ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG.
PER. PSYCHOANALYSE AUF DIE
GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON
PROF. DE S1GM. FREUD
REDIGIERT VON
DX OTTO RANK U. DE HANNS SACHS
1920
VI. BAND
HEFT 2
«A*
IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSYCHOANALYSE
AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
erscheint viermal jährlich im Gesamtumfang von 24 bis 32 Druckbogen
und ist neben der
»Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse«
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IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSVCHO-
ANALYSE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG: DR. OTTO RANK/DR. HANNS SACHS
INTERNATIONALER PSyCHOANALyTISCHER VERLAG G. M. B. H.
LEIPZIG - WIEN - ZÜRICH - LONDON - NEW-yORK
VI. 2 . 1920
Oedipus und die Sphinx.
Von Dr. THEODOR REIK 1 .
. * sehet, das ist Oedipus,
der entwirrt die hohen Rätsel *,
Sophokles.
Einleitung.
D ie Leser der »Imago« finden auf dem Umschläge dieses Heftes
eine kleine Zeichnung, die nach einem Vorschläge von Otto
Rank alle Veröffentlichungen des Internationalen Psycho¬
analytischen Verlages schmücken wird. Sie stellt Oedipus dar, den
Blick fest und unerschrocken auf seine furchtbare Gegnerin gerichtet
S. Ferenczi hat in einem schönen Artikel 2 auf eine Stelle
in Schopenhauers Briefen hingewiesen, in welcher der Philosoph den
thebanischen Heros als Vorbild jedes ernsten Forschers rühmt, der
unbekümmert um sein Wohl und Wehe die Wahrheit sucht.
Die Psychoanalyse, die, ohne Rücksicht auf alte, liebgewordene
Vorurteile der Kulturmenschheit zu nehmen, gezeigt hat, von welcher
Art die tiefsten seelischen Regungen sind, hat auch die verborgene,
allgemeinmenschliche Bedeutung des Oedipusmythus aufgedeckt. Sie
hat uns erkennen lassen, daß in der antiken Sage die zwei mächtigen
urzeitlichen Wünsche, die für die Entwicklung des einzelnen und
der Völker von entscheidender Bedeutung werden, erfüllt erscheinen.
1 Nach einem am 2. November 1919 in der Wiener Psychoanalytischen
Vereinigung gehaltenen Vortrage.
* »Symbolische Darstellung des Lust* und Realitätsprinzipes im Oedipus*
mythus.« Imago, I. Jahrg. (1912), Hefi 3.
a INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
OIE PSYCHOANALYTISCHE UNIVERSITÄT IN BERLIN
96
Dr, Theodor Reik
Das beziehungsreiche Bild des Rätsellösers Oedipus und der
ophinx darf so, wie wir meinen, mit gutem Recht vor die Arbeiten
der psychoanalytischen Forschung gesetzt werden — zumal es zur
ständigen Mahnung wird, sich nicht mit dem Erreichten zufrieden
zu geben.
Vielleicht ist diese Gelegenheit besonders geeignet, uns daran
zu erinnern, daß die Sphinx, das geflügelte Ungeheuer, selbst uns
noch ein Rätsel ist. Nun aber werden wir die Rollen tauschen; wir
werden fragen und sie soll uns, wenn auch widerstrebend, Auskunft
geben über sich selbst.
Die Herkunft der Sphinx.
Dj e Sphinx des Oedipus, die wir auf dem Bildchen sehen, ist
eine späte Schwester unzählig vieler ähnlicher Gestalten, die in prä»
historischer Zeit aus Vorderasien kamen. Wollen wir ihr Wesen
erkermen, haben wir die Wahl zwischen zwei V^egen: wir können
ihre Bedeutung aus dem Zusammenhang, in den sie die Oedipus»
sage stellt, zu erraten suchen oder aber wir bemühen uns, ihr
Rätsel zugleich mit dem ihrer Verwandten aus dem antiken Orient
zu losen. Der erste Weg ist der weitaus bequemere/ er scheint
direkt aini Ziele zu führen und ist oft gegangen worden, So ver»
lockend er wäre, wollen wir ihn vermeiden,- denn das Beispiel so
vieer verunglückter Vorgänger zeigt, daß er uns nur zu einer sehr
unzureichenden Erklärung führt. Die Forscher versichern uns, daß
die Erzählung von der Sphinx eine späte Einschaltung in der
Oedipussage darsteflt - die Sphinx selbst ist ja in Griechenland
nicht autochthon — und wir laufen so Gefahr, eine vielfach um»
gedeutete, sekundäre und späte Gestalt für die ursprüngliche zu
nehmen. Der zweite Weg ist ein schwierigerer und führt vorerst in
befremdendem Maße von unserer Sage ab und in dunkle Gebiete
der primitiven Religion und Mythologie, ohne uns die Gewähr zu
geben, daß wir zur Sphinx des Oedipus zurückgelangen werden,
wierige ragen aus der Entwicklungsgeschichte des menschlichen
en ^f nS ( ^ au bens, die eine ausführlichere Behandlung bean»
Sprüchen würden, werden vor uns auftauchen und uns den Weg
versperren wollen. Dennoch werden wir gerade diesen Weg gehen.
n„ Wir wenden unsere Aufmerksamkeit also dem Frühtypus des
Katseiwesens zu, wie ihn uns die Ausgrabungen zeigen. Die Sphinxe
Ägyptens sind Löwen mit Menschenköpfen, den übrigen phantasti»
sehen Mischwesen der Antike (Sirenen, Harpyien, Greifen, Cherubim)
nahe verwandt. W. Wundt spricht von der Sphinx als von »wohl
def |jf US j^ UC ^ Svo ^ sten un< ^ ( f arum bleibendsten der Doppelformen,
welche die Kunst überhaupt hervorgebracht hat« 1 . Die Sphinx¬
darstellungen der alten, vorderasiatischen Kunst, in der alle diese
1 Völkerpsychologie, 3. Bd. <2. Aull.), S. 156.
Oedipus und die Sphinx
97
Phantasiewesen heimisch sind, zeigen sowohl männliche als weibliche
Gestalten des Ungeheuers. Die weibliche Verkörperung findet sich
in der Frühzeit sehr selten, sie ist nach den übereinstimmenden
Aussagen der Gelehrten erst in Griechenland zu ihrer besonderen
Bedeutung gelangt 1 , doch kennen wir schon zahlreiche weibliche
Sphinxe aus dem mittleren und neuen Reiche Ägypten und seinen
Nachbarländern. Manche Sphinxe, wie etwa die von Aigina, aus
der Zeit um 460, zeigen schon Frauengesichter von verführerischer
Anmut, andere wieder weisen ernst und starr blickende männliche
Gesichter von erhabener Ruhe auf, die den Beschauer bei längerer
Betrachtung unheimlich anmuten. Aber auch jenen Sphinxen gegen®
über, die Antlitz und Oberleib einer Frau besitzen, wird der
moderne Europäer selten ein Gefühl sonderbarer Fremdheit los.
Er mag sich dabei auf Mephisto berufen, der seiner antiken Gesell®
schafterin in der klassischen Walpurgisnacht gestehen muß:
*Du bist recht appetitlich oben anzusdiauen.
Doch untenhin die Bestie macht mir Grauen.«
Die Stellung der Sphinxe ist sehr verschiedenartig: sie werden
uns stehend, sitzend, liegend und hockend gezeigt. Viele haben
Flügel, doch kommen auch zahlreiche ohne dieses Attribut vor 2 .
Man kann es fast verfolgen, wie die Sphinxgestalten, ursprünglich
in Anlehnung an realistische Tierbilder entstanden, sich immer
weiter von ihren Vorbildern entfernen und immer reicher und
phantastischer ausgeschmückt werden: schon in späten ägyptischen
Darstellungen endigt der Schwanz des Löwen in eine Schlange,- in
noch späteren Bildern der Römerzeit sind die Sphinxe zu Wesen
geworden, deren Körper aus denen verschiedener Tiere zusammen®
gesetzt wurden.
Wir finden Sphinxe als Plastiken, auf Tempelreliefs, auf Geräten,
Gefäßen, Schmuckgegenständen und Skarabäen,- der Versdiiedenheit
der Verwendung entspricht die ihrer Größe, die vom Übermenschen®
großen, ja Kolossalen — z. B. die Sphinx von Gise — bis zum
Zierlichen und Winzigen reicht 3 . Wir kennen zahlreiche Einzel®
darstellungen der Sphinx,- sie treten aber auch häufig paarweise auf.
In den zu den antiken Tempeln führenden Alleen liegen sie manch®
mal im Abstand von einigen Metern nebeneinander, die Gesichter
1 So urteilt Ilberg in Roschers Lexikon, Sp. 1298: »Die Tiere sind im
allgemeinen männlich/ weibliche Studie sind gelegentliche Varianten der männlichen
Typen, erst der griechische Einfluß bringt sie zur selbständigen Geltung.« Bei den
weiblichen Sphinxen sitzt auf einem männlichen Löwenkörper ein Frauenkopf,-
selten haben sie Eitzen, spät erst kommen weibliche Brüste hinzu. Bei den ähnlichen
Mischfiguren der Greife und Widdersphinxe kommen weibliche Tiere nicht vor,
2 Flügel bilden bei der ägyptischen Sphinx eine Ausnahme, in Griechenland
die Regel. Im Anfang sind die Flügel anliegend, später erhoben und ausgebreitet.
3 Die Sphinx von Gise ist 20 Meter hoch und 57 Meter lang,- viele ganz
kleine Sphinxe finden sich auf Prunkgefäßen, Diademen und Armbändern und auf
Verzierungen.
Imago VI/2 T
98
Dr. Theodor Reik
der Straße zugekehrt. Vielleicht gab es in Theben und anderswo
Hunderte dieser kolossalen Bilder auf den Prozessionsstraßen. Viele
Darstellungen zeigen sie hochaufgerichtet, die Feinde mit ihren Tatzen
niederwerfend oder zerfleischend, doch sieht man sie meistens vor
Tempeln Wache halten. Später schmücken und behüten sie immer
öfter Grabstätten.
Theorien über die Bedeutung der Sphinx.
In den Beschreibungen der Sphinxgestalten tritt oft die Ver»
wunderung über den Reichtum an Varianten dieses Ungetüms, das
freilich auf eine Geschichte von vielen Jahrtausenden zurückblicken
kann, hervor. Viele, einander widersprechende Züge, die sich nicht
zu einer Einheit zusammenfügen wollen, drohen uns zu verwirren
und jeden Erklärungsversuch zunichte zu machen. Es besteht kein
Zweifel, daß manche Sphinxe den König oder die Königin darstellen
wollen: dafür zeugt sowohl die angestrebte Ähnlichkeit der Gesichter
als auch die Inschriften und die Herrscherinsignien. Anderseits steht
es ebenso fest, daß viele die Gottheiten repräsentieren,- auch dafür
sind zahlreiche Zeugnisse vorhanden. Es ist ferner nichts Seltenes,
daß diese sonderbaren Gestalten eine kleine Statuette zwischen den
Vorderbeinen vor sich stehen haben, die man mit Sicherheit als Ab*
bild eines bestimmten ägyptischen Herrschers agnosziert hat Dazu
kommt, daß einzelne vor Tempeln und Palästen aufgestellte Sphinxe
die Funktion von Wächtern haben, wie aus manchen Inschriften her»
vorgeht.
Wir meinen, daß schon aus dem Wenigen, was bisher über
die Sphinx gesagt wurde, erhellt, wie viele rätselhafte Züge das
Ungeheuer zeigt, die den Völkerpsychologen, den Archäologen, den
Geschichtsforscher und den Vertreter der Kunstwissenschaft in gleichem
Maße fesseln müssen. Es hat nun keineswegs an Versuchen gefehlt,
die Fragen, welche uns die Sphinx durch ihre bloße Existenz auf»
gibt, zu lösen/ eine kleine Blütenlese aus den vorgeschlagenen Er»
klärungen, die auf Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, wird
uns indessen erkennen lassen, wie wenig sie zur Erklärung aus»
reichen und wie ungeeignet sie scheinen, alle einander widersprechen»
den Tatsachen in befriedigender Weise zum Einklang zu bringen.
Die klassische Überlieferung kennt die ägyptische Sphinx als
Abbilder der Götter 1 . Bei Plutarch erscheinen sie als Symbole
der Weisheit 2 . Clemens Alexandrinus 3 glaubt in ihnen Sinn»
1 Wilkinson, Manners and cuatoms. Second series London 1841, S. 302,-
Wiedemann, Herodots 2. Buch,Leipzig 1890, S.598, zitiert nadi dem Artikel »Sphinx«
in Roschers Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, 66,/67. Lieferung.
Leipzig 1913, Sp. 1296 ff. Diesem instruktiven Artikel von Ilberg entnehme ich
auch die meisten in diesem Abschnitte enthaltenen folgenden Literaturangaben,
* De Is. 9 ed. Parthey, Berlin 1850, S. 175.
3 Strom. V, 5, § 31, p. 240, Syll.
Oedipus und die Sphinx
99
bildet der Kraft, weil sie einen Löwenleib, und der Einsicht, weil
sie ein Menschenantlitz besitzen, zu sehen. Nach Champollion 1
ist die Sphinx die Inkorporation des Sonnengottes. Mariette 2 ist
der Ansicht, daß der König selbst vor dem Throne wacht, den er
gebaut hat. Ilberg 3 vertritt die Anschauung, daß die eigentliche
Sphinx zum Unterschied vom Greifen <Löwe mit Falkenkopf) und
von dem Widdersphinx <Löwe mit Widderkopf) den König darstelle.
Er nimmt an, daß nur die Spinxe mit Tierköpfen als Verkörperungen
des Gottes, dessen Kopf sie tragen, galten. Dieser Forscher weist
übrigens mit Recht darauf hin, daß die Ägypter ein und denselben
Relieftypus offenbar im Laufe der Zeit verschieden gedeutet haben.
Zeigte sich so in den Deutungen der ägyptischen Sphinx keine
Übereinstimmung und waren die Erklärungen der Forscher völlig
ungeeignet, gerade die vielen einander widersprechenden Momente
einheitlich zu erfassen, so ergibt eine Auswahl der Auffassungen der
Sphinxgestalt in der Oedipussage eine besondere Überraschung: die
euhemeristische alte Deutung sah in dem Ungetüm eine kühne
Räuberin, andere eine Wahrsagerin 4 . Interessant ist eine ebenfalls
euhemeristische Auffassung 5 der Sphinx als äthiopische Affenart,
die manche Geographen sogar gesehen haben wollen. Den alle«
gorischen Deutungen der Antike schlossen sich solche moderner
Gelehrter an: so sieht K. Bötticher 6 in der Sphinx »ein uraltes
Symbol des weise erwägenden, unsichtbar im menschlichen Haupte
verborgenen Verstandes«, Außerordentlich beliebt sind die Deutungen
des Untieres als Naturmacht: so soll die Sphinx unter anderem sein:
der alles umspannende Helios oder Äther, das Symbol des licht"
spendenden Ostens, ferner Sonnenhöhe, Sonnenuntergang, abneh-
mender Mond und Sirius. Sie wird von Gerhard 7 den Mächten
der Unterwelt zugerechnet, während Breal 8 in ihr die Regen¬
wolke und Forchhammer 9 den Dämon des zusammenziehenden
Winterfrostes entdeckt. Auch für R. Schroeter 10 ist sie ein winter¬
licher Dämon, der vom Frühlingshelden Oedipus besiegt wird,
O. Keller 11 meint in ihr den Würgengel der Pest in den böoti-
schen Seen zu erblicken.
Vergegenwärtigt man sich noch einmal die lange Reihe dieser
Erklärungen, so muß man zugestehen, daß sie mit bedächtiger Schnelle
1 Le Pantheon egyptien. Parts 1823, nr. 24 E.
2 Voyage dans la Haute-Egypte. 2, 9.
3 Roschers Lexikon. 66/67. Lieferung, Sp. 1301.
I Schol. Hesiod. Theog. 326 u. a., zitiert bei Ilberg.
5 Nach der Schrift »Über das Rote Meer« von Agatharchides und ähn¬
lichen Werken. Ausführliches darüber in Ilbergs Referat, Sp. 1375.
8 Berichte der Kgl. Sachs. Geseltsch. d. Wissensch. 6, 1854, S. 53 ff.
7 Griedi. Mythologie 1, 581.
8 Melanges de mythologie et de linguist, S. 163 ff.
9 Dadudios, 1875, S. 84 ff.
10 De Sphinge Graecarum fabularum. <Progr. v. Rogaslu 1880.)
II Tiere des klass. Altertums, S. 182 ff.
7 *
100
Dr. Theodor Reik
vom Himmel durch die Welt zur Hölle wandelt. Es wäre unbillig,
zu erwarten, daß ein einziges armes Wesen zu gleicher Zeit noch
mehr bedeuten solle.
Kurz sei daran erinnert, daß die Deutung der Sphinx — wenn
auch nur anhangsweise — schon Gegenstand psychoanalytischer Be«
mühung war. Rank 1 sucht die Sphinxgestalt im Zusammenhang mit
antiken Mythen aus der Identität der säugenden Menschen« und
Tiermutter zu erklären. Gleichzeitig aber weist er darauf hin, daß
die Sphinx außer dem weiblichen Oberkörper einen tierischen Hinter«
leib mit männlichem Genitale aufweist. Er rekurriert auf die infantile,
im Traume oft wiederauftauchende Anschauung, nach der alle Men¬
schen, auch die Frauen, einen Penis besitzen und schließt richtig auf
eine verborgene homosexuelle Seite der Sphinxbedeutung im Oedipus«
mythus, woraus er auch den Angstaffekt ableitet. Die Sphinxgestalt
wäre sonach eine nachträgliche Doublierung der Mutter, worauf auch
Schmidt hinweist 2 , der die Sphinx mit Jokaste identifiziert. Es sei
erwähnt, daß Laistner in seinem bekannten Werke »Das Rätsel
der Sphinx« 3 ebenso wie Rank den Angsttraum zur Erklärung
heranzieht und die Sphinx der Mittagsfrau, einem Alp, gleichsetzt.
C. G. Jung 4 will seine Theorie von der theriomorphen Repräsentation
der Libido zur Deutung verwenden: die Sphinx ist ihm eine »halb
theriomorphe Darstellung derjenigen Mutterimago, die man als die
,furchtbare Mutter', von der sich in der Mythologie noch reichlich
Spuren finden, bezeichnen kann«. Die Libido, welche theriomorph
repräsentiert wird, sei die verdrängte »tierische Sexualität«. Aus
dieser Wurzel leitet Jung die theriomorphen Attribute der Gottheit
überhaupt ab. Die Sphinx ist also dieser Erklärung gemäß ein
Angsttier, das deutliche Züge eines Mutterderivates zeige/ sie
repräsentiere einen ursprünglich inzestuös abgespaltenen Libido«
betrag aus dem Verhältnis zur Mutter. Wir kommen noch auf diese
beiden Erklärungsversuche zurück.
Ein Weg zur analytischen Deutung.
Wir meinen, wir müssen an jede zufriedenstellende Erklärung
zwei Bedingungen stellen: sie muß erstens alle hervorstechenden
und wesentlichen Züge der Sphinx, so widerspruchsvoll sie auch
untereinander sein mögen, verständlich machen und sie muß zweitens
in ungezwungener Art die Verbindung zwischen dem orientalischen
Sphinxtypus und dem der griechischen Sage herstellen. Es genügt
offenbar nicht, eine Deutung zu geben, die einem Typus gerecht
wird oder nur ein durchgängiges und wesentliches Merkmal der
1 Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage. Wien und Leipzig 1912, S, 266 ff.
2 Griech, Märdien und Sagen, S. 143. Zitiert nach Rank, S. 268.
3 Berlin 1889.
4 Wandlungen und Symbole der Libido. Jahrbuch für psychoanalytische und
psychopathologische Forschungen, IV. Band, Leipzig und Wien 1912, S. 224 ff.
Oedipus und die Sphinx
101
Sphinx beleuchtet und alle der einen widersprechende Tatsachen
vernachlässigt. Wir wollen anderseits daran festhalten, daß die
Sphinx von Gise als Repräsentantin der antiken, vorderasiatischen
Gattung eine innige Verwandtschaft mit jener Sphinx aus der Oedipus*
sage, wie sie etwa etruskische Aschenkisten aufweisen, zeigt. Es ist
wahrscheinlich, daß sich die eine aus der anderen entwickelt hat und
es wird mit zu unserer Aufgabe gehören, diese Entwicklung zu
verfolgen und psychologisch zu erklären, aber es ist unmöglich, daß
die beiden Gestalten toto genere verschieden seien. Dagegen spricht
schon die Ähnlichkeit ihrer Form. Unser Erklärungsversuch wird
nämlich von der äußeren Form der Sphinx ausgehen. Wir vertreten
die Ansicht, die Sphinx selbst müsse uns durch ihre Gestalt Auf*
Schluß über sich geben. Sie ist ja als eine Schöpfung menschlicher
Phantasie ein Stück echter Natur und wir glauben mit Goethe, Natur
habe weder Kern noch Schale: »Alles ist sie mit einem Male.«
Vorerst aber müssen wir uns fragen, wie die Menschen zu
Vorstellungen von dergleichen phantastischen Tieren kommen. Die
Frage ist nicht müßig, denn wir wissen, die Phantasie ist unfähig,
völlig Neues zu bilden, sie kann nur Stücke aus der Wirklichkeit
kombinieren und umbilden, umschaffen. Dies aber tut sie nach be*
stimmten, ewig gleichbleibenden Gesetzen, denen der Künstler des
Höhlenzeitalters ebenso folgt wie der jüngste Expressionist und
Dadaist, Der Mensch der Antike ist trotz aller Kenntnis, die wir
von ihm haben, uns im Gefühls* und Gedankenleben so fern, daß
unsere Einfühlung immer eine unvollkommene und unsichere sein
wird. Doch auch wir Kinder einer Zeit, die es so herrlich weit ge*
bracht, kennen seelische Zustände, in denen wir annähernd so
denken und fühlen wie die Menschen untergegangener Kulturperioden.
Die Psychoanalyse hat uns gezeigt, daß uns der Traum jede Nacht
auf eine solche archaische Struktur des Denkens zurückführt.
Eines der Hauptarbeitsmittel der Traumarbeit, durch dessen
Wirkung uns das Verständnis der Traumgedanken so sehr erschwert
ist, ist die Verdiditung, zu der wir auch die Herstellung von Sammel*
und Mischpersonen rechnen müssen. Wir glauben, daß diese merk¬
würdige Art der Zusammenziehung vieler oft einander wider*
sprechender Züge zu einer Einheit, die entweder im Traummaterial
bereits vorhanden ist oder neu gebildet wird, uns ausreichende Auf*
klärungen über die seelischen Mechanismen, die in der Bildung solcher
Gestalten wie der Sphinx wirksam sind, liefern könnte. Die sonder*
bare Zusammenstellung des Sphinxkörpers würde uns in der
Deutungsarbeit ebensowenig stören wie die anscheinend sinnlose
und unverständliche Bildung bestimmter Mischpersonen des Traumes.
Wir sehen etwa manchmal im Traume einen uns bekannten Herrn X,
der einen Bart wie Herr Z trägt, dabei aber einen Damenhut und
eine Seidenbluse wie Frau y, ohne uns im Traume Gedanken
darüber zu machen. Sicherlich haben sich die alten Ägypter eben*
sowenig über die Sphinx gewundert. Eine der Struktur nach dem
102
Dr. Theodor Reik
Traume ähnliche seelische Schöpfung bilden die Halluzinationen von
an Psychose erkrankten Personen, in denen nicht selten Halb- und
Mischwesen auftauchen, deren Bedeutung die Psychoanalyse er-
kennen konnte. Die mit dieser Technik vertrauten Ärzte haben ge-
gezeigt, daß die so absurd erscheinenden Bilder durchaus sinnvoll
sind. Der besondere Charakter der psychotischen Erkrankung,
namentlich der Abbruch der Beziehungen zur Umwelt, macht es
notwendig, daß die betreffenden Untersuchungen unvollständig bleiben
mußten, doch stimmen alle Analytiker darin überein, daß die hallu¬
zinierten Gestalten in jedem Zuge determiniert sind, sich ihre Pro¬
duktion aus dem Emportauchen von affektbetonten Erinnerungen
an bestimmte Erlebnisse und Eindrücke erklären läßt. Ein Ver¬
ständnis der Bilder erschloß sich nur dann, wenn man daran fest*
hielt, daß ihnen im Gefüge der Krankheit ein bestimmter Platz ein¬
zuräumen ist, man sich auf den Boden der Kranken stellte und
nicht von vornherein Anstoß an der Absurdität der Erscheinungen
nahm. Eine Patientin Dr. Bertschingers, welche die Bilder, die
sie halluzinatorisch vor sich sah, zeichnete, gab Erklärungen dazu,
die einen guten Einblick in die Art ihres Zustandekommens er¬
möglichten \ Besonders häufig erschienen ihr Doppelwesen: etwa ein
Bodt mit dem Oberkörper eines oder zweier Menschen, ein
Menschenkopf mit einem Pferdekörper, eine gefleckte Hyäne mit dem
Gesichte und dem Oberleib einer Frau, ein Krokodil, das außer
seinem Kopf einen zweiten mit den Zügen eines Mannes zeigte usw.
Die einzelnen Bestandteile dieser Zusammensetzung erwiesen sich
als in den Reminiszenzen der Kranken bedingt: sie sah z. B, eine
»getupfte« Hyäne und gab am Tage nachher eine Erklärung dazu:
sie hatte eine Wärterin, die sie gekränkt hatte, mit einer gefleckten
Hyäne verglichen, weil sie so böse, grüne Augen machte und eine
getupfte Bluse trug. Zugleich war die Hyäne auch eine der Wärterin
ähnlich aussehende junge Frauensperson, an die sich die Kranke er¬
innert hatte und mit der sie als elfjähriges Kind ein besonders pein¬
liches Erlebnis hatte. Das Bild eines Ziegenbockes mit einem
Menschenkopf wird erklärlich, wenn man erfährt, das kleine Kind
sei einmal unfreiwillig Zeugin einer Koitusszene gewesen, wobei sie
den Mann mit einem Ziegenbock verglich. Aber auch dieses Bild ist
überdeterminiert: während der Ferien hatte sie auf dem Lande das
erstemal das erigierte Membrum einer Ziege gesehen. In ähnlicher
Art führte die analytische Untersuchung jede einzelne Halluzination
auf Erinnerungen zurück: von rezenten Eindrücken, durch die Ver¬
gleichsmöglichkeiten gegeben waren, angeregt, griff die Phantasie
immer wieder auf besonders gefühlsbetonte Erlebnisse der Ver¬
gangenheit zurück. Die Halluzination, die sich dann oft einstellte,
gestaltete Personen und Gedanken in einer sonderbar komprimierten.
1 Bertschinger, Illustrierte Halluzinationen. Jahrbuch für psychoanalytische
und psychopathologische Forschungen, 1912, III. Band, S. 69 ff.
Oedipus und die Sphinx
103
für den Normalen undurchsichtigen Art: hatte die Kranke jemanden
einmal mit einem Tiere verglichen, so erschien er ihr nun wirklich
als dieses Tier/ eine andere Person, mit dieser durch irgend eine
gedachte oder wirkliche Gemeinsamkeit verbunden, verschmolz mit
der ersten im Bilde oder wurde durch einen dem Tierkörper auf¬
gesetzten Kopf dargestellt/ eine bestimmte Eigenschaft durch ein
Attribut versinnbildlicht etc. In jedem Fall ließ sich erkennen, daß
nur eine historische Auffassung, welche von dem rezenten Erlebnis
regressiv bis zu den Erlebnissen früher Kindheit zurückging, die
Halluzination in ihrer verborgenen Bedeutung verständlich machen
konnte. Dabei war man genötigt, wie bei der Lösung eines Bilder¬
rätsels die Bestandteile der Erscheinung isoliert zu betrachten und
ihren Zusammenhang erst dann ins Auge zu fassen, wenn sich das
Verständnis jedes einzelnen Teiles ergeben hatte.
Wenn wir nun zu unserer Betrachtung der Sphinx zurückkehren
und uns die analytischen Erfahrungen aus der Deutung der Misch¬
wesen im Traume und in den Halluzinationen der Psychotiker zu¬
nutze machen, werden wir uns sagen müssen, daß jeder Teil der
Sphinxabbildungen ebenso wie jedes der Attribute der Sphinx ein¬
zeln erklärt werden und eine Deutung en bloc notwendigerweise
fehlgehen muß. Der hohe Verdichtungsgrad dieser Bildung macht es
ferner notwendig, eine Schicht sorgfältig nach der anderen abzutragen:
den übereinander lagernden Erinnerungen des Individuums, die zur
Traumbildung herangezogen werden, entsprechen Niederschläge von
Erlebnissen aufeinanderfolgender Generationen in der Bildung der
Massenpsyche. So wird also der historische oder vielmehr der
genetische Gesichtspunkt in der von den einzelnen Bestandteilen
der Sphinxgestalt ausgehenden Betrachtung ergänzend zu dem
psychologischen hinzutreten müssen. Wir werden wie in der Traum¬
analyse Widersprüche zwischen den einzelnen Elementen vorläufig
unbeachtet lassen: hier wie dort wird sich schließlich, wenn unsere
Deutung richtig ist, ein latenter Zusammenhang erkennen lassen, der
auch das scheinbar Absurde als notwendig und sinnvoll zeigt.
Die Sphinx die späte Darstellung eines Totemtieres.
Das auffälligste Moment in der Verkörperung der Sphinx ist
die Mischung eines Menschen- und eines Tierkörpers, Die individuelle
Analogie dieses Phänomens im Traum und in der Halluzination weist
uns den Weg zu ihrem Verständnis: dort wurde ein Mensch als
Tier dargestellt, weil er von den Kranken mit einem Tiere ver¬
glichen wurde. Das »Gleich wie« oder »Ähnlich wie« wurde dadurch
ausgedrückt, daß das eine Objekt durch das andere, mit dem es
verglichen wurde, ersetzt wird. In dieser .Art stellt auch der Traum
Ähnlichkeit und Übereinstimmung dar. Man darf an die Tierfratzen
Rodins hier ebenso erinnern wie an die Arbeit von Ibsens Bild¬
hauer Rubek, deren Entstehung er uns selbst erklärt.
104
Dr. Theodor Reik
Die völkerpsychologische Analogie führt uns in eine Zeit zurück,
da der Mensch noch nicht hochmütig auf die Distanz hinwies, die ihn
vom Tiere trennte, ja da ihm das Tier besonders imponierte und er den
Vergleich mit einem Tiere nicht nur nicht als Schimpf, sondern als
Ehre empfand. Viele Zeugnisse der frühantiken Kultur lassen uns
erkennen, daß einmal die Brüche zwischen Tier und Mensch in der
primitiven Anschauung noch nicht so völlig abgebrochen war, wie es
unserer modernen Auffassung gemäß ist. Auch unsere Kinder eilen rasch
und ohne merkbare Anstrengung über sie,- es macht ihnen keinerlei
Schwierigkeiten, zugleich mit dem Wissen, jemand sei der Onkel, an»
zunehmen, er sei auch ein Löwe. Kürzlich sah ich zu, wie ein kleiner
Junge vor seinem Spielkameraden, der auf allen Vieren kroch und bellte,
zu seiner Mutter lief und ihr mit allen Zeichen des Schreckens mitteilte:
»Der Maxi ist ein Wolf und will mich fressen.« Von der Mutter ge»
schützt, rief er dann dem kleinen Kameraden, dessen Identität er also
durchaus festhielt, ängstlich zu: »Maxi, bist du schon ein Mensch?«
Das totemistische System beruht auf einer solchen urzeitlichen
Anschauung. Wir haben gehört, daß nach der Ansicht mancher
Gelehrten die Sphinxe die ursprünglichen Verkörperungen des Königs
waren und später zu solchen der Gottheit umgedeutet wurden. Wir
sind, wenn wir vom Tierkörper der Sphinx ausgehen, eher geneigt,
einen Entwicklungsgang in umgekehrter Reihenfolge anzunehmen und
würden ihn in großen Zügen etwa so zu beschreiben versuchen:
Die erste umfassende Religion des Menschen, der Totemismus,
hat das Tier zur Gottheit gemacht. Viele Jahrtausende später hatte
sich der Totemgott in einen anthropomorphen verwandelt, wenn
wir an das ursprüngliche Vorbild Gottes, den Vater der Urhorde,
denken, könnten wir sagen, zurückverwandelt. Die Natur, die keine
Sprünge macht, kennt auch keine Ausnahme, wenn es sich um
Entwicklungsprozesse des menschlichen Denkens handelt: unendlich
langsam vollzieht sich der Kulturfortschritt/ Jahrtausende lang muß
sich das Bild des Tiergottes neben dem der neuen Gottheit in
Menschengestalt gehalten haben und, als endlich der anthropomorphe
Gott nach vielen Zwischenfällen in den Vordergrund trat, blieb
doch neben Gefühlen der Ablehnung die mit starken Affekten ver=
bundene Erinnerung erhalten, welche bedeutungsvolle Rolle das
Tier einst in der religiösen Verehrung gespielt hatte. Als eine
solche sehr späte Erinnerung an den primären Totemismus wird
uns die Gestalt der Sphinx erscheinen, denn der Gott grauer Vor»
zeit ist noch als Resterscheinung in dem Tierleibe an gedeutet, wäh»
rend der menschenähnliche Gott jüngerer Heit sich in dem Gesichte
der Sphinx widerspiegelt. Wir würden also sagen, das Urbild der
Sphinx sei nicht der König, sondern ein gewaltiges Tier, etwa der
Löwe, der einst den Menschen zum Gott geworden war. Erinnern
wir uns der löwenköpfigen Gottheiten der Ägypter Hathor, Neith
und Bast, um Resterscheinungen des Totemismus in Ägypten zu
erkennen, in denen der Löwe als Totemtier erscheint. Wir meinen
Oedipus und die Sphinx
105
also, daß Tierbilder, etwa Darstellungen von Löwen, die z. B. in
der ägyptischen Stadt Leantopolis heilig gehalten und gepflegt wur¬
den, die unmittelbaren Vorbilder der Sphinx gewesen sind. Es geht
vielleicht eine einzige, lange Entwicklungslinie von den rohen Tier¬
zeichnungen, die man in den Höhlen des Aurignacienzeitalters fand,
bis zur Sphinx von Gise und ihren Genossinnen. Der Menschen¬
kopf, den die ägyptischen Sphinxe so oft zeigen, wäre demnach
eine späte Erscheinung, welche durch die Anthropomorphisierung
der Götter bedingt ist und einen ursprünglichen Tierkopf verdrängte.
Die Zusammensetzung von Mensch und Tier bedeutet ein »Ist
gleich«/ sie weist uns aber darauf hin, daß ein historischer Prozeß
vor sich gegangen ist, dessen Spuren wir vor uns sehen. Der
seelische Vorgang, der zu dieser Darstellungsart geführt hat, ist
dem der Verdichtungsarbeit im Traume durchaus analog: auch hier
wird in ein Bild zusammengefaßt, was, obwohl für unser Be¬
wußtsein ungleich, als Einheit aufgefaßt werden soll: das Gottesbild
einer Vorzeit, das man bereits überwunden weiß und das der Jetzt¬
zeit, das doch seine Verwandtschaft mit jenem nicht verleugnen kann.
Der Unterschied zwischen individueller und kollektiver seelischer
Tätigkeit wird darin klar, daß im Traume Personen aus der
Aktualität mit solchen aus frühen Kindheitserinnerungen verdichtet
werden, die prähistorische Kunst aber Wesen aus lange voraus-
liegenden Entwicklungsstufen mit jenen, die jetzt ihre Aufmerksam¬
keit fesseln, in ein Gebilde zusammenfaßt 1 . Die Darstellung der
1 Einige Hinweise, die obige Darstellung ergänzend, werden nicht uner¬
wünscht sein: auf einigen Sphinxfiguren der 12. Dynastie wird das Gesicht noch
von einer gewaltigen Löwenmähne umrahmt. — M. Hoernes <lirgeschichte der
bildenden Kunst, Wien 1915, S. 58> stellt sich in ähnlicher Art die Entstehung
der Misdifiguren vor: »Die bildende Kunst ist ein starker Anker religiöser Vor¬
stellungen. Auch überwundene Begriffe werden von ihr festgehalten, doch eben
als überwundene, der Vergangenheit angehörige, in Dienstbarkeit fortlebende. Sie
bereichern die Gegenwart mit der Erinnerung an das Verflossene und schaffen
auch diesem noch den gebührenden Platz im künstlerischen Ideenausdrudc. So er¬
klärt sieh die Entstehung der ältesten Mischfiguren, der ältesten Gruppenbilder.« —
Die Deutung der Sphinx als eines Gottes steht in bestem Einklang mit den älte¬
sten Überlieferungen, die z. B. mit merkwürdiger Beharrlichkeit behaupten, die
Sphinx von Gise stelle den Sonnengott dar,- sie würde aber auch die Analogie zu
der Bedeutung der Greifen und Widdersphinxe darstellen: der Falke ist das heilige
Tier des Horus wie der Widder das des Ammon. So erklären sich auch die vielen
Darstellungen, auf denen die Sphinx eine Königsstatuette vor sich stehen hat: sie
beschützt den König. Wenn sie als Wächter vor den Tempeln erscheint, so ist
zu bedenken, daß in dieser späten Gestalt schon eine Art degradierter Gottheit
ersteht/ die Sphinx ist schon zu einem Diener Gottes geworden. Nur so ist es
zu verstehen, daß der Gott selbst seine Tempel bewacht. Es ist nicht zu ver¬
kennen, daß die Sphinx in dieser Türhüterfunktion den Misdiwesen der assyrisch¬
babylonischen Kultur, den Löwen in den Palästen des Sargon, Sanheribs etc. aufs
engste verwandt ist. Wir sehen solche Schutzlöwen und -stiere nicht nur zu
beiden Seiten der antiken Paläste/ die Dome von Ferrara, Spalato, die Paläste
und Plätze Venedigs und so vieler anderer italienischer Städte weisen noch ähn¬
liche Tiere auf. Noch die Ungeheuer, die aus den Kirchengiebeln unserer Städte
herausragen, stellen Erinnerungen an diese alten, ursprünglich totemistischen
Tiere dar.
106
Dr. Theodor Reik
zwei historischen Seiten der Gottheit, der tierischen und der mensch¬
lichen, in eine Form zusammengedrängt, erscheint uns absurd und,
wenn wir der Traumpsychologie glauben, müssen wir annehmen,
daß sich ein Stüde unbewußten Hohnes in solcher Darstellung ver-
birgt. Nun wäre es durchaus falsch, ein solches Gefühl etwa mit
der Überwindung der »tierischen« Sexualität in Zusammenhang zu
bringen — nichts lag dem antiken Ägypter ferner — oder es mit
der Verächtlichmachung des Tieres zu verknüpfen, Es mag der ursprüng¬
lichen hohen Bewertung des Tieres im Laufe einer langen Kultur-*
entwicklung unter der Einwirkung vieler Momente endlich eine min¬
dere Schätzung gefolgt sein, die in bereits historischer Zeit auch zu
einer symbolischen Betrachtung in der Art C. G, Jungs führen
konnte. Für die in Frage stehende Frühzeit aber kommt eine
solche anagogische Auffassung, die viel eher die Wiederholung
eines Stückes der Entwicklung als ihre Erklärung genannt werden
muß, gewiß nicht in Betracht.
Aus der Art der Entstehung der Sphinxbilder aus dem Tote¬
mismus 1 könnte man die Weiterentwicklung des Typus im Sinne
einer immer phantastischeren Ausgestaltung vertreten. Faktoren ver¬
schiedener Art mögen in der Endgestaltung zusammengewirkt haben:
Tendenzen der Unkenntlichmachung und schließlich die mißverständ¬
liche Auffassung überkommener Sphinxfiguren durch späte Genera¬
tionen sind hier zu erwähnen. Aber in der Entwicklungsgeschichte
der Sphinx mag sich auch ein Stück der politischen und nationalen
Geschichte des ägyptischen Volkes gespiegelt haben. Die Ägypter
der ältesten Zeit stellen sich nach den Zeugnissen der Ägyptiologie
und verwandter Forschungsgebiete keineswegs als eine homogene
Einheit dar, sondern als eine Mischung verschiedener Völker 2 . Es
1 Der bekannte amerikanische Forscher Morris Jastrow hat sich zu der
Ansicht bekannt, daß »this same factor of the resemblance between men and ani¬
mal s in conjunction with the ignorance as to the processes of nature led to the
belief in all kinds of hybrid creatures, composed of human and animal organs
of fiatures«. <Babylonian-Assyrian Birth-Omens and their cultural significance.
Gießen 1914, S. 79,> Er neigt dazu, aus diesem Glauben in Verbindung mit der
babylonischen Lehre von den Geburtsomina die Fabelwesen der antiken vorder¬
asiatischen Religion, aber auch der griechischen, ägyptischen und indischen Mytho¬
logie, soweit sie solche Mischwesen darstellen, abzuleiten. Ähnliche Ansichten ver¬
traten Prof. Friedrich Schatz <»Die griechischen Götter und die menschlichen Mi߬
geburten«, Wiesbaden 1901> und Dr. Bab {»Geschlechtsleben, Geburt und Mi߬
geburten« in »Zeitschrift für Ethnologie«, Vol. 38, 209—311). Allein diese Theorien
sind sicher nicht zur Erklärung ausreichend, wenngleich sie manche Züge aufzuhellen
vermögen. *
3 Vgl. Fr Bommel, Grundriß der Geographie und Geschichte des alten
Orients 2 . 108—129, A. Wiedemann, Ägyptische Religion im Archiv für Reli¬
gionswissenschaft IX. <1906), S. 482, Die Zusammensetzung des ägyptischen
Volkes aus zahlreichen verschiedenen Völkern und Rassenresten wird nicht nur
durch Skelettfunde <vgl. J. Kollmann, Die Gräber von Abydos. Korrespondenzbl.
für Anthropol. etc. XXXI11. <1902), 119—126) und die Abbildungen von Typen
aus ältester Zeit <vgl. J. de Morgan, Recberdies sur les origines de l'Egypte,
Paris 1896—97), sondern auch durch die Untersuchung der altägyptischen Sprache
erwiesen. Diese stellt sich als eine aus verschiedenen afrikanischen und asiatischen
Oedipus und die Sphinx
107
ist auch bekannt, wieviel heterogene Elemente die Urbevölkerung
Ägyptens aufgenommen und assimiliert hat. Die Stammesorgani-
sation und die lokale Verteilung aber hatte für die Völker des
antiken Orients, die erst spät zur Staatenbildung gelangten 1 , ihre
besondere Bedeutung auch in religiöser Hinsicht. Wir sehen z. B.
in der Geschichte Babylons den wiederholten Fall, daß mit der Er-
langung der politischen und kulturellen Vorherrschaft des einen
Stammes immer wieder religiöse Verschiebungen eintreten: Assimi=
lierungen der einen Gottheit an die andere, Verdichtungen verschie¬
dener Züge und Ersetzungen der einen göttlichen Eigenschaft durch
eine abweichende. Ähnliche Ereignisse müssen auch im Stadium des
Totemismus zu Mischbildungen verschiedener Art geführt haben,-
Kombinierungen des Totemtieres der einen Stammesgruppe mit dem
einer anderen mögen sich so als Resultat längeren Nebeneinander«
bestehens mehrerer Totems herausgebildet haben. Als solche Zeichen
des Kampfes und Kompromisses zwischen Altem und Neuem,
Überwundenem und Überwinder, zwisdien verschiedenen Stämmen
dürfen wir Wesen wie die Widdersphinx, den Greif etc,, welche
die Schöpfung der Sphinx mit Menschenkopf vorbereiteten, auffassen.
Diese Form wäre demnach das letzte Produkt in einer langen Reihe,
die genau zu verfolgen uns jede Möglichkeit fehlt®.
Bestandteilen zusammengewachsene Mischsprache dar, Nach den Untersuchungen von
Ad. Ermann <Die Flexion des ägyptischen Verbums. Sitzungsber d. Berl. Akad. 1900,
317—353) und Graf Schack-Schackenburg <Ägyptiologische Studien, Heft 5,
Leipzig 1902, 209 ff.) sowie den anthropologischen Befunden v. Luschans darf
man annehmen, daß die ägyptische Urbevölkerung afrikanische Völker waren, die
freilich schon in uralter Zeit von semitischen Beduinen unterjocht wurden.
1 Die Kämpfe der verschiedenen Stadtkönige Babylons werden erst im
3. Jahrtausend vor Christi Geburt durch die Bildung des Reiches von Sumer und
Akkad beendigt; erst gegen Ende der vordynastischen Zeit Ägyptens werden die
Nord-' und Südgaue des Landes zu zwei größeren Reichen zusammengefaßt, ohne
daß die Gauorganisation aufgegeben worden wäre (um 3400).
3 Die obige schematisierende und vereinfachende Darstellung soll keine Vor*
Stellung von der Mannigfaltigkeit der Ereignisse geben, die zu Entwicklungen
innerhalb des Totemismus geführt haben, sondern nur die Möglichkeiten andeuten,
die sich aus manchen ergaben. — Es mag indessen hier angeführt werden, daß
sich aus der Verbindung der Stämme mit ihren Totems innerhalb des Ganzen,
das durch die Staatsbildung entsteht, manche dunkle Stelle der Bibel erklären läßt. —
Bedeutsamer wird diese Auffassung für die vielumstrittene Frage, ob Mono*
theismus oder Polytheismus am Anfang der religiösen Entwicklung steht. Der
schottische Religionsforscher Andrew Lang <in den späteren Auflagen von
»Myth, Ritual und Belief«, »The Making of Religion«, London 1909, 3. edit. ;
»Magic and religion«, London 1901) und der Wiener Pater Wilhelm Schmidt
(»Der Ursprung der Gottesidee«, 1912) stellen sich mit ihrer Ansicht, daß eine
»monotheistische« Glaubensform jeder anderen roheren Form der Religion voran*
gegangen sei, der großen Majorität der anderen Forscher, die den Polytheismus
als ursprünglicher betrachten, entschlossen gegenüber. Faßt man mit Freud den
Totemismus als die erste umfassende Religion, so gelangt man bei gewissenhafter
Durchforschung des ethnologischen und religionsgeschichtlichen Materials zu der An*
sicht, daß die Meinung der beiden Forscher in weitgehendem Maße auf Richtigkeit
beruht. Sie trifft zwar in der Form, daß der Monotheismus (also ausschließlicher
Glaube an einen Gott) die primäre Religion sei, nicht zu, wohl aber darf der
108
Dr, Theodor Reik
Die historische Betrachtungsweise läßt uns, wenn wir sie mit der
psychoanalytischen kombinieren, auch verstehen, wieso man im Bilde
der Sphinx nicht nur den Gott, sondern auch den König sieht. Denn
der Antike war die Differenz zwischen Gott und Herrscher eben*
sowenig ausgeprägt wie den heutigen Primitiven 1 . Die Könige der
Antike waren es gewöhnt, als Gottheiten gefeiert zu werden, und
ihren Bildern wurde göttliche Verehrung zuteil. So beanspruchten
die babylonischen Herrscher von Sargon I. bis zur vierten Dynastie
von Ur, Götter zu sein, ja die Monarchen aus dieser Dynastie
ließen sich Tempel bauen und befahlen dem Volk, ihren Bildern
Opfer zu bringen. Die ägyptischen Könige wurden bei Lebzeiten
deifiziert und in besonderen Tempeln von besonderen Priestern als
Götter angebetet. Dem Volke galt der König als der »große Gott«,
»der goldene Horus« und insbesondere als Sohn des Sonnengottes
Ra, Er wurde als »Herr des Himmels und der Erde, Sonne«, als
»Schöpfer und Bilder der Menschen, Leben der großen Welt« etc. an*
gesprochen. Es ist also kulturgeschichtlich bedingt, wenn die Sphinx
nicht nur den Gott, sondern auch seine menschliche Inkarnation, den
König, bedeutete. Als Zeichen ihrer göttlichen Natur hüllten sich
die vorgeschichtlichen Könige ebenso wie jetzt noch die Häuptlinge
der Wilden in das Fell des Totemtieres,- die Herrscher des vor*
historischen Ägyptens trugen das Löwenfell noch lange, nachdem die
totemistische Religion von einer höheren Stufe abgelöst worden war«
Die Sphinx als Sonnengott.
Auch die Deutung der Sphinx als Sonnengott fügt sich in die
skizzierte Entwicklung ein: sie darf als sekundäre auf ein Stück
Berechtigung Anspruch machen.
Es kann hier nicht davon gesprochen werden, auf Grund
welcher seelischer Voraussetzungen und auf welchen Wegen die
Henotheismus Anspruch auf eine solche primäre Stellung machen. Der Stamm, der
seine Herkunft von einem Totemtier herleitet, das er verehrt, ist vorerst ein ab*
geschlossenes Ganzes, Erst die Verbindung mit anderen Stämmen, die in Form
von friedlicher Vereinigung oder Unterjochung eines oder mehrerer Stämme durch
einen fremden erfolgt, ergibt die Möglichkeiten des Totemwechsels, beziehungsweise die
weit bedeutsamere, daß neben dem alten Totem neue Geltung und Verehrung
beanspruchen dürfen. Man darf neben anderen Momenten dieses als entscheidend
für die Entwicklung des Polytheismus aus einem primären Henotheismus betrachten/
aber auch für die spätere Entwicklung eines primitiven Monotheismus, der mit
den älteren vielfältigen Göttergestalten zu kämpfen hat, wird wohl der Faktor
der Volks* oder Stammesorganisation als besonders wirksam zur Erklärung heran»
gezogen werden müssen So scheint die Verdrängung der Elohim durch Jahwe
am Sinai durch die Erlangung einer Hegemoniestellung des Stammes, dem Moses
angehörte, mitbestimmt. Eine ausführlichere Behandlung der einschlägigen Fragen
muß einer selbständigen Publikation Vorbehalten bleiben.
1 J. S. Frazer gibt in »The magic art« <The golden hough L Part, Vol. I,
p* 373 ff,> zahlreiche Beispiele solcher »incarnate human gods« aus allen Weltteilen,
auch von der göttlichen Stellung der Herrscher im alten Babylon, Ägypten, Peru,
Mexiko und China und erklärt sie aus der Entwiddung des Königtums,
Oedipus und die Sphinx
109
i
astrale Auffassung der Götter entstand und welchen realen und
psychischen Notwendigkeiten sie ihre fortwirkende Bedeutung ver»
dankt. Die Forschungen Otto Ranks haben die Aufstellungen der
Astralmythologen in wesentlichen Punkten berichtigt, modifiziert und
die beschränkte Geltung ihrer Resultate gezeigt/ hier erübrigt sich
nur — auf die Gefahr hin, daß wir über die Grenzen unseres
Themas hinausgehen — die religiöse Entwicklung der Astral»
mythologie in kurzen Zügen zu zeichnen. Es scheint mir sicher zu
sein, daß sich die Astralreligion aus totemistischen Anschauungen
entwickelt hat und die Projektion der Götter an den Himmel unter
dem kombinierten Eindruck von Naturvorgängen, seelischer Um»
wälzungen und Veränderungen der menschlichen Lebensbedingungen
vor sich ging. Es ist zu vermuten, daß der Tierkreis noch in seiner
Zusammenstellung Zeugnis für den totemistischen Ursprung der
Astralmythologie und »religion ablegt. Die Versetzung der Gott»
heiten an den Himmel erweist sich durch viele Anzeichen als einer
entwickelteren und höheren Stufe der religiösen Entwicklung an»
gehörig: sie entfernt die Götter von ihrer Heimat, der Erde, wo
sie entstanden sind, und wo sie ursprünglich Busch und Wald füllten.
Die Menschen der Urzeit haben ebensowenig wie die Kinder in den
ersten Jahren irgend ein Interesse am Himmel und seinen Körpern,-
die Zuweisung der oberen Regionen als Wohnortes für die Götter
ist ein Zeichen der vorgeschrittenen Vergeistigung der Religion 1 . Sie
wird erst möglich, wenn sich der Blick des Menschen von der Erde
auf den Himmel gerichtet hat.
Die Projektion der Totems an den Himmel war der typische
Fall ihrer »Erledigung«: sie fällt in eine Zeit, da die Religionsent»
wicklung tatsächlich bereits über die totemistischen Gottesbegriffe zu
höheren vorgeschritten war,- nun konnte sie die unbrauchbar ge»
wordenen Totems in die überirdische Rumpelkammer werfen. Man
darf vielleicht im Zusammenhang damit erwähnen, daß diese Art
der Entfernung später zur euphemistischen Repräsentation des
Sterbens überhaupt wurde, und daran erinnern, daß sie im Traume
und in der Dichtung, in der Folklore und in der Mythenbildung
wiederkehrt. Es sei nur an den von Freud angeführten Traum eines
vierjährigen Mädchens erinnert, das seine Spielgefährten Flügel be»
kommen und wegfliegen sah 2 .
Das Höhersteigen des Gottes bedeutet also in diesem Sinne
nicht nur ein Avancement, sondern auch unbewußt eine Entfernung
und, wenn wir von der Erde ausgehen, eine Art latenter Depos»
sedierung. In dieser neuen religiösen Vorstellung zeigen sich noch
1 Gelegentlich bekennen sich noch Skeptiker zu ihrem Desinteressement am
Himmel und seinen göttlichen Bewohnern:
»Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen«. (Heine.)
2 Traumdeutung, 4. Auflage, S. 191.
110
Dr. Theodor Reik
immer die alten seelischen Medianismen, die in der Religionsbildung
überhaupt wirksam waren: der Respekt und die Achtung vor der
Gottheit sind auf den höchsten Punkt gestiegen, in gleichem Maße
aber drängen die unbewußten revolutionären Vfansche, die seine
Entfernung anstreben, empor. Diese Äußerungsform verstärkter
Ambivalenz, als welche wir die Versetzung der Götter an den
Himmel ansehen müssen, wiederholte sich, als die Geltung der
anthropomorph gewordenen Gottheiten in Gefahr war. Die Antike
durfte es sich noch erlauben, Götter leibhaftig auf Erden wandeln
und körperlich sterben zu lassen, spät erst ließ man sie unsterblich
sein und im Himmel wohnen. Die Wirkungen unbewußter Haß-*
tendenzen und reaktiv verstärkter Liebe und Verehrung werden in
dieser religiösen Vorstellung gleich deutlich 1 .
i Die im Text gegebene Zurückführung des Gestirnkultea auf die Projektion
ursprünglich tiergestaltiger, später anthropomorpher Götter an den Himmel würde
eine ausführlichere Behandlung verdienen. Inwiefern diese Projektion Teil einer um*
fassenderen, primitiveren war und sich bereits gebahnter seelischer Wege bediente,
ist ein außerordentlich interessantes Thema, das Untersuchungen von anderen Seiten
her Vorbehalten bleiben muß. — In diesem Zusammenhänge sollen nur einige
ergänzende Bemerkungen, deren fragmentarischer Charakter nicht verhehlt werden
soll, hinzugefügt werden. Sie können vielleicht in Verbindung mit den obigen Aus*
führungen dazu beitragen, die Astralmythologie und ^retigion des vorderasiatischen
Orients bereits als sekundär v erscheinen zu lassen. Der babylonisAe Kult der sieben
Planetengötter Sin (Mond), Samas <Sonne>, Nabu (Merkur), Istar (Venus), Nergal
<Mars, beziehungsweise Saturn), Marduk (Jupiter), Kaimänu (Saturn, beziehungs*
weise Mars) zeigt bereits durA die Namen der Gestirne, daß die Sterne mit den
Göttern identifiziert wurden. Wir wissen, daß die Sternbenennung der Babylonier
für die grieAisAe Astronomie vorbildlich wurde. Über die Art, wie die Götter
zu Sternen wurden, darf man nur Vermutungen anstellen, die siA auf Rest*
ersAeinungen in den frühen antiken Religionen und im Glauben der jetzigen
Wilden aufbauen. Die ägyptisAen Gottheiten waren sterbliAy aber während ihre
Leiber bandagiert und umwickelt im irdisAen Grabe lagen, erglänzten ihre
Seelen als helle Sterne am Firmament. Die Seele der Isis IcuAtete im Sirius, die
des Horus im Orion und die Typhons im Großen Bären. (Frazer, The dying
god, p. 5.) Die Primitiven der Jetztzeit sehen in den Sternen entweder Dämonen
oder die Seelen der Verstorbenen. Es sAeint mir, als wäre diese Stufe sAon eine
vorgesArittenere, in welAer die einstigen Gottheiten als Dämonen erscheinen*
(Beispiele bei Frazer, The dying god, S. 61 ff.) Ein Stern ersAeint ursprüngliA,
wenn ein Großer gestorben ist/ die Heroen der GrieAen und Römer werden von
den Göttern zum Lohn für ihre Taten als Sterne an den Himmel versetzt. Ver^
gleiAe noA die Worte von Casars Weib bei Shakespeare :
»When beggars die, there are not comets seen/
The heavens themselves blaze forth the death of princes.«
Anders gewendet ersAeint dasselbe Motiv in den zahlreiAen Sagen primitiver
Völker, in denen siA Gott, unzufrieden mit den Verhältnissen hienieden, in den
Himmel flüAtet. — Die Existenz der zwölf Tierkreisbilder läßt siA sAon in der
Hälfte des zweiten vorAristliAen Jahrtausends in Babylonien naAweisen (Schräder*
Winckler~Zim mern, KeilinsAriften und das Alte Testament, Berlin 1903,3. Auf!.,
S. 627). Man hat bemerkt, daß im Texte der »Grenzsteine«, welAe Tierkreis*
embleme aufweisen, die bekannteren babylonisA^assyrisAen Gottheiten zu diesen
in Beziehung gesetzt werden, »in den Tierkreisgestirnen sozusagen ihre Offen*
barungsstätte erhalten«. Die Art dieser Beziehung bleibt freiliA dunkel: sie wird
klarer, wenn man beaAtet, daß wahrsAeinliA auA die Planetengötter ursprüngliA
Totems waren. Diese Auffassung des Tierkreises als eines allmähliA entstandenen
Oedipus und die Sphinx
111
Die Sphinx muß die lange Entwicklung der Gottheit vom Tier
auf Erden zu dem am Himmel, der wir letzten Endes audi die
Benennung des Zodiakus verdanken, in einer bestimmten Form mit»
§ emacht haben. Als Horus aus einem totemistiscben Gott zu einer
onnengottheit wurde, mag auch seine plastische Verkörperung, die
Sphinx, zu einem Sonnensymbol geworden sein. Sekundär wurden
ihr dann auch andere Attribute des solaren Gottes erteilt und nach¬
träglich manche Funktionen zugeschrieben, die mit ihrem ursprüng¬
lichen Charakter als Bild eines Totems nicht vereinbar sind.
Immer wieder aber setzt es uns in Erstaunen, daß das Nachein¬
ander einer überaus langen und langsamen Kulturentwicklung, das wir
konstatieren, in der Gestalt der Sphinx als ein Nebeneinander ersdieint:
das Alte verschwindet nicht völlig, wenn sich auch mächtige neue An¬
schauungen geltend machen. Es ist so, als wäre auch das Unbewußte der
Völker unfähig, ihre überwundenen und abgetanen Vorstellungen und
Gefühle völlig auszuschalten. Audi das Unbewußte der Masse ist un¬
zerstörbar und unsterblich, dem Einflüsse des siegreich Neuen entzogen.
Pantheons von Totems verschiedener Stämme, das erst spät feste Gestalt annahm,
würde gut zu der kühnen Interpretation einer Stelle im Ps. 12 durch Peiser
(Orientalische Literaturzeitung 1910, Sp. 5> passen. 16, 4 liest dieser dann isbnrr
fllbltt "OlS] »wandelnd am Damm der Tierkreisbilder«. Nach der Rekonstruktion
Peisers würde die dunkle Stelle lauten:
»Es mehrten sich andere Ba'ale,
wandelnd am Damm des Tierkreises/
nicht will ich ihnen Blutopfer bringen,
noch ihre Namen auf meine Lippen nehmen.«
Die Bedeutung dieser Auffassung leuchtet ein, wenn man sie mit der von
Winckler, Stucken, Jeremias u. a. festgehaltenen, nach der sidi der astrale
Charakter der babylonischen Religion als primär erweist, vergleicht. Wie weit sie sich in
der Wertung des Totemismus von der astralmythologiscben Schule unterscheidet, mag
eine Stelle aus einem kürzlich erschienenen Buche »Sternglaube und Sterndeutung«
(Teubner, Leipzig und Berlin 1919, 2. Aufl.) von Prof. Fr. BoII zeigen: »Die Funde
der letzten Jahre haben gezeigt, daß die Tierkreisforschung eine der wichtigsten Leit»
fossilien zum Nachweise alter Kulturströme behandelt, die von den großen Mittel»
punkten des geistigen Lebens der alten Welt ausgegangen ist. Entsprechend dem
Gedanken, daß die Erde und ihr Leben ein Abbild des großen Lebens am Himmel
sei, hat man die Menschenwelt nach astralen Gesichtspunkten eingeteilt. So wurde
die peruanische Hauptstadt Cuzco als Tierkreisdenkmal erbaut. Ferner teilte
man allerwegen den Stamm in Gruppen ein, die den Tierkreistieren
unterstellt wurden. So entstand der Totemismus, der von nun an
nicht mehr als eine allüberall selbstständige Entwicklungsstufe der
Menschheit zu gelten hat, sondern als Entlehnung von dem Kultur»
kreise, dem der Tierkreis entstammt.« (Von mir gesperrt.) Im Gegensatz
zu dieser Anschauung glauben wir, daß die so beschriebene Form schon ein End»
produkt darstellt, das sich aus der Geschichte des Totemismus erklärt,- es ent»
spricht der Rückprojektion der Tierkreisbilder auf die Erde. Es kann hier nicht
dargestellt werden, welche Folgerungen sich für die Entwicklung der Astrologie
und Astronomie aus dieser Herkunft ergeben haben,- es soll nur betont werden, daß
auch die für die Antike und einen großen Teil des Mittelalters überragende Stellung
der Astrologie und die Art der Beziehung, welche sie zwischen Gestirnkonstellation
und Menschenschicksal herstellt, sich aus der ursprünglichen religiös bestimmten
Bedeutung der Sterne erklärt.
112
Dr. Theodor Reik
Die Flügel der Sphinx.
Die Entwicklungsgeschichte des Himmelsgottes mag eine Jahr*
tausende lang dauernde und sehr komplizierte gewesen sein,- allerlei
Anzeichen aber deuten darauf hin, daß die Versetzung der Gott*
heiten an den Himmel eine allmähliche war und daß sie sich nach
den Anschauungen des prähistorischen Orients so wie der jetzigen
primitiven Völker in durchaus sinnlicher und sinnfälliger Weise voll*
zogen hat. Der Baumtotemismus und der Höhenkult haben in diesem
kulturhistorisch und religionsgeschichtlich so bedeutsamen Prozeß be¬
stimmte Entwicklungsstufen vertreten 1 / dem Vogel fällt in ihm eine
besondere Bedeutung zu.
Damit sind wir bei dem so auffälligen Attribut der Beflügelung
der Sphinx angelangt, das mit dem Löwenkörper unvereinbar scheint.
Die Deutung dieser Eigenschaft als Zeichen der Schnelligkeit hat
gewiß ihre Berechtigung, nur bedarf sie mancher wichtiger Ergänzung.
Es ist klar, daß die Flügel, welche die antike Religion und Mythologie
den göttlichen Mischtieren, aber auch die, welche sie menschenge*
stalteten Gottheiten wie dem Merkur und Gottesboten wie den
Cherubim, Seraphim und den Engeln verleiht, aus der Natur, welche
den Menschen umgibt, genommen sind. Der Vogel war es, dessen
F.lug nicht nur dem staunenden Primitiven zum Rätsel wurde.
Die Aufgabe, die wir uns gestellt haben, läßt es nur als not*
wendig erscheinen, die Bedeutung des Vogels für das religiöse
Vorstellungsleben zu streifen, dodi darf man versichern, daß eine
speziellere Behandlung des Problems zu interessanten und auf¬
schlußreichen Resultaten führen müßte. Hier können nur An*
deutungen gegeben werden. In der Endentwicklung des tote-
mistischen Systems muß an bestimmter, für die einzelnen Völker
verschiedener Stelle der Geier, Adler oder sonst ein Vogel als
Totem eingetreten sein. Die Schnelligkeit des Vogels mag dem
Primitiven ebenso imponiert haben, wie die Überwindung der Schwer*
kraft,- die Merkmale des Verschwindens und Wiederauftauchens im
Äther werden vielleicht später dazu dienen, als Anknüpfungspunkte
der Allgegenwart und Allwissenheit der Götter verwendet zu
werden. Es ist kein Zweifel möglich, daß der Vogel den Menschen
einmal zum Gott geworden war: die späte Vorstellung des Seelen*
vogels scheint sich, wie ich glaube, daraus entwickelt zu haben,
daß Vögel sich auf die Leichen teurer Toten nieder senkten, von
ihnen fraßen und wieder davonflogen. Es ist wahrscheinlich, daß
die totemistische Bedeutung des Vogels einer späten religiösen Ent*
widdung angehört/ der Vogel wird dann zu jenem Wesen, das zur
astralen Gottheit, dem Vater Sonne, fliegt, das die Seelen reprä*
sentiert und sein Flug wird zum Vorbild des Entrücktwerdens, der
Auferstehung zahlreicher Heroen von Moses und Elias bis Jesus.
1 Ich gehe auf diese Stadien hier nicht näher ein, weil sie in anderen vor¬
bereiteten Arbeiten eine ausführliche Behandlung erfahren werden.
Oedipus und die Sphinx
113
\
Wir haben vorläufig keine Möglichkeit, die Stelle genau zu
bezeichnen, welche die Einführung des Vogels innerhalb der tote**
mistischen Religionsformen bestimmt, doch scheint es, daß der
Vogel, als der Totemismus bereits im Verschwinden war, sozu*
sagen totemistisch besetzt, d. h. seine Rolle und Aufgabe in tote*
mistischer Sprache beschrieben wurde. So aber mag er später zu
einer der totemistischen Verkörperungen des Heilands geworden sein,
zum Vorbild des Heros. Die Sperber* und geierköpfigen Gott*
heiten der Ägypter, die Taube der Aphrodite und der Rabe
Wotans, der Geier, der Prometheus' Leber frißt, und die Kraniche
des Ibykus, die Vögel, deren Flug allen antiken Völkern zum
Orakel wurde, der Geier beim Opfer Abrahams, die von Noah
ausgesendete Taube und jene in der Verkündigung Marias — alle
diese Vögel sind ursprüngliche Götter, die erst spät zu Helfern und
Boten menschengestaltiger Gottheiten wurden. So wurde auch die
Sphinx aus einer Gottheit zu einem geflügelten Wächter im Dienste
Gottes wie andere uns vertrautere Gestalten,- auch sie hatten zuerst
eine Stelle im Pantheon, ehe sie zu Mittlern zwischen Jahwe und
den Menschen wurden: ich meine die Engel, die Flügel tragen und
deren ursprünglich totemistischen Charakter wir noch in den alt*
testamentlichen Beschreibungen ihrer Vorläufer, der Cherubim, er*
kennen *.
Man muß hier noch einmal darauf aufmerksam machen, daß
die ältesten Sphinxe, die wir kennen, keine Flügel tragen und die
Beflügelung der Tiere erst in der griechischen Darstellung allgemein
wurde.
Männliche und weibliche Sphinxe.
Wir waren gezwungen, den ausgedehnten und schwer erkenn*
baren Wegen zu folgen, welche die primitive Gesellschaft eingeschlagen
hatte, bis sie zu jenem religiösen Stadium gelangte, auf dem wir
sie in der Frühantike treffen. Wir konnten Anzeichen dieses Ent*
widdungsganges in der Gestaltung der Sphinx wiederfinden: wie
Jahresringe auf den Bäumen haben sich in ihrer Form Merkmale
längst überwundener Phasen der Entwicklung ausgeprägt. Der merk*
würdige Konservatismus primitiver Kulturen brachte es zustande,
daß das Alte nicht verschwand, als das Neue aufkam, sondern mit
dem Neuen vermengt, veränderten Zwecken dienend fortlebte, seiner
ursprünglichen Bedeutung längst entfremdet. Aller Fortschritt der
antiken Religion — und nicht nur der antiken — vollzieht sich in
ähnlicher Art der Umformung und Umdeutung sowie Assimilierung
ererbten Gutes. Vielleicht fällt von hier aus auch ein Licht auf jene
eigentümliche Gestaltung der Sphinx, die wir nur als zweigeschlecht*
lieh auffassen können. Wir wissen, daß die männlichen Sphinxe im
1 Hierher gehören auch die geflügelten, menschenköpfigen Stierkolosse der
bahylonischeassyrischen Spätzeit,
Imago VI/2
e
114
Dr. Theodor Reik
ältesten Ägypten weitaus überwiegen, später aber weibliche Sphinxe
immer häufiger an die Seite der männlichen treten, bis sie in Grie®
chenland den männlichen Typus völlig verdrängen. Wie fügt sich
diese weibliche Gestaltung unserer Deutung von der totemistischen
Ableitung der Sphinx ein? Halten wir daran fest, daß der weibliche
Sphinxtypus in der Frühzeit selten ist und daß später sowohl
männliche als weibliche Sphinxe erscheinen, so liegt es nahe, eine
historische Entwicklung anzunehmen, welche das ursprünglich männ®
liehe Tierbild durch ein weibliches ersetzte. Der Penis, den die weib®
liehe Sphinx trägt, wäre demnach ein Rest ihrer ersten maskulinen
Gestalt. Es erwächst uns aber die Pflicht, diesen hypothetisch an«
genommenen Entwicklungsgang durch Anführung von Tatsachen
aus der Vorgeschichte der Menschheit wahrscheinlicher zu machen.
Wir wissen, daß der gegenwärtigen Form der Familie das Matri®
archat vorausgegangen ist, in dem sich die Mitglieder der Horde
um ihren natürlichen Mittelpunkt, die Mutter, gruppierten. Die
Restbestände matriarchalischer Organisation, wie wir sie bei be®
stimmten tiefstehenden Stämmen finden, sowie Spuren in der Ver®
fassung der antiken Völker des Orients geben 1 , auch wenn wir die
vielfachen Veränderungen durch Jahrtausende bedenken, ein unge®
fähres Bild jener ersten, primitiven Gruppeneheorganisation, Es ist
schwer, den Einfluß, den die matriarchalische Ordnung auf die
Religion nahm, zu erkennen,- schon deshalb, weil wir keinen un®
mittelbaren Zugang zu jenem prähistorischen Entwicklungsstadium
der Menschheit haben. Freud vermutet, daß die großen Mutter®
gottheiten vielleicht allgemein dem Vatergott in der Entwicklung
vorausgegangen seien 2 . Dafür würden besonders zwei Tatsachen
sprechen: der relativ späte Charakter des Totemismus, der seiner
Entstehung nach den Bruderclan also eine entwickeltere Familien®
form voraussetzt, und die llnwahrscheinlichkeit, daß die libidobesetzte
Figur der Mutter, die so lange Zentrum und Haupt der Familie
war, nicht vorher schon in der primitiven Anschauung zur Göttin
emporgerückt wäre. Trotzdem muß man gerade hier zur Vorsicht
bei der Annahme einer ursprünglichen Mutterreligion mahnen: wir
wissen, daß die Kulte, die den Muttergottheiten des Orients, der
Isis, der Ischtar, der Kybele und den anderen Verkörperungen der
mater magna geweiht waren, ursprünglich einen ganz anderen
Charakter trugen als die der Vaterreligion: sie waren besonders
durch die Betonung des Sexuellen, der Feier der Fruchtbarkeit des
Menschen und der Natur, charakterisiert im Gegensatz zu dem
Charakter der Vaterreligion, die das soziale Moment in den Vorder®
grund rückte und sich im Schuldbewußtsein eine Art sozialer Angst
schaffte. Wenn wir auch diese antiken Kulte erst als späte Ent®
1 Vgl. insbesondere Frazer, Attis, Adonis, Osiris. (The golden bough
Third edition. Part IV>, London 1907, S. 382 ff. nebst den älteren Werken von
Oedipus und die Sphinx
115
Wicklungen ansehen, müssen wir doch annehmen, daß ihre charak*
teristischen Züge ihren prähistorischen Vorstufen bereits eigen waren,
ja wir werden eher der Vermutung zuneigen, daß sie dort noch
krasser, von äußeren Kulturfortschritten unbeeinflußter und unge*
zügelter zutage traten. <Man wird es nicht anerkennen, wenn dem
entgegengehalten wird, der Unterschied der Kulte männlicher und
weiblicher Gottheiten beruhe auf Äußerlichkeiten, denn gerade sie
sind das trotz allen späteren künstlichen Angleichungen unverwisch^
bare und unzerstörbare Zeichen einer tiefliegenden, im Triebleben
verankerten Differenz.)
Nun ist es gewiß nur eine Frage der Nomenklatur, ob man
die Religion an dieser oder jener Stelle der Menschheitsentwicklung
als vorhanden ansieht oder sie erst von einem anderen Stadium an
datiert, allein, wie mir scheint, gehört gerade die soziale Bindung
und mit ihr das mächtige Agens des Schuldbewußtseins zu den un*
entbehrlichen und wesenhaften Momenten der Religionsbildung. Man
wird sich deshalb trotz der einer religiösen ähnlichen Verehrung der
Mutter zur Zeit des primitiven Matriarchats nicht entschließen können,
schon hier von Religion zu sprechen, da diese Merkmale fehlen 1 . Die
Mutter der matriarchalischen Zeit wurde mit allen Zeichen der
Sexualüberschätzung, wie sie die Objektwahl nach dem Anlehnungs*
typus zeitigt, verehrt: sie war sicher lange jenes Objekt, dem über*
wiegend die dumpfe Libido des Urmenschen gewidmet war/ sie
wurde ihm hauptsächlich durch die drängende Macht der hetero*
sexuellen Triebkomponenten zum Idol. Schon hier wird durch
den Faktor der ersten, elementaren Liebeswahl und der Sexualüber*
Schätzung der LInterschied zwischen ursprünglicher Mutterverehrung
und primitiver Vaterreligion deutlich: wurde die Mutter der ersten
Organisation der matriarchalischen Epoche zum Idol, wofür manche
Funde des Spätquartärs als Zeichen früherer Zustände sprechen,
so wird der Vater der Urhorde den Mitgliedern des Bruderclans
nachträglich zum Vaterideal. In der Gegenüberstellung von Mutter*
idol und Vaterideal ist aber bereits neben einem wesentlichen
Zuge der Einstellung des primitiven Menschen zu den Urbildern
seiner Religionen die Art der Objektwahl, die den Grund für spä*
tere, hochbedeutsame Entwiddungen legt, angedeutet: Es ist damit
schon gesagt, daß sich die Objektwahl der Urzeit, deren Anzeichen
wir in der mutterrechtlichen Zeit treffen, vornehmlich nach dem
Anlehnungstypus richtete, während später die Objektwahl nach dem
narzistischen Typ in den Vordergrund rückt Die libidinöse Ver*
ehrung der Mutter, die mit der Verherrlichung des Grobsexuellen
1 lim Mißverständnisse auszuschließen, sei ausdrücklich nemerkt, daß sich
das grobe oben gegebene Schema auf eine vor jeder geschichtlichen Erfahrung
liegenden Zeit bezieht: die Mutterkulte des frühen Orients gehören, damit ver¬
glichen, schon einer von dieser durch Jahrtausende getrennten Phase an. In ihnen
erscheint schon eine wirkliche, der Ausbildung fähige Mutterreligion. Natürlich ist
es ausgeschlossen, eine letzte Sicherheit über die Entwicklung zu geben.
8 *
116
Dr. Theodor Reife
verbunden war, konnte später freilich in mehr oder minder sublim
mierter Form zum religiösen Kult werden, aber erst mußte der
Gott als solcher erstehen, erst mußte die Vaterreligion in der
Form des Totemismus ihren Einzug in die Menschheitsgeschichte
halten.
Nach dem Vorbilde der Vaterreligion wurde später die Mutter
deifiziert; sie trat nun rivalisierend neben den Vatergott, aber der
Anspruch der Religionsschöpfung als solcher bleibt dem Vater als
Vorbild jedes Gottes gewahrt und ist nicht an die elementare und
ungebrochene Macht der ersten Libidobesetzung, sondern an die
reaktiv verstärkte und vertiefte, nachwirkende Gewalt der Vater¬
sehnsucht gebundenL
Das Matriarchat hat gewiß den Anstoß zu manchen bedeutsamen
Bildungen in der menschlichen Gesellschaft gegeben, die Religion als
solche hat es nicht hervorgebracht. Im Gegensatz von Mutteridol
und Vaterideal, den wir als Vorstufe der Scheidung von Mutter¬
gottheit und Vatergott konstruierten, sind schon jene Momente ent¬
halten, die später mit der fortschreitenden Verinnerlichung so be¬
deutungsvoll werden sollten: die Kulte der Muttergottheit werden
zu exzessiven Feiern der Sexualität und gelangen erst sehr spät zu
einer partiellen Sublimierung, wie wir sie im Madonnenkult erkennen,
sie bleiben aber immer der Anstoß zu Störungen der durch die Vater¬
religion vorgeschriebenen, wenn auch unges&riebenen Gesetze, weil
sie immer wieder neue Stärkung aus den Tiefen der ewigen Trieb¬
gewalt erhalten. Dem Antäos wuchsen wieder die Kräfte im Kampfe,
wenn er die Mutter berührte.
Das Vaterideal aber, zum Gotte geworden, wird der ver¬
borgene Gesetzgeber der Menschheit, ihr personifiziertes Gewissen
und ihr Schützer gegen den die Gesellschaftsordnung auflösenden
Triebansturm, Im Rahmen dieser Arbeit, die anderen Zielen zu»
' Die im ersten Libidoobjekt vereinigten Züge der Mutter und Geliebten
bleiben audi in der Gestalt der ursprünglidien weiblichen Gottheit vereinigt/ das
Mütterliche wird später immer starker betont werden, das sexuelle Moment immer
mehr in den Hintergrund treten oder nur in der vergeistigteren Form allgemeiner
Gnade und Menschenliebe oder weiblicher Güte erscheinen. Aber auch die vor»
gesdirittenste Entwicklung kann es nicht ganz ausschalten: die weiblichen Gott»
heiten bleiben immer Beschützerinnen der Liebe und Ehe. Das Gretchen der Faust»
tragödie, das sich in ihrem Liebesleid an Maria wendet, ist nur eine moderne
Verkörperung unzähliger antiker Schwestern, die in ähnlichen Situationen zu den
heimischen Göttinnen ihre Zuflucht nahmen. Der geistvolle Anatole France
erzählt in »Sur la pierre blanche« von einem schönen Mädchen, das zur Gottes»
mutter folgendes reizvolle Gebet emporsendet: »Sainte mere de Dieu, vous qui
avez concu sans pecher, accordez*moi la grace de pecher sans concevoir.« Diese
Gegenüberstellung läßt den Gedanken an jene Zeit erwachen, da auch Götter¬
mütter auf irdische Art empfingen — freilich war es damals noch keine Sünde.
Eine andere Anekdote des französischen Skeptikers erinnert ebenfalls an jene
Epoche der Diesseitigkeit der Göttinnen: Ein Italiener, dem Jesus trotz innigem
Gebet seinen Wunsch nicht erfüllt hat, kehrt zur Kapelle mit dem Bilde der Ma¬
donna und ihres Kindes zurück und ruft: »Ce n'est pas ä toi, fils de putain, que
je parle, c'est ä ta sainte mere «
117
Oedipus und die Sphinx
strebt, kann niefit versucht werden, die Bedeutung dieser miteinander
ringenden Prinzipien, die in der Entwicklung der Religion fortwirkend
eine bedeutsame Rolle spielen, zu würdigen, es mag nur angemerkt
werden, daß eine der wichtigsten Einbruchstellen der Sexualität in
die soziale Institution der Religion hier zu suchen ist und daß der
Kampf zwischen Mutter® und Vaterreligion dem lebenslänglichen
Schwanken zwischen männlicher und weiblicher Objektwahl beim
Individuum entspricht. Es muß ferner hervorgehoben werden, daß
die ausführliche psychoanalytische und religionsgeschichtliche Würdigung
dieses wichtigen Themas noch aussteht, sie würde eine der bedeut®
samsten und aufschlußreichsten Ergänzungen und Fortführungen der
Freudschen Ableitung der Religionsbildung darstellen.
Dieser Exkurs, der in der Hypothese von der späteren Ver®
göttlichung der Mutter die totemistische Vaterreligion als erste und
ursprünglichste Religionsschöpfung festhält, war nur scheinbar über®
flüssig, denn ohne Beachtung des allerdings in großen Zügen ge®
zeichneten Entwicklungsganges ist es unverständlidi, wie die Sphinx
auch weiblich dargestellt werden konnte. Wir haben gesagt, daß die
Muttergottheiten nach dem Vorbilde des Vaters geschaffen wurden/
nur so können wir es begreifen, daß der Gott — denn das ist ja
die Sphinx ursprünglich — nun als Weib erscheint. Man ist dann
versucht, gerade die weibliche Gestalt mit dem Siege der anthro®
pomorphen Gottesverkörperung in Zusammenhang zu bringen und
zu vermuten, daß es die weibliche Form war, die sich mit großer
Gewalt den primitiven Gläubigen zuerst aufdrängte, da der Totem®
gott von einem menschlichen Gott abgelöst werden sollte. Der Vor®
gang der Menschwerdung Gottes, eines der gewaltigsten Ereig®
nisse in der Weltgeschichte, ist uns in seinen wichtigsten psychi®
sehen Bedingungen noch unbekannt/ es ist nicht unmöglich, daß hier
gerade das Bild der Muttergottheit zuerst auftrat. Jedenfalls aber
ist die weibliche Bildung der Sphinx sekundär, denn der Totemis®
mus — einer sehr späten Erinnerung an ihn ist ja ihre Gestalt zu
verdanken — war reine Vaterreligion und eine Schöpfung der
Männerverbände. Das erste Gottesvorbild, der Vater der Urhorde,
war ein strenger, gewalttätiger und furchterweckender Häuptling
gewesen: das Totemtier, das dem Primitiven als Gott galt, muß
ähnlichen Charakter gehabt haben. Keinem Wesen von milderen
Zügen hätte sich der Wilde gebeugt/ noch der Jahwe der Bibel ist
ein fürchterlicher und rachgieriger Gott. Die Übertragung dieser
Züge auf eine Muttergottheit ist nur möglich, wenn tiefgreifende
Veränderungen im Verhältnis des prähistorischen Menschen zur
Frau und im Verhältnis der beiden Geschlechter zueinander ihren
Einfluß geltend gemacht haben. Das von C. G. Jung konstruierte
Bild der »furchtbaren Mutter« ist — auch wenn wir von seiner
anagogen Deutung absehen — kein irgendwie primäres und setzt
bestimmte Veränderungen der seelischen Relationen zur Mutter
voraus. Gewaltige Umwälzungen, die wohl auf eine einschneidende
118
Dr. Theodor Reik
Modifikation der Lebensbedingungen und ihre Einwirkung auf die
primitive menschliche Familie zurückzuführen sind und die eine
radikale Umwandlung der familiären Gefühle zur Folge hatten,
müssen es bewirkt haben, daß das Bild der geliebten und ersehnten
Mutter zu dem der furchtbaren sich gewandelt hat. Wir haben in
den seelischen Produktionen der Neurotiker wertvolle Anhaltspunkte
für die Annahme, welche Vorgänge unter anderen dieses Resultat
gezeitigt haben: ich meine jene unbewußten Prozesse, die zur Um¬
wandlung des positiven in den umgekehrten Oedipuskomplex führen.
Jenen Menschen, die eine mit diesem Ausdruck beschriebene Ein¬
stellung zur Mutter besitzen, erscheint sie als furditbare, hassens*
werte Frau, ja oft als Verfolgerin und Tyrannin. Die Analyse
kann dann nachweisen, daß diese eigenartige seelische Einstellung
erst eine späte Umformung der ursprünglich positiven ist, die unter
dem Zwange bestimmter psychischer Notwendigkeiten vor sich ge*
gangen ist. Unter jenen Momenten aber, welche eine Störung des
ursprünglichen Verhältnisses zur Mutter bedingen, dürfen die väter*
liehe Sexualeinschüchterung und die Kastrationsangst als besonders
wirkungsvoll angesehen werden. Der unbewußt heiß gewünschte
Sexualverkehr mit der Mutter hat den Verlust des dem Kinde
teuren Gliedes zur Folge: deshalb wird die geliebte Mutter zur
furchtbaren, zu einem Objekt der Abschreckung 1 ,
Kehren wir zu den Bildungen der Massenpsyche zurück, so
werden wir vermuten, daß die strengen, die reale Kastration ver*
tretenden oder ablösenden Verbote der Vätergeneration, die den
Inzest betrafen, zuerst von außen der jungen Generation aufgedrängt
und später zu ihrem seelischen Besitz geworden, eine gute Analogie
jener individuellen Entwicklung bieten. Die Schöpfung der Mutter*
gottheiten war selbst ein Durchbruchsversuch jener Regungen, die zum
Inzest drängten/ er gelang nur partiell, denn gleichzeitig mit der Ver*
göttlichung des ersten Libidoobjektes, das zur wirklichen Durchsetzung
jener infantilen Wünsche aufzufordern schien, tauchte unbewußt das
von vielen Generationen empfangene Verbot des Inzestes auf und
wandelte das geliebte Objekt in ein Angstobjekt, von dessen Be*
rührung Unheil drohte. Nicht anders konnte in der primitiven An*
schauung das Resultat jenes komplizierten Umformungsprozesses
dargestellt werden, als indem man dem Mutterbild die Züge des
Vaters gab: vom Vater war ja jenes Verbot ausgegangen und sein
Erfolg konnte sich vornehmlich auf die unbewußte, homosexuelle
Strömung zu den Vätern stützen. Wenn so aber der Vatergott in
der Tierform mit dem Bilde der Muttergöttin verschmolz, so ist
dies zugleich ein Zeichen dafür, daß die homosexuellen Tendenzen,
denen ein so entscheidender Anteil an der Religionsentwicklung zu*
fällt, den Durchbruch der Inzestregungen vereitelt hatten,- daß der
1 Es ist selbstverständlich, daß jene die Lebensbedingungen verändernden
Ereignisse auch die Beziehungen der Mutter zu ihren Söhnen verändert und über*
haupt das weibliche Wesen in bestimmter Richtung entwickelt haben müssen.
Oedipus und die Sphinx
119
Versuch, das furchtbare Bild des Totemgottes durch das lieblichere
der Mutter und des Weibes zu ersetzen, gescheitert war, denn
unauflösbar war mit der Mutter=Imago, noch wenn sie Göttin
wurde, das Tabu des inzestuösen Objektes verbunden. Der Sieg
der homosexuellen Impulse, der sich so plastisch im tierischen Unter*
leibe der Sphinxfigur und so störend in der Bildung des Penis zeigte,
konnte freilich kein dauernder sein, war er doch von vornherein kein
unbestrittener,- später verschwand oft der Penis in der Gestaltung
der Sphinxe, die Weiblichkeit trat immer stärker hervor und die
griechischen Sphinxe zeigen anmutige, liebliche Gesichter, die sich
weit von der Düsterkeit und der ernsten Männlichkeit ägyptischer
Sphinxe entfernen 1 . Freilich weisen sie als fortwirkendes Zeichen
ihrer Herkunft und als Mahnung an ihre Gefährlichkeit noch den
Tierleib auf.
Welchen Gewinn hat uns diese genetische Betrachtung gebracht?
Ich meine, einen mehrfachen: sie zeigte uns, wie sich der Wider*
spruch zwischen dem weiblichen Oberkörper und männlichen Unter*
leib der Sphinxdarstellungen löst. Dabei muß hervorgehoben werden,
daß gerade die Gestaltung des Unterleibes als des anziehendsten
Teiles der Mutterfigur die männlichen Kennzeichen trägt, sich also
hier der Vorgang der Verdrängung des heterosexuellen Objekts
durch ein gleichgeschlechtliches auf einer späteren Stufe der Ent*
widdung am stärksten manifestiert. Wir haben ferner verstehen ge*
lernt, wieso männliche und weibliche Sphinxdarstellungen wechseln
und diese Tatsache mit der religiösen Entwicklung verknüpft. Wir
haben, wie ich meine, damit eine Korrektur der Anschauungen über
die Sphinx vorbereitet, die nicht nur diejenigen Ansichten trifft,
welche außerhalb der Psychoanalyse stehen. In der scharfsinnigen
Deutung der Oedipussage, die Rank in seinem Buche über den Inzest*
komplex gibt, rekurriert er auf die von Freud nachgewiesene infantile
Sexualtheorie, derzufolge auch die Frauen einen Penis haben. Rank
zieht auch den homosexuellen Angsttraum zur Erklärung heran. Un*
beschadet der Richtigkeit dieser Erklärungen darf unsere historische
Deutung darauf Anspruch machen, zum Verständnis der psychischen
Vorgänge bei der Bildung der Sphinxfigur beigetragen zu haben.
Radikaler muß unsere Deutung die Jungsche Auffassung der
Sphinx modifizieren: eine kritische Betrachtung der Jung sehen Aus*
Führungen wird die Unzulänglichkeit der flächenhsft symbolischen
Deutung des Schweizers erkennen lassen: wie in der auf den ein*
zelnen gerichteten Analyse läßt Jung auch auf religionswissenschaft*
lichem Gebiet das Zurückgehen auf die frühesten Entwicklungsstufen
der psychischen Bildungen völlig vermissen. Es ist sehr wahrschein*
lieh, daß auch die Sphinx einmal, in sehr später, kulturell sehr vor*
geschrittener Zeit zu einer theriomorphen Repräsentation der Libido
1 Dr S. Bernfeld wies in der Diskussion über diesen Vortrag mit Recht
darauf hin, daß die Betonung und Ausgestaltung gerade des weiblichen Sphinx*
typus in Griechenland den Anlagen des griechischen Volkes entspreche.
120
Dr, Theodor Reik
geworden ist und daß sie als halb tierische Darstellung jener Mutter®
Imago, die man als die furchtbare bezeichnet, gelten muß. Wir glauben
aber, daß mit dieser symbolischen Darstellung keine Erklärung ge®
geben wird, daß sie uns nicht begreifen läßt, wie man zu einer
Vorstellung wie der Sphinx gelangte und daß die Deutung der
Sphinx als eines inzestuös abgespaltenen Libidobetrages aus dem
Verhältnis zur Mutter weder den Psychoanalytiker noch den
Religions® und Kulturforscher befriedigen kann. Leistet so diese
Art Deutung im Sinne sublimer moderner Symbolisierung nichts
zur Erklärung der frühantiken Figur der Sphinx als ganzer, so ver®
zichtet sie mit sicherem Instinkt von vornherein darauf, auf die vielen
einander widersprechenden Momente der Sphinxdarstellung einzu®
gehen und ihre Details in Betracht zu ziehen.
Wir meinen, daß sich jetzt alle angeführten, oft so wider®
spruchsvoll anmutenden Züge der vorderasiatischen Sphinx zu®
sammenfügen: ihre antike Auffassung als Gott, als König, als
Wächter des Heiligtums 1 , ihre halb tierische, halb menschliche Ge®
stalt und ihre bald männliche, bald weibliche Form,
Die Sphinx des Oedipus.
Wenn wir nicht irren, müßte es uns jetzt erlaubt sein, mit
unseren neuen Einsichten zur Betrachtung der Sage von Oedipus
und der Sphinx zurückzukehren und von ihrer Übertragung auf
den antiken Mythos neue Aufklärungen über den noch verborgenen
Sinn dieser Episode zu erwarten. Wir haben die Ansicht von der
Einheit der Sphinx vertreten und glauben, daß auch jenes Theben
bedrängende Üntier der Sage sich nicht so weit von seinem Stamme
entfernt haben kann, daß die dort gewonnenen Resultate ohne Ein®
fluß auf die Deutung seiner dunklen Rolle in Oedipus' Schicksal
sein können.
Bevor wir aber den Versuch machen, der Sphinx des Oedipus
das Rätsel ihres Wesens zu entreißen, wollen wir uns zuerst darüber
klar werden, welche Züge unserer Sage die Mythologen und Philo®
logen als ursprüngliche und welche sie als nachträgliche Erweite®
rungen, Ausschmückungen, Abweichungen und sonstige Verände®
rungen erkannt haben. Eine vollständige Rekonstruktion der ur®
sjirünglichen Fassung ist uns nicht möglich, doch belehren uns die
Gelehrten darüber, daß die Sage früher viel krasser gewesen sein
und ursprünglich eine Vergewaltigung der beim Vatermord an®
1 Die Wächterstellung der Sphinx bedeutet demnach, daß der Gott sein
eigenes Heiligtum bewacht, In Wahrheit ist die Sachlage freilich noch komplizierter,
wenn man ahnt, daß der Tempel eines Gottes ursprünglich dieser selbst ist, einer
Erweiterung der göttlichen Persönlichkeit entspricht, denn dann bewacht die Sphinx
eigentlich sich selbst. Diese eigenartige Situation wird erst erklärlich, wenn man
die zweifache Anwesenheit des Gottes — wie in der Analyse des Opferrituals —
mit dem Gange der religiösen Entwicklung in Verbindung bringt.
Ocdipus und die Sphinx
121
wesenden Mutter sofort nach der Tötung stattgefunden haben muß/
erst bei den Tragikern sei eine auf mehrere Jahre ausgedehnte Ehe
mit der Mutter eingeführt worden. Die Episode der Sphinx wurde
nach Gruppe erst in den Mythos aufgenommen, als man die
Mutterehe neu begründete: »Indem man dazu das alte Novellen«
motiv benützte, daß durch die Besiegung eines Ungeheuers die
Hand einer Königstochter errungen wird, bot sich von selbst dieses
furchtbare, von der Sage in Böotien lokalisierte Wesen dar.« Nach
Bethe ist ferner jene Form der Sphinxsage die ursprüngliche, nach
welcher die Sphinx, ohne daß die Rätsellösung vorausgegangen wäre,
von Oedipus gewaltsam getötet wurde. Hesiod weiß nichts von einem
Rätsel 1 , Eine rotfigurige attische Lekythos des Bostoner Museums 2
zeigt die übrigens ungeflügelte Sphinx mit erhobener Vordertatze wie
eine Katze bei der Attacke auf den inschriftlich bezeichnten Oedipus
losstürzen. Die rechte Hand des Helden holt zum tödlichen Schlage
mit der Keule aus. Robert bemerkt mit Recht, daß hier eine Rätsel¬
lösung weder vorausgegangen sein noch folgen kann, daß es sich viel«
mehr um einen Kampf handelt, wie den des Herakles mit dem nemei«
sehen Löwen. Robert macht ferner scharfsinnige Argumente dafür
geltend, daß die Sphinx erst spät zur Rätselstellerin wurde und der
geistige Kampf nicht die ursprüngliche Form des Zusammentreffens
des Ungeheuers mit dem Heros sein kann. Man habe erkannt, daß ein
Wesen, zu dessen Verbildlichung man sich eines Typus mit Löwen«
körper und Löwenklauen bedienen konnte, ursprünglich nicht den
Scharfsinn eines Rätselraters, sondern der physischen Kraft eines
Helden unterlegen sein muß 3 * : »Mir scheint, der Einfall, ein männer«
mordendes Ungetüm zu einer scharfsinnigen Rätselstellerin zu machen,
die nur dann überwunden werden kann, wenn sich jemand findet,
der ihr an Witz gewachsen ist, kaum schwerlich älter zu sein als
die Blüte der griechischen Rätselpoesie 1 .« Eine in Furtwänglers
Gemmenwerk 5 wiedergegebene Gemme zeigt ebenso wie eine
Bostoner Vase, daß die Version, die Sphinx habe sich nach der
Rätsellösung vom Felsen herabgestürzt, nichts mit dem Ursprünge
liehen Inhalt der Sage zu tun hat: Oedipus steht nämlich im Rüchen
der Sphinx und stößt ihr das Schwert in die Brust. Vielleicht ist die
Erzählung vom Selbstmord der Sphinx durch eine späte Angleichung
des Schicksals der Sphinx an das der Jokaste in der Tradition ent«
standen. Viele Bilder zeigen den Helden, seine Gegnerin mit dem
Schwerte tötend. Wir glauben also als eine der ältesten erreichbaren
Formen der Oedipussage diejenige ansehen zu müssen, in der nodi
keine Rede von einem Rätsel war, sondern ein furchtbares Tier das
1 H. v. Hofmannstal läßt in seiner Tragödie »Oedipus und die Sphinx«
das Rätsel ausfallen.
a Carl Robert, Oidipus, I. Bd., Berlin 1915, S. 49.
3 Robert, Oidipus, S. 49.
« 1. c. S. 57.
3 Tafel XXIV, 21, 22.
122
Dr. Theodor Reik
Land verwüstete, das der Held Oedipus tötete. Nun erhebt sich die
Frage nach dem Verhältnis dieses Sagenteiles zu dem ganzen
Mythus: ist sie wirklich nur eine Episode, ein später angehängtes
Stück ohne innige Beziehungen zum wesentlichen Inhalt, wie es auf
den ersten Blick scheinen mag und die meisten Philologen wollen?
Robert formuliert die Schwierigkeiten, die sich der Einfügung der
Sphinxepisode in die Sage entgegenstellen, sehr glücklich: er weist
darauf hin, daß man die Sphinx in Beziehung zu dem Schicksal des
Laios gesetzt hat, worauf die Erzählung selbst hinzudeuten scheint,
die Art dieser Beziehung aber ist sehr dunkel 1 : »Wollte man sie als
Rächerin für die Ermordung des Laios, gewissermaßen als dessen
Erinys einführen, so war es absurd, daß nun dessen Mörder oben®
drein noch die Rächerin des Mordes erschlägt, ohne daß ihm selbst
zunächst ein Leid geschieht. Dachte man sie sich als Strafe für ein
von Laios selbst begangenes Vergehen, so war es absurd, daß sie
erst nach dessen Tode erschien, und nicht Laios von ihr zu leiden
hat, sondern dessen unschuldige Untertanen. So wäre nur übrig
geblieben, sie entweder als Werkzeug des Schicksalsspruches auf®
zufassen, also ihre Sendung dem Gotte zuzuschreiben, der diesen
Schicksalsspruch gegeben hatte oder für ihr Auftreten ein außer®
halb des Oidipusmythus liegendes Motiv zu suchen.« Robert meint
angesichts dieser Sachlage, es sei überhaupt nicht notwendig, zu
motivieren: das Ungeheuer sei eben da/ ihr Erscheinen auf eine
Schuld der Menschen zurückzuführen sei, ein später und sekundärer
Gedanke.
Wir meinen indessen, der Autor habe zu früh resigniert. Die
alte Sage stellt eine freilich rätselhafte und sichtbar später um®
gedeutete Verbindung zwischen Laios und der Sphinx her und die
Psychoanalyse lehrt uns, daß solche Verbindungen eine psychische,
also reale Motivierung haben. Erkennen wir ihre Natur nicht, so
müssen wir geduldig warten, bis wir sie finden/ keinesfalls dürfen
wir sie einfach negieren. Auch der Parallelismus, der zwischen der
Tötung der Sphinx und des Laios besteht, scheint darauf hinzu®
deuten, daß eine Beziehung zwischen beiden Figuren besteht.
Vielleicht gewinnen wir Aufklärung über den Zusammenhang,
wenn wir das in der Analyse der Sphinxgestalt gefundene Resultat
heranziehen: die Sphinx, eine späte Fortentwicklung des göttlichen
Totemtieres, steht dem jungen Oedipus gegenüber. Er tötet sie im
Kampfe und die Stadt fällt ihm als Preis zu. Glauben wir den in
der Analyse der Entstehung des Totemismus gewonnenen Erkennt¬
nissen, so müssen wir annehmen, daß die Sphinx letzten Endes
eine Doublierung des Laios, des Vaters des jungen Helden, sei,
ihre Tötung wiederhole dementsprediend die Ermordung des Königs.
Die Stadt aber ist uns ebenso wie das Land durch die Symbolik
des Traumes, des Mythus, der Dichtung und des Witzes in ihrer
1 Oidipus, I. Bd,, S. 63.
Oedipus und die Sphinx
123
unbewußten Bedeutung als Weib bekannt. Wir erkennen also in
dieser Einkleidung eine Doublette jenes großen Geschehens, das
den Kern der sozusagen menschlichen, allzumenschlichen Geschichte
des Oedipus ausmacht: die Tötung des Vaters und die Besitz*
ergreifung der Mutter.
Nehmen wir diese Deutung an, ergeben sich wieder schwierige
Fragen, die beantwortet werden wollen. Welche Form der Sage
ist die ursprüngliche und warum eine nochmalige Erzählung ihres
Inhaltes in veränderter Form? Woher kommt es, daß die früher
männliche Gestalt der Sphinx in eine weibliche umgedeutet wurde,-
welche seelischen Motive waren dafür bestimmend und durch welche
psychische Mechanismen vollzog sich der Umformungsprozeß?
Der Oedipusmythus überliefert uns in antiker Selbstverständ*
lichkeit und Unbefangenheit einen Stoff, dessen Gefühlsinhalt so
allgemein-menschlich ist, daß wir uns in der Psychoanalyse gewöhnt
haben, ihn als typisch für die stärksten unbewußten Wünsche der
Kindheit anzuführen. Aber gerade die Unbefangenheit der griechi*
sehen Überlieferung, welches dieses Material in historischer Zeit in
aller Kraßheit vor den Augen und Ohren der Zuhörer ausbreitet,
sollte uns zum Nachdenken anregen. Man darf immer mißtrauisch
werden, wenn uns der Mythus grob sexuelle Themen frei erzählt,-
fast immer sind dann noch andere bedeutungsvolle Motive darin ver®
borgen und das Betonen und In=den-Vordergrund-rücken des einen
sexuellen Gegenstandes dient oft dazu, andere Stücke sexuellen
oder ebensowenig harmlosen Inhalts zu verbergen 1 .
Denken wir uns das Orakel, die Episode der Sphinx und noch
andere spezifisch mythologische Züge aus dem Oedipusmythus weg,-
was bleibt dann übrig? Das Leben und die Taten eines Verbrechers,
eines Vatermörders und Blutschänders, mit dem wir nicht einmal
Mitleid haben können, dessen Schicksal jede tiefere Resonanz fehlt.
Wir wüßten dann nicht, warum gerade dieser Verbrecher von so
vielen von den Griechen ausgewählt wurde, als tragischer Held
verewigt zu werden, warum sich gerade für ihn das Tribunal zur
Bühne verwandeln soll.
Diese Überlegung sowie die besonders krasse Form der Über*
lieferung, die dunkle Beziehung der Rolle der Sphinx zu dem Schicksal
des Laios und ihre mythologische Bedeutung, alle diese Momente
lassen uns vermuten, daß die Sphinxsage nicht eine spätere Ein*
Schiebung bedeutet, wie die meisten Mythologen glauben, sondern
zu den wesentlichen Stüdcen des ursprünglichen Mythus gehört. Ist
dies aber der Fall, so wird die Frage des Verhältnisses des einen
Sagenteiles zu dem andern, der das Gleiche auf einer anderen
Ebene wiederholt, erst recht dringend. Wir wollen sie kurz beant*
Worten: Der Sphinx fällt ungefähr dieselbe Rolle im Leben des
1 Dieser Satz läßt sich am besten durch die Analyse der biblischen Sünden»
fallssage veranschaulichen.
124
Dr. Theodor Reik
Oedipus zu wie dem Geiste im Schicksal Hamlets 1 . Die Sphinx¬
episode ist älter als die sozusagen menschliche Oedipussage in ihrer
jetzigen Form. Dort, in der Erzählung vom Tode der Sphinx, ist
das typische Ereignis der Oedipussage in seiner ersten, elementaren,
furchtbaren Wucht erhalten: in späterer Umkehrung ist freilich der
übermenschliche Frevel zu einer das Land befreienden Wohltat
geworden, aber das Moment, daß die Tat von dem jungen Helden
an einem späten Vertreter des alten Totemtieres, des unantastbaren
Gottes, verübt wurde, zeigt ihre ganze tragische Schwere, ihre über
ein Einzelschicksal weit hinausgehende Bedeutung. Hier, in der Er¬
mordung des Laios, spielt sich gewissermaßen alles im Rahmen des
Bürgerlichen, das der Zone eines allgemeinen Gesetzeskodex an¬
gehört, ab,- in der Tötung der Sphinx aber, von der jene Tat nach¬
träglich erst die stärkste unterirdische Resonanz empfängt, wird
ersichtlich, daß die Tat des jungen Heilands Oedipus ein Verbrechen
gegen die Gottheit war, da sie an ihr begangen wurde. Das mensch¬
liche Tun und irdische Geschehen der Sage erscheint nun in fremdem
Lichte höherer Gewalten. Das Tragische findet dann eine bedeutsame
Verstärkung darin, daß Oedipus sich nicht nur vergangen hat gegen
der Menschen vergängliche Sitte und fragwürdigen Brauch, sondern
daß er gegen die ewigen und geheiligten Gesetze verstoßen hat,
welche die Gottheit gegeben. Oedipus hat nicht nur seinen Vater
erschlagen, sondern in ihm auch die höchste Autorität, den Gott
selbst getroffen 2 .
1 Dieser Vergleich geht über Äußerlichkeiten hinaus. Die folgende Unter»
suchung wird erkennen lassen, wie innige Beziehungen zwischen dem Oedipus»
und dem Hamletstoff, deren unbewußte Bedeutung Freud mit Recht vergleicht,
bestehen.
2 Zu den obigen Darlegungen paßt es, daß Robert in seinem erwähnten
Werke als die älteste Sagenform des Oedipus annimmt, daß der Heros von Eteonos
zum Phixberge kommt, ein dort hausendes Ungetüm, das dem Lande Ver»
derben bringt, tötet und so zum Heiland des Landes wird (S. 58). Der Gelehrte
kommt von anderen Gesichtspunkten her wie bereits vor ihm Ed. Meyer <Ge»
schichte des Altertums, S. 2, 101, 103, 167) zu der Ansicht von einer ursprünglich
religiösen Bedeutung des Oedipusmythus. Meyer sieht mit Recht in Oedipus eine
dem Herakles gleichartige Gestalt, einen jener großen Götter, in deren Leben der
Kreislauf der Natur Ausdruck gewonnen hat. Oedipus, der sich seiner Mutter, der
Erde, vermählt, dann aber geblendet wird und stirbt, könnte zu einem Heros herab»
gesunken sein, von dessen merkwürdigen Schicksalen die Dichter viel zu erzählen
wußten. Robert will in Oedipus einen chthonischen Heros aus dem Kreise der
Demeter — die Erdgöttin ist ursprünglich seine Mutter — erkennen: »Wo die
Erde, das göttliche Urwesen, die Allmutter ist — und das ist sie ganz gewiß
bei allen griechischen Stämmen — sind naturgemäß auch ihre eigenen Söhne zu»
gleich ihre Gatten« <S. 44). Damit stimmt unsere Deutung der symbolischen Rolle
des Landes <Thebens> überein. Wieweit sich aber Robert von der ursprünglichen
Bedeutung des Mythos trotz seiner Erkenntnisse entfernt, mag folgende Stelle
zeigen: »Das Kind der Mutter Erde brauchte ursprünglich keinen Vater gehabt
zu haben. Erhielt es aber einen, so konnte es in der Naturreligion nur ein ihm
wesensgleicher sein, der alte Jahresgott, den es erschlagen muß, um selbst zum
Jahreskönig zu werden, wie Zeus den Kronos entthront ... So gab man ihm den
Sehergott Laios von Eleon zum Vater. Jährlich erschlägt nun Oedipus den Laios,
jährlich vermählt er sich mit der Mutter. Ein kausaler Zusammenhang
Oedipus und die Sphinx
125
Ja man darf sagen, gerade weil die fürchterliche Schwere von
Oedipus' Verbrechen durch die Sphinxerzählung verdeckt wurde, war
es möglich geworden, seine Tat als die eines gewöhnlichen Menschen
darzustellen und unverhüllt zu erzählen. Wir würden also an-
nehmen, daß der Oedipus einer vorhergehenden Sagengestalt das
göttliche Totemtier getötet hat und diesen Frevel schwer sühnen
mußte. Später war jene ursprüngliche Ermordung des Totems auch
von den Griechen, die schon zur Bildung anthropomorpher Gottheiten
vorgeschritten waren, in ihrer ungeheuren wirklichen Bedeutung nicht
mehr erkannt worden. Das durch den Fortschritt zum Ungeheuer
degradierte Totemtier blieb in der sehr späten Umformung als
Sphinx ebenso erhalten, wie die Tötung: diese gewann durch Affekt¬
umkehr den Charakter des Verdienstlichen * 1 .
Der ganze Vorgang war also durch den Einfluß von Tendenz
zen einer kulturell höherstehenden Zeit mißverstanden worden. Ver¬
gessen wir nicht, daß die Gottheit bereits menschliche Gestalt ange¬
nommen hatte, das religiöse Gefühl empfindlicher und verfeinerter
geworden war und demjenigen, der, wenn auch unwissentlich, die
ungeheuerliche Tat eines Gottesmordes vollzogen hat, jede Regung
des Mitgefühls entzogen hätte. Da bot sich als Ersatz jener einzig¬
artigen Tat ein anderes Verbrechen, das, jenem ähnlich und schwer
genug, dennoch nicht den Charakter einer gewaltsamen Auflehnung
gegen die Gottheit trug: der Vatermord.
Doch wir glauben auch nicht, daß der Zufall die Wahl dieses
Ersatzes gelenkt hat. Überlegen wir doch, was die Einsetzung des
Vaters statt des Totems bedeutet: das Totemtier war selbst ein
urzeitlicher Ersatz des Vaters gewesen,- in seiner Tötung belebte
sich das Erinnern an die Ermordung des Urhordenhäuptlings. Wenn
jetzt die Sage Oedipus den Vater erschlagen ließ, so war das, was
sie berichtete, eine von der Menschwerdung der Götter gewiß nicht
unabhängige Formung der Ursage, die dem späten kulturellen Ni¬
veau der Zeit angepaßt war. Bedenken wir diesen Entwicklungsgang,
der von dem wirklichen Ereignis einer jeder bewußten Erinnerung
entzogenen Urzeit, das seinen späten Nachhall im Oedipusmythus
gefunden hat, ausgeht, in der Ermordung des Totemtieres die Tat
in ihrer religiösen Bedeutung zeigt und sie später, von der Unduld¬
samkeit der Verdrängungsmädite gezwungen, durch den Vatermord
ersetzen läßt, so ergibt sich folgender Aspekt: der uns vorliegende
Mythus spiegelt nicht den primären Inhalt der Sage wider,
sondern stellt bereits eine späte Wiederkehr des Verdrängten
zwischen dem Vatermord und derTötung der Sphinx hat schwerlich
bestanden.« (Von mir gesperrt.) Der Forsdier setzt noch hinzu, daß hier das
schwerste Problem für die poetische Gestattung des Oedipusmythus liegt und daß
alle Versuche, einen solchen Zusammenhang herzustellen, gescheitert sind.
1 Die Umdeutung ist jener ähnlich, die in der Tradition von der Zermal¬
mung des goldenen Kalbes durch Moses wirksam war. Vgl. darüber meine »Pro¬
bleme der Religionspsychologie« I. Teil. Internationaler Psychoanalytischer Verlag,
Wien und Leipzig 1919.
126
Dr. Theodor Reik
dar. Ein in großen Eugen den jetzigen Ereignissen der Oedipus*
sage ähnlicher Vorgang mag den Inhalt des ursprünglichen Sagen**
kerns gebildet haben.
Wir verstehen nun auch, wie dieser Mythus als einer der
wenigen uns bekannten, es zustande brachte, uns, was er zu be*
richten hat, in so krasser, unverhüllter Form zu sagen,- diese Eigen*
heit dürfen wir nicht seiner Primitivität zusdrreiben. wir müssen sie
vielmehr als das Ergebnis eines Durchbruches verdrängten Materials
nach jahrtausendlanger Unterdrückung verstehen. Wir lassen hier
alle prinzipiellen Überlegungen, die an diesem Beispiel der Mythen*
bildung anknüpfen könnten, beiseite und besdiränken uns darauf,
festzustellen, daß hier wie bei anderen Mythen die erste uns er*
reichbare Form dieser Phantasieschöpfung bereits die Spuren reli*
giöser Verarbeitung und Umdeutung trägt. Nirgends können wir
den vorreligiösen Mythus in seiner reinen Gestalt erfassen/ dort
aber, wo im Mythus die Gottheiten, die Dämonen und das übrige
alte Personal antiker Religionen nicht Vorkommen, müssen wir meistens
bereits eine neuere, der religiösen Phase entwachsene Form erblicken/
die man nicht mit der primären, an den Animismus anknüpfenden
verwechseln darf. Wir merken, daß wir hier an das schwierige Pro*
blem des Verhältnisses von Mythus und Religion stoßen und kehren
zur Sphinxerzählung zurück.
Wir haben erkannt, daß in der Oedipussage neben der neueren
Gestaltung die ältere, mißverständlich aufgefaßte und umgedeutete
der Sphinxgeschichte bestehen bleibt und daß ferner der Haupt¬
akzent, der früher auf ihr ruhte, nun auf das Schicksal des mit
einem menschlichen Vater kämpfenden Oedipus verschoben wurde.
Solche Akzentverschiebung ist uns im Gebiete des Seelischen nicht
fremd: auch im Traume erscheint in ähnlicher Art oft als Schale,
was einst Kern war.
Wir haben bisher mit Absicht jene Momente außer acht ge¬
lassen , die der Sphinx Muttercharakter zuzuweisen scheinen. Ranks
Ansicht über die Bedeutung der Episode geht dahin, daß Sphinx
und Mutter ursprünglich zusammenfielen, d, h., daß die Ein*
führung der Sphinx eine Abspaltung gewisser anstößiger Züge von
der Mutter gestatten sollte. Nach Einführung der Sphinx wurde
auch ihr eigentlicher Muttercharakter von der späteren Verdrängungs*
welle verwischt: die ursprüngliche Vergewaltigung der Mutter sei
später einem Kampfe mit der Sphinx gewichen und erst in weiterer
Folge in einen geistigen Wettlauf verwandelt worden. Die ehe*
mals vergewaltigte Sphinxmutter gibt dem um das Verständnis der
Sexualprobleme ringenden Jüngling ein sexuelles Rätsel nach dem
Wesen des Menschen auf und der Held kann erst nach Lösung
desselben »also nach der Vergewaltigung der Mutter im ursprüng*
liebsten Sinne« die Ehe vollziehen. Nach Rank würde also die
Sphinxepisode eine im Verlaufe der Verdrängung und mythischen
Sihichtenbildung eingeführte Doublette der Vergewaltigung Jokastes
Oedipus und die Sphinx
127
bedeuten. Scharfsichtig hat Rank erkannt, daß diese Deutung nicht
ausreichend sei und hat die mit der Figur des Laios verknüpfte Ge-
schichte des Chrysippos herangezogen, so daß auch die homosexuelle
Bedeutung der Sphinxgestalt hervortrat.
Nun ergibt sich die Möglichkeit, die Ranksche Deutung mit
der unseren zu vereinbaren. Die eine ergänzt die andere/ wir
meinen,nur, die Ranksche Hypothese gebe ein Bild einer späteren
Gestaltung. Die Sphinx als Mutterdoublette hat sich verdeckend
vor das ursprünglichere Bild des totemistischen Vaterersatzes ge¬
schoben wie die menschlich-bürgerliche Bildung des Oedipusmythus
vor die heroisch-religiöse. Die Tötung der Sphinx ist ursprünglich
der Mord am Totem,- ebenso unzweifelhaft aber ist es, daß sie
später zur Vergewaltigung der Mutter wurde, wie Rank es dar¬
stellt. So wären also in der Gestalt der Sphinx Doublierungen des
Vater- und Mutterbildes vereinigt? Tatsächlich ist es so, wie uns
auch eine andere Überlegung lehrt: die menschliche Oedipussage,
die als Wiederkehr der Ursage alle wesentlichen Vorgänge dieser
in zivilerem Format widerspiegelt, hat sich aus der Sphinxgeschichte
durch Vermenschlichung und Spaltung entwickelt/ es müssen also
die bedeutsamen und wesentlichen Elemente der jüngeren Schicht
schon in der Sphinxsage enthalten sein. Wir gelangen so zu der
Annahme, daß in der Sphinxsage, wie sie uns jetzt vorliegt, eine
großartige Verdichtungsleistung vieler Generationen steckt, weihe
die Tötung des Vaters und die Vergewaltigung der Mutter in der
einen Tat, die an der Sphinx geschieht, zusammengepreßt hat
Homo- und heterosexuelle, sadistishe und masochistische Gefühls¬
züge gehen unentschieden und ununterscheidbar ineinander über.
Die seelishen Vorgänge, wie sie die Psyhoanalyse beim einzelnen
erkannt hat, geben auch hier die Aufklärung. Das Kind, das den
Geschlechtsverkehr der Erwachsenen beobahtet, identifiziert sich
nicht nur mit dem Vater, sondern auch mit der Mutter: es wünscht
also nicht nur, wie der Vater mit der Mutter sexuell zu verkehren,
sondern auh vom Vater in ähnlicher Art behandelt zu werden wie
die Mutter beim Koitus. Diese sadistisch-masochistische Phantasie
entspricht den ersten heterosexuellen und homosexuellen Bindungen
des Kindes. Die infantil-sadistische Auffassung des Koitus läßt ihn
in den Augen des Kindes als Kampf erscheinen: so ist es möglich,
daß es nach dem mißverstandenen Beispiele des Vaters die Mutter
zu zerreißen, niederzuzwingen wünscht. Die Übertragung dieser Er¬
kenntnisse auf die Völkerpsychologie weist uns auf ein abwech¬
selndes Anschwellen und Abebben der homosexuellen und hetero¬
sexuellen Welle im Leben der Völker hin: mit der Liebe zum
Vater konnte sich der unbewußte Haß gegen die Mutter paaren
und umgekehrt. Als Verkörperung dieser beiden urzeitlichen, starken,
gegensätzlichen Strebungen mag uns jetzt die Sphinx erscheinen, da
Oedipus noch in der Vaterermordung die Mutter vergewaltigt, noch in
der Vergewaltigung der Mutter den Vater als Liebesobjekt nimmt.
128
Dr. Theodor Reik
Suchen wir uns die historische Reihenfolge der Vorherrschaft
dieser Libidoströmungen klarzulegen, so werden wir erkennen, daß
die Tötung des Vaters, des Totemtieres, zeitlich der Vergewaltig
gung der Mutter, die sich in der menschennäheren Gestalt der
Sphinx zeigt, voranzugehen scheint. Gerade die Bestandteile der
Mischgestalt aber, in der anscheinend der tierisch-männliche Unter«
leib das ältere Element ist und der menschlich-weibliche das jüngere,
läßt uns vermuten, daß hier so wie in der ganzen Sage eine Wieder«
kehr alten, verdrängten Gutes stattgefunden hat. Die Verdichtung
der Tötung des Vaters und des sexuellen Verkehrs mit der Mutter,
die sich dann durch die Spaltung in der Oedipussage in zwei ge«
trennte Aktionen auflöst, weist unseres Erachtens in eine Urzeit
der Menschheit zurück, in der sich die Liebeswahl der Jugend nicht
so entschieden wie jetzt für das Weib erklärte, in der aber auch
Liebesspiel und Kampf noch nicht so scharf voneinander geschieden
waren wie heute: in ein Stadium, das der sadistisch«analen Periode
in der Libidoentwicklung des einzelnen analog wäre. Bildet so die
Möglichkeit der Rückkehr zu dieser atavistischen Entwicklungsphase
der Triebentwicklung die Vorbedingung für das Zustandekommen
der Verdichtung, so müssen wir doch annehmen, daß der erste An¬
stoß zur Schöpfung des Oedipusmythus die Phantasie vom Sadi¬
stisch gefärbten) Geschlechtsverkehre mit der Mutter, zu der dann
die vom Vater als dem Störenden hinzutrat, war. Wie die Ur«
gestalt jedes Mythus ist auch diese nichts weiter als die objekti¬
vierte Halluzination erfüllter Wünsche. Wir wissen aus der indi¬
viduellen Analyse, daß diese Formel dem biogenetischen Gesetze
entspricht, da das Kind ursprünglich die Wünsche, welche die Realität
ihm versagt, sich halluzinatorisch erfüllt. Haben wir den Oedipus«
mythos so auf seinen ersten Keim, die phantasierte gewaltsame ge¬
schlechtliche Vereinigung mit der Mutter zurückgeführt, so wird es
uns nicht überraschen, wenn wir noch in einer seiner spätesten Ge¬
staltungen an bedeutsamer Stelle ein Anzeichen jener Abstammung
finden: ich meine den von Freud als Ausgangspunkt seiner Analyse
gewählten Traum, von dem Jokaste bei Sophokles spricht:
», , . , viele Menschen sahen auch im Traume schon
Sich zugesellt der Mutter
So besteht also Freuds Behauptung, die Sage vom Oedipus
sei einem uralten Traumstoffe entsprossen, zu Redit, wie wir aus
der geschichtlichen und psychologischen Rekonstruktion der späten
Sage bewiesen zu haben glauben. Der allgemeinen Inzestphantasie
der Masse ersteht ein drohendes Hindernis der Gestaltung und
halluzinatorischen Befriedigung durch die Störung, die vom Vater
erwartet werden darf: das gewaltige Ereignis des Vatermordes
wirft, in der Form des im Traume auftauchenden Bildes von der
gewaltsamen Beseitigung des Störers seine Schatten voraus. Der
Besitz der Mutter ist an die Bedingung der Vatertötung so sehr
Oedipus und die Sphinx
129
gebunden, so unmöglich die Erfüllung des im Triebhaften wurzeln«
den Wunsches ohne Wegräumung dieses stärksten Hindernisses,
daß das eine stellvertretend für aas andere eintreten kann. Eine
psychische Konstellation, welche später im Verein mit den bereits
erwähnten Momenten die Möglichkeit der von uns in der Sphinx*
sage gezeigten Verdichtung ergibt.
Diese Möglichkeit konnte erst aktiviert werden, als sich die
seelischen Reaktionen auf die reale Tat der Vatermordung längst
eingestellt hatten und sich bereits ein Urmythus gebildet hat. Die
Vergewaltigung der Mutter, wie sie sich in der Bezwingung der
Sphinx zugleich mit der Tötung des totemistischen Vaters zeigt,
wäre sonach dem Wiederauftauchen des Wunsches, der zur Mythen*
bildung den Anstoß gab, gleichzusetzen. Die Möglichkeit der Ver*
dichtung aber wurde erhöht durch die dem Vater geltende reaktiv
verstärkte Zärtlichkeit und durch die den ursprünglich sadistischen
Anteil der Inzestphantasie verstärkende Feindseligkeit gegen das
Weib nach jener Tat. In der Doublette der Oedipussage, welche
die Sphinxgestalt wieder in die Figuren des Laios und der Jokaste
scheidet, treten wieder wie einst gesondert die feindseligen und
zärtlichen Tendenzen in der Beziehung des jungen Helden zu Vater
und Mutter hervor. Wie in der Sphinxsage Geschlechtsverkehr und
Tötung in eine Tat, an einem Objekt vollzogen, zusammenfallen,
so noch in einem Zuge der vorsophokleischen Oidipodie, wo Oedi*
pus dem erschlagenen Vater den Gürtel und das Schwert abnimmt 1 .
Das Gürtellosen aber ist ein bekanntes erotisches Symbol in der
griechischen Antike,- die Schwertabnahme ersetzt in symbolischer
Form die Kastration/ auch hier folgen also in zweizeitiger Hand*
lung der Ausdruck zärtlicher und der feindseliger Gefühle gegen
dasselbe Objekt aufeinander.
Wir verstehen aus diesem homosexuellen Einschlag, wie es
zur doppelten Mischgestalt kam: sie ist Mann und Weib, weil
beide als Sexualobjekte gewünscht werden; sie wird getötet und
geschlechtlich gebraucht, weil beide Aktionen in der sadistisch-maso*
chistisch gefärbten, infantilen Auffassung des Geschlechtsverkehrs
beim Kinde ebenso zusammenfallen wie vielleicht in der frühesten
Zeit der Differenzierung der Geschlechter in der Entwicklung der
Organismen in Wirklichkeit.
Wir haben früher gesagt, daß im Traume vorkommende ab*
surde Mischgestalten in der Art der Sphinx gegen das dargestellte
1 Ein anderer, freilich später hergestellter Zusammenhang führt wieder auf
die Verdichtung, die wir in der Sphinxsage konstatiert haben: die Sphinx wurde
nadi der Erzählung des Peisandros von Hera als Strafe geschickt, weil Laios, der
Vater des Oedipus. den schönen Chrysippos geraubt hatte. Nach der Sage wird
Oedipus selbst als homosexuell gedacht und tötet im Streit wegen des auch von
ihm geliebten Chrysippos den von ihm unerkannten Vater. Wir werden nicht allzu
kühn erscheinen, wenn wir in Chrysippos selbst eine spätere Doublierung des
Oedipus vermuten. Die Sage berichtet also von einer Ermordung des Vaters so*
wohl aus homosexueller Eifersucht als auch aus Motiven heterosexueller Neigung.
Imago VI/2
9
130
Dr. Theodor Reik
Objekt verspürte Gefühle des Hohnes oder Spottes seitens des
Träumers erkennen lassen. Übertragen wir diese Traumregel auf
Gebilde der Massenpsyche, so würden wir vermuten, daß auch in
den merkwürdigen Mischgebilden früher Kunst Tendenzen zutage
treten, die eine jenen Gefühlen analoge Richtung haben. Man könnte
vielleicht behaupten, daß die Mischbildung von Tier und Mensch in
der Sphinxgestalt dem unbewußten Widerstreben gegen die über*
wundenen totemistischen Gottheiten in einer kulturell vorgeschrittenen
Zeit, die bereits Menschengötter kannte, entspricht, Die Zusammen^
setzung der Sphinx aus weiblichen und männlichen Bestandteilen
würde so ebenfalls eine unbewußte Strömung gegen den Vatergott
widerspiegeln, Impulse der Auflehnung, welche gegen die auf homo*
sexuellen Bindungen beruhende Religion die heterosexuellen Libido*
tendenzen ins Treffen führen. Wir würden diese aggressive Strömung
mit einer in der Spätantike einsetzenden Zurückdrängung und einer
veränderten Beurteilung der homosexuellen Betätigung zusammen 3
stellen, als deren letzte Überreste wir noch die Verspottung der
Homosexualität bei griechischen und römischen Satirikern ansehen 1 * .
Doch bleibt dies eine Vermutung, die um nichts wahrscheinlicher ist
als eine andere über eine Zeit, die uns im Fühlen so entfremdet
ist wie die des vorgeschichtlichen Orients.
Die religiöse Bedeutung des Oedipusmythus,
Ich weiß nicht, wie weit es mir gelungen ist, den Leser im
Vorhergehenden ahnen zu lassen, welche große Bedeutung der
Oedipusmythus im religiösen Leben der Griedten hatte und in
wie inniger, unterirdischer Beziehung noch die Aufführung des
»Oedipus« zu dem religiösen Ritual von Hellas steht. Die tiefe
und nachhaltige Wirkung der Oedipussage in der Antike darf,
wie ich glaube, gerade diesem religiösen Moment, welches das
menschliche Triebleben in Zusammenstoß mit den Gesetzen der
Gottheit zeigte, zugeschrieben werden. Denn es war hier wie in
den Dionysosspielen und im Ritual des Attis, des Adonis und Osiris
dargestellt worden, wie sich ein junger, revolutionärer Heiland gegen
den alten, mächtigen Vatergott verging und wie schrecklich er diesen
seinen Frevel zu büßen hatte. Ich meine, diese Wirkung sei der zu
vergleichen, welche das kirchliche Passionsspiel auf die Gläubigen
des Mittelalters ausübte/ sie beruht auf denselben psychischen Vor*
gängen. Die Urgeschichte Christi ist der des Heilands Oedipus nicht
unähnlich. Es ist zu betonen, daß im Oedipusmythus, wie wir ihn
jetzt sehen, die tiefsten seelischen Motive, die zur Religionsbildung
führten, dem Zuhörer unerkannt, doch plastisch entgegentraten und
daß hier sein unbewußtes Schuldbewußtsein wachgerufen wurde.
1 Die Gesdiidite des Chrysippos und die Bestrafung des Laios durdt die
Sphinx ist, glaube ich, mit dieser Veränderung in Verbindung zu bringen.
Oedipus und die Sphinx
131
An anderer Stelle werde idi versuchen zu zeigen, daß der
verborgene Kern dieses Mythus derselbe ist, wie der in der bibli—
sehen Erzählung von der Erbsünde ruhende, an die sich für viele
Jahrhunderte das Schuldbewußtsein der Massen fixierte. Hier sei
nur erwähnt, daß wir auf assyrischen und babylonischen Abbildungen,
Siegelzylindern und Reliefs immer wieder Sphinxe, Greifen und ähn*>
liehe geflügelte Tiergestalten den Lebensbaum bewadien sehen, Jeder=
mann weiß, daß in der Sündenfallserzählung ein Cherub, dessen
ursprüngliche Tiergestalt wir aus den Visionen Ezechiels kennen,
beim Lebensbaum steht wie die Sphinx vor den ägyptischen Tempeln
und die löwen^ und stiergestaltigen Wächter vor den Palästen Assur^
banasirpals und Sanheribs: alle diese Wächtertiere sind späte Ab¬
kömmlinge totemistischer Gottheiten. Es läßt sich ferner nachweisen,
daß in der Tradition vom Lebensbaum genau dieselbe Verdichtung
vor sich gegangen ist wie in der Sphinxepisode des Oedipusmythus
und daß jener in der biblischen Erzählung dieselbe scheinbar neben¬
sächliche Rolle spielt wie die Sphinx in der griechischen. Als das
Ergebnis einer vorbereiteten Untersuchung 1 wird man schon jetzt
aussprechen, daß der Oedipusmythus die Sündenfallsgeschichte des
Hellenentums genannt werden darf 2 .
Vergessen wir indessen nidit, daß, was in religiös betonten
Formen des »Oedipus« um Ausdruck rang und die griediischen
Zuhörer erschütterte und auch uns jetzt noch erschüttert, eben jene
entscheidenden seelischen Regungen sind, deren Wirksamkeit erst
den Anstoß zur Religionsbildung gaben, Auch in diesem Sinne also
ist die Oedipussage eine Gestaltung, welche die Wiederkehr ver¬
drängten Materials zeigt.
Wir haben absichtlich das Rätsel, das die Sphinx aufgibt, als
einen sekundären Zug aus dieser Deutung ausgeschaltet; es lag uns
diesesmal mehr daran, das Rätsel der Sphinx selbst zu lösen. Oder
vielmehr eines ihrer Rätsel. Denn sie hat zahlreiche, die immer
erneute Anstrengungen erforderlich machen 3 .
Damit aber sind wir wieder zu unserer kleinen Zeichnung
zurückgekehrt, die dem Analytiker als Sinnbild des Erreichten, aber
auch als ständige Mahnung zu neuer Forschung gelten darf,
1 »Die Erbsünde« im II. Teil meiner »Probleme der Religionspsychologie«.
2 Mit dieser Behauptung soll keine Aussage über das nodi ungelöste und
komplizierte Problem der Beziehungen zwischen Semiten und Griedien verbunden sein.
3 Die Stellung des Rätsels im Oedipusmythus entspricht der, welche das
Erkennen von Gut und Böse in der Sündenfallssage innehat. Vgl. »Die Erbsünde«.
o*
132
Dr. Hermann Goja
Das Zersingen der Volkslieder.
Ein Beitrag zur Psychologie der Volksdichtung.
Von Dr. HERMANN GOJA.
Tohn Meier, der bedeutende Volksliedforscher, welcher das Zer«
I singen in den Mittelpunkt seiner Studien gerückt hat, hat in der
I Einleitung des Buches »Kunstlieder im Volksmunde« seine An«
' schauung über die Möglichkeit der Lösung dieses Problems dahin
zusammengefaßt, daß er sagt, unsere Aufgabe sei es gar nicht, nach
der Lösung dieser Frage zu suchen, unsere Aufgabe sei vielmehr nur
die, möglichst viel Material für jenen zusammenzutragen, welcher in
späterer Zeit die Lösung bringen soll. Wir seien nur Hilfsarbeiter
jenes Späten, welche die Steine auf dem Bauplatz Zusammentragen,
mit welchen dieser das Gebäude aufführen wird. »Was wir brauchen,
sind praktische Untersuchungen und nidit apriorische Spekulationen
und Philosopheme, die nur verwirren. Wir haben den Philosophen
durch unsere Forschungen erst das Material zu liefern, das sie dann,
aber auch erst dann, verwerten mögen. 1 « Diese Hilfsarbeit hat er
dann glänzend organisiert und die Griffe derselben an einigen Bei«
spielen vorgezeigt, welche seine Volksliedstudien enthalten. Die Volks«
liedstudien zeigen ihn hart gegen die Einwürfe seiner Kritiker, aber
fest auf dem Standpunkt verharrend, welchen er einmal eingenommen
hat 2 . Goethes Spruch ist vorangestellt: »Es ist mit Meinungen, die
man wagt, wie mit Steinen, die man voran im Brette bewegt, sie
können geschlagen werden, aber sie haben ein Spiel eingeleitet,
das gewonnen wird.« John Meier fühlt sich als solcher Stein, der
sich opfern muß, um dem Spiele, dem Ganzen den Sieg zu ge«
winnen.
Ist es bei John Meier Stolz auf das Geleistete, den er in
diesen bescheidenen Satz kleidet, so wäre es von mir Vermessen«
heit, denselben als Motto zu nehmen. Auch meine Meinung ist
einem Steine gleich, den man im Spiele bewegt. Ob die Züge des
Spielers gut sind, weiß ich jedoch noch nicht. Ich will den Eröffnungs«
zug machen.
Wie für jede Art der Untersuchung des Zersingens, ist es
auch für meine das Wichtigste, geeignetes Material zusammenzustellen.
1 J. Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. *7.
3 J. Meier, Volksliederstudien, S. VII—VIII.
Das Zersingen der Volkslieder
133
John Meier hat ja die Schwierigkeiten, welche sich schon hei dieser
Vorarbeit einstellen, aufgedeckt 1 : es ist unmöglich, auf Grund un¬
serer Quellen die Varianten zu ordnen. Welche Singart der ältesten
Fassung eines Liedes entspricht, welche aus einer älteren geflossen
ist, kann hei unseren Volksliedern nicht festgestellt werden: und so
ist auch die Reihe der Singarten einer Variante nicht mehr wieder¬
herzustellen, was bewirkt, daß das die Reihe bildende Gesetz eben¬
falls nicht mehr zu erkennen ist. Meier hat nun einen Fall des
Zersingens herausgefunden 2 , für den diese Mängel zur Gänze nicht
bestehen, und zwar ist er das Zersingen der Kunstlieder. Der Aus¬
gangspunkt der Entwicklung ist hier fest, er ist das Kunstlied. Werden
nun alle im Volke gesungenen Fassungen des Kunstliedes gesammelt
und zusammengestellt, so ist es möglich, die zuerst notwendige Reihe
der Singarten aufzustellen, um vielleicht dann aus dieser Reihe auf
das sie beherrschende Gesetz zu gelangen.
Gewiß ist richtig: auf die Urfassung eines Volksliedes können
wir nicht mehr gelangen. Was wir sammeln, ist vielleicht das rte,
lte, xte Glied einer Reihe. Wir wissen nicht, wie viele Glieder
zwischen den einzelnen, erhaltenen ausgefallen sind, und wir wissen
nicht, in welcher Folge die erhaltenen zu ordnen sind. Auch John
Meier gewinnt durch Feststellen des Kunstliedes nur einen Haken,
an welchem die vielen Varianten wie ein zerzaustes Bündel von
Bändern befestigt sind. Wenn wir aber auch nicht mehr die ge¬
wünschte Reihe von a—x wiederherstellen können, eines ist uns
unter günstigen Umständen möglich, zwei, mehrere aufeinander¬
folgende Glieder derselben zu erfassen, etwa das mte, m, erste
Glied der Reihe. Gelingt uns dies in einer größeren Anzahl von
Fällen, so haben wir Aussicht, aus den sich ergebenden Parallelen
das gesuchte Gesetz zu finden.
Ich habe nun eine solche Phase in der Entwicklung von Volks¬
liedern festzulegen versucht. Ich habe durch die Sammlung der
Varianten von Soldatenliedern die Entwicklung festzuhalten ver¬
sucht, welche dieselben während des Weltkrieges innerhalb eines
Regimentes 3 durchgemacht haben. Ich will also versuchen, aus diesen
Singarten heraus unter gleichzeitiger Benützung der vorliegenden
Forschungsergebnisse auf den Sinn des Zersingens zu kommen.
Bevor ich mich an diese meine Arbeit mache, will ich noch
eines bemerken. Es gibt noch eine dritte, bisher noch nicht benützte
Gelegenheit, zum Verständnis des Zersingens zu gelangen. Es ist
das Studium der Lesarten unserer Kunstlieder. Wenn das Lied
eines Kunstdichters uns in zwei Fassungen A und B vorliegt, so
haben wir einen Fall, welcher dem des Zersingens ähnlich ist. Das
Lied wurde von seinem eigenen Dichter zersungen, etwas, was bei
1 I. Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. XVII ff.
* Ebenda, S. XIX.
3 K. k. Sdiützenregiment Nr. 24, Umgebung von Wien.
134
Dr. Hermann Goja
unseren Volksliedern gewiß auch möglich ist. Man wird mir ein¬
wenden, daß die dieses Zersingen der Kunstlieder beherrsdienden
Gesetze sdion erkannt worden seien. Es seien formale Gründe usw.
Es wurde aber doch schon bemerkt, daß auch die Entwicklung des
Dichters, das Leben desselben, Einfluß auf die Bildung dieser
Varianten nehmen. So kommen wir auf eine psychische Quelle des
Zersingens, welche bei den Fassungen unserer Kunstlieder noch
nicht freigelegt worden ist. Das Studium der Reihen dieses Zersin¬
gens, welche uns schon oft mustergültig geordnet vorliegen, könnte
also ebenfalls zur Erkenntnis der das Zersingen beherrsdienden Ge®
setze führen. Gehen wir aber nun den uns vorgeschriebenen Weg.
Die Identifizierung.
Wenn man am Anfänge dieser Arbeit fragt, was die Ursache
gewesen sein könne, daß man trotz vieler Mühe nicht auf den Sinn
des Zersingens gestoßen ist, so gibt es auf diese Frage nur eine
Antwort: es ist das Außerachtlassen, als unwesentlich Fallenlassen
von Erscheinungen, welche dem Suchenden als unwesentlich, neben**
sächlich erscheinen, während sie tatsächlich die einzigen Führer zu
dem Geheimnis sind. In Wahrheit kann man erst dann beurteilen,
ob etwas zum Verständnis wichtig oder unwichtig ist, wenn man
das Wesen der Erscheinung kennt. Ich will mich hüten und trachten,
nicht in diesen Fehler zu verfallen und beginne daher mit der
Untersuchung eines solchen unwichtig erscheinenden Phänomens.
Beim Sammeln der Lieder diktierten mir Soldaten auch folgende
Strophe. Und wann i mei Häusel verkauf'.
Das Geld, das i krieg, dann versauf'.
So sagt's mein Vota,
I bin a Soldat,
Der alles versoffen hat.
Es ist die erste Strophe eines auch sonst verbreiteten Liedes 1 .
Die übrigen Strophen waren den Leuten nicht bekannt. Das Lied®
dien wurde nach Angabe der dörfisdien Sänger in dieser Form
und, wie alle Rekrutenlieder, in der Zeit vor der Assentierung ge®
sungen. Nach derselben hört ja das Singen auf, »da sind die Einen
behalten, die Andern nicht«. An dem Liede und an den hier an®
geführten Tatsachen ist wohl nichts Auffälliges. Nein. Wenn es
nicht das ist, daß es überhaupt gesungen wird. Daran, daß ein
Bauernbursche, welcher assentiert worden war und dieses freudige
Ereignis auch belumpt hatte, auf dem Heimweg ein lustiges Lied®
dien dichtete, daran wäre wahrlich nichts merkwürdig. Daß ein
anderer aber, ein dem Dichter ganz Fremder, Tagferner, nach Jahr¬
zehnten dieses Lieddien singt, singt, als ob er der Dichter, der Assen®
1 Zum Beispiel A. Dörfer, Volkslieder aus Tirol, Zeitschrift des Vereines für
Volkskunde 20, 1910/ Kaindl, Deutsche Lieder aus Rösch, Zeitschrift des Vereines
für Volkskunde 15, 1905/ Hrusdika^Toisdier, III, Nr. 297. Vgl. Simrock, Nr. 339.
Das Zersingen der Volkslieder
135
tierte, das Ich wäre, daran ist doch so viel Besonderes, daß wir nicht ohne
weiteres vorübergehen dürfen. Ich will diese Erscheinung die Identi®
fizierung nennen. Der Sänger des Liedesidentifiziert sich mit dem Dichter.
Das Ich des Dichters fällt mit dem Ich des Sängers zusammen. Sicher
ist dies nur möglich bei gewissen Gleichheiten. Welcher Art diese gleichen
Merkmale sind, können wir noch nicht sagen. Vielleicht genügt die Gleich¬
heit der Situation, des Milieus, was das Vorhandensein der Standes**
lieder nahelegen würde. Wir werden aber jetzt schon annehmen müssen,
daß es sich hier um Gleichheiten der menschlichen Psychen handeln muß,
da die von uns festgestellte Identifizierung zusammenhängt mit dem
allgemein Menschlichen, dem Typischen in den Volksliedern. Nur dann,
wenn sich in irgend einer Form, klar oder unklar. Typisches in einem
Liede findet, kann es wiedergesungen werden, während Individuelles für
keinen Zweiten singbar ist. Wir sind von der aufgezeigten Tatsache der
Identifizierung auf eine zweite gekommen, wir brechen ab, da wir dem
Wesen der Identifizierung erst nachgehen müssen. Viele Varianten er¬
klären sich sofort aus dieser Identifizierung. Ich führe einige Beispiele an.
Die ersten Fälle sind wenig interessant: Ein Lied 1 , mit der An*
fangszeile »Vierundzwanzig lustige Brüder« oder »Vierundzwanz'ger,
lustige Brüder« oder »Vierundzwanz'ger sind lustge Brüder« begann
vor dem Weltkriege »Füselier sind lustge Brüder « 2 oder »Musketier
seins lust'ge Brüder« 3 . Ein anderes Lied 4 »Katrinchen, trau nur nidtt.
Trau kei'm Soldaten nicht« wurde zersungen zu »Mädchen, Mäddien,
traue nur dem Schützen nicht.« Ebenso wurde in dem Liede »Mein Regi®
ment, mein Vaterland « 5 Zeile 15 »Ein Musketier, der soll es sein« ver¬
ändert in »Ein fescher Schütze muß es sein« und Zeile is »Sei's Mus®
ketier, sei's Füselier« ztf »Sei's Schütze, sei es Offizier«. Ein Lied »Treu
dem Vaterland ergeben « 6 ändert seine 4 . Zeile »Ich als Landwehr auf
derWacht« in »Ich als Landschütz« usw. oder »Als ein Landschütz« usw.
oder »Als ein Schütze usw.«
Ebensowenig wie diese ersten Beispiele verraten die folgenden
etwas von ihrer Ursache. B 60 des »Neuen Kriegsliedes « 7 wird^ zu
A 60 »Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen«,- Zeile 15 (von Erk®
Böhmes deutschem Liederhort III, 1331 ) wird zu »Die Feinde usw.«,-
I A 1 der Sarajewoliedgruppe wird zu I B 1, D 1/ I A 21 desselben
Liedes zu I B 21. Der Refrain des »Guten Kameraden«:
Die Voglern im Walde,
Die singen so wunder»wundersdiön:
In der Heimat, in der Heimat,
_ Da gibt's ein Wiedersehn 8 .
1 Köhler*Meier, Volkslieder von der Mosel und Saar, Nr. 248.
s Brk*Böhme, Deutscher Liederhort, III, 1331.
3 Breuer, Der Zupfgeigenhansl, S. 251.
4 Erk*Böhme, Deutscher Liederhort, III, 1423.
5 Ebenda, III, 1389.
« Vgl. unten S. 140 ff. das Lied »An der Weichsel gegen Osten«,
7 Vgl. unten S. 203 ff.
3 Vgl. J. Meier, Das deutsche Soldatenlied im Felde, S, 57.
136
Dr. Hermann Goja
Die Kanonen von Skoda.
Die schießen so wunder^wundergut:
O Italien, o Italien,
Deine Falschheit kostet Blut.
Wie steht es aber mit den folgenden Singarten? Zeile 13 des
Liedes »Musketier' sind lust'ge Brüder«: Schwarz das Lederzeug/
wird zu: Gelb das Riemenzeug. Zeile 16 eines Liedes 1 * * * 5 * * * * io * 12 »Unsre
sdiwarzen Hosen« lautet in einer Fassung des Weltkrieges »Und
1 Es ist das Fridolinlied, das ich mit Varianten folgen lasse:
A i Es schlagt schon halber Neune,
Fridolin,
In das Wirtshaus gehn ma eini,
Fridolin,
Und der Wirt, der laßt euch sagen.
Halber Zehne hat's schon gs&lagen,
5 Zapfenstreich ist längst vorbei,
Isabella, Fridolin.
Da kamen zwei Gendarmen,
Fridolin,
Die Gewehre untern Armen,
Fridolin/
In der Ferne der Laterne
Steht der Hauptmann auch dabei
io Mit der ganzen Polizei,
Isabella, Fridolin.
Sie wollten uns arretieren,
Fridolin,
Auf das Wachzimmer wollens uns führen,
Fridolin,-
Fünfundzwanzig aufgemessen.
Daß mirs Zhausgehn nicht vergessen,
15 Wollt der Tambour einischlagn,
Isabella, Fridolin.
Unsere schwarzen Hosen,
Fridolin,
Sind schon längst versoffen,
Fridolin.
Und der Mantel steht im Stande!
Und die Blusen ist versetzt
20 Und das Madel ist verwetzt,
Isabella, Fridolin.
Vor einem oder zwei Jahren,
Fridolin,
Als wir noch Rekruten waren,
Fridolin,
Habens uns glernt das Exerzieren,
Vor die Herrn das Defilieren
25 Und dabei die Disziplin:
Isabella, Fridolin.
B i schlagt > ist 2 In das > Ins a dort stehen 7 auf den n wollen
12 Auf das > Aufs 15 Wann der Tambour Neune schlägt, 16 Wo sind die
Das Zersingen der Volkslieder
137
unsere grauen Hosen«. Die erste Zeile des Liedes »Joli tambour« 1
zeigt ein starkes Anwachsen der Truppenstärke. »Fünftausend
Mann«, »Zehntausend Mann«, »Dreißigtausend Mann«, »Vierzig*
tausend Mann« und »Hunderttausend Mann, die zogen ins Ma*
növer«. Das Anwachsen dieser Zahl ging parallel dem Entstehen
der Riesenheere. In dem Liede »So leb' denn wohl, wir müssen Ab*
schied nehmen« a entwickelt sich die erste Fassung der Zeilen:
Dort auf dem Feld, wo unser Blut einst rinnt.
Wo so viel Tote und Verwundte sind,
zu:
Ja dort im Krieg, wo sich das Blut entrinnt,
Wo man nur Tote und Verwundte findet,
und wird so der Unlust gerecht, welche sich der Soldaten angesichts
der schweren Blutopfer des Weltkrieges bemächtigt. III B 44 der
Sarajevoliedgruppe 3 »Die leuchten dem Soldaten« wird zu IA28
»Sie leuchten den Soldaten«. Das Lied »Musketier' sind lust'ge
Brüder« ändert daher ebenfalls seinen Refrain. Man vergleiche mit:
Halli, Hallo, Hallialliallo,
Bei uns geht's immer eso!
die Fassung des Weltkrieges:
Wir sterben, wir sterben.
Wir sterben als ein Held,
Die Abneigung gegen das Soldatentum bricht hier stark durch.
Dieses Durchbrechen unterdrückter, unlustbetonter Vorstellungen
zeigt auch eine Variante des Liedes »Joli tambour«:
Später:
Und der Reiter sprach;
Zwei Stiefeln ohne Sporen.
Zwei Stiefeln ohne Sohlen.
blauen 17 Die sind 18 Standei > Handel 22 Rekruten > Spate > Späte 24 Die
Herrn > dem Jöbstel,- das fehlt 25 a stramme
C 1 schlagt > is 5 Gruß, auf Wieder, Fridolin, 6 Es kommen 7 auf den
10 Gruß, auf Wieder, Fridolin. 11 wollen 15 Wann . . . Neune schlägt. Gruß
auf Wieder, Fridolin 16 Und unsere grauen n Die 18 Handel 20 Und die
Stiefeln sind zerfetzt: Gruß, auf Wieder, Fridolin. 25 Gruß, auf Wieder, Fridolin,
D 7 Die fehlt, untern > auf den u wollten > wollen i2 Ins Wachlokal
uns führen 14 nicht > hätt 16 Wo sind die blauen Hosen 17 Die sind 2i Und
vor a, zwa, drei Jahren 25 a bisserl
Ich habe dieses Lied noch nirgends aufgezeichnet gefunden. <Konnte wohl
auch nicht alle Sammlungen wegen der Kriegsverhältnisse einsehen.> Auf der
Wiener Stadtbibliothek befindet sich in einem Karton <39976 C> unter ungefähr
700 fliegenden Blättern und Handschriften ein Lied; Fridolin der Matrose. Nach
der schon bekannten Melodie. Im Verlag bei Franz Barth in Wien, Mariahilf 28,
das mit unserem Liede Rhythmus und Refrain gemein hat, sonst aber einen
eigenen Text besitzt. Es scheint demnach einer der vielen Fälle vorzuliegen, in
denen Sdiifferlieder zu Soldatenlieder verschoben wurden.
1 Zum Beispiel Köhler*Meier, Volkslieder von der Mosel und Saar Nr. 258.
2 Erk-Böhme, Deutscher Liederhort, III, 1378.
3 Vgl. unten S. 154 ff.
138
Dr. Hermann Goja
Eine Parallele zu dieser Singart erzeugte auch das Fridolin®
lied. Die obszöne Zeile desselben:
Und das Madel ist verwetzt <Ä 2 ü>
wurde nämlich zersungen zu:
Und die Stiefel sind zerfetzt, <C 2 i)>
worauf der Refrain »Gruß, auf Wieder, Fridolin!« die geballte
Faust des so elend ausgerüsteten Soldaten zeigte. Sehr fein madit
sich diese Abhängigkeit des Liedtextes von den die Soldaten be®
herrschenden Gefühlen in der Fixierung ursprünglich schwankender
Varianten bemerkbar. So beginnt das Lied »Ade, mein Schatz! Ich
muß nun fort« 1 / welches am Anfang des Weltkrieges als erste
Zeile »Soldatenleben, das heißt man lustig sein« gehabt hatte, seit
Frühjahr 1916 immer »Soldatenleben, das heißt man traurig sein«.
Ebenso wurde im selben Frühling die zweite Zeile des S. 141 mit®
geteilten Liedes »Treu dem Vaterland ergeben« auf die eine Form
festgelegt, während sie 1914 zwischen »Schon« und »Schont' ich usw.«
gewechselt hatte.
Zeigen diese Singarten die wachsende Kriegsmüdigkeit der
Soldaten, so gibt die folgende Variante ein Bild der schwindenden
Disziplin. Der Schluß des schon mehrfadi zitierten Fridolinliedes
lautete ursprünglich:
Vor einen oder zwei Jahren,
Fridolin,
Als wir noch Rekruten waren,
Fridolin,
Habens uns glernt das Exerziern,
Vor die Herrn das Defiliern
Und a stramme Disziplin.
Isabelta, Fridolin.
»Und a stramme Disziplin« wurde nun im Laufe des Weltkrieges
zuerst zu »Und dabei die Disziplin« und schließlich zu dem ironischen
»Und a bisserl Disziplin«.
Zeigen alle diese Beispiele, daß unlustbetonte Vorstellungen
die Ursache des Zerslngens sind, daß die Ursache des Zersingens
eine Verschiedenheit in der Psyche des Dichters und des Sängers,
eine Verschiedenheit in der Psyche des früheren und späteren Sän=
gers ist, so beweisen die folgenden Varianten, daß die Verschieden¬
heit der Psychen auch in lustbetonten Vorstellungen liegen kann.
Z. 23 des Liedes »Vierundzwanzig lustige Brüder« lautete »Sind
wir unserm König treu« 2 , später »Sind wir unserm Hauptmann
1 Büsdiing u. v. d. Hagen, Sammlung deutscher Volkslieder, Nr. 11/ vgl.
ebenda, Nr. 86.
2 ln einer Fassung des Regimentes, die aus dem Kriegsbeginn stammt und
Friedensverhältnisse durchsdieinen läßt,
Das Zersingen der Volkslieder
139
gleich«. Die ursprünglich lustbetonte, dann unlustbetonte Vorstellung
des Königs ist also durch die lustbetonte des beliebten Hauptmannes
ersetzt worden, ebenso wie in Z. 12 des Liedes »Vierundzwanzig
lustige Brüder«, »Kaiser Wilhelm« 1 durch den »Hauptmann« ver¬
drängt wurde. Entsprechend ist die ironische Ersetzung des »Haupt¬
manns« durch den »lieben, guten Kaiser«. <Z. 30 desselben Liedes 2 .)
Diese Vertauschung gefühlsindifferenter oder unlustbetonter Vor* *
Stellungen durch lustbetonte zeigt sich auch in dem Liede »Joli
tambour«, in welchem der »Reiter« durch den »Leutnant«, in dem
Liede »Vierundzwanzig lustige Brüder«, in welchem später der »Haupt¬
mann« durch den »Fähnrich«, in dem Fridolinliede, in welchem »die
Herrn« durch den »Jöbstel« 3 , den beliebtesten Oberstleutnant des
Regiments ersetzt wurden. Überall erfolgen diese Veränderungen
dann, wenn das Lied von einem neuen Sänger übernommen wird,
und zu dem Zwecke, um die zur Identifizierung notwendige Gleich¬
heit der Bewußtseinslagen herzustellen.
Fassen wir das an den Singarten Beobachtete zusammen, be¬
vor wir weiterschreiten. Alle Varianten hatten nur eine Ursache,
die Identifizierung. Um dieselbe zu ermöglichen, wurde das Lied
geändert. Ein Teil dieser Veränderungen war rein äußerlich. Die
Identifizierung wurde erreicht durch bloße Gleichsetzung von Zeit,
Ort und Waffe usw. Ein anderer Teil derselben ging in die Tiefe.
Das sind jene Fälle des Zersingens, in denen, oft in feinster Weise,
psychische Verschiedenheiten ausgeglichen werden, in denen der
lange Krieg mit seinen vielen Toten und der wachsenden Kriegs¬
unlust, die schlechte Ausrüstung und die schwindende Disziplin zum
Ausdruck gelangen. Ich glaube, wir sind an eine Quelle des Zer¬
singens überhaupt gekommen, an die psychische Quelle desselben.
Das ist, wie mich dünkt, ein Schritt auf dem Wege zur Er¬
kenntnis. Nicht wie bei den Lesarten der Kunstlieder ist das For¬
male die Ursache des Zersingens, sondern das Psychische, wenig¬
stens in vielen der von uns beobachteten Fällen. Wir werden ab-
warten müssen, ob Formales nicht doch zu irgend einer Zeit eine
Rolle spielt. Die Gleichheit der Situation genügt jedenfalls nicht,
ein Lied wiederholbar zu machen, es gehört die Gleichheit der
Psyche dazu.
Noch eines haben wir zu berücksichtigen gelernt: die Tat¬
sache, daß die menschliche Psyche sich ebenso ändert wie das Milieu.
Dauernd, zeitlos sind nur Probleme. Ein solches Problem ist z. B.
das Verhältnis des Menschen zum Krieg. Zu allen Zeiten nehmen
die Menschen zum Kriege Stellung, immer aber in verschiedener
Weise. Dadurch sind denn auch die Lieder, welche sich mit dem
Probleme beschäftigen, zu allen Zeiten verschieden.
1 Erk-Böhme, Deutscher Liederhort, III, 1331, Nr. 4.
* Vgl. Köhler-Meier, Volkslieder von der Mosel und Saar, Nr. 248 B, Z. 14,
8 Vgl. Anm. 1, S. 136, A und B 24 .
140
Dr. Hermann Goja
Verfolgen wir einmal theoretisch die Veränderungen eines
Liedes. Die ersten werden sich an das Milieu anknüpfen, die spä-
teren an die Wandlungen der Psyche. Immer neuen Verhältnissen
werden sich die Singarten anschließen. In unbegrenzter Weise? Nein.
Die Änderungen, welche am Milieu, ebenso wie an der Psyche
entstehen, werden nach einiger Zeit so groß sein, daß sie das Zer-
singen nicht mehr beseitigen kann. In dieser Zeit wird das Lied
fallen gelassen und ein neues gedichtet, welches dem neuen Milieu,
der neuen Psyche, entspricht. Wir erhalten so zwei Lieder, welche
denselben Stoff, dasselbe Problem, aber in verschiedener Weise be-
handeln. Verfolgen wir einen Stoff durch alle Zeiten, so erhalten
wir die Geschichte des Stoffes, die Stoffgeschichte. Das Phänomen
der Stoffwandlung, wie wir es in der Stoffgesdiichte beobachten,
ist letzten Endes nichts anderes als eine, und zwar die letzte Form
des Zersingens.
Ich habe die Theorie der Identifizierung noch nicht erschöpft.
Von einem Beispiele bin ich ausgegangen und habe sie davon ab"
geleitet. Mit einer Reihe von Singarten habe ich sie weiter unter¬
stützt. Außerdem bin ich von einem Ich-Liede ausgegangen. Hier
muß ich ergänzen. Leicht gelingt mir dies bei den Wir-Liedern. Sie
sind ja nichts anderes als Ich-Lieder. »Wir« ist ja gleich »ich und
andere«. Schwierig ist es aber bei Er-Liedern, bei Liedern der
dritten Person. Daß auch bei diesen sich der Sänger mit den dritten
Personen identifiziert, kann ich folgendermaßen nachweisen. Das
Lied »Vierundzwanzig lustige Brüder« wurde von den Kompagnien
des Schützenregiments Nr. 24 gesungen. Eine Mehrzahl von Indi¬
viduen sang daher über sich in der dritten Person pluralis. Die erste
Person pluralis fällt daher mit der dritten zusammen. Statt »Vier®
undzwanzig lustige Brüder« wäre ebensogut »Wir« zu schreiben
und zu singen. Lieder von der Art sind also nur versteckte Wir-
Lieder, Die Identifizierung bleibt vorhanden. Nicht bei allen Er-
Liedern läßt sich dieselbe so leicht und auf so einfache Weise
zeigen. In der Zeitschrift des Vereines für Volkskunde IV, 212 ist
von Else Priefer aus Sommerfeld und Umgebung folgendes Lied
mitgeteilt;
1. An der Weichsel gegen Osten,
Ein Soldate stand auf Posten/
Er dem Land anverwandt.
Ward zur Schildwach' er ernannt.
2. Plötzlich sieht er im Gesträuche
Einen Mann sich näher schleichen.
Halt! rief er ihn dreimal an,
Ob er Losung geben kann.
3. Losung, oder ich muß schießen.
Euer Blut muß ich vergießen,
Und so wahr ich Sachse bin.
Diese Kugel streckt Euch hin.
Das Zersingen der Volkslieder
141
4. Nun wohlan, so laßt uns sehen.
Wie weit unsre Kugeln gehen.
Ob du deines Vaters Brust
Auf dem Felde opfern mußt.
5. Zitternd schrak der Mann zusammen.
Himmel, rief er, habt Erbarmen!
Betete: Adi Gott, ich muß.
Und so fiel der Todesschuß.
Eine Identifizierung des Sängers mit dem Dichter oder gar
mit dem Helden dieses Liedes, welcher seinen Vater töten muß und
ihn auch erschießt, ist wohl nicht anzunehmen. Der Fall, welcher in
dem Liede dargestellt ist, ist außerdem keineswegs typisch. Selbst
im Weltkriege wird er kaum vorgekommen sein. Und dennoch
wurde dieses Lied gesungen. Bei meinem Regimente lief es in fol=
gender Fassung: ^
1. Treu dem Vaterland ergeben.
Schont' ich nicht mein junges Leben,
Stand bei heller Mondesnacht
Ich als Landwehr auf der Wacht
5 Auf eins, zwei.
Stand bei heller Mondesnacht
Ich als Landwehr auf der Wacht.
2. Horch, was hör' ich im Gesträuche?
Einen Mann, der mich umschleiche.
io Halt! Wer da? ruf ich ihn an,
Ob er Losung geben kann
Auf eins, zwei.
3. Losung, Bruder, ich muß schießen,
Menschenblut muß ich vergießen,
15 Denn, so wahr ich Landwehr bin,
Meine Kugel streckt dich hin
Auf eins, zwei.
4. »Vater, Vater, hab' Erbarmen!
Vater, lasse dich umarmen!
20 Rette mich!« O Gott, ich muß!
Und sogleich fällt auch ein Schuß
Auf eins, zwei.
B 2 Schon' 4 Landschütz'
Zwischen 7 und s: Stand idi einst auf meinem Posten
Ganz allein im fernen Osten
Mit dem Feinde anverwandt.
War der Vormarsch mir bekannt
Auf eins, zwei.
9 umschleichet u er mir 13 Bruder > oder 14 mußt du 15 Denn > Und
16 Meine > Eine 18 Vater habe doch 20 O > Ach 21 sogleich fällt > zugleich fiel
C 9 Ist ein Feind 13 Bruder ) oder 18 hab mit mir 19 Sieh den Sohn in
deinen Armen 20 Vater, komm an meine Brust
D 3 bei > in 4 Als ein Landschütz 8—22 fehlt.
142
Dr. Hermann Goja
leb vernachlässige die Fülle interessanter Singarten, welche dieses
Lied aufzeigt und verweile nur hei der 1 atsache, daß alle Fas¬
sungen dem Liede der Else Priefer entspredien, nur daß sie leb«
Lieder sind, während die ältere Form ein Er-Lied gewesen ist.
Also auch in dem Liede, in welchem der Held seinen Vater tötet,
identifizieren sich die Sänger mit dem unglücklichen ooldaten, (Dem
Umstande, daß in der jüngeren Fassung der Vater den Sohn töten
muß, ist wohl nur untergeordnete Bedeutung beizumessen/ der
neue Fall bleibt ebenso vereinzelt wie der alte 1 * * * 5 6 .)
Man kann einwenden, daß dieses Beispiel sowohl dafür ge=
deutet werden kann, daß in Er-Liedern Identifizierung von Sänger
und Liedperson stattfindet (dann müsse ein Rätsel vorgemerkt werden,
welches später zu lösen ist, jenes Rätsel, wie sidt Menschenmassen
mit dem seinen Sohn, Vater tötenden Soldaten identifizieren können),
als auch dafür, daß die ganze Theorie falsch sei, weil das angeführte
Lied ein Ich-Lied sei, in welchem sich die Sänger nicht mit der Lied^
person identifizieren. Ich bin an einem Punkte angelangt, von dem
es scheinbar kein Weiter mehr gibt. Ich will aber noch etwas sagen.
Es gibt sehr viele Ich-Lieder, bei welchen die von mir behauptete
Identifizierung nicht eintritt. Ich kann diese Behauptung, welche sofort
mehr Glauben finden wird als meine erste, durch ein Beispiel unter«
stützen. Die Strophe: »Und wann i mei Häusel verkauf',« usw.,
welche den Ausgangspunkt meiner Erörterung gebildet hat, wird
auch von Mädchen gesungen. Daß sich diese Mädchen aber mit dem
assentierten Burschen identifizieren, welcher sein Geld versoffen hat,
ist nicht annehmbar. Es gibt aber sehr viele solcher Idi«Lieder, die,
wenigstens fallweise, von beiden Geschlechtern gesungen werden.
Das Uhlandsche Lied »Ich hatt' einen Kameraden« ist ein reines
1 Das »Deutsche Volkslied«, Jahrgang 17, bringt S. 93 unter dem Titel
»Das Landschützenlied« eine Fassung, welche zwischen den beiden im Text an*
geführten steht. Diese Fassung ist bis Strophe 5 Idi=Lied und geht dann in ein
Er=Lied über. Ich gebe die beiden letzten Strophen:
5. Laß, mein Sohn, du tapfrer Landschütz,
Laß mir deine Kugel geben,
[: Ob du deines Vaters Brust
Audi dem Feinde opfern mußt :]
Auf eins zwei.
6 . Ach, da brach der Sohn zusammen.
Vater, lasse dich umarmen,
[: Rette mich, o Gott, ich muß.
Und zugleich fiel auch ein Schuß
Auf eins zwei.
Ein Vergleich der letzten Strophe dieser Fassung mit der von A zeigt, wie leicht
der Tausch der Hauptpersonen möglich war. — Für eine tiefergehende. Analyse
ist wichtig, daß Futilitates, Bd. IV, S. 122, ein Lied mitgeteilt wird. (Ein Posten
im italienischen Kriege von 1859), welches sich mit unserem sehr stark berührt
an Stelle des Vaters (Sohnes) jedoch die Geliebte einsetzt, welche der Posten tötet.
Das Zersingen der Volkslieder
143
Soldatenlied und ist dennoch, wie alle Kriegslieder, während des
Weltkrieges auch von Mädchen gesungen worden.
Wir sehen: bei genauerem Eingehen in die Theorie der Iden“
tifizierung sprechen so viele Gründe dagegen, daß wir abbrechen
mit der Überzeugung, einen falschen Anfang gemacht zu haben.
Das Phänomen der Identifizierung, welches wir zuerst als unbe“
deutend bezeichnet haben, das dann für uns Bedeutung gewonnen
zu haben schien, hat sich am Ende als ebenso kompliziert erwiesen,
wie das des Zersingens selbst. Wir haben als Ergebnis unseres
ersten Versuches nur eines, daß wir zu dem ersten Rätsel, welches
wir zu lösen unternommen, noch ein zweites gefunden haben.
Ich glaube aber, daß dieser Anfang doch wertvoll war, weil er uns
zeigte, daß wir die Lösung des Problems des Zersingens im Psyche
sehen suchen müssen. Lassen wir also die Frage nach der Identi“
fizierung zunädist unbeantwortet und suchen wir tiefer in die Psyche
des Sängers und Dichters einzudringen.
Psychische Quellen der Dichtung.
Das erste Kapitel hat uns die Erkenntnis gebradit, daß das
Volkslied in einem viel engeren Zusammenhänge mit dem Bewußt“
sein des Sängers steht, als man sonst anzunehmen geneigt ist. Der
Zusammenhang zwischen Gedicht und Seele des Dichters ist zwar
immer anerkannt worden, daß er aber so fein ist, wie er nach der
Betrachtung der ersten Singarten erscheinen muß, ist kaum bewußt
gewesen. Er bleibt auch nur so lange bestehen, als das Kunstwerk
in seiner Form beweglich bleibt. In dem Augenblicke, in welchem
die Form erstarrt, löst sich derselbe, da das Lied nicht mehr die
Wandlungen der Bewußtseinslagen mitmachen kann. Eigentlich bin
ich der Lösung meines Problems schon recht nahe gekommen. Denn
wahrscheinlich sind die Änderungen der Lieder nur Folgen der Än=
derung unserer Bewußtseinslagen. Es handelt sich eigentlich nur
mehr darum, den Zusammenhang, seine Art, zwischen Bewußtseins“
läge und Dichtung festzustellen. Ist die Art dieser Relation festge“
stellt, dann ist eine Erklärung der Singarten möglich. Um diese so
wertvolle Relation zu finden, begeben wir uns auf kurze Zeit in
das Gebiet der Psychologie,
Idh hätte also die Entstehung des Kunstwerkes aus der Be“
wußtseinslage des Dichters zu erklären. Es ist schwer für solche
Spekulationen einen Anfang zu finden, von Axiomen auszugehen ist
unmöglich und doch müssen die ersten Sätze jedermann evident sein.
Ich will folgendermaßen beginnen: Niemand wird bestreiten, daß das
künstlerische Schaffen eine menschliche Handlung ist, Grundlage aller
Handlungen ist aber ein Streben nach Entfernen von Unlust, be“
ziehungsweise nach Schaffung von Lust, wobei nicht vergessen werden
darf, daß Unlust aus einer gegebenen Bewußtseinslage entfernt, be“
ziehungsweise Lust aus einer solchen, durch Veränderung derselben
144
Dr. Hermann Goja
geschaffen werden soll. Nehmen wir nun eine solche Bewußtseins»
läge an, so ist das Streben zunächst ein Wunsch, ein Drang nach
Veränderung der Bewußtseinslage, es wird zum Willen, wenn mit
ihm die Vorstellung eines Zweckes, eines Zieles verbunden ist. Zweck
ist dabei der Vorgang, Zustand, durch dessen Eintreten, Herbei*
führen, die in der gegenwärtigen Bewußtseinslage enthaltene Unlust
entfernt, vermindert, die in derselben enthaltene Lust erhalten, be»
ziehungsweise gesteigert wird. Die Mittel zur Erreichung des Zweckes
werden durch Überlegung, welche durch die Erfahrung unterstützt
wird, gefunden. Diese Überlegung erzeugt verschiedene Willens»
impulse, aus welchen durch Verdrängung aller bis auf einen der
Willensentschluß entsteht, dem dann die Willenshandlung entweder
sofort oder nach Ablauf einer Zeit folgt. Die Willenshandlung reali»
siert dann die zuerst als Zweck vorgestellte Bewußtseinslage.
Was ich bisher dargestellt habe, ist nichts anderes als der psyxhi»
sehe Prozeß der Veränderung einer gegebenen Bewußtseinslage durch
Willenshandlung. Ich setze nun den Fall: der vorgestellte Zweck ist
unerreichbar, die Zielvorstellung nicht realisierbar, im einfachsten Falle
deshalb, weil äußere Umstände die an und für sich mögliche Willens*
handlung verhindern, im schwersten Falle deshalb, weil sich der
Ausführung der Willenshandlung innere Widerstände entgegenstellen.
Die Überlegung beginnt dann von neuem. Sie sucht neue Mittel
zur Verwirklichung der Zielvorstellung zu finden. Sie werden ge*
funden und die Willenshandlung setzt ein, die wieder scheitert. Neues
Suchen usw. Die Folge dieser Anstrengungen ist ein Zustand der
Erschöpfung, verursacht durch anhaltendes Nachdenken, verbunden
mit einer in einseitiger Richtung verlaufenden Erregung des Repro*
duktionsverlaufes, also ein Zustand, welchen die Entstehung von
Halluzinationen und Illusionen zur Voraussetzung hat. Mit anderen
Worten: Ist eine Zielvorstellung durch Willenshandlung nicht reali*
sierbar, dann kann sie durch eine Halluzination, beziehungsweise in be»
sonders günstigen Fällen durch eine Illusion verwirklicht werden.
Denn die Halluzinationen und Illusionen haben für ihre Dauer
dieselbe Realität als eine durch Willenshandlung geschaffene Wirk*
lichkeit. Selbstverständlich ist eine auf der beschriebenen Grundlage
entstandene Illusion im allgemeinen deutlicher als eine Halluzination,
da die mit der Illusion verbundene Organempfindung den Schein
der Realität verstärkt 1 . Die Illusion kann nun des Charakters des
Zufälligen dadurch entkleidet werden, daß der zu ihrer Entstehung
notwendige äußere Reiz von dem Individuum bewußt oder unbe-
wußt selbst geschaffen wird. Das Wesen der Kunst besteht nun
darin, daß sie, um ein Streben zu befriedigen, durch reflexive lätig»
keit des Bewußtseins zunächst eine Ziel Vorstellung schafft und diese
Zielvorstellung durch Herstellung äußerer Reizquellen zur Illusion
i Vgl. zu dem oben Gesagten Jodl, Lehrbudi der Psychologie, VII, 1, 2, 19
XII, 1, 6, 8, 10, VIII, 12, IV, 16.
Das Zersingen der Volkslieder
145
erhebt. Das Kunstwerk ist dabei nur die Reizquelle, welche bei ent¬
sprechender Bewußtseinslage die Entstehung einer Illusion ermöglicht 1 .
Ich will diesen psychologischen Prozeß an einem Beispiel ver-
anschaulichen. Ein Jüngling lebe getrennt von der Geliebten, was
für ihn Ursache einer unlustbetonten Bewußtseinslage ist. Das Schmerz-
gefühl erzeugt das Streben nach Entfernung der Unlustquelle aus
der Bewußtseinslage. Das Streben schafft zunächst eine Zielvorstellung:
Beisammensein mit der Geliebten. Die Überlegung, welche sich an diese
Vorstellung anschließt, zeigt, daß ein Zusammenkommen unmöglich
ist, führt zur Erschöpfung und damit zur Halluzinierung der Ziel¬
vorstellung, In der Halluzination ist der Jüngling mit der Geliebten
vereinigt, im Gespräch mit derselben. Dieses Gespräch führt er, wie
bei jedem realen Beisammensein <die Halluzination hat ja für ihn
Realität), laut und damit schafft er eine äußere Reizquelle, welche
die Hallunzination zur Illusion steigert. Das Gespräch in der Illusion
ist aber eine Urform des Liedes, die Anrede an die Geliebte schon
ein häufiger Inhalt des Liebesliedes. Welcher Art immer dann das
so geführte Gespräch sein mag, es ist Befriedigung eines sonst un¬
erfüllbaren Strebens.
Noch eines bleibt klarzustellen: Die Entstehung der Zweck¬
vorstellung. Ich habe bisher dieselbe als selbstverständlich hingenommen,
mich aber um das Woher derselben gar nicht gekümmert. Nehmen
wir wieder als Ausgangspunkt eine unlustbetonte Bewußtseinslage
und verfolgen den psychischen Prozeß von diesem Anfänge bis zur
Zweckvorstellung. Die angenommene Bewußtseinslage löst dann ein
Streben aus, welches, da es noch nicht von einer Zielvorstellung ge¬
leitet ist, als Wunsch 2 anzusprechen ist. Die durch den Wunsch aus¬
gelösten psychophysischen Kräfte bewirken nun einen Assoziations¬
verlauf, mit dessen Hilfe alle jene Elemente erinnert werden, welche
infolge der Wirksamkeit der Assoziationsgesetze an die gegebene
Bewußtseinslage angeknüpft werden können. Es werden aber nicht
Vorstellungen erinnert, welche mit den gegebenen, in der Be¬
wußtseinslage enthaltenen Empfindungen und Vorstellungen allein
Ähnlichkeit usw. besitzen, sondern nur solche Vorstellungen, weldie
auch die sie begleitenden Gefühle, Strebungen usw. gleich mit den
in der Bewußtseinslage enthaltenen Empfindungen und Vorstellungen
haben. Das ist eigentlich selbstverständlich und doch wurde dieses
Selbstverständliche vergessen in Betracht zu ziehen, als man auf
Assoziationen stieß, welche Volkslieder untereinander verknüpften
und doch keine äußere Ähnlichkeit besaßen.
Da eine klare Einsicht in den Assoziationsverlauf für das Ver¬
ständnis des Zersingens unbedingt notwendig ist, will ich das Be-
1 Für genaue Untersuchungen des Kunstphänomens ist es höchst wichtig,
immer als Verschiedenes auseinanderzuhalten : 1. die Bewußtseinslage des Schaffen¬
den oder Nacherlebenden, 2. die Reizquelle, d. i. das Kunstwerk, 3. die künstlerische
Illusion.
2 JodI, Lehrbuch der Psychologie, VII, 19.
Imago VJ/2
146
Dr. Hermann Goja
schriebene noch weiter aufzuhellen versuchen. Beobachten wir einen
Assoziationsverlauf, etwa eine Kette von Bildern und bezeichnen
das erste Bild dieser Reihe mit a lf das zweite mit a 2 , das nte mit
a n , so sind wir gewohnt die für die Assoziation nach Gleichheit,
Ähnlichkeit usw. erforderlichen Gleichheiten usw. zwischen aj und a 2 ,
a 2 und a 3 zu suchen, wobei alle Glieder der Reihe entweder von
der erregenden Vorstellung einzeln noch gebunden sind, also einen Ring
um dieselbe bilden oder sich, abgesehen von dem ersten Elemente
der Reihe, auseinander entwickeln und also eine von der erregenden
Vorstellung aus fortlaufende Reihe bilden. Solche Assoziztionen
nennen wir gebunden. Finden wir bei einer Reihe von aus dem Ge®
dächtnis aufsteigenden Vorstellungen aber keine Ähnlichkeit, so be®
zeichnen wir diese Vorstellungen als ungebundene, freisteigende Asso®
ztationen 1 . Ich sage aber: ein Assoziationsverlauf ist nicht zu prüfen
auf die zufällige Gleichheit oder Ähnlichkeit der ihn bildenden Vor®
Stellungen, sondern nach den diesen zugrundeliegenden Wünschen.
Es ist also ai zurückzuführen auf einen in ihm enthaltenen Wunsch
Wj, a 2 auf w 4 , a„ auf w n und die Assoziationskette ai . . . a n auf
die Gleichheit, Ähnlichkeit usw. der Wünsche W] . . . w n zu unter®
suchen. Es ergibt sich dann eine bedeutend größere Zahl gebundener
Assoziationen als wir gewöhnlich annehmen. Es wird sich sogar im
weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen, daß die Annahme frei®
steigender Assoziationen überhaupt abzulehnen ist, daß vielmehr alle
Assoziationen in Abhängigkeit von bewußten oder unbewußten
Wünschen und Gedanken zu setzen sind.
Der durch ein Streben erregte Assoziationsverlauf endet aber
nicht mit der Erinnerung von Bewußtseinslagen mit gleichem oder
ähnlichem Streben, er hebt noch jene Bewußtseinslagen aus dem Ge®
dächtnis, in denen das Streben befriedigt erscheint. Die Summe der
psychischen Zustände und Vorgänge vom Entstehen eines Wunsches
bis zu dessen Befriedigung bildet ja eine Einheit. Es ist selbstver®
stündlich, daß die Reihe der Wunschbefriedigungen noch weniger
Ähnlichkeit besitzen wird, als die Reihe derjenigen Bewußtseinslagen,
in welchen das gleiche Streben als Teil enthalten ist. Aus den so
erinnerten Bewußtseinslagen baut dann das reflexive Bewußtsein 2
die Vorstellung einer Bewußtseinslage auf, welche das in der gegen®
wärtigen Bewußtseinslage enthaltene Streben befriedigt enthält und
diese Vorstellung ist die Zielvorstellung, deren Entstehen wir er®
kennen wollten,
Damit habe ich mir die Grundlage geschaffen, auf der ich
meine Theorie des Zersingens aufbauen will. Ist nämlich die Kunst
nichts anderes als Befriedigung eines Strebens durch Illudierung der
Zielvorstellung, das Lied nichts anderes als die Reizgrundlage dieser
Illusion, dann ist das Zersingen der Volkslieder nichts anderes als
1 Vgl. jodl, Lehrbuch der-Psychologie, VIII, 54.
2 Ebenda, III, 63.'
Das Zersingen der Volkslieder
147
eine Änderung des Liedes infolge Änderung des ihm zugrunde^
liegenden Wunsches. Wir werden sehen, daß dieser Satz noch stark
ergänzt werden muß, um zu einer Definition des Zersingens zu
werden. Es wird sich auch zeigen, daß auch das Dichten ein viel
zusammengesetzterer Prozeß ist, als eine einfache Illudierung einer
Zielvorstellung. Für den Augenblick seien wir aber zufrieden, dieses
Fundament gebaut zu haben und gehen zur Betrachtung einiger
Lieder über, welche die wunscherfüllende Tendenz der Dichtung
bestätigen.
Beispiele.
Um die wunscherfüllende Tendenz der Dichtung nachzuweisen,
wähle ich zunächst ganz einfache Beispiele, Lieder, deren Diditer
und Sänger noch ein verhältnismäßig einfaches Bewußtsein besessen
haben. Aus Liedern komplizierten Bewußtseins, in denen gleichzeitig
mehrere Wünsche enthalten sind, welche alle in das Lied eintreten
und sich dabei gegenseitig beeinflussen, die Bestätigung der ent®
wickelten Theorie zu holen, wäre schwer. Nehmen wir daher jene
Lieder aus den Anfängen der Kunstlyrik, welche wir als die ältesten
anzusprechen pflegen. Wohl sind diese Lieder Kunstlieder, keine
Volkslieder, sie sind aber ihrem Ursprung, der Volkslyrik, noch so
nahe, daß man sie hier betrachten kann. Außerdem gilt die behauptete
Tendenz für jede Dichtung, also für die Kunstlyrik ebenso wie für
die Volksdichtung.
Vogt charakterisiert diese Anfänge folgendermaßen 1 <und zwar
zunächst die Lyrik des Kürenbergers): »Die Gattung der Liebes-
botschaft ist mehrfach vertreten, und wie sie Gelegenheit bietet, auch
den Empfindungen der Frau Ausdruck zu leihen, so werden denn
nach dieser Analogie auch andere, monologische Strophen der Lie¬
benden in den Mund gelegt. Die Sehnsucht nach dem entfernten
Geliebten, die Trauer über seine Entfremdung spricht sich dabei in
so schlichter Naturwahrheit aus, daß man wirklich auf weibliche
Autorschaft schließen möchte, wenn nicht andere Sänger dieser Zeit
in ganz gleichartigen Liedchen die Frau ausdrücklich erst redend ein*
führten, und wenn nicht der Kürnberger selbst gelegentlich in der Dar¬
stellung weiblichen Empfindens doch deutlich die männliche Auffassung
verriete.« Einen Satz später schreibt er wieder: »Hingebende Sehn=
sucht und ängstliche Sorge um das Bestehen der Liebe werden nur
als Empfindungen des Weibes dargestellt. Das gilt für Kürnbergers
Lieder und für die älteste nationale ritterliche Lyrik überhaupt, wie
sie uns noch in einigen anonymen Liedern usw. entgegentritt.« Die
in diesen Sätzen ausgesprochene Auffassung des ältesten Minne¬
sangs dedet sich mit der heute allgemein üblidien vollständig. Dieser
Inhalt der ältesten Minnelieder ist auffallend. Er ist die liebende
1 Friedr. Vogt in P. Gr., II, 1, S. 178,
io*
148
Dr. Hermann Goja
Frau. Und die Lieder stammen von Männern. Ist hier nicht die
von mir erschlossene Wunschgrundlage vorhanden? Der Mann
wünscht, die Frau möge ihn lieben. Die Illusion der Dichtung
realisiert den Wunsch. Die Frau offenbart in dem Liede ihre Liebe.
Ich könnte mich damit zufrieden geben. Die älteste Kunstlyrik ist
WunscherFüllung. Ich will aber doch ein Beispiel anführen, um diese
theoretischen Erörterungen zu beleben:
»Mich dunket niht so guotes noch so lobesam
10 so diu liehte rose und diu minne mines man.
diu kleinen vogellin
diu singent in dem walde: dest tnenegem herzen liep,
24 mim kome mtn holder geselle, in hän der sumerwunne niet!«'
»Mir dünkt nichts so gut und lobesam wie die lichte Rose und die
Minne meines Mannes. Die kleinen Vöglein singen im Wald: das
ist manchem Herzen lieb. Wenn mein trauter Gesell nicht kommt,
so hab ich keine Sommerfreude.«
Viele dieser alten Lieder bieten der Interpretation als Wunsch®
erfüllung keine Schwierigkeiten. Es wäre aber Entstellung des Sach®
Verhaltes, wenn man die Lieder verheimlichte, die sidi einer solchen
Deutung wiedersetzten. Ich gebe für diese ebenfalls ein Beispiel:
Waere diu werlt alliu min
von dem mere unz an den Rin,
des wolt ich mich darben,
io daz diu künegin von Engellant
laege an minen armen 1 2
»Wäre alle Welt vom Meer bis zum Rhein mein, der wollt ich
entbehren, wenn dafür die Königin von England an meinen Armen
läge«. Das Lied ist in dieser Fassung Ausdruck eines Wunsches,
aber keine Wunscherfüllung. Nun hat der Text dieses Liedes eine
Lesart. In der Handschrift stand nämlich ursprünglich als Zeile 10:
daz dhunich von engellant lege,« chunich wurde dann durchstrichen
und von späterer Hand durch diu chünegin ersetzt 3 . Läßt man diese
ältere Schreibung gelten, dann läßt sich das Liedchen als Frauen®
Strophe auffassen und den ersten Beispielen anreihen. Es fiele
wieder in den Rahmen der wunscherfüllenden Dichtungen. Dann
bietet sich aber eine neue Schwierigkeit. Es wäre dann Engellant
zu erklären. Gegenwärtig bezieht man die Königin von England
auf Alienor von Poitou 4 . Der König von England müßte erst ge=
sucht werden. Ich werde später Engellant zu interpretiei en ver®
suchen, wann ich die wunscherfüllende Tendenz des Liedes auch in
1 Friedr. Vogt, Des Minnesangs Frühling 3, 18 (.S. 3).
* Ebenda, 3, 7 <S. 3>.
5 Ebenda, 3, 10 Anmerkung.
4 Ebenda, Anmerkung zu 3, 7.
Das Zersingen der Volkslieder
149
der gegenwärtig beliebten Fassung nadiweisen werde. Jetzt müssen
wir das Lied fallen lassen mit der Erklärung, daß wir in ihm keine
Wunscherfüllung eiblicken können.
Ich gebe als drittes Beispiel dieser ältesten Gattung das Liedchen
der Carm. Bur. 1 :
Swaz hie gat umbe
daz sint allez megede,
die wellent äne man
alle disen sumer gän.
»Was hier umgeht, sind alles Mädchen, die wollen ohne Mann
diesen Sommer gehn«. Golther hält diese Zeilen für eine Trutz«
Strophe der Mädchen, welche sich den Burschen versagen. Sie
können aber ebensogut von einem Goliarden stammen und ironi®
sehen Sinnes sein: Alle diese Mädchen sträuben sich zwar äugen®
blidklich sehr gegen die Liebe eines Mannes, werden ihr aber doch
bald erliegen. Diese Tatsache, welche nur im Gehirn des Sängers
besteht, ist dann wieder Wunscherfüllung.
Mögen diese Beispiele dazu dienen, zu beweisen, daß die
älteste Liebeslyrik Wunscherfüllung gewesen ist 2 . Zu der ältesten
Lyrik gehören aber noch die Hochzeitsgesänge. Lieder bei der Hoch®
zeitsfeier zu singen ist den Brautleuten unmöglich: die Wünsche,
welche sonst die Dichtung erfüllen muß, erfüllt ihnen die Wirklich®
keit. Trotzdem singt die Braut. Am meisten singen aber die Fest®
teilnehmer. Den Sinn dieser Hochzeitslieder mögen einige Beispiele
offenbaren:
1 . Vexirt die Jungfer Braut!
Sie hat es wohl verdienet.
Denn sie hat sich erkühnet
Bei einem Junggesellen
Sich gestern einzustellen.
2. Vexirt die Jungfer Braut!
Denn sie ist mit Verlangen
Mit ihm zu Bett gegangen,
Und hat mit ihm geschlafen,
Drum müssen wir sie strafen,
3. Vexirt die Jungfer Braut!
Und hört nicht auf zu fragen,
Sie muß nun alles sagen,
Wie sich die Sache reimet
Und was sie hat geträumet 3 . usw.
1 Carm. Bur. 129 a . Friedr. Vogt, Des Minnesangs Frühling, S. 261.
J Es braucht nicht erwähnt zu werden, daß auch die Tagelieder ebenso wie
die in dem Texte angeführten Frauenstrophen Wunscherfüllung sind. Der in ihrem
Inhalte dargestellte Abschied der Liebenden hat die Wunscherfüllung zur Voraus®
Setzung.
3 Erk'Böhme, Deutsdier Liederhort, II, 875 b.
150
Df. Hermann Goja
Der Wunsch, der den Liedern dieser Art zugrunde liegt, ist der
sexuelle. Die jungen Sänger müssen sonst ihre sexuellen Wünsche
unterdrücken. Gesellschaftliche Schranken verhindern sonst die öffent=
liehe Beschäftigung mit dem Erotischen, Auf dem Hochzeitsfest be¬
schäftigt sich die Gesellschaft selbst öffentlich damit und das gibt den
Jungen die Möglichkeit, ihre Libido zu entladen. Diese Lieder sind
Wunscherfüllung.
Wunscherfüllung ist auch die von Liedern begleitete Symbol¬
handlung, welche den Höhepunkt des Hochzeitsfestes bildet, das
Hauben der Braut. Die Braut wird dabei ihres jungfräulichen
Schmuckes, des Kranzes etc. entkleidet und mit der Haube, dem
Symbol der Frau bedeckt. Die ganze Handlung ist ein Deflorations^
symbol. Die Lieder, welche diese Handlung begleiten, sind entweder
Jubellieder oder fein ironische Klagelieder, wie z. B. das folgende:
1. Braut, wo ist dein Kränzlein hin?
Es stand gar zu niedlich grün,-
Ach das Kränzchen geht dir nah.
Es ist leider nicht mehr da.
2. Kränze stehen zwar sehr schön
Doch die stets im Kranze gehn
Werden öfters ausgelacht,
Drum, o Kränzchen, gute Nacht!
5. Erstlich liegst du nicht allein.
Anders schläfst du nicht bald ein.
Dann erwärmest du dich bald.
Ist es gleich im Winter kalt. 1 usw.
Auch sie erfüllen sexuelle Wünsche, indem sie die Beschäftigung
mit dem Geschlechtlichen erlauben.
Eine andere Gruppe von Liedern bilden diejenigen, welche
die Gespielinnen beim Abschied von der Braut singen. Es sind
traurige Lieder. Sie sind es, weil sie in einer unlustbetonten
Situation gesungen werden und weil den Sängerinnen der Liebes*
genuß, den die Braut erwartet, noch versagt ist. Die Lieder stellen
den Ehestand als nicht wünschenswert hin, weil er viel Plagen und
Sorgen bringe, infolgedessen den ledigen Stand als Wunscherfüllung.
Die unlustbetonten Vorstellungen der ehelichen Sorgen übernehmen
die Motivierung der Unlustgefühle der Mädchen und steigern damit
die wunscherfüllende Illusion, welche im Liede selbst nicht erzeugt
wird. Dieser Charakter der Pflichtenlieder, wie sie Böckel 2 nennt,
würde auch bei den von ihm angeführten Beispielen besser erkenn*
bar sein, wenn er sie vollständig wiedergegeben hätte. Gewiß fehlen
1 Erk^Böhme, Deutscher Liederhort, II, 873. _ . f n
2 Ich werfe absichtlich die Abschiedslieder der Gespielinnen (Böckel, Psycno»
logie der Volksdichtung, S, 396 ff,) und die Pflichtenlieder (ebenda S. 401 ff,) zu~
sammen, da sie vom psychologischen Standpunkte aus Eins sind.
Das Zersingen der Volkslieder
151
moralisierende Lieder nidit, welche von Lehrern und Geistlichen
stammen 1 und das Merkmal der Wunscherfüllung nicht an der
Stirne tragen. Diese Lieder sind dann entweder keine Dichtungen,
sondern Belehrungen in poetischer Form oder sie haben ebenfalls
ihre wunsherfüllende Tendenz, nur besser überlagert als die Lieder
der Jugend.
Die letzte Gattung Hochzeitslieder sind die Abschiedslieder der
Braut. Das sind jene Lieder, welche die Braut selbst singt. Der
psychische Prozeß, welcher sich beim Singen dieser Lieder abspielt,
ist die Verdrängung einer unlustbetonten Bewußtseinslage <die des
Abscheidens) durch eine lustbetonte <die des Sexuellen). Ich gebe für
diese Gattung ein Beispiel:
1. Ich sollt einmal den Berg umgehn,
Ich sah mein Herzliebchen am Weg da stehn.
Ich grüßt es jetzt, es dankt mir zwier:
»Ach einzig Herzliebchen, wohl ist es mir.«
5 Refr.: Ich soll hinweg, ich muß davon
Der lieb Gott weiß, wann ich wiederkomm!
Ach, wann werd ich wiederkommen?
Wann die schwarzen Raben weiße Federn haben.
2 . Ich sah zwei Rosen in des Vaters Hand:
»Ach einzig lieber Vater, lang mir eure Hand!«
Ich sah zwei Rosen in der Mutter Hand:
»Ach einzig lieb Mutter, lang mir eure Hand!«
Refr.: Ich soll hinweg usw. 2
Das Lied setzt mit der Illusion des Geliebten ein, beginnt
also sofort mit dem Verdrängungsvorgang, Wie dieser sich erfolg¬
reich in der zweiten Strophe fortsetzt, werde ich später zeigen.
Wunscherfüllungen sind auch die Totenklagen 3 , Der Wunsch,
der sich an der Leiche eines geliebten Menschen regt, ist wohl der,
daß er noch lebe, und er beginnt in der Totenklage wieder zu leben.
Besonders leicht erkennbar ist bei dieser Gattung die Gleichheit der
ihr zugrundeliegenden Bewußtseinslage mit derjenigen, weldie kh als
Voraussetzung für die Entstehung eines Kunstwerkes abgeleitet habe:
Erschöpfung infolge der bei solchen Fällen selbstverständlichen Auf=
regung und Einschränkung des Reproduktionsverlaufes auf eine Bahn,
auf die Beschäftigung mit dem Toten. In diesen Klagen wird denn
auch der Verstorbene angerufen, angesprochen, wie man einen
Lebenden ansprechen kann. Die beliebteste Form dieser Anrede ist
die Frage 4 an den Toten, aus welcher sich der Vorwurf entwickelt,
daß der Tote wider Pflicht oder Vernunft das Leben verlassen habe.
1 Vgl. Erk'Böhme, Deutscher Liederhort, II, 867/ II, 868.
* Ebenda, II, 877/ vgl. S. 229, Anm. 1.
3 Vgl. Böckel, Psychologie der Volksdichtung. Aditer Abschnitt.
* Vgl. ebenda, S, 130,
152
Dr. Hermann Goja
In den Totenklagen führen aber die Hinterbliebenen ganze Gespräche
mit dem Verschiedenen, an welchen sich derselbe beteiligt. Auch An¬
reden des Toten an die Trauernden kommen vor. Bei dieser Gattung
Volkspoesie zeigt sich, daß die Form ebenso wichtig ist, wie der
Inhalt. Nur aus dem Studium der Form kommt man zum Ver¬
ständnis der Gattung.
Die Einsicht in das Wesen der Totenklagen wird erschwert
durch die Entwicklung, welche diese Gattung genommen hat. Die
Totenklage wird in späterer Zeit nicht mehr von den Angehörigen,
sondern von Klageweibern gesungen. Der Wunsch, welcher die
Totenklagen geschaffen hatte, besteht für diese nicht. Das poetische
Element schwindet daher aus der Gattung, ein verstandesmäßiges
springt dafür ein. Der Inhalt der Klagen werden Lobpreisungen des
Toten, Verherrlichungen seiner Tugenden und Taten. Die Toten«
klagen Attilas 1 und Beowulfs 2 , deren Inhalte uns überliefert sind,
stehen auf dieser Stufe. Diese Gattung ist vielleicht die einzige,
welche ursprünglich allein von Frauen gepflegt wurde. Das ist
sicherlich im Zusammenhang mit dem Charakter der Frau, der
Kind und Gatte näher steht als dem Manne die Geliebte.
Damit ist auch für diesen Zweig der Volkspoesie die wünsch«-
erfüllende Tendenz erwiesen. Ich hätte noch von den ältesten
Gattungen die Hymnen« und Heldenpoesie zu analysieren 3 . Ich
tue dies nicht. Summarisch ist der Nachweis nicht überzeugend zu
erbringen, einzeln ihn zu erbringen fehlt der Raum. Ich weise nur
flüchtig auf das Nibelungenlied hin, welches allgemein das Lied der
Weibertreue heißt und in Krimhild das Wunschweib der Germanen
geschaffen hat, und auf Parzifal, die große Wunschdichtung des
Mittelalters, in welcher alle Wünsche zur Ruhe gelangen. Ist doch
der heilige Gral das Wunschding, das alle Wünsche befriedigt, und
kommt doch der Mensch am Ende der Fahrt immer zur Burg der
Tempieisen, wenn dies Schlaraffenland altheidnischer Dichtung auch
nichts anderes ist als Avelun, das Reich der blühenden Apfelbäume,
das Reich der Toten.
Damit ist der Zweck der Einleitung erfüllt. Sie hatte den einen,
jene Hilfe zu schaffen, mit der das Phänomen des Zersingens er¬
klärt werden kann. Diese Hilfe ist die Erkenntnis der psycholo«
gischen Ursache der Dichtung. Ich könnte damit schließen, will aber
noch auf das offen gelassene Problem der Identifizierung zurück«
kommen. Analysieren wir jetzt das Liedchen: »Und wann i mei
Häusel verkauf',« so müssen wir den in ihm enthaltenen Wunsch
aufsuchen. Es ist, wenn die Strophe von Burschen gesungen wird,
der, assentiert zu werden. Das Lied erfüllt diesen Wunsch. Singt
1 Vgl. Pauls Grundriß, II, 1, S. 42.
2 Ebenda, S. 43.
s Die wunscherfüllende Tendenz der Zaubersprüche nachzuweisen, ist über«
flüssig. Durch die Dichtung derselben schafft sich der Mensch ein Mittel, seine
Wünsche zu befriedigen.
Das Zersingen der Volkslieder
153
ein Mädchen das Lied, so liegt ihm derselbe Wunsdi zugrunde. Das
Mädchen wünscht ebenfalls die Assentierung des Burschen, die Lied=
illusion zeigt auch ihm den Wunsch erfüllt 1 . Die zu künstlerischer
Wirkung notwendige Identität ist also eine der Wünsche, und zwar
die Gleichheit der in dem Liede und der in der Bewußtseinslage
des Sängers enthaltenen Strebungen 2 . Damit kann ich schließen
und an die Lösung des vorgestellten Problemes treten, an das des
Zersingens 3 .
Die Verdichtung.
Wir haben in den ersten Kapiteln erkannt, daß jedem Liede
ein Wunsch zugrunde liegt, welcher in der durch das Lied erregten
Illusion seine Befriedigung findet. Wir wollen, um uns die folgenden
Erörterungen zu erleichtern, den Liedwunsch auch latenten Inhalt
des Liedes, den äußeren, sinnlich wahrnehmbaren Teil des Liedes
<den Inhalt des Liedes) als manifesten Inhalt desselben bezeichnen 4 .
Wir führen diese Bezeichnung ein, um die Möglichkeit von Ver*
Wechslungen auszuschalten, weil wir erfahren haben, daß der Lied*
wünsch <der latente Inhalt des Liedes) nicht mit dem manifesten
Liedinhalt übereinstimmt. Beklagten doch die Gespielinnen z. B. die
Braut, daß sie in das eheliche Joch eintreten müsse, während sie
selbst die Freuden der Ehe wünschten. Wir werden sehen, wie
vorteilhaft diese strenge Scheidung von latentem und manifestem Lied*
inhalte ist.
Ich beginne nun die Analyse einiger Fälle des Zersingens und
eröffne die Reihe mit einem Beispiel der Verdichtung. Mit Verdich*
tung bezeichne ich jene Form des Zersingens, in welcher mehrere
Lieder zu einem neuen zusammengesungen werden 5 .
Als Beispiel wähle ich das Lied »Sarajevo an der Drina«,
eines der beliebtesten Lieder in der alten österreichischen Armee,
das ich mit seinen Quellen folgen lasse:
1 Der Wunsdi beider entstammt dabei dem Sexuellen. Die Assentierung
hat auf dem Lande Zuchtwahlbedeutung. <Das im Text und Anmerkung Gesagte
gilt dabei nur für die Vorkriegszeit.)
«Es würde zu weit von der Untersuchung des Zersingens abführen, wollte
man genauer auf das Problem der Identifizierung eingehen. Die Frage der Ein*
fühlung bängt mit diesem Probleme zusammen.
3 Die Auffassung der Diditung als Wunsdierfüllung vertritt auch die Psycho*
analyse Freuds, die ich später noch heranziehen werde.
* Der manifeste Inhalt des Liedes ist dabei das Kunstwerk, der latente die
Bewußtseinslage des Dichters und Sängers. Die Terminologie wähle idi aus Freuds
»Traumdeutung«, wo sie zum Zwecke der Traumanalysen mit Vorteil angewendet
wird. Der manifeste Trauminhalt <das Traumbild) entspricht dabei dem mani=
festen Liedinhalte, der latente Trauminhalt (der Traumwunsdi) dem latenten
5 Bruinier bezeichnet dieselbe Erscheinung Zusammensingen. Vgl. das
deutsche Volkslied, S. 29, Über die psychische Bedeutung der Verdichtung siehe
Freud, Traumdeutung, S. 208.
154
Dr. Hermann Goja
I
A J .
1. Sarajevo an der Drina,
Bei heller Mondesnacht,
Stand ein tapferer Vierundzwanziger
Als Vorpost treue Wacht.
5 2. Eine Kugel kam geflogen.
Ein jeder fühlt den Schmerz,
Und er liegt im Feindeslande
Getroffen durch das Herz.
3. An seiner Seite lieg' ich,
io Sein treuer Kamerad.
Ja, du warst mein liebster Bruder,
Der mir am Herzen lag,
4. Nimm hin den Ring vom Finger
Und alle meine Briefe,
15 Die im Tornister sind.
Übergib sie meinen Eltern,
Die in der Heimat sind,
5. Und soll dich jemand fragen
Wo ich geblieben bin,
20 So sag, ich bin geblieben
Sarajevo an der Drin.
6 . Sarajevo an der Drina,
Bei heller Mondesnacht
Stand ein tapferer Vierundzwanziger
25 Als Vorpost treue Wacht.
7. Sonne, Mond und Sterne,
Die leuchten hell und fein.
Sie leuchten den Soldaten
Ins kühle Grab hinein.
B l In Rußland an der Grenze 2 hellem Mondesschein 3 Stand ein Vier-
undzwanzigerschütze 4 Am Posten ganz allein. Zwischen 4 und 5 :
Er schaut mit düstern Blicken
Hinein in die finstere Nadrt,
Und hielt als tapferer Vorpost
Getreulich seine Wacht.
Da kamen die Kosaken
In das bedrohte Land-
Dort, wo Österreichs Brüder kämpften,
Da gab es Blut im Land,
Schütze, welchen 8 das > sein 9 seinem Leibe kniete 10 bester 11 Aber
nimm mein treuer 12 Was ich am Herzen hab, 13 fehlt. 14 Und > nimm 16 Und
bring 17 Meinem Weib und meinem Kind. 18 Und sollten sie dann 20 So tröste
sie und sage 21 In Rußland bei Lublin. 22—29 fehlt.
IA bis E Fassungen des Schür 24.
155
Das Zersingen der Volkslieder
C 6 Ach, Jäger, welch ein 9 lieg ich > kniete 13 fehlt, u Und > Nimm
18 Und sollten sie 20 Nun so sag, midi habens begraben 26-29 fehlt,
D 1 In Selvov an der Lupa
E 4 Auf Horchpost 6 Und jener 9 kniet 11 das war 13 fehlt. 14 Und >
Nimm 16 Und übergib 18 sollten sie dich 20 So sag, mich habens begraben
22—29 fehlt, dafür: . _ .
Sarajevo an der Unna
Bei hellem Sonnenlicht,
Du leuchtest den Soldaten
Ins bleiche Angesicht,
Sarajevo an der Drina
Bei heller Mondesnacht
Du leuchtest den Soldaten
Ins kühle Grab hinab.
II
A 1 .
1. Bei Metz wohl auf der Höhe
Im stillen Mondenschein
Da stand ein bayrischer Jäger
So einsam und allein.
5 2. Er späht mit scharfen Blicken
Hin in die dunkle Nacht
Und hält als wackrer Vorpost
Getreulich seine Wacht.
3. Auf blickt er zu den Sternen,
10 Zum silberbleichen Mond:
»O tragt mir Herzenswünsche
Hin, wo mein Liebchen wohnt!«
4. Ein Blick am fernen Himmel —
Rings um ihn kracht es dann.
15 Rasch schlägt der wackre Krieger
Auch seine Büchse an.
5. »Heraus, ihr Kameraden!
Und spannt ihr auch den Hahn!« #
Da stand wie hergezaubert
20 Sein Jägerbataillon.
6. Es stürzten die Franzosen
Und riefen, Gnade Gott!
»Wo Deutschlands Krieger zielen,
Da gibts nur Blut und Tod.«
25 7. Doch kehrt nicht aufs Kommando
Der Jäger, welch ein Schmerz!
Er lag im Feindeslande
Getroffen durch das Herz.
1 Aug. Hartmann, Histor. Volkslieder und Zeitgedichte, III, Nr. 298 <1870).
156
Dr. Hermann Goja
30 8. Er hielt ein kleines Brieflein
Fest in der kalten Hand,
Darinnen stand geschrieben:
Grüßt Weib und Vaterland?
B l * i Zu Sarajevo 2 In stiller Einsamkeit 3 Stand ein sieb'nundzwanz'ger
Jäger 4 Ganz 5 Augen n Und denkt mit Herzensgrüßen 12 die Liebste
13 Einen Blick warf er in die Ferne 14 Ringsum, wie kracht es schon! 15—19 fehlt.
20 Ein ganzes Bataillon. 21 die Insurgenten 23 öst'reidis Brüder kämpfen,
24 Gibts nichts als — Zwischen 24 und 25 :
Eff schoß der Jäger nieder
In seiner größten Wut,
Doch jetzt war es vorüber
Er wälzt sich schon im Blut,
25 Er hört 26 in sein 27 liegt in Feindes Landen 29 hält 31 darauf, da steht
32 Grüßt mir
C - 1 Auf Sarajevos Höhen 2 In einsam stiller Nacht 3 Hält ein Zehner*
jäger 4 Auf Posten treue Wacht. 5—8 fehlt. 10 silberhellen 11 O trage meine
Grüße 13 Blitz vom heitern 14 Ringsum kracht es sodann 15 Jäger 16 Noch
17 Heraus, ihr lieben Kameraden, 18 Geschwind und spannt 19 Da standen wie
hergezaubert 20 Sie alle Mann an Mann. 21 Insurgenten 22 Und flehn um Hilf
zu Gott. 23 Österreichs . . . fielen, 24 gibts nur > gibt es 26 der Posten, herber
27 liegt 29 hält 30 in seiner kalten 32 Grüße sie und mein
III
A 3 .
1, Die Sonne sinkt im Westen/
Mit ihr entschied die Schlacht,
Sie senkt ihren schwarzen Schleier
Um in die kühle Nacht.
5 2. Und mitten unter Toten
Lag ein sterbender Soldat,
Es kniet an seiner Seite
Sein treuer Kamerad.
3. Er neigt den Kopf zum Sterben
io Und spricht: »mein Kamerad!
Ich möcht dir gern was sagen,
Was mir am Herzen lag.
4. Nimm hin den Ring am Finger,
Wenn ich gestorben bin,
15 Und alle meine Briefe,
Die im Tornister sind!
5. Und soll es dich einst führen
In die Heimat das Geschick,
So bringe meiner Liebsten
20 Diesen schönen Gruß zurück!
1 Das deutsche Volkslied, 8. Jahrgang, II, 26.
4 Das deutsche Volkslied, 8. Jahrgang, V, 75.
3 Aug. Hartmann, Histor. Volkslieder und Zeitgedichte, Nr. 293 <1848).
Das Zersingen der Volkslieder
157
6 , Und wenn mit einem Andern
Der Priester sie vereint,-
So solln sie manchmal denken
An den gefallnen Freund!
25 7 Sag, daß ich sie geliebet
Bei Custozza in der Schlacht
Und in der letzten Stunde
An ihre Liebe gedacht!«
B * 1 l sank 2 Und mit ihr schwand 3 Sic hüllt in ihren Schleier 4 die
dunkle, kühle 5 Und unter allen 6 Liegt sterbend ein 7 Und neben ihm zur 8 da
kniet sein 9 sein Haupt zum andern 10 der sterbend zu ihm spricht: 11 »Nimm
hin, geliebter Bruder 12 liegt 13 diesen vom 17 sollte einst dich 18 Zur io So
gebe meinem Liebchen 20 Das teure Pfand 21—24 fehlt, 25 Sag' ihr, daß ich ge*
storben 26 Bei Sedan in der Schlacht, 27 Und in den letzten Zügen 28 Der
Treu'sten noch gedacht. 21 Und sollte sie der Priester 22 Mit einem andern weih'n,
23 So soll sie oftmals 24,- dann
30 Und bin ich auch geblieben
Bei Sedan nun zurück
Werd' ich im Himmel beten
Noch für ihr fern'res Glück.
Komm her, geliebter Bruder,
Und nimm den Abschiedskuß,
35 Ich fühle, daß ich sterben
Und von dir scheiden muß.«
Er legt sich ruhig nieder.
Der treue, tapfre Held
Und streckt die matten Glieder
40 Bei Sedan auf dem Feld.
Und siehe, Mond und Sterne
Mit ihrem Silberlicht
Die leuchten dem Soldaten
In's blasse Angesicht.
C 2 .
Die Sonne steht am Himmel,
Mit ihr, da schied die Schlacht,
Es senket sich der Schleier
Der dunklen, trüben Nacht.
Dann 5 — 20 , 25—29, 21 — 24 , 29—32 fehlt. 33—36, 37—40 fehlt. 41—44 und:
45 So starb unter vielen Schmerzen
Mein treuer Kamerad,
Ich kann dich nicht vergessen
Bis in das kühle Grab.
— ___
1 E. Wolfram, Nassauisdie Volkslieder, Nr. 504^
t Hrusdika-Toisdier, Deutsche Volkslieder aus Böhmen, II, Nr. ZI. Bei
Trautenau. Varianten in C nicht berücksichtigt.
158
Dr. Hermann Goja
IV 1 .
1. Bei Sedan wohl auf den Höhen,
Da stand nach blut'ger Schlacht
In der letzten Abendstunde
Ein Sachse auf der Wacht.
5 2. Der Sachs ging auf und nieder.
Beschaut die Leichenschar,
Die noch gestern um die Stunde
Gesund und munter war.
3. Was rauscht dort im Gebüsche?
io Es ist ein Reitersmann,
Der mit tief geschossener Wunde
Lag im Blut, wer weiß wie lang!
4. »Bringt Wasser, deutscher Kamerad,
Denn die Kugel traf mich gut:
15 Dort in jenem Wiesengrunde,
Dort floß zuerst mein Blut.«
5. »Gewährt mir eine Bitte,
Grüßt mir mein Weib, mein Kind;
Denn ich heiß' Andreas Förster,
20 Und bin aus Saargemünd.«
6. »Ein Kreuzlein von zwei Zweiglein,
Die pflanzt mir auf mein Grab:
Hier ruht Andreas Förster,
Ein tapferer Soldat!«
7. Des Morgens in aller Frühe
Grub ihm der Sachs ein Grab,
Und er streute Wiesenblumen
Statt Lorbeern auf sein Grab.
Betrachtet man I A dieser Liederreihe, so wird man nicht viel
Auffälliges finden, höchstens das, daß die Fassung sehr stark zer¬
sungen ist. I A ist aber diejenige Form des Liedes, welche während
des Weltkrieges gesungen wurde. Heile 5 dieser Fassung: »Eine
Kugel kam geflogen,« stammt aus Uhlands Lied »Der gute Kame¬
rad«, An dieses Lied erinnert auch Zeile q: »An seiner Seite lieg'
ich« <»Br ging an meiner Seite«: Uhlands Lied, Zeile 4> und etwa
noch die Zeile io: »Sein treuer Kamerad« <»Mein guter Kamerad«:
Schlußzeile des Uhlandschen Liedes). Außerdem hat eine Strophe,
Zeile 13 - 17 , fünf Zeilen, während die gewöhnliche Zeilenzahl der=
selben vier ist, B tilgt die überzählige Heile 13 und erweitert das
Lied um zwei Strophen, welche offensichtlich den Zweck haben, das
Lied, d. h. wohl nur den manifesten Inhalt desselben, einem neuen
Milieu anzupassen. Außerdem ändert es Zeile 17 , so daß nun auch
1 Köhler-Meier, Volkslieder v, d. Mosel und Saar, I, Nr. 308.
Das Zersingen der Volkslieder
159
Weib und Kind in dem manifesten Inhalte des Liedes erscheinen.
Diese Änderung ist verständlich: Der Weltkrieg brachte neben den
jungen Burschen, welche noch an die Eltern denken, die alten Män¬
ner, die Familienväter unter die Fahnen. D paßt den manifesten Im»
halt des Liedes neuerdings dem neuen Milieu an. E variiert A 22—29
in entsprechenden Zeilen.
Interessant wird dieses Lied, wenn man es mit den folgenden
Beispielen vergleicht. Es erscheint dann sofort nicht als zersungenes,
sondern als zusammengesungenes Lied, als ein Lied, welches durch
Zusammenziehen zweier verschiedener Lieder entstanden ist.
Betrachten wir jetzt die Quellieder. Das erste Lied <II> ist
etwa folgendermaßen zusammenzustellen A 1 — 24 , B zwischen 24 und
25 und A 25—32 <die einzelnen Varianten sind dabei nicht berück¬
sichtigt !> Das Lied ist also wahrscheinlich nach der Schlacht von Metz
entstanden und wurde dann auf die Schlacht von Sarajevo umge¬
dichtet. In dieser Form ist es Grundlage des I-Liedes geworden.
Der manifeste Inhalt des Liedes ist eine Kampfszene. Ein
Siebenundzwanziger- oder Zehnerjäger steht auf Vorposten und be¬
schäftigt sich, während er in die Nacht hinausspäht, im Geiste mit
seiner Geliebten <11 A 1 — 12 ). Diese Einleitung ist wertvoll zum Ver-
ständnis der ganzen Kunstpsychologie. Sie zeigt nämlich ganz deut-
lieh die Teilung des Individuums in ein bewußtes, welches auf Posten
steht, in die Nacht späht und lauscht, alle Empfindungen beurteilt,
also denkt, und gleichzeitig in ein unbewußtes, träumendes, welches
in der Heimat ist, sich mit der Geliebten beschäftigt. Dieses mit
Herzensgrüßen zur Geliebten Hindenken <11 B 11 — 12 ) haben wir wohl
nur als Bilderreihe eines Assoziationsverlaufes vorzustellen.
Der folgende Teil des Liedes ist als Realität dargestellt. Wir
nehmen ihn zunächst als solche, als wirkliches Ereignis. Dieser nächste
Abschnitt <11 A 13 - 24 , B zwischen 24 und 25 , A 25 — 28 ) ist eine Kampf*
szene und umfaßt den Hauptteil des Liedes, zwanzig der sechsund¬
dreißig Liedzeilen, Der Posten wird aus der Träumerei geschreckt
durch einen Überfall des Gegners <der Insurgenten: B 21 ), er schlägt
Alarm, eröffnet das Feuer auf den Feind, wirft ihn mit Hilfe der
herbeigeeilten Kameraden und fällt, nachdem er die Seinen durch
Wachsamkeit und Aufopferung gerettet hatte, am Ende des Ge¬
fechtes.
Nehmen wir diese Szene nicht als Wirklichkeit, sondern als
das, was sie für alle Sänger des Weltkrieges war, als künstlerische
Illusion und fragen: Welche latente Gedanken, Wünsche vertritt
dieselbe? Der Dichter hat uns die Antwort auf diese Frage
leicht gemacht. Wir brauchen nur an die Einleitungsstrophen anzu¬
knüpfen. Der Jäger stand in denselben draußen auf Posten und be¬
schäftigt sich in der Phantasie mit dem geliebten Mädchen. Diese
Bilderreihe, welche durch die Assoziation in dieser Zeit abgespielt
wird, ist schon Wunscherfüllung. Sie erfüllt dem Posten den Wunsch
nach Beisammensein mit der Geliebten dadurch, daß sie ihm dieses
160
Dr. Hermann Goja
Beisammensein in einer Halluzination vorstellt/ sie erfüllt diesen
Wunsch aber nicht nur dem Posten des Liedes, sondern vor allem
auch dem Dichter und Sänger desselben. Denn es ist nidit zu ver®
gessen: Der Assoziationsverlauf der Sänger wird an dieser Stelle
ebenfalls abgelenkt,- er geht in derselben Richtung wie der des
Postens heim zur Geliebten. Der Wunsch, welcher diesem Teile des
Liedes zugrunde liegt, ist also der zu Hause, fort, bei der Ge®
liebten zu sein.
Woraus entspringt dieser Wunsch? Er entstammt einer unlust®
betonten Bewußtseinslage, der des Soldatseinmüssens. Das beweist
die ganze Stimmung des Liedes, seine Sentimentalität und besonders
seine sentimentale Auffassung des Soldatentodes. Auch das kann
als Bestätigung dieser Tatsache herangezogen werden, daß das Lied
im Weltkriege erst dann zu großer Wirkung kam, als die Kriegs®
begeisterung des Anfanges schon vorüber war und der Kriegs®
müdigkeit Platz gemacht hatte, im Frühjahre 1916.
Das Lied setzt nun mit einer soldatischen Situation ein, welche
nach dem Gesagten einer unlustbetonten Bewußtseinslage entstammt
und leitet in dem bisher analysierten ersten Teile den Vorstellungs®
verlauf zu lustbetonten Bildern der Geliebten, des Sexuellen, welche
es illudiert. Verdrängung einer unlustbetonten Bewußtseinslage durch
eine lustbetonte, wäre demnach der psychologische Prozeß, welcher
sich in diesem Teile abspielt,
Stellen wir uns nun, um uns die Arbeit zu erleichtern, die
beiden Vorstellungskomplexe des Soldatischen und Sexuellen als
zwei Kräfte vor, welche sich bekämpfen, so stellt die Kampfszene
einen Augenblick dar, in welchem die unlustbetonte Vorstellungs®
gruppe Oberhand über die lustbetonte gewinnt. Nur einen Augen®
blick, denn der seelische Apparat löst sofort Erinnerungen aus, durch
welche die unlustbetonte Kampfszene Lustbetonung erhält. Man
beachte, wie diese Lustgefühle mit der Entwiddung der Kampfhand®
lung immer mehr an Kraft gewinnen, bis sie die Unlustgefühle voll®
ständig überwinden. Die Kernstrophen dieses Teiles wirken daher
wirklidi begeisternd und haben eine verhältnismäßig geringe Senti®
mentalität:
»Heraus, ihr lieben Kameraden,
Geschwind und spannt den Hahn!«
Da standen wie hergezaubert,
Sie alle Mann an Mann.
<11 C 17 — 20 >
Dieser Aufschwung der Stimmung in dem Texte verliert wohl einen
Teil seiner Wirkung durch das Fortgehen der sentimentalen Melodie,
immerhin bedeutet er eine Besserung der Bewußtseinslage.
Für uns besteht nur die Pflicht, die psychischen Ursachen auf®
zu decken, welche die unlustbetonte Vorstellung des Soldatischen in
eine lustbetonte verwandeln konnten. Wir müssen suchen, wann das
Soldatische starke Lustquelle war und wir kommen da sofort in
unsere Jugendzeit. In unserer Jugend war der Soldatenstand ein
Das Zersingen der Volkslieder
161
Ideal, war auch Krieg und Kampf eine Wunscherfüllung, weil man
in ihnen seine Männlichkeit, seinen Heldenmut erproben konnte. Ich
brauche nicht besonders auf den Umstand aufmerksam zu machen,
daß dieses Ideal stark mit der infantilen Sexualität zusammenhing.
Es ist eine Verdrängung der unlustbetonten Vorstellung des realen
Soldatenstandes durch die lustbetonte des idealen, infantilen, welche
sich in der Umkehrung der das Lied begleitenden Gefühle offen«
hart 1 . Die Kindheitserinnerung wurde wachgerufen durch Assozi¬
ation nach Ähnlichkeit der beiden Vorstellungen des Soldaten«
Standes und der sexuellen Grundlagen, welche der Geliebtenkomplex
der Einleitungsstrophen ebenso wie der Knabenkomplex der Kampf«
szene besitzt. Ausgelöst wurde der Vorstellungsverlauf durch das
Streben, die unlustbetonte Vorstellung des Soldatentums aus der
Bewußtseinslage zu entfernen, Die Kampfszene wird durch diesen
VerdrängungsVorgang ebenfalls Wunscherfüllung. Ich möchte den
lustbetonten Knabenkomplex als Nebenkomplex im Gegensätze zum
Haupt«, den Geliebtenkomplex bezeichnen.
Die lustbetonten Vorstellungen haben so in den Zeilen 17—24
die unlustbetonten niedergerungen. Noch einmal brechen aber die
unlustbetonten siegreich durch in den Zeilen II B zwischen 24 und 25
und II A 25—28, ja, es sind die unlustbetonten, welche der Soldaten¬
komplex enthält, die des Soldatentodes, welche jetzt erregt werden.
Es ist das stärkste Nein gegen den Knabenkomplex, welches in den
Bildern dieser Zeilen ausgesprochen wird. Aber auch diese letzte
Karte der unlustbetonten Vorstellungsreihe wird niedergespielt durch
das letzte Blatt der lustbetonten, durch die Bilder der Zeilen 25—28:
In der Hand des Toten wird ein Zettel gefunden mit Grüßen
an die Geliebte und das Vaterland. Damit ist das Lied, sein mani«
fester Inhalt zu Ende. Nicht aber der latente, nicht der erregte
Assoziationsverlauf. Dieser geht weiter: Der Brief wird gefunden,
dem Mädchen überbracht, das, von Schmerz übermannt, zusammen«
bricht usw. Das Ende des Liedes ist die Halluzination der Geliebten,
welche sich, da die Gegenreihe mit dem Tod des Jünglings abge«
schlossen ist, unbehindert entfalten kann. Die unlustbetonten Vor«
Stellungen, welche am Anfänge des Liedes in der Vorstellungslage
enthalten waren, sind entfernt, durch lustbetonte ersetzt.
Der psychische Prozeß, welcher sich in diesem Liede abspielt,
ist also tatsächlich die Verdrängung eines unlustbetonten Vorstei«
lungskomplexes durch einen lustbetonten, die manifeste Liedhandlung
entspricht der Bewegung dieser beiden Komplexe, sie ist von ihnen
bedingt, die die Handlung begleitenden Gefühle sind ebenso
Mischungen, wie die Bilder der Liedillusion Kompromisse zwischen
den Vorstellungen beider Komplexe sind. Das Lied ist Wunsch*
erfüllung.
1 Zu der Annahme des Infantilen als Lustquelle vgl. die Rauher-, Sol¬
daten« und Heldendichtung, die ebenfalls auf infantiler Grundlage beruht.
Imago VI/2
11
162
Dr. Hermann Goja
Verschieben wir nun die Bewußtseinslage. Nehmen wir an,
daß die Abneigung gegen das Militär noch größer geworden sei,
eine Annahme, welche den Tatsachen entspricht Was muß die Folge
einer solchen Verschiebung der Bewußtseinslage sein? 1, Die Aus*
Schaltung der Nebenreihe, da die lustbetonten Kindheitserinnerungen
nicht mehr die allzu ähnlichen unlustbetonten verdrängen können.
2 , Die Ausgestaltung des Grußmotives <11 A 20—32), damit es die
stark gewordene Gegenwunschreihe verdrängen kann.
Verifizieren wir diesen Schluß an I, so finden wir die Ein*
leitung <11 A 1 — 12 ) reduziert auf die Zeilen 1—4 von I A, so stark
reduziert, daß sogar die lustbetonte Assoziationsreihe der Ein*
leitung mitverdrängt ist <sie ist offenbar zu schwach, um sich am
Anfang des Liedes durchzusetzen), die Gefechtsszene dem Schlüsse
entsprechend bis auf nur drei Zeilen <11 A 26 - 28 > entfernt, welche einzig
übrig geblieben und durch eine Zeile des Uhlandschen Liedes <1 A 5 )
an die Einleitung <1 A 1 - 4 ) angeknüpft sind. Das Grußmotiv ist
dafür auf das dreifache aufgeschwellt, und zwar mit Hilfe eines neuen
Liedes <III). Das neue Lied <I) hat also von dem Liede II nur die
Zeilen 1-4 und 6—8, von III die Zeilen 9 - 21 . Es erhebt sich
die Frage, wieso diese Vereinigung gerade dieser Lieder zustande
gekommen ist. Sie ist es infolge der Gleichheit der beiden Liedern
zugrunde liegenden Wünsche. Denn wie in dem Liede II ist der
latente Wunsch des Liedes III der des Beisammenseins mit der Ge*
liebten, welcher in III viel breiter ausgeführt ist als in II <das Gruß*
motiv des Liedes III enthält als neues Motiv nur das der Treue
des Geliebten über den Tod hinaus). Die Zeilen 37—44 von III B
schließen die Gegenwunschreihe wieder derart, daß keine neuen
Assoziationen angeschlossen werden können. Die latenten Wünsche
sind also gleich. Daß die Einleitung von II nicht verkürzt und III
als überflüssig ganz fallen gelassen worden ist, hat verschiedene Ur*
Sachen. Die Einleitung des Liedes II in seinen Formen B und C
war für die österreichischen Soldaten eine Lustquelle, weil sie an
den erfolgreichen bosnischen Feldzug erinnerte 1 . Die Veränderung
der Bewußtseinslage erforderte zwar eine Veränderung, nicht aber
die Zerstörung des manifesten Einleitungsinhaltes. Die Einleitung
blieb daher mit Rücksicht auf ihre Lustbetonung erhalten. Die Ein*
leitung von II schafft ferner die Illusion einer Situation, in welcher
jeder Soldat gewesen ist, eine Situation, welche außerdem stark un*
lustbetont ist und infolge dieser beiden Gründe den Charakter einer
prägnanten besitzt 2 . Der Eingang des Liedes III ist dagegen abge*
1 Daß das Lied II ursprünglich ein Metz-Lied war, kommt nidit in Be¬
tracht. Zur Zeit der Verdichtung lief es nur mehr als Sarajevolied. Vgl* dazu
Anm. S. 156, 1—3,
2 Noch ein Grund der Verdichtung kann vielleicht angenommen werden.
Durch die Vereinigung von II B, C mit III A ist es möglich, durch ein Lied an
zwei Ruhmestaten der österreichischen Armee, welcher der Sänger angehört, er¬
innert zu werden. Die Verdichtung diente dann der Luststeigerung,
Das Zersingen der Volkslieder
163
storben, weil das darin dargestellte Auf® und Abpatrouillieren nach
dem Gefecht in der modernen Kriegführung unmöglich ist. Aus
diesen Gründen wurde der Eingang von III abgestoßen und dem
reich entwickelten Grußmotiv der Anfang von IIB, C vorgesetzt.
Der Hauptvorteil der Vereinigung beider Lieder ist aber folgender:
wird nach der Verquickung der alten Lieder das neue I angestimmt,
so wird mit den ersten Zeilen das ganze Lied II erinnert, d. h.
während des Singens dieser ersten Verse wird ein Assoziationsver®
lauf angeregt, Dieser folgt dem Geleise von II und kommt über II
zur Wunscherfüllung. Dadurch, daß dann das Lied in III übergeht,
wird eine zweite Reihe erregt, welche wieder über dasselbe Motiv
<das Grußmotiv) zur selben Wuosdherfüllung führt. Vergleidit man
nun den Anfang von I mit dem von IV, so zeigt sich eine große
Ähnlichkeit derselben, welche auch zwisdten III und IV vorhanden
ist <IV zeigt das unwahrscheinliche Auf® und Abpatrouillieren voll®
kommen, das in III noch verdedct ist). Die Folge davon ist, daß an
diesen Anfang I nicht nur die Assoziationen von II und III, sondern
auch die von IV angefügt werden können, was bei der Bekannt®
schaft aller Lieder <diese ist verbürgt!) auch tatsächlich geschieht. Es
können also über den beibehaltenen Eingang von II auf drei Ge®
leisen die Reproduktionen auf dasselbe Motiv und über dieses zur
Wunscherfüllung geleitet werden.
Beachtet man ferner, daß beide Trümmer II und III miteinander
verkittet sind durch die Zeile 5 aus dem Liede: »Ich hatt' einen
Kameraden« <nur diese Zeile stellt sich ja als direkt aus diesem
Liede stammend heraus), daß die Zeilen 7 , 9 und 10 von I ebenfalls
an dieses Lied anklingen, dieses Lied aber in seiner dritten Strophe wieder
zum Grußmotiv führt <»Will mir die Hand noch reichen«: Der Ka®
merad will noch Abschied nehmen, wie er es in dem Liede III tat®
sächlich tut), so erkennt man, daß durch das Einsetzen der Zeile 5
als Fuge ein vierter Weg gebahnt wird, um zu der einen Wunsch®
erfüllung zu gelangen, weldie der latente Inhalt von I ist.
Durch diese Fuge ist es aber möglich gemacht, ein neues Lied
an I assoziativ anzuknüpfen. Ich führe dieses Lied an:
1. Ja in Rußland sind viele gefallen.
Ja in Rußland sind viele geblieben.
Da hab'n sich zwei stürmische Feinde
Einander gar häßlich gerieben.
5 2. Zwei Kameraden, die hab'n sich verschworen.
Einander stets treu zu verbleiben.
Soll der eine, der andere je fallen.
Daß der eine sein Liebchen verstand!
3, Eine Kugel, die kam geflogen,
10 Durchbohrte dem einen das Herz.
Ja das war für sein Liebchen ein Jammer,
Ja das war für die Mutter ein Schmerz.
11*
164
Dr. Hermann Goja
4 . Und als nun die Schlacht war zu Ende,
Kehrt ein jeder zurück ins Quartier,
15 Ja da hat sich der eine gewendet,
An den Bleistift, wohl an das Papier,
5. Und er schrieb nun mit zitternden Händen
Den betroffenen Eltern nach Haus:
Euern Sohn hat die Kugel getroffen,
Er liegt in Rußland, steht nimmermehr auf!« 1
In diesem Lied kehrt nun, wohl kaum zufällig, dieselbe Zeile
des lihlandschen Liedes wieder, welche sich in I als Fuge befindet.
Zeile 9 lautet ja: »Eine Kugel, die kam geflogen«. Auch der Reim
»Schmerz« und »Herz« <1 6 —s) findet sich wieder in den Zeilen io
und 12. Das Lied hat in seinem manifesten Inhalt zwar nicht mehr
das Posten* wohl aber das Grußmotiv und deckt sich daher wiedei
mit den Liedern dieser Gruppe <der Sarajevoliedgruppe), I As leitet
daher nicht nur zu dem Uhlandschen Liede sondern auch über das*
selbe zu diesem letzten über, stellt damit eine neue Verbindung mit
einem Liede her, welches dieselben Wunsche erfüllt wie I. Es ist
dies die fünfte Assoziationsreihe, welche sich aus der Vereinigung der
beiden Bruchstücke II und III ergibt.
Wir sind aber mit den Verknüpfungen noch nicht zu Ende.
IB2 lautet: »Bei hellem Mondesschein«. Diese Formel findet sich
nun auch in der ersten Strophe eines Liedes, welches Hartmann unter
Nummer 300 mitteilt. Diese erste Strophe lautet:
Und als die Schlacht bei Sedan war vorüber,
Sah man des Nachts bei hellem Mondenschein
Verwundete Soldaten tragen auf und nieder
Und Sterbende könnt' man noch ächzen hörn.
Man wird zunächst nicht geneigt sein, dieser Tatsache eine be*
sondere Bedeutung zuzumessen. Die zweite Strophe des Liedes be*
ginnt aber:
2. Und als man dort die Leichen trug zusammen,
Bewegte sich ein junger Jägersmann,
was mit IV 9-10 verglichen, eine neue Verzahnung dieses Liedes mit
der Sarajevoliedgruppe darstellt. Auch die Bitte um 1 1 inkwasser
IV 13-14 läßt das neue Lied nadiklingen: »Mit frischem Wasser wusch
man seine Wunden« < 1 . Zeile der 3 . Strophe). Auch IV 17 taucht
auf in der 5 . Strophe des Liedes:
Kameraden! um was ich noch bitte,
Bringt meiner Mutter nodi den letzten Gruß.
Diese letzte Zeile beweist aber den Zusammenhang dieses
Liedes mit der Sarajevoliedgruppe, Es enthält wie diese das ( 3 rul)^
1 Das Lied dürfte eine Schöpfung des Weltkrieges sein.
165
Das Zersingen der Volkslieder
motiv. Es ist in der vierten bis sechsten Strophe entwickelt Damit reiht
sich das Lied selbst der Gruppe ein. Es ist aber damit eine neue Asso¬
ziationsbahn durch eine Singart eröffnet worden, die sechste, welche
wir bisher verfolgt haben, die zur Wunscherfüllung führt. Das letzte
Beispiel hat gezeigt, daß durch Übernahme von Teilen anderer Lieder,
wenn diese noch so klein sind, doch nur zusammengehörige Lieder
verknüpft werden. Die Verkoppelung derselben setzt aber erst dann
ein, wenn das einzelne Lied zu schwach wird, den Unlustkomplex
niederzuringen. ... <
Die einheitliche Gruppe von Liedern ist nun noch mit anderen
verknüpft, welche nicht mehr das Grußmotiv enthalten. Ich will zwei
Beispiele geben, welche zeigen sollen,wie durch Singarten immer neue
Lieder aneinandergeknüpft werden, Lieder, welche in ihrem manifesten
Inhalt keine Ähnlichkeit mehr aufweisen. Bei Lewalter 1 findet sich
ein Lied mit der ersten Strophe:
1. An der Weichsel gegen Osten
Stand ein Jäger auf dem Posten,
Und da bracht' ein junges Mädchen
Blumen aus dem Städtchen.
Dieses Lied ist mit III dadurch verknüpft, daß das letztere in einigen
Fassungen mit der ersten Zeile des letztangeführten Liedes eröffnet
wird. Das Lied »An der Weichsel gegen Osten« enthält aber das
Grußmotiv nicht mehr. Wie aber der latente Wunsch von III der
sexuelle war, so ist das Lied Lewalters stark erotischen Inhaltes.
Die Verbindung ist also wieder verständlich. Sie dient wieder der
Verdrängung der unlustbetonten Vorstellung durch die lustbetonte
sexuelle. <Es ist nicht zu übersehen, daß die Singart nur eine schon
bestehende Gleichheit der Einleitung verstärkt hat,- enthält doch Le*
walter das Postenmotiv als Einleitung!)
Wir sind schon einmal einem Liede begegnet, das diesselbe
Einleitungsformel hat wie das Lewalters. Es steht S. 140 und
ist jenes, in dessen manifestem Inhalte der Sohn den Vater tötet.
Das Lied ist ein stark sentimentales. Um den Zusammenhang dieses
Liedes mit der Sarajevoliedgruppe nachzuweisen, müßte ich es mit
einer Reihe anderer analysieren, das würde jedoch den Rahmen dieser
Arbeit sprengen, Idi verweise also nur auf den Umstand, dal) midi
hier schon in dem manifesten Inhalte die Verknüpfung zwischen
Soldatentum und Heimat hergestellt ist. Daß sie auf diese Art her**
gestellt ist, beweist, daß die Unlust gegen den Stand in ungeheurem
Grade gewachsen sein muß. Wieso das Lied trotzdem Wunsch*
erfüllung ist, kann ich hier nicht nachweisen. Es ist charakteristisch,
daß der Zusammenhang des Liedes mit der Sarajevoliedgruppe später
gelöst worden ist, wie die Singarten des Weltkrieges es zeigen.
Ich habe durch die Analyse des einen Komplexes gezeigt, daß
das Zersingen sinnhaft ist. Es dient der Wunscherfüllung. Selbst-
t V g K Erk*Böhme, Deutscher Liederhort, III, 1386.
166
Dr. Hermann Goja
verständlich sind nicht mehr alle Assoziationsbahnen, welche ich nach**
gewiesen habe, im Weltkrieg gelaufen worden. Die Menge der an
ein Lied angeknüpften Verbindungen ist abhängig von der den Sängern
bekannten Zahl an Liedern, Diese Zahl war in unserer Zeit sicher
schon sehr gering. Man denke aber, welche Buntheit der Assozia»
tionen in der Hochzeit des Volksliedes ausgelöst worden sein mußte,
wenn noch in unseren Tagen so viele möglich waren. Die Formeln
des Volkliedes, welche Daur 1 als notwendig in der Zeit einer noch
ungelenken, schwerfälligen Sprache erwiesen hat, bekommen jetzt eine
neue Bedeutung als Wechsel der Assoziationsgeleise, als Brüchen,
welche Lieder und Lied verbinden.
Ich habe in der Einleitung <S. 146) gesagt, daß das Studium
des Zersingens zur Ablehnung freisteigender Assoziationen führe.
Die in der Sarajevoliedgruppe beobachteten Fälle haben sich alle als
gebunden erwiesen, gebunden von unbewußten Wünschen, die ihre
Anwesenheit nur durch diese Änderungen des manifesten Liedinhaltes
beweisen.
Fassen wir, um dann wieder besser Vordringen zu können,
nodimals ins Auge, was uns die Sarajevoliedgruppe gelehrt hat:
Zweck der einzelnen Lieder war die Verdrängung einer Unlustquelle
aus der Bewußtseinslage und ihre Ersetzung durch eine Lustquelle.
Unlustquelle war der Soldatenstand, Lustquelle das Sexuelle. Die Ver»
dichtung der Lieder II und III zu I, ihre Verfügung durch den »Guten
Kameraden« diente der Lustverstärkung, Überlegen wir nun: Die
unlustbetonte Vorstellung des Soldatenstandes war durch Jahre hin»
durch während des Weltkrieges in der Bewußtseinslage von Millionen
Sängern, Das Sexuelle als Lustquelle ist allgemein menschlich. Es
müßten sich, die Richtigkeit meiner Analyse vorausgesetzt, demnach
noch viele Lieder finden, welche denselben latenten Inhalt besitzen
wie das Sarajevolied.
Nun solcher Lieder gibt es tatsächlich noch viele. Man sehe
in John Meiers Büchlein »Das deutsche Soldatenlied im Felde« nach,
um sich davon zu überzeugen. Das Material dieses Aufsatzes stammt
der Hauptsache nach aus den Jahren 1914 und 1915, <Der demselben
zugrundeliegende Vortrag wurde am 23, Februar 1916 gehalten.)
Schon bei flüchtigem Durchsehen dieser Arbeit erscheint der Komplex
des Sarajevoliedes in zentraler Stellung. Nach einer kurzen Charak»
teristik des Soldatenliedes und einer Darstellung der Verschieden»
heiten des neuen Kriegsliedes, bei welcher Gelegenheit der Verfasser
schon das Überwiegen der sentimentalen Lieder betont, bringt er die
Sarajevoliedgruppe von S. 18 an. Er hebt sie heraus als eines der
beiden sentimentalen Klischees, wie er sich ausdrückt. Es ändert da»
bei gar nichts an dem Wesen der Sache, daß er die Vereinigung
von II und III zu I nicht kennt. Als Quellied setzt er, abgesehen
von den Liedern des »Guten Kameraden«, das Lied »Die Sonne
1 Daur, Das alte deutsche Volkslied usw., S. 3 u. S. 35.
Das Zersingen der Volkslieder
167
sank im Westen« <III>, verbindet damit ebenfalls das Lied »Bei Se=
dan auf den Höben« <IV> und nach der äußeren Ähnlichkeit der
manifesten Inhalte noch zwei Lieder, eines mit der Anfangsstrophe:
In dem wilden Schlachtgetümmel
Kämpft ein Schütze rasch und flink
Zwischen seinen Kameraden,
Bis die Kugel ihn tödlich traf 1 , usw.,
ein anderes mit der Einleitung:
Ein Grenadier am Dorfplatz stand.
Sein Mädchen ihm zur Seit',
Er legt die Waffen aus der Hand,
Spricht Trost ihr zu im Leid 2 , usw.
das den Titel »Stolzenfels am Rhein« führt.
Es ist charakteristisch, wie besonders das erste dieser beiden
Lieder wieder stark mit der Sarajevoliedgruppe verzahnt ist. Nicht
nur kehrt der »Kamerad« wieder <Zeile 5) auch das bedingte »Und
soll es dich einst führen. In die Heimat das Geschick« <111A 17 —is>i
kehrt wieder:
»Du, mein Freund, kehrst wieder heim.
Siehst die alte Heimat wieder.
Ziehest in mein Dörflein ein. (Zeile 6—8>
ebenso wie das »Nimm hin den Ring am Finger« <IIIA i3> und
das »So bringe meinen Liebsten diesen schönen Gruß zurück!« <111 19—20):
Nimm den Ring von meinem Finger,
Reich ihn ihr als Abschiedsgruß, (Zeile 21 — 22 )
aber auch das »So sag, ich bin geblieben« (IA 19):
»Sag ihm, daß ich sei gefallen, (Zeile 13 )
was die Bekanntschaft mit II vermuten läßt.
Aber auch das zweite drängt in der letzten Strophe bekannte
Formeln zusammen:
7. Zu seinem Kameraden, der hei ihm kniet,
Erhebt er den brechenden Blick
Und spricht: »Wenn du wieder heimwärts ziehst,
Dann suche du auf mein Lieb und sage ihr,
Daß ich treu, ihr treu gestorben sei.
Es soll nicht sein, ich kehr nicht heim
Nach Stolzenfels am Rhein,«
Dieses Lied ist aber besonders deshalb interessant, weil es in
der Verdrängung eigene Wege gegangen ist. Es hat das Grußmotiv
1 J. Meier, Das deutsche Soldatenlied im Felde, S. 29.
3 Ebenda, S. 31.
168
Dr. Hermann Goja
auf die wenigen oben angeführten Zeilen zusammengedrängt, als
Einleitung den Abschied des Soldaten dargestellt und dadurch in den
ersten fünf Strophen eine starke Lustquelle dem Lied eingefügt. Das
Soldatische ist in ihm offenbar noch nicht so stark unlustbetont.
Die von John Meier zweites Klischee benannte Liedergruppe
unterscheidet sich in ihrem latenten Inhalt gar nicht von der ersten.
Wieder haben wir das Soldatische als Unlustquelle, wieder das Sexuelle
als Lustquelle, wieder die Verdrängung des Soldatischen durch das
Sexuelle. Selbstverständlich entsprechen die Lieder des zweiten Klischees
nicht vollständig denen des ersten, da sie sonst auch in ihrem manf*
festen Inhalt zusammenfallen müßten. Der Unterschied zwischen den
beiden Gruppen besteht vorzugsweise in der Verknüpfung der manU
festen Teile des Liedes. Während sie in der ersten Gruppe auf
mechanischem Wege, durch Botensenden, bewirkt wird, erfolgt sie
in der zweiten auf telepathischem, durch psychische Fernwirkung. Im
allgemeinen kann man sagen, daß in dieser zweiten Gruppe das Sexu<*
eile viel stärker entwickelt ist, was darauf hinweist, daß die Ver*
drängung der unlustbetonten Vorstellung einen größeren Aufwand
an Kraft benötigt hat. Das Quellied dieses zweiten Klischees ist
J. G. Seidls Gedicht »Der tote Soldat«, Ich gebe als Beispiel eine
Fassung 1 des Gedichtes Max Meixners:
1. Die Österreicher zogen so stille hinaus,
Der Vater in blutigen Kampfe hinaus.
Es standen um ihn und es klagten die Seinen,
Sein treues Weib und zwei muntere Kleinen.
2. Der Vater, der stand und sagte nichts mehr.
Die Kinder, die machten den Absdiied so schwer.
Er ergriff das Gewehr mit tränendem Zagen
Und eilte hinaus in das blutige Jagen.
3. Vor Lemberg, da lag nun der Vater im Blut,
Verlassen hat ihn jetzt sein kriegerischer Mut,
Er schrie nach seinem Weib und er schrie nach seinen Kindern,
Da kam nur der Tod seine Schmerzen zu lindern,
3. Vor Lemberg, da grub man ein tiefes Grab,
Da senkt man die gefallenen Krieger hinab.
Drei Schuß da hinüber die Gräber der Braven,
Die Ehre und Leben am Schlachtfeld gelassen.
5. Und eh' noch der Vollmond am Himmel aufgeht.
Und eh' noch der Vollmond am Himmel aufgeht.
Und eh' noch der Vollmond wird dreimal ersdteinen
Dann wird uns Gott Vater den Frieden verleihen.
Interessant ist, daß beide Klischees durch Singarten miteinander
verknüpft worden sind, und zwar einmal dadurch, daß dem Liede
»Bei Sedan wohl auf den Höhen« <IV> eine Strophe angefügt wurde:
1 Fassung des Schür 24.
Das Zersingen der Volkslieder
169
Eines Abends sprach sein Söhnlein:
»Kommt mein Vater noch nicht bald?«
»Ja, dein Vater liegt begraben
Bei Sedan wohl auf den Höhen 1 .«
womit man IA is —21 vergleichen möge, um zu erkennen, wie sehr
durch diese Singarten der ganze Liederkomplex zu einer Einheit ver¬
schmolzen wurde,- andermal dadurch, daß das Hauffsche Lied »Steh
ich in finstrer Mitternacht« in das zweite Klischee hineingesungen
wurde 2 .
Ich schließe die Darstellung des Sarajevoliedkomplexes mit einem
Hinweis auf die Seite 11 von J. Meier zusammengestellten Berichte,
welche die von mir festgestellte Bewußtseinslage bestätigen. Ich habe
die Sarajevoliedgruppe so genau besprochen, weil sie mir Gelegen*
heit geboten hat, an einem großen Beispiel das Wesen des Zersingens
und besonders das der Verdichtung zu zeigen. Wir haben an einem
Fall erkannt, warum ein Lied aus drei alten zusammengesungen
werden mußte und haben gesehen, daß eine Fülle innerlich zusammen»
gehöriger Lieder sinngemäß auch äußerlich durch Singarten verknüpft
wurde. Den psychischen Prozeß, den die Verdichtung der drei Lieder
erzeugt hat, haben wir als Verdrängung festzustellen vermocht, seine
Übereinstimmung mit den theoretisch entwidcelten Gesetzen ge»
hindert 3 .
Es wäre jedoch Torheit zu meinen, daß dieser Verdrängungs*
Vorgang allen Liedern zugrunde liegt, welche in ihrem manifesten
Inhalt Soldatisches und Sexuelles vereinigen. Der aufgezeigte Ver¬
drängungsvorgang tritt nur zu Zeiten ein, in denen das Soldatische
tatsächlidi unlustbetont ist. Ich gebe jetzt einige Beispiele, in denen
einem ähnlichen manifesten Inhalte eine ganz neue latente Situation
entspricht. J. Meier führt folgendes Lied an 4 :
Als ich an einem Sommertag,
Im grünen Wald im Schatten lag,
Sah ich von fern ein Mädchen stehn.
Das war so unbegreiflich schön.
Diese erotische Strophe wurde 1870/71 in hessischen Regimentern
folgendermaßen zersungen:
Als ich an einem Sommertag,
Hinter Metz, bei Paris, in Chalons,
Im grünen Wald im Schatten lag,
Hinter Metz, bei Paris, in Chalons,
1 J, Meier, Das deutsche Soldatenlied tm Felde, S. 35.
2 Ebenda, S. 36.
* Die Verdrängung von <Arbeits-> Unlust durdi Einfügung von Lust Rhyth¬
mus) hat Bücher in seinem Werke als psychische Funktion des Arbeitsliedes, also
einer der ältesten Formen der Dichtung nachgewiesen <Vgl. Arbeit und Rhythmus
S. 312).
4 J. Meier, Das deutsche Soldatenlied im Felde, S. 51.
170
Dr. Hermann Goja
Wo die deutschen Büchsen knallen
Und die roten Hosen fallen,
Hinter Metz, bei Paris, in Chalons.
Ja, die einundzwanzig, zweiundzwanzig,
Jakob Meier, Donnerwetter,
Kurz getreten. Tritt gefaßt.
Eins zwei drei.
Und so geht der Bayrische Marsch, Marsch, Marsch,
Und so geht der Bayrische Marsdi.
Die letzten beiden Zeilen der alten Strophe wurden dann ebenso
bearbeitet. Das Ganze ist ein krasser Fall des Zersingens. Und doch
ist er leicht verständlich. Er ist wieder ein Beispiel der Vereinigung
des Sexuellen mit dem Soldatischen wie das Sarajevolied. Der weg,
der zu dieser Vereinigung geführt hat, ist aber der umgekehrte als
der des Gruppenliedes. Grundlage war hier eine sexuelle, in welche
das Militärische hineingetragen wurde. Im Sarajevoliede stand ur*
sprünglich das Soldatisdie im Vordergrund und wurde vom Sexuellen
immer mehr verdrängt. Der Prozeß, der sich in der letzten Singart
abspielt, ist keine Verdrängung, sondern eine Summierung. Die
Lust, welche sich an die Vorstellung des Sexuellen knüpft, wird ge*
steigert durch die Lust, welche der Vorstellung des Militärischen
entstammt. Die Luststeigerung, weichein der zersungenen Form erreicht
wird, ist ja unverkennber. Die Stimmung des neuen Liedes ist ja
eine geradezu übermütige. In diesem Liede ist also das Militärische
Lustquelle.
Wie ist das möglich? Die Vereinigung stammt aus dem Kriege
1870/71. Aus der Zeit des deutschen Triumphzuges nach Paris! Die
Erfolge dieses Krieges hielten die Soldaten in einem einzigen Rausch
höchster Lust, Erfolge, welche keine Sentimentalität vertrugen, wohl
aber eine kecke, übermütige Stimmung erzeugten. Das Soldatische
war damals eine große Lustquelle. Es vereinigte sich daher mit dem
Sexuellen und schuf das Lied, das uns heute unsinnig erscheint, da«
mals Ausdruck der Stimmung war. Sehr sdtön entspricht der
übermütigen Stimmung der deutschen Sieger die übermütige Behänd*
lung des Liedes. Den dieser Verdichtung zugrundeliegenden psychischen
Prozeß könnte man als Luststeigerung durch Einführung eines neuen
lustbetonten Vorstellungskomplexes in die Bewußtseinslage bezeichnen.
Derselbe Prozeß liegt der Verdichtung des Liedes »Wer will
unter die Soldaten« mit der »Loreley« zugrunde 1 . Drei Lustquellen
vereinigen sich in der Verbindung dieser beiden Lieder. Das Sexuelle
des Loreleyliedes, das Soldatische in dem Liede »Wer will unter
die Soldaten« und das Infantile in beiden Liedern. Das Soldatenlied
ist ja eines der ersten und wirksamsten Lieder, welches das Schulkind
lernt, die Loreley das einzige stark erotiische Lied der Schule. Beide
stark lustbetonten Lieder reichen daher weit in die Jugend zurück.
1 J. Meier, Das deutsche Soldatenlied im Felde, Anm. 93.
Das Zersingen der Volkslieder
171
Ich habe bis jetzt zwei latente Ursachen der Verdichtung fest»
gestellt: Verdrängung einer Unlustquelle und Luststeigerung. Ich
gebe nun ein neues Beispiel der Verdichtung, um den Mechanismus
derselben feststellen zu können. Ich gebe zunächst die Lieder:
I 1 .
1 . Dort oben auf dem berge
da stet ein hohes haus,
darein gend alle morgen
drei hüpsche frewlein ein.
5 2. Die erst die ist mein Schwester,
die ander ist mir gefreundt,
die dritt die hat kein namen,
die muß mein eigen sein.
II 2 .
Mühlrad.
Dort hoch auf jenem berge
da get ein mülerad,
das malet nichts denn liebe
die nacht biß an den tag,-
5 die müle ist zerbrochen,
die liebe hat ein end,
so gsegen dich got, mein feines lieb!
iez far ich ins eilend.
III 3 .
1. Ich hört ein frewlein klagen,
fürwar ein weiblichs bild,
ir herz wolt ir verzagen
nach einem ritter mild/
5 sprach sich die fraw mit lüste:
,er leit mir an der brüste
der mir der liebest ist/
2. Die zwei die teten rasten
nit gar ein halbe stund,
io der wechter ob dem kästen
den hellen tag verkunt,
er tet sein hörnlein schellen:
,fraw, wecket ewern gsellen!
wann es ist an der zeit/
i Uhiand, Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, Nr. 21B
3 Ebenda, Nr. 33.
* Ebenda, Nr. 87.
172
Dr. Hermann Goja
15
20
25
5
10
15
20
25
30
1 Uhland,
3. ,So wolt ich gerne wecken
den allerliebsten mein,
ich sorg ich tuon erschrecken
das Junge herze sein/
er ist meins herzen gselle,
er sei gleich wo er welle,
wie gern ich bei im wolt sein!'
4. ,Ach scheiden, immer scheiden,
und wer hat didi erdacht?
du hast mein junges herze
auß freud in trauren bracht,
du hast mein junges herze
auß freuden bradit in schmerzen,
ade! ich far dahin.'
IV*.
1. Bei meines buolen haupte
da stet ein güldner sdirein.
Darinn da leit verschloßcn
das junge herze mein/
wolt got, ich het den schlüßel!
ich würf in in den Rein/
war ich bei meinem buolen,
wie möcht mir baß gesein!
2. Bei meines buolen fueßen
da fleußt ein brünnlein kalt,
und wer des brünnleins trinket
der jungt und wirt nicht alt/
ich hab des brünnleins trunken
so manchen stolzen trunk,
vil lieber wolt ich küssen
meins buolen roten mund.
3. In meines buolen garten
da sten zwei beumelein,
das ein das tregt muscaten,
das ander negeleiii/
muscaten die sind sueße,
die negelein die sind räß,
die gib ich meinem buolen
daß er mein nicht vergeß.
4. Und der uns disen reien sang,
so wol gesungen hat,
das haben getan zwen hawer
zu Freiberg in der stat,
sie haben so wol gesungen
bei met und kuelem wein,
darbei da ist geseßen
der wirtin töchterlein.
Alte hoch® und niederdeutsche Volkslieder, Nr. 30
Das Zersingen der Volkslieder
173
V».
1. Da droben auf jenem Berge, da stehet ein hohes Haus,
Da schauen wohl alle Frühmorgen drei schöne Jungfrauen
heraus,
2, Die eine heißet Susanne, die andere Annemarei,
Die dritte die darf ich nicht nennen, sie soll mein eigen sein.
5 3. Da drunten in jenem Tale, da treibet das Wasser ein Rad,
Das treibet nichts als Liebe vom Abend bis wieder
zum Tag,
4. Das Mühlrad ist zerbrochen, die Liebe hat ja ein End,
Und wenn zwei Verliebte scheiden, so geben sie sich
die Hand',
5. Ach Scheiden, bitteres Scheiden, wer hat doch das Scheiden
erdacht?
io Das hat ja mein Jungfrisches Herze aus Freuden in Trauern
gebracht.
6 . In meines Großvaters Garten da stehen zwei Bäumelein,
Das eine trägt Muskaten, das andere Nägelein.
7. Muskaten und die sind süße, feines Nägelein riecht
so wohl.
Die will ich meim Schätzchen verehren, daß es mein
gedenken soll.
Das erste dieser Lieder ist Wunscherfüllung. Das dritte
Fräulein wird des Sängers eigen. Wegen seiner einfadien Form
erinnert es noch sehr stark an die Lieder der Frühzeit deutscher
Lyrik. Tatsächlich ist es in seinem latenten Inhalte ebenso einfach
wie in dem manifesten. Der Sänger sieht in der Illusion die Ge¬
liebte. Auffällig sind nur die beiden ersten Zeilen, da das in ihnen
dargestellte Bild, das hohe Haus auf dem Berge, ganz rätselhaft,
geheimnisvoll wirkt.
Auch das zweite Lied ist noch eines alten Stiles. Es ist
interessant, weil es die Mühle auf den Berg hinaufversetzt. Andere
Lieder haben die Mühle richtig aufgestellt 1 2 . Da wir aber nur Bruch¬
stücke der Überlieferung haben und das ursprüngliche Verhältnis
der beiden Lieder nicht mehr feststellen können, können wir auch
in bezug auf diese erste Zeile nichts Bestimmtes mehr entscheiden.
Jedenfalls sind in den vorliegenden Texten beide Lieder schon durch
die ersten Zeilen assoziativ miteinander verknüpft, die Grundlagen
für den Verdichtungsprozeß geschaffen. Die Verdichtung vereinigt
dann beide Lieder zu einem neuen. Wir müssen nach der Ursache
dieser Vereinigung forschen. Der latente Inhalt des ersten Liedes
1 Bruinier, Das deutsche Volkslied, S. 34,
2 Vgl. Uhland, Nr. 32 A.
174
Dr. Hermann Goja
ist der Besitz des Mädchens. Was ist der latente Inhalt des zweiten?
Der manifeste ist folgender: Eine Mühle steht auf einem Berge,
welche die ganze Nacht nichts als Liebe mahlt. Die Mühle ist ein
beliebtes Bild des Liebesliedes. Seine Lustbetonung verdankt es
wohl dem Sexuellen. Dies wird klar, wenn man beobachtet, daß
die Mühle in der verbotenen Literatur ein beliebtes Symbol ist.
Man vergleiche folgende Stellen:
Der Müller auch nicht?
Der baute schlecht, in seiner Rinne
Ist oft an Wasser große Not,
Bald fließt es schleunig, bald zu dünne,
Bald fließt es weiß, bald fließt es rot 1 .
Die Mühle ist aber sogar manifester Inhalt ganzer Lieder.
So findet sich Futilitates IV., S. 73 ff. ein mehrere Seiten langes
Gedicht, welches das Bild der Mühle zu Zweideutigkeiten ausnützt.
Sehr wertvoll ist die folgende Stelle dieses Liedes:
»— Die Mühle liegt in einem üppig schönen Tal,
Der Weg zu ihr ist etwas schmal,
Sie ist nicht groß und auch nicht klein,
Zwei Hügel schließen sanft sie ein.
Ein dichter Wald beschattet sie,
Audi fehlt es ihr an Wasser nie
Auch Schnadahüpfl kennen die Mühle als Sexualsymbol:
D'Menscha liabnt d'Mütlnabuam
Grad zwegna mahln,
Wan da Mühlbeutl schlenkert,
Das Ding tuat eahn gfäln 3 .
Das Mahlen <11 3 ) hat daher auch wohl nur eine Bedeutung 4 .
Daraus wird aber die Vereinigung der beiden Lieder verständlich.
I ist in V Ausdruck eines Wunsches, II Wunscherfüllung.
Bei diesem Zusammenfließen der beiden Lieder wurde II
etwas geändert. Die Mühle wurde wieder in das Tal versetzt, wo* *
her sie wahrscheinlich einst geholt worden war. Durch das Zer*
singen von II 1 zu V 5 wurde jedoch ein neues Band geschaffen,
welches die Lieder fester miteinander verknüpft. Die erste Zeile des
neuen Liedes hat nun: Da droben auf jenem Berge . . ., die fünfte:
Da drunten in jenem Tale, da treibet das Wasser . . . Das Bild
»Berg und Tal« ist nun eines der gebräuchlichsten und lustbeton*
testen des Volksliedes. Man vergleiche:
1 Futilitates, I. Bd., I 5/ vgl. »Die Erschaffung der Jungfrau« in »Futili¬
tates«, II. Bd., S. 155.
a S. 81, vgl. auch Futilitates, IV. Bd., S. HO.
* Futilitates, I. Bd., LXV 26 .
* coire. vgl. dazu die Bedeutung von molere,- audi die Wendung: wer
zuerst kommt, mahlt zuerst bei Reuschel, S. 177 und das Lied auf die Belagerung
von Rapperswyl <Reusdiel, S. 179).
Das Zersingen der Volkslieder
175
7. Wie hoher berg, wie tiefe tal!
es ist schad daß Henslin sterben soll 1 ,
oder:
1. Ich stund auf einem berge,
ich sah in tiefe tal,
ein schifflein sah ich schwimmen
darin drei grafen warn 2 .
Die Zusammengehörigkeit von Berg und Ta! zeigt auch Nummer 3t A,
Zeile 5 der Uhlandsdten Volkslieder »Dort ferne auf jenem berge«,
welches mit »So dep in jenem dale« <31 Bs) ab wechselt. Der Um¬
stand, daß durch das Zusammenrücken der beiden Lieder dieses
beliebte Bild entsteht, hat sicher dazu beigetragen, gerade diese
Lieder zu vereinigen. Diese Annahme gewinnt an Wahrscheinlichkeit
noch mehr, wenn man berücksichtigt, auf welche Vorstellungen dieses
so oft gebrauchte Bild von »Berg und Tal« hinleitet. Ist es doch,
wie es ein Lieblingsbild der erlaubten Literatur ist, auch ein Lieb 3 4
lingsbild der verbotenen. Man lese bei Blümml 3 :
Diendle, wo hast denn dein Tsdiatsdiale,
Diendle, wo hast denn dein Ding?
Zwischen zwa Berglan im tiefen Tal,
Mitten im Häb'racker drinn. <67, 214.)
oder:
Auffi üwer's Bergl, awi üwer'n Grab'n,
Niedaleg'n, koan Wort nimma sag'n, usw. <LXIV, 207>,
und:
Zwischen Berg und Täl
Schlägt a Nachtigall,
Zwischen zwa blonde Dirn,
Da is guat lieg'nh <LXXIX, 263.)
Das letzte Beispiel zeigt sehr gut, wie das grobsexuelle Bild
aus der Gruppe der erotischen Lieder in die der Schnadahüpfl
übergeht.
Es ist sicher, daß die große Lustbetonung, welche das Bild in
der Volksdichtung besitzt, ebenfalls dem Sexuellen entstammt. Be 3
wußt oder unbewußt wird der Sänger des Bildes an das Sexuelle
erinnert, genießt er beim Hören <also in der Illusion Schauen) des*
selben die Lust, welche er beim Schauen des Gegenstandes erlebt,
für welchen es steht 5 .
Zum Erkennen des Wesens der Verdichtung ist es wertvoll,
die Bedeutung dieses Bildes festgestellt zu haben. Ersehen wir denn
1 Uhland, Alte hoch* und niederdeutsche Volkslieder Nr, 150, Str. 7.
2 Ebenda, Nr. 96 A, Str. 1.
3 E. K. Blümml, Erotische Volkslieder aus Deutschösterreich.
4 Man sehe, wie das Bild von »Berg und Tal«, das nach dem oben Ge»
sagten als Band zwischen dem ersten und zweiten Lied verwendet wurde, auch in
dem Bilde von der Mühle erscheint.
r > Vgl. unten S, 227 ff,
176
Dr. Hermann Goja
jetzt schon, daß der Fall der Verdichtung, welchen wir jetzt ana¬
lysieren, auf eine Häufung lustbetonter, sexueller Vorstellungen
hinarbeitet.
Die in dem älteren Liede II6—8 enthaltene Klage wurde in V
ausgebildet durch Anfügung einer Strophe, welche sich in vielen
Liedern findet, für welche ich III mitteile. Die Strophe erscheint
immer in Abschiedsliedern, vorzugsweise in Tageliedern, soweit ich
sie verfolgt habe, welche Liebesgenuß zur Voraussetzung haben
oder ihn noch manifest darstellen und bestätigt durch das Auftreten
in V»—io meine Interpretation von Vs— g. Ihre Vereinigung mit den
beiden vorhergehenden Teilen zu einem neuen Liede entspricht
wieder der schon festgestellten Tendenz nadi Häutung lustbetonter
sexueller Vorstellungen,- denn beim Singen des Liedes V werden
nun alle diese Tagelieder erinnert, in welchen Vo—io enthalten ist
und dadurch alle in ihnen enthaltenen lustbetonten Vorstellungen
in das Bewußtsein gehoben.
Die Benützung der Wanderstrophe zur Erweiterung des
Liederkomplexes I und II ist durdi die Verwendung derselben in
Tageliedern gegeben. Denn I und II bilden zusammen den Anfang
eines Tageliedes, in dem sie verhüllt die wunschbefriedigende Situ¬
ation derselben, die Liebesnacht, darstellen. Auf diese Situation als
Voraussetzung bauen sich die Abschiedsstrophen, welche den eigent¬
lichen Kern der Tagelieder bilden, auf. Die Verdichtung der Lust¬
vorstellungen im latenten Inhalt des Liederkomplexes geht also
parallel mit einer Erweiterung des manifesten Inhaltes aus einem
einfachen Wunschlied zu einem Tagelied. Das Zersingen von
II 7 —8 zu Vs erfolgte, um das Ansdiließen der Wanderstrophe zu
ermöglichen.
Der Wanderstrophe folgt dann in V noch eine Gruppe von
zwei Strophen Vu— h, welche sich als 17—24 in dem bilderreichen Liede
IV findet. Das Lied enthält in seiner ersten Strophe das Bild von
Schlüssel und Schrein, in seiner zweiten das des Jungbrunnens und
in der dritten das der Nelken und Muskaten. Da sich sämtliche
Bilder des zusammengesungenen Liedes bisher als sexuellen Inhaltes
erwiesen haben, werden wir solches auch von diesem Paare er¬
warten. Diese Vermutung wird verstärkt, wenn man die Form be¬
obachtet, welche diese Gewürze haben. Danach erscheinen sie so¬
fort als Sexualsymbole, und zwar die Gewürznelke als männliches,
die Muskate <Muskatnuß) als weibliches Symbol,
Die Verwendung der Nelke als Sexualsymbol wird bestätigt
durch die Verwendung derselben in der verbotenen Literatur.
Blümml 1 hat ein ganzes Lied, welches seine Zweideutigkeit durch
Verwendung der Nelke als Sexualsymbol gewinnt (XXXVIII).
Man vergleiche daraus:
Ein Nagelstodc, der is mein Leb'n,
1 E. K. Blümml, Erotische Volkslieder aus Deutschösterreidi,
Das Zersingen der Volkslieder
177
und:
Der Nagelstock ist in der Blüh',
Sind schon zwei Knospen dran.
mit:
O du mein liawa Gott,
Schick ma=r*an Naglstock,
Der auf zwoa Fiaß'n steht
Und mit mir sdilaPn geht 1 .
In den Liedern der verbotenen Literatur handelt es sich dabei
um die Zierpflanze, während die Nelke der erlaubten mit dem Ge*
würze zusammenfällt. Die Muskate erscheint als Symbol in der
verbotenen Volksdichtung nicht. Ihre Bedeutung ist aber nicht allein
daraus zu erschließen, daß sie immer mit der Nelke gepaart auf*
tritt, sondern auch aus dem Umstande, daß sie an Stelle der Rose
gesetzt wird. Ich gebe für den letzteren Fall ein Beispiel:
Und sind es keine Röslein,
So ists Muscatenkraut,
Du hast mir die Treu versprochen,
So bist du meine Braut 2 .
♦
Mit diesem Abschiedsgeschenk ist das neue Tagelied zum Ab*
Schluß gebracht. Auch es bestätigt den Zweck dieser Verdichtung:
Luststeigerung durch Häufung lustbetonter sexueller Vorstellungen 3 .
Wir haben also einen zweifachen Zweck der Verdichtung kennen
gelernt. 1. Die Verdrängung eines unlustbetonten Vorstellungs*
komplexes durch einen Tustbetonten, 2. die Luststeigerung, wir
wissen, daß von den drei Grundfunktionen das Streben sich auf
Verdrängung von Unlust, Erzeugung von Lust richtet und erkennen
daher das Zersingen als Wirkung des Strebens.
Die Verschiebung 4 .
Wir haben an dem Schicksale zweier Lieder eine Form des
Zersingens studiert, die Verdichtung. Sie ist nicht die einzige Art
desselben, nur eine unter einigen. Ich will nun eine neue vorführen,
um unsere Erkenntnis zu ergänzen. Jch wähle als Führer das Lied
»Die Schlacht bei Leipzig«, welches ich in einer Fassung des Welt*
krieges folgen lasse:
1 E. K. Blümml, Erotische Volkslieder aus Deutschösterreich, LIX, 65.
2 Simrock, Die deutschen Volksbücher, VIII, Nr. 154, vgl. zu Rose
S. 235, Anm. 4. , Tr
3 Als Ursache der Verdichtung kann man dabei die Entwicklung und Ver*
feinerung der menschlichen Psyche annehmen, während als deren Ursache bei den
S. 154 ff. mitgeteilten Fällen die psychische Situation betrachtet werden kann.
4 Bruinier bezeichnet dieselbe Erscheinung Zersingen. Vgl. »Das deutsche
Volkslied«, S. 36. Über die psychische Bedeutung der Verschiebung siehe Freud,
Traumdeutung, S. 227.
Imago VI/2
12
178
Dr. Hermann Goja
A.
1. Bei Königgrätz stand eine Esche,
Ein ganzer Herr von Kriegersdiaar.
Auf einmal hör' ich ein Geräusche,
Der Tag verwandelt sich in Nacht.
5 2. Auf einmal war ein Puffernebel,
Der Tag verwandelt in die Nacht,
Da haben viele tausend Säbel
Viele tausend Menschen umgebracht.
3. Viele Tausend liegen ganz verhauen,
io Das Blut, daß fließet strömenweis.
Ach Gott, die Seelen anzuschauen.
Erpresset mir den Todesschweiß.
5. Ach Gott, schenk jeden Eltern ihren Sohn
Und jeder Allerliebsten ihren Heim
15 Dann erschallen unsere Jubellieder,
Wenn wir in unserer Heimat sein.
B i Esche > Eiche 4 sich in > in die 5 tiefer Nebel 9 viel zerhauen,
13 schenkt ... ihre Söhne 14 Heim > Mann.
C 2 ganzes Heer 5 Pulvernebel
A zeigt einen gänzlich zerstörten Text. B verbessert A nicht viel,
zeigt nur durch Lassen des unsinnigen A, daß das Lied nicht mehr ver=
standen wurde, <Wir werden später erfahren, was das Nichtmehrver®
standenwerden eines Liedes bedeutet.) Wir werden auf Grund dieses
Textes hier nur schließen, daß das Lied nicht mehr gesungen wurde, nicht
mehr gesungen werden konnte. Und das ist richtig. Das Lied war wohl
noch in der Erinnerung einiger, hatte aber seine Beliebtheit eingebüßt.
Dem manifesten Inhalte nach ist es dem Liede »Sarajevo an der
Drina« in der Fassung II ähnlich. Es hat als Einleitung eine Kampfszene,
als Schluß die Wendung zur Heimat, welche diesem Komplexe so
charakteristisch war. In seinem latenten Inhalte führt es also wieder
aus einem unlustbetonten Vorstellungskomplex zu einem lustbetonten,
ist es also Wunscherfüllung. Nicht überflüssig ist es, zu betrachten,
wie stark unlustbetont die Kampfszene ist, wie stark aus dem ganzen
Liede die Abneigung gegen den Soldatenstand spricht, Ich lasse nun
die Quelle des Liedes folgen, um seine Veränderungen zu studieren:
I 1 .
1. Einstmals saß ich vor meiner Hütte,
An einem schönen Sommertag/
Da dankt ich Gott für seine Güte,
Weil alles friedlich um mich lag.
5 Ich lebte damals redit zufrieden.
Mit frohem Muth und heiterm Sinn
Legt ich mich nach der Arbeit nieder,
_Dort auf mein hartes Lager hin.
1 Sol’tau»Hildebrand, Historische Volkslieder, 2. Hundert, Nr. 80,
Das Zersingen der Volkslieder
179
2. Des Na<fits saß ich beim Mondenscheine,
10 Und hörte auch die Nachtigall,
Die mir vor meiner Hütt' alleine
Ein Loblied sang mit frohem Schall.
Ich lebte damals recht zufrieden,
Hab nichts von böser Welt gekannt/
15 Allein, es schwand mein stiller Frieden,
Und nun ist alles abgebrannt,
3. Bei Leipzig, o ihr lieben Leute!
Wo meine Hütt' ist abgebrannt,
Hört' ich von einem großen Streite,
20 Und Kriegsgeschrei durchs ganze Land.
Ich hörte die Kanonen knallen
Und auch ein schreckliches Geschrei:
Ich hörte die Trompeten schallen
Und Trommeln wirbelten dabei.
25 4, Auf einmal kam ein dicker Nebel,
Der Tag verkroch sich in die Nacht,-
Das Blitzen von viel tausend Säbeln
Hat viele Menschen umgebracht.
Die Blitze vom Kanonenfeuer
30 Erleuchteten den Jammerort/
Da kamen Menschen, Ungeheuer,
Ich lief aus meiner Hütte fort.
5. Nun mußt ich in dem Pulverdampfe
Noch übers blut'ge Schlachtfeld gehn,
35 Und in dem langen Todeskampfe
Die armen Menschen leiden sehn.
Ich sah viel tausend dort zerhauen.
Im Blute schwimmend weit umher.
Ach, Gott! das Elend anzuschauen,
40 Das schmerzte mich unendlich sehr.
6. O, Friedensgöttin! komm hernieder.
Die Menschheit seufzte längst nach dir/
Gieb Eltern ihre Söhne wieder
Und heile alle Wunden hier,
45 Doch ach! ich seh dein Auge thränen.
Du schweigst. Wohlan wir sind bereit,
Zu kämpfen gegen die Hyänen,
Bis du einst rufest aus dem Streit.
n.
A 1 .
1. Ich saß bei meiner Hütte
wohl in dem Sonnenstrahl,
dankt, Gott für seine Güte,
für Freuden ohne Zahl.
1 Soltau-Hildebrand, Historische Volkslieder, 2. Hundert, Nr. 88.
12*
180
Dr, Hermann Goja
5 Bei Brüssel stand die Eiche,
da ruht' ich Tag und Nacht,
da hört' ich ein Geräusche
von großer Kriegesmacht.
2. Es fängt schon an zu tagen,
io auf, auf! ihr Pionier!
voran zum Brückenschlägen,
ihr muth'gen Pontonier!
Sapeurs, hebt eure Schanzen,
es nahet sich die Schlacht,
15 Franzosen müssen tanzen,
frisch auf, Musik gemacht!
3, Trompeten hört' ich schallen,
ein schreckliches Geschrei,
Kanonen hört' ich knallen,
20 angst wurde mir dabei,
und durch der Trommel Brausen
verließ ich meinen Ort,
setzt' mich auf einen Rasen
ohnweit dem blut'gen Ort.
25 4. Auf, auf! Kartätschen fliegen,
geschwind, Artillerie!
voran, ihr stolzen Jäger,
ihr kämpfet stets mit Müh',
zieht dem Tyrann entgegen,
30 der uns verschlingen will:
wir scheuen nie den Regen,
Sieg oder Tod das Ziel!
5. Da fiel ein starker Nebel,
der Tag versdiwand in Nacht,
35 das Klirren tausend Säbel
hat mandien umgebrachr.
Ich mußte nach dem Kampfe
durch's blut'ge Schlachtfeld gehn,
im Rauch und Pulverdampfe
40 die Menschheit leiden sehn.
6. Dort auf dem rechten Flügel,
ihn kennen wir ja schon,
der mit gewohntem Siege:
es war ja Wellington.
45 Der Franzmann war geschlagen,
in dieser Schreckenszeit,
wir thaten ihn verjagen,
zerstören weit und breit.
7. Vorwärts! rief Vater Blücher,
50 Vorwärts! und folgt mir nach.
Sie drangen mit dem Greise
in starker Reihe nadi.
Das Zersingen der Volkslieder
181
Blücher ließ dem flieh'nden Feinde
keine Zeit und keine Ruh
55 spudcte stets im Avanciren
Kartätschen auf sie zu.
B 1 .
1. Bei Brüssel stand eine Eiche,
Dort ruht' ich Tag und Nacht/
Da hört' ich im Geräusche
Von starker Kriegesmacht.
5 2. Es fängt schon an zu tagen.
Auf, auf, ihr Pioniers!
Voran zum Brückenschlägen,
Ihr flinken Pontonniers!
3. Sappeurs, hebt Eure Schanzen,
io Es nahet sich die Schlacht!
Franzosen müssen tanzen,
Frisch auf, Musik gemacht!
4. Trompeten hört' ich schallen.
Ein schreddiches Geschrei,-
15 Kanonen hört ich knallen,
Angst wurde mir dabei.
5, Auf, auf, Kartätschen fliegen!
Auf, auf, Artillerie!
Voran Ihr stolzen Jäger,
20 Vor dem Feinde flieht Ihr nie!
6, Zielt dem Tyrann entgegen,
Der uns verschlingen will.
Wir scheuen nicht den Regen,
Sieg oder Tod das Ziel!
25 7. Da fiel ein starker Nebel,
Der Tag verschwand in Nacht.
Da klirren tausend Säbel,
Das hat manchen umgebracht.
8. Dort auf dem rechten Flügel,
30 Den kennen wir ja schon,
Der mit gewohntem Siege,
Es ist der Wellington.
9. Der Franzmann ward geschlagen
In dieser Schredcenszeit!
35 Wir thaten ihn verjagen,
Zerstreuen weit und breit.
10. »Vorwärts !« rief Vater Blücher,
»Vorwäts! und folgt mir nach!«
Sie drangen wohl dem Greise
40 In starken Reihen nach.
1 Hruschka-Toischer, Deutsche Volkslieder aus Böhmen, II, 15.
182
Dr. Hermann Goja
11. Held Blücher ließ dem Feinde
Im Fliehen keine Ruh 7 ,
Schickte stets im Avancieren
Kartätschen auf sie zu.
III 1 .
1 . Bei Waterloo stand eine Eiche,
Worunter wir des Nachts gerastet han:
Ei, was hört ich unter dem Gesträuche?
Einen Lärm von lauter Kriegsgeschrei.
5 2. Auf einmal fiel ein dicker Nebel
Und der Tag verwandt sich in die Nacht,
Und da blitzten so viel tausend Säbel,
Hat manchen Deutschen umgebracht.
3. Wenn die Kanonenkugeln sausen,
io Und der Tambour wirbelt auch dabei,
Wenn die Kartätschenkugeln brausen
So ist uns alles einerlei.
4. Und als wir nach vollbrachtem Kampfe
Übers blutge Schlachtfeld ziehn
15 Da sahen wir im Pulverdampfe
Die armen Menschen sterben hin.
5. Der Vater weint um seinen Sohn
Und die Mutter um ihr geliebtes Kind:
Ei, so schick uns Gott den stillen Frieden
20 Daß wir in unsre Heimath ziehn.
IV 2,
1. Bei Waterloo stand eine Eiche,
Wo man des Tags gerastet hat.
Was hört man dort aus dem Gesträuche?
Ein Heer mit lauter Kriegsgeschrei.
5 2. Auf einmal fiel ein grauer Nebel,
Der Tag verbarg sich in der Nacht,
Auf einmal blitzten viele tausend Säbel,
Wie mancher Deutsche wurde umgebracht.
3. Der Vater weint um seinen Sohn,
io Die Mutter um ihr liebes Kind.
O gieb doch, Gott, den stillen Frieden,
Daß wir in unsre Heimath ziehn.
Vergleichen wir nun, unter Vernachlässigung von I und II A,
IIB mit dem Liede des Weltkrieges. Wir sind überrascht. Das
kriegsmüde Lied des Weltkrieges tritt uns in der Fassung II B als
1 Erk-Böhme, Deutscher Liederhort, II, 358 d>
* Wolfram, Nassauische Volkslieder, Nr. 484.
Das Zersingen der Volkslieder
183
Preislied auf die Schlacht bei Waterloo entgegen. Es ist voll Be¬
geisterung für den Krieg. Alle seine elf Strophen <nur zwei dieser elf
sind in der letzten Fassung enthalten!) sind eine Schilderung der
Schlacht von ihrem Anbruch bis zu ihrem Ende, der siegreichen
Verfolgung der Franzosen. Ja, diese Strophen schließen mit einem
Hymnus auf Blücher, dem Führer des Heeres. Das Lied kennt
keinen Haß gegen das Soldatentum, der Sänger ist kein Feind des
Militärs, keiner des Kampfes, des Krieges, der Schlacht. Er ist mit
ganzer Seele Soldat. Selbstverständlich hat in diesem Liede auch der
Bezug zur Heimat 1 keinen Platz. Es braucht ja das Soldatische nicht
als Unlustquelle aus der Bewußtseinslage verdrängt zu werden durch
die Lustquelle des Heimatskomplexes. Die Gesamtheit aller Vor¬
stellungen, welche sich an das Soldatische knüpfen, ist eine starke
Lustquelle. Der Sänger eröffnet sich dieselbe, indem er das Lied
singt und die glorreiche Schlacht wieder in der Illusion durchlebt.
Ebenso wenig wie die Vorstellungen der Heimat kommen in II B
die der in der Schlacht Gefallenen vor 2 . Die Begeisterung ist so groß,
daß sie diese Opfer nicht bemerkt. Die Lust, welche sich an die Vor¬
stellung des Kampfes anschließt, unterdrückt vollständig die Unlust,
welche die Vorstellung der Gefallenen auslöst.
Der latente Inhalt des Weltkriegsliedes ist also im Verhältnis
zu II B stark verschoben. Die Auffassung des Soldatischen, die psy¬
chische Wertung desselben hat sich geändert und diese Änderung
der Wertung hat die Änderung des Liedes hervorgebracht. Diese
Art des Zersingens, welche wir an dem Liede der Schlacht bei
Waterloo sehen, bezeichnet man daher auch am besten als Ver¬
schiebung.
Wir werden diesen Verschiebungsprozeß noch besser verstehen
lernen, wenn wir nach II B die folgenden Fassungen betrachten.
III kennt von allen elf Strophen von II B nur zwei, und zwar die
1. und 7., diejenigen, welche allein gelesen oder gesungen, am ehe¬
sten ein düsteres Bild in der Seele erregen. Alle anderen Strophen
sind schon unterdrückt. Dafür ist die 3. Strophe <111 9 — 12 ) neu ein¬
gesprungen. Sie sucht sich noch zu einer heroischen Auffassung des
Soldatentums aufzuschwingen, endet aber schon stark in Resignation.
Die Analyse zeigt jetzt eine vollständige Übereinstimmung des
Waterlooliedes mit dem Sarajevoliede II. Ebenso wie dieses setzt
es mit einer Situation ein, welche vor dem Kampf liegt, entwickelt
dann die Kampfszene und wendet schließlich den Vorstellungs¬
verlauf nach der Heimat. Es ist genau dieselbe psychische Bewegung
in beiden Liedern. Wenn wir sie nicht nach dem manifesten, sondern
nach dem latenten Inhalte einteilen, müssen wir beide in dieselbe
Klasse einreihen. Der Zweck der Verschiebung ist in dem Liede III
genau derselbe, wie der Zweck der Verdichtung von II und III zu I
1 Vgl. Zeile 13—16 des Weltkriegsliedes.
s Vgl. ebenda, Zeile 9 — 12 .
184
Dr. Hermann Goja
des Sarajevoliedprozesses, nämlich die Verdrängung einer Unlust»
quelle, des Soldatischen, erreicht durch Unterdrückung einer großen
Zahl von Strophen des manifesten Inhaltes, durch Einführung einer
Lustquelle, des Heimatlichen (Sexuellen), in den Schlußstrophen des
manifesten Inhaltes. Wir sehen also: das Zersingen haftet nur an dem
manifesten Inhalte der Lieder, verschiedenen Arten des Zersingens
entspricht die gleiche Veränderung des latenten Inhaltes. Welche
Art desselben gewählt wird, um einem veränderten latenten Inhalte
(also einer veränderten Bewußtseinslage) das Lied anzupassen, hängt
offenbar nur von der Eignung der einzelnen Technik, diese Ver»
änderung durchzuführen, ab.
Die Entwicklung des Waterlooliedes bestätigt diese Sätze.
Haben wir schon in III desselben das Soldatische als Unlustquelle
annehmen müssen, so müssen wir dies in IV noch viel mehr tun.
Die einzige Strophe, welche in III versucht hatte, das Soldatische
als Wunscherfüllung hinzustellen (III 9 — 12 ) ist in IV unterdrückt. Es
bleiben daher nur drei Strophen: die Einleitungsstrophe (die Ein*
leitung von IIB), eine Mittelstrophe (dem Inhalte des ganzen alten
Liedes entsprechend) und eine Schlußstrophe, welche die Verbindung
des Ganzen mit dem Heimatskomplexe herstellt. Man merke, wie
die einzige unlustbetonte Zeile von IIB, die Zeile: Das hat manchen
umgebracht (IIB 28 > noch in IV erhalten ist: Wie mancher Deutsche
wurde umgebracht (IV 8> und wie dieselbe an psychischen Wert
gewonnen hat. In dem IIB® Liede nimmt sie ja nur einen Bruchteil
des ganzen Schlachtbildes in Anspruch, in dem IV»Liede umfaßt sie
ein Viertel der Kampfszene. Ein ähnliches Anwachsen der Be®
deütung zeigt auch das Heimatsmotiv, das in IIB nicht vorhanden,
in III ein Fünftel, in IV ein Drittel des manifesten Umfanges ein®
nimmt.
Setzen wir nach IV die jüngste Fassung des Liedes, die des
Weltkrieges, so sehen wir, daß in ihr das Soldatische noch stärkere
Unlustquelle ist als in IV, sie entwickelt das IV 8 enthaltene Motiv
durch Einfügen einer neuen Strophe zur Klage um die Gefallenen.
Das Lied ist aber durch die Entwicklung des Soldatischen unfähig
geworden, seinen Zweck (Lusterzeugung und Unlustverdrängung)
zu erfüllen. Es wird daher zerstört durch Vergessen und Mißver¬
stehen der unlustbetonten Teile seines manifesten Inhaltes. Diesen
Prozeß werde ich später darstellen \ ich vernachlässige daher die Be¬
sprechung der Lesarten.
Die Entwicklung, welche der manifeste Inhalt des Waterloo»
liedes von der Fassung IIB über III und IV zu der des Welt®
kriegsliedes genommen hat, ist also eine Verschiebung, welche be»
zweckt, eine immer stärker werdende Unlustquelle zu verdrängen
und durch eine Lustquelle zu ersetzen. Betrachten wir jetzt die
älteste Fassung I und die Fassung IIA, um eine neue Überraschung
1 Vgl. S. 211 ff.: Der Unsinn im Volksliede.
Das Zersingen der Volkslieder
185
zu erleben! I, eine Schulmeisterdichtung, enthält das Soldatische
ebenso als Unlustquelle wie IV und das Weltkriegslied! I ent*
stammt sogar die unlustbetonte Strophe III 13 — 10 ! Die Entwicklung,
welche das Lied von I über IIA zu IIB genommen hat, ist die
entgegengesetzte, als diejenige, welche zur Bildung von III, IV usw.
geführt hat. Das Soldatische gewinnt in den Fassungen I bis IIB
immer mehr an Lustbetonung, wie ein Vergleich der Singarten zeigt.
Am stärksten ist die Luststeigerung von I auf IIA: wurden
doch auf dem Wege von der ersten zur zweiten Fassung alle Zeilen
von I bis auf zwölf unterdrückt. Verblieben sind nur Z. I 1 — 4 ,
25 — 28 , 33 — 36 . 44 der 56 Zeilen von IIA sind neu und es sind alle
Zeilen, welche das Soldatische als Lustquelle enthalten, die erst in
IIA einspringen. Aber auch die Entwicklung von IIA auf IIB
zeigt die Entwicklung des Soldatischen als Lustquelle. Der letzte
Rest des Schulmeisterlichen wird in IIB getilgt. Die Zeilen 1 - 4 ,
21 — 24 , 37 — 40 , die wohl nicht aus I stammen, dessen Ton aber
fortgeführt haben, werden jetzt ausgestoßen. Von lustbetonten
Zeilen sind nur 49 - 52 , wohl mit Rücksicht auf das Wort Greis
entfernt.
Die Entwicklung von I nach IIB ist wieder eine Verschiebung.
Sie dient aber jetzt nicht der Unlustverdrängung, sondern der Lust«
gewinnung. Die Entwicklung des latenten Inhaltes von I ist auf
diesem Wege gleich der, welche der latente Inhalt des Liedchens
»Dort oben auf dem Berge« genommen hat, sie ist Luststeigerung.
Demnach verfolgt die Verschiebung denselben Zweck als die Verdicht
tung. Der Unterschied beruht nur in der Technik der Veränderung.
Bis jetzt haben wir das Streben immer auf Unlustverdrängung
und Luststeigerung gerichtet gefunden. Ich will jetzt ein Beispiel
anführen, in welchem sich das Streben in der Verdrängung einer
lustbetonten Vorstellung betätigt. Wir werden am Ende der Ana«
lyse erkennen, daß es in diesem Falle ebenso funktionsgetreu wirkt,
wie bei dem der Lustgewinnung. Der Gewinn, den wir aus dieser
Analyse ziehen werden, wird ein bedeutender sein, ein Fortschritt
in der Erkenntnis des Zersingens ebenso wie in der der Kunst-
Psychologie. Das Beispiel ist eines der Verschiebung. Der psychi*
sehe Prozeß, der in ihnen verfolgt werden kann, ist derjenige, welcher
die Hauptursache der Verschiebung überhaupt ist, womit die Be¬
rechtigung, ihn hier darzustellenf gegeben ist.
Ich muß diesmal ein Lied zur Grundlage nehmen, dessen
Varianten John Meier 1 gesammelt hat. Es ist das Lied Heinrich
Wilhelm von Stamfords »Ein Mädchen holder Mienen«, dessen
ziemlich langes Original sich im folgenden (I) mit jenen der 24 Va¬
rianten bringe, deren ich bedarf. (In den 24 Varianten sind mehrere
Fälle des Zersingens verfolgbar, welche hier nicht berücksichtigt zu
werden brauchen):
1 J. Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. XIX ff.
186
Dr. Hermann Goja
I.
1. Ein Mädchen holder Mienen,
Schön Aenndien, saß im Grünen
Am Rädchen, spann vergnügt,
Und: »Ich kan nicht sagen,
5 Wie schnell an manchen Tagen
Die liebe Zeit verfliegt.«
2. »Mein Tagwerk zu vollenden.
Ist nur ein Spiel den Händen/
Oft findet mich schon früh
io Die liebe Sonne munter.
Und geht sie Abends unter.
Bin ich noch wach wie sie.«
3. »Wer Arbeit nur nicht scheuet,
Und sich des Lebens freuet,
15 Dem lacht der Himmel zu/
Drum siz' ich junges Mädchen,
Und trill' und trill' ein Fädchen,
Und sing' ein Lied dazu.« —
4. Als sie kaum ausgesungen,
20 Da kam daher gesprungen
Ein Ritter jung und fein:
»So fleißig?« — ja! zu dienen.
Wil man sein Brot verdienen,
Muß man wol fleißig sein.
25 5. »Dein Brot! du liebes Mädchen!
Mit einem Spinnerädchen?
Und Wänglein doch so roth! —
Hast Eltern noch?« Ach keine!
Für midi bin ich alleine:
30 Früh nahm sie mir der Tod.
6. Drum spür' ich nichts als Segen
Auf allen meinen Wegen,-
Denn Mangel leid' ich nicht/
Ein Mädchen, wil es spinnen,
35 Kan leicht so viel gewinnen.
Daß ihr's an nichts gebricht.
7. Der Ritter: »Höre Mädchen!
Laß dieses Spinnerädchen,
Und schenk dein Herzchen mir:
40 Solst Schäze dir gewinnen,
Wil dir ein Leben spinnen.
Ein Fürstenleben, dir!
8. Im schönsten meiner Schlösser,
Das groß, und wohl noch größer,
45 Als dieses Dörfchen ist.
Das Zersingen der Volkslieder
187
Das Wall und Graben zieren,
Solst du allein regieren.
Wenn du gefällig bist.
9. Solst gehn in lauter Seide,
so Solst tragen ein Geschmeide
Von Perlen und von Gold/
Und was du wirst begehren,
Wird man dir da gewähren;
Nur, Mädchen, sei mir hold!«
55 10. Herr Ritter, nein! dies Rädchen,
Erwiederte das Mädchen,
Dies Rädchen lass' ich nicht:
Wil lieber Tugend haben.
Als alle goldnen Gaben,
60 Die mir ihr Mund verspricht.
11. Mich schmüdcet dieses Bändchen
<Es wies mit seinem Händchen
Auf's Busenbändchen hin.)
Wohl mehr als Gold und Seide,-
65 Denn köstliches Geschmeide
Ziemt keiner Spinnerin,
12. Doch weil sie Gnade haben.
So wil ich ihre Gaben
Für Arme hier erflehn:
7 o Mein Nachbar gleich hieneben
Hat Kinder — nichts zu leben!
O wenn sie's solten sehn!
13. Und sonst war hier im Lande,
Kein Mann in besserm Stande,-
75 Noch fleißiger, als der:
Sein Glüdc und Wohlergehen
War eine Lust zu sehen.
Und ach! nun hungert er!
14. Schön waren seine Heerden,-
eo Er fuhr mit muntern Pferden:
Sein Hof gerieth in Brand,-
Da ward dies allzusammen
Ein Raub der wilden Flammen,
Und öde liegt sein Land!
85 15. Herr Ritter, sie gewähren . . .
Hie hemt ein Strom von Zähren
Des Mädchens gutes Wort:
Der Ritter, husch! im Wagen,
Befahl davon zu jagen,
yo Und plözlich war er fort.
16. Wenn von der Tugend Wegen,
Wie böse Ritter pflegen,
Eudi Mädchen, wer wil ziehn/
Dr. Hermann Goja
So fodert ihn zu Thaten,
95 Die edles Herz verrathen,
Nur auf, so wird er fliehn;
17. Wird fliehn, ohn euch zu hassen;
Vielleicht vom Irrweg lassen.
Und froh euch Wiedersehn,-
100 Denn wo uns Schönheit rühret,
Und uns zur Tugend führet.
Wer kann da widerstehn?
II 1 .
1. Ein Mädchen holder Mienen,
Schön Hannchen, saß im Grünen
Am Rädchen, saß und spann.
Sie sang: »Ich kann's wohl sagen,
5 Wie froh in manchen Tagen
Die liebe Zeit verfließt.
2. »Mein Tagwerk zu vollenden
Ist jetzt ein Spiel der Händen,
Man findet mich hier früh;
io Hier sitz ich armes Mädchen,
Und drill' und drill' mein Rädchen
Und sing ein Lied dazu.«
3. Als sie kaum ausgesungen,
Da kam ein Herr gesprungen,
15 Ein Ritter jung und schön.
»So fleißig?« »Ach ja zu dienen,
Sein Brot sich zu verdienen,
Muß man wohl fleißig sein!«
4. »Dein Brot? Ach, liebes Mädchen,
20 Mit deinem Spinnerädchen,
Mit Wangen frisch und roth?!
Hast du noch Eltern?«
»Ach nein, ich habe keine.
Ich bin nur ganz alleine,
25 Früh nahm sie mir der Tod.
5. »Doch spür' ich nichts als Segen
Auf allen meinen Wegen,
Denn Mangel leid' ich nicht.
Ein Mädchen kann durch Spinnen
30 Wohl leicht so viel gewinnen,
Daß ihr an nichts gebricht.«
6. »Doch höre, liebes Mädchen
Mit deinem Spinnerädchen,
Ach, schenk' dein Herze mir!
J, Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. XXI, Nr. 2.
Das Zersingen der Volkslieder
189
35 Sollst Schätze ja gewinnen
Und dir ein Leben spinnen,
Ein Fürstenleben dir!
7. »Sollst gehn in lauter Seide
Und tragen ein Geschmeide
40 Von Perlen und von Gold!
Und was du wirst begehren,
Soll man dir gleich gewähren!
Ach Mädchen, sei mir hold.
8. »Nimm, Schönste, meine Schlösser,
45 Ein Dorf, das noch weit größer
Als dieses Dörfchen hier!
Bis Wald und Gräben zieren.
Sollst du allein regieren,
Bist du gefällig mir!«
50 9. »Herr Ritter, hier das Rädchen,«
Erwidert ihm das Mädchen,
Das Mädchen gutes Wort! —
Der Ritter stieg in'n Wagen,
Befahl davonzujagen
55 Und plötzlich fuhr er fort.
III 1 .
1. Es war ein armes Mädchen,
Es spinnt auf seinem Rädchen,
Es spinnt das Garn so fein ja, ja,
Es spinnt das Garn so fein.
2. Da kam ein Herr geritten.
Er ließ das Mädchen bitten:
»Geh mit mir auf mein Schloß, ja, ja.
Geh mit mir auf mein Schloß.
3. »Ich will dich lassen kleiden
In Sammet und auch in Seide,
Wenn du mir die Treue versprichst, ja, ja.
Wenn du mir die Treue versprichst.«
4. * *Ich will ja lieber spinnen.
Um mein Brod zu gewinnen.
Als reich und schlecht zu sein, ja, ja.
Als reich und schlecht zu sein.«
IV 8 .
1. Saß ja ein Mädchen
An ihrem Spinnrädchen
Und sang ein Lied dazu, ja, ja,
Und sang ein Lied dazu.
1 JL Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. XXIV, Nr. 7 .
* Ebenda, S. XXVII, Nr. 15.
190
Dr. Hermann Goja
r
2. Und wie sie hat gesungen,
Wer kommt daher gesprungen?
Ein Grenadier gar hübsch und fein, ja, ja,
Ein Grenadier gar fein.
3. »Hast du noch Eltern, mein Mädchen?«
»Nein, Eltern hab ich keine.
Ich bin so ganz alleine,
Der Tod vernahm sie mir, ja, ja.
Der Tod vernahm sie mir.«
4. »Hast ihren Segen, mein Mädchen?«
»Der guten Eltern Segen
Hab ich auf allen Wegen,
Dieweil ich brav und fleißig bin, ja, ja.
Dieweil ich brav und fleißig bin.«
5. »Gib mir die Hand mein Mädchen,
Laß stille“stehn das Rädchen,
Ich sag es dir aus Herzens Grund:
Du sollst mein eigen sein von dieser Stund, ja, ja.
Du sollst jnein eigen sein von dieser Stund!«
Ich führe an I, dem Originale, keine Detailanalyse durch, da
der manifeste und der latente Inhalt desselben sofort klar ist. Der
latente Wunsch ist wieder der sexuelle, welcher in der Liedillusion
befriedigt wird. Dies zu erkennen ist leicht, da das Lied frivol ist.
Der manifeste Inhalt desselben läßt sich teilen in die Einleitung
<1 i— 18 >, den Verführungsversuch des Ritters <1 19 — 54 ) und die Ab»
lehnung desselben durch das Mädchen <1 55 - 102 ). Uns stößt der
dritte Teil wohl noch mehr ab als der zweideutige zweite. Viel zu viel
Tugend und Sittsamkeit ist in ihm in unwahrscheinlichsterWeise gehäuft.
Dieser dritte Teil wird nun dem Volke ebenso Unlustquelle
als uns. Er wird daher von diesem abgestoßen. II zeigt die Ent»
fernung desselben. Die Singarten von II sind überhaupt charakte»
ristisch. Sie lassen sich fast in Gruppen zusammenfassen. Ich gebe
einige Beispiele. I betont geflissentlich den Wert der Arbeit. Die
Sänger von II teilen diese Auffassung der Arbeit nicht. Eine Reihe
von Singarten läßt dies erkennen, I 3 spann vergnügt > II 3 saß und
spann. Da das Spinnen den neuen Sängern kein Vergnügen bereitet,
wird »vergnügt« unterdrückt. Das heitere I 9—10 wird unterdrückt.
Für 1 9 erscheint das ärgerliche II 9 »Man findet midi hier früh«.
Die Vorstellung des vom Morgen bis zum Abend Arbeitens <1 9 - 12 )
wird als besonders unlustbetont in II ganz unterdrückt. Aus dem»
selben Grunde die Moral:
»Wer Arbeit nur nicht scheuet,
<Und sich des Lebens freuet),
Dem lacht der Himmel zu,- <1 13 — 15 ).
Auch die aufdringliche Mahnung, daß ein Mädchen, wenn es
nur arbeiten will, leicht so viel verdienen könne, als es zu seinem
Das Zersingen der Volkslieder
191
Lebensunterhalt benötige,- daß also ein Mädchen durchaus nicht seine
Reinheit verkaufen müsse, um sein Leben zu fristen (1 34 - 30 ), wird
gemildert <11 29 — 31 ). Man vergleiche besonders I 34 : »Ein Mädchen,
wil es spinnen« mit II 29 »Ein Mädchen kann durch Spinnen«. Der
Wille fehlt in II, es wird daher »wil« unterdrückt. Ein Mädchen,
das arbeiten muß, ist daher ein armes <11 io), kein junges <1 10 )
Mädchen.
Eine zweite Gruppe von Singarten zeigt in II den Widerstand
der neuen Sänger nicht zwar gegen die Vorstellung des Liebes*
genusses, wohl aber gegen die einer käuflichen Liebe. Gerade dieser
Umstand, daß es sich bei dem Verhältnisse des Mädchens zum Ritter
in I nidit um Liebe, sondern um ein Geschäft handle, ist ja im
Originale stark betont. Der Unterschied der Bewußtseinslagen zeigt
sich schon in I 26 . Der Ritter fragt dort: mit Spinnen wolle das
Mäddien sein Brot verdienen? Es sei doch hübsch usw.! Dagegen
ist II 20 viel milder. Durch Weglassen des Fragetones und Ver*
Wandlung von »einem« zu »deinem« ist es II 32-33 stark genähert
worden. II 32-34 zeigt die Unterdrückung der als unlustbetont fest*
gestellten Vorstellungen ganz deutlich. Die Aufforderung des Ritters:
»Laß dieses Arbeiten und geh mit mir«, ist zu einer Liebesbitte
umgewandelt durch Zusammenziehen von I 37 und 1 38 und Trennung
von I 38 und I 39 . Man vergleiche:
Der Ritter: »Höre Mädchen!
Laß dieses Spinnerädchen,
Und schenk dein Herzchen mir
Solst Sdiäze dir gewinnen usw. {I 37 — 40 )
mit:
»Doch höre, liebes Mädchen
Mit deinem Spinnerädchen,
Ach, schenk' 1 dein Herze mir!
Sollst Schätze ja gewinnen usw. <11 32 — 35 ),
um dies zu erkennen. Die Verwandlung des »dir« <1 40 ) zu »ja«
<11 35 ) steht ebenso in dem Dienste dieser Tendenz wie die des »Nur«
<1 54 ) zu »Ach« <11 43 ) oder des »Im schönsten« <1 43 ) zu »Nimm,
Schönste« <11 44).
Als dritte Gruppe könnte man die Unterdrückung der Strophen
10 bis 17 von I nehmen, welche bis auf einige Zeilen ganz ver*
loren gegangen sind.
Zusammenfassend kann man sagen: die Sänger von II emp*
finden Unlust bei der Vorstellung übergroßer Tugendhaftigkeit und
vieler Arbeit, ebenso wie bei der eines Liebeskaufes, Die Vor*
Stellung des Sinnengenusses ist ihnen offenbar lustbetont, da sie
selbst nicht unterdrückt erscheint. Der latente Inhalt von II lautet
daher: Sinnengenuß ist lustvoll (Beibehaltung der entsprechenden
Bilder des manifesten Inhaltes). Auf ihn um der Tugend willen zu
verzichten, ist Unsinn (Unterdrückung des dritten Teiles). Nichts
als Arbeiten ist widerwärtig (Singarten der ersten Gruppe). Dieser
192
Dr. Hermann Goja
dritte Satz ist wieder durch den ersten fortzusetzen. Betont so II
das Recht der Sinnlichkeit, so lehnt sie den Liebeskauf, aber nur
diesen, als unsittlich ab.
Durch die Analyse von II kommen wir in unserer Erkennt*
nis noch nicht viel weiter. Betrachten wir III. Der Widerstand gegen
den sexuellen Inhalt ist offenbar gewachsen. Die Ablehnung ist
klar geworden <in II verbarg sie sich in der durch Verdichtung
entstandenen undeutlichen Strophe 50 — 55 ) und selbst die Liebes«
Werbung, < welche dem zweiten Teile von I entspricht) ist stark ver*
kürzt. Der Widerstand, welcher sich in der Unterdrückung des alten
zweiten Teiles offenbart, kann sich nur gegen die Sinnlichkeit richten,
denn das Element der käuflichen Liebe ist schon seit II ausgeschaltet.
Er richtet sich tatsächlich gegen die außereheliche Libidobefriedigung,
wie IV zeigt.
Die Beibehaltung der sinnlichen Werbeszene ist in IV nur
mehr möglich um den Preis der Ehe. Die Entwicklung der Ver»
Schiebung von II bis IV ist am besten zu erkennen durch Vergleich
beider Lieder. Die Ablehnung des Liebesantrages, welcher auf außer»
eheliche Libidobefriedigung gerichtet war, ist in II verworfen worden
durch Verunklärung der Abweisung <11 50 — 55 ). Die Annahme der Liebes»
Werbung ist in IV nur mehr möglich in der Form einer Ehewerbung.
Wir sehen also eine immer stärker werdende Unterdrückung der
lustbetonten sexuellen Vorstellungen. Denn lustbetont ist das Sexuelle
auch in IV immer noch. <Man beobachte das III einspringende »ja,
ja« aller dritten Strophenzeilen, welches auch in IV wiederkehrt.)
Man sollte meinen, daß dieser Widerstand gegen das Sexuelle
in IV seine höchste Kraft entwickelt hat. Das Lied IV ist kaum
mehr unsittlicher als viele Volkslieder, Dennoch ist er gewachsen
und hat zur völligen Unterdrückung der Werbung geführt. Ich gebe
nun ein Beispiel 1 für jene Fälle, in welchen die Werbung unter»
drückt, das Gespräch zwischen Ritter und Mädchen erhalten ist.
1. Schön Hannchen saß im Grünen
Mit ihrem Spinnerädchen
|:Und sang ein Lied dazu.;|
2. Kaum hatt' sie es gesungen,
So kam ein Herr gesprungen,
|:Ein Ritter jung und schön.:j
3. »Gutn Tag, gutn Tag, liebs Mädchen
Mit deinem Spinnerädchen,
|:Du bist wie Milch und Blut.:|
4, Frage : »Sind sie auch <so> fleißig?*
Antw.: »Ach ja, mein Herr, zu dienen.
Will man sein Brod verdienen,
|:Muß man wohl fleißig sein.«:|
1 J. Meier, Kunstlieder im Volks munde, S. XXX, Nr. 21-
Das Zersingen der Volkslieder
193
5. Frag«: »Haben sie auch Eltern?*
Antw.: »Ach nein, ich habe keine.
Ich bin so ganz alleine,
|:Früh nahm sie mir der Tod.«:|
Das Verführungslied I ist in dieser Fassung zu einem Waisen-
lied verschoben. Das Sexuelle ist unterdrückt bis auf die Situation
des Gespräches. Es ist aber sicher noch stark in der Melodie er=
halten.
Auch die Situation des Gespräches schalten zwei Fassungen
aus, so daß nur die Situation der spinnenden Waise überbleibt.
Sexuelles ist direkt nichts mehr in ihnen enthalten 1 . Ich bringe nun
die letzte Fassung John Meiers 2 :
1. Ein Mädchen holder Liebe,
Schön Hanndien saß im Grünen,
Sie sang ein Lied und spann dazu.
Sie sang ein Lied und spann.
2. Da kam ein Herr gegangen,
Der streichelt ihr die Wangen:
»Bist du allein, mein Kind?
Bist du allein, mein Kind?«
3. »Ich bin so ganz alleine.
Der Eltern hab ich keine,
Früh nahm sie mir der Tod, ja, ja.
Früh nahm sie mir der Tod.«
4. »Sollst nicht mehr sein alleine,
Du liebe holde Kleine.
Ich will dein Vater sein, ja, ja.
Ich will dein Vater sein.«
In dieser Fassung ist ebenso wie das zweideutige »ja, ja«
wieder das Gespräch enthalten. Der Verführer ist aber nun zum
Menschenfreund verwandelt. Interessant ist die vierte Strophe,- sie
besteht aus der ersten Zeile der dritten Strophe und einer Zeile
eines fremdem Waisenliedes 3 . Diese Zeile befindet sich in der
neunten Strophe des Liedes, dessen zehnte, welche durch das Singen
der verdichteten neuen notwendig erinnert werden muß, lautet:
Er that's und nahm sie in sein Haus,
Der gute reiche Mann
Zog ihr die Trauerkleider aus
lind zog ihr schönVe an.
1 Indirekt ist Sexuelles enthalten, da das Spinnen im manifesten Inhalte
ununterdrüdtt ist. Spinnen ist aber in der Volksdichtung eine Symbolhandlung
sexuellen Inhaltes. Man vergleiche dazu »Das Lied vom Spinnradi trän, trän«
<FI. Bl. der Wiener Stadtbibliothek 39976 C>.
i Kunstlieder im Volksmunde, S. XXXI, Nr. 24.
8 Böhme, Volkstümliche Lieder der Deutschen, Nr. 647.
Imago VI/2
13
194
Dr. Hermann Goja
Diese schönen Kleider sind aber wohl keine anderen als jene,
welche der Ritter dem Mädchen versprochen hat (I 49-54). Im
latenten Inhalte dieser Fassung ist also das Sexuelle ebenso ent*
halten als in I. Im manifesten Inhalte ist es aber sehr stark getilgt.
Fassen wir zusammen, was wir an diesem Beispiele der Ver*
Schiebung beobachtet haben, so müssen wir sagen: die Verschiebung
bezweckte in ihm die Entfernung sexueller Vorstellungen, aus dem
manifesten Inhalte des Liedes, trotzdem das Sexuelle die Lustquelle
desselben ist. Da die Ursache der Verschiebung ein Streben ist,
Unlust aus der Bewußtseinslage zu entfernen, Lust in derselben zu
erzeugen, sind wir zu der Annahme gezwungen, daß das Sexuelle
gleichzeitig Lust* und Unlustquelle sein kann. Diese zwiespältige
Gefühlsbetonung besitzt das Sexuelle tatsächlich. Primär ist es lust*
betont, sekundär unlustbetont. Seine Lustbetonung hat es aus dem
Unbewußten, seine Unlustbetonung aus dem sekundären Denken.
Infolge der sekundär erworbenen Unlustbetonung ist eine direkte
Illudierung des Sexuellen unmöglich. Sie ist nur durdi Kompromiß mit
den derselben entgegenwirkenden Strebungen möglich und dieser
Kompromißbildung dient die Verschiebung. Durch die Verschiebung
wird die Illudierung einer Situation erreicht, in welcher sowohl die
sexuellen Wünsche als auch die deren Erfüllung entgegenwirkenden
Strebungen befriedigt werden 1 . Wenn wir dann in dem Stamford*
sehen Liede eine immer stärker werdende Verschiebung des mani*
festen Liedinhaltes beobachten, so müssen wir daraus schließen, daß
der Widerstand des Vorbewußten gegen die Befriedigung sexueller
Wünsche immer stärker geworden ist. Auf eine Sittlichkeit der
Kunst zu schließen, wäre jedoch falsch. Ihr Wesen ist die Befriedi*
gung der sexuellen Wünsche, der Triebe. Sie steht damit im direkten
Gegensatz zur Ethik, welche deren Veredelung, Bändigung anstrebt.
Dieser Tatsache entspricht auch die Wertung der Volksdichtung von
seiten der Kirche und der auf die Wahrung der öffentlichen Sittlich*
keit bedachten Behörde 2 .
1 Vgl. dazu Freud, Traumdeutung VII e, besonders S. 467 ff. Den Stre=
bungen des Vorbewußten gegen Wunsche des Unbewußten sind wir schon be^
gegnet. Sie offenbarten sich in den Abschiedsliedern der Gespielinnen (oben S. 150>,
indem sie die Klagen über verhinderten Geschlechtsgenuß in Klagen über das Los
der Braut verwandelten/ in den Tageliedern (oben S. 149, Anm. 2 ), in denen sie an
Stelle des Augenblicks der Vereinigung den des Abschieds der Liebenden zur
Illusion gelangen ließen/ sie offenbarten sich auch in der Schöpfung der Sexual^
Symbole, denen wir oben S. 177ff. begegnet sind. — Freud bezeichnet diese Stre¬
bungen als Widerstandszensur, eine Bezeichnung, welche ich vermeide, da sie den
Anschein erweckt, als ob es sich hier um andersgeartete Kräfte bandle als bei den
Strebungen des Unbewußten. Die Tatsache einer doppelten Wertungsweise ist
übrigens außer von Freud, der sie für den Traum erkannt hat, schon von Anger-»
mann (der Typus des Leidvollen in der deutschen Volksballade) in der Volks¬
dichtung erkannt worden (vgl. S. 43 und 79 der angeführten Schrift)- Ihre psycho¬
logischen Ursachen sind ihm jedoch unbekannt geblieben.
2 Vgl. dazu Böckel, Psychologie der Volksdichtung, S. 142ff. und S- 165 ff.
Außerdem Uhland, Abhandlung über die deutschen Volkslieder, S. 381 ff., 391 ff. und
394ff. Der Meinung Böckels, daß in der Natur des Volksgesanges weder eine
Das Zersingen der Volkslieder
195
Greifen wir jetzt noch einmal auf I des Stamfordschen Liedes
zurück und fragen uns nach der Ursache seines dritten Teiles
<1 55-io2>. Wir haben in ihm die Tugend überbetont gefunden. Diese
Überbetonung ist ebenfalls eine Kompromißbildung. Die Illusion der
zweideutigen Situation, welche sofort der Verdrängung verfallen
würde, wird dadurch ermöglicht, daß der Gegenstand derselben
übersittlich dargestellt wird. In dem Augenblicke, wo die Frivolität
des zweiten Teiles (I 19—54) gemildert wird, kann auch der dritte
entfernt werden. II zeigt schon diese Form des Liedes. Die Be-
tonung der Arbeitsamkeit des Mädchens dient ebenso der Korn 3
promißbilduug, deren Verständnis steh aus dem Vorhergesagten
ergibt.
Als Zweck des Zersingens haben wir bis jetzt festgestellt:
1 . Die Verdrängung eines unlustbetonten Vorstellungskomplexes
durch einen lustbetonten. 2 . Luststeigerung. 3 . Lusterzeugung durch
Kompromißbildung. Als besondere Arten haben wir festgestellt:
1. Die Verdichtung. 2 . Die Verschiebung.
Ich will dieses Kapitel nicht schließen, ohne einen besonderen
Fall der Verschiebung erwähnt zu haben, den der Umkehrung. Die
Umkehrung ist besonders merkwürdig deshalb, weil es der einzige
Fall des Zersingens ist, welcher sich nicht im manifesten Inhalte der
Lieder offenbart. Es ist ein Zersingen ohne Liedveränderung. Wir
sind bei dem Studium des Zersingens bisher immer von der An¬
nahme ausgegangen, daß der latente Liedwunsch, welcher in der
Liedillusion seine Erfüllung findet, durch Ursachen modifiziert worden
sei. Dem modifizierten Liedwunsche war es notwendig das Lied
anzupassen, um mit dessen Hilfe jene Illusion zu erzeugen, welche
den neuen Wunsch befriedigt. Die Veränderung des Liedwunsches
kann immer weiter schreiten, bis der neue Lieawunsdi in direkten
Gegensatz zu dem alten kommt.
Ich gebe ein Beispiel. In den ersten Tagen des Weltkrieges
war Soldat-sein Wunscherfüllung, in den letzten Tagen desselben
war Nicht^Soldat^sein Wunscherfüllung. Der Wunsch der ersten
Kriegstage hatte sich also im Laufe des Weltkrieges in sein Gegen¬
teil verkehrt. Alle Soldatenlieder der ersten Kriegszeit standen im
Dienste der Wunscherfüllung, sie stellten den Wunsch Soldat zu
sein, im Felde zu sein, zu kämpfen usw. in der Illusion erfüllt dar.
In den letzten Monaten des Krieges wurden diese Lieder wieder
gesungen unter ganz bestimmten Voraussetzungen, freiwillig oder
gezwungen, dienten dann wieder der V^iinscherfüllung, aber der
Erfüllung des Gegenwunsches, nicht Soldat sein zu müssen. Die
Erfüllung des neuen Wunsches wurde erreicht durch entsprechend
geänderte Gefühlsbesetzung des alten Liedes: es wurde nun ironisch
religionsfeindliche noch unsittliche Tendenz obwaltet, kann idi mich nicht anschließen,
wohl aber vermag ich Angermann beizustimmen, wenn er behauptet, daß der
Sänger nicht das Beherrschen der Willenskräfte, sondern das freie, ungehemmte
Spiel gewaltiger Triebe bewundere <S. 83 der obzitierten Schrift).
13
196
Dr. Hermann Goja
gesungen. Kam es in diesen letzten Monaten zu Ausbrüchen der
Verbitterung, welche sich jedoch noch nicht entladen konnten, so
wurde gesungen, das alte Lied etwa:
Vierundzwanzig lustige Brüder
Haben frohen Mut/
Singen stets die schönsten Lieder
Sind dem Hauptmann gut.
Der Ton des Vortrages ebenso wie die Bemerkungen, welche die
Leute dazu machten, ließen keinen Zweifel, daß das Gegenteil des
Inhaltes gemeint sei.
Die Tatsache der Liedumkehrung stellt den Historiker vor eine
schwierige Aufgabe. Es ist ja an keinem geschriebenen oder ge*
druckten Liede zu erkennen, ob es nach seinem logischen Sinne oder
verkehrt, nach seinem umgekehrten Sinne zu verstehen ist. Schlüsse
aus der Existenz von Liedern abzuleiten ist daher im allgemeinen,
nicht möglich 1 .
Ich will mit diesen Bemerkungen über die Umkehrung das
Kapitel der Verschiebung schließen, um mich der Betrachtung eines
neuen Mittels des Zersingens, dem des Vergessens, zuzuwenden s .
1 Ich will das Gesagte mit einem Beispiel belegen: Sommer 1918 ent»
standen bei Schür 24 eine Menge patriotischer, kriegsbegeistertef Lieder, welche
den Anschein erwecken könnten, als ob bei diesem Regimente zu dieser Zeit noch
eine solche patriotische Hochstimmung bestanden hätte. Die Ursache dieser Lieder
war aber einerseits ein höherer Befehl, anderseits die Aussicht auf Dienstes»
erleichterungen, welche den Dichtern zugestanden wurden. So wurden Lieder ge=-
schaffen, die an Stelle der Kriegsmüdigkeit, der sie entstammten, Kriegsbegeisterung
in ihrem manifesten Inhalte zeigen. Der manifeste Inhalt erscheint also verkehrt,
bedingt durch Strebungen des Vorbewußten. Der wahre Sachverhalt wäre jedoch
von dem Historiker nur durch genaueste Analysen feststellbar.
2 Die Sddußabschnitte vorliegender Arbeit werden in dem unmittelbar an»
schließend erscheinenden Hefte abgedruckt.
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VII. Psychoanalyse und Weltanschauung
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