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Full text of "Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften VI. Band 1920 Heft 2"

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ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG. 
PER. PSYCHOANALYSE AUF DIE 
GEISTESWISSENSCHAFTEN 


HERAUSGEGEBEN VON 

PROF. DE S1GM. FREUD 

REDIGIERT VON 

DX OTTO RANK U. DE HANNS SACHS 



1920 


VI. BAND 


HEFT 2 








«A* 








IMAGO 


ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE 
AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 


erscheint viermal jährlich im Gesamtumfang von 24 bis 32 Druckbogen 

und ist neben der 


»Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse« 

Offizielles Organ 


der 


»Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung«. 

Neben den bisher bestehenden Auslieferungs» und Expeditionsstellen 
in Leipzig, beziehungsweise Wien, von denen die Ortsgruppen Berlin, 
Budapest und Wien auch weiterhin beziehen, liefern vom VI. Jahr= 
gang 1920 angefangen für unsere 

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für Holland: S. C. van Doesburgh, Leiden, Breestraat 14/ 
für England und Amerika: London W 1 , 45 New Cavendish Street. 


Das Präsidium der 

Internationalen Psycho» 
analytischen Vereinigung 


Die Leitung des 

Internationalen Psycho» 


in London. 


analytischen Verlags 


Ges. m. 


b. H. 


in Wien. 


Alle für die Redaktion von »Imago« bestimmten Zuschriften und 

Sendungen sind zu richten an 
OTTO RANK/ Wien I., Grünangerg asse 3 — 5. 

Manuskripte sind vollkommen drudkfertig einzusenden. 

Von den Originalarbeiten erhalten die Mitarbeiter je 25 Separatabzüge 

gratis geliefert. 


Copyright 1920 by »Internationaler Psychoanalytischer Verlag Ges. m. b.H.« 














IMAGO 

ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSVCHO- 
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN 

HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD 

SCHRIFTLEITUNG: DR. OTTO RANK/DR. HANNS SACHS 

INTERNATIONALER PSyCHOANALyTISCHER VERLAG G. M. B. H. 
LEIPZIG - WIEN - ZÜRICH - LONDON - NEW-yORK 


VI. 2 . 1920 

Oedipus und die Sphinx. 

Von Dr. THEODOR REIK 1 . 

. * sehet, das ist Oedipus, 
der entwirrt die hohen Rätsel *, 

Sophokles. 

Einleitung. 

D ie Leser der »Imago« finden auf dem Umschläge dieses Heftes 
eine kleine Zeichnung, die nach einem Vorschläge von Otto 
Rank alle Veröffentlichungen des Internationalen Psycho¬ 
analytischen Verlages schmücken wird. Sie stellt Oedipus dar, den 
Blick fest und unerschrocken auf seine furchtbare Gegnerin gerichtet 
S. Ferenczi hat in einem schönen Artikel 2 auf eine Stelle 
in Schopenhauers Briefen hingewiesen, in welcher der Philosoph den 
thebanischen Heros als Vorbild jedes ernsten Forschers rühmt, der 
unbekümmert um sein Wohl und Wehe die Wahrheit sucht. 

Die Psychoanalyse, die, ohne Rücksicht auf alte, liebgewordene 
Vorurteile der Kulturmenschheit zu nehmen, gezeigt hat, von welcher 
Art die tiefsten seelischen Regungen sind, hat auch die verborgene, 
allgemeinmenschliche Bedeutung des Oedipusmythus aufgedeckt. Sie 
hat uns erkennen lassen, daß in der antiken Sage die zwei mächtigen 
urzeitlichen Wünsche, die für die Entwicklung des einzelnen und 
der Völker von entscheidender Bedeutung werden, erfüllt erscheinen. 


1 Nach einem am 2. November 1919 in der Wiener Psychoanalytischen 
Vereinigung gehaltenen Vortrage. 

* »Symbolische Darstellung des Lust* und Realitätsprinzipes im Oedipus* 
mythus.« Imago, I. Jahrg. (1912), Hefi 3. 


a INTERNATIONAL 
PSYCHOANALYTIC 
UNIVERSITY 

OIE PSYCHOANALYTISCHE UNIVERSITÄT IN BERLIN 






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Dr, Theodor Reik 


Das beziehungsreiche Bild des Rätsellösers Oedipus und der 
ophinx darf so, wie wir meinen, mit gutem Recht vor die Arbeiten 
der psychoanalytischen Forschung gesetzt werden — zumal es zur 
ständigen Mahnung wird, sich nicht mit dem Erreichten zufrieden 
zu geben. 

Vielleicht ist diese Gelegenheit besonders geeignet, uns daran 
zu erinnern, daß die Sphinx, das geflügelte Ungeheuer, selbst uns 
noch ein Rätsel ist. Nun aber werden wir die Rollen tauschen; wir 
werden fragen und sie soll uns, wenn auch widerstrebend, Auskunft 
geben über sich selbst. 


Die Herkunft der Sphinx. 

Dj e Sphinx des Oedipus, die wir auf dem Bildchen sehen, ist 
eine späte Schwester unzählig vieler ähnlicher Gestalten, die in prä» 
historischer Zeit aus Vorderasien kamen. Wollen wir ihr Wesen 
erkermen, haben wir die Wahl zwischen zwei V^egen: wir können 
ihre Bedeutung aus dem Zusammenhang, in den sie die Oedipus» 
sage stellt, zu erraten suchen oder aber wir bemühen uns, ihr 
Rätsel zugleich mit dem ihrer Verwandten aus dem antiken Orient 
zu losen. Der erste Weg ist der weitaus bequemere/ er scheint 
direkt aini Ziele zu führen und ist oft gegangen worden, So ver» 
lockend er wäre, wollen wir ihn vermeiden,- denn das Beispiel so 
vieer verunglückter Vorgänger zeigt, daß er uns nur zu einer sehr 
unzureichenden Erklärung führt. Die Forscher versichern uns, daß 
die Erzählung von der Sphinx eine späte Einschaltung in der 
Oedipussage darsteflt - die Sphinx selbst ist ja in Griechenland 
nicht autochthon — und wir laufen so Gefahr, eine vielfach um» 
gedeutete, sekundäre und späte Gestalt für die ursprüngliche zu 
nehmen. Der zweite Weg ist ein schwierigerer und führt vorerst in 
befremdendem Maße von unserer Sage ab und in dunkle Gebiete 
der primitiven Religion und Mythologie, ohne uns die Gewähr zu 
geben, daß wir zur Sphinx des Oedipus zurückgelangen werden, 
wierige ragen aus der Entwicklungsgeschichte des menschlichen 
en ^f nS ( ^ au bens, die eine ausführlichere Behandlung bean» 
Sprüchen würden, werden vor uns auftauchen und uns den Weg 
versperren wollen. Dennoch werden wir gerade diesen Weg gehen. 
n„ Wir wenden unsere Aufmerksamkeit also dem Frühtypus des 
Katseiwesens zu, wie ihn uns die Ausgrabungen zeigen. Die Sphinxe 
Ägyptens sind Löwen mit Menschenköpfen, den übrigen phantasti» 
sehen Mischwesen der Antike (Sirenen, Harpyien, Greifen, Cherubim) 
nahe verwandt. W. Wundt spricht von der Sphinx als von »wohl 

def |jf US j^ UC ^ Svo ^ sten un< ^ ( f arum bleibendsten der Doppelformen, 
welche die Kunst überhaupt hervorgebracht hat« 1 . Die Sphinx¬ 
darstellungen der alten, vorderasiatischen Kunst, in der alle diese 


1 Völkerpsychologie, 3. Bd. <2. Aull.), S. 156. 








Oedipus und die Sphinx 


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Phantasiewesen heimisch sind, zeigen sowohl männliche als weibliche 
Gestalten des Ungeheuers. Die weibliche Verkörperung findet sich 
in der Frühzeit sehr selten, sie ist nach den übereinstimmenden 
Aussagen der Gelehrten erst in Griechenland zu ihrer besonderen 
Bedeutung gelangt 1 , doch kennen wir schon zahlreiche weibliche 
Sphinxe aus dem mittleren und neuen Reiche Ägypten und seinen 
Nachbarländern. Manche Sphinxe, wie etwa die von Aigina, aus 
der Zeit um 460, zeigen schon Frauengesichter von verführerischer 
Anmut, andere wieder weisen ernst und starr blickende männliche 
Gesichter von erhabener Ruhe auf, die den Beschauer bei längerer 
Betrachtung unheimlich anmuten. Aber auch jenen Sphinxen gegen® 
über, die Antlitz und Oberleib einer Frau besitzen, wird der 
moderne Europäer selten ein Gefühl sonderbarer Fremdheit los. 
Er mag sich dabei auf Mephisto berufen, der seiner antiken Gesell® 
schafterin in der klassischen Walpurgisnacht gestehen muß: 

*Du bist recht appetitlich oben anzusdiauen. 

Doch untenhin die Bestie macht mir Grauen.« 

Die Stellung der Sphinxe ist sehr verschiedenartig: sie werden 
uns stehend, sitzend, liegend und hockend gezeigt. Viele haben 
Flügel, doch kommen auch zahlreiche ohne dieses Attribut vor 2 . 
Man kann es fast verfolgen, wie die Sphinxgestalten, ursprünglich 
in Anlehnung an realistische Tierbilder entstanden, sich immer 
weiter von ihren Vorbildern entfernen und immer reicher und 
phantastischer ausgeschmückt werden: schon in späten ägyptischen 
Darstellungen endigt der Schwanz des Löwen in eine Schlange,- in 
noch späteren Bildern der Römerzeit sind die Sphinxe zu Wesen 
geworden, deren Körper aus denen verschiedener Tiere zusammen® 
gesetzt wurden. 

Wir finden Sphinxe als Plastiken, auf Tempelreliefs, auf Geräten, 
Gefäßen, Schmuckgegenständen und Skarabäen,- der Versdiiedenheit 
der Verwendung entspricht die ihrer Größe, die vom Übermenschen® 
großen, ja Kolossalen — z. B. die Sphinx von Gise — bis zum 
Zierlichen und Winzigen reicht 3 . Wir kennen zahlreiche Einzel® 
darstellungen der Sphinx,- sie treten aber auch häufig paarweise auf. 
In den zu den antiken Tempeln führenden Alleen liegen sie manch® 
mal im Abstand von einigen Metern nebeneinander, die Gesichter 


1 So urteilt Ilberg in Roschers Lexikon, Sp. 1298: »Die Tiere sind im 
allgemeinen männlich/ weibliche Studie sind gelegentliche Varianten der männlichen 
Typen, erst der griechische Einfluß bringt sie zur selbständigen Geltung.« Bei den 
weiblichen Sphinxen sitzt auf einem männlichen Löwenkörper ein Frauenkopf,- 
selten haben sie Eitzen, spät erst kommen weibliche Brüste hinzu. Bei den ähnlichen 
Mischfiguren der Greife und Widdersphinxe kommen weibliche Tiere nicht vor, 

2 Flügel bilden bei der ägyptischen Sphinx eine Ausnahme, in Griechenland 
die Regel. Im Anfang sind die Flügel anliegend, später erhoben und ausgebreitet. 

3 Die Sphinx von Gise ist 20 Meter hoch und 57 Meter lang,- viele ganz 
kleine Sphinxe finden sich auf Prunkgefäßen, Diademen und Armbändern und auf 
Verzierungen. 

Imago VI/2 T 







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Dr. Theodor Reik 


der Straße zugekehrt. Vielleicht gab es in Theben und anderswo 
Hunderte dieser kolossalen Bilder auf den Prozessionsstraßen. Viele 
Darstellungen zeigen sie hochaufgerichtet, die Feinde mit ihren Tatzen 
niederwerfend oder zerfleischend, doch sieht man sie meistens vor 
Tempeln Wache halten. Später schmücken und behüten sie immer 
öfter Grabstätten. 

Theorien über die Bedeutung der Sphinx. 

In den Beschreibungen der Sphinxgestalten tritt oft die Ver» 
wunderung über den Reichtum an Varianten dieses Ungetüms, das 
freilich auf eine Geschichte von vielen Jahrtausenden zurückblicken 
kann, hervor. Viele, einander widersprechende Züge, die sich nicht 
zu einer Einheit zusammenfügen wollen, drohen uns zu verwirren 
und jeden Erklärungsversuch zunichte zu machen. Es besteht kein 
Zweifel, daß manche Sphinxe den König oder die Königin darstellen 
wollen: dafür zeugt sowohl die angestrebte Ähnlichkeit der Gesichter 
als auch die Inschriften und die Herrscherinsignien. Anderseits steht 
es ebenso fest, daß viele die Gottheiten repräsentieren,- auch dafür 
sind zahlreiche Zeugnisse vorhanden. Es ist ferner nichts Seltenes, 
daß diese sonderbaren Gestalten eine kleine Statuette zwischen den 
Vorderbeinen vor sich stehen haben, die man mit Sicherheit als Ab* 
bild eines bestimmten ägyptischen Herrschers agnosziert hat Dazu 
kommt, daß einzelne vor Tempeln und Palästen aufgestellte Sphinxe 
die Funktion von Wächtern haben, wie aus manchen Inschriften her» 
vorgeht. 

Wir meinen, daß schon aus dem Wenigen, was bisher über 
die Sphinx gesagt wurde, erhellt, wie viele rätselhafte Züge das 
Ungeheuer zeigt, die den Völkerpsychologen, den Archäologen, den 
Geschichtsforscher und den Vertreter der Kunstwissenschaft in gleichem 
Maße fesseln müssen. Es hat nun keineswegs an Versuchen gefehlt, 
die Fragen, welche uns die Sphinx durch ihre bloße Existenz auf» 
gibt, zu lösen/ eine kleine Blütenlese aus den vorgeschlagenen Er» 
klärungen, die auf Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, wird 
uns indessen erkennen lassen, wie wenig sie zur Erklärung aus» 
reichen und wie ungeeignet sie scheinen, alle einander widersprechen» 
den Tatsachen in befriedigender Weise zum Einklang zu bringen. 

Die klassische Überlieferung kennt die ägyptische Sphinx als 
Abbilder der Götter 1 . Bei Plutarch erscheinen sie als Symbole 
der Weisheit 2 . Clemens Alexandrinus 3 glaubt in ihnen Sinn» 


1 Wilkinson, Manners and cuatoms. Second series London 1841, S. 302,- 
Wiedemann, Herodots 2. Buch,Leipzig 1890, S.598, zitiert nadi dem Artikel »Sphinx« 
in Roschers Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, 66,/67. Lieferung. 
Leipzig 1913, Sp. 1296 ff. Diesem instruktiven Artikel von Ilberg entnehme ich 
auch die meisten in diesem Abschnitte enthaltenen folgenden Literaturangaben, 

* De Is. 9 ed. Parthey, Berlin 1850, S. 175. 

3 Strom. V, 5, § 31, p. 240, Syll. 





Oedipus und die Sphinx 


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bildet der Kraft, weil sie einen Löwenleib, und der Einsicht, weil 
sie ein Menschenantlitz besitzen, zu sehen. Nach Champollion 1 
ist die Sphinx die Inkorporation des Sonnengottes. Mariette 2 ist 
der Ansicht, daß der König selbst vor dem Throne wacht, den er 
gebaut hat. Ilberg 3 vertritt die Anschauung, daß die eigentliche 
Sphinx zum Unterschied vom Greifen <Löwe mit Falkenkopf) und 
von dem Widdersphinx <Löwe mit Widderkopf) den König darstelle. 
Er nimmt an, daß nur die Spinxe mit Tierköpfen als Verkörperungen 
des Gottes, dessen Kopf sie tragen, galten. Dieser Forscher weist 
übrigens mit Recht darauf hin, daß die Ägypter ein und denselben 
Relieftypus offenbar im Laufe der Zeit verschieden gedeutet haben. 

Zeigte sich so in den Deutungen der ägyptischen Sphinx keine 
Übereinstimmung und waren die Erklärungen der Forscher völlig 
ungeeignet, gerade die vielen einander widersprechenden Momente 
einheitlich zu erfassen, so ergibt eine Auswahl der Auffassungen der 
Sphinxgestalt in der Oedipussage eine besondere Überraschung: die 
euhemeristische alte Deutung sah in dem Ungetüm eine kühne 
Räuberin, andere eine Wahrsagerin 4 . Interessant ist eine ebenfalls 
euhemeristische Auffassung 5 der Sphinx als äthiopische Affenart, 
die manche Geographen sogar gesehen haben wollen. Den alle« 
gorischen Deutungen der Antike schlossen sich solche moderner 
Gelehrter an: so sieht K. Bötticher 6 in der Sphinx »ein uraltes 
Symbol des weise erwägenden, unsichtbar im menschlichen Haupte 
verborgenen Verstandes«, Außerordentlich beliebt sind die Deutungen 
des Untieres als Naturmacht: so soll die Sphinx unter anderem sein: 
der alles umspannende Helios oder Äther, das Symbol des licht" 
spendenden Ostens, ferner Sonnenhöhe, Sonnenuntergang, abneh- 
mender Mond und Sirius. Sie wird von Gerhard 7 den Mächten 
der Unterwelt zugerechnet, während Breal 8 in ihr die Regen¬ 
wolke und Forchhammer 9 den Dämon des zusammenziehenden 
Winterfrostes entdeckt. Auch für R. Schroeter 10 ist sie ein winter¬ 
licher Dämon, der vom Frühlingshelden Oedipus besiegt wird, 
O. Keller 11 meint in ihr den Würgengel der Pest in den böoti- 
schen Seen zu erblicken. 

Vergegenwärtigt man sich noch einmal die lange Reihe dieser 
Erklärungen, so muß man zugestehen, daß sie mit bedächtiger Schnelle 


1 Le Pantheon egyptien. Parts 1823, nr. 24 E. 

2 Voyage dans la Haute-Egypte. 2, 9. 

3 Roschers Lexikon. 66/67. Lieferung, Sp. 1301. 

I Schol. Hesiod. Theog. 326 u. a., zitiert bei Ilberg. 

5 Nach der Schrift »Über das Rote Meer« von Agatharchides und ähn¬ 
lichen Werken. Ausführliches darüber in Ilbergs Referat, Sp. 1375. 

8 Berichte der Kgl. Sachs. Geseltsch. d. Wissensch. 6, 1854, S. 53 ff. 

7 Griedi. Mythologie 1, 581. 

8 Melanges de mythologie et de linguist, S. 163 ff. 

9 Dadudios, 1875, S. 84 ff. 

10 De Sphinge Graecarum fabularum. <Progr. v. Rogaslu 1880.) 

II Tiere des klass. Altertums, S. 182 ff. 


7 * 







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Dr. Theodor Reik 


vom Himmel durch die Welt zur Hölle wandelt. Es wäre unbillig, 
zu erwarten, daß ein einziges armes Wesen zu gleicher Zeit noch 
mehr bedeuten solle. 

Kurz sei daran erinnert, daß die Deutung der Sphinx — wenn 
auch nur anhangsweise — schon Gegenstand psychoanalytischer Be« 
mühung war. Rank 1 sucht die Sphinxgestalt im Zusammenhang mit 
antiken Mythen aus der Identität der säugenden Menschen« und 
Tiermutter zu erklären. Gleichzeitig aber weist er darauf hin, daß 
die Sphinx außer dem weiblichen Oberkörper einen tierischen Hinter« 
leib mit männlichem Genitale aufweist. Er rekurriert auf die infantile, 
im Traume oft wiederauftauchende Anschauung, nach der alle Men¬ 
schen, auch die Frauen, einen Penis besitzen und schließt richtig auf 
eine verborgene homosexuelle Seite der Sphinxbedeutung im Oedipus« 
mythus, woraus er auch den Angstaffekt ableitet. Die Sphinxgestalt 
wäre sonach eine nachträgliche Doublierung der Mutter, worauf auch 
Schmidt hinweist 2 , der die Sphinx mit Jokaste identifiziert. Es sei 
erwähnt, daß Laistner in seinem bekannten Werke »Das Rätsel 
der Sphinx« 3 ebenso wie Rank den Angsttraum zur Erklärung 
heranzieht und die Sphinx der Mittagsfrau, einem Alp, gleichsetzt. 
C. G. Jung 4 will seine Theorie von der theriomorphen Repräsentation 
der Libido zur Deutung verwenden: die Sphinx ist ihm eine »halb 
theriomorphe Darstellung derjenigen Mutterimago, die man als die 
,furchtbare Mutter', von der sich in der Mythologie noch reichlich 
Spuren finden, bezeichnen kann«. Die Libido, welche theriomorph 
repräsentiert wird, sei die verdrängte »tierische Sexualität«. Aus 
dieser Wurzel leitet Jung die theriomorphen Attribute der Gottheit 
überhaupt ab. Die Sphinx ist also dieser Erklärung gemäß ein 
Angsttier, das deutliche Züge eines Mutterderivates zeige/ sie 
repräsentiere einen ursprünglich inzestuös abgespaltenen Libido« 
betrag aus dem Verhältnis zur Mutter. Wir kommen noch auf diese 
beiden Erklärungsversuche zurück. 

Ein Weg zur analytischen Deutung. 

Wir meinen, wir müssen an jede zufriedenstellende Erklärung 
zwei Bedingungen stellen: sie muß erstens alle hervorstechenden 
und wesentlichen Züge der Sphinx, so widerspruchsvoll sie auch 
untereinander sein mögen, verständlich machen und sie muß zweitens 
in ungezwungener Art die Verbindung zwischen dem orientalischen 
Sphinxtypus und dem der griechischen Sage herstellen. Es genügt 
offenbar nicht, eine Deutung zu geben, die einem Typus gerecht 
wird oder nur ein durchgängiges und wesentliches Merkmal der 

1 Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Wien und Leipzig 1912, S, 266 ff. 

2 Griech, Märdien und Sagen, S. 143. Zitiert nach Rank, S. 268. 

3 Berlin 1889. 

4 Wandlungen und Symbole der Libido. Jahrbuch für psychoanalytische und 
psychopathologische Forschungen, IV. Band, Leipzig und Wien 1912, S. 224 ff. 





Oedipus und die Sphinx 


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Sphinx beleuchtet und alle der einen widersprechende Tatsachen 
vernachlässigt. Wir wollen anderseits daran festhalten, daß die 
Sphinx von Gise als Repräsentantin der antiken, vorderasiatischen 
Gattung eine innige Verwandtschaft mit jener Sphinx aus der Oedipus* 
sage, wie sie etwa etruskische Aschenkisten aufweisen, zeigt. Es ist 
wahrscheinlich, daß sich die eine aus der anderen entwickelt hat und 
es wird mit zu unserer Aufgabe gehören, diese Entwicklung zu 
verfolgen und psychologisch zu erklären, aber es ist unmöglich, daß 
die beiden Gestalten toto genere verschieden seien. Dagegen spricht 
schon die Ähnlichkeit ihrer Form. Unser Erklärungsversuch wird 
nämlich von der äußeren Form der Sphinx ausgehen. Wir vertreten 
die Ansicht, die Sphinx selbst müsse uns durch ihre Gestalt Auf* 
Schluß über sich geben. Sie ist ja als eine Schöpfung menschlicher 
Phantasie ein Stück echter Natur und wir glauben mit Goethe, Natur 
habe weder Kern noch Schale: »Alles ist sie mit einem Male.« 

Vorerst aber müssen wir uns fragen, wie die Menschen zu 
Vorstellungen von dergleichen phantastischen Tieren kommen. Die 
Frage ist nicht müßig, denn wir wissen, die Phantasie ist unfähig, 
völlig Neues zu bilden, sie kann nur Stücke aus der Wirklichkeit 
kombinieren und umbilden, umschaffen. Dies aber tut sie nach be* 
stimmten, ewig gleichbleibenden Gesetzen, denen der Künstler des 
Höhlenzeitalters ebenso folgt wie der jüngste Expressionist und 
Dadaist, Der Mensch der Antike ist trotz aller Kenntnis, die wir 
von ihm haben, uns im Gefühls* und Gedankenleben so fern, daß 
unsere Einfühlung immer eine unvollkommene und unsichere sein 
wird. Doch auch wir Kinder einer Zeit, die es so herrlich weit ge* 
bracht, kennen seelische Zustände, in denen wir annähernd so 
denken und fühlen wie die Menschen untergegangener Kulturperioden. 
Die Psychoanalyse hat uns gezeigt, daß uns der Traum jede Nacht 
auf eine solche archaische Struktur des Denkens zurückführt. 

Eines der Hauptarbeitsmittel der Traumarbeit, durch dessen 
Wirkung uns das Verständnis der Traumgedanken so sehr erschwert 
ist, ist die Verdiditung, zu der wir auch die Herstellung von Sammel* 
und Mischpersonen rechnen müssen. Wir glauben, daß diese merk¬ 
würdige Art der Zusammenziehung vieler oft einander wider* 
sprechender Züge zu einer Einheit, die entweder im Traummaterial 
bereits vorhanden ist oder neu gebildet wird, uns ausreichende Auf* 
klärungen über die seelischen Mechanismen, die in der Bildung solcher 
Gestalten wie der Sphinx wirksam sind, liefern könnte. Die sonder* 
bare Zusammenstellung des Sphinxkörpers würde uns in der 
Deutungsarbeit ebensowenig stören wie die anscheinend sinnlose 
und unverständliche Bildung bestimmter Mischpersonen des Traumes. 
Wir sehen etwa manchmal im Traume einen uns bekannten Herrn X, 
der einen Bart wie Herr Z trägt, dabei aber einen Damenhut und 
eine Seidenbluse wie Frau y, ohne uns im Traume Gedanken 
darüber zu machen. Sicherlich haben sich die alten Ägypter eben* 
sowenig über die Sphinx gewundert. Eine der Struktur nach dem 






102 


Dr. Theodor Reik 


Traume ähnliche seelische Schöpfung bilden die Halluzinationen von 
an Psychose erkrankten Personen, in denen nicht selten Halb- und 
Mischwesen auftauchen, deren Bedeutung die Psychoanalyse er- 
kennen konnte. Die mit dieser Technik vertrauten Ärzte haben ge- 
gezeigt, daß die so absurd erscheinenden Bilder durchaus sinnvoll 
sind. Der besondere Charakter der psychotischen Erkrankung, 
namentlich der Abbruch der Beziehungen zur Umwelt, macht es 
notwendig, daß die betreffenden Untersuchungen unvollständig bleiben 
mußten, doch stimmen alle Analytiker darin überein, daß die hallu¬ 
zinierten Gestalten in jedem Zuge determiniert sind, sich ihre Pro¬ 
duktion aus dem Emportauchen von affektbetonten Erinnerungen 
an bestimmte Erlebnisse und Eindrücke erklären läßt. Ein Ver¬ 
ständnis der Bilder erschloß sich nur dann, wenn man daran fest* 
hielt, daß ihnen im Gefüge der Krankheit ein bestimmter Platz ein¬ 
zuräumen ist, man sich auf den Boden der Kranken stellte und 
nicht von vornherein Anstoß an der Absurdität der Erscheinungen 
nahm. Eine Patientin Dr. Bertschingers, welche die Bilder, die 
sie halluzinatorisch vor sich sah, zeichnete, gab Erklärungen dazu, 
die einen guten Einblick in die Art ihres Zustandekommens er¬ 
möglichten \ Besonders häufig erschienen ihr Doppelwesen: etwa ein 
Bodt mit dem Oberkörper eines oder zweier Menschen, ein 
Menschenkopf mit einem Pferdekörper, eine gefleckte Hyäne mit dem 
Gesichte und dem Oberleib einer Frau, ein Krokodil, das außer 
seinem Kopf einen zweiten mit den Zügen eines Mannes zeigte usw. 
Die einzelnen Bestandteile dieser Zusammensetzung erwiesen sich 
als in den Reminiszenzen der Kranken bedingt: sie sah z. B, eine 
»getupfte« Hyäne und gab am Tage nachher eine Erklärung dazu: 
sie hatte eine Wärterin, die sie gekränkt hatte, mit einer gefleckten 
Hyäne verglichen, weil sie so böse, grüne Augen machte und eine 
getupfte Bluse trug. Zugleich war die Hyäne auch eine der Wärterin 
ähnlich aussehende junge Frauensperson, an die sich die Kranke er¬ 
innert hatte und mit der sie als elfjähriges Kind ein besonders pein¬ 
liches Erlebnis hatte. Das Bild eines Ziegenbockes mit einem 
Menschenkopf wird erklärlich, wenn man erfährt, das kleine Kind 
sei einmal unfreiwillig Zeugin einer Koitusszene gewesen, wobei sie 
den Mann mit einem Ziegenbock verglich. Aber auch dieses Bild ist 
überdeterminiert: während der Ferien hatte sie auf dem Lande das 
erstemal das erigierte Membrum einer Ziege gesehen. In ähnlicher 
Art führte die analytische Untersuchung jede einzelne Halluzination 
auf Erinnerungen zurück: von rezenten Eindrücken, durch die Ver¬ 
gleichsmöglichkeiten gegeben waren, angeregt, griff die Phantasie 
immer wieder auf besonders gefühlsbetonte Erlebnisse der Ver¬ 
gangenheit zurück. Die Halluzination, die sich dann oft einstellte, 
gestaltete Personen und Gedanken in einer sonderbar komprimierten. 


1 Bertschinger, Illustrierte Halluzinationen. Jahrbuch für psychoanalytische 
und psychopathologische Forschungen, 1912, III. Band, S. 69 ff. 










Oedipus und die Sphinx 


103 


für den Normalen undurchsichtigen Art: hatte die Kranke jemanden 
einmal mit einem Tiere verglichen, so erschien er ihr nun wirklich 
als dieses Tier/ eine andere Person, mit dieser durch irgend eine 
gedachte oder wirkliche Gemeinsamkeit verbunden, verschmolz mit 
der ersten im Bilde oder wurde durch einen dem Tierkörper auf¬ 
gesetzten Kopf dargestellt/ eine bestimmte Eigenschaft durch ein 
Attribut versinnbildlicht etc. In jedem Fall ließ sich erkennen, daß 
nur eine historische Auffassung, welche von dem rezenten Erlebnis 
regressiv bis zu den Erlebnissen früher Kindheit zurückging, die 
Halluzination in ihrer verborgenen Bedeutung verständlich machen 
konnte. Dabei war man genötigt, wie bei der Lösung eines Bilder¬ 
rätsels die Bestandteile der Erscheinung isoliert zu betrachten und 
ihren Zusammenhang erst dann ins Auge zu fassen, wenn sich das 
Verständnis jedes einzelnen Teiles ergeben hatte. 

Wenn wir nun zu unserer Betrachtung der Sphinx zurückkehren 
und uns die analytischen Erfahrungen aus der Deutung der Misch¬ 
wesen im Traume und in den Halluzinationen der Psychotiker zu¬ 
nutze machen, werden wir uns sagen müssen, daß jeder Teil der 
Sphinxabbildungen ebenso wie jedes der Attribute der Sphinx ein¬ 
zeln erklärt werden und eine Deutung en bloc notwendigerweise 
fehlgehen muß. Der hohe Verdichtungsgrad dieser Bildung macht es 
ferner notwendig, eine Schicht sorgfältig nach der anderen abzutragen: 
den übereinander lagernden Erinnerungen des Individuums, die zur 
Traumbildung herangezogen werden, entsprechen Niederschläge von 
Erlebnissen aufeinanderfolgender Generationen in der Bildung der 
Massenpsyche. So wird also der historische oder vielmehr der 
genetische Gesichtspunkt in der von den einzelnen Bestandteilen 
der Sphinxgestalt ausgehenden Betrachtung ergänzend zu dem 
psychologischen hinzutreten müssen. Wir werden wie in der Traum¬ 
analyse Widersprüche zwischen den einzelnen Elementen vorläufig 
unbeachtet lassen: hier wie dort wird sich schließlich, wenn unsere 
Deutung richtig ist, ein latenter Zusammenhang erkennen lassen, der 
auch das scheinbar Absurde als notwendig und sinnvoll zeigt. 

Die Sphinx die späte Darstellung eines Totemtieres. 

Das auffälligste Moment in der Verkörperung der Sphinx ist 
die Mischung eines Menschen- und eines Tierkörpers, Die individuelle 
Analogie dieses Phänomens im Traum und in der Halluzination weist 
uns den Weg zu ihrem Verständnis: dort wurde ein Mensch als 
Tier dargestellt, weil er von den Kranken mit einem Tiere ver¬ 
glichen wurde. Das »Gleich wie« oder »Ähnlich wie« wurde dadurch 
ausgedrückt, daß das eine Objekt durch das andere, mit dem es 
verglichen wurde, ersetzt wird. In dieser .Art stellt auch der Traum 
Ähnlichkeit und Übereinstimmung dar. Man darf an die Tierfratzen 
Rodins hier ebenso erinnern wie an die Arbeit von Ibsens Bild¬ 
hauer Rubek, deren Entstehung er uns selbst erklärt. 





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Dr. Theodor Reik 


Die völkerpsychologische Analogie führt uns in eine Zeit zurück, 
da der Mensch noch nicht hochmütig auf die Distanz hinwies, die ihn 
vom Tiere trennte, ja da ihm das Tier besonders imponierte und er den 
Vergleich mit einem Tiere nicht nur nicht als Schimpf, sondern als 
Ehre empfand. Viele Zeugnisse der frühantiken Kultur lassen uns 
erkennen, daß einmal die Brüche zwischen Tier und Mensch in der 
primitiven Anschauung noch nicht so völlig abgebrochen war, wie es 
unserer modernen Auffassung gemäß ist. Auch unsere Kinder eilen rasch 
und ohne merkbare Anstrengung über sie,- es macht ihnen keinerlei 
Schwierigkeiten, zugleich mit dem Wissen, jemand sei der Onkel, an» 
zunehmen, er sei auch ein Löwe. Kürzlich sah ich zu, wie ein kleiner 
Junge vor seinem Spielkameraden, der auf allen Vieren kroch und bellte, 
zu seiner Mutter lief und ihr mit allen Zeichen des Schreckens mitteilte: 
»Der Maxi ist ein Wolf und will mich fressen.« Von der Mutter ge» 
schützt, rief er dann dem kleinen Kameraden, dessen Identität er also 
durchaus festhielt, ängstlich zu: »Maxi, bist du schon ein Mensch?« 

Das totemistische System beruht auf einer solchen urzeitlichen 
Anschauung. Wir haben gehört, daß nach der Ansicht mancher 
Gelehrten die Sphinxe die ursprünglichen Verkörperungen des Königs 
waren und später zu solchen der Gottheit umgedeutet wurden. Wir 
sind, wenn wir vom Tierkörper der Sphinx ausgehen, eher geneigt, 
einen Entwicklungsgang in umgekehrter Reihenfolge anzunehmen und 
würden ihn in großen Zügen etwa so zu beschreiben versuchen: 

Die erste umfassende Religion des Menschen, der Totemismus, 
hat das Tier zur Gottheit gemacht. Viele Jahrtausende später hatte 
sich der Totemgott in einen anthropomorphen verwandelt, wenn 
wir an das ursprüngliche Vorbild Gottes, den Vater der Urhorde, 
denken, könnten wir sagen, zurückverwandelt. Die Natur, die keine 
Sprünge macht, kennt auch keine Ausnahme, wenn es sich um 
Entwicklungsprozesse des menschlichen Denkens handelt: unendlich 
langsam vollzieht sich der Kulturfortschritt/ Jahrtausende lang muß 
sich das Bild des Tiergottes neben dem der neuen Gottheit in 
Menschengestalt gehalten haben und, als endlich der anthropomorphe 
Gott nach vielen Zwischenfällen in den Vordergrund trat, blieb 
doch neben Gefühlen der Ablehnung die mit starken Affekten ver= 
bundene Erinnerung erhalten, welche bedeutungsvolle Rolle das 
Tier einst in der religiösen Verehrung gespielt hatte. Als eine 
solche sehr späte Erinnerung an den primären Totemismus wird 
uns die Gestalt der Sphinx erscheinen, denn der Gott grauer Vor» 
zeit ist noch als Resterscheinung in dem Tierleibe an gedeutet, wäh» 
rend der menschenähnliche Gott jüngerer Heit sich in dem Gesichte 
der Sphinx widerspiegelt. Wir würden also sagen, das Urbild der 
Sphinx sei nicht der König, sondern ein gewaltiges Tier, etwa der 
Löwe, der einst den Menschen zum Gott geworden war. Erinnern 
wir uns der löwenköpfigen Gottheiten der Ägypter Hathor, Neith 
und Bast, um Resterscheinungen des Totemismus in Ägypten zu 
erkennen, in denen der Löwe als Totemtier erscheint. Wir meinen 






Oedipus und die Sphinx 


105 


also, daß Tierbilder, etwa Darstellungen von Löwen, die z. B. in 
der ägyptischen Stadt Leantopolis heilig gehalten und gepflegt wur¬ 
den, die unmittelbaren Vorbilder der Sphinx gewesen sind. Es geht 
vielleicht eine einzige, lange Entwicklungslinie von den rohen Tier¬ 
zeichnungen, die man in den Höhlen des Aurignacienzeitalters fand, 
bis zur Sphinx von Gise und ihren Genossinnen. Der Menschen¬ 
kopf, den die ägyptischen Sphinxe so oft zeigen, wäre demnach 
eine späte Erscheinung, welche durch die Anthropomorphisierung 
der Götter bedingt ist und einen ursprünglichen Tierkopf verdrängte. 
Die Zusammensetzung von Mensch und Tier bedeutet ein »Ist 
gleich«/ sie weist uns aber darauf hin, daß ein historischer Prozeß 
vor sich gegangen ist, dessen Spuren wir vor uns sehen. Der 
seelische Vorgang, der zu dieser Darstellungsart geführt hat, ist 
dem der Verdichtungsarbeit im Traume durchaus analog: auch hier 
wird in ein Bild zusammengefaßt, was, obwohl für unser Be¬ 
wußtsein ungleich, als Einheit aufgefaßt werden soll: das Gottesbild 
einer Vorzeit, das man bereits überwunden weiß und das der Jetzt¬ 
zeit, das doch seine Verwandtschaft mit jenem nicht verleugnen kann. 

Der Unterschied zwischen individueller und kollektiver seelischer 
Tätigkeit wird darin klar, daß im Traume Personen aus der 
Aktualität mit solchen aus frühen Kindheitserinnerungen verdichtet 
werden, die prähistorische Kunst aber Wesen aus lange voraus- 
liegenden Entwicklungsstufen mit jenen, die jetzt ihre Aufmerksam¬ 
keit fesseln, in ein Gebilde zusammenfaßt 1 . Die Darstellung der 

1 Einige Hinweise, die obige Darstellung ergänzend, werden nicht uner¬ 
wünscht sein: auf einigen Sphinxfiguren der 12. Dynastie wird das Gesicht noch 
von einer gewaltigen Löwenmähne umrahmt. — M. Hoernes <lirgeschichte der 
bildenden Kunst, Wien 1915, S. 58> stellt sich in ähnlicher Art die Entstehung 
der Misdifiguren vor: »Die bildende Kunst ist ein starker Anker religiöser Vor¬ 
stellungen. Auch überwundene Begriffe werden von ihr festgehalten, doch eben 
als überwundene, der Vergangenheit angehörige, in Dienstbarkeit fortlebende. Sie 
bereichern die Gegenwart mit der Erinnerung an das Verflossene und schaffen 
auch diesem noch den gebührenden Platz im künstlerischen Ideenausdrudc. So er¬ 
klärt sieh die Entstehung der ältesten Mischfiguren, der ältesten Gruppenbilder.« — 
Die Deutung der Sphinx als eines Gottes steht in bestem Einklang mit den älte¬ 
sten Überlieferungen, die z. B. mit merkwürdiger Beharrlichkeit behaupten, die 
Sphinx von Gise stelle den Sonnengott dar,- sie würde aber auch die Analogie zu 
der Bedeutung der Greifen und Widdersphinxe darstellen: der Falke ist das heilige 
Tier des Horus wie der Widder das des Ammon. So erklären sich auch die vielen 
Darstellungen, auf denen die Sphinx eine Königsstatuette vor sich stehen hat: sie 
beschützt den König. Wenn sie als Wächter vor den Tempeln erscheint, so ist 
zu bedenken, daß in dieser späten Gestalt schon eine Art degradierter Gottheit 
ersteht/ die Sphinx ist schon zu einem Diener Gottes geworden. Nur so ist es 
zu verstehen, daß der Gott selbst seine Tempel bewacht. Es ist nicht zu ver¬ 
kennen, daß die Sphinx in dieser Türhüterfunktion den Misdiwesen der assyrisch¬ 
babylonischen Kultur, den Löwen in den Palästen des Sargon, Sanheribs etc. aufs 
engste verwandt ist. Wir sehen solche Schutzlöwen und -stiere nicht nur zu 
beiden Seiten der antiken Paläste/ die Dome von Ferrara, Spalato, die Paläste 
und Plätze Venedigs und so vieler anderer italienischer Städte weisen noch ähn¬ 
liche Tiere auf. Noch die Ungeheuer, die aus den Kirchengiebeln unserer Städte 
herausragen, stellen Erinnerungen an diese alten, ursprünglich totemistischen 
Tiere dar. 






106 


Dr. Theodor Reik 


zwei historischen Seiten der Gottheit, der tierischen und der mensch¬ 
lichen, in eine Form zusammengedrängt, erscheint uns absurd und, 
wenn wir der Traumpsychologie glauben, müssen wir annehmen, 
daß sich ein Stüde unbewußten Hohnes in solcher Darstellung ver- 
birgt. Nun wäre es durchaus falsch, ein solches Gefühl etwa mit 
der Überwindung der »tierischen« Sexualität in Zusammenhang zu 
bringen — nichts lag dem antiken Ägypter ferner — oder es mit 
der Verächtlichmachung des Tieres zu verknüpfen, Es mag der ursprüng¬ 
lichen hohen Bewertung des Tieres im Laufe einer langen Kultur-* 
entwicklung unter der Einwirkung vieler Momente endlich eine min¬ 
dere Schätzung gefolgt sein, die in bereits historischer Zeit auch zu 
einer symbolischen Betrachtung in der Art C. G, Jungs führen 
konnte. Für die in Frage stehende Frühzeit aber kommt eine 
solche anagogische Auffassung, die viel eher die Wiederholung 
eines Stückes der Entwicklung als ihre Erklärung genannt werden 
muß, gewiß nicht in Betracht. 

Aus der Art der Entstehung der Sphinxbilder aus dem Tote¬ 
mismus 1 könnte man die Weiterentwicklung des Typus im Sinne 
einer immer phantastischeren Ausgestaltung vertreten. Faktoren ver¬ 
schiedener Art mögen in der Endgestaltung zusammengewirkt haben: 
Tendenzen der Unkenntlichmachung und schließlich die mißverständ¬ 
liche Auffassung überkommener Sphinxfiguren durch späte Genera¬ 
tionen sind hier zu erwähnen. Aber in der Entwicklungsgeschichte 
der Sphinx mag sich auch ein Stück der politischen und nationalen 
Geschichte des ägyptischen Volkes gespiegelt haben. Die Ägypter 
der ältesten Zeit stellen sich nach den Zeugnissen der Ägyptiologie 
und verwandter Forschungsgebiete keineswegs als eine homogene 
Einheit dar, sondern als eine Mischung verschiedener Völker 2 . Es 

1 Der bekannte amerikanische Forscher Morris Jastrow hat sich zu der 
Ansicht bekannt, daß »this same factor of the resemblance between men and ani¬ 
mal s in conjunction with the ignorance as to the processes of nature led to the 
belief in all kinds of hybrid creatures, composed of human and animal organs 
of fiatures«. <Babylonian-Assyrian Birth-Omens and their cultural significance. 
Gießen 1914, S. 79,> Er neigt dazu, aus diesem Glauben in Verbindung mit der 
babylonischen Lehre von den Geburtsomina die Fabelwesen der antiken vorder¬ 
asiatischen Religion, aber auch der griechischen, ägyptischen und indischen Mytho¬ 
logie, soweit sie solche Mischwesen darstellen, abzuleiten. Ähnliche Ansichten ver¬ 
traten Prof. Friedrich Schatz <»Die griechischen Götter und die menschlichen Mi߬ 
geburten«, Wiesbaden 1901> und Dr. Bab {»Geschlechtsleben, Geburt und Mi߬ 
geburten« in »Zeitschrift für Ethnologie«, Vol. 38, 209—311). Allein diese Theorien 
sind sicher nicht zur Erklärung ausreichend, wenngleich sie manche Züge aufzuhellen 
vermögen. * 

3 Vgl. Fr Bommel, Grundriß der Geographie und Geschichte des alten 
Orients 2 . 108—129, A. Wiedemann, Ägyptische Religion im Archiv für Reli¬ 
gionswissenschaft IX. <1906), S. 482, Die Zusammensetzung des ägyptischen 
Volkes aus zahlreichen verschiedenen Völkern und Rassenresten wird nicht nur 
durch Skelettfunde <vgl. J. Kollmann, Die Gräber von Abydos. Korrespondenzbl. 
für Anthropol. etc. XXXI11. <1902), 119—126) und die Abbildungen von Typen 
aus ältester Zeit <vgl. J. de Morgan, Recberdies sur les origines de l'Egypte, 
Paris 1896—97), sondern auch durch die Untersuchung der altägyptischen Sprache 
erwiesen. Diese stellt sich als eine aus verschiedenen afrikanischen und asiatischen 





Oedipus und die Sphinx 


107 


ist auch bekannt, wieviel heterogene Elemente die Urbevölkerung 
Ägyptens aufgenommen und assimiliert hat. Die Stammesorgani- 
sation und die lokale Verteilung aber hatte für die Völker des 
antiken Orients, die erst spät zur Staatenbildung gelangten 1 , ihre 
besondere Bedeutung auch in religiöser Hinsicht. Wir sehen z. B. 
in der Geschichte Babylons den wiederholten Fall, daß mit der Er- 
langung der politischen und kulturellen Vorherrschaft des einen 
Stammes immer wieder religiöse Verschiebungen eintreten: Assimi= 
lierungen der einen Gottheit an die andere, Verdichtungen verschie¬ 
dener Züge und Ersetzungen der einen göttlichen Eigenschaft durch 
eine abweichende. Ähnliche Ereignisse müssen auch im Stadium des 
Totemismus zu Mischbildungen verschiedener Art geführt haben,- 
Kombinierungen des Totemtieres der einen Stammesgruppe mit dem 
einer anderen mögen sich so als Resultat längeren Nebeneinander« 
bestehens mehrerer Totems herausgebildet haben. Als solche Zeichen 
des Kampfes und Kompromisses zwischen Altem und Neuem, 
Überwundenem und Überwinder, zwisdien verschiedenen Stämmen 
dürfen wir Wesen wie die Widdersphinx, den Greif etc,, welche 
die Schöpfung der Sphinx mit Menschenkopf vorbereiteten, auffassen. 
Diese Form wäre demnach das letzte Produkt in einer langen Reihe, 
die genau zu verfolgen uns jede Möglichkeit fehlt®. 


Bestandteilen zusammengewachsene Mischsprache dar, Nach den Untersuchungen von 
Ad. Ermann <Die Flexion des ägyptischen Verbums. Sitzungsber d. Berl. Akad. 1900, 
317—353) und Graf Schack-Schackenburg <Ägyptiologische Studien, Heft 5, 
Leipzig 1902, 209 ff.) sowie den anthropologischen Befunden v. Luschans darf 
man annehmen, daß die ägyptische Urbevölkerung afrikanische Völker waren, die 
freilich schon in uralter Zeit von semitischen Beduinen unterjocht wurden. 

1 Die Kämpfe der verschiedenen Stadtkönige Babylons werden erst im 
3. Jahrtausend vor Christi Geburt durch die Bildung des Reiches von Sumer und 
Akkad beendigt; erst gegen Ende der vordynastischen Zeit Ägyptens werden die 
Nord-' und Südgaue des Landes zu zwei größeren Reichen zusammengefaßt, ohne 
daß die Gauorganisation aufgegeben worden wäre (um 3400). 

3 Die obige schematisierende und vereinfachende Darstellung soll keine Vor* 
Stellung von der Mannigfaltigkeit der Ereignisse geben, die zu Entwicklungen 
innerhalb des Totemismus geführt haben, sondern nur die Möglichkeiten andeuten, 
die sich aus manchen ergaben. — Es mag indessen hier angeführt werden, daß 
sich aus der Verbindung der Stämme mit ihren Totems innerhalb des Ganzen, 
das durch die Staatsbildung entsteht, manche dunkle Stelle der Bibel erklären läßt. — 
Bedeutsamer wird diese Auffassung für die vielumstrittene Frage, ob Mono* 
theismus oder Polytheismus am Anfang der religiösen Entwicklung steht. Der 
schottische Religionsforscher Andrew Lang <in den späteren Auflagen von 
»Myth, Ritual und Belief«, »The Making of Religion«, London 1909, 3. edit. ; 
»Magic and religion«, London 1901) und der Wiener Pater Wilhelm Schmidt 
(»Der Ursprung der Gottesidee«, 1912) stellen sich mit ihrer Ansicht, daß eine 
»monotheistische« Glaubensform jeder anderen roheren Form der Religion voran* 
gegangen sei, der großen Majorität der anderen Forscher, die den Polytheismus 
als ursprünglicher betrachten, entschlossen gegenüber. Faßt man mit Freud den 
Totemismus als die erste umfassende Religion, so gelangt man bei gewissenhafter 
Durchforschung des ethnologischen und religionsgeschichtlichen Materials zu der An* 
sicht, daß die Meinung der beiden Forscher in weitgehendem Maße auf Richtigkeit 
beruht. Sie trifft zwar in der Form, daß der Monotheismus (also ausschließlicher 
Glaube an einen Gott) die primäre Religion sei, nicht zu, wohl aber darf der 





108 


Dr, Theodor Reik 


Die historische Betrachtungsweise läßt uns, wenn wir sie mit der 
psychoanalytischen kombinieren, auch verstehen, wieso man im Bilde 
der Sphinx nicht nur den Gott, sondern auch den König sieht. Denn 
der Antike war die Differenz zwischen Gott und Herrscher eben* 
sowenig ausgeprägt wie den heutigen Primitiven 1 . Die Könige der 
Antike waren es gewöhnt, als Gottheiten gefeiert zu werden, und 
ihren Bildern wurde göttliche Verehrung zuteil. So beanspruchten 
die babylonischen Herrscher von Sargon I. bis zur vierten Dynastie 
von Ur, Götter zu sein, ja die Monarchen aus dieser Dynastie 
ließen sich Tempel bauen und befahlen dem Volk, ihren Bildern 
Opfer zu bringen. Die ägyptischen Könige wurden bei Lebzeiten 
deifiziert und in besonderen Tempeln von besonderen Priestern als 
Götter angebetet. Dem Volke galt der König als der »große Gott«, 
»der goldene Horus« und insbesondere als Sohn des Sonnengottes 
Ra, Er wurde als »Herr des Himmels und der Erde, Sonne«, als 
»Schöpfer und Bilder der Menschen, Leben der großen Welt« etc. an* 
gesprochen. Es ist also kulturgeschichtlich bedingt, wenn die Sphinx 
nicht nur den Gott, sondern auch seine menschliche Inkarnation, den 
König, bedeutete. Als Zeichen ihrer göttlichen Natur hüllten sich 
die vorgeschichtlichen Könige ebenso wie jetzt noch die Häuptlinge 
der Wilden in das Fell des Totemtieres,- die Herrscher des vor* 
historischen Ägyptens trugen das Löwenfell noch lange, nachdem die 
totemistische Religion von einer höheren Stufe abgelöst worden war« 

Die Sphinx als Sonnengott. 

Auch die Deutung der Sphinx als Sonnengott fügt sich in die 
skizzierte Entwicklung ein: sie darf als sekundäre auf ein Stück 
Berechtigung Anspruch machen. 

Es kann hier nicht davon gesprochen werden, auf Grund 
welcher seelischer Voraussetzungen und auf welchen Wegen die 

Henotheismus Anspruch auf eine solche primäre Stellung machen. Der Stamm, der 
seine Herkunft von einem Totemtier herleitet, das er verehrt, ist vorerst ein ab* 
geschlossenes Ganzes, Erst die Verbindung mit anderen Stämmen, die in Form 
von friedlicher Vereinigung oder Unterjochung eines oder mehrerer Stämme durch 
einen fremden erfolgt, ergibt die Möglichkeiten des Totemwechsels, beziehungsweise die 
weit bedeutsamere, daß neben dem alten Totem neue Geltung und Verehrung 
beanspruchen dürfen. Man darf neben anderen Momenten dieses als entscheidend 
für die Entwicklung des Polytheismus aus einem primären Henotheismus betrachten/ 
aber auch für die spätere Entwicklung eines primitiven Monotheismus, der mit 
den älteren vielfältigen Göttergestalten zu kämpfen hat, wird wohl der Faktor 
der Volks* oder Stammesorganisation als besonders wirksam zur Erklärung heran» 
gezogen werden müssen So scheint die Verdrängung der Elohim durch Jahwe 
am Sinai durch die Erlangung einer Hegemoniestellung des Stammes, dem Moses 
angehörte, mitbestimmt. Eine ausführlichere Behandlung der einschlägigen Fragen 
muß einer selbständigen Publikation Vorbehalten bleiben. 

1 J. S. Frazer gibt in »The magic art« <The golden hough L Part, Vol. I, 
p* 373 ff,> zahlreiche Beispiele solcher »incarnate human gods« aus allen Weltteilen, 
auch von der göttlichen Stellung der Herrscher im alten Babylon, Ägypten, Peru, 
Mexiko und China und erklärt sie aus der Entwiddung des Königtums, 






Oedipus und die Sphinx 


109 


i 

astrale Auffassung der Götter entstand und welchen realen und 
psychischen Notwendigkeiten sie ihre fortwirkende Bedeutung ver» 
dankt. Die Forschungen Otto Ranks haben die Aufstellungen der 
Astralmythologen in wesentlichen Punkten berichtigt, modifiziert und 
die beschränkte Geltung ihrer Resultate gezeigt/ hier erübrigt sich 
nur — auf die Gefahr hin, daß wir über die Grenzen unseres 
Themas hinausgehen — die religiöse Entwicklung der Astral» 
mythologie in kurzen Zügen zu zeichnen. Es scheint mir sicher zu 
sein, daß sich die Astralreligion aus totemistischen Anschauungen 
entwickelt hat und die Projektion der Götter an den Himmel unter 
dem kombinierten Eindruck von Naturvorgängen, seelischer Um» 
wälzungen und Veränderungen der menschlichen Lebensbedingungen 
vor sich ging. Es ist zu vermuten, daß der Tierkreis noch in seiner 
Zusammenstellung Zeugnis für den totemistischen Ursprung der 
Astralmythologie und »religion ablegt. Die Versetzung der Gott» 
heiten an den Himmel erweist sich durch viele Anzeichen als einer 
entwickelteren und höheren Stufe der religiösen Entwicklung an» 
gehörig: sie entfernt die Götter von ihrer Heimat, der Erde, wo 
sie entstanden sind, und wo sie ursprünglich Busch und Wald füllten. 
Die Menschen der Urzeit haben ebensowenig wie die Kinder in den 
ersten Jahren irgend ein Interesse am Himmel und seinen Körpern,- 
die Zuweisung der oberen Regionen als Wohnortes für die Götter 
ist ein Zeichen der vorgeschrittenen Vergeistigung der Religion 1 . Sie 
wird erst möglich, wenn sich der Blick des Menschen von der Erde 
auf den Himmel gerichtet hat. 

Die Projektion der Totems an den Himmel war der typische 
Fall ihrer »Erledigung«: sie fällt in eine Zeit, da die Religionsent» 
wicklung tatsächlich bereits über die totemistischen Gottesbegriffe zu 
höheren vorgeschritten war,- nun konnte sie die unbrauchbar ge» 
wordenen Totems in die überirdische Rumpelkammer werfen. Man 
darf vielleicht im Zusammenhang damit erwähnen, daß diese Art 
der Entfernung später zur euphemistischen Repräsentation des 
Sterbens überhaupt wurde, und daran erinnern, daß sie im Traume 
und in der Dichtung, in der Folklore und in der Mythenbildung 
wiederkehrt. Es sei nur an den von Freud angeführten Traum eines 
vierjährigen Mädchens erinnert, das seine Spielgefährten Flügel be» 
kommen und wegfliegen sah 2 . 

Das Höhersteigen des Gottes bedeutet also in diesem Sinne 
nicht nur ein Avancement, sondern auch unbewußt eine Entfernung 
und, wenn wir von der Erde ausgehen, eine Art latenter Depos» 
sedierung. In dieser neuen religiösen Vorstellung zeigen sich noch 


1 Gelegentlich bekennen sich noch Skeptiker zu ihrem Desinteressement am 
Himmel und seinen göttlichen Bewohnern: 

»Den Himmel überlassen wir 

Den Engeln und den Spatzen«. (Heine.) 

2 Traumdeutung, 4. Auflage, S. 191. 





110 


Dr. Theodor Reik 


immer die alten seelischen Medianismen, die in der Religionsbildung 
überhaupt wirksam waren: der Respekt und die Achtung vor der 
Gottheit sind auf den höchsten Punkt gestiegen, in gleichem Maße 
aber drängen die unbewußten revolutionären Vfansche, die seine 
Entfernung anstreben, empor. Diese Äußerungsform verstärkter 
Ambivalenz, als welche wir die Versetzung der Götter an den 
Himmel ansehen müssen, wiederholte sich, als die Geltung der 
anthropomorph gewordenen Gottheiten in Gefahr war. Die Antike 
durfte es sich noch erlauben, Götter leibhaftig auf Erden wandeln 
und körperlich sterben zu lassen, spät erst ließ man sie unsterblich 
sein und im Himmel wohnen. Die Wirkungen unbewußter Haß-* 
tendenzen und reaktiv verstärkter Liebe und Verehrung werden in 
dieser religiösen Vorstellung gleich deutlich 1 . 

i Die im Text gegebene Zurückführung des Gestirnkultea auf die Projektion 
ursprünglich tiergestaltiger, später anthropomorpher Götter an den Himmel würde 
eine ausführlichere Behandlung verdienen. Inwiefern diese Projektion Teil einer um* 
fassenderen, primitiveren war und sich bereits gebahnter seelischer Wege bediente, 
ist ein außerordentlich interessantes Thema, das Untersuchungen von anderen Seiten 
her Vorbehalten bleiben muß. — In diesem Zusammenhänge sollen nur einige 
ergänzende Bemerkungen, deren fragmentarischer Charakter nicht verhehlt werden 
soll, hinzugefügt werden. Sie können vielleicht in Verbindung mit den obigen Aus* 
führungen dazu beitragen, die Astralmythologie und ^retigion des vorderasiatischen 
Orients bereits als sekundär v erscheinen zu lassen. Der babylonisAe Kult der sieben 
Planetengötter Sin (Mond), Samas <Sonne>, Nabu (Merkur), Istar (Venus), Nergal 
<Mars, beziehungsweise Saturn), Marduk (Jupiter), Kaimänu (Saturn, beziehungs* 
weise Mars) zeigt bereits durA die Namen der Gestirne, daß die Sterne mit den 
Göttern identifiziert wurden. Wir wissen, daß die Sternbenennung der Babylonier 
für die grieAisAe Astronomie vorbildlich wurde. Über die Art, wie die Götter 
zu Sternen wurden, darf man nur Vermutungen anstellen, die siA auf Rest* 
ersAeinungen in den frühen antiken Religionen und im Glauben der jetzigen 
Wilden aufbauen. Die ägyptisAen Gottheiten waren sterbliAy aber während ihre 
Leiber bandagiert und umwickelt im irdisAen Grabe lagen, erglänzten ihre 
Seelen als helle Sterne am Firmament. Die Seele der Isis IcuAtete im Sirius, die 
des Horus im Orion und die Typhons im Großen Bären. (Frazer, The dying 
god, p. 5.) Die Primitiven der Jetztzeit sehen in den Sternen entweder Dämonen 
oder die Seelen der Verstorbenen. Es sAeint mir, als wäre diese Stufe sAon eine 
vorgesArittenere, in welAer die einstigen Gottheiten als Dämonen erscheinen* 
(Beispiele bei Frazer, The dying god, S. 61 ff.) Ein Stern ersAeint ursprüngliA, 
wenn ein Großer gestorben ist/ die Heroen der GrieAen und Römer werden von 
den Göttern zum Lohn für ihre Taten als Sterne an den Himmel versetzt. Ver^ 
gleiAe noA die Worte von Casars Weib bei Shakespeare : 

»When beggars die, there are not comets seen/ 

The heavens themselves blaze forth the death of princes.« 

Anders gewendet ersAeint dasselbe Motiv in den zahlreiAen Sagen primitiver 
Völker, in denen siA Gott, unzufrieden mit den Verhältnissen hienieden, in den 
Himmel flüAtet. — Die Existenz der zwölf Tierkreisbilder läßt siA sAon in der 
Hälfte des zweiten vorAristliAen Jahrtausends in Babylonien naAweisen (Schräder* 
Winckler~Zim mern, KeilinsAriften und das Alte Testament, Berlin 1903,3. Auf!., 
S. 627). Man hat bemerkt, daß im Texte der »Grenzsteine«, welAe Tierkreis* 
embleme aufweisen, die bekannteren babylonisA^assyrisAen Gottheiten zu diesen 
in Beziehung gesetzt werden, »in den Tierkreisgestirnen sozusagen ihre Offen* 
barungsstätte erhalten«. Die Art dieser Beziehung bleibt freiliA dunkel: sie wird 
klarer, wenn man beaAtet, daß wahrsAeinliA auA die Planetengötter ursprüngliA 
Totems waren. Diese Auffassung des Tierkreises als eines allmähliA entstandenen 







Oedipus und die Sphinx 


111 


Die Sphinx muß die lange Entwicklung der Gottheit vom Tier 
auf Erden zu dem am Himmel, der wir letzten Endes audi die 
Benennung des Zodiakus verdanken, in einer bestimmten Form mit» 

§ emacht haben. Als Horus aus einem totemistiscben Gott zu einer 
onnengottheit wurde, mag auch seine plastische Verkörperung, die 
Sphinx, zu einem Sonnensymbol geworden sein. Sekundär wurden 
ihr dann auch andere Attribute des solaren Gottes erteilt und nach¬ 
träglich manche Funktionen zugeschrieben, die mit ihrem ursprüng¬ 
lichen Charakter als Bild eines Totems nicht vereinbar sind. 

Immer wieder aber setzt es uns in Erstaunen, daß das Nachein¬ 
ander einer überaus langen und langsamen Kulturentwicklung, das wir 
konstatieren, in der Gestalt der Sphinx als ein Nebeneinander ersdieint: 
das Alte verschwindet nicht völlig, wenn sich auch mächtige neue An¬ 
schauungen geltend machen. Es ist so, als wäre auch das Unbewußte der 
Völker unfähig, ihre überwundenen und abgetanen Vorstellungen und 
Gefühle völlig auszuschalten. Audi das Unbewußte der Masse ist un¬ 
zerstörbar und unsterblich, dem Einflüsse des siegreich Neuen entzogen. 


Pantheons von Totems verschiedener Stämme, das erst spät feste Gestalt annahm, 
würde gut zu der kühnen Interpretation einer Stelle im Ps. 12 durch Peiser 
(Orientalische Literaturzeitung 1910, Sp. 5> passen. 16, 4 liest dieser dann isbnrr 
fllbltt "OlS] »wandelnd am Damm der Tierkreisbilder«. Nach der Rekonstruktion 
Peisers würde die dunkle Stelle lauten: 

»Es mehrten sich andere Ba'ale, 
wandelnd am Damm des Tierkreises/ 
nicht will ich ihnen Blutopfer bringen, 
noch ihre Namen auf meine Lippen nehmen.« 

Die Bedeutung dieser Auffassung leuchtet ein, wenn man sie mit der von 
Winckler, Stucken, Jeremias u. a. festgehaltenen, nach der sidi der astrale 
Charakter der babylonischen Religion als primär erweist, vergleicht. Wie weit sie sich in 
der Wertung des Totemismus von der astralmythologiscben Schule unterscheidet, mag 
eine Stelle aus einem kürzlich erschienenen Buche »Sternglaube und Sterndeutung« 
(Teubner, Leipzig und Berlin 1919, 2. Aufl.) von Prof. Fr. BoII zeigen: »Die Funde 
der letzten Jahre haben gezeigt, daß die Tierkreisforschung eine der wichtigsten Leit» 
fossilien zum Nachweise alter Kulturströme behandelt, die von den großen Mittel» 
punkten des geistigen Lebens der alten Welt ausgegangen ist. Entsprechend dem 
Gedanken, daß die Erde und ihr Leben ein Abbild des großen Lebens am Himmel 
sei, hat man die Menschenwelt nach astralen Gesichtspunkten eingeteilt. So wurde 
die peruanische Hauptstadt Cuzco als Tierkreisdenkmal erbaut. Ferner teilte 
man allerwegen den Stamm in Gruppen ein, die den Tierkreistieren 
unterstellt wurden. So entstand der Totemismus, der von nun an 
nicht mehr als eine allüberall selbstständige Entwicklungsstufe der 
Menschheit zu gelten hat, sondern als Entlehnung von dem Kultur» 
kreise, dem der Tierkreis entstammt.« (Von mir gesperrt.) Im Gegensatz 
zu dieser Anschauung glauben wir, daß die so beschriebene Form schon ein End» 
produkt darstellt, das sich aus der Geschichte des Totemismus erklärt,- es ent» 
spricht der Rückprojektion der Tierkreisbilder auf die Erde. Es kann hier nicht 
dargestellt werden, welche Folgerungen sich für die Entwicklung der Astrologie 
und Astronomie aus dieser Herkunft ergeben haben,- es soll nur betont werden, daß 
auch die für die Antike und einen großen Teil des Mittelalters überragende Stellung 
der Astrologie und die Art der Beziehung, welche sie zwischen Gestirnkonstellation 
und Menschenschicksal herstellt, sich aus der ursprünglichen religiös bestimmten 
Bedeutung der Sterne erklärt. 







112 


Dr. Theodor Reik 


Die Flügel der Sphinx. 

Die Entwicklungsgeschichte des Himmelsgottes mag eine Jahr* 
tausende lang dauernde und sehr komplizierte gewesen sein,- allerlei 
Anzeichen aber deuten darauf hin, daß die Versetzung der Gott* 
heiten an den Himmel eine allmähliche war und daß sie sich nach 
den Anschauungen des prähistorischen Orients so wie der jetzigen 
primitiven Völker in durchaus sinnlicher und sinnfälliger Weise voll* 
zogen hat. Der Baumtotemismus und der Höhenkult haben in diesem 
kulturhistorisch und religionsgeschichtlich so bedeutsamen Prozeß be¬ 
stimmte Entwicklungsstufen vertreten 1 / dem Vogel fällt in ihm eine 
besondere Bedeutung zu. 

Damit sind wir bei dem so auffälligen Attribut der Beflügelung 
der Sphinx angelangt, das mit dem Löwenkörper unvereinbar scheint. 
Die Deutung dieser Eigenschaft als Zeichen der Schnelligkeit hat 
gewiß ihre Berechtigung, nur bedarf sie mancher wichtiger Ergänzung. 
Es ist klar, daß die Flügel, welche die antike Religion und Mythologie 
den göttlichen Mischtieren, aber auch die, welche sie menschenge* 
stalteten Gottheiten wie dem Merkur und Gottesboten wie den 
Cherubim, Seraphim und den Engeln verleiht, aus der Natur, welche 
den Menschen umgibt, genommen sind. Der Vogel war es, dessen 
F.lug nicht nur dem staunenden Primitiven zum Rätsel wurde. 

Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, läßt es nur als not* 
wendig erscheinen, die Bedeutung des Vogels für das religiöse 
Vorstellungsleben zu streifen, dodi darf man versichern, daß eine 
speziellere Behandlung des Problems zu interessanten und auf¬ 
schlußreichen Resultaten führen müßte. Hier können nur An* 
deutungen gegeben werden. In der Endentwicklung des tote- 
mistischen Systems muß an bestimmter, für die einzelnen Völker 
verschiedener Stelle der Geier, Adler oder sonst ein Vogel als 
Totem eingetreten sein. Die Schnelligkeit des Vogels mag dem 
Primitiven ebenso imponiert haben, wie die Überwindung der Schwer* 
kraft,- die Merkmale des Verschwindens und Wiederauftauchens im 
Äther werden vielleicht später dazu dienen, als Anknüpfungspunkte 
der Allgegenwart und Allwissenheit der Götter verwendet zu 
werden. Es ist kein Zweifel möglich, daß der Vogel den Menschen 
einmal zum Gott geworden war: die späte Vorstellung des Seelen* 
vogels scheint sich, wie ich glaube, daraus entwickelt zu haben, 
daß Vögel sich auf die Leichen teurer Toten nieder senkten, von 
ihnen fraßen und wieder davonflogen. Es ist wahrscheinlich, daß 
die totemistische Bedeutung des Vogels einer späten religiösen Ent* 
widdung angehört/ der Vogel wird dann zu jenem Wesen, das zur 
astralen Gottheit, dem Vater Sonne, fliegt, das die Seelen reprä* 
sentiert und sein Flug wird zum Vorbild des Entrücktwerdens, der 
Auferstehung zahlreicher Heroen von Moses und Elias bis Jesus. 

1 Ich gehe auf diese Stadien hier nicht näher ein, weil sie in anderen vor¬ 
bereiteten Arbeiten eine ausführliche Behandlung erfahren werden. 








Oedipus und die Sphinx 


113 


\ 


Wir haben vorläufig keine Möglichkeit, die Stelle genau zu 
bezeichnen, welche die Einführung des Vogels innerhalb der tote** 
mistischen Religionsformen bestimmt, doch scheint es, daß der 
Vogel, als der Totemismus bereits im Verschwinden war, sozu* 
sagen totemistisch besetzt, d. h. seine Rolle und Aufgabe in tote* 
mistischer Sprache beschrieben wurde. So aber mag er später zu 
einer der totemistischen Verkörperungen des Heilands geworden sein, 
zum Vorbild des Heros. Die Sperber* und geierköpfigen Gott* 
heiten der Ägypter, die Taube der Aphrodite und der Rabe 
Wotans, der Geier, der Prometheus' Leber frißt, und die Kraniche 
des Ibykus, die Vögel, deren Flug allen antiken Völkern zum 
Orakel wurde, der Geier beim Opfer Abrahams, die von Noah 
ausgesendete Taube und jene in der Verkündigung Marias — alle 
diese Vögel sind ursprüngliche Götter, die erst spät zu Helfern und 
Boten menschengestaltiger Gottheiten wurden. So wurde auch die 
Sphinx aus einer Gottheit zu einem geflügelten Wächter im Dienste 
Gottes wie andere uns vertrautere Gestalten,- auch sie hatten zuerst 
eine Stelle im Pantheon, ehe sie zu Mittlern zwischen Jahwe und 
den Menschen wurden: ich meine die Engel, die Flügel tragen und 
deren ursprünglich totemistischen Charakter wir noch in den alt* 
testamentlichen Beschreibungen ihrer Vorläufer, der Cherubim, er* 
kennen *. 

Man muß hier noch einmal darauf aufmerksam machen, daß 
die ältesten Sphinxe, die wir kennen, keine Flügel tragen und die 
Beflügelung der Tiere erst in der griechischen Darstellung allgemein 
wurde. 

Männliche und weibliche Sphinxe. 

Wir waren gezwungen, den ausgedehnten und schwer erkenn* 
baren Wegen zu folgen, welche die primitive Gesellschaft eingeschlagen 
hatte, bis sie zu jenem religiösen Stadium gelangte, auf dem wir 
sie in der Frühantike treffen. Wir konnten Anzeichen dieses Ent* 
widdungsganges in der Gestaltung der Sphinx wiederfinden: wie 
Jahresringe auf den Bäumen haben sich in ihrer Form Merkmale 
längst überwundener Phasen der Entwicklung ausgeprägt. Der merk* 
würdige Konservatismus primitiver Kulturen brachte es zustande, 
daß das Alte nicht verschwand, als das Neue aufkam, sondern mit 
dem Neuen vermengt, veränderten Zwecken dienend fortlebte, seiner 
ursprünglichen Bedeutung längst entfremdet. Aller Fortschritt der 
antiken Religion — und nicht nur der antiken — vollzieht sich in 
ähnlicher Art der Umformung und Umdeutung sowie Assimilierung 
ererbten Gutes. Vielleicht fällt von hier aus auch ein Licht auf jene 
eigentümliche Gestaltung der Sphinx, die wir nur als zweigeschlecht* 
lieh auffassen können. Wir wissen, daß die männlichen Sphinxe im 

1 Hierher gehören auch die geflügelten, menschenköpfigen Stierkolosse der 
bahylonischeassyrischen Spätzeit, 

Imago VI/2 


e 






114 


Dr. Theodor Reik 


ältesten Ägypten weitaus überwiegen, später aber weibliche Sphinxe 
immer häufiger an die Seite der männlichen treten, bis sie in Grie® 
chenland den männlichen Typus völlig verdrängen. Wie fügt sich 
diese weibliche Gestaltung unserer Deutung von der totemistischen 
Ableitung der Sphinx ein? Halten wir daran fest, daß der weibliche 
Sphinxtypus in der Frühzeit selten ist und daß später sowohl 
männliche als weibliche Sphinxe erscheinen, so liegt es nahe, eine 
historische Entwicklung anzunehmen, welche das ursprünglich männ® 
liehe Tierbild durch ein weibliches ersetzte. Der Penis, den die weib® 
liehe Sphinx trägt, wäre demnach ein Rest ihrer ersten maskulinen 
Gestalt. Es erwächst uns aber die Pflicht, diesen hypothetisch an« 
genommenen Entwicklungsgang durch Anführung von Tatsachen 
aus der Vorgeschichte der Menschheit wahrscheinlicher zu machen. 
Wir wissen, daß der gegenwärtigen Form der Familie das Matri® 
archat vorausgegangen ist, in dem sich die Mitglieder der Horde 
um ihren natürlichen Mittelpunkt, die Mutter, gruppierten. Die 
Restbestände matriarchalischer Organisation, wie wir sie bei be® 
stimmten tiefstehenden Stämmen finden, sowie Spuren in der Ver® 
fassung der antiken Völker des Orients geben 1 , auch wenn wir die 
vielfachen Veränderungen durch Jahrtausende bedenken, ein unge® 
fähres Bild jener ersten, primitiven Gruppeneheorganisation, Es ist 
schwer, den Einfluß, den die matriarchalische Ordnung auf die 
Religion nahm, zu erkennen,- schon deshalb, weil wir keinen un® 
mittelbaren Zugang zu jenem prähistorischen Entwicklungsstadium 
der Menschheit haben. Freud vermutet, daß die großen Mutter® 
gottheiten vielleicht allgemein dem Vatergott in der Entwicklung 
vorausgegangen seien 2 . Dafür würden besonders zwei Tatsachen 
sprechen: der relativ späte Charakter des Totemismus, der seiner 
Entstehung nach den Bruderclan also eine entwickeltere Familien® 
form voraussetzt, und die llnwahrscheinlichkeit, daß die libidobesetzte 
Figur der Mutter, die so lange Zentrum und Haupt der Familie 
war, nicht vorher schon in der primitiven Anschauung zur Göttin 
emporgerückt wäre. Trotzdem muß man gerade hier zur Vorsicht 
bei der Annahme einer ursprünglichen Mutterreligion mahnen: wir 
wissen, daß die Kulte, die den Muttergottheiten des Orients, der 
Isis, der Ischtar, der Kybele und den anderen Verkörperungen der 
mater magna geweiht waren, ursprünglich einen ganz anderen 
Charakter trugen als die der Vaterreligion: sie waren besonders 
durch die Betonung des Sexuellen, der Feier der Fruchtbarkeit des 
Menschen und der Natur, charakterisiert im Gegensatz zu dem 
Charakter der Vaterreligion, die das soziale Moment in den Vorder® 
grund rückte und sich im Schuldbewußtsein eine Art sozialer Angst 
schaffte. Wenn wir auch diese antiken Kulte erst als späte Ent® 

1 Vgl. insbesondere Frazer, Attis, Adonis, Osiris. (The golden bough 
Third edition. Part IV>, London 1907, S. 382 ff. nebst den älteren Werken von 








Oedipus und die Sphinx 


115 


Wicklungen ansehen, müssen wir doch annehmen, daß ihre charak* 
teristischen Züge ihren prähistorischen Vorstufen bereits eigen waren, 
ja wir werden eher der Vermutung zuneigen, daß sie dort noch 
krasser, von äußeren Kulturfortschritten unbeeinflußter und unge* 
zügelter zutage traten. <Man wird es nicht anerkennen, wenn dem 
entgegengehalten wird, der Unterschied der Kulte männlicher und 
weiblicher Gottheiten beruhe auf Äußerlichkeiten, denn gerade sie 
sind das trotz allen späteren künstlichen Angleichungen unverwisch^ 
bare und unzerstörbare Zeichen einer tiefliegenden, im Triebleben 
verankerten Differenz.) 

Nun ist es gewiß nur eine Frage der Nomenklatur, ob man 
die Religion an dieser oder jener Stelle der Menschheitsentwicklung 
als vorhanden ansieht oder sie erst von einem anderen Stadium an 
datiert, allein, wie mir scheint, gehört gerade die soziale Bindung 
und mit ihr das mächtige Agens des Schuldbewußtseins zu den un* 
entbehrlichen und wesenhaften Momenten der Religionsbildung. Man 
wird sich deshalb trotz der einer religiösen ähnlichen Verehrung der 
Mutter zur Zeit des primitiven Matriarchats nicht entschließen können, 
schon hier von Religion zu sprechen, da diese Merkmale fehlen 1 . Die 
Mutter der matriarchalischen Zeit wurde mit allen Zeichen der 
Sexualüberschätzung, wie sie die Objektwahl nach dem Anlehnungs* 
typus zeitigt, verehrt: sie war sicher lange jenes Objekt, dem über* 
wiegend die dumpfe Libido des Urmenschen gewidmet war/ sie 
wurde ihm hauptsächlich durch die drängende Macht der hetero* 
sexuellen Triebkomponenten zum Idol. Schon hier wird durch 
den Faktor der ersten, elementaren Liebeswahl und der Sexualüber* 
Schätzung der LInterschied zwischen ursprünglicher Mutterverehrung 
und primitiver Vaterreligion deutlich: wurde die Mutter der ersten 
Organisation der matriarchalischen Epoche zum Idol, wofür manche 
Funde des Spätquartärs als Zeichen früherer Zustände sprechen, 
so wird der Vater der Urhorde den Mitgliedern des Bruderclans 
nachträglich zum Vaterideal. In der Gegenüberstellung von Mutter* 
idol und Vaterideal ist aber bereits neben einem wesentlichen 
Zuge der Einstellung des primitiven Menschen zu den Urbildern 
seiner Religionen die Art der Objektwahl, die den Grund für spä* 
tere, hochbedeutsame Entwiddungen legt, angedeutet: Es ist damit 
schon gesagt, daß sich die Objektwahl der Urzeit, deren Anzeichen 
wir in der mutterrechtlichen Zeit treffen, vornehmlich nach dem 
Anlehnungstypus richtete, während später die Objektwahl nach dem 
narzistischen Typ in den Vordergrund rückt Die libidinöse Ver* 
ehrung der Mutter, die mit der Verherrlichung des Grobsexuellen 

1 lim Mißverständnisse auszuschließen, sei ausdrücklich nemerkt, daß sich 
das grobe oben gegebene Schema auf eine vor jeder geschichtlichen Erfahrung 
liegenden Zeit bezieht: die Mutterkulte des frühen Orients gehören, damit ver¬ 
glichen, schon einer von dieser durch Jahrtausende getrennten Phase an. In ihnen 
erscheint schon eine wirkliche, der Ausbildung fähige Mutterreligion. Natürlich ist 
es ausgeschlossen, eine letzte Sicherheit über die Entwicklung zu geben. 

8 * 





116 


Dr. Theodor Reife 


verbunden war, konnte später freilich in mehr oder minder sublim 
mierter Form zum religiösen Kult werden, aber erst mußte der 
Gott als solcher erstehen, erst mußte die Vaterreligion in der 
Form des Totemismus ihren Einzug in die Menschheitsgeschichte 
halten. 

Nach dem Vorbilde der Vaterreligion wurde später die Mutter 
deifiziert; sie trat nun rivalisierend neben den Vatergott, aber der 
Anspruch der Religionsschöpfung als solcher bleibt dem Vater als 
Vorbild jedes Gottes gewahrt und ist nicht an die elementare und 
ungebrochene Macht der ersten Libidobesetzung, sondern an die 
reaktiv verstärkte und vertiefte, nachwirkende Gewalt der Vater¬ 
sehnsucht gebundenL 

Das Matriarchat hat gewiß den Anstoß zu manchen bedeutsamen 
Bildungen in der menschlichen Gesellschaft gegeben, die Religion als 
solche hat es nicht hervorgebracht. Im Gegensatz von Mutteridol 
und Vaterideal, den wir als Vorstufe der Scheidung von Mutter¬ 
gottheit und Vatergott konstruierten, sind schon jene Momente ent¬ 
halten, die später mit der fortschreitenden Verinnerlichung so be¬ 
deutungsvoll werden sollten: die Kulte der Muttergottheit werden 
zu exzessiven Feiern der Sexualität und gelangen erst sehr spät zu 
einer partiellen Sublimierung, wie wir sie im Madonnenkult erkennen, 
sie bleiben aber immer der Anstoß zu Störungen der durch die Vater¬ 
religion vorgeschriebenen, wenn auch unges&riebenen Gesetze, weil 
sie immer wieder neue Stärkung aus den Tiefen der ewigen Trieb¬ 
gewalt erhalten. Dem Antäos wuchsen wieder die Kräfte im Kampfe, 
wenn er die Mutter berührte. 

Das Vaterideal aber, zum Gotte geworden, wird der ver¬ 
borgene Gesetzgeber der Menschheit, ihr personifiziertes Gewissen 
und ihr Schützer gegen den die Gesellschaftsordnung auflösenden 
Triebansturm, Im Rahmen dieser Arbeit, die anderen Zielen zu» 

' Die im ersten Libidoobjekt vereinigten Züge der Mutter und Geliebten 
bleiben audi in der Gestalt der ursprünglidien weiblichen Gottheit vereinigt/ das 
Mütterliche wird später immer starker betont werden, das sexuelle Moment immer 
mehr in den Hintergrund treten oder nur in der vergeistigteren Form allgemeiner 
Gnade und Menschenliebe oder weiblicher Güte erscheinen. Aber auch die vor» 
gesdirittenste Entwicklung kann es nicht ganz ausschalten: die weiblichen Gott» 
heiten bleiben immer Beschützerinnen der Liebe und Ehe. Das Gretchen der Faust» 
tragödie, das sich in ihrem Liebesleid an Maria wendet, ist nur eine moderne 
Verkörperung unzähliger antiker Schwestern, die in ähnlichen Situationen zu den 
heimischen Göttinnen ihre Zuflucht nahmen. Der geistvolle Anatole France 
erzählt in »Sur la pierre blanche« von einem schönen Mädchen, das zur Gottes» 
mutter folgendes reizvolle Gebet emporsendet: »Sainte mere de Dieu, vous qui 
avez concu sans pecher, accordez*moi la grace de pecher sans concevoir.« Diese 
Gegenüberstellung läßt den Gedanken an jene Zeit erwachen, da auch Götter¬ 
mütter auf irdische Art empfingen — freilich war es damals noch keine Sünde. 
Eine andere Anekdote des französischen Skeptikers erinnert ebenfalls an jene 
Epoche der Diesseitigkeit der Göttinnen: Ein Italiener, dem Jesus trotz innigem 
Gebet seinen Wunsch nicht erfüllt hat, kehrt zur Kapelle mit dem Bilde der Ma¬ 
donna und ihres Kindes zurück und ruft: »Ce n'est pas ä toi, fils de putain, que 
je parle, c'est ä ta sainte mere « 







117 


Oedipus und die Sphinx 


strebt, kann niefit versucht werden, die Bedeutung dieser miteinander 
ringenden Prinzipien, die in der Entwicklung der Religion fortwirkend 
eine bedeutsame Rolle spielen, zu würdigen, es mag nur angemerkt 
werden, daß eine der wichtigsten Einbruchstellen der Sexualität in 
die soziale Institution der Religion hier zu suchen ist und daß der 
Kampf zwischen Mutter® und Vaterreligion dem lebenslänglichen 
Schwanken zwischen männlicher und weiblicher Objektwahl beim 
Individuum entspricht. Es muß ferner hervorgehoben werden, daß 
die ausführliche psychoanalytische und religionsgeschichtliche Würdigung 
dieses wichtigen Themas noch aussteht, sie würde eine der bedeut® 
samsten und aufschlußreichsten Ergänzungen und Fortführungen der 
Freudschen Ableitung der Religionsbildung darstellen. 

Dieser Exkurs, der in der Hypothese von der späteren Ver® 
göttlichung der Mutter die totemistische Vaterreligion als erste und 
ursprünglichste Religionsschöpfung festhält, war nur scheinbar über® 
flüssig, denn ohne Beachtung des allerdings in großen Zügen ge® 
zeichneten Entwicklungsganges ist es unverständlidi, wie die Sphinx 
auch weiblich dargestellt werden konnte. Wir haben gesagt, daß die 
Muttergottheiten nach dem Vorbilde des Vaters geschaffen wurden/ 
nur so können wir es begreifen, daß der Gott — denn das ist ja 
die Sphinx ursprünglich — nun als Weib erscheint. Man ist dann 
versucht, gerade die weibliche Gestalt mit dem Siege der anthro® 
pomorphen Gottesverkörperung in Zusammenhang zu bringen und 
zu vermuten, daß es die weibliche Form war, die sich mit großer 
Gewalt den primitiven Gläubigen zuerst aufdrängte, da der Totem® 
gott von einem menschlichen Gott abgelöst werden sollte. Der Vor® 
gang der Menschwerdung Gottes, eines der gewaltigsten Ereig® 
nisse in der Weltgeschichte, ist uns in seinen wichtigsten psychi® 
sehen Bedingungen noch unbekannt/ es ist nicht unmöglich, daß hier 
gerade das Bild der Muttergottheit zuerst auftrat. Jedenfalls aber 
ist die weibliche Bildung der Sphinx sekundär, denn der Totemis® 
mus — einer sehr späten Erinnerung an ihn ist ja ihre Gestalt zu 
verdanken — war reine Vaterreligion und eine Schöpfung der 
Männerverbände. Das erste Gottesvorbild, der Vater der Urhorde, 
war ein strenger, gewalttätiger und furchterweckender Häuptling 
gewesen: das Totemtier, das dem Primitiven als Gott galt, muß 
ähnlichen Charakter gehabt haben. Keinem Wesen von milderen 
Zügen hätte sich der Wilde gebeugt/ noch der Jahwe der Bibel ist 
ein fürchterlicher und rachgieriger Gott. Die Übertragung dieser 
Züge auf eine Muttergottheit ist nur möglich, wenn tiefgreifende 
Veränderungen im Verhältnis des prähistorischen Menschen zur 
Frau und im Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander ihren 
Einfluß geltend gemacht haben. Das von C. G. Jung konstruierte 
Bild der »furchtbaren Mutter« ist — auch wenn wir von seiner 
anagogen Deutung absehen — kein irgendwie primäres und setzt 
bestimmte Veränderungen der seelischen Relationen zur Mutter 
voraus. Gewaltige Umwälzungen, die wohl auf eine einschneidende 





118 


Dr. Theodor Reik 


Modifikation der Lebensbedingungen und ihre Einwirkung auf die 
primitive menschliche Familie zurückzuführen sind und die eine 
radikale Umwandlung der familiären Gefühle zur Folge hatten, 
müssen es bewirkt haben, daß das Bild der geliebten und ersehnten 
Mutter zu dem der furchtbaren sich gewandelt hat. Wir haben in 
den seelischen Produktionen der Neurotiker wertvolle Anhaltspunkte 
für die Annahme, welche Vorgänge unter anderen dieses Resultat 
gezeitigt haben: ich meine jene unbewußten Prozesse, die zur Um¬ 
wandlung des positiven in den umgekehrten Oedipuskomplex führen. 
Jenen Menschen, die eine mit diesem Ausdruck beschriebene Ein¬ 
stellung zur Mutter besitzen, erscheint sie als furditbare, hassens* 
werte Frau, ja oft als Verfolgerin und Tyrannin. Die Analyse 
kann dann nachweisen, daß diese eigenartige seelische Einstellung 
erst eine späte Umformung der ursprünglich positiven ist, die unter 
dem Zwange bestimmter psychischer Notwendigkeiten vor sich ge* 
gangen ist. Unter jenen Momenten aber, welche eine Störung des 
ursprünglichen Verhältnisses zur Mutter bedingen, dürfen die väter* 
liehe Sexualeinschüchterung und die Kastrationsangst als besonders 
wirkungsvoll angesehen werden. Der unbewußt heiß gewünschte 
Sexualverkehr mit der Mutter hat den Verlust des dem Kinde 
teuren Gliedes zur Folge: deshalb wird die geliebte Mutter zur 
furchtbaren, zu einem Objekt der Abschreckung 1 , 

Kehren wir zu den Bildungen der Massenpsyche zurück, so 
werden wir vermuten, daß die strengen, die reale Kastration ver* 
tretenden oder ablösenden Verbote der Vätergeneration, die den 
Inzest betrafen, zuerst von außen der jungen Generation aufgedrängt 
und später zu ihrem seelischen Besitz geworden, eine gute Analogie 
jener individuellen Entwicklung bieten. Die Schöpfung der Mutter* 
gottheiten war selbst ein Durchbruchsversuch jener Regungen, die zum 
Inzest drängten/ er gelang nur partiell, denn gleichzeitig mit der Ver* 
göttlichung des ersten Libidoobjektes, das zur wirklichen Durchsetzung 
jener infantilen Wünsche aufzufordern schien, tauchte unbewußt das 
von vielen Generationen empfangene Verbot des Inzestes auf und 
wandelte das geliebte Objekt in ein Angstobjekt, von dessen Be* 
rührung Unheil drohte. Nicht anders konnte in der primitiven An* 
schauung das Resultat jenes komplizierten Umformungsprozesses 
dargestellt werden, als indem man dem Mutterbild die Züge des 
Vaters gab: vom Vater war ja jenes Verbot ausgegangen und sein 
Erfolg konnte sich vornehmlich auf die unbewußte, homosexuelle 
Strömung zu den Vätern stützen. Wenn so aber der Vatergott in 
der Tierform mit dem Bilde der Muttergöttin verschmolz, so ist 
dies zugleich ein Zeichen dafür, daß die homosexuellen Tendenzen, 
denen ein so entscheidender Anteil an der Religionsentwicklung zu* 
fällt, den Durchbruch der Inzestregungen vereitelt hatten,- daß der 

1 Es ist selbstverständlich, daß jene die Lebensbedingungen verändernden 
Ereignisse auch die Beziehungen der Mutter zu ihren Söhnen verändert und über* 
haupt das weibliche Wesen in bestimmter Richtung entwickelt haben müssen. 







Oedipus und die Sphinx 


119 


Versuch, das furchtbare Bild des Totemgottes durch das lieblichere 
der Mutter und des Weibes zu ersetzen, gescheitert war, denn 
unauflösbar war mit der Mutter=Imago, noch wenn sie Göttin 
wurde, das Tabu des inzestuösen Objektes verbunden. Der Sieg 
der homosexuellen Impulse, der sich so plastisch im tierischen Unter* 
leibe der Sphinxfigur und so störend in der Bildung des Penis zeigte, 
konnte freilich kein dauernder sein, war er doch von vornherein kein 
unbestrittener,- später verschwand oft der Penis in der Gestaltung 
der Sphinxe, die Weiblichkeit trat immer stärker hervor und die 
griechischen Sphinxe zeigen anmutige, liebliche Gesichter, die sich 
weit von der Düsterkeit und der ernsten Männlichkeit ägyptischer 
Sphinxe entfernen 1 . Freilich weisen sie als fortwirkendes Zeichen 
ihrer Herkunft und als Mahnung an ihre Gefährlichkeit noch den 
Tierleib auf. 

Welchen Gewinn hat uns diese genetische Betrachtung gebracht? 
Ich meine, einen mehrfachen: sie zeigte uns, wie sich der Wider* 
spruch zwischen dem weiblichen Oberkörper und männlichen Unter* 
leib der Sphinxdarstellungen löst. Dabei muß hervorgehoben werden, 
daß gerade die Gestaltung des Unterleibes als des anziehendsten 
Teiles der Mutterfigur die männlichen Kennzeichen trägt, sich also 
hier der Vorgang der Verdrängung des heterosexuellen Objekts 
durch ein gleichgeschlechtliches auf einer späteren Stufe der Ent* 
widdung am stärksten manifestiert. Wir haben ferner verstehen ge* 
lernt, wieso männliche und weibliche Sphinxdarstellungen wechseln 
und diese Tatsache mit der religiösen Entwicklung verknüpft. Wir 
haben, wie ich meine, damit eine Korrektur der Anschauungen über 
die Sphinx vorbereitet, die nicht nur diejenigen Ansichten trifft, 
welche außerhalb der Psychoanalyse stehen. In der scharfsinnigen 
Deutung der Oedipussage, die Rank in seinem Buche über den Inzest* 
komplex gibt, rekurriert er auf die von Freud nachgewiesene infantile 
Sexualtheorie, derzufolge auch die Frauen einen Penis haben. Rank 
zieht auch den homosexuellen Angsttraum zur Erklärung heran. Un* 
beschadet der Richtigkeit dieser Erklärungen darf unsere historische 
Deutung darauf Anspruch machen, zum Verständnis der psychischen 
Vorgänge bei der Bildung der Sphinxfigur beigetragen zu haben. 

Radikaler muß unsere Deutung die Jungsche Auffassung der 
Sphinx modifizieren: eine kritische Betrachtung der Jung sehen Aus* 
Führungen wird die Unzulänglichkeit der flächenhsft symbolischen 
Deutung des Schweizers erkennen lassen: wie in der auf den ein* 
zelnen gerichteten Analyse läßt Jung auch auf religionswissenschaft* 
lichem Gebiet das Zurückgehen auf die frühesten Entwicklungsstufen 
der psychischen Bildungen völlig vermissen. Es ist sehr wahrschein* 
lieh, daß auch die Sphinx einmal, in sehr später, kulturell sehr vor* 
geschrittener Zeit zu einer theriomorphen Repräsentation der Libido 

1 Dr S. Bernfeld wies in der Diskussion über diesen Vortrag mit Recht 
darauf hin, daß die Betonung und Ausgestaltung gerade des weiblichen Sphinx* 
typus in Griechenland den Anlagen des griechischen Volkes entspreche. 







120 


Dr, Theodor Reik 


geworden ist und daß sie als halb tierische Darstellung jener Mutter® 
Imago, die man als die furchtbare bezeichnet, gelten muß. Wir glauben 
aber, daß mit dieser symbolischen Darstellung keine Erklärung ge® 
geben wird, daß sie uns nicht begreifen läßt, wie man zu einer 
Vorstellung wie der Sphinx gelangte und daß die Deutung der 
Sphinx als eines inzestuös abgespaltenen Libidobetrages aus dem 
Verhältnis zur Mutter weder den Psychoanalytiker noch den 
Religions® und Kulturforscher befriedigen kann. Leistet so diese 
Art Deutung im Sinne sublimer moderner Symbolisierung nichts 
zur Erklärung der frühantiken Figur der Sphinx als ganzer, so ver® 
zichtet sie mit sicherem Instinkt von vornherein darauf, auf die vielen 
einander widersprechenden Momente der Sphinxdarstellung einzu® 
gehen und ihre Details in Betracht zu ziehen. 

Wir meinen, daß sich jetzt alle angeführten, oft so wider® 
spruchsvoll anmutenden Züge der vorderasiatischen Sphinx zu® 
sammenfügen: ihre antike Auffassung als Gott, als König, als 
Wächter des Heiligtums 1 , ihre halb tierische, halb menschliche Ge® 
stalt und ihre bald männliche, bald weibliche Form, 

Die Sphinx des Oedipus. 

Wenn wir nicht irren, müßte es uns jetzt erlaubt sein, mit 
unseren neuen Einsichten zur Betrachtung der Sage von Oedipus 
und der Sphinx zurückzukehren und von ihrer Übertragung auf 
den antiken Mythos neue Aufklärungen über den noch verborgenen 
Sinn dieser Episode zu erwarten. Wir haben die Ansicht von der 
Einheit der Sphinx vertreten und glauben, daß auch jenes Theben 
bedrängende Üntier der Sage sich nicht so weit von seinem Stamme 
entfernt haben kann, daß die dort gewonnenen Resultate ohne Ein® 
fluß auf die Deutung seiner dunklen Rolle in Oedipus' Schicksal 
sein können. 

Bevor wir aber den Versuch machen, der Sphinx des Oedipus 
das Rätsel ihres Wesens zu entreißen, wollen wir uns zuerst darüber 
klar werden, welche Züge unserer Sage die Mythologen und Philo® 
logen als ursprüngliche und welche sie als nachträgliche Erweite® 
rungen, Ausschmückungen, Abweichungen und sonstige Verände® 
rungen erkannt haben. Eine vollständige Rekonstruktion der ur® 
sjirünglichen Fassung ist uns nicht möglich, doch belehren uns die 
Gelehrten darüber, daß die Sage früher viel krasser gewesen sein 
und ursprünglich eine Vergewaltigung der beim Vatermord an® 

1 Die Wächterstellung der Sphinx bedeutet demnach, daß der Gott sein 
eigenes Heiligtum bewacht, In Wahrheit ist die Sachlage freilich noch komplizierter, 
wenn man ahnt, daß der Tempel eines Gottes ursprünglich dieser selbst ist, einer 
Erweiterung der göttlichen Persönlichkeit entspricht, denn dann bewacht die Sphinx 
eigentlich sich selbst. Diese eigenartige Situation wird erst erklärlich, wenn man 
die zweifache Anwesenheit des Gottes — wie in der Analyse des Opferrituals — 
mit dem Gange der religiösen Entwicklung in Verbindung bringt. 







Ocdipus und die Sphinx 


121 


wesenden Mutter sofort nach der Tötung stattgefunden haben muß/ 
erst bei den Tragikern sei eine auf mehrere Jahre ausgedehnte Ehe 
mit der Mutter eingeführt worden. Die Episode der Sphinx wurde 
nach Gruppe erst in den Mythos aufgenommen, als man die 
Mutterehe neu begründete: »Indem man dazu das alte Novellen« 
motiv benützte, daß durch die Besiegung eines Ungeheuers die 
Hand einer Königstochter errungen wird, bot sich von selbst dieses 
furchtbare, von der Sage in Böotien lokalisierte Wesen dar.« Nach 
Bethe ist ferner jene Form der Sphinxsage die ursprüngliche, nach 
welcher die Sphinx, ohne daß die Rätsellösung vorausgegangen wäre, 
von Oedipus gewaltsam getötet wurde. Hesiod weiß nichts von einem 
Rätsel 1 , Eine rotfigurige attische Lekythos des Bostoner Museums 2 
zeigt die übrigens ungeflügelte Sphinx mit erhobener Vordertatze wie 
eine Katze bei der Attacke auf den inschriftlich bezeichnten Oedipus 
losstürzen. Die rechte Hand des Helden holt zum tödlichen Schlage 
mit der Keule aus. Robert bemerkt mit Recht, daß hier eine Rätsel¬ 
lösung weder vorausgegangen sein noch folgen kann, daß es sich viel« 
mehr um einen Kampf handelt, wie den des Herakles mit dem nemei« 
sehen Löwen. Robert macht ferner scharfsinnige Argumente dafür 
geltend, daß die Sphinx erst spät zur Rätselstellerin wurde und der 
geistige Kampf nicht die ursprüngliche Form des Zusammentreffens 
des Ungeheuers mit dem Heros sein kann. Man habe erkannt, daß ein 
Wesen, zu dessen Verbildlichung man sich eines Typus mit Löwen« 
körper und Löwenklauen bedienen konnte, ursprünglich nicht den 
Scharfsinn eines Rätselraters, sondern der physischen Kraft eines 
Helden unterlegen sein muß 3 * : »Mir scheint, der Einfall, ein männer« 
mordendes Ungetüm zu einer scharfsinnigen Rätselstellerin zu machen, 
die nur dann überwunden werden kann, wenn sich jemand findet, 
der ihr an Witz gewachsen ist, kaum schwerlich älter zu sein als 
die Blüte der griechischen Rätselpoesie 1 .« Eine in Furtwänglers 
Gemmenwerk 5 wiedergegebene Gemme zeigt ebenso wie eine 
Bostoner Vase, daß die Version, die Sphinx habe sich nach der 
Rätsellösung vom Felsen herabgestürzt, nichts mit dem Ursprünge 
liehen Inhalt der Sage zu tun hat: Oedipus steht nämlich im Rüchen 
der Sphinx und stößt ihr das Schwert in die Brust. Vielleicht ist die 
Erzählung vom Selbstmord der Sphinx durch eine späte Angleichung 
des Schicksals der Sphinx an das der Jokaste in der Tradition ent« 
standen. Viele Bilder zeigen den Helden, seine Gegnerin mit dem 
Schwerte tötend. Wir glauben also als eine der ältesten erreichbaren 
Formen der Oedipussage diejenige ansehen zu müssen, in der nodi 
keine Rede von einem Rätsel war, sondern ein furchtbares Tier das 


1 H. v. Hofmannstal läßt in seiner Tragödie »Oedipus und die Sphinx« 
das Rätsel ausfallen. 

a Carl Robert, Oidipus, I. Bd., Berlin 1915, S. 49. 

3 Robert, Oidipus, S. 49. 

« 1. c. S. 57. 

3 Tafel XXIV, 21, 22. 






122 


Dr. Theodor Reik 


Land verwüstete, das der Held Oedipus tötete. Nun erhebt sich die 
Frage nach dem Verhältnis dieses Sagenteiles zu dem ganzen 
Mythus: ist sie wirklich nur eine Episode, ein später angehängtes 
Stück ohne innige Beziehungen zum wesentlichen Inhalt, wie es auf 
den ersten Blick scheinen mag und die meisten Philologen wollen? 
Robert formuliert die Schwierigkeiten, die sich der Einfügung der 
Sphinxepisode in die Sage entgegenstellen, sehr glücklich: er weist 
darauf hin, daß man die Sphinx in Beziehung zu dem Schicksal des 
Laios gesetzt hat, worauf die Erzählung selbst hinzudeuten scheint, 
die Art dieser Beziehung aber ist sehr dunkel 1 : »Wollte man sie als 
Rächerin für die Ermordung des Laios, gewissermaßen als dessen 
Erinys einführen, so war es absurd, daß nun dessen Mörder oben® 
drein noch die Rächerin des Mordes erschlägt, ohne daß ihm selbst 
zunächst ein Leid geschieht. Dachte man sie sich als Strafe für ein 
von Laios selbst begangenes Vergehen, so war es absurd, daß sie 
erst nach dessen Tode erschien, und nicht Laios von ihr zu leiden 
hat, sondern dessen unschuldige Untertanen. So wäre nur übrig 
geblieben, sie entweder als Werkzeug des Schicksalsspruches auf® 
zufassen, also ihre Sendung dem Gotte zuzuschreiben, der diesen 
Schicksalsspruch gegeben hatte oder für ihr Auftreten ein außer® 
halb des Oidipusmythus liegendes Motiv zu suchen.« Robert meint 
angesichts dieser Sachlage, es sei überhaupt nicht notwendig, zu 
motivieren: das Ungeheuer sei eben da/ ihr Erscheinen auf eine 
Schuld der Menschen zurückzuführen sei, ein später und sekundärer 
Gedanke. 

Wir meinen indessen, der Autor habe zu früh resigniert. Die 
alte Sage stellt eine freilich rätselhafte und sichtbar später um® 
gedeutete Verbindung zwischen Laios und der Sphinx her und die 
Psychoanalyse lehrt uns, daß solche Verbindungen eine psychische, 
also reale Motivierung haben. Erkennen wir ihre Natur nicht, so 
müssen wir geduldig warten, bis wir sie finden/ keinesfalls dürfen 
wir sie einfach negieren. Auch der Parallelismus, der zwischen der 
Tötung der Sphinx und des Laios besteht, scheint darauf hinzu® 
deuten, daß eine Beziehung zwischen beiden Figuren besteht. 

Vielleicht gewinnen wir Aufklärung über den Zusammenhang, 
wenn wir das in der Analyse der Sphinxgestalt gefundene Resultat 
heranziehen: die Sphinx, eine späte Fortentwicklung des göttlichen 
Totemtieres, steht dem jungen Oedipus gegenüber. Er tötet sie im 
Kampfe und die Stadt fällt ihm als Preis zu. Glauben wir den in 
der Analyse der Entstehung des Totemismus gewonnenen Erkennt¬ 
nissen, so müssen wir annehmen, daß die Sphinx letzten Endes 
eine Doublierung des Laios, des Vaters des jungen Helden, sei, 
ihre Tötung wiederhole dementsprediend die Ermordung des Königs. 
Die Stadt aber ist uns ebenso wie das Land durch die Symbolik 
des Traumes, des Mythus, der Dichtung und des Witzes in ihrer 


1 Oidipus, I. Bd,, S. 63. 










Oedipus und die Sphinx 


123 


unbewußten Bedeutung als Weib bekannt. Wir erkennen also in 
dieser Einkleidung eine Doublette jenes großen Geschehens, das 
den Kern der sozusagen menschlichen, allzumenschlichen Geschichte 
des Oedipus ausmacht: die Tötung des Vaters und die Besitz* 
ergreifung der Mutter. 

Nehmen wir diese Deutung an, ergeben sich wieder schwierige 
Fragen, die beantwortet werden wollen. Welche Form der Sage 
ist die ursprüngliche und warum eine nochmalige Erzählung ihres 
Inhaltes in veränderter Form? Woher kommt es, daß die früher 
männliche Gestalt der Sphinx in eine weibliche umgedeutet wurde,- 
welche seelischen Motive waren dafür bestimmend und durch welche 
psychische Mechanismen vollzog sich der Umformungsprozeß? 

Der Oedipusmythus überliefert uns in antiker Selbstverständ* 
lichkeit und Unbefangenheit einen Stoff, dessen Gefühlsinhalt so 
allgemein-menschlich ist, daß wir uns in der Psychoanalyse gewöhnt 
haben, ihn als typisch für die stärksten unbewußten Wünsche der 
Kindheit anzuführen. Aber gerade die Unbefangenheit der griechi* 
sehen Überlieferung, welches dieses Material in historischer Zeit in 
aller Kraßheit vor den Augen und Ohren der Zuhörer ausbreitet, 
sollte uns zum Nachdenken anregen. Man darf immer mißtrauisch 
werden, wenn uns der Mythus grob sexuelle Themen frei erzählt,- 
fast immer sind dann noch andere bedeutungsvolle Motive darin ver® 
borgen und das Betonen und In=den-Vordergrund-rücken des einen 
sexuellen Gegenstandes dient oft dazu, andere Stücke sexuellen 
oder ebensowenig harmlosen Inhalts zu verbergen 1 . 

Denken wir uns das Orakel, die Episode der Sphinx und noch 
andere spezifisch mythologische Züge aus dem Oedipusmythus weg,- 
was bleibt dann übrig? Das Leben und die Taten eines Verbrechers, 
eines Vatermörders und Blutschänders, mit dem wir nicht einmal 
Mitleid haben können, dessen Schicksal jede tiefere Resonanz fehlt. 
Wir wüßten dann nicht, warum gerade dieser Verbrecher von so 
vielen von den Griechen ausgewählt wurde, als tragischer Held 
verewigt zu werden, warum sich gerade für ihn das Tribunal zur 
Bühne verwandeln soll. 

Diese Überlegung sowie die besonders krasse Form der Über* 
lieferung, die dunkle Beziehung der Rolle der Sphinx zu dem Schicksal 
des Laios und ihre mythologische Bedeutung, alle diese Momente 
lassen uns vermuten, daß die Sphinxsage nicht eine spätere Ein* 
Schiebung bedeutet, wie die meisten Mythologen glauben, sondern 
zu den wesentlichen Stüdcen des ursprünglichen Mythus gehört. Ist 
dies aber der Fall, so wird die Frage des Verhältnisses des einen 
Sagenteiles zu dem andern, der das Gleiche auf einer anderen 
Ebene wiederholt, erst recht dringend. Wir wollen sie kurz beant* 
Worten: Der Sphinx fällt ungefähr dieselbe Rolle im Leben des 


1 Dieser Satz läßt sich am besten durch die Analyse der biblischen Sünden» 
fallssage veranschaulichen. 






124 


Dr. Theodor Reik 


Oedipus zu wie dem Geiste im Schicksal Hamlets 1 . Die Sphinx¬ 
episode ist älter als die sozusagen menschliche Oedipussage in ihrer 
jetzigen Form. Dort, in der Erzählung vom Tode der Sphinx, ist 
das typische Ereignis der Oedipussage in seiner ersten, elementaren, 
furchtbaren Wucht erhalten: in späterer Umkehrung ist freilich der 
übermenschliche Frevel zu einer das Land befreienden Wohltat 
geworden, aber das Moment, daß die Tat von dem jungen Helden 
an einem späten Vertreter des alten Totemtieres, des unantastbaren 
Gottes, verübt wurde, zeigt ihre ganze tragische Schwere, ihre über 
ein Einzelschicksal weit hinausgehende Bedeutung. Hier, in der Er¬ 
mordung des Laios, spielt sich gewissermaßen alles im Rahmen des 
Bürgerlichen, das der Zone eines allgemeinen Gesetzeskodex an¬ 
gehört, ab,- in der Tötung der Sphinx aber, von der jene Tat nach¬ 
träglich erst die stärkste unterirdische Resonanz empfängt, wird 
ersichtlich, daß die Tat des jungen Heilands Oedipus ein Verbrechen 
gegen die Gottheit war, da sie an ihr begangen wurde. Das mensch¬ 
liche Tun und irdische Geschehen der Sage erscheint nun in fremdem 
Lichte höherer Gewalten. Das Tragische findet dann eine bedeutsame 
Verstärkung darin, daß Oedipus sich nicht nur vergangen hat gegen 
der Menschen vergängliche Sitte und fragwürdigen Brauch, sondern 
daß er gegen die ewigen und geheiligten Gesetze verstoßen hat, 
welche die Gottheit gegeben. Oedipus hat nicht nur seinen Vater 
erschlagen, sondern in ihm auch die höchste Autorität, den Gott 
selbst getroffen 2 . 

1 Dieser Vergleich geht über Äußerlichkeiten hinaus. Die folgende Unter» 
suchung wird erkennen lassen, wie innige Beziehungen zwischen dem Oedipus» 
und dem Hamletstoff, deren unbewußte Bedeutung Freud mit Recht vergleicht, 
bestehen. 

2 Zu den obigen Darlegungen paßt es, daß Robert in seinem erwähnten 
Werke als die älteste Sagenform des Oedipus annimmt, daß der Heros von Eteonos 
zum Phixberge kommt, ein dort hausendes Ungetüm, das dem Lande Ver» 
derben bringt, tötet und so zum Heiland des Landes wird (S. 58). Der Gelehrte 
kommt von anderen Gesichtspunkten her wie bereits vor ihm Ed. Meyer <Ge» 
schichte des Altertums, S. 2, 101, 103, 167) zu der Ansicht von einer ursprünglich 
religiösen Bedeutung des Oedipusmythus. Meyer sieht mit Recht in Oedipus eine 
dem Herakles gleichartige Gestalt, einen jener großen Götter, in deren Leben der 
Kreislauf der Natur Ausdruck gewonnen hat. Oedipus, der sich seiner Mutter, der 
Erde, vermählt, dann aber geblendet wird und stirbt, könnte zu einem Heros herab» 
gesunken sein, von dessen merkwürdigen Schicksalen die Dichter viel zu erzählen 
wußten. Robert will in Oedipus einen chthonischen Heros aus dem Kreise der 
Demeter — die Erdgöttin ist ursprünglich seine Mutter — erkennen: »Wo die 
Erde, das göttliche Urwesen, die Allmutter ist — und das ist sie ganz gewiß 
bei allen griechischen Stämmen — sind naturgemäß auch ihre eigenen Söhne zu» 
gleich ihre Gatten« <S. 44). Damit stimmt unsere Deutung der symbolischen Rolle 
des Landes <Thebens> überein. Wieweit sich aber Robert von der ursprünglichen 
Bedeutung des Mythos trotz seiner Erkenntnisse entfernt, mag folgende Stelle 
zeigen: »Das Kind der Mutter Erde brauchte ursprünglich keinen Vater gehabt 
zu haben. Erhielt es aber einen, so konnte es in der Naturreligion nur ein ihm 
wesensgleicher sein, der alte Jahresgott, den es erschlagen muß, um selbst zum 
Jahreskönig zu werden, wie Zeus den Kronos entthront ... So gab man ihm den 
Sehergott Laios von Eleon zum Vater. Jährlich erschlägt nun Oedipus den Laios, 
jährlich vermählt er sich mit der Mutter. Ein kausaler Zusammenhang 







Oedipus und die Sphinx 


125 


Ja man darf sagen, gerade weil die fürchterliche Schwere von 
Oedipus' Verbrechen durch die Sphinxerzählung verdeckt wurde, war 
es möglich geworden, seine Tat als die eines gewöhnlichen Menschen 
darzustellen und unverhüllt zu erzählen. Wir würden also an- 
nehmen, daß der Oedipus einer vorhergehenden Sagengestalt das 
göttliche Totemtier getötet hat und diesen Frevel schwer sühnen 
mußte. Später war jene ursprüngliche Ermordung des Totems auch 
von den Griechen, die schon zur Bildung anthropomorpher Gottheiten 
vorgeschritten waren, in ihrer ungeheuren wirklichen Bedeutung nicht 
mehr erkannt worden. Das durch den Fortschritt zum Ungeheuer 
degradierte Totemtier blieb in der sehr späten Umformung als 
Sphinx ebenso erhalten, wie die Tötung: diese gewann durch Affekt¬ 
umkehr den Charakter des Verdienstlichen * 1 . 

Der ganze Vorgang war also durch den Einfluß von Tendenz 
zen einer kulturell höherstehenden Zeit mißverstanden worden. Ver¬ 
gessen wir nicht, daß die Gottheit bereits menschliche Gestalt ange¬ 
nommen hatte, das religiöse Gefühl empfindlicher und verfeinerter 
geworden war und demjenigen, der, wenn auch unwissentlich, die 
ungeheuerliche Tat eines Gottesmordes vollzogen hat, jede Regung 
des Mitgefühls entzogen hätte. Da bot sich als Ersatz jener einzig¬ 
artigen Tat ein anderes Verbrechen, das, jenem ähnlich und schwer 
genug, dennoch nicht den Charakter einer gewaltsamen Auflehnung 
gegen die Gottheit trug: der Vatermord. 

Doch wir glauben auch nicht, daß der Zufall die Wahl dieses 
Ersatzes gelenkt hat. Überlegen wir doch, was die Einsetzung des 
Vaters statt des Totems bedeutet: das Totemtier war selbst ein 
urzeitlicher Ersatz des Vaters gewesen,- in seiner Tötung belebte 
sich das Erinnern an die Ermordung des Urhordenhäuptlings. Wenn 
jetzt die Sage Oedipus den Vater erschlagen ließ, so war das, was 
sie berichtete, eine von der Menschwerdung der Götter gewiß nicht 
unabhängige Formung der Ursage, die dem späten kulturellen Ni¬ 
veau der Zeit angepaßt war. Bedenken wir diesen Entwicklungsgang, 
der von dem wirklichen Ereignis einer jeder bewußten Erinnerung 
entzogenen Urzeit, das seinen späten Nachhall im Oedipusmythus 
gefunden hat, ausgeht, in der Ermordung des Totemtieres die Tat 
in ihrer religiösen Bedeutung zeigt und sie später, von der Unduld¬ 
samkeit der Verdrängungsmädite gezwungen, durch den Vatermord 
ersetzen läßt, so ergibt sich folgender Aspekt: der uns vorliegende 
Mythus spiegelt nicht den primären Inhalt der Sage wider, 
sondern stellt bereits eine späte Wiederkehr des Verdrängten 

zwischen dem Vatermord und derTötung der Sphinx hat schwerlich 
bestanden.« (Von mir gesperrt.) Der Forsdier setzt noch hinzu, daß hier das 
schwerste Problem für die poetische Gestattung des Oedipusmythus liegt und daß 
alle Versuche, einen solchen Zusammenhang herzustellen, gescheitert sind. 

1 Die Umdeutung ist jener ähnlich, die in der Tradition von der Zermal¬ 
mung des goldenen Kalbes durch Moses wirksam war. Vgl. darüber meine »Pro¬ 
bleme der Religionspsychologie« I. Teil. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, 
Wien und Leipzig 1919. 






126 


Dr. Theodor Reik 


dar. Ein in großen Eugen den jetzigen Ereignissen der Oedipus* 
sage ähnlicher Vorgang mag den Inhalt des ursprünglichen Sagen** 
kerns gebildet haben. 

Wir verstehen nun auch, wie dieser Mythus als einer der 
wenigen uns bekannten, es zustande brachte, uns, was er zu be* 
richten hat, in so krasser, unverhüllter Form zu sagen,- diese Eigen* 
heit dürfen wir nicht seiner Primitivität zusdrreiben. wir müssen sie 
vielmehr als das Ergebnis eines Durchbruches verdrängten Materials 
nach jahrtausendlanger Unterdrückung verstehen. Wir lassen hier 
alle prinzipiellen Überlegungen, die an diesem Beispiel der Mythen* 
bildung anknüpfen könnten, beiseite und besdiränken uns darauf, 
festzustellen, daß hier wie bei anderen Mythen die erste uns er* 
reichbare Form dieser Phantasieschöpfung bereits die Spuren reli* 
giöser Verarbeitung und Umdeutung trägt. Nirgends können wir 
den vorreligiösen Mythus in seiner reinen Gestalt erfassen/ dort 
aber, wo im Mythus die Gottheiten, die Dämonen und das übrige 
alte Personal antiker Religionen nicht Vorkommen, müssen wir meistens 
bereits eine neuere, der religiösen Phase entwachsene Form erblicken/ 
die man nicht mit der primären, an den Animismus anknüpfenden 
verwechseln darf. Wir merken, daß wir hier an das schwierige Pro* 
blem des Verhältnisses von Mythus und Religion stoßen und kehren 
zur Sphinxerzählung zurück. 

Wir haben erkannt, daß in der Oedipussage neben der neueren 
Gestaltung die ältere, mißverständlich aufgefaßte und umgedeutete 
der Sphinxgeschichte bestehen bleibt und daß ferner der Haupt¬ 
akzent, der früher auf ihr ruhte, nun auf das Schicksal des mit 
einem menschlichen Vater kämpfenden Oedipus verschoben wurde. 
Solche Akzentverschiebung ist uns im Gebiete des Seelischen nicht 
fremd: auch im Traume erscheint in ähnlicher Art oft als Schale, 
was einst Kern war. 

Wir haben bisher mit Absicht jene Momente außer acht ge¬ 
lassen , die der Sphinx Muttercharakter zuzuweisen scheinen. Ranks 
Ansicht über die Bedeutung der Episode geht dahin, daß Sphinx 
und Mutter ursprünglich zusammenfielen, d, h., daß die Ein* 
führung der Sphinx eine Abspaltung gewisser anstößiger Züge von 
der Mutter gestatten sollte. Nach Einführung der Sphinx wurde 
auch ihr eigentlicher Muttercharakter von der späteren Verdrängungs* 
welle verwischt: die ursprüngliche Vergewaltigung der Mutter sei 
später einem Kampfe mit der Sphinx gewichen und erst in weiterer 
Folge in einen geistigen Wettlauf verwandelt worden. Die ehe* 
mals vergewaltigte Sphinxmutter gibt dem um das Verständnis der 
Sexualprobleme ringenden Jüngling ein sexuelles Rätsel nach dem 
Wesen des Menschen auf und der Held kann erst nach Lösung 
desselben »also nach der Vergewaltigung der Mutter im ursprüng* 
liebsten Sinne« die Ehe vollziehen. Nach Rank würde also die 
Sphinxepisode eine im Verlaufe der Verdrängung und mythischen 
Sihichtenbildung eingeführte Doublette der Vergewaltigung Jokastes 





Oedipus und die Sphinx 


127 


bedeuten. Scharfsichtig hat Rank erkannt, daß diese Deutung nicht 
ausreichend sei und hat die mit der Figur des Laios verknüpfte Ge- 
schichte des Chrysippos herangezogen, so daß auch die homosexuelle 
Bedeutung der Sphinxgestalt hervortrat. 

Nun ergibt sich die Möglichkeit, die Ranksche Deutung mit 
der unseren zu vereinbaren. Die eine ergänzt die andere/ wir 
meinen,nur, die Ranksche Hypothese gebe ein Bild einer späteren 
Gestaltung. Die Sphinx als Mutterdoublette hat sich verdeckend 
vor das ursprünglichere Bild des totemistischen Vaterersatzes ge¬ 
schoben wie die menschlich-bürgerliche Bildung des Oedipusmythus 
vor die heroisch-religiöse. Die Tötung der Sphinx ist ursprünglich 
der Mord am Totem,- ebenso unzweifelhaft aber ist es, daß sie 
später zur Vergewaltigung der Mutter wurde, wie Rank es dar¬ 
stellt. So wären also in der Gestalt der Sphinx Doublierungen des 
Vater- und Mutterbildes vereinigt? Tatsächlich ist es so, wie uns 
auch eine andere Überlegung lehrt: die menschliche Oedipussage, 
die als Wiederkehr der Ursage alle wesentlichen Vorgänge dieser 
in zivilerem Format widerspiegelt, hat sich aus der Sphinxgeschichte 
durch Vermenschlichung und Spaltung entwickelt/ es müssen also 
die bedeutsamen und wesentlichen Elemente der jüngeren Schicht 
schon in der Sphinxsage enthalten sein. Wir gelangen so zu der 
Annahme, daß in der Sphinxsage, wie sie uns jetzt vorliegt, eine 
großartige Verdichtungsleistung vieler Generationen steckt, weihe 
die Tötung des Vaters und die Vergewaltigung der Mutter in der 
einen Tat, die an der Sphinx geschieht, zusammengepreßt hat 
Homo- und heterosexuelle, sadistishe und masochistische Gefühls¬ 
züge gehen unentschieden und ununterscheidbar ineinander über. 
Die seelishen Vorgänge, wie sie die Psyhoanalyse beim einzelnen 
erkannt hat, geben auch hier die Aufklärung. Das Kind, das den 
Geschlechtsverkehr der Erwachsenen beobahtet, identifiziert sich 
nicht nur mit dem Vater, sondern auch mit der Mutter: es wünscht 
also nicht nur, wie der Vater mit der Mutter sexuell zu verkehren, 
sondern auh vom Vater in ähnlicher Art behandelt zu werden wie 
die Mutter beim Koitus. Diese sadistisch-masochistische Phantasie 
entspricht den ersten heterosexuellen und homosexuellen Bindungen 
des Kindes. Die infantil-sadistische Auffassung des Koitus läßt ihn 
in den Augen des Kindes als Kampf erscheinen: so ist es möglich, 
daß es nach dem mißverstandenen Beispiele des Vaters die Mutter 
zu zerreißen, niederzuzwingen wünscht. Die Übertragung dieser Er¬ 
kenntnisse auf die Völkerpsychologie weist uns auf ein abwech¬ 
selndes Anschwellen und Abebben der homosexuellen und hetero¬ 
sexuellen Welle im Leben der Völker hin: mit der Liebe zum 
Vater konnte sich der unbewußte Haß gegen die Mutter paaren 
und umgekehrt. Als Verkörperung dieser beiden urzeitlichen, starken, 
gegensätzlichen Strebungen mag uns jetzt die Sphinx erscheinen, da 
Oedipus noch in der Vaterermordung die Mutter vergewaltigt, noch in 
der Vergewaltigung der Mutter den Vater als Liebesobjekt nimmt. 





128 


Dr. Theodor Reik 


Suchen wir uns die historische Reihenfolge der Vorherrschaft 
dieser Libidoströmungen klarzulegen, so werden wir erkennen, daß 
die Tötung des Vaters, des Totemtieres, zeitlich der Vergewaltig 
gung der Mutter, die sich in der menschennäheren Gestalt der 
Sphinx zeigt, voranzugehen scheint. Gerade die Bestandteile der 
Mischgestalt aber, in der anscheinend der tierisch-männliche Unter« 
leib das ältere Element ist und der menschlich-weibliche das jüngere, 
läßt uns vermuten, daß hier so wie in der ganzen Sage eine Wieder« 
kehr alten, verdrängten Gutes stattgefunden hat. Die Verdichtung 
der Tötung des Vaters und des sexuellen Verkehrs mit der Mutter, 
die sich dann durch die Spaltung in der Oedipussage in zwei ge« 
trennte Aktionen auflöst, weist unseres Erachtens in eine Urzeit 
der Menschheit zurück, in der sich die Liebeswahl der Jugend nicht 
so entschieden wie jetzt für das Weib erklärte, in der aber auch 
Liebesspiel und Kampf noch nicht so scharf voneinander geschieden 
waren wie heute: in ein Stadium, das der sadistisch«analen Periode 
in der Libidoentwicklung des einzelnen analog wäre. Bildet so die 
Möglichkeit der Rückkehr zu dieser atavistischen Entwicklungsphase 
der Triebentwicklung die Vorbedingung für das Zustandekommen 
der Verdichtung, so müssen wir doch annehmen, daß der erste An¬ 
stoß zur Schöpfung des Oedipusmythus die Phantasie vom Sadi¬ 
stisch gefärbten) Geschlechtsverkehre mit der Mutter, zu der dann 
die vom Vater als dem Störenden hinzutrat, war. Wie die Ur« 
gestalt jedes Mythus ist auch diese nichts weiter als die objekti¬ 
vierte Halluzination erfüllter Wünsche. Wir wissen aus der indi¬ 
viduellen Analyse, daß diese Formel dem biogenetischen Gesetze 
entspricht, da das Kind ursprünglich die Wünsche, welche die Realität 
ihm versagt, sich halluzinatorisch erfüllt. Haben wir den Oedipus« 
mythos so auf seinen ersten Keim, die phantasierte gewaltsame ge¬ 
schlechtliche Vereinigung mit der Mutter zurückgeführt, so wird es 
uns nicht überraschen, wenn wir noch in einer seiner spätesten Ge¬ 
staltungen an bedeutsamer Stelle ein Anzeichen jener Abstammung 
finden: ich meine den von Freud als Ausgangspunkt seiner Analyse 
gewählten Traum, von dem Jokaste bei Sophokles spricht: 

», , . , viele Menschen sahen auch im Traume schon 

Sich zugesellt der Mutter 

So besteht also Freuds Behauptung, die Sage vom Oedipus 
sei einem uralten Traumstoffe entsprossen, zu Redit, wie wir aus 
der geschichtlichen und psychologischen Rekonstruktion der späten 
Sage bewiesen zu haben glauben. Der allgemeinen Inzestphantasie 
der Masse ersteht ein drohendes Hindernis der Gestaltung und 
halluzinatorischen Befriedigung durch die Störung, die vom Vater 
erwartet werden darf: das gewaltige Ereignis des Vatermordes 
wirft, in der Form des im Traume auftauchenden Bildes von der 
gewaltsamen Beseitigung des Störers seine Schatten voraus. Der 
Besitz der Mutter ist an die Bedingung der Vatertötung so sehr 







Oedipus und die Sphinx 


129 


gebunden, so unmöglich die Erfüllung des im Triebhaften wurzeln« 
den Wunsches ohne Wegräumung dieses stärksten Hindernisses, 
daß das eine stellvertretend für aas andere eintreten kann. Eine 
psychische Konstellation, welche später im Verein mit den bereits 
erwähnten Momenten die Möglichkeit der von uns in der Sphinx* 
sage gezeigten Verdichtung ergibt. 

Diese Möglichkeit konnte erst aktiviert werden, als sich die 
seelischen Reaktionen auf die reale Tat der Vatermordung längst 
eingestellt hatten und sich bereits ein Urmythus gebildet hat. Die 
Vergewaltigung der Mutter, wie sie sich in der Bezwingung der 
Sphinx zugleich mit der Tötung des totemistischen Vaters zeigt, 
wäre sonach dem Wiederauftauchen des Wunsches, der zur Mythen* 
bildung den Anstoß gab, gleichzusetzen. Die Möglichkeit der Ver* 
dichtung aber wurde erhöht durch die dem Vater geltende reaktiv 
verstärkte Zärtlichkeit und durch die den ursprünglich sadistischen 
Anteil der Inzestphantasie verstärkende Feindseligkeit gegen das 
Weib nach jener Tat. In der Doublette der Oedipussage, welche 
die Sphinxgestalt wieder in die Figuren des Laios und der Jokaste 
scheidet, treten wieder wie einst gesondert die feindseligen und 
zärtlichen Tendenzen in der Beziehung des jungen Helden zu Vater 
und Mutter hervor. Wie in der Sphinxsage Geschlechtsverkehr und 
Tötung in eine Tat, an einem Objekt vollzogen, zusammenfallen, 
so noch in einem Zuge der vorsophokleischen Oidipodie, wo Oedi* 
pus dem erschlagenen Vater den Gürtel und das Schwert abnimmt 1 . 
Das Gürtellosen aber ist ein bekanntes erotisches Symbol in der 
griechischen Antike,- die Schwertabnahme ersetzt in symbolischer 
Form die Kastration/ auch hier folgen also in zweizeitiger Hand* 
lung der Ausdruck zärtlicher und der feindseliger Gefühle gegen 
dasselbe Objekt aufeinander. 

Wir verstehen aus diesem homosexuellen Einschlag, wie es 
zur doppelten Mischgestalt kam: sie ist Mann und Weib, weil 
beide als Sexualobjekte gewünscht werden; sie wird getötet und 
geschlechtlich gebraucht, weil beide Aktionen in der sadistisch-maso* 
chistisch gefärbten, infantilen Auffassung des Geschlechtsverkehrs 
beim Kinde ebenso zusammenfallen wie vielleicht in der frühesten 
Zeit der Differenzierung der Geschlechter in der Entwicklung der 
Organismen in Wirklichkeit. 

Wir haben früher gesagt, daß im Traume vorkommende ab* 
surde Mischgestalten in der Art der Sphinx gegen das dargestellte 

1 Ein anderer, freilich später hergestellter Zusammenhang führt wieder auf 
die Verdichtung, die wir in der Sphinxsage konstatiert haben: die Sphinx wurde 
nadi der Erzählung des Peisandros von Hera als Strafe geschickt, weil Laios, der 
Vater des Oedipus. den schönen Chrysippos geraubt hatte. Nach der Sage wird 
Oedipus selbst als homosexuell gedacht und tötet im Streit wegen des auch von 
ihm geliebten Chrysippos den von ihm unerkannten Vater. Wir werden nicht allzu 
kühn erscheinen, wenn wir in Chrysippos selbst eine spätere Doublierung des 
Oedipus vermuten. Die Sage berichtet also von einer Ermordung des Vaters so* 
wohl aus homosexueller Eifersucht als auch aus Motiven heterosexueller Neigung. 

Imago VI/2 


9 






130 


Dr. Theodor Reik 


Objekt verspürte Gefühle des Hohnes oder Spottes seitens des 
Träumers erkennen lassen. Übertragen wir diese Traumregel auf 
Gebilde der Massenpsyche, so würden wir vermuten, daß auch in 
den merkwürdigen Mischgebilden früher Kunst Tendenzen zutage 
treten, die eine jenen Gefühlen analoge Richtung haben. Man könnte 
vielleicht behaupten, daß die Mischbildung von Tier und Mensch in 
der Sphinxgestalt dem unbewußten Widerstreben gegen die über* 
wundenen totemistischen Gottheiten in einer kulturell vorgeschrittenen 
Zeit, die bereits Menschengötter kannte, entspricht, Die Zusammen^ 
setzung der Sphinx aus weiblichen und männlichen Bestandteilen 
würde so ebenfalls eine unbewußte Strömung gegen den Vatergott 
widerspiegeln, Impulse der Auflehnung, welche gegen die auf homo* 
sexuellen Bindungen beruhende Religion die heterosexuellen Libido* 
tendenzen ins Treffen führen. Wir würden diese aggressive Strömung 
mit einer in der Spätantike einsetzenden Zurückdrängung und einer 
veränderten Beurteilung der homosexuellen Betätigung zusammen 3 
stellen, als deren letzte Überreste wir noch die Verspottung der 
Homosexualität bei griechischen und römischen Satirikern ansehen 1 * . 
Doch bleibt dies eine Vermutung, die um nichts wahrscheinlicher ist 
als eine andere über eine Zeit, die uns im Fühlen so entfremdet 
ist wie die des vorgeschichtlichen Orients. 

Die religiöse Bedeutung des Oedipusmythus, 

Ich weiß nicht, wie weit es mir gelungen ist, den Leser im 
Vorhergehenden ahnen zu lassen, welche große Bedeutung der 
Oedipusmythus im religiösen Leben der Griedten hatte und in 
wie inniger, unterirdischer Beziehung noch die Aufführung des 
»Oedipus« zu dem religiösen Ritual von Hellas steht. Die tiefe 
und nachhaltige Wirkung der Oedipussage in der Antike darf, 
wie ich glaube, gerade diesem religiösen Moment, welches das 
menschliche Triebleben in Zusammenstoß mit den Gesetzen der 
Gottheit zeigte, zugeschrieben werden. Denn es war hier wie in 
den Dionysosspielen und im Ritual des Attis, des Adonis und Osiris 
dargestellt worden, wie sich ein junger, revolutionärer Heiland gegen 
den alten, mächtigen Vatergott verging und wie schrecklich er diesen 
seinen Frevel zu büßen hatte. Ich meine, diese Wirkung sei der zu 
vergleichen, welche das kirchliche Passionsspiel auf die Gläubigen 
des Mittelalters ausübte/ sie beruht auf denselben psychischen Vor* 
gängen. Die Urgeschichte Christi ist der des Heilands Oedipus nicht 
unähnlich. Es ist zu betonen, daß im Oedipusmythus, wie wir ihn 
jetzt sehen, die tiefsten seelischen Motive, die zur Religionsbildung 
führten, dem Zuhörer unerkannt, doch plastisch entgegentraten und 
daß hier sein unbewußtes Schuldbewußtsein wachgerufen wurde. 


1 Die Gesdiidite des Chrysippos und die Bestrafung des Laios durdt die 

Sphinx ist, glaube ich, mit dieser Veränderung in Verbindung zu bringen. 








Oedipus und die Sphinx 


131 


An anderer Stelle werde idi versuchen zu zeigen, daß der 
verborgene Kern dieses Mythus derselbe ist, wie der in der bibli— 
sehen Erzählung von der Erbsünde ruhende, an die sich für viele 
Jahrhunderte das Schuldbewußtsein der Massen fixierte. Hier sei 
nur erwähnt, daß wir auf assyrischen und babylonischen Abbildungen, 
Siegelzylindern und Reliefs immer wieder Sphinxe, Greifen und ähn*> 
liehe geflügelte Tiergestalten den Lebensbaum bewadien sehen, Jeder= 
mann weiß, daß in der Sündenfallserzählung ein Cherub, dessen 
ursprüngliche Tiergestalt wir aus den Visionen Ezechiels kennen, 
beim Lebensbaum steht wie die Sphinx vor den ägyptischen Tempeln 
und die löwen^ und stiergestaltigen Wächter vor den Palästen Assur^ 
banasirpals und Sanheribs: alle diese Wächtertiere sind späte Ab¬ 
kömmlinge totemistischer Gottheiten. Es läßt sich ferner nachweisen, 
daß in der Tradition vom Lebensbaum genau dieselbe Verdichtung 
vor sich gegangen ist wie in der Sphinxepisode des Oedipusmythus 
und daß jener in der biblischen Erzählung dieselbe scheinbar neben¬ 
sächliche Rolle spielt wie die Sphinx in der griechischen. Als das 
Ergebnis einer vorbereiteten Untersuchung 1 wird man schon jetzt 
aussprechen, daß der Oedipusmythus die Sündenfallsgeschichte des 
Hellenentums genannt werden darf 2 . 

Vergessen wir indessen nidit, daß, was in religiös betonten 
Formen des »Oedipus« um Ausdruck rang und die griediischen 
Zuhörer erschütterte und auch uns jetzt noch erschüttert, eben jene 
entscheidenden seelischen Regungen sind, deren Wirksamkeit erst 
den Anstoß zur Religionsbildung gaben, Auch in diesem Sinne also 
ist die Oedipussage eine Gestaltung, welche die Wiederkehr ver¬ 
drängten Materials zeigt. 

Wir haben absichtlich das Rätsel, das die Sphinx aufgibt, als 
einen sekundären Zug aus dieser Deutung ausgeschaltet; es lag uns 
diesesmal mehr daran, das Rätsel der Sphinx selbst zu lösen. Oder 
vielmehr eines ihrer Rätsel. Denn sie hat zahlreiche, die immer 
erneute Anstrengungen erforderlich machen 3 . 

Damit aber sind wir wieder zu unserer kleinen Zeichnung 
zurückgekehrt, die dem Analytiker als Sinnbild des Erreichten, aber 
auch als ständige Mahnung zu neuer Forschung gelten darf, 

1 »Die Erbsünde« im II. Teil meiner »Probleme der Religionspsychologie«. 

2 Mit dieser Behauptung soll keine Aussage über das nodi ungelöste und 
komplizierte Problem der Beziehungen zwischen Semiten und Griedien verbunden sein. 

3 Die Stellung des Rätsels im Oedipusmythus entspricht der, welche das 
Erkennen von Gut und Böse in der Sündenfallssage innehat. Vgl. »Die Erbsünde«. 



o* 






132 


Dr. Hermann Goja 


Das Zersingen der Volkslieder. 

Ein Beitrag zur Psychologie der Volksdichtung. 

Von Dr. HERMANN GOJA. 

Tohn Meier, der bedeutende Volksliedforscher, welcher das Zer« 

I singen in den Mittelpunkt seiner Studien gerückt hat, hat in der 
I Einleitung des Buches »Kunstlieder im Volksmunde« seine An« 
' schauung über die Möglichkeit der Lösung dieses Problems dahin 
zusammengefaßt, daß er sagt, unsere Aufgabe sei es gar nicht, nach 
der Lösung dieser Frage zu suchen, unsere Aufgabe sei vielmehr nur 
die, möglichst viel Material für jenen zusammenzutragen, welcher in 
späterer Zeit die Lösung bringen soll. Wir seien nur Hilfsarbeiter 
jenes Späten, welche die Steine auf dem Bauplatz Zusammentragen, 
mit welchen dieser das Gebäude aufführen wird. »Was wir brauchen, 
sind praktische Untersuchungen und nidit apriorische Spekulationen 
und Philosopheme, die nur verwirren. Wir haben den Philosophen 
durch unsere Forschungen erst das Material zu liefern, das sie dann, 
aber auch erst dann, verwerten mögen. 1 « Diese Hilfsarbeit hat er 
dann glänzend organisiert und die Griffe derselben an einigen Bei« 
spielen vorgezeigt, welche seine Volksliedstudien enthalten. Die Volks« 
liedstudien zeigen ihn hart gegen die Einwürfe seiner Kritiker, aber 
fest auf dem Standpunkt verharrend, welchen er einmal eingenommen 
hat 2 . Goethes Spruch ist vorangestellt: »Es ist mit Meinungen, die 
man wagt, wie mit Steinen, die man voran im Brette bewegt, sie 
können geschlagen werden, aber sie haben ein Spiel eingeleitet, 
das gewonnen wird.« John Meier fühlt sich als solcher Stein, der 
sich opfern muß, um dem Spiele, dem Ganzen den Sieg zu ge« 
winnen. 

Ist es bei John Meier Stolz auf das Geleistete, den er in 
diesen bescheidenen Satz kleidet, so wäre es von mir Vermessen« 
heit, denselben als Motto zu nehmen. Auch meine Meinung ist 
einem Steine gleich, den man im Spiele bewegt. Ob die Züge des 
Spielers gut sind, weiß ich jedoch noch nicht. Ich will den Eröffnungs« 
zug machen. 

Wie für jede Art der Untersuchung des Zersingens, ist es 
auch für meine das Wichtigste, geeignetes Material zusammenzustellen. 


1 J. Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. *7. 
3 J. Meier, Volksliederstudien, S. VII—VIII. 








Das Zersingen der Volkslieder 


133 


John Meier hat ja die Schwierigkeiten, welche sich schon hei dieser 
Vorarbeit einstellen, aufgedeckt 1 : es ist unmöglich, auf Grund un¬ 
serer Quellen die Varianten zu ordnen. Welche Singart der ältesten 
Fassung eines Liedes entspricht, welche aus einer älteren geflossen 
ist, kann hei unseren Volksliedern nicht festgestellt werden: und so 
ist auch die Reihe der Singarten einer Variante nicht mehr wieder¬ 
herzustellen, was bewirkt, daß das die Reihe bildende Gesetz eben¬ 
falls nicht mehr zu erkennen ist. Meier hat nun einen Fall des 
Zersingens herausgefunden 2 , für den diese Mängel zur Gänze nicht 
bestehen, und zwar ist er das Zersingen der Kunstlieder. Der Aus¬ 
gangspunkt der Entwicklung ist hier fest, er ist das Kunstlied. Werden 
nun alle im Volke gesungenen Fassungen des Kunstliedes gesammelt 
und zusammengestellt, so ist es möglich, die zuerst notwendige Reihe 
der Singarten aufzustellen, um vielleicht dann aus dieser Reihe auf 
das sie beherrschende Gesetz zu gelangen. 

Gewiß ist richtig: auf die Urfassung eines Volksliedes können 
wir nicht mehr gelangen. Was wir sammeln, ist vielleicht das rte, 
lte, xte Glied einer Reihe. Wir wissen nicht, wie viele Glieder 
zwischen den einzelnen, erhaltenen ausgefallen sind, und wir wissen 
nicht, in welcher Folge die erhaltenen zu ordnen sind. Auch John 
Meier gewinnt durch Feststellen des Kunstliedes nur einen Haken, 
an welchem die vielen Varianten wie ein zerzaustes Bündel von 
Bändern befestigt sind. Wenn wir aber auch nicht mehr die ge¬ 
wünschte Reihe von a—x wiederherstellen können, eines ist uns 
unter günstigen Umständen möglich, zwei, mehrere aufeinander¬ 
folgende Glieder derselben zu erfassen, etwa das mte, m, erste 
Glied der Reihe. Gelingt uns dies in einer größeren Anzahl von 
Fällen, so haben wir Aussicht, aus den sich ergebenden Parallelen 
das gesuchte Gesetz zu finden. 

Ich habe nun eine solche Phase in der Entwicklung von Volks¬ 
liedern festzulegen versucht. Ich habe durch die Sammlung der 
Varianten von Soldatenliedern die Entwicklung festzuhalten ver¬ 
sucht, welche dieselben während des Weltkrieges innerhalb eines 
Regimentes 3 durchgemacht haben. Ich will also versuchen, aus diesen 
Singarten heraus unter gleichzeitiger Benützung der vorliegenden 
Forschungsergebnisse auf den Sinn des Zersingens zu kommen. 

Bevor ich mich an diese meine Arbeit mache, will ich noch 
eines bemerken. Es gibt noch eine dritte, bisher noch nicht benützte 
Gelegenheit, zum Verständnis des Zersingens zu gelangen. Es ist 
das Studium der Lesarten unserer Kunstlieder. Wenn das Lied 
eines Kunstdichters uns in zwei Fassungen A und B vorliegt, so 
haben wir einen Fall, welcher dem des Zersingens ähnlich ist. Das 
Lied wurde von seinem eigenen Dichter zersungen, etwas, was bei 


1 I. Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. XVII ff. 

* Ebenda, S. XIX. 

3 K. k. Sdiützenregiment Nr. 24, Umgebung von Wien. 






134 


Dr. Hermann Goja 


unseren Volksliedern gewiß auch möglich ist. Man wird mir ein¬ 
wenden, daß die dieses Zersingen der Kunstlieder beherrsdienden 
Gesetze sdion erkannt worden seien. Es seien formale Gründe usw. 
Es wurde aber doch schon bemerkt, daß auch die Entwicklung des 
Dichters, das Leben desselben, Einfluß auf die Bildung dieser 
Varianten nehmen. So kommen wir auf eine psychische Quelle des 
Zersingens, welche bei den Fassungen unserer Kunstlieder noch 
nicht freigelegt worden ist. Das Studium der Reihen dieses Zersin¬ 
gens, welche uns schon oft mustergültig geordnet vorliegen, könnte 
also ebenfalls zur Erkenntnis der das Zersingen beherrsdienden Ge® 
setze führen. Gehen wir aber nun den uns vorgeschriebenen Weg. 

Die Identifizierung. 

Wenn man am Anfänge dieser Arbeit fragt, was die Ursache 
gewesen sein könne, daß man trotz vieler Mühe nicht auf den Sinn 
des Zersingens gestoßen ist, so gibt es auf diese Frage nur eine 
Antwort: es ist das Außerachtlassen, als unwesentlich Fallenlassen 
von Erscheinungen, welche dem Suchenden als unwesentlich, neben** 
sächlich erscheinen, während sie tatsächlich die einzigen Führer zu 
dem Geheimnis sind. In Wahrheit kann man erst dann beurteilen, 
ob etwas zum Verständnis wichtig oder unwichtig ist, wenn man 
das Wesen der Erscheinung kennt. Ich will mich hüten und trachten, 
nicht in diesen Fehler zu verfallen und beginne daher mit der 
Untersuchung eines solchen unwichtig erscheinenden Phänomens. 

Beim Sammeln der Lieder diktierten mir Soldaten auch folgende 

Strophe. Und wann i mei Häusel verkauf'. 

Das Geld, das i krieg, dann versauf'. 

So sagt's mein Vota, 

I bin a Soldat, 

Der alles versoffen hat. 

Es ist die erste Strophe eines auch sonst verbreiteten Liedes 1 . 
Die übrigen Strophen waren den Leuten nicht bekannt. Das Lied® 
dien wurde nach Angabe der dörfisdien Sänger in dieser Form 
und, wie alle Rekrutenlieder, in der Zeit vor der Assentierung ge® 
sungen. Nach derselben hört ja das Singen auf, »da sind die Einen 
behalten, die Andern nicht«. An dem Liede und an den hier an® 
geführten Tatsachen ist wohl nichts Auffälliges. Nein. Wenn es 
nicht das ist, daß es überhaupt gesungen wird. Daran, daß ein 
Bauernbursche, welcher assentiert worden war und dieses freudige 
Ereignis auch belumpt hatte, auf dem Heimweg ein lustiges Lied® 
dien dichtete, daran wäre wahrlich nichts merkwürdig. Daß ein 
anderer aber, ein dem Dichter ganz Fremder, Tagferner, nach Jahr¬ 
zehnten dieses Lieddien singt, singt, als ob er der Dichter, der Assen® 

1 Zum Beispiel A. Dörfer, Volkslieder aus Tirol, Zeitschrift des Vereines für 
Volkskunde 20, 1910/ Kaindl, Deutsche Lieder aus Rösch, Zeitschrift des Vereines 
für Volkskunde 15, 1905/ Hrusdika^Toisdier, III, Nr. 297. Vgl. Simrock, Nr. 339. 






Das Zersingen der Volkslieder 


135 


tierte, das Ich wäre, daran ist doch so viel Besonderes, daß wir nicht ohne 
weiteres vorübergehen dürfen. Ich will diese Erscheinung die Identi® 
fizierung nennen. Der Sänger des Liedesidentifiziert sich mit dem Dichter. 
Das Ich des Dichters fällt mit dem Ich des Sängers zusammen. Sicher 
ist dies nur möglich bei gewissen Gleichheiten. Welcher Art diese gleichen 
Merkmale sind, können wir noch nicht sagen. Vielleicht genügt die Gleich¬ 
heit der Situation, des Milieus, was das Vorhandensein der Standes** 
lieder nahelegen würde. Wir werden aber jetzt schon annehmen müssen, 
daß es sich hier um Gleichheiten der menschlichen Psychen handeln muß, 
da die von uns festgestellte Identifizierung zusammenhängt mit dem 
allgemein Menschlichen, dem Typischen in den Volksliedern. Nur dann, 
wenn sich in irgend einer Form, klar oder unklar. Typisches in einem 
Liede findet, kann es wiedergesungen werden, während Individuelles für 
keinen Zweiten singbar ist. Wir sind von der aufgezeigten Tatsache der 
Identifizierung auf eine zweite gekommen, wir brechen ab, da wir dem 
Wesen der Identifizierung erst nachgehen müssen. Viele Varianten er¬ 
klären sich sofort aus dieser Identifizierung. Ich führe einige Beispiele an. 

Die ersten Fälle sind wenig interessant: Ein Lied 1 , mit der An* 
fangszeile »Vierundzwanzig lustige Brüder« oder »Vierundzwanz'ger, 
lustige Brüder« oder »Vierundzwanz'ger sind lustge Brüder« begann 
vor dem Weltkriege »Füselier sind lustge Brüder « 2 oder »Musketier 
seins lust'ge Brüder« 3 . Ein anderes Lied 4 »Katrinchen, trau nur nidtt. 
Trau kei'm Soldaten nicht« wurde zersungen zu »Mädchen, Mäddien, 
traue nur dem Schützen nicht.« Ebenso wurde in dem Liede »Mein Regi® 
ment, mein Vaterland « 5 Zeile 15 »Ein Musketier, der soll es sein« ver¬ 
ändert in »Ein fescher Schütze muß es sein« und Zeile is »Sei's Mus® 
ketier, sei's Füselier« ztf »Sei's Schütze, sei es Offizier«. Ein Lied »Treu 
dem Vaterland ergeben « 6 ändert seine 4 . Zeile »Ich als Landwehr auf 
derWacht« in »Ich als Landschütz« usw. oder »Als ein Landschütz« usw. 
oder »Als ein Schütze usw.« 

Ebensowenig wie diese ersten Beispiele verraten die folgenden 
etwas von ihrer Ursache. B 60 des »Neuen Kriegsliedes « 7 wird^ zu 
A 60 »Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen«,- Zeile 15 (von Erk® 
Böhmes deutschem Liederhort III, 1331 ) wird zu »Die Feinde usw.«,- 
I A 1 der Sarajewoliedgruppe wird zu I B 1, D 1/ I A 21 desselben 
Liedes zu I B 21. Der Refrain des »Guten Kameraden«: 

Die Voglern im Walde, 

Die singen so wunder»wundersdiön: 

In der Heimat, in der Heimat, 

_ Da gibt's ein Wiedersehn 8 . 

1 Köhler*Meier, Volkslieder von der Mosel und Saar, Nr. 248. 

s Brk*Böhme, Deutscher Liederhort, III, 1331. 

3 Breuer, Der Zupfgeigenhansl, S. 251. 

4 Erk*Böhme, Deutscher Liederhort, III, 1423. 

5 Ebenda, III, 1389. 

« Vgl. unten S. 140 ff. das Lied »An der Weichsel gegen Osten«, 

7 Vgl. unten S. 203 ff. 

3 Vgl. J. Meier, Das deutsche Soldatenlied im Felde, S, 57. 






136 


Dr. Hermann Goja 


Die Kanonen von Skoda. 

Die schießen so wunder^wundergut: 

O Italien, o Italien, 

Deine Falschheit kostet Blut. 

Wie steht es aber mit den folgenden Singarten? Zeile 13 des 
Liedes »Musketier' sind lust'ge Brüder«: Schwarz das Lederzeug/ 
wird zu: Gelb das Riemenzeug. Zeile 16 eines Liedes 1 * * * 5 * * * * io * 12 »Unsre 
sdiwarzen Hosen« lautet in einer Fassung des Weltkrieges »Und 

1 Es ist das Fridolinlied, das ich mit Varianten folgen lasse: 

A i Es schlagt schon halber Neune, 

Fridolin, 

In das Wirtshaus gehn ma eini, 

Fridolin, 

Und der Wirt, der laßt euch sagen. 

Halber Zehne hat's schon gs&lagen, 

5 Zapfenstreich ist längst vorbei, 

Isabella, Fridolin. 

Da kamen zwei Gendarmen, 

Fridolin, 

Die Gewehre untern Armen, 

Fridolin/ 

In der Ferne der Laterne 

Steht der Hauptmann auch dabei 

io Mit der ganzen Polizei, 

Isabella, Fridolin. 

Sie wollten uns arretieren, 

Fridolin, 

Auf das Wachzimmer wollens uns führen, 

Fridolin,- 

Fünfundzwanzig aufgemessen. 

Daß mirs Zhausgehn nicht vergessen, 

15 Wollt der Tambour einischlagn, 

Isabella, Fridolin. 

Unsere schwarzen Hosen, 

Fridolin, 

Sind schon längst versoffen, 

Fridolin. 

Und der Mantel steht im Stande! 

Und die Blusen ist versetzt 
20 Und das Madel ist verwetzt, 

Isabella, Fridolin. 

Vor einem oder zwei Jahren, 

Fridolin, 

Als wir noch Rekruten waren, 

Fridolin, 

Habens uns glernt das Exerzieren, 

Vor die Herrn das Defilieren 
25 Und dabei die Disziplin: 

Isabella, Fridolin. 

B i schlagt > ist 2 In das > Ins a dort stehen 7 auf den n wollen 

12 Auf das > Aufs 15 Wann der Tambour Neune schlägt, 16 Wo sind die 








Das Zersingen der Volkslieder 


137 


unsere grauen Hosen«. Die erste Zeile des Liedes »Joli tambour« 1 
zeigt ein starkes Anwachsen der Truppenstärke. »Fünftausend 
Mann«, »Zehntausend Mann«, »Dreißigtausend Mann«, »Vierzig* 
tausend Mann« und »Hunderttausend Mann, die zogen ins Ma* 
növer«. Das Anwachsen dieser Zahl ging parallel dem Entstehen 
der Riesenheere. In dem Liede »So leb' denn wohl, wir müssen Ab* 
schied nehmen« a entwickelt sich die erste Fassung der Zeilen: 

Dort auf dem Feld, wo unser Blut einst rinnt. 

Wo so viel Tote und Verwundte sind, 


zu: 


Ja dort im Krieg, wo sich das Blut entrinnt, 
Wo man nur Tote und Verwundte findet, 


und wird so der Unlust gerecht, welche sich der Soldaten angesichts 
der schweren Blutopfer des Weltkrieges bemächtigt. III B 44 der 
Sarajevoliedgruppe 3 »Die leuchten dem Soldaten« wird zu IA28 
»Sie leuchten den Soldaten«. Das Lied »Musketier' sind lust'ge 
Brüder« ändert daher ebenfalls seinen Refrain. Man vergleiche mit: 

Halli, Hallo, Hallialliallo, 

Bei uns geht's immer eso! 

die Fassung des Weltkrieges: 

Wir sterben, wir sterben. 

Wir sterben als ein Held, 

Die Abneigung gegen das Soldatentum bricht hier stark durch. 
Dieses Durchbrechen unterdrückter, unlustbetonter Vorstellungen 
zeigt auch eine Variante des Liedes »Joli tambour«: 


Später: 


Und der Reiter sprach; 
Zwei Stiefeln ohne Sporen. 

Zwei Stiefeln ohne Sohlen. 


blauen 17 Die sind 18 Standei > Handel 22 Rekruten > Spate > Späte 24 Die 
Herrn > dem Jöbstel,- das fehlt 25 a stramme 

C 1 schlagt > is 5 Gruß, auf Wieder, Fridolin, 6 Es kommen 7 auf den 
10 Gruß, auf Wieder, Fridolin. 11 wollen 15 Wann . . . Neune schlägt. Gruß 
auf Wieder, Fridolin 16 Und unsere grauen n Die 18 Handel 20 Und die 
Stiefeln sind zerfetzt: Gruß, auf Wieder, Fridolin. 25 Gruß, auf Wieder, Fridolin, 

D 7 Die fehlt, untern > auf den u wollten > wollen i2 Ins Wachlokal 
uns führen 14 nicht > hätt 16 Wo sind die blauen Hosen 17 Die sind 2i Und 
vor a, zwa, drei Jahren 25 a bisserl 

Ich habe dieses Lied noch nirgends aufgezeichnet gefunden. <Konnte wohl 
auch nicht alle Sammlungen wegen der Kriegsverhältnisse einsehen.> Auf der 
Wiener Stadtbibliothek befindet sich in einem Karton <39976 C> unter ungefähr 
700 fliegenden Blättern und Handschriften ein Lied; Fridolin der Matrose. Nach 
der schon bekannten Melodie. Im Verlag bei Franz Barth in Wien, Mariahilf 28, 
das mit unserem Liede Rhythmus und Refrain gemein hat, sonst aber einen 
eigenen Text besitzt. Es scheint demnach einer der vielen Fälle vorzuliegen, in 
denen Sdiifferlieder zu Soldatenlieder verschoben wurden. 

1 Zum Beispiel Köhler*Meier, Volkslieder von der Mosel und Saar Nr. 258. 

2 Erk-Böhme, Deutscher Liederhort, III, 1378. 

3 Vgl. unten S. 154 ff. 







138 


Dr. Hermann Goja 


Eine Parallele zu dieser Singart erzeugte auch das Fridolin® 
lied. Die obszöne Zeile desselben: 

Und das Madel ist verwetzt <Ä 2 ü> 
wurde nämlich zersungen zu: 

Und die Stiefel sind zerfetzt, <C 2 i)> 

worauf der Refrain »Gruß, auf Wieder, Fridolin!« die geballte 
Faust des so elend ausgerüsteten Soldaten zeigte. Sehr fein madit 
sich diese Abhängigkeit des Liedtextes von den die Soldaten be® 
herrschenden Gefühlen in der Fixierung ursprünglich schwankender 
Varianten bemerkbar. So beginnt das Lied »Ade, mein Schatz! Ich 
muß nun fort« 1 / welches am Anfang des Weltkrieges als erste 
Zeile »Soldatenleben, das heißt man lustig sein« gehabt hatte, seit 
Frühjahr 1916 immer »Soldatenleben, das heißt man traurig sein«. 
Ebenso wurde im selben Frühling die zweite Zeile des S. 141 mit® 
geteilten Liedes »Treu dem Vaterland ergeben« auf die eine Form 
festgelegt, während sie 1914 zwischen »Schon« und »Schont' ich usw.« 
gewechselt hatte. 

Zeigen diese Singarten die wachsende Kriegsmüdigkeit der 
Soldaten, so gibt die folgende Variante ein Bild der schwindenden 
Disziplin. Der Schluß des schon mehrfadi zitierten Fridolinliedes 
lautete ursprünglich: 

Vor einen oder zwei Jahren, 

Fridolin, 

Als wir noch Rekruten waren, 

Fridolin, 

Habens uns glernt das Exerziern, 

Vor die Herrn das Defiliern 

Und a stramme Disziplin. 

Isabelta, Fridolin. 

»Und a stramme Disziplin« wurde nun im Laufe des Weltkrieges 
zuerst zu »Und dabei die Disziplin« und schließlich zu dem ironischen 
»Und a bisserl Disziplin«. 

Zeigen alle diese Beispiele, daß unlustbetonte Vorstellungen 
die Ursache des Zerslngens sind, daß die Ursache des Zersingens 
eine Verschiedenheit in der Psyche des Dichters und des Sängers, 
eine Verschiedenheit in der Psyche des früheren und späteren Sän= 
gers ist, so beweisen die folgenden Varianten, daß die Verschieden¬ 
heit der Psychen auch in lustbetonten Vorstellungen liegen kann. 
Z. 23 des Liedes »Vierundzwanzig lustige Brüder« lautete »Sind 
wir unserm König treu« 2 , später »Sind wir unserm Hauptmann 


1 Büsdiing u. v. d. Hagen, Sammlung deutscher Volkslieder, Nr. 11/ vgl. 
ebenda, Nr. 86. 

2 ln einer Fassung des Regimentes, die aus dem Kriegsbeginn stammt und 
Friedensverhältnisse durchsdieinen läßt, 















Das Zersingen der Volkslieder 


139 


gleich«. Die ursprünglich lustbetonte, dann unlustbetonte Vorstellung 
des Königs ist also durch die lustbetonte des beliebten Hauptmannes 
ersetzt worden, ebenso wie in Z. 12 des Liedes »Vierundzwanzig 
lustige Brüder«, »Kaiser Wilhelm« 1 durch den »Hauptmann« ver¬ 
drängt wurde. Entsprechend ist die ironische Ersetzung des »Haupt¬ 
manns« durch den »lieben, guten Kaiser«. <Z. 30 desselben Liedes 2 .) 
Diese Vertauschung gefühlsindifferenter oder unlustbetonter Vor* * 
Stellungen durch lustbetonte zeigt sich auch in dem Liede »Joli 
tambour«, in welchem der »Reiter« durch den »Leutnant«, in dem 
Liede »Vierundzwanzig lustige Brüder«, in welchem später der »Haupt¬ 
mann« durch den »Fähnrich«, in dem Fridolinliede, in welchem »die 
Herrn« durch den »Jöbstel« 3 , den beliebtesten Oberstleutnant des 
Regiments ersetzt wurden. Überall erfolgen diese Veränderungen 
dann, wenn das Lied von einem neuen Sänger übernommen wird, 
und zu dem Zwecke, um die zur Identifizierung notwendige Gleich¬ 
heit der Bewußtseinslagen herzustellen. 

Fassen wir das an den Singarten Beobachtete zusammen, be¬ 
vor wir weiterschreiten. Alle Varianten hatten nur eine Ursache, 
die Identifizierung. Um dieselbe zu ermöglichen, wurde das Lied 
geändert. Ein Teil dieser Veränderungen war rein äußerlich. Die 
Identifizierung wurde erreicht durch bloße Gleichsetzung von Zeit, 
Ort und Waffe usw. Ein anderer Teil derselben ging in die Tiefe. 
Das sind jene Fälle des Zersingens, in denen, oft in feinster Weise, 
psychische Verschiedenheiten ausgeglichen werden, in denen der 
lange Krieg mit seinen vielen Toten und der wachsenden Kriegs¬ 
unlust, die schlechte Ausrüstung und die schwindende Disziplin zum 
Ausdruck gelangen. Ich glaube, wir sind an eine Quelle des Zer¬ 
singens überhaupt gekommen, an die psychische Quelle desselben. 

Das ist, wie mich dünkt, ein Schritt auf dem Wege zur Er¬ 
kenntnis. Nicht wie bei den Lesarten der Kunstlieder ist das For¬ 
male die Ursache des Zersingens, sondern das Psychische, wenig¬ 
stens in vielen der von uns beobachteten Fällen. Wir werden ab- 
warten müssen, ob Formales nicht doch zu irgend einer Zeit eine 
Rolle spielt. Die Gleichheit der Situation genügt jedenfalls nicht, 
ein Lied wiederholbar zu machen, es gehört die Gleichheit der 
Psyche dazu. 

Noch eines haben wir zu berücksichtigen gelernt: die Tat¬ 
sache, daß die menschliche Psyche sich ebenso ändert wie das Milieu. 
Dauernd, zeitlos sind nur Probleme. Ein solches Problem ist z. B. 
das Verhältnis des Menschen zum Krieg. Zu allen Zeiten nehmen 
die Menschen zum Kriege Stellung, immer aber in verschiedener 
Weise. Dadurch sind denn auch die Lieder, welche sich mit dem 
Probleme beschäftigen, zu allen Zeiten verschieden. 


1 Erk-Böhme, Deutscher Liederhort, III, 1331, Nr. 4. 

* Vgl. Köhler-Meier, Volkslieder von der Mosel und Saar, Nr. 248 B, Z. 14, 
8 Vgl. Anm. 1, S. 136, A und B 24 . 








140 


Dr. Hermann Goja 


Verfolgen wir einmal theoretisch die Veränderungen eines 
Liedes. Die ersten werden sich an das Milieu anknüpfen, die spä- 
teren an die Wandlungen der Psyche. Immer neuen Verhältnissen 
werden sich die Singarten anschließen. In unbegrenzter Weise? Nein. 
Die Änderungen, welche am Milieu, ebenso wie an der Psyche 
entstehen, werden nach einiger Zeit so groß sein, daß sie das Zer- 
singen nicht mehr beseitigen kann. In dieser Zeit wird das Lied 
fallen gelassen und ein neues gedichtet, welches dem neuen Milieu, 
der neuen Psyche, entspricht. Wir erhalten so zwei Lieder, welche 
denselben Stoff, dasselbe Problem, aber in verschiedener Weise be- 
handeln. Verfolgen wir einen Stoff durch alle Zeiten, so erhalten 
wir die Geschichte des Stoffes, die Stoffgeschichte. Das Phänomen 
der Stoffwandlung, wie wir es in der Stoffgesdiichte beobachten, 
ist letzten Endes nichts anderes als eine, und zwar die letzte Form 
des Zersingens. 

Ich habe die Theorie der Identifizierung noch nicht erschöpft. 
Von einem Beispiele bin ich ausgegangen und habe sie davon ab" 
geleitet. Mit einer Reihe von Singarten habe ich sie weiter unter¬ 
stützt. Außerdem bin ich von einem Ich-Liede ausgegangen. Hier 
muß ich ergänzen. Leicht gelingt mir dies bei den Wir-Liedern. Sie 
sind ja nichts anderes als Ich-Lieder. »Wir« ist ja gleich »ich und 
andere«. Schwierig ist es aber bei Er-Liedern, bei Liedern der 
dritten Person. Daß auch bei diesen sich der Sänger mit den dritten 
Personen identifiziert, kann ich folgendermaßen nachweisen. Das 
Lied »Vierundzwanzig lustige Brüder« wurde von den Kompagnien 
des Schützenregiments Nr. 24 gesungen. Eine Mehrzahl von Indi¬ 
viduen sang daher über sich in der dritten Person pluralis. Die erste 
Person pluralis fällt daher mit der dritten zusammen. Statt »Vier® 
undzwanzig lustige Brüder« wäre ebensogut »Wir« zu schreiben 
und zu singen. Lieder von der Art sind also nur versteckte Wir- 
Lieder, Die Identifizierung bleibt vorhanden. Nicht bei allen Er- 
Liedern läßt sich dieselbe so leicht und auf so einfache Weise 
zeigen. In der Zeitschrift des Vereines für Volkskunde IV, 212 ist 
von Else Priefer aus Sommerfeld und Umgebung folgendes Lied 
mitgeteilt; 

1. An der Weichsel gegen Osten, 

Ein Soldate stand auf Posten/ 

Er dem Land anverwandt. 

Ward zur Schildwach' er ernannt. 

2. Plötzlich sieht er im Gesträuche 
Einen Mann sich näher schleichen. 

Halt! rief er ihn dreimal an, 

Ob er Losung geben kann. 

3. Losung, oder ich muß schießen. 

Euer Blut muß ich vergießen, 

Und so wahr ich Sachse bin. 

Diese Kugel streckt Euch hin. 









Das Zersingen der Volkslieder 


141 


4. Nun wohlan, so laßt uns sehen. 

Wie weit unsre Kugeln gehen. 

Ob du deines Vaters Brust 
Auf dem Felde opfern mußt. 

5. Zitternd schrak der Mann zusammen. 

Himmel, rief er, habt Erbarmen! 

Betete: Adi Gott, ich muß. 

Und so fiel der Todesschuß. 

Eine Identifizierung des Sängers mit dem Dichter oder gar 
mit dem Helden dieses Liedes, welcher seinen Vater töten muß und 
ihn auch erschießt, ist wohl nicht anzunehmen. Der Fall, welcher in 
dem Liede dargestellt ist, ist außerdem keineswegs typisch. Selbst 
im Weltkriege wird er kaum vorgekommen sein. Und dennoch 
wurde dieses Lied gesungen. Bei meinem Regimente lief es in fol= 
gender Fassung: ^ 

1. Treu dem Vaterland ergeben. 

Schont' ich nicht mein junges Leben, 

Stand bei heller Mondesnacht 

Ich als Landwehr auf der Wacht 
5 Auf eins, zwei. 

Stand bei heller Mondesnacht 
Ich als Landwehr auf der Wacht. 

2. Horch, was hör' ich im Gesträuche? 

Einen Mann, der mich umschleiche. 

io Halt! Wer da? ruf ich ihn an, 

Ob er Losung geben kann 
Auf eins, zwei. 

3. Losung, Bruder, ich muß schießen, 

Menschenblut muß ich vergießen, 

15 Denn, so wahr ich Landwehr bin, 

Meine Kugel streckt dich hin 
Auf eins, zwei. 

4. »Vater, Vater, hab' Erbarmen! 

Vater, lasse dich umarmen! 

20 Rette mich!« O Gott, ich muß! 

Und sogleich fällt auch ein Schuß 
Auf eins, zwei. 

B 2 Schon' 4 Landschütz' 

Zwischen 7 und s: Stand idi einst auf meinem Posten 

Ganz allein im fernen Osten 
Mit dem Feinde anverwandt. 

War der Vormarsch mir bekannt 
Auf eins, zwei. 

9 umschleichet u er mir 13 Bruder > oder 14 mußt du 15 Denn > Und 
16 Meine > Eine 18 Vater habe doch 20 O > Ach 21 sogleich fällt > zugleich fiel 
C 9 Ist ein Feind 13 Bruder ) oder 18 hab mit mir 19 Sieh den Sohn in 
deinen Armen 20 Vater, komm an meine Brust 

D 3 bei > in 4 Als ein Landschütz 8—22 fehlt. 





142 


Dr. Hermann Goja 


leb vernachlässige die Fülle interessanter Singarten, welche dieses 
Lied aufzeigt und verweile nur hei der 1 atsache, daß alle Fas¬ 
sungen dem Liede der Else Priefer entspredien, nur daß sie leb« 
Lieder sind, während die ältere Form ein Er-Lied gewesen ist. 
Also auch in dem Liede, in welchem der Held seinen Vater tötet, 
identifizieren sich die Sänger mit dem unglücklichen ooldaten, (Dem 
Umstande, daß in der jüngeren Fassung der Vater den Sohn töten 
muß, ist wohl nur untergeordnete Bedeutung beizumessen/ der 
neue Fall bleibt ebenso vereinzelt wie der alte 1 * * * 5 6 .) 

Man kann einwenden, daß dieses Beispiel sowohl dafür ge= 
deutet werden kann, daß in Er-Liedern Identifizierung von Sänger 
und Liedperson stattfindet (dann müsse ein Rätsel vorgemerkt werden, 
welches später zu lösen ist, jenes Rätsel, wie sidt Menschenmassen 
mit dem seinen Sohn, Vater tötenden Soldaten identifizieren können), 
als auch dafür, daß die ganze Theorie falsch sei, weil das angeführte 
Lied ein Ich-Lied sei, in welchem sich die Sänger nicht mit der Lied^ 
person identifizieren. Ich bin an einem Punkte angelangt, von dem 
es scheinbar kein Weiter mehr gibt. Ich will aber noch etwas sagen. 
Es gibt sehr viele Ich-Lieder, bei welchen die von mir behauptete 
Identifizierung nicht eintritt. Ich kann diese Behauptung, welche sofort 
mehr Glauben finden wird als meine erste, durch ein Beispiel unter« 
stützen. Die Strophe: »Und wann i mei Häusel verkauf',« usw., 
welche den Ausgangspunkt meiner Erörterung gebildet hat, wird 
auch von Mädchen gesungen. Daß sich diese Mädchen aber mit dem 
assentierten Burschen identifizieren, welcher sein Geld versoffen hat, 
ist nicht annehmbar. Es gibt aber sehr viele solcher Idi«Lieder, die, 
wenigstens fallweise, von beiden Geschlechtern gesungen werden. 
Das Uhlandsche Lied »Ich hatt' einen Kameraden« ist ein reines 


1 Das »Deutsche Volkslied«, Jahrgang 17, bringt S. 93 unter dem Titel 

»Das Landschützenlied« eine Fassung, welche zwischen den beiden im Text an* 

geführten steht. Diese Fassung ist bis Strophe 5 Idi=Lied und geht dann in ein 

Er=Lied über. Ich gebe die beiden letzten Strophen: 

5. Laß, mein Sohn, du tapfrer Landschütz, 

Laß mir deine Kugel geben, 

[: Ob du deines Vaters Brust 
Audi dem Feinde opfern mußt :] 

Auf eins zwei. 

6 . Ach, da brach der Sohn zusammen. 

Vater, lasse dich umarmen, 

[: Rette mich, o Gott, ich muß. 

Und zugleich fiel auch ein Schuß 
Auf eins zwei. 

Ein Vergleich der letzten Strophe dieser Fassung mit der von A zeigt, wie leicht 
der Tausch der Hauptpersonen möglich war. — Für eine tiefergehende. Analyse 
ist wichtig, daß Futilitates, Bd. IV, S. 122, ein Lied mitgeteilt wird. (Ein Posten 
im italienischen Kriege von 1859), welches sich mit unserem sehr stark berührt 
an Stelle des Vaters (Sohnes) jedoch die Geliebte einsetzt, welche der Posten tötet. 







Das Zersingen der Volkslieder 


143 


Soldatenlied und ist dennoch, wie alle Kriegslieder, während des 
Weltkrieges auch von Mädchen gesungen worden. 

Wir sehen: bei genauerem Eingehen in die Theorie der Iden“ 
tifizierung sprechen so viele Gründe dagegen, daß wir abbrechen 
mit der Überzeugung, einen falschen Anfang gemacht zu haben. 
Das Phänomen der Identifizierung, welches wir zuerst als unbe“ 
deutend bezeichnet haben, das dann für uns Bedeutung gewonnen 
zu haben schien, hat sich am Ende als ebenso kompliziert erwiesen, 
wie das des Zersingens selbst. Wir haben als Ergebnis unseres 
ersten Versuches nur eines, daß wir zu dem ersten Rätsel, welches 
wir zu lösen unternommen, noch ein zweites gefunden haben. 
Ich glaube aber, daß dieser Anfang doch wertvoll war, weil er uns 
zeigte, daß wir die Lösung des Problems des Zersingens im Psyche 
sehen suchen müssen. Lassen wir also die Frage nach der Identi“ 
fizierung zunädist unbeantwortet und suchen wir tiefer in die Psyche 
des Sängers und Dichters einzudringen. 

Psychische Quellen der Dichtung. 

Das erste Kapitel hat uns die Erkenntnis gebradit, daß das 
Volkslied in einem viel engeren Zusammenhänge mit dem Bewußt“ 
sein des Sängers steht, als man sonst anzunehmen geneigt ist. Der 
Zusammenhang zwischen Gedicht und Seele des Dichters ist zwar 
immer anerkannt worden, daß er aber so fein ist, wie er nach der 
Betrachtung der ersten Singarten erscheinen muß, ist kaum bewußt 
gewesen. Er bleibt auch nur so lange bestehen, als das Kunstwerk 
in seiner Form beweglich bleibt. In dem Augenblicke, in welchem 
die Form erstarrt, löst sich derselbe, da das Lied nicht mehr die 
Wandlungen der Bewußtseinslagen mitmachen kann. Eigentlich bin 
ich der Lösung meines Problems schon recht nahe gekommen. Denn 
wahrscheinlich sind die Änderungen der Lieder nur Folgen der Än= 
derung unserer Bewußtseinslagen. Es handelt sich eigentlich nur 
mehr darum, den Zusammenhang, seine Art, zwischen Bewußtseins“ 
läge und Dichtung festzustellen. Ist die Art dieser Relation festge“ 
stellt, dann ist eine Erklärung der Singarten möglich. Um diese so 
wertvolle Relation zu finden, begeben wir uns auf kurze Zeit in 
das Gebiet der Psychologie, 

Idh hätte also die Entstehung des Kunstwerkes aus der Be“ 
wußtseinslage des Dichters zu erklären. Es ist schwer für solche 
Spekulationen einen Anfang zu finden, von Axiomen auszugehen ist 
unmöglich und doch müssen die ersten Sätze jedermann evident sein. 
Ich will folgendermaßen beginnen: Niemand wird bestreiten, daß das 
künstlerische Schaffen eine menschliche Handlung ist, Grundlage aller 
Handlungen ist aber ein Streben nach Entfernen von Unlust, be“ 
ziehungsweise nach Schaffung von Lust, wobei nicht vergessen werden 
darf, daß Unlust aus einer gegebenen Bewußtseinslage entfernt, be“ 
ziehungsweise Lust aus einer solchen, durch Veränderung derselben 






144 


Dr. Hermann Goja 


geschaffen werden soll. Nehmen wir nun eine solche Bewußtseins» 
läge an, so ist das Streben zunächst ein Wunsch, ein Drang nach 
Veränderung der Bewußtseinslage, es wird zum Willen, wenn mit 
ihm die Vorstellung eines Zweckes, eines Zieles verbunden ist. Zweck 
ist dabei der Vorgang, Zustand, durch dessen Eintreten, Herbei* 
führen, die in der gegenwärtigen Bewußtseinslage enthaltene Unlust 
entfernt, vermindert, die in derselben enthaltene Lust erhalten, be» 
ziehungsweise gesteigert wird. Die Mittel zur Erreichung des Zweckes 
werden durch Überlegung, welche durch die Erfahrung unterstützt 
wird, gefunden. Diese Überlegung erzeugt verschiedene Willens» 
impulse, aus welchen durch Verdrängung aller bis auf einen der 
Willensentschluß entsteht, dem dann die Willenshandlung entweder 
sofort oder nach Ablauf einer Zeit folgt. Die Willenshandlung reali» 
siert dann die zuerst als Zweck vorgestellte Bewußtseinslage. 

Was ich bisher dargestellt habe, ist nichts anderes als der psyxhi» 
sehe Prozeß der Veränderung einer gegebenen Bewußtseinslage durch 
Willenshandlung. Ich setze nun den Fall: der vorgestellte Zweck ist 
unerreichbar, die Zielvorstellung nicht realisierbar, im einfachsten Falle 
deshalb, weil äußere Umstände die an und für sich mögliche Willens* 
handlung verhindern, im schwersten Falle deshalb, weil sich der 
Ausführung der Willenshandlung innere Widerstände entgegenstellen. 
Die Überlegung beginnt dann von neuem. Sie sucht neue Mittel 
zur Verwirklichung der Zielvorstellung zu finden. Sie werden ge* 
funden und die Willenshandlung setzt ein, die wieder scheitert. Neues 
Suchen usw. Die Folge dieser Anstrengungen ist ein Zustand der 
Erschöpfung, verursacht durch anhaltendes Nachdenken, verbunden 
mit einer in einseitiger Richtung verlaufenden Erregung des Repro* 
duktionsverlaufes, also ein Zustand, welchen die Entstehung von 
Halluzinationen und Illusionen zur Voraussetzung hat. Mit anderen 
Worten: Ist eine Zielvorstellung durch Willenshandlung nicht reali* 
sierbar, dann kann sie durch eine Halluzination, beziehungsweise in be» 
sonders günstigen Fällen durch eine Illusion verwirklicht werden. 
Denn die Halluzinationen und Illusionen haben für ihre Dauer 
dieselbe Realität als eine durch Willenshandlung geschaffene Wirk* 
lichkeit. Selbstverständlich ist eine auf der beschriebenen Grundlage 
entstandene Illusion im allgemeinen deutlicher als eine Halluzination, 
da die mit der Illusion verbundene Organempfindung den Schein 
der Realität verstärkt 1 . Die Illusion kann nun des Charakters des 
Zufälligen dadurch entkleidet werden, daß der zu ihrer Entstehung 
notwendige äußere Reiz von dem Individuum bewußt oder unbe- 
wußt selbst geschaffen wird. Das Wesen der Kunst besteht nun 
darin, daß sie, um ein Streben zu befriedigen, durch reflexive lätig» 
keit des Bewußtseins zunächst eine Ziel Vorstellung schafft und diese 
Zielvorstellung durch Herstellung äußerer Reizquellen zur Illusion 


i Vgl. zu dem oben Gesagten Jodl, Lehrbudi der Psychologie, VII, 1, 2, 19 
XII, 1, 6, 8, 10, VIII, 12, IV, 16. 









Das Zersingen der Volkslieder 


145 


erhebt. Das Kunstwerk ist dabei nur die Reizquelle, welche bei ent¬ 
sprechender Bewußtseinslage die Entstehung einer Illusion ermöglicht 1 . 

Ich will diesen psychologischen Prozeß an einem Beispiel ver- 
anschaulichen. Ein Jüngling lebe getrennt von der Geliebten, was 
für ihn Ursache einer unlustbetonten Bewußtseinslage ist. Das Schmerz- 
gefühl erzeugt das Streben nach Entfernung der Unlustquelle aus 
der Bewußtseinslage. Das Streben schafft zunächst eine Zielvorstellung: 
Beisammensein mit der Geliebten. Die Überlegung, welche sich an diese 
Vorstellung anschließt, zeigt, daß ein Zusammenkommen unmöglich 
ist, führt zur Erschöpfung und damit zur Halluzinierung der Ziel¬ 
vorstellung, In der Halluzination ist der Jüngling mit der Geliebten 
vereinigt, im Gespräch mit derselben. Dieses Gespräch führt er, wie 
bei jedem realen Beisammensein <die Halluzination hat ja für ihn 
Realität), laut und damit schafft er eine äußere Reizquelle, welche 
die Hallunzination zur Illusion steigert. Das Gespräch in der Illusion 
ist aber eine Urform des Liedes, die Anrede an die Geliebte schon 
ein häufiger Inhalt des Liebesliedes. Welcher Art immer dann das 
so geführte Gespräch sein mag, es ist Befriedigung eines sonst un¬ 
erfüllbaren Strebens. 

Noch eines bleibt klarzustellen: Die Entstehung der Zweck¬ 
vorstellung. Ich habe bisher dieselbe als selbstverständlich hingenommen, 
mich aber um das Woher derselben gar nicht gekümmert. Nehmen 
wir wieder als Ausgangspunkt eine unlustbetonte Bewußtseinslage 
und verfolgen den psychischen Prozeß von diesem Anfänge bis zur 
Zweckvorstellung. Die angenommene Bewußtseinslage löst dann ein 
Streben aus, welches, da es noch nicht von einer Zielvorstellung ge¬ 
leitet ist, als Wunsch 2 anzusprechen ist. Die durch den Wunsch aus¬ 
gelösten psychophysischen Kräfte bewirken nun einen Assoziations¬ 
verlauf, mit dessen Hilfe alle jene Elemente erinnert werden, welche 
infolge der Wirksamkeit der Assoziationsgesetze an die gegebene 
Bewußtseinslage angeknüpft werden können. Es werden aber nicht 
Vorstellungen erinnert, welche mit den gegebenen, in der Be¬ 
wußtseinslage enthaltenen Empfindungen und Vorstellungen allein 
Ähnlichkeit usw. besitzen, sondern nur solche Vorstellungen, weldie 
auch die sie begleitenden Gefühle, Strebungen usw. gleich mit den 
in der Bewußtseinslage enthaltenen Empfindungen und Vorstellungen 
haben. Das ist eigentlich selbstverständlich und doch wurde dieses 
Selbstverständliche vergessen in Betracht zu ziehen, als man auf 
Assoziationen stieß, welche Volkslieder untereinander verknüpften 
und doch keine äußere Ähnlichkeit besaßen. 

Da eine klare Einsicht in den Assoziationsverlauf für das Ver¬ 
ständnis des Zersingens unbedingt notwendig ist, will ich das Be- 

1 Für genaue Untersuchungen des Kunstphänomens ist es höchst wichtig, 
immer als Verschiedenes auseinanderzuhalten : 1. die Bewußtseinslage des Schaffen¬ 
den oder Nacherlebenden, 2. die Reizquelle, d. i. das Kunstwerk, 3. die künstlerische 
Illusion. 

2 JodI, Lehrbuch der Psychologie, VII, 19. 

Imago VJ/2 







146 


Dr. Hermann Goja 


schriebene noch weiter aufzuhellen versuchen. Beobachten wir einen 
Assoziationsverlauf, etwa eine Kette von Bildern und bezeichnen 
das erste Bild dieser Reihe mit a lf das zweite mit a 2 , das nte mit 
a n , so sind wir gewohnt die für die Assoziation nach Gleichheit, 
Ähnlichkeit usw. erforderlichen Gleichheiten usw. zwischen aj und a 2 , 
a 2 und a 3 zu suchen, wobei alle Glieder der Reihe entweder von 
der erregenden Vorstellung einzeln noch gebunden sind, also einen Ring 
um dieselbe bilden oder sich, abgesehen von dem ersten Elemente 
der Reihe, auseinander entwickeln und also eine von der erregenden 
Vorstellung aus fortlaufende Reihe bilden. Solche Assoziztionen 
nennen wir gebunden. Finden wir bei einer Reihe von aus dem Ge® 
dächtnis aufsteigenden Vorstellungen aber keine Ähnlichkeit, so be® 
zeichnen wir diese Vorstellungen als ungebundene, freisteigende Asso® 
ztationen 1 . Ich sage aber: ein Assoziationsverlauf ist nicht zu prüfen 
auf die zufällige Gleichheit oder Ähnlichkeit der ihn bildenden Vor® 
Stellungen, sondern nach den diesen zugrundeliegenden Wünschen. 
Es ist also ai zurückzuführen auf einen in ihm enthaltenen Wunsch 
Wj, a 2 auf w 4 , a„ auf w n und die Assoziationskette ai . . . a n auf 
die Gleichheit, Ähnlichkeit usw. der Wünsche W] . . . w n zu unter® 
suchen. Es ergibt sich dann eine bedeutend größere Zahl gebundener 
Assoziationen als wir gewöhnlich annehmen. Es wird sich sogar im 
weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen, daß die Annahme frei® 
steigender Assoziationen überhaupt abzulehnen ist, daß vielmehr alle 
Assoziationen in Abhängigkeit von bewußten oder unbewußten 
Wünschen und Gedanken zu setzen sind. 

Der durch ein Streben erregte Assoziationsverlauf endet aber 
nicht mit der Erinnerung von Bewußtseinslagen mit gleichem oder 
ähnlichem Streben, er hebt noch jene Bewußtseinslagen aus dem Ge® 
dächtnis, in denen das Streben befriedigt erscheint. Die Summe der 
psychischen Zustände und Vorgänge vom Entstehen eines Wunsches 
bis zu dessen Befriedigung bildet ja eine Einheit. Es ist selbstver® 
stündlich, daß die Reihe der Wunschbefriedigungen noch weniger 
Ähnlichkeit besitzen wird, als die Reihe derjenigen Bewußtseinslagen, 
in welchen das gleiche Streben als Teil enthalten ist. Aus den so 
erinnerten Bewußtseinslagen baut dann das reflexive Bewußtsein 2 
die Vorstellung einer Bewußtseinslage auf, welche das in der gegen® 
wärtigen Bewußtseinslage enthaltene Streben befriedigt enthält und 
diese Vorstellung ist die Zielvorstellung, deren Entstehen wir er® 
kennen wollten, 

Damit habe ich mir die Grundlage geschaffen, auf der ich 
meine Theorie des Zersingens aufbauen will. Ist nämlich die Kunst 
nichts anderes als Befriedigung eines Strebens durch Illudierung der 
Zielvorstellung, das Lied nichts anderes als die Reizgrundlage dieser 
Illusion, dann ist das Zersingen der Volkslieder nichts anderes als 


1 Vgl. jodl, Lehrbuch der-Psychologie, VIII, 54. 

2 Ebenda, III, 63.' 









Das Zersingen der Volkslieder 


147 


eine Änderung des Liedes infolge Änderung des ihm zugrunde^ 
liegenden Wunsches. Wir werden sehen, daß dieser Satz noch stark 
ergänzt werden muß, um zu einer Definition des Zersingens zu 
werden. Es wird sich auch zeigen, daß auch das Dichten ein viel 
zusammengesetzterer Prozeß ist, als eine einfache Illudierung einer 
Zielvorstellung. Für den Augenblick seien wir aber zufrieden, dieses 
Fundament gebaut zu haben und gehen zur Betrachtung einiger 
Lieder über, welche die wunscherfüllende Tendenz der Dichtung 
bestätigen. 

Beispiele. 

Um die wunscherfüllende Tendenz der Dichtung nachzuweisen, 
wähle ich zunächst ganz einfache Beispiele, Lieder, deren Diditer 
und Sänger noch ein verhältnismäßig einfaches Bewußtsein besessen 
haben. Aus Liedern komplizierten Bewußtseins, in denen gleichzeitig 
mehrere Wünsche enthalten sind, welche alle in das Lied eintreten 
und sich dabei gegenseitig beeinflussen, die Bestätigung der ent® 
wickelten Theorie zu holen, wäre schwer. Nehmen wir daher jene 
Lieder aus den Anfängen der Kunstlyrik, welche wir als die ältesten 
anzusprechen pflegen. Wohl sind diese Lieder Kunstlieder, keine 
Volkslieder, sie sind aber ihrem Ursprung, der Volkslyrik, noch so 
nahe, daß man sie hier betrachten kann. Außerdem gilt die behauptete 
Tendenz für jede Dichtung, also für die Kunstlyrik ebenso wie für 
die Volksdichtung. 

Vogt charakterisiert diese Anfänge folgendermaßen 1 <und zwar 
zunächst die Lyrik des Kürenbergers): »Die Gattung der Liebes- 
botschaft ist mehrfach vertreten, und wie sie Gelegenheit bietet, auch 
den Empfindungen der Frau Ausdruck zu leihen, so werden denn 
nach dieser Analogie auch andere, monologische Strophen der Lie¬ 
benden in den Mund gelegt. Die Sehnsucht nach dem entfernten 
Geliebten, die Trauer über seine Entfremdung spricht sich dabei in 
so schlichter Naturwahrheit aus, daß man wirklich auf weibliche 
Autorschaft schließen möchte, wenn nicht andere Sänger dieser Zeit 
in ganz gleichartigen Liedchen die Frau ausdrücklich erst redend ein* 
führten, und wenn nicht der Kürnberger selbst gelegentlich in der Dar¬ 
stellung weiblichen Empfindens doch deutlich die männliche Auffassung 
verriete.« Einen Satz später schreibt er wieder: »Hingebende Sehn= 
sucht und ängstliche Sorge um das Bestehen der Liebe werden nur 
als Empfindungen des Weibes dargestellt. Das gilt für Kürnbergers 
Lieder und für die älteste nationale ritterliche Lyrik überhaupt, wie 
sie uns noch in einigen anonymen Liedern usw. entgegentritt.« Die 
in diesen Sätzen ausgesprochene Auffassung des ältesten Minne¬ 
sangs dedet sich mit der heute allgemein üblidien vollständig. Dieser 
Inhalt der ältesten Minnelieder ist auffallend. Er ist die liebende 


1 Friedr. Vogt in P. Gr., II, 1, S. 178, 


io* 






148 


Dr. Hermann Goja 


Frau. Und die Lieder stammen von Männern. Ist hier nicht die 
von mir erschlossene Wunschgrundlage vorhanden? Der Mann 
wünscht, die Frau möge ihn lieben. Die Illusion der Dichtung 
realisiert den Wunsch. Die Frau offenbart in dem Liede ihre Liebe. 
Ich könnte mich damit zufrieden geben. Die älteste Kunstlyrik ist 
WunscherFüllung. Ich will aber doch ein Beispiel anführen, um diese 
theoretischen Erörterungen zu beleben: 

»Mich dunket niht so guotes noch so lobesam 
10 so diu liehte rose und diu minne mines man. 

diu kleinen vogellin 

diu singent in dem walde: dest tnenegem herzen liep, 

24 mim kome mtn holder geselle, in hän der sumerwunne niet!«' 

»Mir dünkt nichts so gut und lobesam wie die lichte Rose und die 
Minne meines Mannes. Die kleinen Vöglein singen im Wald: das 
ist manchem Herzen lieb. Wenn mein trauter Gesell nicht kommt, 
so hab ich keine Sommerfreude.« 

Viele dieser alten Lieder bieten der Interpretation als Wunsch® 
erfüllung keine Schwierigkeiten. Es wäre aber Entstellung des Sach® 
Verhaltes, wenn man die Lieder verheimlichte, die sidi einer solchen 
Deutung wiedersetzten. Ich gebe für diese ebenfalls ein Beispiel: 

Waere diu werlt alliu min 
von dem mere unz an den Rin, 
des wolt ich mich darben, 
io daz diu künegin von Engellant 
laege an minen armen 1 2 

»Wäre alle Welt vom Meer bis zum Rhein mein, der wollt ich 
entbehren, wenn dafür die Königin von England an meinen Armen 
läge«. Das Lied ist in dieser Fassung Ausdruck eines Wunsches, 
aber keine Wunscherfüllung. Nun hat der Text dieses Liedes eine 
Lesart. In der Handschrift stand nämlich ursprünglich als Zeile 10: 
daz dhunich von engellant lege,« chunich wurde dann durchstrichen 
und von späterer Hand durch diu chünegin ersetzt 3 . Läßt man diese 
ältere Schreibung gelten, dann läßt sich das Liedchen als Frauen® 
Strophe auffassen und den ersten Beispielen anreihen. Es fiele 
wieder in den Rahmen der wunscherfüllenden Dichtungen. Dann 
bietet sich aber eine neue Schwierigkeit. Es wäre dann Engellant 
zu erklären. Gegenwärtig bezieht man die Königin von England 
auf Alienor von Poitou 4 . Der König von England müßte erst ge= 
sucht werden. Ich werde später Engellant zu interpretiei en ver® 
suchen, wann ich die wunscherfüllende Tendenz des Liedes auch in 


1 Friedr. Vogt, Des Minnesangs Frühling 3, 18 (.S. 3). 

* Ebenda, 3, 7 <S. 3>. 

5 Ebenda, 3, 10 Anmerkung. 

4 Ebenda, Anmerkung zu 3, 7. 





Das Zersingen der Volkslieder 


149 


der gegenwärtig beliebten Fassung nadiweisen werde. Jetzt müssen 
wir das Lied fallen lassen mit der Erklärung, daß wir in ihm keine 
Wunscherfüllung eiblicken können. 

Ich gebe als drittes Beispiel dieser ältesten Gattung das Liedchen 
der Carm. Bur. 1 : 

Swaz hie gat umbe 
daz sint allez megede, 
die wellent äne man 
alle disen sumer gän. 

»Was hier umgeht, sind alles Mädchen, die wollen ohne Mann 
diesen Sommer gehn«. Golther hält diese Zeilen für eine Trutz« 
Strophe der Mädchen, welche sich den Burschen versagen. Sie 
können aber ebensogut von einem Goliarden stammen und ironi® 
sehen Sinnes sein: Alle diese Mädchen sträuben sich zwar äugen® 
blidklich sehr gegen die Liebe eines Mannes, werden ihr aber doch 
bald erliegen. Diese Tatsache, welche nur im Gehirn des Sängers 
besteht, ist dann wieder Wunscherfüllung. 

Mögen diese Beispiele dazu dienen, zu beweisen, daß die 
älteste Liebeslyrik Wunscherfüllung gewesen ist 2 . Zu der ältesten 
Lyrik gehören aber noch die Hochzeitsgesänge. Lieder bei der Hoch® 
zeitsfeier zu singen ist den Brautleuten unmöglich: die Wünsche, 
welche sonst die Dichtung erfüllen muß, erfüllt ihnen die Wirklich® 
keit. Trotzdem singt die Braut. Am meisten singen aber die Fest® 
teilnehmer. Den Sinn dieser Hochzeitslieder mögen einige Beispiele 
offenbaren: 

1 . Vexirt die Jungfer Braut! 

Sie hat es wohl verdienet. 

Denn sie hat sich erkühnet 
Bei einem Junggesellen 
Sich gestern einzustellen. 

2. Vexirt die Jungfer Braut! 

Denn sie ist mit Verlangen 
Mit ihm zu Bett gegangen, 

Und hat mit ihm geschlafen, 

Drum müssen wir sie strafen, 

3. Vexirt die Jungfer Braut! 

Und hört nicht auf zu fragen, 

Sie muß nun alles sagen, 

Wie sich die Sache reimet 

Und was sie hat geträumet 3 . usw. 


1 Carm. Bur. 129 a . Friedr. Vogt, Des Minnesangs Frühling, S. 261. 

J Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß auch die Tagelieder ebenso wie 
die in dem Texte angeführten Frauenstrophen Wunscherfüllung sind. Der in ihrem 
Inhalte dargestellte Abschied der Liebenden hat die Wunscherfüllung zur Voraus® 
Setzung. 

3 Erk'Böhme, Deutsdier Liederhort, II, 875 b. 






150 


Df. Hermann Goja 


Der Wunsch, der den Liedern dieser Art zugrunde liegt, ist der 
sexuelle. Die jungen Sänger müssen sonst ihre sexuellen Wünsche 
unterdrücken. Gesellschaftliche Schranken verhindern sonst die öffent= 
liehe Beschäftigung mit dem Erotischen, Auf dem Hochzeitsfest be¬ 
schäftigt sich die Gesellschaft selbst öffentlich damit und das gibt den 
Jungen die Möglichkeit, ihre Libido zu entladen. Diese Lieder sind 
Wunscherfüllung. 

Wunscherfüllung ist auch die von Liedern begleitete Symbol¬ 
handlung, welche den Höhepunkt des Hochzeitsfestes bildet, das 
Hauben der Braut. Die Braut wird dabei ihres jungfräulichen 
Schmuckes, des Kranzes etc. entkleidet und mit der Haube, dem 
Symbol der Frau bedeckt. Die ganze Handlung ist ein Deflorations^ 
symbol. Die Lieder, welche diese Handlung begleiten, sind entweder 
Jubellieder oder fein ironische Klagelieder, wie z. B. das folgende: 

1. Braut, wo ist dein Kränzlein hin? 

Es stand gar zu niedlich grün,- 
Ach das Kränzchen geht dir nah. 

Es ist leider nicht mehr da. 

2. Kränze stehen zwar sehr schön 
Doch die stets im Kranze gehn 
Werden öfters ausgelacht, 

Drum, o Kränzchen, gute Nacht! 


5. Erstlich liegst du nicht allein. 

Anders schläfst du nicht bald ein. 

Dann erwärmest du dich bald. 

Ist es gleich im Winter kalt. 1 usw. 

Auch sie erfüllen sexuelle Wünsche, indem sie die Beschäftigung 
mit dem Geschlechtlichen erlauben. 

Eine andere Gruppe von Liedern bilden diejenigen, welche 
die Gespielinnen beim Abschied von der Braut singen. Es sind 
traurige Lieder. Sie sind es, weil sie in einer unlustbetonten 
Situation gesungen werden und weil den Sängerinnen der Liebes* 
genuß, den die Braut erwartet, noch versagt ist. Die Lieder stellen 
den Ehestand als nicht wünschenswert hin, weil er viel Plagen und 
Sorgen bringe, infolgedessen den ledigen Stand als Wunscherfüllung. 
Die unlustbetonten Vorstellungen der ehelichen Sorgen übernehmen 
die Motivierung der Unlustgefühle der Mädchen und steigern damit 
die wunscherfüllende Illusion, welche im Liede selbst nicht erzeugt 
wird. Dieser Charakter der Pflichtenlieder, wie sie Böckel 2 nennt, 
würde auch bei den von ihm angeführten Beispielen besser erkenn* 
bar sein, wenn er sie vollständig wiedergegeben hätte. Gewiß fehlen 

1 Erk^Böhme, Deutscher Liederhort, II, 873. _ . f n 

2 Ich werfe absichtlich die Abschiedslieder der Gespielinnen (Böckel, Psycno» 
logie der Volksdichtung, S, 396 ff,) und die Pflichtenlieder (ebenda S. 401 ff,) zu~ 
sammen, da sie vom psychologischen Standpunkte aus Eins sind. 









Das Zersingen der Volkslieder 


151 


moralisierende Lieder nidit, welche von Lehrern und Geistlichen 
stammen 1 und das Merkmal der Wunscherfüllung nicht an der 
Stirne tragen. Diese Lieder sind dann entweder keine Dichtungen, 
sondern Belehrungen in poetischer Form oder sie haben ebenfalls 
ihre wunsherfüllende Tendenz, nur besser überlagert als die Lieder 
der Jugend. 

Die letzte Gattung Hochzeitslieder sind die Abschiedslieder der 
Braut. Das sind jene Lieder, welche die Braut selbst singt. Der 
psychische Prozeß, welcher sich beim Singen dieser Lieder abspielt, 
ist die Verdrängung einer unlustbetonten Bewußtseinslage <die des 
Abscheidens) durch eine lustbetonte <die des Sexuellen). Ich gebe für 
diese Gattung ein Beispiel: 

1. Ich sollt einmal den Berg umgehn, 

Ich sah mein Herzliebchen am Weg da stehn. 

Ich grüßt es jetzt, es dankt mir zwier: 

»Ach einzig Herzliebchen, wohl ist es mir.« 

5 Refr.: Ich soll hinweg, ich muß davon 

Der lieb Gott weiß, wann ich wiederkomm! 

Ach, wann werd ich wiederkommen? 

Wann die schwarzen Raben weiße Federn haben. 

2 . Ich sah zwei Rosen in des Vaters Hand: 

»Ach einzig lieber Vater, lang mir eure Hand!« 

Ich sah zwei Rosen in der Mutter Hand: 

»Ach einzig lieb Mutter, lang mir eure Hand!« 

Refr.: Ich soll hinweg usw. 2 

Das Lied setzt mit der Illusion des Geliebten ein, beginnt 
also sofort mit dem Verdrängungsvorgang, Wie dieser sich erfolg¬ 
reich in der zweiten Strophe fortsetzt, werde ich später zeigen. 

Wunscherfüllungen sind auch die Totenklagen 3 , Der Wunsch, 
der sich an der Leiche eines geliebten Menschen regt, ist wohl der, 
daß er noch lebe, und er beginnt in der Totenklage wieder zu leben. 
Besonders leicht erkennbar ist bei dieser Gattung die Gleichheit der 
ihr zugrundeliegenden Bewußtseinslage mit derjenigen, weldie kh als 
Voraussetzung für die Entstehung eines Kunstwerkes abgeleitet habe: 
Erschöpfung infolge der bei solchen Fällen selbstverständlichen Auf= 
regung und Einschränkung des Reproduktionsverlaufes auf eine Bahn, 
auf die Beschäftigung mit dem Toten. In diesen Klagen wird denn 
auch der Verstorbene angerufen, angesprochen, wie man einen 
Lebenden ansprechen kann. Die beliebteste Form dieser Anrede ist 
die Frage 4 an den Toten, aus welcher sich der Vorwurf entwickelt, 
daß der Tote wider Pflicht oder Vernunft das Leben verlassen habe. 


1 Vgl. Erk'Böhme, Deutscher Liederhort, II, 867/ II, 868. 

* Ebenda, II, 877/ vgl. S. 229, Anm. 1. 

3 Vgl. Böckel, Psychologie der Volksdichtung. Aditer Abschnitt. 

* Vgl. ebenda, S, 130, 







152 


Dr. Hermann Goja 


In den Totenklagen führen aber die Hinterbliebenen ganze Gespräche 
mit dem Verschiedenen, an welchen sich derselbe beteiligt. Auch An¬ 
reden des Toten an die Trauernden kommen vor. Bei dieser Gattung 
Volkspoesie zeigt sich, daß die Form ebenso wichtig ist, wie der 
Inhalt. Nur aus dem Studium der Form kommt man zum Ver¬ 
ständnis der Gattung. 

Die Einsicht in das Wesen der Totenklagen wird erschwert 
durch die Entwicklung, welche diese Gattung genommen hat. Die 
Totenklage wird in späterer Zeit nicht mehr von den Angehörigen, 
sondern von Klageweibern gesungen. Der Wunsch, welcher die 
Totenklagen geschaffen hatte, besteht für diese nicht. Das poetische 
Element schwindet daher aus der Gattung, ein verstandesmäßiges 
springt dafür ein. Der Inhalt der Klagen werden Lobpreisungen des 
Toten, Verherrlichungen seiner Tugenden und Taten. Die Toten« 
klagen Attilas 1 und Beowulfs 2 , deren Inhalte uns überliefert sind, 
stehen auf dieser Stufe. Diese Gattung ist vielleicht die einzige, 
welche ursprünglich allein von Frauen gepflegt wurde. Das ist 
sicherlich im Zusammenhang mit dem Charakter der Frau, der 
Kind und Gatte näher steht als dem Manne die Geliebte. 

Damit ist auch für diesen Zweig der Volkspoesie die wünsch«- 
erfüllende Tendenz erwiesen. Ich hätte noch von den ältesten 
Gattungen die Hymnen« und Heldenpoesie zu analysieren 3 . Ich 
tue dies nicht. Summarisch ist der Nachweis nicht überzeugend zu 
erbringen, einzeln ihn zu erbringen fehlt der Raum. Ich weise nur 
flüchtig auf das Nibelungenlied hin, welches allgemein das Lied der 
Weibertreue heißt und in Krimhild das Wunschweib der Germanen 
geschaffen hat, und auf Parzifal, die große Wunschdichtung des 
Mittelalters, in welcher alle Wünsche zur Ruhe gelangen. Ist doch 
der heilige Gral das Wunschding, das alle Wünsche befriedigt, und 
kommt doch der Mensch am Ende der Fahrt immer zur Burg der 
Tempieisen, wenn dies Schlaraffenland altheidnischer Dichtung auch 
nichts anderes ist als Avelun, das Reich der blühenden Apfelbäume, 
das Reich der Toten. 

Damit ist der Zweck der Einleitung erfüllt. Sie hatte den einen, 
jene Hilfe zu schaffen, mit der das Phänomen des Zersingens er¬ 
klärt werden kann. Diese Hilfe ist die Erkenntnis der psycholo« 
gischen Ursache der Dichtung. Ich könnte damit schließen, will aber 
noch auf das offen gelassene Problem der Identifizierung zurück« 
kommen. Analysieren wir jetzt das Liedchen: »Und wann i mei 
Häusel verkauf',« so müssen wir den in ihm enthaltenen Wunsch 
aufsuchen. Es ist, wenn die Strophe von Burschen gesungen wird, 
der, assentiert zu werden. Das Lied erfüllt diesen Wunsch. Singt 


1 Vgl. Pauls Grundriß, II, 1, S. 42. 

2 Ebenda, S. 43. 

s Die wunscherfüllende Tendenz der Zaubersprüche nachzuweisen, ist über« 
flüssig. Durch die Dichtung derselben schafft sich der Mensch ein Mittel, seine 
Wünsche zu befriedigen. 














Das Zersingen der Volkslieder 


153 


ein Mädchen das Lied, so liegt ihm derselbe Wunsdi zugrunde. Das 
Mädchen wünscht ebenfalls die Assentierung des Burschen, die Lied= 
illusion zeigt auch ihm den Wunsch erfüllt 1 . Die zu künstlerischer 
Wirkung notwendige Identität ist also eine der Wünsche, und zwar 
die Gleichheit der in dem Liede und der in der Bewußtseinslage 
des Sängers enthaltenen Strebungen 2 . Damit kann ich schließen 
und an die Lösung des vorgestellten Problemes treten, an das des 
Zersingens 3 . 

Die Verdichtung. 

Wir haben in den ersten Kapiteln erkannt, daß jedem Liede 
ein Wunsch zugrunde liegt, welcher in der durch das Lied erregten 
Illusion seine Befriedigung findet. Wir wollen, um uns die folgenden 
Erörterungen zu erleichtern, den Liedwunsch auch latenten Inhalt 
des Liedes, den äußeren, sinnlich wahrnehmbaren Teil des Liedes 
<den Inhalt des Liedes) als manifesten Inhalt desselben bezeichnen 4 . 
Wir führen diese Bezeichnung ein, um die Möglichkeit von Ver* 
Wechslungen auszuschalten, weil wir erfahren haben, daß der Lied* 
wünsch <der latente Inhalt des Liedes) nicht mit dem manifesten 
Liedinhalt übereinstimmt. Beklagten doch die Gespielinnen z. B. die 
Braut, daß sie in das eheliche Joch eintreten müsse, während sie 
selbst die Freuden der Ehe wünschten. Wir werden sehen, wie 
vorteilhaft diese strenge Scheidung von latentem und manifestem Lied* 
inhalte ist. 

Ich beginne nun die Analyse einiger Fälle des Zersingens und 
eröffne die Reihe mit einem Beispiel der Verdichtung. Mit Verdich* 
tung bezeichne ich jene Form des Zersingens, in welcher mehrere 
Lieder zu einem neuen zusammengesungen werden 5 . 

Als Beispiel wähle ich das Lied »Sarajevo an der Drina«, 
eines der beliebtesten Lieder in der alten österreichischen Armee, 
das ich mit seinen Quellen folgen lasse: 

1 Der Wunsdi beider entstammt dabei dem Sexuellen. Die Assentierung 
hat auf dem Lande Zuchtwahlbedeutung. <Das im Text und Anmerkung Gesagte 
gilt dabei nur für die Vorkriegszeit.) 

«Es würde zu weit von der Untersuchung des Zersingens abführen, wollte 
man genauer auf das Problem der Identifizierung eingehen. Die Frage der Ein* 
fühlung bängt mit diesem Probleme zusammen. 

3 Die Auffassung der Diditung als Wunsdierfüllung vertritt auch die Psycho* 
analyse Freuds, die ich später noch heranziehen werde. 

* Der manifeste Inhalt des Liedes ist dabei das Kunstwerk, der latente die 
Bewußtseinslage des Dichters und Sängers. Die Terminologie wähle idi aus Freuds 
»Traumdeutung«, wo sie zum Zwecke der Traumanalysen mit Vorteil angewendet 
wird. Der manifeste Trauminhalt <das Traumbild) entspricht dabei dem mani= 
festen Liedinhalte, der latente Trauminhalt (der Traumwunsdi) dem latenten 

5 Bruinier bezeichnet dieselbe Erscheinung Zusammensingen. Vgl. das 
deutsche Volkslied, S. 29, Über die psychische Bedeutung der Verdichtung siehe 
Freud, Traumdeutung, S. 208. 








154 


Dr. Hermann Goja 


I 

A J . 

1. Sarajevo an der Drina, 

Bei heller Mondesnacht, 

Stand ein tapferer Vierundzwanziger 
Als Vorpost treue Wacht. 

5 2. Eine Kugel kam geflogen. 

Ein jeder fühlt den Schmerz, 

Und er liegt im Feindeslande 
Getroffen durch das Herz. 

3. An seiner Seite lieg' ich, 
io Sein treuer Kamerad. 

Ja, du warst mein liebster Bruder, 

Der mir am Herzen lag, 

4. Nimm hin den Ring vom Finger 
Und alle meine Briefe, 

15 Die im Tornister sind. 

Übergib sie meinen Eltern, 

Die in der Heimat sind, 

5. Und soll dich jemand fragen 
Wo ich geblieben bin, 

20 So sag, ich bin geblieben 

Sarajevo an der Drin. 

6 . Sarajevo an der Drina, 

Bei heller Mondesnacht 

Stand ein tapferer Vierundzwanziger 
25 Als Vorpost treue Wacht. 

7. Sonne, Mond und Sterne, 

Die leuchten hell und fein. 

Sie leuchten den Soldaten 
Ins kühle Grab hinein. 

B l In Rußland an der Grenze 2 hellem Mondesschein 3 Stand ein Vier- 
undzwanzigerschütze 4 Am Posten ganz allein. Zwischen 4 und 5 : 

Er schaut mit düstern Blicken 
Hinein in die finstere Nadrt, 

Und hielt als tapferer Vorpost 
Getreulich seine Wacht. 

Da kamen die Kosaken 

In das bedrohte Land- 

Dort, wo Österreichs Brüder kämpften, 

Da gab es Blut im Land, 

Schütze, welchen 8 das > sein 9 seinem Leibe kniete 10 bester 11 Aber 
nimm mein treuer 12 Was ich am Herzen hab, 13 fehlt. 14 Und > nimm 16 Und 
bring 17 Meinem Weib und meinem Kind. 18 Und sollten sie dann 20 So tröste 
sie und sage 21 In Rußland bei Lublin. 22—29 fehlt. 


IA bis E Fassungen des Schür 24. 










155 


Das Zersingen der Volkslieder 


C 6 Ach, Jäger, welch ein 9 lieg ich > kniete 13 fehlt, u Und > Nimm 
18 Und sollten sie 20 Nun so sag, midi habens begraben 26-29 fehlt, 

D 1 In Selvov an der Lupa 

E 4 Auf Horchpost 6 Und jener 9 kniet 11 das war 13 fehlt. 14 Und > 
Nimm 16 Und übergib 18 sollten sie dich 20 So sag, mich habens begraben 

22—29 fehlt, dafür: . _ . 

Sarajevo an der Unna 
Bei hellem Sonnenlicht, 

Du leuchtest den Soldaten 
Ins bleiche Angesicht, 

Sarajevo an der Drina 
Bei heller Mondesnacht 
Du leuchtest den Soldaten 
Ins kühle Grab hinab. 

II 

A 1 . 

1. Bei Metz wohl auf der Höhe 
Im stillen Mondenschein 
Da stand ein bayrischer Jäger 
So einsam und allein. 

5 2. Er späht mit scharfen Blicken 

Hin in die dunkle Nacht 
Und hält als wackrer Vorpost 
Getreulich seine Wacht. 

3. Auf blickt er zu den Sternen, 

10 Zum silberbleichen Mond: 

»O tragt mir Herzenswünsche 
Hin, wo mein Liebchen wohnt!« 

4. Ein Blick am fernen Himmel — 

Rings um ihn kracht es dann. 

15 Rasch schlägt der wackre Krieger 

Auch seine Büchse an. 

5. »Heraus, ihr Kameraden! 

Und spannt ihr auch den Hahn!« # 

Da stand wie hergezaubert 
20 Sein Jägerbataillon. 

6. Es stürzten die Franzosen 
Und riefen, Gnade Gott! 

»Wo Deutschlands Krieger zielen, 

Da gibts nur Blut und Tod.« 

25 7. Doch kehrt nicht aufs Kommando 

Der Jäger, welch ein Schmerz! 

Er lag im Feindeslande 
Getroffen durch das Herz. 


1 Aug. Hartmann, Histor. Volkslieder und Zeitgedichte, III, Nr. 298 <1870). 








156 


Dr. Hermann Goja 


30 8. Er hielt ein kleines Brieflein 

Fest in der kalten Hand, 

Darinnen stand geschrieben: 

Grüßt Weib und Vaterland? 

B l * i Zu Sarajevo 2 In stiller Einsamkeit 3 Stand ein sieb'nundzwanz'ger 
Jäger 4 Ganz 5 Augen n Und denkt mit Herzensgrüßen 12 die Liebste 
13 Einen Blick warf er in die Ferne 14 Ringsum, wie kracht es schon! 15—19 fehlt. 
20 Ein ganzes Bataillon. 21 die Insurgenten 23 öst'reidis Brüder kämpfen, 

24 Gibts nichts als — Zwischen 24 und 25 : 

Eff schoß der Jäger nieder 
In seiner größten Wut, 

Doch jetzt war es vorüber 
Er wälzt sich schon im Blut, 

25 Er hört 26 in sein 27 liegt in Feindes Landen 29 hält 31 darauf, da steht 
32 Grüßt mir 

C - 1 Auf Sarajevos Höhen 2 In einsam stiller Nacht 3 Hält ein Zehner* 
jäger 4 Auf Posten treue Wacht. 5—8 fehlt. 10 silberhellen 11 O trage meine 
Grüße 13 Blitz vom heitern 14 Ringsum kracht es sodann 15 Jäger 16 Noch 
17 Heraus, ihr lieben Kameraden, 18 Geschwind und spannt 19 Da standen wie 
hergezaubert 20 Sie alle Mann an Mann. 21 Insurgenten 22 Und flehn um Hilf 
zu Gott. 23 Österreichs . . . fielen, 24 gibts nur > gibt es 26 der Posten, herber 
27 liegt 29 hält 30 in seiner kalten 32 Grüße sie und mein 

III 

A 3 . 

1, Die Sonne sinkt im Westen/ 

Mit ihr entschied die Schlacht, 

Sie senkt ihren schwarzen Schleier 
Um in die kühle Nacht. 

5 2. Und mitten unter Toten 

Lag ein sterbender Soldat, 

Es kniet an seiner Seite 
Sein treuer Kamerad. 

3. Er neigt den Kopf zum Sterben 

io Und spricht: »mein Kamerad! 

Ich möcht dir gern was sagen, 

Was mir am Herzen lag. 

4. Nimm hin den Ring am Finger, 

Wenn ich gestorben bin, 

15 Und alle meine Briefe, 

Die im Tornister sind! 

5. Und soll es dich einst führen 
In die Heimat das Geschick, 

So bringe meiner Liebsten 

20 Diesen schönen Gruß zurück! 


1 Das deutsche Volkslied, 8. Jahrgang, II, 26. 

4 Das deutsche Volkslied, 8. Jahrgang, V, 75. 

3 Aug. Hartmann, Histor. Volkslieder und Zeitgedichte, Nr. 293 <1848). 











Das Zersingen der Volkslieder 


157 


6 , Und wenn mit einem Andern 
Der Priester sie vereint,- 
So solln sie manchmal denken 
An den gefallnen Freund! 

25 7 Sag, daß ich sie geliebet 

Bei Custozza in der Schlacht 
Und in der letzten Stunde 
An ihre Liebe gedacht!« 

B * 1 l sank 2 Und mit ihr schwand 3 Sic hüllt in ihren Schleier 4 die 
dunkle, kühle 5 Und unter allen 6 Liegt sterbend ein 7 Und neben ihm zur 8 da 
kniet sein 9 sein Haupt zum andern 10 der sterbend zu ihm spricht: 11 »Nimm 
hin, geliebter Bruder 12 liegt 13 diesen vom 17 sollte einst dich 18 Zur io So 
gebe meinem Liebchen 20 Das teure Pfand 21—24 fehlt, 25 Sag' ihr, daß ich ge* 
storben 26 Bei Sedan in der Schlacht, 27 Und in den letzten Zügen 28 Der 
Treu'sten noch gedacht. 21 Und sollte sie der Priester 22 Mit einem andern weih'n, 
23 So soll sie oftmals 24,- dann 

30 Und bin ich auch geblieben 
Bei Sedan nun zurück 
Werd' ich im Himmel beten 
Noch für ihr fern'res Glück. 

Komm her, geliebter Bruder, 

Und nimm den Abschiedskuß, 

35 Ich fühle, daß ich sterben 

Und von dir scheiden muß.« 

Er legt sich ruhig nieder. 

Der treue, tapfre Held 
Und streckt die matten Glieder 
40 Bei Sedan auf dem Feld. 

Und siehe, Mond und Sterne 
Mit ihrem Silberlicht 
Die leuchten dem Soldaten 
In's blasse Angesicht. 

C 2 . 

Die Sonne steht am Himmel, 

Mit ihr, da schied die Schlacht, 

Es senket sich der Schleier 
Der dunklen, trüben Nacht. 

Dann 5 — 20 , 25—29, 21 — 24 , 29—32 fehlt. 33—36, 37—40 fehlt. 41—44 und: 

45 So starb unter vielen Schmerzen 
Mein treuer Kamerad, 

Ich kann dich nicht vergessen 
Bis in das kühle Grab. 

— ___ 

1 E. Wolfram, Nassauisdie Volkslieder, Nr. 504^ 

t Hrusdika-Toisdier, Deutsche Volkslieder aus Böhmen, II, Nr. ZI. Bei 
Trautenau. Varianten in C nicht berücksichtigt. 







158 


Dr. Hermann Goja 


IV 1 . 

1. Bei Sedan wohl auf den Höhen, 

Da stand nach blut'ger Schlacht 
In der letzten Abendstunde 
Ein Sachse auf der Wacht. 

5 2. Der Sachs ging auf und nieder. 

Beschaut die Leichenschar, 

Die noch gestern um die Stunde 
Gesund und munter war. 

3. Was rauscht dort im Gebüsche? 

io Es ist ein Reitersmann, 

Der mit tief geschossener Wunde 
Lag im Blut, wer weiß wie lang! 

4. »Bringt Wasser, deutscher Kamerad, 

Denn die Kugel traf mich gut: 

15 Dort in jenem Wiesengrunde, 

Dort floß zuerst mein Blut.« 

5. »Gewährt mir eine Bitte, 

Grüßt mir mein Weib, mein Kind; 

Denn ich heiß' Andreas Förster, 

20 Und bin aus Saargemünd.« 

6. »Ein Kreuzlein von zwei Zweiglein, 

Die pflanzt mir auf mein Grab: 

Hier ruht Andreas Förster, 

Ein tapferer Soldat!« 

7. Des Morgens in aller Frühe 
Grub ihm der Sachs ein Grab, 

Und er streute Wiesenblumen 
Statt Lorbeern auf sein Grab. 

Betrachtet man I A dieser Liederreihe, so wird man nicht viel 
Auffälliges finden, höchstens das, daß die Fassung sehr stark zer¬ 
sungen ist. I A ist aber diejenige Form des Liedes, welche während 
des Weltkrieges gesungen wurde. Heile 5 dieser Fassung: »Eine 
Kugel kam geflogen,« stammt aus Uhlands Lied »Der gute Kame¬ 
rad«, An dieses Lied erinnert auch Zeile q: »An seiner Seite lieg' 
ich« <»Br ging an meiner Seite«: Uhlands Lied, Zeile 4> und etwa 
noch die Zeile io: »Sein treuer Kamerad« <»Mein guter Kamerad«: 
Schlußzeile des Uhlandschen Liedes). Außerdem hat eine Strophe, 
Zeile 13 - 17 , fünf Zeilen, während die gewöhnliche Zeilenzahl der= 
selben vier ist, B tilgt die überzählige Heile 13 und erweitert das 
Lied um zwei Strophen, welche offensichtlich den Zweck haben, das 
Lied, d. h. wohl nur den manifesten Inhalt desselben, einem neuen 
Milieu anzupassen. Außerdem ändert es Zeile 17 , so daß nun auch 


1 Köhler-Meier, Volkslieder v, d. Mosel und Saar, I, Nr. 308. 









Das Zersingen der Volkslieder 


159 


Weib und Kind in dem manifesten Inhalte des Liedes erscheinen. 
Diese Änderung ist verständlich: Der Weltkrieg brachte neben den 
jungen Burschen, welche noch an die Eltern denken, die alten Män¬ 
ner, die Familienväter unter die Fahnen. D paßt den manifesten Im» 
halt des Liedes neuerdings dem neuen Milieu an. E variiert A 22—29 
in entsprechenden Zeilen. 

Interessant wird dieses Lied, wenn man es mit den folgenden 
Beispielen vergleicht. Es erscheint dann sofort nicht als zersungenes, 
sondern als zusammengesungenes Lied, als ein Lied, welches durch 
Zusammenziehen zweier verschiedener Lieder entstanden ist. 

Betrachten wir jetzt die Quellieder. Das erste Lied <II> ist 
etwa folgendermaßen zusammenzustellen A 1 — 24 , B zwischen 24 und 
25 und A 25—32 <die einzelnen Varianten sind dabei nicht berück¬ 
sichtigt !> Das Lied ist also wahrscheinlich nach der Schlacht von Metz 
entstanden und wurde dann auf die Schlacht von Sarajevo umge¬ 
dichtet. In dieser Form ist es Grundlage des I-Liedes geworden. 

Der manifeste Inhalt des Liedes ist eine Kampfszene. Ein 
Siebenundzwanziger- oder Zehnerjäger steht auf Vorposten und be¬ 
schäftigt sich, während er in die Nacht hinausspäht, im Geiste mit 
seiner Geliebten <11 A 1 — 12 ). Diese Einleitung ist wertvoll zum Ver- 
ständnis der ganzen Kunstpsychologie. Sie zeigt nämlich ganz deut- 
lieh die Teilung des Individuums in ein bewußtes, welches auf Posten 
steht, in die Nacht späht und lauscht, alle Empfindungen beurteilt, 
also denkt, und gleichzeitig in ein unbewußtes, träumendes, welches 
in der Heimat ist, sich mit der Geliebten beschäftigt. Dieses mit 
Herzensgrüßen zur Geliebten Hindenken <11 B 11 — 12 ) haben wir wohl 
nur als Bilderreihe eines Assoziationsverlaufes vorzustellen. 

Der folgende Teil des Liedes ist als Realität dargestellt. Wir 
nehmen ihn zunächst als solche, als wirkliches Ereignis. Dieser nächste 
Abschnitt <11 A 13 - 24 , B zwischen 24 und 25 , A 25 — 28 ) ist eine Kampf* 
szene und umfaßt den Hauptteil des Liedes, zwanzig der sechsund¬ 
dreißig Liedzeilen, Der Posten wird aus der Träumerei geschreckt 
durch einen Überfall des Gegners <der Insurgenten: B 21 ), er schlägt 
Alarm, eröffnet das Feuer auf den Feind, wirft ihn mit Hilfe der 
herbeigeeilten Kameraden und fällt, nachdem er die Seinen durch 
Wachsamkeit und Aufopferung gerettet hatte, am Ende des Ge¬ 
fechtes. 

Nehmen wir diese Szene nicht als Wirklichkeit, sondern als 
das, was sie für alle Sänger des Weltkrieges war, als künstlerische 
Illusion und fragen: Welche latente Gedanken, Wünsche vertritt 
dieselbe? Der Dichter hat uns die Antwort auf diese Frage 
leicht gemacht. Wir brauchen nur an die Einleitungsstrophen anzu¬ 
knüpfen. Der Jäger stand in denselben draußen auf Posten und be¬ 
schäftigt sich in der Phantasie mit dem geliebten Mädchen. Diese 
Bilderreihe, welche durch die Assoziation in dieser Zeit abgespielt 
wird, ist schon Wunscherfüllung. Sie erfüllt dem Posten den Wunsch 
nach Beisammensein mit der Geliebten dadurch, daß sie ihm dieses 





160 


Dr. Hermann Goja 


Beisammensein in einer Halluzination vorstellt/ sie erfüllt diesen 
Wunsch aber nicht nur dem Posten des Liedes, sondern vor allem 
auch dem Dichter und Sänger desselben. Denn es ist nidit zu ver® 
gessen: Der Assoziationsverlauf der Sänger wird an dieser Stelle 
ebenfalls abgelenkt,- er geht in derselben Richtung wie der des 
Postens heim zur Geliebten. Der Wunsch, welcher diesem Teile des 
Liedes zugrunde liegt, ist also der zu Hause, fort, bei der Ge® 
liebten zu sein. 

Woraus entspringt dieser Wunsch? Er entstammt einer unlust® 
betonten Bewußtseinslage, der des Soldatseinmüssens. Das beweist 
die ganze Stimmung des Liedes, seine Sentimentalität und besonders 
seine sentimentale Auffassung des Soldatentodes. Auch das kann 
als Bestätigung dieser Tatsache herangezogen werden, daß das Lied 
im Weltkriege erst dann zu großer Wirkung kam, als die Kriegs® 
begeisterung des Anfanges schon vorüber war und der Kriegs® 
müdigkeit Platz gemacht hatte, im Frühjahre 1916. 

Das Lied setzt nun mit einer soldatischen Situation ein, welche 
nach dem Gesagten einer unlustbetonten Bewußtseinslage entstammt 
und leitet in dem bisher analysierten ersten Teile den Vorstellungs® 
verlauf zu lustbetonten Bildern der Geliebten, des Sexuellen, welche 
es illudiert. Verdrängung einer unlustbetonten Bewußtseinslage durch 
eine lustbetonte, wäre demnach der psychologische Prozeß, welcher 
sich in diesem Teile abspielt, 

Stellen wir uns nun, um uns die Arbeit zu erleichtern, die 
beiden Vorstellungskomplexe des Soldatischen und Sexuellen als 
zwei Kräfte vor, welche sich bekämpfen, so stellt die Kampfszene 
einen Augenblick dar, in welchem die unlustbetonte Vorstellungs® 
gruppe Oberhand über die lustbetonte gewinnt. Nur einen Augen® 
blick, denn der seelische Apparat löst sofort Erinnerungen aus, durch 
welche die unlustbetonte Kampfszene Lustbetonung erhält. Man 
beachte, wie diese Lustgefühle mit der Entwiddung der Kampfhand® 
lung immer mehr an Kraft gewinnen, bis sie die Unlustgefühle voll® 
ständig überwinden. Die Kernstrophen dieses Teiles wirken daher 
wirklidi begeisternd und haben eine verhältnismäßig geringe Senti® 


mentalität: 


»Heraus, ihr lieben Kameraden, 
Geschwind und spannt den Hahn!« 
Da standen wie hergezaubert, 

Sie alle Mann an Mann. 


<11 C 17 — 20 > 


Dieser Aufschwung der Stimmung in dem Texte verliert wohl einen 
Teil seiner Wirkung durch das Fortgehen der sentimentalen Melodie, 
immerhin bedeutet er eine Besserung der Bewußtseinslage. 

Für uns besteht nur die Pflicht, die psychischen Ursachen auf® 
zu decken, welche die unlustbetonte Vorstellung des Soldatischen in 
eine lustbetonte verwandeln konnten. Wir müssen suchen, wann das 
Soldatische starke Lustquelle war und wir kommen da sofort in 
unsere Jugendzeit. In unserer Jugend war der Soldatenstand ein 






Das Zersingen der Volkslieder 


161 


Ideal, war auch Krieg und Kampf eine Wunscherfüllung, weil man 
in ihnen seine Männlichkeit, seinen Heldenmut erproben konnte. Ich 
brauche nicht besonders auf den Umstand aufmerksam zu machen, 
daß dieses Ideal stark mit der infantilen Sexualität zusammenhing. 
Es ist eine Verdrängung der unlustbetonten Vorstellung des realen 
Soldatenstandes durch die lustbetonte des idealen, infantilen, welche 
sich in der Umkehrung der das Lied begleitenden Gefühle offen« 
hart 1 . Die Kindheitserinnerung wurde wachgerufen durch Assozi¬ 
ation nach Ähnlichkeit der beiden Vorstellungen des Soldaten« 
Standes und der sexuellen Grundlagen, welche der Geliebtenkomplex 
der Einleitungsstrophen ebenso wie der Knabenkomplex der Kampf« 
szene besitzt. Ausgelöst wurde der Vorstellungsverlauf durch das 
Streben, die unlustbetonte Vorstellung des Soldatentums aus der 
Bewußtseinslage zu entfernen, Die Kampfszene wird durch diesen 
VerdrängungsVorgang ebenfalls Wunscherfüllung. Ich möchte den 
lustbetonten Knabenkomplex als Nebenkomplex im Gegensätze zum 
Haupt«, den Geliebtenkomplex bezeichnen. 

Die lustbetonten Vorstellungen haben so in den Zeilen 17—24 
die unlustbetonten niedergerungen. Noch einmal brechen aber die 
unlustbetonten siegreich durch in den Zeilen II B zwischen 24 und 25 
und II A 25—28, ja, es sind die unlustbetonten, welche der Soldaten¬ 
komplex enthält, die des Soldatentodes, welche jetzt erregt werden. 
Es ist das stärkste Nein gegen den Knabenkomplex, welches in den 
Bildern dieser Zeilen ausgesprochen wird. Aber auch diese letzte 
Karte der unlustbetonten Vorstellungsreihe wird niedergespielt durch 
das letzte Blatt der lustbetonten, durch die Bilder der Zeilen 25—28: 
In der Hand des Toten wird ein Zettel gefunden mit Grüßen 
an die Geliebte und das Vaterland. Damit ist das Lied, sein mani« 
fester Inhalt zu Ende. Nicht aber der latente, nicht der erregte 
Assoziationsverlauf. Dieser geht weiter: Der Brief wird gefunden, 
dem Mädchen überbracht, das, von Schmerz übermannt, zusammen« 
bricht usw. Das Ende des Liedes ist die Halluzination der Geliebten, 
welche sich, da die Gegenreihe mit dem Tod des Jünglings abge« 
schlossen ist, unbehindert entfalten kann. Die unlustbetonten Vor« 
Stellungen, welche am Anfänge des Liedes in der Vorstellungslage 
enthalten waren, sind entfernt, durch lustbetonte ersetzt. 

Der psychische Prozeß, welcher sich in diesem Liede abspielt, 
ist also tatsächlich die Verdrängung eines unlustbetonten Vorstei« 
lungskomplexes durch einen lustbetonten, die manifeste Liedhandlung 
entspricht der Bewegung dieser beiden Komplexe, sie ist von ihnen 
bedingt, die die Handlung begleitenden Gefühle sind ebenso 
Mischungen, wie die Bilder der Liedillusion Kompromisse zwischen 
den Vorstellungen beider Komplexe sind. Das Lied ist Wunsch* 
erfüllung. 


1 Zu der Annahme des Infantilen als Lustquelle vgl. die Rauher-, Sol¬ 
daten« und Heldendichtung, die ebenfalls auf infantiler Grundlage beruht. 


Imago VI/2 


11 







162 


Dr. Hermann Goja 


Verschieben wir nun die Bewußtseinslage. Nehmen wir an, 
daß die Abneigung gegen das Militär noch größer geworden sei, 
eine Annahme, welche den Tatsachen entspricht Was muß die Folge 
einer solchen Verschiebung der Bewußtseinslage sein? 1, Die Aus* 
Schaltung der Nebenreihe, da die lustbetonten Kindheitserinnerungen 
nicht mehr die allzu ähnlichen unlustbetonten verdrängen können. 
2 , Die Ausgestaltung des Grußmotives <11 A 20—32), damit es die 
stark gewordene Gegenwunschreihe verdrängen kann. 

Verifizieren wir diesen Schluß an I, so finden wir die Ein* 
leitung <11 A 1 — 12 ) reduziert auf die Zeilen 1—4 von I A, so stark 
reduziert, daß sogar die lustbetonte Assoziationsreihe der Ein* 
leitung mitverdrängt ist <sie ist offenbar zu schwach, um sich am 
Anfang des Liedes durchzusetzen), die Gefechtsszene dem Schlüsse 
entsprechend bis auf nur drei Zeilen <11 A 26 - 28 > entfernt, welche einzig 
übrig geblieben und durch eine Zeile des Uhlandschen Liedes <1 A 5 ) 
an die Einleitung <1 A 1 - 4 ) angeknüpft sind. Das Grußmotiv ist 
dafür auf das dreifache aufgeschwellt, und zwar mit Hilfe eines neuen 
Liedes <III). Das neue Lied <I) hat also von dem Liede II nur die 
Zeilen 1-4 und 6—8, von III die Zeilen 9 - 21 . Es erhebt sich 
die Frage, wieso diese Vereinigung gerade dieser Lieder zustande 
gekommen ist. Sie ist es infolge der Gleichheit der beiden Liedern 
zugrunde liegenden Wünsche. Denn wie in dem Liede II ist der 
latente Wunsch des Liedes III der des Beisammenseins mit der Ge* 
liebten, welcher in III viel breiter ausgeführt ist als in II <das Gruß* 
motiv des Liedes III enthält als neues Motiv nur das der Treue 
des Geliebten über den Tod hinaus). Die Zeilen 37—44 von III B 
schließen die Gegenwunschreihe wieder derart, daß keine neuen 
Assoziationen angeschlossen werden können. Die latenten Wünsche 
sind also gleich. Daß die Einleitung von II nicht verkürzt und III 
als überflüssig ganz fallen gelassen worden ist, hat verschiedene Ur* 
Sachen. Die Einleitung des Liedes II in seinen Formen B und C 
war für die österreichischen Soldaten eine Lustquelle, weil sie an 
den erfolgreichen bosnischen Feldzug erinnerte 1 . Die Veränderung 
der Bewußtseinslage erforderte zwar eine Veränderung, nicht aber 
die Zerstörung des manifesten Einleitungsinhaltes. Die Einleitung 
blieb daher mit Rücksicht auf ihre Lustbetonung erhalten. Die Ein* 
leitung von II schafft ferner die Illusion einer Situation, in welcher 
jeder Soldat gewesen ist, eine Situation, welche außerdem stark un* 
lustbetont ist und infolge dieser beiden Gründe den Charakter einer 
prägnanten besitzt 2 . Der Eingang des Liedes III ist dagegen abge* 


1 Daß das Lied II ursprünglich ein Metz-Lied war, kommt nidit in Be¬ 
tracht. Zur Zeit der Verdichtung lief es nur mehr als Sarajevolied. Vgl* dazu 
Anm. S. 156, 1—3, 

2 Noch ein Grund der Verdichtung kann vielleicht angenommen werden. 
Durch die Vereinigung von II B, C mit III A ist es möglich, durch ein Lied an 
zwei Ruhmestaten der österreichischen Armee, welcher der Sänger angehört, er¬ 
innert zu werden. Die Verdichtung diente dann der Luststeigerung, 





Das Zersingen der Volkslieder 


163 


storben, weil das darin dargestellte Auf® und Abpatrouillieren nach 
dem Gefecht in der modernen Kriegführung unmöglich ist. Aus 
diesen Gründen wurde der Eingang von III abgestoßen und dem 
reich entwickelten Grußmotiv der Anfang von IIB, C vorgesetzt. 

Der Hauptvorteil der Vereinigung beider Lieder ist aber folgender: 
wird nach der Verquickung der alten Lieder das neue I angestimmt, 
so wird mit den ersten Zeilen das ganze Lied II erinnert, d. h. 
während des Singens dieser ersten Verse wird ein Assoziationsver® 
lauf angeregt, Dieser folgt dem Geleise von II und kommt über II 
zur Wunscherfüllung. Dadurch, daß dann das Lied in III übergeht, 
wird eine zweite Reihe erregt, welche wieder über dasselbe Motiv 
<das Grußmotiv) zur selben Wuosdherfüllung führt. Vergleidit man 
nun den Anfang von I mit dem von IV, so zeigt sich eine große 
Ähnlichkeit derselben, welche auch zwisdten III und IV vorhanden 
ist <IV zeigt das unwahrscheinliche Auf® und Abpatrouillieren voll® 
kommen, das in III noch verdedct ist). Die Folge davon ist, daß an 
diesen Anfang I nicht nur die Assoziationen von II und III, sondern 
auch die von IV angefügt werden können, was bei der Bekannt® 
schaft aller Lieder <diese ist verbürgt!) auch tatsächlich geschieht. Es 
können also über den beibehaltenen Eingang von II auf drei Ge® 
leisen die Reproduktionen auf dasselbe Motiv und über dieses zur 
Wunscherfüllung geleitet werden. 

Beachtet man ferner, daß beide Trümmer II und III miteinander 
verkittet sind durch die Zeile 5 aus dem Liede: »Ich hatt' einen 
Kameraden« <nur diese Zeile stellt sich ja als direkt aus diesem 
Liede stammend heraus), daß die Zeilen 7 , 9 und 10 von I ebenfalls 
an dieses Lied anklingen, dieses Lied aber in seiner dritten Strophe wieder 
zum Grußmotiv führt <»Will mir die Hand noch reichen«: Der Ka® 
merad will noch Abschied nehmen, wie er es in dem Liede III tat® 
sächlich tut), so erkennt man, daß durch das Einsetzen der Zeile 5 
als Fuge ein vierter Weg gebahnt wird, um zu der einen Wunsch® 
erfüllung zu gelangen, weldie der latente Inhalt von I ist. 

Durch diese Fuge ist es aber möglich gemacht, ein neues Lied 
an I assoziativ anzuknüpfen. Ich führe dieses Lied an: 

1. Ja in Rußland sind viele gefallen. 

Ja in Rußland sind viele geblieben. 

Da hab'n sich zwei stürmische Feinde 
Einander gar häßlich gerieben. 

5 2. Zwei Kameraden, die hab'n sich verschworen. 

Einander stets treu zu verbleiben. 

Soll der eine, der andere je fallen. 

Daß der eine sein Liebchen verstand! 

3, Eine Kugel, die kam geflogen, 

10 Durchbohrte dem einen das Herz. 

Ja das war für sein Liebchen ein Jammer, 

Ja das war für die Mutter ein Schmerz. 

11* 






164 


Dr. Hermann Goja 


4 . Und als nun die Schlacht war zu Ende, 

Kehrt ein jeder zurück ins Quartier, 

15 Ja da hat sich der eine gewendet, 

An den Bleistift, wohl an das Papier, 

5. Und er schrieb nun mit zitternden Händen 
Den betroffenen Eltern nach Haus: 

Euern Sohn hat die Kugel getroffen, 

Er liegt in Rußland, steht nimmermehr auf!« 1 

In diesem Lied kehrt nun, wohl kaum zufällig, dieselbe Zeile 
des lihlandschen Liedes wieder, welche sich in I als Fuge befindet. 
Zeile 9 lautet ja: »Eine Kugel, die kam geflogen«. Auch der Reim 
»Schmerz« und »Herz« <1 6 —s) findet sich wieder in den Zeilen io 
und 12. Das Lied hat in seinem manifesten Inhalt zwar nicht mehr 
das Posten* wohl aber das Grußmotiv und deckt sich daher wiedei 
mit den Liedern dieser Gruppe <der Sarajevoliedgruppe), I As leitet 
daher nicht nur zu dem Uhlandschen Liede sondern auch über das* 
selbe zu diesem letzten über, stellt damit eine neue Verbindung mit 
einem Liede her, welches dieselben Wunsche erfüllt wie I. Es ist 
dies die fünfte Assoziationsreihe, welche sich aus der Vereinigung der 
beiden Bruchstücke II und III ergibt. 

Wir sind aber mit den Verknüpfungen noch nicht zu Ende. 
IB2 lautet: »Bei hellem Mondesschein«. Diese Formel findet sich 
nun auch in der ersten Strophe eines Liedes, welches Hartmann unter 
Nummer 300 mitteilt. Diese erste Strophe lautet: 

Und als die Schlacht bei Sedan war vorüber, 

Sah man des Nachts bei hellem Mondenschein 
Verwundete Soldaten tragen auf und nieder 
Und Sterbende könnt' man noch ächzen hörn. 

Man wird zunächst nicht geneigt sein, dieser Tatsache eine be* 
sondere Bedeutung zuzumessen. Die zweite Strophe des Liedes be* 
ginnt aber: 

2. Und als man dort die Leichen trug zusammen, 

Bewegte sich ein junger Jägersmann, 

was mit IV 9-10 verglichen, eine neue Verzahnung dieses Liedes mit 
der Sarajevoliedgruppe darstellt. Auch die Bitte um 1 1 inkwasser 
IV 13-14 läßt das neue Lied nadiklingen: »Mit frischem Wasser wusch 
man seine Wunden« < 1 . Zeile der 3 . Strophe). Auch IV 17 taucht 
auf in der 5 . Strophe des Liedes: 

Kameraden! um was ich noch bitte, 

Bringt meiner Mutter nodi den letzten Gruß. 

Diese letzte Zeile beweist aber den Zusammenhang dieses 
Liedes mit der Sarajevoliedgruppe, Es enthält wie diese das ( 3 rul)^ 


1 Das Lied dürfte eine Schöpfung des Weltkrieges sein. 











165 


Das Zersingen der Volkslieder 


motiv. Es ist in der vierten bis sechsten Strophe entwickelt Damit reiht 
sich das Lied selbst der Gruppe ein. Es ist aber damit eine neue Asso¬ 
ziationsbahn durch eine Singart eröffnet worden, die sechste, welche 
wir bisher verfolgt haben, die zur Wunscherfüllung führt. Das letzte 
Beispiel hat gezeigt, daß durch Übernahme von Teilen anderer Lieder, 
wenn diese noch so klein sind, doch nur zusammengehörige Lieder 
verknüpft werden. Die Verkoppelung derselben setzt aber erst dann 
ein, wenn das einzelne Lied zu schwach wird, den Unlustkomplex 

niederzuringen. ... < 

Die einheitliche Gruppe von Liedern ist nun noch mit anderen 
verknüpft, welche nicht mehr das Grußmotiv enthalten. Ich will zwei 
Beispiele geben, welche zeigen sollen,wie durch Singarten immer neue 
Lieder aneinandergeknüpft werden, Lieder, welche in ihrem manifesten 
Inhalt keine Ähnlichkeit mehr aufweisen. Bei Lewalter 1 findet sich 
ein Lied mit der ersten Strophe: 

1. An der Weichsel gegen Osten 
Stand ein Jäger auf dem Posten, 

Und da bracht' ein junges Mädchen 
Blumen aus dem Städtchen. 

Dieses Lied ist mit III dadurch verknüpft, daß das letztere in einigen 
Fassungen mit der ersten Zeile des letztangeführten Liedes eröffnet 
wird. Das Lied »An der Weichsel gegen Osten« enthält aber das 
Grußmotiv nicht mehr. Wie aber der latente Wunsch von III der 
sexuelle war, so ist das Lied Lewalters stark erotischen Inhaltes. 
Die Verbindung ist also wieder verständlich. Sie dient wieder der 
Verdrängung der unlustbetonten Vorstellung durch die lustbetonte 
sexuelle. <Es ist nicht zu übersehen, daß die Singart nur eine schon 
bestehende Gleichheit der Einleitung verstärkt hat,- enthält doch Le* 
walter das Postenmotiv als Einleitung!) 

Wir sind schon einmal einem Liede begegnet, das diesselbe 
Einleitungsformel hat wie das Lewalters. Es steht S. 140 und 
ist jenes, in dessen manifestem Inhalte der Sohn den Vater tötet. 
Das Lied ist ein stark sentimentales. Um den Zusammenhang dieses 
Liedes mit der Sarajevoliedgruppe nachzuweisen, müßte ich es mit 
einer Reihe anderer analysieren, das würde jedoch den Rahmen dieser 
Arbeit sprengen, Idi verweise also nur auf den Umstand, dal) midi 
hier schon in dem manifesten Inhalte die Verknüpfung zwischen 
Soldatentum und Heimat hergestellt ist. Daß sie auf diese Art her** 
gestellt ist, beweist, daß die Unlust gegen den Stand in ungeheurem 
Grade gewachsen sein muß. Wieso das Lied trotzdem Wunsch* 
erfüllung ist, kann ich hier nicht nachweisen. Es ist charakteristisch, 
daß der Zusammenhang des Liedes mit der Sarajevoliedgruppe später 
gelöst worden ist, wie die Singarten des Weltkrieges es zeigen. 

Ich habe durch die Analyse des einen Komplexes gezeigt, daß 
das Zersingen sinnhaft ist. Es dient der Wunscherfüllung. Selbst- 

t V g K Erk*Böhme, Deutscher Liederhort, III, 1386. 








166 


Dr. Hermann Goja 


verständlich sind nicht mehr alle Assoziationsbahnen, welche ich nach** 
gewiesen habe, im Weltkrieg gelaufen worden. Die Menge der an 
ein Lied angeknüpften Verbindungen ist abhängig von der den Sängern 
bekannten Zahl an Liedern, Diese Zahl war in unserer Zeit sicher 
schon sehr gering. Man denke aber, welche Buntheit der Assozia» 
tionen in der Hochzeit des Volksliedes ausgelöst worden sein mußte, 
wenn noch in unseren Tagen so viele möglich waren. Die Formeln 
des Volkliedes, welche Daur 1 als notwendig in der Zeit einer noch 
ungelenken, schwerfälligen Sprache erwiesen hat, bekommen jetzt eine 
neue Bedeutung als Wechsel der Assoziationsgeleise, als Brüchen, 
welche Lieder und Lied verbinden. 

Ich habe in der Einleitung <S. 146) gesagt, daß das Studium 
des Zersingens zur Ablehnung freisteigender Assoziationen führe. 
Die in der Sarajevoliedgruppe beobachteten Fälle haben sich alle als 
gebunden erwiesen, gebunden von unbewußten Wünschen, die ihre 
Anwesenheit nur durch diese Änderungen des manifesten Liedinhaltes 
beweisen. 

Fassen wir, um dann wieder besser Vordringen zu können, 
nodimals ins Auge, was uns die Sarajevoliedgruppe gelehrt hat: 
Zweck der einzelnen Lieder war die Verdrängung einer Unlustquelle 
aus der Bewußtseinslage und ihre Ersetzung durch eine Lustquelle. 
Unlustquelle war der Soldatenstand, Lustquelle das Sexuelle. Die Ver» 
dichtung der Lieder II und III zu I, ihre Verfügung durch den »Guten 
Kameraden« diente der Lustverstärkung, Überlegen wir nun: Die 
unlustbetonte Vorstellung des Soldatenstandes war durch Jahre hin» 
durch während des Weltkrieges in der Bewußtseinslage von Millionen 
Sängern, Das Sexuelle als Lustquelle ist allgemein menschlich. Es 
müßten sich, die Richtigkeit meiner Analyse vorausgesetzt, demnach 
noch viele Lieder finden, welche denselben latenten Inhalt besitzen 
wie das Sarajevolied. 

Nun solcher Lieder gibt es tatsächlich noch viele. Man sehe 
in John Meiers Büchlein »Das deutsche Soldatenlied im Felde« nach, 
um sich davon zu überzeugen. Das Material dieses Aufsatzes stammt 
der Hauptsache nach aus den Jahren 1914 und 1915, <Der demselben 
zugrundeliegende Vortrag wurde am 23, Februar 1916 gehalten.) 
Schon bei flüchtigem Durchsehen dieser Arbeit erscheint der Komplex 
des Sarajevoliedes in zentraler Stellung. Nach einer kurzen Charak» 
teristik des Soldatenliedes und einer Darstellung der Verschieden» 
heiten des neuen Kriegsliedes, bei welcher Gelegenheit der Verfasser 
schon das Überwiegen der sentimentalen Lieder betont, bringt er die 
Sarajevoliedgruppe von S. 18 an. Er hebt sie heraus als eines der 
beiden sentimentalen Klischees, wie er sich ausdrückt. Es ändert da» 
bei gar nichts an dem Wesen der Sache, daß er die Vereinigung 
von II und III zu I nicht kennt. Als Quellied setzt er, abgesehen 
von den Liedern des »Guten Kameraden«, das Lied »Die Sonne 


1 Daur, Das alte deutsche Volkslied usw., S. 3 u. S. 35. 






Das Zersingen der Volkslieder 


167 


sank im Westen« <III>, verbindet damit ebenfalls das Lied »Bei Se= 
dan auf den Höben« <IV> und nach der äußeren Ähnlichkeit der 
manifesten Inhalte noch zwei Lieder, eines mit der Anfangsstrophe: 

In dem wilden Schlachtgetümmel 
Kämpft ein Schütze rasch und flink 
Zwischen seinen Kameraden, 

Bis die Kugel ihn tödlich traf 1 , usw., 

ein anderes mit der Einleitung: 

Ein Grenadier am Dorfplatz stand. 

Sein Mädchen ihm zur Seit', 

Er legt die Waffen aus der Hand, 

Spricht Trost ihr zu im Leid 2 , usw. 

das den Titel »Stolzenfels am Rhein« führt. 

Es ist charakteristisch, wie besonders das erste dieser beiden 
Lieder wieder stark mit der Sarajevoliedgruppe verzahnt ist. Nicht 
nur kehrt der »Kamerad« wieder <Zeile 5) auch das bedingte »Und 
soll es dich einst führen. In die Heimat das Geschick« <111A 17 —is>i 
kehrt wieder: 

»Du, mein Freund, kehrst wieder heim. 

Siehst die alte Heimat wieder. 

Ziehest in mein Dörflein ein. (Zeile 6—8> 

ebenso wie das »Nimm hin den Ring am Finger« <IIIA i3> und 
das »So bringe meinen Liebsten diesen schönen Gruß zurück!« <111 19—20): 

Nimm den Ring von meinem Finger, 

Reich ihn ihr als Abschiedsgruß, (Zeile 21 — 22 ) 

aber auch das »So sag, ich bin geblieben« (IA 19): 

»Sag ihm, daß ich sei gefallen, (Zeile 13 ) 

was die Bekanntschaft mit II vermuten läßt. 

Aber auch das zweite drängt in der letzten Strophe bekannte 
Formeln zusammen: 

7. Zu seinem Kameraden, der hei ihm kniet, 

Erhebt er den brechenden Blick 

Und spricht: »Wenn du wieder heimwärts ziehst, 

Dann suche du auf mein Lieb und sage ihr, 

Daß ich treu, ihr treu gestorben sei. 

Es soll nicht sein, ich kehr nicht heim 
Nach Stolzenfels am Rhein,« 

Dieses Lied ist aber besonders deshalb interessant, weil es in 
der Verdrängung eigene Wege gegangen ist. Es hat das Grußmotiv 

1 J. Meier, Das deutsche Soldatenlied im Felde, S. 29. 

3 Ebenda, S. 31. 








168 


Dr. Hermann Goja 


auf die wenigen oben angeführten Zeilen zusammengedrängt, als 
Einleitung den Abschied des Soldaten dargestellt und dadurch in den 
ersten fünf Strophen eine starke Lustquelle dem Lied eingefügt. Das 
Soldatische ist in ihm offenbar noch nicht so stark unlustbetont. 

Die von John Meier zweites Klischee benannte Liedergruppe 
unterscheidet sich in ihrem latenten Inhalt gar nicht von der ersten. 
Wieder haben wir das Soldatische als Unlustquelle, wieder das Sexuelle 
als Lustquelle, wieder die Verdrängung des Soldatischen durch das 
Sexuelle. Selbstverständlich entsprechen die Lieder des zweiten Klischees 
nicht vollständig denen des ersten, da sie sonst auch in ihrem manf* 
festen Inhalt zusammenfallen müßten. Der Unterschied zwischen den 
beiden Gruppen besteht vorzugsweise in der Verknüpfung der manU 
festen Teile des Liedes. Während sie in der ersten Gruppe auf 
mechanischem Wege, durch Botensenden, bewirkt wird, erfolgt sie 
in der zweiten auf telepathischem, durch psychische Fernwirkung. Im 
allgemeinen kann man sagen, daß in dieser zweiten Gruppe das Sexu<* 
eile viel stärker entwickelt ist, was darauf hinweist, daß die Ver* 
drängung der unlustbetonten Vorstellung einen größeren Aufwand 
an Kraft benötigt hat. Das Quellied dieses zweiten Klischees ist 
J. G. Seidls Gedicht »Der tote Soldat«, Ich gebe als Beispiel eine 
Fassung 1 des Gedichtes Max Meixners: 

1. Die Österreicher zogen so stille hinaus, 

Der Vater in blutigen Kampfe hinaus. 

Es standen um ihn und es klagten die Seinen, 

Sein treues Weib und zwei muntere Kleinen. 

2. Der Vater, der stand und sagte nichts mehr. 

Die Kinder, die machten den Absdiied so schwer. 

Er ergriff das Gewehr mit tränendem Zagen 
Und eilte hinaus in das blutige Jagen. 

3. Vor Lemberg, da lag nun der Vater im Blut, 

Verlassen hat ihn jetzt sein kriegerischer Mut, 

Er schrie nach seinem Weib und er schrie nach seinen Kindern, 

Da kam nur der Tod seine Schmerzen zu lindern, 

3. Vor Lemberg, da grub man ein tiefes Grab, 

Da senkt man die gefallenen Krieger hinab. 

Drei Schuß da hinüber die Gräber der Braven, 

Die Ehre und Leben am Schlachtfeld gelassen. 

5. Und eh' noch der Vollmond am Himmel aufgeht. 

Und eh' noch der Vollmond am Himmel aufgeht. 

Und eh' noch der Vollmond wird dreimal ersdteinen 
Dann wird uns Gott Vater den Frieden verleihen. 

Interessant ist, daß beide Klischees durch Singarten miteinander 
verknüpft worden sind, und zwar einmal dadurch, daß dem Liede 
»Bei Sedan wohl auf den Höhen« <IV> eine Strophe angefügt wurde: 


1 Fassung des Schür 24. 










Das Zersingen der Volkslieder 


169 


Eines Abends sprach sein Söhnlein: 

»Kommt mein Vater noch nicht bald?« 

»Ja, dein Vater liegt begraben 
Bei Sedan wohl auf den Höhen 1 .« 

womit man IA is —21 vergleichen möge, um zu erkennen, wie sehr 
durch diese Singarten der ganze Liederkomplex zu einer Einheit ver¬ 
schmolzen wurde,- andermal dadurch, daß das Hauffsche Lied »Steh 
ich in finstrer Mitternacht« in das zweite Klischee hineingesungen 
wurde 2 . 

Ich schließe die Darstellung des Sarajevoliedkomplexes mit einem 
Hinweis auf die Seite 11 von J. Meier zusammengestellten Berichte, 
welche die von mir festgestellte Bewußtseinslage bestätigen. Ich habe 
die Sarajevoliedgruppe so genau besprochen, weil sie mir Gelegen* 
heit geboten hat, an einem großen Beispiel das Wesen des Zersingens 
und besonders das der Verdichtung zu zeigen. Wir haben an einem 
Fall erkannt, warum ein Lied aus drei alten zusammengesungen 
werden mußte und haben gesehen, daß eine Fülle innerlich zusammen» 
gehöriger Lieder sinngemäß auch äußerlich durch Singarten verknüpft 
wurde. Den psychischen Prozeß, den die Verdichtung der drei Lieder 
erzeugt hat, haben wir als Verdrängung festzustellen vermocht, seine 
Übereinstimmung mit den theoretisch entwidcelten Gesetzen ge» 
hindert 3 . 

Es wäre jedoch Torheit zu meinen, daß dieser Verdrängungs* 
Vorgang allen Liedern zugrunde liegt, welche in ihrem manifesten 
Inhalt Soldatisches und Sexuelles vereinigen. Der aufgezeigte Ver¬ 
drängungsvorgang tritt nur zu Zeiten ein, in denen das Soldatische 
tatsächlidi unlustbetont ist. Ich gebe jetzt einige Beispiele, in denen 
einem ähnlichen manifesten Inhalte eine ganz neue latente Situation 
entspricht. J. Meier führt folgendes Lied an 4 : 

Als ich an einem Sommertag, 

Im grünen Wald im Schatten lag, 

Sah ich von fern ein Mädchen stehn. 

Das war so unbegreiflich schön. 

Diese erotische Strophe wurde 1870/71 in hessischen Regimentern 
folgendermaßen zersungen: 

Als ich an einem Sommertag, 

Hinter Metz, bei Paris, in Chalons, 

Im grünen Wald im Schatten lag, 

Hinter Metz, bei Paris, in Chalons, 


1 J, Meier, Das deutsche Soldatenlied tm Felde, S. 35. 

2 Ebenda, S. 36. 

* Die Verdrängung von <Arbeits-> Unlust durdi Einfügung von Lust Rhyth¬ 
mus) hat Bücher in seinem Werke als psychische Funktion des Arbeitsliedes, also 
einer der ältesten Formen der Dichtung nachgewiesen <Vgl. Arbeit und Rhythmus 
S. 312). 

4 J. Meier, Das deutsche Soldatenlied im Felde, S. 51. 








170 


Dr. Hermann Goja 


Wo die deutschen Büchsen knallen 
Und die roten Hosen fallen, 

Hinter Metz, bei Paris, in Chalons. 

Ja, die einundzwanzig, zweiundzwanzig, 

Jakob Meier, Donnerwetter, 

Kurz getreten. Tritt gefaßt. 

Eins zwei drei. 

Und so geht der Bayrische Marsch, Marsch, Marsch, 

Und so geht der Bayrische Marsdi. 

Die letzten beiden Zeilen der alten Strophe wurden dann ebenso 
bearbeitet. Das Ganze ist ein krasser Fall des Zersingens. Und doch 
ist er leicht verständlich. Er ist wieder ein Beispiel der Vereinigung 
des Sexuellen mit dem Soldatischen wie das Sarajevolied. Der weg, 
der zu dieser Vereinigung geführt hat, ist aber der umgekehrte als 
der des Gruppenliedes. Grundlage war hier eine sexuelle, in welche 
das Militärische hineingetragen wurde. Im Sarajevoliede stand ur* 
sprünglich das Soldatisdie im Vordergrund und wurde vom Sexuellen 
immer mehr verdrängt. Der Prozeß, der sich in der letzten Singart 
abspielt, ist keine Verdrängung, sondern eine Summierung. Die 
Lust, welche sich an die Vorstellung des Sexuellen knüpft, wird ge* 
steigert durch die Lust, welche der Vorstellung des Militärischen 
entstammt. Die Luststeigerung, weichein der zersungenen Form erreicht 
wird, ist ja unverkennber. Die Stimmung des neuen Liedes ist ja 
eine geradezu übermütige. In diesem Liede ist also das Militärische 
Lustquelle. 

Wie ist das möglich? Die Vereinigung stammt aus dem Kriege 
1870/71. Aus der Zeit des deutschen Triumphzuges nach Paris! Die 
Erfolge dieses Krieges hielten die Soldaten in einem einzigen Rausch 
höchster Lust, Erfolge, welche keine Sentimentalität vertrugen, wohl 
aber eine kecke, übermütige Stimmung erzeugten. Das Soldatische 
war damals eine große Lustquelle. Es vereinigte sich daher mit dem 
Sexuellen und schuf das Lied, das uns heute unsinnig erscheint, da« 
mals Ausdruck der Stimmung war. Sehr sdtön entspricht der 
übermütigen Stimmung der deutschen Sieger die übermütige Behänd* 
lung des Liedes. Den dieser Verdichtung zugrundeliegenden psychischen 
Prozeß könnte man als Luststeigerung durch Einführung eines neuen 
lustbetonten Vorstellungskomplexes in die Bewußtseinslage bezeichnen. 

Derselbe Prozeß liegt der Verdichtung des Liedes »Wer will 
unter die Soldaten« mit der »Loreley« zugrunde 1 . Drei Lustquellen 
vereinigen sich in der Verbindung dieser beiden Lieder. Das Sexuelle 
des Loreleyliedes, das Soldatische in dem Liede »Wer will unter 
die Soldaten« und das Infantile in beiden Liedern. Das Soldatenlied 
ist ja eines der ersten und wirksamsten Lieder, welches das Schulkind 
lernt, die Loreley das einzige stark erotiische Lied der Schule. Beide 
stark lustbetonten Lieder reichen daher weit in die Jugend zurück. 


1 J. Meier, Das deutsche Soldatenlied im Felde, Anm. 93. 






Das Zersingen der Volkslieder 


171 


Ich habe bis jetzt zwei latente Ursachen der Verdichtung fest» 
gestellt: Verdrängung einer Unlustquelle und Luststeigerung. Ich 
gebe nun ein neues Beispiel der Verdichtung, um den Mechanismus 
derselben feststellen zu können. Ich gebe zunächst die Lieder: 

I 1 . 

1 . Dort oben auf dem berge 
da stet ein hohes haus, 
darein gend alle morgen 
drei hüpsche frewlein ein. 

5 2. Die erst die ist mein Schwester, 

die ander ist mir gefreundt, 
die dritt die hat kein namen, 
die muß mein eigen sein. 

II 2 . 

Mühlrad. 

Dort hoch auf jenem berge 
da get ein mülerad, 
das malet nichts denn liebe 
die nacht biß an den tag,- 

5 die müle ist zerbrochen, 

die liebe hat ein end, 
so gsegen dich got, mein feines lieb! 
iez far ich ins eilend. 

III 3 . 

1. Ich hört ein frewlein klagen, 
fürwar ein weiblichs bild, 

ir herz wolt ir verzagen 
nach einem ritter mild/ 

5 sprach sich die fraw mit lüste: 

,er leit mir an der brüste 
der mir der liebest ist/ 

2. Die zwei die teten rasten 
nit gar ein halbe stund, 

io der wechter ob dem kästen 

den hellen tag verkunt, 
er tet sein hörnlein schellen: 

,fraw, wecket ewern gsellen! 
wann es ist an der zeit/ 


i Uhiand, Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, Nr. 21B 

3 Ebenda, Nr. 33. 

* Ebenda, Nr. 87. 







172 


Dr. Hermann Goja 


15 


20 


25 


5 


10 


15 


20 


25 


30 


1 Uhland, 


3. ,So wolt ich gerne wecken 
den allerliebsten mein, 

ich sorg ich tuon erschrecken 
das Junge herze sein/ 
er ist meins herzen gselle, 
er sei gleich wo er welle, 
wie gern ich bei im wolt sein!' 

4. ,Ach scheiden, immer scheiden, 
und wer hat didi erdacht? 

du hast mein junges herze 
auß freud in trauren bracht, 
du hast mein junges herze 
auß freuden bradit in schmerzen, 
ade! ich far dahin.' 

IV*. 

1. Bei meines buolen haupte 
da stet ein güldner sdirein. 

Darinn da leit verschloßcn 
das junge herze mein/ 

wolt got, ich het den schlüßel! 
ich würf in in den Rein/ 
war ich bei meinem buolen, 
wie möcht mir baß gesein! 

2. Bei meines buolen fueßen 
da fleußt ein brünnlein kalt, 
und wer des brünnleins trinket 
der jungt und wirt nicht alt/ 
ich hab des brünnleins trunken 
so manchen stolzen trunk, 

vil lieber wolt ich küssen 
meins buolen roten mund. 

3. In meines buolen garten 
da sten zwei beumelein, 
das ein das tregt muscaten, 
das ander negeleiii/ 
muscaten die sind sueße, 
die negelein die sind räß, 
die gib ich meinem buolen 
daß er mein nicht vergeß. 

4. Und der uns disen reien sang, 
so wol gesungen hat, 

das haben getan zwen hawer 
zu Freiberg in der stat, 
sie haben so wol gesungen 
bei met und kuelem wein, 
darbei da ist geseßen 
der wirtin töchterlein. 

Alte hoch® und niederdeutsche Volkslieder, Nr. 30 













Das Zersingen der Volkslieder 


173 


V». 

1. Da droben auf jenem Berge, da stehet ein hohes Haus, 

Da schauen wohl alle Frühmorgen drei schöne Jungfrauen 

heraus, 

2, Die eine heißet Susanne, die andere Annemarei, 

Die dritte die darf ich nicht nennen, sie soll mein eigen sein. 

5 3. Da drunten in jenem Tale, da treibet das Wasser ein Rad, 

Das treibet nichts als Liebe vom Abend bis wieder 

zum Tag, 

4. Das Mühlrad ist zerbrochen, die Liebe hat ja ein End, 

Und wenn zwei Verliebte scheiden, so geben sie sich 

die Hand', 

5. Ach Scheiden, bitteres Scheiden, wer hat doch das Scheiden 

erdacht? 

io Das hat ja mein Jungfrisches Herze aus Freuden in Trauern 

gebracht. 

6 . In meines Großvaters Garten da stehen zwei Bäumelein, 

Das eine trägt Muskaten, das andere Nägelein. 

7. Muskaten und die sind süße, feines Nägelein riecht 

so wohl. 

Die will ich meim Schätzchen verehren, daß es mein 

gedenken soll. 

Das erste dieser Lieder ist Wunscherfüllung. Das dritte 
Fräulein wird des Sängers eigen. Wegen seiner einfadien Form 
erinnert es noch sehr stark an die Lieder der Frühzeit deutscher 
Lyrik. Tatsächlich ist es in seinem latenten Inhalte ebenso einfach 
wie in dem manifesten. Der Sänger sieht in der Illusion die Ge¬ 
liebte. Auffällig sind nur die beiden ersten Zeilen, da das in ihnen 
dargestellte Bild, das hohe Haus auf dem Berge, ganz rätselhaft, 
geheimnisvoll wirkt. 

Auch das zweite Lied ist noch eines alten Stiles. Es ist 
interessant, weil es die Mühle auf den Berg hinaufversetzt. Andere 
Lieder haben die Mühle richtig aufgestellt 1 2 . Da wir aber nur Bruch¬ 
stücke der Überlieferung haben und das ursprüngliche Verhältnis 
der beiden Lieder nicht mehr feststellen können, können wir auch 
in bezug auf diese erste Zeile nichts Bestimmtes mehr entscheiden. 
Jedenfalls sind in den vorliegenden Texten beide Lieder schon durch 
die ersten Zeilen assoziativ miteinander verknüpft, die Grundlagen 
für den Verdichtungsprozeß geschaffen. Die Verdichtung vereinigt 
dann beide Lieder zu einem neuen. Wir müssen nach der Ursache 
dieser Vereinigung forschen. Der latente Inhalt des ersten Liedes 

1 Bruinier, Das deutsche Volkslied, S. 34, 

2 Vgl. Uhland, Nr. 32 A. 








174 


Dr. Hermann Goja 


ist der Besitz des Mädchens. Was ist der latente Inhalt des zweiten? 
Der manifeste ist folgender: Eine Mühle steht auf einem Berge, 
welche die ganze Nacht nichts als Liebe mahlt. Die Mühle ist ein 
beliebtes Bild des Liebesliedes. Seine Lustbetonung verdankt es 
wohl dem Sexuellen. Dies wird klar, wenn man beobachtet, daß 
die Mühle in der verbotenen Literatur ein beliebtes Symbol ist. 
Man vergleiche folgende Stellen: 

Der Müller auch nicht? 

Der baute schlecht, in seiner Rinne 
Ist oft an Wasser große Not, 

Bald fließt es schleunig, bald zu dünne, 

Bald fließt es weiß, bald fließt es rot 1 . 

Die Mühle ist aber sogar manifester Inhalt ganzer Lieder. 
So findet sich Futilitates IV., S. 73 ff. ein mehrere Seiten langes 
Gedicht, welches das Bild der Mühle zu Zweideutigkeiten ausnützt. 
Sehr wertvoll ist die folgende Stelle dieses Liedes: 

»— Die Mühle liegt in einem üppig schönen Tal, 

Der Weg zu ihr ist etwas schmal, 

Sie ist nicht groß und auch nicht klein, 

Zwei Hügel schließen sanft sie ein. 

Ein dichter Wald beschattet sie, 

Audi fehlt es ihr an Wasser nie 

Auch Schnadahüpfl kennen die Mühle als Sexualsymbol: 

D'Menscha liabnt d'Mütlnabuam 
Grad zwegna mahln, 

Wan da Mühlbeutl schlenkert, 

Das Ding tuat eahn gfäln 3 . 

Das Mahlen <11 3 ) hat daher auch wohl nur eine Bedeutung 4 . 
Daraus wird aber die Vereinigung der beiden Lieder verständlich. 
I ist in V Ausdruck eines Wunsches, II Wunscherfüllung. 

Bei diesem Zusammenfließen der beiden Lieder wurde II 
etwas geändert. Die Mühle wurde wieder in das Tal versetzt, wo* * 
her sie wahrscheinlich einst geholt worden war. Durch das Zer* 
singen von II 1 zu V 5 wurde jedoch ein neues Band geschaffen, 
welches die Lieder fester miteinander verknüpft. Die erste Zeile des 
neuen Liedes hat nun: Da droben auf jenem Berge . . ., die fünfte: 
Da drunten in jenem Tale, da treibet das Wasser . . . Das Bild 
»Berg und Tal« ist nun eines der gebräuchlichsten und lustbeton* 
testen des Volksliedes. Man vergleiche: 

1 Futilitates, I. Bd., I 5/ vgl. »Die Erschaffung der Jungfrau« in »Futili¬ 
tates«, II. Bd., S. 155. 

a S. 81, vgl. auch Futilitates, IV. Bd., S. HO. 

* Futilitates, I. Bd., LXV 26 . 

* coire. vgl. dazu die Bedeutung von molere,- audi die Wendung: wer 
zuerst kommt, mahlt zuerst bei Reuschel, S. 177 und das Lied auf die Belagerung 
von Rapperswyl <Reusdiel, S. 179). 









Das Zersingen der Volkslieder 


175 


7. Wie hoher berg, wie tiefe tal! 

es ist schad daß Henslin sterben soll 1 , 

oder: 

1. Ich stund auf einem berge, 
ich sah in tiefe tal, 
ein schifflein sah ich schwimmen 
darin drei grafen warn 2 . 

Die Zusammengehörigkeit von Berg und Ta! zeigt auch Nummer 3t A, 
Zeile 5 der Uhlandsdten Volkslieder »Dort ferne auf jenem berge«, 
welches mit »So dep in jenem dale« <31 Bs) ab wechselt. Der Um¬ 
stand, daß durch das Zusammenrücken der beiden Lieder dieses 
beliebte Bild entsteht, hat sicher dazu beigetragen, gerade diese 
Lieder zu vereinigen. Diese Annahme gewinnt an Wahrscheinlichkeit 
noch mehr, wenn man berücksichtigt, auf welche Vorstellungen dieses 
so oft gebrauchte Bild von »Berg und Tal« hinleitet. Ist es doch, 
wie es ein Lieblingsbild der erlaubten Literatur ist, auch ein Lieb 3 4 
lingsbild der verbotenen. Man lese bei Blümml 3 : 

Diendle, wo hast denn dein Tsdiatsdiale, 

Diendle, wo hast denn dein Ding? 

Zwischen zwa Berglan im tiefen Tal, 

Mitten im Häb'racker drinn. <67, 214.) 

oder: 

Auffi üwer's Bergl, awi üwer'n Grab'n, 

Niedaleg'n, koan Wort nimma sag'n, usw. <LXIV, 207>, 

und: 

Zwischen Berg und Täl 
Schlägt a Nachtigall, 

Zwischen zwa blonde Dirn, 

Da is guat lieg'nh <LXXIX, 263.) 

Das letzte Beispiel zeigt sehr gut, wie das grobsexuelle Bild 
aus der Gruppe der erotischen Lieder in die der Schnadahüpfl 
übergeht. 

Es ist sicher, daß die große Lustbetonung, welche das Bild in 
der Volksdichtung besitzt, ebenfalls dem Sexuellen entstammt. Be 3 
wußt oder unbewußt wird der Sänger des Bildes an das Sexuelle 
erinnert, genießt er beim Hören <also in der Illusion Schauen) des* 
selben die Lust, welche er beim Schauen des Gegenstandes erlebt, 
für welchen es steht 5 . 

Zum Erkennen des Wesens der Verdichtung ist es wertvoll, 
die Bedeutung dieses Bildes festgestellt zu haben. Ersehen wir denn 

1 Uhland, Alte hoch* und niederdeutsche Volkslieder Nr, 150, Str. 7. 

2 Ebenda, Nr. 96 A, Str. 1. 

3 E. K. Blümml, Erotische Volkslieder aus Deutschösterreich. 

4 Man sehe, wie das Bild von »Berg und Tal«, das nach dem oben Ge» 
sagten als Band zwischen dem ersten und zweiten Lied verwendet wurde, auch in 
dem Bilde von der Mühle erscheint. 

r > Vgl. unten S, 227 ff, 






176 


Dr. Hermann Goja 


jetzt schon, daß der Fall der Verdichtung, welchen wir jetzt ana¬ 
lysieren, auf eine Häufung lustbetonter, sexueller Vorstellungen 
hinarbeitet. 

Die in dem älteren Liede II6—8 enthaltene Klage wurde in V 
ausgebildet durch Anfügung einer Strophe, welche sich in vielen 
Liedern findet, für welche ich III mitteile. Die Strophe erscheint 
immer in Abschiedsliedern, vorzugsweise in Tageliedern, soweit ich 
sie verfolgt habe, welche Liebesgenuß zur Voraussetzung haben 
oder ihn noch manifest darstellen und bestätigt durch das Auftreten 
in V»—io meine Interpretation von Vs— g. Ihre Vereinigung mit den 
beiden vorhergehenden Teilen zu einem neuen Liede entspricht 
wieder der schon festgestellten Tendenz nadi Häutung lustbetonter 
sexueller Vorstellungen,- denn beim Singen des Liedes V werden 
nun alle diese Tagelieder erinnert, in welchen Vo—io enthalten ist 
und dadurch alle in ihnen enthaltenen lustbetonten Vorstellungen 
in das Bewußtsein gehoben. 

Die Benützung der Wanderstrophe zur Erweiterung des 
Liederkomplexes I und II ist durdi die Verwendung derselben in 
Tageliedern gegeben. Denn I und II bilden zusammen den Anfang 
eines Tageliedes, in dem sie verhüllt die wunschbefriedigende Situ¬ 
ation derselben, die Liebesnacht, darstellen. Auf diese Situation als 
Voraussetzung bauen sich die Abschiedsstrophen, welche den eigent¬ 
lichen Kern der Tagelieder bilden, auf. Die Verdichtung der Lust¬ 
vorstellungen im latenten Inhalt des Liederkomplexes geht also 
parallel mit einer Erweiterung des manifesten Inhaltes aus einem 
einfachen Wunschlied zu einem Tagelied. Das Zersingen von 
II 7 —8 zu Vs erfolgte, um das Ansdiließen der Wanderstrophe zu 
ermöglichen. 

Der Wanderstrophe folgt dann in V noch eine Gruppe von 
zwei Strophen Vu— h, welche sich als 17—24 in dem bilderreichen Liede 
IV findet. Das Lied enthält in seiner ersten Strophe das Bild von 
Schlüssel und Schrein, in seiner zweiten das des Jungbrunnens und 
in der dritten das der Nelken und Muskaten. Da sich sämtliche 
Bilder des zusammengesungenen Liedes bisher als sexuellen Inhaltes 
erwiesen haben, werden wir solches auch von diesem Paare er¬ 
warten. Diese Vermutung wird verstärkt, wenn man die Form be¬ 
obachtet, welche diese Gewürze haben. Danach erscheinen sie so¬ 
fort als Sexualsymbole, und zwar die Gewürznelke als männliches, 
die Muskate <Muskatnuß) als weibliches Symbol, 

Die Verwendung der Nelke als Sexualsymbol wird bestätigt 
durch die Verwendung derselben in der verbotenen Literatur. 
Blümml 1 hat ein ganzes Lied, welches seine Zweideutigkeit durch 
Verwendung der Nelke als Sexualsymbol gewinnt (XXXVIII). 
Man vergleiche daraus: 

Ein Nagelstodc, der is mein Leb'n, 


1 E. K. Blümml, Erotische Volkslieder aus Deutschösterreidi, 











Das Zersingen der Volkslieder 


177 


und: 

Der Nagelstock ist in der Blüh', 

Sind schon zwei Knospen dran. 

mit: 

O du mein liawa Gott, 

Schick ma=r*an Naglstock, 

Der auf zwoa Fiaß'n steht 
Und mit mir sdilaPn geht 1 . 

In den Liedern der verbotenen Literatur handelt es sich dabei 
um die Zierpflanze, während die Nelke der erlaubten mit dem Ge* 
würze zusammenfällt. Die Muskate erscheint als Symbol in der 
verbotenen Volksdichtung nicht. Ihre Bedeutung ist aber nicht allein 
daraus zu erschließen, daß sie immer mit der Nelke gepaart auf* 
tritt, sondern auch aus dem Umstande, daß sie an Stelle der Rose 
gesetzt wird. Ich gebe für den letzteren Fall ein Beispiel: 

Und sind es keine Röslein, 

So ists Muscatenkraut, 

Du hast mir die Treu versprochen, 

So bist du meine Braut 2 . 

♦ 

Mit diesem Abschiedsgeschenk ist das neue Tagelied zum Ab* 
Schluß gebracht. Auch es bestätigt den Zweck dieser Verdichtung: 
Luststeigerung durch Häufung lustbetonter sexueller Vorstellungen 3 . 

Wir haben also einen zweifachen Zweck der Verdichtung kennen 
gelernt. 1. Die Verdrängung eines unlustbetonten Vorstellungs* 
komplexes durch einen Tustbetonten, 2. die Luststeigerung, wir 
wissen, daß von den drei Grundfunktionen das Streben sich auf 
Verdrängung von Unlust, Erzeugung von Lust richtet und erkennen 
daher das Zersingen als Wirkung des Strebens. 

Die Verschiebung 4 . 

Wir haben an dem Schicksale zweier Lieder eine Form des 
Zersingens studiert, die Verdichtung. Sie ist nicht die einzige Art 
desselben, nur eine unter einigen. Ich will nun eine neue vorführen, 
um unsere Erkenntnis zu ergänzen. Jch wähle als Führer das Lied 
»Die Schlacht bei Leipzig«, welches ich in einer Fassung des Welt* 
krieges folgen lasse: 

1 E. K. Blümml, Erotische Volkslieder aus Deutschösterreich, LIX, 65. 

2 Simrock, Die deutschen Volksbücher, VIII, Nr. 154, vgl. zu Rose 

S. 235, Anm. 4. , Tr 

3 Als Ursache der Verdichtung kann man dabei die Entwicklung und Ver* 
feinerung der menschlichen Psyche annehmen, während als deren Ursache bei den 
S. 154 ff. mitgeteilten Fällen die psychische Situation betrachtet werden kann. 

4 Bruinier bezeichnet dieselbe Erscheinung Zersingen. Vgl. »Das deutsche 
Volkslied«, S. 36. Über die psychische Bedeutung der Verschiebung siehe Freud, 
Traumdeutung, S. 227. 

Imago VI/2 


12 






178 


Dr. Hermann Goja 


A. 

1. Bei Königgrätz stand eine Esche, 

Ein ganzer Herr von Kriegersdiaar. 

Auf einmal hör' ich ein Geräusche, 

Der Tag verwandelt sich in Nacht. 

5 2. Auf einmal war ein Puffernebel, 

Der Tag verwandelt in die Nacht, 

Da haben viele tausend Säbel 
Viele tausend Menschen umgebracht. 

3. Viele Tausend liegen ganz verhauen, 
io Das Blut, daß fließet strömenweis. 

Ach Gott, die Seelen anzuschauen. 

Erpresset mir den Todesschweiß. 

5. Ach Gott, schenk jeden Eltern ihren Sohn 
Und jeder Allerliebsten ihren Heim 
15 Dann erschallen unsere Jubellieder, 

Wenn wir in unserer Heimat sein. 

B i Esche > Eiche 4 sich in > in die 5 tiefer Nebel 9 viel zerhauen, 
13 schenkt ... ihre Söhne 14 Heim > Mann. 

C 2 ganzes Heer 5 Pulvernebel 

A zeigt einen gänzlich zerstörten Text. B verbessert A nicht viel, 
zeigt nur durch Lassen des unsinnigen A, daß das Lied nicht mehr ver= 
standen wurde, <Wir werden später erfahren, was das Nichtmehrver® 
standenwerden eines Liedes bedeutet.) Wir werden auf Grund dieses 
Textes hier nur schließen, daß das Lied nicht mehr gesungen wurde, nicht 
mehr gesungen werden konnte. Und das ist richtig. Das Lied war wohl 
noch in der Erinnerung einiger, hatte aber seine Beliebtheit eingebüßt. 

Dem manifesten Inhalte nach ist es dem Liede »Sarajevo an der 
Drina« in der Fassung II ähnlich. Es hat als Einleitung eine Kampfszene, 
als Schluß die Wendung zur Heimat, welche diesem Komplexe so 
charakteristisch war. In seinem latenten Inhalte führt es also wieder 
aus einem unlustbetonten Vorstellungskomplex zu einem lustbetonten, 
ist es also Wunscherfüllung. Nicht überflüssig ist es, zu betrachten, 
wie stark unlustbetont die Kampfszene ist, wie stark aus dem ganzen 
Liede die Abneigung gegen den Soldatenstand spricht, Ich lasse nun 
die Quelle des Liedes folgen, um seine Veränderungen zu studieren: 

I 1 . 

1. Einstmals saß ich vor meiner Hütte, 

An einem schönen Sommertag/ 

Da dankt ich Gott für seine Güte, 

Weil alles friedlich um mich lag. 

5 Ich lebte damals redit zufrieden. 

Mit frohem Muth und heiterm Sinn 
Legt ich mich nach der Arbeit nieder, 

_Dort auf mein hartes Lager hin. 


1 Sol’tau»Hildebrand, Historische Volkslieder, 2. Hundert, Nr. 80, 













Das Zersingen der Volkslieder 


179 


2. Des Na<fits saß ich beim Mondenscheine, 

10 Und hörte auch die Nachtigall, 

Die mir vor meiner Hütt' alleine 
Ein Loblied sang mit frohem Schall. 

Ich lebte damals recht zufrieden, 

Hab nichts von böser Welt gekannt/ 

15 Allein, es schwand mein stiller Frieden, 

Und nun ist alles abgebrannt, 

3. Bei Leipzig, o ihr lieben Leute! 

Wo meine Hütt' ist abgebrannt, 

Hört' ich von einem großen Streite, 

20 Und Kriegsgeschrei durchs ganze Land. 

Ich hörte die Kanonen knallen 
Und auch ein schreckliches Geschrei: 

Ich hörte die Trompeten schallen 
Und Trommeln wirbelten dabei. 

25 4, Auf einmal kam ein dicker Nebel, 

Der Tag verkroch sich in die Nacht,- 
Das Blitzen von viel tausend Säbeln 
Hat viele Menschen umgebracht. 

Die Blitze vom Kanonenfeuer 
30 Erleuchteten den Jammerort/ 

Da kamen Menschen, Ungeheuer, 

Ich lief aus meiner Hütte fort. 

5. Nun mußt ich in dem Pulverdampfe 
Noch übers blut'ge Schlachtfeld gehn, 

35 Und in dem langen Todeskampfe 

Die armen Menschen leiden sehn. 

Ich sah viel tausend dort zerhauen. 

Im Blute schwimmend weit umher. 

Ach, Gott! das Elend anzuschauen, 

40 Das schmerzte mich unendlich sehr. 

6. O, Friedensgöttin! komm hernieder. 

Die Menschheit seufzte längst nach dir/ 

Gieb Eltern ihre Söhne wieder 

Und heile alle Wunden hier, 

45 Doch ach! ich seh dein Auge thränen. 

Du schweigst. Wohlan wir sind bereit, 

Zu kämpfen gegen die Hyänen, 

Bis du einst rufest aus dem Streit. 

n. 

A 1 . 

1. Ich saß bei meiner Hütte 
wohl in dem Sonnenstrahl, 
dankt, Gott für seine Güte, 
für Freuden ohne Zahl. 

1 Soltau-Hildebrand, Historische Volkslieder, 2. Hundert, Nr. 88. 

12* 











180 


Dr, Hermann Goja 


5 Bei Brüssel stand die Eiche, 

da ruht' ich Tag und Nacht, 
da hört' ich ein Geräusche 
von großer Kriegesmacht. 

2. Es fängt schon an zu tagen, 

io auf, auf! ihr Pionier! 

voran zum Brückenschlägen, 
ihr muth'gen Pontonier! 
Sapeurs, hebt eure Schanzen, 
es nahet sich die Schlacht, 

15 Franzosen müssen tanzen, 

frisch auf, Musik gemacht! 

3, Trompeten hört' ich schallen, 
ein schreckliches Geschrei, 
Kanonen hört' ich knallen, 

20 angst wurde mir dabei, 

und durch der Trommel Brausen 
verließ ich meinen Ort, 
setzt' mich auf einen Rasen 
ohnweit dem blut'gen Ort. 

25 4. Auf, auf! Kartätschen fliegen, 

geschwind, Artillerie! 
voran, ihr stolzen Jäger, 
ihr kämpfet stets mit Müh', 
zieht dem Tyrann entgegen, 

30 der uns verschlingen will: 

wir scheuen nie den Regen, 
Sieg oder Tod das Ziel! 

5. Da fiel ein starker Nebel, 
der Tag versdiwand in Nacht, 

35 das Klirren tausend Säbel 

hat mandien umgebrachr. 

Ich mußte nach dem Kampfe 
durch's blut'ge Schlachtfeld gehn, 
im Rauch und Pulverdampfe 
40 die Menschheit leiden sehn. 

6. Dort auf dem rechten Flügel, 
ihn kennen wir ja schon, 

der mit gewohntem Siege: 
es war ja Wellington. 

45 Der Franzmann war geschlagen, 

in dieser Schreckenszeit, 
wir thaten ihn verjagen, 
zerstören weit und breit. 

7. Vorwärts! rief Vater Blücher, 

50 Vorwärts! und folgt mir nach. 

Sie drangen mit dem Greise 
in starker Reihe nadi. 










Das Zersingen der Volkslieder 


181 


Blücher ließ dem flieh'nden Feinde 
keine Zeit und keine Ruh 
55 spudcte stets im Avanciren 
Kartätschen auf sie zu. 

B 1 . 

1. Bei Brüssel stand eine Eiche, 
Dort ruht' ich Tag und Nacht/ 
Da hört' ich im Geräusche 
Von starker Kriegesmacht. 

5 2. Es fängt schon an zu tagen. 

Auf, auf, ihr Pioniers! 

Voran zum Brückenschlägen, 

Ihr flinken Pontonniers! 

3. Sappeurs, hebt Eure Schanzen, 

io Es nahet sich die Schlacht! 

Franzosen müssen tanzen, 

Frisch auf, Musik gemacht! 

4. Trompeten hört' ich schallen. 

Ein schreddiches Geschrei,- 

15 Kanonen hört ich knallen, 

Angst wurde mir dabei. 

5, Auf, auf, Kartätschen fliegen! 
Auf, auf, Artillerie! 

Voran Ihr stolzen Jäger, 

20 Vor dem Feinde flieht Ihr nie! 

6, Zielt dem Tyrann entgegen, 

Der uns verschlingen will. 

Wir scheuen nicht den Regen, 
Sieg oder Tod das Ziel! 

25 7. Da fiel ein starker Nebel, 

Der Tag verschwand in Nacht. 
Da klirren tausend Säbel, 

Das hat manchen umgebracht. 

8. Dort auf dem rechten Flügel, 

30 Den kennen wir ja schon, 

Der mit gewohntem Siege, 

Es ist der Wellington. 

9. Der Franzmann ward geschlagen 
In dieser Schredcenszeit! 

35 Wir thaten ihn verjagen, 

Zerstreuen weit und breit. 

10. »Vorwärts !« rief Vater Blücher, 
»Vorwäts! und folgt mir nach!« 
Sie drangen wohl dem Greise 

40 In starken Reihen nach. 


1 Hruschka-Toischer, Deutsche Volkslieder aus Böhmen, II, 15. 






182 


Dr. Hermann Goja 


11. Held Blücher ließ dem Feinde 
Im Fliehen keine Ruh 7 , 

Schickte stets im Avancieren 
Kartätschen auf sie zu. 

III 1 . 

1 . Bei Waterloo stand eine Eiche, 

Worunter wir des Nachts gerastet han: 

Ei, was hört ich unter dem Gesträuche? 

Einen Lärm von lauter Kriegsgeschrei. 

5 2. Auf einmal fiel ein dicker Nebel 

Und der Tag verwandt sich in die Nacht, 

Und da blitzten so viel tausend Säbel, 

Hat manchen Deutschen umgebracht. 

3. Wenn die Kanonenkugeln sausen, 

io Und der Tambour wirbelt auch dabei, 

Wenn die Kartätschenkugeln brausen 
So ist uns alles einerlei. 

4. Und als wir nach vollbrachtem Kampfe 
Übers blutge Schlachtfeld ziehn 

15 Da sahen wir im Pulverdampfe 
Die armen Menschen sterben hin. 

5. Der Vater weint um seinen Sohn 

Und die Mutter um ihr geliebtes Kind: 

Ei, so schick uns Gott den stillen Frieden 
20 Daß wir in unsre Heimath ziehn. 

IV 2, 

1. Bei Waterloo stand eine Eiche, 

Wo man des Tags gerastet hat. 

Was hört man dort aus dem Gesträuche? 

Ein Heer mit lauter Kriegsgeschrei. 

5 2. Auf einmal fiel ein grauer Nebel, 

Der Tag verbarg sich in der Nacht, 

Auf einmal blitzten viele tausend Säbel, 

Wie mancher Deutsche wurde umgebracht. 

3. Der Vater weint um seinen Sohn, 
io Die Mutter um ihr liebes Kind. 

O gieb doch, Gott, den stillen Frieden, 

Daß wir in unsre Heimath ziehn. 

Vergleichen wir nun, unter Vernachlässigung von I und II A, 
IIB mit dem Liede des Weltkrieges. Wir sind überrascht. Das 
kriegsmüde Lied des Weltkrieges tritt uns in der Fassung II B als 

1 Erk-Böhme, Deutscher Liederhort, II, 358 d> 

* Wolfram, Nassauische Volkslieder, Nr. 484. 









Das Zersingen der Volkslieder 


183 


Preislied auf die Schlacht bei Waterloo entgegen. Es ist voll Be¬ 
geisterung für den Krieg. Alle seine elf Strophen <nur zwei dieser elf 
sind in der letzten Fassung enthalten!) sind eine Schilderung der 
Schlacht von ihrem Anbruch bis zu ihrem Ende, der siegreichen 
Verfolgung der Franzosen. Ja, diese Strophen schließen mit einem 
Hymnus auf Blücher, dem Führer des Heeres. Das Lied kennt 
keinen Haß gegen das Soldatentum, der Sänger ist kein Feind des 
Militärs, keiner des Kampfes, des Krieges, der Schlacht. Er ist mit 
ganzer Seele Soldat. Selbstverständlich hat in diesem Liede auch der 
Bezug zur Heimat 1 keinen Platz. Es braucht ja das Soldatische nicht 
als Unlustquelle aus der Bewußtseinslage verdrängt zu werden durch 
die Lustquelle des Heimatskomplexes. Die Gesamtheit aller Vor¬ 
stellungen, welche sich an das Soldatische knüpfen, ist eine starke 
Lustquelle. Der Sänger eröffnet sich dieselbe, indem er das Lied 
singt und die glorreiche Schlacht wieder in der Illusion durchlebt. 
Ebenso wenig wie die Vorstellungen der Heimat kommen in II B 
die der in der Schlacht Gefallenen vor 2 . Die Begeisterung ist so groß, 
daß sie diese Opfer nicht bemerkt. Die Lust, welche sich an die Vor¬ 
stellung des Kampfes anschließt, unterdrückt vollständig die Unlust, 
welche die Vorstellung der Gefallenen auslöst. 

Der latente Inhalt des Weltkriegsliedes ist also im Verhältnis 
zu II B stark verschoben. Die Auffassung des Soldatischen, die psy¬ 
chische Wertung desselben hat sich geändert und diese Änderung 
der Wertung hat die Änderung des Liedes hervorgebracht. Diese 
Art des Zersingens, welche wir an dem Liede der Schlacht bei 
Waterloo sehen, bezeichnet man daher auch am besten als Ver¬ 
schiebung. 

Wir werden diesen Verschiebungsprozeß noch besser verstehen 
lernen, wenn wir nach II B die folgenden Fassungen betrachten. 
III kennt von allen elf Strophen von II B nur zwei, und zwar die 
1. und 7., diejenigen, welche allein gelesen oder gesungen, am ehe¬ 
sten ein düsteres Bild in der Seele erregen. Alle anderen Strophen 
sind schon unterdrückt. Dafür ist die 3. Strophe <111 9 — 12 ) neu ein¬ 
gesprungen. Sie sucht sich noch zu einer heroischen Auffassung des 
Soldatentums aufzuschwingen, endet aber schon stark in Resignation. 
Die Analyse zeigt jetzt eine vollständige Übereinstimmung des 
Waterlooliedes mit dem Sarajevoliede II. Ebenso wie dieses setzt 
es mit einer Situation ein, welche vor dem Kampf liegt, entwickelt 
dann die Kampfszene und wendet schließlich den Vorstellungs¬ 
verlauf nach der Heimat. Es ist genau dieselbe psychische Bewegung 
in beiden Liedern. Wenn wir sie nicht nach dem manifesten, sondern 
nach dem latenten Inhalte einteilen, müssen wir beide in dieselbe 
Klasse einreihen. Der Zweck der Verschiebung ist in dem Liede III 
genau derselbe, wie der Zweck der Verdichtung von II und III zu I 


1 Vgl. Zeile 13—16 des Weltkriegsliedes. 

s Vgl. ebenda, Zeile 9 — 12 . 







184 


Dr. Hermann Goja 


des Sarajevoliedprozesses, nämlich die Verdrängung einer Unlust» 
quelle, des Soldatischen, erreicht durch Unterdrückung einer großen 
Zahl von Strophen des manifesten Inhaltes, durch Einführung einer 
Lustquelle, des Heimatlichen (Sexuellen), in den Schlußstrophen des 
manifesten Inhaltes. Wir sehen also: das Zersingen haftet nur an dem 
manifesten Inhalte der Lieder, verschiedenen Arten des Zersingens 
entspricht die gleiche Veränderung des latenten Inhaltes. Welche 
Art desselben gewählt wird, um einem veränderten latenten Inhalte 
(also einer veränderten Bewußtseinslage) das Lied anzupassen, hängt 
offenbar nur von der Eignung der einzelnen Technik, diese Ver» 
änderung durchzuführen, ab. 

Die Entwicklung des Waterlooliedes bestätigt diese Sätze. 
Haben wir schon in III desselben das Soldatische als Unlustquelle 
annehmen müssen, so müssen wir dies in IV noch viel mehr tun. 
Die einzige Strophe, welche in III versucht hatte, das Soldatische 
als Wunscherfüllung hinzustellen (III 9 — 12 ) ist in IV unterdrückt. Es 
bleiben daher nur drei Strophen: die Einleitungsstrophe (die Ein* 
leitung von IIB), eine Mittelstrophe (dem Inhalte des ganzen alten 
Liedes entsprechend) und eine Schlußstrophe, welche die Verbindung 
des Ganzen mit dem Heimatskomplexe herstellt. Man merke, wie 
die einzige unlustbetonte Zeile von IIB, die Zeile: Das hat manchen 
umgebracht (IIB 28 > noch in IV erhalten ist: Wie mancher Deutsche 
wurde umgebracht (IV 8> und wie dieselbe an psychischen Wert 
gewonnen hat. In dem IIB® Liede nimmt sie ja nur einen Bruchteil 
des ganzen Schlachtbildes in Anspruch, in dem IV»Liede umfaßt sie 
ein Viertel der Kampfszene. Ein ähnliches Anwachsen der Be® 
deütung zeigt auch das Heimatsmotiv, das in IIB nicht vorhanden, 
in III ein Fünftel, in IV ein Drittel des manifesten Umfanges ein® 
nimmt. 

Setzen wir nach IV die jüngste Fassung des Liedes, die des 
Weltkrieges, so sehen wir, daß in ihr das Soldatische noch stärkere 
Unlustquelle ist als in IV, sie entwickelt das IV 8 enthaltene Motiv 
durch Einfügen einer neuen Strophe zur Klage um die Gefallenen. 
Das Lied ist aber durch die Entwicklung des Soldatischen unfähig 
geworden, seinen Zweck (Lusterzeugung und Unlustverdrängung) 
zu erfüllen. Es wird daher zerstört durch Vergessen und Mißver¬ 
stehen der unlustbetonten Teile seines manifesten Inhaltes. Diesen 
Prozeß werde ich später darstellen \ ich vernachlässige daher die Be¬ 
sprechung der Lesarten. 

Die Entwicklung, welche der manifeste Inhalt des Waterloo» 
liedes von der Fassung IIB über III und IV zu der des Welt® 
kriegsliedes genommen hat, ist also eine Verschiebung, welche be» 
zweckt, eine immer stärker werdende Unlustquelle zu verdrängen 
und durch eine Lustquelle zu ersetzen. Betrachten wir jetzt die 
älteste Fassung I und die Fassung IIA, um eine neue Überraschung 


1 Vgl. S. 211 ff.: Der Unsinn im Volksliede. 













Das Zersingen der Volkslieder 


185 


zu erleben! I, eine Schulmeisterdichtung, enthält das Soldatische 
ebenso als Unlustquelle wie IV und das Weltkriegslied! I ent* 
stammt sogar die unlustbetonte Strophe III 13 — 10 ! Die Entwicklung, 
welche das Lied von I über IIA zu IIB genommen hat, ist die 
entgegengesetzte, als diejenige, welche zur Bildung von III, IV usw. 
geführt hat. Das Soldatische gewinnt in den Fassungen I bis IIB 
immer mehr an Lustbetonung, wie ein Vergleich der Singarten zeigt. 

Am stärksten ist die Luststeigerung von I auf IIA: wurden 
doch auf dem Wege von der ersten zur zweiten Fassung alle Zeilen 
von I bis auf zwölf unterdrückt. Verblieben sind nur Z. I 1 — 4 , 
25 — 28 , 33 — 36 . 44 der 56 Zeilen von IIA sind neu und es sind alle 
Zeilen, welche das Soldatische als Lustquelle enthalten, die erst in 
IIA einspringen. Aber auch die Entwicklung von IIA auf IIB 
zeigt die Entwicklung des Soldatischen als Lustquelle. Der letzte 
Rest des Schulmeisterlichen wird in IIB getilgt. Die Zeilen 1 - 4 , 
21 — 24 , 37 — 40 , die wohl nicht aus I stammen, dessen Ton aber 
fortgeführt haben, werden jetzt ausgestoßen. Von lustbetonten 
Zeilen sind nur 49 - 52 , wohl mit Rücksicht auf das Wort Greis 
entfernt. 

Die Entwicklung von I nach IIB ist wieder eine Verschiebung. 
Sie dient aber jetzt nicht der Unlustverdrängung, sondern der Lust« 
gewinnung. Die Entwicklung des latenten Inhaltes von I ist auf 
diesem Wege gleich der, welche der latente Inhalt des Liedchens 
»Dort oben auf dem Berge« genommen hat, sie ist Luststeigerung. 
Demnach verfolgt die Verschiebung denselben Zweck als die Verdicht 
tung. Der Unterschied beruht nur in der Technik der Veränderung. 

Bis jetzt haben wir das Streben immer auf Unlustverdrängung 
und Luststeigerung gerichtet gefunden. Ich will jetzt ein Beispiel 
anführen, in welchem sich das Streben in der Verdrängung einer 
lustbetonten Vorstellung betätigt. Wir werden am Ende der Ana« 
lyse erkennen, daß es in diesem Falle ebenso funktionsgetreu wirkt, 
wie bei dem der Lustgewinnung. Der Gewinn, den wir aus dieser 
Analyse ziehen werden, wird ein bedeutender sein, ein Fortschritt 
in der Erkenntnis des Zersingens ebenso wie in der der Kunst- 
Psychologie. Das Beispiel ist eines der Verschiebung. Der psychi* 
sehe Prozeß, der in ihnen verfolgt werden kann, ist derjenige, welcher 
die Hauptursache der Verschiebung überhaupt ist, womit die Be¬ 
rechtigung, ihn hier darzustellenf gegeben ist. 

Ich muß diesmal ein Lied zur Grundlage nehmen, dessen 
Varianten John Meier 1 gesammelt hat. Es ist das Lied Heinrich 
Wilhelm von Stamfords »Ein Mädchen holder Mienen«, dessen 
ziemlich langes Original sich im folgenden (I) mit jenen der 24 Va¬ 
rianten bringe, deren ich bedarf. (In den 24 Varianten sind mehrere 
Fälle des Zersingens verfolgbar, welche hier nicht berücksichtigt zu 
werden brauchen): 


1 J. Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. XIX ff. 






186 


Dr. Hermann Goja 


I. 

1. Ein Mädchen holder Mienen, 
Schön Aenndien, saß im Grünen 
Am Rädchen, spann vergnügt, 
Und: »Ich kan nicht sagen, 

5 Wie schnell an manchen Tagen 

Die liebe Zeit verfliegt.« 

2. »Mein Tagwerk zu vollenden. 

Ist nur ein Spiel den Händen/ 

Oft findet mich schon früh 

io Die liebe Sonne munter. 

Und geht sie Abends unter. 

Bin ich noch wach wie sie.« 

3. »Wer Arbeit nur nicht scheuet, 
Und sich des Lebens freuet, 

15 Dem lacht der Himmel zu/ 

Drum siz' ich junges Mädchen, 
Und trill' und trill' ein Fädchen, 
Und sing' ein Lied dazu.« — 

4. Als sie kaum ausgesungen, 

20 Da kam daher gesprungen 

Ein Ritter jung und fein: 

»So fleißig?« — ja! zu dienen. 
Wil man sein Brot verdienen, 
Muß man wol fleißig sein. 

25 5. »Dein Brot! du liebes Mädchen! 

Mit einem Spinnerädchen? 

Und Wänglein doch so roth! — 
Hast Eltern noch?« Ach keine! 
Für midi bin ich alleine: 

30 Früh nahm sie mir der Tod. 

6. Drum spür' ich nichts als Segen 
Auf allen meinen Wegen,- 
Denn Mangel leid' ich nicht/ 

Ein Mädchen, wil es spinnen, 

35 Kan leicht so viel gewinnen. 

Daß ihr's an nichts gebricht. 

7. Der Ritter: »Höre Mädchen! 

Laß dieses Spinnerädchen, 

Und schenk dein Herzchen mir: 

40 Solst Schäze dir gewinnen, 

Wil dir ein Leben spinnen. 

Ein Fürstenleben, dir! 

8. Im schönsten meiner Schlösser, 
Das groß, und wohl noch größer, 

45 Als dieses Dörfchen ist. 













Das Zersingen der Volkslieder 


187 


Das Wall und Graben zieren, 
Solst du allein regieren. 

Wenn du gefällig bist. 

9. Solst gehn in lauter Seide, 
so Solst tragen ein Geschmeide 

Von Perlen und von Gold/ 

Und was du wirst begehren, 
Wird man dir da gewähren; 

Nur, Mädchen, sei mir hold!« 

55 10. Herr Ritter, nein! dies Rädchen, 

Erwiederte das Mädchen, 

Dies Rädchen lass' ich nicht: 

Wil lieber Tugend haben. 

Als alle goldnen Gaben, 

60 Die mir ihr Mund verspricht. 

11. Mich schmüdcet dieses Bändchen 
<Es wies mit seinem Händchen 
Auf's Busenbändchen hin.) 

Wohl mehr als Gold und Seide,- 

65 Denn köstliches Geschmeide 

Ziemt keiner Spinnerin, 

12. Doch weil sie Gnade haben. 

So wil ich ihre Gaben 

Für Arme hier erflehn: 

7 o Mein Nachbar gleich hieneben 

Hat Kinder — nichts zu leben! 
O wenn sie's solten sehn! 

13. Und sonst war hier im Lande, 
Kein Mann in besserm Stande,- 

75 Noch fleißiger, als der: 

Sein Glüdc und Wohlergehen 
War eine Lust zu sehen. 

Und ach! nun hungert er! 

14. Schön waren seine Heerden,- 

eo Er fuhr mit muntern Pferden: 

Sein Hof gerieth in Brand,- 
Da ward dies allzusammen 
Ein Raub der wilden Flammen, 
Und öde liegt sein Land! 

85 15. Herr Ritter, sie gewähren . . . 

Hie hemt ein Strom von Zähren 
Des Mädchens gutes Wort: 

Der Ritter, husch! im Wagen, 
Befahl davon zu jagen, 
yo Und plözlich war er fort. 

16. Wenn von der Tugend Wegen, 
Wie böse Ritter pflegen, 

Eudi Mädchen, wer wil ziehn/ 





Dr. Hermann Goja 


So fodert ihn zu Thaten, 

95 Die edles Herz verrathen, 

Nur auf, so wird er fliehn; 

17. Wird fliehn, ohn euch zu hassen; 
Vielleicht vom Irrweg lassen. 

Und froh euch Wiedersehn,- 
100 Denn wo uns Schönheit rühret, 

Und uns zur Tugend führet. 

Wer kann da widerstehn? 

II 1 . 

1. Ein Mädchen holder Mienen, 
Schön Hannchen, saß im Grünen 
Am Rädchen, saß und spann. 

Sie sang: »Ich kann's wohl sagen, 
5 Wie froh in manchen Tagen 
Die liebe Zeit verfließt. 

2. »Mein Tagwerk zu vollenden 
Ist jetzt ein Spiel der Händen, 
Man findet mich hier früh; 

io Hier sitz ich armes Mädchen, 

Und drill' und drill' mein Rädchen 
Und sing ein Lied dazu.« 

3. Als sie kaum ausgesungen, 

Da kam ein Herr gesprungen, 

15 Ein Ritter jung und schön. 

»So fleißig?« »Ach ja zu dienen, 
Sein Brot sich zu verdienen, 

Muß man wohl fleißig sein!« 

4. »Dein Brot? Ach, liebes Mädchen, 

20 Mit deinem Spinnerädchen, 

Mit Wangen frisch und roth?! 
Hast du noch Eltern?« 

»Ach nein, ich habe keine. 

Ich bin nur ganz alleine, 

25 Früh nahm sie mir der Tod. 

5. »Doch spür' ich nichts als Segen 
Auf allen meinen Wegen, 

Denn Mangel leid' ich nicht. 

Ein Mädchen kann durch Spinnen 
30 Wohl leicht so viel gewinnen, 

Daß ihr an nichts gebricht.« 

6. »Doch höre, liebes Mädchen 
Mit deinem Spinnerädchen, 

Ach, schenk' dein Herze mir! 


J, Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. XXI, Nr. 2. 
















Das Zersingen der Volkslieder 


189 


35 Sollst Schätze ja gewinnen 

Und dir ein Leben spinnen, 

Ein Fürstenleben dir! 

7. »Sollst gehn in lauter Seide 
Und tragen ein Geschmeide 

40 Von Perlen und von Gold! 

Und was du wirst begehren, 

Soll man dir gleich gewähren! 

Ach Mädchen, sei mir hold. 

8. »Nimm, Schönste, meine Schlösser, 

45 Ein Dorf, das noch weit größer 

Als dieses Dörfchen hier! 

Bis Wald und Gräben zieren. 

Sollst du allein regieren, 

Bist du gefällig mir!« 

50 9. »Herr Ritter, hier das Rädchen,« 

Erwidert ihm das Mädchen, 

Das Mädchen gutes Wort! — 

Der Ritter stieg in'n Wagen, 

Befahl davonzujagen 
55 Und plötzlich fuhr er fort. 

III 1 . 

1. Es war ein armes Mädchen, 

Es spinnt auf seinem Rädchen, 

Es spinnt das Garn so fein ja, ja, 

Es spinnt das Garn so fein. 

2. Da kam ein Herr geritten. 

Er ließ das Mädchen bitten: 

»Geh mit mir auf mein Schloß, ja, ja. 

Geh mit mir auf mein Schloß. 

3. »Ich will dich lassen kleiden 

In Sammet und auch in Seide, 

Wenn du mir die Treue versprichst, ja, ja. 
Wenn du mir die Treue versprichst.« 

4. * *Ich will ja lieber spinnen. 

Um mein Brod zu gewinnen. 

Als reich und schlecht zu sein, ja, ja. 

Als reich und schlecht zu sein.« 

IV 8 . 

1. Saß ja ein Mädchen 
An ihrem Spinnrädchen 
Und sang ein Lied dazu, ja, ja, 

Und sang ein Lied dazu. 

1 JL Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. XXIV, Nr. 7 . 

* Ebenda, S. XXVII, Nr. 15. 







190 


Dr. Hermann Goja 


r 


2. Und wie sie hat gesungen, 

Wer kommt daher gesprungen? 

Ein Grenadier gar hübsch und fein, ja, ja, 
Ein Grenadier gar fein. 

3. »Hast du noch Eltern, mein Mädchen?« 
»Nein, Eltern hab ich keine. 

Ich bin so ganz alleine, 

Der Tod vernahm sie mir, ja, ja. 

Der Tod vernahm sie mir.« 

4. »Hast ihren Segen, mein Mädchen?« 

»Der guten Eltern Segen 

Hab ich auf allen Wegen, 

Dieweil ich brav und fleißig bin, ja, ja. 
Dieweil ich brav und fleißig bin.« 


5. »Gib mir die Hand mein Mädchen, 

Laß stille“stehn das Rädchen, 

Ich sag es dir aus Herzens Grund: 

Du sollst mein eigen sein von dieser Stund, ja, ja. 

Du sollst jnein eigen sein von dieser Stund!« 

Ich führe an I, dem Originale, keine Detailanalyse durch, da 
der manifeste und der latente Inhalt desselben sofort klar ist. Der 
latente Wunsch ist wieder der sexuelle, welcher in der Liedillusion 
befriedigt wird. Dies zu erkennen ist leicht, da das Lied frivol ist. 
Der manifeste Inhalt desselben läßt sich teilen in die Einleitung 
<1 i— 18 >, den Verführungsversuch des Ritters <1 19 — 54 ) und die Ab» 
lehnung desselben durch das Mädchen <1 55 - 102 ). Uns stößt der 
dritte Teil wohl noch mehr ab als der zweideutige zweite. Viel zu viel 
Tugend und Sittsamkeit ist in ihm in unwahrscheinlichsterWeise gehäuft. 

Dieser dritte Teil wird nun dem Volke ebenso Unlustquelle 
als uns. Er wird daher von diesem abgestoßen. II zeigt die Ent» 
fernung desselben. Die Singarten von II sind überhaupt charakte» 
ristisch. Sie lassen sich fast in Gruppen zusammenfassen. Ich gebe 
einige Beispiele. I betont geflissentlich den Wert der Arbeit. Die 
Sänger von II teilen diese Auffassung der Arbeit nicht. Eine Reihe 
von Singarten läßt dies erkennen, I 3 spann vergnügt > II 3 saß und 
spann. Da das Spinnen den neuen Sängern kein Vergnügen bereitet, 
wird »vergnügt« unterdrückt. Das heitere I 9—10 wird unterdrückt. 
Für 1 9 erscheint das ärgerliche II 9 »Man findet midi hier früh«. 
Die Vorstellung des vom Morgen bis zum Abend Arbeitens <1 9 - 12 ) 
wird als besonders unlustbetont in II ganz unterdrückt. Aus dem» 
selben Grunde die Moral: 

»Wer Arbeit nur nicht scheuet, 

<Und sich des Lebens freuet), 

Dem lacht der Himmel zu,- <1 13 — 15 ). 

Auch die aufdringliche Mahnung, daß ein Mädchen, wenn es 
nur arbeiten will, leicht so viel verdienen könne, als es zu seinem 











Das Zersingen der Volkslieder 


191 


Lebensunterhalt benötige,- daß also ein Mädchen durchaus nicht seine 
Reinheit verkaufen müsse, um sein Leben zu fristen (1 34 - 30 ), wird 
gemildert <11 29 — 31 ). Man vergleiche besonders I 34 : »Ein Mädchen, 
wil es spinnen« mit II 29 »Ein Mädchen kann durch Spinnen«. Der 
Wille fehlt in II, es wird daher »wil« unterdrückt. Ein Mädchen, 
das arbeiten muß, ist daher ein armes <11 io), kein junges <1 10 ) 
Mädchen. 

Eine zweite Gruppe von Singarten zeigt in II den Widerstand 
der neuen Sänger nicht zwar gegen die Vorstellung des Liebes* 
genusses, wohl aber gegen die einer käuflichen Liebe. Gerade dieser 
Umstand, daß es sich bei dem Verhältnisse des Mädchens zum Ritter 
in I nidit um Liebe, sondern um ein Geschäft handle, ist ja im 
Originale stark betont. Der Unterschied der Bewußtseinslagen zeigt 
sich schon in I 26 . Der Ritter fragt dort: mit Spinnen wolle das 
Mäddien sein Brot verdienen? Es sei doch hübsch usw.! Dagegen 
ist II 20 viel milder. Durch Weglassen des Fragetones und Ver* 
Wandlung von »einem« zu »deinem« ist es II 32-33 stark genähert 
worden. II 32-34 zeigt die Unterdrückung der als unlustbetont fest* 
gestellten Vorstellungen ganz deutlich. Die Aufforderung des Ritters: 
»Laß dieses Arbeiten und geh mit mir«, ist zu einer Liebesbitte 
umgewandelt durch Zusammenziehen von I 37 und 1 38 und Trennung 
von I 38 und I 39 . Man vergleiche: 

Der Ritter: »Höre Mädchen! 

Laß dieses Spinnerädchen, 

Und schenk dein Herzchen mir 

Solst Sdiäze dir gewinnen usw. {I 37 — 40 ) 

mit: 

»Doch höre, liebes Mädchen 
Mit deinem Spinnerädchen, 

Ach, schenk' 1 dein Herze mir! 

Sollst Schätze ja gewinnen usw. <11 32 — 35 ), 

um dies zu erkennen. Die Verwandlung des »dir« <1 40 ) zu »ja« 
<11 35 ) steht ebenso in dem Dienste dieser Tendenz wie die des »Nur« 
<1 54 ) zu »Ach« <11 43 ) oder des »Im schönsten« <1 43 ) zu »Nimm, 
Schönste« <11 44). 

Als dritte Gruppe könnte man die Unterdrückung der Strophen 
10 bis 17 von I nehmen, welche bis auf einige Zeilen ganz ver* 
loren gegangen sind. 

Zusammenfassend kann man sagen: die Sänger von II emp* 
finden Unlust bei der Vorstellung übergroßer Tugendhaftigkeit und 
vieler Arbeit, ebenso wie bei der eines Liebeskaufes, Die Vor* 
Stellung des Sinnengenusses ist ihnen offenbar lustbetont, da sie 
selbst nicht unterdrückt erscheint. Der latente Inhalt von II lautet 
daher: Sinnengenuß ist lustvoll (Beibehaltung der entsprechenden 
Bilder des manifesten Inhaltes). Auf ihn um der Tugend willen zu 
verzichten, ist Unsinn (Unterdrückung des dritten Teiles). Nichts 
als Arbeiten ist widerwärtig (Singarten der ersten Gruppe). Dieser 







192 


Dr. Hermann Goja 


dritte Satz ist wieder durch den ersten fortzusetzen. Betont so II 
das Recht der Sinnlichkeit, so lehnt sie den Liebeskauf, aber nur 
diesen, als unsittlich ab. 

Durch die Analyse von II kommen wir in unserer Erkennt* 
nis noch nicht viel weiter. Betrachten wir III. Der Widerstand gegen 
den sexuellen Inhalt ist offenbar gewachsen. Die Ablehnung ist 
klar geworden <in II verbarg sie sich in der durch Verdichtung 
entstandenen undeutlichen Strophe 50 — 55 ) und selbst die Liebes« 
Werbung, < welche dem zweiten Teile von I entspricht) ist stark ver* 
kürzt. Der Widerstand, welcher sich in der Unterdrückung des alten 
zweiten Teiles offenbart, kann sich nur gegen die Sinnlichkeit richten, 
denn das Element der käuflichen Liebe ist schon seit II ausgeschaltet. 
Er richtet sich tatsächlich gegen die außereheliche Libidobefriedigung, 
wie IV zeigt. 

Die Beibehaltung der sinnlichen Werbeszene ist in IV nur 
mehr möglich um den Preis der Ehe. Die Entwicklung der Ver» 
Schiebung von II bis IV ist am besten zu erkennen durch Vergleich 
beider Lieder. Die Ablehnung des Liebesantrages, welcher auf außer» 
eheliche Libidobefriedigung gerichtet war, ist in II verworfen worden 
durch Verunklärung der Abweisung <11 50 — 55 ). Die Annahme der Liebes» 
Werbung ist in IV nur mehr möglich in der Form einer Ehewerbung. 

Wir sehen also eine immer stärker werdende Unterdrückung der 
lustbetonten sexuellen Vorstellungen. Denn lustbetont ist das Sexuelle 
auch in IV immer noch. <Man beobachte das III einspringende »ja, 
ja« aller dritten Strophenzeilen, welches auch in IV wiederkehrt.) 

Man sollte meinen, daß dieser Widerstand gegen das Sexuelle 
in IV seine höchste Kraft entwickelt hat. Das Lied IV ist kaum 
mehr unsittlicher als viele Volkslieder, Dennoch ist er gewachsen 
und hat zur völligen Unterdrückung der Werbung geführt. Ich gebe 
nun ein Beispiel 1 für jene Fälle, in welchen die Werbung unter» 
drückt, das Gespräch zwischen Ritter und Mädchen erhalten ist. 

1. Schön Hannchen saß im Grünen 
Mit ihrem Spinnerädchen 
|:Und sang ein Lied dazu.;| 

2. Kaum hatt' sie es gesungen, 

So kam ein Herr gesprungen, 

|:Ein Ritter jung und schön.:j 

3. »Gutn Tag, gutn Tag, liebs Mädchen 
Mit deinem Spinnerädchen, 

|:Du bist wie Milch und Blut.:| 

4, Frage : »Sind sie auch <so> fleißig?* 

Antw.: »Ach ja, mein Herr, zu dienen. 

Will man sein Brod verdienen, 

|:Muß man wohl fleißig sein.«:| 


1 J. Meier, Kunstlieder im Volks munde, S. XXX, Nr. 21- 







Das Zersingen der Volkslieder 


193 


5. Frag«: »Haben sie auch Eltern?* 

Antw.: »Ach nein, ich habe keine. 

Ich bin so ganz alleine, 

|:Früh nahm sie mir der Tod.«:| 

Das Verführungslied I ist in dieser Fassung zu einem Waisen- 
lied verschoben. Das Sexuelle ist unterdrückt bis auf die Situation 
des Gespräches. Es ist aber sicher noch stark in der Melodie er= 
halten. 

Auch die Situation des Gespräches schalten zwei Fassungen 
aus, so daß nur die Situation der spinnenden Waise überbleibt. 
Sexuelles ist direkt nichts mehr in ihnen enthalten 1 . Ich bringe nun 
die letzte Fassung John Meiers 2 : 

1. Ein Mädchen holder Liebe, 

Schön Hanndien saß im Grünen, 

Sie sang ein Lied und spann dazu. 

Sie sang ein Lied und spann. 

2. Da kam ein Herr gegangen, 

Der streichelt ihr die Wangen: 

»Bist du allein, mein Kind? 

Bist du allein, mein Kind?« 

3. »Ich bin so ganz alleine. 

Der Eltern hab ich keine, 

Früh nahm sie mir der Tod, ja, ja. 

Früh nahm sie mir der Tod.« 

4. »Sollst nicht mehr sein alleine, 

Du liebe holde Kleine. 

Ich will dein Vater sein, ja, ja. 

Ich will dein Vater sein.« 

In dieser Fassung ist ebenso wie das zweideutige »ja, ja« 
wieder das Gespräch enthalten. Der Verführer ist aber nun zum 
Menschenfreund verwandelt. Interessant ist die vierte Strophe,- sie 
besteht aus der ersten Zeile der dritten Strophe und einer Zeile 
eines fremdem Waisenliedes 3 . Diese Zeile befindet sich in der 
neunten Strophe des Liedes, dessen zehnte, welche durch das Singen 
der verdichteten neuen notwendig erinnert werden muß, lautet: 

Er that's und nahm sie in sein Haus, 

Der gute reiche Mann 
Zog ihr die Trauerkleider aus 
lind zog ihr schönVe an. 


1 Indirekt ist Sexuelles enthalten, da das Spinnen im manifesten Inhalte 
ununterdrüdtt ist. Spinnen ist aber in der Volksdichtung eine Symbolhandlung 
sexuellen Inhaltes. Man vergleiche dazu »Das Lied vom Spinnradi trän, trän« 
<FI. Bl. der Wiener Stadtbibliothek 39976 C>. 

i Kunstlieder im Volksmunde, S. XXXI, Nr. 24. 

8 Böhme, Volkstümliche Lieder der Deutschen, Nr. 647. 

Imago VI/2 


13 







194 


Dr. Hermann Goja 


Diese schönen Kleider sind aber wohl keine anderen als jene, 
welche der Ritter dem Mädchen versprochen hat (I 49-54). Im 
latenten Inhalte dieser Fassung ist also das Sexuelle ebenso ent* 
halten als in I. Im manifesten Inhalte ist es aber sehr stark getilgt. 

Fassen wir zusammen, was wir an diesem Beispiele der Ver* 
Schiebung beobachtet haben, so müssen wir sagen: die Verschiebung 
bezweckte in ihm die Entfernung sexueller Vorstellungen, aus dem 
manifesten Inhalte des Liedes, trotzdem das Sexuelle die Lustquelle 
desselben ist. Da die Ursache der Verschiebung ein Streben ist, 
Unlust aus der Bewußtseinslage zu entfernen, Lust in derselben zu 
erzeugen, sind wir zu der Annahme gezwungen, daß das Sexuelle 
gleichzeitig Lust* und Unlustquelle sein kann. Diese zwiespältige 
Gefühlsbetonung besitzt das Sexuelle tatsächlich. Primär ist es lust* 
betont, sekundär unlustbetont. Seine Lustbetonung hat es aus dem 
Unbewußten, seine Unlustbetonung aus dem sekundären Denken. 
Infolge der sekundär erworbenen Unlustbetonung ist eine direkte 
Illudierung des Sexuellen unmöglich. Sie ist nur durdi Kompromiß mit 
den derselben entgegenwirkenden Strebungen möglich und dieser 
Kompromißbildung dient die Verschiebung. Durch die Verschiebung 
wird die Illudierung einer Situation erreicht, in welcher sowohl die 
sexuellen Wünsche als auch die deren Erfüllung entgegenwirkenden 
Strebungen befriedigt werden 1 . Wenn wir dann in dem Stamford* 
sehen Liede eine immer stärker werdende Verschiebung des mani* 
festen Liedinhaltes beobachten, so müssen wir daraus schließen, daß 
der Widerstand des Vorbewußten gegen die Befriedigung sexueller 
Wünsche immer stärker geworden ist. Auf eine Sittlichkeit der 
Kunst zu schließen, wäre jedoch falsch. Ihr Wesen ist die Befriedi* 
gung der sexuellen Wünsche, der Triebe. Sie steht damit im direkten 
Gegensatz zur Ethik, welche deren Veredelung, Bändigung anstrebt. 
Dieser Tatsache entspricht auch die Wertung der Volksdichtung von 
seiten der Kirche und der auf die Wahrung der öffentlichen Sittlich* 
keit bedachten Behörde 2 . 

1 Vgl. dazu Freud, Traumdeutung VII e, besonders S. 467 ff. Den Stre= 
bungen des Vorbewußten gegen Wunsche des Unbewußten sind wir schon be^ 
gegnet. Sie offenbarten sich in den Abschiedsliedern der Gespielinnen (oben S. 150>, 
indem sie die Klagen über verhinderten Geschlechtsgenuß in Klagen über das Los 
der Braut verwandelten/ in den Tageliedern (oben S. 149, Anm. 2 ), in denen sie an 
Stelle des Augenblicks der Vereinigung den des Abschieds der Liebenden zur 
Illusion gelangen ließen/ sie offenbarten sich auch in der Schöpfung der Sexual^ 
Symbole, denen wir oben S. 177ff. begegnet sind. — Freud bezeichnet diese Stre¬ 
bungen als Widerstandszensur, eine Bezeichnung, welche ich vermeide, da sie den 
Anschein erweckt, als ob es sich hier um andersgeartete Kräfte bandle als bei den 
Strebungen des Unbewußten. Die Tatsache einer doppelten Wertungsweise ist 
übrigens außer von Freud, der sie für den Traum erkannt hat, schon von Anger-» 
mann (der Typus des Leidvollen in der deutschen Volksballade) in der Volks¬ 
dichtung erkannt worden (vgl. S. 43 und 79 der angeführten Schrift)- Ihre psycho¬ 
logischen Ursachen sind ihm jedoch unbekannt geblieben. 

2 Vgl. dazu Böckel, Psychologie der Volksdichtung, S. 142ff. und S- 165 ff. 
Außerdem Uhland, Abhandlung über die deutschen Volkslieder, S. 381 ff., 391 ff. und 
394ff. Der Meinung Böckels, daß in der Natur des Volksgesanges weder eine 















Das Zersingen der Volkslieder 


195 


Greifen wir jetzt noch einmal auf I des Stamfordschen Liedes 
zurück und fragen uns nach der Ursache seines dritten Teiles 
<1 55-io2>. Wir haben in ihm die Tugend überbetont gefunden. Diese 
Überbetonung ist ebenfalls eine Kompromißbildung. Die Illusion der 
zweideutigen Situation, welche sofort der Verdrängung verfallen 
würde, wird dadurch ermöglicht, daß der Gegenstand derselben 
übersittlich dargestellt wird. In dem Augenblicke, wo die Frivolität 
des zweiten Teiles (I 19—54) gemildert wird, kann auch der dritte 
entfernt werden. II zeigt schon diese Form des Liedes. Die Be- 
tonung der Arbeitsamkeit des Mädchens dient ebenso der Korn 3 
promißbilduug, deren Verständnis steh aus dem Vorhergesagten 
ergibt. 

Als Zweck des Zersingens haben wir bis jetzt festgestellt: 
1 . Die Verdrängung eines unlustbetonten Vorstellungskomplexes 
durch einen lustbetonten. 2 . Luststeigerung. 3 . Lusterzeugung durch 
Kompromißbildung. Als besondere Arten haben wir festgestellt: 
1. Die Verdichtung. 2 . Die Verschiebung. 

Ich will dieses Kapitel nicht schließen, ohne einen besonderen 
Fall der Verschiebung erwähnt zu haben, den der Umkehrung. Die 
Umkehrung ist besonders merkwürdig deshalb, weil es der einzige 
Fall des Zersingens ist, welcher sich nicht im manifesten Inhalte der 
Lieder offenbart. Es ist ein Zersingen ohne Liedveränderung. Wir 
sind bei dem Studium des Zersingens bisher immer von der An¬ 
nahme ausgegangen, daß der latente Liedwunsch, welcher in der 
Liedillusion seine Erfüllung findet, durch Ursachen modifiziert worden 
sei. Dem modifizierten Liedwunsche war es notwendig das Lied 
anzupassen, um mit dessen Hilfe jene Illusion zu erzeugen, welche 
den neuen Wunsch befriedigt. Die Veränderung des Liedwunsches 
kann immer weiter schreiten, bis der neue Lieawunsdi in direkten 
Gegensatz zu dem alten kommt. 

Ich gebe ein Beispiel. In den ersten Tagen des Weltkrieges 
war Soldat-sein Wunscherfüllung, in den letzten Tagen desselben 
war Nicht^Soldat^sein Wunscherfüllung. Der Wunsch der ersten 
Kriegstage hatte sich also im Laufe des Weltkrieges in sein Gegen¬ 
teil verkehrt. Alle Soldatenlieder der ersten Kriegszeit standen im 
Dienste der Wunscherfüllung, sie stellten den Wunsch Soldat zu 
sein, im Felde zu sein, zu kämpfen usw. in der Illusion erfüllt dar. 
In den letzten Monaten des Krieges wurden diese Lieder wieder 
gesungen unter ganz bestimmten Voraussetzungen, freiwillig oder 
gezwungen, dienten dann wieder der V^iinscherfüllung, aber der 
Erfüllung des Gegenwunsches, nicht Soldat sein zu müssen. Die 
Erfüllung des neuen Wunsches wurde erreicht durch entsprechend 
geänderte Gefühlsbesetzung des alten Liedes: es wurde nun ironisch 

religionsfeindliche noch unsittliche Tendenz obwaltet, kann idi mich nicht anschließen, 
wohl aber vermag ich Angermann beizustimmen, wenn er behauptet, daß der 
Sänger nicht das Beherrschen der Willenskräfte, sondern das freie, ungehemmte 
Spiel gewaltiger Triebe bewundere <S. 83 der obzitierten Schrift). 


13 






196 


Dr. Hermann Goja 


gesungen. Kam es in diesen letzten Monaten zu Ausbrüchen der 
Verbitterung, welche sich jedoch noch nicht entladen konnten, so 
wurde gesungen, das alte Lied etwa: 

Vierundzwanzig lustige Brüder 
Haben frohen Mut/ 

Singen stets die schönsten Lieder 
Sind dem Hauptmann gut. 

Der Ton des Vortrages ebenso wie die Bemerkungen, welche die 
Leute dazu machten, ließen keinen Zweifel, daß das Gegenteil des 
Inhaltes gemeint sei. 

Die Tatsache der Liedumkehrung stellt den Historiker vor eine 
schwierige Aufgabe. Es ist ja an keinem geschriebenen oder ge* 
druckten Liede zu erkennen, ob es nach seinem logischen Sinne oder 
verkehrt, nach seinem umgekehrten Sinne zu verstehen ist. Schlüsse 
aus der Existenz von Liedern abzuleiten ist daher im allgemeinen, 
nicht möglich 1 . 

Ich will mit diesen Bemerkungen über die Umkehrung das 
Kapitel der Verschiebung schließen, um mich der Betrachtung eines 
neuen Mittels des Zersingens, dem des Vergessens, zuzuwenden s . 

1 Ich will das Gesagte mit einem Beispiel belegen: Sommer 1918 ent» 
standen bei Schür 24 eine Menge patriotischer, kriegsbegeistertef Lieder, welche 
den Anschein erwecken könnten, als ob bei diesem Regimente zu dieser Zeit noch 
eine solche patriotische Hochstimmung bestanden hätte. Die Ursache dieser Lieder 
war aber einerseits ein höherer Befehl, anderseits die Aussicht auf Dienstes» 
erleichterungen, welche den Dichtern zugestanden wurden. So wurden Lieder ge=- 
schaffen, die an Stelle der Kriegsmüdigkeit, der sie entstammten, Kriegsbegeisterung 
in ihrem manifesten Inhalte zeigen. Der manifeste Inhalt erscheint also verkehrt, 
bedingt durch Strebungen des Vorbewußten. Der wahre Sachverhalt wäre jedoch 
von dem Historiker nur durch genaueste Analysen feststellbar. 

2 Die Sddußabschnitte vorliegender Arbeit werden in dem unmittelbar an» 
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V. Zur Psychologie des hysterischen Ma¬ 
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VI. Hysterie und Mystik hei Margareta Ebner 


VII. Psychoanalyse und Weltanschauung 

VIII. Gefährdete Kinder und ihre psycho* 
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IX. Wahnvorstellung und Sdiülerselbst* 
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