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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften IX 1923 Heft 4"

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IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO- 
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 

HERAUSGEGEBEN VON 

Prof. Dr. SIGM. FREUD 

REDIGIERT VON DR. OTTO RANK U. DR. HANNS SACHS 


Kunstpsychologisch-ästhetisches Heft 



Alice Bälint .Die mexikanische Kriegshiero¬ 

glyphe atl-tlachinolli 

P.C.van der JVolk Der Tanz des Ciwa 
A. van der Cliijs .. Infantilismus in der Malerei 

Sigm. Pfeifer .MusikpsychologischeProbleme 

G. H. Gräber .Über Regression und Dreizahl 

Aurel Kolnai .Gontscharows „Oblomow“ 

DJ. Ossipow .Uber Leo Tolstois Seelenleiden 

E. Hitschmann ... Zum Tagträumen der Dichter 

Bücherreferate 


. 


IX. BAND 


1 9 2 3 








INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 

WIEN VII, ANDREASGASSE 5 


Alle für die Redaktion bestimmten Zuschriften und Sendungen sind zu richten an 

Dr. OTTO RANK, Wien, I., Grünangergasse 5 — 5 

★ 

Alle Zuschriften und Sendungen in Referat-Angelegenheiten an die 
„Zentralstelle für psychoanalytische Literatur“ 

(Dr. TH. REIK), Wien, IX., Lackierergasse 1 a 

★ 

Manuskripte sind vollständig druckfertig einzusenden 
★ 

Die Autoren der Originalarbeiten erhalten 
außer dem Honorar 10 Freiexemplare des betreffenden Imago-Heftes. 

(Separatabzüge werden nicht angefertigt) 


Nachdruck sämtlicher Beiträge verboten / Übersetzungsrecht in alle Sprachen Vorbehalten 
Copyright 1925 by »Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m.b. H.“ Wien 


Gleichzeitig erschien: 

INTERNATIONALE ZEITSCHRIFT 
FÜR PSYCHOANALYSE 

IX. Band, Heft 4 
mit folgendem Inhalt: 

Dr. Otto Rank: Zum Verständnis der Libidoentwicklung im Heilungsvorgang / Dr. A. Kiel¬ 
holz (Königsfelden): Zur Genese und Dynamik des Erfinderwahns / Dozent Dr. Felix 
Deutsch (Wien): Experimentelle Studien zur Psychoanalyse / Dr. Felix Boehm (Berlin): 
Bemerkungen über Transvestitismus / Paul Schilder: Zur Lehre vom Persönlichkeits¬ 
bewußtsein / Dr. E. Hits chm ann: Experimentelle Wiederholung der infantilen Schlaf¬ 
situation zur Förderung analytischer Traumdeutung/Ludwig Bin swanger: Bemerkungen 
zu Hermann Rohrscbachs „Psychodiagnostik“ / Kritiken und Referate / Zur psychoanaly¬ 
tischen Bewegung / Korrespondenzblatt der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung 
Mitteilungen des Internationalen Psychoanalytischen Verlages. 


EINBANDDECKEN 

(in Halbleinen oder in Halbleder) zum IX. Band der „Imago“ und zum IX. Band 
der „Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse“ zu beziehen durch den Verlag. 









IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHO¬ 
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 

IX. BAND_ 1925 HEFT 1 


EINE TEUFELSNEUROSE 
IM SIEBZEHNTEN JAHRHUNDERT 

Von SIGM. FREUD 

An den Neurosen der Kinderzeit haben wir gelernt, daß manches 
hier mühelos mit freiem Auge zu sehen ist, was sich späterhin nur 
gründlicher Forschung zu erkennen gibt. Eine ähnliche Erwartung 
wird sich für die neurotischen Erkrankungen früherer Jahrhunderte 
ergeben, wenn wir nur darauf gefaßt sind, dieselben unter anderen 
Überschriften als unsere heutigen Neurosen zu finden. Wir dürfen 
nicht erstaunt sein, wenn die Neurosen dieser frühen Zeiten im dä- 
monologischen Gewände auftreten, während die der unpsychologi¬ 
schen Jetztzeit im hypochondrischen, als organische Krankheiten ver¬ 
kleidet, erscheinen. Mehrere Autoren, voran Charcot, haben bekannt¬ 
lich in den Darstellungen der Besessenheit und Verzückung, wie sie 
uns die Kunst hinterlassen hat, die Äußerungsformen der Hysterie 
agnosziert5 es wäre nicht schwer gewesen, in den Geschichten dieser 
Kranken die Inhalte der Neurose wiederzufinden, wenn man ihnen 
damals mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte. 

Die dämonologische Theorie jener dunkeln Zeiten hat gegen alle 
somatischen Auffassungen der ,,exakten ££ Wissenschaftsperiode recht 
behalten. Die Besessenheiten entsprechen unseren Neurosen, zu deren 
Erklärung wir wieder psychische Mächte heranziehen. Die Dämonen 

1 Imago IX/1 




2 


SIGM. FREUD 


sind uns böse, verworfene Wünsche, Abkömmlinge abgewiesener, ver¬ 
drängter Triebregungen. Wir lehnen bloß die Projektion in die äußere 

Weitab,welche dasMittelalter mitdiesenseelischenWesen vornahm; wir 

lassen sie im Innenleben der Kranken, wo sie hausen, entstanden sein. 

I. DIE GESCHICHTE DES MALERS CHRISTOPH HAITZMANN 

Einen Einblick in eine solche dämonologische Neurose des sieb¬ 
zehnten Jahrhunderts verdanke ich dem freundlichen Interesse des 
Herrn Hofrats Dr. R. Payer-Thurn, Direktor der ehemals k. k. Fidei- 
kommißbibliothek in Wien. Payer-Thurn hatte in der Bibliothek 
ein aus dem Gnadenort Mariazell stammendes Manuskript aufgefun¬ 
den, in dem über eine wunderbare Erlösung von einem leufelspakt 
durch die Gnade der heiligen Maria ausführlich berichtet wird. Sein 
Interesse wurde durch die Beziehung dieses Inhalts zur Faustsage ge¬ 
weckt und wird ihn zu einer eingehenden Darstellung und Bearbei¬ 
tung des Stoffes veranlassen. Da er aber fand, daß die Person, deren 
Erlösung beschrieben wird, an Krampfanfällen und Visionen litt, wandte 
er sich an mich um eine ärztliche Begutachtung des Falles. Wir sind über¬ 
eingekommen, unsere Arbeiten unabhängig voneinander und gesondert 
zu veröffentlichen. Ich statte ihm für seine Anregung, wie für man¬ 
cherlei Hilfeleistung beim Studium des Manuskripts meinen Dank ab. 

Diese dämonologische Krankengeschichte bringt wirklich einen 
wertvollen Fund, der ohne viel Deutung klar zutage liegt, wie manche 
Fundstelle als gediegenes Metall liefert, was anderwärts mühsam aus 

dem Erz geschmolzen werden muß. 

Das Manuskript, von dem mir eine genaue Abschrift vorliegt, zer¬ 
legt sich uns in zwei Stücke von ganz verschiedener Natur: in den 
lateinisch abgefaßten Bericht des mönchischen Schreibers oder Kom- 
pilators und in ein deutsch geschriebenes Tagebuchbruchstück des 
Patienten. Der erste Teil enthält den Vorbericht und die eigentliche 
Wunderheilung; der zweite Teil kann für die geistlichen Herren nicht 
von Bedeutung gewesen sein; umso wertvoller ist er für uns. Er tragt 












EIHE TEUREESJVEJ^RO^SH IM 77 . JAHR HUND ERT 3 

viel dazu bei, unser sonst schwankendes Urteil über den Krankheits¬ 
fall zu festigen, und wir haben guten Grund, den Geistlichen zu danken, 
daß sie dies Dokument erhalten haben, obgleich es ihrer Tendenz 
nichts mehr leistet, ja diese eher gestört haben mag. 

Ehe ich aber in die Zusammensetzung der kleinen handschriftlichen 
Broschüre, die den Titel führt: 

Trophaeum Mariano-Cellense, 

weiter eingehe, muß ich ein Stück ihres Inhalts erzählen, das ich dem 
Vorbericht entnehme. 

Am 5* September 1677 wurde der Maler Christoph Haitzmann, 
ein Bayer, mit einem Geleitbrief des Pfarrers von Pottenbrunn (in 
Niederösterreich) nach dem nahen Mariazell gebracht 1 . Er habe sich 
in Ausübung seiner Kunst mehrere Monate in Pottenbrunn aufgehalten, 
sei dort am 29. August in der Kirche von schrecklichen Krämpfen be¬ 
fallen worden, und als sich diese in den nächsten Tagen wiederholten, 
habe ihn der Praefectus Dominii Pottenbrunnensis examiniert, was 
ihn wohl bedrücke, ob er sich wohl in unerlaubten Verkehr mit dem 
bösen Geist eingelassen habe 2 . Worauf er gestanden, daß er wirklich 
vor neun Jahren zu einer Zeit der Verzagtheit an seiner Kunst und des 
Zweifels an seiner Selbsterhaltung dem Teufel, der ihn neunmal ver¬ 
sucht, nachgegeben und sich schriftlich verpflichtet, ihm nach Ablauf 
dieser Zeit mit Leib und Seele anzugehören. Das Ende des Termins 
nahe mit dem 24. des laufenden Monats 3 . Der Unglückliche bereue 
und sei überzeugt, daß nur die Gnade der Mutter Gottes von Maria¬ 
zell ihn retten könne, indem sie den Bösen zwinge, ihm die mit Blut 
geschriebene Verschreibung herauszugeben. Aus diesem Grund erlaube 
man sich miserum hunc hominem omni auxilio destitutum dem Wohl¬ 
wollen der Herren von Mariazell zu empfehlen. 

1) Das Alter des Malers ist nirgends angegeben. Der Zusammenhang läßt einen Mann 
zwischen 30 und 40, wahrscheinlich der unteren Grenze näher, erraten. Er verstarb, wie wir 
hören werden, im Jahre 1700. 

2) Die Möglichkeit, daß diese Fragestellung dem Leidenden die Phantasie seines Teufels¬ 
paktes eingegeben, „suggeriert“ hat, sei hier nur gestreift, 

3) quorwn ttßnis 24 mensis hu jus futurus appropinquat. 










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SIGM. FREUD 


Soweit der Pfarrer von Pottenbrunn, Leopoldus Braun, am 1. Sep¬ 
tember 1677. 

Ich kann nun in der Analyse des IVIanuskripts foitiahren. Es be 
steht also aus drei Teilen: 

1. einem farbigen Titelblatt, welches die Szene der Verschreibung 
und die der Erlösung in der Kapelle von Mariazell darstellt; auf dem 
nächsten Blatt sind acht ebenfalls farbige Zeichnungen der späteren Er¬ 
scheinungen des Teufels mit kurzen Beischriften in deutscher Sprache. 
Diese Bilder sind nicht Originale, sondern Kopien — wie uns feier¬ 
lich versichert wird: getreue Kopien — nach den ursprünglichen 
Malereien des Chr. Haitzmann; 

2. aus dem eigentlichen Trophaeum Mariano-Cellense (lateinisch), 
dem Werk eines geistlichen Kompilators, der sich am Ende P. A. E. 
unterzeichnet und diesen Buchstaben vier Verszeilen, welche seine 
Biographie enthalten, beifügt. Den Abschluß bildet ein Zeugnis des 
Abtes Kilian von St. Lambert vom 12. September 1729, welches in 
anderer Schrift als der des Kompilators die genaue Übereinstimmung 
des Manuskripts und der Bilder mit den im Archiv aufbewahrten 
Originalen bestätigt. Es ist nicht angegeben, in welchem Jahr das Tro¬ 
phaeum angefertigt wurde. Es steht uns frei, anzunehmen, daß es im 
gleichen Jahr geschah, in dem der Abt Kilian das Zeugnis ausstellte, 
also 1729 oder, da 1714 die letzte im Text genannte Jahreszahl ist, 
das Werk des Kompilators in irgend eine Zeit zwischen 1714 und 
1729 zu verlegen. Das Wunder, welches durch diese Schrift vor Vei- 
gessenheit bewahrt werden sollte, hat sich im Jahr 1677 zugetragen, 
also 37 bis 52 Jahre vorher; 

3. aus dem deutsch abgefaßten Tagebuch des Malers, welches von 
der Zeit seiner Erlösung in der Kapelle bis zum 13. Januar des näch¬ 
sten Jahres 1678 reicht. Es ist in den Text des Trophaeum kurz vor 
dessen Ende eingeschaltet. 

Den Kern des eigentlichen Trophaeum bilden zwei Schriftstücke, 
der bereits erwähnte Geleitbrief des Pfarrers Leopold Braun von 
Pottenbrunn vom 1. September 1677, und der Bericht des Abtes Fran- 






EINE TEUFELSNEUROJSJ^ rMjrR- JAJIRIIUND ER 1 5 

ciscus von Mariazell und St. Lambert, der die Wunderheilung schil¬ 
dert, vom 12. September 1677, also nur wenige Tage später datiert. 
Die Tätigkeit des Redakteurs oder Kompilators P. A. E. hat eine Ein¬ 
leitung geliefert, welche die beiden Aktenstücke gleichsam verschmilzt, 
ferner einige wenig bedeutsame Verbindungsstücke und am Schluß 
einen Bericht über die weiteren Schicksale des Malers nach einer im 
Jahre 1714 eingeholten Erkundigung beigefügt 1 . 

Die Vorgeschichte des Malers wird also im Trophaeum dreimal er¬ 
zählt, 1. im Geleitbrief des Pfarrers von Pottenbrunn, 2. im feierlichen 
Bericht des Abtes Franciscus und 5. in der Einleitung des Redakteurs. 
Beim Vergleich dieser drei Quellen stellen sich gewisse Unstimmig¬ 
keiten heraus, die zu verfolgen nicht unwichtig sein wird. 

Ich kann jetzt die Geschichte des Malers fortsetzen. Nachdem er 
in Mariazell lange gebüßt und gebetet, erhält er am 8. September, 
dem Tag Mariä Geburt, um die zwölfte Nachtstunde vom Teufel, der 
in der heiligen Kapelle als geflügelter Drache erscheint, den mit Blut 
geschriebenen Pakt zurück. Wir werden später zu unserem Befremden 
erfahren, daß in der Geschichte des Malers Chr. Haitzmann zwei Ver¬ 
schreibungen an den Teufel Vorkommen, eine frühere, mit schwarzer 
Tinte und eine spätere, mit Blut geschriebene. In der mitgeteilten Be¬ 
schwörungsszene handelt es sich, wie auch noch das Bild auf dem 
Titelblatt erkennen läßt, um die blutige, also um die spätere. 

An dieser Stelle könnte sich bei uns ein Bedenken gegen die Glaub¬ 
würdigkeit der geistlichen Berichterstatter erheben, das uns mahnen 
würde, doch nicht unsere Arbeit an ein Produkt mönchischen Aber¬ 
glaubens zu verschwenden. Eis wird erzählt, daß mehrere, mit Namen 
benannte Geistliche dem Exorzierten während der ganzen Zeit Bei¬ 
stand leisteten und auch während der Teufelserscheinung in der Ka¬ 
pelle anwesend waren. Wenn behauptet würde, daß auch sie den teuf- 
lichen Drachen gesehen haben, wie er dem Maler den rot beschrie¬ 
benen Zettel hinhält (Schedam sibi porrigentem conspexisset), so stün- 


1) Dies würde dafür sprechen, daß 1714 auch das Datum der Abfassung des Trophaeum ist. 









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SJGM. FREUD 


den wir vor mehreren unangenehmen Möglichkeiten, unter denen 
die einer kollektiven Halluzination noch die mildeste wäre. Allein der 
Wortlaut des vom Abt Franciscus ausgestellten Zeugnisses schlägt dieses 
Bedenken nieder. Es wird darin keineswegs behauptet, daß auch die 
geistlichen Beistände den Teufel erschaut haben, sondern es heißt 
ehrlich und nüchtern, daß der Maler sich plötzlich von den Geist¬ 
lichen, die ihn hielten, losgerissen, in die Ecke der Kapelle, wo er die 
Erscheinung sah, gestürmt und dann mit dem Zettel in der Hand 
zurückgekommen sei 1 . 

Das Wunder war groß, der Sieg der heiligen Mutter über Satan 
unzweifelhaft, die Heilung aber leider nicht beständig. Es sei noch¬ 
mals zur Ehre der geistlichen Herren hervorgehoben, daß sie diese 
Tatsache nicht verschweigen. Der Maler verließ Mariazell nach kur¬ 
zer Zeit im besten Wohlbefinden und begab sich dann nach Wien, 
wo er bei einer verheirateten Schwester wohnte. Dort fingen am 
n. Oktober neuerliche, zum Teil sehr schwere Anfälle an, über die 
das Tagebuch bis zum 15. Januar berichtet. Es waren Visionen, Ab¬ 
wesenheiten, in denen er die mannigfaltigsten Dinge sah und erlebte, 
Krampfzustände, begleitet von den schmerzhaftesten Sensationen, ein¬ 
mal ein Zustand von Lähmung der Beine und dgl. Diesmal plagte 
ihn aber nicht der Teufel, sondern es waren heilige Gestalten, die 
ihn heimsuchten, Christus, die heilige Jungfrau selbst. Merkwürdig, 
daß er unter diesen himmlischen Erscheinungen und den Strafen, die 
sie über ihn verhängten, nicht minder litt, als früher unter dem Ver¬ 
kehr mit dem Teufel. Er faßte auch diese neuen Erlebnisse im Tage¬ 
buch als Erscheinungen des Teufels zusammen und beklagte sich über 
maligni Spiritus manifestationes , als er im Mai 1678 nach Mariazell 
zurückkehrte. 

Den geistlichen Herren gab er als Motiv seiner Rückkehr an, daß 
er auch eine andere, frühere, mit Tinte geschriebene Verschreibung 

1) . - - ipsumque Daemonem ad Aram Sac . Cellae per fenestrcllarn in cornu Epistolae Schedain 
sibi porrigmtem conspexisset eo advolans e Religiosorum trumibus, qui eum tenebant , ipsam Schedam 
ad rnanum oltinuit , . . . 











EINE TEUFELSNEUROSE IM //. j^ANRI/UN D ER_ T _£ 

vom Teufel zu fordern habe 1 . Auch diesmal verhalfen ihm die hei¬ 
lige Maria und die frommen Patres zur Erfüllung seiner Bitte. Aber 
der Bericht, wie das geschah, ist schweigsam. Es heißt nur mit kurzen 
Worten: qua iuxta votum reddita. Er betete wieder und er erhielt 
den Vertrag zurück. Dann fühlte er sich ganz frei und trat in den 
Orden der Barmherzigen Brüder ein. 

Man hat wiederum Anlaß anzuerkennen, daß die offenkundige 
Tendenz seiner Bemühung den Kompilator nicht dazu verführt hat, 
die von einer Krankengeschichte zu fordernde Wahrhaftigkeit zu ver¬ 
leugnen. Denn er verschweigt nicht, was die Erkundigung nach dem 
Ausgang des Malers beim Vorstand des Klosters der Barmherzigen 
Brüder im Jahre 1714 ergeben. Der R. P r ' Provincialis berichtet, daß 
Bruder Chrysostomus noch wiederholt Anfechtungen des bösen Gei¬ 
stes erfahren hat, der ihn zu einem neuen Pakt verleiten wollte, und 
zwar nur dann, ^wenn er etwas mehr er s von Wein getrunken , durch 
die Gnade Gottes sei es aber immer möglich gewesen ihn abzuweisen. 
Bruder Chrysostomus sei dann im Kloster des Ordens Neustatt an der 
Moldau im Jahre 1700 „ sanft und trostreich“ an der Hektica verstorben. 

II. DAS MOTIV DES TEUFELSPAKTS 

Wenn wir diese Teufelsverschreibung wie eine neurotische Kranken¬ 
geschichte betrachten, wendet sich unser Interesse zunächst der Frage 
nach ihrer Motivierung zu, die ja mit der Veranlassung innig zu¬ 
sammenhängt. Warum verschreibt man sich dem Teufel? Dr. Faust 
fragt zwar verächtlich: Was willst du armer Teufel geben? Aber er hat 
nicht recht, der Teufel hat als Entgelt für die unsterbliche Seele allerlei 
zu bieten, was die Menschen hoch einschätzen: Reichtum, Sicherheit 
vor Gefahren, Macht über die Menschen und über die Kräfte der 
Natur, selbst Zauberkünste und vor allem anderen: Genuß, Genuß 
bei schönen Frauen. Diese Leistungen oder Verpflichtungen des Teufels 

1) Diese wäre, im September 1668 ausgestellt, g'/j Jahre später, im Mai 1678 längst ver¬ 
fallen gewesen. 










8 __ SIGM. FREUD 

pflegen auch im Vertrag mit ihm ausdrücklich erwähnt zu werden 1 . 
Was ist nun für Christoph Haitzmann das Motiv seines Pakts gewesen? 

Merkwürdigerweise keiner von all diesen so natürlichen Wün¬ 
schen. Um jeden Zweifel daran zu bannen, braucht man nur die kurzen 
Bemerkungen einzusehen, die der Maler zu den von ihm abgebildeten 
Teufelserscheinungen hinzusetzt. Z. B. lautet die Note zur dritten 
Vision: 

„Z um driten ist er mir in anderthalb Jahren in dißer abscheiih- 
liehen Gestalt erschinen, mit einen Buuch in der Handt, darin lauter 
Zauberey und schwarze Kunst war begrüffen . . “ 

Aber aus der Beischrift zu einer späteren Erscheinung erfahren 
wir, daß der Teufel ihm heftige Vorwürfe macht, warum er „sein vor- 
gemeldtes Buuch verbrennt“ , und ihn zu zerreißen droht, wenn er 
es ihm nicht wieder beschafft. 

Bei der vierten Erscheinung zeigt er ihm einen großen gelben 
Beutel und einen großen Dukaten und verspricht ihm jederzeit soviel 
davon, als er nur haben will, „aber ich solliches gar nicht angenom- 
ben “ kann sich der Maler rühmen. 

Ein anderes Mal verlangt er von ihm, er solle sich amüsieren, unter¬ 
halten lassen. Wozu der Maler bemerkt, „ weüiches zwar auch auf 
sein begehren geschehen aber ich yber drey Tag nit continuirt, vnd 
gleich widerumb aufgelöst worden“. 

Da er nun Zauberkünste, Geld und Genuß zurückweist, wenn der 
Teufel sie ihm bietet, geschweige denn, daß er sie zu Bedingungen 
des Pakts gemacht hätte, wird es wirklich dringlich zu wissen, was 
dieser Maler eigentlich vom Teufel wollte, als er sich ihm verschrieb. 
Irgendein Motiv sich mit dem Teufel einzulassen, muß er doch ge¬ 
habt haben. 


1) Siehe in Faust I, Studierzimmer. 

Ich will mich hier zu deinem Dienst verbinden, 
Auf deinen Wink nicht rasten und nicht ruhn ; 
Wenn wir uns drüben wieder finden, 

So sollst du mir das Gleiche ihun. 










EINE TEbFEL SNEUROSE IM 17. JAHRHUNDERT 9 

Das Trophaeum gibt auch sichere Auskunft über diesen Punkt. Er 
war schwermütig geworden, konnte nicht, oder nicht recht arbeiten 
und hatte Sorge um die Erhaltung seiner Existenz, also melancholische 
Depression mit Arbeitshemmung und (berechtigter) Lebenssorge. Wir 
sehen, daß wir es wirklich mit einer Krankengeschichte zu tun haben, 
erfahren auch, welches die Veranlassung dieser Erkrankung war, die 
der Maler selbst in den Bemerkungen zu den Teufelsbildern gerade¬ 
zu eine Melancholie nennt („solle mich darmit belustigen und melan- 
coley vertreiben ). Von unseren drei Quellen erwähnt zwar die erste, 
der Geleitbrief des Pfarrers, nur den Depressionszustand („dum artis 
suae progressum emolumentumque secuturum pusillanimis perpen- 
deret ) y aber die zweite, der Bericht des Abtes Franciscus weiß auch 
die Quelle dieser Verzagtheit oder Verstimmung zu nennen, denn 
hier heißt es „ accepta aliquä pusillanimitate ex morte parentis“ und 
dementsprechend auch in der Einleitung des Kompilators mit den 
nämlichen, nur umgestellten Worten: ex morte parcntis accepta aliquä 
pusillanimitate. Es war also sein Vater gestorben, er darüber in eine 
Melancholie verfallen, da näherte sich ihm der Teufel, fragte ihn, 
warum er so bestürzt und traurig sei, und versprach ihm „auf alle 
Weiß zu helfen und an die Handt zu gehen“*. 

Da verschreibt sich also einer dem Teufel, um von einer Gemüts¬ 
depression befreit zu werden. Gewiß ein ausgezeichnetes Motiv nach 
dem Urteil eines jeden, der sich in die Qualen eines solchen Zustandes 
einfühlen kann und der überdies weiß, wie wenig ärztliche Kunst von 
diesem Leiden zu lindern versteht. Doch würde keiner, der dieser Erzäh¬ 
lung soweit gefolgt ist, erraten können, wie der Wortlaut der Verschrei¬ 
bung an den Teufel (oder vielmehr der beiden Verschreibungen, einer 
ersten, mit Tinte und einer zweiten, etwa ein Jahr später, mit Blut 
geschriebenen, beide angeblich noch in der Schatzkammer von Maria¬ 
zell vorhanden und im Trophaeum mitgeteilt), wie also der Wortlaut 
dieser Verschreibungen gelautet hat. 

1) Bild 1 und Legende dam auf dem Titelblatt, der Teufel in Gestalt eines „Ersamen 
Bürgers“. 












IO 


SIGM. FREUD 


Diese Verschreibungen bringen uns zwei starke Überraschungen. 
Erstens nennen sie nicht eine Verpflichtung des Teufels, für deren 
Einhaltung die ewige Seligkeit verpfändet wird, sondern nur eine 
Forderung des Teufels, die der Maler einhalten soll. Es berührt uns 
als ganz unlogisch, absurd, daß dieser Mensch seine Seele einsetzt 
nicht für etwas, was er vom Teufel bekommen, sondern was er dem 
Teufel leisten soll. Noch sonderbarer klingt die Verpflichtung deß 
Malers. 

Erste, mit schwarzer Tinte geschriebene „Syngrapha“: 

Ich Christoph Haizmann vndterschreibe mich diesen 
Herrn sein leibeigener Sohn au ff 9 Jahr. 1669 Jahr. 

Zweite, mit Blut geschrieben: 

Anno 1669 

Christoph Haizmann. Ich verschreibe mich dißen 
Satan , ich sein leibeigner Sohn zu sein , vnd in 
p Jahr ihm mein Leib und Seel zuzugeheren. 

Alles Befremden entfällt aber, wenn wir den Text der Verschrei¬ 
bungen so zurechtrücken, daß in ihr als Forderung des Teufels dar¬ 
gestellt wird, was vielmehr seine Leistung, also Forderung des Malers 
ist. Dann bekäme der unverständliche Pakt einen geraden Sinn und 
könnte solcher Art ausgelegt werden: Der Teufel verpflichtet sich, 
dem Maler durch neun Jahre den verlorenen Vater zu ersetzen. Nach 
Ablauf dieser Zeit verfällt der Maler mit Leib und Seele dem Teufel, 
wie es bei diesen Händeln allgemein üblich war. Der Gedankengang 
des Malers, der seinen Pakt motiviert, scheint ja der folgende zu sein: 
Durch den Tod des Vaters hat er Stimmung und Arbeitsfähigkeit 
eingebüßt; wenn er nun einen Vaterersatz bekommt, hofft er das 
Verlorene wieder zu gewinnen. 

Jemand, der durch den Tod seines Vaters melancholisch geworden 
ist, muß doch diesen Vater sehr lieb gehabt haben. Dann ist es aber 
sehr sonderbar, daß ein solcher Mensch auf die Idee kommen kann, 
den Teufel zum Ersatz für den geliebten Vater zu nehmen. 







EINE TEUFELS NEUROSE IM 17. JAHRHUNDERT 


II 


III. DER TEUFEL ALS VATERERSATZ 

Ich besorge, eine nüchterne Kritik wird uns nicht zugeben, daß 
wir mit jener Umdeutung den Sinn des Teufelspakts bloßgelegt haben. 
Sie wird zweierlei Einwendungen dagegen erheben. Erstens: es sei 
nicht notwendig, die Verschreibung als einen Vertrag anzusehen, in 
dem die Verpflichtungen beider Teile Platz gefunden haben. Sie ent¬ 
halte vielmehr nur die Verpflichtung des Malers, die des Teufels sei 
außerhalb ihres Textes geblieben, gleichsam „sousentendue“. Der Maler 
verpflichtet sich aber zu zweierlei, erstens zur Teufelssohnschaft durch 
neun Jahre und zweitens dazu, ihm nach dem Tode ganz anheimzufallen. 
Damit ist eine der Begründungen unseres Schlußes weggeräumt. 

Die zweite Einwendung wird sagen, es sei nicht berechtigt auf 
den Ausdruck, des Teufels leibeigener Sohn zu sein, besonderes Ge¬ 
wicht zu legen. Das sei eine geläufige Redensart, die jeder so auffassen 
könne, wie die geistlichen Herren sie verstanden haben mögen. Diese 
übersetzen die in den Verschreibungen versprochene Sohnschaft nicht 
in ihr Latein, sondern sagen nur, daß der Maler sich dem Bösen 
,jnancipavit zu eigen gegeben, es auf sich genommen habe, ein 
sündhaftes Leben zu führen und Gott und die heilige Dreieinigkeit 
zu verleugnen. Warum sollten wir uns von dieser naheliegenden und 
ungezwungenen Auffassung entfernen? 1 Der Sachverhalt wäre dann 
einfach der, daß sich jemand in der Qual und Ratlosigkeit einer me¬ 
lancholischen Depression dem Teufel verschreibt, dem er auch das 
stärkste therapeutische Können zutraut. Daß diese Verstimmung aus 
dem Tod des Vaters hervorging, komme nicht weiter in Betracht, 
es hätte auch ein anderer Anlaß sein können. Das klingt stark und 
vernünftig. Gegen die Psychoanalyse erhebt sich wieder der Vorwurf, 
daß sie einfache Verhältnisse in spitzfindiger Weise kompliziert, Ge¬ 
heimnisse und Probleme dort sieht, wo sie nicht existieren, und daß 

1) In der Tat werden wir später, wenn wir erwägen, wann und für wen diese Verschrei¬ 
bungen abgefaßt wurden, selbst einsehen, daß ihr Text unauffällig und allgemein verständ¬ 
lich lauten mußte. Es reicht uns aber hin, wenn er eine Zweideutigkeit bewahrt, an wel¬ 
che auch unsere Auslegung ankniipfen kann. 









12 


SIGM. FREVD __ 

sie dies bewerkstelligt, indem sie kleine und nebensächliche Züge, wie 
man sie überall finden kann, übermäßig betont und zu Trägern der 
weitgehendsten und fremdartigsten Schlüsse erhebt. Vergeblich würden 
wir dagegen geltend machen, daß durch diese Abweisung so viele 
schlagende Analogien aufgehoben und feine Zusammenhänge zer¬ 
rissen werden, die wir in diesem Falle aufzeigen können. Die Gegner 
werden sagen, diese Analogien und Zusammenhänge bestehen eben 
nicht, sondern werden von uns mit überflüssigem Scharfsinn in den 
Fall hineingetragen. 

Nun, ich werde meine Entgegnung nicht mit den Worten einleiten: 
seien wir ehrlich oder seien wir aufrichtig, denn das muß man immer 
sein können, ohne einen besonderen Anlauf dazu zu nehmen, sondern 
ich werde mit schlichten Worten versichern, daß ich wohl weiß, wenn 
jemand nicht bereits an die Berechtigung der psychoanalytischen Denk¬ 
weise glaubt, werde er diese Überzeugung auch nicht aus dem Fall 
des Malers Chr. Haitzmann im siebzehnten Jahrhundert gewinnen. 
Es ist auch gar nicht meine Absicht, diesen Fall als Beweismittel für 
die Gültigkeit der Psychoanalyse zu verwerten; ich setze vielmehr die 
Psychoanalyse als gültig voraus und verwende sie dazu, um die dämo- 
nologische Erkrankung des Malers aufzuklären. Die Berechtigung hier¬ 
zu nehme ich aus dem Erfolg unserer Forschungen über das Wesen 
der Neurosen überhaupt. In aller Bescheidenheit darf man es aus¬ 
sprechen, daß heute selbst die Stumpferen unter unseren Zeit- und 
Fachgenossen einzusehen beginnen, daß ein Verständnis der neuroti¬ 
schen Zustände ohne Hilfe der Psychoanalyse nicht zu erreichen ist. 

„Die Pfeile nur erobern Troja, sie allein“ 
bekennt der Odysseus in Sophokles’ Philoktet. 

Wenn es richtig ist, die Teufels Verschreibung unseres Malere als 
neurotische Phantasie anzusehen, so bedarf eine psychoanalytische 
Würdigung derselben keiner weiteren Entschuldigung. Auch kleine 
Anzeichen haben ihren Sinn und Wert, ganz besonders unter den Ent¬ 
stehungsbedingungen der Neurose. Man kann sie freilich ebensowohl 
überschätzen wie unterschätzen, und es bleibt eine Sache des Takts, 







EINE TEAjFEL^JIEJJR_OS_H£M 17. JA HR HUND ER T 13 

wie weit man in ihrer Verwertung gehen will. Wenn aber jemand 
nicht an die Psychoanalyse und nicht einmal an den Teufel glaubt, 
muß es ihm überlassen bleiben, was er mit dem Fall des Malers an¬ 
fangen will, sei es, daß er dessen Erklärung aus eigenen Mitteln be¬ 
streiten kann, sei es, daß er nichts der Erklärung Bedürftiges an ihm 
findet. 

Wir kehren also zu unserer Annahme zurück, daß der Teufel, dem 
unser Maler sich verschreibt, ihm ein direkter Vaterersatz ist. Dazu 
stimmt auch die Gestalt, in der er ihm zuerst erscheint, als ehrsamer 
älterer Bürgersmann mit braunem Vollbart, in rotem Mantel, schwar¬ 
zem Hut, die Rechte auf den Stock gestützt, einen schwarzen Hund 
neben sich (Bild l) 1 . Später wird seine Erscheinung immer schreck¬ 
hafter, man möchte sagen mythologischer: Hörner, Adlerklauen, Fle¬ 
dermausflügel werden zu ihrer Ausstattung verwendet. Zum Schluß 
erscheint er in der Kapelle als fliegender Drache. Auf ein bestimmtes 
Detail seiner körperlichen Gestaltung werden wir später zurückkom¬ 
men müssen. 

Daß der Teufel zum Ersatz eines geliebten Vaters gewählt wird, 
klingt wirklich befremdend, aber doch nur, wenn wir zum erstenmal da¬ 
von hören, denn wir wissen mancherlei, was die Überraschung min¬ 
dern kann. Zunächst, daß Gott ein Vaterersatz ist oder richtiger: ein 
erhöhter Vater oder noch anders: ein Nachbild des Vaters, wie man 
ihn in der Kindheit sah und erlebte, der Einzelne in seiner eigenen Kind¬ 
heit und das Menschengeschlecht in seiner Vorzeit als Vater der pri¬ 
mitiven Urhorde. Später sah der Einzelne seinen Vater anders und 
geringer, aber das kindliche Vorstellungsbild blieb erhalten und ver¬ 
schmolz mit der überlieferten Erinnerungsspur des Urvaters zur Gottes¬ 
vorstellung des Einzelnen. Wir wissen auch aus der Geheimgeschichte 
des Individuums, welche die Analyse aufdeckt, daß das Verhältnis zu 
diesem Vater vielleicht vom Anfang an ein ambivalentes war, jedenfalls 
bald so wurde, d. h. es umfaßte zwei einander entgegengesetzte Gefühls- 


1) Aus einem solchen schwarzen Hund entwickelt sich hei Goethe der Teufel selbst. 










SIGM. FREUD 


r4 

regungen,nicht nur eine zärtlich unterwürfige,sondern auch eine feind¬ 
selig trotzige. Dieselbe Ambivalenz beherrscht nach unserer Auffassung 
das Verhältnis der Menschenart zu ihrer Gottheit. Aus dem nicht zu 
Ende gekommenen Widerstreit von Vatersehnsucht einerseits, Angst 
und Sohnestrotz anderseits haben wir uns wichtige Charaktere und 
entscheidende Schicksale der Religionen erklärt 1 . 

Vom bösen Dämon wissen wir, daß er als Widerpart Gottes ge¬ 
dacht ist und doch seiner Natur sehr nahe steht. Seine Geschichte ist 
allerdings nicht so gut erforscht wie die Gottes, nicht alle Religionen 
haben den bösen Geist, den Gegner Gottes, aufgenommen, sein Vor¬ 
bild im individuellen Leben bleibt zunächst im Dunkeln. Aber eines 
steht fest, Götter können zu bösen Dämonen werden, wenn neue 
Götter sie verdrängen. Wenn ein Volk von einem anderen besiegt 
wird, so wandeln sich die gestürzten Götter der Besiegten nicht selten 
für das Siegervolk in Dämonen um. Der böse Dämon des christlichen 
Glaubens, der Teufel des Mittelalters, war nach der christlichen Mytho¬ 
logie selbst ein gefallener Engel und gottgleicher Natur. Es braucht 
nicht viel analytischen Scharfsinns, um zu erraten, daß Gott und Teufel 
ursprünglich identisch waren, eine einzige Gestalt, die später in zwei 
mit entgegengesetzten Eigenschaften zerlegt wurde 2 . In den Urzeiten 
der Religionen trug Gott selbst noch alle die schreckenden Züge, die 
in der Folge zu einem Gegenstück von ihm vereinigt wurden. 

Es ist der uns wohlbekannte Vorgang der Zerlegung einer Vorstel¬ 
lung mit gegensinnigem — ambivalentem Inhalt in zwei scharf kon¬ 
trastierende Gegensätze. Die Widersprüche in der ursprünglichen Natur 
Gottes sind aber eine Spiegelung der Ambivalenz, welche das Verhältnis 
des Einzelnen zu seinem persönlichen Vater beherrscht. Wenn der gütige 
und gerechte Gott ein Vaterersatz ist, so darf man sich nicht darüber 
wundern, daß auch die feindliche Einstellung, die ihn haßt und fürch- 

1) S.TotemundTabuundim einzelnen T h. R e i k, Probleme der Religionspsychologie I, 
1 9 1 9 - 

2) Siehe T h. R e ik, Der eigene und der fremde Gott (Imago-Bücher III. 1925) im Kapitel: 
Gott und Teufel. 













EINE TEUFELSNEUROSE IM T?. J A H R H UND ER T *5 

tet und sich über ihn beklagt, in der Schöpfung des Satans zum Aus¬ 
druck gekommen ist. Der Vater wäre also das individuelle Urbild 
sowohl Gottes wie des Teufels. Die Religionen würden aber unter 
der untilgbaren Nachwirkung der Tatsache stehen, daß der primitive 
Urvater ein uneingeschränkt böses Wesen war, Gott weniger ähnlich 
als dem Teufel.. 

Freilich, so leicht ist es nicht, die Spur der satanischen Auffassung 
des Vaters im Seelenleben des Einzelnen aufzuzeigen. Wenn der Knabe 
Fratzen und Karrikaturen zeichnet, so gelingt es etwa nachzuweisen, 
daß er in ihnen den Vater verhöhnt, und wenn beide Geschlechter 
sich nächtlicherweise vor Räubern und Einbrechern schrecken, so hat 
die Erkennung derselben als Abspaltungen des Vaters keine Schwierig¬ 
keit 1 . Auch die in den Tierphobien der Kinder auftretenden Tiere 
sind am häufigsten Vaterersatz wie in der Urzeit das Totemtier . So 
deutlich aber wie bei unserem neurotischen Maler des siebzehnten Jahr¬ 
hunderts hört man sonst nicht, daß der Teufel ein Nachbild des Vaters 
ist und als Ersatz für ihn eintreten kann. Darum sprach ich eingangs 
dieser Arbeit die Erwartung aus, eine solche dämonologische Kranken¬ 
geschichte werde uns als gediegenes Metall zeigen, was in den Neurosen 
einer späteren, nicht mehr abergläubischen aber dafür hypochondri¬ 
schen Zeit mühselig durch analytische Arbeit aus dem Erz der Ein¬ 
fälle und Symptome dargestellt werden muß 2 . 

Stärkere Überzeugung werden wir wahrscheinlich gewinnen, wenn 
wir tiefer in die Analyse der Erkrankung bei unserem Maler ein- 


1) Als Einbrecher erscheint der Vater Wolf auch in dem bekannten Märchen von den 
sieben Geißlein, 

2) Wenn es uns so selten gelingt, in unseren Analysen den Teufel als Vaterersatz aufzu¬ 
finden, so mag dies darauf hinweisen, daß diese Figur der mittelalterlichen Mythologie bei 
den Personen, die sich unserer Analyse unterziehen, ihre Rolle längst ausgespielt hat. Dem 
frommen Christen früherer Jahrhunderte war der Glaube an den Teufel nicht weniger 
Pflicht als der Glaube an Gott. In der Tat brauchte er den Teufel, um an Gott festhalten 
xu können. Der Rückgang der Gläubigkeit hat dann aus verschiedenen Gründen zuerst und 
zunächst die Person des Teufels betroffen. 

Wenn man sich getraut, die Idee des Teufels als Vaterersatz kulturgeschichtlich zu ver¬ 
werten, so kann man auch die Hexenprozesse des Mittelalters in einem neuen Lichte sehen. 


i 

















i6 


SIGM. FREUD 


1 


dringen. Daß ein Mann durch den Tod seines Vaters eine melancho¬ 
lische Depression und Arbeitshemmung erwirbt, ist nichts Ungewöhn¬ 
liches. Wir schließen daraus, daß er an diesem Vater mit besonders 
starker Liebe gehangen hat, und erinnern uns daran, wie oft auch die 
schwere Melancholie als neurotische Form der Trauer auftritt. 

Darin haben wir gewiß recht, nicht aber, wenn wir weiter schlie¬ 
ßen, daß dies Verhältnis eitel Liebe gewesen sei. Im Gegenteil, eine 
Trauer nach dem Verlust des Vaters wird sich umso eher in Melan¬ 
cholie umwandeln, je mehr das Verhältnis zu ihm im Zeichen der 
Ambivalenz stand. Die Hervorhebung dieser Ambivalenz bereitet uns 
aber auf die Möglichkeit der Erniedrigung des Vaters vor, wie sie in 
der Teufelsneurose des Malers zum Ausdruck kommt. Könnten wir 
nun von Chr. Haitzmann soviel erfahren wie von einem Patienten, 
der sich unserer Analyse unterzieht, so wäre es ein leichtes diese Am¬ 
bivalenz zu entwickeln, ihm zur Erinnerung zu bringen, wann und 
bei welchen Anlässen er Grund bekam, seinen Vater zu fürchten und 
zu hassen, vor allem aber die akzidentellen Momente aufzudecken, 
die zu den typischen Motiven des Vaterhasses hinzugekommen sind, 
welche in der natürlichen Sohn-Vaterbeziehung unvermeidlich wur¬ 
zeln. Vielleicht fände dann die Arbeitshemmung eine spezielle Auf¬ 
klärung. Es ist möglich, daß der Vater sich dem Wunsch des Sohnes 
Maler zu werden, widersetzt hatte; dessen Unfähigkeit, nach dem Tode 
des Vaters seine Kunst auszuüben, wäre dann einerseits ein Ausdruck 
des bekannten „nachträglichen Gehorsams“, anderseits würde sie, die 
den Sohn zur Selbsterhaltung unfähig macht, die Sehnsucht nach dem 
Vater als Beschützer vor der Lebenssorge steigern müssen. Als nach¬ 
träglicher Gehorsam wäre sie auch eine Äußerung der Reue und eine 
erfolgreiche Selbstbestrafung. 

Da wir eine solche Analyse mit Chr. Haitzmann, f 1700, nicht an¬ 
stellen können, müssen wir uns darauf beschränken, diejenigen Züge 
seiner Krankengeschichte hervorzuheben, welche auf die typischen 
Anlässe zu einer negativen Vatereinstellung hinweisen können. Es sind 
nur wenige, nicht sehr auffällig, aber recht interessant. 










_ ig/yV-g T^EVFELSJJ^M^OSE^ JAHRHUNDERT // 

Vorerst die Rolle der Zahl Neun. Der Pakt mit dem Bösen wird auf 
neun Jahre geschlossen. Der gewiß unverdächtige Bericht des Plärrers 
von Pottenbrunn äußert sich klar darüber: pro novem annis Syngra- 
phen scriptam tradidit. Dieser vom i. September 1677 datierte Ge¬ 
leitbrief weiß auch anzugeben, daß die Frist in wenigen Tagen ab¬ 
gelaufen wäre; quorum etfinis 24 mensishujus futurusappropinquat. 
Die Verschreibung wäre also am 24. September 1668 erfolgt 1 . Ja in 
diesem Bericht hat die Zahl Neun noch eine andere Verwendung. Nonies 

neunmal will der Maler den Versuchungen des Bösen wider¬ 
standen haben, ehe er sich ihm ergab. Dies Detail wird in den spä¬ 
teren Berichten nicht mehr erwähnt, „ Post annos novem“ heißt es 
dann auch im Attest des Abtes und „ad novem annos“ , wiederholt der 
Kompilator in seinem Auszug, ein Beweis, daß diese Zahl nicht als 
gleichgültig angesehen wurde. 

Die Neunzahl ist uns aus neurotischen Phantasien wohl bekannt. 
Sie ist die Zahl der Schwangerschaftsmonate und lenkt, wo immer 
sie vorkommt, unsere Aufmerksamkeit auf eine Schwangerschafts¬ 
phantasie hin. Bei unserem Maler handelt es sich freilich um neun Jahre, 
nicht um neun Monate, und die Neun, wird man sagen, ist auch sonst 
eine bedeutungsvolle Zahl. Aber wer weiß, ob die Neun nicht überhaupt 
ein gutes Teil ihrer Heiligkeit ihrer Rolle in der Schwangerschaft ver¬ 
dankt; und die Wandlung von neun Monaten zu neun Jahren braucht 
uns nicht zu beirren. Wir wissen vom Traum her, wie die „unbewußte 
Geistestätigkeit“ mit den Zahlen umspringt. Treffen wir z. B. imTraum 
auf eine Fünf, so ist diese jedesmal auf eine bedeutsame Fünf des 
Wachlebens zurückzuführen, aber in der Realität waren es fünf Jahre 
Altersunterschied oder eine Gesellschaft von fünf Personen, im Traum 
erscheinen sie als fünf Geldscheine oder fünf Stücke Obst. D. h. die 
Zahl wird beibehalten, aber ihr Nenner beliebig, je nach den An¬ 
forderungen der Verdichtung und Verschiebung vertauscht. Neun 
Jahre im Traum können also ganz leicht neun Monaten der Wirk- 

1) Der Widerspruch, daß die wiedergegebenen Verschreibungen beide die Jahreszahl 
1669 zeigen, wird uns später beschäftigen. 


2 Imago IX/i 








SIGM. FREUD 


t8 


lichkeit entsprechen. Auch spielt die Traumarbeit noch in anderer 
Weise mit den Zahlen des Wachlebens, indem sie mit souveräner Gleich¬ 
gültigkeit sich um die Nullen nicht bekümmert, sie gar nicht wie 
Zahlen behandelt. Fünf Dollars im Traum können fünfzig, fünfhundert, 
fünftausend Dollars der Realität vertreten. 

Ein anderes Detail in den Beziehungen des Malers zum Teufel weist 
uns gleichfalls auf die Sexualität hin. Das erste Mal sieht er, wie schon 
erwähnt, den Bösen in der Erscheinung eines ehrsamen Bürgers. Aber 
schon das nächste Mal ist er nackt, mißgestaltet und hat zwei Paar 
weiblicher Brüste. Die Brüste, bald einfach, bald mehrfach vorhanden, 
fehlen nun in keiner der folgenden Erscheinungen. Nur in einer der¬ 
selben zeigt der Teufel außer den Brüsten einen großen, in eine Schlange 
auslaufenden Penis. Diese Betonung des weiblichen Geschlechtscharak¬ 
ters durch große, hängende Brüste (nie findet sich eine Andeutung 
des weiblichen Genitales) muß uns als auffälliger Widerspruch gegen 
unsere Annahme erscheinen, der Teufel bedeute unserem Maler einen 
Vaterersatz. Eine solche Darstellung des Teufels ist auch an und für 
sich ungewöhnlich. Wo Teufel ein Gattungsbegriff ist, also Teufel in 
der Mehrzahl auf treten, hat auch die Darstellung von weiblichen Teufeln 
nichts Befremdendes, aber daß der eine Teufel, der eine große Indivi¬ 
dualität ist, der Herr der Hölle und Widersacher Gottes, anders als 
männlich, ja übermännlich mit Hörnern, Schweif und großer Penis¬ 
schlange gebildet werde, scheint mir nicht vorzukommen. 

Aus diesen beiden kleinen Anzeichen läßt sich doch erraten, welches 
typische Moment den negativen Anteil seines Vaterverhältnisses be¬ 
dingt. Das, wogegen er sich sträubt, ist die feminine Einstellung zum 
Vater, die in der Phantasie, ihm ein Kind zu gebären (neun Jahre) 
gipfelt. Wir kennen diesen Widerstand genau aus unseren Analysen, 
wo er in der Übertragung sehr merkwürdige Formen annimmt und 
uns viel zu schaffen macht. Mit der Trauer um den verlorenen Vater, 
mit der Steigerung der Sehnsucht nach ihm, wird bei unserem Maler 
auch die längst verdrängte Schwangerschaftspbantasie reaktiviert, 
gegen die er sich durch Neurose und Vatererniedrigung wehren muß. 




EINE TE UFEL SNE UR OSE IM //. JAHRHUNDER T 19 

Warum trägt aber der zum Teufel herabgesetzte Vater das körper¬ 
liche Merkmal des Weibes an sich? Dieser Zug erscheint anfangs schwer 
deutbar, bald aber ergeben sich zwei Erklärungen für ihn, die mit¬ 
einander konkurrieren ohne einander auszuschließen. Die feminine 
Einstellung zum Vater unterlag der Verdrängung, sobald der Knabe 
verstand, daß der Wettbewerb mit dem Weib um die Liebe des Vaters 
das Aufgeben des eigenen männlichen Genitales, also die Kastration, 
zur Bedingung hat. Die Ablehnung der femininen Einstellung ist also 
die Folge des Sträubens gegen die Kastration, sie findet regelmäßig 
ihren stärksten Ausdruck in der gegensätzlichen Phantasie, den Vater 
selbst zu kastrieren, ihn zum Weib zu machen. Die Brüste des Teufels 
entsprächen also einer Projektion der eigenen Weiblichkeit auf den 
Vaterersatz. Die andere Erklärung dieser Ausstattung des Teufels¬ 
körpers hat nicht mehr feindseligen, sondern zärtlichen Sinn; sie er¬ 
blickt in dieser Gestaltung ein Anzeichen dafür, daß die infantile 
Zärtlichkeit von der Mutter her auf den Vater verschoben worden 
ist, und deutet so eine starke, vorgängige Mutterfixierung an, die ihrer¬ 
seits wieder für ein Stück der Feindseligkeit gegen den Vater verant¬ 
wortlich ist. Die großen Brüste sind das positive Geschlechtskennzeichen 
der Mutter, auch zu einer Zeit, wo der negative Charakter des Weibes, 
der Penismangel, dem Kinde noch nicht bekannt ist 1 . 

Wenn das Widerstreben gegen die Annahme der Kastration unserem 
Maler die Erledigung seiner Vatersehnsucht unmöglich macht, so ist es 
überaus verständlich, daß er sich um Hilfe und Rettung an das Bild der 
Mutter wendet. Darum erklärt er, daß nur die heilige Mutter Gottes von 
Mariazell ihn vom Pakt mit dem Teufel lösen kann, und erhält am Ge¬ 
burtstag der Mutter (8. September) seine Freiheit wieder. Ob der Tag, an 
dem der Pakt geschlossen wurde, der 24. September, nicht auch ein inähn- 
licherWeiseausgezeichneterTagwar, werden wir natürlich nie erfahren. 

Kaum ein anderes Stück der psychoanalytischen Ermittlungen aus 
dem Seelenleben des Kindes klingt dem normalen Erwachsenen so 


1) Vgl. Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, 2. Auflage 1919. 


2* 











20 S 1 GM. FR R UD 

abstoßend und unglaubwürdig wie die feminine Einstellung zum 
Vater und die aus ihr folgende Schwangerschaftsphantasie des Knaben. 
Wir können erst ohne Besorgnis und ohne Bedürfnis nach Entschul¬ 
digung von ihr reden, seitdem der sächsische Senatspräsident Daniel 
Paul Schreber die Geschichte seiner psychotischen Erkrankung und 
weitgehenden Herstellung bekannt gemacht hat 1 . Aus dieser un¬ 
schätzbaren Veröffentlichung erfahren wir, daß der Herr Senatspräsi¬ 
dent etwa um das fünfzigste Jahr seines Lebens die sichere Über¬ 
zeugung bekam, daß Gott — der übrigens deutliche Züge seines Vaters, 
des verdienten Arztes Dr. Schreber an sich trägt — den Entschluß 
gefaßt, ihn zu entmannen, als Weib zu gebrauchen und aus ihm neue 
Menschen von Schreber’schem Geist entstehen zu lassen. (Er war selbst 
in seiner Ehe kinderlos geblieben.) An dem Sträuben gegen diese Ab¬ 
sicht Gottes, welche ihm höchst ungerecht und „weltordnungswidrig“ 
vorkam, erkrankte er unter den Erscheinungen einer Paranoia, die sich 
aber im Laufe der Jahre bis auf einen geringen Rest rückbildete. Der 
geistvolle Verfasser seiner eigenen Krankengeschichte konnte wohl 
nicht ahnen, daß er in ihr ein typisches pathogenes Moment auf¬ 
gedeckt hatte. 

Dieses Sträuben gegen die Kastration oder die feminine Einstellung 
hat Alf. Adler aus seinen organischen Zusammenhängen gerissen, in 
seichte oder falsche Beziehungen zum Machtstreben gebracht und als 
„männlichen Protest“ selbständig hingestellt. Da eine Neurose immer 
nur aus dem Konflikt zweier Strebungen hervorgehen kann, ist es 
ebenso berechtigt, im männlichen Protest die Verursachung „aller“ 
Neurosen zu sehen, wie in der femininen Einstellung, gegen welche 
protestiert wird. Richtig ist, daß dieser männliche Protest einen regel¬ 
mäßigen Anteil an der Charakterbildung hat, bei manchen Typen 
einen sehr großen, und daß er uns als scharferWiderstand bei der Ana¬ 
lyse neurotischer Männer entgegentritt. Die Psychoanalyse würdigt 


1) D. P. Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Leipzig 1905. Vgl. meine 
Analyse des Falles Schreber in Sammlung kl. Schriften z. Neurosenlehre, dritte Folge. 






EINE TEUFELSNEUROSE IM 17. J AHR HUN D ER T 


21 


den männlichen Protest im Zusammenhang des Kastrationskomplexes, 
ohne seine Allmacht oder Allgegenwart bei den Neurosen vertreten 
zu können. Der ausgeprägteste Fall von männlichem Protest in allen 
manifesten Reaktionen und Charakterzügen, der meine Behandlung 
aufgesucht hat, bedurfte ihrer wegen einer Zwangsneurose mit Ob¬ 
sessionen, in denen der ungelöste Konflikt zwischen männlicher und 
weiblicher Einstellung (Kastrationsangst und Kastrationslust) zu deut¬ 
lichem Ausdruck kam. Überdies hatte der Patient masochistische Phan¬ 
tasien entwickelt, die durchaus auf den Wunsch, die Kastration anzu¬ 
nehmen, zurückgingen, und war selbst von diesen Phantasien zur realen 
Befriedigung in perversen Situationen vorgeschritten. Das Ganze seines 
Zustandes beruhte — wie die Adlersche Theorie überhaupt — auf 
der Verdrängung, Verleugnung, frühinfantiler Liebesfixierungen. 

Der Senatspräsident Schreber fand seine Heilung, als er sich ent¬ 
schloß, den Widerstand gegen die Kastration aufzugeben und sich in 
die ihm von Gott zugedachte weibliche Rolle zu fügen. Er wurde 
dann klar und ruhig, konnte seine Entlassung aus der Anstalt selbst 
durchsetzen und führte ein normales Leben bis auf den einen Punkt, 
daß er einige Stunden täglich der Pflege seiner Weiblichkeit widmete, 
von deren langsamem Fortschreiten bis zu dem von Gott bestimmten 
Ziel er überzeugt blieb. 


IV. DTE ZWEI VERSCHREIBUNGEN 

Ein merkwürdiges Detail in der Geschichte unseres Malers ist die 
Angabe, daß er dem Teufel zwei verschiedene Verschreibungen aus¬ 
gestellt. Die erste,mit schwarzerTinte geschriebene, hatte den Wortlaut: 

„Ich Chr. H. vndterschreibe mich diesen Herrn sein leibeigener Sohn 
au ff 9 Jahr“ 

Die zweite, mit Blut geschrieben, lautet: 

„Ch. H. Ich verschreibe mich dißen Satan ich sein leibeigener Sohn 
zu sein vnd in y. Jahr ihm mein Leib und Seel zuzugeheren. u 







22 


SIGM. FREUD 


Beide sollen zur Zeit der Abfassung des Trophaeum im Archiv von 
Mariazell im Original vorhanden gewesen sein, beide tragen die näm¬ 
liche Jahreszahl 16G9. 

Ich habe die beiden Verschreibungen bereits mehrmals erwähnt 
und unternehme es jetzt, mich eingehender mit ihnen zu beschäftigen, 
obwohl gerade hier die Gefahr, Kleinigkeiten zu überschätzen, be¬ 
sonders drohend erscheint. 

Die Tatsache, daß sich einer dem Teufel zweimal verschreibt, so 
daß die erste Schrift durch die zweite ersetzt wird, ohne aber ihre eigene 
Gültigkeit zu verlieren, ist ungewöhnlich. Vielleicht befremdet sie 
andere weniger, die mit dem Teufelsstoff vertrauter sind. Ich konnte 
nur eine besondere Eigentümlichkeit unseres Falles darin sehen und 
wurde mißtrauisch, als ich fand, daß die Berichte gerade in diesem 
Punkt nicht zusammenstimmen. Die Verfolgung dieser Widersprüche 
wird uns in unerwarteter Weise zu einem tieferen Verständnis der 
Krankengeschichte leiten. 

Das Geleitschreiben des Pfarrers von Pottenbmnn weist die ein¬ 
fachsten und klarsten Verhältnisse auf. In ihm ist nur von einer Ver¬ 
schreibung die Rede,die der Maler vor neun Jahren mit Blut gefertigt, 
und die nun in den nächsten Tagen, am 24. Sept. fällig wird, sie wäre 
also am 24. Sept. 1668 ausgestellt worden; leider ist diese Jahreszahl, 
die sich mit Sicherheit ableiten läßt, nicht ausdrücklich genannt. 

Der Attest des Abtes Franziscus, wie wir wissen, wenige Tage 
später datiert (12. Sept. 1677), erwähnt bereits einen komplizierteren 
Sachverhalt. Es liegt nahe anzunehmen, daß der Maler inzwischen 
genauere Mitteilungen gemacht hatte. In diesem Attest wird erzählt, 
daß der Maler zwei Verschreibungen von sich gegeben, die eine im 
Jahre 1668 (wie es auch nach dem Geleitbrief sein müßte) mit schwarzer 
Tinte geschrieben, die andere aber sequenti anno 166p mit Blut ge¬ 
schrieben. Die Verschreibung, die er am Tage Mariä Geburt zurück¬ 
bekam, war die mit Blut geschriebene, also die spätere, 1669 ausgestellte. 
Dies geht nicht aus dem Attest des Abtes hervor, denn dort heißt es 
im weiteren einfach: schedam redderet und schedam sibiporrigentem 








EINE TELFELSNEVROSE IM 17. JAHRBb NDERT ^^ 

conspexisset, als ob es sich nur um ein einziges Schriftstück handeln 
könnte. Aber wohl folgt es aus dem weiteren Verlauf der Geschichte 
sowie aus dem farbigen Titelblatt des Trophaeum, wo auf dem Zettel, 
den der dämonische Drache hält, deutlich rote Schrift zu sehen ist. Der 
weitere Verlauf ist, wie bereits erwähnt der, daß der Maler im Mai 1678 
nach Mariazell wiederkehrt, nachdem er in Wien neuerliche An¬ 
fechtungen des Bösen erfahren, und das Ansuchen stellt, es möge ihm 
durch einen neuerlichen Gnadenakt der heiligen Mutter auch dies 
erste, mit Tinte geschriebene Dokument wiedergegeben werden. Auf 
welche Weise dies geschieht, wird nicht mehr so ausführlich wie das 
erstemal beschrieben. Es heißt nur quä iuxta votum reddita und an 
anderer Stelle erzählt der Kompilator, daß gerade diese Verschreibung 
,,zusammen geknäult und in vier Stücke zerrissen u dem Maler am 
9. Mai 1678 um die neunte Abendstunde vom Teufel zugeworfen wurde. 

Die Verschreibungen tragen aber beide dasselbe Datum: Jahr 1669. 

Dieser Widerspruch bedeutet entweder gar nichts oder er führt 
auf folgende Spur: 

Wenn wir von der Darstellung des Abtes als der ausführlicheren 
ausgehen, ergeben sich mancherlei Schwierigkeiten. Als Chr. H. dem 
Pfarrer von Pottenbrunn bekannte, er sei in Teufelsnöten, der Termin 
laufe bald ab, kann er (im Jahre 1677) nur an die im Jahre 1668 
ausgestellte Verschreibung gedacht haben, also an die erste, schwarze, 
(die im Geleitbrief allerdings einzig genannt und als die blutige be¬ 
zeichnet wird). Wenige Tage später, in Mariazell, bekümmert er sich 
aber nur darum, die spätere, blutige, zurückzubekommen, die noch 
gar nicht fällig ist (16 69 — 1677), und läßt die erste überfällig werden. 
Diese wird erst 1678, also im zehnten Jahr zurückerbeten. Ferner, 
warum sind beide Verschreibungen aus dem gleichen Jahr 1669 datiert, 
wenn die eine ausdrücklich 7 ,anno subsequenti“ zugeteilt ist? 

Der Kompilator muß diese Schwierigkeiten verspürt haben, denn 
er macht einen Versuch sie zu beheben. In seiner Einleitung schließt 
er sich der Darstellung des Abtes an, modifiziert sie aber in einem 
Punkte. Der Maler, sagt er, habe sich im Jahre 1669 dem Teufel mit 






24 


SIGM. FREUD 


Tinte verschrieben, „ deinde vero u , später aber mit Blut. Er setzt sich 
also über die ausdrückliche Angabe der beiden Berichte, daß eine Ver¬ 
schreibung ins Jahr 1668 fällt, hinweg und vernachlässigt die Be¬ 
merkung im Attest des Abtes, daß sich zwischen beiden Verschrei¬ 
bungen die Jahreszahl geändert, um im Einklang mit der Datierung 
der beiden, vom Teufel zurückgegebenen Schriftstücke zu bleiben. 

Im Attest des Abtes findet sich nach den Worten sequenti vero 
anno I669 eine in Klammern eingeschlossene Stelle, welche lautet: 
sumitur hic alter annus pro nondum completo uti saepe in loquendo 
fieri solet , nam eundum annum indicant Syngrapliae quaruni atra- 
mento scripta ante praesentem attestationem nondum habita fuit. 
Diese Stelle ist ein unzweifelhaftes Einschiebsel des Kompilators, denn 
der Abt, der nur eine Verschreibung gesehen hat, kann doch nicht 
aussagen, daß beide dasselbe Datum tragen. Sie soll wohl auch durch 
die Klammern als ein dem Zeugnis fremder Zusatz kenntlich gemacht 
werden. Was sie enthält, ist ein anderer Versuch des Kompilators, die 
vorliegenden Widersprüche zu versöhnen. Er meint, es sei zwar richtig, 
daß die erste Verschreibung im Jahre 1 668 gegeben worden ist, aber 
da das Jahr schon vorgerückt war (September), habe der Maler sie 
um ein Jahr vordatiert, so daß beide Verschreibungen die gleiche Jahres¬ 
zahl zeigen konnten. Seine Berufung darauf, man mache es ja im 
mündlichen Verkehr oft ähnlich, verurteilt wohl diesen ganzen Er¬ 
klärungsversuch als eine „faule Ausrede/ 4 

Ich weiß nun nicht, ob meine Darstellung dem Leser irgendeinen 
Eindruck gemacht und ob sie ihn in Stand gesetzt hat, sich für 
diese Winzigkeiten zu interessieren. Ich fand es unmöglich, den rich¬ 
tigen Sachverhalt in unzweifelhafter Weise festzustellen, bin aber beim 
Studium dieser verworrenen Angelegenheit auf eine Vermutung ge¬ 
kommen, die den Vorzug hat, den natürlichsten Hergang einzusetzen, 
wenngleich die schriftlichen Zeugnisse sich auch ihr nicht völlig fügen. 

Ich meine, als der Maler zuerst nach Mariazell kam, sprach er nur 
von einer regelrecht mit Blut geschriebenen Verschreibung, die bald 
verfallen sollte, also im September 1 668 gegeben war, ganz so wie 







EINE TEUFE LS NEUE OSE IMiy. JAHRHUNDERT 


^5 


es im Geleitbrief des Pfarrers mitgeteilt ist. In Mariazell präsentierte 
er auch diese blutige Verschreibung als diejenige, die ihm der Dämon 
unter dem Zwang der heiligen Mutter zurückgegeben hatte. Wir 
wissen, was weiter geschah. Der Maler verließ bald darauf den Gnaden¬ 
ort und ging nach Wien, wo er sich auch bis Mitte Oktober frei fühlte. 
Aber dann fingen Leiden und Erscheinungen, in denen er das Werk 
des bösen Geistes sah, wieder an. Er fühlte sich wieder erlösungs¬ 
bedürftig, fand sich aber vor der Schwierigkeit, aufzuklären, warum 
ihm die Beschwörung in der heiligen Kapelle keine dauernde Erlösung 
gebracht hatte. Als ungeheilter Rückfälliger wäre er wohl in Maria¬ 
zell nicht willkommen gewesen. In dieser Not erfand er eine frühere, 
erste Verschreibung, die aber mit Tinte geschrieben sein sollte, damit 
ihr Zurückstehen gegen eine spätere, blutige, plausibel erscheinen 
konnte. Nach Mariazell zurückgekommen, ließ er sich auch diese an¬ 
geblich erste Verschreibung zurückgeben. Dann hatte er Ruhe vor 
dem Bösen, allerdings tat er gleichzeitig etwas anderes, was uns auf 
den Hintergrund dieser Neurose hin weisen wird. 

Die Zeichnungen fertigte er gewiß erst bei seinem zweiten Aufent¬ 
halt in Mariazell an; das einheitlich komponierte Titelblatt enthält 
die Darstellung beider Verschreibungsszenen. Bei dem Versuch seine 
neueren Angaben mit seinen früheren in Einklang zu bringen, mag 
er wohl in Verlegenheiten geraten sein. Es war für ihn ungünstig, 
daß er nur eine frühere, nicht eine spätere Verschreibung hinzu¬ 
dichten konnte. So konnte er das ungeschickte Ergebnis nicht ver¬ 
meiden, daß er die eine, die blutige Verschreibung zu früh (im achten 
Jahr), die andere, die schwarze, zu spät (im zehnten Jahr) eingelöst 
hatte. Als verräterisches Anzeichen seiner zweifachen Redaktion er¬ 
eignete es sich ihm, daß er sich in der Datierung der Verschreibungen 
irrte und auch die frühere in das Jahr 1669 setzte. Dieser Irrtum hat 
die Bedeutung einer ungewollten Aufrichtigkeit, er läßt uns erraten, 
daß die angeblich frühere Verschreibung zu einem späteren Termin 
hergestellt wurde. Der Kompilator, der den Stoff gewiß nicht früher 
als 1714, vielleicht erst 1729 zur Bearbeitung übernahm, mußte sich 







26 


SIGM. FREUD 


bemühen, die nicht unwesentlichen Widersprüche, so gut er konnte, 
wegzuschaffen. Da die beiden Verschreibungen, die ihm Vorlagen, auf 
1669 lauteten, half er sich durch die Ausrede, die er in das Zeugnis 
des Abtes einschaltete. 

Man erkennt leicht, worin die Schwäche dieser sonst ansprechenden 
Konstruktion gelegen ist. Die Angabe zweier Verschreibungen, einer 
schwarzen und einer blutigen, findet sich bereits im Zeugnis des Abtes 
Franciscus. Ich habe also die Wahl, entweder dem Kompilator unter¬ 
zuschieben, daß er an diesem Zeugnis im engen Anschluß an seine 
Einschaltung auch etwas geändert hat, oder ich muß bekennen, daß 
ich die Verwirrung nicht zu lösen vermag 1 . 

Die ganze Diskussion wird den Lesern längst überflüssig und die 
in ihr behandelten Details zu unwichtig erschienen sein. Aber die 
Sache gewinnt ein neues Interesse, wenn man sie nach einer bestimmten 
Richtung hin verfolgt. 

Ich habe eben vom Maler ausgesagt, daß er, durch den Verlauf 
seiner Krankheit unliebsam überrascht, eine frühere Verschreibung 
(die mit Tinte) erfunden habe, um seine Position gegen die geistlichen 
Herren in Mariazell behaupten zu können. Nun schreibe ich für Leser, 

1) Der Kompilator, meine ich, fand sich zwischen zwei fixen Punkten eingeengt. Einerseits 
fand er sowohl im Geleitbrief des Pfarrers wie im Attest des Abtes die Angabe, daß die Ver¬ 
schreibung (zumindest die erste) im Jahre 1668 ausgestellt worden sei, anderseits zeigten 
beide im Archiv aufbewahrten Verschreibungen die Jahreszahl 1669; da er zwei Verschrei¬ 
bungen vor sich liegen hatte, stand es für ihn fest, daß zwei Verschreibungen erfolgt waren. 
Wenn im Zeugnis des Abtes nur von einer die Rede war, wie ich glaube, so mußte er in 
dieses Zeugnis die Erwähnung der anderen einsetzen und dann den Widerspruch durch 
die Annahme einer Vordatierung auf heben. Die Abänderung des Textes, die er vornahm, 
stößt an die Einschaltung, die nur von ihm herrühren kann, unmittelbar an. Er war gezwungen 
Einschaltung und Abänderung durch die Worte sequenti vero anno 1669 zu verbinden, weil 
der Maler in der (sehr beschädigten) Legende zum Titelbilde ausdrücklich geschrieben 
hatte: 

Nach einem Jahr würdt Er 
• - • schrökhliche betrohungcri in ab - 

. gestalt Nr. 2 bezwungen sich , 

........ n Bluut zu verschreiben. 

Das „Verschreiben“ des Malers, als er die Syngraphae anfertigte, durch das ich zu 
meinem Erklärungsversuch genötigt worden hin, erscheint mir nicht weniger interessant 
als seine Verschreibungen selbst. 









EINE TEUFELSNEUROSE IM 17. JAHRHUNDERT 


27 


die zwar an die Psychoanalyse glauben, aber nicht an den Teufel, und 
diese könnten mir Vorhalten, es sei unsinnig, dem armen Kerl von 
Maler — hunc miserum nennt ihn der Geleitbrief — einen solchen 
Vorwurf zu machen. Die blutige Verschreibung war ja genau so 
phantasiert wie die angeblich frühere mit Tinte. In Wirklichkeit ist 
ihm ja überhaupt kein Teufel erschienen, der ganze Pakt mit dem 
Teufel existierte ja nur in seiner Phantasie. Ich sehe das ein; man 
kann dem Armen das Recht nicht bestreiten, seine ursprüngliche Phan¬ 
tasie durch eine neue zu ergänzen, wenn die geänderten Verhältnisse 
es zu erfordern schienen. 

Aber auch hier gibt es noch eine Fortsetzung. Die beiden Ver¬ 
schreibungen sind ja nicht Phantasien wie die Teufelsvisionen $ sie 
waren Dokumente, nach der Versicherung des Abschreibers wie nach 
dem Zeugnis des späteren Abtes Kilian im Archiv von Mariazell für 
alle sichtbar und greifbar aufbewahrt. Also stehen wir hier vor einem 
Dilemma. Entweder haben wir anzunehmen, daß der Maler die bei¬ 
den ihm angeblich durch göttliche Huld zurückgestellten Schedae selbst 
zur Zeit verfertigt, da er sie brauchte, oder wir müßten den geistlichen 
Herren von Mariazell und St. Lambert trotz aller feierlichen Versiche¬ 
rungen, Bestätigungen durch Zeugen mit beigefügten Siegeln usw. 
die Glaubwürdigkeit verweigern. Ich gestehe, die Verdächtigung der 
geistlichen Herren fiele mir nicht leicht. Ich neige zwar zur Annahme, 
daß der Kompilator im Interesse der Konkordanz einiges am Zeugnis 
des ersten Abtes verfälscht hat, aber diese „sekundäre Bearbeitung“ 
geht nicht weit über ähnliche Leistungen, auch moderner und welt¬ 
licher Geschichtsschreiber hinaus und geschah jedenfalls im guten 
Glauben. Nach anderer Richtung haben sich die geistlichen Herren 
gegründeten Anspruch auf unser Vertrauen erworben. Ich sagte es 
schon, nichts hätte sie hindern können, die Berichte über die Unvoll¬ 
ständigkeit der Heilung und die Fortdauer der Versuchungen zu unter¬ 
drücken, und auch die Schilderung der Beschwörungsszene in der Ka¬ 
pelle, der man mit einigem Bangen entgegensehen durfte, ist nüchtern 
und glaubwürdig geraten. Es bleibt also nichts übrig, als den Maler 







28 


SIGM. FREUD 


zu beschuldigen. Die rote Verschreibung hatte er wohl bei sich, als 
er sich zum Bußgebet in die Kapelle begab, und zog sie dann hervor, 
als er von seiner Begegnung mit dem Dämon zu den geistlichen Bei¬ 
ständen zurückkehrte. Es muß auch gar nicht derselbe Zettel gewesen 
sein, der später im Archiv auf bewahrt wurde, sondern nach unserer 
Konstruktion kann er die Jahreszahl 1668 (neun Jahre vor der Be¬ 
schwörung) getragen haben. 


V. DIE WEITERE NEUROSE 

Aber das wäre Betrug und nicht Neurose, der Maler ein Simulant 
und Fälscher, nicht ein kranker Besessener! Nun, die Übergänge zwi¬ 
schen Neurose und Simulation sind bekanntlich fließende. Ich finde 
auch keine Schwierigkeit, anzunehmen, daß der Maler diesen Zettel 
ebenso wie die späteren in einem besonderen, seinen Visionen gleich¬ 
zustellenden Zustand geschrieben und mit sich genommen hat. Wenn 
er die Phantasie vom Teufelspakt und von der Erlösung durchführen 
wollte, konnte er ja gar nichts anderes tun. 

Den Stempel der Wahrhaftigkeit trägt dagegen das Tagebuch aus 
Wien an sich, das er bei seinem zweiten Aufenthalt zu Mariazell den 
Geistlichen übergab. Es läßt uns freilich tief in die Motivierung oder 
sagen wir lieber Verwertung der Neurose blicken. 

Die Aufzeichnungen reichen von seiner erfolgreichen Beschwörung 
bis zum 15. Januar des nächsten Jahres 1678. Bis zum 11. Oktober 
erging es ihm in Wien, wo er bei einer verheirateten Schwester wohnte, 
recht gut, dann aber fingen neue Zustände mit Visionen und Krämpfen, 
Bewußtlosigkeit und schmerzhaften Sensationen an, die dann auch zu 
seiner Rückkehr nach Mariazell im Mai 1678 führten. 

Die neue Leidensgeschichte gliedert sich in drei Phasen. Zuerst 
meldet sich die Versuchung in Gestalt eines schön gekleideten Kava¬ 
liers, der ihm Zureden will, den Zettel wegzuwerfen, der seine Auf¬ 
nahme in die Bruderschaft vom heiligen Rosenkranz bescheinigt. Da 
er widerstand, wiederholte sich dieselbe Erscheinung am nächsten Tag, 





EI NE TE^ UFJZLjrNJ^ UR OS E IM JA HRJJJJN D E R T 29 

aber diesmal in einem prächtig geschmückten Saal, in dem vornehme 
Herren mit schönen Damen tanzten. Derselbe Kavalier, der ihn schon 
einmal versucht, machte ihm einen auf Malerei bezüglichen Antrag 1 
und versprach ihm dafür ein schönes Stück Geld. Nachdem er diese 
Vision durch Gebete zum Verschwinden gebracht, wiederholte sie sich 
einige Tage später in noch eindringlicherer Form. Diesmal schickte 
der Kavalier eine der schönsten Frauen, die an der Festtafel saßen, zu 
ihm hin, um ihn zur Gesellschaft zu bringen, und er hatte Mühe, sich 
der Verführerin zu erwehren. Am erschreckendsten war aber die bald 
darauf folgende Vision eines noch prunkvolleren Saales, in dem ein 
von „Goedstuckhaufgerichteter Thron“ war. Kavaliere standen herum 
und erwarteten die Ankunft ihres Königs. Dieselbe Person, die sich 
schon so oft um ihn bekümmert hatte, ging auf ihn zu und forderte 
ihn auf, den Thron zu besteigen, sie „ wollten ihn für ihren König 
halten und in Ewigkeit verehren“. Mit dieser Ausschweifung seiner 
Phantasie schließt die erste, recht durchsichtige Phase der Versuchungs¬ 
geschichte ab. 

Es mußte jetzt zu einer Gegenwirkung kommen. Die asketische 
Reaktion erhob ihr Haupt. Am 20. Oktober erschien ihm ein großer 
Glanz, eine Stimme daraus gab sich als Christus zu erkennen und 
forderte von ihm, daß er dieser bösen Welt entsagen und 6 Jahre lang 
in einer Wüste Gott dienen solle. Der Maler litt unter diesen heiligen 
Erscheinungen offenbar mehr als unter den früheren dämonischen. 
Aus diesem Anfall erwachte er erst nach 2 x / 2 Stunden. Im nächsten 
war die von Glanz umgebene heilige Person weit unfreundlicher, drohte 
ihm, weil er den göttlichen Vorschlag nicht angenommen hatte, und 
führte ihn in die Hölle, damit er durch das Los der Verdammten 
geschreckt werde. Offenbar blieb aber die Wirkung aus, denn die Er¬ 
scheinungen der Person im Glanze, die Christus sein sollte, wieder¬ 
holten sich noch mehrmals, jedesmal mit stundenlanger Geistesab¬ 
wesenheit und Verzücktheit für den Maler. In der großartigsten 


1) Eine mir unverständliche Stelle. 











30 


S 1 GM. FREUD 


dieser Verzücktheiten führte ihn die Person im Glanze zuerst in eine 
Stadt, in deren Straßen die Menschen alle Werke der Finsternis übten, 
und dann zum Gegensatz auf eine schöne Au, in der Einsiedler ihr gott¬ 
gefälliges Leben führten und greifbare Beweise von Gottes Gnade und 
Fürsorge erhielten. Dann erschien an Stelle Christi die heilige Mutter 
selbst, die ihn unter Berufung auf ihre früher geleistete Hilfe mahnte, 
dem Befehl ihres liebsten Sohnes nachzukommen. „Da er sich hiezu 
nicht recht resolviret % kam Christus am nächsten Tage wieder und 
setzte ihm mit Drohungen und Versprechungen tüchtig zu. Da gab 
er endlich nach, beschloß aus diesem Leben auszutreten und zu tun, 
was von ihm verlangt wurde. Mit dieser Entschließung endet die 
zweite Phase. Der Maler konstatiert, daß er von dieser Zeit an keine 
Erscheinung oder Anfechtung mehr gehabt hat. 

Indes muß dieser Entschluß nicht sehr gefestigt oder seine Aus¬ 
führung allzulang aufgeschoben worden sein, denn als er am 26. De¬ 
zember in St. Stephan seine Andacht verrichtete, konnte er sich beim 
Anblick einer wackeren Jungirau, die mit einem wohlaufgeputzten 
Herrn ging, der Idee nicht erwehren, er könnte selbst an Stelle dieses 
Herrn sein. Das forderte Strafe, noch am selben Abend traf es ihn wie 
ein Donnerschlag, er sah sich in hellen Flammen und fiel in Ohn¬ 
macht. Man bemühte sich, ihn zu erwecken, aber er wülzte sich in 
der Stube, bis Blut aus Mund und Nase kam, verspürte, daß er sich 
in Hitze und Gestank befand, und hörte eine Stimme sagen, daß ihm 
dieser Zustand als Strafe für seine unnützen und eiteln Gedanken ge¬ 
schickt worden sei. Später wurde er dann von bösen Geistern mit 
Stricken gegeißelt und ihm versprochen, daß er alle Tage so gepeinigt 
werden solle, bis er sich entschlossen habe, in den Einsiedlerorden 
einzutreten. Diese Erlebnisse setzten sich, soweit die Aufzeichnungen 
reichen (15. Januar) fort. 

Wir sehen, wie bei unserem armen Maler die Versuchungsphanta¬ 
sien von asketischen und endlich von Strafphantasien abgelöst werden, 
das Ende der Leidensgeschichte kennen wir bereits. Er begibt sich im 
Mai nach Mariazell, bringt dort die Geschichte von einer früheren, 






EINE TE UFEßSNE UR Oßß IJM y^NRIEÜN^DE^ 7 1 3 i 

mit schwarzer Tinte geschriebenen Verschreibung vor, der er es 
offenbar zuschreibt, daß er noch vom Teufel geplagt werden kann, 
erhält auch diese zurück und ist geheilt. Während dieses zweiten 
Aufenthaltes malt er die Bilder, die im Trophaeum kopiert sind, dann 
aber tut er etwas, was mit der Forderung der asketischen Phase seines 
Tagebuches zusammentrifft. Er geht zwar nicht in die Wüste, um 
Einsiedler zu werden, aber er tritt in den Orden der Barmherzigen 
Brüder ein: religiosus factus est. 

Bei der Lektüre des Tagebuches gew innen wir Verständnis für ein 
neues Stück des Zusammenhangs. Wir erinnern uns, daß der Maler 
sich dem Teufel verschrieben, weil er nach dem Tode des Vaters, ver¬ 
stimmt und arbeitsunfähig, Sorge hatte, seine Existenz zu erhalten. 
Diese Momente, Depression, Arbeitshemmung und Trauer um den 
Vater sind irgendwie, auf einfache oder kompliziertere Art mitein¬ 
ander verknüpft. Vielleicht waren die Erscheinungen des Teufels dar¬ 
um so überreichlich mit Brüsten ausgestattet, weil der Böse sein Nähr¬ 
vater werden sollte. Die Hoffnung erfüllte sich nicht, es ging ihm auch 
weiterhin schlecht, er konnte nicht ordentlich arbeiten oder er hatte 
kein Glück und fand nicht genug Arbeit. Der Geleitbrief des Pfarrers 
spricht von ihm als „ hunc miserum omni auxilio destitutum“ . Er war 
also nicht nur in moralischen Nöten, er litt auch materielle Not, In 
die Wiedergabe seiner späteren Visionen finden sich Bemerkungen 
eingestreut, die wie die Inhalte der erschauten Szenen zeigen, daß sich 
auch nach der erfolgreichen ersten Beschwörung daran nichts geändert 
hatte. Wir lernen einen Menschen kennen, der es zu nichts bringt, dem 
man auch darum kein Vertrauen schenkt. In der ersten Vision fragt ihn 
der Kavalier, was er eigentlich anfangen wolle, da sich niemand seiner 
annehme (”„ dieweillen ich von iedermann izt verlassen , waß ich an¬ 
fangen würde“). Die erste Reihe der Visionen in Wien entspricht 
durchaus den Wunschphantasien des Armen, nach Genuß Hungern¬ 
den, Verkommenen: Herrliche Säle, Wohlleben, silbernes Tafelgeschirr 
und schöne Frauenj hier wird nachgeholt, was wir im Teufelsver- 
hältnis vermißt haben. Damals bestand eine Melancholie, die ihn ge- 






SIGM. FREUD 


3 ~_ 

nußunfähig machte, auf die lockendsten Anerbieten verzichten hieß. 
Seit der Beschwörung scheint die Melancholie überwunden, alle Ge¬ 
lüste des Weltkindes sind wieder rege. 

In einer der asketischen Visionen beklagt er sich gegen die ihn 
führende Person (Christus), daß ihm niemand glauben wolle, so daß 
er dessentwegen, was ihm anbefohlen, nicht vollziehen könne. Die 
Antwort, die er darauf erhält, bleibt uns leider dunkel („so fer man 
mir nit glauben , ivaß aber geschechen , waiß ich wol , ist mir aber 
selbes auszuspröchen unmöglich“). Besonders aufklärend ist aber, was 
ihn sein göttlicher Führer bei den Einsiedlern erleben läßt. Er kommt 
in eine Höhle, in der ein alter Mann schon seit 60 Jahren sitzt, und 
erfährt auf seine Frage, daß dieser Alte täglich von den Engeln Gottes 
gespeist wird. Und dann sieht er selbst, wie ein Engel dem Alten zu 
essen bringt: „Drei Schüßerl mit Speiß, ein Brot und ein Knödl und 
Getränk“. Nachdem der Einsiedler gespeist, nimmt der Engel alles zu¬ 
sammen und trägt es ab. Wir verstehen, welche Versuchung die from¬ 
men Visionen zu bieten haben, sie wollen ihn bewegen, eine Form 
der Existenz zu wählen, in der ihm die Nahrungssorgen abgenommen 
sind. Beachtenswert sind auch die Reden Christi in der letzten Vision. 
Nach der Drohung, wenn er sich nicht füge, werde etwas geschehen, 
daß er und die Leute [daran] glauben müßten, mahnt er direkt: „Ich 
solle die Leith nit achten, obwollen ich von ihnen verfolgt wurdte , oder 
von ihnen keine hilfflaistung empfienge , Gott würde mich nitverlasßen “ 

Ch. Haitzmann war soweit Künstler und Weltkind, daß es ihm 
nicht leicht fiel, dieser sündigen Welt zu entsagen. Aber endlich tat 
er es doch mit Rücksicht auf seine hilflose Lage. Er trat in einen 
geistlichen Orden ein $ damit war sein innerer Kampf wie seine mate¬ 
rielle Not zu Ende. In seiner Neurose spiegelt sich dieser Ausgang 
darin, daß die Rückstellung einer angeblich ersten Verschreibung 
seine Anfälle und Visionen beseitigt. Eigentlich hatten beide Abschnitte 
seiner damonologischen Erkrankung denselben Sinn gehabt. Er wollte 
immer nur sein Leben sichern, das erste Mal mit Hilfe des Teufels 
auf Kosten seiner Seligkeit, und als dieser versagt hatte und aufgegeben 





33 


EINE TEJ^EEL SJIEJ/EO SE IJtI j/. JANIRHUNDER T 

werden mußte, mit Hilfe des geistlichen Standes auf Kosten seiner 
Freiheit und der meisten Genußmöglichkeiten des Lebens. Vielleicht 
war Chr. Haitzmann nur selbst ein armer Teufel, der eben kein Glück 
hatte, vielleicht war er zu ungeschickt oder zu unbegabt, um sich 
selbst zu erhalten, und zählte zu jenen Typen, die als „ewige Säug¬ 
linge“ bekannt sind, die sich von der beglückenden Situation an der 
Mutterbrust nicht losreißen können und durchs ganze Leben den An¬ 
spruch festhalten, von jemand anderem ernährt zu werden. Und so 
legte er in dieser Krankengeschichte den Weg vom Vater über den 
Teufel als Vaterersatz zu den frommen Patres zurück. 

Seine Neurose erscheint oberflächlicher Betrachtung als ein Gaukel¬ 
spiel, welches ein Stück des ernsthaften, aber banalen Lebenskampfes 
überdeckt. Dies Verhältnis ist gewiß nicht immer so, aber es kommt 
auch nicht gar so selten vor. Die Analytiker erleben es oft, wie un¬ 
vorteilhaft es ist, einen Kaufmann zu behandeln, der „sonst gesund, 
seit einiger Zeit die Erscheinungen einer Neurose zeigt“. Die geschäft¬ 
liche Katastrophe, von der sich der Kaufmann bedroht fühlt, wirft als 
Nebenwirkung diese Neurose auf, von der er auch den Vorteil hat, 
daß er hinter ihren Symptomen seine realen Lebenssorgen verheim¬ 
lichen kann. Sonst aber ist sie überaus unzweckmäßig, da sie Kräfte 
in Anspruch nimmt, die vorteilhafter zur besonnenen Erledigung der 
gefährlichen Lage Verwendung fänden. 

In weit zahlreicheren Fällen ist die Neurose selbständiger und un¬ 
abhängiger von den Interessen der Lebenserhaltung und Behauptung. 
Im Konflikt, der die Neurose schafft, stehen entweder nur libidinöse 
Interessen auf dem Spiel oder libidinöse in inniger Verknüpfung mit 
solchen der Lebensbehauptung. Der Dynamismus der Neurose ist in 
allen drei Fällen der gleiche. Eine nicht real zu befriedigende Libido¬ 
stauung schafft sich mit Hilfe der Regression zu alten Fixierungen 
Abfluß durch das verdrängte Unbewußte. Soweit das Ich des Kranken 
aus diesem Vorgang einen Krankheitsgewinn ziehen kann, läßt es die 
Neurose gewähren, deren ökonomische Schädlichkeit doch keinem 
Zweifel unterliegt. 


3 Imago IX/i 




















34 


SIGM. FREUD 


Auch die üble Lebenslage unseres Malers hätte keine Teufelsneu¬ 
rose bei ihm hervorgerufen, wenn aus seiner Not nicht eine verstärkte 
Vatersehnsucht erwachsen wäre. Nachdem aber die Melancholie und 
der Teufel abgetan waren, kam es bei ihm noch zum Kampf zwischen 
der libidinösen Lebenslust und der Einsicht, daß das Interesse der 
Lebenserhaltung gebieterisch Verzicht und Askese fordere. Es ist inter¬ 
essant daß der Maler die Einheitlichkeit der beiden Stücke seiner 
Leidensgeschichte sehr wohl verspürt, denn er führt die eine wie die 
andere auf Verschreibungen, die er dem Teufel gegeben, zurück. 
Anderseits unterscheidet er nicht scharf zwischen den Einwirkungen des 
bösen Geistes und jenen der göttlichen Mächte, er hat für beide eine 
Bezeichnung: Erscheinungen des Teufels. 








DER BIOLOGISCHE SINN PSYCHISCHER 

VORGÄNGE 

(ÜBER BUDDHAS VERSENKUNGSLEHRE 1 ) 

Von Dr. FRANZ ALEXANDER 

Meine Damen und Herren! Wenn ich den Sinn dessen, was ich 
Ihnen sagen will, noch einmal prüfe, so sehe ich, daß ich mit ebenso¬ 
viel Recht hätte ankündigen können über den psychologischen Sinn 
biologischer Vorgänge zu sprechen und nicht umgekehrt, wie ich es 
getan habe. Gerade in dieser Reziprozität ist das Prinzip enthalten, 
dessen konsequente Durchführung meine heutige Aufgabe ist, und 
zwar: daß psychische Zusammenhänge ebenso eine biologische Gültig¬ 
keit haben, wie biologische Zusammenhänge eine psychische Gültig¬ 
keit. Ich möchte aber heute dieses Prinzip nicht auf Grund einzelner 
analytischer Erfahrungen beweisen, sondern zum Verständnis eines 
bestimmten seelischen Zustandes verwenden. Diese Anwendbarkeit 
soll für seine Richtigkeit sprechen. Ich schlage deshalb auch nicht den 
deduktiven Weg ein, den die Philosophie, seit sie existiert, immer ge¬ 
gangen ist, um ihr Urproblem, den Zusammenhang von Körper und 
Seele zu ergründen. Die Problemlösungen der Philosophen waren auch 
nicht wenig verschieden und sie haben sich ja bis heute noch nicht 
geeinigt. Denken Sie an die radikal materialistische Lösung von Vogt, 

1) Nach einem Vortrag gehalten in Berlin auf dem VII. Kongreß der Internationalen 
Psychoanalytischen Vereinigung am 25. IX. 1922. 














& 


F. ALEXANDER 


für den Gedanken Sekretionsprodukte des Gehirns sind oder an den 
Spiritualismus von Berkeley, der der ganzen Objektwelt jede reale 
Existenz absprach und sie als Erscheinung, als bloßen Seeleninhalt an¬ 
sah. Nur eine der philosophischen Lösungen interessiert uns besonders, 
ich meine die Identitätslehre von Spinoza, welche den Satz, daß 
seelische Vorgänge gleichzeitig körperliche sind und umgekehrt zuerst 
ausgesprochen hatte. „Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et 
connexio rerum “ Die Lösung von Spinoza ist so einfach und selbst¬ 
verständlich, sie ist das Ei des Kolumbus in der Metaphysik, und man 
muß sich nur wundern, daß nach langen Umwegen in den Labyrin¬ 
then erkenntnistheoretischer Spekulationen nur Schopenhauer wie¬ 
der den Gedanken von Spinoza in einer durch die Evolutionslehre 
bedingten neuen Form ausgesprochen hat. Es ist aber vielleicht doch 
nicht Zufall und zeigt die Linie der Entwicklung, daß Spinoza sein 
Urprinzip, seine causa sui, deren Janusgesicht gleichzeitig Körper und 
Seele ist, mit einem physikalischen Ausdruck Substanz nennt, wäh¬ 
rend Schopenhauer es dem psychologischen Phänomen des Willens 
gleichsetzt. Tatsächlich ist der dynamische Begriff der Kraft, der Ten¬ 
denz der einzige, welcher der physikalischen und der psychologischen 
Erfahrung gemeinsam ist. 

Die Physik und die Biologie haben gezeigt, daß man mit Hilfe 
einer wissenschaftlichen Methodik näheres über diese causa sui er¬ 
fahren kann, während die Versuche der Psychologie auf dem un¬ 
mittelbaren Weg der Introspektion etwas wissenschaftlich Wertvolles 
zu erfahren, lange erfolglos blieben. Erst Freud zeigt durch die Ent¬ 
deckung der freien Assoziation und Deutungskunst den Weg, welcher 
den Wirkungskreis des Bewußtseins nach Innen ausdehnt und uns er¬ 
möglicht, auf diesem Weg des unmittelbaren Erkennens das biologi¬ 
sche Geschehen zu verstehen. So erhält der metaphysische Begriff des 
Willens im Triebbegriff wissenschaftlichen Inhalt und stellt die Ver¬ 
bindung mit der Biologie her. 

Eine nach Innen gewendete Art des Erkennens war in einer ganz 
merkwürdigen Form lange vor der Entdeckung der psychoanalytischen 






DER BIOLOGISCHE SINN PSYCHISCHER VORGÄNGE 


37 


Methode der indischen Philosophie bekannt gewesen. Wie die Psycho¬ 
analyse zum Verständnis des Unbewußten einen besonderen seelischen 
Zustand, der die bewußten Vorgänge der Kritik ausschaltet, vorschreibt, 
so hat die buddhistische Versenkungslehre eine besondere Psycho- 
technik der Versenkung ausgearbeitet, um die Erkenntnis von der 
Außenwelt nach Innen abzuwenden und dadurch den trieblosen Zu¬ 
stand des Nirwana zu erreichen. Und damit bin ich zu meiner heutigen 
Aufgabe gekommen, und zwar: das Versenkungsphänomen Buddhas 
auf Grund des Prinzips der Identität biologischer und psychischer 
Vorgänge zu verstehen. Für unsere heutige psychoanalytische Erkennt¬ 
nis ist es klar, daß die buddhistische Versenkung eine libidinöse nar¬ 
zißtische Wendung des Erkenntnisdranges gegen die eigene Person 
ist, eine Art künstlicher Schizophrenie mit dem vollkommenen Ein¬ 
ziehen der libidinösen Besetzungen von der Außenwelt. Die katatonen 
Zustände der indischen Asketen in der Versenkung bezeugen nur zu 
klar die Richtigkeit dieser Auffassung. Die Beherrschung der Welt 
wird aufgegeben und als ausschließliches Ziel der Libido bleibt die 
Beherrschung des Selbst. Bei der älteren vorbuddhistischen Joga¬ 
praxis kommt es hauptsächlich auf die Beherrschung des Körpers an, 
während die Versenkung Buddhas sich auf das psychische Ich richtet. 
Wir wissen aber, daß die Verbindung des bewußten Willens mit den 
Tiefen der körperlichen Vorgänge den indischen Bettelmönchen nie 
vollkommen gelungen ist, sie führen ja ihre wunderbaren Leistungen 
in der Joga Versenkung aus, welche im Gegensatz zu der buddhistischen 
Versenkung im autohypnotischen Zustand geschieht. Doch etwas kön¬ 
nen sie fraglos, und zwar etwas ganz Sonderbares: die elementarsten 
physiologischen Funktionen, die sonst dem bewußten Willen unzu¬ 
gänglich sind, wenn auch unvollkommen, bewußt zu regulieren oder 
wenigstens diesen regulierenden Eingriff bewußt einzuleiten. Wieder¬ 
holen wir das noch einmal und schauen wir, was es bedeutet: die 
physiologischen Vorgänge mit dem Bewußtsein zu regulieren. Dies 
bedeutet ja nichts anderes als die Steigerung des analytischen Könnens, 
das ersehnte doch kaum ausgesprochene Ziel der psychoanalytischen 










38 


F. ALEXANDER 


Wissenschaft, die Erforschung, vielleicht die Heilung der organischen 
Erkrankung durch Ausdehnung des Wirkungskreises des regulieren¬ 
den Bewußtseins auf die Körperlibido, welche das Zusammenwirken 
der Zellen reguliert. Die bewußte Beherrschung der dem Bewußtsein 
näherliegenden Objektlibido ist das erfolgreiche Ergebnis der bisheri¬ 
gen analytischen Forschung. Fraglos ist der nächste Schritt die Thera¬ 
pie der narzißtischen Neurosen und der zweitnächste die Erforschung 
der organischen Erkrankung der Neurose der Zellverbände, der Organe 
und endlich die Erforschung der Regressionen der Zellen, ich meine 
damit die Tumoren. 

Die Jogaversenkung hat aber keine therapeutischen Ziele, die Be¬ 
herrschung des Körpers ist Selbstzweck. Und ebenso ist für die bud¬ 
dhistische Versenkung die Wendung des erkennenden Bewußtseins 
nach Innen Selbstzweck, eine narzißtisch-masochistische Angelegen¬ 
heit, wie das der dazu führende Weg, die Askese zeigt. Die Psycho¬ 
analyse wendet sich nach Innen, um die Triebe an die Realität an¬ 
passen zu helfen, sie will die Verbindung zwischen Bewußtsein und 
Trieben herstellen, um die Erfahrungskenntnisse von der Außenwelt 
für die Triebe nutzbar zu machen. Die buddhistische Lehre macht 
sich die Aufgabe leichter, indem sie die Realität au6schaltet und das 
ganze Triebleben von der Welt abzuwenden und nach Innen zu kehren 
versucht. 

Freud drückte den Unterschied zwischen dem Künstler und Neu¬ 
rotiker so aus, daß der Künstler im Gegensatz zum Neurotiker auf 
dem Wege der Phantasiebefriedigung seiner Libido wieder die Ver¬ 
bindung mit der Realität herstellt, indem er sozial wirkt. In diesem 
Sinne ist auch die Versenkung eine Art narzißtischer Neurose, deren 
wissenschaftliches Gegenstück die Psychoanalyse ist. Ich möchte ver¬ 
suchen, Ihnen zu zeigen, daß diese Neurose durch die beispiellose 
Tiefe der narzißtischen Regression für uns eine besondere Bedeutung 
hat und sicherlich unsere Aufmerksamkeit verdient. 

Worin besteht eigentlich die Versenkungslehre Gotamo Buddhas 
und was vermögen seine Anhänger, die seine Vorschriften befolgen? 






DER BIOLOGISCH^ S£NN PS YCJUSC£ER VORjG ÄN GE 39 

Das Gemeinsame in den verschiedenen indischen Versenkungs¬ 
methoden ist das zielbewußte, systematische Einziehen aller libidinösen 
Besetzungen von der Außenwelt und der Versuch, alle so freigewor¬ 
denen Libidoquanten narzißtisch unterzubringen. Das Wesentliche 
und für uns Interessanteste ist, daß in die Versenkung auch die intel¬ 
lektuellen Funktionen einbezogen werden, ja in Buddhas Lehre fällt 
sogar der Hauptakzent gerade auf dieses nach Innen gewendete Er¬ 
kennen .. „Nicht gibt es Versenkung wo nicht Weisheit ist und Weis¬ 
heit gibt es nicht wo nicht Versenkung ist, und in wem Versenkung 
und Weisheit ist, der ist dem Nirwana nahe,“ — sagt Buddha 1 . 

Die eigentliche geistige Versenkung wird mit einem allgemeinen 
asketischen Training eingeleitet, welches in einer systematischen 
Unterdrückung des ganzen Trieblebens besteht. Die Hauptbedingung 
ist die Freiheit vom Haß, das Nichtbegehren von fremdem Eigentum, 
der Verzicht auf alle körperlichen Vergnügungen und die sexuelle 
Enthaltsamkeit. Analytisch betrachtet soll damit nicht nur jede geni¬ 
tale, sondern auch jede sadistische, oralerotische und analerotische Ab¬ 
fuhr gesperrt werden, um die ganze Libido dem Ich in seinen primi¬ 
tivsten Funktionen zuzuführen. Die äußeren Hilfsmittel zur Durch¬ 
führung dieser Forderungen bestehen in der Einsamkeit, in einer 
ruhigen Körperhaltung und in der Beobachtung und bewußten Regu¬ 
lierung des Atmens. Es ist klar, warum das Atmen diese besondere 
Rolle bekommt. Es ist die einzige konstante periodische Funktion, 
welche dem bewußten W illen auch ohne jede Übung zugänglich ist. 
Nach dieser asketischen Vorbereitung setzt erst die geistige Versenkung 
ein, welche durch die vier Jhanastufen zum Nirwana führt. Die erste 
Jhanastufe besteht in der Abwendung von der Mannigfaltigkeit der 
äußeren Wahrnehmungen und inneren Vorstellungen, also auch in 
der Einschränkung der Phantasietätigkeit, der Konzentration des 
Denkens auf ein einziges Thema. Die Objekte dieser Meditation sind 
verschieden, doch nur solche, die geeignet sind die Welt, das ganze 


1) Zit. nach Heiler, Die Buddhistische Versenkung. München 1922. II. Auf 1 . 












40 


F. ALEXANDER 


Leben zu entwerten, wie Vorstellungen über die Kürze und Nichtig¬ 
keit des Lebens. Immer mehr gehen diese Vorstellungen in düstere Be¬ 
trachtungen über die Häßlichkeit und Unreinlichkeit des menschlichen 
Körpers, den Tod, das Schicksal des Leichnams über. Diese Betrach¬ 
tungen sind mit lebhaften Ekelempfindungen vor dem eigenen Körper 
verbunden. Die melancholische Färbung ist der Hauptzug dieser 
gegen sich selbst gerichteten sadistischen Selbstbetrachtung: der ersten 
Versenkungsphase, wie das auch vom Religionsforscher Heiler her¬ 
vorgehoben wird. „In dieser Versenkungsphase ist das Weltbild des 
meditierenden Mönches in verblüffenderWeise vereinfacht; die ganze 
Welt ist nur noch das bedeutungsschwere Symbol des universellen 
metaphysischen Leids .. . Tiefe Wehmut durchzittert den Betrach¬ 
tenden, herbe Weltverachtung erfüllt ihn, alles auf diese vergängliche 
Welt gerichtete Begehren und Wünschen erstirbt.“ 1 So beschreibt 
Heiler ( 1 . c. S. 21) diese Phase der Versenkung, welche im Lichte 
unserer klinisch-analytischen Kenntnisse überaus klar und insofern 
besonders interessant ist, weil sie eine experimentell herbeigeführte 
Melancholie darstellt. Sie entsteht dadurch, daß die Welt in ihrer 
ganzen Mannigfaltigkeit aufhört, Libidoobjekt zu sein, nachdem jedes 
weltliche Interesse in dem asketischen Vortraining künstlich zurück¬ 
gezogen wird, und nun die ganze zurückgezogene Libido gegen den 
eigenen Körper sich wendet; dieser übernimmt die frühere Rolle der 
Welt und wird zum ausschließlichen Objekt. Die Libidobesetzung des 
Ich ist in diesem Stadium noch eine rein sadistische, das wollüstige 
Wüten gegen sich selbst unterscheidet sich in Nichts von dem wohl- 
bekannten klinischen Bild der Melancholie. Dieser Zustand ist aber 
noch weit entfernt von dem ersehnten Endziel der Versenkung. Jetzt 
empfindet der Mönch noch Ekel vor seinem eigenen Körper und 
auch dieses Gefühl muß überwunden werden. Dies ist die Auf¬ 
gabe der zweiten Versenkungsstufe. Wenn die Überwindung der Ekel¬ 
gefühle gelungen ist, so wird die sadistische Besetzung des Körpers 
durch eine positive Besetzung abgelöst. Wir verstehen klar: die während 
der individuellen Entwicklung aufgerichtete Schranke, das Ekelgefühl, 






DER BIOLOGISCHE SINN PSYCHISCHER VOR GANG E 4 / 


der Damm, welcher die vom Ich mühsam abgelöste Libido vor der 
narzißtischen Regression schützen soll, wird abgebaut und nun strömt 
die ganze Libido, die bis jetzt nur in ihrer sadistischen Komponente 
eine Ableitung fand, in das große Ichreservoir zurück. Diese Phase 
der positiven Besetzung des eigenen Ich wird in dem buddhistischen 
Text mit folgenden Worten beschrieben: „In diesem Zustand gleicht 
der Mönch einem Teiche, der von einer Quelle in Ihm selbst gespeist 
wird, von außen keinen Zufluß hat weder auf der Ost- noch auf der 
West-, Nord- und Südseite und in dem es auch nicht von Zeit zu 
Zeit einmal tüchtig regnet. Diesen Teich speist der in ihm selbst 
quellende kühle Wasserstrom $ mit kühlem Wasser durchströmt, er¬ 
füllt und umflutet ihn ganz damit, so daß kein einziges Winkelchen 
des Teiches vom kühlen Wasserstrom undurchdrungen bleibtj gerade 
so tränkt der Bikkhu (der Mönch) seinen leiblichen Körper, über¬ 
schüttet ihn Vollständig, erfüllt ihn ganz und durchdringt ihn von 
allen Seiten mit dem aus der Versunkenheit geborenen Freuden- und 
Lustgefühl, so daß kein einziges Winkelchen davon undurchdrungen 
bleibt.“ ( 1 . c. S. 22.) Dies ist die zweite Jhanastufe. Ich glaube den 
Zustand des Narzißmus könnte kein Analytiker trefflicher schildern 
als es in diesem Text geschieht, wenn wir das Wort „Wasserstrom“ 
durch „Libido“ ersetzen. Diese Beschreibung erscheint mir deshalb 
als ganz besonders interessant und bedeutungsvoll, weil sie die intro¬ 
spektive Beschreibung eines Zustandes ist, welchen wir theoretisch nur 
rekonstruiert haben und Narzißmus nennen. Der eigene Körper wird 
zum ausschließlichen Objekt, und zwar der ganze Körper. Dieses Lust¬ 
gefühl, eine summierte Wollust aller Organe, Gewebe und Zellen, 
ein von den Genitalien vollkommen abgelöster, auf den ganzen Körper 
zerstreuter Orgasmus, ist der Zustand, welchen wir dem Schizophrenen 
in seiner katatonen Ekstase zuschreiben. Den buddhistischen Wortlaut 
können wir der introspektiven Aussage eines Katatonen gleichsetzen. 
Dieser W ortlaut gibt mir die methodologische Rechtfertigung, wenn 
ich die buddhistischen Versenkungszustände, also auch das Nirwana, 
als psychologische Dokumente bewerte und nicht als Produkte meta- 










42 


F. ALEXANDER 


physischer Spekulationen. Die Vorstellung Freuds über die Entwick¬ 
lung der Objektlibido aus der Ichlibido wird durch die künstliche 
Regression der Versenkung buchstäblich bestätigt und wird zur ex¬ 
perimentellen Wahrheit. Doch nicht weniger wird Freuds Melan- 
choliemechanismus bestätigt durch die vorangehende melancholische 
Jhanastufe, welche dadurch zustande kommt, daß die Welt als Objekt 
verlorengeht, sadistisch entwertet wird und daß sich dann dieser 
Sadismus gegen das eigene Ich wendet, welches seine entwicklungs¬ 
geschichtlich frühere Objektrolle von der Außenwelt wieder zurück¬ 
erobert. Die narzißtische Stufe entspricht der nächsten weiteren Re¬ 
gression, indem die Ekelschranke abgebaut wird und nun der ganze 
Organismus durch positive Libido überflutet wird. Das Neue, was wir 
daraus lernen, ist vielleicht nur, daß wir sehen, in welchem Sinne 
die schizophrene Regression eine tiefere ist, als die melancholische. 
Die tiefere Regression bei der Schizophrenie kommt dadurch zu¬ 
stande, daß die sadistische Besetzung des Ich durch eine positive ab¬ 
gelöst wird. Die Schutzrolle der Ekelgelühle, deren Schwinden ein 
altbekanntes Symptom der Schizophrenie ist, kommt klar zum Aus¬ 
druck; die Überwindung der Ekelschranke ist ja die Bedingung zum 
Eintritt in die zweite Jhanastufe. Der Haß, Ekel gegen den eigenen 
Körper schützt vor der Liebe und wird in der Form von Ekel¬ 
gefühlen verwendet im Aufbau des Ichsystems. Wenn also die schizo¬ 
phrene Regression der narzißtischen Stufe der individuellen Entwick¬ 
lung entspricht, so muß die Melancholie jenem postnarzißtischen 
Stadium entsprechen, wo zur Bekämpfung des Narzißmus im Ich zu¬ 
erst eine kritische Instanz aufgestellt wird, welcher den Ich kern ne¬ 
gativ besetzt. Aus den Selbstanklagen der Melancholiker hören wir die 
Stimme der strengen Erzieher, deren Kritik und Strafen für die negative 
Einstellung gegen sich selbst dem Ich seinerzeit vorbildlich wurden. 

Wir sahen bis jetzt, daß die Versenkung systematisch den Weg in 
umgekehrter Richtung zurücklegt, den die Entwicklung in der auf¬ 
bauenden Richtung genommen hat, und danach trachtet, die ganze 
psychische und physische Persönlichkeit abzubauen. Mit Recht kann 







DER BIOLOGISCHE SI NN PS YCHI SCH ER VORGÄNGE 43 


unsere Neugierde geweckt sein, wohin dieser regressive Weg nach 
dem Stadium des narzißtischen Orgasmus noch führen kann. 

Die dritte Jhanastufe besteht darin, daß das Lustgefühl der zweiten 
Stufe immer mehr abnimmt und allmählich in Apathie übergeht. Dem 
narzißtischen Orgasmus des ganzen Körpers folgt das Stadium der 
Detumescenz. Die vierte Stufe ist der Zustand der völligen geistigen 
Leere und Einförmigkeit. „Über Lust und Unlust erhaben, frei von 
Liebe und Haß, gleichgültig gegen Freude und Leid, gleichgültig 
gegen die ganze Welt, gegen Götter und Menschen, ja gegen sich 
selbst, weilt der Mönch auf der Höhe der sancta indifferentia an der 
Schwelle des Nirwana.“ So beschreibt Heiler ( 1 . c. S. 23) die letzte 
Stufe der Versenkung. Es ist unschwer für uns, in diesem Zustand 
das letzte Stadium der Schizophrenie, die schizophrene Demenz zu 
erkennen, es ist aber schwer, die psychologische Bedeutung dieses 
Zustandes zu würdigen und festzustellen, welcher Periode der indivi¬ 
duellen Entwicklung er entspricht. Nach Heiler ist dieser Zustand 
nur mehr quantitativ von dem Nirwana verschieden, das Nirwana be¬ 
deutet nur die Vertiefung dieses Zustandes. Um diesen Zustand ana¬ 
lytisch zu verstehen, haben wir mehrere Angriffspunkte. Zunächst 
das körperliche Verhalten. Vollkommene Bewegungslosigkeit mit kaum 
wahrnehmbaren Atemzügen5 eine äußerste Einschränkung des Stoff¬ 
wechsels, eine Art Scheintod. Im Endzustand der älteren autohypno¬ 
tischen Jogaversenkung ist dieser körperliche Effekt noch viel frap¬ 
panter, als in dem Nirwana der buddhistischen Versenkung. Die un¬ 
glaublichen Wundertaten der Fakire, die jeder Physiologie zu spotten 
scheinen, geschehen in diesem autohypnotischen Zustand der Joga¬ 
praxis. Wenn wir über diese Wundertaten Umschau halten, die Ab¬ 
bildungen betrachten, so fallen uns die merkwürdigen stereotypen 
Körperhaltungen auf. Zusammengekauert, die Extremitäten unglaub¬ 
lich zusa mm engefaltet, mit dem Kopf nach unten, vomBaume herunter¬ 
hängend und ähnliches. Doch die größte Wundertat ist das Sichlebendig- 
begrabenlassen. Wie weit die hartnäckig wiederkehrenden Berichte 
über vierzigtägige Begrabungen auf Wahrheit beruhen, ist nicht unsere 












44 


F. ALEXANDER 


Sache zu entscheiden. Es sind genügend andere Taten konstatiert 
worden und die merkwürdige Fähigkeit der Fakire, die physiologischen 
Funktionen, ja sogar den Stoffwechsel willkürlich zu beeinflussen, 
steht fest. Uns interessiert aber hauptsächlich der Sinn aller dieser 
Gebräuche, der Sinn, der dem analytischen Blick unwillkürlich sich 
aufdrängt. Unbeweglichkeit, die merkwürdig unbequeme Körper¬ 
haltung, die Einschränkung, ja sogar beinahe das Aulhören der Atem¬ 
tätigkeit, Sich-in-der-Erde-begraben-lassen. Der Sinn ist offenbar: die 
Regression in den Zustand vor der Geburt, unbeweglich, zusammen¬ 
gekauert, ohne Atmen in der Muttererde liegend. Die Betrachtung 
des körperlichen Endeffekts der Jogapraxis, welche ja Buddha ver¬ 
wendet, nur vergeistigt hat, macht es sehr naheliegend, daß der End¬ 
zustand seiner Versenkung, das Nirwana, ebenfalls die tiefste Regression 
in den Zustand des intrauterinen Lebens bedeutet, um so mehr, da die 
körperlichen Merkmale dieselben sind: unbeweglich, zusammenge¬ 
kauert, ohne Atemzüge. Denken Sie an ein Buddhadenkmal! Nirwana 
ist der Zustand im Mutterleib. „Ohne Empfinden, ohne Wünsche, die 
Beruhigung, wo es kein Sterben noch Wiedergeboren gibt, kein Dies¬ 
seits noch Jenseits, noch ein Zwischenreich, das ist eben das Ende des 
Leidens.“ — sagt Heiler. ( 1 . c. S. 59.) 

Noch viel deutlicher wird uns dieMutterleibsbedeutung des Nirwana, 
wenn wir seinen psychischen Inhalt betrachten, wenn wir Buddha 
auf dem Schritt von der vierten Jhanastufe in das Nirwana folgen. 
Und da fängt erst unser analytisches Interesse an. Die Versenkung 
war bis jetzt eine rein affektive, doch Buddha verspricht seinen Jüngern 
Erkenntnis, ja diese Erkenntnis ist das eigentliche Ziel der Versenkung. 
Parallel mit der körperlichen und affektiven Versenkung läuft die 
intellektuelle, das Erkennen der verborgenen Zusammenhänge des 
Daseins im eigenen Selbst durch die Wendung aller intellektuellen 
Kräfte nach Innen. In der vierten Jhanastufe erkannte Buddha das 
ewige karman Gesetz, den Kreislauf der ewigen Wiedergeburten. In 
der Geburt sieht Buddha die Ursache des dreifachen Übels, des Alters, 
der Krankheit und des Todes. In der Legende der dreimaligen Aus- 










DER B10 L O GIS C H E_SJNNJPSJYCJ££SCJJE^_ 4$ 

fahrt des jungen Königssohnes erklärt Buddha seinen Jüngern die Ur¬ 
sache seiner religiösen Strebungen, die Ursache, warum er von der 
Welt in das Innerste seines Selbst sich zurückzieht. Bei der ersten 
Ausfahrt wird der junge Prinz durch den Anblick des hilflosen Greises 
zur Rückkehr bewogen. Bei der zweiten Ausfahrt zwingt ihn der 
Anblick des im eigenen Kot und Urin sich wälzenden Kranken zur 
Rückkehr und zum drittenmal begegnet er einem Leichenzug. Die 
Überwindung von Alter, Krankheit und Tod ist das klar ausgesprochene 
Endziel der buddhistischen Lehre und mit Recht können wir sie eine 
narzißtischeReligion nennen imGegensatz zu der Übertragungsreligion, 
der christlichen, welche das Zusammenleben der Menschen, ihre 
affektiven Relationen zu ordnen versucht. Ja wir können es noch 
schärfer ausdrücken. Die Ziele der buddhistischen Lehre sind thera¬ 
peutische, die Überwindung von Alter, Krankheit und Tod. Ihr Weg 
ist die Regression durch Introversion und ihr Heilungsziel das Nirwana, 
die Überwindung, das Rückgängigmachen der Geburt. Dreimal ver¬ 
flucht Buddha in der Legende seiner dreimaligen Ausfahrt die Ge¬ 
burt: „O Schande, sage ich über die Geburt, da am Geborenem das 
Alter zum Vorschein kommt, die Krankheit zum Vorschein kommt, 
der Tod zum Vorschein kommt 1 .“ Die Ursache des dreifachen Übels 
ist die Geburt, das kosmische Gesetz der Wiedergeburten, und das 
Nirwana bedeutet ihre Überwindung. „In dem Nirwana vernichtet ist 
die Macht, die zum Dasein führt, nicht gibt es fortan eine Wieder¬ 
geburt“ — sagt Buddha 2 . Der Mensch ist entworden, zurückge¬ 
sunken in das reine Sein, das nichts ist, als es selber. ( 1 . c. S. 59.) 

Ich hoffe, daß es mir gelungen ist, Ihnen wahrscheinlich zu machen, 
daß das Endziel der buddhistischen Versenkung ein Versuch psycho¬ 
logischer und physiologischer Regression in den Zustand des intrau¬ 
terinen Lebens ist. Wir sahen die introspektiven Beschreibungen der 
verschiedenen Stufen der regressiven Versenkungsskala den Entwick¬ 
lungsstufen der individuellen Entwicklung entsprechen, daß der Weg 


1) cit. nach Leopold Ziegler, Der ewige Buddho, Darmstadt 1922. S. 226. 

2) Heiler, loc. cit. S. 40. 


















46 


F. ALEXANDER 


zum Nirwana mit einem kinematographischen Film zu vergleichen 
wäre, der in umgekehrter Richtung gedreht wird. Dieser Weg fängt 
mit der Ablösung der Libido von der Welt an und führt über die 
melancholische und dann über die narzißtisch-katatone Phase end¬ 
lich zu dem scheinbar alibidinösen Zustand des Nirwana, zu dem in¬ 
trauterinen Zustand. Bis zu der narzißtischen Stufe konnten wir diese 
Regression im Lichte der Libidotheorie verstehen. Das analytische 
Verständnis eines Zustandes ist eine Gleichung, welche das Verhältnis 
von Ich und Libido ausdrückt. Die Gleichung der melancholischen 
Phase lautete: Sadistische Besetzung des Ich als Objekt, die Gleichung 
der narzißtischen: positive Besetzung des Ich als Objekt. Offen bleibt 
die Frage nach der Libido-Ichgleichung des Nirwana, des intrauterinen 
Zustandes, welcher nach der Beschreibung des buddhistischen Textes 
alibidinös zu sein scheint. Der Unterschied von Objekt und Subjekt 
ist aufgehoben, sagt Heiler (S. 39) über diesen Zustand. „Der Voll¬ 
kommene ist zurückgesunken in das reine Sein, das nichts ist als es 
selber.“ Sagt Buddha. Zum Begriff der Libido sind wahrhaftig die Be¬ 
griffe Subjekt und Objekt notwendig und selbst die narzißtisch ge¬ 
wordene Libido nimmt das Ich selbst zum Objekt, Dieser scheinbar 
alibidinöse Zustand des Nirwana, das reine Sein, kann nichts anderes 
sein, als die vollkommenste restlose Verschränkung der Ichtriebe 
und der Libido, wie es Freud etwa von den einzelligen Protisten 
annimmt oder wie der Urnarzißmus der Samenzellen, die nach seiner 
Auffassung rein narzißtisch wären 1 . Demnach wäre also die Nirwana¬ 
sensation mit dem vollkommenen Zusammen fallen der Ichtriebe mit 
der Libido identisch. Diese Behauptung ist aber eine biologische Theorie. 
Was kann das mit psychologischen Sensationen zu tun haben? 

Der intrauterine Zustand ist zunächst kein bestimmter Zeitpunkt,son¬ 
dern faßt die Entwickelungsperiode von der befruchteten Eizelle bis zur 
Geburt in sich. In welcher Phase des intrauterinen Lebens erblickt Bud¬ 
dha die Überwindung der Kette der Wiedergeburten, das Zurücksinken 
in das reine Sein? Ja, wo endet eigentlich die buddhistische Regression? 


1) Freud, Jenseits des Lustprinzips. 2. Auflage 1922. 








DER BIOLOGISCHE SI NN PS VC HI S CHE R VORGÄNGE 


Wir konnten die melancholische Phase der Versenkung gut vor¬ 
stellen. Die Beschreibung der zweiten Jhanastufe fanden wir als eine 
treffliche Schilderung des Narzißmus in seinem klassischen Sinne. Wir 
konnten sogar in diesem Zustand die katatone Ekstase des Schizo¬ 
phrenen wieder erkennen. Der psychologische Sinn des Nirwana, die 
Sensation des Zustandes im Mutterleib ist schwer vorstellbar. Das 
dieser Zustand gemeint ist, ist durchaus klar. Buddha selbst nennt ihn 
ja die Überwindung der Geburt, die Überwindung der ewigen Wieder¬ 
geburten. Was heißt aber der Ausdruck „der ewigen Wiedergeburten“ 
überhaupt? Hier müssen wir die Lösung finden. Man könnte leicht 
den Eindruck bekommen, daß diese Äußerungen über das Nirwana 
rein metaphysische Begriffe seien, die Früchte irgendwelcher philo¬ 
sophischer Spekulation. Doch diese Annahme können wir gleich zu¬ 
rückweisen. Alle übrigen Versenkungsphasen waren psychologische 
Zustände und der Weg zu ihnen der systematische chronologisch ge¬ 
treue Abbau der Persönlichkeit. Die Psychotechnik Buddhas hat es 
möglich gemacht, diesen regressiven Weg willkürlich zu gehen. Die 
Jogapraxis ermöglicht das physiologische Wunder, die willkürliche 
Einschränkung des Stoffwechsels5 die Versenkungslehre Buddhas er¬ 
wirkt eine restlose psychische Regression. Wir sind berechtigt anzu¬ 
nehmen, daß auch dem Endzustände der Regression ein psychisches 
Erleben entspricht, welches mit dem intrauterinen Zustand ebenso¬ 
viel zu tun hat wie das narzißtische Versenkungserlebnis mit der realen 
narzißtischen Periode der individuellen Entwicklung. Doch ich habe 
einen noch schwerwiegenderen Beweis dafür, daß das Nirwana tat¬ 
sächlich eine psychologische Regression in den intrauterinen Zustand 
ist, präziser in einen Zustand, dessen Libido-Ich Gleichung mit der 
der embryologischen Periode identisch ist, einen Beweis, den ich bis¬ 
her zurückgehalten habe. Ich meine die Deutung der erlösenden Er¬ 
kenntnis Buddhas in der vierten Jhanastufe, welche den Eintritt in 
das Nirwana ermöglicht, die Erkenntnis des ewigen Nacheinanders 
der Wiedergeburten. Der Sinn dieses Gesetzes, der zentrale Kern des 
Buddhismus, kann erst in psychoanalytischer Beleuchtung in seiner 

















48 


K 

tiefsten Bedeutung verstanden werden. Doch die Deutung des Reli¬ 
gionsphilosophen Ziegler kommt der Wahrheit sehr nahe. Hören 
wir den Gedankengang in seinem tiefsinnigen Werk „Der ewige Bud- 
dho“ (L c. S. 285 t). Nach ihm dient der ganze Versenkungsweg durch 
die vier Jhanastufen dazu, die seelischen Vorgänge von jeder Gefühls- 
betonung zu befreien, sowohl nach der Lustseite hin wie nach der 
Unlustseite. Alle Unlustgefühle der ersten Stufe und alle Lustgefühle 
der zweiten Jhana, welche den Andächtigen verleiten könnten, bei 
diesen zu verharren, müssen überwunden werden. Erst wenn der Ge¬ 
dankenablauf in der vierten Stufe von jedem lust- und unlustvollen 
Unterton gesäubert ist, kann die erlösende Erinnerung an die Wieder¬ 
geburten eintreten. In unserer analytischen Sprache würden wir sagen: 
Erst nach der Überwindung der Widerstände kann die Erinnerung 
auftreten. Und wir kennen auch zwei Arten von Widerständen: sol¬ 
che die auf unlustvollen Affekten beruhen, doch auch solche, und zwar 
die zäheste Widerstandsgrenze des Narzißmus, die auf einer Behar¬ 
rungstendenz in einem lustvollen Zustand beruhen. Die Versenkungs¬ 
skala entspricht dem chronologischen Gang einer regelrechten Analyse: 
In der Überwindung der melancholischen Phase werden die unlust¬ 
vollen Widerstände überwunden und dann erst folgt die Überwin¬ 
dung des Narzißmus in der zweiten Stufe. 

Gestatten Sie mir, daß ich den therapeutischen Sinn der vierfachen 
Versenkung mit Zieglers Worten wiederhole: „In demselben Maße 
nämlich, als der Mönch sich in sich selbst vertiefend, die Quellen 
jener äußeren Erfahrung verstopft, an denen wir Abendländer fast 
unser gesamtes Wissen und sicherlich unsere ganze Wissenschaft zu 
schöpfen pflegen —, in eben dem Masse beginnen sich ihm verbor¬ 
gene Quellen zu erschließen, deren sehr fernes raunendes Gemurmel 
sein ungemein geschärftes Ohr näher und näher vernimmt. ... Wer 
in der vierfachen Selbstvertiefung stark geworden ist, hat tatsächlich 
einen neuen Sinn derart gehärtet und gestählt, daß er wie ein Bohrer 
in den Händen eines Gesteinkundigen vortrefflich gebraucht werden 
kann. . . . Wissend geworden in sich selber und vor sich selber . . . 










DER BIOLOGISCHE SU^J^S YDH£SC HER VORGÄNGE 4g 

vermag dieser Mönch vor allen Dingen sich zu erinnern. . . . Das 
Wissen ist Erinnerung und zwar Erinnerung im Unterschied und 
Gegensatz zum bloßen Gedächtnis durchaus zu verstehen als ana - 
mnesis etwa im Unterschied und Gegensatz zur bloßen mneme.... Daß 
der Asket sich aller seiner Lebensumstände bis in die geringsten Ein¬ 
zelheiten hinein aufs lebhafteste, untrüglichste erinnere, das ist der 
vollwichtige Ertrag der vier Jhanani, das ist das erste gewissermaßen 
heilige Wissen.“ (1. c. S. 2 88ff.) Ich überlasse es jedem selbst, die Paral¬ 
lele mit der Psychoanalyse zu ziehen. 

Sollen wir es glauben, daß der andächtige Mönch, der Buddhas 
Vorschriften befolgte, solcher Erinnerungen fähig war? In den drei 
ersten Jhanastufen, sahen wir, erinnert er sich nicht, er agiert wieder¬ 
holt, bildet passagere Symptome inFerenczis Sinne, eine passagere 
Melancholie, eine passagere Schizophrenie, er wiederholt seine frü¬ 
heren Entwicklungsstufen. Es wäre also theoretisch denkbar, daß in 
der affektlosen, widerstandslosen vierten Stufe bewußte Erinnerungen 
auftreten. Wieweit dieses erinnernde Wissen — wie es Buddha nennt — 
geht, ist aberschwer festzustellen. Wenn wir Buddha glauben können, 
sehr weit. Es macht keinesfalls Halt bei der Grenze der individuellen 
Existenz, überschreitet diese parallel mit der immer weiter zurück¬ 
schreitenden affektiven Regression. Hören wir, was Buddha über den 
Zustand der vierten Stufe verkündet. „Solchen Gemüts innig, geläu¬ 
tert, gesäubert, gediegen, schlackengeklärt, geschmeidig, biegsam, fest, 
unversehrbar, richtete ich das Gemüt auf die erinnernde Erkenntnis 
früherer Daseinsformen. Ich erinnerte mich an manche verschiedene 
Daseinsformen, als wie an ein Leben, dann an zwei Leben, dann an 
drei Leben, dann an vier Leben, dann an fünf Leben, dann an zehn 
Leben, dann an zwanzig Leben-dann an tausend Leben, an hun¬ 

derttausend Leben, dann an Zeiten während mancher Weltentstehun- 
gen, dann an Zeiten während mancher Welt Vergehungen, dann an 
Zeiten während mancher Weltentstehungen —Weltvergehungen 1 “. 

i) Die Reden Gotamo Buddhos. Aus der Mittleren Sammlung Majjhimanikäjo des Pali 
Kanons, übersetzt von Karl Eugen Neumann, Bd. I, München 1922, R. Piper u. Go. 

4 Imago lXfx 


















5° 


F. ALEXA NDER 


Der Sinn dieses regressiven Erinnerns an alle Daseinsformen, an alle 
Wiedergeburten, bis es keine Wiedergeburt mehr gibt, bis die Ge¬ 
burt endgültig entwurzelt ist, bis der Mensch entworden ist, kann 
uns nicht mehr zweifelhaft sein. Die regressive Versenkung, das Ent¬ 
rollen des Lebensfilms in umgekehrter Richtung geht weiter, über¬ 
schreitet die Geburt und passiert alle Stadien des intrauterinen Lebens, 
entrollt die embryologische Entwicklung, die ja nichts ist, als die kurze 
Wiederholung aller Daseinsformen in manchen geologischen Welt¬ 
entstehungen und Weltvergehungen der Urzeiten seit der Urgeburt. 
Die früher gestellte Frage, wo die buddhistische Regression ihr Ende 
nimmt, können wir nun beantworten. Die Versenkung geht bis 
zum Anfang der embryologischen Entwicklung zurück. 

Ich bin mir dessen vollkommen bewußt, wie unwahrscheinlich 
diese Behauptung klingt. Doch wenn sie mir auf dem regressiven 
Weg der Versenkung gefolgt sind, werden sie es vielleicht prinzipiell 
nicht ablehnen, daß dieser Weg, welcher ein chronologisch getreuer 
Abbau der ontogenetischen Entwicklungen ist, endlich zu einem 
primitiven Zustand führt, wo Ichtriebe und Libido vollkommen ver¬ 
schränkt zusammenfallen, ähnlich wie wir dies nach Freud von den 
Keimzellen annehmen könnten. Wir wissen, daß das neurotische Symp¬ 
tom sich archaischer Ausdrucksformen bedient und es ist wirklich nur 
eine quantitative Frage, wie alt diese Ausdrucksform ist. Ob sie von 
den Zeiten des extra- oder des intrauterinen Zustandes stammt, ist 
keine prinzipielle Frage. In der Form von Agieren, von Wiederholen 
ist uns jede Regression denkbar und ich hoffe es wahrscheinlich ge¬ 
macht zu haben, daß der Nirwanazustand des in der Regressionstechnik 
so besonders geübten indischen Asketen, dessen ganze Libido in diese 
introvertierte narzißtische Richtung durch jahrelange Prodezuren er¬ 
zogen wird, mit einer Libido-Ichgleichung ausdrückbar ist, welche 
mit der der Keimzellen identisch ist. Aber das Nirwana bedeutet nicht 
nur die restlose Regression zum Anfang der Entwicklung, sondern 
es bedeutet gleichzeitig eine Erkenntnis. Die hellseherische Erkenntnis 
der ewigen Wiedergeburten, die Erinnerung an alle Daseinsformen, 









DER B10L0 GISCHE SINN PS YCHISCHER VOR GÄNGE 


an alle geologischen Urzeiten, welche Buddha nach der Überschreitung 
der vier Jhanastufen aufgegangen ist — ist nichts anderes als unser 
biogenetisches Grundgesetz, nur fand es Buddha auf einem völlig 
anderen Wege. Er hat das Gesetz erlebend erkannt, indem er in seiner 
affektiven Regression das embryologische Leben wieder erlebte. Die 
unlösbare Schwierigkeit ist, daß das Bewußtsein oder wie Buddha es 
behauptet, die Erinnerung, diese tiefe Regression so weit zurück ver¬ 
folgen kann. Und damit sind wir bei dem schwierigsten Problem an¬ 
gelangt, dessen Lösung kaum möglich ist und dessen Lösung ich keines¬ 
falls beanspruchen will. Doch gestatten Sie mir, daß ich darauf hin- 
weise, daß wir demselben Problem in unseren Analysen täglich be¬ 
gegnen und eben diese Alltäglichkeit ist vielleicht die Ursache, daß 
wir uns entwöhnt haben, darüber nachzudenken. 

Dieses Problem beginnt mit der These Freuds, daß der Neurotiker 
immer Recht hat. Auf dieser Grundwahrheit beruht ja unser ganzes 
analytisches Streben, — daß wir den Neurotiker anhören und in seinen 
Symptomen nach Sinn spüren. Der Satz von Freud heißt eigentlich, 
daß das Unbewußte immer Recht hat. Nun ist das obige Problem 
doch etwas näher gebracht, wenn wir den Satz: „das Unbewußte hat 
immer Recht“ etwas anspruchsvoller formulieren: Das Unbewußte 
weiß Alles — weiß Alles, was die innere Welt anbetrifft. Die Un¬ 
wissenheit nach Innen fängt erst mit den Zensuren an. Diesen Satz 
finden wir täglich bestätigt. Das Unbewußte kennt die Urszene, weiß 
vom Fruchtwasser und kennt die Tatsache der Befruchtung. Freud 
zeigte, daß es unbegründet ist, um das Wissen des Unbewußten zu 
verstehen, immer nach tatsächlichen Beobachtungen oder gar nach 
Rückphantasieren zu spüren. Er prägte den Begriff der Urphantasien 
und damit hat er ein phylogenetisches Wissen ausgesprochen. Dieses 
Wissen ist eine Art Erinnerung. Und wie die Erinnerung der lebendigen 
Materie unbegrenzt ist—in der embryologischen Entwicklung wieder¬ 
holt sie ja auch die Geschehnisse der Urzeiten — so ist auch das 
erinnernde Wissen des Unbewußten zeitlich unbegrenzt. Die tiefste 
Schicht des Unbewußten kann ja nichts anderes sein, als die psychische 












5 * 


F. ALEXANDER 


Wiederspiegelung jener zeitlich frühesten biologischen Vorgänge, die 
wir als embryologische Entwicklung zusammenfassen. Aul diese tielste 
Schicht, die wir als phylogenetisches Wissen bezeichnen können, stößt 
Buddha in seiner regressiven Versenkung. Für diese embryologische 
Periode ist die unbegrenzte Erinnerungsfähigkeit charakteristisch. Sie 
ist ja auch biologisch betrachtet nichts anderes als Erinnerung, lind 
doch bleibt es ein Rätsel, dieses Entdecken des biogenetischen Grund¬ 
gesetzes auf dem introspektiven Weg, das Entdecken oder vielmehr 
das Erleben an sich selbst. Diese tiefste Schicht des Unbewußten, die 
reine Erinnerung ist, ist von dem Bewußtsein am entferntesten und 
diese soll bei Buddha bewußt werden! 

Es ist für uns kaum vorstellbar, daß die erinnernde Erkenntnis 
Buddhas die embryologische Entwicklung zurück verfolgt und psy¬ 
chisch verarbeitet. Wir wissen, was für eine Arbeit es bedeutet, mit 
dem ganzen Inventar der analytischen Erfahrungen ein neurotisches 
Symptom, eine archaische Regression bewußt zu machen. Das würde 
bedeuten, daß Buddha, indem er in seiner schizophrenen Regression 
ein Symptom bildet, es gleichzeitig deutet und dabei die Wieder¬ 
holung durch Erinnerung ersetzt. Doch wenn wir das ablehnen, dann 
bleibt uns nur die andere Möglichkeit offen, daß Buddha dieses Gesetz 
nicht auf dem subjektiven Wege, sondern auf die übliche Art des ob¬ 
jektiven Erkennens fand und dann in der Versenkungsskala in der 
theoretisch richtigen Stelle hineinphantasiert hat. Die Wahrheit mag 
vielleicht auch diesmal in der Mitte liegen. In der altindischen Athman- 
Mystik ist ja das Dogma der Wiedergeburten enthalten. Eis ist in der 
Form der Seelenwanderungslehre eine primitive intuitive Ahnung der 
Deszendenztheorie, doch teilweise, vielleicht hauptsächlich auf die 
objektive Beobachtung des Todes, der Geburt, der Ähnlichkeit des 
Menschen und der Tiere beruhend, und deduktiv erschlossen. Es 
könnte sich also um eine Art fausse reconnaissance handeln, wie es 
auch Heiler annimmt, ohne die tiefere Bedeutung der fausse recon- 
naissance zu kennen. Heiler sagt: „Wir Abendländer können uns 
diese anamnesis , die gedächtnismäßige Rückschau auf frühere Exi- 







DER BJ 0LQGJ SCJ1E^ Sn^PSy^^S C^EJ^ VORGÄNGE 5 3 


stenzen schwer vorstellen ... Wir können aber psychologisch ver¬ 
stehen, wie ein Mensch, dessen ganzes Sehnen und Trachten darauf 
ausgeht, dem leidvollen Kreislauf der Geburten zu entfliehen,in Stunden 
höchster geistiger Anspannung auftauchende Phantasiebilder in einer 
Art fausse reconnaissance für Erinnerungen früherer Geburten ansieht“ 
(1. c. S. 51 .) Doch wir wissen von Fr e u d die tiefere Bedeutung der fausse 
reconnaissance. Wir wiedererkennen etwas, was wir unbewußt wissen, 
was wir verdrängt haben oder was als unbewußtes Wissen in uns vor¬ 
handen ist. Die auftauchenden Phantasiebilder, die Heiler annimmt, 
sind im Unbewußten begründet. Sie treten während der Wiederholung 
der embryologischen Entwicklung auf und sind ähnlich wie der Traum 
oder der freie Einfall die letzten ins Bewußtsein hineinragenden Aus¬ 
läufer des Unbewußten. Wie es auch sei, ist es klar, daß Buddha das 
biogenetische Grundgesetz irgendwie subjektiv erlebt hat, sein Er¬ 
lebnis hat nicht nur eine biologische, sondern sogar eine geologische 
Gültigkeit. Doch dieses subjektive Erleben ist in jeder Erkenntnis, 
auch in unserer scheinbar rein objektiven Art des Erkennens der 
Außenwelt, enthalten. Jedes intuitive Erfassen einer Wahrheit, wenn 
es vom subjektiven Gefühl der Entdeckung, der Wahrheit der inneren 
Evidenz begleitet ist, ist eine Art fausse reconnaissance, ein Erkennen 
des eigenen Selbst im Spiegel der Außenwelt. Die Zusammenhänge 
im Selbst sind ja dieselben, wie in der Außenwelt, das Selbst ist ja nur 
ein Spezialfall der Wirklichkeit. Ordo et connexio idearum idem est ac 
ordo et connexio rerum. Und nun bin ich dorthin zurück gelangt, von 
wo ich ausgegangen war. Ich wollte das Prinzip der reziproken Gültig¬ 
keit biologischer und psychologischer Erkenntnisse nicht beweisen, 
sondern benützen, um das Versenkungsphänomen Buddhas zu ver¬ 
stehen. Das Urproblem aller Philosophie kehrt in diesem Einzelfall 
wieder. Doch jedes Wunder schwindet, wenn wir Spinozas Lösung 
annehmen. Zu jeder Erkenntnis führen zwei Wege. Man kann sie am 
Objekt erfahren oder an sich selbst erleben, endopsychisch erkennen. 
Wenn der Weg der beiden Erkenntnisarten richtig ist, so müssen sie 
zum selben Resultat führen, und dies ist die einzig wirkliche Kontrolle. 
















54 


F. ALEXAND ER 


Die indische Kultur hat die subjektive Methode der Selbstvertiefung 
zur Vollendung gebracht, während unsere abendländische Kultur die 
Methode der Okjekterkenntnis ausbildete. Erst in der Psychoanalyse 
treffen sich die beiden Erkenntnis wege. Ich muß hier eines Ausspruchs 
Groddecks gedenken, daß der gesunde Menschenverstand nichts an¬ 
deres ist als eine durch Verdrängung erworbene Dummheit'. Ich 
möchte den Satz dahin erweitern, daß im gewissen Sinne unser ganzes 
Bewußtsein auf so einer relativen Dummheit aufgebaut ist, auf der 
Unwissenheit nach Innen. Die Regelung unseres Trieblebens über¬ 
lassen wir primitiveren Instanzen als es das kritische Bewußtsein ist, wie 
dem Gewissen, dem Schuldbewußtsein. Die Regelung der tieferen bio¬ 
logischen Vorgänge sind Instanzen überlassen, die noch entfernter vom 
Bewußtsein abliegen, und von deren Existenz wir erst jetzt zu erfahren 
beginnen*. Und mit dieser Dummheit nach Innen erkaufen wir die 
Erkenntnis der Welt. 

Als Gotamo Buddha seine Versenkungslehre verkündete, hatte er 
eine Anzahl von meistens autohypnotischen Versenkungsmethoden, die 
man als Jogapraxis kennt, vorgefunden. Die Wahrheit suchend, hat 
Buddha zunächst diese autohypnotische Versenkung gewählt und sie 
später als nicht zum Ziele führend verworfen. Seine methodische 
Hauptentdeckung war, daß die Versenkung in völlig bewußtem Zu¬ 
stande geschehen müsse, um das Nirwana zu erreichen. Ich will nicht 
noch einmal auf die oft frappante Ähnlichkeit zwischen der analytischen 
Methode und der Lehre Buddhas hinweisen. Die Überwindung der 
affektiven Widerstände und des Narzißmus um anstatt zu wiederholen 
sich erinnern zu können, die Ausdehnung des Bewußtseins in regr es¬ 
siver Richtung über die Vergangenheit, ist der Lehre Freuds und 
Buddhas gemeinsam. Können wir diese merkwürdige Wiederholung 
in der Geschichte beider Geistesschöpfungen, deren Ergründer beide 
es zunächst mit der Hypnose versuchten, die sie als vorwissenschaft- 

1) Groddeck, Über den Symbolisierungszwang. Imago, Band V 1 JI, S. 7a, 1922. H. 1. 

2) Man denke an das Körpererinnerungssystem von Ferenczi (Psychoanalytische 
Betrachtungen über den Tic. Intern. Zeitschrift f. Psychoanalyse VII. 1921). 











D-ER- BJ^OL^O^GI^S^ S7-VW PS F C-ff’/.S CTf-g R VO R GÄN GE 55 

liehe Praxis vorfanden, noch als Zufall betrachten? Und beide kommen 
dann zur Einsicht, daß die hauptsächliche und wirklich schwierige 
Aufgabe die Verbindung mit dem Bewußtsein herzustellen ist. 

Und doch besteht eine unüberbrückbare Verschiedenheit zwischen 
den beiden Lehren, tief begründet in der Verschiedenheit der euro¬ 
päischen und indischen Kultur. Die buddhistische Versenkung geht 
in der regressiven Richtung viel tiefer, doch sie muß diese Tiefe teuer 
bezahlen. Sie läßt dafür die ganze Außenwelt untergehen, erobert 
das Selbst und verliert dafür die Welt. Die Zielsetzung der Psycho¬ 
analyse ist anspruchsvoller: sie will das Selbst, ohne die Außenwelt 
zu verlieren, erobern. Die buddhistische Lehre ist mehr asozial, wir 
finden ja in den Ursachen der Versenkung nur biologische Größen: 
das Alter, die Krankheit und den Tod, doch keine sozialen Momente, 
wie den Ödipuskomplex. Die Welt wird aufgegeben und die Heilung 
besteht in der Regression in einen Zustand, wo Ich und Libido von 
äußerer Not nicht getrieben in vollkommener Verschränkung bestehen. 
Buddha versucht die Anpassung an die Welt nicht, nicht wie die Psy¬ 
choanalyse einen neuen Kompromiß, eine neue Verschränkung zwi¬ 
schen Ich und Libido herzustellen, eine neue an die Realität angepaßte 
Form des Narzißmus zu erreichen. Dieses asoziale Wesen seiner Lehre 
bedeutet auch sein Ende, welches mit einem tragischen Akkord aus¬ 
klingt. Die Neobuddhisten übersehen diesen Mißerfolg, wenn sie von 
seiner Lehre die neue Erlösung erwarten. 1 

Buddha verzichtet selbst auf das ewige Leben, welches er durch 
den Eintritt in das Nirwana durch die Überwindung des Todes er¬ 
reicht hat. Hier ist der erste Widerspruch in der vollkommen in sich 
geschlossenen Nirwanaphilosophie. Der vom Leben willkürlich sich 
scheidende Buddha richtet die folgenden Worte an seinen Lieblings¬ 
schüler Ananda: „Ob dir gleich also Anando, vom Vollendeten ein 
wichtiger Wink, ein wichtiger Hinweis gegeben war, hast du es 
nicht zu merken vermocht, hast nicht den Vollendeten gebeten: Be- 


1) Ich denke an erster Stelle an Leopold Ziegler. 



















5 Ö_ F. ALEXANDER _ 

stehen möge der Erhabene das Weltalter durch, bestehen möge der 
Willkommene das Weltalter durch . . . vielem zu Wohle, vielem zu 
Heile, aus Erbarmen zur Welt zum Nutzen, Wohle und Hilfe für 
Götter und Menschen . . . Hättest du Anando den Vollendeten ge¬ 
beten, so hätte wohl zweimal deine Worte der Vollendete abgewiesen, 
das drittemal ihnen entsprochen. Darum hast du eben hier es ver¬ 
sehen, hast du eben es versäumt . . . Ul Hier erblicken wir tief ver¬ 
schleiert, im dunkelsten Hintergrund den Ödipuskomplex, den Vater¬ 
konflikt. Buddha geht, weil ihn seine Schüler nicht verstanden haben, 
weil er allein geblieben ist, weil nicht einmal sein Lieblingsschüler 
Ananda ihn zurückhält zu bleiben. Dieses unverständliche Nicht-Bit¬ 
ten zu bleiben bedeutet aber nichts anderes, als den nichtüberwun¬ 
denen Vaterkonflikt. Nach Oldenberg wird das Schweigen Anandas 
damit erklärt, daß der Todesgott Mara seinen Verstand verwirrt 1 2 . 
Doch Buddha versteht das Schweigen Anandas. Er will es nicht glauben 
und gibt Ananda einen Wink, daß er die Bitte zu bleiben von ihm 
erwartet. Doch Ananda schweigt, und Buddha geht. Der Versuch die 
Wirklichkeit vollkommen auszuschalten ist mißlungen. Er fängt seine 
Analyse an einem Punkt an, welcher hinter dem Ödipuskomplex liegt. 
Er fängt dort an, wo wir aufhören: bei der narzißtischen Grenze, bei 
der organischen Grenze. Und so lehrt er seine Jünger. Er muß gehen, 
weil seine Jünger sein Gehen unter dem Druck des nichtüberwun¬ 
denen Vaterkomplexes wünschen. Die Objektübertragung hat Buddha 
nicht analysiert, sondern verdrängt. Wäre er konsequent geblieben, 
so hätte er nie seine Lehre verkünden dürfen 3 . Er hat sich überall 


1) Zit. nach Ziegler, 1 . c, S. 159—160. 

2) Oldenberg, Buddha: sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde, Seite 55b. Cotta- 
sche Buchhandl,, Stuttgart u, Berlin 1921. 

3) Buddha hat tatsächlich gezweifelt, ob er seine Lehre für sich behalten oder den Men¬ 
schen verkünden solle. Oldenberg, 1, c. S. 139. Überhaupt ist in der buddhistischen Lite¬ 
ratur der tiefe Gegensatz zwischen der Versenkungslehre und der praktischen Ethik Bud¬ 
dhas, so weit ich es verfolgen konnte, nirgends genügend berücksichtigt worden. Das Nir¬ 
wana, das Endziel der Versenkung, ist ein vollkommen asozialer Zustand und kann schwer 
mit ethischen Vorschriften vereinbart werden. 










DER BIOLOGISCHE SINN PSYCHISCHER VORGÄNGE 57 


von der Welt zurückgezogen, nur einen Faden hat er nicht durch¬ 
schnitten: das geistige Band mit seinen Schülern. Und an diesem 
Punkt wird er tödlich getroffen. Er hat die Welt verleugnet und die 
Verleugnete rächt sich an ihm in Form der unbewußten vatermör¬ 
derischen Wünsche seiner Jünger. 











EINE PSYCHOANALYTISCHE STUDIE 
ÜBER DEN HEILIGEN GEIST 

Von ERNEST JONES (London)' 

Was die Zeit auch über die historische Persönlichkeit des Gründers 
des Christentums enthüllen mag — es herrscht unter denen, die ver¬ 
gleichende Religionsforschung getrieben haben, kein Zweifel, daß viele 
der Glauben, die sich um seine Person ranken, der ursprünglichen 
Grundlage angefügt und von fremden heidnischen Quellen abgeleitet 
wurden: der Name christliche Mythologie mag diesen Abweichungen 
mit Fug und Recht zugesprochen werden. Wie Frazer 1 2 es ausdrückt: 
„Nichts ist gewisser, als das Sagen wie Unkraut um die großen histo¬ 
rischen Figuren der Vergangenheit wuchern.“ 

Einige der wichtigeren Elemente dieses Sagenkreises sind schon mit 
Hilfe der psychoanalytischen Methode von Freud 3 erforscht worden. 
Ihm zufolge stellt das Hauptdogma der christlichen Religion — näm¬ 
lich der Glaube, daß die Menschheit durch den Opfertod Jesus Christus’ 
am Kreuz von ihren Sünden erlöst werden soll — eine Ausarbeitung 
des primitiven totemistischen Systems dar. Das Wesen dieses Systems 
sieht er in dem Versuch der Linderung des Schuldgefühls, das aus 
dem Ödipuskomplex herrührt, nämlich des in Urzeiten befriedigten 

1) Vorgetragen auf dem VII. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß. 27. Sep¬ 
tember 1922. 

2) Frazer: Adonis, Attis, Osiris, Third Ed., 1914. S. 160. 

3) Freud: Totem und Tabu, 1915. S. 142. 






EINE PSYCHOANALYTISCHE STUDIE ÜBER DEN HEILIGEN GEIST 59 

Impulses des Vatermords und Mutterinzests; es besteht guter Grund 
anzunehmen, daß dieser Komplex die letzte Quelle der von den Theo¬ 
logen beschriebenen „Erbsünde“ ist. Dies war die erste große Sünde 
der Menschheit und diejenige, aus der unser moralisches Gewissen 
und unser Schuldgefühl geboren wurde. Die darauf bezügliche frühe Ge¬ 
schichte der Menschheit, die Tendenz zu dieser großen Sünde und die 
moralische Reaktion dagegen, wiederholt sich bei jedem Kind, das auf 
die W eit kommt, und die Geschichte der Religion ist ein nie endender 
Versuch, den Ödipuskomplex zu überwinden und zum Seelenfrieden 
durch Versöhnung mit dem Vater zu gelangen. Freud hat hervor¬ 
gehoben, daß das auffallendste Charakteristikum der christlichen Pro¬ 
blemlösung im Vergleich mit anderen, z. B. der mithraischen, in der 
Art besteht, wie diese Versöhnung zustande kommt, nämlich durch 
Unterwerfung unter den Vater, anstatt durch offene Auflehnung und 
Überwindung. Diese Unterwerfung, deren Prototyp die Kreuzigung 
ist, wird von Zeit zu Zeit in der Zeremonie der heiligen Messe oder 
Kommunion wiederholt, die psychologisch der Totem-Mahlzeit gleich¬ 
steht. In dieser Weise wird des Vaters Zorn vermieden und der Sohn 
nimmt seinen Platz an seiner Seite, als ein Gleicher. In der Mahlzeit 
wird die Urtat des Tötens und Essens des Vaters wieder durchlebt und 
auch die reuige Pietät, die Wiedervereinigung und Identifizierung 
mit ihm wünscht. Wir werden sehen, daß, dieser Ansicht zufolge, die 
christliche Versöhnung mit dem Vater auf Kosten einer Überentwick¬ 
lung der femininen Komponente erreicht wird. Ich hoffe, daß die 
vorliegende Mitteilung die Schlußfolgerungen Freuds durch ein auf 
gleichen Linien laufendes Studium bestätigen wird. Vor ungefähr 
zehn Jahren veröffentlichte ich im „Jahrbuch der Psychoanalyse“ 
einen Aufsatz über die Empfängnis der Madonna und was ich hier 
vorzulegen habe, ist zum großen Teile auf einer kürzlich geschriebenen 
erweiterten Auflage dieser Arbeit aufgebaut, die in kurzer Zeit in 
englischer Sprache erscheinen wird. 1 Die dort verfolgte Forschung 
ergab gelegentlich die Untersuchung des folgenden Problems. 


1) Kap. VIII meiner „Essays in Applied Psycho-Analysis“, 1923. 
















6 o _ ER NEST JONES __£ 

In der christlichen Mythologie begegnen wir einer überraschenden 
Tatsache. Es ist die einzige Mythologie, in der die ursprünglichen 
Figuren nicht fortbestehen, in welcher die zu verehrende Drei-Einig¬ 
keit nicht mehr in Mutter-Vater-Sohn besteht. Vater und Sohn er¬ 
scheinen zwar noch immer, aber die Mutter, die Ursache des ganzen 
Konfliktes, ist durch die rätselhafte Gestalt des Heiligen Geistes er¬ 
setzt worden. 

Es scheint unmöglich, zu irgend einem anderen Resultat als zu dem 
soeben ausgesprochenem zu gelangen. Die Mutter muß nicht nur 
logischer weise das dritte Glied jeder Dreieinigkeit ausmachen, deren 
beide anderen Glieder Vater und Sohn sind, dies ist nicht nur in all 
den anderen zahlreichen uns bekannten Dreieinigkeiten so, sondern 
es besteht auch eine beträchtliche Anzahl von direkten Beweisen, daß 
dies ursprünglich im christlichen Mythus der Fall war. Frazer* hat 
einige Beweise zu diesem Zweck gesammelt und läßt diese Folgerung 
auf historischer Basis allein höchstwahrscheinlich erscheinen. Die ur¬ 
sprüngliche Mutter, die z. B. von der ophitischen Sekte als das dritte 
Glied der Dreieinigkeit anerkannt wurde, war scheinbar von baby¬ 
lonischem und ägyptischem Ursprung, obzwar es an Hinweisen darauf 
nicht fehlt, daß eine nebelhafte Muttergestalt auch im Hintergrund 
der hebräischen Theologie schwebt. So sollte die Stelle in der Genesis: 
„Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern“ eigentlich heißen: 
„Die Mutter der Götter brütete (oder flatterte) über dem Abgrund 
und brachte neues Leben hervor“, eine vogelartige Auffassung der 
Mutter, die uns nicht nur an die Heilige Taube erinnern muß, (d. h. der 
Heilige Geist, der die Mutter ersetzt), sondern auch an die Sage, daß 
Isis Horus empfing, während sie in der Gestalt eines Habichts über 
den toten Körper des Osiris flatterte. 

Während die streng patriarchalische hebräische Theologie dieMutter 
jedoch zu einer untergeordneten Rolle und den Messias-Sohn in eine 
ferne Zukunft verbannte, behielt sie nichts destoweniger die normale 


i) Frazer: The Dying God. 1911. S. 5. 













EINE PSYCHOANALYTISCHE STUDIE ÜBER DEN HEILIGEN GEIST 61 

Beziehung der drei Personen zueinander bei. Es ist daher wahrschein¬ 
lich, daß jede Aufklärung der Verwandlung der Mutter in den Heiligen 
Geist ein Licht auf die innere Natur der psychologischen Revolution 
werfen wird, die sich in der Entwicklung vom Judaismus zum Christen¬ 
tum zeigt. 

Der Weg, der hier verfolgt wird, besteht in der Betrachtung der 
Umstände, die die Empfängnis des Messias begleiten. Dieser Weg er¬ 
scheint aus zwei Gründen gerechtfertigt. Es ist erstens wohlbekannt, 
daß die Figur des Heiligen Geistes im Mythus nur als das Werkzeug 
der Befruchtung bei der Empfängnis des Sohnes erscheint und später 
als ambrosischer Segen, der sich über den Sohn ergießt, wenn er sich 
den Einführungsriten der Taufe unterzieht (später auch in Beziehung 
mit den Anhängern des Sohnes). Zweitens hat Otto Rank 1 vor langer 
Zeit gezeigt, daß die Tendenz eines Mythus schon in seinen ersten 
Stadien enthüllt ist; er nennt dies den Mythus von der Geburt des 
Helden. Die Betrachtung des christlichen Mythus macht es wahr¬ 
scheinlich, daß dieses Gesetz auch hier gilt, so daß ein Studium der 
Empfängnis Jesu Licht auf die Haupttendenzen und Zwecke des ganzen 
Mythus werfen könnte. 

Vor allem gibt gerade die Vorstellung einer übernatürlichen und 
abnormalen Befruchtung einen Anhaltspunkt für die mythische Ten¬ 
denz. Es sagt uns sogleich, daß irgend ein Konflikt in der Einstellung 
zum Vater besteht, denn die ungewöhnliche Art der Befruchtung 
weist, wie wir von anderen Studien wissen, auf den Wunsch hin, die 
Vorstellung, daß der Vater daran Anteil gehabt hat, zurückzu weisen. 
Es mag oder mag auch nicht die dem entgegengesetzte Tendenz vor¬ 
handen sein—der Wunsch, die besondere Macht des Vaters bewundernd 
zu vergrößern. Diese Ambivalenz zeigt sich deutlich in dem primitiven 
Glauben, daß die Kinder nicht vom Vater gezeugt sind, sondern durch 
Befruchtung der Mutter von dem betreffenden Clan Totem, denn der 
Totem ist einfach ein vorväterlicher Ersatz des Vaters, ein Über-Vater. 


i) Otto Rank: Der Mythus von der Geburt des Helden. 1909. 















62 


ERNEST JONES 

Es ist daher nicht überraschend zu erfahren, daß der christliche Mythus, 
wie so viele religiöse Mythen, sich mit dem Jahrhunderte alten Kampf 
zwischen Vater und Sohn befaßt. 

Wie erinnerlich fand die Empfängnis Jesu in der ungewöhnlichsten 
Weise statt. In der Regel, wenn ein Gott ein irdisches Weib be¬ 
fruchten will, erscheint er auf der Erde entweder in menschlicher 
Gestalt oder als ein Tier mit besonders stark ausgeprägten phallischen 
Symbolen, (als Stier, Schlange usw.) und befruchtet sie durch den Akt 
der sexuellen Vereinigung. Im Madonnamythus hingegen erscheint 
Gottvater überhaupt nicht, außer wenn wir den Erzengel Gabriel als 
seine Verkörperung betrachten; die Befruchtung selbst findet statt 
durch den Gruß des Engels und den Atem der Taube, der zu gleicher 
Zeit in das Ohr der Madonna eingeht. Die Taube selbst, die den Heiligen 
Geist vertreten soll, nimmt ihren Ursprung von dem Mund des Vaters. 
Daher spielen der Heilige Geist und sein Atem hier die Rolle eines 
sexuellen Werkzeugs und erscheinen, wo wir logischer Weise den 
Phallus, resp. den Samen erwarten würden. Ich zitiere St. Zeno „Der 
Leib Marias schwillt durch das Wort, nicht durch den Samen“, oder 
St. Eleutherius: „O geheiligte Jungfrau... die du Mutter wurdest ohne 
die Mitwirkung eines Mannes. Denn hier war das Ohr die Gattin 
und das Wort des Engels der Gatte“. 

Wir werden sehen, daß sich unser Problem sogleich kompliziert. 
Es heißt nur dem ersten Rätsel ein zweites hinzufügen, wenn wir 
finden, daß die geheimnisvolle Figur, welche die Mutter ersetzt, ein 
männliches Wesen ist, das die Zeugungsorgane des Vaters symbolisiert. 
Bevor wir jedoch darauf eingehen, ist es notwendig, genauer die Einzel¬ 
heiten der Befruchtung selbst zu betrachten. 

Hier führt eine vergleichende Analyse zu einem unerwarteten Schluß. 
Wenn wir zu entdecken trachten, wieso die Vorstellung des Atems 
in primitiven, d. h. unbewußten Vorstellungen mit der Samenbefruch¬ 
tung verbunden wird, finden wir, daß dies auf einem großen Umweg 
geschieht. Wie ich ausführlich in der oben angeführten Arbeit ge¬ 
zeigt habe, hat der Atem in der primitiven Psyche nicht die eng um- 









EINE PSYCHOANALYTISCHE STUDIE ÜBER DEN HEILIGEN^ GEIST 63 

schriebene Bedeutung, die wir ihm jetzt geben. Ein Studium der 
psychologischen Philosophie der Griechen und Hindus im besonderen 
zeigt, daß der Atem eine viel größere Ideenverbindung hatte, die so¬ 
genannte Pneuma-Konzeption, daß wahrscheinlich der größere Teil 
dieser Konzeption oder wenigstens ihre sexuelle Seite, von einem 
anderen gasförmigen Exkret hergeleitet wurde, nämlich von dem, das 
von dem unteren Ende des Verdauungskanals ausgeht. Es ist dieser 
abwärts gehende Atem, wie er in der vedischen Literatur genannt 
wird, welcher das befruchtende Element in den verschiedenen Glauben 
der Schöpfung durch Wort oder Atem ist. In ähnlicher Weise führt 
uns eine Analyse der Vorstellung, daß das Ohr ein weibliches Organ 
der Empfängnis ist, zum Schlüsse, daß dies eine symbolische Ersetzung, 
eine „Verschiebung von unten nach oben“ paralleler Gedanken ist, 
die sich auf die untere Öffnung des Verdauungsapparats beziehen. 
Wenn wir diese beiden Schlüsse in Beziehung bringen, können wir 
kaum die Folgerung vermeiden, daß die in Frage stehende mythische 
Legende eine höchst verfeinerte und verwandelte Ausarbeitung der 
infantilen sexuellen Theorie ist, auf die ich an anderer Stelle 1 auf¬ 
merksam gemacht habe und derzufolge Befruchtung stattfinden soll 
durch das Passieren von Wind von dem Vater auf die Mutter. Ich 
habe auch hervorgehoben, warum diese abstoßendste der sexuellen 
Phantasien sich besser als alle anderen dazu eignet, die exaltiertesten 
und geistreichsten Vorstellungen auszudrücken, deren der menschliche 
Geist fähig ist. 

Diese infantile Theorie begleiten nun gewisse charakteristische Züge^ 
die wir sowohl durch das Mittel individueller Psychoanalysen ent¬ 
decken können, als auch durch ein Studium des damit in Beziehung 
stehenden vergleichenden Materials. Bei oberflächlicher Betrachtung 
könnte man annehmen, daß es auf ein Leugnen der väterlichen Potenz 
hindeutet und eine Art Kastrationswunsch darstellt und dies ist zweifel¬ 
los zum Teil richtig. Aber andrerseits ist man erstaunt zu finden, daß 
in all den zahlreichen Assoziationen zur Vorstellung der Schöpfung 


1) Jahrbuch der Psychoanalyse. Band IV. S. 586 u. ff. 






64 


ERNEST JONES 


im Zusammenhang mit Wind beinahe immer die entgegengesetzte 
Vorstellung von einem konkreten mächtigen Phallus enthalten ist, 
der den W T ind ausstößt. So gehört in den meisten G lauben in der ganzen 
Welt zu der Vorstellung des göttlichen zeugenden Donners eine Art 
von Donnerwaffe 5 die bestbekannte und weitest verbreitete ist das 
Schwirrholz. Ja weitergehend, die Vorstellung der Befruchtung durch 
den Wind selbst scheint regelmäßig von den Primitiven als ein Zeichen 
besonders großer Potenz betrachtet zu werden, als ob die Macht, durch 
einen bloßen Laut, durch ein Wort oder selbst nur einen Gedanken 
zu schaffen, ein letzter Beweis ungeheurer Männlichkeit wäre. Das 
erreicht seinen Höhepunkt in dem Hinweis auf die Zeugung ohne 
Laut, nur durch einen stummen Gedanken, wie in dem Glauben, den 
verschiedene Nonnen im Mittelalter hegten, daß sie befruchtet seien, 
weil „Jesus an sie gedacht hatte“. 

Ein ausgezeichnetes Beispiel für diesen Vorstellungskomplex, von 
verschiedenen Gesichtspunkten aus interessant, geben gewisse ägyp¬ 
tische Glauben über das Krokodil. Sie stehen auch in direktem Zu¬ 
sammenhang mit dem vorliegenden Thema, denn das Krokodil wurde 
von den ersten Christen als Symbol des Logos oder Heiligen Geistes 
angesehenj dazu kam noch, das man glaubte, das Krokodil befruchte 
sein Weibchen durch das Ohr, so wie die J ungfrau befruchtet wurde. 
Einerseits nun war das Krokodil den alten Ägyptern merkwürdig, 
weil es kein äußerliches Genitalorgan hatte, keine Zunge und keine 
Stimme (Symbole der Impotenz), und doch andrerseits, trotz dieser 
rem negativen Eigenschaften oder vielleicht gerade deswegen, wurde 
es als der höchste Typus sexueller Männlichkeit angesehen und eine 
Anzahl aphroditischer Gebräuche waren auf diesem Glauben begründet. 
Das Krokodil war ein Emblem der Weisheit, wie die Schlange und 
andere phallische Gegenstände, und prangt als solches auf der Brust 
der Minerva, so daß die Alten zum Schluß gekommen zu sein scheinen, 
daß das mächtigste Zeugungswerkzeug in der ganzen Schöpfung das 
Schweigen des Weisen ist, daß die Allmacht der Gedanken sogar ein¬ 
drucksvoller ist als die Allmacht des Wortes. 






EINE PSYCHOANALYTISCHE. STUDIE ÜBER DEN HEILIGEN GEIST 65 


Wir wissen, daß diese Überbetonung der väterlichen Potenz nicht 
ein primäres Phänomen ist, sondern es ist eine Übertragung vom Nar¬ 
zißmus der eigenen Person, hervorgerufen durch die Kastrationsangst 
als Strafe für Kastrationswünsche. Wir kommen somit zum Schluß, 
der reichlich durch individuelle Psychoanalysen belegt ist, daß ein 
Glaube an eine gasförmige Befruchtung eine Reaktion auf eine un¬ 
gewöhnlich intensive Kastrationsphantasie darstellt und daß er nur 
vorhanden, wenn die Einstellung zum Vater besonders ambivalent ist, 
feindseliges Leugnen der Potenz mit der Bestätigung und Unterwerfung 
unter die höhere Macht abwechselt. 

Beide Einstellungen sind im christlichen Mythus angedeutet. Die 
Befruchtung durch action a distance , durch bloße Boten, und die 
Wahl des gasförmigen Weges, enthüllen eine Vorstellung von unge¬ 
heurer Potenz, welcher der Sohn durchaus unterworfen ist. Andrer¬ 
seits ist das Werkzeug, das zur Befruchtung ausersehen ist, keines¬ 
wegs ein besonders männliches. Trotzdem die Taube offensichtlich 
ein phallisches Symbol ist — in der Gestalt einer Taube verführte 
Zeus Phteia und Tauben waren die amorähnlichen Embleme aller 
großenLiebesgöttinnen, Astarte,Semiramis, Aphrodite und der übrigen, 
— dankt sie doch die Verbindung mit Liebe hauptsächlich der zarten 
und liebkosenden Natur ihres Werbens. Wir können also sagen, daß 
sie eines der weibischesten phallischen Symbole ist. 

Es ist also klar, daß die Macht des Vaters sich nur auf Kosten einer 
Verbindung mit beträchtlicher Weibischkeit ausdrückt. Das gleiche 
Thema kommt beim Sohn noch deutlicher zum Ausdruck. Er erreicht 
Größe, welche den endlichen Besitz der Mutter und die Versöhnung 
mit dem Vater einschließt, aber erst nachdem er sich der größten 
Demütigung, verbunden mit einer symbolischen Kastration und dem 
Tod, unterzieht. Einen ähnlichen Pfad muß jeder Anhänger Jesu ver¬ 
folgen; die Erlösung wird nur durch Sanftmut, Demut und Unter¬ 
werfung unter den Willen des Vaters erreicht. Dieser Weg hat logischer¬ 
weise in extremen Fällen zu tatsächlicher Selbstkastration geführt und 
weist immer nach dieser Richtung, obzwar dies in Wirklichkeit natür- 


5 Imago IX/1 







ERNEST JONES 


66 

lieh durch verschiedene Taten ersetzt ist, die zum Symbol dafür dienen. 
Der dadurch erzielte Gewinn ist ein doppelter: Objektliebe für die 
Mutter ist ersetzt durch eine Regression zu der ursprünglichen Iden¬ 
tifizierung mit ihr, so daß Inzest vermieden und der Vater besänftigt 
ist; weiterhin ist die Gelegenheit gegeben, die Liebe des Vaters durch 
das Annehmen einer femininen Einstellung ihm gegenüber zu ge¬ 
winnen. Der Seelenfriede wird erlangt durch eine Wandlung der Zu¬ 
neigung in der Richtung einer Wandlung des Geschlechts. 

Wir kehren an diesem Punkt zu dem oben aufgestellten Problem 
zurück: der psychologischen Bedeutung des Heiligen Geistes. Wir 
haben gesehen, daß Er sich zusammensetzt aus der ursprünglichen 
Muttergottheit und der schöpferischen Wesenheit (Genitalorgane) des 
Vaters. Von diesem Standpunkt aus nähert man sich einem Verständnis 
der besonderen Furchtbarkeit einer Blasphemie gegen den Heiligen 
Geist, die sogenannte „unverzeihliche Sünde“, denn so eine Beleidi¬ 
gung wäre symbolisch gleichbedeutend mit einer Befleckung der 
Heiligen Mutter und einem Kastrationsversuch an dem Vater. Es wäre 
eine Wiederholung der Ursünde, der Anfang aller Sünde, die Befrie- 
digung des Ödipus-Impulses. Dies steht in vollkommener Harmonie 
mit unserer klinischen Erfahrung, daß Neurotiker beinahe immer diese 
Sünde mit der Masturbation identifizieren; ihre psychologische Bedeu¬ 
tung rührt von der unbewußten Verbindung mit Inzestwünschen her. 

Soweit kann man annehmen, daß die Gestalt des Heiligen Geistes mit 
dem schrecklichen Bilde der phantastischen „Frau mit dem Penis“ korre¬ 
spondiert, der Urmutter. Aber die Sache ist komplizierter. Wenn sich die 
Mutter mit dem schöpferischen Werkzeug des Vaters verbindet, so ver¬ 
schwindet alle Weiblichkeit und die Gestalt wird unbestreitbar männ¬ 
lich. Diese Umkehrung der Geschlechter ist das wirkliche Problem. 

Aus den oben angeführten Gründen muß diese Geschlechtsver¬ 
änderung etwas mit der Zeugung zu tun haben und dies erinnert uns 
an eine seltsame Änderung des Geschlechts im Zusammenhänge mit 
dem gleichen Akt. Reik 1 hat in seinen wichtigen Forschungen über 

1) Reik: Probleme der Religionspsychologie, 1919. Kap. 11 u. III. 









EINE PSYCHOANALYTISCHE^ STUDIE ÜBER_ DEN HEILIGEN GEIST 67 

die Pubertätsriten und die Couvade-Zeremonien gezeigt, daß die sie 
durchdringende Haupttendenz ist, dem Ödipuskomplex, d. h. den 
Wunsch nach dem Vatermord und dem Mutterinzest, zu begegnen, 
durch ein sehr seltsames Mittel, das aber trotzdem logisch genug ist. 
Die Primitiven gehen von der tief eingewurzelten Überzeugung aus, 
daß die Grundlage der unseligen Anziehung der Mutter die physische 
Tatsache ist, daß man von ihr geboren wurde, eine Überzeugung, die 
einige reale Basis hat. Sie beginnen nun verschiedene komplizierte 
Prozeduren, deren wesentliches Ziel ist, diese physische Tatsache so 
weit als möglich ungeschehen zu machen und die Fiktion aufzustellen, 
daß der Knabe von dem Vater wenigstens wiedergeboren wurde. Auf 
diese Weise hofft der Vater einerseits die inzestuösen Wünsche zu 
sistieren und andrerseits den Jüngling fester an sich zu binden; diese 
beiden Ziele verringern die Gefahr des Vatermordes. In terminis der 
Instinkte ausgedrückt heißt das aber, daß eine inzestuöse heterosexuelle 
Fixierung durch eine sublimierte Homosexualität ersetzt ist. 

Wenn wir nun darüber nachdenken, wie weit verbreitet diese Ten¬ 
denz ist — die Riten selbst kann man, wie Reik bemerkt, in allen 
Teilen der Welt finden — erscheint es nicht zu kühn, auch in dem 
zur Diskussion stehenden Fall dieser Tendenz den Ersatz der Frau 
durch den Mann zuzuschreiben. Ich möchte daher vorschlagen, den 
Ersatz der Mutter-Gottheit durch den Heiligen Geist als eine Kund¬ 
gebung der Ansicht zu betrachten, daß es ratsam sei, den Wünschen 
nach Mutterinzest und Vatermord zu entsagen und sie durch eine 
stärkere Bindung an den Vater zu ersetzen, ein Phänomen, das die 
gleiche Bedeutung hat wie die Pubertätsriten. Daher ragt im Christen¬ 
tum, verglichen mit dem Judentum, die persönliche Liebe für Gott¬ 
vater mehr hervor. Als weiterer Beweis dieses Schlusses mag die große 
Rolle der sublimierten Homosexualität in der ganzen christlichen Re¬ 
ligion hervorgehoben werden. Das außergewöhnliche Gebot der all¬ 
umfassenden Bruderliebe, daß man nicht nur seinen Nächsten lieben 
solle wie sich selbst, sondern selbst seinen Feind, verlangt soviel Sozial¬ 
gefühl, daß es, wie Freud hervorgehoben hat, nur von homosexuellen 








68 _ ERNEST_ J ONES 

Gefühlsquellen stammen kann. Dann die weibische Kleidung der Prie¬ 
ster, das erzwungene Zölibat, die Tonsur usw., all das bedeutet Ent¬ 
zug der männlichen Attribute und ist somit gleichbedeutend mit sym¬ 
bolischer Kastration. 

Die so erschaffene Gestalt stellt ein androgenes Kompromiß dar. 
Indem sie auf Elemente der Männlichkeit verzichtet, gewinnt sie das 
speziell weibliche Prärogativ des Gebarens, und verbindet somit die 
Vorteile beider Geschlechter. Das hermaphroditische Ideal, welches 
das Christentum der Welt bietet, ist von ungeheuerer Bedeutung lür 
die Menschheit geworden. Wir sehen darin einen gewichtigen Grund 
für den enormen zivilisierenden Einfluß des Christentums, denn das 
Zivilisieren des primitiven Menschen bedeutet im Wesentlichen das 
Meistern des Ödipuskomplexes und das Verwandeln eines großen Tei¬ 
les davon in sublimierte Homosexualität (= Herdeninstinkt), ohne wel¬ 
che keine soziale Gemeinschaft bestehen kann. Wir verstehen auch, 
warum eine wirkliche Bekehrung zum Christentum in typischer Weise 
als „vom Heiligen Geist wiedergeboren“ beschrieben wird und warum 
ein Untertauchen in Wasser (ein Geburtsymbol) ihr offizielles Zeichen 
ist; ferner gibt es die Erklärung der seltsamen Entdeckung, die in 
einem früheren Kapitel hervorgehoben wurde, daß die Taufflüssigkeit 
in gerader Linie von einer Körperflüssigkeit (Samen, Urin) des Vaters 
abgeleitet ist. Nebenbei erwähnt sollte es nicht länger seltsam erscheinen, 
daß die intensivsten Arten religiöser Bekehrung entweder in den Puber¬ 
tätsjahren, der homosexuellen Phase der Jünglingszeit, oder bei Er¬ 
wachsenen beobachtet werden, die dem Trunk ergeben sind; man 
wird sich daran erinnern, daß Trunksucht ein besonderes Zeichen des 
psychischen Konflikts verdrängter Homosexualität ist. 

Die so erreichten Schlußfolgerungen stimmen gut mit denjenigen 
zusammen, die Freud auf anderer Linie bezüglich der Verbindung 
zwischen Christentum und Totemismus erreicht hat. Das Christentum 
stellt zu einem großen Teil sowohl eine verschleierte Rückkehr (Re¬ 
gression) zu dem primitiven totemistischen System und zu gleicher 
Zeit auch eine Verfeinerung dieses Systems dar. Es ähnelt dem Tote- 







EINE PSYCHOANALYTISCHE STUDIE ÜBER DEN HEILIGEN GEIST 69 


mismus in der Schärfe der Ambivalenz gegen den Vater, obzwar die 
feindselige Komponente im Christentum ein weiteres Stadium der 
Verdrängung erreicht hat. Es stimmt auch mit der Tendenz der pri¬ 
mitiven Einführungsriten, wie Reik sie erklärt hat, überein, aber es 
zeigt einen Fortschritt über sie hinaus, indem die von der Frau auf 
den Mann verschobene Erschaffung von der Pubertät zur Geburt zu¬ 
rückdatiert wird, gerade so, wie dies nebenbei gesagt, mit dem Ritus 
der Taufe später geschah. Anstatt die Geburt durch die Mutter durch 
eine symbolische väterliche Wiedergeburt zur Zeit der Pubertät un¬ 
geschehen zu machen, wird die Geburt selbst symbolisch nach dieser 
Methode behandelt. 

In der Diskussion über das Geschick der ursprünglichen Mutter¬ 
göttin und ihrer Umwandlung in den Heiligen Geist haben wir eine 
sehr augenfällige Beobachtung außer acht gelassen. Obzwar in der 
christlichen Dreieinigkeit selbst, der Heilige Geist die einzige Gestalt 
ist, welche die Urmutter ersetzt, so erscheint doch in der christlichen 
Theologie eine weibliche Figur, die Jungfrau Maria, die eine wichtige 
Rolle spielt. Es wäre somit richtiger zu sagen, daß die ursprüngliche 
Göttin „zerlegt“ worden ist — um einen mythologischen Terminus 
zu gebrauchen — in zwei Gestalten, deren eine der Heilige Geist 
wird und deren andere die Madonna ist. Um unsere Analyse zu ver¬ 
vollständigen, sollte etwas über die letztere Figur gesagt werden. 

Unter einem göttlichen Vater oder einer himmlischen Mutter, d. h. 
einem Gott oder einer Göttin, verstehen wir vom rein psychologischen 
Standpunkt aus eine infantile Konzeption von Vater und Mutter, eine 
Figur, die mit allen Attributen der Macht und Vollkommenheit aus¬ 
gestattet ist und mit Respekt oder Ehrfurcht betrachtet wird. Die in 
Frage stehende Zerlegung bedeutet daher, daß die göttlichen, d. h. 
infantilen Attribute des ursprünglichen Mutterbildes auf die Vorstel¬ 
lung des Heiligen Geistes übertragen worden sind, während die rein 
menschlichen, d. h. erwachsenen Attribute in der Gestalt einer ein¬ 
fachen Frau beibehalten wurden. Abgesehen von der Änderung im 
Geschlecht im ersten Falle, die oben behandelt wurde, ist der Prozeß 










70 ERNEST y ONES 

der Trennung verwandt, die normalerweise während den Jünglings¬ 
jahren vorkommt, wenn der junge Mann der Dichotomie seiner eige¬ 
nen Gefühle folgend, Frauen in zwei Klassen einteilt — menschlich 
erreichbare und unnahbare verbotene Respektspersonen; die extremen 
Typen sind die Dirne und die „Dame“. Wir wissen aus zahllosen Einzel¬ 
analysen, daß diese Spaltung einfach eine Projektion der Dissoziation 
ist, die in den Gefühlen des Knaben für seine Mutter eintritt; die dem 
Sexualziel abgewandten Gefühle werden an verschiedene Respekts¬ 
personen fixiert, während die grob erotischen nur in Bezug zu einer 
gewissen Klasse von Frauen: der Dirne, der Magd usw. in Erscheinung 
treten dürfen. Die „Dame“ sowohl als auch die Dirne sind daher von 
der Muttergestalt abgeleitet. Daraus folgern wir, daß die Zweiteilung 
der ursprünglichen Göttin im Christentum eine Kundgebung der¬ 
selben Verdrängung der inzestuösen Impulse ist. 

Diese Beobachtung und ein Vergleich der weiblichen Gestalt in 
der christlichen Mythologie mit der in anderen Dreieinigkeiten wer¬ 
fen ein Licht auf die Rolle, welche die Jungfrau spielt. Zu diesen Ver¬ 
gleichszwecken seien die drei gewählt, welche Frazer so eingehend 
studiert hat, die drei, die in frühen Tagen des Christentums ernsthaft 
mit diesem in Wettbewerb getreten sind und die Quellen einiger seiner 
hervorragendsten Elemente sind. Ich beziehe mich auf die Dreieinig¬ 
keiten der Erlöser Adonis, Attis und Osiris. Bei all diesen haben wir 
einen Sohn, der die Mutter liebt, der stirbt, gewöhnlich auch noch 
kastriert wird, der von Zeit zu Zeit betrauert wird, meist von Frauen, 
und dessen Auferstehung das Wohl oder die Rettung der Menschheit 
bedeutet. Zwei unterscheiden sich jedoch in einem interessanten Merk¬ 
mal von der dritten. Bei Adonis und Attis ist die Muttergöttin, Astarle 
bzw. Cybele, von überragender Bedeutung gegenüber dem jungen 
Erlöser; Osiris dagegen ist gerade so mächtig und ausgezeichnet wie 
Isis. Frazer 1 schreibt: „Während Adonis und Attis als einfache Dorf¬ 
burschen dargestellt werden, Hirten oder Jäger, welche die schicksals¬ 
schwere Liebe einer Göttin über ihre bäuerliche Sphäre in eine kurze 



1) Frazer: Adonis, Attis, Osiris, 1914. S. 158, 159. 











EINE PSYCHOANALYTISCHE STUDIE ÜBER DEN HEILIGEN GEIS T 7 Z 

und traurige Erhabenheit versetzt, erscheint Osiris einhellig als ein 
großer und wohltätiger König.“ Später jedoch weist er darauf hin 1 , 
daß „dieser Zug des Mythus anzudeuten scheint, daß im Anfang Isis 
das war, was Astarte und Cybele blieben, die stärkere Gottheit in dem 
Paar“. So haben wir in den Serien Astarte, Isis, Maria eine Abstufung 
in der abnehmenden Größe der Urmutter. Obzwar Maria die Voll¬ 
kommenheit beibehält, hat sie doch die Charakteristika der himm¬ 
lischen und unnahbaren Größe verloren und wird einfach eine gute 
Frau. Diese Unterordnung der Urmutter und der Entzug der infan¬ 
tilen Vorstellung der Göttlichkeit scheint mit der oben ausgesproche¬ 
nen Ansicht über die Tendenz des christlichen Mythus, den Vater auf 
Kosten der Mutter zu erhöhen, gut übereinzustimmen. Ihre Bedeu¬ 
tung, auf die schon früher hingewiesen wurde, ist, dem Inzestwunsch 
durch eine engere Bindung an den Vater zu begegnen. 

Ein Nachdenken über die Geschichte des Christentums zeigt, daß 
sein Zweck nur teilweise erreicht worden ist, daß die für den Ödipus¬ 
komplex vorgeschlagene Lösung nicht universell anwendbar ist, und 
daß der Jahrhunderte alte Konflikt zwischen Vater und Sohn weiter¬ 
hin zu anderen Lösungsversuchen geführt hat. Der Übergang von 
der Mutter zum Heiligen Geist ist nicht ohne Kampf durchgeführt 
worden, nicht einmal am Anfang, wie dies in einer Gemeinschaft, die 
seit je an Göttinnenanbetung gewohnt war, zu erwarten stand. Ver¬ 
schiedene Sekten versuchten die Göttlichkeit Marias beizubehalten, 
sie, die selbstverständliche Nachfolgerin Astartens, Aphroditens und 
der übrigen, und der melchitische Versuch, die ursprüngliche Drei¬ 
einigkeit von Vater, Mutter und Messias beizubehalten, wurde erst 
am Konzil von Nicäa abgelehnt. Ein Jahrtausend lang ging alles ruhig 
vonstatten — vielleicht war die erstaunliche Tätigkeit dieser Jahre 
des Assimilierens der heidnischen Mythologie aller Arten einschlie߬ 
lich der zu den früheren Muttergottheiten gehörigen Mythologien 
der Grund. Nach dieser Zeit jedoch erhoben sich mehr und mehr 
Stimmen zugunsten der Gewährung einer höheren Rolle in der Hier- 


1) Ibid. S. 202. 





















72 


ERNEST JONES 


archie für die Jungfrau Maria. Diese Tendenz führte in der katho¬ 
lischen Kirche zum Siege und ist noch nicht vollendet, denn es ist 
kaum länger her als ein halbes Jahrhundert, daß der letzte Schritt 
gemacht und verkündet wurde, daß die Jungfrau selbst unbefleckt 
empfangen ward. Das menschliche Bedürfnis für die Mutterverehrung 
war zu stark, so daß man sie wieder einsetzen mußte. Hier daher wie 
in so vielen anderen Beziehungen schloß das Christentum ein Kom¬ 
promiß zwischen der hebräischen Tendenz zu einer androgenen Emp¬ 
fängnis und der klassischen zur Anerkennung der Muttergottheit als 
Hauptfigur. 

Die charakteristisch christliche Lösung, die später durch die katho¬ 
lische verdünnt wurde, war somit ein dii’ekter Nachkomme der hebräi¬ 
schen Tendenz. Die protestantische Reformation war, das ist klar, ein 
Versuch, die ursprüngliche Lösung wieder zu erzwingen und sie zu 
ihrem logischen Ende zu führen, indem alle Spuren der Marien-Ver- 
ehrung in der Religion abgeschafft werden sollten; nur diejenigen, 
die Zeugen des Entsetzens waren, mit dem „die rote Frau a in den 
extrem protestantischen Teilen der Gemeinschaft erwähnt wird, können 
die Stärke dieses Impulses richtig einschätzen. Es ist weiterhin inter¬ 
essant zu beobachten: je vollständiger dieser Prozeß durchgeführt 
ist, umsoweniger Notwendigkeit ist vorhanden, eine homosexuelle 
Einstellung der Religion gegenüber anzunehmen; die extrem prote¬ 
stantischen Priester heiraten nicht nur, sondern legen auch jede be¬ 
sondere Tracht und andere Andeutungen auf eine weibliche Rolle ab, 
während alle Selbstkastrationstendenzen auf fälliger sind, wo die Marien¬ 
verehrung hoch entwickelt ist. Man könnte sagen, daß die protestan¬ 
tische Lösung des Ödipuskomplexes die Ersetzung der Mutter durch 
die Frau ist, während die katholische in der Änderung der männlichen 
in die weibliche Rolle besteht. / 







ZUR PSYCHOANALYSE DER SCHWARZEN MESSEN 

Von RUDOLF LÖWENSTEIN 1 * 


Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den Anspruch, historische Zu¬ 
sammenhänge aufzudecken. Sie soll dazu dienen, die psychischen Grund¬ 
lagen einer phantasierten und vielleicht auch wirklich stattgehabten 
Zeremonie zu finden. Sowohl die teilweise Unzugänglichkeit als auch 
Unzuverlässigkeit des Materials erlauben mir, die Schwarzen Messen 
nur als Phantasieprodukt zu werten und zu behandeln. 

Schwarze Messen wurden angeblich seit dem Beginn unserer Zeit¬ 
rechnung bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein gefeiert, wobei sie 
den Höhepunkt ihrer Verbreitung im Mittelalter und im Zeitalter 
Ludwigs XIV. fanden. 

So berichtet Hansen in seiner „Geschichte des Zauberwahnes und 
der Inquisition“, daß man den Christen der ersten Jahrhunderte vor¬ 
geworfen hätte, während ihrer Gottesdienste Orgien zu feiern. Einer 
der hauptsächlichsten Gründe der Verfolgung der Manichäer und 
Katharer waren nach Hansen, diese angeblich von ihnen veranstalte¬ 
ten Zeremonien, während welcher sich folgendes abspielen sollte: 
„Die Katharer versammelten sich . . . beim Einbruch der Nacht in 
ihren ,Synagogen 4 ; an einem, an der Decke befestigten Seil, stieg dann 
ein großer schwarzer Kater zur Gemeinde herab; sobald dieser erschien, 

1) Nach einem Gast-Vortrag, gehalten am 21. März 1922 in der Berliner Psychoanalyti¬ 

schen Vereinigung. 













74 jg. Z<9 W7ßN_STEJJJ_ _ 

wurden die Lichter gelöscht und jeder suchte den Kater als seinen 
Herrn zu küssen, vor allem an ekelhaften Stellen ; dann gab man sich 
allgemeiner Unzucht hin . . . Der Pariser Bischof Wilhelm schreibt 
um das Jahr 1230 von der zu seiner Zeit üblichen Idolatrie, Luzifer 
in Gestalt eines Katers oder einer Kröte zu verehren und zu küssen/ 4 
(Seite 228.) 

Die eigentliche Schwarze Messe, die auch ein Hauptbestandteil des 
Hexensabbats war, ist eine genaue, auf Blasphemie und das Sakrileg 
zugespitzte Nachahmung der gewöhnlichen Messe. 

Jones beschreibt sie in seiner Arbeit über den Alptraum folgender¬ 
maßen: „Bei der Schwarzen Messe diente die schönste und jüngste 
Hexe, die Königin des Sabbats als Altar, nachdem sie mit dem Urin 
des Teufels getauft worden war, wobei das Zeichen des Kreuzes ver¬ 
kehrt und mit der linken Hand geschlagen wurde. Wenn sie sich 
dann der Länge nach hingelegt hatte, wurde die heilige Hostie so 
bereitet, daß auf ihrem Hintern ein Gemenge des ekelhaftesten Mate¬ 
rials — Fäces, Menstrualblut, Urin und verschiedener Unrat durch¬ 
einandergeknetet wurde; dies stellte die berühmte Confarreatio vor, 
die Nahrung der schmachvollsten Liebe.“ (Seite 1 1 g.) 

Huysmans erzählt in seinem Roman „La-Bas“ 1 viele Einzelheiten 
von Schwarzen Messen. Er berichtet von Manichäern, die „bei Be¬ 
ginn ihrer Zeremonie von beiden Auswürfen genossen, und daß sie 
zu ihren Hostien menschlichen Samen mischten. Sie brachten Kinder 
um, mischten ihr Blut mit Asche, und dieser in einem Getränk ver¬ 
rührte Teig bildete den Kommunionwein“. (I. Seite 89.) Von einem 
Abbe Guibourg erzählt er folgendes: „Dieser Abbd hatte sich eine 
Spezialität dieser Schmutzereien geschaffen; auf einem als Altar die¬ 
nenden Tisch streckte sich eine nackte oder bis zum Kinn geschürzte 
Frau und mit ihren ausgestreckten Armen hielt sie während der gan¬ 
zen Dauer ihres Amtes angezündete Kerzen. Guibourg hatte so 
Messen auf dem Bauch der Madame de Montespan, der Madame 
















1 ) In deutscher Übersetzung bei Friedrich Rothbarth, Leipzig. 






1 






ZUR PSYCHO ANALYSE D ER S C H WA R Z E N M E S S E N 


75 


d’Argenson, der Madame de Saint-Punt zelebriert;-Das Ritual 

der Zeremonien war hinlänglich abscheulich ; im allgemeinen hatte 
man ein Kind geraubt, das man auf dem Lande in einem Backofen 
verbrannte; dann bereitete man von seinem Staub . . mit dem Blut 
eines anderen Kindes, das man umbrachte, einen Teig, ähnlich dem 
der Manichäer. Der Abbe Guibourg hielt das Hochamt, weihte die 
Hostie, schnitt sie in kleine Stücke und mischte sie zu diesem von 
Asche getrübten Blut; das war der Stoff des Sakraments/ 4 (Seite 92.) 

Hansen hält die von ihm berichteten Schwarzen Messen für er¬ 
funden. Die Jones sehe Beschreibung bezieht sich auf Hexensabbate, 
also auf Phantasieprodukte. Die Angaben von Huysmans sollen aller¬ 
dings, nach Laurent und Nagour, den Tatsachen entsprechen. Da 
es aber hier nicht auf historische, sondern auf psychische Wirklichkeit 
ankommt, so fühle ich mich berechtigt, auch die, für die Handlung 
des Huysmansschen Romans erfundene Schwarze Messe als Mate¬ 
rial heranzuziehen und glaube, daß sie uns dem Ziele näherbringen 
wird. 

Diese Messe, an der die Helden des Romans teilnehmen, findet in 
einer einfachen Kapelle statt. Über einem gewöhnlichen Altar befin¬ 
det sich ein sehr bezeichnendes Kruzifix, welches vom Verfasser des 
Romans so beschrieben wird: „Man batte ihm das Haupt abgerichtet, 
den Hals verlängert und auf die Wangen gemalte Falten verwandel¬ 
ten sein schmerzliches Antlitz in eine durch ein gemeines Lachen 
verzerrte Schnauze. Er war nackt und an der Stelle des Linnens, das 
seine Lenden gürtete, erhob sich aus einem Bündel von Haaren die 
Unanständigkeit des Mannes in Aufruhr/ 4 (II. Seite 146.) Der Priester, 
der unter seinem Meßgewande nackt war, machte die vom Ritual 
vorgeschriebenen Verbeugungen und Zeremonien. Dann bricht er die 
Messe ab, ruft Satan als seinen Gott an, indem er ihn als Anstifter 
und Beschützer aller Verbrechen, Laster und Sünden und als Ver¬ 
teidiger aller Verstoßenen hinstellt, und nennt ihn u. a.: „Du Sohn, 
den der unerbittliche Vater verstieß 44 . (II. Seite 152.) Dann wen¬ 
det er sich an Christus und zwingt ihn, in seiner Eigenschaft als Prie- 








76 J^J^Ö WENJTTE IN _ 

ster in die Hostie hinabzusteigen und in dem Brot Fleisch zu werden. 
Hier folgt eine Reihe von Flüchen und Beschimpfungen, wobei er 
Christus vorhält, die Menschheit betrogen, statt der Erlösung nur 
Elend, Not, Krankheit und Blutvergießen verursacht zu haben. Er 
bespritzt die Hostie mit seinem Samen und wirft sie den Anwesenden 
hin, welche sie schänden und verzehren. Darauf folgt eine allgemeine 
Orgie hetero- und homosexuellen Charakters, während einige Frauen 
das Kruzifix zum Sexualobjekt wählten. 

Laurent und Nagour finden in ihrem Buch „Okkultismus und 
Liebe“ „den Grund für die Satansanbetung in dem Drucke des Klerus, 
den schlechten Verhältnissen, in der Unmöglichkeit, sich fleischlische 
Freuden zu verschaffen“. „Und da Gott in die Sache hineingemischt 
war“, so sagen die beiden Autoren, „so beschimpfte man Ihn mit der 
Anbetung Satans.“ (Seite 103.) Doch gerade die Form, in welcher sich 
diese „Erlösung der durch das Christentum verfluchten Eva (Seite 136)“ 
äußert, wie Mich eiet die Schwarzen Messen erklärt, bleibt unver¬ 
ständlich. 

Herr Dr. Sachs hatte die Freundlichkeit, mich auf eine Stelle seiner 
Arbeit über den „Geisterseher“ 1 aufmerksam zu machen, die auch 
die Ansicht Freuds zum Ausdruck bringen soll. Dr. Sachs bringt 
die Phantasie von den Schwarzen Messen mit der so verbreiteten 
Phantasie von Geheimbünden und -sekten in Zusammenhang, die ge¬ 
heimnisvolle Orgien feiern und rituelle Morde begehen sollen. Den 
Ursprung dieser Phantasie findet Dr. Sachs in den Nachwirkungen 
des frühzeitig beobachteten und als Gewaltakt gedeuteten elterlichen 
Sexualaktes. Diese Auffassung wird durch die Tatsache vollauf be¬ 
stätigt, daß in den meisten Schwarzen Messen ein Gottesdienst des 
Teufels oder Priesters auf einer nackten Frau gefeiert oder der Bei¬ 
schlaf mit ihr ausgeübt wird. 

Der Name der uns interessierenden Zeremonie deutet auf einen 
innigen Zusammenhang mit der gewöhnlichen Messe; daher möchte 
ich einige Bemerkungen über diese letztere voranschicken. 


1 ) Imago, Bd. IV, S. 6g. 










ZLR^ PS YCH OAJ[AL^ YSJE SC^JVAR^EN^ MEJ>SJZN 7 / 

Im Mittelpunkte der Messe steht die Wiederholung des Abendmahls, 
bei dem man die Hostie verspeist, die nach katholischer Auffassung 
der Leib und das Blut Christi ist. Christus aber ist gleich dem Sonnen¬ 
gotte Aton die Personifizierung des seine Triebe sublimierenden Ich. 
Für das vom Unbewußten geleitete Denken gehen Eigenschaften eines 
Körpers durch Berührung auf einen anderen über; der eine Körper 
wird mit dem andern identisch. Ebenso wird der die Hostie verzeh¬ 
rende Christ identisch mit Christus. Die Messe hat also außer anderen 
noch zu erwähnenden Bedeutungen die Eigenschaft eines magischen 
Mittels, welches die Identifizierung des Gläubigen mit Christus her¬ 
zustellen sucht. Die Theologen verkennen diesen Sachverhalt nicht, 
wenn sie sagen: „Jeder Christ durch Anteil an Christus ein Christus 
werden muß (die Auffassung des Methodius vom Kult 1 ).“ 

Ich glaube nicht fehl zu gehen, wenn ich die Vermutung ausspreche, 
daß eines der Ziele eines jeden Gottesdienstes das Neubeleben jener 
Eigenschaften des Menschen ist, welche die Gottheit als narzißtische 
Wunscherfüllung personifiziert; das Ziel des Gottesdienstes also das 
Identischwerden mit der betreffenden Gottheit ist. In Freuds „Totem 
und Tabu“ findet sich eine Andeutung dieser Auffassung, in dem die 
Identifizierung mit dem Totem betont wird, dessen Gestalt ein Vor¬ 
läufer einer Gottesgestalt ist. Diese Annahme der Eigenschaften seiner 
Gottheit ist eigentlich selbstverständlich, wenn man bedenkt, daß so¬ 
wohl die Gottheit als auch ihre Eigenschaften Vorstellungen des 
Gläubigen sind, daß sich die ganze Identifizierung nur in der Psyche 
des Gläubigen, abspielt. Die Gottesvorstellung ist ein Teil, eine Ab¬ 
spaltung des Ich. Die Eigenschaften des Gottes sind Eigenschaften 
des Ich. Es ist verständlich, daß beim „Anteilnehmen“ an seinem Gott 
der Mensch selbst dieser Gott wird, wenigstens partiell. 

In unserem Fall wird die Messe dazu dienen, mit Hilfe der Gebete 
und der Verzehrung der Hostie die Identifizierung mit Christus auf 
magischem Wege tatsächlich herzustellen, sie wird dem Gläubigen 
ermöglichen, seine Eigenschaften anzunehmen, und zwar die Umwand- 


i) Ad. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 2.Bd., Seite 448. 












78 


R. LÖ WENSTEIN 


lung des Hasses in Mitleid, der sinnlichen Liebe in Nächstenliebe zu er¬ 
reichen. Der zu erreichende Grenz- oder Idealzustand wäre dann 
Christus zu sein. Andererseits ist die Vorstellung von Christus von 
Erinnerungsspuren durchsetzt, die diejenigen Personen hinterlassen 
haben, welche Verdrängung und Sublimierung der Sexualtriebe er¬ 
zwungen haben. Ich brauche wohl kaum darüber zu sprechen, daß 
diese Personen für beide Geschlechter Liebesobjekte waren, welche 
Tatsache der Grund dafür ist, daß auch deren imagines libidobesetzt 
sind. Christus ist das Objekt einer ins Religiöse sublimierten, vom Ich 
erlaubten Liebe. 

Kehren wir zur Schwarzen Messe zurück. Sowohl die Anbetung 
Satans, der, wie Jones nachgewiesen hat, die gegen die Unterdrückung 
sich auflehnenden Triebe verkörpert, als auch die Identifizierung mit 
ihm, deutet auf ein Überhandnehmen dieser verdrängten Triebe hin. 
Und da die Satansfigur eine Abspaltung Gottes ist, so ist jene An¬ 
betung die Rückkehr des Verdrängten aus dem Verdrängenden. Alle 
diese Gestalten, wie Gott, Christus und Satan sind natürlich nur als 
verschiedene Seiten ein und desselben Ich des Menschen zu verstehen. 
Unter diesem Gesichtspunkte der Rückkehr des Verdrängten lassen 
sich noch andere Seiten dieser sonderbaren Zeremonie betrachten. 
Das Verzehren der Hostie ist nämlich nicht nur eine Identifizierung, 
sondern auch eine sexuelle Vereinigung mit Christus. Die Schwarze 
Messe weist unzweideutig den sexuellen Charakter dieser oralen Be¬ 
tätigung auf. Da Christus nach Jones auch eine Abspaltung Gott- 
Vaters, also selber eine Vatergestalt ist, so stellen beide Messen, die 
gewöhnliche wie die Schwarze, einen Inzest mit dem Vater dar, wo¬ 
bei in der letzteren die Rückkehr des verdrängten Grobsexuellen deut¬ 
lich wird. Jones hat dies schon erkannt, als er vom Hexensabbat, 
dessen Hauptbestandteil die Schwarze Messe ist, sagte: „Das Inzest¬ 
element tritt also beim Sabbat sowohl durch die Tatsache . . ., daß in¬ 
zestuöse Akte zwischen den nächsten Verwandten ausgeführt wurden..., 
als auch durch die Vereinigung mit dem Teufel an die Spitze.“ Die 
oft traumatisch wirkende Beobachtung des elterlichen Koitus kehrt, 









ZUR PS YCHO AN AL YSE DER SCHWARZEN MESSE N 


79 


wie schon oben angedeutet, in der Form dieser Zeremonie aus der 
Verdrängung zurück. Wenn man bedenkt, daß sich in der Schwarzen 
Messe alle jene Triebe Luft machen, die durch die gewöhnliche Messe 
unterdrückt und auf andere Ziele gelenkt werden, so können die früher 
angeführten Meinungen der Autoren über die Entstehungsursachen 
jener Zeremonie, zu Recht bestehen. Denn eine andauernde Verdrän¬ 
gung und Sublimierung der Sexualität kann nur dann von Erfolg sein, 
wenn eine gleichzeitige Befriedigung der narzißtischen Libido jenen 
Entbehrungen, wenigstens teilweise, die Wage hält. Mangelt es aber 
an Anerkennung und Belohnung für den geleisteten Verzicht, tritt 
noch äußeres Elend, welches als eine Lieblosigkeit von seiten Gottes 
aufgefaßt wird, dem zu Liebe man doch verzichtet, dazu, so sucht das 
Verdrängte sich Befriedigung zu verschaffen. All dieses kann aber die 
Schwarze Messe doch nicht ganz erklären. 

Das Charakteristische dieser Zeremonie ist nämlich die Tatsache, 
daß alle Teilnehmer (oder derjenige, der sie phantasiert) sie als grauen¬ 
volles Verbrechen, als Sakrileg empfinden. Die Lust liegt anscheinend 
gerade in der für den gläubigen Christen lästerlichen Entweihung. 
Interessant ist die Bemerkung Huysmans’, nach der nur gläubige 
Christen sich dem Satanskult ergeben könnten, d. h. wohl, ihn lust¬ 
voll empfinden könnten. 

Da die Phantasie des Künstlers die zuletzt beschriebene Schwarze 
Messe geschaffen hat, so müßten sich wohl noch an anderen Stellen 
desselben Romans Abkömmlinge der unbewußten Einstellung finden, 
welche die Quelle jener Phantasie war. Es scheint mir naheliegend, 
die beiden Teilnehmer an dieser Satansmesse näher zu betrachten. Sie 
weisen beide charakteristische Züge ihres Liebeslebens auf. Der Mann 
kann nur eine Frau lieben, die weit von ihm ist, womöglich noch 
einem anderen gehört und, was das Wichtigste für ihn ist, die er weder 
begehrt noch besitzt. Sexuelle Befriedigung verschafft er sich am lieb¬ 
sten bei einer Prostituierten. Seine Geliebte, die andere Teilnehmerin 
an der Schwarzen Messe, ist auch ein solches Doppelwesen. Sie ist ab¬ 
weisend und hochmütig im Salon, während des Sexualaktes aber er- 








R. LÖ WEN ST FA N 


So 

scheint ihr Benehmen dem Geliebten ähnlich dem einer Zuchthäus¬ 
lerin oder einer Dirne. Sie meint übrigens, daß sie ein Sukkubus ist, 
d. h. ein dämonartiges Wesen, welches Männer, während sie schlafen, 
besucht, und sie durch diesen Sexualverkehr zugrunde richtet. Diese 
Sukkubusidee einer streng Katholischen ist bezeichnend für ihre Ein¬ 
schätzung des Sexualaktes. Diese Züge entsprechen den von Freud 
in seiner Arbeit über die „Allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens“ 
beschriebenen Merkmalen, die für viele Menschen charakteristisch sind, 
und die Leo Kaplan als „Erotischen Dualismus“ bezeichnet hat. 
Freud führt in dieser Arbeit aus, daß Männer, die wie der Held des 
Romans, in der Kindheit die grob-sinnliche Strömung auf die Mutter 
als etwas Gemeines verwerfen, in ihrem späteren Leben diese Wertung 
der Sexualität beibehalten. Um sich sexuell zu befriedigen, greifen 
sie zur Dirne, welche sie am wenigsten an das hochgeschätzte Mutter¬ 
bild erinnert, welche aber im Grunde wieder Mutterersatz ist, schon da 
sie Objekt derselben grob-sinnlichen, ursprünglich auf die Mutter ge¬ 
richteten Wünsche ist. Bei vielen Frauen, wie auch bei der Heldin 
des Romans, äußert sich die stattgehabte Verdrängung der grob¬ 
sinnlichen Strömungen in der engen Verknüpfung zwischen der Sexua¬ 
lität und der Vorstellung einer verbotenen oder auch erniedrigenden 
Tat. Dies letztere ist wohl besonders dann der Fall, wenn das Kind 
frühzeitig ein Ich-Ideal im Sinne einer hohen moralischen und ethi¬ 
schen Entwicklung bildet. Gelingt es dem erwachsenen Manne oder 
der Frau nicht, jene Verknüpfung zu lockern, was seinerseits von der 
Intensität der inzestuösen Fixierung abhängt, so knüpfen sie an die 
sexuelle Befriedigung die Bedingung einer ihnen erniedrigend oder 
verboten erscheinenden libidinösen Betätigung. Merkwürdig ist nur, 
daß beim Manne sich diese Bedingung meist an das Objekt, bei der 
Frau an die Tat selber heftet 1 . Herr Dr. Abraham hatte die Freund¬ 
lichkeit, mich darauf aufmerksam zu machen, daß letzteres die un¬ 
bewußte Quelle der Prostitutionsphantasien der Frauen ist. Die starke 

i) Nach der Arbeit von Dr, Abraham über den weiblichen Katastrionskomplex, die ich 
erst nach dem Vortrag gelesen habe, scheint dieser Unterschied nicht vorhanden zu sein. 












ZWR PS XJLÜ SCHWARZEN MESSEN 8i 

inzestuöse Fixierung der beiden Romanhelden ist aus folgendem er¬ 
sichtlich. Der Mann erfindet eine neue Sünde: der sexuelle Verkehr 
eines Künstlers, etwa eines Bildhauers mit seinem Werk. Dieser dem 
Helden bewußte Inzest mit seinem Kinde läßt sich auf den Mutter¬ 
inzest zurückführen. Die Frau denkt mit besonderem Wohlgefallen 
an ihr Verhältnis mit ihrem Beichtvater. Diese Tatsache, die für den 
ganzen Roman bezeichnend ist und die uns dem Ziele näherbringen 
wird, ist die innige Verknüpfung des Inzestuösen mit dem Religiösen. 

Die infantilen, auf die Eltern gerichteten sexuellen Wünsche wer¬ 
den von den nicht religiösen Menschen als unvereinbar mit der Moral 
und Ethik verworfen. Bildet aber das Individuum ein Gott gerechtes 
Ich-Ideal, so werden die mit diesem Ideal unvereinbaren sinnlichen 
Wünsche als Gott widrig und gotteslästerlich empfunden. Ich erinnere 
an dieser Stelle an das von Freud gedeutete Gleichnis „Gott-Kot“, 
seines damals fünfjährigen Patienten aus der „Geschichte einer infan¬ 
tilen Neurose . Ich glaube, daß in dem oben Gesagten die wesentliche 
Bedingung für das Zustandekommen der Phantasie von der Schwarzen 
Messe enthalten ist. Für den gläubigen Christen, und das sind alle 
Satansanbeter, dessen Sexualität so stark mit der Vorstellung der Blas¬ 
phemie und des Sakrilegs verknüpft ist, kann eine volle Befriedigung 
nur in einer Tat liegen, die von ihm als Sakrileg und Blasphemie emp¬ 
funden wird. In dieser Tat kehrt das Verdrängte aus der Verdrängung 
und wenn die Tat die Nachahmung einer kultischen Handlung ist, 
aus dem Verdrängenden zurück. Es scheint mir naheliegend, daß in 
jeder als solchen empfundenen Blasphemie eine inzestuöse Befriedigung 
liegt. 

Als Illustration und Bekräftigung dieser Auffassung von der Schwar¬ 
zen Messe möchte ich das früher geschilderte, merkwürdige Kruzi¬ 
fix heranziehen, das eine so klare Übergangsfigur von Christus zum 
Teufel darstellt. Es ist sowohl als Ich-Ideal, als auch als Liebesobjekt 
bezeichnend für den Zustand der Triebe und Wünsche der Satans¬ 
anbeter. Christus verwandelt sich in den Teufel, ähnlich wie der Frosch 
im Märchen sich in einen Prinzen verwandelt, entsprechend der 

6 Imago IX /1 







82 


A\ L Ö WENS TEIN 

Wechselwirkung von Zensur und Wunsch. Aus dem erigieiten Glied 
des Kruzifix kann man den Wunsch erkennen und das absichtlich in 
eine gemeine Fratze verwandelte Gesicht zeigt, wie dieser Wunsch 
vom Ich eingeschätzt wird. Daß aber Christus so dargestellt wird, be¬ 
weist die Rückkehr der Sinnlichkeit aus den ins Religiöse sublimierten 

Trieben. 

Sollten einige von diesen Schwarzen Messen wirklich stattgefunden 
haben, so müßte für die Erklärung ihres Zustandekommens noch der 
Faktor aufgeklärt werden, der den Übergang von einer perversen 
Phantasie zur Perversion oder einer kriminellen Phantasie zum Ver¬ 
brechen zustandebringt, und der sich, glaube ich, nicht nur durch ein 
quantitatives Überhandnehmen des Triebes erklären läßt. Solche tat¬ 
sächlich stattgehabte Schwarze Messen, bei denen der Kommunion¬ 
wein aus dem Blute eines ermordeten Kindes stammt, würden wohl 
im Zusammenhang mit den Totemfeiern und ähnlichen religiösen 
Festlichkeiten stehen, wobei die Verschiedenheit ihrer Formen von 
dem Grad der Verdrängung der Sexualtriebe abhängig sein würden. 










NACH DEM TODE DES URVATERS 

Von Dr. GEZA ROHEIM (Budapest) 1 


Osiris, der Sohn der Himmelsgöttin Nut und des Erdgottes Sebk, ver¬ 
mischte sich mit seiner Schwester Isis noch vor der Geburt im Mutter¬ 
leibe. Er wird zum Herrscher über Ägypten, durchzieht das Land, 
wilde Sitten mildernd, Ackerbau und Kultur einführend. Während 
seiner Abwesenheit herrschte sein Bruder Set an seiner Stelle. Bei 
seiner Rückkunft aber stellte er ihm mit List nach, wobei er 72 Männer 
zu Mitverschworenen machte und zur Helferin eine aus Äthiopien an¬ 
wesende Königin namens Aso hatte. Auf einem fröhlichen Gastmahl 
verlockt er den Osiris mit List, sich in eine Lade zu legen. Die Ver¬ 
schworenen werfen den Deckel darauf, verschließen die Lade von 
außen mit Nägeln und lassen sie durch die tanitische Mündung ins 
Meer hinab. Die Lade wird von Isis gefunden, sie setzt sie aber bei¬ 
seite, um zu ihrem Sohn Horus in den Sumpf von Buto zu reisen. 
Set jagte gerade bei Mondlicht ein Wildschwein, traf aber an Stelle 
des Wildschweines den Körper des Osiris, zerriß ihn in 14 Teile und 
streute sie umher. Isis sucht und findet die einzelnen Stücke, aber von 
allen Teilen des Osiris konnte sie das Schamglied allein nicht auffinden, 
denn dies ward gleich in den Fluß geworfen und von dem Lepidotos, 

1) Kongreßvortrag Berlin. 1922. Zugleich ein Auszug aus umfangreicheren Unter¬ 
suchungen; ich habe daher ein eingehenderes Mitteilen und Besprechen des einschlägigen 
Materials für die Publikation in Buchform xurückgestellt. 


6 * 








84 g. R 6HEIM 

dem Phagros und dem Oxyrynchos verzehrt, welche unter allen Fischen 
am meisten verabscheut werden. An seiner Statt machte Isis eine Nach¬ 
bildung und weihte den Phallos, den auch noch jetzt die Ägypter 
feiern. Von dem toten Osiris empfängt Isis den Horus, der als Rächer 
seines Vaters auszieht, Set und seine Helfershelfer besiegt. An dem 
Kampfe nimmt Set als schwarzes Schwein teil, er beraubt Horus seines 
Augenlichtes, indem er ihm seinen Kot ins Auge wirft. Horus aber 
schneidet dem Set die Hoden ab. Nach seinem Sieg wird Horus Herr¬ 
scher über Ägypten 1 2 . 

In der Erklärung wollen wir uns aufs knappste fassen, weil eine 
ausführliche analytische Durcharbeitung dieser Grundsage der 
ägyptischen Religion“ notwendigerweise zu einem Buch an* 
schwellen müßte. Eine der ursprünglichsten Mittel im Dienste der 
späteren Umarbeitung besteht bekanntermaßen in der Bildung von 
Abspaltungen, Doppelgängergestalten, so daß jede der ursprüng¬ 
lichen dramatis personae in mehreren Sagengestalten vorhanden ist. 
Wahrscheinlich folgt dabei die Sage genau der Spur der Mensch¬ 
heitsentwicklung; auch hier spaltet sich das ursprünglich Einfache 
in mehrere sogar gegensätzlich werdende Komponenten. Nun finden 
wir Pyramidentexte, die noch nichts von dem Gegensatz von Horus 
und Set wissen, beide sogar für Zwillingsgötter, oder für eine und die¬ 
selbe Person, einen Gott mit einem Horus- und einem Setkopf halten 3 . 
Streichen wir also vorläufig Horus, den Rächer, so erhalten wir fol¬ 
gende Geschichte 4 . Horus (oder Set), der Sohn des Osiris tötete mit 
seinen Bundesgenossen mit Hilfe von der Königin Isis den Vater 
Osiris, der ein Wildschwein war, zerstückelte, kastrierte und 

1) Plutarchos: Peri Iaidos kai Osiridos. Cap. 12—20. G. Roeder: Urkunden zur Reli¬ 
gion des alten Ägypten. 1915. 196, 242, 271. Y. G. Frazer: Adonis, Attis, Osiris. 1905. 
269—276. A. Erman: Die ägyptische Religion. 1909. 38—41. 

2) Schon im Jahre 4241 v. Chr. finden wir den Sagenkreis des Osiris im Mittelpunkt 
der ägyptischen Glaubensvorstellungen. Erman: 1 . c. 43. Vgl, Rank: Die Don Juan-Ge¬ 
stalt. Imago VIII. 167* In der Überdeterminierung scheint die Sage auch rassengeschicht- 
liehe Elemente zu enthalten, die uns aber hier nicht weiter interessieren. 

3) E.-A. Wallis Budge: The Gods of the Egyptians. 1904. I. 194. II. 241, 242. 

4) Plutarchos: Cap. 32* Roeder: Set. Roschers Lexikon. 63. Lieferung. 1910. 779. 











_ NA CH D_EM_ 8 5 

verzehrte ihn. Daß es sich hier um den Urhordenkampf handelt, er¬ 
leidet keinen Zweifel, wird ja dem Set als heiliges Tier das Nilpferd 
zugeteilt, von dem Plutarch bemerkt, es sei das unverschämteste 
aller Tiere, denn es soll seinen Vater töten und mit Gewalt seiner 
Mutter beiwohnen. Dem Osiris geschieht aber nur was er nach 
seinen Taten zu erwarten hatte. Denn er soll nach einer vereinzelten 
Überlieferung nicht nur seine Schwester Isis (eine Abspaltung seiner 
Mutter Nut) im Mutterleibe beschlafen, sondern auch seinen Vater 
Sebk kastriert haben 1 . Nun geschieht ihm das Gleiche; wie er ja auch 
nur als Verdichtungsfigur unzähliger Urväter aufzufassen ist, die alle 
der Reihe nach in der Horde geherrscht und von der nachdrängen¬ 
den Schar ihrer Söhne getötet wurden. Gegen ihn waren Horus und 
Set samt ihren V erblindeten der Bruderhorde eine Einheit, nach seinem 
Tode fällt diese Einheit auseinander und die feindlichen Brüder, 
einerseits Horus der Rächer seines Vaters und Prinzip des Guten, 
andererseits Set der Geist des Bösen, der Mörder, bekämpfen einander, 
bis Horus den Sieg erringt und wie einst sein Vater Herrscher von 
Ägypten wird. Diese ganze Sage wird eigentlich im Totenritual ständig 
wiederholt, denn laut ägyptischer Auffassung ist der getötete Gott 
Osiris Vorbild aller Toten und nach seinem Tode wird jeder ein Osiris 2 . 
Vorbild des Totenrituals ist daher der gewaltsame Tod des Vaters in 
der Urhorde. Versuchen wir nun, diesen Satz umzukehren und aus 
den Todesriten der heute lebenden Primitiven Schlüsse auf die Ur- 
hordenzustände nach dem Tode des Urvaters zu ziehen. Regel¬ 
mäßig bringen sich die Primitiven nach dem Tode eines Verwandten 
grausame Wunden bei. Preuß ist schon auf der richtigen Spur in der 
Erklärung dieser Bräuche: er sagt, das Gewissen der Primitiven sei 
nicht in Ordnung und nach jedem Tode erfolgt die Selbstbestrafung 3 . 


1) H. Brngsch: Religion und Mythologie der alten Ägypter. 1891.581. Wallis Budge: 
1 . c. II. 99. 

2) Erman: L c. 110. 

3) K. Th, Preuß: Menschenopfer und Selbstverstümmelung bei der Totentrauer in 
Amerika, Festschrift für Adolf Bastian. 1896. 223. 










86 _ G- R OHEIM .. 

Es ist als ob die Primitiven sagen wollten: nicht wir, die Überleben¬ 
den, freuen uns, daß wir ihn losgeworden sind, im Gegenteil, wir sind 
betrübt und trauern, doch merkwürdigerweise hat er sich jetzt in 
einen bösen Geist verwandelt, dem es eine Wonne ist, uns leiden zu 
sehen und der uns nach dem Leben trachtet 1 2 . Die Erinnyen plagen 
aber in erster Reihe diejenigen, die sich gegen die moralischen Gebote 
der Kinderpflicht vergangen haben* und dies ist auch der allgemeine 
Ursprung der gefürchteten Totengeister. In vielen Riten wird nun 
die ursprüngliche Aggressivität dem Toten gegenüber manifest, die 
Leiche wird verprügelt, mit einem Pfahl durchstochen, verstümmelt 
oder festgebunden, der Geist durch kriegerische Demonstrationen ver¬ 
trieben 3 . Daher können wir den Sinn der Wunden, die sich die Trauern¬ 
den beibringen, leicht als eine Wendung gegen die eigene Person ver¬ 
stehen f so wie kein Neurotiker Selbstmordimpulse verspürt, der nicht 
schon einmal einen anderen Menschen töten wollte (Freud), können 
wir auch sagen: nach dem Tode tötet sich der Primitive, weil er sich 
unbewußt schuldig fühlt. Die richtige Deutung wurde schon von 
Lambert ausgesprochen, der in diesen Riten symbolische Selbstmord¬ 
versuche erblickt 4 . So wie nun manches Kind, das tatsächlich keine 
Gelegenheit gehabt hat, den Coitus der Eltern zu belauschen, das 
betreffende Material fertig geformt aus der Phylogenese mitbringt, 
müssen es bei dem Primitiven nicht unbedingt rezente Anlässe sein, 
verdrängte Todeswünsche gegen den Dahingeschiedenen, auf denen 
sich der Ritus aufbaut; selbst wenn er solche überhaupt nicht gehabt 
hätte, würde er ein ererbtes Schuldgefühl im Ritus abreagieren; ihn 
plagt der blutlechzende Geist unzähliger erschlagener Väter, deren 
Tod er verschuldet und nun an seinem eigenen Körper wiederholend 
büßt. Wie entstand aber dieser Mechanismus der Wendung gegen 
die eigene Person? Allerdings läßt sich dieses Problem heute anders 


1) S. Freud: Totem und Tabu. 1913. 58. 

2) Rapp: Erinys. Roschers Lexikon. I. 1321. 

3} Siehe hierüber die bekannten Werke von Taylor, Spencer, Lippe rt usw. 

4) Lambert: Revue des Etudes Juives. LXXII. 1921. 98. 














NA CH DEM TOZ)jE DES LRJTATER S 87 

fassen, als dies vor dem Erscheinen von „Jenseits des Lustprinzips“ mög¬ 
lich war. Aus der Annahme eines Todestriebes, welcher erst später als 
Destruktionstrieb (Sadismus) nach außen projiziert wird 1 2 , folgt ja, daß 
wir es bloß mit einer Rückwendung gegen die eigene Person zu 
tun haben. Daraus folgt aber nicht, daß wir der Pflicht enthoben wären, 
in jedem Einzelfall die Umstände aufzudecken, die zu dieser Rück¬ 
wendung führten. Wir nehmen an, diese seien in erster Reihe außer¬ 
halb des Individuums zu suchen, in den Hindernissen, welche die 
Außenwelt seiner Aggressivität entgegenhält. Äußere Hemmungen 
werden bestimmend sein, wenn der Destruktionstrieb sich gegen das 
Ich als Urziel wendet, wenn es auf diese „autistische“ Entwicklungs¬ 
phase regrediert. 

Die Frage, welcher Art diese äußeren Hemmungen sein mögen, 
ist identisch mit einer anderen Frage. Was geschah in der Urhorde, 
nachdem es den Brüdern gelungen war, den Urvater aus dem Weg 
zu räumen? Wir dürfen nie vergessen, daß wir es nicht mit einzelnen 
Ereignissen, sondern mit langen Perioden der Menschheitsvorgeschichte 
zu tun haben, über die wir bloß in einer dramatischen Verdichtungs¬ 
form zu schreiben pflegen*. Mit anderen Worten, die Urhordenorgani- 
sation muß eine lange Zeit bestanden haben, sie ging von einem Ur- 
hordenkönig zum anderen über: was geschah aber, nachdem der König 
ermordet w T orden war, bis der neue Herrscher das Szepter ergriff? 

Der Vater, der die Brüder in die Masse gezwungen hatte, war ja 
tot, die Massenbindung hielt nicht mehr stand. Die früheren Ver¬ 
bündeten wurden Todfeinde, ein jeder wollte Vater werden und dies 
konnte nur durch die Vertreibung der kampffähigen Konkurrenten 
geschehen. Nach dem Tode des Vaters folgte ein Zustand des bellum 
omnium contra omnes, der eben solange dauerte, bis ein neuer Führer 
da war, dem es gelungen war, die anderen Brüder der Horde ent¬ 
weder zu töten oder sie in die Masse zurück zu zwingen. Atkinson 
hat diese Zustände an wilden Huftieren selbst beobachtet, wie sich 


1) Jenseits des Lustprinzips. 1920. 51. 

2) Zu diesen und den folgenden Ausführungen vergl. Freud: Totem und Tabu. 152. 








88 G. RÖHJUM 

die jungen Männchen zu einer Gruppe vereinigen, wie sie den Kampf 
dann untereinander fortsetzen, bis der alte Zustand, eine Herde von 
Weibern mit einem Männchen und die Brüderhorde wiederhergestellt 
ist 1 2 . Nach dem Tode des Vaters folgt der Bruderkrieg. In der Maori¬ 
mythe, welche der griechischen von Kronos, Uranos und Gaia ent¬ 
spricht, folgt auf die Trennung von Himmel und Erde der Zwist und 
Krieg der Brüder, die gegen den Vater im Kampf vereinigt waren 1 . 
Auch in der Bibel5 nach dem Sündenfall tötet der eine Bruder den 
anderen. Dann finden wir aber bei vielen primitiven Stämmen und 
auch Halbkulturvölkern, daß am Grab regelmäßig der Kampf zwi¬ 
schen den Überlebenden ausbricht; bald geschieht dies in mehr 
zeremonieller Weise, etwa in olympischen Wettkämpfen zu Ehren des 
des Toten, bald wie in Südostaustralien mit mehr Wut und Haß und 
unter gegenseitigen Beschuldigungen, den Tod verursacht zu haben. 
Mit anderen Worten: jeder Einzelne erlitt tatsächlich in den Wunden, 
die von den Waffen oder besser Zähnen und Krallen seiner früheren 
Verbündeten gerissen wurden, am eigenen Leib die Strafe des be¬ 
gangenen Mordes. Indem er sich jetzt nach einem Todesfall straft, 
wiederholt er nur, in eigener Person alle Rollen spielend, die Ereig¬ 
nisse der Vorzeit in abgekürzter Form. 

Wir vermuten nun, daß wir in dieser Periode des Bruderkrieges und 
in der seelischen Erschütterung, die sie hervorrufen mußte, die Schlüssel • 
zu manchen Konflikten des Ichs finden werden. Der Krieg war einst 
ein Krieg mit wirklichen Gegnern, aus den Engrammen vergangener 
Kämpfe in der Art entsteht die Konfliktbereitschaft des Individuums. 
Nach dem Tode eines Unmatjera- oder Kaitisch-Mannes erhält einer 
seiner Schwiegersöhne die Haare des Toten. Mit diesem Geschenk ist 
eine Pflicht verbunden: er hat sich an die Spitze einer Expeditions¬ 
armee zu stellen und irgendeinen anderen „Schwiegersohn“ des Toten 
zum Duell herauszufordern. Nachdem sie sich gegenseitig genügende 
Schnittwunden beigebracht haben, umarmen sie einander und der 


1) Atkinson: Primal Law. 1903. 222, 223, 228. 

2) Siehe die Sage hei Schrirren, Grey, White usw. 











NACH DEM TODJE DEjS URVATER S 89 

erste übergibt das Haar des Toten dem zweiten, der nun ebenso ver¬ 
pflichtet ist, einen dritten „Schwiegersohn“ (im klassifikatorischen 
Sinne) aufzusuchen und die Szene mit ihm zu wiederholen und so 
weiter bis das Haar die Runde durch die ganze Klasse der Schwieger¬ 
söhne gemacht hat 1 . Projizieren wir diese Ereignisse zurück in die 
Urhorde, so erhalten wir bald einen Einblick in die Verhältnisse, die 
auf den Tod des Leittieres folgen mußten und auch eine Erklärung 
der Bräuche der heutigen Primitiven. 

Die Klasse der Gammona besteht aus den „Schwiegersöhnen“, aus 
den Gatten oder zukünftigen Gatten der Töchter des Toten. Dies 
waren aber in der Urhorde die Brüder; nachdem ihnen ihre Tat ge¬ 
lungen war, zerfiel ihre Organisation und die früheren Freunde wurden 
Feinde. Die plötzliche Veränderung ihrer Lage mußte notwendig 
die erste Spaltung im Ich herbeiführen. Sie kämpften jetzt gegen 
ihre Brüder, mit denen sie vereint den Vater besiegt hatten, ein jeder 
von ihnen handelte wie der Vater auch früher gehandelt hatte, ein 
jeder war sozusagen unwillkürlich zum Rächer des Vaters geworden. 
Aus der Masse heraustretend war nun jeder ein Einzelner, eine Per¬ 
sönlichkeit und stand, wie früher der Vater, der Masse gegenüber. 
Dazu war ja auch eine physische Grundlage der Identifikation ge¬ 
schaffen worden, sie hatten den Vater getötet, aufgegessen, sich in seine 
Haut gehüllt, seine Schienbeine, Haare oder das Haupt als Trophäe 
aufbewahrt 2 . Aber diese Identifikation war keine vollständige. Ein 
Rest der Persönlichkeit blieb an den Brüdern verankert in der revo¬ 
lutionären Einstellung; für diese Seite des Ichs waren die Kämpfe, die 
nach dem Tode des Vaters folgten, nur zahllose Neuauflagen jener 
ersten großen Schlacht. Wenn bei den Baputi der Häuptling der 
Duikersippe gestorben ist, organisieren die Männer eine große Jagd 
auf ihr Totemtier. Das Tier wird geschlachtet, die Haut wird ihm 
abgezogen und der tote Häuptling wird in diese Haut gehüllt be- 


Spencer and Gillen: Northern Trihes of Central Australia. 1904. 510, 511. 

2) Das einschlägige Material soll in Buchform erörtert werden. 












90 G. R OHEIM 

graben 1 . Hier haben wir es deutlich: die Totenopfer sind Wieder¬ 
holungen des unbewußt begangenen Mordes. Die Sklaven, die am 
Grab des Häuptlings lallen, die Tiere, die ihm zu Ehren geschlachtet 
werden (besonders häufig sind es Hühner oder überhaupt Vögel, die 
seine Seele ins Jenseits mitnehmen) 2 , sind die Brüder, die am Grab 
des Vaters noch fallen mußten und zugleich Doublettenbildungen des 
Urvaters. Einerseits also wiederholt der Einzelne seine Empörungs¬ 
sünde, andererseits wiederholt er sie in einer Form, die zugleich als 
Strafe der Sünde erscheint. Auch hat er ja die Vorstellung, durch das 
Essen des Vaters neue Kräfte erhalten zu haben; Ideal stammt ja von 
Eidolon , Erinnerungsbild, Seele eines Toten 3 , d. h. die Brüder erwarben 
sich ein Ich-Ideal, indem sie sich mit dem toten Vater identifizierten. 
Sie hatten ihn gegessen, introjiziert, er war ein Teil ihres Ichs ge¬ 
worden und „was er früher durch seine Existenz verhinderte, das ver¬ 
boten sie sich jetzt selbst in der psychischen Situation des uns aus den 
Psychoanalysen so wohl bekannten „nachträglichen Gehorsams 4 “. Ein 
anderer Teil ihres Ichs war noch mit dem Massen-Ich der Bruder¬ 
horde, d. h. mit den anderen Brüdern identisch geblieben und so 
bildeten sich die beiden Kristallisationspunkte im Ich heraus, die wir 
als „Ich-Ideal“ und als „Aktual-Ich“ zu unterscheiden pflegen. Der 
Mensch will stets aus der Masse heraus, er strebt einem Ideal nach, 
welches er ebensowenig erreichen kann, wie es die Kinder dem Vater 
gleich tun können, und bleibt im Grunde doch der, der er wirklich 
ist. Einer unter den Vielen. Nur indem er den Vater tötet und sich 
mit ihm identifiziert, erwirbt er sich ein Ich-Ideal 5 und die über¬ 
natürliche Kraft, die er sich so erworben, stammt von der zweiten 

1) G. W. Sto w: The Native Races of South Africa. 1905. 415. 

2 ) *^ e Deutung der kleinen Tiere im Märchen Freuds: Massenpsychologie und 
Ich-Analyse. 1921. 124. (Rank.) 

5) E. Grawley: The Idea of the Soul. 1909. 18S. 

4) Freud: Totem und Tabu. 1903. 152, 133. 

5) Die Sachlage ist eigentlich komplizierter als es aus der Darstellung im Text erscheint. 
Gas narzißtisch-infantile Ideal-Ich wird mit der Bildung der ersten Masse auf den Vater 
projiziert, um dann wieder in der Theophagie (Vateressen) ins Ich einbezogen, introjiziert zu 
werden. Dadurch wird das Ich zweischichtig und hier setzen unsere obigen Spekulationen ein. 















NACH DEM TODE DES URVATERS 


9i 


Person her, die nun in ihm immanent geworden ist. Manche primi¬ 
tive Völker glauben, daß der Mörder, besonders wenn er sein Opfer 
aufgegessen oder einen Teil seines Körpers als Amulett aufbewahrt 
hat, nun von dessen Seele als Schutzgeist begleitet wird. In Nord¬ 
amerika zieht sich der Jüngling in den Pubertätsjahren in die Ein¬ 
samkeit des Waldes zurück. Dort kasteit er sich und fastet und weint 
unaufhörlich. Er fleht die Manitus an, sie möchten doch Mitleid mit 
ihm haben und ihm eine Vision gönnen. Erscheint ihm nun in einer 
Wach vision oder im Traum irgend ein Tier,—häufig ist es dasselbe Tier, 
welches seinem Vater erschienen war, — so wird es zu seiner Pflicht, so 
lange zu jagen, bis er das Tier erlegt hat und aus der Haut des Tieres 
verfertigt er sich dann einen Medizinsack 1 . Seine Einstellung zu diesem 
„persönlichen Totem“, wie es manche Ethnologen mit Recht nennen, 
ist ganz der ambivalenten Einstellung anderer Primitivstämme zu ihren 
Totemtieren analog. Obwohl er das Tier getötet hat, darf er dies nie 
wiederholen noch vom Fleisch des Tieres genießen. Das Tier be¬ 
schützt ihn in allen gefährlichen Lebenslagen5 dafür hat er aber be¬ 
sondere Feste und Opfer zu Ehren seines Schutzgeistes zu veranstalten. 
Dieser Schutzgeist bestimmt aber auch die persönlichen Eigenschaften 
des Einzelnen, wir würden sagen seine Charakterbildung, denn die 
Schutzgeister der Krieger sind Raubtiere, die der Schamanen Schlangen 
und übernatürliche Wesen, während feige Leute feige Tiere als Schutz¬ 
geister besitzen. Er gleicht dem Geist, den er begreift, sein Schutz¬ 
geist ist wie er sein will, es ist sein Ich-Ideal. Solches erlangt er aber, 
indem er in den Pubertätsjahren ein Tier, häufig das Totemtier seines 
Vaters, tötet, wie einst die Brüder in der Urhorde den Vater und die 
Haut des Tieres als Quelle seiner übernatürlichen Kräfte als Medizin¬ 
sack aufbewahrten. Wir gewinnen demnach die wichtige Einsicht, daß 
die Abspaltung eines Teiles vom eigentlichen Ich in der Ürhorde nach dem 
Tode desVaters erfolgte, indem die Brüder sich mit demVater identifizier¬ 
ten. In dem äußeren Konflikt des Bruderkrieges war auch der Anlaß einer 

1) Das Material ist von Frazer: Totemism and Exogamy. 1910* III. 570—456, zu¬ 
sammengestellt. Siehe auch meine früheren Ausführungen Imago VII. 472. 










9 * G, RÖHEIM 

inneren Spaltung gegeben, der Krieg der Brüder wurde introjiziert und 
lebt in uns in den Konflikten zwischen Aktual-Ich und Ich-Ideal weiter. 
Damit gewinnen wir aber auch die Möglichkeit, eine der uns be¬ 
kannten Psychoneurosen auf ihre Urform in der Phylogenese zurück¬ 
zuführen. Wir meinen die Melancholie und schicken gleich voraus, 
daß wir es in dieser Zurückführung mit dem geistigen Eigentum von 
Professor Freud zu tun haben, der diese Ansicht schon früher im 
Privatgespräch ausführte. Da ich eigentlich, ohne es bewußt zu wollen, 
durch das ethnologische Material zu diesen Ausführungen gedrängt 
war, bat ich Herrn Prof. Freud um seine Einwilligung, mich auf seine 
Ansicht berufen zu dürfen, die mir auch gütigst erteilt wurde. Es 
wird am besten sein, von der Arbeit Freuds über „Trauer und Melan¬ 
cholie“ auszugehen. Dort stellt Freud eine Reihe der Übereinstim¬ 
mungen und eine Reihe von Abweichungen zwischen diesen beiden 
Störungen des Seelenlebens lest. Wir werden nun merken, daß, wenn 
wir von der Trauer des Kulturmenschen zur Trauer des Primitiven 
herabsteigen, die Ähnlichkeit der beiden Affektionen größer wird, die 
unterscheidenden Merkmale von Schritt zu Schritt schwinden. Die 
Selbstvorwürfe und Selbstbestrafungstendenzen, die in der Melancholie 
hervortreten 1 , lassen sich ebensogut bei den primitiven Trauerbräuchen 
beobachten. In der Melancholie „vervollständigt sich dieses Bild, durch 
Schlaflosigkeit, Ablehnung der Nahrung und eine psychologisch höchst 
merkwürdige Überwindung des Triebes, der alles Lebende am Leben 
lestzuhalten zwingt 2 “, genau wie der Primitive sich in der Trauer auf 
alle erdenkliche Arten quält, straft und symbolisch tötet. Die Selbst¬ 
anklagen des Melancholikers gehen von einer kritischen Instanz im 
Ich aus, der Konflikt liegt zwischen den zwei Hauptrichtungen des 
Ich. Bei Lichte besehen stellt sich aber heraus, daß diese Selbstanklagen 
eigentlich Klagen sind. Ursprünglich waren sie gegen eine andere 
Person gerichtet, die aber ins Ich einbezogen, mit einem Teil des Ich 

1) S. Freud: Trauer und Melancholie. Internationale Zeitschrift für ärztliche Psycho¬ 
analyse. IV. 290. 

2) Freud: ebenda. 














_ NACH DEM TOD_E DJßS^ 93 

identifiziert wurde 1 . Auch die Selbstbestrafungen in den primitiven 
Trauerbräuchen gelten ursprünglich dem Toten, d. h. dem Vater und 
sind nur gegen die eigene Person zurückgewendet. Ein Stück näher 
kommen wir freilich der primitiven Trauer in den Zwangs vor würfen 
der Neurotiker nach einem Todesfall. „Von den drei Voraussetzungen 
der Melancholie, Verlust des Objekts, Ambivalenz und Regression der 
Libido ins Ich finden wir die beiden ersten bei den Zwangsvorwürfen 
nach Todesfällen wieder 2 .“ Die narzißtische Regression der Libido 
äußert sich in der Melancholie besonders in der Verweigerung der 
Nahrungsaufnahme und in dem hartnäckigen Schweigen; nun 
können wir aber gerade die Entstehung dieser Tabus an den Trauer¬ 
bräuchen der Primitiven mit Vorteil studieren. In Australien darf die 
Witwe und der Bluträcher, der von dem Toten gegessen hat, nicht 
reden, und vikariierend mit dem Redeverbot findet sich das Tabu des 
Essens von rotblütigen Tieren 3 . Wir finden in Melanesien, daß die 
Enthaltsamkeit nach dem Tode damit begründet wird, der Tote habe 
sich in die betreffende Speise verwandelt 4 5 und wenn die tabuierten 
Speisen dieselben sind, die andererseits beim Festmahl gegessen werden s , 
so folgt daraus, daß in diesen ebenfalls der Tote steckt, daß es sich 
demnach um eine Wiederholung der Sünde der Anthropophagie han¬ 
delt. Wir sind jetzt auf der Spur, um die Frage zu beantworten: was 
ist die eigentliche Sünde des Melancholikers? Oder anders ausgedrückt: 
in welcher Situation entstanden die Mechanismen, die heute noch in 
der Melancholie fortwirken? Nach dem Tode des Urvaters fiel sowohl 
die Massenorganisation wie die psychische Einheit der verbündeten 
Brüder auseinander. Draußen tobte der Bruderkrieg der Rivalen, im 
Inneren die Fehde zwischen dem neuerworbenen Ich-Ideal, welches 
die Sache des Vaters vertrat, und dem alten Aktual-Ich. Die Söhne 

1) Freud: ebenda. 290, 291. 

2) Freud: 1 . c. 300. 

3) Vgl. die Arbeiten von Spencer und Gillen, Howitt, Roth. 

4) R. Codrington: The Melanesiens. 1891. 35. W. H. R. Rivers: The History of 
Melanesien Society. 1914. II. 36t- 

5) C. G. Seligmann: The Melanesians of British New Guinea. 1910. 164, 165. 














94 


G. R OHEIM 


hatten den Vater gegessen, sie strebten nach steter Wiederholung 
dieser Tat, aber etwas in ihnen war Vater geworden und hemmte die 
Wiederholung der Sünde. Tabuierte Speise, heißt es bei den Maori, 
ist eine Speise, in welcher ein göttliches Wesen steckt und wenn es 
die größte Insulte ist, die einem Menschen getan werden kann, ihn 
aufzuessen, wie hoch ist das Verbrechen erst anzuschlagen, wenn man 
die Götter ißt 1 2 ? So strahlt das Verbot der Anthropophagie allmählich 
auf andere Speisen aus und wir erhalten das Bild der zunehmenden 
Nahrungsverweigerung, welches so charakteristisch für die Melancholie 
ist. Wir dürfen daher die Speiseverbote der Trauerzeit aus derselben 
Quelle wie die totemistischen Speiseverbote ableiten oder auch die 
letzteren als permanent gewordene Trauerzeit verböte auffassen. Ebenso 
müssen wir in dem großen Schmaus, in dem die Trauerperiode be¬ 
endet wird, ein dem Totemsakrament analoges Durchbrechen der Ver¬ 
bote erblicken. Der Melancholiker verweigert die Nahrungsaufnahme 
und straft sich auf allerhand Art und Weise, weil er die große Sünde 
begangen, den Vater getötet und aufgegessen hat*. Durch diese Tat 
hat er aber den Vater als Ich-Ideal introjiziert und damit auch den 
Kampf zwischen Vater und Sohn, Bruder und Bruder als Konflikt 
zwischen Ich-Ideal und Aktual-Ich verinnerlicht. Wo bleibt aber die 
Erklärung der Periodizität im Ablauf der Manie und Melancholie? 
W r enn wir die Melancholie gefunden haben, kann die Manie nicht 
allzuweit sein. 

Prof. Freud sagt in seiner öfter zitierten Arbeit, daß die Phase 
des Triumphes, die der Manie entsprechen würde, bei der normalen 
Trauer nicht zu konstatieren sei 3 . Natürlich trifft dies zu für die Trauer¬ 
arbeit, wie wir sie in unserer Beobachtung im Alltagsleben finden, 
nicht aber für die Primitiven. Im Gegenteil, wir können feststellen, 
daß die Trauerzeit hier häufig in einer Orgie, einem großen Fest- 


1) E. Shortland: Maori Religion and Mythology. 1882. 25, 26. 

2) Vergl. K. Abraham: Klinische Beiträge zur Psychoanalyse. 1921. 256—258, 

3; Trauer und Melancholie. Zeitschrift. IV. 298. 








NACH DEM TODE DES URVA1ERS 


95 


schmaus oder sogar in einem Kriegszug endet 1 . Wenden wir uns nun 
der letzten Möglichkeit zu. 

Die Trauerzeit ist beendet, wenn der Tote gerächt, d. h. in der 
Person seines vermeintlichen Mörders zum zweitenmal getötet wurde. 
Rin Fall von den Lepers Inseln. Ein Vater verfällt in eine wahre 
Melancholie nach dem Tode des Sohnes und verweigert jegliche 
Nahrungsaufnahme, bis er nicht Menschenfleisch erhält. Damit ist 
die Trauer beendet 2 . In Australien finden wir zwei Möglichkeiten. 
Die Trauerperiode dauert bis der Tote gerächt ist, d. h. bis jemand, 
gewöhnlich ein fremder Schwarzer, den die Medizinmänner als Ur¬ 
sache des Todes bezeichnet haben, getötet wird, oder bis die Knochen 
feierlich gesammelt und ebenso feierlich in Stücke zerschlagen wurden. 
Sonst mag auch in Afrika z. B. ein Tier an Stelle des Menschen am 
Grab geopfert werden, aber was mit dem Tode angefangen, muß mit 
dem Tode enden. Der Mord, der unbewußterweise hinter jedem Tode 
steckt, muß wiederholt werden, und zwar entweder an der Leiche 
selbst, (Zerschlagen der Knochen) oder an einem Substitut 3 . 

Wir übersetzen nun die Beschreibung, die Forbes über die Fest¬ 
lichkeiten nach Beendigung der Trauerperiode in Timor gibt. Tiere 
werden in Unmengen geschlachtet, um die unersättliche Nahrungs¬ 
gier dieser Wilden zufriedenzustellen. Sie verschlingen das Fleisch im 
halbrohen Zustand und trinken dabei ausschließlich den kräftigsten 
Arrak. Unter dem Einfluß des Alkohols springen die Weiber auf und 
es beginnt ein Rundtanz mit Trommelschlag. Anfangs geht es schön 
langsam, dann immer schneller, jetzt unter allgemeinem Gebrüll in 
einem rasenden Tempo. Auch die Männer werden von der Aufregung 
angesteckt, sie kleiden sich in ihren Kriegsschmuck und schließen sich 
dem Tanze an. Das Toben steigt immer höher, bis die Teilnehmer 


1) Siehe vorläufig R. Hertz: Contribution ä une ötude sur la repräsentation collective 
de la mort, L’annee sociologique. X* 1907, und die australischen Verhältnisse in den be¬ 
kannten Quellen. 

2) R. Codrington: The Melanesiens. 1891. 344. 

3) Das Quellenmaterial zu diesen Sätzen soll später veröffentlicht werden. 






gö G. RÖjjR±M _ _ _ 

erschöpft zusammenbrechen \ Die Manie kommt also auch hier wie 
in der klinischen Praxis nach der Melancholie®. In der Melancholie 
waren alle Besetzungen ins Ich zurückgezogen. Die Objekte verlieren 
ihre Bedeutung, selbst der Aggressionstrieb wendet sich ab von der 
Außenwelt und findet sein Objekt in dem eigenen Ich. In der Manie 
strömen diese gebundenen Besetzungen wieder auf die Objekte zu, 
es entsteht eine Tendenz, möglichst viele Objekte der Reihe nach zu 
besetzen. Der Melancholiker greift sich selbst an; in der Manie erfolgt 
die Projektion, er greift andere an. In der Trauerperiode bringt sich 
der Primitive selbst Wunden bei, es endet damit, daß er andere tötet. 
Das Merkwürdige an der Sache ist nur dieses; nachdem er den Vater 
oder den Verwandten gerächt und den Feind getötet hat, identifiziert 
er sich mit diesem Feind genau so wie früher mit dem Vater. Aus 
den Haaren des Toten verfertigt man das Tana, ein zigarrenförmiges 
Abzeichen des Bluträchers bei den Warramunga. Da die Haare sonst 
in den Heiratsbräuchen des Stammes eine große Rolle spielen, müssen 
wir in dem Tana ein Penissymbol erblicken. Nun erreichen die Blut¬ 
rächer ihr Ziel, der Feind ist tot. Jetzt wird sein Nierenfett heraus¬ 
geschnitten, um seine Kräfte zu erben. Schon Wundt sieht in der 
magischen Bedeutung des Nierenfettes eine sexuelle Bedeutung: in 
den Kräften, nach denen es den Primitiven gelüstet, sind wohl auch 
die sexuellen Kräfte und diese in erster Reihe inbegriffen. Wenn die 
eigenen Toten gegessen werden, so heißt es, man will ihre Eigen¬ 
schaften erben. Bei dem Feind heißt es aber ebenso, seine Kräfte sollen 
auf den Esser übergehen. Die Zauberknochen, die aus dem Schien¬ 
bein oder Vorderarm des Toten hergestellt werden, dienen dazu, seinen 
Mörder auf magischem Wege durch bloßes Hindeuten zu töten, anderer¬ 
seits stirbt der Mörder, er wird vom Feuer aufgezehrt, wenn man diese 
Knochen ins Feuer steckt. D. h. der Mörder wird mit dem Toten 


1) H. O. Forbes: A Naturalists Wanderings in the Eastern Archipelago. 1885. 456. 

2) Wie Prof. Freud mir brieflich mitteilt, war es diese Umkehrung der Reihenfolge 
(Manie = Urvatermord müßte der Melancholie = Urtrauer vorauseilen 1 2 ), die ihn von der 
schriftlichen Ausarbeitung seiner Theorie abhielt. 











NACJ£J)JZM TODE DES^ UEJ^ATEE S 97 

identifiziert 1 . Und nun die Ideologie der Kopfjagd. Die Trauerperiode 
ist in Indonesien mit der Rückkehr der Krieger beendet, denen es ge¬ 
lungen ist, Feindesköpfe zu erbeuten. Wenn in Nias ein Häuptling 
gestorben ist, schreibt Frieß, müssen eine Anzahl Köpfe abgeschlagen 
werden. Hat man sich diese Kopfe verschafft, so begibt man sich an 
das Grab und der älteste Sohn bietet dem Toten sein Opfer an mit 
Worten, die Frieß wie folgt übersetzt: „Frei von Vorwurf ist der Mann, 
los von Schuld ist nun dein Sohn, hast empfangen deinen Anteil, deine 
Ehre, deinen Lohn.“ Darauf geht man nach Hause, wo der Priester 
den Geist des Toten anruft: „Erwürg nicht unsere Knaben mehr, ge¬ 
zollt ist dir dein Anteil schwer, erwürg nicht unsre Söhne mehr, du 
hast nun deinen Ruhm und Ehr 2 .“ Der Feind fällt als eine Ablösung 
der Söhne, die der Tote erwürgen würde; die Beziehung zwischen 
Blutrache bzw. Kopfjagd und Ödipuskomplex ist ja klar, wenn wir 
auch die genaue Erklärung noch etwas aufschieben müssen. Für uns 
bleibt es das Wichtigste zu wissen, daß der Kopfjäger die Schädel der 
erbeuteten Feinde als seine Schutzgeister betrachtet, daß er sie mit 
den Schädeln der eigenen Ahnen zusammen auf bewahrt, daß er von 
ihnen sogar wie von den Ahnen die Befruchtung der Frauen des eigenen 
Stammes erwartet. Die Dayak sind sogar so freundlich, uns durch einen 
nicht „zufälligen“ Vergleich den wahren Sinn der Kopfjagd zu ver¬ 
raten: „Wenn war auf einer Expedition außerhalb der Stammesgrenzen 
angelangt sind und Köpfe erbeuten wollen, so machen wir jeden nieder, 
selbst wenn es unser eigener Vater wäre 3 .“ Und nun gar in Melanesien; 
auf den Salomo-Inseln geht nach dem Tode des Häuptlings eine Kopf¬ 
jägerexpedition los. Es wird dabei auch ein Sklave erbeutet und dieser 
Sklave ist der rechtmäßige Thronerbe des toten Häuptlings 4 . Um die 
Bedeutung dieser Angabe richtig zu werten, muß man aber wissen, 
daß das Sklavenerbeuten sonst bei einer Kopfjägerexpedition eine Mil- 

1) Das Material soll in meinem Buch „The pointing bone“ veröffentlicht werden. 

2) J. P. Klei weg de Z waan: Die Insel Nias bei Sumatra. I. Die Heilkunde der Niasser. 
1913. 32. 

3) H. Ling-Roth: The Natives of Sarawak and British North Borneo. 1896. II. 159. 

4) W. H. R. Rivers: The History of Melanesien Society 1914. II. ioo ( 101. 

7 Imago IX li 









g 8 G. R Ö HEIM 

derungsform des Köpfens ist, und wenn also „der Geköpfte“ zum 
Häuptling wird, so ist es eigentlich der tote Häuptling, den man 
köpfen (kastrieren) will. Die Tugeri in Neu-Guinea fragen den Namen 
ihres Opfers, bevor sie ihm den Kopf abschlagen. Mit dem Namen 
verfügen sie über seine Seele und geben diese Seele ihrem eigenen 
Sohn oder einem Kinde aus der Verwandtschaft als Schutzgeist. Dies 
geschieht, indem das Kind umgetauft wird und von nun ab den Namen 
des getöteten Feindes erhält 1 . D. h. Kind und Feind werden identi¬ 
fiziert, der Feind wird an Stelle des Sohnes wie oben an Stelle des 
Vaters getötet. Die gewaltsame Tat, welche von der Melancholie der 
Trauer befreit, ist daher eine Wiederholung jener Urtat, welche die 
Trauer zuerst hervorrief, aber an einem neuen Objekt. Nicht die Ur¬ 
tat wird in der Manie wiederholt, sondern diese Wieder¬ 
holung, darum hinkt sie der Melancholie nach. Wir haben jetzt das 
vollkommene Bild beisammen, ganz wie es Prof. Freud annahm, aber 
bisher, die obige Schwierigkeit in der Reihenfolge berücksichtigend, 
nicht ausführte. Die Söhne erschlugen den Vater in einer Phase der 
manischen Erregung und verfielen darauf in die erste Melancholie, 
entstehend aus demKonfliktdes neuerworbenen Tch-Tdeals mit demalten 
Aktual-Ich und aus der neurotischen Hemmung der oralen Funktio¬ 
nen nach dem Verzehren des Urvaters. Auch die Periodizität dieser 
Affektion ließe sich auf dieser Grundlage als archaischer Rest einer 
tierischen Erbschaft deuten. Wir haben es ja bereits evident gemacht, 
daß der Urvater nur in der Brunstzeit erschlagen werden konnte 2 . 
Nur zur Brunstzeit konnten die zielgehemmten in direkte Sexualtriebe 
zurückverwandelt werden, nur in der Brunstzeit konnten sie den Mut 
aufbringen, den Vater anzugreifen, wie übrigens auch nur damals eine 
Ursache dazu vorhanden war. Das Benehmen eines Manischen ist dem 
einesTieres in der Brunstperiode nicht so unähnlich,und damit wäre auch 

1) G. A. Wilken: De Verspreide Geschritten. IV. 1912. 79—81. 

2) Leider bin ich wieder gezwungen, mich hier auf noch unveröffentlichte Arbeiten, 
namentlich auf meine Deutung der zentral-australischen Intichiumnritcn als Überbleibsel 
der Brunstzeit und Wiederholungen des Ödipuskonfliktes der Urhorde, zu berufen. Siehe 
übrigens Zeitschrift VI, 39G und VII. 524. 










NACHDEM TODE DES URVATERS 99 

das Überströmen der Besetzungen auf die Objekte erklärt. Die Melan¬ 
cholie entspräche dann der Periode der reinen Nahrungsaufnahme, 
der Zurückziehung der Libido von den Objekten und der Konzentrie¬ 
rung der Libidomengen im Ich. Freilich nicht einer normalen, sondern 
einer gestörten Unbrunstperiode; die Nahrungsaufnahme ist eben durch 
das keimende Sündenbewußtsein, durch die Ichspaltung gestört; man 
ißt nichts, weil man den Urvater gegessen hat. 

In Indonesien dauert die Trauerzeit solange, bis man einen feindlichen 
Schädel erbeutet hat, in Australien bis ein Feind zur Sühne des Zauber¬ 
mordes getötet wurde. In der manischen Phase dieser Kriegszüge wird 
der Konfliktstoff der Melancholie wieder nach außen verlegt, so wie 
die rassengeschichtliche Periode der Bruderkriege (endopsychischer 
Konflikt der Melancholie) durch das Auftreten einer fremden Horde 
ihr Ende nahm. Damals konnten nur jene Horden im Kampf ums 
Dasein bestehen, die eine Organisation mit mehreren verbündeten 
Männern schufen und dieser Männerbund war erotisch auf den 
homosexuellen Lustgewinn im Gemeinbesitz der Frauen (Gruppenehe) 
basiert. Der Zusammenstoß erfolgte nun und in der Tötung des Feindes 
wurde der Vatermord, in der Vergewaltigung der fremden Weiber 
der Inzest wiederholt 1 . Die Manie ist eigentlich nicht unmittelbar die 
Wiederholung der Urtat des Vatermordes, sondern die Wiederholung 
einer Wiederholung an einem Ersatzobjekt, welche eine Periode des 
innerstämmlichen Konfliktes der Rassengeschichte beendete. Daher 
folgt die Manie auch klinisch der Melancholie. Sowie der einzelne 
erst nur die libidinösen Bindungen der Familie kennt, dann in der 
Pubertätszeit im Gemeinbesitz der Weiber mit anderen Männern lebt 
(freie Liebe, Prostitution), endlich den Lebenskampf bestehend, sich eine 
fremde Frau erwirbt, folgte in der Geschichte der Rasse auf den Ur- 
hordenzustand die Gruppenehe und auf die Gruppenehe die Exogamie 2 . 

1) Diese Auffassung von der Bedeutung der fremden Horde in der Stammesgeschichte 
soll an anderer Stelle ausführlicher begründet werden. 

2) Vgl. über die Reihenfolge der Gesellschaftsformen teilweise abweichende, teilweise 
auch ähnliche Theorien in der psychoanalytischen Literatur. Freud: Massenpsychologie 
125. J. C. Flügel; The Psycho-Analytic Study of the Family. 1921. 178, 179 








700 C. RÖHE IM 

Die Nachtrauerzeit bedeutet die Wiederholung dieser Epoche der 
Menschheitsgeschichte von dem Tode eines Stammesmitgliedes (Vater) 
bis zum Tode eines Fremden, von dem Ödipuskampf durch die Ur- 
melancholie zur Wiederholung des Ödipuskampfes an einem neuen 
Objekt in der Urmanie. Die Theophagie, das Aufessen des toten Vaters, 
bedeutet den Anfang, die Wiederholung dieser Tat an einem Tier 
oder an dem Feind das Ende dieser Periode. In der Umkehrungsform 
finden wir diese Urszene in den Berichten über die Initiation der 
australischen Schamanen. Der Schamane wird von den Geistern wie 
ein Wildbret in Stücke zerlegt, dann wieder schön zusammengesetzt 
und in einer neuen, übernatürlichen Form zu neuem Leben erweckt. 
Die Geister, die dies tun, sind Ahnengeister, d. h. Vertreter der Vater¬ 
imago. 

Die Erzählung ist uns genau wie bei der Pubertätsfeier in Um¬ 
kehrungsform überliefert; es sollte heißen, die Söhne töteten und aßen 
den Vater und indem sie sich mit ihm identifizierten, brachen sie die 
Schranken der Masse durch und gewannen von dem Vater, der in 
ihnen, als ein Teil ihres Selbst auferstanden war, eine neue überinfan¬ 
tile, d. h. überirdische Macht 1 . Ein Zug der Berichte bleibt aber un¬ 
erklärt, nämlich der Quarzkristall, Zwei Werkzeuge charakterisieren 
den australischen Schamanen, der Zauberknochen und der magische 
Quarzkristall. Können wir diese beide als Objeklivationen mensch¬ 
licher Triebrichtungen aufzeigen, so haben wir das Rätsel des austra¬ 
lischen Medizinmannes gelöst und damit wahrscheinlich auch den 
Geist der Medizin und der empirischen Wissenschaft im allgemeinen 
in statu nascendi erfaßt. Der Quarzkristall muß irgendwie mit den 
Eingeweiden Zusammenhängen und irgendein Stoff sein, in den sich 
das gegessene Fleisch des Vaters verwandelt hat, denn es heißt ja 
regelmäßig, die Geister entleiben den zukünftigen Doktor der Medi¬ 
zin und versehen ihn an Stelle der vergänglichen menschlichen Ein- 

i) Über Schamanenweihen in Australien siehe vorläufig Hubert et Mauss: L’Ori- 
gine des Pouvoirs Magiques dans les Soci6tds Australiennes. Melange* d’Histoire des Rcli- 
gions. 1909. 131. 












NA CB D£M TOJIJ^ U£J^ATERS JOI 

geweide mit funkelnagelneuen Geisterverdauungsorganen und außer¬ 
dem mit einem Quarzkristall, welcher sich auch im Bauch oder in den 
Eingeweiden des Medizinmannes aufhält. Unseren Voraussetzungen 
entsprechend, werden wir sagen, das Fleisch des gegessenen Vaters hat 
sich in ein Exkrementalsymbol verwandelt oder wie einige austra¬ 
lische Stämme sich ausdrücken, die Quarzkristalle sind die Exkremente 
des Himmelsgottes 1 . Wir werden es leicht verstehen, was es heißt, 
wenn der Quarzkristall in einem Wirbelwind einherfährt 2 , wenn es 
sich im Innern des Schamanen als eigentlicher Sitz seiner Macht be¬ 
findet und von ihm als tötliche Waffe in die Menschen hinein pro¬ 
jiziert wird 3 . In Westaustralien heißt es laut Salvado, der Zauberer 
„Boglia-Gadak“ erhalte den Zauberstoff Boglia erst nach dem Tode 
seines Vaters, d. h. nachdem er ihn getötet hat 4 . Ebenso erhält bei 
den Awabakal der Zauberer den magischen Menschenknochen, wenn 
er an einem Grabe schläft 5 . Das Boglia hält sich im Bauche des Zau¬ 
berers auf und wird von ihm in die Leute, die er töten will, hinein¬ 
geschossen 6 . Laut O ld field ist die einzige Quelle des Boglia der mensch¬ 
liche Körper, inbesondere der Anus 7 . Analoges findet sich in verschie¬ 
denen Erdteilen, z. B. in Neu-Guinea. Hier verläßt der Labuni, ein 
Krankheitsstoff wie der Boglia, den Körper des Zauberers per rectum 8 . 

1) G. F. Angas; Savage Life and Scenes in Australia and New Zealand. 1847. II. 224. 
E. Palmer: Notes on some Australian Tribes. Journal of the Anthr. Inst. XIII. 296. Exkre¬ 
mente des großen Geiers bei den Kobeua. Koch-Grünberg: Zwei Jahre unter den India¬ 
nern. 1910. II. 155 . Vgl. meine Auffassung der leichenfressenden Tiere als erster Totem- 
tiere, Zeitschrift VII. 524. Über den Geier als primitives Totemtier der südamerikanischen 
Völker in einer folgenden Arbeit. 

2) A. W. Howitt: On Australian Medicine Men. Journ. Anthr. Inst, 1886. XVI. 90. 
Derselbe: The Native Tribes of South-East Australia. 1904. 565. 

3) Howitt: Native Tribes. 553. K. L. Parker: The Enablayi Tribe. igog. 35. usw. 

4) Monsig. D. Rudesindo Salvado: Memorie storiche dell’ Australia, particolarmente 
di Nuova Norcia e degli usi e costumi degli Australiani. 1851. 291. 

5) L. E. Threlkeld: An Australian Language as spoken by the Awabakal. 1892. 48. 

6) Salvado: 1 . c. 299. Grey: Journals of two Expeditions to North West and Western 
Australia. 1841. II. 84. 321, 337. 

7) A. Oldfield: On the Aborigines of Australia. Transactions of the Ethnological So¬ 
ciety. III. 235. 

8) C. G. Seligmann: The Meianesians of British New-Guinea. 1910. 640. 








102 G. R 6 HEIM 

Die Bedeutung des Quarzkristalls ist allerdings eine ambivalente, 
denn der Medizinmann der Arunta wirft ja seine „Ainongara-Steine“ 
in die Patienten, jedoch nicht um sie, wie sonst, krank zu machen, 
sondern um die Wirkung der bösen Geschosse zu vernichten und den 
Kranken zu heilen 1 2 . Es überwiegt aber die letale W irkung, als deren 
Reaktionsbildung die Heilkraft zu betrachten ist. Die Anula im Norden 
kennen überhaupt nur böse Zauberer und sie lassen, in ernsten Fällen, 
die Medizinmänner der Nachbarstämme holen*. Als ärztliches Hono¬ 
rar gelten bei den Kobeua Carayurafarbe, Capsicum, Töple, Hänge¬ 
matten, Bogen, aber niemals Pfeile 3 . Was hat es aber für eine Bewandt¬ 
nis mit den Pfeilen? Wahrscheinlich handelt es sich um etwas, das 
den Arzt besonders charakterisiert, dessen er sich aber schon schämt, 
da es einen überwundenen Standpunkt in seinem Entwicklungsgang 
darstellt. Denn sonst ist der Pfeil die Waffe der bösen Zauberer und 
Krankheitsdämonen 4 und es wäre eine unzarte Anspielung auf seine 
dunkle Vergangenheit, wollte man dem Arzt einen Pfeil verehren. 
Tatsächlich läßt es sich wenigsten in einem Falle nachweisen, wie eine 
Waffe zuerst in ihrer spielerischen Miniaturform zur magischen Waffe, 
dann zu einem Heilinstrument wird. Die Aderlaßbogen der Papua 
sind kleine Flitzbogen, mittels derer ein kleiner Pfeil auf eine be¬ 
stimmte Hautstelle geschleudert wird, um ein Blutgefäß zu treffen. 
Bei den Isthmus-Indianern schießt der Operateur einen kleinen Pfeil 
mit einem Bogen in verschiedene Teile des Körpers des Patienten, 
bis zufällig eine Vene geöffnet wird. Der Pfeil wird in kurzem Ab¬ 
stand von dem Punkte gehalten, um einem zu tiefen Eindringen vor¬ 
zubeugen 5 . Wenn wir demnach in den tötlichen Geschossen des bösen 


1) Spencer and Gillen: The Native Tribes of Central Australia. 1899. 525. 

2) Spencer and Gillen: Northern Tribes 488, 489. 

3 ) Koch-Grünberg: Zwei Jahre unter den Indianern. 1910. II. 156. 

4) Siehe die Quellen in meinem Buch „A vardzserö fogalmdnak eredete“. (Ursprung 
des Zauberkraftbegriffes) 1914. 63, 240. 

g) Buschan: Illustrierte Völkerkunde 1909, 192. Bartels: Die Mediiin der Natur¬ 
völker. 1893. 268. Spix und Martins: Heise in Brasilien. 1825. I, 385. H. H. Bancroft: 
The Native Races of the Pacific States. 1875. I. 779. 













NA CB DEM TODE DES URVATERS 


103 


Zauberers die Vorbilder der Heiltätigkeit, in dem bösen, oder wie es 
häufig heißt, schwarzen Zauberer den Vorläufer des Arztes zu erblicken 
haben, so wird es von Wichtigkeit sein, zu erfahren, ob wir auch auf 
dieser Stufe ein besonderes Hervortreten der analerotischen Komplexe 
beobachten können. Nun ist die Tätigkeit des primitiven Zauberers 
im Grunde genommen ebenso einförmig und sich stets gleichbleibend 
wie die des Medizinmannes. Der Medizinmann ist ein Mensch, der 
Krankheitsstoffe, Quarzkristalle in seine Mitmenschen hineinschießt 
und diese dann wieder heraussaugt. Die Spezialität des schwarzen 
Zauberers ist es, die Exkremente, dann auch Körperschmutz, Speichel, 
Blut, Speisenüberreste, Fußspuren usw. anderer Leute zu verbrennen, 
um diese auf solche Weise zu töten 1 . Der „Bangal“ (Zauberer) tötet 
die Leute, indem er ihre Exkremente verbrennt. Auf diese Exkremente, 
die er sammelt, wirft sich der Zauberer „wie ein Geizhals auf den 
Schatz“ sagt Beveridge 2 . 

Der schwarze Zauberer ist also jemand, der seine Feinde durch das 
Verbrennen ihrer Exkremente tötet. In dem Zauberer, d. h. dem 
schwarzen Zauberer, finden wir eine Übergangsform zwischen sadi¬ 
stisch-analerotischer Perversion und Zwangsneurose. Eine Verschiebung 
der direkten anal-sadistischen Tätigkeit auf die Exkremente sowie die 
Regression von der direkten Tat zur halluzinatorischen Wunscherfül- 
lung, einer Handlung aus der Entfernung, ist bereits eingetreten, aber 
von einer eigentlichen Verdrängung dieser Triebe kann noch nicht 
die Rede sein. Diese erfolgt erst, indem der schwarze zum weißen 
Zauberer, der Mörder zum Heilkünstler wird und somit können wir 
sagen, daß die ärztliche Wissenschaft genau wie die Zwangs¬ 
neurose ihre Entstehung der Verdrängung der sadistisch-analen 
Partialtriebe verdankt, daß somit der erste Zwangsneurotiker auch 
der erste Arzt gewesen ist. Zu dem Hineinschießen des Krankheits- 

1) Siehe Fra*er: Taboo and Perils of the Soul. 1911. Rdheim: Das Selbst. Imago. VII. 
1—gp. (Körperschmutz, Speisenüberreste usw. als Exkrementalsymbole zu betrachten.) 

2) P. Beveridge: On the Aborigines inhabiting the Great Lacustrine and Riverine 
Depression of the Lower Murray etc. Journal and Proceedings of the Royal Society of N. 
S. W. XVII. 70. 









104 _ G. R 6HEIM 

Stoffes bei den Primitiven bietet ein Fall,den Brill beschreibt,die voll¬ 
kommenste Analogie. Patient, 39 Jahre alt, leidet an Zwangsneurose. 
Er ist von Grübelzwang und Befürchtungen obsediert, die sich alle 
darauf beziehen, daß jemand getötet wird. Sein infantiles Sexualleben 
war durch eine erhöhte anale Tätigkeit charakterisiert, am merk¬ 
würdigsten war aber sein Hang zu Grausamkeiten. Er lernte früh mit 
Schießwaffen umgehen; er schoß kleine Vögel, Hasen und Eichhörn¬ 
chen. In der Pubertätszeit wurde er plötzlich voller Mitleid ; und eines 
Tages verspürte er nach dem Schießen eines Eichhorns Gewissensbisse. 
Von diesem Tage angefangen wurde es ihm sehr schwer zu schießen. 
Mit achtzehn Jahren setzte die eigentliche Zwangsneurose ein; jetzt 
litt er fortwährend an Obstipation. Medikamente halfen nichts, bis er 
eines Tages folgendes Spiel erfand, welches auch den gewünschten 
Erfolg hatte. Er spielte mit einer Spule von Zwirn, an der sich das 
Bild eines Kindes befand. Er rollte die Spule und beim Anblick des 
Bildes steckte er eine Nadel hinein. Nach vier oder fünf Minuten be¬ 
kam er Stuhl. Später wurde das Spiel abgekürzt, er zeichnete ein Bild 
auf ein Papier und stellte sich vor, es sei ein Mädchen und warf seine 
Feder auf das Bild. Am Land nahm er sein Gewehr und feuerte ein paar 
Schüsse ab, und indem er sich vorstellte, er schieße Indianer, bekam er 
sofort Stuhl. In diesem Falle ist der Parallelismus zwischen Schießen 
und Defäzieren = Nichtschießen können, Verdrängung des Sadismus 
und Obstipation ganz evident. Ja er wiederholt sogar genau die Riten 
der primitiven Zauberer; auch diese stecken Nadeln in ein Bild, wo¬ 
bei die Handlung, da es sich um Liebeszauber oder um die Rache 
des verschmähten Geliebten handelt, auch als Coitus aufzufassen ist 1 . 
Das Kind, welches an der Spule herumgerollt wird, bedeutet die Fäzes 
und der Analogiezauber ist wirklich von Erfolg gekrönt, indem er diese 
tatsächlich hervorlockt. Aus dem Spiel mit der Feder, Herumwerfen 
der Nadel und Feder kam ihm einmal die Zwangsvorstellung, eine 
Nadel sei durch das Fenster in den Garten gefallen und von einem Kind 
verschluckt worden; ursprünglich, wie das Spiel zeigt, ein Wunsch, 

1) Vgl. Röhe im: Das Selbst. Imago. VII. 325. 
















_ NACH DJLM~ TOIHE DEJ^ 6 7 kg Jg ,y 105 

welcher in eine quälende Angstvorstellung verwandelt wurde 1 . Ein 
Schritt weiter und er könnte den Zwang verspüren, Nadeln aus den 
Kindern zu entfernen, um sie vor dem Tode, den er selbst verursachen 
wollte, zu retten. 

Es ist daher nicht abzuweisen, daß wir in der Zwangsneurose den 
eigentlichen Schlüssel zu den Anfängen der Medizin gefunden haben. 
Das Hauptcharakteristikum dieser Psychoneurose, das Gefühl unter 
dem Drucke eines unwiderstehlichen Zwanges zu handeln, findet sich 
in zwei Formen. Erstens in der ursprünglichen Form; der Medizin¬ 
mann glaubt anders handeln zu wollen, aber dem Diktat eines über¬ 
mächtigen Geister Zwanges nicht widerstehen zu können. Täglich be¬ 
obachtet er ein kompliziertes R itual, welches um jeden Preis ausgeführt 
werden muß. Wenn Freud gelegentlich die Zwangsneurose als die 
Tabu-Krankheit bezeichnet, so müssen wir sagen, daß der Medizin¬ 
mann mehr als jeder andere Primitive sich durch ein Urdickicht von 
Tabus durchwinden muß. Dann die zweite Form. Selbst von dem Ge¬ 
fühle eines unwiderstehlichen Zwanges beherrscht, projiziert er dieses 
Gefühl in die Außenwelt; er bezwingt, anstatt bezwungen zu werden. 
Er selbst kann den dunklen Trieben in seinem Unbewußten nicht 
widerstehen, ebensowenig können dies daher andere, kann es die un¬ 
belebte Natur den Zwangshandlungen oder Riten gegenüber, die diesen 
Trieben entspringen. Hier kommen wir wieder auf die Analerotik 
als Erklärungsprinzip. Ferenczi erklärt das infantile Allmachtsgefühl 
als eine Projektion der Tatsache, daß man dem analen Drang nicht 
widerstehen kann und er bemerkt, daß die Phase der magischen 
Worte und Gebärden beim Kinde ja hauptsächlich im Dienste seiner 
exkrementeilen Funktionen steht 2 und hier materialisiert sich die All¬ 
macht des Medizinmannes tatsächlich in einem Exkrementalsymbol 
(Quarzkristall). Daher werden auch die Zaubersprüche der Medizin¬ 
männer genau so mit der exkrementellen Tätigkeit Zusammenhängen 

1) A. A. Brill: Psychanalysis. 19x4. 328. 

2) Vgl. Ferenczi: Entwicklungsstufen des Wirklichkeitssinnes. Zeitschrift I. 125, 130. 
Derselbe: Contributions to Psychoanalysis. 1916. 183. 









io6 G. RÖHEIM 

wie seine Gewohnheit, die verschiedensten nutzlosen Gegenstände in 
seinem Medizinsack zu sammeln und mit Libido, d. h. mit magischer 
Kraft zu besetzen 1 . Die Grübelsucht des Zwangsneurotikers stammt 
aus der Ambivalenz sowie aus einer weitgehenden Libidobesetzung 
des Denkens und wäre wohl geeignet, die Entstehung der medizi¬ 
nischen Theorie sowie der theoretischen Wissenschaft überhaupt zu 
erklären. 

Im großen und ganzen muß man sich daher sagen, daß alle Heil¬ 
verfahren des primitiven Arztes auf eine gemeinsame Wurzel zurück¬ 
zureichen scheinen. In allen Fällen wird an dem Körper des Kranken 
geschnitten, geknetet oder gesaugt, er wird beleckt und bepustet 
und ein Gegenstand, der nun als materialisierte Form der Krankheit 
gilt, wird aus ihm entfernt. Es ist schwer, eine so weitgehende Über¬ 
einstimmung der verschiedensten Volker und Hassen überall an Ort 
und Stelle unabhängig entstehen zu lassen, nehmen wir aber mit 
Tylor eine Wanderung dieser Sitte an 2 , so muß sie eben mit der 
Menschheit gewandert sein, d. h. als ein gemeinsames Erbe der ver¬ 
schiedenen Rassen gelten, die sie alle von ihren gemeinsamen Vor¬ 
menschenahnen mitbrachten. Eine solche Auflassung der Saugheil¬ 
methode als ur- und vormenschlich steht durchaus in Übereinstimmung 
mit dem biogenetischen Grundgesetz, da wir ja dieselbe Tätigkeit, näm¬ 
lich das Saugen, auch beim Kinde am Anfang aller Entwickelung 
finden. Da der Medizinmann hauptsächlich durch Saugen heilt, müssen 
wir eine Fixierung auf einer sehr frühen Stufe der Libido-Entwicke¬ 
lung bei ihm annehmen, auf jener Stufe nämlich, in welcher die ein¬ 
zige oder hauptsächliche Lustbetätigung des Kindes in dem Saugen 
der Mutterbrust besteht. Der Medizinmann überträgt seine infantile 
Sauglust auf den Patienten und wir müssen daher sagen, die For¬ 
schungsreisen des Arztes auf dem Körper des Kranken, um die Krank- 

1) Das Material zu diesen Behauptungen über den Medizinmann soll in Buchform mit- 
geteilt werden — ist aber in großen Zügen als wohlbekannt vorausgesetzt. 

2) E. B. Tylor: Researches into the Early History of Mankind and tkc Development 
of Civilization. 1870. 279—281, 


















NACH DEM TODE DES URVATERS 


IO7 


heitsstelle aufzusuchen, seien Neuauflagen der tastenden Bewegungen 
des Kindes, das die Mutterbrust sucht. Wir haben hier die kultur¬ 
historischen Äquivalente der bekannten Rettungsphantasie; der 
Mutter das Leben verdankend, rettet der Arzt die Kranken. Nun be¬ 
zeichnet aber Abraham jene erste Phase der Libido-Entwickelung als 
die orale oder kannibalistische Stufe und gibt uns somit schon einen 
Wink, um die Differenzierungsstelle des ärzlichen Berufes nicht nur 
in der Onto-, sondern auch in der Phylogenese nach weisen zu können. 
Kannibalistische und sadistische Phantasien ließen sich bei Abrahams 
Patienten auf jene Situation zurückführen, in welcher das Kind tat¬ 
sächlich Blut, d. h. Muttermilch saugt und unumschränkte Gewalt 
über die passiv sich darbietenden Brüste besitzt. Ein Patient erzählt, 
er habe seit seiner Kindheit „kannibalistische Vorstellungen“. Im vier¬ 
ten Lebensjahr hatte er eine Pflegerin gehabt, der er sehr zugetan 
war. Sie war es, die im Mittelpunkt der kannibalistischen Phantasien 
stand. Der Patient wünschte sich noch in späterer Zeit oft in sie hinein¬ 
zubeißen und sie mit Haut, Haaren und Kleidern zu verschlingen. Er 
verspürt manchmal ein plötzliches Verlangen nach Milch oder Fleisch 
und es scheint ihm, als suche er einen Ersatz für Menschenfleisch. 
Von hier führte die assoziative Bahn zu der Phantasie, in die weibliche 
Brust zu beißen und hier war dann die Verknüpfung von Fleisch und 
Milch unmittelbar gegeben 1 . Auch der Medizinmann verknüpft die 
Sauglust mit dem Kannibalismus in ebenso konstanter Weise. Wir 
haben ja oben bereits nachgewiesen, daß der Medizinmann oder Scha¬ 
mane sein Ich-Ideal durch Aufessen des Vaters in sich einverleibt und 
jetzt finden wir, daß er die Kranken durch Saugen heilt. Noch auf¬ 
fälliger aber ist dieser Zusammenhang bei dem bösen Zauberer; er 
wird ständig als ein Blutsauger und Menschenfresser bezeichnet. In 
Zentralafrika verwandelt sich der Zauberer durch seine Zaubermittel 
in eine Hyäne, einen Leoparden oder irgend ein anderes Tier, wel¬ 
ches Leichen frißt, Zauberei und Kannibalismus werden mit dem- 


1) K. Abraham: Klinische Beiträge zur Psychoanalyse. 1921. 239. 









ioS G. A‘ 6 HEIM 

selben Worte bezeichnet 1 , genau wie die Betoyasprachen in Süd¬ 
amerika nur ein Wort für den Zauberer und den Jaguar besitzen 2 . 
Bei den Ba Thonga vererbt sich die Kraft des bösen Zaubers durch 
die Mutter, sie wird mit der Muttermilch eingesogen. Diese Baloyi 
essen die Leute und sie töten sie auch, indem sie ihr Blut aussaugen. 
Der Baloyi hat nur Macht über seine eigenen Verwandten, die liefert 
er den anderen Baloyi aus zur gemeinsamen Kannibalenmahlzeit. Nicht 
nur der Zauberer und Menschenfresser, auch jeder, der Inzest 
begeht, ist ein Baloyi 3 . In Eweland sind die Hexen Leute, die ewig 
nach Blut lüstern sind. Sie setzen sich auf den Schlafenden und saugen 
an ihm, bis er stirbt. Anstatt Blut trinken sie auch Kokosnußwasser 
oder Palmwein 4 . Die Hexe oder „adze“ hängt aber auch mit der 
Analerotik zusammen, da dieses Wesen den Leuten ihr Eigentum 
stiehlt und wenn es nichts zu stehlen findet, die Gedärme ihrer Opfer 
frißt. Das „adze“ fühlt sich besonders durch den Misthaufen an¬ 
gezogen 5 . Die Grundlage des Subachentums in Westsudan besteht 
darin, daß man einem Mitglied der eigenen Familie die Macht zu¬ 
traut, das Leben des Mitmenschen zu stehlen und in kannibalischer 
Form verzehren zu können 6 . Ein Subache kann keinen Menschen in 
seine Gewalt bekommen, der ihm nicht verwandt und somit von 
Natur in gewissem Sinne zu eigen ist 7 . So ist es bei den Mande; die 
Bosso kennen aber einen anderen Typus, der mehr ein blutsaugendes 
wie ein menschenfleischessendes Wesen ist. Ein solches Wesen streift 
nicht nur die Kleider, sondern auch die Haut von seinem Körper ab 
und wird so ein über und über rotes Geschöpf, das überall die Mög¬ 
lichkeit findet, einzudringen. In dem Anus hat der Subache einen 


1) A. Werner: The Natives of British Central Africa. 1906. 84. Vgl. ebenda 169, 

2) Th. Koeh-Grünberg: Zwei Jahre unter den Indianern. 1910. II. 155. 

3 ) Junod; The Life of a South African Tribe 1915. II. 461—467 . 

4) J. Spieth: Die Ewe Stämme 1906. 682, 724. 

5) Spieth: 1 . c. 832, 850, 906. 

6) L. Frobenius: Kulturtypen aus dem Westsudan. 1910. (Lrgünzungsband XXXV. 
Petermanns Mitteilungen Nr. 166,) 76. 

7) Frobenius: 1 , c. 77. 













NACH DEM TODE DES URVATERS 109 

Saugapparat, der wie der Rüssel eines Elephanten gebildet ist. Den 
läßt er aus dem Leibe und führt ihn in die Mund Öffnung des Opfers 
oder auch durch die Nasenlöcher, um alles Blut aufzusaugen. Andere 
Subachen haben ein kleines Trichterchen, das wie ein Schröpfkopf 
gebildet ist, womit sie das Blut aufsaugen 1 . In Europa finden wir 
menschenfressende und blutsaugende Hexen und Vampyre und in 
einem italienischen Märchen benützen die Hexen sogar direkt eine 
Art Schröpfkopf, um ihren Opfern das Blut zu entziehen 2 . 

Wir können nun den Vergleich zwischen dem Todeszauberer und 
dem Medizinmann fortsetzen. Der Zauberer stiehlt die Exkremente, 
um sie zu verbrennen, der Medizinmann macht krank, aber er heilt 
auch, indem er Exkrementalsymbole in den Körper hineinschießt, 
die er dann durch Saugen entfernt. So wie die lebensrettende Tätig¬ 
keit des Medizinmannes eigentlich eine Umkehrung der lebensspen¬ 
denden Tätigkeit der Mutter ist, sehen wir auch hier eine teilweise Um¬ 
kehrung der physiologischen Vorgänge. Das Kind saugt Milch aus der 
Mutter und gibt es in der Form von Exkrementen von sich; der Medizin¬ 
mann schießt Exkremente in seine Opfer und saugt nicht Milch, son¬ 
dern Exkremente heraus. Medizinmann und Zauberer gehören 
zueinander wie die Kehrseiten einer Medaille; beim Zauberer finden 
wir die sadistisch-unsublimierten, beim Medizinmann dieselben Triebe 
in einer durch Identifikation mit dem Opfer gehemmten, d. h. subli¬ 
mierten Form. Der Zauberer läßt seinem Opfer das Blut aus den Adern 
fließen, oder er saugt an ihm, bis er stirbt; der Medizinmann tut 
eigentlich dasselbe, er läßt seinen Patienten zur Ader, er saugt Blut 
oder andere Substanzen aus der Wunde, er beleckt die kranke Stelle — 
aber anstatt den Patienten, nachdem er doch schon die Anstalten da¬ 
zu getroffen hat, ganz aufzufressen, heilt er ihn 3 . Jm großen und ganzen 

1) Frobenius: 1 . c. 82. 

2) Siehe das Material in Röheim: Adaldkok a magyar nepliithez (Beiträge zum unga¬ 
rischen Volksglauben.) 1920 und das italienische Märchen in Lei and: Etruscan Roman 
Remains. 218. 

3) Hier berühren sich meine Ausführungen aufs engste mit denen von Dr. Simmel, 
der in seinem Berliner Kongreßvortrag darüber sprach, daß der Patient in der Analyse den 









IIO G. K OHEIM 

darf der Zauberer als Analerotiker, der Medizinmann oder Arzt als Anal¬ 
charakter gelten. Das Kind spielt mit seinen Exkrementen und rea¬ 
giert mit Haß auf jede Einmischung in seine Lustsphäre. In diesem 
Haß, der zuerst den Eltern gilt, sieht Jones das Vorbild der ambi¬ 
valenten Störung des späteren Liebeslebens * 1 . Der primitive Zauberer 
findet, den Gang der Phylogenese wiederholend, Elternsubstitute im 
Fremden, dem er nach den Exkrementen trachtet und den er haßt, 
aber mit dem er sich auch identifiziert. Gewöhnlich übt er das Zauber¬ 
wesen als Haupt-, das Heilen als Nebenbeschäftigung aus; später wird 
das Heilen allein bewußtseinsfähig, aber noch lange bezichtigen ihn 
die Spötter, Unbewußtes richtig herausspürend, mörderischer Absichten. 
„Der billigste Gassenwitz aller Zeiten und ein steter Trumpf in der 
Hand aller Hohlköpfe war es, den Arzt als Mörder seiner Patienten 
hinzustellen“ — sagt Holländer. Ja man beneidete ihn quasi um 
sein angestammtes Recht: Solis medicis licet impune occidere 2 . Wenn 
Martial schreibt: Nu per erat medicus nunc est vespülo Diaulus , Quod 
vespülo facityfecerat et medicus*, so heißt es hier so im Spaß, war aber ge¬ 
wiß einst Volksglaube, wonach sich der böse Zauberer und dann auch der 
Arzt in leichenfressende Tiere verwandeln kann. Der Arzt ist aber 
auch der erste Sammler, der einzige unter den Primitiven, der seinen 
Nahrungserwerb nicht direkt, indem er ein Tier tötet, betreibt, son¬ 
dern einen Lohn, Bezahlung erhält. Als Analcharakter ist er der erste 
Kapitalist; heißt es ja noch im Mittelalter dat Galenus opes und wel¬ 
cher Art diese „opes“ ursprünglich sind, erfahren wir auch: „Stercus 
et urina mcdici sunt prandia prima , Ex aliis paleas existis collige 


Arzt eigentlich aufißt, d. h. in sich introjiziert (zum Ich-Ideal nimmt') und den Gegessenen 
dann auch mit den eigenen Exkrementen identifiziert. Über den Stoffwechsel als Grund¬ 
lage des Handels (Nahrung = Muttermilch, Geld = Fäzes) an anderer Stelle. Die Iden¬ 
tifizierung eines „aufgegessenen“ Liebesobjektes mit den Fäzes hat auch Dr. Abraham bei 
Melancholikern festgestellt (Berliner Kongreß vertrag). 

1) E. Jones: Haß und Analerotik in der Zwangsneurose. Zeitschrift. I. 427. Derselbe: 
Papers on Psycho-Analysis 1918. 545. 

2 ) E. Holländer: Die Karikatur und Satire in der Medizin. 1905. 174. 

5^ Holländer: 175. 










NACH DEM TODE DES URVATERS 


nr 


grana ue . In Australien sind der Quarzkristall (Analerotik) und der töd¬ 
liche Zauberknochen eines Toten (Sadismus) die beiden Attribute des 
Arztes, bei den Primitiven wie im Mittelalter ist das Aderlässen die 
Urform der Chirurgie und das Purgativmittel das Alpha und Omega 
der inneren Heilkunde. — „Das Trifolium der Therapeutik war das 
Klistier, der Aderlaß und die Purganz“ sagt Holländer 1 2 . So wie die 
aggressiven Symptomhandlungen der Zwangsneurotiker von ihnen 
selbst häufig als Schutzhandlungen, die der Besorgnis um das Leben 
geliebter Verwandten entspringen, gedeutet werden, so dienen auch 
die sadistischen Handlungen des Medizinmannes angeblich dazu, um 
dem Kranken das Leben zu retten. Eigentlich sind sowohl der 
Zauberer wie der Medizinmann schon Zwangsneurotiker zu nennen, 
nur daß sich die Zwangsneurose des Zauberers noch in einer primi¬ 
tiveren Phase der Umbildung befindet. Bei dem Zauberer haben 
wir eine Hemmung der sadistisch-analen Handlung und einen Ver¬ 
schiebungsersatz 3 , bei dem Medizinmann aber auch die Umkehrung 
d. h. Reaktionsbildung. Die Reaktionsbildung wird durch die Iden¬ 
tifizierung mit dem Patienten bedingt und wir haben bereits nach¬ 
gewiesen, daß das Verzehren des Vaters als Urform der Identifizierung 
aufzufassen ist. Dementsprechend finden wir den Zauberer und 
Medizinmann als Vertreter der Vaterimago, da er sich ja in der Kanni¬ 
balenmahlzeit mit dem Urvater identifiziert hat; der Vater spendet, 
der Medizinmann rettet das Leben. Tatsächlich spielt der Kanni¬ 
balismus eine bedeutende Rolle im Leben des Zauberers und Medizin¬ 
mannes; er erwirbt seine Fähigkeit, indem er Menschenfleisch ißt, 
oder aufgegessen wird und übt sie aus, indem er andere auffrißt und 
tötet, oder das Fressen bloß andeutet und heilt. Es kann keinem 
Zweifel unterliegen, daß das Applizieren der Lippen auf die wunde 
Stelle eines hilflos daliegenden Mitmenschen als Überbleibsel des Auf¬ 
fressens zu betrachten ist und aus dieser destruktiven Handlung ist 


1) Holländer: 1 . c. 181. 

2) Holländer: 1 . c. 220. 

3) Verbrennen der Exkremente an Stelle des anal-sadistischen Coitus. 












/12 G.RÖHE 1 M 

die große lebensschützende Organisation der Kulturmenschheit mit 
all ihren ärztlichen Fakultäten und Vereinigungen geworden. — 

Wir fragen jetzt: aßen alle Brüder der Horde vom fleisch des Vaters? 
Gewiß nur diejenigen, die zur Zeit des Vatermordes genügend stark 
waren, um sich einen Bissen sichern zu können, und deshalb setzte 
bei diesen, die auch an dem nachfolgenden Bruderkrieg teilnahmen, 
die Verdrängung durch anale und orale Gegenbesetzung der Leiche 
ein. Diese bildeten den ersten Männerbund und das Verdrängte 
in ihnen gab den Anlaß zur Geheimtuerei in ihren Riten'. Unter 
ihnen wird es aber auch schon dispositioneile Momente, Unterschiede 
in der Verteilung der Libidoquantitäten unter den Partialtrieben ge¬ 
geben haben. Manche waren stärker in den libidinosen Trieben 
fixiert, die mit den Nahrungsfunktionen Zusammenhängen, in der 
Oral- und Analerotik. Diese blieben lebenslang an der Gegen¬ 
besetzung fixiert, sie hörten nicht auf, von dem toten Vater zu essen 
und sich selbst mit dem faulenden Leichnam zu identifizieren, während 
andere diese Stufe nach Beendigung der Trauerperiode überwunden 
hatten. Der Vater, den sie aufgegessen hatten, war die Verdrängung 
in ihnen; das Trennende, welches sie an der Ausführung ihrer geni¬ 
talen Ödipuswünsche hemmte und sie zur Regression in die prägeni¬ 
talen Organisationsstufen zwang. Indem dann auch diese der Ver¬ 
drängung anheimfallen, entsteht heute eine Zwangsneurose, einst ent¬ 
stand auf diesem Wege die Medizin. Hören wir was Parkinson 
über die Einwohner der Gazelle-Halbinsel zu sagen hat. „Die ana¬ 
tomischen Kenntnisse der Eingeborenen sind, wohl infolge des 
Kannibalismus und dadurch erlangter Kenntnis von der Zusammen¬ 
setzung des menschlichen Körpers und der Bedeutung der einzelnen 
Organe recht beträchtlich; man darf behaupten, daß ihre Kenntnisse 
in dieser Beziehung die eines gebildeten Durchschnittseuropäers 
bei weitem übertreffen. Sie können genau die Lage der einzelnen 
Körperteile angeben und sind imstande zu beurteilen, ob Leber, Lunge, 


1) Vgl. W. H. R. Rivers: Dreams and Primitive Cultnre 1917/1918- 19- 















NACH DEM TODE DES URVATERS 


Z J1 

Magen usw. in Mitleidenschaft gezogen sind 1 . Wenn aber die ana¬ 
tomischen Kenntnisse des Urmenschen von der Kannibalenmahlzeit 
herstammen, so werden wir wohl auf der richtigen Spur sein, wenn 
wir auch die medizinische Wissenschaft auf diese Urquelle zurück¬ 
führen. — 

Also ist der Zauberer ein Menschenfresser und Blutsauger, 
Blut wird ein Ersatz der Muttermilch. Als die Brüder den Vater 
getötet, sein Fleisch gegessen und sein Blut getrunken hatten, regre- 
dierten sie in die erste ontogenetische Phase der Libidoentwicklungen, 
in die kannibalisch-oralerotische Organisation. 

Indem sie den Saugakt nun in der Theophagie des Vateressens 
wiederholten, wurde die Gegenbesetzung der väterlichen Leiche als 
Grundlage der ersten Hemmung, später der Verdrängung des Ödipus¬ 
komplexes geschaffen. Die Besetzung, welche zur Libidinisierung 
der Leiche diente, wurde aber dem Ur-Objekt, der Mutter ent¬ 
zogen und behielt die Spuren seines Urzieles an seiner neuen Ver¬ 
wendungstelle. Wenn die Arunta ihr Blut auf den Felsen fließen 
lassen, unter dem der Urahne des Känguruh-Totems begraben liegt, 
springen die jungen Känguruhgeister aus dem Felsen hervor. Nun 
haben wir aber gesehen, daß das Fließenlassen des Blutes die Emissio 
seminis bedeutet; das Felsengrab des Ahnen, aus dem die Känguruhs 
geboren werden, ist die Vagina. Unter dem Felsen liegt aber der 
Totemvater begraben 2 , es scheint, als habe die Leiche durch die Be¬ 
setzung mit infantil-oralerotischer Libido in der Kannibalenmahl¬ 
zeit, mütterliche Qualitäten erhalten. Diese Libidoverschiebung 
scheint auch hinter der Wiedergeburt der Männerweiheriten ver¬ 
borgen zu sein. Die Jünglinge, heißt es, werden von einem männ¬ 
lichen Wesen getötet und gefressen; d. h. in der Umkehrung, sie essen 
den getöteten Vater und da dieses Essen in ihnen die lustbetonten Spuren 

1) R. Parkinson: Dreißig Jahre in der Südsee* 1907. 107. 

2) Die Beschreibung des Ritus siehe bei Spencer und Gillen, sowie Strehlow. Die 
Darstellung im Text setzt natürlich die Ergebnisse meiner Deutung im„Australian Totemism“ 
voraus. 


8 IgmaoIX/i 









H4 G, R Ö HEIM 

des ersten Saugaktes wiederbelebt, weiden sie nun die Kinder des 
Vaters, vom Vater wiedergeboren, sie identifizieren sich mit ihm an 
Stelle der Mutter. „Die Wiedergeburt ist eine Ablösung vom Weibe 
und soll die jungen Leute enger an die männliche Gesellschaft ziehen 1 2 .“ 
Nun gibt es eine Reihe von Riten, in denen diese Wiedergeburt von 
dem getöteten Vater, der auch die Mutter bedeutet, dargestellt wird. 
Tn seiner Abhandlung über den Kolnidre hat R ei kauf den Zusammen¬ 
hang zwischen dem Brith und dem Totemopfer hingewiesen 3 . Nur das 
eine scheint ihm entgangen zu sein, daß es sich im Durchschreiten 
durch die Teile eines getöteten Wesens um die Geburt handelt. „Die 
Verbrüderung dürfte eben der ursprüngliche Sinn des Ritus sein, wo¬ 
bei dann dem zerteilten Tiere, dem gespaltenen Baum oder Felsen 
eine mütterliche Bedeutung zukommt. Das Hindurchschreiten Jahves 
durch die zerteilten Tiere dürfte also dem Hindurchschreiten der Juden 
durch das Rote Meer gleichzusetzen und als Geburtsritus zu fassen 
sein 3 .“ Bei den Basuto erfolgt die Lustration, indem der Betreffende 
durch ein Loch im Körper des geschlachteten Tieres gezogen wird 4 . 
Als Peleus die Stadt Jolcos erobert, tötet er dessen König Akastos und 
auch dieKönigin Asty dameia und läßt sein 1 leer durch die zerschnittenen 
Teile ihres Körpers in die Stadt einziehen. Die Gemahlin des Königs 
bald Astydameia, bald Hippolyte genannt, war nämlich in Peleus ver¬ 
liebt und abgewiesen worden , eine bekannte Abwehrformel der Mutter¬ 
liebe des Sohnes (Potiphar), indem die Werbung auf die Mutter pro¬ 
jiziert wird. Von der Gemahlin angestiftet, will der König den Peleus 
töten, er wird in der Einsamkeit den Kentauren zur Beute zurück¬ 
gelassen, aber von diesen und Cheiron gerettet (Aussetzungsformel). 


1) Th. Reik: Probleme der Religionspsychologie. 114. Eine andere Quelle der Verdich¬ 
tung der Vater- und Mutterimago ist in der Entwicklung der Genitalität nachweisbar. Bei 
niedrigen Tierarten dienen dem Männchen seine „Waffen“ dazu, um dem Weibchen den 
Coitus aufzuzwingen, (Gegner und Sexualobjekt, Vater und Mutier, in einer Person) bei 
höherstehenden Kampf der Männchen untereinander um das Weibchen. 

2) Reik: ebenda. 134. 

3) Röheim: Imago. VI. 398. 

4) J. G. Frazer: Folk-Lore in the Old Testament. 1919. I. 408. 













Die Sage handelt demnach von dem Töten des Vaters und dem Be¬ 
sitzergreifen der Stadt-Mutter und wir müssen das Töten der Astyda- 
meia, sowie das Hindurchschreiten durch ihren Leib als inzestuösen 
Koitus bzw. Wiedergeburt auffassen 1 . Nach der Geburt befreit sich 
die siebenbürgische Zigeunerin von der Unreinheit durch eine Um¬ 
kehrung des Gebärens in ein Geboren-werden$ hat sie einen Sohn 
gehabt, so schneidet sie einen Hahn, war es eine Tochter, eine Henne 
entzwei und schreitet durch die Stücke, dann essen die Männer den 
Hahn oder die Frauen die Henne 2 . In der Urhorde hatten die Brüder den 
Vater getötet und sie entsühnten die Tat, indem sie in der Theophagie 
den Gehaßten zum Geliebten, den Vater zur Mutter machten, Libido¬ 
quantitäten vom Urziel abzogen und die Leiche mit diesen Libido¬ 
mengen besetzten. Sie aßen vom Vater wie sie als Säuglinge von 
der Mutter getrunken hatten und vielleicht schritten sie durch seine 
Leiche, um sich von der Inzestsünde durch eine Ersatzbefriedigung 
zu befreien. Giraldus Cambrensis erzählt von einem wilden Stamm im 
alten Irland beiKenel Cunil, die folgende Zeremonie bei dem Thron¬ 
besteigen des neuen Königs beobachteten. Das Volk versammelt sich 
von allen Seiten und es wird eine weiße Stute (Muttersymbol) in ihre 
Mitte geführt. Der zukünftige König nähert sich auf allen vieren 
wie ein Fohlen, die Stute wird geschlachtet, in Stücke geschnitten und 
gekocht. Das Fleisch wird vom König und den Anwesenden ge¬ 
gessen. Er muß sich in der Suppe baden, dabei trinkt er auch davon, 
aber nicht nach Menschenart, sondern wie die Tiere mit der Zunge 3 . 
Warum benimmt er sich, wie Giraldus Cambrensis sagt, in dieser 
bestialischen Weise? Wir werden nun die Entstehung des Totemis¬ 
mus, die wir andernorts ausführlich besprochen haben, in ein paar 
Sätzen zusammenfassen. In seiner bahnbrechenden Arbeit hat ja 
Prof. Freud schon angedeutet, daß die Wahl eines Tieres als Ersatz¬ 
figur des Vaters erst nach dem Mord in der Angst und Reuesituation 

1) Siehe Roschers Lexikon I. 209. Frazer: 1 . c. I. 408. 

2 ) Frazer: 1 . c. I. 410, 411. 

3) Frazer: L c. I. 416. 

8 * 











7/6 C. RÖH EIM 

geschehen konnte. Dazu nehmen wir, ohne auf Einzelheiten ein¬ 
zugehen, zwei Resultate unserer eigenen Untersuchungen, a) die 
ältesten Totemtiere sind leichenfressende Wesen 1 und b) die totemi- 
stischen Intichiumazeremonien sind Wiederholungen des Urhorden- 
kampfes in der Brunstzeit und der nachfolgenden Trauerperiode. In 
der vormenschlichen Periode gab es keine Verdrängung, aber es 
waren zwei Hindernisse da, um das Ich vor den übermäßigen An¬ 
sprüchen der Libido zu schützen. Erstens die tierische Einrichtung 
einer eigenen Brunst und einer eigenen Unbrunstperiode, dann der 
Widerstand des Urvaters. Als die Menschheit durch verbesserte 
Nahrungsverhältnisse die Brunstperiode verlor, mußte sich das Ich 
gegen die Gefahren der unausgesetzten Ansprüche der Genitalität zur 
Wehr setzen. Diese Notwendigkeit trat besonders nach dem Tode 
des Urvaters ein und wurde durch folgenden psycho sexuellen Mecha¬ 
nismus erreicht. Das Auf essen des Vaters war eine Identifizierung, 
eine Ichidealbildung, welche den Weg zur Mutter versperrte, ln 
dieser Theophagie ward die Leiche des Vaters ähnlich wie früher die 
Brust der Mutter mit Libido besetzt. So wird aus dem gefürchteten 
und gehaßten lebenden Vater der geliebte Tote, da aber dieser Liebe 
eine adäquate Befriedigung versagt bleibt, wird sie wieder in Angst 
verwandelt. Der Angelpunkt dieser Libidoverschiebungen ist aber 
das Aufessen des toten Vaters, daher erblickt das schuldbeladene Ge¬ 
wissen der Mörder in den Tieren, die von der Leiche gegessen, d. h. 
ähnlich wie sie sich mit dem Vater identifiziert hatten, die Vertreter 
des toten Vaters. Sie fürchten nun die Strafe, von diesen Tieren 

1) In Übereinstimmung mit dieser Auffassung (siehe Zeitschrift Vll. 524) spricht 
Dr. Simmel von einem prägenitalen Totemtier, d. h. von der Entstehnng des Totemis- 
mus auf oral erotischer Grundlage. Die Tiere, die von dem toten Vater gegessen hatten, sind 
Vatersymbole, aber auch Muttersymbole zugleich, da ja die Leiche nach dem Tod ins Innere 
eines Lebewesens (Uterus der Mutter) zurückkehrt (Geier in Ägypten, VgL O. Rank: Die 
Don-Juan-Gestalt. Imago. VIII. 160.) Die Leiche des Vaters war also durch das Aufgegessen¬ 
werden zur Mutter geworden und umgekehrt — die Tiere, die von der Leiche des Vaters 
gegessen hatten, d. h. die ersten Totemtiere — waren sowohl Vater* wie Muttersymbole. 
Von dem Vater hat das Totemtier die verbietende, von der Mutter die schützende Seile 
seines Wesens. 








NACH DEM TODE DES URVATERS 117 

gefressen zu werden und hinter der Phobie steckt wieder der Wunsch, 
vom Vater koitiert zu werden. Dies ist die Erklärung der Wolfs¬ 
phobie in der Geschichte der infantilen Neurose 1 und auch die infantile 
Angsthysterie ist ein Abwehrversuch des Ichs gegen die Ansprüche 
einer frühreifen Libido. In der Geschichte der Menschheit kann 
aber die Notwendigkeit dieser Abwehr nur nach dem Verschwinden 
der reinlichen Scheidung aufgetreten sein, die in der Tierwelt die 
Periode der Genitalität und die der Ichtriebe voneinander scheidet. — 
Somit ergäbe sich die Schlußfolgerung, daß die Tierphobien nicht nur 
dem unbewußten Inhalte nach, sondern auch vom Gesichtspunkte der 
Libido-Ökonomie (Angstverwandlung unverwendbarer Libido) als 
Wiederholungen des phylogenetischen Totemismus zu betrachten sind. 

Nun ist aber die Angstverwandlung homosexueller Triebströmungen 2 
auch der charakteristische Mechanismus der Paranoia. Der Para¬ 
noiker fühlt sich immer durch übernatürliche Strahlen gewisser Leute 
beeinträchtigt, die unschwer als Neuauflagen des Vaters erkennbar 
sind. Anschließend an Freuds Massenpsychologie habe ich schon 
den Versuch gemacht, den Schlüssel zu dieser Verquickung des Ver¬ 
folg ts eins mit den homoerotischen Strebungen in der Urhorden- 
situation aufzufinden. Aus den Brüdern, die sich in der Verbannung 
liebten, wurden nach dem Tode des Urvaters Rivalen, Verfolger, feind¬ 
liche Brüder und in der Schar derer, die gegen ihn auftraten, erblickte 
jeder einzelne den wiedererstandenen Vater 3 . Den Vater hat er ja 
gegessen und die Angst vor ihm wurde als Angst vor den Brüdern 
hinausprojiziert. Indem er den Vater gegessen und vernichtet hatte, 
hatte er auch Geschlechtsverkehr mit ihm gehabt (Verschiebung nach 
oben) und hierin liegt wohl der Schlüssel zur weiblichen Einstellung 
des Schamanen zu seinem Schutzgeist 4 ). Der Schamane identifiziert 

1) S. Freud: Sammlung kleiner Schriften. IV. 1918. 290, 

2) passiv, der Wunsch, vom Vater koitiert zu werden; aktiv, die oralerotische Kodierung 
des Vaters in der Theophagie. 

3 ) Vgl.Roheim: Zeitschrift. VIII. 1922. 209. 

4) Vgl. Czaplicka: Aboriginal Siberia. 1915. Ling Roth: The Natives of Sarawak 
and British North Bornea. 1896. I. II, 








IIS _ G. R OHEIM 

sich eben auf dem Wege der Oralerotik mit der Mutter und liebt den 
Vater, den er auf gegessen hat. In der Besessenheit spricht dieser 
Gott aus ihm und seine hysterischen Anfälle, sein Ringen mit dem 
Ahnengeist, sind wohl als Koitusdarstcllungen aufzufassen. — Vielleicht 
nimmt die Rolle des Schamanen ihren Anfang gar nicht am Kranken¬ 
lager, sondern an der Leichenstätte. Nach jedem Tode wird ja in 
Australien der Medizinmann gerufen, der sein Haupt auf die Leiche 
legend, oder sich mit der Leichenflüssigkeit beschmierend, nun einen 
unbekannten Doppelgänger seiner selbst, einen fremden Medizinmann 
beschuldigt, dasjenige getan zu haben, was er selbst soeben getan; daß 
er den Tod durch bösen Zauber verursacht, d. h. den Vater getötet 
und aufgefressen hat. Seine Aggressivität gegen den Vater und gegen 
die Leiche wird in zwei Strömungen gespalten.* einerseits als unge- 
milderte Aggressivität gegen den Feind über die Grenzen der Stammes- 
eiriheit im Rachezug hinausprojiziert, andererseits als die gemilderte 
Aggressivität des Ileilens auf die Kranken als Halb-Leichen des eigenen 
Stammes gerichtet. 

Nun sehen wir, wie die Ägypter recht behalten. Jeder Tote ist ein 
Osiris, d. h. die Todesriten sind Wiederholungen der erschütternden 
Ereignisse nach dem Tode des Urvaters. Die Gefühlsbindung, welche 
die Masse, d.h. die Bruderhorde, zusammenhielt, hört auf und es ent¬ 
steht die erste Panik ... 1 2 So fliehen primitive Völker in sinnloser Angst 
vor dem Grab 1 und Plutarch erzählt; „Da nun zuerst die in der Um¬ 
gegend von Chemnis wohnenden Pane und Satyrn jenen traurigen 
Vorfall, den 1 od des Osiris, erfuhren und die Kunde des Geschehenen 
verbreiteten, so werden deshalb noch jetzt die plötzlichen Schrecken 
und Verwirrungen der Menge panische genannt 3 .“ Die Söhne hatten 
jetzt das narzißtische Ich-Ideal ihrer Kindheit, das sie an ein gemein¬ 
sames Objekt abgegeben hatten, als sie in die Masse eingingen, wieder- 


1) Ireud: Massenpsychologie und Ich-Analyse 1921. 53. 

2) Über die Sitte gerade der primitivsten Stamme, nach dem Tode die Leiche einfach 
liegen zu lassen und sich aus dem Staub zu machen, an anderer Stelle. 

3) Plutarclios: Peri Isidos kai Osiridos. cap. 14. (G. Parthey S. 23) 









NACH DEM TOD E^ URJCATERS 119 

gewonnen; der Mann, der den Vater gegessen hatte, war mehr ge¬ 
worden, ein höheres Wesen, als er es in der Masse sein konnte. Und 
doch hatte er auch etwas verloren} seine sichere Bindung in der Masse. 
Er war auf dem Wege von der Massen- zur Individualpsychologie, 
zur Führerrolle, aber ihm drohte noch eine Unzahl der Gefahren in 
den feindlichen Brüdern auf diesem Pfad. Nach dem Tode eines afri¬ 
kanischen Gottkönigs bricht ein Zustand der wüsten Gesetzlosigkeit, 
des bellum omnium contra omnes aus 1 , der bis zur Thronbesteigung des 
neuen Herrschers dauert. So war es auch in der Urhorde und in diesen 
sich wiederholenden Erschütterungsperioden erwarb die 
Menschheit die Ansätze jener psychischen Mechanismen, die wir heute 
in den meisten Psychoneurosen beobachten können. Die Libido-Be¬ 
friedigung wurde durch die anderen Brüder gehemmt, in Angst ver¬ 
wandelt und auf ein Tier als Stellvertreter des Vaters projiziert: es ent¬ 
stand die erste Tierphobie als Vorstufe des Totemismus und sie kehrt 
wieder in der infantilen Angsthysterie. Mit der Einverleibung des 
Vaters in der Kannibalenmahlzeit war die Hemmung verinnerlicht 
worden 5 es bezog sich zunächst auf die Wiederholung der Handlung, 
aus der es entstanden war. Man darf also kein Menschenfleisch, in der 
totemistischen Phase nicht das Fleisch einer besonderen Tierart, dann 
überhaupt nichts essen. Der Krieg der Brüder am Grab des Vaters 
wird introjiziert, daraus entsteht ein Konflikt im Ich zwischen Ich- 
Ideal (Vaterpartei) und Aktual-Tch (Revolutionspartei) und aus den 
Symptomhandlungen diesesKonfliktesoderausderabgekürzten Wieder¬ 
holung des Bruderkrieges die Riten der primitiven Trauer oder ur- 
zeitlichen Melancholie. In einer manischen Phase endet die Traue)', 
der Konflikt, der zuerst reell, dann intrapsychisch geworden war, wird 
wieder in die Außenwelt verlegt, indem ein Rachezug gegen den 
Feind als Mörder des Vaters unternommen wird. Wie einst die Horde 
durch das Herannahen einer anderen Horde wieder geeinigt wurde, 
hört in dieser manischen Phase der Kampf zwischen Ich und Ich-Ideal 


1) Y. G. Frater: Totemism and Exogamy 1910. II. 350. L. Frobenius: Und Afrika 
sprach. 1913. III. 149. Frazer: The Dying God. 1911. 117 (Hawaii). 






120 


G. R OHEIM 


auf, Leide fallen zusammen, scheinbar als Rächer des Vaters, wirklich 
jedoch, um die Urtat an einem neuen Objekt zu wiederholen. Denn 
nachdem sie den Feind getötet hatten, identifizierten sie sich mit ihm, 
wie sie dies mit dem Vater getan hatten und heirateten seine Witwen 
und Töchter, wie sie es einst in der Horde taten. Dem Krieg folgt 
die Exogamie, dem Sadismus die Objekt-Liebe. Mit dem Erscheinen 
einer zweiten menschlichen Horde auf der Schaubühne der Geschichte 
ist der Wiederholungszwang ewiger Ödipuskonflikte durchbrochen 
und aus der Horde wird ein Stamm mit zwei exogamen Stammes¬ 
hälften 1 . Bei manchen der Brüder wird die dispositioneile Fixierung 
in der Analzone stärker sein als bei den anderen; diese identifizieren 
den faulenden Leichnam mit den Exkreten und regredieren, an dem 
genitalen Ausleben der Ödipuseinstellung durch ihr neuerworbenes 
Ich-Ideal gehemmt, auf die sadistisch-anale Organisationsstufe. Die 
Libido, welche zur Besetzung der Leiche verwendet wird, überträgt 
die Eigenschaften ihres Urzieles auf das neue Objekt, in dem gegessenen 
toten Vater, aber auch in dem geschwollenen Körper des Kranken 
lebt das Bild der nahrungsspendenden Mutter auf. Durch die positive 
Mutterbindung gehemmt, verwandeln sich die sadistischen Handlungen 
in Heilmethoden und aus der Sublimierung der Analerotik wird letzten 
Endes die Antisepsis. Der Medizinmann der Primitiven, der eigentlich 
als der Vater der Religion und Wissenschaft gelten muß, ist der direkte 
Erbe der Zwangsneurotiker der Urhorde. Die um die Kannibalenmahl¬ 
zeit sich scharenden Triebrichtungen mit oral-anal- und homo-eroti¬ 
scher Färbung bildeten die dynamische Grundlage der Verdrängung, 
indem sie den genitalen Inzesttrieb hemmten und somit die Moral 
ins Leben riefen. In paranoider Art werden diese Triebe in einer Schar 
von rassenfremden oder übernatürlichen Verfolgern von dem Scha¬ 
manen projiziert und in dieser paranoiden Projektion auf dem Grab 
des Vaters entsteht die Welt des Übersinnlichen und der Nationalismus 

l) Indem die Männer des unterliegenden Stammes ausgerottet werden, bleiben zwei 
Gruppen von Frauen ... die inzestuösen und die nicht inzcstuÖBen Liebesobjekte als Grund¬ 
lage der beiden Stammeshälften. 











NA CH DEM TODE DES UR VA TEES 


121 


als homoerotische Identifizierung der Brüder miteinander und als Pro¬ 
jektion ihrer Aggressivität auf den Fremden. 

Zwischen einer Masse und den anderen, zwischen einem Urhorden- 
könig und dem anderen erlitten die Mitglieder der Brüderhorde eine 
Reihe unwillkommener Traumata, auf die sie mit gewissen Verschie¬ 
bungen ihrer libidinösen Struktur reagierten. Diese Urreaktionen liegen 
noch immer der gesamt-menschlichen Kultur zugrunde und werden 
in archaischer Form in den Psychoneurosen wiederholt. Einst bedeu¬ 
teten alle diese Reaktionen mächtige Waffen des Menschen im Kampf 
ums Dasein, es entstanden aus ihnen Gesellschaft, Religion und Wissen¬ 
schaft. Aus zahlreichen derartigen Übergangsperioden im Leben des 
einzelnen zur Pubertätszeit setzte sich die große Übergangsperiode 
oder Pubertät der Menschheit zusammen, von der Kinderstube in der 
Urhorde zum Mannesalter in der Begegnung mit einer fremden Horde. 
Von der Urhorde führt der Weg zum Stamm, von dem starr-konser¬ 
vativen Wiederholungszwang ewiger Inzucht zur Plastizität und Fort¬ 
schrittlichkeit der Exogamie. 








ZWEI BEITRÄGE ZUR SYMBOLFORSCHUNG 

Von Dr. KARL ABRAHAM 


I. 

ZUR SYMBOLISCHEN BEDEUTUNG DER DREIZAHL 

Seit langem ist uns die Häufigkeit der Dreizahl in allen Produkten der 
menschlichen Phantasie bekannt. Wir wissen auch, daß ihr verschiedene sym¬ 
bolische Bedeutungen zukommen. Bekannt ist besonders die Bedeutung der 
„Drei“ als männliches Genitalsyrnbol, ferner die in ihr enthaltene Anspielung 
auf die Dreiheit von Vater, Mutter und Kind. Mehrmals ist mir nun in Träumen 
meiner Analysanden die Dreizahl in einer andern, weniger bekannten Bedeu¬ 
tung begegnet. Ich habe hier nicht etwa die mannigfachen Möglichkeiten einer 
individuellen Determinierung der Zahlensymbolik im Auge, sondern eine 
typische, in allgemein menschlichen Verhältnissen begründete. 

Es sind drei Körperöffnungen, welche die Aufmerksamkeit des Kindes im 
stärksten Maße auf sich ziehen, weil sie sowohl der Stoffaufnahme bezw. -abgabe 
dienen als auch die wichtigsten crogenen Funktionen besitzen: Mund-, Anal- 
und Urogenitalzone. Sie scheinen mir in den Träumen besonders dann durch 
die Zahl Drei repräsentiert zu werden, wenn die Aufrichtung des Genital¬ 
primates mißlungen ist und jene drei erogenen Zonen einander den Rang 
streitig machen. Eine neurotische Patientin, deren Träume mir diese Bedeutung 
der Dreizahl besonders eindringlich vor Augen geführt haben, wies in ihrem 
Unbewußten ein Höchstmaß von oral-kannibalischen und analen Wunsch¬ 
phantasien auf. 

Es schien mir nun von Interesse zu sein, diese nämliche Bedeutung der Drei 
etwa auch in Märchen oder Mythen nachweisen zu können, deren weitgehende 
psychologische Übereinstimmung mit den Individualphantasien die Psycho¬ 
analyse uns entschleiert hat. Eine sehr eindrucksvolle Parallele bezüglich jener 
Bedeutung der Dreizahl bietet nun das Märchen vom „Tischlein deck dich!“. 






ZWEI BEITRÄGE ZUR S YMB O L FO R S C HL N G 123 

Ein Vater schickt seine drei Söhne in die Fremde. Jeder erlernt ein Hand¬ 
werk und erhält von seinem Meister, nachdem die Lehrzeit beendet ist, ein 
Geschenk: der älteste ein Tischlein, das sich auf Befehl mit allen erwünschten 
Speisen bedeckt, der zweite einen Esel, der auf das Wort: Esel streck dich I Gold¬ 
stücke aus seinem Darm fallen läßt. Der dritte erhält einen Sack, in welchem 
ein Knüppel (Stock) enthalten ist; auf den Befehl des Besitzers kommt der Knüppel 
aus dem Sack und verprügelt jeden Gegner seines Herrn, um ebenso auf Be¬ 
fehl wieder in den Sack zurückzukehren. 

Das erste Geschenk bedeutet eine Wunscherfüllung auf dem Gebiet der 
Mundzone. W T ohl jedes Kind wünscht sich, die „Allmacht seiner Gedanken“ 
solle imstande sein, ihm jederzeit jedes gewünschte Essen zu beschaffen. 

Ähnlich das zweite Geschenk! Die Wertschätzung des Kotes, seine Gleich¬ 
setzung mit Gold ist uns aus der Psychologie des Kindes bekannt. Wir finden 
in dem zweiten Geschenk die Verwirklichung des Wunsches, sich beliebige 
Reichtümer auf dem Wege der analen Produktion verschaffen zu können. 

Die Bedeutung des dritten Geschenks ist nicht ganz so durchsichtig, wird 
uns aber unschwer verständlich,wenn wir uns der typischen Symbolbedeutung des 
Stockes erinnern. Der Sack mit dem Stock kann dann nicht mißverstanden 
werden, und die Befehle, welche der Besitzer des Geschenkes dem Stock erteilt: 
„Knüppel aus dem Sack!“ und „Knüppel in den Sack!“ lassen klar den Sinn 
der Erektion und des entgegengesetzten Vorganges erkennen. Der dritte Sohn 
erhält so die Gabe einer unbegrenzten Potenz, die dem W illen unbedingt gehorcht. 

Das Märchen enthält also drei Wunscherfüllungen im Sinne der drei erogenen 
Zonen. Interessant ist es, daß die Reihenfolge die gleiche ist wie diejenige der 
von Freud entdeckten Organisationsstufen der Libido. Auf der ersten Stufe 
kommt dem Munde, auf der zweiten dem Anus, auf der dritten, definitiven, 
dem Genitale eine vorwiegende erogene Bedeutung zu. 

Zu bemerken ist ferner, daß die zwei älteren Brüder sich im Beginn des 
Märchens über den jüngsten lustig machen. Der älteste verliert aber das wunder¬ 
tätige Tischlein bald an den betrügerischen Herbergswirt, bei dem er auf der 
Heimreise nächtigt und bringt einen gewöhnlichen Tisch heim. Zu Hause 
wird er vom Vater verlacht, als er vergeblich versucht, von dem Tisch die lek- 
keren Speisen zu erlangen. Nicht besser geht es dem zweiten Bruder mit dem 
Esel. Auch er wird vom Wirt betrogen und vom Vater verlacht. Daß Wirt 
und Vater beide den eifersüchtigen Vater bedeuten, ist auf Grund der psycho¬ 
analytischen Märchenforschung ohne weiteres zu vermuten. Erst der jüngste 
Sohn besiegt den Wirt durch seine im Knüppel symbolisierte Männlichkeit; 
er ist es auch, der daheim vom Vater anerkannt wird. 
















124 K. AB RA HAM ,_ 

So bestätigt das Märchen die reale Erfahrung, daß nicht die infantilen 
Phantasien oralen oder analen Ursprungs, sondern erst die gelungene Her¬ 
stellung des Genitalprimats den Mann ausmachen. Lehrreich ist es uns aber 
besonders durch seine Symbolik der Dreizahl. 


II. 

DER „DREIWEG“ IN DER ÖDIPUS-SAGE 

In einem kleinen Aufsatz über die Symbolik einer neurotischen 
Rettungsphantasie 1 habe ich nachzuweisen versucht, daß jene Phantasie der 
Vaterrettung nicht bloß ihrem latenten Inhalt nach mit der Ödipus-Sage weit¬ 
gehend übereinstimme. Ich bemühte mich zu zeigen, daß beide Phantasie¬ 
gebilde sich zur Darstellung dieses ähnlichen Inhalts auch einer sehr ähnlichen 
Symbolik bedienen, die bisher nicht unsre volle Aufmerksamkeit erweckt 
habe. Im latenten Inhalt beider Phantasiegebilde wird der Sohn zum Zeugen 
des sexuellen Verkehrs der Eltern; er sucht ihn zu verhindern, indem er den 
Vater tötet und so die Mutter errettet. 

Die Begegnung des Sohnes mit dem in voller Fahrt befindlichen Wagen des 
Vaters (coitus-Syrabolikl) findet im Ödipus-Mythus an einer besonderen Örtlich¬ 
keit statt. In verschiedenen Versionen der Sage ist von einem „Hohlweg“ oder 
von einem „Kreuzweg“ die Rede. Der Hohlweg als weibliches Genitalsymbol 
würde mit der übrigen Symbolik durchaus im Einklang stehen. Schwieriger 
gestaltet sich die Erklärung im andern Falle. ,'Odös o^tartj“ bedeutet streng 
genommen nicht „Kreuzweg“, sondern ist am korrektesten etwa mit „Weg¬ 
teilung“ zu übersetzen; in einer Übersetzung der Tragödie des Sophokles finden 
wir den Ausdruck „Dreiweg“. So bequem sich der „Hohlweg“ als Symbol unserer 
Auffassung einfügt, so wenig scheint auf den ersten Blick der „Dreiweg“ unter 
den nämlichen Gesichtspunkten verständlich. 

Auf diese Schwierigkeit im Detail machte mich Prof. Freud aufmerksam, 
als ich ihm den erwähnten Aufsatz mit der Bitte um seine Kritik vorlegte. Ein 
bestimmter Erklärungsversuch lag allerdings nahe. Die Teilung des Weges 
konnte — ähnlich wie in der Herakles-Sage — einen Zweifel des Wanderers 
bedeuten. Denn Ödipus befindet sich ja in bangem Zweifel über seine Herkunft, 
als er dem König Laios begegnet. Aber eine solche Erklärung würde allzu ratio- 

1) Vgl. Internat. Z. f. Psychoanalyse VIII. S. 71 f. Es handelt sich um die Phantasie 
mancher Neurotiker, den König (oder eine andre hohe Persönlichkeit) in dein Augenblick 
iu erretten, als die durchgehenden Pferde seines Wagens ihn in höchste Lebensgefahr 
bringen. 















ZWEI BEITRÄGE ZUR S YM B 0 L F O R S C H U N G 


125 


nell sein, sicherlich nicht den latenten Inhalt dieser Stelle des Mythus erschöpfen 
und außerdem einem Einwand nicht gerecht werden. Die Örtlichkeit wird uns 
so geschildert, daß nur für Ödipus oder nur für den Wagen des Laios Platz vor¬ 
handen ist. An einer Wegteilung sollte das Ausweichen aber im Gegenteil leicht 
möglich sein. Eine Deutung der oöög oyioxv) wird uns also nur befriedigen 
können, wenn sie uns auch diese Sonderbarkeit der Erzählung erklärt. 

Mit Rücksicht auf diese Schwierigkeiten habe ich in dem erwähnten Artikel 
diese besondere Frage ganz übergangen; kurz darauf brachte mir ein Traum, den 
ich mit einem meiner Patienten zu analysieren hatte, eine Erklärung des Drei¬ 
weges, die mir allen Anforderungen zu entsprechen scheint. Die Traum¬ 
erzählung lautet: 

„Meine Mutter ist gestorben, und ich nehme am Begräbnis teil. Die Szene 
wird dann unklar. Ich entferne mich und komme dann wieder zum Grabe zu¬ 
rück. Dabei habe ich den Eindruck, es sei in Rußland, und Bolschewisten hätten 
es geschändet. Ein Loch ist in den Erdboden gebohrt; ich sehe etwas Weißes 
in der Tiefe, wie etwa das Totenhemd. Dann ändert sich die Örtlichkeit noch¬ 
mals. Das Grab der Mutter befindet sich jetzt an einer Stelle, wo zwei Straßen 
zu einer breiten Hauptstraße zusammenlaufen. Es ragt nur wenig 
über den umgebenden Boden hervor. Infolgedessen fahren Wagen darüber. Diese 
verschwinden, und nun fahre ich selbst darüber hin und her.“ 

Die Analyse offenbart den inzestuösen Charakter des Traumes. Im Unbewußten 
des Patienten bestehen ausgeprägte nekrophile Phantasien; erst wenn die 
Mutter tot wäre, könnte er von ihr Besitz ergreifen. Die Gewalttat an der Mutter 
(das Bohren des Loches in den Grabhügel) wird aus Gründen der Zensur den 
„Bolschewisten“ zugeschrieben; diese repräsentieren oftmals in den Träumen 
unsrer Patienten die Wunschregungen derselben, welche aller herkömmlichen 
Moral Hohn sprechen. Das in der Tiefe sichtbare Totenhemd bedeutet zufolge 
den freien Assoziationen des Träumers das Unbedecktsein des Körpers; zu „weiß“ 
wird „dunkel“ assoziiert (Behaarung). An Stelle des eigenen, unbewußten Be¬ 
gehrens des Träumers, seiner Mutter Gewalt anzutun, finden wir im Traume 
also die bereits ausgeführte Tat andrer Personen, wobei noch in sprachlicher 
Beziehung darauf zu verweisen ist, daß wir sowohl von einer „Grabschändung“ 
wie von der Schändung einer Frau sprechen. 

Die unbestimmte Zahl der Attentäter („Bolschewisten“) kehrt im Traum 
noch einmal wieder in Gestalt der vielen Wagen, die über das Grab hinweg¬ 
fahren. Repräsentierte schon vorher dasGrab die Mutter, die von vielen Männern 
geschändet wird, so wird die Identifizierung von Mutter und Dirne jetzt 
überdeutlich. Die Stelle, an welcher mehrere Straßen zusammenlaufen, weist 







126 


K. ABRAHAM 


naturgemäß einen besonders lebhaften Verkehr auf. Wir erinnern uns hier, daß 
Örtlichkeiten des stärksten Verkehrs gern als Symbole der Prostitution verwandt 
werden (Bahnhof, Warenhaus usw,), Zugleich aber gedenken wir der Bedeutung 
der Straße als weiblichen, des Wagens als männlichen Genitalsymbols. Das,Hin¬ 
undherfahren“ über jene Örtlichkeit ist nun ebenfalls nicht mehr mißzu- 
verstehen. 

Wichtig ist noch eine Angabe des manifesten Trauminhalts, daß das Grab 
wenig über den Boden hervorragt. Sie wird verständlich aus den verdrängten 
Phantasien unsres Patienten, am weiblichen Körper eine Hervorragung (Penis) 
zu finden. In vielen seiner Traume tritt die Mutter in männlicher, er selbst in 
weiblicher Funktion auf; im vorliegenden Traum ist er selbst der aktive Teil, 
allerdings unter der eigenartigen Voraussetzung, daß die Mutter nicht mehr 
am Leben ist. 

Das Grab der Mutter repräsentiert also ihren Körper, im speziellen aber ihr 
Genitale. Beide Traumszenen spielen auf dieses an. In der ersten Szene wurde 
uns das Loch im Grabhügel, in der zweiten Szene die geringe Hervorragung 
über den Erdboden in diesem Sinne verständlich. Einen besonderen, kaum 
mehr mißzuverstehenden Hinweis gibt uns aber die Örtlichkeit, an welcher 
dieses flache Grab liegt. Die zwei Straßen, weiche sich zu einer breiten Haupt¬ 
straße vereinigen, sind die Schenkel, welche in den Rumpf übergehen. Die 
Stelle, an welcher sie zusammenlaufen, ist das Genitale! 

Der Träumer kommt also hinzu, wie eine Anzahl von Männern sich mit 
seiner Mutter zu schaffen macht. Sie verschwinden, und er ergreift von ihr Be¬ 
sitz. Ganz so geschieht es aber auch in der Ödipus-Sage. Ödipus trifft 
den Laios (samt einer Anzahl andrer Männer) am Drei weg, erschlägt ihn und 
die andern und tritt dann den Weg zur Mutter an. Verstehen wir die Symbolik 
der Sage in diesem Sinne, so ist der Kampf des Ödipus mit Laios ein Kampf 
um das Genitale der Mutter. Nun verstehen wir, warum es für Vater und 
Sohn kein Ausweichen voreinander gibt. 

W 7 ir gelangen so zu dem unerwarteten Ergebnis, daß der Dreiweg die näm¬ 
liche Bedeutung hat wie der Hohlweg. Ersterer spielt auf die Lage des weib¬ 
lichen Genitale an, letzterer auf seine Gestalt. Dennoch enthalten die beiden 
Versionen eine verschiedenartige Tendenz. Die Version vom Dreiweg (Ort des 
lebhaften Verkehrs) enthält die Darstellung der Mutter als Dirne mit besonderer 
Deutlichkeit. Das Zusammentreffen im Hohlweg gibt einer andern Vorstellung 
Ausdruck, nämlich der Phantasie, vor der Geburt mit dem Vater im mütter¬ 
lichen Körper zusammenzutreffen (Phantasie der intrauterinen Coitus-Beob¬ 
achtung). Näheres hierüber findet sich in meinem zitierten Aufsatz. 












PHALLUSPROZESSIONEN VON HEUTE 


In den Bräuchen, die sich besonders imWOstdeutschland für den St.Martinstag 
(11. November) erhalten haben, ist deutlich die ursprüngliche Bedeutung der 
Feierlichkeiten zu erkennen. Am Vorabend oder am Martinstag selbst ziehen 
Scharen von Kindern von Haus zu Haus und tragen Lichter in ausgehöhlten 
Rüben, Gurken und Kürbissen. Besonders Rüben und Gurken sindleicht erkenn¬ 
bare Phallussymbole. Die Lieder, die hierbei gesungen werden, machen sie 
noch eindeutiger. In der Koblenzer und Andernacher Gegend singt man; 

Hei Sante Marte 

Dat war ein braver Mann 

Der schlog sind Frau (seine Frau) met gerte 

Schlog se met der Rohde 

Do fink sie an zo blöde. 

In diesen Versen liegt der Hinweis auf den Phallus (Gerte, Rute) und die 
durch ihn erfolgende Zerstörung (Defloration). Ein holländisches Lied preist 
Sinte (heilig) Marten: hog in de Lucht, hog in de wind — das is Sinte Martins 
kind — und nähert sich damit dem Gebiet der Flugträume, die oft Erektionen 
verhüllen. 

Häufig genug wird in den Liedern der Mittelpunkt der Feier als bedürftiger 
Empfänger dargestellt. In Flandern und Utrecht singt man: 

Stookt vyer (Feuer) mackt vyer — Sinte Marten kommt hier 
Met syne bloote armen: Hy sonde hem geerne warmen. 

Ähnlich in Leyden: 

Sinte Marten is zoo koud (kalt) 

Geef ni een turfjen (Torf) of een hout (Holz) 

Om mij wat te warremen 
Met mijn blanken ariemen. 











128 


E. K. 


Die blanken Arme des Heiligen erscheinen ölter in den Liedern und Legenden 
zu seiner Ehre. Auch in der bekannten Legende vom Heiligen (Mantelverleihung 
an einen Armen) ist der Exhibitionsgedanke nicht zu verkennen. Vögel sind alte 
Sinnbilder der Geschlechtlichkeit. In den Kinderliedern wird drum des Martins¬ 
vögelchens gedacht. Bald scheint es der rothaubige Schwarzspecht zu sein, bald 
ein anderer Vertreter der gefiederten Welt. Das rote Häubchen scheint ihm 
spezifisch zu sein: 

Sinte Martens veugeltje (Vögelchen) 

Rood, rood reugeltje 
Rood, rood rochje an 
Dat is Sinte Martensmann. 

Das Elsfleter Martinslied singt ebenfalls: 

Sünte Martin vägelken 
Het en rodet krägelken 
Het en rodet rökschen an 
Is dat nich Sünte Martinsmann ? 

Es wird als Kopfputz des Martinsvogels auch der Kogel erwähnt. „Marten 
kägel — mit sien vergölten flägel“ (Flügel). Der Kogel bildete im Umzuge die 
Erkennungsmarke des Martinsvogels. Dem Sinne dieser Kopfzier kommen wir 
am nächsten, wenn wir erwägen, daß der Kogel eigentlich eine hohe Frauen¬ 
mütze ist. Dann deutet der Kopfschmuck des Martinsvogels auf die Vulva, die 
ja in der sexuellen Phantasie oft als Krone des Phallus angesprochen wird. 

In den spätem Liedern erscheint Martin nicht mehr als dürftiger Mann, 
sondern als Gnadenspender wie St.Nikolaus, Rupprecht usw. Im Calenbergischen 
Lied heißt es: 

Klaus Marten is ein goen Mann — De us och wat geben kann. 

Die Idee, welche den Gebräuchen zugrunde liegt, ist wohl folgende: Im 
November erscheint die Natur verarmt, geschwächt, fast abgestorben. Um ihren 
gänzlichen Verfall aufzuhalten, verübte man allerhand Zauber mit dem Symbole 
der Lebenskraft, dem Phallus. 

Gegen die Martinsumzüge wurde oft von obrigkeitswegen eingeschritten, so 
schon 1567 von der fürstlichen Regierung zu Celle. Aber demungeachtet hat 
sich bis heute noch ein Rest des uralten Brauches erhalten. E. K. 









DAS FÜNFTE GEBOT 

Von Dr. SANDOR RADO (Budapest) 

Von den zehn Geboten verheißt bekanntlich nur das fünfte eine konkrete 
Belohnung, alle anderen sind einfach als apodiktische Befehle hingestellt, oder 
sprechen im allgemeinen von der Absicht Jahwes zu strafen und zu belohnen. 
Der Wortlaut dieses Gebotes findet sich an zwei Stellen des überlieferten Bibel¬ 
textes. Zunächst im Exodus (XX. 12.), wo es Moses, vom Sinai herabsteigend, 
unter den anderen Geboten dem Volke verkündet: „Halte deinen Vater und 
deine Mutter in Ehren, damit du lange lebest auf dem Boden, den dir Jahwe, 
dein Gott, zu eigen geben wird 1 .“ Dann wird es ebenfalls von Moses wieder¬ 
holt (DeuteronomiumV.16): „Halte deinen Vater und deine Mutter in Ehren, 
wie dir Jahwe, dein Gott befohlen hat, damit du lange lebest und es dir wohl 
gehe auf dem Boden, den dir Jahwe, dein Gott zu eigen geben wird 2 .“ Die 
beiden Versionen gehen auf verschiedene Quellen zurück; wahrscheinlich ist 
die erste die ältere, — sie weichen übrigens nur unwesentlich voneinander ab. 

Was soll nun die Aussicht auf langes Leben bedeuten? Wir meinen, diese 
Prämie verrät den geheimen Sinn des Gebotes, wenn man sie nur in die Todes¬ 
drohung zurückverwandelt, aus der sie vermutlich im Laufe der Zeiten hervor¬ 
ging. Dann bietet es keine Schwierigkeit mehr, dem ganzen Gebote seine ur¬ 
sprüngliche Fassung wiederzugeben, die etwa so lauten konnte: Achte das 
Vorrecht des Vaters, indem du die Mutter meidest, ansonsten der 
Vater dich tötet. 

Wenn unsere Vermutung das Richtige trifft, dann ist die Entstellung des 
Textes zweifellos als das Ergebnis der fortschreitenden sekulären Verdrängung 
anzusehen. Sie verbarg den eigentlichen Sinn des Gebotes, indem sie dessen 

1) Nach E. Kautzsch, Die heilige Schrift des alten Testaments. 1909. Bd. I, p. 112. 

2) Ibid, p. 250. 


9 Imago IX/ 1 









/J° 


S. RADO 


Wortlaut — nach Analogie des Traumes — an zwei entscheidenden Stellen (im 
Tatbestand und in der Strafsanktion) ins Gegenteil des sprachlichen Ausdrucks 
verkehrte. So wurde die ursprüngliche Strafsatzung in eine ßelohnungsformel 
überführt, und die Erwähnung des Inzestes umgangen. 

Der überlieferte Text enthält aber außer dieser Entstellung auch einen Zu¬ 
satz, für welchen sich in dem von uns konstruierten Urgebot nichts entsprechen¬ 
des vorfindet: „(. • . damit du lange lebest) auf dem Boden, den dir Jahwe, 
dein Gott zu eigen geben wird.“ Wir nehmen wirklich an, daß dieser Text¬ 
teil einem Neuerwerb der dazwischenliegenden Zeit entspricht, einem folgen¬ 
schweren Schritt auf dem Wege der Triebsublimierung, Indem hier das alte 
Testament zur Ablösung des inzestuösen Liebeswunsches die Hoffnung auf ein 
fruchtbares Stück der Mutter-Erde 1 einsetzt, und so die Abfuhr des verpönten 
Sexualdranges im Ackerbau andeutet, hat es uns die Erinnerung an eines der 
bedeutsamsten Ereignisse der Kulturentwicklung bewahrt 2 . 

1) Der „Boden, den dir Jahwe, dein Gott zu eigen geben wird“ ist Kanaan, das Land, 
von wo das Volk stammt, das Land der Väter, also die Mutter. 

2) Diese Deutung ist in guter Übereinstimmung mit den Ausführungen von lleik, der 
die Sinai-Episode als Männer weihe auffaßt. (Probleme der Religionspsychologie, 1919.) 




















BÜCHER 


Dr. med. MAAG: Neurose, Psychoanalyse, Christentum, Verlag Walter 

Loepthien-Klein, Meiringen 1921. 

Über Religion und speziell das Christentum ist bis heute bereits eine recht 
ansehnliche psychoanalytische Literatur entstanden, welche diese Materie von 
den verschiedensten Gesichtspunkten aus behandelt und dabei mannigfaltigste 
Beziehungen aufdecken konnte zwischen Religion—Mythus — Traum — Trieb¬ 
leben—Neurose. Verfasser dieses Schriftchens, der die Beziehungen zwischen 
Psychoanalyse, Neurose und Christentum mehr vom Standpunkte des Psycho¬ 
therapeuten betrachten will, läßt die eben erwähnten psychoanalytischen Er¬ 
gebnisse ziemlich unberücksichtigt. So ergibt sich ein eigentümlicher Zwiespalt: 
Während er sich einerseits bemüht, die Neurose tiefenpsychologisch zu erklären, 
verfallt er anderseits bei Besprechung des Einflusses des Christentums ganz in 
die populäre, tagespsychologische Betrachtungsweise. So resultieren zwei ver¬ 
schiedene Standpunkte, von denen aus die meisten Beziehungen zwischen Psycho¬ 
analyse und Christentum gar nicht gefunden werden können. Hier hätte Ver¬ 
fasser unter anderen in den Arbeiten Pfisters, die ihm offenbar zum Teil be¬ 
kannt sind, bedeutend tiefer schöpfen können und vor allem nichts über¬ 
sehen sollen. Überhaupt begegnen wir heim Durchlesen dieses Büchleins auf 
Schritt und Tritt Stellen, welche uns zeigen, daß Verfasser wohl einiges über 
Psychoanalyse gelesen, sich aber das meiste nicht genügend zu eigen gemacht 
hat. Darauf soll in der folgenden kurzen Inhaltsangabe besonders hingewiesen 
werden. 

Von vornherein vertritt Verfasser die irreleitende und falsche Ansicht, daß 
die Psychoanalyse immer ein „geschlechtliches Moment“ als Ursache der Neu¬ 
rose annehme, eine Anschauung, die nun schon so oft richtig gestellt werden 
mußte, daß sie hier keiner weiteren Widerlegung bedarf. Trotz dieser unrich¬ 
tigen Voraussetzung gelangt Verfasser scheinbar doch zur Anerkennung des 





BÜCHER 


rj2 

Freud sehen Sexualbegriffes, will aber dann wieder in „Gegensatz“ zu ihm 
auch nichtsexuelle Ursachen der Neurose geltend machen und führt als Bei¬ 
spiel doch gerade „die biologische Evolution und Involution (der Eintritt in die 
Geschlechtsreife oder das Alter)“ an (bei denen nach Ansicht des Verfassers die 
Sexualität also keine Rolle spielen soll!). 

Die nun folgende Darstellung des Zustandekommens der „Gemütserregung“ 
wäre wohl besser ganz unterblieben. Eine derart grob-mechanisch-lokalisato- 
rische Vorstellung über die Gehirnfunktion (Gehirn = Kraftzentrale; „jede 
Organzelle ist durch einen Nervenfaden mit einer Hirnzelle verbunden“; jedes 
Organ besitze einen Kern im Gehirn; die Sinneswahrnehmungen und Willens¬ 
äußerungen seien die Impulse zum „Antrieb“ der Gehirnzellen usw.) sollte man 
selbst einem Laien nicht mehr vorsetzen wollen. Mit einer solchen Spielzeug¬ 
mechanik kann man ja dann denVorgang derseelischen Erregung als einfache Aus¬ 
strahlung der Innervationsenergie auf alle möglichen Gehirnteile und von diesen 
auf die Peripherie höchst einfach, aber auch ebenso falsch darstellen, und dann 
das „psychogene Symptom“ als „das Resultat einer Entladung von Energie¬ 
spannungen aus dem Bereiche des Vorstellungs- und Empfindungslebens auf 
andere Hirngebiete und Körperorgane“ erklären (S. 16). 

Nach dieser „Physiologie“ geht Verfasser zur Darstellung des Pathologischen 
über. Die Neurose wird als „Dauerzustand des psychogenen Symptomenkom- 
plexes“ aufgefaßt, bei deren Zustandekommen das Schuldgefühl als hauptsäch¬ 
lichster Faktor in Betracht komme. Der Verdrängung wird Erwähnung getan. 
Je geringer das ,,seelische Verdauungsvermögen gegenüber peinlicher Erinne¬ 
rung“ und „je stärker die Belastung, desto wahrscheinlicher der Übergang zur 
Neurose“ (S. 21). Wiederum eine doch etwas zu einfache Seelendynamik! — 
Die Psychoanalyse habe uns durch die Erforschung des Unbewußten in der Er¬ 
kenntnis der Neurose ein gutes Stück vorwärts gebracht. Aber die Ursache der 
Neurose sei wohl ebenso häufig bewußt als unbewußt —I (S. 28.) Verfasser 
macht sich die Sache hier doch etwas zu leicht. Er anerkennt theoretisch wohl 
die Rolle des Unbewußten. Praktisch scheint er sie jedoch nie gewürdigt zu 
haben. Sonst käme er auch nicht zu der Behauptung, daß im allgemeinen „der 
Neurotiker seine Konflikte kennt und eine sichere innere Wegleitung hat zu 
dem hin, was Ursache seiner Krankheit ward“ (S. 55). Ja, Verfasser warnt sogar, 
„allzutief nach unbewußten Krankheitswurzeln zu graben. Was wirklich völlig 
aus dem Bewußtsein geschwunden ist, kann kaum Störungen hinterlassen, die 
nicht durch Willensschulung und geeignete Diätetik der Lebensführung zu 
überwinden wären, während anderseits leicht Spuren der Ausforschung in 
der Seele des sensitiven Neurotikers Zurückbleiben, die recht unangenehme 








bOcher 


*33 


Folgen haben können“. (S. 54.) Auffallend ist doch die durchaus ambivalente 
Stellung des Verfassers zur Bedeutung des Unbewußten. Auf S. 29 weiß er sie 
sehr zu würdigen, hier (S. 53) läßt er das Unbewußte als wertlos in sich zu¬ 
sammensinken und kurz darauf ist die Aufdeckung der krankmachenden unter¬ 
bewußten Wurzeln die Aufgabe der Behandlung und ohne sie jede Therapie 
illusorisch. Und trotz dieses Ausspruches zeigt Verfasser im folgenden wieder auf 
Schritt und Tritt eine völlige Verkennung seiner eigenen Worte. Es nimmt uns 
daher auch nicht wunder, daß es für Verfasser „völlig verworrene, wertlose 
Träume“ gibt, die für die Analyse nicht verwertbar sind. 

Über die vom Verfasser vorgenommene Einteilung der Neurosen will Referent 
keine Worte verlieren. Nur dagegen möchte er sich wehren, daß von der Psycho- 
neurose die Unfallneurose abgetrennt werde. Es heißt da wörtlich (S. 44): „Hier 
wirken nicht seelische Momente, sondern das mechanische des Schlages, Falles, 
Stoßes im Sinne einer heftigen Erschütterung der nervösen Zentralapparate 
(Hirn und Rückenmark).“ Daß immer noch diese alten Oppenheimschen Vor¬ 
stellungen im Hirne eines Arztes spuken können. 

Die letzten Abschnitte sind den Beziehungen der Psychoanalyse zum Christen¬ 
tum gewidmet. Der der Betrachtungsweise zugrunde liegende Kardinalfehler 
wurde schon einleitend erwähnt. Psychoanalyse und Christentum sind keine 
therapeutischen Konkurrenzverfahren. Die Psychoanalyse ist weit entfernt, mit 
den vom Christentum aufgestellten sittlichen Forderungen in Widerspruch zu 
stehen. Daß die Psychoanalyse — im Gegensatz zum Christentum als Subli¬ 
mierungsprodukt — die Existenz eines neurotischen, komplexbehafteten Schein¬ 
christentums, einer Scheintugend und Scheinfrömmigkeit voller Perversionen 
aufgedeckt hat, kann dem wahren Christentum nur zum Nutzen gereichen. Die 
engen Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Christentum, die hier nur an¬ 
gedeutet wurden, übersieht Verfasser vollkommen. Die Psychoanalyse ist nach 
ihm nun auf einmal nicht mehr der Schlüssel desSeelenlebens. Die alte christliche 
Psychologie „der zwei gegenüberstehenden Willen“ bestehe zu recht. Der zer¬ 
setzende Faktor sei die Schuld. Die Seele sei viel einfacher als die Psychoanalyse 
es zugeben will. Schuld könne nur von Gott getilgt werden. Die Beichte stelle 
den Rapport zwischen Gott und Mensch her und befreie die Gemüter von der 
Schuld. 

In diesem Sinne geht es weiter: Von der Kinderanalyse dürfe man nicht zu¬ 
viel erwarten. Die beste Erziehung sei die im Sinne des Christentums. Wer er¬ 
zieht aber heutzutage so? Auch die Psychoanalyse will ja, wie gezeigt wurde, 
das gleiche Ziel, aber nicht auf dem Wege des Moralpredigens. Der Glaube ist 
keine Willenssache, die sich mit schönen Worten anlernen läßt, wie sie bei 









BÜCHER 


[34 

Verfasser auf S. 55 u. ff. nur so hervorsprudeln („Wer aber Gott geschaut hat, 
kann ihn nicht wieder vergessen und nie wieder der Welt und dem 1 leiscli nach¬ 
leben“ [da haben wir ja bereits die schönste gezüchtete Frömmlerneurosel]) und 
die in dem Ausspruche gipfeln, der heilige Geist sei der geschickteste Psycho¬ 
analytiker (S. 56). Fast jeder Satz müßte richtig gestellt werden und steht im 
Widerspruche mit den Tatsachen über das Wesen der Psychoanalyse. So als 
weiteres Beispiel: die Psychoanalyse könne dem Kranken wohl zeigen, wo er 
gefehlt hat, aber sie könne ihm nicht die Kräfte vermitteln, die ihn zu einem 
neuen Menschen machen. Jeder, der sich auch nur ein wenig ernsthaft mit der 
Psychoanalyse beschäftigt hat, weiß doch, daß sie gerade ihre Hauptaufgabe darin 
sucht und findet, im neurotisch gehemmten Kranken neue Energien frei zu 
machen, und daß sie ihm gerade die Kräfte vermittelt, die ihm den Weg zum 
neuen Menschen frei machen. Die Religion an und für sich und speziell die 
vom Verfasser geforderte Beichte können dies nicht, da sie nicht bis dahin Vor¬ 
dringen, wo die zu befreienden Kräfte schlummern, ins Unbewußte. Dorthin 
kann nur die Psychoanalyse führen. 

Hätte Verfasser nur diesen etwas tieferen Einblick in die Psychoanalyse ge¬ 
tan, so hätte er nicht die Klult, sondern die Brücke zwischen Psychoanalyse und 
Christentum gefunden und mit seinem Schriftchen viel Nutzen stiften können. 

Dr. E. Blum, Bern. 

WERNER ACHELIS, Die Deutung Augustins. Analyse seines geisti¬ 
gen Schaffens. Verlag Kampmann & Schnabel, Prien am Chiemsee. 1921. 

Die Deutung eines hochbedeutenden Menschen? Wir verstehen, was die Deu¬ 
tung eines Gedichtes, eines Traumes, einer Vision besagen will. Gemeint ist 
die Angabe des Sinnes, der in dem betreffenden Gebilde nach Ausdruck ringt. 
Aber einen ganzen Geist deuten? Bisher waren wir froh, wenn wir einzelne 
seiner Schöpfungen auf ihren latenten Sinn zurückführen konnten. Achelis 
wagt sich verwegen an einen Riesengeist hinan, der gleich einem Ungeheuern 
Gebirge mit unzähligen Zacken, Gletschern und Schluchten über die Jahr¬ 
hunderte hinausragt. Der Untertitel verrät, daß er wirklich nichts Geringeres 
als das gesamte geistige Schaffen des genialen Bischofs von Hippo analysieren will. 

Ist das tollkühne Unterfangen geglückt? Wir müssen eine psychologische 
und eine philosophische Bearbeitung bei Achelis unterscheiden, die freilich 
aufs engste ineinander verflochten sind. Eigentümlich berührt schon die Ein¬ 
teilung, die nicht gerade von Sauberkeit des Denken» zeugt: 1. Hauptteil: Ana¬ 
lyse des geistigen Schaffens Augustins; 2. Hauptteil: Fortsetzung der Augustin¬ 
analyse; 5. Hauptteil: Entwurf zu einer Theorie der Religion. 







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135 


Die Monographie beginnt mit einer Darstellung der Deutungsprinzipien. Der 
Autor stützt sich auf die Psychoanalyse Freuds, verrät aber schon auf den 
ersten Seiten, daß er sie nur höchst oberflächlich kennt; von Verständnis für 
sie ist vollends wenig zu spüren. So kommt es, daß er die Psychoanal) r tiker mit 
ungerechten Vorwürfen bedenkt, um ihnen gegenüber seinen Erlöser und 
Messias Hans ßlüher mit überschwenglichem Lob zu überschütten. Die Ana¬ 
lytiker behielten samt und sonders bei ihrer Religionsforschung eine noch un¬ 
durchdringlichere Binde vor den Augen, als die älteren Forscher (106); sie ver¬ 
stehen weder die Natur, noch das höhere Geistesleben (,,sie standen den höheren 
Regionen des Menschlichen in bezug auf geistige Durchdringung und Nach¬ 
schürfung zu fern“ (106); ,,die Psychoanalytiker waren durch ihr gesteigertes 
Wissen um Dinge des Mechanismus diesem Zustand (des primitiven Men¬ 
schen) . . . noch ferner gerückt. Um aber wirklich in diese Welt eindringen zu 
können, müßte man nicht nur nachfühlen, sondern sich selbst als Natur fühlen 
können“ (107). Sie leisteten in der Beurteilung der Religion dem plattesten 
Psychologismus Vorschub (103) und versorgen unsere gesamte Zeitungsschmutz¬ 
literatur des Tages mit Sensationen (Ebenda). Sie leiten ihre Resultate zumeist 
von degenerierten Großstadtkindern ab. Achelis weiß nicht, daß Freud schon in 
seinen „Studien über Hysterie“ (106 ff.) eine Gebirglerin analysierte und daß die 
Analytiker der verschiedenen Nationen mit unzähligen Landkindern zu tun haben. 

Von den dunkeln Gestalten der Analytiker erhebt sich in blendender Rein¬ 
heit Hans Blüher. Dieser entdeckte — man höre und staune! —, daß die In¬ 
version (Homosexualität) etwas Naturhaftes und kulturell höchst bedeutsam sei, 
während die Psychoanalyse sie nur als einen zu heilenden anormalen Natur¬ 
zustand betrachtet habe. Kennte Autor die Psychoanalyse auch nur ein wenig 
genauer, so würde er sich davor hüten, solche unerhörte Behauptungen in die 
Welt zu setzen. 

Was hat denn nun Achelis dank seiner tieferen Seelenkenntnis erreicht? 
Ist ihm die Analyse des geistigen Schaffens Augustins gelungen? Ein Verdienst 
ist ihm rundweg anzuerkennen: er hat die homosexuelle Triebfeder Augustins 
herausgearbeitet, während man bisher in den Kirchengeschichten nur von hetero¬ 
sexuellen Exzessen redete. Dies eine Verdienst dankt er, wie er auch zugibt, 
Freud. Allein er übertreibt sofort, so manchen Entdeckern gleich, die Bedeu¬ 
tung dieses Fundes, indem er die Gleichgeschlechtlichkeit als Spiritus rector in 
der Bekehrung Augustins betrachtet (44), somit eine Menge von anderen Deter¬ 
minanten übersieht. Achelis redet höhnisch vom „Erbübel der Freudschen 
Schule“, „entdeckungsfreudig einige gemachte Beobachtungen als allgemein 
geltend auszudehnen und auf diese Weise zu banalen und lächerlichen Ergeb- 








i 3 6 _ B ÜCHER _ 

nissen zu gelangen, ohne etwas bewiesen zu haben (58). Da sollte man sich 
davor hüten, aus einem Motiv und wäre es noch so wichtig, fast das ganze 
Geistesleben ableiten zu wollen. 

Achelis wollte mit seiner „Augustinanalyse“ nachweisen, daß die Introver¬ 
sion Antrieb auch für die höchste und zarteste Entwicklung reinen Menschtums 
sein könne (100). Sonderbar! Wir Analytiker wußten dies schon längst und 
lasen es in unserer Literatur häufig genug. Achelis aber, der nicht genug 
rühmen kann, wie er auf höherer Warte stehe, glaubt offenbar, diese Einsicht 
als Erster gewonnen zu haben: Er darf es niemand übelnehmen, wenn sein 
Gehaben recht unangenehme Gefühle hinterläßt. 

Sagen wir es frei heraus: Seine Arbeit ist in psychologischer Hinsicht von 
einer schwer zu übertreffenden Oberflächlichkeit. Eine Analyse des geistigen 
Schaffens seines Helden, wie er sie in Aussicht stellte, hat er nicht von ferne 
gewonnen. Den größten Teil der geistigen Schöpfungen Augustins wischte er 
einfach unter den Tisch. Wie die Mutter- und Vaterbindung in seiner welt¬ 
historisch so ungeheuer wichtigen Lehre von der Kirche und vom Gottesstaat 
zum Ausdruck kommt, hat er ebenso unberührt gelassen, wie die meisten 
übrigen psychologischen Probleme. 

Gehen wir nun zur philosophischen Leistung des Verfassers über! Während 
er die psychologische Aufgabe höchst oberflächlich anfaßt, will er mit seiner 
Eroslehre ein helles Licht in die Welt hinaussenden. Die Analytiker, die ge¬ 
wohnt sind, Psychologie und Metaphysik reinlich auseinanderzuhalten, werden 
darob arg gerüffelt. Mit hochfahrenden Worten verkündigt Achelis: „Was 
Spengler noch nicht weiß, was Freud einzusehen organisch (!) unfähig ist, und 
was eingesehen zu haben vielleicht das einzige ganz große Verdienst Blühers 
ausmacht, ist, daß das Sexualproblem beim Menschen ein metaphysisches ist“ 
(109). Freud und seine Anhänger wußten längst, das Sexualproblem sei einer¬ 
seits ein psychologisches, andererseits ein metaphysisches (metapsychologisches). 
Und nun sollen wir Hans Blüher dafür danken, daß er das Problem als metaphy¬ 
sisches entdeckt habe? So spät sind wir doch nicht aufgestanden! Oder vvollten 
Achelis-Blüher behaupten, das Problem sei nur metaphysisch? Wir sträuben 
uns dagegen, ihnen solchen Unsinn zuzutrauen. Daß Freud zunächst einmal 
streng empirisch, soweit es gegenwärtig möglich ist, das Problem durchforschte, 
kann man ihm nicht genug verdanken. Es haben schon genug andere über 
Sexualität Metaphysik fabriziert, ohne den Gegenstand genau zu kennen und 
sie haben darum viel Überflüssiges in die Welt hinausgeschwatzt 1 . Es war höchste 

1) Vgl. m. Aufsatz „Psychoanalyse und Weltanschauung“ in m. Buche „Zum Kampf um 
die Psychoanalyse“, S. 249 ff., 257f. 














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*37 

Zeit, daß nun einmal ein wirklicher Forscher kam und den Tatsachen und 
ihren Gesetzen gerecht zu werden verstand. 

Achelis mengt Psychologie und Philosophie zu einem wirren Knäuel durch¬ 
einander, wobei es beiden schlimm ergeht. Treten wir nun aufseine Eroslehre 
ein, durch die er sich so hoch über Freud zu erheben wähnt! Was ist eigent¬ 
lich sein Eros? Er folgt dabei lediglich den Fußstapfen seines bewunderten 
Meisters Blüh er, der — auch dies eine ungeheuerliche Behauptung, die von 
geringer Kenntnis der Psychologiegeschichte zeugt! — „die alte Frage nach 
der Erforschung der menschlichen Seele aus dem medizinischen Niveau offen¬ 
bar in das philosophischer Betrachtung“ erhob (7). Von Eros ist zu unterscheiden 
die Erotik, welche „offene, die unsublimierte Sexualität durchschimmern 
lassende Gefühlsentladung“ bezeichnen soll (121). Warum nur „Entladung“? 
Daneben wird der Eros noch immer in zweifachem Sinn verstanden: als psycho¬ 
logischer und außermenschlicher Begriff. Es wird aber niemand gelingen, die 
beiden Begriffe oder Ideen auseinanderzuhalten. Niemals habe ich in der philo¬ 
sophischen Literatur eine Verschwommenheit und Verworrenheit aufgefunden, 
wie sie in der Ausführung der Achelis-Blüherschen Erosidee vorherrscht. 
Man wundert sich gar nicht, daß der Verfasser sich nicht die geringste Mühe 
gibt, die realen Grundlagen seines Begriffsungeheuers anzugeben und seine 
Sätze einfach aufs Papier schlenkert: Eros ist die reine Liebe, in der ein Mensch 
für einen andern entbrennen kann (7); er naht in unsinnlichem Gewände dem 
Menschen als ein Geschenk und löst dann bei gesundem Sexualapparat reflex- 
artig den Vorgang der Sublimierung aus (48); die Erosidee fügt dem Schopen- 
hauerschen Weltbilde einen neuen Zug ein: den Eros (94); der Eros ist Kern 
der Religion (96); er übt eine befruchtende Wirkung auf den Drang zu geistiger 
Forschung und bewahrt ihn vor spekulativer Ausdörrung (97); er ist von der 
Sexualität begrifflich scharf zu scheiden (106), indem der Sexualmechanismus als 
psychophysischer Niederschlag und Wiederschein der eigentlich entscheidenden 
Erosvorgänge sich erweist (119); „mit Eros sucht man einen von ferne geahnten, 
ruhenden kosmischen Pol zu treffen, mit dem die gangbare Erotik ebensoviel 
zu tun hat, wie die geistige Produzierung eines Patentdruckknopfes mit der er¬ 
habenen Idee Geist“ (121); und dabei ist der Eros „qualitätslos“ (151, 155), 
aber ebenso ist er „Bejahung abgesehen vom Wert“, „unbedingte Verfallenheit“ 
(8); diese „negativ geiärbte“ Aussage ist zugleich „die einzige positive Bestim¬ 
mung“ des Eros (i3»f.); der Eros kann auch geheimnisvoll, ambivalent sein 
(110). Und so geht es weiter, bald auf den Geleisen der Psychologie, bald in 
den Wolken einer mehr als unklaren Kosmologie, bald ein wenig nach dem 
qualitätslosen brahma der Inder oder tao des Lao-tse gefärbt, bald wieder mehr 










i 3 8 Bücher __ 

nach Jungs psychologisch-metaphysischem Libidobegriff, bald Mantegazza 
oder Anthropophyteia, alles in allem mehr Mythologie als Philosophie, und für 
Freunde reinlichen Denkens ziemlich unangenehm duftend. Was würde der 
große Dichter Plato sagen, wenn er diese scheußliche Entstellung seiner herr¬ 
lichsten und liebsten Idee hätte erleben müssen! 

Wer des Verfassers Aufstellungen über Homosexualität mit psychologischem 
Blicke las, wundert sich gar nicht, am Ende des Buches zu vernehmen, daß 
Religion auf der höchsten Stufe nur eine männliche Angelegenheit sein soll, 
und daß ein weibliches Ethos angeblich für Achelis nicht existiert (136). 

Über den „Entwurf zu einer Theorie der Religion“ sei nur gesagt, daß auch 
hier statt des in Aussicht Gestellten nur ein kleines Segment dargeboten wird. 
Es genüge die Angabe des Ergebnisses: „Wenn Ethos und Mythos, sofern sie 
nicht zu Moralität und Theorie depotenzieren, die Seelenrosse vor dem Wagen 
des religiösen Urdranges sind, so ist der von Sentimentalität freie, unangekrän¬ 
kelte Eros der Wagenlenker; seltsam, ein Wagenlenker mit verbundenen Augen!“ 
(137.) Die Fahrt muß ja reizend werden! 

Ich will aber nicht verhehlen, daß auch manches gute und kluge Wort in 
dem Büchlein steht. Was über die großen Kirchenmänner (56) gesagt wird, ist 
richtig und scharfsinnig ausgedrückt. Überhaupt ist der Mut rückhaltloser Aus¬ 
sprache lobend hervorzuheben. Hierin liegt wohl das einzige Erbe, das er seinem 
großen Lehrer Harnack zu danken hat. Die Zucht des streng methodischen 
Denkens ist ihm beim Sprung in die „philosophischen“ Gefilde Blühers 
völlig abhanden gekommen, und der zügellose Flug der Phantasie kann ihn 
für den Verlust nicht entschädigen. 

Wir Übrigen werden es Freud erst recht danken, daß er der Erfahrung treu 
blieb und die philosophische Bereinigung der Erfahrungsbegriffe einstweilen 
verschob. Viel besser keine Metaphysik als Pfuscherei! Was Achelis erreichte, 
ist unzulängliche Analyse und Philosophie zugleich. Sein eigentliches Ziel nennt 
er in dem kühnen Satze: „Der entscheidende Schritt, der mit vorliegender 
Studie versucht wurde, besteht eben darin, mit entschlossenem Griff sich am 
schwierigsten Gegenstand zu versuchen, in der Hoffnung, hier endlich unabweis¬ 
bare, der Erweiterung fähige operative Stützpunkte zu schaffen“ (120). Weniger 
wäre mehr gewesen! Pfister (Zürich). 

HANS BLÜHER :SecessioJudaica. DerWeißeRitter-Verlag, Berlin 1922,6öS. 

Wie alle Schriften Blühers ist auch diese in vortrefflichem Deutsch, mit hin¬ 
reißendem Fanatismus und junge Menschen überzeugender Selbstsicherheit ge¬ 
schrieben. Sie ist, ohne wissenschaftliches Gewissen und ohne wissenschaftliche 












B ÜCHER 


?39 

Kritik verfaßt, wissenschaftlich ohne Bedeutung, trotzdem lesenswert, weil sie 
die heutige Gesinnung des deutschen Volkes, wahrscheinlich in seiner Mehr¬ 
zahl, wiedergibt. Der ehemalige Jugendführer läßt sich jetzt im Sinne des Haken¬ 
kreuzes führen. Hier [ist ein genaues Referat kaum am Platze, da die Arbeit 
nur die Beziehung zur Ps. A. hat, daß der Autor sich früher viel mit ihr be¬ 
schäftigte und auseinandersetzte, wovon sich als Rest noch folgende Stellung¬ 
nahme (auf S. 23) findet. „Es gibt eine Anzahl korruptiyer Gedankengänge des 
Judentums .... Beispiel einer solchen Entdeckung: die des Juden Sigmund 
Freud. Sie ist richtig und hat großes Format: sowie man sie aber am Phänomen 
der Liebe mißt, tritt ihr korruptiver Grundcharakter (sie ist reiner Materialis¬ 
mus) unabweisbar zutage. Diese Gedankengänge werden erst fruchtbar, wenn sie 
durch ein deutsches Gehirn gehen, das imstande ist, ihrem tückischen Urgründe 
Widerstand zu leisten. “ — Eine Wahrheit kann gefährlich sein, aber niemals 
korruptiv. Federn. 

A. L. KROEBER: Totem and taboo: an ethnological psychoan alysis 

(American Anthropologist, Vol. 22,1922). 

Das Aufsehen, das Freuds Aufsätze über obiges Thema zwar nicht bei den 
Anthropologen selbst, die ihnen bisher wenig Beachtung schenkten, wohl aber 
in mannigfachen Kreisen von Gebildeten erregt haben, scheint Kroeber Ver¬ 
anlassung genug, sich auch vom Standpunkte des Fachmannes mit den An¬ 
sichten Freuds auseinanderzusetzen. K. erhebt nach einer kurzen Darlegung 
von Freuds Hauptthese, „daß im Ödipuskomplex die Anfänge von Religion, 
Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst Zusammentreffen“ (wobei er dem Autoreine 
petitio principii vorwirft), gegen die Arbeit eine ganze Reihe von Einwänden, 
von denen drei sich eigentlich gegen Darwin-Atkinsons und Robertson- 
Smiths tatsächlich nichts weniger als unbestrittene Theorien richten. Freuds 
Behauptungen selbst anlangend, hält er es für eine bloße Vermutung, daß die 
Söhne den Urvater erschlugen, wozu zu bemerken wäre, daß Freud selbst sich 
der Unsicherheiten seiner Voraussetzungen wohl bewußt ist. Auch daß das Kind 
bisweilen seinen Vaterhaß auf ein Tier verschiebt, scheint K. kein zwingender 
Beweis dafür zu sein, daß die Söhne der Urzeit das Gleiche taten. Wenn sie 
aber „verschoben“, würden sie noch genügend ursprünglichen Haßimpuls be¬ 
sitzen, um den Vater zu töten? Wenn ja, würde wiederum nicht die begangene 
Tat die Verschiebungen auf heben? K. übersieht, daß die durch den Ambi¬ 
valenzkonflikt bedingte Verschiebung auf das Tier die Ambivalenz auf dieses 
selbst übergreifen läßt, so daß nicht nur die Äußerungen der Reue und die 
Versuche der Versöhnung, sondern auch der Anteil des Sohnestrotzes, die 


i 







140 


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Wiederholung des Vatermordes bloß am Totemtier zur Darstellung gebracht 
werden. 

Weiter bezweifelt K., ob die Reue der Söhne intensiv genug war, um die 
nun mögliche Befriedigung der sexuellen W ünsche zu verhindern. Freud hebt 
aber ausdrücklich hervor, daß das Inzestverbot, das sich erst nach Überwindung 
schwerer Zwischenfälle durchgesetzt haben wird, vor allem eine starke prak¬ 
tische Begründung in der Tendenz zur Erhaltung der neuen Organisation hatte. 
Der amerikanische Anthropologe erblickt in der aus dem Inzestverbote folgen¬ 
den Exogamie gerade eine Gefährdung der sozialen Organisation; F re u d meint, 
daß die Institutionen des Mutterrechtes, deren Keim möglicherweise in dieser 
Zeit gelegt wurde, im Verein mit der damals hochentwickelten Homosexualität 
die notwendige Bindekraft besaßen. 

K. halt es auch durchaus nicht für erwiesen, daß die Schonung des Totem- 
tieres und das Inzestverbot die zwei fundamentalen und ältesten Tabu des Tote¬ 
mismus seien, und vermißt eine Ableitung der übrigen Tabus aus den beiden 
Hauptgeboten des Totemismus, die nach Freud inhaltlich mit den zwei Wün¬ 
schen des Ödipuskindes zusammenfallen. Für Freud spricht die psychologische 
Wahrscheinlichkeit, K. stellt sich dagegen auf den skeptischen Standpunkt 
Golden weiser s, der von vornherein eine günstigere Position verleihe. 

Die vorstehenden Einwände dienen dem Kritiker nur als Beispiele, um daran 
zwei Vorwürfe methodischer Natur zu knüpfen, die sich nicht nur gegen Freud, 
sondern auch gegen Reinach, Wundt, Spencer und Gillen, Lang, Ro¬ 
bertson-Smith, Frazer u. a. richten. Der eine Vorwurf bezieht sich auf die 
angebliche Methode dieser Autoren, mehr oder weniger entfernte Wahrschein¬ 
lichkeiten sozusagen wie Bruchzahlen miteinander zu multiplizieren, während 
doch die Mannigfaltigkeit der Faktoren in steigendem Maße die Wahrschein¬ 
lichkeit des Endergebnisses mindert. Der andere Vorwurf ist der einer gewissen 
Hinterlist (inpidiousness), mit der Freud nach der Ansicht K.s in der Beweis¬ 
führung auf seine Haupttheorie lossteuert. Doch scheint dem Kritiker Freuds 
Buch trotz der verfehlten Schlußfolgerung ein bedeutender und wertvoller Bei¬ 
trag zur anthropologischen Forschung zu sein, die neben der historischen Me¬ 
thode nicht die psychologische vernachlässigen darf, wenn auch gerade diese 
namentlich durch Frazer allzu ausschließlich angewendet wurde. Für einen 
bleibenden, positiven Gewinn erachtet K. die Ausführungen Freuds im Kapitel 
„Das Tabu und die Ambivalenz“. Das Problem der Übereinstimmungen im 
Seelenleben der Wilden und der Neurotiker scheint K. besonders bemerkens¬ 
wert zu sein; freilich dürfe nicht übersehen werden, daß in primitiven Gemein¬ 
schaften sich nur wenige Individuen, finden, die unseren Neurotikern gleich- 











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141 

zustellen sind. Die Erklärung, meint K., liegt darin, daß diese primitiven Ge¬ 
sellschaften solche Impulse, die bei uns zur Neurose führen, organisiert (insti- 
tutionalized) haben. 

Versagt so K. dem kühnen Forscherblicke Freuds, seiner fruchtbaren Ein¬ 
bildungskraft und vor allem dem neuartigen Gesichtspunkte nicht seine An¬ 
erkennung, so ermahnt er anderseits — wohl mit Recht — die Psychoanaly¬ 
tiker, falls sie ernste Beziehungen zur historischen Ethnologie zu unterhalten 
wünschen, sich darum zu kümmern, daß eine solche Ethnologie existiert. — 

In demselben Jahrgange des „American Anthropologist“ widmet in einem 
„The methods of ethnology“ betitelten Aufsatze der bekannte amerikanische 
Anthropologe Fran z B o as auch der Psychoanalyse einige Bemerkungen. Freuds 
Versuche, zwischen den Vorstellungen der Primitiven und der Neurotiker Ana¬ 
logien festzustellen, scheinen ihm in manchem Betracht der symbolischen Mythen¬ 
deutung eines Stucken nahezustehen. Während er der Meinung ist, daß einige 
von Freuds Ideen fruchtbringend auf ethnologische Probleme angewendet wer¬ 
den können, glaubt er nicht, daß die einseitige Ausbeutung dieser Methode 
unser Verständnis für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft fordern 
helfen wird. Den verdrängten Wünschen will er nur einen geringen Einfluß 
einräumen, andere Faktoren, so die der Sprache zugrundeliegenden Kategorien, 
sollen hier eine weit größere Rolle spielen. 

Auch die Anwendbarkeit der psychoanalytischen Symboltheorie hält B. für 
fraglich. Er erhebt den alten Einwand, daß die Ergebnisse der symbolischen 
Deutung von der subjektiven Einstellung des Untersuchenden abhängen. Be¬ 
weiskräftig wäre die psychoanalytische Interpretation seiner Ansicht nach nur 
dann, wenn gezeigt werden könnte, daß eine völlig andersartige symbolische 
Deutung weniger Wahrscheinlichkeit besitzt und Erklärungen, die den Symbol¬ 
charakter außer acht lassen, nicht ausreichen. 

B. hält überhaupt die Übertragung einer individualpsychologischen For¬ 
schungsmethode auf soziale Phänomene, deren Ursprünge historisch bedingt 
und völlig anderen Einflüssen als den im Seelenleben des einzelnen herrschen¬ 
den unterworfen seien, für unzulässig. Dr. Alfred Winterstein (Wien). 

Dr. P. C. VON DER WOLK: Over het Animisme. „De Indische Gids.“ 

August 1922. 

In diesem Aufsatz führt der uns aus seinen in Imago VII veröffentlichten 
Studien bekannte Verfasser aus, wie durch die Gesellschaft unsere Handlungen, 
ja sogar unser Seelenleben stark eingeschränkt werden; die Zivilisation hat einen 
negativistischen Charakter. Der Mensch muß vieles verdrängen. Er kann jedoch 






142 


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keine Gefühle beseitigen oder vergessen; daher bleibt in jedem Menschen der 
Urmensch lebendig. 

Zwischen den verdrängten Wunschregungen, welche immer danach streben, 
sich wieder des bewußten Lebens zu bemächtigen, und der Zensur, welche Zi¬ 
vilisation und Gesellschaft auferlegen, entsteht im Individuum ein Kampf, ein 
Konflikt. Dieser Kampf findet zwar im Nicht-Bewußten statt, hat jedoch einen 
großen Einfluß auf das ganze Seelenleben und erschüttert es tief. 

Der Mensch versucht sich diesem Konflikt zu entziehen, indem er sein Seelen¬ 
leben objektiviert; besonders die als böse und sündhaft betrachteten Gefühle 
und Gedanken. Bei den Primitiven werden diese Gefühle projiziert in ein Heer 
von Geistern und Dämonen, welche in die umgebenden Tiere, Pflanzen und 
leblosen Gegenstände verlegt werden. Das ist der Animismus. — Der Animist 
ist also für diese Gedanken nicht verantwortlich; er anerkennt keinen freien 
Willen, hat daher auch kein Schuldbewußtsein. Daher ist er auch Fatalist. 

Verf. meint, der Animismus sei im Grunde die Wurzel jedes Glaubens; er 
sei das Wesentliche jedes religiösen Gefühls. Das Höhere einer Religion sei 
eine Hinzufügung von Ethik zu diesem primitiven Animismus. Der Sünden¬ 
bock der Juden sei z. B. ein rein animistisches Symbol. Und aus diesem Siinden- 
bock sei der Teufel der Christen entstanden, der dann auch noch Bocksbeine 
und Hörner besitzt. Unsere abendländische Gesellschaft sei ganz durchtränkt 
vom Animismus, aber er wird nicht erkannt. Vom Orientalen wird er erkannt 
und ist ihm eine Reinigungsprozedur seiner durch die Verdrängung mit Kon¬ 
flikten beladenen Seele. Daher sei der Orientale eigentlich glücklicher als wir. 

Im Grunde seines Herzens sei jeder Mensch Animist. Am tiefsten werden 
wir bewegt von unseren eigenen verdrängten Gefühlen, aber wir sind uns dessen 
nicht bewußt. Diese verdrängten Gefühle drängen mit unbezähmbarer Kraft 
nach Äußerung. Sie streben nach Symbolisierung in den kleinen Dingen des 
Alltagslebens wie in den großartigsten Naturerscheinungen. „Der Mensch horcht 
immer unbewußt auf die verdrängten Stimmen seiner Seele. Er darf es nicht. 
Da bringt er sie außerhalb seiner Seele und verkörpert sie in unkenntlichen 
Symbolen, denen er jetzt horchen darf und es auch gerne tut, ohne bewußt zu 
wissen, welche diese Stimmen sind.“ 

Typisch animistisch ist auch die Beachtung von Zeichen und Vorzeichen. 
Das Vorzeichen ist die Interpretation des gehörten oder gesehenen Zeichens. 
Aber diese Interpretation ist ein zum Bewußtsein emporsteigender, zu verdrängen¬ 
der, verbotener Wunsch. Im Moment, da diese Wunschregung die Schwelle des 
Bewußtseins überschreitet, wird sie als Dämon nach außen projiziert. Wenn 
z. B. ein Todeswunsch emporsteigt, dann hört man einen Todesvogel schreien. 











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143 


Auch der Gebrauch von Amuletten ist animistisch. Der Javaner überträgt 
seine Furcht vor verschiedenen Gefahren auf einige Amulette, welche er an 
sich trägt. Aber im Weltkrieg trugen auch Tausende von Europäern Amulette 
in der Tasche. Gewöhnlich erklärt man sich ihre angebliche Wirkung durch 
die Annahme, daß im Amulette eine hilfreiche Kraft wohne. Verf. meint, es 
sei die eigene Furcht, welche man unbewußt in das Amulett hineinverbannt 
hat; dadurch wird man bewußt ruhig und tapfer. 

Neben den Furcht-Amuletten gebe es auch Begierde-Amulette. Die erstge¬ 
nannten haben keine bestimmte Form; der Javaner nimmt als solches das erste 
beste Steinchen oder Körnchen. Die Begierde-Amulette haben hingegen be¬ 
stimmte Formen, welche allerorts dieselben sind. In diesen Symbolen ehrt der 
Mensch die verbotenen, meistens sexuellen Regungen, wider seinen Willen, 
trotz der Gesellschaft. 

Es ist eine Bedingung eines Symbols, daß man seine Bedeutung nicht kennt; 
sobald man seine Bedeutung erkannt hat, ist es kein Symbol mehr. Das Symbol 
verbirgt in raffinierter Weise seine Bedeutung und führt den Verstand irre. 

Symbolische Handlungen sind sogar ganz einfach die verbotenen Handlungen 
selbst. Das Verdrängte muß sich äußern; die Gesellschaft verweigert ihm das; 
dann hüllt es sich in eine Verkleidung. In den symbolischen Handlungen feiert 
die animistische Übertragung ihren höchsten Triumph. 

Im vorhergehenden gab ich eine kurze Ü bersicht des für die allgemeine Psy¬ 
chologie Wertvollen aus diesem Aufsatz. Die speziell auf Javaner und andere 
Animisten bezüglichen Einzelheiten habe ich übergangen. Hoffentlich werde 
ich das in dem Referat eines vom Verf. versprochenen Aufsatzes über die An¬ 
wendungen des Animismus nachholen. Dr. Adolph F. Meyer (Haarlem). 

F. C. BARTLETT: Psychology in Relation to the Populär Story. Folk 

Lore. 1920. 264—295. 

Eine ausführliche Kritik der analytischen Märchenforschung besonders der 
englischen Ausgabe des Ricklinsehen Buches. Verfasser mißversteht den Sym¬ 
bolbegriff, indem er als Argument dagegen anführt, er habe die von Ricklin 
behandelten Märchen in der Kindheit gehört, ohne eine Ahnung von ihrem 
symbolischen Gehalt zu haben. Röheim (Budapest). 

E. K. TILLMAN: The Psychoanalytic Theory from an Evolutionist’s 

Viewpoint. Psychoanalytic Review, 1921, Vol. VIII, p. 549. 

Der Autor führt aus, daß die psychoanalytische Theorie nicht nur mit den 
Tatsachen der Evolution übereinstimmt (wie besonders die von der Psycho- 













analyse aufgedeckte Plastizität der Triebe und Gefühle), sondern auch auf die 
Umwandlung gewisser allgemeiner evolutionärer Auffassungen ihre Wirkung 
üben wird; als wichtiges Argument gegen die Spencersche Auffassung, nach 
der „Evolution“ gleichbedeutend mit „Fortschritt“ ist, wird sie wieder zu der 
ursprünglich nicht theologischen Auffassung Darwins zurückführen. Andrer¬ 
seits ist er der Ansicht, daß eine auf die psychoanalytische Theorie aufgebaute 
Sozialpsychologie nicht von bleibendem Wert, sondern nur von so langer Dauer 
wäre, bis unsere Sexualsitten in bessere Übereinstimmung mit den Tatsachen 
der Biologie gebracht worden sind. Bei dieser letzten Äußerung überschätzt der 
Autor aber entschieden die Rolle des sozialen Vorurteils als Verdrängungsursache 
und übersieht, wie tief die Ursachen der Verdrängung eingewurzelt sind. E. J. 

H. E. BARNES: Psychology and History: Sorae Reasons for Predict- 

ing their more active Cooperation in the Future. The American 

Journal of Psychology, 1919, Vol. XXX, p. 337. 

Ein interessanter Aufsatz, dem man in einem Auszug schwer gerecht werden 
kann. Der Autor bespricht die verschiedenen Wege der Geschichtsforschung 
und betont die Bedeutung der psychologischen Verwertung und Ausdeutung 
der historischen Tatsachen. Von der Anwendung psychoanalytischer Erkennt¬ 
nisse auf dieses Gebiet, deren Vor- und Nachteile er erörtert, erwartet er in 
der Zukunft die großartigsten Ergebnisse. Der größte Teil des Aufsatzes ent¬ 
hält aufschlußreiche Hinweise auf die Art, in der eine derartige Anwendung 
der Psychoanalyse erfolgen könnte; wir finden hier alle Gebiete berührt, von 
analytischen Beobachtungen über einzelne amerikanische Präsidenten bis zu 
einer Besprechung der Beziehungen zwischen Puritanertum und Warenschmug¬ 
gel. Leider beschränkt sich die psychoanalytische Literaturkenntnis des Autors 
— wahrscheinlich infolge der Kriegsverhältnisse — fast durchweg auf die weniger 
empfehlenswerten unter den amerikanischen Autoren. E. J. 












INTERNATIONALER PSYCHOANALYTISCHER VERLAG 

WIEN VII, ANDREASGASSE 5 


IMAGO-BÜCHER 


DER KÜNSTLER 

ANSÄTZE ZU EINER SEXUAL-PSYCHOLOGIE 

Von Dr. OTTO RANK 

Wohl eine» der interessantesten Probleme, denen die Psychoanalyse sich zugewandt hat. 

(Frankfurter Zeitung) 

Das Werk Ranks behandelt in lichtvoller Darstellung entscheidende Fragen. Der Weg ist kühn — aber kein 
Marsch auf der Straße. (Die Zeit) 

Wiele sehr verdienstvolle, wenn auch harte und beinahe rücksichtsloser Meinungen. Es gehört eine große Frei¬ 
heit des Geistes und eine sehr schätzbare Unbefangenheit dam. Rank hat auf dem Wege zur Soelenschau des 
Künstlers eine ganze Menge psychologischer Probleme auf ihren sexuellen Gehalt hin geprüft und mit schöner 
Prägnanz demonstriert. (Münchner Allgemeine Zeitung) 


H. 

TOLSTOIS KINDHEITSERINNERUNGEN 

EIN BEITRAG ZU FREUDS LIBIDOTHEORIE 

Von Dr. N. OSSIPOW 

Auf der gigantischen Persönlichkeit dieses großen Russen, erschütternd entgegenschimmernd aus seinem künst¬ 
lerischen Schaffen, fast nacktgeschürft in dem Autobiographischer, ruht hier zum erstenmal der geschärfte und 
geläuterte Blick psychoanalytischer Erkenntnis. Der Mensch und Künstler, selbst ein Zergliederer, selbst ein 
Träger genialischer Tiefenpsychologie, tritt hier in den Leuchtkegel modernster wissenschaftlicher Seelenein¬ 
sicht. In merkwürdiger Weise kreuzen sich dabei die Wege Tolstoischer Sexualgrübelei mit denen der psycho¬ 
analytischen Eroslehre. Die Studie beansprucht, sowohl von den Genießern Tolstoischer Kunst willkommen ge¬ 
heißen zn werden, als auch bei dem wissenschaftlich orientierten Leser brennendes Interesse vorzufinden. 

m. 

DER EIGENE UND DER FREMDE GOTT 

ZUR PSYCHOANALYSE DER RELIGIÖSEN ENTWICKLUNG 

Von Dr. THEODOR REIK 

Inhalt: über kollektives Vergessen. — Jesus und Maria im Talmud. — Der hl. Epiphanias verschreibt sich.— 
Die wied'raufcrstandenen Götter. — Das Evangelium des Judas Ischkarioth. — Die psychoanalytische Deutung 
des Judasproblems. — Gott und Teufel. — Dio Unheimlirhkeit fremder Götter und Kulte. — Das Unheimliche 
ans infantilen Komplexen. — Die Äquivale'nz der Triebgegensatzpaaro. — Über die Differenzierung. 

Diese Arbeiten sollen, schreibt der Verfasser in der Vorbemerkung, .einen Versuch darstellen, von analytischen 
Gesichtspunkten ans die Erscheinungen der religiösen Feindseligkeit und Intoleranz psychologisch zu erklären und 
zugleich den tieferen Ursachen der religiösen Verschiedenheiten nachzuforschen. Wofrme die Konvergenz der 
Ergebnisse in diesen von verschiedenen Seiten hergeführten Untersuchungen einen Schluß auf die Richtigkeit des 
Ganzen znläßt, würde ich hoffen, daß die vorliegende Aufsatzreihe ein wichtiges Stuck der religiösen Entwick¬ 
lung in einem neuen Lichte erscheinen läßt". 

IV. 

DOSTOJEWSKI 

SKIZZE ZU SEINER PSYCHOANALYSE 

Von JOLAN NEUFELD 

Wi© ist es möglich, daß ein Mensch so loyal gesinnt ist und dabei an einer Verschwörung gegen den Zaren teilnimmt? 
Wie kann jemand tief religiös und zugleich absolut ungläubig «ein? Woher kommt es, daß ein Mensch, der mit 
jeder Nervenfaser an seiner Heimat'scholle klebt, Monate, ja Jahre im Auslande verbringt? Woher kommt es, 
daß er dem Geld© ununterbrochen nachjagt, um cs dann wie etwas vollkommen Wertlose« zum Fenster hinaus- 
znwerfen? Wie das Leben, so ist auch die Dichtung Dostojewskis enigmatisch. Rätselhafte Charaktere,entgleiste Per¬ 
verse sind die Helden seiner Romane und geben uns Rätsel über Rätsel auf, die mitder Bewußtseinspsychologie über¬ 
haupt nicht lösbar sind. Del Zauberschlüsscl der Psychoanalyse aber sprengt die Schlösser, die diese Rätsel wahren. 








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Internationaler Psychoanalytischer Verlag 
Im Dezember erscheinen: 

Neue Arbeiten zur ärztlichen Psychoanalyse, Heft I 

Dr. S. Ferenczi und Dr. Otto Rank 

Entwicklungsziele der Psychoanalyse 

Zur Wechselbeziehung von Theorie und Praxis 
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Heft II 

Dr. Karl Abraham 

Versuch einer 

Entwicklungstheorie der Libido 

auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen 
★ 

Internationale Psychoanalytische Bibliothek, Bä. XIV 

Dr. Otto Rank 

Das Trauma der Geburt 

und seine Bedeutung für die Psychoanalyse 
★ 

Bd.XV 

Dr. S. Ferenczi 

Versuch einer Genitaltheorie 

★ 

Vera Schmidt 

Psychoanalytische Erziehung 
in Sowjetrußland 

Bericht über das Moskauer Kinderheim-Laboratorium 

Eigentümerund Verleger :In<ern»UonalerP«^HoM»lyti*cherVeri» f .Co..in.b.H.,W;®n VII., Aodr»»m*M*®S.—Heraaj- 

feher: Prof. Dr. Sigm. Freud,Wien. «•Verantwortlich für dio Redaktion: Dr. Otto Rank,Wieo L, Gninangergasae j 5. 
Druck von E. Haberland in Lcipiig. 



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