musik der Tiere
in enger Beziehung zu ihrer Sexualität steht. Die geringen Abwei¬
chungen ändern nichts an dieser Erfahrung. In der Entwicklungsreihe
begegnen wir der Musik bei den Amphibien; schon die Frösche sin¬
gen in ihrer Paarungszeit. Das sind die Tiere, welche die Kunst
fertiggebracht haben, dauernd auf dem Trocknen zu leben, also aus
dem körper- und lebensfremden Stoff Luft einen körpereigenen zu
bilden. Die Luft wird nachher als Bestandteil des eigenen Körpers
behandelt, mit Ichlibido, narzißtischer Libido besetzt, und seither
nimmt sie teil an den Vorgängen des Ich.
In den drei Abhandlungen über Sexualtheorie wird von den Partial-
trieben erwähnt, daß sie einerseits den Sexualakt einleiten und zu ihm
i) Auszug aus einer Arbeit über Musikpsychologie und Ästhetik im Lichte der Psycho¬
analyse.
454
S. PFEIFER
führen, andererseits, daß sie einst im Laufe der Arten I wickhmg adäquate
Sexual Betätigungen ge wesen sein mögen. Biologisch betrachtet bedeutet
das, daß die Li bido bei jeder neuen Position ihre früheren Entwicklungs¬
stadien durchlaufen muß. Wir wissen auch, daß sie an diesen haften
bleiben und zu ihnen regredieren kann. Da wir der Musik unter den
Vorlustmechanismen der Paarung begegnen, müssen wir sie auch
entwicklungsgeschichtlich ebendort suchen, also irgendwo vor der
Genitalstufe. In der Vermehrung der Fische, die ihre Sexualprodukte
in das Meer entleeren, wo die Befruchtung erst stattfindet, ist noch
eine prägenitale Stufe zu isolieren, und zwar die primitivste, die
Zellteilung, als eine durchwegs narzißtische. Bei der Zellteilung und
Sprossung geht die periodisch einbrechende Sexualität mit einer Er¬
höhung der narzißtischen Libidospannung im Plasmakörper einher,
die durch die Abstoßung eines Teiles der libidoerfüllten Masse materiell
abgeführt wird, nachdem der sehr wahrscheinliche Entlastungsver¬
such durch Bildung von Libidodepots an der Körperoberfläche oder
in ihrer Nähe sich auf die Dauer nicht bewährt hat. Es ist voraus¬
zusetzen, daß dieser Mechanismus auch bei den späteren Sexual¬
regungen in der einen oder anderen Form in Gang gesetzt wird, be¬
vor die höchste Stufe der Sexualität, die Befriedigung am Objekte,
erreicht wird. Es wird versucht, die erhöhte narzißtische Spannung
zuerst an die erogenen Zonen der Körperoberfläche zu binden. Da¬
durch werden diese mit Libido besetzt, ihre muskulären Elemente,
wie ein jeder libidobesetzte Muskel, geraten in einen erhöhten Tonus,
was die Grundlage zur Tonisierung des Klanges bildet. Bei einem
weiteren Schub der Libidospannung genügen diese Bindungen nicht
mehr, sondern der Organismus greift zu dem obengenannten Mittel,
dieses Mehr an Libidospannung durch die materielle Projektion los-
zuwerden, die ihm durch die Auffindung eines geeigneten Objektes
auch schließlich, aber nicht so leicht, gelingt. Die individuelle Sexuali¬
tät muß zuerst auch zeitlich, wenn auch en miniature, den durch die
Phylogenese vorgeschriebenen Entwicklungsweg gehen — was uns
als Reifungsvorgang imponiert —, und während dieser Latenzperiode
MbSIJ^SYXJl^OG^SCJlE^ FRO BLEME^ 45s
im kleinen wird zur Verringerung der narzißtischen Libidospannung
zu intermediären Mitteln gegriffen. Der Organismus könnte es wieder
versuchen, durch Abstoßen eines Teiles die Spannung loszuwerden,
aber bei den höher organisierten Wesen mit ihrer Zelldifferenzierung ist
dies allmählich unmöglich geworden. Der Organismus greift dann zum
Ausweg, sich seiner Libidospannung mittels des Ausstoßens eines geeig¬
neten Ersatzstoffes, z. B. der Luft, durch eine geeignete Pforte, durch
einen Sphinkter: den Kehlkopf, also durch eine erogene Zone zu ent¬
ledigen. Hier ist die Geburtsstätte des Gesanges und damit aller Musik.
So hypothetisch all dies klingt, es entbehrt keineswegs der Unter¬
stützung durch biologische Tatsachen. Die narzißtische Libidoan¬
sammlung in der Paarungszeit hat ihren materiellen Ausdruck in der
zoologischen Tatsache, daß viele Tiere in der Brunstzeit die verschie¬
densten körperlichen Vergrößerungen, Kämme und erektile Organe
zeigen, welche zugleich mit dem Anwuchs der Libido erscheinen und
sich vergrößern. Unser besonderes Interesse beanspruchen aber jene
Einrichtungen, welche dazu dienen, diese Vergrößerung des Körpers
gleichsam zur Verteilung und Verdünnung der Libido auf mehr
libidotragenden Stoff durch Luftansammlung zu erreichen. Solche
Lufttaschen, welche meistens mit dem Atmungsapparat Zusammen¬
hängen und mit der Phonation in enge Beziehung treten, sind bei den
Fröschen, gewissen Kriechtieren und den nächstverwandten Vögeln,
den exquisiten Singtieren, anzutreffen. Ich erinnere Sie an die äso¬
pische Fabel der rana rupta, wo die Eitelkeit, ein Symptom des Nar¬
zißmus, durch den aufgeblasenen Frosch nicht zufällig dargestellt
wird. 1 Auch im Kinderspiel wird diese biologisch begründete Eignung
im Frosche entdeckt und es hat Mittel gefunden, die Frösche sich
bis zum Bersten aufblasen zu lassen.
Diese narzißtische Libido tragende Luft wird dann statt des nar¬
zißtische Libido tragenden Plasmas ausgepreßt, und zwar durch eine
erogene Zone, einen Sphinkter, den Kehlkopf, dessen ebenfalls libido¬
gefüllte Muskeln sich im tonischen Kontraktionszustand befinden.
1) Das Beispiel lflbe ich seither auch bei Darwin verwendet gefunden.
45 6
S. PFEIFER
Die so durchströmende Luftsäule bringt die Stimmbänder in perio¬
dische Bewegung, die eigentlich Folge und Ausdruck der tonischen
Erregung ihrer Muskeln ist und übernimmt dadurch neben ihrer
narzißtischen Libido noch die Lust der passierten erogenen Zone,
welche beide dem primitiven, einfachen, lang ausgehaltenen musi¬
kalischen Ton seinen eigenen Klangreiz verleihen. Dieser ist also eine
Projektion, richtiger eine Ejektion der gestauten primär-narzißtischen
und der autoerotischen Libido eines sexuell erregten, jedoch zur eigent¬
lichen Objektsexualität noch nicht vorgedrungenen Organismus mit¬
tels eines ziemlich weit entmaterialisierten Ersatzstoffes. Theoretisch
steht der Gesang den Erscheinungen der Hysterie am nächsten, ge¬
kennzeichnet durch die Rolle der erogenen Zone und durch die Toni-
sierung der Stimmuskel — allerdings nicht auf genitaler Grundlage,
es muß vielmehr sein Fixationspunkt in die anal-sadistische Phase
verlegt werden5 dies würde also einer Aufstellung Abrahams ent¬
sprechen, in welcher er uns an die Möglichkeit von Konversions¬
erscheinungen auf analsadistischer Grundlage erinnert. Wir müssen
uns den Ursprung des Gesanges sogar etwas präsadistisch denken, in
der Tat geht auch der Gesang der Vögel in die sadistische Verfolgung
des Weibchens und dann endlich in den Koitus über. Es erfolgt auf
diesem Wege also eine Erhöhung der sexuellen Erregung von dem
narzißtischen Niveau auf das der Objektlibido, wobei das Widerstreben
des Narzißmus vom Vogel gleichsam abgesungen werden muß. Diese
Theorie deckt sich also nicht mit der darwinistischen, da letztere den
Gesang als ein primär-erotisches Reizmittel auffaßt, während ihm
diese Bedeutung höchstens sekundär zukommt. Der Gesang soll im
Gegenteil ein Versuch zur Abführung der Libido auf einer früheren,
primitiveren Stufe sein, als die der Genital ität.
n
Wenn wir uns jetzt in möglichster Kürze zum anderen Pol der
musikpsychologischen Probleme wenden, zum Inhalte des musikali¬
schen Ausdruckes, so finden wir zunächst, daß die Ansicht, der In-
Ml^SIKP^YCI^O^LOGI^CB^ PROBLEME 457
Kalt der Musik sei nur Ausdruck, in ihrem postulierten biologischen
Ursprung ihre volle, sozusagen wörtliche Bestätigung findet. Was
wird aber durch die Musik ausgedrückt? Die neueren Musikpsycho¬
logen sind darin einig, daß die Musik keinen objektiven Inhalt hat,
es sind nur Gefühle, nach Hanslick sogar das Dynamische und
Figürliche an ihnen, welche ausgedrückt werden können. Das ent¬
spricht der narzißtischen und autoerotischen Natur der Musik: sie
kann alle Vorgänge des Ich ausdrücken, welche durch eine narzi߬
tische und autoerotische Libido besetzt sind, vor allem aber alle
Schicksale und Wandlungen der Libido und der Triebe, soweit sie
sich auf unser Ich beziehen, aber die Musik kann nichts ausdrücken,
wenn die Libido in eine Objektbindung tritt. Also nie einen Wunsch,
wohl aber die Wunscherfüllung selbst. Mit andern Worten: die Musik
kann die funktionelle Seite alles seelischen Geschehens ausdrücken
im Sinne des funktionellen Phänomens oder der Sy mbolik nach Sil -
berer und dies entspricht auch ihrem narzißtischen Charakter, da
nach einer Aussage Ferenczis das funktionelle Phänomen nichts
anderes ist als der Anteil des Narzißmus an der Symbolbildung. In
der Musik tritt dies in seiner vollen Reinheit isoliert auf, die Bewe¬
gungen unserer Ichlibido, ihre Anteilnahme an unseren seelischen
Vorgängen ist im musikalisch Ausgedrückten wiederzufinden . 1
Der Musik fehlt also allen anderen Künsten gegenüber die Mög¬
lichkeit, Objekte der Libido, außer unserem Ich, darzustellen. In
unserer objektiv orientierten Psyche erzeugt dieser Umstand eine
Lücke, die dann mit bewußten und unbewußten Phantasien sozu¬
sagen ausgestopft wird. Die musikalischen Mittel, der Klangreiz, der
Rhythmus und der dominierende Narzißmus erzeugen eine psychische
Regression auf die Arbeitsweise des Lustprinzips $ auf diesem Boden
läßt die von ihren Objekten abgelenkte Objektlibido durch Be¬
setzung der bewußten und unbewußten, erotischen und ehrgeizigen
Wünsche bunte und zahlreiche vorbewußte Phantasien, Tagträume
i) Musik ist demnach eine Kunst der „Ich-Erinnerungssysteme“. Vgl. Ferenczi:
„Über den Tic“. I. Z. 1922.
458
S. PFEIFER
erwachsen, versucht also auf diesem Umwege wenigstens einen Teil der
Wunscherfüllung am Objekte zu retten, welche aber mit dem Wesen
der Musik nur in sekundärem Zusammenhänge sind. Diese objektlibi-
rlinösen Tagträume und Phantasien, die in anderen Künsten das Ma¬
terial abgeben, aus dem der Künstler den Stoff zu seinem Schaffen
nimmt, sind in der Musik nicht wesentlich $ wenn vorhanden, dann
sind sie nur sekundärer und komplementärer Natur, und bilden sich
erst in der Psyche des Zuhörers aus. In dieser Hinsicht kann die
Musik eine Kunst in zwei Phasen genannt werden.
Noch schärfer wird diese Eigentümlichkeit beleuchtet, wenn wir der
ähnlichen Spaltung gedenken, die sich in einer exquisit objektiven
Kunst: der Malerei vor unseren Augen abgespielt hat. Dort hat einer¬
seits eine Abzweigung des Futurismus: der Simultanismus, alles Funk¬
tioneile abgestreift und gefällt sich in der Darstellung eines gleichzeitigen
Denkinhaltes, etwa einer Assoziationskette vergleichbar, während der
Expressionismus immer mehr auf das Objekt verzichtet, um den Aus¬
druck der es umwogenden Libido- und Ichvorgänge zu akzentuieren.
Nicht nur theoretische Erwägungen, sondern auch das Beispiel der
Musik ermöglichen es, für den Expressionismus eine bessere Prognose
quoad vitam zu stellen, die schon bisher durch die Kunstentwicklung
gerechtfertigt worden zu sein scheint. Allerdings kann die expressio¬
nistische Malerei ebensowenig je wirklich gänzlich objektlos werden
wie die Musik objektiv, trotz ihres asymptotischen, nie vollkommen
zum Ziele führenden Strebens in dieser Richtung.
Zweier scheinbarer Ausnahmen müssen wir hier gedenken. Die
erste entsteht dadurch, daß die Musik auch Vorgänge der Objektlibido
auszudrücken scheint — sie schwindet mit der Einsicht, daß es auch
hier immer nur die parallelen Bewegungen der Ichlibido sind, welche
nachgebildet und ausgedrückt werden. Zum Beispiel kann die Musik
nicht einen bestimmten Koitus, sondern den Koitus überhaupt, seine
Pulsion, seine Spannung, seine Lust ausdrücken. Die Objektwelt
spiegelt sich auch in unserer Musik, denn die Entwicklung zum Ob¬
jektniveau durch Jahrtausende hat ihre Spuren auch in der Musik
MUSI yr PS YCHOL 0 GISCHE PROBLEME 45g
hinterlassen, aber das Prinzip des Narzißmus konnte nicht übertreten
werden, die Objektwell wird in der Musik nur als Störer des narzi߬
tischen Befriedigungszustandes, als Hindernis und Stauung auf dem
Wege zur Wunscherfüllung dargestellt, in der Hauptsache durch die
verschiedenen Kontraste, Konflikte, Dissonanzen, Zurückhaltungen,
um nur die wichtigsten zu nennen. Die zweite scheinbare Aus¬
nahme bilden die körperlichen, besonders die autonomen Vorgänge,
welche in den Analysen musikalischer Einfälle oft mit Deutlichkeit
zutage treten. 1 Diese verdanken aber ihre musikalische Darstellbar-
keit der innigen Verknüpfung ihrer Funktion mit Verschiebungen
und Veränderungen der Organlibido, meistens sind diese Organe,
deren Funktion in der Musik ausgedrückt wird, erogene Zonen, so
daß die Musik nur ihrer eigenen Natur treu bleibt, wenn sie die Li¬
bidovorgänge der autoerotischen Libido darstellt. Unter diesen spielt
die analerotische Zone eine ausgezeichnete Rolle. Sie ist ja auf unserer
Organisationsstufe der rechtmäßige Erbe und Vertreter jener Art des
Ablaufes von Libidospannungen, welche einst zur Entstehung der Mu¬
sik geführt hat. Ich erinnere nur an Ferenczis Feststellung des häu¬
figen Vorkommens der infantilen Lust am Flatus in den Analysen
der Musiker und Musikfreunde. Die Darstellung der Organlust ist
die Grenze, bis zu der die Musik in der Objektdarstellung gehen
kann, also bis zur Darstellung der Funktion des eigenen Körpers, des
materiellen Ich. Fremde Objekte können nur insofern dargestellt
werden, als eine narzißtische Identifizierung mit ihnen und somit
ihre Belebung möglich ist. 2
Dieses Verweilen der Musik auf dem Niveau des Narzißmus ver¬
leiht ihr die eigentümliche Fremdheit unserem objektiv orientierten
Denken gegenüber. Dazu trägt aber noch ein Umstand wesentlich
bei. In der Musik lebt noch eine Weltauffassung, welche der narziß-
1) Man vgl, dazu, wie der Traum oft somatische Reize symbolisch auslegt, z. B. eine
Erektion durch Steigen.
2) Die Möglichkeit einer Klangnachahmung (und in weiterem Sinne einer Programm-
inusik) ist mit diesen Gedankengängen gut vereinbar.
460
S. PFEIFER
tischen und autoerotischen Libidoorientierung vollkommen konform,
sogar die einzig adäquate ist, nämlich der Animismus. Es wird nicht
weiter überraschen, wenn wir die oben erwähnten EnLstehungsbe-
dingungen der Musik mit denen einer animistischen Belebung in
R 6h ei ms Studie über das „Selbst“ in diesem Jahrgange der Imago ver¬
gleichen. Diese sind ganz gleich: hier wie dort Unterbringungen des
Narzißmus und autoerotischer Libido durch Projektion, besser gesagt
durch Ejektion der Libido, meistens mittels eines libidobesetzten Stof¬
fes. Unter diesen spielt im Animismus der Atem eine ausgezeichnete
Rolle, lieferte ja die Hauchseele eine Hälfte des Seelenbegriffes, der
sich bis zum heutigen Tag in der Identifizierung des letzten Atem¬
zuges mit der entweichenden Seele festhielt. 1 In der höchsten Ent¬
wicklung der Musik wird das Gefühl des Animismus durch den mu¬
sikalischen Ton unmittelbar erweckt und erreicht seine besonders
lebhafte Ausprägung in der Melodie, in den Stimmen, die in uns un¬
fehlbar den Eindruck des Lebendigen, des Beweglichen, durch eine
besondere Kraft Beseelten erwecken, ohne daß wir wissen, daß es eine
nicht mehr geduldete Arbeitsweise der Psyche ist, welche in uns den
der Musik eigentümlichen Eindruck erweckt. Viele Eigentümlichkei¬
ten und Regeln der Melodie und Stimmführung sind aus ihrem Ani¬
mismus zu erklären. Daher auch die enge Verbindung zwischen Ge¬
sang und Magie, der Technik des Animismus. Zaubern heißt incan -
tare, enchanter 3
Der gemeinsame Eindruck der Musik setzt sich folgendermaßen
zusammen: erstens aus der unmittelbaren narzißtischen und autoero¬
tischen Lustwirkung, zweitens aus der animistischen Veränderung
unserer Apperzeption der Musik gegenüber und drittens aus dem All-
0 Hierzu vgl. inan noch das Pneuma in der christlichen Mythologie, das in Gestalt
eines Vogels durch das Ohr schwängert. Die Identifikation des Flatus init dem Teufel ist
allgemein bekannt. Siehe Jones, Die Empfängnis der Jungfrau Maria durch das Ohr.
Jahrb. VII.
Freuds Meinung, jede Kunst sei ein Versuch, die verlorengegangene Allmacht zu
retten, findet demnach in der Musik ihre volle Bestätigung. S. auch Combarieu: Musi-
que et Magie.
_ MUSI KP S YC_H_ 0 L 0 G ISC HE PROB LE ME 461
gemeingefühl der durch die musikalischen Mittel verursachten Re¬
gression unseres Denkens von der Stufe des Realitätsprinzips auf die
des Lustprinzips. Dem letzten Zuge entspricht die komplementäre,
wünsch erfüllen de Phantasietätigkeit beim Musikhören.
Inhaltlich konnten wir die objektlose, funktionelle Art des musi¬
kalischen Ausdrucks als eine Folge der Entstehungsbedingungen der
Musik und der entwicklungsgeschichtlichen Fixierung der beteilig¬
ten Libido auf narzißtischer und autoerotischer Stufe feststellen. Die
Musik ist jenes psychologische Gebiet, wo wir wirklich isolierter Libido¬
symbolik begegnen, 1 wie sie Jung irrtümlicherweise für andere auch
auf der Objektstufe abfließende psychische Vorgänge postuliert hatte.
Aber die Musik ist auf dem Wege entstanden, den eigentlich die
Erotik von der narzißtischen zur Objektsexualität geht und der den
Schwung der Etatwicklung in der Richtung der objektiven Betätigung
der Libido enthält. Daraus können wir eine Erklärung für die heutige
Entwicklung der Musik und einen Schluß, ich möchte sagen, eine
Prognose, für die Musik der Zukunft gewinnen. Die Hauptströmung
der Musikentwicklung von heute wird dadurch charakterisiert, daß
sie auf die primäre, sinnliche, also narzißtische Lust mehr und mehr
verzichten will und in die Musik Kompliziertheiten der Melodik
und Rhythmik hineinbringt, die zwar geeignet sind ihre Ausdrucks¬
fähigkeit aufs äußerste zu erhöhen; aber sie bringen die Musik der
Sprache, also den parallelen, aber auf der Objekt- und Realitätsstufe
differenzierten Arbeitsmitteln der Seele in die Nähe. Wir sind ge¬
wohnt diesen Zug, den Drang in der Richtung des Objektiven, wo
er sich in der Musik zeigt, mit entsprechenden Bezeichnungen zu be¬
legen, z. B. dort, wo dieser Zug am ausgesprochensten ist, in der
Durchführung, spricht man von einer „thematischen Arbeit“, welcher
Ausdruck ja die höchste Stufe der Anpassung an die Objekt weit be¬
deutet. Dieser Drang wird gewiß der „radius vector“ in der künf¬
tigen Entwicklung der abendländischen Musik werden und dazu füh-
1) Verwandte Erscheinungen auf dem Gebiete der Mathematik und Grammatik wollen
unter anderem Gesichtspunkte betrachtet werden.
4Ö2
S. PFEIFER
ren, daß die Musik die immer wachsende Kompliziertheit unseres
Wunscherfüllungsapparates durch das immer mehr und verschieden¬
artig verzögerte Zulassen und Eintreten einer narzißtischen Befrie¬
digung nachzubilden trachtet. Andererseits bedroht er die Musik mit
dem Ausgange, daß Musik in eine Art Sprache einmündet und da¬
durch aufhört Musik zu sein, eine Kunst, die ihre, ihr durch die Li¬
bidoentwicklung gesetzten Grenzen nie verlassen kann, ohne ihren
Charakter aufzugeben, wie z. B. in gewissen Ausartungen der futu¬
ristischen Musik, anstatt objektloser Kunst bis zur kunstlosen Objek¬
tivität zu werden. Es scheint mir aber sicher zu sein, daß zum Glücke
für die Musik und alle anderen Künste die vorwärtsschreitende see¬
lische Ent wicklung und Anpassung immer wieder neue Regressions¬
spannungen schafft, die hoffentlich nicht nur zur Entwicklung neuer
Neurosen, sondern auch neuer Kunstformen führen werden.
INFANTILISMUS IN DER MALEREI'
Von A. VAN DER CHIJS, Nervenarzt in Amsterdam
Knappert hat uns ein sehr bedeutendes Stück Analyse einiger
Werke von einem bekannten Kunstmaler gegeben. Der Zufall versetzt
mich in die Lage, Ihnen etwas Ähnliches zeigen zu können, obwohl
von ganz anderer Art. Ich fühle mich um so mehr veranlaßt, dies
initzuteilen, weil Stärcke in Antwerpen auf dem zweiten Kongreß für
moderne Kunst einen Vortrag über Psychoanalyse und Ästhetik hielt,
in welchem er zu Ergebnissen kam, die mit denen dieser Arbeit über¬
einstimmen. Stärcke äußerte nämlich die Meinung, daß die höchsten
Schöpfungen des Genies aus einem tief wurzelnden und unbewußten
Infantilismus des Künstlers emporschießen, und daß es ein gemein¬
schaftliches Kennzeichen von vielen großen Kunstwerken ist, daß sie
die Blutschande zum Gegenstand haben. 1 2
Die Arbeit über den Maler, den wir X nennen wollen, glaube ich
• als eine Bekräftigung dieser Auffassung betrachten zu dürfen. Patient
kommt zu mir, weil er verspürt, daß seine Schöpfungsfähigkeit ge¬
brochen ist. Mehrere vorgenommene Ölgemälde mißlingen. Er zeigt
tnir kleine Skizzenbücher, die von effektivem Abstieg zeugen. Tatsäch¬
lich sind diese nur, wie er selbst sagt, „Probierungen“ zu nennen. Er
1) Nach einem Vortrap in der „Nederlandsche Vereeniging voor Psycho-analyse“
Febr. 1922.
2) Siehe dazu Rank, „Der Künstler.“ 1907 (2.verbesserte Aufl. 1918) oder „Das Inzest-
motiv in Dichtung und Sage“ 1912.
464
A. V A-N DER CHLJS ___
konnte sich nicht darüber emporheben und geriet daher in einen
Zustand von Introversion mit Gefühl von Machtlosigkeit.
Man gestatte mir, einige Tatsachen aus seinem Leben mitzuteilen.
Als sein Vater starb, machte dessen Tod keinen Lindruck auf ihn.
Als seine Mutter hinschied, war der Eindruck ein starker. Er war
auf der Tubantia, als diese torpediert wurde. Beim Herunterlassen in
das Rettungsboot war seine Aufmerksamkeit stark auf seine Mutter
konzentriert. Einmal bekam er Prügel von seinem Vater, als er „du
kannst verrecken“ gesagt hatte. Später, aber noch als Kind, sagte er
zu seinem Vater: „Ich werde dich mit einem Messer durch deinen
Buckel stechen.“ Es bestand ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl
zwischen ihm und seiner Mutter, seiner Schwester und seinem Bruder
gegen den Vater. Seine Mutter zog ihn den Geschwistern vor. Er
erzählte ihr alles. Sie war ein überlegener Geist, weise und klar.
Nun zu seinem Werk. Die erste Zeichnung, die er vorzeigt, ist die
Wiedergabe eines Traumbildes, das Patient, der jetzt Vierziger ist, schon
als Kind, und seither immer aufs neue geträumt hatte. Er beschreibt
es folgendermaßen: „In einem unbegrenzten dunklen Raum ein außer¬
ordentlich kleiner drohender Punkt, auf den ich scharf meine Auf¬
merksamkeit. konzentrieren mußte. Er näherte sich mir, und die kon¬
vexe bräunliche Umgebung, die fortwährend aus dem kleinen Punkt
geboren wurde, kam über mich, und dann war es vorbei.“ Dabei be¬
stand Angstgefühl und später verband sich damit eine Geruchsemp-
findung. Die Analyse zeigt, daß wir es hier mit einer Vorstellung der
„Mamma“ zu tun haben. Es ist das jedesmal zurückkehrende Ver¬
langen nach der Mutter. Er dachte dabei an eine Frauenbrust und
stellte sich die Frage, ob er sich an die Brust seiner Mutter erinnern
könne.
Eine zweite Zeichnung gibt dieselbe Vorstellung in der Form eines
Springbrunnens wieder, der in Verlangen nach Erkenntnis aufsteigt,
um wieder zum Ursprung des Entstehens, zur Mutter, die ihm ein
Beispiel in der Weisheit war, zurückzukehren. Diese Springbrunnen¬
figur, von oben gesehen, zeigt sich als der drohende kleine Punkt aus
(Van der Chijs: Infantilismus in der Malerei)
Kumt bei ln ge zu Imago IX \4
Fig 2
4&5
UIJANTLLIS MVS^ 1 N DER MALEREI
dem vorhergenannten Traumbild. Nach dieser Analyse kehrt das
Traumphänomen wieder zurück, doch jetzt deutlicher als Mamma,
die ihm selbst in den Mund kommt. (Ich gebe zu, daß dies auch als
Suggestion erklärt werden kann.)
Jetzt folgen zwei Träume, beide illustriert. Im ersten wirft eine
ältere Frau Marmorkugeln aus einer Tür. Diese Marmorkugeln be¬
schreiben nun, wie sie vom Boden aufspringen, Bogen, die die Form
von Mammae haben, und kehren dann wieder zur Frau, und zwar
an die Stelle ihrer Brust, zurück. Diese Frau ist die Mutter. Sie wirft
die Mammae von sich weg, sie will ihn „entwöhnen“, aber sie keh¬
ren unerbittlich zu ihr zurück. Die Amputation mißlingt.
Der nächste Traum stellt einen Adler vor, der im Begriff ist, zwei
kleineren Vögeln nachzufliegen. Patient ist selbst der Adler, die
zwei Vögel seine Frau und eine frühere Freundin. Aber hierbei denkt
er auch noch an seine Mutter, also an drei Frauen, und an den Traum
mit dem kleinen Punkt. Es war nämlich, als ob die zwei Vöglein zu¬
sammen zum kleinen Punkt würden, m. a. W. als ob die zwei Frauen
sich zusammen in die Mutter auflösten.
In der Liebe stellt er Forderungen, wie ein Kind sie an seine Mutter
stellt. Er sucht in ihr das Höhere, den Himmel, die Gottheit, das
Allumfassende. Dieses Streben gibt er in Form eines farbigen Kreises
wieder. Der Mittelpunkt ist das „göttliche Prinzip“ (auch wieder
eine runde Figur mit beherrschendem Punkt in der Mitte), ebenso¬
wenig wie Gott an Eigenschaften zu erkennen, also farblos. Von dort
aus wird der ganze Kreis beleuchtet. Je weiter vom Mittelpunkt, um
so stärker werden die vom Zentrum kommenden Strahlen in vielen
Nuancierungen gebrochen. Je weiter von der Mitte, um so mehr
Platz für Entzweiung. Patient sagt: „Wir suchen die Wahrheit, das
Licht vom Zwiespalt aus* wir folgen, von der Peripherie des Kreises
ausgehend, den Strahlen nach der Mitte zu. Die Wahrheit können
wir nicht erkennen, solange die Liebe, die Ewigkeit und die Un¬
endlichkeit von unserem Bewußtsein nicht erfaßt werden.“
Sie sehen, wie auch er, ganz wie der Maler, von dem Knappen
JO Imago IX| 4
A. VAN DER CHIJS
466
berichtet, sich in philosophischer Sprache ausdrückt, jedoch finden wir
hier normale, gesunde, keine verwirrten Vorstellungen.“
Dieses Suchen nach dem Höheren, dem Geistigen, wird erschwert
durch das Niedrigere, das Tie¬
rische. Hierin liegt sein Kon¬
flikt. Die Äußerung davon fin¬
den wir im nächsten Traum:
Eine Matratze entrollt sich über
ihn, umschlingt ihn bis zur
Mitte des Leibes. Er sieht vor¬
aus, daß er, wenn die Matratze
auf seinen Kopf kommt, er¬
sticken wird, jedoch sie biegt
sich dann in einem Bogen über
seinen Kopf hinweg, bedeckt
also Kopf und Oberkörper nicht.
Der niedrigere Unterkörper
wird erstickt, das geistig Höhere
bleibt frei, triumphiert. Dazu
läßt sich noch bemerken, daß
der Kopf (er zeichnete auch die¬
sen Traum) deutlich an einen
Christuskopf erinnert.
Schließlich träumt Patient,
daß er seine Mutter koitiert,
mit unmittelbarem Verständ¬
nis dafür, daß es eine schlechte
Handlung sei. Er dachte dabei
an Ödipus-, obwohl er den Be¬
griff „Ödipuskomplex“ aus der Analyse noch nicht kannte.
Jetzt folgt obenstehende Zeichnung (Figur 1), in die sehr viel
Material zusammengedrängt ist, so daß wir gewiß nicht alles heraus¬
fanden, was darin bearbeitet ist. Hauptsächlich stellt sich dieses Eine
IJIFAJITLLISMLS in DER MALEREI
467
heraus: Ein Katzenkopf auf einem Stück Rumpf. Es ist X selber (er
zeichnetein diesen Tagen gerade viel Karikaturen). Die Nase springt
stark hervor (Zeuge der starke Schatten darunter), stellt aber zugleich
die Symphyse des weiblichen Beckens vor, hier besonders ausgedehnt
gezeichnet. Es steht dies in Beziehung zu hier nicht näher zu be¬
zeichnenden Geschehnissen. Der Körper unter dem Kopf ist der
Längsschnitt durch eine Vagina. Patient sagt: „Man kann hoch steigen
in Gedanken, aber der Körper bleibt von den Lüsten umfangen.“
Ich erinnere hierbei nochmal an den Traum, in welchem der Unter¬
körper unter die Matratze versenkt wurde. Im Nasenteil finden wir
noch mehrere phallische und andere sexuelle Symbole, in der Mitte
die maximale Erektion, rechts und links den schon früher genannten
Springbrunnen, aus welchem die Gedanken im Verlangen nach Er¬
kenntnis aufsteigen. Das Phallische ist darin sozusagen veredelt. Das
sexuell Potentielle, sagt Patient, ist nicht deutlich, es sei denn, daß
man ein Tier ist. Merkwürdig ist die Übereinstimmung dieser Zeich¬
nung mit einer anderen, die ich früher besprach, und die von einem
Kollegen dieses Malers stammt. Auch in ihr erkannten wir im Kopfe
(als Nase) den erigierten Phallus als befruchtendes Symbol. Der weit¬
geöffnete Mund bedeutet, wie Patient sagt, daß ein Künstler ein
Prophet sein soll. „Das wissen die Leute nicht. Wir müssen sie er¬
leuchten, unsere Stimme hören lassen, ihnen die Wahrheit verkün¬
den.“ In der letzten Zeit wird er in dieser Hinsicht aggressiver, zeigt
mehr die Nägel, findet sich selbst etwas katzenhaft. Dann hat er eine
jetzt nur noch schwach ausgeprägte, linksseitige Facialis-Parese. In
dieser Zeichnung ist diese, wie aus der symmetrischen Innervation
zu ersehen ist, ganz aufgehoben. Es war ihm hinderlich, daß seine
Genesung noch nicht vollkommen war. Die Zeichnung bringt also
eine Wunscherfüllung. Die Brille, die die Katze trägt, deutet an daß
er seinen Kneifer, der schon seit langem gebrochen ist, wiederher¬
stellen lassen und wieder tragen muß, um alles besser zu sehen. Über
dem Kopf strahlt, genährt von der Potenz, das Licht aus, das er unter
die Menschen bringen muß, indem er seine Stimme erhebt. Es ist
3**
468
A. VAN DER CHiyS
die Sonne, die Weisheit, das Vergeistigte gegenüber dem niedrigeren
Tierischen.
Während der Analyse zeichnet er, einfallenden Gedanken gemäß,
einige augenscheinlich verwirrte, unzusammenhängende Kritzeleien.
Durch die Analyse jedoch zeigt sich, daß er hauptsächlich folgendes
mit ihnen andeuten will: „Das Licht und die Finsternis, den Men¬
schen, dem Schmerz und Glück zuteil wird, das Suchen nach Licht
als Befreiung, die freie Äußerung, die ungezwungene Linie“. In
diesen Hieroglyphen läßt sich deutlich ein heller gegenüber einem
dunklen Teil erkennen. Im dunklen ist ein Kopf mit verbundenen
Augen mit einem sinnenden, introvertierten Ausdruck und darunter
eine ägyptische Pyramide, verknüpft mit Gedanken an uralte Zeiten,
an die graue Vorzeit, zu unterscheiden. Im hellen Teil begegnen wir
deutlich phallischen Symbolen, so einer Säule, einem Bäumchen mit
Orangen, der Sonne als Kugel, mit einem davor niederfallenden
dicken Tropfen, so daß beide zusammen das männliche Genitale bil¬
den. Die Potenz enfaltet sich, strahlt als eine leuchtende, kraftspen¬
dende Sonne, löst sich ab vom sinnenden, suchenden, in sich gekehrten
Menschen, und stellt sich ihm gegenüber. Dieses Suchen nach Be¬
freiung nun war einer unfruchtbaren Periode vorhergegangen, in der
wiederholt depressive Phasen auftraten, vor allen Dingen charakteri¬
siert durch große Hemmung im künstlerischen Schaffen. Während
der Analyse wurde es immer deutlicher, daß Patient an einem star¬
ken Mutterkomplex und infantilen Neigungen litt. Er arbeitete ohne
Befriedigung und unproduktiv, es war als ob ihn etwas hemmte.
Da entstand die Christusfigur (Figur 2). Wir finden hier, in der
Aureole, einen stärker hervorschwellenden runden Teil, während der
Rahmen des Ganzen die Form der Vulva s. Introitus Vaginae hat.
Das Kreuz, in der alten T-Form, steht aufrecht darin und am Kreuz
hängt Christus, i. e. Patient selber. All dieses braucht keine weitere
Erläuterung. Er erzählt hierzu: „Meine zweite Frau hatte ein Kind
in die Ehe gebracht. Von meiner Kunst allein konnte ich mit ihr
und dem Kinde nicht leben. Ich beschloß also hauptsächlich für den
INFANTILISMUS IN DER MALEREI
469
Verkauf zu arbeiten, um mehr zu verdienen. Ich opferte tatsächlich
meine Kunst, mein Ich für sie. Ich starb für sie wie Christus für die
Menschen.“
Diese Frau war also schon Mutter, ehe sie seine Frau wurde. Eines
seiner Bilder (Figur 4) stellt Mutter und Kind dar; die Frau trägt
darauf das an der Brust saugende Kind auf dem Arm. Er ist auch
selber das Kind an der Brust seiner Mutter (denken wir an den ersten
Traum von der Mamma mit dem kleinen Punkt der Mamilla). Er
vereint sich hier mit der Mutter, sucht, nachdem er erst durch den
erlösenden Tod zur Mutter zurückgekehrt ist, die Wiedergeburt, die
Auferstehung. Das Bild dieser Frau ist umgeben von einer Fülle zu¬
gehöriger Symbole.
Während er nun mehr oder weniger auf Bestellung arbeitete, also
sein Wesen vergewaltigte, suchte er andererseits nach Befreiung. Die¬
ses hoffnungslose Suchen finden wir sehr deutlich in verschiedenen
Skizzen, die oberflächlich betrachtet nichts anderes sind als meist
grillenhafte Figuren. Er ist wohl imstande, in Afrika und Spanien zu
reproduzieren, nicht aber zu schaffen. Auch diese Zeichnungen
sind wieder hauptsächlich Arbeiten von phallischen Symbolen. Wir
finden darin viel Bäume, Käfer, Schmetterlinge, alle in den präch¬
tigsten Farben. Ein Beispiel seines unvermuteten Suchens ist die Fi¬
gur 3, einer größeren Reihenfolge zugehörig. Es ist nicht schwer, in der
Mitte die geöffnete Vulva zu finden. Darunter liegt eine schlangen-
hafte Figur mit zwei runden Anteilen, das Phallische bedeutend, das
Ganze ein Ausdruck für die Hauptwurzel (das Bild stellt ursprüng¬
lich eine Pflanze mit Blüten vor), woraus andere dünnere Wurzeln
sich entwickeln. Alles zusammen versinnbildlicht dep Fortpflanzungs¬
gedanken, den Drang zum Schaffen. Doch ist zugleich der untere
Teil beeinflußt von Gedanken, sei es an die Gebärmutter, sei es an
den Arm, auf dem das kleine Kind von der Mutter getragen wird wo¬
bei die Übereinstimmung mit dem eben genannten Bilde (Fig. 4) von
Mutter und Kind geradezu überraschend ist. Obenan finden wir drei
Blumen. Sie sind die drei Frauen, die in seinem Leben eine große
470
A. VAN DER CHIJS
Rolle spielten. Oie erste ist seine frühere Gattin, die beiden anderen,
die wir im Adlertraume zum Mutterbegriff vereint fanden, bestätigen,
daß das Ganze eine Apotheose „des Muttergedankens, der Fruchtbar¬
keit, des Erzeugens“ ist. Die Blumen werden von einem Lichtkreis,
einer Aureole umgeben, in der wir wieder das phallische Motiv er¬
kennen. In ihm liegt der primäre Inzestgedanke verdrängt, der
schließlich zum Inzesttraum führte.
X war sich alles dessen vor der Analyse nicht bewußt. Er äußerte
sich einmal einem Freunde gegenüber, daß das Idealweib ihm doch
noch über die Kunst gehen würde, wenn er wählen müßte. Dieses
Bild machte er kurz nach seiner zweiten Heirat, als er eigentlich zum
ersten Male mit der großen Intensität eines glücklichen Liebeslebens
bekannt wurde. Es war ihm gewissermaßen eine Offenbarung, die
er hier zum Ausdruck bringt. In diese Reihe gehören auch zwei
reelle Frauenköpfe. Bemerkenswert ist darin die Ausbildung des
Haares, das ganz glatt wie eine Kappe den Kopf umrahmt. Eis ist
ein sozusagen immer wiederkehrendes Vulvamotiv. Das erste Bild
könnte man die weltliche Frau nennen, das zweite ist wie durch
einen Nebel gesehen, der Kopf immateriell geworden, vergeistigt. Es
ist ein Versuch, sich vom Mutterkomplex zu befreien.
Aber auch in einer ganz anderen Reihe sehen wir den Schöpfungs¬
drang, z. B. in seinem Werke „Die pflügenden Pferde“. Welch eine
Urkraft liegt in diesen feurigen, klobigen Tieren, wie sie in der Morgen¬
sonne die massiven Klumpen der Muttererde pflügen. Dann in einem
säenden Weibe auf dem Acker. Sie ist die Fruchttragende mit der
Gestalt einer Schwangeren. Es ist in diesem Bilde (auf dem das Weib
die Saat im Arm,trägt, in seiner Haltung ganz übereinstimmend mit
dem schon früher genannten Bilde von Mutter und Kind), als ob man
bei Durchleuchtung das Kind in utero liegen sähe. Schließlich fin¬
den wir eine Arbeit bei ihm, die Ernte darstellend, wobei die Garben
gebunden auf dem Felde stehen.
Doch alles das bleibt Versuch. Innerlich lühlt er sich stets noch
nicht frei. Jedoch beginnt, das, was er den gebrochenen Zustand sei-
INFANTIL!SMUS IN DER MALEREI
47*
nes Schöpfungsvermögens nennt, allmählich zu verschwinden. Eine
stärkere Lebensenergie und eine innerliche Aufklärung entwickeln
sich. Sein Kampf zwischen Hell und Dunkel, das Suchen nach dem
erlösenden Licht äußert sich wohl am deutlichsten in Figur 5, einer
Studie in Öifarbe, zu einer Zeit entstanden, da die Analyse bereits
vorgerückt war. Sofort fällt uns hier der dunkle Teil rechts, nament¬
lich unten, gegenüber dem links und oben anwesenden hellen Lichte
auf. Natürlich ist das auf dem farbigen Gemälde sehr viel deutlicher.
Wir finden hier rechts oben die drei Blumen von Figur 5 wieder,
aber die am meisten rechts ist sehr klein, fast unsichtbar geworden.
Zur Bestätigung der Tatsache, daß die Blumen Frauen sind, sehen wir
in dem am meisten links liegenden Köpfchen deutlich ein Antlitz,
Augen, Nase und Mund. Sie liegen, auch wieder deutlicher im Ori¬
ginal, durch einen dunklen Streifen von der hellen linken Seite ge¬
schieden, sie gehören mehr zur dunklen Hälfte, sind im Verschwin¬
den. Das ist wieder das bekannte Motiv der Befreiung von der Mut¬
ter, ihres Versinkens in die Finsternis. Die kleinste Blume rechts ist
deutlich violett gehalten. Diese Farbe benutzte X früher viel. Er
sagt, daß die Farbe ihm jetzt etwas Ängstliches gebe, daß er damit in
sein altes Farbengamma komme, daß ihn so lange verwirrt hatte.
Darum versucht er jetzt, dieses Violett los zu werden. Er läßt es mit
der Mutter verschwinden und sucht jetzt nach einer wärmeren Farbe.
Dann entdecken wir rechts unten eine totenkopfähnliche Erscheinung.
Es ist die Mumie des Pharao Cheops, der 5000 Jahre vor Christus
das größte Bauwerk der Erde schuf, das als Grab dient und ein wah¬
rer Totenacker ist. Bei der Blume rechts oben sprach X von Blumen
auf einem Grab. Es wird stets deutlicher, daß in diesem Totenacker
dasjenige begraben wird, was er als Hindernis in seiner Entwicklung
fühlte. Dieses Bild ist die Ausarbeitung der schon oben erwähnten
Zeichnung, die das Licht gegenüber der Finsternis, das Suchen
nach dem befreienden Lichte darstellte. Auch in ihm waren schon
der introvertierte Kopf und die Pyramide zu finden. Er ist selber
Pharao Cheops, der zu den Schöpfungsgesetzen des Weltalls durch-
47 2
A. VAN DER CBIJS
zudringen versucht. Wohl spricht auch hier sein Schöpfungsdrang,
aber es darf keine Rückkehr zur Vergangenheit geben. Erneuerung
braucht er, das Alte muß versinken in die Finsternis. Er begräbt „seine
Disputierlust, seine Philosophie, sein Suchen nach der höchsten Weis¬
heit“, denn auch diese Bestrebungen zeigten sich als Hemmungen
für ihn, in der Kunst aufzugehen. Dieser Gedanke wird verstärkt
durch einen noch unbestimmten Kopf, unmittelbar über dem ersten,
etwas nach links. Darin sieht X seinen Bruder oder einen Freund,
einen Mediziner, die ihm beide die „störende Intelligenz“ repräsen¬
tieren. Was mit kaltem Verstände dominierte, wirkte auf ihn erlah¬
mend. Zum Überfluß tritt in dieser Zeit ein Traum auf, in welchem
er dem Begräbnis seines Bruders beiwohnt, der gerade in ein Grab ge¬
legt wurde, in welchem seine Mutter schon begraben war.
Nach dieser ziemlich radikalen Aufräumung kommt jetzt die linke
Hälfte. Sofort trifft uns der große hell-lichte Bogen, auch wieder
dreigeteilt (in der Reproduktion undeutlich), sei es als Introitus-Vulvae-
Motiv oder als Gebärmutter im Durchschnitt. Darin liegt die höchste
Schöpfungskraft in Form der erhabenen Liebe. Es ist die Erneuerung,
die Wiedergeburt, die neue Farbe. Rechts, innerhalb des Bogens,
verspüren wir die Gestalt einer reifen, schwangeren Frau, die Säerin.
Sie hat rötliches Haar, trägt also die neue Farbe. Suchen wir in die¬
ser Figur das Profil nach der anderen Seite, nach rechts, dann erken¬
nen wir das Bildnis der Königin Wilhelmina mit der kleinen Krone,
wie es auf unsere Gulden geprägt ist. Die ganze Figur ist die Kö¬
nigin seines Herzens, seine eigene Frau, mit der er sich glücklich
fühlt, mehr als früher, da nun die verfügbare Libido sich ganz auf
sie konzentrieren kann. Unter dieser Frauenfigur, auch mit rötlichen
Haaren oder besser gesagt Federn geschmückt, steht ein Vogel, das
Männchen, der Hahn, chantecler oder ein Goldfasan, schön, kräftig,
potentiell, die starke Schöpfungsfähigkeit darstellend. Es ist X selbst,
als Wächter vor der Pforte seines Glückes stehend. Er ist wieder¬
geboren, erwacht, seiner Kraft bewußt.
Endlich ein letztes Gemälde. Es genügt uns, darin den „Urmen-
INFANTILISMUS IN DER MALEREI
473
sehen“ wiederzuerkennen, den X in sich fühlt. Auch diesen will er
in sich so viel wie möglich befreien, weil er im Alltagsleben durch
zu weit geführte Kulturbegriffe sich öfters zu vielen Dingen nicht
öffentlich zu bekennen wagte und sich also auch da gehemmt fühlte.
Er kam zur Wahl eines negerhaften Typus, weil er in Tanger viele
solche Menschen sah und in dem Buche „Die Wunder der Urwelt“
von Carl Neumann über den Urmenschen las.
Während X sich vor der Analyse alles Besprochenen ganz unbe¬
wußt war, finden wir von einer ganz anderen Seite eine Parallele zu
seinen unbewußten Schöpfungen in der folgenden Betrachtung, die
er mir zu lesen gab, weil sie ihn so besonders getroffen hatte. Es ist
ein Zitat aus: „Das Christentum als mystische Erfüllung und die My¬
sterien des Altertums“ von Rudolf Steiner. Der Text lautet: „Es ist
das mütterliche Prinzip, das den Sohn Gottes, die Weisheit, den
Logos gebärt. Als weibliches Element (die „weise Frau“ bei Sokra¬
tes) wird die unbewußt wirksame Kraft der Seele abgebildet, die das
Göttliche ins Bewußtsein treten läßt.“
Pfister hat in seinem Werk: „Der psychologische und biologische
Untergrund des Expressionismus“ (1920) darauf hingewiesen, wie der
Maler von seiner Introversion festgehalten wird. Wir brauchen kein
solches Werk, sagt er. Pfister hofft, daß hieraus eine neue Kunst ge¬
boren werden wird, denn diese ist wie das Zeremoniell eines an
Zwangsneurose Leidenden. Nur die Analyse kann hier etwas ausrich-
ten, und diese Analysen findet er sehr schwierig, weil der Patient
sein heiligstes Mysterium nicht preisgeben will. Wir müssen uns je¬
doch hüten, nicht zu verallgemeinern und vor allen Dingen Geduld
haben. In unserem Falle w ird die Zeit lehren, ob dieser Künstler seine
Introversion aufgeben wird, ob er genügend von seinem Mutterkom¬
plex und seinem Infantilismus befreit worden ist.
Ich frage mich, nach Anführung dieser Analyse, ob alle höheren
Kunstoffenbarungen im Infantilismus und im Ödipuskomplex wur¬
zeln sollen. In diesem Falle würden wir mit dem Sieg über sie dem
Künstler keinen Vorteil bringen. Ich bin der Meinung, daß auch auf
A. VAN DER CHIJS
474
diesem Gebiet wenigstens dort, wo wir es mit einer Neurose zu tun
haben, Selbstkenntnis und Befreiung auf die Dauer nur zu größeren
Schöpfungen anregen können, daß die Kunst also durch Lösung des
Gebundenen nur reicher werden kann.
ÜBER REGRESSION UND DREIZAHL
Von GUSTAV HANS GRÄBER (Bern)
Bei der Lektüre der Freudschen Arbeit über eine Teufelsneurose im
17. Jahrhundert 1 fiel mir auf, daß jene ersten wunschphantastischen Visionen,
die der mit der Teufelsneurose behaftete Maler Chr. Haitzmann in Wien
gehabt, eine interessante Steigerung der ßefriedigungsansprüche aufweisen,
welche, wenn sie auch scheinbar progressiven Charakter zeigen, doch beherrscht
sind von der regressiven Tendenz der Loslösung von der Objektwelt und der
Rückkehr in einen Zustand restloser Befriedigung, entsprechend dem urnarziß-
tisch-alibidinösen Sein im Mutterleib. Wenn wir auch dieser Regressions¬
tendenz in Analysen und psychoanalytischer Literatur oft begegnen, so bleibt
uns doch manches daran rätselhaft. Handelt es sich um eine allgemeine Er¬
scheinung in der menschlichen Psyche? Ist sie derjenigen der Todestriebe ver¬
wandt? Sind immer alle, auch die progressiven Strebungen, von diesem Endziel
beherrscht? Wird das postnatal-libidinöse Sein vielleicht überhaupt vom Un¬
bewußten abgelehnt? Und schließlich: Ist der alibidinöse Zustand erreichbar?
Wenn ja, wie ist mit Bewußtsein vereinbar, was doch ursprünglich absolut
unbewußt war? Wichtige Zusammenhänge hat uns Alexander in seiner Arbeit
über den „biologischen Sinn psychischer Vorgänge “ 2 gegeben, indem
er nachwies, daß in Buddhas Nirwana tatsächlich ein Zustand erreicht ist, der
einer psychologischen Regression in das intrauterine Sein entspricht.
Daß auch die Psyche des Malers Haitzmann von diesem Endbegehren be¬
herrscht war, das geht schon daraus hervor, daß er alle libidinösen Befriedigungen,
die ihm in seinen Visionen angeboten werden, als Versuchungen empfindet,
sie ablehnt und ins Kloster geht. 3
1) „Imago“ IX. Band, Heft 1.
2) „Imago“ IX. Band, Heft 1.
3) Es ist wohl nicht zufällig, daß er dazu Maria-zell, die Zelle der Maria-Mutter-
gottes, aus wählt.
476
G. H. GRÄBER
in den Versuchungen werden dem Meiler die drei stärksten libidinösen
Bindungen angeboten, die das Leben zu bieten hat: Die Bindung an das
Ich, an die Mutter (das Weib) und an den Vater (und damit an das Über¬
leb). Bindungen an andere Objekte lassen sich ineist unschwer auf eine der
drei genannten zurückführen und da diese drei typischen Bindungen sich im
Leben immer und immer wiederholen, so ist es nicht zu verwundern, wenn
wir sie in vielen Produktionen des menschlichen Geistes wiederfinden. Den
drei Visionen des Malers entsprechen viele analoge Erscheinungen in Religions¬
geschichte, Mythen, Sagen, Märchen usw., auf deren einige wir hinweisen werden.
Nachdem der Maler in die Bruderschaft vom heiligen Rosenkranz aul-
genommen war, mögen ihn noch allerlei libidinöse Begehren, deren Befriedigung
ursprünglich dem Vater zukam, gequält haben. Sie finden darum auch in den
Visionen Verkörperung in dem schönen Kavalier, in welchem wir unschwer
Luzifer, den schönen Teufel erkennen, der eine projizierte negative Vateridenti¬
fikation darstcllt. Dies gibt uns auch eine Erklärung, warum der Maler in der
Ödipuseinstellung sich die angebotenen Genüsse versagen muß. Im Ambivalenz-
konflikt schwankt er zwischen dem Angebot und Verbot der Genüsse, welch
letzteres ebenfalls seine begehrte, positive Seite in der kampflosen Existenz im
Kloster hat.
Der erste Akt der Versuchung besteht denn auch im Vorschlag, aus der
Bruderschaft vom heiligen Rosenkranz auszutreten, den verpflichtenden Zettel
wegzuwerfen. Mit dieser Bruderschaft wären bereits die Vorzüge der Einsiedelei,
nämlich mühelose und sichere Ernährung, wie im Mutterleib oder an der
Mutterbrust, gegeben gewesen.
Die erste weltliche Versuchung bringt darum auch als Ersatz die zunächst
wichtigste Lösung dieser Frage. Der Kavalier macht Haitzmann einen au!
Malerei bezüglichen Antrag und verspricht ihm dafür ein schönes Stück Geld.
Dem Ehrgeiz des Malers wird Genüge getan in bezug auf seine Existenz und
seine Machtstellung. Sein Ideal ist natürlich Berühmtheit, Genialität, verbunden
mit Reichtum. Der Kavalier (Teufel) tritt hier zuerst gleichsam als Nährvater
auf (wie in einem früheren Verhältnis des Malers zum Teufel), nur nicht mehr
in der krassen Gestalt mit den Brüsten, wie früher. Die Ernährungsfrage möchte
der Malet überhaupt durch Außenstehende gelöst haben. Wir erkennen darin
die Regression auf die orale Phase seiner individuellen Entwicklung, auf die
die erste Versuchung auch zurückgreift.
Die zweite Versuchung ergibt einen Vorstoß zur ausgeprägt genitalen
Organisation des Trieblebens mit heterosexueller Objektbezogenheit, Der Kavalier
schickt eine der schönsten Frauen, die an der Festtafel saßen, zum Maler hin,
477
ÜBER REGRE^SWN^ UND DREIZAHL
um ihn zur Gesellschaft zu bringen, und dieser hatte Mühe, sich der Ver¬
führerin zu erwehren.
Wenn in der ersten Versuchung die Regression auf die orale Stufe der indi¬
viduellen Entwicklung, mit der durch Nahrungsaufnahme und Defäkations-
akt gegebenen Bindung an das Ich, sich zeigt, so finden wir in der zweiten die
heterosexuelle Bindung an die Mutter. Wir wissen, daß das Verhältnis des
Mannes zum Weibe immer irgendwie das Verhältnis des Knaben zur Mutter
wiederspiegelt. Das Besitzen des Weibes (der Mutter) muß sich aber der Maler
in der Ödipuseinstellung versagen, denn er erlebt es noch als einen höchsten,
nur dem Vater zukommenden Genuß. Die ambivalente Einstellung zum Vater
erzeugte auf dem Wege der Identifikation in der Über-Ichbildung des Malers
Personifikationen der gegensätzlichen Gefühlsströmungen. Es entstanden Gott
und Teufel. Solange es sich in den Versuchungen um Genüsse handelt, die dem
Vater zukommen, erscheint letzterer auch in seiner negativen Gestalt als Teufel
(Kavalier).
Der Maler sucht darum eine neue Lösung in der vollen Vateridentifikation,
die ihm Befriedigung aller libidinösen Strebungen verheißt.
In der dritten Vision befindet er sich im prunkvollsten Saal, in dem ein von
„Goedstuckh aufgerichteter Thron“ war. Kavaliere standen herum und er¬
warteten die Ankunft ihres Königs. Dieselbe Person, die sich schon so oft um
ihn bekümmert hatte, ging auf ihn zu und forderte ihn auf, den Thron zu be¬
steigen, sie „wollten ihn für ihren König halten und in Ewigkeit verehren“.
Der Maler aber widersteht auch dieser Versuchung der Identifikation mit
dem genießenden Vater (Teufel), deren Folge „Werke der Finsternis“ geworden
wären, wie sie die Menschen in den Straßen jener Stadt verübten, die ihm
Christus in einer darauffolgenden Vision zeigt.
Christus, der Vertreter der Sohnschaft, ersetzt nun den Kavalier (Teufel).
Daraus ist wohl abzuleiten, daß der Maler im Gehorsam zu dem alle libidinösen
Bindungen verbietenden Vater sich mit eben diesem Teil, der aus der Vater¬
identifikation entstandenen Über-Ichbildung, nämlich mit Gott identifizierte.
Die Gottidentifikation verlangt aber volle Entsagung, die nur erreicht werden
kann in der vollen Loslösung von allen libidinösen Bindungen, daher auch die
Aufforderung Christi an den Maler, „daß er dieser bösen Welt entsagen und
6 Jahre lang in einer Wüste Gott dienen solle“. Ein andermal bringt der „gött¬
liche Führer ihn in eine Höhle, in der ein alter Mann schon seit 60 Jahren
sitzt“. Die Zahl 6 muß wegen ihrer Wiederholung eine besondere symbolische
Rolle spielen. Es wäre vielleicht ihre Form mit der Stellung des Embryo im
Uterus in Beziehung zu bringen. „Der Maler erfährt auf seine Frage, daß dieser
47 8
G. H. GRÄBER
Alte täglich von den Engeln Gottes gespeist wird. Und dann sieht er selbst, wie
ein Engel dem Alten zu essen bringt: ,Drei Schüsserl mit Speis, ein Brot und
ein Knödl und Getränk. 1 Nachdem der Einsiedler gespeist, nimmt der Engel
alles zusammen und trägt es ab“.
Die Abwendung vom libidinösen Leben muß eine Existenz ergeben, die dem
intrauterinen Zustand entspricht. Die sitzende Stellung (Symbol der 6) des Ein¬
siedlers, der in der Höhle, die ein bekanntes Mutterleibsymbol ist, mühelos
und regelmäßig seine Nahrung erhält, drängt zu einer A nalogie mit der embryo¬
nalen Lage. Die Versuchung, diese Vision zu realisieren, war deshalb besonders
groß, weil sie sowohl seinem eigenen Begehren als auch dem Gebot des Vaters
(Gottes) Genüge tat. Schließlich erscheint dem Maler auch noch die heilige
Mutter selbst, und so beschließt er denn, aus diesem Leben auszutreten, zurück¬
zukehren zu ihr, in ihre „Zelle“.
Er hat sich von den drei libidinösen Bindungen, die Repräsentanten aller
Bindungen darstellen, losgelöst, weil ihr Genuß in der Ambivalenzeinstellung
zum Vater einerseits nur diesem zukommt (Teufel) und andererseits von ihm
verboten ist (Gott). Damit, daß er auch der letzten Versuchung, nämlich der
Identifikation mit dem herrschenden und genießenden Vater (Teufel-König),
widersteht, hebt er in der Hauptsache den Ambivalenzkonflikt in ihm auf und
ermöglicht so die volle Regression.
Eine große Ähnlichkeit nun mit den drei Versuchungen des Malers, ja im
wesentlichen Identität, zeigen jene, die Jesus in der Wüste erlebte, bevor er
sein Lehramt antrat. Wir halten uns an die Darstellung des Evangelisten
Mat t häus.
Die erste Versuchung bringt ebenfalls eine Lösung der Nahrungssorgen. Der
Versucher gibt sich aus als Nährvater. Jesus hungert, und der Teufel tritt zu
ihm und spricht: Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden.
Jesus widersteht und es führte ihn der Teufel mit sich in die heilige Stadt und
stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn,
so laß dich hinab; denn es stehet geschrieben: „Er wird seinen Engeln über
dir Befehl tun, und sie werden dich auf den Händen tragen, auf daß du deinen
Fuß nicht an einen Stein stoßest.“
Das Fliegen, das Sichhinablassen ist ein aus Träumen bekanntes und häufig
wiederkehrendes Symbol für Sexualgenuß. (Das Herablassen dürfte auch dem
Erschlaffen des Penis entsprechen.) Daß auch Christus bei dieser zweiten Ver¬
suchung sich den Sexualgenuß, wie der Maler, wegen der Ödipuseinstellung
versagen muß, geht ziemlich deutlich aus seiner Antwort hervor, die er dem
Satan gibt. Er sagt: „Du sollst Gott, deinen Herren, nicht versuchen.“
ÜBEiR R EGRE^SION LND &REIZAHL 47g
In der dritten Versuchung Christi durch den Satan führte ihn dieser mit
sich auf einen sehr hohen Berg (beim Maler ist es ein hoher Thron) und zeigte
ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: „Das alles
will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest.“
Christus widersteht ebenfalls der Identifikation mit dem Teufel als dem nach
außen projizierten Repräsentanten, des in der Ambivalenzeinstellung zum Vater,
als dessen beneideten Macht und Liebe genießenden Teiles. Dieser verläßt ihn
denn auch wie den Maler, und es treten wie bei diesem heilige Gestalten (Engel)
zu ihm und dienen ihm. Während wahrscheinlich der Maler 1 in tieferer Regres¬
sion in einen Zustand völliger Apathie geriet, der mit der schizophrenen Demenz
nahe verwandt ist, verblieb Christus in einer Identifikation mit dem das Lust¬
verbot vertretenden Teil des Vaters (in der Projektion: Gott) und damit aui
einer libidinösen Ich-Gott Besetzung, die einer Regression in ein urnarzißtisches
Stadium gleichzusetzen ist und dem Zustand gleicht, den man beim Schizophrenen
in der katatonen Ekstase beobachten kann. Ich erinnere an den Ausspruch Christi,
der die Identifikation wiedergibt: „Ich und der Vater sind eins.“ Wir könnten
also überall dort, wo er von Gott spricht, auch das Ich setzen, dessen extrem
libidinöse Besetzung deutlich in vielen Aussprüchen, wie: „Ich bin das Licht
der Welt“ oder „Ich bin das Brot des Lebens“ zu erkennen ist.
Wenn wir nun auf dem Gebiete der Kunst nach ähnlichen Zusammenhängen
von Regression und Dreizahl suchen, so finden wir sie auch dort, und gelegent¬
lich in verblüffender Übereinstimmung mit dem Ausgeführten. Und zwar ist
es meist das Märchen, das die regressiven Wunschphantasien am unverhüll¬
testen wiedergibt.
Nachdem ich bereits Prof. Freud skizzenhaft über das hier Ausgeführte
Mitteilung gemacht hatte, führte mich die eigene Frage nach der Ursache meines
Interesses an diesem Zusammenhang darauf, daß ich vor ungefähr drei Jahren
selbst ein Märchen geschrieben hatte 2 , das dieselben Erscheinungen aufweist,
auf die ich kurz hinzuweisen mir gestatte. Es betitelt sich „der Weise“ 3 und
handelt von einem Jüngling, der seine Vaterstadt verlässt, getrieben von der
Sehnsucht nach vollkommenem Leben, in die Wüste geht, und dort nach vielen
Tagen Wanderung zu Tode ermattet niedersinkt. Er hat drei Träume, die er
nach der Weisung eines alten Heiligen, der ihn auffindet und pflegt, auch im
wachen Zustand erleben wird. Im ersten Traum kommt er in eine Königsstadt
1) Ich habe leider keine Angaben über sein späteres Befinden im Kloster. Ich weiß nur,
daß er Ruhe hatte.
2) In einem noch unveröffentlichten Zyklus, betitelt: „Vom Morgen zum Mittag“.
3) Erschienen im „Bund“, Bern (25. Dezember 1922).
48o G. H. GRA B_E_R _
und wird König. Er hätte hier alles gehabt, was sein Hera begehrte, wenn nicht
die Sehnsucht nach einem besonderen Licht ihn todkrank gemacht hätte. So
folgt er ihr und kommt in ein neues Land auf eine blumige Bergwiese, unter
das nackte Volk der Liebenden, das ihm seine Prinzessin zum Weibe gibt. Aber
auch von hier treibt ihn die Sehnsucht nach dem Lichte fort, und er kommt
wieder, ihm nicht bewußt, in dieselbe Wüste, vor die Höhle des alten Weisen,
der im Sterben liegt und dem jungen Heiligen das Amt übergibt. Dieser lebt
denn auch erlöst von aller Sehnsucht fortan in vollkommenem undunvergäng¬
lichem Glücke in der Höhle.
Die Zusammenhänge sind hier gegenüber jenen der erwähnten Heiligen¬
geschichten nur soweit modifiziert, als erstens mit der Lösung der Existenzfrage
im ersten Traum bereits auch schon eine erste Identifikation mit dem alles ge¬
nießenden Vater (König) vollzogen wird. Die zweite Identifizierung mit dem
Weisen im dritten Traum, der den aus der Ambivalenzeinstellung sich ergeben¬
den lustverbietenden Vaterteil repräsentiert, bringt in ihrer Folge, ähnlich wie
beim Maler Haitzmann, auch eine Anspielung auf die Regression in den intrau¬
terinen Zustand, nämlich das vollkommene Glück in der Höhle. Der zweite
Traum zeigt wieder die erotische Bindung an das Weib.
Etwas weniger scharf ausgeprägt finden wir den beschriebenen Ablauf der
Begebenheiten auch in einem Märchen von Bechstein, * betitelt: „Schneider
Hänschen und die wissenden Tiere“, auf welches ein Knabe, als er
in der Analyse seines Ödipuskomplexes auf den Kastrationskomplex stieß, mich
aufmerksam machte.
Schuhmacher Peter und Schneider Hänschen lieben zusammen dasselbe
Mädchen. Peter hat ein schwarzes Herz, sinnt auf des Schneiderleins Verderben
und ladet es ein: „Komm mit mir auf die Wanderschaft, ich habe Batzen, ich
halte dich frei,* auch wenn wir keine Arbeit bekommen!“ Hänschen geht
mit. Neun Tage geht alles gut. Hänschen erhält mühelos und reichlich Nahrung.
Während der zweiten neun Tage muß Hänschen schon durch Bitten seine kärg¬
liche Nahrung verdienen, während Peter hinterlistig sich satt ißt. Nach Ab¬
schluß dieser zweiten neun Tage will Peter nichts mehr für Hänschen tun, der
vor Hunger der Ohnmacht nahe ist. Peter brüstet und beklagt sich: „Wie vieles
Geld könnte ich noch haben, hätte ich mich nicht mit dir geschleppt und dich
gefüttert! Schließlich verkauft Peter nach falscher Aussage sein letztes Brödchen
1) Die Bechsteinschen Märchen sind übrigens außerordentlich reichhaltig an Ma¬
terial für psychoanalytische Problemstellungen.
2) Alle Sperrdrücke in der Wiedergabe der Erzählung sind von mir.
ÜBER K£GjRjE ■?.?/<? A UND P^EIZABL 481
und zwar um den Preis der beiden Augäpfel Hänschens. Er blendet letzteren,
lacht ihn aus, kehrt heim und heiratet das Mädchen.
Bis hierher haben wir es eigentlich nur mit der Vorgeschichte zu tun, die ich
aber deswegen etwas breiter erzählte, weil sie einiges interessantes Material
bringt. Wir erkennen, wie mein Analysand, ein 9 jähriger Knabe, der ebenfalls
Hänschen hieß, daß die Erzählung in engstem Zusammenhang mit dem aus
dem Ödipuskomplex bekannten Vater-Sohn-Verhältnis steht. Peter ist, wie der
Teufel in den Versuchungen des Malers Haitzmann und denjenigen Christi,
der sich dem Hänschen (schon das Diminutivum läßt auf die Sohnschaft
schließen) aufdrängende Nährvater und zugleich der Rivale im Verhältnis zu
derselben Frauensperson, also der Mutter. Neun Tage hält Peter das Hänschen
frei und schafft ihm Nahrung ohne Gegenleistung. Wie Freud in der Teufels¬
neurose, 1 so stoßen auch wir hier auf die Neunzahl, mit der eine Verschiebung
stattgefunden hat. Wie Freud, so müssen auch wir sie mit der Schwanger¬
schaft in Beziehung bringen. Die neun Tage müheloser Ernährung durch
eine fremde Person würden also dem embryonalen gmonatigen Leben ent¬
sprechen. Nicht recht zu deuten vermögen wir, warum hier der Vater der¬
jenige ist, der als Ernährer auftritt und nicht die Mutter. Aber wir können
daran denken, daß schließlich dadurch, daß der Vater auch während dieser
neun Monate der Schwangerschaft seiner Frau die Familie erhält, er indirekt
also doch der Ernährer des zukünftigen Sohnes ist. Auch hier dürfte übrigens,
wie Freu d in der Teufelsneurose nachwies (S. 19), „als Folge des Sträubens
gegen den Kastrationskomplex“, der ja wirklich, wie wir bald sehen werden, in
Hänschen wirksam ist, die gegensätzliche Regung zum Ausdruck kommen,
nämlich die, „den Vater zu kastrieren, ihn zum Weibe zu machen.“
Die zweiten neun Tage können wir als die ersten 9 Lebensjahre deuten,
während welcher bereits einiges Bemühen um die Nahrung durch den Sohn
notwendig wird. 2 Man beachte auch, wie sehr Peters Klage über den Geldverlust
durch die Nahrungsbeschaffung den häufigen Klagen vieler sorgender Nähr¬
väter gleicht, die sie, wie man dies oft hört, ihren Kindern gegenüber aussprechen.
Nach den zweiten neun Tagen tritt die Blendung ein. Aus der psycho¬
analytischen Literatur ist uns längst bekannt, daß das Auge Genitalsymbol ist.
Die von Peter vollzogene Blendung entspricht also der durch den Vater aus¬
geführten Kastration. Hänschen verzichtet auf den Sexualgenuß zugunsten
des Vaters (Peters). Er vertauscht jenen mit dem Genuß der Lebenserhaltung.
1) Imago IX. Bd., Heft l, S. 17.
2) Ich will nur erwähnen, daß auch eine zweite Deutung, in der die ersten und zweiten
9 Tage den ersten und zweiten 9 Lebensjahren entsprechen würden, ihren Sinn hätte.
31 Imago IX|4
482
G. H. GRÄBER
Es entspricht dieser regressive Vorgang jener der Selbstkastration gleichkommen¬
den Zurückziehung des Malers ins Kloster, in dem er mühelos die Nahrung
erhält. Hänschen sinkt nach der Blendung um und bleibt wie tot am Wege
liegen.
Der zweite Teil des Märchens bringt die Verwirklichung der in der Regres¬
sion Hänschens verpönten Wünsche und Begehren. Es sind die an der Vater¬
einstellung erworbenen Ich-Idealbildungen, deren Realisierung ihn über den
Vater (Peter) erhebt, ja letzteren in der Umkehrung das erleiden läßt, was
Hänschen zugedacht war, nämlich Blendung (Kastration) und Tod (Auffressen
durch wilde Tiere). Von wissenden Tieren erfährt Hänschen hierauf Geheim¬
nisse, mittels deren er schließlich zur gewünschten Machtstellung gelangt. Nach¬
dem er durch Benetzen der Augenhöhlen mit Tau sein Gesicht (Potenz) wieder¬
erhalten, kommt er in eine Residenzstadt, in der seit langem das Wasser aus¬
geblieben und die Leute fast nur noch vom Geist leben. Auf dem Marktplatz
läßt Hänschen einen Quaderstein ausheben, und es rauscht plötzlich der Strahl
eines Springbrunnens stark und mächtig und turmhoch in die Luft. Verglichen
mit den erwähnten Regressionen (Haitzmann, Christus, der Weise), die sich in
den bekannten drei Stufen vollzogen, sehen wir, daß auch in der Progression
Hänschens sich dieselben Erscheinungen zeigen. Auch hier wird auf der ersten*
Stufe die Nahrungsfrage durch die Wasserbeschaffung gelöst. Zugleich können
wir den Wasserstrahl auch in Beziehung bringen mit dem Urinieren und dem
Samenerguß des Mannes, welches eine Bestätigung für die wiedererlangte Potenz
Hänschens ergibt. Auf der zweiten Stufe erfolgt die in den Regressionen ver¬
worfene heterosexuelle Bindung. Hänschen macht die Königstochter gesund
und gewinnt sie zur Frau. Krank war dieselbe geworden, weil sie einst in der
Kirche ein Goldstück in den Opferstock werfen sollte, dies aber so ungeschickt
tat, ;— „denn sie war damals noch sehr jung und befangen und ängstlich und
schämte sich vor den vielen Leuten in der Kirche“ —, daß jenes daneben und
in eine Spalte fiel. Hänschen, der sich nun als Heilkünstler ausgab, führte die
Prinzessin wieder in die Kirche, ließ sich von ihr den Opferstock zeigen, suchte
nach und fand in einer Ritze das Goldstück. Er gab es der erlauchten Kranken
in die Hand und ließ es durch sie nun richtig in die Ritze des Opferstockes
werfen, woraut die Königstochter alsbald völlig gesund wurde und wie eine
Rose aufblühte.
Die ganze Symbolhandlung ist ziemlich durchsichtig und dürfte als eine Um¬
wandlung von der analen Theorie (falsche Ritze) zur genitalen angesehen werden.
Auf der dritten Stufe wird Hänschen in der Vateridentifikation Fürst, tritt
in die Rechte des Königs (Ich-Ideal), fährt auf das Land und zeigt dem arm-
_
_ ÜBER UN_D ^BEIZÄHL 483
gebliebenen Peter (Vater) seine Überlegenheit. Zu der Regression in den dem
intrauterinen Leben ähnlichen Zustand kommt es in diesem Märchen nicht.
Hänschen verbleibt, wie Christus, in der Vateridentifikation.
Ausgeprägter gesteigert zeigen sich die Befriedigungsansprüche bis zum Be¬
gehren des alibidinösen Zustandes in den drei Wünschen des Märchens vom
„Schmied von Jüterbog“, welches Bechstein in seinem Märchen „Die
drei Wünsche“ erwähnt. Der Schmied wünscht erstens, daß seine Schnaps¬
pulle niemals leer werden solle; zweitens, daß, wer auf seinen Birnbaum steige,
so lange darauf sitzen müsse, bis der Schmied ihm abzusteigen erlaube, und
drittens, daß niemand ohne Erlaubnis in seine Stube kommen dürfe, außer
etwa durchs Schlüsselloch.
Im ersten Wunsch liegt wieder die Lösung der Ernährungsfrage, im zweiten
verschafft der Schmied sich Macht über das Auf- und Absteigen auf den Baum,
was wir alsSymbolhandlungfürdenSexualverkehrerkennen. Im dritten Wunsche
endlich ist in dem Sichkleinmachen (Kind) und Durchs-Schlüsselloch-in-das-
Zimmer-Schlüpfen unzweideutig der Hinweis auf die Regression in den Mutter¬
leib gegeben.
Zum Schlüsse erwähne ich noch eine neuere Dichtungvon Franz Werfel,
betitelt „Der Spielhof“, 1 in der ich ebenfalls die enge Verknüpfung von
Regression und Dreizahl vorfand.
Lukas, ein Jüngling, sucht seinen verlorenen Traum. Wie den Maler Haitz-
mann, so treibt diesen Lukas eine aus Not geborene Vatersehnsucht, die genährt
wird durch eine Kindererinnerung an eine irrsinnige Angst um den verlorenen
Vater.
Lukas kommt zuerst zu einem alten Fährmann, der sich als Großvater aus¬
gibt, hat bei ihm einen Traum, der deutlich Mutterleibs- und Geburtsphantasien
sowie das Bestreben nach Versöhnung mit dem Vater wiedergibt. Es ist aber
nicht sein verlorener Traum. Lukas muß weiter wandern und hat vom Fähr¬
mann nichts Positives erhalten als Nachtlager und ein Frühstück, bestehend
aus „einem großen Topf Kaffee und einer Schnitte Brot“.
Ruhelos kommt er in ein Dorf; alles blüht hier. Vor die Türe eines Bauern¬
hofes tritt eine Frau. Sie ladet Lukas zu sich. Er bleibt die Nacht bei ihr, träumt
von einem Liebesglück mit ihr, aber auch dieserTraum ist nicht sein verlorener.
Er muß weiter ziehen und kommt in einem Walde zu einem Eichenhügel,
wo „aller Duft und Atem schweigt“. (Intrauteriner Zustand.) „Lukas drängt
Ahnungen zurück.“ „Er glaubt in seiner Kindheit an diesem Ort gewesen
zu sein.“ In einer Lichtung erblickt er einen Rundbau. Das doppelflügelige
1) Verlag Kurt Wolff, München 1920.
484
G. H. GRÄBER
Tor (Schamlippen) steht weit offen.“ „Lukas tritt durch das Tor in den Hof ein.
Er muß die Augen schließen, denn er fühlt: das habe ich geträumt.“ Sein Auge
ist geblendet (Kastration). „Wild erfaßt ihn Kindheit.“ „Auf seinen Kinderzügen
liegt die Weisheit jener Geschöpfe, die sich niemals durch die Geburt
von sich selbst entfernt haben, oder im Augenblick des Todes eins mit
sich werden.“ „Ein unbekanntes, unendlich warmes Gefühl überwältigt ihn.
Überblicken wir auch hier die drei Stufen der Regression, so erkennen wir,
daß auch des Lukas verlorener Traum eben der Traum vom wunschlosen Sein
im Mutterleib ist. Die beiden ersten Träume schildern den Kampf (und die
Versöhnung) mit dem Vater um Existenz und um Lustgewinnung, und der
dritte symbolisiert in schönen Bildern die Flucht zurück in den Mutterleib, den
Ort restloser Befriedigung,
GONTSCHAROWS „OBLOMOW“
Von AUREL KOLNAI
x. Man würde es mit Recht für müßig halten, jede einzelne bedeutsamere
Schöpfung der Dichtkunst, nur weil es in ihr notgedrungen von „psychischen
Motiven“ wimmelt, unter die analytische Lupe zu nehmen, um Komplexe und
Triebäußerungen freudig in ihr wiederzuentdecken. Allein „Oblomow“ mutet
uns an, wiewohl er echter dichterischen Einbildungskraft entspringt und sozu¬
sagen ungekünstelte Kunst ist, wie eine wahre Veranschaulichung gewisser her¬
vorragender Konstruktionen der neuen Seelenforschung. Es mag denn auch eine
reizvolle Aufgabe sein, das Werk mit all seinen Einzelheiten und mit Heran¬
ziehung der übrigen Schriften sowie des Lebenslaufes seines Schöpfers analytisch
zu bearbeiten. Wir haben uns diese Leistung nicht zugetraut und zwar auch
darum nicht, weil eben Gontscharows Roman trotz seines unübertrefflich echten
Kunstwertes ein wenig zu schematisch erscheint, als enthalte er nichts Wesent¬
liches jenseits dessen, was in ihm anschaulich geschildert und formuliert zutage
liegt. Auch wollen wir hier nicht versuchen, einen Baustein zur Psychologie
(und Theologie) des Russentums niederzulegen, vielmehr nur darauf hinweisen,
wie sehr die Oblomow-Gestalt es verdient, den Freudschen „Charaktertypen
aus der psychoanalytischen Arbeit“ zur Seite gestellt zu werden. Wie ein Mensch
an seinen inneren Hemmungen, Triebregressionen, infantilen Bindungen und
erotischen Versagung zugrunde geht: hiervon beschert uns „Oblomow“ ein nahe¬
zu klinisches Musterbild; und es ist gut, daß der psychologisch veranlagte rus¬
sische literary gentleman aus chronologischen Gründen dem Verdacht entgeht,
bewußt aus analytischen Quellen geschöpft zu haben.
2. Oblomow stammt aus einer in patriarchalischen Verhältnissen lebenden
adeligen Familie und wird nach dem Tode seiner Eltern als junger Beamter in
Petersburg Herr des Gutsbesitzes und des Dorfes Oblomowka, wo er seine Kind¬
heit verbracht hat. Von dieser Zeit her verbindet ihn eine innige Freundschaft
486
A. KOLNAI
mit Stolz, dem Sohn eines in der Nähe von Oblomowka ansässig gewordenen
deutschen Landwirtes, einem höchst rührigen, begabten, erfolgreichen und geistig
hochstrebenden Manne, unter dessen Einfluß er im Anfang seines Aufenthaltes
in der Hauptstadt für Idealismus, Wissenschaft und Schöngeisterei viel übrig
hatte. Da jedoch Stolz, mehr und mehr von seinen Geschäften in Anspruch ge¬
nommen, nur einen spärlichen Verkehr mit ihm unterhalten kann, erlischt in
Oblomow nachgerade das Interesse für die Dinge des Geistes und der Welt. Er
lebt immer zurückgezogener mit seinem alten leibeigenen Bedienten Zachar,
der das Haus in völliger Unordnung hält, sich dafür aber zum Werkzeuge der
Trägheit und Bequemlichkeit seines Herrn hergibt. Oblomow ist ein seelenguter
und durchaus verständiger, ja in manchem feinsinniger Mann von edlen Körper¬
formen ; aber sein Geist sowohl als sein Leib verfallen einer fortschreitenden
Verfettung und Arbeitsunfähigkeit. Bei Gelegenheit der unliebsamen Folgen
einer in seinem Amte verübten Nachlässigkeit tritt er aus dem Dienst; er ent¬
schuldigt diesen Entschluß mit einem ärztlichen Zeugnis, wonach es für ihn
infolge seiner Herzkrankheit ratsamer erscheint, sich den Mühen seines Berufs fürs
weitere zu entziehen. Von nun an besteht sein Leben nur mehr im üppigen
Essen, im Zanken mit Zachar, im Schlafen und müßig Liegen, ab und zu im
stillen Beisammensitzen mit etlichen bedeutungslosen Freunden. Mit der Bewirt¬
schaftung seines Gutes gibt er sich nicht ab; zu Liebesabenteuern holt er keines¬
wegs aus; von Büchern, die ihm irgend durch Stolz oder sonst zukornmen, blättert
er die ersten Seiten durch und stellt sie dann beiseite; die Ereignisse der Zeit
lassen ihn kalt. Da kommt Stolz und rüttelt ihn gewaltsam wieder auf. Er zwingt
ihn, täglich Gesellschaft und Veranstaltungen zu besuchen, und will ihn über¬
reden, mit ihm eine größere Reise durch Europa zu unternehmen. Das emp¬
fiehlt ihm nachdrücklich auch sein Arzt, da bei Fortsetzung der bisherigen Lebens¬
weise ein Schlaganfall zu befürchten sei. Doch keine Macht auf Erden kann ihn
zum Antreten einer Reise bewegen. Hingegen knüpft er Beziehungen mit einer
Stolz befreundeten Familie an: er sucht oft die Gesellschaft der Witwe Iljinskaja
und ihrer Tochter Olga auf; eine anscheinend tiefgreifende Wandlung vollzieht
sich in ihm, er verliebt sich in das reizvolle, gebildete und seelisch vornehme
Mädchen, findet Gegenliebe und — Stolz ist inzwischen abgereist — verlobt
sich mit ihr, einstweilen geheim. Des weitern wird geschildert, wie Oblomow
sich im Liebesrausche zu einer vita nuova emporzurecken strebt, wie aber seine
unheimliche Trägheit und seine mannigfach verhüllten inneren Hemmungen
nach und nach die Oberhand gewinnen und dem Brautpaar den Bruch auf¬
nötigen. Olga nimmt gebrochenen Herzens von ihm Abschied und heiratet nach
einigen Jahren ihren gemeinsamen Freund Stolz. Oblomow war noch während
GONTSCHAROWS „ OBLOMOW «
487
des kurzen lucidum intervallum durch Vermittlung eines engern Landsmannes
— dieser Tarantjew ist übrigens ein ganz niedriger Schurke, nützt ihn gewissen¬
los aus und versucht stets, ihn gegen Stolz aufzubringen — in eine andere Woh¬
nung gezogen; die Schwester des Hauseigentümers, eine Witwe Pschenjizina,
erregt durch ihre anheimelnde Einfalt und ihre Hausfrauentugenden sein Ge¬
fallen. und am Ende nimmt er sie im stillen zur Frau. Er vermag seine Lebens¬
gewohnheiten nicht zu ändern, die vorausgesagten Schlaganfälle treten ein und
dann welkt er, trotz aller Fürsorge um ihn, in kurzer Zeit sanft dahin. Die Auf¬
ziehung seines kleinen Sohnes wird von den Stolz’ übernommen.
5. Während eines Nachmittagsschläfchens des Helden entrollt sich vor den
Augen des Lesers das Bild der Kindheit Oblomows, vorgeblich als Traum des
Sich-Zurücksehnenden, in Wirklichkeit aber kein Traum, sondern eine genaue
Beschreibung des Lebens und Treibens zu Oblomowka, der Umgebung, die das
künftige Los des jungen Elias verhängnisvoll vorausbestimmt hat. Segensreiche,
fette Erde; einförmiges, geruhsames Menschendasein; mildes Klima im Meteoro¬
logischen und im Seelischen; keine Plagen, keine außerordentliche Anforderungen
des Lebens; dem Ebenmaß des Vorhandenen und der Bedürfnisse entsprechend
beinahe völlige Autarkie sowohl wirtschaftlich als geistig, die zu keiner Ver¬
gleichung mit der übrigen Welt Gelegenheit bietet. Man ist sehr sparsam, wo
etwas um Geld zu erstehen wäre, hingegen recht üppig in Dingen der Natural¬
wirtschaft; freilich ist dieses Verhalten weit davon entfernt, ökonomisch recht
zu behalten. Ebensowenig besteht eine abstrakte Zeitrechnung; die Zeitbestim¬
mungen knüpfen sich an Festtage und Familienereignisse. Das Ideal, welches
denen von Oblomowka vorschwebt und demgemäß ihr behagliches, einfältiges
Leben auch glücklich verfließt, hat ein passives, eintöniges, sowohl vom Willen
wie vom Intellekte wenig getrübtes Wohlbehagen zum Inhalt. Die Weisheit der
Insassen, voran der Hausfrau, entlädt sich in Aussprüchen wie: „Gott sei Dank,
daß wir diesen Tag glücklich hinter uns haben“, — „Wir müssen häufiger zu
Gott beten und an nichts denken“. Wesentlich anders geht es auf der benach¬
barten Farm des alten Stolz zu, wo der junge Andreas eine sorgfältige Erziehung
genießt, welche das deutsche Seitenstück griechischer Kalokagathie, Tüchtigkeit
und Betriebsamkeit in Dingen des Körpers und des Geistes, aufzurichten be¬
stimmt ist. Auch der kleine Elias findet sich hier regelmäßig ein, um Unterricht
zu empfangen. Aber kein Vorwand familiärer und gesundheitlicher Rücksichten
erscheint der Frau Oblomowa zu schlecht, um ihrem Sohne die Mühseligkeiten
der Fahrt und des Lernens auf das Mindestmaß zu reduzieren.
Folgen dann die Jahre des jugendlichen Begeisterungsdranges, welche wohl
bei unserm Helden ohne die Einwirkung seines teutonischen Busenfreundes nie-
488
A. KO LN Al
mals eingetreten wären, so läßt sich die eherne oder vielmehr bleierne Macht
dieser so fast eindeutig beeinflußten Kindheit nur zeitweilig überdecken, keines¬
wegs auf die Dauer niederhalten. Es ist sogar vielmehr das Interesse fürs Geistige,
das später zum Teil einer Art Verdrängung anheimfallt, die im Kindesleben
Oblomows, vorzugsweise durch religiöse, beschwichtigende, schreckende und
„belehrende“ Ansprachen der Eltern und anderen Familienpersonen veranlaßt,
vorgezeichnet war.
In großen Zügen hat sich also im Seelenleben Oblomows festgenistet:
a) Ein Glückseligkeitsideal, welches mit einiger Kühnheit als „embryonal“
bezeichnet werden dürfte: Geschlossene Hauswirtschaft, fürsorgliche mütterliche
Pflege; Fehlen von Anstrengungen, Abenteuern, größeren Lokomotionen, indi¬
vidueller Selbständigkeit und gesellschaftlichen Verpflichtungen; überbetonte
Verknüpfung zwischen Liebes - und Versorgungs-(Ernährungs-)rolle
des mütterlichen Weibes.
b) Erotische Fixierung an einfache, ungebildete Weiber. Sie tritt in einer
Glucksphantasie des erwachsenen Oblomow, die er auf Drängen Stolz’ nach Mit¬
teilung seines Lebenszieles entwickelt, mit kennzeichnender Deutlichkeit hervor.
Zu ihrer Entstehung mag, was hier auszumalen überflüssig erscheint, in dem
Lebensmilieu des kleinen Prinzen recht viel Gelegenheit vorhanden gewesen sein.
c) Die Trägheit und der Hang, sich bedienen zu lassen, mit einer eigenen
Hedonik, die weit über das Maß des zum Komfort Erwünschten hinausgeht.
Das System, sich womöglich jede Bewegung zu ersparen und zur Verrichtung
alles Notigen das sich sonst müßig herumtreibende Leibeigenen volk zu verwenden,
wird samt der zugehörigen Ideologie dem jungen Elias von den Eltern förmlich
aufgezwungen. Es wird auch vorgesorgt, daß der Beamte Oblomow dereinst
nicht hauptsächlich durch Wissen und Fleiß, sondern durch Beziehungen und
ähnliche Hilfsmittel sein Fortkommen finde. So muß dann dieses verfeinerte
Exemplar eines passiven Herrschers, eines Ewig-Verhätschelten, dessen Kind¬
heit von vornherein kein Aufhören kennen will, an den Klippen einer tückischen
Realität zerschellen.
4 * Woher aber der Konflikt, warum kann nicht Eliaschen in Oblomowka ein
Menschenleben absolvieren, irgend ein passendes adliges Fräulein heimführen
und die Welt seiner Kindheit in der naturgemäß geänderten Rolle weiter
regieren? Die Jugendjahre in Petersburg, die Freundschaft mit Stolz, der Ein¬
bruch wesensfremder Reize und Werte in das unverrückbar dastehende Urgerüst
seiner Neigungen und Dispositionen tragen die Schuld daran. Auch seine leib¬
liche Beschaffenheit, sein Habitus versinnbildlicht das fatale Gemenge von
Wesenszügen, deren Fehde das Ich selbst zerbricht. Er ist verfeinert, verweich-
GONTSCHAROWS „OBLOMOW“
489
licht, überzüchtet; vorausbestimmt, im ideellen Sinne das letzte Glied einer zum
Abschluß reifen Reihe zu werden. Frühzeitige Verfettung, Herzerweiterung, er¬
höhte Schlafneigung, abulische Zustände, Anzeichen von Platzangst befallen die
unwiederbringlich in die „russenfremde“ Reichskapitale verschlagene Treibhaus¬
pflanze, welche selbst vor einer Besuchsreise nach dem Gutssitz zurückschreckt und
nun weder ein noch aus kann. Warum Oblomow die Fahrt nach seiner Heimats¬
erde scheut und mit aller Mühe vermeidet sie anzutreten, obgleich er triftige
sachliche Gründe in Fülle hat, ist durch seinen allgemeinen Widerwillen gegen
jedwede Ortsveränderung nicht genügend begründet. Offenbar kommt noch das
Bedenken seines aktivistischen Oppositions-Ichs hinzu, welches nur zu gut ahnt,
daß es aus Oblomowka keinen Ausweg mehr geben würde. Die stets mehr über¬
handnehmende vis inertiae weiß diese Angst vor ihren eigenen Wagen zu span¬
nen; und der milde Gourmand schafft sich aus Petersburg eine potenzierte, von
Anfang an lebensunfähige und im Absterben begriffene Oblomowka. Oblomows
Selbsteinmauerung in Petersburg gleicht, obwohl er nicht schlechthin als Neu¬
rotiker anzusehen ist, der Flucht in die Neurose, wobei die vom Kranken pro¬
duzierte neurotische Ideenwelt zwar keine einfache geradlinige Übersetzung
seiner infantilen Komplexe darstellt, wohl aber dieselben ersetzt, den Platz eines
zweiten Regressionsbeckens einnimmt.
5. Oblomows einziger echter Freund und zugleich programmatischer Gegen¬
pol ist der tätige, flinke, Erfolg auf Erfolg häufende — aber grundehrliche
Stolz, der, sobald er nur die nötige Zeit dazu übrig hat, Versuche anstellt, ihn
aus seiner Ohnmacht gewaltsam aufzurütteln, zu Geist, Gesellschaft und gemein¬
samen Jugendidealen zurückzuführen und zur Änderung seiner Lebensweise zu
bewegen. „Du mußt wegfahren, abmagern“, so lautet sein Schlachtruf an
ihn. Er hilft dem schwerfälligen Freund, der sich leicht übers Ohr hauen läßt,
über materielle Schwierigkeiten hinweg. Er bringt ihm die Iljinskaja in den
Weg. Zwanglos läßt sich in ihm eine Abspaltung der Vaterimago erkennen;
sein Vater, der alte Stolz, hatte ja tatsächlich Elias gegenüber einen Teil der
Vaterfunktionen übernommen. Oblomow hängt an seinem Freund und Mentor
mit kindlicher Liebe und Vertrauen; doch seine Einstellung zu ihm entbehrt
nicht der Ambivalenz: in seine Freude anläßlich seiner Besuche mischt sich zu¬
meist Beklemmung, und er trachtet ängstlich alles vor ihm zu verbergen, wo¬
durch er sein Mißfallen und seine Rügen zu gewärtigen hätte. Der verächt¬
liche Verleumder Tarantjew hat überdies nicht gar so Unrecht, als er einmal
Stolz als überlegenen Rivalen des armen Oblomow hinstellt. Ohne die geringste
Unlauterkeit begangen zu haben, bringt doch Stolz die Iljinskaja, die er selbst
in Oblomows Leben eintreten ließ, wieder an sich zurück; und setzt am Ende
1
490
A. KOL NA /
seinem nunmehr rettungslos verlorenen Schützling auseinander, warum dessen
Liebe zu Olga moralisch unzulänglich fundiert war und daß sie aus innerm Ge¬
setz heraus zusammenbrechen mußte!
Bei einer Gelegenheit: dem Gespräch über die idealen Lebensformen, übt
Oblomow an der Geistesrichtung des Deutschrussen lebhafte Kritik. Er vermag
die Nützlichkeit des geschäftigen Treibens nicht zu werten. „Hinter diesem un¬
ruhigen Lärmen verbirgt sich unbezwingbare Schläfrigkeit“, äußert er mit dem
Scharfblick eines entlarvungsgewandten Berufspsychologen. Er war nicht der
einzige gefühlstrunkene „Sohn“, der dem nüchternen „Vater“, nicht der einzige
„Neurotiker“, der dem „Gesunden“ einen tiefbohrenden Stich versetzt hat. Aber
Stolz behält die Oberhand, indem er die idyllische Skizze seines Streitgegners
über ein ihm angemessenes Schloßleben bündig und überzeugend als „Oblomowis-
mus“ bezeichnet.
6. Der alte Kammerdiener Zachar, dessen tragikomische Gestalt Oblomow«
ganzes Lebensschauspiel überschattet, ist zugleich Vater-Reliquie, Widerpart und
Doppelgänger gleich Leporello und Sancho Pansa (vgl. Ranks 1922 erschie¬
nene Don Juan-Analyse). Er ist ein Stück altüberlieferte Obl'omöwka in der
Leibesnähe des Petersburgers Oblomow. Herr und Diener, in stetigem Wort¬
kampfe miteinander liegend, bewahren sich gegenseitig den Geist von Oblo-
mowka; sie haften aneinander unlöslich und sind niemals miteinander zu¬
frieden; ein jeder von den beiden ist des andern mürrischer Sklave und gut¬
mütiger Tyrann. Beide sind entartete Oblomowkabewohner, Opfer der Stadt,
doch jener ein debitiere superieur, dieser ein degenöre injtrieur ; Oblomow: fein¬
sinnig, zartfühlend, von makelloser Ehre, edelmütig, gewissermaßen ein raffi¬
nierter Wollüstling des Idyllischen; Zachar: stockdumm, grob gegen Kleinere,
diebisch, klatschsüchtig, Trunkenbold. Der edle Oblomow stirbt früh; der zähe
Zachar verkommt in Elend und Trunksucht, bis Stolz, dessen Schicksal es ja ist,
Oblomow alles: seine Liebe, seinen Sohn, seine Besitzung an sich zu nehmen,
ihn von der Straße aufliest, um ihn nach Oblomowka zu rufen.
7- Klarer als in manchen anderen psychologischen Entwicklungsromanen,
wird im „Oblomow 4 der Grundsatz des „psychosexuellen Parallelismus“ fest¬
gehalten. Der Held geht langsam dem Untergang entgegen; an einer edeln und
sehnsuchtserfüllten Liebe entzündet sich seine gesamte Lebensenergie; das Walten
einer unzerstörbaren innern Mechanik beraubt ihn dieser Liebe und leitet sein
Schicksal in ein seiner unwürdiges Eheverhältnis über, welches den stilvollen
Hintergrund zu seinem nunmehr beschleunigt vorschreitenden Zerfalle bildet.
Der junge Oblomow ist anfänglich hin und wieder im Begriffe, eine ober¬
flächlichere Liebesbeziehung anzuknüpfen, doch er bleibt jedesmal in den An-
___ _ sovr-s 1 cjiAjiOHrs ,,o . gzod/oEr « 491
fangsversuchen stecken, die Hemmungen überwiegen. Bis zur Bekanntschaft
mit Olga Iljinskaja bewegt ihn kein nennenswerter Anreiz dazu, sich der typi¬
schen sexuellen Unmündigkeit des Muttersöhnchens zu entwinden. Wie auch
sonst nicht selten, verflicht sich bei ihm diese Einstellung mit einem aristokra¬
tischen Absonderungsdünkel, einer narzißtischen Esoterik; einmal hält er
Zachar eine grimmige Strafpredigt, weil er es wagte, ihn mit „anderen Leuten“
zu vergleichen. Der narzißtische Hang schöpft auch aus der autarken Selbst¬
herrlichkeit der adeligen Gutswirtschaft, ferner aus den zarten, leise ans Weib¬
liche anklingenden Körperformen Oblomows, deren Anmut erwähntermaßen
ihm bewußt ist. Hinzu kommt seine wachsende Neigung zur Introversion, zur
Tagträumerei und zur Gleichgültigkeit gegen Dinge der äußern Welt. Wie bei
jedem echten Träumer, gesellt sich der Unzufriedenheit mit der wirklichen Welt
auch bei ihm kein deutlicher Abriß einer bessern Wirklichkeit zu. Er introver¬
tiert, nicht weil alles um ihn zu öde ist, sondern die Introversion entzieht der
Umwelt ihre Realitätsfrische. So harrt er einer feenhaft „idealen“ Liebe.
Als diese in Olgas Gestalt sich zu verkörpern verheißt, treten bereits jene
inneren Gegenströmungen in Erscheinung, welche endlich das Feld behaupten
und den endgültigen Verzicht auf ein ideales Liebesieben herbeiführen werden.
Die Erotik des Verhältnisses zu Olga ist eine vornehmlich „anagogische : fernab
davon, den Ichtrieben Abbruch zu tun und die Ichbesetzungen abzusägen, bringt
sie vielmehr eine allgemeine Aufmunterung und Aufstachelung des Verstumpf-
ten mit sich, eine Belebung seines Interesses für Kunst, Gedanken, Körper¬
übung und Geselligkeit. Dagegen setzt sich seine Trägheit und noch mehr
als das — vom Anbeginn an zur Wehr. Das innere Widerstreben wird wie
fast gewöhnlich — projiziert; Oblomow zögert lange mit seinem Liebeswerben,
weil er sich immerfort versichert, es würde jedenfalls abgeschlagen werden. Er
gebärdet sich jünglingshaft schüchtern und möchte besonders vor Scham ver¬
gehen, wenn das Mädchen seine verschiedentlichen Schwächen entdeckt und
schelmisch lüftet. Die Situation ist bald die, daß, obschon Oblomow von seinem
Liebeserlebnis mehr erschüttert und ergriffen wird, Olga ihn doch eindeutiger
und ungeteilter liebt und gegen sein rebellisches Blei-Ich unausgesetzt Krieg
führt. Sie leiht ihm Bücher und prüft ihn auf deren Inhalt; sie bestellt ihn tag¬
täglich zu ihrer Mutter zu Besuch und zwingt ihn, an dem weltmännischen
Verkehr Anteil zu nehmen, sein Hirn unaufhörlich zu beschäftigen: sie ver¬
schweigt es ihm keineswegs, als sie durch Dienstbotenklatsch dahinter kommt,
daß er zu Hause wieder dem Laster des üppigen Abendessens gefrohnt hat, was
ihm ungefähr wie einem Säufer der Branntwein anschlägt. Der Kampf in Oblo¬
mows Seele wogt mit wechselvollem Ausgang. Bald gewinnt er es liebesfroh über
492
A. KÖLN Al
sich, sein Wesen ganz zum Dienste seiner Braut umzukneten, bald findet er
wieder unermüdlich Vorwände für seine Säumnisse, damit er Olga und wohl
auch sich selbst über den Vorstoß des oblomowistischen Oblornow hinwegtäuschen
könne. Er will die öffentliche Verlobung mit allen Mitteln hinausschieben; im
gleichen Augenblicke schwelgt er in seinem Liebesglück und graust es ihm vor
der vollendeten Tatsache. Als er gewahrt, daß die geplante Verbindung in dem
Bedientenvolk bereits bekannt geworden ist, widerlegt er wutschnaubend das
Gerücht und sein Inneres bewegt sich wie unbemerkt seinen Worten nach. Denn
der Name seiner Braut dürfe ja, bis nicht alles geordnet sei, nicht unnütz und
eitel in Umlauf gebracht werden. Und es sei noch gar vieles zu ordnen; vor
allem sei er pekuniär nicht in der Lage, einen Hausstand zu gründen! Der
Schurke von einem Starosten treibt von den Bauern so viel wie nichts ein, der
hingesandte Verwalter — eine Kreatur Tarantjews — vermehrt noch das Unheil.
Doch ist es durchsichtig, daß es sich nur um einen Vorwand, um eine nachträg¬
liche oderauch frühere Rationalisierung anders bedingten Tuns han¬
delt. Auch dürfte die finanzielle Erwägung in diesem Zusammenhang nicht ohne
inhaltliche Gründe erwählt worden sein: die Lust an stofflicher Üppigkeit und
ungehemmtem Walten der prosaischen Lebenselemente, die bei Oblornow stets
mehr Oberhand gewonnen hat und nun eine starke Bremsung, ja teilweise Ver¬
drängung erfahren muß, bedient sich dieser Rationalisierungs-Kriegslist, welcher
psychosexuell ein aktueller Regressionsvorgang, eine gewisse Verschiebung von
Oralerotik auf die Analzone entsprechen mag (Widerstand gegen die auferlegte
„Abmagerung ). Hinter der Sorge um Olgas guten Ruf versteckt sich Oblomows
eigene Angst, sich ihr zu nähern, welche vielleicht ohne Gefahr willkürlicher
Motivhineinversetzung als Kastrationsangst, als Angst vor der Defloration des
„überlegenen , beweglichen, vielfach die Rolle des Angreifers spielenden, seinem
Wesen zum Teil so feindlich gegenüberstehenden Weibes entziffert werden
kann. Er ist einer von denen, „die am Erfolge scheitern“; wie Stolz be¬
merkt, sündigte er durch sein Unterfangen, ein neues Dasein nur um des Weibes
willen zu beginnen, ohne daß seine Arbeitsenergie (seine „Ichentwicklung“) mit
seiner erotischen Wandlung Schritt gehalten hätte.
Allein möglicherweise würde der Oblornow der vita nuova den Sieg über
den Vater des Oblomowismus davontragen, träte nicht auch diesem eine Helferin
in Gestalt der braven Witwe Pschenjizina bei, die in der neuen Wohnung Oblo¬
mows landlady ist, und ein beneidenswert einfaches Gemüt mit angenehm
rundlichen Körperformen, ausgebildeten kulinarischen Fertigkeiten und herz¬
bewegendem Hausfraueneifer vereint. Abgesehen davon, daß sie all dies an den
Tag legt, unternimmt sie nichts zur Eroberung ihres Pfleglings; das Ziel schiene
G0N7SCHAROIVS „OBLOMOW“
493
ihr zu hoch, die Rolle der Intrigantin stünde ihr lächerlich; es kommt also zu
keinem persönlichen Zwiekampfe der Pschenjizina und der Iljinskaja, vielmehr
kämpfen sie nur allegorisch, als Darstellerinnen in der Schematik der Dichtung,
gegeneinander an. Hier Olga, hier Agathe — bedeutet: Hier Anagogie, reiches
und edles Seelenleben, Austritt in die Welt, Neuschaffung und Abhärtung des
Ichs samt dem Leibe; hier Versumpfung, „embryonale“ Regression, „stilles
Glück“ nebst Unterdrückung höherstrebender, immerhin vorhandener Regungen,
und plethorischer Lustbesetzung körperlichen Gesichertseins und Volumens,
endlich Plethora im Wortsinne und physischer Tod, Rückkehr in den einzig
vollkommenen Mutterschoß, der uns nach Hinaustritt aus jenem ersten be¬
schert ist. Entsprechend der moralischen Lauterkeit des tragischen Schläfers und
seinem sanften Dahinscheiden ist auch die Gefährtin seiner letzten Jahre ein
überaus gütiges Wesen, eine aufopfernde Gattin, die bis zum Ende alles daran
setzt, durch Befolgung der ärztlichen Vorschriften die Gesundheit des Mannes
so gut wie möglich zu schützen, dessen Tod sie war.
Der launige Einfall des Groddeckschen Seelensuchers, wonach jeder dicke
Mann es aus unbewußtem Wunsche nach Schwangerschaft sei, ließe sich nicht
übel auf Oblomow anwenden, der nicht nur beiden Kindern seiner Agathe ein
wahrer Vater wird, sondern auch schon in der Olga-Epoche vielfach durch eine
väterliche Hinneigung zu ihnen zugunsten ihrer Mutter beeinflußt worden ist.
Der bekannte bigame Hang vieler Männer, eine „geistige“ und eine „derbere“
Geliebte zu besitzen, wohnt Oblomows Herzen zweifellos inne. In der erwähnten
Lebensglückphantasie im Gespräch mit Stolz schildert er den Reiz für den glück¬
lich verheirateten Gutsherrn, mit den Dorfmägden ein klein wenig zu schäkern.
Das Gefühl fär Olga und für Agathe scheinen eine Zeitlang wohl nebenein¬
ander Platz zu haben. Der Bruch mit Olga entspringt organisch nicht nur Oblo¬
mows, sondern auch Olgas seelischer Wandlung. Früher schon befällt sie der
Zweifel, ihre Ehe werde nicht in Harmonie bestehen können: „Du hast mich
betrogen, du gibst dich wieder auf . . .“ „Du würdest von Tag zu Tag schläf¬
riger werden . .
8 . Als sie scheiden, entringt sich dem Mädchen die Frage: „Warum mußte
alles verlorengehn? Wer hat dich verflucht, Elias? Du bist ein so guter, ge¬
scheiter, zartfühlender, edelsinniger Mensch und — du gehst unter! Was ist die
Ursache deines Verfalls? Keinen Namen hat dies Unglück . . Kaum hörbar
erwidert er: „Doch!“ Und antwortet auf ihren erstaunt fragenden Blick: „Oblo-
mowismus!“ Einige Jahre später fährt das Ehepaar Stolz zu Oblomow; Stolz
läßt Olga warten, begibt sich in die Wohnung des Freundes (es folgt ein Stück
Beschreibung spätoblomowscher Lebensform), kehrt nach einer Weile zur Frau
494
A. KÖLN AI
zurück und führt sie stumm wieder weg. Olga: „Was ist dort?“ Stolz: „Oblo-
mowismus!“
Es ist dies kein leeres Wort; sondern die Andeutung der psychischen Schick¬
salsnotwendigkeit, die sich über alles anscheinend rationell Berechenbare, über
herkömmliche Wertschätzungen und ernst gemeinte Willensentschlüsse hinweg¬
schreitend Bahn bricht. Obendrein aber noch die Andeutung einer Macht, diesich
nicht auf den Elias Iwanowitsch Oblomow allein erstreckt, deren typisches Opfer
er bloß ist, und die vielmehr für den russischen Nationalcharakter bezeichnend ist.
Wir wollen ihr nicht so weit folgen; immerhin läßt sich der problemschwangere,
vor uns zweifelsohne schon dagewesene Satz, Oblomow sei der russische Ham¬
let, nicht von der Schwelle weisen. Beide kranken an Abulie, hervorgerufen
durch den übermächtigen Einfluß infantiler Triebfixierung, die sie am ziel¬
gerechten Handeln hindert. Ist aber Jones zufolge Hamlet mit spezifischer
Abulie behaftet, so scheint Oblomows Abulie keine Grenzen zu kennen. Erhebt
sich Hamlet schließlich aus dem Meer des Zweifels zur Tat, so versinkt hingegen
Oblomow; jener handelt spät, dieser entschläft früh. Die psychologische Gestalt¬
verschiedenheit beruht für uns darin, daß im russischen Charakter die
Regressionsneigung viel handgreiflichere, stabilere, „autarker“
verharrende, die Realität erschöpfende Gebilde und Lebensformen
zur Stütze hat.
ÜBER LEO TOLSTOIS SEELENLEIDEN
(Autoreferat eines Vortrages, gehalten am 17. Juni 1922 in der Tschechischen Medizinischen
Gesellschaft in Prag)
Von N. OSSIPOW
Zur Beurteilung des Seelenzustandes von Leo Tolstoi können, außer bio¬
graphischen Daten, auch alle seine Schriften dienen, weil alle Schriften von
Tolstoi eine Selbstanalyse und sogar in mancher Beziehung eine Psychoanalyse
im Freudschen Sinne darstellen. In seiner tiefgreifenden Selbstanalyse bemerkte
Tolstoi selbst einige psychopathische Züge seiner Persönlichkeit. Einige andere
entgingen seiner Aufmerksamkeit und mußten dies auch naturgemäß.
In der Erzählung „Knabenalter“ ist der Seelenkonflikt des vierzehnjährigen
beschrieben.DerKnabewünschteintensivdensexuellenVerkehrmitdemZimmer-
mädchen und konnte es doch nicht zustande bringen; sein Verlangen wurde
durch Scham gehemmt. Für das Verständnis des Seelenkonfliktes reicht die
Annahme von zwei gegeneinandergerichteten Aktivitäten — des Sexualtriebes
und der Schamhaftigkeit oder, um es allgemein auszudrücken, der Moral -—
nicht aus. Notwendigerweise müssen wir noch eine dritte Aktivität annehmen:
die Aktivität des Ichs im engen Sinne dieses Wortes. Es gibt einen schönen Aus¬
druck im Tschechischen sowohl wie im Russischen, der in romanische und
germanische Sprachen eigentlich nicht zu übersetzen ist: ,, chci , alerechce se mi.“
Wörtlich heißt es: „ich will, aber es will in mir nicht.“ Dieser Ausdruck ver¬
birgt in sich ein tiefes psychologisches Problem über die Mehrheit der Wesen in
einem Individuum. Beim vierzehnjährigen Tolstoi kämpften zurZeit des Pubertät¬
eintrittes die obenerwähnten drei Aktivitäten miteinander. Auf einer Seite
kämpfte Sexualtrieb -f- Ich-Aktivität, auf der anderen — die Moral. Die letzte
blieb Sieger. Tolstoi verzichtete auf den Sexualgenuß und suchte notgedrungen
Befriedigung in den Vergnügungen der „stolzen.Einsamkeit“. Es wäre aber
irreführend, wenn wir den Sieg der ausschließlichen Stärke der Moralforderungen
49&
N. OSSIPOW
zuschreiben wollten. Dem Siege der Moral half „der Gedanke an die Un¬
schönheit seines Äußeren“. Dieser Gedanke trug den Charakter einer
Zwangsidee, die mit starkem Affekt verknüpft war. (Dysmorphophobia nach
Morselli.) Dieser eine Umstand ist auch wieder unzureichend, um den Sieg der
Moral zu erklären, da Tolstoi ein überaus sinnlich angelegter Knabe war, wie
aus der Erzählung „Kindheit“ ersichtlich ist. Sehr wichtig ist die Tatsache, daß
der Sexualtrieb selbst gespalten war. Ein beträchtlicher Teil war auf Tolstois
Persönlichkeit selbst gerichtet. Tolstoi warein Narziß, wie aus seinen Kindheits¬
erinnerungen, Briefen, Tagebüchern und Dichtungen unbestreitbar zu ersehen
ist: Die Scham, die Zwangsidee der Unschönheit seines Äußeren und der Nar-
zißmus haben die Heterolibido auf ihrem Wege gehindert. Die verdrängte
Heterosexualität fand ihren Abfluß in den Vergnügungen „der stolzen Einsam¬
keit“, die darin bestanden, daß der Knabe sich den nackten Rücken mit einem
Stricke geißelte (Auto-Sadismus), mit Eifer über die Grundfragen der Welt¬
anschauung philosophierte, sich besonders für den Solipsismus begeisterte und
dabei in eine echte Grü bei sucht geriet. Es sind auch weitere psychopathische
Symptome zu beachten: krankhafte Schüchternheit, scharfe Veränderung
der Stimmung und andere. Auf Grund dieser Erscheinungen darf man sagen,
daß Tolstoi beim Eintritt der Pubertät an Zwangsneurose litt.
Die Ätiologie dieser Neurose Tolstois ist in einer anderen Arbeit des Vor¬
tragenden teilweise geschildert.
Es ist augenscheinlich, daß die oben angegebene Analyse des Konfliktes den
Freudschen Stil aufweist. Das ist nur als Resultat dessen zu betrachten,
daß die künstlerische Intuition von Tolstoi mit den Ergebnissen der wissen¬
schaftlichen Arbeit von Freud zusammen fällt.
Eine gewisse Erleichterung des neurotischen Zustandes brachte die Freund¬
schaft mit dem Studenten Nechljudow. Tolstoi und Nechljudow haben sich
gegenseitig versprochen, alle ihre Gedanken einander mitzuteilen, besonders
die schlimmen, niedrigen. Das ist als eine echte Freudsche Psychoanalyse zu
verstehen. Es sei nur zu beachten, daß die Gespräche zwischen Tolstoi und
Nechljudow eigentlich die Gespräche von Tolstoi mit sich selbst sind. Das war
eine Selbstanalyse. Eine rückhaltlose Analyse führte Tolstoi zur Überzeugung,
daß die Bestimmung des Menschen eine beständige Strebung zur Vollkommen¬
heit sei. Diese Analyse befreite Tolstoi gewissermaßen von Dysmorphophobie
und Grübelsucht, aber ließ ihn im Zauberkreis des Narzißmus verbleiben. Die
ersten Bestrebungen zur Vollkommenheit waren auf das Ideal eines „comme il
fallt“ gerichtet. Zugleich übte Tolstoi Gymnastik, um an Stärke alle Menschen
zu überragen. Dann kam die sittliche Vollkommenheit an die Reihe. Die Ideal-
ÜBER LEO TOLSTOIS SEELENLEIDEN
497
Vorstellung von einem schönen Manne wurde durch die Idealvorstellung von
einem sittlich-vollkommenen Menschen ersetzt. Tolstoi hörte auf, sich auf den
nackten Rücken mit einem Stricke zu schlagen, und geißelte jetzt seine Seele.
Der körperliche Autosadismus verwandelte sich in geistigen. „Die Liebe zu
sich selbst ... der Haß gegen sich selbst . . , Hier wie dort ist die erste Ur¬
sache und die Vereinigung dieser anscheinend so entgegengesetzten Gefühle das
eigene Ich, entweder das aufs äußerste gesteigerte oder aufs äußerste verneinte.
Aller Anfang und Ende ist das Ich; weder Liebe noch Haß können diesen Kreis
zerreißen.“ (Mereschkowski.) Auf den Narzißmus sind zurückzuführen: be¬
ständige Oppositionsstellung, Streitsucht, Widersprüche mit sich selbst, Zeige¬
lust, Bestreben, das Erstaunen der Anderen hervorzurufen, das Posieren u. dgl.
Die Heterosexualität blieb die ganze Periode vom Pubertätseintritt bis zur Ehe,
in die Tolstoi im Alter von 54 Jahren eintrat, stark verdrängt. Diese ganze
Periode vom 14. bis 34. Jahre litt Tolstoi an denselben Symptomen wie im
Alter von 14 bis 16 Jahren (die Zeit der ausgeprägten Zwangsneurose), nur mit
dem Unterschiede, daß der Inhalt der Symptome von der körperlichen Sphäre
auf die seelische verschoben wurde. Der Seelenkonflikt dauerte immer fort.
Trotzdem müssen wir vom pathologischen Standpunkte aus einen Unterschied
zwischen der Periode vom 14. bis 16. Jahre und der folgenden vom i6.bis34. Jahre
machen.
Die psychopathische Konstitution ist als eine Disharmonie der verschiedenen
Seelenstrebungen zu verstehen. Das Moment der Disharmonie nennen wir eben
Seelenkonflikt. Aber der Mensch strebt zum Gleichgewicht. Der Seelenkonflikt
löst sich in eine Synthese auf. Die Synthese ist normal, wenn sie durch die Ich-
aktivität, und ist pathologisch, wenn sie durch irgendeine andere Aktivität ge¬
formt wird.
Während der Periode vom 14. bis 16. Jahre litt Tolstoi an einer pathologischen
Synthese, die glücklicherweise durch die Selbstanalyse paralysiert wur/ 5 e. Danach
bewahrten Tolstoi die literarischen Erfolge vor einer neuen pathologischen
Synthese. Während der ganzen Sturm-und-Drang-Periode machte Tolstoi ver¬
schiedenartige Phasen durch, ohne daß eine von ihnen zu einer länger dauern¬
den Synthese geführt hatte. Die Verheiratung manifestiert eine vorübergehende
normale Synthese. In den ersten Jahren seines Ehelebens schrieb Tolstoi sein
geniales Poem in Prosa „Krieg und Frieden“. Aber im siebenten Jahre des Ehe¬
lebens wird diese Synthese gestört und einige Zeit leidet Tolstoi an einer aus¬
geprägten Angstneurose.
Die Thanatophobie, die vorübergehend schon vor der Ehe Tolstoi quälte, er¬
greift jetzt sein ganzes Wesen.
3 a Imago IX] 4
498
N. OSSI PO W
Dann tritt wieder ein leidlich guter Zustand ein, während dessen Tolstoi
seinen zweiten großen Roman „Anna Karenina schreibt.
Im vierzehnten Jahre seines Ehelebens beginnt die sogenannte Krise: ’lolstois
Seelenkräfte werden gänzlich auf die religiösen tragen gerichtet. Unter
anderem schreibt Tolstoi sein „Bekenntnis“, ein Werk, das unverkennbar be¬
weist, daß Tolstoi damals an einer Melancholia anxiosa mit Wahnideen der
Selbsterniedrigung und der Selbstbeschuldigung und an Suicidomanie litt.
Diese Krise und die nachkritische Periode bieten ein so großes Interesse dar, daß
sie einer speziellen Schilderung bedürfen.
Der kurze Vortrag berechtigt noch nicht, eine bestimmte Diagnose zu
stellen, weil nur die eine oder die andere Lebensperiode mehr oder weniger
ausführlich analysiert wurde, und weil selbst diese Perioden eine „makro¬
skopische“ Analyse darstellen. Für das richtige Verständnis der Seelenleiden ist
eine „mikroskopische“ Untersuchung, wie sie uns Freud lehrt, unbedingt
notwendig.
Zum Schlüsse ist zu sagen, daß solche pathographische Schilderungen keines¬
wegs eine Erniedrigung der großen Männer beabsichtigen. Sie haben den zwei¬
fachen Zweck: x. die Erkenntnis der Persönlichkeit der genialen Männer ver¬
tieft unser Verständnis ihrer großen Werke; 2. die großen Meister des Wortes
wie Tolstoi lehren uns, das Seelenleben unserer Kranken, die unfähig sind, ihre
Leiden so präzis und scharfsinnig auszusprechen, tiefer zu verstehen.
\
,/
ZUM TAGTRÄUMEN DER DICHTER
Von Dr. EDUARD HITSCHMANN
In meinem Aufsatz „Zum Werden des Romandichters“ (Imago, I. Jahrgang,
191s) konnte ich am Beispiel des Romanciers Jakob Wassermann die von
Freud festgestellte Bedeutung kindlichen Tagträumens als Vorstufe epischen
Dichtens bestätigen. In seinem viel Autobiographisches enthaltenden Büchlein
„Mein Weg als Deutscher und Jude“ (1912) berichtet dieser Dichter in überaus
charakteristischer Weise von seinem intensiven jugendlichen Tagträumen, das
fast die Form eines Doppelbewußtseins annahm. Es heißt dort:
„Ich war sehr naiv in meiner Abhängigkeit von Traum und Vision. Vision
darf ich es wohl nennen, da sich mir unerlebte Zustände, unwahrnehmbare
Dinge und Figuren in Greifbarkeit zeigten. Im Alter zwischen zehn und zwanzig
Jahren lebte ich jn beständigem Rausch, in einer Fernheit oft, die den Mit-
mirgehenden und -seienden bisweilen nur eine empfindungslose Hülle ließ. Es
ist mir später berichtet worden, daß man mich anschreien mußte, um mich als
Wachenden zu wecken. Ich hatte Anfälle von Verzückung, von wilder, stiller
Verlorenheit, und in der Regel war die Abtrennung so gewaltsam ui/d jäh, daß
die Verbindungen rissen, und daß ich wie gespalten blieb, auch ohne Wissen,
was dort mit mir gesehen war. In beiden Sphären lebte ich mit gespannter Auf¬
merksamkeit, wie überhaupt Aufmerksamkeit ein Grundzug meines Wesens
ist, aber es waren keine Brücken da; ich konnte hier völlig nüchtern, dort völlig
außer mir sein, auch umgekehrt, und es fehlte dabei alle Mitteilung, alle Bot¬
schaft. Das erhielt mich in einer außerordentlichen, mich quälenden und er¬
regenden, für die Menschen um mich meist unverständlichen Spannung. Staunen
und Verzweiflung waren die Gemütsbewegungen, die mich vornehmlich be¬
herrschten ; Staunen über Gesehenes, Geschautes, Empfundenes; Verzweiflung
darüber, daß es nicht mitteilbar war. Vermutlich war meine Verfassung die.:
33 *
5 °°
E. HI TSC HMANN
ich wußte, daß Unerhörtes oder Merkwürdiges mit mir, an mir, in mir geschah,
war aber durchaus nicht imstande, mir oder anderen davon Rechenschaft zu
geben. Ich war gewissermaßen ein Moses, der vom Berge Sinai kommt, aber
vergessen hat, was er dort erblickt, und was Gott mit ihm geredet hat, Noch
heute wüßte ich nicht im geringsten zu sagen, worin eigentlich dies Verborgene,
verborgen Flammende, geheimnisvoll Jenseitige bestanden hat; ich muß es für
ewig unerforschbar halten, trotzdem es mir lockend erscheint, einiges davon
zu ergründen; es müßte dann auch zu ergründen sein, was zudem Ahnen gehört
und was zur Erde, was vom Blute kam, und was vom Auge, und aus welcher
Tiefe das Individuum in den ihm gewiesenen Kreis emporwächst.
Mit der Darstellung dieser Kämpfe und Exaltationen ist ein Verhältnis zum
Wort bereits angedeutet und seine Entstehung aus der Not und Notwendigkeit
heraus zu erklären. Und wie sehr das Wort Surrogat und Behelf ist, erweist
sich in meinem Fall nicht minder offensichtlich, da doch das Ding und Sein,
worauf es sich bezog, unbekannt geworden und hinter nicht zu entriegelnder
Pforte lag. Ich glaube, daß alle Schöpfung von Bild und Form auf einen solchen
Prozeß zurückzu führen ist. Ich glaube, daß alle Produktion im Grunde der
Versuch einer Reproduktion ist, Annäherungan Geschautes, Gehörtes, Gefühltes,
das durch einen jenseitigen Trakt des Bewußtseins gegangen ist und in Stücken,
Trümmern und Fragmenten ausgegraben werden muß. Ich wenigstens habe
mein Geschaffenes zeitlebens nie als etwas anderes betrachtet, das sogenannte
Schaffen selbst nie anders als das ununterbrochene schmerzliche Bemühen eines
manischen Schatzgräbers.
Doch: Kunde zu geben, davon hing für mich alles ab, schon im frühesten
Alter. Obgleich die entschwundenen Gesichte mich stumm, geblendet und mit
Vergessen geschlagen in die niedrige Wirklichkeit verstießen, wollte ich doch
Kunde geben, denn trotz ihrer Ungreifbarkeit war ich bis zum Rande von ihnen
gefüllt. Bereits als Knabe von sieben oder acht Jahren geriet ich zuzeiten, meine
gewohnte Scheu und Schweigsamkeit überwindend, in zusammenhangloses Er¬
zählen, das von Angehörigen, von Hausgenossen und Mitschülern als halb ge¬
fährliches, halb lächerliches Lügenwesen aufgenommen und dem mit Zurecht¬
weisung, Spott und Züchtigung begegnet wurde. An Winterabenden halfen
wir Kinder oft der Mutter beim Linsenlesen, und es kam vor, daß ich plötzlich
zu phantasieren anfing, in den Linsenhaufen hinein Schrecken, Unbill und
Abenteuer dichtete, Gespenstergrausund Wunder, harmlose Nachbarn als Zeugen
sonderbarer Begegnungen anführte, mir selbst die höchsten Ehren, höchsten
Ruhm prophezeite. Die Mutter, ihre Arbeit ruhen lassend, schaute mich ängst¬
lich verwundert an, ein Blick, der mich noch trotziger in das unsinnig Ver-
ZUM TAGTRÄUMEN DER DICHTER
5 0/
worrene trieb. Nicht selten nahm sie mich beiseite und beschwor mich mit
Tränen, daß ich nicht der Schlechtigkeit verfallen möge.
Wie ich aber aus eigenem Antrieb und wiederum durch eine Not zum Er¬
zähler von Geschichten mit handelnden Figuren und geschlossenerFabel wurde,
muß ich festhalten, weil es weit über den kindlichen Bezirk hinaus auf meinen
Weg, auf meine Wurzeln wies.“
(Der Dichter, damals elf Jahre alt, wurde von seinem sechsjährigen Bruder,
mit dem er in einer Art Verschlag in demselben Bette schlief, oft um Geld
bedrängt, wollte aber Zank vermeiden,)
. In meiner Bedrängnis verfiel ich nun auf den Ausweg, ihm vor dem Ein¬
schlafen Geschichten zu erzählen .... Es war keineswegs leicht; ich hatte einen
unerbittlichen Förderer, und ich durfte nicht langweilig und nicht flüchtig
werden. So erzählte ich wochen-, ja monatelang an einer einzigen Geschichte,
im Finstern, mit leiser Stimme, bis wir beide müde waren, und bis ich im
Durcheinanderwirbeln der Figuren zu der Situation gelangt war, von der ich-
selbst noch nicht wußte, wie sie zu lösen sei, die aber den atemlosen Lauscher
wieder für vierundzwanzig Stunden in meine Gewalt gab. Ich sagte, daß mich
dies auf den Weg und auf die Wurzeln wies. Auf den Weg, weil ich die wichtige
Erfahrung machte, daß ein Mensch zu binden ist, zu „fesseln“, wie der ver¬
brauchte Tropus lautet, indem man sich seiner Einbildungskraft bemächtigt . ..;
daß man Freude, Furcht, Überraschung, Rührung, Lächeln und Lachen in ihm
zu erregen vermag, und zwar um so stärker, je freier das Spiel, je absichtsloser
und je mehr vom Zwang befreit die Täuschung ist. Der beständige Augenschein
aller Wfirkung hielt mich selbst in Atem, weckte meinen Ehrgeiz, zwang mich
zu immer neuen Erfindungen und zur Vervollkommnung meiner Mittel.
Auf die Wurzeln: es lag mir sicherlich als ein orientalischer Trieb im Blute.
Es war das Verfahren der Schehrasade ins Kleinbürgerliche übertragen;
schlummernder Keim, befruchtet durch Zufall und Gefahr . . .
Es dauerte nicht lange, bis es mir zum Bedürfnis wurde, die eine oder andere
der nächtlich erzählten Geschichten aufzuschreiben.“
Obwohl ein wenig dunkelbleibend, sei auch zitiert, was Wassermann neben
der Einwirkung der Umgebung, von Stadt und Land —, Phylogenetisches
ahnend, von der „inneren Landschaft“ berichtet:
„Über diese beiden Erlebnisgebiete hinaus, als Drittes dann die innere
Landschaft, die die Seele aus ihrem Zustand vor der Geburt mit in die
Welt bringt, die das Wesen und die Farbe des Traumes bestimmt, des Traumes
in der weitesten Bedeutung, wie überhaupt die heimlichen und die unbewußten
Richtwege des Geistes, die sein Klima sind, seine eigentliche Heimat. Nicht
5° 3
E. HITSCHMANN
etwa nur Phantasiegestaltung von Meer und Gebirge, Höhle, Park, Urwald,
das paradiesisch Ideale der unreifen Sehnsucht, der Aus- und Zuflucht alles Un-
genügens an der Gegenwart ist unter der inneren Landschaft zu verstehen, viel¬
mehr ist sie der Kristall des wahren Lebens selbst, der Ort, wo seine Gesetze
diktiert werden, und wo sein wirkliches Schicksal erzeugt wird, von dem das
in der sogenannten Wirklichkeit sich abspielende vielleicht bloß Spiegelung ist.
In diesem Punkt sich auf Erfahrungen zu berufen, ohne zu flunkern oder
zu dichten, ist fast unmöglich. Es handelt sich um Gefühlsintensitäten und um
Bilder von unfaßbarer Flüchtigkeit. Beinahe alles zu Äußernde muß sich auf ein
„ich glaube“ beschränken. Man tastet hin, man ahnt zurück; jede Erinnerung
ist ja ein Stück Konstruktion. Es scheint mir zweifellos, daß alle innere Land¬
schaft atavistische Bestandteile enthält, und ebenso zweifellos dünkt mich, daß
sie bei den meisten Menschen zu einem gewissen Zeitpunkt zwischen der Puber¬
tät und dem Eintritt in das sogenannte praktische Leben verwelkt, verdorrt,
schließlich abstirbt und untergeht.“
BÜCHER
H. PRINZHORN: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie
und Psychopathologie der Gestaltung. Verlag von Julius Springer, Berlin
2. Aufl. 19*5. Fr. 48.—.
Daß ein so groß angelegtes, kostspieliges Werk schon nach Jahresfrist eine Neuauflage
erlebt, ist ein erfreuliches Zeichen in dunkler Zeit. Verfasser und Verleger haben diese
Auszeichnung reichlich verdient. Die wissenschaftliche Leistung des Verfassers flößt durch¬
wegs Achtung ein, wenn sie auch darauf verzichtet, in die Tiefe zu dringen, und der Ver¬
lag hat die Untersuchung einer Ausstattung gewürdigt, wie sie gewöhnlich nur Pracht¬
werken zuteil wird. Es ist nicht verwunderlich, daß das Buch sich das Interesse nicht
nur der Psychologen und Psychiater, sondern auch der Kunstfreunde, ja der gebildeten
Welt überhaupt eroberte.
Welch ein Umschwung der Auffassung und Wertung! Bis vor kurzem lag die Bildnerei
der Geisteskranken jenseits des tieferen Verständnisses. Mitleidig lächelnd deutete man
auf ihre oft so bizarren Gegenstände, ihren Mangel an innerer Folgerichtigkeit, ihre Ent¬
fernung von der Wirklichkeit, ihre traumähnliche Verworrenheit, ihre kindlichen Aus¬
drucksmittel, ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber der künstlerischen Überlieferung und
anderer Merkmale, die man samt und sonders als Zeichen geistigen Verfalles deutete und
der Mißachtung preisgab. Und nun führt Prinzhom den Nachweis, daß in der angeblich so
minderwertigen Produktion der Geisteskranken oft schöpferische Kräfte von hohem Range
sich betätigen.
Die von Sigmund Freud begründete Psychoanalyse führte bereits in die Nähe dieser
Betrachtungsweise. Liebevoll ging sie dem tieferen Sinne des vom Geisteskranken und
Neurotiker geschaffenen scheinbaren Unsinns nach und fand ihn in den oft so grotesk und
toll aussehenden Wahnideen, Halluzinationen, Zwangsvorstellungen, neurotischen Körper¬
symptomen und anderer Kundgebungen des Unbewußten. Wo die alte, materialistisch
orientierte Psychopathologie nur Zusammenbruch und Verwüstung gesehen und mit dem
Hinweis auf die Entartung der Hirnzellen alles gesagt hatte, was ihr auf dem Herzen lag,
suchte die Analyse sorgfältig die verborgenen Züge des unter den schwierigsten Verhält¬
nissen um seine Existenz ringenden Geistes auf.
Bei Prinzhom ist jedoch die Problemstellung eine ganz andere geworden. Dem Psycho¬
analytiker kam es darauf an, die Entstehung der einzelnen Gebilde zu erklären, die in
ihnen waltenden Gesetze zu erfassen, die biologische Notwendigkeit solcher Leistungen
BÜCHER
5°4
zu verstehen, ihre geheimen Absichten zu enthüllen. Prinzhorn dagegen liegt es vor allem
daran, die psychologischen Grundlagen der bildnerischen Gestaltung selbst zu erfassen und
zugleich die Frage zu entscheiden, ob es Merkmale gebe, die mit Sicherheit aus den Bil¬
dern Geisteskranker ihre Geisteskrankheit erkennen lassen. Die Doppelstellung des Ver¬
fassers als Philosoph und Psychiater legte ihm offenbar diese Fragestellung nahe»)
Daher untersucht P. nach einer Einleitung in einem „theoretischen Teil“ die psycho¬
logischen Grundlagen des bildnerischen Schaffens. Er prüft den metaphysischen Sinn der
Gestaltung im Vorgang selbst und hierauf die sechs Wurzeln des Gcstaltungstriebes: Das
Ausdrucksbedürfnis, den Spieltrieb, den Schmucktrieb, die Ordnungstendenz, die Abbiide-
tendenz, das Symbolbedürfnis. Ein folgender Teil untersucht eine wohlgeordnete lange
Kette von Bildnereien Geisteskranker, sowie die Lebensgeschichten einzelner ihrer frucht¬
barsten Urheber. Der letzte Abschnitt geht auf Ergebnisse aus. Er prüft die Merkmale der
mitgeteilten Bildwerke, vergleicht sie mit ähnlichen* Schöpfungen, die Kinder und Primi¬
tive zu Urhebern haben, und verweilt besonders lange bei der schizophrenen Gestaltung.
Das Gesamtergebnis, das als bescheiden angegeben wird, lautet: „Man kann nicht mit
Sicherheit sagen: dies Bildwerk stammt von einem Geisteskranken, weil es diese Merk¬
male trägt“ (337).
Von allgemeinem Interesse wird bei der heutigen Lage P’s Stellung zum Expressionis¬
mus. Schon früher fiel die Verwandtschaft zwischen schizophrener und expressionistischer
Bildnerei auf. Vor allem die Abkehr von der Wirklichkeit, die üppige Phantastik, das Vor¬
herrschen des Irrationalen, rein Stimmungsmäßigen mußten in die Augen springen. Manche
Künstler und Kritiker waren entsetzt, als sie die enge Verwandtschaft der beiden Schöp¬
fungen erkannten. P. beruhigt: „Der Schluß: dieser Maler malt wie jener Geisteskranke,
also ist er geisteskrank, ist keineswegs beweisender und geistvoller als der andere: Die
und die Künstler machen Holzfiguren wie Kamerunneger, also sind sie Kamerunneger“
( 34 ^)* Aber doch gibt er zu, daß Expressionisten und Geisteskranke als Grundzug die Ab¬
kehr von der schlicht erfaßten Umwelt, eine Entwertung des äußeren Scheines und eine
entschiedene Hinwendung auf das eigene Ich aufweisen. P. deckt sich also mit den Aus¬
führungen, die ich in meinem Buche „Die psychologischen und biologischen Grundlagen
des Expressionismus“ niedergelegt habe.
P. hat seinen Gegenstand mit feinem Kunstverständnis und kluger wissenschaftlicher
Vorsicht behandelt. Sein Buch wird ohne Zweifel viel dazu beitragen, dem Ddcadence-
und Verzweiflungsprodukt des Expressionismus ein Ende zu bereiten.
Und doch kann ich eine Reihe von Bedenken nicht unterdrücken. Der Psychoanalyse
steht P. freundlich gegenüber, macht aber von ihr hei weitem nicht den Gebrauch, der
eim heutigen Stande der wissenschaftlichen Forschung zu wünschen gewesen wäre. So
mt es, daß er da stehen bleibt, wo die wichtigsten, interessantesten und aufschlu߬
reichsten Untersuchungen hätten beginnen sollen.
Methodologisch wäre es richtiger gewesen, wenigstens eine kleine Anzahl von Dar-
ungen sorgfältig zu analysieren und ihre unbewußten Hintergründe aufzudecken. Daß
le au c bei Schizophrenen nicht selten möglich ist, wurde durch eine Reihe ähnlicher
Untersuchungen nachgewiesen.
Wenn P. als psychologische Grundlagen allerlei Triebe und Bedürfnisse nennt, das
Ausdrucksbedürfnis, den Spieltrieb usw., so erweckt er damit den Schein, es handle sich
um Grundkräfte und letzte Instanzen. Es wäre nun ersprießlich gewesen, Natur und Her¬
kunft dieser „Wurzeln“ des „Gestaltungstriebes“ zu untersuchen und sie in ihrem Zusam-
BÜCHER
505
menhang mit der Lebensökonomie verständlich zu machen. P’s. Triebe sind doch im
Grunde nur Sammelnamen, die nicht irgendein zum voraus vorhandenes allgemeines, ver¬
mögenähnliches Können oder Streben ausdrücken. Sie sind nichts als Abstraktionen für
Vorgänge, die sich unter ganz bestimmten psychologischen Bedingungen abspielen und
auf ihre Ursachen zu untersuchen sind.
Über diese Bedingungen hat die Psychoanalyse in langwierigen Untersuchungen nicht
wenig Licht verbreitet. Hätte P. die Entstehung der Bildnerei am lebenden Menschen ver¬
folgt, anstatt sich auf Vergleichung der fertigen Produkte zu beschränken, so wäre er viel
tiefer in seinen Gegenstand eingedrungen. Er hätte die Vorstufe des Bildnerns, den Traum,
nicht nur mit einem allgemeinen Sätzchen abgetan, sondern die Traumpsychologie gründ¬
lich verwendet, um die wahren Motive, die Gesetze, die Bedeutung der Bildnerei zu er¬
gründen. Er hätte die Psychologie der Wunschvorstellung, die Beteiligung des unbewußten
Seelenlebens zu Rate gezogen und dabei Erkenntnisse gewonnen, die weit über die vagen
Allgemeinheiten des „Schmucktriebes“, der „ Abbildetentenz“ und dergleichen hinausführen.
In der Halluzination sehen wir bereits das Streben, den Kreis des Autismus zu sprengen
und seiner Wunschwelt den Charakter des Wirklichen zu erkämpfen. Auch der Tanz will
die Welt des Autismus in die Wirklichkeit hinaustragen. Die Zwangsvorstellung möchte
die autistische Wunschwelt befestigen, indem sie den betreffenden Inhalt funktionell auf¬
nötigt. Die Magie zeigt einen anderen Versuch, der Wunschwelt Objektivität zu erobern.
Mit solcher Bearbeitung des Schaffens wäre P. sehr viel weiter gekommen, als mit der
Vergleichung der fertigen Produkte.
Auch die Gesetze der Bildnerei wären so viel deutlicher hervorgetreten. Es ist durch¬
aus nicht richtig, was P. S. 552 sagt, daß man durch psychoanalytische Bearbeitung der
Werke kranker Personen an die Gestaltungsprobleme schwerlich herankomme. Voraus¬
setzung ist nur, daß der Analytiker, der auf die psychologischen Voraussetzungen künst¬
lerisch hochwertiger Werke ausgeht, für sie Verständnis besitze, Wenn die bisher analysier¬
ten Personen meistens Bilder lieferten, die als Gestaltungen wertlos waren, so braucht es
ja nicht so zu bleiben. Man gebe uns doch nur ein ähnliches Material, wie P. zu finden
das Glück hatte!
In der Kunst spielt die Form eine große Rolle. P. hat sie unter andern in seiner „Ord¬
nungstendenz“ berücksichtigt. Aber er hat nicht gezeigt, wie die Untersuchung lebender
Künstler den Nachweis führte, daß die geordnete Form einen Versuch darstellt, über die
eigene innere Unordnung hinauszukommen.
Zur Psychoanalyse stellt sich P. freundlich, aber er läßt Klarheit vermissen. Wenn er
ihr realistisch-naturwissenschaftliche und vorwiegend kausal gerichtete Erklärungsversuche
nachsagt (350), so trifft dies nur sehr bedingt zu. Freud hat gerade die finale Betrachtungs¬
weise mit ungeheurer Entschiedenheit in seiner Psychologie durchgeführt, und es ist eigent¬
lich verwunderlich, daß ein so vorsichtiger Forscher wie P. den unberechtigten Vorwurf
gewisser Gegner wiederholt. Wenn er vermeidet, von „phylogenetischen Resten“, Regres¬
sion und archaischem Denken zu reden, „weil diese Schemeta den Tatsachen nicht völlig
gerecht zu werden scheinen“ (550), so wäre es wertvoll gewesen, wenn er dieses Urteil
erklärt und begründet hätte. Für mich wird die schizophrene und expressionistische Bild¬
nerei viel verständlicher, wenn ich sie im Zusammenhang mit den allgemeinen Regressions¬
erscheinungen betrachte. Daß es eine absolute Regression gebe, hat Freud nie behauptet,
sondern oft genug darauf hingewiesen, wie inmitten der Regression eine Progression an¬
gebahnt wird.
5°6
BÜCHER
Endlich bin ich auch nicht einverstanden mit P’s. Unterscheidung der Entstehung
schizophrener und expressionistischer Gestaltungsformen. P. erklärt, der Schizophrene er¬
lebe schicksalsmäßig das grauenhafte Los der Entfremdung von der Wahrnehmungswelt,
während der Expressionist sich mehr oder weniger unter einem Erlebniszwang durch
Erkenntnis und Entschluß von der Erscheinungswelt ablöse (547). Dies stimmt nicht mit
meinen Beobachtungen. Ich kenne Expressionisten, welche nicht durch einen solchen Akt
zu ihrem Kunstschaffen gelangten, sondern genau wie der Schizophrene durch eine un¬
bedingte innere Notwendigkeit, aus der es kein Entrinnen gab. Sie mußten einfach so
schaffen, wie sie es taten. Der Unterschied liegt anderswo: Der Expressionist bleibt außer¬
halb seiner Kunst praktisch der Wirklichkeit treu, so weit er seine geistige Gesundheit be¬
sitzt, und oft ist er glücklicherweise vollkommen gesund. Der Schizophrene dagegen hat
der Wirklichkeit auch jenseits der bildnerischen Darstellung den Realitätscharakter ent¬
zogen, soweit seine Krankheit reicht, und läßt liier nur seine Wunschwelt gelten. Ich sehe
übrigens kein Recht ein, einem großen Teil der schizophrenen Bildner den Titel von Expres¬
sionisten vorzuenthalten.
Trotz meiner Einwendungen halte ich die von P. geleistete Arbeit für höchst verdienst¬
lich. Der Verfasser deutet selbst an, daß er mehr nur Vorarbeit leisten wollte. Möge es ihm
vergönnt sein, die so verheißungsvoll begonnene Arbeit fortzuführen! O. Pfister
J. SADGER: Friedrich Hebbel, ein psychoanalytischer Versuch, Schriften
zurangewandten Seelenkunde, XVIIL Heft, Verlag Franz Deuticke, Leipzig-Wien 1920.
Hebbels Dichterpersönlichkeit hat etwas unwiderstehlich Anziehendes für jeden, der
das Abseitige und Verborgene im Seelenleben zu erforschen sucht: Die ungewöhnliche psycho¬
logische Problemstellung, das Nebeneinander heißer Leidenschaft und eiskalter Logik in
seinen Dramen, sein seltsamer Entwicklungsgang und sein hart an das Pathologische
streifender Charakter wecken das psychoanalytische Interesse, während ein in ungewöhn¬
lich frühe Jugenderinnerungen zurückgreifendes autobiographisches Fragment der Hoffnung
Raum gibt, die Rätsel und Widersprüche durch das von dem Dichter selbst bereitgestellte
Material zu lösen.
Von all diesen Möglichkeiten und Voraussetzungen hat S. weitgehenden und erfolg¬
reichen Gebrauch gemacht; es ist ihm gelungen, den Zusammenhang zwischen Dichten
und Leben Hebbels oder vielmehr die Zurückführung von beiden auf die unbewußten
Kindheitserlebnisse und Impulse prägnant herauszuarbeiten. Daß dabei nichts von jener
Gloriole zustande gekommen ist, die sonst die Biographen um das Haupt ihres Helden
strahlen lassen, darf man ihm nicht zum Vorwurf machen. Ein schamhaftes Übersehen
oder gar ein liebevolles Überschminken menschlicher Schwächen mag jenen erlaubt sein,
die für sich oder andere ein ideales Vorbild herzustellen bemüht sind — zur Erkenntnis
tieferer seelischer Zusammenhänge ist die Untersuchung und Abwägung unerläßlich, wie
sich in Hebbels Charakter Egoismus und unbewußte Lust, neurotisches Schuldgefühl und
wirkliches Verschulden, leidenschaftliche Selbstverstrickung und bis zur llabulistik
getriebene Selbstverteidigung miteinander vermengt haben. Die Anerkennung, die dem
dichterischen Genius wieder und wieder gezollt wird, der Nachweis der Beziehung gerade
zwischen dem Menschlichsten in seinem Seelenleben und dem Erschütterndsten in seiner
Kunst geben die volle Rechtfertigung für S.s Verfahren.
Dieses Einverständnis mit Inhalt und Methode der Sadgerschen Untersuchung dehnt
sich jedoch nicht auf den Ton aus, in dem sie gehalten ist. Mehr als einmal klingt die
BÜCHER
507
Schärfe eines Staatsanwaltes an, der einen armen Sünder auf der Anklagebank vor sich
hat. Dies scheint in doppelter Hinsicht ein Mißgriff zu sein. Einmal, weil jeder, der zum
Unbewußten, d. h. zu den bösen und verworfenen Trieben hinabsteigen will, um verstehen
zu lernen, im Vorhinein alles verziehen haben muß; dann, weil man die Schonungslosig¬
keit, mit der der Dichter von seiner Seele mehr enthüllt als jeder andere, durch Respekt
zu belohnen verpflichtet ist. H. S.
HINRICHSEN : Bemerkungen zu: Birnbaum, Psy chopathologisehe Doku¬
mente, Allg. Zeitschr. f. Psychiatr. B. 78 H. 4.
Der Autor sträubt sich dagegen, daß gewisse auffällige und eigenartige seelische Ver¬
fassungen beim geistig Schaffenden, Schöpferischen einfach als pathologisch gewertet,
pathologischen Erregungsphasen gleichgesetzt werden und ihnen wesensverwandt sein
sollen. Er weist auf den Zwangscharakter, das unter Umständen Anfallsartige, an einen
Dämmerzustand Gemahnende des geistigen Geburtsaktes hin, möchte diesen aber doch
vom Pathologischen streng geschieden wissen. Dann skizziert er einen Fall, der nach seiner
eigenen Auffassung in der Mitte liegt zwischen gesund produktiven und rein pathologischen
Phasen und liefert so selbst einen Beleg dafür, daß es eben Übergänge gibt und daß sein
Sträuben und der Versuch, strenge Scheidewände aufzurichten, vergebliche Liebesmühe
bedeuten. Da alle Beiträge, welche die Psychoanalyse zu diesen Problemen geliefert hat,
völlig vernachlässigt werden, wundem wir uns nicht, daß ein produzierender Künstler
von seinem Narzißmus gehindert wird, anzuerkennen, daß eben im Unbewußten eines
jeden Menschen perverse und andere pathologische Triebe ruhen und gelegentlich manifest
werden können. A. Kielholz
RICHARD MÜLLER-FREIENFELS: Psychologie und Literaturforschung. Das
literarische Echo. 25. Jg. Heft 2, 15. Oktober und 15. November 1922.
Innerhalb dieser Artikelreihe, die sich bemüht, gegenüber der historisch-philologischen
die psychologische Literaturforschung und ihre Methoden hervorzuheben, führt der Ver¬
fasser die psychoanalytische Methode als fruchtbar an. Wenn auch die analytischen All-
gemeinerkenntnisse vielfach schematisch gehandhabt werden, dürfe man sich über ihren
tatsächlichen Wert nicht täuschen. Zu dem dauernd Wertvollen rechnet Verfasser be¬
sonders die Theorie der Verdrängung. Unter ihrem Gesichtspunkt lasse sich gerade das
für alle Literaturforschung zentrale Problem des dichterischen Schaffens, wie ein Erlebnis
in symbolhafter Ausweitung zu jener Erfüllung strebe, die ihm die Wirklichkeit versagt,
in ganz neuem Lichte fassen. Die alte Lehre von der Verwandtschaft von Traum und
Dichtung erhalte durch die Psychoanalyse eine pliysiopsychologische Grundlage. Wir
lernen die Dichtungen als „Wunschträume“ verstehen. Der Verfasser rechnet die Indivi¬
dualpsychologie Adlers und die Typentheorxen Jungs ebenfalls zur Psychoanalyse.
Th. Reik
GEZA REVESZ: Das frühzeitige Auftreten der Begabung und ihre Er¬
kennung. J. Ambr. Barth, Leipzig, 1921, 37 S. 4 Mk.
Eine dankenswerte, übersichtliche Znsammenfassung dessen, was dem heutigen Stande
der Wissenschaft entsprechend über das Thema gesagt werden kann, freilich unter gänz¬
licher Außerachtlassung der Ergebnisse psychoanalytischer Forschung. „Ausgesprochenes
BÜC HER
50 *
Charakteristikum der Begabung bilden .... die Intuitionen, die Spontaneität und das Ver¬
halten des Kindes menschlichen Betätigungen und Werken gegenüber ...“ (S. 15.) „Die
Erkenntnis der Begabtheit eines Kindes weist natürlich nur auf die allgemeinsten Umrisse
der Begabung hin ., (S. 1 2.) Erst in der Jugendzeit wird spezifische Begabung bemerkbar,
„In welchem Alter treten die besonderen Begabungen und Anlagen auf und wann entfalten
sie sich?“ (S. 15.) „Charakteristisch für die musikalische Begabung ist es, daß ihr
Erscheinen gewissermaßen mit Notwendigkeit auf das Jugendalter entfällt. Unter den
hervorragenden Musikern gibt es kaum einen, dessen Talent erst nach Abschluß der
Jugendzeit aufgetreten wäre . .. aber. .. die volle Entfaltung ihrer schöpferischen Kraft
fällt erst in den Zeitraum vom 20. bis zum 30. Lebensjahr.“ (S. 20.) „Die Begabung in den
bildenden Künsten zeigt sich nicht so früh, wie in der Musik, auch entfaltet sie sich
nicht so schnell.“ (S. 21.) „Die literarische Begabung entfaltet sich noch später.“ (S. 22.)
„Die wissenschaftliche Begabung entwickelt sich noch später als die dichterische.“
(S. 26.) Dagegen: „die mathematische Begabung entwickelt sich früher als Sie gesamten
künstlerischen, wissenschaftlichen und praktischen Talente.“ (S. 27.) „Außer der mathema¬
tischen und musikalischen gibt es noch eine Begabung, die gesetzmäßig nur in der Jugend
auftritt . . . das Talent zum Schachspiel.“ (S. 35.) Dies sind die Hauptergebnisse der
Arbeit, die recht viel interessantes Material als Beleg enthält. — Es ist demnach erstaun¬
lich wenig, was die Wissenschaft zum Thema des Büchleins zu sagen weiß. Von Erklärung
oder Verständnis der Phänomene ist keine Rede. Einige merkwürdig oberflächliche Be¬
merkungen über den Einfluß der Schule auf die frühe Entwicklung der mathematischen
Begabung (S. 31) können nicht im Ernst als erklärende betrachtet werden. Aber auch die
bloße Beschreibung und Bezeichnung der Probleme ist unscharf. Mau darf dabei dem
Autor zugute halten, daß ihn kaum wesentliche Vorarbeiten stützen, und die Biographik —
die hauptsächlichste Quelle für die jugendliche Produktivität —, wie schon Ostwald sehr
beweglich klagte, nur sehr unzureichend und ungenau unterrichtet. Dennoch muß be¬
merkt werden: es bietet keine Aussicht auf fruchtbare Resultate, wenn das Studium der
in Frage stehenden Probleme vom Standpunkt der Begabung aus untersucht wird. Be¬
gabung involviert eine außerpsychologische, kulturelle, soziale Bewertung, zudem eine sehr
fragliche, schwankende, oft zufällige. Es wäre nötig von der Produkti vität auszugehen,
sie genau zu erforschen und dann erst jene sozialen Folgerungen zu ziehen, die durch den
Begriff der Begabung als petitio principii in die psychologische Forschung hineingetragen
werden. Siegfried Bernfeld
ISADOR H. GORIAT, M. D.: The liysteria of lady Macbeth. 2. Aufl. Boston, 1920.
Die erste Hälfte dieser kleinen Schrift enthält eine kurze Zusammenfassung der Psycho-
analyse nnd ihrer Anwendung auf die Literatur, die zweite eine Analyse des Charakters
der Lady Macbeth. Der Autor gibt sich die größte Mühe, naclizuweisen, daß die Gestalt
der Lady Macbeth einen Typus der Hysterie verkörpert und daß ihre schlafwandlerischen
Handlungen nicht in eigentlichem Schlaf, sondern in einem Zustand von Bewußtseins¬
spaltung vor sich gehen. S ad gers Arbeit über Somnambulismus wird dabei nicht er¬
wähnt. Die Diagnose des Seelenzustands der Lady Macbeth gipfelt in der Behauptung,
daß ihre Sexualenergie infolge der Versagung der Nachkommenschaft in Ehrgeiz um¬
gewandelt wird und dieser Ehrgeiz dann in Konflikt mit „verdrängter Feigheit“ gerät.
Nun kann heigheit zwar wie jede andere Art von Angst zurückgedrängt werden, ist aber
kein primärer Inhalt des Unbewußten, so daß man kaum im psychoanalytischen Sinne
BÜCHER
509
von verdrängter Feigheit sprechen kann; sie ist eben nur eine Reaktion auf irgendeine
tiefere unbewußte Regung. Die ganze Arbeit ist etwas oberflächlich, aber recht gut ge¬
schrieben. Es ist zu bedauern, daß der Autor die von Freud und Jekels publizierten,
tiefgehenden Analysen derselben Gestalt nicht mit heranziehen konnte. E. J.
FREDERICK CLARKE PRESCOTT: The PoeticMind. (New York. The Macmillan
Company, 1922.)
Der Autor (Professor für Literatur an der Cornell University) verwendet in großen
Zügen die Grundsätze der analytischen Psychologie zur Deutung und Kritik dichterischer
Schöpfungen. Von anderen in Amerika und England erschienenen Arbeiten über das
gleiche Thema unterscheidet sich dieses Buch vorteilhaft durch die gründliche Bildung
und gute Sachkenntnis des Autors, durch volle Korrektheit bei Anwendung der verschiedenen
Termini und durch die schrittweise vorgehende Argumentation. Das Buch ist im allgemeinen
für Laien bestimmt, aber die Reichhaltigkeit des zusammengetragenen Materials macht
es auch für Psychologen zur wertvollen Lektüre.
Psychoanalytische Leser, die mit dem Ziel, das Professor Prescott sich setzt, und den
von ihm gebrauchten Methoden nur einverstanden sein können, werden vielleicht be¬
dauern, daß er nicht noch tiefer in das Studium der analytischen Literatur und die Ver¬
wertung der analytischen Erkenntnisse eingedrungen ist. Er spricht zwar von einem
„tieferen Sinn“, der sich in den poetischen Schöpfungen verbirgt, macht aber keinen ernst¬
haften Versuch, diesem Verborgenen systematisch nachzugehen. So versäumt er z. B., auf
die Bedeutung des Ödipuskomplexes für die dichterische Inspiration hinzuweisen und sie
mit Beispielen aus der Literatur zu illustrieren. Auch bei Besprechung von Shakespeares
Hamlet findet sich keine Erwähnung der psychoanalytischen Arbeiten auf diesem Gebiet.
Bei Besprechung der Traummechanismen unterläuft dem Autor an einer Stelle ein
volles Mißverständnis der Ausführungen Freuds. L. C. M.
WILLIAM BAYARD HALB: The Story of a Style. A Psychoanalytic Study of
Woodrow Wilson. (Published by B. W. Huebsch, Ine., New York, 1920. Pp. 503.
Price 2 dollars.)
Eine fesselnde originelle Untersuchung, ohne technische Hilfsmittel, aber mit seltenem
psychologischen Scharfblick durchgeführt. Abgesehen von dem interessanten Thema, ist
sie bedeutsam als Beispiel für eine neue psychologische Forschungsmethode. Es wird hier
der Versuch unternommen, einen Menschen, und zwar Expräsidenten Wilson, durch die
Detailuntersuchung seiner Sprache zu charakterisieren. Es ist anzunehmen, daß diese
Methode in künftigen Jahren in der Völkerpsychologie Verwendung finden wird. Die
Unterschiede zwischen dem Sprachgebrauch in England und Amerika z. B. wären ein er¬
giebiges Studiengebiet für solche Untersuchungen.
Der Autor legt seiner Arbeit die Schriften Dr. Wilsons während der letzten vierzig
Jahre und einige seiner Reden zugrunde. Ihre Zerlegung und Durchforschung führt er
mit solcher Gründlichkeit durch, wie sie nur einem besonders starken Interesse entspringen
kann: allein die Zählung der auf Tausenden von Seiten verwendeten Adjektiva bedeutet
einen ungeheuren Arbeitsaufwand. Trotzdem der Autor das Gegenteil versichert, fällt es
dem Leser schwer, zu glauben, daß hinter diesem Interesse nicht ein feindseliges Motiv
verborgen sei, schon aus dem einfachen Grunde, weil jede einzelne Schlußfolgerung un-
Sio
BÜCHER
günstig für Wilson ausfällt. Der Autor legt an sein Material einen viel zu hohen Maßstab
an, läßt keine der sprachlichen Freiheiten gelten, die man politischen Rednern gewöhnlich
zugesteht, und benimmt sich, als hätte man das Recht zu erwarten, daß jede einzelne
dieser Äußerungen ein Muster an wissenschaftlicher Korrektheit und scharfer Denkarbeit
darstelle. Da nun ein solcher Maßstab auf diesen Gebieten nie angewendet wird, scheint
es nicht gerecht, ihn plötzlich für einen einzelnen einzuführen. Auch bei seiner Beurteilung
der grammatischen Korrektheit oder Inkorrektheit verfahrt der Autor manchmal aus¬
gesprochen pedantisch.
Trotzdem muß man zugestehen, daß es dem Autor gelingt, seine Behauptungen zu
erweisen, nämlich: daß es möglich ist, aus dem Detailstudium des Sprachgebrauchs bei
einem bestimmten Menschen weitgehende Schlußfolgerungen zu ziehen, und daß diese
Schlußfolgerungen in dem vorliegenden Falle durchaus nicht schmeichelhaft sind. Auch
abgesehen von den speziellen Untersuchungsergebnissen wirkt das Buch durch den un¬
gewöhnlichen psychologischen Scharfblick des Autors und die Neuheit der geschilderten
Untersuchungsmethode. So heißt es unter anderm: „Es wird vielleicht angeführt werden,
daß Redewendungen ihre Bedeutung verlieren, wenn sie bei dem bestimmten Individuum
zur oft gebrauchten Phrase werden. Die Wahrheit ist aber, daß sie dann doppelt bedeutungs¬
voll sind. Wenn wir finden, daß ein Autor immer wieder zu denselben Wendungen greift,
so können wir daraus entnehmen, daß die psychische Einstellung, der diese Wendungen
Ausdruck verleihen, in größerem Maße Herrschaft über seinen Intellekt gewonnen hat.“
Dies ist nur ein Beispiel, mit welcher nicht wiederzugebenden, unermüdlichen Energie
Mr. Haie alle Eigentümlichkeiten der Wilsonschen Phraseologie Punkt für Punkt auf¬
spürt, um dann erbarmungslos die einzig möglichen Schlußfolgerungen aus ihnen zu ziehen.
Die Haupteigenschaften, deren Dr. Wilson — man kann nur sagen — überführt wird,
sind die folgenden: Dr. Wilson ist ein Vielredner im ärgsten Sinne des Ausdrucks, das
Wort bedeutet für ihn die Flucht vor den Tatsachen der Realität. Weitschweifigkeit und
Wiederholungen findet man bei ihm in einen Maße, daß sie auf einem langsam arbeitenden
oder durch Ermüdung geschwächten Verstand schließen lassen. Er verwendet einen un¬
gewöhnlich kleinen Schatz von Worten und Phrasen, die in den meisten ihrer Zusammen¬
setzungen ganz bedeutungslos wirken. Für klare, bestimmte Gedanken setzt er vage Aus¬
drücke ein und bevorzugt besonders pompöse Phrasen, die Wissenschaftlichkeit Vortäuschen
sollen. Unter seinen Charakterzügen stechen Snobismus, romantische Schwärmerei und
Eigensinn besonders hervor, daneben noch eine ausgesprochene Unfähigkeit zur Vertiefung
und das volle Unverständnis für jeden Standpunkt außer seinem momentanen eigenen.
Der Autor deutet diese Ergebnisse dahin, daß Dr. Wilson intellektuell unter dem
Durchschnitt begabt und mit tief innerlichen Zweifels- und Minderwertigkeitsgefühlen
behaftet ist. Als Schutz- und Reaktionsbildungen gegen die letzteren hat er dann sein
übergroßes Selbstbewußtsein und seinen Dogmatismus entwickelt.
Der Untertitel des Buches wird durch den Inhalt kaum gerechtfertigt. Zwar steht der
Autor der Psychoanalyse nicht ganz fremd gegenüber und erwähnt sie auch an verschiedenen
Orten. Ebenso berührt sich seine Denkweise in verschiedenen Punkten stark mit der
Psychoanalyse. Wie aber aus den oben zitierten Deutungen hervorgeht, steht er Adler ver¬
mutlich näher als Freud und macht auch keinen Versuch, durch die Schichte des Vor¬
bewußten bis zum Unbewußten im Sinne der Psychoanalyse durchzudringen. Sonst hätte
er auch gewiß nicht verfehlt, an dem vorgebrachten Material die deutlichen Hinweise
auf einen Gottähnlichkeitskomplex hervorzuheben.
BÜCHER
5 11
Trotz dieser Mängel ist die vorliegende Studie von ungewöhnlichem Interesse und ein
Beweis für die große psychologische und literarische Begabung ihres Autors. E, J.
V. H. MOTTRAM: Psycho-Analysis in Life and Art The University Magazine
Canada, April 1915.
Der Autor wendet die Grundsätze, die Freud in seiner „Psychopathologie des Alltags¬
lebens“ auseinandersetzt, auf Gestalten aus der Literatur, insbesondere auf Figuren aus
den Romanen von George Meredith an.
G. STRAGNELL: The Dreamin Russian Literature. Psychoanalytic Review, 1921;
Vol. VIII. p. 225.
Eine Studie über die Rolle des Traumes in den Werken von Dostojewski], Korolenko,
Gogol, Puschkin, Tschernitschewsky, Kuprin, Turgenjew nnd Tschechow. Es gelingt dem
Autor, eine Fülle von interessantem Material zur Bestätigung der Freud’schen Traum¬
theorie zusammenzubringen. E. J.
MARIE-ANNE COCHET: La psychanalyse h Bruxelles. Vers Punitd. Premiere
annöe. Juin-Juillet 1922. Nr. 10.
Bericht über einen Vortrag, den Dr. Odier in Brüssel über die Psychoanalyse gehalten
hat, und das lebhafte Interesse, das die Lehre Freuds in Belgien erregt; anschließend
einige kritische, wenig ernsthafte Bemerkungen über die analytische Methode.
Th. Reik
PERfeS, J.: Anticipations des principes de la psychoanalyse dans l’oeuvre
d’un poete fran$ais. Journal de Psychologie normale et abnormale. 15. döc. 1922.
Nr. 10.
Mit Hinweis auf Jones’ analytische Arbeit über das Hamletdrama wird die Aufmerk¬
samkeit auf Jules L aforgues „Hamlet ou les suites de la pidtd filiale“ sowie andere
poetische autobiographische Produktionen dieses Autors gelenkt und gezeigt, daß ermanche
der analytischen Gesichtspunkte vorausgeahnt zu haben scheint. Der Autor des Artikels
ist der Psychoanalyse gegenüber skeptisch und stellenweise gegnerisch. Th. Reik
INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG
WIEN VII, ANDREASGASSE 5
IMAGO-BÜCHER
DER KÜNSTLER
ANSÄTZE ZU EINER SEXUAL-PSYCHOLOGIE
Von Dr. OTTO RANK
Wohl eine» der interessantesten Probleme, denen die Psychoanalyse sich zugewandt hat.
(Frankfurter Zeitung)
Das Werk Ranks behandelt in lichtvoller Darstellung entscheidende Fragen. Der Weg ist kühn — aber kein
Marsch auf der Straße. (Die Zeit)
Wiele sehr verdienstvolle, wenn auch harte und beinahe rücksichtsloser Meinungen. Es gehört eine große Frei¬
heit des Geistes und eine sehr schätzbare Unbefangenheit dam. Rank hat auf dem Wege zur Soelenschau des
Künstlers eine ganze Menge psychologischer Probleme auf ihren sexuellen Gehalt hin geprüft und mit schöner
Prägnanz demonstriert. (Münchner Allgemeine Zeitung)
H.
TOLSTOIS KINDHEITSERINNERUNGEN
EIN BEITRAG ZU FREUDS LIBIDOTHEORIE
Von Dr. N. OSSIPOW
Auf der gigantischen Persönlichkeit dieses großen Russen, erschütternd entgegenschimmernd aus seinem künst¬
lerischen Schaffen, fast nacktgeschürft in dem Autobiographischer, ruht hier zum erstenmal der geschärfte und
geläuterte Blick psychoanalytischer Erkenntnis. Der Mensch und Künstler, selbst ein Zergliederer, selbst ein
Träger genialischer Tiefenpsychologie, tritt hier in den Leuchtkegel modernster wissenschaftlicher Seelenein¬
sicht. In merkwürdiger Weise kreuzen sich dabei die Wege Tolstoischer Sexualgrübelei mit denen der psycho¬
analytischen Eroslehre. Die Studie beansprucht, sowohl von den Genießern Tolstoischer Kunst willkommen ge¬
heißen zn werden, als auch bei dem wissenschaftlich orientierten Leser brennendes Interesse vorzufinden.
m.
DER EIGENE UND DER FREMDE GOTT
ZUR PSYCHOANALYSE DER RELIGIÖSEN ENTWICKLUNG
Von Dr. THEODOR REIK
Inhalt: über kollektives Vergessen. — Jesus und Maria im Talmud. — Der hl. Epiphanias verschreibt sich.—
Die wied'raufcrstandenen Götter. — Das Evangelium des Judas Ischkarioth. — Die psychoanalytische Deutung
des Judasproblems. — Gott und Teufel. — Dio Unheimlirhkeit fremder Götter und Kulte. — Das Unheimliche
ans infantilen Komplexen. — Die Äquivale'nz der Triebgegensatzpaaro. — Über die Differenzierung.
Diese Arbeiten sollen, schreibt der Verfasser in der Vorbemerkung, .einen Versuch darstellen, von analytischen
Gesichtspunkten ans die Erscheinungen der religiösen Feindseligkeit und Intoleranz psychologisch zu erklären und
zugleich den tieferen Ursachen der religiösen Verschiedenheiten nachzuforschen. Wofrme die Konvergenz der
Ergebnisse in diesen von verschiedenen Seiten hergeführten Untersuchungen einen Schluß auf die Richtigkeit des
Ganzen znläßt, würde ich hoffen, daß die vorliegende Aufsatzreihe ein wichtiges Stuck der religiösen Entwick¬
lung in einem neuen Lichte erscheinen läßt".
IV.
DOSTOJEWSKI
SKIZZE ZU SEINER PSYCHOANALYSE
Von JOLAN NEUFELD
Wi© ist es möglich, daß ein Mensch so loyal gesinnt ist und dabei an einer Verschwörung gegen den Zaren teilnimmt?
Wie kann jemand tief religiös und zugleich absolut ungläubig «ein? Woher kommt es, daß ein Mensch, der mit
jeder Nervenfaser an seiner Heimat'scholle klebt, Monate, ja Jahre im Auslande verbringt? Woher kommt es,
daß er dem Geld© ununterbrochen nachjagt, um cs dann wie etwas vollkommen Wertlose« zum Fenster hinaus-
znwerfen? Wie das Leben, so ist auch die Dichtung Dostojewskis enigmatisch. Rätselhafte Charaktere,entgleiste Per¬
verse sind die Helden seiner Romane und geben uns Rätsel über Rätsel auf, die mitder Bewußtseinspsychologie über¬
haupt nicht lösbar sind. Del Zauberschlüsscl der Psychoanalyse aber sprengt die Schlösser, die diese Rätsel wahren.
-
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Im Dezember erscheinen:
Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, Heft I
Dr. S. Ferenczi und Dr. Otto Rank
Entwicklungsziele der Psychoanalyse
Zur Wechselbeziehung von Theorie und Praxis
★
Heft II
Dr. Karl Abraham
Versuch einer
Entwicklungstheorie der Libido
auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen
★
Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bä. XIV
Dr. Otto Rank
Das Trauma der Geburt
und seine Bedeutung für die Psychoanalyse
★
Bd.XV
Dr. S. Ferenczi
Versuch einer Genitaltheorie
★
Vera Schmidt
Psychoanalytische Erziehung
in Sowjetrußland
Bericht über das Moskauer Kinderheim-Laboratorium
Eigentümerund Verleger :In<ern»UonalerP«^HoM»lyti*cherVeri» f .Co..in.b.H.,W;®n VII., Aodr»»m*M*®S.—Heraaj-
feher: Prof. Dr. Sigm. Freud,Wien. «•Verantwortlich für dio Redaktion: Dr. Otto Rank,Wieo L, Gninangergasae j 5.
Druck von E. Haberland in Lcipiig.
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