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Full text of "Jahrbücher Für Psychiatrie Und Neurolo 1905 25"

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Jahrbücher für Psychiatrie 
und Neurologie 


b/GoOgle 







































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JAHRBÜCHER 

für 

PSYCHIATRIE 

und 

NEUROLOGIE. 


HERAUSGEGEBEN 

vom 

Vereine für Psychiatrie und Neurologie 

in Wien. 


REDIGIERT 

von 

Dr. I. Flitsch, Dr. H. Obersteiner, Dr. A. Pick, 

Professor in Wien. Professor in Wien. Professor in Prag. 

Dr. I. Wagner t. Janregg, 

Professor in Wien. 

Unter Verantwortung 


Dr. J. Pritsch. 


FÜNFUNDZWANZIGSTER BAND. 


Mit 38 Abbildungen im Text und 6 Tafeln, sowie einem Autoren- 
und Sachregister Uber Bd. I—XXV. 


LEIPZIG UND WIEN. 
FRANZ DEUTICKE. 

1905. 


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MP* Die Herren Mitarbeiter erhalten von ihren Artikeln 50 Separat- 
abdröcke unbereehnet, eine größere Anzahl anf Wunsch gegen Erstattung der 
Herstellungskosten. 


Verlags-Nr. 1015. 


Alle Rechte Vorbehalten. 


K. m. k. Hofb*cMniek«T«l C*rl froowu Ift Wt«. 


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Inhalt 


Gro-ixoe3k 
» «^30 


Seite 


Sträussler, E., Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 

(Mit 34 Abbildungen im Text). 1 

Kosaka, K. und Hiraiwa, K., Über die Facialiskerne beim Huhn. (Mit 

Tafel I und II). 57 

Alter, W., Über das Verhalten des Blutdruckes bei gewissen psycho¬ 
pathischen Zuständen. Vortrag vor der IX. Versammlung mittel¬ 
deutscher Psychiater und Neurologen. (Mit Tafel III—V). 70 

Pilcz, A-, Beitrage zur Lehre von der progressiven Paralyse. 96 

Stransky, E., Kurzer ergänzender Beitrag zur Kenntnis der Hirnrinden¬ 
veränderungen bei Herderscheinungen auf Grund senil-arteriosklero¬ 
tischer Atrophie. (Mit 4 Abbildungen im Text).106 

Referate.122 

Fischer, O., Zur Kenntnis des multiplen metastatischen Carcinoms des 

Zentralnervensystems. (Mit Tafel VI).125 

Pilcz, A., Über Heilversuche au Paralytikern.141 

Berger, A-, Eine Statistik über 206 Fälle von multipler Sklerose .... 168 
Neutra, W., Über Ermüdungsphänomene, einschließlich der auf dem Gebiete 

der Vibrationsempfindung.189 

Frankl-Hoctiwart, L. v., Erfahrungen über Diagnose und Prognose des 

Meni^reschen Symptoraenkomplexes.245 

Referate.329 

Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien.-335 

Mitgliederverzeichnis des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien 368 

Autorenverzeichnis zu Band I—XXV.376 

Sachregister zü Band I—XXV.379 


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Aas dem Labor&toriam der deutschen psychiatrischen Universitätsklinik 
(Prof. Dr. A. Pick) in Prag. 

Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnerven¬ 
systems. 1 ) 

Von 

Dr. Emst Sträussler, 
k. u. k. Regimentsarzt. 

Der Embryologie verdankt die Lehre von den Mißbildungen 
den Fortschritt, welcher von der Kenntnis der Formen der Mi߬ 
bildungen zn der Erforschung ihres Wesens geführt hat. Ans 
der Auffassung der Mißbildungen als Ausdruck von Störungen 
der normalen Entwicklung erwächst für die Teratologie die Auf¬ 
gabe, im einzelnen Falle die abnormen Bildungen auf ihre em¬ 
bryonale Wertigkeit zu prüfen und die Frage nach der Zeit der 
Entstehung der Mißbildung zur Entscheidung zu bringen. Als 
ein Versuch in dieser Richtung mögen die nachfolgenden Aus¬ 
führungen gelten. 

War die Embryologie für die Erkenntnis des Wesens der 
Mißbildungen entscheidend, so wies die Einführung des Experi¬ 
mentes in die teratologische Forschung den Weg zur Auffindung 
der Entstehungsweisen und ursächlichen Bedingungen der 
abnormen Entwicklungsvorgänge. Wie aber die pathologische 
Physiologie eine ergiebige Quelle für die Kenntnis der normalen 
Physiologie geworden ist, so soll die pathologische Entwicklung, 

<) Eine karze Mitteilang mit Demonstrationen erfolgte in der Abteilang für 
Kearologie and Psychiatrie der 74. Versammlung der Gesellschaft deutscher Natur¬ 
forscher and Ärzte za Karlsbad 1902. 

JtkfUahir für Pl/lhUtrl. and Naarolori«. XXV. Bd. 1 


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2 


Dr. Ernst Sträugsler. 


in den Experimenten willkürlich hervorgernfen, der Erkenntnis 
der ursächlichen Bedingungen für die normalen Entwicklungs- 
Vorgänge dienen. Als Naturexperimente gelten die Mißbildungen 
für die Vertreter der von Roux begründeten „Entwicklungs- 
mechanik” und als ganz ungewöhnliches Experiment der Natur, 
seiner Art und dem Endergebnis nach, verdient unsere Mißbil¬ 
dung besonderes Interesse. 



Pig. 1. 


Gehirn und Rückenmark eines 9tägigen Kindes mit den 
Zeichen eines Hydrocephalus internus enormis und einer 
Rhachischisis lumbosacralis gelangten zur Untersuchung. 
Vom Schädel waren die vorderen, vor dem Foramen occipitale gele¬ 
genen Teile der Basis in Verbindung mit dem Gehirne auf¬ 
bewahrt geblieben und außerdem die Wirbelsäule im Bereiche 
des Hautdefektes an der Stelle der Rhachischisis. Neben dieser 
und dem Hydrocephalus war makroskopisch vor der Zerlegung 
die Verbildung und Kleinheit des Kleinhirns der auffallendste 
Befund (Fig. 3). 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


3 


Das Großhirn (Fig. 1, 2) erscheint in die zwei Hemisphären geteilt; 
bei den Hantierungen, welche zur Lostrennung desselben von dem Reste des 
Schädels vorgenommen werden, erweisen sich die Hemisphären als zwei 
schwappende Säcke, und der flüssige Inhalt bewegt sich von der einen Hemi¬ 
sphäre zur anderen derart, daß eine breite Kommunikation zwischen denselben 
offenbar wird. Ein Durchbruch der dünnen Decke am hinteren Pol gestattet einen 
Einblick in das Innere der die Flüssigkeit enthaltenden Höhle und es zeigt sich, 
daß der Fissur zwischen beiden Hemisphären ein wenig vorragender Kamm ent¬ 
spricht, so daß von den beiden Hemisphären eine gemeinsame, große Höhle ein- 
geschlossen ist. 



Fig. 2. 

Bei der äußeren Ansicht des Gehirns besteht zwischen beiden Hemi¬ 
sphären eine ziemlich genaue Symmetrie, sowohl in der Gesamtform als auch in 
der Form der Teile, in den angedeuteten Furchen und Windungen. 

Die Gesamtform des Gehirns ist eine eiförmige, wobei aber im Gegensatz 
zu normalen Verhältnissen der Stirnteil dem spitzen, der Hinterhauptteil dem 
stumpfen Eipol entspricht. Die obere und untere Fläche des Großhirns er¬ 
seheinen verhältnismäßig schmal und es springt bei der oberen Ansicht beson¬ 
ders ein Mißverhältnis zwischen dem Längen- und Breitendurohmesser des Gehirns 
in die Augen; die lateralen Flächen zeichnen sich wieder durch besondere Höhe 
aus, so daß der vertikale größte Durchmesser den horizontalen bei weitem öber- 

1 * 


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4 


Dr. Ernst Sträussler. 


trifft. Da die mediane, longitudinale Fissur nur höchstens auf 2 cm einsohneidet, 
so kann von einer medialen Fläche der Hemisphären im gewöhnlichen Sinne 
nicht gesprochen werden. 

Die Oberfläche ist von einem engmaschigen Gefäßnetz überzogen. Die 
meisten Gefäßstämme verlaufen in dem Niveau der Gehirnoberfläche, nur wenige 
schneiden in die Substanz ein und deuten durch ihre tiefere Lage Furchen an; 
Windungen mit abgerundeter Oberfläche gibt es überhaupt nicht und ebenso¬ 
wenig Furchen von der Beschaffenheit der normalen, ausgenommen die Sy Wi¬ 
schen (Fig. 3 g). Dagegen ist das Gehirn durch einige spaltförmig tiefe Ein¬ 
schnitte durchzogen. Man gewinnt beim Anblick des Gehirns den Eindruck, daß 
eine reiche Gliederung in Furchen und Windungen durch Druck von innen und 



Fig. 3. 


durch Abplattung verwischt wurde und daß der Boden der seichteren Furchen 
in das Niveau der Oberfläche getreten war, so daß alle in der Tiefe der Furchen 
gelegenen Gefäßverzweigungen, an die Oberfläche verlegt, ein im gleichen Niveau 
gelegenes Gefaßnetz bilden. Nur die in der Anlage tiefsten Furchen sind erhalten 
geblieben und durch die infolge der Vergrößerung der Oberfläche entstandene 
Raumbeengung zu schmalen Spalten geworden. 

An der oberen und lateralen Fläche erscheinen die Hemisphären durch 
2 von der Mantelkante an den lateralen Flächen herabziehende, tiefe Einschnitte 
in 3 Partien gegliedert. 

Der vordere Einschnitt (Fig. 1 und 2 a) liegt etwa vor der Mitte des 
Läng8durchmesser8 des Gehirns, führt von der Mantelkante über die laterale 
Fläche gegen die Sylvische Furche und tritt mit dieser in Verbindung. Etwa 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


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in der Mitte zwischen dem ersten Einschnitt und dem hinteren Gehirnpol geht 
von der Mantelkante der 2. Einschnitt (Fig. 1 und 2 b) ab und verlauft über die 
laterale Fläche etwas frontalwärts gerichtet, zu einem viereckigen, durch eine sub- 
meningeale Blutung besonders kenntlichen Läppchen (Fig. 1 und 2 c), welches 
etwa in der Mitte der lateralen Fläche sich befindet. Der Spalt umkreist das 
Läppchen in seinem hinteren Umfange und zieht dann in einem nach hinten 
konvexen Bogen parallel mit dem Oooipitalrande (Fig. 2 d) gegen die Basis, wo 
er sich verliert. Von der hinteren Begrenzung des Läppchens geht von dem be¬ 
schriebenen Einschnitt unter einem beinahe rechten Winkel ein neuer Spalt aus 
(Fig. 2 e) und verlauft in den hinteren Gehirnpol. 

Aus dem sonstigen Gewirre von nach allen Richtungen verlaufenden 
seichten Einschnitten an der Gehirnkonvexität hebt sich deutlicher nur 1 Ein¬ 
schnitt ab, welcher beiderseits in sagittaler Richtung vom vorderen Frontalspalt, 
2Vs cm von der Mantelkante entfernt, gegen den vorderen Gehirnpoi zieht (Fig. 1 /). 

An der Basis ist jede der beiden Hemisphären durch eine tiefe, beinahe 
frontal verlaufende Einsenkung (Fig. 3y), welche ohne weiteres als der Sy lvisehen 
Furche entsprechend erkannt werden kann, in eine vordere und hintere Partie 
getrennt; das vorliegende Bild der Basis weicht jedoch vom Normalen dadurch 
ab, daß die durch die Sylvisohe Furche gegebene Trennungslinie zwischen 
Schläfe- und Stirnlappen nach hinten bis etwa zur Mitte zwischen Stirn- und 
Hinterhauptspol verlegt ist; sie besitzt einen hinteren, horizontalen Ast, welcher 
an der lateralen Fläche sehr tief, nahe der Basis verlauft; die Gliederung in den 
Ramus anterior ascendens und horizontalis erscheint nicht deutlich ausgeprägt. 

Während die Identifizierung der Sylvischen Furche ohne 
weiteres klar liegt, begegnet die Zurückführung der beschriebenen 
Spalten auf Furchen des normalen Gehirns größeren Schwierig¬ 
keiten. 

Der vordere an der lateralen Fläche in frontaler Richtung 
ziehende Einschnitt wäre mit der Zentralfiirehe zu identifizieren; 
senkrecht auf dieser verlauft zum Stirnpole der Sulcus frontalis 
superior. 

Zur Beurteilung der weiteren Einschnitte an der lateralen 
Fläche ist es notwendig, sich die enorme Ausdehnung der Ven¬ 
trikel und die breite Kommunikation zwischen denselben zu ver¬ 
gegenwärtigen; berücksichtigt man einerseits die Seichtheit der 
Mantelfalte und die Kürze der inneren, anderseits die auffallende 
Höhe der lateralen Hemisphärenflächen, so wird es klar, daß 
durch den inneren Flüssigkeitsdruck der Boden der Mantelfalte 
gehoben und der dadurch überschüssig gewordene Teil der 
Hemisphäreninnenfläche unter Verschiebung der Mantelkante in 
die äußeren Flächen einbezogen wurde. Zieht man noch in Rech¬ 
nung, daß der hintere Pol des Gehirns durch die innere Flüssig- 


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Dr. Ernst Sträussler. 


keitsansammlung besonders stark nach hinten verschoben ist, so 
entspricht der zweite, tiefe Einschnitt an der lateralen Fläche 
der Gegend des Sulcus parieto-occipitalis. 

Die Entfaltung der Hemisphärenwand an der oberen Um¬ 
schlagstelle brachte nun den größten Teil des Sulcus parieto- 
occipitalis auf die äußere Fläche des Gehirns. 

Diese, als Sulcus parieto-occipitalis angenommene, vereinigt 
sich mit den beiden Furchen des Hinterhanptlappens, nnd wir 
hätten dann eine besonders deutliche Ausbildung der „Affen¬ 
spalte" vor uns, welche eine vollständige Trennung des Hinter¬ 
hauptlappens vom übrigen Gehirne vollzieht. 

An der Basis zeigt die Orbitalfläche des Stirnlappens eine 
reiche Gliederung. Der Schläfelappen besitzt keinen über die 
Sylvische Furche nach vorne überhängenden Anteil und infolge¬ 
dessen liegt die Insula Reilii zum Teile frei zutage. Am Schläfe¬ 
lappen ist bloß der Gyrus hippocampi mit dem ihn nach außen 
begrenzenden Sulcus collateralis deutlich ausgeprägt. 

Mit der Charakterisierung der Einschnitte ist auch die 
Gliederung des Gehirns in seine Lappen gegeben; es zeigt sich, 
daß der Schläfelappen in seiner Größe gegenüber den anderen 
Anteilen besonders zurückbleibt. 

Über beiden Hemisphären finden sich zahlreiche, submenin- 
geale Blutaustritte; an einzelnen Stellen ist auch der Gehirn¬ 
mantel von Blutungen betroffen. 

Nach Abtragen der Deeke der Großhirnhemisphären gewinnt man sofort 
einen Einblick in die Seitenkammern und sieht am Grunde der großen Höhle 
das Zwisohenhirn mit den Sehhügeln und das Corpus Striatum ohne weitere Prä- 
paration frei liegen. Die Auskleidung der Höhle bildet eine dicke Membran, das 
enorm verdickte Ependyn). 

Die Scheidung der beiden Hemisphären war nnr angedeutet, 
und zwar durch einen entsprechend der Fissur» longitudinalis in das Innere der 
Höhle vorspringenden, sichelförmigen Kamm, auf welchen sich das Ependym der 
Seitenkammern als Überkleidung fortsetzt. Der Kamm besteht an der Konvexität 
der Sichel aus zwei senkrechten, durch die in die Tiefe dringenden weichen Hirn¬ 
häute geschiedenen nervösen Lamellen, den inneren Hemisphärenwandungen, welche 
durch eine dönne, horizontale nervöse Platte verbunden sind; der Kamm wölbt sich 
hoch über dem Zwiscbenbiru, tritt nur in den absteigenden Schenkeln vorne und 
hinten an das Zwischenbirn heran, so daß zwischen den beiden Seitenkammem eine 
Verbindung bestehen bleibt, deren Breite der Länge des Zwisohenhims entspricht 

Tiefer als an der Konvexität ist die Seheidung der beiden Hemisphären 
am Stirn- und Hinterhauptspol, wo es zur Bildung von selbständigen, rechts- 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 7 

und linksseitigen Lappen kommt; dementsprechend vollzieht sich im Stirn- und 
Hinterhauptspol eine Trennung der in der Mitte der beiden Hemisphären ge¬ 
meinsamen Höhle. 

Die Fortsätze der Höhle in den Stirn teil sind von verhältnismäßig geringer 
Ausdehnung, so daß die Gehimwandung im Stirnteile noch eine Dicke von etwa 
2cm besitzt; eine viel stärkere Erweiterung haben die Hinterhörner erfahren und 
der Gehirnmantel ist hier bis auf Va 0171 und darunter reduziert. 

Die Verbindung zwischen den beiden Hemisphären bildet an der Konve¬ 
xität der beschriebene, sichelförmige Kamm; dieser steigt rückwärts in einem 
nach hinten konvexen Bogen zum distalen Ende des Zwischenhirns ab, stellt in 
diesem Teile eine Verbindung zwischen den beiden Hinterhauptslappen her und 
besteht aus den beiden inneren, mit dem Ependym der gemeinsamen Höhle be¬ 
kleideten, inneren Wänden der Hinterhauptslappen; der Kamm hat hier die Ge¬ 
stalt eines vorspringenden Keiles, tritt an das Zwischenhirn heran und bildet 
einen Wulst zwischen den Sehhügeln (Fig. 26, 27, 28), weicher sich nach vorne 
immer mehr verbreitert und endlich mit einem kurzen, nach vorne konvexen 
Bogen in den vorderen Schenkel des die beiden Hemisphären an der Konvexität 
verbindenden, sichelförmigen Kammes übergeht. Der innere Kontur des beschrie¬ 
benen Gebildes stellt also eine in sich geschlossene Linie von elliptischer Gestalt 
dar; die Natur des Bodenteiles des Kammes wird erst die mikroskopische Unter¬ 
suchung ergeben, da über den zwischen den Sehhügeln gelegenen Wulst, als Teil 
des Bodens der gemeinsamen Hemisphärenhöhle, das verdickte Ependym von den 
Sehhügeln hinüberzieht und denselben der Untersuchung entzieht. 

Das Kleinhirn wird von den Großhirnhemisphären so überlagert, daß 
deren Hinterhauptsteile noch ein großes Stück über das Kleinhirn vorragen. Das¬ 
selbe bildet an der Basis einen kleinen, ringförmigen Wulst, aus dessen Mitte 
die Medulla oblongata herausragt (Fig. 3); ein schiffskielartiger Fortsatz des 
Kleinhirns war zwischen die Hinterhaupts lappen eingesenkt; der dorsalen Fläche 
des Kleinhirns entspricht eine schräg abfallende Kante. 

Der Gehirns tarn m ist in die Substanz des Kleinhirns versenkt und mit 
demselben an den Seitenflächen scheinbar vollständig verwachsen (Fig. 3). 

Das Lagerungsverhältnis zwischen Stamm- und Kleinhirn war derart ver¬ 
schoben, daß der größte Kleinhirnfrontalsohnitt unmittelbar unter den Vierhügeln 
lag; dagegen blieb ein großer Teil des 4. Ventrikels vom Kleinhirn unbedeckt. 

An der Basis konnten die Gehirnnerven bis zum 7. wohl unterschieden 
werden. Die weiteren bildeten zusammen ein schwer entwirrbares Konvolut. 

Der Bückenmarksstrang in toto ist in seinem obersten Anteile am 
stärksten und spitzt sich nach unten zu; Zervikal- und Lendenanschwellung sind 
nicht nachweisbar. In die lumbo-sakrale Rhachischise tritt das Rückenmark noch 
geschlossen ein und unterhalb derselben zieht wieder zylindrisches Rückenmark 
noch bis an das Steißbein. 

Als das Rückenmark vom Gehirnstamme an der üb¬ 
lichen Stelle, welche ungefähr dem zweiten Zervikal- 
Begmente entsprechen sollte, durch einen Querschnitt 
abgetrennt wurde, wies dieser nicht die Konturen auf, 


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Dr. Ernst Strfioseler. 


welche dem oberen Halsmarke znkommen, sondern die 
Konturen der Medulla oblongata (Fig. 19); einige weitere, 
durch den obersten Teil des im Wirbelkanal gelegenen Markes 
geführte Querschnitte enthüllten ganz eigentümliche Beziehungen 
zwischen der im Wirbelkanale befindlichen Mednlla oblongata 
und dem oberen Teile des Zervikalmarks. 

Einen halben Zentimeter unter der oberen Trennungsfläche 
wurde an der ventralen Seite der Medulla oblongata der Quer¬ 
schnitt eines schmalen, frontal gestellten, nervösen Bandes sicht¬ 
bar, dessen mittlerer Teil mit der Oblongata verwachsen, die 
seitlichen Partien durch tiefe, von Bindegewebe ausgekleidete Ein¬ 
schnitte von derselben geschieden schienen; dieses Band ver¬ 
breiterte sich in tieferen Partien, blieb mit der Medulla oblon¬ 
gata durch einen zentralen Stiel in Verbindung und nahm all¬ 
mählich die Konturen des Rückenmarks an, während die Medulla 
oblongata gleichzeitig sich verjüngte. Die Verbindung zwischen 
Rückenmark und Oblongata löste sich zuletzt und etwa 12 mm 
unter dem zuerst geführten Schnitte lagen zwei Querschnitte 
vor; jeder derselben mit eigener pialer Bekleidung, jedoch in 
einem gemeinsamen Duralsack; zentral, scheinbar einem Zentral- 
kanale entsprechend, schloß jeder der Querschnitte einen Pfropf 
eines schon makroskopisch sichtbar fremden Gewebes ein (Fig. 
10 bis 18). 

Die mikroskopische Untersuchung enthüllte eine solche 
Fülle von merkwürdigen Verhältnissen im Zentralnervensystem, 
daß es den Umfang der Arbeit zu sehr ausdehnen würde, wollten 
wir der Darstellung die schrittweise Beschreibung der einzelnen 
Schnitte zugrunde legen; es soll deshalb das Gesamtergebnis aus 
der Verfolgung der Serien der einzelnen Partien des Zentral¬ 
nervensystems und der zu beschreibenden Gebilde im Zusammen¬ 
hänge entwickelt werden. 

I. Einschluß von Kleinhirnsubstanz im Medullarrohr, 
Rückenmark, Nachhirn und Mittelhirn. 

Das auffallendste und ungewöhnlichste Ergebnis der Unter¬ 
suchung bildet ein im Zentralkanale befindlicher Ein¬ 
schluß, welcher sich von den untersten Partien des 
Rückenmarks bis hinauf in den Aquaeductus Sylvii ver- 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


9 


folgen läßt (Fig. 4, 5, 6 bis 18, 24, 25); mit diesem wollen wir 
unsere Schilderung beginnen. 

Noch unterhalb der Rhachischisis erscheint in dem wieder 
geschlossenen, in sagittaler Richtung breitgezogenen, spaltför- 



Fig. 4. Querschnitt ans dem Lumbalmark, a Kleinhirngewebe als Einschluß im 

Zentralkanal. 

migen Zentralkanal ein Inhalt, welcher nebst roten Blutkörper¬ 
chen aus einer homogenen, mit Hämatoxylin sich schwach violett 



Fig. 5. Querschnitt aus dem Dorsalmark. (Konfiguration des Rückenmarks atypisch.) 
aj Kleinhirngewebe als Einschluß im Zentralkanal. 

färbenden Substanz besteht, in die einzelne, dunkelblau gefärbte, 
zellkernähnliche Gebilde eingestreut sind. Die Natur dieser Ge¬ 
bilde läßt sich aus den Befunden dieser Gegend allein nicht fest¬ 
stellen; betrachtet man dieselben aber in Beziehung auf den 


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10 


Dr. Ernst Sträussler. 


Einschluß in höheren Regionen des Zentralkanals, so wird ihre 
Zugehörigkeit za diesem wahrscheinlich. 

Mit der Eröffnung des Zentralkanales in der Rhachischisis 
verschwinden die beschriebenen Gebilde, am mit dem im oberen 
Teile der Rhachischisis wieder erfolgten Verschlüsse des Zentral¬ 
kanals in größerer Menge, and nun schon differenzierbar, neben 
roten Blutkörperchen als Inhalt des Zentralkanals zu erscheinen; 
sie liegen zerstreut im Lumen des Zentralkanals einzeln, ohne 
bestimmte Anordnung; doch läßt der Charakter der einzelnen 
Elemente bereits deutlich die Identität derselben mit den Ele¬ 
menten des ganzen Einschlusses erkennen. 

Schon die nächsten Schnitte, etwa dem oberen Lendenmarke 
entsprechend, geben Aufschluß über die Natur der Kerne; in 
dem hier weiten, unregelmäßig geformten Zentralkanal finden 
sich einerseits, ähnlich wie früher, einzelne, lose Kerne; in einem 
Teile gruppieren sich dieselben jedoch in sehr charakteristischer 
Weise und sind nicht mehr lose aneinander gereiht, sondern als 
Bestandteile eines Gewebes in dieses eingelagert (Fig. 4). Ein 
Gewebstück von der Form eines Bogensegmentes, 
dessen Sehne, unregelmäßig gezackt, einer Bruchfläche 
zu entsprechen scheint; an diesem Gewebstttcke lassen 
sich 3 Zonen unterscheiden; an der Peripherie des 
Bogens eine schmale Schicht von dichtgestellten, mit 
Hämatoxylin stark blau gefärbten, runden Kernen; nach 
innen von dieser konzentrisch mit derselben ein Band 
fein retikulären Gewebes mit nur sehr wenigen ge¬ 
formten Elementen und in der Konkavität des Bogens 
bis an die Bruchfläche wieder eine kernreiche Zone, in 
welcher jedoch die Anhäufung etwas loser als in der Peripherie 
ist und neben den runden Kernen der Peripherie auch recht 
zahlreich etwas blässere und größere Kerne enthalten sind: an 
der Grenze zwischen der 2. und 3. Schicht finden sich 
einzelne kernhaltige Zellen von Linsenform. 

So merkwürdig auch die Tatsache ist, der beschriebene 
Bau des Gewebsstückchens läßt dasselbe mit Sicherheit als Klein¬ 
hirnsubstanz erkennen; es ist die Kuppe einer Kleinhirn¬ 
windung mit den charakteristischen Schichten und Formelemen¬ 
ten; die mehr homogene Gewebsschicht ist zweifellos identisch 
mit der molekularen Rindenschicht des Kleinhirns, welche nach 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


11 


außen von der embryonalen Körnerschicht eingesänmt ist, wäh¬ 
rend die innere Zone als bleibende Körnerschicht zu deuten ist; 
Zellen von der Natur der Purkinjeschen Kleinhirnzellen ver¬ 
vollständigen das Bild vollkommen differenzierter Klein¬ 
hirnsubstanz. 

Nun läßt sich der Einschluß von Kleinhirnsubstanz im 
Bückenmark ununterbrochen hinauf verfolgen; die Bilder, die 
sich dem Auge bieten, sind jedoch mannigfachem Wandel unter¬ 
worfen. Es wechselt die Masse der eingeschlossenen Kleinhirn¬ 
substanz in ihrer Größe sehr bedeutend in verschiedenen Höhen 
des Zentralkanals, welcher selbst große Schwankungen in seiner 
Weite erfährt. Doch folgt die Größe des Kleinhirnstückes nicht 
absolut der Weite des Zentralkanales; an engen Teilen des 
Zentralkanals bleibt oft noch Raum zwischen dem Einschlüsse 
und der Kanalwandung, während an anderen Orten ein viel grö¬ 
ßeres Lumen von Kleinhirnsubstanz wie ausgegossen ist. 

In den untersten Partien des Rückenmarks ist die regel¬ 
mäßige Anordnung der typischen Kleinhirnschichten oft gestört; 
äußere Körnerschicht, molekulare Schicht und innere Körner¬ 
schicht sind in buntem Durcheinander; weiter oben gehört die 
eingeschlossene Substanz bald der äußeren Körnerschicht, bald 
der molekularen, bald der inneren Körnerschicht an, doch auch 
wohlgeformte, mit regelmäßig angeordneten Schichten versehene 
Kleinhirnläppchen, auch zwei nebeneinander, finden sich im 
Zentralkanal eingeschlossen. 

Etwa in der Mitte des Zervikalmarks tritt in der Linie 
des Septum longitudinale posterius dorsal vom Zentralkanale eine 
Anhäufung von Kleinhirnkörnern neben roten Blutkörperchen in 
der Rückenmarksubstanz auf; bald darauf erscheint die Substanz 
des Rückenmarks durch Kleinhirngewebe ganz ersetzt und die 
hier entstandene Höhle in der Rückenmarksubstanz vereinigt 
sich in den nächsten zerebralwärts gelegenen Schnitten mit dem 
Zentralkanal; die dorsal vom Zentralkanal gelegene Kleinhirn- 
Substanz fließt mit dem Einschluß des Zentralkanals zusammen 
(Fig. 6 bis 9). 

Beim Erscheinen der in der makroskopischen Beschreibung 
geschilderten Verdopplung des Querschnittes erweisen sich die 
im Inneren beider Querschnitte erwähnten Pfröpfe als Kleinhirn¬ 
substanz. Die beiden Teile, von denen der ventrale das Rücken- 


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Dr. Ernst Sträussler. 


mark, der dorsale die Medulla oblongata repräsentiert, ver¬ 
wachsen in höheren Regionen; indem nun die Höhle in der 
Mednlla oblongata sich ventralwärts verlängert, anderseits die 
dorsalen Anteile des Rückenmarks immer mehr schwinden — 
Verhältnisse, welche noch eine ausführlichere Beschreibung 


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Fig.6. 


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Fig. S. Fig. 9. 


Fig. 6—9. Mitte de« Zervikalmarks. F Vorderstrang; n Hinterstrang; FA Vorder¬ 
horn; Uh Hinterhorn; o Kleinhirngewebe; 6 Zentralkanal mit Kleinhirneinsehlaß. 

finden müssen — nähern sich die beiden Zentralkanäle einander, 
bis sie zu einer gemeinsamen Höhle verschmelzen; damit geht 
eine Vereinigung der Eieinhirneinschlüsse Hand in Hand, die zu¬ 
letzt eine zusammenhängende Masse bilden (Fig. 12, 13). 

Wir wollen hier nur andeuten, daß die Öffnung des 4. Ven¬ 
trikels nicht an normaler Stelle und in normaler Weise vor sich 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


13 


geht; vor der Öffnung besteht als Decke des Ventrikels eine 
schmale, nervöse Leiste und von dieser hängt in die Höhle ein 
Zapfen von Eieinhirnsubstanz herab. 

Vom Beginne der Öffnung des Zentralkanales bis zur Ge¬ 
gend der Kerne des Abducens und Facialis ist infolge einer 
Läsion der dorsalen Teile der Medulla oblongata bei der Heraus¬ 
nahme die Möglichkeit des Nachweises einer Einlagerung in den 
4. Ventrikel genommen. 

Sobald aber das Präparat wieder intakt ist, erscheint auch 
schon ein vorerst nur kleiner Zapfen von Kleinhirnsubstanz im 
Ventrikel. Indem der Zapfen in die Breite und auch nach der 
Höhe wächst, schmiegt er sich an den Boden des 4. Ventrikels 
vollkommen an nnd bildet in der Gestalt seines unteren Konturs 
einen getreuen Abklatsch des Konturs des Ventrikelbodens. Ans 
der Verfolgung der weiteren Schnitte ist zu entnehmen, daß der 
Zapfen einen vorgeschobenen Teil des Unterwurmes des Klein¬ 
hirns darstellt; um den Zapfen legen sich später Kleinhirnwin¬ 
dungen herum (Fig. 23). 

Der in den 4. Ventrikel prominierende Zapfen findet bald 
sein Ende und eine kurze Strecke besteht eine Lücke zwischen 
Kleinhirn und Ventrikelboden; dann schiebt sich aber wieder ein 
schmaler Streif Kleinhirnsubstanz, welcher frei, ohne Zusammen¬ 
hang mit dem Kleinhirn erscheint, zwischen Kleinhirn und Boden 
des Ventrikels ein. 

Nun ist der Einschluß wieder in ununterbrochenem Zuge 
im 4. Ventrikel zu verfolgen, durch die Partie der Verengerung, 
in welcher das Velum medulläre anterius und die Lingula die 
obere Decke bildet, dann durch den Aquaeductus Sylvii bis in 
die vorderen Teile desselben, wo er endlich verschwindet. 

Der Befund, in wenige Worte zusammengenommen, ergibt 
also: Von den untersten Teilen des Rückenmarks durch 
die ganze Länge desselben im Nachhirn und Mittelhirn 
enthält das Medullarrohr einen Einschluß von wohl¬ 
charakterisierter Kleinhirnsubstanz; ein Zusammenhang 
der kaudal- nnd zerebralwärts vom Sitze des Kleinhirns befind¬ 
lichen Kleinhirnmassen mit dem Kleinhirn selbst läßt sich aus 
dem Befunde nicht mit Sicherheit nachweiseu.- 


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14 


Dr. Ernst Sträussler. 


II. Rückenmark und Nachhirn, Hinterhirn and Mittel¬ 
hirn nach der äußeren Konfiguration und den abnor¬ 
malen Beziehungen zueinander. 

Gelegentlich der Beschreibung des makroskopischen Befun¬ 
des und des Zentralkanaleinschlusses haben wir bereits kurz auf 
eigentümliche Beziehungen zwischen Medulla oblongata und die 
obersten Teile des Rückenmarks hingewiesen. Nun sei die ge¬ 
nauere Beschreibung dieser Verhältnisse gegeben. 

Wir gehen bei der Schilderung aus von einem Querschnitt 
des Rückenmarks, 18 mm unter der Abtrennung desselben vom 
Gehirnstamme an der üblichen Stelle; bei der Annahme, daß die 
letztere dem 2. Zervikalsegmente entspräche, müßte der be¬ 
rücksichtigte Querschnitt nach Lüderitz etwa die Gegend des 
4. Halssegmentes darstellen. 

Dieser Querschnitt ist durch eine graue Substanz ausge¬ 
zeichnet, welche im Verhältnis zur weißen sehr stark an Masse 
überwiegt und durch ihre plumpen Formen auffällt. Die Vorder¬ 
hörner sind sehr breit, die Konkavität zu den Hinterhörnern kurz 
und seicht, die Verschmächtigung der Hinterhörner zum Halse 
fehlt ganz und an die kurze breite Basis derselben ist sofort 
eine sehr breite Substantia gelatinosa angesetzt. 

Der Markmantel ist mit Ausnahme des Hinterstranges, 
welcher infolge starker Divergenz der Hinterhörner und stark 
seitlichem Eintritte der hinteren Wurzeln über das Normale sich 
ausdehnt, schmal und arm an markhaltigen Nervenfasern; im 
Bereiche der Pyramidenbahn sind diese ebenfalls sehr spärlich, 
das Areale des rechten Seitenstranges übertrifft jedoch deutlich 
das des linken an Ausdehnung. 

In den Vorderhörnern lassen sich wohl ausgebildete, multi¬ 
polare Ganglienzellen erkennen, welche in einer lateralen und 
zwei meijialen Gruppen angeordnet sind. 

Die erste bemerkenswerte Veränderung an diesen Quer¬ 
schnitten nach aufwärts besteht darin, daß an der Peripherie 
des Rückenmarks am Übergange vom dorsalen zum lateralen 
Rande eine Apposition von aus markhaltigen Fasern bestehenden, 
untereinander und vom Rückenmark durch Gliasepten geschie¬ 
denen Wülsten stattfindet. Die Fasern sind in denselben teils 
schräg, teils längs getroffen. Diese Bündel von Nervenfasern ent- 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


15 


stehen aus den an das Rückenmark tretenden hinteren Wurzeln 
(Fig. 10 H t ). Diese seitlichen Ansätze reichen hinauf, soweit noch 
Beste vom Rückenmark vorhanden sind. 

Die dorsale Peripherie des Bückenmarks fängt nun an 
flacher zu werden; die weichen Bückenmarkshäute folgen der 
Abflachung und legen sich dem Bückenmarkskontur an, während 
zwischen dem mit Pia bedeckten Rückenmark und der Dura, 
welche den früheren Bogen ihres Verlaufes beibehält, ein Baum 
zurückbleibt; dieser Baum vergrößert sich entsprechend der 
fortschreitenden Abflachung des Rückenmarks und füllt sich mit 


<7 



Mm 


Fig. 10 n. 11. Vh Vorderhora; Eh Hinterhorn; H Hioterstrang; 2T, Faserzug 
durch Apposition aus den hinteren Wurzeln entstanden, a Kleinhirngewebe; 
b Gefäße; h.W. hintere Wurzel; D.m. Dura mater. 


stark erweiterten Gefäßschlingen. Die Abflachung des Rücken¬ 
marks geschieht auf Kosten der Hinterstränge; die dorsalen 
Enden der Hinterhörner nähern sich dadurch der dorsalen Peri¬ 
pherie des Bückenmarks, bis sie mit der letzteren zusammen¬ 
fallen. Die früher erwähnten, seitlich aufgesetzten Faserbandel 
befinden sich nun lateral von den Hinterhörnern und sind durch 
diese von den Hintersträngen getrennt (Fig. 10). 

Zwischen dem Konvolut von Gefäßschlingen an der Dorsal¬ 
seite des Bückenmarks erscheint in diesem Momente eine runde 
Scheibe von Nervensubstanz, welche an Weigert-Schnitten reich¬ 
liche markhaltige, in der Längsrichtung getroffene Fasern führt 


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16 


Dr. Ernst Sträuisler. 


and von einer breiten Bindegewebslage eingescheidet ist (Fig. 
10 0 ). 

Wenige Schnitte höher erhält die größer gewordene Scheibe 
zentral ein Lnmen mit dem schon beschriebenen Inhalt von Klein¬ 
hirnsubstanz; um die Höhle zeigt sich ein konzentrisches, mark¬ 
loses Feld, welches sich als nervöses Grau darstellt, während 
die markhaltigen Fasern von der ventralen, dem Bückenmark 
zugekehrten Peripherie aus geweihartig um die graue Substanz 
längs der seitlichen Peripherie dorsalwärts ziehen, aber vor Er¬ 
reichung der Mittellinie enden (Fig. 11 h). In dem Grau, welches die 



Drn a 

Fig. 11. 


Höhle umgibt, erscheinen bald gut ausgebildete multipolare 
Ganglienzellen. 

Mit der Vergrößerung des dorsalen Querschnittes geht 
Hand in Hand eine weitere Abflachung des Rückenmarks; 
zwischen den Hinterhörnern wird der doräale Bückenmarksrand 
noch überdies zu einer Konkavität eingedrückt, so daß von den 
Hintersträngen nur mehr ein schmales Band zurückbleibt. 

Die piale Bekleidung des Rückenmarks ist mit der binde¬ 
gewebigen Hülle des dorsalen Querschnittes in Berührung ge¬ 
kommen, in den nächsten Schnitten findet eine Verwachsung statt. 

Die bindegewebige Scheidung zwischen den Substanzen der 
beiden Querschnitte schwindet zuerst an einzelnen unterbrochenen 


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Über eine eigenartige Mifibildnng des Zentralnervensystems. 17 

Stellen, das trennende Bindegewebe erhält Lücken; durch diese 
Lücken findet der erste Austausch von Fasern zwischen beiden 
Querschnitten statt. 

Die Hinterstränge des Rückenmarks sind indes vollkommen 
verschwunden und ebenso die Reste des Bindegewebes an der 
Berührungsfläche der beiden Querschnitte; es tritt eine vollstän¬ 
dige Verwachsung der dorsalen Fläche des einen mit der ven¬ 
tralen des anderen ein (Fig. 12). 

Der konvexe Kontur der beiden zur Verwachsung ge¬ 
kommenen Flächen bringt es mit sich, daß die Berührungszone 
vorerst nur ganz kurz war; erst durch die Abflachung des 
Rückenmarks wurde die Verwachsungslinie etwas breiter; nach 
der Vereinigung der beiden Gebilde besitzt der Querschnitt die 
Sanduhrform. Die Konturen des früheren ventralen und dorsalen 
Querschnittes laufen, mit Pia bekleidet, einwärts zur Berührungs¬ 
linie, tiefe, spitzwinkelige Einschnitte bildend. Die Verwach¬ 
sungslinie ist noch dadurch markiert, daß die früher beschriebene 
Faserung des dorsalen Gebildes an derselben ihren Anfang nimmt. 

Das Rückenmark nimmt weiter im dorso-ventralen Durch¬ 
messer ab, indem weitere Partien desselben von der dorsalen 
Seite her verloren gehen; es kommt nun schon an die Hinter¬ 
hörner, und zwar zuerst an die Substantia gelatinosa; in gleichen 
Teilen aber, als diese aus dem Rückenmark schwindet, er¬ 
scheint sie in der Medulla oblongata und nimmt hier nach außen 
von den Faserzügen in seitlich beiderseits entstandenen Aus¬ 
buchtungen Platz; der dorsale Querschnitt ist von einer nahezu 
kreisrunden Form zur Eiform übergegangen (Fig. 12). 

Am Rückenmark bildet jetzt die hintere graue Kommissur 
die äußerste, dorsale Grenze. Durch einen ventralen Fortsatz der 
eiförmigen, mit dem spitzen Ende gegen das Rückenmark gerich¬ 
teten Höhle des dorsalen Querschnittes kommt dieselbe dem 
Zentralkanale des Rückenmarks sehr nahe; die hintere graue 
Kommissur bildet die Scheidung zwischen den beiden Höhlen; da 
auch diese bald untergeht, kommen die beiden Höhlen und da¬ 
mit auch ihr* Inhalt von Kleinhirnsubstanz zur Vereinigung 
(Fig. 13). 

Vom Rückenmark ist jetzt nur noch die vordere Hälfte er¬ 
halten; die graue Substanz schließt dorsal mit der Basis der 
Hinterhörner ab; zu beiden Seiten des Rückenmarksegmentes 

JaklMAw f. Psyehlmtrl« und Vaoroloffl«. XXV, Bd. 2 


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18 


Dr. Ernst Stränssler. 


befinden sich die früher beschriebenen Ansätze von markhaltigen 
Fasern mit den an sie heran treten den hinteren Wurzeln (Fig. 
12 und 13 #0- 

Der dorsale Querschnitt stellt sich in seinem Aufbau fol¬ 
gendermaßen dar: An der dorsalen Peripherie erscheinen sym¬ 
metrisch zu beiden Seiten der Mittellinie je zwei Felder von 
quer getroffenen markhaltigen Nervenfasern, welche ventralwärts 
konkave Begrenzungslinien besitzen; in diese Konkavitäten 
buchtet sich die graue Substanz, welche die Höhle umgibt, aus 



Fig. 12 u. 13. VA Vorderhorn; Hh Hinterhorn; //, Markfelder ans den hintereu 
Wurzeln; h. W. hintere Wnrzeln; f.g. Golleeher Strang; N.g. Kern des Goll- 
seben Stranges; f.e. Bordaoh'seher Strang; N.c. Kern des Bnrdach’sohen 
Stranges; S.gl Substantia gelatinosa; Va spinale Trigeminnswnrzel; D.Pg. Pyra¬ 
midenkreuzung; L Fasern zur Sehleifenkrenzung; h.W, hintere Wurzel. 


und es treten in denselben Gruppen von Ganglienzellen auf. Die 
Substantia gelatinosa rückt von ihrem früheren Platze an der 
Peripherie etwas ab, zugleich dorsalwärts und angeschlossen an 
dieselbe wird außen ein schwaches Feld von markhaltigen Nerven¬ 
fasern sichtbar. Mit der Bildung der dorsalen, markhaltigen 
Felder sind die früher beschriebenen, bogenförmig verlaufenden 
Faserbündel spärlicher geworden und verschwinden allmählich; 
man gewinnt den Eindruck, daß die dorsalen Felder eine Fort¬ 
setzung der früher in der Längsrichtung getroffenen Fasern 
bilden (Fig. 12 und 13). 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


19 


Die beschriebenen Merkmale lassen nun den dorsalen 
Teil des sandahrförmigen Querschnittes mit Sicherheit 
als Medalla oblongata erkennen; es ist leicht, die dorsalen 
markhaltigen Felder als Hinterstrangsreste, die innerhalb der¬ 
selben gelegenen grauen Massen als Kerne des Burdach’schen 
und Goll’schen Stranges und das Faserbfindel lateral von der 
Substantia gelatinosa als spinale Trigeminuswurzel zu identifi¬ 
zieren. Die Höhle stellt den Zentralkanal dar, die graue Substanz 
um denselben das Höhlengrau, in welchem übrigens bald auch 
2 Ganglienzellengruppen auftreten, welche als Kerne des 11. und 


Fig. 13. 



12. Gehirnnerven anzusehen sind; es ist Medulla oblongata aus 
der Gegend unmittelbar vor der sensiblen Kreuzung. 

Im Rfickenmarksreste beginnt eben die Pyramidenkreuzung, 
welche entsprechend der geringen Anzahl von markhaltigen 
Fasern in den Pyramidenseitensträngen in einem kleinen, auf 
Weigert-Schnitten recht lichten Feld von Spindelform zwischen 
dem Boden der vorderen Kommissur und dem Zentralkanale ein 
dürftiges Aussehen bietet. Beinahe gleichzeitig treten auch schon 
die ersten bogenförmigen Fasern der sensiblen Kreuzung in der 
Medulla oblongata auf. 

Sobald die sensible Kreuzung stärker wird, fällt es 
auf, daß die Kreuzungsfasern an den horizontal geführten 

z* 


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20 


Dr. Emst Sträussler. 


Schnitten nicht in ihrer Verlaufsrichtung, sondern schräg getroffen 
sind. Die Reduktion des Rückenmarks hat weitere Fortschritte 
gemacht und es sind nur noch die ventralsten Partien mit den 



Fig. 14—19. 8. frühere Abkürzungen, B Rest des Rückenmarks; L Schleife; 
O Olive; h.W. hintere Wurzel; NX1I Nervus hypoglossus; Py Pyramidenbahn 
ip.Ch Spinalganglion; O.V, Vorderstranggrundbündel. 



Fig. 15. 


Vorderhörnern erhalten; der gemeinsame Zentralkanal des Rücken¬ 
marks und der Medulla oblongata zieht sich gegen diese zurück, 
ganz aus dem Bereiche des Rückenmarks. 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


21 


Die seitlichen markhaltigen Ansätze bleiben fortbestellen; 
ihr Zusammenhang mit der Bückenmarksubstanz ist durch Weg¬ 
fall der Gliasepten ein innigerer geworden. 



Pig. 16. 



Fig. 17. 

Die Vorderhörner des Bückenmarks bestehen noch in ihrer 
früheren Form; nur die Ganglienzellen zeigen eine veränderte 
Anordnung, indem sie sich ausschließlich längs der inneren Seite 
der Vorderhörner gruppieren; gegen die Medulla oblongata finden 


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Dr. Ernst Strängeier. 


diese Zellen eine Fortsetzung durch eine Zellgruppe, welche bis 
nahe an das Höhlengrau reicht. Diese geht dann ohne Unter¬ 
brechung auf höheren Schnitten in die ventral medialen Neben¬ 
oliven über. 



Fig. 18. 



Fig. 19 


Die Verknüpfung von Rückenmarksrest und Me- 
dulla oblongata wird immer inniger durch Faserverbin¬ 
dungen, durch Übergehen von Zellgruppen und Faser¬ 
bündeln von einem zum anderen Teil. Die Vorderstrang¬ 
grundbündel ziehen vom Rückenmarksrest in die Me- 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


23 


dulla oblongata hinein, bis nahe an das Höhlengrau, die 
Fasern des Hypoglossus durchdringen in ihrem Ver¬ 
laufe von den Kernen im Höhlengrau den Rückenmarks¬ 
rest, um an die ventrale Peripherie des Gesamtquerschnittes zu 
gelangen (Fig. 15, 16). 

Das endliche Schicksal des Rückenmarksrestes gestaltet sich 
derart, dafi die Pyramiden des Rückenmarks, welche nach der 
Kreuzung den Hauptanteil des ventralen Rückenmarksegmentes 
ansmachen, mit der Medulla oblongata vollständig verschmelzen 
und jetzt die Pyramiden der Oblongata repräsentieren; der Sulcus 
longitudinalis anterior geht in den für die Basalarterie be¬ 
stimmten Einschnitt der Medulla oblongata über (Fig. 18, 19). 

Die seitlichen Anhänge sind immer nachweisbar, solange 
noch ein Rest von Rückenmark vorhanden ist; sie erscheinen 
durch ihren verhältnismäßig reichen Markgehalt an Weigert- 
Schnitten als die dunkelste Partie; die hinteren Wurzeln ziehen 
in dieselben; da das Rückenmark vor der vollständigen Ver¬ 
schmelzung auf eine Platte reduziert und die erwähnten Faser¬ 
komplexe an den seitlichen Enden der Platte angefügt sind, 
liegen sie etwa in gleicher Ebene mit der ventralen Rücken¬ 
marksperipherie. 

Sobald die Pyramiden des Rückenmarks in der Medulla 
oblongata aufgegangen sind, trennen sich die seitlichen Anhänge 
von dem übrigen Querschnitte ab und zerfallen in eine Anzahl 
von Nervenbündeln, welche bald ganz verschwinden (Fig. 17 bis 19). 

Die beschriebene Verbindung zwischen Rücken¬ 
mark und Medulla oblongata erstreckt sich in der Länge 
auf einen Bereich von etwa 18mm. In einer Höhe, in welcher 
das Rückenmark bereits auf eine ganz schmale Partie reduziert 
und die Medulla oblongata bis auf die Basis vollständig ist, sind 
in den Querschnitten zufälligerweise Spinalganglien getroffen, 
ein Beweis, dafi diese Vereinigung von Rückenmark und Medulla 
oblongata sich innerhalb des Wirbelkanales abspielt. 

Die topographisch-anatomischen Verhältnisse in den Bezie¬ 
hungen zwischen Rückenmark and Medulla oblongata werden 
am besten illustriert durch die in den Fig. 20 bis 22 gegebene 
schematische Darstellung der aus der Rekonstruktion der Quer¬ 
schnitte sich ergebenden Seitenansicht der beiden verwachsenen 
Gebilde. 


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Dr. Ernst Stränssler. 


Nach dem Schema stellt sich das Verhältnis zwischen 
Bückenmark und Medulla oblongata derart dar, als ob die Obion- 
gata in der Achse des Gehirnstammes, also schräg geneigt zur 
Längsachse des Bückenmarks sich nach unten verschoben and 
das Bückenmark dabei schräg abgekappt hätte. 

Bei der Verschiebung wurden die Hinterstränge des Bücken¬ 
marks von dem unteren Ende der Medulla oblongata vor sich 


Ce 



Fig. 20. Fig. 21. Fig. 22. 

Fig. 20—22. M.o. Medulla oblongata; M.sp. Rüokeum&rk; C.c. Zentralkanal; 
h. W. hintere Wurzel. Die horizontalen Linien die Schnittebenen für Fig. 10—19. 


hergetrieben und die vorgestülpten Faserschleifen bilden einen 
Abschluß für das untere freie Ende der Oblongata (Fig. 10). 

Die im dorsalen Querschnitte noch eine Strecke hinauf ver¬ 
folgbaren, bogenförmigen Fasern (Fig. 11, 12 h) sind nichts an¬ 
deres als die von der vertikalen Bichtungslinie, wie sie im 
Bttckenmarke verlaufen, in eine schräge und horizontale Bich- 
tung gelangten Hinterstrangsfasern; ein immer größerer Teil der 
Hinterstrangsfasern biegt in den dorsalen Querschnitt um; so¬ 
bald der ganze BUckenmarkskinterstrang erschöpft ist, sind auch 
die in ihrer Verlaufsrichtung getroffenen Bogenfasern in der 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


25 


Oblongata verschwanden und es treten in derselben die nor¬ 
malen, quer getroffenen Hinterstrangsreste auf. 

Das Schema macht verständlich, wie immer größere Anteile 
des Bückenmarks verloren gehen, bis der ventrale Best mit der 
Mednlla oblongata vollkommen verschmilzt; das Verhalten der 
Zentralkanäle wird durch den Längsschnitt anschaulich dar¬ 
gestellt; die schräge Auflagerung der Oblongata an das Bücken¬ 
mark hat zur Folge, daß die ITasern der sensiblen Kreuzung 
nicht in ihrer Verlaufsrichtung getroffen sind. 

Besondere Aufmerksamkeit verdienen die beschriebenen 
seitlichen Anhänge von markhaltigen Fasern. 

Die in den unteren Teilen des Bückenmarks normal ge¬ 
lagerten Hinterstränge schwinden bei der Vereinigung desselben 
mit der Oblongata; das Bückenmark reduziert sich zuletzt auf 
eine Platte, welche das ventrale Segment desselben repräsentiert; 
an diesen Bückenmarksrest treten aber weiter die hinteren Wurzeln 
heran and es formieren sich aus den eintretenden Fasern neue, 
den Hintersträngen gleichwertige Faserkomplexe an den seitlichen 
Enden der Platte; es sind dies die beschriebenen seitlichen 
Anhänge, welche am längsten vom Bücken marke erhalten bleiben, 
ebensolange, als noch hintere Wurzeln vorhanden sind. 

Wie die normalen Hinterstränge am Bückenmarke zeichnen 
sich diese abnorm gelagerten Abkömmlinge der hinteren Wurzeln 
durch ihre stark dunkle Färbung an Weigert-Schnitten aus. 

Während das Bückenmark der dorsalen Partien nach oben 
hin verlustig wird, ist bei der Medulla oblongata der umgekehrte 
Weg bezüglich der ventralen, dem Bückenmarke zugewendeten 
Anteile zu verzeichnen; es fehlen in den untersten Teilen die 
Pyramiden, die Beste der Vorderhörner, die Substantia gelatinosa, 
die Kleinhirnseitenstrangbabn; und nur in dem Maße, als diese 
Gebilde oder ihre Fortsetzungen aus dem ventralen Querschnitte 
verschwinden, erscheinen sie im dorsalen, in der Medulla oblon¬ 
gata; die Pyramidenbahn erhält sich als ventralste Partie des 
Bückenmarks am längsten in diesem und solange bleibt die 
Medulla oblongata ihres ventralen Abschlusses beraubt. Die 
Hinterstränge stellen von unten her das erste Gebilde dar, 
welches diesen Verhältnissen unterliegt. 

Zwischen Hinter- und Nachhirn bestehen geänderte 
Beziehungen, welche einerseits die gegenseitige Lage, an- 


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26 


Dr. Ernst Stränssler. 


derseits die Yerbindungen zwischen den beiden Hirnteilen be¬ 
treffen. 

Die Lagebeziehungen zwischen Kleinhirn und Gehirnstamm 
seien damit charakterisiert, daß an Frontalschnitten durch Klein¬ 
hirn und Gehirnstamm in der Gegend der oberen Grenze der 
unteren Oliven bei unserem Präparate die untersten Partien des 
Kleinhirns erscheinen, während normalerweise hier das Klein¬ 
hirn im größten frontalen Durchmesser getroffen sein müßte. 



Fig. 23. Mednlla oblongata mit Kleinhirn zum großen Teile nicht differenziert. 

Eine Folge dieses Verhaltens ist, daß der größere Teil 
des 4. Ventrikels vom Kleinhirn ungedeckt bleibt, eine 
weitere Folge, daß die Verbindungen des Kleinhirns zum Stamme 
durch die unteren und mittleren Kleinhirnarme nicht in nor¬ 
maler Weise stattfinden; die unteren Kleinhirnarme kommen 
gar nicht zur Ausbildung, die mittleren, die Verbindung zur 
Brücke, sind nur rudimentär. 

Der vom Kleinhirn unbedeckte Teil des 4. Ventrikels liegt 
jedoch nicht bloß zutage; eigentümliche, von der seitlichen Peri- 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentraluervensystems. 


27 


pherie des Stammes abgehende Anhänge erheben sich bogen¬ 
förmig über dem Boden der Rautengrube und bilden ein Dach 
über derselben. 

Diese seitlichen Anhänge vermitteln auch weiter die Ver¬ 
bindung zwischen Kleinhirn und Qehirnstamm im Bereiche der 
distalen Partien des Kleinhirns; in den proximalen Partien ver¬ 
wächst dasselbe innig mit dem Gehirnstamme, so daß zwischen 



Fig. 24. 

Kleinhirn und Gehirnstamm keine Grenze zu erkennen 
ist; in den breiten Brücken der Verwachsung gehen die nor¬ 
malen unteren und mittleren Kleinhirnarme unter (Fig. 23, 24). 

Verfolgen wir die Medulla oblongata, nachdem sie vom 
Rückenmark vollständig frei geworden war, so finden wir den 
im dorso-ventralen Durchmesser langgestreckten Zentralkanal 
dorsalwärts gerückt und nur noch durch einen schmalen Streifen 
nervöser Substanz überdeckt. Der Zentralkanal hat eine drei¬ 
zackige Gestalt; ein mittlerer Fortsatz senkt sich senkrecht tief 


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Dr. Ernst Stränssler. 


in die Substanz der Medalla und 2 etwas asymmetrische Ans* 
stülpungen des Zentralkanals schneiden seitlich in die Nerven- 
substanz ein; durch die letzteren werden die dorsalen, seitlichen 
Medullaranteile, welche, frei von markhaltigen Nervenfasern, 
histologisch die Struktur von nervöser Bindesubstanz besitzen, 
in Form von Lappen von der übrigen Medulla abgegrenzt; die 
beiden Lappen sind zueinander geneigt und wölben sich, so* 
bald die dünne Decke des Zentralkanals verschwunden ist, über 
den Boden des schmalen, tiefen 4. Ventrikels; zu einer Zeit, in 
welcher normalerweise der 4. Ventrikel bereits einen breiten, 
rautenförmigen Boden besitzt, besteht hier dorsal eine schmale 
Öflhung, welche in eine dreizackige Höhle führt. 

Der Boden des Ventrikels entfaltet sich, so daß die in der 
Höhle gelegenen Teile an die Oberfläche gelangen; dem Ven¬ 
trikelrande sitzen auch weiter die beschriebenen Lappen auf, 
welche zueinander geneigt, den Ventrikelboden überwölben; 
leider ist bei dem Versuche, die weichen Hirnhäute abzulösen, 
das Präparat an dieser Stelle lädiert worden, so daß über das 
Verhalten der Lappen in der Medianlinie kein Urteil abgegeben 
werden kann; in ihrer Lage erwecken die Lappen den Eindruck, 
als ob sie einem mächtigen Obex und weiter zerebralwärts gigan¬ 
tisch entwickelten „Taeniaeventriculiquarti” entsprechen würden. 

Einwärts von den Anhängen faltet sich der Boden des Ven¬ 
trikels beiderseits zu Furchen, welche mit Ependym ausgekleidet 
sind; dadurch, daß diese Furchen tiefer werden, rückt die An¬ 
satzstelle der Anhänge an der seitlichen Peripherie des Stammes 
nach abwärts; das Ventrikelependym setzt sich in die Furche des 
Ventrikels und weiter auf den medialen Rand der Anhänge fort. 

Die jetzt bandförmigen Anhänge gehen von der seitlichen 
Peripherie des Stammes ab, werden in der Höhe des Ventrikel¬ 
bodens durch ein bäumchenförmiges Gebilde durchbrochen, um 
dann in zahlreichen Faltungen sich über die Rautengrube zu 
erheben; es scheint jedoch, daß in der Mittellinie keine Ver¬ 
einigung der Anhänge stattfindet. 

Unter dem Dache der Anhänge erscheint in der Mittellinie 
über dem Boden des 4. Ventrikels ein rhombischer Zapfen von 
Eieinhirnsubstanz. Indem der Zapfen größer wird, schmiegt er 
sich an den Ventrikelboden an; die seitlichen Anhänge wachsen 
gegen die Mittellinie aus, verschlingen sich in zahlreichen Fal- 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensysteme. 


29 


tungen und Windungen ineinander und treten auch mit dem 
mittleren Zapfen in Verbindung. 

Das Dach über dem Ventrikel erscheint nun geschlossen 
und besteht auf dem Querschnitt aus einem Gewebe, welches 
aus vielfachen Faltungen eines Bandes und durch Auswachsen 
von Leisten auf dem letzteren morphologisch entstanden zu sein 
scheint; aus dem Konvolut ziehen zuletzt an den beiden Seiten 
als ausführende Schenkel die bandartigen Anhänge zur seitlichen 
Peripherie des Stammes, um sich hier anzusetzen (Fig. 23). 

Auf den inneren Band der Anhänge setzte sich, wie früher 
erwähnt, das Ependym fort; nach der Faltung der Fortsätze ist 
diese innere Fläche bald nach oben, bald nach unten, bald nach 
außen gerichtet, der mit Epithel gedeckte Band taucht da und 
dort auf eine kurze Strecke auf. An einem und dem anderen 
Teile erscheinen jedoch bald Elemente des Kleinhirns: Auf kurze 
Strecken äußere und innere Körnerzone und zwischen beiden die 
molekulare Schicht; daneben Partien, welche aus nicht differen¬ 
ziertem, nervösem StQtzgewebe bestehen. 

Die Falten wachsen allmählich zu Windungen aus, welche 
in ihrem Aufbau die 3 Schichten in regelmäßiger Ordnung auf¬ 
weisen und sich zu Läppchen vereinigen. 

Im Gehirnstamme haben indes bereits der Facialis und die 
Acusticuskerne den Höhepunkt ihrer Entwicklung überschritten, 
an der Basis bestehen aber noch die Pyramiden, die Brücke hat 
also noch nicht begonnen. 

Die Corpora restiformia, welche bisher in den Seitenteilen 
der Medulla ziemlich weit von der Oberfläche gelagert waren, 
kommen nnn der Oberfläche näher und bilden mit ihren dorsalen 
angeschwollenen Enden schwache Ausbuchtungen. Das Kleinhirn 
ist mit dem Stamme noch lange nur durch die seitlichen An¬ 
hänge in Verbindung. 

Zum Vergleiche sei erwähnt, daß unter normalen Verhält¬ 
nissen in der Gegend der Facialis- und Abducenswurzeln auf 
dem Querschnitte die voll ausgebildete Brücke ihre seitlichen 
Fortsätze als Brückenarme ins Kleinhirn sendet, die Corpora 
restiformia als Kleinhirnstiele längst ins Kleinhirn getreten sind 
und dieses im größten Querschnitte getroffen erscheint. 

Die Ansatzstellen der das Kleinhirn mit dem Stamme ver¬ 
bindenden Anhänge an der seitlichen Peripherie des Stammeä 


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30 


Dr, Ernst Sträussler. 


rücken noch mehr ventralwärts und befinden sich schon unter 
der Mitte; mit dem Kleinhirn, welches auf dem Querschnitt von 
keilförmiger Form zu beiden Seiten des Stammes ebenfalls sehr 
tief ventralwärts reicht, sind die Fortsätze eine innige Verbin¬ 
dung eingegangen. 

Die zu beiden Seiten des Stammes weit herabreichenden 
Kleinhirnteile gehen nun bald eine Vereinigung mit der seitlichen 
Peripherie des Stammes ein; die innere Fläche des im Kleinhirn 
aufgegangenen Anhanges verwächst zunächst auf einer Seite in 
einem kleinen Bereiche mit der seitlichen Stammperipherie, dann 
auf der anderen Seite; die Verwachsungsstellen verbreitern sich 
und bald ist die Verwachsung des Kleinhirns mit dem Stamme 
im Bereiche der dorsalen 2 Drittel des letzteren, soweit das 
Kleinhirn ventralwärts reicht, vollzogen. 

Weiterhin verlieren auch die dorsalen Teile des Stammes, 
welche die seitliche Begrenzung des indes wieder schmäler ge¬ 
wordenen 4. Ventrikels bilden, ihre Begrenzung gegen das Klein¬ 
hirn; d&s Kleinhirn ist auf der Höhe der Entwicklung, die Mark¬ 
masse desselben mit den Corpora dentata cerebelli vollkommen 
ausgebildet. 

Kleinhirn und Qehirnstamm sind nun in eins verschmolzen; 
das Kleinhirn bat die Form eines Kegels mit etwas abgerundeten 
Seiten, welcher gegen die Basis zu hohl ist; in diese Höhle ist 
der Stamm eingelegt und da die Seitenteile des Kleinhirns jetzt 
schon beinahe bis an die Basis des Stammes reichen, so sitzt 
das Kleinhirn dem Stamme in Form einer Mütze anf (Fig. 25). 1 ) 

An der oberen und den dorsalen 2 Dritteln der seitlichen 
Peripherie ist eine Grenze zwischen Kleinhirn und Gehirnstamm 
nicht zu ziehen; der 4. Ventrikel ist oben und an den Seiten 
von der Markmasse des Kleinhirns begrenzt und seitliche Fort¬ 
sätze des 4. Ventrikels dringen in das Mark des Kleinhirns. 

Die Kleinhirnoliven nehmen gegenüber dem Stamme eine 
viel tiefere Lage ein, als normal. Sie liegen seitlich unmittelbar 
den Corpora restiformia an, so daß die in die Kleinhirnsubstanz 
dringenden Fortsetzungen des 4. Ventrikels dorsal von den Klein- 
hirnoliven zu liegen kommen (Fig. 24). 

>) Der Schnitt ist zur Illustration der Form de« Kleinhirn» an* einer 
höheren Ebene entnommen, wo die Verwachsung des Kleinhirns mit dem Stamme 
bereit* wieder gelöst ist. 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


31 


Die Corpora restiformia haben noch ihr abgerundetes dor¬ 
sales Ende. Eine Auffaserung derselben ist nicht zu bemerken 
und es findet kein Einsenken ihrer Fasern in die Markmasse 
des Kleinhirns als Kleinhirnstiele statt; sie werden zuletzt durch 
schräg nach innen und unten aus dem „Vlies” des Corpus den- 
tatum gegen die unteren Teile des Stammes ziehende Fasern 
überlagert nnd gehen da scheinbar unter. 

Diese Fasern senken sich in die Seitenteile der Brücke ein 
und bilden in, gegen das Normale, schwacher Entwicklung, die 
Faserverbindung zwischen Kleinhirn und Brücke. 



Fig. 25. 


Nachdem aus dem Hilus des Corpus dentatum, dem Vlies 
nnd dem Dachkern sich ein starkes Faserbündel gesammelt hat 
und medial vom Corpus restiforme in den Stamm eingetreten ist, 
nimmt die Markmasse des Kleinhirns ab, das Corpus dentatum 
wird kleiner und verschwindet 

Die Seitenteile des Stammes befreien sich wieder aus der 
Verwachsung mit dem Kleinhirn, so daß nur noch dorsal eine 
Verbindung der beiden Gebilde durch die Brachia conjunctiva be¬ 
stehen bleibt; diese rücken hierauf immer mehr ventralwärts in 
den Stamm, so daß nun Kleinhirn und Stamm frei sind. Der 


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32 


Dr. Ernst Sträussier. 


Kleinhirnquerschnitt wird immer kleiner, behält aber seine frü¬ 
here Form nnd sitzt dem Stamme immer wie eine Kappe auf 
(Fig. 25). 

Die hinteren und auch noch die vorderen VierhQgel bleiben 
von Kleinhirn überlagert nnd dasselbe verschwindet erst mit 
dem Ende des Mittelhirns; zuletzt stellt es ein schmales, nie¬ 
driges Band dar, das vordere Ende der schräg nach vorne ab¬ 
fallenden Kante. 

III. Zwischenhirn und sekundäres Vorderhirn. 

Das Großhirn war inFormol-Müller gehärtet und damit 
die Nissl’sche Zellfärbung unmöglich gemacht; aus den Präpa¬ 
raten nach van Gieson-Färbung konnte Soviel entnommen 
werden, daß die Ganglienzellschichten der Rinde in normaler 
Weise entwickelt waren. 

Die Verdünnnng des Großhirnmantels ist hauptsächlich auf 
Kosten der Markmasse des Großhirns erfolgt, welche einen 
schmalen Saum um die Ventrikelhöhle bildet. 

Die Weigert’sche Färbung ergab sowohl im Hemisphären¬ 
mantel als auch im Zwischenhirn und den Stammganglien bezüg¬ 
lich markhaltiger Nervenfasern ein negatives Resultat; die 
Karminfärbung hatte für den Nachweis von Achsenzylindern 
kein brauchbares Ergebnis. 

Wir müssen uns daher begnügen mit den Ergebnissen, 
welche das morphologische Verhalten der Teile bietet, in Verbin¬ 
dung mit der histologischen Untersuchung der mit van Gieson 
behandelten Schnitte. 

Die Verbindung der beiden Hemisphären an der Konvexität 
in der Tiefe der Fissur bewirkt eine horizontal gestellte Platte, 
welche histologisch aus nervösem Stützgewebe besteht und in 
Form einer Kommissur sich von der einen Hemisphäre zur an¬ 
deren hinüberschlägt. Achsenzylinder konnten in der Kommissur 
nicht nachgewiesen werden. 

Die Kommissur setzt sich nach den Seiten auf die äußeren 
Flächen der inneren Hemisphärenwände fort, weiter auf die 
Innenfläche des Hemisphärenmantels und nimmt hier den Platz 
unmittelbar unter dem Ependym des Ventrikels ein; an der seit¬ 
lichen Begrenzung des Ventrikels ist das Gewebe jedoch von 
einer so reichlichen Kernanhäufung durchsetzt, daß bald die 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 33 

weitere Verfolgung des Gewebes um den Ventrikel unmöglich 
wird. 

Die beschriebene Kommissur ist nach rückwärts an der 
Konvexität bis zur Scheidung der beiden Hemisphären in die 
Hinterhauptslappen zu verfolgen; an der unteren Fläche mit ver¬ 
dicktem Ependym bedeckt, bildet sie mit den inneren Hemi¬ 
sphärenwänden den in die Ventrikelhöhle vorragenden Kamm. 

Dieser Kamm setzt sich, wie schon in der makroskopischen 
Beschreibung dargelegt wurde, mit einem absteigenden Schenkel 
zum Zwischenhirn fort; der absteigende Schenkel des Kammes 
ist schärfer und ragt entsprechend der tiefen Fissur zwischen 
den Hinterhauptslappen stärker in die Ventrikelhöhle vor. 

Im mikroskopischen Bilde findet man hier den Kamm, ent¬ 
stehend aus zwei unter einem spitzen Winkel miteinander ver¬ 
bundenen dünnen Lamellen, welche gegen die Höhle wieder von 
dem verdickten Ependym überzogen sind. Die Lamellen haben 
die gleiche Struktur wie die Kommissur und bilden eine direkte 
Fortsetzung der Hemisphäreninnenwände der Hinterhauptslappen, 
welche durch den Kamm miteinander verbunden werden. 

Als Verbindung der Hinterhauptslappen senkt sich der 
Kamm auf den Boden der Ventrikelhöhle und bildet da eine 
Kommissur zwischen den Schläfelappen; unmittelbar vor dem 
Übergange der Lamellen in die Hemisphärenwand tritt beider¬ 
seits in den Lamellen eine winkelige Ausbuchtung auf; die 
medialen Enden der Hemisphärenwand rollen sich indes zum 
Cornu Ammonis ein und die Lamellen bilden nun eine Verbin¬ 
dung zwischen den beiden Ammonshörnern, während zu gleicher 
Zeit von der Spitze des neu gebildeten Winkels der Lamellen 
ein Sporn nach außen auswächst und in Fortsetzung der ein¬ 
gerollten Gehirnsubstanz die Fimbria bildet. 

Das Unterhorn ist nach oben zu vollständig offen und ge¬ 
hört zu der großen gemeinsamen Ventrikelhöhle. 

Die Körper der Sehhügel erscheinen am Boden der Ven¬ 
trikelhöhle, seitwärts von den Schenkeln des Kammes, in den 
Höhlungen, welche nach innen von den beschriebenen Lamellen, 
nach unten und außen von der Hemisphärenwand begrenzt 
werden; sobald die Sehhügel sich einander nähern, schwinden 
die unteren Teile der beiden Lamellen und es bleibt nur die 
Spitze mit kurzen Schenkeln übrig; die Sehhügel schieben sich 

JahrtofleHar für Pnycfctetrf« und Mevrologle. XXV. Bd. 3 


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Dr. Ernst Sträossler. 


zwischen die Ammonshörner und die Spitze des Kammes ein, so 
daß dieser in Form eines Daches in der Mittellinie mit seinen 
beiden Schenkeln auf den Sehhügeln aufsitzt'; an den beiden 
unteren Enden der Schenkel setzt sich die Tela chorioidea des 
Plexus chorioideus medialis an (Fig. 26, 27). 

Nach vorne verdicken und verkürzen sich die beiden 
Schenkel allmählich, der von ihnen eingeschlossene Winkel wird 
spitzer und sie verwachsen schließlich in der Mittellinie zu einem 
eiförmigen Körper von der Größe einer Linse; weiter nach vorne 
behält der Körper seine Eiform, vergrößert sich, senkt sich mehr 
zwischen die Sehhügel ein und verwächst mit der mittleren 
Kommissur (Fig. 28). 

Nun schieben sich von unten zwischen die basalen Ganglien 
nach Verschwinden der Sehhügel die Hemisphäreninnenwände des 
Stirnhirns ein; die in die Höhle von unten ragenden Hemi¬ 
sphäreninnenwände werden nun wie an der Konvexität durch 
eine wagrechte Platte verbunden, welche die gleiche Struktur 
mit dem früheren Kamme besitzt und mit diesem in Kontinuität 
sich befindet. 

Als Verbindung der Hemisphäreninnenwände der Stirnlappen 
biegt die Platte zuerst nach oben um und zum zweiten Male zur 
Konvexität, ein Knie bildend; indem an der Konvexität die 
Platte sich als Verbindung der beiden Innenwände der Hemi¬ 
sphären fortsetzt, ist der Kreis, in welchem das beschriebene 
Gebilde verläuft, geschlossen. 

Neben den Sehhügeln sind auch die anderen basalen Gang¬ 
lien, der Nucleus caudatus und lentiformis entwickelt. 

Die hinteren Teile der Sehhügel liegen mit ihren oberen 
und äußeren Flächen frei in der Höhle, da der Gehirnmantel 
nicht mit denselben in Verbindung getreten ist; erst in den vor¬ 
deren Teilen verbindet sich die äußere Fläche der Basalganglien 
mit dem Gehirnmantel, während die obere auch weiter in die 
Ventrikelhöhle schaut; die in die Höhle ragenden Flächen sind 
von Ependym bedeckt. 

Erwähnenswert erscheint noch im Zwischenhirn das Ver¬ 
halten der Kommissuren. 

Die beiden Sehhügel sind vorerst voneinander getrennt 
bis auf eine dünne, sich von einer zur anderen Sehhügelober¬ 
fläche spannende Brücke, welche als Best der Decke des 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


35 


Zwischenhirns zu betrachten ist. Die beiden Sehhügel verwach¬ 
sen hierauf in der Mittellinie von oben her, es bleibt bloß unter 


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Fig. 26. 

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Fig. 27. 


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Fig. 28. 

Fig. 26—28. Basale Teile des Großhirns naoh Abtragung der stark verdünnten 
oberen Teile des Gehirnmantels. Th.o. Sehhügel; F. Fornix; V. gemeinsame 
Ventrikelhühle; N.c. Nucleus oaudatus; C.A. Cornu Ammonis;/. Fimbria. 

3* 


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Dr. Ernst Sträussler. 


der Mitte ein kleines Lumen; .dieses vergrößert sich bald nach 
unten und oben; unten bleibt als Verschluß nach außen zuletzt 
nur eine ganz dünne Lamelle, oben eine schmale Brücke; diese 
langgestreckte Höhle wird dann wieder in zwei getrennt durch 
eine mittlere Brücke, welche aber nicht lange bestehen bleibt; 
es ragt da und dort von der Ventrikelwand ein Fortsatz, bald 
von der einen, bald von der anderen Seite in die Höhle, bis 
dann wieder eine Kommissur von mehr Beständigkeit zustande 
kommt. 

IV. Rhachischisis und Zweiteilung des Rückenmarks. 

Das Rückenmark stellt in der Rhachischisis eine Platte 
dar, welche in der Mitte durch ein von der ventralen Seite ein¬ 
dringendes Bindegewebs- und Gefäßkonvolut, entsprechend einem 
Sulcus longitudinalis anterior, stark verdünnt wird; an der Stelle 
der Verschmächtigung der nervösen Substanz schwindet dieselbe 
vorübergehend auch vollständig, stellt sich aber nach unten 
wieder in Form einer den vorspringenden Bindegewebszapfen 
bedeckenden und die beiden seitlichen Rückenmarksteile verbin¬ 
denden Platte her. 

Die Seitenteile des Rückenmarks sind in Mulden eingelagert, 
welche seitlich von dem vorspringenden Piafortsatz entstehen; 
indem das dünne Mittelstück des Rückenmarks durch den mitt¬ 
leren Bindegewebszapfen stark vorgetrieben ist, entstehen zn beiden 
Seiten desselben in der Rückenmarksplatte Rinnen; diese Rinnen 
kleiden sich beiderseits allmählich mit Ependym aus. 

Weiterhin nehmen die Seitenteile des Rückenmarks im 
sagittalen Durchmesser an Breite zu, bauchen sich vor, und zu 
gleicher Zeit wächst der mittlere, vorgestülpte Rückenmarksteil 
im frontalen und sagittalen Durchmesser; die mit Ependym aus¬ 
gekleideten Rinnen werden dadurch vertieft und verschmälert; 
zuletzt kommen die dorsalsten Teile der seitlichen Rückenmarks¬ 
platten mit den seitlich vorgebauchten Enden der mittleren 
Brücke zur Berührung und Verwachsung, aus den beiden Rinnen 
sind zwei geschlossene Zentralkanäle geworden (Fig. 29 bis 32). 

Die dorsalen Partien des Rückenmarks fehlen noch und 
stehen mit der Hautbedeckung der Rhachischisis in Verbindung. 

Sobald aber die dorsale Peripherie des Rückenmarks ihre 
Rundung erhält und dieses sich aus der Verwachsung mit der 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


37 


Decke des gespaltenen Wirbelbogens frei macht, wird es klar, 
daß der Querschnitt des Bückenmarks mit seinen zwei durch eine 
breite Brücke voneinander geschiedenen Zentralkanälen zwei 
miteinander verwachsene Bückenmarke darstellt. 



S. I. a. 
Kig. 29. 



S./a 


Fig. 30. 

Die beiden Bückenmarke sind im Querschnitt zueinander 
mit den Vorderhörnern derart geneigt, daß die durch die vor¬ 
deren und hinteren Fissuren geführten Achsen einen dorsal 
offenen Winkel bilden; die beiden inneren zueinander geneigten 
Vorderhörner sind zur Verwachsung gekommen. 

Das linke Bückenmark ist besser ausgebildet. Die Trennung 
der beiden Bückenmarke bewirkt ebenso wie früher die Trennung 


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Dr. Ernst Sträusaler. 


der beiden Platten, der breite Bindegewebszng, entsprechend 
dem ursprünglichen Snlcus longitudinalis anterior-, der Binde- 
gewebszapfen sendet nun von seinem Ende seitlich in der Rich¬ 
tung gegen die beiden Zentralkanäle kurze Fortsätze in seichten 


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Sl.a. 

Fig. 31. 



Fig. 32. Zweiteilung des Rückenmarks. FA, FA, Vorderhörner; Uh, Sh l Hinter¬ 
hörner; S.l.p., S. l.p, Sulcus longitudinalis posterior; e, c, Zentralkanäle. 

Rinnen, welche die vorderen Fissuren der beiden Rückenmarke 
darstellen. 

Die Zentralkanäle sind dreieckig mit gegen den Snlcus 
anterior zugewendeter Basis; in entgegengesetzter Richtung ist 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


39 


die Spitze des Dreiecks ausgezogen; von dieser ziehen nun dünne 
Gliasepten bis an die dorsale Peripherie der Rückenmarke, wo 
eine leichte Einkerbung den Sulcus posterior markiert (Fig. 32). 

An dem besser ausgebildeten Rückenmarke sind deutlich 
ein Vorderhorn und zwei Hinterhörner zu erkennen; das andere 
Vorderhorn ist, wie schon früher erwähnt, mit dem inneren 
Vorderhorn des zweiten Rückenmarks verwachsen. 

Das kleinere, rechte Rückenmark zeigt denselben Ban; 
jedoch ist hier die Abgrenzung von weißer nnd grauer Substanz 
undeutlich. 

Nach unten wird durch das Auswachsen des Bindegewebs- 
Zapfens die Trennung der beiden Rückenmarke vorübergehend 
eine vollständige; dann findet durch eine Brücke eine Wieder¬ 
vereinigung statt, später nochmals eine Trennung, bis sich zu¬ 
letzt die nervöse Substanz auf eine schmale Zone um 2 Zentral¬ 
kanäle reduziert. 

V. Verlagerung grauer Substanz (Heterotopie), Ver¬ 
doppelung von Spinalganglien, Verlagerung von 
Spinalganglienzellen, Nebenoliven, Verdoppelung 
der intramedullaren Trochleariswurzel. 

In den Hinterstrangsresten der Medulla oblongata finden 
sich mehrere Plaques von verlagerter grauer Snbstanz; 
der größte in horizontaler und vertikaler Ausdehnung ist auf 
der linken Seite gelagert in dem zungenförmigen Fortsatz des 
Burdachschen Stranges, welcher die Substantia gelatinosa vom 
Nucleus cuneatus scheidet und in diesem Falle besonders stark 
vorspringt (Fig. 13, 14, 15). 

Diese Heterotopie erstreckt sich über 46 Schnitte von je 
40(t Dicke. 

Die Heterotopie besteht aus einem Gewebe von miteinander 
durchflochtenen Fasern mit zahlreichen Kernen und bietet das 
Bild der Substantia gelatinosa; eingestreut finden sich darin 
große, multipolare Ganglienzellen von der Natur der Kernzellen 
des benachbarten Höhlengraus. 

Der graue Fleck der Heterotopie kommt durch Fortsätze 
vorübergehend einerseits mit Substantia gelatinosa, anderseits 
mit dem Nuclens cuneatus und nach innen mit dem zentralen 
Höhlengrau in Verbindung. 


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Dr. Ernst Sträuasler. 


Die Heterotopie entwickelt sich allmählich, indem die Mark* 
fasern auf einem kleinen Felde auseinander weichen und der vor¬ 
läufig kleinen Einlagerung Platz machen. Der graue Fleck nimmt 
dann an Ausdehnung allmählich zu, schickt die Fortsätze aus 
und schwindet auch wieder allmählich sich dadurch verkleinernd, 
daß Fasern über immer größere Anteile des Bandes ziehen. 

Bei anderen kleineren Heterotopien lassen sich nicht immer 
Verbindungen mit grauer Substanz nach weisen; bei einer führt 
ein Fortsatz zur Verbindung mit der Randzone. 

In der vom untersten Ende des Kreuzbeins gebildeten 
Wirbelrinne, wo das Rückenmark durch einen schmalen Streifen 
nervöser Substanz um 2 Epithelkränze repräsentiert ist, sind 
auf einem und demselben Querschnitte 4 Spinalganglien 
nachweisbar; zwei große Ganglien finden sich in seitlichen 
Nischen der beim Abgänge vom Wirbelkörper sich bogenförmig 
gegen die Mittellinie zu krümmenden Wirbelbogen; zwei kleinere 
Ganglienkörper finden sich an der vorderen Fläche des Wirbel¬ 
körpers zu beiden Seiten der Mittellinie. 

Die Zahl der Ganglienzellen vermindert sich in diesen 
mittleren Ganglien allmählich und es treten zwischen den Zellen 
immer mehr quer und schräg getroffene Nervenfasern zutage; 
in den Nervenstämmen sind aber noch Ganglienzellen ein¬ 
gelagert 

Nachdem die Zellen schon recht spärlich geworden waren, 
vermehren sie sich wieder zu einem neuen Ganglion, so daß 
eine Zellverbindung zwischen zwei übereinander ge¬ 
lagerten Ganglien besteht. 

Im mittleren Teile der Rhachiscbisis sind Spinalganglien 
unmittelbar an der seitlichen Rückenmarksperipherie innerhalb 
des Duralsackes gelagert. 

Aber nicht nur im Endteil des Medullarrohres, der so reich 
an Anomalien ist, sondern auch höher oben finden sich Ver¬ 
lagerungen von Spinalganglienzellen. 

Entsprechend dem mittleren Dorsalmark ist in der Höhe 
eines Spinalganglions der hinteren Wurzel auf ihrem Verlaufe 
vom Spinalganglion in den Duralsack seitlich eine von Binde¬ 
gewebe eingescheidete Ganglienzellenanhäufung angelagert; ein 
zweiter Ganglienzellenhaufen ragt auf demselben Schnitte bis in 
den Duralsack. 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


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Außerdem erscheinen einzelne Zellen in Reihen angeordnet 
innerhalb der Wurzelfasern teils frei, teils im Zusammenhänge 
mit dem Spinalganglion stehend (Fig. 33 g. sp.). 

Ähnliche Verlagerungen sind im oberen Dorsalmark nach¬ 
weisbar. 



Fig. 33. 



Fig. 34. 

In der Region der Medulla oblongata, in welcher die aus¬ 
tretenden Fasern des Hypoglossus bereits spärlicher werden, 
findet sich etwa in der Mitte zwischen der oberen Begrenzung 
der unteren Olive und dem dorsalen Medullarrande beiderseits 
knapp neben der Raphe ein gewundenes, bandförmiges Ge¬ 
bilde aus grauer Substanz mit zahlreichen Ganglien- 


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Dr. Emst Sträassler. 


zellen. In der Gegend der rollen Ansbildung bildet das Band, 
welches die Breite der unteren Oliven besitzt, ein verkehrtes S, 
so daß medial- und lateralwärts je ein Hilus blickt. Diese als 
Nebenoliren zu bezeichnenden Gebilde sind eingesponnen von 
markhaltigen Nervenfasern und sowohl in den medialen als auch 
in den lateralen Hilus ziehen Markfasern hinein (Fig. 34 N. O.). 

Die Nebenoliven, ihr Auswachsen und Verschwinden voll¬ 
zieht sich in 36 Schnitten von 40 p Dicke. 

In dem markarmen Gehirnstamme heben sich markant die 
vom Kerne zum Velum medulläre anterius zur Kreuzung führen¬ 
den Schenkel des Trochlearis ab. Nach vollzogener Kreu¬ 
zung spalten sich die abführenden Schenkel unmittelbar 
neben der Begrenzung des Aquaeductus Sylvii in je zwei unter 
einem spitzen Winkel stehende, aber rasch divergierende Teile, 
welche, ziemlich weit voneinander entfernt, an der seitlichen 
Peripherie des Stammes gesondert austreten. 

VI. Besprechung der Befunde. 

Wir stehen einer Fülle von Zeichen gestörter und durch 
die Störung in abnorme Richtungen geleiteter Entwicklung 
gegenüber; die entwicklungsgeschichtliche Deutung der Produkte 
der EntwicklungsstöruDg und deren Entstehungsweise soll un¬ 
sere Aufgabe sein. 

Bei diesem Versuche begegnen wir in unserem Falle um so 
größeren Schwierigkeiten, als es sich um eine hoch differen¬ 
zierte Mißbildung handelt. 

Die Richtung der teratologischen Forschung, welcher wir 
in der Lehre der Spina bifida und der Rbachischisis die Erkennt¬ 
nis verdanken, daß das Rückenmark auf einem sehr frühen Ent¬ 
wicklungsstadium, dem der Medullarplatte, zurückgeblieben ist, 
soll für uns leitend sein. 

Die entwicklungsgeschichtliche Betrachtung der Mißbildun¬ 
gen, die Zurückführung abnormer Bildungen auf embryonale 
Verhältnisse hatte für die Beurteilung der Entstehungszeit der 
Mißbildungen das Ergebnis, daß sehr frühe Entwicklungsperioden 
in Betracht kommen. 

Die neue Lehre bezüglich der Spina bifida, welche durch die 
experimentelle Forschung eine kräftige Stütze bekam, bietet in 
dieser Richtung das deutlichste Beispiel. Die Erkenntnis, daß das 


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Ober eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


43 


Rückenmark im Stadium derMedullarplatte aus der Entwicklungs¬ 
zeit zurückgeblieben ist, bestimmte die Zeit der Entstehung der 
Spina bifida als in die früheste embryonale Entwicklung fallend, 
in die Zeit der ersten 3 Wochen nach der Befruchtung. 

Was aber die Ursachen der Mißbildungen anbelangt, so 
bieten uns die teratologischen Experimente, welche die Ent¬ 
stehung von, den menschlichen Mißbildungen ähnlichen, Störungen 
bei tierischen Embryonen durch die verschiedensten Reizquali¬ 
täten, wie chemische, mechanische, thermische Reize, erwiesen, 
wertvolle Anhaltspunkte. 

Alle diese Ergebnisse der neueren Forschung auf dem Ge¬ 
biete der Teratologie können wir für unseren Fall mit Sicher¬ 
heit insoweit verwerten, daß wir sagen: Das Bestehen der 
Rhachischisis deutet in diesem Falle darauf hin, daß 
schon während des Verschlusses des Medullarrohres, 
also innerhalb der ersten 3 Wochen der embryonalen 
Entwicklung, bei einer Embryolänge von etwa 2mm, auf 
das Ei irgend welche Schädlichkeiten eingewirkt hatten, 
welche die Störung des Verschlusses verursachten. 

In der Pathologie des entwickelten Menschen wird die 
Diagnostik von dem Bestreben geleitet, die vorhandenen Sym¬ 
ptome krankhafter Prozesse möglichst auf eine gemeinsame Ur¬ 
sache zurückzuführen; doch müssen primäre Veränderungen von 
sekundären unterschieden werden. 

Das gleiche Streben scheint nns unter Berücksichtigung 
der besonderen Verhältnisse der Entwicklung in der Pathologie 
dieser gerechtfertigt. Es ist zunächst zu erforschen, welche der 
vorhandenen Störungen auf die gleichen Ursachen und den 
gleichen Zeitpunkt bezogen werden können, also als primäre zu 
bezeichnen sind; die sekundären Veränderungen müssen im 
embryonalen Leben bei fortschreitender Entwicklung naturgemäß 
einen besonders großen Raum einnehmen, einen um so größeren, 
je früher die Störungen einsetzen und die Grundlagen des Auf¬ 
baues modifizieren. 

Wenn wir nun den Einschluß von Kleinhirnsubstanz im 
Zentralkanal ins Auge fassen, so müssen wir zwei Möglichkeiten 
der Entstehung in Betracht ziehen. In Konsequenz unserer voran¬ 
gegangenen Erwägungen ist zu untersuchen, ob die Erklä¬ 
rung für den Befund nicht in Störungen gefunden 


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Dr. Ernst Strausaler. 


werden könne, welche in die Zeit der Störung des Ver¬ 
schlusses des Medullarrohres gleich der Rhachischisis 
fallen; die Mißbildung des Kleinhirns könnte als Bildungsstörung 
im Bereiche der Deckplatte des Hinterhirns, also im Kopfteile 
des Medullarrohres, analog der Bildungsstörung der dorsalen Par¬ 
tien am Schwanzende aufgefaßt werden. Die Entstehung des 
Kleinhirneinscblusses wäre dann so zu erklären, daß während 
des Verschlusses des Medullarrohres Bildungsmateriale des Klein¬ 
hirns etwa durch Einstülpung und Abschnürung von Teilen der 
Deckplatte des 3. Gehirnbläschens in das Medullarrohr hinein¬ 
gelangte. 

In zweiter Linie steht die Erwägung der Möglich¬ 
keit, daß von dem schon in weiterer Entwicklung ste¬ 
henden Kleinhirn Bestandteile durch Auswachsen im 
Zentralkanal nach unten ins Rückenmark gelangt sind; 
in diesem Falle könnte ein Zusammenhang der Entstehung des 
Kleinhirnverschlusses mit der vorhandenen Hydrocephalie in- 
soferne bestehen, als die durch dieselbe entstandene Raumbeen¬ 
gung in der Schädelböhle das Wachstum des Kleinhirns in einer 
abnormalen Richtung verursacht haben könnte. 

Verfolgen wir in Kürze den Weg des Kleinhirneinschlusses 
im Zentralkanale, vom Sitze des Kleinhirns selbst ausgehend, so 
finden wir einerseits zerebralwärts Kleinhirnsubstanz bis in die 
vordersten Teile des Mittelhirns; dieselbe nimmt hier meist einen 
kleinen Teil des Lumens des Zentralkanals für sich in An¬ 
spruch. 

Nach abwärts zieht der Kleinhirneinschluß als wohldifferen¬ 
ziertes Kleinhirngewebe bis an die lumbale Rhachischisis, soweit 
das Rückenmark zum Rohre geschlossen ist; mit der Öffnung 
des Rückenmarks verschwindet das Kleinhirngewebe. 

Sobald im untersten Teile der Rhachischisis wieder ein ge¬ 
schlossenes Medullarrohr vorliegt, erscheinen im Zentralkanale 
körnerartige Gebilde, deren sichere Deutung nicht möglich ist, 
welche aber ihrem Aussehen nach mit Wahrscheinlichkeit als 
Kleinhirnkörner dem höher im Zentralkanale eingeschlossenen 
Gewebe zugerechnet werden können. 

Im übrigen Rückenmark wechselt der Umfang des einge¬ 
schlossenen Kleinhirngewebes in weiten Grenzen, während auch 
die Weite des Zentralkanals einem großen Wechsel unterworfen 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


45 


ist; der Darebmesser des Kleinhirnstranges folgt jedoch nicht der 
Weite des Zentralkanals; ein kleines Lnmen desselben ist oft 
von Kleinhirn nicht aasgefüllt, während weiter kaudalwärts ein 
viel weiterer Zentralkanal von Kleinhirnsubstanz wie ausge¬ 
gossen erscheint, um dann weiter wieder unabhängig von der 
Weite des Zentralkanals abzunehmen. 

Besonderer Nachdruck ist jedoch auf den beschriebenen 
Befund zu legen, nach welchem Kleinhirnsubstanz im Gewebe 
des Rückenmarks, und zwar in der dorsalen Schlußlinie er¬ 
scheint. Von der Kleinhirnmasse des Zentralkanals senkt sich 
ein Fortsatz in der Medianlinie dorsalwärts zwischen die Hinter¬ 
stränge; nach abwärts geht die Verbindung der im Rückenmarke 
lagernden Kleinhirnsubstanz mit der des Zentralkanals verloren 
und es erscheint dann Kleinhirn in der Gegend des Septum lon¬ 
gitudinale posterius, getrennt vom Kleinhirn des Zentralkanals. 

Die sich darbietenden mikroskopischen Bilder besitzen eine 
auffallende Analogie mit den Befunden A. Picks (Beiträge zur 
Pathologie und pathologischen Anatomie des Zentralnervensystems, 
S. 276, 277, 278), von Einstülpung epidermoidalen Gewebes beim 
Verschlösse des Medullarrohrs; hier sind epidermoidale Gebilde 
dort, wo in unserem Falle Kleinhirngewebe zu finden ist. 

Eine zwanglose Erklärung für diesen Befund ist gegeben, 
wenn wir annehmen, daß das Kleinhirngewebe, beziehungsweise 
Bildungsmateriale dieses Gewebes bereits in der Medullarrinne 
vorhanden war, als die Medullarwülste sich zur Bildung des 
Rohres aneinanderschlossen; an dieser Stelle ragte das Ge webs¬ 
materiale in der Rinne besonders stark hervor und wurde 
zwischen die Medullarwülste aufgenommen. 

Alle anderen Eigentümlichkeiten des Befundes lassen sich 
mit der gemachten Annahme bezüglich der Zeit der Entstehung 
des Kleinhirneinschlusses vereinbaren, während wir auf unüber¬ 
windliche Schwierigkeiten stoßen, wenn wir ein späteres Hinein¬ 
wachsen des Kleinhirns in den Zentralkanal infolge Hydrocepha- 
lie annehmen. 

Abgesehen davon, daß die Mißbildung des Kleinhirns mit 
Rücksicht auf ihren Grad auf eine so frühe Entwicklungsperiode 
znrückverlegt werden muß, daß ein Einfluß von Flüssigkeits¬ 
ansammlung im sekundären Gehirnbläschen im Sinne einer Raum¬ 
beschränkung auf die Entwicklung des Kleinhirns schwer erklär- 


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46 


Cr. Emst Stränssler. 


lieh erscheint, spricht der Umstand, daß das Eieinhirngewebe 
nicht nnr distal, sondern anch proximal, vom Sitze des 
Kleinhirns aus in den Zentralkanal hineinragt, in schla¬ 
gender Weise gegen die Annahme, daß eine Raum- 
beschränkung in der Schädelhöhle ein Ausweichen des 
Kleinhirnwachstums in den Zentralkanal bewirkte. 

Fassen wir weiter die Inkongruenz zwischen Kleinhirnmasse 
und Weite des Zentralkanals ins Auge. 

Bei einem Wachstum des Kleinhirns in den Zentralkanal 
infolge Raumbeschränkung und höheren Druckes am Sitze des 
Kleinhirns, wäre zu erwarten, daß das hinabgedrängte Gewebe 
sich nach und nach am Orte des geringsten Widerstandes am 
meisten ausbreiten würde; eine Stelle stärkerer Erweiterung des 
Zentralkanals müßte dem Kleinhirn Gelegenheit zur Entwicklung 
geben; in einer Verengerung des Zentralkjanals wäre derselbe 
vollständig ausgefüllt von Kleinhirngewebe, zumal da nach unten 
noch eine stärkere Entwicklung des Kleinhirneinschlusses erfolgt. 

Die Erweiterung des Zentralkanals hat über der Rhachis- 
chisis den größten Umfang; der Einschluß hat hier nur eine 
mäßige Ausdehnung im Verhältnisse zur Zentralkanalweite; im 
Bereiche des offenen Zentralkanals fehlt das fremde Gewebe, um 
mit dem Schlüsse des Zentralkanals wieder in einzelnen Bestand¬ 
teilen zu erscheinen. 

Ist es schon ganz unerklärlich, daß das Gewebe nicht den 
weiten Teil des Zentralkanals zu einer Ausbreitung in Anspruch 
genommen hätte, so wäre im Bereiche des offenen Zentralkanals 
ein Feld so unbeschränkter Ausbreitung gegeben, daß der Ein- 
Schluß hier sein Ende gefunden haben mußte; die von oben 
wirkend angenommene Kraft findet auch jedenfalls bei der Rha- 
chischisis ihr Ende und kann sich auf den unter der Rhachis- 
chisis befindlichen Teil des Medullarrohres nicht mehr geltend 
machen. 

Viele gewichtige Bedenken sprechen also gegen 
die Annahme eines Hinein Wachsens des Kleinhirns in 
den Zentralkanal und drängen zur Auffassung des 
Kleinhirneinschlusses als in Störungen der frühesten 
Entwicklung des Kleinhirns begründet. 

Noch bevor der Kopfteil der Medullarrinne vollständig ge¬ 
schlossen ist, gelangen die 3 primären Hirnblasen in Form von 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


47 


Erweiterungen der Mednllarrinne zur Entwicklung; während des 
Verschlusses des 3. Gehirnbläschens, dessen Decke die Anlage 
des Kleinhirns beherbergt, kam eine Einstülpung der dorsalen 
Teile der Rückenwülste in das Medullarrohr zustande; dadurch 
gelangte Bildungsmateriale des Kleinhirns in das Medullarrohr; 
wenn man einerseits die geringe Länge des Embryo von etwa 
2 mm in Betracht zieht und weiters den Umstand berücksichtigt, 
daß die Kopferweiterung des Medullarrohres sich auf die halbe 
Länge des Embryo erstreckt, so wird es verständlich, daß Teile 
der Deckplatte bis in das kaudale Ende der Medullarrinne, 
vielleicht durch mechanische Einflüsse gelangen konnten. 

Zum Teile hat der Verschluß der Medullarrinne erst über 
der Gewebseinlagerung stattgefunden. 

Bei der Fixierung einer so frühen Zeitperiode der Ent¬ 
wicklung für die Entstehung des Kleinhirneinschlusses ist zu 
berücksichtigen, daß noch nicht differenziertes Bildungsmateriale 
des Kleinhirns eingeschlossen wurde; die normale Differenzierung 
des Gewebes, entfernt vom Ursprungsorte, wäre in Analogie zu 
setzen mit der Entwicklung von versprengten Keimen, wie z. B. 
innerhalb ter&toider Geschwülste nach der spezifischen Qualität 
der Zellen. 

Die Störung im Gebiete der Deckplatte des 3. Gehirnbläs¬ 
chens gibt sich in einer Unterentwicklung, einer abnormen Klein¬ 
heit des Kleinhirns kund. 

Im 3. Gehirnbläschen vollzieht sich sekundär eine Teilung 
ins Hinterhirn s. str. und Nachhirn; dieser Scheidung folgt eine 
Verdünnung der Deckplatte im Bereiche des Nachhirns. 

Aus der unverdünnten Decke des Hinterhirns entwickelt 
sich in der Folge das Kleinhirn samt dem vorderen Marksegel, aus 
den Seitenteilen die 3 Stiele des Kleinhirns; aus der verdünnten 
Decke des Nachhirns das Epithel der hinteren Adergeflechte, das 
hintere Marksegel und die unter dem Namen der Taeniae medul¬ 
läres bekannten nervösen Säume am Rande der Rautengrube. 

Die Deckplatten des Hinterhirns und Nachhirns, welche ur¬ 
sprünglich in einer Ebene ineinander übergehen, bleiben auch 
später zur Zeit der Entwicklung der Deckplatte des Hinterhirns 
zum Kleinhirn in enger Beziehung. 

Die Hinterhirndecke verdickt sich und der hintere Rand 
derselben schärft sich beim Übergange zur Deckplatte des Nach- 


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48 


Dr. Ernst Sträussler. 


hirns zu; dieser Übergangsteil, das spätere Velmn medulläre 
posterius, wird dann durch von oben hineinragendes Bindegewebe 
eingestülpt, so daß derselbe bei der weiteren Entfaltung des 
Kleinhirns nach rückwärts unter dieses zu liegen kommt. Die 
Verbindung des Saumes dieses Übergangsteiles mit der Deck¬ 
platte des Nacbhirns bleibt wie früher erhalten; während aber 
früher Kleinhirnlamelle, Saum und Nachhirndecke eine Ebene 
bildeten, ist durch den Einstülpungsvorgang die Figur eines stark 
zusammengedrückten S zustande gekommen, dessen oberer 
Schenkel der Kleinhirnlamelle, der Mittelteil dem hinteren Mark¬ 
segel und der untere Schenkel der Deckplatte des Nachhirns 
entspricht. 

Der untere Schenkel verlängert sich nach hinten über das 
ganze Nachhirn als Decke desselben und bildet sich im mittleren 
Teile bis auf eine Zelllage, das Epithel der Tela chorioidea, zu¬ 
rück, während nur die Randteile, als Saum der Rautengrube, 
einen nervösen Charakter behalten (Mihalkovics). 

Durch die weitere Entwicklung breitet sich das Kleinhirn 
in seinem Wachstum nach rückwärts aus und überlagert zuletzt 
auch die ganze hintere Deckplatte. 

Wenn wir nun an die Analyse unseres Falles gehen, so 
finden wir vor allem abweichend vom Normalen den größten Teil 
des 4. Ventrikels von Kleinhirn unbedeckt. Als seitliche Begren¬ 
zung der Rautengrube sehen wir hier an der Stelle des schmalen 
Marksaumes der Taeniae ventriculi quarti, starke lappenförmige 
Anhänge, welche sich gewölbeartig über den Boden des 4. Ven¬ 
trikels erheben; dieselben gehen in den distalen Teilen der 
Rautengrube im Niveau derselben vom Stamme ab, während pro¬ 
ximalwärts die Ansatzstelle an der seitlichen Peripherie des 
Stammes nach abwärts rückt, wodurch der 4. Ventrikel tiefe 
seitliche Taschen erhält. 

Die Deckplatte des Nachhirns ist also zum größten Teile 
aus dem frühesten, embryonalen Leben erhalten geblieben. 

Das Kleinhirn reicht nach unten nur bis in die Gegend, in 
welcher normalerweise mit dem Erscheinen der Kleinhirnarme 
ein Verwachsen des Kleinhirns mit dem Stamme besteht; es fehlt 
der nach rückwärts überhängende Teil des Kleinhirns; dasselbe 
ist also auf den Ort seiner Entwicklung, das Hinterhirn be¬ 
schränkt. 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


49 


Sobald das Kleinhirn erscheint, treten die Anhänge des 
Bodenteils des 3. Gehirnbläschens mit demselben in Verbindung; 
man erhält den Eindruck, daß das Kleinhirn aus diesen Anhängen, 
welche wir als Deckplatte des 3. Gehirnbläschens bezeichnet 
haben, entsteht; die Anhänge bilden die Verbindung zwischen 
Kleinhirn und Gehirnstamm und wir haben Verhältnisse vor uns, 
welche bei vollständiger Differenzierung des Kleinhirn¬ 
gewebes die Provenienz des Kleinhirns von der Deck¬ 
platte des 3. Gehirnbläschens erkennen lassen. 

Weiter nach vorne gehen die Beste der Deckplatte im Klein¬ 
hirn unter; entsprechend des Abganges der seitlichen Schenkel 
der Deckplatte von der seitlichen Peripherie des Stammes, reicht 
das Kleinhirn an den Seiten des Stammes tief ventralwärts. Hier 
tritt nun eine Verwachsung des Kleinhirns mit dem Stamme ein, 
indem die Epithellagen, welche die Auskleidung der Taschen 
des 4. Ventrikels bilden, sich aneinander legen. Später wird die 
Verschmelzung des Kleinhirns mit dem Stamme eine so innige, 
daß die Abgrenzung der beiden Gebilde unmöglich ist 

Wir haben beschrieben, daß das Corpus restiforme noch 
lange nach der stattgefundenen Verschmelzung zwischen Klein¬ 
hirn und Gehirnstamm in scharfer Begrenzung bestehen bleibt; 
dasselbe geht zuletzt in Fasern unter, welche vom Kleinhirn 
gegen die Brücke zu verlaufen; ein Übergang des Corpus resti¬ 
forme in das Kleinhirn als Kleinhirnstiel konnte jedoch nicht 
nachgewiesen werden. 

Es scheint also, daß die durch die Verwachsung bestehende 
Verbindung von Kleinhirn und Gehirnstamm die Entwicklung 
des nnteren Kleinhirnarmes hintangehalten hat, daß für die 
Entwicklung von Faserzügen nicht ausschließlich phy¬ 
siologische Bestimmungen, sondern auch rein architek¬ 
tonische Verhältnisse maßgebend sein können. 1 ) 

Dort, wo das Kleinhirn den 4. Ventrikel unbedeckt ließ, 
blieb die Deckplatte des Ventrikels zum größten Teile erhalten. 

Dasselbe Verhalten in bezug auf die Deckplatte des Nach¬ 
hirns zeigen Fälle von Chiari, 2 ) auf welche wir später noch 

>) Wir werden Gelegenheit haben, auf diesen Punkt noch znrQekznkommen. 

*) Über Veränderungen des Kleinhirns, des Pons und der Medulla oblon- 
gata infolge von kongenitaler Hydrocepbalie des Großhirns. XIII. Bd. d. matb.- 
naturw. Kl. d. kaiserl. Akad. d. Wissenseh. 

MrMchir f. PijeblstrU und Neuro]og [e. XXV. Bd. I 


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50 


Dr. Ernst Sträussler. 


eingehen müssen; es wäre ans diesen Beobachtungen zu schließen, 
daß die Überlagerung des Ventrikels durch das Klein¬ 
hirn von Einfluß auf die Reduktion der Deckplatte, der 
Membrana obturatoria, ist. 

Die topographisch-anatomischen Verhältnisse der Bezie¬ 
hungen zwischen dem unteren Teile der Medulla oblongata und 
dem oberen Ende des Rückenmarks haben wir bereits im de- 
scriptiven Teile unseres Aufsatzes dargelegt. 

Besondere Aufmerksamkeit nimmt das Verhalten der Hinter¬ 
stränge für sich in Anspruch. 

Die Hinterstränge des Rückenmarks gelangen bei der Ver¬ 
einigung desselben mit der Medulla oblongata aus der senk¬ 
rechten in eine horizontale Richtung, um zu den Kernen der 
Hinterstränge der Medulla oblongata zu gelangen; in der Medulla 
oblongata verlaufen die Fasern wieder in senkrechter Richtung 
hinauf als Hinterstrangsreste. 

Die Umbiegung der Hinterstrangsfasern zur Medulla oblon¬ 
gata spielt sich im Wirbelkanale ab; während vom Rückenmarke 
in der früher beschriebenen Weise ein immer größerer Anteil 
verloren geht, treten an den Rackenmarksrest von den obersten 
Spinalganglien die hinteren Wurzeln heran und bilden an den 
Enden des auf eine Platte reduzierten Rückenmarks Faserkom¬ 
plexe, welche ihrer Wertigkeit nach neue Hinterstränge darstellen. 

In diesem Befund liegt ein wertvoller Fingerzeig für die 
Beurteilung der Zeit der Entstehung der Mißbildung am oberen 
Teile des Rückenmarks; wir können schließen, daß die Verän¬ 
derung der Lagebeziehung zwischen Rückenmark und Medulla 
oblongata bereits zur Zeit der Entwicklung der hinteren Wur¬ 
zeln, vor der Entstehung der Hinterstränge, stattgefunden hat; 
waren die Hinterstränge schon vor der Vereinigung von Rücken¬ 
mark und Medulla oblongata entwickelt gewesen, so müßten sie 
in der Vereinigung untergegangen sein. 

Bezüglich der Hinterstränge, der dorsalsten Anteile des 
Rückenmarks, bandelt es sich also nicht um eine Zerstörung; sie 
waren am normalen Orte überhaupt nicht ausgebildet. 

Wenn wir nun den oberen Teil des in die Verwachsung 
bezogenen Rückenmarks betrachten, so finden wir eine gewisse 
Ähnlichkeit mit dem Zustande des Rückenmarks in einer Spina 
bifida oder Rbacbischisis. 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


51 


Zu beiden Seiten des Salcas longitudinalis anterior sind 
Vorderstränge und Vorderhörner nachweisbar; die grane Sub¬ 
stanz nimmt eine schräge, der frontalen Richtung sich nähernde 
Lage ein; die äußersten Partien der Platte werden durch weiße 
Substanz gebildet, zu welcher die hinteren Wurzeln ziehen; die 
Teile, welche im normalen Rückenmarke sich am meisten dorsal 
und medial befinden, liegen in der Platte am meisten lateral. 

Dieses Bild würde mit der Annahme übereinstimmen, daß 
die Verschiebung zwischen Rückenmark und Medulla oblongata 
schon zur Zeit des Offenstehens des Medullarrohres zustande 
kam und die dem Rückenmarke dorsal anliegende Medulla oblon¬ 
gata ein mechanisches Hindernis für die normale Entwicklung 
des Rückenmarks bildete. 

Die Pyramidenbahn, deren Entwicklung in eine verhältnis¬ 
mäßig späte Periode fallt, fand beim Auswachsen ihrer Fasern 
vom Zentrum gegen die Peripherie die abnormalen Verhältnisse 
im Übergange von der Medulla oblongata zum Rückenmarke be¬ 
reits ausgebildet vor und wählte den kürzesten Weg an der 
ventralen Seite; so erklärt sich der unmittelbare Übergang der 
Pyramidenbahn des Rückenmarks in die der Medulla oblongata. 

In der Umlagerung von nervösen Anlagen, wie sie hier 
zwischen Medulla oblongata und Rückenmark vorhanden, ist 
unser Fall ein Pendant zur Beobachtung von Naegeli; 1 ) wäh¬ 
rend aber in unserem Falle die Nachbarschaft zwischen Oblon¬ 
gata und Rückenmark durch Verlagerung der ersteren in den 
Wirbelkanal entsteht, ist bei Naegeli eine Einstülpung des 
Rückenmarks in die Schädelhöhle vorhanden. In beiden Fällen 
findet eine innige Verwachsung der beiden benach¬ 
barten Gebilde statt; ein inniger Faseraustausch findet 
statt. So dringen die Fasern des Hypoglossus durch das ventral 
der Medulla oblongata angelagerte Rückenmark, indem „bei Ver¬ 
legung der natürlichen Wachstumswege eher ganz paradoxe ner¬ 
vöse Verbindungen geschlossen werden, als daß der Weiterent- 
wicklong ein Ziel gesetzt wird und eine Rückbildung beginnt” 
(Monakow).*) 

i) Üb«r eine nene mit Cyolopie verknüpfte Mißbildung des Zentralnerven¬ 
systeme. Aroh. f. Entwieklnngemeeb., Bd. V, 1897. 

3) Über die Mißbildungen des Zentralnervensystems. Ergebnisse der Allg. 
Path. n. patb. Anat. Lnbarseh u. Ostertag. 6. Jabrg. 1899. 

4* 


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52 


Dr. Grast Sträuseler. 


Die aas den hinteren Warzein neu entstandenen Hinter¬ 
stränge sehen wir histologisch znr vollständigen Reife bis zar 
Ausbildung von Markscheiden entwickelt, trotzdem dieselben ihr 
zentrales Ziel nicht erreichen. 

Bei einer so frühen Entstehung der Verschiebung zwischen 
den Teilen des Medullarrohres sind wohl Störungen in der Ent¬ 
wicklung der aus dem Mesoderm entstehenden Bildungen, also 
insbesondere der Wirbelsäule zu erwarten; leider stand uns die 
Untersuchung derselben nicht zu Gebote. Störungen in der Ent¬ 
wicklung der Wirbelsäule, wie Kürze der Wirbelkörper, Fehlen 
ganzer Wirbel usw. sind übrigens schon bei Rhachischisis nach 
v. Recklinghausen 1 ) etwas ganz Gewöhnliches. 

Im sekundären Vorderhirnbläschen beherrscht die enorme 
Ausdehnung der Seitenventrikel durch den Hydrocephalus inter¬ 
nus das Bild. Eine sehr breite Kommunikation zwischen den 
Seitenkammern erzeugt für die beiden Hemisphären eine gemein¬ 
same Höhle; bloß die Hinterhörner sind in größerer Ausdehnung 
voneinander durch die Hemisphäreninnenwände der Hinterhaupts¬ 
lappen geschieden. 

Der Balken wird im größten Teile repräsentiert durch eine 
schmale gliöse Lamelle, in welcher Nervenfasern, Achsenzylinder, 
nicht nachweisbar sind; nur vorne ist die Entwicklung des Bal¬ 
kens eine weiter fortgeschrittene; der Balken stellt hier eine 
etwa V« cm dicke Platte dar und bildet durch Umbiegung das 
Knie; dagegen ist der Balkenwulst gar nicht angedeutet 

Der Fornix steht mit seinen hinteren Schenkeln mit der 
dünnen Platte, welche den Balken darstellt, in Verbindung; der 
Körper des Fornix hat jedoch nicht seine Lage an der Unter¬ 
fläche des Balkens, sondern ruht, von diesem durch die ganze 
Höhe der gemeinsamen Ventrikelhöhle getrennt, am Boden der 
Höhle zwischen den Sehhügeln; es ist dies der am Zwischenhirn 
beschriebene Wulst. 

Das Verhalten des Fornix ist ein analoges wie im Falle 
Longery, den Dejerine in seiner „Anatomie des centres 
nerveux” (2. Teil, Paris 1901, S. 187) beschreibt. 

Das Vorhandensein des Septum pellucidum ließ sich nicht 
nachweisen. 


') Untersuchungen Ober Spins bifida. Virchow» Arch. 1886, CV. 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 53 

Makroskopisch bestand ein unmittelbarer Übergang des mit 
dem verdickten Ependym bedeckten Wulstes zwischen den Seh- 
hügeln in das Knie des «Balkens; da die Serie der mikroskopi¬ 
schen Schnitte hier zufällig eine Unterbrechung fand, erhielten 
wir keinen genauen Aufschluß über die diesbezüglichen Verhält¬ 
nisse. Es scheint, daß die vorderen Fornizschenkel an der Um¬ 
biegungsstelle nach unten und rückwärts dem unteren Schenkel 
des Balkenknies derart genähert war, daß ein scheinbarer Über¬ 
gang von Fornix in Balken zustande kam. 

In den hinteren Partien liegen die Sehhügel frei in der 
Ventrikelhöhle; der Ansatz des Gehirnmantels an die basalen 
Ganglien ist hier ausgeblieben; da diese Vereinigung sich etwa 
im 2. Monate des embryonalen Lebens vollzieht, so wäre diese 
Zeit etwa als die kritische für den Beginn der Störungen im 
sekundären Gehirnbläschen zu bezeichnen. Dieses Ausbleiben der 
Vereinigung von Gehirnmantel und Stammganglien bildet die am 
weitesten znrückreichende Bildungsstörung im Vorderhirn. 

Septum pellucidum, Fornix und Balken stellen spätere Bil¬ 
dungen vor. 

Betrachten wir die Störungen im Vorderhirn, insbesondere 
die vorhandene Hydrocephalie in Hinsicht auf unsere Annahme 
der Unabhängigkeit der Störungen im Hinterhirn und Nachhirn 
von der Hydrocephalie und einer damit etwa verbundenen Raum¬ 
beschränkung, so ist die Entwicklung der Hinterhauptslappen 
von besonderer Bedeutung. 

Es ist bekannt, daß die Großhirnhemisphären ursprünglich 
bloß einen Stirn- und Schläfelappen aufweisen und die Hinter¬ 
hauptslappen einem späteren Auswachsen der Hemisphären nach 
rückwärts ihre Entstehung verdanken. 

Die Entwicklung der Hinterhauptsl^ppen fallt etwa in das 
Ende des 3. Monats, in dieselbe Zeit, in welcher auch das Klein¬ 
hirn die wichtigsten Stadien der Entwicklung durchmacht. 

Sollten die Störungen der Entwicklung im Bereiche des 
Kleinhirns nicht schon früher, wie wir es angenommen, begonnen 
haben, so müßte unbedingt das erwähnte Stadium als die Zeit 
der Entstehung der Mißbildung im Kleinhirn angesehen werden. 

Wenn nnn eine Flüssigkeitsansammlung im sekundären 
Vorderhirnbläschen und eine daraus resultierende Raumbeschrän¬ 
kung als Ursache für die Entstehung der Mißbildung im Klein- 


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54 


Dr. Ernst Sträossler. 


hirn und der Verlagerung von Kleinhirnsubstanz in das Medullar- 
rohr in Betracht kommen sollte, so müßten die Folgen der Raum* 
beschränkung sich vor allem in der Entwicklung der Großhirn¬ 
hemisphären selbst geltend machen. Zur Entwicklung der Hinter¬ 
hauptslappen hätte es nicht kommen können. 

Die Hydrocephalie fassen wir als sekundäre Er¬ 
scheinung, als Folge der Kleinhirnmißbildung, der teil¬ 
weisen Verlegung des 4. Ventrikels und des Zentral¬ 
kanals auf. Die Störung der Kommunikation zwischen den 
Höhlen des Vorderhirns und des Rückenmarks dürfte als die 
Ursache der Flüssigkeitsansammlung im Vorderhirnbläschen an¬ 
zusehen sein. 

Entsprechend der früheren Entstehung des Kleinhirnein¬ 
schlusses wäre die Entwicklung der Hydrocephalie auf eine sehr 
frühe Entwicklungsperiode zurückzuführen und alle Störungen 
im Vorderhirn könnten auf die Hydrocephalie bezogen werden. 

Wenn wir nun unsere Auseinandersetzungen überblicken, 
so sehen wir, daß alle vorhandenen Entwicklungsstörungen mit 
der Entstehung der Rhachischisis, von welcher wir ausgegangen 
sind, entweder zeitlich Zusammenhängen oder Folgezustände der 
zu dieser Zeit entstandenen Bildungsstörungen darstellen. 

Lassen sich derartige zeitliche Beziehungen zwischen den 
einzelnen Teilen der Mißbildung feststellen, so wird man auch 
für alle Störungen eine ursprünglich gemeinsame Ursache an¬ 
nehmen können. 

Für die Art der die Mißbildung veranlassenden Momente 
ergibt unser Fall selbst keine Anhaltspunkte; für die ganze Mi߬ 
bildung wäre aber auf die für die Entstehung der Rhachischisis 
durch die Experimente als wirksam erkannten Schädigungen, 
mechanische, chemische, thermische Reize, zu rekurrieren. 

Das Interesse, welches unser Fall erregt, wird um so größer, 
wenn wir darauf hin weisen, daß es sich nicht um ein terato- 
logisches Unikum handelt; es sind bereits Fälle be¬ 
schrieben, welche in naher Verwandtschaft zu unserer 
Mißbildung stehen. 

Sowie die meisten anderen Mißbildungen in der Wiederkehr 
derselben Formen in Typen gegliedert werden können, so scheint 
auch unsere Mißbildung einem besonderen, bisher wenig gewür¬ 
digten Typus zu entsprechen. 


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Über eine eigenartige Mißbildung des Zentralnervensystems. 


55 


Chiari gebührt das Verdienst, zuerst auf diese Mißbildung 
aufmerksam gemacht zu haben; der 2. Typus, der von diesem 
Autor bei Hydrocephalie beschriebenen Veränderungen des 
Hinterhirns und Nachhirns und in dieser Gruppe die Unterab¬ 
teilung, welche Verfasser mit der Verlagerung von Teilen des 
Kleinhirns in dem erweiterten Wirbelkanal innerhalb des ver¬ 
längerten, in den Wirbelkanal hineinreichenden 4. Ventrikels 
charakterisiert, enthält die bezüglichen Beobachtungen. 

Unter diesen Fällen zeigt der 16. die auffallendste Über¬ 
einstimmung mit unserem Befunde und unterscheidet sich von 
unserem Falle nur graduell dadurch, daß das Kleinhirn nur in 
dem erweiterten Zentralkanal der neben dem Rückenmark im 
Wirbelkanal befindlichen Medulla oblongata zu finden war, wäh¬ 
rend in unserem Falle der Kleinhirneinschluß sich auch in den 
Zentralkanal des Rückenmarks weiter fortsetzte. 

Chiari betrachtete die Veränderungen als Folgezustände 
der Hydrocephalie des Großhirns. 

Weiters gehört hierher eine Beobachtung von Gudden (Ein 
Fall von Knickung der Medulla oblongata und Teilung des 
Rückenmarks, Arch. f. Psych., XXX. Bd.), in welcher neben 
Wucherung des Unterwurmes in die stark erweiterte Höhle des 
4. Ventrikels eine analoge Verschiebung zwischen Medulla oblon¬ 
gata und Rückenmark bestand, wie wir sie beschrieben haben. 

Gudden faßt die Mißbildung als Knickung der Medulla 
oblongata an der Stelle der Nackenkrümmung auf; die Kleinhirn¬ 
mißbildung erfährt keine weitere Würdigung. 

5 Fälle von Solovtzoff 1 ) weisen die gegenseitige Ver¬ 
schiebung von Medulla oblongata und Rückenmark und die Ver¬ 
wachsung der beiden Gebilde auf und die Mißbildung wird vom 
Verfasser als Folge eines Hydrops des 4. Ventrikels betrachtet. 
Die Kleinhirnverlagerung war in diesen Fällen nicht beobachtet. 

In allen angeführten Beobachtungen war Rhachischisis oder 
Spina bifida vorhanden; dieses regelmäßige Zusammentreffen der 
beschriebenen Mißbildung mit Spina bifida scheint uns eine Ge¬ 
währ mehr für die Berechtigung bei der Beurteilung der Mi߬ 
bildung von der Spina bifida auszugehen; und bei der Berück¬ 
sichtigung der Art der Mißbildung, der Verlagerung von Teilen 

>) Solovtzoff, Leo deformstes da Systeme nerveaz central dans le spina 
bifida. Nonveile Ioonographie de Ja Salpetrikre T. XIV, 1901. 


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56 


Dr. Ernst Sträussler. 


des Zentralnervensystems, drängt sich der Gedanke anf, daß bei 
der Entstehung dieser Mißbildung mechanische Momente wirk¬ 
sam gewesen sind. 

Die Anomalien in der Bildung der Spinalganglienzellen, die 
Metaplasie von Oliven nnd die Heterotopien sind weitere Zeichen 
sehr fröhzeitig gestörter Entwicklung. 

Wir sehen also, wie sich die Bildungsstörnng in unserem 
Falle anf das ganze Zentralnervensystem erstreckt; in den Fällen 
von Chiari und in der Beobachtung Gnddens schloß sich an 
die Mißbildung des Zentralnervensystems noch eine ganze Reihe 
von Bildungsstörungen außerhalb des Zentralnervensystems, ein 
Umstand, welcher gegen die Hydrocephalie als Ursache nnserer 
Mißbildung in derselben Weise verwertet werden kann, wie es 
Monakow für die Spina bifida ausfohrt: Daß den Spaltbildungen 
in der Regel eine ganze Anzahl von Bildungsfehlern angegliedert 
ist, welche durch den Hydrops allein einer befriedigenden Er¬ 
klärung nicht zuzufiihren sind. 

Wenn es auffallend ist, daß der Embryo sich trotz der nach 
unserer Annahme so frühzeitig eingetretenen schweren Störung 
weiterentwickeln und in einzelnen Teilen normalerweise zu voll¬ 
ständiger Reife weiterbilden konnte, so steht diese Beobachtung 
doch im Einklänge mit den Erfahrungen der Entwicklungs¬ 
mechanik und neueren Teratologie. 

Herrn Prof. Dr. A. Pick, welcher mir mit liebenswürdigster 
Zuvorkommenheit die Hilfsmittel der Klinik zur Verfügung ge¬ 
stellt hat, sage ich dafür, sowie für die Förderung und Durch¬ 
sicht der Arbeit meinen wärmsten Dank. 


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Ans dem anatomiseheD Institut der medizinischen Schule zu Okayama (Japan). 

Über die Facialiskerne beim Hubn. 

Voii 

Prof. K. Kosak« and Assistenten K. Hlrelwa. 

Mit Tafel I und II. 

Das Ursprungsgebiet des Nervus facialis bei Vögeln ist 
unseres Wissens bis heute noch nicht ganz aufgeklärt. Die 
bisherigen Angaben Aber diesen Gegenstand, die übrigens in 
einer sehr beschränkten Anzahl vorliegen, beruhen nur auf 
oberflächlichen Beobachtungen und sind so mangelhaft, daß wir 
es für nützlich and notwendig erachteten, dieses Gebiet anf 
experimentellem Wege gründlich zu erforschen. Dazn haben 
wir an 10 Hühnern Versuche angestellt und die Folge¬ 
erscheinungen mit Hilfe von Thioninfftrbung untersucht. Von 
den 10 Hühnern benutzten wir 4 für die Durchschneidung des 
Nervus facialis unterhalb, 2 für dieselbe Operation oberhalb 
der Abgangsstelle des Nervus digastricus, 1 für die Exstirpation 
des Muse, mylohyoideus posterior und die übrigen 3 für die 
Exstirpation des Muse, digastricus. Die Tiere wurden 17 bis 
22 Tage am Leben gelassen. Des ferneren zogen wir die 
Hirne dreier nicht operierter Hühner, von denen das eine der 
Weigertschen Markscheidenfärbung unterlag, in Betracht. 

Die Facialiskerne bestehen beim Huhn aus 3 Zellengruppen, 
welche wir als Haupt-, Neben- und Digastricuskern bezeichnen 
wollen. 

Der Haaptkern liegt in der ventro-lateralen Partie der 
Medulla oblongata resp. Pars commissuralis, und zwar nahe an 
der ventralen Peripherie derselben und besteht aus multipolaren 
Zellen, deren Längsdurchmesser bei erwachsenen Hühnern von 


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58 


Prof. K. Kos&ka and Assistent E. Hiraiwa. 


10 bis 38 (i schwankt. Verglichen mit dem Digastricnskern, 
ist er gewöhnlich reich an größeren Zellen, doch fanden wir bei 
einem nicht operierten Hühnchen, daß hier das gerade umgekehrte 
Verhältnis herrschte and daß die Zellen des Hauptkerns noch 
nicht gut entwickelt erschienen. Was die Ausdehnung und 
Mächtigkeit des Kerns anlangt, so zeigt derselbe bedeutende 
individuelle und antimere Variierungen. Soviel darf aber als 
allgemeiner Befand gelten, daß sowohl das caudale, als auch 
das orale Ende des betreffenden Kerns weiter cerebralwärts 
seine Lage hat, als das entsprechende des Abducenskerns, dagegen 
weiter spinalwärts als das entsprechende des motorischen 
Trigeminuskerns. 1 ) Innerhalb dieses Rahmens gibt es so von 
einander abweichende Fälle, daß das orale Ende des Hauptkerns 
einerseits dem obersten, anderseits dem untersten Niveau des 
motorischen Trigeminuskerns sehr nahe liegt. 

In den meisten Fällen tritt das untere Ende des Kerns in 
einer Ebene auf, wo der kleinzellige und der großzellige Kern 
von Brandis sowie der Eckkern desselben Autors schon 
verschwunden, und die obersten Wurzelfasern des Nervus 
vestibularis noch zu sehen sind, wenn die Medulla senkrecht zu 
ihrer Längsachse durchschnitten wird. Auf einem Schnitt, den 
Fig. 1, Tat I wiedergibt, sieht man jedoch dorsal die Kerne von 
Brandis und ventral den Hauptkern des Facialis zugleich. 
Es ist dies jedoch mehr auf eine abnorm starke Entwicklung 
jener Kerne, als auf die schiefe Schnittrichtung zurückzuführen; 
denn beim Verfolgen der Schnittreihe, zu der der genannte 
Schnitt gehört, fanden wir, daß der kleinzellige Kern höher 
endigte, als der Abducenskern. In der Gegend, wo der Hauptkern 
gut entwickelt ist, besteht er auf jedem 20 (i dicken Querschnitte ans 
15 bis 45 Zellen, welche dem ventralen Rande der Medulla mehr 
oder weniger parallel angeordnet sind (Fig. 1 u. 2, Taf. I). 
Jedoch ist es zu beachten, daß der Kern im ganzen sehr schlecht 
begrenzt ist und einzelne Zellen desselben in manchen Schnitten 
weit dorsalwärts bis an den ventralen Rand des Digastricuskerns 

') Mit diesem KerD meinen wir den äußeren motorischen Trigerainuskern 
von Brandis. Derselbe verfiel nach Ausreißung des dritten Trigeminusastes 
in eine deutliche Degeneration. Ob der mediale motorische Trigeminuskern von 
Brandis mit dem Nervus trigeminua im Zusammenhänge atehe, können wir 
noch nicht entscheiden. 


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Über die Facialiskerne beim Hnho. 


59 


auswandern. Namentlich in der unteren Partie des Kerns, wo 
derselbe manchmal sehr schwach entwickelt ist, lassen sich die 
unregelmäßig liegenden Zellen des Hauptkerns nicht immer 
leicht von denen des später zu beschreibenden Nebenkerns 
unterscheiden. 

An vielen Orten findet sich eine Anzahl Zellen, die mit 
dem Facialis gar nichts zu tun haben und daher nach Operationen 
au demselben unverändert bleiben, mit den Zellen des Haupt¬ 
kerns vermischt. Zu ihnen gehören in erster Linie diejenigen 
kolossalen multipolaren Zellen, die nach allerlei Operationen an 
diesem Nerven niemals der Degeneration anheimfallen (s. Fig. 4, 
Taf. II) und wahrscheinlich mit den anderen überall in der Formatio 
reticularis, besonders aber an den beiden Seiten des Nervus 
abducens zerstreut liegenden kolossalen Zellen als zu ein und 
demselben System gehörig anzusehen sind. Die anderen fremden 
Zellen im Hauptkern sind mittelgroß und im normalen Präparat 
von den Facialiszellen gar nicht zu unterscheiden; als ihre 
Lieblingsstellen sind der untere und namentlich der mittlere 
Teil das Kerns zu bezeichnen. In dem letzteren Teil bilden 
die genannten Zellen manchmal eine Zellengruppe, die den 
dorso-lateralen Abschnitt des Kerns einnimmt und scheinbar dem 
Kern eine auffallend starke Entwicklung angedeihen läßt. 
Dagegen besteht das obere Drittel des Kerns fast ausschließlich 
aus echten Facialiszellen, die am oberen Ende des Kerns ziemlich 
plötzlich zu verschwinden pflegen, um einer undeutlichen Gruppe 
der kleinen körnigen Zellen Platz zu machen. In dieser Gruppe 
sieht man jedoch manchmal vereinzelte Facialiszellen noch eine 
Strecke weit bestehen bleiben (Fig. 3, Taf. II), und es macht den 
Eindruck, als ob die Facialiszellen hier aus den kleinen körnigen 
Zellen sich entwickelt hätten. 

An der dorso-lateralen Seite der unteren Partie des Haupt- 
kerns sieht man eine gut begrenzte rundliche Masse von grauer 
Substanz, welche aus kleinen körnigen Zellen besteht (Fig. 1 Ol.). 
Diese graue Substanz erstreckt sich weit spinalwärts vom 
Hanptkern und findet sich annähernd in derselben Höhe mit 
dem Abdncenskern. Genau genommen hat sie eine etwas 
kleinere Ausdehnung als der letztere, so daß sie bei Verfolgung 
verschiedener frontaler Schnittreihen meistens später auftritt 
und früher verschwindet. Wahrscheinlich entspricht sie einem 


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60 


Prof. K. Kosaka uud Assistent K. fliraiws. 


Kern, den Westphal') für die obere Olive der Vögel hält oder 
einem Ganglion, das Wallenberg 2 ) bei der Taube, wenn auch 
nicht ohne Bedenken die obere Olive genannt hat. Io der Tat sieht 
man an Weigertschen Präparaten, daß dem Trapezkörper 
ähnliche Fasern mit dieser grauen Masse in Verbindung stehen 
und aus der dorsalen Seite der letzteren sehr deutlich wahr- 
nehmbare Fasern austreten, die an den Stiel der oberen Olive 
erinnern. Nichtsdestoweniger steht die grane Masse im ganz 
umgekehrten Lageverhältnis zum Facialiskerne, wenn man sie 
mit der oberen Olive des Menschen vergleicht; sie hat nämlich 
ihre Lage nicht an der ventro-medialen, sondern an der dorso- 
lateralen Seite des Hauptkerns und erstreckt sich nicht weiter 
cerebral, sondern spinal als derselbe. Wir hoffen, daß weitere 
Untersuchungen die Bedeutung dieses Gebildes sicher bestimmen 
werden. 

Mit dem Namen „Nebenkern* bezeichnen wir eine kleine 
Gruppe von multipolaren Zellen, welche dorsalwärts vom 
distalen Abschnitt des Hauptkerns an der ventralen Seite des 
Digastricuskerns ihre Lage hat (Fig. 1 N). Verfolgt man den 
Nebenkern aut frontalen Serienschnitten von unten nach oben, 
so sieht man, daß er bald gleichzeitig mit dem Hauptkern, bald 
aber ein wenig trüher als derselbe auftauchend nach oben nur 
eine kurze Strecke weit bestehen bleibt, um meistens unterhalb 
der oberen Grenze des unteren Drittels des Hauptkerns zu 
verschwinden. Im allgemeinen sind die Zellen, aus denen der 
Nebenkern sich zusammensetzt, ein wenig kleiner als die des 
Hauptkerns und haben fast dieselbe Größe wie die des 
Digastricuskerns, doch scheinen sie meistens etwas stumpfer als 
die letzteren. Ihre Zahl schwankt auf einem Querschnitte von 
1 bis 15, auch ihre Gesamtzahl weist erhebliche individuelle 
Verschiedenheiten auf. 

Der Nebenkern stellt sich nicht in seiner ganzen Länge 
als einen gut begrenzten Kern dar, sondern stellenweise ist er 
von einigen zerstreuten Zellen vertreten, die sich, wie oben 
erwähnt, von denen des Hauptkerns häufig schwer unterscheiden 
lassen. Ferner ist er auf manchen Schnitten vom Digastricnskern 
nicht scharf abgegrenzt, so daß man hier ihre Grenze nnr dann 

*) Über Acnsticn8, Uittel- and Zwischenhirn der Vögel. 1898. 

*) Die sekundäre Acusticusbahn der Taube. Anat. Anzeiger Bd. XIV. 


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Über die Facialiskerne beim Hahn. 


61 


sicher bestimmen kann, wenn man die Degenerationserscheinungen 
zn Bäte zieht 

Der Digastricnskern (Fig. 1 und 2 Dig.) ist ein ans 
multipolaren Zellen bestehender scharf ausgeprägter Kern, 
welcher dorsalwärts vom Hauptkern an der rentro-lateralen 
Seite des Abducenskerns gelegen ist Er unterscheidet sich vom 
Hauptkern außer durch seine Lage durch eine dichte Lagerung 
seiner Elemente, deren Längsdurchmesser 10 bis 34 p beträgt 
und die bald scharf eckig, bald aber mehr stampf rundlich aus- 
sehen. Sein caudales Ende liegt etwas höher als das des 
Nebenkerns und meistens auch des Hauptkerns; sein orales 
Ende erstreckt sich über den Nebenkern hinweg weit nach 
oben und erreicht etwa dasselbe Niveau wie das obere Ende 
des Abducenskerns. Sobald der Digastricnskern verschwunden 
ist, begegnet man an seiner Stelle einer diffusen Zellengruppe, 
welche aber ihrerseits nach oben bald wieder verschwindet. 
Gerade an der lateralen Seite dieser Zellengruppe taucht das 
untere Ende des motorischen Trigeminuskernsauf. Die Zellen 
des Digastricuskerns sind, wie oben gesagt, dicht gelagert, ihre 
Zahl beträgt auf dem Qaerschnitte 10 bis 50, im Mittel 20 bis 35. 

Die Zellen des Hauptkerns haben eine große Empfindlichkeit 
gegen Beschädigungen, welche ihre Achsenzylinder erleiden.. Ihren 
starken Veränderungen begegneten wir nicht nur nach Facialis- 
durchschneidungen, sondern auch nach Operationen, wobei der 
Facialisstamm nur bloßgelegt wurde. In diesen letzteren Fällen 
war der Grund für die Degeneration in einer zufälligen Neben* 
beschädigung des Nervus facialis zu suchen, welche entweder 
bei den Operationen selbst oder während des Wundheilungs- 
Vorganges zustande gekommen sein dürfte, doch möchten wir 
darauf aufmerksam machen, wie empfindlich sich dabei die 
Elemente des Hauptkerns verhielten. Die Degenerations* 
erscheinungen der letzteren weisen die gewöhnlichen Formen 
aufj welche man bei den Säugern nach Durchschneidung eines 
motorischen Nerven in den Ursprungszellen trifft; d. h. die 
Zellen blähen sich deutlich auf und werden rundlich, indem die 
Nisslschen Schollen sich auflösen, wobei die Kerne meistens 
exzentrisch getrieben werden (Fig. 4). 

Im Gegensatz zum Hauptkern, dessen degenerierte Zellen 
als solche leicht zu erkennen sind, besitzt der Digastricnskern 


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62 


Prof. E. Eosaka und Assistent E. Hiraiwa. 


eine große Widerstandsfähigkeit gegen Beschädigungen, und es 
hat uns große Mähe gekostet, seine Degeneration ausfindig zu 
machen, denn die Zellen veränderten sich nur in geringem 
Grade, nachdem wir den Muse, digastricus weggenommen oder 
dessen Nerven durchschnitten hatten. Die Zellen des Neben¬ 
kerns reagieren weniger deutlich auf eine Verletzung ihrer 
Achsencylinder als die des Hauptkerns, doch sind sie weit 
empfindlicher als die des Digastricuskerns. Bei der Degeneration 
werden sie etwas rundlich und weisen eine gut erkennbare 
Chromatolyse auf. 

Zuerst unternahmen wir bei 3 Hühnern die Facialis- 
durchschneidung unterhalb der Abgangsstelle des Nervus 
digastricus, welcher dicht am Schädel vom Facialis entspringend 
direkt zum gleichnamigen Muskel gelangt Die Tiere wurden 
am 17., 18. und 19. Tage nach der Operation getötet Als wir 
bei diesen Versuchen immer eine deutliche Degeneration des 
Haupt- und Nebenkerns, dagegen keine Veränderung des 
Digastricuskerns fanden, da warfen wir uns die Frage auf, ob 
der letztere mit dem gleichnamigen Muskel im Zusammenhänge 
stehe, zumal wir an Weigertschen Präparaten Fasern aus 
diesem Kern allem Anscheine nach zur Facialiswurzel fibergehen 
sahen. Zur Lösung dieser Frage unternahmen wir zuerst, wie 
eingangs erwähnt, an 2 Hühnern die Durchschneidung des 
Facialis oberhalb der Abgangsstelle des Nervus digastricus. 
Die Tiere wurden am 17. und 18. Tage nach der Operation 
getötet Anfänglich waren unsere Bemühungen vollkommen 
fruchtlos, weil wir bei dem einen Huhn, welches 17 Tage die 
Operation überlebte, keine Veränderung am Digastricuskern auf¬ 
finden konnten. Auch beim zweiten Tiere, welches 18 Tage 
die Operation überlebte, war am unteren Teil des betreffenden 
Kerns eine ausgesprochene Veränderung kaum wahrnehmbar. 
Einen Schnitt durch dieses Kerngebiet desselben Tieres zeigt 
Fig. 1, in welcher die Elemente des Kerns sowohl auf der 
operierten als auf der gegenüberliegenden Seite blau repräsentiert 
sind, weil wir uns in diesem Schnitt von ihrer Veränderung 
nicht sicher überzeugen konnten. Jedoch kamen uns schon bei 
diesem Versuchstiere zahlreiche Zellen zu Gesicht, welche sich im 
mittleren und oberen Drittel des Kerns der operierten Seite 
zweifellos als veränderte deuten ließen. Es drängte sich uns 


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Über die Faoialiskeme beim Huhn. 


63 


hierbei der Gedanke auf, daß der negative Befand des ersten 
und zum Teil des zweiten Falles in einem za schwachen Grade 
der Degeneration seinen Grund haben müsse. Daher nahmen 
wir zu weiteren Versuchen unsere Zuflucht, indem wir einerseits 
bei 3 Hühnern den Muse, digastricus mit seinem Nerven 
exstirpierten, anderseits bei einem Huhn den Facialis unterhalb 
der Abgangsstelle des Nervus digastricus durchschnitten. Die 
Tiere wurden diesmal 20 bis 22 Tage am Leben gelassen. Der 
Exstirpation des Muse, digastricus lag in erster Linie die 
Absicht zugrunde, den Digastricuskern allein in hochgradige 
Degeneration verfallen zu lassen. Diese Absicht aber ließ zum 
Teil im Stiche, weil der Hauptkern infolge einer Neben¬ 
beschädigung des Facialisstammes gleichzeitig einer starken 
Degeneration anheimfiel. Der Nebenkern war übrigens sehr 
schwach degeneriert Was endlich die Veränderung des 
Digastricuskerns anbetrifft, so war sie nicht so auffallend, als 
wir erwartet hatten. Indessen sieht man in den Zellen des 
Kerns, der operierten Seite deutlich, daß ihre Fortsätze stark 
geschrumpft sind und die chromatische Substanz wenn auch 
in leichtem Grade aufgelöst ist (Fig. 5, Taf. II). Die Zellen selbst 
sind sehr intensiv gefärbt, so daß man sie schon bei einer 
schwachen Vergrößerung von den entsprechenden normalen 
Zellen der gegenüberliegenden Seite leicht unterscheiden kann. 
Sie blähen sich nicht so deutlich auf, wie dies bei den 
degenerierten Zellen des Hauptkerns der Fall ist, sondern 
weisen nur eine unbedeutende Anschwellung auf Dagegen 
begegnet man stellenweise Zellen mit unregelmäßig angenagten 
Konturen, welche mehr oder weniger an Nervenzellen mit post¬ 
mortalen Veränderungen 1 ) erinnern. 

Die oben erwähnten Veränderungen des Digastricuskerns 
ließen sich bei den 3 Versuchen der Exstirpation des Muse, 
digastricus immer durch die ganze Länge des Kerns hindurch 
verfolgen, während sie beim Tiere, welches nach der Facial- 
dorchschneidnng unterhalb der Abgangsstelle des Nervus 
digastricus 21 Tage lebte, wie bei den früheren Versuchen 

*) Diese postmortalen Veränderungen unterzogen wir am Rückenmark 
einiger Arten gesunder Tiere, wie Hunde, Katzen usw., einer Untersuchung und 
konnten so den Befand von Faworsky (Mon.-Sohr. für Psych. und Nenrol., 
Bd. YUI, auoh im Neurol. Centralhl. 1900) größtenteils bestätigen. 


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Prof. K. Kosaka and Assistent E. Hiraiwa. 


gar nicht zutage traten. Daraus können wir ohne Bedenken 
schließen, daß der Kern mit dem gleichnamigen Muskel im 
Zusammenhänge stehen muß und mit entschiedenem Anrecht 
seinen Namen „Digastricuskern” führen kann. 

Auf die Frage, ob der sogenannte Abducenskern von 
van Gehuchten zum gleichnamigen Nerven gehöre, wollen wir 
uns nicht einlassen, doch ist es sicher, daß unser Digastricus¬ 
kern mit dem Nervus abducens gar nichts zu tun hat Wir 
wagen dies zu sagen auf Grund der Tatsache, daß dieser Kern, 
wie oben betont, infolge Exstirpation des Muse, digastricus 
der Degeneration anheimfällt, während er nach Entfernung der 
Augenmuskeln keine Veränderung aufweist, wovon wir uns bei 
einem Huhn 1 ) überzeugten, das nach Ausräumung der Augen¬ 
höhle, welche besonders mit Rücksicht auf den Muse, rectus 
lateralis und die Nickhautmuskeln ausgeführt wurde, 21 Tage 
lebte. 

Der dorsale Facialiskern, welchen Kölliker*) bei den 
Moootremen, Dräsecke») bei Pennipediern, Hatschek und 
Schlesinger 4 ) beim Delphin gefunden haben, scheint nns der 
Lage nach mit dem Digastricuskern des Huhns identisch zu 
sein. Dies gilt auch für den accessorischen oder oberen Facialis¬ 
kern von Wirbow 5 ), der bei einem Kranken mit einer Facialis- 
lähmung infolge Schläfenbeincaries die consecutive Veränderung 

>) Bei diesem Tiere fiel ans die deutliche Degeneration eines aas malti- 
polaren Zellen bestehenden kleinen iuconstanten Kerns auf, welcher weiter eaudal 
als die der oberen Olive ähnliche Zellengrappe im ventro-lateralen Teil der 
Hednlla oblongata sieb findet. Ob diese Degeneration der Operation zazuschreiben 
ist, and ob sie dann auch zu einer Verletzung der Aogenmuskelnerven oder zu 
derjenigen des oberen Facialis, deren ursächlichen Zusammenhang mit einer bei 
der Operation aasgeführten Spaltung des äußeren Augenwinkels man nicht ohne 
weiteres leugnen kann, in Beziehung steht, können wir gar nicht entscheiden, 
denn der betreffende Kern wurde auch in einigen, aber nicht allen Versuchen 
der Facialisdurchschneidung in leichtem Grade degeneriert gefunden. 

] ) Die Medulla oblongata und die Vierbügelgegend von Ornithorhynohns 
und Eohidna. 1901. 

Beitrag zur vergl. Anat. der Medulla oblongata der Wirbeltiere, speziell 
mit Rücksicht auf die Medulla oblongata der Pennipedier. Monatssehr, für Psyeh. 
und Neurol., Bd. 7. 

4 ) Der Hirnstamm des Delphins. Obersteiners Arbeiten. 1902. 

*) Über die centralen Endigungen und Verbindungen des siebenten nnd 
achten Hirnnerven. Neurol. Centralbl. 1901. 


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Über die F&cialiskerne beim Hohn. 


65 


in dem Kern konstatierte. Hoffentlich werden weitere Unter¬ 
suchungen die Sache noch besser beleuchten. 

Nachdem wir die Bedeutung des Digastricuskerns aufgeklärt 
batten, gaben wir uns die Mühe, die Funktion des Nebenkerns 
zu ermitteln. Die Tatsache, daß dieser sehr klein ist und seine 
Zellen in Größe und Widerstandsfähigkeit gegen beschädigende 
Einflüsse mit denen des Digastricuskerns gewisse Ähnlichkeit 
haben, legte die Vermutung nahe, daß er mit dem unbedeutenden 
Husculus mylohyoideus posterior (Serpihyoideus, stylohyoideus 
Gadow) im Zusammenhänge stehe. Deshalb exstirpierten wir 
bei einem Huhn den betreffenden Muskel, und 21 Tage hernach 
töteten wir das Tier, um die Facialiskerne auf sekundäre Ver¬ 
änderungen zu untersuchen, E 3 ergab sich dabei, daß der 
Digastricuskern keine, der empfindlichste Hauptkern nur eine 
schwache, der Nebenkern dagegen eine sehr deutliche Degeneration 
aufwies. Dieser Befund stärkte unsere Vermutung, und es 
ist — glauben wir — dadurch nahezu zur Gewißheit geworden, 
daß der Nebenkern mit dem Musculus mylohyoideus posterior 
zusammenhängt. Zur Erklärung der schwachon Degeneration 
des Hauptkerns läßt sich die Möglichkeit heranziehen, daß einige 
Facialisäste, welche den Hautmuskel des Halses versorgen, bei 
dem Versuche, sei es während der Operation oder sei es im 
Verlauf der Wundheilung, vielleicht, wenn auch in geringem 
Grade, in Mitleidenschaft gezogen wurden. 

Nnn fragt es sich, welche Bedeutung dem Hauptkern 
zukommt, wenn man annimmt, daß der Nebenkern das Centrum 
für den Musculus mylohyoideus posterior darstellt. Die Antwort 
hierauf ist sehr einfach. Er muß nämlich zum Hautmuskel 
des Halses (Subcutaneus colli) in Beziehung stehen. Diese 
Annahme wird dadurch unterstützt, daß der Kern in bezug auf 
seine Entwicklung bedeutende individuelle Varietäten aufweist 
und diese Varietäten wenigstens zum Teil mit der Ausbildung 
des Musculus subcutaneus colli im Einklang stehen. So fanden wir 
bei einem Hähnchen, dessen Zungenbeingegend von einer dünnen 
Schicht Hautmuskel bedeckt war, den Kern unvollständig ausge¬ 
bildet, dagegen war derselbe bei einem mit mächtigen Hautmuskeln 
ausgestatteten großen Hahn außerordentlich stark entwickelt. 

Wie eingangs hervorgehoben, ist das Ursprungsgebiet des 
Facialis beim Vogel unseres Wissens bis jetzt noch nicht aus- 

JehrbBober f. PajeUilrle und Neurologie. XXT. Bd. ^ 


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Prof. K. Kosaka nnd Assistent E. Hiraiwa. 


reichend studiert. Von den bisherigen Arbeiten aber diesen 
Gegenstand ist die von Brandis 1 ) in erster Linie zu nennen. Er 
sagt: „An der ventralen Grenze der intracerebralen Vestibularis- 
fasern sieht man gleichlaufende Nervenfasern in das verlängerte 
Mark eintreten, welche sich von jenen durch das stärkere 
Volumen, die intensivere Färbung und dadurch unterscheiden, 
daß die einzelnen Fasern hier gröbere Böndel bilden. Es sind 
dieses die Nervenfasern des Facialis. Die einzelnen Stränge, 
die entfernt von einander austreten, vereinigen sich weiter nach 
innen zu einem compacten Zuge, der zwischen den Vestibularis- 
fasern und der aufsteigenden Trigeminuswurzel hindurchtritt, 
aber auch die letztere zuweilen durchbricht. Ungefähr in der 
Mitte zwischen der äußeren Peripherie und der Raphe sieht 
man den compacten Nervenstrang plötzlich verschwinden und 
findet, daß die einzelnen Fasern desselben scharf ventralwärts 
umbiegen und zu einer Gruppe von ziemlich großen multipolaren 
oder bläschenförmig erscheinenden Ganglienzellen ziehen, 
in welchen sie endigen. Man muß diese daher als den 
Facialiskern auffassen. Dieselbe ist in ihrem Auftreten und 
Wiederverschwinden ganz an die Facialisfasern gebunden; 
sie zeigt auf einem Querschnitte höchstens ungefähr 20 einander 
ziemlich nahe liegende Zellen, welche gewöhnlich einen rundlichen 
Kern bilden. Derselbe liegt zwischen der aufsteigenden 
Trigeminuswurzel und dem Abducenskern in der Mitte und 
zwar zugleich dorsalwärts von ersterer nnd etwas ventralwärts 
von letzterem. In ihrer proximalen Fortsetzung, jedoch ohne 
kontinuierlichen Zusammenhang, liegt ein Teil des motorischen 
Quintuskerns”. Der hier beschriebene Facialiskern entspricht 
ohne Zweifel unserem Digastricuskern. Von dem Haupt- und 
Nebenkern vermissen wir in der Arbeit von Brandis jede 
Angabe. Doch auf seiner Fig. 5 (Bd. 49, Taf. V) trifft man 
eine unbenannte Zellengruppe, welche nahe an der ventralen 
Peripherie des verlängerten Marks sich findet und wahrscheinlich 
unserem Hauptkern entspricht. Der Kern, welchen Brandis 
in Fig. 1 seiner Trigeminusabhandlung (Bd. 44, Taf. XXXII) 
als äußeren motorischen Trigeminuskern bezeichnet, ist unserer 
Meinung nach der obere Abschnitt des Hauptkerns, während 

<) Untersuchungen über das Gehirn der Vögel. Arch. für mikroek. 
Anatomie, Bd. 43. 


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Über die Faeialiekerne beim Hobo. 


67 


sein mittlerer motorischer Trigeminuskern, welcher für die 
proximale Fortsetzung des Facialiskerns gehalten wird, nichts 
anderes als der Digastricuskern ist, so weit wir nach seiner 
Fig. 2, Taf. XXXII urteilen. Ferner finden wir in der letzt¬ 
genannten Figur einen unserem Nebenkern entsprechenden 
Kern und eine der oberen Olive ähnliche Zellengruppe, dagegen 
vermissen wir da unseren Hauptkern. Der untere Teil des 
letzteren ist, wie schon erwähnt, häufig sehr schwach entwickelt 
und besonders an Markscheidenfärbungspräparaten nicht deutlich 
za erkennen. Der Schnitt, den die betreffende Abbildung 
wiedergibt, gehört dem Niveau des unteren Abschnittes des 
Hauptkerns und nicht dem des motorischen Trigeminuskerns an, 
welcher weit höher zutage tritt, wenn wir den Schnitt mit den 
Präparaten von einem Huhn vergleichen können. 

Nach Kreis 1 ) biegt sich der Nervus facialis bei der Ente 
nahe am Boden der Rautengrube nach unten zu, um nach 
kurzem Verlauf seinen Kern zu erreichen. Derselbe besteht, 
wie bei den Säugetieren, aus verschiedenen Abteilungen und 
enthält multipolare Ganglienzellen, welche ihre Achsenzylinder 
in der Richtung des austretenden Nerven ausstrahlen lassen. 
Der Autor spricht hier von unserem Digastricuskern wahr¬ 
scheinlich mit Einschluß des Nebenkerus, wie es auch aus seinen 
Abbildungen ersichtlich ist. 

Schulgin*) fand im Vogelhirn zwei Facialiskerne, einen 
oberen und einen unteren. „Um den oberen Kern zu erreichen”, 
sagt er, „tritt ein Teil des Facialis dicht am Acusticus in die 
Medulla, macht, ähnlich dem Säugetier-Facialis, ein Knie um den 
unteren Kern, welchen ein zweiter Teil des Facialis direkt von außen 
erreicht”. Diese zwei Facialiskerne entsprechen, nach Schulgins 
Fig. 9 zu urteilen, unserem Digastricus- und Nebenkern. 

Stieda 3 ) konnte beim Vogel den Facialis vom Acusticus 
unterscheiden und spricht von einer knieartigen Biegung der 
Facialiswurzel, ohne jedoch von dem Facialiskernen selbst etwas 
zu reden. Auch Turner 4 ) konnte bei Vögeln keine Facialis¬ 
kerne finden, er nimmt sogar an, daß der Acusticus und Facialis 

*) Zur Kenntnis der Medulla oblongata des Vogelhirns. 1882. 

3) Phylogenesis des Vogelhirns. 1885. 

3) Stadien über das centrale Nervensystem der Vögel und Säugetiere. 1868. 

4 ) Morphology of the avian brain. Joum. of comp. Neurology. Vol. 1. 

5 * 


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Prof. JL Kofftka and Assistent E. Hiraiwa. 


im Vogelhirn eine gemeinsame Wurzel haben. Nach Gadow 1 ) 
liegen die Ursprnngszellen des Nervus facialis beim Vogel schräg 
ventral and median von dem Gangliencomplex der sogenannten 
hinteren Acusticuswurzel oder der aufsteigenden Trigeminus¬ 
wurzel und scheinen der nicht ganglionösen Säule des Seiten¬ 
horns anzugehören. Ob diese Zellen als solche des Digastricns- 
oder Hauptkerns oder der beiden Kerne oder auch irgend eines 
anderen Kerns anzusehen sind, können wir nach Gadows 
Fig. 7, Taf. XLI gar nicht entscheiden. 

Was die Wurzelfasern des Nervus facialis anlangt, so sind 
wir nicht in der Lage, ihren Verlauf genau anzngeben. Nur 
so viel können wir an unseren Weigertschen Präparaten 
konstatieren, daß die aus dem Haupt-, Neben- und Digastricuskern 
entspringenden Fasern zuerst dorsalwärts emporsteigen und 
sich in einer Höhe, welche ungefähr der Mitte zwischen dem 
Digastricnskern und dem Boden der Bautengrube entspricht, 
plötzlich umbiegen, um dann in den ventro-lateralwärts liegenden 
Austrittsschenkel des Nervus facialis überzugehen. Ob in dieser 
Biegungsstelle kein Zwischenstfick existiere, wie es Brandis 
behauptet, können wir nicht mit Sicherheit entscheiden. 

Da die Facialiskerne der nicht operierten Seite bei allen 
Versuchen ganz intakt blieben, so muß ein gekreuzter Ursprung 
des Facialis beim Huhn in Abrede gestellt werden. 

Znm Schlüsse erlauben wir uns einige Zeilen Aber die 
Facialiskerne der Ente, welche wir an einer Reihe von 
Weigertschen Präparaten untersuchten, hinzuzufügen. Auch 
dieses Tier hat 3 Facialiskerne, .welche im wesentlichen mit 
denen des Huhns übereinstimmen. Wenn wir bei der Ente über¬ 
haupt etwas Charakteristisches hervorheben könnten, so wäre 
Folgendes bemerkenswert: 

1. Den Nebenkern fanden wir verhältnismäßig stark ent¬ 
wickelt 

2. Das obere Ende des Digastricuskerns und das untere 
Ende des motorischen Trigeminuskerns trafen wir zugleich in 
einer Höhe, wo der letztere ventro-lateral vom ersteren und 
ventro-medial vom mächtigen sensiblen Trigeminuskern zn 
sehen war. 

Okayema, im Dezember 1908. 

*) Vögel. Bronne Klanen und Ordnungen des Tierreiche. 


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Über die Faeisliekerne beim Hahn. 


69 


Hier möchten wir Herrn Prof. Dr. H. Obersteiner unseren 
herzlichsten Dank anssprechen, weil unsere Arbeit durch 
seine Güte in diese Zeitschrift anfgenommen worden ist. 


Erklärung der Abbildungen auf Taf. 1 und 2. 

Fig. 1. Querschnitt der Medulla oblongata im unteren Abschnitt der 
Facialiskerne. Hahn, 18 Tage naoh Daroheehoeidnng des Faoialis oberhalb der 
Abgangsstelle des Nervus digastricus. 

Fig. 2. Querschnitt der Medulla oblongata durch den mittleren Teil der 
Facialiskerne. Huhn, 17 Tage nach Durchschneidung des Faoialis unterhalb 
der Abgangsstelle des Nervus digastricus. 

Fig. 3. Querschnitt der Medulla oblongata durch das obere Ende des 
Hauptkerns, Huhn, 21 Tage nach Exstirpation des Musoulus digastricus. 

Fig. 4. Degenerierte Zellen des Hauptkerns. 21 Tage naoh Duroh- 
sohneidung des Facialis unterhalb der Abgangsstelle des Nervus digastricus. 
Vergr. Leitz, Obj. 7, Ooul. 2. 

Fig. 5. Degenerierte Zellen des Digastricuskerns. 21 Tage nach Exstir¬ 
pation des Musculus digastricus. Vergr. Leitz Obj. 7, Ocul. 3. 

In Fig. 1 bis 3 sind die veränderten Zellen rot eingezeiohnet. 


Erklärung der Bezeichnungen in den Figuren. 

F = Hauptkern. 

N = Nebenkern. 

Dig. = Digastriouskern. 

Ol = Eine der oberen Olive ähnliche Zellengruppe. 

G = B ran di s großzelliger Kern. 

K — Brandis kleinzelliger Eern. 

E = Brandis Eokkern. 

D = Deiters Eern. 

Yg = Vestibularisganglion. 

VI es Abduoenskem. 

Vd = Der innere motorische Trigemiouskern von Brandis. 

Vm = Motorischer Trigeminuskem (der äußere motorische Trigemiouskern) von 
Brandis. 

V 9 = Sensibler Trigeminuskern. 

B ss Eine intaktbleibende große multipolare Zelle im Hauptkern. 

Jf = Einschnitt zur Markierung der operierten event. nicht operierten Seite. 


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Über das Verhalten des Blutdruckes bei gewissen 
psychopathischen Zuständen. 

Vortrag vor der IX. Versammlung mitteldeutscher Psyohlater und 

Neurologen. 

Von 

Dr. W. Älter-Leubua. 

(Mit Tafel IU-VI.) 

Meine Herren! 

Ich möchte im folgenden Ihre Aufmerksamkeit für einige 
Ergebnisse systematischer Blutdruckmessungen bei Gesunden 
und Kranken in Anspruch nehmen, die neben einem gewissen 
tiieoretischen Interesse auch einige praktische Bedeutung bean¬ 
spruchen dürften. 

Zunächst gestatten Sie mir ein paar einleitende Bemerkungen. 

Der Blutdruck ist bekanntlich im wesentlichen eine Kom¬ 
promißerscheinung aus der Anpassung des Gefäßlumens an seinen 
Inhalt, d. h. er entspricht geradezu dem Gegenseitigkeitsrerhältnis 
zwischen Blutmenge und Gefäßwiderstand. Von diesen beiden 
Faktoren ist der eine, die Blutmenge, im allgemeinen eine be¬ 
kannte und konstante Größe, die nur geringen und ziemlich 
gesetzmäßigen Änderungen unterworfen ist. Es sind das die ans 
der regelmäßigeu Flüssigkeitszu- und Abfuhr hervorgehenden 
Schwankungen, die sich ohnehin beim Gesunden in annähernd 
exakter Balanzierung ausgleichen. Aber auch gegenüber den 
etwaigen Mehrforderungen, die sich gelegentlich an den Gefä߬ 
querschnitt stellen, scheint durch eine Art automatischer An¬ 
passung wenigstens so lange eine Konstanz der Beziehungen 
garantiert zu sein, so lange sie nicht allzu extreme Ansprüche 
bedeuten. Jedenfalls bleiben die Schwankungen des Blutdruckes 


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Verhalten des Blutdruckes bei gewissen psyobepathisohen Zuständen. 71 

unter dem Einfluß einer in normalen Grenzen variierenden 
Flüssigkeitsdurchspülung so gering, daß sein ihnen zugehörender 
Koeffizient, die Blutmenge, wie gesagt als eine konstante und 
bekannte Größe bewertet und beurteilt werden kann. 

Anders steht es mit dem zweiten Faktor, mit dem Ver- 
halten des Gefäßsystems. Das kann in seiner Zentrale wie in 
seiner Peripherie jederzeit sehr erhebliche Änderungen erfahren, 
für die ein beherrschender äußerer Einfluß keineswegs immer 
das maßgebende bleibt. Vielmehr kann der ganze Kompromiß, 
auf dem der normale Blutdruck beruht, in jedem Augenblick 
durch einen Zuwachs oder eine Abnahme an Herzenergie, durch 
eine Erweiterung oder Verengerung des Gefaßrohres sehr ent* 
schieden in Frage gestellt werden, ohne daß Herztonus und 
Gefäßspannung dabei anderen als endogenen Befehlen gehorchen 
— wenn diese freilich auch in letzter Linie von außen her ein¬ 
gefordert sein können. Denn diese beiden Komponenten des 
Blutdruckes sind ja im Grunde, in ihrer Konstanz wie in ihren 
Alterationen, nur ein Teil jener komplizierten Vorgänge, die in 
ihrer Gesamtheit die Vasomotion im weitesten Sinne repräsen¬ 
tieren und damit wie alle zu ihr gehörigen Erscheinungen in 
ihren Beziehungen prinzipiell und ausschließlich an zentrale 
Regulierungen gebunden. Wenigstens kennen wir unter nor¬ 
malen Verhältnissen keinen anderen Weg zur Beeinflussung der 
Vasokonstriktoren und Vasodilatatoren, der energiesteigernden 
und energiehemmenden Herznerven, als über die entsprechenden 
Centren in der Medulla. 

Freilich besteht in der Norm auch hier ein Kompromiß, 
der die Konstanz der Durchschittswerte garantiert. Nur ist 
dieser Kompromiß eben wesentlich labilerer Natur. Er kann 
wie gesagt jederzeit außer Kurs gesetzt werden, sobald direkte 
oder reflektorische, isolierte oder kombinierte Reizungs- und 
Läbmungsprozesse eine Präponderanz des einen Faktors be¬ 
dingen. Die Folge ist dann sofort eine Störung im normalen 
Herz- und Gefäßtonus, die sich bei der Untersuchung des Blut¬ 
druckes als ein Anstieg oder Abfall der Kurve präsentieren 
wird. Das heißt: der Blutdruck antwortet, „wie ein empfind¬ 
liches Reagens auf alle Einflüsse”, die jene Centren lähmend oder 
erregend angreifen. Und deren Zahl ist nicht gering. Es gehören 
dazu als direkte Einwirkungen neben manchen physiologischen 


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72 


Dr. W. Alter-Leubu*. 


Vorgängen eine Menge pathologischer Prozesse, vor allem eine 
Reihe von endogenen und exogenen Vergiftungen. Ich erinnere 
da auf der einen Seite nur an die Hypervenosität, auf der an¬ 
deren an das Amylnitrit und seine extremen Antipoden, das 
Strychnin oder die Nebennierenpräparate. Freilich tritt das 
alles zurück gegenQber den wichtigeren reflektorischen Bean¬ 
spruchungen der Centren, wie sie zunächst durch die pres- 
sorischen und depressorischen Nervenbahnen, und durch die sub¬ 
ordinierten Rückenmarkscentren zustande kommen. Noch bedeu¬ 
tender ist aber vielleicht ein dritter Komplex reflektorischer 
Einwirkungen, nämlich diejenigen, die über die superordinierten, 
die höchstwertigen Reflexbahnen verlaufen, d. h. die vaso¬ 
motorischen Alterationen, die das Großhirn selbst vermittelt. 

Denn daß das Großhirn einen erheblichen Einfluß auf die 
Regulierung der Vasomotion bat, ist eine feststehende Tatsache. 
Man kennt beim Hunde geradezu ein übergeordnetes vasomoto¬ 
risches Rindenzentrum am Sulcus cruciatus. Man weiß, daß die 
Reizung der Hirnschenkel in intensivster Weise alle Gefäße zur 
Kontraktion bringt und die Erfahrung jeden Tages lehrt die 
Bedeutung psychischer Vorgänge für den Gefäßtonus. 

Besonders die Schwankungen im Gebiete des Affektlebens 
pflegen sich mit einer gewissen Vorliebe in begleitenden Alte¬ 
rationen der Vasomotion auszuprägen. Wir wissen sogar auf 
Grund zahlreicher Beobachtungen, daß bestimmte Stimmungen 
und vor allem bestimmte Stimmungsschwankungen auch zu ganz 
bestimmten Störungen in der Vasomotion, zu einer eindeutigen 
Läsion des normalen Gefäßtonus und damit zu einer correlaten 
Alteration der normalen Blutdruckkurve führen können. Und 
zwar sind dabei nach den übereinstimmenden Mitteilungen aller 
Untersucher die entsprechenden Beziehungen in der Regel so 
geordnet, daß sich eine Steigerung der Gefaßspannung vor¬ 
wiegend bei Affekten der Unlust, der Angst und des Ärgers 
findet, während fröhliche und heitere Stimmungen negative 
Blutdruckschwankungen zu bedingen pflegen. 

Mit solchen Feststellungen ist dann aber auch nicht nur 
eine Berechtigung, sondern geradezu eine Verpflichtung zu der 
Annahme gegeben, daß das nervöse Substrat für den Teil der 
psychischen Leistungen, der in der Gestaltung des Stimmungs- 
lebens zur Geltung kommt, gewisse enge Beziehungen zu kor- 


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Verhalten dee Blutdruckes bei gewissen psychopathischen Znständen. 73 


tikalen oder sab kortikalen Vasomotionsterritorien oder za den 
präsidierenden medullären Centren der Vasomotion haben muß. 1 ) 

Diese Prämisse legt nun ihrerseits wieder einen anderen 
Gedanken sehr nahe. Wenn solche Beziehungen tatsächlich 
existieren — and dafür spricht eben alles — spielt denn dann 
anch wircklich immer der Affekt die Rolle des agent provocateur 
gegenüber der Yasoregulation oder kehrt sich etwa auch bis¬ 
weilen das Verhältnis um und resultiert zum mindesten gelegent¬ 
lich und unter pathologischen Bedingungen einmal eine Stimmungs- 
schwankuug, eine Verstimmung im weitesten Sinn aus einer 
primären Alteration in der Vasomotion, die sich dem Beobachter 
schon vorher in dem Verhalten des Gefäßtonus angezeigt hat. 
Es ist das eine Frage, die zweifellos berechtigt ist und deren 
Beantwortung gerade für uns nach verschiedenen Richtungen 
hin von Wert sein kann, wenn sie auch von vornherein un¬ 
möglich erscheinen mußte, so lange wir auf unsere bisherige 
Untersnchungsmethodik und Technik angewiesen waren. 

Denn die älteren Apparate zur Blutdruckmessung waren 
für solche Zwecke nicht verwertbar. Sie sind alle viel zu groß 
und kompliziert, viel zu subtil, als daß sie jederzeit, zumal bei 
unseren Kranken hätten Verwendung finden können. Erst seit 
kurzem besitzen wir ein Instrument, das da allen Anforderungen 
an Handlichkeit und Stabilität genügt, in dem Gärtnerschen 
Tonometer. Seine Konstruktion und Anwendung dürfte Ihnen 
allen bekannt sein. 

Seine einwertende Vergleichung mit anderen Blutdruck¬ 
messern ist wiederholt und von verschiedenen Seiten her 
erfolgt — zuletzt in einer ebenso wertvollen wie gründlichen 
Arbeit von Neu aus der Erbschen Klinik. Die dabei ge¬ 
wonnenen Erfahrungen rechtfertigen nicht nur die ausgedehnteste 
Verwendung des Apparates, sondern sie legitimieren auch die 


i) loh habe hier, wie überall im Folgenden, absichtlich den Umstand unbe¬ 
rücksichtigt gelassen, daß der Zustand des peripheren Blutdruckes keinen eindeu¬ 
tigen Anhalt für seine Gestaltung innerhalb der nervösen Centren gibt, sondern 
daß da ebensowohl Parallelitäten wie rikariierende Kontraste möglich sind. Da 
entscheidende Feststellungen darüber heute noch nicht möglich sind, können sich 
alle Erwägungen eben nur auf den zunächst erhebbaren Befund fixieren. Nur 
muß man sieh dabei immer dieses Umstandes als einer eventuell denkbaren Fehler¬ 
quelle an schiefer Argumentation bewußt bleiben. 


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Dr. W. Alter-Leubus. 


Konstruktion wissenschaftlicher Anschauungen auf der Basis der 
mit ihm erzielten Untersuchungsergebnisse. 

Das Tonometer kommt in zwei verschiedenen Adjustierungen 
in den Handel, in Verbindung mit einem Quecksilbermanometer 
und mit einem Aneroid. Ich habe lange Zeit beide Modifikationen 
nebeneinander benutzt und dabei gefunden, daß im allgemeinen 
das Quecksilbermanometer auch hier die exakteren Zahlen an¬ 
zugeben scheint, daß aber in den relativen Werten die Differenzen 
ziemlich unerheblich sind. Die absoluten Werte zeigt das Queck¬ 
silbermanometer höher, es ist das aber eigentlich kein Vorteil, 
sondern ein Fehler, denn nach den Untersuchungen von Neu 
gibt es eben stets einen erheblich höheren Blutdruckwert an, 
als die direkte Druckbestimmung in dem betreffenden Gefäß, 
einen Druck, der dem Karotidendruck auch hinsichtlich der 
Schwankungsbreite sehr nahe kommt, wenn er auch unter 
seinem mittleren Niveau bleibt Die Quelle dieses Fehlers, der 
natürlich auch bei dem Metallmanometer kaum ausgeglichen sein 
dürfte, liegt in dem die Gefäße bedeckenden Gewebe, das einen 
individuellen Überdruck zur Kompression beansprucht. Daher 
ist es auch von größter Bedeutung, daß alle zu vergleichenden 
Messungen an derselben Stelle gemacht werden. Aber auch 
Stellung und Lage muß immer dieselbe sein, auch sie ist von 
einem bisweilen gar nicht unbeträchtlichen Einfluß auf den Blut¬ 
druck, der bei horizontaler Rückenlage jedenfalls die niedrigsten 
Zahlen zeigt. 

Ich habe daher meine Blutdruckbestimmungen, wo 
es irgend anging, bei horizontaler Rückenlage der Ver¬ 
suchspersonen and immer an dem gleichen Finger der 
gleichen, stets in Herzhöhe gehaltenen Hand vorge¬ 
nommen; es wurde auch stets darauf geachtet, daß die be¬ 
treffenden Individuen schon einige Minuten vor der Messung 
Rückenlage eingenommen hatten. Jede Einzelbestimmung wurde 
durch eine Nachmessung kontrolliert, bei sich etwa ergebenden, 
übrigens stets minimalen Differenzen wurden die Mittelwerte notiert 
DieResultate dieser Messungen worden dann inKurven eingetragen. 

Um mir ein brauchbares Vergleichsmaterial zu verschaffen, 
hatte ich von vornherein auch gesunde Wartpersonen in den 
Kreis meiner Untersuchungen gezogen — die Feststellungen 
früherer Beobachter konnten mir deshalb nicht genügen, weil 


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Verhalten des Blutdrnckes bei gewissen psychopathischen Zuständen. 75 

ich yor allem Wert darauf legen mußte, Verlaufskur Yen Aber 
lange Perioden hinweg zu erhalten. Dabei habe ich natörlich 
auch eine Reihe Yon anderweitigen Erfahrungen gesammelt, die 
indessen im wesentlichen mit schon Bekanntem zusammenstimmen. 

Dazu gehört einmal die Tatsache, daß in der Norm die 
Schwankungsbreite des Blutdruckes an gewisse Grenzen ge¬ 
bunden ist. Im Durchschnitt liegt sie zwischen 90 und 110 mm 
bei einer Eventualbreite von etwa 80 bis 130 mm. Nach früheren 
Veröffentlichungen soll dabei der Blutdruck bei Männern durch¬ 
schnittlich etwas höher sein als bei Frauen. Ich kann das nicht 
bestreiten, aber auch nicht unbedingt bejahen; im allgemeinen 
scheint es zu stimmen. Jedenfalls habe ich die allmähliche 
Hebung des Blutdruckniveaus, die bei zunehmenden Jahren ein- 
tritt, bei Männern immer sehr viel prononzierter gefunden, als 
bei Frauen. Aber viel wichtiger als das alles ist ein anderer 
Punkt, auf den ich deshalb auch von vorneherein eine besondere 
Betonung legen möchte: der Blutdruck ist eine Erscheinung 
von exquisit individuellem Gepräge. Die Schwankungsbreite ver¬ 
schiedener Menschen kann innerhalb der Eventualbreite an sehr 
verschiedenen Stellen liegen. Aber eines muß unbedingt fest¬ 
gehalten werden: Jedes Individuum hat seine eigene und be¬ 
stimmte Exkursionsbreite und zwar sowohl für Durchschnitts¬ 
werte wie für Grenzzahlen. Die letzteren werden selten erreicht 
und ihre Überschreitung läßt a priori an eine über die Breite 
des Normalen hinausgehende Motivierung denken. 

Allerdings resultieren auch aus gewissen physiologischen 
Vorgängen bestimmte und geradezu gesetzmäßige Verschiebungen 
im Blutdruckniveau. Dahin gehört z. B. seine wechselnde Gestalt 
im Laufe der Jahreszeiten. Sie ist wohl im wesentlichen eine 
einfache Temperaturwirkung; jedenfalls geht der Blutdruck der 
Außentemperatur im allgemeinen direkt parallel: im Sommer 
steigen die Kurven, im Winter fallen sie. Eine besonders wich¬ 
tige und ausgeprägte Alteration im Normalniveau repräsentiert 
ferner die Menstruation. Sie führt in ihrem Verlauf sehr oft 
zu einem weiteren Ausschlagen der Kurven, zu steilen 
Tagesschwankungen mit jähen Exacerbationen und Abfällen. In 
der Regel nähern sich während ihrer Dauer die Durchschnitts¬ 
werte mehr der oberen Grenze der Eventualbreite Es können 
aber auch starke negative Schwankungen wenigstens voraus- 


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76 


Dr. W. Alter-Leubu». 


gehen, interkurrieren oder folgen, ohne daß dem allen ein gesetz¬ 
mäßig typisches Gepräge zuzukommen scheint. Aber Verän¬ 
derungen an der Kurve fehlen wie gesagt selten, sie treten 
auch in der Regel schon vor Beginn der Blutung auf nnd über¬ 
dauern sie bisweilen um Tage. Besonders bei nervös sen¬ 
siblen Personen treten sie oft ebenso extensiv wie intensiv hervor. 
Da scheint der Blutdruck überhaupt viel tangibler und leichter irri¬ 
tierbar zu sein. Ruhige Menschen mit robusten Nerven bieten fast 
plateauartig verlaufende Kurven mit geringen Ansschlägen dar, 
lebhafte, leicht erregbare Naturen spiegeln im Verhalten ihrer 
Vasomotion manchmal vollständig, immer jedenfalls viel weit¬ 
gehender alle psychischen Emotionen wieder, denen sie ausgesetzt 
sind. Stets bleiben aber, bei allen Zuständen und Temperaments¬ 
lagen, die sich nicht wesentlich von der Breite des normalen 
entfernen, die Ausschläge in legitimen Grenzen nnd die Werte 
des Blutdruckes ziemlich konstant: die Kurven zeigen im all¬ 
gemeinen ein gleichförmiges und typisches Bild. Als Beispiele 
hierfür können die Kurven 1 bis 8 dienen. 

Kurve 1. Tageskurven von Gesunden. Auch bei stärkeren 
Schwankungen Einhalten der Grenzen. Typische Gestaltung der 
Tageskurve. Der Typus ist bei allen 4 Kurven der gleiche, er 
scheint auch der häufigste zu sein. 

Kurve 2. Eine Reihenfolge von Tageskurven eines gesunden 
Wärters. Typische Gestaltung, selten unterbrochen. Am 2. Einfluß 
der Abkühlung; Einfluß von Muskelarbeit. 

Kurve 3. Monatskurve. 

Kurve 4. Muskelarbeit, Fieber, Exzeß in Baccho et venere 

Bei Kurve & liegt die individuelle Schwanknngsbreite höher. 

Kurve 6. Gesundes Mädchen. 

Kurve 7. Ebenso. 

Kurve 8. Intensivere Schwankungen, starke Alterationen 
bei der Periode. 

Schon an einer der demonstrierten Kurven sehen Sie neben 
dem Effekt physiologischer Einwirkungen auch Blutdruckalte¬ 
rationen auf pathologischer Basis. Ich meine die Kurve Nr. & 
mit ihrem starken Absinken unter dem Einfluß des Fiebers and 
ihrem noch viel intensiveren Anstieg nach dem Exzeß. 

In der Tat gehen nicht nur die eigentlichen Herz- and 
Gefäßleiden, sondern sehr zahlreiche pathologische Prozesse mit 


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Verhalten des Blutdruckes bei gewissen psyohopathischen Zuständen. 77 

Störungen in der Vasomotion einher — ich bitte nur immer den 
Begriff recht weit zu fassen. Es ist das zunächst eine Reihe 
körperlicher Krankheitszustände, von denen ich indessen hier 
nur zwei unmittelbar interessierende erwähnen will. Einmal das 
Fieber. Während seiner Dauer senkt sich das Blutdruckniveau 
meist nicht unerheblich, wenn auch freilich immer in gewissen 
quantitativen Unterschieden, die außer von individuellen Bedin¬ 
gungen auch von dem eigentlichen Krankheitsprozeß abhängig 
zu sein scheinen. Ich kann Ihnen hier zwei Kurven von sonst 
uninteressanten, verblödeten Kranken zeigen, bei denen eine 
interkurrierende Influenza die individuelle Schwankungsbreite 
sehr intensiv disloziert hat. 

Kurve 9 und 10. 

Weiter verdienen dann noch eine ganz besondere Beach¬ 
tung die bedeutenden nnd zweifellos sehr wichtigen Blutdruck¬ 
abnormitäten, die in ganz konstanter Weise gewisse schwere 
Gefäßerkrankungen begleiten. Ich möchte da nur auf die 
hohen Blutdruckzahlen hinweisen, die bei Arteriosklerotikern 
Vorkommen und die durch ihr weites Herausragen aus der nor¬ 
malen Exkursionsbreite in manchen Fällen geradezu eine dia¬ 
gnostische Bedeutung gewinnen können. Ich zeige Ihnen dann 
noch entsprechende Kurven: ich will das Faktum aber deshalb 
hier schon so ausdrücklich hervorheben, weil es tatsächlich auch 
vom psychiatrischen Standpunkt aus von größtem Interesse ist. 

Denn außer bei der Arteriosklerose und bei gewissen 
Nierenkrankheiten finden sich die gleich hohen Blutdruckkon¬ 
stanten auch bei Individuen, die bei scheinbar vollkommen 
intakter Körperlichkeit an gewissen psychopathischen Zuständen 
leiden. Ebenso dürfte die entgegengesetzte Erscheinung, das 
Auftreten und Einhalten von abnorm niedrigen Blutdruckwerten 
außer beiden subnormalen Temperaturen agonaler Zustände gleich¬ 
falls nur in psychotischen Zuständen statthaben. Hier wie dort 
kann der Blutdruck hart an die Grenzen reichen, die theoretische 
Erwägungen als die äußersten Lebensbedingungen statuiert 
haben. Ja es läßt sich geradezu nachweisen, daß bestimmte 
psychische Erkrankungen und pathopsychische Zustandsformen 
in einer ebenso auffälligen wie charakteristischen und beinahe 
gesetzmäßigen Weise mit vasoregulatorischen Störungen, mit 
spontanen oder lang anhaltenden Veränderungen des Blutdruckes 


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78 


Dr. W. Alter-Leabus. 


in seinen relativen nnd absoluten Werten einhergehen können. 
Freilich sind das nach meinen Erfahrungen nicht einheitliche 
Krankheitsgruppen, die in irgend einem der heute gütigen 
Systeme an einer bestimmten Stelle stehen. Es sind vielmehr 
pathologische Geisteszustände, die aus klinisch kaum von ihnen 
abgrenzbaren Krankheitsbildern eben nur durch diese eigen¬ 
tümlichen Beziehungen heransragen nnd die dabei anscheinend 
aus recht weit voneinander entfernten Fächern der System¬ 
schränke herstammen. Nur eine kleine Schar analoger Patho- 
psychien kann vielleicht Prätensionen auf eine prononziertere 
Isolierung machen. Aber auch sie bieten anderseits soviel Über¬ 
gänge in verwandte Erscheinungsformen, daß sich eine wirk¬ 
liche Sonderstellung auch hier schließlich nur auf der kon- 
kurrienden vasomotorischen Alteration basieren läßt. 

Ehe ich auf Einzelheiten eingehe, wül ich noch einige all¬ 
gemeine Gesichtspunkte hervorheben, die auf alle diese Zu¬ 
stände Geltung haben. 

Wo überhaupt der Blutdruck bei Neurosen und Psychosen 
interessiert erscheint, zeigt er in der Regel eine gegen die Norm 
erweiterte Exkursionsbreite, ohne daß sich daraus von vorneherein 
irgend welche verpflichtenden Beziehungen zur Psyche zu er¬ 
geben brauchen. Jedenfalls imponiert die Erscheinung aber, 
wie Sie sehen werden, bisweilen bei all den in Betracht kommenden 
geistigen Störungen in sehr auffälliger Weise. Und zwar sind 
meist nicht nur die Tagesschwankungen viel intensivere, son¬ 
dern die Grenzen der gesamten individuellen Exkursionsfähigkeit 
treten weiter auseinander. Die Kurven verlieren ihre Regel¬ 
mäßigkeit, ihre typische Gestaltung und ihre Niveaukonstante. 

Dazu kommt noch eins. Stellt die Vasomotion immer ein 
empfindliches Reagens für Einwirkungen aller Art dar, so verschärft 
sich das hier noch weit mehr. Die vasomotorischen Centren können 
zu einem wahren Tummelplatz werden für alle jene endogenen und 
exogenen Beeinflussungen, von denen ich gesprochen habe. Schon 
die periodischen Alterationen auf physiologischer Basis treten 
gewöhnlich mit ganz anderer Schroffheit hervor. So führt die 
Menstruation bisweilen zu ganz extremen Einwirkungen. 
Einzelne der folgenden Kurven werden das besonders illu- 
trieren — sehr ausgeprägt, war es immer in dem Falle, der 
der Kurve 11 zugrunde liegt 


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Verhalten des Blutdruckes bei gewissen psychopathischen Zuständen. 79 

Der Aasschlag ist da jedenfalls viel größer als bei den 
meisten Gesunden. Aber auch alle reflektorischen and reaktiven 
Inanspruchnahmen gehen unter Umständen viel weiter als in 
der Norm. Oft lösen sie geradezu prinzipielle Reaktionsprozesse 
aus. Das gilt ganz besonders von Änderungen in den klima¬ 
tischen Bedingungen. Und zwar macht sich da nicht nur ein 
Wechsel der Außentemperaturen sehr entschieden geltend, son¬ 
dern auch bisweilen das Schwanken der Luftdruckwerte. 
Wenigstens habe ich wiederholt ganz auffallende Parallelen oder 
Eonstraste zwischen Blutdruck und Luftdruck 1 ) gefunden, die sich 
in einzelnen Fällen bis zu einer ganz engen Verknüpfung 
steigern. Es scheint sich das übrigens nicht nur auf Geistes¬ 
kranke zu beschränken. Ich habe hier zwei Kurven von ge¬ 
sunden, wenn auch entschieden nervösen Wartpersonen — 
Kurve 12, 13 — die das gleiche Verhalten zeigen. Sie sehen 
da Luftdruck- und Blutdruck im Kontrast — es ist das auch 
sonst das häufigste Verhältnis, d. h. da, wo überhaupt derartige 
Beziehungen existieren. Für gewöhnlich fehlen sie, aber unter 
pathologischen Bedingungen dürften sie häufiger stattfinden als 
unter normalen. Ich komme später noch auf sie zurück. 

Bei alledem muß aber auch hier in jedem Falle das Vor¬ 
handensein eines wenn auch umgestalteten, so doch typisch¬ 
individuellen Niveaus vorausgesetzt werden. Es darf aber auch 
nicht vergessen werden, daß eine eventuelle pathologische Dis¬ 
lozierung schon in der normalen Eventualbreite ausreichend 
weite Grenzen zur Verfügung hat. Wenn ich bei einem Kranken 
ein Durchschnittsniveau von 120 konstatiere, so ist es natürlich 
ein großer Unterschied für die ganze Auffassung, ob das etwa 
seine normale Breite vorstellt oder ihr naheliegt oder ob er 
z. B. in der Norm ein Niveau von 90 hat. Ebenso kann aber 
unter Umständen, bei einem vielleicht arteriosklerotisch be¬ 
dingten Individualniveau von 140 bis 150 eine konstante Ein¬ 
stellung auf 110 schon eine recht erhebliche negative Schwan¬ 
kung bedeuten. Man darf also aus den absoluten Werten einen 
Schluß erst dann ziehen, wenn man durch entsprechende Grund¬ 
lagen nach dieser Richtung hin vor Irrtümern und Fehlern ge¬ 
schützt ist 

•) Die Zahlenweite der benetzten Luftdruckkurven verdanke ich dem Ent¬ 
gegenkommen der kgL Sternwarte zu Breslau. 


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80 


Dr. W. Alter-Leubm. 


Schließlich muß noch ein Umstand prinzipiell berück* 
sichtigt werden, weil andernfalls schiefe Urteile und falsche 
Schlüsse kaum ausbleiben dürften. Die ersten Blutdruckbestim- 
mungen sind höchstens bei ganz uninteressierten Individuen — 
und auch da nur mit Vorsicht! — verwertbar. Denn jedes leb¬ 
haftere Achtgeben, jede stärkere Teilnahme an der Messung 
fälscht ihre Resultate. Daher lassen sich aus ihren Ergebnissen 
erst dann verpflichtende Schlüsse ziehen, wenn die Blutdruck¬ 
bestimmung für den Kranken eine gleichgiltige Gewohnheitssache 
geworden ist Das dauert nicht selten tagelang, bei manchen 
Kranken erreicht man es überhaupt nicht. Hier ist dann eben 
das Tonometer nicht zu brauchen. Aber auch sonst empfiehlt es 
sich, die Kurven erst nach 8, 10 bis 14 Tagen anzusprechen. 

Meine Herren, unter diesen allgemeinen Voraussetzungen 
bitte ich Sie nun, die einzelnen psychotischen Krankheitsformen 
zu betrachten, von denen ich zu behaupten wage, daß sie sich 
zum Teil in gesetzmäßiger Weise mit vasomotorischen Alte¬ 
rationen verbinden. Wie Sie sehen werden, gehe ich sogar noch 
etwas weiter, wenn ich mich natürlich auch mit allen, meinen 
Feststellungen und Schlüssen nur auf mein relativ kleines, aber 
allerdings gründlich durchmustertes Material verpflichten kann. 

Ich habe schon betont, daß zwischen Affekt und Blutdruck 
eine sehr nahe und fast gesetzmäßige Verbindung zu bestehen 
scheint. Ich schilderte dabei die Verhältnisse so, daß sich die 
hohen Blutdruckwerte mit den depressiven und Unlust-Affekten 
vergesellschaften, die niederen mit den manischen und heiteren 
Stimmungen. Das legt nun die Annahme nahe, daß bei der 
großen Gruppe der manisch-depressiven Mischzustände, vor 
allem bei den echt zirkulären Psychosen eine konstante, gleich¬ 
sinnige, d. h. entgegengesetzte Blutdruckkurve zustande kommt. 
Es ist das ja auch ein Gedanke, der weder auf Modernität, noch 
auf Originalität Anspruch machen kann. Ich erinnere nur an 
die alten Theorien von Lange und an die bekannten Meynert- 
schen Anschauungen, die jedenfalls da zu gewissen Erwartungen 
berechtigen können. 

Aber so einfach und klar liegen die Verhältnisse denn 
doch nicht. Wenigstens in allgemeiner Ausdehnung stimmt das 
sicher nicht. Ich habe das vasomotorische Verhalten bei einer 
größeren Anzahl von zirkulären Kranken kontrollieren können. 


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Verhalten des Blutdruckes bei gewissen psychopathischen Zuständen. 81 

Ich habe dabei gefunden, daß die Vasomotion in der Mehrzahl 
der Fälle keineswegs entsprechend interessiert war, das heißt, 
daß da die ausgesprochensten Änderungen in der Affektlage gar 
keinen Einfluß auf die Blutdruckkurve hatten. Hier zeige ich 
Ihnen eine solche Kurve. 

Kurve 14. Bei der Aufnahme bestand eine hochgradige 
manische Erregung bei allgemeiner Desorientierung. Dann trat 
unter Affektintermissionen eine rasche Besserung ein, der noch 
eine kurze reaktive Depression folgte. 

Auch die Kurve 15 gehört hierher. 

Sie läuft über einen längeren Zeitraum, während dessen 
sich der Kranke dauernd in flotter Manie, ohne alle Schwan¬ 
kungen hielt. Dabei stand der Blutdruck im allgemeinen 
trotz gelegentlicher tiefer Intermissionen hoch und hatte, was 
besonders auffällig war, zeitweise sehr lebhafte Beziehungen 
zum Luftdruck, wie Sie das aus Kurve 16 erkennen können. 

Neben diesen wie gesagt häufigeren negativen Typen findet 
sich nun aber eine kleine Zahl von periodischen Affektpsychosen 
reiner Form, bei denen innerhalb eines sonst fast kongruenten 
klinischen Bildes in einer geradezu verblüffenden und bei¬ 
nahe gesetzmäßigen Weise die Blutdruckkurve der Affekt¬ 
kurve parallel oder vielmehr diametral entgegengesetzt ver¬ 
läuft. Es entspricht dem manischen und gesteigerten Affekt 
durchaus und prinzipiell ein Blutdruck von subnormaler Tiefe, 
während in der Depression die Blutdruckwerte oft extrem hoch, 
stets aber über den äußersten normalen Grenzen der Individu¬ 
alitätsbreite liegen. Dabei bleibt das gegenseitige Verhältnis 
im ganzen Verlauf der krankhaften Affektvertonung gewahrt: 
jede, auch die leiseste Stimmungsschwankung prägt sich auch 
am Blutdruck auf das schärfste aus. Ganz besonders schön sieht 
man das in der Begel bei den Affektintermissionen der Über¬ 
gangsperioden. 

Die folgenden Kurven werden Ihnen das demonstrieren: 

Kurve 17. Bei Aufnahme schwere Depression, mit Exacer¬ 
bationen und Abfällen, dann Abflachen und später leichte 
Manie: Blutdruck und Affekt gekreuzt. 

Kurve 18. Erst Hypomanie, dann Eintritt einer Depression 
unter Intermissionen. Schließlich Periode und schwere Ver¬ 
stimmung. 

Jahrb Seher L Feychlatrle and Neurologie. XXV. Bd. (> 


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82 


Dr. W. Alter-Leubus. 


Kurve 19. Magnanscher Typus nach Hirntrauma (Apo¬ 
plexie). Hypomanische Grundstimmung, gekreuzter Verlauf der 
Blutdruckkurve, die in engen Beziehungen zum Luftdruck steht. 

Kurve 20. Durchgeführte Kurve einer Manischen. Zustands¬ 
schwankungen bei Periode. 

Kurve 21. Noch unbestimmt. Vermehrte Schwankungsbreite 
mit stärkerer Akzentuierung der Verstimmung beim Anstieg. 
Charakteristische Valylwirkung, die für eine Vasomotions- 
beteiligung spricht. 1 ) 

Eine einigermaßen brauchbare klinische Abgrenzung dieser 
Formen innerhalb der großen Gruppe ist mir wie gesagt kaum 
möglich. Eine vielleicht verwertbare Erscheinung ist die, daß 
auch auf dem eigentlichen Affektplateau eine gewisse Neigung 
zu zum Teil sogar recht ausgesprochenen Intermissionen zu be¬ 
stehen scheint. Die meisten hierhergehörigen Psychosen nähern 
sich in der Tat dem Magnan sehen Typus. 

Außerdem ist vielleicht charakteristisch, daß in der De¬ 
pression immer ein sehr lebhaftes Krankheitsgefühl besteht, das 
bisweilen sogar in der Exaltation, wenigstens sporadisch hervor¬ 
bricht und ferner, daß während der Depression vielfach die all¬ 
gemeine Funktionsherabsetzung in einem starken Mißverhältnis 
zu allen übrigen Krankheitserscheinungen steht. Ich habe da 
wiederholt die intensivsten und auch subjektiv voll empfundenen 
Hemmungen bei einfachen Insuffizienzen gesehen, denen sich 
nur ganz vorübergehend lebhaftere Unterwertigkeits- oder 
blande Versündigungsideen beimischten. Außerdem pflegt die 
Depression auch bei sehr tiefer Einstellung immer einen leicht 
raisonnierenden Charakter zu tragen, der sich in der Exaltation 
natürlich sehr verstärkt, ohne daß er dabei zu der schweren 
Gereiztheit und Erbitterung führt, die man sonst in der gleichen 
Phase bei entsprechenden Neigungen beobachtet. Vielmehr bleibt 
die Manie in der Regel frei von ernsteren Zügen, wenn auch hin 
und wieder die Erregung einmal recht lebhaft exacerbiert. 

Eine wirkliche Abgrenzung ermöglicht das alles aber 
natürlich in keiner Weise. Sie ist eben nur mit Hilfe des Tono¬ 
meters tunlich. Die mit ihm vorgenoramenen Messungen ergeben 
dann aber auch Resultate, die eindeutig auf enge und ver- 

4 ) Die Beobachtung konnte nicht durchgeftthrt werden, da die Patientin 
in erster Besserung in die Familie zurückkehrte. 


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Verhalten des Blutdruckes bei gewissen psychopathischen Zustanden. 83 


pflichtende Beziehungen zwischen Affekt and Vasomotion hin- 
weisen. Und derartige Beziehungen finden sich nun, wie ich 
schon vorhin andeutete, keineswegs nur bei diesen einfachen, 
primären und reinen Affektpsychosen. Sie charakterisieren viel¬ 
mehr — und zwar zum Teil in viel weiterer Ausdehnung und 
unter viel stärkerem Hervortreten — eine große Beihe perio¬ 
discher Affektschwankungen bei den verschiedensten Geisteskrank¬ 
heiten, zumal bei der Paralyse und bei den Motilitätspsychosen. 

Bei den affektbetonten Zustandsbildern der Paralyse scheint 
die Vasomotion mit Vorliebe in Anspruch genommen zu werden, 
wenigstens bei einem Teil der frischen Fälle. Die individuelle 
Schwankungsbreite kann hier dauernd zwischen den extremsten 
Werten hin- und herpendeln. In Stunden, ja in Viertelstunden wird 
die ganze Totalbreite durchmessen. Dabei fehlt den Kurven meist 
jeder bestimmte Typus, jede Regelmäßigkeit. Ich zeige Ihnen hier 
Tageskurven von Paralytikern. Vergleichen Sie sie, bitte, mit den 
vorhin demonstrierten Tageskurven von Gesunden. 

Kurve 22 enthält Tageskurven von einem Paralytiker: 
Extreme Ausschläge, keine typische Gestaltung. 

Auch die Kurven 23, 24 demonstrieren die gleichen großen 
Schwankungen. 

In allen diesen Varietäten knüpft sich der Blutdruck, den 
ich, wie gesagt, bei der Paralyse häufig interessiert gefunden 
habe, auf das engste an den Affekt, zu dem er in gesetzmäßiger 
Konträrstellung verläuft. 

Offenbar steht die Vasomotion hier aber überhaupt an 
sehr exponierter Stelle. Wenigstens ist die Stabilität der Vaso- 
regnlation außerordentlich gering. Durch jeden Shock wird sie 
über den Haufen geworfen. So kommt es auch unabhängig von 
psychischen Prioritäten bei Paralytikern nicht selten zu Vaso- 
motionsstörungen — entweder in Form reaktiver Ausschläge 
auf äußere Einflüsse hin, oder in Form endogener Revolutionen. 
Dabei habe ich nun mehrfach die interessante Beobach¬ 
tung machen können, daß sich dann auch der Affekt dem¬ 
entsprechend, also sekundär, verschob. So gibt es Fälle von 
Paralyse, bei denen man ganz regelmäßig eintretende und meist 
an kurze Perioden gebundene Vasomotionskrämpfe und scheinbar 
synchron damit schwere Verstimmungen beobachten kann. Bei 
einem solchen Kranken gelang es mir, durch eine Häufung der 

6 * 


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Dr. W. Alter-Leubus. 


Messungen festzustellen, das die Vasomotion bereits zu einer 
Zeit irritiert wurde, wo der Affekt noch im Durchschnittsniveau 
z. B. einer hypochondrischen Depression lag. Erst wenn die 
Blutdruckmessung schon relativ hohe Werte ergab, setzte auch 
die negative Stimmungsschwankung zur Unlust, Unterwertigkeit 
oder Angst ein, immer begleitet von einer lebhaften Unsicherheit 
und Unruhe, von allgemeiner Rat- und Rastlosigkeit. Nach 
einiger Zeit gleicht sich dann alles wieder aus. Der Blutdruck 
sinkt und ihm folgt wieder eine entsprechende Stimmungs¬ 
schwankung, die nun vielfach zu> einer Art reaktiven Euphorie 
führt. Hier sind die betreffenden Kurven. 

Kurve 25,26,27. (Der gleiche Kranke insehr guter Remission!) 

Selbst bei sehr vorsichtiger Deutung derartiger Befunde wird 
man daraus wenigstens soviel folgern dürfen: es muß die endo¬ 
gene Ursache, die die Verstimmung bewirkt, zum mindesten 
auch die Vasomotion stark alterieren, und zwar ist hier offenbar 
die Vasoregulation der empfindlichere Resonanzboden. 

Bedeutet nun aber die Affektverschiebung wirklich nur 
ein gleichzeitiges Mitanklingen oder ist sie schließlich doch als 
ein einfaches Nachklingen aufzufassen? 

Das läßt sich leicht dadurch entscheiden, daß man einem 
solchen Kranken ein blutdrucksteigerndes Mittel gibt Der Effekt 
tritt dann auch rasch ein, und zwar wieder auf beiden Seiten: so¬ 
bald die Vasokonstriktion eine gewisse Höhe erreicht hat, ist 
die Verstimmung da. Ich glaube, dieses Experiment kann ganz 
eindeutig nur in dem Sinne bewertet werden, daß die Vaso¬ 
regulation da eben dem Affekt präsidiert, d. h. daß die Affekt¬ 
verschiebung eine Konsequenz der Alteration in der 
Gefäßspannung ist. Man muß freilich mit solchen Experimenten 
sehr vorsichtig sein. Denn auch bei einer sehr ernsten Inter- 
kurrenz der Paralyse spielt die Vasomotion eine erhebliche 
Rolle: bei den paralytischen Anfällen. Hier war der Blutdruck 
in den von mir beobachteten Fällen beim Einsetzen des Anfalles 
durchweg und zwar bisweilen sehr bedeutend erhöht. Einige 
male konnte ich zufällig beobachten, daß diese Blutdruck¬ 
steigerung, also die Alteration in der Gefaßregulierung, schon 
vor dem Einsetzen aller übrigen Anfallserscheinungen eintrat. 
Dabei konnte ich das nicht nur bei den Anfällen mit Bewußtseins¬ 
verlust und mit Störungen im Projektionssystem, sondern auch 


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Verhalten des Blutdruckes bei gewissen psyohopathisoben Zuständen. 85 


bei den rein psychischen and höchstens durch hochwertige Aus- 
fälle komplizierten Attaken feststellen. Der paralytische Anfall 
scheint sich also, wenigstens in manchen Fällen, za einem sehr 
erheblichen Teil in and mit der Vasomotion abzuspielen, wenn 
ich auch da die Frage nach einer Präponderanz der Blutdruck- 
steigerang noch offen lassen möchte. Aber für die gewöhnlichen 
Affektverschiebungen kommt sie sicher in Frage. Das Verhältnis 
zwischen Blutdruck und Affekt statuiert sich da eben zu einer 
direkten Balance: Afiektverschiebungen bedingen Blutdruck¬ 
schwankungen, Blutdruckänderungen bedingen Affektausschläge. 
Einige Kurven sollen das noch veranschaulichen. 

Kurven 28, 29, 30. Ich möchte aber auch hier ausdrücklich 
bemerken, daß ich in anderen Fällen von Paralyse nicht die 
geringsten Beziehungen zwischen Affekt und Blutdruck ge¬ 
tänden habe. 

Dagegen zeichnet ein dem obigen analoges Gegenseitigkeits¬ 
verhältnis gewisse affektbetonte Zustandsbilder bei Motilitäts¬ 
psychosen aus. Es gibt da Formen, die bei einem exquisit 
chronischen Verlauf mit regelmäßigen periodischen Änderungen 
der Stimmungslage einhergehen. In Anstaltsbehandlung kommen 
solche Kranke häufig nur auf der Höhe dieser Affektverschie¬ 
bungen, die übrigens durch lange Jahre von einander getrennt 
sein können. Es findet sich dann vor allen Dingen ein 
dominierender Affekt mit allen seinen Konsequenzen, es finden 
sich aber auch stets Maniriertheiten, Posen, Stereotypien, Reite¬ 
rationen und Perseverationen, in der Regel auch wenigstens 
Andeutungen von kataleptischen und Echoerscheinungen. Dabei 
ist selbst nach Jahrzehnte langem Bestehen der Krankheit 
eine Demenz gar nicht oder höchstens in Form einer leichten 
quantitativen Einschränkung des Bewußtseinsinhaltes nachzu¬ 
weisen. Einen etwas wunderlichen und verschrobenen Eindruck 
machen die Kranken freilich auch in ihren guten Zeiten, auch treten 
bisweilen gewisse Störungen im Projektionssystem bei ihnen auf. 

Auch von diesen Kranken ist ein Teil dadurch ausgezeichnet, 
daß Affekt und Blutdruck in einer dem obigen gleichsinnigen 
Weise verbunden sind. Ich zeige Ihnen hier eine Kurve, die das 
sehr scharf hervortreten läßt. 

Kurve 31. Wie Sie sehen, geht dabei die Ausschlagsbreite 
der Tagesschwankungen kaum über das normale Maß hinaus. 


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Dr. W. Alter-Leubus. 


Aach die Intermissionen bleiben flach und sind jedenfalls mit 
denen der Paralytiker nicht zu vergleichen. 

Dagegen habe ich bei der Dementia präcox, die ich aller¬ 
dings ganz eng fasse und nur auf die Fälle von Molitätspsychosen 
beschränke, wo tatsächlich eine frühzeitige Verblödung einsetzt, 
nur bei einem sehr kleinen Teil meines einschlägigen Materiales 
eine gewisse Reciprocität zwischen Blutdruck und Affekt ge¬ 
funden- Ich zeige Ihnen hier eine solche Kurve. 

Kurve 32. Es handelt sich da um einen Kranken im Aus¬ 
gangsstadium, der aber zeitweise recht erheblichen gemütlichen 
Erregungszuständen ausgesetzt war; sie prägen sich, wie Sie 
sehen, an der Blutdruckkurve sehr charakteristisch aus. Wie 
gesagt, war hier auch ein reciprokes Verhältnis statthaft. 1 ) Aber 
das dürfte doch eben eine Ausnahmeerscheinung sein, wenn ich 
sie auch noch mit zwei weiteren Fällen belegen kann. Das eine- 
mal — Kurve 33 — bot die Kranke in ihrem allgemeinen Ver¬ 
halten sehr ausgeprägt die typische gemütliche Verblödung dar. 
Dem entsprach eine Blutdruckkurve mit geringer Schwankungs¬ 
und Eventualbreite. Die letztere wurde nur bei der Menstruation 
beansprucht und zwar da ohne eine konkurrierende Stimmungs¬ 
alteration. Außerdem wurde während der Beobachtungszeit nur 
einmal ein erhöhter Blutdruck gemesseu. Das war aber auf¬ 
fälligerweise gerade an dem einzigen Tage, wo die bestehende 
affektive Indifferenz durch einen starken Affekt unterbrochen 
wurde, bei einer lebhaften Verstimmung durch den Besuch eines 
Bruders. Schließlich habe ich noch in allerletzter Zeit bei einem 
ganz frischen Falle von Dementia präcox, der uns in lebhafter 
manischer Erregung zuging, exorbitant niedrige ßlutdruckwerte 
(tagelang 45 bis 55!!) gemessen. 

Aber die Fälle mit dem gegenseitigen Verhalten sind hier 
sicher weit häufiger. Als Beispiele dafür zeige ich die Kurven 
34 und 35 (mit Luftdruckbeziehungen), die auch aus Ausgangs¬ 
stadien stammen und bei deren recht erheblichen Schwankungen 
der Affekt dauernd völlig neutral geblieben ist 

Dagegen gibt es unter den degenerativen Motilitäts¬ 
psychosen der späteren Lebensjahre eine kleine Gruppe von 

*) Dan Letztere legitimiert hier übrigens allein die entsprechende Auffassung, 
denn die Erregungszustände bedeuten zwar immer eine starke Verstimmung, 
aber sie waren auch meist durch eine lebhafte motorische Unruhe kompliziert. 


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Verhalten des Blutdruckes bei gewissen psyohopatbisehen Zuständen. 87 

Kranken, bei denen das wenig prononzierte und ziemlich in¬ 
differente Verhalten, das sie im allgemeinen bieten, in regel¬ 
mäßigen Perioden oder in ungleichmäßigen Intervallen unter¬ 
brochen wird durch jähe und explosive Erregungszustände, oft 
vom größten Typ, die stets durch Affektverschiebungen ein¬ 
geleitet und gekennzeichnet sind. In diesen Fällen scheint nun 
nicht mehr der Blutdruck an der psychischen Alteration teil- 
znnelimen, sondern es ist mir da auch wiederholt gelungen, seine 
Priorität gegenüber der Affektschwankung nachzuweisen. In den 
Kurven 36, 37 finden Sie solche jähe Exacerbationen des Blut¬ 
druckes. Sie sehen, daß ihnen ausnahmslos lebhafte Erregungen 
unter starken Affekt-Verlagerungen entsprechen. 

Diese Fälle leiten direkt über zu einer anderen Gruppe 
von psychotischen Zuständen, die eine im Prinzip völlig iden¬ 
tische Komplikation mit vasoregulatorischen Störungen zeigen, 
zu gewissen Erscheinungsformen der Epilepsie. Mein Material ist 
da natürlich sehr klein; ich habe aber z. B. Gelegenheit gehabt, 
einen Dipsomanen durch Jahr und Tag zu beobachten, bei dem 
sich ausnahmslos die typische Verstimmung, die ihrerseits wieder 
zum agent provocateur für schwere Alkoholexzesse und für 
Fugueartige Zustände wurde, bei dem sich diese Verstimmung 
stets nur im engsten Anschluß an periodische Alterationen in 
der Vasomotion einstellte. Periodische Blutdruckschwankungen 
waren ausnahmslos das erste Zeichen des Anfalles. Die charak¬ 
teristische Stimmungsverschiebung folgte immer erst, wenn die 
Blutdrucksteigerung schon eine gewisse Höhe erreicht hatte. 
Es begleiteten sie dann übrigens meist noch eine Reihe an¬ 
derer Störungen. Neben Änderungen der Reflexe, Paresen des 
Facialis etc. waren es besonders akute Herzerweiterungen, die 
jedesmal in einem bestimmten Stadium des Anfalles auftraten. 
Der Fall ist im Archiv für Psychiatrie 1 ) in ausführlicher Ver¬ 
öffentlichung erschienen. Ich will mich daher hier auf die An¬ 
deutungen beschränken und Ihnen nur noch seine Blutdruck¬ 
kurve zeigen. Ich bitte Sie (Kurve 38) dabei auf den wenig 
relevanten Luftdruck zu achten und das letzte Stück besonders 
zu berücksichtigen. So sieht die Blutdruckkurve heute aus. Ich 
komme darauf noch zurück. 


>) Band XXXVII, Heft 3. 


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Dr. W. Alter-Leubus. 


Ganz ähnliche Feststellungen habe ich dann noch bei 
einem anderen epileptischen Znstandsbild machen können, in 
einem Fall von Altersepilepsie, der in seiner Erscheinungsform 
im wesentlichen auf den psychischen Rayon beschränkt blieb 
und sich da gleichfalls in Form periodischer Verstimmungen 
äußerte. Hier ist seine Kurve 39. 

Affekt und Blutdruck sind eng verbunden. Der Verlauf 
zeigt wieder den Einfluß einer Valylkur. 

Diesen Äußerungen der Epilepsie stehen weiter auch 
einige Formen der Hysterie sehr nahe. Auch hier verfüge ich 
über einen Fall, wo zeitweise gleichfalls eine periodische Ver¬ 
stimmung auftrat, die recht hohe Grade erreichen konnte und 
dann entweder zu Angst- und Wutparoxismen oder zu Alkohol¬ 
exzessen, zur Morphiophagie, zum Kokaingenuß führte. Auch 
da verbanden sich die Attaken in der Regel mit sehr erheb¬ 
lichen Blutdrucksteigerungen, die sich mit besonderer Vorliebe 
aus den stärkeren Blutdruckschwankungen der Menstruations¬ 
zeiten herausschieben, wie es Kurve 40 zeigt. 

Ein ähnliches Bild bot eine hysterische Somatopsychose, 
die auch durch anfallsartige Affektverschiebungen mit starken 
Blutdrucksteigerungen ausgezeichnet war, und deren Kurve 41 
außerdem extreme Schwankungsbreiten zeigt. Das trifft auch für 
40 zu — bei 41 liegt aber außerdem das Niveau im allgemeinen 
ziemlich hoch — es entsprach auch das jedenfalls ganz der 
herrschenden depressiven Grundstimmung. Das gleiche illustriert 
die nächste 

Kurve 42, bei der die Blutdrucksteigerungen gleichfalls 
sehr kraß hervortreten und nicht ohne Beziehungen zu Luft¬ 
druckschwankungen sind. 

Kurve 43 stammt dagegen von einer Hysterica, bei der 
der Affekt in Form manisch-depressiver Wellen verlief. Der 
Blutdruck begleitet ihn überall, aber mehr als das: eine durch 
eine Temperatursteigerung bewirkte Blutdruckschwankung findet 
im Affekt sofort eine entsprechende Resonanz. 

Schließlich möchte ich hier noch einen Fall anreihen, der 
zwar eigentlich gar nicht hierher gehört, den ich aber doch 
nicht unerwähnt lassen will. Es ist eine primäre Autopsychose 
mit periodischen, halluzinatorischen Exacerbationen. Auch an 
dieser Steigerung des Krankheitsprozesses, an der der Affekt 


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Verhalten des Blntdrnckes bei gewissen psychopathischen Zuständen. 89 

allerdings sehr lebhaft teilnahm, war der Blutdruck stark in¬ 
teressiert, wie Sie das an der Kurve 44 sehen. 

Meine Herren, ich will Ihre Geduld nicht mißbrauchen und 
mich anf dieses Beweismaterial beschränken. Es dürfte ja auch 
immer genügen, um daraus eine bestimmte Reihe von Schlüssen 
zu formulieren. 

Sie haben zunächst gesehen, daß sich gewisse Psycho¬ 
pathien mit pathologischen Zuständen in der Yasomotion ver¬ 
gesellschaften können. Sie haben weiter gesehen, daß das ebenso 
in einer bestimmten Änderung der Durchschnittswerte, wie in 
allgemeinen Verschiebungen der Exkursionsbreite und in perio¬ 
dischen Revolutionen seinen Ausdruck finden kann. Sie haben 
aber dann auch gesehen, wie mindestens bisweilen in den 
Wechselbeziehungen zwischen dem Reiche der Affekte, der 
Thymopsyche Stranskys und den Centren der Vasoregulation 
die letzten eine Prävalenz, ja die beherrschende Stellung erlangen 
können. 

Meine Herren, das sind immer Feststellungen, die selbst 
in der Einschränkung, zu der mich die engen Grenzen meines 
Materiales verpflichten, gewisse Perspektiven eröffnen. 

Einmal erklären sie manches uns bisher Unerklärliche. Ich 
muß mich da mit Andeutungen begnügen. Aber denken Sie an 
die dominierende Gemütsstimmung so vieler Hämorrhoidarier, so 
mancher chronisch Obstipierter. Sie findet hier ihre zwanglose 
Erklärung: Neu hat da ausnahmslos sehr hohe Blutdruckwerte 
gemessen. Denken Sie weiter an die Euphorie fiebernder Phthi¬ 
siker, auch da legt das Vorgetragene eine Motivierung nahe. 
Die eine Kurve (43) illustrierte das ja geradezu: es handelte 
sich da auch um eine Schwindsüchtige. Auch an die Zustands¬ 
änderungen, die ganz allgemein fieberhafte Krankheiten in 
Psychosen — z. B. bei der Paralyse — bewirken können, darf 
man hier vielleicht denken, aber ich will das alles nicht zu 
weit ausdehnen. Nur einen Punkt will ich noch kurz erwähnen. 
Die Melancholien der höheren Lebensjahre nehmen seit jeher 
eine gewisse Sonderstellung ein, durch manche klinische Züge 
ebenso wie durch ihre ungünstigere Prognose. Sollte vielleicht 
da die dem Alter zustehende physiologische Erhöhung des 
Gefäßtonus oder viel häufiger, als man gemeinhin anzunehmen 
geneigt ist, eine occulte Arteriosklerose eine gewisse Rolle 


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Dr. W. Alter-Leubus. 


spielen? Die Arteriosklerose hat ja, wie ich schon erwähnte, 
hohe Blutdruckkonstanten, da ist also unter der Voraussetzung 
einer entsprechenden individuellen Disposition die Möglichkeit 
einer ungünstigen Beeinflussung der Stimmungslage leicht ge¬ 
geben. Auch der prognostisch ungünstige, degenerative Verlauf 
fände darin seine volle Begründung. Daß eine genaue Kontrolle 
des Gefäßsystems bei den Involutions- und Altersmelancholien 
jedenfalls von Wert und Interesse ist, darf ich Ihnen vielleicht 
noch an ein paar Kurven zeigen. Die eine, Kurve 45, stammt von 
einem Kranken, bei dem früher eine reine Aftektpsychose von 
kurz zirkulärem Typ bestand. In der letzten Depression änderte 
sich der Typus, sie prolongierte sich mehr und mehr, während 
sich gleichzeitig degenerative Züge andeuteten. Es hatte sich 
eine rasch fortschreitende Arteriosklerose entwickelt, der der 
Kranke inzwischen schon erlegen ist. Die folgende Kurve 46 vertritt 
eine ähnliche Zustandsänderung. Hier bestand früher bei min¬ 
destens normaler Intelligenz eine schwere Hysterie. Synchron 
mit einer Arteriosklerose entwickelte sich ein langsamer Ver¬ 
blödungsprozeß, den neben hysterischen Zügen ein konstanter 
Unlustaffekt, eine permanente Unruhe, eine hochgradige Rast- 
und Ratlosigkeit auszeichnete. 

Als letzte Kurve 47 will ich Ihnen schließlich hier einen Aus¬ 
schnitt aus einem Fall von arteriosklerotischer Pseudoparalyse 
herumgeben. Sie sehen auch da die exorbitant hohen Werte, 
denen die Stimmung durchaus entsprach. Das Interessanteste 
sind aber die großen Differenzen zwischen rechts und links: 
der Kranke war Hemiplegiker, mit schlaffer linksseitiger 
Lähmung. Die Exkursionsbreite ist auf der gelähmten Seite 
viel geringer. Der Affekt entsprach der rechtsseitigen Kurve. 

Meine Herren, ich sprach vorhin von der notwendigen 
Voraussetzung einer entsprechenden individuellen Disposition. 
Ich möchte das auch hier noch einmal besonders betonen. Meines 
Erachtens liegt auch nur darin der Schlüssel zu dem eigentümlich 
elektiven Verhalten dieser Teilnahme der Vasoregulation bei 
scheinbar so dissonanten Erkrankungsformen. Sie sahen ja, daß 
es nirgends eine generelle Erscheinung war, die sich obliga¬ 
torisch einer der großen Krankheitsgruppen verband, sondern 
daß von ihnen allen sich immer nur eine mehr weniger kleine 
Auslese durch solche Intimitäten zwischen Affekt und Blutdruck 


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Verhalten des Blutdruckes bei gewissen psychopathischen Zuständen. 91 

auszeichnete. Das muß natürlich seine Gründe haben nnd zwar 
findet es seine Motivierung wohl einmal darin, daß ganz all¬ 
gemein die Einstellung des Vasomotorencentrums qua Stabilität 
und Labilität den immer wieder betonten individuellen Ver¬ 
schiedenheiten unterliegt, oder daß wenigstens die Garantien 
für die vasoregulatorische Balance bald mehr bald weniger ge¬ 
sichert sind. Daß das gleiche von der Thymopsyche gilt, steht 
ja lange fest. Außerdem sind aber offenbar auch die Leitungs¬ 
wege, die die dominierenden Centren der Vasomotion mit jenen 
Verknüpfungen verbinden, die in ihrem Zusammenwirken den 
Affekt in allen seinen Breitendifferenzen bestimmen, bei den 
einzelnen Menschen in sehr verschiedener Weise angelegt und 
ausgebildet. Daher wird auch die Möglichkeit der Inanspruch¬ 
nahme des einen Komplexes von dem anderen her im Wechsel 
der Individualitäten innerhalb breiter Grenzen schwanken 
müssen. Diese Supposition ist notwendig, sie erklärt aber auch 
alles und bahnt den weiteren Erwägungen einen bequemen Weg. 

Denn offenbar repräsentieren dann eben bei solchen in¬ 
dividuell disponierten Personen sowohl das weitverzweigte und 
sicher mit allen hochwertigen Symbolgruppen eng verbundene 
materielle Substrat für die Regelung der Affekte wie die ner¬ 
vöse Centralstation der Vasomotion Complexe von außerordentlich 
feinfühligen und labilen Bahnungen. Deshalb werden sie da auch 
zuerst, wenigstens von allen nervösen Elementen, auf jede, auch 
die lei8teste Alteration im Gleichgewicht des Organismus, das 
heißt in den physikalischen Bedingungen und in dem reinen 
Chemismus des Stoffaustausches durch reaktive Veränderungen 
antworten. Denn jede derartige Störung muß ja auch in den 
endocytischen Stoffwechselprozessen zum mindesten zn einer 
quantitativen Veränderung führen. Und eine solche Beschleuni¬ 
gung oder Verlangsamung in dem subtilen Chemismus des 
Biogens würde nach Storchs bestechender Modifikation der 
geistreichen Theorie Verworrns vollkommen ausreichen, um 
das Wesen nervöser Erregungen und Herabsetzungen zu moti¬ 
vieren. 

Es fragt sich also nur, ob bei den in Frage stehenden 
Krankheitsprozessen auch tatsächlich solche Bedingungen ge¬ 
geben sind, d. h. ob da die Annahme akuter oder chronischer, 
periodischer oder kontinuierlicher Stoffwechselstörungen auch 


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Dr. W. Alter-Leubus. 


wirklich berechtigt ist. Ich glaube, man darf diese Frage un¬ 
bedingt bejahen. Ich sehe geradezu einen verbindenden Zug für 
alle die Psychopathien, die ich angeführt habe, in der Wahr¬ 
scheinlichkeitshypothese, daß sie eben eigentlich keine reinen 
Psychopathien, keine Organkrankheiten im engsten Sinne, son¬ 
dern konstitutionelle Erkrankungen sind — oder wenn Sie das 
schlechte Wort gestatten wollen: psychisch-somatische Misch¬ 
zustände, aber mit dem Akzent auf dem zweiten Wort. 

Ob es sich dabei nun um Autointoxikationen durch Reten¬ 
tion oder durch Resorption, um dyskrasische oder echt toxische 
Zustände handelt, ist ja eine Frage, deren Entscheidung erst in 
zweiter Linie steht An sich würde jeder dieser Prozesse durch 
die Irritationen, die er für den Zellstoffaustausch bedeutet, die 
entsprechenden Störungen im Biogen auslösen können. Und 
wahrscheinlich können da auch wirklich die verschiedensten 
Eventualitäten einer Autointoxikation in Frage kommen. Aller¬ 
dings wird man ja bei manchen Prozessen, bei der Paralyse 
und vor allem bei der Epilepsie in erster Linie an ein veran¬ 
kerungsfähiges Toxin denken müssen, das seine spezifischen 
Rezeptoren in den Zellen der Vasomotionscentren findet und 
bei seiner Bindung an sie die charakteristische Attake hervorruft, 
die dann einfach als eine Art vasomotorischer Tetanus — im 
klinischen und physiologischen Sinne — aufzufassen sein würde. 
Jedenfalls gibt diese Theorie die einzige, aber zugleich auch 
die denkbar bestechendste Erklärung für die Periodizität 
solcher psychischen Erscheinungen. 

Der Affekt zieht dann in der charakteristischen Verstimmung 
nur die Konsequenz, zu der er verpflichtet ist. Entweder, wie 
gesagt, durch präformierte, feste und doppelläufige Bahnen zu 
den Centren der Vasomotion, oder weil sein materielles Substrat 
eben der empfindlichste Indikator für jede derartige Stoff¬ 
wechselschwankung ist. Und ein solcher Vasomotorenkrampf 
bedeutet ja sogar noch viel mehr: er repräsentiert eine nicht 
unerhebliche physikalische Alteration aller Bedingungeu des 
Säftestromes, die sich natürlich nicht zuletzt auch wieder in 
molekularen Umlagerungen geltend machen wird. Aber schon 
die aus der vermehrten Qefäßspannung resultierende Er¬ 
höhung der Venosität muß schädigend wirken können, sie 
schließt übrigens auch als neuer Reiz für die Vasokonstriktion 


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Verhalten des Blutdruckes bei gewissen psyehopathiseben Zuständen. 93 


vielleicht nicht so ganz selten einen sehr beachtenswerten Cir¬ 
culus vitiosus. 

Aus alledem würde jedenfalls eines folgen: in den Be¬ 
ziehungen zwischen den in letzter Linie ursächlichen 
konstitutionellen Prozessen und den durch sie gesetzten 
Störungen im Organ der Psyche kann unter Umständen, 
die in der Breite des Individualitätsbegriffes liegen, 
die Vasoregulation eine verknüpfende Vermittler¬ 
stellung einnehmen und zwar dadurch, daß die a priori in 
ihr entstandenen Dissonanzen das materielle Substrat der Thymo- 
psyche zu einem entsprechenden Mittönen veranlassen. 

Natürlich werden und können die Verhältnisse nicht immer 
so liegen. Nicht immer wird die Vasoregulation in den Be¬ 
ziehungen zwischen ihr und dem Affekt präsidieren. In vielen, 
vielleicht in den meisten Fällen wird die Erregung beider 
Komplexe synchron und ohne Präzedenz des einen eintreten und 
nicht selten wird der Affekt seine altgewohnte Priorität gegen¬ 
über der Vasomotion behaupten. Nur bei einigen epileptischen, 
bei manchen paralytischen und hysterischen Störungen und bei 
den erwähnten vasomotorisch-psychischen Attaken in Motilitäts¬ 
psychosen glaube ich für die Möglichkeit einer Antezedenz der vas¬ 
kulären Alteration plaidieren zu müssen und außerdem natürlich 
noch da, wo der Luftdruck in eine Ehe zwischen Affekt und 
Vasoregulation als Hausfreund ein tritt. Er kann ja von vorne- 
herein nur auf die vasomotorischen Centren wirken, also zu¬ 
nächst nur den Blutdruck und erst dann mit dessen Hilfe auch 
den Affekt beeinflussen. Aber der Umstand, daß das überhaupt 
möglich sein dürfte, läßt doch auf mancherlei Vorgänge ein 
Streiflicht fallen. So ist es ein längst bekanntes Faktum, daß 
bei vielen Dipsomanen und ihnen nahestehenden Zustands¬ 
bildern das Maximum der Anfalle in die Übergangsjahreszeiten 
trifft, also in die Monate, wo häufige und jähe Witterungs¬ 
schwankungen an die Stabilität und Labilität des Gefäßsystems 
gesteigerte Anforderungen stellen. Daraus muß ja eben natur¬ 
gemäß eine relative Erschöpfung und damit ein Sinken der 
Widerstandskraft in den maßgebenden Zellindividualitäten resul¬ 
tieren. Es ist weiter eine bekannte Erscheinung, daß sich auch 
die paralytischen Anfälle mit Vorliebe in Zeiten schwankenden 
Luftdruckes einfinden, ja es ist eine sich immer wiederholende 


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Dr. W. Alter-Leubus. 


Beobachtung, daß es in den Anstalten geradezu kritische Tage 
gibt, an denen ein besonders großer Teil der Kranken stärkere 
Zustandsschwankungen zeigt, an denen sich die explosiven Er¬ 
regungszustände häufen, an denen die durchschnittlichen Schlaf¬ 
stundenzahlen jäh absinken. Ich kann nach meinen freilich be¬ 
scheidenen Erfahrungen nur sagen, daß ich das schon, ehe ich 
Blutdruckmessungen vornahm, immer wieder an größere klima¬ 
tische Schwankungen gebunden fand. Nach dem Vorgetragenen 
würde auch da die verknüpfende Verbindung leicht zu finden sein. 

Zum Schluß gestatten Sie mir noch ein paar Worte über 
die praktische Bedeutung aller dieser Ergebnisse. Meine Herren, 
sie resultiert unmittelbar aus den skizzierten theoretischen Er¬ 
wägungen. 

Vor allem wird eben jede Behandlungsform psychopathischer 
Zustände von vorneherein darauf Rücksicht nehmen müssen, 
daß eine derartige Liaison jederzeit bestehen kann. Man wird 
also zunächst alles zu vermeiden haben, was da irgendwie 
schaden könnte. Dazu gehört in erster Linie eine Reihe unserer 
medikamentösen Agentien; besonders sind verschiedene Schlaf¬ 
mittel von sehr differentem Einfluß auf die Vasomotion. 

Ergibt eine fortgeführte systematische Untersuchung dann 
in der Tat einen sicheren Anhalt für eine Konkurrenz oder gar 
eine Präzedenz vasoregulatorischer Störungen, so sind damit 
für die Therapie natürlich unmittelbare Direktiven gegeben. 

Denn wenn ich ert einmal Grund zu der Annahme, habe, 
daß ein psycho-pathologischer Vorgang, wie ihn solche Ver¬ 
stimmungen repräsentieren, seine letzte Motivierung in Pro¬ 
zessen findet, die eigentlich auf der somatischen Seite liegen, 
so werde ich daraus für eine rationelle Behandlung immer nur 
eine Konsequenz ziehen können: ich werde bestrebt sein müssen, 
diesen kausalen Störungen entgegenzuarbeiten. Nun sind die 
in letzter Linie vermuteten toxischen und dyskrasischen Pro¬ 
zesse einer spezifischen Therapie heute erst in sehr be¬ 
scheidenem Umfange zugänglich. Ich werde mich also damit 
begnügen müssen nnd auch vielfach begnügen können, durch 
ein Verschließen ihrer Einfallstore einen Angriff auf das psy¬ 
chische Gebiet nach Möglichkeit zu hindern. Ein solches Ein¬ 
fallstor ist nach allem Gesagten bei einer Reihe von Kranken 
der Rayon der Vasomotion. Gelingt es mir also, ihn durch Er- 


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Verhalten dee Blutdruckes bei gewissen psychopathischen Zuständen. 95 


höhen seiner Resistenz za schätzen, seine Reizbarkeit herab¬ 
zusetzen oder seine einmal erfolgte Inanspruchnahme durch 
raschen Ausgleich unschädlich zu machen, so wird damit immer¬ 
hin schon mehr erreicht sein, als ich sonst gegenfiber diesen 
Krankheitsprozessen zu leisten vermag. 

Und das ist in der Tat erreichbar. 

Unter den dazu verwertbaren Behandlungsfaktoren steht 
auch hier die Hydrotherapie obenan. Ich habe schon an an¬ 
derer Stelle 1 ) darauf aufmerksam gemacht, daB die Bäder auf 
das Verhalten des Blutdruckes einen entschiedenen Einfluß haben. 
Er sinkt im Bade in der Regel von vorneherein rasch und ziemlich 
intensiv ab and bleibt auch nach Stunden noch unter den son¬ 
stigen Mittelwerten. Ich habe das schon damals als einen 
besonders wertvollen Faktor der Badewirkung gegenüber gewissen 
Krankheitsbildern anfgefaßt. Ich stehe heute noch auf demselben 
Standpunkte, ich kann ihn aber auf Grund meiner seitherigen 
Erfahrungen dahin erweitern, daß die systematische Anwendung 
protrahierter Bäder bei im obigen Sinne prädisponierten Indi¬ 
viduen nicht nnr im allgemeinen das individuelle, normale oder 
pathologische Blutdruckniveau senkt, sondern daß damit auch die 
physiologischen und krankhaften Ausschläge der Blutdruckkurven 
abgeflacht, diese selbst also nivelliert werden. Neben den Bädern 
kommen natürlich auch die meisten anderen hydro-therapeutischen 
Maßnahmen in Frage, wie überhaupt alle physikalisch-thera¬ 
peutischen Prozeduren, von denen man auf der einen Seite eine 
Kräftigung der peripheren und centralen Gefäßmuskulatur er¬ 
warten darf oder die durch eine regelmäßige und intensive In¬ 
anspruchnahme der centralen Regulierungen die diesen zu 
Grande liegenden nervösen Komplexe gleichsam zu massieren, 
d. h. unter günstigere Bedingungen, z. B. qua Säftezufluß zu 
bringen vermögen. Daß man damit immerhin einiges erreichen 
kann, zeigt Ihnen die Kurve meines Dipsomanen, der freilich 
schon seit Monaten einer derartigen, natürlich etwas kompli¬ 
zierten Behandlung untersteht. Dazu gehört in erster Linie auch 
eine gute allgemeine Massage, wie ja auch in einer exakt aus¬ 
geführten Bauchmassage eines der besten Mittel zu raschem 
Herabtreiben des Blutdruckes gegeben ist. 

i) Zar Hydrotherapie bei Psychosen, Centralblatt für Nervenheilkunde und 
Paychiatrie 1903, 3. 


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96 


Dr. W. Alter-Leubus. 


Sonst gelingt das nnr durch medikamentöse Einwirkungen. 
Ich habe auch da ohne weiteres die Konsequenzen aus den ein¬ 
mal gewonnenen Anschauungen gezogen, d. h. ich habe wieder- 
holt Kranken mit periodischen Verstimmungen bei anfalls¬ 
artigen Blutdrucksteigerungen Amylnitrit zu riechen gegeben. 
Das hat die Anfalle auch bei rechtzeitiger Anwendung prompt 
coupiert. In großem Umfange habe ich ferner bei allen diesen 
Zuständen von einem Medikament Gebrauch gemacht, das sonst 
offenbar bisher noch sehr wenig gewürdigt wird. Ich meine das 
Valyl, ein Derivat der Valeriana. Ich habe seine Bedeutung 
gerade für die hier interessierenden Zustände in einer Publi¬ 
kation zu skizzieren gesucht, die in der Therapie der Gegen¬ 
warterschienen x ) ist. Es zeigt nämlich eine große Differenz gegenüber 
der Vasomotion. Einmalige Dosen steigern die Blutgefäßspaunung 
gar nicht unerheblich, während bei längerer und systematisch 
durchgeführter Medikation ein allmähliches Absinken des Blut¬ 
druckes, ein zunehmendes Nivellement seiner Kurve eintritt. 
Einige der vorgezeigten Kurven haben Ihnen das illustriert — 
offenbar werden durch das Valyl zwar zuerst die Centren 
gereizt, es folgt dann aber sehr bald eine viel ausgedehntere 
Reduktion ihrer Erregbarkeit, eine Annahme ihrer normalen 
und pathologischen Reaktionsfähigkeit — also gerade das was hier 
von Wert erscheint. Sehr angenehm ist dabei das Fehlen aller 
Nebenwirkungen. Wenn das Valyl also auch natürlich nicht die 
letzten Krankheitsursachen anfaßt, so scheint es dennoch bis¬ 
weilen imstande zu sein, durch Ausschalten des gewohnheits¬ 
mäßigen Vermittlers ihr kompromittierendes Übergreifen auf 
den psychischen Rayon zu hindern. Und damit wäre eben nach 
dem, was ich Ihnen vorgetragen habe, alles erreicht, was wir 
vorderhand erreichen können. 

*) Märzheft 1904. 


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(Aus der k. k. I. psychiatrischen Universitätsklinik in Wien.) 

Beiträge zur Lehre von der progressiven Paralyse. 

Von 

Dozent Dr- Alexander Pilcz, 
snpplierendem Vorstände der Klinik. 

Wenn die Anschauung richtig ist, daß die progressive Pa¬ 
ralyse eine Allgemeinerkrankung des Gesamtorganismus bildet, 
bei welcher die psychischen, i. e. cerebralen Symptome nur eine 
Teilerscheinung darstellen, so darf die genauere Untersuchung 
auch anderer, nicht nervöser Organe von paralytischen Kranken 
a priori nicht uninteressant erscheinen. 

Es sei zunächst ein kurzer Hinweis auf diejenigen Er¬ 
fahrungstatsachen der klinischen Psychiatrie gestattet, welche 
die eingangs angedeutete Auffassung der Dementia paralytica 
zu stützen geeignet sind. Ich erinnere an das Verhalten des 
Körpergewichtes, der Temperaturen, des Blutdruckes, 1 ) der 
Veränderungen der neuromuskulären Erregbarkeit,*) an die 
Befunde Idelsohns 3 ) über die Herabsetzung der baktericiden 
Eigenschaft des Paralytikerserums, die Untersuchungen von 
Agostini 4 ) über Herabsetzung der Isotonie des Blutes und 
von d’Abundo 6 ) über gesteigerte Giftigkeit desselben; ich er- 

•) Pilcz. Wiener Klinische Wochenschrift 1900, Nr. 32 „Über Blut¬ 
druckmessungen bei Geisteskranken.” 

*) Pilcz. Jahrbücher f. Psychiatrie etc. XXIII, S. 241, 1903. „Über 
Ergebnisse elektrischer Untersuchungen bei Paralysis progressiva etc.” 

3 ) Idelsohn. Archiv f. Psychiatrie XXXI. Bd., pg. 640 „Über das Blot 
und dessen bakterieides Verhalten eto.” 

*) Agostini. Rivista speriment. di freniatria etc. 1892. pg. 483 „Sulla 
iiotonia del sangue negli alienati.” 

s ) d’Abundo. Rivista speriment. di freniatria etc. 1892, S. 292. „Snll’ 
»uone battencida e toseiea del sangue degli alienati.” 

Jn»rbS.h«r f. Pa/chlntri« und N.nrolofle. XXV. Bd. 7 


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98 


Dozent Dr. Alexander Pilez. 


wähne die zahlreichen „vasomotorisch-trophischen” Störungen, 
die Untersuchungen Raimanns 1 ) über alimentäre Glycosurie 
usw. Aber die Tatsache, daß die Kranken überhaupt an der 
Paralyse sterben, während doch die übrigen schweren Blöd¬ 
sinnsformen bei Hirnerkrankungen die Prognosis quoad vitam 
nicht beeinflussen: diese Tatsache allein schon spricht im Sinne 
einer Allgemeinerkrankung, wie dies auch Kraepelin *) ent¬ 
schieden ausgesprochen hat. 

Von den pathologisch-anatomischen Veränderungen der in¬ 
neren Organe werden uns im Sinne der obigen Erörterungen 
selbstverständlich nur jene Befunde interessieren, welche nicht 
eine einfache Komplikation darstellen, oder unschwer aus äus¬ 
seren Gründen erklärt werden können, wie z. B. die schier unver¬ 
meidlichen Lobulärpneumonien, ferner Cystitiden, Sepsis etc. 
In Betracht kämen hier vielmehr solche Organveränderungen, 
welche nicht als unmittelbare Todesursachen oder zufällige 
Komplikationen gedeutet werden können, Befunde etwa, wie sie 
einer schweren allgemeinen Kachexie entsprechen, für welch 
letztere aber eine andere Ursache (Carcinose etc.), als eben allein 
die Paralyse an sich, nicht verantwortlich gemacht werden kann. 

In der Literatur liegen u. a. folgende Berichte über Un¬ 
tersuchungen innerer Organe von Paralytikern vor. Straub 3 ) 
fand bei 84 Paralytikern 69mal Erkrankungen der Aorta. 
Angiolella 1 ) sah periarteriitische Veränderungen in der Leber 
und den Nieren. Kraepelin 5 ) notiert unter 56 Obduktionen 
„Entartung des Herzmuskels 11 mal, braune Atrophie 4mal, Fett¬ 
herz 3mal, Endocarditis 4mal, Pericarditis lmal. Granulär - 
atrophie der Niere wurde 6mal angetroffen. Einigemale waren 


>) Rai man o. Zeitschrift f. Heilkunde. XXIII. Bd., Heft II, 1902. .Ober 
Glyoosnrie and alimentäre Glycosurie bei Geisteskranken.” 

*) Kraepelin. Lehrhuoh der Psyohiatrie, 1901, II. Bd., S. 382ff. loh 
verweise an dieser Stelle auch auf die hochinteressanten Ausführungen von 
W. Alter (Neurolog. Zentralblatt 1903, Nr. 11 „Zur Pathologie toxischerGehirn- 
kraukheiten”, und Berliner klin. Wochenschrift 1903, Nr. 47, „Psychiatrie and 
Seitenkettentheorie”.) 

*) Straub. Verhandlungen der deutschen Gesellschaft f. pathologische 
Anatomie, 1899, 2. T. S. 351 „Über Veränderungen der Aortenwand bei der 
progressiven Paralyse.” 

*) Angiolella Manicomio 1895. 2, 3. 

5 ) Kraepelin. 1 o„ S. 366. 


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Beitrag zur Lehre von der progressiven Paralyse. 


99 


auch parenchymatöse Erkrankungen der Leber zu verzeichnen”. 
Klippel 1 ) beschrieb auf Grund histologischer Untersuchungen 
die sogenannte „ Foie vaso-paralytique” (unter 14 Fällen 9mal; 
in einem Falle fanden sich auch Veränderungen der Niere). 
Angaben älterer Autoren sind in der Mendelschen 2 ) Mono¬ 
graphie znsammengetragen. Mendel selbst erwähnt, Herzfehler 
in 3°/ 0 , arteriosklerotische Veränderungen jedoch recht häufig 
bei Paralytikern gefunden zu haben. 

Strecher 8 ) fand Herzveränderungen in 44*62% der Ob- 
ductionen von Paralytikern (und zwar bei 56*05% der Männer, 
33*19 % der weiblichen Kranken). 

Eis schien mir nun erstens nicht uninteressant, an der 
Hand eines großen Materiales, wie es die Sektionsprotokolle der 
Wiener Irrenanstalt bieten, einen Beitrag zu dieser Frage zu 
liefern. Außerdem hatte ich begonnen, Nebenniere und Leber 
von paralytischen Geisteskranken auch histologisch zu untersuchen, 
die Leber mit Rücksicht auf die zitierte Arbeit von Klippel, 
die Nebenniere, weil — meines Wissens — dieses Organ bis 
jetzt bei Paralytikern überhaupt kaum 4 ) untersucht worden war, 
dessen Prüfung aber gerade mit Rücksicht auf neuere Arbeiten 
(Biedl, Wiesel etc.) mich besonders interessierte. Meine histo¬ 
logischen Untersuchungen erstrecken sich auf eine allerdings 
erst sehr geringe Anzahl von Fällen. Da ich aber, augenblicklich 
mit anderen Fragen beschäftigt, dieses Thema vorläufig nicht 
weiter verfolgen kann, anderseits die erhobenen Befunde nicht 
uninteressant sind, darf ich wohl jetzt schon auch darüber be¬ 
richten. Für die Durchsicht der histologischen Präparate von 


') Klippel. Gazette bebdom. de mddecine et de Chirurgie 1892, S. 17 
„LAsions da foie dans la paralysie generale etc.” (ebenso Archive» gendr&les de 
medeeine 1892, II. pg. 184 ff.) 

2 ) Mendel. „Die progressive Paralyse der Irren.” 1880, Berlin, 8. 223. 

3) Strecher. Virohow Archiv 1894, Bd. 136, pag. 217. „Über die ana¬ 
tomischen Veränderungen des Herzens bei chronischen Geistesstörungen” (mit 
reich!. Literatur.) 

*) Nur in der Beadles’schen Arbeit „Some lesions of snprarenal in the 
insane” (Pathol. Soc. Transaotions, T. 60, pg. 214) wird anch der Nebeonieren- 
befand bei einem Paralytiker mitgeteilt; es fanden sich zwischen den Epithel- 
säolen der Rindenzellen „small colleotions of round inflammatory 06118”, des¬ 
gleichen auch um die Gefälle der Marksubstanz, ferner stellenweise Blutextra- 
vaaate. 

7* 


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100 


Dozent Dr. Alexander Pilez. 


der Leber bin ich Herrn Professor Dr. Kretz, von der Nebenniere 
Herrn Dr. Wiesel za besonderem Danke verpflichtet. 

Die Sektionsprotokolle der letzten 10 Jahre ergaben mir 
ein Material von 685 männlichen und 211 weiblichen paraly¬ 
tischen Kranken, zusammen 896 Paralytiker. 

Seitens des Zirkulationsapparates fanden sich: Athero- 
matose der Aorta in 280, braune Atrophie des Herzens in 58, einfache 
Atrophie in 227, fettige Degeneration des Herzmuskels in 104, 
Fettherz in 70, Klappenfehler (nach Endocarditis) in 53, Myo- 
degeneratio (ohne weitere Angabe) in 51 Fällen. 

Von Veränderungen der Leber lagen vor: Einfache Atrophie 
in 235, braune Atrophie in 33, fettige Degeneration in 60 Fällen 
(außerdem Lebercirrhose bei 8 männlichen Kranken"). 

Die Nieren boten folgendes: Arteriosklerotische Schrumpf¬ 
niere 19mal, einfache Atrophie 225mal, fettige Degeneration 
46mal. 

Die Milz war in 227 Fällen einfach atrophisch. 

Akutere Prozesse, wie trübe Schwellung der parenchy¬ 
matösen Organe, Tumor lienis acutus und subacutus etc. hatte 
ich im Sinne der eingangs angedeuteten Gesichtspunkte nicht 
weiter berücksichtigt, ebensowenig Lobulärpneumonien, Bron¬ 
chitis capillaris etc. 

Hingegen interessierte mich das Vorkommen von Tuber¬ 
kulose bei Paralytikern. Die Lungenschwindsucht speziell, welche 
gerade unter den Pfleglingen der Wiener Irrenanstalt so zahl¬ 
reiche Opfer findet, schien mir unter allen Geisteskranken die 
Paralytiker relativ seltener dahinzuraffen; ich prüfte nun, wie 
zu diesem subjektiven Eindrücke das Tatsachenmateriale der 
Sektionsprotokolle sich verhielte. Ich ging zu diesem Zwecke 
die Obduktionen der letzten 12 Jahre durch, und fand Folgendes: 
Von 1050 Paralytikern starben 109 an Tuberkulose (darunter 
9 an miliarer) = 10 - 38%. Auf die Geschlechter verteilt ergaben 
sich die Zahlen: 233 weibliche mit 29=12.44%, 817 männliche 
Kranke mit 80 = 9-79% Mortalität. 

Von den übrigen Geisteskranken (687) erlagen 178 
= 25-91% der Tuberkulose (328 weibliche Kranke mit 87 = 
26.52% und 359 Männer mit 91 = 25-35% Mortalität). Dabei 
wurden alle nicht paralytischen Geisteskranken unter einem 
gezählt, also auch die zahlreichen Fälle von Altersblödsinn, 


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Beitrag zar Lehre von der progressiven Paralyse. 


101 


arteriosklerotischer Demenz etc. Es würde aber der selbst unter 
diesen Umständen schon recht aufiällige Unterschied (10-38% 
gegenüber 25-91 °/o) gewiß größer werden, wenn mit den Para¬ 
lytikern nur solche Geisteskranke verglichen werden, welche 
glsichalterig sind, also in den Jahren zwischen 35 bis 55, wenn 
man z. B. die Fälle von Dementia senilis ansschließt-, denn bei 
Leuten, welche 70 und 80 Jahre alt geworden sind, wird Lun¬ 
gentuberkulose als causa mortis eo ipso wohl nur recht selten 
anzutreffen sein. Unter den 687 nicht paralytischen Geistes¬ 
kranken befanden sich viele Fälle von Altersblödsinn und von 
Psychosis e cerebropathia circumscripta (Blödsinn bei Herd¬ 
erkrankung.) Zieht man die Kranken mit einem Lebensalter von 
über 55 (zumeist Patienten der beiden letztgenannten Kategorien), 
andererseits aber auch jene Fälle ab, welche vor dem 35. Jahre 
starben, so bleiben 223 Nichtparalytiker mit 76 = 34-08% Mor¬ 
talität durch Tuberkulose. Erwähnenswert ist aber auch das 
Verhalten der paralytischen und nicht paralytischen Geistes¬ 
kranken bezüglich des Vorkommens ausgeheilter obsoleter 
tuberkulöser Herde in der Lunge. Von den 223 Nichtparalytikern 
wurde viermal, d. h. in 1-79% obsolete Spitzentuberkulose ge¬ 
funden. Von 1090 Paralytikern weisen 80 = 734% diesen Be¬ 
fund auf. 

Bei einem Vergleiche gleichalteriger und unter denselben 
äußeren Bedingungen untergebrachter Geisteskranker scheint 
sich folgender Unterschied zu ergeben. Von der Lungentuber¬ 
kulose werden 10-38% Paralytiker und 34-08% Nichtparalytiker 
dahingerafft. Eine schon vorhanden gewesene, aber ausgeheilte 
Lungenschwindsucht fand sich bei ersteren in 7*34%, bei letz¬ 
teren in 1-79%. Diese beiden Zahlen erscheinen aber umso 
bemerkenswerter, wenn man sich die schwere Ernährungs¬ 
störung vor Augen hält, den hochgradigen allgemeinen Marasmus, 
in welchen die Paralytiker verfallen, jene bedeutende Kachexie, 
welche doch — so würde man a priori erwarten — einen gün¬ 
stigen Boden für Infektionen darstellen sollte. Es liegt mir ferne, 
aus diesen Ergebnissen weitgehende Schlüsse ziehen zu wollen. 
Allein gerade mit Rücksicht auf die immer plausiblere An¬ 
schauung von einer — sozusagen — „paralytischen Dyscrase”, von 
einer Allgemeinerkrankung und veränderten Blutbeschaffenheit 
schien es mir nicht unwichtig, einstweilen auch diese Tatsachen 


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102 


Dozent Dr. Alexander Pilez. 


za registrieren. Mendel [1. c. 8. 208] meint auch, daß die 
Lungentuberkulose unter den direkten Todesursachen bei der 
progressiven Paralyse seltener scheine, als bei den übrigen 
Psychosen, .vielleicht auch wegen der relativ kürzeren Dauer 
der Krankheit im Vergleiche zu den sekundären Psychosen”. 
S. 245 erwähnt Mendel, daß in 5% seiner Fälle Lungentuber¬ 
kulose der Paralyse vorangegangen sei. 

Heimann 1 ) notiert Lungentuberculose als causa mortis bei 
4-2% der Paralytiker, hingegen z. B. bei 21*8% der „einfachen* 
Seelenstörungen, bei 34-4% von Imbecillen und Idioten, 17-4% 
der Epileptiker. 

Zum Schlüsse sei das Ergebnis der histologischen Unter¬ 
suchung der Leber und Nebenniere mitgeteilt Als Kontroll- 
präparate dienten vor allem die entsprechenden Organe von 
Kranken, welche zwar nicht Paralytiker, aber unter ähnlichen 
klinischen Symptomen starben, bettlägerige Kranke mit Läh¬ 
mungserscheinungen, Decubitusbildung etc., Fälle von arterio¬ 
sklerotischer Demenz, Altersblödsinn etc. Von einer Wiedergabe 
detaillierter Krankheitsgeschichten kann ich füglich absehen. 
Es handelte sich durchwegs um typische Fälle ohne solche 
Organveränderungen, welche mit einem chronischen Siechtume 
einhergehen. 

Zur histologischen Untersuchung kamen die Nebennieren 
von 13 paralytischen und 8 nichtparalytischen Geisteskranken. 
Bei sämtlichen Paralytikern lagen in übereinstimmender Weise 
Bilder vor, wie sie z. B. folgende von Dr. Wiesel freundlichst mir 
mitgeteilte Befunde ergeben: 

B., 39 Jahre. Nebenniere. Stark verfettete Zona 
fasciculata mit einzelnen dazwischen liegenden Bildungszellen. 
Verfettete Reticularis mit reichlichem dazwischen liegenden 
Bindegewebe. 

Mark normal breit (Obduktionsbefund: Diffuse eiterige Bron¬ 
chitis, confluirende Lobulärpneumonie im Unterlappen, sowie 
in den unteren Partien des Oberlappens und Mittellappens der 
rechten Lunge. Beginnende Lobulärpneumonie im Unterlappen 
der linken Lunge. Sklerose der Aorta geringeren Grades. Atro¬ 
phie des Herzens und der übrigen Organe.) 

') Heimann. Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie etc. Bd. 57, S. 520. 
„Die Todesursachen de» Geis teekranken." 


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Beitrag zur Lehre von der progressiven Paralyse. 


103 


oder 

P., 54 Jahre. Nebenniere. Sehr stark verfettete Zona 
fasciculata, schwach ansgebildete Zona glomerolosa. Die Kerne 
einer ganzen Reihe von Fasciculatazellen schwächer färbbar 
als andere. Starke Stauung der Rindengefäße. Marksubstanz 
normal breit. (Obduktionsbefund: Sklerose der Kranzgefäße der 
Aorta abdominalis, hochgradige Hypertrophie des linken Herzens. 
Stauungsorgane. Stauungskatarrh des Magens und Darmes. 
Lobulärpneumonie. Anwachsung der Lungen. Obsolete Spitzen¬ 
tuberkulose. Docent Dr. Landsteiner.) 

(In diesen, sowie in den folgenden Fällen habe ich den 
Gehirnbefund — typisch paralytische Veränderungen — nicht 
speziell mit herausgeschrieben.) 

Die Veränderungen bestehen in einer hochgradigen 
allgemeinen Verfettung der Zellen der Nebennieren¬ 
rindensubstanz, in einer Verfettung, welche ihrer Aus¬ 
dehnung nach einerseits weder der normalen') Verfettung der 
Rindenzellen bei sehr alten Individuen entspricht, noch ander¬ 
seits durch die Befunde einer terminalen Lobularpneumonie etc. 
erklärt werden können, wie sie sonst nur bei schweren 
allgemeinen Kachexien (Carcinose, Tuberkulose etc.) 
gefunden wird. Von den 8 nicht paralytischen Geisteskranken 
wies eine analoge Verfettung nur ein 43jähriger Melancbolikus 
auf) welcher durch Ruptur eines Aneurysma gestorben war, und 
der — bei anamnestisch sichergestellter Lues (!) — an Tabes 
dorsualis gelitten hatte. 

Die Leber wurde bei 8 Paralytikern und 8 nicht paraly¬ 
tischen Geisteskranken untersucht. Befunde, wie sie Klippel 
in seiner oben zitierten Arbeit mitgeteilt, lagen nicht vor. Hin¬ 
gegen bestanden in 5 von den 8 untersuchten Lebern Ver¬ 
änderungen, für welche ich als Beispiel folgende von Prof. Dr. 
Kretz gütigst mir mitgeteilte Befunde erwähne. 

H., 31 Jahre, Leber. Ausgesprochener Umbau der 
Leber, vereinzelt zeitige Infiltration der Capsula Glissonii, 
junge Leberzellen, ziemlich allgemeine Fettkörnchenbildung 
in den Zellen. (Obduktionsbefund: Diffuse Bronchitis. Hypo¬ 
stase in den Unterlappen mit Aspirationspneumonien in beiden 

t) Wiesel, Anatomische Hefte 1902, 19. Bd., Heft. 3 .Beiträge zur 
Anatomie und Entwicklung der menschlichen Nebenniere.” (S. 616.) 


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104 


Dozent Dr. Alexander Piloz. 


Lungen. Braune und seröse Atrophie des Herzens. Atrophie 
der inneren Organe, Cysten in der Niere, Magendarmkatarrh 
Prof. Dr. G.hon) 

oder 

H., 40 Jahre, Leber. Umgebaute Leber. Beginnende 
Bindegewebsentwicklung. Ziemlich allgemeine Fettkörnchen¬ 
bildung in den Leberzellen. Kleine Herde heller, zum 
Teile zweikerniger Leberzellen. Beginn einer Cirrhose 
und nachschiebende Regeneration. (Obduktionsbefund: Pneumonie 
des rechten Unterlappens nach eiteriger Bronchitis. Fibrinöse 
Pleuritis über dem rechten Unterlappen. Alte beiderseitige 
Spitzentuberkulose mit Pleuritis adaesiva der ganzen linken 
Lunge. Chronischer Magendarmkatarrh. Allgemeine Atrophie. 
Decubitus, Dr. Bartel.) 

Dieser Befund eines Umbaues der Lebertextur fand sich 
nur in einem Falle der 8 untersuchten nicht paralytischen 
Geisteskranken, und zwar bei einer 44jährigen Frau, welche, 
acut an halluzinatorischer Verworrenheit erkrankt, unter den 
Erscheinungen eines Delirium acutum rasch zugrunde ge¬ 
gangen war. 

Sp., 44 Jahre, Leber. Im Aufbaue schwer verändert 
(abgelaufene Degenerationsprozesse). Eine Menge junger Zellen 
und zwar herdförmig angeordnet, Schwellung der Zellen. (Ob¬ 
duktionsbefund: Arteriosklerose mit Atrophie der Nieren, geringe 
Hypertrophie des linken Herzventrikels. Lungenemphysem, 
Bronchitis. Konfluierende Lobulärpneumonie beider Lungen. 
Atrophie der Organe. Prof. Dr. Glion.) 

Die fraglichen Befunde stellen einen Umbau der Leber- 
textur dar mit andauernden Regenerationsvorgängen, 
was dafür spricht, daß die betreffenden Individuen mehr¬ 
fache Attaken von Leberdegenerationsprozessen durch¬ 
gemacht haben, was, wie wir annehmen, auf eine Intoxikation, 
auf toxische Einflüsse zurückgefiihrt werden darf. 

So klein auch das vorliegende Material ist (soweit die 
histologischen Studien in Betracht kommen), gestattet es doch 
das Eine, auszusagen, daß die Befunde sehr gut zu den übrigen 
Tatsachen der klinischen Psychiatrie passen und gleichfalls eine 
Stütze für die Anschauung abzugeben imstande sind, welche in 
der progressiven Paralyse mehr als einen lediglich cerebralen 


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Beitrag zur Lehre von der progressiven Paralyse. 


105 


Prozeß erblickt, nämlich eine schwere Allgemeinerkrankung des 
Gesamtorganismus. 

Kurz resümiert, ist das Ergebnisloser Studie Folgendes: 
Bei der progressiven Paralyse kommen Erkrankungen innerer 
Organe in einer Häufigkeit, Ausdehnung und Qualität vor, daß 
sie einerseits nicht als zufällige Komplikationen angesprochen 
werden können; anderseits ist es unmöglich, sie als durch den 
cerebralen Prozeß primär bedingt zu erklären, sie müssen viel¬ 
mehr als Ausdruck einer schweren 'Allgemeinerkrankung, als 
koordinirt aufgefaßt werden dem pathologisch-anatomischen 
Befände im Zentralnervensystem. (Inwieweit der in dieser 
Arbeit erwähnte Unterschied im Verhalten der Paralytiker zur 
Tuberkulose gegenüber den nicht paralytischen Geisteskranken 
auch mit herangezogen werden darf zur Begründung der An¬ 
schauung von einer besonderen Veränderung der Blutbeschaffen¬ 
heit, bleibe dahingestellt.) 


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(Aus der k. k. I. psychiatrischen Universitätsklinik in Wien.) 

Kurzer, ergänzender Beitrag zur Kenntnis der Hirn¬ 
rindenveränderungen bei Herderscheinungen auf Grund 
senil-arteriosklerotischer Atrophie. 

Vou 

Dr. Erwin Stransky, 
klinischer Assistent. 

(Mit 4 Abbildungen im Text.) 

Im vergangenen Jahre war ich in der Lage, einen Fall 
mitteilen zn können, in dem es auf Grund einer Hirn¬ 
atrophie auf der Basis eines senil-arteriosklerotischen Prozesses 
zu einer Reihe von Herderscheinungen gekommen war, welche, zum 
Teil wenigstens, vielleicht auf eine relativ stärker ausgeprägte 
Atrophie einzelner Rindenpartien bezogen werden konnten. Ich 
verweise, um hier nicht schon Gesagtes nochmals rekapitulieren 
zu müssen, auf meine diesbezügliche Publikation. 1 ) Der Fall 
ließ sich recht ungezwungen anreihen an eine Gruppe zuerst von 
Pick mitgeteilter Beobachtungen, die ich an früherer Stelle 
zitiert habe und wohl als allgemein bekannt voraussetzen darf. 
Abgesehen davon, daß das bald mehr flüchtige, bald freilich 
auch konstantere Auftreten von Herdsymptomen bei rein atro- 
phisierenden Prozessen — auch in meinem Falle erwies sich 
die Rinde, speziell die der Sprachregion, herdfrei, ebenso das 
darunter liegende Marklager — an sich nicht so selten zn beob¬ 
achten ist, muß man es wohl als ein Verdienst Picks betrachten, 
diesen Zusammenhang für bestimmte Fälle genau erwiesen zu 
haben. Liepmann*) hat bald darauf eine homologe Beobachtung 

*) Monatsschrift f. Psychiatrie n. Neurologie, Band XIII., 8. 464 (1903). 

*) Neurol. Zentralblatt, 1900. 


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Hirnrindenveräodernngen bei Herdersoheinungen. 107 

mitgeteilt Es erschiene nun nicht ohne ein gewisses Interesse, 
in solchen Fällen die Rinde auch mikroskopisch za durch¬ 
suchen, insbesondere darauf, ob nicht auf das Senium, respektive 
die Gefäßveränderung zu beziehende pathologische Befunde an den 
strophischesten Stellen etwa stärkere Ausprägung, beziehungs¬ 
weise Besonderheiten darbieten. Ich zweifle gar nicht daß in den 
bisher publizierten Fällen gleichfalls derartige Untersuchungen 
vorgenommen wurden; doch fand ich bei Durchsicht der ein¬ 
schlägigen Arbeiten hierüber keine genaueren Aufschlüsse. Mit 
Rücksicht darauf erscheint es mir vielleicht nicht ganz unan¬ 
gemessen, in den folgenden Zeilen in aller Fürze den mikro¬ 
skopischen Rindenbefund in meinem Falle zu skizzieren, wozu ich 
noch bemerke, daß eine Reihe der Präparate von mir in der 
heurigen Februarsitzung des Wiener Vereines für Psychiatrie 
und Neurologie demonstriert wurden. Zur Untersuchung ge¬ 
langten zahlreiche Rindenstücke und das tiefere Mark aus den 
verschiedensten Regionen beider Hemisphären, in gleicher Weise 
Stellen, die den in meiner Mittheilung angeführten grubigen 
Vertiefungen, wie solche, die den intervallären Rindenbezirken 
entsprachen. 

Es kamen die üblichen Methoden zur Anwendung (für die 
feinen Rindenfasern die Kaessche [respektive Wolterssche] 
Hämatoxylinfärbung) und endlich auch die Weigertsche Glia- 
methode, welch letztere leider — wie in so manchen anderen 
Fällen — nur recht mäßige Resultate ergab; die Färbung drang 
über die beiden obersten Rindenschichten nicht weiter nach innen, 
war nicht absolut elektiv und ergab vor allem keine wesentlich 
anderen Bilder als van Gieson-Präparate; ich beschränke 
mich daher in meinen auf der Tafel gegebenen Abbildungen auf 
die Darstellung solcher; es mag hier noch registriert sein, daß 
eine Autorität wie Obersteiner 1 ) von der van Giesonschen 
Färbung sagt, sie gebe häufig Präparate, an denen die Struktur 
der Glia recht schön erkennbar sei. 

Was nun zunächst das Gesamtbild der Präparate betrifft, 
so ist zu bemerken, daß dieselbe in toto keinerlei schwere De¬ 
struktionsprozesse an der Rinde erkennen lassen; es war nichts 
zu sehen von jenem Faserschwund, wie wir ihn in den Fällen von 
progressiver Paralyse und schwererer diffuser Prozesse überhaupt 

') Siehe deisen bekannte „Anleitung", IV. Au fl. S. 29. 


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108 


Dr. Erwin Str*n*ky. 


in der Rinde, beziehungsweise in bestimmten Gegenden des Cortex 
zu Gesicht bekommen; die einzelnen Schichten der Rinde 
zeigten jenen Grad der Abgrenzung gegeneinander, wie wir ihn 
bei älteren Individuen in der Regel zu sehen gewohnt sind; jene 
Verwaschenheit des strukturellen Aufbaues, wie sie bei schwereren 
diffusen Rindenprozessen, insbesondere bei der Paralyse in Er¬ 
scheinung tritt, wurde durchgehends vermißt. In der Rinde des 
Stirnhirns sind einzelne kleine, frische — wohl agonale — Blut¬ 
austritte zu sehen. 

An Wolters-Kaesschen Präparaten manifestiert sich zu¬ 
nächst das Vorhandensein eines so ziemlich in allen Rinden- 
regionen nachweisbaren, geringgradigen Faserschwundes.Im Mark¬ 
lager, respektive in den Markleisten sind nirgends größere, auf 
ausgebreitetere Faserdegenerationen hinweisende Lücken respek¬ 
tive Lichtungen zu sehen, wie sie sich oft schon beim makro¬ 
skopischen Aspekt der Präparate darstellen in Fällen, wo der 
Faserschwund erheblichere Dimensionen angenommen hat. 

Deutlicher tritt die Abnahme an Faserreichtum natur¬ 
gemäß in der grauen Substanz zutage. Da fällt es zunächst auf, 
daß der an sich mäßige Faserschwund sozusagen ein konzen¬ 
trischer ist und gleichmäßig alle Gattungen in der Rinde ver¬ 
tretener Fasern befällt. Wir sehen nirgends eine elektive 
Atrophie der tangentialen Fasern. Wir sehen nirgends den 
Faserverlauf durchbrochen von gliösen Verdichtungsherden. 
Dabei sind die einzelnen in der Rinde existierenden Faser¬ 
schichten und -Gruppen als solche ziemlich deutlich zu differen¬ 
zieren. Man sieht die tangentiale Faserschichte recht deutlich 
markiert; dasselbe gilt vom äußeren und vom inneren Baillarger- 
sehen Streifen, sowie von den zwischenliegenden Markfaser¬ 
netzen. Nur an einer Stelle ist der Faserreichtum in der Rinde 
doch in erheblicherem und auffälligem Maße reduziert. Die 
Tangentialfasern als solche sind zwar als deutlicher Zug markiert, 
aber an Zahl sehr gelichtet. Dasselbe Bild, vielleicht in noch 
höherem Maße, bietet die Faserung des Netzwerkes, welches die 
tieferen Teile der molekularen und die kleinzellige Schicht durch¬ 
flicht; ziemlich gut sind dann wiederum die beiden Baillargerschen 
Streifen erhalten, sowie die zwischenliegenden respektive über 
sie hinaus zur Oberfläche emporstrebenden Radiärzüge, in 
denen die Abnahme an Fasern nur eine geringe ist. Es erscheint 


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Hirnrindenverfindeningen bei Herdersoheinungen. 


109 


mir nicht ganz ohne Belang, daß dieses Gebiet des relativ 
stärksten Faserausfalles so ziemlich koinzidiert mit jener Stelle 
an der Gehirnoberfläche, die sich makroskopisch am atrophi- 
schesten erwies: es handelt sich am die Binde des linken 
unteren Scheitellappens in seinem vorderen, an die erste Schläfe- 
windnng angrenzenden Anteil; die bezügliche Grnppe hatte, wie 
ich in meiner Mitteilung beschrieb, dieselbe Region okkupiert; 
ihren Grand bildete der gyrus supramarginalis. Besonders in 
die Angen springend war der Gegensatz znr gleichen Stelle in 
der rechten Hemisphäre, die einen noch ziemlich großen Reich¬ 
tum an Fasern aufwies. Ich enthalte mich gleichwohl, aas diesem 
Befände allzu weitgehende Schlüsse zu ziehen, weil es zu diesem 
Behufe zur genaueren Entscheidung wohl notwendig wäre, in 
solchen Fällen nicht vorzüglich eine größere Anzahl von ein¬ 
zelnen Gehirnstücken zu untersuchen, wie ich es aus wesentlich 
histologischem Interesse tat, sondern lückenlose Serienschnitte 
durch das ganze Gehirn zu studieren. 

An den übrigen Rindenstücken, welche, wie bemerkt, in 
größerer Anzahl aus allen Regionen beider Hemisphären entnommen 
worden waren, ergab sich sonst bezüglich der Faserverhältnisse 
nichts wesentlich Bemerkenswertes. Nur will ich noch ganz be¬ 
sonders betonen, daß sich gerade im Stirnhirn relativ nur ge¬ 
ringe Veränderungen nachweisen ließen. 

An den Zellen entsprachen die vorzufindenden Verände¬ 
rungen durchaus jenen, wie wir sie bei senilen Individuen — 
es handelte sich, wie erinnerlich, um einen 65jährigen Mann — 
zu finden gewohnt sind. Es fällt hauptsächlich der große Pigment- 
reichtum, respektive die stellenweise pigmentöse Degeneration 
an£ Einzelne Zellleiber sind nahezu gänzlich von Pigment ei füllt. 
Hie and da finden sich wohl auch einzelne deutlich atrophische 
Zellen, insbesondere in der Schicht der großen Pyramiden. Im 
allgemeinen ist auch der Zellreichtum nirgends von den in 
diesem Alter gewohnten Verhältnissen abweichend. Die Zell- 
schichtnng der Rinde kommt allenthalben sehr deutlich 
zum Ausdruck. Die Zellfortsätze sind, insbesondere an den 
Pyramidenzellen, gut zu sehen. Ich konnte nicht den Eindruck 
gewinnen, als würden sich irgend welche lokale Differenzen 
zwischen den einzelnen Rindenregionen hinsichtlich Zellverän¬ 
derung und Zellschichtenstruktur vorfinden. Gröbere Alterationen 


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110 


Dr. Erwin Stransky. 


waren sonst an den Zellen nicht zu sehen. Soweit sich Diffe¬ 
renzen zwischen den einzelnen untersuchten Rindenregionen er¬ 
gaben, entsprachen sie den bekannten strukturellen Verschieden¬ 
heiten im Aufbau der Hirnrinde in ihren verschiedenen Ab¬ 
schnitten. 

# 

Die oberflächliche Gliaschichte unter der Pia zeigt sich 
fast überall merklich verbreitert. Während sie unter gewöhn¬ 
lichen Verhältnissen (nach Obersteiner 1. c.) in ihrer Breite 
zwischen 3 und 30/t schwankt, sehen wir sie an unseren Präpa¬ 
raten stellenweise eine Breite von nahezu 50 ft annehmen; an 
einzelnen Stellen geht der Breitendurchmesser sogar noch etwas 
über diese Zahl hinaus. Die Fasern sind überall ziemlich grob und 
dicht verfilzt. Ich kann nicht sagen, daß sich wesentliche Diffe¬ 
renzen zwischen den verschiedenen Rindenregionen in diesem 
Punkt gezeigt hätten. Hie und da sieht man, daß unabhängig 
von Gefäßeintrittsstellen die äußere Begrenzungslinie dieser 
Schichte nicht glatt verläuft, sondern Einsenkungen darbietet 
beziehungsweise dazwischen hügel- oder pilzförmige Erhebungen 
zeigt. Wir haben es wohl durchgehends mit Altersveränderungen 
zu tun, wie sie großenteils auch Weigert 1 ) in seiner grund¬ 
legenden Arbeit verzeichnet. 

In der molekulären Schicht zeigte sich ebenso wie im 
Randsaum überall eine sehr deutliche Ausprägung und Vermehrung 
derGlia-, resp. Spinnenzellen, die vielenorts zu ganzen Nestern zu¬ 
sammengeballt sind. In einigen dieser Gliazellen konnte man auch 
Pigment, respektive vielleicht Fett ausnehmen. Die Gliakerne sind 
ziemlich typisch, gekörnt und groß und treten bei der van Gieson- 
schen Färbung oder bei Alaunhämatoxylintinction sehr schön und 
zahlreich hervor. In den tieferen Rindenschichten ist keine so auf¬ 
fällige Vermehrung der Glia zu konstatieren. 

Außer dieser diffusen Wucherung des gliösen Stützgewebes 
nun waren elektive Gliaverdichtungen auffällig, die eine deutlich 
perivasculäre Anordnung erkennen ließen und sich fast aus¬ 
schließlich um die von der Pia her in die Rinde eindringenden Ge¬ 
fäße herum etabliert hatten. Es handelte sich um ein dichtes, 
von der oberflächlichen Gliaschicht her einzelne Gefäße bis 
etwa in die Mitte der zellenarmen Schicht begleitendes Glia- 

’) Beitrag zur Kenutnis der normalen menschlichen Neuroglia. — Frank¬ 
furt a. M. 1896. 


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Hirnrindenverftodernngen bei EerderaeheiimDgen. 


111 


gestrüpp, welches im Durchmesser bisweilen das Gefäßlumen 
samt den verdickten Gefäßwänden fast an Breite übertraf und 
sich bei stärkerer Vergrößerung als ein Gewirre zahlreicher 
gröberer und feinerer Fasern mit dazwischenliegenden reich¬ 
lichen Gliakernen erwies. Bis in tiefere Lagen der Rinde sah 
ich solche dichte perivasculäre Gliafllze, wie sie auch in den 
Fig. 1 und 2 zur Darstellung gelangen, nur selten herabreichen. 
Gleich hier muß ich bemerken, daß es in der Hirnrinde immer 



Fig. 1. 


nur einige wenige Gefäße waren, um die ein solches Verhalten 
der Glia gesehen werden konnte; freilich will ich hervorheben, 
daß der linke gyrus supramarginalis wieder relativ am häufigsten 
solche Bilder erkennen ließ. 

Fig. 1 und 2 illustrieren wohl die eben beschriebenen Verhält¬ 
nisse in recht anschaulicher Weise. In Fig. 1 sieht man ein 
solches Gefäßchen im Längsschnitte getroffen, in Fig. 2 im 
Querschnitte in der molekularen Schicht In beiden Abbildungen 


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112 


Dr. Erwin Strausky. 


wird der große Reichtum von Glia- resp. Spinnenzellen auffallen, 
namentlich in dem perivasculären Filz. Die Fig. 3 und 4 sollen 
zur Illustration der diffusen Vermehrung der Glia- resp. Spinnen¬ 
zellen und Gliafasern dienen, wie wir sie in der oberflächlichen 
gliösen Deckschicht und in der zellarmen Schicht in unserem Falle 
verzeichneten; sie erklären sich wohl durch den bloßen Anblick. 



Fig. 2. 


Fig. 1 ist gezeichnet bei Reichert, Oc. 3, Immersion X, 
Tubuslänge 195; Fig. 2 bei Oc. 3, Obj. 6, Tubuslänge 1£0; 
Fig 3 und 4 bei Oc. 3, Obj. 7a. Tubuslänge 195; sämtlichen 
Abbildungen liegen van Gieson-Präparate der Rinde des links¬ 
seitigen Gyrus supramarginalis zugrunde; die Zeichnungen ver¬ 
fertigte der akademische Maler Herr Kiss. 


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HirnrindenveränderuDgen bei HerdergoheiDungen. 


113 


Ich zweifle nicht, daß wir es da mit Wucherungen der 
gliösen Begrenzungsmembran zu tun haben, welche den Ge¬ 
fäßen im Zentralnervensystem eigen ist. Mit den später unten 
noch zu besprechenden Befunden Alzheimers, speziell mit 
seiner perivasculären Gliose der Hirnrinde, dürfen diese Be¬ 
funde wohl nicht homologisiert werden. Sie haben damit höchstens 
das gemein, daß es nur einzelne Gefäße sind, um die sich die 



Fig. 3. 

beschriebene Gliawucherung erkennen läßt, ganz ähnlich, wie 
auch bei der perivaskulären Gliose Alzheimers immer nur 
einige Gefäße es sind, die den Mittelpunkt der Erkrankungs¬ 
herde bilden, während andere wiederum frei bleiben, und daß 
um diese Gefäße herum die Zellen an Zahl reduziert resp. durch 
Glia substituiert sind; doch erreichen diese annähernd keilför¬ 
migen Lichtungen nicht jene Mächtigkeit wie dort Im übrigen 

Jahrbdchar f. Psychiatrie and Neurologie. XXV, Bd. 8 


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114 


Dr. Erwin Stransky. 


aber fehlen so ziemlich die Characteristica der von Alz¬ 
heimer beschriebenen Bindenaffektion, wie unten noch kurz 
anszuführen sein wird. Sicherlich dürfte dieses eben beschriebene 



Fig. 4. 


Verhalten bei Artenosklerose, beziehungsweise im vorgerückten 
Alter sich öfter finden lassen und nur eine Teilerscheinung der 
damit verbundenen, noch an die Grenze zwischen Physiologischem 


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Hirnrindenveräoderungen bei Herderseheraungen. 


115 


and Pathologischem heranreichenden Veränderungen bilden. 
Vielleicht auch haben wir es hier, in der Wacherung der peri- 
vascnlären gliösen Begrenzungsmembran, mit den ersten Stadien 
respektive mit den Vorlänfern der echten perivasculären Gliose 
(beziehungsweise der senilen Rindenverödung) zu tun. 

In den tieferen Schichten der Rinde wie in der Marksub¬ 
stanz konnte ich, wie schon oben bemerkt, keine nennens¬ 
werteren Befunde erheben. Allenthalben in den untersuchten 
Partien sieht man zahlreiche, teilweise stark atheromatös veränderte 
Gefäße, um die dann nicht selten die gliöse Begrenzungsmembran 
merkbar verdichtet, der adventitielle und der perivasculäre Lymph- 
raum weiter und ähnlich, wie dies Campbell beschreibt, mit 
allerhand Detritns, Pigment und einzelnen Blutkörperchen erfüllt 
ist Stellenweise gewinnt man Eindrücke wie beim 6tat criblA 
Nirgends sah ich Bilder, die der von Binswanger beschriebenen, 
ebenfalls weiter unten noch zn registrierenden Encephalitis sub- 
corticalis chronica entsprochen hätten. 

Zn erwähnen wäre noch, daß ich vereinzelt in der Rinde 
an den Seitenästchen der von den Meningen hereindringenden 
Gefäßchen eigenartige spindelförmige Anschwellungen zn Gesicht 
bekam, ähnlich wie sie für diese Gefäße von Ne eisen 1 ) be¬ 
schrieben worden sind; Herr Professor Obersteiner hatte die 
Liebenswürdigkeit, mich auf diesen Punkt aufmerksam zu 
machen. Amyloidkörperchen fanden sich nicht einmal in so be¬ 
sonders reichlicher Menge, wie man sie bei dem hohen Alter 
des Patienten erwartet hätte. In der Pia zeigten die Gefäße 
meist hochgradige Arteriosklerose. Bezüglich alles übrigen, 
speziell den makroskopischen Befund betreffend, darf hier wohl 
auf die klinische Mitteilung des Falles (1. c.) verwiesen werden. 
Nur sei hier nochmals besonders hervorgehoben, daß nirgends die 
Pia mit der Hirnsubstanz verwachsen war, und ihr Abziehen 
nirgends Defekte in derselben setzte. 

Es seien mir nun im Anschlüsse an das Voranstehende 
einige kurze Bemerkungen gestattet 

Nach dem im obigen mitgeteilten Befunde können wir 
zunächst sagen, daß der destruktive Prozeß in der Rinde einen 
sehr schweren Grad nicht erreicht hat. Von jener „Verzerrung 


>) Zitiert nach Obereteiner, 1. o. 

8 * 


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116 


Dr. Erwin Stranaky. 


und Schrumpfung im Rindenbau’, wie sie, um hier uur einen 
Autor zu erwähnen, Kräpelin 1 ) als ein Charakteristikum des 
paralytischen Prozesses oder der schweren Arteriosklerose her¬ 
vorhebt, ist in unserem Falle schlechterdings nichts zu sehen. 
Es konnte im Gegenteil überall auf das Erhaltenbleiben der 
Schichtenstruktur in der Rinde hingewiesen werden. Schwere Zell¬ 
veränderungen waren gleichfalls nicht zu sehen. Die Faseratrophie 
erreichte nur an einer Stelle, eben im linken unteren Scheitel¬ 
läppchen, höhere Grade; doch braucht wohl nicht erst nochmals 
darauf hingewiesen zu werden, daß der Typus des Faser- 
schwundes nichts gemein hat mit jenem, wie wir ihn bei der 
Paralyse (Tuczek 2 ) kennen, sondern, daß er sich durchaus in 
jenem Rahmen hielt, der dem Senium entspricht. Wohl haben 
spätere Untersuchungen (Zacher, 3 ) Binswanger, 4 ) Kaes s ) 
u. a.) gelehrt, daß die Abgrenzung des paralytischen Rinden¬ 
befundes von dem bei anderen schweren Rindenprozessen, 
speziell im Senium, keineswegs immer so leicht möglich, 
beziehungsweise daß seine Anordnung keineswegs immer 
systematisch und typisch ist, aber in unserem Fall spricht doch 
klinisch und histologisch alles eher zugunsten eines Alters¬ 
prozesses. Ich will der Vollständigkeit halber noch hinzufügen, 
daß irgendwelche im Sinne eines Entzündungsprozesses zu 
deutende Bilder und als Plasmazellen zu deutende Gebilde nicht 
gesehen werden konnten. Auch für das Vorhandensein einer 
atypischen Paralyseform (secd. Lissauer*) sprach kein Moment. 
Ist sonach unser Fall, ungeachtet der nicht immer leichten 
Abgrenzung zwischen paralytischen und senilen Cortexläsionen, 
dennoch ersteren wohl nicht zuzurechnen, so erhebt sich jetzt 
die weitere Frage, inwieweit speziell die Arteriosklerose am 
Zustandekommen des klinischen und histologischen Bildes betei¬ 
ligt ist. 

Es ist nicht möglich, dieses Gebiet zu berühren, ohne aut 
die grundlegenden Arbeiten zu rekurrieren, welche in neuerer 

*) Lehrbach der Psychiatrie, 7. Aufl. II. T., S. 856; Leipzig 1904. 

)) Beitr. z. path. Anat. u. z. Path. d. Dem. paralyt Berlin 1884. 

s ) Archiv f. Psyeh., Bd. XVIII. 

*) D. path. Anat d. Großh.-Rindenerkrkg. b. d. allg. progr. Paralyse. 
Jena 1893. 

5 ) Monataachr. f. Payohiatr. u. Neurol. 1902. 

®) Storch, Monatiaobr. f. Paychiatr. u. Neurol., Bd. IX (1901). 


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Hirnrindenveränderungen bei Herderscheinungen. 


117 


Zeit gerade auf dem Gebiete der arteriosklerotischen Er¬ 
krankung des Gehirns, namentlich, soweit die histologische 
Seite dabei in Betracht kommt, erschienen sind. Wohl in der 
ersten Reihe der Autoren muß da Alzheimer 1 ) genannt 
werden.» Wir verdanken diesem Forscher eine genaue Be¬ 
schreibung der arteriosklerotischen Hirnrindenveränderungen in 
ihren verschiedenen Formen, sowie in ihrer Kombination mit 
jenen Alterationen, die das Senium als solches setzt. Er grenzte 
gegenüber der Encephalitis subcorticalis chronica Binswangers*) 
hauptsächlich zwei hier interessierende Formen ab: die peri- 
vasculäre Gliose und die senile Rindenverödung. Bei der peri- 
vasculären Gliose handelt es sich nach Alzheimer um kleine 
Herde in der Rinde, welche in ihrem Mittelpunkte ein hoch¬ 
gradig atheromatös verändertes Gefäß erkennen lassen, um 
welches herum die Glia mächtig gewuchert und nicht selten 
von riesigen Spinnenzellen durchsetzt ist. Entsprechend diesen, 
unter Umständen auch konfluierenden, meist erst mikroskopisch 
als solche erkennbaren Herdchen siebt man bei Anwendu 
entsprechender Methoden fleckweisen Ausfall der Ganglien¬ 
zellen und Markfasern; die Affektion ist also nicht diffus und 
auch oft nur auf einzelne Windungsbezirke, respektive auf 
das Ausbreitungsgebiet einer oder mehrerer, besonders stark 
erkrankter Hirnarterien beschränkt. Herde ähnlicher Art können 
auch im Marklager angetroffen werden. Bei der (wohl mit der 
ebengenannten Form nahe verwandten) senilen Rindenverödung 
desselben Autors spielt sich der Erkrankungsprozeß wesentlich 
um die kurzen, aus der Pia in die Rinde eintretenden Gefäße 
ab. Es treten kleine keilförmige Herde in Erscheinung, deren 
Basis der Hirnoberfläche aufsitzt. Entsprechend diesen Herden 
ist die Rindenoberfläche oft etwas eingesunken. Einzelne der 
Herdchen liegen auch in tieferen Rindenregionen. Ganglienzellen 
und Markfasern sind im Bereich des Herdes zugrunde gegangen, 
der ganze Herd besteht aus einem dichten Gliafilz. Auch diese 
Herde beschränken sich oft nur auf den Verbreitungsbezirk 

i ) Monatsschrift f. Psychiatrie u. Neurologie, Bd. II u. III; ferner allg. 
Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. LI, S. 809; Bd. LIII, S. 863; Bd. LVI, S. 272; 
Bd. LIX, S. 695. 

J ) Allg. Zeitschr. f. Psychiatrie, Bd. LI, S. 804 n. Berliner Klin. Wo¬ 
chensehr. 1894. 


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118 


Dr. Erwin Stransky. 


bestimmter Arterien. Kombiniert damit findet man gewöhnlich 
Veränderungen allgemein seniler Natur in der Hirnrinde. Bei 
der Encephalitis subcorticalis chronica, deren Kenntnis wir 
Binswanger (l c.) verdanken, sind besonders die langen Gefäße 
des tieferen Marks schwer erkrankt und in weiterer Folge 
dieses selber; das Stützgewebe ist entsprechend gewuchert. 
Die Binde und die kurzen Assoziationsbahnen sowie die eigent¬ 
lichen Markleisten können frei bleiben. 

Die Veränderungen in der Binde, wie sie in unserem 
Falle F. VV. zu verzeichnen sind, können wohl keiner der drei 
zum Vergleiche herangezogenen Bubriken ganz eingefdgt werden. 
Gegenüber der perivasculären Gliose ist die Geringfügigkeit der 
Alterationen und das Fehlen größerer herdförmiger Defekte der 
Zellen- und Faserschichtung entsprechend den Gliawucherungen 
hervorzubeben; auch ist die Vermehrung der Glia um die in 
Betracht kommenden, in den obersten Bindenlagen befindlichen 
Gefäße nicht so erheblich, wie dies Alzheimer beschreibt. Im 
tieferen Mark fanden sich wohl vereinzelt Gefäßveränderungen ganz 
entsprechend, (aber ohne so erhebliche perivasculäre Glia- 
vermehrung) jenen, wie ich sie für die Binde beschrieb, doch 
kein nur halbwegs auffälligerer Ausfall an Markfasern; es liegt 
also auch keine Ähnlichkeit mit der Binswangerschen chro¬ 
nischen, progressiven, subcortiealen Encephalitis vor. Zudem 
wäre gegenüber den beiden letztgenannten Formen auf das immer¬ 
hin Diffusere der wenn auch fast durcbgebends geringgradigeren 
Bindenaffektion hinzuweisen, die nur im linken vorderen unteren 
Abschnitte des Parietallappens merklich erheblichere Grade 
aufwies. Am ehesten noch würde ich den Befund mit der senilen 
Bindenverödung (secd. Alzheimer) vergleichen, wenn auch bei 
weitem nicht homologisieren. Diese hat mit der perivasculären 
Gliose das eine gemein, daß die Bindenherde gleichfalls um 
Gefäße, speziell die von der Pia her eintretenden, gelagert 
erscheinen; es ist nach Alzheimer ihr Sitz und ihre Gestalt 
ziemlich charakteristisch. Ähnlich sind ja auch in meinem Falle 
die wenigen, von einer ziemlich gewucherten gliösen Grenz¬ 
schicht umscheideten atheromatösen Gefäßchen solche, die 
von der Pia her einstrahlen. In der Kegel konnte ich diese 
Miniaturherde, die sich gleichfalls der Keilform nähern, wie 
bemerkt, nur eine Strecke weit in die zellarme Schicht hinein 


5 


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Hirnrindenveränderungen bei Herderscheinungen. 


119 


verfolgen. Erheblichere Zerstörungen des Gewebes, abgesehen 
natürlich von der Raumverdrängung durch die Glia, setzten sie 
nicht. Vielleicht hätten wir, wie ich schon oben anzudeuten mir 
erlaubte, hier eine Art Vorstufe der typischeren, schwereren Alte¬ 
rationen, wie sie eben Alzheimer beschrieb, zu sehen. Eine 
weitere Analogie wäre dann die Kombination des Vorhanden¬ 
seins diffuser, wohl auf Rechnung der senilen Involution zu 
setzender Veränderungen mit solchen, die vielleicht eher auf die 
gleichfalls konstatierte Atheromatose zu beziehen sind und mehr 
herdförmigen Charakter haben. Redlich 1 ) beschrieb in einem 
an der v. Wagnerschen Klinik beobachteten Falle von De¬ 
mentia senilis einen Rindenbefund, dessen hervorstechendstes 
Merkmal in dem Auftreten zahlreicher kleinster gliöser Ver¬ 
dichtungsherde in der Rinde gelegen war; er bezeichnet daher 
diese Affektion als miliare Sklerose der Hirnrinde. Zingerle, 2 ) 
der aus der Antonschen Klinik eine umfassende Arbeit über 
die Geistesstörungen im Greisenalter veröffentlichte, sieht in 
diesen Befunden ebenso wie in den früher erwähnten Alz¬ 
heimers ein Moment, welches uns vielleicht das Auftreten von 
Herdsymptomen bei makroskopisch rein atrophisierenden Pro¬ 
zessen erklären könnte. Diese Annahme scheint gewiß sehr 
plausibel. Es wäre freilich auch noch daran zu denken, daß der 
an sich diffuse Prozeß an einzelnen Stellen größere Intensität 
erreichte, ohne daß diese direkt durch Herde bestimmt wäre. 
Die Gliavermehrung, die diffuse ebensowohl wie die mehr herd¬ 
förmige, auch in meinem Falle um eine Reihe von Rindengefäßen 
herum besonders ausgesprochene, könnte man sich, wenn schon 
nicht gerade als sekundären, so doch als parallel gehenden 
Prozeß deuten; speziell für jene nicht seltenen Fälle, wo eine 
Kombination seniler Prozesse mit Arteriosklerose vorliegt, wäre 
diese Annahme vielleicht gestattet. Für Fälle, wie z. B. den 
Redlich sehen, läßt ja die Hypothese, als wären vasculäre 
Läsionen der Ausgangspunkt der kleinen Herde, im Stich; 
Redlich neigt denn auch, freilich nicht ohne Reserve, zu der 
Annahme hin, daß für seinen Fall die Veränderung in den ner¬ 
vösen Elementen das Primäre, die Gliaveränderung erst das 
Sekundäre sei. Es ergibt sich aus der Zusammenstellung all 

*)• Jahrbücher f. Psychiatrie, Bd. XVII. 

J j Jahrbücher f. Psychiatrie, Bd. XVIII. 


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120 


Dr. Erwin Stransky. 


dieser verschiedenen Befunde, daß die Möglichkeit einer mehr¬ 
fachen Genese, respektive Grundlage von mehr minder aus¬ 
gesprochenen Herdsymptomen nicht von der Hand zu weisen ist, 
und daß mit dieser Multiplizität der Genese auch fiir einen und 
denselben Fall zu rechnen wäre. Ich möchte auch meine Beob¬ 
achtung als einen Mischfall ansehen, in dem sich nicht scharf 
unterscheiden läßt, wieviel auf Rechnung der Altersveränderung, 
respektive der primären Involution nervöser Elemente und 
wieviel anderseits auf jene der gleichfalls in Betracht zu 
ziehenden, auf die Atheromatose hinweisenden, bis zu einem 
gewissen Grade als herdförmig zu bezeichnenden Befunde zu 
setzen ist. Schließlich muß selbst mit dem Übergange rein 
seniler Veränderungen in mehr herdförmige gerechnet werden. 
Campbell, 1 ) um nur einen Autor herauszugreifen, beschreibt 
die Verdichtung des Spinnenzellenbelages um die Gefäße im 
Senium. Ein gleiches wissen wir bezüglich des Rückenmarks, 
um dessen Gefäße im Greisenalter häufig eine starke Glia¬ 
wucherung auftritt, die speziell in der Frage von den Bezie¬ 
hungen des Seniums zur Paralysis agitans eine gewisse Be¬ 
deutung erlangt hat. Es sei hier nur hingewiesen auf die ein¬ 
schlägigen Arbeiten von Ddmange,*) Ketscher, 8 ) Redlich, 4 ) 
Sander 6 ) u. a. Ich habe im Rückenmarke alter, mit Arterio¬ 
sklerose behafteter Leute gleichfalls mehrfach dergleichen ge¬ 
sehen ebenso im vorliegenden Falle, in dem übrigens Rückenmark 
und Hirnstamm mikroskopisch sonst keine belangreichen Auffällig¬ 
keiten darboten; es handelt sich ja um keine seltenen Befunde. 
Derartige perivasculäre Gliaverdichtungen, die ja noch in den 
Rahmen gewöhnlicher seniler, respektive mit der Atheromatose 
im höheren Lebensalter zusammenhängender Veränderungen 
fallen, können wohl unter Umständen solche Mächtigkeit er¬ 
langen, daß sie jedenfalls in ihrer Wirkungsweise, wenn schon 
nicht rein morphologisch, Herden gleichgesetzt werden können. 
Ich nahm daher auch keinen Anstand zu vermuten, daß die 

*) The Journ. of mental soience, 1894. 

2 ) Das Greisenalter (deutsch v. Spitzer); Leipzig u. Wien 1887. 

3) Zeitsohr. f. Heilkunde, Bd. XIII. 

4 ) Jahrbuch f. Psychiatrie, Bd. XII. 

5 ) Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde, Bd. XVII; Monatssehr. f. Psy¬ 
chiatrie u. Neurologie, Bd. III. 


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Hirnrindenveränderungen bei Herderscheinungen. 


121 


besonders starken perivasculären Gliafilze in meinem Falle eine 
Art Vorstadium echter Herdchen, wie sie bei der senilen Rinden¬ 
verödung, respektive der perivasculären Gliose beschrieben sind, 
darstellen könnten. 

Das Hauptinteresse des eingangs erwähnten, von mir schon 
bei früherer Gelegenheit klinisch und makroskopisch-anatomisch 
dargestellten Falles scheint mir, um kurz zu rekapitulieren, darin 
zu liegen, daß ausgeprägte Herdsymptome nicht nur makroskopisch 
auf Grund eines rein atrophisierenden Rindenprozesses sich 
auszubilden vermögen (secd. Pick), sondern daß dabei, wie sich 
jetzt ergibt, die Rinde nicht einmal besonders schwere histo¬ 
logische Veränderungen aufweisen muß. Meine Befunde bilden 
vielleicht eine Art Brücke von denen bei rein diffusen leichteren 
Prozessen zu jenen bei mehr herdförmigen (secd. Alzheimer, 
Binswanger und Redlich). Keinesfalls aber sind die gefundenen 
Läsionen als sehr schwere zu bezeichnen und es scheint wohl die An¬ 
nahme, daß durch die schwere Ernährungsstörung die Funktion 
stärker und früher leidet, als der histologische Aufbau der 
Rinde, einigermaßen gestützt; vielleicht erklärt sich auch so 
das oft Wechselnde und Schwankende der unter diesen Ver¬ 
hältnissen bestehenden Ausfallserscheinungen in bezug auf 
Intensität und Extensität. 


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Referate. 


H. Liepmann: Über Ideenflucht. IV. Band, 8. Heft der 
Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der 
Nerven- und Geisteskrankheiten. Verlag von Karl Marhold. 
Halle a. d. S. 1904. Preis 2*50 Mark. 

Das vorliegende Heft bringt in äußerst sorgfältiger Bearbeitung 
eine Begriffsstimmung und psychologische Analyse der Ideenflucht 
unter kritischer Würdigung der Ansichten der verschiedenen Autoren 
— u. a. Ziehen, Aschaffenburg, Kräpelin, Wernicke, Heilbronner. 
Verfasser geht dabei von der Frage aus, was Zusammenhang im 
Denken heißt; er erklärt es für unzulässig, der Vorstellungsfolge 
des Ideenflüchtigen jeden Zusammenhang abzusprechen, da zwischen 
benachbarten Gliedern ein wenn auch nur äußerer Zusammenhang 
nachzuweisen sei. Was das geordnete Denken kennzeichne, bestehe 
nicht darin, daß die jeweils folgende Vorstellung durch die Innig¬ 
keit der assoziativen Verknüpfung mit den letzten Gliedern oder 
durch Sinneseindrücke bestimmt wird, sondern daß ein System ver¬ 
schiedenwertiger Vorstellungen als organische Gedankengliederuug 
vorhanden ist; jene Vorstellung, welche das Verknüpfungsprinzip 
-anderer in sich schließt, bezeichnet Verfasser als „Obervorstellung”; 
die Ideenflucht erklärt Verfasser durch Fortfall oder Abschwächung 
der Obervorstellungen; was aber gewisse Vorstellungen zum Range 
solcher erhebt, fällt mit der Aufmerksamkeit zusammen, deren 
Objekt beim Ideenflüchtigen beständig wechselt; es herrscht dann 
keine „Rangordnung” mehr, sondern „Anarchie”. Durch Berück¬ 
sichtigung dieses Faktors der Aufmerksamkeit wird auch der Wider¬ 
spruch gelöst, welcher zwischen der Selbstwahruehmung vieler 
Ideenflüchtiger und dem Eindruck des Beobachters einerseits und 
den Ergebnissen der modernen Psychologie anderseits bezüglich 
des Tempos der Vorstellungsfolge der Ideenflüchtigen besteht. Die 
Objekte der Aufmerksamkeit wechseln bei vielen Ideenflüchtigen 
schneller, es passiert also mehr Verschiedenartiges in gleicher Zeit 
als beim Gesunden den Blickpunkt des Bewußtseins, was aber noch 


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Referate. 


123 


keineswegs eine „Verkürzung der Assoziationszeit’' bedeutet; auch 
der Gesunde kann ebenso schnell assoziieren, unterläßt dies aber 
im Interesse sinnvoller Produktion. In dem Vorwiegen der sprach¬ 
lichen Assoziationen vermutet Verfasser eine natürliche Folge des 
Fortfalles der Obervorstellungen; er erblickt in der Ideenflucht 
keine psychomotorische, sondern eine intrapsychische Störung, zu¬ 
folge deren Ungesuchtes aus der Latenz ins Bewußtseinsfeld und 
von da in den Blickpunkt dringt, wodurch die das geordnete Denken 
ermöglichende Auswahl wegfällt. 

Die hier nur in ihren Endergebnissen skizzierte Arbeit ist in 
allem geeignet, die vollste Beachtung der Fachkollegen in Anspruch 
zu nehmen. F. 

Prof. O. Binswanger: Die Hysterie. Nothnagels spezielle 

Pathologie und Therapie XII. 1. H. 2. A. Wien, A. Hölder. 
1904. 954 S. Preis 22 Mark. 

Der Autor nennt die Hysterie das Schmerzenkind der Nerven- 
pathologie, da es trotz aller Bemühungen, welche auf die Erkennung 
und begriffliche Würdigung der hierher gehörigen Krankheits¬ 
erscheinungen verwandt worden sind, bisher zu keiner auch nur 
einigermaßen befriedigenden und den Widerstreit der Meinungen 
ausgleichenden Lösung gekommen ist. 

Es wird daher in erster Linie interessieren, zu erfahren, von 
welcher Seite Binswanger die Frage nach dem Wesen der Hysterie 
angreift. Seiner Darstellung nach besteht die hysterische Veränderung 
darin, daß die gesetzmäßigen Wechselbeziehungen zwischen der 
psychischen und materiellen Beihe gestört sind und zwar in doppelter 
Richtung: auf der einen Seite fallen für bestimmte Reihen materieller 
Rindenerregungen die psychischen Parallelprozesse aus oder werden 
nur unvollständig durch jene geweckt; auf der anderen Seite ent¬ 
spricht einer materiellen Rindenerregung ein Übermaß der psychischen 
Leistungen, das die verschiedenartigsten Rückwirkungen auf die 
gesamten Innervationsvorgänge, die in der Rinde entstehen oder 
von ihr beherrscht werden, hervorruft. Überall tritt der entscheidende 
Einfluß der Alteration der Gefühlstöne auf die intellektuellen Vor¬ 
gänge zutage, und zwar in der Weise, daß nicht bloß eine patho¬ 
logisch gesteigerte emotionelle Erregbarkeit, sondern auch eine 
pathologische Verringerung der Gefühlsreaktionen die Krankheits¬ 
vorgänge beherrschen kann. 

Bemerkenswert erscheint die Angabe, daß etwa die Hälfte 
seiner Krankenbeobachtungen, insoweit sie die Fälle weiblicher 
Hysterie und Neurasthenie betreffen, gleichzeitig die Erscheinungen 
beider genannter Erkrankungen darbietet, und zwar teils als zu¬ 
sammengesetzte, teils als Mischformen. Es geschieht eben häufig, 
daß die hysterische Veränderung uud die ihr entsprechenden spezi¬ 
fischen hysterischen Krankheitsmerkmale auf dem Boden der 
neurastbenischen Dauerermüdung, respektive Erschöpfung zustande 


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124 


Referate. 


kommen. Aber auch mit Rücksicht auf die Epilepsie findet man 
bei der Hysterie ebensowohl zusammengesetzte Formen als Misch¬ 
formen. 

Die Trennung zwischen paroxystischen und interparoxystischen 
motorischen Reizerscheinungen bedarf einer sorgfältigen Erwägung. 
Diese motorischen Symptome dürfen nur dann als paroxystische be¬ 
zeichnet werden, wenn sie Teilerscheinungen eines mit Bewußtseins¬ 
störungen verknüpften transitorischen Krankheitszustandes sind; eine 
solche Bewußtseinsstörung besteht aber nur dann, wenn ein allgemeiner 
oder partieller Erinnerungsdefekt nachweisbar ist. 

Nach diesen allgemeinen Auseinandersetzungen dürfen wir es 
uns versagen, in die äußerst ausführlich und vollständig behandelten 
Spezialkapitel des Werkes näher einzugehen (Ätiologie, Sympto¬ 
matologie mit Einschluß der hysterischen Psychosen, allgemeine 
Psychopathologie, Verlauf, Prognose und Diagnose und Therapie). 

Der Autor hat es verstanden, das reiche Material der Literatur 
mit seinen eigenen Erfahrungen auf diesem Gebiete in anregender 
und lehrreicher Weise zu verknüpfen und speziell auf theoretischem 
Gebiete zwischen Subjektivität und Objektivität immer die richtige 
Mitte festzuhalten. 

Wir besitzen nun auch im Deutschen ein Spezialwerk, welches 
an Gründlichkeit und Ausführlichkeit die besten einschlägigen 
französischen gewiß erreicht, in manchen Punkten sie wohl auch 
überragt. 

Über Druck und Ausstattung ein lobendes Wort anzufügen, 
erscheint bei den allbekannten Leistungen des Hölderschen Ver¬ 
lages nahezu überflüssig. Obersteiuer. 

A. Grohmann: Die Vegetarieransiedlung in Ascona und 
die sogenannten Naturmenschen im Tessin. Halle a. d. S. 
K Marhold. 1904. 1 Mark. 

Das kleine Büchlein ist ein Wiederabdruck aus der psychiatrisch- 
neurologischen Wochenschrift, diesmal durch 7 Abbildungen ver¬ 
mehrt; sein Inhalt dürfte daher den meisten Psychiatern ohnehin 
nicht unbekannt sein. 

Jedenfalls wird man diese Mitteilungen Grohmanns nicht 
ohne Interesse lesen; sei es, daß man sich über das Konglomerat 
von Fanatismus, Verschrobenheit und Selbsttäuschung — alles mehr 
minder psychopathisch — verwundert, sei es, daß man seinen Spsß 
daran findet, wie diese aus allen Ländern und Volksschichten zu¬ 
sammengewürfelte Gesellschaft ohne Fleisch und Salz, ohne h beim 
Schreiben, in der sogenannten vegetarischen Gewissensehe, manchmal 
auch fast ohne Kleider, in dem Monte di verita benannten Sana¬ 
torium am Lago maggiore ihr Leben verbringt. Obersteiner. 


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Aas der deutschen psychiatrischen Klinik (Prof. A. Pick) in Prag. 

Zur Kenntnis des multiplen metastatischen Carcinoms 
des Zentralnervensystems. 

Von 

Dr. Oskar Fischer, 

II. Assistenten. 

(Mit Tafel VT.) 

Ein vor einiger Zeit in unserer Klinik beobachteter und 
zur Sektion gekommener Fall von multiplem metastatischen 
Carcinom des Gehirns bot Gelegenheit, einige interessante ana¬ 
tomische und mikroskopische Details zu studieren, die mir für 
die Kenntnis der multiplen carcinomatösen Hirnmetastasen nicht 
ganz ohne Bedeutung zu sein scheinen; die Publikation dieser 
Befunde erscheint um so mehr berechtigt, als das noch recht 
mangelhafte Verständnis des klinischen Bildes durch dieselben 
einige Aufklärung erfährt. 

Es handelt sich um einen 65jährigen Faßbinder A. S., der 
am 18. März 1903 in die Klinik aufgenommen wurde. Die kli¬ 
nischen Daten wurden schon von Herrn Prof. Pick 1 ) aus einem 
anderen Anlasse in ausführlicher Weise publiziert, hier genügt 
eine ganz kurze Skizzierung des Verlaufes. 

Beginn der Erkrankung vor 3 Wochen mit allgemeiner 
Mattigkeit und zunehmender Stumpfheit; bei der Einlieferung 
war von körperlichen Symptomen nur eine linksseitige Hemi¬ 
anopsie wahrscheinlich, doch wegen der Stumpfheit nicht sicher 
nachweisbar. Psychisch war Patient sehr matt, schläfrig, gleich- 
giltig und zeigte die Symptome einer partiellen sensorischen 
Aphasie. Im Verlaufe der Beobachtung traten allgemeine Krampf- 

’) Wiener klinieohe Woohensohrift 1903, 38. 

Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie/ XXV. Bd 9 


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126 


Dr. Oikar Fischer. 


anfalle vom Typus der Rindenepilepsie auf; hin und wieder 
zeigten sich dabei auch durch längere Zeit leichte, mit dem 
Pulse synchrone Zuckungen im Gesicht und den Extremitäten, 
ähnlich wie sie bei paralytischen Anfällen beschrieben sind. Die 
Anfälle häuften sich bis über 30 im Tage und am 18. März 1903 
erfolgte der Exitus in einem solchen Krampfanfalle. 

Bei der am nächsten Tage erfolgten Obduktion zeigte 
sich, daß die Ursache der Krankheit in einem multiplen Car- 
cinom des Gehirns lag, welches von einem primären C&rcinom 
des linken Stammbronchus ausgegangen war; dieser letztere 
erwies sich an einer 5 cm breiten, ringförmigen Zone von einer 
weichen Aftermasse infiltriert, welche auch in die benachbarten 
bronchialen Lymphdrüsen fortgewuchert war, und dann Meta¬ 
stasen in den tiefen Halslymphdrüsen, in der Leber, den Neben¬ 
nieren, den mesent. Lymphdrüsen, im Gehirn und der Dura mater 
gesetzt hatte. 

Ich lasse jetzt den diesbezüglichen Teil des Sektions- 
protokolles folgen, für dessen Überlassung ich Herrn Hofrat 
Prof. Dr. H. Chiari zu bestem Dank verpflichtet bin. 

«Die Dura mater wenig gespannt, in ihren Sinus ziemlich 
reichlich frisch geronnenes Blut An der rechten Fläche der 
Falx cerebri major nahe dem Tentorium cerebelli ein halb¬ 
kugeliger, 2 l /icm im basalen Durchmesser betragender, 1cm 
dicker Tumor von weicher Consistenz und unebener Oberfläche. 
Derselbe sitzt der Falx fest auf. Entsprechend der dritten linken 
Temperalwindung findet sich ein gleich großer und ebenso be¬ 
schaffener Tumor, welcher der Dura mater fest aufsitzt Die 
inneren Meningen zart, ziemlich blutreich, die Windungen des 
Gehirns leicht atrophiert, nicht abgeplattet 

Das zuerst in toto in wässeriger Formollösung fixierte 
Gehirn wurde am 14. April 1903 des weiteren untersucht; hier¬ 
bei zeigte sich von außen, daß der Tumor an der rechten Seiten¬ 
fläche der Falx entsprechend dem Präcuneus sich fast 1 1 / i cm 
tief in die Substanz des Gehirns einsenkte; weiter ließ sich er¬ 
kennen ein analoges Hineinwuchern des anderen Tumors an 
der Pachymeninx im Bereiche des Gyrus temporalis HI. sin.; 
die Hirnsubstanz an diesen beiden Stellen ist nicht bloß ver¬ 
drängt, sondern auch zerstört. Bei Betrachtung der Großhirn¬ 
hemisphären lassen sich von außen noch an drei Stellen Neo- 


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Multiples metastatisches Carcinom des Zentralnervensystems. 127 

plasmen in der Hirnrinde durch die ganz zarten und nicht ge¬ 
trabten Meningen hindurch erkennen, und zwar in der Mitte 
des Gyrus occipitotemporalis inferior lateralis dexter, in der 
Spitze des Gyrus temporalis IIL dexter und an der medialen 
Fläche der linken Großhirnhemisphäre im Gyrus frontalis I., 
gerade aber dem Genu corporis callosi. Der erste Knoten 
haselnuß-, der zweite erbsen-, der dritte fast walnußgroß. Bei 
der nun vorgenommenen frontalen Lamellierung der beiden 
Hemisphären finden sich noch zahlreiche andere, zwischen etwa 
Halberbsen- und Walnußgröße schwankende Knoten teils in der 
Rinde, teils in den der Rinde angrenzenden Partien des Marks 
gelagert. Die Zahl dieser Knoten, an den etwa 1 cm dicken 
Lamellen gezählt, beträgt etwa 90 und kann man annehmen, 
daß nach weiterer Lamellierung noch mehr Knoten gefunden 
worden wären. Im Kleinhirn, das quer lamelliert wurde, findet 
sich im Marke der rechten und linken Hemisphäre je ein hasel¬ 
nußgroßer Knoten von grauer Farbe und weicher Konsistenz. 

An Pons und Med. oblong, makroskopisch keine Verände¬ 
rung zu sehen.” 

Durch ein Versehen kam das Rückenmark nicht zur Unter¬ 
suchung. 

Die klinischen Symptome sind durch die gefundenen Car- 
cinomherde im Gehirn erklärt; so war die wegen der Stumpf¬ 
heit des Patienten nur wahrscheinliche pathologische Beschaffen¬ 
heit der linken Gesichtsfeldhälften durch den Knoten im rechten 
Hinterhauptslappen, die sensorische Aphasie durch den großen 
Knoten im linken Schläfelappen bedingt; schließlich sind auch 
die Krämpfe bei der Massenhaftigkeit der Tumoren ein nicht 
auffallendes Symptom; immerhin kann aber der Sektionsbefund 
als eine Überraschung angesehen werden, indem ja zu der 
großen Zahl der Metastasen die relativ geringen Ausfalls¬ 
symptome doch in ausgesprochenem Mißverhältnis stehen. Es 
liegen in der Literatur zwar nur wenige Fälle von klinisch 
gut beobachteten multiplen Carcinommetastasen des Gehirns vor, 
aber überall kehrt dieses Mißverhältnis wieder, ja die Er¬ 
fahrung am Seciertische zeigt, daß in den meisten Fällen die 
Carcinommetastasen im Gehirn nur einen Nebenbefund darstellten. 

Außerdem war bei der Obduktion das Fehlen jeglicher 
Volomszunahme des Gehirns besonders auffallend; denn man 

9* 


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Dr. Oskar Fischer. 


hätte doch bei der nicht unbeträchtlichen Masse der Neoplasmen, 
die zusammen mindestens die Größe einer Eindsfaust ausmachten, 
eine Volnmsznnahme des Schädelinhaltes, ausgedrückt durch 
größere Spannung der Dura mater und Abplattung der Hirn¬ 
windungen erwartet; beides fehlte aber. In der Literatur fand 
ich über diesen Umstand nur wenig berichtet; so findet sich in 
2 Fällen von Siefert 1 ) das Fehlen von Druckerscheinungen 
im Schädelraume ausdrücklich erwähnt, wogegen Buchholz 3 ) 
in seinem Falle allerdings deutliche Spannung der Dura mater 
verzeichnet, dagegen keine besondere Abplattung der Hirn¬ 
windungen, sondern nur reichlichen Hydrops der inneren Meningen 
und Ventrikel. 

Es scheint in dieser Hinsicht ein gegensätzliches Ver¬ 
halten der solitären und multiplen Carcinommetastasen zu exi¬ 
stieren, indem bei den multiplen relativ viel häufiger Druck¬ 
symptome fehlen. 

Dieser scheinbar so widersprechende Umstand ließe sich 
durch das verschiedene Verhältnis der Masse und des Volumens 
bei dem solitären und multiplen Carcinomknoten erklären; das 
Carcinom ist ja ein exquisit gewebszerstörendes Neoplasma, 
dessen zerstörende Kraft wir uns vornehmlich durch eine che¬ 
mische Wirkung der Zellen vorzustellen haben, vermöge deren 
sie das benachbarte Gewebe auflösen, ähnlich wie es die Osteo¬ 
klasten z. B. tun. Es wird danach die Größe der vom Tumor 
weggefressenen Organmasse von der Zahl der Oberflächenzellen, 
also der Größe der Oberfläche, die Wachstumszunahme von der 
absoluten Zeilenzahl, also — ohne Rücksicht auf Degenerationen 
— von dem Gesamtvolumen abhängen. Es entstünde dann keine 
Volumsvermehrung, wenn der Tumor genau soviel Organmasse 
zerstörte, als seinem Wachstum entspräche; je größer aber der 
Tumor wird, desto kleiner wird verhältnismäßig seine Ober¬ 
fläche; wenn wir uns den Tumor in eine größere Anzahl kleiner 
Knoten zerteilt denken, so wächst dann mit der Zerteilung un¬ 
verhältnismäßig die Oberfläche; so könnten wir dann, bei ent¬ 
sprechend weit gedachter Zerteilung — Multiplizität — sogar 
zu einer Grenze kommen, jenseits welcher durch die besonders 
vergrößerte Oberfläche mehr Organmasse resorbiert als Tumor- 

i) Arch. f. Psych. 1903. H. 3. 

*) Monatsschrift f. Psych. u. Neurol. 1898. 


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Multiples metastatigohes Cwcinom des Zentralnervensystems. 129 


masse nachgebildet würde, also eine Volumensabnahme ent¬ 
stünde. Diese Überlegung könnte selbstverständlich noch zahl¬ 
reiche Komplikationen erfahren, wenn wir noch andere Mög¬ 
lichkeiten berücksichtigen wollten; so z. B, daß es verschiedene 
Carcinome von verschieden intensiver Proliferation gibt, daß 
dann dabei noch allgemein marantische und lokal-degenerative 
Prozesse der Carcinomherde selbst mitspielen können; doch das 
sind lauter Umstände, welche den hier gefundenen Verhältnis- 
wert nur etwas zu verschieben, aber nicht wesentlich umzuähdern 
vermöchten. 

Wir hätten so erklärt, warum bei solitären Carcinomen 
sich das Organvolumen vermehren dürfte, bei multiplen sich 
nicht vermehren muß, sich aber vermehren kann, wenn ent¬ 
weder die Carcinomknoten nicht genügend zahlreich und klein 
sind oder wenn bei genügender Zerteilung der Tumormasse 
einzelne größere Knoten sich vorfinden. 

Der vorliegende Fall wäre nun ein derartiger, daß trotz 
des großen Carcinomvolumens eben durch die große Multiplizität 
und deren Wirkungen keine wesentliche Volumszunahme zu¬ 
stande kam. 

Wir wollen nun zur histologischen Untersuchung übergehen 
und nachsehen, ob etwa auch in den histologischen Bildern ein 
Anhaltspunkt für die oben nur durch Überlegung gewonnene 
Anschauung zu finden ist. 

Das primäre Carcinom bestand aus ziemlich großen, zylin¬ 
drischen Epithelzellen, welche in Alveolen angeordnet und am 
Bande derselben deutlich epithelartig aneinander gereiht waren. 
Reichliche Bindegewebszüge umgaben diese Epitbelformationen, 
ein Bild, wie es den von dem Drüsenepithel der Bronchien aus¬ 
gegangenen Carcinomen entspricht; denselben Bau zeigten die 
Metastasen in den Lymphdrüsen und Nebennieren, und auch die in 
der Dura mater, nur daß hier die epithelartige Anordnung nicht 
mehr so deutlich ausgeprägt war; die Knoten im Gehirn zeigten 
eine gewisse Abweichung davon; ihre Zellen waren durchwegs 
etwas kleiner, protoplasmaärmer, die Kerne mehr rundlich und 
nirgends von epithelartiger Anordnung. 

Zum Verständnis des Aufbaues der Knoten ist es ange¬ 
zeigt, mit der Beschreibung der kleinsten, nur mikroskopischen 
Knoten zu beginnen, wobei aber zu bemerken ist, daß ich hier- 


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130 


Dr. 0*kar Fischer. 


mit nur wirklich kleinste Knoten und nicht nur angeschnittene, 
größere verstehe. Diese kleinsten, makroskopisch nicht sicht¬ 
baren Herde haben ein ganz verschiedenes Aussehen, je nach¬ 
dem sie sich in der weißen oder grauen Substanz etabliert 
hatten; zu erwähnen ist noch, daß solche Knötchen, die ja nur 
einen zufälligen Befund darstellen, nicht sehr reichlich vor¬ 
handen waren. 

In der weißen Substanz sind diese Herde dadurch ge¬ 
bildet, daß an der betreffenden Stelle um die erweiterten Gefäße 
herum, die dadurch mehr in die Augen springen und den An¬ 
schein von Vermehrung hervorrufen, in deren Lymphscheiden 
eine Ansammlung von Tumorzellen sich findet; dabei ist die 
Zellage um die größeren Gefäße dicker, etwa 6 Zellen be¬ 
tragend, und nimmt mit der Gefäßweite schnell ab; aber auch 
um die Capillaren herum finden sich Tumorzellen, jedoch nur 
in einfacher Lage: an den Gefäßverzweigungen kommunizieren 
auch die Tumorausgüsse der perivaskulären Spalträume mit¬ 
einander, was zu der Annahme berechtigt, daß der ganze 
Knoten durch ein Fortwuchern des Carcinoms in den Lymph- 
wegen je eines Blutgefäßes gebildet ist. 

Die Knoten in der grauen Substanz sind den geschilderten 
ähnlich, nur mit dem Unterschiede, daß die Tumorzellen nicht 
bloß um die Gefäße, sondern auch infiltrierend im Gewebe ver¬ 
streut sind; dadurch sind diese Knoten zellreicher und zeigen in 
diesem infiltrierenden Wachstum eine den Carcinomen sonst 
nicht zukommende Eigentümlichkeit, während die Knoten in 
der weißen Substanz dem gewöhnlichen Typus des Wachstums 
in präformierte Lymphbahnen entsprechen. Ich sagte aber schon 
vorhin, daß es sich nur um ein scheinbares Infiltrieren handelt, 
denn ein genaueres Studium der Präparate erklärt sehr leicht 
diesen Widerspruch. Es finden sich nämlich darin, genau so 
wie um die kleinsten Blutgefäße, auch um die einzelnen Gang¬ 
lienzellen Ansammlungen von Tumorzellen, welche dieselben in 
ein- bis zweifacher Lage wie ein Mantel umgeben und sich 
auch noch um die größeren Fortsätze herum weiter erstrecken 
(vide Taf. VI, Fig. 2,3,4,5 und 6); der Umstand, daß man aber in 
einem Schnitte nur wenige dieser Fortsätze mit der Zelle in 
Zusammenhang sehen kann, gilt in gleicher Weise auch für 
viele von den um dieselben herum wuchernden Zellsträngen, 


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Multiples metaetatisohes Careinom des Zentralnervensystems. 131 

welche dann isoliert getroffen, den Eindruck machen, als ob das 
Careinom das Nervengewebe direkt infiltrieren würde (Fig. 4 
und 6), während es nur, genau so wie um die Blutgefäße, auch 
in den Zwischenräumen zwischen den Ganglienzellen nnd der 
übrigen Hirnsnbstanz weiter gewuchert ist. 

Wenn auch die anatomische Präezistenz dieses Raumes viel¬ 
fach geleugnet wird, so sprechen doch diese Befunde sehr da¬ 
für, daß hier die Gewebscohärenz etwas geringer ist als anders¬ 
wo; nun müssen wir uns vorstellen, daß die Gewebslymphe 
immer in der Richtung eines Druckgefälles fließt; sie wird 
dann immer die Stellen geringerer Gewebscohärenz vorziehen, da 
sie hier einen geringeren Widerstand zu aberwinden hat. Durch 
diese Überlegung müssen wir zu dem Resultate gelangen, daß 
die Grenze zwischen den Ganglienzellen und dem anderen 
Nervengewebe eine Art Lymphspalt darstellt, welcher normaler¬ 
weise ganz eng, pathologischerweise aber erweitert werden 
kann. Dafür, daß diese Auffassung von dem Lymphraume richtig 
ist, spricht auch noch folgende Überlegung. Im Körper findet 
man die Zirkulationsverhältnisse der Organe je nach dem Stoff¬ 
verbrauche reguliert; so wird der Knochen viel weniger von 
den Körpersäften durchflossen als der Muskel etc.; so ähnlich 
wird es auch nicht nur in den einzelnen Organen, sondern auch 
in den Organteilen, bis ins kleinste mikroskopische Detail zu 
finden sein, die schon direkt von der Lymphe gespeist werden; 
es ist nun sehr wahrscheinlich, daß die mehr arbeitenden Einzel¬ 
elemente auch mehr Zu- und Abfluß von Lymphe brauchen, was 
im Gehirn nach unserem bisherigen Wissen für die Ganglien¬ 
zellen zutreffen müßte, welche dadurch auch am meisten Nähr¬ 
material verbrauchen. Aus den oben erwähnten Gründen er¬ 
schließen wir dann, daß um die Nervenzellen auch tatsächlich 
ein regerer Lymphstrom fließen muß; dafür wäre der pericellu- 
läre Lymphspalt der einfachste und bei dem Bau des Gehirns 
auch wahrscheinlichste Weg, und die hier beschriebenen Bilder 
möchten eine natürliche Injektion dieser Räume darstellen. 

Die etwas größeren, bis erbsengroßen Carcinomknoten re¬ 
präsentieren sich- als aus einzelnen dichten Carcinomsträngen 
aufgebaut, die durchwegs die Blutgefäße umgeben, welche in 
der Peripherie dünner und lockerer, gegen das Zentrum hin 
dicker und dichter angeordnet sind und vielfach auch kon- 


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Dr. Oskar Fischer. 


fluieren (Fig. 1). Zwischen den Strängen findet sich ein lockeres 
Gewebe, der Rest der Nervensubstanz, das ähnlich, wie es für 
die feinen Knoten beschrieben war, „infiltrierend” von dem Car- 
cinomgewebe dnrchwuchert wird; gegen den Rand sind diese 
Reste der Nervensubstanz größer und weniger infiltriert; zu 
erwähnen ist noch, daß Schnitte, welche diese kleinen Knoten 
tangential treffen, ein teilweise ähnliches Bild liefern, wie es 
die kleinsten Knoten darboten. 

Die größeren Tumorknoten haben gegenüber den geschil¬ 
derten kleineren Knoten ein viel dichteres Gefüge, nicht nur in 
der Mitte, sondern auch am Rande; dabei wuchert hier das 
Neoplasma nur in den perivascul. Lymphräumen, nirgends „in¬ 
filtriert” es das Gewebe oder umschließt es die Ganglienzellen; 
der Knoten ist solide, ganz aus Carcinom aufgebaut, nur sehr 
spärliche Reste von Nervenmasse findet sich zwischen den 
Randsträngen. 

Der Verschiedenheit der Größe des betreffenden Knotens 
entsprechend, war auch das Verhalten des Gehirngewebes ver¬ 
schieden; saß der Knoten im Marke, so fand man an solchen 
bis zur Größe einer halben Bohne nirgends deutliche Zeichen 
von Verdrängung der Nervenfasern, vielmehr sah es so aus, 
wie wenn durch das Carcinom Stücke von gleicher Größe aus 
dem Marke heraus gespart wären; war dann der Knoten größer, 
so merkte man schon, daß die Markfasern nicht mehr so glatt 
aufhören, sondern leicht umbiegen und ausweichen, was sich 
auch in der Rinde zeigte, und zwar schon bei viel kleineren, 
nur halberbsengroßen Knoten. Auch an den Ganglienzellen um 
die größeren in der Rinde sitzenden Knoten sah man die Zeichen 
von Verdrängung der Nervensubstanz darin, daß sie meist 
parallel zur Grenze des Knotens gestellt waren. 

Marchi-Präparate zeigten um die einzelnen Knoten reich¬ 
liche fettähnliche, tröpfchenartige Degenerationsprodukte der 
Markscheiden; im großen und ganzen verschwand diese Dege¬ 
neration in sehr kurzer Entfernung von dem Knoten, nur dort, 
wo mehr geordnete Faserzüge verliefen, ließ sich die Degene¬ 
ration durch eine längere Strecke verfolgen; von anatomisch 
abgrenzbaren Faserbündeln war nur die rechte Sehstrahlung 
in ihrem ganzen Verlaufe degeneriert, bedingt durch den 
größeren Knoten im rechten Occipitallappen, der ziemlich tief 


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Multiples metastatisches Carcinom des Zentralnervensystems. 133 


in die Hirnsubstanz reichte. Die Fettkörnchen waren zumeist 
ganz isoliert im Gewebe, zum Teile in verschieden großen 
Körnchenkugeln eingeschlossen, die sich ziemlich reichlich um 
die Gefäße sowohl in der Hirnsubstanz als auch namentlich in 
den Carcinomknoten selbst gelagert vorfanden. 

Die Markscheiden erwiesen sich in der Nähe der Tumoren 
deutlich vermindert, häufig aufgequollen, zum Teil zerfallen; 
außerdem verliefen in den im Tumor noch enthaltenen. Resten 
des Nervengewebes Nervenfasern, welche aber nur in den 
äußeren Schichten desselben erhalten waren, um gegen das 
Zentrum hin bald zu verschwinden; auch diese Fasern befanden 
sich im Zustande starker Degeneration, was aus der hoch¬ 
gradigen Aufquellung und teilweisen Zerstückelung der Mark¬ 
scheiden ersichtlich war. 

Die Nervenzellen erwiesen sich eigentlich in dem ganzen 
Gehirn nicht als völlig normal, indem die Niesslschen Granula 
nirgends so schön färbbar waren wie normalerweise, ein Um¬ 
stand, der bei dem so schwer kranken Gehirn nicht befremdend 
ist. Dagegen zeigten die in der Nähe der Tumorknoten und in 
denselben gelegenen Ganglienzellen weitaus schwerere patholo¬ 
gische Veränderungen: 

1. Die in den Knoten eingeschlossenen Ganglienzellen 
wiesen außer den schon beschriebenen Umscheidungen durch 
die Carcinomzellen alle Stadien der Schrumpfung auf, sie ent¬ 
hielten beinahe keine Niesslschen Granula, ließen sich schwer 
färben, der Kern zeigte sich meist geschrumpft, der Nucleolus 
bald aufgequollen, bald als Zeichen von Schrumpfung unregel¬ 
mäßig konturiert; die Zellenform wurde rundlich, die Fortsätze 
seltener, der Zelleib kleiner und immer mehr mit dem wenig 
oder gar nicht der Resorption anheimfallenden gelben Pigment 
erfüllt, bis schließlich statt der Zellen nur noch zusammen¬ 
geballte Pigmenthäufchen zu erkennen waren; am Rande der 
Knoten zeigten sich die Zellen viel weniger affiziert, die ge¬ 
schilderten atrophischen Vorgänge nahmen von der Peripherie 
gegen das Zentrum deutlich zu. Dabei erwiesen sich die Gang¬ 
lienzellen als der resistente s te A n te i 1 des Nervengewebes, indem 
sie noch weit in Partien des Tumors hineinreichten, wo keine 
Markfasern mehr aufzufinden, ja sogar schon die Gliazellen von den 
Carcinomzellen überwuchert und nicht mehr zu erkennen waren. 


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Dr. Oskar Fischer. 


2. Aber auch diejenigen Ganglienzellen, welche in der 
Nachbarschaft der Knoten sich befanden, ohne daß sie in einem 
direkten Kontakt mit den Tumorzellen gewesen wären, zeigten 
hochgradige Veränderung, weitaus stärker als die Zellen der 
übrigen Hirnrinde. Sie waren zwar überall der Form nach 
nicht verändert, dagegen nach Nissl gefärbt, sehr blaß und ent¬ 
hielten beinahe keine färbbaren Nisslschen Granula (Fig. 7 
und 8). Im gliösen Stützapparate des Nervensystems konnte 
man um die Carcinomknoten herum meist keine wesentliche 
Veränderung bemerken, nur in der Umgebung der etwas größeren 
Knoten fanden sich einzelne etwas größere Gliazellen. In den 
im Tumor eingeschlossenen Partien Testierender Hirnsubstanz 
zeigten sich die Gliafasern zerfallen, so daß nur körniger Detritus 
und einzelne Ganglienzellen übrig blieben, um allmählich gegen 
das Zentrum auch zu verschwinden. 

Die Gefäße waren nicht nur im Tumor, sondern auch in 
der benachbarten Hirnsubstanz wesentlich erweitert und schein¬ 
bar, im Tumor selbst ganz sicher vermehrt. Um die einzelnen 
Knoten herum konnte, abgesehen von der erwähnten gelegent¬ 
lich geringen Vergrößerung der Gliazellen nirgends etwas von 
Reizung oder entzündlicher Veränderung des Nachbargewebes 
beobachtet werden; nur in einigen der größeren und auch de¬ 
generierte Partien einschließenden Knoten waren gelegentlich 
um die Blutgefäße größere Ansammlungen von Lymphocyten. 

An den Meningen konnte trotz sorgfältiger Nachforschung 
außer leichter Vermehrung des Bindegewebes keine neoplastische 
Infiltration gefunden werden, auch nicht dort, wo die Herde 
direkt an die Meningen angrenzten. 

Was die Untersuchung des sonstigen Zentralnervensystems 
anlangt, so fand sich außer den erwähnten Veränderungen in 
der Nachbarschaft der Knoten und der typischen Degeneration 
der rechten Sehstrahlung keine wesentliche pathologische Ver¬ 
änderung; die Med. oblong, und Pons zeigten keine Herde, nur 
verstreute spärliche, durch Marchi nachweisbare Degenerationen, 
Weigert-Präparate dagegen zeigten nichts auffallendes. 

Versuchen wir nun aus diesen hier dargelegten Beob¬ 
achtungen unsere Schlüsse zu ziehen. 

In erster Linie wenden wir uns der schon vorher auf¬ 
geworfenen Frage zu, ob wir in der mikroskopischen Unter- 


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Maltipleg metastatisches Carcinom deg Zentralnervenpygtemg. 135 


suchung eine Stütze für die Ansicht finden, daß beim multiplen 
Carcinom es eben die zuvor erläuterte Wirkung der vergrößerten 
Oberfläche ist, welche das so affizierte Gehirn vor einer be¬ 
trächtlichen Massenzunahme bewahrt. 

Wir sehen, daß die kleinen Knoten im Marke nirgends die 
Marksubstanz verdrängten, was nur so zu erklären ist, daß sie 
ebensoviel, als sie nachwuchsen, von dem Nachbargewebe zer¬ 
störten; hingegen verliefen die Fasern um die großen Knoten 
immer leicht abweichend, was dafür spricht, daß diese relativ 
viel weniger zu zerstören imstande waren, als die kleinen, 
welche Beobachtung unsere vorige Annahme vollauf bestätigt. 

Außerdem zeigte sich noch die auffallende Tatsache, daß 
in der grauen Substanz das Carcinom schon in Form von viel 
kleineren Knoten Verdrängung hervorrief als im Marke; es 
ergibt sich daraus wohl die Annahme, daß die graue Sub¬ 
stanz dem Carcinom gegenüber viel resistenter ist als 
das Mark; von der grauen Substanz selbst zeigen sich dann 
die Ganglienzellen als der resistenteste Gewebsanteil, indem sie 
die letzten Reste des im Tumor eingeschlossenen Nervengewebes 
darstellen. 

Außer dieser Resistenz gegenüber dem Tumor zeigten die 
Ganglienzellen noch zwei interessante Eigenschaften in unserem 
Falle; zuerst war es das Verhalten der pericellulären Lymph- 
räume, in welche die Carcinomzellen eindrangen, sie erweiterten 
und ausfüllten, ein Vorkommen, das sich noch nirgends in der 
Literatur erwähnt findet, und das, wie schon oben erwähnt, 
für die Präexistenz einer Art von Lymphraum um die Zelle 
spricht, indem es eine Art natürlicher Injektion derselben 
darstellt; weiter möchte ich die Aufmerksamkeit auf den Um¬ 
stand lenken, daß die Ganglienzellen, welche sich in der nächsten 
Nähe der Knoten fanden, aber nicht in direkter Berührung mit 
den Tumorzellen standen, sondern um mehrere Ganglienzellen¬ 
längen davon entfernt waren, gegenüber den anderen Rinden¬ 
zellen auffallend blaß waren; von einer mechanischen Wirkung 
kann hier keine Rede sein, da sich das gleiche auch um die 
ganz kleinen Knoten herum fand. Es könnte sich nur um zweierlei 
handeln: Entweder sind es zirkulatorisch verursachte Ernährungs¬ 
störungen, die durch die Nähe des Tumors bedingt sind; dafür 
könnten die auffallend erweiterten Gefäße, welche sich um die 


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136 


Dr. Oskar Fischer. 


Knoten herum fanden, sprechen; oder wir haben das als eine 
Art lokaler Giftwirkung der Tumorzellen selbst anzusehen, und 
könnten es als einen Indikator der gewebsstörenden Kraft des 
Neoplasmas ansehen. Obwohl sich für keine der beiden Deutungen 
etwas ganz beweisendes anführen läßt, bin ich doch geneigt, 
der letzteren Ansicht den Vorzug zu geben. 

Wir hätten also für unseren und ähnliche andere Fälle 
von multiplem Hirncarcinom das Fehlen von Volumszunahme 
damit erklärt, daß die Tumoren vermöge ihrer be¬ 
sonders vergrößerten Oberfläche gerade oder annähernd 
soviel Hirnmasse zu zerstören imstande sind, als 
ihrem wachsenden Vodumen entspricht. Wir können uns 
aber auch vorstellen, daß es Neubildungen gibt, die so rapid 
wuchern, daß die, vielleicht noch dazu geringe, chemische 
Zerstörungskraft weit hinter der Proliferationsfahigkeit zurück¬ 
bleibt, so daß bei derlei Tumoren das histologische Bild 
sich ganz anders gestalten muß. Ich bin nun in der Lage, 
für dieses theoretische Postulat ein Beispiel geben zu können, 
das ich der Güte des Herrn Hofrat Prof. Dr. H. Chiari ver¬ 
danke. Es handelt sich um einen Fall von metastatischem Me- 
lanosarkom bei einer 38jährigen Frau (seciert am 10. Juli 1897, 
Musealpräparat, 5184), das von einem Hautnaevus ausgegangen 
war; zahlreichste metastatische Knoten durchsetzten die meisten 
Organe, auffallenderweise zeigten sich dabei die Lungen frei 
von Metastasen; das Gehirn war besonders reichlich von 
kleinsten, eben nur sichtbaren, stecknadelkopfgroßen schwarz¬ 
braunen Herden durchsetzt, und zwar saßen diese in den Gro߬ 
hirnhemisphären durchwegs in der Rinde oder den der Rinde 
angrenzenden Markgebieten, nirgends war im Markweiß oder 
den Basalganglien etwas von Metastasen zu sehen, außerdem 
fanden sich noch einige wenige Knötchen im Pons und Medulla 
oblongata. Die histologische Untersuchung zeigte überall das 
gewöhnliche Aussehen der melanotischen Tumoren der Haut; 
besonders interessant waren aber die im Gehirn lokalisierten 
Knoten; alle, auch die kleinsten stellten ganz solide Kugeln aus 
Neoplasmazellen zusammengesetzt dar, eine Fortwucherung ent¬ 
lang irgendwelcher präformierter Saftbahnen war nicht zu 
sehen, auch der Nachweis der ursprünglichen embolisierten- 
Gefäße sehr schwierig; an Serienschnitten sah man zwar in der 


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Multiples metastatiscbes Careinom des Zentralnervensystems. 137 


Nähe der kleinsten Herde ein kleines sich an einer Stelle dem 
Tumor eng anliegendes, zum Teile tbrombosiertes Gefäß, aber in 
den Knoten selbst war weder ein Gefäß noch ein von dem Nach¬ 
bargefäß abgehender, mit Tnmorzellen erfüllter Ast auffindbar. 
In den etwas größeren Knoten waren zwar Capillaren zu sehen, 
doch waren diese mit Blot gefüllt und machten eher den Ein¬ 
druck von frisch gebildeten und ernährenden, als von emboli- 
sierten Gefäßen. So wie der Aufbau der Knoten, so war auch 
das Verhältnis derselben zum Nachbargewebe ganz verschieden 
von dem vorigen Fall, indem überall ein leichtes Ausweichen 
der Rindensubstanz vor den Tumoren zu sehen war. 

Dieser Gegensatz ist ganz leicht zu erklären, indem wir 
dazu keine andere Annahme brauchen als die, daß der Tumor 
ein besonders bösartiger und rapid wachsender war, was ja bei 
den melanotischen Hautgeschwülsten zur Regel gehört; die in 
die Himcapillaren verschleppten Tumorzellen wuchsen besonders 
rasch, durchbrachen die Gefäßwandung und vermehrten sich 
mit einer solchen Vehemenz, daß sie quasi nicht die Zeit hatten, 
die vorhandenen Lymphbahnen zu benutzen oder das umgebende 
Gewebe im genügenden Maße zu resorbieren; dadurch erklärt 
sich sowohl der ganz solide Aufbau der Knoten, als auch das 
trotz der Kleinigkeit derselben deutliche Ausweichen des um¬ 
gebenden Gewebes; auch in diesem Falle fehlten jegliche mar¬ 
kanten klinischen Symptome. 

Bis jetzt erwähnte ich überall nur den pathologisch¬ 
anatomischen Befund, nämlich das Fehlen von Volums¬ 
zunahme innerhalb der Schädelkapsel. Nun fehlten aber auch 
zu Lebzeiten fast jegliche Druckerscheinungen, welche ja sonst 
bei Tumoren die Regel sind; man könnte dieses Verhältnis 
etwa so deuten, daß die klinischen Stauungssymptome eben nur 
durch die Zunahme des Volums bedingt sind, welche hier aus 
den oben erörterten Gründen fehlt, weswegen auch kein 
Symptom von Hirndruck zu verzeichnen war; da aber die Akten 
über den Hirndruck noch immer nicht geschlossen sind, möchte ich 
eben nur die Ansicht einstweilen registrieren, daß für derartige 
Fälle das Fehlen von Stauungserscheinungen mit dem Fehlen 
jeglicher Volumszunahme in Beziehung gebracht werden könnte. 

Es erübrigt sich noch die auffallend spärlichen kli¬ 
nischen Symptome zu erwähnen, die das so reichlich meta- 


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138 


Dr. Oskar Fisober. 


stasierte Carcinom macht. Buch holz, 1 ) der in seiner Abhand¬ 
lung diese Frage streift, glaubt die Ursache dafür erstens darin 
zu sehen, daß die Knoten die Nervensubstanz verdrängen, und 
zweitens, daß sie sehr jungen Datums sind, kurz vor dem Tode 
entstehen und dadurch weniger Symptome machen. Ich kann mich 
aber dieser Ansicht nicht anschließen, und zwar aus folgenden 
(Gründen: 

Die mikroskopische Untersuchung ergab in unserem Falle, 
daß zwar das reichlich metastasierte Carcinom die Nerven- 
substanz wohl auch verdrängt, dagegen jeder Knoten immer 
in seinem Wachstum eine gewiß nicht unbeträchtliche Menge 
von Nervenmaterial zerstört, wofür das Fehlen sämtlicher Ver¬ 
drängungserscheinungen in den kleineren Knoten und die reich¬ 
liche Fettdegeneration der Markscheiden sprechen; daneben war 
auch ein reichliches Zugrundegehen von Ganglienzellen mit 
Sicherheit nachzuweisen; wenn nun der Knoten die Nerven- 
substanz zerstört, so ist es ganz gleichgiltig ob er (was Buch¬ 
holz nicht berücksichtigt) 3 Tage oder 3 Wochen vor dem 
Tode diese Laesion macht, denn, abgesehen von schwerer Agone, 
wird bei einer Durehtrennuug der Faser auch ein Ausfall ihrer 
Funktion eintreten müssen. 

Die meisten Herdaffektionen des Gehirus treten plötzlich 
auf, und zwar derart, daß immer viel mehr an Funktionen aus- 
föllt, als der durch einen Herd bedingten direkten Laesion von 
Nervenelementen entspricht; ja es kommen gar nicht seiten 
Herde zur Beobachtung, welche bedeutende Ausfallerscheinungen 
machen, die dann allmählich vollständig verschwinden, und bei 
der Obduktion findet man schließlich einen an irgend einer 
ganz indifferenten Stelle sitzenden Zerstörungsherd. In diesen 
Fällen können wir die früher vorhanden gewesenen Ausfall¬ 
erscheinungen nicht anders erklären, als durch irgend welche 
parallel mit der Herderkrankung verlaufende Zirkulationsstörung, 
worin wir vornehmlich darin bestärkt werden, daß die plötz¬ 
lichen Herderkrankungen im Gehirn durchwegs durch patho¬ 
logische Veränderung des Zirkulationsapparates verursacht werden. 

Nun ist aber die Entwicklung der Carcinomherde doch 
eine ganz andere; wenn auch das Carcinom, anderen Prozessen 


') I. 0 . 


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Multiple* metastatiseheB Carcinom de* Zentralnervensystems. 139 


gegenüber, als besonders schnell wachsend gilt, so ist die Ent¬ 
stehung der Carcinomherde im Gehirn im Verhältnis zu den 
anderen Herderkrankungen als: Thrombose, Embolie, Haemor- 
rhagie, Entzündung, doch eine sehr schleichende; dadurch ist es 
bedingt, daß keine wesentlichen Reaktionserscheinungen um die 
Knoten zu sehen waren, und nur diejenige Funktion ausfiel, 
welche durch die zerstörten Elemente gerade bedingt war. 
Außerdem saßen die Knoten meist in der Rinde und in der der¬ 
selben benachbarten Marksubstanz, also an Stellen, wo kleine 
Herde nur geringe direkte Ausfallerscheinungen machen; wenn 
aber zufällig die Herde auch in der Kapsel oder an einem ähn¬ 
lichen Orte gesessen wären, so hätten sie sicher viel stärkere Er¬ 
scheinungen gemacht. Es ist also der ganze Prozeß gegenüber 
den sonstigen Herdaffektionen ein ganz schleichender, wobei 
auch schleichend eine ganze Masse von Nervensubstanz zerstört 
wird; und da dies meist an Stellen geschah, deren Laesion 
wenig intensive direkte Herdsymptome darbietet, so resultiert 
daraus auch das Fehlen jeglicher markanter klinischer 
Symptome; wir hätten darin vielleicht eine gewisse Ähnlich¬ 
keit mit der progressiven Paralyse zu suchen, bei der auch 
durch einen aber mehr diffusen Degenerationsprozeß in der Rinde 
und den benachbarten Markteilungen das Gehirn ergriffen wird. 
Tatsächlich ist auch eine gewisse klinische Ähnlich¬ 
keit mit der progressiven Paralyse nicht zu verkennen; 
auf die Weise kam auch z. B. der Fall von Hirschl 1 ) mit dieser 
Diagnose auf den Seciertisch. 

Im Vorigen wurde wiederholt erwähnt, daß die Carcinom- 
knoten nur in peripheren Teilen des Großhirns saßen, daß sich 
in den zentraleren Partien und den Stammganglien nichts (es 
wurde auch mikroskopisch untersucht) von Neplasma vorfand; 
dieser Umstand, der sich bei allen derartigen Fällen wieder¬ 
holt und bei der großen Zahl der Knoten nicht als ein zufälliger 
angesehen werden kann, drängt nach einer Erklärung, welche 
in folgendem gegeben zu sein scheint: 

Das metastatische Carcinom entsteht, wie wir heute als 
sicher voraussetzen können, durch embolische Verschleppung 
von Carcinomzellen; wenn wir nun die sonstigen embolischen 
Prozesse im Gehirne nach ihrer Lokalisation sichten, so finden 

•) Neorol. Zentralblatt 1895; S. 698. 


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140 


Dr. Oskar Fisober. 


wir, daß fast alle in der Rinde sich befinden und die zentralen 
Partien auslassen. 

Die Ursache dafür erhellt aus der Verteilung der Hirn¬ 
gefäße; die die zentralen Partien des Großhirns versorgenden 
Basalbezirksarterien gehen als feine Äste quer von den Stamm¬ 
arterien ab, wogegen die Rindengefäße durch allmähliche Ver¬ 
ästelung sich bilden; die Emboli, die aber dem zentralen Flüssig¬ 
keitsstrom folgen, werden sich womöglich an die einmal ein¬ 
geschlagene Richtung halten und diejenigen Verzweigungen be¬ 
vorzugen, welche von ihrer ursprünglichen Richtung am wenigsten 
abweichen. 

Dadurch ist also die auf das Rindengebiet be¬ 
schränkte Lokalisation des Carcinoms als die Folge 
eines embolischen Prozesses erklärt. 

Zum Schlüsse sei es mir gestattet, meinem hochgeehrten 
Chef Herrn Prof. Dr. A. Pick für die Überlassung des Materiales 
und das. der Bearbeitung geliehene Interesse meinen wärmsten 
Dank auszusprechen. 


Tafelerklärung; 

Fi?. 1 bis 5. Mikrophotographien; Fig. 6 bis 8 nach der Natur ge¬ 
zeichnet. 

Fig. 1. Rand eines etwa erbsengroßen Carcinomknotens, der das peri¬ 
vaskuläre Wachstum zeigt. Haematoxylinfärbung. Vergrößerung 100. 

Fig. 2 und 3. Um Ganglienzellen gewuchertes Carcinomgewebe aus einem 
kleinsten Knoten der Zentralwindungen; die Ganglienzellen von den Carcinom- 
zellen ganz verdeckt, doch imitieren die Zellnester die Form derselben. Haema- 
toxylin. Vergrößerung 130. 

Fig. 4. Detail von einer ähnlichen Stelle wie Fig. 2 und 3; im Zentrum 
eine Ganglienzelle, ganz von Carcinomzellen amgeben, die such entlang der 
Fortsätze weiter wuchern; die rechts und links befindlichen länglichen Zell- 
stiänge gehören zu Fortsätzen der benachbarten, nicht im Schnitte getroffenen 
Ganglienzellen. Haematroylin. Vergrößerung 250. 

Fig. 5. Detto: nach einem Thioninpräparat. Vergrößerung 250. 

Fig. 6. Zeigt in detaillierter Weise die Wucherung der Carcinomzellen 
entlang des Zellfortsatzes. An der Basis der Zelle eine Kernteilungsfigur. Ver¬ 
größerung 550. 

Fig. 7. Große Pyramidenganglienzellen aus der motorischen Sphäre. 
Thionin. Vergrößerung 510. 

Fig. 8. Große Pyramidenzellen aus der motorischen Sphäre in der Nähe 
eines Carcinomknotens. Aus dem selben Schnitte wie Fig. 7. Thionin. Ver¬ 
größerung 510. 


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Ober Heilversuche an Paralytikern. 

Von 

Dozent Dr. Alexander Pilcz, 

eheraal. Assistent an Prof. Dr. v. Wagners Klinik in Wien, derzeit suppl. Vor¬ 
stand der k. k. ersten psychiatr. Universitätsklinik in Wien. 


Beobachtungen von einem auffallend günstigen Einflüsse 
körperlicher akuter, namentlich fieberhafter Aflektionen aut 
Geistesstörungen finden sich schon in den ältesten psychiatrischen 
Schriften verzeichnet, und wohl jeder Irrenarzt kann sich aus 
seiner eigenen Erfahrung an Beispiele erinnern, daß Fälle, 
welche prognostisch vielleicht lange schon als verloren gegeben 
waren, im Gefolge einer fieberhaften Infektionskrankheit zur 
Heilung gelangten oder wenigstens eine vorübergehende erstaun¬ 
liche Besserung darboten. Eine ausführliche Bearbeitung erfuhr 
diese Frage in der Arbeit von v. Wagner 1 ) „Über den Ein¬ 
fluß fieberhafter Erkrankungen auf Psychosen”, welcher darin 
auch den näheren Umständen und Bedingungen dieser inter¬ 
essanten „Naturheilungen” nachforschte und zugleich die Frage 
bejaht: „Wäre es zu rechtfertigen, wenn wir das Heilmittel, das 
die Natur in der Erzeugung von fieberhaften Krankheiten be¬ 
sitzt, in zweckbewußter Weise in die Therapie der Psychosen 
einführen, die künstliche Erzeugung von fieberhaften Krank¬ 
heiten zu einem therapeutischen Agens machen würden?” Von 
diesem Standpunkte aus beansprucht auch das alte, in den Zeiten 
von Reil, Heinroth u. a. geübte, seither aber nahezu ganz in 
Vergessenheit geratene sogenannte „derivierende” Verfahren in 
der Behandlung der Psychosen ein erhöhteres Interesse, handelte 
es sich ja bei dieser durch Setzung von Moxen erstrebten 

Jahrbücher f, Pajrchietrfe nnd Neurologie. XXV. B<1. ^ 


1 

t 


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142 


Dozent Dr. Alexander Piloz. 


„Ableitung" auch um eine akute, meist fieberhafte Affektion, um 
die Erzeugung von Eiterungen. 

Abgesehen von dieser Heilmethode fehlte es aber auch nicht 
an Ärzten, welche, ermutigt durch besonders bemerkenswerte 
Fälle, das Heilmittel der Natur nachzuahmen trachteten, indem 
sie Geistesgestörten fieberhafte Krankheiten direkt einimpften. 

Alle die Bedenken, welche mit mehr minder Berechtigung 
gegen derartige therapeutische Versuche geltend gemacht werden 
können, durften als überwunden erachtet werden, als die 
Bakteriologie die spezifischen Erreger der einzelnen Infektions¬ 
krankheiten aufdeckte und uns zugleich die Fieber erzeugenden 
Stoffwechselprodukte der Mikroorganismen zu isolieren lehrte. 
Der Gedanke, durch künstliche Hervorrufung von Fieber Psy¬ 
chosen günstig zu beeinflussen, konnte nunmehr in vervoll- 
kommneter Weise in Angriff genommen werden, und Bo eck*) 
berichtete 1896 über 41 Geisteskranke aus der v. Wagnerschen 
Klinik, welche teils (33 Fälle) durch Injektionen von Tuber- 
culinum (Koch), teils (8 Fälle) mit Einspritzungen von ab¬ 
getöteten Pyocyaneuskulturen behandelt worden waren. 

Unter diesen Kranken, welche meist akute Psychosen be¬ 
trafen, findet sich auch ein Fall von progressiver Paralyse. 
(Eine Beeinflussung ließ sich — nebenbei bemerkt — nicht 
konstatieren; höchstens verdient erwähnt zu werden, „daß Patient, 
der sonst immer des Nachts durch Unruhe störend war, ruhig 
bleibt und schläft".) Boeck bemerkt hierzu: „Gerade die Para¬ 
lyse aber dürfte nicht die schlechtesten Chancen haben; denn 
an und für sich neigt ja die Krankheit zu Remissionen, und 
Fälle günstiger Einwirkung fieberhafter Krankheiten auf ihren 
Verlauf sind bekannt genug." 

Wir kommen damit zu einem der interessantesten Punkte 
der klinischen Psychiatrie. Die tägliche Erfahrung lehrt (wie 
dies auch Boeck erwähnt), daß bei der progressiven Paralyse, 
dieser unheilvollen, progressiv ad exitum führenden Krankheit 
jederzeit mehr minder erhebliche Besserungen und Stillstände 
Vorkommen können. Ja es gibt auch sichergestellte Fälle von 
Heilungen, welche der strengsten Kritik standhalten, und 
Beobachtungen über ungewöhnlich lange oder besonders weit¬ 
gehende Remissionen sind nicht einmal so extrem selten. In 
einer 1902 erschienenen Arbeit berichtet v. Halban 3 ) u. a. über 


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Über Heilversnche an Paralytikern. 


143 


zwei Fälle von ungewöhnlich weitgehenden und langdauernden 
Remissionen bei Dementia paralytica und erörtert zugleich in 
eingehender Weise die viel umstrittene Frage der sogenannten 
„Heilungen” bei dieser Krankheit, sowie die Versuche einzelner 
Autoren, den Krankheitsverlauf therapeutisch beeinflussen zu 
wollen. Die recht reichhaltige Kasuistik dieser hochinteressanten 
Frage wurde von v. Halban mit ebensoviel Gründlichkeit als 
auch gerade bei diesem Thema besonders gebotener Kritik her¬ 
angezogen und verwertet, so daB ich hier in detaillierter Weise 
auf die einschlägige Literatur einzugehen keine Veranlassung 
habe und nur vollständig auf die genannte fleißige Arbeit 
v. Haibans verweisen will. v. Halban betont auch, daß der¬ 
artige Fälle eine gewisse Übereinstimmung in folgenden wichtigen 
Punkten aufweisen: „Kurze Dauer der Erkrankung, mani- 
akalische Form der Paralyse und ein interkurrenter, 
fieberhafter, meist mit profuser Eiterung verbundener 
Prozeß.” 

Ich sagte früher, daß das ableitende Verfahren der älteren 
Autoren nahezu ganz in Vergessenheit geraten war, nur „nahezu”; 
denn aus dem Jahre 1877 liegt eine ungemein bemerkenswerte 
Publikation Meyers 4 ) vor, der in 8 von 15 behandelten Fällen 
paralytischer Geistesstörung durch Erzeugung starker und lang¬ 
wieriger Eiterung — Meyer wandte Einreibung von Brech¬ 
weinsteinsalbe an — Heilung oder weitgehendste langdauernde 
Besserung erzielte. Diese gewiß recht ermutigenden Versuche 
fanden aber keine ausgedehntere Nachahmung (soweit mir 
wenigstens die Literatur bekannt ist). 

Dem bisherigen Gedankengange gemäß mußte es nun a 
priori nicht aussichtslos erscheinen, die Erzeugung künstlichen 
Fiebers auch bei Paralytikern in therapeutischer Hinsicht zu 
erproben. 

Im folgenden möchte ich über den Decursus morbi einer 
Anzahl von paralytischen Geisteskranken berichten, welche in 
den Jahren 1900 und 1901 nach einer von v. Wagner an¬ 
gegebenen Methode behandelt worden waren und deren Krank¬ 
heitsverlauf zu verfolgen v. Wagner mich betraute. Der sogleich 
näher zu beschreibenden Behandlung waren 69 Fälle (56 Männer, 
13 Weiber) unterworfen worden, deren weiteres Schicksal ich 
bis zum Abschlüsse dieser Arbeit (1. Mai 1904) in 66 Fällen 

io* 


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144 


Dozent Dr. Alexander Pilcz. 


verfolgen konnte.*) (Über 3 Kranke konnte ich trotz aller Be¬ 
mühungen weitere Aufschlüsse nicht erhalten.) Die Fälle waren 
wahllos, wie sie zur Aufnahme gelangten, vorgenommen worden. 
Von einer Auswahl in irgend einer Hinsicht (z. B. Berück¬ 
sichtigung nur initialer Stadien od. dgl.) wurde absichtlich 
Abstand genommen. Die Behandlung bestand in Injektionen von 
steigenden Mengen Tuberculinum Kochii, und zwar wurde aus¬ 
nahmslos mit O'Ol des genannten Mittels begonnen. Bei fehlender 
oder nur schwacher Reaktion im Sinne eines Anstieges der 
Körpertemperatur gingen wir in je zweitägigen Intervallen all¬ 
mählich um 0’02 bis 0*03 hinauf bis zur Maximaldosis von 0*1, 
welche in keinem Falle (auch nicht bei Ausbleiben einer fieber¬ 
haften Reaktion) überschritten wurde. In manchen Fällen er¬ 
folgten schon auf geringe Mengen hin erhebliche Temperatur¬ 
steigerungen, so daß wir z. B. über 0*05 oder 0*07 nicht hinaus¬ 
gingen. Die Temperatur ward am Tage der Injektion und am 
nächstfolgenden in dreistündlichen Intervallen gemessen. Es er¬ 
gaben sich da bedeutende individuelle Verschiedenheiten derart, 
daß z. B. ein Kranker auf 0*03 am Tage der Injektion höher 
fieberte, als in der Folge bei größeren Dosen, ein anderer erst 
auf 01 überhaupt eine deutliche fieberhafte Reaktion zeigte etc. 

Wenn nun über den Wert oder Unwert dieser Behandlungs¬ 
methode bei einer so vielgestaltigen Verlaufsart, wie er der 
Paralyse zukommt, überhaupt etwas ausgesagt werden soll, darf 
dies naturgemäß nur unter Vergleich einer ebenso großen Anzahl 
von gleichfalls wahllos dem klinischen Materiale entnommenen 
nicht behandelten Paralytikern geschehen. - Es muß ferner eine 
genügend lange Beobachtungsdauer vorliegen, um vorüber¬ 
gehende Remissionen, wie sie ja etwas ganz alltägliches bei 
der Paralyse sind, ausschließen zu können. Bezüglich letzterer 

*) Es gereicht mir zur angenehmeu Püicht, an dieser Stelle allen den 
Anstaltsdirektionen und Ärzten, welche mich bei meinen Nachfragen in liebens¬ 
würdigster Weise unterstützten, meinen herzlichsten Dank zu sagen, insbesondere 
den löblichen Direktionen der Landesirrenanstalten Brünn, Czernowitz, Dobran, 
Engelsfeld, Erlangen, Feldhof, Klosterneuburg, Kierling-Gugging, Kulparkow, 
Leopoldsfeld, Sternberg, der Yersorgungs-, beziehungsweise Irrensiechenanstalten 
zu Eger, Prag, St. Andrä, Wien, Ybbs a. d. D., speziell den Herren Kollegen 
Direktor Dr. Hrase (Dobran), Schloss (Kierling), Weiss (Klosterneuburg), 
dem Herrn Primär. Dr. Epstein (Leopoldsfeld), dem Arzte der Versorgungs¬ 
anstalt Wien, Dr. v. Zellenberg etc. 


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Über Heilvet'gnche an Paralytikern. 


145 


Forderung genügt der einfache Hinweis darauf, daß die Ver¬ 
suche in den Jahren 1900 und 1901 angestellt werden waren. 
Zum Vergleiche diente eine Serie von nicht behandelten Para¬ 
lytikern, deren weiteres Schicksal ich auch soweit als möglich 
zu verfolgen trachtete. Ich ging dabei so vor, daß ich Fälle aus 
der Zeit vor der Behandlungsepoche der Reihe nach, wie sie im 
Aufnahmsprotokolle verzeichnet waren, berücksichtigte. Da bei 
vielen aus äußeren Gründen über den endgiltigen Verlauf nichts 
mehr zu erfahren war, habe ich, um die Zahl 66 zu erreichen, 
auch Paralytiker aus den letzten Jahren in den Kreis meiner 
Nachforschungen gezogen, wobei ich gleichfalls lediglich chrono¬ 
logisch nach dem Aufnahmsindex die Krankheitsgeschichten aus¬ 
gehoben habe. 

Zunächst seien beide Reihen von Kranken quoad durationem 
miteinander verglichen; es ist dies ein Punkt, der sich am 
leichtesten und am unzweideutigsten beurteilen läßt. Dann käme 
erst die Frage nach den eventuellen Remissionen, dem Grade 
und der Dauer derselben in Betracht, wobei der Subjektivität des 
Beobachters natürlich schon ein großer Spielraum zufallen muß. 

Einer Beurteilung der ersteren Frage dienen zunächst 
folgende Tabellen auf Seite 146. 

Soweit die absolut objektiven Daten. Dazu sind nun aber 
doch im einzelnen gewisse Bemerkungen notwendig. Die vor¬ 
liegenden Tabellen haben das Gute für sich, daß an ihren Zahlen 
nicht gerüttelt werden kann; es sind einfach den Protokollen 
entnommene Daten. Gleichwohl ergibt aber eine genauere Er¬ 
wägung, daß diese Tabellen ein richtiges Bild von der even¬ 
tuellen Beeinflussung der Lebensdauer der Paralytiker durch die 
Behandlung wiederzuspiegeln nicht imstande sind. Erstens muß 
bedacht werden, daß in diesen Tabellen die unmittelbare Causa 
mortis nicht berücksichtigt wurde. Nun ist es aber sicher für 
die uns interessierende Frage nicht ganz belanglos, ob ein 
körperlich und geistig noch rüstiger Paralytiker an einer als 
zufälliger Komplikation hinzutretenden interkurrierenden körper¬ 
lichen Krankheit stirbt oder einer, bei den terminalen Fällen 
fast unvermeidlichen Lungenentzündung erliegt oder endlich an 
der Paralyse selbst zugrunde geht, z. B. im Status epilepticus 
oder in jenem terminalen äußersten Marasmus, den bekanntlich 
überhaupt nur ein Bruchteil aller Paralytiker erlebt. Fälle, 


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146 


Dozent Dr. Alexander Pilcz. 


I a. Männer. 


i ■■■ -■ 

Von 54 Injizierten 


leben derzeit 
noch 

starben im 
ersten Jahre 

im zweiten 
Jahre 

im dritten 
Jahre 

nach dem 
dritten Jahre 

Somme 

vom AnfnahmBdatum an gerechnet 1 

7 

16 

20 8 

s 

54 

Von 54 nicht Behandelten 

4 

63 

8 

CO 

CO 

54 


16. Frauen. 


Von 12 Injizierten 


leben derzeit 
noch 

starben im 
ersten Jahre 

im zweiten 
Jahre 

im dritten 
Jahre 

nach dem 
dritten Jahre 

Somme 

vom Aufnahrasdatnm an gerechnet 

1 

4 

3 

3 

1 

12 


Von 

12 nicht 

Behandelten 


1 

6 

3 

0 

2 

12 


I c. Zusammen. 


Von 66 behandelten Paralytikern 


1 

leben derzeit 
noch 

k.z:z\*ki 

starben im 
ersten Jahre 

im zweiten 1 im dritteu 
Jahre 1 Jahre 

nach dem 
dritten Jahre 

Somme 

vom Anfnahmsdatom an gerechnet ! 

: 

8 | 20 

t 

23 11 

4 

66 

Von 66 nicht behandelten Paralytikern 

5 

30 

1 

11 6 

1 

5 

66 


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Ober Heilyersaohe an Paralytikern. 


147 


welche von einer akzidentellen Komplikation dahingerafft wurden, 
sollten füglich ansgeschieden, beziehungsweise gesondert auf¬ 
gezählt werden. Dadurch könnten sich schon die obigen Ergeb¬ 
nisse verschieben. Ferner ist es wohl auch bei unserem speziellen 
Thema nicht gleichgiltig, ob die Behandlung an einem initialen 
oder an einem weit vorgeschrittenen Falle eingeleitet worden 
war. Die obigen Tabellen beziehen sich, wie ausdrücklich an¬ 
gegeben, auf die Lebensdauer vom Datum der Aufnahme an. 
Könnte man die Gesamtdauer der paralytischen Erkrankung 
überall genau angeben, würden sich bei beiden Gruppen, den 
behandelten und den nicht injizierten Patienten, wahrscheinlich 
wieder andere Zahlen ergeben. Eine genaue Bestimmung der 
Dauer des Leidens vor der Abgabe des Kranken in irrenflrzt- 
liche Pflege ist nun freilich ein Ding der Unmöglichkeit. Ab¬ 
gesehen davon, daß in so manchen Fällen eine Fremdenanamnese 
überhaupt nicht zu erhalten ist, sind selbst detaillierte Angaben 
der laienhaften Umgebung zu einer genauen Fixierung des Be¬ 
ginnes der Erkrankung kaum zu verwerten. In einem Falle 
mögen vielleicht erst besonders alarmierende Symptome (apoplekti- 
forme Insulte, Megalomanie etc.) die Aufmerksamkeit der An¬ 
gehörigen erregt haben, der Beginn des Leidens auf das Auf¬ 
treten dieser Erscheinungen zurflckgeführt werden, während 
tatsächlich die Paralyse schon auf viel weitere Zeiten zurück¬ 
reicht Umgekehrt werden vielleicht in einem anderen Falle 
irgendwelche charakterologische Abnormitäten, Schrullen etc., 
welche der Paralytiker vor seiner Erkrankung schon jahrzehnte¬ 
lang gehabt haben mochte, nunmehr retrospektiv schon als Vor¬ 
läufer der Gehirnkrankheit angesehen, der Beginn der letzteren 
dementsprechend fälschlich für viel früher angesetzt, als es den 
tatsächlichen Verhältnissen entspricht. Von einer halbwegs ge¬ 
nauen Bestimmung der Gesamtdauer der Erkrankung kann 
demnach keine Rede sein. Ich bin mir also wohl bewußt, daß 
den obigen Tabellen gerade in unserer speziellen Frage nur ein 
relativer Wert zukommt, daß die Ziffern in den Kolonnen unter 
Berücksichtigung der eben angeführten Umstände sich wohl 
anders gestalten würden. Nachdem aber einerseits diese Fehler¬ 
quellen bei beiden Serien dieselben sein dürften und es mir ander¬ 
seits darauf ankam, möglichst objektiv vorzugehen, beschränke ich 
mich auf die Wiedergabe der Resultate, wie sie sich unwider- 


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148 


Dozent Dr. Alexander Pilcz. 


leglick und einwaudsfrei aus den trockenen Daten der Kranken¬ 
protokolle ergeben. 

Eine Epikrise der Tabellen möge später folgen. Zunächst 
sei eine andere Frage in Angriff genommen, nämlich die nach 
dem Verhalten der erzielten Temperatursteigerungen bei den 
behandelten Kranken. Wenn ich Temperaturen bis 37-2° noch 
als nicht fieberhaft annehme, so könnte man etwa solche bis 
37-5° als „schwache”, bis 38‘5° als „mittlere”, Temperaturen bis 
39*5° als „starke” Reaktion bezeichnen, endlich solche über 39*5° 
als „sehr starke”.*) 

Von den injizierten 66 Paralytikern reagierten: 


Gar nicht.2 

Schwach.5 

Mittelmäßig.22 

Stark.22 

Sehr stark.15 


Wenn wir diese Tabelle mit der dritten (beziehungsweise Ic) 
kombinieren, so ergibt sich: 


Von 66 injizierten paralytischen Kranken 


leben der 
zeit noch 

8 

| starben 
im ersten 
Jahre 

im zweiten im 
Jahre 

dritten 

Jahre 

nach dem 
dritten 
Jahre 


Davon 

reagierten auf 
die Behand¬ 
lung mit 
Fieber 

vom 

20 

Aufnahmsdatum 

| 2;{ ' 

an gerechnet 

11 | 4 

Summe 


1 

1 

— 

— 

2 

nicht 

1 

3 

- 

1 


. 1 
0 

schwach 

| 

1 

7 

10 

4 

— 

' 22 1 

i 

mittelmäßig | 

3 

0 

s 

4 

2 

22 

i 

stark | 

3 

4 

4 

2 

2 

1 15 

i 

sehr stark 

8 

20 

1 1!3 i 

11 

1 4 

1 

1 <;<> 



*) Nur nebenbei möchte ich das vielleicht nicht uninteressante Faktum 
erwähnen, daß ein Kranker, bei welchem die Obduktion eine chronische Spitzen¬ 
tuberkulose aufdeckte, auf 01 (!) Tuberkulin nicht höher als mit 37*5° reagierte. 
Anderseits traten bei manchen Kranken hohe Fiebersteigerungen auf (bis 
39*8% etc.), während die Obduktion irgendwelche tuberkulöse Herde nicht aufdeckte. 


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Über Heit versnobe an Paralytikern. 


149 


Die vorliegenden Tabellen, welche eine eventuelle Einwirkung 
der Behandlung nur quod durationem zu zeigen imstande sind, 
berechtigen wohl, folgendes auszusagen. Zunächst ist auffallend 
das beträchtliche Überwiegen der Fälle, welche im ersten Jahre 
starben, bei den nicht behandelten Paralytikern. Es scheint, 
als würde die Behandlung den Kranken für eine ge¬ 
wisse Zeit eine größere Widerstandsfähigkeit ver¬ 
leihen, welche letztere allerdings später sich wieder 
verlöre. Ferner verdient der Unterschied in der Zahl 
der lebenden Kranken bei beiden Serien hervorgehoben 
zu werden. 

Im folgenden soll nun der Krankheitsverlauf der injizierten 
und der nicht behandelten Paralytiker Erörterung finden. Von 
wesentlichstem Interesse wird dabei die Frage nach den even¬ 
tuellen Remissionen sein. Nachdem aber bei der Beurteilung 
dieses Punktes die Subjektivität des Beobachters schon eine 
wesentliche Bolle spielt, ist die Wiedergabe einiger Krankheits¬ 
geschichten (wenigstens auszugsweise) nicht zu umgehen. 

Zunächst in Kürze ein Bericht über das Befinden der der¬ 
zeit noch lebenden Kranken. (Die Krankheitsgeschichten, aus 
denen unter anderem auch die Gesamtdauer des Leidens hervor¬ 
geht, folgen dann.) 

a) Injizierte Fälle. 

B. H. stellte sich zuletzt März 1904 als vollkommen arbeits¬ 
fähig vor. 

H. J. lebt in der Freiheit, als Pensionist, in einer Finanz¬ 
wachkaserne. 

K. L. 1 leben in unserer Klinik, tief verblödet, körperlich 

K. Fr.) noch auffallend rüstig. 

K. J. lebt in der Irrenanstalt, arbeitsfähig, rüstig. 

L. G. „ „ „ „ terminal. 

M. J. „ „ Familienpflege, terminal. 

K. L. „ „ der Irrenanstalt, terminal. 



b) Nicht behandelte Fälle. 

leben in einer Irrensiechenanstalt (Versorgung), 
terminal. 


| leben in einer Irrenanstalt, terminal. 


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Dozent Dr. Alexander Piloz. 


Daraas ergibt sich, daß von den nicht injizierten Paralyti¬ 
kern nicht nur eine geringere Anzahl im Vergleiche zu den be¬ 
handelten derzeit noch am Leben ist, sondern auch, daß erstere 
ausnahmslos im Terminalstadium sich befinden nnd anstalts¬ 
bedürftig sind, während von letzteren einer noch bernfsfähig ist, 
zwei Kranke außerhalb einer Anstalt haltbar erscheinen (darunter 
einer allerdings auch terminal); von den in einer Anstalt befind¬ 
lichen ist einer noch arbeitsfähig, zwei tief verblödet, aber körper¬ 
lich noch rüstig, zwei Fälle endlich sind anstaltsbedürftig und 
in dem terminalen Zustande. 

Ich lasse nun zunächst ein Exzerpt der Krankheits¬ 
geschichten der noch lebenden Paralytiker aus unseren beiden 
Serien folgen. 

a) Behandelte Fälle, welche noch leben. 

K. F., geh. 1860, Taglöhner. Anamnese: Über loetisehe Infektion niobts 
bekannt, als Kind batte Fat. Typhus. Etwa 2 Jahre vor der ersten Aufnahme 
(10. August 1897) heftige Kopfschmerzen und Sehwindelanf&lle, vor IV 2 Jahren 
rechtsseitiger apoplektiformer Anfall, von dem sich Pat. sehr rasch wieder er¬ 
holte; vor 3 Monaten abermals rechtsseitiger Schlaganfall, der auch nur ganz 
vorübergehende Störungen hinterließ. Seither aber vergeßlich, zerstreut, traurig, 
Aufregungszustände sinnloser Aggressivität wechelten ab mit absoluter Apathie. 

Bei der Aufnahme, Gewicht 61 kg, Bild des Stupors (ohne Katalepsie), 
läßt Stuhl und Urin unter sich. Somatisch: Argyll-Robertson, Pupillen r. <1., 
P. S. R. lebhaft gesteigert. 

In den folgenden Tagen begann Pat. zu sprechen, wobei pathognostische 
Dysarthrie bemerkbar war; äußerte hypochondrisch-demente Wahnideen, er habe 
keinen Mund, keinen Kopf, keine Hände, er sei schon tot, schon begraben etc. 

Dieser Zustand hält bis Dezember 1897 an; dann unter raschem Ansteigen 
des Körpergewichtes (Dezember 1897 noch 56*5, Januar 1898 63 kg) zunehmende 
Remission; zuerst schwanden die Wahnideen, dann begann Pat. sich zu be¬ 
schäftigen, ward heiterer, äußerlich geordnet, 11. Mai 1898 gegen Revers ent¬ 
lassen. Keine Anfälle. 

23. Juni 1899 neuerliche Aufnahme. Seit etwa 8 Tagen sei Pat heftig 
erregt, aggressiv. Status psyohicus weist ein manisches Zustandsbild auf, demente 
Größenideen, er werde eine Stadt bauen, habe sich als Ziegelträger ein Ver¬ 
mögen von 80 Millionen verdient etc. Gewicht 61 kg. In der Folge schwer tob¬ 
suchtsartiges Bild — häufig zellenbedürftig — Körpergewicht sank bis 55 kg 
(Oktober 1899). Allmählich Abklingen der Erregung, welche Beruhigung aller¬ 
dings mit zunehmender Verblödung einherging. Keine Anfälle. Pat erholte sich 
körperlich bedeutend (März 1900 66*5 kg), in der Befriedigung der körperlichen 
Bedürfnisse durchaus geordnet; außer Bette. 27. März 1900 gegen Revers ent¬ 
lassen. 


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Über Heilversuche an Paralytikern. 


151 


26. März 1901 dritte Aufnahme. Anamnese ergab, daß Pat. wieder 
eine schwere depressive Phase (diesmal in häuslicher Pflege) durchgemacht hatte; 
er sprach nichts, lag immer zu Bette, war häufig unrein. Im Herbst 1900 auf¬ 
fallende Besserung; Pat. ward regsamer, ging wieder spazieren; in den letzten 
Wochen ward er aber sehr aufgeregt, sprach von Millionen, sang in der Nacht. 
Bei der Aufnahme tobsüchtige Erregung, sprachliche Äußerungen wegen enormer 
Dysarthrie nur schwer verständlich, dürftige demente Größenideen. Gewicht 68 kg. 
Injektionen: Höchste Temperaturen 37*5 auf 0*01, 87*6 auf 0*03 und 38*7 auf 
0*1 Tuberkulin. 

August 1901 allmählich Beruhigung, Pat. tief verblödet, wünsch- und 
klagelos, heiter, begrüßt stets freundlich die Ärzte, Sprache nahezu unverständ¬ 
lich. Mit fortschreitender Beruhigung erholte sich Pat. körperlich bedeutend, 
doch ist der Kranke psychisch ganz verödet, muß wie ein kleines Kind betreut 
werden. Außer Bette. Juli 1902 Gewicht 79 kg. August 1902 gegen Revers 
entlassen. 

17. Juni 1903 vierte Aufnahme. Ob Pat. in der Zwischenzeit eine 
Depression durchgemacht oder ob sein apathisches Wesen nur der tiefen Ver¬ 
blödung entsprach, läßt sich nicht sagen. Juni 1903 neuerlicher Erregungs¬ 
zustand. Bei der Aufnahme Bild so ziemlich wie bei der früheren Internierung. 
Gewicht 64*5 kg. Seit März 1904 aber auffallend rasche Beruhigung, nachdem 
schon seit Januar das Körpergewicht, das Oktober 1903 auf 58 kg gesunken war, 
ununterbrochen anstieg. 1. Mai 1904 Gewicht 72 kg. Ruhig, apathisch, erkennt 
noch die Ärzte, die er freundlich begrüßt. Soweit sprachliche Äußerungen bei 
der enormen Dysarthrie überhaupt noch verständlich sind, erkennt und benennt 
Pat. vorgehaltene Gegenstände einfacher Art richtig. Keine Anfälle. 

L. G., geb. 1859, Maurer. Anamnese fehlt. Pat. wurde in Triest auf¬ 
gegriffen und von dort der Klinik überstellt. Bei der Aufnahme, 26. August 1901, 
Bild der vorgeschrittenen Paralyse; hochgradige Demenz, dämmert teilnahms- 
und initiativelo8 vor sich hin, desorientiert, defektes 1X1- Somatisch: Argyll- 
Robertson, Pupillen 1. > r. P. S. R. lebhaft gesteigert. Gang spastisch-paretisch. 
Starke Sprachstörung. Incontinentia urinae. Gewicht 76 kg. 

Injektionen; Höchste Temperatur 37*3 auf 001, 38*9 auf 0*03 und 38*2 
auf 0*06 Tuberkulin. 

Ziemlich unverändert, nur körperlich ein wenig erholt (1. Dezember 1901 
Gewicht 80*5 kg); auf die Männerabteilung der Wiener Irrenanstalt versetzt. Da¬ 
selbst (Februar 1902) ausgebreitete entzündliche Infiltration unter anfänglicher 
hoher Temperatursteigerung, welches Fieber auch nach der Inzision noch einige 
Tage anhielt. Zustand auffallend stationär. Keine Anfälle. 4. November 1901 
Transferierung in die Irrenanstalt Kierling. Lebt derzeit noch. Bettlägerig, tief 
verblödet. Terminaler Zustand. 

B. H., geb. 1863, Futteralmachergehilfe. Anamnese: Lues wahrscheinlich 
(mehrfache Abortus der Frau), 3 Jahre vor der Aufnahme mehrere „Ohnmachts- 
anfälle”, über deren nähere Art nichts Sicheres zu eruieren ist. Im übrigen 
körperlich und geistig normal bis Weihnachten 1900. Pat. äußerte hypochon¬ 
drische Wahnideen, er könne nichts schlingen etc. Ostern 1901 Doppelbilder. 
Seither erst zunehmende Vergeßlichkeit und Zerstreutheit. Bei der Aufnahme, 
19. April 1901, ruhig, apathisch, mangelhaft orientiert, er sei hier „wegen Ner- 


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Dozent Dr. Alexander Pilcz. 


vosit&t und Filzläusen”. Erhebliche grobe Gedächtnisdefekte. Somatisch: Pupillen 
reagieren prompt (!) Sprache verwaschen, schwer verständlich, P. S. R. gesteigert. 
Gewicht 58 kg. 

Injektionen: Höchste Temperaturen 38*6 auf 0*01, 39 0 auf 0*07 und 
38*6 auf 01 Tuberkulin. 

ln der Folge zunehmend freier, kann die Namen seiner Kinder angeben, 
was er früher vergessen hatte, etc. 29. Mai 190t (Gewicht 60 fy) in die Irren¬ 
anstalt Sternberg versetzt. Von dort in weitgehender Remission 18. Juni 1901 
in häusliche Pflege entlassen. 

März 1901 stellte sich mir Pat. vor; Pupillen reagieren, Sprachstörung 
kaum angedeutet; Rechnen gut, keine groben Intelligenzdefekte. Pat. erzählt, daß 
er seit 2 Jahren wieder seinem Berufe als Futteralmachergehilfe nachgehe. 

K. J., geb. 1857, Schneider. Anamnese: Für eine luetische Infektion 
kein Anhaltspunkt, vor 2 Jahren Scbädeltrauma (ob dabei Bewußtseinsverlust?); 
über Beginn der Psychose läßt sich mangels jeglicher Fremdenanamnese nichts 
aussagen. Pat. ward eingeliefert, weil er in der Hofburg Stückchen von Kohle 
als wertvolle Edelsteine abgeben wollte. Bei der Aufnahme, 24. Oktober 1900, 
äußert Pat. demente Größenideen, er sei „Grafenssohü", er habe faustgroße 
Diamanten gefunden, welche 10.000 „oder” 100.000 fl. wert seien, kramt aus 
seinen Taschen Stückchen von Kohle und Kieselsteine aus; eiuen gelben Kiesel 
bezeichnet er mit „Smaragd" („es muß ja nicht lauter grüne geben"), spricht 
dann von einer indischen Erbschaft etc. Somatisch: Pupillen miotisch, eckig, 
reagieren schlecht. Keine Sprachstörung. P. S. R. sehr lebhaft. Gewicht 56*5 kg. 

Injektionen: Höchste Temperaturen 38*4 auf 001, 39*9 auf 0*03 und 
39*4 auf 004 Tuberkulin. 

In den ersten Wochen zeigte Pat. Sammeltrieb, äußerte nach wie vor seine 
Größenideen. Dann beruhigte er sich rasch, begann sieh fleißig mit Schueiderei- 
arbeiten zu beschäftigen, äußerte spontan nichts mehr von seinen Größenideen, 
hielt aber an deren Realität doch noch über Suggestivfragen fest. Körperlich 
kein Fortschritt der Lähmungserscheinungen. Gewicht 58 kg (Januar 1901). Am 
23. Januar 1901 in die heimatliche Irrenanstalt (Leopoldsfeld) versetzt. Die 
Remission hält bis jetzt an. Pat. arbeitet noch immer in der Sehneiderwerkstätte, 
ist ruhig, geordnet, produziert hie und da seine alten Größenideen, jedoch nie 
spontan, sondern nur über Befragen; die Demenz hat allmählich zugenommen. 

H. J., geb. 1864, Finanzwachaufseher. Anamnese: Luetische Infektion 
sichergestellt (1890). Früher mäßiger Potator, trank Pat. in den letzten 2 Jahren 
sehr viel Wein. Juni 1900 ward der Kranke sehr reizbar, zugleich zerstreut, ver¬ 
geßlich, kam endlich 22. August 1900 unter einem manischen Zustandsbilde ins 
k. u. k. Garnisonsspital Nr. I und von dort am 7. Oktober 1900 an unsere 
Klinik zur Aufnahme. Ungemein euphorisch, äußert Größenideen, ist dabei 
sehr suggestibel. Somatisch: Argyll-Robertson. P. S. R. gesteigert, 1. > r. Ge¬ 
wicht 75*5 kg. 

Injektionen: Höchste Temperaturen 39*7 auf 0*01, 38*2 auf 0*02, 40*5 und 
am nächsten Tage noch 39*1 auf 0*04 Tuberkulin. 

Der Zustand manischer Erregung hielt bis anfangs November 1900 an; 
dann auffallend rasche und weitgehende Remission. Pat. korrigiert nicht nur die 
Größenideen, sondern zeigt volle Krankheitseinsicht, gutes Gedächtnis, wiederholt 


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Über Heilversuehe an Paralytikern. 


153 


beurlaubt, wird endlich 20. Januar 1901 entlassen (und zwar als „geheilt”, aus 
Opportunitätsrücksichten wegen militärischer Stellung, Verlängerung der anrechen¬ 
baren Dienstzeit etc.). 

Pat. blieb nun dauernd in der Freiheit; anfangs konnte er sogar seinen 
Dienst wieder versehen; seit zwei Jahren wegen „Unverwendbarkeit” pensioniert, 
schrieb Februar 1904 einen inhaltlich und formell durchaus tadellosen Brief, in 
welchem er über seine Pensionierung berichtet, um irgend ein Mittel oder einen 
Ratschlag gegen seine „Nervosität” bittet Lebt derzeit noch (als Pensionist in 
einer Finanzwachkaserne). 

K. L., geb. 1860, Tapezierer. Anamnese: Vater Potator strenuus. Pat. hat 
mehrfache Schädeltraumen erlitten, darunter ein schweres mit langdauernder 
Bewußtlosigkeit (im Alter von 28 Jahren), Lues mit 21 Jahren. Vier Monate vor 
der am 8. Januar 1901 erfolgten Aufnahme vage „neurasthenische” Beschwerden, 
2 Monate später Andeutung von Sprachstörung. Bei der Aufnahme manisches 
Zustandsbild, will viele Geschenke machen; defektes Rechnen, mangelnde Krank¬ 
heitseinsicht, geschwätzig, heiter. Somatisch: Pathognostische Dysarthrie, Pupillen 
reagieren auf Licht nur spurweise und träge. S. R. gesteigert. Gewicht 72*5 kg. 

Injektionen: Höchste Temperaturen 87*3 auf 001, 39*7 auf 0*06 und 
40*0 auf 0*1 Tuberkulin. 

15. Februar. Vergeßlich, geht initiativelos umher, nimmt anderen Kranke 
Gegenstände weg und steckt sie zu sich, bittet um Entlassung, läßt sich durch 
den erstbesten Einwand leicht vertrösten, sehr gesprächig, heiter. Hierauf rasche 
Beruhigung, wird 3. März 1901 in häusliche Pflege entlassen. Gewicht 761#. 

Anfangs 1903 wird Pat. von einer Angehörigen in der klinischen Ambulanz 
vorgestellt, da er in der letzten Zeit wieder stärker erregt sei. Sprachstörung 
hat bedeutend zugenommen, Pat. äußert Größenideen, er werde seiner Geliebten 
Schmuck, eine Loge etc. kaufen. Aufnahme 4. November 1903, Gewicht 78*5 kg. 
Somatisch: Argyll-Robertson. Hochgradige Sprachstörung. P. S. R. gesteigert. 
Orientiert, erkennt Ärzte und Wärter noch bei deren Namen; sonst aber psychisch 
bedeutend verödet. Defektes 1X1; er sei ganz gesund, ist aber mit seiner Inter¬ 
nierung ganz einverstanden, spricht von Masseneinkäufen, verspricht Geschenke. 

Injektionen: Höchste Temperaturen 38*4 auf 001, 38*5 auf 003, 388 
auf 0*07 und 33*6 auf 01 Tuberkulin. 

März. Gewicht 79 kg. Äußerlich durchaus geordnet, beschäftigt sich mit 
Lektüre, hilft auf der Abteilung fleißig den Wärtern andere Kranke pflegen. 

April bis Oktober. Sukzessiver Verfall in psychischer und physischer Be¬ 
ziehung. Gewicht 71 kg. Bettlägerig, stark verödet; in der Befriedigung der körper¬ 
lichen Bedürfnisse noch geordnet. 

Oktober 1903 bis März 1904. Psychisch unverändert. Somatisch hat sich 
Pat. wieder mehr erholt, außer Bette, äußerlich geordnet. Gewicht 74 kg. 

März bis 1. Mai 1901. Stärkere Koordinationsstörung, so daß Pat. seit März 
dauernd zu Bette gehalten werden muß. Im übrigen durchaus stationär. 18. April 
apoplektiformer Insult, von dem sich Pat. rasch erholte. Kein Decubitus, begrüßt 
stets freundlich lächelnd die Ärzte, erzählt von seinem Dienste als Tapezierer im 
Burgtheater. Teilnahme- und wunschlos. Gewicht 74 kg. 

K. L., geb. 1863, Bedienerin. Anamnese: Vater der Kranken an Paralyse 
gestorben. Für eine luetische Infektion kein Anhaltspunkt. Zu Weihnachten 1899 


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Dozent Dr. Alexander Pilcz. 


wurde Pat. operiert (ßassini); seither sei sie zerstreut, vergeßlich, unbrauchbar 
zu irgend welchen häuslichen Verrichtungen. Die Internierung erfolgte, weil die 
Kranke sich verirrt hatte und aufgegriffen worden war. Aufnahme 23. Dezember 
1900. Einfache Demenz ohne Wahnideen, Stimmungsgemisch apathisch-euphorisch. 
Somatisch: Pupillen mydriatisch, r. > 1. lichtstarr. Sprachstörung oben angedeutet 
S. R. der unteren Extremitäten nur wenig gesteigert Gewicht 53*7 kg. 

Injektionen: Höchste Temperaturen 37*4 auf 001, 38*2 auf 0*03, 381 
auf 0*07, 38*5 auf 0*1 Tuberkulin. 

Seit April 1901 auffallende Remission. Pat. bat sich nicht nur körperlich 
erholt (Mai Gewicht 63 kg), sondern beschäftigt sich fleißig und geschickt, äußer¬ 
lich durchaus geordnet, äußert eine gewisse Krankheitseinsioht. Diese Remission 
hielt dauernd an. 8. Januar 1902 plötzlich einsetzende, aber rasch vorübergehende 
motorische und sensible Parese des rechten Armes; ähnliche Anfälle wiederholten 
sich noch im Februar und März 1902. Am 20. März 1902 Versetzung in die 
Irrenanstalt Dobian, wovon Pat. Juli 1902 in häusliche Pflege entlassen wurde. 
26. Juli 1902 neuerliche Aufnahme (mangels genügender häuslicher Beaufsichtigung, 
wie das Parere lautete). Gewicht 66*5 hg, Sprachstörung recht stark, die Demenz 
hat bedeutende Fortschritte gemacht, doch ist Pat. äußerlich noch geordnet, be¬ 
schäftigt sich mit Handarbeit, nicht pflegebedürftig (bettlägerig oder unrein). Keine 
Anfälle. Gewicht stationär. 20. Januar 1903 wieder in die Irrenanstalt Dobian 
versetzt. Dort immer fleißig, zu Arbeiten verwendbar, nicht bettlägerig. Im Verlaufe 
1903 mehrfache epileptiforme Insulte, von denen sich die Kranke immer schnell 
wieder erholte. Seit Februar dieses Jahres bettlägerig, unrein. Lebt derzeit noch. 

M. J., geb. 1858, Brauereigehilfe. Anamnese: Lues mit 17 Jahren. 
Potator strenuus. Erst Juli 1901 wurde an dem Kranken auffallende Vergeßlich¬ 
keit bemerkt. 29. Juli epileptiformer Anfall. Bald darauf fioride Megalomanie. 
Aufnahme 7. August 1901. Manisches Zustandsbild, Größenideen, defektes 
Rechnen. Somatiseh: Mydriase, auf Licht träge und spurweise, auf Akkommo¬ 
dation prompte Reaktion. P. S. R. fehlen. Sprachstörung. 

Injektionen: 37 5 auf 0*1 Tuberkulin. (Auf die niederen Dosen über¬ 
haupt keine Reaktion.) 

10. August 1901 epileptiformer Anfall. Ende August rasche bedeutende 
Remission; er sei „närrisch” gewesen; hätte man ihn nicht rechtzeitig hierher¬ 
gebracht, hätte er sein ganzes Vermögen vergeudet. 24. August wieder Anfälle. 
Die beginnende Remission hält an und vertieft sich. Krankheitseinsichtig, arbeitet 
fleißig. 18. Dezember 1901 gegen Revers entlassen. 

Laut Briefen der Frau dauerte die Remission bis Anfang 1903. Dann nach 
Anfallen rapider Verfall. Pat. ward bettlägerig. Derzeit (letzte Nachricht 18. April 
1904) unrein, bettlägerig, tief verblödet, doch soll er angeblich noch bekannte 
und fremde Personen zu unterscheiden vermögen. 

b) Nicht behandelte Paralytiker, welche derzeit noch 

leben. 

H. J., geb. 1850, Taglöhner. Fremdenanamnese fehlt, Pat. negiert Lues, 
gesteht Potus zu, wurde auf der Straße wegen auffallenden Benehmens auf¬ 
gegriffen. 


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Uber Heilyersuohe au Paralytikern. 


155 


Bei der Aufnahme, 13. Dezember 1899, einfache Demenz. Somatisch: 
Pupillen r. > 1., starr. Sprachstörung. P. S. B. vorhanden. In der Folge 
gelegentlich unrein, Sammeltrieb, tief verblödet. 28. Dezember 1899 Transferie¬ 
rung in die Irrenanstalt Klosterneuburg, von dort 7. Mai 1900 nach Leopoldsfeld. 

Cz. J. f geb. 1869, Wäscheputzer. Anamnese: Lues wahrscheinlich (Frau 
wiederholt abortiert). 1898 (genaueres Datum ?) aus voller Gesundheit heraus 
apoplektiformer Insult Seither reizbar, vergeßlich. Juli 1899 neuerlicher Schlag¬ 
anfall. Darauf Zunahme dieser Erscheinungen. Sprachstörung. Aufnahme 
10. Februar 1900. Einfache Demenz. Somatisch: Träge Pupillenreaktion. Sprach¬ 
störung. P. S. B. > • • Gewicht 63 

Bis Dezember 1900 ziemlich stationär, beschäftigte sich auf der Abteilung, 
äußerlich geordnet. Gewicht 65 kg. 

Dezember 1900 eine Serie epileptiformer Anfälle mit folgender bedeutender 
Verschlimmerung des Allgemeinzustandes. Gewicht sank (2. Januar 1901) auf 
56*5 fy. Erst gegen Februar-März erholte sich Pat. wieder, begann wieder ein 
wenig zu arbeiten. Jetzt unverändert bis etwa März 1902. Neuerlich Anfall. Seit¬ 
her bettlägerig, unrein. 24. Oktober in die Versorgung versetzt (Gewicht 64 kg). 
Lebt derzeit noch, terminal. 

N. J., geb. 1857, Hausbesorger. Anamnese: Über luetische Infektion 
nichts bekannt Einige Monate vor der am 25. November 1899 erfolgten Auf¬ 
nahme vergeßlich, ließ Geld herumliegen, vergaß die Beleuchtung abzudrehen etc., 
reagierte auf die Vorstellungen des Hausherrn mit Grobheiten, ward immer stärker 
erregt; ziemlich akut einsetzende Größenideen. Bei der Aufnahme sehr eupho¬ 
risch, er sei Sohn Gottes, habe die Stadt Wien erbaut, schwingt sich im Bette 
hin und her, er sei hier in der „hutschenden” Kirche etc. Somatisch: Argyll- 
Robertson, Pupillen entrundet, 1. < r. Keine Sprachstörung. P. S. R. vorhanden. 
Gewicht 61*6 kg. 

In der Folge floride Megalomanie, Tobsucht, meist zellenbedürftig. Körper¬ 
gewicht sank bis April 1900 auf 57 hg. Dann rasche Beruhigung in psychomo¬ 
torischer Hinsicht bei Fortbestehen unsinniger, labiler Größenideeu; beginnende 
Sprachstörung. Gewicht stieg bis Januar 1901 auf 79*5 an. 

Seit Januar 1901 traten auch die Größenideen zurück; Pat., äußerlich ge¬ 
ordnet, arbeitete auf der Abteilung, zunehmende Verödung, das Körpergewicht 
hielt sich bis 1904 ziemlich stationär zwischen 73 und 70*5 fy. 9. Juni 1903 
rechtsseitiger apoplektiformer InBult, dessen Folgen schon am nächsten Tage 
nicht mehr zu konstatieren waren. Seit Dezember 1903 rasch zunehmender Ver¬ 
fall in psychischer und physischer Beziehung, bettlägerig, unrein, spotan äuße¬ 
rungslos, ohne Wunsch, ohne Klage. Beginnende Decubitusbildung. 1. Mai 1904. 
Gewicht 67*5 hg*) 

Gl. R., geb. 1865, GebäcksauBträger. Anamnese: Im Alter von 3 Jahren 
Schädeltrauma, Lues mit 18 Jahren. Angeblich ohne Prodromi von Vergeßlich¬ 
keit, Reizbarkeit etc., akut einsetzendes, melancholisches Zustandsbild etwa 10 Tage 
vor der Aufnahme. 27. September 1899. Hypochondrische Wahnideen. Grobe 
Rechendefekte. Somatisch: Pupillen reagieren auf Licht Sprachstörung. P. S. R. 
fehlen. Gewicht 51*5 hg. November ziemlich rasche Remission. Krankheitseinsicht. 

*) Seither gestorben. 


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156 


Dozent Dr. Alexander Pilcz. 


Rechnet besser. Remission bis Juni 1900 anhaltend, Gewicht 1. November 1900 
65 kg, wiederholt beurlaubt, hilft seiner Frau fleißig bei ihrem Geschäfte. Juni 
vorübergehende Phase stärkerer Erregung. Gewicht 62*5 Beruhigte sich bald, 
— Remission. 15. Juli gebessert entlassen. Ende Oktober 1902 etwa wird P&t., 
der die Zeit über sich tadellos benommen hatte, angeblich arbeitsfähig gewesen 
sein sollte, erregter, schlaflos, äußert Größenideen. 28. November 1902 neuer¬ 
liche Aufnahme. Sehr euphorisch, ohne eigentliche Megalomanie. Vorgeschrittene 
Demenz. Pupillen: 1. starr, r. spurweise reagierend. Starke Sprachstörung. Gewicht 
59*5 "kg . In der Folge ward Pat. bald bettlägerig, häufig unrein. Gewicht 57 kg 
(Oktober 1903). 27. Oktober 1903 in eine Irren siechen anstalt transferiert, lebt 
derzeit noch, terminal.*) 

F. A., geb. 1855, Bedienerin. Anamnese: Über luetische Infektion nichts 
bekannt. Etwa 1 Jahr vor der am 8. Juni 1899 erfolgten Aufnahme allmähliche 
Veränderung. Pat. ward reizbar, sehr vergeßlich, unfähig zur Führung des 
Haushaltes. 

Bei der Aufnahme einfache Demenz mit Euphorie, ohne Wahnideen. 
Somatisch: Argyll-Robertson, deutliche Sprachstörung. P. S. R. gesteigert. Ge¬ 
wicht 48 kg. In der Folge ruhig, apathisch, äußerlich geordnet, arbeitet fleißig, 
Gewicht stieg bis August 1899 auf 60 kg an, sank dann bis Februar 1900 auf 
49 kg; zugleich verfiel die Kranke seit November 1899 immer mehr, ward bett¬ 
lägerig, unrein. 26. März 1900 in die heimatliche Irrenanstalt (Engelsfeld) trans¬ 
feriert. Dort stellte sich für einige Monate ein Zustand schwererer Erregung ein, 
mit Lärmen, Schreien, Toben, der seinerseits wieder von einer ruhigeren apa¬ 
thischen Phase gefolgt war. 26. Oktober 1901 Transferierung in eine Siechen- 
anstalt (Eger). Lebt derzeit noch daselbst, terminaler Zustand. 

c) Behandelte Paralytiker mit einer Lebensdauer über 
3 Jahre (vom Datum der Aufnahme an gerechnet), mit 
Ausnahme der sub a) angeführten Fälle. 

L. M., geh. 1860, Private. Anamnese: Für Lues kein Anhaltspunkt. 
Fremdenanamnese fehlt, daher auch über Beginn des Leidens nichts zu eruieren. 
Aufnahme 30. August 1900 mit unsinnigen Größenideen. Somatisch: Argyll- 
Robeitson. Sprachstörung. P. S. R. kaum auflösbar. Gewicht 66*5 kg. 

Injektionen: Höchste Temperatur 37*5 auf O'Ol, 40*4 auf 0*07 Tuber¬ 
kulin. In der Folge bei dauernd euphorischer Verstimmung allmähliche Korrektur 
der Größenideen. Pat. ist ruhig, arbeitet sehr fleißig. 16. Dezember 1901 Anfall, 
ebenso 21. Juli 1902. 27. September bis 6. Oktober Erysipel. Die Remission 
hält bis Anfang 1903 an; dann nach Anfällen rapider Verfall; seit Mai 1903 
bettlägerig. Das Körpergewicht, das während der Remission sich zwischen 70 bis 
72 kg gehalten hatte, sank bis 43*4 kg (1. Februar 1904). Seit Juli 1903 termi¬ 
naler Zustand mit „SäuglingsrefLx”. 20. Februar 1904 Exitus au kroupöser 
Pneumonie und purulenter Meningitis. 

R. R., geb. 1864, Hilfsbeamter. Anamnese: Lues?; Potus sichergestellt. 
25. April 1899 aus angeblich voller geistiger und körperlicher Gesundheit heraus 

*) Seither gestorbeu. 


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Über Heilversuohe an Paralytikern. 


157 


linksseitiger Schlaganfall, dessen Folgen aber rasch zurückgingen. Später einige 
Maie Zuckungen in der linken Körperhälfte. Immerhin versah Pat. bis Dezember 

1899 noch anstandslos seinen Dienst. Seit dieser Zeit zunehmende Vergeßlichkeit 
und Reizbarkeit. 

Aufnahme 12. Juni 1900 unter dem Bilde der einfachen Demenz (und 
zwar schon vorgeschrittenes Stadium). Somatisch; Pupillen r. >)., reagieren 
träge. Starke Sprachstörung. P. S. R. gesteigert, Fußklonus r. < 1. Gewicht 65 hg. 

Injektionen: Höchste Temperaturen 37*8 auf 0*01, 39*1 auf 008 und 
38 6 auf 01 Tuberkulin. 

In der Folge unverändert; Apathie. Zeitweilig Decubhusbildung, unrein, 
bettlägerig. Wiederholt Anfälle. Körpergewicht sank auf 40*6 hg. 28. Oktober 1903 
Exitus. 

Sehr. F., geb. 1853, Amtsdiener. Anamnese: Lues sichergestellt. Seit 
einigen Wochen „trübsinnig”. Bei der Aufnahme, 12. Januar 1900: Apathisch, 
dement, hypochondrische Wahnideen. Somatisch: Pupillen r. > 1., reagieren 
prompt auf Licht. P. S. R. >, Sprachstörung. 17. Januar 1900 Transferierung 
in die Irrenanstalt Klosterneuburg. Daselbst bald Remission, in der Pat. 
10. März 1900 gegen Revers entlassen wurde. Die Remission dauerte bis etwa 
August 1900; dann in rascher Entwicklung manisches Zustandsbild mit Me¬ 
galomanie. 

Neuerliche Aufnahme 9. September 1900. Sehr euphorisch, dement, aber 
keine eigentlichen Größenideen. Somatisch: Argyll-Robertson, sonst wie bei der 
1. Aufnahme. 

Injektionen: Höchste Temperaturen 37*3 auf 0*03 und 39*2 auf 0*07 
Tuberkulin. In den nächsten Tagen vorübergehende Megalomanie. 20. Oktober 

1900 nach Klosterneuburg versetzt. Abermals Remission. Reversentlassung 24. No¬ 
vember 1900. Die neuerliche Remission hielt jetzt nahezu ein Jahr an. 21. No¬ 
vember 1902 Aufnahme in die Irrenanstalt Klosterneuburg. Daselbst 30. November 
1903 gestorben. 

P. Fr., geb. 1839, Tischlermeister. Anamnese: Lues sichergestellt.*) Pat. 
beklagte sich schon viele Jahre vor seiner am 23. August 1900 erfolgten Auf¬ 
nahme über lanzinierende Schmerzen in den Beinen; vor 3 bis 4 Jahren Doppelt¬ 
sehen. Seit einem Jahre ward Pat. auffallend zerstreut und vergeßlich, ver¬ 
nachlässigte seinen Beruf; vor 14 Tagen ziemlich akut einsetzende Größenideen. 
Bei der Aufnahme floride Größenideen, er könne Tote lebend machen, habe 
34 Erfindungen ersonnen, darunter das perpetuum mobile etc. Somatisch: Argyll- 
Robertson. S. R. der oberen Extremitäten gesteigert, der unteren Extremitäten 
von normaler Intensität. Sprachstörung nur angedeutet. Gewicht 68*5 hg. 

Injektionen: Höchste Temperaturen 38*1 auf 0*01, 39*8 auf 0*03, 39*5 
auf 0 06, 39*6 auf 0*1 Tuberkulin. 

Der Zustand der dementen floriden Megalomanie hielt etwa ein Jahr an: 
dabei war Pat. äußerlich auffallend geordnet; keine besondere psychomotorische 
Erregung. Seit Juli 1901 wird Pat. sehr ruhig, äußert spontan nichts mehr, nur 
noch über Befragen Reste seiner früheren Größenideen; schreibt aber sehr viel 

*) Auch die Frau dieses Pat. befand sich mit progressiver Paralyse auf 
dieser Klinik. 

Jahrbflcher f. Psychiatrie und Neurologie. XXV. Bd. 11 


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Dozent Dr. Alexander Pilcz. 


(„Dramen”). Das Gewicht war bis Januar 1902 auf 78% angestiegen, sank in 
der Folge wieder allmählich bis auf 70% (August 1902). Psyobiscberseits 
dauernd ruhig, äußerlich durchaus geordnet; einfache Demenz nicht hoben Grades, 
wünsch- und klaglos, beschäftigt sich mit Lektüre und Schreibereien. Sprach* 
Störung hat keine Fortschritte gemacht. Keine Anfälle, nur hängt Pat. in der 
letzten Zeit ein wenig nach r. über. Am 6. September 1902 Transferierung in die 
Versorgung. Daselbst bald wieder stärkere manische Erregung, die sich ins¬ 
besondere auf sexuellem Gebiete zeigt. Pat. wird obszön, masturbiert vor Zeugen, 
verfolgt die Pflegeschwestern mit Zudringlichkeiten und ordinären Redensarten, 
10. Dezember 1902 Transferierung in die Bürgerversorgung der Stadt Wien. Die 
manische Exaltation ließ bald nach; in der Folge rasch zunehmender psychischer 
und physischer Verfall. 28. Dezember 1903 Exitus. (3 Jahre und 4 Monate 
nach der Aufnahme, etwa im 5. Jahre der Erkrankung.) 


d) Nicht behandelte Paralytiker, welche nach 3 Jahren 
noch lebten (vom Tage der Aufnahme an gerechnet) mit 
Ausnahme der sub b) angeführten Fälle. 

R. J„ geb. 1863, Polizeiagent. Anamnese: Lues sichergestellt. Etwa 
2 Monate vor der Aufnahme zerstreut, vergeßlich, apathisch. Dann stellte sich 
allmählich ein Zustand manischer Exaltation ein. Aufnahme 4. September 1897. 
Euphorisch, dement, ohne Wahnideen. Pupillen r. > 1., verzogen, reagieren, 
aber r. träger. P. S. R. gesteigert. Sprachstörung. 

ln der Folge zunächst dauernd apathisch, interesselos, reizbar, öfters 
unrein. Gegen Januar 1898 entschiedene Remission. Pat. wird regsamer, beginnt 
sich zu beschäftigen, wird äußerlich durchaus geordnet, äußert ein Maß vou 
Kraiikheitseinsicht. Diese Remission hielt an, vertiefte sioh noch mehr im Laufe 
des Jahres 1899. Wiederholt freie Ausgänge. Seit August 1900 in raschem An¬ 
stiege manische Erregung, Megalomanie, gleichzeitig schneller Verfall in intel¬ 
lektueller und körperlicher Beziehung. Das Körpergewicht sank von 76 (Juni) auf 
71 kg (September). Seit Januar 1901 wieder einfache Demenz. Fortschreitender 
Verfall. 10. April 1902 Exitus nach paralytischem Anfälle. 

R. A., geb. 1866, Privat. Anamnese: Matter Potatrix, 1 Schwester irr¬ 
sinnig, 1 Schwester puella publica. Potus zugegeben. Lues sicbergestellt. Von 
jeher „nervös”. Seit einigen Monaten vergeßlich, Sprachstörung. Aufnahme 
11. März 1899: Hypochondrische Wahnideen, Demenz. Somatisch: Pupillen ent- 
rundet, r. > 1., lichtstarr, Patellarklonus. „Wetterleuchten” der gesamten mimischen 
Muskulatur, aber keine eigentliche Sprachstörung. Gewicht 48*5 kg. 

In der Folge keine Wahnideen mehr, einfache Demenz, Apathie. Juli 1899 
epileptiformer Anfall. Seither wieder nihilistisch-hypochondrische Wahnideen. 
Das Gewicht sank bis 22. Dezember 1899 auf 38 5 kg . Seit Dezember 1899 ein¬ 
fache hochgradige Verblödung. Wiederholt paralytische Anfälle. Terminaler Zu¬ 
stand.' Im status epilepticus 30. Juli 1902 gestorben. Gewicht 30% (Mai 1902). 

Kr. A., geb. 1846, Bedienerin. Anamnese: In der Kindheit Rhachitis, 
Fraisen bis zum 10. Jahre, welche dann dauernd zessierten. Lernte erst mit 
10 Jahren gehen nnd sprechen. Immer schwachsinnig, jedoch imstande, sich ihr 


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Über Heilversuche an Paralytikern. 


159 


Brot als Bedienerin zu erwerben. Seit einem Jahre sehr vergeßlich. Im unmittel¬ 
baren Anschlüsse an ein mit Bewußtlosigkeit einhergehendes Schädeltrauma (8 Tage 
vor der Internierung) rapide Verblödung. Aufnahme 5. Oktober 1892: Vorgeschrittene 
Demenz, Asymbolie, unrein. Pupillen mittelweit, r. fast starr, 1. reagierend. P. S. R. r. 
vorhanden, 1. fehlend. Sprachstörung? (Die Kranke spricht nicht.) Gewicht 46*5 hg. 

In der Folge verharrt Pat. dauernd in tief verblödetem Zustande, unrein, 
bettlägerig; bei den spärlichen sprachlichen Äußerungen pathognostische Dys¬ 
arthrie. Gegen Dezember 1900 aber entschiedene Remission. Pat. wird freier, 
zugänglicher, erkennt und benennt vorgehaltene Gegenstände größtenteils richtig, 
vermag einfache Rechenexempel aus dem kleinen 1X1 richtig zu lösen. Auch 
die 1. Pupille reagiert jetzt auf Licht kaum mehr. Diese Besserung hielt bis 
Anfang 1901 an, dann vorübergehend stärkere motorische Erregung und endlich 
terminaler Zustand. Keine Anfälle. Gewicht 43 kg. 5. November 1901 Exitus. 

A. A., geb. 1859. Bahnbeamter. Anamnese: Mutter Potatrix. Lues vor 12 
Jahren, nach einem Schädeltiaumap/a Jahr vor der Internierung) reizbar, vergeßlich. 

April 1897 rasch einsetzende Manie. Aufnahme 15. Mai 1897: Florida 
Megalomanie. Pupillen enge, r. > 1. Argyll-Robertson. Keine Sprachstörung 
P. S. R. herabgesetzt. Gewicht 65 

In der Folge Andauer der Megalomanie bei tobsuohtsartigem Gebaren. 
Erst gegen August 1898 Beruhigung bei gleichzeitiger rascher Verblödung. 
Dezember 1898 apathisch, unrein, tief dement. Keine Anfälle. Gewicht (Oktober 
1900) 50 31. Oktober 1900 Exitus. 

K. J., geb. 1864, Comptoirist. Anamnese: Lues nicht zu eruieren. Vor 
4 Jahren schweres mit Gehirnerschütterung einhergehendes Sebädeltrauma. Seit 
April 1899 vergeßlich, teilnahmslos. Aufnahme 23. August 1899. Schwer ge¬ 
hemmt. Pupillen r. > 1. Argyll-Robertson. L. Patellarclonus, R. P. S. R. eben 
auslösbar. Gewicht 48 5 leg. 

Die Hemmung hielt bis September unveiändert an. Zeitweilig unrein. 
Oktober wird Pat. freier, beginnt zu sprechen. Keine Dysarthrie (!). 

Gegen November vollständige Remission. Gewicht 57 leg. Pat. wiederholt 
freie Ausgänge, rechnet prompt. Zeigt höchstens in der mangelnden Reaktion 
seiner Lage, seiner Zukunft etc. gegenüber die ominöse paralytische Demenz. 
Diese Remission hält an bis 12. August 1901. An diesem Tage wird Pat. von 
einem Urlaube in die Anstalt gebracht, schwer verwirrt, Größenideeu. Am 
nächsten Tage klar, erzählt, zu Hause Weine getrunken zu haben. N. M. An¬ 
steigen schwerer Manie; nun bleibt Pat. bis Januar 1902 dauernd in tobsüchtiger 
Erregung. Das Gewicht war (September 1901) auf 46 kg herabgegangen. Januar 
1902 rasche Beruhigung. Das Gewicht stieg wieder an. März 1902 entschiedene 
weitgehende Remission. Nicht nur vollständig korrektes Verhalten, Ausgänge, 
sondern auch Krankheitseinsicht. Remission hält an bis etwa November. Gewicht 
( 1 . Mai 1902) 60 *< 7 . 

Dann allmählich depressives Zustandsbild. Häutige gastrische Krisen (?), 
unrein, Blase ansdrückbar. P. S. R. jetzt beiderseits erloschen. Gewicht (1. März 
1903) 52 kg. Depression bis Juli 1903. Dann wird Pat. freier, beginnt sich mit 
Lektüre zu beschäftigen, zeigt sich aber schon stark verblödet. November 1903 
Einsetzen tobsüchtiger Erregung, welche nun usque ad finem anhielt. Keine An« 
fälle. 7. Januar 1904 Exitus. 

11 * 


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160 


Dozent Dr. Alexander Pilez. 


Bedeutendere Remissionen, sei es quoad durationem, sei es 
an Intensität, dürfen wir behaupten bei 9 von 12 Paralytikern 
der 1. Serie (den Fällen K., B., Ko., H., Ku., M., P., Li., Sehr.) und bei 
3 unter 10 Kranken der 2. Serie (K-, R., Gl.); die übrigen Fälle 
von den nicht behandelten Kranken fallen höchstens auf durch 
ihre längere Dauer, ebenso Pat. Lu. und Rei. aus der 1. Serie. 
Bei Ko. aus der 1. und Ka. aus der 2. Serie herrscht die 
typische Yerlaufsart der sogenannten zirkulären Paralyse. Die 
Paralyse bestand bei ersterem Kranken schon länger als 5 Jahre 
vor der Behandlung. 

Daß extrem lange Dauer des Leidens gerade bei dieser 
Form gar nicht selten vorkomrat, ist bekannt. Ich verweise 
diesbezüglich nur unter anderem auf die Monographie von 
G. Ch. Amable 5 ). (Auch unter den nicht behandelten Kranken 
der folgenden Rubriken finden sich, wie später kurz angeführt 
werden soll, Fälle von zirkulärer Paralyse, welche, wenn man 
die mutmaßliche Gesamtdauer des Leidens vor der Anstalts¬ 
internierung mit in Rechnung zieht, durch eine auffallend lange 
Dauer sich auszeichnen.) 

Was nun die zahlreicheren Fälle mit einer Dauer unter 3, 
beziehungsweise unter 1 Jahre anbelangt, so würde eine detail¬ 
lierte Mitteilung aller Krankheitsgeschiehten dieser Publikation 
einerseits eine ungebührliche LäDge verleihen, welche anderseits 
durch das relativ geringere klinische Interesse dieser Fälle kaum 
gerechtfertigt werden könnte. Ich darf mich datier wohl mit 
einem ganz kursorisch gehaltenen Überblicke begnügen, wobei 
ich einfach die Versicherung geben muß, daß ich in der Annahme 
der Dauer und des Grades der eventuellen Remissionen bei 
beiden Serien von Kranken gleich rigoros vorgegangen bin. 

a) Behandelte Paralytiker, welche (vom Tage der Auf¬ 
nahme an gerechnet) weniger als 3 und mehr als 2 Jahre 

lebten.*) 

A. J., 42 Jabre. 5. März 1901. Florida Megalomanie. 377 auf 01. Weit¬ 
gehende Remission big Anfang 1903. Dann, ohne daß Anfälle beobachtet 

*) ln Klammer ist überall die mutmaßliche Gesamtdauer angegeben. In 
dieser Tabelle sind nur diejenigen Paralytiker aufgenommen, welche nicht früher 
(unter Tabelle „noch lebend” und „über 3 Jahre' ) schon Berücksichtigung 
fanden. 


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Ober Heilversuche an Paralytikern. 


161 


woTden wären, rascher Verfall. Exitus 1. Februar 1904. (Dauer vor der Behand¬ 
lung 3 Monate, Gesamtdauer über 3 Jahre.) 

E. J M 38 Jahre. 18. Mai 1900. Einfache Demenz. 38*2 auf 0*01. Auf¬ 
fallend weitgehende Remission bis Oktober 1900 (von den Angehörigen 
auch schriftlich anerkannt). Dann unter paralytischen Anfällen, welche sich in 
der Folge häufig wiederholten, rascher Verfall. Exitus 30. Oktober 1902. (Initialer 
Fall. Gesamtdauer 2*/3 Jahre.) 

F. R., 52 Jahre. 6. August 1900. Einfache Demenz (wenig vorgeschritten). 
40*0 auf 0*1. Zunehmende Demenz, später Größenideen. Keine Anfälle. 15. Okto¬ 
ber 1902 gestorb. (Fremdenanamnese fehlt.) 

Sz. A.,37 Jahre. 5. Oktober 1900. Einfache (weitgehende) Demenz. 88*7 auf 0*1. 
Unverändert. Keine Anfälle. 5. November 1902 gestorb. (Fremdenanamnese fehlt.) 

H. Ph., 43 Jahre. 9. März 1901. Koi sakoff-ähnliches Bild mit Megalomanie. 
39*1 auf 0*1. Juni 1901 bis Juni 1902 entschiedene Remission, dann zu¬ 
nehmender Verfall. Keine Anfälle. 15. März 1903 gestorb. (Initial. Gesamtdauer 
über 2 Jahre.) 

R. Th.. 44 Jahre. 20. Mai 1900. Hypochondrische Wahnideen. 39*1 auf 
0*03. Unverändert. Keine Anfälle. 17. Juli 1901 gestorb. (Initial. Gesamtdauer 
über 2Vs Jahre.) 

Sch. Fr., 54 Jahre. 22. Januar 1901. Einfache Demenz. 40*1 auf 0*01. 
Mai 1901 entschiedene Remission. Entlassung. Neuaufnahme in stark ver¬ 
blödetem Zustande Januar 1903. 16. September 1903 gestorb. (Dauer vor der 
Aufnahme iy 4 Jahre, Gesamtdauer etwa 4 Jahre.) 

M. Fr., 50 Jahre. 21. März 1901. Einfache starke Demenz. 37*5 auf 0*1. 
Unverändert. Keine Anfälle. 4. April 1904 gestorb. (Dauer vor der Aufnahme 
2 bis 3 Jahre. Gesamtdauer 3 bis 5 Jahre.) Taboparalyse. 

N. K., 34 Jahre. 18. Juli 1900. Einfache Demenz. 39*5 auf 0*01. Unver¬ 
ändert. Keine Anfälle. 15. Juli 1902 gestorb. (Dauer vor der Aufnahme 1 Jahr, 
Gesamtdauer 3 Jahre.) 

R. J., 40 Jahre. 16. Januar 1901. Megalomanie. 38*2 auf 0*1. Größenwahn 
tritt zurück unter gleichzeitig zunehmender Verblödung. Juli 1903 gestorb. (Initial, 
Gesamtdauer etwa 2*/ 2 Jahre.) 

Kr. J., 40 Jahre. 4. April 1901. Megalomanie. 37*7 auf 0*03. Bei zu¬ 
nehmender Demenz Rückgang der Größenideen. 3. Mai 1903 gestorb. (Dauer 
über 2 Jahre, Gesamtdauer 5 Jahre.) 

Unter diesen 11 Kranken sind 4, bei welchen Remissionen 
beobachtet wurden; darunter 2 mit besonders auffallenden Still¬ 
ständen und Besserungen. 

b) Nicht behandelte Paralytiker mit einer Lebensdauer 
(vom Datum der Aufnahme an gerechnet) unter 3 und 

über 2 Jahren. 

Sch. J., 40 Jahre. 15. November 1902. Floride Megalomanie usque ad finem 
anhaltend, terminaler Zustand mit „Säuglingsreflex” zuletzt. Keine Anfälle. 
17. März 1904 gestorb. (Initial. Gesamtdauer etwa 2V 2 Jahre.) 


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Dozent Dr. Alexander Pilcz. 


Schl. J., 61 Jahre (!). 16. August 1890. Einfache Demenz. Keine Anfälle. 
8. November 1901 gestorb. (Dauer vor der Aufnahme l / 2 Jahr. Gesamtdauer 
etwa 2 3 /i Jahre.) 

M. A., 36 Jahre. 7. März 1900. Exquisit zirkulärer Verlauf ohne Remis¬ 
sionen. 27. Juni 1902 gestorb. (Dauer vor der Aufnahme 2 Jahre. Gesamtdauer 
über 4 Jahre.) 

B. J. f 48 Jahre. 22. Februar 1898. Mehrfache weitgehende Remis¬ 
sionen; exquisit zirkulärer Verlauf, häufige Anfälle. 20. September 1900 gestorb. 
(Dauer vor der Aufnahme 4 Jahre, Gesamtdauer über 6V2 Jahre.) 

Mu. J., 52 Jahre. 11. Oktober 1899. Einfache Demenz. 16. Oktober 1901 
gestorb. (Fri mdenanamnese fehlt.) 

H. K., 54 Jahre. 16. April 1901. Einfache demente Form. Keine Anfälle. 
Kontinuierlicher Verlauf. Exitus 13. August 1903. (Gesamtdauer etwa 2 ! /a Jabre.) 

* 

* * 

Unter diesen 6 Fällen zeichnet sich einer (zirknläre P. p.!) 
durch spontane starke Remissionen (und abnorm lange Dauer) aus 

r) Behandelte Paralytiker, welche, vom Tage der Auf¬ 
nahme an gerechnet, weniger als 2, mehr als 1 Jahr 

lebten.*) 

Bl. E., 41 Jahre. 18. August 1901. Floride Megalomauie. Höchste Tempe¬ 
ratur 38*2 auf 007. Zunehmende Verblödung ohno Remission. Keine Anfälle. 
Exitus 1. Juli 1903. (Dauer vor der Aufnahme etwa 1 Jahr, Gesamtdauer nicht 
ganz 3 Jahre.) 

D. R., 35 Jahre. 1. April 1901. Vorgeschrittene. Demenz. 39 5 auf 0*03, 
40*0 auf 0*07. Zunehmende Verblödung ohne Remission. Keine Anfalle. 20. April 
1902 gestorb. (Dauer vor der Aufnahme etwa 3 Jahre (!), Gesamtdauer etwa 
4 Jahre.) 

E. J., 30 Jahre. 12. März 1901. Megalomanie. 39*1 auf 0*07. Zunehmende 
Verblödung ohne Remission. Keine Anfälle. 10. April 1902 gestorb. (Dauer vor 
der Aufnahme etwa 1 Jahr, Gesamtdaner 2 ! / 4 Jahre.) 

Ei. J., 37 Jahre. 14. Oktober 1900. Einfache Demenz. 39 0 auf 0*01, 
40*1 auf 0*03, 400 auf 0*06. Entschiedene Remission bis Mai 1901, dann 
rascher Verfall. Keine Anfälle. 6. Februar 1902 gestorb. (Dauer vor der Auf¬ 
nahme 1 Jahr, Gesamtdauer 2 , / 3 Jahre.) 

Fr. A , 59 Jahre. 26. Juli 1900. Einfache Demenz. 37*8 auf 0*05. Zu¬ 
nehmender Verfall ohne Remission. Jm Status epilepticus 24. Juli gestorb. (Dauer 
vor der Aufnahme 3 Jahre, Gesamtdauer 4 Jahre.) 

G. J., 53 Jahre. 19. Juli 1900. Einfache Demenz. 39*0 auf 0*07. Ent¬ 
schiedene Remission bis etwa Anfang 1901, dann allmählicher Verfall. 
Keine Anfälle. 28. Mai 1901 gestorb. (Dauer vor der Aufnahme 3 Jahre, Gesamt¬ 
dauer fast 5 Jahre.) 

*) ln Klammer ist überall die mutmaßliche Dauer des Gesamtleidens mit 
angegeben. 


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Über Heilversuche an Paralytikern. 16B 

Gr. J., 45 Jahre. 2. Juli 1900. Einfache Demenz. 396 auf 0*07. Ent¬ 
schiedene Remission bis Mitte 1901. Keine Anfälle. 12. November 1901 
gestorb. (Initialer Fall. Gesamtdauer etwa V/ 2 Jahre.) 

H. J., 44 Jahre. 19. August 1901. Einfache Demenz. 391 auf 0*1. Später 
manisches Zustandsbild, keine Remission. Keine Anfälle. 26. November 1902 
gestorb. (Dauer vor der Aufnahme V/ 2 Jahre, Gesamtdauer über 27j Jahre.) 

K. E., 42 Jahre. 20. November 1900. Einfache Demenz. 38*6 auf 0*01. 
Anfangs unverändert. Frühjahr 1901 entschiedene Remission bis Herbst 
1901, dann rasche Verblödung. Keine Anfälle. 24. Januar 1902 gestorb. (Dauer 
vor der Aufnahme 1 Jahr, Gesamtdauer über 2 Jahre.) 

Ko. J., 48 Jahre. 14. Juli 1900. Manisches Zustandsbild. 39*5 auf 0*1. 
Unverändert. Fortschreitender Verfall. Keine Anfalle. 22. Januar 1902 gestorb. 
(Initialer Fall. Gesamtdauer etwa 1V 2 Jahre.) 

Kor. J., 33 Jahre. 2. März 1901. Hypochondrische Wahnideen. 37*8 auf 
0 07. Unverändert. Zuletzt einfach verblödet. Keine Anfälle. 27. Januar 1903 
gestorb. (Dauer vor der Aufnahme angeblich 3 Jahre, Gesamtdauer fast 5 Jahre.) 

L. R., 42 Jahre. 2. März 1901. Megalomanie. 36*8 auf 0*1 (!). Unverändert. 
Keine Anfälle. 16. September 1902 gestorb. (Dauer vor der Aufnahme etwa 
5 Monate, Gesamtdauer nicht ganz 2 Jahre.) 

M. F., 53 Jahre. 16. August 1900. Einfache Demenz. 38*2 auf 0*1. Un¬ 
verändert. Keine Anfalle. 15. März 1902 gestorb. (Dauer vor der Aufnahme über 

1 Jahr, Gesamtdauer über 2*/j Jahre.) 

Mi. F. t 40 Jahre. 11. November 1900. Manisches Zustandsbild. 39*5 auf 
0*07. Fortschreitender Verfall, wiederholte Anfälle, 26. Juli 1902 gestorb. (Dauer 
vor der Aufnahme 1 Jahr, Gesamtdauer über 2Va Jahre.) 

R. J., 42 Jahre. 30. Juni 1900. Megalomanie. 37*9 auf 01. Unverändert. 
Keine Anfälle. 29. Januar 1902 Exitus. (Dauer vor der Aufnahme Vj Jahr, Ge¬ 
samtdauer über 2 Jahre.) 

Sp., 50 Jahre. 20. Juni 1901. Größenideen. 37*8 auf 0*1. Rasche Re¬ 
mission; in häusliche Pflege entlassen 24. August 1901. Laut Briefen der An¬ 
gehörigen 27. April 1903 gestorb. (Initialer Fall. Gesamtdauer nicht ganz 

2 Jahre.) 

Str. E., 36 Jahre. 2. Dezember 1900. Vorgeschrittene einfache Demenz. 
40*3 auf 0*08. Psychisch ganz unverändert; doch erholte sich Pat. körperlich auf¬ 
fallend, blieb somatisch lange stationär. Keine Anfälle. 21. Juni 1902 gestorb. 
(Dauer vor der Aufnahme über 2 Jahre, Gesamtdauer etwa S l / 2 Jahre.) 

V. J., 45 Jahre. 13. Juli 1901. Einfache Demenz. 37*9 auf 0 07. Unver¬ 
ändert. Keiue Anfälle. 4. Juli 1902 gestorb. (Initialer Fall. Gesamtdauer über 
1 Jahr.) 

V. K., 50 Jahre, 21. August 1901. Vorgeschrittene Demenz. 38*2 auf 0*01. 
(Weitere Injektionen wurden wegen schlechten Allgemeinzustandes, Auftreten 
von Petechien etc. ausgesetzt.) Unverändert. Keine Anfälle. 24. November 1902 
Exitus. (Fremdenanamnese fehlt.) 

J. K., 39 Jahre, 3. August 1901. Einfache Demenz. 38 7 auf 0*03. Un¬ 
verändert. Wiederholt Anfälle. 26. August 1902 gest. (Dauer von der Aufnahme 
1 Jahr, Gesamtdauer etwa 2 Jahre.) 


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164 


Dozent Dr. Alexander Pilcz. 


L. M., 38 Jahre, 11. Februar 1901. Vorgeschrittene Demenz mit hypo¬ 
chondrischen Wahnideen. 884 auf 0 01. Unverändert. Exitus im Status epileptic«. 
24. April 1902. (Fremdenanamnese fehlt.) 

M. J.,*) 45 Jahre, 23. Januar 1901. Einfache Demenz. 38*1 auf 0*1. Ent¬ 
schiedene Remission bis Anfang 1902. Dann zunehmender Verfall. Keine 
Anfälle. 22. November 1902 gest. (Initialer Fall. Gesamtdauer nicht ganz 2 Jahre.) 

St. W., 58 Jahre, 25. August 1900. Einfache vorgeschrittene Demenz. 
38*1 auf 0*03. Unverändert. 26. September 1901 gest. (Dauer über 1 Jahr. Ge¬ 
samtdauer laut Anamnese 3 Jahre.) 

Unter diesen 23 Kranken waren 6 = 27-27%, bei welchen 
Remissionen beobachtet wurden. 

* 

* * 

Von den behandelten 20 Paralytikern mit einer Lebens¬ 
dauer unter einem Jahre seien nur die Fälle speziell hier an¬ 
geführt, welche zu besonderen Bemerkungen Anlaß geben. 

R. M., 40 Jahre, 3. Oktober 1901. Einfache Demenz. 39*5 auf 0*03. Ent¬ 
schiedene, aber kurze Remission. Keine Anfälle. (Initialer Fall. Gesamt¬ 
dauer nicht einmal 1 Jahr.) 

R. R., 35 Jahre, 24. Mai 1900. Vorgeschrittene Demenz. 38*8 auf 0*07. 
Exitus an Sepsis am 22. Juni 1900. 

J. K., 50 Jahre, 29. Mai 1900. Hypochondrisches Zustandsbild. 38*4 auf 
0*1. Exitus an Meningitis purulenta am 12. Juni 1900. 

St. W., 46 Jahre, 2. April 1901. Vorgeschrittene Demenz. 39*8 auf 0*07. 
Unmittelbar nach den Injektionen hypochondrische Wahnideen, Mai 1901 ent¬ 
schiedene auffallende Remission, die aber nur kurze Zeit währte. Keine An¬ 
fälle. 23. Januar 1903 gest. (Fremdenanamnese fehlt.) 

W. L., 42 Jahre, 15. Juli 1900. Beginn vor 3 bis 4 Monaten mit An¬ 
fällen. Aphasische Störungen. 38*0 auf 0*1. Rasche Klärung, Krankheitseinsicht. 
Eben merkliche Demenz. 27. Oktober gest. unter neuerlichen Anfällen. 

M. M., 39 Jahre, 22. August 1901. Delirium acutum ähnliches Zustands¬ 
bild. 40*0 auf 0*01. Injektionen ausgesetzt wegen eiteriger Parotitis. Galoppierender 
Verlauf. Septisches Fieber. 10. Oktober 1900 gest. an Sepsis. 

Ma. Gr., 42 Jahre, 26. Dezember 1900. Manie. 38*2 auf 0*03. Unverändert. 
Exitus an Iofluenzapneumonie 11. Febrnar 1901 (gelegentlich einer Influenza¬ 
epidemie). 

G. L., 54 Jahre, 26. Angast 1901. Hypochondrische Wahnideen. 37*0 auf 
0*06. Entschiedene Remission. 31. Oktober 1901 in häusliche Pflege ent¬ 
lassen. Später rascher Verfall. 28. Juni 1902 gest. (Däner vor der Anfnahme etwa 
2 Monate. Gesamtdauer 1 Jahr.) 

F. M., 49 Jahre, 23. März 1901. Delirium acutum ähnliches Bild. 37*5 
auf 0*03. 8. Mai 1901 gest. an Meningitis purulenta. 

* 

* * 

*) Auch der Gatte der Kranken an Paralyse iu der Irrenanstalt gestorben. 


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Über Heilvcrsucho an Paralytikern. 


165 


In 3 dieser 20 Fälle konnte eine Remission beobachtet 
werden. Ich hatte ferner hier speziell die Fälle angeführt, bei 
welchen eine interkurrente, mit dem Wesen der Paralyse nichts 
gemein habende körperliche Affektion den Exitus verursachte, 
nachdem, wie ich schon oben andeutete, es füglich dahingestellt 
bleiben kann, ob dergleichen Fälle in einer Tabelle statistisch 
verwertet werden sollen, welche den Einfluß einer bestimmten 
Behandlung auf die Paralyse selbst quoad durationem beurteilen 
lassen soll. Immerhin wurden ja in Tabelle 3 auch diese Fälle 
mit aufgenommen. 

d) Nicht behandelte Paralytiker, welche vom Tage der 
Aufnahme an gerechnet, weniger als zwei, mehr als ein 

Jahr lebten.*) 

Br. A., 47 Jahre, 24. September 1901. Einfache Demenz. Fortschreitender 
Verfall. Keine Anfalle. Exitus 26. Mai 1903. (Beginn etwa 1/2 Jahr vor der Auf¬ 
nahme, Gesamtdauer über 2 Jahre.) 

M. G., 31 Jahre, 10. September 1899. Delirantes Zustandsbild, dann ein¬ 
fache Demenz. Keine Anfälle. 5. September 1900 gest. (Dauer vor der Anfnahme 
V 2 Jahr, Gesamtdauer iy 2 Jahre.) 

B. K., 38 Jahre, 6. Februar 1900. Megalomanie anhaltend bis zum Tode. 
Keine Anfälle. 15. Mai 1901 gest. (Dauer vor der Aufnahme V 2 Jahr, Gesamt¬ 
dauer lty 4 Jahre.) 

L. J., 51 Jahre, 15. April 1900. (Taboparalyse seit 2V 2 Jahren.) Manie, 
später einfache Demenz, seltene Anfälle. 16. Januar 1902 gest. (Gesamtdauer 
4Vi Jahre.) 

Schw. E., 49 Jahre, 8. Mai 1900. Einfache Demenz, später vorübergehend 
Megalomanie. Keine Anfälle. 5. November 1901 gest. (Initialer Fall. Gesamtdauer 
etwa IV 2 Jahre.) 

P. A., 45 Jahre, 25. August 1899. Vorgeschrittene Demenz. Keine Anfälle. 
12. August 1900 gest. (Fremdenanamnese fehlt.) 

Sch. A., 49 Jahre, 25. September 1901. Paranoides Zustandsbild bei De¬ 
menz und pathognostiBchen Lähmungserscheinungen. Rasch fortschreitende Ver¬ 
blödung. Keine Anfälle. 16. Juli 1903 gest. (Dauer vor der Aufnahme 1 Jahr, 
Gesamtdauer über 2V 2 Jahre.) 

Bl. A., 49 Jahre, 31. Januar 1898. Megalomanie. September 1898 ent¬ 
schiedene Remission bis etwa Dezember; dann Anfalle, rasch zunehmende 
Demenz. 27. März 1899 gest. (Dauer vor der Aufnahme 1 Jahr, Gesamtdauer 
über 2 Jahre.) 

R. J., 41 Jahre, 11. April 1899. Demenz, Herderscheinungen. Dann ent¬ 
schiedene Remission August 1899 bis August 1900; hierauf ohne Anfälle 
rascher Verfall. 25. Dezember 1900 gest. (Initialer Fall. Gesamtdauer nicht ganz 
2 Jahre.) 

*) In Klammer die mutmaßliche Dauer des Gesamtleidens. 


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166 


' Dozent Dr. Alexander Pilcz. 


T. N., 59 Jahre, 7. November 1900. Demenz, Herderacheinnngcn. Häufige 
Anfälle. 3. Jannar 1902 gest (Dauer vor der Aufnahme einige Monate. Gesamt¬ 
dauer über 2 Jahre.) 

M. J., 58 Jahre, 20. Januar 1903. Floride Megalomanie, später einfache 
Demenz. Keine Anfälle. 6. April 1904 gest. (Dauer vor der Aufnahme 1 Jahr, 
Gesamtdauer über 2 Jahre.) 

* 

* * 

Von den 11 Kranken dieser Rubrik wiesen zwei Remissionen 
auf, i. e. 18*18%. 

* * 

Was nun die 39 nicht behandelten Paralytiker betrifft, 
deren Lebensdauer (vom Aufnahmsdatum an gerechnet) unter 
1 Jahr betrug, will ich, gleichwie bei der analogen Gruppe 
der Injizierten nur kursorisch die Fälle anführen, welche in 
irgend einer Hinsicht zu Bemerkungen Anlaß geben können. 
Es verdient nun hier, aus Gründen, die ich oben erwähnt, nur 
der folgende Fall herausgegriffen zu werden. 

v. M. E., 56 Jahre, 12. April 1900. Vorgeschrittene Demenz. Exitus am 
18. April 1900 au schwerer Septichämie (von gangränösem Decubitus ausgehend.) 

Spontane Remissionen kamen in dieser Gruppe überhaupt 
nicht vor. 

* * 

Blicken wir nun die Resultate der Behandlung an, so muß 
zunächst gesagt werden, daß im einzelnen kein einziger 
Fall sich unter den Injizierten befindet, der (selbst wenn wir 
bei Fall B. H. von „Heilung” sprechen) nicht durch eine erkleck¬ 
liche Anzahl kasuistischer Beiträge von „Spontanheilungen” 
oder weitgehendster „spontaner" Remissionen oder endlich ab¬ 
norm langer Dauer übertroffen würde. Ich brauche ja nur an 
die oben zitierten v. Halbansehen Fälle, an den Fall von 
Stransky,®) Tuczek 7 ) etc. etc. zu erinnern. Wohl aber darf 
bei aller Kritik und Skepsis das Ergebnis der Behandlung dann 
ein recht bemerkenswertes genannt werden, wenn man die Ge¬ 
samtresultate berücksichtigt, und zwar im Vergleiche zu 
einer entsprechenden Anzahl nicht behandelter, sonst unter den¬ 
selben äußeren Bedingungen verpflegten Patienten. Von einer 
Überschätzung der gewonnenen Resultate bin ich weit entfernt. 
Doch kann ein Einfluß, und zwar ein günstiger Einfluß, sei er 


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Über Heilversuche an Paralytikern. 


1G7 


auch noch so gering anzuschlagen, einfach nicht übersehen oder 
hinweggeleugnet werden, ein Einfluß, der sich nicht bloß be¬ 
züglich der Dauer des paralytischen Prozesses, sondern 
auch bezüglich der Stillstände und Besserungen bemerk¬ 
bar macht. Ich glaube, daß die vorliegenden Untersuchungs¬ 
ergebnisse recht sehr ermutigen, auf dem von v. Wagner an¬ 
gegebenen Wege fortzufahren. Ob speziell das Tuberculinum 
Kochii das geeigneteste Präparat ist, um das erwünschte künst¬ 
liche Fieber zu erzeugen, bleibe dahingestellt. Jedenfalls bietet 
es den Vorteil, leicht und überall erhältlich zu sein und eine 
sichere bequeme Dosierung zu gestatten. Anderseits muß be¬ 
dacht werden, daß bei den analogen Heilungen, wie sie uns die 
Natur vorzeigt, gerade die tuberkulöse Infektion keine wesent¬ 
liche Rolle spielt, im Vergleiche zu den Strepto- und Staphylo¬ 
kokkeninfektionen. Die Kranken fiebern auch vielleicht nicht 
anhaltend genug; manche reagieren überhaupt zuwenig etc. 
Vielleicht gelingt es, auf irgend eine andere Weise dem Heil¬ 
verfahren der Natur näher zu kommen. Das wichtigste ist jeden¬ 
falls der Grundgedanke dieser therapeutischen Bestrebungen. 

Literatur. 

’) v. Wagner, Jahrbücher für Psychiatrie, VII. Bd., pag. 94: „Über die 
Einwirkung fieberhafter Erkrankungen auf Psychosen.” 

J ) Boeck, ibid. XIV. Bd., pag. 199: „Versuohe über die Einwirkung 
künstlich erzeugten Fiebers bei Psychosen.” 

J ) v. Haiban, ibid. XXII. Bd., pag. 358: „Zur Prognose der progressiven 
Paralyse.” 

4 ) Meyer, Berliner klinische Wochenschrift 1877, Nr. 21: „Die Behand¬ 
lung der allgemeinen progressiven Paralyse (Dementia paralytica)”. 

■'') Gilles-Amable, These de Paris 1888: „De la folie ü double forme 
plus spdcialement considirde dans ses rapports avec la paralysie generale”. 

K ) Stransky, Monatssohrift für Psychiatrie und Neurologie, XI. Bd., 
pag. 422: „Ein Beitrag zur Lehre von der periodischen Manie” (pag. 433). 

: ) Kraepelin, Lehrbuch der Psychiatrie, II. Bd., pag. 349, 1904. 


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(Aua der ersten medizinischen Klinik des Herrn Hofrat Prof. Dr. Nothnagel in 

Wien.) 

Eine Statistik über 206 Fälle von multipler Sklerose. 

Von 

Dr. Arthur Berger. 


Als Herr Prof. v. Frankl-Hochwart*) vor Jahresfrist 
seine Arbeit über Pseudosklerose schrieb, stellte ich zum 
Zwecke der Differentialdiagnose aus dem großen Materiale unserer 
Klinik die seit einer Eeihe von Jahren behandelten Fälle von 
multipler Sklerose zusammen. In Anbetracht der großen Anzahl 
reiner Fälle, die an unserer Klinik zur Beobachtung kamen, der 
Ungeklärtheit, welche bezüglich der Ätiologie obgenannter Krank* 
heit herrscht, ferner in Anbetracht gewisser seltener Vorkomm¬ 
nisse im Verlaufe des Leidens, scheint die Publikation des Er¬ 
gebnisses unserer Statistik gerechtfertigt. 

Die Gesamtzahl der Fälle, die unserer Statistik zugrunde 
liegen, beträgt 206. Diese Zahl setzt sich folgendermaßen zu¬ 
sammen: 89 waren interne Patienten, von denen die meisten 
mehrere Monate, viele wiederholt auf der Klinik lagen und bei 
denen die Diagnose durch längere genaue Beobachtung sicher¬ 
gestellt werden kounte; 97 sind Kranke, die durch längere Zeit 
in dem von Prof. v. Frankl-Hochwart geleiteten Nerven- 
ambulatorium der Klinik ambulatorisch behandelt wurden. Um 
die Einseitigkeit, welche einer bloß auf Krankenhausmaterial 
beruhenden Statistik anhaftet, wenigstens zum Teile zu ver¬ 
meiden, habe ich aus dem Materiale der Privatpraxis des Herrn 

') Arbeiten ans dem neurologischen Institute (Institut für Anatomie und 
Physiologie des Centralnervensystems) an der Wiener Universität. IX. Heft, 1903. 


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Eine Statistik über 206 Falle von multipler Sklerose. 169 

Prof. v. Frankl-Hochwart, wofür ihm hier bestens gedankt 
wird, eine Reihe von Fällen angereiht — im ganzen 20. — 
Selbstverständlich wurde bei den ambulatorischen Patienten be¬ 
sonders rigoros vorgegangen und nur die in Betracht gezogen, 
bei welchen die Diagnose mit möglichster Sicherheit gestellt 
werden konnte. Alle, auch nur halbwegs zweifelhaften Fälle 
wurden nicht berücksichtigt. 

Was das Geschlecht der Kranken anbelangt, so finden 
sich in unseren Fällen 140 Männer und 66 Weiber. Diese 
Zahlen sprechen scheinbar für ein starkes Überwiegen des 
männlichen Geschlechtes, es macht den Eindruck, als ob Männer 
häufiger von multipler Sklerose befallen würden als Frauen. 
Das Mißverhältnis wird aber vielleicht dadurch erklärt, daß an 
unserer Klinik eine bei weitem größere Anzahl von Männern 
sowohl als interne (wegen der größeren Zahl der Betten), als 
auch als ambulante Patienten behandelt werden. Nur zirka 
36% der jährlich behandelten Patienten gehört dem weiblichen 
Geschleclite an, also ein ziemlich gleicher Prozentsatz, in dem 
unsere Fälle zueinander stehen. Es würde mithin, wie auch Hof¬ 
mann 1 ) hervorhebt, das Geschlecht keinen Einfluß auf die Ent¬ 
wicklung des Leidens haben. Auffallend bleibt es immerhin, daß 
in den meisten Statistiken die Zahl der männlichen Patienten 
überwiegt. So fanden Blum reich und Jakoby 2 ) 23 Männer 
gegen 6 Frauen, Probst 3 ) 34 Männer gegen 24 Frauen, Lotsch 4 ) 
das Verhältnis von Männern zu Frauen wie 22 zu 1, Elta') 
30 Männer gegen 6 Frauen, J. Klausner“) 78 Männer gegen 
48 Frauen, Kampherstein 7 ) 70% Männer gegen 30% Frauen. 

Was die Beschäftigung der Erkrankten betrifft, so ließ 
sich aus unseren Fällen kein auffallendes Prävalieren einer be¬ 
stimmten Berufsart konstatieren, immerhin mag erwähnt werden, 
daß einzelne Berufe, wie Schneider mit 13 Fällen, Kellner mit 
11 Fällen stärker, als es ihrem Verhältnisse zur übrigen Be¬ 
völkerungszahl entsprechen würde, betroffen erscheinen. 

1) Hofmann, Deutsche Zeitschrift für Nervenheilkunde, Bd. XXL 

2 ) Blumreich und Jakoby, Deutsche med. Wochenschr. 1897, p. 445. 

3 ) Probst, Deutsche Zeitschr. für Nervenheilkunde 1898. Bd. XII, p. 446. 

4 ) Lotsch, Prager medizinische Wochenschr. 1899, p. 205. 

5 ) Elta, Iuaug.-Dissert., Bonn 1897. 

•') J. Klausner, Archiv für Psychiatrie 1901, p. 841. 

") Kampherstein, Neurolog. Zentralbl. 1904, p. '468* 


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170 


Dr. Arthur Berger. 


Schwielig ist es in den meisten Fällen, den Zeitpunkt des 
wahrscheinlichen Beginnes der Erkrankung zu fixieren, denn 
nur selten beginnt diese plötzlich mit stärkeren Erscheinungen, 
meist allmählich, schleichend; außerdem häufig von längeren oder 
kürzeren Remissionen unterbrochen. 

Unter möglichst genauer Würdigung der Anamnese fanden 
wir für den Beginn der Erkrankung folgende Zahlen: 

Entstehung bis zum 10. Lebensjahre in 8 Fällen 
. vom 10. bis 20. . . 49 - 

- 20. . 30. . . 83 „ 

„ 30. . 40. „ . 51 . 

, 40. . 50. . . 10 . 

. 50. . 60. . . 5 . 

Jenseits des 60. Lebensjahres entstandene Fälle kamen 
nicht zur Beobachtung. Die angeführten Zahlen bilden einen 
Beweis für die in allen Statistiken gefundene Tatsache, daß die 
multiple Sklerose eine Erkrankung des jugendlichen und mitt¬ 
leren Lebensalters ist. Zwischen dem 10. und 40. Lebensjahre 
kam die Krankheit in fast allen unseren Fällen zum Ausbruche, 
am häufigsten zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr. Ein höheres 
Interesse beanspruchen die Fälle, bei denen der Beginn der 
Erkrankung in die früheste Jugend fällt. Die Frage, welche 
früher viel umstritten wurde, ob multiple Sklerose in der Kind¬ 
heit, vielleicht auch angeboren, Vorkommen könne, ist wohl 
im bejahenden Sinne entschieden worden. Marie,') Unger, 2 ) 
Oppenheim, 3 ) Nolda, 4 ) Lebreton, 5 ) Stieglitz,*) Eichhorst 1 ) 
haben Belege für diese Tatsache gebracht. Und auch mehrere unserer 
Fälle bilden einen Beweis für diese Möglichkeit. Zweimal wurde 
multiple Sklerose bei Kindern unter 10 Jahren diagnostiziert, 
das eine Mal bei einem 6jährigen Knaben nach ljährigem Be¬ 
stehen, das zweite Mal bei einem 9jährigen Mädchen, bei welcher 

>) Marie, Progres med. 1884, XII. 

■) Unger, Über maltiple Sklerose des Centralnervensysteins im Kindes¬ 
alter (Leipzig 1887). 

3 ) Oppenheim, Berl. klin. Woohenschr. 1887, p. 904. 

‘) Nolda, Archiv für Psychiatrie XXIII, p. 565. 

Lebreton, Cit. nach den Jahresberichten über die Leistungen und 
Fortschritte auf dem Gebiete der Neurologie und Psycb. 1900. 

t) Stieglitz, Journal of nerv, and ment, diseas. 1897, p. 175. 

’) Eichhorst, Virohows Archiv OXLVI, p. 173. 


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Eine Statistik über 20G Fälle von multipler Sklerose. 171 

das Leiden im ersten Lebensjahre mit rapidem Verfall der Seh¬ 
kraft begann. Die übrigen 6 Fälle kamen in höherem Alter zur 
Untersuchung. Bei ihnen konnte die Entstehung des Leidens 
anamnestisch bis in die früheste Jugend zuröckgeführt werden-, 
zweimal konnte von den Angehörigen überhaupt kein Termin 
für den Beginn des Leidens angegeben werden, weil die Kleinen 
schon beim Gehenlernen Symptome der Krankheit in Form von 
Schwäche in den Beinen, Zittern und Hinfälligkeit boten, zwei¬ 
mal konnten die Patienten als Kinder wegen des Intentions¬ 
tremors in den Händen das Schreiben nicht erlernen, zweimal 
wurden die ersten Symptome nach starkem Stürzen in der Kind¬ 
heit konstatiert. 

Was die Heredität betrifft, so fanden sich in unseren 
Krankengeschichten 21mal positive Angaben. Dreimal werden 
die Eltern als sehr nervös bezeichnet, in 3 Fällen waren die 
Väter starke Potatoren, von denen einer im Säuferwahnsinn 
starb; dreimal bestanden Psychosen in der Familie; einmal litt 
die Mutter an Migräne, ein anderes Mal zeigte die Mutter vor 
dem Tode durch mehrere Jahre Lähmung der unteren Extremi¬ 
täten, so daß sie ganz bewegungsunfähig war; einmal wurde 
Taubstummheit einer Schwester; einmal Epilepsie einer solchen 
angegeben. Einmal litt der Vater an einer halbseitigen Läh¬ 
mung. Zweimal bestand progressive Paralyse in der Familie, 
und zwar das eine Mal beim Vater, das andere Mal bei einem 
Onkel (Vatersbruder), während in diesem Falle der Bruder des 
Patienten selbst an Tabes dorsalis litt. Dreimal wurde angegeben, 
daß Glieder der Familie an einem ähnlichen Leiden wie der 
Untersuchte litteu, und zwar zweimal je ein Bruder, einmal der 
Vater und eine Schwester. In einem Falle bestand sehr schwere 
Belastung. Die Mutter war sehr starke Säuferin, hatte vier 
Kinder, von denen eines imbecill mit periodischem Wahnsinn 
behaftet, eines moral insan war, eines an Strabismus und con¬ 
genitaler Hüftgelenksluxation litt, das vierte untersuchte eine 
multiple Sklerose zeigte. Unsere Zahlen, namentlich in den zu¬ 
letzt angeführten Fällen, scheinen dafür zu sprechen, daß heredi¬ 
täre Belastung eine gewisse, wenn auch nicht allzu große Bolle 
in der Ätiologie der multiplen Sklerose spielt. 

Gar keine Bedeutung scheint dem Alkoholismus als 
ätiologischem Faktor zuzukommen. Von unseren Patienten wurde 


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172 


Dr. Arthur Berger. 


nur viermal Potus in etwas höherem Grade, davon nur einmal 
in exzessivem Maße angegeben. Diese Zahl geht wohl keines* 
wegs über die bei Gesunden bestehenden Verhältnisse hinaus. 
Unsere diesbezügliche Beobachtung stimmt auch mit denen 
anderer Autoren vollkommen überein. 

Was die Intoxikation mit metallischen Giften be¬ 
trifft, so fanden sich in unseren Fällen nur Angaben bezüglich 
des Bleies, und zwar fünfmal. Zweimal handelte es sich um Blei¬ 
arbeiter, die niemals Symptome einer Bleivergiftung zeigten, 
dreimal waren wiederholt Bleikoliken aufgetreten und wurden 
Zeichen einer chronischen Bleivergiftung festgestellt. Von dieseu 
letzteren drei Arbeitern hatte der eine die letzten Erscheinungen 
von Bleivergiftung 8 Jahre vor Beginn der multiplen Sklerose, 
während sich bei zweien die Krankheit direkt an eine schwere 
Bleikolik anschloß. Die Krankengeschichten dieser beiden Fälle, 
bei denen der Zusammenhang unserer Krankheit mit der Blei¬ 
intoxikation evident zu sein scheint, seien kurz wiedergegeben. 

P. R, Schriftsetzer, 32 Jahre alt. Aue gesunder Familie. Keine Infektions¬ 
krankheiten. Kein Trauma. Im 28. Lebensjahre sehr heftige, mehrere Monate 
dauernde Bleikolik. Im Anschluß an diese Verschlechterung des Sehens, Schwäche 
der linken oberen Extremitäten, Parästhesien und Zittern der Finger, unsicherer 
Gang, Pressen beim Urinlassen. Objektiv: Nystagmus, Atrophia nervi optici 
utriusque, Parese der linken oberen Extremitäten, Intentionstremor beider Hände, 
Gang steif, breitbeinig, schwankend. Gesteigerte P. S. R. Beiderseits Fußklonus. 

Sch. A., Korrektor einer Druckerei, 44 Jahre alt, aus gesunder Familie, 
mäßiger Biertrinker, keine Infektionskrankheiten, kein Trauma, hat wiederholt 
Bleikoliken durchgemacht. Im 40. Lebensjahre im Anschluß an eine solche 
Schwäche und Zittern der oberen Extremitäten, Parästhesien und Steifigkeit in 
den Beinen, Doppeltsehen, Ohnmachtsanfälle, Erregungszustände, Pressen beim 
Urinieren. Objektiv: Nystagmus, Intentionstremor der oberen Extremitäten, Ataxie 
der unteren Extremitäten, Steifigkeit der Beine, Gang schwankend, Romberg. 
Gesteigerte P. S. R. Klonus. 

Fälle, die durch Vergiftung mit Kohlenoxydgas entstanden 
sind, wie sie Blumreich und Jakoby, Etienne 1 ) u. a. anführten, 
sahen wir nicht,auch keine durch Arsenik oder Nikotin hervor¬ 
gerufenen Formen. 

Syphilis wurde dreimal in der Vorgeschichte der Patienten 
angegeben, und zwar 11, respektive 8, respektive 7 Jahre vor 
Beginn unserer Krankheit. In allen 3 Fällen wurde eine regel- 


>) Etienne, Revue neurol. 1900, p. 82ö. 


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Eine Statistik über 206 Fälle von multipler Sklerose. 


173 


rechte Schmierkur durchgemacht, es waren auch späterhin keine 
Recidiven aufgetreten. Der Zusammenhang der multiplen Sklerose 
mit der vorausgegangenen Lues ist zweifelhaft; jedenfalls 
geht aus dem Zahlenverhältnis hervor, daß der Syphilis als 
ätiologischem Faktor keiue große Bedeutung zukommt. Über 
Lues in der Aszendenz finden wir in unseren Krankengeschichten 
keine verläßlichen Angaben. Immerhin sollte bei ferneren Unter¬ 
suchungen auf dieses Moment größeres Augenmerk gerichtet 
werden. Ich erinnere nur an den Fall von Carrier, 1 ) in dem 
mnltiple Sklerose auf eine Lues hereditaria zurückgeführt wurde 
Besonderes Gewicht wird schon seit langer Zeit auf die 
akuten Infektionskrankheiten als Ursache der multiplen 
Sklerose gelegt (Marie, Ebstein, Schönfeld, Henschen u. a.). 
Lotsch fand unter 45 Fällen achtmal akute Infektionskrank¬ 
heiten als Ursache der multiplen Sklerose, J. Klausner in einer 
Zusammenstellung aus der Hitzigschen Klinik unter 126 Fällen 
21mal. Diesen großen Zahlen gegenüber betont Hofmann mit 
Recht, daß ein kausaler Zusammenhang nur dann angenommen 
werden kann, wenn der Zeitraum zwischen dem Auftreten der 
ersten Symptome der multiplen Sklerose und dem Ablauf des 
Fiebers nicht mehr als 2 bis 3 Monate beträgt. Mit dieser Ein¬ 
schränkung konnten wir akute Infektionskrankheiten in 
zirka 3% der Fälle mit Wahrscheinlichkeit als ätiologischen 
Faktor feststellen. Von unseren Patienten wurden anamnestisch 
40mal akute Infektionskrankheiten angegeben, von denen aber 
die überaus große Mehrzahl ein bis viele Jahre vor den ersten 
Symptomen unserer Krankheit abgelaufen war. Nur in 6 Fällen 
von diesen entsprach der Zeitraum der von Hofmann auf¬ 
gestellten Forderung. Es handelte sich zweimal um Gelenks¬ 
rheumatismus, einmal um Influenza, einmal um Diphtherie, einmal 
um Typhus, einmal um ein mit Fieber verbundenes Exanthem. 
Es bleibt also bei strenger Kritik nur ein kleiner Teil von 
Fällen übrig, bei dem eine akute Infektionskrankheit als ätiolo¬ 
gisches Moment in Betracht gezogen werden kann. Es deckt 
sich in dieser Hinsicht unser Befund ziemlich mit dem Hof¬ 
manns, der in 5% seiner Fälle eine akute Infektionskrankheit 
als Ursache der multiplen Sklerose fand. 


*) Carrier, Revue neurol. 1902, p. 929. 

.tabrbSobcr f. Psychiatrie und Neurologie. XXV. B4. J2 


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174 


Dr. Arthur Berger. 


Der Erkältung und Durchnässung wurde von Krafft- 
Ebing bei der Entstehung unserer Krankheit große Bedeutung 
zugemessen. Unter 100 Fällen fand er 41mal eine derartige 
Schädigung als veranlassendes Moment. Von unseren Patienten 
glaubten 15 ihre Krankheit auf ein Bheuma zurückführen zu 
sollen. Sieht man jedoch genauer zu, so reduziert sich diese 
Zahl noch wesentlich. Nur zu leicht sind die Erkrankten in 
ihrem Bestreben, die Ursache ihres Leidens zu ergründen ge¬ 
neigt, einer Erkältung, einem Zug, einer feuchten Wohnung und 
ähnlichem die Schuld beizumessen. Ich möchte daher alle die 
Fälle, in denen bloß die vage Behauptung einer Erkühlung, eines 
Zuges usw. aufgestellt wird, von der Statistik ausschließen und 
nur die Fälle in Betracht ziehen, in denen genaue Daten vor¬ 
liegen. Mit dieser Einschränkung bleiben von den genannten 1T> 
nur 5 Fälle übrig. In 2 dieser Fälle wurde angegeben, daß der 
Erkrankte mehrere Tage vor Auftreten der eisten Symptome 
eine, respektive mehrere Nächte bei Kegen und Kälte im Freien 
übernachten mußte, ein Arbeiter wurde im Freien schlafend ein¬ 
geschneit und erkrankte wenige Tage darauf, ein Mann watete 
mehrere Stunden durch tiefen Schnee und erkrankte einige 
Wochen darauf, einer arbeitete mehrere Wochen im Wasser, 
während welcher Zeit die ersten Krankheitssyraptome auftraten. 
In diesen wenigen Fällen könnte mit Rücksicht auf die präzise 
Schilderung der Schädigung einerseits und auf die Kürze des 
Zeitraumes zwischen ihr und dem Manifestwerden der ersten 
Krankheitssymptome vielleicht an einen Zusammenhang zwischen 
dem Rheuma und der multiplen Sklerose gedacht werden. 

Große Bedeutung wird von vielen Autoren dem Trauma 
als ätiologischem Faktor zugemessen (Blumreich und Ja- 
koby, Jaksch,') Leube, 2 ) Lotsch, Mendel, 3 ) Jutzler, 4 ) 
Flesch,') Schlagenhaufer, 6 ) Coester,") Gaupp,*i Wind- 

*) Jaksch. Prager inod. Wochensehr. 1895. p. 470. 

-) Leube, Deutsches Arch. f. klin. Med. 1871, p. 1. 

y ) Mendel, Deutsche uied. Wochenschr. 181*7, p. 97. 

4 ) Jutzler zitiert nach J. Klausner. 

5 ) Flesch, Wiener rn^d. Blätter 1901, Nr. 7. 

* ; ) Schlagenhaufer, Arbeiten aus dem Institut für Anatomie und 
Physiologie des Centraluervcns} Steins der Wiener Universität, Heft 7, p. 208. 

') Coester, Berliner klin. Wochensehr. 1899, Nr. 9. 

s ) Gaupp, Centralblatt für Nervenheilkunde und Psych. 1900. 


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Eine Statistik über 206 Fälle von multipler Sklerose. 


175 


scheid, 1 ) Leick, 8 ) Blencke 3 ) usw.) In allen Statistiken stellen 
die durch eine Verletzung verursachten Fälle ein großes Kon¬ 
tingent. Muß nun schon das von den Patienten ins Treffen ge¬ 
führte Rheuma mit großer Vorsicht beurteilt werden, so gilt 
dies in noch höherem Maße von der Verletzung, denn hier 
kommt zu denen, welche in ihrer Vergangenheit nach einer Ver¬ 
letzung suchen, um eine Ursache für ihre Krankheit zu finden, 
die große Schar der Unfallverletzten, die in ihrem Stieben nach 
einer Rente einerseits Krankheitssymptome zurückdatieren, um 
sie dem Trauma näher zu bringen, anderseits vor dem Unfall 
bestandene Beschwerden verschweigen, um diese auf jenen zu¬ 
rückführen zu können. Aber auch abgesehen von diesem Umstande 
scheint mir die Zahl der durch Verletzung entstandenen Krankheits¬ 
fälle übertrieben, weil die meisten Autoren zuwenig Rücksicht auf 
den Zeitraum zwischen dem Trauma und dem Manifestwerdeu der 
ersten Symptome nahmen. Es gilt hier wohl dasselbe, was Hof¬ 
mann bezüglich der akuten Infektionskrankheiten postulierte. 
Ein Trauma, das Jahre vor dem Ausbruche der multiplen 
Sklerose sich ereignete und welchem ein mehr oder weniger 
langes Stadium von Wohlbefinden folgte, kann kaum als aus¬ 
lösender Faktor in Betracht gezogen werden. Allerdings sind in 
letzter Zeit eine Reihe von Arbeiten erschienen, in denen aus¬ 
geführt wird, daß Gehirn- und Rückeumarkskrankheiten auch 
nach Jahren einer Verletzung folgen können, aber, wie Stadel¬ 
mau n‘) betont, geschieht des Guten zuviel. Genannter Autor 
plaidiert für eine strengere Kritik. Ich möchte mich den Bedenken 
dieses Autors anschließen und nur jene Fälle als durch Trauma ätio¬ 
logisch bedingt hinstellen, bei denen die Latenzzeit nicht mehr als 
höchstens 1 Jahr beträgt. Auch dieser Zeitraum ist vielleicht etwas 
zu weit ausgedehnt, aber er schließt immerhin die große Zahl der 
Fälle aus, in denen Jahre zurückliegende Verletzungen als aus¬ 
lösende Faktoren in Erwägung gezogen werden. Betrachten wir 
unsere Fälle von diesem Standpunkte aus, so bleiben von den 30 Pa¬ 
tienten, welche ihr Leiden auf ein Trauma zurückführen, 18 übrig, 
deren erste Krankheitssymptome in so kurzer Zeit auf die Ver- 

’) Windsoheid, Ärztl. Saeh verständigen zeituug 1902, Nr. 1. 

J ) Leick, Deutsche med. Woehenschr. 1899, Nr. 9. 

3 ) Blencke, Monatsschrift für Unfallheilkunde 1900, p. 41. 

*) Stadelmaun, Deutsche med. Woehenschr. 1903, 5. Februar. 

12 * 


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Dr. Arthur Berber. 


letzung folgten, daß an einen Zusammenhang zwischen beiden ge¬ 
dacht werden könnte. Diese Fälle will ich in aller Kürze mit 
Angabe der Art des Traumas und der Länge der Latenzzeit an¬ 
führen. Eine Schilderung der Symptome erscheint überflüssig; es 
handelt sich um typische Fälle von multipler Sklerose. 

1. H. R. Sturz von einem Wagen, allgemeine Erschütterung, Bewußtlosig¬ 
keit. 3 Wochen Krankenlager. Nicht ganz 1 Jahr nach der Verletzung Manifest- 
werden der Krankheitssymptome (Schwäche der Beine). 

2. J. R. Von einem 30 hg schweren Eisenstück zu Boden gedrückt, Be¬ 
wußtlosigkeit nnd Erbrechen. 4 Wochen Krankenlager. Nach 1 Jahr die ersten 
Symptome (Schwindel, Abnahme des Sehvermögens). 

3. S. L. Sturz aus einer hochgehenden Schaukel. Allgemeine Erschütterung. 
3 Wochen Krankenlager. 3 Monate nachher erste Symptome (Schwindel und 
Parästhesien der unteren Extremitäten). 

4. B. J. Sturz aus 3 m Höhe auf den Rücken. Gehirnerschütterung. Seither 
Kopfschmerzen, Schwindel; 2 Monate nachher Steifigkeit der Beine. 

5. Th. A. Sturz aus 2 m Höhe. Gehirnerschütterung. 3 Wochen Kranken¬ 
lager. 3 bis 4 Monate nachher erste Symptome (Schwäche und Unsicherheit 
der Beine). 

6. F. W. Sturz beim Eisläufen auf den Rücken; gleichzeitig links Fibula¬ 
fraktur. Nach 14 Tagen Heilung der letzteren. Nach 6 Wochen erste Symptome 
(Schwäche und Steifigkeit des linken Beines). 

7. L. K. Sturz aufs Hinterhaupt. Gehirnerschütterung. 2 bis 3 Wochen 
danach erste Krankheitssymptome (Schwäche der rechten oberen und rechten 
unteren Extremität). 

3. Sch. F. Sturz aus beträchtlicher Höhe. Allgemeine Erschütterung. Erste 
Symptome zirka 2 Wochen danach (Zittern der rechten Hand, Abnahme des Seh¬ 
vermögens). 

9. S. R. Niederbrechen unter einer schweren Last. Erste Symptome nach 
3 Wochen (Schwäche der unteren Extremitäten und Urinbeschwerden). 

10. M. Ch. Sturz auf die Knie, konnte mehrere Tage nicht gehen. Erste 
Symptome nach zirka 3 Wochen (Schwäche der Beine, Urinbeschwerden). 

11. B. J. Sturz aus zirka 5 w Höhe. Allgemeine Erschütterung. Nach 
3 bis 4 Wochen treten als erste Symptome Mattigkeit und Zittern der Beine auf. 

12. Z. K. Sturz aus 4 m Höhe. Gehirnerschütterung. Erste Symptome treten 
nach 14 Tagen auf (Schwäche der Beine). 

13. K. B. Bekommt bei einer Jagd zahlreiche Schrotschüsse in Beine und 
Rumpf. Mehrere Wochen Krankenlager. Beim Aufstehen bemerkt Pat. die ersten 
Symptome (Mattigkeit und Schwäche der Beine, bald darauf Blasenstörung). 

14. K. F. Pat. stürzt, als er einen schweren Gegenstand heben will, mit 
großer Heftigkeit aufs Gesäß, kann sich erst nach längerer Zeit mit Mühe er¬ 
heben. Nach zirka 2 Wochen, während Pat. wegen der Kreuzschmerzen noch im 
Bette war, traten als erste Symptome Parästhesien und Steifigkeit in den unteren 
Extremitäten auf. 

15. M. A. Sturz von 4 m Höhe. Gehirnerschütterung. Nach mehreren Tagen 
erste Symptome (Schwäche, Zittern der Hände). 


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Eine Statistik über 206 Fälle von multipler Sklerose. 


177 


16. K. A. Sturz von 6 m Höhe. Gehirnerschütterung. Mehrere Tage nachher 
erste Symptome (Schwäche und Parasthesien der Beine). 

17. K. B. Sturz von 1 m Höhe auf den Kücken. Nach mehreren Tagen 
erste Symptome (Schwäche und Steifigkeit der Beine). 

18. K. H. Sturz aus mehreren Metern Höhe. Gehirnerschütterung. Wenige 
Tage nachher zeigt sich Abnahme des Sehvermögens. 

Wir können mithin in höchstens 9% unserer Fälle ein Trauma 
vielleicht als anslösende Ursache der multiplen Sklerose ansehen. In 
den meisten dieser Fälle (16 von 18) handelte es sich um Stürze , 
und zwar meistens um solche aus mehr oder minder beträcht¬ 
licher Höhe. Es scheinen mithin namentlich solche Verletzungen, 
die mit einer Erschütterung des Körpers verbunden sind, unsere 
Krankheit hervorzurufen. 

Ganz selten wurden Gemütsbewegungen und Auf¬ 
regungen als Ursache der Erkrankung angegeben (fünfmal), 
auffallenderweise ausschließlich von Frauen. Schlechte Behand¬ 
lung, Todesfälle, Schreck wurden als Krankheitsursachen be¬ 
schuldigt. Der Konnex solcher Erregungen mit der multiplen 
Sklerose ist wohl mehr als zweifelhaft 

Nicht ganz selten werden Gravidität und AVochenbetten 
einerseits als auslösendes, anderseits als verschlimmerndes Moment 
angeführt. Balint 1 ) führt eine Reihe derartiger Fälle an. Sieben 
von unseren 66 Frauen sprechen sich dahin aus; bei vier von 
ihnen soll das Leiden während der Gravidität, bei drei während 
des Puerperiums entstanden sein. Zwei dieser Fälle sind recht 
bemerkenswert. In dem einen trat das Leiden im Wochenbett 
auf, besserte sich in der Zwischenzeit, nahm aber während der 
folgenden Graviditäten so sehr zu, daß Pat. bei der dritten Ge¬ 
burt nicht mehr gehen konnte. Im anderen trat während der 
jeweiligen Gravidität Verschlimmerung, in der Zwischenzeit er¬ 
hebliche Besserung auf. 

In Anbetracht des großen Materiales, das unserer Statistik 
zugrunde liegt, dürfte es von Interesse sein, die einzelnen 
Krankheitssymptome auf ihre Häufigkeit und ihren dem 
entsprechenden Wert in Hinsicht auf die Diagnose zu unter¬ 
suchen. Dabei sei eine Anzahl von Fällen besonders angeführt, 
die selten beschriebene Erscheinungen bieten. 


i) Balint, Deutsche Zeitscbr. f. Nervenheilk. 1000, p. 437 


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Dr. Arthur Berger. 


Vor allem wollen wir die Art und Weise des Beginnes 
unserer Krankheit besprechen. Welches sind die Symptome, 
die als erste das Bestehen einer multiplen Sklerose anzeigen, 
und wie groß ist ihre Häufigkeit? Weitaus am öftesten werden 
als Initialerscheinungen Störungen im Bereiche der unteren 
Extremitäten angegeben. 103 Patienten (50% > führten eine 
derartige Störung an. Genauer spezifiziert gaben 48 Patienten 
Schwäche in beiden Beinen ;unter diesen 10 in Verbindung mit 
Schmerzen und Parästhesien, 7 mit Steifigkeit in denselben), 
20 nur Parästhesien und Schmerzen, 20 Schwäche in nur einem 
Bein, 15 Verschlechterung des Gehens als erstes Symptom ihrer 
Krankheit an. 

Viel seltener bilden die oberen Extremitäten den Aus¬ 
gangspunkt des Leidens, im ganzen 40mal (zirka 20%). 20 Pa¬ 
tienten fühlten zuerst Zittern in den Händen, 11 allmählich 
zunehmende Schwäche der Arme von diesen 9 einseitig, 
2 doppelseitig , 9 Parästhesien und Schmerzen in den oberen 
Extremitäten. 

Gleichzeitiges Ergriftensein der oberen und unteren 
Extremitäten wurde elfmal als Initialsymptom gefunden, und 
zwar stets im halbseitigen Typus, 9 in Form von Schwäche, 
zweimal von Parästhesien und Schmerzen. Nur einmal setzte 
die Krankheit mit einer schweren Hemiplegie ein, in den 
übrigen Fällen handelte es sich um eine leichte, sich allmählich 
steigernde Schwäche der Extremitäten. 

Allgemeine Nervosität, Kopfschmerzen, Schwinde), 
Herzklopfen und Erbrechen wurden 19mal (9%) als erstes 
Symptom der multiplen Sklerose angeführt: Beschwerden von 
seiten des Sehapparates lTmal und zwar Abnahme 

des Sehvermögens in 13 Fällen, Doppeltsehen in 4 Fällen. 
Erschwerung des Sprechens wurde zweimal. Gesichts¬ 
lähmung ebensooft, Trigeminusneuralgie einmal als luitial- 
s vmptome angegeben. Blasen Störungen bildeten sechsmal, 
und zwar fünfmal in Form von Retardation des Harnstrahles, 
einmal in Form von Inkontinenz den Ausgangspunkt des Leidens. 
Ein Patient erkrankte unter den Erscheinungen einer mehr¬ 
tägigen schweren Bewußtlosigkeit mit Konvulsionen. 

Auf die Symptomatologie übergehend, wollen wir zuerst 
die psycliischen Veränderungen, die sich in unseren Fällen 


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Eine Statistik über 206 Fälle von multipler Sklerose. 


179 


darboten, besprechen. Ausgesprochene Geistesstörungen wurden 
nicht beobachtet. In 24 Fällen (12%) wurde eine leichte Demenz, 
nie eine hochgradige konstatiert. 14mal zeigten sich bei den 
Kranken Erregungszustände mäßigen Grades, nur einmal vorüber¬ 
gehend Tobsucht. Depressionszustände leichten Grades kamen 
achtmal, auffallende Euphorie viermal zur Beobachtung. 15 der 
Patienten gaben an, daß ihr Gedächtnis seit Beginn der Er¬ 
krankung wesentlich gelitten habe, objektiv ließen sich dagegen 
nur in 3 Fällen auffallende Gedächtnisdefekte konstatieren. 

Epilepsie war im Krankheitsbilde dreier Patienten vor¬ 
handen. Ein Patient hatte im Verlaufe seines Leidens durch 
mehrere Monate ziemlich gehäufte epileptiforme Anfälle, die all¬ 
mählich verschwanden und die zurZeit der Untersuchung mehrere 
Jahre nachher nicht wieder aufgetreten waren. Einmal traten 
bald nach Beginn der Erkrankung Anfälle auf und blieben in 
ziemlich gleichmäßiger Weise bestehen. Im dritten Falle, bei 
dem Diagnose durch Sektiou sichergestellt war, traten gehäufte 
Anfälle, gleichsam ein Status epilepticus auf. Die Kranken¬ 
geschichte dieses in mehrfacher Hinsicht bemerkenswerten Falles 
sei kurz wiedergegeben. 

Z. A., 34 Jahre alt, Schneiderin. Aus gesunder Familie. Im dritten Lebens¬ 
jahre Blattern, sonst stets gesund. Lues negiert. Beginn der jetzigen Krankheit 
im 28. Lebensjahre, angeblich infolge Erkältung mit allmählich zunehmender 
Schwäche der Beine. Dazu gesellte sich Zittern der Hände, Erschwerung der 
Sprache, Retardation des Hainstrahles. Bei der ersten Untersuchung konstatierte 
man: Deprimiertes Wesen. Nystagmus horizontalis. Skandierende Sprache. Bei 
Bewegungen des Kopfes, der Arme und Beine tritt starker Schütteltremor auf. 
Der Tremor der Beine ist beim Stehen so stark, daß Pat. sich nur gestützt auf¬ 
recht erhalten kann. Pat. kann infolge des Schütteins der Hände nur mit Mühe 
das Essen zum Munde führen. Parese der unteren Extremitäten. Sehnenreflexe 
sehr gesteigert, Fußclonus. Z. A. wurde auf die Klinik autgenommen und lag 
durch mehrere Monate daselbst, ohne daß sich im Status etwas geändert hätte. 
Nach zirka 4 Monaten trat eines Morgens plötzlich ein Anfall auf; Pat. wird 
cyanotiscb, kann nicht sprechen, weint, es zeigt sich eine leichte Faeialisparese 
links. Dauer des Anfalles zirka 5 Minuten, danach fühlt sie sieh wieder wohl. 
2 Stunden darauf ein zweiter Aufall von demselben Charakter mit Erbrechen 
verbunden; 1 Stunde danach eiu ganz gleicher dritter. Nach Ablauf der Anfälle 
zeigte sich eine verbleibende Parese des linken Facialis und der linksseitigen 
Extremitäten, sowie eine entschiedene Demenz. Am nächsten Tag ein eomatöser 
Zustand durch mehrere Stunden. Nach Ablauf demselben Schlingbeschwerden, 
Unbeweglichkeit beider Beine, rechter P. S. R. iehlend, linker erhalten. Tags 
darauf tritt wieder Beweglichkeit in den unteren Extremitäten auf, diese bessert sich 


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Dr. Arthur Berber. 


in den folgenden Tagen bis zur anfänglich vorhandenen mäßigen Parese; auch 
die P. S. R. kehren allmählich wieder. Die Parese des linken Facialis und linken 
Armes verschwinden. Sensorium bleibt dauernd frei, Sprache wie zu Beginn der 
Aufnahme. Zirka 14 Tage nach dem ersten Anfalle trat nachts ein beiläufig 
10 Minuten währender Anfall von Bewußtlosigkeit verbunden mit Krämpfen mit 
stärkerer Beteiligung der rechtsseitigen Extremitäten auf. ln den folgenden Tagen be¬ 
merkte man, daß die rechte Gesichtshälfte stärker gerötet sei und die ganze 
rechte Körperhälfte sich wärmer anfühle. Diese vasomotorische Erscheinung trat 
in den nächsten Tagen wiederholt auf und dauerte jedesmal ein bis mehrere 
Stunden. Die epileptiformen Aufälle traten noch einige Male auf. Einmal er¬ 
wachte Pat. nachts und konnte die Beine nicht bewegen, nach zirka B Stunden 
ging diese Erscheinung allmählich zurück. In dieser Zeit entwickelte sich am 
rechten Trochanter ein ziemlich starker Decubitus. In den folgenden Monateu 
wechselte das Bild wiederholt, es traten vorübergehende Lähmungen auf, halb¬ 
seitige, vasomotorische Erscheinungen, epileptiforme Anfälle, Erbrechen; Decubitus 
auch am linken Trochanter. Beiläufig 1 Jahr nach Aufnahme Exitus unter den 
Erscheinungen einer Pneumonie. Obduktionsbefund: Sklerosis multiplex 
cerebri et medullae spinalis. 

Apoplektische lusulte wurden iu unseren Fällen dreimal 
beobachtet. Das eine Mal setzte das Leiden mit einem apoplek- 
tischen Anfall ein, in den beiden anderen Fällen traten während 
des Verlaufes Schlaganfälle mit folgender Hemiplegie, respektive 
Hemiparese auf. 

Schwindel ist eiue recht häutige Klage unserer Patienten. 
Über 60 derselben (zirka 30°/ o ) hatten unter diesem Übel zu 
leiden, 5 von diesen bis zum Zusammenstürzen. In nicht gar 
seltenen Fällen wurde Schwindel als erstes Symptom der Er¬ 
krankung angeführt. 

Etwas seltener wird über Kopfschmerzen geklagt, in 
über 40 Fällen (20°/,,). Dieselben werden als nicht allzu heftig 
geschildert und verschieden lokalisiert. Hemicranie kam in 
unseren Fällen nicht zur Beobachtung. 

Öfters wiederkehrende Ohnniachtsanfälle bestanden bei 
7 unserer Patieuten. 

You den Hirnnerven weisen die das Auge und deu Be¬ 
wegungsapparat desselben versorgenden Nerven am häufigsten 
Störungen auf. Abnahme des Sehvermögens, iespektive 
Blindheit, wurde in einer großen Anzahl von Fällen beobachtet. 
Beiläufig 70 Patienten (35°/,,) klagten über Sehschwäche, nicht 
wenige von ihnen als Initialsymptom. Was den ophthalmosko¬ 
pischen Befund betrifft, so wurde derselbe fast in allen 
Fällen von Herrn Dozent Dr. Kunn, dem augenärztlichen 


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Eine Statistik über 206 Falle vuu multipler Sklerose. 


181 


Consiliarius unserer Klinik, aufgenommen. Das Ergebnis lautete: 
38mal einfache Opticusatrophie (zirka 19%), lOmal deut¬ 
liche Abblassung der temporalen Papillenhälften 
(5%), 7mal neuritische Veränderungen (und zwar 6mal 
Neuritis optica, lraal Atrophia n. o. u. post neuritidem). Bei 15 
Patienten wurde teils Abnahme der Sehschärfe, teils Gesichts¬ 
feldeinschränkung konstatiert, ohne daß sichere Verände- • 
tun gen am Fundus durch den Augenspiegel konstatiert werden 
konnten. 

Pupillendifferenz ist ein recht häufiger Befund, doch 
bewegt sich diese in der Regel innerhalb sehr enger Grenzen. 
Stärker ausgeprägte Verschiedenheit der Pupillengröße wurde in 
unseren Fällen 30mal konstatiert; 12mal wurde auffallend 
lebhaftes Spiel und Unruhe der Pupillen beobachtet. Die 
Reaktion der Pupillen ist in der weitaus großen Mehrzahl der 
Fälle normal, respektive sehr lebhaft. Nichtsdestoweniger findet 
sich in 12 Krankengeschichten ausdrücklich träge Licht¬ 
reaktion, davon 2mal verbunden mit träger akkommodativer 
Reaktion, in zweien reflektorische Starre bemerkt. 

Lähmungen der äußeren Augenmuskeln kamen in 
11 Fällen zur Beobachtung. Sie betrafen zu ziemlich gleichen 
Teilen den Nervus oculomotorius (2mal in allen Ästen) und 
den Nervus abducens. Diese Zahl enthält jedoch nur die 
Fälle, bei denen die Augenmuskellähmung zur Zeit der Unter¬ 
suchung bestand. Zählen wir jedoch die Patienten hinzu, welche 
während eines früheren Stadiums über länger dauerndes Doppelt¬ 
sehen klagten, so bekommen wir im ganzen 50 Fälle. Es 
handelte sich in diesen Fällen um vorübergehende Paresen 
der Augenmuskeln, wie sie gerade bei der multiplen Sklerose 
häufig zur Beobachtung kommen. 

Ungemein häufig kam Nystagmus in unseren Fällen zur 
Beobachtung; 93mal wird er vermerkt (zirka 45%), darunter 6mal 
schon in der Ruhelage, in den übrigen Fällen bei extremer Blick¬ 
richtung. Bezüglich der Form des Nystagmus sei bemerkt, daß es sich 
meistens um horizontalen, nur in 10 Fällen um rotatorischen 
Nystagmus handelte. 

Die von Kunn im Jahre 1896 an unserer Klinik zuerst be¬ 
schriebenen Symptome des Einstellungszitterns derBulbi, der 
Dissoziation der Augenbewegungen und des Zitterns 


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Dr. Arthur Berger. 


1X2 

der Akkommodationsmuskeln fanden sich seither nicht gar 
selten (in 14 Fällen' notiert. 

Damit wären die am Auge zur Beobachtung gelangten 
Symptome erschöpft. 

Häufig wurde ein Ergriffensein des Nervus facialis kon¬ 
statiert. In den meisten Fällen handelte es sich um eine Parese 
des Mundastes; bei 44 Patienten zeigte sich ein deutliches 
Zurückbleiben des Mundwinkels einer Seite beim Zähnezeigen 
oder bei mimischen Bewegungen. Totale einseitige Facialis- 
lähmung wurde nur 4mal constatiert, und zwar 2mal anam¬ 
nestisch in einem früheren Stadium der Erkrankung. 2mal 
zur Zeit der Untersuchung. Interessant ist, daß Facialislähmung 
in 2 Fällen als Initialsymptom der multiplen Sklerose aufge¬ 
treten ist. 

Ausgesprochene Paresen des Nervus hypoglossus wurden 
lOmal beobachtet. Es handelte sich stets um Deviation der 
Zunge nach einer Seite, selten verbunden mit Atrophie und 
fibrillären Zuckungen in der betreffenden Zungenhälfte. Starkes 
Zungenzittern findet sich in mehr als 40 Fällen bemerkt. 

Die motorische Portion des Nervus trigeminus zeigte 
in einem Falle eine Störung, indem das Kauen auf der rechten 
Seite erheblich kraftloser geschah als links. 

Bemerkenswert ist der Befund von Trigeminusneuralgie 
in 2 Fällen, wobei einmal diese als erstes Symptom bezeichnet 
wurde. Die Krankengeschichten dieser beiden Fälle sind in 
Kürze: 

1. Sch. J.. 45 Jahre. Agent. Beginn Jer Erkrankung v«»r 5 Jahren mit heiligen 
rechtzeitigen Gesichtssehmerzen. Dazu gesellte sich in den nächsten Monaten Zittern 
der Hände. nach 1 Jahr Schwindel und Steifigkeit der Beine. Objektiv fand sich 
Trigeminusneuralgie rechts, Intentionstremor der oberen Extremitäten, Nystagmus, 
leichte Spasmen der unteren Extremitäten \ erblinden mit sehr gesteigerten P. S. R. 
und KuUklonus, ausgeprägter lvunb,*rg. 

2. M. S., 4S Jahre. Kaufmann. Besinn des Leidens im 27. Jahre mit 
Stetigkeit in den Beinen. Bal i nach Beginn der Kiaukheit bemerkte Pat., daß 
er, wenn er ins Vorwärtslaulen kam, nicht stehen bleiben konnte und häufig zu 
Roden stürzte (Propulsion). Dieses Stadium währte zirka 4 Jahn* und schwand 
dann. Auch die Schwäche in den Beineu ging fast ganz zurück, kehrte aber 
nach zirka */, Jahre wieder und blieb seither bestehen. Es gesellten sich dazu 
Zittern der Hände, Erschwerung der Sprache und d«*s Ennla-scns. Die Propul¬ 
sion kehrte nicht wieder zurück. Seit 2 Monaten besteht starker anfallsweise auf¬ 
tretender Schmer/, in der 1. Gesichtshalfte, hauptsächlich im Ober- und Unter- 


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Eine Statistik über 206 Fälle von multipler Sklerose. 


IS-5 

kiefer. Zwangslaehen und -weinen. Objektiv fand sieh: Euphorie, Neigung zu 
Witzen; Nystagmus, Atrophia nervi optici utriusque, Parese des r. liectus internus. 
Trigeminusneuralgie im 2. und 3. Aste; skandierende Sprache; leichte Parese 
und Spasmen in den oberen Extremitäten, etwas stärkere in den unteren Extremi¬ 
täten mit gesteigerten P. S. R. und Fußklonus. Retardation des Harnstrahles. 

Herabsetzung der Empfindlichkeit im Gesicht fand sich 
nur in der Form halbseitiger Störung in Gesellschaft mit halb¬ 
seitiger Herabsetzung des Geruches und Geschmackes, und zu¬ 
meist der Sensibilität der ganzen betreffenden Körperhälfte in 
5 Fällen. 

Hörstörungen finden sich in Form von subjektivem 
Ohrensausen recht häufig (zirka 20mal) bemerkt. Einmal wird 
Patient als schwerhörig bezeichnet und einmal bestand von 
otiatrischer Seite konstatierte einseitige Affektion des 
schallpercipierenden Apparates. 

Schlingbeschwerden werden in 0 Fällen erwähnt, 3mal 
verbunden mit Regurgitieren von Flüssigkeiten durch die Nase 
und ausgesprochener Gaumensegelparese. 

Einmal bestand einseitige Stimmbandlähmung. 

Anfälle von Herzklopfen verbunden mit Dyspnoe wurden 
zweimal beobachtet. 

Starkes und häufiges Erbrechen ohne nachweisbare Er¬ 
krankung des Magendarmtraktes kam 12mal znr Beobachtung, 
namentlich bei Frauen (8mal). 

Die Sprache zeigte häufig Störungen. Subjektive Ver¬ 
schlechterung wurde von 70 Patienteu angegeben. Objektiv 
wurde in 56 Fällen eine Anomalie des Sprechens beobachtet, 
und zwar wurde die Sprache 

in 24 Fällen als monoton, 

in 22 „ „ deutlich skandierend, 

in 3 ,. „ stotternd, 

in 6 .. „ deutlich nasal 

bezeichnet. In 2 Fällen wird Silbenstolpern angegeben. Wir 
haben somit in mehr als 25% unserer Fälle eine Änderung der 
Sprache konstatieren können. 

Sehr häufig finden sich Lähmungen und Paresen der 
Extremitäten. Dieselben wurden mit Halbseitencharakter 
17mal beobachtet. Diplegien, respektive doppelseitige Paresen, 
fanden sich an den oberen Extremitäten 16mal, an den unteren 


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Dr. Arthur Berger. 


81 mal; Monoplegien, respektive Monoparesen, an den oberen 
Extremitäten 20mal, an den unteren 32mal. Wie man sieht, über¬ 
wiegen die Lähmungen der unteren Extremitäten weitaus die 
oberen, 130mal Lähmungen der unteren Extremitäten gegen 53mal 
der oberen. Es zeigt sich ferner, daß gegenüber dem starken 
Prävalieren des diplegischen Charakters der Lähmungen an den 
unteren Extremitäten, an den oberen Extremitäten der mono- 
plegische überwiegt. 

Der Charakter der Lähmungen ist meist der spastische; 
niemals wurde auffallende Schlaffheit der gelähmten Muskeln 
bemerkt. Ausgesprochene Spasmen, respektive Kontrakturen, 
finden sich an den oberen Extremitäten einseitig 3mal, doppel¬ 
seitig 4mal vermerkt (im ganzen also 7mal unter den 53 Fällen 
von Paresen der oberen Extremitäten), an den unteren Extremi¬ 
täten einseitig 25mal, doppelseitig 53mal (im ganzen 78mal unter 
130 Fällen). In diesen Zahlen tritt der Unterschied im Cha¬ 
rakter der Lähmungen in den oberen und unteren Extremitäten 
zutage. Während sich an den oberen Extremitäten nur in zirka 
Vs der Fälle spastische Parese fanden, in y 8 jedoch der Muskel¬ 
tonus annähernd normal war, bot weit mehr als die Hälfte 
der paretischen unteren Extremitäten deutliche Erhöhung des 
Muskeltonus. 

Entsprechend dem vorwiegend spastischen Charakter der 
Lähmungen sind die Sehnenreflexe in der großen Mehrzahl der 
Fälle erhöht. In 163 Fällen werden die Sehnenreflexe als lebhaft 
bis stark gesteigert bezeichnet; unter diesen fand sich Fuß- 
klonus 123mal ein- oder doppelseitig. Selten wird Herabsetzung, 
respektive Fehlen der Reflexe erwähnt. Dreimal konnten die 
Reflexe an den oberen Extremitäten nicht ausgelöst werden. 
Zweimal bestand doppelseitige, lmal einseitige Herabsetzung 
des Patellarsehnenreflexes; 4mal fehlten die Kniereflexe (in 
allen diesen Fällen waren die Achillessehnenretiexe vorhanden 
bis sehr lebhaft, 2mal bestand sogar Fußklonus). Die Achilles¬ 
sehnenreflexe fehlten lmal. 

Neben den Paresen spielt der Tremor eine große Rolle im 
Bilde unserer Krankheit. Ruhetremor der Extremitäten, respektive 
des Kopfes, findet sich nicht sehr häufig, zirka 15mal. Intentions¬ 
tremor, respektive Ataxie findet sich in oberen und unteren Extremi¬ 
täten gleichzeitig 63mal, in den oberen Extremitäten allein 67mal 


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Eine Statistik aber 206 Fälle von multipler Sklerose. 


185 


(darunter 14mal einseitig, 53mal doppelseitig), in den unteren allein 
l7mal. In 8 Fällen wird der Tremor bei intendierten Bewegungen als 
außerordentlich heftig geschildert, so zwar, daß bei Bewegungen 
die betreffende Extremität in ein wahres Schütteln gerät, an 
Paralysis agitans erinnernd. Unter den aufgezählten Fällen wird 
6mal Tremor des Kopfes beschrieben, wenn Patient diesen aus 
der unterstützten Lage entfernt. 

Entsprechend der häufigen Affektion der unteren Extremi¬ 
täten zeigte der Gang bei unseren Patienten häufig Störungen. 
In 137 unserer Fälle (zirka 65%) wird derselbe als abnormal 
bezeichnet. Der Charakter der Störung ist 
vorwiegend paretisch in 17 Fällen, 

„ spastisch , 11 , 

„ spastisch-paretisch in 37 Fällen, 

„ ataktisch in 22 Fällen, 

„ schwankend in 39 Fällen, 

Gehen vollkommen unmöglich in 11 Fällen. 

Rombergsches Phänomen wurde mehr oder weniger 
ausgeprägt in 93 Fällen (zirka 45%) konstatiert. 

Was die Störungen der Sensibilität betrifft, die in 
unseren Krankengeschichten vermerkt wurden, so finden sich 
19mal diesbezügliche Angaben. In den meisten Fällen handelte 
es sich um Hypästhesie und Hypalgesie einer ganzen Körper¬ 
seite (gewöhnlich verbunden mit Hyposmie und Hypogeusie), in 
einigen Fällen war eine ganze Extremität unterempfindlich. 
Temperatursinnstörungen und dissoziierte Sensibilitätsstürungen 
kamen nicht zur Beobachtung. 

Störungen der Stereognose und der Lageverstellung 
fanden sich 9mal. 

Nicht ganz selten sind die sensiblen Störungen subjektiver 
Natur, Schmerzen, meist reißenden Charakters, finden sich 26mal 
(13%), Parästhesien 13mal (6%). 

Wenn Angaben bezüglich der Hautreflexe gemacht sind, 
so bedeuten sie meist eine Herabsetzung dieser. In 40 Fällen 
bestand Abschwächung, respektive Fehlen eines oder mehrerer 
Hautreflexe. Die Bauchdeckenreflexe fehlten lOmal. Kremaster¬ 
reflexe llmal, mehrere zugleich 19mal. 

Bezüglich des Babinskischen Phänomen geben unsere 
Krankengeschichten kein vollständiges Bild. In den Be- 


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1813 Dr. Arthur Berger. 

obachtungeu der letzten Jahre findet sich dasselbe öfters 
erwähnt. 

Während früher den Blasenstörungen im Bilde der 
multiplen Sklerose nur eine untergeordnete Rolle zugewiesen 
wurde, haben Oppenheim und sein Schüler Kahleyß auf die 
große Bedeutung dieses Symptomes hingewiesen, v. Frankl- 
Hochwart. und Zuckerkandl besprechen in ihrem Buche 
„die nervösen Störungen der Blase”, das so häufige Vor¬ 
kommen der Blasenstörungen bei der multiplen Sklerose und 
führen aus, daß entsprechend dem spastischen Charakter der 
Paresen bei dieser Krankheit am häufigsten tonische Blasen¬ 
störungen sich finden, während die paralytischen weitaus seltener 
sind. Unsere Fälle können als Beweis für diese Behauptung 
angeführt werden. 74mal wird erschwertes Urinieren angegeben, 
längeres Warten auf den ersten Tropfen, starkes Pressen. In 
keinem Falle war die Störung eine so hochgradige, daß Kathe¬ 
terismus notwendig gewesen wäre. Harndurchbruch wurde in 
23 Fällen konstatiert. In der Mehrzahl dieser Fälle (16) derart, 
daß kurze Zeit nach Auftreten des Harndranges der Urin abging, 
ehe Patient Gelegenheit fand, den Anstandsort aufzusuchen. 
Echte Inkontinenz war in 7 Fällen vorhanden. Zweimal bestand 
ausschließlich nächtliches Bettnässen. 

Seltener als die Störungen von seiten der Blase wurden 
Darmstörungen konstatiert. Schwere Obstipation fand sich 
bei 25 Patienten, gewöhnlich mit erschwertem Urinieren kombi¬ 
niert, zeitweilige Incontinentia alvi bei 15 Kranken. 

Bei 23 unserer Patienten i zirka 10" 0 ) fand sich Zwaugs- 
lachen, respektive -weinen, teils von den Betretlenden ange¬ 
geben, teils von uus beobachtet. Am häutigsten ist Zwangslachen 
allein, und zwar in 16 Fällen; Zwaugsweinen allein bestand in 
5 Fällen, in zweien Lachen und Weinen. Die genannten Beschwerden 
erreichten in keinem Falle einen so exzessiven Grad, wie sie 
Oppenheim, 1 ) der einen Patienten infolge Zwangslachen ganz 
atemlos und zyanotisch werden, eine Patientin durch das Schütteln 
beim Lachen zu Boden stürzen sah, schildert. 

Eine andere Zwangsbewegung, nämlich Propulsion, re¬ 
spektive Retropulsion wird in unseren Fällen 3mal erwähnt. 

') Oppenheim, Ciiiuiteannalen, XIV, 18S9. 


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Eine Statiätik über 206 Fälle von multipler Sklerose. 


187 


Hofmann führt in seiner wiederholt zitierten Arbeit das Vor¬ 
kommen dieses Symptoms bei der multiplen Sklerose an. Krause-) 

-) Krause, NeuroL Zentrulbl. 1904, S. 463. 
schildert einen Fall von multipler Sklerose mit Propulsion und 
Retropulsion. 

Von den 3 genannten Patienten berichtet einer, daß Pro¬ 
pulsion in einem Stadium seiner Krankheit durch 3 /t Jahre be¬ 
standen hatte. Zur Zeit seiner Vorstellung bei uns war jedoch 
dieses Phänomen geschwunden. (Siehe Krankengeschichte II bei 
Trigeminusneuralgie.) 

Bei 2 Patienten kam das Symptom zur Beobachtung. Die 
Krankengeschichten dieser beiden Fälle seien kurz wiedergegeben: 

1. Th. A., 19 Jahre alt. Ohne Beschäftigung, erkrankte im 17. Jahre ohne 
bekannte Ursache unter Erscheinungen einer Sehstörung. Dazu gesellte sieh all¬ 
mählich Verschlechterung des Ganges, Zittern, Schwindel, erschwertes Urinieren. 
Objektiv: Abducensparese 1., Nystagmus, Papillitis beiderseits, ataktischer Gang 
Intentionstremor der r. oberen Extremitäten, Reflexsteigerung. Bei diesem Pat. 
bestand zur Zeit der Beobachtung ausgesprochene Propulsion. 

2. T. K. ? 34 Jahre alt. Gärtner. Erkrankte im 30. Jahre mit plötzlich auf¬ 
tretender Schwäche der linksseitigen Extremitäten, dazu gesellte sich Schwindel, 
Doppeltsehen, Zittern, Zwangslachen, erschwertes Urinieren. Objektiv: Nystagmus 
Schwäche des 1. Annes und beider unteren Extremitäten, ataktischer Gang, 
Intentionstremor der oberen Extremitäten, Homberg, gesteigerte Reflexe, deutliche 
Propulsion und Retropulsion. 

Ungemein häufig sind hysterische Associationeu im 
Bilde der multiplen Sklerose. Über die häufige Kombination ist 
viel geschrieben worden und nicht selten sind Patienten, 
welche jahrelang als mit Hysterie behaftet geführt werden, ehe 
die Diagnose auf multiple Sklerose gestellt werden konnte. Auch 
in unseren Aufzeichnungen finden sich mehrere solche Fälle. In 
10 Fällen wurde typische, in der Mittellinie scharf absetzende 
Herabsetzung der Sensibilität einer Körperhälfte, meist ver¬ 
bunden mit Herabsetzung des Geruches und Geschmackes der¬ 
selben Seite gefunden; 9mal wurde eine ganze Extremität nach 
oben scharf abgegrenzt als hypästhetisch bezeichnet. 

Bei einer nicht kleinen Zahl von Fällen zeigten sich Druck¬ 
punkte, Herabsetzung von Cornea!- und Sclilingreflex, psychisch 
hysterische Associationen. 

Muskelatropliien fanden sich nur in 8Fällen (zirka4%). 
7mal wird eine ganze Extremität als muskelschwächer bezeichnet; 
einmal wurden die Interossei einer Hand atrophisch befunden. 


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188 


Dr. Arthur Berger. 


Abnormitäten in der Schweißsekretion wurden in unseren 
Fällen nicht verzeichnet. 

Sehr häutig wurde Dermographie sowie leichtes und 
rasches Erröten des Gesichtes bemerkt. Die Zahlen sind 
in Hinsicht auf diese Erscheinungen nicht vollständig. 

Unter allen Fällen wurde nur einmal Decubitus beob¬ 
achtet, und zwar bei der einzigen Patientin, bei welcher die 
Diagnose durch den Obduktionsbefund bestätigt wurde. 

In einem Falle wurde auffallend starkes Ausfallen der 
Haare und Zähne bemerkt. 

Bezüglich der Remissionen ist es schwer, genaue Zahlen 
anzugeben. Die Häufigkeit ihres Vorkommens bei der multiplen 
Sklerose wird ja allenthalben angeführt. So wurden auch in 
unseren Fällen von vielen Patienten Remissionen im Verlaufe 
des Leidens beobachtet. Zieht man nur die Fälle in Betracht, 
bei welchen die Krankheitserscheinungen stark, fast vollkommen, 
und durch längere Zeit zurückgingen, so können wir in 33 
(zirka 15%) Fällen derartige Intervalle in der Dauer von 
mehreren Monaten bis zu 8 Jahren konstatieren. 

Was die Dauer des Leidens betrifft, so fanden sich in 
unseren Fällen viele Patienten, bei denen die multiple Sklerose 
viele Jahre, im Maximum 28 Jahre bestand. 

Zum Schlüsse sei es mir gestattet, Herrn Hofrat Noth¬ 
nagel und Herrn Prof. v. Frankl-Hochwart für die Über¬ 
lassung des Materiales den wärmsten Dank auszusprechen. 


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Aus der II. medizinischen Abteilung des k. k. Kaiser Franz Joseph-Spitales in Wien 
(Vorstand Prof. Dr. Hermann Sohlesinger). 

Über Ermüdungsphänomene, einschließlich der auf dem 
Gebiete der Vibrationsempfindung. 

Von 

Dr, Wilhelm Neutra. 

Anläßlich meiner Untersuchungen über die Beziehungen der 
Vibrationsempfindung zur Osteo&kusie 1 ) erschien es mir nötig, ein 
genaueres Maß für die Vibrationsempfindung zu benutzen. Wie 
Minor hervorhebt, ist gerade bei dieser Empfindungsqualität 
die Intensität von der Dauer wohl zu unterscheiden, und es 
zeigt sich, daß Stärke und Länge der Vibrationsempfindung nicht 
proportional sein müssen, ähnlich wie ich dies auch für die 
Osteoakusie nachgewiesen habe. Da es aber bisher keine ein¬ 
fache Methode gibt, um die Intensität der Vibrationsempfindung 
zu messen, und man sich in dieser Beziehung nur auf die un¬ 
sicheren Angaben der Versuchspersonen verlassen muß, so halte 
ich es für angezeigt, die genauer meßbare Empfindungsdauer als 
vergleichbares Maß zu verwenden, jedoch im Auge zu behalten, 
daß diese genauen Ziffern uns keineswegs die Empfindung in allen 
ihren Eigenschaften charakterisieren. Außerdem ist es nicht erlaubt, 
die Resultate, welche man betreffs der Vibrationsempfindungs¬ 
dauer erhält, mit anderen Empfindungsqualitäten zu vergleichen, 
welche nicht nach ihrer Dauer, sondern nach ihrer Intensität 
gemessen werden, welchem Irrtume mehrere Autoren unterlegen 
sind. Dagegen ist es, wie ich glaube, möglich, aus dem Ver¬ 
gleiche der Vibrationsempfindungsdauer an verschiedenen Punkten 

') Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. f Erscheint demnächst.) 

J.lirblchor f. Peychletrle and Neurologie. XXV. Bd. 


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190 


Dr. Wilhelm Neutra. 


der Körperoberfläche eines und desselben Individuums oder an 
analogen Punkten verschiedener Personen einen gewissen Rück¬ 
schluß auf den Grad der Empfindlichkeit der untersuchten 
Körperstellen für Vibration zu ziehen; dabei möchte ich hier 
wiederholen, was ich bereits anderenorts ausgeführt habe, daß 
es nicht angezeigt ist, allzu genaue Schlüsse aus den Ergebnissen 
der Prüfung auf Vibrationsempfindungsdauer abzuleiten, wozu 
man durch die Möglichkeit der ziffernmäßigen Darstellung der¬ 
selben leicht verleitet werden könnte. 

Wie ich mich durch vielfältige Versuche überzeugen konnte, 
gibt es nämlich verschiedene Fehlerquellen, welche den ge¬ 
wonnenen Ziffernresultaten eine gewisse Ungenauigkeit verleihen, 
so daß die Befunde nur mit Berücksichtigung bestimmter Fehler¬ 
grenzen verwertbar sind. Die Ursachen, warum die Dauer der 
Vibrationsempfindung nicht absolut genau gemessen werden 
kann, liegen teils in der Untersuchungsmethode, teils in ge¬ 
wissen Eigenschaften und Fähigkeiten des zu untersuchenden 
Individuums. Was das letztere betrifft, so ist es vorerst die 
Aufmerksamkeit der Versuchsperson, von deren Grad die Genauig¬ 
keit des Ergebnisses abhängt; die mehr weniger ausgebildete 
Fähigkeit der Konzentration auf die schwächer und schwächer 
werdende Vibrationsempfindung ist entscheidend für den Eintritt 
des Augenblickes, in welchem das Individuum angibt, nun nichts 
mehr zu fühlen. Wenn also beispielsweise ein Individuum das 
Verschwinden der Empfindung signalisiert zu einer Zeit, in 
welcher die Stimmgabel noch ziemlich deutlich schwingt, so wäre 
es eventuell ein Irrtum, diese Verkürzung der Vibrations¬ 
empfindungsdauer auf eine Hypästhesie für diese Sinnesqualität 
zu beziehen, da auch der Mangel an genügender Konzentration 
der Aufmerksamkeit eine Vibrationsempfindung unter die Schwelle 
des Bewußtseins sinken läßt, welche vermöge dem Grade der 
Sensibilität bei voller Aufmerksamkeit desselben Individuums 
noch deutlich fühlbar wäre. 

Es zeigt sich also, daß die Verkürzung der Empfindungs¬ 
dauer sowohl auf die Unterempfindlichkeit (Vibrationshypästhesie) 
als auch auf mangelhafte Aufmerksamkeit zurückführbar ist, wo¬ 
bei die letztere Ursache wieder zwei Möglichkeiten offen läßt. 
Denn einmal kann es mangelhafte Übung in dieser Empfindungs¬ 
qualität oder aus Unlust hervorgerufene Unachtsamkeit sein, 


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Über ErmQdungspbftnomene. 


191 


anderseits kann die Unaufmerksamkeit gleichbedeutend sein mit 
Unfähigkeit, längere Zeit seine Aufmerksamkeit zu konzentrieren, 
d. h. es kann die Unaufmerksamkeit auf einer Erkrankung des 
Nervensystems beruhen, eine Erscheinung, welche insbesondere 
der Neurasthenie zukommt. 

Bis zu einem gewissen 6rade lassen sich diese verschiedenen 
Ursachen für die Verkürzung der Vibrationsempfindungsdauer 
auseinanderhalten. Durch mehrmalige Prüfung wird zunächst 
der Mangel an Übung im Empfinden der Vibration ausgeschaltet. 
Bleibt dennoch eine deutliche Verkürzung der Empfindungsdauer 
zurück, so vermag man durch Ermahnung zur Aufmerksamkeit 
in manchen Fällen eine Verlängerung der Empfindung herbei- 
zuführen. Gelingt dies auch auf diese Weise nicht, so bleibt zu 
entscheiden, ob es sich um eine organisch oder um eine funk¬ 
tionell bedingte Unterempfindlichkeit handelt. Bei organisch be¬ 
dingter Hypästhesie ist die Verkürzung der Empfindungsdauer 
eine konstante, während bei funktionellen Erkrankungen die 
Verkürzung bei längerer Untersuchung stets zunimmt, eventuell 
durch Ermahnung zur Aufmerksamkeit einer rasch vorüber¬ 
gehenden Verlängerung der Empfindungsdauer Platz macht. Es 
charakterisiert sich also auch hier wie auf den anderen Ge¬ 
bieten der Empfindung der Unterschied zwischen Organischem 
und Funktionellem in dem Verhältnisse des Stabilen zu dem 
Labilen. 

Eine andere wichtige Fehlerquelle liegt in der Methode, 
nach welcher die Vibrationsempfindungsdauer geprüft wird. Die 
Schwingungsdauer einer Stimmgabel hängt von dem Baue der¬ 
selben und von der Stärke ab, mit welcher sie angeschlagen 
wird. Die an ihren Zinken mit Gewichten beschwerte Stimm¬ 
gabel schwingt länger als die den gleichen Ton gebende ein¬ 
fache Stimmgabel; bei gleicher Tonhöhe ist die Schwingungs¬ 
dauer ') verschieden, je nach der Länge und Dicke der Zinken; 
nach starkem Anschläge schwingt die Stimmgabel länger als 
nach schwachem. Bei steter Benutzung derselben Stimmgabel 
kommen die ersteren Fehlerquellen in Wegfall, während das 


<) Bier ist natürlich unter Schwinguogsdauer nicht die Dauer einer ein¬ 
zigen Schwingung, sondern die Zeit gemeint, während weloher sich die Stimm¬ 
gabel in schwingendem Zustande befindet. 

t:t* 


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192 


Dr. Wilhelm Neutra. 


ungleichmäßige Anschlägen der Stimmgabel die Vergleichbarkeit 
der Resultate sehr in Frage stellt 

Durch gewisse Vorrichtungen ist es wohl möglich, stets 
einen absolut gleich starken Anschlag der Stimmgabel zu er¬ 
zielen, wie dies beispielsweise Frey durchführte, um die Schall¬ 
leitung am Schädel genau messen zu können. Doch ist dies eine 
so umständliche Methode, daß sie sich für die praktischen 
Zwecke der Sensibilitätsprüfung schwerlich eignen und gewiß 
nicht zur Verallgemeinerung der Untersuchung auf Vibrations¬ 
empfindung führen dürfte. Die von Stcherbak postulierte, 
elektromotorisch betriebene und daher stets vollkommen gleich¬ 
mäßig schwingende Stimmgabel eignet sich überhaupt nicht zur 
Prüfung auf Vibrationsempfindungsdauer, sondern erweist sich 
nur für die Untersuchung betreffs der Intensität der Empfindung 
von besonderem Werte und wäre gerade deshalb als Ergänzung 
für die Befunde der Empfindungsdauer wünschenswert, da erst 
die Prüfung sowohl der Intensität als auch der Dauer der 
Vibrationsempfindung ein vollkommenes Bild dieser Sinnesqualität 
bietet. Nebenbei möchte ich hier bemerken, daß durch einen 
etwas kompliziert eingerichteten Apparat die Möglichkeit vor¬ 
handen wäre, die Intensität der Vibrationsempfindung genau zu 
messen, und zwar wäre das Prinzip eines solchen Instrumentes 
darin gelegen, daß man nach Belieben die Amplitudengröße der 
konstant und gleichmäßig schwingenden Stimmgabel variieren 
könnte. Die untere Grenze der noch fühlbaren Schwingungs¬ 
größe würde ein genaues Maß der Empfindungsintensität geben. 

Wie bereits hervorgehoben wurde, ist es schwer, die Stimm¬ 
gabel aus freier Hand stets gleichmäßig anzuschlagen, und aus 
diesem Grunde sind die Resultate als ganz ungenau zu be¬ 
zeichnen, welche dadurch gewonnen werden, daß einfach die 
Sekunden vom Anschläge der Stimmgabel bis zum Verschwinden 
der durch diese hervorgerufenen Vibrationsempfindung gezählt 
werden. Treitel bediente sich dieser Methode, nur daß er die 
Stimmgabel nicht durch Anschlägen an einen festen Gegenstand, 
sondern durch Zusammendrücken der Schenkel bis zur Berührung 
in Schwingung versetzte. 

Seine Resultate sind ziemlich abweichend von den meinen. 
Ich möchte nur hervorheben, daß nach Treitel an den Finger¬ 
spitzen zirka doppelt so lange als an den Tibien die Vibration 


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Über ErmüduDgBphänomene. 


193 


empfunden wird, daß Wade und Baachhaut nur um 1 bis 2 Se¬ 
kunden kürzere Empfindung besitzen sollen als die Gegend der 
Tibia, und ebenso die Stirne nur 1 bis 2 Sekunden Verkürzung 
gegenüber der Tibia aufweist. 

Einer viel genaueren Methode bedienten sich Rydel und 
Seiffer, indem sie das von Gradenigo angegebene optische 
Verfahren zur Perzeptionsdauer der Stimmgabel für die Unter¬ 
suchung der Vibrationsempfindung verwendeten. Man befestigt 
nach Gradenigo an einer Fläche des Metallstückes, welches 
als verschiebbares Gewicht an dem Schenkel der Stimmgabel 
angebracht ist, ein schwarz gefärbtes, gleichschenkeliges, ziem¬ 
lich hohes Dreieck mit der Basis nach unten. Daneben befindet 
sich eine Skala, aus mehreren Teilstrichen bestehend. Wird nun 
die Stimmgabel angeschlagen, so verschwindet das Dreieck zu¬ 
nächst infolge der raschen Bewegungen, wird aber bald wieder 
sichtbar, und zwar vorerst ganz niedrig, um in dem Maße, in 
welchem die Amplitude der Stimmgabelschwingung abnimmt, an 
Höhe zuzunehmen. Die Spitze des Dreieckes steigt von Teil¬ 
strich zu Teilstrich, und man ist daher in der Lage, in dem 
Momente, in welchem der Patient angibt, nichts mehr zu hören, 
den numerierten Teilstrich abzulesen und als Maß der Hör¬ 
empfindung zu verwenden. 

In welcher Weise Rydel und Seiffer diese Methode für 
die Bestimmung der Vibrationsempfindungsdauer durchführten, 
sei auf ihre Arbeit hingewiesen, welcher diesbezüglich auch in¬ 
struktive Zeichnungen beigegeben sind. Diese Untersuchungs¬ 
methode eignet sich aber auch nicht besonders für die Vibrations¬ 
empfindung, wie ich mich durch • mehrere Versuche überzeugen 
konnte. Ich klebte verschieden hohe Dreiecke auf die Gewichte 
meiner Stimmgabel und fand stets, daß an zahlreichen Stellen 
des Körpers die Vibrationsempfindung um eine beträchtliche 
Anzahl von Sekunden den Moment überdauert, in welchem das 
Dreieck in seiner vollen Größe bereits scharf zu sehen ist und 
von da ab natürlich nicht weiter steigt. Etwas besser gestalteten 
sich die Verhältnisse, wenn ich anstatt des Dreieckes Punkte 
übereinander zeichnete, welche verschiedene Durchmesser be¬ 
saßen, von dicken Punkten bis zum feinsten Pünktchen. Schwingt 
die Stimmgabel, so sieht man an dieser Zeichnung nun anstatt 
jedes Punktes zwei, respektive eine diese verbindende Linie, 


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194 Dr. Wilhelm Neutra. 

welche mit dem Abklingen der Stimmgabel immer kürzer wird. 
Wenn nun schon die unteren starken Punkte ruhig zu stehen 
scheinen, so ist noch das feinste Pünktchen als doppelt zu er¬ 
kennen und fließt erst nach einem Augenblicke in eines zu¬ 
sammen. Aber auch auf diese Weise konnte ich höhere Grade 
der Vibrationsempfindung nicht messen, da dieses feine Schwingen 
der Stimmgabel, welches noch fühlbar ist, dem Gesichtssinne 
eben schon vollständig entgeht. 

Wie aus den Angaben von Rydel und Seiffer hervor¬ 
geht, scheint sich dieser Übelstand auch ihnen bei großer 
Vibrationsempfindungsdauer bemerkbar gemacht zu haben. Es 
dürfte, wie ich glaube, diese Methode nur für Stimmgabeln mit 
geringer lebendiger Kraft brauchbar sein, was von dem Baue der 
Stimmgabel abhängig ist. Übrigens behauptet Gradenigo selbst 
ausdrücklich, daß diese seine Methode sich nur für Stimmgabeln 
von 32 bis 48 Schwingungen eigne, wobei große Amplituden 
vorhanden sind, und daß sie für höbe Schwingungszahlen un- 
geeignet sei. Da aber die Vibrationsempfindung ihr Durch¬ 
schnittsoptimum zwischen 100 und 200 Schwingungen besitzt, 
so geht schon daraus hervor, daß das Verfahren nach Grade¬ 
nigo sich gerade für diese Messungen als nicht sehr günstig 
erweist. 

Auch die Resultate von Rydel und Seiffer stimmen mit 
den meinen in mehrfacher Beziehung nicht überein. An gesunden 
Individuen erhoben diese Autoren folgende Befunde: 

1. An manchen mit Muskeln bedeckten Stellen dauert die 
Vibrationsempfindung länger als an solchen, wo der Knochen 
ganz oberflächlich liegt, z. B. fanden sie an der Fibula eine 
größere Empfindungsdauer als an der Tibia. 

2. Die Dauer der Empfindung beim Aufsetzen der Stimm¬ 
gabel auf manche Muskelgebiete (Glutaei, Waden, Deltoideus, 
Biceps, Triceps) ist zirka ebenso lang als beim Aufsetzen auf 
dicht unter der Haut liegende Knochen. 

3. Fanden diese Autoren an manchen Stellen, wo Knochen 
direkt unter der Haut liegen, verhältnismäßig niedrige Zahlen, 
wie beispielsweise an den Kopfknochen, in der Mitte der Tibia 
und der Patella, dagegen recht hohe Werte an der Crista ossis 
ilei und am Sternum. Sie ziehen daraus den Schluß, daß der 
von Egger und Dejerine aufgestellte Satz, daß die Knochen- 


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Über Ermüdungjphänomene. 


195 


Sensibilität bei Zunahme der über dem Knochen liegenden Mus¬ 
kulatur abnehme, nicht für alle Stellen zutreffend sei. 

4. Das Vibrationsgefühl nimmt an den Extremitäten in 
distaler Richtung zu. 

5. In der Mitte der langen Röhrenknochen besteht kürzer 
dauernde Empfindung als gegen die Epiphysen zu. 

6. Die an den Rippen und dem Brustbeine gefundenen 
Zahlen lassen sich vielleicht durch die besonders günstigen Re- 
sonanzverbältnisse erklären. 

7. Auffallend soll der Unterschied der Perzeptionsdauer an 
der Christa ossis ilei und der Spina ant. sup. sein, und zwar 
sei sie an der letzteren Stelle geringer. 

8. An knochenlosen Körperteilen wird das Vibrieren der 
Stimmgabel teils sehr gut, teils anscheinend gar nicht empfunden, 
sehr deutlich an den Bauchdecken, an den Mammae und am 
Penis. An den Ohrläppchen dagegen, Wangen, Lippen, Inter¬ 
digitalfalten besteht nur schwache oder gar keine Vibrations¬ 
empfindung. Natürlich müsse bei der Untersuchung der Wangen 
und der interphalangealen Hautfalten ausgeschlossen werden, 
daß die Vibration durch die benachbarten Knochenteile fort¬ 
geleitet werde. 

9. Der Grad, beziehungsweise die Dauer der Vibrations¬ 
empfindung an den verschiedenen Körperstellen stimmt nicht 
überein mit den anderen Sinnesqualitäten. 

Einige dieser Beobachtungen sind, wie schon bemerkt, 
meinen Befunden direkt widersprechend, worauf ich noch später 
zurückkommen werde. 

Soweit meine Literaturkenntnis reicht, wurde bisher keine 
andere Methode zur Bestimmung der Vibrationsempfindungsdauer 
als die der einfachen Messung (Treitel) und die Akumetrie 
nach Gradenigo verwendet. Ich möchte mir nun erlauben, im 
folgenden eine Methode auseinander zu setzen, deren ich mich 
bediente, um den Grad der Vibrationsempfindungsdauer zu 
messen, und welche, wie ich glaube, für die vergleichsweise Ab¬ 
schätzung der Empfindungsdauer verschiedener Punkte besonders 
geeignet ist, da die Methode selbst eben auf diesem Vergleiche 
beruht Zunächst ist es jedoch notwendig, einen Versuch zu 
besprechen, welcher sich mir in zahlreichen Untersuchungen, 
was sein Ergebnis betrifft, als vollkommen konstant erwies. 


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196 


Dr. Wilhelm Neutra. 


Setzt man die schwingende Stimmgabel auf irgend einen 
Punkt der Körperoberfläche auf, beispielsweise auf die Mitte der 
linken Tibia, so fühlt die Versuchsperson die Vibration zunächst 
sehr deutlich. Mit dem Abnehmen der Amplitudengröfle nimmt 
auch die Empfindungsintensität allmählich ab und verschwindet 
endlich vollständig, ein Moment, welcher von dem einigermaßen 
geübten Individuum vollkommen präzise angegeben werden kann. 
In diesem Augenblicke, welchen die Versuchsperson mit den 
Wörtchen Jetzt" oder „aus” anzeigt, hebt man die Stimmgabel 
von dem Untersuchungspunkte ab und stellt sie, ohne sie ,von 
neuem anzuschlagen, auf den zu dem ersten Untersuchungspunkte 
symmetrisch gelegenen, also in unserem Falle auf die Mitte der 
rechten Tibia. 

Es erweist sich nun bei normalen Individuen als 
konstant, daß an dem zweiten Untersuchungspunkte 
die Vibrationsempfindung wieder deutlich vorhanden 
ist und einige Sekunden anhält, auch hier wieder in ihrer 
Intensität abnimmt und dann verschwindet, was das untersuchte 
Individuum genau signalisiert. Zählt man die Sekunden zwischen 
dem Ende der Vibrationsempfindung an dem ersten Unter¬ 
suchungspunkte und dem Momente, in welchem auch an dem 
symmetrischen Punkte die Empfindung verschwunden ist, so er¬ 
hält man eine Ziffer, welche bei gleicher Versuchsanordnung und 
Berücksichtigung gewisser Umstände ziemlich konstant ist, 
höchstens um eine Sekunde auf oder ab variiert. 

Hält man die gleiche Versuchsanordnung, aber in umgekehrter 
Reihenfolge ein, setzte man also, auf unser Beispiel angewendet, 
die Stimmgabel zuerst auf die rechte Tibia und nach Verlöschen 
der Vibrationsempfindung daselbst auf die linke Tibia, und zählt 
man nun die Sekunden, während welchen die Vibration auf der 
zweiten Untersuchungsstelle gefühlt wird, so erhält man bei 
normalen Individuen, d. h. bei intakter Sensibilität für Vibration 
genau die gleiche Ziffer wie in dem ersten Versuche. Wie noch 
später besprochen werden soll, halte ich dieses auffällige 
Versuchsergebnis für ein Ermüdungssymptom und 
möchte daher die an dem symmetrischen Untersuchungs¬ 
punkte gefundene Sekundenanzahl der Empfindungs¬ 
dauer als „Ermüdungsziffer” des ersten Untersuchungs¬ 
punktes bezeichnen. 


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Über Ermüdnngspliänomene. 


197 


Man sieht ans diesem Versuche, daß für die Dauer 
der Vibrationsempfindung an irgend einem Punkte 
nicht nur die Empfindlichkeit dieser Stelle für Vibra¬ 
tion, sondern auch deren Ermüdbarkeit in Betracht 
kommt Auf dieses Faktum wurde bisher von keiner 
Seite hingewiesen, obwohl es, wie aus meinen Ver¬ 
suchen hervorgeht, keineswegs von zu unterschätzender 
Bedeutung ist Es wäre auch verfehlt, die Ermüdbarkeit als 
einen konstanten Faktor zu betrachten, der als solcher ver¬ 
nachlässigt werden könnte, da der Grad der Ermüdbarkeit, wie 
sich aus verschiedenen Arbeiten auf diesem Gebiete ergibt, von 
verschiedenen Umständen abhängig ist. Nichtsdestoweniger ist 
anzunehmen, daß in der kurzen Spanne Zeit, deren ein einzelner 
der oben angeführten Versuche bedarf, die Ermüdbarkeit gleich 
groß ist und daher bei den weiteren Schlüssen, welche sich aus 
den Ermüdungsziffern ergeben, unberücksichtigt bleiben kann. 

Der Einfluß der Ermüdbarkeit ist allen Methoden einer 
Messung der Vibrationsempfindungsdauer im Wege, ist jedoch 
gerade bei meiner Methode am geringsten, wie eine einfache 
Erwägung ergibt. Wird die absolute Länge der Empfindung ge¬ 
messen, sei es nach der einen, sei es nach der anderen Methode, 
und werden zahlreiche Punkte der Körperoberfläche untersucht, 
so nimmt diese Prüfung einen Zeitraum bis zu einer oder sogar 
mehreren Stunden in Anspruch, und es ist klar, daß in diesem 
Falle der Einfluß der Ermüdung am Anfänge und am Ende der 
Untersuchung ein ganz verschiedener sein wird. Wie aus meinem 
oben angeführten Versuche hervorgeht, kann man Ermüdungs¬ 
ziffern bei jedem Individuum zu jeder Zeit, also auch im voll¬ 
kommen arbeitsfrischen Zustande finden. Es ist demnach leicht 
einzusehen, daß nach einer z. B. einstündigen Aufmerksamkeit, 
wie sie bei diesen Untersuchungen erforderlich ist, die Emp¬ 
findungsdauer bereits stark beeinflußt erscheint, so daß ein Ver¬ 
gleich der Ergebnisse im Anfänge der Untersuchung mit denen 
am Ende derselben Irrtümer bedingt. 

Dem gegenüber handelt es sich bei meiner Methode nicht 
um absolute Ziffern, sondern stets um den Vergleich von Er¬ 
müdungsziffern, welche immer unmittelbar nacheinander auf¬ 
genommen werden. Wenn nun auch im Laufe der Gesamtunter¬ 
suchung auf Vibrationsempfindung und Osteoakusie, welche in 


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198 


Dr. Wilhelm Neutra. 


normalen Fällen ungefähr l 1 /* Stunden dauerte, die Ermüdung 
schon deutlich bemerkbar wurde, so blieb dennoch das Verhältnis 
der Ermüdungsziffern zweier Punkte vollkommen gleich, wenn 
auch, wie in vielen Fällen, die einzelnen Ermüdungsziffern gegen¬ 
über dem Anfänge der Untersuchung gewachsen waren. Es er¬ 
scheint also auf diese Weise der Einfluß beseitigt, den die Er¬ 
müdung auf die Resultate in ungünstigem Sinne nimmt. 

Der einfachen Zählung der Sekunden, während welcher die 
Vibration empfunden wird (Treitel), ist die Methode dadurch 
überlegen, daß sie von geringen Unterschieden in der Stärke 
des Anschlagens der Stimmgabel unabhängig ist, was sie übrigens 
mit der Methode von Gradenigo gemein hat. 

Bevor ich auf die Untersuchung selbst eingehe, will ich 
vorausschicken, daß ich mich für diese Zwecke einer sogenannten 
Bezoldschen Stimmgabel bediente, welche je nach der Ein¬ 
stellung der Gewichte an den Zinken 100 bis 200 Schwingungen 
in der Sekunde macht. Gewöhnlich wurde die Stimmgabel auf 
C = 128 Schwingungen eingestellt. 

Der Gang der Untersuchung ist folgender: Es werden 
die Ermüdungsziffern je zweier symmetrischer Punkte auf die 
früher angegebene Weise gesucht und die Ziffern miteinander 
verglichen. Sind sie gleich groß, so beweist dies an beiden 
Untersuchungspunkten eine gleich lange Vibrationsempfindungs¬ 
dauer, wobei die Entscheidung offen bleibt, ob diese einer nor¬ 
malen Empfindlichkeit oder einer beiderseitigen Hypästhesie 
entspricht. Findet man au diesen Punkten verschieden große 
Ermüdungsziffern, so beweist dies eine Vibrationshypästhesie 
desjenigen Untersuchungspunktes, welcher die größere Ziffer 
aufweist. Je größer der Unterschied der Ermüdungsziffer ist, 
auf einen desto höheren Grad von Hypästhesie darf geschlossen 
werden. 

Um dies an einem Beispiele zu erläutern: Beträgt die Er¬ 
müdungsziffer an der linken Tibia 8 Sekunden (d. i. also die 
Sekundenanzahl, während welcher nach Verlöschen der Emp¬ 
findung an der linken Tibia die Vibration an dem symmetrischen 
Punkte der rechten Tibia noch empfunden wird), an der rechten 
2 Sekunden, so beweist dies eine Hypästhesie für Vibration an 
der linken Tibia. Ist nämlich hier die Empfindungsdauer eine 
kürzere, so wird bei normaler Sensibilität des rechten Unter- 


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Über Ermüiiungspbänomene. 


199 


Schenkels die linkerseits nicht mehr fühlbaren Stimmgabel¬ 
schwingungen rechts während einer größeren Anzahl von Se¬ 
kunden noch empfunden, während bei dem umgekehrten Ver¬ 
suche die Empfindung rechts so lange anhält, daß sie nach Ver¬ 
löschen daselbst nun an der linken hypästhetischen Seite nur 
mehr für einen Augenblick zum Bewußtsein kommt. 

Ist die Hypästhesie höhergradig, so steigt an dieser Stelle 
die Ermüdungsziffer und kann an dem symmetrischen Punkte 
auf Null absinken. Auf das frühere Beispiel angewendet, würde 
sich in diesem Falle die Ermüdungsziffer der linken Tibia 
vielleicht auf 9 Sekunden erhöhen, während im umgekehrten 
Versuche nach Abklingen der Vibrationsempfindung an der 
rechten Tibia die nun auf die linke Tibia aufgesetzte Stimm¬ 
gabel überhaupt keine Vibrationsempfindung hervorruft, die Er¬ 
müdungsziffer der rechten Seite also 0 geworden ist. Bei voll¬ 
kommener Anästhesie fällt natürlich die Bestimmung der Er¬ 
müdungsziffern ganz weg. 

Wenn sich nun auch aus diesen Erwägungen ergibt, daß 
bei Ungleichheit der Ermüdungsziffern symmetrischer Punkte 
die größere Ziffer mit Sicherheit auf eine Hypästhesie für 
Vibrationsempfindung an der betreffenden Stelle schließen läßt, 
so ist damit keineswegs die normale Empfindlichkeit der anderen 
Körperstelle, welche die kleinere Ermüdungsziffer besitzt, fest¬ 
gestellt, sondern es beweist dies nur, wie es eben im Wesen 
des Vergleiches liegt, daß diese Stelle besser und länger die 
Vibration empfindet als die symmetrische, zweifellos hypästhe- 
tische Stelle. Um in dieser Richtung Klarheit zu gewinnen, ist 
es in solchen Fällen notwendig, die Versuchsanordnung folgender¬ 
maßen zu erweitern. Man bestimmt die Ermüdungsziffern nicht 
wie bisher an symmetrischen Punkten, sondern vergleicht die 
Empfindungsdauer der fraglichen Stelle (z. B. am Beine) mit der 
einer sicher normal empfindlichen, also beispielsweise über dem 
Sternum, wodurch man das relative Verhältnis dieser beiden 
Punkte bezüglich ihrer Vibrationsempfindlichkeit erhält. 

Da aber auch unter vollkommen normalen Verhältnissen 
der Sensibilität die Dauer der Vibrationsempfindung an ver¬ 
schiedenen Körperstellen verschieden ist, so erschien es not¬ 
wendig, zunächst den Grad der Empfindlichkeit an einer größeren 
Zahl von Punkten unter physiologischen Verhältnissen festzu- 


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200 


Dr. Wilhelm Neutra. 


stellen, um an der Hand dieser Ergebnisse pathologische Ver¬ 
änderungen zu erkennen. Alle Autoren sind darüber einig, daß 
am Kopfe eine viel geringere Vibrationsempfindung besteht als 
an zahlreichen Stellen des übrigen Körpers, und ich will daher 
gerade an diesem Beispiele den genannten Versuch erklären. 

Setzt man die schwingende Stimmgabel an der Stirne auf, 
bis hier das Vibrieren nicht mehr empfunden wird, und dann 
beispielsweise auf eine Tibia, so besteht an dieser Stelle während 
einer gewissen Anzahl von Sekunden noch Vibrationsempfindung. 
Wird der Versuch in umgekehrter Reihenfolge der Untersuchungs¬ 
punkte ausgeführt, so ergibt sich, daß nach Verlöschen der 
Empfindung an der Tibia die Stimmgabel jetzt an der Stirne 
keine, respektive nur eine kurz dauernde Vibrationsempfindung 
zu erzeugen imstande ist. Dem ist gegenüberzuhalten, daß die 
Ermüdungsziffern symmetrischer Punkte an der Stirne vollkommen 
gleich groß sind. Aus diesen beiden Versuchen ergibt sich also, 
daß zwar an der Stirne links wie rechts gleiche Vibrations¬ 
empfindlichkeit besteht, daß aber im Vergleiche zur Tibia an 
der Stirne die Sensibilität für Vibration bedeutend herabgesetzt 
ist. Was die Größe der modifizierten Ermüdungsziffern der Stirne 
gegenüber der Tibia betrifft, so konnte ich konstatieren, daß 
diese bei mehrfachen Versuchen stets gleich bleibt und bei einer 
größeren Anzahl von daraufhin untersuchten gesunden Personen 
durchschnittlich 10 Sekunden betrug, während eine Ermüdungs¬ 
ziffer von der Tibia auf die Stirne sich überbanpt nur in zwei 
Fällen konstatieren ließ. 

Ich will aus meinen Aufzeichnungen als Typen zwei Fälle 
herausgreifen, welche gleichzeitig zeigen, in welch weiten Grenzen 
die Unterschiede in der Empfindungsdauer sich auch bei nor¬ 
malen Individuen bewegen. 

Io dem einen Falle, J. K., bestand nach Verschwinden der Vibrations¬ 
empfindung an der Stirne diese an der Tibia noch 10 Sekunden, nmgekehrt ver¬ 
mochte die Versuchsperson die an der Tibia bis znm Verschwinden der Emp- 
pfiudung abgeklnngene Stimmgabel an der Stirne noch 5 Sekunden vibrieren zu 
fühlen. In dem anderen Falle, F. B., betrug die Ermüdungsziffer von der Stirne 
auf die Tibia 17 Sekunden, während der entgegengesetzte Versuch die Ermüdungs¬ 
ziffer 0 ergab. 

Das Verhältnis der Ermüdungsziffern im ersten Falle 
(10:5) beweist, daß die Vibrationsempfindlichkeit an der Stirne 
nicht bedeutend vermindert ist gegenüber der an der Tibia, 


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Über Ermüdungaphänomene. 


201 


während im letzteren Falle die gleiche Betrachtung lehrt, daß 
an der Stirne eine ganz bedeutende Vibrationshypästhesie be¬ 
steht, welche jedoch bei dem Mangel sonstiger nervös-patholo¬ 
gischer Erscheinungen noch als physiologisch bezeichnet werden 
muß. Zwischen diesen Grenzen bewegen sich die Ermüdungs¬ 
ziffern der gleichen Untersuchung an meinen übrigen Versuchs¬ 
personen, von denen ich einige Beispiele kurz markieren 
möchte. 


J. B. 

Ermüdang8zi£fer 

von 

der Stirne auf die Tibia 

10, umgekehrt 3 

Sekunden 

C. P. 


n 

n n n n 7t 

8, 

71 

0 

71 

M. Str. 

n 

91 7t 71 7t 77 

12, 

71 

0 

71 

K. W. 

n 

n 

71 71 71 71 71 

8, 

71 

0 

71 

B. H. 

n 

n 

71 71 f) 71 71 

11, 

71 

0 

11 


Es soll betont werden, daß diese absoluten Zahlen nur bei 
Verwendung derselben Stimmgabel untereinander vergleichbar 
sind, während man mit anders gebauten Stimmgabeln auch an¬ 
dere Ziffernresultate erzielen dürfte. Dagegen hat die Schlu߬ 
folgerung aus diesen Ziffern auf den Grad der Vibrations¬ 
empfindlichkeit absolute Bedeutung und kann mit jeder geeig¬ 
neten Stimmgabel erzielt werden. In den angeführten Beispielen 
ist der Unterschied in der Vibrationsempfindlichkeit von Stirne 
und Tibiagegend so bedeutend, daß er wohl keinem Untersucher 
entgangen ist, und schon Erhard, meines Wissens der erste, 
welcher sich mit der Vibrationsempfindung beschäftigte, berichtet, 
daß den Hautnerven der Stirne das Vibrationsgefühl abgehe. 

Unklarer liegen die Verhältnisse an anderen Stellen der 
Körperoberfläche, über deren Vibrationsempfindlichkeit die An¬ 
gaben der Autoren auseinandergehen. So gibt Treitel an, daß 
am Unterschenkel an Stellen, wo sich ein starkes Muskelpolster 
unter der Haut befindet, die Vibrationsdauer nur um 1 bis 2 Se¬ 
kunden. kürzer ist als über der Tibia. Rydel und Seiffer be¬ 
haupten sogar, daß sowohl an der lateralen Seite des Unter¬ 
schenkels über der Fibula, sowie auch an der Wade eine bessere 
und längere Vibrationsempfindung besteht als an der Tibia. Ist 
es vielleicht nicht unmöglich, ein solches Resultat durch sehr 
tiefes Eindrücken der Stimmgabel an der Wade zu erzielen, so 
wird wohl jedes Individuum bei gleichmäßiger Aufstellung der 
Stimmgabel auf die Tibia und auf die Wade die Vibration mit 
weit größerer Intensität an der Tibia wahrnehmen. Der Unter- 


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202 


Dr. Wilhelm Neutra. 


schied in der Empfindung ist so groß, daß es zu seiner Fest¬ 
stellung überhaupt keiner genaueren Untersuchungsmethode be¬ 
darf. Nichtsdestoweniger habe ich an fast 30 Individuen durch 
Bestimmung der Ermüdungsziffern diese Thatsache zu erhärten 
gesucht und habe feststellen können, daß in jedem Falle über 
der Fibula die Vibrationsempfindung bedeutend geringer ist als 
an der Tibia, und daß an der Wade bei gleich starkem Anf- 
drücken der Stimmgabel wie an der Tibia in einer gewissen 
Anzahl von Fällen überhaupt keine Vibrationsempfindung apper- 
zipiert wird, in den übrigeu Fällen die Empfindung wohl vor¬ 
handen, jedoch bedeutend kürzer als an der Tibia ist. 

Um einige Beispiele anzuführen: 

Im Falle J. Pb. wurde die Vibration nach Verschwinden der Empfindung 
an der Fibula noch 8 Sekunden an der Tibia gefühlt, umgekehrt bestand an 
der Fibula nach Verlöschen der Empfindung an der Tibia die Vibration sempfindncg 
nur 3 bis 4 Sekunden. An der Wade wurde die Vibration in geringem Maße 
perzipiert. Nach dem Verschwinden daselbst fühlte das Individuum die weiter 
abklingende Stimmgabel an der Tibia noch 15 Sekunden hindurch, wahrend der 
umgekehrte Versuch die Ermüdungsziffer 0 ergab. 

Man sieht aus diesen Ziffern deutlich, daß die Fibular- 
gegend eine mäßige Hypästhesie für Vibration im Vergleich zu 
der Stelle über der Mitte der Tibia aufweist, und daß die Hyp¬ 
ästhesie der Wade eine bedeutend größere ist, da sich das 
Verhältnis der modifizierten Ermüdungsziffern zwischen Wade 
und Tibia auf 15:0 steigert. Man erkennt aber auch daraus, 
ohne erst diesbezügliche Ermüdungsziffern suchen zu müssen, 
daß die Vibrationsempfindung der Wade viel geringer ist als 
die der Fibulargegend und sich der vollständigen Anästhesie 
für Vibration schon ziemlich bedeutend nähert. 

In einem anderen typischen Beispiele (S. Scb.) bestand sowohl über der 
Mitte der Fibula wie auch an der Wade Vibrationsempfindlichkeit, doch ver. 
hielten sich die Ermüdungeziffern anders als in dem vorigen Falle. Nach Ab¬ 
klingen der Empfindung an der Fibula wurde die Vibration an der Tibia noch 
7 Sekunden gefühlt, umgekehrt wurde in der Fibulargegend keine Vibration mehr 
wahrgenommen. Es stellt sich also das Verhältnis der Ermüdungsziffern zwischen 
der Gegend der Fibula und der der Tibia auf 7:0. An der Wade betrug die 
Ermüdunggziffer auf die Tibia bezogen 11 Sekunden, während nach Verschwinden 
der Vibrationserapfindung an der Tibia die Stimmgabel an der Wade keine Emp¬ 
findung mehr anszuliisen imstande war. Das Verhältnis der Ermüdungsziffern an 
Wade und Tibia beträgt demnach 11:0. 


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Über Ermttdungaph&nomene. 


203 


Es zeigt sich daher auch in diesem Beispiele, daß die Vi¬ 
brationsempfindung an der Fibula und der Wade gegenüber der 
Empfindungsdauer an der Tibia bedeutend verkürzt ist, und 
zwar an der Wade stärker als über der Fibula. Während nun 
in den zuletzt besprochenen beiden Fällen hochgradige physio¬ 
logische Hypästhesie bestand, bietet das folgende Beispiel das 
Paradigma für eine Gruppe von Fällen, welche zwar über der 
Fibula Vibrationsempfindung, an der Wade jedoch vollkommene 
Vibrationsanästhesie aufweisen. 

Im Falle der Versuchspersou T. Seh. ist die Ermüdungsziffer der Fibular- 
gegend in bezug auf die Tibia 10 Sekunden, umgekehrt wird die Vibration an 
der Fibula nicht gefühlt. Das Verhältnis der Ermüdungsziffern ist also 10:0. 
An der Wade wird überhaupt keine Vibrationsempfindung ausgelöst. Einen 
Übergang zwischen diesem und den beiden früheren Fällen bietet die Versuchs¬ 
person J. S., bei welcher das Verhältnis der Ermüdungsziffer über Fibula und 
Tibia ebenfalls 10:0 betrug, an der Wade jedoch nur bei gewöhlicher Auf¬ 
stellung der Stimmgabel keine Vibrationsempfindung bestand, während diese bei 
stärkerem Aufdrücken des Stimmgabelfußes, wenn auch nur für wenige Augen¬ 
blicke, hervorgerufen wurde. Als weitere Beispiele, welche sich den angeführten 
Typen mehr oder weniger nähern, seien erwähnt: 

B. H. Ermüdungsziffer von Wade auf Tibia 14, umgekehrt 0. Von Fibula 
auf Tibia 6 bis 7, umgekehrt 2 bis 3. 

F. B. Ermüdungsziffer von Wade auf Tibia 16, umgekehrt 0. Von Fibula 
auf Tibia 10, umgekehrt 3 bis 4. 

K. W. Ermüdungsziffer von Wade auf Tibia 16, umgekehrt 0. Von Fibula 
auf Tibia 12, umgekehrt 5. 

M. G. Ermüdungsziffer von Wade auf Tibia 14, umgekehrt 0. Von Fibula 
auf Tibia 9, umgekehrt 0. 

B. P. Ermüdungsziffer von Wade auf Tibia 11, umgekehrt 0. Von Fibula 
auf Tibia 7, umgekehrt 1 bis 2. 

J. H. Ermüdungsziffer von Wade auf Tibia 12, umgekehrt 0. Von Fibula 
auf Tibia 10, umgekehrt 3. 

Der Gleichförmigkeit wegen übergehe ich meine übrigen 
diesbezüglichen Resultate und will nur feststellen, daß ich nicht 
ein einziges Individuum beobachtete, welches das Verhalten auf¬ 
wies, das von Rydel und Seiffer als das Normale bezeichnet 
wird, daß nämlich die Vibrationsempfindlichkeit über der Fibula 
und an der Wade größer sei als an der Tibia. Gegen diese und 
für meine Ansicht sprechen aber auch die genauen und wichtigen 
Untersuchungen von Rumpf, welcher mit einer größeren An¬ 
zahl Stimmgabeln von verschiedenen Schwingungszahlen (13 bis 
1000 Schwingungen in der Sekunde) für zahlreiche Punkte der 


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204 


Dr. Wilhelm Neutra. 


Körperoberfläche die höchste Schwingungszahl feststellte, die 
noch als Vibration empfanden wird. Dabei zeigte sich, daß an 
den Waden, wie überhaupt an muskelreichen Gebieten nur 
Stimmgabeln von geringer Höhe eine Vibrationsempfindung aus- 
lösen, während Stellen, an welchen das Weichteilspolster gering 
ist, weit mehr Schwingungen in der Sekunde noch als Vibration 
empfinden. Spricht dieser Befund nun auch entschieden für die 
geringere Vibrationsempfindlichkeit der Wade, so ist dennoch im 
Auge zu behalten, daß die Fähigkeit der Nervenendigungen 
rasch auf einanderfolgende Sinneseindrücke zu differenzieren, 
nicht der Dauer der Vibrationsempfindung proportional sein muß. 

Auch an den Bauchdecken erhielt ich durch genaue, ver¬ 
gleichende Untersuchung andere Resultate als Treitel, Rydel 
und Seiffer. Nach Treitel beträgt die Dauer der Vibrations¬ 
empfindung an den Bauchdecken nur um 1 bis 2 Sekunden 
weniger als an der Tibia, und auch die letzteren beiden Autoren 
behaupten, daß die Empfindung daselbst „sehr deutlich” sei. 
Aus meinen Befunden glaube ich schließen zu können, daß hier 
die Vibrationsempfindlichkeit von der Dicke des Fettpolsters 
und von der größeren oder geringeren Straffheit der Muskulatur 
abhängt. In keinem meiner Fälle war die Intensität der 
Vibrationsempfindung an den Bauchdecken auch nur annähernd 
so groß wie an der Tibia, vielmehr bezeichnen die meisten In¬ 
dividuen die Empfindung als eine sehr geringe und zirka ein 
Drittel meiner Versuchspersonen konnten überhaupt keine Vi¬ 
brationempfindung wahrnebmen. Was die Dauer der Empfindung 
betrifft, so konnte diese wegen ihrer Kürze zumeist in Ermüdungs¬ 
ziffern nur schwer gemessen werden und wurde daher nur in 
wenigen Fällen genauer festgestellt. 

Im Frille der J. Sch., welche eiue relativ gute Vibrationsempfindung an 
den Bauchdecken aufwies, ergab die Grmüdungsziffer auf die Tibia bezogen 
16 Sekunden. Im umgekehrten Versuche bestand nach Abklingen der Empfindung 
an der Tibia das Vibrationsgefühl an der Bauchhaut noch 4 Sekunden. 

Bei J. P. wurde die Relation der Empfindung zwischen der Bauchwand 
und dem Sternum bestimmt. Nach Verschwinden der Empfindung an der ersteren 
wurde sie über dem Sternum noch 16 Sekunden lang wahrgenommen. Umgekehrt 
fühlte dieses Individuum, nachdem die Empfindung am Sternum verschwunden 
war, die weiter abklingende Stimmgabel an den Bauohdecken nicht mehr. Es 
gestaltet sieb also das Verhältnis der Ermüdnngsziffern zwischen Bauchdecken 
und Sternum wie 16:0. 


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Über Ermüdutigsphänomene. 


205 


Im Falle R. S., sowie auch bei Patienten B. P. lautet das gleiche Ver¬ 
hältnis 13:0, bei Patientin S. Sch., ebenso bei M. 6. 12: 0. J. K. bietet an der 
Bauchwand die auf die Tibia bezogene Ermttdungsziffer 15, der umgekehrte Ver¬ 
such ergibt 0. 

Schon ans diesen wenigen Daten ergibt sieb, daß die Emp- 
findungsdauer an den Baachdecken sehr gering ist, und der 
Vergleich dieser Ermüdungsziffern mit den früher bezüglich der 
Vibrationsempfindung an der Wade angeführten läßt den Schluß 
auf eine annähernd gleich große Vibrationsempfindlichkeit dieser 
beiden Körperregionen zu. Ferner zeigt sich, daß diese Stellen 
unter den bisher besprochenen die geringste Vibrationsempfind¬ 
lichkeit besitzen, ja sogar häufig vibrationsanästhetisch sind, 
ohne dadurch als pathologisch bezeichnet werden zu können. 
Eine entschieden bessere Sensibilität für Vibration findet sich 
an der lateralen Seite der Unterschenkel über der Fibula, ein 
ganz vorzügliches Vibrationsgefühl über der Mitte der Tibia und 
am Sternum. Auf die Deutung dieser Unterschiede kann im 
Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden, und ich ver¬ 
weise diesbezüglich auf meine im Druck befindliche Arbeit über 
Osteoakusie und deren Beziehungen zur Vibrationsempfindung. 

Die bisher erhobenen Befunde bieten nun auch die Grenzen 
der physiologischen Vibrationsempfindung. Die oberste Grenze 
der Empfindlichkeit erreicht nach meinen Erfahrungen die 
Gegend über der Mitte der Tibia, ein Empfindlichkeitsgrad, 
welcher nur noch an wenigen Körperstellen zu finden ist. Nach 
unten hin reicht die physiologische Vibrationsempfindungsbreite 
bis zur vollständigen Anästhesie. Im großen und ganzen kann 
man erkennen, daß diese großen Unterschiede der Vibrations¬ 
empfindlichkeit an den verschiedenen Körperregionen neben ver¬ 
schiedenen anderen Ursachen mit der Dicke der Weichteils¬ 
schichte und der mehr minder großen Entfernung der knöchernen 
Unterlage von der Hautoberfläche in Zusammenhang zu bringen 
ist. Eine Ausnahme von dieser Regel bietet nur die geringe 
Vibrationsempfindlichkeit des Schädels, obwohl hier die Knochen 
zumeist direkt unter der Haut liegen. Aus den diesbezüglichen 
Daten ergibt sich beispielsweise für die Stirne ein Grad von 
Empfindlichkeit für Vibration, welcher geringer ist als der über 
der Mitte der Fibula an der Außenseite der Unterschenkel, 
jedoch größer als die Empfindlichkeit an der Wade. Da ich den 
sehr bedeutenden Einfluß der knöchernen Unterlage auf die In- 

Jahrbflther f. Psychiatrie und Neurologie XXV. Tt«l. 14 


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206 


Dr. Wilhelm Neutra. 


tensität und Dauer der Vibrationsempfindung für einen rein 
physikalischen halte, wie ich anderenorts auseinandergesetzt habe, 
so dürften, wie ich glaube, andere bisher unklare Faktoren hier 
in Betracht kommen, welche die sonst der Vibrationsempfindung 
günstigen Momente paralysieren. Vielleicht ist es die kräftige 
Gehörswahrnehmung, welche durch die auf die Stirne aufgesetzte 
schwingende Stimmgabel erzeugt wird und die in ihrer Inten¬ 
sität viel geringere Vibrationsempfindung unter die Schwelle des 
Bewußtseins herabdrückt. Stcherbak und Naumann sehen in 
diesem Zurückdrängen der Vibrationsempfindung durch die 
gleichzeitige Hörempfindung eine zweckmäßige Einrichtung, da 
die Gehörwahrnehmung als zum Bewußtsein gelangende Emp¬ 
findung eine wichtigere Rolle in unserem psychischen Leben 
spielt als die Vibrationsempfindung. 

Wenn nun auch das obige Gesetz von dem Einflüsse der 
Entfernung zwischen Haut und knöchernen Unterlage auf die 
Intensität und Dauer der Vibrationsempfindung in groben Zügen 
die vorliegenden Verhältnisse erklärt, so findet man dennoch 
innerhalb dieser Gesetzmäßigkeit feinere Unterschiede der Emp¬ 
findungsdauer, welche auf andere, weniger einschneidende Mo¬ 
mente zurückzuführen sind, aber deutlich ihren Einfluß geltend 
machen. Hierher gehört der Grad des Drucksinnes, die mehr 
oder weniger große Straffheit der Haut, die Art der Weichteile 
und deren Spannung, die Glätte der Knochenoberfläche und die 
Mitschwingungsiahigkeit des Knochens. War bisher nur von 
recht großen Unterschieden in der Vibrationsempfindungsdauer 
die Rede, so sollen nun feinere besprochen werden, welche den 
Einfluß der genannten Faktoren nahelegen dürften. 

Prüft man die Verhältnisse zwischen Wirbelsäule und 
Tibia, so geben die Versuchspersonen meist an, hier wie dort 
gleich gut zu empfinden. Genaue Untersuchungen mit Hilfe der 
Ermüdungsziffern ergeben jedoch häufig eine, wenn auch geringe 
Verkürzung der Vibrationsempfindungsdauer an der Wirbelsäule. 

Als Beispiel hierfür diene der Fall J. K. Naeh Verschwinden der Emp¬ 
findung über Brost- oder Lendenwirbeln wnrde das Vibrieren der Stimmgabel 
an der Tibia noch 10 Sekunden lang gefühlt, umgekehrt betrug die Ermüdungs- 
Ziffer 7 Sekunden. Am Kreuzbein hingegen bestand gröfiere Hypästhesie, und es 
gestaltete sich das Verhältnis der Ermüdnngsziffern zwischen dieser Körperstelle 
und der Tibia wie 12:0. Bei mehreren anderen Personen konnten ähnliche Ver¬ 
hältnisse ermittelt werden. 


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Über Ermfidungsphänomene. 


207 


Über dem Sternum und der Tibia besteht so ziemlich 
gleiche Vibrationsempfindlichkeit. In einigen Fällen waren die 
gegenseitigen Ermüdnngsziffern einander gleich. In anderen 
Fällen zeigte sich eine etwas geringere Empfindlichkeit über 
dem Sternum, während in vereinzelten Fällen das Umgekehrte 
der Fall war. Als Beispiele hierfür seien erwähnt: 

J. E. bot als Verhältnis der Ermüdungsziffern zwischen Sternum und 
Tibia 7:7, M. 0.10:7, also die größere Vibrationsempfindlichkeit an der Tibia, 
R. S. dagegen 7 bis 8:9, also eine etwas lfingere Empfindung Aber dem Sternnm. 
Mar in einem Falle konnte ich eine bedeutendere Differenz der Empfindungs¬ 
dauer zugunsten der Tibia konstatieren, und zwar bei J. P., welcher ein Ver¬ 
hältnis wie 8:0 aufwies. 

Die Eniegegend über der Patella zeigt manchmal gleiche 
Vibrationsempfindlichkeit wie die Tibia, zumeist besteht hier 
jedoch eine geringe Unterempfindlichkeit. Dabei zeigt sich in 
einigen Fällen ein deutlicher Unterschied in der Empfindungs- 
daner am Knie, je nachdem das Bein gestreckt oder im Knie¬ 
gelenke stark gebeugt wird, und zwar in der Weise, daß bei 
Beugung die Empfindungsdauer sich etwas verlängert. Auch an 
der Spina ant. sup. besteht annähernd gleiche Vibrations¬ 
empfindung wie an der Tibia, ebenso wie auch in der Hohl - 
hand, entgegen der Ansicht Treitels, daß in der Hohlhand die 
Empfindung eine weitaus bessere sei. 

In einem Falle fand ich z. £. das Verhältnis der Ermüdungsziffern zwischen 
Hohlhand und Tibia wie 6:7, also eine etwas bessere Empfindung in der Hohl¬ 
hand; in einem anderen Falle lautete das Verhältnis 9:7, was aaf eine geringe 
Unterempfindliohkeit der Hohlhand gegenüber der Tibia schließen läßt. 

An den Fingerknöcheln wird von vielen Individuen das 
Vibrieren vorzüglich gefühlt, in einzelnen Fällen sogar besser 
als über dem Sternum oder der. Tibia. 

So fand sich im Falle S. Sch. sowohl von den linken wie aach von den 
rechten Fingerknöcheln auf das Sternum bezogen die Ermüdungsziffer 1 bis 2, 
während umgekehrt nach Verschwinden der Vibrationsempfindnng über dem 
Sternnm die Fingerknöobel noch 12 Sekunden lang das Vibrieren empfanden. 
Dagegen waren in einem anderen Falle, M. Gr., beide Ermüdungsziffern gleich 
groß, 7 bis 8 Sekunden, also die Vibrationsempfindliohkeit der Fingerknöchel 
und des Sternnm gleich. 

Bedeutend geringer ist die Vibrationsempfindlichkeit am 
Vorderarme, jedoch immer noch größer als über der Mitte der 
Fibula. 

14* 


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208 


Dr. Wilhelm Neutra. 


Das Verhältnis zur Tibia drückt sich in dem Verhältnis 9:4 im Falle 
C. B. aus, in einem anderen Falle, B. S., wurden die Ermüdungsziffern von der 
Radialseite des Vorderarmes zur Tibia gesucht und betrugen 10:5. 

Diese Daten mögen genügen, um zu zeigen, in welcher 
Weise die modifizierten Ermüdungsziffern zur Bestimmung der 
Vibrationsempfindlichkeit verwendet werden können. Waren dies 
nun physiologische Verhältnisse, so soll im folgenden an einem 
und dem anderen Beispiele demonstriert werden, wie in patho¬ 
logischen Fällen vorzugehen wäre. Ich orientierte mich zunächst 
durch grobe Prüfung und suchte eine Körperstelle auf, welche 
anscheinend normale Vibrationsempfindung aufwies, was man 
eventuell durch den Vergleich mit einem anderen Individuum 
oder durch entsprechende Übung im Abschätzen sicherstellen 
kann. Dann bestimmte ich an einer größeren Anzahl von Körper¬ 
stellen die Ermüdungsziffem, welche sämtlich auf diese normal 
empfindliche Stelle bezogen wurden, wodürch man gut vergleich¬ 
bare Resultate erhält. 

Patientin B. Pr., multiple Sklerose und Hysterie, bot folgenden Befund: 
Bei oberflächlicher Untersuchung ergab sich, daß an den Extremitäten in distaler 
Richtung die Vibrationsempfindlichkeit abnehme, und daß über dem Sternum un¬ 
zweifelhaft normale Sensibilität für Vibration bestehe. An den Zehen beider 
Beine wurde durch die Stimmgabel überhaupt keine Vibrationsempfindung aus- 
gelöst. Vom Köpfchen der großen Zehe an beiden Füßen erhielt man als Er¬ 
müdungsziffer auf die Stemalgegend bezogen 13 Sekunden, im umgekehrten Ver¬ 
suche wurde an den Köpfchen der großen Zehen nichts mehr gefühlt, die Er¬ 
müdungsziffer betrug also 0. Das Verhältnis der Ermüdungsziffern zwischen Tibia 
und Sternum lautete 10:0, zwischen Knie (über der Patella) und Sternum 9:0. 
An den Oberschenkeln, wo starke Muskulatur und Panniculus adiposus vor¬ 
handen war, steigerte sich das Verhältnis auf 12:0. Alle diese Ermüdungsziffern 
bis auf das letzte Verhältnis zeigen eine ziemlich bedeutende Hypästhesie für 
Vibration, und zwar in um so höherem Maße, je weiter nach abwärts, bis zur 
vollständigen Anästhesie an den Zehen. Die Ermüdungsziffer am Oberschenkel 
entspricht bereits annähernd normalen Verhältnissen. Vollends normal empfind¬ 
lich erweist sich das Becken. Das Verhältnis der Ermüdungsziffern zwischen 
Spina ant. sup. und Sternum beträgt 6 : 6. Analoge Verhältnisse finden sich auch 
an den oberen Extremitäten. Ermüdungsziffern zwischen Finger und Sternum 
sind 13 bis 14:0, an den Fingerkuöcheln beider Hände 12:0. Über der Mitte 
des Radius bessert sich das Verhältnis beiderseits auf 9:2, respektive 8: 2 bis 3. 
Am Ellbogen sind bereits normale Verhältnisse, 7:7; das gleiche Ziffernverhältnis 
gilt auch für beide Schultern. 

Dabei zeigt diese Hypästhesie vollkommen symmetrische Anordnung, auch 
was den Grad der Empfindungsstörung betrifft. Daß tatsächlich an den symme¬ 
trischen Punkten der unteren oder oberen Extremitäten gleich lange Vibrations- 


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Über Ermüdungsphänomene. 


209 


empfindungsdauer besteht, geht nicht nur aus dem bisherigen hervor, sondern 
wird noch deutlicher durch Bestimmung der gewöhnlichen Ermüdungsziffern. 
Nach Verschwinden der Vibrationsempfindung an der Tibia, bestand sie aö sym¬ 
metrischen Punkte der zweiten Tibia noch während 5 bis 6 Sekunden. Eine 
gleich große Ermüdungsziffer zeigte aber auch dieser symmetrische Punkt. Eben¬ 
so waren die Ermüdungsziffern der Fingerknöcheln beider Hände auf die symme¬ 
trischen Punkte bezogen 10 bis 11 Sekunden. 

Bei Patient J. Sk. (traumatische Neurose, spastische Parese beider Beine) 
konnte ich folgende Ziffern erheben: Verh&ltnis zwischen Tibia und Sternum 
wie 10 bis 12:0, also eine bedeutende Hypästhesie am Unterschenkel. Er- 
müdungsziffer über dem Trochanter maior auf das Sternum bezogen 20 Sekunden, 
umgekehrt 0. Verhältnis der Ermüdungsziffern zwischen Spina ant. sup. und 
Sternum beiderseits 10:0. Das gleiche findet sich an beiden Malleoli ezt. Da¬ 
gegen empfindet der Foßrüeken das Vibrieren recht gut, was sich in dem Ver¬ 
hältnis 10:7 (ebenfalls auf das Sternum bezogen) beiderseits ausdrückt und be¬ 
weist, daß hier die Vibrationsempfindung nur um weniges kürzer ist als über dem 
Brustbeine. An den oberen Extremitäten ergab die Untersuchung normale Ver¬ 
hältnisse. Auch in diesem Falle zeigten die Ermüdungsziffern zwischen symme¬ 
trischen Körperteilen, daß die pathologische Hypästhesie für Vibration an den 
unteren Extremitäten beiderseits gleich hohe Grade erreicht. 

Dieses letztere haben die beiden zuletzt erwähnten Fälle 
gemeinsam; der Grad dieser symmetrisch auftretenden Hyp¬ 
ästhesie konnte durch die Bestimmung der Ermüdungsziffern, 
welche auf eine abseits gelegene Körperstelle bezogen werden 
mußte, festgestellt werden. Anders verhält es sich, wenn eine 
Vibrationshypästhesie nur an einer Extremität oder halbseitig 
besteht. Denn hier vermag man durch die Bestimmung der ein¬ 
fachen Ermüdungsziffern (auf symmetrische Stellen bezogen) sich 
ein klares Bild von dem Grade der Unterempfindlichkeit zu ver¬ 
schaffen. Auch dies möge durch ein Beispiel illustriert werden. 

A. Sch. (vorgeschrittene Versteifung der Wirbelsäule). An den links¬ 
seitigen Extremitäten besteht mäßige Hypästhesie für Berührung. Auch die Vi- 
brationsempfinduDg erweist sich links herabgesetzt, was sich aus folgenden Ziffern 
ergibt. Nach Verschwinden der Vibrationsempfindung an den rechtsseitigen 
Fingerknöcheln empfindet Patient an den linksseitigen noch 6 Sekunden das Vi¬ 
brieren der Stimmgabel. Der umgekehrte Versuch ergibt für die linken Finger- 
knöohel 10 Sekunden. Größer ist der Unterschied in der Empfindungsdauer über 
den Tibien. Die Ermüdungsziffer der rechten Tibia betrug 0, die der linken 
7 Sekunden. 

In einem Falle von Caries der Wirbelsäule (V. T.) fand sich eine ziemlich 
bedeutende Hypästhesie der rechten oberen Extremität für alle Qualitäten der 
Empfindung. Die Ermüdungsziffer der Fingerknöchel war rechts 7, links 0. 

Deutlich zeigt sich der Einfluß des unter der Haut liegenden Gewebes in 
einem Falle von Fuogus genus sin. Die Patellen beider Beine liegen direkt unter 


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Dr. Wilhelm Neutra. 


der Haut, auch an dem erkrankten linken Knie besteht zwischen Patella und 
Haut keine fühlbare Weichteilsschwellung. Nichtsdestoweniger besteht hier eine 
ziemlich bedeutende Unterempfindlichkeit für Vibration, welche in dem Verhältnis 
der Ermüdungsziffern zwischen dem linken und rechten Knie (16:0) sehr deutlich 
zum Ausdruck kommt. Dem gegenüber bieten die Oberschenkel, sowie auch die 
Tibien vollkommen gleiche Ermüdungsziffern an den symmetrischen Punkten. 

In einem Falle von Meningomyelitis mit Paraplegie und ziemlich be¬ 
deutender Hypästhesie des linken Unterschenkels für alle Empfindungsqualitäten 
atolUe sich das Verhältnis der Ermüdungsziffetn zwischen linker und rechter 
Tibia auf 11:0. 

In einem typischen Falle von Tabes (J. Hr.), bei welchem keine sonstigen 
nennenswerten Sensibilitätsdefekte nachzuweisen waren, zeigten die Ermüdungs¬ 
ziffern eine ziemlich bedeutende Hypästhesie für Vibration an den distalen Teilen 
der rechtsseitigen Extremitäten. An den Fingerknooheln der rechten Hand betrug 
die Ermüdungsziffer 9 bis 11 Sekunden, das Ergebnis des umgekehrten Versuches 
war 0. Das Verhältnis der Ermüdungsziffer zwischen rechter und linker Tibia 
betrug 9:0. Dagegen waren die Ermüdungsziffern beider Spinae ant sup. 7 Se¬ 
kunden, die der Rippen und der Fibulargegend beiderseits 0. 

Ganz besonders möchte ich folgenden Fall hervorheben, 
weil hier, soweit meine Literaturkenntnis reicht, zum ersten 
Male der Einfluß eines inneren Leidens auf die Vibrations¬ 
empfindung deutlich wird. 

Es handelt sich bei Patienten A. W. um ein pleuritisches Exsudat der 
linken Seite. Hinten reicht die Dämpfung bis zur Mitte der Scapula. Kein 
Atmungsgeräu8oh, Stimmfremitus aufgehoben. Die Thoraxpunktion ergibt eine 
seröse Flüssigkeit Die Vibrationen der schwingenden Stimmgabel werden hinten 
beiderseits deutlich empfunden. Verschwindet die Vibrationsempfindung bei Auf¬ 
stellung der Stimmgabel im Bereiche der linksseitigen Dämpfung, so wird die 
weiter abklingende Stimmgabel bei Aufstellung derselben an die symmetrische 
Stelle der rechten Seite nicht mehr empfunden (Ermüdungsziffer von links = 0). 
Umgekehrt fühlt der Patient, nach Verschwinden der Empfindung an der rechten 
Seite, die nun auf die gedämpfte linke Seite aufgestellte Stimmgabel noch 5 bis 
6 Sekunden. Oberhalb des Dämpfungsgebietes, also am oberen Teile der Scapula 
ist die Ermüdungsziffer beider Seiten gleich und beträgt 4 bis 5 Sekunden. 

Es zeigt sich also sehr deutlich, daß das Exsudat die Vi¬ 
brationsempfindlichkeit der darüber befindlichen Körperober¬ 
fläche begünstigt und die Dauer der Empfindung vergrößert. 

An der Vorderseite des Thorax erschien in diesem Falle der Einfluß des 
Exsudates auf die Vibrationsempfindung dadurch verwischt, daß das Herz stark 
nach rechts verdrängt war. Es zeigte das Verhältnis der Ermüdungsziffern eine 
etwas bessere Vibrationsempfindlichkeit über der Herzdämpfung als über dem 
Exsudate an. Sowohl an der vierten Rippe wie auch im fünften Interkostalraume 
ist das Verhältnis der Ermüdungsziffern zwischen rechts und links 4:7. 

Es erübrigt mir nur noch, auf die normalen Ermüdungs¬ 
ziffern symmetrischer Punkte kurz einzugehen. Da sich diese 


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Über Ermiidangeph&nomene. 


211 


bei einer größeren Zahl von Versuchspersonen als ziemlich kon¬ 
stant erwiesen, so genügt es, die Werte summarisch anzugeben. 
An den Fingerknöcheln betragen die Ermüdungsziffern gewöhn¬ 
lich 7 bis 10 Sekunden, an den Tibien findet man sie stets etwas 
kleiner, und zwar zumeist 5 bis 7 Sekunden, an den Spinae ant. 
sup. 7 bis 8 Sekunden, zirka ebenso groß an den Köpfchen der 
großen Zehen. An den Rippen sind zumeist nur sehr geringe 
Zahlen zu konstatieren, manchmal werden hier überhaupt keine 
beobachtet, ebenso an der lateralen Seite der Unterschenkel. 
Etwas größer wieder findet man die Ermüdungsziffern an den 
Vorder- und Oberarmen. Dagegen sind in der Glutäalgegend, 
an den Waden und der Bauch wand ziemlich häufig keine Er¬ 
müdungsziffern zu erzielen. 

Schon aus diesen wenigen Daten ergibt sich, daß die Er¬ 
müdungsziffern zwischen symmetrischen Punkten um 
so größer sind, je besser die Vibrationsempfindlichkeit 
der betreffenden Stellen ist, während bei einem geringen 
Grad von Empfindung kleine oder selbst gar keine (auf symme¬ 
trische Punkte bezogene) Ermüdungsziffern zu erzielen sind. 
Es stehen also bis zu einem gewissen Grade die Er¬ 
müdungsziffern in direkt proportionalem Verhältnis 
zur Vibrationsempfindlichkeit. In seltenen Fällen findet 
sich eine so geringe Ermüdbarkeit, daß selbst an Stellen, welche 
sonst ziemlich bedeutende Ermüdungsziffern aufweisen, diese 
klein oder überhaupt nicht vorhanden sind. In einem solchen 
Falle würde die besprochene Proportionalität nicht zutreffen, 
doch gehört dies eben zu den seltenen Ausnahmen. 

Unter meinen sämtlichen Beobachtungen fand ich dies nur in einem ein¬ 
zigen Falle, welcher eine Hysteriea betraf (M. Sch.). Sowohl an den Finger- 
knöeheln, wie auch an den Tibien fühlte diese Patientin das Vibrieren der 
Stimmgabel bis zu sehr feinen Schwingungen, so daß nach Verlöschen der Emp¬ 
findung die nunmehr kaum hörbare Stimmgabel an den symmetrischen Punkten 
keine Empfindung mehr auslöste. 

Es wirken eben in diesem Falle eine abnorme große Vibrationsempfind¬ 
lichkeit mit einem nur sehr geringen Grade von Ermüdbarkeit zusammen, um 
den Mangel an Ermüdungszifiern hervorzuruten. 

Daß dennoch ein leichter Grad von Ermüdbarkeit auch bei dieser Patientin 
vorhanden war, geht aus einem anderen Versuche hervor, welcher genauer noch 
besprochen werden soll. Stellte man nach Verschwinden der Vibrationsempfindung 
die weiter abklingende Stimmgabel, nachdem man sie für einen Augenblick ab¬ 
gehoben hatte, wieder auf dieselbe Stelle, so wurden die nun noch feineren 
Schwingungen von neuem während weniger Sekunden gefühlt. 


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l)r. Wilhelm Neutra. 


lu einem zweiten Falle von Hysterie konnte an den Fingerknövhelu und 
Tibien nur eine auffällige Verkleinerung der Ermüdungsziffern beobachtet werden 
l2 bis 3 Sekunden). 

Die Verkleinerung oder das Verschwinden der Er¬ 
müdungsziffern je zweier symmetrischer Punkte bei 
auffallend langer Empfirfdungsdauer an Körperstellen, 
welche normalerweise hohe Ermüdungsziffern auf¬ 
weisen, möchte ich daher als Zeichen von Vibrations¬ 
hyperästhesie auffassen. Eine Verwechslung mit sehr starker 
Hypästhesie, welche ebenfalls, wie oben bemerkt, Verkleinerung 
oder Verschwinden der Ermüdungsziffern zur Folge haben kann, 
ist wohl leicht zu vermeiden. Aber auch die Vergrößerung der 
Ermüdungsziffer über die oben angeführten Durchschnittsziffern 
hinaus, dürfte von diagnostischem Werte sein. In einigen 
wenigen Fällen von Neurasthenie und Hysterie, aber auch bei 
einem anscheinend nervengesnnden Individuum fand ich an den 
Fingerknöcheln und den Tibien, zumeist nur an den ersteren, 
eine Vergrößerung der Ermüdungsziffer bis zu 15 Sekunden, 
was auf einen höheren Grad von Ermüdbarkeit bezogen werden 
könnte. 

Alles bisher besprochene zeigt deutlich den nicht zu unter¬ 
schätzenden Wert der Ermüdungsziffern für die Bestimmung der 
Vibrationsempfindung und die Brauchbarkeit dieser Methode, 
ein Resultat, welches der diesbezüglichen Ansicht von Rydel 
und Seiffer direkt widerspricht. Auch diese Autoren ließen in 
ihren Erstlingsversuchen, gerade so wie ich, den Patienten an¬ 
geben, wenn an irgend einer Körperstelle das Vibrationsgefühl 
aufhörte, und setzten nun die Stimmgabel an der symmetrischen 
Körperstelle auf. ,Fühlt der Untersuchte hier noch eine Zeit¬ 
lang die Vibration, so konnten wir (Rydel und Seiffer), wenn 
sich dieses Verhalten bei mehreren Versuchen wiederholte, an¬ 
nehmen, daß das Vibrationsgefühl an der zuerst untersuchten 
Stelle verkürzt sei.” „Eine exakte Messung des Grades der 
Herabsetzung oder vielmehr der Verkürzung des Vibrations¬ 
gefühles war bei dieser Methode unmöglich.” 

Nach den Ergebnissen meiner Untersuchungen ist es un¬ 
wahrscheinlich, daß die Autoren diesen Versuch öfter und ins¬ 
besondere auch bei normalen Individuen ausgeführt haben. Denn 
es hätte sie der in umgekehrter Reihenfolge der untersuchten 


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Über Ermüdungsphänomene. 


213 


symmetrischen Punkte durcbgeführte Versuch belehren müssen, 
daß dieses Überdauern der Vibrationsempfindung an dem an 
zweiter Stelle untersuchten Punkte in den meisten Fällen ganz 
normal ist. Selbst in Fällen von geringer Hypästhesie beweist 
dieses Überdauern keineswegs die Unterempfindlichkeit, wenn 
nicht im Gegenversuche gezeigt wird, daß nun diese Ermüdungs¬ 
ziffer kleiner oder Null geworden ist. Der einfache Versuch, wie 
ihn Rydel und Seiffer ausführten, eignet sich tatsächlich nicht 
für eine genaue Bestimmung der Vibrationsempfindlichkeit, 
sondern stets nur der Vergleich zwischen Versuch und Gegen¬ 
versuch. Was die Behauptung betrifft, daß diese Methode eine 
exakte Messung der Verkürzung des Vibrationsgefühles unmög¬ 
lich macht, so habe ich, wie ich glaube, den Gegenbeweis er¬ 
bracht. Doch möchte ich hier nochmals betonen, daß allzu prä¬ 
zise Schlüsse aus den Ziffernresultaten auf die Vibrations¬ 
empfindlichkeit nicht zweckmäßig und auch unnötig sind. Ab¬ 
gesehen von den eingangs besprochenen Gründen hierfür, haben 
meine Untersuchungen gelehrt, daß die normale Vibrations¬ 
empfindlichkeit sich innerhalb ziemlich weiter Grenzen bewegt, 
was ebenfalls zur Vorsicht in bezug auf die Verwertung der 
Untersuchungsergebnisse auffordert. Rydel und Seiffer ver¬ 
nachlässigen den Ermüdungsfaktor vollständig und nehmen an, 
es sei die Amplitudengröße der Stimmgabel in dem Momente, in 
welchem für den Patienten die Vibrationsempfindung an irgend 
einer Körperstelle verschwindet, die untere Grenze der an dieser 
Stelle fühlbaren Vibration; mit anderen Worten, es könne da¬ 
selbst ein noch feineres Vibrieren der Stimmgabel nicht mehr 
als solches wahrgenommen werden. Meine Versuche beweisen 
die Unrichtigkeit dieser Ansicht und gestatten im Gegensatz zu 
den anderen Untersuchungsmethoden den ziemlich bedeutenden 
Faktor der Ermüdung in vollem Maße zu berücksichtigen, ja ihn 
sogar für die Bestimmung der Vibrationsempfindlichkeit nutzbar 
zu machen. 

Daß alle diese Versuche tatsächlich auf Ermüdung der 
Perzeption beruhen, geht aus folgendem hervor: Ich bestimme an 
irgend einer Körperstelle wie bisher die Ermüdungsziffer und 
wiederhole nun denselben Versuch noch zweimal, und zwar das 
eine Mal, nachdem ich die Stimmgabel nur sehr schwach an¬ 
geschlagen habe, das andere Mal nach äußerst starkem An- 


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Dr. Wilhelm Neutra. 


schlage. Diese drei Versuche ergaben bei einigen Individuen 
drei verschiedene Ermüdungsziffern, und zwar war die Sekunden¬ 
anzahl im zweiten Versuche kleiner, im dritten Versuche größer 
als im ersten. 

Z. B. fand sich bei J. Pb. an den Tibien bei gewöhnlichem Anschläge 
der Stimmgabel eine Ermüdungsziffer von 5 bis 6 Sekunden, bei sehr schwachem 
Anschläge konnten nur 2 bis 3 Sekunden konstatiert werden, bei sehr starkem 
Anschläge dagegen erhöhte sich die Ziffer auf 8. 

Bei Patient M. 6. erzielte die gewöhnlich angeschlagene Stimmgabel so¬ 
wohl an den Fingerknöcheln wie auch an den Tibien Ermüdungsziffern von 
10 Sekunden. Bei sehr schwachem Anschläge ergab sich nur 6, bei sehr starkem 
Anschläge dagegen bis 12 Sekunden. 

Bei Th. Sch. ergab die Prüfung bei sehr schwachem Anschläge an den 
Fingerknöcheln 5, bei mittlerem Anschläge 7, bei starkem Anschläge 8 Sekunden. 

Ähnliche Resultate erhielt ich noch in zwei weiteren Fällen, 
dagegen konnten in mehreren anderen Fällen keine Unterschiede 
in den Ermfidungsziffern durch verschieden starken Anschlag 
erzielt werden. Diese Unterschiede an einer und derselben Stelle 
findet man nur, wenn man ganz bedeutend die Stärke des Stimm¬ 
gabelanschlages variiert, und ich konnte mich in einer sehr 
großen Zahl von Versuchen davon überzeugen, daß geringe 
Unterschiede im Anschläge die Ermüdungsziffer absolut nicht 
verändern und daher keinen ungünstigen Einfluß auf ihre Ver¬ 
wendbarkeit ausüben. Die Variabilität der Ermüdungsziffern 
spricht deutlich dafür, daß diese wirklich durch Ermüdung zu¬ 
stande kommen. Wird die Aufmerksamkeit, respektive die ge¬ 
reizte Nervenendigung längere Zeit in Anspruch genommen, so 
ist es klar, daß die Ermüdung einen höheren Grad erreichen 
wird als nach kurz dauernder Reizung. Schlägt man die Stimm¬ 
gabel nur sehr schwach an, so ist die Zeit, während welcher 
die Stimmgabel bis zu den kleinsten noch fühlbaren Amplituden 
abgeklungen ist, viel kürzer als bei starkem Anschläge. In 
letzterem Falle ermüdet also das Individuum in höherem Grade, 
so daß es Schwingungsgrößen, welche im nicht ermüdeten Zu¬ 
stande noch deutlich wahrgenommen werden, nicht mehr an der 
ermüdeten Stelle perzipiert. Die Folge davon ist, daß die nun 
relativ noch deutlich schwingende Stimmgabel an einer anderen, 
nicht ermüdeten Körperstelle noch während mehrerer Sekunden 
gefühlt wird. Ist dagegen die Amplitudengröße schon im Anfang 
des Versuches klein, so ist das Individuum vermöge der kürzer 


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Über Ermüdungsphänomene. 


215 


dauernden Reizung und daher geringeren Ermüdung imstande, 
noch viel feinere Schwingungen als im vorigen Falle als solche 
zu erkennen. Die Ermüdung tritt erst später ein, und es wird 
daher die nur noch wenig schwingende Stimmgabel an einer 
anderen Stelle während einer geringeren Anzahl von Sekunden 
gefühlt Mit anderen Worten, die Ermüdungsziffer ist hier kleiner 
als beim Versuche mit stark angeschlagener Stimmgabel. 

Aus diesen Versuchen geht hervor, daß man mit Hilfe der 
Ermüdungsziffernbestimmung Ermüdung objektiv nachzuweisen 
imstande ist, zu einer Zeit, in welcher diese subjektiv absolut 
noch nicht wahrnehmbar ist. Obwohl der einzelne Versuch meist 
nicht mehr als eine halbe Minute dauert, zeigen diese Ziffern 
bereits deutlich einen gewissen 6rad von Ermüdung eines be¬ 
stimmten Untersuchungspunktes. Dazu kommt noch, daß dieses 
Symptom nicht nur Individuen betrifft, welche vermöge ihrer 
Konstitution eine geringere Ausdauer besitzen, sondern daß es 
nach meinen Erfahrungen an jedem Gesunden zu beobachten ist. 

Ich glaube also, daß das Fehlen von Ermüdungs¬ 
ziffern an gewissen Körperstellen pathologische Di¬ 
gnität besitzt, während ich das bisher besprochene, in 
Ziffern ausdrückbare Ermüdungsphänomen für physio¬ 
logisch halte. 

Die pathologisch gesteigerte Ermüdbarkeit der Apper¬ 
zeption, wie sie insbesondere Neurasthenikern eigen ist, konnte 
ich durch zwei andere Versuche nachweisen. Der erste derselben 
besteht in folgendem: 

Man stellt die schwingende Stimmgabel an irgend einer gut 
empfindenden Stelle der Körperoberfläche auf, beispielsweise an 
der linken Tibia. Nach Verlöschen der Vibrationsempfindung an 
dieser Stelle wird die weiter abklingende Stimmgabel ebenso 
wie in dem eingangs besprochenen Versuche nun auf die symme¬ 
trische Stelle, also auf die rechte Tibia aufgesetzt. Hier emp¬ 
findet die Versuchsperson die Vibration einige Sekunden, bis 
auch hier die Empfindung zu Null absinkt. Nun bringt man die 
noch immer in leichter Schwingung befindliche Stimmgabel wieder 
auf die zuerst untersuchte Stelle, also in dem angenommenen 
Falle auf die linke Tibia. Man könnte a priori annehmen, daß 
an dieser Stelle durch die nun weit schwächer schwingende 
Stimmgabel, welche vor 6 bis 8 Sekunden nicht mehr empfunden 


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Dr. Wilhelm Neutra. 


wurde, keine Vibrationsempfindung ausgelöst wird. Wenn auch 
diese Annahme für normal empfindliche Individuen zu Recht be¬ 
steht, so zeigte dieser Versuch auffallenderweise an einer Anzahl 
von Neurasthenikern und Hysterischen, aber insbesondere bei 
den ersteren, daß an dieser dritten Untersuchungsstelle, welche 
gleich der ersten ist, die Vibrationsempfindung wieder auftritt, 
um nach einigen Sekunden zu verschwinden. Bei einigen Ver¬ 
suchspersonen besteht sogar noch an einer vierten Untersuchungs¬ 
stelle, welche gleich der zweiten gewählt wird, also in dem 
obigen Beispiele wieder an der rechten Tibia für wenige Augen¬ 
blicke deutliches Vibrationsgefühl. 

Eine Suggestion glaube ich dabei mit Sicherheit ausschließen 
zu können, da die Patienten selbst stets von dem unerwarteten 
Phänomen überrascht waren. 

Der zweite Versuch besteht darin, daß ich die schwingende 
Stimmgabel an irgend einer Körperstelle abklingen lasse, bis die 
Versuchsperson den Moment angibt, in welchem die Vibrations¬ 
empfindung verschwenden ist. Nun hebe ich die Stimmgabel für 
einen Augenblick, etwa 1 Sekunde, ab und setze sie, ohne sie 
von neuem anzuschlagen, wieder auf dieselbe Stelle. Es zeigt 
sich nun, daß manche Individuen jetzt das Vibrieren der Stimm¬ 
gabel wieder vollkommen deutlich empfinden und zwar während 
einiger Sekunden, wogegen die größere Mehrzahl der in dieser 
Richtung Untersuchten ein negatives Resultat darbieten. An den 
ersteren wurde der Versuch derart fortgesetzt, daß nach dem 
neuerlichen Verschwinden der Vibrationsempfindung die Stimm¬ 
gabel wieder von der betreffenden Hautstelle für 1 Sekunde 
entfernt und noch ein drittesmal und bei positivem Ergebnis ein 
viertes-, fünftes-, sechstesmal von neuem immer wieder auf der¬ 
selben Haut stelle aufgesetzt wurde. 

Dabei ergab sich, daß die Vibrationsempfindung noch ein 
zweitesmal auch bei anscheinend nervengesunden Individuen 
auftreten kann, wenn sie auch in diesen Fällen gewöhnlich nur 
einen Augenblick vorhanden ist. Dagegen beobachtete ich eine 
mehrere Sekunden andauernde Vibrationsempfindung bei der 
zweiten Aufstellung und insbesondere das mehrmalige Auf¬ 
tauchen der Vibrationsempfindung ausschließlich nur bei Neu¬ 
rasthenikern und Hysterischen, insbesondere wieder bei den 
ersteren. 


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Über Ermüdungsphänomene. 


217 


Bei einer Hysterica (Th. S.) gelang der erstere der beiden Versuche an 
den Fingerknöcheln viermal; d. h. nach Verschwinden der Empfindung an einem 
Fingerknöchel der linken Hand wurde das Vibrieren der Stimmgabel an dem 
symmetrischen Punkte der rechten Hand noch 7 Sekunden lang empfunden, 
hierauf wieder an der rechten Seite 4, dann an der rechten Hand noch 2 Se¬ 
kunden. Ein fünftesmal war kein Vibrationsgeffihl mehr vorhanden. An den 
Tibien zeigte sich das Gleiche. Es wurden also von dieser Patientin bei der 
dritten Aufstellung bedeutend geringere Amplitudengrößen als Vibration wahr¬ 
genommen, als jene waren, welche 7 Sekunden früher nicht mehr als Vibrations¬ 
empfindung zum Bewußtsein kamen. Aber auch der zweite Versuch ergab bei 
dieser Patientin ein positives Resultat. Sowohl an den Fingerknöcheln wie auch 
an den Tibien trat an derselben Stelle die Vibrationsempfindung viermal immer 
von neuem auf. und zwar betonte Patientin, daß die Empfindung jedesmal voll¬ 
kommen deutlich einsetze und dann rasch in ihrer Intensität abfalle und verschwinde. 

Bei einer Patientin F. K. (Chlorose und Neurasthenie) konnten ebenfalls 
beide Ermüdungsphänomene beobachtet werden, und zwar sowohl an den Finger¬ 
knöcheln als auch an den Tibien. Jeder der beiden Versuche gelang dreimal. 

In einem anderen Falle, S. S. Hysterie, gelang an den Fingerknöcheln 
der erste Versuch nicht, d. b. nach Bestimmung der Ermüdungsziffer erzielte die 
weiter abklingende Stimmgabel, wieder auf den ersten Untersuchungspunkt auf¬ 
gestellt, keine Vibrationsempfindung. Dagegen ergab der zweite Versuch au der¬ 
selben Stelle ein exquisites Resultat, indem die Vibrationsempfindung fünfmal 
immer wieder deutlich auftrat. An den Tibien gelang auch der erste Versuch 
viermal, ebenso der zweite Versuch. 

Bei Patientin B. H., welche hysterische Stigmen aufwies, gelang der zweite 
Versuch an den Fingerknöoheln beider Hände fünfmal, an den Tibien nur ein 
zweitesmaJ. Dagegen ergab der erste Versuch kein sicheres positives Resultat 

0. L., Neurastheniker, bietet an den Fingerknöcheln in beiden Versuchen 
positive Resultate, und zwar gelingt die Auslösung der Vibrationsempfindung in 
beiden Versuchen je noch ein drittesmal. 

M. St., welcher Symptome von Neurasthenie zeigt, bietet denselben Befund 
wie im vorigen Falle, aber auch an den Tibien gelingen beide Versuche dreimal. 

J. B., mittlerer Grad von Neurasthenie, empfindet im ersten Versuche das 
Vibrieren der Stimmgabel ein drittesmal, und zwar sowohl an den Fingerknöcheln 
wie an den Tibien. An den gleichen Stellen, besonders deutlich an den Finger¬ 
knöcheln gelingt der zweite Versuch drei- bis viermal. 

R. B., Neurastheniker mäßigen Grades, zeigt dreimaliges Auftreten der 
Vibrationsempfinduug an den Fingerknöoheln und an den Tibien. 

In einigen anderen Fällen von geringerer Neurasthenie konnte nur ein 
positives Ergebnis des zweiten Versuches konstatiert werden, und zwar insofei ne, 
als nach Verlöschen der Vibrationsempfindung die zum zweitenmal an dieselbe 
Stelle gesetzte Stimmgabel mehrere Sekunden hindurch wieder deutlich vibrierend 
empfunden wurde, ln diesen Fällen löste eine Stimmgabelaufstellung keine Vibra¬ 
tionsempfindung mehr aus. 

Ich möchte nur noch hinzufügen, daß ich fast in jedem 
Falle von Neurasthenie in dem diesbezüglich wohl recht kleinen 


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Dr. Wilhelm Neutra. 


Beobachtungsmateriale positive Ergebnisse des einen oder des 
anderen Versuches erhielt, während bei Hysterie die Befunde 
nicht stets zu beobachten waren. Mehrere Fälle von Hysterie 
boten negative Resultate; in einem Falle konnten, wie bereits 
erwähnt, nicht einmal die physiologischen Ermfidungsziffern ge¬ 
funden werden. 

Überblickt man alle diese Daten, so zeigt sich, daß in den 
Fällen von Hysterie die Erneuerung der Vibrationsempfindung 
eine größere Ziffer erreicht als bei der Neurasthenie, dagegen 
häufig überhaupt nicht vorhanden ist, während bei Neurasthenikern 
beide Versuche geringere Ziffernresultate ergeben, dagegen fast 
in jedem Falle zu beobachten sind, soweit meine Erfahrungen 
einen solchen Schluß zulassen. Sowohl das alternierende 
Auftreten der Vibrationserapfindung an zwei verschie¬ 
denen Funkten, sowie die undulierende Vibrations¬ 
empfindung an einer und derselben Stelle möchte ich 
im Gegensätze zu dem früher besprochenen physiologi¬ 
schen als pathologischeErmüdungsphänomeneauffassen. 

Die Ursache, warum nur der erste oder der zweite oder, 
was das häufigste ist, beide Versuche ein positives Resultat 
liefern, hängt unter anderem auch von der Schnelligkeit ab, mit 
welcher sich die ermüdete Apperzeption zu regenerieren vermag. 
Braucht das Individuum mehrere Sekunden, um seine Aufmerk¬ 
samkeit wieder auf denselben Punkt zu konzentrieren, oder viel¬ 
leicht richtiger gesagt, braucht die Reizaufnahmsstelle, respektive 
die Reizleitung und Zentralstelle nach Ermüdung einige Sekunden 
zur Erholung, so kann der erste der beiden Versuche gelingen, 
indem an der zuerst untersuchten Körperstelle in der Zeit, 
während welcher sich die Stimmgabel an dem zweiten Unter¬ 
suchungspunkte befindet, Erholung eintritt; es regeneriert sich 
also während der 6 bis 8 Sekunden die Aufnahmsfähigkeit für 
Vibrationsreize an der zuerst untersuchten Stelle. Bedarf es je¬ 
doch nur eines Augenblickes der Ruhe, um die ermüdete Apper¬ 
zeption wiederherzustellen, so gelingt auch der zweite Versuch, 
und der Patient ist schon nach einem Momente von neuem wieder 
fähig, die inzwischen geringer gewordene Vibration zu empfinden. 
Wie schon früher angedeutet, scheint für das Zustandekommen 
der besprochenen physiologischen und pathologischen Ermüdungs¬ 
phänomene der Grad der Vibrationsempfindlichkeit an der zu 


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Über ErmSdangephänomene. 


219 


untersuchenden Stelle in besonderem MaBe in Betracht zu 
kommen. Ein geringer Grad von Sensibilität für Vibration ebenso 
wie auch eine Vibrationshyperästhesie sind für das Zustande¬ 
kommen der Ermüdungsphänomene ungünstig und können diese 
eventuell ganz zum Verschwinden bringen. Dagegen vermag die 
Kombination von Vibrationsbyperästhesie mit stark gesteigerter 
Ermüdbarkeit, wie dies bei Hysterie insbesondere in ihrer Ver¬ 
bindung mit Neurasthenie Vorkommen kann, die pathologischen 
Ermüdungsphänomene ganz bedeutend zu fördern. Ein solches 
Individuum empfindet die schwingende Stimmgabel zunächst sehr 
heftig und unangenehm, nach einiger Zeit, jedenfalls früher als 
bei einem normalen Individuum, erlahmt jedoch die Apperzep¬ 
tionsfähigkeit, und der Patient gibt an, die Vibration nicht mehr 
zu fühlen, obwohl die Stimmgabel noch ziemlich kräftige Schwin¬ 
gungen ausführt. Nach einem Momente der Ruhe hat der Patient 
wieder die nötige Sammlung erreicht und empfindet nun die von 
neuem an derselben Stelle aufgesetzte Stimmgabel recht deutlich; 
aber schon nach einigen Sekunden ist die Apperzeptionsfähigkeit 
so bedeutend geschwächt, daß trotz Hyperästhesie die Empfin¬ 
dung nicht mehr vorhanden ist. 

Insoweit deckt sich das Resultat des Versuches vollständig 
mit dem an einem gewöhnlichen Neurastheniker mit leichter 
Ermüdbarkeit, aber normaler Sensibilität. Wird der Versuch so¬ 
wohl an dem Hysteriker als auch an dem Neurastheniker fort¬ 
gesetzt, so weichen nun die Resultate beider auseinander. Beim 
Hysterischen kann sich vermöge seiner Hyperästhesie das Spiel 
zwischen Ermüdung und Erholung noch mehreremale wieder¬ 
holen, entsprechend der Dauer der Vibrationsempfindung, welche 
vermöge der Überempfindlichkeit dieses Individuums bei fehlender 
Ermüdbarkeit bestehen würde. Dieser Kranke hat eben durch 
seine Überempfindlichkeit für Vibration eine verlängerte Empfin¬ 
dungsdauer, welche jedoch durch die große Ermüdbarkeit in 
mehrere Teile geteilt erscheint. Der gewöhnliche Neurastheniker 
dagegen besitzt bei gleicher Ermüdbarkeit häufig eine fast nor¬ 
male Vibrationsempfindlichkeit. Seine Empfindungsdauer wäre also 
an und für sich eine kürzere als bei dem Hysteriker. Es ist nun 
klar, daß bei gleich großer Ermüdbarkeit die gesamte Vibrations¬ 
empfindungsdauer bei diesem Neurastheniker in eine geringere 
Anzahl von Teilen zerfällt als bei dem Hysterischen. 


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Dr. Wilhelm Neutra. 


Daß diese theoretischen Erwägungen richtig sind, ergibt 
sich aus den oben angeführten Ziffern, welche bei den Hysteri¬ 
schen stets größer sind als bei den Neurasthenikern, wobei je¬ 
doch nur leichtere Grade in Betracht kommen. In schwereren 
Fällen von Neurasthenie, bei welchen stets Übererregbarkeit vor¬ 
handen ist, dürfte sich das Verhältnis wahrscheinlich etwas an¬ 
ders gestalten. 

Ähnlichen Erwägungen zufolge erweist sich die hysterische 
Unterempfindlichkeit als ungeeignet für das Hervorrufen der 
pathologischen Ermüdungsphänomene, da beispielsweise bei 
gleicher Ermüdbarkeit wie in dem vorigen Falle die erste voll¬ 
ständige Ermüdung der Apperzeption eventuell erst zu einer 
Zeit eintreten kann, in welcher die Amplitude bereits in einem 
solchen Maße abgenommen hat, daß die hypästhetische Körper¬ 
stelle selbst nach rascher Erholung eben wegen der Hypästhesie 
die Vibration nun ein zweites Mal nicht mehr empfindet. Da¬ 
gegen wäre es denkbar, daß bei noch größerer Ermüdbarkeit 
der Apperzeption und nur geringer Hypästhesie für Vibration 
ein ähnliches Resultat wie bei dem Neurastheniker zustande 
käme. 

Der Umstand jedoch, daß die gesteigerte Ermüdbarkeit 
der Apperzeption überhaupt nicht zum Wesen der Hysterie ge¬ 
hört, mindestens sehr häufig fehlt, wie dies Binswanger be¬ 
sonders hervorhebt, läßt es verständlich erscheinen, was mir 
auch durch meine Versuche an den Hysterischen auffiel, daß es 
in einer größeren Zahl von Fällen nicht zu pathologischen Er¬ 
müdungsphänomenen kommt. Binswanger hält es für durchaus 
verfehlt, alle hysterischen Krankheitserscheinungen als Erschöp¬ 
fungssymptome zu deuten, sondern glaubt sie der begleitenden 
Neurasthenie zurechnen zu müssen. Daß die Kombination von 
Hysterie und Neurasthenie nicht selten ist, geht aus der Angabe 
Binswangers hervor, daß zirka die Hälfte seiner Kranken¬ 
beobachtungen, soweit diese Fälle von weiblicher Neurasthenie 
und Hysterie betreffen, gleichzeitig Symptome beider Erkrankungen 
darbot. Erklärt wird dies dadurch, daß hysterische Verände¬ 
rungen und ihre entsprechenden, spezifisch hysterischen Krank¬ 
heitsmerkmale auf dem Boden der neurasthenischen Dauerermü¬ 
dung zustande kommen. Auch nach Fdr6 führt die verminderte 
Arbeitsleistung des ermüdeten Gehirnes eines Neurasthenikers 


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Über Ermädnogephänomene. 


221 


eventuell zu bestimmten Vorstellungen der Funktionsaufhebung 
und auf diese Weise zur Hysterie. Es wäre demnach möglich, 
meine Fälle von Hysterie, welche pathologische Ermüdungs¬ 
phänomene der Vibrationsempfindung darboten, nicht für reine 
Fälle zu halten, sondern für Kombinationen von Hysterie mit 
Neurasthenie, und die an ihnen zu beobachtenden Ermüdungs¬ 
symptome auf die Neurasthenie zu beziehen. 

Nach Binswanger ist in Analogie zur Übermüdung des 
gesunden Menschen nach angestrengter Arbeit der Zustand des 
Neurasthenikers als eine Dauerermüdung zu bezeichnen. Wird 
dem dauerermüdeten Nervensystem eine Leistung zugemutet, 
welche mit dem vorhandenen Kraftmaße in keinem Verhältnis 
steht, so tritt allmählich ein Zustand ein, in welchem die be¬ 
teiligten funktionellen Mechanismen versagen. Dieser Zustand 
kann rasch vorübergehend sein und nach geringer Erholung 
wieder zu einer gewissen Funktionsleistung führen. 

Im übrigen handelt es sich bei allen Vorgängen der Neu¬ 
rasthenie um eine Mischung von Erschöpfungserscheinungen und 
solchen der Übererregung. Dabei ist zu bemerken, daß die funk¬ 
tionell böchststehenden Nervenmechanismen, welche die kompli¬ 
ziertesten Verrichtungen aufweisen, rascher der Ermüdung an¬ 
heimfallen, so daß innerhalb einer Reihe funktionell zusammen¬ 
gehöriger Nervenzentren die übergeordneten bei einer gleichen 
Inanspruchnahme schon das Stadium der Erschöpfung darbieten, 
während zu gleicher Zeit bei den untergeordneten sichtbare 
Zeichen der Übererregung vorhanden sind. 

Krafft-Ebing hebt unter anderem hervor, daß im allge¬ 
meinen bei dem Neurastheniker die Reaktion auf irgend welche 
Reize eine intensiv und eztenstiv äußerst große ist und ander¬ 
seits sehr leicht in temporäre Erschöpfung übergeht, welche je¬ 
doch durch Ruhe sich rasch wieder auszugleichen imstande ist. 
.Die Signatur aller der mannigfach gestörten Funktionen der 
Neurasthenie ist neben einer abnorm leichten Anspruchsfähigkeit 
des Nervensystemes auf Reize aller Art die abnorm leichte Er¬ 
schöpfbarkeit der funktionell erregten Nervengebiete.” 

Auch Verworn spricht sich dahin aus, daß die Er- 
müdungs- und Erschöpfungszustände der Neurone und ihre 
Genese in der Pathologie der Neurasthenie die wichtigste Rolle 
spielen. 

Jalirbflober f. Payehlatrl« and Nenroloffi«. XXV. Hd. 15 


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222 


Dr. Wilhelm Neutra. 


Nach Arndt führen sich alle Erscheinungen der Neu¬ 
rasthenie anf jene Grunderscheinung zurück, daß durchwegs 
eine gesteigerte Erregbarkeit des Nervensystems mit Neigung 
zur raschen Ermüdung zu beobachten ist. 

Stimmen nun die meisten neueren Autoren darin überein, 
daß die gesteigerte Ermüdbarkeit den bedeutendsten Faktor im 
Wesen der Neurasthenie bildet, so gehen die Ansichten noch 
weit auseinander, worin eigentlich der Mechanismus der Ermü¬ 
dung und Erschöpfung besteht, und wo sich der Sitz der Er¬ 
müdung befindet, d. h. wo sich diese Veränderungen abspielen, 
welche eine Funktionunfähigkeit zur Folge haben. Bevor ich anf 
dieses Thema eingehe, möchte ich in kurzen Zügen andere Er¬ 
müdungserscheinungen zitieren, welche auf verschiedenen Gebieten 
zur Beobachtung gelangten, und deren zusammenfassende Be¬ 
handlung uns vielleicht gewisse Anhaltspunkte für die Beant¬ 
wortung der obigen Frage bietet. 

Beginnen wir zunächst auf dem Gebiete der höheren 
Sinnesempfindungen. Beim Gesichtssinn unterscheidet man ver¬ 
schiedene Formen der durch Ermüdung bedingten Verminde¬ 
rung des Sehvermögens. Die uns hier besonders interessierende 
Asthenopie ist die auf nervöser Basis, wie sie sich bei Hysteri¬ 
schen und Neurasthenikern findet. Diese Individuen sind außer 
stände, längere Zeit ihre Augen zu gebrauchen, indem beispiels¬ 
weise beim Lesen schon nach einigen Zeilen die Buchstaben un¬ 
deutlich werden und verschwinden. Wohl zu unterscheiden von 
dieser Form ist die Asthenopia muscul. und die Asthenopia 
accomodat. In dem ersteren Falle handelt es sich um Ermüdung 
der konvergierenden Augenmuskeln bei latenter Divergenz, im 
letzteren Falle ist die Asthenopie dadurch bedingt, daß der 
Hypermetrope bei seiner Nahearbeit die Akkomodation bedeutend 
stärker anstrengen muß als der Emmetrope, daher rascher er¬ 
müdet. Blickt dieses Individuum einige Zeit in die Ferne, wo¬ 
durch die Akkomodation entspannt wird, so ist die Fortsetzung 
der Nahearbeit wieder möglich. 

Schon diese drei Abarten eines und desselben Ermüdungs- 
symptomes zeigen, daß die Ermüdungsphänomene sowohl zen¬ 
tralen als peripheren Ursprungs sein können. Während die 
Asthenopia muscul. und accomodat auf eine Überanstrengung 
von Muskeln zurückgeführt wird, kann das gleiche Phänomen 


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Über firmädungsph&nomene. 


223 


durch Ermüdung des zentralen Sehens selbst bedingt sein, wo¬ 
bei es noch strittig ist, ob das bisher noch nicht nachweisbare 
anatomische Substrat in der Retina oder zentralwärts davon zu 
suchen ist. 

Analog meinen Ermüdangsphänomenen auf dem Gebiete der 
Vibrationsempfindung konnte Wilbrand an Neurasthenischen 
beobachten, daß Gegenstände, welche längere Zeit fixiert werden, 
dem Individuum ziemlich rasch verschwinden. Das Gleiche fand 
er übrigens auch bei normalen Menschen, doch verstrich bis zum 
Eintritt des Phänomens ein viel größerer Zeitraum als bei Neu¬ 
rasthenikern. Außerdem zeigte sich bei letzteren, daß schon nach 
wenigen Augenblicken das fixierte, aber der Apperzeption ent¬ 
schwundene Objekt wieder auftauchen kann. Nebenbei nimmt, 
wie einige Fälle Wilbrands beweisen, auch die Sehschärfe nach 
Ermüdung des Auges bis zu einem gewissen Grade ab. 

Während die bisher besprochenen Ermüdungserscheinungen 
auf dem Gebiete des Gesichtssinnes sich auf das scharfe Sehen, 
auf die Perzeption und Leitung von der Macula lutea aus be¬ 
ziehen, findet man auf demselben Gebiete noch andere sehr 
interessante Ermüdungsphänomene, welche jene nervösen Ele¬ 
mente des optischen Apparates betreffen, welche die Leitung und 
Perzeption peripherer Lichteindrücke vermitteln. Diese Ermü¬ 
dungssymptome charakterisieren sich in gewissen Gesichtsfeld¬ 
veränderungen, welche vielfach beobachtet werden und verschie¬ 
dene Typen erkennen lassen. Die Ermüdungseinschränkung des 
Gesichtsfeldes gehört, wie schon Wilbrand hervorhebt, zu den 
physiologischen Eigentümlichkeiten des Sehorganes, tritt aber 
unabhängig davon insbesondere bei funktionellen Erkrankungen 
des Nervensystems auf und hat hier eine große praktische Be¬ 
deutung, weil sie unter dem Bilde der verschiedensten Formen 
auftritt und eventuell zu schweren diagnostischen Irrtümern 
Veranlassung geben kann. 

Eine weit geringere Bedeutung mißt Richter den Gesichts¬ 
feldeinschränkungen bei funktionellen Erkrankungen des Zentral- 
nervensystemes bei, indem er die konzentrische Einengung der 
der Hysterischen für eine Folge subjektiver, nervöser Beschwerden 
und psychischer Störungen hält, also quasi auf Rechnung der 
Unaufmerksamkeit setzt, was er dadurch zu beweisen sucht, daß 
durch psychische Einwirkung auf die Kranken bei der peri- 

15 * 


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224 


Dr. Wilhelm Neutra. 


metrischen Untersuchung es in der Regel gelingt, jene Erschein 
nungen in den Hintergrund zu drängen und dadurch normale 
Gesichtsfelder zu erzielen. 

Anders verhält sich v. Reuß in dieser Frage,, indem er 
der Gesichtsfeldeinschränkung an und für sich große diagnostische 
Bedeutung beimißt, aber auch die verschiedenen Formen der¬ 
selben differentialdiagnostisch verwertet. Reuß teilt die Gesichts¬ 
feldanomalien bei funktionellen Nervenleiden in zwei Gruppen 
ein, deren eine der Hysterie, deren andere der Neurasthenie 
angehört. In die erstere Gruppe zählt er die konzentrische, stabile 
Gesichtsfeldeinschränkung und das sogenannte „oszillierende’’ 
Gesichtsfeld, in die zweite Gruppe den Verschiebungstypus, 
den Wilbrandschen Ermüdungstypus, die labile konzentri¬ 
sche Einschränkung und die Ermüdungsspirale, eventuell 
noch die Ermüdungsausdehnung des Gesichtsfeldes. Während 
es sich bei der Hysterie um funktionelle Unfähigkeit ge¬ 
wisser Partien der Netzhaut handelt, ist es bei der Neu¬ 
rasthenie die leichte Ermüdbarkeit des optischen Apparates, 
welche bei der Untersuchung des Gesichtsfeldes zutage tritt Die 
hysterischen Gesichtsfelder kommen daher für die uns hier 
interessierenden Frageu nicht in Betracht, während die neu- 
rasthenischen Gesichtsfelder als Ermüdungsphänomene aufzufassen 
sind. Allen den verschiedenen Typen ist gemeinsam, daß sie 
während der Untersuchung eintreten und im Anfänge derselben 
noch nicht vorhanden sind, oder eventuell nur dann, wenn der 
perimetrischen Untersuchung eine Ermüdung vorausgegangen 
ist. Zum Unterschiede vom hysterischen Individuum, dessen Ge¬ 
sichtsfeldeinschränkung sich in gewissem Sinne konstant erweist, 
bietet der Neurastheniker ein in einem immerwährenden Wechsel 
begriffenes Gesichtsfeld. Während nach längerer Kühe das Ge¬ 
sichtsfeld des Neurasthenikers vollkommen normal sein kann, 
verengt es sich im Laufe der Untersuchung, wobei sich die 
merkwürdige Tatsache ergibt, daß sich die Ermüdung nicht nur 
an dem während längerer Zeit untersuchten, sondern häufig auch 
an dem zweiten Auge zeigt. 

Reuß faßt seine Befunde dahin zusammen, daß alle kon¬ 
stanten Gesichtsfeldeinengungen hysterischer Natur sind, da¬ 
gegen alles, was im Gesichtsfeld variabel ist, der Neurasthenie 
angehört, und daß eingeschränkte Gesichtsfelder, welche sich im 


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Über Ermiidutigephänomene. 


225 


Laufe der Untersuchung noch mehr verkleinern, als Mischformen 
zu betrachten sind. Gegenüber Richter und anderen, welche als 
Ursache der Ermüdungsgesichtsfelder mangelhafte Aufmerksam¬ 
keit geltend machen, betont ReuB, daß dies für sehr geringe 
Grade der Einengung richtig sei, daß aber bei beträchtlicher 
Gesichtsfeldeinschränkung durch energische Ermahnung nur eine 
geringe Erweiterung, aber keineswegs bis zu normalen Grenzen 
erreicht werden könne. 

Von den verschiedenen Methoden, die Ermüdungsgesichts¬ 
felder nachzuweisen, sollen nur zwei kurz skizziert werden. 
Wilbrand prüft am Perimeter nur im horizontalen Meridiane, 
so zwar, daß er das Objekt von der temporalen Seite her, gegen 
die Mitte zuschiebt und über die Mitte hinaus nasalwärts weiter 
bewegt. Dabei wird der Eintritts- und der Austrittspunkt des 
Objektes in das und aus dem Gesichtsfelde fixiert. Dann wird 
das Objekt temporalwärts zurückgeschoben und wieder die Aus¬ 
trittsstelle bestimmt, welche sich bei bestehender Ermüdung 
innerhalb des zuerst gefundenen Punktes befindet. Bei öfterem 
Hin- und Herführen des Objektes nähern sich die Eintritts- und 
Austrittspunkte einander immer mehr, was eine Verkleinerung 
des Gesichtsfeldes durch Ermüdung beweist. 

Eine andere, etwas umständlichere Methode ist die von 
Reuß angegebene. Man beginnt an irgend einer Stelle zu peri- 
metrieren und zwar stets zentripetal und untersucht nacheinander 
eine größere Anzahl von Meridianen, stets in derselben Richtung 
fortfahrend. Man kommt endlich nach Beendigung des ganzen 
Kreises wieder an den Ausgangspunkt zurück, und es zeigt sich 
nun in vielen Fällen, daß bei neuerlicher Untersuchung in diesem 
Meridiane sich eine Eintrittsstelle des Objektes in das Gesichts¬ 
feld ergibt, welche näher zur Mitte des Perimeters liegt als der 
zuerst gefundene Punkt. Geht man nun auch weitere Meridianen 
durch und kommt wieder zu dem Ausgangspunkte zurück, so 
findet man nun eine noch größere Einengung. Durch Fortsetzung 
dieses Verfahrens erhält man mittels Verbindung aller nach¬ 
einander aufgefundenen Eintrittspunkte eine Spirallinie an Stelle 
der gewöhnlichen, in sich geschlossenen krummen Linie, die 
sogenannte Ermüdungsspirale. Es versteht sich von selbst, daß 
die Einschränkung des Gesichtsfeldes von allen Seiten ziemlich 
gleichmäßig und konzentrisch von statten geht, und die Spirale 


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226 


Dr. Wilhelm Neutra. 


kommt eben nur dadurch zustande, daß nicht in allen Meridianen 
gleichzeitig untersucht werden kann und während der nach¬ 
einander erfolgenden Untersuchung der einzelnen Meridiane die 
Einengung inzwischen fortschreitet. 

Von größerer Bedeutung für unser Thema ist der Umstand, 
daß durch Erholung es mehr meniger rasch zur Erweiterung 
des Gesichtsfeldes kommt, so daß häufig schon eine geringe Stö¬ 
rung in der Gleichförmigkeit der Untersuchung eine Störung der 
Ermüdungsspiralen zur Folge haben kann. Ferner ist es von 
Wichtigkeit, daß das Ermüdungsphänomen der Gesichtsfeldein¬ 
schränkung bei nervengesunden Individuen niemals in größerem 
Ausmaße zu beobachten ist. König fand unter 215 anscheinend 
nicht nervösen Personen nur 25, welche eine äußerst geringe 
Einschränkung und zwar häufig nur an einem Auge erkennen 
ließen. Ottolenghi und Reuß vermochten bei gesunden Indi¬ 
viduen keine Ermüdungsgesichtsfelder zu konstatieren. 

In der Akustik sind bereits einige interessante Ermüdungs- 
Phänomene beobachtet worden. 

Corrodi bespricht folgenden Versuch: Wird eine auf dem 
Warzenfortsatze schwingende Stimmgabel, sobald die Schall- 
empfindnng aufgehört hat, entfernt und dann wieder nach un¬ 
gefähr 2 Sekunden genau an die frühere Stelle angesetzt, so 
erneuert sich in vielen Fällen die Hörempfindung und dauert 
eine gewisse Zeit fort. Derart kann sich die Empfindnng bei 
gesunden Leuten je nachdem 1-, 2-, zuweilen auch 3- oder 4mal 
wiederholen. Erst wenn die Hörempfindung noch öfter her¬ 
vorzurufen wäre, betrachtet dies Corrodi als abnorm. Diese 
Wiederholung der Hörempfindung kann man insbesondere durch 
Verstopfen des äußeren GehörgaDges bei gesunden Individuen 
begünstigen. In pathologischen Zuständen des Gehörorganes fand 
Corrodi dieses Phänomen besonders bei Veränderungen des 
Schall empfindenden Apparates, aber auch bei Mittelohrerkran- 
kungen. Diagnostisch verwertbar scheint diesem Autor die Ver¬ 
mehrung der sogenannten sekundären Hörempfindungen in dem 
Sinne zu sein, daß diese bei gleichzeitig bestehender, mehr oder 
weniger bedeutender Schwerhörigkeit als ein Zeichen von ge¬ 
steigerter Irritabilität des nerv, acusticus aufgefaßt werden kann. 

Eitelberg ließ die Versuchsperson auf das Geräusch einer 
Taschenuhr hören, und zwar zirka 45 Sekunden, wobei er kon- 


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Über Ermüdnngsphäiiomene. 


227 


statieren konnte, daß gewisse Individuen am Ende des Versuches 
oder erst bei etwas längerer Erregung fflr Momente den Schlag 
der Uhr überhaupt nicht wahrnehmen oder wenigstens in be¬ 
deutend schwächerer Intensität. Ein zweiter Ermüdungsversuch 
Eitelbergs besteht in folgendem: Die Stimmgabel wird durch 
eine Vorrichtung stets gleichmäßig angeschlagen, in einer be¬ 
stimmten Entfernung vom Ohre gehalten, und nun die Sekunden¬ 
anzahl bestimmt, während welcher die Hörempfindung vorhanden 
ist. Wird der Ton nicht mehr wahrgenommen, so wird die Stimm¬ 
gabel sofort von neuem angeschlagen und wieder dem Ohre ge¬ 
nähert. Der gleiche Vorgang wiederholt sich und wird 15 bis 
25 Minuten lang fortgesetzt. Es zeigt sich nun, daß im Anfänge 
die Stimmgabel etwas länger gehört wird als in dem unmittel¬ 
bar darauffolgenden Versuche, dann aber steigt nach etwa 
3 Minuten die Perzeptionsdauer an und bleibt in gleicher Höhe 
bis zum Ende des Versuches. Dieses Ergebnis findet sich bei 
Individuen mit normalen Schall perzipierenden Organen, während 
nach der Auffassung Eitelbergs ein rasches Absinken der 
Empfindungsdauer in den späteren Versuchen für eine vermin¬ 
derte Energie des Acusticus spricht, doch will Eitelberg eine 
solche Abnahme der Acusticusenergie bei nervösen Personen 
nicht bemerkt haben. 

Hammerschlag erklärt die Erscheinung, daß bei manchen 
Hysterischen eine gewisse Inkongruenz in der Hörschärfe einer¬ 
seits für die Sprache und anderseits für die Stimmgabel und 
zwar zu Ungunsten der letzteren besteht, aus einer abnorm 
leichten Ermüdbarkeit des Hörnerven für kontinuirliche und in 
ihrer Intensität allmählich abnehmende Schallreize, wie solche 
eben von der Stimmgabel ausgehen. Ferner bespricht Hammer¬ 
schlag folgendes, meinen Versuchsergebnissen nahekommendes 
Symptom: Man schlägt eine Stimmgabel von mittlerer Höhe ad 
maximum an und hält sie vor das zu prüfende Ohr so lange, bis der 
Patient angibt, den Ton nicht mehr zu hören. Die Stimmgabel 
wird nun vom Ohre entfernt und nach 2 bis 3 Sekunden, ohne 
von neuem angeschlagen worden zu sein, dem Ohre wieder ge¬ 
nähert. Gewisse Individuen geben nun an, den Ton wieder zu 
hören, und zwar besteht jetzt die Hörempfindung wieder während 
einiger Sekunden. Mitunter läßt sich derselbe Versuch nach aber¬ 
maligem Abklingen der Empfindung noch ein drittesmal wiederholen. 


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228 


Dr. Wilhelm Neutra. 


Dieses Ermüdungssympton konnte Hammerschlag bei 
einer größeren Anzahl von Hysterischen beobachten, doch findet 
sich keine Angabe darüber, ob nicht auch Neurastheniker das 
gleiche Symptom darbieten. Auf Grund seiner Befunde glaubt 
Hammerschlag dieses Phänomen, welches durch eine abnorm 
leichte Ermüdbarkeit des Hörnerven für aerotympanal zugeleitete 
Stimmgabeltöne bedingt ist, als ein unterstützendes Moment für 
dieDiagnose der rein hysterischen Hy pästhesie betrachten zu dürfen. 

Von sonstigen Sinnesqualitäten sind in bezug auf Ermü¬ 
dungsphänomene, so weit meine Literaturkenntnis reicht, nur 
noch der Ortssinn genau erforscht. E. H. Weber, welcher als 
erster über den Ortssinn und dessen Messung berichtet hat, 
zeigte für zahlreiche Körperstellen, wie groß der Minimalabstand 
zweier Punkte an der Haut sei, deren gleichzeitige Reizung noch 
deutlich getrennte Ortsvorstellungen erweckt. Wie bekannt, nahm 
Weber diese Messungen in der Weise vor, daß er die beiden 
abgestumpften Spitzen eines Zirkels bei einer gewissen Öffnung 
desselben gleichzeitig auf die Haut aufsetzte. Gaben die Ver¬ 
suchspersonen an, beide Spitzen gesondert zu empfinden, so 
wurden diese allmählich so weit einander genähert, bis die beiden 
Sinneseindrücke in der Wahrnehmung verschmolzen, also nur 
mehr eine einzige Empfindung vorhanden war. Die kleinste 
Distanz der Zirkelspitzen, welche an irgend einer Körperstelle 
noch zwei getrennte Empfindungen hervorruft, nannte Fechner 
„ Raumschwelle”. 

Daß diese Grenze für einen bestimmten Punkt der Körper¬ 
oberfläche nicht unter allen Umständen konstant ist, und die 
Feinheit des Raumsinnes gewissen Schwankungen unterliegt, 
bewies Volkmann, indem er zeigte, daß durch fortgesetzte 
Übung die Ortsempfindlichkeit bedeutend erhöht werden kann. 
Ebenso wie die Übung vermag auch die erhöhte Aufmerksamkeit 
das Unterscheidungsvermögen des Tastsinnes zu vergrößern, 
was sich bei der Methode nach Weber in einer Verkleinerung 
der Empfindungskreise kundgibt. Eine Verminderung der Auf¬ 
merksamkeit wirkt demnach dem Einflüsse der Übung entgegen, 
so daß man bei geistig ermüdeten Personen, welche mit zu¬ 
nehmender Abspannung immer weniger Aufmerksamkeit besitzen, 
eine entsprechende Vergrößerung der physiologischen Empfin¬ 
dungskreise erwarten darf. 


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Über Krmüdungsphänjomene. 


229 


Diese konstant- zu beobachtende Tatsache verwendete 
Griesbach znr Ermittlung des Grades geistiger Ermüdung, in¬ 
dem er sich hierbei des von ihm konstruierten, zirkelartigen 
Instrumentes, Ästhesiometer genannt, bediente. Das Maß für den 
Grad der Ermüdung bildete der Vergleich der bei der Unter¬ 
suchung ermittelten Minimaldistanzen mit denjenigen Zahlen¬ 
werten, welche an derselben Stelle im Zustande physiologischen 
Gleichgewichtes gefunden wurden. Die Untersuchungen wurden 
an einer großen Zahl von Mittelschülern vorgenommen und er¬ 
gaben zunächst, daß unter normalen Verhältnissen keine oder 
nur sehr geringe Schwankungen der Empfindungskreise zu be¬ 
obachten sind. Dagegen konnte im allgemeinen eine Vergröße¬ 
rung der Empfindungskreise nach längerem Schulunterrichte 
konstatiert werden, wobei sich sogar der Einfluß verschiedener 
Lehrgegenstände diesbezüglich in verschiedenem Maße geltend 
machte. Aber auch der Fähigkeitsgrad des Schülers aufzumerken 
und insbesondere die Dauer der Erholungspausen zeigten einen 
deutlichen Einfluß auf die Größe der Empfindungskreise. Was 
die letztere betrifft, so ergab sich, daß zur Wiederherstellung 
des normalen Empfindungsvermögens der Haut nach dem Auf¬ 
hören angestrengter geistiger Tätigkeit, also auch zur voll¬ 
ständigen geistigen Erholung je nach dem Grade der Ermüdung 
und je nach der physischen und psychischen Beschaffenheit 
des Individuums eine verschieden lange Zeit erforderlich ist, 
und daß häufig sogar eine zweistündige Mittagspause nach an¬ 
gestrengtem Morgenunterrichte die bedeutend vergrößerten 
Empfindungskreise nicht auf ihre physiologische Größe vermin¬ 
dern konnte. 

Griesbach vermochte zu konstatieren, daß durch anhal¬ 
tende geistige Tätigkeit ohne genügende Erholungspausen das 
Empfindungsvermögen dauernd herabgesetzt werden kann, wo¬ 
durch sich dem Untersucher ein diagnostisches Hilfsmittel dar¬ 
bietet, um die Grenzen unschädlicher geistiger Arbeit zu be¬ 
stimmen. Diese Untersuchungen beweisen also zunächst, daß 
auch der OrtssinD, das Lokalisationsvermögen der Ermüdung 
zugänglich und dem Ermüdungsgrade nach genau meßbar ist, 
nur unterscheidet sich dieses Ermüdungsphänomen von den früher 
besprochenen dadurch, daß es, wenigstens was die zitierten Ver¬ 
suche betrifft, nicht durch eine länger dauernde Untersuchung 


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Dr. Wilhelm Neutra. 


dieser Empfindung selbst, sondern durch systematische Ermüdung 
der Aufmerksamkeit im allgemeinen erzielt wird. 

In anderen Sinnesgebieten, Geruch, Geschmack, Schmerz- 
und Temperaturempfindung liegen meines Wissens bisher keinerlei 
Beobachtungen vor, welche als Ermüdungsphänomen zu betrachten 
wären. 

Bezüglich der Ermüdung auf psychischem Gebiete mit Ver¬ 
minderung der Aufmerksamkeit soll noch kurz einiges erwähnt 
werden. Von Sikorsky,Burgerstein, Höpfner,Laser, Bellei, 
Richter, Wagner, Widowitz u. a. wurden an Schulkindern 
Ermüdungsversuche unternommen, welche zumeist auf psycho¬ 
logischen Methoden basieren. Die Ergebnisse sind keineswegs 
einwandfrei, weshalb hier auf Details nicht eingegangen werden 
soll. Eine Reihe von Untersuchern leugnen sogar die Möglich¬ 
keit, daß die durch die verschiedenen Methoden aufgefundenen 
Ermüdungsresultate richtig sein können, und führen zahlreiche 
Faktoren an, welche ohne Zweifel ihren Einfluß auf diese Resul¬ 
tate ausüben (Schröer, Schwalbe, Widowitz). Andere wieder 
halten auf Grund eigener Untersuchungen nach der Methode von 
Griesbach an den Ergebnissen dieses Autors fest (Wagner, 
Vannod, Blazek). In der jüngst erschienenen Arbeit von 
Widowitz bespricht dieser Autor entsprechend seiner Über¬ 
zeugung, „daß die Ermüdung der Schulkinder nicht gewogen 
oder gemessen, sondern nur beobachtet werden kann”, eine Art 
Symptomatologie der Ermüdung, welche in ihren Grundzügen 
besteht in Abnahme des Bewegungstriebes, Schläfrigkeit, Ver¬ 
änderungen im Gemütszustände, Reizbarkeit oder Apathie, 
Appetitlosigkeit, Pupillenerweiterung, Undulieren der Iris, auf¬ 
fallendem Glanze der Cornea, manchmal Steigerung der Sehnen¬ 
reflexe. 

Kraepelin, welcher seine Versuche zumeist an Studenten 
ausführte, benutzte folgende Methode: Er ließ die Versuchs¬ 
person mehrere Stunden hindurch einstellige Ziffern addieren 
und nach je 5 Minuten einen Strich unter die zuletzt addierte 
Zahl machen, wodurch er feststellen konnte, wie viel Additionen 
in 5 Minuten ausgefubrt wurden, und wie diese Anzahl von der 
geistigen Ermüdung abhängig sei. Dabei zeigte sich, daß be¬ 
stimmte Personen infolge von Übung zuerst an Arbeitsleistung 
zunehmen und erst nach längerer Zeit eine Abnahme der 


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Über Ermüdungsphänomene. 


231 


Leistungsfähigkeit durch Ermüdung aufweisen, während andere 
vom Anfang an ein Absinken der Arbeitsleistung darbieten, bei 
welchen sich also die Ermüdbarkeit überaus groß erweist. Da¬ 
zwischen finden sich alle Übergänge, doch soll nach der Ansicht 
Eraepelins jede einzelne Person, abgesehen von ganz besonders 
begründeten Unregelmäßigkeiten, stets das gleiche, der einmal 
gegebenen Eigenart entsprechende Verhalten in bezug auf Er¬ 
müdung beibehalten. Die Ermüdbarkeit ist demnach nach 
Eraepelin eine Grundeigenschaft der einzelnen Persönlichkeit, 
welche die Leistungsfähigkeit des Betreffenden bestimmt. Was 
die nötigen Erholungszeiten betrifft, so fand dieser Autor, daß 
zwischen halbstündigen Arbeitszeiten 10 Minuten lange Pausen 
genügen, um wieder zur vollen Leistungsfähigkeit zu gelangen. 

Es sei noch eine von Cron und Eraepelin angegebene 
Methode erwähnt, welche die Ermüdung der Auffassungsfähigkeit 
zu messen imstande ist. Sie besteht im Prinzip darin, daß die 
Versuchsperson Buchstaben oder Silben, welche in einer Spalte 
in einem bestimmten Tempo nacheinander erscheinen, liest und 
zu Worten verbindet. Trotzdem diese Versuche nur kurze Zeit 
in Anspruch nehmen, zeigten sich an den Ergebnissen gewisse 
Andeutungen, welche auf Ermüdung hinweisen. 

Eine andere Gruppe von Ermüdungsphänomenen zeigt sich 
auf rein motorischem Gebiete und soll nur insoweit besprochen 
werden, als es eine Methode betrifft, welche die Messung dieser 
Ermüdung bezweckt und den Zusammenhang zwischen motori¬ 
scher und geistiger Ermüdung deutlich macht 

Mosso hat darauf hingewiesen, daß durch Muskelarbeit 
auch die Nervenzentren ermüden, aber auch umgekehrt eine 
intensive, geistige Tätigkeit auf die Muskelarbeit einen vermin¬ 
dernden Einfluß ausübt, also eine Ermüdung der psychischen 
Zentren des Gehirns anch auf die motorischen Zentren hemmend 
wirkt. Der von diesem Autor konstruierte Ergograph ermöglicht 
es, die geistige Ermüdung graphisch darzustellen. Dieser Apparat 
registriert das Heben eines mit einem Gewichte belasteten 
Fingers, und zwar sowohl die Hubhöhe als auch die Frequenz. 
Es zeigte sich, daß beispielsweise Erwachsene mit dem Mittel¬ 
finger der linken Hand bei einer Belastung von 2 kg 55mal die 
Kontraktion ausführen konnten, wobei die Hubhöhe von 45 mm 
bis Null allmählich absank. Nach intensiver geistiger Arbeit 


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232 


Dr. Wilhelm Neutra. 


wurde ein gleicher Versuch unternommen, welcher ergab, daß 
die ersten Eontraktionen noch stark waren, dann aber eine 
rasche Abnahme der Hubhöhe eintrat, und die Energie der 
Muskeln nach zirka 10 Kontraktionen bereits erschöpft war. 

Etwas abseits von meinem Thema liegen die Versuche 
Fe res, welche sich mit dem Einflüsse der Suggestion auf die 
Ermüdung beschäftigen. Er ließ ein Individuum amMossoschen 
Apparate arbeiten und eine andere Person dieselben Finger¬ 
bewegungen in demselben Takte, aber ohne Belastung des Fingers 
durch ein Gewicht, ausführen, wobei die erste Versuchsperson 
die Bewegungen der zweiten genau beobachten mußte. Es zeigte 
sich, daß die Wirkung dieser Suggestion ganz verschieden war 
in bezug auf die Arbeitskraft der ersten Person, je nachdem sie 
im Beginn der Arbeit oder erst nach Eintritt der Ermüdung, 
ob sie kurze oder längere Zeit hindurch wirkte. Dauerte die der 
Ermüdung vorangehende Suggestion nur wenige Sekunden, so 
bewirkte sie eine Steigerung der Arbeitsleistung, während eine 
über 30 Sekunden dauernde Mitbewegung von seiten der zweiten 
Person häufig eine Verminderung der Leistung der ersten Person 
zur Folge hatte. Wurde bei schon vorgeschrittener Ermüdung 
die Suggestion ausgeführt, so nahm die Arbeitsleistung wieder 
bedeutend zu, und zwar war dies wiederholt möglich und ver¬ 
mochte in solchem Maße günstig zu wirken, daß häufig die An¬ 
fangsleistung überboten wurde. Fdre schließt daraus, daß die 
Ermüdung eine Erhöhung der Suggestibililät zur Folge habe. 

Überblickt man diese Auslese von Ermüdungsversuchen, 
so zeigt sich, daß die einschlägigen Phänomene drei Gebieten 
angehören, und zwar dem der Sinnesempfindungen, dem psychi¬ 
schen und dem motorischen. Dem Grade nach sind sie teils als 
physiologische Ermüdungsphänomene aufzufassen, teils gehören 
sie bereits in das pathologische Gebiet. Beispielsweise hält 
Wilbrand die durch Ermüdung bedingte Einschränkung des 
Gesichtsfeldes für eine physiologische Eigentümlichkeit des Seh¬ 
organes. Nach Salomonsohn und Voges handelt es sich dabei 
um physiologische Schwankungen der Aufmerksamkeit. Wie schon 
erwähnt, kommt auch das Verschwinden eines fixierten Gegen¬ 
standes unter normalen Verhältnissen vor. Ebenso ist Griesbach 
der Meinung, daß geistig angestrengte Personen, die mit zu¬ 
nehmender, aber keineswegs pathologischer Abspannung immer 


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Über Ermfidangsph&nomeoe. 


233 


welliger Aufmerksamkeit besitzen, eine entsprechende Vergröße¬ 
rung der physiologischen Empfindungskreise bieten, da eben jede 
physiologische Arbeitsleistung, auch die des Gehirnes, Ermüdung 
nach sich zieht. Auch der zitierte Versuch Corrodis gelingt bei 
normalen Individuen. 

Diesen physiologischen Ermödungsphänomenen reiht sich 
mein eingangs besprochener Versuch an, welcher bei jedem 
normalen Individuum ein positives Resultat, die Ermüdungsziffern, 
liefert. Aber auch der zweite meiner beiden als pathologisch 
bezeichneten Ermüdungsphänomene findet sich nicht selten in 
geringem Grade unter normalen Verhältnissen. Es wird die 
Stimmgabelvibration, welche an irgend einer Stelle nicht mehr 
gefühlt wird, auch von gesunden Individuen mitunter wieder 
wahrgenommen, wenn die Stimmgabel nach kurzer Entfernung 
zum zweitenmale an dieselbe Stelle gebracht wird. Dies ist je¬ 
doch, wie ich glaube, nicht so sehr auf die Ermüdbarkeit, son¬ 
dern vielmehr auf die mangelhafte Aufmerksamkeit zurückzu¬ 
führen, denn diese Individuen empfinden schon primär die 
Stimmgabel bis zu sehr feinen Vibrationen und glauben endlich 
nichts mehr zu fühlen, während die durch das Abheben und 
Wiederaufsetzen der Stimmgabel bedingte Kontrastwirkung sie 
vom Gegenteil überzeugt. Wie schon bemerkt, unterscheidet sich 
diese physiologische Sekundärempfindung von den pathologischen, 
insbesondere bei Neurasthenikern vorkommenden durch ihre be¬ 
sonders kurze Dauer. Das gleiche, aber pathologische Ermüdungs¬ 
phänomen bietet eine mehrere Sekunden andauernde Sekundär¬ 
empfindung, während die primäre Empfindung von viel geringerer 
Dauer ist als unter physiologischen Verhältnissen. Eine drei¬ 
malige, durch die ununterbrochen abklingende Stimmgabel 
hervorgerufene Empfindung der Vibration an derselben Stelle 
ist unter normalen Verhältnissen überhaupt ausgeschlossen, 
ebenso das erste der beiden pathologischen Ermüdungspbäno- 
mene. 

Unter den Faktoren, welche das Zustandekommen 
der Ermüdungsphänomene in dem einen oder anderen 
Sinne beeiflussen, kommt außer der Ermüdbarkeit und 
dem Grade der Aufmerksamkeit hauptsächlich die 
Übung und, wie ich glaube, auch die Art des ermüden¬ 
den Vorganges in Betracht. 


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234 


Dr. Wilhelm Neutra. 


In welchem Maße die Übung die Resultate derartiger 
Untersuchungen beeinflussen kann, geht aus den Versuchen von 
Frey hervor, welcher feststellen konnte, daß ein ungeübtes 
Individuum den Ton einer stets gleichmäßig lang schwingenden 
Stimmgabel durch ein Telephon einmal nur 8, ein zweitesmal 
16 Sekunden lang wahrnahm, während nach einiger Übung die 
Sekundenzahl höchstens nur mehr um zwei differierte. Kraepelin 
fand in seinen bereits besprochenen Versuchen, welche im mehr* 
ständigen Addieren bestanden, daß sich die Arbeitsleistung an¬ 
fangs allmählich steigerte und zwar vom ersten zum zweiten 
Versuche um 25%, vom zweiten zum dritten um weitere 16%, 
vom dritten zum vierten um 6%. Weiter hinaus fand sich eine 
Grenze, aber welche eine Steigerung der Arbeitsgeschwindigkeit 
durch Übung nicht mehr erzielt werden konnte. Auch die 
Weberschen Empfindungskreise können durch fortgesetzte Übung 
ziemlich bedeutend verkleinert werden. Die Übung wirkt also 
der Ermüdbarkeit entgegen, doch liegt die größte Intensität 
ihrer Einflüsse in verschiedenen Zeiten, denn während im An¬ 
fänge eines Ermüdungsversuches die sich rasch steigernde Übung 
über die hier erst langsam ansteigende Ermüdung prädominiert, 
demnach die Leistung sich im Ganzen von Sekunde zu Sekunde 
vergrößert, erreicht die Übung bald ihren Höhepunkt und wird 
endlich von der progressiven Ermüdung zunächst paralysiert und 
dann überkompensiert. Mit anderen Worten, die Kurve der 
Arbeitsleistung steigt, wie aus verschiedenen einschlägigen Ar¬ 
beiten hervorgeht, zunächst an, um dann langsam bis Null ab¬ 
zufallen. Daß diese beiden Faktoren der Ermüdbarkeit und 
Übungsfähigkeit nicht vollkommen unabhängig voneinander sind, 
sondern in ihrer Intensität zumeist Hand in Hand gehen, wird 
von Hoch und Kraepelin besonders hervorgehoben. 

Es ist nun nicht gleichgiltig, in welchem Stadium der 
Fähigkeitskurve die Versuche begonnen werden, welche unter¬ 
einander vergleichbare Resultate liefern sollen. Sowohl der auf¬ 
steigende als auch der absteigende Teil erweisen sich wegen 
ihrer Inkonstanz als ungeeignet, da in dem ersteren Falle der 
Grad der Übung, im zweiten Falle der der Ermüdung in Betracht 
gezogen werden müßte. Es ist daher praktisch am günstigsten, 
den Versuchen beispielsweise im Gebiete der Vibrationsempfin¬ 
dung einige Vorversuche voranzuschicken, welche das Individuum 


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Über Ermfidungsphänomene. 


235 


mit dieser Empfindungsqualität zunächst vertrant machen und es 
in der Apperzeption dieser Empfindung Oben sollen, anderseits 
aber eine dentliche Ermüdung nicht abzuwarten. Anf meine 
Versuche angewendet zeigt sich, daß die Ermüdungsziffern bei 
noch vollkommen angeübten Personen entweder sehr groß oder 
seltener sehr klein ausfallen, während sie sich nach einiger 
Übung für eine gewisse Zeit vollkommen konstant erweisen. Wie 
ich hier jedoch nochmals hervorheben möchte, ist das Schwanken 
der Ermüdungsziffern je nach dem Grade der Ermüdung (d. i. 
in den am absteigenden Schenkel der Fähigkeitskurve unter¬ 
nommenen Versuchen) vollkommen gleicbgiltig für die Verwer¬ 
tung dieser Resultate in bezug auf die Vibrationsempfindlichkeit, 
da die vergleichenden Versuche stets unmittelbar hintereinander 
von mir ausgeführt wurden, also sich die Ermüdung während 
der kurzen Dauer zweier Einzelversuche (zusammen zirka 
1V 2 Minuten) kaum merklich dem Grade nach verändert haben 
dürfte. Wenn auch durch den verschiedenen Ermüdungsgrad sich 
die Ziffern verändern können, so wird das Verhältnis der Er¬ 
müdungsziffern, welche unmittelbar nacheinander gefunden wur¬ 
den, also unter dem Einflüsse gleicher Ermüdung standen, ein 
konstantes sein. 

Nicht unwichtig erscheint mir der Einfluß zu sein, welchen 
das ermüdende Agens auf die Raschheit der Ermüdung aasübt 
Es ist bekannt, daß durch mechanische Tätigkeit die Ermüdung 
bedeutend langsamer eintritt als durch geistige oder bewußte. 
Die Körperleistung, beispielsweise der Sports, kann durch Ab¬ 
lenkung der Aufmerksamkeit auf die eigene Bewegung bedeutend 
vergrößert werden, wie sich dies ja auch in dem zitierten Ver¬ 
suche von Ferä ansdrückt. Die Monotonie der bewußten Leistung 
vermindert die Arbeitsfähigkeit und beschleunigt die Ermüdung 
ebenso wie das mangelnde Interesse der Versuchsperson für die ihr 
gestellte Aufgabe, Faktoren, welche vielfach nicht berücksichtigt 
werden. Es bängt eben die Ermüdbarkeit ganz bedeutend davon 
ab, ob die auszuführende Leistung mit Lust- oder Unlustgefühl 
betont ist. Wenn also die Versuchsperson veranlaßt wird, stunden¬ 
lang sich mit dem Addieren einstelliger Zahlen zu beschäftigen, 
so dürfen die Resultate keineswegs nur auf die Ermüdung be¬ 
zogen werden, sondern sind vielmehr von der mehr weniger 
willkürlichen Unaufmerksamkeit abhängig. Aus demselben Grunde 


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Dr. Wilhelm Neutra. 


ist die Leistungsfähigkeit eines Schülers, welcher sich vorzugs¬ 
weise für Mathematik interessiert, in diesem Gegenstände größer 
als in einem anderen, ihn minder interessierenden, ohne daß da¬ 
bei die Ermüdung irgend welche Rolle spielt. Ebenso verhält es 
sich auf dem Gebiete der Empfindung. Auch hier ist es, wie 
Ziehern bemerkt, nicht nur die Schärfe und Intensität der 
Empfindung, sondern auch die Stärke des begleitenden Gefühls¬ 
tones und außerdem noch die zufällige Konstellation der Vor¬ 
stellungen, welche die Aufmerksamkeit auf die betreffende Emp¬ 
findung und deren Apperzeption beeinflussen. Bei meinen Ver¬ 
suchen konnte ich die Erfahrung machen, daß Patienten, welche 
an irgend welchen und selbst geringen Schmerzen litten, keine 
Ermüdungsziffern aufwiesen, da eben die Aufmerksamkeit für 
die mit Unlustgefühl betonte Untersuchung beeinträchtigt war 
und daher feinere Vibrationsempfindungen nicht zur Apperzeption 
gelangen ließ. 

Diese und andere Momente weisen darauf hin, daß alle so¬ 
genannten Ermüdungsphänomene nur mit Vorsicht diagnostisch 
zu verwerten sind, da eben die Grenze zwischen dem noch Nor¬ 
malen und dem schon Pathologischen der Ermüdbarkeit durch 
diese schwer zu bestimmenden Einflüsse unsicher ist und bis za 
einem gewissen Grade dem Ermessen des Untersuchers über¬ 
lassen bleibt. Nichtsdestoweniger sind die deutlich ausgesproche¬ 
nen Ermüdungsphänomene unter den sich von selbst ergebenden 
Kautelen für die Diagnose der gesteigerten Ermüdbarkeit im 
allgemeinen oder in dem betreffenden Gebiete zu verwerten. So 
glaubt Binswanger beispielsweise, daß das Symptom der Ge¬ 
sichtsfeldeinschränkung im Sinne des Förstersehen Verschie¬ 
bungstypus in erster Linie für die Neurasthenie Bedeutung be¬ 
sitzt, was übrigens auch Reuß und Wilbrand hervorheben. In 
ähnlichem Sinne spricht sich Hammerschlag für den diagnosti¬ 
schen Wert seines Ermüdungssymptomes im Gebiete des Hör¬ 
sinnes aus, und Griesbach hält die dauernd verminderte Sensi¬ 
bilität und Vergrößerung der Empfindungskreise für ein diagnosti¬ 
sches Hilfsmittel zur Bestimmung geistiger Übermüdung. Was 
die von mir beobachteten Ermüdungsphänomene betrifft, so halte 
ich mich für berechtigt, zwei davon als pathologisch zu be¬ 
trachten, wie ich des Näheren bereits ausgeführt habe. Ein 
Unterschied derselben gegenüber beispielsweise dem Symptome 


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Über Ermüdungsphäuemeue. 


237 


der Vergrößerung von Empfindungskreisen bei pathologisch ge¬ 
steigerter Ermüdbarkeit liegt in der Dauer der notwendigen 
Erholungspause. Denn während das letztere Ermüdungsphänomen 
sich längere Zeit auf gleicher Höhe erhalten kann und längerer 
Erholungspausen bedarf, um zu verschwinden, ist in meinen Ver¬ 
suchen ein Moment oder höchstens wenige Sekunden Erholung 
notwendig, um die verschwundene Empfindung der Vibration 
wieder zu ermöglichen, eine Eigenschaft, welche dieses Phänomen 
mit der neurasthenischen Gesichtsfeldeinschränkung gemein hat. 

Wenden wir uns nun der Frage zu, worin der Vorgang der 
Ermüdung besteht. 

Brown-Sequard behauptet, daß Hemmungen vom Zentral¬ 
nervensystem aus die Neryentätigkeit im weitesten Umfange, 
besonders aber unter pathologischen Umständen beherrschen, 
und daß auch die Hautempfindlichkeit diesen inhibitorischen 
Einflüssen unterliegt. Er führt demgemäß die Mehrzahl aller funk¬ 
tioneilen Störungen und Funktionsaufhebungen, welche durch Reiz¬ 
wirkung zustande kommen, auf den Vorgang der Hemmung zurück. 

Krafft-Ebing erklärt die leichte Erschöpfbarkeit des 
Neurasthenikers „als andauernde Erscheinungen eines Nerven- 
lebens, das die Bilanz zwischen Produktion und Verbrauch von 
Nervenkraft nicht mehr herzustellen vermag”, und denkt in erster 
Linie an eine chemische Ursache, etwa einer trophischen Störung 
der Ganglienzellen, vermöge welcher sie nur unterwertige chemische 
Produkte aus ihrem Ernäbrungsmateriale zu erzeugen imstande 
sind. „Solange die Zelle lebendige Kraft in Gestalt von spezifi¬ 
scher Arbeitsleistung verausgabt, ist sie offenbar weder imstande, 
durch Molekularattraktion sich zu regenerieren, noch von den 
Produkten ihres Stoffwechsels zu befreien.” Es kommt dadurch 
zu einer Anhäufung der Ermüdungsstoffe, welche schädigend auf 
die Funktionen einwirken und die Ermüdung und Ermüdbarkeit 
steigern. Von dieser Autointoxikation durch Stoffwechselprodukte 
befreit sich die Zelle durch die Gewebsatmung, also durch 
Oxydation jener Produkte, wodurch diese chemisch verändert, 
unschädlich und zur Abfuhr geeignet werden. 

Auch Arndt glaubt, daß bei der hereditären Neurasthenie, 
der Ermüdungsneurose, die molekulare Attraktionsfahigkeit der 
Ganglien eine geringe sei, wodurch eine mangelhafte Ersatz¬ 
fähigkeit für den Verbrauch durch Arbeitsleistung besteht. 

J*fcrbdeb«r f. Psychiatrie und Neurologie. XXV. Bd. 16 


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238 


Dr. Wilhelm Neutra. 


In ähnlichem Sinne behauptet Binswanger, daß durch 
Reizung des Nervensystemes Änderungen in der intramolekulären 
Tätigkeit hervorgerufen werden, und zwar in dem Sinne, daß 
eine vorübergehende Störung im Gleichgewichte zwischen Arbeits¬ 
leistung und Kraftvorrat der Nervenzellen erzeugt wird. Bei der 
Neurasthenie wird nach Binswanger ein größerer Teil von 
Erregungsarbeit geleistet und dadurch der vorhandene Arbeits¬ 
vorrat verbraucht; dagegen aber ist die Fähigkeit, negative 
Arbeit zu leisten, d. h. eine Restitution der potentiellen Energie 
herbeizuführen, verringert, wodurch sich endlich ein völliges 
Darniederliegen der Arbeitsleistung ergibt. 

Besonders eingehend beschäftigt sich Verworn mit diesem 
Thema. Wenn irgend welche Reize auf eine und dieselbe leben¬ 
dige Substanz einwirken, so erzeugen sie immer nur eine Inten¬ 
sitätsänderung der spezifischen Lebensprozesse und zwar entweder 
im erregenden oder lähmenden Sinne. Hört der Reiz auf, so 
tritt das Bestreben der lebendigen Substanz in die Erscheinung, 
ihr durch den Reiz gestörtes Stoffwechselgleichgewicht wieder¬ 
herzustellen. Hat beispielsweise ein Reiz auf die Dissimilations¬ 
phase, auf deu Zerfall der lebendigen Substanz erregend gewirkt, 
so steigt sekundär die Assimilation bis zum völligen Ausgleich 
der Störung. „Wenn nun ein Reiz, der dissimilatorisch erregend 
wirkt, längere Zeit fortdauert oder häufig wiederkehrt, so ent¬ 
wickelt sich schließlich der Zustand der lebendigen Kraft, den 
wir als Ermüdung bezeichnen. Das wesentlichste Merkmal dieses 
Zustandes ist die Herabsetzung der Erregbarkeit des ermüdeten 
Objektes. Derselbe Reiz, der anfangs erregend auf die lebende 
Substanz wirkte, hat also schließlich zu einer Lähmung der¬ 
selben geführt.” 

Alle diese Ansichten vereinigen sich in der Annahme, daß 
die Ermüdung einer durch erregende Einflüsse bedingten Störung 
des Stoffwechsels der erregten Zelle entspricht, doch bleibt noch 
die Frage, welche Zellen es sind, in denen sich diese Vorgänge 
abspielen, ob die Ermüdung vorzugsweise die peripher gelegene, 
eben gereizte Zelle, die Leitung oder die dazu gehörige Zentral¬ 
stelle betrifft. 

Joteyko kommt auf Grund experimentell physiologischer 
Versuche zu dem Resultate, daß die Erscheinungen der motori¬ 
schen Ermüdung von dem Versagen der Tätigkeit der intra- 


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Über Ermüdunggph&nomene. 


239 


muskulären Nervenendigungen herrühren, während die Zentren 
einer bedeutend längeren Arbeitsleistung fähig sind, ohne zu 
ermüden. Dem gegenüber fand Guerrini an Hunden, welche 
durch langes Laufen ermüdet waren, in der Großhirnrinde und 
zwar am stärksten in der motorischen Region verschiedene histo¬ 
logische Veränderungen, wie Vergrößerung der perizellulären 
Lymphräume, Ansammlung von Leukozyten daselbst, Vakuolen 
im Protoplasma und im Kern u. a. 

Wilbrand sowie König nahmen an, daß sich bei der Ge¬ 
sichtsfeldeinschränkung die Ermüdungsvorgänge in der Netzhaut 
selbst abspielen. Reuß wendet sich gegen diese Auffassung, und 
zwar aus dem Grunde, weil die Ermüdungserscheinungen nicht 
nur an dem fixierenden Auge, sondern auch an dem mit einem 
Verband versehenen anderen eintreten. Es ist nach seiner Er¬ 
fahrung das Gewöhnliche, daß das zuerst untersuchte Auge keine 
oder nur geringe Ermüdungserscheinungen aufweist, und diese 
erst am zweiten Auge deutlich zum Vorschein kommen. Nach 
Placzek handelt es sich um eine Abstumpfung des Bewußt¬ 
seinszentrums, nach Simon um Ermüdung der Psyche, nach 
Salomonsohn und Voges um physiologische Schwankungen 
der Aufmerksamkeit. Schmidt-Rimpler hält für die Ursache 
der Ermttdungseinschränkung des Gesichtsfeldes eine Ermüdung 
der Netzhaut selbst, dagegen will Richter ausschließlich die 
mangelhafte Aufmerksamkeit, welche durch nervöse oder körper¬ 
liche Zustände bedingt ist, für die Einengung des Gesichtsfeldes 
bei funktionellen Erkrankungen verantwortlich machen. Hoch 
und Kraepelin verlegen bei ihren Versuchen die Ermüdung 
in das Auge selbst. Nach Schiele handelt es sich bei den Stö¬ 
rungen der Gesichtsempfindung im Sinne einer Gesichtsfeldein¬ 
schränkung vor allem um zentrale, kortikale Vorgänge, die teils 
in pathologischen Zuständen der empfindenden Nervenelemente, 
teils in psychischen Einwirkungen zu suchen sind. Der gleichen 
Ansicht ist Sänger. Auch Binswanger glaubt nicht, daß die 
Ermüdungsgesichtsfelder bei Hysterie eine pathologisch erhöhte 
Ermüdbarkeit des peripheren Sinnesapparates beweisen und daß 
diese Versuche ebensogut mit der Auffassung in Einklang ge¬ 
bracht werden können, daß hier cortico-sensorische Ermüdung 
vorliegt oder daß es sich um Störungen der Aufmerksamkeit 
handelt. 

16 * 


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Dr. Wilhelm Neutra. 


Corrodi verlegt bei seinen Versuchen den Sitz der Er¬ 
müdung in den Hörnerven, welcher von Zeit zu Zeit ausruhe. 
Auch Eitelberg schließt aus dem raschen Absinken der Hör¬ 
dauer in seinen Ermüdungsversuchen auf eine verminderte 
Energie des Acusticus. Derselben Ansicht ist Hammerschlag. 

Nach Krafft-Ebing ist bei der Neurasthenie die zentrale 
Sinneswahrnehmung gestört, indem die Überführung der Per¬ 
zeption in eine Apperzeption erschwert ist, zeitweise bis zur 
vollkommenen Unmöglichkeit. Hier ruft der Sinneseindruck in 
der kranken Hirnrinde das betreffende Erinnerungsbild nicht 
wach und kann mit einem solchen nicht verschmelzen. Die Ur¬ 
sache hiervon ist mangelnde Aufmerksamkeit infolge der Okku¬ 
pation des Ich durch Krankheitssymptome oder auch mangelnde 
Aufmerksamkeitsfähigkeit. „Häufiger besteht aber eine psycho¬ 
physische Ursache, eine Hemmung im Wahrnehmungsorgane in¬ 
folge eingetretener Erschöpfung.” 

Die Verschiedenartigkeit dieser Erklärungsversuche über 
den Sitz der Ermüdung hat ihren Grund in der Verschiedenheit 
der ihnen zugrunde gelegten Ermüdungsphänomene. Eine an¬ 
strengende Muskeltätigkeit ermüdet zunächst den Muskel, wäh¬ 
rend die Aufmerksamkeit als minder beteiligt für die Ermüdung 
wenig in Frage kommt. Dagegen erfordert beispielsweise die 
Untersuchung auf Gesichtsfeldeinschränkung nicht nur eine an¬ 
dauernde Leistung der peripheren Sinneszellen, sondern in her¬ 
vorragendem Maße eine Anspannung der Aufmerksamkeit, gegen 
welche die Tätigkeit der direkt gereizten Stelle der Retina nur 
wenig in Betracht kommt. Es ist nicht einzusehen, warum die 
Leistung der Retina gerade während der Gesichtsfeldprüfung 
eine so bedeutend größere sein soll als bei dem gedankenlosen 
Umherblicken. Es müßte im Gegenteile während eines stunden¬ 
langen Aufenthaltes im Freien, wobei meist eine bedeutend 
größere Reizung der Netzhaut durch das Licht stattfindet, eine 
intensivere Ermüdung der retinalen Endigungen Zustandekommen, 
als während der relativ kurzen Zeit der Untersuchung. Warum 
sollten gerade die Lichtstrahlen, welche von der Marke des 
Perimeters zum Auge reflektiert werden, eine stärkere Reizung 
des peripheren Gebietes im Augeuhintergrunde hervorrufen, als 
die sonst bei offenen Augen einfallenden Lichtreize? Dagegen 
ist es hier die Aufmerksamkeit, d. h. die psychische Yerarbei- 


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Über Ermüdang8phänomene. 


241 


tung der Perzeption, welche beim Perimetrieren in ungewöhn¬ 
lichem Maße in Anspruch genommen wird, and dies um so mehr, 
als man bei dem gewöhnlichen Sehakte nar das zentral gereizte 
Gebiet der Retina bewußt apperzipiert, die Randpartien des 
Gesichtsfeldes jedoch psychisch mehr oder weniger vernachlässigt. 
Pas Individuum wird daher bei der Gesichtsfeldbestimmung ge¬ 
zwungen, die sonst für das Bewußtsein unterschwelligen Werte 
zum vollen Bewußtsein zu bringen, und diese ungewohnte 
Leistung führt meines Erachtens bei leichter ermüdbaren Per¬ 
sonen zur Entstehung von Ermüdungsgesichtsfeldern. Das zen¬ 
trale Sehen entspricht einer durch große Übung ausgefahrenen 
Bahn und ermüdet daher viel später als das Sehen in der Peri¬ 
pherie, da sich hier die Überführung der Perzeption in eine 
Apperzeption auf ziemlich ungeübten Bahnen bewegt. Es befindet 
sich also, wie ich glaube, bei dem Ermüdungsphänomene der 
Gesichtsfeldeinschränkung der Sitz der Ermüdung zum größten 
Teile hinter der Retina, während diese selbst, wie eben jede 
andere gereizte Zelle, ebenfalls, aber nur von ganz untergeord¬ 
neter Bedeutung, der Ermüdung anlieimfällt, Dieses letztere 
dürfte jedoch bei dem Perimetrieren keineswegs größer sein als 
bei dem gewöhnlichen Sehakte. Eine ganz gleiche Erwägung 
bezüglich der Ermüdungsphänomene auf dem Gebiete des Ge¬ 
hörsinnes dürfte zu analogen Anschauungen führen. 

Etwas anders verhält es sich bei den Ermüdungsphänomenen 
im Gebiete der Vibrationsempfindung. Wie ich anderenorts aus¬ 
geführt habe, halte ich das Vibrationsgefühl für die Empfindung 
der Druckschwankungen, welche an der Stelle der Stimmgabel¬ 
aufstellung auf die entsprechenden Nervenendigungen in rascher 
Folge Reizwirkungen ausüben, also eine Art Summation von 
Reizen erzeugen. Dies hat nun vermöge der großen Reizkraft 
ein rasches Ermüden des peripheren sensiblen Neurons zur 
Folge. Ist die Erschöpfung desselben eingetreten, so sind die 
weiteren Longitudinalschwingungen des Stimmgabelfußes nicht 
mehr imstande, eine Reizwirkung auf diese Zelle auszuüben, 
und es verschwindet die Vibrationsempfindung. Wird nun die 
weiter abklingende Stimmgabel an irgend eine andere Körper¬ 
stelle gebracht, so sind ihre nunmelir bedeutend schwächer ge¬ 
wordenen Schwingungen hier imstande, auf die noch nicht er¬ 
müdete Zelle eine für das Individuum deutlich wahrnehmbare 


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Dr. Wilhelm Neutra. 


Beizung hervorzurufen. Die dadurch entstandene neuerliche 
Vibrationsempfindung währt nun unter normalen Verhältnissen 
solange, bis die Amplituden der Stimmgabel unter den für das 
betreffende Individuum geltenden Schwellenwert herabgesunken 
sind oder wenigstens demselben sehr nahe kommen. Ich bin also 
geneigt, für diesen Versuch der Ermüdung der Apper¬ 
zeption, respektive der Aufmerksamkeit nur sehr ge¬ 
ringe Bedeutung beizumessen, und nur die Ermüdung 
des peripheren Neurons für die Ursache dieses Ermü¬ 
dungsphänomens anzusehen. 

Dagegen reicht dieser Mechanismus für die Erklärung der 
beiden anderen Versuche nicht vollständig aus. In diesen ver¬ 
schwindet die Vibrationsempfindung augenscheinlich früher als 
in dem ersten Falle und zwar zu einer Zeit, in welcher die 
Amplitudengröße noch eine ziemlich bedeutende ist, und ander¬ 
seits ist dieselbe Zelle schon nach einem Augenblicke wieder 
imstande, die Vibration zu perzipieren. Es kommen bei diesen 
Ermüdungsphänomenen, wie ich glaube, beide Faktoren 
in Betracht, und zwar sowohl die Ermüdbarkeit der 
peripheren, gereizten Zelle als auch die der Apper¬ 
zeptionsfähigkeit, außerdem aber noch das Moment der 
Übererregbarkeit der Zentren, wie dies zum Wesen der 
Neurasthenie gehört, in dessen Bereich diese Ermü¬ 
dungsphänomene fallen. Nach Binswanger u. a. zeigt sich 
bei dem Neurastheniker stets neben der Überermüdung die Über¬ 
erregung, so daß selbst unterschwellige Reize auf ermüdete Zen¬ 
tren zu wirken imstande sind. Dabei sind gerade die raschen 
Schwankungen im Intensitätsgrade der Schädigungen, welche 
die Nervenzellen erleiden, für die Neurasthenie besonders charak¬ 
teristisch. „Jede, selbst die geringfügigste Mehrung des Kraft¬ 
vorrates (durch Buhe) bedingt eine Änderung des funktionellen 
Zustandes. So kommt es, daß kurz hintereinander ein und das¬ 
selbe Zentrum sowohl den Zustand der Übererregung und nach¬ 
folgende Erschöpfung bei Inanspruchnahme zeigen, als auch um¬ 
gekehrt nach einer fast unmerkliclien Ruhepause die Zeichen der 
Übererregung darbieten kann.” Das trifft nun auch für meine, 
als pathologisch bezeichneten Ermüdungsphänomene, der alter¬ 
nierenden und undulierenden Vibrationsempfindung, zu. Die Über¬ 
empfindlichkeit der Nervenzellen bei Neurasthenie und den ver- 


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Über ErmüdaBgsphäoomene. 


243 


wandten Zuständen bewirkt zunächst eine heftige, manchmal so¬ 
gar unangenehme Vibrationsempfiudung, welche aber vermöge 
der pathologisch vermehrten Ermüdbarkeit rasch abklingt, was 
dadurch noch begünstigt wird, daß die Aufmerksamkeit und 
Apperzeptionsfähigkeit des Neurasthenikers, also die zentralen 
Vorgänge, einer rascheren Ermüdung unterliegen als bei dem 
gesunden Individuum. Nach einer kurzen Zeit der Ruhe, und 
zwar, wie meine Versuche zeigen, häufig schon nach einer Sekunde, 
tritt bereits wieder die Übererregbarkeit sowohl der peripheren 
wie auch der zentralen Nervenzellen in die Erscheinung, wo¬ 
durch die neuerdings an dieselbe Stelle gesetzte Stimmgabel 
wieder recht deutlich empfunden wird. 

Für die gütige Überlassung des reichen Materiales der 
Abteilung bin ich meinem verehrten Chef, Herrn Professor Dr. 
H. Schlesinger, zu ganz besonderem Danke verpflichtet. 


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Verworn, Ermüdung u. Erholung. Berl. klin. Wochenschr. 1901, Nr. 5. 
Wilbrand, Über neurasthenische Asthenopie u. sogenannte Anästhesia 
retinae. Arch. f. Augenh. Bd. XII. 

Derselbe, Über typische Gesiohtsfeldanomalien bei funktionellen Er¬ 
krankungen d. Nervensystems. Neurol. Zentralbl. 1891. 

Widowitz, Über d. geistige Ermüdung d. Schulkinder. Wiener klin. 
Wochenschr. 1904, Nr. 10. 


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(Aus der ersten medizinischen Klinik des Herrn Hofrates Prof. Dr. H. Nothnagel.) 

Erfahrungen über Diagnose und Prognose des Meniere- 
schen Symptomenkomplexes. 

Von 

Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoch wart. 

Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

Einleitung. 246 

Terminologische Fragen . 248 

I. Die apoplektischen Formen. 251 

A. Die nicht traumatischen Ursprungs. 251 

B. Die traumatischen Ursprungs (Caisson-M6niere — Kopftraumen) . 260 

II. Meniöresche Symptome bei vorher vorhandenen Ohr- 

affektionen, besonders bei chronischen Mittelohr- und 
Labyrintherkrankungen in ibrerDiagnose und Differen tial- 
diagnose. 267 

Einleitende Bemerkungen über da9 Symptom Schwindel überhaupt und über 

seine Differentialdiagnose. 267 

Beispiele über die Methodik der Differentialdiagnose. 274 

A. Gegenüber den Hirntumoren. 274 

B. Tabes und progressive Paralyse . 277 

(\ Fälle zur Illustrierung der Differentialdiagnose gegenüber spinalen 

und cerebralen Erkrankuugen auf arteriosklerotischer Basis . . . 281 

Anhang: Fälle von isolierter Cerebralpolyneuritis mit Meniere- 

gymptomen. 283 

D. Die Differentialdiagnose gegenüber den Neurosen. Begriff des 

„Pseudomeni^re ,, . 287 

a) Beziehungen des Pseudomeuiere zur Hysterie. 287 

h) „ „ „ „ Epilepsie. 292 

r) „ „ Hemicranie. 295 

d) n „ „ v Neurastheuie. 297 

ej „ „ „ „ zur angioneurotischen Schwer¬ 
hörigkeit . 298 


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246 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


Seite 


Schlußbetrachtungen über den Begriff Pseudomenifcre. 299 

Jj Menieresymptome + Epilepsie. — Epilepsie -f Ohraffektionen. 

Combinationeu mit traumatischer Hysterie. «... IKK) 

III. Die formes frustes des Meniereschen Anfalles. 307 

Ä. Fälle ohne oder mit sehr geringer Hörstörung. :t08 

B. Fälle, bei denen nicht typischer Drehschwindel sondern nur eine 

Art von Taumelgefühl auftritt.•. 313 

('. Fehlen des Ohrensausens, eventuell Abnahme desselben bei den 

Anfällen. 315 

1). Gibt es Mänieresymptome ohne Schwindel?. 318 

IV. Die Prognose des Meniereschen Svmptamenkomplexes. 320 

V. Anhang (Therapeutische Notiz). 325 

Tabellen. 327 


Einleitung — Terminologische Fragen. 

Da ich von meinem Verleger die Nachricht erhielt, daß 
eine neue Auflage meines Buches über den Meniereschen 
Symptomencomplex l ) notwendig sei, ging ich daran, mein 
Material über diese merkwürdige Krankheit zu sichten. Ich fand 
in meinem Besitze 208 Krankengeschichten von Fällen, die 
ich hauptsächlich an der Klinik Nothnagel, zum kleinen Teil 
in der Privatpraxis gesehen habe — Krankengeschichten, die da¬ 
durch um so wertvoller waren, als die Ohrbefunde fast in allen 
Fällen von Spezialisten der Otiatrie gemacht worden waren. 
Außerdem besitze ich eine nicht geringe Zahl von Aufzeich¬ 
nungen über Fälle, die in differentialdiagnostischer Beziehung 
interessante Anknüpfungspunkte bieten. 

Für die gütige Überlassung des Materiales erlaube ich mir 
an dieser Stelle meinem verehrten Chef Herrn Hofrat Noth¬ 
nagel meinen besten Dank zu sagen. 

Da ich nun das stattliche Material übersah, mußte mir ein 
Bedenken kommen: War denn die Diagnose immer richtig? Hätte 
ich nicht manchmal bei Verfolgung des Verlaufes der Krank¬ 
heitserscheinungen dieselbe korrigieren müssen? Und da ich mir 
einmal diese Frage vorlegte, schloß sich naturgemäß eine andere 
an: Wie ist denn eigentlich überhaupt die Prognose des Leidens? 

l ) Nothnagels spez. Pathologie und Therapie, XI. Bd.. II. Teil. III. A. 

Wien 1695. Holder. 


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Meni&rescher Symptomenkomplex. 


247 


Da ich aber nun daran dachte, auch darüber etwas zu 
publizieren, da ich meine Krankengeschichten durchzulesen be¬ 
gann, wurden natürliche Bedenken in mir laut. Wie wenig 
Fälle hatte ich wirklich durch Jahre verfolgen können! 
Manchen hatte ich tatsächlich nach einigen Jahren als vom 
Schwindel befreit getroffen: war er aber auch schwindelfrei 
geblieben? Was ist denn das Endschicksal derjenigen, die 
nicht zur Heilung kommen? Gerade diese mußte ich wieder 
sehen, da sonst die Statistik zu günstig ausfallen könnte, da ja 
die Gebesserten gerne ihren alten Arzt aufsuchen, die Ungeheilten 
natürlicherweise oft anderwärts Hilfe anstreben. 

Ich unternahm infolge dieser Bedenken eine ungemein 
mühsame Arbeit: Ich stellte die Adressen der von mir unter¬ 
suchten Fälle zusammen. Da meine Sammlung aber schon 
im Jahre 1886, also vor 18 Jahren, begann, war es keine 
Kleinigkeit, die Leute zu eruieren; zum Glücke erfreute ich mich 
der tatkräftigen Unterstützung des Vorstandes des Polizei- 
Wohnungsbureaus, Herrn ßegierungsrat Frankl. An all die 
Leute mußte geschrieben werden; an die auswärts Wohnenden 
wurden ausführliche Fragebogen gesendet, die zum Teil sehr 
gut beantwortet (oft mit Unterstützung des Hausarztes) zurück¬ 
kamen; andere wurden eingeladen und aufs neue ganz genau 
untersucht. Ich hatte mich dabei der wertvollen Unterstützung 
der Herren Kollegen DDr. Heß, Stern, Müller, cand. med. 
Frisch, Olbert zu erfreuen; bei Zusammenstellung der Tabellen 
war mir Herr cand. med. Frisch behilflich, bei der Durchsicht 
der Arbeit Herr Dr. A. Berger. 

Nur auf diese Weise kam ich in die Lage, halbwegs Authen¬ 
tisches auszusagen und einen Beginn für weitere Arbeiten zu 
schaffen, indem die Anzahl der Revisionen 80 betrug (darunter 
zirka */a persönliche Untersuchungen). Diese Recherchen brachten 
mir nicht nur wertvolle prognostische Anhaltspunkte, sie waren 
auch in diagnostischer Hinsicht ungemein belehrend. 

Ich konnte mich überzeugen, daß die Diagnose ausnahmslos 
dort beizubehalten war, wo ich sie mit Bestimmtheit gestellt 
hatte; auch bei manchen, wo ich sie als wahrscheinlich gestellt 
habe, bewahrheitete sie sich; dort, wo ich sie als unsicher be- 
zeichnete, war gewöhnlich später eine andere Krankheit nach¬ 
weisbar. Dadurch, daß ich bei dieser Gelegenheit sah, wie leichte 


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248 


Prof. Pr. L. v. Frankl-Horhwart. 


Formen in schwere übergegangen waren, sowie auch schwere in 
leichte, konnte ich manche Details, die für die Erkenntnis der formes 
frustes des Meniereschen Schwindels interessant sind, eruieren. 

Ehe ich aber zur Mitteilung meiner diagnostischen Betrach¬ 
tungen gehe, ist es unerläßlich, noch kurz die Terminologie 
zu rekapitulieren, welche ich zur Grundlage der Erörterung machte, 
welche Terminologie ich im Jahre 1895 in meiner monographischen 
Darstellung benutzt hatte, die damals allerdings mit mancher Tra¬ 
dition im Widerspruch war und auch von manchen Seiten Wider¬ 
spruch erfuhr, nun aber doch, soweit ich sehe, in den meisten 
Lehrbüchern uud Darstellungen akzeptiert wurde. Nur der von 
mir aufgestellte Begriff des Pseudomeniere hat noch immer manche 
Gegnerschaft aufzuweisen; doch hoffe ich ihm nun ein dauerndes 
Bürgerrecht verschaffen zu können. Betreffs der Literatur ver¬ 
weise ich auf das Verzeichnis in dem erwähnten Buche, sowie auf 
die demnächst erscheinende 2. Auflage desselben. Hier sollen nur 
einige neuere Erscheinungen, die für den Zusammenhang wichtig 
sind, namentlich angeführt werden. 

Meniere hatte als Typus der damals neuen Affektion Fälle 
beschrieben, in denen ein kräftiges, bisher ohrgesundes Individuum 
plötzlich unter Schwindel, Ohrensausen und Erbrechen erkrankt, 
zusammenstürzt, fast plötzlich ertaubt, um dann dauernd gehör¬ 
los zu bleiben und um obgenannten Zuständen fast permanent 
unterworfen zu sein. Dieser klassische Typus wurde dann — 
und wird auch häufig — als Menieresche Krankheit xor’ egojr»/»' 
bezeichnet. Bald aber sah man, daß sich ähnliche Zustände 
entweder plötzlich oder langsam bei schon früher vorhandenem 
Ohrenleiden entwickeln: man sprach dann (so z. B. auch 
Politzer) von Meniereschen Symptomen. Diese Terminologie 
konnte nicht beibehalten werden, da von anderen Autoren 
(so z. B. von Charcot) alle Komplexe dieser Art (i. e. die 
sogenannte echte Menieresche Krankheit -|- dem oberwähnten 
Symptomenkomplexe) als Menieresche Krankheit bezeichnet 
wurden: um so leichter war diese Zusammenfassung möglich 
als die Anhänger der ersten Terminologie nicht einmal die 
historische Begründung für sich hatten, da schon Meniere 
in seiner größeren Mitteilung zwei Fälle seiner neu beschriebenen 
Affektiou subsummiert, in denen der Schwindel zu einer alten 
Otitis purulenta getreten war. 


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ileniereseher Symptomenkomplex. 


249 


Eine heillose Verwirrung war durch diese eigentlich für das 
Wesen der Sache belanglose Meinungsverschiedenheit entstanden. 
In Versammlungen, in polemischen Schriften, bei Konsilien wurde 
immer wieder diese leidige terminologische Differenz diskutiert. Ich 
schlug dann in Ausbauung bereits vorhandener Vorschläge (so z. B. 
desjenigen von Urbantschitsch in seinem Lehrbuche) eine andere 
Einteilung vor, die ich nun folgen lasse, indem ich nur neu den damals 
von mir erst angebahnten Begriff der Polyneuritis cerebralis 
menieriformis (der multiplen selbständigen Gehirnnervenneuritis 
mit Meniersymptomen) einreihe — ein Symptomenkomplex, den 
ich nun auch mit Benutzung neuerer Beiträge weiter unten 
schildern werde. 

Menierösche Symptome, 

ein Krankheitsbild, bestehend in Schwerhörigkeit und 
der Begleit-Trias Ohrensausen, Schwindel, Erbrechen, 
daneben oft Kopfdruck, cerebellare Ataxie, bisweilen Nystagmus, 
in seltenen Fällen auch Diarrhöen. 

I. Die Erkrankung erfolgt momentan bei bisher intaktem 
Gehörorgane. 

1. Die apoplektische Form (eigentliche Menieresche 
Krankheit mancher Autoren, apoplektische Taubheit). Anatomi¬ 
sches Substrat: Bluterguß ins Labyrinth. Infiltration des Acu- 
sticus. 

Vorkommend a) bei ohrgesunden und auch sonst gesunden 
Individuen, b) bei ohrgesunden, aber sonst kranken Individuen 
(Leucaemie, Nephritis, Lues, Metalues, so namentlich bei Tabes). 

2. Gewisse traumatische Formen, bei welchen sich die 
Trias unmittelbar dem Insulte anschließt. (Schwere Kopfkon- 
tnsionen, Caissonerkrankungen, heftige Detonationen.) 

II. Die Erkrankung gesellt sich zu vorliegenden Ohren- 
erkranknngen entweder akuter oder chronischer Natur. Der 
Schwindel entwickelt sich plötzlich bei schon früher vorhandenen 
Affektionen oder er entwickelt sich allmählich gleichzeitig mit 
ihnen; bisweilen ist das Auftreten im Verlaufe von chronischen 
Ohrleiden ganz schleichend, mit schwachem Taumelgefühl begin¬ 
nend, zu schweren Anfallen übergehend. 

Man unterscheidet nun je nach dem Sitze der Er¬ 
krankung: 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoch wart. 


M4ni6rescher Symptomenkomplex. 

a) Bei Mittelohrprozessen, a) bei aknten (nicht häufig), 
ß> bei chronischen (sehr häufig). 

b) Bei Labyrinthprozessen, a) bei akuten (nicht sehr 
häufig), hierher gehören vielleicht die epidemisch anftretenden 
Formen von Taubheit und Schwindel bei Kindern, die Abortiv¬ 
form der Meningitis cerebrospinalis, ß) bei chronischen (sehr 
häufig), y) die transitorischen toxischen Formen (Chinin, 
Salizylvergiftung etc.). 

c) Bei Prozessen im äußeren Gehörgange (Cerumenpfropfen). 
Sehr selten. 

d) Die Schwindelsymptome bei akuten und chronischen 
Erkrankungen des Nervus acusticus, seines Kernes und 
seiner intracerebralenVerzweigungen;hierhergehörengewisse Fälle 
von Tabes, ferner die Tumoren des Hörnerven, und die Basaltumo¬ 
ren, welche denselben komprimieren. Hierher gehört vermutlich der 
zuerst von mir beschriebene Symptomenkomplex: akut — even¬ 
tuell fieberhaft, mit Herpes — auftretende Facialislähmung mit ner¬ 
vöser Hörstörung und MöniereschenSymptomen. (Polyneuritis 
cerebralis menieriformis.) 

IIL Durch äußere Eingriffe und Einflüsse ent¬ 
stehender transitorischer Ohrenschwindel. (Ohraus¬ 
spritzung, Katheterisierung, Luftdouche, Kopfgalvanisation, hef¬ 
tige Dreh- und Schaukelbewegungen. Seekrankheit, starke Schall¬ 
einwirkung.) 

IV. Anhang. Pseudomenieresche Anfälle: Paroxys¬ 
males Auftreten von Schwindel, Ohrensausen und Er¬ 
brechen bei intaktem Ohre bei Neurosen als Aura des 
epileptischen und hysterischen Anfalles — hie und da (?) 
bei Neurasthenie und Hemicranie zu beobachten. 

Bei den folgenden Erörterungen wird die Gruppe III, 
welche nur ein theoretisches Interesse hat, nicht weiter berührt. 
Aber auch die Fälle, wo es sich um Ohrschwiudel bei akuten 
Mittelobr- und Labyrintherkrankungen handelt, kann ich nicht 
weiter besprechen, da ich über keine diesbezüglichen Fälle ver¬ 
füge. Wie selten müssen derartige Beobachtungen sein, wenn 
sich bei meinem gewiß nicht kleinen Materiale nicht ein einziger 
findet! Übrigens zeigt auch ein Überblick über die Literatur, daß 


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Menikrescher Symptomenkomplei. 


251 


derartige Vorkommnisse nnr ganz vereinzelt sind. Nicht zn selten 
fand ich natürlich bei meinen Untersuchungen Cerumenpfröpfe; 
doch konstatierte ich nach Ausspritzung immer noch einen tie¬ 
feren Ohrenprozeß, so daß ich von meinem Standpunkte aus die 
Kasuistik nicht bereichern kann, ohne daß ich jedoch an die 
Möglichkeit eines derartigen Ereignisses Zweifel hegen will. 

Meine Besprechung bezieht sich nun I. auf die apoplek- 
tischen Formen, A ohne Trauma, B mit Trauma; II. auf 
die Schwindelerscheinungen bei chronischen Mittelohr¬ 
und Labyrinth-Erkrankungen mit ihren bisweilen schwierigen 
Differentialdiagnosen, besonders gegenüber den pseudomöntere- 
schen Formen. 

I. Die apoplektischen Formen. 

A. Die nicht traumatischen Ursprungs. 

Ich habe vom apoplektischen meni&reschen (nicht traumati¬ 
schen) Symptomenkomplexe 6 Fälle gesehen: bei vieren handelte es 
sich nur um Lähmung des nervösen Hörapparates, bei zweien waren 
andere Lähmungen assoziiert: einmal der Totalfacialis, einmal der 
sensible Trigeminus. Die beiden letztgenannten habe ich bereits in 
meinem Buche als eine neue Form beschrieben; ich konnte seither 
weder selbst, noch in der Literatur ähnliche auffinden. Von der erst¬ 
genannten Form habe ich einen Fall auch an der erwähnten Stelle 
publiziert; drei weitere füge ich nun dazu, da sie besonders da¬ 
durch interessant sind, daß ich sie nach Jahren wieder untersuchen 
konnte. Die nun folgenden,sowie sämtliche später reproduzierten Be¬ 
obachtungen werden nur in kurzer Skizze mitgeteilt werden, da ja 
die Krankheitsbilder ziemlich einförmig sind. Ich lasse daher na¬ 
mentlich in der Anamnese und im Status alle negativen Merk¬ 
male weg und konstatiere im voraus, daß in jedem Falle der 
innere und der Nerven-Status vollkommen aufgenommen wurde, 
daß jedesmal der Augenhintergrund untersucht wurde, daß jedes¬ 
mal Eiweiß- und Zuckerproben vorgenommen wurden. Bezüglich 
der Ohrbefunde will ich bemerken, daß sie fast ausnahmslos von 
Spezialisten kontrolliert wurden. Ich gebe aber auch für diese 
Untersuchung immer nur einen Auszug aus den Befunden. 

Beobachtung I. 

F. S., Finanzoberaufseher, 42 Jahre alt. Zum ersten Male untersucht 
am 26. Juli 1897. 


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252 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoehwart. 


Hereditär nicht belastet, nie eine Verletzung. Kein Abusus im Trinken, 
kein Raucher. Lues negiert; im Jahre 1890 Larynx-Lungentuberkulose. Pat. war 
nie ohrenleidend, hatte nie Ohrensausen. Im Jahre 1893 bekam er eines Morgens, 
nachdem er vorher stet9 gut gehört hatte, eine halbe Stunde nach dem Früh¬ 
stück heftiges Erbrechen anfangs der genossenen Nahrung, dann schleimiger 
Massen, wobei sich heftiger Schwindel, kalter Schweiß, Vernichtuugsgefühl ein¬ 
stellte; auch während des Anfalles kam es nie zu Ohrensausen — das Gehör 
blieb ausgezeichnet. Erst nach 3 Jahren (Dezember 1896) trat nach einer sehr 
heftigen Attacke Sausen im rechten Ohre auf, das plötzlich fast ganz ertaubte, 
ohne daß der Hördefekt sich je mehr ausglicb. (Nie bewußtlos, keine Sehstörung, 
keine Blasen-, Mastdarm-Störung. Gedächtnis, Sprache normal.) 

Bei der damaligen objektiven Untersuchung fand ich das Nerven¬ 
system völlig normal; dagegen war eine bedeutende Hörstörung rechts zu konsta¬ 
tieren. Hörschärfe: Konversationssprache R. :l»i, L.: 12 m. Weber nach links. 
Rinne beiderseits +, Kopfknochenleituns für Uhr R. etwas herabgesetzt. Ich hatte Ge¬ 
legenheit, den Pat. nach 7 Jahren, am 2. Juni 1904, wieder zu seheu. Er be¬ 
richtete, daß er bis 1902 an ähnlichen Schwindelanfällen gelitten habe, die von 
Erbrechen und Sausen am (schwerhörig gebliebenen) rechten Ohre begleitet waren. 
Außerdem hatte er im Jahre 1899 einige Stunden nach einer starken Aufregung 
einen plötzlichen Bewußtseinsverlust durch zirka 1 bis 2 Minuten. Daruaeh 
Mattigkeit, kein Schwindel, kein Ohrensausen, kein Erbrechen, keine Krämpfe, 
kein Zungenbiß; ähnliche Anfälle seitdem jedes halbe Jahr bis Dezember 1902, 
dann Zessieren derselben. Außerdem klagt S. über Husten. — Die Untersuchung 
ergab nur einen leichten Spitzenkatarrh links. Der Nervenbefund war abermals 
negativ. Der Trommelfellbefund war im wesentlichen negativ. Konversations¬ 
sprache R.: 1 w, L.: normal. Weber nach L. Rinne L. +, R. unausführbar. Schwa- 
bach leicht verkürzt. Galtonpfeife beiderseits 35. Kopf knochenleitung beiderseits 0. 

Beobachtung II. 

Rsk. J., 33 Jahre. Näherin. 

Anamnese vom 7. Januar 1897. Mutter der Pat. soll schwerhörig seiu; 
eine Schwester war ebenfalls obrenleidend, starb an Tuberkulose. Pat. war bis 
auf geringe Blutarmut gauz gesund, batte bie und da Schwindelanfälle, deneu 
bisweilen Erbrechen folgte; nie Ohrensausen; das Gehör war ausgezeichnet. 
Anfangs November 1897 wurde Pat. plötzlich von Ohrensausen befallen — dazu 
gesellte sich nach einigen Stunden Schwindel, Herzklopfen, Übligkeit, Erbrechen 
(keine Bewußtseinstrübung); beim Liegen zessierte die Schwindelempfindung. 
Seit dieser Attacke blieb am linken Ohre Schwerhörigkeit und Sausen perma¬ 
nent; Schwindelanfälle wiederholten sich von da ab ein- bis zweimal im Jahre. 
Ähnlich lautete der Bericht, den Pat. bei der neuerlichen Untersuchung vom 
8. Juni 1904 un9 erstattete. Die Anfälle wiederholen sich in ähnlichen Zeit¬ 
räumen; der letzte war im März 1904 nach dem Tode ihrer Mutter. Dieselben 
kamen gewöhnlich des Morgens, und zwar in der Form von heftigem Drchschwindel 
ohne bestimmte Richtung durch mehrereStunden, so daß Pat. liegen mußte; zu Beginn 
des Anfalles tritt Erbrechen und Abführen auf, das Ohrensausen wird heftig 
und ergreift beide Ohren; das Bewußtsein bleibt vollkommen frei. Zwischen den 
großen Attacken ist die Pat. völlig gesund, nur hie und da kommt es zu leichten 


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Meniferescher Symptomenkomplex. 


253 


Schwindelempfindungen; nach Gfenuß von Milch und Gemüse tritt bisweilen 
Diarrhoe auf. Hie und da Kopfdruek (ohne Erbrechen). Der Gehörbefund 
glich vollkommen dem ersten, der an der Klinik weiland Prof. Gr über auf¬ 
genommen worden war. Trommelfelle bis auf leichte weißliche Trübungen 
normal. Konversationssprache R. 6 mt. L., 2*5 mt. Kopfknochenleitung (Uhr) rechts 
vorhanden, links fehlend. Weber nach R. Rinne R. +, L. + (?). Schwabach ver¬ 
kürzt, Galtonpfeife R. 25; L. 35. 

Die Pat. macht im ganzen einen etwas nervösen — erregten Eindruck; 
der objektive Befand ist völlig negativ. 

Beobachtung III. 

Ks. Cornel, 56 Jahre, Gutsbesitzer. 

Pat. litt in den Jahren 88 bis 97 oft an Gries im Urin, war sonst stets 
gesund — nie Lues. April 1900 Fall aufs Eis ohne Folgen; nie ohrenleidend, nie 
subjektive Geräusche. Am 1. August 1900 abends fühlte er sich noch sehr wohl. 
Des Nachts erwachte er durch Geschrei der Umgebung und fand sich auf dem 
Boden liegend; er glaubt, daß er bis 1/2 Stunde bewußtlos war. Er empfand 
sofort heftiges Sausen im linkeu Ohre, Kopfdruck, Schwindel, Dunkelsehen, am 
zweiten Tage konstatierte der Arzt Taubheit des linken Ohres. Von da ab lag 
der Kranke monatelang zu Bette, wurde von entsetzlichem Schwindel geplagt, 
konnte nicht in die Höhe schauen; daneben heftiges Ohrensausen, das bei den 
Paroxyamen nicht exazerbierte. Sonst keinerlei nervöse Beschwerden. Da der 
Zustand nach Monaten nur eine mäßige Besserung aufwies, reiste Pat. nach 
Wien. Der Nervenbefund war bis auf leichtes Rombergphänomen negativ. Der 
Ohrenbefund (Herr Hofrat Politzer): Trommelfelle normal. Konversationssprache 
R. 3 mt. L. o. Weber nach R. Rinne R. +, L. unausführbar, K. Kn. Leit. R. +, L. 0 . 

Als ich den Pat. am 16. Juli 1904 wieder sah, berichtete er, daß der 
eigentliche Schwindel im Laufe der Zeit aufgehört hatte, doch litt er immer an 
einer gewissen Unsicherheit, öfters an Kopfschmerz, nie jedoch an Erbrechen. 
Am 9. Juni 1904 morgens erwachte er mit einer Schwere des linken Beines und 
mit einer starken Sprachbehinderung — Zustände, die sich allmählich in den nächsten 
Tagen besserten, ohne daß der Gang je wieder normal geworden wäre. Das Ge¬ 
hör links ist unverändert schlecht, rechts verminderte es sich allgemach auch 
ziemlich bedeutend, das Ohrensausen ist heftig, exazerbiert jedoch niemals. 
Nie Erbrechen. Seit der Zeit ist der Pat. reizbar, weinerlich, gedächtnis¬ 
schwach. 

Bei der Untersuchung zeigt sich tatsächlich ein leichter Grad von 
Demenz. An den linken Extremitäten sind die Sehnenrefiexe deutlich gesteigert, 
es besteht Clonus — sonst ist der Nerven- (inklusive Augen-) Befund negativ, 
die Sprache ist normal. 

Ohrbefund (Herr Prof. Urbantschitscb): Trommelfelle leicht einge¬ 
zogen. Uhr R. a. c. L. 0 . R. Unterempfindlichkeit für hohe Töne. Rinne R. L. + 
Luftleitung für alle Töne sehr verkürzt. Geringe Tubenschwellung. Weber? 
Schwabach verkürzt. Diagnose: nervöse Affektion. 

Die folgenden Beobachtungen finden sich schon in meinem be¬ 
reits zitierten Buche und seien daher nur kurz erwähnt. 

Jahrbücher f. Pajchiatric und Neurologie. XXV. Bd. 1? 


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254 


Prof. Dr. L. y. Fraokl-Hocbwart. 


Beobachtung IV. (1. c. S. 121.) 

F. D., 32 Jahre, Beamter, untersucht am 23. April 1895. Stets gesund, 
nie luetisch. Gehör ausgezeichnet, nie Ohrensausen. 20. April 1895 stand Pat. 
vollkommen gesund auf. Als er das Haus verlassen wollte, trat plötzlich Sausen 
in beiden Ohren auf, daneben Schwindel und Schwerhörigkeit. Nachdem die 
Attake 20 Minuten gedauert hatte, folgte heftiges Erbrechen, worauf die Dreh¬ 
empfindung nachließ. Seitdem oft ähnliche Anfälle, denen nur einmal Erbrechen — 
sonst aber Brechreiz folgte. Schwerhörigkeit und Sausen blieben unverändert. 

ötiatriseher Befund (Herr Hofrat Politzer): Rechts völlige Taubheit, 
links Flüstersprache 6 m. Trommelfell links etwas trübe, die hintere Falte stark 
ausgesprochen, rechts erscheinen einzelne Stellen der Membrana tvmpani atrophisch. 
Die Beweglichkeitsprüfung mit dem Siegleschen Trichter zeigt,daß das Trommelfell 
in seinem oberen Teile schwer beweglich ist. Weber nach links, Rinne rechts 
unausführbar, links negativ. Kopfknochenleitung links normal, rechts fehlend. 

Diagnose: nervöse Taubheit (mit Beteiligung des Mittelohres). 

Nervenbefund: Der Gang des Pat. ist etwas unsicher. Romberg-Pha- 
nomen stark ausgesprochen. Wenn der Kranke versucht, mit geschlossenen Augen 
vorwärts zu schreiten, tritt deutliches Schwanken nach rechts auf. Drehbewe¬ 
gungen bei geschlossenen Augen führen zu sehr heftigen Schwankungen. Im 
übrigen völlig negativer Befund. Ich konnte über das Endschicksal dieses 
Fa’les trotz aller Bemühung nichts Näheres eruieren. 

Nun lasse ich diejenigen Fälle folgen, in denen neben dem 
Hörnervenapparat noch je ein Hirnnerv getroffen war: 

Beobachtung V. (1. c. S. 119.) 

16. April 1895: C. S., 29 Jahre, Beamter. Als Kind unwesentliches 
Trauma, im 5. Jahre Scarlatina; sonst stets gesund, nie Lues; in früheren 
Jahren täglich 3 bis 4 / Bier, seit 1890 nur y 2 bis 1 f, daneben 15 bis 20 Ziga¬ 
retten. Im Januar 1894 war er abends bei vollster Gesundheit mit Rechneu 
beschäftigt; plötzlich empfand er heftigen Blutandrang gegen den Kopf, sank 
im Sessel zurück, verlor für eine halbe Stunde das Bewußtsein. Als er zu 
sich kam, wurde er von sehr heftigem Schwindel gequält; im rechten Ohr 
empfand er starkes Rauschen und durch Prüfung mit der Taschenuhr kon¬ 
statierte er, daß er rechts ertaubt sei; den Schluß des Anfalles bildete heftiges 
Erbrechen. Von da ab Schwerhörigkeit und Ohrensausen rechts. Außerdem 
täglich 1 bis 2 Anfälle von exazerbierendem Ohrensausen, Drehschwindel, 
Erbrechen — jedoch immer bei freiem Bewußtsein. In der Zwischenzeit voll¬ 
kommen wohl, durchaus nicht nervös; nur erwähnt er den merkwürdigen Umstand, 
daß er beim Rasieren das Messer rechts weniger fühle als links. 

Ötiatriseher Befund (Herr Hofrat Politzer): Trommelfelle, Tuben 
normal. R. Flüstersprache 8 m., L. 5 / 2 rnt. Kopfknochenleitung links gut, R. 6. 
Rinne R. 4-, L. unausführbar. Außerdem findet sich an der ganzen reehteu Ge¬ 
sichtshälfte eine leichte Unterempfindlichkeit für Stiche, das Geruchsvermögen 
ist rechts etwas stumpfer. Sonst völlig negativer Befund : Geschmack, Sehver¬ 
mögen, Gesichtsfeld normal. Kein Romberg, kein Nystagmus, keine Reflexano- 
rnalien. Pat. wurde allmählich bezüglich der Schwindelanfälle immer freier; 


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M4nierescher Symptomenkomplex. 


255 


doch suchte er noch im August 1900 die Klinik wegen derartiger Attaken auf; 
der Befund im Ohre war unverändert. 

Auf mein Ersuchen kam Pat. am 2. Juni 1904 in das Ambulatorium. Er 
berichtet, daß er bis zum Jahre 1903 an Anfällen gelitten habe; dieselben seien 
ein- bis zweimal pro Woche in der Dauer von einer Stunde aufgetreten, sie 
waren bisweilen mit kurzer Bewußtlosigkeit verbunden gewesen. Bei der 
Attake exazerbiert das auch sonst vorhandene Sausen R. Bei dem Schwindel 
scheinen sich die Gegenstände oft zu drehen, ohne eine bestimmte Richtung 
einzuhalten, bisweilen erscheint eine Art von Wellenbewegung; Augenschluß 
und Horizontallage bringen Erleichterung. Nie Verletzung, Inkontinenz oder 
Zuckungen beim Anfalle. Dagegen am Beginne Blutandrang gegen den Kopf, 
Schweißausbruch, auf der Höhe Erbrechen. Seit einem Jahre kein Anfall mehr; 
doch ist das Sausen und die Hörstörung rechts unverändert geblieben. 

Der neuerdings aufgenommene Ohrenbefund ergibt: Trommelfell nor¬ 
mal. Konversationssprache L. 8 mt. R. 4 m. Weber nach liuks. Perzeption hoher 
Töne links stark verkürzt. Rinne beiderseits +. Schwabach normal. Galtonpfeife 
R. 66, L. 30. (Affektion de? schallperzipierenden Apparates rechts.) 

Unter dem rechten Auge eine kronenstückgroße, leicht hypästhetische 
Stelle. Sehnenreflexe ziemlich lebhaft, Corneal-, Conjunctival-Reflexe schwach — 
sonst völlig negativer Befund. 

Beobachtung VI. 

C. G. f Offizier, 53 Jahre, untersucht am 5. Oktober 1892. Pat. leidet 
seit frühester Kindheit an Zucken in der rechten Gesichtsbälfte; im Jahre 1874 
ulcus durum. Am 16. August 1. J. wurde er nach einem mäßig starken Übungs¬ 
ritt von Schwindel, Ohrensausen, starkem Kopfschmerz, Drehschwindel und hef¬ 
tigem Brechreiz befallen — Zustände, die nach einigen Tagen völlig zessierteu, 
so daß Pat. wieder reiten kounte. Am 16. September morgens plötzlich ein Anfall von 
großem Übelbefinden, Brechreiz, Ohrensausen bei freiem Bewußtsein — ein An¬ 
fall, dem Lähmung der ganzen linken Gesichtshälfte folgte. Das Ohrensausen ist 
permanent sehr stark, im übrigen keine Klagen bis auf den merkwürdigen Um¬ 
stand, daß der Temperatursinn der rechten Hand etwas gelitten hat. 

Die Untersuchung ergab: Tic convulsif im Gesichte rechts. Parese des 
ganzen linken Gesichtsnerven mit Andeutung von Entartungsreaktion. Linke Pu¬ 
pille etwas weiter > rechte bei träger Reaktion. Gang unsicher, schwankend, 
starkes Romberg-Phänomen, Kniereflexe etwas schwach. Ohrbefund (bestätigt von 
weiland Prof. Gr über): Uhr R. 30 cm., L. o. Weber < R. Rinne R. -f~, 
L. unausführbar. Trommelfelle bis auf geringe Trübungen normal. Prof. Grub er 
hatte einige Zeit vor dem Insulte das Ohr wegen eines Cerumenpfropfens aus- 
gespritzt und das Gehör für völlig normal befunden. — Am Tage nach meiner 
ersten Untersuchung erfolgte ein neuer apoplectischer Insult, der bald zum Tode 
führte. 

Wenn wir nun epikritisch zu urteilen suchen, so müssen 
zunächst die ersten vier Beobachtungen ins Auge gefaßt werden, 
diejenigen, wo kein weiterer Hirnnerv Störungen aufweist. Daß 
bei ihnen nur ein Mönierescher Symptomenkomplex vor-- 

n* 


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Prof. Dr. L. v. Frnnkl-Hochwort. 


liegt und kein anderes Nervenleiden, ist wohl über allen Zweifel 
erhaben: ein Patient hat später anderweitige Symptome einer Hirn- 
Blutung, respektive -Erweichung anfgewiesen (Beob. HI St. C.), 
die für unsere Betrachtung keine weitere Bedeutung mehr hat; 
gerade dieser Fall bietet im übrigen das klassische Bild, 
da der otiatrische Befund mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit 
darauf hinweist, daß das Mittelohr frei ist, da der Patient mit 
Sicherheit angibt, daß er früher normalhörig war, nie an Schwin¬ 
del gelitten, niemals Ohrensausen hatte. Die Schilderung des 
Schwindels ist die, wie wir sie für unsere Fälle zu hören ge¬ 
wohnt sind — die des fürchterlichen Drehgefühles, welches die 
Kranken am Aufstehen hindert; durch den unaufhörlichen Schwin¬ 
del ist es vielleicht auch erklärbar, daß Patient eine eventuelle 
Exazerbation des Ohrensausens nicht bemerkte; übrigens 
werden wir hören, daß die Steigerung der subjektiven Geräusche 
allerdings sehr häufig ist — jedoch auch fehlen kann: ja, wir 
werden von einer Form sprechen, bei der das Sausen vor dem 
Anfalle aufbört oder doch abnimmt, wir werden sogar den Be¬ 
weis erbringen, daß es Fälle gibt, die ohne Ohrensausen ver¬ 
laufen. Noch in einem Punkte scheint diese Beobachtung III vom 
klassischen Typus abzuweichen: das ist der Mangel des Er¬ 
brechens ; doch fehlt dieses Symptom so häufig, daß wir uns durch 
diesen Umstand nicht beeinflussen lassen dürfen. Wesentlich ist 
es, daß die übrige Untersuchung ein völlig negatives Resultat 
ergeben hat — außer einem Symptom, das ebenso wie even¬ 
tueller Nystagmus zu dem Bilde gehören kann, ja gar oft ge¬ 
hört, das ist die Ataxie, die Unsicherheit des Gehens. Zu einer 
sicheren Diagnose gehört noch das Konstatieren der Abwesenheit 
anderer markanter N ervensymptome: so der psychischen Ano¬ 
malien, der Sprachstörung, der Optikusveränderungen, der Läh¬ 
mungen der Hirnnerven und der Extremitäten, der Blasen- und 
Mastdarmstörungen; während geringe Reflexanomalien beschrieben 
werden, gehören weder hochgradige Steigerungen noch Areflsxien 
zur Meniereschen Symptomengruppe. 

Als ätiologischer Faktor muß hier in erster Linie die 
Arteriosklerose in Betracht gezogen werden: in vielen Fällen 
der Literatur finden wir Individuen von Menierescher* Apo¬ 
plexie befallen, die an Grundzuständen litten, welche erfahrungs¬ 
gemäß mit schweren Gefäßerkrankungen einhergehen: wie z. B. 


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Mänikreeeher Symptomenkomplex. 


257 


Senium, Lues, Metalues (Tabes, Paralyse), Nephritis und Leu- 
caemie. Dem Senium ist auch bei unserem Falle (III) der 
zweite Insult zuzuschreiben. Bei unseren anderen drei Fällen 
konnten wir trotz emsigen Suchens auch nicht den geringsten 
Anhaltspunkt für die Gründe der supponierten Labyrinthblutung 
finden. Zwei sind davon durch die Prodrome interessant: Die 
31jährige Näherin (Beobachtung II), deren Erkrankung eine 
merkwürdig leichte war, sagte, daß sie öfter vor dem eigent¬ 
lichen Insulte an geringem Schwindel gelitten habe; bei diesem 
Erkrankungsfalle ist es auch nicht uninteressant, daß die Patientin 
aus schwerhöriger Familie stammt — ein nicht gewöhnliches 
Vorkommnis, da man sonst bei dem uns interessierenden Sym- 
ptomenbilde bezüglich dieser Heredität kaum etwas nachweisen 
kann. Bei dem anderen Patienten (Beobachtung I) waren als 
Prodrom reine Schwindelanfälle mit Erbrechen ohne Ohrsymptome 
— erst nach 3 Jahren erfolgte der eigentliche Insult. Wir haben 
ein Analogon zu den Hirnapoplexien, bei denen ja auch oft Jahre 
vorher einzelne Schwindelanfälle oder ähnliche Symptome die dro¬ 
hende Gefahr anzeigen. Ganz ohne Prodrome war Fall IV — 
allerdings ist derselbe insoferne nicht ganz rein, als leichte 
Mittelohrerscheinungen bei der otologischen Untersuchung zu 
konstatieren waren. Da aber vorher jegliche subjektive Phäno¬ 
mene fehlten, muß ich doch den Fall in unserer Gruppe be¬ 
lassen. Derartige Zweifel können unschwer entstehen: nicht gar 
zu selten hören wir von Patienten, die nach einem Mdnier eschen 
Insult schwer ertaubt sind, daß sie schon früher etwas schwerer 
gehört hätten und bisweilen von Ohrensausen gequält worden 
wären: tatsächlich findet man dann auch Zeichen eines Ohrenkatarrhs 
älteren Datums. Man bringt dann nicht ungern diese zwei Dinge 
zusammen und scheidet einen solchen Fall von den echten apo- 
plektischen ab. Gewiß in vielen Fällen mit gutem Grunde — 
ob aber immer mit Recht, ist schwer zu sagen, da ja bei der 
Häufigkeit der Mittelohrprozesse ein zufälliges Nebeneinander 
vorliegen kann. Derartige Überlegungen haben einen ausgezeich¬ 
neten Kenner unseres Gebietes — Heermann — veranlaßt, auch 
die Scheidung zwischen dem apoplektischen Typus und dem bei 
vorher vorhandenen Ohrenaffektionen aufzugeben. 1 ) 

i)Über den M & n i i r eschen Symptomenkomplex. Sammlung zwangloser Abban d- 
lungenaus dem Gebiete derNasen-, Ohren-, etc.-Krankheiten. VII. Bd. H. 1/2. Halle 1903. 


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258 


Prof. Dr. L. v. Prankl-Hochwart. 


Obwohl ich die Argumente des genannten Forschers voll¬ 
kommen würdige, scheint mir ein gewisser Teil der apoplekti- 
schen Fälle doch so weit von den übrigen abznstehen, daß wir 
dieselben als besondere Gruppe auffassen müssen — eine Sepa¬ 
ration, welche durch die vorhandenen Nekropsien gestützt wird. 
Ein gewisses Schematisieren ist ja bei allen unseren klinischen 
Einteilungen notwendig, und fast alle unsere klinischen (soge¬ 
nannte abgegrenzte) Bilder lassen fließende Übergänge unter¬ 
einander erkennen. 

Betrachten wir nun unsere Fälle vom rein diagnostischen 
Standpunkte, so war die Erkennung derselben eine ungemein 
leichte: das typische Einsetzen, das in zwei Fällen vorhandene 
Freibleiben des Bewußtseins (in den zwei anderen war es durch 
kurze Zeit benommen), die Art der Anfälle, das Resultat der 
otiatrischen Exploration, welche unbedingt auf eine nervöse 
Schwerhörigkeit hinwies — alle diese Dinge zusammen sowie 
die Abwesenheit anderweitiger nervöser Symptome zeigten bald 
klar, um was es sich handle. Wäre uns aber die Erkenntnis 
ebenso leicht geworden, wenn wir zum ersten Insulte gerufen 
worden wären? Dort, wo die Krankheit mit einer Ohnmacht 
eingesetzt hat, wären wir im Anfänge kaum auf die richtige 
Fährte geraten. Wie sollte man auch im ersten Momente die 
Sache klar legen! Der Ohnmachtsanfall konnte einer einfachen 
Syncope entsprechen, konnte in einer Intoxikation seine Wurzel 
linden, konnte der Ausdruck eines Oei ebralleidens (Hirnblutung, 
Erweichung, Tumor, Abszeß, Paralyse etc.) sein, konnte eine 
forme fruste eines epileptischen Anfalles darstellen. Nach dem 
Erwachen mußte aber der heftige Drehschwindel besonders dort, 
wo er von Erbrechen begleitet war, den Weg zeigen, die Klagen 
über Ohrensausen wirkten bestätigend; wo doppelseitiges Ertauben 
auftritt, wird die Sache noch rascher klar. Dieser Zustand ist 
kaum zu verkennen; er könnte höchstens mit einer sensori¬ 
schen Aphasie verwechselt werden; doch unterscheidet sich 
letztere dadurch, daß die Leute auch leise Geräusche perzipieren 
und daß sie parapbasisch sind. Weitere Sicherheit ergibt dann 
die Aufnahme des gesamten Nervenstatus. Zum M4niere-Bilde 
gehört noch sehr häufig die Ataxie und der Nystagmus — andere 
objektive Nervensymptome müßten Zweifel bezüglich dieser 
Diagnose erwecken. Auch bedenke man immer, daß länger 


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Mdnibrescher Symptomenkomplei. 


259 


dauernde Bewußtlosigkeit zum Bilde der cerebralen Apoplexien 
gehören: bei der Moniere-Apoplexie fehlt sie oft und ist, wenn 
vorhanden, ziemlich kurz. 

Schwieriger gestaltet sich die Sache, wenn der Hördefekt 
nnr ein mäßiger ist oder nur eine Seite betrifft, besonders dann, 
wenn die Kranken noch leicht benommen sind. Für derartige 
Eventualitäten kann man nur den Rat geben, bei jeder leich¬ 
teren Apoplexie, wo die Diagnose nicht sofort ganz klar ist, die 
Hörprüfung vorzunehmen. Wenn sich nun Defekte nachweisen 
lassen, muß eine genauere otiatrische Untersuchung nach Mög¬ 
lichkeit vorgenommen werden, deren Resultat dann gewöhnlich 
Aufklärung bringen wird. Manchmal wird die Konstatierung 
eines jener Grundzustände, bei denen der apoplektische Typus 
vorkommt, z. B. Leukämie, ein Adjuvans der Diagnose bilden. 

Die zwei apoplektischen Fälle, wo außer dem nervösen 
Hörapparat noch je ein Hirnnerv getroffen war, brauchen noch 
ein Wort der Erläuterung. 

Ich hebe den Fall VI hervor, weil es den Eindruck macht, 
als ob tatsächlich eine Blutung erfolgt wäre, die den Akustikus 
zerstört hat — vielleicht liegt eine Basalblutung, vielleicht das 
Platzen eines kleinen Aneurysmas vor. Einzelne Symptome — 
die Reflexschwäcbe sowie die Sensibilitätsstörung — ließen viel¬ 
leicht auch an beginnende Tabes denken. Ich glaube, daß der 
Fall von der Polyneuritis cerebralis menieriformis absteht (siehe 
unten S. 283), bei der sich allerdings auch nervöse Taubheit mit 
M6ni6 re sehen Anfällen vergesellschaften kann, denen sich nicht 
selten auch Trigeminussymptome, eventuell auch Herpes zuge¬ 
sellen. In diesen Fällen ist der (eventuell von Fieber begleitete) 
Verlauf ein akuter — doch kein typisch apoplektischer. 

Einer ganz anderen Gruppe gehört der Fall Charcots 1 ) 
an: Auftreten des Meniereschen Komplexes bei einer chroni¬ 
schen Ohrenkrankheit, Rezidivieren einer schon einmal vorhanden 
gewesenen Gesichtslähmung: es bandelte sich um einen Gichtiker, 
der schon Jahre vor dem ersten Schwindelanfalle an einem 
chronischen Mittelohrprozeß gelitten hatte, der einmal eine 7 Tage 
dauernde Facialislähmung überstanden hatte; bei einer Eisen- 


l ) Poliklinische Vorträge, II. Bd., übersetzt von Dr. Kahane. Deuticke, 
Wien 1895, S. 195. 


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260 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoehwart. 


bahnfahrt trat zn dem vorhandenen Ohrenleiden noch die Vertigo 
auralis hinzu, daneben erfolgte Rezidive der Lähmung des siebenten 
Hirnnervens. Charcot erwähnt eine Dissertation von Leo (Th. 
de Paris 1876). Die beiden dort beschriebenen Fälle haben aber 
ebenfalls mit den obgenannten keinerlei Analogie. 

Ganz unverwertbar ist ein Fall Ziemssens (V’s. Arcli. XIII, 
S. 376), in dem nach einer Apoplexie Taubheit, Facialislähmung 
und Schwindel aufgetreten war, da nicht eruiert ist, ob Patientin 
vorher normalhörig war, da kein otiatrischer Befund vorliegt. 

Der andere Fall meiner Beobachtung (Nr. V) betrifft eine 
Kombination mit rechtsseitiger Trigeminusanästhesie; ich halte 
es nicht gerade für wahrscheinlich, daß es sich um eine hyste¬ 
rische Assoziation handelt — eine Meinung, die dadurch gestützt 
werden könnte, daß der Mann entschieden nervös war, daß er 
nach Jahren keine Conjunctival-Corneal-Reflexe hatte und daß bei 
den späteren Meniere-Attaken Bewußtseinstrübungen auftraten. 
Aber gerade zur Zeit der Akme war auch nicht das geringste hyste¬ 
rische Stigma (siehe Befund) nachzuweisen, und auch die Art des 
Rückganges der Anästhesie — das Zurückziehen auf einen 
kleinen Plaque — erinnert an die anatomisch bedingten im 
Rückgang begriffenen Gefühllosigkeiten dieser Art; derartige 
Dinge sieht man z. B. wenn die anfangs geschwundene Sensibilität 
nachQuintusresectionen wieder zurückkehrt: es geschieht dies dann 
oft so fleckweise. Die Geruchsanomalie war zu geringfügig, um 
Beweiskraft zu haben. Was das anatomische Substrat eines 
solchen Falles ist, vermögen wir derzeit noch nicht zu sagen. 

B. Die apoplektischen Formen, die sich an Traumen 
anschließen. 

Die nächsten Seiten seien der Form gewidmet, die sich 
an die apoplektische anschließt — es ist dies die traumatische. 
Die Beziehungen des Traumas können mehrfache sein. In man¬ 
chen Fällen löst die Verletzung eine Labyrinth-Blutung oder 
-Erschütterung, eventuell eine Zerstörung desselben durch Bruch 
der Felsenbeinpyramide (Voltolini 1 ), Politzer*) aus — hierher 
gehören diejenigen bei der Caissonkrankheit, sowie die bei heftigen 
Kopfkontusionen ; in anderen gibt das Trauma den Anstoß zu einem 

') M. f. Ohreuheilkunde. 18G5. 

-) Arcli. f. 0. B. 41. 


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Menierescher Symptomen ko mp] ex. 


261 


Ohrenleiden, das progressiv wird und sich allmählich mit Ohr¬ 
schwindel vergesellschaften kann, z. B. traumatisch ausgelöste 
Otitis purulenta mit nachträglich aufgetretenen Moniere-Sym¬ 
ptomen. Es kann auch Vorkommen, daß ein vorhandenes Ohren¬ 
leiden durch das Trauma rasch oder allmählich exazerbiert und 
daß unter der Wirkung der Gewalt sofort oder allmählich die 
ominöse Komplikation dazutritt. Ferner gibt es Fälle, wo es sich 
um Hysteria traumatica handelt, bei der neben der Hemian- 
ästhesie auch nervöse Schwerhörigkeit vorliegt. Es ist dann 
meist unmöglich, zu entscheiden, ob es sich um reine Hysterie 
handelt oder um echte Labyrintherschütterung -f- Hysterie. Die 
Diagnostik ist oft ungemein schwer, und in vielen Fällen ge¬ 
langen wir nicht über Vermutungen hinaus. Ist ja doch schon 
in der gewöhnlichen Praxis die Frage, ob ein Individuum bis 
zu einem gewissen Momente ohrengesund war, ungemein schwierig, 
da wir wissen, wie ganz intelligente Menschen mäßige Grade 
von Schwerhörigkeit haben, ohne es zu ahnen. Wie noch ganz 
anders bei den Traumen, wo die Leute in ihrer Rentenbegehr¬ 
lichkeit jeglichen vorhergegangenen Hördefekt leugnen, ja auch 
oft ein nicht zu unterschätzendes Symptom — das früher etwa 
bestandene Ohrensausen mit Energie negieren! 

Die meist verwertbaren Fälle sind die, wo nach Caisson¬ 
arbeit die Symptomengruppe auftritt — Fälle, wie wir sie in 
dem schönen Buche von Heller, Mager, v. Schrötter 1 ) finden. 
Diese Autoren zitieren daselbst außer einer Reihe von älteren 
Beobachtungen eigene, die um so wertvoller sind, als es diesen 
Untersuchern möglich war, die Fälle bald nach dem Herein¬ 
brechen der Krankheit zu sehen — eventuell auch Recherchen 
über das vorherige Befinden zu pflegen. 

Ich habe nur drei Fälle von derartigen Zuständen gesehen. 
Da zwei derselben (einer unter Benutzung meiner Aufzeich¬ 
nungen) auch in dem obgenannten Buche enthalten sind, will ich 
sie nur kurz anführen. 

(1) Beobachtung VII. 6. Mai 1896. 

V. Josef, Caissonarbeiter. 23 Jahre. Angeblich stets gesund, kein 
Alkoholiker. Am 2. Dezember 1895 verließ Pat. nach vierstündigem Auf¬ 
enthalt den Caisson, nachdem er regelrecht ansgeschleußt worden war. 
Nach- kurzem Wohlbefinden erkrankte er unter Reißen in den Beinen, 

’) Luftdrnckerkraukungen. Wien, A. Hölder. 1900. 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hocbwart. 


wurde plötzlich bewußtlos uud soll erbrochen haben. Nachdem er zu sich 
gekommen war, hatte er Ohrensausen, heftigen Drehschwindel, dem Erbrechen 
folgte; auch bemerkte er sofort Schwerhörigkeit rechts. Die Schmerzen in deu 
Beinen zessierttn bald, der Schwindel war Eude Dezember nur mehr gering¬ 
fügig, hörte endlich auf, so daß nur mehr der Hördefekt und die subjektiven 
Geräusche zurückblieben. Er nahm die Arbeit wieder auf und arbeitete bis 
16. März, wo er unter ähnlichen Umständen wieder erkrankte. Die Symptome 
waren: Bruststechen, Husten, reißende Schmerzen an den Extremitäten; nach 
einigen Stunden bemerkte er, daß er völlig taub geworden war — ein Zustand, 
der sich nach einigen Tagen ein wenig besserte. Das Ohrensausen blieb per¬ 
manent, öfters kam es zu Schwindelanfällen mit Erbrechen. 

Ohrbefund: Trommelfelle bis auf leichte Trübungen normal. Laute Kon¬ 
versationssprache rechts kaum perzipiert, links kaum 5 cm, Weber nach links, Rinne 
rechts unausführbar, links +. Kopfknochenleitung für Uhr beiderseits fehlend. 
Leichte Bronchitis, lebhafte Sehnenreflexe, bei Augenschluß Neigung zum Um¬ 
stürzen, sonst Nervenbefund negativ. Ich habe den Pat. in den nächsten drei 
Jahren noch wiederholt untersucht. Das rechte Ohr wurde total sprachtaub; am 
linken Ohr Konversationssprache 20 ent, der Schwindel wurde etwas seltener; 
Romberg-Phänomen und Reflexsteigeruog blieben bestehen. 

(2) Beobachtung VIII. 16. Juli 1897. 

K. Nikol., 37 Jahre, Caissonarbeiter. Mäßiger Alkoholiker, an¬ 
geblich stets gesund. Am 29. Juni 1895 empfand der Pat. beim Ausschlenßen 
geringe Magenüblichkeiten; auf dem Nachhausewege warde er dygpnoisch, 
wurde von heftigem Drehschwindel ohne Ohrensausen und Erbrechen befallen. 
Als er sich auf die linke Seite niederlegte, bemerkte er, daß er rechts nichts höre; 
außerdem traten Brustschmerzen auf, ferner Schwerbeweglichkeit der Beine, die 
ihn heftig schmerzten. Die Urinentleerung war schwer; den Stuhl konnte Pat. 
nur mit Mühe halten; nach Bettpflege durch 14 Tage trat eine gewisse Besserung 
auf, so daß Pat. wieder arbeitete, nur die Schwerhörigkeit wurde progressiv. 
Allmählich trat Ohrensausen rechts auf, das aber mit dem Schwindel nicht ex- 
azerbierte; kein Brechreiz. 

Ohrbefuud: Trommelfelle beiderseits leicht weißlich verfärbt und leicht 
retrahiert. Konversationssprache links 3 m, rechts 10 cm. Weber nach links. 
Rinne links +, rechts unausführbar. Kopfknochenleitung beiderseits fehlend, 
180 Pulse, sehnellschlägiger Tremor der Hände. Rechte obere Extremität leicht 
ataktisch; Gang schwerfällig, langsam, breitbeinig. Da9 rechte Bein wird nach¬ 
gezogen. Bewegung im rechten Fußgelenk etwas unvollkommen, Sehnenreflexe 
sehr gesteigert r. > 1., rechts Fußklonus. Rechter Unterschenkel leicht hypal- 
getiscb, deutlich thermobypästhetisch; hochgradiges Romberg-Phänomen. 

(3) Beobachtung IX. 2. Mai 1896. 

M. Andreas, 25 Jahre, Caissonarbeiter, Angeblich stets gesund. 
Am 17. Juni 1893 nach regelrechter Ausscbleußung heftige Bauchschmerzen, 
die aufwärts stiegen; Zusammenstürzen unter Bewußtlosigkeit. Beim Erwachen 
Erregungszustände, Rauflust. Nach einigen Tagen völlige Klarheit; seit 
dem Insulte Ohrensausen und Schwindel, der anfangs von Erbrechen be¬ 
gleitet war. Allmähliche Besserung der Hörschärfe rechts und des Schwindels. 


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Minikreseber Symptomenkomplei. 


263 


Ohrbefuod: Laute Sprache rechte 20 cm, links 0 . Trommelfelle normal. 
Von der Stirne aue wird C, C, gar nicht, C 4 naoh rechts gehört. Rinne ?, Gal¬ 
tonpfeife rechts 28, links 0, Uhr vom Kopfknooben aus nicht perzipiert. Geringe 
Papillendifferenz bei prompter Reaktion. Gang uneioher, breitbeinig; beim Gehen 
und Stehen permanentes, hochgradiges Schwanken. Pat. kann bei geschlossenen 
Augen nicht vollkommen ruhig sitzen. Reflexsteigerung. Bei wiederholten, in den 
nächsten vier Jahren stattgehabten Untersuchungen erwies sich der Zustand als 
unverändert. 

In den Fällen VII und IX handelt es sich um fast iso¬ 
lierte, typische apoplektische Taubheit, während der Fall VIII 
mit anderen Symptomen vergesellschaftet war, so daß zu ver¬ 
muten ist, daß es sich nm eine assoziierte Hämatomyelie handelt. 

Wir verfügen zwar über keine Nekropsien der Caisson- 
AI enier einsulte; doch ergaben die Meerschweinchenversuche 
von Alt, Heller, Mager, v. Schrötter (1. c.) Labyrinthblu- 
tungen. 

An diesen kurzen Bericht will ich schematisch die Fälle 
anschließen, wo nach schweren Kopfkontusionen, unmittel¬ 
bar unter der Einwirkung der Gewalt der uns beschäf¬ 
tigende Komplex aufgetreten war. 

(1) Beobachtung X. 15. März 1896. 

Adolf B., 41 J., Ziegelarbeiter, bis auf einen gut geheilten 
Beinbruch 1877 stets gesund. 1. Februar 1896 Verletzung durch einen unver¬ 
mutet herabgehenden Aufzug am Hinterkopf, Quetschung mit dem Kinn an eine 
Holzstange, unmittelbar darauf mäßige Schwerhörigkeit, Schwindel, Ohrensausen. 

Objekt. Außer einer mäßigen Laryngitis und geringer Perkussionsempfindlich¬ 
keit des Schädels nur Ohrsymptome: Konversationssprache rechts 5 m, links 0, 
Trommelfelle normal, Weber nach rechts. Rinne R. +; Kopfknochenleitung links 
fehlend, Galtonpfeife rechts 30, links als Zischen. Ich hatte öfters Gelegenheit, 
Pat zu untersuchen; bei der letzten Untersuchung (12. Mai 1904) klagt er über 
Halsschmerzen und Hinterhauptsdruck; im Monate 2 bis 3 Anfälle, die mit 
Üblicbkeiten (nicht mit Erbrechen) anfangen, dann Drehschwindel, Schwarzsehen 
vor den Augen: Pat. muß sich niederlegen. Das permanente Ohrensausen exazerbiert 
bei den Anfällen nicht. 

Objekt. (12. Mai 1904.) Flüstersprache rechts 50 cm, links 70 cm, Weber 
im Raume, Rinne für tiefe Töne —, für hohe +. Schwabach verkürzt, Galtonpfeife 
50 bis 60. Außerdem geringes Zittern; Romberg-Phänomene angedeutet. Sehnen¬ 
reflexe lebhaft. Arteriosklerose. 

(2) Beobachtung XI. 1. Aug. 1901. 

Martin B., 39 J., Taglöhner, stets gesund. Am 25. April 1901 wurde 
Pat. von einem Motorwagen gefaßt, zu Boden geschleudert, 5 kleine Wunden am 
Schädel, Bewußtlosigkeit durch einige Tage. Beim Erwaehen: Kopfsausen links, 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


Schwerhörigkeit; seitdem Schwindelparoxysmen mit exazerbierendem Sensen, da¬ 
bei Finstersehen. Niedersetzen and Augenschluß notwendig. Auf der Höhe des 
Schwindels Erbrechen. 

Ohrbefand: Trommelfelle bis aaf weißliche Trübung normal, Konversations- 
Sprache links 30 cm , rechts 2\\ m, Kopfknochenleitnng links und rechts vor¬ 
handen. Weber im Räume, Rinne beiderseits -b Im übrigen negativer Befand. 
Wiederantersachang am 19. April 1904. Pat. batte bis November 1901 tägliche 
Anfälle, wie sie eben geschildert worden. Seit November 1901 Besserung, so daß 
der Kranke als Kohlenträger arbeitete. Derzeit 2 bis 3 Anfalle im-Monat: Kopf¬ 
druck, Saasen im linken Ohr (sonst nie Ohrensaasen), Flimmern vor den Aagen. 
kein Schwindel. Dauer 3 bis 4 Standen. 

Flüstersprache rechts 150 m, links 0 00 m, Weber im Raume, Rinne beider¬ 
seits -f. Kopfknochenleitang (Uhr) rechts gering, links fehlend; Galtonpfeife 
rechts 24, links 36. 

(3) Beobachtung XII. 12. Juli 1897. 

Friedr. D., 41 J., Kutscher. Alkoholiker mittleren Grades. 1897 
Pleuritis. 4. April 1897 schlief Pat. anf dem fahrenden Wagen ein, fiel herunter, 
riß sich am Rad das rechte Ohr auf, stürzte mit der rechten Kopfhälfte anfs 
Pflaster. Bewußtlosigkeit, angeblich Blutung ans dem rechten Ohre. Nach dem 
Erwachen: Kopfschmerz, Schwindel, Schwerhörigkeit rechts, leichte Üblichkeit. 

Objekt: An der rechten Ohrmuschel seichte Narbe; geringe Retraktion 
der Trommelfelle. Flüstersprache rechts 3 ! 2 . links 4 l /i Weber im Raume. 
Rinne -j-, Kopfknochenleitnng fehlend, Romberg-Pbänomen vorhanden. 

Wiederholte Untersuchungen in den letzten Jahren ergaben ähnliche Er¬ 
scheinungen, die sich besserten. Bei der Untersuchung am 13. Mai 1904 gibt 
Pat. an, daß er einmal wöchentlich noeh Schwindel habe, der ihn aber nieht an 
der Arbeit hindert Das Ohrensausen ist fast permanent, exazerbiert derzeit nicht 
mehr mit dem Schwindel, während dies früher der Fall war. Nie Erbrechen. 
Kopfdruck, Schlaflosigkeit, oft erregte Träume; das Gedächtnis soll gelitten haben. 

Ohrbefond: Trommelfelle stark getrübt, links weißliche Einlagerung, Flüster¬ 
sprache rechts */ 2 wi, links 1 m; Weber unbestimmt. Rinne beiderseits —, Schwa¬ 
bach normal, Galtonpfeife beiderseits 45, geringer Tremor; starke Sehnenreflexe. 
Romberg-Phänomen; Arteriosklerose, Bronchitis. 

(4) Beobachtung XIII. 4. Sept. 1901. 

Johann H., 48 J.. Land mann, mittlerer Alkoholiker, stets gesund. 
12. Juli 1901 Fall von einem Wagen. Kontusionen der rechten Schläfegegend, 
Bewußtlosigkeit, angebliche Blutung ans dem rechten Ohr, nachher Erbrechen; 
seit dieser Zeit Stirnkopfsebmerz, Hörschwäche rechts, Schwindel und Ohrensausen. 

Leise Konversationssprache links 4 w, rechts 1 w, Trommelfelle uormal, 
Weber im Raume, Rinne beiderseits +, Kopfknochenleitung füi Uhr rechts 
herabgesetzt; Händetremor: sonst negativer Befand. 

(5) Beobachtung XIV. 29 September 1900. 

Josef K., 22 J., Glasergehilfe. Am 24. Juli 1900. Fall voo einem 
Glasdache 8 m tief auf eine Lokomotive: Kontusionen am Hinterhaupte und an 


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M£niörescber Symptomenkomplex. 


265 


den Unterschenkeln, Blutaustritt aus Mund, Nase, Ohr, 4tägige Bewußtlosigkeit, 
Erbrechen; seither Schwerhörigkeit, wöchentlich drei Schwindelanfalle mit Exazer¬ 
bation der subjektiven Geräusche, Dunkelsehen. Einmal fiel Pat. bei einem Unfälle 
in eine Glastafel. Bei der Attake Übelbefinden, kein Erbrechen. 

Objekt: Hechte Lidspalte, rechte Pupille etwas enger als links; an der 
rechten Kniegelenksgegend eine gefühllose Stelle; rechts laute Sprache 10 cm, 
linkt Flüsteispräche 2 m. Retraktion der Trommelfelle, Weber nach links, Rinne 
rechts unausführbar, L. +. Kopfknochenleitung (Uhr) L. +, R. 0. — Lebhafte 
Kniereflexe, Andeutung von Klonus, kein Romberg. 

Bei der Untersuchung am 18. Mai 1901 berichtet Pat., daß er nur mit 
Unterbrechungen arbeiten könne; der Schwindel war selten, Gehörbefund unver¬ 
ändert, Reflexe normal. 

(6) Beobachtung XV. 7. Mai 1896. 

Franz K., 33 J., Kondukteur, stets gesund. Am 25. September 1895 
Sturz vom Dache eines fahrenden Waggons. Auffallen mit dem Hinterhaupte auf 
einen Puffer und dann auf das Asphalt. Bewußtlos durch IV 2 Stunden, Schwel¬ 
lung am Hinterbaupte, Blutung aus dem linken Ohr, angeblich einmal Blut- 
brechen; seit der Zeit Schwindel, Üblichkeit, später auch quälendes Ohrensausen. 
Das Gehör erwies sich links als schlecht. Wann die Schwerhörigkeit eigentlich 
aufgetreten, vermag Pat. nicht zu entscheiden. Die Anfälle äußern sich derzeit 
als Vergehen der Sinne, heftiges Sausen, Zwitschern; daneben Flimmern, kein 
Erbrechen. Trommelfelle mäßig getrübt. Konversationssprache links 2 m, rechts 
3 m, Weber im Raume, Rinne L. —, R. +. Mäßige Reflexsteigerung, sonst 
negativer Befund. 

(7) Beobachtung XVI. 30. Oktober 1896. 

Karl R., 48 J., Hilfsarbeiter. Mäßiger Alkoholiker. Am 24. November 
1897 wurde dem Pat. eine Eisenstange an den Kopf geschleudert; Rißwunde, die 
nach einigen Tagen heilte. Seit der Verletzung Ohrensausen, Schwindel, Erregungs¬ 
zustände, anruhige Träume. 

Objekt.: Trommelfelle beiderseits leicht getrübt,Konversationssprache beider¬ 
seits 60 cm, Kopfknochenleitung 0, Weber im Raume, sonst negativer Befund. 
Bei der Wiederuntersuchung am 29. Mai 1904 gibt Pat. ziemlich starken Alkohol¬ 
genuß zu. Schwerhörigkeit unverändert. Hie und da minimale Schwindelanfälle, 
mit Exazerbation des Ohrensausens einhergehend, die Pat. nicht an der Arbeit 
hindern. 

Objekt: Konversationssprache rechts 5 m, links 3V 2 «».; stark weißlich 
getrübte Trommelfelle. Weber im Raume, Rinne beiderseits +, Schwabach stark 
verkürzt, Galtonpfeife beiderseits zirka 80. 

(8) Beobachtung XVII. 14. Juli 1899. 

Moritz Sch., 35 J., Wagenwärter, stets gesund bis auf zwei Lungen¬ 
entzündungen. 1898 Kontusion des Scheitelbeines, unmittelbar darauf Ohrensausen, 
Schwindel, Schwerhörigkeit, nie Erbrechen. Trommelfelle beiderseits stark ge¬ 
trübt, Hörschärfe beiderseits herabgesetzt, Weber im Räume, Rinne beiderseits -j~, 
Kopfknoohenleitung fehlend. — Arteriosklerose. 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


(9) Beobachtung XVIII. 26. Juni 1897. 

Franz T., 45 J., Taglöhner. Im 20. Jahre Peritonitis, 1891 Finger¬ 
quetschung links. Am 24. Dezember 1896 streifte ihn ein herabfallender 700 tg 
schwerer Hammer; danach Bewußtlosigkeit, kein Erbrechen. 

Seit dieser Zeit Kopfschmerzen, Schwindel, Schwerhörigkeit, Ohrensausen 
links, das bei den Schwindelanfällen exazerbiert, kein Erbrechen; allgemeine 
Nervosität, Zittern. Hörschärfe rechts für Konversationssprachc 5 bis 6 m, links 
am Obr, Trommelfelle normal, Weber nach rechts, Ginne rechts -1-, links un¬ 
ausführbar, Kopfknochenleitung links fehlend. Tremor, Arteriosklerose, Reflex¬ 
steigerung. Bei der letzten Untersuchung am 26. Juli 1897, gibt Pat. an, daß 
er permanent leichte Arbeit macht. Konversationssprache links 20 cm, reohts 
normal. Hörbefund im übrigen unverändert. 

(10) Beobachtung XIX. 12. August 1893. 

Anton W., 32 J., Kondukteur. 1885 Abschleuderung vom fahrenden 
Zuge: Mehrstündige Bewußtlosigkeit Beim Erwaoben starker Kopfschmerz, Dreh¬ 
schwindel. Gehör wechselnd; seitdem öfters ähnliche Anfälle, daneben Kopf¬ 
schmerz. Konversationssprache links 5 m, rechts 1 »/z m - Trommelfelle leicht ge¬ 
trübt, Ginne links —, rechts -j-, Kopfknocbenleitung für Uhr beiderseits fehlend. 

Wenn man diese Fälle überblickt, so wird man die 
von mir geäußerten diagnostischen Bedenken billigen; 
besonders die ab und zu vorkommenden Zeichen chronischer 
assoziierter Mittelohrkatarrhe werden es begreiflich machen, 
wie schwer oft die Entscheidung ist, ob der Insult wirklich ein 
ohrgesundes Individuum getroffen hat. Außer dieser nicht weg¬ 
zuleugnenden Schwierigkeit tritt bei der Beuiteilung noch dazu, 
daß nach diesen schweren Eopfkontnsionen auch Erscheinungen 
der Hirnerschiitterung auftreten, von denen nicht selten dann 
auch subjektive Residuen, sowie auch objektive Zeichen (Pupil- 
larsymptome, Gedächtnisschwäche, Reflexanomalien etc.) Zurück¬ 
bleiben. Nicht selten entstehen Komplikationen durch interkur- 
rierenden Alkoholismus. Außer Caissonverletzungen oder solchen 
durch Schädelkontusion werden in der Literatur noch andere 
Gewalten angeführt, die zu ähnlichen Erscheinungen 
geführt haben; so z. B. Ohrfeigen, Stich, Schußverletzungen, 
Läsionen durch zufällig ins Ohr gestochene Instrumente (z. B. 
Stricknadeln), plötzliche Detonationen, Blitzschläge etc. Hier¬ 
her gehören in gewissem Sinne auch die bei Operationen vor¬ 
kommenden Verletzungen der Bogengänge. Diese Form unter¬ 
scheidet sich von den anderen dadurch, daß es sich ja meist um 
Ohren handelt, die vorher schon Hördefekte hatten. Es fehlt 
dann natürlich das Moment des apoplektischen Ertaubens. 


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M4nierescher Symptomen komplex. 


267 




II. Mänlöresche Symptome bei vorher vorhandenen Ohr- 
aflektionen, besonders bei chronischen Mittelohr- und 
.Labyrintherkrankungen in ihrer Diagnose und DifTeren- 

zialdiagnose. 

Wir sind damit bei dem Hauptkapitel unserer Erörterung 
angekommen. Fiir den praktischen Arzt haben die apoplek- 
tischen Fälle schon wegen ihrer Seltenheit ein geringeres In¬ 
teresse; in der Tat ist die Erkennung der genannten Form 
durchaus nicht schwierig. 

Die Klarstellung des auralen Schwindels bei vorhan¬ 
denem Ohrprozesse spielt sich beim Otiater anders ab, als 
beim Internisten und Neurologen. Zum Ohrenarzte kommen die 
Patienten wegen ihrer Schwerhörigkeit und des Ohrensausens 
und erwähnen nebenbei vielleicht spontan oder auf direktes 
Fragen, daß sie an Schwindel leiden; es ist dann Sache des 
Untersuchers, zu entscheiden, ob hier ein Kausalnexus oder ein 
zufälliges Nebeneinander besteht. Anders beim Internisten: die 
Leute kommen mit der so oft zu hörenden Klage des Schwindels, 
machen oft nicht den Eindruck der Schwerhörigkeit, geben über 
etwa vorhandene Hördefekte bisweilen gar nichts Positives an, 
ja sie sind sich eines solchen eventuell gar nicht bewußt. Der 
Diagnostiker hat sich nun zu fragen, welche Zustände hier 
überhaupt in Diskussion kommen. Selbstverständlich haben 
wir uns nicht mit jenem transitorischen Schwindel zu beschäf¬ 
tigen, wie er bei einem Blick in die Tiefe oder auf Höhen, kurz in 
ungewohnte Dimensionen auftritt. Wir haben auch nicht vom 
galvanischen Schwindel zu reden, der uns allerdings hier theo¬ 
retisch interessieren muß. Wir müssen aber von den anderen 
Formen nun ausführlich sprechen. Allerdings muß ich hier Dinge 
wiederholen, deren Detaillierung den Berufsneurologen über¬ 
flüssig erscheinen wird. Bei Diskussion von Thematen, welche 
Grenzgebieten angehören und Ärzte verschiedener Spezialistikeu 
angehen, sind derartige Wiederholungen wohl unerläßlich. 

1. Gibt es Schwindel durch Erkrankung der Sinnes¬ 
organe und ihrer nächsten Umgebung; hierher gehört a) unsere 
Form, die Vertigo auralis, b) die offenbar seltene und noch 
nicht aufgeklärte Form der Vertigo nasalis, <•) der Schwindel, 
welcher vomJAuge ausgeht, a) wie er bei Refraktionsano- 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


malien auftritt; es handelt sich da nicht um typische Schwin¬ 
delanfälle, sondern um eine Art von Vergehen vor den Augen, 
Unsicherheitsgefühl — um Formen, die für uns nicht in Frage 
kommen; ähnlich sind die Schwindelanfalle bei den nervös be¬ 
dingten Akkomodationsstörungen; ß) gibt es Leute mit Augen¬ 
muskellähmungen verschiedener Provenienz, welche nur im all¬ 
gemeinen über Schwindel klagen, so daß man im ersten Augen¬ 
blick gar nicht auf die wahre Spur gerät; erst die Inspektion 
des Bulbus, seine falsche Stellung, seine Bewegnngsdefekte, die 
typischen Doppelbilder führen auf das Richtige. Doppelbilder 
kommen allerdings auch transitorisch beim Meni&reschen 
Schwindel vor, bei welchem sie durch den Nystagmus hervor¬ 
gerufen werden; es besteht aber nicht die geringste Gefahr, 
daß diese Zustände bei einigermaßen korrekter Untersuchung 
untereinander verwechselt werden könnten. 

2. Der Schwindel bei Intoxikationen, so namentlich bei 
akuten und chronischen Infektionskrankheiten, bei eingeführten 
Substanzen, wie Alkohol, Nikotin etc. ; hierher rechnet man noch 
den Schwindel bei Magen-Darmkrankheiten, bei Nephritis nnd 
Diabetes. 

Schwindel kann das Prodrom akuter Infektionskrankheiten 
sein, kommt auf der Höhe derselben vor und tritt nicht selten 
in der Rekonvaleszenz auf. Am häufigsten sieht man derartige 
Symptome bei Typhus und Influenza, ohne daß sich das Vor¬ 
kommen bei anderen Infektionskrankheiten etwa leugnen ließe. 
So lange es sich um vollständig ohrgesunde Individuen handelt, 
ist die Differenzialdiagnose leicht; sie wird jedoch schwierig, 
wenn, wie das grade bei den genannten Fällen vorkommt, sich 
auf dem Wege der Infektion eiue Ohrerkrankung entwickelt, 
so z. B. nervöse Schwerhörigkeit bei Typhus, Otitis purulenta 
bei Influenza. Beim Mumps erfolgt die nervöse Ertaubung nicht 
selten direkt unter Meniereschen Erscheinungen. Der gewöhn¬ 
liche Schwindel bei akuten Infektionskrankheiten erinnert übri¬ 
gens sehr wenig an unseren Komplex, ebensowenig der hier 
anzureihende Gerliersche Schwindel. Bei der Lues kommt es 
im floriden Stadium nur selten zu Schwindelanfallen; im ter¬ 
tiären Stadium bedeutet der Schwindel bei einem mit dieser 
Affektion Behafteten sehr oft schon ein schwereres Zerebral¬ 
leiden: Arteriosklerose, Ruptur oder Thrombose, eventuell Me- 


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Minierescher Symptomenkomplex. 


269 


ningitis chronica oder Gehirngumma. Daß sich nicht selten auf 
der Basis der genannten Infektionskrankheit Labyrinth-Affek¬ 
tionen apoplektischer, akuter oder chronischer Natur entwickeln 
können, welche dann eventuell mit Möniere-Symptomen einher¬ 
geben, haben wir bereits erwähnt und werden es noch zu er¬ 
wähnen Gelegenheit haben. 

Bei der Tuberkulose findet man manchmal leichte 
Schwindelanfälle zu einer Zeit, ehe noch jedes andere Symptom 
der genannten Krankheit aufgetreten ist. Bei manifester Affek¬ 
tion derselben zeigt sich das Symptom häufig mit oder ohne 
Fieber, bisweilen als gutartige, transitorische Erscheinung, bis¬ 
weilen als das Prodrom der Meningitis und der Hirntuberkeln. 
Selbstverständlich könnte sich eine tuberkulöse Ohrenerkrankung 
mit dem M.-Komplexe verbinden, doch gehört dies durchaus nicht 
zur Regel; Auftreten von Schwindel bei einer Otitis purulenta 
tuberculosa macht den Fall viel eher auf Meningitis oder Abszeß 
verdächtig. Es sei noch erwähnt, daß bei der epidemischen 
cerebro-spinalen Meningitis der Schwindel ein toxischer, noch öfter 
ein meningitischer sein dürfte. Es sei aber auch nochmals daran 
erinnert, daß bei dem genannten Leiden Labyrintherkrankung 
als Assoziation des Gehirnleidens vorkommt; bisweilen kann 
die letztgenannte Lokalisation sogar auch die einzig vorhandene 
Folge der Infektion sein. 

Es gibt eine Reihe von toxischen Substanzen, die, in 
den Organismus gebracht, Schwindel, entweder in akuter Form, 
(wie z. B. Alkohol, Nikotin u. dgl.) oder in chronischer erzeugen 
(z. B. Alkohol, Nikotin, Morphium, Schwefelkohlenstoff etc.). 
Diese Zustände erinnern für gewöhnlich gar nicht an den 
M6ni6resehen Schwindel; besonders die hier praktisch in Frage 
kommenden chronischen Intoxikationen haben selten den Cha¬ 
rakter des typischen Drehschwindels. Schwierig wird die Sache 
natürlich dann, wenn ein chronischer Alkoholiker eine chro¬ 
nische Ohraffektion hat, so daß eine Differentialdiagnose erst 
durch vorsichtige Überlegung möglich werden kann. Wir sahen 
solche Schwierigkeiten schon bei den traumatischen Fällen auf- 
treten (vide S. 266) — Schwierigkeiten, welche sich dadurch ver¬ 
mehren, daß chronische Alkoholiker oft mit Arteriosklerose be¬ 
haftet sind und bisweilen Lues gehabt haben. Zwei Gifte 
verursachen tatsächlich Menieresehen Schwindel; das sind 

Jahrbücher für Psychiatrie und Jleqrolorle, XXV. Bd, 18 


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Prof. Dr. L. v. Fraokl-Hochwart. 


diejenigen, welche das Labyrinth direkt angreifen: Salizyl und 
Chinin. 

Wir kommen nun zu einem Symptomenbilde, das nach 
meiner Erfahrung nicht selten die Diagnose verfehlen läßt: Die 
vertigo e stomacho laeso (Trousseau). Dieser Autor hat 
bekanntlich Fälle beschrieben, wo nach akuter Dyspepsie 
Schwindel anftrat; es war trotz mancher Warnung diese dia¬ 
gnostische Angabe die Quelle für Verkennung von Cerebral¬ 
leiden, besonders für die Erkrankungen des Kleinhirns, bei 
welchen Schwindel und Erbrechen oft das Primärsymptom dar¬ 
stellen. Ich glaube überhaupt nicht, daß ein ganz gesunder 
Mensch so leicht durch eine akute Dyspepsie Schwindel be¬ 
kommt. Die wirklich beobachteten, jedoch keineswegs häufigen 
Fälle betreffen zumeist anämische oder neurasthenisch-bysterische 
Individuen, nicht selten Alkoholiker; viel öfter handelt es sich 
um Hirntumoren, bei welchen das Erbrechen oft anfangs auf Indi¬ 
gestion, auf eine verdorbene Speise zurückgeführt wird. Ehe 
man also zu dieser Diagnose schreitet, untersuche man sehr 
genau; man unterlasse nicht die Ophthalmoskopie, man vergesse 
nicht die Ohruntersuchung; notwendig ist weiter auch die 
genaue Eruierung der subjektiven Symptomatologie: man vigi- 
liere auf Schwerhörigkeit, Ohrensausen — Symptome, welche 
dem sogenannten echten Magenschwindel auch wieder mangeln. 
Übrigens zeigten die wenigen Fälle dieser Affektion, die ich 
gesehen habe, durchaus nicht paroxysmalen Drehschwindel. 

Schwindel kommt ferner auch bei chronischer Obstipation 
vor; doch handelt es sich zumeist um Neurastheniker. Und 
nicht selten haben wir es hier mit einem Nebeneinander der 
Symptome zu tun: mit neurasthenischem Schwindel -f- neura- 
sthenischer Darmatonie. Hier mag auch des bisweilen vor¬ 
kommenden Schwindels bei Taenien gedacht werden, den man, 
neuerer Richtung folgend, vielleicht als toxischen bezeichnen 
könnte. Ferner soll man nie einem an Schwindel Leidenden 
ordinieren, ehe man dessen Urin untersucht hat. Ich habe 
Fälle gesehen, wo das genannte Nervensymptom den einzigen 
Inhalt der subjektiven Symptomatologie der Nephritis, eventuell 
(seltener) des Diabetes bildete. Bei den zuletzt genannten 
Krankheiten kommt es — meiner Erfahrung nach — für gewöhn¬ 
lich nicht zu den plötzlichen, unheimlichen Paroxysmen; es han- 


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M6niferescher Symptomenkomplex. 


271 


delt sich vielmehr um ein mäßiges, unangenehmes, permanentes 
Schwindelgefühl, dem allerdings auch Erbrechen folgen kann. 

3. Der Schwindel bei Zirkulationsanomalien. Wir 
kommen hier zu einer Erkrankung, die in vielen Fällen große 
diagnostische Schwierigkeiten verursacht, zur — Arterioskle¬ 
rose, da bei dieser Gefäßerkrankung manchmal eine Art Dreh¬ 
schwindel auftritt, der ebenfalls von Erbrechen begleitet sein 
kann, bei dem Kopfbewegungen verschlechternd wirken können, 
bei welchem die Patienten oft in einem Alter stehen, wo Mittelohr¬ 
affektionen ungemein häufig sind. Man halte sich daran, daß 
Drehschwindel mit Erbrechen bei der Arteriosklerose immerhin 
selten ist, daß es sich vielmehr um einen länger dauernden, nicht 
paroxysmalen Schwindel handelt. Die Schwindelempfindung wird 
nur in einzelnen Fällen als Drehschwindel geschildert: viel häu¬ 
figer hört man dagegen bei näherem Befragen, daß sie mehr in 
einem Dunkelsehen, in einem Gefühl der Ohnmacht bestehe, oder 
daß sie sich in einem Vergehen der Sinne, in einem Schwanken 
des Bodens äußere. Bewußtseinsverlnste sind bei Arteriosklerose 
häufig, bei den chronisch M£nierekranken dagegen selten. 

Wenn ich tatsächlich bei den Arteriosklerotikern, sobald 
sie ein wirkliches Ohrleiden hatten, öfter die Diagnose in suspenso 
lassen mußte, ja manchmal sogar zwei Formen von Schwindel 
nebeneinander diagnostizierte, hatte ich bei den übrigen Formen 
infolge von Zirkulationsanomalien keine Schwierigkeiten, da 
dieselben sich in ihrem Verlaufe dem Ohrenschwindel kaum 
nähern. Ich meine hier den Schwindel bei Vitien, Aneurysmen, 
bei hochgradig anämischen Zuständen, bei der Chlorose, bei 
Erschöpfungszuständen zufolge schwerer Erkrankungen oder 
Inanition. 

4. Nun kommen wir zu den eigentlichen Nervenkrank¬ 
heiten, die natürlich ein hohes Kontingent zu unserem Sym¬ 
ptom stellen. Keinen Schwindel verursachen rein spinale Affek¬ 
tionen, sowie die rein peripheren; es sei denn, daß wir es mit 
einer Polyneuritis infectiosa zu tun haben, der sich Schwindel 
zugesellen kann oder aber, daß zufällig eine Augenmuskelläh¬ 
mung vorliegt. Hingegen kann es bei jedem Cerebralleiden, re¬ 
spektive Cerebrospinalleiden zu Schwindel kommen, ob es sich 
nun um Blutung, Erweichung, oder um Tumoren handelt, ob 
Abszesse, eine akute oder chronische Meningitis oder aber 

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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoehwart 


Aneurysmen vorliegen. Am ehesten könnten zu den Verwechs¬ 
lungen die Hirntumoren Veranlassung geben, besonders jene, die 
das Cerebellum betreffen — einen Hirnteil, mit dem der Bogen¬ 
gangsnerv so innige Verbindungen anknüpft Wir werden in der 
folgenden praktischen Diskussion sehen, wie merkwürdig selten 
in diesen Fällen typische Meniöre-Paroxysmen sind, so daß 
Verwechslungen nicht sehr häufig sind, selbst dort, wo man 
solche am ehesten erwarten könnte, z. B. bei den echten Acu- 
sticustumoren. Die Untersuchung muß aber doch in derartigen 
Fällen sehr sorgfältig durchgeführt werden, weil ja bei den ge¬ 
nannten Affektionen nervöse Schwerhörigkeit infolge von Kom¬ 
pression oder Zerstörung des Nerven nicht selten ist, da 
weiters auch bei diesen Ohrensausen, Erbrechen, Ataxie be¬ 
obachtet wurden. 1 ) Solange ich erst eine kleine Anzahl von 
Meniere-Fällen gesehen hatte, hielt ich die Differentialdiagnose 
gegenüber einem Abszeß oder einer Meningitis purulenta für 
sehr schwierig, da die letztgenannten Affektionen sich sehr häufig 
an vorhandene eitrige Ohrenleiden anschließen. Die Praxis lehrte 
mich aber, daß zum Glücke diese theoretisch scheinbar unüberwind¬ 
lichen Bedenken nicht so häufig auftreten als man annehmen sollte, 
da bei den obgenannten Hirnerkrankungen, selbst wenn sie otogen 
sind, die typischen Anfälle gewöhnlich nicht vorhanden sind. Selbst¬ 
verständlich kann das Zusammentreffen der Schwerhörigkeit, des 
Ohrensausens, des Schwindels sowie des Erbrechens hie und da ähn¬ 
liche Komplexe schaffen; man muß daher jedenfalls bei frisch 
aufgetretenen Meniere-Symptomen bei Otitis immer wieder den 
gesamten Nervenstatus aufnehmen, die ophthalmoskopische 
Untersuchung durchführen, ehe man ein definitives Urteil aus¬ 
spricht. Die auch bei den übrigen Cerebral- und Cerebro¬ 
spinalleiden auftretenden Schwindelanfälle haben noch weniger 
Ähnlichkeit mit unseren Fällen: so z. B. der Schwindel bei der 
Lues cerebrospinalis, der häufige Schwindel bei der multiplen 
Sklerose. Was nun die häufigsten Cerebrospinalerkrankungen der 
Tabes und dieprogressiveParalyse betrifft, so konnte ich nicht 
sehr viele Patienten mit heftigem Schwindel eruieren, so daß die 
Differenzialdiagnose gegenüber dem Meniereschen Komplexe trotz 

J ) Bezüglich der Diagnostik vgl. Alexander und Frankl-Hoehwart. 
Ein Fall von Acusticustumor. Arbeiten aus dem neurol. Institute v. Professor 
0 berate in er. XI. Bd. S. 385 Deu ticke, Wien 1304. (Daselbst Literatur.) 


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M6nikescber Symptomenkomplex. 


273 


der den eben genannten Affektionen zukommenden Ataxie uns keine 
Sorge za machen braucht. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß bei 
der Tabes hie und da auf dem Wege von Erkrankungen des Acusti- 
cusstrangs, des Acusticuskerns oder des Labyrinths echter 
Menierescher Symptomenkomplex auftritt — eine Beobachtung, 
wie wir sie in der Literatur nicht so vereinzelt finden und wie 
wir sie weiter unten an neuen Fällen illustrieren werden (S. 277). 

Schwindel ist ferner auch, wie wir wissen, ein häufiges 
Prodrom der Hirnblutungen und -Erweichungen und 
ein dauerndes, oft sehr quälendes Residuum derselben. Wir haben 
ja schon oben über die Differentialdiagnose gegenüber den Laby¬ 
rinth-Apoplexien manches gesagt; an dieser Stelle kann ich nur her¬ 
vorheben, daß ähnliche differentialdiagnostische Gesichtspunkte vor¬ 
walten wie bei der Arterioklerose (siehe oben). Eine unmittelbare 
Kombination von Hirnapoplexie und Möni&reschen Sym¬ 
ptomen habe ich nie gesehen; daß manchmal Mäniere-Kranke 
später auch eine Hirnapoplexie (siehe Beobachtung I u. III) erleiden, 
ist ja nur natürlich, da bei beiden Krankheiten Arteriosklerose, 
Lues, Nephritis und Senium eine Bolle spielen. Kombinationen 
von Menifere-Symptomen mit anderen Cerebralsymptomen sieht 
man am häufigsten nach schweren Kopfkontusionen, überhaupt nach 
Commotio cerebri, sowie bei den Caissonblutungen, denen sich ja 
auch spinale Krankheitszustände assoziieren können (siehe S. 262). 

Wir gelangen nun zu dem wichtigen Kapitel der Differen¬ 
tialdiagnose gegenüber den Neurosen. Wenn ich da die Fälle 
überblicke, in denen ich selbst diagnostische Bedenken hatte oder 
diagnostische Irrtümer berichtigen mußte, war es immer wieder die 
Neurasthenie, die mir im ersten Momente Schwierigkeiten 
bereitete. Die Unterscheidung ist bei ohrgesunden Neura¬ 
sthenikern dadurch erleichtert, daß der Schwindel der genannten 
Kranken gewöhnlich ganz anders imponiert. Die erwähnten Pati¬ 
enten klagen mehr über Vergehen der Sinne, über Angstgefühle 
und über eine Unsicherheit der Füße; sie haben keinen Dreh¬ 
schwindel, sie stürzen nicht zusammen, sie müssen sich nicht 
niederlegen, nicht die Augen schließen, sie haben kaum je 
Ohrensausen oder Erbrechen. Über einen Fall, der dennoch 
Schwierigkeiten machte und den wir als Pseudomdniere bei Neu¬ 
rasthenie bezeichnen möchten, siehe unten. Schwieriger wird 
die Sachlage, wenn z. B. eine Mittelohr- oder eine Labyrinth- 


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274 Prof. Dr. L. v. Frsnkl-Hoohwart. 

affektion interkurriert. Ganz Ähnliches wäre über die Hysterie 
za sagen, nur daß hier tatsächlich manchmal Meniere-Symptome 
bei vollständig intaktem Ohre als Aura des hysterischen Anfalles 
— aura pseudomenierica — auftreten, wodurch wieder Schwierig¬ 
keiten entstehen können (bezäglich der Fälle siehe anten S. 287). 
Viel häufiger kommt eine solche aura pseudomenierica, wie ich 
es zum erstenmal wohl überzeugend nachgewiesen habe, bei der 
Epilepsie vor und zwar meist (nicht immer) bei der sogenannten 
„Neurose” Epilepsie („genuine" Form). Wir werden an den unten 
za besprechenden Beispielen sehen, daß eine genaue Unter¬ 
suchung doch bald zur richtigen Erkenntnis fuhrt. Bedenken 
könnten sich nur bei demjenigen epileptischen Schwindel er¬ 
geben, der als Absence auftritt; die gewöhnlichen Schwindel¬ 
anfälle dieser Art erinnern — die oben genannten Ausnahmen 
abgerechnet — gar nicht an den Meniöreschen Symptomen- 
komplex. Wir werden übrigens auch noch eingehend von den 
Kombinationen beider Leiden zu sprechen haben. Jeder Praktiker 
weiß auch, daß bei der Hemicranie Schwindel ein gar nicht 
seltenes Begleitsymptom ist, ja daß derselbe als hemicranisches 
Äquivalent auftreten kann. Schwierigkeiten bezüglich der Auf¬ 
fassung entstehen kaum bei dieser Gelegenheit. 

Nach dieser kurzen Skizze will ich nun an Beispielen 
die Differentialdiagnosen erörtern, die mir tatsächlich 
untergekommen sind und gewiß auch noch öfter Unterkommen 
werden. Diejenigen Differentialdiagnosen, die ich oben nur theo¬ 
retisch erwähnte, noch einmal zu besprechen, wäre wohl über¬ 
flüssig. Mancher Fall wird auch mitgeteilt werden, in dem ich 
selbst nicht zur völligen Klarheit gekommen bin; mancher Fall 
wird auch Erwähnung finden, dessen Beurteilung meinerseits 
vielleicht den Leser nicht überzeugen wird — ich hielt mich 
aber für verpflichtet, gerade auch diese Arten von Kranken¬ 
geschichten mitzuteilen um so recht zu zeigen, wie sich die Praxis 
bei diesem gerade nicht einfachen Materiale gestaltet, das auch 
darum manchmal so schwierig erscheint, weil es uns an Nekro- 
psien für die chronisch aufgebauten Meniere-Symptome fast 
ganz gebricht. 

A. Ich beginne mit den Hirntumoren, bei denen es anschei¬ 
nend zu großen Schwierigkeiten kommen kann, namentlich dann, 
wenn, wie so manchmal, eine Hörstörung interkurriert, welche die 


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JMiniferescher Symptomenkomplex. 


275 


Zeichen der nervösen an sich trägt In ausgesprochenen Fällen 
werden ja bald die allgemeinen Symptome den Ausschlag geben. 
Allerdings ist die nervöse Hörstörung sowie das Ohrensausen 
und Erbrechen in Paroxysmen beiden Zuständen gemeinsam; doch 
unterscheiden sich diese Erscheinungen bei der gewöhnlichen 
Vertigo auralis von der bei den Geschwülsten dadurch, daß bei er- 
sterer zwischen den Paroxysmen oft sehr lange, ja jahrelange Pausen 
liegen, daß gerade bei ersterer das Ohrensausen oft viel fürchter¬ 
licher in die Erscheinung tritt als bei den Tumoren; auch spricht 
das so häufige Ergriffensein beider Ohren vielmehr für einen 
Schwindel vom Ohre aus als für den auf Basis eines Tumors. Die 
Ataxie ist bei den Hirntumoren oft eine außerordentliche, nicht 
selten eine halbseitige, überhaupt des öfteren die obere Extremität 
betreffend: die Ataxie bei den chronischen Möniöre-Fällen fehlt 
dagegen häufig interparoxysmal völlig, ist oft nur auf ein geringes 
Romberg-Phänomen beschränkt, während die oberen Extremi¬ 
täten bis auf wenige Ausnahmen ganz frei bleiben. Nystagmus 
gehört allerdings beiden Arten des Schwindels an, ist bei den 
Hirntumoren häufiger, oft sehr hochgradig und auch außerhalb 
der Anfälle permanent; bei den chronischen Meniöre-Fällen ist 
er extraparoxysmal selten und dann gewöhnlich nur angedeutet, 
er kann auch intraparoxysmal fehlen oder nur sehr geringfügig 
sein. Kopfschmerz kommt beiden Erkrankungen zu: auf die 
Häufigkeit desselben bei dem uns interessierenden Bilde habe 
ich zuerst in meinem Buche mit Nachdruck hingewiesen. Aber 
auch mit Bezug auf dieses Symptom ist die Ähnlichkeit eine nur 
oberflächliche, denn es gibt nur wenige Hirntumoren ohne Kopf¬ 
schmerz, dagegen gibt es eine gewisse Anzahl vonMeniere-Fällen 
ohne dieses Symptom. Der bei letzteren Erkrankungen vorhan¬ 
dene gestaltet sich meist als mäßiger Druck, als unangenehmes Ein¬ 
genommensein, aber er hat auch nicht ein einzigesmal in meinen 
zahlreichen Fällen die furchtbare Höhe desjenigen erreicht, wie 
wir ihn so oft bei den raumbeschränkenden Prozessen im Schä¬ 
del beobachten. Daß der Hirntumor in seiner Progression eine 
Reihe von Symptomen erzeugt, welche dem Meniöreschen 
Komplex nie angehören, z. B. Stauungspapille, Demenz, Läh¬ 
mung etc., darüber haben wir bereits gesprochen. Die Unsicher¬ 
heit der Diagnostik kann sich nur auf etwaige Fälle beziehen, in 
denen die ersten Symptome ausschließlich dem VIII, Hirnnerven an- 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


zugehören scheinen: auf die Fälle, in denen man anfangs objektiv' 
noch nichts anderes fand, als einseitige nervöse Taubheit mit ihrem 
charakteristischen Stimmgabelbefunde. Wenn man aber die Lite¬ 
ratur überblickt, findet man kaum einen Fall, in dem im Beginne 
reine Acusticussymptome vorhanden waren und nicht gleich 
andere Erscheinungen die Diagnose auf die richtige 
Fährte lenkten, so z. B. rasende Kopfschmerzen oder Stauungs¬ 
papille; auch kam ich, als ich anläßlich der histologischen Unter¬ 
suchung eines Fibrosarkoms des Acusticus mit Alexander die Lite¬ 
ratur sichtete (1. c.),zu der Überzeugung, daß mönieriforme Anfälle 
i. e. paroxysmaler Schwindel mit Exazerbation des Ohrensausens 
und Erbrechen bei vorhandener Schwerhörigkeit im Verlaufe des 
Prozesses am Acusticus-Kleinhirnwinkel zu den großen Selten¬ 
heiten zu rechnen sind. 

Unter die letztgenannten Beobachtungen gehört ein Fall von 
mir (zitiert in meiner Monographie), einer von Mohs, einer von 
Sharkey, einer von Fraenkel-Hunt u. a. (Literatur 1. c.) Als 
Beispiel, wie sich diese Fälle von Tumoren, die sich in der 
Acusticusgegend etablieren, oft bereits im Anfänge von unserem 
Komplex unterscheiden, möge folgende Beobachtung dienen. 

Beobachtung XX. 

Am 6. Dezember 1900 habe ich die 30jährige Beamtensgattin Ch. 0. 
untersucht. Sie war stets gesund; für Lues kein Anhaltspunkt. Seit September 
1900 klagt sie über Magendrücken, dem manchmal Erbrechen folgt, ohne daB 
ein Zusammenhang mit der Mahlzeit zu konstatieren war; daneben entwickelte 
sich heftiger Kopfschmerz, ferner stellte sich Schwanken beim Gehen ein. Das 
Gehör soll auf der linken Seite allmählich abgenommen haben. (Niemals die ge¬ 
ringsten subjektiven Ohrgeräusche.) Außerdem machte sich eine gewisse Erreg¬ 
barkeit bemerkbar, im übrigen war die Psyche sowie auch die Sprache intakt. Der 
Nervenbefund war ein völlig negativer, nur der otiatriscbe Befund (Klinik 
Politzer) zeigte ein beginnendes Leiden. Die HürBcbärfe links war herabgesetzt, 
Kopfknochenleitung für Uhr auf dieser Seite fehlend, Weber unbestimmt, alle 
Stimmgabeltöne wurden links auffallend kurz perzipiert. Rinne beiderseits -f-. 

leb hatte die Pat. nie mehr gesehen. Als ich Fragebogen aussandte, er¬ 
hielt ich von dem Manne der Kranken am 14. April 1904 die Nachricht, daß es 
seiner Frau ungemein schlecht gehe uud daß sie auf der Nervenabteilung des 
Herrn Dozenten Dr. Donath (Budapest) gelegen sei. Der genannte Herr Kollege 
stellte mir gütigst einen Auszug aus der Krankengeschichte zur Verfügung, aus 
welchem hervorgeht, daß die Patientin die in der oben genannten Anamnese 
geschilderten Beschwerden weiter hatte, ja daß diese sich sogar steigerten. Im 
Jahre 1902 begann sie schlecht zu sehen, ein Zustand, der sich bis znr völligen 
Blindheit steigerte. Seit Ende März 1903 stürzte sie beim Schwindel zusammen. 


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Menierescber Symptomenkompiex. 


277 


Di« Kopfschmerzen waren intensiv, strahlten von der Stirne gegen den Nacken 
ans. Die Untersuchung ergab: Hypästhesie der linken Gesichtshälfte, ferner 
auf der linken Seite Parese des Facialis, Oculomotorios, Abducens und des 
motorischen Trigeminus; daneben Stauungspapille, Retinitis, komplette doppel¬ 
seitige Amaurose. Gehörbefund unverändert. Die Extremitäten werden normal 
bewegt, doch sind die Beine etwas schwach; der Gang ist breitbeinig, unsicher, 
von starkem Schwindel begleitet; Reflexe im allgemeinen normal, nur der linke 
Sohlenreflex etwas schwächer als der rechte. Am 19. Mai kam es zu Zuckungen 
in der rechten Schalter, gleichzeitig wurde der Mund verzogen; öfters stellte 
sieh im Verlaufe der Beobachtung bis zum 27. Mai heftiger Kopfdruck mit Brech¬ 
reiz uni Erbrechen ein. In dem Briefe ihres Mannes wird erwähnt, daß ihr 
Zustand immer schlechter werde, daß sie sehr oft erbreche, Geschmacks- 
parästhesien habe, daß die Gesichtslähmung andauere. 

Daß es sich hier am einen Hirntumor handelt, ist nan klar. 
Nach den von Henneberg und Koch, Alexander und mir zu- 
sammengestellten Erfahrungen könnte es sich tatsächlich um 
einen echten Acusticustumor handeln. Sei dem auch, wie ihm 
sei — für unsere Erörterung ist eines klar: Obwohl die Pa¬ 
tientin seinerzeit zu uns wegen Schwindel und Erbrechen kam, 
obwohl sie eine einseitige Hörstörung hatte, wurde von uns, 
wie auch die Krankengeschichte zeigt, nicht die Diagnose auf 
M4ni6re-Schwindel gestellt, da die echten typischen Paro- 
xysmen und das Ohrensausen fehlten. Wir haben damals die 
Diagnose in suspenso gelassen, and erst viel später brachte 
uns der Bericht über den unglücklichen Verlauf Klarheit 

B. Die nächsten Beobachtungen seien der Tabes respektive 
der progressiven Paralyse gewidmet. Ich glaube, daß 
Cbarcot und Pierret 1 ) die ersten waren, welche das Vor¬ 
kommen der Mönifere-Symptome bei den genannten cerebrospi¬ 
nalen Leiden erwähnten. Die ersten größeren Studien verdanken 
wir P. Marie und Walton, Revue de Mödecine 1883 III; 
später äußerte sich noch eine Reihe von Autoren hierüber, so 
Grasset,*) Haug, 8 ) Bonnier 4 ) u. a. 

Ich habe drei ausgesprochene Tabesfälle mit unserem 
Symptomenkomplex verbunden gesehen; mit dreien assoziierte er 
sich, die auf beginnende Tabes suspekt waren. Der 7. Fall war 
wohl auf eine mehr zufällige Kombination zurückzuführen. 

') Rev. mens, de rned. et chir. 1877, pag. 101. 

») A. de nenrol. 1893, Nr. 73, 74. 

3 ) Die Krankheiten des Obres in ihren Beziehungen zu den Allgemein¬ 
erkrankungen. Wien 1903. 

‘) Ieon. Salpetriere 1899. 


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278 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoohwart. 


(1) Beobachtung XXI. 

Am 19. Mai 1899 wurde ich zu dem 53jährigen Kaufmann A. K. ge¬ 
rufen. Derselbe hatte im Jahre 1863 Lues überstanden; seit 1896 leidet er an 
linksseitigem Ohrensausen und Abnahme der Hörschärfe, seit 1897 an reißenden 
Schmerzen, Vertaubungsgefuhl, erschwertem Urinieren und wiederholten Inkon- 
tinenzerscheinnngen. Am 15. September 1899 batte er einen transitorischen 
Schwindelanfall ohne Exazerbation des Ohrensausens mit allgemeinem Übel¬ 
befinden; am 18. Oktober einen ähnlichen, zu dessen Ende ich eben kam. 

Der Befund ergab: Herabsetzung der Hörschärfe links,Trommelfelle an¬ 
nähernd normal, Weber nach rechts, Rinne beiderseits positiv. Kopfknochen- 
leitnng links herabgesetzt; außerdem deutlicher, rotatorischer Nystagmus. PupilLm- 
Btarre, fehlende Kniereflexe; Romberg-Phänomen vorhanden. Nach einigen 
Tagen bedeutende Besserung. Der Schwindel zessierte, der Nystagmus verschwand, 
während die übrigen Symptome unverändert blieben. Erst am 18. Mai 1903 
tatte er wieder zwei starke Anfälle von Drehschwindel mit exazerbierendem 
Ohrensausen, mit interkurrierendem Brechreiz, außerdem Kopfdrnck. Er hatte 
das Gefühl, als würde der Kopf nicht halten, als müsse er ihn stützen. Konver¬ 
sation sspraohe links 2 m, rechts 3 m, sonst Ohrenbefund wie oben. Seitdem nnr 
noch einen Schwindelanfall, der aber mit dem eigentlichen Ohrschwindel wahr¬ 
scheinlich nichts zu tun hatte, bei dem eine leichte Sprachstörung interkurrierte, 
die offenh&r rein cerebralen Ursprunges war. Im Jahre 1904 ging es dem Pat. 
im ganzen wohl, er batte nie mehr Schwindel; die Tabes-Symptome blieben 
stabil. 

(2) Beobachtung XXII. 

59jähriger Agent B. R., untersucht am 19. November 1903, Lues im 
Jahre 1875; seit dem Jahre 1880 Ptosis rechts, seit 1896 Reißen in den Beinen, 
1899 ein Anfall von kurzer Bewußtlosigkeit, darauf Erschwerung der Sprache 
und Schwäche des rechten Armes. Anfangs 1903 durch einige Zeit Doppeltsehen, 
allmähliches Auftreten von Gefühllosigkeit in den Beinen, unsicherer Gang; außer¬ 
dem ist Pat zeitweilig inkontinent, der Urinstrahi wird schon seit Jahren nur 
mit Mühe hervorgebracht; bisweilen interkurrierte auch incontinentia alvi, der 
Stuhl ist angehalten. Vom Jahre 1898 ab entwickelte sich progressiv eine Schwer¬ 
hörigkeit am rechten Ohr, in welchem permanent Sausen vorhanden ist. 1902 
bekam Pat. Schwindelanfälle: die Attaken setzten plötzlich ein, wobei das Ohren¬ 
sausen heftig exazerbierte; dieselben wurden oft so heftig, daß der Kracke sich 
anhalten mußte, um nicht zu stürzen. Dauer der Anfälle gewöhnlich 6 bis 7 Minuten, 
stets von Kopfdruck, Brechreiz und Erbrechen begleitet. Die genannten Schwindel- 
anfalle — 6 bis 7 an der Zahl — waren nur im bezeichneten Jahre vorhanden 
und haben sich seither nicht mehr wiederholt. Pal machte weder in der Sprache 
noch in der Psyche den Eindruck eines Paralytikers. Rechts Ptosis, Pupillen 
different, Robertson-Phänomen; rechter Mundwinkel etwas hängend, Zunge weist 
fibrilläres Wogen auf, deviiert spurweise nach rechts. Händedruck rechts um 
eine Spur schwächer, Gang normal. Romberg vorhanden, Hypalgesie an den 
äußeren Fußrändern. Patellar-Achilles-Sehnenreflexe fehlend. Ohrbefund (Herr 
Doz. Dr. V. Hammerschlag): Am linken Trommelfelle eine kleine umschriebene 
Atrophie, sonst negativer Befund. Fiüstersprache links 30 '•m, rechts 10 cm. Weber 


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Möniörescher Symptomenkomplex. 


279 


im Raum. Rinne beiderseits positiv, Luft- nnd Knochenleitung verkürzt, Schwa¬ 
bach stark verkürzt, Galtonpfeife rechts 60 cm, links 52 cm.; Kopfknochenleitang 
für Uhr beiderseits 0. 

(3) Beobachtung XXIII. 

Frau Betty R., Private, zum erstenmal untersucht am 26. November 
1901. Kein Anhaltspunkt für Lues, seit 1891 reißende Schmerzen in den Beinen. 
Dezember 1899 Influenza mit Schmerzen im linken Ohr und Verlust des Gehörs 
binnen wenigen Tagen unter permanentem Ohrensausen; während dieser Zeit 
8- bis 4mal Anfälle von Drehschwindel, bei welchen Pat. zu Boden fiel. Dieser 
Zustand besserte sich bei Augensohluß, verschlimmerte sich beim Bücken; auf 
der Höhe der Anfälle Erbrechen. Es soll sich nur eine geringe Feuchtigkeit im 
Ohre gezeigt haben, nie ein eigentlicher Ohrenfluß. Besserung zirka Mitte Januar 
bezüglich der Schwindelanfälle, während die Schwerhörigkeit und das Ohren¬ 
sausen verblieben; von Zeit zu Zeit kommt es aber noch immer zu heftigen 
Brechanfällen unter starken Schmerzen. Die Untersuchung damals sowohl wie 
auch die vom 20. Mai 1904 ergab den Befund einer typischen Tabes. Pupillen 
enge, Robertson-Phänomen; Facialisdifferenz, Tremor der Hände, Fehlen der 
Patellarsehnenreflexe, Romberg positiv, Tachycardie. Ohrbefund vom 
20. Mai 1904 zeigt eine Affektion des nervösen Apparates links. Trommelfelle 
normal, Flüstersprache rechts 8 m, links 10 cm. Kopfknochenleitung für Uhr 
rechts normal, links herabgesetzt, Weber nach rechts, Rinne R. +, links?; Schwa- 
bach normal, Galtonpfeife R. 22, links nicht deutlich perzipiert. 

Nun folgen die 3 Patienten, bei denen es sich nicht um 
ganz typische Tabes handelte, sondern nur um Initialsyniptome 
derselben; ich will betonen, daß bei keinem von ihnen die Be¬ 
obachtung einen Anhaltspunkt für progressive Paralyse ergab. 

(4) Beobachtung XXIV. 

Ich habe den 44jährigen Kaufmann L. D. aus Mähren zum erstenmale 
am 6. Juni 1902 untersucht. Er hatte im Jahre 1879 Lues durchgemaeht, war 
sonst bis auf ein Darmleiden immer gesund. Im Jahre 1898 bemerkte er eine 
allmähliche Abnahme der Hörschärfe links; V 2 J*br später Schwindelanfälle mit 
Ohrensausen, welche Symptome früher nicht bestanden hatten, dabei Erbrechen 
und schmerzlose Diarrhöen. Seitdem hie und da ähnliche Anfälle mit exazerbie- 
reodem Ohrensausen, außerdem Krämpfe in der Wadenmuskulatur. Parästhesien 
in der linken Hand, bisweilen Kopfschmerz; keine Blasen-Mastdarmstörungen. 
Pupillen ungleich, entrundet, auf Licht sehr träge, auf Akkomodation gut rea¬ 
gierend, Kniereflexe mittelstark, kein Romberg-Phänomen. Trommelfelle bis auf 
mäßige Trübung normal. Flüstersprache rechts 7 m, links */ 2 »*, Weber C,. nach 
rechts, Rinne beiderseits -f-, Kopf knochenleitung vorhanden, links etwas schwächer. 
Die Sehwindelanfälle wurden immer seltener, verschwanden endlich ganz bis auf 
hie und da auftretendes Taumelgefühl; dagegen leidet Pat. an diffusen, durch 
den Lokalbefund nicht erklärbaren reißenden Schmerzen. Seit 1904 ist auch das 
rechte Ohr etwas schwerhörig. Ohrbefund vom 22. Juni 1904: Geringe Ein¬ 
ziehung im linken Trommelfell, rechtes Trommelfell normal. Flüstersprache rechts 


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Prof. Dr. L. ▼. Frankl-Hoch wart 


fii/j m, links 40 cm, Weber nach rechts, Kinne +, Schwabach verkürzt. Diagnose ; 
Doppelseitige Affektion des nervösen Hörapparates. 

(5) Beobachtung XXV. 

40jährige Näherin Emilie C., zum erstenmal am 2. August 1893, zum 
letztenmal am 13. Mai 1904 untersucht. Lues negiert. Im Jahre 1891 entwickelte 
sich bei der Kranken Schwerhörigkeit rechts mit permanentem Ohrensausen, daneben 
Schwindelanfälle, bei denen sie das Gefühl hat, als ob ihr der Kopf nach rückwärts ge¬ 
zogen werde. Besserung bei Augenschluß, Verschlechterung beim Bücken, dabei 
Brechreiz jedoch ohne wirkliches Erbrechen, keine Diarrhöen, lnterparoxysmul 
sonst Wohlbefinden, nur hie und da leichtes Beißen in den Beinen. 1894 zessieren 
die Schwindelzustände. Seit 1901 heftige lanzinierende Schmerzen, Parästhesien. 
Gürtelgefühl, Schwierigkeit den Urin zu halten. Objektiv: Pupillen different, 
mittel weit, total starr, geringe Mundfacialisschwäche rechts. Tremor, leichte 
Struma, Patellarsehnenreflexe gesteigert, Achillessehnenreflexe fehlend, kein 
Romberg-Phänomen. Ohrbefund vom 13. Mai 1904: Trommelfelle annähernd 
normal, Flüstersprache rechts 6 m t links 7 m, Weber im Raume, Rinne beider¬ 
seits negativ, Schwabach normal, Kopfknochenleitung normal, Galtonpfeife beider¬ 
seits 40. Diagnose: Mittelohrkatarrh vermutlich unter Mitbeteiligung des nervösen 
Apparates. 

(6) Beobachtung XXVI. 

45jähriger Hauptmann J. F., am 4. Mai 1904 untersucht. Lues im 
Jahre 1884. Im Jahre 1890 vorübergehende Üblichkeiten mit Erbrechen, sonst 
stets gesund, nie Ohrensausen. Pat. klagt, daß er seit 1900 rechts schwächer 
höre. Am 5. März 1902 nach anstrengender Arbeit und Durchnässung (bei einem 
Versuch zu schreiben) plötzlich Angstgefühl, Ohrensausen, Drehempfindung, hef¬ 
tiges Erbrechen. Pat. mußte sich niederlegen, schlief ein, erwachte anscheinend 
gesund und war am Tage darauf vollkommen wohl. Am 7. März ein ähnlicher 
Anfall, dem durch eine Woche permanente Schwindelanfälle folgten. Gleich nach 
dem ersten Anfälle bemerkte Pat., daß das Gehör rechts sich weiter verschlechtert 
hatte; am 2. Tage war das Gehör anscheinend gut, am 3. jedoch wieder schlechter 
— ein Zustand, der sich nicht mehr änderte. Seit Mitte März kein Ohrensausen; 
doch war das Ohr gegen Geräusche sehr empfindlich. Beim Versuche der Be¬ 
handlung mit Ohrkatheter noch hie und da Schwindel. Pat. suchte nur deshalb 
ärztlichen Rat, weil er an Kopfschmerzen litt und sehr verstimmt und hypo¬ 
chondrisch war. Der Nervenbefund ergab: Pupillendifferenz, Robertson-Phäno¬ 
men; Knie- und Achillessehnenreflex lebhaft, kein Romberg, überhaupt 
sonst negativer Befund. Trommelfelle bis auf mäßige Trübung normal. 
IIör8chärfe: Konversationssprache rechts 50 cm, Flüstersprache links 8 m, Weber 
nach links, Kinne rechts unausführbar, links normal; Schwabach verkürzt, Kopf¬ 
knochenleitung (Uhr) links und rechts 0. (Affektion des nervösen Apparates links). 

In den bisher beschriebenen Fällen vermute ich einen direkten 
Zusammenhang des Symptomenkomplexes mit der Tabes; in 5 Fällen 
ergab der otiatrisch-klinische Befund, daß es sich um nervOse 
Affektionen handle, in einem Falle dürfte eine nervöse Assoziation 


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Meniferescher Symptomenkomplex. 


281 


nach einem Mittelohrkatarrh stattgehabt haben: dafür spricht 
die plötzliche Ertaubung sowie das Ausfallen der hohen Töne 
der Galtonpfeife. Unklar bleibt allerdings bei allen Fällen die 
genaue Lokalisation des nervösen Ohrprozesses, da wir 
wissen, daß sich der Tabes metaluetische Labyrinthaffektionen 
assoziieren oder ihr direkt angehören. Anderseits fand Haug 1 ) in 
einem Falle von Mdniöre-Scüwindel bei Tabes eine Infiltration des 
Hörnerven; fernerhin könnten derartige Zustände vielleicht 
durch eine Acusticnskern-Affektion provoziert werden. 

Eine ganz andere Stellung nimmt der folgende Fall ein. 

(7) Beobachtung XXVII. 

47jähriger Schneider, F. B., am 3. Februar 1898 untersucht. Lues 
negiert Seit 1890 Ausfluß aus dem rechten Ohr. Seit 1895 Anfälle von Ohren¬ 
sausen rechts, starkem Schwindel, Dunkelseben und Erbrechen, mit heftigem 
Kopfschmerz. Dauer zirka einen Tag; im übrigen keinerlei Klagen. Der otosko- 
pische Befund ergab: rechtes Trommelfell perforiert, im äußeren Gehörgang 
Eiter; linkes Trommelfell normal. Hörschärfe rechts herabgesetzt, Weber nach 
rechts, Rinne beiderseits 4- (?) Kopfknochenleitung rechts fehlend. Pat. macht einen 
dementen Eindruck, spricht schwer nach. Linke Pupille bedeutend weiter als die 
rechte, welche lichtstarr ist. 

Hier also eine evidente Otitis purulenta, die wir mit der 
vermutlichen progressiven Paralyse nicht in Zusammenhang 
bringen können; dabei scheint der nervöse Hörapparat auch 
tangiert zu sein — ob nun durch die Otitis purulenta oder durch 
den tabiformen Prozeß läßt sich natürlich nicht entscheiden. 

C. Anschließend an die evidenten cerebrospinalen Fälle will 
ich zwei Beispiele bringen, welche die Schwierigkeit beweisen 
sollen, die sich bezüglich der Differentialdiagnose gegenüber 
spinalen und cerebralen Erkrankungen auf arterio¬ 
sklerotischer Basis heraussteilen können. 

Beobachtung XXVIII. 

67jähriger Private R. F., zu dem ich am 29. Oktober 1902 von Herrn 
Prof. Sternberg pro consilio gerufen wurde. Derselbe hatte nie eine schwere 
Krankheit durchgemacht, batte auch keine Lues, ist seit seinem 50. Le¬ 
bensjahre rechts schwerhörig, seit Sommer 1902 auch liuks. Seit Beginn seiner 
Hördefekte leidet er an Paroxysmen von Ohrensausen ohne Schwindel, hie und 
da auch an solchen mit Drehschwindel ohne Zusammenhang mit dem Sausen, 
ohne Erbrechen; zuweilen tritt bei der Attacke ein heftiger Stuhldrang auf. Nach 
einem solchen Anfalle wird das Gehör gewöhnlich besser. Der Pat. ist im all- 

*) Die Krankheiten des Obres etc. Wien, Urban & Schwarzenberg 1893. S. 208. 


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282 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


gemeinen sehr nervös, hypochondrisch, klagt über Schmerzen in den Beinen, 
über Kopfdruck rechts und über Gefühl von Schwere in den Gelenken; im Urin 
tritt öfters Sand auf. Seit Anfang Oktober 1902 hat sich der Charakter des 
Schwindels sehr geändert. Es ist nicht mehr der typische Drehsohwiudel, son¬ 
dern eher ein Gefühl der Betäubung. Das Gehör ist öfters schlecht, um dann 
wieder auffallend gut zu werden. Objektiv: Pat. macht geistig und körperlich 
einen sehr senilen Eindruck, der Gang ist trippelnd. Kniereflexe sehr lebhaft, 
doch rechts stärker als links. Emphysem, schwere Arteriosklerose. Pat. ist rechts 
taub, links Flüstersprache 2 m. Trommelfelle zeigen mäßige Trübung. Weber 
nach links, Kinne rechts unausführbar, links für hohe Töne +, tiefere Töne 
werden schlecht perzipiert. Kopfknochenleitung für Uhr links vorhanden. Wie mir 
Kollege Sternberg später mitteilte, war der Verlauf ein höchst merkwürdiger. 
Im Oktober folgten noch zahlreiche Schwindelparoxysmen mit Erbrechen von 
galligem Schleim: bald waren es heftige Anfälle, bald wieder nur leichte Schwindel- 
empfindungen. Dabei bestand immer wieder die Eigenheit, daß das Hörver¬ 
mögen (besonders links) so sehr wechselte, daß die Uhr im Anfalle kaum a. e. 
gehört wurde, während sie interparoxysmal oft bis auf 15 cm perzipiert wurde. 
Auffallend war weiter: Im Februar steigerten sich während kleinerer Anfälle 
beide Patellarsehnenreflexe, es trat spontan Fußzittern auf. Im März kam es 
nach Überstehen von leichten Bronchitiden nur zu einer gewisse q Unsicherheit, 
zu einem dumpfen Gefühle im Kopfe und Unvermögen zu stehen; dabei waren 
die Kniereflexe sehr schwach. Am 9. März findet sich ein klonischer Krampf im 
linken Bein durch 5 Minuten. Im April berichtet die Krankengeschichte häufiges 
Obeibefinden, Zittern des Kopfes und Unsicherheit beim Gehen. Patellarsehnen- 
reflexe nicht auslösbar, bedeutende Schwerhörigkeit, Nierensand. Im Januar 1903 
Jodmedikation, Abmagerung, keine bedeutenden Anfälle; Omalgia sinistra. Beim 
Stehen Zittern des rechten Beines, an Paralysis agitans erinnernd; Kniereflexe 
gesteigert. Winter 1903 bis 1904 kein Anfall. Klagen über Kopfdruck, Ohren¬ 
sausen, Zittern des rechten Beines, Erregungszustände. Im Mai 1904 zeitweilig 
Blut im Urin, hauptsächlich nach Fahren auf holperigen Wegen. Bei Blutharnen 
Schmerzen im linken Hoden; Nierenkonkremente. 

Ich kann dem schwerverständlichen Falle keine sichere Er¬ 
klärung beifügen. Daß es sich um eine Labyrinth-Schwer¬ 
hörigkeit handelt, ist wohl zweifellos. Daß der Mann Neura¬ 
stheniker war, ist sicher; daß aber die nervösen Beschwerden 
nicht allein einer Neurose entsprechen, ist ebenso klar, wenn 
man den bedeutenden Wechsel der Reflexe ins Auge faßt. Ich 
glaube immerhin, daß der Schwindel ein auraler war, wofür die 
Art desselben und die Art des Ohrenleidens ins Feld zu führen 
wäre: hingegen ist es atypisch, daß kein Zusammenhang der 
Drehempfindung mit den subjektiven Geräuschen vorkommt; 
ganz atypisch ist weiter der Wechsel des Gehörs. Ich glaube, 
daß wir es hier mit einer Verbindung von Mdniöre-Schwindel 
mit schwerer Arteriosklerose des Gehirns und Rückenmarks 


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MÄnifcresoher Symptomenkomplex. 


283 


zu tun haben — eine Hypothese, die wohl geeignet wäre, halb¬ 
wegs alle Erscheinungen zu erklären. 

Die folgende Beobachtung XXIX soll uns zeigen, wie 
schwer es unter Umständen sein kann, einen apoplektischen 
Anfall bei einem Schwerhörigen von dem Mönifere-Schwindel 
zu unterscheiden. Über die Unterscheidung derartiger Anfälle 
bei normalem Gehör haben wir bereits gesprochen. 

Es bandelt sieh um einen 40jährigen SchJossergehilfen A. R., den ich am 
12. April 1896 und dann wieder am 11. April 1904 sah. Er beriehtete bei der 
ersten Untersuchung, daß sein Vater Potator war, daß er im Jahre 1890 Lues 
uberstanden habe; Alkobolismus wird geleugnet. Seit 1886 Schwerhörigkeit be¬ 
sonders rechts, jedoch ohne Ohrensausen. Am 29. März 1896 ein Anfall, der auch 
der einzige blieb. Pat. wurde von heftigem Schwindel mit Ohrensausen befallen, 
stürzte dann bewußtlos zusammen, hatte kein Erbrechen. Den Schwindel schildert 
er derart, daß er das Gefühl hatte, als bewege sich etwas vor seinen Augen. 
Der Nervenbefund am 12. April 1896 ergab nur Romberg-Phänomen, sonst war 
er im ganzen negativ. Der Ohrbefund der Klinik Politzer vom 18. April 1896 
besagte: Annähernd normale Trommelfelle, hochgradig herabgesetztes Hörver¬ 
mögen, verkürzte Knochenperzeption, mangelhafte Perzeption für hohe und tiefe 
Töne. (Affektion des schallpfrzipierenden Apparates.) Die Untersuchung am 
11. April 1904 ergab: starke Arteriosklerose, Bronchitis, Patellarsehnenrefleie 
lebhaft, beiderseitiger Fußklonus, Flüstersprache zirka 90 cm. Trommelfelle wie 
oben. Weber im Raume, Rinne beiderseits +. Perzeptiousdauer aller Töne, be¬ 
sonders der tiefen, verkürzt. Gallonpfeife links 25, rechts 40, Kopfkuochenleitung 
für Uhr beiderseits e. 

Hier handelt es sich um einen schweren Prozeß des schall- 
perzipierenden Apparates, für welchen als grundlegende Noxe 
die Lues und die Profession (Schlosserei) gelten können. Ich 
vermute, daß der einzige Anfall ein cerebral-apoplektischer war, 
in dessen Beginn heftiges Ohrensausen auftrat — ein Auf¬ 
treten, das niemand wunder nehmen wird, da man ja weiß, 
daß viele Leute mit schwerem Ohrenleiden bei jeder Auf¬ 
regung, bei jedem Unbehagen sogleich heftige subjektive Ge¬ 
räusche bekommen. Gegen einen Menifere-Anfall spricht, daß 
die Attacke bei einer Beobachtungsdauer von 8 Jahren verein¬ 
zelt blieb, daß sich keine wesentliche Verschlechterung des Hör¬ 
vermögens an das Ohrensausen anschloß, daß kein Erbrechen 
erfolgte; doch muß immerhin zugegeben werden, daß die Dia¬ 
gnose in diesem Falle keine sichere ist. 

Anhangsweise reihe ich die Fälle an, welche ich als iso¬ 
lierte CerebraNPolyneuritismitM£ni6re-Symptomen(Poly- 


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284 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwarf. 


neuritis cerebralis menieriformis) bezeichnen will. Unter dieser Be¬ 
zeichnung vereinige ich die Fälle, die sich vermutlich auf akut-infek¬ 
tiöser Basis aufbauen, mit oft halbseitiger Lähmung der Hirnnerven 
einhergehen, die gleich den übrigen Polyneuritiden sich mit allgemein 
cerebralen Erscheinungen verbinden und welche ebenfalls eine nicht 
ungünstige Prognose bezüglich der Restitutio ad integrum aufwei¬ 
sen. Man hat derartige Polyneuritiden verschiedenster Kombination 
beobachtet, so z. B. Augenmuskellähmung, die sich mit Neü- 
ritis optica vergesellschaften kanD. (Hoffmann u. a.) Eine für 
uns wichtige Kombination, die des Facialis mit nervöser Schwer¬ 
hörigkeit, habe ich zuerst im Jahre 1895 auf Grundlage von 
fünf Beobachtungen beschrieben, vorher hatte Rosenbach auf 
Grund mehrerer Fälle die Möglichkeit aufgestellt, ist aber den 
völligen Beweis schuldig geblieben, weil die genaue Ohrunter¬ 
suchung mangelte; man vergleiche noch die späteren Fälle von 
Hoffmann, von V. Hammerschlag 1 ) u. a.; in einzelnen Fällen 
können noch zu dem interessanten Bilde Trigeminussymptome, 
vasomotorische Störungen, Herpesausbruch dazutreten, wie das 
neuerlich 0. Körner wieder in einem Falle beobachtet hat. 
Hier wollen wir natürlich nur von der Facialislähmung -f- ner¬ 
vöser Schwerhörigkeit + Vertigo auralis sprechen. Den ersten 
diesbezüglichen Fall habe ich in meinem Buche im Jahre 1895 
mitgeteilt. 

(1) Beobachtung XXX. 

Es bandelte sieh am den 40jährigen Job. N., der am 4. Juli 1894 auf 
die Klinik Nothnagel anfgenommen wurde. Er war stets gesund, keine Lnes. 
Am 24. Mai 1894 legte er sich völlig gesund ohne Beschwerden zu Bette; am 
nächsten Morgen KopfJruck, Erbrechen ohne nausea; nach einigen Standen starker, 
von linksseitigem Ohrensausen begleiteter Schwindel, der auch anhielt. Pat. hatte 
das Gefühl, als müsse er nach links fallen; es ist ihm, als ob ihn immer etwas 
nach dieser Seite hinziehe, so daß er konstant in horizontaler Lage verharrt. 
Das Hörvermögen batte links etwas gelitteu. Am 27. Mai bemerkte seine Frau, 
daß er einen schiefen Mond habe, daß er das linke Auge nicht schließen könne: 
an diesem Tage fiel es dem Pat. auf, daß sein Hörvermögen links weiterhin be¬ 
deutend abgeschwächt sei. Das Erbrechen verschwand, doch bestanden Üblich- 
keiten mit Brechre’z weiter. Die Untersuchung ergab im Bereiche der Hirn¬ 
nerven nur zwei Defekte: 1. handelte es sich um eiue linksseitige totale Faeialis- 
lähmung: die linke Lidspalte war weit offen, der Mond stand 6chief; der Angen- 
schlnß sowie die übrigen Facialisfnnktionen geschahen ganz unvollkommen; die 
elektrische Erregbarkeit vom Nervenstamme aus für den faradischen and gal- 

«) A. f. 0.: Bd. LII. S. 1. Daselbst Literatur. 


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M6niörescher Symptomenkomplex. 


285 


yanischen Strom erloschen, die faradische Muskelerregbarkeit = 0 . Galvanisch 
waren die Muskeln bei starken Strömen erregbar, die Zuckungen waren träge, 
somit E A R. Das Hörvermögen war rechts normal, links stark herabgesetzt, 
Uhr a. c. Weber bisweilen nach rechts, bisweilen im Raume, Rinne beiderseits +, 
tiefe und hohe Töne werden beiderseits gut perzipiert; Trommelfell links leicht 
relaxiert, glanzlos, schiefergrau. Lufteintreibung geht rechts normal von statten, 
links undeutliche Geräusche. Diagnose (weiland Prof. Gr über): Nervöse Affektion 
im linken Ohr. Im übrigen Hirnnervenfunktion (Geschmack, Geruch, Optikus) 
normal. Die Bulbi werden in allen Richtungen frei bewegt, nur tritt bei extremer 
Blickrichtung ziemlich starker Nystagmus auf. Sensibilität am ganzen Körper 
normal, Kniereflexe lebhaft, Motilität der oberen Extremitäten gut, die unteren 
werden ebenfalls frei bewegt, doch zeigt der Gang eine gewisse Unsicherheit, 
die namentlich beim Gehen mit geschlossenen Augen sehr deutlich wird. Pat. 
hat dabei stets die Neigung, nach links zu fallen. Er verließ nach drei 
Wochen das Spital; der Schwindel war völlig gewichen, die Gesichtsnerven¬ 
lähmung fast geheilt, die Schwerhörigkeit jedoch blieb unverändert. Am 
4. Dezember 1897 suchte er wegen einer mäßigen Pollakiurie die Ambulanz 
auf, woselbst er berichtete, daß er nicht mehr den geringsten Schwindel 
gehabt habe. Die Untersuchung ergab: Reste der Gesichtsnervenlähmung; 
der otologische Befund war: Konversationssprache rechts 8 m., Iink9 8 m. Weber 
nach rechts, Rinne beiderseits -f-. Kopfknochenleitung für Uhr vorhanden; links 
schwächer als rechts. Kniereflexe gesteigert. Andeutung von Klonus. Über unsere 
Aufforderung kam er am 17. April 1901 wieder auf die Klinik; er berichtete, 
daß er nie mehr an Schwindel gelitten hatte, dass auch die Pollakiurie ver¬ 
schwunden war. Der otiatrisch-neurologische Befund ergab ein ähnliches Resultat 
wie oben. 

Ich glaube, daß es sich hier tatsächlich um eine toxisch¬ 
infektiöse Erkrankung handelte. Für diese Meinung scheint mir 
der Umstand verwertbar, dass das Bild nicht apoplektisch aufge¬ 
treten war, sondern sich innerhalb von Tagen aufbaute, um dann 
wieder in Wochen fast ganz zurückzugehen. Dieser Verlauf spricht 
natürlich mit großer Wahrscheinlichkeit gegen eine Basalblutung, 
die wir im Falle Beobachtung VI, S. 255, annahmen, da ja bei 
letzterer der Verlauf ein tatsächlich ungemein schneller war, 
da weiters eine ausgesprochene Arteriosklerose bestand, die auch 
sehr bald zum Exitus führte. Der polyneuritische Charakter 
war noch viel deutlicher in zwei Fällen ausgeprägt, die 
ich nun kurz reproduzieren will; der eine Fall ist der von 
Kaufmann. 1 ) 


*) Z. f. Ohrenheilkunde B. 28. 


Jahrbücher f. Psychiatrie und Neurologie. XXV. Bd. 


19 


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286 


Prof. Pr. L. v. Frankl-Hochwart. 


Beobachtung XXXI. 

Ein 34jähriger, stets gesunder, nie ohrenleidend gewesener Mann erkrankte am 
20. Juli 1896 unter Unwohlsein, Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen und Fieber. Am 
25. Juli schmerzhafte Spannung in der licken Gesicbtshälftc. Rötung der Haut 
der linken Wange sowie Ansbruch kleiner Bläschen (Herpes faciei), inten¬ 
siver Kopfschmerz, Schwäche, Schwindel, Erbrechen; iu (len nächsten Tagen 
wiederholt auftretendes Erbrechen und Schwindel, geringe Temperatursteigerung. 
Innere Organe normal. Am 29. Juli linksseitige totale Facialisparalyse, Ohren¬ 
sausen, komplette Taubheit des linken Ohres, Geschmacksparästhesien. Hierauf 
allmähliche Besserung: Rückgang des Fiebers, der Rötung und Schmerzhaftigkeit 
der linken Wange, dabei heftiger Schwindel und bedeutendes Ohrensausen. Obr- 
befund: rechtes Ohr vollkommen normal, linkes Ohr: Gehörgang normal; 
Trommelfell etwas anfgequollen (Cocaineinträufelung), Nasenrachenraum, Tuba, 
Warzenfortsatz normal, Fliistersprache links a. e., Weber nach rechts. Am 17. Au¬ 
gust Besserung der Facialislähmung, keine Geschraackslähmung, linkes Trommel¬ 
fell normal, Flüstersprache links 0*5. Am 20. August kein Schwindel, kein Ohren¬ 
sausen und -Klingen; Facialisparalyse wesentlich gebessert. Hörweite links für 
laute Worte 3 m. Der letzte Befund war: Weber nach rechts. Hörweite L. ungefähr 
2 m für laute Sprache; Rinne für Stimmgabeln mittlerer Höhe -h Kein Schwindel, 
Facialislähmung vollständig geheilt. 

Einen weiteren Fall hatte ich mit Herrn Docent Dr V. 
Hammerschla?*) zu beobachten Gelegenheit, welch letzterer 
ihn auch publizierte. 

Beobachtung XXXII. 

Pat. wurde am 29. März 1SS9 auf die Klinik Nothnagel aufgenommen. 
Er war bis xuf Lungenkatarrh immer gesund. Ain 14. Mär/ hei Schnee und 
Regen vierstündiger forzierter Marsch, wobei seine rechte Gesichtshälfte besonders 
dem Sturme ausgesetzt war. Am 19 März durch 4 Stunden Frösteln. Pat. mußte 
sich zu Bette legen: er bekam Üblichkeiten und Schwindel, bei dem sich die Gegen¬ 
stände von rechts nach links zu drehen schienen. Augenschluü besserte die Er¬ 
scheinungen; daneben allgemeine Mattigkeit, Kopfschmerzen. Am Morgen des 
20. März heftiges Stechen ntid Sausen im rechten Ohr, Zunahme des Schwindel- 
gefuhls. stärkerer Brechreiz, Parese der rechten Gesichtshälfte, Unterempfind¬ 
lichkeit der rechten Zungenhälfte. Am 22. März Versiegen der Thränensekretiou R. 
Am 23. März wurde von mir auf der Ambulanz auch ein Herpesausbruch im Gesichte 
rechts bemerkt. Die Untersuchung am 29. März ergab: Totale Facialislähmung 
rechts, bei extremer Blickrichtung Nystagmus, Mangel der Tränensekretion, Coujunc- 
tivitis rechts, soDst Augenbefund (inklusive Augenbintergnind)normal: an der rechten 
Ohrmusehelllerpesausbruch; Trommelfelle bis auf leichte Trübung normal. Flüster¬ 
sprache links 10 »i, rechts f> m. Weber im Raume, Rinne beiderseits +, Kopfknochen- 
leitung für Uhr links normal, rechts fehlend. Hochgradiges Romberg-Phäuomen. Gaug 
auch bei offenen Augen schwankend, mit kleinen Schritten. Wangenschleimhaut rechts 
hypästhetisch, Conjunctivalreflex rechts fehlend, sonst keine sensorisch-sensiblen 

l ) A. f. Ohrenheilkunde. Bd. 45. 


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Menierescber Symptomenkomplex. 


287 


Aoomalien; sonst keine Hirnnervenlähmung. Motilität und Reflexe an den 
Extremitäten normal. Im Verlaufe der Behandlung eine gewisse Besserung: 
der Schwindel ließ nach, die Tränensekretion stellte sich wieder ein, die Ge¬ 
sichtslähmung ging zurück, die Hörschärfe besserte sich, der Gang gewann 
an Sicherheit. Am 8. April war auch der Herpes geschwunden, am folgenden 
Tage verließ Pat. das Spital. Am 25. April stellte er sich auf der Ohrenklinik 
noch einmal vor und behauptete, daß sich sein Zustand neuerdings verschlimmert 
hätte: die Schwerhörigkeit und das Ohrensausen rechts seien prononzierter. Die 
objective Untersuchung ergab, daß sich die Gesichtslähmung nicht weiter ge¬ 
bessert hat; das Zahnfleisch des rechten Ober- und Unterkiefers ist leicht 
gerötet und aufgelaufen, Romberg fast geschwunden, die Hörschärfe rechts ziem¬ 
lich herabgesetzt. Pat. gibt auch an, daß er seit einigen Tagen auf dem rechten 
Obre doppelt höie, wobei er eine sehr unangenehme Sensation, besonders bei 
musikalischen Tönen habe. Über die weiteren Schicksale konnte man leider 
nichts mehr eruieren. 

In beiden Fällen istderPolyneuritischarakter durch den relativ 
protrahierten Verlauf gegeben, ferner durch die Remission, eventuell 
Intermission; der akute Herpesausbruch unterstützt wohl die 
Diagnose auf infektiöse cerebrale Polyneuritis. 1 ) 

D. Die nächsten Blätter sollen der Besprechung gewisser 
diagnostischer Verhältnisse bei den Neurosen gewidmet sein. 
Namentlich muß die Epilepsie sowie die Hysterie, besonders 
die auf traumatischer Basis beruhende, in Diskussion ge¬ 
zogen werden; ehe ich aber auf diese Erörterungen eingehe, muß 
ich den Begriff des Pseudomeniöre näher auseinander setzen. 
Den Ausdruck Pseudomeniere habe ich seinerzeit (1. c. S. 30) 
vorgeschlagen, um damit jene Attaken zu bezeichnen, die mit Ohren¬ 
sausen, Schwindel und Erbrechen einhergehen, ohne daß das Ohr 
krank erscheint, ohne daß eine äußere Einwirkung, z. B. Schaukeln, 
Sondierung, vorausgegangen ist, ohne daß eine Giftwirkung, wie 
z. B. die des Chinins oder Salizyls stattgehabt hat. 

a) Beziehungen des Pseudomeniüre zur Hysterie. 

Zur Schilderung der hysterischen Form dienten damals 
die zwei folgenden Fälle, denen ich nun einen von Rybalkin-) 
sowie drei aus meiner Beobachtung folgen lasse. 


i) Während der Korrektur dieser Arbeit sah ich einen von Herrn Dr. A. 
Berger beobachteten, den obigen ganz analogen Fall, der anderweitig publiziert 
werden wird. 

J ) D. Z. f. Nervenheilkunde 1900, XVII, S. 199. 

19 * 


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288 Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


Beobachtung XXXIII. 

Fall von Gilles de la Tourette. 1 ) Es handelt sich uui eine juDge Frau, 
die Charcot in einer (nicht erschienenen) Vorlesung vorstellte. 

Diese Kranke, welche eine ausgesprochen* Hysterika war, litt seit einigen 
Monaten an Sausen im rechten Ohr mit zeitweilig auftretendem Pfeifen. Der Gang 
war schwankend, Schwindelanfälle und Erbrechen nicht selten. Die Schwindel¬ 
anfälle waren so stark, daß Patientin zusammenstürzte; eines Nachts fiel sie 
sogar aus dem Bette. Die Richtung des Falles entsprach der rechten Seite, an 
welcher Hemiparese und Hemian&sthesie bestand. Die Krise endete mit Weinen. 
Die Untersuchung des Ohres sowie des Gesamtzustandes ließ keinen Zweifel 
an der hysterischen Natur dieses Phänomens aufkommen. 

Ein zweiter Fall wurde mir von Herrn Sanitätsrat Dr. 
Hatschek zur Publikation überlassen. 

Beobachtung XXXIV. 

W. Sch., 28 Jahre alt, Gutsbesitzerstoehter. Vater soll Nacht¬ 
wandler sein, die Mutter litt in den letzten Jahren an Melancholie; ein Onkel 
und ein Cousin mütterlicherseits haben durch Selbstmord geendet, ein Cousin leidet 
an Epilepsie, welcher Krankheit auch die jüngere Schwester unterworfen zu sein 
scheint. Fat. bis auf Blattern stets gesund, hatte vom 10. bis 12. Lebensjahre 
Anfälle von Schwindel und Erbrechen, die mehrere Stunden währten; nie ein 
Bewußtseinsverlust, keine Krämpfe, keine Enuresis nocturna. Zwischen dem 12. 
und 23. Jahre kein Anfall, dann einer nach dem Tode der Mutter, daun wieder durch 
5 Jahre Ruhe. Im März 1894 in der Nacht plötzlich heftiger Drehschwindel mit 
quälendem Ohrensausen, so daß die Pat. kaum ein Wort verstand, kein Kopfschmerz, 
keine Krämpfe, keine Inkontinenz; nach 4 Stunden Besserung. Während des Anfalles 
Äußerungen, die auf Halluzinationen schließen lassen: „so gebt doch dem Leiermann 
einen Kreuzer, daß er weggeht”, „schickt doch die Musik fort”. Nach dem Anfall er¬ 
innerte sie sich au die Schwindelsymptome: der Halluzinationen entsinnt sie sich 
erst, nachdem man sie darauf aufmerksam macht; sie erinnert sich dann, außer 
dem Ohrenrauschen eine Musikkapelle und einen Leierkasten gehört zu haben. 
Später, in der nächsten Woche, noch einige leichtere Anfälle, dann Zessieren 
derselben bis zu dem mehrere Jahre später erfolgten Tode an Typhus. Der ob¬ 
jektive Befund war immer negativ; das Gehörorgan zeigte auch Jahre nach dem 
Anfalle nicht die geringste Anomalie. 

(3.) Beobachtung XXXV. 

Ich zitiere nur kurz den Fall von Rybalkin (1. e.), welcher Autor sich 
meiner Auffassung dieser Zustände vollkommen angeschlossen hat; allerdings 
ist der Fall dadurch nicht völlig dem Typus entsprechend, weil eine Hörstörung 
bestand, die freilich auch den Charakter einer Neurose trug. J. T., 24 Jahre alt, 
wurde am 1. April 1898 auf der Straße bewußtlos aufgefunden und in das 
Marien-Hospital gebracht; derselbe leidet seit 1895 an Krampfanfällen mit Be¬ 
wußtseinsverlust, (mitunter) Zungenbiß; diese Anfälle häuften sich im Jahre 1898, 

0 Progres medical. Aout. 1891. 


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Meniörescher Symptomenkomplei. 


28Ö 


bo daß sie allwöchentlich auftraten. In der Vorgeschichte wird erwähnt, daß der 
Pat. in seiner Kindheit an Somnambulismus gelitten habe: Er sprang im Bette auf, 
lief im Zimmer umher, und war anfänglich nicht imstande, sich zu orientieren. 
Im Jahre 1889 Typhus, 1892 Erysipel am rechten Unterschenkel, zwischen 13. 
und 20. Jahre häufige Masturbation, die er auch später trotz begonnenen Ver¬ 
kehres mit Frauen nicht aufgab. Seit 1897 Kopfdruck und Ohrensausen. Der 
objektive Befund ergab: Kurz dauernde Zuckungen in der Gesichte- und Hals¬ 
muskulatur. Zittern der Lider, der Hände und der Zunge, Schwäche der linken 
Extremitäten, Anästhesie der Konjunktivs, der Sklera und teilweise der Horn¬ 
haut. Linkerseits Anästhesie der Nasenschleimhaut, des weichen Gaumens und des 
Rachens, Herabsetzung des Gehörs links und der Kopfknochenleitung bei sonst 
negativem Ohrbefund; Steigerung der Patellarsehnenreflexe. 

Patient hatte zweierlei Anfalle, die hysterischer Natur 
waren: uns interessieren nur die „Schwindelanfälle” nach Art 
der Möniere-Attaken, die täglich bis 30mal auftreten, gewöhn¬ 
lich, wenn der Patient sich zu Bette legt oder eine Treppe herab¬ 
steigt. Es erwies sich, daß die kleineren Anfälle leicht experi¬ 
mentell hervorgerufen werden können: man läßt nur den Kranken 
1 bis 2 Minuten die Augen schließen, dann wird die Atmung tief, das 
Gesicht cyanotisch, der Kopf wird nach rückwärts und nach links 
gezogen, die Lider öffnen sich, beide Augen werden nach links ab¬ 
gelenkt, worauf der Kranke eine halbe oder ganze Drehung nach 
links um seine vertikale Achse macht. Der Umstand, daß man 
die Anfalle provozieren kann, berechtigt die Einreihung des Falles 
in die Gruppe der Hysterien. 

Frei von allen Bedenken ist nun folgender, seit dem Er¬ 
scheinen meines Buches von mir beobachteter Fall: 

(4.) Beobachtung XXXYI. 

J. S., die Frau des Seite 251, Beobachtung I., geschilderten 
Finanzwach-Oberaufsehers S., der an echtem apoplektischen M.-Sym- 
ptomenkomplexe gelitten hat. Als wir diesen Kranken im Jahre 1904zur neuer¬ 
lichen Untersuchung einluden, bat er uns nach erfolgtem Examen, daß wir seine 
schwer erkrankte Frau auch vornehmen sollen. Dieselbe war eine kräftige, gut genährte 
Frau von 44 Jahren, die in ihrem 30. Jahre eine Influenza durchgemacht hatte, 
sonst nie eine schwere Krankheit. Sie leidet seit Juli 1898 an Üblichkeiten mit 
Brechreiz und Erbrechen, manchmal an Schwindelanfällen, die von oben genannten 
Zuständen unabhängig waren, bisweilen an Herzklopfen. Seit Sommer 1903 ist 
sie Schwindelanfällen von bestimmtem Typus unterworfen, welche erst vereinzelt, 
später häufiger und nun täglich auftreten; sie werden von Ohrensausen, Üblich¬ 
keiten und Brechreiz begleitet, manchmal kommt es wirklich zum Erbrechen. 
Pat. muß sich während der Paroxysmen anhalten, die Gegenstände erscheinen 
ihr unbewegt, während sie sich selbst gedreht fühlt; während des Anfalles Herz- 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoohwart. 


klopfen. Das Ohrensausen besteht interparoxysmal nie. Die höehste Dauer des 
Anfalles betrug eine halbe Stunde, nie kam es zu Bewußlosigkeit. Auf direktes 
Befragen gibt die Pat. an, daß sie sich während des Anfalles nie niedersetze, 
daß Augenscbluß sogar verschlechternd wirke. Das Gehör war stets gut. Auch 
in den anfallsfreien Zeiten fühlt sich Pat. sehr erregt, ängstlich; der Schlaf 
unruhig, die Träume erregt. Der objektive Befund bezüglich des Nervensystems 
ergab: Iierabsetzuug des Cornealreßexes, heftiger Tremor, sonst negativ, keine 
sensorischen Störungen. Das Gehör erwies sich als völlig intakt. Die minutiöseste 
Stimuigabeluntersuchuog konnte auch nicht die geringsten Anomalien nach- 
weisen. 

Als wir die Patientin zu examinieren anfingen, glaubten wir 
den von uns noch nie gesehenen Doppelfall von Meniere-Schwindel 
bei Eheleuten vor Augen zu haben. Gewisse Angaben, z. B. die, 
daß Augenschluß die Anfälle verschlechtere, ferner die allgemeine 
Nervosität sowie das absolute Intaktsein des Hörapparates, wiesen 
darauf hin, daß wir es mit einer Hysterica zu tun hatten. Es 
fiel ferner auf, daß die Affektion gerade zur Zeit begonnen, als 
das Leiden ihres Mannes auf der Höhe war — 1898, und auf 
unsere Fragen berichtete die sehr intelligente Kranke, daß sie 
tatsächlich die Erkrankung ihres Mannes für eine schwere und 
todbringende hielt, daß sie in der ersten Zeit an nichts anderes 
als an Schwindel, Ohrensausen und Erbrechen dachte; die von 
uns ihr mitgeteilte Meinung, daß die Anfälle sich infolge dieser 
Ängstlichkeit entwickelt hätten, stieß bei der Kranken nicht 
auf Widerspruch. 

Wenn je ein Fall geeignet war, alle Bedenken bezüglich 
der Notwendigkeit des Begriffes „Pseudomeniöre” zu zer¬ 
streuen, so wäre es doch diese in der Literatur einzig dastehende 
Beobachtung. 

Für einen hysterischen Pseudomeuicre hielt ich auch fol¬ 
genden Fall. 

5. Beobachtung XXXVII. 

Die 25jährige Köchin R. \\\, die ich am 12. September 1894 und aui 
2. Juli lS'.'.Ä zu untersuchen Gelegenheit hatte, klagte, daß sie seit 1891 an 
Ohrensausen leide hei sonst intaktem Ohre. Seit 10. Juli 1894 Anfälle 
von Schwindel mit dem Gefühl von Zusammenstürzen; kein Brechreiz, hingegen 
bisweileu Kopfdruck und Flimmern vor den Augen. Der Nervenbefund war völlig 
negativ; auch im Ohr war weder bei der otoskopiscben noch bei der Stimm¬ 
gabelprüfung etwas nachzuweisen. Als sie sich am 2. Juli 1895 abermals vor- 
stellte, war der gesamte Symptomcnkomplex verschwunden; sie klagte nur mehr 
ll ber Sausen im Kopfe. Der Befund war abermals ein negativer. 


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Meniöreseher Syinptomenkomplex. 


291 


(6.) Beobachtung XXXVIII. 

33jährige Kondukteursfrau C. M., zum ersten Male untersucht am 
9. Juli 1897; sie gab an, daß sie seit den achtziger Jahren an Schwindel leide. 
Im Jahre 1856 sei sie in einem Anfall auf den Hoden gestürzt und hätte dann 
einen Abortus erlitten. Im Jahre 1890 wäre sie abermals im Paroxysmus auf den 
Kopf gefallen und sei durch 2 Tage aphasisch gewesen; sie war immer sehr 
nervös, häufig von Kopfschmerzen gequält. Seit 1894 fast täglich Auftreten von 
Schwindel mit beiderseitigem Ohrensausen, dabei Erbrechen und Neigung zum 
Fallen. Pat. ist sehr matt, leidet an Globusgefühl und Herzklopfen. Der Nerveti- 
befund war völlig negativ; an der Ohrenklinik wurde ein beginnender Katarrh 
vermutet. Am 23. Mai 1904 folgte sie unserer Aufforderung zur neuerlichen 
Untersuchung und korrigieite ihre erst gemachte Angabe dahin, daß sie das erstemal 
von der Leiter nicht infolge von Bewußtseinstrübung gestürzt sei, sondern daß sie nur 
zufällig das Gleichgewicht verloren hätte; sie war nach dem Sturze kurze Zeit bewußt¬ 
los, abortierte, und an dieses Ereignis schlossen sich dann Anfälle von Kopfschmerzen 
mit Augenflimmern; ob dieselben halbseitig auf traten oder von Erbrechen gefolgt 
waren, vermag sie nicht anzugeben. Im Jahre 1S90 Sturz in einem Schwindelanfall mit 
folgender kurzdauernder Sprachstörung. Im Jahre 1897 erkrankte Pat. an Ohren* 
stechen rechts und wurde an der Klinik Gruber behandelt; seit dieser Zeit 
schwere Schwindelanfälle, die mit eiuem „Zusammenziehen” in der Magengegend 
und Erbrechen einsetzen. Diesen Zuständen folgt Kopfschmerz, der in der rechten 
Hälfte beginnt, dann aber den ganzen Kopf ergreift; zugleich stellt sich Stechen 
im rechten Ohre ein. Bei Kopfbewegungen Farbensehen und Schwiudelgefühl, 
bei welchem sich die Gegenstände zu drehen scheinen. Der Schwindel dauert 
bis 5 Minuten, der Kopfschmerz 1 bis 3 Tage, während welcher Zeit sich die 
Schwindelanfälle wiederholen; beim letztgenannten Paroxysmus muß sich die Pat. 
setzen, weil sie umzufallen fürchtet. Augenschluß bessert; öfters Üblichkeiten und 
Erbrechen. Bei der Attake oft starkes Ohrensausen, das allerdings fehlen kann. Im 
ganzen sollen die Zustände seit März 1904 etwas besser sein. Nervenbefund: 
rechts Supraorbitalis druckempfindlich, Geruch beiderseits gleich, Geschmack links 
etwas stumpfer, rechte Gesichtshälfte etwas hypästhetisch, Konjuuktival-Korueal- 
reflexe beiderseits gleich, linke Extremitäten hypalgetisch. Kniereflexe lebhaft 1. > r. 
Ovarialgegend druckempfindlich. Kein Romberg-Phänomen, Gang bei geschlossenen 
Augen etwas unsicher; das Gesichtsfeld beiderseits gleichmäßig eingeschränkt: 
nach außen 50, innen 40, nach oben, unten 30. Trommelfellbefund im wesent¬ 
lichen negativ; äußerer Gehörgaug links hypalgetisch, Flüstersprache rechts Hm, 
links 2 w, Weber im Raume, Luftleitung für Stimmgabel leicht verkürzt. Rinne 
beiderseits +, Schwabach normal, Galtonpfeife rechts 50, links 45. 

Ich gebe zu, daß dieser Fall nicht so überzeugend ist, wie 
die früheren, da ja seinerzeit ein leichter Mittelohrkatarrh 
diagnostiziert wurde, weil ja gewisse Hördefekte unleugbar 
sind; aus den Störungen der Sensibilität, des Gesichtsfeldes, 
des Geschmackes, aus der Reflexanomalie, sowie aus der ge- 


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292 


Prof. Dr. L. y. Frankl-Hochwart. 


samten Richtung der Klagen kann man wohl unbedingt die 
Diagnose auf schwere Hysterie mit Hemicranie stellen; es könnte 
jedoch eine Kombination von Hysterie und echten Manier eschen 
Anfällen bei Mittelohrkatarrh vorliegen — eine Kombination, wie 
wir sie weiter unten noch an geeigneten Fällen studieren werden. 
Der Umstand aber, daß der Rinne so eklatant -f- ist, daß der 
rechte Gehörgang hypalgetisch ist, ferner, daß das Ohrensausen 
beim Anfalle bald heftiger ist, bald wieder fehlt, legt mir die 
Idee nahe, daß es sich doch um einen Pseudomeniere handelt, 
ohne daß ich zum vollgiltigen Beweise schreiten kann. 

b) Die Beziehungen des Pseudomeniere zur Epilepsie. 

Unter dem Einflüsse von Gharcot fand man lange Zeit in 
der Literatur die Meinung vertreten, daß die Unterscheidung 
des Meniöre-Anfalles vom epileptischen eine sehr leichte sei, 
da nach dem genannten Autor das Bewußtsein bei ersterem 
immer frei bleibe. Wir sahen aber, daß diese Meinung nicht 
immer aufrecht zu erhalten sei, da ja schon in der grundlegenden 
Arbeit von Meniere gezeigt wurde, daß die apoplektische Form 
nicht selten mit Bewußtseinstrübung einhergeht; im Laufe 
der Jahre sah ich auch einige Patienten, die am M^niere- 
Symptomencomplex bei einem vorhandenen Ohrenleiden litten 
und auf das bestimmteste angaben, daß sie hie und da Bewußt¬ 
seinstrübung hätten. Wie wir schon bemerkt haben, ist die 
Gefahr der Verwechslung ausgesprochener epileptischer Anfälle 
mit den Meniereschen nicht groß wegen der meist ganz anders 
verlaufenden Aura, wegen der dauernden Bewußtseinstrübung, 
wegen der Krämpfe, der Inkontinenz, der postepileptischen 
Aphasie und Verworrenheit. Schwierigkeiten entstehen nur da¬ 
durch, daß wir formes frustes der Epilepsie kennen, bei denen der 
Anfall nur in Schwindel oder in Schwindel mit leichter Bewußt¬ 
seinstrübung besteht, während die übrigen Symptome, namentlich 
die Krämpfe, die Verworrenheit ausbleiben. Während ich oben 
erwähnte, daß dieDifferenz bezüglich der Aura, (die ja beim epilep¬ 
tischen Anfalle vielgestaltig sein kann, beim Meniöre höch¬ 
stens in gesteigertem Ohrensausen besteht), von ausschlag¬ 
gebender Bedeutung ist, so wurde ich doch bei meinen ersten 
Studien betreffs der Auswertung dieser Symptome unsicher, da ich 
mehrere Fälle sah, in denen die Aura typisch-epileptischer Anfälle 


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M^niferesoher Symptomenkomplei. 


293 


sich dem Möniöre - Symptomenkomplex näherte; wenn man 
weiters bedenkt, daß eine Aura unter Umständen auch isoliert 
i. e. als abortiver Anfall auftreten kann, so wird man die 
Schwierigkeiten begreifen, welche sich manchmal der Diagnose 
entgegenstellen. Ich fand in der Literatur nirgends eine An¬ 
deutung dieser Verhältnisse, nur Gowers erwähnt in seinem 
berühmten Werke über Epilepsie *) eine derartige Möglichkeit, 
ohne aber Beispiele anzuführen und ohne über die näheren Ver¬ 
hältnisse etwas mitzuteilen. 

Ich will nun meine Beobachtungen mitteilen, von denen 
fünf bereits gedruckt, zwei jedoch neueren Datums sind. 

Fall 1. Beobachtung XXXIX. 

27jähriger Bauer P. F., zum ersten Male untersucht im Ambulatorium 
am 12. März 1893. Stets gesund, Potus und Lues negiert. Im Sommer 1891 • 
begann er plötzlich mit der Heugabel in der Hand herum zu laufen, stürzte 
zusammen, war einige Minuten bewußtlos, dann Amnesie für das Vorgegangene. 
Im nächsten Jahre hie und da leichter Kopfschmerz mit geringem Ohrensausen. 
Im Mai 1892 ohne Prodrom transitorischer Bewußtseinsverlust, dann erst setzen 
ungefähr Mitte Dezember 1892 Anfälle ein, die sich seitdem alle 3 bis 4 Tage 
wiederholten: Sie beginnen mit Ohrensausen, Kopfschmerz, Hitzegefühl im 
Kopfe, Brechreiz, Drehschwindel; zu Bewußtseinsverlust soll es nicht gekommen 
sein. Der Betund war ein völlig negativer. Am Ohre konnte auch auf der otia- 
trischen Klinik nicht das geringste nachgewiesen werden. Diagnose: epileptoide 
Anfälle pseudomeniereschen Typus. 

Fall 2. Beobachtung XL. 

Am IG. Februar 1894 kam die 20jährige Dienstmagd' K. S. in das 
Nervenambulatorium. Vater schwerer Potator, Mutter sehr nervös; Pat. selbst 
hatte zwischen dem 13. und 16. Lebensjahre häufige choreatische Zuckungen. 
Am 15. Februar wurde Pat. plötzlich von Ohrensausen befallen; sie hatte das 
Gefühl deR Rückwärtsstürzens, so daß sie sich anlebnen mußte; dann stellte sich 
heftiger Brechreiz mit Erbrechen ein, dem endlich Bewußtlosigkeit folgte. Sie 
war für den weiteren Verlauf amnestisch; doch hatte sie gehört, daß Zuckungen 
aufgetreten wären. Der Nerven- sowie auch der Ohr-Befund war ein völlig negativer. 

Diagnose: Typischer epileptischer Anfall mit MeniDrescher Aura. 

Fall 3. Beobachtung XLI. 

30jährige Dienstmagd M. Cz., am 21. Februar 1894 untersucht. Im 
Jahre 1881 Lues; seit 1883 nervöse Erregungszustände. Seit dieser Zeit Anfälle: 
der erste im Jahre 1883; darauf eine dreijährige Pause, nach der die Anfälle 
2- bis 6mal im Jahre auftraten. Sie begannen mit heftigem Ohrensausen, starkem 
Schwindelgefühl, wobei Pat. zu Boden stürzte und das Bewußtsein verlor. In der 

i) Übers, von Dr. M. Weiß. II. Aufl. Wien,» Deuticke 1902. S. 249. 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


Bewußtlosigkeit Erbrechen, Incontinentia urinae et alvi. Ober Krämpfe hat Pat. 
nichts gehört; sie suchte ärztliche Hilfe wegen einer Augenmuskellähmung, die 
sich nach Kälteeinwirkung unter stechenden Schmerzen anfangs 1894 entwickelt 
haben soll. 

Objektiv: rechts Ptosis und Parese des Rectus superior. Pupillen mittel¬ 
weit, reaktionslos, sonst Nervenbefund sowie auch der an der Ohrenklinik voll¬ 
ständig negativ. 

Diagnose: Symptomatische Epilepsie (bei Cerebrallues) mit pseudo- 
menicrescher Aura. 

Fall 4, Beobachtung XLII. 

42jährige Beamtensgattin A. W., untersucht im Ambulatorium aui 
*24. Mai 1894. Sie stammt aus gesunder Familie, war selbst stets gesund. Seit ihrer 
ersten Schwangerschaft leidet sie an Anfällen: anfangs traten diese nur am Tage auf 
und bestanden in Ohrensausen, Schwindel und Brechreiz bei freibleibendem Be¬ 
wußtsein; seit 1894 hatte sie jedoch 4mal des Nachts Zustände anderer Art: 
sie bricht plötzlich im Schlafe in unartikuliertes Schreien aus, ist bewußtlos: 
einmal sollen auch klonische Zuckungen beobachtet worden sein, darnach Am¬ 
nesie. Objektiver Befund negativ. 

Pat. leidet an typischer Epilepsia nocturna. Da das Gehör vollständig 
normal war, so würde ich die ersten Anfälle als epileptisches Äquivalent mit 
pseudomeuiereschem Typus deuten. 

Fall 5, Beobachtung XLIII. 

25jährige Prostituierte P. F., untersucht am 13. Juli 1894. Lues 
negiert; im Jahre 1890 nach eiuer Entbindung Pleuritis; Alkoholismus zu- 
gestandeu. Seit März 1890 sei sie sehr erregbar, schlaflos. Tremor, Schmerzen 
in den Beinen, Einkuieken derselben, Zuckungen im Gesicht. Täglich leichte 
Anfälle von Schwindel, dem hie und da Erbrechen nachtolgt. Alle 2 bis 3 
Wochen erfolgt ein schwerer Anfall, der mit Ohrensausen, Schwindel und Er¬ 
brechen eingfcleitet wird; es erfolgt auf der Höhe des Aufalles Bewußtlosigkeit, 
begleitet von klonischen Zuckungen. Nerven- und Ohrbefund negativ. Diagnose: 
Epilepsie (auf alkoholischer Basis) mit Anfällen unter pseudomeni^re- 
8clier Aura. 

Fall G, Beobachtung XLIY. 

Sch. St., 21jährigcr Kaufmann aus Polen. Keine Heredität, Alkoho- 
lismns, Lues und Nikotinismus negiert, ebenso kein Trauma. Bis Ende 1903 ge¬ 
sund; seither leidet Pat. an doppelseitigem Ohrensausen, das anfallsweise 1 bis 
2mal im Tage auftrat und durch einige Minuten anhielt; Gehör beiderseits gut, 
nie ohrenleidend, kein Kopfschmerz. 3 Anfälle von Drehschwindel mit Ohren¬ 
sausen, dauach soll Pat. umgefallen und durch eine halbe Stunde bewußtlos ge¬ 
wesen sein, kein Kopfschmerz, kein Zungeubiß, keine Inkontinenz. Objektiver 
Befund inklusive des Ohrenbefundes negativ; tatsächlich hat sich bei mehr¬ 
monatlicher Beobachtung nie das geringste Ohrenphänoraen gezeigt. Am 10. Mai 
1903 berichtet Pat. über einen nokturnen Anfall: Die Umgebung habe ihm erzählt, 
daß er in der Nacht schrie, allgemeine Krämpfe hatte, sodann Erbrechen. Nach 
dem Anfalle Eingenommensein des Kopfes; für die Ereignisse während der 


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Mäuiörescher Symptomenkomples 


295 


Attake bestand Amnesie. Außerdem iu der letzteren Zeit Schwindelanfalle ohne 
Ohrensausen, ohne Erbrechen, ohne Bewußtseinsverlust. Pat gebrauchte regel¬ 
mäßig Brom und berichtete am 31. Mai, daß er keinen Anfall mehr gehabt 
habe, höchstens hie und da fliegende Hitze gegen das Gesioht. 

Daß es sich hier um eine typische Epilepsie handelt, be¬ 
weist der schwere Anfall. Mit Rücksicht auf diese Erkenntnis 
und mit Rücksicht auf den völlig negativen Ohrbefund glaube 
ich wohl behaupten zu dürfen, daß die ersten Anfälle von 
Schwindel mit Ohrensausen ein pseudomenieresches-epileptisches 
Äquivalent darstellen. 

Fall 7, Beobachtung XLV. 

Ich habe durch Jahre einen Beamten behandelt, der in jedem Monate 
1 bis 2 typische, schwere epileptische Anfälle hatte, die mit Bewußtlosigkeit, 
allgemeinen Krämpfen, Zungenbiß und Inkontinenzerscheinungen verliefen, der 
auch in einem epileptischen Anfalle gestorben ist. Im übrigen zeigte der Mann 
zu Lebzeiten keine anderen Krankheitserscheinungen; das wiederholt von mir 
geprüfte Gehörorgan war vollständig intakt. Die Aura fehlte manchmal, manch¬ 
mal hatte sie den Charakter von allgemeinem Angstgefühl, einmal bestand sie 
in eigentümlichen Geruchsempfindungen. Einmal berichtete der Pat. spontan, 
daß er vor einer Attake eine eigentümliche Empfindung hatte: er verspürte 
immer heftiger werdendes Brausen vor den Ohren, hatte Drehsohwindel und Er¬ 
brechen — ein Zustand, dem sieb später Bewußtlosigkeit und Krämpfe anschlossen. 

Es handelt sich hier um eine genuine, von Kindheit au 
bestehende Epilepsie bei einem nervös belasteten Manne. Da das 
Gehör bis zum Tode ein sehr gutes war, da die Ohrenaura ein 
Unikum unter den zahlreichen anderen Formen der Auren blieb, 
muß man selbstverständlich von pseudomenierescher Aura bei 
einem epileptischen Anfälle reden. 

So sicher mir in den erwähnten Fällen die Diagnose auf 
Pseudomeniere schieu, so können sich manchmal dadurch 
Schwierigkeiten ergeben, daß sich zuweilen die beiden Zustände 
(epileptischer und echter Meniere-Anfall) vergesellschaften können, 
wie wir dies später an Beispielen zu zeigen haben werden. 

c) Beziehungen des Pseudomeniere zur Hemicranie. 

Ich glaube, daß in höchst seltenen Fällen die Hemicranie 
eine Art von Meniere-Aura haben kann, ja daß es vielleicht 
hemicranische Äquivalente gibt, die nur in Pseudomeniere be¬ 
stehen, ohne daß es zum Kopfschmerz kommt. Zum ersten Male 
kam ich auf diese Idee, als ich zur Frau eines Kollegen 
(Beobachtung XLVI) gerufen wurde, welche iqh schon lange 
als Neurasthenikerin und Hemicranikerin kannte. 


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296 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


Sie klagte über heftigen, sehr quälenden Drehschwindel, der vou unan¬ 
genehmem Ohrensausen und Erbrechen gefolgt war, Kopfschmerz war nicht 
vorhandeu; nach einiger Zeit ließen diese peinlichen Zustände nach und 
machten einem typischen, halbseitigen Kopfschmerz Platz, der auf Phenacetin¬ 
einnahme bald schwand. Der Nervenbefund sowie der otiatrische waren negativ 
und blieben es durch Jahre. 

In meinem Buche erwähnte ich eine Mitteilung, die mir 
Dr. Hatschek zur Publikation überlassen hatte. 

Beobachtung XLVII. 

M. F., 34jährige Weberin, am 24. Mai 1894 untersucht, aus gesunder 
Familie stammend, stets gesund. Im Jahre 1886 Typhus; während desselben 
Ohrensausen, das später wieder völlig zessierte. Das Hörvermögen war damals, 
wie auch später, stets intakt. Im Jahre 1888 traten in ein monatlichen Inter¬ 
vallen Anfälle von anfangs mehrstündiger, später bis mehrtägiger Dauer auf; sie 
bestanden in Schwindel, heftigem Kopfschmerz, Ohrensausen, Erbrechen und 
allgemeinen Üblichkeiteu; der Schwindel hörte auf, sobald Pat. sich niederlegte. 
Iw Beginne des Anfalles machte sich fast immer ein Flimmern vor den Augen 
geltend, das Sehen wurde undeutlich. Diese Anfälle dauerten bis zum Jahre 1892, 
zu welcher Zeit sie durch Monate verschwanden; anfangs Mai kehrten sie wieder und 
wiederholten sich in 14 Tagen 3mal. Ohr- und Nervenbefund negativ. Letzte 
Untersuchung 1902. 

Da man mit Rücksicht auf den völlig negativen Ohrbefund 
keinen echten Meniere-Schwindel annehmen konnte, da das 
Flimmerskotom an den hemicranischen Anfall erinnert, könnte 
hier ein hemicranisches Äquivalent vorliegen; wenigstens könnte 
man eine solche Hypothese aufstellen, ohne daß allerdings ein 
bestimmter Beweis zu erbringen wäre. 

Beobachtung XLVIII. 

Einen ganz merkwürdigen Mischfall habe ich bei einem 9jährigen 
Volks schüler am 3. Juli 1904 beobachtet. Der Knabe hatte mit 4 Jahren 
Masern und Mittelohrentzündung mit Ausfluß durch ein halbes Jahr, mit 5 Jahren 
Lungen- und Rippenfellentzündung. Seit früher Kindheit Anfalle von Kopf¬ 
schmerzen, die manchmal 3- bis 4mal in der Woche uuftraten, oft einen Tag 
dauerteu und bisweilen von Erbrechen begleitet waren; während der Kopf¬ 
schmerzen kommt es öfters zu Paroxysmen vou Sehwiudelaufällen, die zirka 
10 Minuten dauern und mit Ohrensausen verbunden sind (im übrigen besteht 
nie Ohrensausen). Der Knabe hat häulig Drehgefühl, fällt um, wenn er sich 
nicht anhält: die Gegenstände scheineu von rechts nach liuks zu rotieren. 
Lichtscheu kommt nicht vor. Der Nervenbefund war völlig negativ, der 
Befund au der Obrenklinik ergab auch nichts Überzeugendes. Links ist das 
Trommeltell teilweise verkalkt, teilweise narbig. Hörschärfe beiderseits gut. 
Weber ira Raume, Rinne -f. Perzeptionsdauer für e, beiderseitig leicht verkürzt, 
im übrigen normal. 


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Men Drescher Symptomenkomplex. 


297 


Daß das Kind an echter Hemicranie leidet, ist evident. 
Ob wir es hier mit einer pseudomöni&reschen Begleiterscheinung 
zu tun haben oder ob der hemicranische Insult vielleicht patho¬ 
logische Erscheinungen in dem einmal erkrankt gewesenen Ohre 
produziert, scheint mir unentscheidbar. Die mitgeteilten Fälle 
sind überhaupt nicht derart, daß ich die Frage des hemicranischen 
Pseudom^nifere als erledigt ansehen kann; ich habe sie jedoch 
erwähnt, um vielleicht weitere Forschungen auf diesem inter¬ 
essanten Gebiete anzuregen. 

d) Die Beziehungen desPseudomeniere zur Neurasthenie. 

Gibt es einen neurasthenischen Pseudomdniäre ? Es ist dies 
eine Frage, mit der ich mich seit Jahren beschäftige, ohne zu 
einem bindenden Entschlüsse zu kommen. Tatsächlich klagen 
sehr viele Neurastheniker über Schwindel. Dieser ist aber für 
gewöhnlich kein typischer Drehschwindel: die Patienten halten 
sich nicht an, stürzen nicht zusammen, schließen nicht die Augen, 
legen sich nicht nieder, verunglücken nicht. Umgekehrt, wenn 
ein Neurastheniker mir über Schwindel klagte, der deutlich an 
die Meniere-Form erinnerte, .konnte ich fast immer durch 
Ohruntersuchung auch ein vom Patienten nicht erwähntes oder 
nicht geahntes Ohrleiden eruieren. Ich kann übrigens im großen 
und ganzen nicht sagen, daß sich bei den chronischen Meni^re- 
Kranken viele nervös belastete Menschen fanden oder solche, 
die schon vorher ungewöhnliche nervöse Symptome an sich be¬ 
obachtet haben; ich glaube aber doch, daß ein Neurastheniker, 
der ein Mittelohr- oder Labyrinthleiden akquiriert hat, eher 
zum Meniere-Komplex hinneigt als ein nervengesundes Indi¬ 
viduum. Man vergesse auch nicht, daß bei sonst nicht Nervösen 
der Möniäre-Komplex große Verstimmungszustände hervorruft: 
die Leute sind ungemein ängstlich, sie glauben alle Augenblicke, 
daß der Schwindel herankäme; es kommt vor, daß sie sich sogar 
eine Art von Unsicherheitsgefühl suggerieren. Man kann förm¬ 
lich von einer durch den Meniere-Schwindel produzierten 
M6ni6re-Neurose reden, die aber eigentlich mit dem Pseudo- 
m^nifcre-Anfall nichts zu tun hat. 

Einmal nur versuchte ich die Diagnose auf Pseudo- 
menifere-Anfall bei Neurasthenie zu stellen. Leider habe 


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298 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoch wart. 


ich den Kranken nur ein einzigesmal in meiner Privatpraxis zu 
sehen Gelegenheit gehabt. 

Beobachtung XLIX. 

Es handelte sich um den 23jährigen Offizier A. H., den ich am 
23. Juni 1904 zum ersten Male untersuchte. Er gab an, daß er viel geraucht 
habe, daß er im Jahre 1903 Lues uberstanden hatte und daß er viele Auf¬ 
regungen mitgemacht habe. Im Jahre 1902 heftiger Schreck, von welchem Erreig- 
nisse eine gewisse Nervosität zurückgeblieben ist. Seit Anfang 1903 leidet er an 
Schwindelanfällen, seit Sommer desselben Jahres an Ohrensausen, das beim 
Schwindel unverändert bleibt, ja bisweilen sogar abnimmt. Die Art des Schwin¬ 
dels ist eine Drehbewegung, die anfangs alle 3 bis 4 Tage, jetzt seltener auftritt; 
auf der Hohe derselben erfolgte Erbrechen. Bemerkenswert ist, daß Pat. bestimmt 
angab, daß er sich beim Öffnen der Augen wohler fühle. Nervenbefund war bis 
auf Reflexsteigerung negativ; das Gehör war ausgezeichnet, der Ohrbefund über¬ 
haupt völlig negativ. 

Mit Rücksicht auf den negativen Ausfall des Ohrbefundes 
schien mir die Annahme von Pseudomdni^re-Zuständen nahe¬ 
liegend; der Fall unterschied sich schon dadurch von den echten, 
daß Patient die Angabe machte, er fühle sich beim öffnen der 
Augen wohler; auch spricht die Tatsache, daß sich das Ohrensausen 
beim Anfalle vermindere, eher gegen echten Meniere-Schwindel, 
wenngleich nicht zu leugnen ist, daß ein derartiges Verhalten 
in Ausnahmsfällen auch bei wirklicher Vertigo auralis konstatiert 
wurde. (Siehe unten.) 

e) Beziehungen des Pseudomeniere zur augioneuro- 
tischen Schwerhörigkeit. 

Noch will ich im Anhänge der angioneurotischen Schwer¬ 
hörigkeit, wie sie Politzer zuerst beschrieben hat (v. 1. c.), Er¬ 
wähnung tun; Brunner 1 ) hat über einen Fall berichtet, den er 
in gewisser Hinsicht mit meinem Begriffe des .Pseudomeniere” 
in Zusammenhang bringt. Es handelte sich um einen jungen 
Mann, der zeitweilig Schwindelanfälle bekam, die von Zischen 
im Ohr und Erbrechen begleitet waren; nachdem derartige An¬ 
fälle sich öfters wiederholt hatten, trat ein gewisser permanenter 
Schwindel ein, der Ohrensausen im Gefolge hatte, zeitweilig 
kam es hei dem übrigens durchaus nicht nervösen Kranken zu 
Anfällen von einseitiger Taubheit. Diese Beobachtung unter- 

Ö Über den Moniereschen Symptomenkomplex. Klin. Vortr. a. d. Gebiete 
der Otiatrie. I (15). 


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Menierwcher Svmptomenkomplex. 


299 


scheidet sich aber von meiner dadurch, daß im Laufe der Jahre 
sich tatsächlich dauernde Hörstörung mit Ausfall der hohen 
Töne etablierte. Dieser Fall erinnert übrigens an ein Argument, 
welches verschiedene Autoren gegen den Begriff „Pseudomdnifere” 
gebracht haben und dessen Dignität ich nicht unterschätze. Ja 
ich war sogar der erste, der, von einer persönlichen Mitteilung 
Politzers — ähnliches habe ich seitdem selbst erfahren (Siehe 
Seite 252) — Gebrauch machend, erwähnte, daß manchmal dem apo- 
plektischen Men iere-Anfall Schwindel, Erbrechen und Ohren¬ 
sausen zu einer Zeit vorausgeht, wo noch keine Hörstörung 
nachweisbar ist.; es könnte dann einem Beobachter passieren, 
daß er solche Fälle anfangs für Pseudomeniere hält. Umgekehrt 
könnte man ja auch bei manchem meiner Fälle von Pseudo- 
menifere sagen: vielleicht hat sich später denn doch noch eine 
Hörstörung entwickelt. Endlich habe ich sogar im Laufe der 
Zeit gelernt, daß es echte Meni&re-Schwindel ohne Hörstörung 
gibt. Einen geradezu klassischen Fall werde ich später bei den 
formes frnstes mitteilen — die Krankengeschichte eines Patientm, 
bei dem die echte Vertigo auralis diagnostiziert war, obwohl die 
Hörstörung noch fehlte; daß die Diagnose richtig war, zeigte 
das allmähliche Auftreten von Hördefekten und die Veränderung 
des Stimmgabelbefundes. Wollen wir uns aber deshalb von der 
Diagnose des Pseudomeniöre abwenden, weil Übergänge Vor¬ 
kommen ? Sollten wir deshalb nicht mehr die Diagnose auf hy¬ 
sterische Ohnmacht stellen, weil sich manchmal diese Idee doch als 
irrtümlich herausstellt, wenn etwa nach einigen derartigen 
Attaken sich z. B. eine Embolie konstatieren läßt? Sollen wir 
nicht mehr die Diagnose „genuine Epilepsie” machen, weil 
wir manchmal beobachten, daß wir die ursprüngliche Meinung 
zurückziehen müssen, wenn später z. B. deutlich Tumor¬ 
erscheinungen auftreten? Sollen wir nicht mehr die Diagnose 
Neurosis „Enuresis nocturna’’ stellen, weil man mitunter 
belehrt wird, daß man das Initialstadium einer infantilen Tabes 
vor sich gehabt hat? Erinnern wir uns noch einmal des Falles 
(Beobachtung XXXVI S. 289), jener Finanzaufsehersfrau, die sich 
nur infolge ihrer Sorge bei der Pflege ihres am apoplektischen 
Möniöre-S. C. erkrankten Mannes die Vertigo auralis autosugge¬ 
rierte: es könnte ja auch da jemand kommen und sagen, daß die Frau 
m einigen Jahren vielleicht eine Labyrinthblutung, vielleicht 


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300 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


eine Mittelohrsklerose bekommen werde. Auf derartig entfernte 
Möglichkeiten hin können wir ja doch nicht die Diagnose auf 
echte Vertigo auralis machen. Ich glaube auch nicht, daß meine 
Auffassung bezüglich der PseudomtSniere - Epilepsie-Aura auf 
Gegner stoßen wird, eine Auffassung, die ja einer der größten 
Kenner der Epilepsie, Gowers (1. c.), inauguriert hat. Daß der 
Begriff Pseudomentere noch mancher Stütze, noch mancher 
Korrektur bedürftig ist, weiß niemand besser als ich. Erst Ne- 
kropsien könnten da definitive Klarheit schaffen. 

Wie schwierig sich auch unter Umständen die Diagnostik 
gestalten kann, will ich nun an manchen einzelnen Fällen 
zeigen. Wir werden uns nun mit Epilepsie -f- Ohraffektionen 
(ohne M^nifere-Schwindel) befassen; wir werden außerdem die 
Fälle beschreiben, wo traumatische Neurose sich mit Schwindel¬ 
formen verbindet, die dem Menifcreschen Typus entsprechen, 
bei denen wir nicht entscheiden können, ob es sich um Hysterie 
mit dem Symptom Pseudom<5ni£re handelt oder um Hysterie, 
kombiniert mit echter Labyrinthaffektion -f- Vertigo auralis. 

f) M6niöresymptome-f-Epilepsie.— Epilepsie --Ohraffek- 
tionen. — Kombinationen mit traumatischer Hysterie. 

Beobachtung L. 

40jähriger Gesehäftsdiener K. R., zum ersten Male untersucht am 
7. Mai 1895; er war bis auf Kinderkrankheiten stets gesund, leidet seit Jahren 
an Stirnkopfsohmerz ohne weitere Komplikationen. Seit 1894 Abnahme des Gehörs 
rechts mit ^Rauschen“; hie und da kommt es zu ganz leichten Schwindelanfällen: 
dieselben begannen meist auf der Gasse, anfangs gewöhnlich ganz plötzlich, 
später auch beim Sitzen und Liegen. Wenn der Kranke steht, hält er sich an, 
worauf der Schwindel allmählich abnimmt, nur einige Male stürzte er trotz dieser 
Vorsichtsmaßregel zusammen. Er hat dabei das Gefühl, als ob sich alle Gegen¬ 
stände von rechts nach links im Kreise bewegen würden, dann Neigung, vornüber 
zu falleu. Augensehluß, Sitzen oder Liegen bei rechtsseitiger Lage bessert 
besonders, wenn der Kopf tiefer gelagert wird. Das permanente Ohrensausen 
exazerbiert nicht, dagegen hört Pat. ein eigentümliches Knirschen im Kopf; er 
war niemals bewußtlos. Allmählich kam es auch zu Hörschwäche und Sausen 
links. Ganz eigentümlich war nur ein Anfall anfangs April 1904, über welchen 
uns der Kranke bei der Wiederuntersuchuug um 4. Juli 1904 folgendermaßen 
berichtet: er wurde nach der Schilderung seiner Frau bewußtlos, er stöhnte, 
warf sich umher, reagierte dann absolut nicht mehr: es bestand Körpersteifigkeit; 
es kam ferner zu einer Verletzung der rechten Hand, die ihm durch 2 Monate 
Schmerzen verursachte. Nach der durch 2 bis 3 Stunden andauernden Bewußt¬ 
losigkeit Schlafsucht, Fingerkribbeln; erst nach weiteren 3 bis 4 Stunden Wohl¬ 
befinden. Kein Erbrechen, kein Brechreiz, keine Absenzen, keine Inkontinenz; 


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Mönierescher Symptomenkomplex. 


301 


nach diesem großen Anfälle einzelne kleinere von heftigem Drehsehwindel, wie 
sie oben geschildert wurden. Nerven- und innerer Befund ist bis auf mäßige 
Reflexsteigerung negativ. Wenn man den Pat. bei geschlossenen Augen auf dem 
Drehsessel rotiert, tritt Fallen nach rechts auf. Ohrbefund ergibt: Schwerer 
Mittelohrprozeß, vielleicht unter Mitbeteiligung des Labyrinthes; Trommelfelle bis 
auf weißliche Trübung normal, Konversationssprache beiderseits 1 m, Weber im 
Raum, Stimmgabeltone werden sämtlich verkürzt perzipiert, Rinne beiderseits 
negativ, Schwabach leicht verkürzt, Galtonpfeife links 24, rechts 30. Kopf¬ 
knochenleitung für Uhr erhalten. 

Wir haben hier entschieden eine Kombination von Möniere- 
Schwindel mit einem epileptischen Anfall, 1 ) der sich durch die 
lang andauernde Bewußtlosigkeit, durch den tonischen Muskel¬ 
krampf, durch die Schlafsucht, Amnesie, durch die Parästhesien 
sowie durch das im Anfalle erworbene Trauma wohl von den 
übrigen Attaken abhebt; letztere dagegen erinnern durch das 
freie Bewußtsein, durch die typische Art des Drehschwindels, 
der sich auch auf dem Drehsessel hervorrufen läßt, durch die 
immer bestimmte Fallrichtung wieder an die Vertigo auralis, 
eine Krankheit, für die auch das mit Ohrensausen verbundene 
Ohrenleiden spricht; etwas atypisch ist allerdings der Umstand, 
daß das Ohrgeräusch nicht exazerbierte, doch ist dies, wie schon 
erwähnt (siehe unten), nach unseren Erfahrungen zur Diagnose 
nicht unbedingt erforderlich. 

Beobachtung LL 

28jähriger Spengler J. H. Das erstemal am 29. März 1898 untersucht; 
seit 1891 leidet er an linksseitigem Ohrenfluß mit Hörstörung, sonst keiue frühere 
Erkrankung. Seit Weihnachten 1897 Schwindel, der 3- bis 6mal am Tage mit 
einer 12 bis 15 Sekunden langen Dauer auftritt. Pat. stürzt nie zusammen, hat 
nie Ohrensausen, doch tritt während des Anfalles Sehstörung und stärkere Schwer¬ 
hörigkeit auf. Vom Beginne des Leidens bis anfangs Februar heftiger Kopf¬ 
schmerz; die Anfälle zeigen sich vereinzelt auch bei Nacht, nie eine Verletzung, 
nie Inkontinenz, nie Bewußtseinsverlust; zweimal des Nachts Erbrechen unter 
Magenkrämpfen ohne Schwindel, später auch einige Male im Zusammenhänge mit 
dem Schwindel. Das letztgenannte Symptom geht mit heftigem Zittern, bisweilen 
mit Zwangslachen einher. Der Nervenbefund ergab: Lebhafte Reflexe und 
Romberg-Phänomen. Otologischer Befund (Herr Doz. Dr. Alt): Trommelfelle 
beiderseits retrahiert, links oberflächlich getrübt, keine Narbe; Hörvermögen 


i) Die Möglichkeit einer derartigen Kombination habe ich bereits in meiner 
ersten Publikation besprochen. Gelegentlich einer Diskussion eines gerichts¬ 
ärztliches Gutachten hält Henschen auf Grund einer Beobachtung Derartiges 
für denkbar (Stockholms Dagblatt 25. VII, 1897). 

Jahrbfleber f. Paychiatrie nnd Neuroiogie. XXV, Bd. 20 


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302 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart 


rechts' normal, links auf die Hälfte herabgesetzt, Weber unbestimmt, Rinne 
beiderseits. Es handelt sieh um adhäsive Prozesse in der Gehörknöchelchenkette. 

Auf Grund der Anamnese und des objektiven Befundes 
kam ich zu keiner bestimmten Diagnose; trotzdem bei einem 
Gehörleidenden Schwindel bei freiem Bewußtsein auftrat, konnte 
ich doch nicht von Meniereschem Symptomenkomplex sprechen, da 
der Schwindel durchaus nicht den Charakter des auralen hatte, 
da das Ohrensausen fehlte, das Erbrechen auch ohne Schwindel 
auftrat und da über Zwangslachen berichtet wurde. Ich stellte 
die Wahrscheinlichkeitsdiagnose auf Epilepsie, eine Diagnose, 
die sich auch bewahrheitete. Am 22. November 1698 kam Patient 
wieder zur Untersuchung: Ohrbefund unverändert, ebenso be¬ 
standen die Nervensymptome fort; er berichtete aber, daß er im 
Mai desselben Jahres in der Kirche bewußtlos zusammengestßrzt 
sei und an allgemeinen Krämpfen gelitten habe; seit dieser Zeit 
noch 4 weitere ähnliche Anfälle. Als ich Ende April 1904 an 
den Patienten einen Fragebogen zum Ausfüllen sandte, erhielt 
ich die Rückantwort von seinem Kassenarzte Herrn Dr. Wert¬ 
heimer in Jamnitz, der berichtete, daß der Kranke in den Jahren 

1899 und 1900 an fast täglich auftretenden typischen epileptischen 
Anfällen mit Bewußtseinsverlust litt und daß er am 22. April 

1900 im Status epilepticus gestorben sei; bisweilen seien Kopf¬ 
schmerzen und Erbrechen aufgetreten, über Ohrensausen habe 
er nicht geklagt. 

Beobachtung LH. 

M. P., 17jährige Private, am 22. September 1904 untersucht, hatte 
in der Jagend Scarlatina, seit Jahren oft Bronchitiden. Seit 1900 öfters ver¬ 
stopfte Nase mit eitrigem, übelriechendem Ausfluß; Smal wurde sie wegen Stirn¬ 
höhleneiterung operiert. Seit August 1903 Ohrentiuß, zeitweilig mit Schmerzen, 
ohne wesentliche Hörstörung, seit August 1904 Anfälle von plötzlich auftretendem 
Schwindel ohne Aura mit der Empfindung, daß sich alle Gegenstände nach rechts 
drehen. Pat. kann sich nicht aufrecht erhalten, muß sich niederlegen, AugenschluG 
beim Liegen bessert; nie kommt es zu Erbrechen; sie klagt noch über heftiges 
Ohrensausen, das auch während des Schwindels anhält, ohne sich in der Intensität zu 
ändern. Die Kranke gibt.weiters ganz bestimmt an, daß sie während des Schwindels 
für kurze Momente ohnmächtig wird uud sehr häufig den Urin verliert, daß sic 
sich manchmal in die Zunge beißt und auf der Höhe des Anfalles vollständig 
reaktionslos ist; nie Krämpfe. Nach dem Erwachen kein Schwindel; hingegen 
sieht die Kranke alle Gegenstände verschwommen, hat heftigen Kopfdruck, der 
bis zu einer halben Stunde anhält und von starker Schlafsucht gefolgt ist. Obj.: Pat. 
leidet an Hypertrophie der Tonsillen, hat eine Perforation des rechten Trommel¬ 
felles; der Befund ist im übrigen völlig negativ. 


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Meniörescher Symptoinenkomplex. 


303 


Ich glaube, daß hier wieder epileptische Anfälle vorliegen. 
Ich mußte die Diagnose auf genuine Epilepsie stellen, da für 
ein Gehirnleiden, wie z. B. eine Meningitis, einen Abszeß, nicht 
der geringste Anhaltspunkt war. Daß es sich um Anfälle von 
morbus sacer handelt und nicht um Meni&re-Schwindel, dafür 
sprechen die jedesmal auftretende Bewußtlosigkeit, die Inkontinenz, 
der Zungenbiß, die manchmal auftretenden Symptome von Schlaf¬ 
sucht, Kopfdruck und Dunkelsehen. Manches erinnert allerdings 
in den Prodromen an, den Meniere-Schwindel, und es ist ja 
Tatsache, daß die epileptische Aura nicht selten von gewissen 
organischen Veränderungen diktiert wird; wir kennen z. B. Fälle, 
in denen bei Epileptikern mit Geruchsaura Veränderungen des 
Olfaktorius nekroskopisch gefunden wurden, wir kennen Fälle, 
in denen Leute mit visueller Aura Veränderungen des Occipital- 
lappens aufwiesen. So kann ich mir vorstellen, daß ein Reizzustand 
des Hörnerven, wie er in unserem Falle wohl durch die Otitis 
gegeben ist, auch eine eigenartige Aura hervorrufen kann. 

Beobachtung LIII. 

39jähriger Lokomotivführer J. S., am 22. Mai 1897 untersucht; stets 
gesund. Am 16. Mai 1897 wurde er bei einem Zusammenstöße mit dem Hinter¬ 
haupte gegen den Maschinkessel geschleudert, keine Wunde; Bewußtlosigkeit 
durch einige Minuten ohne Erbrechen. Gleich nach dem Trauma Taumelgefühl, 
Kopfschmerz, Ohrensausen, Schwerhörigkeit, Schwindel, in den ersten acht Tagen 
Verworrenheit. Als Pat. das Bett verließ, fiel der Frau auf, daß der Kranke 
zurücktaumelte und dabei die Augen eigentümlich verdrehte, so daß man den 
Stern nicht sehen konnte; zu eigentlichem Drehschwindel kam es nicht, sondern 
eher zu einem anhaltenden Taumelgefühle; später stellten sich, wie wir bei der 
Neu Untersuchung am 18. Mai 1904 erfuhren, schwere Schwindelanfälle ein; 
über eine Aura weiß Pat. nichts zu berichten: er wird plötzlich gelb, es kommt 
zu Schweißausbruch, Dunkelsehen (kein Drehgefühl), endlich fällt er um, wird 
bewußtlos, reagiert nicht mehr. Krämpfe treten niemals auf, dagegen verliert 
Pat. häufig Urin und Stuhl; nach der Ohnmacht Verworrenheit und Schlafsucht. 
Ohrensausen hat der Kranke seit dem Unfälle auf dem rechten Ohr konstant, 
ohne daß es aber einen Zusammenhang mit den Anfällen aufweist; die anfänglich 
bemerkte Schwerhörigkeit ist immer vorgeschritten, die Stimmung ist schlecht; 
oft kommt es zu Angstzuständen, zu Selbstmordideeu, auch treten nicht selten 
Kreuzschmerzen auf. Befund vom 18. Mai 1904 ergab: Hypalgesie der rechten 
Gesichtshälfte, Reflexsteigerung, Druekempfindliehkeit der Lendenwirbelsäule; 
beim Romberg-Versuch starkes Taumeln nach links und hinten. Linkes Trommel¬ 
fell im oberen Teile leicht verdünnt, rechtes normal. Konversationssprache rechts 
V 4 links V 2 m; Weber im Raum, Stimmgabeltöne (besonders die hohen) werden 
schlecht perzipiert; Rinne ausfallend, Kopfknochenleitung normal. Schwabach 
normal (schwerer Mittelohrprozeß unter Mitbeteiligung des inneren Ohres). 

20 * 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoch wart. 


Hier handelt es sich entschieden um ein Nebeneinander 
von traumatischer Epilepsie -f schwerem Ohrenleiden; von 
reinen Menifere-Anfallen kann gar nicht die Rede sein. Die 
leichte Hypalgesie im Gesicht ist ein Symptom, welches an eine 
Assoziation mit traumatischer Neurose erinnert. Derartige Misch- 
falle nach Traumen sind ja sehr häufig: besonders wird uns der 
durch 9 Jahre genau beobachtete Fall LY ein merkwürdiges 
Paradigma in dieser Hinsicht bieten. 

Beobachtung LIV. 

28jähriger Arbeiter J. S., am 16. Januar 1899 untersucht. 31. März 
1898 Rißwunde am Schädel durch eine Traverse. Bewußtlosigkeit durch l / 2 Stunde, 
dann Brechreiz; seit dieser Zeit Kopfschmerz, Schwindel und Ohrensausen. Im 
April 1899 ein Anfall von Bewußtlosigkeit: es wurde ihm dunkel vor Jen 
Augen, das Ohrensausen exazerbierte, schließlich stürzte er zusammen. Ähnliche 
Anfälle seitdem öfters; manchmal akquirierte er dabei Verletzungen, zu Zuckungen 
soll es nie gekommen sein. Seit dem Anfalle Vergeßlichkeit, diffuse Schmerzen, 
Schwerhörigkeit. Die objektive Untersuchung ergab: Geringe Pupillendifferenz 
bei prompter Reaktion, Händetremor, breitbeiniger Gang, Sensibilität normal. 
Ohrbefund: Linkes Trommelfell getrübt, in der Mitte eine kleine Narbe, rechtes 
normal. Konversationsspraehe rechts 1 m, links a. c. Weber nach rechts, Riune 
rechts +, links ausfallend; Kopfknochenleitung für Uhr rechts vorhanden, 
links 0 . Ähnliche Klagen bei der Untersuchung am 26. Januar 1901. Befund 
unverändert. Diagnose: Nebeneinanderbestehen von Folgen einer Labyrinth¬ 
affektion und Symptomen einer traumatischen Epilepsie; kein Anzeichen für 
Vertigo auralis. 

Beobachtung LY. 

Kl. F., 43jähriger Zimmermaler, untersucht am 5. September 
1895; stets gesund, starker Raucher, starker Potator. 1870 angeblich durch Rück¬ 
stoß des Gewehres Augenverletzung. Am 9. August 1895 arbeitete Pat. auf einer 
Leiter stehend, welche rutschte, wodurch er sich au eine Ofenkante anschlug. 
Es kam zu Nasenbluten in der Dauer von einigen Minuten, dann arbeitete K. 
weiter; er stieg auf eine Bank, welche er auf den Ofen placierte — von da ab 
fehlt ihm jede Erinnerung. Er erwachte am 10. August morgens im Spitale, wo 
er erfuhr, daß er hinabgestürzt und bewußtlos liegen geblieben sei. Nach 
dem Erwachen Kopfschmerzen, Schwindel, Aufstoßen, Blutausßuß aus dem linken 
Ohr, das etwas schwerhörig wurde. Allmählich besserte sich der Zustand, doch 
litt Pat. immer an Kopfschmerzen und Ohrensausen, das bei dem öfter auf¬ 
tretenden Schwindel exazerbierte; auch ist der Gang sehr unsicher geworden. 
Die Untersuchung am 5. September 181*5 ergab: Geringer Nystagmus; beim 
Aufstehen und Gehversuch Anfälle von Zusammenstürzen, Fallen nach links: 
beim Augenschluß Fallen nach rückwärts. Patellarsehnenreflexe: links schwach, 
rechts fehlend. Sensibilität normal, Geruch links herabgesetzt, Geschmack beider¬ 
seits vorhanden, Fundus normal, sonst negativer Nervenbefund. Mäßige Ver¬ 
größerung der Leber. Konversationssprache links rechts 5»»; links Per- 


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Mönierescher Symptomenkomplex. 


305 


foration des Trommelfelles, Rötung der Paukenhöhle, rechtes Trommelfell leioht 
gerötet, retrahiert, Rinne beiderseits +, Kopfknochenleitung fehlend; Galton¬ 
pfeife rechts 20, links 19. Ähnliche Beschwerden bei der nächsten Untersuchung 
am 23. Januar 1896; der Kranke klagt über Anfälle, die den oben geschilderten 
analog siud und 2- bis 3mal in der Woche auftreten, sowie über unsicheren 
Gang; 2mal soll er infolge des Schwindels zusammengestürzt sein, einmal mit 
Bewußtseinstrübung. Hörschärfe: Flüstersprache links 2 cm, rechts IV 2 rechts 
mäßige Trübung und leichte Retraktion des Trommelfelles, links Retraktion der 
oberen Partien und Rötung. Weber nach links, Rinne beiderseits nicht deutlich 
ausführbar, Kopfknochenleitung links herabgesetzt; Tremor der Zunge; Hypalgesie 
der linken Körperhälfte, Herabsetzung des Geruches und Geschmackes links, 
Gang langsam und unsicher, hochgradiges Romberg-Phänomen, Kniereflexe 
mittelstark. Am 21. Mai 1896 erzählt der Kranke, daß er sehr häufig an Schwindel¬ 
anfällen leide, die mit Dunkelsehen und heftigem Ohrensausen beginnen und sieh 
mit Bewußtlosigkeit verbinden. Befund wie oben. Über ähnliche Anfälle berichtete 
der Kranke am 5. Oktober 1896, nur mit dem Novum, daß beim Insulte öfters 
Urininkontinenz beobachtet wurde, nie Krämpfe. Anästhesie wie oben, keine 
Gesichtsfeldeinschränkung, Gehstörung unverändert, linke untere Extremität 
etwas schwach. Konversationssprache links 1 m, Flüstersprache rechts 4 m. Weber 
nach rechts, Kopfknochenleitung links fehlend. Am 18. Juni 1897 ähnlicher 
Befund, nur ist stärkeres Zittern der Hände zu bemerken. Am 4. April 1900 
erscheint Pat. mit seiner Frau, welche angibt, daß der Kranke nun an schwereren 
Anfällen leide: dieselben begiunen mit Aufschreien, Zusammenstürzen, dann 
treten Zuckungen auf, desgleichen Inkontinenzerscheinungen ; nach dem Erwachen 
Brustschmerzen, Amnesie für den Anfall. Hörstörung unverändert, Nervenbefund 
wie oben, Kniereflexe rechts ziemlich schwach, links sehr lebhaft; Kremasteren- 
reflex links etwas schwächer, 150 Pulse. Ähi liehe Resultate ergaben die Unter¬ 
suchungen der folgenden Jahre. Am 24. Februar 1904 erzählt der Kranke, daß 
er immer noch an den beschriebenen Anfällen — 1- bis 2mal im Monate — 
leide; in der Nacht ist er sehr ängstlich, glaubt schwarze Tiere zu sehen, schreit 
auf; dem Alkohol soll er längst entsagt haben. Die Untersuchung des Ohres 
ergab: Trommelfelle bis auf mäßige Trübung normal, der linke Gehörgang 
bypalgetisch, Konversationssprache rechts 4 m, links 3 / 4 w; Weber nach rechts, 
Perzeptionsdauer für Stimmgabeltöne verschiedener Höhe rechts normal, links 
stark verkürzt, Rinne rechts +, links unausführbar, Schwabach leicht verkürzt, 
Galtonpfeife rechts 22, links 18. 

In diesem ziemlich verworrenen Bilde sind verschiedene 
Momente hervorzuheben: 1. daß Patient eine linksseitige Per¬ 
foration des Trommelfelles hatte; 2. daß er eine traumatische 
Hysterie hat (dafür sprechen die allgemeine Nervosität, sowie 
die sensorisch*sensible Hemianästhesie); 3. daß er an echten 
epileptischen Anfällen leidet (dafür sprechen: die Bewußtlosigkeit, 
die allgemeinen Krämpfe, die Inkontinenz und die Verworrenheit). 
Für alle drei Punkte kann das Trauma als ätiologisches Moment 
herangezogen werden, für Punkt* 2 und 3 als unterstützender 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


Faktor der Alkoholismus. Die Ohrenaffektion, welche ursprünglich 
eine echte Mittelohrerkrankung war, zeigte allmählich die Symp¬ 
tome einer nervösen, und hier stehen wir vor dem unüber¬ 
windlichen Dilemma: Handelt es sich um eine durch das 
Trauma selbst oder durch die traumatische Otitis angeregte 
Labyrintherkrankung oder um eine hysterische Hörstörung als 
Teilerscheinung der hysterischen Hemianästhesie? Wir müssen 
uns darüber klar sein, daß wir noch nicht so weit sind, durch 
einen bloßen otiatrischen Befund eine hysterische Schwerhörigkeit 
von einer (durch anatomische Veränderungen bedingten) labyrin- 
thären zu unterscheiden. Der Patient hat Schwindelanfalle, die 
an den M6ni&re-Typus erinnern. Ob wir es hier mit Pseudomeniere 
bei Hysterie zu tun haben oder mit echtem Mentere-Schwindel 
bei einer Labyrinth affektioD, ist unmöglich zu entscheiden. 
Ähnliche Schwierigkeiten bestehen in den folgenden Fällen, die 
nun kurz mitgeteilt werden sollen. 

Beobachtung LVI. 

60jähriger Kondukteur A. C., stets gesund; am 18. März 1900 Fall 
von einem Waggon durch Ausrutschen, Kontusionen des Kopfes an einer Metall¬ 
platte. Quetschung der linken Ohrmuschel; Bewußtlosigkeit durch einige Tage, 
Brechreiz; beim Rücktransport Kopfschmerz, Ohrensausen, Hörschwäche, seitdem 
Ohrenschmerzen, allmähliches Auftreten einer Eiterung im linken Ohr; seit der 
Zeit oft Kopfdruck, Schwindelanfälle, bei denen sieh das auch sonst vorhandene 
Ohrensausen steigert; Pat. muß sieh anhalten, zu Beginn der Attake Brechreiz. 
Ohrbefund: Linkes Trommelfell stark retrahiert, im unteren Teile diaphan, 
kein Eiter; rechtes Trommelfell bis auf streifenförmige Trübung normal. Kon¬ 
versationssprache links 10 cm, rechts 1 </]”>. Weber im Raum, Rinne rechts 
deutlich +, links + (?), Kopfknocbenleitung für Uhr e; Hypalgesie der linken 
Gesichtsbälfte und der linken oberen Extremität, Steigerung der Sehnenreflexe, 
sonst negativer Befund. 

Es handelt sich hier um ein schweres, anatomisch bedingtes 
Ohrenleiden; wegen der typischen Anästhesie und der übrigen 
Erscheinungen muß man gleichzeitig eine traumatische Neurose 
annehmen, so daß es nicht möglich ist, mit Sicherheit anzugeben, 
ob der Schwindel ein wirklich auraler ist oder ob er sich auf 
der Basis der Hysterie erhebt. 

Beobachtung LVII. 

U. J., 37jährigcr Eisenbahnbediensteter; stets gesund. Im Jahre 
1898 Fall 3 m tief von einem feuchten Brette, Kontusion der rechten Stirnseite. 
7 cm lange Rißwunde, darnach Kopfschmerz, Schwindel, allgemeines Übelbefinden, 
Abnahme der Hörschärfe rechts, Ohrensausen, kein Erbrechen; dann geringe 


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Mfaiörescher Symptomenkomplex. 


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Besserung, doch leidet Pat. immer noch anEopfdruok und permanentem Ohrensausen. 
3- bis 4mal in der Woche kommt es zu Sohwindelanfällen mit Exazerbation des 
Ohrensausens: nie ßewußtseinsverlust, keine Zuckungen; hie und da Zusammen¬ 
stürzen, wobei sieh Pat. einigemale leicht verletzte. Am 20. November 1898 stürzte 
er wieder im Schwindel zusammen, kontusionierte sich den Kopf und blieb durch 
zirka 10 Minuten bewußtlos, darnach Progression der Schwerhörigkeit. Die Unter¬ 
suchung ergab: Geringe Pupillendifferenz bei prompter Reaktion, Hypalgesie 
der rechten Gesichtshälfte, Konjunktivalreflex links sehr schwach, rechts fehlend, 
Geruch herabgesetzt, Geschmack fehlend, Pharynxreflex fehlend, 180 Pulse, 
Schwache der rechten Extremitäten, mittelstarke Sehnenreflexe, kein Bömberg. 
Während der Untersuchung bekommt Pat. Schwindel, wird cyanotisch. Ohr¬ 
befund: rechtes Trommelfell in der Mitte etwas verdünnt, linkes normal, Flüster¬ 
sprache rechts 20 cm, links normal, Weber nach links, Rinne links +, rechts 
unausführbar, Kopfknoehenleitung für Uhr links +, rechts 0 . 

Auch hier wieder die Unsicherheit, ob es sich zum Schluß 
um eine echte Labyrinthaffektion oder um eine hysterische 
Schwerhörigkeit gehandelt hat, wieder dieselben Schwierigkeiten 
bezüglich der Einreihung des Symptomes des Schwindels. 

Beobachtung LVin. 

J. S., 27jähriger Schlosser, untersucht am 29. Januar 1895, starker 
Potator. Am 10. Januar 1894 erhielt er einen Schlag mit einem schweren Hammer 
gegen die linke Stirne, Bewußtlosigkeit durch 12 Stunden, Rißwunde an der getrof¬ 
fenen Stelle; seit dieser Zeit Kopfschmerz, Schwindel, Ohrensausen und Erbrechen. 
Ara 29. Dezember 1894 Sturz von einem Baume infolge des Schwindels, Bruch des 
rechten Unterschenkels. Unruhige Träume von Tieren und von Arbeit. Hörschärfe 
rechts 5 m, links 4 m, Trommelfelle normal, Weber nach rechts, Rinne rechts +, links 
nicht deutlich +» Kopfknochenleitung für Uhr rechts vorhanden, links fehlend. 
Ähnliche Beschwerden bei der zweiten Untersuchung am 23. Oktober 1897; 
Flüstersprache links 2 m, rechts normal, Weber nach rechts, Rinne beiderseits 4-, 
Kopfknochenleitung für Uhr links schwächer als rechts. Geruch links herab¬ 
gesetzt, Geschmack beiderseits gleich, Hypalgesie der linken Körperhälfte. Ge¬ 
sichtsfeld normal, rechtes Bein wird etwas nachgeschleppt, Sehnenreflexe 
normal. 

Auch hier dieselben diagnostischen Schwierigkeiten wie im 
vorangehenden Falle. 

III. Die form es frustes des Meniereschen AnfaUes. 

Die bisherigen diagnostischen Erörterungen haben 
immer zur Voraussetzung gehabt, daß wir es mit dem völlig 
entwickelten Symptomenkomplexe zu tun haben. Liegt ein 
solcher vor, so ist die Diagnose in den typischen Fällen nicht 
schwer zu stellen, wenngleich wir Beobachtungen mitteilten, wo auch 
da Bedenken auftauchten. Schwierig liegt die Sache, wenn die Er- 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Ho eh wart. 


acheinungen der uns beschäftigenden Krankheit nicht alle vor¬ 
handen sind, besonders deshalb, weil über die formes frnstes in 
der Literatur fast gar nichts zu finden ist. In meinem .oben 
zitierten Buche konnte ich fast nichts darüber berichten; 
auch ist seitdem nichts Wesentliches in dieser Hinsicht erschienen, 
und erst nach jahrelanger Arbeit kann ich ein bescheidenes 
eigenes Material darüber vorführen; weitere Studien in dieser 
Richtung sind unerläßlich. Von den charakteristischen Symptomen 
der Schwerhörigkeit, des Schwindels, Ohrensausens, Erbrechens 
kann eigentlich jedes fehlen; namentlich das Erbrechen ist 
ein höchst labiles Symptom. Eine Reihe von Kranken hat 
dieses Symptom nie aufgewiesen, manche haben es 1- bis 
2mal bei den Attaken, ohne daß es sich je wieder einstellt, 
andere haben es wieder gar nicht und klagen nur über 
allgemeines Übelbefinden; manchmal ist selbst diese Andeu¬ 
tung des genannten Phänomens kaum vorhanden. Wir wollen 
diese wohl jedem Praktiker geläufige Beobachtung nicht 
weiter diskutieren. Wir wollen hier von den anderen Defekten 
des Anfalles berichten, wir wollen vom Meniere-Schwindel 
ohne Hörstörung sprechen, von dem ohne subjektive 
Ohrgeräusche; ja wir wollen die Möglichkeit aufrollen, daß 
es eine Vertigo auralis sine vertigine gibt, geradeso wie 
über Paralysis agitans sine agitatione berichtet wird. 

A. Gibt es Fälle ohne Hörstörung. Ab und zu ist mir 
schon im ersten Jahre der Beschäftigung mit unserer Krankheit 
der eine oder andere Fall vorgekommen, in dem die Patienten mir auf 
Mönifere-Symptomenkomplex verdächtig schienen,bei denen aber 
dann die otiatrische Untersuchung negativ ausfiel, so daß ich 
genötigt war, meine ursprüngliche Meinung zu modifizieren; 
durch viele Erfahrungen mutiger gemacht, habe ich doch einmal 
die obgenannte Diagnose gestellt und konnte durch die Beob¬ 
achtung den bindenden Nachweis führen, daß ich mich nicht ge¬ 
täuscht hatte. 

Beobachtung L1X. 

öOjähriger Pferdewärter Joh. T., im Ambulatorium am 15. Januar 1904 
untersucht; bis Herbst 1903 stets gesund, Lues negiert; ebenso kein Anhaltspunkt für 
Potus. Seit anfangs August 1903 Schwindelanfälle, die manchmal in längeren, 
manchmal in kürzeren Intervallen auftraten — im gauzen mögen es so ungefähr 
20 gewesen sein; den Anfällen geht durch einige Tage Ohrensausen voraus, das 


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M&ii&rescher Symptomenkomplex. 


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sich allmählich steigert und während des Schwindels das Maximum erreicht. Die 
Schwindelanfalle dauern V 2 bis Z U Stunden; es bandelt sich um eine Dreh¬ 
empfindung, die von Schwarzsehen vor den Augen begleitet wird. Pat. kann nur 
gestützt gehen; Niederlagen und Augenschluß bessert den Schwindel. Die 
einzelnen aufeinanderfolgenden Anfalle waren von steigender Intensität, bei 2 bis 
3 von ihnen stellte sich Üblicbkeit mit Erbrechen und schwerem Würgen mit 
folgender Erleichterung ein. Nach dem Schwindel Schmerzen in der Augengegend, 
nie Bewußtlosigkeit, nie Zuckungen, das Gehör soll ausgezeichnet sein; inter- 
paroxysmal nie Ohrensausen, keine allgemeinen nervösen Erscheinungen. 

Objekt.: Pat. ist ein kleiner, kräftig gebauter Maun, der bei halbjähriger 
Beobachtung weder uns noch seinem Hausarzte den Eindruck der geringsten 
Nervosität machte. Der oft aufgenommene Nerven- und Augenbefund völlig 
negativ; der Ohrbefund wurde bei der ersten Untersuchung von mir und später 
noch von Herrn Doz. Dr. Hammerschlag vorgenommen: die Hörschärfe war 
eine sehr gute, Flüstersprache beiderseits 8 m , der Stimmgabelbefund ein absolut 
negativer, die Kopfknochenleitung war beiderseits vorhanden. Einmal glaubte Pat. 
die Uhr rechts am Warzenfortsatze schwächer zu hören; doch widerrief er später 
diese Äußerung. 

Mit Rücksicht auf die typischen Anfälle und auf den sonst 
völlig negativen Nervenbefund, namentlich mit Rücksicht darauf, 
daß Patient auch nicht die Spur von Neurasthenie zeigte, stellte 
ich die kühne Diagnose auf Vestibular-Schwindel bei in¬ 
taktem Cochlearapparat. 

Bei weiterer Beobachtung klagte Pat., der galvanisch behandelt wurde, 
noch über ähnliche Erscheinungen; so berichtet er am 18. Januar 1904, daß er 
permanent Ohrensausen gehabt, daß am 17. Januar 1904 Schwindel mit Nach¬ 
lassen des Ohrensausens aufgetreten sei; am 2. Februar 1904 erzählte er von 
vereinzelten Schwindelanfällen. Die neuerliche Gehörprüfung ergab wieder völlig 
negativen Befund, die Kopfknochenleitung war beiderseits gleich. Am 27. Februar 
1904 klagte Pat. über kurze Schwindelaufälle, er behauptete auch, daß er rechts 
schwerer höre; der otiatrische Befund an diesem Tage ergab: Hörschärfe beider¬ 
seits gleich (7 bis 8 m), Weber im Raum. Rinne rechts nicht deutlich +. Am 
29. Februar 1904 Flüstersprache beiderseits 8 m.; Uhr links 22, rechts 10, das 
Ohrensausen war fast unaufhörlich, hie und da flüchtiger Schwindel mit Nach¬ 
lassen des Ohrensausens. 27. April. Hörschärfe nun bedeutend verändert; 
Flüstersprache rechts m, links 3 m, Uhr rechts 10, links 40 cm., Kopfknochen¬ 
leitung für Uhr am processus mastoideus links vorhanden, rechts fehlend, Weber 
im Raum, Rinne links +, rechts eklatant negativ, Perzeptionsdauer für tiefe Töne 
rechts in Luftleitung verkürzt; Galtonpfeife beiderseits 25; zu einem eigentlichen 
Schwindel war es nicht mehr gekommen, nur hie und da trat leichtes 
Taumelgefühl auf. Am 7. Mai 1904 berichtete Pat. über einen Anfall: als er sich 
bückte, kam es plötzlich zu Drehschwindel von der Dauer einer halben Stunde, 
der von Ohrensausen eingeleitet und von Erbrechen begleitet wurde; das Ohren¬ 
sausen zessierte nach dem Anfalle. Am 25. Mai berichtete der Kranke, daß er 
keinen Anfall mehr gehabt habe; die Hörschärfe blieb unverändert schlecht. 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoehwart. 


Mit diesem Falle ist nun wohl der definitive Nachweis er¬ 
bracht, daß es M6ni6re-Schwindel ohne Hörstörung geben 
kann; hier ist aucli gezeigt, daß man manchmal in derartigen 
Fällen die Diagnose Fseudomeniöre ausschließen kann — hier 
konnte man dies deshalb, weil Patient durchaus nicht das Bild eines 
Neurasthenikers bot und weil für Epilepsie, Hysterie oder ein 
schwereres Cerebralleiden nicht der geringste Anhaltspunkt ge¬ 
geben war. Ich gebe zu, daß man unter anderen Umständen hier 
Schwierigkeiten finden könnte, weil derVerdacht auf Pseudomenifere 
nahe liegt, wenn ein Individuum sehr nervös ist, während tat¬ 
sächlich ein anatomisches Leiden schon im Anzuge ist. 

Ich werde nun drei Fälle anführen, bei denen trotz 
sehr guter Hörschärfe die Diagnose auf Mönifere-Schwindel 
gestellt wurde — eine Diagnose, die allerdings sehr leicht war, 
weil die sonstige Funktionsprüfung schon eine Läsion 
des Hörapparates aufwies. Die Deutung der Krankheit hat 
keine Schwierigkeit, wenn man einmal den Ohrbefund gemacht 
hat; ich habe es aber öfters erlebt, daß Ärzte, wenn sie auch bei 
subjektiven Klagen über Schwindel an solchen auralen Ursprungs 
dachten, sich mit der Versicherung des Patienten begnügten, daß 
er nicht schwerhörig sei und daß dann über die Diagnose auf 
Meniere-Schwindel hinweggegangen wurde. Wir sind eben 
gewohnt, den genannten Symptomenkomplex bei bedeutender 
Schwerhörigkeit auftreten zu sehen. Zum Beweise, daß dem nicht so 
sein muß, mögen folgende Krankengeschichten dienen. 

Beobachtung LX. 

Fräulein M. v. K., 25 Jahre alt, untersucht am 3. Februar 1904. Bis 
auf mäßige, allgemeine Nervosität gesund. Seit Ende April 1903 Anfälle 
von Schwindel mit Erbrechen, dabei eine Art von Unruhe im Kopfe und Exa- 
zerbieren des auch sonst vorhandenen Ohrensausens. Pat. muß beim Anfalle 
sitzen; wenn die Anfälle stärker sind, muß sie sich auch niederlegen. Beim 
Schwindel Drehemplindung, bei Augenschluß das Gefühl, als drehte sich etwas 
in der Ferne; sitzt sie während des Anfalles im Dunkeln, so ist ihr, als würde 
der Stuhl zittern; auf der Höhe des Anfalles Erbrechen mit geringer Erleich¬ 
terung. Der Gang soll auch in schwindelfreien Zeiten unsicher sein. Pat. macht 
im allgemeinen einen etwas nervösen Eindruck, hat bei der Untersuchung hef¬ 
tige Tachycardie. 

Objektiv: Hörsehärfe beiderseits 9 bis 10»n für leise Flüstersprache; 
Trommelfelle normal. Weber im Raum, Rinne für C, beiderseits -f, links für 
0 +, rechts wird C in der Luftleitung nicht deutlich perzipieit, sonst völlig 
negativer Befund. Am 16. Februar 1901 gab die Pat. an, daß sie keinen wirklichen 


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Meniäresoher Symptomenkomplex. 


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Schwindel mehr gehabt habe, jedoch trete hie und da ein gewisses Taumelgefühl 
auf. Ohrbefund wie oben. Am 29. Februar 1904 ein leichter Schwindelanfall. Am 
16. März berichtet die Kranke, daß sie durch 14 Tage gesund war, ja sogar 
getanzt habe; später kam es wieder zu Schwindelanfällen. Die Hörschärfe erwies 
sich (zumal rechts) als stark herabgesetzt; leise Flüstersprache links 8 m, 
rechts 2 m. Am 13. Mai erzählt die Pat., daß sie innerhalb 2 Wochen un¬ 
gefähr 20 leichte Schwindelanfälle ohne exazerbierendes Ohrensausen gehabt 
habe, dagegen werde sie von permanenten Ohrengeräuschen belästigt. Uhr links 
140 cm, rechts 30 cm, Rinne rechts eklatant negativ, Perzeptionsdauer für tiefe 
Töne rechts stark verkürzt. 

Die Beobachtung lehrte somit, daß es sich um echte Ver¬ 
tigo auralis mit Mittelohrprozeß bei einem nervösen Individuum 
gehandelt hat. Tatsächlich war bei der Kranken die Diagnose 
auf Hysterie gestellt worden, eine Diagnose, die nicht ganz un¬ 
richtig, aber doch sehr unvollständig war. Hätte ich nicht beim 
ersten Male die Stimmgabelprüfung vorgenommen, so hätte ich 
wahrscheinlich bei der ausgezeichneten Hörschärfe die Diagnose 
auf echte Vertigo auralis verfehlt. 

Beobachtung LXI. 

A. Pfl., 50jähriger Friseur, am 14. November 1898 untersucht; Pat. 
ist starker Pfeifenraucher, für Lues und Potus kein Anhaltspunkt. Seit 1866 
besteht bei dem Pat. Kopfschmerz der linken Schädelhälfte, kein Erbrechen, 
kein Schwindel, kein Ohrensausen; Zessieren dieser Schmerzen im Jahre 1884. 
Im Jahre 1890 Ohrensausen und Schwerhörigkeit links; bald darauf (angeblich 
infolge eines Schreckens) Angstgefühl, das sich mit starkem Schwindel verband; 
dieser wurde so heftig, daß Pat. sich anklammern mußte; alles habe vor seinen 
Augen getanzt, bis starkes Erbrechen den Höhepunkt der Attake kennzeichnete; 
das Ohrensausen exazerbierte nicht, fehlte sogar bisweilen, nie Bewußtseinsverlust. 
Im Jahre 1898 mehrere Anfälle im Tage in der Dauer von 10 bis 15 Minuten, 
kein Zusammenstürzen, keine Bewußtlosigkeit. Auch hier war die Hörschärfe 
beiderseits sehr gut, Weber im Raume, Rinne für 0, C 1 , rechts eklatant +, links 
C, +, C wird auffallend schlecht gehört; Galtonpfeife rechts 31, links 40; Kopf¬ 
knochenleitung rechts +, links fehlend. Nervenbefund völlig negativ bis auf 
Romberg-Phänomen und unsicheren Gang bei geschlossenen Augen. 

Diagnose: Mittelohrprozeß unter Mitbeteiligung des inneren Ohres. Ver¬ 
tigo Menieri. 

Am 17. Mai 1899 klagt Pat. über ähnliche Anfälle. Gehör für Flüster¬ 
sprache beiderseits gut, doch links etwas geringer als rechte, Kopfknochenleitung 
links herabgesetzt. Bei der Wiederuntersuchung am 27. Mai 1904 erklärt der 
Kranke, völlig gesund zu sein; Anfälle wie die oben geschilderten seien nur bis 
Ende 1902 aufgetreten, derzeit habe er nur ein leichtes Taumelgefühl; das Ohren¬ 
sausen habe in den Jahren 1900 und 1902 ziemliche Dimensionen angenommen 
und exazerbierte regelmäßig bei den Schwindelanfällen, jetzt sei es geschwunden 
und trete nur bei den leichten Taumelgefühlen spurweise auf. Bei Pat. findet 


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Prof. Dr. L. v, Frankl-Hoohwart. 


sieh Arteriosklerose, sonst ist der Befand negativ. Kein Romberg-Phänomen; 
nur bei forcierter Drehung mit geschlossenen Augen tritt ein leises Unbehagen 
auf. Ohrbefund vom 25. Mai 1904: Trommelfelle bis auf leichte Trübung normal, 
Flüstersprache rechts 3 ! / 2 WI » links l 1 /* m * Weber im Raum, tiefe Töne werden 
links gar nicht, rechts etwas schwach gehört. Rinne beiderseits negativ, / 
Schwabach normal, Galtonpfeife beiderseits 38. 

Beobachtung LXII. 

Interessant war der Verlauf bei dem 30jährigen Schriftsteller B. N., 
deu ich am 11. Oktober 1904 zuerst untersuchte, der bestimmt versicherte, daß 
er zirka 1 i/ a Jahre vor dem ersten Ohrensausen und dem Eintritte der Schwer¬ 
hörigkeit schon an Unsicherheit der Beine gelitten habe. 

Im Winter 1903 begann der bis dahin ganz gesunde Mann an Unsicherheit 
der Beine zu leiden; er hatte oft das Gefühl, als ginge er auf einem schwan¬ 
kenden Schiffe. Am 7. September 1904 nach einem Sonnenbade Ohrensausen — 
besonders links. 8. September Drehs3hwinde! mit gesteigertem Ohrensausen. Es 
fiel ihm bald darauf auf, daß er links etwas schwerer höre. Die Anfälle dauerten 
durch 14 Tage; nur bei rechter Seitenlage trat Besserang auf, zu Erbrechen 
kam es niemals. Dann Besserung, doch blieb eine gewisse Unsicherheit im Gang 
zurück, das Sausen blieb permanent. Die Untersuchung des Nervensystems ergab 
negativen Befund. Otiatrischer Befund: Leise Flüstersprache rechts 9 m, links 
8*5 m. Weber: Raum. Rinne beiderseits +, Kopfknochenleitang für Uhr vorhanden, 
links um eine Nuance geringer. Bei der Untersuchung am 21. Dezember 1904 
gab der Kranke an, daß der Schwindel und da? Taumelgefühl verschwunden seien, 
das Sausen persistierte. Leise Konversationssprache links 6 m., rechts 9 im., die 
Kopfknochenleitung links stark herabgesetzt. Sonst der Befund wie oben. 

Ich will noch eines Falles Erwähnung tun, bei dem jeder 
Untersucher bei Anhören der Anamnese die Diagnose auf 
Meniere-Sch windel stellte, bei dem auch ich dazu immer geneigt 
war, ohne daß ich zu bindenden Entschlüssen kommen konnte. 
Beobachtung LXIII. 

Es handelt sich um das am 26. August 1902 untersuchte 36jährige 
Fräulein Emma St. Im 15. Lebensjahre Scarlatina mit eitriger Ohrenent¬ 
zündung rechts, welche unter der Behandlung Herrn Prof. Politzers bald heilte. 
Pat. war stets etwas nervös, litt bisweilen an halbseitigem Kopfschmerz mit Ei brechen. 
Seit 189S häufig Anfälle von heftigem Drehschwindel, bei dem Pat. sich nieder¬ 
setzen und die Augen schließen muß, wodurch sie sich etwas erleichtert fühlt; auf 
der Höhe des Anfalles öfters Erbrechen. Versucht Pat. im Anfalle aufzustehen, so 
schwankt sie hin und her; häufig kommt es zu Finstersehen vor den Augen — an 
Ohrensausen litt Pat. nie. Objektiv: Blasses, unterernährtes Individuum mit 
vollständig negativem Nervenbefund; auch der otiatrisohe Befund — bestätigt von 
Herrn Prof. Dr. Pollak — war in jeder Hinsicht negativ. 

Am 15. September 1902 berichtet die Kranke, daß es ihr besser ginge; 
sie befand sich in einer Wasserheilanstalt, um eine hydriatische Behandlung und 
eine Mastkur durcbzumachen; sie hatte nur vereinzelte Anfälle von Drehschwindel, 
bei denen aber auffallend war, daß rechts sehr heftiges Ohrensausen auftrat Am 


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Menierescher Symptomenkomplex. 


313 


19. März 1903 gibt sie an, daß die Besserung ihres Leidens fortschreite; sie 
hatte im Monate nur 1 bis 3 Anfälle von Drehschwindd ohne Ohrensausen. 
Am 10. Mai 1901 berichtet sie mir schriftlich, daß es jetzt innerhalb 2 Mo¬ 
naten nur mehr zn 1 bis 2 Anfällen komme. 

Ein striktes Beweisverfahren in der Diagnostik ist hier 
nicht möglich: Handelte es sich um Pseudomeniöre-Anfälle bei 
einem neurasthenischen Individuum oder war von der Otitis 
pnrnlenta eine Unterwertigkeit des Vestibularapparates bei in¬ 
taktem Cochlearapparat zurückgeblieben? 

B. In der Erörterung der „verwaschenen” Formen 
muß auch noch erwähnt werden, daßder Schwindel nicht immer 
ein typischer Drehschwindel ist; man kann diese Halbform 
am besten bei Patienten studieren, die manchmal schwere, manch¬ 
mal leichte Anfälle haben, oder bei solchen, bei welchen an Stelle 
der schweren Attaken dann leichtere treten; diese gebesserten 
Kranken geben häufig an, daß der fürchterliche Dreh¬ 
schwindel nicht mehr vorkommt, daß sie aber bisweilen von 
leichtem Taumelgefühl befallen werden, das von Exazerbation 
des Ohrensausens, aber nicht von Erbrechen begleitet wird: 
manche fühlen den Erdboden für Sekunden wanken, andere 
haben eine Art Flimmern vor den Augen, andere wieder be¬ 
kommen ein Gefühl der Völle im Kopfe, als hätten sie in Alko- 
holicis exzediert. Ich habe übrigens auch Patienten gesehen, die 
anf Vestibular-Schwindel suspekt waren und nur an Taumel- 
gefühl, nie an Drehschwindel litten; als Beispiel diene: 

Beobachtung LXIV. 

40jähriger Goldarbeiter A. P„ zum ersten Male untersucht am 
12. April 1904; er berichtete, daß er im Jahre 1867 Scarlatina überstanden habe, 
daß er seit 1896 an linksseitigem Ohrensausen und fortwährender Gehör¬ 
verschlechterung leide. In Alkoholicis war er mäßig, batte keine Lues. Anfangs 1901 
bemerkte Pat. eine ziemlich progressive Schwerhörigkeit rechts. Am 6. April 
erster Anfall eines gewissen Taumelgefühles; keine typischen Attaken. Die Ohr¬ 
untersuchung ergab damals: Herabsetzung der Hörschärfe links, rechts Gehör 
ziemlich gut; Weber nach rechts, Rinne rechts +, links unausführbar. Romberg 
deutlich, sonst negativer Befund. Am 28. Mai 1904 berichtet I’at., daß sein Zu¬ 
stand sich nioht wesentlich geändert habe; er fühle sich unsicher, taumle, be¬ 
sonders abends, er habe die Neigung, nach hinten zu fallen und könne über¬ 
haupt auf schmalen Wegen nicht gehen, öfters werde er von Kopfschmerzen ge¬ 
quält, nie aber sei es zn einem wirklichen Schwindelanfalie gekommen. 

Objekt.: Mäßige Arteriosklerose, lebhafte Reflexe; bei Romberg-Versuch 
Neigung nach links zu fallen, bei Versuch auf dem Drehsessel sind Bewegungen 


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314 


Prof. Dr. L. v Frankl-Hochwart. 


nach rechts ohne Wirkung, Bewegungen nach links erzeugen Schwindel und 
Neigung nach hinten zu fallen. Trommel fellantersuchung ergab leichte Trübung. 
Hörweite für Flüstersprache L. */ A m, R. 8 m, Weber im Raum, Rinne rechts -f, 
links negativ, Perzeptionsdauer für sämtliche Stimmgabeltöne L. herabgesetzt. 
Diagnose: Mittelohrprozeß vielleicht mit Beteiligung des nervösen Apparates. 

Derartige Fälle sind wohl jedem Praktiker bekannt, und 
ich glaube weitere Beispiele erst nicht noch anführen zu müssen; 
hingegen will ich einer eigentümlich „verwaschenen’’ Form 
gedenken, die ich nur einmal zu sehen Gelegenheit hatte. 

Beobachtung LXV. 

Am 28. Juni 1904 untersuchte ich den 30jährigen Kaufmann J. M. 
Derselbe war etwas nervös, sonst stets gesund, ziemlich starker Zigarettenraucher. 
Seit dem 24. Lebensjahre Sausen im linken Ohr; seit Ende Mai 1901 öftere 
Kopfdruck, dabei ein eigentümliches Zittern in den Beinen, als würde die Erde 
in Bewegung sein. Der Anfall dauert 2 bis 3 Minuten, ohne daß es zu Ver¬ 
stärkung des Sausens, zu Bewußtlosigkeit oder Erbrechen kommt; sehr interessant 
ist die Angabe des Pat., daß er das Gefühl des Umfallens hat, wenn er den 
Finger in das linke Ohr steckt. Der Befund war ein völlig negativer; die von 
spezialisti scher Seite bestätigte Ohruntersuchung ergab: Trommelfelle normal, 
Flüstersprache beiderseits 9 m, Uhr rechts 150 cm , links 50 cm t Weber im 
Raum, Rinne beiderseits +; Kopfknochenleitung für Uhr beiderseits vor¬ 
handen. 

Ich glaube, daß es sich hier um einen minimalen Mittel¬ 
ohrkatarrh handelte; es wäre nicht möglich gewesen, aus der 
Angabe des Zitterns unter den Füßen die Diagnose auf auralen 
Schwindel zu stellen; nur die ganz bestimmte Angabe, daß nach 
Verstopfung des äußeren Gehörganges Schwindelanfälle Vor¬ 
kommen, führt mich auf die genannte Diagnose; wir wissen ja, 
wie leicht bei nervös Veranlagten, die an Ohrprozessen leiden, 
Schwindelanfälle bei Reizen auf das Ohr auftreten. 

Dieser Fall erinnert mich aber an einen anderen, bei dem 
ich mich gegen den auralen Schwindel, eventuell auch gegen 
die Diagnose Pseudomeniere ausspracb. 

Beobachtung LXVI. 

Es handelte sich um eine Dame, die seit Jahren an eigentümlichen Ge¬ 
sichtssehmerzen litt und wegen eines eigentümlichen Symptomes Herrn Hofrat 
Politzer konsultierte: es war ihr unangenehm, daß sie beim Auswaschen des 
linken Ohres Schwindelanfälle bekam, sonst war sie völlig schwindelfrei. Der 
gesamte Nerveubefund war negativ, auch konnte Herr Hofrat Politzer nicht 
die geringste pathologische Erscheinung im Ohre nachweisen. 

Tatsächlich ist die Hörschärfe jahrelang normal geblieben; 
dagegen konstatierte Patientin eines Tages an sich eine eigenartige 


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Meniörescher Symptomenkomplex. 


315 


Sehstörang, die bei näherer Untersuchung (Herr Hofrat Fuchs) als 
bitemporale Hemianopsie erkannt wurde, ein Zustand, der stabil 
blieb. Wir nahmen hypothetisch einen kleinen Hypophysis-Tumor 
an, ohne daß wir zu bindenden Schlüssen kamen; meine Zurück¬ 
haltung bezüglich der Diagnose einer Erkrankung des Vesti- 
bularapparates oder bezüglich der Feststellung eines Pseudo- 
meniere war mithin nicht unberechtigt gewesen. 

C. Zum Schlüsse noch einige Worte über das Ohren¬ 
sausen. Für gewöhnlich ist das Ohrensausen bei unserem Kom¬ 
plexe ein sehr heftiges, unerträgliches, sich ins Fürchterliche 
steigerndes Symptom. Doch gibt es die verschiedensten Kon¬ 
stellationen; manche haben das Ohrensausen für gewöhnlich gar 
nicht oder kaum merklich, während es beim Anfalle in ziemlicher, 
ja mitunter in hoher Intensität auftritt; manche leiden wieder 
an permanenten Geräuschen von ziemlicher Stärke, die aber beim 
Anfall nicht exazerbieren; es kann bei solchen Individuen Vor¬ 
kommen, daß interparoxysmal das Sausen sehr stark wird, ohne 
daß es zu Schwindel kommt. Im großen und ganzen ist es für 
mich immer ein Adjuvans der Diagnose gewesen, daß der Tinnitus 
mit der Drehempfindung zunimmt; anderseits war nach meiner 
früheren Ansicht, wie ich es auch in meinem Buche ausgesprochen 
habe, Menifere-Schwindel ohne Ohrensausen nicht zu beobachten. 
Diesen Punkt werde ich nun zu korrigieren haben: Man kann 
derartigeZuständeauch wieder am besten beurteilen, wenn manFälle 
vor Augen hat, in denen die Patienten an typischen Paroxysmen 
mit exazerbierenden Geräuschen leiden. Bei sorgfältigem Studium 
der verschiedenen Paroxysmen hört man dann von einzelnen 
dieser Leute die sehr interessante Angabe, daß sie außer den oben 
geschilderten Anfällen auch solche hätten, wo eine Steigerung 
nicht vorkäme; weiters hört man auch wieder, daß der heftige 
Tinnitus sogar abnehme und verschwinde. So kam ich denn auf 
diesem Wege zur Überzeugung, daß es auch Fälle geben kann, 
wo wir die Diagnose auf Menifere-Schwindel stellen müssen, 
trotzdem das Ohrensausen überhaupt fehlt. 

Belehrend in dieser Hinsicht war mir der 19jährige 
Kommis ß. St. (Beobachtung LXV1I), den ich am 26. April 1904 
untersuchte. 

Er war stets gesund, nicht nervös veranlagt, keine Lues. Seit 1901 leidet 
er in längeren Intervallen an Schwindelanfällen von 3- bis ästündiger Dauer, 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


die aber seit Mitte April 1904 täglich auftreten: sie beginnen mit einem uner¬ 
träglichen Hitzegefühl, dann hat Pat. die Empfindung, als ob sich alles um ihn 
im Kreise, und zwar von vorne nach rückwärts drehen würde; er selbst hat das 
Gefühl, als stürze er nach rückwärts, er muß sich setzen, weil er sonst nach 
seiner Meinung unbedingt fallen würde. Liegen und Augenschluß bessert nichts, 
beim Anfalle stets Brechreiz, häufig auch Erbrechen; nie Ohrensausen, das 
überhaupt dem Pat. eine unbekannte Erscheinung ist. Beim Anfälle muß er den 
Kopf sehr ruhig halten; nach zirka V 2 Stunde tritt eine Besserung ein, doch 
bleibt ein mäßiges Taumelgefühl noch durch Stunden bestehen. Nie Ohnmacht, 
keine Zeichen für Epilepsie. Das Gehör ist nach Ansicht des Pat gut. 

Objekt.: Der Kranke weist einen minimalen Einstellungsnystagmus auf 
(besonders beim Blick nach rechts oben); lebhafte Reflexe, kein Romberg. Die 
Untersuchung im Ambulatorium des Herrn Dozenten Dr. Hammerschlag 
ergab: Trommelfelle bis auf geringe Trübung normal, Hörweite für Flüstersprache 
rechts 10 m, links 7 m, Weber im Raum, Rinne rechts +, links negativ, Kopf¬ 
knochenleitung normal. Diagnose: Mittelohrprozeß links. Therapie: Kopf¬ 
galvanisation. Am 9. Mai 1904 berichtet dtT Pat., daß es ihm gut gehe, daß er nur 
hie und da ein leichtes Taumeln empfinde. Am 26. Mai erzählt er, daß er 
sieh bis zum 17. Mai wohl gefühlt habe; am Abend des genannten Tages plötzlich 
Hitzegefühl am ganzen Körper, 10 Minuten später ein starker Schwindelanfall: 
Pat. taumelte plötzlich, mußts von Kollegen gehalten werden; V* Stunde hindurch 
sah er alle Gegenstände sich drehen, ohne daß eine bestimmte Richtung ein¬ 
gehalten wurde; keine Magenerscheinungen, kein Ohrensausen; der Anfall schloß 
mit einem Taumelgefühl, wie wir es obea geschildert haben. Am 6. Juli meldete 
der Kranke, daß er am 2. und 4. Juli wieder zwei Anfälle gehabt habe: es 
handelte sich um plötzliches Taumelgefühl nach rückwärts, Hitzegefühl, Dreh¬ 
schwindel mit der Richtung von oben nach unten. Am 2. Juli Erbrechen, am 
4. Brechreiz, kein Ohrensausen. Am 6. September 1904 berichtet Pat., daß er 
sieh vollkommen wohl fühle. Flüstersprache rechts 6 m, links 4Vi Rinne linkt 
negativ. 

Mit Rücksicht auf den typischen, von Erbrechen begleiteten 
Drehschwindel, das Taumelgefühl, mit Rücksicht auf den Hör¬ 
defekt und den negativen Rinne, mit Rücksicht endlich darauf, 
daß der sonstige objektive Befund völlig negativ war und daß Pa¬ 
tient trotz langer, sorgfältiger Beobachtung nicht als Neurastheniker 
zu bezeichnen war, mußte icii unbedingt die Diagnose auf 
Vertigo Miniere sine Tinnitu stellen, eine Diagnose, die 
dadurch bekräftigt wurde, daß aucli bei der letzten Untersuchung 
keinerlei Nervensymptome nachzuweiseu waren. 

Hierher gehört auch die Beobachtung LXVIII: 

\V. Sch., 27jühriger Hausdiener, am 23. November 1901 zum ersten 
Male untersucht. Im 5. Lebensjahre Otitis media nach Trauma: seitdem Ohrenfluß 
und Schwerhörigkeit; mit 22 Jahren unwesentliche Kopfverletzung, sonst stets 


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M6ni&rescher Symptomenkomplex. 


317 


gesund. Als Pat. am 1. November 1901 nach dem Mittagessen ins Geschäft kam, 
bestand Schwindel- und Taumelgefuhl; kein Zusammenstürzen. Er setzte sich nieder, 
wobei der Schwindel zessierte; als er sich wieder erhob, exazerbierten die 
Erscheinungen. Ähnliche Anfälle seitdem in geringerem Maße, namentlich 
beim Gehen, beim Umsehen oder bei Wendungen; Ohrensausen ist dem Pat. 
vollständig unbekannt. Obj.: Minimale Pupillendifferenz bei prompter Reaktion, die 
Bulbi werden etwas unsicher eingestellt. Linkes Trommelfell perforiert, stark 
gerötet, Hörschärfe beiderseits 3 m für Flüstersprache, Weber im Raum, Rinne 
links negativ, Kopfknochenleitung intakt. Am 2. Juni 1904 gab der Pat. an, daß 
er 1901 an der Ohrenklinik wegen linksseitigem Obrenfluß mit Erfolg behandelt 
wurde, doch rezidivierte die Eiterung bald. Nie Ohrensausen, kein Kopfdruck, 
nie mehr Schwindel, doch hie und da ein Gefühl von Unsicherheit und Schwarz¬ 
werden vor den Augen, Angstgefühl. Nervenbefund negativ, kein Romberg, 
mäßige Arteriosklerose; im linken Trommelfell eine dreistiahlige Narbe, rechtes 
Trommelfell bis auf eine kleine bräunliche Färbung in der Mitte normal. Flüster¬ 
sprache rechts 5 m, links l 1 /? m, Weber nach links, Rinne rechts -f-, links negativ, 
Galtonpfeife 30. Otiatrische Diagnose: Residuen einer linksseitigen Otitis purulenta. 

Dieser Fall zeigt abermals, daß der Möniere-Anfall ohne 
Ohrensausen anftreten kann; denn daß ein solcher vorhanden 
war, dafür spricht der sonst typische Verlauf, ferner der Umstand, 
daß das Fehlen der Nervensymptome auch noch nach Jahren 
konstatiert wurde, sowie die Tatsache, daß das Residuum in 
einem eigenartigen Taumelgefühle bestand. 

Ähnliche Erwägungen müssen für den nächsten Patienten 
statthaben: 

Beobachtung LXIX. 

E. W., 50jähriger Hilfsarbeiter, am 15. Dezember 1903 untersucht: 
Stets gesund; die Frau hat zweimal abortiert. Pat. hat im 5. Lebensjahre Ohrenfluß 
gehabt; er begann mit 48 Jahren in relativ kurzer Zeit schwerhörig zu werden, und 
nur in diesem letztgenannten progressiven Stadium litt Pat. an Ohrensausen, das 
sich aber seitdem vollends verloren hat. Seit Anfang Dezember 1903 bekommtPat. jeden 
Tag 1- bis 3mal kleinere Anfälle, die mit Flimmern vor den Augen beginnen und be¬ 
sonders unangenehm werden, wenn er einen Punkt fixiert, dann kommt es zu heftigem 
Drehschwindel mit Brechreiz ohne Erbrechen bei fortdauerndem Augenflimmern; 
Pat. muß sich fest anhalten. Ohrensausen ist niemals aufgetreten; Besserung, 
wenn der Pat. liegt. Dauer des Anfalles eine Stunde, dann wieder vollkommenes 
Wohlbefinden; doch kommt es auch manchmal zu ganz kurzen Schwindelanfällen 
von der Dauer weniger Minuten. Geringe Pupillendifferenz, sonst negativer Befund. 
Ohrbefund (Herr Doz. Dr. Hammerschlag): Beide Trommelfelle retrahiert, 
glanzlos; Hörweite für Flüstersprache links 3 bis 4 m t rechts 0 , Rinne rechts 
negativ, links + ; Kopfknoohenleitung für Uhr fehlend, Katheterismus bessert 
links, ist rechts ohne Einfluß. 

Diagnose: Beiderseitiger Trommelhöhlenkatarrh mit vermutlicher Be¬ 
teiligung des innereu Ohres. — Galvanische Behandlung. Während derselben klagt 

JahrbSohor f. Psychiatric und Hmrolofi«. XXV. Bd. 21 


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Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


Pat. über ähnliche Anfälle, die jedoch immer geringer werden; über wiederholtes 
Befragen gibt er an, daß er Ohreusansen nicht mehr kenne. Bei der Wieder- 
nntersnchong am 6. April 1904 erzählt er, daß die Symptome tatsächlich seit 
der Behandlung vom Dezember 1903 zessierten; nie mehr litt Pat. an Schwindel 
nur hie und da an Kopfdruck; Ohrensausen sei nie mehr aufgetreten. 

Somatischer Befund negativ; Trommelfelle wie oben, Flüstersprache 
rechts o, links 40 cm, Weber im Raume, sämtliche Stimmgabeltöne links ver¬ 
kürzt gehört, rechts wird C, gar nicht, C 4 nur ganz kurz perzipiert; Rinne 
links 4-, rechts negativ; Kopfknochenleitune für Uhr beiderseits fehlend, 
Schwabach verkürzt, Galtonpfeife rechts 40, links 24. 

Ich will aber auch noch an den Caissonarbeiter Nikolaus 
K. (Beobachtung VIII) erinnern, der bestimmt versicherte, daß 
die ersten Schwindelanfälle, die zur Ertaubung führten, ohne 
Ohrensausen verlaufen sind. Wiederholt habe ich auch die An¬ 
gabe gehört, daß das Ohrensausen bei manchen Menschen 
während des Schwindels abnahm; es möge hier 

Beobachtung LXX zur Illustrierung dienen. 

Fr. Sch., 30jähriger Blockwäobter, stets gesund, vom 16. bis 24. Jahre 
Bleiweißarbeiter, seit 1900 infolge einer Erkältung Heiserkeit mit Stimmband¬ 
lähmung, seit Anfang November 1903 Schwindel und Kopfschmerzen; letztere 
treten in der Woche 2- bis 3mal auf, ergreifen die Stirne; nach einigen Stunden 
kommt es für einige Minuten zum Drehschwindel mit konsekutivem Erbrechen 
ohne Bewußtseinsverlust; Ohrensausen hat Pat. konstant auf der rechten Seite, 
doch gibt er ganz bestimmt an, daß es beim Schwindel nachlasse. Der Befund 
wies Laryngitis auf, sowie Schwäche der Auswärtsbewegung des rechten Stimmbandes; 
Trommelfelle beiderseits leicht getrübt, Hörschärfe links 5 m, rechts 4 m. Weber 
im Raum, Rinne beiderseits -f» Kopfknochenleitung für Uhr rechts stark herab¬ 
gesetzt, Nervenbefund negativ, kein Romberg; Herr Dozent Dr. Hammerschlag 
vermutete eine beginnende Erkrankung des inneren Ohres rechts. Diagnose: 
Vertigo auralis. 

Ich erwähne diesen Fall besonders deshalb, weil später ein Wechsel der 
Erscheinungen eintrat, durch den meine Vermutung bestätigt wurde. Am 27. August 
1904 erwähnte Pat., daß er wieder einmal einen Anfall von Drehschwindel gehabt 
habe mit Verletzung am Kopfe; er leidet wieder an permanentem Ohrensausen, 
das bei der letzten Attake exazerbierte. 

D. Zum Schlüsse noch die heikle Frage: gibt es eine 
vertigo Meniöri sine vertigine? Immer wiedw kommt man 
auf diesen Gedanken, wenn man hört, daß die Menie re kranken 
intraparoxysmal plötzlich Exazerbation des Ohrensausens be¬ 
kommen oder Kopfdruck mit Brechreiz, ohne daß Schwindel 
auftritt. Sind derartige Symptome die einzigen Prodrome 
der eigentlichen Erkrankung, so wird es wohl unmöglich 
sein, auf die richtige Diagnose zu kommen, so z. B. bei 


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MÄnifereecher Symptomenkomplei 


319 


Pat. S. (Beob. I), der lange vor dem echten apoplektischen Md- 
nidre-Insult an Anfällen von Erbrechen litt. Hier muß man 
auch wieder solche Fälle in Rechnung ziehen, bei denen 
ursprünglich die Diagnose zweifellos war, bei denen während der 
Besserungsperiode formes frustes auftrateu. Ich kann leider auf 
diesem noch unsicheren Gebiete nur wenig Bindendes mitteilen; 
doch will ich nicht versäumen, einen nicht uninteressanten Fall 
bekanntzugeben. 

Beobachtung LXXI. 

29jähriger Taglöhner M. B., stets gesund, hat seit Kindheit an 
eine Deformation der Nase. Am 25. April 1901 wurde er von einem Motor¬ 
wagen erfaßt, zu Boden geschleudert und akquirierte eine kleine Wunde an der 
rechten Stirnseite; heftige Blutung aus dem linken Ohr und aus dem Munde, 
Bewußtlosigkeit. Pat. war noch duroh Wochen verwirrt; ob er Erbrechen hatte, 
vermag er nicht anzugeben. Als er zu sich kam, hatte er heftigen Kopfschmerz, 
Sausen der linken Kopfseite und Schwerhörigkeit links; oft kam es zu Paro- 
xysmen von Schwindel mit Exazerbation des Ohrensausens, Dunkelsehen vor 
den Augen, die Gegenstände scheinen zu tanzen. Pat. kann nicht aufrecht 
stehen; auf der Höhe des Schwindels Erbrechen. Seit dieser Zeit ist er völlig 
arbeitsunfähig. 

Objektiv: An der Stirne kleine, weißliche Narbe; Konversationssprache 
links 80 cm, rechts 2 i / 2 Trommelfelle bis auf weißliche Trübung normal. 
Weber im Raum, Rinne beiderseits +. Kopfknochenleitung für Uhr rechts vor¬ 
handen, links fehlend. Bei der Wiederuntersuchung am 25. April 1904 erzählt 
Pat., daß er bis November 1901 Anfälle nach Art der oben geschilderten hatte, 
dann Besserung, so daß er die Arbeit als Kohlenausträger wieder aufnahm und 
sie seitdem versieht. Es kommt nur zu 2 bis 8 Anfällen im Monate; sie be¬ 
stehen in Kopfschmerzen, welche die Stirne einnehmen und von da auf das 
Hinterhaupt übergehen; gleichzeitig besteht Ohrensausen links (während er sonst 
nie Ohrensausen hat), Flimmern vor den Augen, geringer Brechreiz ohne wirk¬ 
liches Erbrechen; nie mehr habe er während des Anfalles auch nur den ge¬ 
ringsten Drehschwindel gehabt; Dauer 8 bis 4 Stunden, im übrigen völlig gesund. 
Nervenbefund negativ. Trommelfelle wie oben, Flüstersprache rechts IV 2 
links 60 cm., Weber im Raum, Rinne beiderseits -f. Kopfknochenleitung für Uhr 
rechts eben vorhanden, links fehlend; Galtonpfeife rechts 24, links 36. 

Daß wir es liier ursprünglich mit einem echten Menidre- 
Schwindel zu tun haben, ist wohl außer Zweifel; es liegt die 
Idee nahe, die späteren Kopfdruckanfälle mit Flimmern, Brech¬ 
reiz und Ohrensausen als formes frustes des Mdniöre-Anfalles 
aufzufassen. 


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320 


Prof. Dr. L. v. Fron kl-Hoeh wort. 


IV. Die Prognose des Menifereschen Symptomen- 
komplexes. 

Nachdem ich nun versucht habe, die diagnostischen Erfah¬ 
rungen, welche ich Ober den Meniöre-Complei gesammelt 
habe, zu verwerten, will ich noch ein kurzes Anhangskapitel 
der Prognose widmen. Die Meinungen darüber waren 
und sind noch ziemlich gleichmäßig: i. e. im großen und 
ganzen werden, soweit ich aus der Literatur und aus Äuße¬ 
rungen vieler Kollegen entnehmen konnte, die Aussichten 
für ziemlich trübe gehalten; selbstverständlich spreche ich 
jetzt nur von der Voraussage bezüglich des Schwindels, nicht 
von der bezüglich der Hörschärfe, da ja über diesen Punkt die 
otiatrischen Lehrbücher maßgebend sind. Ich glaube, daß ich 
in meinem Buche vom Jahre 1895 den damaligen Stand der 
Meinungen nicht unrichtig wiedergegeben habe: wenigstens 
hat dieser Punkt nirgends Widerspruch erfahren. Bezüglich der 
Prognose der apoplektischen Insulte hatte ich überhaupt 
keine eigene Meinung, sondern erwähnte referierend, daß man 
in einigen Krankengeschichten liest, daß der Zustand unver¬ 
ändert geblieben sei, daß in vereinzelten Fällen Besserung des 
Hörvermögens gemeldet wurde; viel eher als die Taubheit schien 
der Schwindel besserungsfähig. Von Heilungen konnte ich nichts 
sicheres berichten; von den übrigen Formen, namentlich von 
dem Hinzutreten des Schwindels zu chronischen Ohrprozessen — 
das ist ja die Form, die den Praktiker am meisten beschäftigt — 
sagte ich, daß die Prognose keine besonders günstige sei, so 
daß eine völlige Rückkehr zur Norm, was Hörschärfe und 
Schwindel betrifft, leider nicht so häufig wären. 

Allerdings kannte ich schon damals eine kleine Anzahl 
von Fällen, die einen ziemlich günstigen Verlauf genommen hatten. 
Doch erst meine S. 247 geschilderten mühsamen Recherchen 
haben mehr Licht in die Sache gebracht. Die Mitteilung der¬ 
selben hat vielleicht Anspruch auf das Interesse der Fach¬ 
genossen. 

Bezüglich der Prognose der apoplektischen Formen 
verweise ich nur auf unsere Krankengeschichten auf S. 251 


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M6ni6rescber Symptomenkomplei. 


321 


bis S. 259; wir sehen dort, daß die Prognose in gewissem Sinne 
eine günstige ist, indem bei allen Überlebenden der Schwindel nach 
nicht zu langer Zeit völlig zessiert hat und das Ohrensausen 
wenigstens in 3 Fällen besser wurde, während die Hörstörung 
allerdings unverändert blieb; ferner kann man aus den Kranken¬ 
geschichten der Polynenritis cerebralis ersehen, daß auch dort 
der Schwindel kein dauernder war. 

Ganz besonders muß ich die traumatischen Fälle vorweg¬ 
nehmen,da die von mir revidierten Kranken Rentenansprecher waren 
und wir ja wissen, daß diese Art von Patienten infolge ihrer Begeh¬ 
rungsvorstellungen in der Prognostik nicht so verwertbar sind, wie 
andere Kranke; dennoch waren auch da die Resultate lange 
nicht so ungünstig als ich dachte. Von 7 Patienten, die ich 
wieder zu sehen Gelegenheit hatte, hatte einer den Schwindel 
verloren und litt nur mehr an formes frustes in Form von 
Kopfschmerz (siehe S. 319), 3 erklärten sich für gebessert, 
3 allerdings für ungeheilt. 

Nun kommen wir zu 74 Fällen — 54 Männer, 20 Frauen —, 
welche Individuen betreffen, die an ein- oder doppelseitigen, 
chronischen Ohraffektionen litten. Es handelt sich fast aus¬ 
schließlich um chronisch-adhäsive Mittelohrprozesse oder um 
chronische Labyrintherkrankungen, in vielen Fällen um eine Kombi¬ 
nation dieser Zustände. Der Hauptdurchschnitt der Beobachtungs¬ 
dauer bezüglich etwaiger Heilung oder Besserung beträgt zirka 
2 Jahre, und nur ganz wenige sind darunter mit noch kürzerer 
Dauer. Unter der Rubrik »Heilung’ figurieren 40 — 27 Männer, 
13 Frauen; unter der Rubrik „Besserung” 21 — 15 Männer, 
6 Frauen, somit unter der Rubrik „gebessert” -j- »geheilt” 61 — 
42 Männer, 19 Frauen; total ohne Heilung und Besserung 
waren 13 — 12 Männer, 1 Frau. 

Ich suchte nun durch Zusammenstellung der Art der Er¬ 
krankung zu ermitteln, welche Grundzüge die traitablen Fälle 
vor den anderen voraus hätten, ohne daß ich dabei eigentlich 
zu bindenden Resultaten gekommen bin. Zunächst stellte ich die 
Fälle so zusammen, daß ich das Alter des Einsetzens tabellarisch 
ordnete (Tab. I.) 

Dem Leser wird sogleich auffallen, daß die verschiedenen 
Alter sich bei allen Rubriken ziemlich gleich bleiben und daß 
auch das Geschlecht diesbezüglich keine wesentliche Rolle spielt. 


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322 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Ho oh wart 


Der nächste Gedanke war, ob nicht die Art des Pro¬ 
zesses, eventuell die Lokalisation i. e. die Ein- oder Doppel - 
seitigkeit wichtige Konsequenzen für die Prognose hätte. (Siehe 
Tabelle II.) Wieder wird der bloße Anblick zeigen, daß wir aus 
den Prozessen gar keinen Schluß bezüglich des eventuellen 
Aufhörens des Schwindels ziehen können. Auffallend ist in Ta¬ 
belle II der Umstand, daß bei Einseitigkeit des Ohrprozesses es 
zumeist das linke Ohr ist, welches betroffen ist; doch dürfte 
hier möglicherweise ein Zufall interkurrieren. 

Es wird vielleicht den Leser noch interessieren, sich eine 
3. Tabelle anzusehen, in der zusammengestellt ist, wie lange die 
Schwindelanfälle gedauert haben und wie lange das Zessieren, 
respektive die Dauer der Besserung von uns konstatiert wurde. 
(Siehe Tabelle IIL) 

Ich bin mir gewisser Mängel in meiner Aufstellung voll¬ 
kommen bewußt, da man ja bei den Heilungen, die nicht Jahre 
gedauert haben, immer sagen kann, daß vielleicht später noch 
eine Rezidive erfolgen werde; aber endlich bezieht sich dieses Be¬ 
denken auf alle Statistiken, wo von Heilungen oder Besserungen die 
Rede ist. Viele Zahlen zeigen aber eine so lange Dauer der Affek- 
tion, daß im großen und ganzen die Prognose des Schwindels 
immerhin als eine relativ günstige bezeichnet werden muß. 
Wir sehen in nicht wenigen Fällen eine Beobachtungsdauer von 
3 bis 6 Jahren; wir finden aber auch einige, die weit darüber 
hinaus sind, solche von 8, 9, 11 Jahren. Immerhin wird der ob¬ 
genannte Fehler dadurch etwas paralysiert, daß wohl mancher 
der Fälle, den wir nur als gebessert bezeichneten, später in 
Heilung übergehen dürfte; selbst bei den uugeheilten dürfen wir 
die Hoffnung nicht aufgeben, da wir ja sehen, daß selbst Fälle 
von sehr langer Dauer noch einer günstigen Wendung fähig 
sind; haben wir doch 7 Fälle nach einer Krankheitsdauer von 
7 bis 12 Jahren in Heilung übergehen gesehen, figuriert ja doch 
hier ein Fall von fast 30jähriger Dauer, bei dem dann die An¬ 
fälle seit einem Jahr schon sistierten. In manchen Fällen er¬ 
folgte die Heilung so, daß die oft gar nicht leichten Attacken 
plötzlich wie abgeschnitten sind; viel häufiger kommt es vor, 
daß dieselben immer seltener werden und in ihrer Intensität 
langsam abnehmen: der Schwindel erreicht nicht mehr die fürch¬ 
terliche Höhe, bisweilen tritt nur mehr ein leichtes Taumel- 


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Meni&resoher Symptomeokomplei. 


323 


gefühl auf; das Erbrechen erfolgt nicht mehr, das Ohrensausen 
bleibt in bescheidenen Grenzen, oft besteht der Rest beim Rück¬ 
gänge oder bei den Besserungen nur in einem zeitweilig auf¬ 
tretenden leisen Unbehagen, während welchen die Leute eine 
gewisse Unsicherheit empfinden — auch diese Miniaturformen 
verschwinden endlich; nur einen Fall sahen wir, in dem sie 
einer eigentümlichen forme fruste Platz gemacht haben, näm¬ 
lich Attacken von halbseitigem Kopfdruck mit exazerbierendem 
Ohrensausen und Brechreiz (S. 319). Von einigen Patienten hörten 
wir, daß sie gestorben seien, doch hatte der Tod nichts mit dem 
ursprünglich vorhanden gewesenen Leiden zu tun. In manchen 
Fällen erfolgte der Exitus durch schlimmen Verlauf der intra 
vitam bestandenen Arteriosklerose, und da Mdni&re-Anfälle gar 
nicht so selten bei Arteriosklerose interkurrieren, ist hier ein 
gewisser Zusammenhang zwischen Tod und der ursprünglichen 
Krankheit bezüglich der grundlegenden Basis denkbar; wieder¬ 
holt waren die Kranken später von apoplektischen In¬ 
sulten betroffen worden. In einigen wenigen Fällen sahen 
wir Frakturen, welche sich Patient beim Anfalle zugezogen 
hatte. 

Es ist übrigens bemerkenswert und zu einer gewissen 
Vorsicht für die Benutzung der Tabellen einladend, daß In¬ 
termissionen sehr häufig sind; endlich hat jeder noch so schwere 
Fall mindestens leichte Intermissionen, die allerdings manchmal 
dadurch getrübt sind, daß die Patienten auch interparoxysmal 
Kopfdruck und ein gewisses Taumelgefühl haben. In den mittel¬ 
schweren und leichten Fällen dauern die Pausen oft Wochen 
und Monate ; ja ich habe Fälle gesehen, in denen die Intermissionen 
selbst durch Jahre anhielten. Auch die ungeheilten Fälle haben 
ein verschiedenes Gepräge; in manchem der Fälle bleibt der 
Zustand noch relativ erträglich, indem die Leute eben durch 
viele Jahre von Zeit zu Zeit einen schweren oder mittelschweren 
Anfall bekommen; es gibt aber auch solche mit stetig progre¬ 
dientem Verlaufe, bei welchem die Patienten dann ohne Unterlaß von 
ihrem Leiden gepeinigt werden, es gibt Fälle, in denen sie über¬ 
haupt nie ganz frei von Taumelgefühl sind: sie repräsentieren 
dann den Zustand des permanenten Schwindels, den ich seiner¬ 
zeit als „Status menifericus” bezeichnete. Zur Illustrierung des 
Gesagten möchte ich noch eine Krankengeschichte mitteilen. 


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324 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart. 


Beobachtung LXXII. 

leb habe am 21. März 1901 die 62jährige Private M. K. zum ersten¬ 
mal untersucht; die Pat. litt seit Herbst 1898 an Kopfdruck, Schwerhörigkeit, 
Ohrensausen und permanentem TaumelgefQhl. Zweimal hatte sie Anfälle von 
plötzlichem Drehschwindel und Zusammenstürzen bei freiem Bewußtsein; die 
Untersuchung ergab: Trommelfelle stark getrübt, retrahiert, Konversations¬ 
sprache rechts 50 cm, links 2 m, Weber im Raum, Rinne beiderseits +, Kopf- 
koooheuleitung für Uhr fehlend. (Doppelseitige Affektion des nervösen Apparates) 
Mäßige Struma, Romberg +, Steigerung der Sehnenreflexe, sonst negativer Be¬ 
fund. Als ich meine Briefe aussandte, kam statt der Pat. deren Schwester am 
15. Mai 1904 und berichtete, daß die Kranke nun seit längerer Zeit an täglichen 
Anfällen leide; am 26 . Juni 1903 habe sie sich durch Sturz während des An¬ 
falles einen Bruch des rechten Oberschenkels zugezogen. Ich besuchte diese Frau 
am 26 . Mai 1904 und fand sie in einem kläglichen Zustande: sie hat überhaupt 
keine ruhige Minute; sie kann nicht gehen, weil sie bei jedem Bewegungsversuche 
von Taumelgefühl befallen wird; sie verbringt ihr Leben meist im Bette liegend, 
oder an einem Tische steif sitzend, jeden 2. Tag kommt es zu einem starken 
Drehschwindel in der Dauer einiger Minuten. Der objektive Befund ergab eine 
Verkürzung des linken Beines infolge der Fraktur; laute Sprache beiderseits 5 cm. 
Stimmgabel wird von der Stirne aus nicht gehört; Rinne unausführbar, große 
Unsicherheit beim Gehen und Stehen, sonst negativer Befund. 

Was die Hörstörung der Mdniörekranken betrifft, konnten 
wir nicht viel Erfreuliches konstatieren. Ein Patient berichtete 
uns schriftlich die ganz merkwürdige Tatsache, daß sich eines 
Tages die Hörschärfe auf dem fast ertaubten Ohre wieder plötz¬ 
lich von selbst eingestellt habe; im übrigen mußten wir froh 
sein, wenn wir konstatieren konnten, daß der diesbezügliche 
Defekt wenigstens stabil geblieben sei; in vielen Fällen war 
eine Progression bemerkbar — in manchen Fällen, in denen nur 
das eine Ohr von der Affektion betroffen war, erkrankte nun 
auch das zweite; das sind Dinge, die wir hier .nicht näher 
zu beleuchten haben; liegen ja doch zumeist adhäsive Mittelohr¬ 
prozesse, Sklerosierung und schwere Labyrinthaffektionen vor, 
Zustände, bei denen die Prognose bezüglich des auditus zumeist 
nicht erfreulich ist. 

Was das Ohrensausen betrifft, so war, wie erwähnt, in- 
soferne eine Besserung bei den Geheilten und Gebesserten oft 
dahin zu verzeichnen, daß das unerträgliche Exazerbieren während 
des Anfalles nachließ; im übrigen war auch hier eine Stabilität, 
ja nicht selten eine Progression zu bemerken, nur relativ selten 
war eine gewisse Besserung zu konstatieren. 


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MÄni&reeoher Symptomenkomplex. 


325 


Eine unangenehme Kombination ist es auch, daß sich den 
schweren Fällen häufig eine starke Nervosität assoziiert, (siehe 
Seite 297), daß die Leute sehr ängstlich, aufgeregt werden, an 
Tachykardie leiden, daß der zum Komplex so oft gehörende 
Kopfdruck immer quälender wird. Eine gewisse Unterernährung 
und allgemeine Schwächlichkeit etablieren sich unter dem Ein¬ 
flüsse dieser Qualen; diese Erscheinungen werden wohl auch 
nicht selten dadurch bedingt, daß die Patienten die Erfahrung 
machen, daß jede größere Füllung des Magens schädlich wirkt, 
wodurch sie veranlaßt werden, ihr Nahrungsquantum ungemein 
zu reduzieren. 


V, Therapeutische Notiz. 

Meine Absicht ist es nicht, hier therapeutische Be¬ 
trachtungen anzustellen, da ich über diesen Punkt nichts 
Neues mitzuteilen habe und auch anderweitig nicht viel Neues 
publiziert wurde. Ich verweise diesbezüglich auf die Darstellung 
in meinem Buche, sowie auf die demnächst erscheinende zweite 
Auflage desselben, auf die Erörterung von Heermann (1. c.), auf die 
Lehrbücher von Politzer, Urbantschitsch.Schwartzeetc.und 
auf die Darstellungen von Bürkner in Pentzoldt-Stintzing, 
Handbuch der Therapie. Wenn aber der Leser mich fragen 
sollte, welchen Eindruck ich bei meinen geheilten Fällen per¬ 
sönlich erhalten habe, so muß ich sagen, daß die Lokalbehandlung 
nur in wenigen Fällen bezüglich des Schwindels einen evidenten 
Erfolg gab, allerdings bei einzigen wenigen einen sehr eklatanten, 
z.B.bei einem jungen, mit leichtem Mittelohrkatarrh behafteten Kauf¬ 
manne, der monatelang Schwindel hatte und mit Chinin überfüttert 
worden war: durch Applikation von Luftdouchen (Herr Prof. Dr. 
Pollak) erfolgte völlige Heilung unter Wiederherstellung der Hör¬ 
schärfe. Wir haben es zumeist eben gerade bei unseren Fällen mit den 
schwersten Ohrenleiden zu tun, denen gegenüber die spezialistische 
Behandlung oft noch machtlos ist — ja, ich hatte den Eindruck, 
daß nicht selten durch die Lokaltherapie das allgemeine Leiden 
verschlimmert wurde. Ich halte — und damit stimme ich mit 
Heermann vollends überein — die allgemeine Behandlung 
für das wichtigste. Meine Verordnung ist gewöhnlich eine 
sehr einfache: wo möglich Landluft und absolute Ruhe, Fern¬ 
haltung von Aufregungen, Gebrauch von kleinen ßromnatrium- 


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326 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoch wart. 


und Jodnatrium-Dosen, kühle Fußbäder, laue Halbbäder (26° bis 
24° R.). Ich habe mich in meinem Buche, zu einer Zeit, als 
der Krieg gegen die Elektrotherapie gerade auf der Akme 
war, bezüglich der Kopfgalvanisation folgendermaßen ge¬ 
äußert: „Trotzdem heutzutage ein gewisser Mut dazu gehört, von 
einer tatsächlichen Wirkung des Mittels zu sprechen, so scheint 
es mir doch in manchen Fällen indiziert.” Bei der Revision 
war es ungemein auffallend, wie viele der Leute, die im Am¬ 
bulatorium der Klinik galvanisiert worden waren, angaben, 
daß sie unter dieser Therapie sofort bedeutende Erleichterung 
verspürten, ja endlich geheilt wurden; übrigens haben sich auch 
in neuester Zeit andere Autoren wiederum für dieses Verfahren 
ausgesprochen, so: Donath, 1 ) Veraguth,*) Bloch 3 ) u. a. 

Nicht zu vergessen ist die Klimatotherapie: Aufenthalt 
in mäßigen Höhen, so von 700, 800, 1000 m, ist oft momentan, ja 
auch nicht selten dauernd, von unverkennbar günstigem Ein¬ 
flüsse auf das Leiden. 

Wir sehen, daß wir zu einem Nihilismus bei der uns 
beschäftigenden Krankheit keine Veranlassung haben; doch 
müssen wir zur Steuer der Wahrheit berichten, daß eine Anzahl 
von Leuten keine Therapie gebraucht haben, ihrer mühseligen 
Arbeit nachgehen mußten, unter deprimierenden Verhältnissen 
lebten und doch endlich schwindelfrei wurden. 

Die Arbeitsfähigkeit wird überhaupt merkwürdigerweise 
wenig gestört; außer bei den Unfallpatienten, die ja, wie er¬ 
wähnt, bezüglich der Prognose einen besonderen Platz ein¬ 
nehmen, waren nur ganz wenige, welche ihre Arbeit wegen des 
Schwindels einstellten. Viele obliegen sogar schweren Berufen, 
so der Zimmermalerei, Dachdeckerei; allerdings sind diese Ar¬ 
beiten sehr zu widerraten, da wir doch bisweilen Verletzungen 
im Anfalle beobachteten, die freilich selten allzu schwerer 
Natur waren. Mir ist kein Anfall bekannt, wo jemand in dem 
Möniörschen Paroxysmus einen Todessturz getan hätte. Der 
Mangel an schweren Verletzungen ist ein Faktum, das in der 
Differentialdiagnose zur Epilepsie eine Rolle zu spielen ge¬ 
eignet ist. 

1) Wr. kl. w. 1901 Nr. 47. 

>) Miinohoer med. W. 1901 (Nr. 20). 

>) Prager med. W. XXVIII., Nr. 20 (1903). 


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Mtaiireseher Syoiptomenkomplex. 


327 


T abeilen: 



Tabelle I 

der revidierten Falle, geordnet nach dem Alter des Einsetzens. 


Geheilt Gebessert G ®tXilt + üogeheilt 


1 

1 

2 

6 

5 

11 

8 

9 

17 

10 

5 

15 

12 

3 

1 

12 

4 


40 

27 Männer 
18 Frauen 


21 . 

15 Männer 
6 Frauen 


61 

42 Männer 
19 Frauen 



13 

12 Männer 
1 Frau 


74 

54 Männer 
20 Frauen 


Tabelle II. 

Die Revisionsfälle geordnet nach den Erkrankungen und der Lokalisation. 




Einseitig 


Doppelseitig 

Art der Affektion 

Geheilt 

Gebessert 

Ungeheilt j 

Ge- 
1 heilt 

Ge- 

bessert 

Uii- 1 
geheilt ( 

Chronische, trockene 
Mittelohrprozesse . . 

L. R. 

7 (4, 3.) 

L. R. 

3 (2, 1.) 

2 (1, 1.) 

4 

3 

1 

Otitis purulenta . . . 

6 (5, 1.) 

3 (1, 2.) 

1 

2 

— 

— 

Affektion des'nervösen 
Apparates. 

6 (5, 1.) 

7 (5, 2.) 

3 (1, 2.) 

4 

— 

— 

Gemischte Affekt.: 

aj Bei trockenem Mittel¬ 
ohrprozesse .... 

1 

3 (2, 1.) 

1 

6 

2 

5 

b) Bei purul. Otitis mit 
vermutlicher Beteili¬ 
gung des , nervösen 
Apparates. 

1 

— 

— 

3 

— 

i 


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328 


Prof. Dr. L. v. Frankl-Hoch wart. 


Tabelle III 

enthält 1. die geheilten, 2. die gebesserten, 3. die angeheilten Fälle. 

Bei 1. und 2. bedeuten die in den Klammern ( ) beigesetzten Zahlen 
immer die Jahre, eventuell Monate, innerhalb welcher sich die Heilung, respektive 
Besserung, nach unserer Beobachtung erhalten hat; die erste Zahl bedeutet die 
mir bekannt gewordene Dauer des Schwindels. 

1. Vermutliche Heilungen: 

5 Wochen (1 Jahr); 6 W. (3 J.); V 2 J. (»/,); */, (6); V 2 (4Vi); V* 0/ 2 ); 

1 (2); 1 (4); 1 (13); 1 (V s ); 1 (9); 1 (11); 1 (8); 1 (D/*); l*/a (2); 2 (6); 2 (3); 

2 (IV*); 2 (2); ,2 (1); 2 (V / 2 ); 2 (2); 3 (1); 3 (3); 3 (3); 3 (8); 4 (2); 5 (1); 

5 (2); 5 (1); 6 (V 2 ); 7 (3); 8 (3); 8 (1); 9 (3); 10 (1); 11 (1); 12 (3); 30? (1). 

2. Besserungen: 

V* (2); 1 (6); 1 (3); 1 (2); 1 (2); 1 (4); 1 (3); 1 (4); 2 (1); 2 (1); 2 (2); 

2 (8); 2 (4); 3 (1); 3 (2); 4 (1); 5 (4 Monate); 5 (1); 6 (2); 13 (3); 30 <1). 

3. Ungeheilte Fälle: 

Dauer: 2 J.; 2; 2; 3; 3; 4; — 5; 6; 6; 9; 9; 9; 11 Jahren. 


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Referate. 


Dr. phll. Theodor Heller: Grundriß der Heilpädagogik. 

Leipzig 1904. W. Engelmann. 

Die intensive Beschäftigung der Pädagogen mit den patho¬ 
logischen Kindern ist neueren Datums, und es ist nicht zu leugneD, 
daß schon viel Ersprießliches auf diesem Gebiete geleistet wurde. 
Wir müssen aber Heller Recht geben, der in seinem Vorworte 
darüber klagt, daß es noch am gehörigen Zusammenwirken jener 
Faktoren fehlt, die berufen sind, an der körperlichen und geistigen 
Erziehuug der Jugend teilzunehmen. „Zu Beginn dieser neuen 
Epoche der Pädagogik” — so setzt Heller seine Erläuterungen 
fort — „dürfte das Erscheinen eines Werkes willkommen sein, 
das allen jenen, welche die Bedeutung pädagogischer Bestrebungen 
im Hinblick auf die krankhaften Zustände des kindlichen Seelen¬ 
lebens anerkennen, eine Übersicht über die bisher erzielten Resul¬ 
tate ermöglicht, anderseits aber nachzuweisen sucht, auf welchen 
Gebieten neue Untersuchungen notwendig und nützlich wären. Die 
Heilpädagogik bedeutet ein Grenzgebiet zwischen Pädagogik und 
Medizin, insbesondere jenem Teile der letzteren, der sich mit den 
krankhaften Zuständen des Seelenlebens befaßt. In diesem Sinne 
ist es erforderlich, auch auf das Gebiet der Medizin überzugreifen. 
Ein Verständnis für die hierher gehörenden Fragen muß bei jedem 
Heilpädagogen vorausgesetzt werden, weil es sonst unmöglich ist, 
daß Arzt und Pädagoge vereint arbeiten. Hat sich der letztere auch 
der Prätension des Heilens im medizinischen Sinne zu enthalten, 
was Griesinger mit Recht verlangt, so darf ihm dennoch die 
Kenntnis der psychischen Krankheitszustände im Kindesalter nicht 
fehlen. Hier sind es vor allem psychologische und pädagogische 
Gesichtspunkte, die bei der Beschreibung der einschlägigen Krank¬ 
heitszustände beachtet werden müssen. Eine Anzahl von Tatsachen, 
die der Arzt wissen muß, haben für den Pädagogen ein nur unter¬ 
geordnetes Interesse, während andere Momente, denen der Arzt 
keine besondere Bedeutung beimißt, für den Pädagogen von größtem 


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330 


Referate. 


Werte sind. Dieser Umstand hat den Verfasser bestimmt, bei der 
Darstellung der im Kindesalter vorkommenden Geistes- und Nerven¬ 
krankheiten nicht die Mithilfe eines Facharztes in Anspruch zu 
nehmen, sondern dieselbe allein durcbzuföbren”. 

Referent bat das Buch mit größtem Interesse durcbgelesen 
und muß vor allem anderen dem Verfasser das Zeugnis geben, daß 
er den medizinischen Teil mit großer Sachkenntnis behandelt hat 
und daß er die diesbezügliche Literatur in vollkommenstem Maße 
beherrscht. Die psychologische Schulung hat er sich bei seinem 
großen Lehrer Wundt, dem auch das Buch gewidmet ist, erworben. 
Die pädagogische Seite hat er in langjähriger eigener Praxis durch¬ 
gearbeitet. Auf Basis all dieses Wissens hat er ein Buch geschaffen, 
das geeignet ist, ein klares Bild vom jetzigen Stande des Faches 
zu geben. Wenn wir so die ausgezeichnete Zusammenstellung her¬ 
vorheben, so sei damit nicht gesagt, daß dem Verfasser etwa die 
Originalität abgeht; im Gegenteile—überall weiß er seinen persönlichen 
Standpunkt aufs ernsteste zu vertreten, überall finden wir eigene 
Ideen; von großem Interesse sind die vielfach eingestreuten eigenen 
Beobachtungen. Wir können das anregend geschriebene Buch den 
Fachgenossen nur aufs wärmste empfehlen. 

v. Frankl-Hochwart 

Prof. E. Tanzi: Trattato delle malattie mentali. Milano 
Societä editrice libraria. 1905. 764 Seiten. 

Das vorliegende Werk soll in erster Linie ein Lehrbuch sein, 
das den Leser mit dem modernen Standpunkte der Psychiatrie und 
ihren theoretischen Grundlagen gründlich vertraut macht Der 
bekannte Verfasser hat es auch verstanden, dieser Aufgabe in vor¬ 
züglicher Weise gerecht zu werden, er wird nie zu persönlich und 
doch — bei aller Rücksicht auf die gesamte Literatur — auch 
niemals ein Kompilator. 

Die Einteilung der Psychosen, welche der Autor trifft, fußt 
zunächst auf der Kraepelins; doch werden deren Mängel hervor¬ 
gehoben und in einem neuen Schema zu vermeiden getrachtet 
Volle Beachtung verdient der allgemeine Teil, welchem etwa ein 
Drittel des ganzen Buches gewidmet ist. 

Hervorzubeben ist übrigens auch die geradezu glänzende Aus¬ 
stattung, wie man sie gerade bei italienischen Lehrbüchern nicht 
häufig wiederfindet. Obersteiner. 

Weygandt: Der heutige Stand der Lehre vom Kretinis¬ 
mus. IV. Bd-, Heft 6/7 der Sammlung zwangloser Abhand¬ 
lungen aus dem Gebiete der Nerven- und Geisteskrankheiten. 
Halle a. S. Verlag von C. Marhold. 1904. 

In dieser sehr lesenswerten Abhandlung gibt Verfasser eine 
klare Übersicht über den gegenwärtigen Stand der Lehre vom 


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Referate. 


331 


Kretinismus — jenes „endemisch auftretenden Zustandes angeborenen 
dauernden Schwachsinns in Verbindung mit einem Zurückbleiben 
des Skeletts, mit Hautveränderung und Hemmung der geschlecht¬ 
lichen Entwicklung, als dessen nächste Ursache eine Funktions¬ 
aufhebung der Schilddrüse anzusehen ist.” 

Nach einem Versuche, die Bezeichnung „Kretin” etymologisch 
aufzuklären, wendet er sich der lange Zeit bestandenen, irrtümlichen 
Theorie Virchows von der Tribasilarsynostose als der alleinigen 
Ursache des Kretinismus zu, um darzutun. daß erst mit der Kennt¬ 
nis des Myxödems und der Kachexia strurnipriva für die Natur 
des Kretinismus das richtige Verständnis angebahnt wurde. Ver¬ 
fasser erörtert auch die Verbreitung des Kretinismus und verzeichnet 
hierbei als bemerkenswerte Tatsache eine unverkennbare Abnahme 
desselben; er bringt dann eine eingehende Symptomatologie 
und hebt dabei zunächst hervor, daß Kropfbildung keineswegs 
charakteristisch sei, da gerade schwere Degenerationszustände mit 
Zwergwuchs eher ohne solche Vorkommen. Was die Entwicklungs¬ 
hemmung des Skeletts betrifft, so hat die ßöntgenmethode ergeben, 
daß die Epipbysenlinien lange Zeit hindurch, selbst bis ins 4. Jahr¬ 
zehnt noch persistieren. Die eigenartige kretinistische Physiognomie 
wird mehr durch die Weichteile bedingt, die tiefliegende Nasen¬ 
wurzel wohl durch Zurückbleiben der Schädelbasis infolge von 
Wachstumshemmung. Neben dem Skelett weist die Haut die auf¬ 
fallendsten Veränderungen auf; sie ist myxödematös, kühler und 
trocken, Haare und Nägel sind defekt entwickelt; mit dem Alter 
tritt das Myxödem zurück, die Haut wird runzlig und faltig, die 
Muskulatur ist schlaff und gering entwickelt, die Geschlechtsteile 
sind meist kindlich, die inneren Organe zeigen frühzeitig Alters¬ 
veränderungen. 

Auf psychischem Gebiete herrscht die apathische, torpide 
Form des Schwachsinns vor, man findet alle Übergänge vom 
tiefsten Blödsinn bis zu bloßer Minderwertigkeit und hat darnach 
zwischen Zwergkretinen, Halbkretinen nnd Kretinoiden unter¬ 
schieden. 

Wie in der Paralyse, erblickt Verfasser auch im Kretinismus 
und in der dementia praecox das Ergebnis einer Stoffwechselerkrankung 
des gesamten Organismus und bringt diese Prozesse in gewisse 
Analogien. 

Die pathologische Anatomie des Kretinismus bedarf noch 
weiteren Ausbaues; bezüglich des Hirnbefundes erwähnt Verfasser 
eines genauer untersuchten Falles, in welchem am Nissl-Präparat 
die Nervenzellkerne in der Hirnrinde undeutlich werden und ver¬ 
kleinert erscheinen, die Nisslsehen Schollen nur angedeutet, die 
Axenzylinder gar nicht, die Dendriten nur wenig sichtbar sind, 
während der Spitzenfortsatz auffallend verlängert erscheint. 

Hinsichtlich der Ursachen des endemischen Kretinismus hält 
Verfasser es für sehr wahrscheinlich, daß ein organisierter Erreger 


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332 


Referate. 


durch das Wasser der Kropfgegenden dem Organismus zugeführt 
wird und eine spezifische Schädlichkeit für die Schilddrüse bedeutet, 
doch ist dermalen eine genaue Abschätzung der gegenseitigen Be¬ 
ziehungen zwischen Kropf und Kretinismus noch nicht möglich. 

Für die Differentialdiagnose kommen in Betracht die anderen 
thyreogenen Erkrankungen, andere Fälle von Zwergwuchs und 
angeborenem Schwachsinn; auch hierüber gibt Verfasser beachtens¬ 
werte Winke. 

Die Behandlung hat sich jedoch auf allgemeine hygienische Ma߬ 
nahmen hinsichtlich Assanierung verseuchter Gegenden zu erstrecken; 
für den Einzelfall kommt die andauernde und vorsichtige Anwendung 
von Thyreoidinpräparaten als durchaus bewährt in Betracht; sie 
wird zwar nicht — wie Verfasser bemerkt — aus dem schwach¬ 
sinnigen, zwerghaften Krüppel einen vollwertigen Menschen schaffen, 
ihm aber doch viel weiter bessern und fördern, als man es soust 
im Bereich der resignierten psychiatrischen Therapie zu sehen ge¬ 
wöhnt ist. F. 

Dr. Friedrich Scholz: Die moralische Anaesthesie. Für 

Ärzte und .Juristen. Verlag von Eduard Heinrich Mayer. 

Leipzig 1904. Preis 3*60 Mark brosch., 4 50 Mark geb. 

Die noch vielfach umstrittene Frage der moral insanity, ihrer 
Auffassung als eines selbständigen Krankheitszustandes, ihrer Be¬ 
ziehung zu den Psychosen, ihrer klinischen und insbesondere 
forensischen Würdigung, erfährt durch diese neueste Arbeit des 
bekannten Psychiaters eingehende und sehr ansprechende Klärung. 
Von der Erwägung ausgehend, daß es sich in den Fällen sogenannten 
moralischen Schwachsinns der Hauptsache nach um eine Gefühlsabnor¬ 
mität handle, schlägt Verfasser die Bezeichnung „moralische Anaesthe¬ 
sie” als unverfänglich und zutreffend vor; sie stellt auch keine Krankheit, 
sondern eine Abnormität dar. Nach einleitenden Bemerkungen über 
Einzel- und Gesellschaftsmoral, über Vorstellen, Fühlen und Handeln 
schildert Verfasser als Typen der moralischen Anaesthesie jenen 
des „unbewußten Motivs”, wobei die Handlung den Charakter des 
Reflexes auf einen nicht zur Vorstellung gelangten Reiz aufweist, 
impulsiv aufzutreten pflegt; dann den Typus des „Zwangsmäßigen”; 
hier kommen Handlungen in Betracht infolge von Zwangsvor¬ 
stellungen, ihre Motive sind nicht dunkel. Bei beiden Typen findet 
sich moralische Anaesthesie, insofern als die Hemmungen natürlichen 
oder anerzogenen Pflichtgefühls den inneren Antrieb gegenüber sich 
als zu schwach erweisen. Ein weiterer Typus des „gesteigerten 
Strebens” erscheint dadurch gekennzeichnet, daß die Handlungen 
mangels moralischer Grundsätze egoistischen Motiven und Trieben 
folgen und rücksichtslos antisoziale Bahnen einschlagen, während 
bei dem des „verringerten Strebens”, der auch als indolenter Typus 
bezeichnet werden könnte, Schwäche des Entschlusses und Handelns 


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Heferate. 


333 


erkennen läßt. Als 5. Typus stellt Verf. den .perversen” Typus auf, 
mit den verschiedenartigen Abirrungen vorwiegend auf sexuellem 
Gebiete. 

Verf. hat diese Typen mit ihren Besonderheiten und in ihren 
gegenseitigen Beziehungen bis ins Detail ausgearbeitet und an der 
Hand einschlägiger Beobachtungen illustriert. Bezüglich der Ur¬ 
sachen würdigt Verf. neben dem angeborenen Charakter die beson¬ 
dere Bedeutung des Milieus, er bringt auch beachtenswerte Sätze 
hinsichtlich Prognose und Therapie. 

Ein Schlußkapitel behandelt Diagnose und Zurechnung. Für 
erstere erscheinen gewisse Eigentümlichkeiten schon des kindlichen 
Charakters von Wichtigkeit, die eine Frühdiagnose erleichtern. 
Differentialdiagnostisch auseinanderzuhalten sind moralische Anä¬ 
sthesie einerseits, Idiotismus und Imbezillität anderseits; ein Unter¬ 
schied zwischen dem moralisch-anästhetischen, besonders jenem 
des 3. u. 4. Typus vom geborenen Verbrecher besteht nur in der 
Sichtung, daß dieser bewußt uud mit Absicht antisozial ist und 
eine Lust am Kampfe gegen die Gesellschaft zeigt, während jener 
in uod mit der Gesellschaft lebt, Anschluß und Hilfe bei ihr sucht. 
Bezüglich der Frage der Zurechnungsfähigkeit und der Strafvoll¬ 
streckung steht Verf. auf dem Standpunkte, daß die moralische 
Anästhesie als eine Abnormität, und nicht als eine Krankheit die 
Zurechnung nicht ohneweiters ausschließen könne, und faßt mit 
Rücksicht auf das deutsche Strafgesetz seine Ansicht dahin zusammen: 
Der Moralisch-Anästhetische an sich sei zurechnungsfähig, es wäre 
denn, daß ein Zustand krankhafter Störung (Epilepsie, Hysterie, 
periodische Geistesstörung, neurasthenische Angstzustände, vorge¬ 
schrittener Alkoholismus, traumatischer Irrsinn, Paralyse) vorliege. 
Bloße Homosexualität unter Erwachsenen sollte, da „niemandes 
Rechte dadurch gekränkt werden”, überhaupt straflos bleiben. Bei 
erwachsenen Abnormen überhaupt würden in jedem Fall aus Ent¬ 
wicklung und Minderwertigkeit abzuleitende „mildernde Umstände” 
geltend zu machen sein; doch spricht sich Verf. aus mehrfachen 
Gründen gegen die Annahme einer verminderten Zurechnungs¬ 
fähigkeit aus und weist auf die Wichtigkeit einer Änderung des 
Strafvollzuges als jene Maßnahme hin, die einzig geeignet wäre, 
den Schutz der Gesellschaft einerseits, eine vom Geiste der Huma¬ 
nität getragene Behandlung derartig Abnormer anderseits, zu ge¬ 
währleisten. 

Alles in allem bietet das vorliegende Buch eine Fülle von 
Anregung und praktischen Winken und erscheint der interessante 
und wichtige Stoff in seiner klaren und leicht faßlichen Form auch 
weiteren Kreisen angepaßt. 

F. 


Jahrbflehar t. Paydüatile und Naurologi«. XXV. Bd. 


22 


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334 


Referat«. 


Karplus: Über Familienähnlichkeiten an den Großhirn* 
furchen des Menschen. Mit 20 Tafeln in Lichtdruck. Son¬ 
derabdruck aus den Arbeiten aus dem neurolog. Instit. des 
Prof. Obersteiner, XII. Bd. Verlag von Franz Deuticke, 
Leipzig und Wien, 1905. 

Die vorliegende sehr fleißige Arbeit stellt den ersten Teil von 
Untersuchungsergebnissen dar über Variabilität und Vererbung am 
Zentralnervensystem. Verf. war bemüht, einer Frage, die bereits 
Retzius 1896 aufgeworfen hatte, näherzutreten, und an der Hand 
mehrjähriger Beobachtungen und Studien ein Urteil darüber sich 
zu bilden, ob man tatsächlich bezüglich der Anordnung von Furchen 
und Windungen des Gehirns eine Vererbung von Eltern auf Kinder, 
kurzweg von einer Familienähnlichkeit sprechen könne. 

Sein mühsam gesammeltes Material umfaßt im ganzen 21 Gruppen, 
und zwar 16 zu 2, 4 zu 3, 1 Gruppe zu 5 Mitgliedern; verwendbar 
hievon erwiesen sich 19 Gruppen mit im ganzen 86 Hemisphären. 
Um bei Bearbeitung derselben nicht ins Ungemessene sich zu ver¬ 
lieren, mußte Verf. darauf bedacht sein, besonders jenen Furchen 
Beachtung zu schenken, deren typisches Verhalten und deren 
Varietäten — ohne Rücksicht auf die Vererbung — bereits be¬ 
kannter sind. In der Mehrzahl der Fälle bringt Verf. die Beschrei¬ 
bung der Furchenvarietäten in übersichtlichen Tabellen; besonders 
bemerkenswerte Fälle werden in sehr gelungenen Abbildungen ver¬ 
anschaulicht. 

Auf Grund seiner Studien gelangt Verf. zur Annahme, daß es 
eine Vererbung der Gehirnfurchen gebe, daß hiebei eine gewisse 
Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Hemisphären voneinander 
zu beobachten sei, die Übertragung also keine gekreuzte, sondern 
eine gleichseitige sei, daß endlich — was etwaige Geschlechts¬ 
unterschiede des Gehirns betrifft — seine Beobachtungen keine ge¬ 
nügenden Anhaltspunkte zur Annahme einer Inferiorität des weib¬ 
lichen Gehirns gegeben haben. 

Verf. bringt seine Schlußfolgerungen mit der durch den Ge¬ 
genstand als solchen und eine gewisse Begrenztheit seines Materiales 
gebotenen Vorsicht unter Vermeidung von Hypothesen, was seine 
Arbeit umso wertvoller erscheinen läßt; eine wichtige Ergänzung 
wird die Arbeit durch den in baldige Aussicht gestellten 2. Teil 
erfahreu, der sich mit den makro- und mikroskopischen Befunden 
an den menschlichen Hirnstämraen und Rückenmarken befassen 
wird. Jedenfalls ist es dankbar anzuerkennen, daß Verf. sich der 
mühevollen Arbeit, das Zentralnervensystem von einer neuen, inter¬ 
essanten Seite näher zu beleuchten, unterzogen hat. Text und Ab¬ 
bildungen präsentieren sich in tadelloser Form. F. 


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Bericht des Vereines 
filr Psychiatrie und Neurologie in Wien. 

Vereinsjahr 1903/1904. 

Sitzung vom 9. Juni 1903. 

Vorsitzender: Prof. v. Wagner. 

Schriftfobrer: Dr. Pilez. 

1. Dozent Dr. Moriz Sachs wird zum Mitgliede gewählt. 

2. Dr. In fei d stellt einen 89jähr. Mann, der seit 4 Jahren an Epilepsie 
leidet und wegen der epileptischen Geistesveränderung auf der II. psychiatrischen 
Klinik in Beobachtung steht, mit Rücksicht auf eine Reihe funktioneller und 
anatomischer Anomalien vor. Es sei mit Übergehung vieler Eiuzelheiten das 
Wichtigste erwähnt. 

Der Kranke, von jeher von sehr geringer Intelligenz, ist zeitlebens 
Linkshänder. Die Kraft ist übrigens, wie eine große Zahl dynamometrischer 
Messungen ergeben hat, rechts etwas größer als links; die r. o. E. ist aber un¬ 
geschickt und zeigt Intentionstremor. Sensible Störungen sind nicht nach¬ 
weisbar. Der Körperbau zeigt mehrfach Asymmetrie. Am Schädeldach ist 
die licke Hälfte allenthalben flacher als die rechte, und da die Knochen links 
und rechts gleich dick sind (Röntgenbild) und an der Schädelbasis keine 
Asymmetrie zu finden ist, so ißt anzunehmen, daß die Schädelhöhle in ihrer 
linken Hälfte kleiner ist als rechts. Vom Gesicht aber ist die rechte 
Hälfte kleiner, die Achse ist nicht gerade, sondern nach rechts konkav. Die 
obere Extremität und der Thorax rechts von etwas geringerem Umfang als links. 

Die funktionellen und die anatomischen Anomalien sind habituell und 
hängen offenbar miteinander zusammen; den Zusammenhang vermittelt eine 
Affektion der linken Gehirnhälfte. An einen Vortrag erinnernd, den vor zwei 
Jahren E. Bi sch off hier im Verein gehalten hat, hält Infeld jene Affektion 
für eine linksseitige Hemisphärenatrophie. Das Zurückbleiben der linken 
Hälfte des Schädeldaches stehe damit in unmittelbarem mechanischen Zusammen¬ 
hänge; das Zurückbleiben der rechten Gesichtshälfte hält Vortragender für eine 
trqphische Störung, analog dem häufigen Zurückbleiben der kontralateralen Ex¬ 
tremitäten bei alten Hirnherden; es liegt auch wie in anderen Fällen eine 
Störung des zentralen Bewegungsmechanismus vor, sie äußert sich hier aber 
nioht als Parese, sondern als Intentionstremor. 

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S36 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


Diskussion: Prof. Redlich fragt, wie sich die Reflexe rechterseits ver¬ 
halten, wie der Typus der Anfälle war und ob Sprachstörung vorliege. Man 
könnte nämlich vielleicht die Linkshändigkeit des Pat. als Art rudimentärer ce¬ 
rebraler Hemiplegie auffassen. 

Infeld bemerkt, daß er viele Einzelheiten nicht erwähnt habe, z. B. 
ergibt die Untersuchung der Seh- und Hörfunktion kleiue Unterschiede zu Un¬ 
gunsten der rechten Seite. Die Reflexe verhalten sich rechts und links gleich. 
Die Sprache ist nicht gestört. Was die epileptischen Anfälle betrifft, so wäre 
auf sieumso eher zuröokzukommen, als auch Bischoffs Fälle solche aufweisen; 
im vorliegenden Falle aber sind sie einerseits sehr spät aufgetreten, anderseits 
beginnen sie meistens mit einer Neigung oder Drehung der linken Körperb&lfte, 
so daß ein direkter Zusammenhang der Anfälle mit der Grundkrankheit zwar 
möglich, aber nicht ohneweiters anzunehmen ist. Trotzdem hat Vortragender 
prinzipiell dieselbe Auffassung wie Redlich; daß es hier nicht zu Parese, 
sondern zum Intentionstremor gekommen ist, steht, wie Infeld annehmen möchte, 
damit in Beziehung, daß nicht die Pyramidenbahn hauptsächlich in Mitleiden¬ 
schaft gezogen sei, sondern wesentlich eine Funktionsstörung im Bereiche der 
Haubenbahnen zum Ausdruck gelange. 

Dr. A. SohüIler berichtet Aber eine halbseitige Lähmung bei einem 
3jährigen Kinde, das seit längerer Zeit auf der Abteilung des Herrn Dozenten 
Zappert in Beobachtung steht.'Nach Angabe der Mutter bestehe die Halbseiten¬ 
lähmung seit der Geburt; sie habe in der Schwangerschaft ein Trauma gegen 
den Unterleib erlitten. Mit Rücksicht auf das Fehlen eines anderweitigen ätio¬ 
logischen Momentes sei die Annahme, daß die Hemiplegie intrauterin erworben 
wurde, plausibel, umsomehr als die linke vordere Sohädelhälfte in toto kleiner 
ist, als die rechte. 

3. Reg.-Arzt Dr. Mattauschek: Meine Herren! Ich"erlaube mir mit Be¬ 
zug auf den Weiterverlauf des Falles von Simulation einer Geistesstörung, den 
ich die Ehre hatte in der Sitzung vom 10. März 1. J. vorzugteilen, mit einigen 
Worten zu berichten. 

Sie werden sich erinnern, daß es sich um einen Mann gehandelt hat, der 
nach Verübung und Geständnis einer Reihe krimineller Handlungen in der Un¬ 
tersuchungshaft psychische und somatische Störungen zu bieten anflng und nach 
mehr als einjährigem Bestände der Erscheinungen dem Garnisonsspitale Nr. 1 in 
Wien zur Begutachtung übergeben worden war. Und zwar fand sich hei ihm 
das Symptom des Daneben- oder Vorbeiredens, vergesellschaftet mit Stereo¬ 
typien und negativistischen Zügen, außerdem aber Zeichen von Hysterie (totale 
Anästhesie für taktile, schmerzhafte, thermische Reize, Zuckungen im Bereiche 
der Stirnmuskulatur, Klonismen der rechten Hand, sowie Steifheit des rechten 
Beines beim Gehen). Der Fall wurde als Simnlation einer Geistesstörung bei 
Hysterie angesprochen, die Frage bezüglich der Straftauglichkeit und mitbestim- 
menden Einflusses der Neurose auf das psychische Verhalten unbeantwortet gelassen. 

Nachdem schon während der Beobachtung bei dem Manne eine starke 
Empfindlichkeit für den faradisohen Pinsel konstatiert worden war, und die 
Weitervornahme dieser Behandlung nur deshalb unterbrochen wurde, um das 
Zustandsbild vor der Demonstration nicht zu ändern, wurde nach derselben 
systematisch mit der Faradisation begonnen. 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie and Neurologie in Wien. 337 

Dieser Behandlung leistete er nur kurze Zeit noch Widerstand, um dann 
im Verlaufe einiger Tage ein vollkommen geordnetes klares Verhalten zu bieten. 
Er gestand die Simulation der geistigen Störung, motivierte sie damit, daß er 
geglaubt habe, seiner Bestrafung auszuweiehen oder dieselbe wenigstens zu ver¬ 
mindern, bekundete eine gute Erinnerung an die abgelaufenen Ereignisse und an 
seine Delikte. Auch die somatischen Störungen verloren sich, doch blieb die 
Anästhesie des ganzen Körpers dauernd bestehen. 

Das Gutachten wurde dahin abgegeben, daß der Mann Geistesstörung 
simuliert hat, für seine Delikte vollkommen zurechnungsfähig ist, daß jedoch fär 
seine nach dem August 1902 verübten strafbaren Handlungen die damals bereits 
manifeste Hysterie als Milderungsgrund in Betracht zu ziehen wäre. Am 
17. April 1. J. wurde er dem Garnisonsarreste in Olmütz übergeben. Hervor¬ 
heben möohte ich nun, daß im vorliegenden Falle das feine Unterscheidungs¬ 
merkmal zwischen dem Danebenreden des Hysterikers einerseits und des Kata- 
tonikers anderseits in der verschiedenen Promptheit der falschen Antwort, wie 
Westphal angab und worauf auch Dr. Raimann gelegentlich der Demon¬ 
stration des Falles verwies, im Stiche ließ, indem der Vorgestellte mit einer 
verblüffenden Raschheit seine falschen Antworten vorbrachte, trotzdem er kein 
Katatoniker, sondern ein überwiesener Simulant ist. 

4. Dr. Erwin Stransky: Zur Kenntnis gewisser Angstpsycho sen. 
Im Anschlüsse an einige klinische Beobachtungen, die ein ziemlich fließendes 
Übergehen der physiologischen Angst bei organischen Herzaffektionen in die 
pathologische Angst der Angstmelancholie verfolgen ließen, entwickelt der Vor¬ 
tragende eine bisher nur in einem Aufsatze J. Fischers gewürdigte Erklärungs¬ 
weise des Zusammenhanges von Herzaffektionen mit Angstpsychosen. Durch die 
kardiale Störung wird ein abnormer Reizzustand gesetzt im Bereich der von der 
Herzgegend zentripetalwärts leitenden sensiblen Nervenbahnen, der sich in der 
bei diesen Kranken so häufigen Empfindung der sogenannten „präkordialen 
Angst” ausdrückt Mit dieser Empfindungsqualität verbindet sich nun erfahrungs¬ 
gemäß schon unter physiologischen Verhältnissen sehr leicht die korrespon¬ 
dierende Affektlage und mit dieser wieder ein entsprechender Vorstellungsinhalt 
(Erklärungsidee). Bei entsprechender psychopathischer Prädisposition 
nehmen diese Erklärungsideen wahnhaften Charakter an, womit Zustands¬ 
bilder gegeben sind, welche in das klinische Bild der Angstmelancholie ressor- 
tieren. Der Vortragende verwahrt sich dagegen, als ob er etwa ein 
absolutes ätiologisches Verhältnis zwischen Herzaffektionen und 
Angstpsychosen, speziell der Angstmelancholie annehmen wolle. 
Nur aus dem Umstande, als eine Vergleichung der von ihm im Verlaufe der 
letzten zwei Jahre gesehenen Melancholiefälle mit dem übrigen psychiatrischen 
Kranken material ein ungleich größeres Prozentverhältnis von bereits früher be¬ 
standenen Herzaffektionen für die Melancholie ergeben hat, nämlich 4672% hier» 
gegen 15 bis 18% dort, ist der Vortragende zu der Annahme geneigt, daß sich 
ein derartiges formbestimmendes Verhältnis zwischen Herzafifektion und 
gewissen Angstmelancholien vielleicht nicht so selten wird konstatieren lassen. 

Zum Schlüsse weist der Vortragende noch auf die Möglichkeit hin, in 
derartigen Fällen die Angstparoxysmen statt symptomatisch mit Opium mehr 
ätiologisch, also mit Cardiacis zu bekämpfen. So hat er in einem Falle von der 


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Darreichung von Tinct. Strophanti gute Wirkungen gesehen. (Ausführliche Pu¬ 
blikation in der Monatsehrift f. Psyeh. u. Neur.) 

Diskussion: Dr. £. Bai mann erinnert daran, daß die tatsächlichen 
Grundlagen des eben gehörten Vortrages recht bekannt sind, so sagt z. B. 
Wernicke an einer von Dr. Stransky nicht zitierten Stelle, daß symptomatisch 
die Angstpsychose nicht selten bei Herzfehlern mit gestörter Kompensation vor¬ 
komme und in ihrem zeitlichen Ablaufe an diese Bedingung gebunden sei. 

Daß geistesgesunde Herzkranke gelegentlich an Angstgefühlen leiden, 
bedarf wohl keiner Erklärung; der Lufthunger und die Oppressionsgefühle des 
inkompensierten Vitiums führen ganz physiologisch, wie Baimann sich aus- 
drücken möchte, zu Angst. Viel wunderbarer und eigentlich eiaer Erklärung 
bedürftig scheint es, daß auch bei schwerer Kreislaufstörung von Angst manch¬ 
mal gar nichts wahrzunehmen ist. Bai mann erinnert sich mehrerer solcher 
Fälle. Genau so wie Geistesgesunde verhalten sich nun auch Geisteskranke. 
Es gibt Psychosen mit schwerer Herzinsuffizienz, die ganz vergnügt in die Welt 
blicken; anderseits beobachten wir ängstliche und ängstlich delirante Zustände. 
Doch darum handelt es sich ja nicht. Dr. Stransky bringt zwei Kranken¬ 
geschichten von Melancholikern mit Selbstanklagen, Versündigungsideen und 
Angst. Es ist in keiner Weise ersichtlich, warum diese Krankheitsbilder mit 
dem Vitium causal Zusammenhängen sollen, Dr. Stransky versucht einen sta¬ 
tistischen Beweis, er teilt mit, daß er unter 81 Melancholien des Bückbildungs- 
alters 14mal organische Herzstörungen, Vitium oder Atherom fand. Ja, wen soll 
das wundern? Wir treffen Vitien, wie schon gesagt, bei allen Psychosen;* bei 
Melancholikern häufiger, aber nur darum, weil die Melanoholie gern an akuten 
Gelenksrheumatismus anschließt, weil sie zu der Zeit auftritt oder rezidiviert, 
wo die arteriosklerotischen Kreislaufstörungen beginnen. In diesem Alter siud 
alle Fälle Dr. Stranskys. 

Wir finden Herzfehler noch bei einer anderen Gruppe Geisteskranker 
etwas häufiger, bei Paralytikern, als Teilersoheinung des Atheroms der Aorta. 
Es ist nicht bekannt, daß darum jemand die Paralyse auf das Vitium be¬ 
ziehen würde. 

Aus den zwei Krankengeschichten, welche Dr. Stransky hier mitteilt, 
ersieht man übrigens nicht einmal einen zeitlichen Zusammenhang. Das Vitium 
ist da und dauert an, die Melancholie kommt und vergeht Einen Fall will er 
aber durch Strophantus günstig beeinflußt haben. Bai mann wäre in der Lage, 
demgegeuüber eine ganze Beihe von Pat. namhaft zu machen, wo eine schwere 
Angst auch ohne Therapie allmählich abklang oder plötzlich verschwand. 

Schließlich frägt Bai mann, wie es sich mit dem Blutdruck in diesen 
Fällen verhält. 

Direktor Dr. Schloß: Ich möchte im Anschluß an den Vortrag des 
Herrn Kollegen Stransky nur in aller Kürze auf die Arbeit von Londe ver¬ 
weisen, die dieser im Vorjahre in der Bevue de medecine veröffentlicht hat und 
die über das Angstgefühl handelt. Londe definierte dieses in Übereinstimmung 
mit Littrö als ein Gefühl von Beklemmung im Epigastrium, begleitet von hoch¬ 
gradiger Atemnot und exzessiver Traurigkeit Er fand diesen psychischen Affekt 
in häafigen Fällen bei organischen Erkrankungen, speziell solchen des Unter¬ 
leibes (Nieren, Leber, Magen, Darm, Peritoneum). Londe wollte als Bedingung 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 339 

für die Entstehung des Angstaffektes die Übertragung von Störungen des psy¬ 
chischen oder organischen Lebens auf die Medulla oblongata erkannt haben. 
Da die das Angstgefühl begleitenden körperlichen Symptome zum Teil bulbärer 
Natur sind, erscheint mir diese Hypothese viel acceptabler, als jene, welche die 
Entstehung des Angstgefühles auf Blutdruokschwankungen zurüokführt. Für un¬ 
sere Praxis schöpfen wir aus den Fällen Londes und aus jenen Stranskys 
die Lehre, daß in jedem einschlägigen Falle die Erforschung des Ausgangs¬ 
punktes des Angstgefühles und die Entscheidung, ob nur eine funktionelle 
Störung oder eine organische Veränderung diesem zugrunde liegt, eine nicht 
nur in diagnostischer, sondern in therapeutischer Beziehung höchst wichtige 
Sache ist. 

Dozent Dr. Sternberg: Es gibt Fälle mit organischen Herzaffektionen, 
wobei die Leute über Angst und Herzklopfen klagen, diese Zustände aber nicht 
Folge der organischen Herzaffektion, sondern Neurosen sind, und schwinden, 
sobald man sich um diese Neurose kümmert. Redner teilt zwei diesbezügliche 
Fälle ausführlich mit. Man darf natürlich auch nicht vergessen, daß psychische 
Momente umgekehrt Störungen der Herzinnervation (kolossale Arrhythmien etc.) 
hervorrufen können. Sternberg bringt auch dafür ein Beispiel aus seiner per¬ 
sönlichen Erfahrung. Man müsse also sehr vorsichtig sein in der Beantwortung 
der Frage, ob Zustände von Herzklopfen etc. primär kardial oder cerebral aus¬ 
gelöst sind. 

Dr. Federn beantwortet die letzte Anfrage von Dr. Rai mann. 

ln seinem Schlußworte erklärt Dr. Stransky, daß er sich doch gerade 
auf Wer nicke bezogen habe, daß er die Stellen, von deren Nichtzitierung 
Rai mann gesprochen, selbstverständlich sehr gut kenne, aber, als mit dem en¬ 
geren Thema seines Vortrages in keiner unmittelbaren Beziehung stehend, nicht 
ausdrücklich zitiert habe. Zu Direktor Schloß bemerkt er, daß er gerade die 
Arbeit von Londe in seinem Vortrage erwähnt habe. Bezüglich der Ätiologie 
und Therapie glaube er doch selber in seinem Vortrage alle etwa weiter¬ 
gehenden Schlüsse von sich gewiesen zu haben. Es liege überhaupt seitens 
Raimanns wohl eine totale mißverständliche Auffassung seines Vor¬ 
trages vor. 

Sitzung vom 10. November 1903. 

Vorsitzender: Prof. Obersteiner. 

Schriftführer: Dr. v. Sölder. 

1. Dr. A. Fuchs demonstriert einen bisher nicht beschriebenen Reflex 
im Gesichte, auf welchen der Vortragende von Herrn Professor v. Wagner auf¬ 
merksam gemacht wurde. Übt man bei leichtem Lidschluß einen geringen Druck 
auf den Bulbus aus, so kommt es zu einer Zuckung in den musc. zygomatici 
und quadratus labii sup. Bei 100 Untersuchten wurde der Reflex in fast 50% 
mitunter doppelseitig nachgewiesen. Fuchs behält sich vor, das Verhalten des 
Reflexes in pathologischen Fällen weiter zu verfolgen, fand eine Steigerung 
desselben in zwei Fällen von Tetanie und weist auf die Verwendbarkeit des 
Reflexes für die Funktionsprüfung des VII. bei Kindern und benommenen 
Kranken hin. (S. Neurol. Zbl., 1903.) 


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340 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


2. Dr. A. Fuchs demonstriert eine Reihe von mikroskopischen Präpa¬ 
raten, die Histologie der Dura mater betreffend (ausführlich in „Arbeiten aus 
dem Institute Obersteiner” 1903). 

3. Dr. Artnr Schüller spricht über die Restitutionsfähigkeit der hemi- 
plegischen Bewegungsstörungen bei Menschen und Tieren. Hier wie dort können 
die verschieden höheren motorischen Zentren stellvertretend für einander ein- 
setzen, derart, daß ein Teil der motorischen Störungen zurückgehen kann. Die 
Wiederkehr der völligen Bewegungsfreiheit ist beim Menschen beschränkt, zu¬ 
nächst durch das Auftreten der sogenannten hemiplegischen Reizerscheinungen 
(Spasmen, Tremor, Chorea, Athetose), ferner durch das Bestehen unlösbarer Mit¬ 
bewegungen (außer den bereits bekannten erwähnt der Vortragende die Kom¬ 
bination, der Adduktion in der Hüfte mit Abduktion und Plantarflexion im 
Fußgelenk, sowie die Kombination der Abduktion in der Hüfte mit Abduktion 
und Dorsalflexion im Fußgelenk), dazu kommt endlich, daß beim Menschen wie 
bei den Tieren die verschiedenen Bewegungen in den höheren Zentren nicht 
gleichmäßig vertreten sind, daß daher beim Ausfall eines dieser Zentren, die 
übrigen den Ersatz wohl theilweise, aber nicht vollkommen leisten können. 

Die Ad- und Abduktionsbewegung in der Hüfte beim Flankengang glaubt 
der Vortragende als eine Bewegungsform bezeichnen zu dürfen, welche sich zum 
vergleichenden Studium der Ausfalls- und Restitutionsersoheinungen nach Zer¬ 
störung der motorischen Zentren und Bahnen besonders eignet Über die dies¬ 
bezüglichen Beobachtungen an Hunden hat der Vortragende bereits früher 
berichtet Er ergänzt diese Mitteilung durch Anführung einiger Beobachtungen 
an Affen. 

I. Nach Exstirpation der Hüftregion einer Hemisphäre restituieren sich 
die Seitwärtsbewegungen in der zugehörigen Hüfte später als die übrigen Be¬ 
wegungen der Hüfte, die Adduktion später als die Abduktion. Der Flankengang 
erfolgte nach der Seite des gelähmten Beines hin besser als nach der entgegen¬ 
gesetzten. 

II. Führt man einige Zeit nach der Exstirpation einer Hüftregion die der an¬ 
deren aus, dann sind die Störungen der Seitwärtsbewegungen des nun gelähmten 
Beines besonders markant gegenüber der relativ guten Restitution der Seitwärts¬ 
bewegungen des früher gelähmten Beines. Doch bessert sich die Störung an 
beiden Beinen soweit, daß schließlich der Flankengang beiderseits ausführbar 
ist, allerdings besser nach der Seite des zuerst gelähmten Beines. 

III. Fügt man zur Exstirpation der beiderseitigen Hüftregionen einige 
Wochen später die Durchschneidung des rechten Seitenstranges einer Rücken- 
marksbälfte in der Höhe des unteren Brustmarkes hinzu, dann restituieren sich die 
Seitwärtsbewegungen des zugehörigen Beines sehr mangelhaft, derart, daß der 
Flankengang nach der Seite des anderen Beines besser ausführbar ist 

Durehschneidet man schließlich den Seitenstrang der zweiten Rückenmarks¬ 
hälfte in der Höhe des unteren Brustmarkes, dann fallen die Seitwärtsbewe¬ 
gungen beider Beine aus, derart, daß der Flankengang nach beiden Seiten nicht 
mehr ausführbar ist. 

Schüller demonstriert zwei Affen, an deren einem die vier beschriebenen 
Operationen vorgenommen wurden. Dieser Affe kann den Flankengang auf den 
Hinterbeinen nicht ausführen, während er die übrigen Gangbewegungen relativ 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 341 


gut macht. Der zweite Affe, an welchem drei der oben genannten Operationen 
ausgeführt wurden (Exstirpation beider Hfiftregionen und Durchschneidung des 
linken Seitenstranges) kann den Flankengang nach rechts hin gut, nach links 
hin fast nicht mehr ausführen. 

An diesem Affen wurde (als vierte Operation) die Zerstörung des linken 
Schweifkernes versucht — nach der vom Vortragenden an Hunden geübten Me¬ 
thode. Eine Änderung der Verhältnisse der Seitw&rtsbewegung wurde durch diese 
Operation nicht hervorgerufen. 

4. Dr. E. laimann demonstriert mikroskopische Präparate zur Frage 
der autogenen Nervenregeneration. 

Diese wurde schon 1859 von Philipeaux und Vulpian behauptet, 
später aber wieder zurflckgenommen. Im Jahre 1901 berichtete Bet he, daß 
er bei jungen Tieren vollständige morphologische upd funktionelle Rege¬ 
neration in peripheren Nervenstümpfen gefunden habe, ganz unabhängig von 
einem trophischen Zentrum. Er stieß auf Unglauben und Widerspruch. Münster 
speziell begründete seine Einwände durch Präparate, die ein Hineinwachsen be¬ 
nachbarter markhaltiger Faäern in den degenerierten Stumpf bewiesen. Rai mann 
war es zunächst nicht gelungen, bei seinen Versuchen eine Wiedervereinigung 
von peripherem und zentralem Nerventeil zu verhindern, bis v. Wagner den 
Vorschlag machte, den Tieren das unterste Rückenmarksende zu exstirpieren 
und auf diese Weise am sichersten jeden zentralen Einfluß auf die zugrunde 
gegangenen Nerven, speziell den Ischiadicus, auszuschalten. Es gelang, einen 
Hund, dem am 1. Tage seines Lebens das Rückenmark samt zugehörigen Spi¬ 
nalganglien vom zweiten Lumbalsegmente abwärts exstirpiert worden war, durch 
98 Tage am Leben zu erhalten. Bei der anatomischen Untersuchung dieses 
Tieres fand Rai mann beiderseits einen feinen weißen Ischiadicus, der sich 
zentralwärts verlor, ohne daß irgendwelche Verbindungen gegen den noch er¬ 
haltenen Rückenmarksstumpf hin darstellbar gewesen wären. Rai mann demon¬ 
striert Osmiumpräparate, welche im ganzen Verlaufe des Nerven zahlreiche, sogar 
auffallend schöne Markscheiden zeigen. Nachdem Parallelversuche lehrten, daß 
bei neugeborenen Tieren jeder Art Nervenverletzung Wallersehe Degenerationen 
in der Peripherie auftritt, die schon nach 2 bis 8 Wochen zu vollständigem 
Untergang aller Markscheiden führt, muß angenommen werden, daß bei dem in 
Rede stehenden Tiere nach Ablauf dieses Prozesses wieder neue Markscheiden 
gebildet worden sind. Nirgends ist auch eine Degenerationsscholle auffindbar; 
über das Vorhandensein von Achsen Zylindern kann vorläufig noch nichts gesagt 
werden; dieselben färben sich nicht, vielleicht sind sie auch wieder zugrunde 
gegangen. (Bethe.) 

Die autogene Regeneration von Nerven, mindestens von Markscheiden, 
wäre also erwiesen. Was folgt daraus? Wohl nur eine Stütze für jene Theorie, 
welche die Nerven im Embryo an Ort und Stelle aus Zellreihen entstehen läßt. 
Beim neugeborenen Tiere sind die Zellen quasi noch im Embryonalzustand. Und 
sehen wir auf niedrigerer Entwicklungsstufe im Tierreiche, daß ganze Gewebs- 
komplexe sich wiederersetzen, so erscheint es bei der außerordentlichen Prolife¬ 
rationsenergie jugendlicher Nerven kaum wunderbar, daß die Zellensäulen der 
Schwan sehen Scheide noch einmal eine Markröhre erzeugen. Nachdem aber 
diese vom Zentrum isolierten Fasern nur bei ganz jungen Tieren sich entwickeln, 


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342 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


nachdem sie weiters ein sehr vergängliches Leben führen, sich umgehend wieder 
rückbilden, wird gerade hiedurch die Wichtigkeit des zentralen Neuronanteils, 
d. h. das, was man bisher trophischen Einfluß der Ganglienzellen nannte, eher 
bestätigt, denn widerlegt. 

In der Diskussion machte Prof. Obersteiner auf die Ähnlichkeit der 
jBilder Kaiman ns mit denen Bethes aufmerksam. Han muß tatsächlich an- 
nehmen, daß sich die Nervenfasern an Ort und Stelle bilden; der Einfluß der 
trophischen Zentren wird dadurch nicht geleugnet, da die autogenerierten Nerven 
nicht von dauerndem Bestände sind. Obersteiner hebt die Bedeutung des 
Experimentes v. Wagners hervor. 

5. Prof. H. Obersteiner: Über Pigment und Fett in den Geweben des 
Zentralnervensystems. Daß das hellgelbe Pigment in den Nervenzellen eine fett¬ 
artige Substanz ist und mit dem Alter an Menge zunimmt, ist seit langem 
ebensogut bekannt, als der Umstand, daß es von dem in manchen Nervenzellen 
konstant vorhandenen dunkelbraunen Pigment wesentlich verschieden ist. 

Nach ihrem Gehalt an hellem Pigment lassen sich im Nervensystem 
mehrere Typen von Nervenzellen unterscheiden: 1. Lipophobe Zellen, die zeit¬ 
lebens ganz oder fast ganz frei von Fettpigment bleiben (z. B. Purkinjesehe 
Zellen, die des Edinger Westphalschen Kernes); 2. lipophile Zellen, die 
schon im mittleren Lebensalter eine beträchtliche Menge von Fettpigment ent¬ 
halten; hier lassen sich zwei Unterarten unterscheiden: a) Zellen, in denen das 
Fettpigment zu einem dichten Häufchen zusammengedräogt erscheint, während 
der Rest des Zellprotoplasmas freibleibt (z. B. Pyramidenzellen, Vorderhorn¬ 
zellen), b) Zellen, in denen das Fett mehr gleichmäßig und weniger dicht durch 
den ganzen Zellenkörper verteilt ist (z. B. Clarkesehe Säulen). Es ist schwierig, 
eine gewiß bestehende Parallele zwischen diesen drei Typen und der differenten 
Funktion der Zellen herzustellen; das Pigment ist nicht pathologisch, sondern 
wahrscheinlich ein Abfallsprodukt des Stoffwechsels; die Möglichkeit der Fett¬ 
bildung aus Eiweißkörpern wird ja von den meisten anerkannt Das Material 
hiezu wird wohl nicht von den leitenden Fibrillen, vielleicht auch nicht von 
der Tigroidsubstanz, sondern von der eigentlichen Interfibrillärsubstanz der 
Zelle geliefert. 

Unter pathologischen Verhältnissen kann die Menge der Fettpigmente zu- 
oder abnebmen. Besonders ist auf einen besonderen krankhaften Vorgang hinzu¬ 
weisen, wobei die feinen Fetttröpfchen zu großen Fetttropfen zusammenfließen 
(bei der Atrophie mancher Zellen). 

Auch die Gliazellen enthalten bekanntlich im höheren Alter solches Fett¬ 
pigment, aber auch nicht an allen Stellen in gleicher Menge; bevorzugt ist die 
gliöse Rindenschicht des Cortex, ferner das Kleinhirnmark und jene Gliazellen, 
welche in der Gegend der Purk inj eschen Zellen liegen. 

Die Epithelzellen des Plexus chorioideus und des Ependyms enthalten 
durchwegs nie Fetttröpfchen. 

Auffallend ist die geringe Menge von schwarzen Körnchen oder Schollen 
in den Nervenfasern mancher alter Personen. Das Fett an den Gefäß Windungen 
ist ja ebenfalls seit langer Zeit genau bekannt. 

6. Zu Vereinsmitgliedern werden gewählt die Herren Dr. Gustav 
Alexander, Regimentsarzt Dr. Richard Bernert, Dr. Max Dobrschansky, 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 343 

Dr. Guido J&novitz, Dr. Gustav Puchberger, Dr. Robert Rosenthal, Dr. 
Wilhelm Schlesinger, Dr. Rudolf Tertsch, Liniensehiffsarzt Dr. Wladimir 
Werbeneo, Regimentsarzt Dr. Josef Zini. 

Sitzung vom 15. Dezember 1903. 

Vorsitzender: Prof. Dr. Obersteiner. 

Schriftführer: Dr. Pilcz. 

1. Prof. E. Redlich macht an der Hand von Demonstrationen einige 
Bemerkungen über den Babinskyschen Zehenreflez. Er hält es für vorteilhaft, 
den normalen Zehenreflex als plantaren Babinsky, das Babinskysche Phänomen 
im eigentlichen Sinne als dorsalen Babinsky zu bezeichen; negativ sind jene 
Fälle, wo Zehenbewegungen auf Fußsohlenreiz ganz fehlen. Der plantare 
Babinsky dürfte mit der beim Gange notwendigen Abwicklung des Fußes Zu¬ 
sammenhängen. 

Die Dorsalflexion der großen Zehe bei Fußsohlenreiz ist ein Summations¬ 
reflex und läßt sich in vorteilhafter Weise durch wiederholte leichte Reize an 
bestimmten Stellen auflösen. Solche Partien finden sich am äußeren Fußsohlen¬ 
rand, unter Umständen auch an anderen Stellen der Fußsohle, am Fußrücken, 
an der Innenseite des Unterschenkels (Oppen he im scher Reflex), an der Außen¬ 
seite des Unterschenkels. Innerhalb der genannten Partien findet sich meist ein 
Optimum der Auflösung; diese Optima werden besprochen. Manchmal überdauert 
die Dorsalflexion den Reiz, wie auch spontan eine solche permanente Dorsal¬ 
flexion der großen Zehe aufcreten kann. Gelegentlich tritt gekreuzter Ba¬ 
binsky auf. s 

Redlich hält mit geringen Ausnahmen den dorsalen Babinsky charakte¬ 
ristisch für eine Läsion der Pyramidenbahn; einmal sah er übrigens bei cere¬ 
braler Hemiplegie isolierte träge Plantarflexion der großen Zehe. Die bei Neu¬ 
geborenen auftretenden Bewegungen der Zehen und des Fußes hält er nicht für 
identisch mit dem eigentlichen Babinskyschen Zehenphänomen. Wichtig für das 
Verständnis des dorsalen Babinsky ist es, daß normal und auch bei der cere¬ 
bralen Hemiplegie die Plantarflexionen des Fußes und der Zehen für die Will- 
kürbewegungen überwiegen, anderseits bei der Prüfung auf das Strümpellsohe 
Tibialisphänomen nicht selten mit der Kontraktion des M. tibialis eine solche 
des M. extensor hallucis, mitunter sogar diese isoliert auftritt. Das heißt also, 
daß durch die Läsion der Pyramiden das Muskelgleichgewicht gestört wird, daß 
eine Disproportion der Beweglichkeit der einzelnen Muskeln für die willkürlichen 
Bewegungen einerseits, die Reflexe und Mitbewegungen anderseits sich geltend 
macht Das erscheint bei der heutigen Auffassung der Pyramidenbahn nicht un¬ 
verständlich. Der normale plantare Babinsky verschwindet, weil die Hautreflexe 
bei Pyramidenläsion überhaupt abgeschwächt sind oder verloren gehen. Redlich 
erwähnt, daß von der Hohlhand etwas dem Babinsky Analoges sich nicht er¬ 
zeugen läßt. Hautreflexe von der Hohlhand wären für die Funktion der Hand 
störend und darum gehen sie, obwohl ursprünglich vorhandeu, verloren. 

Diskussion: Dr. Fuchs fragt, ob nach den Erfahrungen von Redlich 
das Babinskysche Phänomen immer pathologische Bedeutung habe. Es scheint 
ihm, daß unter 100 oder 120 Fällen einmal ein absolut normales Individuum mit 
typischem Babinskysymptom sich finde. 


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344 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


Prof. Redlich antwortet, er habe ohnehin erklärt, daß nach Angabe ver¬ 
läßlicher Autoren auch bei Normalen das fragliche Phänomen beobachtet wurde. 
Er selbst habe allerdings dergleichen nicht gesehen. In einem Falle zweifelloser 
cerebraler Hemiplegie habe Redlich übrigens sogar Plantarilexion des Hallux 
beobachtet. 

Dr. v. Halb an erwähnt eines diagnostisch unklaren Falles, bei welchem 
außer beiderseitiger Abblassung der Papille und Andeutung von Romberg beider¬ 
seits typischer Babinsky vorlag. Im übrigen Status nervös us nichts Patholo¬ 
gisches. 

Dr. Neurath: Bei einer großen Zahl von Neugeborenen kann ein dem 
Babinskysehen ähnliches Symptom an der Hand beobachtet werden, nämlich 
derart, daß beim Streichen vom Thenar zum Antithenar die geballte Faust ge¬ 
öffnet wird; manchmal kommt es sogar zur Dorsalflexion des Daumens. 

Dr. Schüller: Die Beobachtung Redliche, daß öfters neben der auf 
leichtes Streichen der Sohlenhaut hin auftretenden Dorsalflexion durch einen 
intensiveren Druck gegen die Sohle Volarflexion der Qroßzehe erhalten werden 
kann, findet ihr Analogon in den jüngst von Sherrington publizierten, ex¬ 
perimentell-physiologischen Beobachtungen „über die qualitativen Differenzen 
des Hautreizes entsprechenden qualitativen Differenzen der spinalen Reflexe". 
Ähnliche Verhältnisse scheinen auch bezüglich der Bauchreflexe beim Menschen 
obzuwalten. Durch Beklopfen des Tuberculum pubicum wird normalerweise 
Kontraktion des unteren Anteiles der Bauchwand (unter Beteiligung des Reotus 
abdominis) und der Oberschenkelbeuger ausgelöst, also ein vom gewöhnlichen 
Abdominalreflex differenter Reflex. Daß es sich bei diesem „pubischen” Reflex 
wirklich um einen Hautreflex handelt, geht schon daraus hervor, daß bei Hemi¬ 
plegien der Reflex auf der gelähmten Seite herabgesetzt ist oder 
fehlt. Oppenheims jüngst andeutungsweise erwähnter „Schamfugenreflex 1 ' 
dürfte wohl zu dem oben beschriebenen „pubischen” Reflex in naher Beziehung 
stehen. 

Prof. Obersteiner erinnert daran, daß beispielsweise auch bei völlig 
Normalen ein Fehlen des P. S. R. beobachtet wurde. In einem Falle eines 
comatö8en Zustandes, den Obersteiner sah, bestand eine sehr deutliche Dorsal¬ 
flexion der großen Zehe. Später stellte sich heraus, daß absolut keine organische 
Affektion, sondern nur eine funktionelle Störung Vorgelegen batte. 

2. Dr. Tertsch demonstriert einen Fall von beiderseitigem pul¬ 
sierenden Exophthalmus nach Exstirpation des Ganglion Gasseri. (Das Referat 
über den Fall findet sich in dem Sitzungsberichte der Wiener Ophthalmologischen 
Gesellschaft vom 9. Dezember 1903.) 

3. Dr. A. Fuchs demonstriert Präparate eines Falles von sogenanntem 
idiopatiscbem chronischen Hydrocephalus internus bei einem er¬ 
wachsenen Individuum. Eine ungefähr 30jährige Frau trat im Beginne des 
Monates Dezember 1902 in ambulatorische Behandlung der Klinik. Sie klagte 
über heftige, seit mindestens 3 Jahren bestehende, paroxysmal sich steigernde 
Kopfschmerzen und über heftiges Ohrensausen. Sonst belanglose Anamnese. Die 
Untersuchung ergab bei der schwächlichen, abgemagerten Frau geringen beider¬ 
seitigen Exophthalmus, geringe Struma, mäßigen Fingertremor, Tachykardie. 
Beiderseitige hochgradige Stauungspapille, objektives, am ganzen Schädel, am 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 34& 


lautesten in der rechten Ohrgegend hörbares, pulsatorisches Kopfgeräusch; 
dasselbe sistiert durch Kompression der rechten Karotis. Hörschärfe rechts 4 tn, 
nach Kompression der rechten Karotis 8 *». Diagnose: Aneurysma endooraniale 
am cerebralen Ende des Can&lis carotious. 

Weitere Beobachtung bis Ende Juni 1902. Keine wesentliche Änderung 
bis zu dieser Zeit; damals Steigerung aller Beschwerden; heftiger Schwindel. 
Erbrechen; in den letzten Wochen bettlägerig, secessus insoii. Status praesens 
25. Juli 1902: Zwangslage nach rechts. Stauungspapille im Übergange zu Atrophie. 
Das Geräusch am Schädel, in der rechten Schläfegegend, auf Distanz von einigen 
Millimetern wahrnehmbar. Heftiger Schwindel bei jedem Lageweohsel. Wenige 
Stunden nach Aufnahme des Befundes plötzlicher Exitus. 

Bei der Obduktion keine Gefäßanomalie. kein Tumor. Mäßiger Hydro- 
oephalns internus (For. Magendie durchgängig). Mikroskopisch stellenweise 
geringe Infiltration der Meningen und Binde, stellenweise geringfügige Infiltration 
im Plex. v. IV. 

Fuchs sieht den Fall als idiopatischen, erworbenen Hydrocephalus in¬ 
ternus chronicus an und erwähnt die in nur geringer Anzahl vorhandenen Ana¬ 
loga in der Literatur. Das in dem vorliegenden Falle auffälligste Symptom, das 
objektive Kopfgeräusch, wurde in den bisher beschriebenen Fällen nicht kon¬ 
statiert, hingegen gebürt das Ohrensausen zu den konstanten Symptomen. 
Bezöglioh eines Erklärungsversuches für das Zustandekommen des Geräusches, 
näherer mikroskopischer Befunde etc. verweist Fuchs auf die ausführlichere 
Publikation dieses Falles (in den „Arbeiten aus dem neurologischen Institute 
des Prof. Obersteiner”, 1904). 

Diskussion: Dr. Hugo Frey: Die aus dem vorliegenden Falle geschöpfte 
Erfahrung, daß ein Hydrocephalus objektive und subjektive Obrgeräusche erzeugen 
kann, ist b eher in der otiatrischen Literatur ganz unbekannt gewesen. Daß auch 
in solchen Fällen das Kopfgeräusch vorwiegend als Ohrgeräusch au (tritt, kann 
man in zweierlei Weise erklären. Es kann dies entweder seinen Grund darin 
haben, daß dort, wo die Gefäßwände am Ausweichen verhindert sind, also da, 
wo die Karotiden durch den knöchernen Kanal der Pyramide verlaufen, eine 
stärkere Reibung des Blutstromes an ihnen stattfindet, oder aber in den Tat¬ 
sachen, auf denen die sogenannte „Abflnßtheorie des Schalles” von Mach beruht. 
Diese besagt unter anderem, daß der Sohalleitungsapparat des Mittelohres nicht 
nur befähigt ist, Schallsohwinguugen in der Richtung von außen nach innen, 
sondern auch in umgekehrter Richtung zu übeftragen und demgemäß auch im 
Schädel entstehende Geräusche nach außen abzuleiten. 

4. Prof. v. Fr an kl-Hoch wart demonstriert Schnittpräparate aus einem 
Tumor, der ihm von Herrn Dr. Jummopulo, Primararzt am griechischen 
Spitale St Choralambos zu Smyrna überschiokt wurde. Das Präparat entstammt 
einer 34jährigen schwachsinnigen Epileptica, die als 5jähriges Kind von einem 
Baume gefallen und seitdem rechtsseitig gelähmt war. Bei der Nekropsie erwies 
sich die linke Hemisphäre fast um die Hälfte kleiner als die rechte. Die Rinde 
erschien sklerotisch verdickt. In der linken Hemisphäre erscheint mir der größte 
Teil der weißen Substanz des Centrum ovale von einer mit Flüssigkeit gefüllten 
Zyste eingenommen. In der noch erhaltenen weißen Substanz des linken Stirn¬ 
lappens ist ein bohneogroßer, knochenharter Tumor eingebettet; ähnliche Tumoren 


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346 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


findet man im linken Vorderhorn und in beiden Streifenhfigeln. Die histologische 
Untersuchung ergab an den mit Salpetersäure entkalkten Stücken achtes 
Knochengewebe. (Der Fall wird von Herrn Dr. Jummopuloin extenso publisiert 
werden.) 

Diskussion: Dr. Hirsch! erinnert an das Vorkommen von Knochen« 
bildungen in den Hirnhäuten bei Epileptikern. 

Prof. Obersteiner meint, daß die Knoebenplättchen wahrscheinlich in 
der Dura liegen; es sei dies ein bei Normalen gar nicht seltener Befund, 
namentlich in der Gegend des Falz. Allerdings kommt dergleichen bei Epilep¬ 
tikern häufiger vor. 

5. Dr. A. Schüller demonstriert in seinem und Dr. Robinsons Namen 
Radiogramme der Schädelbasis von halbierten und ganzen mazerierten 
Schädeln. (Die Radiogramme wurden im Röntgen-Laboratorium des k. k. All¬ 
gemeinen Krankenhauses unter der Leitung des Herrn Dr. G. Holzlneeht 
aufgenommen,) Man erkennt an den Platten nebst zahlreichen weniger bedeutungs¬ 
vollen Details vor allem die folgenden wichtigeren: Bei frontal durchleuchteten 
Schädeln in der vorderen Schädelgrube: Die Crista frontalis, das Dach 
der Orbila. die der Projektion der horizontalen Siebbeinplatte und des Planum 
8phenoida1e entsprechende Mittellinie. In der mittleren Schädelgrube: Die Pro¬ 
jektion der kleinen Keilbeinflfigel mit dem Processus clinoidei tut., das Profil 
der Sella turcica, die der Projektion des großen Keilbeinflügels als dem Boden 
der mittleren Schädelgrube entsprechende Schattengrenze; in der hinteren 
Schädelgrube die crista pyramidum, die dem wallartig erhobenen Rande des 
Hinterhauptloches entsprechende „hintere Basalleiste”, endlich die Protuberantia 
occipitalis interna und die crista occipitalis. 

Am sagittal durchleuchteten Schädel präsentieren sich die Alae minores 
in ihrer ganzen Breite; ferner sieht man die Grenzen der Fissura orbitalis 
super, und die Basis der hinteren Schädelgrube. 

Schüller weist fernerhin auf die Verwertbarkeit intracerebraler, unter 
Röntgendurchleuchtung vorgenommener Eingriffe für experimentell-physiologische 
Zwecke hin. Als Beispiel führt er eine gemeinsam mit Dr. Holzknecht vor- 
genommene Zerstörung des Schweifkernes beim Hunde an und beschreibt die 
dabei geübte Methode. 

Sitzung vom 12. Januar 1904. 

Vorsitzender: Prof. Dr. Obersteiner. 

Schriftführer: Dr. v. Sold er. 

1. Dr. Pötzl: Einiges zur Frage der Primordialdelirien. 

Vortragender bespricht zunächst einen Fall. Bei einem im Sinne Magnans 
als degeneriert zu bezeichnenden Individuum trat vor eiuem Jahre eine transi¬ 
torische Psychose auf — vom Charakter eines Traumzustandes — in der sich 
eine bestimmte Größenidee manifestierte; die Psychose schloß mit völliger Am¬ 
nesie ab. Nach etwa zwei Monaten begann chronische progressive Wahnbildung; 
erst allgemeine Beachtungs- nnd Verfolgungsideen, dann Stimmenhören; inter¬ 
kurrent, ekstatisch-visionäre Zustände, wiederholt auch transitorische Dämmer¬ 
zustände mit nachfolgender Amnesie; durch einige Monate zeigte sich intensive« 
Halluzinieren von Stimmen („Telephonieren”); Anfang Dezember v. J. schloß 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 347 

dieser seheinbare Dauerzustand mit einer deliranten Phase Tom Charakter eines 
Dämmerzustandes ab; die Sinnestäuschungen und das weitverzweigte Wahnsystem, 
das dem der originären Paranoia völlig glich, wurden korrigiert; unkorrigiert 
blieb mir die Größenidee, die während der ganzen Dauer der Beobachtung fast 
immer manifest war und stets der Kern der ganzen wahnhaften Erscheinungen 
zu sein schien; ihre Fassung war auch ganz unverändert geblieben. In diesem 
Stadium befindet sich Patient jetzt; er empfindet aber die Überwertigkeit der 
Größenidee als einen lästigen Zwang, will nicht mehr an sie denken, spricht von 
einem „Mußglauben’’. 

Neben dem eigenen Bericht des Pat. sprechen auch objektive anam¬ 
nestische Anhaltspunkte dafür, daß diese Größenidee in ihrer gegenwärtigen 
Form primär etwa zwei Jahre vor Ausbruch der manifesten Psychose im Pat. 
ohne gleichzeitige Bewußtseinstrübung entstand (bei der zufälligen Betrachtung 
eines Bildes), anfangs isoliert blieb, mithin ein Primordialdelier im Sinne 
Griesingers wäre. 

Hysterische Stigmata bestehen bei Pat.; die Intelligenz ist intakt und der 
Norm mindestens entsprechend; charakteristische Symptome, die für Dementia 
praecox sprechen konnten, fehlten durchaus. 

Der Vortragende begründet weiter, warum er den Fall als eine originäre 
Paranoia auf der Basis einer primären Wahnidee auffasse und erinnert daran, 
daß Wernicke auf die ursächliche Bedeutung der primären Wahnideen („Pri¬ 
mordialdelirien”) für die „originäre Verrücktheit’’ hingewiesen hat. Er führt an, daß 
er eine Reihe analoger Fälle beobachten konnte, in denen primäre Größonideen 
als Quelle einer chronischen progressiven Wahnbildung nacbgewiesen oder wahr¬ 
scheinlich gemacht werden konnten; sämtliche Fälle betrafen „Entartete” im 
Sinne Magnans; ihr Verlauf, bald mehr bis zu einem gewissen Ende progredient, 
dann aber stationär, bald mehr remittierend, bald dem Typus der „periodischen 
Paranoia” sich nähernd, zeigt unter anderen Abweichungen vom Verlauf der 
Paranoia in Stadien („Delire ohroniqne”) die Neigung zu ekstatischen Aus¬ 
nahmezuständen und einen eigentümlichen Traumglauben der Patienten; es fehlt 
die gleichbleibende Aufeinanderfolge der Stadien, wie Magnan sie für das 
„Dölire chronique” schilderte; von der letzteren glaubt der Vortragende sich 
durch ein Material zahlreicher Fälle überzeugt zu haben. 

Der Vortragende möchte die bezeichneten Fälle, in denen es auf Grund 
primärer Größenideen zu chronisch progressiver Wahnbildung kam, als eine be¬ 
sondere einheitliche Gruppe dem „Entartungsirresein” im Sinne Magnans unter¬ 
ordnen und den Begriff der „originären Paranoia” auf sie reduzieren, sie aber 
auch der Paranoia in Stadien („Delire chronique’*) scharf gegenüberstellen; be¬ 
züglich der letzteren stellt er sich auf den Standpunkt der von Magnan gege¬ 
benen Determinierung und läßt die Frage ihrer Abgrenzung von den „paranoiden 
Formen der Dementia praecox” unbesprochen; er betont ihre hypothetische Be¬ 
deutung als „erworbene Geisteskrankheit” und sieht darum den Hauptwert einer 
Abgrenzung der „originären” Formen von ihr in dem Gegensatz der „rein dege- 
nerativen” Formen des Irreseins zu dieser vielleicht „erworbenen” Psychose, 
deren Studium erst eine genaue Abgrenzung ihrer klinischen Einheit erfordern. 

Die primäre Wahnidee (Primordialdelir”) faßt der Vortragende als ein 
„psychisches Stigma” im Sinne Magnans auf und möchte sie der Zwang*- 


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348 Bericht des Vereines für Psychiatrie and Neurologie in Wien. 

Vorstellung" and der „aberwertigen Idee” als analoge Einheit angliedern. Von 
dieser Auffassung ausgehend, wendet sich Vortragender gegen die Behauptung, 
daß zur primären Wahnidee und zu den Formen „originärer” Verrücktheit ein 
ausgesprochener Schwachsinn gehöre, indem er darauf hinweist, daß nicht der 
Schwachsinn, sondern die Instabilität („Descquilibration”) es sei, die der intel¬ 
lektuelle Grundzug der Entarteten im Sinne Magnans sei. Die Abgrenzung 
yon der Dementia praecox sei durch den Mangel ihrer charakteristischen Symp¬ 
tome und durch den verschiedenen Verlauf gegeben. 

Der Vortragende erwähnt, daß er Fälle beobachtet habe, in denen primäre 
Wahnideen eine ganz vorübergehende Systematisierung erfuhren oder nur in tran¬ 
sitorischen Dämmerzuständen ihren Ausdruck fanden und nimmt für das 
Zustandekommen einer „orignären’’ Verrücktheit aus primären Wahnideen eine 
Reihe prädisponierender Momente an, unter denen ein eigentümlicher Traum¬ 
glauben und die Disposition zu ekstatisch-visionären Zuständen bemerkenswert 
seien. Bezüglich aller Einzelheiten und detaillierten Schlußfolgerungen verweist 
er auf die seinerzeitige eingehende Publikation seines Materials. 

Diskussion: Prof. v. Wagner kann der Meinung des Vortragenden, 
daß bei Paranoia Primordialdelirien eine chronische Wahnbildung einleiten 
können, nicht zustimmen. Primordialdelirien kommen nur in späten Stadien der 
Paranoia vor, wenn die Kritik schon erloschen ist. Die Ideen, die im Beginn 
der Paranoia auftreten und den Kern des Wahnsystems abgeben, haben in der 
größten Zahl der Falle einen Kampf mit dem übrigen Bewußtseinsinhalt auszu¬ 
fechten. Die Behauptung von Primordialdelirien als Einleitung einer chronischen 
Wabnbildung ergibt sich nur aus den unzuverlässigen Berichten der Paranoiker 
über die Vergangenheit, aber man hat nie Gelegenheit, dies in der Gegenwart 
zu beobachten. Allerdings kommt es vor, daß Paraoniker schon im Beginne 
Wahnideen aus deliranten Zuständen, etwa aus einem Alkoholdelir oder aus 
Träumen übernehmen, aber das sind dann keine eigentlichen Primordialdelirien. 
Was den besprochenen Fall selbst an langt, so ist derselbe wohl noch nicht ab¬ 
geschlossen und wird gewiß noch die bekannten Umwandlungen durchmachen. 
Was die Frage der Dementia praecox betrifft, so ist es fast schon schwer, die¬ 
selbe bei einer Psychose auszuschließen, da ja diese Diagnose schon fast die 
ganze Psychiatrie aufgefressen hat Wenn der Vortragende die Dementia praecox 
in seinem Falle nur wegen des Mangels an Zerfahrenheit ablehnt, so bedarf es 
gewiß nur der Zeit, um auch dieses Symptom noch am Kranken zu beobachten. 
Alle früh auftretenden Fälle von Paranoia haben mehr oder weniger die Züge 
der originäreu Paranoia. Den besprochenen Fall zeichnen die psychischen Aus¬ 
nahmszustände ans, die neben der Paranoia auftraten und in ihrem Inhalt an 
die paranoischen Wahnideen anknüpften. 

Dr. Pötzl erwidert, daß er das frühzeitige Vorkommen primärer Wahn¬ 
ideen nicht für die Paranoia mit Entwicklung in Stadien, sondern nur für ganz 
bestimmte seltene Fälle von „Paranoia” annehme, die sich auch sonst in anderen 
Richtungen eigenartig verhalten; sie sind dem Entartungsirresein zuzuzählen und 
zeichnen sich durch Mangel an Progression aus. Die Wichtigkeit der Unter¬ 
scheidung endogener und exogener Psychosen rechtfertigt die Gegenüberstellung 
dieser Fälle gegenüber dem „Dölire chronique*'. 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 349 

Prof. v. Wagner wendet sich gegen eine strenge Unterscheidung von 
endogenen und exogenen Psychosen und leugnet die Existenz von endogenen 
Psychosen im strengen Sinne des Wortes; nachzuweisen ist immer nur die Dis¬ 
position; alle Psychosen sind nur solange rein endogen, bis wir ihre äußere 
Ursache aufgedeckt haben. Der Fall des Vortragenden paßt allerdings nicht in 
Magnans Beschreibung des Dölire chronique, aber nur deshalb nicht, weil 
Magnan, von seinem selbstkonstruierten ätiologischen Standpunkte ausgehend, 
die Sand ersehen originären nnd die jugendlichen Formen abgetrennt und nur 
die tardiven Fälle im Auge gehabt bat. Das trifft aber nicht das Wesentliche. 
Zwischen diesen Formen bestehen nur quantitative Unterschiede. Die Progression 
fehlt im Fall des Vortragenden nicht ganz und es wird nur Geduld brauchen, 
um die weitere Progression und das Endstadium mit der geistigen Schwäche 
zu erleben. 

Dr. Pötzl verweist im Schlußwort auf die künftige ausführliche Publi¬ 
kation seines Materials, ohne die eine eingehende Erwiderung nicht möglich sei. 

2. Dozent Dr. Julius Zappert: Über Auftreten von Fettsub- 
stanzen im fötalen und kindlichen Rückenmark. 

In Fortsetzung früherer. Untersuchungen, die sieh mit eigentümlichen 
Degenerationen in der vorderen Rückenmarkswurzel bei Kindern in den ersten 
zwei Lebensjahren befaßt batten, hat sich Vortragender die Aufgabe gestellt, am 
embryonalen und kindlichen Rückenmark zu studieren, in welcher Reihenfolge, 
welcher Form sich Marchi-Reaktion gebende Substanzen, yon frühesten fötalen 
Stadien angefangen, ein stellen. Im Anschluß an Arbeiten anderer Autoren glaubt 
Verfasser solche Gebilde, die sich mit der Marohi-Methode schwarz färben, 
als Fett anspreohen zu dürfen. Es zeigt sich, daß zuerst die sogenannten Gefä߬ 
körnchen, dann die Fettkörnchenzellen, dann die Körnungen in der vorderen 
und hinteren Wurzel und in der we ; ßen Substanz, endlich jene im Zentral¬ 
kanalepithel in den motorischen Ganglienzellen auftreten. Vortragender bespricht 
jede einzelne dieser Erscheinungsformen des Fettes und verweist namentlich 
bei den Körnungen in den vorderen und hinteren Wurzeln, die sich nicht wie 
die anderen angeführten Fettsubstanzen mit der bloßen Annahme eines Ent¬ 
wicklungsvorganges erklären lassen, sondern bei denen in einzelnen Fällen 
pathologische Ursachen angenommen werden müssen. Hingegen stellen die 
Körnchen in den motorischen Ganglienzellen im Zentralkanalepithel und viel¬ 
leicht auch jene in der Wand der Blutgefäße anscheinend Produkte der Lebens¬ 
tätigkeit der Zelle dar, wie sie in neuester Zeit auch in anderen Organen 
nachgewiesen wurden. 

Vortragender schließt damit, daß die vorliegenden, in größerem Umfang 
•vorgenommenen Untersuchungen ihn in seiner bereits früher geäußerten Mei¬ 
nung bestärken, daß die Degenerationen der motorischen Wurzeln manchmal 
pathologischer Natur seien und daß es notwendig sei, nach den Ursachen dieser 
Degenerationen zu forschen. 

In der Diskussion bemerkt Prof. v. Wagner, wenn die schwarzen 
Körner der vorderen Wurzeln wirklich, wie der Vortragende angibt, im intra¬ 
spinalen Anteil viel reichlicher sind als im extraspinalen, so handle es sich 
vielleicht um einen neuritischen Prozeß und nicht um Degeneration, bei der 
ein solches Verhalten schwer zu erklären wäre. 

Jefcrbtcher f. P*jch(atrle und Neurologie. XXV. Bd. 23 


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350 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


Prof. Redlich hält die Tatsache selbst nicht für erwiesen, da der intra¬ 
spinale Wurzelanteil im Längsschnitt, der extraspinale im Querschnitt unter¬ 
sucht worden sei nnd somit ein sicherer Vergleich fehle. 

Dozent Dr. Elzholz frägt, ob es sich bei den Körnchen nicht vielleicht 
um dieselben Gebilde handle, wie er sie an peripherischen Nerven bei intakten 
Markscheiden beschrieben habe; in diesem Fall wäre Degeneration abzulehnen 
und könnte es sich um Atrophie handeln. 

Dr. Zappert erwidert, die Frage, ob die Körnchen innerhalb oder außer¬ 
halb der Markscheiden liegen, sei in den vorderen Wurzeln nicht za ent¬ 
scheiden; in den Hintersträngea scheine beides vorzukommen. Er habe sieh für 
die Degeneration ausgesprochen, weiler im Sinue der physiologischen Degene- 
neration S. Mayers das nahezu regelmäßige Vorkommen einer Degeneration im 
frühesten Kindesalter für eher erklärlich halte, wie das einer Neuritis. Im übrigen 
habe er mit dem Ausdruck Degeneration weniger den Prozeß spezifizieren, als 
ihn im Gegensatz zu den sonstigen Fettgebilden im kindlichen Rückenmark als 
pathologisch hinstellen wollen. 

3. Zu Mitgliedern werden gewählt die Herren Dr. Kurt Linnert, Dr. 
Richard Stern, Dr. Martin Engländer, Dr. E. Okada. 

Sitzung vom 9. Februar 1904. 

Vorsitzender: Prof. Obersteiner. 

Schriftführer: Dr. Pilcz. 

1. Zu Mitgliedern werden gewählt die Herren: Dr. Gottlieb, Hollerang, 
Holzknecht, Joachim, Pollitzer, Vyoralek, Werner. 

2. Dr. A. Fuchs demonstriert einen 29jährigen Mann mit Morb. Base- 
dowii und Sklerodermie. 

Während bei dem Pat. die Symptome des Morb. Basedowii im Februar 
vorigen Jahres auftraten, bildeten sich im Herbste schmerzlose Ödeme der Unter¬ 
schenkel, welche sich im Laufe von ungefähr 4 Wochen rückbildeten. Nur an 
der Vorderfiäche beider Unterschenkel verschwanden die Ödeme nicht, sondern 
wurden immer härter. Gegenwärtig sieht man, daß an der Vorderfläche beider 
Unterschenkel die Haut in schmerzlose, starre, harte Infiltrate verwandelt ist, 
welche sich gegen die Umgebung ziemlich scharf abheben. Die Haut an diesen 
Stellen ist glänzend und leicht bräunlich verfärbt. Der Fingerdruck bleibt nicht 
besteheo, der Haarwuchs ist hier spärlicher als am übrigen Beine. Die Sensibilität 
ist etwas weniger prompt als an den normalen Stellen. 

Nach dem Ergebnis einer flüchtigen Durchsicht der Literatur scheint 
zuerst Leube im Jahre 1875 auf das Vorkommen von Sklerodermie bei Morb. 
Basedowii hingewiesen zu haben, nach ihm Kühler, Millard, Jeanselm u. a. 
Nach der Aufstellung der Möbius sehen Theorie 1887 und nachdem schon 
mehrere Beobachtungen von Myxödem bei Morb. Basedowii bekannt geworden 
waren, hat Singer 1895 auf die Möglichkeit der gemeinsamen Ätiologie der 
Sklerodermie und des Morb. Basedowii hingewiesen. Seither ist eine Reihe von 
Beobachtungen von diesem Gesichtspunkte aus bekannt worden, so von Samo- 
nilson, Szatmäri, Hupre und Grillain, welche sogar eine Kombination von 
Sklerodermie, Basedow und Tetanie beschrieben haben. 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 351 

Aus der Durchsicht dieser Publikationen geht hervor, daß die Sklerodermie 
niemals diffus, immer nur in Plaques bei Morb. Basedowii beobachtet wurde und 
zumeist an den Unterschenkeln. Im Verhältnis zur Häufigkeit des Morb. Base¬ 
dowii ist diese Erscheinung jedenfalls nicht häufig. 

8. Dr. Hirschl stellt einen Fall vor, der die Symptome des Morbus 
Basedowii und die des Morbus Addisonii aufweist. Der 36jährige Brauhaus- 
Kontrollor, weicher am 28. November 1908 die Klinik aufsuchte, ist seit August 
1903 krank. Zittern, starkes Schwitzen, Durchfälle leiteten die Erkrankung ein. 
Er bemerkte Anfang Oktober den Exophthalmus und klagte über starkes Herz¬ 
klopfen. Das auffälligste Symptom war die enorme Abmagerung. In der Zeit von 
Mitte August bis 23. November sank das Körpergewicht von 90 auf 58 kjt Mit 
der Abmagerung parallel ging hochgradige motorische Schwäche und gesteigerte 
Erregbarkeit. Anfangs Oktober trat eine Bronzefärbung der Haut ein, deren 
Höhepunkt zur Zeit der Aufnahme erreicht war. 

Der Status ergab Adynamie (links 16, rechts 14 kg Dynamometer). Bronze¬ 
färbung der Haut ohne Plaques im Munde, Reizbarkeit und Vergeßlichkeit einer¬ 
seits — anderseits Struma, Exophthalmus mit den drei Augensymptomen, Herz¬ 
palpationen, Tremor. Das Körpergewicht war 58 kg , der Blutdruck mit dem 
Tonometer gemessen ergab 100, das Blut zeigte im Mikroskope normale Verhält¬ 
nisse, der Hämoglobingehalt betrug 70% (Fl ei sohl), es bestand alimentäre 
Glykosurie. Anfangs erbrach der Kranke häufig, später hatte er viele Diarrhoen. 
Kein somatischer Anhaltspunkt für Tuberkulose. (Die Mutter und die erste Gattin 
des Kranken waren an Phthise gestorben.) 

Den neuen pathologisch-anatomischen Funden bei Morbus Addisonii 
Rechnung tragend, versuchte ich eine neue Therapie mit Tabletten, die chro¬ 
maffine Substanz enthielten. Diese wurden aus der Marksubstanz der Neben¬ 
niere vom Rind gewonnen. Die Tabletten wurden im chemischen Iostitut des 
k. k. Rudolf-Spitales des Dr. Freund hergestellt. Die Anfangsdosis betrug 0*06 y, 
gegenwärtig erhält der Kranke täglich 0*2 g chromaffiner Substanz. Die Therapie 
wurde am 16. Dezember eingeleitet und bis heute durch 56 Tage fortgesetzt; 
der Kranke hatte im ganzen 7 g chromaffiner Substanz erhalten. 

Gegenwärtig ist eine starke Abblassung der Bronzefärbung zu konstatieren, 
ferner ein Rückgang der Struma und der Augensymptome. Der Tonometerdruck 
stieg auf 115 bis 120; das Gewicht fiel zunächst von 55 kg bis auf 51 kg und 
ist seither wieder auf 54*7 kg gestiegen. Der Kranke ist kräftiger, er geht besser. 
Der Dynamometerdruck hat sich nicht geändert. 

Erst die Weiterbeobachtung kann die Diagnose sichern und den Anteil 
der Therapie an der Veränderung im Befinden des Kranken feststelien. 

4. Dr. E. Raimann demonstriert einen Mann, 84 Jahre alt, Reisender, 
der an Alkoholwahnsinn (Halluzinose) erkrankt ist und noch gegenwärtig 
an charakteristischen Gehörstäuschungen leidet. Sowohl die subjektive als die 
objektive Anamnese ergehen, daß die Psychose auf Monate zurückreicht; dabei 
war der Pat. äußerlich geordnet. Eine Steigerung seiner Reizbarkeit führte zur 
Aufnahme auf das Beobachtungszimmer am 1. Februar 1904. Der klare und be¬ 
sonnene Kranke begann am Abend des ersten Tages unruhig zu werden, blieb 
schlaflos; die Lebhaftigkeit der Gehörstäuschungen schien sich zu steigern. Mit 
dem zweiten Tage seUte ein typisches Delirium alkoholicum ein: Pat. war in 

23 * 


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352 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 

Schweiß gebadet, im lebhaftesten Beschäftigungsdelir, sah allerlei Gestalten und 
Tiere. Dieses Delirium klang nach 3 Tagen mit einem kritischen Schlafe ab; für 
dieses Delir besteht volle Erinnerung und Krankheitseinsicht, während die Hal- 
luzinose noch fortläuft: somit ein klassischer Kasus einer kombinierten Psychose. 
Daß die beiden scharf abgrenzbaren, nur für einen Teil der Zeit übereinander¬ 
fallenden Geistesstörungen Intoxikations- und zwar Alkoholpsychosen sind, gibt 
der vorliegenden Kombination ein gewisses Interesse; diese Fälle sind wohl aueh 
selten. Bonhoeffer erwähnt nur einen Fall dieser Art; Hagnan einen ana¬ 
logen. Rudimentäre Halluzinogen neben einem Delir trifft man häufiger; ganz 
gewöhnlich ist die Einleitung einer Korsako ff sehen Psychose durch ein 
Delirjum. 

Der eben demonstrierte Fall gestattet eine Schlußfolgerung. Man neigt 
immer allgemeiner der Ansieht zu, daß die alkohologenen Geistesstörungen nicht 
dem Alkohol selbst ihren Ursprung verdanken, sondern Toxinen, die auf dem 
Boden des Alkoholismus chronicus sich bilden. In der Pathogenese des Delirs 
— der einen Komponente des vorliegenden Kasus — läßt sich die Bedeutung 
der Abstinenz nicht anzweifeln. Elzholz, der diese Erfahrung in eine Theorie 
gefaßt hat. erklärt die Toxämie beim Korsakoffachen Syndrom für eine anders¬ 
artige, von der des Delirs spezifisch verschiedene, bei deren Zustandekommen 
der Intestinaltrakt eine Rolle spiele. Rai mann war in der Lage, das durch einen 
Fall von Cerebropathia psychica toxaemiea nur gastro-intestinalen Ursprunges 
zu illustrieren. Kritische Erwägungen hatten den Vortr. übrigens schon in der 
Arbeit über alkoholische Augenmuskellähmungen (Jahrbuch, f. Psychiatrie, XXI) 
bestimmt, beim chronischen Alkoholismus eine Vielheit von Giftsubstanzen an¬ 
zunehmen, deren jede von spezifischer Wirkung, eine bestimmte der alkohologenen 
Erkrankungen zu erklären hätte. In Widerspruch mit einem Referenten (Storch) 
möchte Rai mann auf Grund aller bisherigen Erfahrungen dennoch an der 
damals aufgestellten Hypothese festh&lten. Im speziellen bietet der vorgestellte 
Pak einen sprechenden Beleg für die Verschiedenheit der Pathogenese des Al¬ 
koholwahnsinns und des Delirs. Hier geben weder individuelle Momente, noch 
hereditäre Belastung, noch eine Übererregbarkeit der Klang- und Wortklang¬ 
sphäre den Ausschlag; der Mann ist auch mindestens zu diesen beiden Alkohol¬ 
erkrankungen disponiert (vielleicht bekommt er noch eine dritte, etwa eine Poly¬ 
neuritis): hier kann man wohl nur sagen, eine bestimmte toxische Schädlichkeit 
hat vor vielen Monaten zu der Halluzinose geführt; diese aggravierte durch den 
andauernden Potus und wird erst jetzt langsam abheilen durch die Abstinenz; 
diese Abstinenz aber, ein anderes Toxin, das erst jetzt zur Wirkung kommt, löst 
das Delirium aus. 

5. Dr. Max Dobrszansky demonstriert die linke Großhirnhemi¬ 
sphäre eines Falles von zirkulärem Irresein. Das Präparat ttammt von 
einer erblich schwer belasteten Frau, die an einer zur Zeit der Pubertät ein¬ 
setzenden zirkulären Psychose litt und die im Dezember v. J. an Carcinoma 
uteri starb. 

Die in Formollösung gehärtete linke Großhirnhemisphäre ist in toto belassen 
worden, während die rechte im Hinblick auf einen eventuellen Herd in eine 
Reihe von Frontalschnitten zerlegt wurde. 

Die linke Hemisphäre zeigt den sogenannten Vierwindungstypus des 
Stirnhirns, den viel umstrittenen Raubtiertypus Benedikts, den dieser im Sinne 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 353 

einer atavistischen Bildung anerkannt und verwertet wissen wollte, eine Anschau¬ 
ung, die heute freilich von den meisten Autoren verlassen ist. Der erwähnte 
Typus dürfte hier — und es ist dies der häufigste Fall — durch Teilung der 
mittleren Stirnwindung entstanden sein. Gleichzeitig bietet diese Hemisphäre ein 
Beispiel des konfluierenden Typus, in dem Benedikt gleiobfalls ein Kri¬ 
terium der Minderwertigkeit erblicken wollte. Er blieb jedoch auch hierin nicht 
ohne Widerspruch und namentlich war es Schloß, der in seiner bekannten 
Publikation „Studien an den Gehirnen Geisteskranker 1 ' vor einer kritiklosen 
Verwertung der Furchenanastomosen als Degenerationszeichen warnte. In unserem 
Falle äußert sich der konfluierende Typus teils in einer Verschmälerung der 
Windungsbrücken, wie etwa der den Sulcus Rolandi von der Fissura Sylvii 
scheidenden, teils in einem wirklichen Übergang sonst getrennter Furchen in¬ 
einander, wie er hier zwischen Sulcus temporalis superior und der Fissura Sylvii 
am Teilungswinkel der letzteren in den hinteren horizontalen und hinteren auf¬ 
steigenden Ast besteht. 

An der rechten Hemisphäre sind die Oberfläohenverhältnisse jetzt durch 
die Schnitte zerstört. Der Vierwindungstypus war hier nicht ausgeprägt, 
sondern nur durch eine seichte Tertiärfurche, die im Gyrus frontalis medius 
parallel zur Längsachse desselben verlief, angedeutet, ein Vorkommen, dessen schon 
Flesoh erwähnt, der darauf aufmerksam macht, daß manifeste Anomalien der linken 
Hemisphäre, wo sie überhaupt häufiger sind, an der rechten oft andeutungsweise 
sich wiederfinden. Der Sulcus parieto-ocoipitalis dieser Hemisphäre schnitt, nament¬ 
lich an der Konvexität, tief ein und zeigte scheinbar direkten Übergang in den 
Sulcus Hippocampi; aber nur scheinbar, denn es handelte sich um eine Depression 
des Isthmus Gyri fornicati, wodurch für die oberflächliche Betrachtung das Bild 
einer Anastomose des Sulcus parieto-occipitalis mit dem Sulcus Hippocampi 
entstand. Auch diese Hemisphäre zeigt somit Andeutungen des konfluierenden 
Typus. 

6. Stud. med. Bunzl demonstriert Schnitte eines Maulwurf¬ 
gehirns, in denen enzystierte Parasiten enthalten sind. Es handelt 
sich um Nematoden, deren Spezies nicht sichergestellt ist. Sie finden sich in allen 
Partien des Gehirns vor und sind meist von einer bindegewebigen Kapsel um¬ 
schlossen. Degeneration der Fasern läßt sich nirgends mit Sicherheit nachweisen. 

7. Dr. Alfred Fröhlich demonstriert mikroskopische Schnitte des 
Rückenmarkes eines Affen, dem er linkerseits die fünfte, sechste, siebente 
hintere Zervikalwurzel, sowie die erste und zweite hintere Thorakalwurzel durch¬ 
schnitten hatte. (Die achte hintere Zervikalwurzel blieb undurchschnitten.) 
Reohterseits wurden die sechsten, siebenten, achten hinteren Zervikalwurzeln, 
sowie die erste hintere Thorakal wurzel durchschnitten. Am 17. Tage nach der 
Operation wurde das Tier, dessen Wunde vollkommen reaktionslos geheilt war, 
getötet und das Rückenmark nach Marchi behandelt. Die Präparate zeigen die 
nach der Durohscbneidung degenerierenden Fasern von ihrer Eintrittsstelle ins 
Rückenmark bis in das erste Halssegment hinauf. Linkerseits ist das Feld 
der undurohsohnitten gebliebenen achten hinteren Zervikalwurzel 
bis in das erste Halssegment hinauf als lichtes Feld zwischen den Arealen 
der höheren und tieferen durchschnittenen hinteren Wurzeln deutlich zu er¬ 
kennen. 


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354 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 

Beiderseits findet sich lateral vom Hinterhorn uud der Peripherie des 
Rückenmarkes anliegend ein schmales Feld degenerierter Fasern, das etwa dem 
hintersten Anteil der Kleinhirn-Seitenstrangbahn entspricht und gleichfalls beider¬ 
seits Ton den untersten durchschnittenen Wurzeln angefangen bis in das Niveau 
des ersten Zervikalsegmentes zu verfolgen ist. Ob es sich bei diesen Fasern um 
unvermeidliche Nebenverletzungen bei der Durchschneidung der hinteren Wurzeln 
oder um aus den hinteren Wurzeln direkt etwa ins Kleinhirn aufsteigende Fasern 
handelt, sollen weitere Versuche entscheiden. 

Diskussion: Prof. Redlich bemerkt, daß er in einem Falle experimen¬ 
teller hinterer Wurzeldurchschneidung auch eine Degeneration im Seitenstrange 
gesehen hat; er konnte sich aber überzeugen, daß es durch Gefäß Verletzung zu 
einem lokalen Herde gekommen war, der für die Degeneration im Seitenstrange 
verantwortlich gemacht werden konnte. Redlich stellt die Anfrage, ob bei den 
Versuchen Fröhliche auch Serienschnitte angelegt wurden, welche einen even¬ 
tuellen Herd auszuschließen gestatten. 

Dr. Fröhlich erwidert, daß zwar Serienschnitte gemacht, aber nur nach 
der March i sehen Methode gefärbt wurden. 

Prof. Obersteiner erwähnt, daß er selbst dem Vortragenden den Ein¬ 
wand gemacht hätte, daß bei der Operation es zu einem Zug und einer Zerrung 
benachbarter Fasern kommen konnte und daß die Marchimethode so empfind¬ 
lich sei, daß sie uns gelegentlich etwas zeige, was wir lieber nicht sehen 
wollten. 

8 . Dr. E. Raimann: Über neuere Schlafmittel. 

Bezüglich Veronal verweist der Vortragende darauf, daß die Erfahrungen, 
welche an der psychiatrischen und Nervenklinik v. Wagners über dieses Hyp- 
nagogum gesammelt wurden, bereits gedruckt vorliegen. (Januarheft der „Heil¬ 
kunde”.) Die Ungefäbrlichkeit des Mittels wird in evidenter Weise bestätigt durch 
eine jüngst erfolgte Publikation von Laudenheimer. Ein Mann verbrauchte 
250 g Veronal in 2 Monaten, also mehr als 4 y pro Tag; es wurden nur vor¬ 
übergehende Störungen beobachtet, nur Taumeln und Oligurie waren mit Sicher¬ 
heit auf das Veronal zu beziehen. Jedenfalls bedeutet dasselbe eine erfreuliche 
Bereicherung unserer symptomatischen Therapeutik. 

Das Chlore ton, Trichlortertiärbutylalkohol 
CH 3 \ 

C Cl 3 -7 COH 
CH 3 / 

stammt aus Amerika und wird von dorther warm empfohlen. Eine pharmakolo¬ 
gische Prüfung des Mittels durch Impens ergab als dosis letalis pro Kilo 
Kaninchen 0*213 y, pro Kilo Hund 0*239 g; das Chloreton sei daher 2 V 2 mal so 
giftig als Chloralhydrat, ein Gift für Atmung, Herz und Protoplasma; selbst nach 
ungenügenden Dosen blieben die Tiere lange kachektisch. 

Wahrscheinlich infolge dieser Warnung wurde das Mittel bis nun am 
Kontinent kaum verwendet. Raimann konnte nur eine Arbeit von Luigi Cap¬ 
pel loti (Rif. medica, 1902) über klinische Erprobung des Chloreton auffinden. 
Dieser Autor hatte mit Dosen von 0*5 bis 2*0 g einen 2- bis 5stündigen Schlaf 
erzielt, nur bei geschwächten und atheromatösen Personen Nebenwirkungen, Ver¬ 
dauungsstörungen gesehen. 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 355 


Die Prüfung an der Klinik v. Wagner ergab folgendes: Chloreton ist 
ein kristallinisches, in Wasser schwer lösliches Pulver von kampferartigem Ge¬ 
ruch und Geschmack. Die Firma liefert dasselbe in Gelatinekapseln dispensiert, 
die von der Mehrzahl der Kranken ohue Widerstreben genommen, von anderen 
freilich zurückgewiesen wurden. Jede Kapsel enthält 0*4 y Chloreton; als Dosis 
werden empfohlen 1 bis 4 Kapseln ■= 0*4 bis 16 y. Bei psychomotorisch ho 2 h- 
gradig erregten Geisteskranken, am Vormittage gegeben, versagte das Mittel 
vollkommen; hingegen ließ sich eine bypnagoge Wirkung bei leichteren Fällen 
von Schlaflosigkeit Psychisch- und Nervenkranker sicher nachweiseu. Bisher ist 
in zirka 50% der Fälle voller Erfolg, in zirka 35% Mißerfolg zu verzeichnen; 
im Rest eine halbe Wirkung. Doch gibt es Pat., die mit dem Chloreton aus¬ 
nehmend zufrieden sind, die es dem Paraldehyd vorziehen; andere klagten über 
Kopfweh, unterbrochenen Schlaf. Die Wirkung der vollen Dosis scheint kaum 
sicherer, als die der halben; über 1*6 g wurde übigens niemals hinausgegangen. 
Irgendwelche schädliche Nebenwirkungen waren klinisch in keinem Falle nach¬ 
zuweisen. £s dürfte daher gestattet sein, das Chloreton bei körperlich normalen 
Individuen als Schlafmittel zu versuchen. 

Das Isopral, Trichlorisopropylalkohol 

cS:) ch 'Oh 

ist ein kleinkristallinisches, weißes, bei gewöhnlicher Temperatur sublimierendes, 
bei 49° C. schmelzendes, im Verhältnis 1:30 in Wasser lösliches Pulver von 
aromatischem, an Hedonal erinnerndem Geruch, brennend, hinterher kratzend 
bitterem Geschmack. Impens, der das Mittel pharmakologisch untersuchte, fand 
als dosis letalis pro Kilo Katze 0*4 y, pro Kilo Kaninchen 0*9 y, pro Kilo Hund 
0*6 y. Eigene Versuche des Vortr. ergaben als die analogen Werte 0*36, 0*92 
bis 0*98, 1*2. Große Dosen bewirkten eine starke Herabsetzung der Atemfrequenz, 
der Tod erfolgte durch Atemlähmung. Überraschend war die Raschheit, mit 
welcher die Scblafwirknng einsetzte, auch beim Menschen. 

Die große Zahl der klinischen Versuche gliedert sich in zwei Reihen. Auf 
je 1*0 y bei hochgradiger psychomotorischer Erregung gegeben, schlummerten 
von 16 Pat. nur 8 durch 1 bis 2y 2 Stunden. Als Hypnotikum bei den verschie¬ 
densten Formen von Agrypnie entfaltete 1*0 y auch nur in 50% eine vollkommen 
zufriedenstellende Wirkung; manchmal reichten 0*5 y aus; die anderen Male ver¬ 
sagten auch 2*0 y. Das Mittel ließ keine unangenehmen Nebenwirkungen beob¬ 
achten und dürfte in Fällen leichterer Schlaflosigkeit, namentlich dort, wo nur 
das Einschlafen erschwert ist, mit gutem Erfolge Anwendung finden. (Ausführ¬ 
lichere Mitteilung „Heilkunde”, März 1904.) 

Sitzung vom 8. März 1904. 

Vorsitzender: Prof. Dr. Obersteiner. 

Schriftführer: Dr, v. Sölder. 

1. Zu Mitgliedern werden gewählt die Herren: Dr. Albert Herz und Dr. 
Heinrich Neumann. 

2. Dr. A. Fuchs demonstriert: 

I. Einen 35 Jahre alten Mann mit den Erscheinungen einer Angioneurose. 
Die Affektion ist wohl als zur Raynaudschen Krankheit zugehörig anzusehen. 


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356 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


Es trat im Mai 1901 bei dem bis dahin ganz gesunden Maune unter Schmerzen 
Gangrän der zwei letzten Zehen ain linken Fuß ein, welche amputiert wurden. 
Seit einem Jahre zeigen sich Symptome der lokalen Asphyxie und Synkope an 
den Fingern der rechten Hand. Das bemerkenswerte in diesem Falle liegt darin, 
daß an der rechten o. E. die Art. rädialis als solche zwar deutlich tastbar ist, 
jedoch keine Pulsation aufweist Hingegen ist an der A. ulnaris deutlich nor¬ 
maler Puls. An der linken o. E. ist die A. radialis normal, die Ulnaris nicht 
tastbar. Eine anatomische Anomalie ist mit Sicherheit ausgeschlossen. Es han¬ 
delt sich um einen Gefäßverschluß gänzlich unbekannter Natur, wie öberhaupt 
der Fall ätiologisch speziell bezüglich der Möglichkeit einer Endarteritis voll¬ 
kommen unklar ist. Interessant und dem geschilderten Verhalten der Gefäße 
entsprechend ist auch der Umstand, daß die Gesamt-Blutversorgung der oberen 
Extremitäten (neuer Sphygmograph von Gärtner) annähernd die gleiche ist. 

II. Einen 86jährigen Mann (Schneider) mit Tetanie. Ungewöhnlich 
deshalb, weil bei besonders starker Entwicklung aller oharakterischen Sym¬ 
ptome (Dauerkrampfe, hochgradig gesteigerte elektrische Erregbarkeit etc.) das 
Symptom von Chvostek vollkommen fehlt Auch an den anderen Nerven- 
stämmen ist im Gegensätze zur elektrischen die mechanische Erregbarkeit 
äußerst gering. 

III. Eine 21 Jahre alte Pat., welche im Mai des vorigen Jahres in das 
Ambulatorium der Klinik kam, mit der Klage über eine seit einiger Zeit be¬ 
stehende Gangstörung. Sie klagte über Schwäche in den Beinen, insbesondere 
beim Stiegensteigen und fast vollkommenes Unvermögen zu gehen, wenn sie 
längere Zeit gesessen sei. Es bestand ein spastisoh-paretisoher Gaog bei nor¬ 
malen Reflexen, deutliche Parese beider unterer Extremitäten und ebenso nach¬ 
weisbare Schwäche der Rücken- und Lendenmuskulatur. Fuchs konnte beim 
Fehlen aller anderweitigen Anhaltspunkte nur annehmen, daß es sich um eine 
funktionelle Störung handle. Der Zustand besserte sich jedoch trotz entspre¬ 
chender Behandlung gar nicht; erst nach mehrfacher Untersuchung entdeckte 
Fuchs alle Symptome der Tetanie, ohne jedoch den Zusammenhang der ge¬ 
nannten Störungen mit der Tetanie zu verstehen. 

In der Folge war das Verhalten der Tetanie und ebenso der Gangstorung 
ein wechselndes, ohne daß jedoch ein Parallelismus dieser beiden Zustände zu 
konstatieren gewesen wäre. Die Pat. hat dann noch eine leichte Endokarditis 
und eine schwere Enteritis mitgemacht, sich aber gegenwärtig wesentlich erholt. 
Es besteht noch deutlich Chvostekschrs und Hoffmannscbes Symptom, 
ebenso galvanische und faradische Überregbarkeit. Der letzte Spontankrampf 
trat vor einigen Wochen auf; rechts ist noch Trousseau vorhanden. Die Gang¬ 
störung hat sich ebenfalls gebessert; sie wird jedoch deutlich, wenn Pat längere 
Zeit gesessen ist und ist früh am stärksten. Pat. kann nach dem Aufstehen gar 
nicht gehen. Die Schwäche der Rücken- und Lendenmuskulatur ist sehr we¬ 
sentlich; Pat. kann sich bei leichtestem Gegendruck faicht aus der gebückten 
Haltung aufriohten, erhebt sich spontan mühsam vom Sessel; bei leichtem 
Gegendruck gelingt dies gar nicht. Die Parese der unteren Extremitäten ist 
deutlich, PSR gering, aber vorhanden. Diese Störungen waren für den Vor¬ 
tragenden ihrer Natur nach vollkommen unklar, bis derselbe auf einen Vortrag 
von Kaligeher in der Berliner Ges. f. Ps. u. N. am 10. November 1902 auf- 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 357 

merksam wurde, weicher leider nur im Referate zugänglich wurde. Kalis oh er 
stellte damals ein l^jähriges Mädchen vor, das seit seiner Kindheit an einer 
eigenartigen Gaogstörung („schwerfällig und watschelnd”) leidet und bei welchem 
ebenso wie in diesem Falle eine Schwäche der Httftbenger und Lendenmuskeln 
auftrat, sowie alle Zeichen der Tetanie. Fuchs erfuhr ferner aus Kalisebers 
Vortrag, daß im Jahre 1888 J. Hoffmann auf der Grbschen Klinik 8 Fälle 
von chronisch rezidivierender Tetanie mit dieser Gangstörung beobachtete. 

Kali sch er sagte (1. o.) „daß man ganz vereinzelt auf Basis der chro¬ 
nischen Tetanie Paresen beobachten könne, welche diagnostische Schwierigkeiten 
machen können und daß oft erst nach jahrelangem Bestehen der Gangstörung 
die Tetanie manifest werde”. Fuchs glaubt zwar, daß dieser letztere Satz viel¬ 
leicht ein wenig zu weit geht, kann jedoch die Störungen in dem vorliegenden 
Falle doch nur als eine der Tetanie zugehörige und seltene Komplikation der¬ 
selben im Sinne von Hoffmann und Kalisober auffassen. 

8 . B. Stransky -berichtet über den path.-anat. Befund bei einem alten 
Mann mit einer Reihe aphasischer, »symbolischer und zum Teil auch katatoni¬ 
scher Störungen, den er im Dezember 1902 demonstriert hatte. Derselbe ist kurze 
Zeit darauf einer Bronchopneumonie erlegen. Bei der Autopsie zeigte sich, daß 
diesen Störungen keine Herderkrankung im strengeren Sinne zugrunde lag, hin¬ 
gegen fanden sich an dem in toto atrophischen Großhirn außer Atheromatose 
der Gefäße an einzelnen Stellen, insbesondere aber entsprechend dem linken 
Gyrus supramarginalis und seiner nächsten Umgebung, Bezirke mit besonders 
hochgradig ausgesprochener Atrophie. 

Die histologische Untersuchung verschiedener Riudenpartien ergab eine 
nicht überall gleichmäßige Dickenzunahme der obersten Gliaschiohte; ferner 
sieht man, wie einzelne von der Pia in die Rinde eintretende Gefäße eine 
Strecke weit ins Rindeninnere hinein sich umgeben zeigen von einem äußerst 
diehten Gli&ülz: nur selten kamen Stellen zu Gesicht, wo solche perivaskuläre 
Gliafilze bis in die Schicht der Pyramidenzellen hineinreichten. Innerhalb dieses 
Filzes sieht man auch eine große Zahl von Spinnenzellen, die in toto vermehrt 
sind. Die Gefäße selber zeigen nur zu einem Teile solche perivaskuläre Wu¬ 
cherungen, ebenso wie ein Teil der Gefäße arteriosklerotische Veränderungen 
aufweist; andere bieten einen normalen Aspekt dar. Die von Neelsen beschrie¬ 
benen Verdickungen an den abgehenden Seitenästen der Hirngefäße bestehen 
gleichfalls da und dort. An Nißl-Präparaten sowie bei v. Gieson-Färbung ist 
das Zellbild kein anderes als das seniler Gehirne überhaupt. Am Nißl-Präparate 
(aus dem besonders atrophierten Rindenbezirk im 1. Gyr. supramarg.), sieht man 
keilförmige, bis zur Schicht der kleinen Pyramiden reichende Lichtungen, die 
sehr zellarm sind und in der Mitte ein Gefäß beherbergen. Ähnlich zellarm sind 
auch jene Stellen, wo man einen perivaskulären Gliafilz siebt. An Wolters 
Präparaten ist die Rindeals solche etwas ärmer an Nervenfasern; das entspricht 
wohl dem Senium. Die Tangentialfasern sind aber überall recht gut, sogar recht 
dicht erhalten; nur ein Bezirk aus dem Unken Scheitellappen nahe dem 1. Gyr. 
supramarg. erweist sich auffällig arm auch an tangentialen Fasern. Völlig fehlen 
dieselben aber auch da nicht. Der Ausfall ist ein ungleichmäßiger; an Gefä߬ 
veränderungen scheint er nicht gebunden zu sein. In dem tieferen Marklager sind 
auffälligere Lichtungen nicht zu sehen. Auch Befunde analog der Binswanger- 


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358 Bericht des Vereines für Psychiatrie and Neurologie in Wien. 

sehen chronischen subkortikalen Enzephalitis waren nicht zu erheben. Der Voll¬ 
ständigkeit halber seien noch kleine perivaskuläre Blutungen (wohl agonal) in 
der Stirnhirnrinde erwähnt. 

(Ausführliche Publikation erfolgt in einem anderen Zusammenhänge.) 

4. Dr. A. Schüller zeigt das Gehirnpräparat eines Hundes, bei welchem 
er gemeinsam mit Herrn Dr. Holzknecht den Schweifkern unter Röntgen¬ 
beleuchtung zu zerstören versuchte. (S. Demonstration in der Dezember-Sitzung 
des Vereines.) Das Präparat läßt erkennen, daß die Verletzung tatsächlich das 
Zentrum des Schweifkernes betroffen hat und die Nachbarschaft völlig intakt 
geblieben ist. 

5. Dozent Dr. Hirsohl stellt einen Fall von Tetanie mit Psychose vor: 
18jahriger Mann, Mutter und Bruder Struma seit jeher. 1902 Tetanie und akute 
halluzinatorische Verworrenheit durch mehrere Tage. Am 24. Februar 1904 Te- 
taniekrämpfe. Beginn einer Manie, auf deren Höhe Verworrenheit mit spärlichen 
Halluzinationen. Struma, Exophthalmus mit Möbius- und Stellwagschem 
Symptom, erhöhte Pulsfrequenz. Tetanie mit Chvosteksohem, Schultzeschem 
und Trou8seauschem Phänomen, Steigerung der faradischen und galvanischen 
Erregbarkeit der Nerven, Parotistumor. Vom 9. bis 16. März d. J. Intermission 
mit Zurückgehen der Basedow- und Tetaniesymptome. Parotidenabschwellung. 
Vom 16. März 1904 neuerliche Manie mit Verworrenheit und Zeichen des 
Delirium acutum. Wahrscheinlicher Übergang in Demenz. 

Im Anschluß an diese Demonstration macht der Vortragende mit Berück¬ 
sichtigung anderer in der Klinik beobachteter Fälle und der Literatur Mittei¬ 
lungen über Tetanie und Psychose. Bewußtseinstrübungen im Anfalle sehen 
wir bei Fällen von strumipriver Kachexie und bei Magentetanie. Das Delirium 
tremens, das Koma nach Suspension und die Hysterie zeigen gelegentlich pseudo- 
tetanische Anfälle. Bei progressiver Paralyse, bei epileptischer Geistesstörung, 
bei traumatischer Demenz beschleunigt die komplizierende Tetanie den Verlauf 
der Demenz. Bei schweren tetanisohen Anfällen, insbesondere bei deren Häufung 
sehen wir bei nervösen Individuen Angstzustände von stundenlanger Dauer mit 
oder ohne Halluzinationen. 

Der toxische Prozeß der Tetanie erzeugt manchmal Amentia von mäßig 
langer Dauer. Die Genesung ist in den bisher publizierten Fällen nicht immer 
zweifellos nachgewiesen. Derselbe toxische Prozeß erzeugt eine Demenz, deren 
Krankheitsbild dem Bilde der Dementia praecox am nächsten kommt 

Zur Frage * Epithelkörperchen und Tetanie” bietet das eigene und das 
Material der Literatur der Psychosen bei Tetanie keinen Beitrag. Es sei auf¬ 
merksam gemacht auf die häufig konstatierte Struma und die Kropfbelastung. 

Diskussion. Prof. v.Frankl: Der Vortragende spricht von Epileptikern, 
die Tetanie haben; warum nicht von Tetaniekranken, die Epilepsie haben? 
v. Frankl habe öfter darauf hingewiesen, daß Tetaniekranke epileptische An¬ 
fälle bekommen können. Auch bei Hunden sehe man Anfälle, die bald der 
Tetanie, bald der Epilepsie nahestehen. Die Psychose könnte ebensogut von 
der Tetanie wie von der Epilepsie abhängen. 

Dr. Infeld berichtet im Anschluß an die vom Vortragenden angeführten 
Krankheiten, bei denen Tetanie vorgekommen ist, von einem einschlägigen 
Falle von Pomphigus vegetans, den er vor drei Jahren an der Hautklinik 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 359 

beobachtete. Eine 30jährige Frau kam nach halbjähriger Dauer ihrer Hautkrank¬ 
heit im Dezember aus Ungarn an die Klinik; progressiver Verlauf. Im März 
stellte Bich Herzklopfen, unregelmäßiger Puls, leichter Kollaps ein, in den 
nächsten Tagen rascher Verfall; gleichzeitig durch einige Tage, ohne daß Pat. 
vorher an Tetanie gelitten hätte, schmerzhafte, mit Kribbeln einhergehende kurz¬ 
dauernde Anfälle von tonischen Krämpfen der Finger beider Hände; Chvostek, 
Trousseau. Die nächsten Tage Kopfschmerzen, Erbrechen; Exitus. (Weiden¬ 
feld, Archiv für Dermatologie und Syphilis, 67. Bd.). 

Prof. v. Wagner bemerkt betreffs des Zusammenhanges zwischen Tetanie 
und Epilepsie, in den von ihm selbst beobachteten Fällen sei dieser dadurch 
klargelegt gewesen, daß die Epilepsie schon lange bestanden habe und die 
Kranken schon verblüdet gewesen seien. — Die Krämpfe der Hunde nach Schild¬ 
drüsenexstirpation lassen sich nicht ohneweiters als epileptisch bezeichnen; Bie 
haben nie kortikalen Charakter, sind nie halbseitig und könnten ebensogut als 
schwere tetanisohe Krämpfe mit Bewußtlosigkeit aufgefaßt werden. — Die tetanie- 
ähnlicben Krämpfe nach Wiederbelebung Erhängter haben eine Analogie mit 
ähnlichen Vorkommnissen nach Kohlenoxydvergiftung. 

Dozent Dr. Pineies teilt eine hiehergehörige Beobachtung mit, die einen 
tbyreoidektomierten Affen betrifft. Es handelte sich um ein sehr scheues und 
ängstliches Tier der Spezies Macacus Rhesus, das immer in einer Ecke des 
Käfigs saß und sich beim Herannahen einer Person meist in dem Stroh vergrub. 
Die erste Operation (Exstirpation beider äußerer Epithelkörper) rief eine leichte 
vorübergehende Tetanie hervor; nach der zweiten Operation (Entfernung der 
Schilddrüse samt den zwei in ihr gelegenen inneren Epithelkörpern) stellten sich 
die charakteristischen fibrillären Muskelzuckungen und Zitterbewegungen ein. 
14 Tage später entwickelte sieh ziemlich unvermittelt ein Exzitationszustand. 
Am Morgen bemerkte schon der Diener das vollkommen veränderte Wesen des 
Tieres. Der Affe schien sehr aufgeregt und lief viel im Käfig herum. Gegen 
Mittag steigerte sich die Exzitation. Das Tier sprang wie toll im Käfig herum, 
blieb oft stehen und starrte mit seinen glänzenden Augen in die Luft, als ob es 
etwas Schreckhaftes zu sehen glaubte. Bald wiederum wühlte es im Stroh 
herum und stürzte sich plötzlich mit aller Kraft gegen die eisernen Stäbe des 
Käfigs, an denen es herumbiß. Der Gesichtsausdruck verriet dabei große Auf¬ 
regung und Angst. Die Aufnahme von Futter verweigerte es. Dieser Aufregungs¬ 
zustand, der anscheinend mit Halluzinationen verbunden war, dauerte 3 Tage 
und verschwand daun rasch. Der Affe giug nach Monaten in einem tetanischen 
Anfall zugrunde. 

Diese Beobachtung erinnert sehr an die Mitteilungen, die F. Blum in 
Frankfurt betreff seiner thyreoidektoraierten Hunde veröffentlicht hat (Neurolog. 
Zentralblatt, 1902, S. 695). Während nämlich normal gefütterte Hunde nach 
otaler Thyreoidektomie (Entfernung der Schilddrüse und der Epithelkörperchen) 
einer akuten Tetanie erliegen, zeigen mit Milch gefütterte Hunde meist ein abge¬ 
schwächtes und in die Länge gezogenes Krankheitsbild. An diesen „Milchhunden'* 
konnte F. Blum mitunter psychische Störungen konstatieren. Die Tiere litten an 
Halluzinationen, schnupperten im Käfig herum, bissen in die leere Luft etc. etc. 

Es ist also von Interesse, daß diese bei total tbyreoidektomierten Tieren 
beobachteten Erregungszustände in manchen Punkten mit den bei der idio- 


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360 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


pathischen Tetanie des Menschen mitunter auftreteuden Psychosen übereiu- 
stimmen. Dieser Umstand würde für eine Beziehung der menschlichen Tetanie 
zu den branchiogenen Organen sprechen. 

Prof. v. Wagner: Die thyreoidektomierten Tiere mit Tetanie saldieren 
unglaublich stark. Vielleicht besteht bei der Scbilddrüsentetanie eine Beziehung 
zwischen dieser Erkrankung und den Speicheldrüsen. Wenn im vorgestellten 
Falle die Schwellung der Speicheldrüse auch lange vorangegangen ist, so wäre 
vielleicht doch auf die Möglichkeit eines Zusammenhanges zu achten. 

Dr. Infeld berichtet über das Verhältnis der Tetanie zur Epilepsie 
von einem Falle, in welchem beides einer Strumektomie folgte, so daß 
es in diesem Falle willkürlich wäre, zu sagen, der eine Zustand sei ein Sym¬ 
ptom des andern. Einem etwa 20jährigen Mädchen, das aus nervöser Familie 
stammte und hie und da psychisch sonderbar reagiert hatte, wurde auf der 

1. chirurgischen Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses im Sommer vorigen 
Jahres der Kropf teilweise entfernt. In der zweiten Woche nach der Operation 
stellte sich der erste epileptische Anfall ein, bald darauf hatte sie durch einige 
Tage Tetanie, in der Folge entwickelte sich eine auffallende psychische Verän¬ 
derung, Teilnahmslosigkeit zugleich mit Reizbarkeit und Vergeßlichkeit. Die 
Kranke starb nach wenigen Monaten. 

Dr. Hirschl: Es ist mir bekannt, daß im Verlaufe von Tetanie epilep¬ 
tische Insulte beobachtet werden; ich habe selbst derartige Fälle, wenn auch 
selten gesehen. In dem einen Fall von Psychose, den ich erwähnt habe, bestand 
aber die Epilepsie schon mehrere Jahre nnd erst* dann trat eine frische Tetanie¬ 
infektion auf. Ich mußte also von „Epilepsie, komplizieit mit Tetanie” sprechen. 

Bezüglich der Parotidenschwellung in dem vorgestellten Falle hebe ich 
hervor, daß wohl anamnestisch eine Gesiohtsschwellung berichtet wird, dieselbe 
aber nicht eine Parotidenschwellung gewesen sein muß. Die Steigerung der 
tetanischen und psychischen Symptome war in unserem Fall immer mit An¬ 
schwellung der Parotis verknüpft. 

Eine Beziehung der Tetanie zu den Epithelkörperchen besteht wohl sicher 
und ist in der Literatur vielfach hervorgehoben. Ich bin darauf nicht besonders 
eingegangeu, weil ich keine Obduktion hatte und also keinen Beitrag zu dieser 
Frage bringen konnte. In meiner ausführlichen Mitteilung (Jahrbücher für Psy¬ 
chiatrie) werde ich auf diese Frage ausführlich zu sprechen kommen. 

Jahresversammlung vom 10. Mai 1904. 

Vorsitzender: Prof. Dr. Ob er st ein er. 

Schriftführer: Dr. Pil cz. 

I. Administrative Sitzung. 

1 . Die Berichte des Ökonomen, des Schriftführers und des Bibliothekare 
werden genehmigt. 

2. Bericht des Referenten für den Vortragszyklus. Es wird den Vortragenden 
sowie den Herren Prof. Dr. Fuchs und Nothnagel für Überlassung des Saales 
der Dank der Versammlung ausgesprochen, außerdem beschlossen, den Herren 
Prof. Dr. Anton und Pick schriftlich den Dank des Vereines auszudrücken. 

3. Zum Ehrenmitglieds wird Hughlings-JackBon gewählt. 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 361 


4. Die Neuwahl des Vereinsausschusses ergibt: Vorsitzender Obersteiner, 
Stellvertreter v. Wagner, Ökonom Linsmayer, Schriftführer v. Sölder und 
Pilcz, Bibliothekar Berze, Beisitzer Drastich, v. Frankl-Hochwart, 
Redlich, Schloß. 

5. Zu ordentlichen Mitgliedern werden gewählt die Herren Doktoren: 
Paul Groag, Ernst Kalmus, Georg Kapsamer, Augast Müller, Alfred Selka, 
Karl Weiler. 

6 . Prof. OberBteiner stellt den Antrag, das Reinerträgnis aus dem 
Vortragszyklus als ersten Beitrag für eine Sammlung zur Errichtung eines vom 
Vereine im Uuiversitätsgebäude zu stiftenden Denkmales für v. Krafft-Ebing 
zu verwenden; die weitere Durchführung sei einem Komitee, bestehend aus den 
Herren Obersteiner, Wagner, Linsmayer, v. Sölder und Pilcz zu über¬ 
weisen. Der Antrag wird angenommen. 

7. Dr. Fuchs stellt den Antrag, es sei ein Generalindex der bisher er¬ 
schienenen Baude der Jahrbücher für Psychiatrie anzulegen. Prof. Dr. Fritsch 
verspricht, sich diesbezüglich mit dem Verlagsbuchhändler ins Einvernehmen 
zu setzen. 


II. Wissenschaftliche Sitzung. 

1. Dr. Artur Schüller demonstriert einen 19 Monate alten Knaben, der 
an der Nervenabteilung des Kinderkrankeninstitutes in ambulatorischer 
Behandlung steht Nach Angabe der Mutter war das Kind nie ernstlich krank, 
wohl aber stets schwächlich. Nachdem es bereits sitzen nnd stehen gelernt hatte, 
hörte es seit % Jahreu mehr und mehr zu stehen auf. Auch vermochte es nicht 
mehr gut aufrecht zu sitzen. Gegenwärtig konstatiert man außer den Symptomen 
leichter Rachitis: hochgradige Hypotonie der Muskulatur an den unteren Ex¬ 
tremitäten ohne deutliche Atrophie der Muskeln, Fehlen der tiefen Reflexe, hoch¬ 
gradige (quantitative) Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit. Aktive Bewe¬ 
gungen der Beine sind nur in geringem Maße ausführbar. Knochen und Gelenke 
normal, auch im Röntgenbilde. Sensibilität erhalten; keine fibrillären Zuckungen. 
Nach Ausschließung von Poliomyelitis, Polyneuritis, Dystrophia musculorum, 
rachitischer Pseudoparese, Myasthenie und Myoplegie ergibt sich die Diagnose 
einer Myatonie Oppenheims. 

Diskussion: Dr. Marburg bemerkt, daß die Fälle Oppenheims an¬ 
geborene, nicht erworbene Störungen betrafen. 

Dr. Schüller erwidert, daß Oppenheim selbst auf das Kongenitale 
des Prozesses nicht ausschlaggebenden Wert legt; auch schwere allgemeine Er¬ 
nährungsstörungen kämen in Betracht. 

Auf eine Anfrage Dr. Linsmayers nach der Prognose antwortet Dr. 
Schüller, daß die Prognose im allgemeinen ungünstig sei. Elektrizität erziele 
manchmal, so auch hier, gewisse Erfolge. Die Ätiologie sei unklar. 

2. Dr. Alfred Fuchs demonstriert 4 Fälle. 

Der 29 Jahre alte Mann leidet seit 3 Jahren an zunehmender Schwäche 
der oberen Extremitäten, als deren Grund sich leicht ausgedehnte Atrophien der 
Muskulatur erkennen lassen. Es besteht Schwäche und Volumsabnahme der 
beiderseitigen Gesichtsmuskeln, hochgradige Atrophie der Halsmuskulatur, ins¬ 
besondere beider Sternocleidomastoidei, Atrophien im Deltoideus, Trizeps und 


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362 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


ganz besonders an beiden Vorderarmen. Das Muskelrelief des Supinator longus 
fehlt auf beiden Seiten. Die Hände, Unterleib und die unteren Extremitäten sind 
vollkommen frei. Im Gebiete der Atrophien zeigen sich stellenweise fibrilläre 
Zuckungen, es besteht geringe, aber deutliche Steigerung der tiefen Reflexe, 
keinerlei Sensibilitätsstörungen, keine Umkehr des Zuckungsgesetzes, jedoch sehr 
träge Zuckung. 

Die Ätiologie des Falles ist ebenso unklar, wie seine Zugehörigkeit zu 
einer der bekannten Gruppen der Muskelatrophien; am ehesten könnten wir uns 
für eine atypische Form der spinalen Muskelatrophie entscheiden. 

Der Grund aber, weshalb ich den Pat. demonstriere, ist das Vorhanden¬ 
sein deutlicher Symptome von Myotonie. An allen Muskeln des Ober¬ 
körpers und der oberen Extremitäten, und zwar an denen, welche nicht voll¬ 
ständig degeneriert sind, wie z. B. die Stemocleidomastoidei, sondern siehtlich 
im Beginne der atrophischen Veränderung stehen, zeigen sich sowohl bei direktem 
Beklopfen, als bei der elektrischen Untersuchung diese Erscheinungen der Myo¬ 
tonie. Klopfe ich z. B. auf die Radialseite des Vorderarmes, so tritt reflektorische 
Dorsalflexion im Karpus ein. Die Hand sinkt aber nicht sofort zurück, sondern 
bleibt eine meßbare Zeit in der dorsal flektierten Stellung fixiert stehen. Ich 
zeige hier die graphische Registrierung faradischer Kontraktionen des Bizeps, an 
welchen man dieses langsame Absohwellen des Muskels nach Aufhören des 
Reizes sehr schön sehen kann. 

Der zweite, 45 Jahre alte Mann weist im ganzen und großen dieselben 
Erscheinungen auf. Es ist der erste Fall dieser Art, den ich beobachtet habe, 
und hat schon subjektiv die Myotonie seiner Muskulatur, insbesondere der Strecker 
der rechten oberen Extremität gleich bei der Aufnahme der Anamnese berichtet. 
Bei ihm sind die Atrophien weniger deutlich, die fibrillären Zuckungen reich¬ 
licher. Auch seine Zugehörigkeit in die gangbaren Gruppen der Atrophien ist 
eine fragliche. Das Hinzutreten myotonischer Erscheinuugen zu myatrophischen 
Prozessen ist ein relativ seltenes. In letzter Zeit wächst die Zahl der Beobach¬ 
tungen (Hoffmann, Schott, Cassierer). Rossolimo hat anläßlich eines von 
ihm beobachteten Falles nicht gezögert, eine neue Krankheit unter dem Namen 
Myotonia atrophica aufzustellen. Ich behalte es mir vor, auf das Für und 
Gegen in einer ausführlichen Arbeit näher einzugehen. Fs wird die Situation in 
dieser Frage noch dadurch kompliziert, daß von F. Hoffmann, neuerdings von 
Schiefferdecker und Schultze, Fälle beschrieben wurden, wo zu echter Myo- 
tania congenita Atrophien hinzutraten. 

Im Anschluß an diese 2 Fälle aquirierter Myotonie zeige ich einen Pat 
mit echter Thomsenscher Myotonia congenita, nicht familiär. Das einzige 
ätiologische Moment ist vielleicht die konsanguine Ehe seiner Eltern. Alle Zeichen 
der Thomsenschen Fälle finden sich in diesem Falle wieder. Ganz besonders 
möchte ich nur an die psychische Beeinflußbarkeit der myotonischen Symptome 
anläßlich dieses Falles erinnern; dieser schon von Thomsen hervorgehobene 
Umstand wird oft übersehen. 

Schließlich möchte ich noch diesen jungen Mann zeigen, der an hyste¬ 
rischer Myotonie leidet und sehr schönen Intentionskrampf aufweist: den Typus 
der sogenannten „myotonischen Hand’, welche den einmal gefaßten Gegen¬ 
stand erst nach langer Zeit freiiäßt. 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 363 

In der Diskussion erinnert v. Frankl-Hochwart an einen Fall, der 
als typisches Bild von Dystrophia muskularis progressiva zu imponieren schien, 
aber gesteigerte Reflexe und myotonische Reaktion aufwies. Später entpuppte sich 
dieser Casus als Syringomyelie. 

Prof. Schlesinger bemerkt, daß er eine ganze Reihe von Fällen kenne, 
welche Syringomyelien mit myotonischer Reaktion betreffen. 

Dr. Fuchs meint, daß wegen des Fehlens irgendwelcher Sensibilitäts¬ 
störungen hier der Gedanke an Syringomyelie wohl fallen gelassen werden 
könnte. * 

Prof. v. Frankl-Hochwart erwidert, daß auch in dem Falle, den er 
erwähnte, anfangs nicht die geringsten Sensibilitätsstörungen Vorgelegen waren. 
Das einzige Verdächtige war damals die Steigerung der Reflexe. 

8 . Dr. Artur Berger demonstriert das Gehirn eines am 25. April ob¬ 
duzierten Knaben. Es handelte sich um denselben Pat., den Vortragender am 
13. Mai 1902 im Verein für Psychiatrie und Neurologie vorgestellt hatte und 
bei welchem er auf Grund von Hirntumorsymptomen, Waohstumstörungen, die 
sich einerseits im Zurückbleiben im Größenwachstum, anderseits in abnormer 
Vermehrung des Fettgewebes manifestierten, trotz Fehlena von Hemianopsie die 
Diagnose auf Tumor cerebri mit Beteiligung der Hypophyse stellte. Pat blieb 
noch 2 Jahre in Observation; in dieser Zeit war er nur um wenige Zentimeter 
gewachsen, blieb auffallend fett Sehr starken Schwankungen zeigte sich das 
Sehvermögen unterworfen. Anfänglich bestand rechts Amaurose, links Finger¬ 
zählen auf IV 2 ™y dabei ein sektorenförmiges Gesichtsfeld. Dann trat plötzlich 
totale Amaurose ein; allmählich besserte sich wieder das Sehvermögen und die 
Sehschärfe betrug vor dem Tode rechts = 1 / 2 » links = Vs» dabei bestand links 
ein normales, rechts ein stark konzentrisch eingeschränktes Sehfeld. Die klinische 
Diagnose wurde aufrecht erhalten. 

Bei der Obduktion fand sich ein Plattenepithelkarzinom der Hypo¬ 
physengegend. DieHypophyse selbst komprimiert und plattgedrückt* 
Die mikroskopische Untersuchung wird im pathologisch-anatomischen Institut 
vorgenommen und es wird von dort aus darüber berichtet werden. 

Diskussion: Prof. v. Frankl-Hochwart: loh habe auf Grund des 
von A. Fröhlich formulierten Satzes, daß man unter Umständen das Auftreten 
der Verfettung und des Zurückbleibens im Wachstum in Verbindung mit ge¬ 
wissen Sebstörungen benützen kann, um die Hypophysiszerstörungen zu dia¬ 
gnostizieren, versucht, eine solche Diagnose zu stellen. Es handelte sich um ein 
13jähriges Mädchen aus Ungarn, das ich in der Konsultationspiaxis am 3. De¬ 
zember 1903 untersuchte. In der Familie weder Lues noch Nervenkrankheiten; 
das Mädchen hat im 1. Lebensjahre eine Kopfverletzung erlitten, die jedoch ohne 
Folgeerscheinungen blieb, sonst war sio stets gesund gewesen, hat nur hie und 
da über Kopfschmerzen geklagt. Im 11. Jahre wurden die cephalischen Be¬ 
schwerden auffallend heftig uud waren öfters von Erbrechen begleitet. Seit dieser 
Zeit soll Schielen aufgetreten sein. Im August 1903 wurden die Beschwerden 
immer quälender. Das Kind soll geistig schwerfälllig und trag geworden sein; 
daneben kam es zu Schwindelanfällen und unsicherem Gang. Einmal ging das 
Bewußtsein verloren, zweimal wurde es getrübt. Hie und da soll Bettnässen auf¬ 
getreten sein. Die Augen sollen etwas prominenter als früher sein; über Seh- 


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364 Bericht des Vereines für Psychiatrie and Neurologie in Wien. 


Störungen hat Pat. nie geklagt (Gehör normal, keine Motilitäts-, keine Schluck¬ 
störungen, nie Krämpfe). Auffallend groß ist der Appetit; in einem halben Jahre 
ist das Körpergewicht von 40 kg auf 47 kg gestiegen. 

Tatsächlich war die Fettleibigkeit des Kindes, welches für sein Alter etwas 
klein schien, ganz auffallend. Die Verfettung schien am ganzen Körper gleich¬ 
mäßig; psychisch machte die Pat. einen etwas schwerfälligen, doch keineswegs 
einen unintelligenten Eindruck. 

Der occulistische Befund (Herr Doz. Dr. Kann) ergab leichten Exophtal- 
mus, Strafflsmus divergent mit etwas Höhenablenkung Der Umstand, daß sieh 
leicht gekreuzte Doppelbilder hervorrufen lassen, beweist, daß früher, einmal bin- 
okulärer Sehakt bestanden haben muß. Sehschärfe, Farbensinn, Akkomodation 
der Pupillen normal, Fundus ist 6ehr verdächtig auf Neuritis optica peracta. Be¬ 
weglichkeit des Auges nahm ab. Zuckungeu nnd Zurückweichen in den seitlichen 
Endstellungen. Die Ungleichheit der Lidspalten dürfte auf kongenitaler Asym¬ 
metrie basieren. Das Gesichtsfeld war etwas unregelmäßig eingeschränkt und 
zwar links etwas mehr als rechts. 

Vom Nervenbefund ist nur noch hervorzuheben, daß der Gang etwas unsicher, 
schleifend war; das Ro mb erg -Phänomen war deutlich auszulösen, die Sehnen¬ 
reflexe mäßig gesteigert, Hautreflexe normal, kein Babinsky-Phänomeu; Gehirn¬ 
nerven mit Ausnahme des Augenbefundes normal. Motilität frei, kein Tremor, 
kein Iutentionstremor. Innere Organe normal; kein Eiweiß, kein Zucker. Laut 
wiederholt eingegangenen schriftlichen Berichten war insofern eine gewisse Bes¬ 
serung zu verzeichnen, als die Kopfschmerzen seltener wurden; sie ergreifen 
jedoch hie und da das Genick. Der Gang blieb unsicher, das rechte Bein soll 
etwas nachgeschleift werden. 

Prof. Dr. Elschnigg erinnert daran, daß es bei Tumoren in der Hypo¬ 
physisgegend zwar außerordentlich große Schwankungen in der Sehschärfe und 
im Verhalten des Gesichtsfeldes gäbe, daß aber um anatomische Läsionen sich 
auch funktionelle Störungen gruppieren können, welche eine stärkere Sebstorung 
vorzutäuschen vermögen, als sie tatsächlich vorhanden sei. (ln ähnlicher Weise 
kann ja auch eine hysterische Blindheit durch kleine organische Läsionen im 
Bereiche des äußeren Augenapparates provoziert werden, wie Elschnigg nach¬ 
gewiesen.) 

Dr. Fuchs vermißt unter der Aufzählung des Vorredners über Fort¬ 
schritte in der Diagnose der Hypophysentumoren die Erwähnung der radio- 
akopischen Untersuchung. Gerade der Fall Frankl-Hochwart würde sich 
dazu eignen. 

Dr. Berger erwähnt gegenüber Elschnigg, .daß an funktionelle Seh- 
störungen wegen Lichtstarre der Pupillen nicht zu denken sei. Gegenüber Fuchs 
weist Berger darauf hin, daß in seinem Falle die Röntgenuntersuchung ihn 
im Stiche gelassen hatte. 

4. Dr. Tedesko demonstriert einige Röntgenbilder von Extremitäten 
Syringomyelitischer, die abweichende Typen von den bisher bekannten 
Formen der Knochenveränderungen bei dieser Krankheit darstellen. In 12 Fällen 
von Syringomyelie (3 davon mit bulbären Störungen) gelangte eine dem Bilde 
der „chronischen Knochenatrophie”, i. e. gleichmäßiger R&refikation der 
Corticalis und Spongiosa an Dia* und Epiphysen, entsprechende Knochenver- 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 365 

ändernng zur Beobachtung. In einem Falle fand sich auffallenderweise in der 
Grundpbalanx des rechten Daumens, dessen übriges Skelett deutlich atrophisch 
ist. in ihren distalen Partien eine kompakte Knochenmasse, indem der Markraum 
plombenartig von den beiden ineinander übergehenden inneren Grenzlamellen 
der Gortikalis erfüllt wird. 

Die Entwicklung dieser Atrophie (Osteoporose) hängt mit dem Grund- 
leiden zusammen und ist analog dem Weichteilsohwund an den befallenen Ex¬ 
tremitäten. Die geringere Festigkeit des Knochens gibt bei selbst geringfügigen 
Traumen zu Spontan-Frakturen und Osteoarthropathien Anlaß. Dieser Übergang 
von Knochenatrophie in Arthropathie konnte in einem Falle durch das Röntgen¬ 
bild festgestellt werden. 

Die genauen Befunde werden in der „Deutschen Zeitschrift für Nerven¬ 
heilkunde” ausführlich publiziert erscheinen. 

5. Dr. E. Oka da (Tokio) spricht unter gleichzeitiger Demonstration über 
Hari (Akupunktur) und Kju (Moxenbehandlung) in Japan. 

Verf. gibt zunächst einen geschichtlichen Überblick des Heilverfahrens, 
wobei er unter anderem hervorhebt, daß es schon vor etwa 1850 Jahren von~einem 
Fachtnann in einer Anstalt ausgeübt wurde, aber erst später (vor etwa 300 Jahren) 
eine erhebliche Entwicklung erfuhr. Verf. demonstriert nun verschiedene Typen 
gewöhnlicher und sogenannter Druckmoxen, welch erstere direkt, letztere indirekt 
über den bestimmten Hautstellen („Punkte” oder „Löcher” genannt) abgebrannt, 
respektive verglimmt werden. 

Bezüglich der Akupunktur zeigt der Verf. einige goldene und silberne 
Nadeln und setzt deren Anwendungsweisen und Wirkungen (neben denen der 
Moxen) auseinander. Als Indikationen wurden Neuralgien, Krämpfe, Lähmungen, 
Magen- und Darmbeschwerden etc. aufgezählt. Zum Schlüsse gab Verf. eine 
Kritik über topographische Verhältnisse der sogenannten „Punkte” und „Löcher” 
und über die Wirkungsweise dieses eigentümlichen Heilverfahrens. 

Sitzung vom 14. Juni 1904. 

Vorsitzender: Prof. Obersteiner. 

Schriftführer: Dr. v. Söldör. 

1. Zu Mitgliedern werden gewählt die Herren Prof. M. v. Zeissl (Wien 
und Sanitätsrat Dr. N. v. Kaan-Albest (Meran). 

2. Dr. Robert Rosenthal berichtet unter Demonstration von mikro¬ 
skopischen Präparaten über den cytologischen Teil von Untersuchungen der 
Cerebrospinalflüssigkeit, die gemeinsam mit Dr. Fuchs an der 2. psychiatrischen 
Klinik ausgeführt wurden. 

8 . Dr. A. Fuchs berichtet über die physikalisch-chemischen Unter¬ 
suchungen derselben Flüssigkeiten. 

(Die Ergebnisse dieser beiden Untersuchungen, sowie die Methodik (u. a. 
neue Zählmethode) sind in der med. Presse November 1904 in ausführlicher 
Darstellung veröffentlicht.) 

4. Dozent Dr. B. Alexander und Prof. Dr. L. v. Frankl-Hochwart 
demonstrieren die Präparate eines Falles von Acusticus-Tumor, der 
intra vitam an der Klinik Nothnagel beobachtet und histologisch im Institute 
des Herrn Prof. Obersteiner untersucht wurde. 

JakrbSekar f. Psyehtetrie and Neurologie XXV. B»l. 24 


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366 Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 

Ein 59jähriger Manu begann anfangs Februar 1902 au Unsicherheit der 
Beine zu leiden, akquirierte am 28. Februar eine Hinterhauptswunde; danach 
traten schwere Nervensymptome, so namentlich Schwindel, Kopfschmerz, Er¬ 
brechen, Geistesschwäche auf, daneben Augenmuskellähmungen, Stauungspapille; 
ferner an der linken Seite Trigeminus-Anästhesie, Kaumuskellähmung, Schwer¬ 
hörigkeit mit den Zeichen einer nervösen Störung, Facialis-, Gaumensegel- 
Lähmung, Neigung nach links zu fallen, Reflexsteigerung. Später traten Ohn¬ 
mächten auf, sowie Zuckungen, die besonders das Gesicht links ergriffen. Der 
Obduktionsbefund ergab eine kugelrunde Geschwulst von 2 cm Durchmesser, 
welche die linken Kleinhirnstiele komprimierte, mit dem Acusticus und Facialis 
zusammenhing und in den inneren Gehörgang wucherte. Die Untersuchung des 
Tumors zeigte, daß es sich um ein Neurofibrom handle. Die anatomische Unter¬ 
suchung des Labyrinths ergab degenerative Atrophie des N. coehleae und des 
Ganglion spirale, Atrophie des Cor tischen Organes, der Striae vasculares mit 
partieller Degeneration des Ringbandes. 

5. Prof. v. Frankl-Hochwart demonstriert einen Fall von Thom- 
senscher Krankheit. 

Es handelt sich um eine 22jährige Hilfsarbeiterin; die Mutter demselben 
scheint an einer ähnlichen Krankheit gelitten zu haben; auch sonst sind 
Neuropathien in der Familie nachzuweisen. Pat. leidet seit Kindheit an der ty¬ 
pischen Muskelsteifigkeit: bei Ergreifen eines Gegenstandes tritt z. B. immer 
Krampf der Hände ein; auch die unteren Extremitäten sind steif, hie und da 
kommt es zu Störungen des Sprech- und Kauaktes. In den letzten Mouateu hat 
sich der Znstaud nach Gemütsbewegungen wesentlich verschlechtert, daneben 
kam es zu Stimmritzenkrampf, universellen Schüttelkrärapfen und Ohnmächten. 

Vortragender demonstriert au der Pat. die besonders in der Muskulatur 
des Rückens, der Arme, der Waden auffallenden Hypertrophien; bei intendierten 
Bewegungen tritt Muskelsteifigkeit ein, bei kräftigem Beklopfen einzelner Mus¬ 
keln kommt es zu Dellenbildung, die sich nur langsam ausgleicht; bei elek¬ 
trischer Reizung deutliche Nachdauer der Kontraktion; bei galvanischer Reizung 
an einzelnen Muskeln träge Dellenbildung mit einer Andeutung von Wogen. 

Der Fall wird in extenso in der deutschen Klinik publiziert. 

G. Prof. v. Frankl-Hochwart erstattet eine vorläufige Mitteilung 
über Versuche, die kortikale Innervation der Harnblase betreffend, 
die er gemeinsam mit Dr. Alfred Fröhlich im Laboratorium des Herrn Prof. 
Dr. v. Basch unternommen hat. 

Die Versuche beziehen sich auf 23 männliche Hunde; die Hauptfrage war, 
ob von der Hirnrinde aus eine Erschlaffung des Sphinktertonus 
möglich sei. Die Bearbeitung dieser Frage war darum so notwendig, weil ja 
klinische Erfahrungen schon längst darauf hingewiesen, daß der Uriuierakt durch 
den genannten Mechanismus eingeleitet wird. Ich habe schon in meiner Bear¬ 
beitung der nervösen Blasenstörungen mit 0. Zuekerkandl darauf hingewiesen, 
daß die andereu Theorien nicht stichhältig sind, gezeigt, daß nur mit Zugrunde¬ 
legung der genannten Hypothese alle klinischen Fakten erklärbar sind. 

Die genannte Lehre hat erst durch die Arbeiten von v. Zeissl einen 
reellen Hintergrund bekommen, der im Institute von v. Basch zeigte, daß Eri- 
gensreizuug den Sphinkter erschlaffe, so daß es zu einem vom Detrusor unab- 


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Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 367 

hängigen Urinabfluß kommen kann. Über die sinnreiche Methode, durch welche 
der Nachweis gelang, mag die Originalpublikation eingesehen werden. Daselbst 
findet man auch die Diskussion der zum Teile gegenteiligen Ansichten von 
Rehfisch, Fagge, Griffiths. Wir haben die Experimente Zeissls mehrfach 
wiederholt und konnten in einer Reihe von Fällen seine Resultate bestätigen; 
In anderen gelang es uns nicht, das genannte Resultat zu erzielen; anatomische 
Varietäten mögen die Ursache hiervon sein. Dadarch wird es auch erklärlich, 
daß unsere Kortikalreizungen nicht zu übereinstimmenden Resultaten führen. 
Hingegen gelang es fast immer, von der Rinde aus Detrusorkontraktionen zu er¬ 
zielen. Das wirksame Rindenfeld liegt ungefähr 1 cm hinter dem Sulcus 
cruciatus und einige Millimeter bis 7 cm von der Mantelkante entfernt und findet 
sich symmetrisch auf beiden Hemisphären vor. Damit bestätigen wir die Unter¬ 
suchungen von Rochefontaine, Francis Franok v. Bechterew mit 
Mislafsky und Meyer. 

Für die uns hauptsächlich interessierende Sphinktererschlaffung kommt 
von Vorarbeiten nur die von Franck in Frage, der tatsächlich eine solche hie 
und da gesehen, ohne .daß er imstande war, über die Bedingungen ihres Zu¬ 
standekommens etwas auszusagen, da ihm die erst viel später erkannten Eigen¬ 
heiten der peripheren Innervation völlig unbekannt waren. 

Wir arbeiteten unter Benutzung von Erfahrungen Zeissls, indem wir 
den Detrusor dadurch unwirksam machten, daß wir ein Rohr in die einge¬ 
schnittene Blase einbanden, das mit einem mit Wasser gefüllten Staadgefäße in 
Verbindung war. Durch diese Anordnung konnte der sich allenfalls kontra¬ 
hierende Detrusor keine Kraftanwendung gegenüber dem muskulären Verschlüsse 
entfalten; in einem anderen Falle bedienten wir uns des „Rücklaufversuehes”. 

Wir haben nun in 8 von 21 Fällen, bei denen ursprünglich Detrusorkon¬ 
traktionen von der Rinde aus nachweisbar waren, zeigen können, daß durch 
Reizung der oben geschilderten Stelle auch Erschlaffung des Sphinkters 
stattfinden könne. In fünf weiteren Fällen war das Resultat geringfügiger, in 
9 Fällen versagte der Versuch. 

Nachdem wir durch ältere Erfahrungen — vgl. meine Studien mit 
Zuokerkandl — sowie durch neuere Arbeiten (v. Czyhlarz und Marburg, 
Friedmann) wissen, daß es auch beim Menschen kortikale Blasenstörungen 
geben kann, ist eine Übertragung unserer Experimente auf die menschliche 
Pathologie wohl zulässig. 

7. Dr. A. Schüller bespricht die Ergebnisse seiner gemeinsam mit 
Dr. Robinsohn vorgenommenen Untersuchungen über die röntgenologische 
Darstellung der Schädelbasis. Er demonstriert zahlreiche Röntgenogramme von 
typischen Aufnahmen der Schädelbasis im normalen und pathologischen Zustand. 
(Erscheint ausführlich.) 


24 * 


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Mitgliederverzeichnis 

des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien nach dem Stande 
vom 1. Februar 1905. 

Ehrenmitglieder: 

Erb Wilhelm, Hofrat und Universitätsprofessor, Heidelberg. 

Golgi Camillo, Universitätsprofessor, Pavia. 

Gowers William Richard, Sir, Professor, London, Queen Anne Street. 

Jackson Hughlings J., F.R. S., London W., Manchester Square 3 
Lähr Heinrich, Geh. Sanitätsrat und Professor, Zehlendorf bei Berlin, 
v. Leyden E., Geh. Medizinalrat und Universitätsprofessor, Berlin. 

Magnan Valentin, membre de l’acaddmie de medicine, Paris. 

Ramon y Cajal S., Universitätsprofessor, Madrid. 

Retzius Gustav, Professor, Stockholm. 

Korrespondierende Mitglieder: 

Bo mbar da Don Miguel, Universitätsprofessor Rilhaffolles, Lissabon. 
Borgherini Alexander, Universitätsprofessor, Padua. 

Edinger Ludwig, Professor, Frankfurt a. M. 

Henschen Salomon, Universitätsprofessor, Stockholm. 

Hitzig Eduard, Geh. Medizinalrat und Universitätsprofessor, Halle a. d. S. 
Marie Pierre, Professeur agrege, Paris, Boulevard St. Germain 209. 

Monak ow C. v., Professor, Zürich. 

Mongeri Luigi, Direktor, Konstantinopel. 

Neisser Klemens, Direktor der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Lublinitz, 
Oberschlesien. 

Oppenheim H., Universitätsprofessor, Berlin. 

Unger Josef, wirklicher Geheimrat und Universitätsprofessor, Wien. 

Wer nicke Karl, Medizinalrat und Uuiversitätsprofessor, Halle. 

Ordentliche Mitglieder: 

Anton Gabriel, Uuiversitätsprofessor, Vorstand der psychiatrischen und Nerven- 
klinik in Graz, Kürbiergasse 4. 

Alexander Gustav, Privatdozent, Assistent der Ohrenklinik, Wien, IX. 
Alserstraße 4. 

Apt Franz, k. u. k. Regimentsarzt, Graz, Garnisonsspital. 

Bamberger Eugen, Primararzt, Wien, I. Liehtenfelsgasse 1. 


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Mitgliederverzeicbnis des Vereines für Psychiatrie etc. 


369 


Bayer Kar], Primararzt und Leiter der Beobachtungsstation für Geisteskranke 
in Sarajewo. 

Beck Rudolf, Wien, VII. Hofmühlgasse 18. 

Berger Artur, Hospitant der I. medizinischen Klinik, Wien, I. Krugerstraße 13. 

Berl Viktor, Augenarzt, Troppau, Schlesien. 

Bern er t Richard, k. k. Regimentsarzt, Wien, XIII. Auhofstraße 35. 

Bemheimer Stefan, Universitätsprofessor, Vorstand der Augenklinik, Innsbruck, 
Maria Theresienstraße 81. 

Berze Josef, Primarius der n. ö. Landesirrenanstalt in Wien, IX. Lazareth- 
gasse 14. 

Biedl Artur, Professor für experimentelle Pathologie, Wien, XIX. Kreindlgasse 4a. 

Bisohoff Ernst, Privatdozent für Psychiatrie und Nervenheilkunde, Sekundär- 
arzt au der n. ö. Landesirrenanstalt in Klosterneuburg, Gerichtsirrenarzt. 

Bock Ernst, Sanitätsrat, Direktor der schlesischen Landesirrenanstalt in Troppau. 

Bondi Max, Augenarzt, Iglau. 

Bonvicini Giuglio, Sanatorium Dr. Vigili, Tulln. 

Braun Ludwig, Privatdozent für innere Medizin, Wien, IX. Liechtensteinstraße 4. 

Bresslauer Hermann, Wien, I. Parkring 18. 

Breuer Josef, praktischer Arzt, Wien, I. Brandstätte 6. 

Breuer Robert, Privatdozent für innere Medizin, Wien, IX. Garnisongasse 1. 

Canestrini Luigi, Primararzt, Triest. 

Catti Georg, Primararzt, Fiume. 

Chvostek Franz, Professor für interne Medizin, Wien, IX. Garnisongasse 6. 

v. Czyhlarz Ernst, Privatdozent, Assistent an der I. medizinischen Klinik, 
IX. Alserstraße 4. 

Czumpelik Benjamin, Universitätsprofessor, Landesirrenanstalt, Prag. 

Danadschjeff Stefan, Primararzt der psychiatrischen Abteilung im Alexander¬ 
spital, Sofia. 

Divjak Stefan, ordinierender Arzt in der krainisehen Laudesirrenanstalt, Studenec 
bei Laibach, Post Salloeka. 

Dobrschansky Max, Assistenzarzt dem. ö. Landesirrenanstalt in Klosterneuburg. 

Donath Julius, Assistent an der I. medizinischen Klinik, Wien, VIII. Landes- 
gerichtstraße 18. 

Drastich Bruno, k. u. k. Stabsarzt, Wien, VIII. Luidongasse 33 (Mölkerhof). 

Eoonomo Konstantin, Wien, I. Grillparzerstraße 5. 

Eisonsohitz Emil, praktischer Arzt, Wien, I. Rithausstraße 2. 

Elschnig Anton, Professor der Augenheilkunde, Wien, IX. Währingerstraße 24. 

Elzholz Adolf, Privatdozent für Psychiatrie und Neurologie, Landesgerichts¬ 
arzt, W T ien, IX. Schwarzspanierstraße 11. 

Engländer Martin, Wien, VI. Mariahilferstraße 115. 

Epstein Julius, Aspirant des allgemeinen Kraukenhauses, Wien, I. Grill¬ 
parzerstraße 11. 

Erben Sigmund, Privatdozent für innere Medizin, Wien, VIII. Landesgerichts¬ 
straße 20. 

Es che rieh Theodor, Universitätsprofeesor, Vorstand der Kinderklinik, Wien, 
I. Schottenring 10. 

Falb Virgil, praktischer Arzt, Preßburg, Kaltvvasserkuranstalt. 


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370 


MitgliederverzeichnU des Vereines 


Federn Paul, praktischer Arzt, Wien, I. Spiegelgasse 4. 

v. Frankl-Hochwart Lothar, Professor für Nervenheilkunde, Wien, I. Volks¬ 
gartenstraße 5. 

Freud Sigmund, Professor für Nervenheilkunde, Wien, IX. Berggasse 19. 

Frey Hugo, Ohrenarzt, Wien, I. Garnisongasse 1. 

Friedmann Hermann, Assistenzarzt an der Privatheilanstalt in Gainfarn bei 
Vöslau. 

Friedmann Theodor, kais. Bat, Direktor der Privatheilanstalt in Gainfarn bei 
Vöslau, im Winter Wien, I. Operngasse 16. 

Fries Edgar, Besitzer des Sanatoriums in Inzersdorf bei Wien. 

Fritsoh Johann, Universitätsprofessor, Gerichtsirrenarzt, Wien, I. Habs¬ 
burgergasse 1. 

Fröhlich Alfred, Assistent an der Poliklinik, Wien, I. Eßlinggasse 18. 

Fach8 Alfred, Assistent an der II. psychiatrischen und Nerveokliüik, Wien, 
IX. Garnisongasse 1. 

Fuchs Ernst, Hofrat und Universitätsprofessor, Vorstand der I. Augenklinik, 
Wien, VIII. Skodagasse 16. 

Ghon Anton, Universitätsprofessor, Assistent am pathologisch-anatomischen In¬ 
stitute, Wien, IX. Altmüttergasse 4. 

Göstl Franz, Assistenzarzt an der Privatirrenanstalt Pokorny in Lainz, Jagd- 
schloßgasse 1. 

Gorgosch Anton, Assistenzarzt an der Privatirrenanstalt Pokorny in Lainz, 
JagdsohloßgasBe 1. 

Gott lieb Emil, Sekundararzt des allgemeinen Krankenhauses, Wien, IX. Alser- 
straße 4. 

Groag Paul, Aspirant des allgemeinen Krankenhauses, Wien, IX. Kolingasse 20. 

Großmann Michael, Professor für Laryngologie, Wien, IX. Garnisongasse 10. 

Grünberg Alois, städtischer Oberbezirksarzt, Wien, I. Bankgasse 8. 

Grünwald Hermann, praktischer Arzt, I. Naglergasse 29. 

Gugl Hugo, Direktor des Sanatoriums Maria. Grün bei Graz. 

v. Gulat-Wellenberg Walter, Hospitant der II. psychiatrischen und Nerven- 
klinik, Wien, IX. Alserstraße 4. 

Gusina Eugenio, Irrenanstalt, Triest. 

Hab erd a Albin, Professor für gerichtliche Medizin, Landesgerichtsarzt, Wien, 
XIX. Cottagegasse 89. 

v. Halb an Heinrich, Professor für Psychiatrie und Neurologie, Wien, VIII. 
Sehlüsselgasse 18. 

Halla Ludwig, praktischer Arzt, VI. Mariahilferstraße 3. 

Hammerschlag Albert, Privatdozent für interne Medizin, Wien, I. Univer¬ 
sitätsstraße 11. 

Hanke Viktor, Privatdozent, Assistent an der II. Augenklinik, Wien, I. Volks¬ 
gartenstraße 5. 

.Hartmann Fritz, Privatdozent, Assistent an der Klinik für Geistes- and Ner¬ 
venkranke, Graz, I. Karmeliterplatz 6. 

Haskovec Ladislaus, Privatdozent für Psychiatrie und Nervenheilkunde, Prag, 
Ferdinandsstraße 24. 

Hatschek Rudolf, Sanitätsrat, Kurarzt, Gräfenberg. 


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für Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


371 


Hellioh Bohuslav, Privatdozent für Psychiatrie, dirig. Primararzt der böhm. 
Landes-Irrenanstalt Wopran bei Tabor. 

Herz Albert, Sekundararzt des allgemeinen Krankenhauses, Wien, IX. Alser- 
straße 4. 

Heveroch Anton, Privatdozent für Psychiatrie und Neurologie, Prag I. 251. 

Hirschl J. A., Privatdozent, Assistent an der II. psychiatrischen und Nerven- 
klinik, Wien, IX. Alserstraße 4. 

Hitsehmann Eduard, praktischer Arzt, Wien, I. Gonzagagasse 16. 

Hitsohmann Richard, Augenarzt, I. Rotenturmstraße 14. 

Hoevel Hermann, Gerichtsirrenarzt, Wien, I. Landesgerichtsstraße 6. 

Ho fbau er Ludwig, praktischer Arzt, Wien, IX. Alserstraße 6. 

Hof mann Franz, Assistent der II. internen Abteilung des allgemeinen Kran¬ 
kenhauses, Wien, IX. Alserstraße 4. 

Holländer Alexander, Privatdozent für Psychiatrie und Nervenheilkunde, Wien, 
I. Rathausstraße 20. 

Holzknecht Guido, Privatdozent, Leiter des Röntgeninstituts im allgemeinen 
Krankenhause, Wien, IX. Alserstraße 4. 

Hollerung Edwin, k. u. k. Oberstabsarzt, Wien VIII. Josefsgasse 11. 

Horwitz Gabriel, k. u. k. Regimentsarzt, Gamisonsspital Nr. 16, Budapest. 

Hueber Gottfried, Direktor der Svetlinschen Privatheilanstalt, Wien, III. Leon¬ 
hardgasse 3. 

Infeld Moriz, Assistent der II. psychiatrischen und Nervenklinik, Wien, I. 
Bartensteingasse 14. 

y. Jagic Nikolaus, Assistent der I. medizinischen Klinik, Wien, VIII. Koch¬ 
gasse 15. 

Janchen Emil, k. u. k. Oberstabsarzt i. P., Wien, VHI. Lederergasse 22. 

Joachim Julius, Sanatorium Purkersdorf. 

Joannovics Georg, Privatdozent, Assistent des Institutes für allgemeine und 
experimentelle Pathologie, Wien, IX. Schwarzspanierstraße 17. 

Kaan Hans, Bezirksarzt und Gerichtsarzt, Mähr.-Ostrau, Mähren. 

v. Kaan-Albest Norbert, Sanitätsrat, Inhaber des Sanatoriums Martinsbrunn, 
Meran. 

Kalmus Ernst, k. k. Polizeiarzt, Prag, II. Stefansgasse 57. 

Kapsamer Georg, Assistent der Poliklinik, Wien, I. Maria Theresienstraße 3. 

Karplus Paul, Privatdozeut für Psychiatrie und Neurologie, Assistent des phy¬ 
siologischen Institutes, Wien, I. Oppolzergasse 4. 

Kautzner Karl, Gerichtsirrenarzt, Graz. 

Kellermann Moriz, Hausarzt an der n. ö. Landessiechenanstalt in St. Andrä- 
Wördern. 

Knöpfelmacher Wilhelm, Privatdozent für Kinderheilkunde, Direktor des 
Karolinen-Kiuderspitales, Wien, I. Wipplingerstraße 38. 

Koetschet Theophil, Arzt am Vakufsspital, Sarajewo. 

Kohn Alfred, Assistenzarzt der Privatheilanstalt Fries, Inzersdorf. 

Kolben Sigfried, k. k. Polizeiassistenzarzt, Wien, XIX. Döblinger Hauptstraße 71» 

Konr&d Eugen, Direktor der Irrenanstalt Nagy-Seben bei Hermannstadt. 

Koritschan Alfred, Wien, I. Dominikanerbastei 17. 

Kornfeld Sigmund, Primararzt i. R., Wien, IX. Alserstraße 8. 


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372 Mitgliederverzeichnis des Vereines 

Kr lieg Julius, Primararzt der Obersteinerschen Privat heil an 6 talt, Wien, XIX. Bill- 
rothstraße 69. 

Kunn Karl, Privatdozent für Augenheilkunde, Wien, VII. Mariabilferstraße 12. 

Kure Shuzo, Universitätsprofessor, Tokio. 

Lang Eduard, Professor der Dermatologie und Syphilis, Primararzt, Wien, 
IX. Garnisongasse 6. 

Latzko Wilhelm, Privatdozent für Geburtshilfe und Gynäkologie, Primararzt, 
Wien, VI. Mariahilferstraße 1 c. 

Lenz Otto, praktischer Arzt, Brioni, Istrien. 

Linnert Kurt, Primarius der Privatheilanstalt Friedmann in Gainfam bei Vöslau. 

Linsmayer Ludwig, Primararzt des städt. Versorgungshauses, Wien, XIII. 

Lorenz Heinrich, Universitätsprofessor, Vorstand der medizinischen Klinik, Graz. 

v. Luzenberger August, Universitätsprofessor, Neapel, Strada Nardones 119. 

Mann Artur, k. u. k. Regimentsarzt, Wien, IV. Johann Straußgasse 28. 

Mannaberg Julius, Professor für interne Medizin, Wien. I. Reichsratsstraße 13. 

Marburg Otto, Sekundararzt des allgemeinen Krankenhauses, Wien, IX. Alser- 
»traße 4. 

Mattauschek Emil, k. u. k. Regimentsarzt, Wien, IX. Pramergasse 6. 

Mayer Karl, Universitätsprofessor, Vorstand der psychiatrischen und Nervenklinik 
in Innsbruck, Kaiser Josefstraße 5. 

Menz Eduard, Nervenarzt, Triest. 

Michel Rudolf, k. u. k. Regimentsarzt, Przemysl, Garnisonsspital. 

Müller Leopold, Privatdozent ffir Augenheilkunde, Wien, VI. Mariahilferstraße 1 b. 

Neuburger Mai, Professor der Geschichte der Medizin, Wien, VI. Kollergern- 
gasse 8. 

Neumann Friedrich, Sekundararzt des allgemeinen Krankenhauses, Wien, IX. 

Neu man n Heinrich, Assistent an der Ohrenklinik, Wien, IX. Als?rstraße 4. 

Neurath Rudolf, Kinderarzt, Wien, I. Wipplingerstraße 12. 

Neusser Edmund, Hofrat und Universilätsprofessor, Vorstand der II. medizini¬ 
schen Klinik, Wien, VI. Mariahilferstraße 16. 

Nothnagel Hermann, Hofrat und Universitätsprofessor, Vorstand der I. medi¬ 
zinischen Klinik, Wien, I. Rathausstraße 13. 

Obermayer Friedrich, Professor der internen Medizin, Primararzt, Wien, I. 
Opernring 11. 

Oberste iner Heinrich, Universitätsprofessor, Vorstand des neurologischen In¬ 
stitutes, Wien XIX. Billrothstraße 69. 

Okada Eikischi, Wien, Tokio. 

Ortner Norbert. Professor der internen Medizin, Primararzt, I. Maximilianplatz 10. 

v. Orzechowski Kasimir, Demonstrator am neurologischen Institute, Wien, 
XVII. Zwerngasse 18. 

Pal Jakob, Professor der internen Medizin, Primararzt, Wien, I. Rathausstraße 5. 

Pauli Wolfgang, Privatdozent für interne Medizin, Wien, XIX. Anton Frank¬ 
gasse 18. 

v, Pfungen Robert Freiherr, Privatdozent für Psychiatrie und Neurologie, 
Primararzt, Wien, I. Schottengasse 3. 

Pick Arnold, Universitätsprofessor, Vorstand der deutschen psychiatrischen 
Klinik Prag, Jungmannstraße 14. 


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für Psychiatrie and Neurologie in Wien. 


373 


Pilcz Alexander, Privatdozent, suppl. Leiter der I. psychiatrischen Klinik, Wien, 
IX« Lazaretgasse 14. 

Pineies Friedrich, Privatdozent für interne Medizin, Wien, I. Liebiggasse 4. 

Pötzl Otto, Assistent der I. psychiatrischen Klinik, Wien, IX. Pelikangasse 15. 

Pokorny Mauritius, Direktor der Privatheilanstalt in Lainz, Jagdschloßgasse 25. 

Pollitzer Isidor, Abteilungsassistent im Allgemeinen Krankenbause, Wien, IX. 
Alserstraße 4. 

Pospischill Otto, Direktor der Privatheilanstalt Hartenstein bei Krems, Post 
Eis. 

Puchberger Gustav, Aspirant der II. psychiatrischen und Nervenklinik, Wien, 
VIII. Lederergasse 14 a. 

Bai mann Emil, Assistent der II. psychiatrischen und Nervenklinik, Gerichts¬ 
irrenarzt Wien, IX. Alserstraße 4. 

Redlich Emil, Professor der Psychiatrie und Neurologie, Wien, VHI. Schlössel- 
gasse 15. 

Reichel Oskar, praktischer Arzt, Wien, IX. Frankgasse 1. 

Reiner Max, Privatdozent, Assistent des orthopädischen Universitäts-Ambula¬ 
toriums, Wien, IX. Frankgasse 1. 

Richter August, Assistenzarzt der Privatheilanstalt in Purkersdorf bei Wien. 

Robida Johann, ordinierender Arzt der krainischen Landesirrenanstalt in Stu- 
denec, Post Sallocka bei Laibach. 

Rosenthal Robert, Privatheilanstalt Hacking, Wien, XIII. Seuttergasse 6. 

Rossi Italo, Mailand, Corso Porta Romano 122. 

Rothberger Julius, Assistent des Institutes für allgemeine und experimentelle 
Pathologie, Wien, I. Augustinerstraße 8. 

Ru ding er Karl, Aspirant des Allgemeinen Krankenhauses, IX. Grüne Tor- 
gaBse 19. 

Sach8 Moriz, Privatdozent für Augenheilkunde, Wien, IX. Garnisongasse 4. 

Sand Ren6, Brüssel, Rue de Minimes, 45. 

Saxl Alfred, praktischer Arzt, VI. Wallgasse 15. 

Schaoherl Max, Assistent des neurologischen Institutes in Wien, IX. Pelikan¬ 
gasse 5. 

Scheimpflug Max, Direktor des Sanatoriums in der Vorderbrühl bei W’ien. 

Schlagenhaufer Friedrich, Professor der pathologischen Anatomie, Prosektor 
im Elisabethspital, Wien, VII. Kenyongasse 18. 

Schlesinger Hermann, Professor für interne Medizin, Primararzt, Wien, I. 
Ebendorferstraße 10. 

Schlesinger Wilhelm, praktischer Aizt, W r ien, I. Hohenstaufengasse 2. 

Schloß Heinrich, Direktor der n. ö. Landesirrenanstalt in Kierling-Gugging. 

Schmidt Adolf Wilhelm, ärztl. Leiter dei städt. Heilanstalt in Baden, im W’inter 
Wien, Freyung 1. 

Schnabel Josef, praktischer Arzt, Wien, IV. Gußhausstraße 17. 

Schnopfhagen Franz, Sanitätsrat, Direktor der o. ö. Irrenanstalt in Niederhard 
bei Linz. 

Schüller Artur, Vorstand der Nervenabteilung des I. öffentlichen Kinderkranken¬ 
institutes, Wien, IX. Schlickplatz 4. 

Schubert Konstantin, Direktor der mähr. Landesirrenanstalt in Sternberg. 


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374 


Mitgliederverzeicbnis des Vereines 


Schur Heinrich, Privatdozent für interne Medizin, Wien, T. Salzgries 17. 

Schwarz Emil, Privatdozent för interne Medizin, Wien, I. Christinengasse 2. 

v. SeiIIer Rudolf, Freiherr, Primararzt, Wien, I. Schottenhof. 

Selka Alfred, Assistenzarzt der n. ö. Landesirrenanstalt. Wien, IX. Lazaret- 
gasse 14. 

Singer Gustav, Privatdozent für interne Medizin, Primararzt, Wien, IX. Höri¬ 
gasse 10. 

Sick in ge r Franz, Ordinarius der n. ö. Landeeirrenanstalt. in Klosterneuburg. 

v. So 1 der Friedrich, Privatdozent, Assistent der II. psychiatrischen und Nerven- 
klinik, Gerichtsirrenarzt, Wien, IX. Alserstraße 24. 

Spieler Friedrich, Sekundararzt des Karolinen-Kinderspitales, Wien, IX. Schubert¬ 
gasse. 

Spitzer Alexander, Wien, VUI. Kocbgasse 27. 

Starlinger Josef, Direktor der n. ö. Landesirrenanstalt Maner-Öbling. 

Stein Ludwig, Direktor der Privatheilanstalt in Purkersdorf bei Wien. 

Steiner Gregor, Assistenzarzt an der n. ö. Landesirrenstalt in Ybbs. 

Stern Richard, Aspirant der I. medizinischen Klink, Wien, I. Wallfischgasse 1. 

Sternberg Max, Professor der internen Medizin, Wien, I. Maximilianstraßc 9. 

Sterz Heinrich, Direktor der steirischen Landesirrenansalt Feldhof bei Graz. 

v. Stejskal Karl, Assistent der H. medizinischen Klinik, Wien, IX. Schwarz¬ 
spanierstraße 18. 

Stichel Anton, Direktor des Sanatoriums „Maria Grün” bei Graz. 

Sträußler Ernst, k. u. k. Regimentsarzt, Prag, Karolinenthal, Invalidenhaus. 

Stransky Erwin, Assistent der I. psychiatrischen Klinik, Wien, IX. Lazaret- 
gasse 14. 

Subotiö Wojaslav, Primararzt an der Irrenanstalt in Belgrad. 

Swetlin Wilhelm, Regierungsrat, Wien, I. Kärtnerring 17. 

Tandler Julius, Universitätsprofessor, Prosektor des I. anatomischen Institutes 
W r ien, VIH. Florianigasse 50 a. 

Tarasewitsch Johann, Nervenarzt, Moskau. 

Ten-Cate B. F., Professor, Rotterdam. 

Tertsch Rudolf, Assistent des allgemeinen Krankenhauses, Wien, IX. Alser¬ 
straße 4. 

Tilkowski Adalbert, Regierungsrat, Direktor der n. ö. Landesirrenanstalt in 
Wien, IX. Lazaretgasse 14. 

Ulrich Karl, Direktor der böhm. Landesirrenanstalt in Kosmanos. 

Valek Friedrich, k. u. k. Regiraentsarzt, Budapest. 

Vyoralek Thomas, k. u. k. Regiment9arzt, Cles, Südtirol. 

v. Wagner-Jauregg Julius, Universitätsprofessor, Vorstand der II. psychia¬ 
trischen und Nervenklinik* Wien, I. Landesgerichlsstraße 18. 

Wechsberg Friedrich, Assistent der I. medizinischen Klinik, Wien, IX. Alser¬ 
straße 4. 

Weidenfeld Stefan, Privatdozent für Dermatologie und Syphiiidoiogie, Wien, 
I. Tuchlauben 22. 

Weiler Karl, Wien, IV. Johann Straußgasse 22. 

Weinfeld Emil, praktischer Arzt, Wien, VIII. Lerchenfelderslraße 75. 

Weiß Artur, praktischer Arzt, Klosterneuburg, Feldgasse 17. 


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för Psychiatrie und Neurologie in Wien. 


375 


Weiß Josef, Inhaber der Privatheilanstalt Prießnitztal in Mödling bei Wien. 

Weiß Sigfried, Direktor der n. ö. Landesirrenanstalt in Klösternenburg. 

Werbeneo Wladimir, k. u. k. Linienschilfsarzt, Marinebospital, Pols. 

Werner Franz, Leiter der Kuranstalt Waidhofen a. d. Ybbs. 

Winterberg Heinrich, Privatdozent för allgemeine nnd experimentelle Pathologie, 
Wien, III. Gärtnergasse 17. 

Wi nt erb erg Josef, praktischer Arzt, Wien, Vni. Lenaugasse 1. 

Winternitz Wilhelm, Hofrat, Professor der internen Medizin, Wien, I. Wipp- 
lingerstraße 28. 

WintersteinerHugo, Professor der Augenheilkunde, Wien, 1Y. Favoritenstraße 2. 

Wolf Heinrich, praktischer Arzt, Wien, IIL Obere Viaduktgasse 2. 

Woyer Gustav, Frauenarzt, Wien, IX. Kolingasse 5. 

Zappert Julius, Privatdozent för Kinderheilkunde, Wien, I. Eßlinggasse 13. 

v. Zeissl Maximilian, Professor der Dermatologie, Wien, I. Kohlmarkt 22. 

Zini Josef, k. u. k. Regimentsarzt, Rossauer Kaserne, Nordtrakt, 1. Stock, Nr. 251. 

Zuckerkandl Emil, Hofrat und Universit&tsprofessor, Vorstand des I. anato¬ 
mischen Institutes, Wien, IX. Aiserbachstraße 20. 

Zulavski Karl, Universitätsprofessor, Primararzt an der Landesirrenanstalt in 
Krakau. 


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Autorenverzeichnis der Bände I—XXV, 


Alexander, XXII 432. 

Algeri, VI 80. 

Alter, XXV 70. 

Anton, VIII 194, X 82, XIV 132, 141, 
564, XIX 309. 

Barbier, I 64. 

Beer, XI 53. 

Berger, XXII 424, XXIII 214, XXV 168. 
Berze, XV 62, XVI 285. 

Biedl, XXII 412. 

Bikeles, XI 195, 303, XII 94, XXI 56. 
Bischoff, XV 137, 221, XVI 342, XVII 
308, XVIII 371, XX 103, 402, 405, 
XXI 109, XXII 229, 420. 

Böck, XIV 199. 

Bräutigam, XI 111. 

Bregmann, XI 73. 

Cal man n, XV 43. 

Chvostek, IV 51, X 255, XI 267. 
Czyhlarz, XX 134. 

Dexler, XVI 165, 179. 

Elschnig, XXII 418, XXIII 420. 
Elzholz, XV 180, XVII 144, 323, XIX 
78, XX 411. 

Erb, XXI 1. 

Einer, II 57. 

Finkeistein, XV 116, XVI 390. 
Fischer, XXV 125. 

Flamm, III 120, X 105. 
v. Frankl-Hochwarth, IX 128, 152, 
XX 395, XXI 76, XXV 245. 

Freud, V 221. 

Freund, XIV 557. 


Friedmann, IV 69. 

Fritsch, 135, 119, 199, II 27, 167, III 
234, IV 184, V 83, 264, VI 47, 
VII 196, VIII 115, XI 1, XXI 492. 
Fröhlich, XX 395, XXII 422. 

Fuchs, XIX 1,106, XXI 390, XXIII 207, 
XXIV 326. 

(lauster, I 3, 202, VII 297, VIII 333, 
X 159. 

Glaser, VII 322. 

Hagen, I 149. 

Hahn, XVII 54. 

Hajo*, XV 296. 
v. Halb an, XX 343, XXI 358. 
Hartmann, XIX 380, 473, 492. 
Hatschek, XIII 37. 

Hearder, I 152. 

Heilbronner, XXlll 107. 

Heller, XXII 365. 

Hiraiwa, XXV 57. 

Hirsch], XII52, XIV 321, 547, XXI 197. 
Hitschmann, XVIII 225. 

Hlawaczek, XIV 92. 

Holländer, 161, III 55,176, IV 1, VI 68. 
Holzknec ht, XXII 414. 

Hoppe, VI 81, 205, VII 49. 
Qöstermann, IV 174. 

Hövel, XI 333. 

Jagita, XXIV 150. 

Infeld, XXI 326. 

Kaan, XI 149. 

Karplus, XV 330, XVII 1, XIX 171, 
XXI 158, XXII 395. 


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Autorenverzeichnis. 


377 


Kassowitz, XXII 371, 378. 

Kienböck, XXII 50. 

Killicbes, I 67. 

Klinke, IX 319. 

Knecht, III 71. 

Konrad, VI 148. 

Kornfelds.,XU95,303,XII94, XXI411. 
Kornfeld H., XVII 298. 

Kosaka, XXIV 150, XXV 57. 
Kowalewsky, I 44, VII 289. 
v. Krafft-Ebing, II 23, IV 39, V 171, 
242, VI 1, 34, 162, VII 131, VIII 1, 
38, 293, X 199, 212, 232, XII 84, 338, 
Xin 1 , 127, 200 , XIV 312, XIX 262, 
XXII 38, 433. 

Kramer, X, 91. 

Krayatsch, XIII 303, XIV 1, 302. 
Krypiakiewioz, X 76, XI 315. 

Kurö, XVH 271, XVIII 158, XXIII 1. 
Lechner II 92. 

Leidesdorf IV 169. 

Liebmann V 230. 

Linsmeyer XXII 353. 

Luoiani III 206. 

Lundborg XXII 294. 

Mackenzie I 152. 

Marburg, XX 134, XXI 243, XXII 389, 
431, XXm 407, 411. 

C. Mayer, X 69, XI 236, XII 138, 410, 
XIII 57, XIV 81, XVI 221, XXI 69. 

S. Mayer, XIV 554. 

Mazurkiewicz, XIX 514, 553. 
Merklin, I 206. 

Meynert, 169,153, II1,65,181,204, III 
165, V 193, VI 11, 188, VII 1, IX 
1, X 169. 

Mongeri, III 186. 

Muhr, VII 166. 

Neiaser, VIII 7, XXII 405. 

Neurath, XVIII 131. 

Neutra, XXV 189. 

Obersteiner, XI 130, XVI 215, XXI 
313, XXII 410, XXIII 1. 
Pasternatzky, II 175, 180, III 229. 
Pfleger, I 152, III 77, XVI 76. 
v. Pfungen, V 1. 

Phleps, XXIII 382. 


Pick, I 52, II 44, 215, VIII 161, 180, 
186, XIV 280, XX 1, XXI 35, XXII 283. 
Pilcz, XVI 76, XVII 221, XVIII 341, 
526, XX 77, 397, XXH 313, 364, 
XXIII 241, XXIV 190, XXV 96, 141. 
Pineies, XIII 214, XVIII 182, 

Pohl, HI 107, IV 18. 

Poniatowsky, XI 98. 

Probst, XX 181, 320, XXII 211, XXIII 
18, 350, XXIV 219. 

ßaimann, XIX 36. XX 36, 393, XXI 
443, XXII 347, 359. 

Ranschburg. XV 262. 

Redlich, X 1, XI 1, XII 384, XIII 241, 
XIV 551, XVII 208, XXI 45. 
Reinhard, II 55. 

Rezek, XVI 40. 
v. Rothe XIII 144. 

Rothschild, XVI 332. 

Rudinger, XXI 141. 

Rüdinger, II 199. 

Scarpatetti, XIV 182, XV 310. 
Schlagenhaufer, XVI 1. 
Schlangenhausen, II 196. 
Schlesinger, XXI 281. 

Sohlöß, VIII 33, 211, 241, IX 137, XII 
157, XIV 114, XXII 406, 430. 
Schmidt-Rimpler, I 150. 
Schnopfhagen III 1, 22, 232, IX 197. 
Schüle, XXI 18. 

Schüller, XX 292, XXI 90, XXII 361. 
Schwartzer, III 181. 

Seligmüller, III 45. 

Seitz, VII 225. 

Siegenthaler, XVII 87. 

Singer, XIV 545. 

Sjövall, XXIII 299. 
y. Sölder, XVII 174, XVIII 458, 479, 
XXI 287. 

Sommer, XII 32, 366. 

Spamer, III 24. 

Spitzer, XVIII 1. 

Starlinger, XIV 275, XV 1, XXII 401. 
Sternberg, XX 406. 

Sterz, I 94, III 221. 

Stransky, XIX 213, XX 411, XXU 
349, 392, XXIV 1, XXV 106. 


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378 


Autorenverzeiohni8. 


Stränßler, XXII 1, 253, 360, XXIII 
268, XXV 1. 

Snbotiö, XXI 346. 

Tamburini, I 186. 

Ten Cate, XIX 213. 

Tiling, I 171, V 159. 

Tilkow8ki, XII 1. 

v. Wagner, VII 94, VIII 75,287, 313, 
IX 113, X 180, XII 102, XIII 17, XXI 
177, XXII, 424, 428. 


Werner, XI 253. 

Williams, I 206. 

Zach, I 58, 66. 

Zappert, XVI 197, XVIII 59, 225, 
XXI 128. 

Zingerle, XVIII 256, 391, XIX 342, 
353, 367. 

Zlatarowid, XIX 283. 

Zuckerkandl, XXII 408. 


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Sachregister zu Band I—XXV. 



Autor 

Band 

Seite 

Aberglaube and Zurechnungsfähigkeit 

Schwartzer 

III 

181 

Aesthesiometer — Klinische Studien mit 

Stransky u. Ten Gate 

XIX 

213 

dem 



Akute Psychosen — über die körperlichen 
Grundlagen der 

Alkoholabstinenz in öffentlichen Irren- 

v. Wagner 

X 

180 

Schloß 

XXII 

480 

anstalten 




Amentia — die Verwirrtheit 

Meynert 

IX 

1 

Ammonshorn — Beobachtung über 

Pfleger 

I 

152 

Schrumpfung und Sklerose des 



Amylenbydrat bei Geisteskranken — über 

Schloß 

VIII 

211 

die Wirkung des 




Amyloidkörperchen des Nervensystems 

Redlich 

X 

1 

Anatomische Studien an Gehirnen Geistes- 

Schloß 

XII 

157 

kranker 




Angst — zur Pathologie der 

Kornfeld 

XXI 

411 

Angstaffekt — über den neurasthenischen 

Kaan 

XI 

149 

— bei Zwangsvorstellungen und über 
den primordialen Grübelzwang 




Ankylosierende Entzündung der Wirbel- 

Hartman n 

XIX 

492 

säule — über chronische 




Antrittsvorlesung 

C. Mayer 

XIV 

81 

Aphasie mit Beziehung zu den Geistes¬ 
störungen 

Aphasie: über das Gehirn eines Apha- 

Fritsch 

II 

167 

Schloß 

VIII 

33 

sischeu 




Artefakte — histologische im Nerven- 

lyATtTAn A 

Elsohnig 

xxm 

420 

geweofl 

Assoziationen — über Störungen der 

v. Pfungen 

V 

1 

Athetose — zur Kenntnis der 

Berger 

XXII 

XXIII 

424 

214 

Atrophie und Degeneration im Nerven¬ 

Pilcz 

XVIII 

341 

system — Beiträge zum Studium der 



349 

Atrophisierend-sklerosierender Prozeß im 

Stransky 

XXII 

Frontocerebellarsystem 


XI 

130 

Aufbau des Nervensystems — zur 

Obersteiner 

Klärung unserer Kenntnisse vom 





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380 


Sachregister. 



Autor 

Band 

Seite 

Aufnahme in die Irrenanstalten 

v. Wagner 

XXII 

428 

Augenmuskellähmaugen — Beiträge zur 

Raimann 

XX 

36 

Lehre von den alkoholischen 
Augenoperationen — Psychosen nach 

v. Frankl-Hoch wart 

IX 

152 

Autointoiikation vom Darm aus — über 

v. Wagner 

XXI 

177 

Psychosen durch 



Balkendegeneration im menschlichen 

Anton 

XIV 

132 

Großhirn — zur 

Balkengeschwülste — zur Symptomatik der 

Zingerle 

XIX 

367 

Bettbehandlung chronisch Geistes- 

Krayatsch 

XIV 

302 

gestörter — zur 



Bewegungsstörungen und insbesondere 

Anton 

XIV 

141 

Chorea — über die Beteiligung der 
großen basalen Gehirnganglien bei 




Bewußtsein — Studien über das normale 

Ran8ohburg 

XV 

262 

und hysterische 



Blasenstörungen — über cerebrale 

Czyhlarz u. Marburg 

XX 

134 

und Marburg 

XXIII 

407 | 

Bleipsychose — ein Fall von 

C. Mayer 

X 

69 ! 

Blödsinnsformen — zur Kenntnis ge- 

Stransky 

XXIV 

1 

wisser erworbener 



Blutdruck bei gewissen psychopathischen 

W. Alter 

XXV 

70 

Zuständen — über das Verhalten des 
Blutstrom im Kopf — über Hemmung 

S. Mayer 

XIV 

554 

und Wiederherstellung des 


137 

Brücke und verlängertes Mark — zwei 

Bischoff 

XV 

Geschwülste der 

Bulbäraffektion im Kindesalter — über 

Zappert 

XXI 

128 

eiue ungewöhnlich gutartige 

XIII 

214 

Bulbärer Symptomenkomplex — zur 

Pineies 

Kenntnis des 

Carcinom des Centralnervensystems — zur 

Fischer 

XXV 

125 

Kenntnis des multiplen metastatischen 
Carcinomkachexie — über Psychosen bei 

Elzbolz 

XVII 

144 

Centraler Stumpf lädierter, gemischter 

Elzholz 

XVII 

323 

Nerven — zur Kenntnis der, etc. 
Chiasma des Pferdes — Untersuchung 

Dexler 

XVI 

179 

über den Faserverlauf im 




Cbloralhydrat — Geistesverwirrung nach 

Mackenzie 

I 

152 

Compression und Tuberkel im Rücken¬ 

Scarpatetti 

XV 

310 

mark — Befund von 




Conjugierte Empfindung — über 
Conträre Sexualempfindung — Beitrag 

Stransky 

Sterz 

XX 

III 

411 

221 

zur Lehre von der 

Conträre Sexualempfindung vor dem 

v. Krafft-Ebing 

VI 

34 

Forum — die 




Conträre Sexualempfindung — zur Ätio¬ 
logie der 

Conträre Sexualempfindung — zur Er¬ 

v. Krafft-Ebing 

XII 

338 

v. Krafft-Ebing 

XIII 

1 

klärung der 

Conträr Sexuale vor Gericht — drei 

v. Krafft-Ebing 

XIX 

262 

Conus medullaris — vergleichend ana¬ 

Bräutigam 

XI 

111 

tomische Untersuchungen über den 





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Sachregister. 


381 



Autor 

Band 

Seite 

Cretiniimus — Untersuchungen über den 

v. Wagner 

XII 

XIII 
XXII 

102 

17 

365 

Cretinöses Kind — über die geistige Ent- 

Heller 

wicklang eines mit Thyreoidin be¬ 
handelten 




Criminelle Geisteskranke — über die 

v. Wagner 

XXII 

424 

Versorgung der 

XII 


Degeneration motor. Hirnnerven — zur 

C. Mayer 

138 

Kenntnis des aufsteigenden 



Degeneration motorischer und sensibler 

Bregmann 

XI 

73 

Himnerven — über experimentelle auf¬ 
steigende 

XI 


Degeneration peripherer Nerven — zum 

Beer 

53 

Studium der 




Degeneration der Schleife bei der Katze 

Rai mann 

XXII 

347 

Degeneration — zur Frage der retro- 

Raimann 

XIX 

36 

graden 




Delirien nach Verschluß der Augen 

Schmidt-Rimpler 

I 

150 

Delirium tremens — Beiträge zur 

Elzholz 

XV 

180 

Kenntnis des 


XX 

411 

Dementia acuta combin. mit Polyneu- 

Hövel 

XI 

333 

ritis — über posttyphöse 


XV 


Dementia acuta infolge von Gazpauvre- 

Finkeistein 

116 

Vergiftung 




Dysthymie — über und die offenen Cur- 

Tiling 

I 

171 

anstalten 



Echolalie — Beitrag zur Lehre von der 

A. Pick 

XXII 

283 

Eifersuchtswahn bei Frauen — über 

Schüller 

XX 

292 

— beim Manne — über 

v. Krafft-Ebing 

X 

212 

— der Männer — zur klinischen 

Werner 

XI 

253 

Kenntnis des 




Eigene Regie — über Nutzen und Aus¬ 

v. Krafft-Ebing 

II 

23 

führbarkeit der — in den Österreich. 
Anstalten 



Elektrische Untersuchungen bei progres¬ 

Pilcz 

XXIII 

241 

siver Paralyse und dement, sen. 

■ 



Elektrische Untersuchungen an Geistes¬ 

Pilcz 

XXII 

313 

kranken — über Ergebnisse 




Embolie im Zentralnervensystem — über 

Singer 

XIV 

545 

experimentelle 


XIV 

275 

— des Gehirns mit Degeneration des 

Starlinger 

Markes — ein Fall von miliarer 



Encephalitis baemorrhagica — über 

Sträußler 

XXII 

253 , 

Endarteritis cartilaginosa der Großhiru- 
gefaße 

Entmündigung, über 

Marburg 

XXII 

398 

v. Krafft-Ebing 

XXII 

433 

Ependym der Gehirnventrikel — die an 

Sohnopfhagen 

III 

1 

ihm bemerkbaren Granulationen 



Epilepsie — über den Einfluß der 

Schloß 

XXII 

406 

Nahrung auf den Verlauf der 




Epileptiker — Krankengeschichte 

Gauster 

I 

202 

Epileptische Geistesstörung — Verbrechen 
in einem Anfall von 

Kowalewsky 

I 

44 

1 


Jthrhllaher f. Pnychittrle un>l Neurologie. XXV. Bd. 25 


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382 


Sachregister. 



Autor 

Baud 

Seite 

Epileptisches Irresein im Kindesalter 

A. Pick 

VIII 

180 

Epileptoide Zustände mit Einsohlaß des 

Holländer 

1H 

55 

transitorischen Irreseins — über 
Erbliche Anlage als Krankheitsursache 

Killiches 

I 

m 

Erdbeben — Psychosen nach 

Phleps 

XXIII 

382 

Erhängte — über einige Erscheinungen 

v. Wagner 

VIII 

313 

im Bereiche des Zentralnervensystems 
nach Wiederbelebung 
Ermüdungsphänomene — einschließlich 
der auf dem Gebiete der Vibrations- 

XXV 

189 


Neutra 

empfindung 

Ernährung des Gehirnes — die 

Meynert 

V 

193 

Exhibitionismus — über 

Fritsch 

XXI 

492 

Faeialiskerne beim Huhn — über die 

Kosaka v. Hiraiwa 

XXV 

57 

Facialisparalyte — zur Aetiologie der 
peripheren 

Hatschek 

XIII 

37 

Familiäre infantile spastische Spinal- 

Bischof 

XXI 

109 

Paralyse — pathologisch-anatomischer 
Befund bei 




Fieber — Versnobe über die Einwirkung 

Böck 

XIV 

199 

künstlich erzeugten Fiebers bei Psy¬ 
chosen 




Fieberhafte Erkrankungen — über Ein- 

Fritsch 

III 

234 

Wirkung — auf Psychosen 
— Über Einwirkung — auf Psychosen 

v. Wagner 

VII 

94 

Folie par Transformation — zwei Fälle von 

Finkeistein 

XVI 

390 

Fugues und fugueähnliche Zustände — über] 

i Heilbronner 

XXIII 

107 

Ganglienzellen des Pferdes im normalen 

Dexler 

XVI 

165 

Zustande und nach Arsen Vergiftung — 
zur Histologie der 




Gauster Moriz — Nachruf 


XIV 

I-V 

Geberdensprache — über Storungen der 

Mazurkiewicz 

XIX 

514 

Gefühle — über die 

Meynert 

III 

165 

Gehirnblutungen bei luetischen Früh¬ 

Lechner 

II 

92 

formen — zur Pathogenese der 
Gehiruentwicklung — die anthropolo¬ 

Meynert 

VII 

1 

gische Bedeutung der frontalen 
Gebirngefaße — die Innervation der 

Obersteioer 

XVI 

215 

Gebirngewioht des Menschen — Referat 

Rüdinger 

11 

199 

— des Menschen — Untersuchungen 
über das 

Pfleger 

III 

77 

Gehirnödem — als Ursache von Herd-i 

Holländer 

III 

176 

Symptomen i 

Gehörshallucinationen —zur Lokalisation! 

A. Pick 

VIII 

161 

einseitiger | 

Geschlechtliche Hörigkeit und Masochis¬ 

v. Krafft-Ebing 

X 

199 

mus — Bemerkungen über 1 



Gesohlecbtssioö bei Epileptikern — über 

Kowalewsky 

VII 

289 

Perversion des I 

Greisenalter — über Geistesstörungen im 

Zingerle 

XVIII 

256 

i Großhirn — über die Leitungsbahnen de* 

Probst 

XXIII 

18 

Großhirnganglien und Gehirnstamm — 

Meynert 

11 

204 

1 neue Untersuchungen über I 




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Sachregister. 


383 


Großhirnwiodangen — Entstehung der 
Gruppierung der psychischen Krank¬ 
heiten 1868 daroh Kahlbaum 
Gatachten — gerichtsärztliches über einen 
Pall von Mord 

— gerichtsärztliohes über einen Fall 
von Mord 

— geriohtsärztlicheg über einen Fall 
von Mordversuch 

— über einen Fall von Meineid, Hyste- 
rismns 

— gerichtsärztliohes über einen Fall 
von Betrag 

— gerichtsärztliches über zweifelhafte 
Geisteszustände 

— gerichtsärztliches über einen Fall 
von Schwachsinn 

— geriohtsärztliches über einen Fall 
von Königsmordversuch 

Gyros hippocampi — ein Fall von iso¬ 
lierter Erweichung des 
Halbseitendorchsohneidang des Mittel- 
hirns — über die anatomischen und 
physiologischen Folgen der 
Halbtraum zustand — über 16 Fälle von 
Hallucinationen — Beitrag zur Theorie der 
Halluoinationen—Bei trag zurLehre von den 
Uallucinierende—über das Bewußtsein der 
Hallucinatorischer Prozeß — der 
Hallucinationen des Gesichts — Be¬ 
schreibung und Erklärung der vor dem 
Einschlafen entstehenden 
Hallucinationen und Illusionen — Be¬ 
merkungen zu Arndts Lehre von den 
Hallucinanten — über galvanoelektrisohe 
Reaktionen der Gehör- und Gesichts¬ 
nerven bei 

Haube des Mittel- und Zwischenhirns — 
zur Kenntnis des Faserverlaufes in der 
Haatanaesthesien am Kopfe — der seg- 
mentale Begrenzungstypus bei 
Hedonal — Erfahrungen über 
Hemiplegie — zur Erklärung des Läh¬ 
mungstypus bei der cerebralen 
Hermann Carl—Krankheitsgeschichte des 
Hinterhauptlappen — zur Kenntnis des 
Sagittalmarks und der Balkenfaserndes 
Hinterstrangbahnen — die absteigenden 
Hinterstrangskerne bei Säugetieren — 
zur Anatomie der 

Hirndruck und Psychose infolge prä¬ 
maturer Synostose der Schfidelnähte 
Hirnfurchung — über die Bedeutung der 


Autor 

Band 

Seite 

Schnopfhagen 

CI. Neisser 

IX 

VIII 

197 

7 

Mongeri 

III 

186 

Fritsch 

V 

182 

v. Krafft-Ebing 

y 

171 

v. Krafft-Ebing 

XIII 

200 

Fritsch 

V 

264 

v. Krafft-Ebing 

IV 

39 

Fritsch 

IV 

184 

Tamburini 

I 

186 

Biseboff 

XXII 

229 

Probst 

XXIII 

18 


XXIV 

219 

C. Mayer 

XI 

236 

Chvostek 

XI 

267 

A. Pick 

II 

44,215 

Berze 

XVI 

285 

Pohl 

III 

107 

Hoppe 

VI 

81 

Hoppe 

VI 

205 

Konrad 

VI 

148 

C. Mayer 

XVI 

221 

v. Sölder 

XVIII 

458 

Raimann 

XX 

393 

Redlich 

XXI 

45 

Anton 

X 

82 

Probst 

XX 

320 

Marburg 

XXI 

243 

Bischoff 

XVIII 

371 

Leidesdorf 

IV 

169 

Seitz 

VH 

225 


25* 


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384 


Sachregister. 



. Autor 

Band 

Seite 

Hirnlues — zur Kenntnis der — etc. 

Probst 

XXUI 

850 

Hirn- und Ruckenmarksfunktionen — 

Bikeles 

XXI 

56 

Betrachtungen über das Einheitliche der 
Hirnrinde — Physiologie der 

Einer 

II 

57 

— bei Irren — zur pathologischen 
Histologie der 

Liebmann 

V 

230 

Hirnrinden Veränderungen bei Herder- 

Stransky 

XXV 

106 

scheinungen auf Grund senil-arterio¬ 
sklerotischer Atrophie 




Hirnschenkelfuß und Linsenplatte — zum 

Paaternatzky 

II 

175 

Bau des 




Hydrocephalus — über eine ungewöhn¬ 
liche Form des angebomen 

Zappert und 
Hitschmanu 

XVIII 

225 

Hypnotismus, seine Ursachen, sein We- 

Spanier 

III 

24 

sen etc. 




Hypnotische Heilmethode und mitge- 

Anton 

VIII 

194 

teilte Neurosen — über 

Hypoglossus — experimentelle Unter- 

Kosaka und Jagita 

XXIV 

150 

Buchungen über die Ursprünge des Nerv. 
Hypopby8entumor ohne Akromegalie 

Fröhlich 

XXII 

422 

Hysterische Amnesien — über 

Ilajös 

XV 

296 

Idiotenanstalten — Reisebericht über den 

Krayatsch 

XIV 

1 

Besuch einiger deutscher 



Idiotie-Kasuistik 

Holländer 

I 

61 

Impulsives Irresein — über 

Pohl 

IV 

18 

Impulsives Irresein — Kasuistische Bei- 

Fritsch 

VII 

1% 

träge zur Lehre vom 

Infantile hered. spast. Spinalparalyse — 

Bischoff 

XXII 

420 

die pathologische Anatomie der 
Infantile Oerebrallähmung — 100 Beob¬ 

Fuchs 

XIX 

106 

achtungen von hemi- und diplegischer 
Influenza — über Psychosen nach 

Krypiakiewicz 

X 

76 

Irrenanstalt — über Anlage und bauliche 

i Krayatsch 

XIII 

303 

Einrichtung einer modernen 
Irrenanstalt Niedernhart — Erweite-I 

III 

232 ! 

Schnopfhagen 

rungen etc. der | 



Irrenkolonien — Studien über j 

Flamm 

III 

120 

Irrengesetzgebung in Österreich — zur 

Gauster 

VII 

297 

Frage der 

Irren Versorgung des Großherzogtums 


i 

11 

211 

Sachsen 

Ischämische Lähmung infolge von Em-j 

Chwostek 

X 

255 

bolie der art. femoral j 

Jakson Anfälle — klinische Erw&gungeu 

A. Fuchs 

XIX 

1 

über sensible 

Jakson Epilepsie und cerebral bedingte 

i 

Kramer 

X 

91 

Muskelatrophie 

Johann Wasilewitsch IV — genannt der 

v. Rothe 

XIII 

144 

Grausame, eine psychiatr. Studie f 

Kinderlähmung — zur pathologischen 

i 

Bischoff 

XX 

103 

Anatomie der cerebralen 
Kinderlähmung — cerebrale, nach Seh-j 

Bischoff 

XV 

221 

hügelblutung j 

, l 




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Sachregister. 


385 


Kinderpsychosen — zur Kenntnis der 
Kleinhirn — zur Lehre von den Funk¬ 
tionen des 

Kleinhirnataxie mit gekreuzter Lähmung — 
Befunde bei einseitiger 
Kleinhirnatrophie — ein Fall von 
Kleinbimtumor — kliniseh-anatomisohe 
Ergebnisse eines 

Kniepbänomen bei Aequilibriernng des 
Untersobenkels 

Kohlenoxydlähmungen — zur Patho¬ 
genese der 

Koprostase — über acute Psychosen hei 
v. Krafft-Ebing — Nachruf an 
Kraniologische Beiträge zur Lehre vou 
der psychopathischen Veranlagung 
La Mettrie — psycbiatr. Anschaungen 
Landwirtachaftlich-psychiatrischeSchwei- 
zerfabrt — eine 

Lateralsklerose — über einen Fall von 
aroyotrophischer 

Linkshändigkeit — zur Frage der Ur¬ 
sachen der 

Luftdruckerniedrigung — über die Wir¬ 
kung der — auf die Geisteskrankheiten 
Manie als selbständige Krankheitsform? 
Marcbi-Serien — ein einfacheres Verfahren 
zur Herstellung lückenloser 
Medulla oblongata, zur feineren topischen 
Diagnostik 

Melancholie— zur Differentialdiagnose der 
Melancholische Verrücktheit — über 
Melancholie und Verrücktheit — über die 
Beziehungen von 
Melancholie — Phosphor bei 
Möniere’scber Symptomenkomplex — Er¬ 
fahrungen über Prognose und Therapie 
des 

Menstruation — Beziehungen der — zu 
Geistesstörungen 

Menstruation — über die Bedeutung der 
— für das Zustandekommen geistig uu- 
freier Zustände 

Meynert Theodor — Nachruf an 
Migräne-Psychosen — über 
Migräne und Augenmuskellähmung 
Mikrocephalie — Beiträge zur Lehre von 
der 

Mikrocephalie — ein weiterer Beitrag 
zur Lehre von der 

Mißbildung des Zentralnervensystems — 
über eine eigenartige 
Moial insanity — zur Lehre von der 


Autor Band Seite 


Infeld 

XXI 

326 

Pineies 

XVIII 

182 

Anton 

XIX 

809 

Fritsch 

I 

198 

Probst 

XXII 

211 

Sommer 

XII 

366 

v. Sölder 

XXI 

287 

v. Sölder 

XVII 

174 

Obersteiner 

XXIll 

1 

Meynert 

I und 11 

69,153 

1 

A. Pick 

I 

52 

Flamm 

X 

105 

Pilcz 

XVII 

221 

Rothschild 

XVI 

332 

Krypiakiewicz 

XI 

315 

Tiling 

V 

159 

Raimann 

XXII 

359 

Marburg 

xxm 

411 

Fritsch 

i 

119 

Schloß 

IX 

137 

Schloß 

XIV I 

114 

Williams 

I . 

206 

r. Frankl-Hochwart 

XXV 

245 

Algeri 

1 

VI , 

80 

v. Krafft-Ebing 

1 

X 

• 

232 

Fritsch 

1 

XI 1 

1 

v. Krafft-Ebing 

XXII 

38 

Karplus 

XXI 

158 

Pfleger und Pilcz 

XVI 

76 

Pilcz 

XVIII 

526 

Sträußler 

XXV 

1 

.Holläuder 

IV 

1 


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386 


Sachregister. 



Autor 

Band 

Seite 1 

i 

Moralisches Irresein — aber die Lehre 

i 

Schloß 

VIII 

241 

vom 



1 

j Moralische Defektznstände — über 

Berze 

XV 

62 ! 

i Morbas Basedow — Beiträge zur Kennt* 

Hirschl 

XXI 

197 | 

1 nis des 

i 

i 


Morbus Basedow — über Geistesstörung 

Hirschl 

XII 

52 

bei 

i 



Morbas Parkinsoni — über Störungen 

Karplus 

1 XIX 

171 

der cotanen Sensibilität bei 



Motilität — über den Hirnmechanismus 

Probst 

XX 

181 

der 

! 



i Motorische Rindencentra — zur Frage 

Pasternatzky 

11 

180 

j der 

1 

1 


Motorische Rückenmarkszellen — Beiträge 

| SträuBler 

1 XXII 

360 

i zar Pathologie der 


1 

1 

Multiple cbron. Encephalitis — zur pa- 

1 M. Friedmann 

! iv 

69 

tbol. Anat. der 


1 


Multiple Sklerose — zur Pathologie der 

Redlich 

XIV 

551 

Multiple Sklerose — Statistik über 206 

Berger 

XXV 

168 ! 

Fälle von i 


i 

Myotonie congenita kombiu. mit Para- 

Hlawaczek 

XIV 

92 1 

myotouie — ein Fall von ! 




Myxödematösea Irresein und Schilddrüsen- 

Pilcz 

XX 

77,397' 

therapie bei Psychosen 



Myxödem, Mongolismus, Mikromelie — 
über infantile 

Kassowitz 

! 

: XXII 

1 

371, 

378 

! Nabel — über eine vom — auslösbare 

C. Mayer 

XXI 1 

69 

Mitempfinden? 



Naturexperimente am Gehirn 

; Meynert 

1 X ; 

169 

' Nerventitimpfe — zur Histologie alter 

j Elzholz 

XIX j 

78 i 

— in amputierten Gliedern 




Nervensystem — Struktur der Elemente 

| S. Freud 

V 

221 

des 


1 


Neuralgie und Psychose 

v. Wagner 

: viii 

i 287 1 

1 Nucleos caudatus des Hundes — Ex¬ 
perimente am 

Schüller 

XXI 

j 90 

! Nucleus caudatus des Hundes — Methode 

| Schüller 

XXII 

361 

zur experimentellen Zerstörung des 




Nuptiales Irresein — über 

1 Obersteiner 

XXI 

313 

1 Ohrblutgeschwulst — zur Behandlung 
l der 

i Ophthalmoplegie — über asthenische 

Hearder 

1 

152 

Karplus 

! XV 

330 

| Orientierungsvermögen — über Störungen 

Anton 

XIV 

564 

| des 


i 


Originäre geistige Schwächezustände in 

v. Krafft-Ebing 

1 VI, 

162, 

foro criminali 

1 VII, VIII 

131,38 

i Osteomalakie und Geistesstörung 

v. Wagner 

IX 

113 

Paralyse — über Hautsensibilität, Ge¬ 

Kornfeld u. Bikeles 

XI 

1% 

ruchs- und Geschmackssinn bei 


1 


Paralyse — über das Verhalten der Pu¬ 

Kornfeld u. Bikeles 

XI 

303 

pillen bei 



94 1 

Paralyse — Gesichtsfeldeinschränkung bei 

Kornfeld u. Bikeles 

I XII 

J Paralyse — die Heilung der allg. progr. 

Gauster 

! i 

3 * 


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Sachregister. 


387 


Paralysis agitans — zur Kenntnis der 
pathoi. Anatomie der 
Paralysis alternans — über eine seltene 
Form der 

Paralytiker — über Heilversuche an 
Paramnesie — über eine neuartige Form 
von 

Pellagra — etwas über 
Periodische Psychosen — zur Aetiologie 
der 

Periphere Nerven bei Tuberkulose und 
senilem Marasmus — Befunde an 
Perseveration — eine formale Störung 
im Vorstellungsablauf — über 
Physiologie — die ersten Fragen der 
Plexus ohorioideus lateralis bei Geistes¬ 
kranken — zur Kenntnis des 
Plexus sacrolumbalis — zwei Fälle von 
Erkrankung der Nerven an dem 
Polyneuritis der Gehirnnerven — ein 
Fall von 

Porencephalie — ein Fall von 
Postinfektiöse Hemiplegie im Kindes- 
alter — Beitrag zur 

Progressive Paralyse der Irren — all¬ 
gemeine 

Progressive Paralyse — Beitrag zur Lehre 
von der 

Progressive Paralyse — die Eigenwärme 
in der 

— Aetiologie des 

— über die Zunahme der 

— zur Prognose der 

— statistische Ergebnisse über 100 Fälle 
von 

Pseudohalluciuationen und Kandinskys 
Betrachtungen der Sinnestäuschungen 
Pseudoptosis hysterica — ein Fall von 
Psychiatertag — Bericht über den öst.-ung. 
Psychiatrie als Prüfungsgegenstand — 
Petition des Vereines 
Psychiatrie in Japan — Geschichte der 
Psychische Lähmungen — über 
, Psychopathia sexualis — zur 
, Pubertätspsychosen — über 
I Pperperalpsychosen — Beiträge zu den 
; Pupillenstarre im hysterischen Anfall — 

I über 

Pupillengröße — die Messung der 
Pyramiden-Durchschneiduug beider — 
beim Hunde 

Pyramiden beim Menschen — zur Frage 
der Funktion der I 


Autor 

Band 

Seite 

Redlich 

XII 

384 

Schlesinger 

XXI 

281 

Piicz 

XXV 

141 

A. Pick 

XX 

1 

Zlafsrovic 

XIX 

283 

Neisser 

XXII 

405 

Sternberg 

XX 

406 

v. Sölder 

XVIII 

479 

Luciani 

III 

206 

Piicz 

XXIV 

190 

Hartmann 

XIX 

473 

Rudinger 

XXI 

141 

Obersteiner 

XXII 

410 

Neurath 

XVIII 

131 

Meynert 

VI 

11,188 

Piicz 

XXV 

96 ! 

Reinhard 

11 

55 | 

Hirschl 

XIV 

321, 547 

v. Krafft-Ebiug 

XIII 

127 | 

v. Halban 

XXI 

358 

Schule 

XXI 

• 18 i 

Hoppe 

VII 

49 

Karplus 

XXII 

395 


VI 

225 | 

Gauster 

X 

159 | 

S. Kure 

XXIII 

1 1 

Freund 

XIV 

557 

v. Krafft-Ebiug 

XII 

84 

Sterz 

I 

94 

Siegenthaler 

XVII 

87 

Karplus 

XVII 

1 

Fuchs 

XXIV 

326 | 

Starliuger 

XV 

1 1 

Piicz 

i XXII 

364 1 


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388 


Sachregister. 



Autor 

Band 

Seite 

Querulantenwahnsinn — über den 

Fritsch 

vr 

47 

— über den 

Muhr 

VII 

166 

Querulierende Geisteskranke 

Kornfeld 

XVII 

298 

Keflexpsychose — ein Fall von 

A. Pick 

VIII 

186 

Hektalsphinkteren — ein Fall von 

v. Frankl-Hochwarlh 

XXI 

76 

Remissionen im Verlauf einzelner Formen 

Fuchs 

XXI 

390 

von akuten Psychosen. 




Reynod’sche Krankheit — zur Kenntnis 

Calmann 

XV 

43 

der 




Rheumatische Facialislähmung mit ana- 

Alexander 

XXII 

432 

tomischer Untersuchung — über einen 




Fall von 

Rückenmark — die hinteren Wurzeln 

Redlich 

XI 

1 

des — und die path. Anat. der Tabes 
dorsalis 




— über die Erkrankungen der unteren 

Zingerle 

XVIII 

391 

Rücke nmarksabschnitte 



Rückenmarksbefunde io Fällen von Hirn- 

C. Mayer 

XII 

410 

tu mar 



Rückenmarkshinterstränge — zur pathol. 

C. Mayer 

XIII 

57 

Anatom, der 




Rückenmarkszellen nach Resektion und 

Sträußler 

XXII 

1 

Au8reißung periph. Nerven — über Ver¬ 
änderungen der motorischen 




Rückenmark und Pyramidenseitenstrang- 

Sträußler 

XXIII 

268 

babn — zur Morphologie deB nor¬ 
malen und pathol. 


i 

346 

Rusalien — die — im Königreiche Ser¬ 

Subotic 

xxi i 

bien 


i 


Sarkom des Gehirns — ein primäres. 

Rezek 

XVI 1 

40 

polymorphes 

Schilddrüsenfrage — zur 

Biedl 

XXII 

412 

Schwachsinn mit moralischer Depravation 

Bischoff 

XVII 

308 

— über einen Fall von 




Segmentäre^ Neuritis — über 

Straosky 

XXII 

392 

Sehnervenbabnen — anat. Beiträge zum 

Schlagenhaufer 

XVI 

1 

Faserverlauf in den 



Selbstanklage eines Geisteskranken — 

Höstermann 

IV 

174 

ein Fall von 




Selbstmord und Selbstmordversuch bei 

Kurd 

XVII 

271 

Geisteskranken — über 




Sella turcica — Radiogramm der 

Holzkuecht 

XXII 

414 

Senil Demente — über eine eigentümliche 

Pick 

XXI 

35 

Sehstörung 

Sexuelle Abstinenz — Neurosen und 

v. Krafft-Ebing 

1 

VUI 

1 

Psychosen durch 

Sexuelle Paradoxie — zwei Fälle von 

Fuchs 

XXIII 1 

207 

Sexuelle Perversitäten, Beitrag zur psy¬ 

Zingerle 

XIX j 

353 

chologischen Genese der 

1 


Simulation von Irrsinn und ihr Zusammen¬ 

Fritsch 

VIII 

115 

treffen mit Psychosen 




Simulation und Geistesstörung, zwei Fälle 

v. Krafft-Ebing 

VIII 

293 


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Sachregister. 


389 


Autor Band Seite 

I 

Simulation von Geistesstörung — aber Baimann XXI 443 

Sinnestäuschungen und Zwangsvorstei- Klinke IX 313 

Jungen, ein Fall von 

Sklerose der Hirnrinde bei seniler Atrophie Redlich XVII 208 

— über miliare 

Sklerotische Hemisphärenatrophie — über Bischoff XX 402, 

die sogenannte 405 

Sphinkteren des Anus — über Tonus v. Frankl-Hoohwartb XX 395 

und Innervation der und Fröhlich 

Spinalganglien — zur Pathologie der Marburg XXII 431 

Sprachstörungen — zur Lehre von den Bischoff XVI 342 

amnestischen — und Sprachstörungen 
bei Epilepsie 

Statistik der steirischen Landesirren- Zach I 58 

anstatt Feldhof. 

Statistik Ober Vererbuug von Geistes- Zach I 65 

krankheiten. 

Statistische Untersuchungen über Geistes- Hagen I 149 

krankheiten. 

Stauungspapille der Hirntumoren — die Elschnig XXII 418 

Pathogenese der 

Subkortikale Alezie — über die sog. Redlich XIII 241 

Sympathikus — über Nebenorgane des Zuokerkandl XXII 408 

Syphilis und Tabes Erb XXI 1 

Syringomyelie von scapulo-humoralem Linsmayer XXII 353 

Typus — ein Fall von 

Syringomyelie — Ausbreitung der Sen- Hahn XVII 54 

8ibilitätsstörungen bei | 

Tabes — über juvenile — nebst Berner- v. Halban XX 343 

kungen über Symptom. Migräne 

Tetanie — Psychose bei v. Frankl-Hochwarth IX 128 

Tetanus — die Nervenzellen Veränderungen Sjövall XXIII 299 

bei — und ihre Bedeutung 

Transitorisches Irresein — Beiträge zur v. Krafft-Ebing VI 1 

Lehre vom 

I Transitorisches Irresein — Beiträge zur Holländer VI 68 

Lehre vom 

Traumatische Rückenmarkeerkrankungen Hartmann XIX 380 

— Untersuchungen über die unkompli- 

I zierten 

Traumatische Spätapoplexie — über einen Mazurkiewicz XIX 553 

Fall von 

i TraumatischeSyringyomyelie—Kritikder Kienböck XXII 50 

sogenannten 

I Traumatischer Tremor und die Simulation Seeiigmüller III 45 

desselben. 

Trauma, Epilepsie u. Geistesstörung — über v. Wagner VIII 75 

Träumerei — über pathologische — und Pick XIV 280 

ihre Beziehungen zur Hysterie 

Trigeminu8wurzel — über die — im Poniatowsky XI 98 

Gehirn des Menschen 

— die normale und pathologische Struktur Kure XVIII 158 

der Zellen an der cerebralen 


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390 


Sachregister. 



Autor 

Band ! 

1 

Seite 

i 

Trinkerasyle — zur Frage der 
Trinkerheilanstalten der Schweiz und 
Deutschlands 

Gauster 

VIII 

333 | 

Tilkowski 

XII 

1 1 

Tubtrkel — ein Fall von 

Chvostek 

IV 

51 

Tuberkulose und Irrenpflege 

Starlinger 

XXII 

401 

Tumor am Boden der Rauteugrube — 
ein Fall von 

Spitzer 

XVIII 

1 

Tumor cerebri—die mechanischen Folgen 
eines 

Sommer 

XII 

32 

Unzucht wider die Natur — fragl. An¬ 
fälle epileptoider Art temp. deliot. 

v. Krafft-Ebing 

XIV 

312 

Vasomotorische Neurose — ein Fall von 
— zugleich als Beitrag zur Kenntnis 
der Nervenstörungen im Klimakte¬ 
rium 

Zingerle 

XIX 

342 

Verbrecher, geisteskranke 

Barbier 

I 

64 

Verkennung geistiger Krankheit bei Sträf¬ 
lingen — zwei Fälle von 

v. Krafft-Ebiug 

V 

242 

Verrücktheit — zur Frage der primären 

Fritsch 

I 

35 i 

— Studien über primäre 

Merklin 

1 

206 

Verwirrtheit — über die 

Fritsch 

11 

27 

— Beitrag zur Kasuistik der pseudapha- 
sischen 

Schlangenhausen 

11 

196 

Vierhügel und linker Thalam. opt. — ein 
Fall von Sarkom der 

Scarpatetti 

XIV 1 

182 

Vorderhirn — auatom. Corollarien und 
Physiologie des 

Meynert 

n 

65 

Wahnsinn — die acuten haliucinatorischen 
Formen des 

Meynert 

u 

181 

1 

Wanderversammlung des psychiatrischen 
Vereins in Graz — Bericht über die 

i 

X 

271 j 

— des psychiatrischen Vereins in Prag 
— Bericht über die 

! 

XIV 

545 | 

— des psychiatrischen Vereins in Wien 
— Bericht über die 


XXII 

400 

Wurzeldegeneration im Rückenmark und 
in der Medulla oblong, des Kindes — 
über 

Zappert 

XVI 

197 1 

Wurzel- und Zellenveränderungen im 
Zentralnervensystem des Kindes — 
über 

Zappert 

XVIII 

59 

Zahl der Geisteskranken in Österreich 

Killiches 

I 

67 

Zittern — experim. Untersuchungen über 

Pasternatzky 

III 

229 

Zurechnungsfähigkeit — über 

Glaser 

VII 

322 

Zwangsvorstellungen — zur Kasuistik der 

Lundborg 

XXII 

294 

Zwangsvorstellungen — kasuistische Mit¬ 
teilungen 

Zwangsweise Fütterung — eine Methode 
der 

Knecht 

III 

71 ; 

Scbnopfhagen 

111 ! 

•22 j 


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Kosnkn u.llimiwn, PHdaliskeme beim Holm, 


Taf.l 




.'•hrbüeher für Psyohiatri« XXV. 


Verlag von Franz Deuiirke in Wien und Leipzig. 


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Kosnka ii.!lii\ii\\a, FMci.iIiskri-nr U im llulm. 


Tiir.H. 


b'iy.li 



ruj p 


Fuj 5 




J^rbüeh.rfürP.ychi.tri. XXV. 

Verlag von Franz Deuticke in Wien und Leipzig, 


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Taf.lU. 



Cirkuläre Affektpsycho; 









I 

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9 

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7 



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Taf.JV. 



ürve N- 22. Tageskurse* 
(innerhalb 2Wc 
8 9 io n 12 i fo hre alt 


7Aärz 



l.ith Anst vTh Büimwarlh Wien. 


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Fischer, Carcinotn 


Taf. VI. 



Kunstanstalt Max Jaffe, Wien. 


Jahrbücher für Psychiatrie XXV, 


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Verlag von Franz Deuticke in Leipzig und Wien 







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