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IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSyCHOANALVSE
AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
erscheint viermal jährlich im Gesamtumfang von 24 bis 32 Druckbogen
und ist neben der
»Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse«
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IMAGO
ZEITSCHRIFT FÜR ANWENDUNG DER PSyCHO.
ANALySE AUF DIE GEISTESWISSENSCHAFTEN
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIGM. FREUD
SCHRIFTLEITUNG: DR. OTTO RANK/DR. HANNS SACHS
INTERNATIONALER PSyCHOANALyTISCHER VERLAG O. M. B. H.
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VI. 3. 1920
Das Zersingen der Volkslieder.
Ein Beitrag zur Psychologie der Volksdichtung.
Von Dr. HERMANN GOJA.
(Fortsetzung und Schluß.)
Die Auslassung 1 .
I n einer Studie über das Zersingen, dem Vergessen und Erinnern
der Volkslieder ein besonderes Kapitel zu widmen, ist nicht be¬
rechtigt. Die Besprechung des Vergessens und Erinnerns ist
eigentlich mit der der Verdichtung, der Verschiebung abgetan. Ist
doch die Verdichtung z. B. nichts anderes als das Vergessen eines
Teiles des Liedes und das Dafürerinnern eines anderen. Hat man
daher einmal die Verdichtung als etwas Zweckentsprechendes er¬
kannt, so muß man auch dem Vergessen und Erinnern der Volks¬
lieder und seiner Teile Zweck zuerkennen, muß es aus dem Bereich
des Zufälligen emporheben in den des Absichtlichen, nicht in das
des Bewußt- aber in das des Unbewußtabsichtlichen,
Würde der Zweck meiner Arbeit eine Psychologie der Volks¬
dichtung sein, so würde ich jetzt den Nachweis erbringen, daß die
Auswahl der in einer bestimmten Situation gesungenen Lieder selbst
ebenfalls keine zufällige ist, daß der Sänger nicht jene Lieder singt,
welche er will, sondern welche er muß. Beispiele zu dieser .Be¬
hauptung zu erbringen, wäre leicht 2 . Da das Ziel meiner Arbeit
t Vgl. Freud, Zur Psychopathologie des Alltagslebens.
2 Besonders aus J. Meier, Das deutsche Soldatenlied im Felde.
INTERNATIONAL
&■ PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
198
Dr. Hermann Goja
nur die Erklärung des Zersingens ist, so beschränke ich mich auf
die Beweisführung, daß das Vergessen einzelner Strophen, Worte
und Wörter der Lieder ebenfalls bedingt ist wie die Verdichtung
und Umkehrung, Ich bringe zunächst größere Beispiele.
Ein ausgezeichnetes Beispiel für das Vergessen in Volksliedern
ist das Lied »Die Vierundzwanziger vor Lemberg«. Ich gebe zu^
nächst den Text desselben als Grundlage:
A.
1. Welch Regiment folgt durdi die Nacht
Dem Feinde auf den Fersen nach.
Die Vierundzwanz’ger sinds aus Wien,
5 2, In Wien da kennt uns jedes Kind,
Da sind uns alle wohlgesinnt.
Die Russen, die sehn uns, o Graus,
Da nehmen sie Reißaus.
3. Bewährt hat es sich jederzeit,
io Das Regiment, auf weit und breit.
Bei Samos, San und Jaroslau,
Bei Komaröw, Robau.
4. Audi heute gehts mit muntern Sinn
Vor Lembergs starke Stellung hin/
15 Wenn auch so manche Kugel trifft,
Die Vierundzwanziger weichen nicht.
5. Am zweiten Juni, da gings los
Um vier Uhr früh — — — — —
Die Artillerie, die leitet ein:
20 Stadt Lemberg muß stets unser sein.
6. Und horch, was kommt von Fern dort her
Ein Sturmgebraus vom fernen Meer!
Ein Dreißiger ists, auf steiler Bahn
Langt er im^Werke Grszöw an,
25 7. Ein Teil sofort in Trümmer geht,
In Rauch und Staub die Feinde stehn.
Stieg auch der Dreißigerschuß sofort.
In einer Stunde sind wir dort.
8. Es nahet schon die fünfte Stund
30 Und laut geht es von Mund zu Mund:
»Vorwärts, du tapfres Regiment,
Zeigt, was ihr Vierundzwanziger könnt.«
9. Und vorwärts gehts mit frischem Mut,
Den Boden tränkt schon teures Blut.
35 Es fällt so mancher tapfere Held
Vor Lembergs blutigem Schlachtfeld.
Das Zersingen der Volkslieder
199
10. Unwiderstehlich brechen wir
Des Feindes Macht vor — —
Gefangen wurden viele heut,
40 Und machten reiche Siegesbeut.
11 . Das Regiment tat, was es könnt.
Durchbrochen ist des Feindes Front!
Hurrah, die jetzt nadt Lemberg gehn,
Die Vierundzwanziger sinds von Wien.
45 12. Wie wir vor Lemberg kämpften heut'.
So halten wirs auch, jederzeit:
Nur Gott vertrau, mein Vaterland,
Wir stehen fest mit Herz und Hand.
13. Kommt der Russ* mit Übermacht,
so Wir schlachten ihn bei Tag und Nacht,
Er muß zurück, zurück mit Hurrah
Sind immer gleich die Vierundzwanziger da.
B 2 Nach mit aller Macht 3 Und gehen all durch dich und dünn 4 Aus > von/
zwischen 4 und 5 der Refrain:
Lieb Vaterland magst ruhig sein,
Die schlagen fest und tapfer drein
Und ziehen stolz in Lemberg ein.
5-16 fehlt 17 lm Juni wars, da zogen sie, 18 Auf Lemberg los um vierJJhr
früh. 19 Die > sie 20 Die Stadt muß heute unser sein. 21—28 fehlt 32 Zeigt
Vierundzwanziger, was ihr könnt. 33—40 fehlt 45 wir 1 sie 46 wirs auch > sie
es 47 vertrau > vertraun ,, . . , .
C 1—4 fehlt 6 da > dort 7 sehn sie uns s alle gleich 10 auch weit gebreit
ll San und Jaroslau oder San und Komaröw 12 Bei Jaroslau und Tomazow
13 Auch > Und, muntern > mutgen 16 weichen > wanken 17 zweiten > zweiund¬
zwanzigsten 18 Da ging es los um vier Uhr früh, 19 Die > sie 20 Die Stadt
muß heute 21 dorther > daher 22 vom > im 23 auf ) in 24 Gfszow > Rzeszna
26 Feinde > Festung 27 Heil euch, ihr Dreißiger, schießt so fort 34 teures > Freundes
36 Schlachtfeld > Sdilachtenfeld 38 Kraft bei Rzeszna hier 40 Und > wir 42 des
Feindes > der Russen 43 Hurrah! Nach Lemberg sie jetzt ziehn, 44 die Vierund¬
zwanziger aus Wien, 46 wirs auch > wir es 47 Gott vertrau > Gott vertraun
50 schlachten > schlagen 51 zurück, zurück denn mit
Das Lied ist vollständig zerstört. Es war das Regimentslied
des k. k. SdiÜtzenregiments Nr, 24, Dieses Regiment, eines der
besten der österreichischen Armee, pflegte sehr, bis zur Zeit des
Zusammenbruches das Soldatenlied. Auffallend ist sofort, daß trotz
eifrigsten Sudiens der Originaltext nicht mehr aufzufinden war. Das
Lied auf die Melodie der »Wacht am Rhein« gedichtet, entstand
nach Angabe der Sänger unmittelbar nach der Schlacht von Lemberg
<20, bis 22, Juni 1915), durch welche die Stadt entsetzt wurde Das
Regiment des Liedes beteiligte sich an dem Sturm aut Lemberg,
der am 22. Juni, 5 Uhr vormittags, angesetzt wurde und rudte
nach einem leichten Erfolg als erstes österreichisches Regiment in die
befreite Stadt ein. Der Tag dieses Einzuges wurde zum Regiments-
200
Dr. Hermann Goja
ehrentag erhoben, das Gefecht mit Rücksicht auf die moralische
Wirkung, welche die Wiedereroberung Lembergs auf das Hinterland
ausgeübt hatte, immer mehr und mehr ausgeschmückt. Das Regiments¬
lied, das diese Schlacht besingt, wurde von einem Zugsführer Lehner,
welcher Frühjahr 1918 weder von den Zivil- noch von den Militär¬
behörden auffindbar war, gedichtet, von den Soldaten aber dem
beliebten Regimentskommandanten zugeschrieben. Es entstammt
wahrscheinlich der Begeisterung seines beim Regimentsstab ein¬
geteilten Dichters und wurde vom Regimentskommando, also künstlich
unter die Mannschaft gebracht. Es war tatsächlich eine Zeitlang
sehr beliebt. Lembergkämpfer erinnerten sich alle desselben.
Die Vierundzwanziger vor Lemberg gehören in die Gruppe
der historischen Volkslieder. A ist März 1917, also P/i Jahre nach
der Schlacht beim Regimente selbst aufgezeichnet und schon stark
zerstört. Am besten sieht man dies an den historischen Daten.
A zitiert n —12 eine Reihe von Namen. Es sind Namen von Ort¬
schaften, um welche sich Gefechte des Regimentes abgespielt haben.
Ich bringe sofort die Daten dieser Gefechte: Gefecht von Samos
26. bis 27. VIII. 1914, Gefechte am San 19, X. bis 5. XI. 1914,
Kampf um Jaroslau 20. VIII. 1914. Diese Gefechte gehören zu¬
sammen, da die Gefechte von Samos und Jaroslau die Aufmarsch¬
gefechte zu den Kämpfen am San bilden, Die Reihenfolge, in
welcher sie in dem Liede erscheinen, entspricht nicht der zeitlichen
Aufeinanderfolge der Kämpfe. Das Gefecht von Komarow fand am
19. X. 1915, also vier Monate nach der Schlacht von Lemberg statt.
Das Reimwort zu Jaroslau Robau ist erfunden. C n weiß nicht
mehr sicher, welche Namen sich dort befunden haben, stellt aber
Komarow in den Reim und verbindet das Wort mit Tomaszow,
dem Namen eines Ortes, an welchem sich 8, bis 9. IX, 1914 ein
Gefecht abgespielt hat. Nadi diesem Reim muß man annehmen,
daß das Lied erst nach dem Gefechte von Komarow entstanden ist,
während die ganze Tradition die Entstehung des Liedes in die
ersten Tage nach der Schlacht von Lemberg versetzt. Der den
niederösterreichischen Bauern schwer merkbare Reim Komarow —
Tomaszow ist später durch den Reim Jaroslau—Robau ersetzt
worden. Ebenso unhistorisch als Robau ist Grsöw für Rzeszna, den
Namen desjenigen Werkes, welches bei der Artillerievorbereitung
von schwerer Artillerie zerstört worden war, C 24 bringt da noch
den richtigen Namen, A 38 hat den historischen Namen vergessen,
C 38 setzt ihn wieder ein. Eine Untersuchung des Zersingens darf
an den beiden Neubildungen Robau und Gfsöw nicht vorübergehen.
Idi werde sie später analysieren, verfolge jetzt aber weiter die
Untersuchung der Zerstörungen.
Besonders auffällig ist weiter die Ungenauigkeit des Datums
in A 17 . Dieses Datum, welches man doch als besonders festsitzend
in den Köpfen der Kampfteilnehmer annehmen sollte, ist falsch.
Die Schlacht dauerte vom 20. bis zum 22. Juni 1915, der Sturm,
201
Das Zersingen der Volkslieder
welcher in dem Liede beschrieben ist, erfolgte am 22. Juni um 5 Uhr
früh. B 1 ? weiß das Datum ebenfalls nicht, es erinnert nur an den
Monat. C, welches alle Daten berichtigt hat, setzt auch hier wieder
den historischen Tag ein. Die Zeitangabe Ais wie Bis und Cis
gegenüber Aw, B 29 und C 29 ist leicht zu erklären: 4 Uhr früh ist
die Zeit des Beginnes der Vorrückung, 5 Uhr die des Sturmes.
Es erhebt sich daher die neue Frage: woher stammt die Un¬
genauigkeit des Datums? Audi eine Nebenfrage wäre zu beant-
Worten; Wieso ist die große Genauigkeit von C zu erklären, die
im Gegensatz von A und B ist? .
Ich will die letzte Frage zuerst beantworten: C ist die frühe
Aufzeichnung eines Offiziers. A und B entstammen der münd¬
lichen Überlieferung.
Die Beantwortung der beiden ersten Fragen ist ebenfalls
leicht, wenn man sie zunächst einsdiränkt auf die Frage nach der
Ursache des Vergessens der Orts- und Zeitangaben. Wir haben
bisher immer beobachtet, daß die unlustbetonten Vorstellungen in
den Liedern unterdrückt wurden. Unlustbetont sind aber die Namen
von Schlachtorten sicher den Kampfteilnehmern. Ebenso ist die Vor¬
stellung der Zeit, zu welcher ein Gefecht stattgefunden hat, also
das Datum unlustbetont. Das Vergessen von Orts- und Zeitangaben
war eine Erscheinung, welche während des Weltkrieges alltäglich
beobachtet werden konnte. Trotzdem die Mannschaft immer nach
den verschiedenen Ortsnamen frug, dieselben nach Hause schrieb
oder in dem Tagebuche notierte, wußte sie doch im allgemeinen
nur den Namen des Landes, im günstigsten Falle noch den Namen
des strategisch wichtigsten Ortes zu nennen, wenn man sie nach
einem Gefechte fragte.
Unsere Fragen sind demnach alle beantwortet, bis auf die
erste nach der Erklärung der beiden Wortneubildungen.
Untersuchen wir zunächst die Neubildung Robau, Es steht
in dem Liede für das vergessene Tomaszow und als Reimwort zu
Jaroslau und ist ofFenbar Unsinn.
Um die Wortneubildung zu verstehen, erinnere ich an die
Verdichtung. Wir haben an dem Sarajevoliedkomplex gesehen,
daß alle Teile der Verdichtung nur den einen Zweck haben, den
Vorstellungsverlauf von unlustbetonten Vorstellungen zu lustbetonten
zu leiten. Demselben Zwecke dient aber ofFenbar unsere Neubildung.
Robau reimt nämlich auf Lobau. Die Lobau ist ein beliebter
Wiener Ausflugsort, war allen Soldaten des Regiments bekannt
und, als dem Heimatskomplex angehörig, lustbetont. Der Asso¬
ziation sver lauf geht also von dem unlustbetonten Jaroslau über
die Neubildung Robau zu dem lustbetonten Lobau Prater w^ien.
Robau ist dabei als Verdichtung zu bezeichnen,
Ein ähnlicher Fall liegt vor bei der Neubildung Gfsöw. Grsöw
steht für Rzeszna, Die Namen haben keine Ähnlichkeit und dennoch
ist sie vorhanden. Die Unähnlichkeit der beiden Ortsnamen ist nur
202
Dr. Hermann Goja
bedingt durch die Unkenntnis der polnischen Rechtschreibung und
Aussprache unserer Soldaten. Grs ist nur eine schlechte Schreibung
von Rzesz. In der Aussprache war es mit dem Rzesz in Rzeszna
identisch. Darnach dürfen wir Gfsow verbessern in Rzeszow, Das
hat aber wieder keinen Sinn. Der Sinn, welcher sich hinter dieser
scheinbar so unsinnigen Neubildung verbirgt, offenbart sich, wenn
man zu Rzeszow Szelwöw stellt. Die Blöße von Szelwöw war
ein Hauptkampfabschnitt der Regimentsstellung in Wolhynien. Wir
sehen sofort, daß es sich bei Rzeszow um eine Verdichtung der
Wörter Rzeszna und Szelwöw handelt. Man kann sich dies äugen*
fällig machen, wenn man die Wörter untereinander schreibt:
RZESZ na
SzelwÖW
RZESZOW
Wir haben also festgestellt, daß es sich bei der Wortneubildung
Rzeszow um eine Verdichtung handle. Jetzt müssen wir noch fest*
stellen, welcher Sinn der Verdichtung zugrunde liegt. Sie ist Früh¬
jahr 1917 entstanden. Die großen Kämpfe auf der Blöße von
Szelwöw waren Herbst 1916. Eine Wiederholung derselben war
für das Frühjahr zu erwarten. Die Kämpfe von Rzeszna waren
vorüber, für die Sänger gut vorüber. Der Wunsch, welcher die
Verdichtung herbeigeführt hat, ist nun dieser: Wären die Kämpfe
von Szelwöw vorüber und so gut überstanden als jene von Rzeszna!
Die Verdichtung erfüllt diesen Wunsch, indem sie Szelwöw in die
Schlacht von Lemberg verlegt 1 .
Ich habe damit die beiden Neubildungen erklärt. Die Kräfte,
welche sie gebildet haben, sind dieselben, welche auch sonst lied¬
verändernd wirken. Der Zweck der Neubildungen ist aber derselbe,
wie der des Zersingens überhaupt, nämlich Verdrängung einer un¬
lustbetonten Vorstellung durch eine lustbetonte: Lustgewinn.
Ich bin aber von meinem Thema abgeirrt. Verfolgen wir das
Vergessen weiter. A 3 fehlt, B 3 zeigt den manifesten Inhalt der
Zelle: »Und gehen all durch dick und dünn« und macht damit das
Vergessen verständlich. Der Sänger will nicht mehr durch dick und
dünn gehen. Dieses Draufgängertum ist nicht mehr seinen Wünschen
entsprechend. Er vergißt, unterdrückt daher die Zeile. Merkwürdig
ist, daß März 1917 der Text des Liedes leidlich gut erhalten sein
konnte, während die Melodie vergessen worden war, Daß die
Melodie unbekannt war, beweist A, welches den Refrain nicht hat.
B zeigt den Refrain und gibt auch damit die Melodie zu erkennen,
die Melodie der »Wacht am Rhein«, Das Vergessen ist hier be¬
sonders auffällig, da es sich um die Melodie eines im Frieden sehr
bekannten und sehr beliebten Liedes handelt. Gerade deshalb, weil
1 Den Mechanismus der WortneubÜdungen erkannte zuerst Freud in der
Traumdeutung, dem idi mich hier anschließe.
Das Zersingen der Volkslieder
203
er so grass ist, ist dieser Fall so belehrend. Die »Wacht am Rhein«
ist ein deutschnationales Lied, welches immer den Zusammenhang
zwischen den Deutschen Österreichs und denen Deutschlands herstellt.
Dem Reichsdeutschen, dem deutschen Soldaten war man aber bei
meinem Rcgimente gram. Man bildete sich ein, schlechte Erfahrungen
mit ihm gemacht zu haben. Mit ihm wollte man daher auch nichts
zu tun haben. Das Band zwischen dem Deutschösterreicher und
dem Reichsdeutschen wurde daher zerrissen. Man vergaß die
Melodie des Regimentsliedes.
B zeigt das Vergessen des Liedes auf einer hohen Stufe, Die
Einleitung A i-ie ist bis auf die immer feste erste Strophe weg-
gefallen. Die Kampfszene A 17—40 ist auf zwei Strophen reduziert,
deren erste A 17—20 die Artillerieeinleitung, also den Anfang des
Angriffes zum manifesten Inhalt hat, deren zweite A 29-32 den Sturm,
das Ende des Kampfes schildert. Das Vergessen bewegt sich hier
in den schon bekannten Bahnen: Vergessen der unlustbetonten Vor-
Stellungen. Auch im Sarajevoliede wurde die Kampfszene vergessen.
Wunder nimmt nur das Bestehenbleiben der letzten drei Strophen.
Dies entspricht der Überbetonung des Moralischen in dem Liede
Stamfords. Dort waren es sekundäre Strebungen, welche diese
Überbetonung erzeugten,- hier sind sie es ebenfalls. Primär ist in
der Bewußtseinslage der Friedenswunsch enthalten, die Abneigung
gegen den Soldatenstand, sekundär der Wille auszuharren, durchs
zuhalten. Der primäre Wunsch führt zur Zerstörung der unlust-
betonten Vorstellungen. Der sekundäre zur Erhaltung der ihn be*
friedigenden Strophen,
Im Anschluß an diesen Versuch, sämtliche Auslassungen eines
Liedes zu erklären, muß ich jedoch bekennen, daß dies nicht immer
möglich ist. Es gibt allgemeine und individuelle Singarten, Erklär¬
bar sind bei Volksliedern nur die allgemeinen Singarten, jene, welche
nicht von einzelnen Sängern, sondern von der Gesamtheit erzeugt
werden, insofern man die allgemeine Bewußtseinslage, die Bewußt¬
seinslage der Massen feststellen kann. Die individuellen Singarten,
die Singarten des einzelnen Menschen sind nur durch genaue Analyse
der Bewußtseins läge dieses Einen erklärbar.
Ähnliche Verhältnisse wie das Lied »die Vierundzwanziger
vor Lemberg« zeigt bei oberflächlicher Betrachtungsweise das folgende
Lied »Neues Kriegslied im Jahre 1916«, ein Lied, welches durchaus
nicht neu ist, sondern als »Schlacht bei Leipzig« oder »Schlacht bei
Regensburg« in den Liedersammlungen und fliegenden Blättern läuft. Ich
gebe das Lied in der Fassung des Jahres 1916 <A> und in einer älteren,
vollständigeren Form <B).
A.
1 . Adi Gott, wie gehts im Krieg jetzt zu.
Was wird für Blut vergossen.
Eh noch im Reich wird Fried und Ruh,
Man noch erfahrn wird müssen.
204
Dr. Hermann Goja
s Wie mancher reiche Untertan
Wird jetzt gemacht zum armen Mann/
Wie manches Land verheert.
Und manche Stadt zerstört.
2. Stellt Euch im Geist aufs Schlachtfeld hin,
10 Ihr lang verstockten Sünder!
Betracht das Elend, kommt zu Sinn,
Ihr stolzen Adamskinder,
Legt Euren Stolz und Bosheit ab.
Bedenkt, daß Euch auch Tod und Grab,
15 Bei so viel tausend Leichen
Kann unversehns erreichen.
3, Dort liegt verwundet an Arm und Bein
Ein Krieger auf der Erden ,
Er wollte gern verbunden sein
20 Und kann es doch nicht werden.
Mit tausend Schmerzen und Unruh
Hält er seine blutigen Wunden zu/
Wird oft nach vielen Stunden
Erst mancher kaum verbunden.
25 4. Ein Anderer, der im Tod verwund't.
Der schreit: »Um Gottes Willen!
Ach helfet mir! Ich bin verwund't
Und kann das Blut nicht stillen.
Ach tötet mich! Der Schmerz ist groß,
30 So werd' ich meines Jammers los
Und darf auf dieser Erden
Nicht erst ein Krüppel werden.«
5. Ach! wie so manch' Soldatenweib
Möcht' jetzt zum Tod sich grämen,
35 Die viele Kinder hat bei Leib
Und nicht viel einzunehmen.
»Mein Mann® — schreit sie, — »der viele Jahr'
Mein Schützer und Versorger war, —
Sollt' ich mich nicht betrüben —
40 Ist in der Schlacht geblieben.«
6. Ach wie so manche junge Braut,
Weil man ihr hat geschrieben:
»Der Liebste, dem du doch vertraut.
Ist auf dem Feld geblieben,
45 Ein Jüngling schön, wie Milch und Blut,
Der dir so hold war und so gut
Der lieget jetzt im Sande,
In einem fremden Lande.«
7. »Ach, lieber Sohn, wie trübt es mich«,
50 Hört man den Vater klagen —
»Sollt eine Stütze sein für mich
In meinen alten Tagen,
Das Zersingen der Volkslieder
205
Der Hegt Jetzt auf dem Schlachtfeld draus.
Er kommt Jetzt nimmermehr nach Haus,
55 Ith werd' mit grauen Haaren
Ihm müssen bald nacfifahren.«
8 * Dort schoß das Blut in Strömenweis'
Auf mancher Gaß und Straßen/
Dort sieht man Menschen haufenweis'
60 In einem Fluß begraben.
Darunter mancher Eltern Kind
Vernichtet wird, was man noch find't,
Man muß sein Junges Leben
Im Wasser so aufgeben.
65 9. Dort giht's ja Hiebe, Stich und Schuß,
Daß viele zurückprallten.
Dem fehlt ein Arm, dem fehlt ein Fuß,
Dem ist der Kopf zerspalten.
Dort liegt verstümmelt auf der Erd',
70 Der wird zertreten durch die Pferd',
Möcfit von der Welt gern scheiden
Und muß so lange leiden.
B 1 t Kriege 4 Man wird erfahren müssen 7 verheeret, 8 zerstöret! io ver¬
stockte n Bedenkt . , . immerhin 12 Menschenkinder h Und denkt . . . auch
der Tod, das ... iö Euch könnte schnell 10 nicht so 20 nicht gleich 22 die
blut'gen 23 etlich' 24 lang nachher
Zwischen 24 und 25 :
Man führt ihn zwar ins Lazareth
Auf Wagen und mit Pferden,
Wo Gott ein sanftes Ruhebett
Ihm jetzt zu Teil läßt werden.
Hier werden viele zwar gesund.
Doch mancher, der sehr hart verwundt,
Find't in dem Lazarethe
Auch oft sein Sterbebette.
25 im > zum 26 der fehlt. Ach, um 27 Adi Brüder helft 28 Ich 20 der > mein
30 meinen Jammer 32 ein > zum 34 zum > zu 35 bei > am 36 wenig 37 sagt
30 soll 40—48 fehlt
Zwischen 48 und 40 :
Ach, wie so manches Mutterherz
* Wird jetzt für Angst gebrochen!
Der Sohn, den sie gebar mit Schmerz,
Den hat sie groß gezogen,
Ihr einz'ge Lust, ihr Herzenstrost,
Hog fort in Krieg, bald kam die Post:
Dein Sohn, den du tat'st liehen.
Ist in der Schlacht geblieben.
49 reust du 51 der ein Schutz sollt seyn für mich 53 Liegt Jetzo 54 Kommst
nimmermehr zu uns
1 Ditfurth, Fränkische Volkslieder, II, Nr. 230, Schlacht bei Regensburg <1809>.
206
Dr. Hermann Goja
Zwischen 56 und 57 :
Wie man Ae Witwe hott man jet2t
Mit bangem Herzen klagen:
Mein einz'ger Sohn, der mich ergötzt,
Der meine Last half tragen.
Nahm man mir zum Soldaten weg.
Ach Gott, wer gibt mir Wart und Pfleg!
Ach Gott, sei jetzt im Alter
Mein Schützer und Erhalter!
4 i Adi, wie seufzt 43 didi 44 in der Schlacht 46 dir > ihr 47 Liegst jetzt, verscharrt
im Sande. Wie v j e j e unscrer Landesleut
Und Söhne, die wir lieben,
Sind kürzlich in dem Krieg und Streit
Bei Regensburg geblieben!
Sowohl bekannt, als unbekannt,
Aus Würzburg und aus Bayerland,
Und liegen an den Wunden
Im Lazareth verbunden.
57 ganz strömeweis' 58 im Graben 59 sah 60 Im Donaufluß 6t Worunter
manches Mutterkind 62 Vermißt noch wird, das man nicht ftnd't, 63 Und
64 so > erst 65 gab es Stiche, Hieb 66 Daß viel' zurüdee 69 Der zerstümmelt
71) Und 72 Muß oft erst lang noch
Heil ihre Wunden, großer Gott,
Und lindre ihre Schmerzen,
Und tröste alle durch die Not
Betrübte Elternherzen!
Führ' die noch leben mit viel Glück,
Als tapfre Krieger einst zurück,
Daß sie und wir von Neuem,
Uns mit den Eltern freuen.
Ach wie viel hunderttausend Leut
Sind jetzt an vielen Orten,
Durch Kriegesnot und harte Zeit,
Zu armen Leuten worden!
Erbarm', erbarm' dich ihrer, Gott,
Und rette sie aus aller Not!
Laß auf ihr Flehn und Weinen,
Den Frieden bald erscheinen!
Erbarm dich, die Not ist groß
Bei Vielen jetzt auf Erden!
Mach von dem bangen Krieg uns los,
Laß es bald Friede werden!
Gebiet dem Kriegsherr, daß es ruht.
Daß nicht mehr länger Menschenblut
Darf zu der Welt Verderben,
Das dunkle Erdreich färben.
Gott, groß von Gnad und Gütigkeit,
Laß unsre arme Brüder,
Die jetzt sind da und dort im Streit,
Sich bald erholen wieder!
Das Zersingen der Volkslieder
207
Schütz unsern König und zugleich
Das Vaterland und Deutsche Reich!
Laß alle Potentaten
Zum Frieden treulich raten!
Steh gnädig allen Kriegern bei.
Die in der Näh und Weiten,
Durch viel Gefahren mancherlei
Fürs Vaterland jetzt streiten!
Gib ihnen Mut und Tapferkeit,
Und laß sie bald mit Lust und Freud,
Berühmt mit Sieg und Ehren,
Zurück nach Hause kehren!
Erbarm dich aller insgemein
Die voller Schmerz und Wunden,
Die auch im Lazarethe sein,
Und vieles schon empfunden!
Nimm der veracht'ten Untertan,
Der Abgebrannten, Herr, dich an,
Und schenke allen Leuten
Bald wieder bess're Zeiten,
Laß Kunst und Handlung wieder gehn.
Die bisher lagen nieder
Und sieb zu Heil und Wohlergehn
Vom Himmel auf und nieder!
Nimm dich des armen Handwerksmann
Bei harten Zeiten gnädig an,
Wollst mit des Krieges Frohnen
Auch unsre Landleut schonen!
Gib Fried dem Reich und Vaterland,
Das über zwanzig Jahren,
Durch viel Verwüstung, Krieg und Brand
Hat müssen schon erfahren, —
Du Gott des Friedens steh" uns bei.
Mach von dem schwarzen Krieg uns frei!
Laß Friede bald auf Erden
In allen Ländern werden!
Eine oberflächliche Betrachtung kann diesen Fall des Zersin-
gens mit dem vorhergehenden Zusammenlegen, Die Singarten des
Liedes »Die Vierundzwanziger vor Lemberg« waren aber alle leicht
erklärbar. In der Reduktion der Kampfszene und dem Einsetzen
von Assoziationsreihen zum Heimatkomplex standen sie ganz in
dem allen Fällen des Zersingens von Soldatenliedern zugrunde
liegenden Bewegungsschema. Dies gilt aber für die Singarten des
neuen Liedes nicht.
Prüfen wir, welche Strophen in A ausgefallen sind, sehen wir
also, welche Strophen die ältere Fassung B mehr enthält als A,
Zwischen Au und A 25 ist in B eine Strophe eingesdtoben, die be-
208
Dr. Hermann Goja
ginnt: »Man führt ihn zwar ins Lazarett usw.« Ebenso ist nach
A 48 eine Strophe entfallen, welche den Sänger ins Feldspital geführt
hat. Das ist auffallend. Nach unserer Theorie sollte man gerade
erwarten, daß diese beiden Strophen erhalten bleiben,- denn in das
Feldspital zu kommen, war ja der Wunsch aller Soldaten. Im »La®
zarette®sein« hieß »Geborgen®sein«, hieß so viel, als wieder daheim
sein. Dieser Wunsch war schon der allgemeine im April 1917, der Zeit,
in welcher ich A aufzeichnete. Das Vergessen dieser beiden Strophen
steht also im Widersprudr zu meiner Theorie des Zersingens,
Verständlicher wäre das Auslassen der Strophen nach A 40 und
A. 56 , Sie sind stark unlustbetont, aber doch nicht stärker als die
stehengebliebenen. Und es sind gerade jene beiden Strophen, welche
in ihrem manifesten Inhalte die Mutter nennen- Die Strophe nach 40
beginnt: »Ach, wie so manches Mutterherz« usw. und in Strophe nach
56 klagt die Witwe: »Mein einz'ger Sohn, der mich ergetzt« usw.
A verträgt die Vorstellung der Mutter offenbar gar nicht, denn es
entfernt auch Aai das »Mutterkind« der Fassung B und verwan®
delt es in Elternkind. Die Unterdrüdcung der Vorstellung der Mutter
entspricht aber der Theorie des Zersingens auch nicht. Die Vorstei®
lung der Mutter ist ja lustbetont.
Nach A 72 folgen dann B noch 8 Strophen. Diese Strophen sind
jene, welche in der Fassung B von dem traurigen, trostlosen Anfang
zur Vorstellung der Heimat und des Friedens hinüberleiten/ jene,
welche nach unserer Erfahrung verstärkt werden sollten. Haben
doch in allen bisher besprochenen Fassungen die jüngeren Singarten
den Heimatskomplex erweitert, neue Verbindungen von Militär und
Heimat geschaffen. Nun fehlten A nicht alle diese Strophen, Nach
Angabe meines Gewährsmannes folgten noch drei, welche er nicht
mehr abschreiben konnte. Der Verlust von fünf dieser acht Strophen
ist aber trotzdem bedenklich. Er steht ebenfalls in Widerspruch mit
unserer Theorie,
Alles, was dem Soldaten lieb ist, ist also in A getilgt. Dennoch
entspricht die Fassung A meiner Theorie des Zersingens, Das
Lied, in den Volksliedersammlungen »Die Schlacht bei Leipzig« usw,
überschrieben, hat A einen neuen Titel; Neues Kriegslied im Jahre
1916, Woher hat es diesen Titel? Die Antwort auf diese Frage
gibt die Lösung auch der anderen Widersprüche, Das Lied ist in
der Fassung A ein fliegendes Blatt, welches ein Kriegsblinder ver®
kaufte. Der Mann zog mit seinem Knaben herum und sang das
Lied, indem er es auf der Zither begleitete. Nach dem Vortrag
verkaufte er den Text. A ist ein Bettellied, das nur einen Zweck
verfolgt, möglichst stark und vor allem möglichst stark Weiber zu
rühren. Mit Rücksicht auf die Ausdauer der Zuhörer, auf das Ge®
schält, welches eine oftmalige Wiederholung empfahl und auf den
Druck mußte das Lied auf Fassung A verkürzt werden/ mit Rück®
sicht auf seinen Zweck mußte es so verkürzt werden, daß es gar
keine Hoffnungen übrig ließ. Darum wurden die Heimatsstrophen
Das Zersingen der Volkslieder
209
ausgelassen, darum wurden auch die Lazarett Strophen entfernt, weil
sie Wunsch er füll ung gewesen wären und nur komische Wirkung
erzielt hätten, und endlich die Mutterstellen getilgt, weil sie die zu~
horchenden Weiber zu stark erregt und deshalb verscheucht hätten.
Wieder ist also A eine Singart, welche Wunscherfüllung ist,
wie es die verschiedenen Varianten bisher alle gewesen sind. Unser
Lied ist aber ein Beispiel subjektiven, individuellen Zerstngens, im
Gegensatz zu den anderen bisher analysierten Fällen, welche BeL
spiele allgemeinen Zersingens gewesen sind. Es ist aber auch ein
Beweis dafür, daß Singarten immer durch Einzelanalyse untersucht
werden müssen, wenn man auf ihren Sinn kommen will, Es gibt
kein mechanisches Verfahren, auf den Sinn einer Singart zu kommen,
am wenigsten lassen sich aus dem manifesten Inhalt allein Schlüsse
auf den Zweck einer Variante ziehen.
Damit habe ich zwei Fälle des Vergessens analysiert. Ich
möchte nun die Frage stellen: Was ist das Vergessen? Die erste
Hälfte der Verdichtung und Verschiebung, Die Wirkung der aus
dem sekundären System stammenden Strebungen. Jede Lücke in
einem Volksliede zeigt uns daher wie jede Verdichtung und Ver*
Schiebung, daß der latente Inhalt der unterdrückten Stelle Anstoß
im sekundären Sinne erregt hat und daher unterdrückt worden sei.
Fragen wir nach dem Zweck des Vergessens, so müssen wir ant*
worten, daß er im Gegensatz zu dem der Verdichtung und Ver=
Schiebung nicht Lustgewinn, sondern Unlustentfernung ist.
Wie wir aber bei der Verschiebung einen Fall kennen gelernt haben,
der sich im manifesten Inhalte nicht verrät, so müssen wir beim Vergessen
ein Beispiel des Zersingens kennen lernen, welches weder dem Lustgewinn,
noch der Unlustverminderung dient. Ich gebe es an dem Tannhäuserlied h
Ich will die Analyse des Liedes möglichst kürzen 2 . Der primäre
Wunsch, welcher in dem Liede zur Erfüllung drängt, ist der sexuelle/
der sekundäre, welcher die Gegenstrebungen erzeugt, der religiöse,
der Wunsch nach ewigem Leben. Das Lied teilt sich in Tannhäusers
Abschied <A Strophe 1—15 von Uhland 297> und in Tannhäusers
Pilgerfahrt. <A Strophe 16—26.) Der Wunschkonflikt des Liedes ist
der eines Reformationsmenschen. Beide Wünsche ringen im ersten
Teile des Liedes um die Oberhand. Die primären sind dabei bis
knapp zum Schluß im Vorteil, Sie verkörpern sich in den Lockungen der
Frau Venus. Die sekundären werden gestützt von den Vorstellungen
ewiger Strafen und der Gottesmutter (Strophe 5>. Das Lied setzt
mit dem Einzuge Tannhäusers in den Venusberg mit der Erfüllung
des primären Wunsches ein. Strophe 3 bringt das Einsetzen der
Gegenströmung in Form von des Ritters Reue. Tannhäuser bittet
um seinen Abschied. Aber Frau Venus erinnert ihn an seinen Eid:
1 Uhland, Alte, hoch- und niederdeutsche Volkslieder, Nr. 297 A.
i Eine genauere Analyse ist schon deshalb nicht möglich, weil sie das ganze
umfangreiche historische Material, wie es F. Schmidt in seinen Charakteristiken,
zweite Reihe, S 23—53, zusammengestellt hat, berücksichtigen müßte.
Im aff o VI ß
14
210
Dr. Hermann Goja
Herr Danhauser, ir seind mir lieb,
daran sölt ihr gedenken!
ir habt mir ainen aid geschworn:
ir wolt von mir nit wenken! 1
Dieser Eid, der vom sekundären Denken anerkannt werden muß,
stärkt die Stellung des primären Wunsches, Wenn auch Tannhäuser
Frau Venus verlassen wollte, er darf es nicht,- er ist durch einen
Eid gebunden. Tannhäuser leugnet den Eid, Venus bietet ihm eine
Gespielin zum Weibe, das Bild der Gottesmutter schützt ihn vor
dieser Verlockung. Sie erinnert ihn an vergangene Nächte. Immer
stärker wirbt sie, doch Tannhäuser bittet nur immer um Urlaub.
Venus verweigert ihn und nun folgt der Bndkampf der beiden Stre^
bungen, Venus versucht das letzte Mittel:
Danhauser nit reden also!
ir tund euch nit wol besinnen,-
so gen wir in ain kemerlein
und spilen der edlen Minne! 2
Nun folgt der Schrei Tannhäusers, in welchem beide Wünsche auf-
einanderplatzen: c ,, u r
traw Venus, edie fraw so zart!
r seind eine teufelinne! 3
Darauf folgt das Abklingen der Angst als Folge des Sieges des
zweiten Systems, das mit dem Ruf: »r seind eine teufelinne« das erste
überwältigt hat. Die Gestalt der Gottesmutter tritt jetzt klar hervor:
,Maria, muter raine inaid,
nun hilf mir von dem Weiben!' 4
Es ist klar, daß der Sieg des zweiten Systems nur durch Kompromiß
möglich war, indem die Forderungen des Glaubens mit denen der
Liebe vereinigt wurden. Die Gottesmutter ist gleichzeitig Br"
füllung religiöser und sexueller Wünsche. Der Schluß des ersten
Teiles ist letzten Endes auch ein Sieg des primären Wunsches.
Mit einem Sieg des zweiten Systems kann aber kein Lied
schließen. Zweck eines jeden Liedes ist ja Erfüllung primärer
Wünsche, Die Erfüllung des primären Wunsches wird durch den
Papst erreicht, der dem Ritter die Absolution verweigert und ihn
wieder in den Venusberg treibt. Unfreiwillig zieht er jetzt hin in
den Berg, klagend und jammernd, aber er kommt doch wieder zu
Frau Venus. Gegen den Papst, welcher die ihm von Gott verliehene
Macht überschreitend Tannhäuser verbannt hat, richten sich nun
die Strebungen des zweiten Systems. Auf ihn fließt alle Unlust,
welche sich erst gegen den sündigen Tannhäuser, der Verkörperung der
1 LIfifand, Alte, horfi*- und niederdeutsche Volkslieder, Nr* 297 A, Str* 3*
* Ebenda, Str* 11*
Ä Ebenda, Str* 12*
4 Ebenda, Str. 14*
Das Zersingen der Volkslieder
211
eigenen sexuellen Wüns&e geri&tet hat, der Priester verfällt nun der
ewigen Pein, während der Ritter, wenigstens in den späteren Fassungen
begnadigt wird. So erreicht der primäre Wunsdh seine Erfüllung.
Mit den Jahrhunderten, welche auf die Reformation folgten,
schwand der Glaube, mit ihm auch das Streben des zweiten Systems
unseres Liedes. Die Folge davon ist, daß das Lied überflüssig wird
und abstirbt. Denn ein Lied lebt nur so lange als es Wünsche erfüllt.
Geblieben ist nach 350 Jahren nur die Abneigung gegen den seine
Rechte überschreitenden Papst, eine Abneigung, welche seinerzeit
die Reformation verursacht und es erleichtert hatte, die vom sekun*
dären System ausgehende Unlust gegen die sexuellen Wünsche
Tannhäusers und des Sängers auf den Papst abzuleiten. Aber auch
diese Abneigung ist stark gemindert. Die letzte Fassung des Tann*
häuserliedes, das Balthaserlied 1 2 kennt daher Tannhäusers Abschied
nicht und auch nicht Tannhäusers Schuld, sie ist eine schwere Sünde,
sie kennt auch nicht den verdammenden und verdammten Papst,
sondern nur mehr einen richtenden Menschen.
Das Vergessen des halben Liedes ist also in diesem Falle
auf das Schwinden der Gegenstrebungen zurückzuführen, gegen
welche sich die primären Wünsche durchzusetzen haben. Das Ver*
gessen dient demnach zur Entfernung unlustbetonter und gefühls*
indifferenter Teile des Liedes.
Der Unsinn im Volksliede 3 .
Wir haben im letzten Kapitel zwei Wortneubildungen ana=
lysiert, welche uns zuerst unsinnig erschienen sind; Robau und
Gfszöw, An diese Analysen will ich anschließen, um nun an das
Studium des kleinen Zersingens zu schreiten, wenn ich das Ver*
gessen, Verwechseln, Mißverstehen einzelner Wörter so nennen darf.
Eine Untersuchung des Zersingens darf sich ja nicht auf das Zer*
singen ganzer Lieder beschränken, es muß auch diese Zerstörungen
kleinster Teile eines Liedes in Betracht ziehen.
Bei der Untersuchung der beiden Neubildungen haben wir
Robau, Gfszow als Verdichtung erkannt. Uns ist noch eine inter*
essante Verschiebung begegnet, welche der Erklärung zugänglich
1 Erk'Böhme, Deutscher Liederhort, I, 18 e.
2 Während ich bisher mittels der Psychoanalyse und der historisch-kritischen
Methode in der Erkenntnis des behandelnden Problems vorgedrungen bin, bin
ich an dieser Stelle genötigt, die historisch-kritische Methode fallen zu lassen und
die psychoanalytische allein anzuwenden. Die Untersuchung rein psydiisdier Pro¬
bleme, wie es das Zersingen der Volkslieder ist, muß schließlich an einem Punkte
anlangen, von dem aus sie nur mehr durch eine rein psychologische {in meinem
Falle psychoanalytische) Betrachtungsweise gefördert werden kann. Der Gewinn,
der sich dann aus der Anwendung der Psychoanalyse ergibt, ist ein
bedeutender. Die Möglichkeit allein, zwei Jahre nach John Meiers Volkslied¬
studien, welche die augenblickliche Unlösbarkeit des Problems festgestelh hatten, an
die Erklärung des Zersingens schreiten zu können, zeigt diesen Gewinn schon deutlich.
14 *
212
Dr. Hermann Goja
ist. Es war das Wort Puffer nebel in dem Liede »Bei Königgrätz
stand eine Esche« <S. 178, Zeile 5 des Liedes). Das Wort ist ein
ausgezeichnetes Beispiel einer Verdichtung, Es ist durch Verlesen
entstanden. In dem Texte stand mit schlechter Orthographie Tieffer
Nebel. Das T war nun verwischt, ebenso wie das e der ersten
Silbe und der I-Punkt. So war die Möglichkeit des Verlesens ge-
geben, und zwar wurde aus dem Zeichen Puffer gelesen. Der Puffer
ist aber ein Bestandteil des Eisenbahn Waggons und Eisenbahnen
benützt man zur Heimreise. Damit ist der Zwedc des Mißverständ¬
nisses gefunden. Die Wortneubildung dient der Vorstellungsleitung
in dem uns bekannten Sinn von unlustbetonten zu lustbetonten
Bildern. Eine Bestätigung dieser Analyse bringt besonders deutlich
C 5 : Pulvernebel, Diese Lesart stammt von einer weiblidien Hilfskraft
des Ersatzbataillons, welche die Lieder für das Regiment in Ab¬
schrift nehmen mußte und dabei selbständig berichtigte. Für dieselbe
hatte Pulver keine Unlustbetonung, sie las daher dieses Wort heraus.
Die drei Bildungen, Robau, Gfszöw und Puffernebel, welche
wir analysiert haben, entsprechen ihrem Aufbau und Zweck genau
den Fällen der Verdichtung, welche wir an ganzen Liedergruppen
studiert haben. Der Beweis für die Richtigkeit der Analyse liegt in
dieser Parallelität. Ich brauche mich aber damit nicht zufrieden zu
geben, sondern kann andere Beweise anführen.
In den »Bädern von Luca«, VIII. erzählt Hyacinth von seinem
Verhältnis zu Salomon Rothschild: »— Und so wahr mir Gott
alles Guts geben soll, Herr Doctor, ich saß neben Salomon Roth«
schild und er behandelte mich ganz wie seines Gleichen, ganz
famillionär.« Dieses letzte Wort ist aber eine Verdichtung:
famili —är
milionär
familionär * 1
Die Technik dieses Witzes ist nicht Heines, Man lese das folgende
Beispiel: Herr N. wird auf den rothaarigen Verfasser langweiliger
Artikel über »Napoleon und Österreich« aufmerksam gemacht und
sagt: Ist das nicht der rote Fadian, der sich durch die Geschichte
der Napoleoniden zieht?
Dieser Rote ist's, der das fade Heug schreibt,
der rote Faden, der sich durch die Geschichte usw,
der rote Fadian usw. 2
Ein Mann begegnet seinem Freund auf der Gasse und bemerkt
mit Überraschung einen Ehering an dessem Finger. »Was?« ruft
er aus, »Sie sind verheiratet?« »Ja«, gibt dieser zur Antwort,
»trauring, aber wahr.«
1 Freud, Der "Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, S, 10. Vgl. die
genaue Analyse dortselbst.
1 Ebenda, S. 13.
Das Zersingen der Volkslieder
213
Ehering
traurig, aber wahr.
Trauring, aber wahr '.
Dies ist ein Fall völliger Gleichheit mit dem meinen. Den¬
jenigen, welcher trotzdem bezweifelt, daß ein Wort Robau den
Gedankengang zu der Vorstellung Lobau hinüberleitet oder gar
eine Neubildung wie Grszöw zu Szelwöw und Rzeszna, den ver¬
weise ich auf Bildungen, die das Rätsel in Fülle hat, noch sinnloser
erscheinen und die Leitung der Gedanken doch vollziehen. Solcher
Rätsel sind z. B. die folgenden:
Hanterlantant ging über das Land,
Hat keiner mehr Füße als Hanterlantant 5 .
Hanterlantant, eine reine sinnlose Lautmalerei, führt zur Lösung
des Rätsels: Egge.
Du knickerkrummüm, wo wisst du henüm?
Du kahlekoppschoren, wat höchst du dorna ' 3
Knickerkrummüm führt zur Lösung Bach, kahlekoppschoren zur
Lösung Wiese. Gegen diese Bildungen sind die von mir analysierten
Beispiele deutlich!
Nicht jeder Fall eines Unsinns im Volksliede gehört in die
Gruppe der Neubildungen, Ich will nun einige Fälle von Lied¬
zerstörung analysieren, um zur Erkenntnis der ihnen zugrunde
liegenden Gesetze zu gelangen. Wir haben schon das Lied »Bei
Königgrätz stand eine Esche« 4 einmal angezogen/ es häuft un¬
sinnige Singarten, Wir können die Entstehung derselben genau ver¬
folgen. Grundlage ist eine orthographisch minderwertige Aufzeichnung
des Textes, welcher bleistiftgesdhrieben längere Zeit im Felde herum¬
getragen, unleserlich geworden war. A ist eine Neuschrift dieses
Textes, welche der Besitzer des Originals selbst hergestellt hat. Da
das Lied beim Regimente nicht gesungen wurde, mußte sich der
Schreiber ganz an den schlechten Text und die Erinnerung halten.
Die Ergänzung erfolgte nun derart, daß sidi der Mann möglichst an
die Reste seiner Vorlage hielt, und diese Rest für Rest ergänzte,
ohne sich weiter um den Zusammenhang der so gefundenen Wörter
zu kümmern 5 . So kam der Unsinn des Liedes zustande. Daß die
unsinnigen Lesarten von A und B <B stellt nur einen Wiederholungs¬
versuch dar> wirklich auf die beschriebene Weise entstanden sind,
ersieht man leicht. Ich gebe ein Beispiel: Ei Ae > EsAe <A i>. In
dem verwisAten Texte war E...Ae deutUA erkennbar. Da das
i Freud, Der Witz usw., S. 12. . ~ „
s Petsdv Neue Beitrage zur Kenntnis des Volksratsels, b. oo.
* Wossidlo, Mecklenburgische Volksüberlieferungen, I, Nr. 1 a.
* Vgl. oben S. 178 u. S. 212. . , ,
» Logischer Zusammenhang der eingesetzten Wörter wird me angestrebt.
Der Prozeß fällt auch nicht in das Reich des Denkens.
214
Dr. Hermann Goja
zerstörte Wort auf Geräusche reimen soll, wird Esche ergänzt.
Daß das scheinbar naheliegendere Wort Eiche nicht erinnert wird,
ist verständlich, da es infolge seines patriotischen Inhaltes Unlust*
gefühle erregt. Ganzes Heer) ganzer Herr <A 2 ). Herr stand wirklich
im Texte, ganz wurde angepaßt, s und r ist ja leicht zu verwechseln.
Durch die sinnlose Verbindung wird wieder ein unlustbetonter Vor*
stellungskomplex zerstört. Mann > Heim <A 14 ) entspricht wieder
den Gesetzen des Zersingens. Der junge Sänger dachte noch nicht
an eine Ehe, wohl aber an das Nachhausekommen. Ao und Ai3
sind individuelle Singarten.
Es ist natürlich möglich, eine Reihe von Liedern ebenso zu
untersuchen wie dieses auf »Die Schlacht von Königgrätz«. Es wird
dann immer möglich sein, einen Teil der Singarten zu erklären,
während ein anderer sich dem Verständnis versagt, Es bleibt dann
keine Wahl als diese letzteren zu individuellen Singarten zu stempeln,
die man nicht erklären könne. Wenn nun auch zugegeben werden
wird, daß es individuelle Singarten gebe, die zu ihrem Verständnis
eine genaue Analyse der Bewußtseinslage des Sängers erfordern,
so wird doch einer Erklärung des Zersingens, welche einen großen
Teil der Singarten als individuelle nicht interpretiert, doch der Vor*
wurf der Zweifelhaftigkeit gemacht werden. Es gibt auch nichts
leichteres als eine Singart als individuell abzutun. Was ist überhaupt
eine individuelle Singart? Stehen die individuellen Singarten auch
unter EntstehungsUrsachen? Wie ist es möglich, auf diese Fragen
Antwort zu erhalten? Offenbar nur dann und nur so, wenn es
möglich ist, die Singarten, welche wir so mühsam sammeln, auf
experimentellem Wege herzustellen.
Ich habe dies versucht, und zwar auf folgende Weise: Aus*
gehend von der Erwägung, daß es für das Studium individueller
Singarten vorerst nötig ist, Lieder zu hören, deren Text beim Vor*
singen sicher festgelegt, dann aber jederzeit nachprüfbar ist/ ferner,
daß die Art des Vortrages möglichst gleich ist dem Vortrage der
Volkslieder, welche vom Volk im Chore gesungen werden, habe
ich zur Grundlage meiner Versuche den Kirchengesang genommen.
Ich machte daher die Versuche in einer Klosterkirche, in der die
Gläubigen nach ausgegebenen offiziellen Texten die Lieder sangen.
Zu dem Versuche wählte ich Lieder, welche mir gar nicht oder nur
wenig bekannt waren. Ich führte den Versuch dann so durch, daß
ich den Text des Liedes mitstenographierte, die Aufschreibung mit
dem offiziellen Text verglich und die so festgestellten Singarten,
welche zweifellos als individuelle anzusprechen sind, untersuchte, ob
sie und wie sie Strebungen meiner Bewußtseinslage entstammen.
Da alle bisher analysierten Singarten Strebungen des Unbewußten
ihren Ursprung veidankten, war diese Fragestellung berechtigt. Ich
gebe nun den Vorbericht zur ersten Singart.
I. Vorberidit: Die folgende Singart entstammt derZeit der großen
deutschen Frühjahrsoffensive des letzten Kriegsjahres. Das wiener
Das Zersingen der Volkslieder
215
Volk täuschte sich damals nicht über deren Mißerfolg. Die Aufmachung
der Teilerfolge durch die deutsche Heeresleitung verstimmte noch mehr.
Man warf den Deutschen vor, die letzte günstige Gelegenheit, einen
halbwegs anständigen Frieden zu erlangen, aus Übermut versäumt zu
haben und meinte, daß sie sich selbst damit zugrunde gerichtet haben,
Ich gehe in den Abendsegen und zeichne als Refrain des ge°
sungenen Liedes folgende Strophen auf:
Mit Gut > Mut > Mund und Herz der Erde, Deutschland Christi, meines Herrn,
Es ist also eine vollständig sinnlose Zeile, welche sich von den
Beispielen ärgsten Zersingens nicht unterscheidet.
Als Kern der Singart erscheint mir das Wort »Deutschland«,
und zwar deshalb, weil ich dasselbe während des Singens der
Strophe sofort als unsinnig erkannt habe, trotzdem aber nicht durch
ein richtigeres ersetzen konnte. Das Wort wurde vielmehr immer
deutlicher. Ich gebe nun den Refrain des offiziellen Textes:
Sei mit Mund und Herz verehret,
Kreuzstamm Christi, meines Herrn.
In dem Augenblicke, in dem ich diese Zeilen lese, werden mir
auch die Ursachen bewußt, welche das Zersingen bewirkt haben,
Es sind Satze aus patriotischen Liedern, welche sich an die Laute
des mißverstandenen Textes angeklammert und ihn verändert haben.
Zur Analyse der Singart stelle ich dieselben untereinander.
Sei mit Mund und Herz verehret
Gut und <Blut) (fürs) Vaterland
Mit _ Herz <und Hand fürs) Vaterland
Mit Gut > Mut > Mund und Herz ~ — der Erde
Diese Zusammenstellung zeigt also, daß die erste Zeile des Refrains
deshalb mißverstanden wurde, weil Liedzeilen, welche im Unbewußten
enthalten waren, sich mit ihr vereinigt hatten. Die Singart ist eine
Verdichtung der gehörten Liedzeile mit zwei anderen Versen, die
durch Assoziation nach Klangähnlichkeit erinnert wurden. Die tiefere
Ursache der Verdichtung wird das Folgende zeigen.
Die Singart Deutschland für Kreuzstamm entstammt ebenfalls
einem patriotischen Liede; Deutschland, Deutschland über alles. Sie
setzt auso den Verdiditungsprozeß fort- Sie zeigt aber, daß in meinen!
Unbewußtsein eine Menge patriotischer Lieder in dem Augenblick
der Aufzeichnung der Singart enthalten waren, die alle den oth-
ziellen Text verdrängt haben. Zum Verständnis der Singart gelangt
man aber erst, wenn man die Aufdringlichkeit des Wortes »Deutsch¬
land« berücksichtigt. Es wurde von den Gläubigen in klagendem
Tone gesungen und erinnerte midi an die Lamentationen der Kar¬
woche, an die Klagelieder des Propheten Jeremias, deren Refrain
mit dem klagenden »Jerusalem, Jerusalem . . .« beginnt, Jeremias
singt diese Lieder aber auf den Trümmern Jerusalems. Der Unter-
216
Dr, Hermann Goja
gang des Reiches war aber die Überzeugung der Wiener. Wir sind
an dem Kem der Singart: die unbewußte Vorstellung, welcher ihr
zugrunde liegt, ist die des über den Trümmern Deutschlands
klagenden Propheten. Ist aber Deutschland zertrümmert, dann ist
der Krieg aus. Daß aber der Krieg ende, war der damals meine
Bewußtseinslage beherrschende Wunsch. Er wird in der unbewußten
biblischen Vorstellung verwirklicht. Der Friede, welcher in diesem
Bilde erreicht ist, ist aber im wahrsten Sinne des Wortes der Friede
um jeden Preis, um den damals alle Wiener schrien, derjenige welcher
mit der Vernichtung der Nation gleichbedeutend ist.
Es ist selbstverständlich, daß ich mir als Deutscher niemals
diesen Wunsch bewußt werden ließ. Wenn er schon in dem Un¬
bewußten sich regte, so wurde er doch sofort verdrängt und von
Strebungen, welche von dem sekundären Denken erregt in das Un=
bewußtsein hinabstiegen, überlagert.
Mit welchem Erfolg zeigen die drei Lieder, welche sich mit
dem Refrain des offiziellen Textes verdichtet haben.
? as Zersingen des Refrains hat also wieder Sinn. Es entsteht
durch Beeinflussung des Textes von seiten unbewußter oder unter-
drückter Wünsche,
Jetzt handelt es sich darum, die Ursache festzustellen, warum
gerade die beiden Refrainzeilen dem Zersingen zum Opfer gefallen
S * n °’i^c ^ rsac ^f n sind erkennbar. Eine äußerliche, bestehend
aus Kl an S und Sinnähnlichkeit der ersten Zeile des Refrains mit den
sie beeinflussenden Liedzeilen, verbunden mit der Schwerverständlich¬
keit des Wortes »Kreuzstamm«, das aus einer singenden Menschen-
masse herauszuhören, dem mit dem kirchlichen Wortschatz Un¬
vertrauten schwer fällt. Eine innere, gegeben durch einen Assoziations¬
verlauf, der von den Worten der Zeile zu dem unlustbetonten
Militärkomplex führt 1 .
An dieser Singart ist es zunächst möglich aufzuzeigen, daß
die Textzerstörung der Unlustvermeidung dient,* ein Lustgewinn,
welcher dem einspringenden Vorstellungskomplex <Große des Vater¬
landes) entstammt, ist aber ebenfalls nachweisbar. Wunscherfüllende
Tendenz zeigt wieder die folgende Singart, Ich gebe den Vorbericht
zu dem zweiten Versuch,
II. Nachdem ich am Nachmittage an der Zusammenstellung
des Materials zur Interpretation des Dreililienliedes gearbeitet habe,
gehe ich mit der Sorge in den Abendsegen, daß dieses Material
nicht genügend Überzeugungskraft besitze, daher Angriffspunkte offen
lasse, an welche eine ablehnende Kritik ihre Waffen ansetzen könne.
Diese Kritik fürchte ich besonders auch deshalb, weil sie mit philo¬
logischen Arbeiten, die ihre Grundlagen nicht in der Schulpsychologie,
1 Um auf den Sinn der oben angeführten und der folgenden Varianten zu
kommen, verwendete ich die psychoanalytische Methode Freuds, wie er es für mein
Problem besonders günstig in dem Buche »2ur Psychopathologie des Allagslebens«
dargestellt hat-
Das Zersingen der Volkslieder
217
sondern in der Freudsdien Psychoanalyse suchen, bisher hart ver¬
fuhr, Ich überlege daher, ob es nicht vorteilhafter wäre, auf die
Analyse des Liedes zu verzichten, was mir Unlust erregt. Das
Lied, welches dann während des Gottesdienstes gesungen wird, nehme
ich folgendermaßen auf.
5 2. Maria, Du Lilie, Du süßste Jungfrau!
—i— > Nimm auf meine Liebe, sehr will ich > viel ich vertrau'!
Du bist ja die Mutter, Dein Kind bin ich ja > will idi sein.
Im Leben und Sterben, Dir einzig allein.
3, — i —, daß ich von Herzen, die Lilie und preis',
io —i—, daß ich viel Zeichen der Lilbe erweis!
-die blumig-
Und treu Dir zu dienen, ich blüh' und mit Freud!
Zu diesem zersungenen Text gebe ich das Original:
5 2 . Maria, Du milde, Du süße Jungfrau!
Nimm auf meine Liebe, so wie ich vertrau'!
Du bist ja die Mutter, Dein Kind will ich sein.
Im Leben und Sterben Dir einzig allein.
3. Gib, daß ich von Herzen Dich liebe und preis',
io Gib, daß ich viel Zeichen der Liebe erweis'.
Gib, daß mich nichts scheide, nicht Unglück noch Leid,
Um treu Dir zu dienen in Glück und in Freud!
Ich will die Analyse dieser Singarten wieder möglichst kürzen.
Drei Gruppen können unterschieden werden. 1. 5 milde > Lilie
6 so wie ich ) sehr will ich > viel ich g Dich liebe > die Lilie io der
Liebe > Lilbe n nicht Unglück > die blumig 12 in Glück > ich blüh'.
Diese Singarten entstammen dem beim Eintritt in die Kirche unter¬
drückten Dreililienkomplex. Der Wunsch, das Lied in die Arbeit über
das Zersingen aufnehmen zu können, wird durch diese Varianten
erfüllt. 2, e Nimm > i > Nimm 1 Dein Kind will ich sein > bin ich
ja ) will ich sein 9 Gib > i 10 Gib ) i 11 Gib, daß mich nichts
scheide > 0. Diese Singarten zerstören Wunschsätze und dienen der
Vermeidung von Unlust. Empfand ich doch bet der Vorstellung, daß
meine Arbeit abgefeimt werden könnte, da sie psychoanalytische
Erfahrungen verwerte, Unlust. Mit Freud statt in Freud <i 2 > gehört
in weiterem Sinne ebenfalls hieher. Mit Freud behaupte ich ja, daß das
individuelle Zersingen der Volkslieder durch unterdrückte, unbewußte
Gedanken als eine Form des Irrtums bedingt ist. 3. 5 süße > süßte
ist wie die Nachprüfung ergeben bat, keine individuelle Singart.
Die gläubige Masse setzt hier selbst den Superlativ ein,
Wieder dient das Zersingen der Unlustverhinderung und auch
der Lusterzeugung. , , .
Ich gebe noch ein drittes Beispiel individuellen Zersingens.
III. Grundlage desselben sind Gedankenreihen, welche sich an
das S. 140 mitgeteilte Lied »An der Weichsel gegen Osten« an«
218
Dr, Hermann Goja
schlossen. Dieses Lied berührt sich in seinem latenten Inhalte, da
es zu seinem manifesten die Tötung des Vaters durch den Sohn
hat, mit dem Oedipuskomplex 1 * . Ich verwarf deshalb die Analyse,
da sie midi von dem philologischen Thema zu weit abgeführt hätte.
Ich gebe nun die Singart;
Durch die Seele voller-
Seufzte Mutter ohne Schauer,
Jetzt---
Weldi ein Schmerz der Auserkorenen,
Als sie sah den einen ) Eingebornen,
Wie er hing da ohne-— —
•— ~~-— — Mal und Auge,
Alles gleich ihn Ziel umfang
— nur-Herz durchdrang,
das dieser Singart zugrunde liegt, lautet folgender*-
Christi Mutter stand mit Schmerzen
Bei dem Kreuz und weint* von Herzen,
Als ihr lieber Sohn da hing.
Durch die Seele voller Trauer,
Seufzend unter Todesschauer,
Jetzt das Schwert des Leidens ging.
Welch ein Schmerz der Auserkorenen,
Da sie sah den Eingebornen,
Wie er mit dem Tode rang/
Angst und Trauer, Qual und Bangen,
Alles Leid hielt sie umfangen,
Das nur je ein Herz durchdrang.
Die Analyse zeigt nun die Singarten folgendermaßen verknüpft:
5 unter ) Mutter verbindet sich mit Mal ) Qual <io) zu Muttermal.
Eine zweite Assoziationsreihe beginnt bei demselben Worte Mutter <s),
geht zu Auge < Trauer <io>, verbindet beide Singarten zu Mutterl¬
auge und erinnert aus Vogls Lied 3 :
Wie sehr auch die Sonne sein Antlitz verbrannt,
Das Mutteraug' hat ihn doch gleich erkannt.
Das erinnerte Lied hat die Heimkehr des Sohnes zum manifesten
Inhalte. Nun springt die Assoziationsreihe über auf Mal < Qual <io)
1 Vgl, Freud, Traumdeutung, S. 197ff.
3 Das Fehlen der Liedanfänge ist nicht eine Folge des Zersingens, Es
ist bedingt durch die Notwendigkeit der Feststellung des Liedes, welche das Auf¬
schreiben der ersten Zeilen verhinderte*
3 J. N. Vogl, -Balladen, Romanzen, Sagen und Legenden, 1846 f S, 303:
Das Erkennen,
1 .
5
2 ,
io
Das Kirchenlied,
maßen:
5
10
Das Zersingen der Volkslieder
219
und hebt die Worte Kainsmal, Kainszeichen aus dem Gedächtnis
und damit die biblische Erzählung von dem ersten Brudermord.
Weiter verbindet die Phantasie die Heimkehrsage Vogls mit der
Morderzählung der Bibel: der Wanderbursch kehrt heim zu der
Mutter und tötet den Bruder und gibt darauf die letzte Erinnerung:
Oedipus, den Namen des Königs, der den Vater tötet und die
Mutter heiratet.
Eine andere Gruppe von Singarten ergänzt diesen Komplex:
der Eine sein <8/ Eingeborener, d. i. Sohn, wird deshalb unterdrückt).
An der Mutter hängen <q>, ihn umfangen <n>. Der Rest der Sing-
arten gehört wieder der Abwehrstrebung an und kann vernachlässigt
werden. Vergleicht man den zersungenen Text mit dem Original,
so findet man wieder eine starke Unterdrückung unlustbetonter Vor¬
stellungen verbunden mit der Erregung lustbetonter.
Fassen wir zusammen, was diese drei Analysen 1 gelehrt
haben, so ist es die Abhängigkeit der Singarten von unbewußten
Wünschen und Gedanken/ die Tendenz der Unlustverringerung durch
Vergessen <eine durchgehende Tendenz des Lustgewinnes wage
ich nicht zu behaupten)/ die eigentümliche Art des Zusammen¬
hanges der Singarten mit den unbewußten Ursachen, welcher in
diesen Beispielen durch oberflächliche Assoziationen hergestellt ist/
die Zusammengehörigkeit aller Singarten eines Liedes, da sie einer
Ursache entstammen/ das rein Persönliche ihres Ursprungs, das eine
Erklärung derselben ohne Zuhilfenahme des sie erzeugenden Indi¬
viduums ausschließt/ das Fehlen eines logischen Zusammenhanges
der Singarten.
Damit ständen wir wieder am Ausgangspunkt unserer Unter¬
suchung. Wir haben dieselbe angestellt, um Erktärungsmittel des
Zersingens zu finden, jetzt müssen wir erkennen, daß es keine gibt.
So schlimm wäre die Sache, wenn es nur individuelle Singarten gäbe.
Es gibt aber auch objektive Singarten, welche nicht von einem,
sondern von der Menge, dem Volke erzeugt worden sind. Zu ihrer
Erklärung dient nicht die Individual-, sondern die Völkerpsychologie.
Der Völkerpsyche angehörig haben wir bis jetzt die lust¬
betonten Komplexe des Sexuellen und Infantilen gefunden. Auch
die Umkehrung der dem Soldatischen angeknüpften Gefühlsbetonung
während des Weltkrieges haben wir als Veränderungen der Völker«
1 Während ich mich einerseits verpflichtet fühlte, in dieser Untersuchung
die philologisA-kritische Methode einzuhalten, hielt ich midi anderseits nicht be¬
rechtigt, Untersuchungsmethoden ZU vernachlässigen, welche die Resultate derselben
zu ergänzen vermögen. In den oben angeführten Beispielen ging ich von dem
Satz der Psychoanalyse aus, daß jede Störung des normalen Ge danken verlauf es,
jedes Vergessen, jedes Versprechen usw. durch unbewußte Gedanken etc, ver¬
ursacht sei und daß man zu diesen Störungsquellen durch Verfolgen der an die
Störung anschließenden freisteigenden Assoziationen gelangen kann. Durch An¬
wendung dieser Untersuchungsmethode ist es möglich für alle Fälle individuellen
Zersingens die Störungsursachen aufzufinden und die zersungenen Stellen zu er¬
klären, wie ich es gezeigt habe.
220
Dr. Hermann Goja
psyche festzustellen vermocht. Aus dieser Entwicklung der Völker»
psyche war es uns möglich, Singarten des Weltkrieges zu erklären.
Versuchen wir nun einige objektive Singarten zu erklären.
Bruinier 1 gibt ein interessantes Beispiel, das man mit einiger Sicher¬
heit als objektive Singart a ns p re dien kann. Er zitiert S, 41 die
Singart »Die Spatzen spielen aus Liebesfädchen«, welche aus »Die
Parzen spinnen am Lebensfaddien« entstanden ist. Von dem Orb»
ginale sind nur die beiden letzten Silben »^fäddien« richtig ver»
standen worden. Von den diesen beiden vorhergehenden Silben
wurden nur die Konsonanten richtig verstanden. Das gibt natürlich
zu bedenken. Verhörbar sind nach dem Charakter der Laute leichter
die Konsonanten als die Vokale. Die Wahrscheinlichkeit, daß es
sich bei der Veränderung von Lebensfaddien > Liebesfädchen um
eine durch unbewußte Ursachen bewirkte handelt, ergibt sich aus
dieser Oberlegung. Das Einspringen von Wörtern aus dem Komplex
des Sexuellen entspricht einem Gesetz der Völkerpsychologie. Die
Ersetzung von Leben durch Lieben ist erleichtert durch den Umstand,
daß beide Wörter oftmal als alliterierende Formel verwendet werden.
Sicher wurde das Substantiv Parzen mißverstanden, da die
Vorstellung der Parzen beim Volke nicht vorhanden ist. Das dafür
einspringende »Spatzen« entstammt wieder dem sexuellen Milieu,
wie die Bedeutung des Wortes Spatz in der Volksdichtung nach weist:
War ich der Vogel Spatz,
Wär ich bei Dir mein Sdiatz . . .
War ich der Distelfink,
Wär ich bei Dir, mein Kind 2 .
oder:
Könnt ich schwimmen wie ein Schwan,
Krähen wie ein Gockelhalm,
Caressieren wie ein Spatz
Wär ich jeder Jungfrau Schatz 2 ,
Spielen, das an die Stelle von Spinnen tritt, hat eine Lustbetonung
aus dem Infantilen und hat außerdem eine obszöne Nebenbedeutung
in der Volksdichtung. Unverständlich ist also in dieser Singart durch
Lustbetontes ersetzt worden. Unverständliches durch logisch Richtiges
und Lustbetontes ist auch in folgendem Beispiele ersetzt worden,
das zu: »Und wenn des Nachts die Elfe schlaget« oder »Des Nachts,
wenn ihre Eltern schliefen« usw. verändert erscheint 1 :
Audi wenn des Nachts die Elfen weben,
Sdileidi ich mich gern zum Fensterlein,
1 Das deutsche Volkslied.
2 Marriage, Poetische Beziehungen des Menschen zur Pflanzen- und Tier**
weit im heutigen Volkslied auf hochdeutschem Boden, S. 157.
s Ebenda S. 158.
* J. Meier, Kunstlieder im Volksmunde, S. LXXXV/ ebenda S. LXXXIV,
die folgenden Beispiele.
Das Zersingen der Volkslieder
221
In beiden Fällen ist die Ursache des Zersingens ein mifieu-
fremdes Wort. Parzen und Elfen kennen Bauern etc., kennt das
Volk nicht. Diese Wörter sind also für das Volk keine Wörter,
sondern nichts als sinnlose Silben. Mangelhafte Aufnahme durchs
Ohr, also Zersingen infolge Mißverstehens kann man bei vielen
diesen beiden ähnlichen Fällen nicht als Ursache der Veränderungen
ansehen. Ich gebe ein Beispiel: Hebe, sieh in sanfter Feier > Hebe
sie in usw. Hier liegt gar keine mangehafte Aufnahme vor. Hebe,
sieh und Hebe sie sind im Dialekt lautlich nicht verschieden. Die
Zweideutigkeit der Lautgruppe besteht aber für das Volk nicht.
Es kann für das Volk diese Lautgruppe auch nur einen Sinn haben,
welchen sie dann in der Schrift festhält,
Fälle, wie die folgenden erledigen sich daher scheinbar von selbst:
Diana > die Anna,- Philomene > Jungfer Lene,- Römerin ) Bohmerin/
Adonis > Anthoni,- Rialto > Rinaldo,- Ural) Urwald. Es ist schlechter*
dings kein anderes Wort zu finden, das für die Lautgruppe Diana
eintritt als die Anna. Soll man bei diesen Fällen ebenfalls an eine
tiefere Ursache glauben, weihe gerade nur dieses Wort erinnert?
Man wird diese Frage verneinen. Man wird es für töricht finden,
die Singarten »die Anna«, »Anthoni« auf sexuelle Ursachen zurück*
führen zu wollen, »Rinaldo«, »Urwald« aus dem lustbetonten Räuber*
komplex abzuleiten.
Ih habe, um die Frage nah der Bedingtheit dieser selbst*
verständlkhen objektiven Sin garten beantworten zu können, eben*
falls Versuhe angestellt, weihe, da sie ohne Zuhilfenahme der
Psychoanalyse durhgeführt werden können, heute shon über*
zeugen der e Resultate zu bringen vermögen als die früheren. Aus*
gangspunkt dieser Untersuchungen bildeten folgende Überlegungen:
Waren die oben angeführten Singarten objektive, was wahrschein*
lih ist, und waren sie bedingt durch die Bewußtseinslage der Sänger,
so waren sie durch die Bewußtseinslage erwachsener Personen be¬
dingt. Die objektive Bewußtseinslage, weihe diesen Singarten zu*
gründe liegt, ist also die des erwachsenen Menschen. Wenn man
nun erkennen will, oh diese festgestellte objektive Bewußtseinslage
tatsächlich eine Mitursahe des Zersingens ist <eine andere ist ja die
Unkenntnis des gesungenen Wortes), so ist dieselbe auszutaushen
gegen eine andere. Bleibt bei Veränderung der objektiven Bewußt¬
seinslage das Resultat des Zersingens gleih, dann kann dieselbe
nicht Mitursahe des Zersingens sein, Ih habe daher im Shulver-
suh die objektive Bewußtseinslage des Erwahsenen mit der des
Kindes vertauscht und den Zusammenhang zwischen Bewußtseinslage
und Singart festgestellt. f ,
Die Versuhsanordnung war folgende: Ausgehend von den
an ehten Singarten festgestellten Voraussetzungen des Zersingens
wurden Texte vorbereitet, weihe der Auffassungsgabe der Schüler
niht entsprachen. Diese Texte wurden ohne vorausgehende Vor¬
bereitung oder Erklärung der Klasse diktiert und aus den Arbeiten
222
Dr. Hermann Goja
jene Verhörungen herausgelesen, welche von der Mehrzahl der
Schüler gleich durch geführt worden waren, Der den Text diktierende
Lehrer entspricht bei diesem Versuche den Sängern der Volkslieder,
Ich glaube nicht, daß dieser große Unterschied des Vortrages das
Resultat des Versuches wesentlich ändert. Das Diktieren eines
Volksliedes bedeutet im Vergleich zum Vorsingen eines solchen nichts
als eine Erleichterung für den Hörer, die eine Verringerung der
Hörfehler, der Singarten zur Folge hat.
Ich gebe nun einige Beispiele:
L Versuch, Den Schülerinnen einer If (Schwachbegabten) Klasse
einer Wiener Bürgersdiule mit einem Durchschnittsalter von 12 bis
13 Jahren wird, um die Reaktion derselben auf das ihnen unbe¬
kannte Wort Adonis festzustellen, die folgende Stelle diktiert:
Diß derhalben zu vollführen,
War er baldt zur Jagt bereit.
Nicht zur Jagt nach wilden Thieren,
Wie Adonis vor der Seit, usw. 1
Von 38 Schülerinnen schreiben 16 das Wort Adonis richtig, der
Rest notiert Aronis, erinnert also den Namen von Moses Bruder
und die Geschichte der zehn ägyptischen Plagen, welche er drei
Monate früher im Religionsunterrichte gelernt hat Eine vierzehn
Tage nach dem Diktate gestellte Frage nach den liebsten Erzählungen
des Alten Testaments beantworten die Schülerinnen mit »Vertreibung
der ersten Menschen«, »Die zehn ägyptischen Plagen«, »Die Mutter
mit den sieben Söhnen«, 2 3
Der Versuch zeitigt also bei den Kindern ein wesentlich ver¬
schiedenes Resultat, An Stelle des unverständlichen Wortes wird
der Name eines Lieblingshclden erinnert,
2, Versuch, Den Schülerinnen einer 1 b-Klasse (Durchschnitts¬
alter 12 Jahre) wird folgende Stelle diktiert:
Es ist in Engelland, wo sonst Diana hetzet,
Und an der Temse randt sich mit der Jagd ergetzet usw,*
Das Resultat ergibt bei 24 Schülerinnen 8 richtige Schreibungen von
Diana, 14 von Indianer, eine Aufschreibung von Anna und eine
von Pumpsdianer. Wieder zeigt sich also, daß die Schülerinnen beim
Hören des fremden Namens den Namen eines Lieblingshelden (In¬
dianer) zu vernehmen glauben.
Ein dritter Versuch in derselben I b-Klasse führt zu dem
gleichen Ergebnis. In dem folgenden Texte:
1 Opit z f Teutsdie Poemata, Nr. 88/ E. 21^24.
3 Von 33 Schülerinnen notieren 24 »die Vertreibung der ersten Menschen«,
19 »die zehn ägyptischen Plagen*, 31 »die Mutter mit den sieben Söhnen« (die
Makkabäer, welche in der vorhergegangenen Religio ns stunde durchgenommen
worden waren),
3 Opitz, Teutsche Poemata, Nr, 28, E, 1—2,
Das Zersingen der Volkslieder.
223
Nun geht, jhr Kinder, geht, vnd lehrt die Büsche singen
Ein Lied, ein Wunderlied von vnbekandten Dingen:
Das Tityrus nun kan, das Coridon nun macht,
Vnd eine newe weiß' hierauff jhm hat erdacht.
Das Tityrus jetzt pflegt zu spielen auff der Weiden,
Das Coridon so schön' erzwingt auff grüner Beiden,
Das er so artlich spielt nach seiner leyerkunst.
Nicht Daphnis alte pein, nicht Melibeus brunst usw. *,
-werden alle Eigennamen richtig geschrieben, die Schülerinnen stolpern
weder über Tityrus, noch Coridon, noch Daphnis, verschreiben aber
alte pein, ein Wort das ihnen bekannt ist, zu Bein, Nur 5 der
anwesenden 32 Schülerinnen schreiben das Wort richtig, 4 schreiben
»das alte Bein«, 3 »Gebein«, 17 »alte Bein«, eine Schülerin schreibt
»altes Bein«, eine »alte Beiner« und eine »alter Wein«.
»Beiner« sind aber in einer Zeit fleischloser Monate ebenfalls
Wunscherfüllung.
Ich will nun, trotz diesen drei Beispielen, nicht behaupten, daß
die objektiven Singarten sich immer so einfach als Wunscherfüllung
erweisen lassen,- eine Tatsache ergeben aber diese Versuche ganz
klar, daß alle Fälle objektiven Zersingens ebenso durch die Bewußt*
seinslage des Volkes bedingt sind, wie die Fälle individuellen Zer*
singens von der Bewußtseinslage der Einzelperson abhängig sind,
daß sie Störungen des bewußten Denkens durch unbewußte Ge*
dankenzüge darstellen s .
Mit dieser Feststellung ist jedoch das Wesen der Unsinns*
bildung in Volksliedern noch nicht erschöpfend dargestellt. Ich will
midi nun wieder auf echte Singarten beschränken. Ein Lied Ottos
v, Kraft: »Auf zur Vergeltung, hurra, hurra, hurra! hat als Zeilen
26-28:
Bis die Brut,
Die nie und nirgends
Uns noch je geschlagen,
die im Laufe des Weltkrieges zersungen wird zu:
Bis die Brut uns
Nie und nirgends
Hat geschlagen.
Das Lied, aus dem diese drei Zeilen stammen, ist ein Rachelied
gegen Italien und stammt aus der Zeit der Kriegserklärung dieses
Staates. Die Singart stammt aus dem Frühjahr 1917. Das ganze,
34 Zeilen lange Gedicht hat nur die eine Störung. Unlustbetont ist
der Inhalt dieser Zeilen ebenfalls nicht, er sagt ja, daß wir niemals
von den Italienern geschlagen wurden. Und dennoch ist Unlust die
1 Opitz, Teutsdie Poemata, Nr. 148, 2. 285—292.
3 Leider war es mir nicht möglich, Sdiulversudie in jener großen Zahl
anzustellen, die zu feineren Untersuchungen des Problems notwendig sind Idi
muß mich daher mit dieser allgemeinen Feststellung begnügen.
224
Dr, Hermann Go ja
Ursache des Zersingens, sie haftet jedoch nicht an dem Inhalte der
Zeilen, sondern an dem Gegensatz von Zeilensinn und Wirklichkeit.
Der Sänger wußte, daß wir schon oft genug geschlagen worden
waren, der Sänger der Fassung des Jahres 1917 besonders gut, da
die letzte Schlacht, an welcher er teilgenommen hatte, die Unglück«
liehe Schlacht von Olyka war. Deshalb also, weil der Sinn des
Originals nicht der Wahrheit entsprach, wurde der Text zerstört.
Die Zerstörung des Textes ist somit in diesem Falle eine Ver-
neinung seines Inhaltes. Die Verneinung erstreckt sich aber nicht
nur auf die Behauptung, daß wir niemals eine Niederlage erlitten
haben, sie erstreckt sich auf den ganzen Satz, welcher auf folgender
Weise zu vollenden ist:
Sich vor uns im Staube windet
Wie in frühem Tagen.
Bis in Mailand und Venedig
Schwarzgelb Fahnen wehn.
Bis Radetzkys glorreich Zeiten
Wieder auferstehn.
Daran glaubte der Sänger nicht mehr. Niemals wird sie sich vor
uns im Staube winden! Und so lange kämpfen, bis zur Eroberung
Venedigs kämpfen? Nein, nein! Und dieses Nein! zeigt sich in der
Zerstörung des Wortlautes, Unsinn im Volkslied dient daher der
Verneinung des alten Inhaltes.
Diese Behauptung mag gewagt erscheinen. Und dennoch kann
sie sehr unterstützt werden durch die Tatsache, daß der Unsinn
als Verneinung ein Stilmittel der Volksdichtung ist. Uliland schreibt
in seiner Abhandlung über das Volkslied S, 221: »Die Rätsel setzen
scheinbar Unmögliches, die unmöglichen Dinge verblümen die Ver«
neinung, es gibt aber einen Fall, der mitten innen schwebt.« Er
erzählt dann die Geschichte von Macbeths wanderndem Wald, Die
Prophezeiung, daß Macbeth nie von einem Menschen, der von einem
Weibe geboren, ermordet und nie besiegt werden könne, bevor
der Wald von Birnam nach Dunsinnane komme, ist nur eine
poetische Darstellung des Niemals. Was für Macbeth entschiedenste
Bezeichnung des Niemals ist, wird schließlich ein vom Schicksal ge«
löstes Rätsel. Nun sind aber die gestellten Bedingungen unsinnig.
Ein jeder Mensch muß geboren sein, kein Wald kann wandern, —
Der Unterschied der Verneinung liegt nur im Formalen. Die Ver«
neinung durch Zersingen führt zu keinem anschaulichen Bilde, Der
Unsinn als Stilmittel ist immer anschaulich, bildhaft.
Beispiele des Unsinns als Verneinung gibt es in der Volks¬
dichtung viele. Ich gebe noch eines: »Es fiel vom Himmel, das fanden
die Hirten, kochten es ohne Feuer, aßen es ohne Mund . . . eben«
sowenig wie das geschehen kann, soll die Krankheit wiederkehren« 1 .
1 PetsA, Das deutsche Volksrätsel, S. 17.
225
Das Zersingen der Volkslieder
»In Scherz und Ernst sind die unmöglichen Dinge eine bejahende
Verdeckung von Nein und Nimmer« 1 .
Das ist die Parallele zu dem von mir dargestellten Fall des
Zersingens, welcher der Verneinung des Inhaltes dienen soll, Die
Zerstörung des Liedes ist dabei das Ergebnis von Strebungen,
welche dem Vorbewußten entstammen, ist nur ein besonderer Fall
des Vergessens und dient der Unlustentfernung.
Ich kann noch ein Beispiel anführen, in welchem die Verun«
sinnung Verneinung des Inhaltes ist, Das Lied »Drei Lilien, drei
Lilien« ist schon aus dem Frieden belegt in einer Verdichtung mit
dem Liede Höltys »Der alte Landmann an seinen Sohn«, Eine
spätere Singart des Weltkrieges hat diese Verdichtung ebenfalls.
Sie fügte an die letzte Strophe des Volksliedes die folgende an:
Üb' immer Treu und Redlichkeit
Bis an dein kühles Grab,
Dann steigst du als Gefreiter
Ins Grab hinab 2 3 .
Gefreiter wird im Verlaufe des Krieges zu Regierungsrat und Re¬
gierender, Grab zu Massengrab, und kühles Grab.
Über den Sinn des Dreililienliedes werden wir uns später klar
zu werden suchen. Was bedeutet aber diese Strophe, an gehängt
an dieses Lied? Sie hat doch keinen Zusammenhang damit. Es ist
ein Unsinn, diese Strophe an dieses Lied anzuhängen. Wir wissen
den latenten Inhalt des Volksliedes nicht und haben daher auch
kein Recht über den Zusammenhang desselben mit dieser neuen
Strophe zu urteilen. Die manifesten Inhalte beider Teile allein be¬
trachtet erwecken den Schein, als ob sie nicht zusammengehörten/
die latenten Inhalte haben dennoch Beziehungen, Eines ist sicher:
Unser Urteil über das Dreililienlied oder wenigstens das Urteil
der Mannschaft über dasselbe lautet; Es ist ein Unsinn. Und
wir hängen eine Strophe an das Lied an, die anzufügen ein
Unsinn ist. Es scheint, wir haben den Sinn der Strophe, den Sinn
des Zersingens schon gefunden. Hinter der Singart versteckt sich
ein Urteil, eine Verneinung. Urteile auszudrücken vermag die
Kunst nicht. Sie vermag es nur dadurch, daß sie einen Vor¬
stellungsverlauf erregt, an welchen sich das auszudrückende Urteil
anschließt. Sie schafft einen Unsinn, um sagen zu können, daß etwas
unsinnig sei. Latent sind die besprochene Strophe und die vorher¬
gehende Singart aus dem Liede »Auf zur Vergeltung« gleichwertig.
Denn die Zeilen »Bis die Brut, die nie und nirgends« usw. kann
man auch übersetzen mit: Kämpfen, bis die Brut sich vor uns im
Staube windet, ist ein Unsinn,- zu behaupten, daß wir nie und
niemals geschlagen worden seien, ist ein Unsinn, Verschieden sind
1 Uhland, Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, IL Abhandlung^
S. 218- Vgl Reuscheb S. 142ff,
3 Fassung des Sdiür 24,
Imago VI/3
15
226
Dr. Hermann Goja
die beiden Fälle in der Art, wie sie den Unsinn in dem manifesten
Inhalte zur Darstellung bringen. Das Rachelied tut dies, indem sie
eine sinnhafte Seile zerstört,- das Dreililienlied, in welchem es keine
sinnhafte Seile gibt, indem es einen Unsinn anhängt.
Betrachten wir nun den Inhalt der Strophe. Sie ist ja selbst
wieder zersungen. Nehmen wir zuerst die oben mitgeteilte älteste
Fassung. Die Grundlage dieser Fassung bildet die erste Strophe
des Höltyschen Liedes:
Ueb' immer Treu und Redlichkeit
Bis an dein kühles Grab,
Und weiche keinen Finger breit
Von Gottes Wegen ab!
Die letzten Zeilen sind unterdrückt und durch neue ersetzt. Ist
diese Unterdrückung eine Verneinung, dann heißt sie: »Treu und
Redlichkeit ist ein Unsinn.« Die Singart wird verständlich, wenn
man das alte Lied fortsetzt:
Dann wirst du, wie auf grünen Aun,
Durchs Pilgerleben gehn/
Dann kannst du, sonder Furcht und Graun,
Dem Tod' ins Auge sehn,
im Schützengraben. Wir erkennen eine meisterhafte Verdichtung,
indem der ganze Inhalt des Kunstliedes in die erste Strophe ge a
preßt und durch die Zerstörung der letzten Zeilen derselben ver^
neint wurde. Wenn man Treue und Redlichkeit übt, dann geht man
nicht auf grünen Auen, sondern in den Schützengraben,- wenn man
aber Untreue und Unredlichkeit übt, dann lebt man in Glück und
Reichtum. Der Schurke lebt, der Brave verblutet. So ergänzt denn
auch das Unbewußtsein die zerstörte Strophe:
Dann steigst du als Gefreiter
Ins Massengrab.
Aber diese Singart beschränkt sich nicht auf die Verneinung
des Kunstliedes. Sie bringt noch einen zweiten Gedankengang zum
Ausdruck, Wenn der Soldat draußen seine Pflicht tut bis an sein
Ende, was ist sein Dank? Keiner. Er wird Gefreiter. Das Mittel,
welches zur Darstellung dieses Gedankenganges verwendet wird,
ist die Umkehrung, Denn die beiden letzten Zeilen sind ironisch,
verkehrt gemeint. <Man brachte die Verwendung der Umkehrung auch
in der folgenden Stelle!) Unsinn ist es, Treu und Redlichkeit zu üben.
Die nächste Singart lautet:
Dann steigst du als Regierungsrar
Ins kühle Grab.
Damit ist der Sinn der Strophe neuerdings umgekehrt. Die beiden
ersten Zeilen der Strophe sind nun umzukehren, um auf den Sinn
der Singart zu kommen. Sie sind jetzt folgendermaßen zu lesen:
Das Zersingen der Volkslieder
227
Qb' nimmer Treu und Redlichkeit usw, Der Gedankengang der
Strophe ist daher wieder erweitert. Endete er bei der letzten Sing*
art mit dem Satze, daß dem Braven kein Dank werde, so geht er
jetzt weiter: dafür wird er dem Sdiurken. Der Haß des Sängers
wendet sich jetzt schon deutlich nicht mehr so sehr gegen sein
Schicksal, als gegen die sein Schicksal beherrschenden Klassen. Der
Sänger beurteilt sich schon als Opfer dieser Klassen, als Opfer der
Korruption, Für diese korrumpierte Gesellschaft zu bluten, ist aber
doch wahrlich ein Unsinn.
Der Weltkrieg erzeugte noch eine Singart der Strophe, die
unsinnigste von allen. Sie lautet:
Dann steigst du als Regierender
Ins kühle Grab.
Sie ist die zeitlich letzte. Sie ist die haßerfüllteste, darum entstellteste.
Sie hat die Ursache des Elends gefunden. Der Regierende ist ja
niemand anderer als der Regent, der Kaiser, welche Worte wegen
ihrer Eindeutigkeit unverwendbar waren. Hat es sich bisher gezeigt,
daß bei uns, im alten Österreich, der Redliche keinen Lohn findet, daß
nur der Schurke Regierungsrat werde, so begründet die letzte Singart
diese Tatsache dadurch, daß sie den Herrscher mit seinen ver*
brecherischen Räten identifiziert. Für diesen Kaiser zu sterben aber
ist Unsinn, Diese unsinnige Strophe hat also einen sehr guten Sinn.
Dem Verständigen offenbart sie die Entwicklung der Psyche während
des Weltkrieges, zeigt sie den Weg zur Revolution.
Das Kleinzersingen ist demnach verursacht durch unbewußte
Gedanken und Wünsche und dient der Unlustenfernung, der Lust¬
gewinnung und der Verneinung 1 * ,
Symbolisierung 3 .
An einer Stelle dieser Arbeit 3 war ich gezwungen, einige
Bilder der Volksdichtung zu analysieren. Es waren dies die »Mühle«,
das Bild »Berg und Tal« und die »Nelke«, Ich habe die Erklärung
dieser Bilder dadurch zu erlangen versucht, daß ich Liedstellen ge*
sammelt habe, aus welchen der Sinn dieser Bilder eindeutig zu ent*
nehmen war. Diese Parallelen stammen alle aus der verbotenen
Literatur 3 .
Angesichts dieser Tatsache erhebt sich die Frage, ob man
berechtigt sei, für Bilder, welche sich in gleicher Weise sowohl in
der verbotenen als in der erlaubten Literatur finden, auch den
1 Nodi eine Ursache der Verunsinnung ist die Lust der Kinder am
Rhythmus. Um ihn zu erleben,, nehmen die Kinder Lieder Erwachsener und zer¬
singen sie. Beispiele zu geben ist wohl überflüssig.
% VgL Freud, Traumdeutung, S. 260.
3 Vgl. oben, S. 171 ff*
15 *
228
Dr. Hermann Go Ja
gleichen Sinn anzunehmen. Diese Frage zu beantworten gehört
nicht zu einer Arbeit über das Zersingen. Ich bin nur deshalb
genötigt, Stellung zu dieser Frage zu nehmen, da die Symbolisierung
des Anstößigen, d, h. die Ersetzung anstößiger Vorstellungen durch
unanstößige eine Form des Zersingens darstellt.
Ich bejahe sie, und zwar aus folgenden Gründen.
Es ist heute schon als Tatsache anerkannt, daß es keinen
wesentlichen Unterschied zwischen verbotener und zahmer Volks»
dichtung gebe 1 . Der Glaube, daß die Träger der verbotenen Volks»
dichtung andere seien als die der erlaubten, ist zerstoben. Als
Unterschied zwischen beiden Gattungen kann nur ein gradueller
festgestellt werden, nämlich ein Stärkeunterschied der aus dem Vor-
bewußten stammenden Strebungen gegen die Illudierung sexueller
Wünsche. Die Stärke dieser Strebungen ist in der zahmen Volks»
dichtung größer als in der verbotenen, wo sie unter Umständen
Null wird, und bewirkt dadurch in derselben stärkere Verschie»
bungen als in der letzteren. Aus der Tatsache der Einheit des
Trägers ergibt sich aber schon die Einheit des Bildsinnes. Denn es
ist zweifellos, daß ein Sänger, welcher bewußt ein Bild als Sexual*
symbol verwendet, an diese Bedeutung des Bildes mindestens un*
bewußt erinnert wird, wenn er es in anderer Umgebung wieder»
findet. Es ist auch zweifellos, daß unbewußte Erinnerung es ist,
welche ihn bestimmt, dieses Bild einem anderen Liede einzufügen.
Ferner wird nur aus der Annahme, daß die Bilder der Volks¬
dichtung Sexualsymbole sind, ihre Typik verständlich, da der Ver¬
gleich eines immer gleichen Gegenstandes mit einer überall gleichen
Umgebung immer und überall zu gleichen, also typischen Bildern
führen muß,- ferner ihre Lustbetonung, die sich als Übertragung der
Lust von dem Gegenstand auf sein Bild erklärt.
Übrigens hat schon Uhland die Zweideutigkeit mancher Bilder
der Volkspoesie erkannt. So zitiert er in seiner Abhandlung über
das Volkslied S. 268 eine Stelle aus dem Liede Nummer 58 seiner
Volksliedersammlung, welche lautet:
Wolt gott, ich so!t ir wünschen
zwo rosen auf einem zweig!
bemerkt dazu (Anmerkung 399): doppelsinnig, und fordert den
Vergleich mit einer Stelle aus Fischarts Gargantua 2 ; »wer wolts
außschlagen, zwo Kirschen an eine Stil«, Es ist nun wertvoll, daß
sich zu diesem Bilde auch Parallelen in den wenigen erotischen
Volksliedern finden, welche heute gesammelt vorliegen. Ich führe
nur ein Beispiel in zwei Varianten an:
Der Nagelstock ist in der Blüh',
__ Sind schon zwei Knospen dran 3 .
1 Vgl. Futiiitates, I, Einleitung.
1 Hallenser Neudrucke, Nr. 65—71, S. 113,
’ Blümml, Erotische Volkslieder, XXXVIII.
Das Zersingen der Volkslieder
229
und: Sie habn den Stock net gut eingsetzt.
Sein no zwa Wurzen draußt 1 * .
Der Wert dieser Stellen liegt darin, daß sie zeigen, daß man
durch Vergleich der Bilder unserer zahmen Volksdichtung mit denen
der erotischen tatsächlich den Sinn derselben erfassen kann.
Der einzige Einwand, welcher gegen diese Art der Interpre¬
tation erhoben werden kann, ist derjenige, daß die verglichenen
Lieder nicht aus derselben Zeit stammen, Uhland hat auch eine
gleichzeitige Belegstelle gewählt, Idh glaube, daß dieses Bedenken
entkräftet werden kann. Die erklärten Bilder sind beute noch lebendig,
und zwar sowohl in zahmen als auch in verbotenen Liedern, Es
handelt sich also doch immer um einen Vergleich gleichzeitig lebender
Bilder, während in die Entstehungszeit der Symbole zurückzugehen,
unmöglich sind. Sie sind wie international so ewig.
Es ist von besonderer Bedeutung, daß man zur Auffassung
der Bilder der Volksdichtung als Sexualsymbole auch dann ge¬
zwungen wird, wenn man auf die erotischen Volkslieder als Inter-
pretationsmittel verzichtet. Ich will dies an einem Beispiele zeigen. Wir
naben in dem 3. Kapitel dieser Schrift das Liedchen »Waere din werlt
alliu min usw. s unerklärt lassen müssen, da sich der Interpretation
der 10, Zeile Schwierigkeiten in den Weg stellten, Es handelte sich
hauptsächlich um die Frage, ob die Annahme, daß die Königin von
England Alienor von Poitou sei, berechtigt sei oder nicht.
England spielt nun in der Volksdichtung eine charakteristische
Rolle. Es ist ein typisches Land, In dem Liede »Der Pfalzgraf am
Rhein* 3 4 ist z, B. der Geliebte der Schwester der König von
England. England kehrt aber auch in Kinderliedchen wieder, z. B,
Eine kleine weiße Bohne
Reisete nach Engelland;
Engelland war zugeschlossen
Und der Schlüssel abgebrochen.
Pif puf paf, du bist af*.
England fällt in diesem Lieddien mit dem Schrein zusammen, in
dem das Herz des Geliebten eingeschlossen ist 5 .
Der Sinn des Wortes wird klar, wenn man den Simplicissimus 6
aufschlägt und im 5, Buche den Anfang des 8, Kapitels liest, Simplicissi¬
mus schildert dort seine Brautnacht und schreibt: »Aber die Pfeiffe fiel
mir bald in Dreck, dan da ich nunmehr vermeynete mit gutem Wind
in Engeland zuschiffen, kam ich wider alle Zuversicht in Holland, usw.«
1 Futilitates, I, XLV 0 , Vgl, dazu S* 151 das Lied »Ich sollt einmal den
Berg umgehn«, Z. 9, wodurch das Sexuelle als Lustquelle im latenten Inhalte nach*
gewiesen ist
1 VgL oben, S. H8 P
a Des Knaben Wunderhorn, S, 172.
4 Simrock, Das deutsche Kinderbuch, Nr. 750/ vgl, ebenda 749,
Vgl, oben, S, 172, IV, Z, 1—8.
* Hallenser Neudrucke, Nr. 19—25, S. 396.
230
Dr, Hermann Goja
Der Sinn dieser Stelle ist nur der: Simplicissimus findet seine
Frau nidit mehr im Besitze der Jungfräulichkeit. Ein Blick auf die
angeführten Beispiele zeigt aber sofort, daß diese symbolische Be«
deutung des Wortes auch bei ihnen Geltung hat. Ich glaube daher,
daß es auch für das Goliardenlieddien genug ist, sich bei dieser
Symbolbedeutung zu bescheiden und keine historischen Personen
hinter dem König oder der Königin zu suchen. Das Liedchen gewinnt ja
durch diese seinen Sängern entsprechende Zweideutigkeit an Leben.
Das Verständnis des typischen Ländernamens kann man aber
noch auf eine andere Weise gewinnen: durch Studium der Rätsel-
literatur. Man lese diese Rätsel:
oder:
oder:
Dor keem'n lütt tünning ut Holland,
hadd nich staff oder band, un keem liker ut Holland * 1 .
Es liegt eine tonne in Engelland,
sie hat weder stab noch band,
und doch liegt die tonne in Engelland 1 3 ,
Dor kümmt 'n schipp ut Amsterdam,
dor sitt nich reep oder band an 1 .
Ihre Lösung ist »Ei«. England und Holland haben hier dieselbe Be¬
deutung, als in dem Satze des Simplicissimus. Amsterdam ist wohl
eine Verschiebung, um das zu deutliche England zu vermeiden.
Aber selbst der König von England kehrt in den Rätseln wieder:
Kommt der König von Engelland,
Weiß und schwarz ist sein Gewand,
Ein fleischener Kamm, ein fleiscfiener Bart,
Wers nit weiß, erratet's hart 4 .
Er ist hier der Hahn.
Ich glaube die typische Bedeutung des Wortes England er¬
wiesen zu haben. Sie zu finden ist wie in allen Fällen, in denen
es sich um Symbolbedeutung handelt, dadurch erschwert, daß das
Wort auch da verwendet wird, wo aus dem Zusammenhänge diese
Bedeutung nicht erschlossen werden kann:
Keem'n mann von Haken,
hadd'n groot witt (aken,
wull de ganze weit bedecken,
künn nich oewer't water recken fi .
Haken wird dann durch Engelland, Holland ersetzt. Ursache ist
wohl die unbewußte Freude an der Zweideutigkeit des Wortes.
Vom Standpunkte des Zersingens aus ist es wieder die Einführung
einer neuen Lustquelle in das Rätsel, Luststeigerung,
1 Wossidlo, Mecklenburgische Volksüberlieferungen, I, Nr. 25 a.
1 Ebenda, Nr. 25 b.
3 Ebenda, Nr, 25c,
* Petsch, Neue Beiträge zur Kenntnis des Volksrätsels, S, 118.
3 Wossidlo, Mecklenburgische Volks überliefer ungen, 1, Nr. 22.
Das Zersingen der Volkslieder
231
Ich glaube, daß durch solche Untersuchungen für viele Bilder
der Volksdichtung sexuelle Bedeutung nachgewiesen zu werden
vermag. Sie aber in dem einzelnen Falle ohne Prüfung voraus-
zusetzen, wäre nicht zu rechtfertigen.
Unter Beachtung der Symbolbedeutung ist es uns schon ge¬
lungen einen Fall des Zersingens zu erklären. Ich will nun einen
zweiten der Analyse unterziehen, und zwar das Dreililienlied, Leider
war mir bei diesem Liede ein voller Erfolg versagt. Ich gebe im
Folgenden zunächst die Lieder:
I * 1 .
i 1. Es blies ein jeger wol in sein horn
alleweil bei der nacht,
und alles was er blies das war verlorn.
2. ,SoI denn mein blasen verloren sein,
s vil lieber wolt ich kein jeger sein,'
3. Er zog sein netz wol übern Strauch,
da sprang ein schwarzbrauns meidel herauß.
4. ,Ach schwarzbrauns meidel, entspring mir nicht!
ich habe große hunde, die holen dich.'
io 5, ,Deine große hunde die tun mir nichts,
sie wißen meine hohe weite Sprünge noch nicht.'
6, ,Deine hohe weite Sprünge die wißen sie wol,
sie wißen daß heute noch sterben solt.'
7 . ,Und stirb ich nu, so bin ich tot,
is begrebt man mich under die rosen rot.
8. Wol under die rosen, wol under den kle,
Darunder verge ich nimmerme!'
9, Es wuchsen drei lilien uf irem grab,
es kam ein reuter, wolts brechen ab.
20 10. ,Ach reuter, laß die lilien stan!
es sol sie ein junger frischer jeger han.'
II 2 .
i Drei Lilien, drei Lilien,
Die pflanzt ich auf mein Grab,
Walera
Da kam ein stolzer Reiter
5 Und brach sie ab,
R e fr.: Mit Juwiheirasasasasasasa,
Mit Juwiheirasasasasasasa,
Da kam ein stolzer Reiter
Und brach sie ah.
1 Uhland, Alte hoch" und niederdeutsche Volkslieder, Nr. 103.
1 Fassung des Schür 24.
232
Dr. Hermann Goja
io Ach Reitersmann, ach Reitersmann,
Laß du die Lilien stehn,
Walera,
Sie sollen ja mein feins Liebdien
Noch einmal sehn, Refr.
15 Was kümmert mich dein Liebdien,
Was kümmert midi dein Grab,
Walera,
Ich bin ein stolzer Reiter!
Und bradi sie ab. Refr.
20 Und sterbe idi noch heute,
So bin ich morgen tot.
Walera,
Dann begraben midi die Leute
Ums Morgenrot, Refr.
25 Ums Morgenrot, ums Morgenrot
Will ich begraben sein.
Walera.
Dann schläft ja mein Feinsliebdhen
So still, so fein, Refr.
Das Lied hat während des Weltkrieges, trotzdem es bei meinem
Regimente eines der beliebtesten Lieder war, keine objektiven Sing**
arten erzeugt, ein Beweis, wie sehr es der Psyche der Sänger ent"
sprechend war 1 * 3 .
Ich beginne mit der Analyse von I: Das Lied beginnt mit
einem lebhaften Bilde, Der Jäger steht und bläst in sein Horn <Ii>.
Warum er bläst, sagt das Lied nicht (L ist schon zersungen), wir er¬
fahren es aus anderen Liedern, z. B. aus dem Liede »Der Glücksjäger« a :
3. Es blies der Jäger in sein Horn,
Er blies das Wild wol aus dem Korn.
Er blies also, um das Wild aus dem Lager aufzujagen. Diese
Singart erklärt jedoch noch nicht 1 2 . Dies tut folgendes Fragment;
Ick bin ein jeger und vöer ein Horn,
all dat ick jage is vorlarn 8 ,
das auch durch seinen Schluß wertvoll ist:
noch wil ick jagen dach und nacht
bet ick einen steden bolen krigcn mach.
Die Jagd ist also nur ein Bild, Jäger und Wild sind nichts anderes
als Mann und Mädchen, Ich hätte dies nicht so weitschweifig nach«
1 ^’ n £ artei1 waren nur folgende: 10 Adi Reiter, lieber Reitersmann,
11 du ) doch 13 Die soll 15 sdiert mich denn
s Erk-Böhme, Deutscher Liederhort, III, 1456.
3 Uhland, Alte hoch» und niederdeutsche Volkslieder, Nr. 102.
Das Zersingen der Volkslieder
233
zuweisen brauchen,- diese Tatsache ist ja allgemein bekannt und
anerkannt. »Die Vorstellung der Liebe als eine Jagd ist wohl in
jeder Literatur eine ehrwürdig alte Erscheinung, und im heutigen
Volkslied spielt sie eine wichtige Rolle. Das Mädchen ist das Wild,
dem der Jäger nachstreift 1 .« Die Singart 1 2 dient dann der Moti»
vierung des Grimms unseres Jägers. So viel er bläst, kein Tier
springt erschreckt auf, er bläst vergebens. Es ist selbstverständlich,
daß es dem Mäddien schlecht ergehen muß, das er dann für ein
Wild fängt. Wir erkennen die Ursache des Zersingens, eine wenig»
stens, es ist die Rationalisierung des Bildes, Sie ist mißglückt.
Über die folgenden Zeilen Is-ao kann ich flüchtiger hinweg»
gehen, trotzdem sie eine Fülle des Interessanten bilden. Der Jäger
wirft sein Netz, fängt ein Mädchen und beginnt ein Gespräch, aas
mit der Todesdrohung endet:
Sie wißen daß heute noch sterben solt!* * <1 13 )
Damit stehen wir auf umstrittenem Boden.
Noch kommen wir weiter. Ist die Jagd wirklich ein Bild der Liebe,
dann ist das Bild »Toten des Wildes« unseres Liedes nur mit
»Vergewaltigung des Mädchens« zu übersetzen. Denn nur die Schän»
düng desselben kann, wenn man den Gedankengang sinngemäß weiter»
führt, auf das Gespräch der Beiden folgen. Dem entspricht auch die
Tatsache, daß das Lied von dieser Stelle an stark zersungen ist, Die Illu»
dierung einer Schändung muß Widerstrebungen des Vorbewußten
auslösen, die sich in Entstellungen des manifesten Inhaltes offenbaren.
Ich brauche jedoch nicht eine Theorie des Zersingens heranzuziehen,
um diesen Schluß zu verifizieren. Singarten unseres Liedes, denen
die umstrittenen Strophen fehlen, und welche im ganzen eine mildere
Fassung des Liedes darstellen, bringen nach dem Fang des Mädchens
den Hinweis auf den nun erfolgenden Liebesgenuß:
Er warf ihr’s Netz wol um den Leib,
Alleweil bei der Nacht;
Da ward sie des jungen Jägers Weib,
Alleweil, alleweil Jägers Weib,
Alleweil bei der Nacht*.
Das Töten eines Tieres auf der Jagd als Bild des Liebesge»
nusses ist typisch in unserer Volksdichtung; Ich gebe nur einige Beispiele:
Wenn i a Jager war
Schießet i a Taub'n,
Die rothe Wanglan hat
Und kohlschwarze AugV,
1 Marriage, Der Mensch und die Pflanzen» und Tierwelt im Volkslied, S, 139.
S I 13*
* Erk'-Böhme, Deutscher Liederhort, I, 19 d. Vgl. Simrodt, Die deutschen
Volksbücher, VIII, Nr, 94.
* Marriage, Der Mensch und die Pflanzen» und Tierwelt im Volkslied, S. 139,
234
Dr. Hermann Goja
Ih sdiiaß ma koa Hirscherl,
Ih schiaß ma koa Reh'
III sdiiaß ma mei Reserl
Und thua ihr not weh *.
Sehr zweideutig ist das folgende:
Ais Hansel über die Heid hinsprang
Sdioß er nach einer Taube;
Er sdioß der Taub eine Feder aus
Und ließ sie wieder Riegen*,
»Aus dem Zusammenhang des Lieds ergiebt sich, daß Hansel ein
Mädchen verführt, <schießt der Taub eine Feder aus) und verläßt
<läßt sie wieder fliegen)«, bemerkt Marriage zu der Stelle.
Nur um zu zeigen, daß die erotische Volksdichtung das Bild
ebenfalls kennt, führe ich an:
Ich pfleg ihn nachzugehen
Solang, biß es wil stehen.
Dann sdiieß ich sie,
Wann idi den Fertt kann sehen.
Dreff ich etwa eine Hinde
Vnndt ich alßdann befinde.
Dz sie todtlidi verwundet ist,
Laß idi sie laufen geschwinde®,
oder (
machst du mir eins, so werdts gemacht,
stich nun braff zu, das bette kracht, ja bette kracht 1 * 3 4 * ,
Die Bilder der erotischen Volksdichtung zeigen in diesem Falle
deutlich den Wert und den Zweck der aus dem Vorbewußten
kommenden Strebungen, Diese Strebungen fehlen fast vollständig
in den Bewußtsein, die sie illudieren. Uns, in denen das Streben
nach Illudierung des Sexuellen sofort Widerstrebungen des Vorbei
wußten auslöst, erregen diese Bilder nicht Lust, sondern Unlust,
Lust zu erleben ist uns nur möglich in Bildern, welche ein Kom**
promiß beider Strebungen darstellen, also in den ersten der vorher¬
gehenden Beispiele.
Durch die Fülle der Beispiele sind wir also zu der Über¬
zeugung gelangt, daß das Töten des Mädchens in unserem Liede
seine Schändung bedeutet. Was bedeutet nun das Begraben werden?
< 125 — 32 ), Darauf will ich später antworten.
Es wuchsen drei lilien uf irem grab,
_ es kam ein reuter, woits brechen ab 6 .
1 Marriage, Der Mensch usw,, S. 141.
1 Ebenda, S. 139.
3 Futilitates, I, LXII1, 4.
4 E, K. Blümml, Erotische Volkslieder, XXXIX, 2, Fassung, Strophe 14,
6 I, 18-19.
Das Zersingen der Volkslieder
235
Über die drei Lilien dieser Zeilen ist schon viel geschrieben
worden 1 * , ohne eine überzeugende Interpretation zustande zu
bringen. Stellen wir zunächst fest, daß in diesen zwei Zeilen zwei
Bilder, zwei Symbole vermengt, verdichtet, erscheinen: das uns Un-
verständliche der drei Lilien und das des Rosenbrechens. Ein Lied
des Ambraser Liederbuches beginnt:
O bawren knecht las die rößlein stahn,
sie sein nit dein,
du tregst noch wol von nesseln kraut
ein krentzelein*.
Die erste Zeile dieser Strophe deckt sich mit Zeile 37 von I, Das
Brechen der drei Lilien ist also ursprünglich ein Rosenbrechen,
Rosenbrechen ist aber ein Bild des Liebesgenusses, Man vergleiche
dazu Uhlands Abhandlung über die Volkslieder S. 421 ff . 3 und
die Bemerkungen Aigremonts 4 . Vielleicht ist es ein Durchbrechen
dieser Formel vom Rosenbrechen, wenn in einigen Fassungen drei
Rosen auf dem Grabe erblühen;
Sie pflanzten drei Röslein auf meim Grab
Da kam mein Schatz und brach sie ab a .
oder:
Es wachsen drei Röslein auf meinem Grab
Da kam mein Schatz und brach sie ah 9 .
Wir merken jetzt schon, daß wir es bei diesem Fall des Zer**
singens wieder mit einem Verdichtungsprozeß zu tun haben, wie in
dem Liede S, 171 ff,
Suchen wir jetzt zum Verständnis der drei Lilien zu gelangen.
Zuerst können wir die Zahl drei ausschalten,- sie gehört nicht not* 1
wendig zu dem Bilde, da die Lilie auch oft in der Einzahl er¬
scheint. Z. B,:
Es wuchs eine Lilje auf ihrem Grab,
Kam ein Reiter und brach sie ab’.
Die Dreizahl erscheint dafür auch an anderer Stelle:
> »Und sterb ich denn heut, so bin ich todt.
So begraben sie mich unter drei Röslein roth* 4 ®.
i Vgl. z. B. V. Streicher, Zf, d. U. X,- F. Schöntag Zf. d. U. XD Ed Nettle,
Zf d U XII* R. Becker, Zf. d. U. XII,* R. Prahl, Zf. d. U. XIII/ Th. Schaufler,
Zf! d. U. XIII/ E. W ürtemberg, Zf. d. U. XV.
* Ambraser Liederbuch, Nr. 9. .
* Vgi, Marriage, Der Mensch und die Pflanzen^- und Tierwelt im Volks*
Iied ' S * 7 * 'c Volkserotik und Pflanzenwelt, I, 111, 112, 115.
i Marriage, Der Mensch und die Pflanzen» und Tierwelt im Volkslied, S. 131.
* Ebenda, S. 131.
7 Erk-Böhme, Deutscher Liederhort, I, 19e.
« Ebenda, I, 19 g.
236
Dr. Hermann Goja
Drei gehört also nicht notwendig zu dem Bilde der Lilie. Sie ist
aber selbst ein Bild und muß demnach später ebenfalls untersucht
werden. Die Lilie selbst steht aber auch nicht in allen Fassungen,
sie wechselt vielmehr öfter den Platz mit der Nelke. E. B.:
Es wuchs sich eine Nelke wohl aus dem meinen Grab,
Da kam der stolze Jager und brach sie mir ab.
Ach Jäger, lieber Jäger! laß du die Nelken stehn.
Die soll es mein herztausender Sdiatz noch einmal sehn 1 .
Lilie und Nelke sind daher identisch. Wir haben die Nelke
als Sexualsymbol kennen gelernt. Die Lilie ist ein gleiches. Diese
Behauptung mag ungeheuerlich erscheinen gegenüber der Tatsache,
daß die Lilie das Jahrtausende alte Symbol der Reinheit ist. Dieser
Begriff der Reinheit, der sich an das Symbol heftet, ist aber doch
verständlich. Er ist eine Überlagerung des alten Symbols, um es
gegen die Strebungen des Vorbewußten behaupten zu können.
Daß die Lilie in der Volksdichtung ein Symbol des männlichen
Genitales ist, beweist die Tatsache, daß sie einerseits Platz tauscht
mit anderen Symbolen desselben und anderseits sich mit der Rose, dem
beliebtesten Symbol des weiblichen Genitales paart. Man vergleiche:
Keine Rose, keine Nelke
Kann blühen so schön.
Als wenn zwei verliebte Seelen
Bei einander thun stehn»,
und:
Keine Rose, keine Tulpe
Kann blühen so schön, usw. 11
mit:
Drei Lilien im Garten,
Drei Rosen im Feld 1 ,
Ich muß mich jetzt heirate
Sunschd werr idi ze alt 4 .
Aber noch überzeugender ist die Stelle aus demTexte Erks undBöhmes:
12. Das dritte war ein Lügen weiß, Lilgen weiß,
Steckt er's auf sein Hut mit Fleiß.
13. Damit thät er groß Übermuth, groß Übermuth,
Thät selten den Bauren = Mädchen gut 11 .
Noch eines kann man beadhten. Ich habe früher als doppel¬
sinnig angeführt:
Wolt gott, ich solt ir wünschen
_zwo rosen auf einem zweig! 8
* Marriage, Der Mensch und die Pflanzen- und Tierwelt im Volkslied, S. 133,
2 Ebenda, S- 106.
3 Ebenda, S. 106.
4 Ebenda, S. 108.
s Erk-Böhme, Deutscher Liederhort, I, 19 b.
■ Vgl. oben, S. 228
Das Zersingen der Volkslieder
237
Der von Erk und Böhme als ältester angeführte Text hat nun
in der entscheidenden Strophe nicht die drei Lilien. Der betreffende
Teil des Liedes lautet;
9. Es stund kaum an den dritten Tag, dritten Tag,
Da wuchsen drei Blumen aus ihrem Grab.
10. Das erste war ein Röslein roth, Röslein roth.
Gewachsen von der Herzliebsten todt.
11, Das ander war ein Nägelein, ein Nägelein,
War gewachsen von der Herzliebsten mein 1 .
Erst das dritte war »ein Lilgen weiß« <vgl, die Strophe 12 auf der
vorhergehenden Seite). Das deutlichste Symbol bestand also aus einem
Zweig und zwei Rosen, Das neue besteht aus zwei Zweigen und einer
Rose, ist also eine Umkehrung des alten, und das letzte besteht aus
drei Zweigen: drei Lilien. Was dieses letzte an Deutlichkeit durch den
Verlust der Ähnlichkeit eingebüßt hat, hat es durch den Gewinn der Drei
wieder erworben. Denn die Drei ist ebenfalls ein Genitalsymbol; »Weif
sie es on diß vom ledigen stand her gewonet seind, jren Bulen Nullen
für drey zu verkauffen«, schreibt Fischart in der Ges chichts Witterung
über die Weiber 2 . —In der Wandlung des Symbols erkennen wir
aber wieder das Wirken von Strebungen des Vorbewußten, welche
mit fortschreitender Entwicklung immer mehr an Kraft gewinnen.
Wir haben oben festgestellt, daß das Bild des drei »Lilien
Brechens« eine Verdichtung darstellt/ wir wissen jetzt, daß es eine
Verdichtung des Bildes »zwei Röslein auf einem Zweig«, mit dem
des Rosenbrechens und dem der Drei ist. Damit ist aber die Reihe
der hier vereinigten Bilder noch nicht abgeschlossen. In einem Volks»
liede »Lachen und Weinen« 3 , das zum manifesten Inhalte wieder
eine Verführung durch den Jäger hat, lautet die dritte Strophe:
Sie giengen mit einander den Berg hinauf gar balde,
Sie setzten sich nieder bei einem Bauin im Walde,
Er brach sich ab einen grünen Zweig
Und machte das Mädchen zu seinem Weib,
Da lachte das Mädchen so sehr.
In dieser Strophe erscheint das Bild des »einen Zweig Ab»
brechens« in derselben Bedeutung wie das des Rosenbrechens. Beide
Bilder waren offenbar ursprünglich selbständig. Das Bild des Zweig»
brechens erscheint auch sonst im Volksliede, und zwar immer des»
selben Sinnes, einem Apfelbäumelein,
Da bredh ich mir ein Reis,
Aus einem wachem Mägdelein,
Da mach ich mir ein Weib 4 .
1 Erk-BÖhme, Deutscher Liederhort, I, 19 b.
2 Hallenser Neudrucke, Nr, 65—71, S, 116,
3 A. Simrodc, Die deutschen Volksbücher, VIII, Nr. 102.
1 Ebenda, Nr. 114.
238
Dr. Hermann Goja
So lautet die vorletzte Strophe eines anderen Liedes. Es wird
nicht wundernehmen, wenn man dieses Bild auch in ziemlich frivolen
Liedern wiederfindet. So erzählt denn ein Sänger: 1 2
Der Mai, der Mai, der lustige Mai,
Der kommt heran gerausdiet*
Ich gieng in den Busch und brach mir einen Mai,
Der Mai und der war grüne,
Faldera Vidubbedubbcdubb,
Der Mai und der war grüne.
Er geht dann vor Liebchens Fenster und bittet um Einlaß, er bringe
ihm den Mai von Grüne. Aber das Mädchen durchschaut ihn
und spricht:
Der Mai, den du mir bringen willst,
Den laß du mir dadraußen usw.
Daß in dem Bilde des Zweigbrediens die Lilie für den Zweig gesetzt
werden kann, ist durch die Ähnlichkeit der Lilie mit einem Zweige
möglich gemacht. Die Lilie wird eingesetzt, weil das Mädchen rein ist 8 ,
Stellen wir fest, was wir bisher als Inhalt der zersungenen
Strophen erkannt haben. Es waren zwei Bilder der Schändung,
das Töten des Opfers und das des Zweigbrechens,
Noch verwirrt eines den manifesten Inhalt des Liedes: der
Reiter, der Z. 34 plötzlich hineinspringt. Wenn die Analyse richtig
ist, dann ist dieser Reiter unverständlich. Nicht ein Reiter darf die
Lilien brechen, sondern der Jäger. Wenn das Mädchen seinem Be«
zwinger um Erbarmen anfleht, dann muß es den Jäger bitten. Noch
weniger darf es sprechen:
Ach reuter, laß die lilicn stan!
es sol sie ein junger frischer jeger han! (1 20 — 21 ).
Tatsächlich bestehen Fassungen dieser Wanderstrophe, in denen der
Schatz die Röslein bricht. Vgl. die beiden Beispiele S. 235! In der
ältesten Fassung unseres Liedes warnt das Mädchen den Jäger:
Wohl unter die Röslein, wol unter grünen Klee, unter grünen Klee,
Doch Scheiden von der Herz liebsten, das thut weh.
Das Mädchen bezeichnet sich hier selbst als die Herzliebste des Jägers.
Es ist nun die Frage, ob nicht der Jäger der ersten Liedzeile
und der Reuter der neunzehnten ein und dieselbe Person sind. Einer
der meist belegten Ausdrücke der erotischen Literatur für coire ist
1 Ebenda, Nr. 108. Ähnlich:
Und wie ich nun erwachte
Da lag der Zweig und lachte,
Ich dachte es war das Zweigelein
Derwelle war's Nachbars Söhnelein.
<Mfliriage, Der Mensch und die Pflanzen* und Tierwelt, S. 117 .}
2 Darin zeigt sich die Wirkung des kirchlichen Symbols.
Das Zersingen der Volkslieder
239
ja der Ausdruck reiten. Ich gebe an Steife einiger schon gedruckter
Beispiele eines aus meiner eigenen Sammlung (belegt 1854—56,
Ober^St. Veit, Wien):
De-uliöh, de-utiöh,
Das Reiten is mei Leb'n jucfihe!
De-ulioh, de-uliöh.
Das Reiten is mei' Leb'n.
Ohne Zügel, ohne Zam
Reit i auf mein Mensch daham,
De=uliöh, de^uliöh.
Das Reiten is mei Leb'n.
Ganz sinngemäß wird daher der Mann, welcher am Anfang des
Liedes, in dem er das Mädchen verfolgt, als Jäger bezeichnet wurde,
jetzt am Ende desselben der Situation entsprechend als Reuters=
mann bezeichnet. Diese Anrede des Mädchens bestätigt die
Richtigkeit meiner Analyse. Das Lied ist ein Schändungs 3
lied. Der junge, frische Jägersmann der zwanzigsten Liedzeile ist
dann der Bräutigam des Mädchens.
Alles ist erklärt bis auf das Bild des »unter Rosen begraben
sein«. Ich gestehe, daß ich keine überzeugenden Parallelen gefunden
habe, die diese Stellen erklären helfen. Ich mutmaße, daß das Bild
des Grabes identisch ist mit dem der Rose. Zu dieser Annahme
wurde ich durch den Umstand gebracht, daß das S. 173 mitgeteilte
Lied V nach Strophe 5 audh folgendermaßen fortgesetzt wird:
Und soll ich einsmals scheiden.
Wo begräbt man mich dann hin?
In meines Liebchens Garten,
Wo rothe Röslein stehn*.
Da der Garten des Liebchens dessen Schoß ist, so ist auch
das Grab des Geliebten fixiert. — Auch das Lied GXL derHeideL
berger Handschrift Pal 343 führt zu dieser Annahme. Ich gebe die
entscheidenden Strophen:
6 . Guot Hensiin ließ sein rösslin beschlagen,
es soll in de» hohen berg uf tragen.
7. Wie hoher berg, wie tiefe taf!
Es ist sdiad daß Hensiin sterben soll.
8 . ,Und stirb idi dann so bin ich tot,
so begrebt man mich ander die röslm rot.
9. So begrebt man mich an dieselben statt
do mir mein buol die trew uf gab 2 /
Hier ist das Bild von Berg und Tal, welches dem des Grabes
vorausgeht, das die Annahme nahelegt.
1 Simrodc, Die deutschen Volksbücher, VIII, Nr. 154.
3 Uhland, Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, Nr. 150.
240
Dr. Hermann Goja
Damit ist I erklärt, ist die Fülle der Singarten gedeutet. Die
Analyse hat gezeigt, daß eine Erklärung vieler Singarten nur dann
möglich ist, wenn man die Bilder der Volksdichtung als Symbole
nimmt, die sich mit der Entwicklung der Volksseele wandeln, Das
Zersingen unter Symbolbildung findet immer unter der Wirkung
von Widerstrebungen des Vorbewußten statt und dient im höchsten
Maße der Lustgewinnung. Man kann dabei unterscheiden: 1, Das
Ersetzen des Gegenstandes durdi sein Symbol. 2. Das Zersingen
der Symbole.
II bietet nach der Analyse von I keine bedeutende Schwierig¬
keiten mehr. Es ist die Verschiebung des Jäger- in ein Reiter-
Soldaten-) lied. Deshalb ist der Anfang von I entfallen. Das neue
Lied beginnt mit den Bitten des Mädchens, bringt dann <neu> eine
rohe Antwort des Reiters und zum Schluß die Ergebung des Opfers
an ihren Bntehrer 1 , In dem Bilde des Morgenrotes mischt es dann
Sexuelles 2 mit Soldatischem.
Damit bin ich am Ende meiner Arbeit, Andere Fälle des
Zersingens als Verdichtung, Verschiebung, Auslassung und Symboli-
sierung gibt es nicht. Die Arbeit hat gezeigt, daß das Zersingen
der Volkslieder frei von Zufälligem ist, hat gezeigt, daß es bedingt
ist durch V^andlungen der menschlichen Seele, daß es immer ent¬
weder der Unlustentfernung oder der Lustgewinnung dient,- sie
hat also auch auf diesem Gebiete gezeigt, daß die Kunst nur eine
Aufgabe bat und diese immer erfüllt: die Beglüdcung des Menschen,
Literatur,
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Das Zersingen der Volkslieder
241
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Die Entwicklung des Apostels Paulus
243
Die Entwicklung des Apostels Paulus.
Eine religionsgeschichtliche und psychologische Skizze,
Von Dr, O, PFISTER, Pfarrer in Zürich.
Ü ber Paulus ist so viel geschrieben und geredet worden, daß
es überflüssig scheinen mag, diese Riesengestalt wiederum
vorzuführen 1 . Wenn ich es dennoch wage, den geistesmäch«
tigen Apostel zu besprechen, so geschieht es keineswegs mit dem
Anspruch, seinen Entwicklungsgang restlos verständlich zu mähen.
Allein mir scheint es, daß weder die bisherige Verwertung des
religionsgeshihtlidien Materials, wie sie wenigstens vorherrsht, ge«
nügt, noh die psychologische Methodik, deren man sih bediente,
strengeren Anforderungen standhält. Der letztere Fehler scheint die
Unklarheit und Unsicherheit in ersterer Hinsiht vershuldet zu
haben,- denn wie kann das religionshistorishe Problem gelöst werden,
solange die Religionspsyhologie uns die Gesetze der Religions«
bfldung vorenthalten hat? Was meine Untersuchungen von allen
üblichen unterscheidet, ist hauptsächlich der Umstand, daß ih mih
beständig auf religionspsyhologishe Beobahtungen an lebenden
Menschen stütze.
In einem vorbereitenden Teile prüfe ih zunähst die histori«
shen Determinanten, die für Paulus in Betracht kommen, noh ohne
Rücksicht auf ihre Kausalbeziehung. Nachdem wir uns sodann über
einige psychologische Voraussetzungen verständigten, treten wir an
das eigentlihe Problem heran.
I. Mögliche historische Determinanten noch abgesehen von
ihrem Einfluß auf Paulus.
A. Jüdische Determinanten.
a> Vor seiner Bekehrung.
Paulus ist in erster Linie Jude, »beschnitten am achten Tage,
aus dem Volke Israel, aus dem Stamme Benjamin, Hebräer von
Hebräern, ein gesetzestreuer Pharisäer, ein eifriger Verfolger der
1 Vorstehende Arbeit wurde im Herbst 1913 einem theologischen Kreis
in Zürich vorgetragen.
244
Dr, O. Pfister
Gemeinde, nach der im Gesetz vorgeschriebenen Gerechtigkeit un¬
tadelig« <Phil, 3, 5 und 6). Im jüdischen Wesen übertraf er viele
Altersgenossen seines Volkes <Gal. 1, 14) an übertriebenem Eifer
für die väterlichen "Überlieferungen,
Soweit wir die juvenile Frömmigkeit des Paulus kennen, ist
sie echt jüdisch, Andeutungen genügen: Jüdisch ist die religiöse
Grundstimmung, ein Bangen vor Gott im Bewußtsein ungenügender
Erfüllung“ des mosaischen Gesetzes, ein brennendes Verlangen, die
schmerzlich empfundene Minderwertigkeit durch ostentative Leistungen
zu überwinden, also ein juristisches und knechtisches Verhalten
gegen Gott, die Psychologie des überschuldeten Kleinbürgers ins
Religiöse verpflanzt. Was Paulus vom Normaltypus unterscheidet,
ihn vor seinen pharisäischen Standesgenossen auszeichnet, ist wohl
die ernstere Grundstimmung, die nie in stolzes Pochen auf Werke
umschlug, es ist die stärkere Angst, die von feineren Gewissens¬
regungen Zeugnis ablegt, und ihr Abwehrprodukt, der verschärfte
Fanatismus. In allen diesen Äußerungen des Nomismus finden wir
nichts un jüdisch es, aber es ist wohl zu berücksichtigen, daß wir nur
äußerst wenig über die vordamaszenische Frömmigkeit und ihren
unbewußten Hintergrund wissen.
Auch der Haß gegen das Christentum läßt sich mit jüdischen
Gedanken in Beziehung setzen. Paulus selbst beruft sich Gal, 3,
10 und i3 auf zwei Gesetzesstellen: Deut. 27, 26: »Verflucht,
wer nicht bleibt in allem, was im Gesetzbuch geschrieben steht, daß
er es tue,« und Deut, 21,23: ^Verflucht ist jeder, der am Holze hängt.«
b) Nach der Bekehrung.
Kaum schwieriger ist die Frage, welche Vorstellungen des
Christen Paulus Parallelen im jüdischen Glaubensleben aufweisen.
Die Erlösungsfrömmigkeit trägt jederzeit die Stigmata der früheren
Gebundenheit an sich. Der Apostel bestärigt diesen Satz
a ) bezug auf die in der Erlösung besiegten, die Er¬
lösungsbedürftigkeit erzeugenden Mächte,- und zwar
erstlich die im Menschen liegende sündliche Macht, das Fleisch.
Bekanntlich redet Paulus von der sarx nicht immer in gleichem
Sinne. Sie ist Stoff in der Verbindung »Fleisdi und Blut« <1. Kor. 15,
50) und einigen anderen Zusammenhängen, bedeutet aber nach
Schmiedel meistens »die ganze niedere Seite des Menschen und
steht somit auf Seite der Sünde gegenüber dem Nus und Pneuma«
{Handkommentar, Exkurs zu II. Kor, 7, 1). Sie ist von Natur
sündhaft, geistwidrige Potenz {Holtzmann, Lehrb. d. neutest.
Theol. II, 21), die wider den Geist gelüstet <Gal. 5, 17) und nicht
anders kann, als in die Sünde treiben. Der erlöste Mensch hat nach
Gal, 5, 24 sein Fleisch gekreuzigt samt den Lüsten und Begierden.
Er wandelt, obwohl im Fleische, so doch nicht nach dem Fleische
<11, Kor, 10, 3), er ist nicht mehr fleischlich <Röm. 8, 9),
Die Entwicklung des Apostels Paulus
245
Ist dies jüdisch gedacht? Schmiedel läßt höchstens die milderen
Sätze für alttestamentlich gelten (Komm. a. a, O. 255). »Das
Fleisch ist nach dem Alten Testament schwach und der Verführung
ausgesetzt, aber nicht positiv und aktiv sündig.« Im nachbiblisdien
Judentum verschärfte sich zwar der Gegensatz von Fleisch und
Geist, doch wird das Fleisch nicht als solches Träger der Sünde
(Bertholet, Die Religion in Geschichte und Gegenwart, s, v, Fleisdh).
Weine! gibt an, das Judentum sei dazu übergegangen, das radikale
Böse im Menschen auf die Vererbung eines »bösen Keimes« im
Fleische des Menschen zurückzu führen (Weinei, Bibi, Theol, des
N, T, 35>/ als Belege führt er Baruch und Esra an. Allein beide
Apokalypsen entstanden erst nach der Zerstörung Jerusalems (Fiebig,
Die Reh in Gesdi, u. Gegenwart, I, 519, Holtzmann nennt sie »nach*
christlich«, I, 75). Jedenfalls ist die paulinische Lehre vom Fleisch nicht
genuin jüdisch, wenn sie auch von manchen Juden vertreten wurde.
Der Erlösung bedarf der Mensch nach Paulus sodann, weil
durch Adams Fehltritt Sünde und Tod in die Menschheit kamen,
und die Schuld des Stammvaters den Nachkommen angerechnet
wird (Lipsius, Handkomm, zu Röm. 5, 14, Holtzmann 44), Finden
wir diese Vorstellung, die nach Jülidier (Die Schriften des N, T. II,
30) ungefähr auf die kirchliche Idee der Erbsünde hinausläuft, inner*
halb des Judentums nachweisbar? Nach Immer leitete in der Tat
die spätere jüdische Theologie die Sündhaftigkeit und den Tod von
der Übertretung des ersten Men sehen paares ah, was in Sap, 2, 24
und Sirac. 25, 23 ausgedruckt sein soll (Immer, Theol. des N, T,
256). In Wirklichkeit steht an der ersteren Stelle nichts von Erb¬
sünde gesagt. »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, der
Tod ist aber durch den Neid des Teufels in die Welt gekommen,
und alle, die sein Teil sind, erfahren ihn« — das ist alles. Somit
kann auch die Lehre von der Zurechnung der Sünde Adams nicht
als jüdisches Erbgut in Betracht gezogen werden.
Dagegen erkennen wir in der Erlösung als einer Befreiung
von Gottes gerechtem Zorn (Röm. 5, 9) ein Motiv, das uns
in der jüdischen Welt seit den Tagen der ersten Schriftpropheten
häufig unter die Augen kommt. Es dürfte überflüssig sein, die tief*
greifende Bedeutung dieses Parallelismus 1 weiter nachzuweisen.
Auch der Willkürlidie, despotische Gott des Paulus, der verstockt,
wen er will (Röm. 9, 18), findet seinesgleichen in der Gesetzes*
religion (vgl. Ex. 4, 21).
Von Wichtigkeit ist sodann die Unfähigkeit des Menschen
zur Erfüllung aller göttlichen Forderungen <z. B. Ps, 19, 13).
ß) Zweitens halten wir Umschau, ob der Erlösungsprozeß,
den Paulus erlebt und schildert, Züge enthält, die uns vom Juda*
ismus her bekannt sind,
* Die Sehnsucht nach Erlösung vom mosaischen Gesetz, das die Sünde
provoziert <Röm. 7, 7 ff.) und vermehrt, somit nur die Minderwertigkeit steigert,
ist gänzlich unjüdiscfi.
246
Dr. O. Pfister
Wir erkundigen uns zunächst nach den Analogien, die das
Heilswerk Jesu auf jüdischem Boden besitzt. Nach Auffassung des
Paulus mußte Gott den Tod seines Sohnes verlangen, um seiner
Gerechtigkeit zu genügen <Weinel, 254). Der Tod Jesu erlangt so
die Bedeutung eines Sühnopfers, wenn auch seine Beurteilung als
Passah- <1. Kor. 5, 7> und Bundesopfer <1. Kor. 11, 25) nicht ganz
fehlt. An der berühmten und vielfach gefürchteten Stelle Röm. 3, 25
sind Weizsäcker, Lipsius, Schmiedel, Jülicher und viele andere der
Ansicht, daß zu übersetzen sei: Gott hat ihn (Jesus Christus) hin¬
gestellt zu einem Sühnopfer, ähnlich Weinei (254),
Es fragt sich nun, ob dieser Gedanke als möglidie jüdische
Determinante zu berücksichtigen sei. Bekanntlich wurde bestritten,
daß das Alte Testament die Idee der Sühne kenne. Schmiedel gibt
zu, daß der Sühngedanke im Alten Testament streng genommen
nicht vorliege, aber er findet: »Die Idee stellvertretender Sühne lag
bei den alttestamentlichen Opfern, obgleich deren eigentlicher Bedeu¬
tung durchaus fremd, besonders beim Sündopfer (Lev. 4, 24/
6, 18 u, a.) und bei dem des großen Versöhnungstages (Lev. 16)
so nahe, daß sie sich für das Volksbewußtsein fast unvermeidlich
einstellen mußten« (Handkomm. 248).
Dies genügt vollkommen, um für des Apostels Theorie vom
Sühnopfertod Jesu eine jüdische Vorlage einstweilen als mögliche
Determinante anzunehmen, wenn auch zunächst nur für den Go
danken, daß zur Herbeiführung der Entsündigung eines Menschen
ein fehlerloses Geschöpf seines Lebens beraubt wird. Der Tod des
Gerechten zugunsten seiner Brüder, aber nicht als Sühntod, spielte
in der Makkabäerzeit eine Rolle, jedoch kaum mehr zur Zeit Jesu
(Holtmann, Rel. Volksb. 10). Audi Jes. 53 wurde im Sinne der
stellvertretenden Sühne verstanden.
Von hier ist nun aber ein sehr weiter Schritt bis zur Pro-
klamierung Jesu zum Sühnopfer der Menschheit. Gibt es jüdische
Motive, die die Lücke ausfüllen? Paulus muß, um den Gedanken
zu vollziehen, voraussetzen, Jesus sei mehr als nur ein Mensch
gewesen. Zwar behält der Christus mensdilidie Züge: Er ist ge¬
boren vom Weibe, unter das Gesetz getan (Gal. 4, 4), allein er
kam vom Himmel her und wurde nur in Gleichgestalt des Fleisches
gesandt (Röm, 8, 3, Holtzmann 70), Das Fleisch Jesu war nicht
wie das aller andern sündlich. Daß Paulus sein System selbst zer¬
trümmert, indem Erlösung nur durch das Kommen des Christus
ins Fleisch bewirkt werden kann, dieses Fleisch Christi aber doch
nicht alle Eigenschaften der odog besitzt, sondern der wichtigsten,
der Sündhaftigkeit, entbehrt, soll uns jetzt nicht aufhalten. Erwähnen
müssen wir noch, daß der Christus geradezu mit dem Geiste
gleidigesetzt wird (II. Kor, 3, 17) oder mit dem lebendig machenden
Geist (I. Kor, 15, 45) oder mit dem Herrn der Herrlichkeit
(I. Kor. 2, 8) oder mit der Kraft Gottes (I. Kor, 1, 24, Holtz¬
mann 80). So nähert sich der Christus einem Gottwesen sehr
Die Entwicklung des Apostels Paulus
247
stark, zumal er in der Präexistenz die »Gestalt Gottes« trug
<Phil. 2, 6—8).
Als mögliches jüdisches Erbe bezeichnen wir zunächst die
Präexistenz des Gottgesandten. In den wahrscheinlich vorchrist«
liehen Bilderreden des Hennoch heißt der Messias der Auserwählte,
der bei Gott vorhanden war, ehe die Welt erschaffen wurde (Holtz-
mann, I. 75). Wenn nach der jüdischen Apokalyptik Mose, der
Tempel, das Gesetz und andere Heiligtümer von jeher existierten
(Schmiedel, Handk, 203), warum nicht erst recht der Messias? Der
Verfasser der erwähnten »Bilderreden« legt dem präexistenten
Messias den Geist der Weisheit und den Geist dessen, der Ein«
sicht gibt, bei und nennt ihn einen Stab der Gerechten und Heiligen,
das Licht der Völker und die Hoffnung der Betrübten. So wird
also schon in der jüdischen Theologie der Christus ins Gottartige
erhoben. Paulus aber geht viel weiter, indem er ihn geradezu mit
dem heiligen Geiste identifiziert <11. Kor. 3, 17),
Die Auferstehung Jesu hat ihr jüdisches Gegenstück in
dem Volksglauben, tote Helden betreten in neuer Gestalt wiederum
die Erde oder ihre Seele erscheine in einer anderen Persönlichkeit.
Die Himmelfahrt Christi erinnert uns an die des Elia, Mose
und anderer Helden der jüdischen Geschichte.
In starkem Widerspruch scheint die paulinisdie Erlösungs«
macht, Gott, zum hebräischen Justizgotte zu stehen. Und doch
übt auch der Gott des Paulus eine richterliche Funktion aus, inso -
fern er einen Rechtsspruch über die Rechtslage eines Menschen
fällt. Ein forensischer Akt war schon die Forderung des Ge«
horsams gegen das Gesetz. Was nun aber die Gerechterklärung
durch Gott bei Paulus auszeichnet, ist der Umstand, daß sie nicht
einen vorhandenen Hustand feststellt, sondern ein den Tatsachen
eigentlich widersprechendes Urteil konstruiert, »Durch Eines Ge«
horsam werden die vielen als gerecht hingestellt« <Röm. 5, 19),
Die eigentlich noch immer Ungerechten erhalten damit die Privi¬
legien der Gerechten. Schmiedel bemerkt mit Recht, daß diese
Deklaration der Gesetzesreligion (z. B, nach Ex. 23, 7) ein Gräuel
gewesen wäre. . . .
Noch weiter entfernen sich die übrigen auf die Erlösung fol¬
genden und sie ergänzenden Leistungen Gottes vom jüdischen Kanon,
besonders die Adoption <Gal. 4, 5,- Röm. 8, 15).
y) Wir legen uns ferner Rechenschaft ab über die Ähnlichkeits-
Verhältnisse in den Erlösungswirkungen. Von der unjüdisch ge¬
dachten Gerechtigkeit war schon die Rede. Ist etwa ein gerechtes
Leben Wirkung der Erlösung? Jedenfalls kann die Moral auffass ung,
abgesehen vom Universalismus, nicht auf den ErlösungsVorgang
zurückgeführt werden. Wrede faßt sein Urteil in die Formel: »Was
aus dem Heiden einen Christen machte, war nicht die Moral und
noch weniger war sie es, die den Juden vom Christen unterschied«
(Paulus 73). Dies trifft zu,- doch ist auch hervorzuheben, daß die
248
Dr. O. Pfister
ethisdte Grundstimmung eine ganz andere geworden ist. Moral- und
Zeremonialgesetz standen für den Juden im Range gleich, er konnte
sie nicht trennen. Audi Paulus kann es nicht, darum verwirft er das
ganze Gesetz, Was er dem kategorischen Imperativ entreißt, läßt er
sich von der Liebe wieder schenken, allein, daß sie auch jüdisches Gut
vermittelte, lassen wir als möglich gelten. In seinem sittlichen Ernste
erinnert der Apostel stark an die alten Propheten, und die reinsten
Glocken alttestamentlicher Humanitätsforderung klingen in ihm nach,
Die höchste Erlösungswirkung, das neue Leben in Christus, die
Freiheit in der Liebe, das Erlebnis der seligmachenden Gotteskraft
des Glaubens, dies alles schwebt hoch über dem jüdischen Niveau.
Der Kultus, für den Paulus eintritt, gleicht in manchem dem
der Synagoge. Die Taufe wurde bekanntlich oft mit der bei der
Aufnahme in die jüdische Religionsgemeinschaft vorgenommenen
Wasmung in Zusammenhang gebracht, Paulus selbst spricht von
dner Taufe beim Zug durchs Rote Meer <1, Kor, 10, 2>. Die mystische
Fassung, das Getauftwerden in Jesum Christum, d. h. in seinen
lod <Röm, 6, 3) ist ein unjüdischer Gedanke.
~^n aS f^k spiegelt einigermaßen die Passahfeier, doch
nur aul)erlich* oein Geist ist konzentrierte Soteriolögie,
Die Eschatologie ruft manche spätjüdisefte Reminiszenzen
wach. Schon das Leben in der Zukunft ist dem Apostel wie seiner
Nation eigentümlich. Das baldige Kommen des Messias wurde
wenigstens von den Apokalyptikern erwartet, doch drangen sie beim
Volke nicht durch. Die Erwartung einer Auferstehung der Toten
geiorte zur pharisäischen Dogmatik, der Wechsel zwischen einer
Auferstehung erst beim Endgericht <1. Thess. 4, 16, I. Kor, 15) und
gleich nach dem iotie <IL Kor, 5) ist im Judentum vorgebildet, ebenso
wie die bei Paulus schwächere Erwartung eines künftigen Gottes-
reiches <1. Thess. 2, 12),
A ^* esen Abschnitt verlassen, sei noch auf die jüdische
Art der ochri ft Verwertung hingewiesen. Ein guter Exeget war Paulus
sicherlich nicht/ er legte mehr ein als aus. Aber schon daß er alle
religiösen Aussagen mit der Autorität des Alten Testaments decken
will, sogar die Aufhebung des Gesetzes selbst, ist gut rabbinisch.
Der wandernde Fels Christus <1. Kor. 10, 4) und die Decke auf
dem Angesicht des Mose 01. Kor. 3, 13—18) wurden geradezu als
Midrasche bezeichnet (Holtzmann 35).
Fassen wir das Gesagte knapp zusammen, so ergibt sich:
Paulus war als Jüngling extremer Jude, Als Christ behält er
folgende
Ähnlichkeiten:
a> Die allgemeine Orientierung, und zwar:
1. Formal: Legitimierung der religiösen Aussage durch das
alte Testament,
2. Material: Ziel ist die Gerechtwerdung vor Gott,
Die Entwicklung des Apostels Paulus
249
b) Das Erlösungswerk in bezug auf;
1. Die Machte, von denen erlöst werden soll: Gottes Zorn
infolge menschlicher Gesetzesübertretung, finsterer religiöser
Determinismus, Unfähigkeit des Menschen zur Befolgung
aller göttlichen Vorschriften <des »Gesetzes«),
2. Der Erlösungsprozeß: Das Sühnopfer, wenn auch mit Zu**
rüdchaltung. Die Gestalt des Messias: Präexistenz, Aufer*
stehung, Himmelfahrt des Helden, Geistbesitz. Forensische
Erteilung der Gerechtigkeit,
3. Erlösungswirkungen: Inhalt der Ethik. Taufe und Abend*
mahl. Zukunftshoffnungen: Parusie als vereinzelt vor*
kommende jüdische Ansicht, Auferstehung, doppelte Auf*
ersteh ungstheorie. Reichgotteshoffnung.
Verschiedenheiten,
a> Bezüglich der allgemeinen Orientierung;
1. Formal: Die innere und äußere Offenbarung als Erlebnis,
2, Material: Das Leben in der Liebe,
b> Das Erlösungswerk im Hinblick auf:
1, Die die Erlösungsbedürftigkeit konstituierenden Faktoren;
Das Fleisch als Sündenmacht. Die Sündhaftigkeit aller
Menschen infolge von Adams Fall.
2, Den Erlösungsvorgang: Die Stellvertretung durch einen
Menschen als Sühne, Der in unsündlichem Fleische er*
scheinende Messias. Der den Ungerechten in die Stellung
des Gerechten einserzende Gott <die Rechtfertigung),
c> Die ErlösungsWirkungen:
Der freie, frohe Geist, der Antinomismus mit seiner Be*
freiung von Fasten, Beschneidung, Opfer, Verbot der
Mischehe usf., die Liebe als Zentralmacht. Das neue
Leben in Christus, die beglückende Gottesgemeinschaft, die
Mystik, besonders in Taufe und Abendmahl,
Es ist wahrscheinlich, daß die Parallelen vermehrt würden,
wenn wir die Volksfrömmigkeit besser kennten,
B. Christliche Analogien,
a) Jesus.
Über das zwischen Jesus und Paulus bestehende Verhältnis
gehen die Ansichten stark auseinander, Wellhausen nennt den
Apostel denjenigen, der den Meister verstanden und sein Werk
fortgesetzt hat (Isr, u. jüd. Gesth., 5. Ausg. 392), Wrede bezeichnet
ihn als den zweiten Stifter des Christentums, der gerade die Ideen
in die neue Lehre einführte, die in der Geschichte die mächtigsten
250
Dr. O. Pfister
und einflußreichsten gewesen sind <104>, Versudien wir uns daher
ein eigenes Urteil zu bilden!
Darauf können wir uns nicht stützen, daß Paulus sich rühmt,
sein Evangelium direkt von Jesus Christus durch eine Offenbarung
empfangen zu haben. Auch wenn es sich um mehr als die Eingebung
vor Damaskus handelte, auch wenn Paulus nodt mehr Worte des
Herrn aus dem Himmel vernommen hätte, als I. Thess. 4, 15, müßten
wir zuerst eine inhaltliche Vergleichung der Aussprüche beider anstellen.
1. Gott,
Jesus lehrt uns Gott als den liebenden, gnädigen Vater kennen,
der für die Bedürfnisse der Menschen, seiner Kinder treulich sorgt,
über Guten und Bösen regnen läßt, dem reumütigen Sünder Ver*
gebung gewährt, ohne zuvor Satisfaktion oder Sühne zu fordern/
aber auch mit unnachsichtiger Strenge die Unbußfertigen und Hart¬
herzigen richtet. Das Hervorstechende ist aber immer die Liebe, die
den Verlorenen nachgeht und am wiedergefundenen Sohn mehr
Freude hat als an 99 Gerechten.
Auch Paulus nennt Gott mit großer Innigkeit: Abba! (Röm.
8, 16>, auch er redet von der Liebe Gottes <11. Kor. 13, 13>, von
seiner Güte, Geduld und Langmut (R. 2, 4). Auch er läßt die
Initiative zur Versöhnung mit dem Sünder von Gott ausgehen
<11, Kor, 5, 19>, aber alle diese Bestimmungen Gottes kommen nicht
recht zur Entfaltung, Arnold Meyer geht so weit, zu sagen: Paulus
habe nicht denselben Gott wie Jesus. »Gott steht bei Paulus in
keiner unmittelbaren Beziehung zur Welt. Durch seinen Sohn hat er
die Welt geschaffen, Ferner walten zwischen Gott und der Welt
die Engelmächte, die Archonten oder Weltelemente, die da regieren
Seiten und Jahre/ da gibt es Engel, Throne, Herrschaften, Fürsten¬
tümer und Gewalten, die den Menschen von Gott scheiden wollen.
Ja, der Satan ist geradezu der Gott dieser Welt, der des wahren
Gottes Sache immer wieder hindert, der die Menschen durch seine
Engel quält,« (Die Verkündigung Jesu und das paulinische Evan¬
gelium, Verh, der schw. ref. Predigerges. 1906, 51 ff.>. »Gott kommt
nur im Sohne zum Menschen and dieser darf auch nur wie ein
Königssohn in Verkleidung, in Knechtsgestalt kommen« <79>. Ferner
kann Gott nicht aus Gnaden dem Reumütigen ohne weiteres ver¬
geben. Er muß zuerst den gewaltigen Apparat des Sühnopfers in
Bewegung setzen. Allen Seligpreisungen müßte Paulus den Kon¬
ditionalsatz anhängen: Wenn Christus sich zum Sühnopfer dar¬
gebracht haben wird. Die Prädestinationslehre ist nur der Servet-
handel des paulinischen Gottes.
2. Der Mensch als Gotteskind,
In den synoptischen Evangelien herrscht ein herzlidier Ton im
Verkehr des einzelnen mit Gott vor. Paulus schildert die Gottes-
Die Entwicklung des Apostels Paulus
251
kindschaft nicht als etwas ursprüngliches und unverlierbares, sondern
als etwas erst durch Christi Heilswerk zustande gebrachtes, als P.r»
trag einer Adoption, die um des Glaubens willen vollzogen wurde.
Sein Gott ist für ein wirklich unbefangenes Verhältnis zu Gott zu
furchtbar. Der Apostel selbst redet von seiner Beziehung und aus
seiner Beziehung zu Jesu viel wärmer und freudiger.
3. Jesus als Heils Vermittler,
In seiner Verkündigung tritt Jesus als Glaubensobjekt stark in
den Hintergrund, Vollends eine Christologie als Heilsbedingung fehlt.
Der Glaube bezieht sich, wo er nicht näher präzisiert wird, aus*
nahmslos auf die Sache Gottes oder Gott selbst <Holtzmann I, 238),
»Man glaubt an Gott, aber man glaubt Jesu«, in diese glückliche
Formel faßt Holtzmann den Sachverhalt <239). Bei Paulus dagegen
ist der Glaube auf Jesus und zwar den dogmatisch ausgeprägten
Christus gerichtet, den gekreuzigten und aulerstandenen Messias,
4. Das Gottesreith
soll nach Jesus »das Ziel der Sehnsucht und die Kraft zum neuen
sittlichen Leben sein« <Wernle, Die Anfänge unserer Religion, 154),-
nach Paulus tritt erst die Auferstehung Christi ein, dann erfolgt die
Parusie, es schließt sich an ein Interregnum Christi mit Vernichtung
der dämonischen Gewalten, zuletzt des Todes, dann erst kommt
das Reich Gottes <1. Kor. 15, 20 ff.). Die werbende Kraft der Idee ist
damit beeinträchtigt. — Darin aber sind Jesus und Paulus einig, daß
nicht nur die Juden, sondern alle zum Heile berufen sind, nur daß
Paulus in seiner Ablehnung der Gesetzesherrschaft in der Verwirk*
lidiung der Heidenmission viel weiter geht, als Jesus und seine Jünger
<Gal. 2, 11 ff.).
5. Die Heilszuwendung.
Jesus und sein größter Jünger treffen darin überein, daß nicht
menschliches Verdienst, sondern Gottes Gnade das Heil erwirkt.
Der Glaube ist nach Paulus nichts verdienstliches, da ja die Recht¬
sprechung reines Gnadengeschenk ist <Schmiedel). Jesus gibt uns keine
so eingehenden Reflexionen über diesen Fragepunkt, aber seine immer
siegreicher durchbrechende Ablehnung des Lohnes, die er mit Paulus
gemein hat, führt zum gleichen Ergebnis. Dagegen würde er niemals
wie der größte Klassiker des Glaubens von einem »Gehorsam des
Glaubens« reden oder gar diesen so sehr in den Vordergrund schieben
<Röm. 1, 5). n r* i
6. Die Forderung.
Jesus faßt alle Gebote in das eine der Gottes-, Nächsten- und
Selbstliebe zusammen. Auch für Paulus ist die Liebe des Gesetzes
Erfüllung <Röm. 13, 10), Hier ist wohl der Ort, wo die innigste
Geistesverwandtschaft beider zutage tritt. Einzig in der Bewertung
252
Dr. O. Pfister
der Ehe macht sich ein starker Unterschied geltend: Während Jesus
mit gesündester Unbefangenheit von den Ordnungen der Ehe spricht,
redet Paulus, der sonst ein Asket nicht genannt werden kann, mit
einem starken Anflug von Asketismus über sie <1, Kor. 7>.
Augenscheinlich ist also nicht Jesu Predigt dasjenige, was
Paulus mit jenem verbindet, sondern seine liebesstarke Persönlich«
keit, die zum Träger gewaltiger religionsmetaphysischer Speku«
lationen wegen ihrer religiösen und ethischen Hoheit außerordentlich
geeignet war.
b) Die urchristliche Gemeinde.
Die Berücksichtigung der gemeindlichen Frömmigkeit muß um
so mehr interessieren, als hier die einzige historische Quelle liegt,
aus der Paulus Jesus und seine Lehre kennen lernte.
So weit unsere Kenntnis des vorpaulinischen Urchristentums
reicht, kommen für uns folgende Momente in Betracht:
L Grundzüge der Frömmigkeit.
Die Urgemeinde klammerte sich an die Gewißheit der Auf«
erstehung Jesu, in der allein sie den Mut fand, trotz der äußeren
Lebensgefahr und der inneren Zweifel an der Messianität des Herrn
an ihrem Glauben festzuhalten. Die Enttäuschung über den Zu«
sammenbruch der irdischen Hoffnungen drängte zu leidenschaftlicher
Parusieerwartung, Furcht vor der weit, Flucht von ihr weg, Kon«
zentration auf religiöse und ethische Interessen im engsten Sinne
machen die Signatur jener Epoche aus. Scharfer Gegenwartspessi¬
mismus wird durch ebenso energischen Zukunftsoptimismus hinsicht«
lieh der Gläubigen kompensiert.
Daß schon in voroaulinischer Zeit unter dem Einfluß der
hellenistischen Almosenprleger eine freiere Richtung vorhanden war,
daß schon vor Paulus ein Petrus mit den Heiden Tischgemeinschaft
gepflogen hätte, ist trotz Weineis Bemühungen <Z18> nicht nach«
gewiesen. Jedenfalls geht zu weit seine Behauptung: »Die wesent«
liebsten Veränderungen waren in der neuen Religion vor sich
gegangen, ehe er <Paulus> in sie eintrat.« Außer Zweifel steht, daß
die strenge Richtung des Jakobus die stärkste war,
2. Gott
näherte sich somit dem jüdischen Bilde. Der herzliche Ton ihm gegen¬
über ist verstummt. Mit dem Gesetzesgott, der auf Zeremonien Ge¬
wicht legt, verkehrt man nicht vertraulich, wie ein liebendes Kind,
3, Jesus
ist als historische Erscheinung der Prophet, Wundertäter, dessen Kraft
wohlzutun und die von Dämonen besessenen Kranken zu heilen aus
der Salbung mit dem heiligen Geiste und aus der Begleitung Gottes
Die Entwicklung des Apostels Paulus
253
stammt <Akt. 10,38). Erst als erhöhter ist er unser Herr und Meister.
Von realer Präexistenz ist nirgends die Rede. Ebensowenig von einer
Identifikation mit dem heiligen Geiste. Jesus heißt sogar oft der Knecht
Gottes <Akt, 3, 13, 26,- 4, 27). Welcher Kontrast zu Paulus! Der
Tod Jesus ist das Ärgernis, das durch die Auferstehung gut zu
machen ist. In der Empfindung dieses Skandalons kommt die ur-
gemeindliche Stimmung der des Paulus entgegen.
4. Das Gottesreich,
auf das die Blicke in fieberhafter Spannung gerichtet sind, ist noch
nicht das supranatural hereinbrechende, mit sinnlichen Farben aus*
geschmückte Reich messianischer Seligkeit, das eingeleitet wird durch
die Auferstehung der Gerechten, es folgt ihm aber nach. Im Welt*
geridht werden ewige Seligkeit und Verdammnis beschlossen, ein neues
Jerusalem steigt auf die Erde hernieder, Gerechtigkeit und Friede
wohnen unter einem Volke, das nach dem Zeugnis des Papias den
Ungeheuern Segen der Weinstöcke kaum zu bewältigen vermag.
5. Der Enthusiasmus
äußerte sich in einer Liebestätigkeit die allerdings von Gütergemein-
sdiaft noch ein gutes Stück entfernt war, aber doch auch Weltver-
achtung und Erwartung eines baldigen Weitendes deutlich verrät.
Mit dieser halb frohen, halb furchtsamen Stimmung geht Hand in
Hand eine strenge Gesetzesbeobachtung, die der jüdischen an Pein*
lichkeit nicht allzuviel nachgeben dürfte. Vom Widerstand der un-
barmherzigen Wirklichkeit, die das Evangelium nicht annehmen wollte,
wurden die Urjünger und ihre Gemeinden ein Beträchtliches in die von
Jesus grundsätzlich überwundene Gesetzesreligion zurückgeworfen. —
ln der Gemeindeeinrichtung der Taufe kann ich nicht mit Weinei
<218> eine fundamental wichtige Neuerung erblicken, da sie schon
von Johannes geübt worden war.
Eine stärkere Übereinstimmung als mit dem synoptischen
Evangelium stellt sich an folgenden Punkten heraus: Der Christus
steht bereits im Zentrum des religiösen Interesses, speziell der auf¬
erstandene Christus. Die Erwartung der nahen Parusie ist viel
brennender geworden als bet Jesus, der Gottes Herrlichkeit doch
auch gegenwärtig verwirklicht geschaut hatte und daher dem gegen¬
wärtigen Aeon mehr Wert ab ge wann. Der schärfere Gegen warts*
g essimismus entspricht dem des Paulus wohl etwas mehr als die
ewertung der vorhandenen Sachlage durch Jesus. Der sich enger
in die Toga des Richters hüllende Gott sprach den Pharisäer Paulus
mehr an, als der väterliche Gott Jesu. Die praktische Liebesarbeit
der Christen prägte sich seiner altruistisch hochbegabten Seele be¬
schämend ein. Die geheime oder offenkundige Furcht vor dem
drohenden Weltgericht fand in seiner angsterfüllten Seele einen
starken Widerhall. Der strengere Nomismus, der bei den An-
254
Dr. O. Pfister
hängern des angeblichen Gesetzesfeindes zum Ausdruck kam, bewies
auch dem Juden von Tarsus, daß man ein guter, ernster Mensch
und zugleich ein glühender Verehrer des neuen Christus sein könne,
Der stärkste Unterschied liegt entschieden darin, daß Paulus
als Christ zu Jesus in ein ganz anderes Verhältnis trat, in der
Jesusmystik und ihren metaphysischen Voraussetzungen.
c> Das Griechentum.
Fast allgemein fand man Züge des Hellenentums wieder in der
paulinischen Auffassung, Besonders der kosmologische und anthropo-
logische Dualismus wird von vielen Seiten zugegeben (Pfleiderer, Holtz-
mann,Sdimiedel>. Daß »dieSünde als Macht mit dem Leibesstoffe von
Natur verbunden«, entspricht der grieddsdien Philosophie (Schmiedel,
Hände, zu II. Kor, 7,1), besonders der Lehre Platos, Im Phädon nennt
Plato als höchste Aufgabe des Menschen die Ablösung der Seele von
allem Körperlichen, die Befreiung von allem sinnlichen Empfinden.
Die paulinisd’ie Sarx stimmt hiemit insofern überein, als die Macht,
die zur Sünde drängt, auf die Leiblichkeit zurückgeführt wird, wenn
auch von den metaphysischen Überlegungen Platos sonst nichts auf*
zufinden ist,
Audi in der Gotteslehre wollen manche Analogien zwischen
dem Hellenismus und Paulus entdecken. Überall, wo der Gegensatz
von Gott und Welt mit dem von Geist und Fleisch zusammenfällt,
findet Holtzmann hellenistische Elemente vor <N. Th. II, 19>. Ein
metaphysischer Dualismus hätte danach den weicheren Gegensatz
alttestamentlidier Vorstellungen von Gott und Welt abgelöst (20),
Schon die zusammenfassende Formel Rom. 11, 36: »Aus ihm und
durch ihn und zu ihm ist alles« klinge mehr griechisch als jüdisch,
Auch Platos Gedanke eines intellektuellen Sündenfalles, bei dem
die aus dem Reich der Ideen stammenden Seelen dem sinnlichen
Triebe verfielen, erinnert an paulinische Spekulationen (Adam,
Pfleiderer, Entstehung des Chr,, 22),* die Flucht aus der sinnlichen
Welt besteht in der möglichsten Vereinigung mit Gott,
Noch erheblicher wird die Verwandtschaft zwischen paulinischem
und hellenischem Denken, wenn wir die Ethik beider vergleichen.
Einen harten Kampf führen beide gegen die Sinnlichkeit, um zur
wahren Freiheit zu gelangen* Seneca verlangt Menschenliebe gegen¬
über jedermann/ sogar im Sklaven sollen wir die gottverwandte
Seele achten und auch im fremden Volksgenossen den Mitbürger
des großen Vaterlandes, das die ganze Welt umfaßt (Pfleiderer,
Entst. d. Chr., 29). Vergessen wir aber nicht, daß schon aus chrono¬
logischen Gründen an einen Zusammenhang zwischen Paulus und
Seneca nicht zu denken ist. Wie weit letzterer eine verbreitete An¬
sicht aussprach, dürfte schwer auszumachen sein. Doch scheint die
Idee der brüderlichen Menschenliebe wirklich in der Luft geschwebt
zu haben (32>. Weniger wahrscheinlich ist dies der Fall mit der An-
Die Entwicklung des Apostels Pauius
255
nähme eines gütigen Gottes, der väterlich für die Guten sorgt und
sie auch durch Schmerzen nur höheren Zielen entgegenführen will.
Griechisches Gut ist nach Schmiedel auch die Lehre vom Ge*
wissen, vom Novg, von der öidvota, vom »inneren Menschen«,
Besonders wichtig aber ist die anthropologisch-dualistische
Übereinstimmung zwischen Paulus und der griechischen Philosophie.
Besondere Aufmerksamkeit haben wir Philo zu schenken, schon
weil er als hellenistischer, nur etwa 20 Jahre älterer Zeitgenosse
des Apostels geeignet war, auf diesen starken Eindruck zu machen.
Es kommt hinzu, daß Gamaliel, des Saulus Lehrer, nach jüdischer
Tradition für alexandrinisdie Ideen besonders empfänglich war (Holtz-
mann, II, 3). Die allegorische Schriftbeachtung des Apostels konnte
sich auf das Vorbild des großen Alexandriners berufen, der seiner*
seits auf alte Traditionen <um 160 Aristobul) verweisen konnte
Holtzmann I, 91). Solche Exegese wandte Philo unter anderem an
bei einer Spekulation, die in veränderter Gestalt bei Paulus uns
bereits begegnet ist: Es betrifft die Gestalt Adams. Aus I, Mos. 1
und 2 schloß er, daß Gott zuerst einen leiblosen, übersinnlichen
Idealmenschen nach seinem Bilde erschuf <Gen. 1), dann aber
einen sinnlichen, irdischen Menschen (Gen, Z). Ganz anderen
Sinn hat die Lehre vom ersten und zweiten Adam bei Paulus. Hier
kann es sich nidit mehr um eine biblische Rechtfertigung des plato*
nischen Dualismus handeln, vielmehr bezieht der Apostel beide bib*
lischen Stellen auf den historischen Adam, dem dann aber in
Christus ein zweiter Adam als Reintegrator gegenübertritt (Röm. 5/
I. Kor. 15).
Höchst wichtig ist die phifonische Lehre vom Logos, Ihre
jüdische Wurzel liegt in der hypostasierten Weisheit Gottes, die
als seine Ratgeberin und Werkmeisterin, als schöpferisches und weit*
erhaltendes Prinzip in ihm gedacht wurde (Holtzmann I, 58),- sie
ist das erste Geschöpf Gottes und suchte sich einen Platz unter den
Völkern, erhielt aber Israel zum Wohnsitz angewiesen. Sie ist nach
dem alexandrinischen Buche der Weisheit menschenfreundlich, sorgen¬
frei, alles vorsehend und alle verständigen, reinen, feinsten Geister
durchdringend (Sap 7, 23), Abglanz des ewigen Lichtes, ein un¬
befleckter Spiegel der Wirksamkeit Gottes und ein Bild seiner Güte
(7, 26). Sie begleitet das Volk in der Wolken- und Flammensäule
(10, 17), sowie auf allen Wegen (10, 11), Auch der Odem oder
Geist Gottes machte eine bedeutsame Hypostase aus (59), die sich
namentlich in Prophetie, Visionen, Weisheit usw. betätigte. Er wird
aber auch als himmlischer Stoff gedacht (Holtzmann I, 60) und
erinnert als solcher stark an den paulinischen Himmelsstoff. Philo
verknüpft diese Vorstellungen mit der griechischen Logoslehre, die
von Heraklit und Plato her in die stoische Gedankenwelt geflossen
war. Philos Logos ist göttlich oder geradezu zweiter Gott, Demiurg,
der Strahl Gottes, den die Menschen zu schauen imstande sind, sein
]Bild, der im Vergleich zur Welt ältere Sohn Gottes, der Gesandte
256
Dr. O. Pfister
und Stellvertreter Gottes, der dessen Befehle in der Welt vollzieht,
der Hohepriester und Fürbitter, der Fels in der Wüste, der Messias,
das Manna und die Seelenspeise der Israeliten auf der Wanderung
wiederum, die Wolken- und Feuersäule <Holtzmann I,, 97). Die An¬
klänge an die paulinisdie Christologie lassen an Deutlichkeit nichts
zu wünschen übrig: Audi Christus ist Bild Gottes <11. Kor. 4, 4),
von himmlischem Glanz umflossen <11. Kor. 3, 18>, der präexistente
Sohn Gottes, durch Christus ist alles geschaffen <1. Kor. 8, 6), er
ist der Gesandte und Vollstrecker des götrlichen Willens <Röm. 8, 3),
der Fels, aus dem die Israeliten tranken, das Manna und die
Wolkensäule <1, Kor. 10, I—4).
So bringt uns Philo wieder einige mögliche Determinanten, die
uns wichtige über die jüdischen Motive hinausgehende Gedanken als
Derivate auszuweisen scheinen.
d> Die Mysterienreligionen,
Die noch vor wenig Jahren höchst geringschätzig behandelten
Mysterienreligionen der Perser, Phrygier, Syrier und Ägypter kamen
in den letzten Jahren zu hohen Ehren, Cumont nennt die ange¬
gebenen Religionen »viel weiter fortgeschritten, viel reicher an Ge¬
danken und Gefühlen, viel tiefsinniger und eindrucksvoller als der
griechisch-römische Anthropomorphismus« <Die oriental. Rel. im röm.
Heidentum, 1910, S, VII), Der Mangel an genauen Aufschluß er¬
teilenden Urkunden täuschte über den wirklichen Sachverhalt lange
hinweg. Auch heute fließen unsere Quellen sehr spärlich; auch fällt
ihre zeitliche Ansetzung manchmal schwer. Schon in frühester Zeit
wurde viel darüber gestritten, ob die kirchlichen Zeremonien ein
Plagiat der Mysterien oder umgekehrt die Mysterien eine Parodie der
kirchlichen Sakramente seien <a, a. O. IX.), Wir werden auf diesen
Punkt später einzutreten haben. Cumont und Dieterich halten für
das dringendste Problem die Kenntnis der vorchristlichen Mischkulte,
welche in der Verehrung des Hypsistos, Sabbatistes, Sabbaziastes
u, a. Mosaismus und orientalisches Heidentum vereinigten <XII>.
Leider wissen wir über diese Dinge fast nichts.
Immerhin bezeugen »die magischen Texte klar und deutlich
die Vermischung der jüdischen Theologie mit der der anderen
Völker. Die Namen Jao <Jahwe>, Sabaoth und der Engel finden
sich hier häufig neben denen ägyptischer und griechischer Gottheiten.
Besonders in Kleinasien, wo die Israeliten ein bedeutsames und
einflußreiches Element der Bevölkerung bilden, mußte sich eine
wechselseitige Durchdringung der alten einheimischen Traditionen
und der Religion der Fremden vollziehen, die von der anderen
Seite des Taurus gekommen waren« <Cumont, Or. Rel. 77). Der
phrygisdie Sabazius wurde mit Hilfe einer schlechten Etymologie
mit Jahwe Zebaoth identifiziert,
Die Entwicklung des Apostels Paulus
257
Die Mysterienreligionen, von denen wir jetzt zu reden haben,
waren einander ihrem geistigen Besitztum nach innig verwandt.
Weder geographisch, nodh begrifflich ließen sie sich durchwegs scharf
auseinander halten. Sogar die griechischen Mysterien, die von Eleusis,
von Samothrake, von Andania, die orphischen Kulte sind den
orientalischen Mysterien ideell sehr ähnlich, weshalb ich sie hier auch
gleich anschließe.
Als mögliche Determinanten dürfen wir diese Religionsgruppe
schon darum vorläufig in Rechnung setzen, weil Tarsus ihr vor¬
nehmster Schauplatz zur Zeit des Paulus war. Nach Strabos Zeugnis
übertraf die Hauptstadt Cilicicns in der Philosophie und aller BiL
düng sogar Athen und Alexandrien, zumal alle Einwohner voll
Lernbegierde waren <Winer, Bibi. Realwörterb,, Art. Tarsus),* es
ist also gewiß, daß ein gebildeter Jude auch von den griechischen
Mysterien und ihren Grundzügen gehört haben mußte, Cilicier
weihten wahrscheinlich 67 v. Chr. die Römer in die Mithramysterien
ein (Cumont, Die Mysterien des Mithra, 33). Die phrygische Re¬
ligion des Attis hatte schon viel früher Tarsus besetzt, die Syrer
besaßen ihre Kolonie, wie überall im Römerreich und huldigten
Hadad und seiner Gattin Atargatis, der Dea Syria (Or. Rel., 123),
Auch Adonis, der Gott von Byblos, mit dem oft Dionysios-Sabazios
verschmolzen wurde <Cumont, Or. Rel., 59), wird wohl in der ge=
waltigen Handelsstadt verehrt worden sein, doch läßt es sich nicht
beweisen. Die Isismysterien und die Religion des Serapis waren
auch in Tarsus wohlbekannt.
Wir heben nun die Grundzüge dieser Religionsformen hervor
und sehen uns nach Analogien bei Paulus um.
Alle Mysterien sind in erster Linie Erlösungsreligionen.
Wir fragen daher, wie früher bei der Frömmigkeit unseres Apostels:
1. nach den Mächten,
von denen Erlösung gesucht wird.
Als solche lernen wir kennen:
a> Nöte überhaupt, z. B. am Tage der Hilarien, an dem
verkündigt wurde: »Getrost, ihr Frommen, da der Gott ^Attis)
gerettet ist, so wird auch euch aus euern Nöten Rettung werden!«
<Brückner in »Die Rel. in Gesch. u. Gegenw,«, T, 754). Der Myste
des Sabazios jubelte: »Ich bin dem Übel entflohen und habe das
Bessere erwählt« ^Kroll, Die Rel. in Gesch., IV", 590). Doch welche
Übel sind vornehmlich gemeint? Nicht die körperlichen Leiden dieses
Lebens, sondern ethische und religiöse.
b> Unreinheit. Das Wort ist zunächst im allgemeinen ethischen
Sinn verstanden. Daß aber sehr stark an sexuelle Unreinheit ge^
dacht wurde, scheinen die Selbstentmannung der Attispriester und
der hieros gamos allerdings mit bescheidener Überzeugungskraft an¬
zudeuten, Es wäre aber übertrieben, nur an sexuelle Unreinheit
als einziges Pudendum der Mysterien bedürftigen zu denken,
Imago VI/3
17
758
Dr. O. Pfister
c> Tod. Schon im homerischen Demeterhymnus, der dem
eleusinischen Kreise entstammt, lesen wir: »Selig der Mensch, der
das <die Weihen) erschaut hat,- wer aber uneingeweiht ist und un»
teilhaftig der Weihen, der wird nicht gleiches Los haben im sumpfigen
Dunkel des Hades« <Dieterich, Nekyia, Leipzig 1893). Auch die
orphischen Mysterien suchten und versprachen Bewahrung vor den
Qualen des Jenseits <75). Das Taurobolium des Attis^ und Mithra»
mysteriums schilderte das Hinabsteigen in die Gruft und die Auf*
erstehung, der Myste wird ein in aeternum renarus <Cumont, Or.
Reh, 82), Ein ägyptischer Text ruft: »So wahr Osiris lebt, wird er
<der die Totenbräuche beobachtende Mensch) auch leben« <118).
Die Übereinstimmung mit paulinischer Soteriologie ist deutlich:
Sünde und Tod sind auch die beiden finsteren Mächte, mit denen
der Apostel rang. Der Tod ist verschlungen in den Sieg, der Stachel
des Todes aber ist die Sünde <L Kor. 15, 55 f.X Hierin hegt die
Orientierung dieser Erlösungsfrömmigkeit. Der Gedanke einer Er^
lösung vom Tode und seinen Schrecken, wie insbesondere der an
die Religion gestellte Anspruch auf Befreiung von der Todesnot ist
ganz und gar unjüdisch.
2. Der Erlösungsprozeß.
Das göttliche Drama, Alle Mysterien reden vom Tod
und der Auferstehung einer Gottheit: Dionysos^Zagreus in der
Orphik wird von den 7 itanen in Stücke gerissen und verzehrt,
durch ^eus aber wieder lebendig gemacht, Attis stirbt und auf^
ersteht am vierten Tage, Adonis wird auf der Jagd vom Eber
getötet, um nach einigen Tagen wieder ins Leben einzutreten. Osiris
wird als tor beklagt, am dritten 7 age aber als der Lebendige bewill»
kommt (PfTeiderer, Entst. d. Chr., 147). Ebenso war der bab y**
lonisdie Tammuz tot gesagt und lebendig erklärt worden, und die
Eleusinerin Kora stieg aus dem Schattenreich ans Lidit der Vegetation.
Eine gewisse Ausnahme bildet einzig Mithra. Allein doch nicht ganz:
Sein Tod ist wahrscheinlich dargesteüt in der Tötung des Stieres,
der mit Mithra ebenso identisch war, wie der beim Adonisfest
geschlachtete Eber mit Adonis <Reinad>, Orpheus, 9, Aufh, Paris
1909, 60, 102), Auch die beiden mit Mithra sicher identischen
Dadophoren, von denen der eine die Fackel hebt, der andere sie
senkt, deuten Tod und Auferstehung an. Wenn Reitzenstein rund»
weg auch von Mithra, wie von Osiris und Attis wenigstens für die
spätere Zeit als wahrscheinlich aussagt, er sei Mensch gewesen, ge»
storben und als Gott auferstanden, so muß ich bekennen, daß ich
nach seinen Argumenten für diese Behauptung neugierig bin <Reitzen»
stein, D. hellenist, Mysterienreligionen, 6 f.>.
Dem Range nach war Mithra nicht der höchste Gott, er stund
vielmehr unter Zrvan akarana, der unendlichen Zeit, unter Ahura
mazda und sogar einigen anderen Gottheiten <Cumont, Mithra 97
bis 115>. Osiris, Dionysos und Demeter stunden höher im Range,
Die Entwicklung des Apostels Paulus
259
konnten sich aber meistens nicht mit der höchsten Gottheit an
Würde messen. Für den Außenstehenden jedenfalls überragte Ra
Osiris und Isis, und Dionysos wie Demeter waren Kinder des £eus.
Einzig Atris ist selbst der höchste Gott.
Als reine Vegetationsgötter kann man numina, von denen man
Erlösung von Unreinheit und sittliche Wiedergeburt erwartet, sicher
nicht bezeichnen. Sonst müßte man Jahwe, der zum Sturm und zur
Fruchtbarkeit des Landes in naher Beziehung stand, auch so nennen
(gegen Clemen, Relgesch, Erklärg, d. N, T. 1919, 115).
In den Mysterien wird der Gott Mensch, oder er erleidet ein
Menschenschicksal, das starke Mensch enähnlichkeit voraussetzt. Attis
wird im Schilfe gefunden, Mithra steigt in Menschengestalt aus
einem Steine hervor (Cumont, Mithra, 118), Adonis wird auf der
Jagd vom Eber zerfleischt, Osiris in Stücke zerlegt, wie Dionysos,
Eine eigentliche Menschwerdung aus dem Weibe fehlt vielleicht auch
bei Attis — die Quellen geben keine sichere Auskunft — doch auf
alle diese Mysteriengötter paßte die Formel: Die Gottheit lebte
in Fleischesgestalt, paulinisch ausgedrückt: iv öfioubfiari
(Rom. 8, 3).
Die Verwandtschaft mit Paulus besteht darin, daß zur Er»
lösung von Tod und Unreinheit ein übernatürliches Wesen erfor¬
derlich ist, Attis kommt darin der apostolischen Frömmigkeit näher,
daß er als Kind auf Erden erscheint (Cumont, Or- Reh, 68). Der
Christus des Paulus ist in seiner Präexistens gleichfalls über mensch¬
liches Wesen hoch erhaben: Durch ihn ist nach I. Kor. 8, 6 alles,
er ist der geistliche Felsen, aus dem Mose und sein Volk tranken
<1. Kor. 10, 4), und einige von ihnen, die Christus versuchten,
wurden von den Schlangen umgebracht (V. 9), er ist vor seiner
Geburt in göttlicher Gestalt und nimmt nur menschliche Formen,
nicht menschliches Wesen an (Phil. 2, 6 ff.). Wenn Paulus ihn Sohn
Gottes nennt, so ist dies im metaphysischen Sinne gemeint und
besagt genealogisch nichts anderes, als wenn Mithra als Sproß
des Ormuzd hingestellt wird, nur ist Christus der einzige derartige
Sohn (Pfleiderer, D, Urchristentum, Berlin 1881, 212 ff.). Mag diese
metaphysische Qualität des Erlösers an jüdische Spekulationen
(Weisheit, Geist Gottes) erinnern, so befinden sich doch das Sterben
und Auferstehen dieses Gotthelden im Einklang mit den Myste¬
rien, allein ohne Parallele auf jüdischem Boden, Daß diese Zentral-
lehre des Apostels zugleich Zentralidee der Mysterien ist, muß ent¬
schieden ernst genommen werden. Der gewaltigste Unterschied
besteht darin, daß Christus eine historische Persönlichkeit ist, aber
wir wissen ja, daß Paulus diese Gestalt doch nicht ganz als Mensch
behandelt, sofern nur Gleichgestalt mit dem Menschen, nicht Wesens¬
identität des Leibes vorhanden ist, fehlt doch der Sarx Jesu das
religionsmetaphysisch wichtigste Charakteristikum, die unwiderstehliche
Sündenmacht. Durch diese doketisdien Keime, die Paulus allerdings
energisch am Wachstum zu verhindern sucht, wie durch die Schilde-
17*
260
Dr. O. Pfister
rung des präexistenten Christus kommt unser Autor den Mysterien
schon rein metaphysisch nahe, während Tod und Auferstehung
jenes gotthaften Erlösers geradezu Konkordanz aufweisen. Nach
dieser Richtung ist der paulimsche Gottmensch dem der Mysterien
homousios, dem jüdischen Messias kaum homousios,
h) Die kultische Wiederholung der gott men schlichen
Passion und Auferstehung, Ein gewaltiger Unterschied zwischen
Paulus und dem Judentum besteht darin, daß zur Erlösung von
seiten des Menschen zunächst nichts weiter erforderlich ist als Glaube
<Gal. 3, 24). Seine Berufung auf das Alte Testament ist in diesem
Punkte eine arge petitio principii. Allein der paulinisdie Glaubens*
begriff paßt vorzüglich auf die Erlösungsrheorie der Mysterien. Audi
bei ihnen werden nicht strenge Gesetzesforderungen aufgestellt. Die
Askese ist nur Vorbereitung, nicht tneritum. Auf den Glauben kommt
alles an, und zwar auf eine fiducia, die nach ihrer menschlichen Er*
scneinung ein persönlicher Willensakt ist, nach ihrem inneren Wesen
u . Ld rs P run § a ber eine göttliche Kraft,- der Glaube ist nicht nur
ein Schauen dessen, was der Gott erlebte, sondern ein Erleben
dieser göttlichen Erlebnisse, »Das Band zwischen Gott und Mensch,
Reitzenstein, kann gar nicht enger und stärker gedacht werden,
. ,.f n nur lebenslänglicher Dankbarkeit, sondern per*
sömicher Liebe, die in ihren Äußerungen bis ins Sinnliche geht,
verbindet beide« {Hellenist. Myst,, 9),
Zu beachten ist, daß Mithra als »Mittler« bezeichnet wird/ er
vermittelt, wie Cumont angibt, »zwischen dem unzugänglichen und
unerkennbaren Gott, welcher in den ätherischen Sphären herrscht
und dem Menschengeschlecht« (Mithra 116). Isis heißt trcbvetga, Sa*
rapis oavqg (Reitzenstein 26>.
Erst aus dem Mysterienglauben geht der Kultus hervor. Zwei
Handlungen, die bezeichnenderweise den beiden größten Sakramenten
der Christenheit stark ähneln, bilden den Höhepunkt des Mysteriums:
Wir wollen sie Taufe und mystisches Mahl nennen.
a ) Die Taufe. Die griechischen und ägyptischen Mysterien
wissen nur von Waschungen und Bädern, die der Todessymbolik
noch ferne stehen. Dagegen drückt der Einweihungsritus auch in
ihnen Tod und Wiedergeburt aus, Apulejus beriditet dies ausdrück*
lieh von den Isismysterien (Dieterich, Mithrasliturgie, 162), Im alten
Totenritual sollte jeder einzelne das Schicksal des Osiris teilen, um
ein Osiris zu werden, Im Mysterium wird derselbe Vorgang ver¬
geistigt dargestellt worden sein. Eine ähnliche Zeremonie, bei welcher
der Körper des zu Weihenden bis zum Haupte begraben wurde,
beschreibt Prokus, wohl in Anlehnung an dionysisch-orphische Ge¬
bräuche (a. a. O. 163). Das Hervorgehen aus dem Grabe bedeutet
die Wiedergeburt auf das deutlichste/ die Geweihten nannten sich
denn auch in der Isisgemeinde renati und feierten den Weihetag als
natalis sacer (Dieterich, Mith,, 162),
Die Entwicklung des Apostels Paulus
261
Das Attismysterium beging feierlich das Taurobolium, das
Prudentius so anschaulich geschildert hat. Der Myste stieg in eine
Höhle, über welcher ein Stier geschlachtet wurde. Durch ein durch¬
löchertes Brett floß das Blut in die Krypta. »Der Geweihte, erzählt
Prudentius, bietet sein Haupt all den herabfallenden Tropfen dar,
er setzt ihnen seine Kleider und seinen ganzen Körper aus, den
sie besudeln. Er beugt sich rücklings, damit sie seine Wangen, seine
Ohren, seine Lippen, seine Nase treffen ... er fängt das schwarze
Blut mit der Zunge auf und schlürft es gierig« <Cumont, Or. Rel,
80). Man wird zugeben, daß der Name »Bluttaufe« für diese Zere*
monie zutrifft.
Es scheint festgestellt, daß dieser Ritus der persischen Religion
entstammt <Cumont, Mithra, 169),* folglich wundert es uns nicht,
daß er auch im Mithrakultus heimisch war. Vom letzteren ist uns
bekannt, daß der Kandidat selbst scheinbar getötet wurde, doch
handelt es sich nicht um die fiktive Wiederholung des Todes Mithras
<Dieterich, Mithralit., 161,165),- in der von Dieterich herausgegebenen
Mithraliturgie, deren mithrazistischer Charakter allerdings von Cumont
bestritten wird, betet ein Frommer: »Herr, wiedergeboren verscheide
ich, indem ich erhöht wurde, sterbe idi« <15>. Die folgenden Worte
übersetze ich; »durch die Geburt, die das Leben schafft, für den
Tod geschaffen, werde ich erlöst und gehe den Weg, wie du ge*
stiftet hast, wie du es zum Gesetze gemacht hast und das Myste*
rium bereitetest« (14>,
Viele dieser Einzelheiten erinnern sofort an paulinische Ge«
danken. Die Taufe mit ihrer Todessymbolik gehört zu ihren
wichtigsten Kleinodien, An jener bedeutsamen Stelle, an welcher die
Rechtfertigung auf den Tod Christi gestützt wird, schlägt Paulus
die Brücke vom nomistischen zum mystischen Denken, indem er
verkündigt: »Wisset ihr nicht, daß alle, die wir getauft sind auf
Christus Jesus, die sind in seinen Tod getauft? So sind wir denn
mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod, so daß, wie Christus
auferweckt wurde von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters,
so auch wir in einem neuen Leben wandeln. Denn wenn wir mit
ihm durch die Gemeinschaft mit seinem Tode verwachsen sind, so
werden wir es nicht minder sein durch die Gemeinschaft mit seiner
Auferstehung. Wissen wir doch, daß unser alter Mensch darum die
Kreuzigung miterlebt hat, weil der Leib der Sünde vernichtet werden,
und wir nicht mehr der Sünde Sklaven dienst leisten sollten. Denn
wer gestorben ist, ist dadurch freigesprochen von der Sünde. Sind
wir nun aber mit Christus gestorben, so sagt uns der Glaube, daß
wir auch mit ihm leben werden, so gewiß wie Christus, nachdem
er einmal von den Toten auferweckt worden ist, nicht wieder stirbt.
Der Tod hat kein Herrscherrecht mehr über ihn. Denn sein Sterben,
das hat er der Sünde entrichtet ein für allemal, sein Leben aber gehört
allein Gott. Gerade so müßt ihr euch fühlen als tot für die Sünde
und lebendig für Gott in Christus Jesus, (Rom. 6,3—11, nach Jülicher).
262
Dr. O. Pfisrer
Die Freisprechung beruht demnach auf einer unio mystica,
einer Identifikation mit dem gestorbenen und auferstandenen Gott*
menschen, genau wie in den Mysterien. Der Fromme stirbt sym*
bolisch, wird begraben und aufersteht zu einem neuen Leben und
dies wird durch ein Sakrament bewirkt, das mit dem der Mysterien
nahe verwandt ist. Hervorzuheben ist bei Paulus die Vernichtung
des Sündenleibes, die bei den Ättisfeiern durch Messersdmitte und
Entmannung am dies sanguinis, der Totenfeier für den in Binden
gewickelten und ins Grab gelegten jungen Gott ausgedrückt wurde
<Cumont, Or, Rel., 68>.
ß) Das mystische Mahl, Das mystische Sterben ist bei der
christlichen Taufe mit einem Reinigungsritus verbunden, wie in den
Mysterien. In den beiden für den Kleinasiaten Paulus wichtigsten
außerchristlichen Mysterien fand eine Besprengung mit Blut statt.
Auch bei Paulus spielt das Blut des Gottmenschen im mystischen
Akt, eine große Rolle/ allerdings weniger deutlich im Initiationsritus,
als im mystischen Mahle, Die Blutsymbolik verwendet Paulus mehr
innerhalb des jüdischen Gedankenzyklus/ das Blut fließt als Sühn*
opfer. Allein das Bluttrinken des Tauroboliums kehrt im Abend*
mahle wieder. L Kor, 10, 16: ^Der gesegnete Kelch/ den wir segnen,
ist er nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi?« (Weinei bestreitet
entschieden, daß I. Kor, 11, 23 f. das Abendmahl als rein symbolische
Feier verstanden sei/ er hält mit Recht dafür, daß auch I. Kor. 10,
Taufe und Abendmahl mit dem Durchzug durchs Rote
Meer und dem Essen des Manna, sowie mit dem Trinken aus
dem Felsen in Parallele gesetzt werden, auf ein reales Genießen
des Übersinnlichen gehen müssen, 326 f.>.
Das des gestorbenen Gottmenschen kommt also dem
Gläubigen zugute, wie das Blut des den Attis oder Mithra reprä¬
sentierenden Opfertieres. In dem einen Gotte sterben alle, um mit
ihm auch aufzuerstehen.
Einige wichtige Parallelen verdienen erwähnt zu werden.
Dieterich erinnert in seinem »Untergang der antiken Religion« daran,
daß die von Paulus erwähnte Taufe für Verstorbene eine schon
von Plato beschriebene Parallele aufweise. Plato berichtet: »Sie zeigen
einen Schwarm Bücher von Musaios und Orpheus vor, den Sprossen
der Seelen und der Musen, wie sie sagen, an deren Hand sie ,. .
überreden, daß es Erlösungen und Reinigungen von Sünden gibt
durch Opfer und heitere Feier, nicht nur für die Lebenden, sondern
auch für die Toten. Das nennen sie die Weihen« <KI, Sehr., 477 f.>,
Hier handelt es sich aber, wie Schweitzer und Reitzenstein betonen,
nicht um einen Taufakt, sondern um eine Sühnung (Reitzenstein,
Relgesdi. u. Eschatologie, Z. f. d. neutest. Wiss., 1912, XIII, Jahrg. 9>.
Immerhin liegt in der Reinigung eine gewisse, wenn auch vage Analogie,
Eine andere Analogie hat Reitzenstein wahrscheinlich gemacht.
Im ägyptischen, wie im phrygischen Kult bediente sich der Priester
Die Entwicklung des Apostels Paulus
263
bei der symbolischen Zusammenfügung und Belebung des göttlichen
Leibes einer Salbe. In der Attisfeier salbte der Priester wahrschein"
lieh mit dieser vom Toten und Auferstandenen hergenommenen Salbe
jeden Mysten, während er flüsterte: »Getrost ihr Mysten, weil der
Gott das Heil gewann, wird auch für uns einst Heil aus Todes"
not« <52>. Danach erklärt Reirzenstein die Ausdrücke II. Kor. 2,
14ff.: Gott offenbarte den Geruch seiner Erkenntnis durch uns, wir
sind Gott ein guter Geruch Christi, wir sind ein Geruch des Todes
oder ein Geruch des Lebens zum Leben,
Über das Mysterienmahl ist noch einiges zu sagen. Die Ver*
einigung mit der Gottheit durch das Mahl findet sich, wie Robinson
Smith und Frazer nach wiesen, bei emer Menge von Naturvölkern,
Namentlich das Totemtier, der Ahn, wird häufig zu kultischen
Zwecken genossen. Im ägyptischen Kultus ist das Essen des Gottes
sicher bezeugt (Dieterich, Lit., 99 ff.). Ein Attishymnus singt: »Ich
habe vom Tamburin gegessen, ich habe aus der Cymbel getrunken,
ich bin ein Myste des Attis geworden« (Cumont, Or. Rel., 83).
»Bei der mazdaischen Messe, erzählt Cumont, weihte der Aelebrant
Brote und Wasser, das er mit dem von ihm zu bereiteten Haoma"
safte mischte, und verzehrte diese Nahrungsmittel im Verlaufe seiner
gottesdienstlichen Funktion. Im Okzident ersetzte man den unbe"
kannten Haoma durch VAiri. Man stellte vor den Mysten ein Brot
und einen mit Wasser gefüllten Becher, über den der Priester die
heilige Formel sprach« (Cumont, Mithra, 145 fi>. Die Brote wurden
schon in Persien gebrochen.
Die Veranstaltung gleicht somit in ihrem äußeren Verlaute
sehr stark der Abendmahlsfeier, wie sie Paulus beschreibt. Nur daß
bei dieser die Erinnerung an den historischen Stifter mitspricht und
die konkrete Basis bildet.
3. Die Erlösungswirkungen.
Der neue Myste ist, wie wir wissen, ein Neugeborener. Der
Isisgläubige wird in ein neues Leben verpflanzt (Reitzenstein 26),
er erfährt eine Palingenesia (26). Der Vorgang wird in der her"
metischen Literatur als eine Zeugung gedacht (33). So erlangt in
jeder Mystenreligion der Gläubige die sotcris. (1Z)* Der neue Zu*
stand zeichnet sich durch eine Menge von Heilsgütern aus:
Der Myste der sogenannten Mithrasliturgie muß, um wieder"
geboren zu werden, einen Himmelsleib anlegen (33), allerdings nur
während der heiligen Feier, die seine Seele in den Himmel führt.
An geistigen Gaben empfängt er ferner den Heiligen Geist.
Der Mithrasmyste des Pariser Zauberpapyrus betet, daß er durch
Geist wiedergeboren werde und in ihm der Heilige Geist wehe
(Dieterich, Lit„ 5). Der Myste ist ein pneumatikos (Reitzenstein 42).
Als solcher empfängt er Gnosis, in einem hermetischen Liede wird
gesungen: »Wir danken dir. Höchster, daß wir durch deine Gnade
264
Dr. O. Pfister
dies Licht der Gnosis empfangen haben,, erlöst durch dich freuen wir
uns, dal) du dich uns ganz gezeigt hast, freuen uns, daß du uns in
unsrem irdischen Leibe zu Gott gemacht hast durch deinen Anblick«
(Reitzenstein 38>. Reitzenstein gibt an; Ȇberall in diesen (hermeti-
klingt wieder: das Schauen Gottes, das immer deut-
lieber als unmittelbares Schauen und Empfinden des Alls beschrieben
wird, macht zu Gott und gibt die soteria. Und diese höchste Schau
heißt gnonai theon. Die Gnosis ist unmittelbares Erleben und Er-
fahren, ist eine Gnadengabe Gottes, sie erleuchtet den Menschen
und ändert zugleich seine Substanz« (38>. Mit diesem Schauen
Gottes ist im Isismysterium verbunden das Bewußtsein des Ent-
mcktwerdens in den Himmel oder an andere Orte (Reitzenstein 34>,
Dieser Enthusiasmus ist aber auch ein körperliches Erfülltsein vom
Geiste (Dieterich, Lit., 98>. Das Pneuma ist ja selbst ein feiner
ötoff, also steht einer mixtio nichts im Wege. Das Essen des Gottes
zeigte tms diese Verstofflichung des Geistigen bereits,
er Myste bezeichnet sidb selbst als gnostikos im Gegensatz
zum psychikos, dem rein natürlichen Menschen, der einerseits wieder
über dem sark.kos steht (Reitzenstein 42). Es ist sicher, daß schon
vor Paulus pneuma und psydie von Hellenisten, dagegen nicht vom
Alten Testament, als direkte Gegensätze verstanden wurden (Reitzen-
stein
. j y° n fiterenrGaben, die mit der Wiedergeburt verbunden
j n' C j ne l f V e Unsterblichkeit. Der Mithrasliturg redet davon,
daß es den als Göttern gedaditen Elementen gefallen habe, ihn der
Sä U h zur . Unsterbhdikeit wiederzugeben (Lir. 5>. Isis läßt ihren
Neophyten in ihre basileia eingehen (Reitzenstein 26). Alle Myste-
■ n y er D e , . n 'k ren Anhängern ein besseres Los im Jenseits (Kroll,
Z Gcsd l' u ’ f °egenw., IV, 585). Von einer Himmel-
fahrt des Gottes redet der Mithrazismus (Dieterich, Lit., 184),- so
Wird auch der Mithrasliturg hinaufgehoben (185). Sdion in der alt-
a £yptischen Mythologie fuhr die Seele dem Himmel entlang, doch
erst, nach dem Tode. Im Taurus stund ein großes Denkmal des
Antiodius von Kommagene, nach weldiem der Leib die gottliebende
öeele himmelwärts sendet (Dieterich, Lit., 190>.
Endlich erwähnen wir noch als hohe Frucht der Wiedergeburt
ie Adoption (Hyiothesia). In der Mitrasliturgie will der Myste
öohn Gottes werden (Reitzenstein 32), allein vielleicht spielen in
ihr schon christliche Einflüsse mit. Aber audi in anderen Mithras-
texten wird der Gott von Mysten als Vater angeredet (Dieterich,
FV)< Attis wurde als papas bezeichnet (I b).
Das neue Leben betätigt sid) in einer neuen Sittlichkeit, Be¬
deutsam ist,^ daß zunächst die Mysten des Mithra eine sehr demo¬
kratische Brüderschaft bildeten. Jeder konnte die Weihen empfangen.
, ro l? e ' Intimität verband alle Angehörigen einer Kultusgenossen-
senatt (Gumont, Mirhra I60>. Der Sklave konnte den höchsten Grad
unter den Eingeweihten bekleiden (74). Alle nannten sich Brüder
Die Entwicklung des Apostels Paulus
265
und sollten einander in gegenseitiger Liebe zugetan sein <142). Die
armseligen Plebejer fanden Hilfe und Stärkung <161), doch spielten
im Mithrazismus die Frauen keine Rolle <164). Heiliger Tag war
der Sonntag. Die Moral war imperativisch, Enthaltsamkeit und
Keuschheit, Entsagung und Selbstbeherrschung galten viel <18l). Der
Zölibat galt als verdienstlich <Cumont, Mithra 126),
Aus der mithrischen Religion ist noch hervorzuheben die Auf¬
erstehung des Fleisches, die wir schon in der jüdischen Religion
fanden <Cumont, Mithra 196), wie auch die Vorstellung eines künf¬
tigen Weltgerichtes <181).
Und nun des Paulus Übereinstimmung mit dem imposanten
Reich der von den Mysterien verwiesenen Heilsgüter. Schweitzer
leugnet eine tiefer gehende Konkordanz, Erstlich komme bei Paulus
eine Wiedergeburt weder dem Wort, noch der Sache nach vor,
»Er läßt die Erlösten nicht eine Wiedergeburt, sondern eine ge¬
heimnisvoll vorweggenommene und bis auf weiteres auch nicht
äußerlich werdende Auferstehung erleben. Seine Anschauungswelt
ist also ihrem Grundbegriffe nach von der der Mysterienreligionen
völlig verschieden« <A Schweitzer, Gesch. der Leben-Jesu-Forschung,
2. Aufl. 1913, 546). Allein ich sehe nicht ein, daß hier ein sach-
lidi er Unterschied vor liege. Ob man Sterben mit darauffolgendem
Wiederlebendigwerden unter dem Bilde der Auferstehung oder der
Wiedergeburt schildere, ist nur ein Unterschied der Einkleidung,
nicht der Sache. Paulus redet von einer Neuschöpfung <11. Kor.
5, 17/ Gal. 6, 15), Mag auch eine ganz kleine Differenz vorhanden
sein, so ist sie doch von verschwindend geringem Gewicht neben
der Tatsache, daß die durch Tod hindurch sich verwirklichende
Wesenserneuerung sich durch Einbeziehung in Tod und Auf¬
erstehung eines Gotthelden vollzieht.
Mit den Mysterien stimmt überein die Proklamation eines
neuen Lebens <Siehe, es ist alles neu geworden, II. Kor. 5, 17),
die soteria ist gekommen <11. Kor, 6, 2) oder wird kommen durch
den soter <Phil. 3, 20).
Schweitzer wendet ferner ein, Paulus glaube an eine leibliche
Auferstehung oder Verwandlung, indem die irdisch-fleischliche
Leiblichkeit in eine übernatürliche, von aller Vergänglichkeit
und Sinnlichkeit befreite übergeführt wird <546). Gewiß! Aber
auch diese Theorie ist echtes Eigentum des mithrischen Mysteriums.
Das oüf.ia jtvsvfAa tiköv <1. Kor. 15, 44) stimmt mit dem Mysterien¬
glauben gewiß überein.
Als weiteren fundamentalen Unterschied hebt Schweitzer her¬
vor, daß Tod und Auferstehung bei Paulus nie direkt mit der Er¬
lösung des einzelnen Zusammenhängen, vielmehr bewirken jene
eine Änderung im Zustande der ganzen Welt und diese Änderung
wirke sich an den einzelnen Gläubigen aus. Dies widerspreche den
Mysterien. Allein dagegen ist zu bemerken, daß auch bei Paulus
eine sehr direkte Verbindung zwischen Christus und den Gläu-
266
Dr. O. Pfister
bigen besteht. In Christi Tod ist der Gläubige getauft, mit
ihm wandeln wir in einem neuen Leben <Röm. 6), Das ist sehr direkter
Zusammenhang, Jedenfalls wäre auch der kosmische Revolutionär
Schweitzers dem spatiüdisdhen Messias hundertmal ferner, als dem
Welten sch öpl'er Ättis, Andere Argumente gegen die religions-
geschichtliche Auffassung hat Schweitzer nicht vorzubringen,
Auch den heiligen Geist als Gnadengeschenk und als Organ
der Gotteserkenntnis finden wir bei Paulus <1. Kor. 2, 12 und 14),
Auch die Verzückung des pneumatikos gehört hieher. Paulus
fühlt sich entrückt bis in den dritten Himmel <11. Kor. 12, 2), er
spricht in einer ekstatischen Glossolaiie, die mit den voces
mysticae äußerlich wahrscheinlich nahe verwandt ist. Das gleichsam
stoffliche Durchdrungensein von Christus ist wohl dem der
Mysterien entsprechend. Deißmann nennt das »£v Xptortji elvai« ein
»lokal aufzufassendes Sidibefinden in dem pneumatischen Christus«
<Diet. Lit, 109),
Auch die Zukunfts^ und Jenseitshoffnung ist bei Paulus,
wie in den Mysterien (Cumont, Hell, 134) sehr stark. Durch Adam
kam der Tod, durch Christus die Auferstehung der Toten <1. Kor.
15, 21). Im ganzen aber steht die paulinischc Eschatologie der
jüdischen näher als der den Mysterien eigentümlichen/ man vergesse
aber nicht, daß die jüdische Idee eines Weltgeruhtes und der Toten¬
auferstehung selbst schon auf einem Baume mit dem Mithrazismus
gewachsen ist.
Das höchste Heilsgut ist bei Paulus die Gottessohnschaft, die
viofreoia, die ganz der Adoption der Mysterien entspricht. Vom
jüdischen Standpunkt aus ist es unverständlich, wie Gott den Un¬
gerechten gerecht erklären kann. Die mystische Auffassung, die
überall neben der juristischen steht, löst das Rätsel: Durch das
Sterben mit Christus, durch die Identifikation erlangt der Mensch
Ansprudi auf Dikaiosis. Daß aber die Ähnlichkeit mit der christ¬
lichen Auffassung des Verhältnisses zu Gott viel stärker ist, sieht
man leicht ein.
Ebenso findet sich in der reichen Paränetik des Paulus vieles,
was dem Geist fesu und was den Mysterien entspricht, neben
vielem eigenen. Die Entolai der letzteren sind verloren gegangen,
so daß wir die Übereinstimmung nur wenig verfolgen können.
Das Lob der Ehelosigkeit aber ist entschieden ein Kardinalpunkt,
den Paulus mit den Mysterien und den Essenern, dagegen nicht
mit Jesus teilt,
Überblicken wir unsere Vergleichung, so kommen wir zu fol¬
gendem Schluß: In der paulinischen Soteriologie unterschied man
längst zwei heterogene Betrachtungen, eine mehr juristisch-nomi-
stische und eine mehr mystische. Die erstere arbeitet mit Vorstel"
lungen, welche dem Judentum entnommen sind. Sie gipfelt im
Sühnopfergedanken und schafft Erlösung von der mitgeschleppten
Schuld, Dieser Theorie steht eine durch und durch unjüdische,
Die Entwicklung des Apostels Paulus 267
mystische gegenüber, weiche in ihrer Zentralidee vom gestorbenen
und auferstandenen Gott mit dem Glauben der Mysterien sich in*
haltlkh berührt. Diese Frömmigkeit schafft durch ihre Verbindung
mit Christus Kräfte für Gegenwart und Zukunft. Jene, die jüdische
Betrachtungsweise wendet sich an den rechnenden, juristisch arbei*
tenden Verstand, diese, die mystische, mehr an das Gefühl, Eine
Synthese beider Religionen, der jüdischen und der hellenistischen,
läge darin, daß der paulinische Gottheiland in einer historischen
Persönlichkeit liegt,- denn daß Gott sich in der Geschichte kund*
gibt, ist das Eigenartige der israelitischen Religion, während die
Mystik des Erlösungsdramas dem Hellenismus entspricht.
Aber beide zusammen samt den griedusch*alexandrinischen
Motiven gruppieren sich inhaltlich doch nur um das Zentrum einer
lebendigen Frömmigkeit, die weder jüdisch, noch mysterienartig,
sondern der Religion Jesu geistesverwandt ist.
II, Psychologische Vorbereitung.
{Determination und Entwicklung.)
So gerne wir nun auf die Entwicklung des Paulus eintreten
möchten, können wir uns doch nicht versagen, eine grundsätzliche
Verständigung anzustreben, ohne welche Mißverständnisse zu be*
fürchten wären.
In welchem Sinne gibt es überhaupt Determinanten einer
geistigen Entwicklung, und inwiefern ist es möglich, sie wissen*
sdiaftlich festzustellen?
Ein häufig begangener Irrtum besteht darin, daß man gewisse
Entwicklungsresultate, gewisse geistige Inhalte, die nachweislich dem
Milieu eines Menschen angehörten, einfach als Wirkungen jenes
Umgebungsbestandteiles auffaßt. Wie die stehende Kugel, von
einer rollenden getroffen, die empfangene Bewegung fortpflanzt, so,
denkt man oft, müssen Entwicklungslinien, die in einer Individualität
auftreten und vorher von ihr gekannt waren, auf das Konto dieser
Determinante allein gesetzt werden. Allein es gibt ein solches rein pas*
sives Beeinflußtwerden im geistigen Leben so wenig wie im physischen.
Die Auslese der Ideen, die man annimmt und von denen man sich
leiten läßt, ist selbst ein aktiver Prozeß. Wie die Wurzel aus dem
Erdreich diejenigen Stoffe aufnimmt, die ihrer Natur entsprechen, die
anderen aber liegen läßt, so ist auch der Geist keineswegs eine
tabula rasa Wenn Jesus als sein Hauptgebot hinstellt die alttesta*
mentlidien Worte von der Gottes* und Nächstenliebe, so ist damit
noch lange nicht gesagt, daß das Alte Testament in Jesus diese
Gesinnung bewirkte, Vielleicht hätte er ganz ohne das ehrwürdige
Buch ein ähnliches Lieben gefunden, jedenfalls gewiß ohne jene
Formel. Wenn die Paradieses* oder Jonassage mit überraschend
ähnlichen Zügen auf den verschiedensten Kontinenten auftritt, so
Z68
Dr. O. Pfister
ist damit nodi lange nicht ausgemacht, daß die eine Sage die über¬
einstimmenden anderer Völker her vor brachte. Die Migrationstheorie
ist denn auch im Rückzug begriffen. Audi sehr nahe verwandte
geistige Gebilde, sogar Mythen können autodithon an den ver¬
schiedensten Orten ins Dasein treten.
Ein Beispiel schlechter Ätiologie findet sich in meiner Disser¬
tation über die Religionsphilosophie A, E, Biedermanns. Sie schließt
mit hartnäckigster Blindheit: Der und der Gedanke Biedermanns steht
schon bei Sch leier macher oder Feuerbach, also stammt er von dort.
So werden wir uns also davor hüten müssen, etwa zu
schließen; Wir finden bei Paulus einen Mysterienglauben, der dem
ihm bekannten hellenistischen in manchen Zügen aufs engste ver¬
wandt ist,- folglich ist einfach ein Stück Heidentum in den Paulinis¬
mus hinübergewandert.
Noch verkehrter scheint es mir, den Beitrag verschiedener
Quellen, die denselben geistigen Inhalt einem Menschen anvertrauten,
auf diese Quellen verteilen zu wollen. Es schiene mir also gänzlich
aussichtslos und methodisch verkehrt, ausrechnen zu wollen, wie
viel vom Glauben an den gestorbenen und auferstandenen Herrn
auf den urchristlkhen, wie viel auf den Mysterienglauben zurück¬
zuführen sei. Wir sind geneigt und berechtigt, abweichende Züge
je mit übereinstimmenden Determinanten in Zusammenhang zu
bringen, aber wir erinnern uns, daß auch hier kein bloßes Affiziert-
werden stattgefunden haben kann, sondern ein Nach schaffen,
das nur auf Grund einer starken Kongenialität möglich war. Aus
der Fülle der zuströmenden Motive wählt der Geist nur dasjenige
aus, was seinen Bedürfnissen entspricht und seinen großenteils un¬
bewußten Wünschen dient. Ein Mensch nimmt nur dann eine viel¬
leicht für jeden anderen bizarre Lehre an, wenn er in ihr einen
Sinn findet oder ahnt, der seinen unbewußten Nöten entgegen¬
kommt. Er kann oft selbst nicht angeben, worin der ungeheure
Reiz, die beglückende Wirkung jener Idee beruht, aber er erlebt
sie. Erst die Analyse löst uns in den meisten Fällen das Rätsel.
Sie zeigt uns, warum z. B. die Lehre von der bevorstehenden
Parusie einen Menschen bezaubert und bezaubern muß, warum die
Bibel- oder Kirchenorthodoxie heiligstes Bedürfnis wird und werden
muß. Die Bewußtseinspsydiologie freilich steht diesen Erscheinungen
meistens ratlos gegenüber.
Immerhin ist zu betonen, daß die unbewußte Konstellation
mit ihren Bedürfnissen in verschiedenen entgegengebrachten Vor¬
stellungen Befriedigung finden kann. Das in seinem eigentlichen
Wesen selbst nicht klar erkannte Bedürfnis kann in allerlei Sym¬
bolen eine Verwirklichung ihrer Sehnsucht finden, sind doch die
Symbole stets verschiedener Deutungen fähig. Wie viele und
mannigfaltige religiöse Postulate fand man schon in Jesus realisiert!
Ist so das Beeinflußt werden ein passiver und aktiver Vorgang
im einzelnen zugleich, ein Prozeß, der Geistesverwandtschaft vor-
Die Entwicklung des Apostels Paulus
269
aussetzt, so dürfen wir nodi eine nähere Bestimmung hinzufugen:
Findet sich eine Denkweise, die auf einen Menschen nachweislich
eindrang, in ihm noch gesteigert, so dürfen wir in der Regel an¬
nehmen, daß die Kräfte, die jene Determinanten schufen, in dieser
Persönlichkeit mit verschärfter Intensität wirksam waren.
Haben wir so die aktive Seite der geistigen Selektion mit
ausreichender Deutlichkeit gewürdigt, so sei nun aber auch die pas¬
sive hervorgehoben. Der Menschengeist gleicht nicht der Spinne, die
ihre Werke alle nur aus dem Eigenen hervorholt, Wo ein eigen¬
artiger geistiger Inhalt, den wir bei einem Menschen vorfinden,
diesem durch Mitteilung bekannt wurde, zögern wir natürlich keinen
Augenblick, an eine Kausalbeziehung zu glauben. Je weniger jener
Inhalt aus gemeinsamen Erlebnissen zu erklären ist und je auffal¬
lender die Übereinstimmung bis in charakteristische Einzelheiten
durchgeführt ist, desto zuversichtlicher nehmen wir die Beeinflussung
jenes Menschen durch die ihm zugegangene Wahrheit an.
Fügen wir noch die selbstverständliche Tatsache hinzu, daß
der aktive und passive Beitrag im Prozeß der geistigen Einwir¬
kungen individuell höchst verschieden ist, so dürften wir genug
vorangeschickt haben, um nunmehr die Entwicklung des Apostels
Paulus in Angriff nehmen zu dürfen.
III, Der Werdegang des Paulus,
A, Die jüdische Periode.
Über die Beanlagung des Paulus können wir einige wich¬
tige Aufstellungen wagen.
Es ist sicher, daß Paulus Hysteriker war. Dies beweist das
Ereignis vor Damaskus, die den Galatern gemachte Mitteilung
über das Leiden des Apostels, dies beweist, aber nur dem genauen
Kenner dieser psychologischen Verhältnisse, die ganze literarische
Arbeit des großen Mannes.
Sicher ist ferner eine starke Begabung zur Liebe gegen andere
Menschen. Sonst könnte Paulus nach der Bekehrung nicht eine so
tiefe Liebe zu Christus und den Mitmenschen auftreiben.
Dürfen wir diese beiden Merkmale der Beanlagung des Paulus
getrost zuschreiben, die neurotische Belastung und die Befähigung
zu intensiver Liebe, so können wir dagegen nur mit großer Vor¬
sicht auf die Umstände schließen, die seine Entwicklung in den
ersten Jahren auf die Bahn des Hysterikers drängten und die reli¬
giöse Ausbildung bestimmten.
Welchen pädagogischen Einflüssen unterstand der Knabe?
Waren die Eltern strenge Juden, die sich von allem heidnischen
ängstlich abschlossen? Wrede wagt folgenden Schluß: »Im Juden¬
viertel aller Großstädte gab es Häuser genug, deren orthodoxe
Atmosphäre der umgebenden griechischen Luft den Zutritt ver-
270
Dr. O, Pfister
sperrte/ und wenn Paulus sich dem Judentuine strengster Observanz,
dem Pharisäismus, zu wandte, wenn er zum Rabbi bestimmt war,
so läßt dies auf ein Elternhaus schließen, das von dem auf¬
lösenden, erweichenden Geiste der allgemeinen Kultur, der aller¬
dings zahllose Juden der Diaspora ergriffen hatte, nur wenig berührt
war« (S. 6>,
Diese Schlußbildung ist psychologisch unstatthaft, Wrede ver¬
kennt völlig die spontan gestaltenden Kräfte des Geistes, Kinder
unreligiöser Eltern werden oft religiöse Fanatiker, Phil, 3, 5 be¬
richtet der Apostel allerdings, daß er am 8, Tage beschnitten wurde,
Israelit, Benjaminit, Hebräer. Aber dies besagt nicht das geringste
für die orthodoxe Strenge der Eltern 1 . Wer sagt denn, daß der
Plan, Rabbi und Pharisäer zu werden, von den Eltern ausging?
Konnten nicht die Eltern oder die allein am Leben gebliebene
Mutter einem dringendem Wunsch des Sohnes nachgegeben haben?
Wäre es nicht denkbar, daß Paulus zuerst nach Art unzähliger
Kinder in der Diaspora synkretistisch aufgewachsen wäre, dann
aber eine innere Wandlung erfahren hätte? Nichts spricht gegen die
Annahme, schon des Paulus Eltern haben jenen geschichtlich be¬
glaubigten jüdischen Kreisen angehört, die Mosaismus und Mysterien¬
glauben vermischten.
Einigermaßen sicher ist, daß nach einer sehr alten Überlie¬
ferung <Apostelgesch, 22, 28) schon des Paulus Vater Hellenist
war. Er besaß das römische Bürgerrecht und wohnte in Kilikien,
Ebenso sicher ist, daß der junge Saulus die Herrlichkeit und Hä߬
lichkeit einer hellenistischen Stadt mit ansah. Er sah, auch wenn
ihn die Eltern noch so sehr von nichtjüdischen Einflüssen hätten
isolieren wollen, wofür schlechterdings nichts spricht, die imposanten
Bauwerke, er hörte vom Ruhm der tarsischen Philosophenschulen,
er vernahm weise Aussprüche, die seiner ethischen Begabung unbe-,
dingt Eindruck machen mußten, Selbst Wrede, der doch sonst die
rein jüdischen Wurzeln des Paulinismus über Gebühr betont, deutet
an, daß der Begriff des Gewissens und der Gebrauch des Wortes
»Fleisch« auf philosophische Jugendeindrücke zurückgehen dürften
<107). Jedenfalls wurde Paulus von der Bildung seines Milieus nicht
hermetisch abgeschlossen. Manches mußte durchsickcrn. Auch die
enorme Bedeutung des Attis-Mithrakultus <beide Götter wurden
oft verschmolzen), sowie anderer Religionen konnte ihm unmöglich
entgehen. Er hörte von den großartigen Prozessionen, an denen die
Eunuchen eine so hervorragende Stellung einnahmen und für welche
einzelne sich entmannen ließen, hörte von dem rauschenden, orgasti¬
schen Treiben, er vernahm, daß den auffallenden Riten ein tieferer,
nur den Eingeweihten bekannter Sinn innewohnen sollte, und wußte,
daß auch hochgebildete Menschen der Geheimlehre mit Ehrerbietung
1 Apostelgesch* 23, 6 ist nitht mit Luther zu übersetzen" bin eines
Pharisäers Sohn«, sondern: >Aus den Pharisäern**
Die Entwicklung des Apostels Paulus
271
anhingen. Die Neugierde des Kindes wurde durch diese Heimlich¬
keiten nur erregt und wenn auch die Eltern mit Verachtung von
solchen Dingen geredet hätten, was aber unwahrscheinlich ist, da
sehr viele gebildete kleinasiatische Juden den Mysterien nicht geringe
religiöse Werte abgewannen und sie mit ihrer Frömmigkeit ver-
banden, es wären vermutlich eindrucksvolle, mit dem Schleier des
tiefen Geheimnisses umgebene Fragen in der Knabenseele übrig
geblieben.
Anderseits mußte sich der Knabe bei seiner Beanlagung und
mindestens vorwiegend jüdischen Erziehung durch manche Züge des
tarsischen Getriebes abgestoßen fühlen; Der Sklavenmarkt mit seinen
Mitleid erweckenden Szenen, die Ausschweifungen, namentiidi in
ihrer religiösen Ausgestaltung, konnten ihm sehr gut schon vor der
Pubertätsentwicklung Ekel einflößen, wagte sich doch die kultische
Prostitution ohne Scham ans helle Tageslicht. Kaum werden jüdische
Eltern ihr Kind über diese Einrichtungen unbelehrt gelassen haben
und sicher hoben sie dem unsittlichen Treiben gegenüber die Rein¬
heit der jüdischen Religion hervor. Waren sie Synkretisten der
jüdischen und der Mysterienreligion, was ich nicht versichern kann,
aber für sehr möglich halte, so suchten sie in den rohen und hä߬
lichen Riten einen tieferen Sinn, wie es in den Mysterien stets der
Fall war, und sie verwiesen das Kind vielleicht auf diese verborgene
Weisheit, die ihm jetzt noch zu hoch liege. Übrigens ist die Frage,
ob die Eltern des späteren Apostels den Mysterienreligionen mehr
wohlwollend oder ablehnend bis zur heftigsten Bekämpfung gegen¬
überstanden, für unsere psychologische Auffassung nicht von ma߬
gebender Bedeutung. Das wahrscheinlichste ist allerdings ein gelinder
Synkretismus auf ihrer Seite, aber mit starker Bevorzugung der
jüdischen Elemente.
Paulus selbst schildert seine entscheidenden Erlebnisse der
ersten Periode mit den Worten: »Die Sünde hätte ich nicht erkannt,
außer durch das Gesetz (des Mose). Denn die Begierde hätte ich
nicht gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte; Laß dich nicht
gelüsten. Indem aber die Sünde einen Anlaß gewann am Gesetz,
wirkte die Sünde in mir alle Begierde/ denn ohne Gesetz war die
Sünde tot. Ich aber lebte einst ohne das Gesetz/ als aber das
Gebot kam, lebte in mir die Sünde auf, ich aber starb, und es
erfand sich, daß das zum Leben bestimmte Gebot zum Tode wurde«
<Röm, 7, 7—10),
Hieraus folgt: Paulus erlebte eine Periode kindlicher Unschuld
und Unversuchtheit, die erst durch das Bekanntwerden mit dem
mosaischen Gebot ein Ende nahm. Und zwar trug das zehnte
Gebot Gelüste in den Knaben, der bisher von böser Lust un¬
behelligt geblieben war. Im zehnten Gebot war es aber sicher nicht
das Verbot des Neides auf schöne Häuser, Ochsen, Habe, sondern
jedenfalls das Verbot des Gelüsten, das gemeinhin unter der bösen
Lust verstanden wird und im Gelüsten nach des Nächsten Weib
272
Dr. O. Pfister
im zitierten Gebote besonders illustriert wird. Jedermann weiß, daß
Knaben auch ohne das mosaisdie Gebot von klein auf dem Neid
unterworfen zu sein pflegen, so daß also nicht erst ein Verbot die
Aufmerksamkeit auf begehrenswerte Gegenstände richtet und das
Begehren nach ihnen weckt. Dagegen ist jedem Erzieher bekannt,
daß noch heute das zehnte Gebot neben dem siebenten <Verbot des
Ehebruchs) bei manchen Kindern das Augenmerk auf geschlechtliche
Dinge hinwendet und das erste bewußt bleibende sexuelle Gelüsten
hervorruft. Warum sollte es bei Paulus nach seinem angeführten
Geständnis anders gewesen sein? Täte man seiner Ehre dadurch
Abbruch? Oder findet jemand eine plausiblere Erklärung seiner
Aussage?
Wie viele Knaben erleiden noch jetzt, und zwar nicht ganz
selten unter dem Einflüsse der alttestamentlichen Geschichte oder
des Beichtstuhles eine ebensolche Aufrüttelung der Sexualität! Be¬
sonders bei beginnender Pubertätsentwicklung werden solche Inhalte,
auch wenn sie früher kalt ließen, stark gefühlsbetont.
Auch der Ausdruck: »Als das Gebot kam, lebte in mir die
Sünde auf und ich starb«, geht gewiß nidit in erster Linie auf
Sünden, die aus Gelüsten nach fremder Habe stammen, sondern,
wie die Beobachtung lebender Knaben beweist, auf die andere von
Paulus angedeutete Gruppe von Fehltritten und unerlaubten Phan¬
tasien, In vielen Hunderten von Analysen maximalen Schuldgefühls
erwies sich neben verdrängten Todeswünschen gegen die Eltern das
wirkliche oder nur in der Vorstellung vollzogene Sexualdelikt als
die stärkste Triebfeder. Von verdrängten Todeswünschen ist jedoch
bei Paulus nichts nachzuweisen. Kleinere Sünden, die sicher nicht
erst durch die Begegnung mit dem mosaischen Gebot hervorgerufen
wurden, bewirken sicher nicht einen Seelentod.
Des Paulus Geständnis besagt somit: Erst durch die Warnung
des Gesetzes vor ehebrecherischen Gelüsten wurde dieses bei ihm
erregt und es trat ein Zustand des Geistestodes ein. In Überein¬
stimmung damit warnt er: »Wenn ihr nach dem Fleische lebt, so
werdet ihr sterben müssen« <Röm. 8, 13). So wenig wie an der
früheren Stelle, ist hier vom physischen Tod die Rede. Wir werden
uns sehr bald mit dem Begriff des Fleisches etwas näher ausein¬
anderzusetzen haben und unsere Hypothese bestätigt finden.
Wie bei sehr zahlreichen Heranwachsenden, die eine reli¬
giöse Bekehrung erleben, bängt auch die des jungen Paulus offen¬
bar mit Konflikten der Pubertätsentwicklung zusammen 1 . Daß lange
Kämpfe voller Depressionen, Angstgefühle, unerfüllter Hoffnungen für
ihn auszufechten waren, läßt sich ex analogia mit Sicherheit annehmen.
1 Sogar statistisch läßt sich die Tatsache dieses Zusammenhanges nach*
weisen, vgl, Starbuck, Psychology of Religion- Ein Zetergeschrei, wie es gegen
Berguer erhoben wurde, als er auf die Möglichkeit derartiger Entwiddungs-
Vorgänge im Leben [esu hinwies, löst die psychologische Frage nicht, sondern
bildet nur ein betrübendes Zeichen der Unfähigkeit xu psychologischem Denken*
Die Entwidtlung des Apostels Paulus
273
Das nächste, was wir erfahren, ist der Bericht der Apostel¬
geschichte, daß Paulus noch in früher Jugend <Apg. 26, 4> nach Je¬
rusalem und in die Schule des Gamaliel kam <32, 3>, wo er mit
allem Fleiß im väterlichen Gesetz unterwiesen wurde. »Wie mein
Lebenswandel von Jugend auf und von Anfang an unter meinem
Volke, besonders in Jerusalem, war, das wissen alle Juden« <26, 4).
Sehr oft sehen wir Knaben, die von sündlichen Begierden gequält
werden, mit großer Inbrunst und Sehnsucht diesen weg einer reli¬
giösen Höherleitung ihrer Lebensenergien einschlagen. Daß Paulus
von seinem Vater zum Rabbi bestimmt und nach Jerusalem gebracht
worden sei, wie Holtzmann <Meyers Konvers.=Lex,> behauptet, steht
nirgends in der Bibel. Mir ist viel wahrscheinlicher die Annahme,
daß Paulus selbst den Wunsch aussprach, daß er nach Jerusalem
verbracht werde, weil er sich vom religiösen Leben der geistlichen
Metropole Erlösung aus seinen religiösen und sittlichen Nöten ver¬
sprach, Die Eltern waren nach den früher begründeten Vermutungen
vielleicht zu synkretis tisch und zu wenig gesetzesstreng, um ihren
Sohn der Sdiriftgelehrsamkeit zuführen zu wollen.
Daß Paulus ein Schüler Gamaliels war, halte ich nicht mit
Pfleiderer für unwahrscheinlich. Die milden Eltern, besser gesagt, die
Inhaber der elterlichen Gewalt entschieden sich am liebsten für
diesen duldsamen und gefeierten Mann, der in der Diaspora be¬
sonders angesehen war. Die spätere Strenge des Schülers spricht,
wie bemerkt wurde und täglich aufs neue festzustellen ist, in keiner
Weise dagegen. Ich kenne eine Anzahl liberal erzogener Jünglinge,
die infolge seelischer Konflikte katholisch werden wollten und streng¬
gläubig wurden. Die Annahme: Wie der Lehrer, so der Schüler,
trifft gar nicht immer zu.
Die Gründe, aus denen Paulus auch bei mildester Unter¬
weisung ein Zelot werden mußte, können wir ausfindig machen.
Wir wissen, daß Paulus die ersehnte Erlösung nicht fand. Im
Gegenteil trat eine Verschärfung der seelischen Not ein. Die Sünde
wurde durch das Gesetz erst recht übermäßig sündlidi <Röm. 7, 13).
Gegen das Gesetz erhob sich jene übermächtige Gewalt, die Paulus
»das Gesetz in den Gliedern« nennt <Röm. 7, 23) und als im Fleisch
lokalisierte, von ihm untrennbare Macht beschreibt. Offenbar redet
Paulus von jenen Trieben, deren Mißbrauch man als Sünden des
Fleisches noch heute zu bezeichnen pflegt. Schon 1. Mos, 2, 24 ist
proklamiert, Mann und Weib sollen »le basar echad«, »zu einem
Fleische« sein. An zahlreichen Stellen des Neuen Testamentes
werden, wie Jülicher angibt, Akte des Geschlechtslebens mit Hilfe
des Wortes »Fleisch« umschrieben <Art. »Fleisch« in Die Rel. in
Gesdi. u. Gegenw., Sp, 911). Viel entschiedener verlegte der Helle¬
nismus den Sexualtrieb in die Fleischlichkeit. Der energische Paulus
litt also unter demselben Kampf, der unzählige gerade der Besten
in schwere Not und religiöse Bekehrung führte. Diesen Weg gingen
ein Augustin wie ein Luther, ein Zwingli wie unzählige Fromme
ImzgQ VL/| l 8
274
Dr. O. Pfister
der alten, mittleren und neueren Kirchengcschichte, so mancher Evan*
gelist der Gegenwart. Es wäre ein Zeichen niederträchtiger und un*
paulinischer Gesinnung, in der Feststellung dieses unleugbaren Tat*
bestandes eine Verkleinerung jener Menschen, unter denen wir eine
Anzahl der Größten und Edelsten wahrnehmen, erblidcen zu wollen,
Aber nennt Paulus nicht selbst Gal. 5, 19 als Werke des
Fleisches eine Reihe von Delikten, die mit dem Sexualleben in keiner
direkten Verbindung stehen? Er gibt an; »Offenbar aber sind die
Werke des Fleisches, welche sind Unzudit, Unreinheit, Üppigkeit,
Bilderdienst, Giftmischerei, Feindseligkeiten, Zorn, Zank, Spaltungen,
Parteiungen, Neid, Mord, Trunkenheit, Völlerei u. dgl.« Man sieht
sofort, wie sehr die Sexualübertretungeil betont sind. Holtzmann
betont, daß Sinnlidikeitssünden den Fehlerkatalog eröffnen und
schließen, sie nennt er die Kerntruppe im Lager des Bösen <11, 47).
Wenn neben den eigentlichen Vergehen gegen die sexuelle
Reinheit noch andere mit dem Fleisch in Zusammenhang gebracht
werden, so ist dies psychologisch verständlich. Schon der Begriff des
Fleisches ist nicht eindeutig auf die Genitalität festgelegt, sondern
erstreckt sich auf die ganze Leiblichkeit, Sein psychisches Korrelat,
die »Begierde« <&trth>/ct«, libido) bezieht sich genau parallel auch
nicht auf die Gesdilechtsbegierde allein, sondern auf jedes niedrige
Begehren. Aber daß erstere zur Entstehung qualvoller Konflikte in
bezug auf Ausdehnung und Grad weit mehr beiträgt, als <abgesehen
vielleicht vom Alkoholismus), andere Körperbegierden, liegt auf
der Hand. Daß somit das »Gesetz in den Gliedern«, wenn auch
nicht aussdiließlich, so doch vornehmlich die sexuellen Versuchungen
bezeichnet, läßt sich nicht verkennen, ,
Die schrecklidien Niederlagen im Kampf zwischen Geist und
Fleisch hatten schwere und schmerzliche Folgen, Zunächst bereitete
sich das InsuffizienzgefühJ auf das ganze Leben aus. Man hat darauf
aufmerksam gemacht, wie seltsam es sei, daß Paulus die Unmög*
Üchkeit der Erfüllung des Gesetzes so stark unterstreiche, wo doch
gerade ein kasuistisches Gebot mit seinen luciden Einzelforderungen
am leichtesten zu erfüllen sei. Dasselbe könnte man von Luther und
der Möncherei sagen. Das Rätsel löst sich einfach aus der so
häufigen Expansion der sexuell bedingten »sentiments d'incomple*
tude«. Einen derartigen Fall, der bis zur abulie vorrückte, habe ich
in meinem Buche, »Die psychanalytische Methode«, S. 456, ge*
schildert.
Eine weitere Folge war das bei Hysterikern so häufige Angst*
gefühl, das sich bei religiösen Naturen mit dem Schuldgefühl amaf*
garniert und den Sündendruck steigerte.
Aber sind wir auch sicher, daß Paulus schon vor der Bekannt*
Schaft mit den Christen an religiöser Angst litt? Dürfen wir den
Notschrei vom »elenden Menschen«, der sich nach Erlösung vom
Leibe dieses Todes sehnt <Röm. 7, 24) auf diese Epoche beziehen?
Ein Rückschluß gestattet es in der Tat.
Die Entwicklung des Apostels Paulus
275
Ausgemacht ist der Fanatismus des Christen Verfolgers, aus«
gemacht seine vorherige Zugehörigkeit zu den Pharisäern. Das Eifern
des jungen Mannes verrät uns nach unserer psychologischen Vor«
bereitung, daß jene Mächte, die den jüdischen Fanatismus schufen,
in ihm besonders stark gewaltet haben müssen. Welche Gewalten
und Motive sind es nun, die den Zwang des Zeremonialismus und
Buchstabenglaubens zustande bringen? — Freud machte auf die
genaue Übereinstimmung des religiösen Zwanges und der Zwangs«
neurose aufmerksam. In beiden Fällen wird einer Vorstellung oder
Handlung, die dem Außenstehenden unbegründet, ja sinnlos, abstrus
erscheint, der Charakter einer ungeheuer wichtigen Größe beigelegt.
Hier wie dort wird der Vollzug der Vorstellung oder Handlung als
eine Verpflichtung empfunden, deren Verletzung starkes Angstgefühl,
die Befürchtung schwerer Strafe nach sich ziehen müßte. In Zwangs«
neurose und Religionszwang vermutet man hinter dem Gebote eine
unheimliche Macht, die auch vom Zwangsneurotiker oft als eine
übernatürliche, dämonische betrachtet wird. Die meisten oder doch
sehr viele Zwangsneurotiker bilden übrigens eine Privatreligion aus,
die sie meistens wie ihre Krankheit überhaupt verbergen. Den
Hintergrund bildet stets Angst, die beim Auftreten des Zwanges
selten fehlt, Off sucht der Zwangsneurotiker seinen abenteuerlichen
Verrichtungen eine rationale Begründung zu geben, die dem Zu«
schauer selbstverständlich auch bei imponierendem Scharfsinn nicht
genügen kann, da sie die wahren Motive, die unter der Bewußt«
seinsschwelle liegen, ignoriert. Ähnlich der Orthodoxe und Zere«
monialist. Auch darin liegt eine Übereinstimmung, daß die neurotische,
wie die religiöse Zeremonie symbolischer Natur sind,- in der Taufe,
wie im Kultusmahl erblicken wir Verrichtungen, die ebensowohl auf
rein pathologischem, wie auf religiösem Boden Vorkommen können
(vgl. auch Wasch« und Eßzwang). Vor einem groben Irrtum sind
Laien, die von der Psychologie der Neurose und der Frömmigkeit
nichts wissen, ausdrücklich zu warnen: Mit dem Gesagten ist selbst«
verständlich nicht gemeint, daß die Sakramente auf eine Stufe mit
den krankhaften Zeremonien zu setzen seien, obwohl auch diesen
eine große Zweckmäßigkeit neben Unzweckmäßigkeiten innewohnt.
Das Sakrament und das religiöse Symbol sagen auch nach Wegfall
des Zwangscharakters allgemein wertvolle V^ahrheiten, die wir aus«
sprechen können und lassen uns neue Lebenskräfte ahnen, die wir
im Worte nicht ausdrücken können. Auch der pathologische Zwang
bringt etwas Unsagbares zum Ausdruck, aber es ist nur eine
private Angelegenheit, nicht eine tiefsinnige Erkenntnis oder große
ethische Sehnsucht. Darum ist der gewöhnliche Zwang nur seinem
Träger inhaltlich wertvoll. Unterscheiden wir daher religiösen
und pathologischen Zwang sorgfältig! Betonen wir auch einen
Fundamentalunterschied: Die Zwangsneurose ist vorwiegend, off
ausschließlich, Eigendichtung und führt zu Isolierung/ die religiöse
Zwangsproduktion ist kollektiv bedingt, meistens durch lange Über«
18 *
276
Dr. O, Pfister
lieferung, und gellt auf Gemeinschaft aus. Ziehen wir diese Unter¬
schiede ab, so bleibt noch immer sehr viel des Gemeinsamen übrig:
Der Zwang, die Angst vor der Unterlassung, die Lust bei Voll¬
ziehung der Handlung oder Vorstellung, die Beugung unter eine
unheimliche Autorität, der symbolische Inhalt, den man off, nicht
immer, rational zu begründen versucht. In dem hervorspringenden
Unterschied, daß jeder n ich frei igi Öse Zwangsneurotiker sich isoliert,
der religiöse dagegen Gemeinsdiaft sucht, erkennen wir schon rein
biologisch den teleologischen Charakter der Religion.
Auch die Ursachen des Zwanges sind überall dieselben: Stets
liegt eine Stauung der Lebensenergie vor, die meistens, aber gewiß
nicht immer, eine im engeren Sinn sexuelle Hemmung darstellt.
Ausnahmslos sind gewaltige Lebensansprüchc an ihrer Verwirklichung
gehindert, heiß begehrte Triebbetätigungen verwehrt oder versagt
worden. Solche Triebeinschränkungen finden wir im nachexilisdhen
Judentum (Entstaatlichung, Ausschaltung der Liebe aus der Frömmig¬
keit, strenge Pädagogik, Bindung der Kinder an die Eltern etc ) und
im Mittelalter mit seiner Gottesferne, seiner asketischen Moral, seinem
Verzicht auf Selbstbestimmung (Gebot des Gehorsams), Verzicht
auf Ehe und Besitz, Ideal des mönchischen Lebens. Die altprote¬
stantische Orthodoxie ging Hand in Hand mir den Sittenmandaten
und der Unterdrüdcung der unteren Stände. Umgekehrt hört der
ziwang überall auf, wo die Schranken der begehrten Lebensfunktion
fallen und die Lebensenergie sich frei betätigen kann. Der religiöse
Zwang wird dadurch überwunden, daß die Liebe sieb in sublimster
Weise betätigen kann, und zwar in ethischer, wie in religiöser Hin¬
sicht. Ein neues religiöses, wie ethisches Lieben brachten Jesus, die
Reformation (Aufhebung des Zölibates, Gewissensfreiheit, neue
Stellung zur Welt), der Pietismus usw.
Bevor dieses Ventil einer Energieverwendung, die maximale
Produktivität im besten Sinne ermöglicht, gefunden wird, sucht der
religiöse Zwangsneurotiker Entladung seiner inneren Spannungen in
der Ausübung seiner Orthodoxie und seiner Riten. Je stärker die
Stauung, desto fanatischer diese religiösen Leistungen. Je stärker
Paulus unter dem übergewaltigen Gesetz des Fleisches litt, desto
eifriger suchte er das Heil in Werken des Gesetzes, wie Luther
und die Riesenarmee ehrlicher Mönche in ihren Übungen Erlösung
suchten. Und sie fanden auch Erleichterung, sogar manchmal äußerst
hohe Lustwerte, Verzüdcungen, denen aber immer große Pein auf
dem Fuße folgt. Ein von mir untersuchter Zungenredner fand ebenso
große Erleichterung, wenn er ekstatisch Glossolalie trieb, als wenn
er in unbekannten Schriftzügen mit rasender Schnelligkeit automatisch
ein Buch schrieb. Er überließ sich einfach dem inneren Zwang. Der
religiöse Eifer ist somit ein Gradmesser der inneren Stauung,
Man darf nicht annehmen, daß Paulus in seinem Zelotismus,
der nach Gal. 1, 14 den vieler Altersgenossen übertraf, glücklich
gewesen wäre. Höchste Wonnen finden wir vorübergehend nur dort.
Die Entwicklung des Apostels Paulus
277
wo der Liebesanspruch in himmlischer Minne sich austobt. Der No¬
mismus dagegen gestattete nur eine derart indirekte Betätigung der
primären Ansprüche, daß ein Sättigungsgefühl sich niemals durch¬
setzen konnte. Es blieb die Bedrängnis durch das Gesetz in den
Gliedern, es blieben die Niederlagen in diesem Kampfe, es blieb
das Gefühl der Unzulänglichkeit, es blieb trotz der peinlichen Korrekt¬
heit in der Ausübung der Gesetzes Vorschriften, ja eigentlich im Wider¬
spruch mit ihr das Gefühl, unter Gottes Eorn zu stehen und sein
Gesetz nicht halten zu können. Letztere Gewißheit ist auch ganz
richtig, wenn wir es statt auf das mosaische auf das der mensch¬
lichen Natur eingeprägte Gesetz beziehen.
Als ungesättigter, von innerer Not zermarterter Mensch kam
Paulus mit den Christen und ihrer Lehre in Berührung. Nun ver¬
stehen wir die maßlose Heftigkeit, mit der er ihnen entgegentritt. Sie
entwerteten das Gesetz, das ihm einzig und allein Linderung in
seiner schweren Bedrängnis verschaffte. Seine Wut ist die des
Zwangsneurotikers, der auf die leiseste Hinderung seines Zere¬
moniells mit einem Wutausbruch reagiert, der zum äußeren Anlaß
in keinem Verhältnis steht. Wer sich die psychologische Situation
jener Bedauernswerten klar macht, versteht die Notwendigkeit und
relative Zweckmäßigkeit dieser Reaktionen. Jesus und die Christen
forderten Liebe und nur Liebe. Paulus konnte als echter Hysteriker
vor der Bekehrung nicht vollkommen lieben, das machte ja eben sein
Leiden aus. Obwohl er nicht wie Jesus durch eine große Sendung
gebunden war, obwohl ihn die äußeren Lebensverhältnisse in keiner
Weise hinderten, sehen wir ihn noch um sein dreißigstes Jahr un¬
verheiratet. Dies ist symptomatisch gewiß nicht gleichgültig. Wir
finden eine eigentliche Absperrung gegen die Ehe bei vielen, deren
Kampf mit dem Fleisch auf neurotischer Basis geführt wird. Der
ethisch und biologisch zweckmäßige Weg, der allein völlige Befreiung
verschafft, ist ihnen verrammelt.
Aber auch die Ablenkung der Lebensenergie in altruistische
Leistungen war dem Pharisäer Paulus großenteils versagt. Ein Mensch
von normaler Nächstenliebe wäre nicht zum grimmigen Verfolger
geworden. Gewiß waren starke altruistische Neigungen in dem
späteren Apostel von jeher vorhanden, aber ihre Betätigung kam
infolge der inneren Bindung nicht zustande. Die Zwangsreligion ab¬
sorbierte sie, soweit er sie nicht in Haß verwandelte.
Der Haß auf Jesus hat noch besondere Quellen, In Jesus
erschien etwas, das dem Paulus entschieden kongenial war und ihn
ansprechen mußte, vor allem Liebe zu allen Menschen, sogar den
Heiden. Allein um dieser Liebe Lebensziel zu erreichen, hätte er
enorme Opfer bringen müssen. Was er mit gewaltiger Anstrengung
sich angeeignet hatte und als sein summum bonum schätzte, die
ganze Flucht in die Zwangsreligion hätte er aufgeben und von
vorne anfangen müssen. Vor dieser Aufgabe schützte ihn die Wut
auf den Neuerer. Es ist der bekannte Neurotikerhaß gegen den
278
Dr. O. Pfister
Arzt, den der Kranke noch kaum oder gar nidit gesehen hat, der
Haß des Alkoholikers gegen den abstinenten Seelsorger. Wir müssen
auch die grausame Lust des Verfolgers als eine libidinöse Funktion
in Rechnung setzen selbst dann, wenn im Bewußtsein des Paulus
der Schergendienst als etwas zu verabscheuendes erschienen wäre,
was nicht ausgeschlossen ist.
Neben dem Haß auf die Zerstörer der einzigen genußreichen
Triebbetätigung, der nomistischen und neben der damit zusammen*
hängenden, notgedrungenen Ablehnung einer verlockenden altruistischen
Perspektive redet aus dem Fanatismus des Paulus der Wunsch, die
innere Unzulänglichkeit zu überkompensieren. Wer eine Lebens*
forderung nicht ausführen kann, tut dafür auf anderem Gebiet desto
mehr des Guten. Klan weiß, was hinter Naturfanatismus oder
extremer Prüderie steckt. Paulus kann dem Gesetz des Fleisches
nicht widerstehen und leidet nun unter dem Gefühl, unfromm zu
sein. Um so leidenschaftlicher benützt er die Gelegenheit, an einem
anderen Orte, wo er nicht gebunden ist, seinen Eifer für Gott zu
manifestieren. Der Hysteriker liebt das Demonstrative, War nun
die Gelegenheit nicht außerordentlich günstig, die LInzulänglichkeit
in der einen Hinsicht durch eine Extraleistung dort, wo sie mög*
lieh war, vor Gott, der Welt und sich selbst zu überkompensieren,
nämlich in Verfolgung der »Gottes* und Gesetzesfeinde«?
Das Gesetz selbst begünstigte diese Handlungsweise, Der Ge*
setzesÜbertreter sollte aus der Gemeinde ausgetilgt werden (z, B,
3, Mos. 20/ 23, 30), Jesus blieb nidit beim Buchstaben des Gesetzes,
er hing gerichtet am Pfahl, folglich war er ein Verfluchter (Gal, 3,
10 und 13), In dem Gesetzesübertreter Jesus haßte Paulus den
Gesetzesübertreter in sich selbst, in den Anhängern dieses Gerichteten
verfolgte er den Übeltäter in der eigenen Brust,
Jetzt sind wir auch in der Lage, die Theologie und Anthro*
pofogie des Paulus ein Stüde weit auf ihre eigentlichen Wurzeln
zurüdtzuführen. Die rationalistische Psychologie, die einfach mit
Holtzmann von Entlehnungen aus Judentum und Hellenismus redet,
läßt das wichtigste außer acht: Nämlich, warum Paulus gerade die
und die Elemente annah in, jene aber abstieß und andere Vor«
Stellungen ganz neu bildete. Paulus mußte die Gesetzlichkeit Gottes
auf die Spitze treiben, weil es seiner religiösen Zwangsneurose ent*
sprach: Die Abkehr von der Realität und Hinwendung ins Rab»
binische und Sakramentale paßte vortrefflich zu seiner Verdrängung
der Fleisch es macht, welche Flucht aus der Wirklichkeit ich an zahl¬
reichen Beispielen bei Lebenden nachwies (Die psychanalyt. Meth,,
85, 173, 266, 487). Von der Forderung eines Opfers wird später
die Rede sein. Wir verstehen nun auch, warum Paulus sich den
hellenistischen Begriff der sarx aneignet, entsprach er mit seiner auf
der ganzen Welt verstandenen und in den Parallelismen von Fleisch*
und Sexualverboten oft verwendeten Symbolik trefflich inneren Er*
fahrungen über das Sexualleben. Es ist auch psychologisch richtig.
Die Entwicklung des Apostels Paulus
279
daß die Fehler in Sachen des Fleisches sich leicht über die anderen
Seelenerlebnisse aasbreiten und andere Delikte nach sich ziehen. Es ist
zuverlässig nachgewiesen, daß Zwangslügner, Zwangsdiebe, Zwangs¬
brandstifter, Zwangsjähzornige u. a, Fehlbare meistens solche sind,
die dem »Gesetz des Fleisches« verfielen, sich dagegen auflehnen und
in ihrem Fehltritt unwissentlich ein Kompromiß schließen, indem sie das
Fleischesgesetz symbolisch und an einem anderen Objekt erfüllen
<Die psychanalyt. Meth„ 71 f„ 174>. Es ist also ganz richtig, wenn
man angibt, das Schuldgefühl des Paulus beziehe sich nicht nur auf
sexuelle Übertretungen/ aber damit ist nicht gesagt, daß die Sexualität
an ihnen unbeteiligt sei. Nach dem organischen Zusammenhang der
seelischen Funktionen ist die gänzliche Ausschaltung des Sexuellen
bei hochwichtigen Entscheidungen von vornherein unwahrscheinlich.
Die Analyse hochgradigen, besonders pathologischen Sduildgefuhls
beweist aber die sexuelle Bedingtheit namentlich der üetühlsbetonung
ebenso deutlich, wie die Mitwirkung anderer Motive,
Was erzielte Paulus mit seinem Kampf gegen die Christen?
Die Beschwichtigung der inneren Not mißlang gänzlich. Die Schergen-
arbeit schuf nur neue Beunruhigung, denn Paulus war im Grunde,
wie wir schon bemerkten, eine zum Lieben geschaffene a ^f^‘ , as
Verhör der Gefangenen ergab nichts belastendes außer dem Glauben
an den Christus. Audi im jüdischen Sinn war das ^eben dieser
Leute untadelig. Sie erbauten sich in der Synagoge un ie , tei ?.
Gesetz. Und doch war in ihnen ein anderer Geist: eine lodernde le e
gegen Gott und alle Menschen, sogar die Feinde, eine leuchtende das
ganze Leben verklärende Hoffnung, ein tiefer Friede trotz der äußeren
Gefahr, aber nicht als Überbau auf stoischer Apathie, sondern als
Ausdruck eines aus der Kindesstellung zu Gott hervorgehenden
Glaubens, eine königliche Freiheit, die von der Enge des Lresetzes
zwar zunächst unvorteilhaft: abstach, aber schließlich doch eine sittliche
Spannkraft und religiöse Stimmung aufkommen ließ, die imponieren
mußten. Bei alledem beriefen sich auch die Christen auf die Worte des
alten Testamentes. So fand der Verfolger in den Verfolgten manches
Große, das er nicht leugnen konnte. Er suchte es zu leugnen und redete
sich wohl auch ein, die Christen seien dennoch Gottesfeinde und Ver¬
ächter des Gesetzes. Allein die verdrängte Furcht, er vergreife sich
an redlichen, frommen Menschen, kehrte immer wieder Für einen edlen
und frommen Mann war es auf die Dauer unerträglich, Menschen, die
eifrig Gott dienten und für ihn, den grausamen Feind, beteten, zu
greifen. Immer stärker und gewaltsamer mußte die geheime Lurcht, sich
an Unschuldigen zu versündigen und den Gesandten Gottes zu hassen,
aus dem Bewußtsein verdrängt werden. Die geplante heilige Razzia in
Damaskus bedeutete nur die wilde Todeszuckung des Pharisäismus.
B. Die christliche Periode des Paulus.
Als Paulus sich Damaskus näherte, kam es zum katastrophen¬
artigen Durchbruch der lange verdrängten Sehnsucht. Durch eine
280
Dr. O. Pfister
Vision wird er gleich vielen anderen Großen <Mose, Amos, Jesaja,
Jeremia u. a.) zum Prophet. Der Ort der Bekehrung bestätigt unsere
Beurteilung der Geistesverfassung des Halluzinanten. In die friedlich
daliegende Stadt, aus der ein argloses Volk kam und in die ruhige
Kaufleute einzogen, soll er grausame Verfolgung tragen. Die Span¬
nung erreicht ihren Höhepunkt, Paulus vollzieht die Flucht aus der
peinlichen Lage ins Jenseits der Halluzination. Im Gesicht wird ihm
dasjenige zur Wirklichkeit, wonach er sich heimlich schon lange sehnte,
und was seiner Geistesart allein entspradi. Ihm erscheint Christus
U jl^ * n *^ er Weise, die dem antiken Menschen die sublimste
sdhien, nämlich durch eine supranaturale Offenbarung, den Konflikt.
Wie in Mose und den Richtern die lange durch äußere Not zurück-
gedrängte Liebe zum Volk, wie in Arnos die soziale Sehnsucht, so
führten in Paulus die Enttäuschung über die ^X^i^ksamke^t der Ge«
setzeswerke <vgl. Buddha, Luther) und der durch die Christen an-
geregte Drang nach Liebe, Hoffnung, Heil zur inneren Erleuchtung.
Repulsion und Attraktion wirkten zusammen.
Es müssen aber auch noch andere Motive mitgewirkt haben.
Aus der analytischen Beobachtung akuter Umwandlungen innerhalb
des Seelenlebens wissen wir, daß jeder derartigen Bewegung voran¬
geht eine Stauung, daß somit auch eine Regression stattfindet.
Hierunter versteht man eine Rückkehr oft bis ins Infantile, und zwar
meistens eine Wiederbelebung von Vorstellungen, die in der Kind¬
heit schon vorhanden waren und durch eine inhaltliche Beziehung
aut die gegenwärtige Situation diese letztere in einem freundlichen
Lichte erscheinen lassen Daß dieser unbewußte Rekurs auf die
in j, ei !^ 2um ■£ , 'we<k der Beruhigung und mutigen Neuanpassung
an die Gegenwartsaufgabe wirklich bei jeder beträchtlichen Lebens-
emmung startfindet, kann hier unmöglich bewiesen werden, da viel
Material zur Argumentation nötig wäre <Die psa. Meth. S. 193 ff.>.
Von der unangenehmen Notwendigkeit eines wissenschaftlichen Dar¬
lehens kann man in einer monographischen Darstellung, wie der
gegenwärtigen, nicht Umgang nehmen.
Lassen sich nun bei Paulus in seinen Bekehrungsinhalten
Flemente aufdedcen, die aus einer infantilen Stufe herrühren könnten
und jetzt eine Neubelebung erführen? Vergessen wir, indem wir so
■j^ en/ es sich url11 unbewußte Wiedererweckung handelt,
nicht um einen wirklichen Reflexionsakt. Findet sich in der Psyche
des Bekehrten im Augenblick der Wandlung ein Inhalt, der schon
m der Kindheit irgendwie vorhanden war, jetzt aber eine deter¬
minierende Bedeutung gewinnt?
— j Die Messiashoffnung der jüdischen Religion war ein solcher
Gedanke. Wir wissen aber nicht sicher, ob ihn Paulus als Kind
M ^ 2entrum der Frömmigkeit, die Paulus in seiner Kindheit
ablehnend oder mit heimlicher Ehrfurcht oder, was das wahrschein¬
lichste ist, mit synkretistischer Zu- und Abneigung zugleich kennen
mußte, war der sterbende und auferstandene Gottheiland. Bei den
Die Entwicklung des Apostels Paulus
281
Christen begegnete ihm auch ein gestorbenes und auferstandenes
Wesen, das im Himmel wohnte. Eine gewaltige Steigerung dieses
Christus der Urchristen ist bei dem bekehrten Christen Verfolger un¬
verkennbar, und diese Überwertung bewegt sich in ganz unjüdischen
Bahnen, obwohl der Messiasname beibehalten wird. Doch sofort
wird uns die Apotheose Jesu verständlich, wenn wir uns der Tat¬
sache der Regression ins Infantile erinnern. Das sterbende und auf¬
erstandene Gottwesen der Mysterien, in deren räumlicher Nähe
Paulus aufwuchs, muß die Bekehrung Paulus zum übermenschlichen
Christus im Unbewußten vorbereitet haben. An eine schon anfangs
bewußte Kombination des christlichen Jesus mit dem heidnischen
Gotthelden ist nicht zu denken. Die Bekehrung vollzog sich nicht
auf dem Weg des Grübelns, sondern in Form der Inspiration,
Ebenso wäre es ganz falsch, zu behaupten, der paulinisdie Christus
sei nur eine Neuauflage der Mysterien. Daß Paulus an eine Offen¬
barung Gottes an die Heiden glaubt, ist bezeugt <Röm, 1, 19). Ge¬
nug, daß bei der Regression die Infantilvorstellung, die einst so viel
zu denken gab, mitbestimmend zur Geltung kam.
Ein wesentlicher Unterschied vom Mysterienglauben ist die
Vergottung einer zeitlich nahen historischen Persönlichkeit, Allein
könnte nicht auch diese Vorstellung infantile Determinanten besitzen?
Von der Apotheose Cäsars, vom Kaiserkultus hörte der Knabe
Paulus sicherlich. In der Übernahme solcher Vorstellungen, so un-
jüdisdi sie waren, erwiesen sich die Diasporajuden immer sehr ge¬
schmeidig. Warum sollte also Paulus nicht als Kind mit scheuem
Respekt von diesen Dingen vernommen haben?
Und trotzdem wäre es ganz falsch, in dieser rein kausalen
Betrachtung eine zureichende Motivierung der Christusfrömmigkeit
erblicken zu wollen, und wer es täte, versündigte sich wider alle
psychologische Erfahrung. Der Gekreuzigte und Auferstandene ist
unvergleichlich viel mehr, als der gestorbene und auferstandene Gott
der Mysterien, vermehrt um die Attribute des jüdischen Messias.
Es ist vor allem die durch Jesus gepredigte und verkörperte Liebe
zu Gott und den Menschen und die in ihnen liegende Gotteskraft
und Gottesoffenbarung, was den paulinisdien Christus von jenen
Mythologemen scharf unterscheidet. Diese Determinante ist stärker
als die jüdische und hellenistische, so daß Paulus mit Recht betonen
darf, dalß er Judentum und Griechentum trotz größerer Ähnlichkeiten
mit ihrer Lehre grundsätzlich überwunden habe <1. Kor. 9, 20 f./
Rom. 3, 9/ Gal. 3, 28).
Für die christlichen Zentralmotive konnte er nur darum er¬
glühen, weil sie keimhaft in seiner Seele schlummerten aber durch
den Kampf mit dem »Fleisch« an ihrer normalen Entwicklung
verhindert worden waren. Dieser Liebesdrang, der in zwangs¬
neurotische Kultusbahnen geraten war, ließ sich durch allen Fanatis¬
mus nicht völlig überschreien. Der Versuch, ihn durchzusetzen, um
Gerechtigkeit nach dem Gesetz zu erlangen, scheiterte. Die Aufnahme
252
Dr, O, Pfister
Christi gab der altruistischen Tendenz Gelegenheit, sich zu betätigen.
Sie bedeutet biologisch die Reintegrierung der durch Verdrängung
auf zwangs neuro tische Bahnen gedrängten Liebe, oder die Erlösung
zur freien religiös-sittlichen Betätigung. In Christus fand Paulus die
Möglichkeit, sein durch den Nomismus mißhandeltes Lebens*- und
Liebesbedürfnis zu stillen, Die Libido im Sinne Freuds wird aus
den neurotischen Zwängen herausgezogen und den der Natur des
Paulus entsprechenden Leistungen zugeführt. Dabei wurden viele
der wertvollsten Erziehungseinnüsse verwirklicht, denn auch Paulus
wurde einst in humanem Geiste unterwiesen. Es ergaben sich
grandiose Liebesmöglichkeiten, die eine herrliche Betätigung des
Lebensdranges einschlossen. In Frömmigkeit und Sittlichkeit konnte
er die Liebe walten lassen, während sie zuvor aus ihnen verbannt
gewesen war. In der prachtvollen Durchführung der Liebesidee er¬
weist sich Paulus als den echten, kongenialen Geisteserben Jesu.
Damit fiel das Motiv der Zwangshandlungen dahin, Paulus findet
die Erlösung. Er wird zum heroischen Verteidiger der Glaubens¬
freiheit gegen die ju den chris (liehen Brüder und damit zum Retter
des Christentums, Zuvor glich er dem Blatte, das einen Fluß hinab¬
fuhr, aber vom Stauwerk aufgehalten und in eine Bucht getrieben
wurde,* hier drehte es sich beständig im Kreise herum und die Wirbel
drohten es zu verschlingen. Jetzt wird ihm ein neues Hindernis in
die Kreisbahn geworfen und treibt es nach dem Ausgang der Bucht,
wo es von der großen Strömung erfaßt und über das Stauwerk
hinweggetragen wird. Dodi nein! Das Gleichnis läßt gerade das
Wichtigste außer acht; Die Spontaneität der Bewegung. Paulus wird
nicht nur getrieben, er selber drängt vorwärts. Wie er dem Gesetz
des Fleisches zu entrinnen strebte durch die Flucht in den Nomis¬
mus, so sucht sein Unbewußtes, der beständigen Mißerfolge und
Vergewaltigung seiner altruistischen Impulse satt, mit Hilfe der christ¬
lichen Verkündigung eine befriedigendere Kanalisation der Libido.
Die Sublimierungsbedürftigkeit im Sinne der höchsten jüdischen Ethik,
ja in der Richtung der christlichen Nächstenliebe gehörte ebenso zur
Natur des Paulus, wie die Ansprüche des Gesetzes in den Gliedern.
Die Bekehrung entspricht daher einer inneren Notwendigkeit und ist
nicht als Summationsprodukt aus den drei auf ihn eindringenden reli¬
giösen Strömungen, sondern als schöpferische Neubildung zu beurteilen.
Die weitere Ausbildung der paulinischen Gedankenwelt ver¬
stehen wir nur, wenn wir ein psychologisches Gesetz zu Hilfe ziehen,
das ich »Gesetz der Komplexumdichtung« nannte und in folgende
Form brachte: »Wenn ein Komplex <eine gefühlsbetonte kohärente
Vorstellungsgruppe, die ganz oder zum größeren I eil dem Un¬
bewußten verfallen ist> seine Richtung ändert, so werden die
früheren Komplexphantasien größtenteils, vielleicht alle, einer Um¬
arbeitung unterzogen, welche die neue Komplexlage manifestiert«
<Die psa. Meth. 339>. Handelt es sich um eine Bekehrung, also
eine Negation früherer Triebrichtungen, so müssen die Vorstellungen,
Die Entwicklung des Apostels Paulus
283
welche die einstige Konstellation ausdrückten, mit einem negativen
Vorzeichen versehen werden. Und da in der Bekehrung gleichzeitig
ein Übergang zu sublimierter Triebbejahung liegt, muß auch diese
Veränderung in die Phantasien der früheren Periode hineingearbeitet
werden. Auch dieser komplizierte Prozeß vollzieht sich nur zum
kleineren Teil im Blickfeld des Bewußtseins. Er wird zum guten
Teil unbewußt ausgeführt und geht dann ins Bewußtsein über, zuerst
vielleicht als leise Ahnung, die sich noch nicht durchsetzen kann, dann
aber als Gewißheit, als »religiöses Erlebnis«. Der Paulinismus ist
zum größten Teil nicht Theologie oder Glaubenslehre im Sinne
eines wenn auch mehr oder weniger elementaren wissenschaftlichen
Denkens, er ist in allem Wesentlichen und Zentralen vom Un*
bewußten konzipiert und in Gestalt religiöser Gewißheit erlebt
worden. Religion und Theologie können bet Paulus in der Haupt*
Sache nicht getrennt werden. Weder die rabbinischen noch die
alexandrinischen Methoden liefern abgesehen von einigen un*
wichtigen Einzelheiten) den Schlüssel zum Verständnis der pau*
Umsehen Theorie, sondern die Psychologie des Unbewußten,
Wie weit Paulus seine jüdischen Vorstellungen bewußt, wie
weit er sie unbewußt umdichtete, ist heute nicht mehr genau fest*
zustellen. Das Ergebnis aber liegt deutlich vor uns. Folgende Vor*
Stellungen der jüdischen Periode kehren in der christlichen mit nega*
tivem Vorzeichen und sublimiert wieder;
1, Die in der Erlösung zu überwindenden Mächte,
Das Fleisch. »Die aber Christus angehören, die kreuzigten
ihr Fleisch samt den Leidenschaften und Begierden« <Gal, 5, 24),
Es ist also tot (Rom. 8, 10), nicht zwar der physische Leib, wohl
aber jene arge knechtende Macht, die zuvor von der sarx untrenn*
bar gedacht wurde. Durch den mystischen Tod mit Christus erlangte
das Fleisch jene Freiheit von Sündenmacht, die ursprünglich nur
dem supranaturalen Christus zukam. Der Christ ist nicht mehr
fleischlich <Röm. 8, 9),
Eine zweite Gegenvorstellung zum Fleischesleib bildet der pneu*
matische Leib, auf den Paulus so viel Gewicht legt (I, Kor. 15, 16).
Die durch Adam verschuldete Belastung wird aufgehoben
durch die Gerechtigkeit Jesu Christi, der geradezu zum zweiten
Adam erklärt wird <Röm, 5, 15 ff. / I. Kor. 15, 45, 47) und auch
insofern in Gegensatz zum ersten Adam treten muß, als dieser
irdischen Ursprungs war, während der zweite Adam vom Himmel
stammt <1. Kor. 15, 47).
2. Den strengen, zornigen Gott des jüdischen Zeloten revoziert
der Gott der Gnade, der geschenkweise das Heil gewährt. Weinei
erinnert daran, daß Gnade, Schenken und Verzeihen im Griechischen
desselben Stammes sind <250). Fehlte dem vordamaszenischen Gotte
die Liebe, so tritt sie jetzt ins Zentrum der Gottesidee, die damit
derjenigen Jesu recht nahe rückt <11. Kor. 13, 11), nur daß die Gottes^
liebe theokratisch auf die Gläubigen eingeschränkt scheint <Weinel 252).
284
Dr. O. Pfister
Der Gegensatz gegen den nach mosaischem Gesetzestarif handelnden
Gott wird geradezu etwas verletzend durchgeführt, wenn die Willkür
bis zu absichtlicher Verstockung des Menschen geht (Rom. 9, 18).
3. So ist also auch das Gesetz des Mose seiner Würde, die
es einst als einziges Instrument des Heils einnahm, gänzlich ent*
kleidet, Es lockt, ohne direkt sündlich zu sein, das Böse erst her»
vor, es bekleidet die wenig erhabene Rolle eines lästigen Zucht*
meisters auf Christus hin und verliert vor dem neuen Organ der
Heilsvermittlung, vor Christus, seine Gültigkeit. Es hebt sich selbst
auf (Holzmann, II, 33). An die Stelle des Gehorsams gegen das
Gesetz tritt die Freiheit vom Gesetz, Die Heftigkeit, mit der Paulus
die Teilnahme an einer jüdischen Zeremonie bekämpft, ist nur als
Rückwirkung der Gefangenschaft unter das Gesetz zu verstehen
(Gal, 4. 3 ff,) Die dogmatische Freiheit war in der Religionsmengerei
der Mysterien vorgezeichnet.
4. Der Kreuzestod Jesu, zuvor das größte Skandalon, wird
zum größten Heilszeugen, Das Wort vom Kreuz ist fortan für Paulus
eine Kraft Gottes <1. Kor. 1, 18), ein Ausdruck höchster, göttlicher
Weisheit (V. 24). War ihm der ans Kreuz gehängte Verfluchte
zuvor das widerlichste Ärgernis, so will er nun nichts mehr wissen,
als Christus den Gekreuzigten und Auferstandenen (I. Kor. 2, 2).
Dabei stellt er der einst so hochgepriesenen Menschenweisheit, dem
einst bewunderten juristischen Scharfsinn, der ihm an den Schrift*
gelehrten so mächtig imponiert hatte, die göttliche Torheit als das
Überlegene gegenüber. Das Irrationale und Paradoxe trägt den Sieg
über die Vernünftelei der Sdirifforthodoxie davon.
5. Jesus selbst, der Verruchte in den Augen des Pharisäers,
wird zum Gotthelden, ja zum Werkzeug der Weltschöpfung, Durch
ihn ist alles <1. Kor, 8, 6), seine Verunglimpfung wurde ein Jahr¬
tausend vor der Geburt durch tödlidien Sddangenbiß geahndet
(I. Kor. 10, 9), er trug vor seiner Geburt göttliche Gestalt (s. o.>.
Man sieht an der paulinischen Auffassung der Gestalt Jesu
ganz besonders schön, wie aus der bloßen Regression und Nega¬
tion der komplexbedingten Vorstellung die neue religiöse Vorstel¬
lung, in die sich die Lebensenergie stürzt, nimmermehr zu erklären
ist Die historische Person Jesu und ihre Nachwirkungen im Milieu
des jüdischen Fanatikers wirkten als Determinanten und Kanalisa-
toren der neuen Affektströmungen mit, Ja es scheint sicher, daß
Paulus aus eigener Kraft niemals den Weg aus seiner Not ge¬
funden hätte. Allein auch das Evangelium konnte Paulus unmöglich
tal quäle übernehmen. Jenes Gesetz der Komplexumdiditung ist folgen¬
schwer. Wäre es dem Paulus nicht möglich gewesen, es innerhalb
der evangelischen Heilsbotschaft zu betätigen, so hätte er unmöglich
Christ werden können. Paulus mußte ein Stüde Mysterienglauben
und Nomismus in seine Frömmigkeit aufnehmen, um die Frömmig¬
keit Jesu sich aneignen zu können. Und diese Erlösung der Liebes*
sehnsucht und LieDesbedürftigkeit, dieser Durchbruch der Liebe zum
Die Entwicklung des Apostels Paulus
285
höchsten religiösen und sittlichen Leben ist das eine große Ziel, Nur
ein psychologisch gänzlich steriler Intellektualismus kann übersehen,
daß der Paulinismus rationaler Ausdruck erlebter, im unbewußten
geschaffener Frömmigkeit, und nicht nur Theologie war, Diese glor-
reiche Betätigung der Liebe gegen Gott, den Nädisten und sich selbst
war Paulus alles, das System galt ihm soviel, als für seine Predigt
nötig war. Seine Schwächen, zumal die Unmöglichkeit, die jüdisch-
nomistisdie und die hellenistische, also die juristische und die mystische
Gedankenkette zu vereinigen, sah er nicht ein, da er kein eigentlicher
Theologe im streng wissenschaftlichen Sinne war/ aber wenn man
sie ihm aufgedeckt hätte, so hätte ihm dies kaum tiefen Eindruck
gemacht, Er hätte einfach andere Formeln, die denselben infantilen
Rüstkammern entstammten, als rationale Stützen seiner irrationalen
Gottes- und Erlösungsgewißheit hervorgesucht und bearbeitet. Ob
sie den nicht ebenso Komplexbedingten befriedigten, ist eine Frage,
die wir schwerlich bejahen können. Dies schadet auch nicht allzu viel,
denn auf das Endergebnis, die jesushafte Frömmigkeit, kommt es
allein an,
6. Noch andere Umdichtungen wären auszuführen, doch genügen
Andeutungen: Der Gerechtigkeit aus Gesetzeswerken tritt gegen¬
über die Gerechtigkeit aus Gnade um des Glaubens willen. Der
Partikularismus, der nur den Juden Gottes Huld zusprach, wird
durch den Universalismus des Heils und die Verstoßung der Juden
ersetzt (Gal. 4, 24, Hagar,- Röm. 11>. Das Rom. 7 im Ausdruck
»Leib dieses Todes^ angegebene Sterben wird zum Sterben mit
Christus <Röm. 6, 8>, dem die Wiedergeburt der Auferstehung mit
Christus inhäriert.
Nicht alle Vorstellungen des Paulus erfahren eine Umdichtung
ins Gegenteil, sondern nur diejenigen, welche der umgewandelten
Komplexlage entsprechen. Es bleiben die Lehren von der Schöpfung,
vom Sündenfäll, vom strafenden Gott, es bleiben das Gottvertrauen,
der Dämonenglaube und manches andere.
Eine Sublimierung ohne Negation wurde dem infantilen Re¬
spekt vor Mysterium und Gnosis zuteil. Paulus schätzt beide hoch,
wenn er ihnen auch die Liebe überordnet <1. Kor. 13, 2>. Er nennt
sich einen Haushalter des göttlichen Mysteriums <1, Kor. 4. 1>, er
braucht das Wort gnosis ganz im Sinne der antiken Mysterien
<Reitzenstein 127>, nur füllt er es mit höheren Objekten. Er ist
Pneumatlker nur im Sinne der Mysterienreligion und seine Selbst-
bezeidmung ist ohne diese gar nicht zu verstehen (Reitz. 201>.
Wie unermeßlich hat er den antiken Begriff des Mysteriums be¬
reichert! Welchen Schatz christlicher Heilsgüter hat er in die antike
Form gegossen! Wie hoch steht Christus über Attis, Adonis/
Dionysos-Zagreus, Osiris, Mithra! Mag auch der Begriff des
Glaubens, des Erfülltsein von Christus mit dem Glaubensbegriff der
Mysterien Zusammenhängen, wie viel gewaltiger ist sein Inhalt!
Pie Mystik selbst als Funktion des Gefühles war unerläßlich für
286
Dr. O. Pfister
das Streben, die in Orthodoxie und Zeremonialismus gedrängte
Liebe wieder ins Zentrum des Lebens aufzunehmen und zur Be®
tätigung der wertvollsten Willenskräfte überzugehen,
fl» fl»
fl»
Was hat nun Paulus erzielt mit seiner Bekehrung? Wie
weit ist es ihm gelungen, die festgeklemmte, besser gesagt: in eine
abnorme Entwkklungsrichtung gedrängte Lebensenergie, insbesondere
seine Sehnsucht nach Liebe einer zwecks und bestimmungsgemäßen
Verwendung zuzuführen?
Ohne Zweifel hat Paulus eine Umwandlung erfahren, die
ihn den gewaltigsten und für die Mensdiheit wichtigsten Persönlich®
keiten an die Seite stellt. Er gewann nicht nur eine hohe Seligkeit,
einen tiefen Frieden, eine erstaunliche Kraft zu handeln und zu
leiden, er erlangte auch eine für das gesamte genus humanum nach
mancher Richtung hin wertvolle, ja unentbehrliche Geisteswelt, In
ihm wurden Kräfte entbunden, die ihn zum Erlöser des Christen®
tums aus der rettungslosen Sackgasse des Judenchristentums machten.
Durch seine Predigt klingt ein hohes Lied der Liebe zu Gott und
den Menschen. Er fühlt sich als freie, starke Persönlichkeit trotz
körperlicher Schwachheit <11, Korr. 12, 9). Sein wahrhaft titanisches
Wirken als Missionar beweist genügend, was für eine Fülle von
Liebe, die bisher in unfruchtbare religiöse Zwangsübung geworfen
worden war, durch die unio mystica mit Christus entfesselt und
für die Realität gewonnen wurden. Welche Entbehrungen ertrug
er, welche Arbeitslast hat er bewältigt!
Nun aber die Frage: Hat Paulus durch seine neue Stellung
so v * e l Liebe erobert, daß wir von einer absoluten Erlösung
reden können, einer Befreiung nicht nur im Sinne der christlichen
Religion, die ja allerdings das Tiefste und Wichtigste ausspricht,
sondern auch im biologischen und psychologischen Sinne, so daß wir von
einer maximalen Erlösung reden können? Leider ist es nicht der
Fall: Er blieb der kranke Hysteriker,- der unter seinen Anfällen
viel litt (Gal. 4, 14,- II, Kor. 12, 7>, er blieb der Ekstatiker, der
in Visionen <11, Kor. 12, 4>, ja sogar Zungenreden <1. Kor. 12, 10/
I. Kor. 14) die höchsten Geisteswirkungen, die erhabensten Gottes®
geschenke erblickt. Der Zungenredner ist ihm der pneumatikos. Bis
tief in seine Frömmigkeit und Ethik hinein erstrecken sidt die be®
dauerlichen Wirkungen der übriggebliebenen Bindung. Der Gedanke
der nahen Parusie wäre sicher entschwunden, wenn Paulus eine
gänzlich positive Stellung zur Wirklichkeit und ihren ethischen Auf®
gaben gefunden hätte. Die Angststimmung, die von Stauung der
Lebensenergie zeugt, bricht oft sehr störend hervor, z. B. in der
Mahnung; »Wirket euer Heil mit Furcht und Zittern« (Phil, 2, 12).
Die falsche Berufung auf Bibelbuchstaben bei prinzipieller Eman®
zipation von ihm sagt uns wenig zu. Der Glaube an die ewige
Verdammnis vieler stimmt schlecht zum Gott der ewigen Liebe, wie
Die Entwicklung des Apostels Paulus
287
zur paulinischen Lehre von der Apokatastasis mit ihrem Endsieg
Gottes und ihrer Austilgung des Todes und des Satans <1. Kor. 15>.
Audi die Ethik des Paulus zeugt zwar von großer Gesin¬
nung, zeigt aber Spuren einer gewissen Gebundenheit, die zur
grundsätzlichen Freiheit nicht paßt. Keiner hat herrlicher als er die
christliche Liebe besungen, keiner herrlicher die Früchte des göttlichen
Geistes geschildert. Allein rückständig finden wir ihre asketische
Ehetheorie, die Paulus nicht auf Christus zurückführt <1. Kor.
7, 12>. Die Beurteilung der Ehe erklärt sich keineswegs allein aus
der Erwartung des nahen Weitendes, sondern wie diese aus der
übriggebliebenen Verdrängung, die der Kampf mit dem Gesetze in
den Gliedern übrig gelassen hatte. Die Ehetheorie des Paulus zeugt
von seiner fortbestehenden Hysterie <s. o.>. Wie weit der soziale
Fatalismus, den er den Sklaven empfiehlt, und die Vergöttlichung der
gerade vorhandenen Obrigkeit mit libidinöser Fixierung zusammen*-
hängt, wage ich nicht zu entscheiden.
Aber auch nach Abzug der unleugbaren Reste bleibt der
Apostel eine herrliche Erscheinung, die aus ihrer Not einen gro߬
artigen Ausweg fand und diesen nämlichen Erlösungweg vielen, ja
vielen der Größten, die jemals unter ähnlichen inneren Nöten litten,
erschlossen hat. Man muß nur darüber staunen, wie weit er geistige
Freiheit gewonnen hat. Mag man den Paulinismus auch nach man 3
eher Richtung ablehnen, es bleibt eine sichere Tatsache, daß er sich
in der Geschichte als eine ungeheure werbende und befreiende
Macht erwiesen hat, ohne Zweifel sogar bisher als eine gewinnen¬
dere Macht wie die synoptische Frömmigkeit, der allerdings der
wertvollste Teil von ihm entstammt. Der Grund liegt darin, daß
Unzählige, und gerade viele der Besten, unter derselben Not leiden,
die einst den Paulus quälte. Und wer an diesen Bindungen leidet,
ist für die direkte Aneignung des schlichten Evangeliums nicht emp¬
fänglich, weil diesem die reiche Symbolik der Bekehrungsfrömmigkeit
fehlt, in welcher das Unbewußte allein die Umdichtung und damit
den Rückzug aus seiner verkehrten Entwiddungsrichtung findet.
Für Menschen von großer innerer Freiheit bleibt das synoptische
Christentum für alle Zeiten das Ideal, in dem sie die vollkommenste
Entfalrung ihrer Persönlichkeit zum Eigenwesen und zum sozialen
Wesen finden, aber für Gehemmte,- die der Wiedergeburt be¬
dürfen, ist Paulus das direkte Vorbild, an dem sie sich aufrichten,
sei's auch durch seine Beziehung zu dem, der größer war, als
er selbst.
Nicht eine in alle Einzelheiten eindringende psychologische
Analyse wollte ich geben, Auf ein Gesamtbild kam es mir an.
Es bleiben noch sehr viele ungelöste Fragen übrig. Wer wollte ein
Genie restlos ergründen? Audi bin ich mir wohl bewußt, daß ich
nicht eine absolut beweiskräftige und unanfechtbare Psychogenese
aufdecken konnte. Abgesehen davon, daß meine Argumentation sich
puf Beobachtungen an lebenden Menschen gründet, die nicht jedem
288
Dr. O. Pfister
Theologen zur Verfügung stehen, sind die uns zugänglichen Mate¬
rialien recht dürftig. Wenn es mir gelungen wäre, ein in sich einheit¬
liches und widerspruchsloses Gemälde zu geben und eine Anzahl
bisher unbeachteter Zusammenhänge aufzudecken, so bedeutete dies
schon einen wichtigen Schritt über die bisherigen Untersuchungen
hinaus. Ob dieser skizzenhafte Versuch — mehr will meine Arbeit
nicht sein — gelungen sei, möge die Kritik ausmadien.
Die Hauptgedanken unserer Ausführung seien zum Schlüsse
noch in einige Sätze zusammengefaßt.
1. Paulus war von früher Kindheit an den Einflüssen der
jüdischen und der hellenistischen Mysterienreligion ausgesetzt. Es
ist höchst wahrscheinlich, daß er schon in seiner Jugend im Eltern¬
hause oder außerhalb desselben von der bei kleinasiatischen Juden
häufigen Synthese beider Religionen Kenntnis erhielt.
Z. Als er in seinen Pubertätsjahren zum mosaischen Gebot
bewußte Stellung nahm, verursachte dem bisher von Anfechtungen
unberührten Knaben das zehnte Gebot und in ihm namentlich das
Sexualverbot heftige innere Konflikte und Nöte, die zu schwersten
Selbstanklagen und drüdcendstem Schuldgefühl, ja zu einer Religion
der Angst oder angstneurotischen Frömmigkeit führten.
3- Die Sehnsucht nach Erlösung aus diesem Angstzustand
führte Paulus nach Jerusalem, wo unter dem Einfluß der Gesetzes-
religion die Frömmigkeit zwangsneurotischen Charakter annahm
<Pharisäismus).
4. Symptome dieser zwangsneurotischen Frömmigkeit sind:
a> Gesteigerter Orthodoxismus und ZeremonialismuS/
b) verzweifelte Stellung zum »Gesetz in den Gliedern
und zum Fleisch«, auf welches in erster Linie die
Nötigung zu wirklichen oder vorgestellten sexuellen
Verfehlungen, aber des weiteren auch die zu anderen
Sünden, deren Gefühlsbetonung mit jenen zusammen¬
hängt, zurückgeführt wird/
c) Einschränkung des ethisch-religiösen Gesichtskreises,
daher Fanatismus,
5. Das Christentum wurde Paulus ein Ärgernis, weil es die
zwangsneurotischen Ventile und symbolischen Befriedigungen seiner
verklemmten Triebe, damit aber auch die ihm allein möglichen Be¬
friedigungen seiner höchsten sittlichen und religiösen Ansprüche in
Zweifel zog und durch ein ihm versagtes Lieben entwertete. Die
Berufung auf einzelne Stellen des Alten Testamentes zur Recht¬
fertigung des Hasses auf Christus ist nur die Rationalisierung dieser
tiefen Absperrung und Liebesunfähigkeit.
6. Indem Paulus die Christen verfolgte, wollte er nicht nur
seine religiösen Zwangssymptome <Orthoaoxie und Zeremonialis-
mus) schützen, sondern auch dem durch die Konflikte mit dem
»Gesetz in den Gliedern« hervorgerufenen, direkt nicht zu über-
Die Entwicklung des Apostels Paulus
289
windenden Gefühl der Minderwertigkeit vor Gott und sich selbst
eine überkompensatorisdie Leistung gegenüberstellen,
7. Dabei aber geriet er in Zwiespalt mit den gesund geblie»
benen Forderungen seines Gemütes, die zugleich durch Vorschriften
des von ihm als Notanker verwerteten Gesetzes und der Propheten
unterstützt wurden: Die Christenverfolgungen verletzten seine
Menschenliebe und Barmherzigkeit,- die hohen ethischen und reli-
giösen Eigenschaften seiner Opfer erregten Gewissensbedenken,
zu deren Überwindung ein immer stärkerer Verdrängungsaufwand
nötig wurde, bis endlich ein maximaler Spannungsgrad erreicht war.
8. In der Halluzination vor Damaskus kam es zur Eruption
der verdrängten Gedankenzüge, die schon längere Zeit die Sehn»
sucht nach einem die verdrängte Liebe zur Freiheit führenden Chri¬
stus eingeschlossen hatten,
9. Nach den Gesetzen der geistigen Kontinuität konnte die
geistige Erneuerung nur durch Anknüpfung an irgendwie verwandte
infantile Eindrücke, somit nur durch Wiederaufnahme jüdischer und
hellenistischer Vorstellungen durchgeführt werden.
10. Dabei blieben aber die christlichen Einflüsse die weitaus
wichtigsten und herrschenden, sofern durch die Hervorziehung der
bisher verdrängten Liebe die Zwangsneurose aufgehoben wurde,
und die aus ihr hervorgehenden Zwangssymptome bis auf gewisse
biblizistische Reste schwanden,- die von Jesus übernommenen Züge
entsprechen dem verdrängungsfreien Idealzustand der religiös-ethischen
Organisation der psychischen Energien,
1L Die neue Frömmigkeit ist nicht als eklektische Summe der
drei in ihr nachklingenden Religionen, sondern als schöpferische
Neubildung zu verstehen.
12. Die Ausgestaltung der neuen religiösen Vorstellungswelt
vollzieht sich nach dem Gesetze der von Tiefen Vorgängen abhän¬
gigen Vorstellungsbeziehung, Demzufolge können die vordamasze¬
nischen Vorstellungen in der christlichen Periode nicht liegen gelassen
werden, sondern müssen sich antithetischen Metamorphosen unter¬
ziehen, als welche besonders hervorzuheben sind: Fleisch — pneu¬
matischer Leib, jüdischer Gott — Gott der Gnade und Liebe,
das mosaische Gesetz als Instrument des Heils — als Hebel des
Bösen, Gesetzesgehorsam — Freiheit vom Gesetz, das Kreuz
Christi als Ärgernis — als Ursache und Zeichen der Erlösung und
Beseligung, Christus der verruchte Gottesfeind — das Werkzeug
der Weltsdiöpfung, der Sohn Gottes, Gerechtigkeit aus Gesetzes¬
werken — aus Glauben, Auserwähltheit der Juden — Verwerfung,
Bevorzugung der Heiden, Leib dieses Todes — Sterben und Auf¬
erstehen mit Christus.
13, Der Übergang zum rein historischen Christus wäre dem
Beziehungsgesetz gemäß unmöglich gewesen, vielmehr war die
dogmatische Synthese des hellenistischen Gottheilandes mit der
Imago Vl/3
19
290
Dr. O. Plister
jüdisch-chrisrtichcn Messiasidee notwendig, um in der neuen Fröm¬
migkeit zu leben.
M, Während in der Ausgestaltung dieses religiösen Objektes
und seiner Erlösungstat die Verschmelzung der beiden Religions«
kreise mit ungefähr gleich großen Anleihen bei beiden gelang, über-»
wog bei der Auffassung der religiösen Funktion der Beitrag des
Mysterienkultus/ nach dem Tode des universalen Sühnopfers hat
der Fromme nicht mehr zu opfern, dafür treten die mystische Identi«
fikation des Gläubigen mit dem gestorbenen und auferstandenen
Gottbeiland in Glauben und Liebe, sowie die Kultusübungen der
Taufe und des mystischen Mahles ins Zentrum der Frömmigkeit.
Aber wichtiger bleibt der drnstus ähnliche Wandel in der Liebe.
15. Obwohl Paulus eine grandiose religiöse und sittlidie
Sublimierung zugleich mit Überwindung der Zwangsneurose fand,
blieben einzelne neurotische Symptome (Anfälle mit Bewußtseins-
verlust, Dorn im Fleisch, Ekstasen, Zungenrede), die sidi gelegent«
lieh vorübergehend bis ins Zentrum des religiösen Lebens (Angst«
Stimmung) erstrecken und das sittliche Urteil stören (Ehe). Diese
historisch unvermeidlichen Beeinträchtigungen der absoluten Erlösung
tun jedoch der Größe, Kühnheit und Tiefe der paulinischen Fröm-
migkeit und Ethik keinen wesentlichen Eintrag.
Meine Ausführungen erheben nicht den Anspruch auf er¬
schöpfende Behandlung. Das Material genügt nicht dem Wunsche
nach kristallener Durchsichtigkeit. Meine Skizze soll nur einen ersten
Versuch darstellen, dem erhabenen Gegenstand näher zu kommen.
Konservative Theologen, die als Verwalter des Ritschischen Erbes
die christliche Religionsentwiddung von hellenistischen Einflüssen
freispredhen wollen, mögen sich über die nadigewiesenen Zusammen¬
hänge entsetzen und empören. Mir aber ist die schöpferische Tat
des Paulus, die ihn zum Retter des Christentums und Vorkämpfer
der gewaltigsten religiös-sittlichen Wahrheiten machte, in diesem
neuen Lichte nur desto bewunderungswürdiger erschienen.
Bücher
291
Bücher.
GEORGES BERGUER: Quelques traits de la vie de Jesus
au point de vue psychologique et psychanalytique.
<Geneve et Paris, Edition Atar. 1920.)
Ein gefährlicheres Thema als das verliegende hätte idi mir kaum
denken können. Von zwei Seiten mußte sich der Verfasser auf Wider-
stand gefaßt machen: Diejenigen Theologen, die von der Psychoanalyse
nichts wissen wollen und in Neurotikerhaß bekanntlich Erkleckliches leisten,
ließen von vornherein ein Lamento furibondo erwarten. Es ist nicht aus-
gebliehen. Vom vorwurfsvollen Seufzer, der dem bisher hochangesehenen
Professor der Theologie an der freien Fakultät Genfs und dem trefflichen
Pfarrer von Genthod gilt, bis zur wüsten Schimpferei über dekadentes
Psyehologisieren eine nicht uninteressante Skala, und selbst die Kirche,
der unser Autor angehört, glaubte ihre Freiheit nicht schöner betätigen zu
können, als indem sie dem kühnen Forscher eine Rüge erteilte. Allerdings
fehlen auch aus theologischen Kreisen nicht die Stimmen wärmster und
dankbarster Anerkennung und es ist erfreulich, daß auch aus Laienkreisen
mit Bewunderung von dem tapferen Wahrheitszeugen geredet wird. So
schreibt mir eine tief religiös empfindende Genferin, die über die Ver-
folgung des ehrlichen und von reiner Gesinnung getriebenen Mannes betrübt
und empört ist, ironisch beginnend und ernst fortfahrend: »Manche Genfer
Christen bedauern, daß der Scheiterhaufen Servers ausgelöscht ist und daß
Calvin den Ketzer nicht mehr verbrennen kann. Glücklicherweise gibt es
neben ihnen auch einige Freunde und etliche Sympathie. Mir ist das Buch
wertvoll, es macht die Persönlichkeit Jesu lebendiger und menschlicher, es
ist ebensosehr ein Werk des Glaubens wie der Wissenschaft und dabei
ausgezeichnet geschrieben«.
Auf der anderen Seite werden manche Psychoanalytiker, wenn sie
den Titel lesen, den Kopf schütteln und sich fragen: Wie kann man Jesus
zu analysieren unternehmen? Wir besitzen doch nur so wenig authentisches
Material, seine Kindheit ist in völliges Dunkel gehüllt, erst im dreißigsten
Jahr redet er zu uns und auch aus dieser Zeit werden seine Worte von
den verschiedenen Evangelien mit großen Abweichungen berichtet. Wie
kann man da an eine aussichtsreiche Analyse denken?
Ich muß zugeben, daß Berguers Buch diese Bedenken nicht ganz zer¬
streuen kann. Der Stoff ist nicht dazu angetan, die unbewußten Hinter¬
gründe zu verraten, wie es etwa bei einem Jakob Boehrae oder Zinzendorf
der Fall ist. Fast überall wird nur aus Analogie lebender Mensdien ge¬
schlossen und wer diese Erfahrungen nicht gemacht hat, muß den Eindrude
erhalten, Berguer habe willkürlich gewisse Hypothesen als gesicherte Theorien
herzugetragen und Jesus in diesen Rahmen gepfercht.
is*
292
Büdier
Opportun war das Buch gewiß nicht. Ein Mann, der an seine Lauf*
bahn und äußere Erfolge dachte, hätre es nie und nimmer geschrieben.
Aber das Buch ist etwas Besseres: Das Zeugnis eines ehrlichen, wahrheits-
mutigen Mannes, der gleichermaßen für Jesus und die Psydioanalyse he«
geistert war und nicht anders konnte, als vor dem Tribunal seines Ge*-
wissens sein Jesusbild zu reinigen und zu rechtfertigen. Wann das Geheul
der verständnislosen Religionspächter verstummt sein wird, wann die
Psychoanalyse nicht mehr das Scharreisen ist, an dem jeder Schwätzer in
psychologischen Dingen seine Schuhe abstreifi, wird Berguers Werk auch
in weiten Kreisen die verdiente Würdigung linden, als ein Denkmal klaren
Forschens und tiefen, freien religiösen Glaubens.
In einer sehr langen, aber spannenden Einleitung behandelt Berguer
die Mysterienreligionen, deren Bedeutung für die Entwicklung der christ¬
lichen Lehre bisher viel zu sehr vernachlässigt wurde, teils weil man sie
zu wenig kannte, teils weil sie jenen unbequem waren, die Einschläge
des Heidentums in den Zeddel christlicher Frömmigkeit als Erniedrigung
der letzteren betrachten. Schon hier zeigt Berguer neben imponierendem
Wissen eine herzerquickende Offenheit.
Im Hauptteil des Werkes bespricht der Verfasser Geburt, Kindheit
und Jugend Jesu, indem er die religionsgeschichtüchen Parallelen reichlich
würdigt und der Kritik maßvoll ihren verdienten Platz einräumt. Was die
Psychoanalyse über den Mythus von der Geburt des Helden im all¬
gemeinen lehrt, findet er bei Jesus bestätigt, Es folgen Kapitel über die
Lehrweise, die Wunder, die Verklärungsgeschidcte, die Persönlichkeit, den
Tod und die Auferstehung Jesu,
Jesus war in den Augen Berguers Psychoanalytiker, bevor es einen
Freud gab ( 97 ). Seine Heilungen vollzogen sich prinzipiell nicht anders, als
es die moderne Analyse erstrebt <123), wobei besonders auch die Über¬
tragung auf Jesus hervorgehoben wird. In der Zentralidee Gottes als des
Vaters erblicken wir die NadiWirkung des Oedipuskomplexes <165), näm¬
lich die Sublimierung der unvollkommenen Vatervorstellung, wie ander¬
seits im Kampf gegen die schlechten Vaterbilder der Oedipushaß nachklingt
<171 >. In der Auferstehungsgeschichte geht der Säkulartraum von der
Krönung der treuen Hingabe in den Tod für die höchsten Zwecke in Er¬
füllung. Sehr scharf wendet sich der Autor gegen den Glauben an eine
leibliche Auferstehung, die er auch aus religiösen Gründen ablehnt.
Nach dem Lärm der Gegner könnte man annehmen, das ganze
Buch sei im Geiste des Umsturzes geschrieben. Davon ist gar keine Rede.
In mancher Hinsidit ist es sogar auffallend konservativ. So wird z. B. das
Johannesevangelium als authentische Qyelle von Aussprüchen Jesu be¬
trachtet, worin ihm kein einziger liberal gesinnter Theologe der deutschen
Schweiz folgen dürfte, aber auch sehr viele Angehörige der kirchlichen
Mittelpartei die Gefolgschaft aufsagten. Doch stören diese Einzelheiten die
Wissenschaftlichkeit des ganzen Werkes nicht.
In psychoanalytischer Hinsicht steht Berguer im ganzen durchaus
auf dem Boden Freuds, Aber gelegentlich <29 ff.) ehebt er Anleihen bei
der Schule Jungs, die er, den geschichtlichen Tatsachen zuwider, noch immer
die »Zürcher Sdiule« nennt. Einmal z. B. deutet er in Übereinstimmung
mit einem Schüler Jungs einen Traum doppelt, das eine Mal »kausal«, das
andere Mal »teleologisch*. Daß der Bruder aus dem Wagen geworfen und
der Vater beerdigt werden möge, soll der Wunsch der »kausalen« Deu-
Büdier
293
tung sein. Ater niemand wird einsehen, was dabei »kausal« ist, Nack
der teleologischen Deutung aber soll der Traum nur die Absicht enthalten,
das im Träumer steckende Bild des Bruders und Vaters in sich sterben zu
lassen und ein schöneres an dessen Stelle zu setzen. Dieses Beispiel ist
allerdings vortrefflich geeignet, die Deutungsweise der Jungschen Schule zu
charakterisieren, allein der Unbefangene wird ohne Zweifel zur Ablehnung
veranlaßt. Zuerst gibt Berguer zu, daß die erste Deutung dem Familien*
roman entpreche und demgemäß Haßregungen zum Ausdruck bringe, so daß
es sich um Schädigungs* und Todeswünsche handelte. Also wäre die erste
Deutung richtig. Die zweite aber besagte: »Nein, du irrst, es handelt sich
gar nicht um so unschöne Wünsche, vielmehr mußt du dir ein schöneres Bild
von Bruder und Vater entwerfen!« Denn dies soll die Deutung der Zürcher
Schule sein. Dann ist die erste, Böses verratende Deutung falsch. Merk*
würdig! Um einen so harmlosen Gedanken auszudrücken, wie den der
Gewinnung eines liebevolleren Bildes von nahen Verwandten, wäre es
nötig, das drastische Bild vom Hinauswerfen aus der Kutsche und von
der Beerdigung zu malen? Wozu wäre überhaupt eine Entstellung eines
so bewußtseinsfähigen Gedankens nötig? Wozu sich einer raffinierten
Maske bedienen, um eine Grenze zu überschreiten, wenn man ein tadele
loses Gewissen hat? Die prächtige Charakteristik des Traumes ist durch
die zweite Deutung zerstört und verwässert. Nur indem man die psydio*
logischen Betrachtungen verläßt und zu Hartmanns metaphysischem Un=
bewußten zu rüde fällt, kann man so deuten.
Mag Berguers Buch Staub aufwirbeln und der Psychoanalyse vor*
läufig mehr Feinde als Freunde zuziehen, von der Höhe der wissen*
schädlichen Betrachtung aus ist es warm zu begrüßen. Man kann nicht
in dunkle Höhlen Fackeln tragen, ohne daß Nachtvögel krächzen , und
Fledermäuse schwirren. Seiner wissenschaftlichen und religiösen Über*
zeugung hat Berguer Genüge geleistet, und das ist genug.
Pfister.
DR. MED. A. KIELHOLZ: JAKOB BOEHME. Ein patho-
graphischer Beitrag zur Psychologie der Mystik.
<17. Heft der Schriften zur angewandten Seelenkunde, Leipzig*Wten, Deuticke. 1919.)
Die äußerst sorgfältig und gewissenhaft ausgearbeitete Studie bildet
eine interessante Parallele und Bestätigung meiner Monographie über
Zinzendorf. Erblicken wir in diesem ein typisches Beispiel für Über*
tragungsmystik, so in dem großen Schuster von Görlitz ein großartiges
Beispiel für Introversionsmystik, Kielholz untersucht den äußeren und
inneren Lebensgang Boehmes, um sodann die wichtigsten Ideen seines
mystischen Systems darzustellen und ihren latenten Sinn und psychologi¬
schen Ursprung zu erforschen.
Die Lehre vom Centrum naturae verrät nicht nur eine deutliche
Projektion der eigenen psychischen Erlebnisse in die Schöpfung <18), sondern
auch eine deutliche Darstellung der ganzen Schöpfung unter dem bis ins
einzelste durchgeführten Bilde einer Begattung <23>.
294
Bücher
Die Unio mystica mit der Jungfrau Sofia erweist sich als Bearbeitung
des Mutterinzestes ( 45 ), dessen negatives Komplement, der Hall gegen den
Vater, in der Auffassung vom Luzifer sidi durchsetzt <46 IT.). Die Vater-
bindung erfährt aber auch in der Lehre von Adam einen höchst intern
essamen und reichhaltigen Niederschlag <55 ff,), dem Kielholz im einzelnen
nachgeht. Aber audi die Christologie Boehrnes ergibt sich als Manifestation
der Fixierung an den Vater, und zwar als den Sieger über die Sexual-
begierde. Eine sehr gründlidie Untersuchung der sogennanten Naturspradie
schließt die psydioanaly tische Exploration ab, es ergibt sich, daß audi die
Naturspradie sexuelle Gedanken ausdrückt und gleidizeitig zu verhüllen
trachtet.
Diese ganze Ideenwelt wird auf hauptsächlich vier Elemente zurück¬
geführt: 1. Auf eine Projektion des eigenen psychischen Erlebens ins All.
2. Auf eine Rückkehr zum kindlichen Denken und Phantasieren. 3, Auf
Verdrängung des bewußten Trieblebens mit glcidizeitiger sexueller Symbolik
für alles Geschehen. 4. Auf Sublimierung des Sdiautriebes <88).
Kielholz hat seine genetische Erklärung auf so beweiskräftiges
Material gestützt, daß sie in den Augen jedes kompetenten Beurteilers
gegen alle Einwendungen geschützt sein dürfte. Nur glaube idi, daß er zu
einseitig aus der Verdrängung des Sdiautriebes ein so gewaltiges Gebäude
herzuleiten unternimmt. Aus dieser Ursache können doch auch total andere
Manifestationen hervorgehen, z. B. Angstneurosen, die sich in Erröten,
Furcht vor öffentlichem Reden etc, geltend machen. Sowohl die Anlage
als die historischen Vermittlungen, die das mystisdie Denken beeinflußten,
hätten wohl in die Rechnung eingesetzt werden sollen, deren Endergebnis
deswegen nicht unrichtig ist. Audi hätte vielleidit noch etwas näher unter¬
sucht werden sollen, was die Wandlung vom sozial gut angepaßten Haus¬
vater und Bürger zum Almosenempfänger bewirkte. Ob, wie bei Einzen-
dorf, der Verzicht auf weitere Kinder den Anstoß gab?
Nicht befriedigt hat midi die Art des Zftierens, Da nur der Buch¬
titel angegeben wird, muß man oft stundenlang suchen, bis die angegebene
Stelle gefunden wird. Ich bin der Ansicht, daß in psychoanalytischen Kreisen
womöglich immer auch die Seitenzahl genannt werden sollte. Der Wert der
ausgezeichneten Arbeit wird durch meine Wünsche natürlich nicht berührt.
Pfister.
JEAN PIAGET: La psychanalyse et la p£dagogie.
<Bulletin mensuel de la Socicte Alfred Binet, Nr. 131—133, Paris 1920.)
Jean Piaget doktorierte als Naturwissensdiaftcr mit einer Aufsehen
erregenden Studie über die Schnecken des Rhonethals. Hierauf wandte er
sidi der Psychologie und der Philosophie zu, die ihm ohne Eweifel nodt
größere Erfolge eintragen werden. An der Sorbonne in Paris gedenkt er
seine Studien zum äußeren Abschluß zu bringen. Bevor er diese Schwenkung
yornahm, arbeitete er sich mit größter Energie theoretisch und praktisch
in die Psychoanalyse ein, deren Größe ihm den tiefsten Eindruck machte.
Die vorliegende Arbeit wurde als Hauptreferat an der Generalver¬
sammlung der Societe Alfred Binet vorgetragen, die dem jungen Gelehrten
durch die Betrauung mit dieser Aufgabe eine nicht geringe Ehrung erwies.
Büdier
295
Dr, Piaget ist seiner schwierigen Mission in ausgezeichneter Weise
gerecht geworden. Ankniipfend an einen Traum zeigt er seinen Hörern das
Wesen der Freudschen Psychoanalyse, wobei er vielleicht die Deutung
noch etwas straffer hätte zusammenfassen können, um den Sinn der
Phantasie klar zu machen. Zutreffend schildert er Freuds Theorie der
Säuglingssexualität, die er warm verteidigt, den Oedipuskomplex, den er
nach langem Zögern unter dem Druck der Tatsachen annahm, die Bedeutung
des Narzißmus, die allgemeinen Entwiddungsbahnen und ihre Störungen.
In einem zweiten Teil kommt er auf Adler und die Zürcher Schule zu
sprechen, wobei er in ironischer Denkweise die Unterschiede nidit für un*
vereinbar halt. Richtiger wäre es gewesen, nicht von einer Zürcher Schule
zu reden. Seitdem die meisten der anfänglichen Mitarbeiter Jungs sich von
diesem getrennt haben <Bleuler, Frank, Binswanger, van Ophuiysen, Fürst,
Pfister u. a,>, seitdem auch in Zürich die nicht auf Jungs Seite stehenden
Anhänger der Psychoanalyse den anderen numerisch sicher überlegen sind,
ist es anmaßend, und für Männer wie Beuler direkt beleidigend, daß Jungs
Schule noch immer sich gebärdet, als wären diese anderen in Zürich nicht
vorhanden. Mit geographischen Benennungen, wie sie in Jungs Schule be=
liebt sind, kommt man zu Ungeheuerlichkeiten, wie derjenigen Maeders,
der eine Wiener Schule, mit Freud und Adler als Häuptern, der Zürcher
Schule gegenüberstellt, obwohl er sehr genau weiß, daß Adler Freud viel
ferner steht, als Jung, der so viele Adlersche Gedanken herübernahm.
Bei dieser weitherzigen Darstellung unterläßt Piaget nidit, darauf
hinzudeuten, daß Freud tiefer eingedrungen ist als Adler und Jung,
dessen gegenwärtige Schöpfung er, obwohl er auch diese Forschung wohL
wollend erwähnt, als abenteuerlich bezeichnet.
In der Kritik beanstandet Piaget vor allem Freuds Begriff des Un¬
bewußten. Er rügt, daß es ganz sexueller Natur sein soll <24>, und daß
die Kluft zwischen dem Bewußten und Unbewußten zu schroff gefaßt
werde (52). Beide Aussetzungen gehen darauf zurück, daß Piaget Freuds
Begriff des Unbewußten nicht richtig verstund. Piaget betrachtet als un--
bewußt alles nichtbewußte Psychische, Freud aber unterscheidet scharf das
Unbewußte im engeren Sinn, das er mit der Formel Ubw bezeichnet,
vom Unbewußten im weiteren Sinn, das auch das Vorbewußte und das
normal Vergessene, sowie andere unverdrängte Bewußtseinsdispositionen
einschließt. Wenn Piaget auf diese Unterscheidung achtet, wird er Freud
gewiß alsbald recht geben, — Ein anderer Irrtum besteht darin, daß er
meint, Freud anerkenne nur sexuelle psychische Energie. Sowohl die Tat^
sache der Verdrängung, als die Lehre von den Ichtrieben belehren ihn
eines besseren.
Abgesehen von diesen Einzelheiten, die der ganzen Arbeit keinen
Eintrag tun, gebührt Piaget das Lob gewissenhafter und sorgfältiger Dar¬
stellung, die durch den Hintergrund sorgfältigster eigener Untersuchungen
und selbständiger gediegener Denkarbeit einen besonders hohen Wert
empfangen. Auch daß der Redner es wagte, einem unvorbereiteten und
skeptisch gesinnten illustren Publikum die neue Tiefenpsychologie vorzu^
legen, zeugt von dem sittlichen Ernst und persönlichen Mute des jungen
Gelehrten, von dem die psychoanalytische Bewegung sicherlich bedeutende
Leistungen zu erwarten hat.
O, Pfister.
The International Journal of
Psycho-Analysis
Direcied by Professor Freud, M. D., LL, D.
Edited provlsionally by Ernest Jones, M. D.
(Acting President of the International Psycho-Analytical Association).
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Tn tprnatihnafpf Ps V C h O 30 alv tiscfccf Vcf 13 g
Im VI. Jahrgang erscheint:
Offizielles Organ
der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung
Herausgegeben von Prof. Dr. Sigm. Freud in Wimv
Unter Mitwirkung von Dr, Karl Abraham (Berlin), Dr. van Haiden
<Haag>, Dr. S. Ferenczi (Budapest), Dr. Bd, Hitsdimann (Wien),
Dr. Ernest Jones (London), Dr. Emil Oberholzer (Zürich).
Redigiert von Dr. Otto Rank (Wien)
4 mal jährlich im Umfange von etwa 30 Drudebogen
INHALT DES DRITTEN HEFTES:
Dr. HERMANN GOJÄ <Wien>: Das Zersingen der Volkslieder. Ein
Beitrag zur Psychologie der Volksdichtung. Fortsetzung und Schluß.)
Di;. Ö. PFISTER <Zürid>): Die Entwicklung des Apostels Paulus. Eine
religionsgeschichtliche und psychologische Skizze.
BÜCHER:
GEORGES BERGUER: Quelques traits de la vie de Jesus au point de vue
* psychotogique et psychanalytique.
DR. MED. A. KIELHO LZ i Jakob Boehme. Ein pathographischer Beitrag zur
Psychologie der Mystik.
JEAN PIAGET: La psychanalyse et la pedagogie.
EMIL LUETHy*: Erziehung und Kinderpsyche.
INTERNATIONALER PSyCHOANALyTISCHER VERLAG
LEIPZIG GES. M. B. H. WIEN
hinter der Presse:
Internationale Psychoanalytische Bibliothek
Nr. 8
Z.um I\aniDr um die rsvchoanalvse
Von Dr. Oskar Pfister, Pfarrer in Zürich
INHALT:
VII. Psydhoanälysd und Weltanschauutig
L Einleitung
II. Die Psychoanalyse als psychologische
Methode
III; Die Entstehung der künstlerischen In*
spiration
IV. Zur Psychologie des Krieges und des
Friedens
V. Zur Psychologie des hysterischen Ma-
donher k^ltus
VI, Hysterie und Mystik bei Margareta Ebner
VIII. Gefährdete Kinder und ihre psycho*
analytische Behandlung
IX. Wahnvorstellung und Schülerselbst*
mord
X. Das Kinderspiel als Frtihsymptom
krankhafter Entwicklung, zugleich
ein Beiträg zur Wissensdiaftspsycho*
logie
29 Bogen GroiMDktav <463 Seiten)
OriginaEEinbanddecken
zum V. Jahrgang von »Imago«
sind zum Preise von Mk. 5'— direkt vom Verlag zu beziehen
BUCHDRUCKEREI CARL FROMME, GES. M. B. H., WIEN V.