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JAHRBÜCHER
für
PSYCHIATRIE
and
NEUROLOGIE.
Organ des Vereines für Psychiatrie und Neurologie
- in Wien.
HERAUSGEGEBEN
von
Dr. F. Hartmann, Dr. G. Mayer, Dr. H. Obersteiner,
Professor Id Graz. Professor in Innsbruck. Professor in Wien.
Dr. A. Pick, Dr. J. Wagner-Jauregg,
Professor in Prag. Professor in Wien.
REDIGIERT
von
Dr. 0. Marburg und Dr. E. Raimann
in Wien.
EINUNDVIERZIGSTER BAND.
LEIPZIG UND WIEN.
FRANZ DEUTICKE.
1922.
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Verlaga-Nr. 2745.
Bachdruckerei der Manzschen Verlags- und Universitäts-BuchhandlanK in Wien
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Inhaltsverzeichnis.
Seite
Kahler, H. Zur Kenntnis der Narkolepsie . . . 1
Zweig, H. Studien zur vergleichenden Anatomie des zentralen Höhlen¬
graus bei den Wirbeltieren.18
Herzig, E. Epilepsie und Krieg.39
Jalcowicz, A. Zur Kenntnis der peripheren Facialislähmung (mit
besonderer Berücksichtigung der vegetativen Störungen) ... 55
Uingazzini, 0. Beitrag zum Studium des Verlaufes einiger Bahnen
des Zentralnervensystems des Cynocephalus papias.71
Karplus, J. P. Über organische Veränderungen des Zentralnerven¬
systems als Spätfolge eines Traumas (nebst Bemerkungen über
deren Verhältnis zu funktionellen Störungen).93
Referate.103
Herschmann, H. Der Unzurecbnungsfähigkeitsparagraph im neuen
deutschen Strafgesetzentwurf.109
Pilcz, A. Zwangsvorstellungen und Psychose.123
Herschmann, H. Die Alkoholfrage im deutschen und österreichischen
Strafgesetzentwurf.147
Hartmann, H. Zur Frage der Selbstblendung.171
Referate.189
Bericht des Vereines für Psychiatrie und Neurologie in Wien .... 197
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Aus der dritten medizinischen Universitätsklinik in Wien.
Vorstand: Professor Dr. F. Chvostek.
Zur Kenntnis der Narkolepsie 1 ).
Von Dr. H. Kahler, Assistent der Klinik.
Bis vor wenigen Jahren waren die Beobachtungen von
Gölineauscher Narkolepsie, welche in der Literatur veröffent¬
licht wurden, äußerst spärlich. Erst in letzter Zeit, insbesondere
während des Weltkrieges, wurden mehrfach derartige Fälle ver¬
öffentlicht und mehrere Autoren versuchten auch, eine Erklärung
der Pathogenese dieses eigenartigen Krankheitsbildes zu geben.
Die zunehmende Häufigkeit der Mitteilungen über Narkolepsie
dürfte darin gelegen sein, daß infolge der Kriegsverhältnisse
eine ungemein große Zahl von Personen in ärztliche Beobachtung
kam. Die während des Krieges beschriebenen Fälle beziehen
sich auch fast ausschließlich auf Soldaten. In das Wesen der
Erkrankung konnte erst seit der Zeit Licht gebracht werden,
da die steigende Erkenntnis von der Bedeutung des Konstitutions¬
begriffes für die Pathogenese besonders nervöser Erkrankungen
den Boden hiefür geebnet hatte.
Soweit die Literatur zu überblicken ist, hat als erster
Gelineau an der Hand eines Falles das Krankheitsbild der
Narkolepsie aufgestellt; er faßte das Leiden als eine eigenartige
Neurose auf und vermutete als Ursache einen abnormen Sauer¬
stoffverbrauch des Gehirnes und als Sitz der Läsion die Brücke.
Schon vor Gelineau hatten Westphal, Fischer und
E. Mendel analoge Fälle beschrieben, welche sie allerdings
l ) Nach einer Krankenvorstellung in der Gesellschaft der Ärzte zu
Wien am 28. April 1920.
Jahrbücher für Psychiatrie. XLI. B l. \
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Dr. EL Kahler.
als epileptoide Zustände gedeutet hatten, ohne aber Zeichen für
Epilepsie nachgewiesen zu haben. Gelineau’s Auffassung
fand bald Widerspruch. Mehrere Autoren (Ballet, Lamacq,
Mac Carthy) betrachteten die Narkolepsie nur als ein
Symptom, das bei Hysterie oder bei verschiedenen Stoffwechsel-
erkrangungen (Fettsucht, Diabetes) Vorkommen könne. Narko¬
lepsie bei Fettleibigkeit beschrieben auch C a t o n und S a i n t o n.
Diese suchten die Ursache des Leidens in einer Autointoxikation
auf Grundlage der Stoffwechselstörung. M o e 11 e r nahm in
seinem Falle, welcher mit Psychose kombiniert war, Beziehungen
zur Chlorose an. Später betonten Berkhan und Schultze,
daß derartige Schlafzustände auch bei Epileptikern angetroffen
werden können, und Före stellte sogar einen eigenen Typus
der epileptischen Narkolepsie auf. Vor ihm hatte Parmentier
in einer zusammenstellenden Abhandlung die hysterische Pseudo-
narkolepsie von der „genuinen“ abgetrennt. Über diese finden
sich in der älteren Literatur noch kurze kasuistische Mitteilungen
bei Camuset, Foot, Rybakow, Nammack, Mac Cormac.
Im Jahre 1902 berichtet Löwenfeld über einen Fall
von Narkolepsie. Er betont, daß es sich um einen eigenartigen,
nicht symptomatischen Krankheitszustand handelt und daß für
die Diagnose neben den Schlafzuständen die anfallsweise auf-
tretende motorische Schwäche von Wichtigkeit sei. Diese Schwäche¬
anfälle bezeichnet neuerdings Henneberg als kataplektische
Hemmung. Löwenfeld nimmt als Ursache der Narkolepsie
eine Übererregbarkeit des vasomotorischen Schlafzentrums an
und scheidet wie die oben genannten Autoren die genuine Form
von der symptomatischen. Dieselbe Auffassung finden wir in
den Arbeiten von Friedmann vertreten, doch werden hier
als Narkolepsie oder narkoleptische Anfälle vor allem die so¬
genannten „gehäuften kleinen Anfälle“ beschrieben, wie sie be¬
sonders bei Kindern Vorkommen. Friedmann behauptet, daß
es zwei Typen von Narkolepsie gebe, einen mit länger dauernden,
aber nicht so häufigen wirklichen Schlafanfällen und einen
zweiten, bei welchem sehr oft am Tage (bis zu 100 mal) ganz
kurzdauernde Bewußtseinstrübungen auftreten. Von dieser zweiten
Anfallsart werden vor allem Kinder befallen. Beide Typen
können auch nebeneinander bei demselben Individuum vor-
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Zur -Kenntnis der Narkolepsie.
3
kommen. Bezüglich der Ätiologie der Narkolepsie stellt Fried¬
mann das konstitutionelle Moment in den Vordergrund seiner
Betrachtungen. Zeh n Jahre vorher hatte übrigens schon B y b a k o w
in einer kurzen Mitteilung die Narkolepsie für ein „degeneratives
Syndrom“ erklärt. Friedroann betont die Häufigkeit der
hereditären Belastung bei der in Bede stehenden Erkrankung
und glaubt an eine angeborene Schwäche des Gehirns. Das
Wesen der Anfälle sieht er in einer vorübergehenden Funktions¬
hemmung der Großhirnrinde.
Die von Friedmann beschriebenen kleinen Anfälle sind
weiterhin Gegenstand einer lebhaften Diskussion in der Literatur
geworden. Heilbronner und Kraepelin sind geneigt, sie
im wesentlichen der Hysterie zuzuzählen, Mann glaubt an
Beziehungen zur Tetanie, da er bei seinen (kindlichen) Fällen
mechanische und elektrische Muskelübererregbarkeit gefunden
hat. Diese Ubererregbarkeit wurde auch von anderer Seite ge¬
legentlich bei den gehäuften kleinen Anfällen beobachtet (S tö cke r,
Klieneberger), auch Friedmann berichtet in einer späteren
Publikation über das gleiche Phänomen und betrachtet mit
Mann die Spasmophilie neben gesteigerter Hirnermüdung und
vasomotorischen Schwankungen im Gehirn als mitbestimmende
Ursache für die narkoleptischen Anfälle. In seiner letzten Arbeit
ist Friedmann indessen von dieser Anschauung wieder ab*
gekommen. Die konstitutionelle Grundlage der Erkrankung und
der Zusammenhang mit vasomotorischen Momenten wird von
Bohde und Klieneberger bestätigt, Schröder und
B e r k h a n bringen kasuistische Mitteilungen über „gehäufte
kleine Anfälle“. Alle diese Autoren bezeichnen im Sinne Fried¬
manns diese Anfallsart als idiopathische Neurose und betonen
den Zusammenhang mit der Narkolepsie Gölineaus. Stöcker
unterscheidet gleich Friedmann zwei Typen von Anfällen,
welche auf dem Substrate nervöser Degeneration entstehen.
Von vielen Seiten (Engelhard, Bedlich, Bolten,
Henneberg) wird aber die Zurechnung der „gehäuften kleinen
Anfälle“ zur Narkolepsie entschiedenst bestritten und die Be¬
zeichnung Narkolepsie ausschließlich für jene Fälle gefordert,
bei welchen sich wirkliche, länger dauernde Schlafanfälle und
daneben meistens auch die kataplektische Hemmung finden
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Dr. H. Kahler.
lassen. Ob diese scharfe Trennung berechtigt ist, muß weiteren
Untersuchungen Vorbehalten bleiben. Hier sei nur darauf hin¬
gewiesen, daß beide Anfallsarten nach Friedmann, Stöcker,
Engelhard bei demselben Individuum auftreten können.
Auch der oft zitierte Westphalsehe Fall hatte neben echten
Schlafanfällen zweifellos kurze Absenzen, welche den von Fried¬
mann beschriebenen völlig gleichen. Übergänge von der einen
zur anderen Art kommen sicherlich vor. So wurde in den Fällen
von Camuset,Nammac.k, Guleke, K. Mendel, Fälle, welche
von den strengsten Verfechtern der strikten Trennung beider
Anfallstypen zur echten Narkolepsie gerechnet werden, unvoll¬
kommene Bewußtlosigkeit, also kein echter Schlaf beobachtet.
Selbst Gölineau berichtet von seinem Kranken, dessen An¬
fälle übrigens ganz kurz dauerten und bis 200 mal am Tage
auftraten, daß er während des Schlafes „alles höre, was um
ihn vorgehe“. Bei Einhaltung so scharfer Bichtlinien würde
auch der G öline au sehe Fall nicht zur G ö lin e au sehen
Narkolepsie zu zählen sein.
Andererseits bestehen aber zwischen beiden Anfallsarten
gewiß große Unterschiede, wenn auch Stöcker glaubt, das
Symptom der kataplektischen Hemmung mit den gehäuften
kleinen Anfällen in Analogie setzen zu können. Die Frage
läuft im Grunde auf einen Namensstreit hinaus und es erscheint
vielleicht am zweckmäßigsten, die „gehäuften kleinen Anfälle“
mit Sauer alsFyknolepsie, die länger dauernden Schlaf¬
zustände aber als Narkolepsie oder nach dem Vorschläge
Singers als Hypnolepsie zu bezeichnen, wobei man sich
aber bewußt sein muß,*daß beide Arten von Anfallen in enger
Beziehung zueinander stehen. Dies betont ja auch Oppenheim.
In bezug auf die Ätiologie der Narkolepsie halten in
neuerer Zeit Lhermitte, Pitres und Brandeis an der
symptomatischen Natur des Leidens fest; die Mehrzahl der
neueren Autoren hingegen, Engelhard, Henneberg und
vor allen Redlich, heben das Bestehen einer idiopathischen
Form auf konstitutioneller Grundlage hervor. Redlich gebührt
das Verdienst, auf den Zusammenhang der Narkolepsie mit der
Hypophyse hingewiesen zu haben, eine Ansicht, welche von
J o 11 y und Singer geteilt wird.
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Zur Kenntnis der Narkolepsie.
5
Die in der Literatur niedergelegten Beobachtungen von
echter Narkolepsie beziehen sich zum weitaus größten Teil auf
männliche Individuen, es finden sich aber nur vier weibliche
Fälle beschrieben, deren Erkrankungen als Narkolepsie ange¬
sprochen werden können.
Zu diesen gehört der schon erwähnte Fall von Fischer aus dem
Jahre 1878, welcher allerdings als epileptischer Zustand aufgefaßt wurde.
Es handelte sich um eine 22 jährige Patientin, bei welcher vor 6 Jahren im
Anschluß an Heiserkeit Anfälle von Schlaf aufgetreten waren. Die Schlaf¬
anfälle stellten sich täglich mehrmals ein und hatten eine wechselnde Dauer,
zwischen 5 Minuten und einer Stunde. Zeitweise bestanden während des
Schlafes schwere Träume. Außerdem klagte die Patientin über manchmal
auftretende Müdigkeit in den Knien, wobei sie häufig zusammenknicke.
Vor und während der Menses waren die Schlafanfälle
von längerer Dauer und kehrten öfter wieder. Das Leiden
war durch keine Therapie zu beeinflussen. Eine jüngere Schwester der
Patientin hatte die gleichen Schlafzustände, diese waren aber nach einiger
Zeit spontan zurückgegangen.
Der zweite Fall ist eine von Ballet beobachtete 52jährige Frau,
deren Großvater auch sehr viel geschlafen hatte. Sie selbst war seit ihrem
14. Jahre immer schläfrig, mußte viel gähnen und es traten 5 —6mal im
Tage etwa halbstündige Schlafanfälle auf, aus welchen sie schwer zu er¬
wecken war. Zur Zeit der Menses waren die Schlafanfälle
stets stärker.
Ferner beschreibt Mac Cormac den Fall einer 27jährigen Frau,
welcher vor 4 Jahren in einer Sitzung 10 Zähne extrahiert worden waren.
Sofort nach dieser Operation trat dauernde starke Müdigkeit und Schläfrigkeit
auf und bald darauf setzten Schlafanfälle ein, deren Dauer zwischen 8 und
10 Minuten, auch länger, variierte. Anfangs kehrten die Anfälle bis zu
12 mal im Tage wieder, später traten sie seltener auf, zur Zeit der Be¬
obachtung etwa lmal täglich. Die Patientin war aus dem Schlaf stets
leicht zu erwecken. Es fanden sich keine Symptome für Hysterie oder
Epilepsie.
Endlich berichtet Guleke, allerdings nur kurz, über eine 48jährige
Patientin, welche bei Tag häufig für kurze Zeit einschlafe. Sie höre aber
während des Schlafes alles. Außerdem leide sie an Anfällen von Kraft¬
losigkeit, besonders beim Lachen. Der somatische und neurologische Befund
war negativ.
Diesen vier Fällen sei der von uns beobachtete Fall
angereiht.
Olga L., eine 21jährige, ledige Näherin, wurde am 24. Jänner 1920
an die Klinik aufgenommen. Ihr Vater ist Potator und sehr fettleibig, die
Mutter sehr nervös. Der Großvater mütterlicherseits war auffallend groß.
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Dr. H. Kahler.
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Patientin hat vier gesunde Geschwister. Als Kind war sie schwächlich,
lernte erst mit 3 Jahren sprechen, auch litt sie an starker Rh&chitis, als
ceren Folge gegen das Ende des ersten Dezenniums die noch jetzt be¬
stehende, starke Rückenverkrümmung auftrat. Diese verursacht ihr aber
keine nennenswerten Beschwerden. Von Kinderkrankheiten überstand sie
nur Masern und Schafblattern, sie hatte ferner häufig Halsentzündungen,
Schnupfen und Husten. Mit 11 Jahren fiel Patienten einmal die Stiege
herunter und zog sich eine Verletzung an der rechten Stirnseite zu. Sie
war damals durch kurze Zeit bewußtlos, erbrach auch 1« oder 2mal.
Menarche im 12. Lebensjahre, die Menses wiederholen sich seither regel¬
mäßig alle 4 Wochen, sind von 8tägiger Dauer und stets mit starken
Rücken- und Kreuzschmerzen verbunden.
Als Kind war die Patientin niemals abnorm schläfrig, sie schlief
auch nicht länger als andere Kinder.
Vor 2 1 / 2 Jahren war Patientin durch mehrere Monate stark über¬
anstrengt. Bald darauf bemerkte sie, daß sie immer sehr matt und schläfrig
sei. Diese Mattigkeit nahm allmählich zu, das Schlafbedürfnis wurde
größer und Patientin schlief häufig von 9 Uhr abends bis zum Mittag
des nächsten Tages ohne Unterbrechung. Manchmal soll sie im Schlafe
aufgeschrien haben. Zur gleichen Zeit wie der abnorm lange Nachtschlaf
traten auch bei Tag Anfälle von Schlaf auf. Es kam jeden Tag 3- bis
4mal vor, daß die Patientin während des Nähens, Kochens oder im Ge¬
spräche plötzlich von einem unüberwindlichen Schlafbedürfnis befallen wurde.
Meist hatte sie noch Zeit, sich niederzusetzen, dann schlief sie aber sofort
ein. Nach 1- bis 2ständigem Schlaf wachte sie wieder auf, hatte aber
nachher meist starke Kopfschmerzen. Während eines solchen Tagschlafes
war sie nur mit großer Mühe zu erwecken, und zwar gelang dies allein
durch Ziehen an der Nase. Dagegen brachten sie auch starke Lärmreize
nicht zum Aufwachen. Wenn sich die plötzliche Schläfrigkeit eiustellte,
konnte die Patientin manchmal, jedoch nicht immer, durch ständiges,
lautes Reden am Einschlafen verhindert werden. Sie selbst konnte aber
niemals gegen den Schlaf mit Erfolg ankämpfen. Zur Zeit der Menses
war das Schlafbedürfnis noch große* als gewöhnlich
und die Schlafanfälle traten häufiger auf.
Dieser Zustand hielt mit geringen Schwankungen in der Häufigkeit
und Intensität der Schlafanfälle unverändert an bis vor etwa einem halben
Jahr. Damals wurden der Patientin nach einer neuerlichen Halsentzündung
die Tonsillen operativ entfernt. Ungefähr 4 Wochen später traten zu den
Schlafanfällen, welche nach der Operation etwas seltener geworden waren,
„Ohnmachtsanfälle’ 4 hinzu. Diese stellen sich besonders bei Aufregungen
oder Ärger ein und bestehen darin, daß Patientin plötzlich von Kraft¬
losigkeit befallen wird und zusammenstürzt, worauf sie sofort tief schläft.
Der Schlaf dauert 5 bis 10 Minuten, dann spontanes Aufwachen, sie weiß
immer, daß sie geschlafen hat. Nach Angabe der Angehörigen glich der
Schlaf in diesen Fällen vollkommen dem während der anderen Schlaf¬
anfälle, es soll auch niemals Zungenbiß oder eine abnorme Atmung vor-
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Zur Kenntnis der Narkolepsie.
7
gekommen sein, niemals Schaum vor dem Munde, dagegen waren manchmal
leichte Zuckungen während des Schlafes vorhanden, doch traten diese
niemals zu Beginn des Anfalles auf. Einige Male bestand nach einem solchen
„Ohnmachtsanfall“ Harnverhaltung, die bis zu 12 Stunden andauern konnte.
Auch diese Anfälle waren während der Menses besonders stark. In der
letzten Zeit vor der Spitalsaufnahme schlief Patientin am 1. Tag der
Menses jedesmal fast durch 24 Stunden ununterbrochen. Abnormes Ver¬
halten beim Lachen wurde nicht bemerkt.
Die Untersuchung ergab folgendes:
Die Patientin ist sehr klein, besonders wegen einer starken, dextrokon-
vexen, rhachitischen Kyphoskoliose der Brustwirbelsäule, der Ernährungs¬
zustand ist herabgesetzt, die Hautfarbe blaß. Der Allgemeinhabitus ist
infantil, Behaarung in den Axillen sehr spärlich, PubeB dagegen normal ent¬
wickelt, Vorderarme und Unterschenkel behaart. Die Mammae sind ziemlich
parenchymreich. Ohrläppchen angewachsen, Gesicht asymmetrisch, hoher
spitzer Gaumen mit Querleisten. Tonsillen fehlen, Zungengrundfollikel
vergrößert, es besteht eine leichte Schwellung der Parotisdrüsen beiderseits,
wie sie H e b 8 bei abnormen Individuen beschrieben hat. Ganz leichte paren¬
chymatöse Struma. Überstreckbarkeit derMetakarpophalangealgelenke, leichte
Plattfüße. Dermographismus.
Der Schädel von normalen Dimensionen, die rechte Stirnseite etwas
klopfempfindlich, dort ist auch eine kleine vorspringende Knochenkante zu
tasten (Fall auf die rechte Stirnseite vor 10 Jahren). Pupillen mittelweit,
prompt reagierend, bei Augenschluß starker Lidtremor. Die übrigen Hira-
nerven normal, desgleichen der Augenhintergrund (Dr. Fuchs). Kein
Fazialisphänomen, Ohrbefund negativ (Dr. Schiander). Koraeal- und
Würgreflex prompt. Bauchdeckenreflexe vorhanden. Die Motilität der Ex¬
tremitäten intakt, die Reflexe etwas gesteigert. Der Patellarreflex links
etwas stärker als rechts. Achillessehnenreflex beiderseits gleich. Babinski
links zeitweise positiv. Keine Ataxie. Mäßige linksseitige Hemihypästhesie.
Lunge, Herz und Abdomen ohne wesentlichen Befund, der zweite
Pulmonalton akzentuiert.
Im Harne fanden sich am Tage der Aufnahme große Mengen von
Azeton und etwas Azetessigsäure, die Azetonurie war nach drei Tagen
verschwunden. Später, auch bei wiederholter Nachprüfung, stets normaler
Hambefund. Die Hammenge ist manchmal unter der Norm, das spezifische
Gewicht dementsprechend oft hoch (bis 1036). Patientin trinkt sehr wenig.
Der Blutdruck schwankt zwischen 95 und 110 (nach Riva-Rocci).
Der Blutbefund ergibt 4,500.000 rote und 7200 weiße Blutkörperchen, einen
Hämoglobingehalt von 85 (Sahli), demnach einen Färbeindex von 11.
Die Differentialzählung der Leukozyten erbrachte folgenden Befund:
Polynukleäre Leukozyten.60*2% = 4334 im mm*
Große mononukleäre und Übergangsformen ... 6*8% = 490 „ „
Lymphozyten.29*6% = 2131 „ „
Eosinophile Leukozyten.2*6% = 187 n „
Mastzellen.0'8% = 58 „ „
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Dr. H. Kahler.
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Der Gehalt des Blutes an Zucker beträgt 0*09% (Mikromethode von
Bang). Während der Menses stieg er auf 0*18%, ein Verhalten, welches
häufig angetroffen werden kann (Kahler).
Auf subkutane Injektion von 1 mg Adrenalin (Tonogen Richter)
erfolgte nur geringe Reaktion von 8eite der Gefäße: Der Puls erhob sich
von 80 auf 100, der Blutdruck von 95 auf 115, es trat auch nur ganz ge¬
ringes Herzklopfen auf. Dagegen stieg der Blutzuckergehalt eine Stunde
nach der Injektion auf 0*18% und es wurde auch eine geringe, quantitativ
nicht bestimmbare Menge Zucker im Harne ausgeschieden.
Subkutane Injektion von 1 mg Atropin, sulfur. rief heftiges Herz¬
klopfen (Puls bis 136), starke Erweiterung der Pupillen und große Trocken¬
heit im Munde hervor. Der Blutdruck blieb fast unverändert. Bald nach
der Injektion schlief die Patientin mehrmals für 2 bis 3 Minuten ein. Nach
der Adrenalininjektion nur einmaliges Einschlafen.
Auf Pituglandol (Roche, 1 cm* subkutan) keine Veränderungen des
Pulses oder des Blutdruckes, keine subjektiven Beschwerden.
Die elektrische Erregbarkeit zeigte bei faradischer und galvanischer
Prüfung normales Verhalten. Galvanisch fand sich:
Nervus ulnaris dexter ....
. . . . K.-S.-Z.
1-4 M.-A.
A.-Ö.-Z.
2-6 , .
A.-S.-Z.
3-8 „ -
K.-S.-Te.lO-O .. .
Nervus ulnaris sinister.
. . K.-S.-Z.
1-6 , .
A.-S.-Z.
3-0 - .
Nervus medianus dexter . .
K.-S.-Z.
1-0 .. ..
A.-Ö.-Z.
3-0 - ..
Nervus facialis sinister ...
. . K.-S.-Z.
1-8 . _
A.-S.-Z.
3-8 r .
A.-Ö.-Z.
8-0 .. r
Keine Zeichen einer myasthenischen oder myotonischen Reaktion.
Der Röntgenbefund des Schädels (Prof. Schüller) ergab: Zeichen
von gesteigertem Hirndruck. Impressiones digit. deutlich verstärkt, Juga
leistenartig vorspringend. AbnormeKleinheitderSella turcica.
Eine Lumbalpunktion war wegen der starken Kyphoskoliose nicht
ausführbar.
Psychisch bot die Patientin einen vollkommen normalen Befund.
Nur vor und während der Menses war sie auch im wachen
Zustand dauernd schläfrig und sehr matt. Sonst ist sie
immer lustig und hilft bei den Arbeiten am Krankenzimmer gerne mit.
Die in der Anamnese erwähnten Schlafanfälle kamen häufig zur
Beobachtung. Sie treten täglich 3- bis 4mal auf, nur selten gibt es Tage,
an welchen Patientin davon frei bleibt. Die Anfälle stellen sich in den
verschiedensten Situationen ein. Beim Sitzen, beim Dominospielen, während
des Essens, auch während der Besuchszeit im Gespräche mit ihren Ver¬
wandten klagt die Patientin plötzlich über sehr starke Schläfrigkeit, es
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Zur Kenntnis der Narkolepsie.
9
werde ihr schwarz vor den Augen und sie ist sofort eingeschlafen. Tritt
dieser Zustand ein, wenn sie auf ihrem Bett sitzt, so fällt meist der Kopf
plötzlich nach vorn, manchmal legt sie sich noch schnell in die Kissen
zurück. Einige Male schien es, als könnte der Sohlafanfall durch einen be¬
stimmten Umstand ausgelöst werden. So schlief die Patientin z. B. während
der Prüfung des Fazialis mit dem galvanischen Strom plötzlich ein, ebenso
traten, wie oben erwähnt, nach der Adrenalin- und Atropininjektion Schlaf¬
anfälle auf.
Der Zustand der Patientin während eines Anfalles gleicht voll¬
kommen dem natürlichen Schlaf. Der Puls ist nicht verlangsamt, manchmal
sogar etwas beschleunigt, die Atmung nicht gestört. Die Pupillen sind
weit, die Lichtreaktion, deren Prüfung während des Schlafes einige Male
gelang, ist stets vorhanden. Manchmal, jedoch niemals im Beginne des
Anfalles, sondern erst 5 Minuten oder später nach dem Einschlafen treten
leichte hyperkinetische Erscheinungen an den Extremitäten auf, welche
nicht näher zu charakterisieren sind, jedenfalls aber keine Ähnlichkeit mit
epileptischen Zuckungen haben. Diese Hyperkinesien hielten bis zu 10 Minuten
lang an. Die Dauer des Schlafes ist verschieden und variiert zwischen
2 Minuten und mehreren Stunden. Meist währt der Schlaf aber 10 bis
20 Minuten lang, wonach spontanes Aufwachen erfolgt. Künstliches Er¬
wecken gelingt manchmal auf sehr leichte Weise, durch bloßen Anruf.
Häufig ist das Aufwecken jedoch schwer; stärkste Lärmreize, auch Nadel¬
stiche bringen die Patientin nicht aus dem Schlaf, erst kräftiges Ziehen
an der Nase eventuell Zuhalten derselben hat Erfolg. Das Aufwachen ist
stets ein vollkommen normales, sie reibt sich die Augen, gähnt, findet sich
eben bald zurecht, weiß auch immer, daß sie geschlafen hat. Nach dem Er¬
wachen klagt sie oft über Kopfschmerzen, besonders dann, wenn sie mit
Mühe geweckt worden ist.
Neben den Schlafzuständen konnten auch die „Ohnmachtsanfälle'* der
Patientin nicht selten beobachtet werden. Diese treten etwa jeden 4. bis
5. Tag auf, und zwar beim Waschen, beim Herumgehen im Krankenzimmer
oder auf den Gängen, also stets, wenn Patientin steht oder geht. Sie fällt
plötzlich zusammen und ist zugleich in tiefen Schlaf gesunken. Der Zu¬
stand ist mit den während der oben geschilderten Schlafanfälle vollkommen
identisch, er dauert meist 5 bis 10 Minuten, manchmal schläft sie aber
mehrere Stunden. Das Aufwachen ist wieder ganz normal und Patientin
weiß immer, daß sie geschlafen hat. Künstliches Erwachen aus einem
solchen Schlafe gelingtimmer, wenn auch manchmal nur mit Mühe. Bezüglich
des Eintrittes dieser Anfälle erzählt die Patientin, daß sie sich plötzlich sehr
matt fühle, es werde ihr schwarz vor den Augen und sie sinke zusammen.
Was dann um sie her vorgehe, wisse sie nicht, bis zum Moment des Auf¬
wachens. Befragt, ob sie einen Unterschied zwischen diesen Anfällen und
den Schlafzuständen angeben könnte, antwortet sie, manchmal komme die
Mattigkeit und Schläfrigkeit langsamer, dann könne sie sich noch hinsetzen
oder niederlegen, bevor sie einschlafen müsse; manchmal trete die Müdigkeit
aber so plötzlich ein, daß sie zusammensinke. Diese Anfälle von Zusammen-
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Dr. H. Kahler.
stürzen können jederzeit dadurch ansgelöst werden, daß man mit der
Patientin rasch auf nnd ab geht. Sie gibt regelmäßig nach 1 bis 2 Minuten
Umhergehens Kopfschmerzen nnd Schwindel an nnd stürzt dann plötzlich
zu Boden. Zugleich ist tiefer Schlaf eingetreten. Mehrfach wurde versucht,
die Schlafanfalle auf verschiedene Art durch Suggestion herbeizuführen,
doch waren diese Versuche immer erfolglos.
Vor und während der Menstruation treten die
S c h 1 a f a n f ä 11 e viel häufiger auf und haben auch eine
längere Dauer. Besonders am 1. Tag jeder Menstruation schläft die
Patientin fast ununterbrochen und ist nur mit Mühe auf kurze Zeit zu
erwecken. In einem solchen Zustand wurde sie auf die Klinik eingebracht,
damals bestand auch durch mehrere Stunden Harnverhaltung.
Es handelt sich am eine 21jährige, hereditär etwas be¬
lastete Patientin mit infantilem Habitus. Außerdem sind zahl¬
reiche Anzeichen körperlicher Abartung (degenerative Stigmen)
zu finden. Diese Tatsachen lassen es berechtigt erscheinen, die
Patientin als Trägerin einer Konstitutionsanomalie,
einer „hypoplastischen Konstitution“ zu bezeichnen, für welche
wir seinerzeit eine vorläufige Abgrenzung gegeben haben. Mit
11 Jahren hat die Patientin ein leichtes Schädeltrauma erlitten,
welches ohne wesentliche Folgen blieb. Vor 27« Jahren sind,
angeblich im Anschluß an Überanstrengung, erhöhtes Schlaf¬
bedürfnis und die geschilderten Schlafanfälle aufgetreten. Diese
Anfälle gleichen in Art, Häufigkeit und Dauer vollkommen den
in der Literatur niedergelegten Beobachtungen von genuiner
Narkolepsie; es sind echte Schlafanfälle, wobei das Be¬
wußtsein vollkommen erloschen ist. Konstante Müdigkeit, welche
sich nach Redlich häufig findet, besteht bei unserer Patientin
nicht. Im Anfänge der Erkrankung war dieses Symptom durch
längere Zeit vorhanden, jetzt leidet sie nur vor und während
der Menstruation an dauernder Müdigkeit In derselben
Zeit treten auch die Schlafanfälle gehäuft auf und
sind von längerer Dauer. Dieses Verhalten findet sich unter
den erwähnten vier weiblichen Fällen von anscheinend genuiner
Narkolepsie zweimal beschrieben, und zwar bei Fischer und
Ballet. Moeller hat das gleiche Symptom bei ähnlichen
Schlafanfallen beobachtet, welche im Verlaufe einer Psychose
aufgetreten waren. Zur Zeit der Menstruation tritt bei unserer
Kranken auch manchmal Harnverhaltung auf und einmal wurde
dabei Azetonurie beobachtet. Die Harnverhaltung ist ohne Be-
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Zur Kenntnis der Narkolepsie.
11
deutung für die Diagnose des Prozesses, da sie bei den ver¬
schiedensten Schlafzuständen vorkommt. Für die Azetonurie
können wir keine voll befriedigende Erklärung geben, am wahr¬
scheinlichsten ist ihre Entstehung infolge Inanition. Die „ Ohn¬
machtsanfälle u der Anamnese, welche besonders bei Aufregungen
eintreten sollten, schienen uns zuerst ein Äquivalent der Anfälle
von kataplektischer Hemmung zu sein. Diese stellen sich
nach den Angaben der Autoren vor allem beim Lachen ein,
sind aber auch bei anderen Gemütsaffekten gesehen worden
(Stöcker, K. Mendel, Noack, Stiefler). Plötzliches Zu¬
sammenstürzen wie bei unserer Patientin hat Redlich in
einem Fall beobachtet Während des Spitalsaufenthaltes unserer
Kranken zeigte sich, daß zwischen den „Ohnmachtsanfällen“
und den Schlafzuständen kein wesentlicher Unterschied besteht
außer in der Art des Einsetzens, welches bei jenen ganz plötzlich,
bei diesen etwas langsamer erfolgt. Es wäre möglich, daß es
sich bei den „Ohnmachtsanfällen" um eine Kombination der
kataplektischen Hemmung mit dem narkoleptischen Schlaf handelt
doch könnte das Zusammen sinken auch als bloße Folge des
plötzlichen Schlafeintrittes gedeutet werden. Für die Diagnose
der Narkolepsie ist das Vorhandensein des Symptoms der
kataplektischen Hemmung nicht von unbedingter Wichtigkeit
In der Literatur findet es sich etwa in der Hälfte der Fälle,
auch in den jüngsten Beobachtungen war es mehrmals nicht
vorhanden (1 Fall von Redlich, Boas, La ehr).
Es wäre naheliegend, die plötzlich eintretenden Bewußt¬
seinstrübungen bei unserer Patientin als epileptische Äquivalente
zu deuten, da ähnliche Schlafanfälle bei sicheren Epileptikern
beschrieben worden sind (Berkhan, Schultze, F 4 r e). Doch
fand sich weder anamnestisch noch in unserer Beobachtung
ein echter epileptischer Anfall, es besteht auch trotz jahrelanger
Dauer des Leidens keine psychische Degeneration im Sinne
einer postepileptischen Demenz, wie dies von Heilbronner
und Redlich für die Diagnose Ep^epsie gefordert wird. Die
prompte Pupillenreaktion während der Anfalle, das Fehlen von
Zungenbiß, Bettnässen oder retrograder Amnesie spricht gleich¬
falls gegen Epilepsie. Für diese Diagnose könnten nur die zeit¬
weise während des Schlafes zu beobachtenden Hyperkinesien
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Dr. H. Kahler.
und das Babinskische Zehenphänomen verwertet werden. Die
hyperkinetischen Erscheinungen können nicht als epileptische
Zuckungen aufgefaßt werden. Sie treten niemals im Beginne des
Anfalles auf und dauern viel zu lange (bis zu 10 Minuten).
Außerdem finden sich derartige leichte Zuckungen auch im
normalen Schlaf bei nervösen Individuen, insbesondere bei
Kindern. Das zeitweise Auftreten des Babinskisehen Zehen¬
phänomens auf einer Seite kann nicht auf eine Epilepsie be¬
zogen werden, da es im Zusammenhang mit der Differenz der
PatellarBehnenreflexe zunächst auf den bestehenden chronischen
Hydrozephalus zurückzuführen ist. Der Babinski könnte aber
auch nur Ausdruck der abnormen Körperveranlagung unserer
Patientin sein, da bei Konstitutionsanomalien zeitweise Dorsal¬
flexion vorkommt (Biach). Gegen Epilepsie wäre ferner die
große Häufigkeit der Schlafanfälle und die lange Dauer der¬
selben anzuführen, was Rybakow hervorhebt. Endlich war
Bromtherapie ohne jeden Einfluß auf denZustand unserer Patientin.
Wegen des wenn auch geringfügigen organischen Nerven-
befundes muß eine organische Hirnläsion als Ursache der Schlaf¬
anfälle bei unserer Patientin in Betracht gezogen werden. Schlaf¬
zustände bei Zerebralprozessen wurden mehrfach beobachtet,
so von Lamacq und Groß bei Hirntumoren, von Redlich
und Williams bei Tumoren der Hypophyse, gelegentlich auch
bei multipler Sklerose (Chartier). In unserem Falle ist es
wenig wahrscheinlich, daß die geringfügige Reflexdifferenz und
die röntgenologisch nachgewiesene Steigerung des Himdruckes
auf einen progredienten Zerebralprozeß zurückzufuhren sind. Der
Zustand unserer Kranken besteht seit 2 1 / 2 Jahren, ohne sich ver¬
schlimmert zu haben, es finden sich nur zeitweise leichte Kopf¬
schmerzen, niemals Erbrechen, die Sellaturcica ist nicht ausgeweitet,
der Augenhintergrund normal. Die organischen Symptome weisen
unserer Ansicht nach auf einen geringfügigen chroni¬
schen Hydrozephalus hin, welcher möglicherweise durch
das vor 10 Jahren erlitten§ Schädeltrauma eine Exazerbation er¬
fahren hat. Ein Zusammenhang des Hydrozephalus mit den
Schlafanfällen ist nicht völlig auszuschließen, doch spricht die
Tatsache, daß bei chronischem Hydrozephalus so überaus selten
Narkolepsie beobachtet wurde, gegen direkte Beziehungen.
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Zur Kenntnis der Narkolepsie.
13
Das Krankheitsbild in unserem Falle von hysterischen
Schlafzuständen abzugrenzen, bereitet einige Schwierigkeit. Hy¬
sterische Pseudonarkolepsie wurde von vielen Autoren beobachtet,
wir verweisen hier nochmals auf die zusammenstellende Arbeit
von Parmentier. Bei unserer Patientin finden sich von so¬
genannten hysterischen Stigmen Lidtremor und mäßige Hemi-
hypästhesie, dagegen keine Druckpunkte, .wie sie in Par-
mentiers Fällen immer vorhanden waren. Es treten ferner
niemals hysterische Anfälle anderer Art auf, die Schlafanfälle
sind vollkommen monoton, was nach Singer gegen Hysterie
spricht. Die Schlafsucht hat ganz allmählich, nicht stürmisch
eingesetzt, die Anfalle können durch Suggestion in keiner Weise
beeinflußt werden, wie es von Heilbronner und Engelhard
für hysterische Schlafzustände gefordert wird, endlich fehlt das
„Massive“ in den Erscheinungen (Redlich). Wenn wir also
unsere Kranke auch nicht als völlig frei von Hysterie bezeichnen
können, so hat doch die Annahme, daß die Schlafanfälle
hysterischer Natur seien, wenig Wahrscheinlichkeit. Es wäre
aber möglich, daß das Krankheitsbild durch die gleichzeitig
bestehende geringgradige Hysterie in einigen Einzelheiten modi¬
fiziert wird. Daß Hysterie und Narkolepsie nebeneinander bei
demselben Individuum Vorkommen, ist nicht verwunderlich, da
beide Zustände degenerative Erkrankungen darstellen, welche
sich auf der Grundlage abnormer konstitutioneller Veranlagung
aufbauen.
Wir glauben daher annehmen zu dürfen, daß die Er¬
krankung unserer Patientin unter die Fälle von genuiner
Narkolepsie einzureihen ist.
Als maßgebend für das Zustandekommen des Prozesses
sehen wir in Übereinstimmung mit den meisten Autoren die
abnorme Körperveranlagung der betreffenden Individuen an.
Schon in den älteren Mitteilungen über genuine Narkolepsie
wurde häufig die hereditäre neuropathische Belastung der Patienten
betont, mehrfach wurde auch familiäres Auftreten der Schlaf¬
zustände beschrieben (Fischer, Ballet, Nammack). Ferner
finden sich in den neueren Publikationen unter den genauer
mitgeteilten Fällen fast ausschließlich solche, bei welchen Zeichen
konstitutioneller Abartung gehäuft Vorkommen und bei welchen
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14
Dr. H. Kahler.
daher eine konstitutionelle Anomalie angenommen werden kann.
Das Wesentliche des Prozesses scheint uns die abnorme Reaktion
des Individuums zu sein, welches infolge abnormer Körper¬
beschaffenheit auf verschiedene Reize mit Schlafanfällen reagiert.
Man könnte in einem solchen Falle von narkoleptischer
Reaktionsfähigkeit sprechen, in Analogie zu dem von
Redlich aufgestellten Begriff der epileptischen Reaktions¬
fähigkeit bei der Epilepsie.
Durch diese Annahme ist die Möglichkeit gegeben, das
Auftreten der Schlafanfälle bei verschiedenen Erkrankungen zu
erklären. Es ist fraglich, ob neben der angeborenen Form auch
noch eine erworbene, symptomatische Form der narkoleptischen
Reaktionsfähigkeit vorkommt. Bei fast allenErkrankungen,
welche nach den Angaben der Literatur zu sympto¬
matischer Narkolepsie führen können(Hirntumoren,
Hypophysentumoren, Epilepsie, Hysterie, ferner Fettsucht, Dia¬
betes), spielt das endogene, konstitutionelle Mo¬
ment eine hervorragende Rolle. Diese Tatsache läßt
es möglich erscheinen, daß wir es sowohl bei der sympto¬
matischen wie bei der genuinen Narkolepsie mit
der gleichen endogenen, abnormen Reaktions¬
fähigkeit des Individuums zu tun haben und daß
die Erkrankungen, bei welchen Narkolepsie als Symptom be¬
obachtet wurde, vielleicht nicht viel mehr als die auslösende Ur¬
sache darstellen. In manchen Fällen kann das auslösende Moment
so geringfügig sein, daß das Krankheitsbild als ein „ genuines “
imponiert. Von diesem Gesichtspunkte aus wären vielleicht auch
die mehrfach beschriebenen Fälle von geuniner Narkolepsie zu
beurteilen, welche gleich unserer Patientin ein Schädeltrauma in
der Anamnese aufweisen. Schon bei Gllineau und E. Mendel
findet sich eine derartige Erwähnung, ebenso in 2 Fällen von
Redlich, ferner bei Singer und N o a c k.
Durch die Annahme einer narkoleptischen Reaktions¬
fähigkeit werden auch die Beziehungen verständlich, welche
zwischen der Frie dmannsehen Pyknolepsie und der Narko¬
lepsie bestehen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die pykno-
leptische Reaktionsfähigkeit, welche sich besonders
bei Kindern zu finden scheint, in einem gewissen Zu-
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Zur Kenntnis der Narkolepsie.
15
stimmenhang mit der narkoleptischen Reaktions¬
fähigkeit steht. Die Differenzen in den Erscheinungen wären
vielleicht nur durch die anders geartete Reaktionsfähigkeit des
kindlichen Gehirns gegenüber dem des Erwachsenen gegeben.
Wenn sich pyknoleptische Anfälle in seltenen Fällen auch bei
Erwachsenen finden, so wären sie als Infantilismen zu deuten.
Jedenfalls fußen beide Prozesse auf derselbeu Basis der ab¬
normen Körperverfassung, als deren Teilerscheinung auch die
Spasmophilie aufzufassen sein dürfte, welche bei kindlicher
Pyknolepsie mehrfach beschrieben wurde (M a n n, F r i e d m a n n).
Bei Krankheitszuständen, welche sich auf der Basis ab¬
normer konstitutioneller Veranlagung entwickeln, spielen er¬
fahrungsgemäß die Blutdrüsen häufig eine maßgebende
Rolle. Für die Narkolepsie wird diese Auffassung bestärkt
durch den Vergleich mit dem Krankheitsbilde der Myasthenie.
Bei beiden Prozessen treten Erscheinungen abnormer Ermüd¬
barkeit in den Vordergrund, nur liegt bei der Narkolepsie das
Maßgebende in einem zeitweisen Versagen des Großhirns,
während bei der Myasthenie das Wesentliche in Ermüdungs¬
erscheinungen der Muskulatur besteht. Für die Myasthenie
können Beziehungen zu den Blutdrüsen als ziemlich gesichert
gelten. Für die Narkolepsie wird die Annahme, daß die Blut¬
drüsen für das Entstehen des Prozesses von Wichtigkeit sind,
gestützt durch viele Beobachtungen von Veränderungen an den
Blutdrüsen bei dieser Erkrankung. Redlich fand bei zwei
Fällen röntgenologisch eine abnorme Kleinheit der Sella turcica
und weist auf den Zusammenhang der Narkolepsie mit der
Hypophyse hin. Dieses Verhalten der Sella wurde später auch
von Jolly und Singer beschrieben; in unserem Falle ist die
Sella gleichfalls abnorm klein. Es kommen aber auch andere
Beziehungen zur Hypophyse vor. So waren in den Fällen von
Dercum und Henneberg akromegaloide Veränderungen
an den Extremitäten vorhanden, letzterer Autor fand in seinem
Falle auch Polyurie. Ferner wurde Narkolepsie mehrfach bei
Fettsucht beobachtet, welche ja unter Umständen hypophysärer
Genese sein kann (Ballet, Lamacq, Sainton, Redlich).
In den Fällen von C a t o n und Jolly traten die Schlafanfälle
sogar gleichzeitig mit starker Gewichtszunahme auf. Ballet
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Dr. H. Kahler.
beschreibt Narkolepsie bei einem Diabetiker, Stiefler glaubt die
Lymphozytose von 42% in seinem Falle auf eine Beziehung zum
Morbus Basedowi zurückführen zu müssen. Doch ist dieses Ver¬
halten des weißen Blutbildes, welches sich auch in einem Falle
Redliche findet, wohl nur als Teilerscheinung der abnormen
Körperverfassung zu deuten, bei welcher Lymphozytose häufig vor¬
kommt (Kahler). Auch bei unserer Kranken stehen die Lympho¬
zyten und großen Mononukleären an der oberen Grenze der Norm.
Beziehungen der Narkolepsie zu den Genitaldrüsen werden
mehrfach angegeben. So berichten D e r c u m und J o 11 y über
Abnahme des Geschlechtstriebes bei ihren Kranken, Schultze
sah ähnliche Schlafzustände während einer Gravidität auf-
treten. ln unserem Falle besteht wie in den Beobachtungen
von Fischer, Ballet, Moeller eine teilweise Abhängigkeit
der Schlafanfälle von der Menstruation.
Eb handelt sich bei der Narkolepsie unserer Auffassung
nach um eine abnormeErmüdbarkeitdesGroßhirns,
als deren Ursache wir eine auf konstitutioneller Basis
beruhende narkoleptische Reaktionsfähigkeit an-
sehen. Die Blutdrüsen sind allem Anschein nach für das
Auftreten der Erkrankung von maßgebender Bedeutung.
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Zur Kenntnis der Narkolepsie.
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Williams: Ref. Zentralbl. f. ges. inn. Med., 4, 1913.
Jahrbücher für Psychiatrie. XLI. Bd.
2
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Aua dem Neurologischen Institut an der Wiener Universität.
Vorstand: Prof. Marburg.
Studien zur vergleichenden Anatomie
des zentralen Höhlengraus hei den Wirbeltieren.
Von Dr. Hau Zweig.
Mit 7 Abbildungen im Text.
Wie oft und wie genau auch das Gebiet der Augenmuskel¬
kerne in umfassendster Weise bearbeitet wurde, so herrscht doch
äber einige Fragen bei den einzelnen Autoren eine weitgehende
Verschiedenheit der Auffassungen. So ist die Bedeutung der
kleinzelligen Elemente des zentralen Höhlengraus zwischen
Aquädukt und hinterem Längsbündel noch immer viel um¬
stritten. Zwei Fragen bedürfen einer Klärung: 1. Die Bedeu¬
tung der kleinzelligen Elemente direkt dorsal vom Okulo-
motoriuskem, 2. die Bedeutung der im Bereiche des hinteren
Vierhügels gelegenen kleinen Zellen.
Was die erste Frage anlangt, so haben Edinger und
Westphal zuerst diese Gruppe beschrieben; Bernheimer
hat dann auf Grund der bekannten Exstirpationsversuche am
Affen die Lehre aufgestellt, daß in diesen Zellen respektive
im sogenannten Zentralkern vom Perlia die Binnenmuskeln
des Auges ihre zentrale Vertretung hätten. Für und wider diese
Lehre wurden Beweise herangezogen. So bezweifeln Cajal und
Bach die Zugehörigkeit dieser Zellgruppen zum HE-Kern beim
Menschen, welche Ansicht auch von anderen Autoren, wie
Tsuchida, van Gehuchten, Biervliet, Siemerling
und Boedeker, Cassirer und Bchiff vertreten wurde.
Während weiterhin Perlia und Panegrossi die von
bv Google
Original from
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Vergl. Anatomie des zentralen Höhlengraus der Wirbeltiere.
19
Edinger und Westphal beschriebenen Zellgruppen von
dem weiter vorn gelegenen Nucleus medianus anterior abtrennen,
eine Ansicht, der sich auch E ding er und Majano an¬
schlossen, ist dieser letztgenannte Kern von anderen Forschem,
wie Obersteiner, Ahlström, Pacetti, Zeri, Siemer-
ling und Boedeker, Kappers, Brouwer und Levin-
sohn als kraniale Fortsetzung des Edinger-Westphal-
schen Kernes bezeichnet worden, während Bernheimer und
Bach diesen Kern überhaupt nicht berücksichtigen. Brouwer
hat zwar erat jüngst diese Frage einer Revision unterzogen, hat
aber sein Augenmerk mehr auf die Lokalisation des Musculus
levator palp. und des Konvergenzzentrums gelenkt, so daß es ge¬
rechtfertigt erscheinen mag, wenn im folgenden versucht werden
soll, vom vergleichend anatomischen Gesichtspunkte aus der
Frage der Lokalisation der glatten Muskulatur
des Auges näherzutreten.
Eine zweite, schwer zu beantwortende Frage ist die nach
der Gliederung und Bedeutung der kleinzelligen Gruppen des
Mittelhiraes dorsal vom hinteren Längsbündel. Westphal und
Siemerling sowie Böttiger haben hier zuerst eine be¬
sondere Zellanhäufung beschrieben, von der sie ursprünglich
annahmen, daß sie den IY-Fasem den Ursprung gibt Später,
als sie die motorische Natur der in einer Vertiefung des hin¬
teren Längsbündels gelegenen Zellgruppe erkannten, den sie zu¬
erst als Nucleus ventralis posterior Nv. III bezeichnet hatten,
haben sie diese Auffassung zurückgezogen und auch Schütz
sowie Kausch haben sich der Ansicht angeschlossen, daß
diese Zellanhäufung nichts mit dem IV-Kern zu tun hätte.
Eine eingehende Beschreibung erfuhren diese Zellen dann von
Cajal, Panegrossi, namentlich aber von Ober st einer,
der sie in den Nucleus doraalis raphae, Nucleus doraalis tegmenti
und Nucleus lateralis aquaeductus gliederte; eine getreue Ab¬
bildung findet sich in dem Winkler sehen Atlas. Jacobsohn
faßt alle hier befindlichen Zellen unter dem Namen Nucleus
supratrochlearis zusammen. Es sei erlaubt, hier die Bezeich¬
nungen der einzelnen Autoren, soweit sich eine Homologisierung
durchführen läßt, einander gegenüberzustellen (siehe Tabelle
8. 20). Nachdem diese Zellgruppen in der Tierreihe bisher nur
2 *
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20
Dr. Hans Zweig.
an vereinzelten Vertretern von Panegrossi beschrieben wurden,
war der Gedanke naheliegend, auch diese Gegend an einem
größeren Material zu untersuchen. Bezüglich der Nomenklatur
schließen wir uns der von Obersteiner an, mit der Ergän¬
zung, daß wir im Gegensätze zu Jacobsohn allein die kleio-
zellige Gruppe über dem Trochleariskern als Nucleus supratro-
chlearis bezeichnen, da der Nucleus dorsalis tegmenti, der weiter
rückwärts liegt, nicht mehr zu dieser Begion gerechnet werden
kann und darum von dieser Untersuchung ausgeschieden wurde.
Obersteiner |
Nucleus dorsalis
Nucleus dorsalis
Nucleus lateralis
raphae 1
tegmenti
aquaeductus
Cajal
Noyau magno-
Noyau dorsal
Noyau magno-
cellul. central ^
de la calotte
cellul. central
1
du raphö: cell.
du raphö: cell.
inf.
snp.
Panegrossi
I
Westphalsche
Böttigersche
1
Zellgruppe
Zellgruppe
1
|
Winkler
, l
. Nucleus dorsalis
Nucleus ventr.
raphae tegmenti
griseae centr.
Jacobsohn
Nucleus supratrochle
aris
Gudden
Ganglion teg¬
menti dorsale
Wir wollen nun die in Betracht kommende Gegend zu¬
nächst bei den Säugetieren bei je einem Vertreter einer Ord¬
nung kurz beschreiben, wobei die Verhältnisse an den gro߬
zelligen Augenmuskelkernen nur insofern Berücksichtigung finden
sollen, als sie für unsere Fragen bemerkenswert erscheinen.
Die Verhältnisse beim Menschen wurden außer an zahl¬
reichen Weigert-, Hämalaun- und Niss 1 Serien an einer
Serie studiert, die mit polychromem Methylenblau nach der
Vorschrift von Unna gefärbt worden war.
Mensch:
Im Niveau der hinteren Vierhügel, kaudal vom Auftreten des IV-Kernes
beginnt der Nucleus dorsalis raphae. Seine Zellen bilden'zwischen Aquädukt
and hinterem Längsbündel beiderseits eine parallel mit der Raphe verlaufende
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Go^ 'gle
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Vergl. Anatomie des zentralen Höhlengraus der Wirbeltiere. 21
Zellsäule, welche durch einzelne Ausläufer mit dem ventral vom hinteren Längs-
biindel befindlichen Nucleus centralis superior medialis von Bechterew
zusammenhängt. Die Zellen werden dorsalwärts zu kleiner und spärlicher,
ebenso lateralwärts. Die einzelnen Zellen selbst sind mittelgroß, polygonal,
wenig gefärbt, mit großem Zellkern, blassem Protoplasma, wenig Zellfort*
Sätzen. Weiter frontalwärts sind auch lateral in der Nachbarschaft des
Aquädukts Zellen von ähnlichem Typus (Nucleus lateralis aquaeductus). Mit
dem Auftreten des IV-Kernes erscheint dorsal von ihm eine ungefähr halb¬
kugelige Zellgruppe, der Nucleus supratrochlearis. Die Grenzen des IV-Kernes
selbst sind unscharf, wir sehen, wie einzelne motorische Zellen in den Be¬
reich des Supratrochlearis, einzelne dieser mittelgroßen Zellen in den Bereich
des IV-Kernes hineinragen. Nur an der medialen und dorsalen Begrenzungs¬
fläche des IV-Kernes sind bloß kleine Zellen vom Typus des zentralen
Höhlengraus.
Sobald der III-Kero erscheint, verschwinden die beschriebenen zirkum¬
skripten Zellanhäufungen und an ihre Stelle treten kleine Zellen, welche
schließlich den ganzen Raum zwischen Aquädukt, hinterem Längsbündel und
zerebraler V-Wurzei ausfüllen. Im Bereich der oralen Hälfte des III-Kernes
tritt zwischen den lateralen Hauptkemen eine Gruppe mittelgroßer, blasser
Zellen auf, die, zu beiden Seiten von der Medianlinie vertikal symmetrisch
gruppiert, nach ventralwärts konvergieren« Es ist der ventromediale Ab¬
schnitt des Edinger-W estphal sehen Kernes (kleinzelliger Mediankem
von Bernheimer, Nucleus accessorius medialis von Bechterew,
Nucleus medialis accessorius von Zeri). Etwas weiter frontal tritt auch
dorsal und lateral vom dorsalen Hauptkern eine Gruppe mittelgroßer Zellen
von halbkugeliger bis elliptischer Gestalt auf. Es ist die dorsolaterale Ab¬
teilung des Edinger-Westphal sehen Kernes (kleinzelliger Lateralkern
von Bernheimer). Beide Kerne heben sich schon bei Betrachtung von
Weigert präparaten durch die Helligkeit ihrer Grundsubstanz scharf von
der Nachbarschaft ab. In der Höhe des Corpus geniculatum mediale rückt
die dorsale Gruppe weiter medialwärts, um schließlich in der Höhe der
hinteren Kommissur mit der ventralen zu verschmelzen. Sie bilden dann eine
zusammenhängende, zwischen den beiden Fasciculi retroflexi situierte Zell¬
masse, den Nucleus medianus anterior.
Anthropomorpha.
Orang:
Der Nucleus dorsalis raphae zeigt eine dorsale und ventrale Verdich¬
tung. Eine besondere Anhäufung dorsal vom Nucleus IV fehlt Mit dem Auf¬
treten des III-Kernes findet sich nur diffuses Höhlengrau ohne besondere
Differenzierung. Am Iü-Hauptkern ist die dorsale Gruppe deutlich durch
Fasern abgegrenzt. Der Edinger-Westphalsche Kern ist gut ausgebildet,
weist keine besondere Gruppierung auf. Nach dem Verschwinden desILI-Haupt-
kernes tritt der Nucleus medianus anterior auf, aus dem deutlich HI-Fasern ent¬
springen. Man kann ihn bis in den beginnenden Thalamus hinein verfolgen.
Prosimii.
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Leiour:
Der Nucleat dorsalie ntpbse in gut »usgobiUk't, eJwUüi« ’Ütgr Xu'Jens
9ttjü»troclij<eÄris, der andebtlinU mit etiser uiedUlen und ikfersdea
äicjbtajng «Miie Nachbarschaft übergebt. Am, dem E>1 inger-W esi|s1 «'si-
scheu Kern *ielit man dbpüi<;h Pasern «akpringö».. -äfft'' »djtdija Wnfiusii
bündeln de« III binrugeseUen. Dorsal von der Irt e=y ti e r i sehen Kmumiasur
«nd klein« Zellen, in Farn einer Huibkngd angeorilnet. tliß wahrscheinlich
dem NncWa jnedianiis anterior entsprechen.
Ähnliche YerhSltnUse fait4eö »ir *ti gißst Nissliwirie von Chiro
gal. Aivosinus. vC'•!■]:-; 'y '• •=■ : ’r; /. .
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klöiurr ?>ilep ohne besondere die an Oxobe 4tejetd^6?i‘•di«.
ii5tttrftien Hnblen^nin? urebt \ve$entilch iibertreffe/n, ;Y';’vU\^
: fJarnivorn. 7 • '•'••' ; 77 • •
Brim Wolf f3t der Nttdfiu« r&phjLe gut »üö^ebildet. 4e/r
2?udeus ?uprÄrrochieari5 »ngedeutat. Über d*tn III-Kern befindet «idi beider*
nri-giral fr:
Vergl. Anatomie des zentralen Höhlengraus der Wirbeltiere. 23
«eit« der Edinger-Westphai sehe Kern vertikal gestellt, lateralwärts
von absteigenden Fasern flankiert. Weiter frontal ein querov&ler, unscharf in
die Umgebung übergehender, in einem zarten Fasergeriist gelegener Kern,
der einige Schnitte hindurch andauert und wahrscheinlich dem Nucleua
medianus anterior entsprechen dürfte.
Beim Marder sehen wir neben dem regelmäßigen Xucleua dorsalis
raphae große Zellen lateral vom Aquädukt, die hier eine besondere Mächtig¬
keit erreichen, sich später auch gegen die Medianlinie zu ausbreiten und
so eine einheitliche Zellmasse darstellen. Der Edinger-Westphai sehe
Kern ist ohne besondere Differenzierung (Fig, 1) und geht oralwärts über
Fig. 2. Lepus cunicnJus. Frontalschnitt.
///;« = Hauptkeru d. N, Ut; * Nuclaus medianus anterior;
3 )r es grobe. / cs feine Fasern des Nervus III.
in den Nucleus medianus anterior, der hier eine unpaarige Gruppe darstellt
und sich bis in den beginnenden Thalamus hinein verfolgen läßt.
Ähnliche Verhältnisse in bezug auf die beschriebenen Kerne finden
wir bei Nasua socialis, nur vermissen wir die lateral vom Aquädukt
gelegenen großen Zellen.
Bei der Katze ist der Nucleua dorsalis rapbae genau in der Median¬
linie gelegen. Ein deutlich umschriebener Nucleus supratrochleam konnte
nicht gefunden werden. Zwischen IV-Kern und Iil-Kern ist ein längerer
zellfreier Zwischenraum. Dorsomedial vom ÜI-Keru vereinzelte kleine Zellen,
vertikal gestellt, die sich bis in das Gebiet der M e y n e rt sehen Kommissur
verfolgen lassen.
Insectivora.
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ÜNIVtRSITY ofw
ItCHlGAN
24
Be* TaTpa verschiedene Verdichtungen des sen traten HoaJetigrÄÜS.
In der Nachbarschaft des III-Kernes lassen sich kleine .Zellen frteb'i >il?
6ig*OB Kvr&jxcbsete unterscheiden* :' ; ; '/(/'; : • ■ .> ’'; : ;/
Rtuicn^ia.
’^r." „ • • „ . .•.,... r ' -, Y- VI •■ ■' '• v>
Letuf? cuuietilu*:
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In der Höhe der hinteren ViarbÜjjel mir in der Meiifrnlmfe; g*leg*r»?
blstene.SfeflfeSi . ; Xht'X*b4t04n$'ypj(^ iV’^CWi ju den lll-iyern erfolgt ganz
mählich, der TII-Keni i&i eine einluutüvbe ZaUntJwrse ohne eine Sgnf von DiSfe-
reasierttügr, Verfolgt inan die Serie i« kand&kvamater Richtung* eo gwunit
man dän Eiüdi'uck, daß die kleinen Zellen de* *Shcteusdörsalia raphae ohne
Fig, % Fhoc&ena eomm. jjücleus lateral** afjuaefiuctD*
scharf© \ Irease dmtgehen würden in deW E d I o g * r- ;tfe c «t pb * 1 *cheti
Kera, der jfareb söfc r achwä^h ausge^iidet^- u.bMfa&rf von det l^aig^Uug
gasßhiedeoe, dorsolater&l vpm Ill-Eerh gelegene Zellgruppe repräseutiect
wird. Der ürcprungl ich bloß *w jyroßöa..-SSeil^^-- ÜI-Kem iat m
seinen vonlmteu. Anteilen abervKegend an* feteiöeh Zelte«
ans denen feine Fasern entspringen, Wetefe ;‘ durch das
hintere LHngjdnmdei riebend, sieb den iatendro BHöddte der lIl-STurc*!
hiüao^jtöieJJöh. Noch weiter f« der Höhe des Nu.eteus ruöer, sehen wir
den lA'udv^s m^dianaa anten»»? toeixtereeite ; :m die Medianlinie angenednet
.'Fig. 2_>.
Bfei Cövia iid:-‘dor4Äl 'v.äte iV J 4fc«jriv eJö.tf ’önippe mittelgroßer^. nicht
scharf von «Jet Umgebung ♦ibgagfauater Zöllen, die dorsal warte bis snm
A^ä&dtik* reicht dem jjf uefau*.*ur'ratn)chtearift ehtapt^cben
dürfte* Der großzellig*! [U-Kern ist auch hier weiter vorn 4$ür<^
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UNIVEI
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.SiTY OF MtCHtGAN
Vergl. Anatomie des zentralen Höhlengraus der Wirbeltiere. 25
Zeilen ersetzt. Aus dem tiefen Mark des vorderen Vierhiigels sieht man
Fasern entspringen, die, in bogenförmigem Verlauf den Aquädukt umziehend,
sich bis zu dieser kleinzelligen Gruppe verfolgen lassen. Der Ed in ge r-
Westpbal sehe Kern ist nicht deutlich nachweisbar. Der Nucleus inedi&nus
anterior ist vertreten durch eine längsovale Gruppe kleiner Zellen, die von
vertikal absteigenden Fasern seitlich begrenzt wird.
Bei Spa lax typhi, konnten wir im diffusen Höhlengrau keine
eigenen Kerne abgrenzen.
A r t i o d a k t y 1 a.
Fig. 4. Phocaena eomrn. Einige Schnitte oral von Fig. 3.
IV ae Nucleui IV; Ä = Nucl^us aupratroclilearis.
Beim Kalb ist kaudal vom IV-Keru der ganze Raum zwischen den
beiden hinteren Längsbündeln sowie weiter dorsal und lateral von kleinen
Zellen ausgefüllt. Über dem IV-Kent eine gut abgegrenzte Zellgruppt* iso¬
lierbar. Der III-Kern zeigt keine besondere Gruppierung. Zwischen den
beiden III-Hauptlceruen sowie dorsal von ihnen sind kleine Zellen, die weiter
vorn zu sich ventralwärts verschieben und schließlich den wohl abgegrenzteu,
paarigen Nucleus medianus anterior bilden.
N a t an t i a.
Bei Phocaena c o m m u n i s in der Hohe der hinteren Vierbügel,
kaudal vom Auftreten des IV-Kernes eine ziemlich scharf abgrenzbare, von
der Medianlinie durch eine zeiiarme Zone getrennte, dorsal fast den Aquädukt
Go gle
UNIVER5
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er/eicheii^ titöpp« gteßar,. dunkel tangierter Zellen, die, in einem reiche«
faseröetr eingebettet cur gering» Amsdehnnng in kaodimrater Richtung
aufwäiät (i»*ig,'$}. Sie cntepyicht der Lage nach deiä beim Memchen be-
eebirtWUMmn Nuöleoe teterajis Ätitiftedußtae. Dorsal vom IV-Kern* der vsn*
tralsten. Hälfte de» vorigen Üeroe* ßrsl angelagert, ist eine Groppe blasser
i5eHi«u dte in’idllt; mit »lern vorher bwshriefaßne« Kart» idmiti&nert Weiden
^ff:(Sbicl%i»'|iBprAträch(e»rit J?ig,4j- Mff&ift : in dee Hübe des-zattireien
zwischen IV- iiftd Hl-Rero tat der ganze Raum fiwtscto»«
Auftwl.ttirt tuiid hinterem LäagshStnlel vma ditfikte angeordnfeteö khonen Zellen,
eftttilt ßer|K'Kjsrn wird durch %»rifbntelHi«riawfaß<le"¥y ? nrteU»sBtti hi. etao
Pig. - r >. PhocaBaa ootnia. Äinige Schnitte oral von Fig- 4.
■UI in'JXaufitksr'' ,■ ff =»’■ VplW^Üstäfc'W =; BO i »)f
vuptrate <md dorsale Ahteilaijg geseltiedefii Vßü.deneM dJe letztere dareh FojSßrii
lasser ebgegren*? ist. Tn der Stöbe de* »oif . entwickelte« f,ILKernes sehe«:
wir dorsal vom LllrKertt aimt mächtig entwickelte Gnij«pe mUteigrolter Zollet*
halbmondförmig angoardaet. (F%. te Von wegen saiutn Lage. di*rs:d
V«m lilrKera. inmnevfftSerannWi (rriiöd^jfcstaüe Und th?r ÖewbolfehidT
seiner Zellen dem. E d * ug e r -W e s bph H I selten gleiehiüweteÄnd'ea Kfttd
Vergl. Anatomie des zentralen Höhlengraus der Wirbeltiere. 27
setzt, so daß seine Anwesenheit nicht mit Sicherheit ausgeschlossen
werden konnte.
Marsupialia.
Beim Känguruh sind in der Höhe der hinteren Vierhügel beider¬
seits von der Raphe große Zellen, die mit dem Auftreten des IV-Kernes
verschwinden. Der Edinger-Westphalsehe Kern zeigt eine mediale
und dorsolaterale Abteilung, von welchen die letztere dem hinteren Längs-
bündel dicht angeschmiegt ist. Der Nucleus medianus anterior ist besonders
schön ausgeprägt, keulenförmig mit der Kuppe nach unten in einer Ver¬
tiefung des hinteren Längsbilndels gelegen, von vertikal verlaufenden Fasern
seitlich begrenzt.
Bei Phascolarctus ist der Nucleus lateralis aquaeductus im
Niveau der hinteren Vierhügel deutlich entwickelt in Form zweier ungefähr
elliptischer, gegeneinander konvergierender, am ventralen Rand des Aquä¬
duktes gelegenen Gruppen großer, dunkel tingierter Zellen, die mit dem Auf¬
treten des IV-Kernes verschwinden, einer diffusen Ausbreitung des zentralen
Höhlengraus Platz machend. Zwischen IV- und III-Kern ist ein deutlicher
zellfreier Zwischenraum. Dorsal von den Ill-Zellen befindet sich, in einer
auf gelockerten Grundsubstanz liegend, eine unpaarige, scharf um¬
schriebene Gruppe kleiner Zellen, die nicht weit lateralwärts reicht. Es ist
der medio ventrale Teil des Edinger-Westphal sehen Kernes. Gegen
das orale Ende des vorderen Vierhügels zu sehen wir auch eine deutlich
abgegrenzte dorsolaterale Abteilung. In der Höhe der hinteren Kommissur
wandert die mediale Gruppe ventralwärts und wird schließlich zu einer
zwischen den beiden hinteren Längsbündeln gelegenen, unpaaren elliptischen
Gruppe (Nucleus medianus anterior), die sich in das beginnende Zwischen¬
hirn hinein verfolgen läßt.
Bei Perameles finden wir dorsal vom III-Kern eine gut aus¬
gebildete, allmählich in die Nachbarschaft übergehende Gruppe kleiner
Zellen (E d i n g e r-W e s t p h a 1 scher Kern).
Didelphys marsupialis zeigt keinen wohlisolierten Edinger-
Westphal sehen Kern, obwohl die Zellen des III-Kernes dorsalwärts zu
etwas kleiner werden und in eine weniger dicht gefügte Grundsubstanz zu
liegen kommen. Am frontalen Pol des IH-Kernes ist der Nucleus medianus
anterior als eine unpaare Anhäufung kleiner Zellen neben der Medianlinie
deutlich entwickelt.
Bei D a s y u r u s ist in der Höhe der vorderen Vierhügel der zwischen
den beiden hinteren Längsbündeln gelegene Raum ausgefüllt von kleinen
Zellen, welche in einer schon an Markfaserpräparaten auffallenden hellen
Grundsubstanz liegen. Dieses Gebiet verbreitert sich dorsalwärts und geht
lateralwärts ohne scharfe Grenze in die Nachbarschaft über. Es ist die
medio-ventrale Abteilung des Edinger-Westphal sehen Kernes. Aua
diesen kleinen Zellen sieht man feine Fasern entspringen, welche sich dem
Ül-Stamm beimischen. Gegen das kraniale Ende des Hauptkernes zu sieht
man die laterale Abteilung des Edinger-Westphal sehen Kernes als
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Dr. Hans Zweig.
wohl abgegrenzte, schräg liegende, elliptische Gruppe kleiner Zellen, die
nach einigen Schnitten verschwindet. Mit dem Aufhören des Hauptkernes
treten ventral von der Stelle, wo früher der Edinger-Westphal sehe
Kern lag, kleine Zellen auf, die wohl dem Nucleus medianus anterior zu¬
gehören.
Zusammenfassung der Ergebnisse bei den Säugern.
1. Der Edinger-Westphal sehe Kern zeigt seine
beste Entwicklung beim Menschen, unter den übrigen Säuge¬
tieren bei den Antbropomorphen; er findet sich ferner beim
Wolf, Pbocaena, Känguruh, Dasyurus, am geringsten bei den
Rodentieren ausgebildet, ist also in seiner Entwicklung sehr
variabel.
2. Der Nucleus medianus anterior ist, wenn auch bei einigen
rudimentär, bei allen untersuchten Säugern, vielleicht mit Aus¬
nahme von Pbocaena, nachweisbar. Am besten wieder beim
Menschen, wo es infolge der guten Entwicklung zu einer Ver¬
schmelzung der beiden Kerne kommt, eine geringe Ausbildung
zeigt er bei den Rodentieren. Bei diesen findet man in den
vordersten Abschnitten des Iü-Kernes kleinzellige Elemente.
8. Bei den blinden oder unterirdisch lebenden Tieren, wie
Spalax und Talpa, sind diese Kerne nicht ausgebildet, ebenso
nicht bei Pteropus.
4. Der Nucleus dorsalis raphae ist in der Säugetierreibe
annähernd konstant, feinere Größenunterschiede lassen sich nicht
feststellen. Der Nucleus supratrochlearis ist deutlich beim Men¬
schen, Lemur, Marder, Pbocaena, Känguruh und Phascolarctus,
der Nucleus lateralis aquaeductus außer beim Menschen nur bei
Marder und Phocaena zu finden.
Von den früheren Autoren fand Brouwer den Edinger-
Westphalschen Kern bei fast allen seiner untersuchten Serien
mit Ausnahme der Wassersäugetiere, bei denen er nur zerstreute
Zellen, keine gut umschriebene Gruppe angibt, den Rodentieren
(Lepus, Cavia cobaya) und dem Ameisenfresser, den Nucleus
medianus anterior bei allen untersuchten Tieren mit Ausnahme
der Wassersäugetiere. Cajal, Bach, Winkler haben die
Edinger-Westphal sehe Gruppe bei Katze, Kaninchen
und anderen Tieren gefunden. Panegrossi behauptet die
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Anatomie dö* seatrglen flöhiiBijgrraos der Wirbeltiere
.^^$ii2'.qi0äc.Zellgcappe nur bei Mak^lcv«, vag von Tsucbida
Sogar bei 'letzterem Tier beRtritten wird,
1
ÄV: Bei deflL« V o pe i n fanden wir 5fl Ubmdfl^tixnmätig mit den Befeinden
von Ca.j & 8 ra u d i s, J e l g e f ä m ^ WA 1.1 e n b o ? g ; . K a p f e r s und
Br * u wer anßer der mröiiletj Gropp« 4e# lli f die dorsal axtd
yeiitrul eine Akuftreibnugr aseigrt, und der gut &hgc$vvnEizti, fer<^isfOrtsi^reii> 4»r*o-
Uternlen» eine Gruppe kleiner Zellen, dorsjd ron letzterer ..gelegen, die
luterelwäHs ajlmälilich io die Umgebung Ubergeht. Mankinui deutUrh
iiftekweisenH daß aus ihr amt nicht au« dem zenirftlen Hnhlengrtd Fasern
dem ^niralen Hnhiengra« Fasern
eatqtrtagen,. 4*6, die beiden ändert*» Ilid} rappen m ihrem afotergfcntieu
Verlauf dnrdbset)cenfi ^ieh den Wurselfa&emde* 1-lT hmru^e%«Slent beaomlm
«rbi»n uu*gcpw r *t ist dieser Keax bei Vanille*; fFi.a\ t>\ Aaser xnm und dem
.Yig/.i. :'.VÄüe}itis \ .FroiUftlechnitti.
C U*r**»»e«lud*;« it vV>ir^^ 4 W^. \Ü$. dfliHtsiaiferal*M'ttrihm-
if Kd» äfc m r *;*,$ty6fc&r'K*o*
Kormoran. Bei Anser aw»? salten wir auch die Andni taxier einer
die**r ^uidea« aecesaurim vtfja jil * * d &\g] ijii etiier
mediale und .laterale AbtMJuusr- Bei Vanedlu* ^ben v;ii der kltto-
8$#ge. jF^Crir eUt^prin^ru die sich zur ; -{ftph& begeben,
. fa^crti, die m% dem hinteren jF4angsbi.u1d.er /.»v -ihr ihnsu-hef». Bei der ; jCautit''
konnten wir dea l Sprung löiner FTl-Fa-aer-ii aus dem .ak*'‘$*w*cb<m LLf-Kern
nicht verfolgen..- Bei Intra* w*r »c l'berupt^miuimg mir Bronwer £ine
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fein«r *1* dem B d t n g & r - W » » t p h a 1 acbfcii l*ueru 4er S&tig^r
homol^uoch darauf hinge wiesen« daß sich m bezug
auf die Lüge de» lV%Rdrn<^ tvfüi Gruppen bei den Vögeln utuem^böid^a
■ WShmtdtsr öKiflLJirb böi den mriifteu dorsal vom hinteren Latig^und«!
liegt,.Hegt• et.lw vittiget^ wie/.^-gnörWu», viel weiter. Utei^lwlii^,.
Bei döa, 1t e p iUten sahen. wir an einer 3f i«s
in der Hohe 4*r vorderen Vierhiigei «imui paarigen^ vartikgii
ELyjfäi der vi^Ueicht der Lägt und >tattir seiner Zöflfen nach d«m Helena
medUsus ^iewc; entsprechen durfte. . ^ ' V - ' : V ' VC V./ ,
Bet den A m p'&i’b’t e n wäre« *n den uns zm
Serien von RftrtÄ f Triton und Chamäleon keine zw Gruppen zuaaimnen-
tretenden klemselllgeu .Elemente in der Naühharschftft der Augenmuskel-
kerne nachweisbar, Anrii m den Abbihüiageii von Koppen haben wir
*le vvmibtv 'A‘VC vV« V- W,C: V ; :; ! * ; V‘ • " v": V '•: . r v' *\VC
Fig 7, GadhÄ .
t«* V| ./( msiliikifi At't^iluoc *1<?£ \ jfefetT*# a-:_:- föpkfai öiwtfi %* ElüKiMtft* vh»* ni-K^m^V
Bei den Tu l *5 o sti & rn Aabisn Mdr ah hiner ^eHef van Ged.ii$ den
dorsalen und ventralen Teil de* tll*&snies schön «usg'eprSgt; '{K'jt
van der fi o r s *). Dorcolatertd xou demselben isf ei«te AiihAnfang kleiner
Stellen (Figv 7j Man icaaa hieb * S&herheit ' behaupten,, ob diese Kerrie
etttfha ; An tun haben, da man keine Wurzelfa^ern aus* ihnen eat*
Bpi den Öi^hiern konnten wir bei Bnreh^eht thehNr^r Serien.
’Mu un» inte^esstereTideri «ntsproeh^n Mttec, finden.
K k f .p*,r s imü : B"vpv% w r r fanden bei deh meisten Vögeln fcletö-
zeihge Ah^ninasketkerr;e ? van Reptilien nur bei Var an. während sie sie
batdfe Äjnphibietv and Fischen gaat semiüW) V
E r ge b n is, Wenn wir min an die Deutung dieser von uns erho¬
benen Befunde heraugehen, so muß vorallemhenorgehoben werden,
daß nach unserer Meinung die Zugehörigkeit der vt>a E d i n g e r
i) Sie wird auch von B a c h besoftrieben, abör nicht dem ni-Kern
zugereehuet
Vergl. Anatomie des zentralen Höhlengraus der Wirbeltiere. 31
und Westphal beschriebenen Gruppen zum III-Kern nicht
bezweifelt werden kann, da an einzelnen Serien von Säugetieren
(Lemur) und Vögeln (Anser anas, Vanellus) sowie auch an
menschlichen Embryonen der Ursprung feiner HI-Fasern aus
diesen Zellen festgestellt und dabei der Ursprung derselben aus
dem vorderen Vierhiigelgrau ausgeschlossen werden konnte. Da
der zuerst von Perlia beschriebene Nucleus medianus anterior
nur die kraniale Fortsetzung der von Edinger und West¬
phal beschriebenen Zellgruppen darstellt und aus denselben
Zellelementen besteht, können wir vermuten, daß dieser Kern,
der weit nach vorn, manchmal ins beginnende Zwischenhirn
hineinreicht und aus dem man III-Fasem direkt nur selten
entspringen sieht, dem ÜI-Kern zugehörig ist.
Wir glauben ferner mit Jacobsohn, daß diese Zellen
sympathischer Natur sind. Denn sie sind klein, blaß gefärbt,
haben abgestutzte Fortsätze, liegen dicht gedrängt in einer
hellen, faserarmen, an die Substantia gelatinosa erinnernden
Grundsubstanz. Wenn der Edinger-Westphalsche Kern auch
nicht konstant in der Säugetierreihe vorkommt, so kann dies
nicht als Beweis gegen die sympathische Natur dieser Gruppen
angesehen werden, weil, wie noch auseinanderzusetzen sein wird,
die glatte Muskulatur des Auges eine verschiedene Entwicklung
in der Säugetierreihe erfährt.
Wenn wir nun die Größen- und Entwicklungsverhältnisse
dieser beiden Kerne im speziellen zu erklären suchen, fällt uns
auf, daß die Entwicklung des Edinger-Westphalschen
Kernes keine in der aufsteigenden Tierreihe progrediente ist,
daß er auch bei Vertretern ein und derselben Ordnung oft
Verschiedenheiten aufweist, so daß diesem Kern, um mit-van
der Horst zu sprechen, kein taxonomischer Wert zugesprochen
werden kann. Um diese Merkwürdigkeit zu erklären, müssen wir
uns auch für die vergleichend anatomische Untersuchung vor
allem klar machen, wie dies Spiegel näher ausführt, daß
die glatte Muskulatur des Auges zwei ganz differente Funk¬
tionen zu erfüllen hat, die Verengerung der Pupille und die
Akkommodation. Die Pupillenreaktion ist in der ganzen Wirbel¬
tierreihe konstant anzutreffen, wenn auch geringe Variationen
dieser Reaktion entsprechend der verschiedenen Lebensweise
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Dr. Hans Zweig.
der Tiere nachweisbar sein werden (Tag- und Nachttiere nach
Heß, Schenck). So konnte tatsächlich Franz zeigen, daß
der Sphinkter mächtig entwickelt ist bei den Wassersäugern,
dagegen nur schwach bei den Fledermäusen. Viel größer sind
dagegen die Variationen der Akkommodation. Sie wird nur bei
jenen Tieren in guter Entwicklung anzutreffen sein, welche auf
eine wechselnde Einstellung des Auges, auf Nahe- und Fern¬
sehen, angewiesen sind, also vor allem bei Raubtieren, Raubvögeln,
während beispielsweise der Pflanzenfresser, der seine Nahrung
in annähernd gleicher Entfernung sucht, seine Akkommodations¬
muskulatur in der Regel nicht benötigt (höchstens beim Nahen
einer Gefahr). Ferner werden Tiere, die einmal im Wasser und
einmal am Lande leben, die wechselnde Brechkraft des um¬
gebenden Mediums durch eine verschiedene Stärke der Akkom¬
modation ausgleichen müssen und schließlich wird auch die
Größe des Auges wegen der Größe der Netzhautbilder für die
Fähigkeit der Akkommodation in Betracht kommen. Tatsächlich
zeigen die Untersuchungen von Heß und Heine, daß bei
Makakus eine Akkommodationsbreite von 10 bis 12 Dioptrien,
bei Hunden von 2 1 /, bis 3Vs* bei Katzen von 1 bis 2Vt> beim
Kaninchen von 0 Dioptrien besteht, so daß bei letzterem Tier
weder durch Krampfgifte noch durch elektrische Reizung eine
Vermehrung der Linsenwölbung hervorgerufen werden konnte,
der Ziliarmuskel besteht hier auch nur aus wenigen Fasern.
Nach den Angaben Beers hat das beste Akkommodations¬
vermögen der Mensch, ein sehr gutes zeigen die Robben, See¬
hunde und Wale, Hunde und Pferde ein geringes, während die
Nager kein besonderes Akkommodationsvermögen besitzen.
Wenn wir von der Frage der verschiedenen Entwicklung
der Akkommodation aus die wechselnden Größenverhältnisse des
Edinger-Westphalsehen Kernes betrachten, so zeigt sich,
daß der Mensch als jenes Lebewesen, dessen Einstellung auf
Nahe- und Fernsehen auf das feinste abgestuft werden kann,
diesen Kern am deutlichsten entwickelt hat, daß unter den Wasser¬
säugern Phocaena eine gute Ausbildung zeigt, ebenso bei Raub¬
tieren der Marder, Wolf, Nasua socialis, während die Nager
(Kaninchen) eine schlechte Entwicklung des Kernes aufweisen,
so daß es schwer fällt, ihn vom Höhlengrau zu differenzieren.
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Vergl. Anatomie des zentralen Hohlengrans der Wirbeltiere. 33
Bei den Marsupi&liern ist es nicht möglich, den Pflanzen*
und Fleischfressern parallelgehende Unterschiede in der Entwick¬
lung dieses Kerns nachzuweisen, denn einmal sind manche
dieser Tiere keine reinen Pflanzen- respektive Fleischfresser (Pe-
rameles), ferner variiert die Größe der einzelnen Vertreter ganz
bedeutend; es ist aber die Stärke der Akkommodation, wie schon
Beer aufmerksam gemacht hat, auch von der Größe des Auges
und damit indirekt von der Größe des Tieres abhängig. Damit
ist es erklärt, daß die kleinen Tiere dieser Ordnung (Didelphys
marsupialis), trotzdem sie Fleischfresser sind, einen geringer
entwickelten Edinger-Westphalschen Kern gegenüber den
großen Pflanzenfressern (Makropus) besitzen. Auch ist die Lebens¬
weise nicht zu übersehen, da Pflanzenfresser, die auf Bäumen
leben (Phascolarctus), eine bessere Akkommodation als die auf
der Erde kriechenden besitzen, andererseits bei Höhlenbewohnern
(Perameles) die Einstellung des Auges fast nie in Betracht
kommt.
Über die Akkommodationsverhältnisse bei den Vögeln
herrscht noch keine volle Übereinstimmung der Meinungen.
Während Franz das Vogelauge als Akkommodationsauge
katexochen bezeichnet, Beer die Akkommodationsbreite der
Vögel als die des Menschen weit übertreffend ansieht, werden
diese Angaben von Heß bezweifelt. Wir fanden bei den Vögeln
diesen Kern mächtig entwickelt Nur bei der Kampeule, deren
Augenanatomie von Bartels und Franz auch sonst als von
der der übrigen Vögel völlig abweichend hervorgehoben wird,
sahen wir von der kleinzelligen Gruppe bloß eine Andeutung.
Da also der Edinger-Westphalsche Kern in seiner
Ausbildung mit der Entwicklung der Akkommodation überein¬
zustimmen scheint, so ist es möglich, daß in ihm der Musculus
ciliaris seine Vertretung findet, während in dem Nudeus me-
dianus anterior, der sich bei allen untersuchten Säugern mit
Ausnahme von Phocaena nachweisen ließ, die viel konstantere
Pupillenreaktion zu lokalisieren wäre. Neuerdings kommt auch
Bartels auf Grund seiner Beobachtungen bei der Encephalitis
lethargica zu dem Schluß, daß im Edinger-Westphalschen
Kern das Zentrum der Akkommodation sich befindet Allerdings
muß hervorgehoben werden, daß diese Lokalisation des Sphinkter
Jahrbücher für Psychiatrie. XLT. Bd. 3
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Dr. Hans Zweig.
nicht die ausschließliche darzustellen scheint, nachdem man bei
Tieren, welche einen gering entwickelten Nucleos medianus anterior
zeigen, kleinzellige Elemente im vordersten Abschnitt des III-
Kernes antreffen kann (Fig. 2 l 2 ). Für die Lagerung des Sphinkter¬
zentrums im vordersten Anteil des III-Keraes*) spricht auch
der Umstand, daß die Pupillenfasera im vordersten Anteil des
III verlaufen, wie klinische Erfahrungen zeigen (Fall von Oyon,
vgl. Marburg), andererseits würde die Lage des Akkommo¬
dationszentrums im E ding er- Westphalschen Kern, also
in der Nachbarschaft des Perliakernes gut mit der Annahme
in Einklang zu bringen sein, daß im großzelligen Medialkern
die Konvergenzbewegungen lokalisiert sind, wie dies auch
Brouwer neuerdings ausführt. Damit würde sich zeigen, daß
die eng miteinander verknüpften Funktionen der Akkommodation
und Konvergenz auch in der räumlichen Nachbarschaft der
entsprechenden Kerngebiete ihren Ausdruck finden. Es muß
aber hervorgehoben werden, daß alle diese Versuche einer
feineren Lokalisation in einzelne Kemabschnitte nur von be¬
dingtem Wert sind. Man kann höchstens sagen, eine bestimmte
Funktion ist vorwiegend in einem bestimmten Kernabschnitt
lokalisiert, nicht aber ausschließlich. Das haben auf Grund ihres
pathologischen Materials auch Siemerling und Boedeker,
Marburg, Wilbrand und Sänger und andere betont
Das zeigt sich auch klar bei der vergleichend-anatomischen
Betrachtung. Ursprünglich bildet der IH-Kem bei Amphibien eine
einheitliche, bei Fischen bloß eine dorsale und ventrale Gruppe.
1 ) In Übereinstimmung damit steht die Tatsache, daß bei diesen
Tieren, die in bezug auf die Innervationsbedingungen der glatten Augen¬
muskulatur auf der niedrigsten Stufe stehen, der III-Kern keine Differen¬
zierung auf weist, wie anoh Biervliet hervorhebt, wenn anch vor einer
zu weit gehenden Differenzierung des III-Uaaptkernes als oft bloß durch
Wurzelfasern bedingt mit Bach gewarnt werden muß.
2 ) Damit nähern wir uns der Auffassung von Tsuchida und Mona¬
kow, welche den Sphinkterkern in die kleinen Ganglienzellen am Frontalpol
des lateralen Hauptkernes des III verlegten, wobei allerdings ersterer aus¬
drücklich hervorhebt, daß sie von den eng benachbarten Edinger-West¬
phalschen Gruppen nicht gut abgrenzbar sind, während Majano die
proximale laterale Partie des vorderen Vierhügels für den eigentlichen
Sphinterkern hält. (Vgl. auch Bumke.)
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Yergl. Anatomie des zentralen Höhlengraus der Wirbeltiere. 35
Je weiter die Funktionen der Augenmuskulatur in der Tier-
reihe verfeinert werden und sich differenzieren, um so mehr kann
man verschiedene Kernabschnitte im Bereiche des ÜI-Kernes
unterscheiden (Vögel), während es andererseits doch nicht mög¬
lich ist, diese Kerne isoliert aus dem Zusammenhang mit den
übrigen Teilkernen zu trennen. Selbst beim Menschen kann man
keine scharfen Grenzen zwischen den einzelnen Kernabschnitten
des m, sowohl was den großzelligen als auch den kleinzelligen
anlangt, ziehen, so daß alle Versuche einer feineren Lokalisation
bestimmter Funktionen in bestimmte Kernabschnitte nur bis zu
einem gewissen Grade Geltung haben können.
Schwieriger wird uns die Beantwortung der zweiten Frage,
die wir uns gestellt haben, nämlich nach der Gliederung der
kleinzelligen Elemente dorsal vom hinteren Längsbündel mit
Ausschluß der in der Nachbarschaft des III-Kemes gelegenen.
Wir müssen zunächst an der Unterscheidung von Obersteiner
festhalten, der eine median gelegene Gruppe als Nucleus dorsalis
raphae und eine weiter lateral- und dorsalwärts gelegene als
NucleuB lateralis aquaeductus unterscheidet. Wie schon eingangs
erwähnt, bezeichnen wir nur die über dem IV-Kem gelegene
Anhäufung kleiner Zellen als Nucleus supratrochlearis, während
Jacobsohn unter diesem Namen sämtliche von uns betrach¬
teten Kerne ohne nähere Gliederung zusammenfaßt. Der Nucleus
lateralis aquaeductus besteht aus großen, dunkel gefärbten Zellen,
die in ihrem Typus annähernd an die motorischen erinnern.
Wir fanden ihn außer beim Menschen nur deutlich ausgeprägt
beim Marder und Phocaena. Aus diesen Zellen entspringende
markhaltige Fasern konnten wir nirgends sehen. Von einem kon¬
stanten Vorkommen des Nucleus dorsalis raphae in der gesamten
Säugetierreihe konnten wir uns überzeugen, er war auch bei den
unterirdisch lebenden Tieren mit schlecht entwickelten Augen¬
muskeln, wie Talpa, Spalax deutlich entwickelt Man kann ihn
von einem in der Raphe gelegenen Gliazellstreifen, der eine
Fortsetzung des Ventrikelgraus bildet, unterscheiden 1 ). Es ist
*) Wir konnten auch dorsal vom Aquädukt eine bis zum tiefen Mark
des vorderen Vierhügels reichende Glialeiste konstant bei allen Sängern
nachweisen, in welcher der Fasciculus snbcommissuralis von Marburg zu
verlaufen scheint
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Dr. Hans Zweig.
auffallend, daß beim Kaninchen der Nucleus dorsalis raphae
ohne eine besondere zellfreie Zwischenzone in die dorsal vom
III-Kern gelegenen kleinen Zellen übergeht, die sich noch nicht
zum Edinger-Westphalsehen Kern differenziert zu haben
scheinen.
Aus ähnlichen Gruppen zusammengesetzt ist der Nucleus
supratrochlearis, der hei einigen Tieren, wie Lemur, Marder,
Phocaena, Känguruh und Phascolarctus, gut ausgebildet ist. An
einzelnen Serien, wie beim Menschen, Hylobates, sahen wir, wie
einzelne dieser Zellen in den IV*Kern hineinragen, wie auch
andererseits motorische Zellen, sich in den Nucleus supratrochlearis
erstreckten. An einzelnen Schnitten schien es uns auch, als ob
aus diesen kleinen, blassen Zellen IV-Fasern entspringen würden,
doch wagen wir nicht, dies als sicher hinzustellen. Wir haben
es hier mit einer besonderen Gruppe des zentralen Höhlengvaus
zu tun, welche sekundär mit dem IV-Kern in Beziehung tritt.
Auch Kappers hebt hervor, daß bei den höheren Säugern
im Gegensatz zu den niederen eine größere Anzahl von klein¬
zelligen und mittelgroßen Elementen sich den Wurzelkemen
hinzugesellen. Wir konnten uns hei allen Wirbeltieren mit Aus¬
nahme der Säuger in Übereinstimmung mit Kappers von dem
Fehlen kleinzelliger Elemente in der Nachbarschaft des IV-
Kemes überzeugen. Dieselbe Gesetzmäßigkeit einer fortschrei¬
tenden Keradifferenzierung, die wir beim III-Kern in Betracht
gezogen hatten, gilt vielleicht auch für den IV-Kera, obwohl
wir die feineren Zusammenhänge noch nicht so zu überblicken
vermögen. Dagegen läßt sich zeigen, daß je weiter wir in der
Tierreihe aufsteigen, um so mehr Anteile des Ventrikelgraus sich
abgliedera und eigene Kernmassen zu formieren scheinen. Eine
Gesetzmäßigkeit in diesem Verhalten konnten wir nicht fest¬
stellen. Es läßt sich nur soviel sagen, daß allem Anschein nach
ein Teil dieser Kerngruppen in das Bereich des IV-Kernes ein¬
bezogen wird. Wir haben es hier mit ganz ähnlichen Verhält¬
nissen zu tun, wie sie Fuse beim VI-Kern beschrieben hat Das
von Kappers aufgestellte Gesetz der Neurobiotaxis wird da¬
durch in keiner Weise berührt.
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Vergl. Anatomie des zentralen Höhlengrans der Wirbeltiere. 37
Literatur.
(Es werden bloß die im Text zitierten Werke angegeben.)
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Epilepsie und Krieg.
Von Dr. Ernst Herzig, Wien-Steinhof.
Unter den vom Kriegsbeginn an bis 1. August 1919 in
die Landesanstalten am Steinhof aufgenommenen Mannschafts¬
personen wurden deren 181 mit der Diagnose Epilepsie geführt.
Als ich der Anamnese nachging und die mir gebotenen Behelfe
genauestens durchforscht hatte, mußte ich 13 aus der Liste
streichen. Es bot sich nämlich bei ihnen kein Anhaltspunkt, die
Diagnose auch nur mit wahrscheinlicher Richtigkeit festhalten
zu können, weil in keinem Vormerkblatte von einem Muskel-
krampfe gesprochen wurde, kein solcher während des Aufent¬
haltes in unseren Anstalten beobachtet wurde. Als aggravieren¬
des Moment trat bei mehreren der jetzt gemeinten Patienten
dazu, daß dieselben bezüglich der Krankheitsdauer im ganzen
und der Anfalle im einzelnen zu verschiedenen Zeiten bei vor¬
genommenen Explorationen ganz auseinander gehende Angaben
machten, welche, da diese Patienten sonst dauernd vollkommen
klar waren, nicht als transitorische Erinnerungsdefekte aufgefaßt
werden können. Diese Fälle finden darum in dieser meiner
Arbeit keine Beachtung.
Dann befinden sich unter den genannten 181 Fällen 8,
welche ich auf Grund meiner anamnestischen Explorationen und
meiner Beobachtung als Hysteriker anspreche. Denn die bei
denselben aufgetretenen Muskelkrämpfe wurden stets durch
psychische Traumen, nie anders ausgelöst. Entsprechend meiner
in mehreren früheren Veröffentlichungen vertretenen Ansicht
vom Wesen der hysterischen Symptome und der Hysterie glaubte
ich, einen Fehler zu begehen, wenn ich jene 8 Fälle die mit
autoritativer Sicherheit gegebene Diagnose der Epilepsie bei-
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Dr. Ernst Herzig.
behalten ließe und als solche in die Grundlagen meiner Arbeit
über Epilepsie übernehme.
Damit scheiden als unzweifelhaft nicht zu verwertende Fälle
21 aus der im Eingänge genannten Zahl aus. Es erübrigen 160.
Eine Zusammenstellung nach dem Zeitpunkte des erst-
maligen Auftretens der Muskelkrämpfe brachte in die Erschei¬
nung, daß von jenen 160
102 bereits vor ihrer militärischen Dienstleistung Epi¬
leptiker,
28 im Kriege es geworden waren,
14 in der Zwischenzeit zwischen erster seinerzeitiger aktiver
militärischer Dienstleistung und ihrer Kriegsdienstleistung er¬
krankten,
während bei 16 die Anamnese keine Aufklärung über den
befragten Punkt brachte.
I.
Das wissenschaftliche Interesse wendet sich natürlicher¬
weise in erster Linie jenen Epileptikern zu, die allem Anscheine
nach erst im Kriege zu solchen geworden sind. Aus dieser Gruppe
hebe ich 6 Fälle heraus, bei denen das Einsetzen ihrer Muskel¬
krämpfe zeitlich mit einer Granatverschüttung zusammenfällt.
(In den Jahrberichten für Psychiatrie 1919 erschien eine Arbeit
von mir, welche meine Stellung bezüglich der nach Granat-
kommotionen auftretenden Zustände psychischer Erkrankung
festlegt.)
Ich werde diese Fälle in einem eigenen Abschnitte der
vorliegenden Arbeit behandeln.
Die übrigen 23 verlangen eine Scheidung nach der Natur
des auslösenden Traumes und nach der präkonvulsionären Kon¬
stitution. Den letzteren Ausdruck kann man durch den heute
geläufigeren der epileptischen Reaktionsfähigkeit ersetzen, die
als Antezedens der tatsächlichen epileptischen Krampfkrankheit
sich zeigte. — Unter den jetzt in Betracht gezogenen Fällen
konnte ich bei keinem einzigen eine solche nach ihren Symptomen
klare Reaktionsfähigkeit nachweisen, ja nicht einmal das wurde
mir möglich, aus hereditären Momenten eine solche etwas plau¬
sibel zu machen.
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Epilepsie and Krieg.
41
Dabei ist nicht zu Übersehen, daß die fraglichen Patienten
Leute waren, von denen man erwarten konnte, daß eine krank¬
hafte Zufälligkeit im Sinne von Absenzen oder sogenannter
epileptischer Äquivalente ihnen wenigstens nach den Mitteilungen
ihrer Umgebung bekannt gewesen und bei den mehrfachen Ex¬
plorationen auch mir zur Kenntnis gebracht worden wäre. Die
von anderen Autoren einer solchen antekonvulsionären Belastung
als fast gleichwertig angesehene nervöse Disposition habe ich
wegen der zu allgemeinen, der subjektiven Erfassung des Be¬
fragten zu viel Spielraum lassenden Fassung des Wortes „nervös“
nicht in Betracht gezogen. In einem einzigen Falle glaubte ich
mich berechtigt, die behauptete nervöse Konstitution nicht un¬
beachtet lassen zu dürfen. Es handelte sich um einen Zugsführer,
bei dem im Laufe von 1 */* Jahren (August 1914 bis März 1916)
vier nach den Vormerkblättern typisch epileptische Anfälle be¬
obachtet worden waren.
Derselbe war nach einer im 15. Lebensjahre durchgemachten
Gehirnerschütterung in seiner Persönlichkeit gegen früher inso¬
fern verändert erschienen, als seine Umgebung seitdem ihn
merklich leichter erregbar und reizbar befand. Außerdem war
der Vater des Patienten ein heftiger, jähzorniger Mensch. Der
Patient erschien also auch direkt belastet durch nervöse Minder¬
wertigkeit des Erzeugers.
In mehreren Fällen setzten die Anfälle im unmittelbaren
Anschlüsse an eine körperliche Erkrankung ein:
lmal nach eitriger Mittelohrentzündung,
lmal nach Verwundung mit Lähmung des Halssympathikus
und im Verlaufe der Rekonvaleszenz überstandenem Typhus,
3 mal nach Kopfverwundungen.
Von Interesse ist ein weiterer Fall, bei dem ein Trauma
capitis eine Disposition geschaffen haben dürfte, auf welcher
Basis ein weiteres an sich zum Auftreten der Krampfkrankheit
nicht hinreichendes Trauma die Veranlassung zur Auslösung
derselben wurde.
W. J. wurde am 9. Februar 1916 aus dem Garnisonsspitale Laibach
in unsere Anstalt überstellt. Im Oktober 1914 war er nach Anschlag einer
leeren Schrapnellbüchse an seinen Kopf 3 Tage bewußtlos, dann 3 Monate,
zum Teil bettlägerig, im Spital gewesen. Nach Ablauf der letztgenannten
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Dr. Ernst Herzig.
Zeit rückte er wieder ins Feld ab. Im Oktober 1915 traten, nachdem der
Patient in schwerem Artilleriefener gestanden, Krampfanfälle auf. Einmal
sogar in einer l 1 /} Stunden währenden, zusammenhängenden Serie.
Bei 5 Fällen kam als ursächlicher Faktor ihrer Epilepsie
Granatverschüttung in Frage. Nur bei 3 davon konnte ich mit
moralischer Sicherheit an solcher Annahme festhalten, während
die beiden anderen Gründe nahelegten, nach denen man sie
eher für Hysteriker zu halten hätte und die Krampfanfälle als
hysterische Konvulsionen aufzufassen wären.
Sch. V., Zugeteüter der Arbeiterabteilung Schwechat, geboren 1896,
wurde am 2. Juni 1917 ohne jeden mitgegebenen Bericht dem Garnisons-
spitale Nr. 1 überstellt und von dort am 1. Juni nach dem Steinhof ab¬
gegeben. An der erstgenannten psychiatrischen Abteilung wurde die Diagnose
Epilepsie gestellt, weil sein psychisches Verhalten vermutungsweise an einen
postepileptischen Stuporzustand denken ließ. Bei seiner Überbringung nach
Steinhof ließ sein Stupor das Schwerfällige der Epilepsie vermissen; es ver¬
band sich der Hemmung nervöse Unruhe, zeigte auch die Eigenheit, daß
beim Examen schon ganz kurze Unterbrechungen durch klare Einschübe
sich geltend machten. Insbesondere aber sprach die von seiner Frau ge¬
gebene Anamnese dafür, daß Sch. als Hysteriker aufzufassen sei. Nach der¬
selben habe unser Patient, nachdem ihn seine Mutter im 8. Lebensjahre
fallen gelassen hatte, die hinfallende Krankheit bekommen. Trotz des langen
Bestandes ist bis heute keine geistige Reduktion nachweisbar. Sie selbst
kenne ihren Mann seit 6 Jahren. Während dieser Zeit traten die Anfälle
1- bis 2mal monatlich auf. Bezüglich ihrer Form macht sie die Angabe,
daß der Patient ohne vorhergegangene Ankündigung auf einen Stuhl sinke,
keine Krämpfe habe, sich nie in die Zunge biß, sich nicht verunreinige,
nachher nicht verworren, sondern ungefähr x f 7 Stunde somnolent sei. Den
Anlaß der Anfälle bieten stets Aufregungen. Im November 1915 war Sch.
bei einer Granatexplosion verschüttet worden. Anschließend Gehörverlust,
der unbehandelt nach l l / 2 jähriger Dauer wieder verschwand.
W. J., Infanterist, dem Wachdienste zugeteilt, geboren 1895, wurde
am 18. Juli 1917 eingebracht, nachdem er auf offener Straße sich aus¬
gezogen hatte und in Hemd und Unterhose herumgelaufen war. Durch Be¬
fragen der Angehörigen und aus autoanamnestischen Angaben ist festzustellen
gewesen: Seit der Einrückung vor 8 Jahren wurde der Patient wieder¬
holt durch explodierende Granaten verschüttet. Es stellten sich Zustände
von vorübergehendem Schwindel ein, öfter mit kurzdauernder vollkommener
Bewußtlosigkeit. Diese Zufälligkeiten zeigen sich nur nach vorwiegenden
Erlebnissen. Der Patient soll früher geistig vollkommen gesund gewesen
sein, ist erblich nicht belastet.
Die erwähnten 3 Fälle ließen sowohl erblich belastende
Momente wie neuropathische Stigmata in ihrer vorkonvulsionären
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Epilepsie and Krieg.
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Zeit vermissen, berechtigen also zur Annahme, daß sie mit ganz
normaler Gehirnanlage bis zur Zeit der Granatverschüttung ge¬
blieben waren.
Ich spreche von Berechtigung zu dieser Annahme, verhehle
mir aber nicht, daß triftige Gegengründe vorgebracht werden
können. Vor allem, daß die Leugnung jeder pathologischen An¬
lage nach psychischer oder neurologischer Richtung den Patienten
und deren Angehörigen finanzielle Vorteile sicherte, deren sie
sich begeben, sobald sie eine solche zugegeben hatten. Denn im
ersten Falle wurde die zugesprochene Invaliditätsrente eine zum
wenigsten höhere als dann, wenn eine Veranlagung von früher
her zugegeben wurde, was bei eventueller wenig wohlwollender
Beurteilung durch die Sachverständigen sogar einen vollständigen
Ausfall jener Rente nach sich ziehen konnte. Wem die Vorteile
einer solchen Nützlichkeitslüge nicht aus eigener Erkenntnis klar
wurden, dem werden sicher gute Freunde (ihrer Person oder
des Staates) auf ihren Spitalswanderungen solche Kenntnisse
bald beigebracht haben. Weiter ist es doch nur intelligenterer
Köpfe Sache, auf kleinere nervöse und psychologische Ab¬
weichungen vom sozialen Typus im Verhalten der Personen
ihrer Umgebung zu achten und schon gar in einer Weise, daß
die diesbezüglichen Angaben bei einer gelegentlichen ärztlichen
Anamnese verwertet werden können. Uns Ärzten ist es aber
leider nur allzu selten möglich, solche intelligente Auskunfts¬
personen, die zugleich ehrlich und offen die anamnestischen
Daten liefern, zu finden. Andererseits glaube ich auf Grund
des zeitlichen Zusammenfalles des Traumas mit den epilepti¬
schen Äußerungen keinen Fehlschluß in bezug auf deren ur¬
sächlichen Zusammenhang zu machen, nachdem ein anderer
erkennbarer Grund nicht aufbezeigt werden konnte. Die Zeit¬
folge war eine unmittelbare.
Gegenüber der Epilepsie bietet die Hysterie, wenn sie zu
hysterischen Anfällen führt, in diesen Anfällen selbst nichts,
was eindeutig für die eine oder die andere Diagnose sprechen
würde. Die diesbezüglichen Veröffentlichungen aus der Kriegs¬
zeit haben zum Resultate geführt, daß kein einziges der von
dieser oder jener Seite als beweisend für oder gegen Hysterie,
für oder gegen Epilepsie angesprochenen Merkmale einer ein-
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Dr. Ernst Herzig.
gehenden Untersuchung standhielt, wenn man nur in der Kritik
die nötige Objektivität wahrt und tatsächlich aus einem vor*
liegenden Krankheitsbilde nur darin Liegendes heraus- und nicht
Vorurteile hineinliest.
Es gibt kein Symptom, welches mit absoluter Sicherheit
den epileptischen Charakter eines Anfalles bewiese. Man hat
darum stets mit der Möglichkeit zu rechnen, daß die Hysterie
ebenso den dem epileptischen Anfalle zugrunde liegenden
zentralen Vorgang auszulösen vermag wie dieser, derselbe, ohne
daß es sich um Epilepsie handelt, auch durch andere Umstände
ausgelöst werden kann (z. B. durch arteriosklerotische Gehirn¬
alteration). Deswegen habe ich zur Entscheidung in differential¬
diagnostisch zweifelhaften Fällen die dauernden psychischen
Eigentümlichkeiten der durch die Krankheit betroffenen Person
als ein wesentliches Hilfsmoment beigezogen; ein gleiches im
Verlaufe zu finden, ward mir durch die für diese Möglichkeit
ungenügend lange Dauer der Beobachtung unmöglich.
In anderen Publikationen betonte ich, daß die Auffassung
der Hysterie als einer in ihrem innersten Wesen durch psychi¬
sche Stigmata genügend abgegrenzten Krankheit den Anforde¬
rungen der Differentialdiagnose nicht gerecht wird. Ich lege
das sie Abscheidende in die körperlichen Symptome pathologi¬
scher Natur und trenne sie von anderen Krankheiten, welche
Ähnliches bieten, durch die Psychogenese derselben.
Insbesondere begegnete ich immer wieder der Annahme,
daß die alte Kegel, Zungenbisse seien ein Charakteristikum der
epileptischen Anfälle, unbezweifelt zu Recht bestehe. Daß schon
derartige Angaben zur Basierung der Diagnose dienen, brand¬
markt sich selbst als wissenschaftliche Fahrlässigkeit; aber auch
die tatsächliche Kenntnisnahme von solchen Anfällen mit Zungen¬
biß bildet noch keinen Beweis für die epileptische Natur jener
Konvulsionen. Das Sich-in-die-Zunge-beißen ist die Folge eines
rücksichtslosen Hinstürzens und deswegen abhängig von der dem
Anfalle verknüpften Bewußtlosigkeit. Da nun nach allgemeinem
Zugeständnis auch bei psychogenen Anfällen die Bewußtseins¬
trübung eine vollkommene sein kann, erscheint von vornherein
die in Frage stehende Möglichkeit gegeben. Diesem Zugeständ¬
nis suchen allerdings manche Psychiater auszuweichen durch die
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Epilepsie and Krieg.
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Behauptung, daß das Auftreten einer solchen Bewußtseins¬
trübung schon an sich ein Beweis gegen die hysterische und
für die epileptische Natur eines Anfalles sei.
Um auch bezüglich dieses Punktes zu Klarheit zu ge¬
langen auf rein empirischem Wege, zog ich mir nach dem
Milieu und der Vorbildung des Befallenen geeignet erscheinende
Anfällige zu. wiederholten und eingehenden Explorationen heran.
In allen diesen Fällen machte ich die Differentialdiagnose durch
Herbeiziehnng der aus der Persönlichkeit des Kranken ge¬
schöpften Hilfsmomente. Aus der Zahl der hier in Betracht
gezogenen Fälle führe ich einen in etwas weiterer Ausführung
an, der neben gelegentlichem Zungenbisse auch Sece 3 sus urinae
bot, besonders aber dadurch interessierte, weil die Form seiner
Anfälle dem Jackson sehen Typus der epileptischen An¬
fälle glich.
L. A., Kanonier des Festungsartillerieregimentes Nr. l y geboren
1890 t wuchs unserer Anstalt am 30. Juni 1917 nach vorausgegangenem
4 wöchigem Aufenthalte in der Wiener psychiatrischen Universitätsklinik
au. Aus den mitgehraohten Vormerkblättern ergibt sich zur Anamnese:
L. wurde anfangs Mai 1915 von einem Kosaken mit dem Gewehrkolben
niedergeschlagen. Der angeschlossene Bewußtlosigkeitszustand soll bis Mitte
Dezember 1915 gedauert haben. Während dieser ganzen Zeit hatte er nie
Krampfanfälle. Erst während eines kurzen Urlaubes trat zum ersten Male
am 7. Jänner 1916 nach übermäßigem Konsum von Zigaretten und schwarzem
Kaffee JElechtsdrehung des Kopfes mit folgender 7«bündiger Bewußtlosig¬
keit auf. Von da ab, ohne Rücksicht auf zweimalige Operation, durch die
man neben der Entfernung von Knochensplittern aufgetretene Verwachsungen
der Gehirnrinde mit der harten Hirnhaut zu lösen hatte, in unregelmäßigen
Zwischenräumen, öfter serienweise gleiche Anfälle, zuweilen mit Verun¬
reinigung. Einzelne Vormerkblätter wiesen auf die psychische Beeinflußbarkeit
des Auftretens hin.
Als der Patient zu uns kam, fiel die geistige Frische desselben auf.
Er hatte auch in unserer Anstalt wiederholt und auch in Serien Krampf¬
anfälle vom Typus der Jacksonanfälle. Stets war L. bald nach den Anfällen
wieder ganz munter und auch die Reibenanfälle setzten nie eine bemerkens¬
werte geistige Unregelmäßigkeit
Da diese Tatsachen vermuten ließen, die Diagnose einer traumatischen
Hysterie sei die richtige, wurde Mitte Oktober 1917 an dem Patienten eine
neuerliche Operation vorgenommen, die in Ablösung wieder zustande ge¬
kommener Verwachsungen der Hirnrinde mit der harten Hirnhaut und Ein¬
schiebung eines Bruchsackes zur Vermeidung neuerlicher Verwachsungen
bestand. (Doz. Dr. Finsterer.) Nach mir gewordenen Mitteilungen ist L. von
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Dr. Ernst Herzig.
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da ab von Anfällen freigeblieben nnd wurde Mitte 1918 in einer Ver-
handlang vor dem Divisionsgerichte Wien zurechnungsfähig erklärt und
wegen Desertion verurteilt.
Meine persönliche Auffassung dieses höchst interessanten Falles
schließt die Annahme, es hätte sich beim Patienten ursprünglich wirklich
um epileptische Anfälle gehandelt, nicht aus; für die spätere Zeit würde
ich richtiger halten, von einer Hysterisation zu sprechen, die im Meyer-
schen Sinne in den Bahnen der einstmals bestanden habenden Epilepsie
zum Ausdruck kommt 1 ).
Auch bezüglich der Pupillenreaktion in den Anfällen suchte
ich mir erfahrungsgemäße Sicherheit zu verschaffen. Doch muß
ich gestehen, daß es mir in diesem Punkte nicht gelang, Er¬
kenntnisse mir zu sammeln, die mich in den Stand setzen
würden, entscheidend in dieser Frage mitzureden. Zu einem
Teil lag die Schuld daran, daß es mir fast nie möglich war,
bei erfolgter Meldung von einem Anfalle noch rechtzeitig an
das Krankenbett zu kommen, um die Prüfung der Lichtreaktion
im Anfalle selbst prüfen zu können, zu einem anderen, weil
infolge der physischen Unzulänglichkeit der Untersuchungs¬
bedingungen diese Prüfung nicht in einwandfreier Weise vor-
genomraen werden konnte. Ich finde in der Literatur eine weit¬
gehende Übereinstimmung in der Ansicht, daß zwar alle epilepti¬
schen Anfälle vollkommenen Argyll-Robertson zeigen, ander¬
seits aber dieses Symptom auch bei hysterischen Konvulsionen
beobachtet werde.
II.
Bei 14 der in dieser Arbeit einbezogenen Patienten waren
die epileptischen Anfälle erstmalig in dem zwischen seinerzeitiger
erster militärischer Dienstleistung und Kriegsdienstleistung ver¬
laufenen Intervalle aufgetreten. Bezüglich S dieser Fälle konnte
ich eine Ursache nicht auffinden. In 2 handelte es sich um
Alkoholepilepsie. Alkohol und Kopftrauma spielten in 1 Falle
ursächliche Rollen.
6. J., im Jahre 1906 (1902—1905 hatte er seiner militärischen Präsenz¬
dienstzeit Genüge geleistet) vom Pferde gestürzt. Als er bald darauf, wie
früher öfter, einen Rausch sich antrank, trat das erstemal ein epileptischer
Zur Ätiologie der nach Granatkommotion auftretenden psychotischen
Zustände (in den Jahrbüchern für Psychiatrie und Neurologie, Bd. 81,
Dr. Ernst Herzig).
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Epilepsie und Krieg.
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Anfall auf. Von da ab stellten sich solche Anfälle jährlich bis viermal ein,
stets nach Alkoholabusus. Sein Divisionskommando berichtete, daß er in
der letzten Zeit vor seiner Abschiebung aus dem Felde viel trank, viele und
schwere Anfälle hatte. Nach vollständiger Ausnüchterung blieb Patient anfalls¬
frei während seiner verschiedenen Spitalsaufenthalte.
Isoliert steht ein Fall, in dem eine im Jahre 1913 aus¬
geführte Blinddarmoperation wenigstens als die auslösende Ur¬
sache nachher aufgetretener epileptischer Krampfanfälle ange¬
schuldigt wurde.
Z. £., Reservevormeister des Festnngsartilleriebat&illons Nr. 5, geboren
1889, leidet seit einer im Jahre 1918 an ihm vorgenommenen Blinddarm¬
operation an epileptischen Muskelkrämpfen, die in unregelmäßigen Zeit-
abständen einsein, zuweilen auch gehäuft auftreten. Während einer Beob-
aohtnng anf der psychiatrischen Klinik in Wien wurden epileptische Anfälle
gesehen und Z. daraufhin zur Ausscheidung aus dem Heeresverbande be¬
antragt. Der Patient wurde aber trotzdem wieder eingereiht, bis er im
Oktober 1915 nach einem im Dämmerzustände begangenen Selbstmord¬
versuche und gefahrdrohender Agressivität gegen seine Umgebung in unsere
Anstalt kam. Bei der Aufnahme traten die geistige Reduktion und die
Charakterdegeneration vor Augen, während seines fast dreimonatigen
Aufenthaltes wurden wiederholt typisch epileptische Krampfanfälle beob¬
achtet und weitgehender Mangel an geistiger Vivazität, Züge, die nach
Angabe der Angehörigen erst seit 1918 mehr und mehr sich geltend machten.
Für die übrigen Fälle behauptete man als Ursachen: Blitz¬
schlag (2), Sturz (2), psychisches Trauma (1), Hundebiß (1),
Quecksilberbehandlung wegen Lues (1).
Auch bezüglich dieser Fälle suchte ich eine Aufklärung
über präkonvulsionäre epileptische oder neuropathische Konstitu¬
tion zu verschaffen. Aber auch hier waren meine Bemühungen
von keinem positiven Resultate gefolgt, zum Teil sicher des¬
wegen, weil vielen Patienten die Frage trotz aller Bemühungen
nicht ihrer Auffassung entsprechend formuliert werden konnte.
Indessen gebe ich zu, daß die Tatsache einer derartigen Nicht¬
auffindung eines präkonvulsionären belastenden oder vorbereiten¬
den Momentes nicht imstande sei, die entgegengesetzte Erfahrung
von früher her aus dem Felde zu schlagen. Denn ich war bei
diesen meinen Fällen in der Beurteilung des vorgängigen ner¬
vösen Zustandes durchgängig auf die Angaben der Patienten
selbst und von Angehörigen angewiesen, welche bestrebt waren,
alle Ursächlichkeit an der bestehenden Krankheit auf die Kriegs-
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Dr. Ernst Herzig.
erlebnisse abzuwälzen und den Patienten sogar für alle Vor¬
kriegszeit als psychisch und neurologisch intakt hinzustellen.
III.
Den Großteil aller aufgenommenen Epileptiker bildeten,
die bereits vor ihrer Kriegsdienstzeit an epileptischen Anfällen
gelitten hatten: 116; dazu zähle ich auch die schon erwähnten
14 Fälle, welche die Krankheit in der zwischen einstmaliger
aktiver Militärdienstzeit und späterer Kriegsdienstzeit gelegenen
Pause akquiriert hatten.
Daß man derartige Individuen einstellte, könnte entschuldigt
werden, wenn man überlegt, daß es nur ganz ausnahmsweise ein¬
mal dem untersuchenden Militärärzte gegönnt war, aus persön¬
lichem, früher oder zur Zeit der Untersuchung gehabtem Augen¬
scheine die Sicherheit Uber die bestehende Krankheit zu gewinnen.
Weniger verständlich als das erscheint aber, daß man solche
Leute trotz wiederholter selbst ärztlicher Beobachtungen der
Anfälle im Felde und sogar in der Front zurückhielt.
Für diese Fälle hat die Beantwortung der Frage wissen¬
schaftliches Interesse:
Ob durch den Kriegsdienst eine Verschlechterung der
Krankheit stattfand?
Da befand sich nun unter diesen Patienten eine größere
Zahl, bei denen in den Berichten von einer Häufung und
eventuellen Intensitätssteigerung der Anfälle gesprochen wurde.
Gerade diese Angaben fasse ich als eine Bestätigung meiner An¬
nahme auf, daß die Auslösung der einzelnen Anfälle neben der an¬
geborenen oder erworbenen epileptischen JEteaktionsfähigkeit durch
auf das Gehirn des Fallsüchtigen ein wirkende Beize verschiedener
Provenienz bewirkt werde. Diese letzteren dürften die Ursache
sein, daß eine raschere und verschärfte Bildung der im ersten
Faktor enthaltenen primären krankheitserzeugenden Wirkursache
eintritt und in den mit dem Kriegsdienste verbundenen körper¬
lichen Anstrengungen und sittlichen Aufregungen gelegen sein.
Daß unter dem Einflüsse der genannten Schädigungen bei
entsprechend veranlagten Individuen es zur Ausbildung von hoch¬
gradigen Ezaggerationen ihrer neuro- und psychopathologischen
Konstitutionen und sogar von Psychosen (im engeren Sinnet
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Epilepsie und Krieg.
49
kommt, erleichtert einem di® Auffassung, daß die gleichen
Schädigungen bei einem epileptisch konstituierten Individuum
selbstverständlich eine häufigere und intensivere der epileptischen
Anfälle zur Folge haben können; dieses tatsächliche Vorkommnis
wurde von mir immer in diesem ätiologischen Sinne gedeutet.
Auf die frühere Ausführung zurückgreifend, erwähne ich, daß
das Zurücktreten der Epilepsie und ihrer psychischen Begleit¬
erscheinungen zum früheren Stande mir den Beweis erbrachte,
meine Annahme ist richtig.
Daß in manchen Fällen eine solche Bestitutio nicht mehr
erfolgte, hat seinen Grund wohl darin, daß in denselben die
Erschöpfung den Organismus schon unter jene Grenze hinab
geschwächt hatte, bis zu welcher eine Rückkehr in einen alten
Stand durch die Elastizität der Naturkräfte nicht mehr statt-
haben kann. Mir scheint die aus diesen Fällen kommende Be¬
stätigung von Wichtigkeit, daß ein dem Epileptiker externer,
also ein exogener Faktor eine große Bolle bei den einzelnen
Attacken der Epilepsie spielen kann. Wenn von mancher Seite
auf die große Unabhängigkeit der epileptischen Anfälle von
exogenen Momenten 1 ) hingewiesen wird, so möchte ich dem ent¬
gegenhalten, daß die Festigkeit eines solchen Schlusses nicht
groß ist. Denn die Zahl der dieses Resumö begründenden Fälle
ist klein, so klein, daß schon die meiner gegenteiligen Fälle sie
um ein Vielfaches übersteigt Bei einer nach Lektüre des Haupt-
mann sehen Aufsatzes gemachten vergleichenden Zusammen¬
stellung der Krankheitsgeschichten, welche Epileptiker betrafen,
mit jenen der Psycheanfälligen bin ich zum wenigsten nicht
zur gleichen Schlußfolgerung wie Hauptmann gekommen,
daß das Ausbleiben von Krampfanfällen während der aktiven
Dienstzeit (Kriegsdienstzeit) eher für Epilepsie als für Hysterie
spricht, da die exogen-emotionellen Momente des militärischen
Dienstes bei entsprechend disponierten Individuen mit größter
Wahrscheinlichkeit psychogene Anfälle hervorriefen.
Für ein derartiges Urteil scheint mir notwendig, daß
wenigstens ein gleicher Prozentsatz der einen wie der anderen
*) Hauptmann: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psy¬
chiatrie, Bd. 86, S. 210.
Jahrbücher lür Psychiatrie. XLI. Bd. 4
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50
Dr. Ernst Herzig.
Anfälligen zum Vergleiche eingestellt werde, über deren Anamnese
man ausreichende Kenntnisse besitzen müßte. Erforderlich wäre,
daß diese Anamnese die Gegenüberstellung der vorkriegsdienst¬
lichen Anfälligkeit mit jener während der Dienstzeit ermögliche.
Die Erfahrung lehrt, daß schon unter den im allgemeinen
normal ruhigen Verhältnissen derjenigen Zeiten, weiche dnrch
keine lebhafteren Wogen in der Außenwelt erregt werden,
Epileptiker durch subjektive und rein persönliche Strömungen
ihres psychischen Gleichgewichtes zu einer Steigerung der
Quantität«- und Intensitätskurve ihrer Anfälle gebracht werden.
Soll es da als etwas Außergewöhnliches erscheinen, daß die
großen Wirbel einer erregten Welt auch die Psyche eines
Menschen mitreißen, der schon unbedeutenderen Einflüssen
unterlegen war? Ist es etwas Besonderes, daß durch diese Wirbel
ein Individuum zu lebhafterer Reaktion geführt werde, das die
Eigentümlichkeit in sich birgt, auf gemütliche Stürme in der
Form von Krampfanfällen zu reagieren? Nimmt man noch dazu,
daß die Kriegsteilnehmer neben diesen psychischen Emotionen
auch noch die mit dem Kriege notwendig verknüpften körper¬
lichen Anstrengungen, welche an sich und in Verbindung mit
den aus psychologischer Notwendigkeit sich anschließenden psy¬
chischen Erregungen eine Erhöhung ihrer eigentümlichen Reak¬
tionsfähigkeit im Gefolge haben, tragen müssen, dann wird der
in Sprache stehenden Diskussion alles Auffallende benommen.
Nach meinen Erfahrungen dürften gerade diese an zweiter Stelle
erwähnten körperlichen Einflüsse au Wichtigkeit in bezug auf
die Exazerbationen der Krampfanfälle den psychischen voran¬
zustellen sein; denn in den meisten der in Betracht kommenden
Fälle trat mit dem Aufhören der Strapazen die erhöhte An¬
fälligkeit wieder zurück, es kam zu einer Restitutio ad statum
anteriorem. Nur zwei gelangten zu keiner Rückbildung mehr
und starben an den unmittelbaren Folgen gehäufter Aniälle,
während zwei andere eigentlich nur der durch die im Felde er¬
littenen gehäuften Anfälle herbeigeführten und durch Unter¬
ernährung nicht mehr reparabel gewordenen allgemeinen Schwäche
erlagen; vier starben an interkurrenten Erkrankungen.
Die Erschöpfung übernimmt die Rolle jenes Faktors, von
dem Bonhoeffer sagt, er bilde das auslösende Moment für
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Epilepsie und Krieg.
51
Psychosen endogenen Charakters. Die epileptisch-psychiatrischen
Zufälligkeiten außergewöhnlicher (Kriegs-) Art werden damit
jenen Formen von Geistesstörung zugehörig, als deren Ursachen
man einen übermäßigen Verbrauch von Nervenmateriale an¬
nehmen darf.
Während dieser Verbrauch bei sonst psychisch gesund
gewesenen Leuten Psychosen vom Charakter der sogenannten
Erschöpfungspsychosen (über deren klinische Katalogisierung
schon manche auseinandergehende Meinung geäußert wurde)
auslöst, legt er sich bereits vulnerablen Gehirnen an den Locus
minoris resistentiae und führt zu einer Verschärfung des an dem
betreffenden Individuum schon bekannten Leidens. Die körper¬
liche Erschöpfung betrachte ich dann als die Ursache sekundärer
körperlicher Veränderungen, welche den Umweg bilden, der zur
Exaggeration der epileptischen Erscheinungen führt nach Art von
Infektionen, die durch Alteration der normalen Vitalfunktionen
der Großhirnrinde und des nervösen Zentralorganes eine schon
vorhandene neuro- und psychopathologische Konstitution noch
weiter verschlechtern oder eine solche ganz neu schaffen kann.
IV.
Während ich in den Dämmerzuständen der psychogenen
Psychosen durchgängig eine Abfärbung der Kriegserlebnisse und
Kriegsereignisse sah, fand ich bei keinem epileptischen Dämmer¬
zustände etwas Ähnliches. Ohne jedes kriegerische Kolorit traten
dieselben in ganz gleicher Farbe in die Erscheinung, wie man
sie unabhängig von den durch den Krieg geschaffenen Ver¬
hältnissen sehen kann. Aber nicht nur in den dem Frontdienste
abgerückten Zeitpunkten, sondern nicht einmal in den ersten
noch im Felde beobachteten Dämmerzuständen beobachtete man
eine Kriegsfärbung derselben. Es macht mir dieses Verhalten
den Eindruck, als wäre zur Zeit jener Zustände die Psyche für
alle Kriegsereignisse amnestisch geworden. Jedenfalls haben sie
die für jene Zustände charakteristische geistige Leere in keinem
Falle auch nur etwas zu verdecken oder auszufüllen vermocht
Um Mißverständnisse zu vermeiden, ergänze ich meine
Behauptung von der steten Färbung der psychogenen Dämmer¬
zustände durch die Kriegsvorgänge, indem ich sie nur für jene
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52
Dr. Ernst Herzig.
Dämmerzustände gelten lasse, welche selbständig und ohne mittel¬
baren oder unmittelbaren Zusammenhang mit Anfällen auftreten,
während ich für solche der letzteren Art die Erscheinungsform
nach Art und Charakter von jenen der prä- und postepileptischen
Dämmerzustände nicht abweichend fand, das heißt: ich konnte
hier wie dort nur das vollständige Losgerissensein von allen
vorausgegangenen persönlichen Erlebnissen charakteristisch finden.
Für denjenigen, der meine Auffassung über das Wesen der
Hysterie und über den allen epileptischen und hysterischen
Krämpfen zugrunde liegenden gleichen Gehirnmechanismus,
dessen Auflösung bei den beiden verschiedenen Formen durch
zwei verschiedene genetische Faktoren erfolgt, teilt, bietet diese
Gleichheit der beiden konvulsionären Dämmerzustände keine
Schwierigkeit zu ihrer Erfassung. Wer aber auch die hysterischen
Anfallszufälligkeiten auch nur auf einem (unverständlichen) psy¬
chischen Aufbau basieren will, dürfte wohl kaum die Möglichkeit
gewinnen, eine Erklärung dieser Tatsachen plausibel zu machen.
Ich weise hier neuerlich auf die in sich beruhende Selb¬
ständigkeit des sogenannten hysterischen Symptomenkomplexes
hin, welche in gleicher Weise auf die körperlichen wie die gei¬
stigen hysterischen Symptome sich bezieht. Während die letzteren
allein und isoliert von ersteren auftreten können, sind neben den
körperlichen immer, wenn auch nicht mit besonderer Klarheit
und Deutlichkeit, gleichgerichtete psychische Anomalien vor¬
handen. Beiden ist gemeinsam, daß sie durch die gleichen ge¬
mütlichen Reaktionen bei in gleichem Sinne disponierten Leuten
erzeugt und in Erscheinung herausgelockt werden. Bei beiden
hat sich für den Beobachter eigentlich nur der Boden geändert,
der bei den einen und bei den anderen aufgewühlt erscheint
Die erwähnten gemütlichen Reaktionen lassen als solche keinen
Charakter erkennen, der sie von vornherein als hysterische
charakterisieren, noch viel weniger aber sie als solche oder
besser als Reaktionen, welche mit hysterischen Symptomen ver¬
knüpft sind, erkennen ließe. Jene Reaktionen bieten in ihrer
Erscheinungsform und ihrem Wesen nichts, was sie von vorn¬
herein von allen anderen nervösen Reaktionen abgrenzbar machte.
Es bleibt diese Unmöglichkeit dieselbe, ob man jene
Reaktion selbst dabei im Auge hat oder ob man die ihr zu-
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Epilepsie und Krieg.
53
gründe liegende Disposition ins Auge faßt Denn auch im
letzteren Falle gelingt es nicht, die Disposition zur Hysterie
jemals in Wirklichkeit von anderen nervösen Dispositionen
abzugrenzen. Ein abgrenzbarer Begriff der Hysterie kann sich
also nur auf einer Abgrenzung der in die Erscheinung- tretenden
körperlichen und psychischen Symptome aufbauen, wobei zu
bemerken ist, daß die erstgenannten vor letzteren den Vorzug
haben, daß sie auf Grund vorauserworbener Erkenntnisse von
vornherein als der Hysterie zugehörig bestimmbar sind, während
letztere doch erst nach Ablauf eines längeren oder kürzeren
Zeitraumes, in dem man sich über Art und Verlaufsform der
Erscheinung zu orientieren hat, eine Zuteilung gestatten. Diese
Reaktionsmöglichkeiten in sich begreifend, kann der Begriff von
einer hysterischen Disposition zugelassen werden als der einer
Disposition sui generis.
Wenn man den genannten hysterischen Geisteszustand im
Sinne einer hysterischen Disposition als das Primäre im Krank-
heitsbilde der Hysterie bezeichnet, sollte man nicht vergessen,
eine Unterscheidung zu machen. Es ist jener Primat zuzugeben,
wenn gefragt wird nach der Ursache des In-die-Erscheinung-
Tretens der hysterischen Symptome als krankhafter Erscheinungen
einfachhin, wobei über die Art der letzteren gar nicht ausgesagt
wird. Die Spezifikation wird nicht begründet und nicht veranlaßt
durch den genannten Geisteszustand.
Sie hat ihre Wurzel in einer ganz eigenartigen, individuell
verschiedenen neuro- und damit psychopathologischen Beschaffen¬
heit der Persönlichkeit, welche in sich unabhängig ist von dem
sogenannten hysterischen Geisteszustände, infolge eines rein
äußerlichen Zusammenhanges mit ihm durch ihn nicht neu
geschaffen, sondern entsprechend und im Rahmen seiner Präfor¬
mation zur Erscheinung gebracht werden kann.
Die Folgerung aus den bisherigen Ausführungen zusammen¬
fassend, kann man also behaupten:
1. daß die Kriegserfahrungen über Epilepsie und epilepti¬
sche Psychosen, soweit die Erfahrungen der Anstalten am Stein¬
hof darüber sprechen, die Feststellung zulassen, daß für deren
Zustandekommen in ihrer Wurzel außenliegende Momente eine
ganz untergeordnete Rolle spielen,
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54
Dr. Ernst Herzig.
2. daß die schädigenden Nerveneinflüsse des Krieges in
vielen Fällen zur intensiveren Ausprägung der epileptisch neuro¬
tischen und psychopathologischen Äußerungen führen können,
3. daß die Mehrzahl der aus dem Kriegsdienste unseren
Anstalten zugewachsenen Epileptiker schon mit der Krankheit
Epilepsie behaftet in jenen Dienst eintrat,
4. daß die unter 2 erwähnte intensivere Ausprägung der
epileptischen Äußerungen auf diese beschränkt blieb und keine
Verschlechterung der Krankheit an sich bedeutete.
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Aus der Abteilung für Nervenkrankheiten an der Wiener allgem. Poliklinik.
Vorstand Prof, Dr. Karplus.
(Anläßlich des 50jährigen Bestandes der Poliklinik.)
Zur Kenntnis der peripheren Fazialislähmung
(mit besonderer Berücksichtigung der vegeta¬
tiven Störungen).
Von Aurel Jalcowltz.
Zwei Jahre hindurch hatte ich Gelegenheit, ein relativ
sehr reiches Material von Fazialislähmungen zu beobachten und
glaube, daß insbesondere die Untersuchungen fiber Sekretions¬
störungen nicht ohne Interesse sein dürften, da außer
Köster 1 ) niemand eingehender darüber gearbeitet hat; auch
genaue Untersuchung des Kornealreflexes ergab ein über¬
raschendes und bisher noch nicht beobachtetes ßesultat.
I. Nur kurz einige Worte über statistische Ver¬
hältnisse: Von den 3277 Patienten der Ambulanz waren
73 = 274 %Fazialislähmungen; davon 33 Männer und 40 Weiber.
Die einzelnen Altersklassen wurden wie folgt betroffen:
bis 10
10—20
20—80
30—40
40-50
60—70
über
70
Männer . . .
2
4
7
11
1
4
3
1
Weiber . . .
2
4
14
5
5
3
5
2
Zusammen . .
4
8
21
16
6
7
8
3
*) Deutsches Archiv f. klin. Medizin, Bd. 68, 1900, und Bd. 72, 1902.
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Aurel Jäleowitz.
in tbigender Weise verteilt sich die Entstehung der Er¬
krankung auf die verschiedenen Monate;
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Weiter
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bet dem .-Best war <icr Beginn ,»itehi'' ja^r : . Tfiifcxu&cjlJsm;. die
trrtosnüitiscbeft beziehungsweise operativen B'alle wurden nicht
in Betracht gezogen.
Di* r.echte Seite w«? SSfcm&i, die ifi ma) betroffen,
4 Fälle waren 'Drtdegket ' •'. ; A
’■ .*!'.''••*•« . • *• •: , , . .. ;• ■•.- . * •’■*'*■*5,4 ’W * *•"• v 4 1 V- ’ . y.v v ’ ■ -
XI ..& ti * I ö g i e. Utst^r ; <k : Q. 20; ^nän?r. .ürnteritaeiit^p
FUÖßo — vmd unr v»in■ &esen werde leb in • der Fufge sj>recb^U —
wareri die überwiegend* - Mehrzahl, '»ihnlieh 2äi. sogemnmte
rheumatische PaziälisJ&bmungeß» zu welchen ich nicht nurjene
Fälle rechne, die ein refrigeratorisebe* Trauma als ff rund der
Lähmung angaben, sondern auch alle, bei denen sich mit jßftck-
stcht auf die Anamnese und den objektiven Befund ein anderer
Mologibcher Faktor mit großer WÄhrsidieiniicbkeit äus-
RcblieÜon ließ.
Bei den übrigen 4 Fällen entstand die Lähmung io einem
Fall durch ein Trauma, im zweiten bandelte es sich um einen
basal-luetischen Prozeß, im dritten um eine Neurorezitlive nach
SAivareaabebandlung, und im vierten endlich trat die Lähmung
im Anschluß au eine ÖeinhAiitentzünduijg eines- oberen Mobir-
zabues derselbnn Beite auf.
In einem Fall fand sich veiromandibtilär ein Paket ge-
sch wollen er JQrUaem; die Patientin gab auch an, daß dieselben
vor Eintritt der Lahm nag stärker angearbwollen waren als
früher. Du sich aber nach $fef vollständigen Heilung noch der-
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Original fro
Zur Kenntnis der peripheren Fazialislähmung.
57
selbe Befand an den Drüsen ergab wie zur Zeit der Aufnahme,
glaube ich keinen Zusammenhang zwischen Drüsenschwellung
und Lähmung (im Gegensatz zu dem Fall von Meyer 1 ) an¬
nehmen zu sollen.
Zwei Patientinnen waren zum zweitenmal an Fazialis¬
lähmung erkrankt; das Intervall zwischen Lähmung und Bezidiv
betrug 7 und 10 Jahre. In dem einen Fall ist besonders interessant,
daß auch die Mutter der Patientin vor vielen Jahren an Fazialis¬
lähmung erkrankt war.
Die Ansichten der einzelnen Autoren über die Ätiologie
der rheumatischen oder refrigeratorischen Fazialislähmung gehen
ziemlich weit auseinander. Jene Autoren, welche autoptische
Befunde an Patienten erheben konnten, die während des Be¬
stehens der Lähmung an einer interkurrenten Erkrankung starben,
fanden durchgehends keinerlei entzündliche Veränderungen
im Bereiche des Fallopischen Kanals; sie konnten daselbst
vielmehr Veränderungen im Sinne einer rein degenerativen
beziehungsweise parenchymatösen Neuritis feststellen (Min¬
kowski*), Darkschewitsch und Tichonow 8 ), Ale¬
xander 4 ). Im Gegensatz dazu halten die meisten Autoren,
die ihr Material nur klinisch bearbeiten konnten, die Entzündung,
sei es als Exsudation (Kötly 8 ), sei es als Periostitis (Jen¬
dras sik 6 )? für ein an dem Zustandekommen der Lähmung
wesentlich beteiligtes Moment. Kötly genügt dabei die durch
die Exsudation hervorgerufene Kompression, während Jen¬
dras sik die Möglichkeit einer angeborenen Verengung des
Fallopischen Kanals, von der zuerst Philip 7 ) spricht, offen
läßt. Sarbo 8 ) nimmt ebenfalls die bestehende Verengung des
Fallopischen Kanals als prädisponierend an, Während er das aus-
*) Meyer, Seltene Ursache der Fazialislähmung, Med. Klinik, Nr. 83,
1905, 838.
s ) Arch. f. Psych., XXIII, S. 586.
3 ) Neurol. Zentralbl., 1893, 10.
*) Arch. f. Psych., Bd. XXXV, S. 778, 1902.
5 ) Deutsch. Arch. f. klin. Med., Bd. 106, S. 400.
°) Neuro). Zentralbl., 1912, S. 751.
7 ) Inaug., Diss.-Bonn 1890.
8 ) Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk., Bd. XXV, S. 398.
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Original fro-rn
UNIVERSITY OF MICHIGAN
58
Aurel Jalcowitz.
lösende Moment in der Kälteschädigung allein sieht, die eventnell
noch mit Lymphstauung und nachfolgender Kompression ver¬
bunden sein kann.
Ziemlich verbreitet ist auch die Charcot-Neumannsche
Hypothese 1 ) von der nervösen Pr&disposition. Neamann findet,
daß in allen Fällen von Fazialislähmung persönliche nervöse
Anlage und Nervenaffektionen bei Eltern und Verwandten nach¬
weisbar sind, oder doch wenigstens eines dieser Momente. Auch
Bernhardt*) nimmt diese Hypothese wenigstens für die
rezidivierenden Fazialislähmungen an, während sie z. B. Sarbo
als überflüssig und komplizierend ablehnt.
Hübschmann 3 ) schließlich betrachtet die Fazialis¬
lähmung als reine Infektionskrankheit, sogar mit nachfolgender
Immunität; bei Rezidiven handle es sich um seltene Fälle, bei
denen die Immunität ausgeblieben sei.
Eins aber scheinen alle Autoren als feststehend anzunehmen,
daß nämlich der Sitz der Schädigung des Nerven im Fallo-
pischen Kanal zu suchen sei. Es haben sich nun bei der
klinischen Beobachtung Tatsachen ergeben, die es mir gerecht¬
fertigt erscheinen lassen, doch auch die Möglichkeit in
Betracht zu ziehen, ob nicht der locus morbi, wenigstens in vielen
Fällen, ganz peripher gelegen ist.
Zunächst erscheint es auffallend, daß in der großen Mehr¬
zahl jener Fälle, bei denen nicht eine Paralyse, sondern nur eine
Parese schwereren oder leichteren Grades vorhanden ist, Ober¬
lippen- und Wangenmuskulatur am schwersten betroffen sind,
und zwar subjektiv, objektiv und auch in bezug auf die Schwere
des Verlaufes. Dagegen ist man oft verblüfft über die relativ
geringe Schädigung der Stimmuskulatur und die rasche Wieder¬
herstellung ihrer Funktion. Es ist leicht sich vorzustellen, daß
diese Differenzen durch oberflächlichere beziehungsweise weniger
geschützte Lage der stärker betroffenen Nervenfasern bedingt
sind. Die besonders günstige Stellung des Stirnastes wäre viel¬
leicht auch durch den Schutz, den Hut und Frisur bieten, zu
erklären.
*) Zit. nach Bernhardt.
5 ) Die Erkrankungen d. periph. Nerven, Wien 1902.
*) Neurol. Zentralbl., 1894, S. 815.
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Zur Kenntnis der peripheren Fazialislähmung
59
Weiter ist sehr auffällig die relative Häufigkeit der
Tränenstörungen, während die Speichelstörungen, wenn anders
es solche überhaupt gibt, sich durch große Seltenheit und geringen
Grad auszeichnen, wie auch Köster 1 ), der beste Kenner der
diesbezüglichen Verhältnisse, schon betont. Sitzt die Störung
wirklich im Felsenbein, so müßte man erwarten, daß Speichel¬
störungen wenigstens ebenso oft zur Beobachtung gelangen wie
Tränenstörungen.
Schließlich weist auch das von mir verhältnismäßig oft
beobachtete Symptom der Störung des Kornealreflexes, das ich
weiter unten ausführlicher behandeln werde, auf eine Mitbe¬
teiligung von Trigeminusfasern hin; auch diese Feststellung
könnte zur Stütze der Annahme einer ganz peripheren Affektion
des Fazialis herangezogen werden, da ja die hier vorliegende
Trigeminusschädigung sehr wahrscheinlich peripher angreift.
III. Symptomatologie. Ziemlich allgemein abgelehnt
ist wohl schon die Annahme, daß der M. levator veli palatini
vom Fazialis innerviert wird und daß daher eine Gaumensegel¬
lähmung zum Symptomenkomplex der Fazialislähmung gehört
Auch ich konnte in keinem Falle ein abnormes Verhalten des
weichen Gaumens feststellen. Daß der Schiefstand der Uvula,
den man früher als Beweis für eine ungleichmäßige Innervation
des Gaumensegels ins Treffen führte, überhaupt für die Diagnose
eines pathologischen Zustandes vollkommen irrelevant ist, ist wohl
jedem klar, der das Verhalten der Uvula bei einer Anzahl von
Gesunden beobachtet hat Man sieht dieses Phänomen bei normalen
Menschen ebenso häufig wie bei Leuten mit Fazialislähmung. Auch
A. Fuchs*) hat auf Grund klinischer und experimenteller Be¬
funde vor einigen Jahren neuerdings die Beteiligung des Fazialis
an der Innervation des Gaumens in Abrede gestellt
Die Asymmetrie beim Herausstrecken der Zunge ist nur
eine scheinbare, durch die Schiefstellung des Mundes bedingte;
wenn man den gelähmt herabhängenden Mundwinkel mit der
Hand in die normale Lage bringt, so sieht man, daß die Zunge
immer gerade vorgestreckt wird.
*) Loc. oit.
J ) Arb. a. d. nenrol. Institut in Wien, Bd. XVI, 2. Teil.
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
60
Aurel Jalcowitz.
Uber Schmerzen klagen zwei Drittel der Patienten, und zwar
treten diese entweder nur prodromal oder auch in den allerersten
Tagen der Lähmung auf; später hörte ich nie eine Klage über
Schmerzen; sie sind in der Mehrzahl der Fälle auf die Gegend
des For. stylomastoideum und seine Umgebung beschränkt.
Manchmal findet man anfänglich auch eine leichte Druck*
empfindlichkeit des Proc. mastoideus. Klagen Patienten über
Schmerzen im Gesicht, die dann gewöhnlich beim Liegen auf
der kranken Seite auf treten, so handelt es sich wohl um eine
Mitbeteiligung des N. trigeminus, ebenso wie bei den Parästhesien
der erkrankten Gesichtsseite, die in ungefähr der Hälfte der
Fälle angegeben werden. Bei einer Patientin waren die Parästhesien
auf die Hälfte der Zunge und die Innenfläche der Wange be¬
schränkt, während das Gesicht frei blieb.
Eine ausgesprochene Störung der Sensibilität konnte ich
nie beobachten. Zwei Patienten hatten eine Andeutung von
herabgesetzter Tastempfindung, einer eine Spur Hyperästhesie
und leichte Überempfindlichkeit für thermische Reize. Die Zungen¬
sensibilität war immer vollkommen normal, bis auf eine Patientin,
die angab, sie habe sich einige Tage nach Eintritt der Lähmung
mit heißer Suppe die Zunge derartig verbrannt, daß sich Bläs¬
chen bildeten, ohne daß sie Schmerz empfand. Als ich die Pa¬
tientin nach ungefähr sieben Wochen zu Gesicht bekam, war
keine Störung der Thermosensibilität mehr nachweisbar.
Hyperakusis war in drei Fällen vorhanden, aber immer
nur in den ersten Tagen nach Eintritt der Lähmung.
Was die Verhältnisse der elektrischen Erregbarkeit im
Verlauf der Erkrankung anlangt, so konnte ich kein irgendwie
von dem Bekannten abweichendes Verhalten beobachten.
Der Geruch war immer ohne Störung.
Geschmacksstörung verschiedenen Grades war in neun
Fällen vorhanden.
• •
Uber das Fehlen desKornealreflexes, ein meines
Wissens bei peripherer Fazialislähmung noch nicht beobachtetes
Symptom, berichte ich im folgenden etwas eingehender.
Fall 1. Marie P., 14 Jahre alt, Handelsschülerin. Mit 7 Jahren
Fazialislähmung anscheinend leichtesten Grades; auf welcher Seite, kann
sich Patientin nicht mehr erinnern. Anfangs Oktober 1918 erkrankte Patientin
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Original fro-m
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Zur Kenntnis der peripheren Fazialislähmung.
61
an peripherer rechtsseitiger Fazialislähmung. Ende November erschien sie
zum erstenmal in der Ambulanz.
27. November. Status praesens: Stirnrunzeln schwach, bei Lidschluß
bleibt 8 mm Spalte, ziemlich deutliches Zurückbleiben des rechten Mund¬
winkels. Faradische Erregbarkeit herabgesetzt, galvanische Erregbarkeit im
8 tirn- und Kinnast nur leicht herabgesetzt bei prompter Zuckung und
Kathodenüberwiegen, in den übrigen Teilen stark herabgesetzt bei träger
Zuckung und Kathode gleich Anode. Sensibilität normal, keine Parästhesien.
Tränen-, Speichel- und Schweißsekretion ohne Besonderheiten. Keine vaso¬
motorischen Störungen. Geruch und Geschmack normal. Zunge, Gaumen¬
segel, Platysma und Ohrmuschelmuskulatur ohne Besonderheiten. Keine
Druckempfindlichkeit des N. facialis am -For. stylomastoideum, keine
Trigeminusdruckpunkte, keine okulopupillären Symptome. Bellsches Phä¬
nomen+. Gaumen-Rachen-Reflex stark herabgesetzt. Fundus oculi beider¬
seits normal.
Beim Geheiß die Augen zu schließen bewegen sich die Oberlider
gleich rasch herunter, rechts bleibt eine Spalte von3 mm. Der Kornea 1-
reflex ist links in der gewöhnlichen Weise prompt,
rechts nicht auslösbar.
Während der nächsten zwei Wochen bleibt dieser Befund unverändert.
Die Lähmung bessert sich unter elektrischer Therapie.
14. Dezember. Elektrische Erregbarkeit faradisch und galvanisch etwas
herabgesetzt, sonst normal. Nur mehr leichtes Zurückbleiben des rechten
Mundwinkels. Komealrefiex: Bei Reizung der linken Kornea
erfolgtderLidschlußpromptundblitzartigauf beiden
Augen. Die rechte Kornea läßt sich tief eindrücken.
ohne daß Lidschluß auf irgend einer Seite erfolgt,
(Auch beim reflektorischen Lidschluß bleibt rechts eine zirka 8 mm breite
Spalte offen.)
21. Dezember. Funktion und elektrische Erregbarkeit unverändert. Der
Komealrefiex bietet keine auffallenden Unterschiede mehr
auf beiden Seiten.
8 . Februar 1919. Mit normaler Funktion und elektrischer Erregbarkeit,
ohne Kontraktur geheilt entlassen.
Fall 2. Josef H., 71 Jahre alt, Torwächter. Mitte April 1919 peri¬
phere linksseitige Fazialislähmung. Erschien nach 6 Wochen in der Ambulanz.
4. Juni. Status praesens: Im Stirnast leichte, sonst komplette Lähmung
mit EAR. Bis auf eine deutliche Druckempfindlichkeit aller drei Trigeminus¬
äste links, kein pathologischer Befund.
Komealrefiex: Bei Berührung der rechten Kornea
wird das rechte Auge prompt geschlossen, der linke
Bulbus dreht sich sofort nach oben und außen. Bei
Berührung der linken Kornea keine Reaktion; erst
bei längerer Berührung oder starkem Eindrücken
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UNIVERSITY OF MICHIGAN
62
Aurel Jalcowitz.
wird der Bulbus langsam nach oben und außen gedreht,
während das rechte Auge offen bleibt.
Dieser Befund bleibt während der nächsten drei Wochen unverändert,
dann erschien der Patient nicht mehr zur Behandlung.
Ich habe zwei der typischsten Fälle herausgehoben, aber
bei sorgfältiger Untersuchung gelang es mir, in einer ganzen
Reihe von Fällen größere oder geringere Differenzen im Korneal-
reflex zu beobachten, die zugleich mit den Lähmungserscheinungen,
gewöhnlich aber noch vor diesen zurttckgingen. Die periphere
Lähmung des N. facialis bietet offenbar keine genügende Er¬
klärung für dieses auffallende Verhalten; kann ja, wie der zweite
Fall zeigt, auch der Reflex auf den ganz normalen Okulomotorius
(Bellsches Phänomen) gestört sein. Es dürfte sich also um
eine Störung im sensiblen Schenkel des Reflex¬
bogens handeln, die durch das gleiche refrigeratorische Trauma
wie die Fazialislähmung bedingt ist und wohl ganz peripher ihren
Sitz hat. Ob dabei der mangelhaftere Schutz der Kornea durch
die Lähmung eine Rolle spielt, möchte ich dahingestellt sein
lassen, will aber ausdrücklich betonen, daß in meinen Fällen nie
auch nur andeutungsweise eine Keratitis e lagophthalmo vor¬
handen war.
Vegetative Storungen.
A. Tränensekretion. Untersuchungstechnik: Das
bloße Abschätzen der bei psychischer oder reflektorischer Tränen¬
sekretion aus den Augen rinnenden Tränen ist für wissenschaft¬
liche Zwecke vollständig unbrauchbar; denn einerseits hat diese
Methode sehr weite Fehlergrenzen, andererseits entzieht sich die
durch die Nase abfließende Tränenmenge der Beobachtung.
Schirmer und Wagenmann 1 ) benützten als Erste
eine mehr objektive Art der Untersuchung, die allerdings in der
von ihnen angewendeten Form auch nur ganz grobe Unterschiede
zwischen normalen und pathologischen Verhältnissen zu erkennen
ermöglicht. Sie empfahlen nämlich, „Fließpapierstreifen von
7s cm Breite und 3 l / 2 cm Länge mit einem Ende in den Kon-
junktivalsack einzulegen; sind dann nach 5 Minuten mehr als
*) Zit. nach Eulenburg, Lehrb. d. klin. Untersuchungsmethoden,
II. Bd., I. Hälfte, S. 105.
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Zur Kenntnis der peripheren Fazialislähmung.
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17s cm benetzt, so ist eine Herabsetzung der Tränensekretion
nicht anzunebmen; bei Reizung von der Nase geschieht das
Gleiche spätestens in 2 Minuten“.
Der einzige, der diese Methode, allerdings in etwas modi¬
fizierter Form zu genaueren Untersuchungen über die Tränen¬
sekretion bei Fazialislähmung verwendet, ist, soweit ich die
Literatur übersehe, Köster 1 ), der in zwei sehr ausführlichen
Arbeiten über die Resultate seiner Beobachtungen berichtet.
Er verwendet sterilisierte Filtrierpapierstreifen von 1 cm Breite
und 20 cm Länge, die er anfangs 5 bis 15 Minuten, später
1 bis 17s Stunden in den Konjunktivalsack einlegte. Diese
Methode ist bis jetzt die einzige, die brauchbare Messungen der
Tränensekretion ermöglicht, obwohl ihr in der Art, wie sie
Köster verwendet, vielleicht doch noch einige Mängel anhaften.
Die Resultate, die Köster in seiner ersten Arbeit (1900) pu¬
bliziert, sind nicht vollkommen einwandfrei, soweit er eine Hyper¬
sekretion von Tränen beobachtete, da die Zeit, während der er
die Filtrierpapierstreifen einlegte, viel zu kurz war, um Sicher¬
heit über die Art der Störung zu erhalten. Ich konnte wieder¬
holt beobachten, daß die Tränensekretion auf der gelähmten
Seite während der ersten Zeit außerordentlich gesteigert gegen¬
über der gesunden Seite erschien und dann im Verlauf der
Beobachtung immer mehr abnahm und das Gesamtresultat
schließlich eine deutliche Hyposekretion ergab. Es wird dieB
auch sehr begreiflich, wenn man bedenkt, daß das infolge der
Lähmung schlaffe untere Lid dem Bulbus nicht so dicht anliegt
wie normal, so daß anstatt des kapillaren Spaltes ein wirklicher
Konjunktivalsack vorhanden ist, der von vornherein mit Tränen
gefüllt ist; der Beobachter hat nun den Eindruck einer abundanten
Sekretion und erst bei längerer Versuchsdauer tritt die bestehende
Insuffizienz der DrüBe zutage. Auch glaube ich, daß die Länge
des Filtrierpapierstreifens von 20 cm , wie sie K ö s t e r verwendet,
zu groß ist, vorausgesetzt, daß man das Filtrierpapier ganz voll¬
saugen lassen will. Wird nämlich der Streifen richtig in den
Konjunktivalsack eingelegt, so übt er schon nach ganz kurzer
Zeit fast gar keinen Reiz mehr aus; die Tränensekretion beginnt
! ) Loc. cit.
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Aurel Jalcowitz.
zu sistieren und versucht man jetzt durch Reizung der Nasen¬
schleimhaut die Sekretion wieder anzuregen, so werden die schon
trockenen Partien wieder durchnäßt und die Genauigkeit und
der Vergleichswert des Versuches werden beeinträchtigt; auch
nimmt bei längerem Liegenlassen des Streifens seine Saugkraft
rapid ab, da der dem Auge zunächst liegende Teil schon durch¬
näßt ist. Es ist daher zweckmäßiger, die Streifen häufig zu
wechseln, wobei man auch den Vorteil hat, daß durch jedes neue
Einlegen eines Streifens ein die Tränensekretion reflektorisch
anregender, heftiger Reiz gesetzt wird und man die allzu häufige
Reizung der Nasenschleimhaut, die dem Patienten auf die Dauer
oft lästig wird, dadurch erspart. Ich ließ aus diesen Gründen
die Streifen höchstens 5 bis 7 cm Flüssigkeit ansaugen und
wechselte sie je nach Bedarf alle 5 bis 15 Minuten. Für einen
Versuch benötigte ich daher 6 bis 10, oft noch mehr Streifenpaare.
Das Auge auch der gelähmten Seite muß während des
Versuches geschlossen sein. Ist das aktiv nicht möglich, so wird
das Oberlid durch einen sanften Druck nach unten geschoben;
geht es, wie das häufig vorkommt, infolge des Überwiegens des
LevaCortonus allmählich wieder nach oben, so läßt man es vom
Patienten in der gewünschten Lage fixieren.
Die Unannehmlichkeit des Versuches für die Patienten ist
viel geringer als man von vornherein glaubt; außer einem leichten
anfänglichen Brennen werden keine Schmerzen empfunden; es
sträubte sich auch nie ein Patient gegen eine Wiederholung des
Versuches; im Gegenteil, fast alle stellten eine Besserung des
lästigen Augentränens fest, über das ja die meisten Patienten,
auch jene mit starker Hyposekretion klagen, da auch die wenigen
sezernierten Tränen infolge des mangelhaften Anliegens des
Unterlides und des fehlenden Lidschlages nicht durch den Tränen-
Nasen-Kanal ab fließen können. Die erwähnte Besserung dürfte
allerdings nur auf die suggestive Wirkung der Untersuchung
zurückzuführen sein. Schädliche Folgen konnte ich niemals be¬
obachten; gegen die unvermeidliche geringe Injektion der Eon-
junktiva tropfte ich nach Beendigung der Untersuchung etwas
Collyrium adstringens luteum in den Bindehautsack.
Daß bei der beschriebenen Versuchsanordnung die Gesamt¬
menge der Tränen in Betracht gezogen wird und daß nichts
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Zur Kenntnis der peripheren Fazialislähmung.
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durch den Tränen-Nasen-Kanal verloren geht, ist wohl als sicher
anzunehmen. Ich möchte diesen Umstand nicht in erster Linie
der Saugkraft des Filtrierpapiers zuschreiben, sondern der Un¬
möglichkeit des Tränenabflusses durch die Nase bei geschlossenen
Augen. Es ist ja, wie bekannt, der Lidschlag und die damit
verbundene Kontraktion des die Wand des Tränensackes an¬
spannenden Hornerschen Muskels die mechanische Vor¬
bedingung ftir den Übertritt der Tränen aus dem Tränensee in
die Tränenkanälchen beziehungsweise in den Tränensack. 8ind
die Augen geschlossen, wie es ja während des Versuches der
Fall ist, so fehlt der Lidschlag mit allen seinen Folgen, ganz
abgesehen davon, daß auf der kranken Seite infolge der Lähmung
des Hornerschen Muskels der Abfluß der Tränen durch
die Nase eo ipso schon aufgehoben erscheint, wie auch Köster
hervorhebt. Auch während des Schlafes findet ja kein Tränen¬
abfluß durch die Nase statt
Wenn Köster annimmt, daß der Versuch erst dann als
beendet anzusehen ist, wenn die Tränendrüse „ausgepumpt“ ist,
so kann ich ihm hierin nicht beistimmen. Denn einerseits konnte
ich praktisch niemals ein „Versiegen der Tränensekretion“ be¬
obachten; es verringert sich wohl die Absonderung bei längerer
Versuchsdauer, wie ja natürlich; auch mäßige Reizung von der
Nase aus versagt gewöhnlich nach mehr als 1 Vs ständiger
Sekretion, allein der durch das Wechseln des Filtrierpapier¬
streifens hervorgerufene Reiz genügt auch dann noch, um
Trftnenabsonderung hervorzurufen. Andererseits ist auch theo¬
retisch kein Grund einzusehen, warum die Tränendrüse in ver¬
hältnismäßig so kurzer Zeit ausgepumpt werden sollte; ich
erinnere nur an das aus der Physiologie der Speicheldrüse, die
ja in ihrem histologischen Aufbau der Tränendrüse gleicht, be¬
kannte Beispiel der paralytischen Sekretion, bei der durch viele
Tage, sogar Wochen hindurch eine ununterbrochene reichliche
Sekretion auftritt; es berechtigt uns also nichts zu der Annahme,
daß die Tränendrüse nur zu einer kurzdauernden konstanten
Sekretion befähigt ist. Der Wert der erhaltenen Resultate wird
durch den eben besprochenen Umstand sicherlich nicht beein¬
trächtigt, eine Versuchsdauer von 1 bis 1 x / t Stunden voraus¬
gesetzt, die nach meinen Erfahrungen genügt, um eine bestehende
Jahrbücher für Psychiatrie. XL1 Bd. 5
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Aarel Jalcowitz.
Insuffizienz der Drüse manifest werden zu lassen. Und das genügt
wohl, da ja der absolute Wert der Leistungsfähigkeit der
Tränendrüse für alle in Betracht kommenden Fragen irrelevant ist.
Wie aus dem bisher Dargelegten ersichtlich ist, war ich
bei der Versuchsanordnung bemüht, Fehlerquellen soweit als
tunlich auszuschalten; wo das unmöglich war, suchte ich sie
als bekannte Faktoren in die Berechnung einzubeziehen. Ich
stellte deshalb eine Beihe von Versuchen mit den Filtrierpapier¬
streifen an, indem ich eine größere Zahl gleichzeitig und gleich¬
weit mit einem Ende in Wasser tauchte und sie zirka 7 cm der
Flüssigkeit ansaugen ließ; eine gewisse Differenz war ja von
vornherein zu erwarten, da Ungleichmäßigkeiten in der Struktur
sowie bei Anfertigung der Streifen unvermeidlich sind. Es ergab
sich dabei, daß der größte zu beobachtende Unterschied zwischen
den Streifen 1 / i cm betrug; wenn man also den ungünstigsten
Fall annimmt, daß nämlich die Differenz zwischen je zwei
gleichzeitig eingelegten Streifen immer die größtmöglichste ist
und immer zugunsten derselben Seite ausfällt, so muß man die
Zahl der verwendeten Streifenpaare mit 1 / s multiplizieren, um
die Fehlergrenze in Zentimetern zu erhalten. Ich werde bei der
Mitteilung der Resultate meiner Beobachtungen von dieser Be¬
rechnung absehen, da es unwahrscheinlich ist, daß gerade der
ungünstigste Fall eintritt und außerdem bei den beobachteten
Störungen die Differenz fast immer so groß war, daß sie außer¬
halb der Fehlergrenze blieb.
Was schließlich die individuellen und zeitlichen Schwan¬
kungen der Tränensekretion betrifft, so kann ich nur das be¬
stätigen, was die früheren Beobachter berichtet haben. Man
erhält bei verschiedenen Individuen und bei demselben Individuum
zu verschiedenen Zeiten Werte, die zwischen 10 und 50 cm
schwanken können. Daß aber zwischen den beiden normalen
Tränendrüsen eines Menschen zur selben Zeit einigermaßen
beträchtliche Differenzen Vorkommen, glaube ich nicht; die hier
beobachteten Unterschiede waren meistens minimal (unter 1 cm)
und daher leicht von Sekretionsstörungen zu unterscheiden.
Endlich möchte ich bemerken, daß die Streifen sorgfältig
sterilisiert wurden, und zwar durch mehrstündiges Liegen in
trockener Hitze, was auch den Vorteil hat, daß die Saugkraft
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Zur Kenntnis der peripheren Fazialislähmung.
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des Filtrierpapiers dadurch wesentlich gesteigert wird. Die ver¬
wendeten Streifen waren 1 cm breit und 10 cm lang. Vor dem
Gebrauch wurde ein zirka 2 mm langes Stück ungefähr recht¬
winkelig abgebogen, um den Streifen bequem in den Binde¬
hautsack einlegen zu können; dies geschieht am besten in der
Weise, daß man das untere Lid etwas evertiert und das um¬
gebogene Stück einfach darauflegt; es haftet infolge der Feuchtig¬
keit des Lides ziemlich fest und läßt man das Lid in die normale
Lage zurückgleiten, so liegt der Streifen gewöhnlich tadellos.
Ich berichte nun die erhaltenen Resultate:
Das Verhalten der Tränensekretion wurde in 13 Fällen
untersucht; 3 Patienten zweimal; außerdem eine Reihe von
Kontrollfällen. Der besseren Übersichtlichkeit halber gebe ich
die Ergebnisse in Tabellenform wieder.
Nr.
Name, Alter
Tränensekretion
in cm
Ver¬
hältnis
Versuchs-
dauer
in Minuten
Dauer der
Lähmung zur
Zeit der
Unter¬
suchung
gesunde
Seite
ge¬
lähmte
Seite
7.
Otto Ch., 53 J.
54-50
29-50
1 : 0*54
75
8 Monate
9.
Viktor W., 39 J.
25-75
31-25
1 : 1-21
100
2 Wochen
nach 3 Wochen
1475
1625
1:1-10
86
12.
Richard L., 19 J.
24-00
100
1:004
60
2 Wochen
nach 5 Monaten
14-75
7-50
1:051
55
13.
Franz F., 37 J.
8-00
8-75
1:109
70
2 Wochen
15.
Florian D., 52 J.
15-25
14-50
1:0-95
75
3 Wochen
17.
Maria H., 21 J.
31-25
22-75
1 : 0-73
60
2 Monate
18.
Ernestine F., 20 J.
7-00
4-50
1 : 0-64
65
2 Wochen
nach 2 Wochen
14-25
17-75
1:1-24
70
19.
Viktor W., 58 J.
23-00
29-75
1:129
65
2 Monate
20.
Adalbert J., 36 J.
1500
7-50
1:050
65
3 Monate
22.
Josef L., 60 J.
6-25
5-00
1:0-80
70
2 Monate
24.
Karoline G., 23 J.
9-50
11-50
1:1-21
60
3 Jahre
25.
Vinzenz H ., 27 J.
11-75
11-75
1:100
60
2 Tage
26.
Resi J., 24 J.
68-50
62-75
1:0-92
90
5 Tage
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Aurel Jalcowitz.
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Um ein Bild von dem Gang der Untersuchung zu geben,
lasse ich eines der Versuchsprotokolle folgen:
5. Juli 1919. Periphere rechtsseitige Fazialislähmung.
Um 10 Uhr 20 Min. Einlegen der ersten Streifen. Beiderseits lebhafte,
annähernd gleichmäßige Sekretion. Nach 4 Min. Wechsel der Streifen. An¬
fänglich gleiche Sekretion beiderseits, dann deutliches Zurückbleiben der
rechten Seite. Nach 4 Min. Wechsel. Kein auffallender Unterschied. Nach
4 Min. Wechsel. Deutliches Zurückbleiben rechts. Nach 4 Min. Wechsel.
Erst jetzt beginnt die anfänglich sehr lebhafte Sekretion etwas geringer zu
werden; Zurückbleiben rechts wie vorher. Nach 8 Min. Wechsel. Anfangs
Zurückbleiben links, dann einige Minuten gleichmäßige Sekretion, schließlich
deutliches Überwiegen der linken Seite. Nach 10 Min. Wechsel. Sehr schwache
Sekretion beiderseits, daher Beizung der N&senschleimhaut mit einer Sonde;
die Reaktion ist so heftig, daß aus dem rechten Auge 3 Tränen über
die Schläfe ablaufen; daher werden zu dem Streifen noch l l l 2 em addiert.
Nach 10 Min. Wechsel. Annähernd gleichmäßige Sekretion. Auf Reizung
von der Nase nur leichte Steigerung mit geringem Zurückbleiben der linken
Seite. Nach 6 Min. Wechsel. Schwache Sekretion, die auch auf leichte
Reizung von der Nase nicht erheblich vermehrt wird; deutliches Zurück¬
bleiben rechts. Nach 10 Min. Schluß.
Rechts
Links
I.
Streifenpaar
4-50 cm
5*50 cm
II.
3-00 „
4 25 „
III.
3-00 .
3-50 .
IV.
•i
2-00 „
3-25 .
V.
r»
125 ,
3-00 „
VL
r>
2-25 ,
3 75 „
VII.
3 00 „
4-00 .
VIII.
2-00 .
175 .
IX.
r.
1 75 .
2 25 .
22*75 cm
31-25 cm
Wir ersehen aus der Tabelle, daß von den 13 unter¬
suchten Fällen 7, also mehr als die Hälfte deut¬
liche Störungen der Tränenabsonderung zeigen,
und zwar die überwiegende Mehrzahl, nämlich 5 im Sinne einer
Hyposekretion (7, 12, 17, 18, 20), 2 im Sinne einer Hyper¬
sekretion (9, 19).
Bei geringem absoluten Wert der Tränensekretion fallen
die Differenzen leicht in den Bereich der Fehlergrenze, während
die Verhältniszahl auf eine Störung schließen läßt. Aus diesem
Grunde betrachte ich also z. B. Fall 9 mit dem Verhältnis 1: 1*21
als Hypersekretion, während ich 18. — II. (1:1*24) wegen des
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Original fro-rn
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Zur Kenntnis der peripheren Fazialislähmung.
69
an der unteren Grenze der Norm stehenden absoluten Wertes als
normal ansehe, ganz abgesehen davon, daß hier die Umkehrung
einer anfänglichen Herabsetzung in eine spätere Steigerung der
Sekretion von vornherein ziemlich unwahrscheinlich ist.
Die übrigen 6 Fälle müssen als normal angesehen werden.
Allerdings zeigen 2 davon (13, 22) einen so auffallend ge¬
ringen absoluten Wert, daß man an eine isolierte peri¬
phere Störung der Tränensekretion auch auf
der gesunden Seite denken könnte. (Siehe oben, Abschnitt
Ätiologie.)
Von den 3 zweimal untersuchten Fällen kehrten zwei (9,18)
zur Norm zurück, einer (12) zeigte eine deutliche Besserung der
anfangs bestehenden vollkommenen Tränenlosigkeit
Bei den untersuchten Eontrollfällen betrug die größte
auftretende Differenz 2 cm. Die absoluten Werte bewegten sich
bei einstündiger Versuchsdauer zwischen 17 und 52 cm.
B. Speichelsekretion. Diese untersuchte ich in
folgender Weise: Bei weit geöffnetem Munde und emporgehobener
Zunge wurden die Ausführungsgänge der Submaxillardrüsen
mit einem Reflektor beleuchtet und unter ständiger Trocken¬
haltung des Mundhöhlenbodens mittels Wattebausches das
Hervorquellen der Speicheltropfen aus den Carunculae beob¬
achtet. In den auf diese Weise untersuchten 9 Fällen konnte
ich einen auch nur einigermaßen bemerkens¬
werten Unterschied nie feststellen.
Ein Patient gab an, daß beim Liegen auf der gesunden
Seite die andere Mundhälfte austrockne, beim Liegen auf der
kranken Seite oder in aufrechter Stellung nicht; aber auch hier
war objektiv trotz wiederholter sorgfältigster Untersuchung kein
Unterschied zu beobachten.
C. Schweißsekretion. Zur Untersuchung der Schwei߬
sekretion wurde den Patienten je nach Alter und Konstitution
0*005 bis 0*01 g Pilocarpin, muriat. unter die Bauchhaut injiziert;
die nach einigen Minuten auftretende heftige Sekretion konnte
dann sehr deutlich beobachtet werden. Kam nach 8 bis 10 Mi¬
nuten kein Schweißausbruch, so wurde noch einmal V* c 9 Pilo¬
karpin gegeben, worauf die gewünschte Wirkung immer eintrat.
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70
Aurel Jalcowitz.
Die Resultate dieser Untersuchungen stehen in Gegensatz
zu den von Köster 1 ) beobachteten häufigen und deutlichen
Störungen der Schweißsekretion.
In den von mir untersuchten 19 Fällen konnte ich kein
einziges Mal einen nennenswerten Unterschied in der beider¬
seitigen Schweißsekretion feststellen. Um insbesondere den Be¬
ginn des Schweißausbruches zu beobachten, suchte ich durch
Streichen über Stirn, Schläfen, Wangen, Nasenrücken usw. zu
ermitteln, ob die eine Seite dem Gefühl der Hand früher oder
stärker feucht erschien als die andere; um Täuschungen durch
Voreingenommenheit nach Möglichkeit auszuschalten, ersuchte
ich alle Herren der Abteilung um Unterstützung; wie gering
und zweifelhaft die in Frage kommenden Differenzen waren, er¬
gibt sich daraus, daß wiederholt der eine Beobachter die eine
Seite des Patienten für die etwas stärker sezernierende hielt,
der zweite Beobachter die andere. Ebenso minimal waren auch
manchmal beobachtete Unterschiede in der Tröpfchenbildung,
wie sie Köster so deutlich beschreibt. Es kommt beispiels¬
weise wohl vor, daß auf der Oberlippe rechts etwas früher
größere Tröpfchen auftreten als links, aber die Unterschiede
sind wie gesagt nur ganz gering und undeutlich; übrigens konnte
ich dasselbe auch bei den untersuchten normalen Kontrollfallen
sehen. Nach meinen Beobachtungen und im Vergleich mit den
so deutlichen Schweißdifferenzen bei Sympathikusaffektionen
muß ich eine Störung der Schweißsekretion bei
peripherer Fazialislähmung ablehnen.
D. Um eventuell vorhandene vasomotorische Stö¬
rungen aufzudecken, untersuchte ich Farbe, Temperatur und
Dermographismus der beiden Gesichtshälften und beobachtete
das Verhalten nach Bestreichen mit Senföl. Auch hier war eine
Störung nicht mit Sicherheit nachzuweisen.
Schließlich möchte ich auch an dieser Stelle meinem hoch¬
verehrten Chef, Herrn Prof. Dr. J. P. K a rp 1 u s, meinen auf¬
richtigsten Dank für seine stete, liebenswürdigste Hilfe aussprechen.
') Loc. cit.
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Beitrag zum Studium des Verlaufes einiger
Bahnen des Zentralnervensystems des Cyno-
cephalus papias.
Von Prof« 6. Minguzinl,
ord. Professor der Neuropathologie an der Kgl. Universität Rom.
Mit 14 Abbildungen im Text.
Wiewohl ich die Literatur einer genauen Durchsicht unter¬
worfen habe, ist es mir nicht gelungen, bisher irgend eine
die Chronologie der Myelinisierung der im Zentralnervensystem
der Affen verlaufenden Bahnen betreffende Arbeit zu finden.
Die Ursache hiervon liegt, meines Erachtens, in der Schwierig¬
keit, in den Besitz des Materials und besonders der frischen
Föten und Neugeborenen von Affen zu kommen.
Die Nachforschung also, ob die verschiedenen Fasernsysteme
der Zerebrospinalachse sich in derselben Zeitfolge wie beim
Menschen mit Mark umhüllen oder ob eventuelle Abänderungen
vorliegen, ist eine Frage, die sehr langsam und sehr schwer
von den Neurologen gelöst werden wird.
Die Bedeutung dieser Studien kann sicher keinem der
Pfleger der biologischen Wissenschaften entgehen. In der Tat
genügt es nicht, Beit Darwin, auf Grund der makroskopischen
Morphologie beziehungsweise der Homologie der Teile, die un¬
zweifelhafte Verwandtschaft behauptet zu haben, die den Men¬
schen mit den anderen Primaten verbindet. Diese Lehre bedarf
weiterer Stützen, und dies um so mehr, da die verwandtschaft¬
liche Beziehung unter den verschiedenen Tierarten nichts weniger
als aufgeklärt ist.
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giti
Ci.MiöjcaJSjiiu.
Da sieb »*.t non Gelegenheit geboten batte, vondem hiesigen
zoologische« Garten einen drei Woeben alten Uynooepbalus papia*
zu orbalten, m kube ich as «er MUbe wert gehalten, lückenlose
Serienschnitte rbo der Zerebrospinalachse dieses Tieres, vorn
mittelsten Ende dos Konus bis zum Lohns praefrontnii* <ein-
begrdfoui anzixlegftu, die uaeh Weigert-PaJ oder Pa! und
Fuchsin gefärbt worden sind. leb führe liier vor allem das
Resultat des Studiums der einzelnen Schnitte an.
I>ie Schnitte durch die Sakndwurzeln weisen eine voll¬
ständige Myelisietujig der entsprechenden Fasern auf.
F'ig. 1. Qiicrscluitti des- Lenäenniarkes »in Niveau i-eme*-distalen TeU.-s.
ftiM yon.*ttmUg- mafcfcluät-urn).- pii«-.; j>jrrJiöiii5:it;li«liV*U< rsi^Vr'lit«; jof'poigpjj-rts
■-* .* ' Am Hjt'r Ij.jw 4 wiw** •• *.C-'-V' :
U'-e*
Ai!«n gemöMi*^«» Äi*irheii\ ‘‘j,
fmi F*«eifiUu> si.ijwc.-rebtdf'ini.' dorssiV* CFJerh sigsebe* .Bündel-:
{ul Ihrem idenstdu-m-trar.gbßhii; \> Pvraahdtm.
In dea «n\ Riveaii ilo« «»4' -HÜStler*» (Fig. 2V fieU^ä
dtes LenilwitnirkK* . maa Zönt dar keiP
: {Madigen'F^»idtfiasetiewittaftj?k«Im. tut tum Teil myclitmierh umV iw
erweisen «ich bajiouciw* *U nr«ti'k»m die in d«r iSSlka def Murkpe» jjtWrie
gelegenen FesHrnf.die ßw»r»..dieser. Zen« ist auf die .ianswie Peripherie de»
Seiten-dnmges geituUt: die Sjiifcieliegt dicht int ■ Mittelpunkt des öinterborti*..
: 1 - In den' it» der ß*5}>p <3«* ö.häreh Teiles dt» I<eU,doBiüÄrke* ;_Fig. ftf
engeivjfte« SelittfUßn deknt tn«ii die eheti hesührieheuj; 2ohe gtwa« «ttty
indem -sie .iedoch immer die vorwiegend keilförmige Beitatf beiht-iiSlt.
SJlz&Jk
Fjgv 2 . tjttecaehriit* &p* J^todeuroark»^: ;^i|vö*U se'ioeV mutteren. Teilet;
Die tftä&fÄftAtjg'’xfar Mxr\i(it**tti b<är>.atö v in
6 s*i* ÜH& r*iÜL*.t , • : ‘;WÄ' .in derf vbiä^ftmid? *jir
■ ■•■■ V •'’ ••:■ ' ’ .-••. v ; -' ' • Äeitö{l^träU^i i vJ^ , ' , ‘"- :'•/-• 'V-V.-:- ';.V!-''l -V^ ••*"
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I» Niveau »l«*. d»*tal8« Eü)3»j d^i Brus<t.ro»rk>*A fX-ILr—Xl.
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der Area der p^eji'wiÄ«»*»i»eo««<^|#|p Pwerhfte&el «rßwtop.
welche« der Lage nach dem Fascicuüns spinocereiiellam dorsfllf? entspricht.
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tftfc Pymnlir ; i äl wlto Yii tlwi $cb^it(rfa,Afct
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h»:bv Imsjfcgtf? *"i />;©$•«! nab**'ft .*}« *'<■; •. avr Fi&ur pin** $iei cJ»4c h J i £ * n DMi-
mir nnc« n*%Uv. '^tUyUr l^:ö rrfc.f asa fti 3*me«m ':* •■
reichere M.Rrxr*.W»i «fa tu «Up n.Di^ric^i^u^ öi; V: trugen, P^r a» * pVftöjeei*tbciliLr«
•3<cr<salis nimmt ü*> Yifcff!€'Vt^aeiirani^«eein, ist sehr sarr *im.-
»preciupna x*fa+? Aottnivu "teilt** un4 vitMrvUi $teh .\liis$i ’%*$ .r*.i»ttr«J*r/.
• {n ^«rtebuUieji de» im Niveau Civt DL und der VIII.
Bniätwurssel, v.«rfgr (f i$r, 4) sieb &p My*Hiaumfmlltnig d^r Pyraraidenseiteu-
straaghaim wie in Am- voriiergefe'i;Wck4- &e&«.iit«n; der Fkftciculus spino*
•Streb&lam i«Uig?£tm »ic? J*z% mch der stifte ejitsprsefre&d,
immer iX^rkM iyL werden, sp daß r?* im d^ Ylt'hi^ Yl, Brastwumi,
*0 der g&nxea ^rlpfcrio t^ri; föjf& ^u^erdem 'ifcftdrtS&t .«*&» me-
dirtfr Banä $nt& wi> ^sSk^tk bi^M^lreidbts* und .ffiilftf
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Vbh *W V. 8m*hviu*zeJ an, pr»>xinvülwärU wird dbr Fasedculus
j^inpc<urfeJ>cilÄri0 -.(Fi^.; ^J.vnfcW nur irqmer starker and emförmiger,
sondern uebui *kh auch i^rner m«br auf der Penpfierie des SeitenetrMges
4ns| de? #$rjkf£li Atitfkbütt&g dkr Pyr^mideriBeileYifitraagbalxai die von
öeuem g|i Jfekckjfe tk$jhvU eimimmt, >nteprethemk
Studien des Verlaufes einiger Bahnen des Zentralnervensystems. 75
Das Bild des Querschnittes weist dieselben Eigentümlichkeiten auf,
bis zum Niveau des II, Brostsegmentes (Fig.6) t in welchem der Fasciculus
spinocerebellaris in seinem dorsalen Ende, in jenem nämlich, da» den Apex
cornu posterius berührt, bedeutend an Stärke zunimmt. Im Niveau dieser
Schnitte erkennt man, viel besser als in den vorhergehenden, daß das in
unvollkommener Weise myelinisierende Areal der Pyramideriseitenstraug-
bakuen sich in den 9cbon früher myelinisierenden Seitenstraug eindringt,
die Formen eines unregelmäßigen, mit der Basis lateral und der Spitze
medial gerichteten Keiles aanebmend. Dieser Fortsatz erinnert in Form
und Lage an den Fasciculus rubrospinalia.
Fig, 5, Querschnitt des Brustmarkes im Niveau der III. Wurzel.
Die Fyramidenaeitenstrangbabn besitzt eine größere Ausdehnung: als in den vorigen Schnitten,
ist spärlich mjelinißicrt, besonders in seinen lateralen drei Vierteln In dieser Figur, wie
io den folgenden bis zur Fig. 8, sieht mau, daß der Apex der Pyramidenseitenstrangbahn
fast vollständig myelimeiert ist. Die innerhalb der Zone zerstreuten M&rkf&aeru sind an
Zahl fast denen in den vorhergehenden Schnitten gleich. Das Gebiet des Fasciouius
spinocerebeüaris doraalia ist, längs der ganzen Peripherie der dorsalen Hälfte des Seiten-
straoges, sehr ausgedehnt und reicht bis zum Apex cornu posteriori».
In der Hohe des unteren und mittleren ventralen Halssegmentes
(nämlich von C. VIEL bis C. III.) sieht man, daß die Myelin enthaltenden
Fasern der Pyramidenseiteustranghabn immer mehr zunebmen und daß der
Fasciculus spinocerebeJlariu dorsalia sich immer mehr in seinem ventralen
Teile verdunnert, indem nur das dorsale Ende dick bleibt, so daß ea die
Gestalt eines Komma anniramt (Fig. 7).
In der Höbe der II. Halswurzei verdünnt (Fig. 8) sich der Fasci¬
culus spinocerebellaris dorsalis immer mehr, indem er immer die ganze
dorsale Hälfte der Peripherie des Seitenstranges bis dicht an das Hinter*
horn einnimmt.
Pig Querschnitt durch da“ HaJsmarfc im Kivptiu der VIJ. Würfel.
.0|« est etwas ßi/sgvftahnter *U in 4er rnr.*ielten«i*tj, Figur. I>« :
: .r^if?u^■'Älji'ooe^yetjiüiiiria dors*n* >sl el«r4$ v^rditnm links, tfem" mmiermi r*fta «ä* :
«preefattii, &!>r v^fiiidln hiü^»n ifl 3Q|.ov«ff Titfta, ^«rtoiiiers r?ofcfc& *i*h*
m*n aitt* dmiifcftV ß*re9Ki'*roug /*«<»*r La#* .•#£«*'.. fuicicuta
roiir.-»s*jHnaU.s *n!s»|<r*:Cti*f)t3), w*loh«#«i» siel» »n die- ren l total «rate Seite ck?.IfertafiiiVieo -
«nfota* *' ^Vr/v 1 , *’^;' * * ;
I» den Front alsehoitten der Qhlpngata, in denen de« Abschnitt dif*
distalen Drittel», das. Kleitjbims anftri-!. erscheine;) die deu vehtraien- 1V.I
da» MedHullirjinäs cetefeeili. bildenden Fasepir etwa« $ j»a ri «eher’. tnv*Ua««5rt.
In. deh Ärtteltey tat' ihre» djstolau ÖKtteis.
ketithrkt » 14 «. |e mebr inap mir dem SeboiM> dent iiisitlWrejr TaUe •'$»-
«ÄtuttiHi, Jttsitilfeh an 'Jiye.Uuwtarunf der Markfasein der
vratra»»tera}c.ß Hilite d.?# BescUtum pc-nlis. in V«gleich zu jener der
doi-sopmlialeu Hälfte, die hingegen mit Hämtoxvlm gut schwarz geif3rT.it cr-
■ : y‘:Sk'Q enl^fjreofeead des disUhspi Jirj4h# der .Döcnsdatid pyraraidaro
#ag«bgfte« t^u^mkaiüet? der Obl&uirata g*«udrrt man, wie die an der
Kreftsutig leteiUgfea Fasern (Fj.g. Sh mit Falschem iiämutoxytih schwach
gcf 5 t’bt *mrt- ’ '-".'S ' .
i; j d«'tuafef. fltau mit den ychuittep |)n*x«maTw'äi# foirtschreitet., um »ö
nein* eiacbeiuon »De FiVfiihu des Yertinuhn Viertel* der beginnendes P*t*-
l. , ■ ri o tri n \ ’ ttiiVAtMu« »U tiuilllt/pilnirt rt In i 'tt kiYt nn f 2 *« I TI iu i) . & kMh <» ( p
mkle viel. Wtfüigfj.r myehtifaleri afg jetio des ßfcrkrftft .Tfci te*
Atelir proximai^Sft^ tetjerkt mwt, dufr «ich ttfc der
tttW«i^«L86fii mehr ftüM&'hüt, mit ttea TontroJaierftfcan
Winkels, ^
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Fig. 7. ,%ic-r«chrtiM ’d'ordb' Hftl?*uark im N'ivewi ,]er YX Wunsei.
i>i* fcatUill w-pai«* MftT«.f.».serj», Muk? {«< «i»etWa« au^wafcsitte
»!? rtahtt &« jeui • ay i/inceiv-bfcüar is cfigr. »icfc in s*iu««tu
.lortAUiv Kßile v?r<U»rif^ ; %äui » Or'vftM rerdiMM ii*h in ?ein»'•»:*. -^>r = a? -x f.'Klt-,
sicfi in >«iü, H«a mytUKtoitflia Ct^WtftA «fa* ‘^^tinr, eui-
VtZDftati fi-»n FÄhCicuiu* spmofer^ltoihtrtb vtiiiUTih*.
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F/p. 8. y.«e.r*cbüitt iliircU '•&&£ Ha!sTo*rk iin Niveart <3%Austritte
,1er B. Wurtüi.
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' W.<*»tha-ttta sptf tfjjäfch* j^rfc-maam. eh'ui 4tf.ttr a^ymia<ft»Aäcir
it*r^r *in*c!*JiT>ütig ihr" venintltfr *HirßÄ »fit Mi* tfp'^g^laiftßig- O^r. Ft»8*.*i©uJue
jjfcfnjq^erBb*»MttrÜ9- d«>r*atH ist er. s>-»ci*Tm dorMen £ji d« verditkV irAlirend e» io 'Aem V**n traten
triebt 2Um V^rdlckiru £»i^t.
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* • Orjgir.al fraan .
UNIVERSFTY OF*MFCHIG/
fi. Miriga£zixii
ficheiöt. Seht* fpSrKcfr iind auch -my^urierfei ■ fpüptii} tlfct '$&fraixfen
Fa^rti des Stratum yttperfkiale ( dßt Fifarn&Jö wie shi;di jsiie
mßht m&littffitt \mä der ßüimf} der Pyrariiideöltalineti I)iwai
Tröacbe ist : \rm $o;.uui^n$*dwiii.!t?h'i<r tFi'frU) t je wehr mat. *u b de/-» m §jßg
malen Drittel "der * Brückt* ifläSkft*
►Vt4#V
m$ ö. tytiersclittift der Obiimg^ia im .Niveau &ör IVcu^atic pyramidum.
-
^fArVfä^Ö, UU ftw Üet ,<#$*•*
Iß den Querfelmiitiyi dpt jtftixjiinklet) Kneift der Brücke 12?
und ut dwi- an der (ibergäng».*.?«!!*' devsSdhen wm Mi , üeiü , wp}f*loö> ftn-
gfik^tcu 5V6stlsj*cünü*.«ri .trjäii-jiie.; rie« tniMjecaß 4^Wtej ’&*« frt
peduBCuli rolistanilig myeimVsVetf, wniirend da» piediaie $ecü- te) in toto und'
tjat» laterfrb» ss«m Tt-jl fast gar keajiö Markiasern teötÜB^W.- . V' '
In den auf dw Hi'be des proximalem Drittel» des Per'i:i*t|r, lä|. ab¬
gelegten Schnitten siebt man. daß sicly inuner xriidfr die Patern d«r«}»ß»r*
iten. 25cm*.\n des f*ea mit Myelin umhüllen, *■} daß im Jffieau dmr durch den
d&tuleh Teil des 'Calamus angelegten Schnitte vauidi dies« 1 . Tä) 1 de«s tVs
tu4 yf>M‘ständig royetftiiVfert ist.
Go gle
/‘v ’
F i<>. 1Ö. QuerscbniU der- Oblong» H.'.<> Xiv-?*» <U-r Deeu^alift lemnisci.
Maß Sieht /ifiAifra*iU ui 'üftü Pyriiia «^?>&• * r,;ohtr*»>t tliekft sjRime!r»Acti %*r
t-Utt', wyV;lrjio*e Faioru
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Front alaelHiiti Brücke
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Stiidiecr des T“i*laul'«6'einiger ßalmea dev Zentralnervensystems, 79
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TäiiwrSfr|finea^ Her iwuartit Rrijjjfcbi ■UHtfaUbgien ‘Froutol&eltaiiten eitert mau
| o.'iUiCjhe l 'xttrr) '.)>-m ir]h^ 'jgß uiY-diGi^ierl. Hi* MreKftiaieräntf
Markfa^erti tlfe,Ä fifc ' froü^-#}ja)ri^kb^ '"dfi..ediai^,■ «aWJ* iJi£ dto It^boiuv;
park-taiü f«p«.-ciosK $& fa^i voliMätvti^r röhrend dt> de* || ff>>iiirii fcnd
der - Scil^VecWilitlungeti *el*r -pariidi id.
ln ilfsA dareh UriHjbirtilii^i^itbAreiü-. ifrt- •Xivea.w «ter vwlewü
Teiles der Spifz.e ttea iSeS \ ä(eulappe# s i4*e l> erten «leht Mao,
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Studjetnles. Verlaufe« einiger ß^faaeii.ite» ÄBittralaervensvat^tns
ilaö e&sntiidbc Fasern 4e$ hinteren Segmente* der inneren K«p*el g*tif
myeUnmert sind. Mehr proximalwärts hingegen, nämlich «auf dm Höhe,
Genu ckpaulae, er^beinen die da« ventrale Fünftel der inneren Kapsel aeübst
bildenden Fwrn rum grüßen Teil myelinarm. Die komplette and Voll¬
kommene SlyeHniaienmg de? Ci, irontoparietiili« medialis und de* froh-
talis wiirfcnms, die in diese Schnitte fallen, bildet einen Oegeh*aU mit äm
fast mrwigeUud^h Myel&uueruxig der Markfasern des SchläfenJappens (be-
aiekmigHwetee 4#r S'pit*ej.. : --^V* V ; v
Fig. 14; Ventrale HÜJfte eine* Frontal&cUinUe* durch die Großhirn*
heniiaphivreri im Niveau des Öenu c«p$u.lae int.
Das r^umite Kiiöf>>l ipH) der &«*?*«• ^ap**i *rsehtMUt nur wU¥reii«TO>*)iu{*iVt
In demdareh die^ Öroßhirnhfemiapb&ren im Niveau des Caput nuclei
eaudatt j^fährten 'FractafoehuiUe bemerkt man* daß ä*3 ventrale Fünftel-
der ijmereb .'$&p«ei fast 'VfAUt&ndig. faserk's i*h /■ . :
I»*s*hihe bemerkt mau \n einem dem Vn^derende 4^ß» corporis
call oui entsp rechend hu^^flihpten ■ Schnitte. (Fig* 14), wo die Markfaseni
ip&riicbor myeUnbSert; sind wie auch in vier Weißen Subet/ma des G. cor*
pom eallofsi, in- ämmi M&rkpyramide ;tn?v wenige and. «e'Heae radiere
j?*&em ni^imfcmh&lU urfefheinen. —r Myellnjoaifkeit bemüht m&n
in den Fasen* de* Gvi**>ntaii.* iaterali» und der Gjt.! rttfaeioru; iw diesen
erscheinen nur radiSreu .Fasern wenig ptW nicht sind
eb hingegen die Fä*en^, die d«^ tü{ra- und #nprjti$ä!Um Spfi&
bilden 'Soltie^v^ In keibet Windung bemerkt man 4te.
tangentialen Fasern*. :
für cüiMtr >*. XLI. BU ß
ÜNIVERSfWbM
82
6. Mingazzini.
In dem im Bereich des proximalen Teiles des Okzipitallappens aas¬
geführten Frontalschnitte der Großhirnhemisphären sieht man, daß die
Markpyramiden des Komplexes der temporookzipitalen Windungen spärlich
myelinisiert sind. Gut myelinisiert sind die Fasern des Fascioulas longi-
tndinalis inferior, nicht vollständig die Radiationes opticae and beinahe gar
nicht die des Tapetum.
Im allgemeinen, in Windungen, in welchen die weiße Substanz nur
spärliche Markfasern aufwies, waren die tangentialen und die das infra-
und supraradiäre Netz bildenden Netzfasern die Systeme, in denen der
Myelinisiernngsvorgang noch nicht stattgefunden hatte; nur ein geringer Teil
der sogenannten Windungsmarkpyramiden (nämlich der Strahlen) war vom
Mark bekleidet.
Epikrise: Die Ergebnisse der vorstehenden Beobachtungen
versetzen mich in die Lage, wie ich anfangs hervorhoh, zu
erörtern, welchen der Verlauf und welche die Grenzen einiger
Bahnen, besonders der gekreuzten Via cerebrocerebellaris media,
des Fasciculus cerebellospinalis dorsalis und der Pyramiden¬
seitenstrangbahn sind.
Wir haben gesehen, daß der ventrale Teil des Meditullium
cerebelli nicht vollständig und daß die Markpyramiden des
frontalen Operkulums, der Schläfenwindungen und eines Teiles
des Hinterhauptlappens bildenden Nervenfasern sehr spärlich
myelinisiert waren. Ferner waren die Nervenfasern des ventralen
Fünftels des vorderen Segmentes der inneren Kapsel und des inneren
Kapselknies beinahe gar nicht mit Myelin umhüllt. Das gleiche
beobachtete man bei den die äußersten Zonen des Pes bilden¬
den Fasern. Der Mangel an Myelinisierung — und dies verdient
besonders hervorgehoben zu werden — wurde in diesen beiden
Zonen immer deutlicher und ausgedehnter, je mehr man distal-
wärts fortschritt. Die Markfasern der mehr medialen und einiger
der dorsolateralen Bündelchen der Pyramidenbahnen der Brücke
waren ebenfalls zum Teil myelinlos, wie auch die mehr ventralen
Bündelchen der Fasern des Stratum superficiale der Fibrae
transversae. Im Brachium pontis waren die dorsolateralen Fasern
und im Meditullium der Kleinhirnhemisphäre die ventralen
Fasern spärlich myelinisiert.
Nun weiß man aber, daß nicht nur beim Menschen, son¬
dern auch beim Affen die das Großhirn und beziehungsweise
einige Windungen des Lobus praefrontalis mit dem Kleinhirn
der entgegengesetzten Seite verbindenden Bahnen (gekreuzte
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Stadien des Verlaufes einiger Bahnen des Zentralnervensystems. 83
frontozerebellare Fasern) den ventralsten Teil des vorderen
Segmentes der inneren Kapsel, dann das mediale Fünftel
des Pes, sodann die medialen Bündelchen des Pons und einen
Teil der Fibrae transversae durchziehen. Beim Überschreiten
der Linea mediana scheint es sicher, daß sie längs der ventralen
Fasern des kontrolateralen Stratum superficiale und längs des
ventrolateralen Teiles des Brachium pontis der entgegengesetzten
Seite des Kleinhirns ziehen. Ebenso ist bekannt, daß die von
einigen Windungen (T v T a ) des Lobus temporal» und vielleicht
auch des Okzipitallappens kommenden Fasern beim Vorüberziehen
längs des lateralen Sechstels des Pes und dann längs der dorsolate-
ralen Bündelchen der Brückenpyramidenbahn sich um die Zellen
der grauen Substanz der Brücke verzweigen, indem sie sich in
der Baphe, durch Vermittlung derselben kreuzen und zum
Kleinhirn der entgegengesetzten Seite ziehen (Zerebropontozere-
bellarbahnen der Via cerebrocerebellaris media cruciata). Obwohl
auch längs der gleichen Bahn Fasern verlaufen, die, dem Kleinhirn
der einen Seite entspringend und sich in der Brücke kreuzend,
dann längs der äußersten Zonen des Pes, zum Thalamus und viel¬
leicht auch zur Binde der entgegengesetzten Seite ziehen (gekreuzte
zerebellopontozerebrale Bahnen), so besteht doch kein Zweifel,
daß man es in diesem Falle mit einer unvollständigen Myelini¬
sierung nicht der zerebellopontozerebralen Bahnen, sondern der
gekreuzten zerebropontozerebellaren Bahnen zu tun hat. In der
Tat war hier die Spärlichkeit der Myelinisierung des äußersten
Fünftels des Pes um so deutlicher, je mehr man von den pro¬
ximalen Schnitten nach den distalen Teilen vorschritt. Dieses
verträgt sich wohl mit dem Begriffe, daß die Myelinisierung der
Neuronen der gekreuzten Via cerebrocerebellaris media vom Gro߬
hirn beginnend, noch nicht den distalen Teil der entsprechenden
Fasern dieser Bahnen erreicht hatte. Außerdem beschränkte sich
der Teil der nicht myelinisierten Fibrae transversae pontis auf die
ventralen Fasern des Stratum superficiale und auf die ventrolaterale
Zone des Brachium pontis, nämlich gerade auf die, welche den
von mir an Hunden angestellten experimentellen Forschungen
nach (Abtragung des Groß- und Kleinhirns der entgegengesetzten
Seiten), zu den zerebropontozerebellaren Fasern gehören. Hieraus
schließt man, daß die zerebropontozerebellaren Bahnen sich
6 *
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84
G. Mingazzini.
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später als die im entgegengesetzten Sinne verlaufenden (das
heißt vom Oerebellum ausgehenden) mit Mark bekleiden; und
dies stimmt mit dem überein, was beim Menschen stattfindet.
Endlich sei noch erwähnt, daß der verschiedene Grad, wie
die drei okzipital sagittalen Schichten myelinisiert waren (spär¬
lich die Tapetumfasern, besser die Radiationes opticae, gänzlich
der Fasciculus longitudinalis inferior) dem entspricht, was ich
schon in meinen Untersuchungen über die Chronologie der Mye-
linisation dieser Bahnen im menschlichen Neugeborenen beob¬
achtete.
Ein anderes Bündel, dessen Eigentümlichkeiten zu unter¬
suchen mir gelungen ist, ist der Fasciculus spinocerebellaris dorsalis
insofern als er bereits myelinisiert, von der noch nicht myelini-
sierten Pyramydenseitenstrangbahn differenziert werden konnte.
Das Verhalten dieses Bündels beim Cynocephalus durch Kri¬
terien zu erklären, die der embryologischen Methode entnommen
sind, ist um so wichtiger, da bisher der Verlauf, die Form und
die Größe des in Bede stehenden Bündels beim Affen nur von
zweiAutoren — Sherrington und Mott — beschrieben worden
waren, Autoren, die aber sich ausschließlich des Studiums der
der Hemisektion des Rückenmarkes folgenden (aufsteigenden)
Degeneration des Bündels bedient hatten. Bekanntlich nimmt
der Fasciculus spinocerebellaris dorsalis beim Menschen von
unten nach oben zu, nämlicji je mehr man sich dem Encephalon
nähert. Dies steht im Einklänge mit der Tatsache, daß die
aufsteigende Degeneration des Bündels infolge von Querläsionen
abnimmt, je mehr man dem Gehirn zu fortschreitet. Aus den
Ergebnissen meiner Beobachtungen ist nun zu folgern, daß auch
beim Cynocephalus die Größe dieses Bündels vom Lenden- bis
zum Halsmark nicht nur zunimmt, sondern auch die absolute
Ausdehnung des Bündels, besonders im dorsalsten Teil des Brust¬
markes und in fast dem ganzen Halsabschnitte eine größere
ist als beim Menschen. Die Ursache dieses Faserreichtums des
Bündels beim Cynocephalus ist schwer zu erklären, da wir über
die Funktionen des Bündels selbst keine sicheren Angaben be¬
sitzen.
Viele Autoren sind außerdem der Meinung, daß dieses in
Rede stehende Bündel beim Menschen im Lenden- und auch
Gck igle
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Stadien des Verlaufes einiger Bahnen des Zentralnervensystems. 85
Sakralmarke durch zerstreute, der Pyramidenseitenstrangbahn
peripher anliegende Fasern dargestellt werde und daß es nur
yon der X. Brustwurzel an ein kompaktes Bündel bilde. Als
Beweis hierzu wird ein Fall Schnitzes angeführt, in welchem
infolge einer Fraktur des IX. Brustwirbels und die daher das
X. Brustsegment betraf, der Fasciculus spinocerebellaris dorsalis
über der Läsion degeneriert war und außerdem führte man an,
daß man ih einem Falle von Läsion des XI. Brustsegmentes, das
von Gowers untersucht worden, keine Degeneration wahrnahm.
Ziehen aber hebt logisch hervor, daß eine Läsion des IX. Brust¬
wirbels dem XDL und nicht dem X. Brustsegment entspricht und
fügt hinzu, daß andererseits der Fall Gowers wenig beweisend
ist, insofern als das entsprechende Mark nicht nach der Marchi-
schen Methode untersucht worden war, um so mehr, als das in Frage
stehende Bündel den Degenerationsprozessen gegenüber sehr
widerstandsfähig ist Barbacci hingegen stellte in einem Falle
von Läsion, die dem XII. Brustwirbel und folglich der Lenden¬
anschwellung entsprach, schon von diesem Punkte an eine deut¬
liche aufsteigende Degeneration der Kleinhirnseitenstrangbahn
fest. Die Meinung Ziehens findet eine Stütze auch im Ver¬
halten dieses Bündels beim Cynocephalus. In der Tat habe ich
in der Beschreibung der Bückenmarkschnitte hervorgehoben, daß
das in Frage stehende Bündel, wie jener Verfasser behauptet,
innerhalb der Grenzen zwischen Lenden- und Brustmark beginnt.
Gerade den beiden letzten (XII. und XL) Brustsegmenten ent¬
sprechend, war das Bündel durch einen sehr zarten, aber deut¬
lichen Faserstreifen dargestellt, der den (dorsalen) Rand des
Seitenstranges einnahm. Dies läßt auch verstehen, wie eine
eventuelle so umschriebene Degeneration nur mittels der Mar elfi¬
schen Methode hervorgehoben werden könnte.
Ebenso hat man beim Menschen bemerkt, daß die (mediale)
Grenze zwischen dem Fasciculus spinocerebellaris dorsalis und
der PyramidenBeitenstrangbahn nicht immer deutlich genug ist,
denn wenigstens in fast dem ganzen Brustmark dringen einige
Pyramidenfasern in die Zone der Kleinhirnseitenstrangbahn ein.
Beim Cynocephalus deutet das Verhalten des medialen Bandes
der Kleinhirnseitenstrangbahn im Niveau des mittleren und un¬
teren Brustsegmentes an, daß hier wie auch beim Menschen, Fasern
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86
G. Mingazzini.
des obgenannten Bündels in die Zone der Pyramidenseitenstrang-
bahn eindringen, obwohl man in Wirklichkeit auch annehmen
könnte, daß es Fasern der Pyramidenseitenstrangbahn seien,
die in die Zone des Flechsigschen Bündels ziehen. Jedenfalls
habe ich beim Cynocephalus längs des Halsmarkes keine Aus¬
läufer der Pyramidenseitenstrangbahn gegen die Peripherie
dringen sehen, um das in Frage stehende Bündel in zwei Bündel-
chen zu teilen, wie dies beim Menschen (nach Ziehen) ge¬
schieht.
Eine andere Eigentümlichkeit der Kleinhirnseitenstrangbahn
des Menschen betrifft die Veränderungen, die sie auf ihrem Ver¬
laufe in der Ausdehnung und in der Gestalt erleidet. Wie in
der Tat die entwicklungsgeschichtlichen Befunde lehren, umfaßt
das in Frage stehende Bündel im unteren und mittleren Brust¬
marke die ganze dorsale Hälfte der Peripherie, indem es aber
nur im oberen Brustmarke den Apex comu posterioris erreicht:
im Niveau des H. Nervus cervicalis wird es jedoch wieder (wenn
auch nicht immer) vorübergehend vom Apex cornu posterioris
entfernt, und zwar infolge der Ausdehnung der Pyramiden-
seitenstrangbahn bis an der Peripherie, die hier, nach Flech¬
sig, das 4., 5. und auch das 6. Siebentel der Peripherie des Seiten¬
stranges bildet (indem man als erstes Sechstel das mehr ven¬
trale betrachtet). Beim Cynocephalus treten diese Veränderungen
nicht ein, da das in Bede stehende Bündel auf seinem ganzen
Verlaufe stets bis zum Apex des hinteren Homes reicht
Im unteren Zervikalsegmente des Menschen bemerkt man
auch, wie das dorsale Ende des Bündels (vgl. Ziehen loc. cit,
Fig. 84) in der Nähe des Apex cornu posterioris dicker wird,
jedoch nicht so, daß es die Verdickung des ventralen Endes
erreicht. Beim Cynocephalus ist die dorsale Verdickung des
Bündels deutlicher im oberen Zervikalsegmente, die ventrale
(beim Menschen bedeutendere) fehlt, wenigstens dem Anscheine
nach. Ich sage „dem Anscheine nach“, denn, wenn (ventral-
wärts) die Basis der Pyramidenseitenstrangbahn weniger aus¬
gedehnt ist als der Fasciculus spinocerebellaris dorsalis, so ver¬
steht man leicht, wie die erwähnte Ausdehnung des Fasciculus
spinocerebello dorsalis, falls sie besteht, nicht leicht vom Best der
schon myelinisierten Seitenstrangfasem zu unterscheiden sei.
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Go^ 'gle
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Studien des Verlaufes einiger Bahnen des Zentralnervensystems. 87
Man begreift also, daß es mir auch nicht gelungen ist zu be¬
stimmen, ob beim Cynocephalus die Myelinisierung des Go wer s-
schen Bändels nach der des Fasciculus spinocerebellaris dorsalis
wie beim Menschen stattfindet, denn hier waren beide myelini-
siert. Jedenfalls kann man behaupten, daß gegen Ende der dritten
(extrauterinen) Woche diese beiden Bündel (wie beim Menschen)
vollständig myelinisiert waren.
Schließlich wird beim Cynocephalus der zuerst im Niveau
des XII. Brustwurzelmarkes als ein zarter Streifen, an der Hälfte
ungefähr der dorsalen Peripherie des Seitenstranges beginnende
Fasciculus spinocerebellaris dorsalis nach und nach im Niveau
des mittleren Teiles des Brustmarkes in seiner dorsalen Hälfte
dicker und dann mehr proximalwärts, auch in seiner ventralen
Hälfte, so daß er in diesem Niveau eine relativ und absolut
ausgedehntere Area als beim Menschen erreicht. Ein Blick
auf die Abbildungen der Schnitte des Brust- und Halsmarkes
genügt, zu beweisen (Fig. 6, 7, 8), daß zwischen den Bündeln
der beiden Seiten fast beständig eine Asymmetrie besteht.
Von nicht geringer Bedeutung sind die durch das Studium
der Myelinisierung der Pyramidenbahnen im Rückenmark erzielten
Ergebnisse. Die Tatsache, daß beim Menschen einige Fasern der
Zone der Pyramidenseitenstrangbahn sich früher als die anderen
mit Mark bekleiden, nämlich im Laufe des 9. Monates (Bechterew),
hat die Vermutung aufsteigen lassen, daß wahrscheinlich Fasern
anderer Systeme sich in der Zone der erwähnten Fasern vor¬
finden. Nach Bechterew hänge dies von der Anwesenheit eines
„Zwischensystems“ (oder des Fasciculus intermediolateralis von
Löwenthal) ab, das, im Kleinhirn entstehend und die Bahn
des unteren Kleinhimstieles einschlagend, sich an die Pyrainiden-
babnen anlehnen soll. Auch Marchi fand bei der Exstirpation einer
Kleinhirnhemisphäre bei Hunden und bei Affen eine ausgedehnte
Degeneration der Nervenfasern der Vorderstränge, die sich
dorsalwärts keilförmig ausdehnte und in die Zone der Pyramiden¬
seitenstrangbahnen drang. Zu dem gleichen Ergebnisse gelangte
Biedl (bei den Katzen). Nun um den Ursprung dieses zweiten
Systems der in der Pyramidenseitenstrangbahn enthaltenen
Fasern zu deuten, habe ich damals auf Grund zahlreicher patho¬
logisch-anatomischer Forschungen beim Menschen behauptet,
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88
G. Ming&zzini.
daß die von mir „ endopy ramidale u genannten Faserbündel, die sich
vom medialen Bündel der Fasciculi circumpyramidales ablösen,
gerade Fibrae arciformes internae (restiformo-pyramidales) seien,
die, wie bekannt, vom Corpus restiforme (Kleinhirn) ausgehend,
nach ihrer Kreuzung in der Baphe im proximalen Gebiete der
Pyramide auseinandergehend sich verlieren. Mit den entsprechenden
Pyramidenfasern, die sich dann kreuzen, herabsteigend, verlaufen
sie also zuletzt in der Pyramidenseitenstrangbahn (des Rücken¬
markes) homolateral der Kleinhirnhälfte, der sie entspringen.
Andere hingegen, wie Kamsin, glauben, daß die im
Gebiete der Pyramidenseitenstrangbahn verlaufenden Fasern,
welche vor dem 9. Monat zur Entwicklung gelangen, dem Pyra¬
midensystem angehören und nehmen folglich an, daß die Myelini¬
sierung der Pyramidenbahnen in zwei Zeitabschnitten stattfinde.
Diesen Autoren fällt es jedoch schwer zu erklären, warum die
Degeneration der Pyramidenseitenstrangbahn, besonders wenn
sie von Herden der Großhirnrinde abhängt, einen Teil der ent¬
sprechenden Fasern verschont, was verständlicher ist, wenn man
annimmt, daß Fasern zweier verschiedener Systeme sich an der
Bildung dieser Bahn selbst beteiligen.
Die erste Ansicht wird durch den Befund beim Cyno-
cephalus bekräftigt, bei dem wir gesehen haben, daß die Myelini¬
sierung der kortikospinalen (Pyramiden-) Bahnen von dem Pyra¬
midengebiete der inneren Kapsel an bis zum proximalen Teile
der Pyramidenschnitte vollständig war und daß von dieser Stelle
an nach unten, je mehr man sich der Decussatio pyramidum
nähert, die Markfasern begonnen spärlich zu werden. Diese
Spärlichkeit setzte sich stets deutlicher im RUckenmarke fort,
längs des Gebietes der Pyramidenseitenstrangbahn, bis zur Sakral¬
gegend. Wenn nun das Gebiet dieser letzten Bahn von der
Pyramide abwärts vollständig faserarm gewesen wäre, hätte man
annehmen können, daß die Myelinisierung eines einzigen Faser¬
systems (corticoepinalis) der Pyramidenbahn im Großhirn auf
ihrem absteigenden Verlaufe aufgehört habe. Hier ist es an¬
gebracht hervorzuheben, daß gerade dadurch, daß die Myelini¬
sierung der kortikospinalen Bahn einer sehr langen Bahn lang¬
sam von oben nach unten vor sich geht, man einen Zeitabschnitt
wahrnehmen kann, in welchem ein Teil (der proximale) myeli-
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Studien des Verlaufes einiger Bahnen des Zentralnervensystems. 80
nisiert ist, der andere (der distale) hingegen nicht. Dejerine
hebt diesen Nachteil der entwicklungsgeschichtlichen Methode
hervor (auf der Chronologie der Myelinisierung fußend), wenn es
sich darum handelt, ein Cerebralmarkbündel seiner ganzen Länge
nach zu individualisieren. Im Falle des Cynocephalus aber war
der Stillstand der Myelinisierung der Pyramidenbahn von der
Pyramide an längs des Rückenmarkes nicht ein vollständiger,
sondern nur ein teilweiser. Diesbezüglich kann man zwei An¬
nahmen im Sinne der oben erwähnten zwei Theorien aufstellen,
nämlich: entweder die markarmen Fasern der Pyramidenseiten¬
strangbahn gehören dem kortikospinalen System an, dessen My¬
elinisierung wie dies beim Menschen der Fall ist, sich nicht ver¬
vollständigt hat und in diesem Falle würden die myelinisierten
Fasern in dem Gebiete der in Rede stehenden Bahn einem an¬
deren System, wahrscheinlich dem restiformopyramidalen, an¬
gehören; oder die myelinisierten Fasern gehörten (von der Gro߬
hirnrinde bis zum Rückenmark) alle der Pyramidenseitenstrang¬
bahn an, so daß die zweite Faserkomponente dieser Bahnen
die nicht myelinisierte wäre. Von den beiden Annahmen nun
erscheint die erstere die wahrscheinlichere, da sie mit der
Tatsache im Einklänge steht, daß das Corpus restiforme, die
Fibrae arciformes intemae und die Fibrae endopyramidales voll¬
ständig myelinisiert waren. Folglich ist es logisch anzunehmen,
daß beim Cynocephalus wie auch höchstwahrscheinlich beim Men¬
schen das Gebiet der Pyramidenseitenstrangbahn wenigstens
zwei Ordnungen von Fasern enthält (Fibrae corticospinales und
Fibrae cerebellares descendentes).
Nach Flechsig überschreiten die Pyramidenseitenstrang¬
bahnen des Rückenmarkes eine Frontallinie, die man durch den
dorsalen Rand der Commiss. grisea posterior gehend annimmt.
Ziehen glaubt, daß das (Quer)Gebiet der Pyramidenseiten¬
strangbahn mehr ventralwärts gelangen kann, ohne jedoch jemals
den dorsalen Rand der Commiss. anterior (alba) zu überschreiten;
aus meinen Präparaten ergeht, das dieser letzte Satz auch auf
den Cynocephalus anwendbar ist.
Andere Eigentümlichkeiten, die sich auf die Lage der
Pyramidenseitenstrangbahn im Rückenmark beziehen, dürfen
hier nicht übergangen werden. Bekanntlich wechselt dieselbe
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90
G. Mingazzini.
beim Menschen bedeutend an Ausdehnung in den verschiedenen
Höhen des Rückenmarkes. Im Niveau des 1. Halsnerven geht
der Querschnitt bis zur Peripherie. Im Niveau des 2. bis 3. Hals¬
nerven reicht gewöhnlich das Gebiet des Bündels bis zur Peri¬
pherie des Rückenmarkes und lateralwärts vom Apex cornu
posterius; was beim Cynocephalus nicht geschieht In der eigent¬
lichen Halsanschwellung im Menschen aber berührt gewöhnlich
die Pyramidenseitenstrangbahn nicht die Peripherie des Rücken¬
markes oder höchstens berührt es dieselben dem Übergangs¬
punkte vom mittleren zum dorsalen Drittel der Peripherie des
Seitenstranges entsprechend; und oben gelangt -es häufig bis
zum Cornu posterius. Diese letzte Eigentümlichkeit stellt man
beim Cynocephalus nicht fest.
Nach Ziehen stellt sich in einigen Fällen die Ausdehnung
des Gebietes der Pyramidenseitenstrangbahn an der Übergangs¬
stelle vom unteren Halsmarke zum oberen Brustmark beim
Menschen sehr plötzlich ein, was ich beim Cynocephalus nicht
wahrgenommen habe. Bei diesem Tiere nimmt außerdem, die
in Rede stehende Bahn im Niveau des unteren Brustmarkes
die Form eines gleichseitigen Dreieckes an: eine Eigentümlichkeit,
die man beim Menschen nicht antrifft.
Von den 1. Lumbalwurzeln ab ruht der ganze laterale
Rand der Pyramidenseitenstrangbahn beim Menschen auf der
Peripherie des Rückenmarkes und anstatt der Form eines Keiles
nimmt sie die eines rechtwinkeligen Dreieckes an, dessen Basis
auf der Peripherie des Seitenstranges ruht. Mit dieser Form¬
veränderung der Schnittoberfläche dieses Bündels findet allmählich
eine Abnahme der Arealausdehnung statt, denn gewöhnlich ist
sie in der Höhe des Ursprunges der 3. bis 4. Sakralwurzeln
gänzlich verschwunden. Keinen Unterschied bemerkt man von
diesem Gesichtspunkte aus im Verhalten der Pyramidenseiten¬
strangbahn beim Cynocephalus und beim Menschen. Endlich ist
die Asymmetrie dieser Bahn nicht zu übergehen, die ausnahms¬
weise beim Menschen vorhanden, in den verschiedenen Schnitten
unseres Exemplares von Cynocephalus dagegen ziemlich aus¬
geprägt war (vgl. Fig. 7 und 8), jedoch entsprach die Zone, in
welcher die Asymmetrie am deutlichsten war, fast immer der vom
Fasciculus rubrospinalis eingenommenen (Fig. 6—8\
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Studien des Verlaufes einiger Bahnen des Zentralnervensystems. 91
Mit der schwebenden Frage über die Pyramidenseitenstrang¬
bahn verknüpft sich die über die vordere Pyramidenbahn. Wenn
diese beim Cynocephalus bestände, so wäre bei der Pyramiden¬
seitenstrangbahn seine Myelinisierung nicht geschehen. Hingegen
war die Zone des ganzen Vorderstranges in den gesamten Quer¬
schnitten des Rückenmarkes des Cynocephalus vollständig mye-
linisiert, was seine Abwesenheit beim Cynocephalus wie übrigens
bei fast allen Affen beweist Ich sage „bei fast allen“, denn
Melius fand bei einem Makakus, bei dem er ein Stück Gehirn¬
rinde entsprechend dem motorischen Zentrum der großen Zehe
exstirpiert hatte, einige degenerierte Fasern auch im Vorder¬
strange. Ferner ist die Beobachtung von Karplus wichtig, der
in einem Affenfötus die Anwesenheit eines vorderen Pyramiden¬
bündels, das man bis zum oberen Brustmark verfolgen konnte,
wahmehmen konnte. Daß es sich aber hier um ein seltenes
Ereignis handelt, entnimmt man der Tatsache, daß derselbe
Verfasser in dem Rückenmarke dreier Makaken, bei denen er
die motorische Zone der Rinde exstirpiert hatte, eine schwere
Degeneration der Pyramidenseitenstrangbahn der entgegen¬
gesetzten Seite, nicht aber des Vorderstranges vorfand.
Der Zweck, auf welchen die vorliegende Veröffentlichung
zielte, war nicht so sehr (wie ich dies anfangs erwähnte), einen Bei¬
trag zum Studium der Chronologie der Myelinisierung einiger zen¬
traler Leitungsbahnen des Cynocephalus papias zu liefern, als die
unzweifelhafte Homologie, auch von diesem Gesichtspunkte aus
zwischen der Morphologie des menschlichen Nervensystems und
der anderen Primaten hervorzuheben. Wir haben gesehen, daß
mit Ausnahme weniger leichter Veränderungen in der Gestalt und
in der Ausdehnung sich der Fasciculus spinocerebellaris dorsalis
in gleicher Weise beim Cynocephalus wie beim Menschen ver¬
hält; und daß wie bei letzterem sich die Pyramidenseitenstrang-
babn später myelinisiert als die anderen Rückenmarkbahnen und
wenigstens zwei Fasersysteme, ein kortikospinales (Pyramiden)
und ein Kleinhirnfasersystem enthält Ebenso myelinisiert sich
beim Cynocephalus wie beim Menschen, die zerebellopontozere-
brale Bahn der mittleren Kleinhimbahn früher als die zerebro-
pontozerebellare und die Myelinisierung der GG. temporooccipi-
tales und frontolaterales geht später als beim Menschen vor sich
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92
G. Mingazzini.
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als auch in der Rolandischen Zone. Denen, die Ton Zeit zu
Zeit versuchen, die Stützen der Evolutionslehre zu erschüttern,
mögen die Ergebnisse der vorliegenden Forschungen zum Nach¬
denken aneifern.
Literatur.
Biedl: Absteigende Kleinhirnbahnen. Neurolog. Zentralbl., 1895, Nr. 10,
S. 483.
K&rplns: Variabilität und Vererbung am Zentralnervensystem, 2. Aufl.,
Deuticke 1921.
Kamsin: Moskau, 1894.
Löwenthal: Pflügers Archiv, Bd. 31, S. 350.
March i-Sull* origine e il decorso dei pedunc. cerebell. etc., Firense 1891.
Marchi e Algeri-Sulla degener&zione discendente consecutiva etc.
Riv. sper. di Fren. Reggio Emilia, 1886, p. 88.
Melius: Proc. of the R. S., 1894. Vgl. auch Tschermack, Archiv f.
Anat. u. Physiol., 1898, Anat. Abt., S. 835.
Mingazzini: Osservaz. anat. intorno al corpo call. — Ricerche nel
Labor. Anat. di Roma, 1897, v. VI.
Rothmann: Über die Degeneration der Pyramidenbahnen usw. Neurolog.
Zentralbl., 1896, S. 496.
Schäfer: Neurolog. Zentralbl., 1883, S. 824.
Sherrington: Brit. med. Joura., 1890, 4. Jan.
Ziehen: Nervensystem, 1. bis 8. Abteilung, Jena 1899.
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Aus der Abteilung für Nervenkranke an der Wiener allgemeinen Poliklinik.
(Anläßlich des 50jährigen Bestandes der Poliklinik.)
Über organische Veränderungen des Zentral¬
nervensystems als Spätfolge eines Traumas
(nebst Bemerkungen aber deren Verhältnis zu fnnk-
tionellen Störungen).
Von Prof. Dr. J. P. Karplns.
Am 9. Oktober 1918 erschien auf der Nervenabteilung
der Poliklinik ein 26jähriger Bankbeamter mit der Klage über
Ermüdbarkeit seiner Beine, Gefühlsstörung im linken Bein,
Zittern des Kopfes. Er führte diese Störungen auf eine im
Jänner 1915 erlittene Granatkontusion mit Verschüttung zurück.
Die ambulatorische Untersuchung des Patienten ergab:
Kräftig gebautes, gut genährtes Individuum. Beim Blick nach
links eine Andeutung von Nystagmus, sonst an den Hirnnerven
normaler Befund; auch der Augenhintergrund ist normal. Leichter
Intentionstremor des Kopfes und der oberen Extremitäten. Sprache
etwas verlangsamt. Die Bauchdeckenreflexe fehlen beiderseits. An
den unteren Extremitäten ist kein grober Ausfall der motorischen
Kraft nachzuweisen. Die tiefen Reflexe sind aber rechts deutlich
lebhafter als links. An der linken unteren Extremität besteht
eine geringe Hypästhesie für alle Qualitäten, die sich mit Aus¬
sparung des Genitales am Rumpf bis Nabelhöhe hinaufzieht. Auf
die Frage nach Blasenstörungen gibt Patient an, daß er beim Uri¬
nieren nicht die Empfindung habe wie früher. Lues in Abrede gestellt.
Patient teilte weiter mit, daß er bald nach seiner Ver¬
schüttung nach Wienin dieNervenheilanstaltRosenhügel gekommen
und dort durch mehrere Monate behandelt worden sei, auch ein
zweites Mal habe er sich dort durch 14 Tage aufgehalten. Der
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94
Dr. J. P. Karplus.
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Direktor der Anstalt, Dozent Dr. v. Sölder, hatte die Freund¬
lichkeit, mir die beiden Vormerkblätter zu überlassen; den Be¬
fund hatte er selbst aufgenommen.
Erster Aufenthalt in der Nervenheilanstalt vom
10. Februar 1915 bis 28. J u n i 1915: Es ist vermerkt, daß Patient
angeblich am 9. Jänner bei einer Granatexplosion eine halbe Stunde be¬
wußtlos gewesen sei. Keine äußere Verletzung, sofort Bahntransport nach
Wien, Ohrensausen, Schwäche in den Beinen. Seit dem Unfälle lag Patient
im Bette, stets als bettlägerig behandelt. Derzeit gelegentliche Kopf¬
schmerzen, Zucken in den Gliedern. Von der objektiven Untersuchung ist
hervorgehoben, daß die Hirnnerven frei sind, der Schädel leicht perkns-
sionsempfindlich ist; Puls im Liegen 73, Herz ohne Befund. Die Patellar-
reflexe sind beiderseits gesteigert, die Kieferreflexe lebhaft. Der Kranke
wurde mit faradiscben Zweizellenbädern für beide Füße behandelt, nahm
in 4 Monaten 9 kg zu und wurde am 28. Juni 1915 geheilt entlassen.
Diagnose: Dysbasie (Granatkontusionsneurose).
Zweiter Aufenthalt in der Nervenheilanstalt vom
30. September 1915 bis 11. Oktober 1915: Ende Juni nach seiner
Entlassung aus der Nervenheilanstalt kam Patient in die Rekonvaleszenten¬
station in Theresienstadt, dort verschlechterte sich sein Zustand (Kopf¬
schmerzen, Zittern, Erregbarkeit), er wurde deshalb in das Gamisonsspital
geschickt, wo er Brom bekam. Am 4. September zum Kader, von dort
ins Spital. Derzeit Kopfschmerzen, Reißen in den Muskeln, Zittern bei
Aufregung. Die objektive Untersuchung ergab prompt reagierende Pupillen,
auch sonst normales Verhalten der Hirnnerven, leichtes Kopfzittern, die PSß.
gesteigert, die ASR. normal, die Hautreflexe normal 1 ), Herz und
Lunge ohne Befund, Perkussion des Schädels in Scheitelhöhe wird als
empfindlich angegeben. Da Patient 9 Monate in verschiedenen Spitalern
ohne nachhaltigen Erfolg behandelt worden war, erschien eine weitere
Anstaltsbehandlung zwecklos und Patient wurde zur Superarbitrierung be¬
antragt. Diagnose: Neurasthenie.
Patient stellte sich nun im Februar 1921 über meine Auf¬
forderung wieder auf der Abteilung vor und ergänzte seine
Krankengeschichte. Er war bis zum Kriegsausbruch ein trainierter
Sportsmann gewesen (er zeigt tatsächlich auch jetzt noch eine
prachtvoll ausgebildete Muskulatur). Er versichert auf das be¬
stimmteste, daß er sich bis zur Granatexplosion vollkommen
wohl gefühlt hat. Er war bei der Mobilisierung eingerückt und
gleich an die Front gekommen. Er habe viele Strapazen, eine
Reihe von Schlachten mitgemacht, aber alles gut vertragen. Am
9. Jänner 1915 befand er sich gerade in seinem Unterstand, da
*) Von mir gesperrt gedruckt.
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UMIVER5ITY OF MICHIGAN.
Über organische Veränderungen des Zentralnervensystems. 95
hörte er auf einmal einen furchtbaren Krach und wurde be¬
wußtlos. Als er zu 6ich kam, befand er sich schon an der
Bahnstation und wurde am nächsten Tag nach Wien transportiert.
Er kam zunächst auf die chirurgische Abteilung Clairmont,
hatte damals Schmerzen in der Wirbelsäule und in den Gliedern,
auch Kopfschmerzen. Wenn er ruhig im Bett lag, traten bald
da, bald dort Muskelzuckungen auf, bei jedem Gehversuch aber
sei ein arges Zittern losgegangen. In diesem Zustand kam er
zu Dr. v. Sold er (erster Aufenthalt). Er sei damals zunächst
ganz unfähig gewesen zu gehen, im Laufe der Behandlung ging
er mit zwei, dann mit einem Stock, schließlich ohne Stock, er sei
geheilt entlassen worden, kam zunächst in ein Rekonvaleszenten¬
heim, fühlte sich dort aber schlechter, kam dann zum zweiten
Male zu Dr. v. Sölder, hier wurde ihm eine gute Prognose
gestellt, man sagte ihm, er würde ganz gesund werden (was ja
auch mit dem damals erhobenen Befund übereinstimmt). Er
wurde darauf zu leichtem Dienst tauglich befunden, dann auf
ein Jahr superarbitriert, neuerlich dienstfähig erklärt, so verging
die Zeit bis zum Zusammenbruch, ohne daß er ein zweites Mal
an die Front gekommen wäre. Die schwere Gangstörung, die
anfangs bestand, ist niemehr aufgetreten, hingegen trat in den
ersten Jahren nach der Verschüttung eine gewisse Ermüdbarkeit
stärker hervor. Gleich nach seiner Verschüttung habe er nicht
gut sprechen können. Die Sprache habe sich wohl sehr gebessert,
doch meint er auf Befragen, daß er jetzt doch nicht so gut
spreche wie in gesunden Tagen. Die Gefühlsstörung im linken
Bein habe er erst 1918, einige Monate vor der ersten Konsultation
auf der Poliklinik, wahrgenommen. Darin sei seither seines
Wissens keine Veränderung aufgetreten. Die Störung des Gefühles
beim Urinlassen, die, wie er glaubt, um dieselbe Zeit aufgetreten
sei wie die Gefühlsstörung im Bein, habe sich aber allmählich
wieder verloren. Er habe keinerlei Schmerzen, die Ermüdbarkeit
der Beine und das Zittern des Kopfes seien unverändert, über¬
haupt habe sein Zustand, soweit er es beurteilen
könne,*in den letzten Jahren keine Veränderung
erfahren. Es sei ihm nach dem Zusammenbruch anfangs
eine Invalidenrente zuerkannt worden, doch beziehe er sie schon
lange nicht mehr, da er als Bankbeamter sein genügendes Aus-
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Dr. J. P. Karplus.
kommen habe. Der objektive Befund ist im Februar
1921 derselbe wie im Oktober 1918. Der Augenhinter¬
grund ist auch jetzt ganz normal, die Andeutung von Nystagmus
beim Blick nach links ist auch jetzt vorhanden, leichter Inten-
tionstremor des Kopfes und der oberen Extremitäten, die Bauch¬
deckenreflexe fehlen beiderseits vollkommen, P8R. und ASB, sind
rechts etwas lebhafter als links, kein Babinski, auch die leichte
Hypästhesie der linken unteren Extremität ist noch nachweisbar und
reicht wieder mit Aussparung des Genitales ungefähr bis Nabelhöhe.
Zusammenfassung: Ein kräftiger Mann von blühender
Gesundheit, erleidet im Alter von 23 Jahren durch eine Granat¬
explosion eine Verschüttung. Schon wenige Wochen später ist
er in fachmännischer Beobachtung. Es wird der typische Befund
einer Zittemeurose erhoben, der bis dahin bettlägerige Patient
wird geheilt, das heißt er kann wieder normal gehen, seine
Nervosität bleibt aber bestehen. Acht Monate nach der Ver¬
schüttung wird der Kranke neuerlich von demselben Fachmann
begutachtet, er bietet auch jetzt keine Zeichen organischer Er¬
krankung, insbesondere auch normale Hautreflexe und wird als
Neurastheniker begutachtet. Die auffallenden anfänglichen Er¬
scheinungen (Dysbasie) kehren nicht wieder, doch macht sich
allmählich eine Zunahme der Ermüdbarkeit geltend, eine leichte
Sensibilitätsstörung tritt auf. 3'/ 2 Jahre nach der Verschüttung
besteht eine Andeutung von Nystagmus, eine erkennbare Sprach-
verlangsamung, ein leichter Intentionstremor des Kopfes und
der oberen Extremitäten. Die tiefen Reflexe sind an der rechten
unteren Extremität lebhafter als an der linken, eine leichte
Sensibilitätsstörung ist am linken Bein und an der linken unteren
Rumpfhälfte nachzuweisen. Die Bauchdeckenreflexe fehlen beider¬
seits vollkommen. 6 Jahre nach der Verschüttung ist der objektive
Befund und das subjektive Befinden des Patienten unverändert
so wie es 8 1 /* Jahre nach der Verschüttung war.
Wir können also feststellen, daß beim Patienten im Jahre
1918 und ebenso 1921 zweifellos eine organische Erkrankung
des Zentralnervensystems bestand, daß diese Erkrankung aber
im Jahre 1915 bei wiederholter fachmännischer Beobachtung nicht
nachweisbar war. Abgesehen von der zunehmenden Ermüdbarkeit
der Beine und den erst später aufgetretenen Sensibilitätsstörungen
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Über organische Veränderungen des Zentralnervensystems. 97
ist in dieser Beziehung insbesondere das Fehlen der Reflexdifferenzen
an den unteren Extremitäten und das normale Verhalten der
Hautreflexe im Jahre 1915 charakteristisch. Also klinisch
zunächst Neurose, dann organische Erkrankung.
Diese Beobachtung scheint mir nach zwei Richtungen unser
Interesse zu verdienen, und zwar 1. wegen des Auftretens einer
fortschreitenden organischen Erkrankung des Zentralnervensystems
nach einem Trauma und 2. wegen des Verhältnisses der organischen
Störung zu der funktionellen.
Die Frage nach den Beziehungen zwischen Trauma und
chronischen organischenRiickenmarkserkrankungenhatNeurologen
und Pathologen oft und eingehend beschäftigt, ohne daß man
bisher zu abschließenden Ergebnissen gekommen wäre.
Mit Recht wird immer wieder auf Versuche von Schmaus (14)
(1890) hingewiesen, der durch Experimente an Kaninchen die Frage zu
lösen versuchte, wie sich die direkt zerstörende Wirkung des Traumas auf
die spezifischen Elemente des Nervensystems entwickelt. Er unterscheidet
eine Gruppe von Störungen, bei denen es nicht primär zur Nekrose der
Fasern komme, vielmehr diese Fasern nur „ermüdet" würden, eine Er¬
müdung, die nachträglich in den Tod übergehen könne. Das seien die
Fälle mit allmählichem Beginn und positivem anatomischen Befund.
Schmaus weist auf die Vermutungen früherer Autoren hin, wie Fälle
von Commotio spinal is, die nicht unmittelbar tödlich sind, sondern nach¬
träglich zu einer tödlichen spinalen Erkrankung führen, zu erklären seien.
Leyden hatte auch in solchen Fällen eine primäre Verletzung des
Rückenmarkes angenommen, Obersteiner (10) aber eine reine Com¬
motio (primär nur molekulare Veränderungen). Schmaus meint, daß
seine Versuche mehr im Sinne Obersteiners sprechen.
Erb (2) berichtete 1897 über 2 Fälle von chronischer Poliomyelitis
anterior nach Trauma. Es ist nach ihm wahrscheinlich, daß nach Er¬
schütterungen des Zentralnervensystems, die anscheinend keine schwere
traumatische Läsion desselben (keine Blutung, Kontusion, Quetschung oder
dergleichen) gesetzt haben, „sich früher oder später noch erhebliche
chronisch-progressive Läsionen entwickeln können, die ganz den Charakter
der sonstigen chronischen progressiven spontan oder unter der Einwirkung
von toxischen, infektiösen und anderen Schädlichkeiten entstandenen
organischen Erkrankungen haben tf .
Kirchgässer (6) hat 1897 und 1898 mit verfeinerten Unter¬
suchungsmethoden (Marchi, Nißl) die Befunde von Schmaus im wesent¬
lichen bestätigt.
Hartmann (8) hat 1900 den traumatischen Rückenmarkserkran¬
kungen eine eingehendere klinische und pathologisch-anatomische Unter¬
suchung gewidmet. Er meint, daß bei einer Gruppe von Erkrankungen
Jahrbücher für Psychiatrie. XL1. Bd. 7
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Dr. J. P. Karplus.
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(Poliomyelitis anterior chronica, Sklerose, Gliose, Sklerogliose und Syringo¬
myelie) ein Trauma den Anstoß zur Entwicklung einer chronischen Rücken¬
markserkrankung in späterer Folge geben kann.
In den folgenden Jahren häuften sich die einschlägigen Mitteilungen
und Mendel (8) hat 1908 neben einem Bericht über seine eigenen reichen
Erfahrungen das bis dahin vorliegende Material zusammengefaßt. Er nimmt
an, daß in seltenen Fällen ein bis dahin vollständig gesunder Mensch
durch ein Trauma eine Apoplexie, Meningitis, Myelitis, Epilepsie erwerben
kann, ohne zu diesen Krankheiten disponiert zu sein. Hingegen rechnet er
zu den Krankheiten, bei denen das Trauma nicht direkt verursachend, sondern
nur auslösend wirken kann, progressive Paralyse, Hirntumor, Tabes, multiple
Sklerose, Syringomyelie, amyotrophische Lateralsklerose, progressive Muskel¬
atrophie, Dystrophia musculorum progressiv^, Paralysis agitans, Basedow.
Schnitze (15) erstattete 1909 auf der Jahresversammlung deutscher
Nervenärzte das Referat über chronisch-organische Hirn- und Rücken¬
marksaffektionen nach Trauma. Er hebt hervor, daß mechanische Traumen,
besonders Kommotionen, solche feine Veränderungen im Nervensystem her-
vorrufen können, die „sehr wohl auch zu progressiven klinischen und ana¬
tomischen Störungen nach einem Inkubationsstadium führen könnten 11 . Als
sichergestellt erscheint es ihm, daß multiple Entzündungsherde mit Er¬
weichungen und mit frühzeitigem Achsenzylinderverlust durch solche
Traumen hervorgerufen werden können. Die Möglichkeit der Progression
der primär gesetzten Veränderungen unter dem Einflüsse „noch unbekannter
Faktoren“ hält er für gegeben. Welche diese Faktoren sein könnten, be¬
spricht er. „Man wird daran denken können, daß einmal übermäßige An¬
strengungen einzelner Neurone schädigend einwirken können, ferner aber
auch, daß bei manchen irgend welche Intoxikationen, wie Alkoholismus
oder zunehmende Gefäß Veränderung sklerotischer oder sonstiger Art,
anämische Zustände usw. einen degenerierenden Einfluß auf die durch das
Trauma minderwertig gewordenen Teile ausüben.“
Nonne (9) berichtete gleichfalls 1909 über seine Erfahrungen.
Unter 3700 Fällen von Kopf- und Rückenmarksverletzung traten als Folge
12 mal organische Hirn- und Rückenmarkserkrankungen auf. In allen
diesen 12 Fällen waren gewisse Bedingungen erfüllt: Patient war vorher
nicht nachweislich krank, das Trauma war ein adäquates, die Lokalisation
des Traumas hatte eine Beziehung zur Entwicklung der Symptome, war
„richtunggebend“, die Zeit zwischen Verletzung und erstem Auftreten der
Symptome war eine adäquate, andere Ursachen waren nicht nachweisbar.
Trotzdem kann nicht in allen diesen Fällen der ätiologische Zusammen¬
hang als einwandfrei bewiesen gelten. Der Autor teilt zwei weitere Fälle
mit anatomischem Befund mit, eine Tabes und eine Syringomyelie.
Das nächste Jahrzehnt brachte wohl zahlreiche Kasuistik, aber keinen
tieferen Einblick in das Verständnis des Zustandekommens dieser Erkran¬
kung. Erst die Untersuchungen von Joannovics(4) scheinen einen
Fortschritt zu bedeuten (1920). Bei der Sektion von Soldaten, die Kopf¬
schüsse erlitten hatten, fand der Autor mehrere Monate, ja jahrelang nach
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Über organische Veränderungen des Zentralnervensystems. 99
der Verletzung multiple, zum Teil ausgedehnte Erweichungsherde, nicht
allein in der nächsten Umgebung der Schußverletzung, sondern weit davon
entfernt. Diese Fälle schienen schwer erklärbar. Es könnte sein, dachte der
Autor, daß durch Resorption von zertrümmertem Hirngewebe im Organismus
Substanzen gebildet werden, welche zytotoxisch oder fermentativ abbauend
auf lädiertes Hirngewebe schädigend einwirken; der Wirkung solcher spezi¬
fischer Reaktionsprodukte wären die multiplen Erweichungsherde des Ge¬
hirns zuzuschreiben, die sich auf dem Boden geringfügiger Kommotions-
läsionen entwickeln können. Zur Prüfung dieses Gedankens unternahm er
Versuohe an Ratten. Er beklopfte den Schädel dieser Tiere in Intervallen
von einer Woche mit einer Aneurysmanadel (150 Schläge in 75 Sekunden),
er kombinierte bei einem Teil dieser Tiere die Beklopfung mit einmaliger
oder wiederholter intraperitonealer Injektion einer Emulsion von frischem
Rattengehirn in physiologischer Kochsalzlösung. Die Tiere, bei denen die
wiederholte Beklopfung mit wiederholter Gehirnbreiinjektion kombiniert
war, boten die schwersten nervösen Symptome, gingen am raschesten zu¬
grunde, weniger schwer und rasch erkrankten die Tiere mit einer einmaligen
Injektion von Gehimbrei und die Tiere, welche nur beklopft waren, boten
zunächst die leichtesten Symptome, gingen aber auch schließlich unter Ab¬
magerung zugrunde. Bei den wiederholt injizierten Tieren fanden sich
multiple Erweichungsherde des Gehirns mit absteigenden Degenerationen,
ähnliche Herde bei den einmal injizierten weniger konstant, bei den aus¬
schließlich beklopften nur ausnahmsweise und nur, wenn sie sehr lange
Zeit verhämmert worden waren. In diesen Versnchsergebnissen sieht
Joannovics die Bestätigung der Richtigkeit des Gedankens, der ihn
zu den Versuchen veranlaßt hatte. Jene Elemente des Gehirns, welche in¬
folge ihrer Schädigung durch das Trauma das Substrat zur Bildung ver¬
mehrter Abbauprodukte gegeben haben, sind es auch, die der Wirkung
der von ihnen gebildeten Reaktionskörper unterliegen.
Marburg (7) hat in seinem Referat auf dem letzten Neurologen¬
kongreß (1920) ausgeführt, daß die früher von ihm als herdgleichseitige
Erscheinungen nach Hirnschüssen, als fragliche multiple Sklerose besch riebenen
Fälle, sich durch die von J oannovics nachgewiesenen Veränderungen
erklären ließen. Er nennt diese Veränderungen im Anschluß an Bollingers
Spätapoplexie nicht unpassend traumatische Spätmalazie. Doch
hat Marburg selbst in seinem großen Material anatomisch niemals
gröbere Malazien im Rückenmark nachweisen können, die nicht im direkten
Zusammenhang mit dem Trauma gestanden wären.
C a s s i r e r (1) sprach sich in seinem Referat auf demselben Kongreß
(1920) dahin aus: „Die Beziehungen zwischen Trauma und Rückenmarks¬
erkrankungen sind nach wie vor weniger geklärt. Für die Mehrzahl ist ein
essentieller Zusammenhang nicht anzunehmen, nur für die chronisch fort¬
schreitenden spinalen Muskelatrophien ist die Zahl der Beobachtungen,
die auf einen Zusammenhang im Erbschen Sinne deuten, recht groß. Be¬
merkenswert erscheint, daß trotz der Häufung von Beobachtungen kein
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100
Dr. J. P. Karplas.
einziges Mal der Übergang einer traumatischen Schädigung des Markes in
fortschreitende Syringomyelie festgestellt wurde.“
R ö m h e 1 d (13) hat 1921 auf das nachträgliche Hinsutreten von
Symptomen an den Pupillen bei seiner traumatischen Pseudotabes nach Kopf¬
schuß hingewiesen; er denkt dabei zur Erklärung an minimalste Blutungen
vom Charakter der Spätapoplexie.
Wir haben hervorgehoben, daß bei unserem Patienten
klinisch zunächst die Neurose, dann die organische Erkrankung
bestand. Diese organische Erkrankung mit dem Trauma in
Zusammenhang zu bringen, erscheint gerechtfertigt. Alle von
den verschiedenen Autoren angegebenen Voraussetzungen für
die Annahme eines solchen Zusammenhanges treffen zu. Ja
die Umstände liegen hier diagnostisch besonders günstig da¬
durch, daß einerseits der an der Front erkrankte Mann noch
heute die körperlichen Zeichen bietet, die darauf hinweisen, daß
er tatsächlich ein trainierter Sportsmann war und daß der
Patient andererseits bald nach dem Trauma in fachärztliche
Beobachtung kam. Es bedarf wohl keiner näheren Begründung,
daß hier multiple organische Läsionen vorliegen.
Als ich den Kranken das erstemal sah, dachte ich an eine
multiple Sklerose und meinte, das Trauma hätte hier wie in so
vielen Fällen nur die Bedeutung eines auslösenden oder ver¬
schlechternden Momentes gehabt. Als aber nachträglich sicher¬
gestellt werden konnte, daß in den ersten Monaten nach dem
Trauma die klinischen Zeichen organischer Läsion fehlten und als
dann durch 2 7* Jahre das subjektive Befinden und der objektive
Befund unverändert blieb, ließ ich die Annahme einer multiplen
Sklerose fallen. Mit Rücksicht auf die vorliegenden Erfahrungen
scheint es mir am wahrscheinlichsten, daß als Spätfolge
des Traumas multiple Erweichungen, eine »Spät¬
malazie“, vorliegt, zu deren Verständnis die oben referierten Ver¬
suche von Joannovics immerhin eine Handhabe geben können.
Ein Wort der Besprechung verdient auch das Ver¬
hältnis der organischen zu den funktionellen
Störungen bei unserem Kranken. Mischung organischer und
funktioneller Störungen des Zentralnervensystems ist ja etwas
Alltägliches, und zwar ist die Art dieser Mischung eine sehr
verschiedene. Bald stehen die organischen, bald die funktio¬
neilen Störungen im Vordergründe, bald sind beide auf dieselbe
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UNIVERSITY OF MJCHIGAINL-
Über organische Verinderungen des Zentralnervensystems. 101
Ursache zurtickzufÜhren, bald bereitet die eine nur den Boden
für die andere. Auch Über dieses Zusammenvorkommen gibt es
eine reiche Kriegsliterafrur. Ich habe selbst wiederholt darüber
berichtet (5) und Redlich (12) und ich haben den prga-
nisehen Veränderungen des Zentralnervensystems nach Granat¬
explosionen und ihren Mischformen mit funktionellen Störungen
eine eigene Studie gewidmet. Wir sagten zusammenfassend:
„Wir haben schon an anderer Stelle (Medizinische Klinik 1916)
darauf verwiesen, daß diese Fälle, obwohl dabei oft auch rein
funktionelle Störungen bestanden, nicht geeignet sind, der An¬
nahme einer „ traumatogenen “ Pathogenese der traumatischen
Neurosen Vorschub zu leisten, daß es sich hier vielmehr um zwei
Reihen von Erscheinungen handelt, bei deren Zustandekommen
verschiedenartige Mechanismen im Spiele sind. Wie in anderen
Fällen von Kombination organischer Störungen mit attfge-
pfropften funktionellen Ausfällen, determinieren aber erstefe
gleichsam die Lokalisation der letzteren." Auch auf Pötzls
(11) interessanten Versuch einer näheren Analyse derartiger
Mischformen sei neuerlich hingewiesen. Im vorliegenden Fall
ist die Kombination eine recht ungewöhnliche. Zur Zeit der
vollen Entwicklung der schweren Neurose (Dysbasie) waren die
anatomischen Veränderungen, wie festgestellt ist, klinisch nicht
nachweisbar. Sie waren offenbar erst rudimentär, die nach
einigen Monaten zur&ckbleibende „Restneurose“ aber, die Neur¬
asthenie, ging in die organische Erkrankung über. Man
könnte nun im Einklang mit unserer oben zitierten Auf¬
fassung auch hier zwei Reihen von Schäden mit
verschiedenen Mechanismen annehmen. Die Dys¬
basie wäre die Folge der „psychischen Erschütterung“ des
Patienten, und dem entsprechend wurde sie auch auf rein
psychischem Wege in den ersten Monaten in der Nervenheil¬
anstalt restlos geheilt und kam nicht wieder. Der zweite
Schaden, den Patient erlitten hat, wären die anatomischen Ver¬
änderungen des Zentralnervensystems, die nachweislich während
der ersten Jahre nach der Verschüttung progredient waren.
Dabei muß unentschieden bleiben, ein wie großer Teil der
Neurasthenie des Patienten von vornherein nichts anderes war
als der Ausdruck der materiellen Störungen des Nervensystems.
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Original from
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102
Dr. J. P. Karplus.
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Immerhin wäre auch eine etwas andere Auffassung
möglich. Es könnte sein, daß die Verschüttung auch für
die Dysbasie nicht nur als psychisches Trauma in Betracht
kommt. Vor dem Eintritt der Bewußtlosigkeit kann es zur
psychischen Erschütterung des Patienten wohl kaum gekommen
sein, dazu fehlte die Zeit; sie kann erst nach dem Erwachen
aus der Bewußtlosigkeit eingesetzt haben. Wohl aber hat auch
eine gewaltige „physische Erschütterung“ des ganzen Zentral¬
nervensystems nicht gefehlt, wie ja die sich entwickelnden Er¬
weichungen beweisen. Dieses physikalische Moment könnte in
Übereinstimmung mit Ansichten, die besonders Wagner-
Jauregg (16) vertreten hat, immerhin bei der Entstehung
der Dysbasie eine wesentliche Rolle gespielt haben, wenn dann
auch die weitere Fixierung und Ausgestaltung der Störung von
psychischen Vorgängen beeinflußt wurde.
Literatur.
1. Cassirer: Verhandlungen der Gesellsch. deutscher Nervenärzte, X,
Leipzig, Vogel, 1921, 8. 34.
2. Erb: Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde, XI, 1897, S. 122.
3. Hartmann: Jahrbücher f. Psych. u. Neurol. XIX, 1900, S. 380.
4. Joannovics: Wiener klin. Wochenschr., 1920, S. 649.
5. Karplus: Wiener klin. Wochenschr. 1915, S. 145, und Wiener med.
Wochenschr. 1919, S. 188.
6. Kirchgässer: Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk., XI, 1897, S. 406,
und XIII, 1898, S. 422.
7. Marb urg: Verhandlungen d. Gesellsch. deutscher Nervenärzte, X,
Leipzig, Vogel, 1921, 8. 10.
8 . Mendel: Der Unfall in der Ätiologie der Nervenkrankheiten, Berlin,
Karger, 1908.
9. Nonne: Ärztl. Sachverst.-Zeitung, XV, 1909, S. 429.
10. Ober steiner: Medizin. Jahrbücher, 1879, S. 581.
11. Pötzl: Jahrbücher f. Psych. u. Neurol., XXXVII, 1917, S. 269.
12. Redlich und Karplus: Monatschr. f. Psych. u. Neurol., XXXIX.
5, 1916, S. 259.
13. Römheld: Neurol. Zentralblatt, Ergänzungsband, 1921, 8. 100.
14. Schmaus: Virchows Archiv CXXII, 1890, S. 326.
15. Schultze: Verhandlungen der Gesellsch. deutscher Nervenärzte, III,
Leipzig, Vogel, 1910, S. 72.
16. Wagner-J au regg: Wiener med. Wochenschr., 1916, S. 1355.
Go igle
Original fro-m
UMIVERS1TY OF MICHIGAN '
Referate.
Hübner A. II.: Das Eherecht der Geisteskranken
und Nervösen. Bonn 1921, A. Marcus & E. Webers
Verlag.
Es handelt sich nm eine zusammenfassende Darstellung der seit Ein¬
führung des bürgerlichen Gesetzbuches in Deutschland gewonnenen prakti¬
schen Erfahrungen. An Hand der einzelnen Gesetzesparagraphen werden
eine ganze Reihe von Füllen skizziert, Falle, nicht nur aus dem Gebiete der
Psychiatrie, sondern auch ans jenem der Neurologie, so daß man einen
Überblick über die oft verwirrende Judikatur des obersten Gerichtes erlangt.
Das Buch wird jedem Psychiater Und Neurologen nicht zuletzt schon wegen
seiner knappen und klaren Darstellung erwünscht sein. 0. M.
Fröbes Josef S. j.: Lehrbuch der experimentellen
Psychologie. II. Band. Freiburg im Breisgau, Herder & Co.
Für den Psychologen und Neurologen ist der vorliegende Band von
Frohes Psychologie deswegen von Bedeutung, weil er sich im wesentlichen
mit den höheren Funktionen des Seelenlebens beschäftigt. Die Assoziations¬
störungen, die ganze Frage der Lokalisation wird übersichtlich dargestellt.
Aufmerksamkeit, Gedächtnis, schöpferische Tätigkeit des Geistes, Studien
über die Sprache sind alle in einer klaren Weise unter weitgehender Berück¬
sichtigung der Literatur abgehandelt. Interessant ist, ton einem immerhin
den Tatsachen nicht praktisch gegen Überstellenden Forscher Urteile über
die Anomalien des Bewußtseins zu hören, in welche unter anderem auch
die Pathologie des Seelenlebens, die Geisteskrankheiten fallen. Es sei noch¬
mals erwähnt, daß auch die modernste Literatur in jeder Weise berück¬
sichtigt erscheint. 0. M.
Braun Ludwig: Herz und Psyche in ihren Wirkungen
aufeinander. Leipzig und Wien, Deuticke 1920.
Der Grundgedanke dieses kleinen Werkchens ist, daß das Herz Stätte
spezifischer Sinnesempfindungen sei, die uns als Angst zum Bewußtsein
kommen. Die Belege, die für diese Annahme angeführt werden, halten aller-
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104
Referate.
dinge einer strengen Kritik nicht stand, besonders nicht dort, wo von den
spezifischen Perzeptionsapparaten gesprochen wird. Jedenfalls geht ans
dieser Schrift hervor, daß es notwendig ist, in allen jenen Fällen, wo eine
psychische Erkrankung mit Angatzuständen verknüpft ist, eine genaue Unter»
Buchung des Herzens vorzunehmen; denn aus den vielen interessanten Beispielen
von Stenokardien mit psychischen Störungen, von perikardialen Affektionen,
Herzüberleitungsstörungen und ähnlichem geht hervor, wie wichtig die
Kenntnis der organischen Herzveränderungen für die Beurteilung mancher
Psychosen ist. Jedenfalls ein für den Psychiater sehr anregendes Werk.
O. M.
Pfeifer R.A.: Das menschliche Gehirn. Dritte Auflage.
Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig.
Das für den Laien bestimmte Werk hat offenbar infolge seiner zahl¬
reichen zum Teil ganz ausgezeichneten Abbildungen eine ziemliche Ver¬
breitung erfahren. Es soll die Schwierigkeit eines derartigen Unternehmens,
für den Laien eine zusammenfassende Darstellung der anatomisch-physiolo¬
gischen Verhältnisse des Nervensystems zu bringen, nicht verkannt werden;
aber trotzdem glaubt Referent, daß gewisse Einzelheiten zuviel betont,
andere wieder in den Hintergrund treten. Ferner sind einzelne kleine Fehler
auszumerzen. So z. B. die sogenannte Affenspalte — Sulcus parieto-occipitalis,
zwei Dinge, die absolut nichts miteinander zu tun haben. Auch die Ein¬
strahlung der Sehnervenfasem ein Drittel in den Sehhügel, ein zweites
Drittel in den Vierhügel und das Genikulatum und ein drittes Drittel direkt
zur Großhirnrinde ist unrichtig. 0. M.
Erben Sigmnnd: Diagnose der Simulation nervöser
Symptome auf Grund einer differential-diagno¬
stischen Bearbeitung der einzelnen Phänomene.
Ein Lehrbuch für den Praktiker. Mit 25 Textabbildungen
und 3 Tafeln. Zweite, vielfach ergänzte und erweiterte
Auflage. Urban & Schwarzenberg, Wien, Berlin 1920.
Man merkt an fast jeder Stelle des Buches, daß dem Autor die
reichen Kriegserfahrungen bei der Abfassung des Werkes sehr zu Hilfe
gekommen sind. Fast keines der Kapitel ist gegenüber dem früheren un¬
verändert geblieben. Manches erscheint jetzt klarer gefaßt, besonders die
Qualifikation der einzelnen Neurosen in bezug auf die Rentenbemessung.
Auch sonst wird man überall Anregungen finden, die auch bei der Diagnose
nicht gerade traumatischer Krankheiten von Vorteil sein dürften. 0. M.
Bauer Julius: Die konstitutionelle Disp osition.zii
inneren Krankheiten. Zweite, vermehrte, verbesserte
Auflage. Berlin, Springer 1921.
Es ist erstaunlich, in wie kurzer Zeit eine Neuauflage des bereits
im 37. Band der Jahrbücher besprochenen Werkes von Bauer notwendig
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Referate.
105
wurde, besonders, wenn man die entsetzlichen Verhältnise der Nachkriegszeit
bedenkt. Noch erstaunlicher aber ist es, um wieviel reifer, geschlossener
das vorliegende Werk gegenüber der ersten Auflage geworden ist. Überall
spürt man eine weise Beschränkung, so daß man die Berechtigung anerkennt,
daß man dem Faktor der Konstitution, das ist — wie Bauer sich ausdrückt
— „die Berücksichtigung der individuellen Körperverfassung bei der Ent¬
stehung und Entwicklung, dem Verlaufe und dem Ausgang eines Krank¬
heitsprozesses“ Rechnung trägt. Es verdient hervorgehoben zu werden,
daß Bauer die Literatur bis in die jüngste Zeit berücksichtigt und daß
seine eigenen Erfahrungen inzwischen sehr wesentlich größer geworden
sind als im Jahre 1917. So kann man mit Recht erwarten, daß Bauers
Werk das grundlegende für diese Frage bleiben wird, wie es bis heute das
vollkommenste ist. M.
Bing Robert: Lehrbuch der Nervenkrankheiten. Für
Studierende und Ärzte in 30 Vorlesungen. Zweite, ver¬
mehrte und vollständig neubearbeitete Äuflage. Urban &
Schwarzenberg, Berlin, Wien 1921.
Bing entfernt sich in der Anlage seines Buches ein wenig von dem
gebräuchlichen Schema, indem er das klinisch hervorstechendste Symptom
zum Ausgangspunkte der Krankheitsbeschreibung wählt. So vorteilhaft das
für den Praktiker auch sein mag, so fördert es doch meines Erachtens zu
sehr die Routine. Auch ist es unmöglich, in jedem Belang die Klinik in
den Vordergrund zu stellen. So finden wir in den späteren Kapiteln das
phatologische Moment für die Entwicklung maßgebend. Auch die Zusam¬
menstellung von Hirntumoren, Abszessen, eitrigen Meningitiden und der
Pachymeningitis, der Sinusthrombose und der Enzephalitis, an welche sich
die Zirkulationsstörungen des Gehirns, zu welchem auch die Commotio ge¬
rechnet wird, reihen, wird Widerspruch erwecken und ist absolut didaktisch
nicht vorteilhaft. Jedenfalls ist das Buch von einem erfahrenen Neurologen
geschrieben, mit reichem, eigenem Material und wird auch über die mo¬
dernsten Auffassungen der verschiedenen Krankheiten in leichtfaßlicher
Weise orientieren. M.
Singer Knrt: Leitfaden der neurologischen Dia¬
gnostik. Differentialdiagnose..aus dem füh¬
renden Symptom. Für praktische Ärzte und Studie¬
rende. Urban & Schwarzenberg, Wien 1921.
J)as vorliegende kurze Werk — kaum 200 Seiten — setzt sich ein
hohes Ziel; aus der Erkenntnis, Verwertung und Abgrenzung eines Sym-
ptomes oder eines dominierenden Symptomenkomplexes zu «einer konkreten
Schlußfolgerung zu kommen. Von der Lähmung über die Empfindungs¬
störung zu den Atrophien, Reflexänderungen, Koordinationsakten und
Dyskinesien kommt er zu mehr allgemeineren Symptomen, Kopfschmerzen,
Schwindel und ähnlichem. Um ein Beispiel zu geben, wird bei den Empfin-
Jahrbüohar für Psychiatrie. XLI. Bd. 7*
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106
Referate.
dungsat orangen kurz auf die Schwierigkeit der Untersuchung verwiesen. Es
wird dann eine kurze anatomische Schilderung der sensiblen Leitung*»
bahnen gegeben, Qualität und Quantität der Empfindungsart, ihre Prüfung
besprochen, um schließlich die einzelnen Formen der Sensibilitätsstörungen,
hysterische, periphere, zentrale, in ihrer klinischen Bedeutung darsustellen.
Als unterstützendes Werk für Studierende und auch für den Praktiker kann
man das Buch empfehlen. M.
Hirschfeld Magnus: Sexualpathologie. DX Teil. Stö¬
rungen im Sexual st offwechsel mitbesonderer
Berücksichtigung der Impotenz. Bonn, A. Markus &
E. Weber.
Der vorliegende Teil des groß angelegten Werkes von H i r s c h f e 1 d
ist dadurch für die Psychiatrie und Neurologie von besonderer Bedeutung,
daß hier Fetischismus sowie die quantitativen Abweichungen des Geschlechts¬
triebes, wie die Impotenz und die Sexualneurosen, schließlich auch der
Exhibitionismus, behandelt werden. Ohne in das Wesentliche der einzelnen
Kapitel einzugehen, kann man nur hervorbeben, daß allen Fragen ent¬
sprechende Aufmerksamkeit gewidmet wird, daß auch die Literatur eine
ziemliche Berücksichtigung findet, so daß man das vorliegende Werk als
Nachschlagebuch mit Vorteil verwenden kann. M.
Giese Franz : Teubners kleines Fachwörterbuch.
Psychologisches Wörterbuch. Leipzig, Berlin,
Teubner 1921.
Die durch den Krieg so geförderten psychologischen Stadien bei
Nervenkranken lassen es auch für den Neurologen wertvoll erscheinen, ein
die Nomenklatur vollständig umfassendes handliches Buch su besitzen.
Diesem Bedürfnis kommt vorliegendes Wörterbuch in jeder Weise entgegen.
M.
Lehmann Walter: Die Chirurgie der peripheren
Nervenverletzungen, mit besonderer Berück¬
sichtigung der Kriegsnervenverletzungen.
Urban & Schwarzenberg, Wien 1921.
Während im Kriege der neurologischen Diagnostik der Nervenver¬
letzungen ein ganz besonderes Augonmerk zugewendet und hier vielfach
Bestehendes bestätigt, Neues erschlossen wurde, fehlte es bisher an einer
susammenfassenden Darstellung, bei der besonders die Indikation zum Ein¬
griff und die Methoden in ihrer gegenseitigen Wertigkeit kritisoh dargestellt
werden.
Es ist erfreulich von einem Chirurgen, daß er partielle Lähmungen
ebenso wie leichtere Fälle absolut nicht angeht, daß er selbst bei schweren
Fällen drei bis fünf Monate znwartet, allerdings darüber hinaus nioht, denn
vom sechsten Monat ab werden die Kesoltate der Nervennaht sohlechter.
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Heferate.
107
Es ist auch erfreulich zu hören, daß er sich immer der Mitarbeit des Neuro¬
logen versichert. Wichtig ist, daß er eine zweite Operation eines gelähmten
Nerven nur dann für gegeben erachtet, wenn bei Neuromen oder endoneu-
ralen Narben und Verwachsungen nur eine Neurolyse ausgeführt wurde
und daß er den Zustand des Muskels als maßgebend für die Indikations-
Stellung ansieht. Die kurz und übersichtlich geschriebene klinische Dia¬
gnostik wird ergänzt durch ein spezielles Kapitel der Lähmungen einzelner
Nerven, auch jener der Hirnnerven, wobei die Operationstechnik jedes
einzelnen Abschnittes ausführlich behandelt wird. Es ist ein bei aller Be¬
schränkung vollständiges und ausgezeichnet illustriertes Werk, das auch
die Literatur eingehendst berücksichtigt und sowohl Neurologen als Chirurgen
eine wesentliche Bereicherung ihrer Erfahrungen bieten wird. M.
Pfeifer R. A.: Über den feineren Bau des Zentral¬
nervensystems eines Anenzephalus. Eine hirn-
anatomische Studie. Karger, Berlin 1916.
Die Bedeutung der Untersuchungen von Anenzephalen liegt hauptsäch¬
lich darin, daß man erhaltene Lebensäußerungen auf bestimmte erhaltene
Hirnpartien beziehen kann. Der vorliegende Fall war dadurch interessant,
daß das Zentralnervensystem dicht oberhalb der Eintrittsstelle des Trige¬
minus definitiv zu Ende war. Das Rückenmark ist bis auf die seitlichen
Furchen, die die fehlenden Pyramidenbahnen anzeigen, relativ intakt, nur
findet sich ventral neben der vorderen Kommissur eine mächtige Kreuzung,
die offenbar etwas Besonderes darstellt — eine dritte bisher übersehene
Kreuzung. Dagegen muß man Stellung nehmen gegen eine Überschätzung
des Überganges des peripheren in den zentralen Nerven. Hier ist alles
entsprechende, besonders der Mangel der Färbbarkeit der Markscheiden an
der Membrana limitans gliae von Obersteiner und seinen Schülern
so eingehend beschrieben worden, daß darin nichts Neues erblickt werden
kann. Ob die Intaktheit der Substantia reticularis in der erhaltenen Medulla
dafür spricht, daß wir hier ein höheres Reflexorgan vor uns haben, in dem
sensible Eindrücke aufgenommen und unter Produktion primitiver Gefühle
und Impulse an den motorischen Apparat abgegeben werden, ist durch
diesen Fall allein noch nicht bewiesen. M.
Pfeifer Riehard Arwed: Myelogenetisch-anatomische
Untersuchungen über das kortikale Ende der
Hörleitung. Mit 31 Tafeln. Teubner, Leipzig 1920.
Die Bestätigung der Flechsigschen Anschauung, daß die vordere
Querwindung des Schläfenlappens die eigentliche Hörwindung sei, beweist
Pfeifer durch den Zusammenhang derselben mit dem aus dem Geniculatum
internum stammenden Projektionssystem. Er bedient sich dabei einer eigen¬
artigen Rekonstruktionsmethode, die ein ganz ausgezeichnetes Übersichtsbild
über die Faserschale der Hörleitung gibt. Daß man diese letztere nicht
leicht an den gebräuchlichen Schnittserien verfolgen kann, hat seinen Grund
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möglicherweise darin, daß eine Stildrehung der geschilderten Marklamelle
phylogenetisch stattgefunden hat. Dabei tritt diese Strahlung von vom und
unten in die Querwindung ein, während nur ein ganz kleiner Teil in der
Markleiste quer der Längswindung verläuft. Es werden mit dieser Fest¬
legung eine Reihe von Differenzen der verschiedenen Autoren aufgeklärt.
Es zeigt sich weiter durch die myelogenetischen Studien, daß der vordere
Abhang der Querwindung Assoziationsgebiet, der Gipfel und ein Teil des
hinteren Abhanges eigentliches Ende der Hörstrahlung ist, während der
hintere Abhang die Balkenfasern abgibt. Interessant sind auch die Fest¬
stellungen in Bezug auf die Hör Sphäre bei musikalisch besonders begabten
Menschen, bei denen tatsächlich das genannte Projektionsfeld, abgesehen
▼on dem eigenartig steil abfallenden Typus der Windung, ein viel größeres
Areale einnimmt, alB bei flach abfallenden Querwindungen der anderen
Menschen. So stellt diese Arbeit eine weitere Bereicherung unserer Kennt¬
nis von der Hörsphäre, besonders aber eine Stütze der Flechsig sehen
Anschauung dar. M.
Head Henry: Studies in Neurologie. London, Henry
Frowde, Hodder and Stoughton Ltd. 1920. 2 Yol.
Es ist Head besonders zu danken, daß er sich entschlossen hat,
seine Sensibilitätsforschungen in Gemeinschaft mit seinen Mitarbeitern in
zwei geschlossenen Bänden zu veröffentlichen. Wir werden zunächst in seine
minutiöse Untersuchungsmethode eingeführt und bekommen im ersten Bande
eine Darstellung der Sensibilitätsstörung bei Läsionen peripherer Nerven.
Eine Fülle von Abbildungen illustriert das Gesagte und man kann sich
vorstellen, welch großes eigenes Material hier zum ersten Male übersichtlich
zur Verarbeitung kommt. Es siijd selbstverständlich zum Teil auch Wieder¬
holungen früherer Arbeiten hier enthalten, besonders so weit im zweiten
Bande die Sensibilitätsstörungen bei Rückenmarksaffektionen und solche
des Gehirns in Frage kommen. Das wertvolle bei Heads Forschungen ist,
daß man immer das Gefühl des Tatsächlichen hat, das sich auf eine große
Menge eigener Erfahrungen stützt und jeder Hypothese aus dem Wege
geht. Wie gesagt, erscheint das Werk nicht nur als eine wichtige Zu¬
sammenfassung der Arbeiten Heads, sonderu auch als eine Bereicherung
der neurologischen Literatur überhaupt, zu deren klassischen Arbeiten man
dasselbe stets rechnen wird. M.
Stern E.: Angewendete Psychologie. Aus Natur und
Geisteswelt, 771. B. C. Teubner, Leipzig, Berlin 1921.
Das äußerst übersichtlich geschriebene Werkchen orientiert uns mit
allen Problemen der im Titel genannten Materie. Es wird für den Arzt
deshalb von Interesse sein, weil das Anwendungsgebiet der Psychologie
nicht nur in der Pädagogik, sondern auch in der Rechtspflege, Medizin und
sogar im Wirtschaftsleben eingehend geschildert wird. M.
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Der Unzurechnungsfähigkeitsparagraph
im neuen deutschen Strafgesetzentwurf.
Von
Dr. Heinrich Herschmann,
Assistenten der psychiatrischen Klinik des Hofrates Prof. Wagner-Janregg in Wien.
Das zentrale Problem jedes Strafgesetztentwurfes bildet für den
Psychiater der Unzurechnungsfähigkeitsparagraph. An die Spitze
jeder Diskussion über diesen Paragraphen sollte man den Ausspruch
Wagner-Jaureggs setzen, daß derjenige, der es unternimmt, die
Zurechnungsunfähigkeit wegen Geistesstörung in eine gesetzliche
Formel zu fassen, von vornherein Anspruch auf eine gewisse Nachsicht
habe, da eine ganz befriedigende Lösung des Problems überhaupt
nicht möglich ist. Denn die Zurechnungsfähigkeit ist nicht eine dem
Individuum anhaftende, sondern eine ihm durch richterlichen Aus¬
spruch beigelegte Eigenschaft. Daher erklärt Wagner-Jauregg
als richtigste Definition der Zurechnungsfähigkeit die von Liszt,
die darauf hinausläuft, daß derjenige zurechnungsfähig ist, der dafür
erklärt wird.
Der vorliegende deutsche Strafgesetzentwurf folgt im Unzurech¬
nungsfähigkeitsparagraphen der sogenannten gemischten (biologisch¬
psychologischen) Methode. Es werden zunächst die Geisteszustände
aufgezählt, welche überhaupt zu einer Aufhebung der Zurechnungs¬
fähigkeit führen können, und anschließend daran wird ausgeführt,
welche psychologischen Folgen dieser Geisteszustände eintreten
müssen, damit Unzurechnungsfähigkeit angenommen werden darf.
§ 18 des deutschen Entwurfes lautet: „Nicht zurechnungsfähig
ist, wer zur Zeit der Tat wegen Bewußtseinsstörung, wegen krank¬
hafter Störung der Geistestätigkeit oder wegen Geistesschwäche un¬
fähig ist, das Ungesetzliche der Tat einzusehen oder seinen Willen
dieser Einsicht gemäß zu bestimmen.
Jahrbücher für Psychiatrie. XLI. Bd. 2. u. 3. Heft. 8
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Dr. Heinrich Herschmann.
War die Fähigkeit zur Zeit der Tat aus einem dieser Gründe nur
itt hohem Grade vermindert, so ist die Strafe zu mildern. (§ 111.) Dies
gilt nicht bei Bewußtseinsstörungen, die auf selbstverschuldeter
Trunkenheit beruhen.“
Was zunächst den ersten (biologischen) Teil des Unzurechnungs¬
fähigkeitsparagraphen anlangt, so ist.in textlicher Hinsicht ein Fort¬
schritt gegenüber dem geltenden deutschen Strafgesetz darin gelegen,
daß das Wort „Bewußtlosigkeit“ durch den Ausdruck „Bewußt¬
seinsstörung“ ersetzt wurde, denn im Zustande der Bewußtlosigkeit
können ja Handlungen überhaupt nicht, also auch keine Verbrechen
ausgeführt werden. Wenn außer der „krankhaften Störung der Geistes¬
tätigkeit“ noch die „Geistesschwäche“ besondere Erwähnung findet,
so wird dadurch nur eine Auffassung sanktioniert, die auch bisher
unwidersprochen in der Praxis gegolten hat.
Kadecka hat gelegentlich der Beratung des österreichischen
Strafgesetzentwurfes von 1909 verlangt, daß das Gesetz statt von
„Geistesschwäche“ von „krankhafter Geistesschwäche“ sprechen
solle. Ich halte dieses Verlangen für unbegründet. Abgesehen davon,
daß es in praxi oft unmöglich ist, eine scharfe Grenze zwischen patho¬
logischer Imbezillität und sit venia verbo „physiologischer“ Dumm¬
heit zu ziehen, ist diese Unterscheidung auch für die Frage der Zu¬
rechnungsfähigkeit ganz bedeutungslos. Für die Beurteilung der
Zurechnungsfähigkeit geistesschwacher Angeklagter kommt nur der
Grad der Geistesschwäche und die Art des Deliktes in Betracht.
Die Aufzählung der Geisteszustände, welche Unzurechnungs¬
fähigkeit herbeiführen können, ist aber vom Standpunkte des all¬
gemeinen Rechtsgefühls aus betrachtet unvollständig. Und nur das
allgemeine Rechtsgefühl kommt hier in Betracht, denn, was Un¬
zurechnungsfähigkeit ist, kann weder durch eine medizinische noch
durch eine juristische Lehre definiert werden; Unzurechnungsfähigkeit
ist ein empirischer Begriff; es ist darunter ein Zustand zu verstehen,
in welchem jenes Maß von freier Willensbestimmung, welches das
Volksbewußtsein bei einem erwachsenen, gesunden Menschen voraus¬
setzt, aufgehoben ist. Es entspricht aber gar nicht, die Rechtsprechung
der Schwurgerichte zeigt es deutlich genug, dem allgemeinen Volks¬
bewußtsein, wenn die Annahme der Unzurechnungsfähigkeit auf jene
Fälle beschränkt bleibt, in denen eine krankhafte Störung der
Geistestätigkeit zur Zeit der Tat vorhanden war. Das allgemeine
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Der Unzurechnungsfähigkeitsparagraph im neuen deutsch. Strafgesetzentw. X11
Rechtsgefühl nimmt vielmehr Unzurechnungsfähigkeit auch in jenen
Fällen an, in welchen die Handlung des Täters aus einer sehr heftigen
Gemütsbewegung entstanden ist. Dabei kommt es dem Volksbewußt¬
sein durchaus nicht darauf an, daß ein Zustand eintrete, den wir
medizinisch als pathologischen Affekt bezeichnen. Es sind hier viel¬
mehr auch solche sehr heftige Gemütsbewegungen gemeint, welche,
um mich der Sprache des geltenden österreichischen Strafgesetzes
zu bedienen, aus dem gewöhnlichen Menschengefühle entstanden
sind. Bei der Beurteilung solcher Fälle ist der Gutachtertätigkeit
des psychiatrischen Sachverständigen natürlich nur ein sehr enger
Raum zugewiesen, denn für das gewöhnliche Menschengefühl gibt es
keine besonderen Sachverständigen; die Beurteilung des gewöhnlichen
Menschengefühls verlangt nur Klugheit und Lebenserfahrung, zwei
Eigenschaften, die beim Richter vorausgesetzt werden müssen, nicht
aber irgendwelche besondere Fachkenntnisse. Es beschränkt sich
daher die Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen in solchen
Fällen auf den eventuellen Nachweis irgendwelcher psychischer
Faktoren, die eine Steigerung der Affektivität zu schaffen geeignet sind.
Die Schwurgerichte sprechen schon jetzt wiederholt wegen Un¬
zurechnungsfähigkeit dort frei, wo der psychiatrische Sachverständige
keine krankhafte Beeinträchtigung der Seelentätigkeit nachweisen
kann. Solche Urteile werden in psychiatrischen Kreisen gewöhnlich
mit einer gewissen Empfindlichkeit aufgenommen, wie ich glaube,
ohne zureichenden Grund. Es gibt eben auch nicht krankhafte
Störungen der Geistestätigkeit, welche nach dem allgemeinen Rechts¬
gefühl Unzurechnungsfähigkeit bedingen können; nur ein Teil der
Geisteszustände, welche Unzurechnungsfähigkeit herbeiführen können,
gehört in das Gebiet der gerichtlichen Psychopathologie. Mit der
Verneinung einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit zur Zeit
der Tat ist in der Frage, ob der Täter zurechnungsfähig war oder nicht,
noch keineswegs präjudiziert. Wenn dies der psychiatrische Sach¬
verständige in seinem Gutachten betont, dann wahrt er seinen wissen¬
schaftlichen Standpunkt, ohne sich mit dem allgemeinen Rechtsgefühl,
wie bisher, in Widerspruch zu setzen.
Damit wird die Frage der Abgrenzung zwischen der richterlichen
und ärztlichen Kompetenz berührt, eine Frage, die von den einzelnen
Autoren sehr verschieden beantwortet wird. Darauf soll später noch
näher eingegangen werden.
8 *
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Dr. Heinrich Herschmann.
Hinsichtlich der im zweiten Teile des Unzurechnungsfähigkeits¬
paragraphen aufgezählten Kriterien folgt der deutsche Strafgesetz¬
entwurf dem Beispiel verschiedener ausländischer Entwürfe, so den
österreichischen Entwürfen von 1909 und 1912 und dem schweizerischen
Entwurf von 1918. Es soll durch die Zweiteilung „unfähig, das
Ungesetzliche der Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Einsicht
gemäß zu bestimmen“ betont werden, daß die Unzurechnungsfähigkeit
sowohl auf einer Störung der Verstandes- als auch auf einer Störung
der Willenstätigkeit beruhen kann. Es ist gelegentlich der Diskussion
über den österreichischen Strafgesetzentwurf von 1909 von Berze
eingewendet worden, daß die erwähnten psychologischen Kriterien
kein praktisch verwertbares Maß der Defekte darstellen, welche die
Unzurechnungsfähigkeit bedingen. Berze meint weiters, daß es
überhaupt unmöglich sei, ein psychologisches Kriterium so zu for¬
mulieren, daß es als sicheres Maß zur Bestimmung der Unzurechnungs¬
fähigkeit dienen könnte. Es sei daher notwendig, an Stelle der psycho¬
logischen Kriterien ein juristisches Korrektiv zu setzen, wie dies in
der Formel von Liszt geschieht, welche lautet: „ZurSchuld wird nicht
zugerechnet eine Handlung, bei deren Begehung der Täter sich in einem
die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustande der Bewußtlosigkeit
oder krankhaften Hemmung oder Störung der Geistestätigkeit befand.“
Meiner Ansicht nach ist die Lisztsche Formulierung weniger
gut als die des Entwurfes. Ein gänzlicher Verzicht auf die psycho¬
logischen Kriterien scheint nicht empfehlenswert; die psychologischen
Kriterien des Entwurfes sind für den Kichter bei Beurteilung der
Zurechnungsfähigkeit ein wertvoller Wegweiser. Die Liszt sehe Formel
dagegen ist, wie auch seinerzeit von Schober betont wurde, ein
Zirkel und enthält über die entscheidenden Punkte nichts.
Da die psychiatrische Wissenschaft darüber Aufschluß gibt,
welchen Einfluß geistige Störungen auf die Einsicht und das Handeln
ausüben, so ist nichts dagegen einzuwenden, daß sich das psychiatrische
Gutachten auf eine Erörterung der psychologischen Kriterien einläßt,
nur darf nicht vom Sachverständigen Antwort auf die Frage verlangt
werden, ob die eventuell Vorgefundenen psychischen Defekte das zur
Annahme der Unzurechnungsfähigkeit notwendige Maß erfüllen
oder nicht. Diese Frage ist eine rein juristische und mit ihr mögen
auch die Juristen, welche ihr Strafgesetz auf das Prinzip der Zu¬
rechnungsfähigkeit gegründet haben, allein fertig werden.
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Der Unzurechnungsfähigkeitsparagraph im neuen deutsch. Strafgesetzentw. 113
Das ist der Kernpunkt der ganzen Zurechnungsfähigkeitsfrage.
Die Wiener medizinische Fakultät hat in Anlehnung an andere Körper¬
schaften es seit vielen Jahren abgelehnt, sich über die Zurechnungs¬
fähigkeit eines Angeklagten zu äußern. Es ist leider nicht überall
von den Psychiatern der gleiche Standpunkt eingenommen worden.
Es erscheint dringend notwendig, daß die Frage, ob der Psychiater
sich über die Zurechnungsfähigkeit auszusprechen hat, nicht weiter¬
hin kontrovers bleibe. Es müßte, wie dies Wagner-Jauregg ver¬
langt hat, eine ausdrückliche Bestimmung in das Gesetz aufgenommen
werden, aus der unzweideutig hervorgeht, daß die Beurteilung der
Zurechnungsfähigkeit eine ausschließlich in die richterliche Kompetenz
fallende Angelegenheit ist.
Es ist unverständlich, wie der notwendigerweise deterministisch
orientierte Psychiater in der Zurechnungsfähigkeitsfrage überhaupt
eine Entscheidung fällen könnte, ohne mit seiner eigenen Wissenschaft
in Konflikt zu geraten. Für den Deterministen ist die Tatsache, daß
jemand ein Verbrechen begangen hat, zugleich auch der Beweis dafür,
daß er dieses Verbrechen begehen mußte. Eine solche Auffassung
ist mit dem juristischen Begriff der Zurechnungsfähigkeit schlechter¬
dings unverträglich. Die Annahme einer Zurechnungsfähigkeit setzt
eine Freiheit des Willens voraus, die der Naturwissenschaftler, übrigens
in Übereinstimmung mit der großen Mehrzahl der neueren philo¬
sophischen Forscher, ablehnen muß.
Die althergebrachten Grundlagen der Strafgesetzgebung, die
Begriffe von Schuld und Zurechnungsfähigkeit, sind allmählich in
dem gleichen Maße erschüttert worden, als der Indeterminismus an
Boden verloren hat. Die Frage ist heute nicht mehr eine rein aka¬
demische, sondern sie ist mit zunehmender Verbreitung naturwissen¬
schaftlicher Erkenntnisse zu einem Problem geworden, das auch
weitere Kreise der gebildeten Laien zu interessieren beginnt. Es er¬
scheint nicht ausgeschlossen, daß ein späteres Strafgesetz auf einem
anderen Grundprinzip als jenem von Schuld und Zurechnungsfähigkeit
aufgebaut sein wird; 1 ) Rai mann hat das Prinzip der sozialen Verant¬
wortlichkeit als Grundlage eines künftigen Strafrechtes bezeichnet,
das bedeutet Verzicht auf alle Nebenzwecke, wie Besserung und Sühne,
‘) Inzwischen ist der Entwurf eines Strafgesetzbuches für das Königreich
Italien erschienen, der eine Lösung der Frage vom deterministischen Stand¬
punkte aus anstrebt.
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114
Dr. Heinrich Herschmann.
und Vereinigung aller Kräfte zur Erreichung des einen Zieles, der
Bekämpfung der Gemeingefährlichkeit.
Solange aber das Strafgesetz noch auf das Prinzip der Zurech¬
nungsfähigkeit begründet ist, muß es auch Sache der Juristen bleiben,
über das Vorhandensein oder Fehlen der Zurechnungsfähigkeit zu
entscheiden. Es gibt kein Kompromiß zwischen dem Indeterminismus
des Juristen und der deterministischen Weltauffassung des Mediziners.
Starke Meinungsverschiedenheiten ergeben sich auch bei der
Beurteilung jener kriminellen Persönlichkeiten, die man seit Lombr oso
als „geborene Verbrecher“ zu bezeichnen pflegt. Wagner-Jauregg
hat darauf hingewiesen, daß man bei diesen Menschen die Frage,
ob sie die Fähigkeit besaßen, gemäß ihrer Einsicht in das Unrecht¬
mäßige ihrer Tat zu handeln, stets wird verneinen müssen, da sie
durch ihren ganzen Lebenslauf ihre Unfähigkeit hiezu dargetan haben.
Trotzdem verlangen die Juristen, hier übrigens in Übereinstimmung
mit dem Volksbewußtsein, daß Menschen, deren psychische Defektuo-
sität sich ausschließlich oder vorwiegend auf ethischem Gebiete zeigt,
für die Tat zur Verantwortung gezogen werden, obwohl dies mit
dem Prinzip der Zurechnungsfähigkeit in Widerspruch steht. Hier
wird also schon jetzt das Prinzip der Zurechnungsfähigkeit durch
jenes der sozialen Verantwortlichkeit verdrängt. Es würde sich
vielleicht empfehlen, dem Beispiel des österreichischen Entwurfes
von 1906 zu folgen und eine Sonderbestimmung in das Gesetz auf¬
zunehmen, welche ausdrücklich verfügt, daß krankhafte Neigungen
zur Begehung der Tat für sich allein nicht entschuldigen.
Es muß offen erklärt werden daß das Bestreben vieler Psychiater,
den Richtern gefällig zu sein und ihnen die Last der Entscheidung
in der Zurechnungsfähigkeitsfrage abzunehmen, nicht dazu beigetragen
hat, um das Ansehen der psychiatrischen Wissenschaft zu fördern.
Die herbe Kritik welche das Auftreten der Gerichtspsychiater oft
genug gefunden hat, war nicht immer unverdient. Den Begriff Zurech¬
nungsfähigkeit hat das Volksbewußtsein geschaffen, die psychiatrische
Wissenschaft kennt diesen Begriff nicht. Daher hat das Volksbewußt¬
sein, repräsentiert durch die Richter, in der Frage der Zurechnungs¬
fähigkeit souverän zu entscheiden. Es gibt nichts Inkonsequenteres
als einen Psychiater, der auf Grund seiner Fachkenntnisse in der
Frage der Zurechnungsfähigkeit ein Urteil abgeben will. Da die
psychiatrische Wissenschaft den indeterministischen Begriff der Zu-
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Der Unzurechnungsfähigkeitsparagraph im neuen deutsch. Strafgesetzentw. X15
rechnungsfähigkeit negiert, so kann psychiatrische Erfahrung un¬
möglich zur Beurteilung fraglicher Zurechnungsfähigkeit geeignet
machen. Man kann nicht auf Grund seiner Wissenschaft erst die
Existenz eine# Dinges negieren und sodann auf Grund der gleichen
Wissenschaft verlangen, im Abmessen des Dinges, dessen Existenz
man negiert hat, als besonders sachverständig angesehen zu werden.
Die Entscheidung, ob ein Angeklagter zurechnungsfähig und daher
für seine Tat strafrechtlich verantwortlich ist oder nicht, kann nur
durch den Richter erfolgen. Will man, daß der psychiatrische Sach¬
verständige in der Zurechnungsfähigkeitsfrage Richter sei, so muß
man ihn ins Richterkollegium aufnehmen, wo er dann die gleiche
Rolle zu übernehmen hätte wie die kaufmännischen Laienrichter
in den Handelssenaten. Dieser Vorschlag mag radikal erscheinen, er
ist aber eigentlich nur eine Vertiefung der heute allgemein als berechtigt
anerkannten Forderung auf psychiatrische Vorbildung der Richter.
Solange dieser Vorschlag nicht angenommen wird, gibt es nur eine
Lösung dieser Frage: Abgrenzung der ärztlichen und richterlichen
Kompetenz im geforderten Sinne und Aufnahme einer Bestimmung
in das Strafgesetz oder in die Strafprozeßordnung, welche alle Zweifel
in der Kompetenzfrage endgültig beseitigt.
Diese Lösung hat der vorliegende deutsche Strafgesetzentwurf
nicht gebracht. Trotzdem stellt der vorgeschlagene Unzurechnungs¬
fähigkeitsparagraph gegenüber dem jetzt geltenden §51 in mehrfacher
Hinsicht einen Fortschritt dar. Zunächst dadurch, daß er das dem Volks¬
empfinden so fremde juristische Prinzip der Akzessorietät der Beihilfe
beseitigt hat. Nach geltendem deutschen Strafrecht ist der zurech¬
nungsfähige Mitschuldige nicht strafbar, wenn der Haupttäter wegen
Unzurechnungsfähigkeit nicht zur Verantwortung gezogen werden
kann. Diese Bestimmung wird durch den § 29 des Entwurfes gänzlich
beseitigt.
Der wichtigste Fortschritt liegt aber darin, daß der Entwurf
festsetzt, daß die Zurechnungsfähigkeit in Bezug auf die konkrete
Tat zu beurteilen ist. Die gleiche Bestimmung findet sich übrigens
bereits in den beiden österreichischen Entwürfen von 1909 und 1912.
Dadurch wird eine gerechte forensische Beurteilung der Triebhand¬
lungen, der Trunkenheitsdelikte und des Schwachsinns ermöglicht.
Es braucht nicht mehr der Nachweis erbracht werden, daß die Willens-
bestiramung nach allen Richtungen hin gestört ist, es genügt, wenn
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Dr. Heinrich Herschmann.
sie es in Bezug auf die inkriminierte Handlung zur Zeit der Tat war.
Es handelt sich also um eine Bestimmung, die, darüber kann kein
Zweifel bestehen, vom Gesetzgeber pro reo gedacht war. Hier nun
hat die Kritik besonders heftig eingesetzt und das alte Problem der
partiellen Zurechnungsfähigkeit neuerlich zur Diskussion gebracht.
Ziehen hat verlangt, daß die Exkulpierung nur dann erfolge, wenn
der Nachweis erbracht wird, daß die Geistesstörung beim Zustande¬
kommen der inkriminierten Handlung eine entscheidende Rolle
gespielt hat. Werde dieser Nachweis nicht erbracht, dann sei die
Geistesstörung nur für die Frage der Verhandlungs- und Straffähigkeit,
nicht aber für die Zurechnungsfähigkeitsfrage von Relevanz. Es sei
daher ein solcher Verbrecher so zu behandeln wie ein Täter, der erst
nach Verübung eines Deliktes an einer Geistesstörung erkrankt ist.
Bei der Erörterung dieser Frage handelt es sich, wie dem Fachmann
nicht erst gesagt zu werden braucht, besonders um die Paranoiker,
und zwar namentlich um solche Paranoiker, die schon vor ihrer Ein¬
rückung kriminell waren. Der Standpunkt Ziehens wurde allerdings
von verschiedenen Psychiatern abgelehnt; so von Asch aff enburg,
Cramer, Pilcz und Bischoff. Neuerdings hat sich Türkei*)
besonders eingehend mit dieser Frage befaßt und die Befürchtung
ausgesprochen, die vom Gesetzgeber pro reo gedachte Bestimmung,
daß die Zurechnungsfähigkeit in Bezug auf die konkrete Tat zu beur¬
teilen sei, werde in der Praxis ins Gegenteil verkehrt werden. Die
Richter würden jetzt vom Sachverständigen stets den Nachweis
verlangen, daß die Erkrankung auf die unter Anklage stehende Tat
von maßgebendem Einflüsse war. Türkei meint, daß die eventuellen
Schwierigkeiten bei Beantwortung der Frage nach dem kausalen Zu¬
sammenhang zwischen der Geistesstörung und der konkreten Tat in
erster Reihe den Psychiatern erwachsen würden, denn die Frage nach
diesem Zusammenhänge werde im Laufe des Strafprozesses an die
Psychiater gewiß gestellt werden.
Meiner Ansicht nach muß der Richter diese Frage an den ärzt¬
lichen Sachverständigen stellen und die Beantwortung dieser Frage
durch den Psychiater ist unerläßlich, wofern das ärztliche Gutachten
für den Richter überhaupt von Wert sein soll. Türkels Bedenken,
daß aus der Stellung der Frage nach dem kausalem Zusammenhänge
*) Türkei: Der Zurechnungsfähigkeitsparagraph im österr. Rechte, Jahrb.
f. Psych. u. Neurol., Bd. 35, 1. Heft.
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Der Unzurechnungsfähigkeitsparagraph im neuen deutsch. Strafgesetzentw. 11 7
zwischen geistiger Störung und inkriminierter Tat die pro reo gedachte
Bestimmung in ihr Gegenteil verkehrt werden würde, sind wohl schon
aus dem Grunde nicht zutreffend, weil die Fälle, in welchen ein Para¬
noiker eine Straftat begeht, die mit seinem Wahnsystem in keinem
Zusammenhänge steht, numerisch gar nicht in Betracht kommen
gegenüber den vielen Fällen, in welchen die erwähnte Bestimmung
für den Angeklagten von Vorteil sein wird; Wagner-Jauregg 3 )
meint, daß Ziehens Beispiel nicht glücklich gewählt sei, weil es einen
in praxi.nur selten vorkommenden Fall illustriere; im übrigen schließt
er sich Ziehens Standpunkt, daß solche Paranoiker gestraft werden
sollen, an. „Es gibt nicht wenige Paranoiker, die in den oft jahrelang
dauernden Anfangsstadien ihrer Krankheit sich der vollen bürger¬
lichen Freiheit erfreuen, selbst in verantwortlichen Stellungen sich
befinden und sich gegen den Versuch, ihnen die bürgerliche Freiheit zu
nehmen, recht energisch und wahrscheinlich mit Erfolg wehren würden.
Bürgerliche Freiheit und Zurechnungsfähigkeit sind aber Gebiete, die
sich zwar nicht ganz, doch zum allergrößten Teile decken. Und es
kann nicht unbillig genannt werden, daß jemand, der sich dauernd des
Genusses der bürgerlichen Freiheit erfreut, auch die Last der straf¬
rechtlichen Verantwortlichkeit aufgebürdet werde.“
Bezüglich der Alkoholdelikte hat Wagner-Jauregg verlangt,
daß die Straflosigkeit wegen einer durch Berauschung herbeigeführten
Unzurechnungsfähigkeit nicht eintreten solle, wenn dem Täter aus
Erfahrung bekannt war, daß er im Zustande der Trunkenheit zur Be¬
gehung von Delikten geneigt sei. Von den Verfassern des deutschen
Strafgesetzentwurfes wird in der Denkschrift dagegen eingewendet,
daß diese Auffassung mit den Grundlagen der Schuldlehre nicht im
Einklänge stehe. Ich 4 ) habe daher den Vorschlag gemacht, den
kriminalpolitischen Forderungen Wagner-Jaureggs einerseits und
dem Standpunkt der Juristen andererseits in der Weise gerecht zu
werden, daß § 274 des Entwurfes, der die „sinnlose Trunkenheit“,
das ist die Begehung von Straftaten in einem die Zurechnungsfähigkeit
*) Wagner v. Jauregg: Zum Unzurechnungsfähigkeitsparagraphen im
österr. Strafgesetzentwurf, Monatsschr. f. Kriminalpsychol. u. Strafrechts¬
reform, 4. Jahrg., 8. Heft.
4 ) Herschmann: Die Alkoholfragc in den neuen deutschen und österr.
Strafgesetzentwürfen, erscheint demnächst in den Jahrbüchern f. Psychiatrie
und Neurologie.
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118
Dr. Heinrich Herschmann.
ausschließenden Zustande von Berauschung, ahndet, einen Zusatz
etwa folgenden Inhaltes zu erhalten hätte: „War dem Täter jedoch
aus Erfahrung bekannt, daß er im Zustande der Trunkenheit zur Be¬
gehung von Delikten geneigt sei, so soll die sinnlose Trunkenheit mit
der sonst für das Delikt vorgesehenen Strafe geahndet werden.“ Da¬
durch, daß das im Rausche verübte Delikt nur als „sinnlose Trunken¬
heit“ qualifiziert wird, gelangt der Standpunkt der juristischen
Schuldlehre zur Geltung; dadurch, daß aber in den erwähnten Fällen
keine Milderung der Strafe erfolgt, wird die kriminalpolitische Forde¬
rung Wagner-Jaureggs verwirklicht.
In stilistischer Hinsicht machte Wagner-Jauregg darauf
aufmerksam, daß es nicht auf die „Fähigkeit zur Einsicht“, sondern
nur auf die Einsicht selbst ankommen könne; das Gesetz verlange,
daß die Frage der Zurechnungsfähigkeit in Bezug auf die konkrete
Tat geprüft werde, und da eine Belehrung in Bezug auf die konkrete
Tat doch nicht in Betracht komme, so falle die Fähigkeit zur Einsicht
mit der Einsicht selbst zusammen.
Viel Widerspruch hat auch der Passus „seinen Willen seiner Ein¬
sicht gemäß zu bestimmen“ gefunden. Wagner-Jauregg hat hiezu
bemerkt, daß der Täter und sein Wille eins seien, man könne sie nicht
trennen. Aschaffenburg hat daher die Formel „oder dieser Einsicht
gemäß zu handeln“ geprägt. Die ’Aschaffenburgsche Formel
wurde auch im österreichischen Entwurf von 1912 akzeptiert. Ich
bin überrascht, daß der deutsche Entwurf sich nicht für die ausgezeich¬
nete Aschaffenburgsche Formel entschlossen hat.
Die vorliegende Fassung des Unzurechnungsfähigkeitsparagraphen
im deutschen Entwurf ist meines Erachtens eine ausgesprochen
indeterministische. Der gegenteiligen Anschauung der Verfasser des
Entwurfes (Denkschrift S. 30) vermag ich nicht beizupflichten. Es
ist übrigens nicht einzusehen, weshalb sich die Juristen zu ihrem
indeterministischen Standpunkt nicht bekennen wollen. Solange
man ein Strafgesetz auf das Schuld- und Zurechnungsfähigkeits¬
prinzip gründet, muß man notwendigerweise Indeterminist sein.
Der Indeterminismus der Juristen ist übrigens gerade vom deter¬
ministischen Standpunkte aus eine Entwicklungsnotwendigkeit (Stöhr)
und der hohe ethische Wert des Indeterminismus wurde auch von
deterministischer Seite (Wagner-Jauregg) anerkannt. •
Der deutsche Entwurf führt unter den psychologischen Kriterien
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Der Unzurechnungsfähigkeitsparagraph im neuen deutsch. Strafgesetzentw. 119
der Unzurechnungsfähigkeit die mangelnde Einsicht in das „Un¬
gesetzliche der Tat“ an. Es besteht hier eine Differenz gegenüber den
beiden österreichischen Entwürfen, die von der mangelnden Einsicht
des Täters in das „Unrechtmäßige seiner Tat“ sprechen. Ich würde
der österreichischen Fassung den Vorzug geben. Zunächst aus stilisti¬
schen Gründen. Wenn die Zurechnungsfähigkeit des Täters nur in
Bezug auf die inkriminierte, das heißt also seine Tat zu beurteilen
ist, so soll dies im Gesetze deutlich zum Ausdruck gebracht werden.
Weiters glaube ich, daß es nicht auf die Einsicht in das „Ungesetzliche“
der Tat ankommt, sondern auf die Erkenntnis ihres ethischen Unwerts.
Der Besitz ethischer Begriffe und die Freude am ethischen Handeln
sind integrierende Bestandteile der Zurechnungsfähigkeit. Entwick¬
lungshemmungen des Gehirns, welche die Bildung ethischer Begriffe
unmöglich machen, sowie der Verlust ethischer Begriffe infolge einer
psychischen Erkrankung beeinträchtigen die Zurechnungsfähigkeit.
Die mangelnde Einsicht in das „Ungesetzliche“- kann aber kein Kri¬
terium der Unzurechnungsfähigkeit bilden. Nimmt man an, daß die
mangelnde Einsicht in das „Ungesetzliche“ der Tat ein Kriterium
der Unzurechnungsfähigkeit ist, so behauptet man damit implicite,
daß der Zurechnungsfähige diese Einsicht in das „Ungesetzliche“
der Tat besitzt. Das ist aber keineswegs immer der Fall. Daher auch
der juristische Grundsatz, daß Unkenntnis des Gesetzes nicht vor
Strafe schützt. Gegen diese Auffassung hat Kadecka gelegentlich
der Beratung des österreichischen Entwurfes von 1909 den Einwand
vorgebracht, daß, wenn es nicht auf die Einsicht in das „Ungesetzliche“,
sondern auf die Einsicht in das „Unrechtmäßige“ ankomme, z. B. der
anarchistische Verbrecher werde freigesprochen werden müssen, weil
ihm ja die Einsicht in das „Unrechtmäßige“ seiner Tat abgeht. Der
Einwand Kadeckas trifft nicht zu. Die im ersten Teile des Para¬
graphen vorgenommene Aufzählung der biologischen Tatbestände
sorgt dafür, daß die mangelnde Einsicht in das „Unrechtmäßige“
der Tat nur dann exkulpierende Wirkung hat, wenn sie auf einer Geistes¬
störung, Geistesschwäche oder Bewußtseinsstörung beruht, nicht
aber dann, wenn sie irgendeiner extremen politischen Gesinnung
entspringt.
Die Bestimmungen des deutschen Entwurfes ex 1919 über die
verminderte Zurechnungsfähigkeit unterscheiden sich von den Vor¬
schlägen der österreichischen Entwürfe dadurch, daß sie auf kom-
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Dr. Heinrich Herschmann.
plizierte Abgrenzungen und Begriffsbestimmungen verzichten und
sich auf eine lediglich praktischen Gesichtspunkten Rechnung tragende
Definition der verminderten Zurechnungsfähigkeit beschränken. Dabei
wird trotz aller Kürze eine gefährliche Lücke des österreichischen
Vorentwurfes vermieden, auf die^Raimann 6 ) aufmerksam gemacht
hat. Nach Rai mann „muß ein psychopathisches Individuum ver¬
urteilt worden sein, um im Falle der Gemeingefährlichkeit weiterhin
versichert werden zu dürfen“. Wenn nun ein Psychopath eine Straftat
in einem die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustande von
Bewußtseinsstörung, z. B. in einem pathologischen Affekt, begangen
hat, so muß er nicht nur freigesprochen werden, sondern es sind auch
sichernde Maßregeln gegen ihn unzulässig. Denn nach § 36 des Vor¬
entwurfes zur Strafprozeßordnung darf nur derjenige verwahrt werden,
der dauernd unzurechnungsfähig ist, also der Geisteskranke oder
Geistesschwache, nicht aber der Minderwertige, der ja nicht dauernd
unzurechnungsfähig ist; nach § 37 aber, der die Verwahrung der
psychopathisch Minderwertigen regelt, darf nur die Verwahrung eines
verurteilten Täters verfügt werden, wie sich aus den in diesem
Paragraphen enthaltenen Worten „nach dem Vollzüge der Strafe"
deutlich ergibt. Ein Minderwertiger, der wegen einer Bewußtseins¬
störung tempore criminis freigesprochen wurde, kann nicht ver¬
wahrt werden, er schlüpft also zwischen Strafanstalt und Verwahrung
durch. Wenn dieser Entwurf Gesetzeskraft erhielte, so wäre man der
kriminalpolitisch gefährlichsten Gruppe der Minderwertigen gegenüber
auch weiterhin machtlos.
Die vermindert Zurechnungsfähigen sollen nach den Bestimmungen
des deutschen Entwurfes in einer öffentlichen Heil- und Pflegeanstalt
verwahrt werden. Diese Bestimmung muß in psychiatrischen Kreisen
lebhaften Widerspruch erwecken. Darüber, daß die kriminellen Psycho¬
pathen weder in den allgemeinen Strafvollzug noch in die alle Zwangs¬
mittel nach Tunlichkeit vermeidende moderne Irrenanstalt hinein-
passen, sind die Akten längst geschlossen. Solche Individuen gehören
in eigene Zwischenanstalten, die allerdings zweckmäßigerweise unter
psychiatrischer Leitung stehen sollen. Der österreichische Entwurf
bringt die restlose Erfüllung dieser von den meisten Psychiatern
s ) Rai mann, Geminderte Zurechnungsfähigkeit und sichernde Ma߬
nahmen, Vortrag, gehalten in der österr. kriminalist. Vereinigung. Allg. österr.
GerZtg., 1911, Nr. 17.
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Der Unzurechnungsfähigkeitsparagraph in) neuen deutsch. Strafgesetzentw. 121
gestellten Forderung, der deutsche Entwurf dagegen befriedigt in dieser
Hinsicht nicht.
Ich möchte diese Arbeit damit abschließen, daß ich nun selbst eine
Formulierung des sogenannten Unzurechnungsfähigkeitsparagraphen
versuche. Im Sinne der gemachten Vorschläge müßte der Paragraph
etwa folgendermaßen lauten:
„Nicht strafbar ist
1. derjenige, dessen Einsicht in das Unrechtmäßige seiner Tat
zur Zeit der Tat infolge krankhaften Geisteszustandes, Störung des
Bewußtseins, Taubstummheit oder aber infolge einer heftigen, aus
dem gewöhnlichen Menschengefühl entstandenen Gemütsbewegung
in einem die Verantwortlichkeit ausschließenden Maße beeinträchtigt
war,
2. derjenige, der zur Zeit der Tat trotz vorhandener Einsicht in
das Unrechtmäßige seiner Tat außerstande war, dieser Einsicht
gemäß zu handeln, weil sein Handeln durch eine der im ersten Ab¬
sätze angeführten Ursachen in einem die Verantwortlichkeit aus¬
schließenden Maße beeinflußt wurde.
Krankhafte Neigungen zur Begehung der Tat können für sich
allein nie Straffreiheit im Sinne dieses Gesetzes begründen.
Trunkenheit oder eine andere Störung des Bewußtseins schließt
die Bestrafung nicht aus, wenn sich der Täter zum Zwecke der Ver¬
übung der Tat in diesen Zustand versetzt hat.
War die Verantwortlichkeit zur Zeit der Tat nur in hohem Grade
vermindert, so ist die Strafe zu mildern.“
Hiezu wären noch zwei Ergänzungen notwendig. Erstens müßte,
am besten in die Strafprozeßordnung, eine Bestimmung aufgenommen
werden, die in klarer Weise die Abgrenzung zwischen ärztlicher und
richterlicher Kompetenz in der geforderten Weise vornimmt, und
weiters müßte der Paragraph über die sinnlose Trunkenheit (im vor¬
liegenden Entwurf der § 274) im Sinne der von Wagner-Jauregg
erhobenen kriminalpolitischen Forderung erweitert werden.
Dagegen entfällt die Notwendigkeit einer eigenen Gesetzesbestim¬
mung hinsichtlich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Taub¬
stummen. Dadurch, daß die Taubstummheit unter die im biologischen
Teil des Paragraphen angeführten Geisteszustände aufgenommen
wird, werden die Richter auf die Notwendigkeit, jeden taubstummen
Beschuldigten der psychiatrischen Untersuchung zuzuführen, bereits
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Dr. Heinrich Herschmaim.
hinlänglich aufmerksam gemacht. Auf die ausdrückliche Erwähnung
der Taubstummheit möchte ich allerdings im Gegensatz zu Rai mann
nicht gern verzichten. Raimann meint, der Taubstumme werde,
wenn er geistesschwach sei, ohnedies bereits durch das Gesetz geschützt
und andernfalls bedürfe er keines besonderen Schutzes. Es kommt
aber nicht auf die allfällige Geistesschwäche des Taubstummen allein
an, sondern auch darauf, daß der Taubstumme infolge seines schweren
Smnesdefektes nur bei ganz besonderer Art des Unterrichtes bildungs¬
fähig und erziehbar ist, weshalb er, wenn diese Voraussetzung eines
Spezialunterrichtes gefehlt hat, auch bei guter Intelligenz der zur
strafrechtlichen Verantwortlichkeit unbedingt notwendigen Einsicht
in die Verhältnisse des Lebens sowie der -erforderlichen ethischen
Begriffe ermangeln kann. Er bedarf also, ebenso wie der Jugendliche,
eines besonderen gesetzlichen Schutzes.
Zu erwägen wäre bloß, ob es nicht vorteilhafter wäre, statt von
„Taubstummheit“ ganz allgemein von einem erheblichen Mangel der
Sinneswerkzeuge zu sprechen, damit unter bestimmten Voraus¬
setzungen auch der Blinde geschützt werde. Allerdings wird erfahrungs¬
gemäß die Bildungsfähigkeit und Erziehbarkeit durch den Mangel des
Gesichtssinnes weit weniger beeinträchtigt als durch die Taub¬
stummheit.
bv Google
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Zwangsvorstellungen und Psychose.
Von
Dr. Alexander Pilcz (Wien).
Westphal hatte in seiner klassischen Arbeit „Über Zwangs¬
vorstellungen“ 1877 betont, daß ein Übergang in Wahnideen oder
in Demenz nicht zu befürchten sei, und 1915 sagt Kräpelin u. a.: „Ein
Übergang in andere Erkrankungen, namentlich in Paranoia, wie
früher gelegentlich angenommen wurde, scheint nicht vorzukommen.“
Die Mehrzahl der Autoren bestätigt die Westphalsche Beobachtung
(Falret, Heilbronner, Thomsen, Schäfer u. a.), erachtet min¬
destens die Entwicklung einer chronisch unheilbaren wahnbildenden
Psychose als ein ungemein seltenes Vorkommnis, in welchem nur
eine zufällige Komplikation zu erblicken wäre (Ziehen, Warda,
Meynert, Bumke, Oppenheim u. a.); ja Koch will geradezu
von einem Antagonismus zwischen Zwangszuständen und eigentlichen
Geistesstörungen sprechen, ebenso Thomsen, eine Ansicht, welche
Löwenfeld als für die große Mehrzahl von Fällen zutreffend an¬
sieht.
Es fehlte aber auch nicht an Stimmen, welche im gegenteiligen
Sinne lauteten, und eine immerhin nicht spärliche Kasuistik schien
den Übergang von Zwangsvorstellungen in Psychosen s. str. oder
mindestens das Auftreten der beiden psychopathischen Vorgänge
bei einem und demselben Kranken als doch nicht so ungemein selten
zu ergeben.
Wenn man sich in der einschlägigen Literatur umsieht, — was
übrigens angesichts der bekannten und viel beklagten Verwirrung
in der psychiatrisch-klinischen Nomenklatur und der Verquickung
rein klinischer Betrachtungsweise mit theoretischen Spekulationen
kein ganz leichtes Stück Arbeit ist; gerade der unglücklich gewählte
Ausdruck von „abortiver“ oder „rudimentärer“ Paranoia trug mit
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124
Dr. Alexander Pilcz.
zur Verwirrung bei — so muß zunächst jene Gruppe von Fällen
gesondert betrachtet, beziehungsweise ausgeschieden werden, bei
welchen überhaupt nicht irgend eine andere Form von Geistes¬
krankheit zur Entwickelung gelangte und bei denen auch nicht, wie
die betreffenden Autoren selbst zugeben, etwa eine wirkliche Demenz
als Endausgang zu beobachten ist, sondern bei welchen nur die Zwangs¬
vorstellungen derart entscheidend auf das gesamte Denken und Handeln
der Kranken einwirkten, daß dieselben schließlich sozial, beruflich
ganz unfähig wurden, jene Fälle, welche z. B. Le Grand du Saulle
als drittes Stadium seiner «folie du doute avec d61ire du toueher»
beschrieb; Marie et Vigouroux, Janet gebrauchen den Aus¬
druck «d6mence sp6ciale», Krafft-Ebing spricht von einem
„geistigen Torpor“, Ziehen von „Pseudodemenz“; Beispiele dafür
finden sich bei Kräpelin (1. c., S. 1878), Näcke, Morel, Wille,
Mercklin, Lundborg, Tamburini u. a. Auch ich kenne mehrere
solcher Fälle.
Ich hatte z. B. Gelegenheit, einen derartigen Kranken zu sehen, der nach
mehrjähriger psychoanalytischer Behandlung als menschenscheuer Sonder¬
ling ein bejammernswertes Dasein führte; seine Wohnung glich einem Labo¬
ratorium mit unzähligen Flaschen und Waschbecken voll Sublimat, Lysol, Al¬
kohol, Äther, Sterilisationsapparaten u. dgl.; ein höchst komplizierter Apparat
ermöglichte öffnen und Schließen des Hosenschlitzes, damit bei der miction der
Penis nicht mit den Fingern berührt werden müsse, usw\ Von Spaziergängen,
Theaterbesuch, Lektüre usw. war seit langem keine Rede mehr. Der Versuch,
auch nur den Puls tasten zu wollen, löste mit intensiver Angstreaktion einher¬
gehende Fluchtversuche des Kranken durchs ganze Zimmer aus. Er gab übrigens
spontan mit aller Entschiedenheit an, daß sein Zustand jahrelang ganz erträglich
gewesen sei und erst durch die Psychoanalyse, welche ihm „so vieles erst klar
gemacht habe“, die bedeutende Verschlimmerung erfahren habe.
Daß übrigens auch derartige verzweifelte Fälle noch einer Heilung
zugänglich sein können, lehrt u. a. die Casuistik von Löwenfeld.
Eine andere Gruppe umfaßt Fälle mit interkurrenten psycho¬
tischen Phasen recht verschiedener Genese. Es wurden rein amente
Zustandsbilder beschrieben (zwei Beispiele bei Janet, beziehungs¬
weise obs. 224 bei Janet et Kaymond; S6glas spricht davon,
ebenso Dcrcum «actual confusion», wobei er als Ätiologie das Er¬
schöpfungsmoment heranzieht); ferner hysterische Delirien (Janet,
Raymond, S6glas); einige der Krankheitsgeschichten lassen nach
der Schilderung an «syndrörnes Spisodiques* im Sinne von Magnan
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Zwangsvorstellungen und Psychose*
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denken, ein Vorkommnis, das entsprechend der hereditär-degenera-
tiven Veranlagung sogar häufiger zu erwarten wäre, als die Literatur
zu zeigen scheint (Fälle von Laroussini6, Janet und Raymond,
Krafft-Ebing, obs. 4, usw.); auf einen Fall mit einem transitorischen
schwer manischen Zustande, über welchen Heilbronner berichtet,
werden wir sogleich zurückkommen. Paranoide Züge als vorübergehende
Erscheinung ohne Weiterbildung gewöhnlicher Paranoia zeigt auch
der Fall von Lundborg.
Ungleich zahlreicher sind Beispiele von Kombination, beziehungs¬
weise Ausgang von Zwangserscheinungen in Melancholien. Es seien
beispielsweise angeführt die Fälle von Pit res und R6gis, Pfers¬
dorf, Janet, Wille, Mickle (obs. IVa), Heilbronner, Stöcker,
Mercklin, Juliusburger usw., usw. Rehm, Löwenfeld, S6glas,
Oppenheim, Wille, Mercklin, Schäfer, Sanders, Tuczek u. a.
erwähnen dieses Vorkommen als gar nicht so selten. Während aber
z. B. Tuczek in der Melancholie etwas Secundäres sieht („Die
Zwangsvorstellungen mit ihrer den Vorstellungsablauf hemmenden
Wirkung können sowohl durch ihre Monotonie, wie durch ihren Inhalt
zum Anlasse für eine Psychose vom Charakter der Melancholie werden“),
ebenso Kaan, wird man wohl heute, nach den Forschungen von
Bonhöeffer, Heilbronner und Stöcker, in derartigen Fällen
die Zwangsvorstellungen nur als Symptom im Rahmen des depressiven
Zustandsbildes auffassen; die innigen Beziehungen zwischen manisch-
depressivem Irresein und Zwangsvorstellungen betont auch Kräpelin
neuerdings, das häufige Vorkommen von Zwangsvorstellungen bei
einfachen und zirkulären Melanchoüen wird in nahezu jedem klinischen
Lehrbuche erwähnt, und Heilbronner, der noch 1899 zwei Fälle
der von ihm sogenannten „progressiven Zwangsvorstellungspsychose“
auf Grund gewisser symptomatologischer Einzelheiten von der ein¬
fachen und Angstmelancholie abtrennen wollte, läßt es 1912 als
zweifelhaft dahingestellt, ob überhaupt das Krankheitsbild jener
progr. Zwangsvorst, psych. werde sich aufrecht erhalten lassen, und
tritt auf Grund von 22 eigenen genau studierten Fällen für den Zu¬
sammenhang von manisch-depressivem Irresein und Zwangsvor¬
stellungen ein. (Jener obenerwähnte Fall von interkurrenter manischer
Erregung bei einem Zwangsneurotiker ist in der letzten Heilbronner-
schen Publikation mitgeteilt.) Mag man nun den Begriff des manisch-
depressiven Irreseins noch so weit ausdehnen, mag man den Aus-
Jahrbücher für Psychiatrie. XLI. Bd. 2. n. 8. Heft. 9
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Dr. Alexander Pilcz.
führungen von Heilbronner und besonders von Stöcker unbedingt
zustimmen oder nicht 1 ):' vom prognostischen Gesichtspunkte aus
lassen auch hiehergehörige Erfahrungen an der alten Westphalschen
Behauptung festhalten, daß die Befürchtung eines Überganges von
Zwangsvorstellungen in irreparable chronische Wahnbildung nicht
berechtigt erscheint.
Länger müssen wir bei jener Literatur verweilen, welche einen
Übergang in chronische Wahnbildung zu zeigen geeignet scheint,
beziehungsweise die Entwicklung einer Paranoia oder paranoiden
Schizophrenie bei einem vordem Jahre lang nur an einfachen Zwangs¬
vorstellungen leidenden Kranken dartüt. Ich will bei Erörterungen
dieser Frage von allen theoretischen Gedankengängen über das Wesen
von Zwangs- und von Wahnideen absehen (wer sich dafür genauer
interessiert, sei auf den kritischen Vortrag von Bumke, auf die
Löwenfeldsche Monographie, auf die Diskussion in der gemein¬
samen Sitzung der Pariser neurolog.-psych. Gesellschaft 1910, auf
die Arbeiten von Friedmann, Warda, Majano, Fauser*) usw.
verwiesen) und einer rein klinischen Betrachtungsweise mich bedienen.
Zunächst dürfen wohl alle jene Fälle unberücksichtigt bleiben,
bei denen im Verlaufe eines bereits bestehenden paranoiden Zustands¬
bildes nebenbei auch Zwangsvorstellungen zur Beobachtung gelangen.
Das gelegentliche Vorkommen von Zwangsvorstellungen bei den ver¬
schiedensten Formen von Geisteskrankheiten ist ja jedem Fachmanne
bekannt. Ziehen erwähnt das Auftreten von Zwangsvorstellungen
sogar bei senil Dementen und bei Paralytikern; letzteres auch Has-
kovec; in der Studie von Stöcker findet sich je ein Beispiel von
Zwangsideen bei einer arteriosklerotischen und bei einer epileptischen
*) Ein Umstand scheint mir vor allem gegen den Versuch zu sprechen, das
Bild der Zwangsvorstellungsneurose völlig im Rahmen des manisch-depressiven
Irreseins aufgehen lassen zu wollen: die verhältnismäßige Seltenheit des Suizids.
Gewiß kennt jeder Erfahrene derartige Fälle, und auch aus der Literatur lassen
sich dafür Beispiele erbringen. Allein dieses Vorkommnis muß im Verhältnis
zur großen Häufigkeit von Selbstmord und Suizidversuchen bei der Melancholie
immerhin als auffallend selten bezeichnet werden. Janet z. B. sah keinen der¬
artigen Fall. Vergl. übrigens die Diskussion zum Vortrage Stöckers (100. Sitz,
d. ostd. Ver. f. Psychiatrie, Breslau, 1913, 6. Dez.)
*) Dieser Verfasser streift in den Schlußworten auch klinisch-prognostische
Fragen; Übergänge zur Paranoia und zu analogen Krankheiten seien kaum
anzunebmen.
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Zwangsvorstellungen und Psychose.
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Demenz; Näcke teilt einen Fall von Berührungsfurcht mit Wasch¬
zwang u. dgl. im Verlaufe einer sekundären Demenz mit, wobei aller¬
dings nicht mit Sicherheit aus der Krankheitsgeschichte hervorgeht,
ob es sich um durch bestimmte Vorstellungen bedingte Zwangs¬
handlungen, oder um katatone Bewegungsstereotypien, Tics usw.
handelt. Als einfache symptomatologische Besonderheit bei einer
chronisch paranoiden Psychose können beispielsweise aufgefaßt
werden Fälle von Mickle (obs. III b), Hak Tuke, obs. 233 und 236,
von Janet und Raymond, Magnan, Mercklin, Hoest (zit.
nach Mercklin) 8 ); Pfersdorf gebraucht geradezu den Ausdruck
,,symptomatische 4 ‘ Zwangsvorstellungen.
Nun wurde aber von manchen Autoren ein direktes Übergehen
von Zwangsvorstellungen, beziehungsweise des einfachen Bildes der
„Zwangsvorstellungsneurose“ als Krankheit in eine Paranoia, bezie¬
hungsweise paranoide Schizophrenie geschildert. Ich will dabei die
Frage nach dem Mechanismus des „Überganges“ zunächst außer acht
lassen, ebenso die Frage, ob nicht einfache Substitution oder zufällige
Kombination vorliege. Ohne Kasuistik zu bringen, erwähnt z. B.
Mendel dieses Vorkommen als selten, Pitres und R6gis beobach¬
teten es unter 250 Fällen dreimal, Tuczek meint: „Die sukzessive
Entwicklung von Wahnideen aus Zwangsvorstellungen ist nach unseren
Erfahrungen ein bei der Verrücktheit gewöhnlicher Vorgang“, es
geht aber aus den weiteren Ausführungen hervor, daß Tuczek dabei
nicht Zwangsneurotiker im Westphalschen Sinne, sondern originäre
Paranoiker oder paranoide Schizophrene im Auge hatte. („Bei diesen
Individuen.... steigern sich die hypochondrischen Ideen ins Un¬
geheuerliche, .... und es entsteht ein konfuses und groteskes Gemisch
von Verfolgungs- und Größenideen.“) Wille sagt, daß viel häufiger,
als man dachte, solche Kranke schwer geisteskrank und anstalts¬
bedürftig werden; immerhin trete dann an Stelle der Zwangsvor¬
stellungen eine andere Störung, und er hält den Übergang in Melan¬
cholie für sicher, in Paranoia für „wahrscheinlich“; Warda erblickt
in dem Übergang in Paranoia eine große Seltenheit und trennt davon
Fälle, bei denen es sich einfach darum handle, daß ein Zwangsneurotiker
später an Paranoia erkranke; für das erstere Vorkommnis glaubt
# ) Bei der Meschedeschen „Phrenolepsia erotematica“ handelt es sich
wohl überhaupt nicht um eine zwangsmäßige eigentliche Fragesucht, sondern
nur um katatone Einfälle und Tics.
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er einen Fall von Krafft-Ebing, von Larroussini4 und eine eigene
Beobachtung als Beispiele heranziehen zu können. Die Fälle von
Krafft-Ebing und Larroussini4 lassen, wie schon oben gesagt, aber
kaum die Deutung als Paranoia zu, sondern die als syndrdmes 4piso-
diques, und auch die persönliche Beobachtung Wardas läßt die Diagnose
einer chronisch progressiven, mit Wahnbildung einhergehenden Psy¬
chose nicht gerechtfertigt erscheinen 4 ). Unter seinen 300 Fällen
will Jan et zwölfmal den Übergang in Paranoia, zweimal in Hebe-
phrenie gesehen haben. Liest man jedoch die im 2. Bande der Mono¬
graphie von Janet und Raymond ausführlicher publizierte Kasuistik,
so muß gesagt werden, daß obs. 224 bis (Tante väterlicherseits geistes¬
krank, seit 10 bis 12 Jahren „nervös“, mit 18 Jahren erster psycho¬
tischer Schub, mit 22 Jahren typische Dementia praecox) einen Aus¬
gang einer Zwangsneurose in "Schizophrenie keineswegs darstellt
(obs. 233 und 236 wurden schon oben erwähnt). S4glas betont den
Übergang in «d41irc systematis4*, ohne Beispiele zu bringen. Mey nert
spricht von fließenden Übergängen von Zwangsvorstellungen in eigent¬
liche Irrsinnsformen; doch liege dabei eine einfache und seltene Kom¬
bination vor. Kaan behauptet, daß die Fälle von „Anthropophobie“
manchmal in Paranoia übergehen; es muß aber gleich bemerkt
werden, daß das Bild der sogenannten „Anthropophobie“ im all¬
gemeinen von ausgesprochener Beziehungs- und Beachtungssucht
so gut wie nicht abgrenzbar erscheint, wenn nicht im konkreten Falle
die Schilderung des gesamten Krankheitszustandes nähere Einzel¬
heiten und Aufklärung bringt.
Bei der Durchmusterung der Literatur fällt ferner ein Umstand
auf, den Löwenfeld besonders würdigt. Dieser Autor sagt: „Wenn
wir von der Melancholie absehen, so finden wir, daß in den Fällen,
in welchen psychotische Symptome zu Zwangserscheinungen sich
gesellen, dies meist frühzeitig, nicht erst nach jahrelangem Bestehen
letzterer geschieht.... Auf der anderen Seite kommt in Betracht,
daß in keiner meiner Beobachtungen, in welchen ich langjährige
Existenz von Zwangserscheinungen (Zwangsvorstellungen, Phobien)
konstatieren konnte, es zur Ausbildung einer Psychose, von Melancholie
4 ) Mutter nervös, Schwester hysterisch, mit 42 J. akuter psychotischer
Schub, der nach 6—8 Wochen abklang; dann jahrelang Zwangserscheinungen,
mit 47 J. wieder kurzdauernde akute psychotische Phase, die in Heilung über¬
ging. M).
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Zwangsvorstellungen und Psychose.
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wieder abgesehen, kam.“ Unter meinem eigenen Materiale kenne ich
z. B. einen Mann mit 76, drei Frauen mit je 75, 72 und 70 Jahren,
bei welchen allen die Zwangsvorstellungen seit früher Jugend, mehr
minder chronisch oder exquisit periodisch bestehen, ohne daß andere
psychotische Züge je aufgetreten wären. Man wird aber wohl Fälle
der Art, daß nach kurzem Bestehen von als Zwangserscheinungen
imponierenden Symptomen eine Paranoia oder dergleichen sich ent¬
wickelte, nicht als Kombination beider Krankheitsvorgänge, bezie¬
hungsweise ein Übergehen des einen in den anderen Krankheitsprozeß
auffassen dürfen, sondern in ersteren höchstens eine Besonderheit
des Initialstadiums erblicken, worauf z. B. Kräpelin (1. c. Bd. I,
S. 302) aufmerksam macht, ebenso Sommer, Binswanger, HaS-
kovec.
Stimmt man dieser Anschauung zu, so schmilzt die Zahl der für
den Übergang oder die Kombination von Zwangsneurose und Paranoia
zu verwertenden kasuistischen Beispiele abermals zusammen. Ich
meine hier z. B. einen Fall von Mercklin (18jähr. Frauensperson,
keine Belastung, Beginn mit Berührungsfurcht, nach einigen Monaten
depressiver halluzinatorischer Wahnsinn). Ähnliche Beispiele finden
sich bei Chastenet (I), Löwenfeld, Juliusburger (obs. 2), Mor-
selli (pag. 13) u. a.
Ehe ich nun die übrige hiehergehörige Literatur erörtere, möchte
ich über drei Fälle meiner persönlichen Erfahrung berichten, deren
einen ich jahrelang als Patienten der ehemaligen I. psychiatrischen
Universitätsklinik in Wien zu beobachten Gelegenheit hatte, während
die beiden anderen meiner Privatklientel entnommen sind.
obs. 1. H. F., geb. 1875, Mechanikergehilfe. Vater befindet sich seit 1884
wegen Dementia paranoides in irrenärztlicher Pflege. Von sechs Geschwistern des
Pat. sind fünf an „Fraisen“ gestorben. Der Kranke kam durch normalen Geburts¬
akt zur Welt, lernte mit P/t J. gehen und sprechen, mit 2 J. Keuchhusten, mit
3 J. Sturz auf das Hinterhaupt, mit folgender Bewußtlosigkeit und Krämpfen f
ohne Erbrechen. Die Konvulsionen wiederholten sich in der Folge nicht. Mit
11 J. Pleuritis.
Guter Schulfortgang, immer ungesellig, menschenscheu, aber fleißiger Ar¬
beiter, kein Trinker.
Seit 1894 höchst quälende Kopfschmerzen, die mehrere Tage anhielten;
dazwischen wochenlangc Intervalle, in denen Pat. sich verhältnismäßig wohl
fühlte. Zwei Monate vor der am 16. Februar 1896 erfolgten Internierung
setzten wieder Kopfschmerzen ein, welche diesmal kontinuierlich fortbestanden
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Dr. Alexander Pilcz.
und nach etwa vier Wochen eine derartige Heftigkeit erreichten, daß Pat. die Arbeit
aufgeben und das Bett aufsuchen mußte. Der Zustand verschlimmerte sich,
so daß der Kranke lebensüberdrüssig wurde; er schlug sich den Kopf gegen die
Wand und den Fußboden, gebärdete sich „wie tobsüchtig“, so daß seine Abgabe
auf die psychiatrisch-klinische Abteilung des Allgemeinen Krankenhauses erfolgte,
von wo aus er am 2. März 1896 auf die Klinik in der Wiener Landes-Irrenanstalt 5 )
versetzt wurde.
Auf beiden Abteilungen ruhig, geordnet, leicht deprimiert, von prompter
Auffassung und Ausdrucksweise, ohne nachweisbare Sinnestäuschungen oder
Wahnideen. Er gibt Taedium vitae infolge der quälenden Kopfschmerzen zu,
meint, es sei ihm der Gedanke gekommen, daß er unheilbar wäre. Die Kopf¬
schmerzen gingen mit akustischer und optischer Hyperästhesie, selten mit An¬
deutung eines Flimmerskotoms, nie mit Erbrechen einher; auch laboriere er an
habitueller Obstipation.
Der körperliche Befund bei der Aufnahme ergab u. a.: Hydrokephal-rachi-
tisches Cranium mit blasig aufgetriebenen Stirn- und Scheitelhöckem und stark
seitlich ausladenden Scheitelbeinen. Ohrläppchen angewachsen, beiderseits
hypermetropischer Astigmatismus, (r < /), ata unteren Pupillarrande des linken
Auges Reste der Pupillarmembran. Bis auf allgemeine Reflexsteigerung und
Steigerung der mechanischen Muskelerregbarkeit Nervenbefund belanglos,
speziell keinerlei Halbseitenerscheinungen, keine Anhaltspunkte für einen raum¬
beengenden, endokraniellen Prozeß. Leichter Einstellungsnystagmus bei ex¬
tremer Seitwärtsdrehung. Zunge pappig belegt,* zittert stark, Gaumen steil,
schmal. Innere Organe ohne pathologischen Befund, Harn enthält wenig Nuclco-
albumen, ziemlich viel Indikan.
In der nächsten Zeit zeigte sich der Kranke stets von übertrieben-ängstlicher
Selbstbeobachtung, namentlich hinsichtlich seiner Darmfunktionen, verlangte
stets nach Abführmitteln, klagte häufig über Kopfschmerzen, wobei zuweilen
die Nn. occipital. minor. stärker druckempfindlich waren. Stimmung wechselte
zwischen einfacher Depression mit hypochondrischen Befürchtungen (er sei
unheilbar, erblich belastet) und stärkerer zornmütiger Gereiztheit; er verweigerte
z. B. die Annahme des Besuches seiner Mutter und anderer Verwandter; durch
die Internierung hätte man seine Zukunft vernichtet, er könne ja nicht unter
seinen Kameraden in der Fabrik sich blicken lassen; einmal (22. Mai) ein an¬
scheinend ganz unmotivierter zorniger Erregungszustand mit Aggressivität.
Dabei Schlaf ungestört, ständige langsame Gewichtszunahme (von 50 kg bei der
Aufnahme auf 57 kg am 1. Juli).
Seit Mitte Mai etwa zunehmend freier und ruhiger, erhielt einen Ausgang
mit seiner Mutter (23. Juli), den er dazu benützte, um sich von einer Brücke
in die Donau zu stürzen; er wurde gerettet, gab kein rechtes Motiv des Suizid¬
versuches an, war moros, ablehnend. In den nächsten Tagen auffallende Puls¬
labilität (66 ira Liegen, 86 im Stehen, 100 beim Gehen, sofortiges Absinken
auf 66 bei Rückenlage). — 7. bis 14. August fieberhafte Magendarmaffektion.
*) Seinerzeit 1. psychiatrische Klinik, mit Sommersemester 1907 aufgelassen.
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In der Folge keine bemerkenswerten Änderungen im Krankheitsbilde;
zuweilen stärker erregt, äußerte sich, seine Mutter sei schuld daran, daß sein
Vater und er in die Irrenanstalt gekommen seien, sie hätte sie schlecht behandelt.
Am 4. Mai 1897 in die Landes-Irrenanstalt Klosterneuburg versetzt.
Den Notizen dieser Anstalt ist nur zu entnehmen, daß der Kranke ständig
übertrieben-ängstliche Selbstbeobachtung zeigte, mit immer neuen hypochon¬
drischen Befürchtungen kam, doch klagte er speziell nicht mehr über Kopf¬
schmerzen. — Scheu, imgesellig, initiativelos, verlangt nie Ausgänge oder Ent¬
lassung, leicht erregbar. Seit März 1900 merklich stärker verstimmt. Am
13. April impulsiver Selbstmordversuch: Pat. entkleidete sich ganz nackt, zwängte
sich durch das Fenstergitter und stürzte sich vom 1. Stocke herab. Bis auf ober¬
flächliche Kontusionen und Errosionen keine Verletzung, keine Gehirnerschütte¬
rung (die Wucht des Sturzes war durch den Umstand abgeschwächt, daß Pat.
zunächst auf Drähte der Telegraphenleitung gefallen war, und daß die unge-
gepflasterte Straße vom Regen ganz aufgeweicht war.)
Juni—Juli mehr heiterer Stimmung.
Am 6. Dezember findet sich der Vermerk: „Wenn der Kranke sich un¬
beobachtet glaubt, spricht er leise mit sich und gestikuliert; sobald jemand in
der Nähe ist, zeigt sich der Pat. heiter, lacht, singt.“ Am 15. Jänner 1901 über¬
häufte er die Gattin des Traktpflegers mit obszönen Anträgen, ohne Versuche,
zu Tätlichkeiten zu übergehen.
Am 20. Jänner 1901 Versetzung auf die Männerabteilung der Wiener Irren¬
anstalt. Bei der Ankunft erzählt er, daß alle seine neurasthenischen Beschwerden
wesentlich besser geworden seien; den Selbstmordversuch vom 13. April 1900
habe er nur darum unternommen, weil er nie entlassen wurde. Der status psychicus
bringt u. a. ausdrücklich die Notiz: „Irgendwelche Halluzinationen, Zwangs¬
vorstellungen usw. sind nicht konstatierbar.“
In den nächsten Monaten anscheinend stets guter Dinge, ohne Auffällig¬
keiten (wie z. B. monologisieren), arbeitet fleißig, erklärt über Fragen, daß er sich
für unheilbar halte, äußert keinen Wunsch nach Entlassung. Oktober stärker
verstimmt. Jänner 1902 findet sich der Vermerk: „Die Zwangsvorstellungen,
an denen er auch gelitten habe, seien vollständig zurückgetreten.“ (Leider ist
gar nichts weiter gesagt.) Februar 1902 auf die I. psychiatrische Klinik versetzt.
Hier berichtet er u. a. über typische Grübelsucht, er müsse einen und denselben
Gedankengang immer wieder durchdenken, im Verkehr mit Menschen bekomme
er Angstzustände, habe die Empfindung, daß die anderen ihm seinen krankhaften
Zustand ansehen, er könne anderen nicht in die Augen schauen.
In der Folge stiller, fleißiger Arbeiter, kommt häufig mit allen möglichen
hypochondrischen Beschwerden. In den Vorlesungen berichtet er in durchaus
krankheitseinsichtiger Weise über eine Reihe von Zwangsvorstellungen, z. B. über
Platzangst; er fürchtet ferner, Geld verstreut zu haben und müsse immer wieder
nachzählen und suchen, müsse bestimmte Gedankengängc stets neuerdings
wiederholen und durchdenken, beim Lesen ein eben umgeschlagenes Blatt aber¬
mals zurückwenden, um das letzte Wort nochmals nachzulesen, habe den Zwang,
zu Boden zu schauen, habe die Befürchtung, daß die anderen ihn beobachten usw.
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Der Zustand habe 1894 ganz plötzlich mit Kopfschmerzen, Übelkeiten und Zittern
während der Arbeit begonnen, weise eine gewisse Periodizität auf, sei April bis
Spätsommer am schlechtesten, um dann mehr in den Hintergrund zu treten.
Im übrigen zeigt der Kranke mehr Spontanität, äußert verschiedene
Wünsche, z. B. nach Ausgängen, nach „freier Sperre“, welche kleine Begünsti¬
gungen ihm gewährt werden. — Arbeitet fleißig, stets übertrieben höflich.
Bei der Vorlesung vom 14. Februar 1906 erzählt nun Pat. u. a., daß er
jetzt sich wieder in einer schlechteren Periode befinde. Zuweilen habe er neuer¬
dings auch (eigene Worte) „paranoide Erscheinungen“, fühle sich beobachtet,
es käme ihm vor, daß Vorübergehende ihm Schimpfworte wie „Tepp“ oder der¬
gleichen zuriefen; bekundet dafür volle Einsicht. Im übrigen dieselben Angaben
wie bei früheren Demonstrationen.
Einige Tage später durch Steinwurf unbedeutende Rißquetschwunde am
Schädel, ohne Commotion.'
Am 10. Mai bleibt H. von der Arbeit zurück, teilt den Ärzten mit, er leide
gewiß nicht an „Paranoia“, fühle sich vielmehr ständig w f ohler, was er den fort¬
gesetzten „Suggestionen“ der Ärzte verdanke, welche auf diese Weise dem Aus¬
bruche einer Geistesstörung Vorbeugen: so sei z. B. ein Arzt, als Pat. gerade im
Vorgarten arbeitete, ostentativ zweimal an ihm vorübergegangen.
Der Kranke zeigt sich in den nächsten Tagen deprimiert, arbeitet nicht,
stürzt sich am 16. Mai, bitterlich weinend, vor dem Arzte auf die Knie hin.
bittet wegen seiner Undankbarkeit um Verzeihung, er w T olle alles reumütig
beichten. Die Selbstmordversuche seien Folge unterdrückten Geschlechts¬
triebes gewesen; schildert in höchst umständlicher Weise, wde er 1901 ein Mädchen
(die Schwester eines Traktpflegers) liebte, aber keine Gegenliebe fand, so daß er
den Plan faßte, sie und sich zu töten. Er erzähle dies alles jetzt, weil die Ärzte
durch ihre Suggestionen und Anspielungen daraufdrängen, bringt nunmehr
eine Reihe typischer Beziehungsideen vor, z. B.: er habe im Vorgarten eine Frau
gesehen, welche einem Knaben ein Tuch umband; Pat. habe dies anfangs für eine
„Halluzination“ gehalten, jetzt wisse er, daß das von den Ärzten so arrangiert
worden sei, um seine Hypochondrie günstig zu beeinflussen, u. dgl. — Bett¬
behandlung. — Ende Mai äußert Pat., daß die Heftigkeit und Häufigkeit seiner
alten Zwangsvorstellungen viel geringer geworden sei. — Juni Zunahme der
Beachtungs- und Verfolgungsideen; Mitpatienten würden von den Ärzten
gegen ihn aufgehetzt, vor ihm auszuspucken, ihn zu verhöhnen; da man ihm zu
verstehen gebe, daß er des Essens nicht w ert sei, beginnt der Kranke die Nahrungs¬
aufnahme zu verweigern, ißt nur, sobald unmittelbar zur Sondenfütterung An¬
stalten getroffen werden. — Juli gereizt, die Arzte seien seine Feinde, er wisse
nicht, aus welchem Grunde. Der ganze Lärm, wie das Klappern mit dem Eß-
geschirr usw\ sei absichtlich in Szene gesetzt, um ihm zu schaden. Zwangsvor¬
stellungen habe er seit einigen Wochen ganz verloren, nunmehr habe er ganz
andere Dinge im Kopfe. Im August mußte endlich zur künstlichen Ernährung
gegriffen werden; der Kranke begründete die Sitophobie damit, daß er keinen
Stuhl habe; den Speisen würden heimlich von den Ärzten Ingredienzien bei¬
gemengt, welche die Wirkung der verordneten und eingenommenen Laxier-
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Zwangsvorstellungen und Psychose.
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pillen paralysierten. Verlangt stets nach Abführmitteln und Einläufen, behauptet
aber, mittels des Irrigators würden ihm Kotmassen eingeführt.
Am 3. Oktober verlangte Pat. Feder und Papier; er wolle genau über seine
Zwangsvorstellungen berichten, wenn ihm dagegen die Ärzte das Versprechen
gäben, mit dem „Gefühlssuggerieren, Gedankeneingeben und Gedankenhören 4 ‘
aufzuhören. Sonst könne er ja nicht genau unterscheiden, was er sich selbst
denke, und was suggerierte Gedanken seien. Seit zwei Jahren schon höre er allerlei,
was er ursprünglich für „Stimmen“ hielt, jetzt aber als „Gedankenübertragung
und Gedankenerzeugung“ klar erkenne. Die Zwangsvorstellungen, an denen er
früher gelitten, seien nicht suggeriert gewesen, sondern krankhaft.
Am 25. November plötzlich von outrierter Heiterkeit, verspottet seine
Umgebung; nach einigen Stunden äußert er, es sei dies infolge hypnotischer
Suggestion geschehen. — Dezember sehr gereizt; wenn die Ärzte sagen, er solle
essen, so bedeute dies, wie er durch Suggestion erfahren, gerade das Gegenteil.
Die Namen der Mitpatienten seien nur symbolisch. Metzger bedeute „Frauen-
abschlachter“, Hasenkopf „Köpfe essen“, Koch „Eingeweide und Fleisch¬
essen“ usw.
Am 7. Jänner 1907 beschimpfte er, konvulsivisch lachend, die Frauen der
Mitpatienten auf das unflätigste, bittet gleich darauf weinend und auf den Knien
umherrutschend um Verzeihung; ebenso verbigeriert er am 9. Februar unbändig
lachend die derbsten Obszönitäten, will dann demütig den Ärzten die Hände
küssen. Seit Jänner verkennt er die Personen seiner Umgebung im Sinne von
Größenideen; ein Wärter sei Kronprinz, ein Mitpatient Kaiser, ein anderer
Stationschef; seinetwegen hätten die Ärzte schlaflose Nächte. Alles drehe sich
um ihn. Seit April zunehmend megalomane Ideen, er sei vom Kaiser in den
Adelsstand erhoben, sei der Sohn Lombrosos, habe die größte Entdeckung gemacht,
sei der größte Dichterphilosoph; durch seine Ideen heilten die Ärzte die Kranken,
sei Gott und der heilige Geist, Sprachrohr des Ewigen. Bei jenem Steinwurfe
(Februar 1906) habe er einen hellen Lichtschein gesehen, sein „Hydrokephalus“
(eigene Worte) sei durch einen Blitz gespalten worden. Seinerzeit habe er dies
nicht verstanden, jetzt sei es ihm durch Suggestion klar geworden, er sei Gott
in Gott. — In der Folge salbungsvoll in Diktion und Gebärden, schlägt das Kreuz¬
zeichen über die Ärzte, begrüßt sie mit den Worten: „Ich segne dich, mein lieber
Sohn“, verlangt unvermittelt mit demütig-höflichem Tonfalle eine Kostauf¬
besserung, seit April spontane Nahrungsaufnahme. Seit Juni rasch zunehmende
Beruhigung, beginnt wieder zu arbeiten, still, zurückgezogen, produziert spontan
nichts mehr von seinen Wahnideen, bietet wieder dasselbe Bild wie in den Jahren
1902 bis 1905.
Juli 1907 sexuell stärker erregt, versucht Angriffe auf weibliche Besuche;
er sei Sohn Gottes, seine Angstzustände rührten her von den Sünden der Welt,
die er auf sich genommen, doch trösteten ihn die „Gottesstimmen“. Die mäch¬
tigen Suggestionen, denen er unterworfen gewesen, seien seine eigenen Gottkräfte
gewesen, in der neuen Anstalt — die Besiedlung der Wiener Irrenanstalt Stein¬
hof stand bevor — werde seine „Gottwerdung“ erfolgen. — Spricht nie mehr
von Zwangsvorstellungen.
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Oktober 1907 unruhig, wird aggressiv; er sei der Teufel, die Frau des Trakt-
pflegers die Mutter Gottes, die ihn geboren habe, abstiniert wieder. Mit Auf¬
lassung der Klinik in die Männerabteilung der Landes-Irrenanstalt versetzt.
In der Anstalt Steinhof Fortsetzung der Sitophobie, der Pfleger sei ein Teufel,
der ihn vergiften wolle; schlaflos, ängstlich, sträubt sich öfters gegen die Bade¬
prozeduren; er sei der Teufel, wenn er aber bade, würden alle bösen Geister
erlöst. Dabei zeitlich-örtlich stets völlig orientiert, ruhig, äußerlich geordnet.
3. September 1908 erkrankte Pat. unter den Erscheinungen einer akuten
Enteritis, welcher er am 5. September erlag.
Obduktion: Marasmus, Atrophie der inneren Organe, akute Enteritis des
Dünn- und Dickdarmes. (Histologische Untersuchung des Gehirnes leider unter¬
blieben.)
Epikrise.
Schizophrene Belastung. Erkrankung um das 20. Lebensjahr
unter einem hypochondrisch-neurasthenischen Zustandsbilde, das
jahrelang ziemlich unverändert anhält und in dessen Verlauf auch
typische Zwangsvorstellungen sich einstellen, welch letztere wieder
Jahre hindurch das Krankheitsbild beherrschen. Nach zehnjähriger
Anstalt sintemierung rasch progrediente Entwicklung eines paranoid¬
schizophrenen Zustandes, auch mit katatonen Zügen, unter gleich¬
zeitigem Schwinden der Zwangsvorstellungen, für welche auch Krank¬
heitseinsicht fortbesteht. Unter nur vorübergehender Remission
dauert nun die Psychose fort bis zu dem zwei Jahre später an einer
interkurrenten Erkrankung erfolgten Tode.
* *
*
Es scheint demnach auf den ersten Blik hier einer jener Seltenen
Fälle vorzuliegen, daß bei einem Zwangsneurotiker nach vieljährigem
Bestehen der Zwangsvorstellungen eine schwere paranoide Psychose
sicht entwickelte. Sehen wir aber genauer zu, so muß zugegeben
werden, daß bei retrospektiver Betrachtung so mancherlei Symptome
zutage getreten sind, welche nicht nur in den Rahmen der gewöhnlichen
Zwangsneurose nicht hineinpassen, sondern welche wohl nicht gut
anders denn als schizophren gedeutet werden können. Schon die
so besonders hartnäckigen und quälenden Kopfschmerzen finden wir
bekanntlich in der Vorgeschichte der Dementia praecox-Kranken
häufig; der neurasthenische Kopfschmerz, beziehungsweise -druck,
weist geringere Intensität auf. Wir stoßen ferner bei unserem Kranken
auf Akte, die ungezwungen impulsiv genannt werden dürfen, durchaus
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Zwangsvorstellungen und Psychose.
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vom Charakter der raptusartigen Handlungen der Schizophrenen
(motivlose, beziehungsweise mangelhaft motivierte Selbstmord¬
versuche, deren einer mit einer psychologisch ganz unverständlichen
plötzlichen Entkleidung in Szene gesetzt wurde), aber auch Aggres¬
sivitätsakte. Der Kranke zeigt sich ungesellig, ohne Initiative,
drängt nicht auf Entlassung; endlich wird über monologisieren be¬
richtet. (Erwähnt sei noch die ständig hypochondrische Gedanken¬
richtung, die freilich auch bei Zwangsneurotikern ebenso Vor¬
kommen kann.) Im Rahmen der Zwangserscheinungen zeigten sich
auch typische Beachtungsideen.
obs. 2. Bj. A., geb. 1895, Jude, Chemiker, Mutter wegen Dementia praecox
einige Zeit in irrenärztlicher Pflege gewesen, wurde Mai 1915 auf die psychiatrische
Abteilung des Garnisonsspitals 1 in Wien 6 ) unter einem akut einsetzenden typisch
schizophrenen Bilde eingeliefert. In den damaligen Notizen findet sich u. a.
vermerkt: massenhafte Gehörshalluzinationen obszön-beschimpfender Art,
sexuell gefärbte Persekutionsideen im Sinne von hypnotischer und elektrischer
Beeinflussung, Grimassieren, Autismus.
Nach abgeschlossener Beobachtung Versetzung in ein Privatsanatorium,
das der Kranke nach einigen Monaten im Zustande einer weitgehenden Remission
verließ.
Ich sah den Pat. erst am 11. Oktober 1915 wieder, an welchem Tage er
meine Sprechstunde aufsuchte. Er bekundete vollkommene Krankheitseinsicht
mit guter Erinnerung für die verflossene psychotische Phase, klagte nur über all¬
gemeine „Nervosität“, Reizbarkeit, Schlafstörung; wiederholt gegenstandsloses,
leeres Herumreden.
In der nächsten Zeit erschien Pat. wiederholt bei mir; die Remission ver¬
tiefte sich, so daß er März 1916 als Dr. Ing. nach abgelegten Prüfungen promo¬
vierte. Am 27. März 1916 klagte er zum erstenmal über typische Zwangsvor¬
stellungen; dabei volle Krankheitseinsicht, nicht nur für diese letzteren, sondern
auch für die abgelaufene Psychose. Freies, natürliches Wesen, kein Autismus,
kein Herumreden. Den Inhalt der Zwangsvorstellungen bildete z. B. die Be¬
fürchtung, er könnte gerichtlich belangt werden, wenn seine Mutter, die einmal
geisteskrank gewesen war, für die Familie schlecht koche; er müßte diesbezüglich
eigentlich eine Anzeige erstatten, u. dgl. Beziehungsideen o. dgl. nicht zu
eruieren. Sanatoriumsaufenthalt mit Psychotherapie tat sehr gut. Pat. nahm
einen Posten an. — Häufige Kopfschmerzen. — Zwangsvorstellungen unverändert.
März 1917 erschien Pat. bei mir; ängstlich, meidet den Blick des Arztes,
äußert verschiedene Beziehungsidecn, hatte in der Zwischenzeit mehrmals den
Posten gewechselt, auf dem einen hätte er zuviel Arbeit gehabt, auf dem anderen
„Verdrießlichkeiten“, Ärger mit Personal und Kollegen, „gewisse Gründe“, die
•) Während der ersten zwei Kriegsjahre war ich Vorstand dieser Abteilung
gewesen.
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ihm das Bleiben unmöglich machten. — Die Zwangsvorstellungen sind gan i
in den Hintergrund getreten.
Juni 1917 eigentümlicher Tic im r. Facialisgebiete, speziell im M. corrugator,
kein Grimassieren. Reizbar, verstört, inhaltsloses Herumreden.
September 1917 Zustand unverändert; wiederholt Antritt einer Stelle, die
alsbald wieder aufgegeben wird. Körperlich kommt Pat. stark herunter. Gibt
mit einer gewissen Krankheitseinsicht seine große Reizbarkeit und Empfind¬
lichkeit zu; es sei gewiß so, daß er oft ganz harmlose Äußerungen und Vorkomm¬
nisse übel deute und auffasse. Kein Anhaltspunkt für Gehörs- oder andere Sinnes¬
täuschungen. Die Zwangsvorstellungen seien ganz gewichen.
April 1918 klagt der Kranke über Hemmung, Depression und inhaltslose
Angstgefühle, welche gegen Abend zu völlig schwinden, aber auch beim Er¬
wachen und in den ersten Morgenstunden noch nicht vorhanden sind, sondern
erst im Laufe des Vormittags sich einstellen. Hat sich körperlich wieder bedeutend
erholt. Meint eine Gefühllosigkeit in der 1. Gesichtshälfte wahrzunehmen; der
r. s. Facialistic ist nicht mehr vorhanden.
Mai 1918 berichtet er über eine Menge hypochondrischer Sensationen und
Befürchtungen; auch die alten Zwangsvorstellungen plagten ihn wieder mehr;
einsichtig dafür. Keine Beziehungsideen. Sieht sehr gut aus.
November 1918 stärkere Reizbarkeit. Hatte jetzt 1 / t Jahr auf einem Posten
ausgehalten, gab ihn wegen „Unverträglichkeiten“ wieder auf. Beziehungsideen
nicht mit Sicherheit angegeben, Zwangsideen wieder geschwunden.
4. Dezember 1918 traten derart heftige Erregungszustände auf, mit Aggres¬
sivität gegen Familie, daß die Internierung des Kranken erfolgen mußte.
Es trat nun im raschen Anstiege eine Verw r orrenheitsphase auf; sexuelle
Beeinträchtigungs- und Vergiftungsideen, Gehörshalluzinationen, bezichtigt
seine Mutter der ehelichen Untreue, zuweilen Sitophobic.
Mai 1919 entwickelte sich eine gewisse Remission, in der ich Pat. gelegentlich
eines Konsiliarbesuches traf. Er war ruhig, äußerlich geordnet, zeigte eine
gewisse oberflächliche Krankheitseinsicht für die psychotischen Symptome der
letzten Monate, derzeit frei von Wahnideen und Sinnestäuschungen. Läppisches
Lächeln, Autismus, leeres Herumreden.
Juli 1919 abermals Verschlimmerung. In der Folge entwickelte sich ein
schweres katatones Zustandsbild mit Bewegungsstereotypie, sinnlosem Toben und
Lärmen, das ziemlich unverändert bis jetzt (Sommer 1921) fortbesteht. Guter
Ernährungszustand.
Epikrise.
Schizophrene Belastung. — Im 20. Jahre erster akuter Schub
einer Dementia praecox mit folgender weitgehender Remission.
Während derselben Entwicklung von Zwangsvorstellungen. Nach etwa
einem Jahre machen Letztere ausgesprochen paranoiden Ideen Platz
mit gleichzeitigem Hervortreten schizophrener Züge. Dieser Zustand,
einhergehend mit Störungen auch des Ernährungszustandes, verliert
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sich, wieder nach beiläufig Jahresfrist, um, mit Ansteigen des Körper¬
gewichtes, neuerlich Zwangsvorstellungen, inhaltlich gleich den ersten,
zu weichen.
Nach einem halben Jahre schwinden letztere spurlos, treten
nicht mehr auf; es folgt ein neuer akuter schizophrener Schub, der
nach kurzer und unvollständiger Remission in einen Dauerzustand
katatoner Färbung überging.
* * *
obs. 3, F. S., geb. 1871, Jüdin, angeblich keine Heredität, ein Kind. Nach
Angabe ihres Bruders (eines Arztes) an hysterischen Anfällen und an Zwangs¬
vorstellungen seit zwei Jahren leidend. Den Inhalt der Zwangsideen bilden
hauptsächlich Befürchtungen, die sich um die Gesundheit des Kindes drehen.
Die Kranke müsse ständig nachsehen, ob das Kind nicht fiebere, ob das Kinder¬
mädchen genügend aufmerke, usw. Eilt plötzlich aus einer Gesellschaft, einem
Theaterbesuche nach Hause, weil ihr der Gedanke gekommen, es könnte dem
Kinde etwas zugestoßen sein, u. dgl. Bei der ersten Untersuchung (Oktober 1909)
berichtet die Dame in einsichtiger Weise über diese Befürchtungen; sie sähe ja
das Zwecklose und Unbegründete ein, könne aber der Angstempfindungen nicht
Herr werden und müsse eben immer wieder persönlich nachschauen. Andere
Zwangserscheinungen (Grübelsucht, Waschzwang od. dgl.) werden in Abrede
gestellt. Trotz aller angegebenen Einsicht und willigen Auskünfte Benehmen
eigentümlich unfrei, zurückhaltend. Erst nach längerem Befragen erzählt die
Kranke, jene zwangsmäßigen Befürchtungen hätten sich ziemlich rasch vor etwa
zwei Jahren entwickelt. Damals sei ihr Mann durch eine „Tratscherei“ in seiner
Ehre verletzt worden, worüber sie sich sehr kränkte. (Die Kranke produziert
bei Erwähnung dieses Ereignisses einen typisch hysterischen Anfall, von dem sie
sich rasch wieder erholt, um in ihren Angaben fortzufahren). Sie habe nun unaus¬
gesetzt nur mit jener Angelegenheit sich beschäftigt und darüber ihr Kind ver¬
nachlässigt. (Nach Angabe des Gatten und Bruders real!) Über die Vorwürfe
der Umgebung nun hätten sich alsbald jene Zwangsbefürchtungen eingestellt.
Erst über eindringliches Befragen gibt die Pat. zögernd zu, daß jene „Tratsche¬
reien“ eigentlich seither nie ganz aufgehört hätten; nur sei nicht mehr ihr Mann,
sondern sie selbst später das Objekt derselben; es stecke eine Dame dahinter.
(Pat. erleidet abermals einen hysterischen Krampfanfall, so daß ich ein weiteres
Examen unterließ.)
Ich sah die Dame im März 1910 wieder. Diesmal von Zwangsvorstellungen
nichts mehr vorhanden, dagegen ganz typische, sogar verhältnismäßig schon vor¬
geschrittene, systematische Verfolgungsideen. Sie verlangt arische Advokaten,
begrüßt mich freudestrahlend, weil ihr Mann und ihr Bruder ihr mittlerweile
jüdische Ärzte gebracht hatten; sie wisse jetzt alles, sei auf eine große Intrigue
gekommen, die von den Juden ausgeh^; ein jüdischer Arzt habe sie über
Auftrag fast um das Augenlicht gebracht; ich möge ihr einen arischen Okulisten
empfehlen, usw.
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Juni 1911 Zustand unverändert. Die Kranke war mittlerweile auch anstalts¬
bedürftig geworden; systemisierte Persekutiontndeen. Zwangsbef ürchtungen
wurden nicht mehr geäußert.
* *
*
Das Gemeinsame dieser Fälle liegt darin, daß die Zwangs¬
erscheinungen nur sozusagen, um mit Pfersdorf und Oppenheim
zu reden, „symptomatisch“ waren, daß mit Beginn der krankhaften
Züge schon eine Psychose s. str. vorlag, die den der klinischen Er¬
fahrung entsprechenden Verlauf nahm und bei der nebenher, ohne
im übrigen auf die Einzelsymptome sonderlichen Einfluß zu nehmen,
Zwangserscheinungen vorkamen. Gemeinsam ist den Fällen auch der
Umstand, daß mit Fortschreiten des psychotischen Prozesses oder
bei akuteren Exazerbationen desselben gerade die Zwangsvorstellungen
ganz in den Hintergrund treten. Ähnliches findet sich auch in der
Literatur vermerkt, z. B. Wille (obs. 5, Frauensperson, geb. 1834,
seit Kindheit „skrupulös“, später Berührungsfurcht usw. Die Zwangs¬
vorstellungen klingen allmählich an Intensität ab, aber typische Ver¬
folgungsideen entwickeln sich in den letzten Jahren). Es läßt sich in
meinen Fällen auch kein „Abfärben“ der Zwangserscheinungen auf den
Inhalt der Wahnideen erkennen. Was sonstige Beziehungen zwischen
Zwangs- und Wahnvorstellungen in meinen Beobachtungen anbetrifft,
so ist irgend ein Zusammenhang bei obs. 2 überhaupt nicht nach¬
weisbar. Bei obs. 3 könnte man höchstens annehmen, daß die Zwangs¬
befürchtungen sekundär infolge der Wahnideen ausgelöst wurden,
in dem Sinne nämlich, daß die wahnhaft bedingte tatsächliche Ver¬
nachlässigung des Kindes den unmittelbaren Anstoß zur Entwickelung
der Zwangserscheinungen gegeben hatte, wie es ja bekannt ist, daß
zuweilen ein bestimmtes äußeres Ereignis das erstmalige Auftreten
von Zwangsvorstellungen auslöst. Ein Zusammenhang zwischen
Zwangs- und Wahnideen ist auch bei obs. 1 nicht nachzuweisen. Sehr
interessant ist, daß der Kranke die Zwangsvorstellungen auch während
des schweren psychotischen Schubes im Jahre 1906 als krankhaft
und als solche erkennt und scharf abtrennt gegenüber den „suggerierten“
Gedanken (in einem der Mercklinschen Fälle verhielt es sich ähnlich:
26 jähr. nicht belasteter Mann; im Verlaufe einer paranoiden Demenz
auch Symptome von Grübelsu6ht, für welch letztere Krankheits¬
einsicht bestand, während diese für die Wahnvorstellungen fehlte).
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Als das Wichtigste meiner drei Fälle möchte ich zusammenfassend
sagen: Es handelte sich nicht um Zwangsneurotiker, aus denen später
Paranoiker wurden, sondern die Paranoia, beziehungsweise paranoide
Dementia praecox war das Primäre, und in deren Verlaufe kam es auch
zum Bilde von Zwangsvorstellungskranken. Eine kritische Würdigung
der Literatur läßt aber eine derartige Deutung auch für die Mehrheit
jener Fälle zu, welche als Beispiele für das Übergehen von Zwangs¬
vorstellungsneurose in chronisch progressive Wahnbildung gewöhnlich
zitiert werden. Ich will da nur einige Beispiele anführen:
Kaan: 24 jähr. Mann, Großmutter vät. „Mania religiosa“, Mutter Hysterika,
frühzeitig Masturbant, Kongestivzustände, Halluzinationen des Organsinnes,
dann Berührungsfurcht, Errötungsangst, weü (!) er fürchtet, von den Leuten
verlacht zu werden, schließlich typische Beziehungsideen. Schwer belasteter
17jähr. Bursche, seit Pubertät Zweifelsucht durch einen unrichtigen Entschluß
die Nachwelt zu gefährden; wegen dieser Grübeleien sei er aber besser als die
anderen, bald Messiasideen, rasche Verblödung. 3öjähr. Frau, Mutter nervös,
Bruder imbezill, seit 4 Jahren Grübelsucht, gleichzeitig damit aber Charakterver¬
änderung, ward faul, ergab sich Trunkexzessen, verunreinigte das Bett, Größen¬
ideen.
Mercklin: Frau, Vater an p. P. gestorben. Seit sie einen Blumenstrauß
auf der Gasse aufgelesen und wieder weggeworfen, werde sie von dem Gedanken
gSquält, sich fremdes Gut angeeignet zu haben; gleichzeitig äußert sie schon die
Befürchtung, daß die anderen ihr etwas ansehen könnten, sie für eine Diebin
hielten. Weiterentwicklung zu typischer Paranoia, in deren Verlauf noch andere
Züge von Grübelsucht Vorkommen.
Haschke-Klünder: Vater Sonderling, Mutter nervös. Seit dem 18. Jahre
* peinlicher Grübelzwang, aber schon Äußerungen, wie z. B., sie sei „falsch in
Gedanken verbunden“, Charakterveränderung, Hypochondrie, später typische
Dementia praecox mit Stereotypien, usw. Verfasser selbst trägt Bedenken,
diesen Fall in das Zwangsirresein einzureihen.
Tuczek: Akuter Verworrenheitsschub paranoiden Gepräges; nach Ab¬
klingen desselben retrospektiv Bericht über Grübelzwang seit einigen Jahren;
dann sei ihr „alles klar“ geworden, sie sei seither beruhigt. Verfasser mißt diesem
Falle prinzipielle Bedeutung bei; die Größenideen hätten sich aus den Zwangs¬
gedanken heraus entwickelt; die Frage einer retrospektiven Verfälschung der
Vergangenheit bei dieser Paranoika wird nicht aufgeworfen.
Hak Tuke: 58jähr. Mann, Mutter Melancholika. Sakrilegische Zwangs¬
vorstellungen, aber auch Organhalluzinationen und Wahnideen im Sinne der
Krafft-Ebingschen „Metamorphosis sexualis paranoica“, wofür nur ganz im
Beginne noch eine Einsicht.
Knecht: Belasteter krimineller Minderwertiger, mit 34 Jahren widrige Ge¬
schmacksempfindungen, „Zwangsvorstellungen“ des Inhaltes, der Papst wolle
die ganze Welt katholisch machen, ticartige Bewegungsstereotypien, um diese
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Dr. Alexander Pilcz.
Gedanken abzuschütteln. Nach etwa einem Jahr Rückgang dieser Symptome; zwei
Jahre später Wahnideen von Jesuiten, Freimaurern, Gehörshalluzinationen usw.
Berger: (2) Keine Heredität, seit dem 16 J.. auffallend gehäufte Pollutionen,
hypochondrische Vorstellungen, wie z. B. „das Gehirn sei leer“; zunächst Grübel¬
sucht, sehr bald Apathie, Zwangsvorstellungen verloren sich ganz, typische
Hebephrenie.
Über die drei von Pitres und R6gis erwähnten Fälle werden keine Krank¬
heitsgeschichten mitgeteilt; es heißt nur, daß zwei davon Eifersuchtsideen boten.
Aus der gesamten mir zugänglichen Literatur könnte ich höchstens
folgende Fälle anführen, bei denen nach mehrjährigem Bestehen
einer „Zwangsvorstellungskrankheit“ (Jolly) eine chronisch pro¬
gressive Psychose vom Typus der Paranoia oder Dementia praecox
sich entwickelte, wobei die ursprünglichen Zwangsvorstellungen mit
Einsetzen und Fortschreiten der anderen Psychose zurückgingen.
Es wären dies die früher erwähnte Kranke von Wille (obs. 5) 7 ),
ferner obs. 231 von Janet und Raymond (seit Jahren Grübel¬
sucht; allmählich Wahnideen im Sinne des Hypnotisiertwerdens usw.,
Gehörstäuschungen), ebenso obs. 229 derselben Autoren (seit sechs Jahren
folie du doute, dann Entwicklung eines katatonen Zustandsbildes).
In letzteren beiden Fällen mangelt aber eine Katamnese, so daß
die Möglichkeit eines der „syndrömes 6pisodiques“ nicht ausgeschlossen
werden kann. Dasselbe .nämlich Fehlen genügend langer Katamnese,
gilt endlich auch für obs. 5 von Mercklin (Frau, geb. 1864, periodisch
auftretende Zwangsvorstellungen seit 1885; 1890 aber Vergiftungs¬
ideen. Der Verfasser selbst will es noch dahin gestellt sein lassen,
ob eine weitere Entwicklung zu Wahnbildung eintreten werde). Es
bliebe also eigentlich nur der einzige Fall von Wille (obs. 5) übrig.
♦ *
*
Nicht uninteressant mag auch eine eingehendere Studie der
Belastungsverhältnisse bei der Zwangsneurose erscheinen. Es ist
das Verdienst v. Wagners, auf die Notwendigkeit differenzierter
Hereditätsforschungen besonders aufmerksam gemacht und den
geringen Wert, ja die Wertlosigkeit zu allgemein gehaltener und zu
weit gefaßter Begriffe betont zu haben. Was speziell die Zwangs-
7 ) Merkwürdigerweise faßt W. selbst diesen Fall als ein Beispiel für Übergang
in das letzte Stadium im Sinne von Le Grand du Saulle auf, während dieser
Autor, wie eingangs erwähnt, damit nicht Wahnbildung im Auge hatte.
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Zwangsvorstellungen und Psychose.
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neurose anbelangt, so wurde ja von jeher die große Bedeutung der
erblich übertragenen Veranlagung anerkannt; detaillierte Angaben
über Art der Belastung finden sich aber in verhältnismäßig nur spär¬
licher Zahl. Durchmustert man die Kasuistik, so geben Beispiele
von gleichartiger Vererbung J. Piltz, Krafft-Ebing, Skliar,
Raymond und Arnaud, Magnan, Oppenheim, Söglas, Stöcker,
Donath, Pitres und R6gis u. a. Letztere Autoren fanden gleich¬
artige Belastung in 39%, Stöcker zweimal unter 41 Fällen, Janet
in 28%, Soukhanoff (zit. nach Kräpelin) in 32%, Ziehen und
Bleuler erwähnen, ohne Ziffern zu bringen, die Häufigkeit der
gleichartigen Belastung usw. Meist wird allgemeine psychopathische
Minderwertigkeit, charakteriologische Abnormitäten, „Nervosität“,
„Hysterie“ angegeben. Hak Tuke erwähnt die Häufigkeit des
Vorkommens von Epilepsie 8 ) in der Familie von Zwangsvorstellungs¬
kranken, wofür sich zwar in der Literatur gleichfalls Beispiele bringen
lassen (Pitres und R6gis, Janet, Oppenheim, S6glas, Krafft-
Ebing [obs. 4], Wille); doch muß nach meinen eigenen Erfahrungen
und nach der vorliegenden Kasuistik diese Art von Belastung nicht
eben gewöhnlich genannt werden. Eigentliche Psychosen scheinen
in der Aszendenz und in der Verwandtschaft von Zwangsneurotikern
weniger häufig vorzukommen. Löwenfeld beziffert die psychotische
Heredität mit 4*5%, Janet mit 14% bei den Eltern und 16% bei
den Geschwistern. Das Fehlen von irgendwie belastenden Faktoren
geben Janet mit 8%, Pitres und R6gis mit 20% an; hieher gehören
obs. 1 von Berger, obs. 2 von Heilbronner (I) usw., Janet und Ray¬
mond (obs. 224), Wille (30 jähr. Mann, Grübelsucht), Merckün (die
ersten zwei Fälle).
Angaben über die spezielle Krankheitsform der psychotischen
Heredität sind wieder spärlicher. Stöcker sah unter seinen 41 Fällen
zwölfmal Belastung mit manisch-depressivem Irresein. Melancholie,
zirkuläres Irresein, Suizid wird auch sonst noch gelegentlich in der
Aszendenz verzeichnet, so bei Wille, Lundborg u. a. Meist heißt
es aber nur „psychotisch“ oder „geisteskrank“.
Bei Janet fand ich unter den belastenden Momenten auch 7%
«Arthritisme * vermerkt, ein Begriff, der bekanntlich gerade bei
den französischen Autoren unter den hereditären Faktoren eine große
8 ) Beispiele für das Vorkommen von Epilepsie bei Zwangsneurotikern gibt
z. B. Griesinger, Pitres und R6gis.
Jahrbücher für Psychiatrie. XLI. Bd. 2. u. 8. Heft. 10
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Dr. Alexander Pilcx.
Rolle spielt. G61ineau erachtet sogar Fälle mit arthritischer Belastung
für prognostisch ungünstiger. Einer mündlichen Belehrung v. Wag¬
ners verdanke ich die Kenntnis, daß nach seinen Erfahrungen familiär
arthritische Veranlagung bei den Zwangsneurotikern nicht selten
vorkomme.
Soweit ich bezüglich der Heredität genauere Aufzeichnungen
bei meinem eigenen Materiale fand, ergab sich: (Bei 43 Fällen, 2t>
männlichen und 17 weiblichen Kranken, mangeln Berichte). Das
Fehlen von erblich belastenden Momenten wurde ausdrücklich bei
5 Fällen (3 M., 2 F.) angegeben. Gleichartige Vererbung fand sich bei
13 (6 M., 7 F.); allgemeine neuro-psychopathische Minderwertigkeit
bei 45 (22 M., 23 F.). Suicid oder ausgesprochene Melancholie bei 4
(2 M., 2 F.), Alkoholismus bei 3 (3 M., darunter einmal nach Schil¬
derung eine Alkoholdemenz), Epilepsie bei 2 (2 M.), progressive
Paralyse bei 2 (1 M., 1 F.), Geisteskrankheit (ohne nähere Einzel¬
heiten) bei 2 (M.). Bei allen diesen Fällen handelte es sich um das
klassische Krankheitsbild der Zwangsvorstellungsneurose, zumeist
mit anamnestisch oder katamnestisch sichergestelltem jahre- und
jahrzehntelangem Bestehen. Nicht aufgenommen habe ich die Fälle
mit unverkennbar melancholischen Symptomen, ebenso wenig solche,
bei denen im Laufe der Zeit eine schwere ausgesprochene einfache
oder Angstmelancholie in Erscheinung trat. Ferner habe ich hier
ebenso wenig berücksichtigt Fälle, welche ob relativ kurzer Zeit,
seit die Zwangserscheinungen auftraten, wegen auffallender Affekt¬
stumpfheit oder dergleichen verdächtig im Sinne einer inzipienten
Schizophrenie schienen, selbstverständlich auch nicht Fälle, wie
beispielsweise die oben mitgeteilten, bei denen die Diagnose paranoide
Demenz ja zweifellos gestellt werden konnte. Gerade hier aber konnte
häufig Dementia praecox bei der Aszendenz oder kollatcral erhoben
werden, was in keinem einzigen Falle meiner echten Zwangsneurotiker,
aber auch in keinem derjenigen „symptomatischen“ Zwangsvor¬
stellungskranken sich erfragen ließ, welche ihre Zugehörigkeit zum
manisch-depressiven Irresein klar bekundeten. Leider fand ich, wie
erwähnt, in der Kasuistik diesbezüglich zu wenig detaillierte An¬
gaben. Wo aber z. B. überhaupt über schwere manisch-depressive
Heredität berichtet ist (Mercklin, Wille u. a.), da zeigen auch die
Zwangsvorstellungskranken häufig exquisit periodisch melancholische,
angst melancholische und dergleichen Symptome. Erinnert man sich
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Zwangsvorstellungen und Psychose.
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des von mehreren Beobachtern angegebenen Antagonismus zwischen
manisch-depressiver und schizophrener Veranlagung, dann dürften
eingehendere Studien der speziellen Art der psychotischen Belastung
bei Zwangsvorstellungskranken wohl als sehr wünschenswert er¬
scheinen ; die innigen Beziehungen zwischen Zwangsvorstellungsneurose
und manisch-depressiven Psychosen und die notorische Seltenheit
der Komplikation mit chronisch progredienten Wahnbildungsprozessen
erhielten ein neues Streiflicht, und vielleicht könnten sogar im Einzel¬
falle die belastenden Momente auch bis zu einem gewissen Grade
prognostisch verwertet werden.
Zusammenfassend möchte ich auf Grund des Literaturstudiums
und eigener Erfahrung folgendes sagen:
1. Die echte Zwangsvorstellungsneurose (Kräpelin)
als Krankheitseinheit muß scharf getrennt werden von
den symptomatischen Zwangsvorstellungen (im Sinne von
Pfersdorf).
2. Ein Ausgang der Zwangsvorstellungsneurose in
Paranoia oder paranoide Schizophrenie kömmt ebenso
wenig vor, wie in sekundäre Demenz.
3. Eine zufällige Kombination von Zwangsvorstellungs¬
neurose mit Paranoia oder paranoider Schizophrenie ist
derart extrem selten, daß diese Möglichkeit praktisch
nicht in den Bereich der prognostischen Erwägungen
gezogen zu werden braucht.
4. Eine genaue symptomatologische Analyse des kon¬
kreten Einzelfalles dürfte die Entscheidung, ob es sich
um die echte Zwangsvorstellungsneurose oder um sympto¬
matische Zwangsvorstellungen bei initialer Paranoia oder
Schizophrenie handelt, stets ermöglichen; bei den diffe¬
rentialdiagnostischen Erwägungen könnte auch Be¬
lastung mit einem der beiden eben genannten psycho¬
tischen Krankheitsprozesse bis zu einem gewissen Grade
in die Wagschale fallen. Eine besondere Rolle spielen
übrigens diese Zwangsvorstellungen in der Klinik der
Paranoia oder paranoiden Schizophrenie nicht.
5. Häufiger können bei Zwangsvorstellungskranken
schwerere melancholische Zustandsbilder (Angstpsy¬
chosen u. dgl.) beobachtet werden; namentlich ist dies
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Dr. Alexander Piicz.
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bei den ausgesprochen periodischen, beziehungsweise rezi¬
divierenden Verlaufsformen der Fall. Auch hierbei dürften
die Zwangsvorstellungen wohl meistens nicht als Krank¬
heit sui generis, sondern als Teilerscheinungen bei perio¬
discher Melancholie aufzufassen sein, für welche An¬
schauung auch wieder die Hereditätsverhältnisse heran¬
gezogen werden könnten. Diese psychotischen Zustands¬
bilder zeigen aber dann, entsprechend der für den ein¬
zelnen Anfall des manisch-depressiven Irreseins durchaus
günstigen Prognose, keine Tendenz zum Ausgange in
sekundäre Demenz oder in chronische Wahnbildung.
Literatur.
Berger: Arch. f. Ps., Bd. VI, S. 217. „Die Grübelsucht. 41 (I.)
— ibid., Bd. VIII, S. 616. „Grübelsucht und Zwangsvorstellungen.“ (11.)
Binswanger: Neurolog. Zentrbl. 1882, S. 455.
Bleuler: Lehrbuch d. Psych., 1916, S. 416.
Bonhöeffer: Monatsschr. f. Ps., Bd. XXVIII. „Über die Beziehungen der
Zwangsvorstellungen zum manisch-depressiven Irresein.“
Bumke: Samml. zwangl. Abh. aus d. Geb. d. Nerven- u. Geisteskrankheiten,
1906, H. 8. „Was sind Zwangsvorgänge? 44
Chastenet: Ann. m6d. psych., 1890, S. 7, T. 11, pg. 234. «Folie de la puberte.*(D
— ibid., pag. 393. « D61ire de toucher.» (II.)
Dercum: Clinical manual of mental Science. II., ed. 1918, S. 198.
Donath: Z. f. d. ges. N. u. Ps., 1918, Bd. 43, S. 56. „Über Arithmomanie“.
Dornblüth: „Die Psychoneurosen, 44 Leipzig, 1911, 8.372.
Dupr6 « Du röle de l’ämotion dans la gön&se etc.» Reunion annuelle de la soc.
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Fairet: Congr. intern, d. m6d. ment. Paris, 1889.
Fauser: Zentrbl. f. Nerv., 1905, S. 933. „Zur allgemeinen Psychopathologie der
Zwangsvorstellungen und verwandter Symptome. 44
Friedmann: M. s. f. Ps., 1907, XXI, 8. 214. „Über die Abgrenzung und die
Grundlagen der Zwangsvorstellungen. 44
Gälineau: « Des peurs maladives ou phobies,» Paris, 1894.
Griesinger: A. f. Ps., I, S. 626. „Über einen wenig bekannten psychopathischen
Zustand.“
Hak Tuke: Brain, 1894, S. 179. « Imperative ideas.»
Haschke-Klünder: Zsch. f. d. ges. N. u. Ps., I, 8. 31, 1910. „Können Zwangs¬
vorstellungen in Wahnideen übergehen?“
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Zwangsvorstellungen und Psychose.
145
Haskovec: XIII. intern, med. Kong. Paris, 1900, Sect. f. N. u. Ps.
Heilbronner: Monatsschr. f. N. u. Ps., Bd. V, S. 410. „Über progressive
Zwangsvorstellungspsychose.“ (I.)
— Zeitschr. f. d. ges. N. u. Ps., Bd. IX, 1912. „Zwangsvorstellungen und Psy¬
chose.“ (II.)
Höstermann: Allg. Zsch. f. Ps., 1885, S. 19. „Über Zwangsvorstellungen.“
Janet: « Les obsessions et la psychasth6nie,* 1903, Paris, T I.
Janet und Raymond: ibidem, T. II.
Juliusburger: Berl. Ges. f. Ps. u. N., 1901, Juli. „Zur Lehre von den Zwangs¬
vorstellungen“, mit Diskussion, 11. Nov., Mendel, Jolly.
Kaan: „Der neurasthenische Angstaffekt und der primordiale Grübelzwang.“
1893, Wien-Leipzig.
Knecht: Jb. f. Ps., 1882, S. 71. „Kasuistische Mitteilungen.“ (obs. 1.)
Koch: „Die psychopathischen Minderwertigkeiten.“ 1891, S. 101.
Krafft-Ebing: Allg. Zs. f. Ps., 1879, XXXV., S. 303. „Über Geistesstörung
mit Zwangsvorstellungen.“ (I.)
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146
Dr. Alexander Pilcz.
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Ziehen: Lehrbuch, 4. Aufl., 1911.
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Original from
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Die Alkoholfrage im deutschen und öster¬
reichischen Strafgesetzentwurf.
Von
Dr. Heinrich Herschmann
Assistenten der psychiatrisch-nearologischen Universitätsklinik in Wien.
(Vorstand: Hofrat Prof. Wagner-Jauregg)
Die strafrechtliche Behandlung der im alkoholisierten Zustande
verübten Verbrechen ist in den einzelnen Ländern eine sehr ver¬
schiedene. Die strengste' Auffassung, wie sie z. B. England und
Schweden vertreten, geht dahin, daß die allfällige Trunkenheit zur
Zeit der Verbrechensbegehung weder einen Strafausschließungs-
noch einen Strafmilderungsgrund darstellt. Den Gegensatz hiezu
bildet z. B. das geltende Strafgesetz des,Deutschen Reiches, wonach
der Täter gänzlich freigesprochen werden muß, wenn die Berauschung
so hochgradig war, „daß sie die freie Willensbestimmung ausschloß“.
(§ 51). In der Mitte steht das derzeitige österreichische Strafgesetz.
In Österreich wird der hochgradig Berauschte zwar wegen „Sinnes¬
verwirrung“ von der inkriminierten Tat freigesprochen (§ 2 c), er
wird aber wegen „Übertretung der Trunkenheit“ bestraft, wenn die
im Rausche begangene gesetzwidrige Handlung ein Verbrechen war
(§ 236 und § 523).
Der Unzurechnungsfähigkeitsparagraph des vorliegenden deutschen
Strafgesetzentwurfes von 1919, über den ich mich an anderer Stelle näher
ausspreche 1 ), stellt auch hinsichtlich der Beurteilung der Alkoholiker
gegenüber dem geltenden Recht einen Fortschritt dar. Und zwar
vor allem deshalb, weil das juristische Prinzip der sogenannten Akzes-
*) Herschmann: „Der Unzurechnungsfähigkeitsparagraph im neuen
deutschen Strafgesetzentwurf“, dieses Jahrbuch 1922.
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Dr. Heinrich Herschmann.
sorietät der Beihilfe beseitigt wird. Nach geltendem deutschen Straf¬
recht darf der nüchterne Mitschuldige eines trunkenen Täters nicht
bestraft werden, wenn der Haupttäter wegen seiner Berauschung
als unzurechnungsfähig erklärt wird. Dieses Prinzip widerspricht
dem allgemeinen Rechtsgefühl vollständig, seine endgültige Beseitigung
war daher dringend notwendig.
Ein weiterer Fortschritt gegenüber dem geltenden deutschen
Strafrecht ist darin gelegen, daß die Beurteilung der Zurechnungsfähig¬
keit mit Beziehung auf die inkriminierte Straftat zu erfolgen hat.
Gerade bei den Trunkenheitsdelikten ist dies notwendig, da, wie
Wagner-Jauregg*) hervorhebt, bei Delikten, welche schon im
nüchternen Bewußtsein des Täters geringere Hemmungen finden,
z. B. bei Ehrenbeleidigungen, schon leichtere Grade der Berauschung
genügen, um die Fähigkeit, das Unrechtmäßige der Tat einzusehen,
zu beseitigen, während es der höchsten Grade der Berauschung bedarf,
um die Willensbestimmung oder gar die Einsicht für das Unrecht¬
mäßige aufzuheben, wenn es sich um ein Delikt handelt, welchem
im nüchternen Zustande des Täters die allerkräftigsten Hemmungen
entgegenstehen, wie einem Mord. Nach den geänderten Bestimmungen
ist es dem Richter gestattet, dort, wo dies gerechtfertigt erscheint,
bereits bei einer leichteren Berauschung Unzurechnungsfähigkeit
anzunehmen, während dies nach dem bisherigen Gesetz ausnahmslos
nur bei schwerer Trunkenheit möglich ist, was bei gewissen Delikten
bestimmter Personen zu einer ungerechten Beurteilung führen muß.
§ 3 des Vorentwurfes zum österreichischen Strafgesetzbuch verlangt
in Übereinstimmung mit den deutschen Entwürfen gleichfalls, daß
die Beurteilung der Zurechnungsfähigkeit in Bezug auf die konkrete
Straftat erfolge; auch er ermöglicht unter den erwähnten Voraus¬
setzungen schon bei leichteren Graden der Berauschung einen Frei¬
spruch.
Nach dem geltenden deutschen Strafgesetz kann der Täter für
eine im Zustande der Trunkenheit verübte Tat überhaupt nicht zur
Verantwortung gezogen werden, wenn durch die Berauschung seine
freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. Der Entwurf sieht nun
für derartige Fälle nach dem Beispiel des österreichischen Strafgesetzes
eine Bestrafung im § 274 vor.
2 ) Gutachten zum Lammasch-Hoegelschen Entwurf eines österreichischen
Strafrechtes vom Jahre 190ß, zitiert bei Türkei, Jahrb. f. Psych. 1914, Bd. 35.
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Die Alkoholfrage im deutschen und österr. Strafgesetzentwurf. 149
§ 274 lautet: „Wer sich schuldhaft in Trunkenheit versetzt,
wird mit Gefängnis bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu
dreitausend Mark bestraft, wenn er eine Handlung begeht, wegen deren
er nicht bestraft werden kann, weil er infolge der Trunkenheit nicht
zurechnungsfähig war.
Ist der Täter schon früher wegen sinnloser Trunkenheit oder wegen
strafbarer Ausschreitungen im Trünke verurteilt worden, so ist die
Strafe Gefängnis bis zu zwei Jahren oder Geldstrafe.
In besonders leichten Fällen kann von Strafe abgesehen werden.“
Zur Begründung dieses Standpunktes führt die Denkschrift
zum deutschen Entwurf von 1919, S. 219 aus, daß die Bestrafung
eines infolge Trunkenheit unzurechnungsfähigen Täters mit den
Grundlagen der Schuldlehre unvereinbar ist. „Die Schuld des Täters
liegt in solchen Fällen ausschließlich darin, daß er sich schuldhaft
in Trunkenheit versetzt; hinsichtlich der Tat selbst, die er in diesem
Zustande begeht, fehlt es an einer Schuld im strafrechtlichen Sinne.
Der Trunkene kann deshalb nicht für die Tat als solche, sondern nur
wegen der selbstverschuldeten Trunkenheit strafrechtlich verant¬
wortlich gemacht werden. Dies geschieht im § 274.“
Es ist hier der Platz, um darauf hinzuweisen, daß diese Auffassung,
mag sie in der juristischen Theorie noch so gut begründet sein, vom
kriminalpolitischen Standpunkte aus betrachtet, nicht genügt.
Wagner-Jauregg hat daher verlangt 8 ), daß die Straflosigkeit
wegen Volltrunkenheit nicht eintreten soll, „wenn dem Täter aus
Erfahrung bekannt war, daß er im Zustande der Trunkenheit zur
Begehung von Delikten geneigt sei.“
Sollte gegen diese kriminalpolitisch höchst notwendige Forderung
von juristischer Seite eingewendet werden, daß sie mit den Grund¬
lagen der Schuldlehre unvereinbar sei, so ließe sich unschwer ein beide
Teile befriedigender Ausweg finden. Statt der von Wagner-Jauregg
verlangten Ergänzung des Unzurechnungsfähigkeitsparagraphen könnte
eine Zusatzbestimmung zu dem Gesetzesparagraphen aufgenommen
werden, der die sogenannte sinnlose Trunkenheit bestraft, des In¬
haltes, daß in jenen Fällen, in welchen dem Täter aus Erfahrung
bekannt war, daß er im Zustande der Trunkenheit zur Begehung von
Straftaten geneigt sei, die Strafe der sinnlosen Trunkenheit nach dem
3 ) 1. c.
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für die verübte Tat gesetzlich bestimmten Ausmaß zu verhängen ist.
Eine solche Bestimmung würde einerseits der von Wagner-Jauregg
erhobenen kriminalpolitischen Forderung entsprechen und anderer¬
seits wäre dem Standpunkte der juristischen Schuldlehre dadurch
Rechnung getragen, daß die Verurteilung nicht wegen des im Rausch
verübten Deliktes, sondern wegen sinnloser Trunkenheit zu erfolgen
hätte. •
Es entspricht gewiß nicht dem allgemeinen Rechtsgefühl, daß
derjenige, welcher im Rausche ein schweres Verbrechen verübt hat,
von jeder Strafe befreit sein soll. Andererseits kann aber nicht über¬
sehen werden, daß der § 274, gerade vom Standpunkte der juristischen
S:huldlehre aus betrachtet, auf recht schwachen Füßen steht.
Bei der sinnlosen Trunkenheit setzt sich der Tatbestand aus zwei
Teilen zusammen: Der Täter versetzt sich zuerst durch Trinken
in den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit und begeht sodann in
unzurechnungsfähigem Zustande ein Delikt. Für den ersten Teil seiner
Tat kann er nicht gestraft werden, weil nirgends im Strafgesetz eine
Bestimmung enthalten ist, die denjenigen straft, der sich durch Genuß
von Alkohol in unzurechnungsfähigen Zustand versetzt hat, und für
den zweiten Teil seiner Tat, nämlich für das in der Trunkenheit
begangene Delikt, kann er nicht zur Verantwortung gezogen werden,
weil er es eben im Zustande der Unzurechnungsfähigkeit verübt hat.
Bei dem Delikt der sinnlosen Trunkenheit wird also der Täter für das
zufällige Zusammentreffen zweier Umstände bestraft, die ihm,
jeder für sich allein betrachtet, nicht zur Last gelegt werden könnten;
denn ob ein schwer berauschter und daher unzurechnungsfähiger
Mensch ein Delikt begeht oder nicht, ist wohl immer nur vom Zufall
abhängig. Es ist kein Verdienst des Trunkenen, wenn er in diesem
unzurechnungsfähigen Zustande keine Delikte begeht, und es kann
ihm auch nicht als Schuld angerechnet werden, wenn er sich in dieser
Verfassung zu einem Delikt hinreißen läßt. Man müßte also, um
ganz folgerichtig zu handeln, jeden strafen, der sich durch Alkohol¬
genuß in den Zustand der Unzurechnungsfähigkeit versetzt, kurz
gesagt, also jeden, der sich schwer berauscht. Es mag sein, daß dieser
Standpunkt in Abstinentenkreisen Anhänger besitzt; solange aber die
große Mehrheit der deutschen und österreichischen Bevölkerung diesen
Standpunkt nicht teilt, und das ist derzeit gewiß der Fall, kann man
die bloße Trunkenheit nicht gerichtlich verurteilen.
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Die Alkoholfrage im deutschen und österr. Strafgesetzentwurf. 151
Der radikale Standpunkt endlich, der die Trunkenheit des Täters
grundsätzlich von den Geisteszuständen ausschließt, welche Un¬
zurechnungsfähigkeit bedingen können, entspricht derzeit weder in
Deutschland noch in Österreich dem allgemeinen Rechtsgefühl. Hier¬
zulande würde es dem Volksbewußtsein einfach ungeheuerlich er¬
scheinen, wenn man ein Verbrechen, das unter dem Einflüsse schwerer
Berauschung verübt wurde, so strafen wollte, als ob es in nüchternem
Zustande begangen worden wäre.
Es stellt sich also heraus, daß es eine ganz befriedigende Lösung
des Problems nicht gibt und daher zu einen Kompromiß Zuflucht
genommen werden muß. Ein solches Kompromiß wird durch den
§ 274 geschaffen.
Die Strafe, welche in § 274 für sinnlose Trunkenheit angedroht
wird, ist allerdings unerhört mild. Setzen wir beispielsweise folgenden
Fall: Ein Lokomotivführer berauscht sich während seines Dienstes,
begeht in trunkenem Zustande eine grobe Fahrlässigkeit und verursacht
dadurch einen Zusammenstoß, bei welchem Reisende getötet werden.
Dieser Tatbestand stellt das Vergehen der fahrlässigen Tötung dar.
Wird aber angenommen, daß dem Täter infolge seiner Berauschung
die Fähigkeit fehlte, das Ungesetzliche seiner Tat einzusehen oder
seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen, so ist er von der
fahrlässigen Tötung freizusprechen und nur wegen sinnloser Trunken¬
heit nach § 274 zu bestrafen. Die zulässige Höchststrafe beträgt sechs
Monate Gefängnis. Das allgemeine Rechtsgefühl aber verlangt, daß
hier mindestens die für fahrlässige Tötung festgesetzte Strafe ver¬
hängt werde 4 ). Noch an vielen anderen Beispielen könnte gezeigt
werden, daß die Höchststrafe des § 274 nicht ausreichend ist.
Auch § 242 des österreichischen Vorentwurfes von 1909 befriedigt
nicht. Er lautet: „Wer sich vorsätzlich oder fahrlässig in den Zustand
einer die Zurechnung ausschließenden Trunkenheit versetzt, wird
mit Gefängnis oder Haft bis zu sechs Monaten bestraft, wenn er in
diesem Zustand eine Tat verübt, die ihm sonst als strafbar zuzurechnen
wäre und die strenger als mit sechs Monaten Freiheitsstrafe bedroht
ist.“ Der österreichische Vorentwurf setzt also genau wie der neueste
deutsche Entwurf für die im Zustande der sinnlosen Trunkenheit ver-
4 ) Einer kurz nach Abschluß dieser Arbeit erschienenen Abhandlung
Gürings (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psych., Bd. 70) entnehme ich, daß der
Autor meinen Standpunkt in dieser Frage nicht teilt.
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Dr. Heinrich Herschmann.
übten Delikte eine zu geringe Strafe fest. Abweichend vom geltenden
österreichischen Strafrecht wird zwar zur Strafbarkeit nicht mehr
gefordert, daß die im Rausche verübte Handlung ein Verbrechen sein
muß, aber es wird immerhin noch verlangt, daß sie mit mehr als
sechs Monaten Freiheitsstrafe bedroht ist. Der österreichische Vor¬
entwurf von 1909 will also die sinnlose Trunkenheit nur dann bestrafen,
wenn aus ihr ein sehr erhebliches Übel erwachsen ist. Gegen diese
Einschränkung ergeben sich aber kriminalpolitische Bedenken, weshalb
dem Vorschläge des deutschen Entwurfes der Vorzug zu geben ist.
Zusammenfassend läßt sich demnach sagen, daß unter allen Vor¬
schlägen zur Bestrafung der sogenannten sinnlosen Trunkenheit § 274
des deutschen Entwurfes von 1919 der beste ist; nur müßte die bei
diesem Paragraphen angedrohte Höchststrafe ausgiebig erhöht werden.
Von hohem kriminalpolitischen Interesse ist, daß die selbstver¬
schuldete Trunkenheit, wenn sie die Zurechnungsfähigkeit zur Zeit der
Tat zwar nicht aufgehoben, aber doch wesentlich vermindert hat,
gleichwohl nicht den Strafmilderungsgrund der verminderten Zurech¬
nungsfähigkeit darstellt. Auch § 57 des österreichischen Vorentwurfes
nimmt die selbstverschuldete Trunkenheit von den besonderen Mil¬
derungsgründen aus. Natürlich bleibt es sowohl nach den deutschen
Entwürfen als auch nach dem österreichischen Vorentwurf dem
Richter unbenommen, die Berauschung zur Zeit der Tat bei der Be¬
messung der Strafe innerhalb des gewöhnlichen gesetzlichen Straf¬
rahmens zu berücksichtigen; außerordentliche Milderung jedoch, das
heißt ein Herabgehen unter das gesetzliche Mindestmaß, ist in diesen
Fällen nicht zulässig. Diesen sehr berechtigten Bestimmungen ist
vom ärztlichen Standpunkte aus weiter nichts hinzuzufügen.
Wird nach geltendem deutschen Strafgesetz ein trunkener Täter
wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen, so erhält er damit
sofort die Freiheit. In Österreich kann er gemäß § 523 des derzeitigen
Strafgesetzes zu einer kurzen Freiheitsstrafe verurteilt werden, deren
geringe Dauer zu einer kriminalpölitisch nützlichen Wirkung absolut
nicht ausreicht; für entsprechende Maßnahmen der Besserung und
Sicherung trifft derzeit weder in Deutschland noch in Österreich
das Strafgesetz entsprechende Vorsorge. Der deutsche Entwurf füllt
diese Lücke durch die Bestimmung aus, daß der wegen Trunkenheit
zur Zeit der Tat Freigesprochene oder milder Bestrafte einer Trinker¬
heilstätte auf längere Zeit zu übergeben ist, wenn diese Maßregel
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Die Alkoholfrage ini deutschen und österr. Strafgesetzentwurf. 153
erforderlich ist, um ihn an ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben
zu gewöhnen. Die Ausführungen der Denkschrift zum deutschen Ent¬
wurf von 1919 zeigen, daß bei dieser Maßregel nicht nur an die Sicherung
der Allgemeinheit sondern auch an die Interessen des Verwahrten ge¬
dacht wird. In wohltuender Weise tritt hier der starke soziale Einschlag
des Strafgesetzentwurfes hervor, der auch in anderen Bestimmungen
angenehm auffällt. Es handelt sich demnach erfreulicherweise nicht
mehr bloß um die Bestrafung der sogenannten Trunkenheitsdelikte,
sondern um die Bekämpfung der Trunksucht überhaupt. Es wird
also notwendigerweise untersucht werden müssen, ob der Entwurf
dieser weit lohnenderen aber auch schwierigeren Aufgabe gerecht
wird.
§ 92 des deutschen Entwurfes von 1919 lautet: „Wird ein Trunk¬
süchtiger wegen einer Straftat, die er in der Trunkenheit begangen hat,
oder wegen sinnloser Trunkenheit (§ 274) zu Strafe verurteilt, so ordnet
das Gericht seine Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt an, falls
diese Maßregel erforderlich ist, um ihn an ein gesetzmäßiges und
geordnetes Leben zu gewöhnen.“
Es ist also zu beachten, daß die Unterbringung in einer Trinker¬
heilanstalt nicht nur an Stelle -der Strafe bei Unzurechnungsfähigkeit,
sondern auch neben der ordnungsmäßigen Strafe bei geringerer Be¬
rauschung verfügt werden kann. Der häufigste und daher kriminal¬
politisch wichtigste Fall ist ja nicht das im Zustande der Volltrunken¬
heit verübte Delikt, bei dem eine Bestrafung nur nach § 274 möglich
ist, sondern gefährdet wird die öffentliche Sicherheit in erster Reihe
durch jene Gewohnheitstrinker, die schon im nüchternen Zustande
infolge ihrer Reizbarkeit zu Gewalttaten neigen und bei welchen
bereits geringe Grade von Angetrunkenheit zur Begehung von Straf¬
taten führen. Diese Kategorie stellt die gefürchtetsten Alkoholver¬
brecher. Hier wird der Strafausschließungsgrund der Unzurechnungs¬
fähigkeit aber nur in einer Minderzahl der Fälle anzunehmen sein.
Gerade vor diesen Individuen muß aber die Öffentlichkeit in erster
Reihe geschützt werden und daher ist es zu begrüßen, daß nach jeder
Straftat, die im alkoholisierten Zustande verübt wird, nicht bloß bei
sinnloser Trunkenheit, Verwahrung in einer Trinkerheilanstalt ver¬
fügt werden kann.
Wie aus den Ausführungen der Denkschrift zum deutschen Ent¬
wurf von 1919, S. 90 hervorgeht, kann das Gericht im Falle der Un-
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Dr. Heinrich Herschmann.
Zurechnungsfähigkeit statt der Unterbringung in einer Trinkerheil¬
anstalt auch die Verwahrung in einer öffentlichen Heil- oder Pflege¬
anstalt verfügen, falls ihm diese Maßregel angemessen erscheint.
Es erscheint wichtig, hier die einschlägigen Bestimmungen des
österreichischen Vorentwurfes von 1909 zum Vergleich heranzuziehen.
§ 36 Abs. 1 des österreichischen Vorentwurfes bestimmt: „Elin
Geisteskranker oder Trunksüchtiger, der eine strenger als mit sechs
Monaten bedrohte Tat begangen hat und wegen Zurechnungsuniähig-
keit zur Zeit der Tat nicht verfolgt oder nicht verurteilt werden kann,
wird an eine staatliche Anstalt für verbrecherische Irre abgegeben,
wenn er wegen seines kranken Geisteszustandes und mit Rücksicht
auf seinen Lebenswandel und die Eigenart seiner Tat als besonders
gefährlich für die Sittlichkeit oder für die Sicherheit der Person oder
des Vermögens (gemeingefährlich) anzusehen ist.“
Entgegen dem deutschen Entwurf ist hier eine Verwahrung des
trunksüchtigen Täters nur dann möglich, wenn sein Delikt von mehr
als sechsmonatiger Freiheitsstrafe bedroht ist; das häufigste Alkohol¬
delikt ist aber die Körperbeschädigung im Raufhandel; diese wird
nach § 296 des österreichischen Vorentwurfes nur mit Gefängnis oder
Haft von drei Tagen bis zu sechs Monaten bestraft. Ist der Täter
dabei infolge seiner Berauschung nicht zurechnungsfähig, so kann er
nicht nur nicht gestraft werden, sondern es kann auch kein Sicherungs¬
mittel verfügt werden. Es muß also untätig zugewartet werden, bis
der Trunkenbold einmal ein größeres Übel anrichtet.
Eine empfindliche Lücke enthält der österreichische Vorentwurf
ferner bezüglich derjenigen Trinker, welche ihr Delikt nicht im Zu¬
stande der Unzurechnungsfähigkeit, sondern nur in dem der An¬
getrunkenheit begangen haben. Nach § 37 des Vorentwurfes „kann
der zu Freiheitsstrafe verurteilte Täter eines Verbrechens oder eines
mit einer sechs Monate übersteigenden Freiheitsstrafe bedrohten Ver¬
gehens, dessen Fähigkeit, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder
seinen Willen dieser Einsicht gemäß zu bestimmen, zur Zeit der Tat
infolge eines andauernden krankhaften Zustandes wesentlich ver¬
mindert war, nach dem Vollzüge der Strafe weiterhin verwahrt werden,
wenn er wegen seines Zustandes und mit Rücksicht auf seinen Lebens¬
wandel und die Eigenart seiner Tat als gemeingefährlich anzusehen ist.“
Hier handelt es sich also nur um „andauernde krankhafte Zustände“;
ist dagegen die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit durch einen
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Die Alkoholfrage im deutschen und österr. Strafgesetzentwurf. 155
transitorischen Zustand, also zum Beispiel durch eine Berauschung,
herbeigeführt worden, so ist eine weitere Verwahrung nach verbüßter
Strafe in der Regel nicht zulässig. Die Fälle von Trunksucht, die als
pathologische Süchtigkeit im psychiatrischen Sinne imponieren und
daher als andauernd krankhafte Zustände aufgefaßt werden können,
sind nur eine bescheidene Minderheit unter den Trinkern. In der
weitaus größeren Zahl der Alkoholdelikte wird daher eine Verwahrung
nach verbüßter Strafe gemäß § 37 des Vorentwurfes nicht möglich
sein. Damit aber kann die Verwahrung gerade in jenen Fällen nicht in
Anwendung kommen, welche vorhin als die häufigsten und daher
kriminalpolitisch wichtigsten bezeichnet wurden, nämlich bei den
typischen Alkoholexzedenten.
Die höchstzulässige Dauer der Verwahrung in einer Trinkerheil¬
anstalt beträgt nach § 94, Ab. 3 des deutschen Entwurfes zwei Jahre.
Hiezu bemerkt die Denkschrift S. 91: „Dieser Zeitraum dürfte nach
den bisherigen Erfahrungen, wenn überhaupt Aussicht auf Heilung
besteht, genügen, um den gewünschten Erfolg zu erreichen.“ Tat¬
sächlich sind zwei Jahre ein Zeitraum, der zur Behandlung eines Trin¬
kers genügt; wer durch zweijährigen Aufenthalt in einer Trinkerheil¬
stätte nicht geheilt wurde, der ist in der Regel überhaupt nicht mehr
vom Alkohol zu befreien. Die Fälle von Spätheilung, die gelegentlich in
Trinkerasylen zur Beobachtung kommen, sind zu selten, als daß sie
eine praktische Bedeutung besäßen. Insoweit ist also die Frist von
zwei Jahren angemessen. Eine andere Frage aber, auf die der Ent¬
wurf keine Antwort gibt, ist die, was zu geschehen hat, wenn innerhalb
der zwei Jahre eine Heilung nicht eingetreten ist. Dann besteht die
Gemeingefährlichkeit weiter und trotzdem muß gemäß §94 die Ent¬
lassung erfolgen. Voraussichtlich wird dann der Täter rückfällig werden
und das Gericht wird ihn das nächstemal nicht mehr in eine Trinker¬
heilanstalt, sondern gemäß § 88 in eine öffentliche Heil- oder Pflege¬
anstalt schicken, falls dies in dem betreffenden Falle gesetzlich mög¬
lich ist, da die Verwahrung in einer solchen Anstalt keiner zeitlichen
Begrenzung unterliegt, sondern unter Umständen selbst lebenslänglich
dauern kann. Wie die Denkschrift auf S. 90 hervorhebt, hat ja das
Gericht, wenn die Voraussetzungen sowohl für die Unterbringung in
einer Trinkerheilanstalt wie auch für die Unterbringung in einer öffent¬
lichen Heil- oder Pflegeanstalt vorliegen, zwischen beiden Maßregeln
die Wahl. Die Gerichte werden also dort, wo ihnen beide Möglich-
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Dr. Heinrich Herschmann.
keiten der Verwahrung offenstehen, erwägen müssen, ob im gegebenen
Falle begründete Aussicht auf Heilung der Trunksucht besteht, und
nur in einem solchen Falle werden sie sich für die Trinkerheilanstalt
entscheiden dürfen. Bedenklich ist aber, daß die Alternative zwischen
den beiden Anstalten gerade in den wichtigsten Fällen fehlt, nämlich
dort, wo der Täter zwar im Zustande der Trunkenheit gehandelt hat,
jedoch nicht so stark berauscht war, daß er unfähig gewesen wäre,
das Ungesetzliche seiner Tat einzusehen oder seinen Willen dieser Ein¬
sicht gemäß zu bestimmen. In einem solchen Falle liegt weder Unzu¬
rechnungsfähigkeit nach § 18, Abs. 1, noch, falls die Trunkenheit
selbstverschuldet war, verminderte Zurechnungsfähigkeit nach § 18,
Abs. 2 vor. Damit ist aber die Unterbringung in einer Heil- oder Pflege¬
anstalt nach § 88 unmöglich, es kommt nur die Trinkerheilanstalt
gemäß § 92 in Betracht, was bedeutet, daß die Verwahrung keinesfalls
länger als zwei Jahre dauern darf. Da es sich hier um die Gruppe der
typischen Alkoholexzedenten, Raufbolde, Messerstecher usw. handelt,
so ist der gesetzliche Zwang, solche Leute nach zwei Jahren ausnahmslos
wieder freizulassen, das heißt, gegen die Rechtssicherheit loszulassen,
kriminalpolitisch nicht unbedenklich.
Nur in den schwersten Fällen dieser Art, nämlich dort, wo wegen
gleicher oder ähnlicher Delikte bereits mehrere erhebliche Vorstrafen,
darunter eine Zuchthausstrafe verhängt worden sind, eröffnet § 100
in Verbindung mit § 120 einen Ausweg, indem er ermöglicht, den Ver¬
urteilten statt in eine Trinkerheilanstalt in die zur Verwahrung gemein¬
gefährlicher Gewohnheitsverbrecher bestimmte eigene Anstalt abzu¬
geben, aus der die Entlassung erst erfolgt, wenn angenommen werden
darf, daß die Gemeingefährlichkeit behoben ist.
Der österreichische Vorentwurf von 1909 kennt keine eigenen
Trinkerheilanstalten, sondern verfügt im §36, daß die wegen Trunken¬
heit zur Zeit der Tat Unzurechnungsfähigen an eine staatliche Anstalt
für verbrecherische Irre abzugeben sind. Die Leitung dieser Anstalt
liegt nach § 584 desselben Vorentwurfes in den Händen eines psychia¬
trisch gebildeten und klinisch erfahrenen Arztes. Damit wird eine
selbstverständliche ärztliche Forderung erfüllt.
Eine zeitliche Höchstgrenze der Verwahrung Trunksüchtiger ist
in den österreichischen Vorentwürfen nicht bestimmt. Die Entlassungs¬
bestimmungen sagen bloß, daß die Entlassung zu erfolgen hat, sobald
nach einer ausreichend langen Beobachtung die Annahme begründet
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Die Alkoholfrage im deutschen und österr. Strafgesetzentwurf. 157
ist, daß der Verwahrte nicht mehr gemeingefährlich sei. Die Entlassung
findet nur auf Grund eines gerichtlichen Beschlusses statt.
Es ist oben dargelegt worden, zu welchen Nachteilen es führen
muß, wenn die Verwahrung der Trunksüchtigen durch eine bestimmte
zeitliche Höchstgrenze beschränkt ist, wie dies in den deutschen Ent¬
würfen geschieht. Der österreichische Vorentwurf kennt diese Höchst¬
grenze nicht, es wird demnach möglich sein, einen unverbesserlichen
Trinker unbeschränkt, gegebenenfalls sogar lebenslänglich, in der
Verwahrung festzuhalten. Es ist aber dem angestrebten Zweck keines¬
wegs zuträglich, wenn diese alten, unverbesserlichen Trunkenbolde
gemeinsam mit den jungen, noch besserungsfähigen Trinkern ver¬
wahrt werden. So wie im modernen Strafvollzüge überall die Unver¬
besserlichen von den noch Besserungsfähigen getrennt werden, so
müßte dies auch bei den Alkoholikern geschehen. Wagner- Jauregg 6 )
trennt scharf die Trinkerheilstätten von den Trinkerasylen, welch letz¬
tere der Aufnahme unverbesserlicher Trinker dienen. Diese dringend
notwendige Trennung ist weder in den deutschen noch in den öster¬
reichischen Entwürfen vorgesehen.
Die Entlassung der verwahrten Trunksüchtigen verfügt nach dem
Vorschläge der österreichischen Vorentwürfe das Gericht (§ 517 des
Vorentwurfes zum Strafprozeßrecht), nach dem deutschen Entwürfe
die Landespolizeibehörde (§93 des Entwurfes von 1919). Die Über¬
tragung des Entlassungsrechtes an die Polizeibehörde halte ich für einen
Fehler, weil so die Gefahr einer divergenten Beurteilung mancher
Fälle durch die beiden hier in Betracht kommenden Behörden entsteht,
was naturgemäß für die öffentliche Sicherheit nicht förderlich sein
kann. — Wie mir von sehr maßgebender. Seite mitgeteilt wurde,
besteht übrigens auch in juristischen Kreisen allgemein die Ansicht,
daß die Übertragung des Entlassungsrechtes an die Landespolizei¬
behörde mit schweren Nachteilen verbunden wäre. — Es ist dringend
zu wünschen, daß die Entlassung nur von jenem Gericht verfügt werde,
welches die Verwahrung angeordnet hat. Der Antrag auf Entlassung
kann in Österreich vom Staatsanwalt, vom Verwahrten und von dessen
gesetzlichem Vertreter gestellt werden. Wird der Entlassungsantrag
8 ) Referat über die an den obersten Sanitätsrat gestellten Fragen, betreffend
die Schaffung eines Reichsgesetzes, wodurch die Errichtung von Trinkerasylen
mit zwangsweiser Internierung von Trunksüchtigen ermöglicht würde. Wr. Hof-
und Staatsdruckerei 1889.
Jahrbücher für Psychiatrie. XU. Rd. 2. ti. 3. Heft. 11
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Dr. Heinrich Herschmann.
des Verwahrten oder seines gesetzlichen Vertreters abgnrioen, so
können diese Personen den Antrag erst nach Ablaaf ron zwei Jahren
seit der Rechtskraft des abweisenden Beschkreses erneuern (§521 des
Vorentwurfes zum Strafprozeßrecht). Auffallend in den Entlassungs¬
bestimmungen des österreichischen Vorentwurfes ist, daß dem Anstalts¬
leiter das Recht auf Einbringung des Entlassungsantrages nicht zu¬
gestanden wird, obgleich doch keine Stelle sich ein klareres und ob¬
jektiveres Kid über den psychischen Zustand des Verwahrten zu bilden
vermag als die ärztliche Leitung der Anstalt.
Sehr zu begrüßen sind vom ärztlichen Standpunkte aus die
Bestimmungen der §§ 496 beziehungsweise 519 des Vorentwurfes
zum Strafprozeßrecht, welche es dem Gericht zur Pflicht machen,
sowohl bei der Anordnung der Verwahrung als auch bei der Entlassung
aus derselben das Gutachten zweier Irrenärzte, einzuholen. Es ist zu
hoffen, daß diesem Beispiel auch in Deutschland gefolgt werden wird.
Die Entlassung der verwahrten Trunksüchtigen soll nach dem
Vorschläge des § 518 des österreichischen Vorentwurfes zum Straf¬
prozeßrecht entweder eine bedingte oder eine endgültige sein. Der Ver¬
wahrte ist bedingt zu entlassen, wenn eine längere Beobachtung seines
Verhaltens in der Freiheit zweckmäßig erscheint. In diesem Falle
kann die Entlassung an die Bedingung geknüpft werden, daß der
Entlassene durch eine vertrauenswürdige Person überwacht werde.
Bei der Entlassung oder später können bestimmte Vorschriften für die
Überwachung gegeben werden.“ Nach § 521 des Vorentwurfes zum
Strafprozeßrecht ist der Widerruf einer bedingt erfolgten Entlassung
innerhalb dreier Jahre zulässig, „wenn sich ergibt, daß der Entlassene
noch gemeingefährlich ist oder die Vorschriften für die Überwachung
des Entlassenen nicht beobachtet werden.“ Sind drei Jahre seit der
bedingt erfolgten Entlassung verflossen, so ist ein Widerruf unzulässig.
Der österreichische Vorentwurf kennt also zwei Arten der Entlassung
verwahrter Trunksüchtiger: die bedingte, welche widerrufen werden
kann, wenn der Entlassene das in ihn gesetzte Vertrauen durch seinen
Lebenswandel nicht rechtfertigt, und die endgültige, welche unter
keinen Umständen widerrufen werden kann, mag sich der Entlassene
auch noch so schlecht führen.
Der deutsche Entwurf bestimmt, daß die Landespolizeibehörde
den Trunksüchtigen zu entlassen hat, wenn angenommen werden
darf, daß der mit der Verwahrung beabsichtigte Zweck erreicht worden
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Die Alkoholirage im deutschen und österr. Straigesetzentwurf. 159
ist. Dem Entlassenen können besondere Pflichten auferlegt werden,
er kann auch, falls dies notwendig erscheint, unter Schutzaufsicht
gestellt werden. Wenn sich herausstellt, daß der Zweck der Maßregel
noch nicht erreicht worden ist, so kann die Entlassung widerrufen
werden, falls die gesetzlich vorgeschriebene Höchstfrist von zwei
Jahren, von der ersten Unterbringung an gerechnet, noch nicht ver¬
strichen ist. Nach Ablauf dieser Frist von zwei Jahren sind, wie
bereits früher dargelegt wurde, weitere Sicherungsmaßregeln nicht
mehr zulässig und der Trunksüchtige muß endgültig entlassen werden.
(§94 des Entwurfes von 1919.)
Der österreichische Richter würde demnach die Entlassung eines
Trunksüchtigen jeweils nach seinem Ermessen als eine bedingte oder
als eine endgültige zu erklären haben. Der deutschen Behörde wird
diese Alternative nicht offenstehen; wird der Trunksüchtige in Deutsch¬
land vor Ablauf von zwei Jahren entlassen, dann ist die Entlassung stets
nur eine bedingte, erfolgt aber die Entlassung erst nach Ablauf der zwei¬
jährigen Höchstfrist, dann ist sie immer endgültig. Diesbezüglich
findet also eine Entscheidung der entlassenden Landespolizeibehörde
nicht statt.
Nach meinem Ermessen ist die Entlassung auf Widerruf stets
vorzuziehen. Trotz sorgfältigster Beobachtung und größter Menschen¬
kenntnis und Erfahrung auf diesem Gebiete wird, solange der Trunk¬
süchtige sich noch in der Anstalt befindet, niemals eine sichere Ent¬
scheidung darüber möglich sein, ob der Zweck der Verwahrung auch
wirklich erreicht wurde. Diese Frage kann erst beantwortet werden,
bis der Verwahrte entlassen ist, bis sich erwiesen hat, ob er imstande
ist, den draußen im Leben an ihn herantretenden Versuchungen zu
widerstehen. Die Entlassung eines trunksüchtigen Verbrechers aus
der Verwahrung bleibt also immer ein Experiment, und es ist daher
jene Form der Entlassung die bessere, welche nachher eine Korrektur
zuläßt, wenn das Experiment, das man gewagt hat, mißlungen ist.
Unter diesen Umständen wüßte ich keinen Grund, der einen öster¬
reichischen Richter veranlassen könnte, sich dort, wo ihm beide Mög¬
lichkeiten der Entlassung offenstehen, anders als für die bedingte Ent¬
lassung zu entscheiden. Und dies um so mehr, als ihm bei der bedingten
Entlassung noch die Möglichkeit gegeben ist, einem Rückfall des
Entlassenen durch besondere Beaufsichtigung vorzubeugen. Außer¬
dem eröffnet sich gerade bei den bedingt Entlassenen, die noch immer
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Dr. Heinrich Herschmann.
der Aufsicht und den Weisungen des Gerichtes unterstehen, ein
weites Tätigkeitsfeld für die Guttemplervereine und ähnliche Absti¬
nentenorganisationen, wofern, was dringend gewünscht werden muß,
ein Zusammenwirken der Justizbehörden mit diesen Vereinen geschaffen
würde; ich verweise hier auf die Erfolge, die das Zusammenarbeiten
der Jugendgerichtsbarkeit mit der privaten Jugendfürsorge gebracht
hat und bringt. Aus kriminalpolitischen wie auch aus medizinischen
Gründen sollte sowohl im deutschen als auch im österreichischen
Strafrecht bestimmt werden, daß jede Entlassung aus der Trinker¬
heilanstalt widerrufen werden kann, wenn der Lebenswandel des
Entlassenen dies als notwendig erscheinen läßt. Im österreichischen
Vorentwurfe könnte diesem Verlangen durch eine geringfügige Ände¬
rung des Textes ohne weiters entsprochen werden; aus dem deutschen
Entwurf aber müßte die Bestimmung des § 94 entfernt werden, welche
die Anhaltung in der Trinkerheilanstalt grundsätzlich auf zwei Jahre
beschränkt, ein Verlangen, das schon vorhin ausführlich begründet
wurde.
Zwischen dem deutschen Entwurf und dem österreichischen Vor¬
entwurf besteht der wichtige Unterschied, daß der deutsche Ent¬
wurf für die trunksüchtigen Gewohnheitsverbrecher staatliche Trinker¬
heilanstalten errichten will, während der österreichische Vorentwurf
für diese Individuen die Errichtung von Trinkerdetentionsanstalten
plant. Über den Wert staatlicher Trinkerheilanstalten wurde am VIII.
internationalen Kongreß gegen den Alkoholismus, der im April 1901
in Wien stattfand, ausführlich debattiert®) und in der Diskussion über
diesen Gegenstand, an welcher die hervorragendsten Männer der
Antialkoholbewegung teilnahmen, kam fast einmütig der Gedanke
zum Ausdruck, daß die Errichtung staatlicher Heilanstalten für
Trinker nicht zu befürworten sei, da nach den bisherigen Erfahrungen
nur private Trinkerheilstätten Erfolge auf diesem Gebiete erzielt
hätten. Die Gründe dafür gab Boßhardt an. Nach Boßhardt
ist es bei der Trunksucht eine seltene Ausnahme, wenn amtliche Organe
einen Alkoholkranken rechtzeitig zu heilen suchen. Auch bei der
Auswahl der Kranken, die in die Anstalt gehören, gehen sie nicht richtig
vor. „Was dort (sc. bei den Behörden. Anm. d. Verf.) unter Trunk-
•) Bericht über den VIII. internationalen Kongreß gegen den Alkoholis-
mus, Leipzig und Wien, F. Deuticke. lf>02.
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Die Alkoholfrage im deutschen und österr. Strafgesetzentwurf. 161
sucht und Alkoholismus verstanden wird, ist eben nur die schlimmste
und meist schon unheilbare Form derselben, während die leichten,
durchgehends heilbaren Grade gar nicht als Abnormitäten gelten.
Die Trunksucht ist häufig mit angeborenen, einer Be¬
handlung unzugänglichen Charakteranomalien verbunden.
Mit Kranken dieser Art ist in Trinkerheilanstalten nichts
anzufangen 7 ). Sie können nicht gebessert werden, üben aber einen
schlechten Einfluß auf andere Patienten aus und erschweren deren
Heilung. Das sind aber gerade die j enigen Leute, welche die Behörden
am liebsten in Trinkerasyle weisen. Den eigentlichen Trunksüchtigen,
der als angenehmer Gesellschafter und als guter Mensch gilt, wenn er
nicht gerade unter dem Tische oder in der Gosse liegt, halten sie aber
durchaus nicht für „reif“ zu einer Kur. Vor den unheilbaren und
störenden Fällen muß sich aber die Heilanstalt schützen können.“
Und an anderer Stelle bemerkt Boßhardt sehr richtig: „Die Staats¬
anstalt würde also ein Mehr von schlechten und ein Weniger
von guten Elementen beherbergen als die private. Die Ein¬
wirkung der Pfleglinge aufeinander, die von günstigem Einfluß sein
sollte, hätte dort nur unheilvolle Folgen und dadurch würde das
Heilresultat, das Gedeihen der Anstalt in Frage gestellt.“
Forel hob in der gleichen Diskussion scharf den Unterschied
zwischen heilbaren und unheilbaren Trinkern hervor. Zu den letzteren
zählt er diejenigen Trinker, welche gefährliche Verbrechen begehen
und die öffentliche Sicherheit schwer gefährden. Diese Kategorie
gehört nach Forel nicht in die Trinkerheilanstalt, sondern in eine
eigene Detentionsanstalt.
Sehr scharf nahm auch Frank Stellung gegen die Aufnahme
der kriminellen Trinker in die Trinkerheilanstalten. Frank meint,
daß sich die Trinkerheilanstalt von diesen Elementen freihalten muß,
will sie nicht auf Schritt und Tritt in ihren Bestrebungen gehindert
sein durch den ungünstigen Einfluß, den die kriminellen Alkoholiker
auf die Heilbaren ausüben.
Tilkowsky wies darauf hin, daß die vorbildlichen Schweizer
Trinkerheilstätten, wie aus ihren Berichten hervorgeht, gezwungen sind,
alljährlich gewisse Elemente auszuweisen, die durch ihre rohe Charakter-
und Gemütsverfassung den Heilzweck der Anstalt gefährden. Die
7 ) Im Original nicht gesperrt gedruckt.
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Dr. Heinrich Herschmann.
praktischen Erfahrungen zeigen also deutlich, daß die kriminellen
Trinker von den Trinkerheilstätten ausgeschlossen bleiben müssen.
Die damalige Diskussion brachte also eine glänzende Bestätigung
jener Ansichten, welche Wagner-Jauregg schon 1889 in seinem
im obersten Sanitatsrat erstatteten Referat über die Errichtung von
Trinkerasylen niedergelegt hatte. In diesem Referat spricht sich
Wagner-Jauregg gegen die Errichtung staatlicher Trinkerheil¬
anstalten aus. Die Heilerfolge bei Trunksüchtigen seien an und für
sich nicht gerade große, und das schon nicht bei solchen Leuten, die
sich freiwillig in die privaten Trinkerheilanstalten aufnehmen lassen.
Nach Wagner-Jauregg ist die Wahrscheinlichkeit, Trinker dauernd
zu heilen, die zu einem Heilversuche erst gezwungen werden müssen,
aber so gering, daß es nicht gerechtfertigt erscheint, zu diesem Zwecke
kostspielige Anstalten zu errichten. Für die kriminellen Trinker kämen
bloß Detentionsanstalten in Betracht, um den Staat und die Gesell¬
schaft vor den Folgen der Trunkenheitsexzesse dieser Individuen
zu schützen.
Nach den Bestimmungen des deutschen Entwurfes kann es keinem
Zweifel unterliegen, was für Elemente in die geplante staatliche Trinker¬
heilanstalt gelangen werden. § 92 sagt es ja deutlich: Leute, welche
infolge ihrer Trunksucht ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben
zu führen außerstande sind. Dementsprechend werden auch die Heil¬
erfolge sein. Auf den Namen kommt es nicht an. Ihrem Wesen nach
wird es sich um keine Heilstätte sondern bloß um eine Detentions-
anstalt handeln können und es wird gut sein, diesen Umstand bei
Erlassung der gesetzlichen Bestimmungen über die Einrichtung dieser
Anstalten nicht zu vergessen.
Ich komme nun zu jenen Gesetzesbestimmungen, welche sich mit
der Frage beschäftigen, was zu geschehen hat, wenn jemand, der
wegen einer im Zustande selbstverschuldeter Trunkenheit begangenen
Straftat oder wegen sinnloser Trunkenheit schuldig erkannt wurde,
nur bedingt verurteilt oder aber vor Ablauf der ganzen über ihn ver¬
hängten Strafe vorläufig entlassen wird.
Der österreichische Vorentwnrf von 1909 kennt den bedingten
Strafnachlaß nur bei den Delikten Jugendlicher 8 ). § 48 des Vorent-
7 ) Seither ist allerdings eine Novelle erschienen, die in berücksichtigens-
werten Fällen den bedingten Strafnachlaß auch bei Erwachsenen zuläßt.
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Die Alkoholfrage im deutschen und österr. Strafgesetzentwurf. 163
Wurfes bestimmt: „wird ein Jugendlicher zu einer drei Monate nicht
übersteigenden Freiheitsstrafe oder zu einer tausend Kronen nicht
übersteigenden Geldstrafe verurteilt, so kann das Gericht den Vollzug
der Strafe für eine Probezeit von einem bis zu drei Jahren aufschieben,
wenn nach dem Lebenswandel des Jugendlichen, nach seinen Beweg¬
gründen und seinem Verhalten nach der Tat anzunehmen ist, daß es
des Vollzuges der Strafe nicht bedarf, um ihn von weiteren strafbaren
Handlungen abzuhalten. Die Maßregel ist ausgeschlossen, wenn der
Jugendliche bereits einmal zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde.“
Einen bedingten Strafnachlaß bei Erwachsenen kennt der Entwurf
von 1909 noch nicht. Der Vollzug der aufgeschobenen Strafe wird
angeordnet, wenn sich der bedingt Verurteilte innerhalb der Be¬
währungsfrist dem Trünke, Spiele, Müßigang oder einem leicht¬
sinnigen Lebenswandel hingibt, wenn er den Weisungen des Gerichtes
böswillig und beharrlich nicht nachkommt, wenn er wegen einer neuer¬
lichen Straftat zu Gefängnisstrafe verurteilt oder wenn er rückfällig
wird (§ 50 des Vorentwurfes). Es entspricht der hohen Bedeutung,
welche der Trunksucht für die Veranlassung von Verbrechen zukommt,
daß unter den Gründen, welche zum Widerruf der Strafaussetzung
führen können, die Hingabe zum Trünke an erster Stelle angeführt
ist. Die Hingabe zum Trünke ist, wie sich aus dem Gesetze klar ergibt,
nicht nur dann ein Grund des Widerrufes, wenn das Delikt, dessent¬
wegen die bedingte Verurteilung erfolgt war, im Zustande der Trunken¬
heit verübt wurde, sondern auch dort, wo ein Jugendlicher wegen einer
im nüchternen Zustande verübten Tat bedingt verurteilt wurde,
kann der Vollzug der Strafe angeordnet werden, falls sich der Täter
nachher dem Trünke ergibt. Nach § 49 des österreichischen Vorent¬
wurfes kann das Gericht den bedingt verurteilten Jugendlichen unter
Schutzaufsicht stellen und ihm besondere Weisungen für sein Verhalten
während der Probezeit erteilen. Wenn auch das Gebot der Enthalt¬
samkeit von geistigen Getränken nicht ausdrücklich im Gesetze er¬
wähnt ist, so kann es doch keinem Zweifel unterüegen, daß dieses unter
den allgemeineren Begriff der „Weisungen“ fällt. Es sollte in keinem
Falle einer bedingten Strafaussetzung unterbleiben, gleichgültig, ob die
Straftat, derentwegen der Täter bedingt verurteilt worden war, im
Trünke verübt wurde oder nicht.
Der deutsche Entwurf läßt die bedingte Strafaussetzung nicht
nur bei Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen zu, „wenn der
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Dr. Heinrich Herschmann.
Verurteilte nach den Umständen der Tat und seinen persönlichen
Verhältnissen besonderer Berücksichtigung würdig erscheint und die
Erwartung rechtfertigt, daß er sich auch ohne Vollzug der Strafe
künftig wohlverhalten werde.“ Nur bei der Zuchthausstrafe ist die
bedingte Verurteilung ausgeschlossen. Die Bewährungsfrist beträgt
mindestens zwei und höchstens fünf Jahre. Führt sich der Verurteilte
während der Probezeit schlecht oder wird er innerhalb der Bewäh¬
rungsfrist neuerlich verurteilt, so kann das Gericht entweder die Probe¬
zeit verlängern oder den sofortigen Strafvollzug anordnen. Nach
Ablauf der Probezeit prüft das Gericht, das die bedingte Verurteilung
verhängt hat, ob sich der Verurteilte durch gute Führung Straferlaß
verdient habe. Findet das Gericht, daß sich der Verurteilte nicht
bewährt habe, so ordnet es den Strafvollzug an, andernfalls wird die
Strafe erlassen (§§ 63 bis 68 des Entwurfes von 1919).
Der deutsche Entwurf gebraucht hier ganz allgemeine Ausdrücke
wie gute und schlechte Führung, Bewährung und Nichtbewährung.
Es wäre irrig und eine Verkennung der großen und gediegenen Arbeit,
welche die Verfasser der deutschen Entwürfe geleistet haben, wollte
man darin ein Versehen erblicken. In der Denkschrift zum Entwurf
von 1919 wird wiederholt der Gedanke ausgesprochen, daß die Viel¬
gestaltigkeit des Lebens es nicht empfehle, dem richterlichen Ermessen
zu enge Schranken zu ziehen. Dieser Gedanke kommt in sehr vielen
Bestimmungen des Entwurfes zum Ausdruck. Die Verfasser der deut¬
schen Entwürfe haben bewiesen, daß sie die Bedeutung des Alkohols
für die Kriminalität nicht gering veranschlagen. Schließlich, daß die
Hingabe zum Trünke „schlechte Führung“ ist, kann nicht bezweifelt
werden. Und daß die Gerichte ausnahmslos in diesem Sinne ent¬
scheiden werden, unterliegt gleichfalls nicht dem geringsten Zweifel.
So wird auch im künftigen deutschen Strafrecht Hingabe zum Trünke
selbst dann zum Widerruf einer bedingten Verurteilung führen müssen,
wenn die Straftat, derentwegen die bedingte Verurteilung erfolgte,
nicht im Zustande der Trunkenheit verübt worden war.
Was geschieht aber, wenn ein Täter wegen eines im Zustande der
Trunkenheit verübten Deliktes bedingt verurteilt wurde und das Gericht
seine Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt für notwendig hält?
Der österreichische Vorentwurf enthält keine Sonderbestimmung für
diesen Fall, dagegen beschäftigt sich der deutsche Entwurf von 1919
mit dieser Frage und ordnet in § 93, Abs. 2 in Verbindung mit § 89,
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Die Alkoholfrage im deutschen und österr. Strafgesetzentwurf. 165
Abs. 3 an, daß der bedingt Verurteilte in der Trinkerheilstätte unter¬
gebracht wird, sobald das Urteil in Rechtskraft erwachsen ist. Die
in der Anstalt verbrachte Zeit wird auf die Probezeit angerechnet.
Der Strafvollzug wird also bedingt ausgesetzt, dagegen wird der
Verurteilte sofort in eine Trinkerheilanstalt gebracht. Die Denkschrift
verzeichnet diesen Vorgang auf S. 67 ohne Begründung.
Vom ärztlichen Standpunkte aus wird man sich mit diesen Vor¬
schlägen für einverstanden erklären können. Es sind Fälle denkbar,
in welchen auf den Strafvollzug verzichtet werden kann, wenn nur
der Verurteilte genügend lange in einer Trinkerheilstätte behalten
wird. Hier wird also scharf zwischen den Maßregeln der Strafe einer¬
seits und den Maßregeln der Besserung und Sicherung andererseits
unterschieden. Diesen scharfen Unterschied vermißt man hingegen
in den Bestimmungen über die vorläufige Entlassung trunksüchtiger
Sträflinge. § 93, Abs. 2 in Verbindung mit § 89, Abs. 2 des deutschen
Entwurfes von 1919 bestimmt, daß die Unterbringung in der Trinker¬
heilanstalt zu unterbleiben hat, wenn der Verurteilte vorläufig ent¬
lassen wird. Dabei geht der Entwurf, wie in der Denkschrift auf
S. 90 ff. ausgeführt wird, von der Voraussetzung aus, daß die vorläufige
Entlassung nur dann bewilligt werden wird, „wenn sich der Verurteilte
schon in der Strafhaft von der Trunksucht freigemacht hat oder zum
mindesten die sichere Gewähr dafür geboten ist, daß er dies tun wird.“
Nach § 93, Abs. 2 wird der Verurteilte nicht nur bei vorläufiger Ent¬
lassung sondern auch dann nicht mehr in die Trinkerheilanstalt
gebracht, wenn er die ganze Strafe verbüßt hat und die weitere Ver¬
wahrung durch den Strafvollzug überflüssig geworden ist. Nun ist
nach § 69 des Entwurfes die vorläufige Entlassung eines Sträflings
dann zu verfügen, „wenn er sich während der Strafverbüßung gut
geführt hat und nach seiner Vergangenheit und seinen persönlichen
Verhältnissen die Erwartung rechtfertigt, daß er sich künftig wohl¬
verhalten werde.“ Würde man sich an den Wortlaut dieser Bestimmung
klammern, so könnte ein trunksüchtiger Verurteilter nie vorläufig
entlassen werden, denn wie sollte ein dem Trünke ergebener Mensch
„nach seiner Vergangenheit“ die Erwartung rechtfertigen, daß er sich
künftig wohlverhalten werde? Eine solche am Buchstaben klebende
Interpretation wäre nun gewiß etwas Unvernünftiges. Auch würde
sie zu der Anomalie führen, daß ein trunksüchtiger Täter zwar bedingt
verurteilt aber nicht bedingt entlassen werden könnte. Was man aber
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auf Grund medizinischer Erfahrungen behaupten muß, ist, daß bei
einem trunksüchtigen Verurteilten nur dann die Erwartung künftigen
Wohlverhaltens gerechtfertigt ist, wenn er eine entsprechend lange Zeit
in der Trinkerheilanstalt verbracht hat.
Die gute Führung während der Strafhaft mag ihren Lohn in Form
der bedingten Entlassung auch bei trunksüchtigen Verbrechern finden,
keineswegs aber rechtfertigt sie den Verzicht auf die nachfolgende
Unterbringung in der Trinkerheilstätte. Wie oben dargestellt worden
ist, kommen nach dem Entwurf für die Unterbringung in die Trinker¬
heilanstalt nicht solche Leute in Betracht, die gelegentlich einmal
infolge eines unglückseligen Zufalles in der Trunkenheit ein Delikt
begangen haben, sondern solche Individuen, welche ihre Unfähigkeit,
ein gesetzmäßiges und ordentliches Leben zu führen, dargetan haben,
kurz gesagt, Gewohnheitstrinker mit kriminellen Anlagen, „bei welchen
die kriminellen Anlagen nicht ausschließlich Folge des Alkoholmi߬
brauchs sind, sondern bei denen der Alkoholismus selbst nur eine
Teilerscheinung ist.“ (Wagner-Jauregg). Auch solche Leute können
sich in der Strafhaft gut führen und sich dadurch einen Anspruch auf
bedingte Entlassung erwerben. Die traurigen Erfahrungen, die aber
bei solchen Menschen hinsichtlich ihrer Rückfälligkeit gemacht wurden,
rechtfertigen nicht, daß die Gesellschaft ihnen gegenüber auf Siche¬
rungsmaßregeln verzichtet. Über die Notwendigkeit einer Detention
solcher Individuen, und ich betone nochmals, daß es in der Praxis
doch vornehmlich auf den Detentionszweck ankommen wird, kommt
man nicht hinweg.
Diese Gründe machen es uns Ärzten unmöglich, bei der bedingten
Entlassung eines trunksüchtigen Gefangenen auf seine Verwahrung in
der Trinkerheilanstalt zu verzichten. Wir müssen daher wünschen,
daß der bedingt aus der Haft Entlassene nicht unmittelbar die Frei¬
heit erhalte, sondern erst zur Behandlung an eine Trinkerheilstätte
abgegeben werde.
Wenn die Denkschrift S. 91 erklärt, daß die bedingte Entlassung
nur dann erfolgen wird, „wenn sich der Verurteilte schon während der
Strafhaft vom Trünke freigemacht hat,“ so fragen wir uns vergeblich,
welches Kriterium denn dem Strafvollzugsbeamten zur Verfügung
steht, um das Vorhandensein dieser Bedingung festzustellen. Weiß
doch selbst der in diesen Dingen weitaus erfahrenere Arzt der Trinker¬
heilstätte bei der Entlassung eines Patienten nicht, ob seine Beurteilung
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Die Alkoholfrage im deutschen und österr. Strafgesetzentwurf. 167
des Falles nicht irrig war und ob er die verfügte Entlassung nicht bald
bedauern wird. Der Strafanstaltsbeamte wird aber darin noch viel
häufiger irren. Wenn nun aber gar die Denkschrift S. 91 die bedingte
Entlassung nicht nur auf jene Fälle beschränkt, wo sich der Ver¬
urteilte bereits in der Strafhaft von der Trunksucht freigemacht hat,
sondern auch für jene Fälle in Aussicht nimmt, in welchen „die sichere
Gewähr dafür geboten ist, daß er dies tun wird“, so scheint hier das
Maß der Anforderungen, die an den bedingt zu Entlassenden gestellt
werden, ein unerlaubt bescheidenes zu sein. Der Fall liegt dann so,
daß man von einem Trinker der sich in der Strafhaft von der Trunk¬
sucht nicht freigemacht hat und den man gleichwohl keiner Trinker¬
heilanstalt übergibt, annimmt, daß er sich draußen in der Freiheit
ohne jede fremde Hilfe, nur aus eigenem Antrieb, den Alkohol ab-
gewöhnen werde. Einer so optimistischen Auffassung widerspricht
aber alles, was wir an klinischen Erfahrungen über den chronischen
Alkoholismus besitzen. Der Aufenthalt in der Trinkerheilanstalt ist
also, wenn eine Besserung des Verurteilten ernstlich angestrebt wird,
unerläßlich.
Würde ein Trinker nach dem Vorschläge des Entwurfes bedingt
entlassen werden, sich aber dann innerhalb der Bewährungsfrist
heraussteilen, daß er noch immer dem Trünke ergeben ist, so müßte
ein Widerruf der bedingten Entlassung erfolgen (§71 des Entwurfes
von 1919). Dann bestünde also noch immer die Möglichkeit, den Ver¬
urteilten nach Verbüßung des Strafrestes in einer Trinkerheilanstalt
unterzubringen. Wird jedoch ein Trinker nach Verbüßung seiner
ganzen Strafe entlassen und wird bei ihm gemäß §89, Abs. 2, des Ent¬
wurfes von 1919 (Denkschrift S. 90) von der Unterbringung in einer
Trinkerheilstätte Abstand genommen „weil die Verwahrung durch
den Strafvollzug überflüssig geworden ist“, so ist ein Widerruf dieses
Beschlusses nach dem Gesetz unzulässig. Wird in einem solchen
Falle der Entlassene rückfällig, so muß man mit verschränkten Armen
Zusehen und warten, bis er abermals ein Alkoholdelikt begangen hat.
Auch dieses Bedenken legt eine Abänderung der zitierten Bestim¬
mung nahe.
Auf Grund der vorstehenden Ausführungen müssen wir also
eine teilweise Abänderung beziehungsweise Ergänzung der in den
beiden Strafgesetzentwürfen enthaltenen Bestimmungen über die
Verwahrung der Trinker vorschlagen. Wir müssen verlangen, daß die
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Verwahrung nach jeder im Zustande der Trunkenheit verübten Tat
angeordnet werden kann, wenn dies sonst erforderlich erscheint,
gleichgültig, ob die Zurechnungsfähigkeit durch den Alkohol ganz
oder nur teilweise aufgehoben war und gleichgiltig, von welcher Strafe
die Tat sonst bedroht ist. Die Dauer der Internierung darf nicht auf
eine bestimmte Zeit befristet werden. Die Entlassung soll stets nur
auf Widerruf erfolgen. Ist die Internierung vom Gerichte einmal
beschlossen worden, dann darf auf sie nachher keinesfalls verzichtet
werden, sie muß daher auch im Falle der bedingten Strafaussetzung
und der vorläufigen Entlassung durchgeführt werden. In der Ver¬
wahrung ist eine strenge Trennung der rückfälligen Gewohnheits¬
trinker von den jungen, noch besserungsfähigen Elementen dringend
geboten.
Sollte der deutsche Entwurf Gesetz werden, so wäre die Er¬
richtung zahlreicher Anstalten für Trinker notwendig. Ob die gegen¬
wärtige finanzielle Lage des Deutschen Reiches dies gestattet, er¬
scheint den Verfassern des Entwurfes (Denkschrift S. 95) selbst etwas
zweifelhaft. In Österreich dürfte bei der ungleich ungünstigeren
finanziellen Lage dieses Landes die Errichtung von Trinkeranstalten
in absehbarer Zeit jedenfalls ganz ausgeschlossen sein. Darauf wird
man bei den bevorstehenden Beratungen über die österreichische
Strafrechtsreform wohl oder übel Rücksicht nehmen müssen. Öster¬
reich, schon in glücklicheren Tagen auf dem Gebiete der Trinker¬
fürsorge auffallend rückständig, kann in seiner derzeitigen Verarmung
das früher Versäumte nicht mehr nachholen.
Neben der Unterbringung in einer Trinkerheilstätte führt der
deutsche Entwurf noch eine zweite Sicherungsmaßregel bei Trunken¬
heitsdelikten an, das sogenannte Wirtshausverbot. §91 des Entwurfes
von 1919 ordnet an: „Wird jemand, der zu Ausschreitungen im Trünke
neigt, wegen einer Straftat, die er in selbstverschuldeter Trunkenheit
begangen hat, oder wegen sinnloser Trunkenheit (§ 274) verurteilt,
so kann ihm das Gericht für eine bestimmte Frist verbieten, sich in
Wirtshäusern geistige Getränke verabreichen zu lassen.“ Durch diese
Bestimmung soll der Anreiz zu Ausschreitungen im Trinken verringert
und dem Täter die Fernhaltung vom Genüsse geistiger Getränke er¬
leichtert werden (Denkschrift S. 89).
Wegen Bruches des Wirtshausverbotes wird sowohl derjenige
bestraft, der sich in einem Wirtshaus geistige Getränke verabfolgen
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läßt, obwohl er unter Wirtshausverbot steht, als auch der Inhaber einer
Schankwirtschaft oder dessen Vertreter, der wissentlich einer Person,
die unter Wirtshausverbot steht, Alkohol verabfolgen läßt (§ 201 des
Entwurfes von 1919).
Wie die Verfasser des Entwurfes (Denkschrift S. 90) mitteilen, sind
sie sich dessen bewußt, daß das Wirtshausverbot bloß in kleineren
Orten nützlich sein kann. In großen Orten scheitert die Maßregel
an der Unmöglichkeit der Kontrolle. Meines Erachtens wird die krimi¬
nalpolitische Wirksamkeit der ganzen Gesetzesbestimmung so gering
sein, daß ihre Streichung unbedenklich erfolgen könnte.
Nicht recht begreiflich ist, daß die im § 361, Abs. 5 des geltenden
deutschen Strafgesetzes enthaltene Bestimmung, daß derjenige straf¬
bar ist, der sich dem Spiel, Trunk oder Müssiggang dergestalt hingibt,
daß er in einen Zustand gerät, in welchem zu seinem oder seiner
Familie Unterhalt fremde Hilfe in Anspruch genommen werden muß,
in den neuen Strafgesetzentwurf nicht übernommen wurde. Der
Behauptung der Denkschrift S. 221, daß, soweit in dieser Richtung ein
Strafbedürfnis vorhanden sei, durch den § 275 ausreichend gesorgt
werde, kann nicht beigepflichtet werden, da nach § 275 ausschließlich
die böswillige Verletzung der Unterhaltspflicht strafbar ist; dieses
Erfordernis der Böswilligkeit liegt nun bei den meisten Trinkern, die
ihr Geld in der Kneipe .vertun und ihre Familie hungern lassen, nicht
vor; es unterliegt also keinem Zweifel, daß in dieser Richtung der
Strafgesetzentwurf mit den Trinkern milder verfährt als das geltende
Gesetz. Die Bestimmung des § 256 des österreichischen Strafgesetz-
entwurfes ist entsprechender, weil hier jede grobe Verletzung der
Unterhaltspflicht, nicht nur die böswillige, bestraft wird. Dies er¬
möglicht, gegen die hier in Betracht kommende Trinkerkategorie in
einer dem allgemeinen Rechtsempfinden entsprechenden Weise vor¬
zugehen.
Der zweite Teil des deutschen Strafgesetzentwurfes, der von den
Übertretungen handelt, enthält gleichfalls einige Bestimmungen, die
sich mit dem Alkohol beschäftigen. Es werden Strafen festgesetzt
für die Überschreitung der Polizeistunde in Schankwirtschaften, für
Störung der öffentlichen Ruhe durch Erregung von Lärm, endlich für
Nichtbefolgung der Vorschriften, die bezüglich der Verabfolgung
geistiger Getränke bei öffentlichen Versteigerungen erlassen worden
sind. Hingegen vermissen wir in dem deutschen Entwürfe ein Verbot
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Original fro-m
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170
Dr. Heinrich Herschmann.
der Verabreichung geistiger Getränke an Unmündige und Trunkene.
Der ösUneißhische Strafgesetzentwurf besitzt im § 4äß eine derartige
Bestimmung.
Zusammenfassend wird nam wohl sagen dürfen, daß der deutsche
und der österreichische Strafgesetzentwurf im Kampfe gegen die
Trunkenheitsdelikte einen Schritt nach vorwärts bedeuten. Die Kritik
wird sich in nächster Zeit voraussichtlich viel mit diesen Entwürfen
befassen und es ist zu hoffen, daß dies für die endgültige Fassung des
deutschen und österreichischen Strafgesetzes von Vorteil sein wird.
Der Zweck der vorstehenden kritischen Besprechung war, die Reform¬
bedürftigkeit einiger Gesetzesbestimmungen nachzuweisen, die sich
auf die Alkoholdelikte beziehen.
Eines aber dürfen wir bei aller Anerkennung für den angebahnten
Fortschritt nicht übersehen: Die ganze Frage bleibt prinzipiell un¬
gelöst, solange sich der Staat auf die Bestrafung der Trunkenheits¬
delikte beschränkt und gegen die Trunksucht selbst nichts unter¬
nimmt. Man kann das Übel nur ausrotten, indem man es an seiner
Wurzel packt. Die Bekämpfung der Trunkenheitsdelikte muß daher
notwendigerweise mit dem Kampfe gegen die Trunksucht selbst
zusammenfallen. Das Beispiel der Vereinigten Staaten von Nord¬
amerika, welche die Erzeugung und den Verkauf von Alkohol ver¬
boten haben, zeigt, auf welchem Wege dies zu geschehen hat. Zu¬
mindest aber müßte derjenige zur strafrechtlichen Verantwortung
gezogen werden, der sich an öffentlichen Orten im Zustande der
Trunkenheit zeigt oder der an solchen Orten andere absichtlich in
Trunkenheit versetzt. Bei Schaffung einer derartigen Bestimmung
wäre zu erwarten, daß die Öffentlichkeit in Hinkunft die Trunkenheit
nicht mehr so nachsichtig beurteilen würde wie bisher; die allzu nach¬
sichtige Beurteilung der Trunkenen durch die öffentliche Meinung
ist aber der größte Hemmschuh bei jeder gegen die Trunksucht ge¬
richteten Bewegung.
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Original fro-m
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Zur Frage der Selbstblendung.
Von
Dr. Heinz Hartmann (Wien).
Krankengeschichte. Otto F. wurde der psychiatrischen Klinik in Wien
am 17. Februar 1921 im Aufträge des Landesgerichtes in Strafsachen zur Beob¬
achtung übersteUt. Das Verfahren wegen Diebstahlsteilnahme, das gegen ihn
geschwebt hatte, war auf Grund des Gutachtens der Gerichtspsychiater mittels
Einstellung beendet worden. Pat. hatte sich in der Untersuchungshaft mit Glas-
splittem beide Augen schwer verletzt, nachdem er schon früher den Versuch
gemacht hatte, sich in der Zelle zu erhängen.
F. ist 1890 geboren, verheiratet, Kaufmann. Seine Kindheit stand unter
der Einwirkung sehr unerfreulicher Familienverhältnisse. Die Mutter hat sich
im allgemeinen wenig um ihn gekümmert, als er drei Jahre alt war, kam er auf
ihren Wunsch zu einer Kostfrau und blieb dort bis zum Beginn der Schulzeit.
Nach Angabe des Vaters ist die Mutter eine „rabiate, kolossal sinnlich vtr-
anlagtc u Frau, sie hat Pat. viel geschlagen, häufig auch auf den Kopf. Mit ihrem
Mann lebte sie schlecht, Streitigkeiten, die in Prügelszenen ausarteten, waren
an der Tagesordnung. Sie betrog ihn auch immer wieder, und das vor den Augen
ihres Kindes, vor dem sie sich überhaupt, wie der Vater sagt, „in keinerlei Weise
genierte“. Später führten immer häufiger auftretende Wutanfälle und diese
Szenen zur Scheidung. Die Frau lebt jetzt in einer anderen Stadt und führt dort,
obwohl schon 50 jährig, noch immer ein „sehr unmoralisches Leben“. Der Vater
ist ein ruhiger, gesetzter, bescheidener, nicht dummer Mensch, manchmal etwas
nervös. Zwei Geschwister der Mutter waren „vielleicht geisteskrank“, jeden¬
falls sehr nervös, aber Genaueres ist darüber nicht zu erfahren.
Aus der Zeit, welche F. bei der Kostfrau verlebte und aus der daran
schließenden Schulzeit steht ihm heute noch eine überraschend große Zahl von
Erinnerungen zu Gebote. Dabei kommen in seinen Erzählungen über diese Jahre
Widersprüche betreffend den Inhalt der Erlebnisse oder ihre zeitliche Bestimmung
nur sehr selten vor. Übrigens werden seine Angaben in allem Wesentlichen vom
Vater bestätigt. F.s sexuelle Neugierde ist früh erwacht. Er sieht sich dreijährig
mit anderen Kindern am Waschtrog spielen, dabei zieht er die Mädchen nackt
aus und betastet ihre Genitalien. Nachts, wenn er bei der Kostfrau im Bett
schläft, „krabbelt er immer an ihr herum“. Mit vier Jahren hatte er seine erste
Erektion, schon damals hat er vermutlich zu onanieren begonnen. Er erinnert
sich deutlich, daß er sich mit sechs Jahren lebhaft für den Inhalt des Bauches,
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Original from
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172
Dr. Heinz Hartmann.
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besonders aber für die weiblichen Geschlechtsteile interessierte. Einmal wollte
er sich sogar den Bauch aufschlitzen, „um zu sehen, was denn da drinnen ist“*.
Als er im siebenten Jahr ins Elternhaus zurückkehrte, wendete sich sein Interesse
vor allem der Mutter zu. Er sah immer aus dem Nebenzimmer zu, w T enn der
Vater die Mutter massierte, dann onanierte er mit der Begleitvorstellung des
elterlichen Koitus. Es kam in diesen Jahren auch immer wieder zur gegen¬
seitigen Berührung der Genitalien mit gleichaltrigen Mädchen und zu Koit us -
versuchen mit einem Dienstmädchen, „das war damals schon fast täglich“. Dabei
mußte er immer an die Mutter denken, er hatte damals schon den Wunsch, der
später noch deutlicher hervortrat, „es mit der Mutter auch so zu machen, wie
der Vater“. Er mußte auch immer denken, warum denn die Mutter nicht vom
Vater weggehe, er selbst könne doch den Vater bei ihr ersetzen. Als er sieben
Jahre alt war, nahm die Mutter häufig sein schlechtes Aussehen zum Vorwand,
um mit ihm das Haus verlassen zu können. Sie traf dann einen Mann, den sie
küßte. Als Pat. dies das erste Mal sah, war er sehr traurig, „schrecklich war
mir das“. Später gewann er den Mann lieb, weil er ihm so viel Geschenke machte.
Wenn die Mutter mit ihrem Geliebten ins Hotel schlafen ging, nahm sic ihn
immer ins Zimmer mit, machte ihn aber vorher betrunken. Er paßte dann auf,
schaute im Finstern hin, ob er nicht etw T as sehen könne. „Dabei hatte ich ein
eigentümliches Gefühl, ich war selbst sehr erregt dabei.“ Die Schule besuchte
er unregelmäßig, lernte schlecht, lief allen Mädchen nach. „Am liebsten wäre er
schon als Bub über die eigene Mutter gegangen“, sagt der Vater von ihm. Er
stürzte in dieser Zeit einmal auf einer Stiege und zog sich eine Verletzung des
linken Kniegelenkes zu, welche ihn durch lange Jahre immer wieder bettlägerig
machte und derentwegen er dreimal operiert wurde, das letzte Mal in seinem
17. Jahr, damals wurde das Kniegelenk versteift. Als er 14 Jahre alt war, jagte
ihn die Mutter endgültig aus dem Hause. Er wurde Geschäftspraktikant, hielt
es aber in keiner Stellung lange aus. Zwischendurch w*ar er häufig arbeitslos
und wuirde dann vom Vater ohne Wissen der Mutter mit Geld unterstützt, zeit¬
weise brachte er sich als Hausierer fort. Mit 16 Jahren wurde er zum ersten
Male gerichtlich bestraft und zwar wegen Taschendiebstahls, einige Jahre darauf
wegen Auslagendiebstahls zu zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Er hatte den
Schlüssel zur Auslage stecken gesehen, „da hatte ich den plötzlichen Einfall
zum Stehlen und dem mußte ich folgen.“ Zwei Jahre darauf wurde er abermals
wegen desselben Deliktes verurteilt. Das Stehlen machte ihm Freude, er hatte
dabei ein ausgesprochenes Lustgefühl und konnte der Versuchung dazu nicht
widerstehen. — Sein erster normaler Koitus fällt in sein siebentes Jahr. Die erste
Frau, mit welcher er ein länger dauerndes Verhältnis hatte, war eine Witwe,
die vier Kinder hatte und um zwölf Jahre älter war als er. Pat. hatte sie gern,
obwohl sie sehr eifersüchtig war und ihm häufig Szenen machte. Die siebenjährige
Tochter dieser Frau legte sich immer zu ihm ins Bett und spielte mit ihm, es ist
aber mit ihr zu keinem Geschlechtsverkehr gekommen. Von 1912 an lebte er
wueder mit einer alten Frau zusammen, die Hausbesorgerin in einem Bordell war.
Diese Frau zw’ang ihn, mit ihr zu verkehren, aber er tat es nur mit Widerstreben,
sie war ihm ekelhaft. Damals hatte er zuerst Sehnsucht nach geschlechtlichem
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Zur Frage der Selbstblendung.
173
Verkehr mit kleinen Mädchen. Schon zwei Jahre vorher hatte sich ihm allerdings
ein zwölfjähriges Mädchen genähert, das vorher von ihrem Vater geschlechtlich
mißbraucht worden war. Das interessierte ihn. Sie bot sich ihm an und er hätte
auch recht gerne mit ihr verkehrt, hatte aber damals noch zu große Angst vor
den etwaigen gerichtlichen Folgen. In den darauffolgenden Jahren wurde Pat.
immer nervöser, er selbst und seine Umgebung litten sehr unter seinen häufigen
Aufregungszuständen.
Vor zwei Jahren heiratete er, „um von der Alten loszukommen 44 und seither
fungierte er als Verkäufer im Geschäft seiner Frau. Kurz vor der Hochzeit hat
er Lues akquiriert und ließ sich seither mehrmals mit Injektionen behandeln.
Mit seiner Frau war er immer sehr brutal, es gab häufig Szenen und er hat sie
häufig geschlagen. Seit etwa einem Jahr nun kommt immer wieder der unwider¬
stehliche Drang über ihn, mit weiblichen Kindern geschlechtlich zu verkehren,
es ist auch manchmal zu einem wirklichen Koitus mit solchen kleinen Mädchen
gekommen. Pat. hat sich deswegen oft Vorwürfe gemacht, hat auch gegen den
Trieb anzukämpfen versucht, er unterlag aber in diesem Kampfe immer wieder.
Manchmal haben übrigens auch ganz alte Frauen einen starken sexuellen Reiz
auf ihn ausgeübt. Bei seiner Frau war F. häufig impotent, Kindern gegenüber
seiner Potenz sicher. Zwischendurch onanierte er häufig, zeitweise sogar exzessiv,
in den letzten Monaten immer mit dem Gedanken an kleine Mädchen. In den
Träumen der letzten Monate wiederholte sich mehrmals eine Szene, bei welcher
er mit seiner Mutter geschlechtlich verkehrt. Seit einiger Zeit tritt auch der Drang
auf, Geld zu verbrennen. Pat. hat diesem Drang auch einige Male nachgegeben.
Warum er das eigentlich tat, kann er nicht sagen („das ist ja ein Unsinn...
das ist ja eine Krankheit 44 ). Ebenso urteilt er über den im letzten Jahr wiederholt
aufgetretenen Zwangsimpuls, sich selbst oder seine Frau zum Fenster hinaus¬
zustürzen. „Wenn ich am Fenster stand, mußte ich mich zurückhalten, um nicht
hinauszuspringen. 44 Pat. machte auch sinnlose Einkäufe, die weit über seine
Verhältnisse gingen und ihn und seine Frau wiederholt in Verlegenheit brachten.
Er weiß dafür keine Begründung. „Das ist so über mich gekommen. 44 Er äußert
wiederholt Selbstmordabsichten, spricht auch davon, daß er sich blenden müsse,
damit ihm alles wie im Traume vorkomme. Kurz vor Weihnachten 1920 ist er
wegen bedenklichen Ankaufs verhaftet worden, in der Untersuchungshaft hat er
sich dann mit Glassplittem beide Augen schwer verletzt, so daß er bei der Auf¬
nahme auf die Klinik fast vollständig erblindet ist.
Auf der Klinik ist F. zeitlich und örtlich annähernd orientiert, klar und
geordnet. Er ist manchmal etwas reizbar, mißtrauisch, manchmal auch ein wenig
überheblich, neigt zu Stimmungsschwankungen. Meist sitzt er einsam da, spricht
mit den anderen Patienten nicht viel. Über seine Blindheit beklagt er sich nicht,
man hat im Gegenteil den Eindruck, daß er mit diesem Zustand recht zufrieden
ist. Intellektuell ist er gut begabt. An beiden Augen besteht eine Cataracta
traumatica, die getrübten Linsenmassen sind in die vordere Kammer ausgetreten,
Pat. ist fast blind. Die eine noch gut sichtbare Pupille reagiert prompt und aus¬
giebig auf Licht und Akkommodation. Es besteht Ankylose des linken Knie¬
gelenks. Der rechte Achillessehnenreflex fehlt. Sonst somatisch o. B.
Jahrbücher für Psychiatrie. XL1. Bd. S. u. 3. Heft. 12
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174
Dr. Heinz Hartmann.
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F. motiviert die Selbstblendung mit der Erwartung, er werde, wenn er
blind sei, vor dem geschlechtlichen Verlangen nach Kindern Ruhe haben. Er
wollte seiner Frau weitere Unannehmlichkeiten ersparen. Immer wieder mußte
er denken, er sollte sich die Augen ausreißen. Wie er denn auf den Gedanken
verfallen sei? „Das ist mir so ganz von selbst gekommen/ 4 Dann fing F. an*
sich dafür zu interessieren, „ob Blinde auch einer schlechten Tat fähig sind, ob
die auch so rabiat sind.“ Mehrere blinde Klavierspieler, die er kennen lernte*
„haben alte häßliche Weiber und leben doch gut mit ihnen zusammen.“ Einer
seiner Freunde, der homosexuell gewesen war und auch mit kleinen Mädchen
Verkehr gehabt hatte, ist seit einem mißlungenen Selbstmordversuch blind.
„Der lebt seither glücklich und zufrieden und hat vor dem Triebe Ruhe.“ Auf
Befragen gibt F. an, der Gedanke an» Selbstblendung sei ihm lange vor diesen
Erfahrungen an anderen gekommen.
Seit der Blendung fühlt sich nun Pat. „so ruhig, so glücklich, viel wohler*
als seit langer Zeit. 44 Er sieht während der ganzen Zeit seines Aufenthaltes auf
der Klinik Landschaften, Teppichmuster usw. in voller sinnlicher Lebhaftigkeit
vor sich. Ihr Auftreten ist von seinem Willen unabhängig, er erkennt aber ihren
subjektiven Charakter an. Allen gemeinsam ist der Charakter des Ruhigen*
Friedlichen. „Ich sehe schöne Bilder, grüne Landschaften, Berge und Täler*
Teppichmuster... Ich habe so ein glückliches Gefühl im Kopf... Ich sehe
Hügel, Bäume, so ruhig ist das... Die Teppichmuster haben verschiedene
schöne Farben, hauptsächlich dunkelrot.“ Er meint er werde jetzt ein ganz
anderer Mensch sein und sich nicht mehr in bedenkliche Dinge einlassen. In
Gedanken ist er häufig bei seiner Familie. In der ersten Zeit nach der Blendung
hatte F. noch hie und da Verlangen nach kleinen Mädchen, schon nach wenigen
Tagen aber ist er von diesen Gedanken vollständig frei und seine Neigung und sein
Interesse beginnen sich mehr als bisher seiner Frau zuzuwenden. Wenn sie zu
Besuch auf die Klinik kommt, ist er mit ihr besonders liebevoll und zärtlich.
Es wird mit Pat. eine Psychoanalyse begonnen, welche aber nach der dritten
Stunde wegen seiner energischen Weigerung, sich weiter behandeln zu lassen*
abgebrochen werden muß. Ich will aus dem gewonnenen analytischen Material
nur einen Traum hierhersetzen, welcher in mancher Hinsicht für uns aufschlu߬
reich und schon auf Grund unserer kurzen Deutungsarbeit hinlänglich durch¬
sichtig ist. Der Traum lautet: „Ich habe geträumt, daß ich Hosen gestohlen
habe. Ich war ängstlich, daß ich von der Polizei verfolgt werde. Es waren kurze
Hosen, wie die Steirerhosen, es waren Rehlederhosen. Eine Frau war dort im
Geschäft, zuletzt war es eine (?), die Frau sprach von grauem Schuhleder. 44 Dazu
fällt ihm ein: „Meine Frau hat erzählt, daß sie sich von Leder etwas machen lassen
will und zwar Schuhe, das war diese Woche.“ In den letzten Tagen habe er
manchmal geschlechtliches Verlangen nach seiner Frau gehabt. Das Wildleder
habe sich angcfühlt wie die Geschlechtsteile der Frau. „Früher habe ich gerne
gestohlen, was mir unter die Hand kam, schon vor vielen Jahren. Ich habe
Kleinigkeiten genommen, Scheren oder was halt sonst auf dem Pulte lag. Dabei
hatte ich eine Genugtuung, ja direkt eine Freude. Nachher gab ich das Gestohlene
meist wieder zurück.“ Im Traum habe es ihm leid getan, daß er nichts Besseres
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Zur Frage der Selbstblendung.
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genommen habe, ln derselben Nacht, hatte er einen zweiten Traum: „Ich war
in einem Fleischhauerladen, dort waren Fleischstücke von zwei bis drei Kilogramm
Gewicht. Ich hatte Angst, daß ich sie verschwinden lassen muß. Dann ging ich
in den Vorraum und nahm ein Stück. Ich gab es in eine Mistkiste, wo viel Papier
darin war, schmutziges Papier und dachte, ich will es später abholen.“
Am 27. Februar wird F. der Landesirrenanstalt „Am Stcinhof“ übergeben,
von dort nach wenigen Tagen nach Hause entlassen.
Zusammenfassung.
Heben wir noch einmal kurz die wesentlichen Punkte der Kranken¬
geschichte hervor. Ein 31 jähriger Mann kommt zur Beobachtung
auf die Psychiatrische Klinik, nachdem er sich kurz vorher mit Glas¬
splittern an beiden Augen eine schwere, zu fast vollständiger Erblindung
führende Verletzung beigebracht hat. In den Monaten, die dieser
Tat vorausgingen, war er durch zwangsmäßig auftretende Impulse
und triebartige Willenserregungen beherrscht gewesen, insbesondere
durch den mit großer Heftigkeit hervorbrechenden Drang zum
Geschlechtsverkehr mit Mädchen von 12 bis 14 Jahren, gegen den er
vergebens anzukämpfen suchte. Nach seiner Blendung tritt dies
Verlangen in den Hintergrund und scheint schließlich ganz zu ver¬
schwinden und auch die anderen Zwangsimpulse und Triebhandlungen
treten nicht mehr auf. Erfühlt sich ruhig und glücklich. Er halluziniert
Landschaften und Ornamente, welche diese Stimmung zum Ausdruck
bringen. Es bestehen Anzeichen dafür, daß sich seine Libido in höherem
Maße als bisher seiner Frau zuzuwenden beginnt. Im Vordergrund
des Charakterbildes unseres Patienten stehen Reaktionsformen, die
kurz aber natürlich nur ganz oberflächlich mit den Schlagworten:
Erregbarkeit, Triebhaftigkeit, Willensschwäche, Unstetigkeit, Arbeits-
. unlust, Stimmungslabilität zu kennzeichnen wären. Wir können diese
Charakterzüge im wesentlichen bis in seine Kindheit zurückverfolgen.
Die intellektuelle Begabung ist eine gute, die schlechten Erfolge in
der Schule sind aus dem nur sehr sporadischen Schulbesuch und der
Unlust am Lernen verständlich. Aus der Kindheit unseres Patienten
heben wir als vor allem bemerkenswert die sexuelle Frühreife hervor,
dann die dominierende Bedeutung der Mutter für das kindliche Sexual¬
leben und alle jene zahlreichen ungünstigen Milieueinflüsse, die
aus der Krankengeschichte ersichtlich sind. Auf das auffallend gute
Gedächtnis für die Erlebnisse der Kindheit wollen wir noch einmal
ausdrücklich hinweisen.
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Dr. Heinz Hartmann.
Das oben kurz skizzierte Charakterbild F.s, das sich in groben
Zügen bis in seine Kindheit hinauf verfolgen läßt, legt uns die Diagnose
einer Psychopathie nahe. Doch unterliegt diese Diagnose einer Ein¬
schränkung. Sie zielt ja streng genommen auf einen konstitutionellen
Faktor und es sind aus dem, was wir über den Fall wissen, weder für
erbliche Belastung noch für Keimschädigung sichere Anhaltspunkte
zu entnehmen. Daß wir Züge aus dem Charakterbild des Patienten
bei seiner Mutter wiederfinden, unterliegt keinem Zweifel. Ob aber
diese Frau mit ihrer Erregbarkeit, ihrer offenbar bedeutenden Sinn¬
lichkeit und ihrem Mangel an Verantwortungsgefühl die Breite dessen
überschreitet, was wir als „normal“ zu bezeichnen gewohnt sind,
muß dahingestellt bleiben. Was uns F. über Geisteskrankheiten in
der Familie seiner Mutter erzählt hat, sieht er selbst als nicht ganz
zuverlässig an. Wir wollen also gleich hier bemerken, daß uns eine sehr
bedeutungsvolle Mitwirkung von Milieueinflüssen und Kindheits¬
erlebnissen an der Entstehung der vorliegenden Erscheinungen sehr
wahrscheinlich zu sein scheint. Die Beziehungen der Eltern zueinander,
der beständige Wechsel der Lebensbedingungen, unter welchen F.
aufwächst, dann sein Verhältnis zur Mutter und der gänzliche Mangel
einer Erziehung, welche die früh erwachte Sexualität des Kindes hätte
eindämmen und lenken können, mögen hier zur Erklärung herangezogen
werden. Es muß die Annahme einer krankhaften Veranlagung, welche
auf jeden Fall, auch ohne das Hinzutreten schädigender Einflüsse von
Seiten jener beiden oben bezeichneten Faktorengruppen das vorliegende
Bild aus sich heraus entwickelt hätte, bei unserem Patienten durchaus
nicht unbedingt gemacht werden. Wir wollen also, wenn wir ihn den
Psychopathen zurechnen, damit nur rein deskriptiv eigenartige Züge
seiner Persönlichkeit kennzeichnen.
Diese Züge entsprechen, wenn wir der Einteilung Kraepelins
folgen, im wesentlichen Bildern, welche er in der Gruppe der „Erreg¬
baren“ einerseits, der „Triebmenschen“ anderseits zu Einheiten zu¬
sammengefaßt hat. Daß es auf dem Gebiete der Psychopathien alle
erdenklichen Übergänge und Mischformen gibt, ist ja bekannt und
auf die nahe Verwandtschaft gerade der Triebmenschen mit den Erreg¬
baren hat Kraepelin selbst nachdrücklich hingewiesen.
Auf dem Boden dieser relativ konstanten Anomalien der Persön¬
lichkeit sehen wir nun in den letzten Jahren sich Erscheinungen ent¬
wickeln, welche wir wegen der starken Beeinträchtigung der Leistungs-
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Zur Frage der Selbstbiendung.
177
fähigkeit und der Lebensfreude, die sie mit sich bringen, als im engeren
Sinne krankhaft bezeichnen müssen. Wir rechnen hierher das Ab¬
weichen der Sexualität vom normalen Objekt, den Zwangsimpuls,
Geld zu verbrennen und sich selbst und seine Frau zum Fenster hinaus¬
zustürzen, die Kleptomanie und die Kaufsucht. Wesen und Sinn der
Selbstblendung sollen später im Zusammenhang besprochen werden.
Wir wissen aus F.s Mitteilungen, daß das Stehlen bei ihm einen
triebartigen Charakter hatte. Er stahl, was ihm unter die Hand kam
und gab das Gestohlene häufig wieder zurück (daneben kamen aller¬
dings auch Zweckdiebstähle vor). Wir wissen ferner, daß er sich wegen
seiner Diebstähle Vorwürfe machte, in seinem Kampf gegen den
Trieb aber immer wieder unterlag, und daß die Ausführung der Dieb¬
stähle für ihn mit Lust verbunden war. Dasselbe gilt von seinem Drang
zu sinnlosen Einkäufen. Die Selbstmord- und Mordimpulse sowie
den Zwang Geld zu verbrennen sieht F. als „Unsinn“ an und aus
einer anderen Angabe geht hervor, daß er sie als krankhaft empfindet,
ein Standpunkt, den er seinen Diebstählen und Einkäufen gegenüber
nicht einnimmt. Der Versuch, diese Symptome einem klinischen Krank¬
heitsbilde zuzuordnen, hätte sich vor allem mit der Frage nach der
Abgrenzung von Zwangsneurose und impulsivem Irresein zu beschäf¬
tigen. Der Impuls, sich selbst oder eine andere — meist nahestehende
— Person aus der Höhe hinabzustürzen, der den Patienten quält
ohne jemals zur Ausführung durchzudringen, ist ja aus der Sympto¬
matologie der Zwangsneurose wohl bekannt. Anderseits pflegt man
Kleptomanie und Oniomanie dem impulsiven Irresein zuzurechnen.
Als Kriterium für die Zuordnung eines Impulses zu dem einen oder dem
anderen Krankheitsbilde dient bei den meisten Autoren die Stellung
der Persönlichkeit zu dem Impuls, je nachdem, ob er von ihr als'krank¬
haft, fremd, unberechtigt angesehen und bekämpft wird, oder ob dies
Bewußtsein der Krankhaftigkeit fehlt und die Ausführung mit Befrie¬
digung verbunden ist. Uns scheint eine scharfe Abgrenzung auf Grund
dieses Kriteriums aus Gründen, die anzugeben hier zu weit führen
würde, als undurchführbar. Wir möchten hier auch der Bemerkung
Kaum geben, daß die Berechtigung einer Annahme des impulsiven
Irreseins als selbständiger Krankheitsform von manchen überhaupt
bestritten ist 1 ). Was nun unseren Fall betrifft, so wollen wir auf das
l ) s. dazu Foerster, Referat über das impulsive Irresein, Allg. Zeitschr.
f. Psych. 65, 1908.
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Dr. Heinz Hartmann.
Nebeneinander jener beiden meist zwei verschiedenen Krankheits¬
bildern zugeordnet gedachten Symptomgruppen als bemerkenswert
hin weisen. Freud sieht bei seinem Versuche, die Zwangsneurose als
ätiologische Einheit zu fassen, bekanntlich die Fixierung der Libido
auf der sadistisch-anaJerotischen Organisationsstufe als den wesent¬
lichen Faktor für die Entstehung dieser Neurose an. Die Unvoll¬
kommenheit unserer Analyse verbietet es uns, über die Bedeutung dieses
Faktors in unserem Falle etwas auszusagen, wir möchten aber aus¬
drücklich darauf hinweisen, daß die intensive Betätigung des infantilen
Schau- und Wißtriebes, deren bedeutungsvolle Rolle bei der Entstehung
der Zwangsneurose von psychoanalytischer Seite immer hervorgehoben
wurde, auch in diesem Falle nachzuweisen ist.
. F. ist ein sexuell Frühreifer. Seine Erinnerung an deutlich sexuelle
Betätigungen reicht bis in sein drittes oder viertes Lebensjahr zurück.
Die vielfachen Durchbrechungen, welche bei ihm die sexuelle Latenz¬
zeit (W. Fließ) erfährt, verdienen unsere besondere Beachtung. Es
ist verständlich, daß das Voraneilen eines früherwachten lebhaften
Sexualtriebes vor den anderen Funktionen, die mit ihm in Wechsel¬
wirkung stehen, Störungen in der Persönlichkeitsentwicklung bedingen
kann. Daß die sexuelle Frühreife, mag sie nun auf Verführung zurück¬
gehen oder, was uns wahrscheinlicher scheint, spontan auftreten, die
spätere Entstehung von Perversionen begünstigt, ist bekannt. Ebenso
findet man sie auffallend häufig in der Kindheitsgeschichte von später
Neurotischen. Für unseren Fall von Bedeutung ist auch eine Bemer¬
kung von Freud 8 ): „Auf alle Fälle erschwert die sexuelle Frühreife
die wünschenswerte spätere Beherrschung des Sexualtriebes durch die
höheren seelischen Instanzen und steigert den zwangsartigen Charakter,
den die psychischen Vertretungen des Triebes ohnedies in Anspruch
nehmen.“ Als Ausdruck der sexuellen Frühreife findet man meist,
und so auch bei F., die Masturbation, defen Beginn bei ihm in un¬
bekannt frühe Kinderzeit zu verlegen ist. Sie hat sich bei ihm sein
ganzes Leben hindurch erhalten, auch gleichzeitig neben anderen
Formen der Sexualbefriedigung. Wir finden bei F. ferner die Steigerung
des Schau- und Wißtriebes, auf deren Bedeutung schon oben kurz
hingewiesen wurde und vom 7. Jahre an Versuche zum normalen
heterosexuellen Geschlechtsverkehr. Das erste Objekt einer bedeu-
*) Urei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Deuticke, 3. Auf]., 1915, S. 99.
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Zur Frage der Selbstblendung.
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tenden, offensichtlich sinnlich gemeinten Zuneigung scheint für F.
seine Mutter gewesen zu sein. Seine Wünsche richten sich ganz un¬
verhüllt auf den Geschlechtsverkehr mit ihr. Er möchte den Vater
gerne los sein, um bei der Mutter an seine Stelle treten zu können.
Alle die Mächte, die sich sonst von seiten des Kindes einer manifesten
inzestuösen Objektwahl entgegenstellen, sind noch nicht gefestigt
genug, um dem Ansturm der frühreifen Sinnlichkeit standhalten zu
können 3 ). Und daß die Aufrichtung jener Schranken, welche die Er¬
ziehung dem Trieb entgegenstellen kann, in diesem Falle nur sehr
unvollständig erfolgt ist, geht aus der Anamnese deutlich genug hervor.
Daß man die sexuelle Frühreife an sich noch nicht als krankhaftes
Symptom werten darf, geht aus jenen gar nicht seltenen Fällen hervor,
die im späteren Leben gesund geblieben sind. Aus der Kindheits¬
geschichte eines Frühreifen, der später nur leichtere neurotische
Störungen zeigte, möchten wir ganz kurz einiges hierher gehörige
mitteilen, weil er auch noch aus einem anderen Grunde unser Interesse
verdient. Der Fall wurde von Herrn Dozenten Schilder behandelt,
dem ich für die freundliche Überlassung der Krankengeschichte zu
Dank verpflichtet bin.
Akademisch gebüdeter, sozial vollwertiger, in seinem Berufe tüchtiger
Mann von 29 Jahren. Er erinnert sich, schon in der Zeit von seinem zweiten bis
zu seinem fünften Lebensjahre deutlich sexuelle Erregungen gespürt zu haben.
Mit vier Jahren hatte er ein so lebhaftes Verlangen, daß er einem kleinen Mädchen
Geld gab, um mit ihr zu verkehren. Er legte sein Glied in die Genitalien des
Mädchens. Auch mit seiner ältesten, um ein Jahr jüngeren Schwester, hat er
damals verkehrt. Er hat an diese Zeit, die er bei seinen Großeltern verlebte,
eine sehr genaue Erinnerung, er erzählt mit sehr vielen Details. Einmal ver¬
suchte er, eine Achtzehnjährige zu koitieren, erschrak aber vor ihrem großen
Genitale. Beim ersten Geschlechtsverkehr nach der Pubertät trat eine geringe
Potenzstörung auf. Er versagte auch später häufig und ist auch jetzt seiner
Potenz nicht ganz sicher. Zeigt geringes Selbstvertrauen usw.
Dem Falle F. und diesem gemeinsam ist nicht nur das frühe Auf¬
treten einer deutlich sexuellen Betätigung im allgemeinen, sondern
vor allem auch die Art dieser Betätigung, welche bei dem einen neben
onanistischen Akten einhergehend mit sieben Jahren, bei dem anderen '
schon mit vier Jahren dem normalen Sexualverkehr der Erwachsenen
sehr nahe kommt und ferner die überraschend gute Fähigkeit zur
*) s. Freud, a. a. 0.
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180
Dr. Heinz Hartmann.
Reproduktion der Erlebnisse dieser Zeit. Die Frage, warum die eigene
Kindheit bis zum achten oder neunten Jahre der Mehrzahl der Menschen
ein großes nur von wenigen Erinnerungslichtern erhelltes Dunkel ist,
harrt noch ihrer Lösung. Daß die Erlebnisse der Kindheit nicht
ausgelöscht, sondern nur auf irgend eine Weise in der Regel vom
Wachbewußtsein ferngehalten sind, geht unter anderem aus dem
nicht ganz seltenen Auftreten solcher Erlebnisse der frühen Kindheit im
Traume hervor, über welche das Gedächtnis des Wachenden nicht
verfügt, deren Realität jedoch gelegentlich auf objektivem Wege
bewiesen werden kann 4 ). Jene Tatsache wird umso schwerer ver¬
ständlich, wenn man bedenkt, daß gerade die Kindheits- und Jugend¬
erlebnisse es sind, welche, wenigstens bei der Demenz der organischen
Psychosen und im Alter, dem fortschreitenden Vergessen am längsten
standhalten, und daß dasselbe von den grundlegenden Erwerbungen
der Kindheit auf den Gebieten sämtlicher Funktionen gilt, welche
Erfahrungen Ribot 6 ) in den Worten zusammengefaßt hat „le nouveau
meurt avant l’ancien.“ Freue*) sieht die Erscheinung der infantilen
Amnesie als Erfolg eines Verdrängungsprozesses an und rückt sie in
die Nähe der hysterischen. Er spricht die Vermutung aus, daß in den
sexuellen Erlebnissen dieser Zeit die Ursache für ihr späteres Ver¬
gessenwerden zu suchen sei. Bleulei 7 ) meint, daß jene Amnesie
„der gewaltigen Umbildung zu verdanken sei, die die Persönlichkeit
in dieser Zeit durchzumachen habe.“ Die Möglichkeit eines Stand¬
punktes, welcher jene Vorgänge, die gewöhnlich um das zehnte Lebens¬
jahr, in unseren Fällen aber früher, zur Ersetzung der kindlichen Art
sexueller Einstellung durch die endgültige führen, für die gewaltigen
Wandlungen, welche das Erleben in dieser Zeit erfährt einerseits, für
den Wunsch nach Verdrängung der früheren, vom jetzigen Stand¬
punkte angesehen perversen Äußerungen der Sexualität anderseits,
als wesentlich verantwortlich ansehen würde, sei nur angedeutet.
Er würde jene beiden Teilursachen vereinigen und jenem Parallel-
4 ) Ein besonders schönes Beispiel dafür findet sich bei Maury: „Le som-
ineil et les rßves“, Paris, 1861.
4 ) Les maladies de la memoire, Paris, 1881.
•) a. a. 0. S. 40 und „Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“,
Heller, 1917, S. 374.
*) Lehrbuch der Psychiatrie, Springer, 2. Aufl., 1918, S. 80.
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Zur Frage der Selbstbiendang.
181
gehen von vorzeitigem Auftreten der endgültigen Form sexueller
Betätigung und guter Reproduktionsfähigkeit für die Erlebnisse der
Kindheit, das sich nicht nur in unseren beiden Fällen findet, Rechnung
tragen.
Die erste Frau, mit welcher F. ein längerdauemdes Verhältnis
unterhielt, war, wie wir gehört haben, eine'Witwe mit vier Kindern,
welche um viele Jahre älter war als er. Wir möchten in dieser Objekt¬
wahl den Einfluß der frühkindlichen Verliebtheit in die Mutter er¬
blicken und führen als Beweis für das Fortbestehen dieses Einflusses
im Unbewußten die Träume vom Sexualverkehr mit der Mutter an,
welche F. noch einige Monate vor seinem Aufenthalte auf der Klinik
wiederholt gehabt hat. Auch in späterer Zeit lebte er noch einmal
durch etliche Jahre mit einer älteren Frau zusammen, die ihn zum
Sexualverkehr zwang. Sie war ihm, wie er sagt, ekelhaft und damals
ist zum ersten Male das Verlangen nach geschlechtlichem Umgang mit
unreifen Mädchen in ihm wach geworden. Mit unwiderstehlicher Kraft
setzte sich dieser Trieb erst einige Jahre später durch, und es kam dann,
wie wir wissen, zum wiederholten Koitus mit verschiedenen Mädchen
von 12 bis 14 Jahren. Ob wir in dieser Abweichung vom normalen
Sexualobjekt den Ausdruck eines unbewußten Wunsches zu sehen
haben, von jener Bindung an die Mutter loszukommen, muß wegen der
Unvollständigkeit der Analyse dahingestellt bleiben, doch scheint
mir diese Annahme eine große Wahrscheinlichkeit für sich zu haben.
Ein Bedürfnis nach Abwechslung im allgemeinen, der Wunsch des
sexuell viel erfahrenen, demoralisierten älteren Mannes, seiner
geschwächten Potenz durch den Reiz des Reinen und Unschuldigen
aufzuhelfen, der „Reizhunger“ Hoches, der Mangel geeigneter anderer
Objekte, Schüchternheit, dann der Aberglaube von der lebensver-
längemden Wirkung des Geschlechtsverkehrs mit Kindern und auch
Gelegenheitsursachen — alles dies ist zur Erklärung der Pädophilie
herangezogen worden. Ich möchte auf die Frage nach der Wertigkeit
dieser so verschiedenartigen Faktoren nicht näher eingehen, für unseren
Patienten scheint mir jedenfalls das Mitwirken mehrerer von ihnen
wahrscheinlich zu sein, wenn ich auch glaube, daß die wesentlichen
Ursachen damit nicht berührt sind. Aus dem Verhältnis zur Mutter
wären vielleicht auch die gelegentlichen gerontophilen Neigungen F.s
verständlich zu machen. Die Beziehungen der Kleptomanie zum
Sexualleben sind bekannt genug. Daß auch in diesem Betrachte
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182
Dr. Heinz Hartmann.
harmlos scheinende Diebstähle zuweilen aus dem Zusammenhänge
mit sexuellen Motiven verständlich werden können, hat Kielholz 8 )
neuerdings gezeigt. In F.s Bewußtsein besteht eine Beziehung zwischen
Sexualität und Kleptomanie nicht, doch stellt, was von hohem In¬
teresse ist, einer seiner Träume eine solche Beziehung her. Die Ein¬
fälle zu diesem Traume nämlich, der im manifesten Inhalt von dem
Diebstahl einer Wildlederhose handelt, machen es wahrscheinlich,
daß ihm der Wunsch nach sexuellem Verkehr mit seiner Frau zugrunde
liegt („in den letzten Tagen habe ich manchmal geschlechtliches Ver¬
langen nach meiner Frau gehabt“ .. .„das Wildleder hat sich angefühlt
wie die Geschlechtsteile der Frau“ und auch der Einfall „es hat mir
leid getan, daß ich nichts besseres genommen habe,“ der seine Gedanken
über diese Ehe treffend zum Ausdruck bringt. Die übrigen, in der
Krankengeschichte nicht mitgeteilten Einfälle weisen in derselben
Richtung.) Es scheint also, daß in diesem Traume der Akt des
Stehlens den Sexualakt vertritt.
Wir wollen uns jetzt um das Verständnis jenes bemerkenswer¬
testen Phänomens bemühen, das unser Fall uns zeigt, nämlich der
Selbstblendung. Der Wunsch sich selbst zu blenden, hat F. seit Jahren
beschäftigt. Er wird auch von F. motiviert und zwar damit, daß er
seiner Frau keine Schwierigkeiten mehr machen wolle. Er kenne
blinde Klavierspieler, die mit häßlichen alten Frauen in Frieden leben
und einer seiner Freunde sei nach der Erblindung seine früheren
homosexuellen Neigungen losgeworden. Abgesehen davon, daß ihn
diese Erfahrungen ja nach seiner eigenen Aussage nur nachträglich
in dem schon gefaßten Vorsatz bestärkt haben, können wir die Moti¬
vierung, welche F. selbst uns gibt, durchaus nicht als zureichend
ansehen, um uns die Ausführung einer so erstaunlichen und seltenen
Handlung begreiflich zu machen. Es kommt hinzu, daß jenes „Sich-
blenden-müssen“ zuerst den Charakter einer Zwangsvorstellung
gehabt zu haben scheint. Schwere Selbstbeschädigungen an den Augen
werden nur ganz selten beobachtet. Bei Wehrpflichtigen, die sich ihrem
Militärdienst entziehen wollten, wurden einige Fälle von artefizieller
traumatischer Katarakt beschrieben, es scheint aber, daß diese fast
ausnahmslos nicht selbstzugefügt waren, daß hier vielmehr die Aus¬
führung einem anderen überlassen wurde. Wir möchten die Vermutung
8 ) Symbolische Diebstähle, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psveh., 55, 1920.
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Zar Frage der Selbstblendung.
183
aussprechen, daß sich auch für diese scheinbar rationalen Selbst¬
beschädigungen in der Regel eine Mitwirkung unbewußter Deter¬
minanten an der Genese, vielleicht des Wunsches zur Selbstbeschädigung
überhaupt, jedenfalls aber derjenigen Gedanken, welche diesen Wunsch
auf das Auge gelenkt haben, nachweisen ließe. Eine kleine Anzahl von
Selbstverstümmelungen der Augen ist bei Geisteskranken beschrieben.
Nur bei acht von den insgesamt fünfzehn Fällen, welche uns in der
Literatur zugänglich waren, ist die psychiatrische und psychologische
Seite genügend berücksichtigt, um uns ein Urteil zu gestatten. Einige
wesentliche Punkte der betreffenden Krankengeschichten seien kurz
mitgeteilt:
Der Fall von Bergmann*) betrifft eine 43 jährige Witwe, die Differential¬
diagnose zwischen Melancholie und Schizophrenie kann nicht sicher gestellt
werden. Die Pat. zeigt paranoide Wahnideen. Im Vordergründe stehen Selbst¬
vorwürfe wegen ihrer Sündhaftigkeit. Sie ist verwirrt und erregt. In einer Nacht
reißt sich Pat. mit den Händen beide Bulbi heraus. Auf die Frage, warum sie
es getan, antwortete sie mit den Worten der Bergpredigt: „Ärgert dich dein Auge,
so reiß es aus und wirf es von dir.“ Der Autor führt die Psychose auf „übel ver¬
standene Religionsbegriffe“ zurück, verweist darauf, daß religiöse Schwärmerei
oft auf Abnormalitäten des Geschlechtsystems zurückzuführen sei und sagt dann
weiters: „Daß ein sinnlicher Trieb und danach Vorwürfe und Selbstanklagen,
daß Unordnung in der Menstruation in unserem Falle mit im Spiele waren, geht
aus den Angaben hervor.“ — Über die psychiatrische Seite des von White
Cooper 1 *) veröffentlichten Falles, welcher sich ebenfalls selbst ein Auge enukleiert
hatte, hören wir vom Autor nur die kurze Charakteristik „un jeune homme de
18 ans, d’un tempGrament enthousiaste poussö jusqu’ä l’insanit6“ und es wird
die Bemerkung hinzugefügt, „er glaubte seine Sünden nicht anders büßen zu
können, als indem er wörtlich die Vorschrift des 29. und 30. Verses des fünften
Kapitels des Evang. Math, ausführte.“ Ob die Berufung auf die Bergpredigt
vom Pat. oder vom Autor stammt, ist nicht klar zu ersehen. — Bei Ideler 11 )
handelt es sich offenbar um eine Schizophrene. Die Pat. ist 34 Jahre und seit
der vor sieben Jahren erfolgten Geburt eines unehelichen Kindes, das schon am
siebenten Tage starb, geistesgestört. Der Vater des unehelichen Kindes, bei dem
sie in Dienst gestanden war, entließ sie und behandelte sie rauh und unfreundlich.
Es traten schon damals Gehörshalluzinationen auf, sie hörte das Stöhnen des
Kindes und machte sich Vorwürfe, das Kind schlecht gepflegt zu haben. Sieben
Jahre danach kommt sie zum zweiten Male zur Aufnahme in die Irrenanstalt.
Die Erscheinungen sind dieselben wie damals. In einem unbewachten Moment
*) Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. III, 1846.
10 ) Annales d’oculistique, 1855.
11 ) Allg. Zeitschr. f. Psych., Bd. XXVII, 1870.
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184
Dr. Heinz Hartmann.
reißt sie sich das eine Auge aus. Sie habe die Stimme Gottes vernommen, sie
sei im Fegefeuer und müsse ihre Sünden büßen. Dann sah sie einen feurigen
Mann, der ihr zurief: „Gib mir das Ohr her, spalte dir den Kopf“. Nach der
Tat fühlt sie sich weit beruhigter. — Auch der 52 jährige, liederliche, religiöse,
beschränkte Pat. von Goffii. 11 ) dürfte ein Schizophrener gewesen sein. Er ritt
sich beide Bulbi heraus und gab dann nachträglich an, er habe die Stimme Gottes
gehört, welche ihm sagte: „Du hast mit deinen Augen gesündigt, die Jungfräulich¬
keit deiner Tochter gesehen, reiße die Augen aus, welche* das Ärgernis gesehen
haben.“ — Von den fünf Fällen, welche Axenfelc. 1 *), natürlich hauptsächlich
vom okulistischen Standpunkt aus, beschrieben hat, haben nur die Fälle I, III
und IV eine hinlängliche psychiatrische Würdigung erfahren. Der erste Fall
betrifft einen 50 jährigen Paralytiker, welcher unter dem Einfluß der Wahnidee,
er müsse einrücken, wiederholt den Versuch macht, sich mit dem Finger den
einen Bulbus hinauszudrücken. Fall III ist eine 18 jährige Schizophrene, viel*
leicht auch eine Amentia. Sie spricht von großen Reisen, Besuchen beim Kaiser.
Erzählt von einem Verführungsversuch durch einen Maler. Zwischendurch
Bibelsprüche. Sie halluziniert. „Hervorzuheben ist, daß Obszönitäten besonders
hervortraten,“ bemerkt der Autor. Es kommt zum Versuch der Enukleation
eines Bulbus. — Bei dem 33 jährigen, unverheirateten Mann (Fall IV) kann die
Diagnose zwischen Schizophrenie und Melancholie schwanken. Der Pat.
enukleierte sich beide Bulbi vollständig. Begründung: „Ich habe meine Pflicht
versäumt, ich sollte eine Braut nehmen und habe es nicht getan,“ und später:
„es war eben Gottes Stimme, die mir das befahl.“ — Wachs mutL 14 ) veröffentlicht
die Krankengeschichte einer 36 jährigen Frau, welche sich im katatonen Raptus
das linke Auge ausriß. Sie weiß für diese Tat keinen Grund anzugeben. Der
Autor verzichtet bewußt auf eine psychologische Analyse des Falles.
Zusammenfassend können wir über die Fälle der Literatur sagen:
Erstens ist ein Zusammenhang der Tat mit Vorgängen, welche der
Sexualsphäre angehören, für die Fälle von Bergmann, White
Cooper und Goffin mit Sicherheit, für den Fall von Ideler und
die Fälle III und IV von Axenfeld mit einiger Wahrscheinlichkeit
anzunehmen. Unsere Annahme, daß die Berufung auf jene Verse der
Bergpredigt kein anderes als ein sexuelles Vergehen meinen kann,
scheint uns wohlbegründet zu sein und wird auch noch weiter unten ihre
Stütze finden. Es entspringt zweitens bei der Mehrzahl der Fälle die
Selbstblendung einer psychischen Situation, in welcher Versündigungs¬
ideen im Vordergrund stehen, sie ist eine Selbst best rafung. Drittens
ll ) Bulletin de mödecine mentale de Belgique, 1887, zit.nach Axenfeld, s. u.
l# )Zeitschr. f. Augenheilkunde, Bd. I, 1899.
14 ) Allg. Zeitschr. f. Psvch., Bd. 64, 1907.
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Zur Frage der Selbstblendung.
185
haben wir gesehen, daß ihre Ausführung sich häufig auf das Gebot
einer göttlichen Stimme beruft. Dieser letzte Punkt berührt die
Problemsphäre der Halluzination und soll hier beiseite gelassen werden.
Die Tendenz zur Selbstbestrafung hat uns die psychoanalytische
Forschung als einen Erfolg der Verdrängung nicht ichgerechter Wünsche
verstehen gelehrt; daß diese Wünsche im Falle der Selbstblendung
häufig sexueller Natur gewesen sein müssen, machen die oben an¬
geführten Fälle, wie auch unser Fall F., wahrscheinlich. Es erhebt
sich die Frage, warum die Bestrafung sexueller Vergehen gerade am
Auge vollzogen werden muß. Dazu ist zu sagen: die Forderung,
daß die erotische Lust am Anblick sexueller Vorgänge gerade auf
diese Weise bestraft werde, ist dem allgemeinen, tief eingewurzelten
Prinzip der Talion gemäß und ihre Erfüllung dem Mythus geläufig.
Jene oben angeführten Worte der Bergpredigt gehören hierher und der
Fall von Goffin stellt den Zusammenhang in geradezu schematischer
Reinheit dar. Diesen Fällen stehen nun aber jene anderen gegen¬
über, für welche uns ein Zusammenhang zwar mit Sexualvergehen im
allgemeinen, nicht aber mit solchen, bei welchen das Auge beteiligt
ist, wahrscheinlich wurde. Auch hierfür fehlt es nicht an mytho¬
logischen Parallelen. Die Blendung, und auch die Selbst blendung,
als Strafe für sexuelle Verbotsüberschreitungen, insbesondere für die
Durchsetzung des Mutterinzestes gegen den Willen des Vaters, findet
sich in den Mythen der verschiedensten Völker 16 ). Aber dieser für
den Fall F. und mehrere Fälle der Literatur empirisch gefundene
Zusammenhang müßte uns trotz dieser Parallelen unverständlich
bleiben, wenn nicht die Analyse von Träumen und neurotischen
Symptomen gezeigt hätte, daß hier gar nicht selten das Auge als
symbolische Darstellung des Genitales auftreten kann 14 ). Auch diese
Symbolik kennt übrigens der Mythus 17 ). Somit können wir auch jene
Fälle von Selbstblendung als unter der Herrschaft des Talionsprinzipes
stehend ansehen und in ihnen die Mitwirkung der verständlicheren
u ) s. Rank, „Das Inzestmotiv in Dichtung und Sage“, Deuticke, 1912
und „Psychoanalyt. Beiträge z. Mythenforschung“, Int. Psychoanalyt. Verl., 1919.
s. die Beiträge von Reitler, Ferenczi, Eder, in der Internat. Zeitschr.
f. ärztl. Psychoanalyse, I, 1913.
t7 j s. Rank, a. a. 0. und Jung „Wandlungen und Symbole der Libido“,
Deuticke, 1911.
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Dr. Heinz Hartmann.
Tendenz zur Selbst käst rierung vermuten. Diese ist tatsächlich, wie
bekannt, die den verschiedensten Völkern und Zeiten gemeinsame
Strafe für Sexualvergehen.
Wir können nun, gestützt auf unsere Erwägungen, für den Fall F.
das Bestehen einer Selbstbestrafungstendenz und ihre Entstehung
aus verbotenen sexuellen Wünschen als wahrscheinlich ansehen,
wir können auch eine Zusammensetzung dieser Tendenz aus zwei
Komponenten, einer auf das Auge und einer anderen ursprünglich auf
das Genitale gerichteten vermuten. Es erhebt sich die Frage, warum
diese zweite Komponente das anfänglich gemeinte Ziel nicht erreichen
konnte und einen verhüllten, symbolischen Ausdruck finden mußte.
Dazu nur eine kurze Bemerkung, eine ausführliche Würdigung kann dies
Problem hier nicht finden. Offenbar müssen wir uns vorsteilen, daß
hier ein Widerstand wirksam war, welcher ihr Bewußtwerden ver¬
hindert und ihre Verschiebung auf ein anderes, affektiv verwandtes
Ziel der gleichen Sphäre, welches dann durch diesen Vorgang aktiviert
wurde, zur Folge gehabt hat 18 ). Jetzt durfte sich der Impuls ins Bewußt¬
sein wagen, mußte sich aber auch in dieser Form noch, wie wir gesehen
haben, eine „sekundäre Rationalisierung“ gefallen lassen 18 ).
Man könnte noch die Frage aufwerfen, welchem Umstande denn
das Auge seine Eignung zur symbolischen Darstellung des Genitales
verdankt, und woher es kommt, daß in unserem Falle und den zitierten
Fällen der Autoren unter der Mehrzahl von Organen, welchen diese
Symbolbedeutung zukommt, gerade das Auge zum Ziel der Selbst¬
bestrafungstendenz erwählt wurde. Zur ersten Frage genüge der Hin¬
weis, daß ja bei den meisten Gesunden geschlechtliche Erregung auf
dem Wege über das Auge hervorgerufen werden kann, daß bei der
Entwicklung der Sexualilät im Kindesalter dem Schautrieb eine
bedeutende Rolle zufällt 80 ), das schließlich bei einer wohlbekannten
Gruppe von Perversen daß Beschauen geradezu das normale Sexualziel
*•) s. dazu Freud, dann Schilder und Weidner, Zeitschr. f. d. ges.
Neur. u. Psych., 26, 1914 und Schilder, dieselbe Zeitschr., 59, 1920.
*•) Wir haben uns hier nur um die Klarlegung der für den Vorgang der Selbst¬
blendung weit bedeutsameren unbewußten Determinanten bemüht, natürlich
ohne deswegen die Mitwirkung bewußter Determinanten in Abrede stellen zu
wollen.
20 i s. Freud, „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie.“
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Zur Frage der Selbstblendung.
187
vertreten kann. Bei der Beantwortung der zweiten Frage können wir
im Falle F. — und ebenso wohl auch im Falle Go ff ins — geltend
machen, daß ja das Auge jenes Organ ist, welchem sich der aus dem
überentwickelten Schautrieb entstanden gedachte Anteil der Selbst¬
bestrafungstendenz in erster Linie zuwenden muß, daß hier deshalb
die von der Erreichung ihres ursprünglichen Zieles abgedrängte, rück¬
strömende Triebenergie der anderen Komponente den Weg gleichsam
gebahnt vorfindet. Für die übrigen Fälle wollen wir gleich betonen,
daß die individuelle Wahl unter typischen Symbolen von gleicher
Bedeutung durch die gesamte Vorgeschichte der Persönlichkeit
determiniert sein kann und daher Erklärungsversuchen, welche sich
nicht auf eine eingehende Analyse stützen, vielfach unzugänglich
bleiben muß.
Die Ruhe und Befriedigung, welche bemerkenswerterweise den
Zustand F.s nach ausgeführter Selbstblendung kennzeichnet — auch
in dem Falle Idelers äußert übrigens die Pat. nach der Tat, sie fühle
sich jetzt weit beruhigter — scheint uns ein weiterer Beweis für unsere
Auffassung von der triebhaften Mitbedingtheit dieser Handlung zu sein.
Die in diesem Zustande bei F. auftretenden Visionen verdienen unsere
Aufmerksamkeit. Sie können nicht willkürlich hervorgerufen werden,
haben volle sinnliche Frische und tragen offensichtlich das Merkmal
der Leibhaftigkeit an sich, weshalb wir sie als Halluzinationen auf¬
fassen, müssen. F. sieht die Landschaften und Teppichmuster, von
welchen er erzählt, geradeso vor sich, wie er wirkliche Landschaften usw.
vor sich sehen würde, wenn er auch weiß, daß ihnen eine objektive
Realität nicht zukommt. Leibhaftigkeitscharakter und positives
Realitätsurteil müssen nicht Zusammentreffen 21 ). Das Auftreten
dieser — nur optischen! — Halluzinationen im Anschluß an die Blen¬
dung legt den Gedanken an die Beteiligung peripherer Vorgänge bei
ihrem Entstehen nahe und es mag auch das Fehlen von Wahrneh¬
mungen auf diesem Sinnesgebiet ihr Auftreten begünstigt haben.
Darüber kann kein Zweifel bestehen, daß jene etwaigen peripheren
Faktoren jedenfalls im Sinne der gegebenen psychischen Situation
verarbeitet wurden. Die Landschaften usw., die F. sieht, sind nicht
Bestandteile seiner Erfahrung, sie sind ihm unbekannt. Was er in
ll ) s. dazu Jaspers, Zeitschr. f. d. ges. Neur. u. Psych., Referate, 4, 1912.
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Dr. Heins Hartmann.
seinen Halluzinationen erlebt, ist wie eine Illustration zu dem seelischen
Zustande, in welchem er sich seit seiner Erblindung befindet. Man
kann diese Halluzinationen in nächste Nähe der symbolischen rücken.
Was in ihnen seinen Ausdruck findet, ist offenbar jene friedliche Ruhe,
welche seit Beiner Blendung den inneren Widerstreit, von welchem
er früher gequält war, abgelöst hat. Will man hier von Symbolen
sprechen, so müßte man sie den funktionalen Symbolen im Sinne
Silberers**) zuordnen, da ja, was in unserem Falle bildliche Darstellung
findet, der Zustand des eigenen Bewußtseins ist.
“z Jahrb. f. psychoanalytische u. psycbopathologische Forschung, I, 1909
und III, 1912.
bv Google
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Referate.
Morgenthaler, Dr. W.: Ein Geisteskranker als Künstler.
Arbeiten zur angewandten Psychiatrie, Bd. 1, Verlag Ernst Bircher,
Bern und Leipzig, 1921.
Unter diesem Titel wird hier nebst Leben und Krankheit auch
das Schaffen eines paranoiden Schizophrenen geschildert. Unter
seinen Werken werden Arbeiten in Prosa, Gedichte, Kompositionen
und Zeichnungen vorgeführt. Seine Prosawerke unterscheiden sich »
im allgemeinen kaum von ähnlichen Leistungen anderer Geisteskranker
dieser Art. Etwas gleiches können wir auch aus seinen Gedichten ent¬
nehmen, wobei der Autor in den beiden bisher genannten Werken (?)
stets den Rhythmus hervorhebt, was er auch bei den sogenannten
Kompositionen besonders bemerkt. Aus seinen Notenblättern aller¬
dings geht mehr die Lust an zeichnerischer Spielerei hervor, als ein
wirkliches kompositorisches Verständnis und es erinnern diese Noten¬
zeichen immer an die zahlreichen Zeichnungen, die uns der Autor
wiedergibt. Was nun die Hauptleistungen des Kranken, die Zeich¬
nungen und Malereien anlangt, so glauben wir nach den zahlreichen
Stichproben seines Könnens doch erklären zu müssen, daß es geraten
ist, mit der Bezeichnung Künstler sparsamer hauszuhalten. Die Bilder
ähneln fast in allen Punkten allen jenen Darstellungen Geisteskranker
welche man bei einem großen Material beobachten kann. Daß hier
im Falle Wölfli die Zeichnungen eine ziemlich stark ausgeprägte per¬
sönliche Note zeigen, ist nach der Schilderung seiner Tätigkeit und des
ununterbrochenen Arbeitszwanges nicht sehr merkwürdig. Auch
glauben wir nicht, daß die scheinbare harmonische Gestaltung in
Form und Farbe unbedingt Ausdruck einer künstlerischen Persönlich¬
keit, sondern vielleicht lediglich Ausfluß der Psychose. Dafür spricht
auch die „Erstarrung“ seiner Zeichnungen, welche wohl den Grenzen
scheinbar schöpferischer Fähigkeit entspricht. — In der psychologischen
und psychopathologischen Beurteilung finden wir viele interessante
Jahrbücher für Psychiatrie. XLI. Bd. *. u. 3. Heft. 13
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Referate.
Beobachtungen und Analysen der Bildnereien des Kranken. Auch
hier wird dem Primitiven eine große Rolle zugewiesen, doch spricht
sehr vieles für die rein schizophrene Gedankenwelt. Ob hingegen die
vom Autor angenommenen Differenzen in den Arbeiten Wölflis und
denen anderer Schizophrener zu recht bestehen, erscheint uns jedoch
nicht so markant, da wir im „Raumgefühl“ bei weitem nicht jene
besondere Eigenschaft erkennen können, die Morgenthaler annimmt.
Ebenso ist auch der „Rhythmus“ keineswegs unseres Erachtens
geeignet, für die Frage „künstlerischer Qualität“ herangezogen zu
werden. Schließlich erscheinen uns die Bemerkungen des Autors
über die Beziehungen seines Kranken zur modernsten Kunstrichtung
von Bedeutung, da auch er auf die Verwandtschaft der beiden hinweist
und auch eine Erklärung im Sinne einer Zerstörung der Formen bis
auf gewisse künstlerische Grundelemente anführt.
Im ganzen haben wir in dieser Arbeit einen wertvollen Beitrag
zu einem Gebiete, das heute immer mehr an Aktualität gewinnt, und
für die Erklärung zahlreicher Fragen aus dem Gebiete von Kunst
schöpferischen Fähigkeiten und deren Beziehungen zur gesunden und
kranken Psyche von großer Wichtigkeit ist. Die Ausstattung des Buches
ist überaus gelungen, und die zahlreichen Abbildungen ergänzen
die Ausführungen des Autors. E. Pollak.
Stekel, Dr. Wilhelm: Nervöse Angstzustände. 2. vermehrte
und verbesserte Auflage. Urban & Schwarzenberg, Berlin und
Wien, 1921.
Den früheren Besprechungen dieses Werkes an gleicher Stelle ist
nur hinzuzufügen, daß Stekel im wesentlichen seinen Standpunkt
beibehält, die Angst als Reaktion gegen das Vordringen des Todes¬
triebes, entstanden durch die Unterdrückung des Geschlechts- oder
Lebenstriebes, aufzufassen. Er schildert die verschiedenen Formen
des Angsteffektes nach Organen, gibt eine Reihe von Kranken¬
geschichten und deren Deutung wieder und sucht zum Teile über
Freud hinaus zu kommen. Er stellt die ungemeine Seltenheit einer
echten Neurasthenie fest, anerkennt fast nur Angstneurosen, die
psychogen entstanden sind. Das gilt natürlich auch für die Herz¬
angst. Hier möchte man ihn doch auf das bescheidene Büchlein des
erfahrenen Hcrzspezialisten Braun aufmerksam machen, das ich in
einer der früheren Nummern dieser Zeitschrift besprochen habe und in
dem es sehr wahrscheinlich gemacht wird, daß Angst überhaupt die
spezifische Sinnesempfindung des Herzens sei. Bei aller Kunst der
Darstellung und Dialektik dürfen wir heute, wo neurotische Erschei¬
nungen so häufig Symptome einer organischen Krankheit sind, an
diesen Dingen nicht Vorbeigehen und alles psychologisch auffassen
wollen. 0. M.
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Referate.
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Mackermann Hermann S. J.: Kind und Volk. I. Teil: Ver¬
erbung und Auslese; II. Teil: Gestaltung der Lebenslage. Freiburg,
Herder, 1921.
Diese von den besten Intentionen erfüllte Schrift will einer größeren
Allgemeinheit zeigen, welche Bedeutung der Erbanlage und der Aus¬
lese zukommt. Es ist, so populär auch die Darstellung, streng wissen¬
schaftlich, vor allem jedoch ohne jedes bewußt Sensationelle in der
Darstellung. Die Mendelschen Gesetze, die Beziehung von Erb¬
anlagen, die Bedeutung der vererbten Krankheiten, alles findet seine
Darstellung. Besonders intensiv wird das Gesetz der Auslese be¬
sprochen, denn der Autor steht auf dem Standpunkt, daß es wertvoller
sei, der Qualität als der Zahl der Bevölkerung Sorge zu schenken.
Der zweite Teil ist mehr ethisch moralisierend. Es werden hier
die Verhältnisse der Familien besprochen, Zahl, Qualität der Fa¬
milien, das Verhältnis von Mutter und Kind, als auch die Hygiene von
Wohnung und Leben und alles belebt durch zahlreiche statistische
Angaben. Jedenfalls ist diese populäre Schrift von edelsten Intentionen
erfüllt und deshalb zu empfehlen. 0. M.
Diagnostische und therapeutische Irrtümer und deren
Verhütung in der inneren Medizin, herausgegeben von
Dr. S. Schwalbe.
XII. Heft. Krankheiten des Gehirns und des verlän¬
gerten Markes, von Geheimen Medizinalrat Prof. Dr. E. Meyer.
Königsberg und Leipzig, Thieme, 1921.
Es ist ein verdienstvolles Unternehmen, den Kampf gegen diagno¬
stische Irrtümer aufnehmen zu wollen und es sind sicherlich in der
vorliegenden Schrift eine ganze Reihe wertvoller Hinweise, zunächst
allgemeiner dann aber auch spezieller Natur vorhanden. Im großen
ganzen aber setzt diese Schrift genaueste Kenntnis der speziellen Neuro¬
logie voraus und dann erscheint cs eigentlich in dieser Form über¬
flüssig, denn daß nach Kopfverletzungen die Korsakowsche Psychose
die häufigste Geistesstörung ist oder daß diese andererseits auch bei
chronischem Alkoholismus vorkommt, darf kein Anlaß zu einem
diagnostischen Irrtum sein. Hier könnte nur eine Reihe klinisch
durchgearbeiteter Fälle mit diagnostischen Irrtümern Aufklärung
bringen. 0. M.
Stekel, Dr. Wilhelm: Onanie und Homosexualität. (Die
homosexuelle Neurose.) %. vermehrte und verbesserte Auflage.
Urban & Schwarzenberg, Berlin und Wien, 1921.
Die Äußerungen des Autors in diesem Werke werden sicherlich
nicht widerspruchslos hingenommen werden. Er stellt sich auf den
13 *
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192
Referate.
Standpunkt, daß jeder Mensch bisexuell ist, daß die Monosexualitä 1
schon die Disposition zur Neurose, in vielen Fällen schon die Neun» 1
selbst sei. Solche etwas vorschnelle Schlüsse erklären sich aus der
literarischen Begabung Stekels, die unweigerlich den Drang nach
Sensationellem mit sich bringt. Ich würde auch keinesfalls empfehlen,
die onanistischen Regungen der Kindheit ruhig hingehen zu lassen
wenn man bedenkt, mit welchen phantastischen Vorstellungen sich
solche Regungen verknüpfen und wie diese später dahin wirken, da?
reale Denken zu einem exzessiv-phantastisch unwirklichen zu machen.
Bei dem heutigen Stand der Studien über die Homosexualität ist e?
sonderbar, daß St ekel sich auch hier ganz auf den psychologischen
Standpunkt stellt. Er meint, daß der Heterosexuelle nur seine Homo¬
sexualität verdränge, wobei ein Teil der homosexuellen Kräfte in
Freundschaft, Nationalismus, soziale Bestrebungen und Ähnliche!!!
sublimiert wird. Mißlingt diese Sublimierung, so wird er neurotisch
Da aber jeder Mensch seine Homosexualität nicht gänzlich bewältigen
kann, so trägt er dadurch schon die Disposition zur Neurose in sich
Je stärker die Verdrängung ist, desto größer ist dann die neurotische
Reaktion, die bis zur Paranoia führen kann. Die Homosexualitä:
entsteht durch die Verdrängung der Heterosexualität und je mehr diese
sublimiert wird, desto mehr bietet der Homosexuelle das Bild eine-
normalen gesunden Menschen. Auch hier kann man nur wiederhol«:,
daß die modernen Feststellungen bei Transplantation von Testikela
mehr für eine Hormonwirkung sprechen als für eine Entstehung solch'!
Abnormitäten aus rein psychologischen Motiven. 0.11.
The Form and Functions of the Normal Svstem. By
Frederic Tilney and Henry Alsop Riley. New York, Par-
B. Hoeber, 1921.
Den führenden Werken der europäischen Schulen, die mi"
Meynert beginnen und im Obersteiner-Lehrbuch den Kulminations¬
punkt erreichten, stellen nun die Amerikaner ein Ähnliches an die
Seite. Es hält sich in Bezug auf die Anordnung an bewährte Beispiele,
gibt zunächst eine Übersicht über die Entwicklung mit zahlreichen
eigenen Fällen (Shulke und Tilney) und sucht überall durch sorgfältig
ausgewählte Abbildungen den klaren Text zu erläutern. Die Abbil¬
dungen sind vielfach bekannten Handbüchern und Arbeiten ent¬
lehnt, die photographischen Reproduktionen einzelner jedoch las^ n
auch hier wieder erkennen, daß die Photographie nicht immer im¬
stande ist, ein klares Bild eines Querschnittes zu geben. Von große®
Werte sind die überall herangezogenen Beziehungen zur Klinik und
die Zusammenfassung der Leitungsbahnen sowie deren Funktionen
Auch die vergleichende Anatomie ist, soweit es notwendig erscheint,
berücksichtigt. Man kann das Buch als Grundlage für das Studium
der Neurologie aufs wärmste empfehlen. O.M.
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Referate.
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Winkler Cornelias: Opera Omnia. Harlem, De Erven F. Bohn,
1918 bis 1922. — 7 Bände und 2 Atlähten.
In dankenswerter Weise haben sich die Schüler Winklers der
Mühe unterzogen, alle Arbeiten des großen holländischen Forschers
zu sammeln und in den vorliegen sieben Bänden zu vereinigen. Es
ist hier das Lebenswerk eines Mannes gesichtet, der sich im Jahre 1879
bereits wissenschaftlich betätigt hat und heute noch an führender
Stelle ist. Es ist wohl kein Gebiet der Neurologie, Psychologie und
Psychiatrie, das nicht von ihm befruchtet wurde. Von der Rinde bis
in die tiefsten Teile des Nervensystems finden wir Abhandlungen.
Am bemerkenswertesten sind wohl seine Studien über den Octavus
geworden. Seine reichen Erfahrungen hat er dann im sechsten und
siebenten Bande zusammengefaßt, die ein Manuale der Neurologie,
wie es besser für Kliniker kaum geschrieben werden kann, darstellen.
Auch wir wünschen, daß er wie bisher als Führender der Neurologie
tätig bleibe und gedenken seiner dankbar als eines der Großen aus der
Zeit des Aufschwunges unserer Wissenschaft. 0. M.
Stransky Erwin: Lehrbuch der allgemeinen und speziellen
Psychiatric. II. Spezieller Teil. Leipzig, F. C. W. Vogel, 1919.
Zu Neujahr 1914 wurde der 1. allgemeine Teil abgeschlossen,
im Sommer 1919 folgte der 2. spezielle Teil des Lehrbuches; dazwischen
liegt der Weltkrieg. An diesen und seinen vom Verfasser so bitter
empfundenen Ausgang wird in einem Kapitel angeknüpft: die Frage
der Kriegsätiologie, respektive der Verschlimmerung von Psychosen
durch den Krieg ist gerade jetzt aktuell. — Was die Einteilung des
Stoffes betrifft, so beginnt St. mit den Grenzzuständen, welche er
in die aus der Anlage hervorgewachsenen psychischen Defekt zustande
und die Entartungszustände engeren Sinnes teilt. Daran schließen
die degenerativen Geisteskrankheiten, die affektiven und wahn¬
bildenden Psychosen. Eine dritte Hauptgruppe umfaßt die Schizo¬
phrenie, endokrin bedingte und Begleitpsychosen. Es folgt die Ab¬
handlung der Rückbildungskrankheiten, der syphilitischen Geistes¬
störungen und der Amentia-Gruppe. Über die Intoxikationspsychosen
geht es zur Epilepsie, zum Irresein bei diffusen und Lokalerkrankungen
des Gehirns und seiner Häute; es schließt ein Kapitel über Simu¬
lation an.
Die bekannte sprachliche Begabung des Autors, seine plastische
und lebendige Diktion erleichtern den Gebrauch des Lehrbuches,
das handlich und doch für den bestimmten Kreis erschöpfend, durch
übersichtliche Anordnung, gut lesbaren Druck, seine Ausstattung mit
19 Abbildungen, in der langen Reihe von Lehrbüchern des Faches
den ihm gebührenden Platz gewiß erobern wird.
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Referate.
Klarfeld B.: Über die Spirochätenfunde im Paralytiker¬
gehirn und ihre Bedeutung. Halle a. S., Carl Marhold, 1919.
Der Sammlung zwangloser Abhandlungen aus dem Gebiete der
Nerven- und Geisteskrankheiten, jetzt herausgegeben von Bumke,
XI. Band, Heft 8. Es ist ein knapp zusammengefaßter Bericht über
den Wechsel der Anschauungen in der Lucs-Paralyse-Frage, über die
Spirochätenfunde bei Paralytikern und die daran zu knüpfenden
Folgerungen, abschließend mit einem Ausblick auf die noch zu lösenden
Aufgaben der Forschung.
Placzek: Das Geschlechtsleben der Hysterischen. Bonn,
A. Marcus & E. Webers Verlag. Dr. jur. Albert Ahn, 1919.
Der sehr belesene und erfahrene Berliner Nervenarzt stellt hier
in gefälliger Form zusammen, was ihm in Hinblick auf das Thema
bemerkenswert erscheint und darüber hinaus. Grundlegende Beob¬
achtungen stehen neben Hypothesen, Mittelalterliches neben Ak¬
tuellem; gelegentlich läßt Verfasser auch die eigene Meinung durch-
blicken, er findet warme Worte für das allgemeine Wohl. In beson¬
deren Kapiteln wird das Geschlechtsleben der Hysterischen in sozio¬
logischer und in forensischer Beziehung erörtert.
Schloß Heinrich: Einführung in die Psychiatrie für
weitere Kreise. 2. umgearbeitete und vermehrte Auflage. Frei¬
burg i. Br., Herder, 1919.
Aus einer zunächst für Theologen und Pädagogen geschriebenen
Propädeutik der Psychiatrie ist in der vorliegenden 2. Auflage ein
für Studierende aller Fakultäten und Gebildete aller Stände vermeinter
Leitfaden geworden, wesentlich bereichert im Stoff; neben Kapiteln,
die ganz neu sind, erscheinen die alten erweitert, umgearbeitet, besser
eingeteilt. Für die Leser (Jieser Zeitschrift möge der Hinweis genügen,
daß es dem Verfasser gelungen ist, seine Absichten in die Tat um¬
zusetzen.
Kisch Franz: Menschenzucht. Bonn, A. Marcus & E. Webers
Verlag, 1920.
Ein Ethiker und Idealist entwickelt in feierlicher Sprache seine
Gedankengänge über die Pflichten der Zeuger. Der Menschenfreund
stellt mit Schmerz fest, daß nach der negativen Auslese des großen
Krieges und bei dem sozialen Elend, das er uns hinterlassen, „die
Reifen beiderlei Geschlechts“, denen Verfasser sein Merkbuch widmet ,
eine Minderheit geworden sind, und zur Aufzüchtung eines hoch-
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Referate.
195
stehenden genus humanum vorläufig die realsten Voraussetzungen
fehlen. Möge er in glücklicheren Gefilden den Erfolg erzielen, den
man ihm wünschen darf.
Tischer A. L. : Zur Psychologie der Übergangszeit. Basel,
Kober C. F. Spittlers Nachfolger, 1919.
Auf knappestem Raume — 79 kleine Seiten — wertvolle und kluge
Gedanken über die großen Menschheitsprobleme der Gegenwart.
Als Neutraler hat Verfasser zu ihnen ja eher Distanz, so wie er auch
als Neutraler leichter und objektiver in die Psychologie des Krieges
eindringen konnte. Er hat sich eindringend mit den Gefangenen aller
Nationen beschäftigt, führt den Leser in das Krankheitsbild der Psych-
asthenie ein, welche die Grundlage bildet für den Defaitismus der
letzten Kriegsjahre, wie für die komplizierten und vielgestaltigen
Bewegungen und Strömungen der Nachkriegszeit, als die namentlich
in den zusammengebrochenen Staaten Bolschewismus, Spartakis¬
mus, Arbeitsscheu, wilde Streiks usw. zur Beobachtung kommen.
Verfasser analogisiert mit Massenbewegungen historischer Zeiten und
stützt auf Analyse und Kritik seine tröstlichen Ausblicke auf die
Möglichkeit einer Heilung.
Stransky Erwin: Psychopathologie der Ausnahmszu¬
stände und Psychopathologie des Alltags, Bern und
Leipzig, Ernst Bircher, 1921, Fr. 2.75.
Der von W. Morgenthaler herausgegebenen Arbeiten zur an¬
gewandten Psychiatrie Band III. — Stransky gelangt zu einer beson¬
deren Auffassung der seelischen Grundvorgänge in den unterschied¬
lichen Ausnahmezuständen; ziemlich abseits von den herrschenden
Anschauungen erblickt er in dem, was so oft als Spaltung, beziehungs- •
weise Verdoppelung der seelischen Persönlichkeit gewertet wird,
wesentlich eine Art Verschiebungswirkung. Unter Heranziehung
einer schematischen Zeichnung versinnbildlicht der Autor diese seine
Auffassung und bringt einleuchtende Parallelen temporärer Ablenkung
des Energie-Zusammenspieles beim Gesunden. Von der Klinik, der
Psychologie und der Individualpsychologie her kommt St. gelegentlich
auch ins sozial- und völkerpsychologische Gebiet hinüber. Die außer¬
ordentlich flüssig und anregend geschriebene Studie legt Zeugnis ab,
in welcher Weise die vom Verfasser seit einigen Jahren mit Erfolg
propagierte angewandte Psychiatrie Lehren und Erkenntnisse, die aus
der Psychopathologie der Ausnahmszustände geschöpft sind, für die
Psychologie der Norm angehöriger Seelenvorgänge nutzbringend zu
verwerten vermag.
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196
Referate.
Roffenstein, Dr. phil. Gaston: Zur Psychologie und
Psychopathologie der Gegenwartsgeschichte, Bern und
Leipzig, Ernst Bircher, 1921, M. 30.—.
Der Arbeiten zur angewandten Psychiatrie Bd. IV. — Ein-
begleitet von Prof. Stransky führt uns Roffenstein in die
Psychologie der politischen und sozialen Umwälzung nach dem Ende
des Weltkrieges bei den Unterlegenen. Die interessanten und ge¬
dankenvollen Erörterungen mögen parteimäßig Widerspruch hervor-
rufen; wer unbefangen zu beobachten versteht, wird die Zurück¬
führung der Massenbewegung auf elementare Triebkräfte einleuchtend
finden. Das Bändchen fügt sich dem Programm der Sammlung ein,
zu überzeugen, wie ganz anders sich historisches Geschehen darbietet
und um wie viel mehr vor allem für zukünftige Zeiten gelernt, viel¬
leicht auch prophylaktisch getan werden kann, wenn man sich von
der herkömmlichen Auffassung freimacht, die psychologische und vor
allem psychopathologische Motive so gern ignoriert oder nur neben¬
her abtun möchte. E. R.
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Sitzungsberichte.
Wissenschaftliche Sitzung vom 14. Oktober 1919.
Vorsitzender: Wagner-Jauregg.
Schriftführer: Pollak.
Der Vorsitzende hält den verstorbenen Ehrenmitgliedern
Gustav Retzius und August Tamburini
sowie dem korrespondierenden Mitgliede
Franz Nißl
ehrende Nachrufe.
Referat: Referent: Reg.-Rat Berze. Die Reform der Irrenfürsorge (siehe
Sitzung vom 11. November 1919).
Diskussion:
Wagner-Jauregg befürwortet die Anträge des Referenten und bedauert
die Auflassung der Irrenkataster, die sich früher sehr gut bewährt haben. Die
Skepsis gegen die Hausirrenpflege sei sehr gerechtfertigt und die modernen
Auffassungen neigen auch zur Anstaltspflege, die in Amerika, England und
teilweise auch in Deutschland die größten ziffermäßigen Ausmaße erreichen.
Die vorgeschlagenen Punkte des Referenten werden angenommen.
* *
*
Dr. Josef Berze, Direktor der nö. Landesanstalten „Am Steinhof“, Wien.
Referat über Dr. Kolbs „Reform der Irrenfürsorge“.
Einem zu Ende des vorigen Semesters gefaßten Beschlüsse zufolge sollen
die Vorschläge, welche Medizinalrat Dr. Kolb, Direktor der Heil- und Pflege¬
anstalt Erlangen, unter dem Titel: Reform der Irrenfürsorge in der „Zeitschrift
für die gesamte Neurologie und Psychiatrie“ (Band XLVII, Heft 1/3.) ver¬
öffentlicht hat, im Vereine für Psychiatrie und Neurologie, in Wien einer Be¬
sprechung unterzogen werden; meine Aufgabe ist es, diese Besprechung durch
ein Referat über den Gegenstand einzuleiten.
Dabei möchte ich mir die Beschränkung auferlegen, über die Ausführungen
Kolbs, die an sich schon ein sehr weites Gebiet des Irrenfürsorgewesens betreffen
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Sitzungsberichte.
und die verschiedensten Probleme auf diesem Gebiete berühren, nicht noch
hinauszugehen, so viel Anlässe dazu auch gegeben sein mögen; bei der Reich¬
lichkeit und Mannigfaltigkeit der von Kolb aufgeworfenen Fragen ist ja von
vornherein zu befürchten, daß die Debatte ins Uferlose geraten könnte, und
betrachte ich es daher als meine Pflicht, darauf bedacht zu sein, nicht auch noch
meinerseits diese Gefahr zu steigern.
Kolb geht davon aus, daß mit Rücksicht auf den Ausgang der letzten
Wahlen im Deutschen Reiche und in den einzelnen deutschen Staaten mit
Bestimmtheit zu erwarten stehe, daß „auch in der Irrenfürsorge die Durchführung
gewisser Grundsätze, die der sozialistischen Bahn und Weltanschauung ent¬
sprechen, in Bälde zur Diskussion gestellt werden wird“ und daß es daher nötig
sei, daß sich die Psychiater über diese Probleme alsbald klar zu werden trachten,
um gegebenenfalls zu ihnen Stellung nehmen zu können. Als Forderungen, mit
denen seiner Meinung nach zu rechnen sein wird 1 ), führt er an:
1. Unentgeltliche ärztliche Behandlung der Geisteskranken im weitesten
Sinne des Wortes.
2. Freiheitlicher Ausbau des Irrenwesens, besonders der Anstalten.
3. Verbesserung des Rechtsschutzes der Geisteskranken, besonders gegen¬
über der AnstaltsVerwahrung.
4. Fachleitung und Fachaufsicht in der Irrenfürsorge.
6. Beseitigung der Vorrechte, welche Geburt und Geld bisher gaben.
6. Zuziehung des Anstaltspersonals in gewissen Fragen, besonders zu den
die Verhältnisse des Personals berührenden Fragen.
7. Einführung des Achtstundentages.
8. Aufklärung des Publikums durch unentgeltliche, öffentliche Vorträge.
Kolb bespricht diese Forderungen Punkt für Punkt und baut sodann auf
der Grundlage der Ergebnisse, zu denen er dabei kommt, ein recht ausführliches
Irrenfürsorge-Programm auf, welches sechs Hauptpunkte umfaßt, nämlich
I. Ausbau der Irrenfürsorge;
II. Hebung der freiheitlichen Behandlung und des Rechtsschutzes;
M Wer an eine „Reform der Irrenfürsorge“ zu gehen gedenkt, hätte sich
außer mit diesen sozusagen politischen „Forderungen“ auch noch mit einer
großen Reihe anderer Fragen und Probleme eingehend zu befassen. Erwähnt
sei z. B. die Frage nach der richtigen Größe der Irrenanstalten („Mamrout-
anstalten“!), die alte Frage, ob Heil- und Pflegeanstalten zu vereinigen, „relativ“
zu vereinigen oder zu trennen seien, die Frage der Unterbringung der geistes¬
kranken „Verbrecher“ und der „verbrecherischen“ Geisteskranken, die jetzt
besonders wichtige Frage der „Kostnorm“, die der richtigen Ärztewahl (Heil¬
anstalt, Pflegeanstalt, „Sanatorium“), die nach dem Verhältnis zwischen Irren¬
anstalten und psychiatrischen Kliniken, die Frage einer entsprechend organi¬
sierten Nutzbarmachung des Beobachtungs-, pathologisch-anatomischen und
anderen Materiales der Anstalten für die Wissenschaft usw. Kolb behandelt
somit nur einen Ausschnitt der Probleme der Irrenfürsorge und nicht, wie der
Titel seiner Arbeit erwarten ließe, die gesamte „Reform der Irrenfürsorge“.
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Sitzungsberichte.
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III. Fachieitung und Fachaufsicht;
IV. Beschränkung der bisher durch Geld ermöglichten Vorrechte. Stärkere
Heranziehung der bemittelten Klassen zum finanziellen Unterhalt
der öffentlichen Irrenfürsorge;
V. Heranziehung der Anstaltsärzte zu wichtigen Fragen. Zuziehung des
Personals bei Erörterung der seine Verhältnisse betreffenden Fragen usw.
VI. Aufklärung des Publikums über Ziele und Wege der Irrenfürsorge,
Erziehung des Publikums zur Mitarbeit.
Hinsichtlich der Disposition meines Referates war ich daher vor die Frage
gestellt, ob ich mich an die acht „Forderungen“, wie sie Kolb aufstellt, oder an
die sechs Hauptpunkte des Kolbschen „Irrenfürsorge-Programmes“ halten
sollte. Ersteres erschien mir nach längerem Überlegen als der Übersichtlichkeit
dienlicher; ich will daher die acht Forderungen nacheinander besprechen und nur
gelegentlich darauf hinweisen, wie Kolb die ihm richtig erscheinende Erledigung
dieser Forderungen in seinem Irrenfürsorge-Programm zur Anwendung
gebracht hat.
Was aber die Debatte betrifft, bitte ich Sie, einen mir gegenüber vorgebrach¬
ten Vorschlag unseres Herrn Präsidenten anzunehmen, der dahin geht, daß
über jeden einzelnen der acht Punkte ein kurzes Referat zu erstatten sei, an welches
sich unmittelbar die Diskussion anzuknüpfen hätte, weil nur so ein Unübersicht¬
lichwerden der letzteren zu vermeiden sein dürfte.
I.
Die Forderung der unentgeltlichen ärztlichen Behandlung der
Geisteskranken im weitesten Sinne des Wortes enthält, wie Kolb aus¬
führt, zwei Postulate, nämlich erstens das der unentgeltlichen Behandlung der
Geisteskranken, zweitens die Ausdehnung der Behandlung auf alle Geistes¬
kranken im weitesten Sinne des Wortes, d. h. auf alle geistig anomalen Personen.
Für die Diskussion möchte ich Ihnen empfehlen, diese beiden Postulate
getrennt zu behandeln.
Das erstere Postulat ist nach Kolb bei den anstaltsverpflegten Geistes¬
kranken in erheblich höherem Grade berechtigt als bei den körperlich Kranken,
zunächst wegen der in der Regel längeren und oft recht langen Dauer der Geistes¬
krankheiten, welche nicht selten den wirtschaftlichen Ruin der zur Zahlung
Verpflichteten zur Folge hat, sofern sich diese scheuen, die Armenpflege in An¬
spruch zu nehmen, dann aber auch mit Rücksicht darauf, daß die Anstalts¬
behandlung oft weniger durch die Rücksicht auf den Kranken selbst, als durch
die Rücksicht auf das Gemeinwohl bedingt ist.
Kolb hat also nicht, wie es nach seiner ersten Fassung der Forderung
scheinen mußte, die „unentgeltliche ärztliche Behandlung der Geisteskranken“
im allgemeinen, sondern nur die unentgeltliche Anstaltsbehandlung der
Geisteskranken, die einer solchen eben bedürftig sind, im Auge; und zwar wäre
seiner Meinung nach außer der bereits allgemein eingeführten unentgeltlichen
Anstaltsbehandlung der unbemittelten Geisteskranken „vom psychiatrischen
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Sitzungsberichte.
Standpunkte aus eine weitgehende Preisermäßigung für Minderbemittelte,
steigend parallel der Dauer der Anstaltsverpflegung, dringend erwünscht.“
Über die Belastung der Allgemeinheit, welche diese Preisermäßigung
(vom zweiten Verpflegsjahre an um ein Drittel, vom vierten Verpflegsjahre an
um zwei Drittel des Verpflegsgeldes, nach fünf Jahren Anstaltsaufenthalt un¬
entgeltliche Verpflegung in der billigsten Verpflegsklasse) bedeuten würde, stellt
Kolb eine beiläufige Berechnung an. Es würde sich, wie er angibt, für die Anstalt
Erlangen (563 Kranke, davon 370 auf öffentliche Kosten) eine Einnahmemin¬
derung um etwa 38.000 Mark im Jahre (bei einem Verpflegsgeld III. Klasse
von 1.50 Mark, welches aber zweifellos in der nächsten Zeit eine bedeutende Er¬
höhung erfahren wird) ergeben; bei den 120.000 Kranken Deutschlands würde
sie nach seiner Schätzung etwa 18 Millionen Mark jährlich betragen. Ich habe
einen Verwaltungsbeamten der Anstalten „Am Steinhof“ um eine Berechnung
für unsere Kranken ersucht; er kommt zu folgendem Ergebnisse: „Von den mit
1. Jänner 1. J. hier (Steinhof) in Pflege gestandenen 1704 Patienten IV. Klasse
waren bloß 131 Selbstzahler. Die für diese Patienten jährlich auflaufenden
Kosten betragen, nach der gegenwärtigen Gebühr von 10 Kronen für den Tag
berechnet, 478.150 Kronen. Im Falle einer Abstufung im Sinne Kolbs ergäbe
sich ein jährlicher Ausfall von 152.205 Kronen, d. i. 32°/ 0 der gegenwärtig seitens
der Parteien zur Einzahlung gelangenden Verpflegskosten, beziehungsweise bloß
2 1 /* bis 3% der gegenwärtig bereits aus öffentlichen Mitteln (Landesfonds) zu
deckenden Verpflegsgebühr IV. Klasse, für die hiesigen Anstalten bei einem Belag
von rund 2000 Betten IV. Klasse (zirka 7 Millionen) berechnet.“ Für sämtliche
Irrenanstalten in Niederösterreich ergäbe sich ein Ausfall von beiläufig 350.000
beziehungsweise bei einer normalen Verhältnissen entsprechenden Verpflegs-
ziffer ein solcher von beiläufig 500.000 Kronen für das Jahr, für ganz Deutsch¬
österreich nach ganz oberflächlicher Schätzung ein Ausfall von etwa l l / 4 bis
P/t Millionen.
Es handelt sich also keineswegs um einen besonders hohen Betrag. Und
dabei sind die genannten Ziffern offenbar eher etwas zu hoch gegriffen, denn in
der Äußerung des Sachverständigen, den ich zitiert habe, wird angenommen,
daß sämtliche derzeitige Selbstzahler der allgemeinen Verpflegsklasse als
Minderbemittelte im Sinne Kolbs zu betrachten und zu behandeln wären, was
wohl im großen und ganzen, aber doch nicht restlos stimmen dürfte*). — Was
die gegenwärtigen außergewöhnlichen Verhältnisse für einen Einfluß auf die
Größe des finanziellen Ausfalles im Falle der in Rede stehenden Forderung haben
dürften, ist nicht leicht zu übersehen. Viele Leute, die bis jetzt als Minder¬
bemittelte angesehen werden konnten, Leute aus den unteren Schichten des
Mittelstandes, sind heute zu Unbemittelten geworden. Dies bedeutet eine Min¬
derung des sich aus diesem Titel ergebenden Ausfalles, da unbemittelten Geistes¬
kranken ja jetzt schon unentgeltliche Anstaltsbehandlung zu teil wird. So hat
*) Auch bisher schon sind übrigens, z. B. in Niederösterreich, vereinzelten
minderbemittelten Selbstzahlern Verpflegskostcnermäßigungen in verschiedenem
Ausmaße („Teilzahlungen“) bewilligt worden.
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sich in den Anstalten „Am Steinhof“ die Zahl der Selbstzahler in den letzten
zwei Jahren auf weniger als die Hälfte vermindert. Andererseits sind aber auch
viele besser Situierte zu Minderbemittelten geworden, so daß sie durch die Zahlung
der Verpflegskosten, die selbstverständlich der Teuerung zufolge erhöht werden
mußten und z. B. in den Anstalten „Am Steinhof“ jetzt bereits 10 Kronen für
Kopf und Tag betragen, schwer betroffen werden. Diese würden also der Wohltat
der Preisermäßigung im Sinne Kolbs mit teilhaftig werden und den Ausfall
wieder vermehren.
Fragen wir uns nun, wie wir zu dieser „Forderung“ Stellung nehmen sollen,
so werden wir uns, meine ich, vor allem zu sagen haben, daß sie im Grunde eine
finanzielle und sozialpolitische Angelegenheit ist, deren Erledigung zuvörderst
anderer Faktoren Sache ist. Immerhin kommen aber auch einige psychiatrische
Gesichtspunkte dabei in Betracht.
Kolb meint, daß die Maßnahme zur Folge haben würde, daß „die Zahl
der in den Anstalten verpflegten Kranken sehr rasch erheblich ansteigen und damit
eine doppelte Belastung der Allgemeinheit ein treten würde: sowohl durch den
dann erforderlichen Bau von neuen Irrenanstalten als auch durch Aufbringung
des gesamten Verpflcgsgeldes für diese ganze, wesentlich erhöhte Krankenzahl“.
Kolb findet aber andererseits, daß durch andere organisatorische Maßnahmen
eine zu starke Zunahme der anstaltsverpflegten Kranken verhütet werden könne,
und zwar betrachtet er die von ihm mit besonderer Wärme angeregte,, Organisation
der Fürsorge für die geistig anomalen Personen außerhalb der Anstalten“
als die wichtigste dieser organisatorischen Maßnahmen.
Von der großen Bedeutung einer richtigen Organisation der Irrenfürsorge
außerhalb der Anstalten wird bei Besprechung der „zweiten Forderung“ Kolbs
die Rede sein. Daß eine solche als zur Verhütung einer zu starken Zunahme der
anstaltsverpflegten Kranken geeignet angesehen werden kann, sei ohneweiters
zugegeben. Viel wirksamer kann aber einer ungebührlichen und unzukömmlichen
Ausnützung der verbilligten, beziehungsweise unentgeltlichen Anstaltsbehandlung
durch eine entsprechende Fassung der betreffenden Bestimmungen begegnet
werden. Kolb erklärt denn auch, daß „unentgeltliche Verpflegung in der billigsten
Verpflegsform aus Billigkeitsgründen in allen Fällen angezeigt sei, in denen
Gründe des Gemeinwohles die Anstaltsbehandlung im wesentlichen bedingen“,
und verlangt in diesem Sinne, daß die Feststellung, in welchen Fällen es sich „um
Anstaltsverpflegung aus Gründen des Gemeinwohles handelt, durch eine eigene
Behörde unter Würdigung der besonderen Umstände von Fall zu Fall zu erfolgen
hätte.“ Ich bin der Meinung, daß man letztere Konstatierung im allgemeinen
füglich wohl den Anstaltsärzten überlassen könnte, wobei ja andererseits ganz gut
die Möglichkeit der Einflußnahme anderer Faktoren auf die Entscheidung im •
Einzelfalle offen bleiben könnte*). Auch möchte ich glauben, daß wenigstens
*) Die Konstatierung der Minderbemitteltheit im Sinne des Vorschlages
Kolbs wird Sache der verwaltenden Behörde sein — nicht anders als die nach
wie vor dieser Behörde zustehende Feststellung der Armut und mit ihr gegebenen
völligen Zahlungsunfähigkeit.
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Sitzungsberichte.
gewisse Begünstigungen, wenn schon nicht die der ganz unentgeltlichen
Verpflegung nach fünf Jahren Anstaltsaufenthalt, Minderbemittelten auch dann
gewährt werden sollten, wenn die Anstaltsbehandlung nicht gerade durch aus¬
gesprochene Gründe des Gemeinwohles bedingt, aber durch die Rücksicht
auf das Wohl der Kranken selbst gefordert erscheint; denn es gibt nach meiner
festen Überzeugung doch auch Fälle, in denen eine richtig durchgeführte Anstalts¬
behandlung, wenn sie auch nicht durch Gemeingefährlichkeit diktiert Ist, als
die einzig taugliche Verpflegsform anzusehen ist.
Bemerken möchte ich noch kurz, daß Kolb offenbar nur an diejenigen
Kranken aus minderbemittelten Kreisen denkt, die in fortlaufender Anstalts-
.pflege stehen und so nach bestimmter Verpflegsdauer Verpflegspreisbegünsti-
gungen erfahren sollen. Wenn man schon Preisermäßigungen für Minderbemittelte
für angebracht hält, sollte man meines Erachtens aber auch an jene Fälle denken,
in denen der Anstaltsaufenthalt nach kürzeren oder längeren Unterbrechungen
immer wieder von neuem nötig wird, zumal auch in solchen Fällen die finanzielle
Schädigung der Familien nur zu offenkundig ist.
Damit verlasse ich das erste der zwei in der ersten Forderung Kolbs ent¬
haltenen Postulate und wende mich dem zweiten zu.
Was sich Kolb unter der Ausdehnung der Behandlung auf alle Geistes¬
kranken im weitesten Sinne des Wortes vorstellt, geht genauer aus seinem Irren¬
fürsorge-Programm hervor. Unter Punkt I (Ausbau der Irrenfürsorge) führt
er an erster Stelle an: Ausdehnung der öffentlichen Fürsorge auch auf
Schwachbegabte, Schwachsinnige, Psychopathen, Epileptiker und andere Neuro*
psychosen, Nervensieche, Alkoholisten. In der Beilage 1 zum Irrenfürsorge
Programm setzt er des näheren auseinander, wie er sich diese Ausdehnung der
Fürsorge hinsichtlich der einzelnen genannten Kategroien denkt.
Die Fürsorge für Schwachbegabte und Schwachsinnige hätte nach Kolb
zu erfolgen:
a ) durch Errichtung von Kinderstationen in den Kreisirrenan¬
stalten. — Dieser Vorschlag wird meines Erachtens durchaus zu billigen sein,
zumal solche Kinderstationen auch die Möglichkeit bieten werden, die geistes¬
kranken Kinder, wie sie, wenn auch in recht geringer Zahl, in die Irrenanstalten
gebracht werden, getrennt von den erwachsenen Geisteskranken unterzubringen,
was aus vielen Gründen wünschenswert erscheint. Außer diesen Kinderstationen
in den Irrenanstalten sind selbstverständlich auch Anstalten für schwachsinnige
Kinder außerhalb des Rahmens der Irrenanstalten notwendig. Darüber,
welche Kategorien der Schwachsinnigen in Kinderstationen der Irrenanstalten,
welche in eigenen Schwachsinnigenanstalten unterzubringen wären, kann man
verschiedener Meinung sein und viel ist darüber schon gesagt und geschrieben
worden. In Niederösterreich hat sich das System nicht übel bewährt, die nicht
oder nur in ganz geringem Maße bildungsfähigen Idioten beziehungsweise Schwach¬
sinnigen in einer Anstalt, die einer Irrenanstalt (Gugging) angegliedert ist, die
bildungsfähigen dagegen in mehr selbständigen Anstalten (Biedermannsdorf»
Oberhollabrunn) unterzubringen.
b) Durch Aufstellung eines Anstaltslehrers im Hauptamte, welcher an der
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Sitzungsberichte*
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Hand des Krankenmaterials der Anstalt die Ausbildung von Lehrkräften für den
Unterricht von Schwachbegabten und Schwachsinnigen leitet und als fachmän¬
nischer Sachverständiger im Aufnahmsbezirk tätig ist;
c) durch fachärztliche und fachmännische Beratung der Hilfsklassen und
Hilfsschulen;
d) durch Beratung der Wohltätigkeitsanstalten durch Fachlehrer und
Facharzt;
e) durch Fürsorge in Familie, Schule, Anstalt und nach der Entlassung.
Über alle diese Forderungen ist meines Erachtens weiter nichts zu sagen.
Es kann darüber gar nicht gestritten werden, daß die Fürsorge für Schwach-^
begabte und Schwachsinnige nur gedeihen kann, wenn Facharzt und Fachlehrer
Zusammenwirken; es ist dies auch meines Wissens niemals bestritten worden,
sondern sind Differenzen erst aus der oft recht kleinlichen Eifersüchtelei ent¬
sprungen, ob in den einzelnen Anstalten für Schwachsinnige der Arzt oder der
Pädagoge die Führung für sich in Anspruch nehmen dürfe.
Was die Fürsorge für Psychopathen betrifft, soll sie nach Kolb zunächst
„durch fachärztliche Beratung der Schulen unter Mitwirkung des Fach¬
lehrers“ erfolgen. Gewiß ein Vorschlag, der alle Berücksichtigung verdient!
Auch an seiner Durchführbarkeit wird kaum zu zweifeln sein. Wenn die von
Kolb gewünschte Beratung einen praktischen Nutzen haben soll, scheint mir
allerdings auch eine entsprechende Ausbildung des Lehrpersonales geboten
zu sein. Diese Ausbildung dürfte nicht allgemein, sondern nur bei einzelnen Lehr¬
personen in dem erwünschten Maße erreichbar sein, da sie zweifellos ein höheres
Maß von praktisch-psychologischer Eignung zur Voraussetzung hat. Schon
aus diesem Grunde erscheint die Errichtung eigener Schulen, beziehungs¬
weise eigener Klassen an einzelnen Schulen — namentlich der größeren Städte —
für die schwerer psychopathischen Kinder geboten. Ein weiterer Grund ist
prophylaktischer Natur: manche psychopathische Kinder bedeuten für die anderen
eine Gefahr der psychischen Infektion, sollten daher schon aus Rücksicht auf
die große Mehrheit von den allgemeinen Schulen ferngehalten werden. Endlich
ist die Errichtung solcher Schulen auch ein Gebot der sozialen Gerechtigkeit;
denn die spärlichen, dem Unterrichte psychopathischer Kinder dienenden be¬
stehenden Einrichtungen (Privatanstalten) sind nur den wohlhabenden Kreisen
zugänglich.
Was Kolb an zweiter Stelle im Interesse der Psychopathenfürsorge ver¬
langt, ist ein sehr beträchtlicher Teil der sozialhygienischen Postulate von all¬
gemeiner Bedeutung. Es soll den Psychopathen geholfen werden „durch
Beratung der Familie, durch Beratung bei der Berufswahl, durch Stellenver¬
mittlung, durch Schutz vor Alkohol, Prostitution, krimineller Betätigung, vor
Gericht, im Strafvollzug besonders während der Entwicklungsperiode und un¬
mittelbar nach derselben“. Wenn wir dies alles lesen, müssen wir uns sagen,
daß dem Autor ein Ideal vorschwebt, dem wohl nachgestrebt werden kann und
muß, dessen Erfüllung aber leider in weiter, weiter Feme liegt. Prinzipiell können
wir Kolb sicherlich zustimmen; aber andererseits muß es uns zweifelhaft er¬
scheinen, ob es angeht, ein Irrenfürsorge-Programm durch Probleme von weit
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Sitzungsberichte.
über den Rahmen der Irrenfürsorge hinausgehender Bedeutung zu beschweren
und zu komplizieren. Wenn Kolb z. B. den Schutz der Psychopathen vor Alkohol
verlangt, so muß gesagt werden, daß uns derzeit, in unserem eigenen Staate
wenigstens, noch entsprechende Vorkehrungen und Einrichtungen zur Bekämpfung
des Alkoholismus fehlen und daß, wenn wir solche einmal durchgesetzt haben
werden, damit zugleich auch etwas für den Schutz der Psychopathen vor
dem Alkohol geleistet sein wird.
In gleicher Weise wird der Schutz vor Prostitution, vor krimineller Betäti¬
gung usw. von einem viel weiteren Gesichtspunkte aus betrachtet werden müssen
^•als von dem einer Reform der Irrenfürsorge. Wie mit der Irrenfürsorge hat
die Psychopathenfürsorge ihre Berührungspunkte auch mit der Jugend¬
fürsorge, ferner mit der Armenpflege, mit der Fürsorge für die geistig abnormen
Kriminellen; man könnte sagen, daß man gerade, wenn man sich über die
richtige Behandlung der Psychopathen klar zu werden trachtet, auf Schritt und
Tritt immer wieder gewahr wird, wie die verschiedenen Zweige der sozialen
Fürsorge innig miteinander verflochten sind. Damit soll selbstverständlich dem
Psychiater nicht das Recht abgesprochen werden, bei Entwicklung eines Irren¬
fürsorgeprogrammes auch die Forderungen darzulegen, die er von seinem Stand¬
punkte aus für die Psychopathen zu stellen hat, sondern nur gesagt sein, daß aller
Voraussicht nach nur unzulängliches Stückwerk zustande kommen dürfte, wenn
man die Psychopathenfrage bloß als Teilfrage der Irrenfürsorge-Reform betrachtete
und behandelte, und daß etwas Rechtes wohl nur dann zuwege kommen kann,
wenn zugleich und gleichsinnig mit der Irrenfürsorge auch die übrigen genannten
Teilgebiete der sozialen Fürsorge einer die Psychopathen in entsprechender Weise
mit berücksichtigenden Reform unterzogen werden.
Viel wäre noch zu den übrigen die Psychopathen betreffenden Punkten zu
sagen. Um den Rahmen des Referates nicht zu überschreiten, deute ich nur
beiläufig an, daß die Fürsorge für Psychopathen „durch Beratung der Familie,
durch Beratung bei der Berufswahl“ usw., wie sic Kolb verlangt, auf große
Schwierigkeiten stoßen dürfte, zumal die Familie des Psychopathen, in der Regel
zum Teile selbst psychopathisch, auch selbst gegen bloß vermeintliche Eingriffe
in ihre Verfügungsrechte außerordentlich empfindlich zu sein pflegt und unter der
Wirkung dieser Empfindlichkeit, die, wie ein reichsdeutscher Autor hervorhebt,
unter dem Eindrücke der Ereignisse der letzten Zeit nicht unbeträchtlich
gewachsen ist, den wohlmeinenden ärztlichen Berater über kurz oder lang als
einen ungebetenen Gast zu behandeln geneigt ist. Wenn die Beratung also einfach
zu einer Pflicht des Psychiaters gemacht wird, deren Erfüllung nicht zugleich
durch ein Recht der Einflußnahme gestützt wird, wird bei der Sache nicht viel
herauskomraen.
Notwendig ist zunächst auch bei uns ein Fürsorgeerziehungsgesetz, durch
welches, nach Analogie des deutschen (1900), zum Erziehungswerke ungeeignete
Familien psychopathischer Kinder verhalten werden können, diese der Für¬
sorgeerziehung zu übergeben, beziehungsweise zu überlassen. Psychopathen¬
heime wären einzurichten, etwa nach Art der Psychopathenabteilung in Göttingen
oder nach Art der Anstalt für psychopathische Fürsorgezöglinge, welche die Stadt
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Berlin unmittelbar vor dem Kriege zu errichten beschlossen hat, oder als Heil¬
pädagogien für abnorme Kinder, wie es an anderen Orten heißt, als Landes¬
erziehungsheime für abnorme Charaktere, z. B. hysterische, wie wieder andere
besonders empfehlen, als Zwangsanstalten und „Rettungshäuser* 1 , als eigene
Fürsorgeerziehungsanstalten für defekte Fürsorgezöglinge, welche durch anti¬
soziale und verbrecherische Neigungen die erzieherische Tätigkeit in den Er¬
ziehungsanstalten stören, oder dergleichen.
So wird manches für die Psychopathen getan werden können, eine befrie¬
digende Hilfe wird aber, wie gesagt, nur durch einen gründlichen Ausbau der
gesamten sozialen Fürsorge zuwege kommen können.
Nicht eigentlich eine weitere Anregung zum Ausbau der Irrenfürsorge
bedeutet es, wenn Kolb ausführt, daß die durch die hohe Sterblichkeit im Kriege
in allen Irrenanstalten frei gewordenen Plätze zweckmäßig für die Kriegs¬
neurotiker des Aufnahmsbezirkes der Anstalten, ferner für Nervensieche
Verwendung finden können.
Abgesehen davon, daß dies wohl nur eine vorübergehende Maßnahme
darstellen könnte, wie z. B. auch die vor kurzem seitens des niederösterreichischen
Landtages erteilte Bewilligung der Aufnahme Epileptischer ohne geistige
Störung in einzelne niederösterreichische Landes-Irrenanstalten, handelt es
sich da eben um Personen, die auch bei weiterer Fassung des Begriffes eben nicht
als Irre bezeichnet werden könnten. Eine andere Frage ist es freilich, ob es sich
in Zukunft als praktisch erweisen wird, die Irrenfürsorge und die Fürsorge für
Nervenkranke beziehungsweise Nervensieche ganz getrennt zu behandeln oder
ob es sich nicht im Gegenteil als empfehlenswert herausstellen wird, den mannig¬
faltigen Berührungspunkten beider Gebiete auch in den beiderseitigen Fürsorge¬
programinen Rechnung zu tragen oder gar an Stelle der beiden getrennten Für¬
sorgeprogramme ein gemeinsames Fürsorgeprogramm für Geistes- und Nerven¬
kranke aufzustellen.
Von keiner Seite wird bestritten werden, daß die Trinkerfürsorge in
inniger Fühlung mit der Irrenfürsorge stehen sollte und daß sie jedenfalls in einem
Irrenfürsorge-Programm mit Platz finden muß. Bei uns fehlt bekanntlich noch
jede feste Handhabe für eine richtige Trinkerfürsorge. Die ganze Gesetzgebung
ist seit vielen Jahren ins Stocken geraten, und so haben wir es trotz langjähriger
eifriger Vorarbeit noch zu keinem Gesetz über die Errichtung öffentlicher Trinker-
Entwöhnungsanstalten, beziehungsweise Trinkerasyle, sowie über die Anhaltung
der Trunksüchtigen in solchen Anstalten gebracht. Da ein solches Gesetz aber
Grundbedingung einer ersprießlichen Trinkerfürsorge ist, wird es zunächst dureh
unsere Hauptaufgabe bleiben, darauf hinzuarbeiten.
Aus dem bisher Gesagten geht hervor, welche Kategorien von „Geistes¬
kranken im weitesten Sinne“ Kolb namentlich im Auge hat, wenn er die Aus¬
dehnung der Behandlung auf alle geistig anomalen Personen fordert. Es geht
daraus aber zugleich ein anderes hervor, nämlich daß Kolb nicht bloß an die¬
jenigen geistig anomalen Personen denkt, welche einer Anstaltsbehandlung
bedürftig sind; schon bei der Erörterung des ersten Punktes zeigt sich vielmehr
ein Zug, der wie ein roter Faden durch die ganze Arbeit Kolbs geht: Nicht nur
Jahrbücher für Psychiatrie. XU. Bd. S. n. 8. Heft. 14
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die Irrenfürsorge in den Anstalten, sondern auch die außerhalb der Anstalten
muß eingehend berücksichtigt und in den Bereich der Reform gezogen werden.
Er nimmt damit die Bestrebungen einer großen Reihe von Anstaltspsychiatern
wieder auf, die betonen, daß die Anstaltsbehandlung in vielen Fällen „nur eines
der Glieder der Kette der Fürsorge“, in einer großen Anzahl von Fällen „nur
einen vorbereitenden Schritt für andere dauernde Hilfsmaßnahmen“ (vgl. u. a
Moeli) darzustellen habe.
Die „Vorteile der organisierten Fürsorge außerhalb der Anstalten“ (Kolb,
Vorschläge für die Ausgestaltung der Irrenfürsorge und für die Organisation der
Irrenanstalten. Marhold, Halle a. d. S., 1908) für die Kranken, für die Allgemein¬
heit, für die Anstalten und für die Ärzte sind so groß und so offenkundig, daß
wohl kein Psychiater im Zweifel sein wird, sich wärmstens dafür einsetzen zu
müssen. Über die von Kolb projektierte Art der Organisation dieser Fürsorge
wird noch bei Besprechung späterer Hauptpunkte die Rede sein; hier handelt
es sich zunächst nur um das Prinzip, was ich auch in der Diskussion zu berück¬
sichtigen bitte.
Hinsichtlich der Stellungnahme unseres Vereines zu Punkt 1 der Vorschläge
Kolbs gestatte ich mir auf Grund meiner persönlichen Überzeugung folgende
Anträge zu stellen:
1. Gegen eine Preisermäßigung der Anstaltsverpflegung für Minder¬
bemittelte, etwa in der Art des Kolbschen Vorschlages, ist ärztlicherseits
nichts einzuwenden; die Feststellung der Notwendigkeit der Anstaltsver¬
pflegung aus Gründen des Gemeinwohles oder aus dem Grunde des Wohles des
Kranken, welche die Gewährung einer solchen Ermäßigung zur Voraussetzung
hätte, wäre dem Urteile der Anstaltsärzte, beziehungsweise der ärztlichen An-
staltsleitungen, zu überlassen.
2. Die Ausdehnung der psychiatrischen Behandlung auf alle geistig
anomalen Personen, sowie der Ausbau einer organisierten F ürsorge außerhalb
der Anstalten für die Geisteskranken im weitesten Sinne des Wortes ist ein
nicht nur im Interesse der Kranken, sondern auch in dem der Allgemeinheit an¬
zustrebendes Ziel.
II.
Die zweite Forderung, mit der nach Kolb zu rechnen sein wird, lautet:
Freiheitlicher Ausbau des Irrenwesens, besonders der Anstalten. Gemeint
ist damit aber, wie aus den Ausführungen Kolbs zu diesem Punkte hervor¬
geht, eigentlich nicht die Forderung der möglichst freien Behandlung der Geistes¬
kranken in den Irrenanstalten selbst. Darüber auch nur ein Wort zu
verlieren, hat Kolb offenbar deshalb nicht für nötig gefunden, weil man wohl
anzunehmen berechtigt ist, daß diese Forderung allen Psychiatern bereits
in Fleisch und Blut übergegangen ist. Was Kolb meint, ist vielmehr die Forde¬
rung, die Dauer des Anstaltsaufenthaltes der Geisteskranken in den Anstalten
auf das unbedingt nötige Maß zu beschränken, die Kranken also so bald als nur
irgend möglich durch Entlassung aus den Anstalten wieder in den Genuß der
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Freiheit zu setzen. Das einzig richtige Mittel dazu erblickt Kolb wieder in einer
entsprechenden Organisation der Fürsorge außerhalb der Anstalten.
Durch diese Organisation soll, wie sich Kolb ausdrückt, „der Schwerpunkt
der Irrenfürsorge von der Anstalt und besonders von dem geschlossenen Teil
der Anstalt in das Leben außerhalb der Anstalt verlegt werden.“ Andererseits
soll aber nach Kolb die öffentliche Irrenfürsorge außerhalb der Anstalten „im
Anschluß an die öffentlichen Irrenanstalten“ organisiert werden.
Es schwebt also Kolb für die äußere Irrenfürsorge eine Organisation im
großen vor, die mannigfache Berührungspunkte mit der hat, welche die sogenannte
Familienpflege im kleinen darstellt, aber nicht jene Art der Familienpflege, wie
sie in vielen Orten im Anschlüsse an eine größere Irrenanstalt, sozusagen als
Adnex dieser, eingeführt ist, sondern jenes System, nach welchem die Familien¬
pflege selbst die „wesentliche Behandlungsform“ (vgl. Nawratzki) darstellt
und eine kleine Zentralanstalt — nach Art der „Infirmerie“ in Gheel — nur dazu
dient, Kranke für die Dauer von Erregungs-, schweren Verstimmungszuständen
u. dgl. vorübergehend aufzunehmei. 4 ). Kolb verfolgt auch mit der von ihm
vorgeschlagenen Organisation hinsichtlich der Kranken in Anstaltspflege ungefähr
denselben Hauptzweck, wie er mit der Familienpflege verfolgt wird, nämlich
(vgl. Nawratzki) die möglichst baldige „Rückversetzung in die eigene oder in
eine fremde Familie unter günstigeren Bedingungen, als sie vor der Einlieferung
in die Anstalt bestanden haben.“ Wie die Familienpflege zur Entlastung der
Anstalten von allen Kranken beigetragen hat, die eigentlich nicht der Anstalts¬
pflege, sondern „nur einer irrenärztlichen Aufsicht bedürfen“, und wie sie es
weiter ermöglicht hat, daß „gebesserte Kranke noch vor vollständigem Ablauf
der Rekonvaleszenz herausgegeben werden“, so erwartet sich Kolb mit Recht
den gleichen Effekt von einer entsprechenden Fürsorge außerhalb der Anstalten.
Was die Einrichtung des Dienstes für die äußere Fürsorge betrifft, fiele
dem Direktor einer jeden Kreisirrenanstalt nach dem Entwürfe Kolbs außer der
Oberleitung dieser Anstalt und einer ganzen Reihe anderer wichtiger
Agenden, wie fachärztliche Beaufsichtigung und Beratung der Privatanstalten,
der Pflegeanstalten, der Nervenheilstätten, Trinkerheilstätten, Epileptiker¬
heime, Psychopathenheime, fachärztliche und fachmännische Beratung der
Hilfsschulen und Hilfsklassen usw. (vgl. Kolb, loc. cit. p. 167) auch die Ober¬
leitung der Fürsorgeeinrichtungen außerhalb der Anstalten in
seinem Kreide (Sprengel, Aufnahmsbezirk) zu. Der Direktor wäre also zugleich
Kreispsychiater (Kreisirrenarzt). Da er somit stark mit externen Obliegenheiten
belastet wäre, wäre ein stellvertretender Direktor zu bestellen, welcher „die
4 ) Alt (Über familiäre Irrenpflege, C. Marhold, 1899) verlangt kleine Zen¬
tralen, „Landesasyle“, für 100 bis höchstens 150 Kranke, „als Durchgangsstation
für die an die Familienpflege abzugebenden, sowie zur Aufnahme der wegen
Erregung pp., körperlicher Erkrankung, Siechtums usw. zurückversetzten
Kranken.“ Mit ihnen „kann zweckmäßig eine nicht zu große Abteilung für Irren¬
sieche verbunden sein, damit das Pflegepersonal ständige Beschäftigung hat und
körperliche Pflege gründlich erlernt.“
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Leitung der Anstalt nach den allgemeinen vom Direktor ausgearbeiteten Gesichts¬
punkten und die Vertretung des Direktors im Falle dessen Abwesenheit oder
Verhinderung“ zu besorgen hätte.
Zur unmittelbaren Leitung der Irrenfürsorge wäre für jeden Anstaltsbezirk
ein selbständiger, nur der Aufsicht und Oberleitung des Direktors beziehungs¬
weise Kreisirrenarztes unterstehender Oberarzt (Oberarzt für den Außendienst)
zu bestellen, welchem nach Bedarf noch ein bis zwei andere Ärzte, ein bis drei
Fürsorgepfleger (-Pflegerinnen), ein bis drei Fürsorgehilfspfleger (-Pflegerinnen),
ein bis drei Berufsvormünder (-Vormünderinnen) zuzuteilen, beziehungsweise zu
unterstellen wären.
In jedem Fürsorgebezirk wäre eine Fürsorgehauptstelle cinzurichten,
am besten im Hauptorte des Bezirkes, in welchem auch der Oberarzt des Fürsorge¬
dienstes zu wohnen hätte; außerdem sind in anderen wichtigen Orten des Bezirkes
Fürsorge nebensteilen gedacht. Kolb hat auch bereits „Bestimmungen für eine
Fürsorgestelle“, eine Instruktion für Fürsorgepflegepersonen, „Merkblätter“,
welche den Angehörigen bestimmter Kranker im Falle der Beurlaubung, bezie¬
hungsweise Entlassung mitzugeben wären, Protokollformularien usw. ausgear¬
beitet. Die Diskussion kann sich selbstverständlich mit diesen Einzelheiten nicht
befassen, ich brauche daher auch in meinem Referate nicht näher auf sie einzugehen.
Besonderen Wert legt Kolb nun auf einen recht regen Verkehr zwischen
Anstalt und äußerer Fürsorge. Unter anderem wären in regelmäßiger Folge wieder¬
kehrende, vom Kreisirrenarzte abzuhaltende „gemeinsame, den Zusammenhalt
und die einheitliche Leitung der Irrenfürsorge sichernde Konferenzen“ vor¬
zusehen, „in denen der Fürsorgearzt (mit ihm hätte auch das übrige Fürsorge-
personal, soweit dienstlich möglich, an diesen Konferenzen teilzunehmen) über
die mit entlassenen Anstaltskranken gemachten Erfahrungen berichtet und in
denen die zu erwartenden Entlassungen aus der Anstalt und Zurückversetzungen
in die Anstalt besprochen werden.“
Aber die Fürsorge außerhalb der Anstalten soll sich nach Kolbs Absicht
nicht bloß auf die Kranken erstrecken, die einmal in Anstaltspflege gestanden
sind, sondern auch auf alle anderen geistig abnormen Personen des betreffenden
Sprengels. Kolb strebt daher auch eine möglichst vollständige Übersicht über
diese Personen an. „Sämtliche, aus allen Anstalten, Stationen, Hilfsschulen usw.
in den Aufnahmebezirk der Anstalt entlassenen Personen anomalen Geistes¬
zustandes werden in die Listen aufgenommen; daraus und aus der Feststellung der
Entlassungen früherer Jahre werden sich wenigstens in den Städten bald ziemlich
vollständige Verzeichnisse der geistig anomalen Persönlichkeiten ergeben.“
Niemand wird die große Wichtigkeit der von Kolb betonten Forderung,
was das Prinzip anlangt, verkennen, ln der Tat, es muß für die Geisteskranken
außerhalb der Anstalten etwas geschehen; es ist nicht zu verantworten, daß eine
öffentliche Fürsorge für die Geisteskranken außerhalb der Anstalten bei uns nicht
besteht und daß sie für die aus Anstalten entlassenen Kranken mit dem Momente
der Entlassung so gut wie völlig aufhört.
Es sind daher z. B. auch in den vor etwa zehn Jahren ausgearbeiteten
österreichischen Gesetzentwurf, die Fürsorge für Geisteskranke betreffend, außer
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Bestimmungen für die „geschlossene Irrenpflege“, d. i. für die Irrenpflege in
Heil- ünd Pflegeanstalten für Geisteskranke, auch solche für die „offene Irren¬
pflege“ aufgenommen worden.
Darnach wären die Gemeinden verpflichtet, „die innerhalb ihres Gebietes
befindlichen Geisteskranken, deren Unterbringung in geschlossenen Anstalten
nicht notwendig ist, in Evidenz zu halten und die Pflege derselben zu über¬
wachen“ und namentlich dafür zu sorgen, daß solche Kranke „nicht einer Behand¬
lung preisgegeben oder Einschränkungen unterworfen werden, die durch die
Beschaffenheit ihrer Krankheit nicht gerechtfertigt sind,“ weiters „für die Ver¬
pflegung armer Geisteskranker, erforderlichenfalls für deren Unterbringung in
Heil- und Pflegeanstalten Sorge zu tragen.“ Die politischen Behörden hätten
„durch ihre Amtsärzte unter Mitwirkung des Landessanitätsinspektors für Irren¬
pflege die Gemeinde rücksichtlich der Erfüllung der ihnen in bezug auf das Irren¬
wesen obliegenden Verpflichtungen zu überwachen.“ Sie hätten „auf die geeignete,
den sanitären und humanitären Anforderungen entsprechende Art der Unter¬
bringung und Pflege des Kranken Einfluß zu nehmen“ sowie „den hierauf gerich¬
teten Schritten“ aller beteiligten Faktoren „den tunlichsten Beistand zu leisten“. 6 )
Vergleicht man diesen Entwurf mit Kolbs Vorschlägen, so muß man meines
Erachtens letzteren den Vorzug geben. Der österreichische Entwurf hat im ganzen
sozusagen mehr negativen Charakter, ist vor allem auf die Verhütung einer
Schädigung des Kranken in sanitärer oder humanitärer Hinsicht eingestellt;
Kolbs Vorschläge dagegen zielen außerdem in beherzigenswerter Weise in
positiver Richtung, d. h. auf eine ganze Reihe dem Wohle der Kranken dienender
Einrichtungen werktätiger Hilfe, wie unentgeltliche psychiatrische Behandlung
unbemittelter geistig anomaler Personen, Einrichtung unentgeltlicher, ärztlicher
Sprechstunden für Minderbemittelte, besonders für solche, welche früher schon
in Anstalten waren, rege Fühlungnahme des Arztes mit dem Kranken, Unter¬
stützung geistig anomaler Personen sei es durch Bewilligung von Geldbeträgen 6 ),
sei es durch Abgabe von Lebensmitteln usw., durch Gewährung von Unterkunft,
Zuweisung, beziehungsweise Vermittlung von Arbeit und vieles andere 7 ). Während
6 ) Die Bestimmungen der §§23 bis 25 der Verordnung vom 14. Mai 1874,
RGBl. 71, besagen — vielleicht mit etwas weniger Worten — bereits dasselbe.
Auch dort wird Evidenzhaltung der nicht in Irrenanstalten untergebrachten
Irren und Überwachung ihrer Pflege (im Sinne des Gesetzes vom 30. April 1870)
durch die Gemeinden, sowie Überwachung der Gemeinden „rücksichtlich der
Erfüllung der ihnen in bezug auf das Irrenwesen obliegenden Verpflichtungen“
durch die politischen Behörden und insbesondere durch deren Amtsärzte gefordert.
•) Ein Ansatz ist in Niederösterreich durch die sogenannte Familienunter¬
stützung gemacht worden, die sich aber noch nicht recht eingelebt hat. Sie
bezweckt die Ermöglichung der Übernahme geeigneter Kranker durch Angehörige,
die infolge ihrer Armut sonst nicht in der Lage wären, den Kranken zu erhalten.
*) All dies der privaten Wohltätigkeit zu überlassen, geht wohl nicht an.
In einem Gesetzentwürfe, die Fürsorge betreffend, sollten wenigstens die Grund¬
züge, nach welchen diese soziale Pflicht zu erfüllen wäre, fixiert sein.
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ferner der österreichische Entwurf fast ausschließlich die Überwachung der
Fürsorge im Auge hat — die Gemeinden überwachen die Pflege der Kranken,
Amtsärzte als Organe der politischen Behörde überwachen die Gemeinden, werden
selbst aber vom Landesirreninspektor überwacht, über dem wieder der Ministerial-
inspektor steht — beziehen sich Kolbs Vorschläge der Hauptsache nach auf die
eigentliche Arbeit im Dienste der Fürsorge außerhalb der Anstalten,
worauf es doch zuvörderst ankommt.
Im ganzen wird man wohl zugeben müssen, daß auf die Art, wie sie Kolb
vorschwebt, der Zweck, um den es sich handelt, erreicht werden könnte. Über
Einzelheiten wird man verschiedener Meinung sein können.
Zunächst darüber, ob es sich empfiehlt, sich von vornherein auf ein ganz
bestimmtes System der Organisation der offenen Irrenpflege mit dem An¬
sprüche auf allgemeine Geltung festzulegen. Kolb selbst meint, daß die Fürsorge
„ihren besten Boden finden werde in Großstädten, großen Mittelstädten und
ganz eng besiedelten Industriegebieten“, daß dagegen „die Verhältnisse in den
Kleinstädten und auf dem Lande schwieriger liegen“. Doch wohl nur hinsichtlich
der Fürsorge in der Art, wie eben Kolb sie sich denkt! Auf der anderen Seite
finden Psychiater, die sich auf dem Gebiete der Familienpflege auskennen (vgl.
Alt, der auch Wahrendorff zitiert), daß „zur Einrichtung einer lebensfähigen
und segensreichen Familienpflege ländliche Gegenden zu bevorzugen“ seien,
und zwar namentlich „ländliche Gegenden mit solchen Familien, welche eine
redliche, menschenfreundliche und geduldige Gemütsart, dann aber auch eine
gewisse Intelligenz und mittleren Wohlstand aufweisen“ und so möchte ich
glauben, daß für ländliche Gegenden vielleicht ein anderes, der bereits erprobten
Familienpflcgc noch mehr angepaßtes, System der offenen Fürsorge am Platze
wäre, während sich das Kolbsche in der Tat besser für enger besiedelte Gebiete
eignet. Womit zunächst bloß gesagt sein soll, daß mir ein System der offenen
Fürsorge nicht für alle Verhältnisse zu passen scheint, nicht aber etwa, daß es
nicht angehe, die Grundzüge der offenen Fürsorge festzusetzen — in einer Art,
die einen gewissen Spielraum gewährt.
Widerspruch finden könnte auch Kolbs Vorschlag, die öffentliche Irren¬
fürsorge außerhalb der Anstalten im Anschluß an die öffentlichen Irrenanstalten
zu organisieren, und besonders der Vorschlag, sie der Leitung der Direktoren
als Kreisirrenärzte zu unterstellen. Der Ausdruck Anschluß ist, wie ich meine,
nicht glücklich gewählt, da er zu einer irrigen Meinung über das in Aussicht
genommene Verhältnis zwischen offener und geschlossener Irrenpflege führen
könnte. Ein Anhängsel und damit sozusagen eine Nebensache darf die erstere
unter keinen Umständen werden®). Sie muß eine Hauptsache sein, als solche
in jedem Sinne koordiniert der geschlossenen Irrenpflege. Was aber gemeint ist,
8 ) Wo sich dieses Verhältnis bei der Familienpflege herausgebildet hat,
haben sich auch prompt „Anfänge des Strebens“ eingestellt, „das Institut der
Familienpflege von der Mutteranstalt abzutrennen.“ Nawratzki (loc. cit.)
verlangt u. a.: „Abtrennung der Familienpflege von der Anstalt, Angliederung
an die Armcndirektion, eventuell auch an die Deputation für die Irrenpflege . . .
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wenn vom Anschlüsse der offenen an die geschlossene Irrenpflege gesprochen
wird, wäre besser als Zusammenschluß der beiden Fürsorgeeinrichtungen zu
bezeichnen; daß ein möglichst intimer, nicht bloß äußerlicher, etwa durch die
Gemeinsamkeit des einen oder anderen Funktionärs u. dgl. angedeuteter Zu¬
sammenhang, ein möglichst reger, verständnisvoller Verkehr zwischen beiden der
einen wie der anderen zum Nutzen gereichte, ja geradezu für beide eine Notwendig¬
keit ist, liegt auf der Hand. Die Frage, ob dem Direktor der Irrenanstalt zugleich
die Oberleitung der offenen Irrenpflegc im Sprengel zugeteilt werden soll, ist dabei
von relativ nebensächlicher Bedeutung. Wenn man überhaupt eine gemeinsame
Oberleitung der beiden Fürsorgeeinrichtungen will, so wäre eine Person zu wählen,
•welche hinlängliche Erfahrungen auf beiden Gebieten besitzt; dies trifft aber für
die heutigen Anstaltsdirektoren nicht durchwegs zu, da die Familienpflege wohl
schon weite, aber doch nicht allgemeine Verbreitung und gerade bei uns leider
noch recht geringe Anwendung gefunden hat. Auch kann jemand, wie Alt
richtig sagt, „ein ausgezeichneter Irrenarzt, ein vorzüglicher Anstaltsleiter, ein
geborener Direktor 4 sein, dabei aber — und vielleicht gerade deswegen — zum
Schöpfer und Förderer einer familiären Irrenpflege“ — und so, möchte ich ein-
fügen, für die einer Fürsorge für die Geisteskranken außerhalb der Anstalten —
„keine besondere Beanlagung und Neigung haben“. In Hinkunft würde man sich
freilich damit helfen können, daß man es zur Regel macht, zu Direktoren der
öffentlichen Irrenanstalten nur solche Anstaltspsychiater zu ernennen, welche
während ihrer Dienstzeit Gelegenheit genommen haben, sich auch auf dem Gebiete
der Irrenfürsorge außerhalb der Anstalten jene Summe von Erfahrungen zu
sammeln, die zur richtigen Führung der Oberleitung dieser Form der Irrenpflege
erforderlich sind. Im allgemeinen wird sich meines Erachtens die „Oberleitung“
aber auch dann auf die ärztlich-administrative Seite der offenen Irrenpflege
zu beschränken haben, da es vor allem geboten erscheint, den mit ihrer eigent¬
lichen Leitung betrauten Oberärzten die Schaffensfreudigkeit möglichst wenig
durch Verkümmerung ihrer Selbständigkeit zu trüben.
Von größerer Wichtigkeit wird die Sorge für die richtigen Fürsorge¬
ärzte sein. Eine mehrjährige psychiatrische Erfahrung und ein größeres Maß von
Vertrautheit mit dem Irrenanstaltsdienste wird als eine Grundbedingung an¬
zusehen sein. Andererseits wird aber auch zu bedenken sein, daß sich die Eignung
für den äußeren Fürsorgedienst keineswegs durch längeren Anstaltsdienst allein
■erwerben läßt und außer dem regen Sinn für diese Form der Irrenpflege auch eine
Reihe von persönlichen Eigenschaften zur Voraussetzung hat, die manchem
Anstaltspsychiater abgehen. Aus den richtig ausgewählten jungen Fürsorge¬
ärzten werden mit der Zeit auch die richtigen Leiter der offenen Irrenpflege
hervorgehen.
Allgemeine Zustimmung wird Kolb wohl kaum finden, wenn er „die Ober¬
leitung der fachärztlichen Beaufsichtigung und Beratung der Privatheilanstalten,
der Pflegeanstalten, der Nervenhcilstätten, Trinkerheilstätten, Epüeptikerheil-
anstalten, Psychopathenheime im Bereiche des Aulnahmsgebietes der Kreis¬
irrenanstalt 44 , ferner „der fachärztlichen und fachmännischen Beratung der
Hilfsschulen und Hilfsklassen 44 zu den Dienstobliegenheiten des Irrenanstalts-
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direktors als Kreisirrenarzt gezählt wissen will. Für „Aufnahmsbezirke“ mit
vorwiegend ländlichem Gebiete, in dem engere Spezialisten für die einzelnen
genannten Zweige der Fürsorge in der Regel nicht zu finden sein werden, wird
man Kolbs Vorschlag wahrscheinlich im allgemeinen billigen, kaum aber für
Aufnahmsbezirke, welche eine größere Mittelstadt oder gar eine Großstadt um¬
fassen. In der Tat ist es nicht recht einzusehen, w’arum man, wenn z. B. im Auf-
nahmsbezirke ein Arzt wirkt, der sich besonders eingehend mit der Heilerziehung
schwachsinniger, Schwachbegabter, psychopathischer Kinder befaßt hat oder
auf diesem Gebiete gar eine anerkannte Autorität geworden ist, nicht diesem
Arzt die Oberleitung „der fachärztlichen und fachmännischen Beratung der
Hilfsschulen und Hilfsklassen“ oder auch der „Psychopathenheime“ überant¬
worten, sondern ihm hinsichtlich dieser Funktion den Irrenanstaltsdirektor
vorziehen soll, der sich vielleicht nur so weit ihn einzelne einschlägige Fälle dazu
veranlaßten gelegentlich mit dem Gegenstände abgegeben hat. Und das Gleiche
gilt für Nervenheilstätten, Trinkerheilstätten, Epileptikeranstalten usw. Wenn
man dieses Prinzip aber einmal für den Aufnahmsbezirk der Großstadt oder der
Landeshauptstadt als richtig erkannt hat, wird man kein Bedenken tragen, es
auf das ganze Land auszüdehnen, wenigstens was die relativ nicht sehr umfang¬
reichen Länder betrifft, die das heutige Deutschösterreich umfaßt.
Dem Vorschläge Kolb möchte ich also für unsere Verhältnisse den Vor¬
schlag gegenüberstellen, die eigentliche Oberleitung der einzelnen Teil¬
gebiete der öffentlichen Fürsorge für geistig anomale Personen nach Möglichkeit
mit dem speziellen Gegenstände besonders vertrauten Fach¬
ärzten zu überlassen. Alle so entstehenden einzelnen Referate könnten dann
allerdings bei einem der Landesregierung (respektive dem Landesrate) als Begut¬
achter in allen Fragen der öffentlichen Fürsorge für geistig anomale Personen
dienenden Psychiater, etwa Landespsychiater genannt, zusammenlaufen, dessen
Hauptaufgabe die Oberleitung des Irrenanstaltswesens im engeren Sinne wäre.
Damit entfiele auch jeder Grund, außer dem Landespsychiater noch Kreis¬
ärzte einzuführen, und damit auch der Anlaß, jenes höchst unzweckmäßige und
unerquickliche Verhältnis zu schaffen, welches gegeben wäre, wenn nach Kolbs
Vorschlag der Kreisirrenarzt als Direktor der Kreisirrenanstalt die Oberleitung
dieser Anstalt hätte, während der eigentliche Leiter der Anstalt, als welcher doch
der „stellvertretende Direktor“ im Sinne Kolbs anzusehen wäre, „die Leitung
der Anstalt nach den allgemeinen vom Direktor ausgearbeiteten Gesichtspunkten“*
zur Dienstaufgabe hätte, d. h. obw r ohl er die ganze Verantwortung für die Anstalt
trüge, doch jeder Selbständigkeit beraubt wäre und bei jedem Schritte darauf
bedacht sein müßte, mit den vom Direktor „ausgearbeiteten Gesichtspunkten“*
in Einklang zu bleiben.
Bedenken erregen könnte ferner die Fassung einiger Bemerkungen Kolbs r
die darauf zu weisen scheint, daß Kolb einer gewissen Überspannung des
Prinzips des möglichst weitgehenden und möglichst baldigen Ersatzes der
Anstaltspflege durch Fürsorge außerhalb der Anstalten zuneigt, indem er darauf
ausgeht, „die Irrenanstalten von all den Kranken und geistig Abnormen zu
entlasten, die — entsprechend beaufsichtigt und unterstützt — zeitweise oder
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dauernd außerhalb der Anstalt leben könnten“. Vor einem Zuviel wird man sich
aber im Interesse der Einführung und Ausbildung der offenen Irrenpflege zu
hüten haben.
Wieder können wir uns da die Erfahrungen auf dem Gebiete der Familien¬
pflege zunutze machen. Soweit ich — selbst ein erklärter Freund und Anhänger
der Familienpflege — urteilen kann, ist ein Nutzen, der dem Kranken aus der
Familienpflege erwüchse, in recht vielen Fällen, in denen sie da und dort tatsäch¬
lich angewendet wird, nicht ersichtlich und ist ihr für manchen von diesen Kranken
der Aufenthalt in einer modernen Anstalt, besonders in einer kolonialen, ent¬
schieden vorzuziehen. Was aber die von Kolb betonte „nationalökonomische
Bedenklichkeit“ der Anstaltsverpflegung „als teuerster Form der öffentlichen
Fürsorge“ betrifft, möchte ich glauben, daß einerseits die öffentliche Fürsorge,
ausreichende Unterstützung der Kranken vorausgesetzt, keineswegs um so viel
billiger ist, daß man von einer durch ihre Einführung zu erzielenden ins Gewicht
fallenden Verminderung des Aufwandes sprechen könnte, andererseits die auch
ökonomisch wichtige Anleitung und Anhaltung zur Arbeit in einer hinsichtlich
Beschäftigungstherapie auf der Höhe stehenden Anstalt, namentlich kolonialen
Systems, bei vielen Kranken zweifellos weit besser gelingt, als es einer noch so
gut geleiteten Fürsorge außerhalb der Anstalten wohl je gelingen wird. Außerdem
glaube ich daran festhalten zu müssen, daß wir außer der Rücksicht auf die
Kranken immer auch die auf die Gesellschaft walten lassen müssen und daß wir
dieser Rücksicht nicht genügend entsprechen, wenn wir etwa nur die im engeren
Sinne gemeingefährlichen Kranken von der offenen Irrenpflege ausschließen.
Wer wie ich z. B. einen salivierenden und mit verschiedenen garstigen Faxen
behafteten Katatoniker im Kreise der Kinder der Pflegeleute gesehen, in einem
anderen Pflegehause einen nach Aussage der Pflegeleute zuweilen ohne Scheu
onanierenden Idioten vorgefunden hat, wird Wert darauf legen, zu betonen, daß
in jedem derartigen Falle wohl zumindest abzuwägen wäre, ob das Risiko der
moralischen Gefährdung und ästhetischen Belästigung der Umgebung durch den
Nutzen, welchen der Kranke aus der Wohltat der Familienpflege zieht, tatsächlich
aufgewogen wird und gerechtfertigt erscheint.
Dies alles gilt aber, wie ich meine, ebenso-wie für die Familienpflege auch
für die Fürsorge außerhalb der Anstalten. Darauf hinzuweisen halte ich gerade
vom Standpunkte desjenigen für nötig, der in der richtigen Erkenntnis des außer¬
ordentlich großen Wertes der Idee der offenen Irrenpflege, wie sie
von Kolb vertreten wird, von vornherein alles vermieden wissen will, was sie,
beziehungsweise die Versuche ihrer Durchführung, des Vertrauens der Öffent¬
lichkeit zu berauben geeignet wäre.
Nicht unbesprochen lassen möchte ich schließlich die Gefahr, daß eine Ein¬
richtung wie die offene Irrenpflege leicht den Charakter einer Art Polizei¬
aufsicht annehmen könnte. Daß Kolb bei seinen Vorschlägen genügend auf die
Vermeidung dieser Gefahr bedacht gewesen sei, kann meines Erachtens kaum
behauptet werden, wenn er auch betont, daß „die Organe der Fürsorgetätigkeit
nicht als Aufsichtsbeamte, sondern als freiwillige ärztliche Helfer und Berater
aufzutreten haben“.
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Direktor Sickinger, der sich der Außenfürsorge im Sinne Kolbs gegenüber
überhaupt mehr ablehnend verhält, findet, daß schon die „unauffälligen“ Besuche
des Fürsorgepflegers und Fürsorgearztes, zu deren Duldung der Übernehmer des
Pfleglings und dieser selbst nach Kolb verpflichtet werden müssen, sowie der
Voranschlag der Gewinnung von Vertrauenspersoncn „sehr nach Polizeiaufsicht
riechen“ und noch mehr der § 3 der Fürsorgebestimmungen, welcher die Inan¬
spruchnahme der Polizei auf Grund gewisser „Beobachtungen“ direkt zur Pflicht
macht, und meint daher, daß „Pflegling wie Angehörige im Fürsorgeorgan, trotz
dessen vorgeschriebener Menschenfreundlichkeit im Umgänge und des höflichen
Auftretens weniger den ärztlichen Helfer und Berater lieben, als den Aufsichts¬
beamten fürchten lernen werden.“
Soweit möchte ich nun wieder nicht gehen. Ohne effektive Beaufsichtigung
und ohne gelegentliches Zusammenarbeiten mit der Sicherheitsbehörde wird eine
offene Irrenpflege kaum durchführbar sein. Sich ob dieser odiosen Bedingung
gegen ihre Einrichtung auszusprechen, kann ich angesichts ihrer großen Vorteile
jedoch nicht für richtig halten. Jedenfalls aber scheint es mir notwendig zu
betonen, daß man bei der Ausarbeitung der speziellen Bestimmungen für die offene
Irrenpflege auf möglichste Vermeidung des Charakters der Polizeiaufsicht bedacht
sein müßte.
Damit bin ich mit meinen Ausführungen über Punkt II der Fordeningen
Kolbs fertig, bitte Sie aber, bevor Sie in die Diskussion eingehen, noch einen ganz
kurzen Bericht über Punkt IV anzuhören, der mit Punkt II in einem nahen Zu¬
sammenhänge steht, und sodann über beide Punkte gemeinsam zu beraten.
IV.
Die vierte Forderung geht nach der Fachleitung und Fachaufsicht
in der Irrenfürsorge.
Da die fachärztliche Leitung der Irrenanstalt bereits sichergestellt ist,
handelt es sich um die der Fürsorge außerhalb der Anstalten.
Die bisher geltenden Bestimmungen (Gesetz vom 30. April 1870, Ver¬
ordnung vom 14. Mai 1874, RGBl. 71) weisen bei uns den Amtsärzten der poli¬
tischen Behörden die Aufgabe zu, die Gemeinden „rücksichtlich der Erfüllung der
ihnen in Bezug auf das Irrenwesen obliegenden Verpflichtungen zu überwachen“.
Damit ist formell für eine fachärztliche Leitung gesorgt, da die genannten Amts¬
ärzte vor ihrer Bestellung ein gewisses Maß von psychiatrischen Kenntnissen
erworben haben müssen. Aber praktisch bemerkbar macht sich die Wirksamkeit
der Amtsärzte auf diesem Gebiete, wie jedermann zugeben muß, nur äußerst
wenig, was, wie Kolb mit Recht hervorhebt, vor allem „der enorme Umfang
ihres Tätigkeitskreises“ erklärt.
In ein im Sinne der Kolbschen Vorschläge ausgestaltetes System der offenen
Irrenpflege würde selbstverständlich die Leitung durch Amtsärzte der politischen
Behörde durchaus nicht passen. Da handelt es sich ja, wie bereits betont worden
ist, zuvörderst um das Wesentliche der Fürsorge selbst, um die eigentliche Für-
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sorgearbeit, die nicht gleichsam im Nebenamt geleistet werden kann, sondern
die volle Arbeitskraft möglichst erfahrener Psychiater fordert, und erst in zweiter
Linie um die Leitung und Beaufsichtigung dieser Fürsorgearbeit, die unter solchen
Umständen zweifellos erst recht nur Fachärzten im Hauptamt, beziehungsweise
alleinigen Amt, zufallen kann.
Auf Grund der vorgebrachten Überlegungen möchte ich für Punkt II und IV
etwa folgende Erledigung beantragen:
1. Kolbs Vorschläge bezüglich der Organisation der offenen Irrenpflege
entsprechen im ganzen dem Zwecke; doch erscheint es nicht empfehlenswert,
ein in die Einzelheiten gehendes Programm für diese Organisation mit dem An¬
sprüche auf allgemeine Geltung festzulegen, da dabei in vielen Punkten den Ver¬
schiedenheiten der lokalen Verhältnisse Rechnung zu tragen sein wird.
2. Fachleitung und Fachaufsicht im eigentlichen Sinne sind wie für die
Irrenfürsorge überhaupt, so auch für die offene Irrenpflege dringend zu fordern.
III.
Die dritte „Forderung“ lautet: Verbesserung des Rechtsschutzes
der Geisteskranken, besonders gegenüber der Anstaltsverwahrung.
Kolb findet die Kontrolle der Anstalten — er meint damit die reichs-
deutschen Anstalten — „in ärztlicher Hinsicht ungenügend“ und hebt in diesem
Sinne hervor: „besonders die Entscheidung über Behandlung und Entlassung
liegt schließlich allein beim Direktor, dessen Gutachten auch bei Anrufung der
Aufsichtsbehörde praktisch ausschlaggebend sein muß, da der Aufsichtsbehörde
fachärztliche Sachverständige von der autoritativen Stellung fehlen, ohne die in
den komplizierten Fragen des modernen Anstaltswesens und in den Hoch kompli¬
zierteren juristisch-psychiatrischen Grenzfragen eine der Ansicht des sachver¬
ständigen Direktors widersprechende Vorbescheidung kaum möglich ist.“ Als
eine natürliche Folge dieser Verhältnisse sei es anzusehen, daß bisher der Rechts¬
schutz nicht, wie es richtig wäre, „durch eine Erleichterung der Entlassungen,
sondern durch eine Erschwerung der Aufnahmen angestrebt würde“, was durchaus
unzweckmäßig und in mancher Hinsicht unheilvoll sei. — Am bedenklichsten
aber sei die Tatsache, daß für einen Rechtsschutz für die außerhalb der An¬
stalten lebenden Geisteskranken, für die ein solcher ganz besonders notwendig
wäre, gar nicht gesorgt sei.
Drei Dinge sind nach Kolb zur Verbesserung des Rechtsschutzes not¬
wendig:
1. die Einrichtung eigener Schutzgerichte;
2. die Einrichtung einer organisierten Fürsorge außerhalb der Anstalten;
3. die Aufstellung einer über der Anstalt stehenden fachärztlich autoritativen
Persönlichkeit (Kreisirrenarzt, Landesirrenarzt).
Insbesondere von den Schutzgerichten verspricht sich Kolb Ver¬
minderung des Mißtrauens gegen die Irrenanstalten, Erleichterung der Aufnahmen,
Rechtsschutz der Geisteskranken in offener Pflege, Entlastung des Anstaltsvor¬
standes von einemTeile der Verantwortung für Entlassungen, Ersparung unnötiger
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Schreibereien über Eingaben und Beschwerden, rasche und wirksame Kontrolle
der Irrenfürsorge.
Was die von Kolb auch bereits ausgearbeiteten Einzelheiten der Organisation
der vorgeschlagenen Irrenschutzgerichte betrifft, möchte ich zunächst hervor¬
heben, daß sich Kolb das Schutqjericht für den Aufnahmsbezirk jeder Kreis¬
irrenanstalt zusammengesetzt denkt aus (Punkt 2): a) einem älteren, vom Prä¬
sidenten des für die Anstalt zuständigen Landesgerichtes bestimmten Richter
als Vorsitzenden; b) dem Direktor der Kreisirrenanstalt; c) drei gewählten Laien,
darunter mindestens einer Frau, von denen mindestens ein Mitglied am Orte der
Kreisirrenanstalt ansässig sein soll. — Aufgabe des Schutzgerichtes (Punkt 3)
soll sein: ä) die Kontrolle der Anstaltsbetriebe und Fürsorgeeinrichtungen;
b) die rechtliche Fürsorge für die Anstaltskranken; c ) die rechtliche Fürsorge für
sonstige geistig nicht normale Personen. — Dieser großen Aufgabe entsprechen
die Befugnisse (Punkt 4) des Schutzgerichtes. „Das Schutzgericht ist berechtigt,
in bezug auf die einzelnen Kranken mit Stimmenmehrheit Beschlüsse zu fassen und
deren sofortige Durchführung, insbesondere
die Aufnahme in die Anstalt oder die Entlassung aus der Anstalt, Über¬
führung in eine andere Anstalt, die Fürsorge oder deren Aufhebung,
Besuche durch Angehörige, Verpflegung in besserer Verpflegsform,
Begutachtung durch den behandelnden Arzt oder das Ärztekollegium
anzuordnen.
Das Schutzgericht hat ferner das Recht, Vorschläge hinsichtlich der Anstalt
oder der Irrenfürsorge überhaupt zu machen und diese Vorschläge mit Gutachten
des Direktors dem Landrat, beziehungsweise dem Landtag vorzulegen.
Das Schutzgericht und jedes Mitglied hat die Pflicht, wahrgenommene
Mißstände zur Kenntnis des Landespsychiaters zu bringen, wenn nicht um¬
gehend Abhilfe geschaffen werden kann.
Anordnung und Aufhebung von Entmündigungen und Pflegschaften wird
zweckmäßig diesem Schutzgericht übertragen.“ — „Ein gleiches Schutzgericht
ist für das Land einzurichten.“ Dieses ist „Berufsinstanz gegenüber Ent¬
scheidungen der übrigen Schutzgerichte.“
Wir müssen uns, glaube ich, zunächst fragen, ob wir uns prinzipiell
mit Kolbs Schutzgerichtvorschlag einverstanden erklären sollen; in zweiter
Linie werden wir zu untersuchen haben, ob im bejahenden Falle Kolbs spezielle
Vorschläge für die Organisation der Schutzgerichte zu akzeptieren wären.
Was erstere Frage anbelangt, werden wir wohl zu erklären haben, daß wir
jede Einrichtung, die geeignet ist, zur Bekämpfung des Mißtrauens gegen die
Irrenanstalten und zu einer richtigen Ausgestaltung des Rechtsschutzes der
Geisteskranken in den und außerhalb der Anstalten beizutragen, auch vom
psychiatrischen Standpunkte zu begrüßen haben, sofeme ihre spezielle Organi¬
sation nicht etwa anderen Grundforderungen der Irrenfürsorge widerspricht;
so auch entsprechend organisierte Schutzgerichte.
Eine andere Frage ist es freilich, ob ein dringendes Bedürfnis nach einer
derartigen Einrichtung vorhanden sei. Die Antwort wird verschieden lauten
müssen je nach Maßgabe der da und dort bereits bestehenden einschlägigen
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Einrichtungen. Hinsichtlich Deutschösterreichs wäre meines Erachtens zu sagen,
daß angesichts des Fehlens einer entsprechenden Rechtsschutzeinrichtung für die
Geisteskranken außerhalb der Anstalten, zunächst für diese Geisteskranken
Schutzgerichte beziehungsweise eine Einrichtung, die das leistet, was Kolb
von den Schutzgerichten erwartet, dringend zu wünschen wäre. Was aber die
in Anstalten untergebrachten Geisteskranken betrifft, scheint mir die Sache
doch einigermaßen anders zu liegen; von einem dringenden Bedürfnisse kann
meines Erachtens da njcht die Rede sein. Zunächst muß darauf verwiesen werden,
daß bei uns die neue „Entraündigungsordnun^“, besonders durch das in ihr
vorgesehene „gerichtliche Verfahren bei Aufnahme in geschlossene Anstalten“
sowie bei der Kontrolle der Berechtigung der weiteren „Anhaltung“ in den An¬
stalten, bereits einen großen Teil der Aufgaben erfüllt, welche Kolb den Schutz¬
gerichten überantworten möchte. Weiters muß darauf hingewiesen werden, daß
den in den Anstalten untergebrachten Geisteskranken auch die gerichtlich
bestellten Kuratoren, Beistände, vorläufigen Beistände usw. Fürsorge und
Rechtsschutz zu leisten, beziehungsweise zu sichern berufen sind. Man muß
freilich zugeben, daß die Kuratoren und sonstigen Vertreter im allgemeinen nicht
gerade auf der Höhe dieser ihrer Aufgabe stehen, und dies mag der Grund sein,
warum Kolb bei seinen Vorschlägen auf die bestehende Einrichtung der Ver¬
beiständung, beziehungsweise Kuratel überhaupt nicht Rücksicht nimmt oder
auch nur zurückkommt. So weit zu gehen, scheint mir aber denn doch wieder nicht
gerechtfertigt zu sein. Im Gegenteile erscheint mir gerade eine entsprechende
Ausbildung der Kuratel ins titution, etwa im Sinne der Schaffung einer
sogenannten Berufskuratel (nach Art der Berufsvormundschaft), wie sie u. a.
von Starlinger bereits vor längeren Jahren vorgeschlagen worden ist, als ein
gangbarer Weg zur Erreichung eines Teiles der Zwecke, für die Kolb die Schutz¬
gerichte eingerichtet wissen möchte. Drittens ist zu bedenken, daß der Direktor
der öffentlichen Anstalten der Landesverwaltung, beziehungsweise dem Landes¬
rate, untersteht, daß er streng verpflichtet ist, jedes Schreiben der Kranken, das
an diese Behörde gerichtet ist, an seine Adresse gelangen zu lassen, daß es auch
jedermann, der sich für einen einzelnen Kranken oder für die Anstaltsverhält¬
nisse interessiert, freisteht, sich mit Wünschen, Beschwerden, Anregungen an diese
Behörde zu wenden, die ihre Intervention in berücksichtigungswürdigen Fällen
wohl nie versagen dürfte. Endlich hat gerade die politische Entwicklung der
letzten Zeit eine Reihe von, wenn ich so sagen darf, Organen der öffentlichen
Meinung, beziehungsweise der Meinung einzelner Kreise der Gesellschaft, ent¬
stehen lassen — ich nenne nur die Arbeiterräte, Soldaten- und Invalidenräte,
Bürgerräte — die es sich, wenn auch ohne eigentliche gesetzliche Befugnis, zur
Aufgabe gemacht haben, in Irrenanstalten, wie auch in anderen Sanitätsanstalten,
untergebrachten Kranken, denen nach ihrer Meinung irgend ein Unrecht geschehen
ist oder droht, ihren Schutz angedeihen zu lassen, und diesen Zweck, wie die Er¬
fahrung lehrt, auch mit recht ausgiebigem Nachdrucke zu verfolgen bestrebt sind.
Wenn nun auch nicht anzunchmen ist, daß diese Institutionen in der jetzigen
Form von längerem Bestände sein werden, so könnte doch aus ihnen allmählich
eine wertvolle Einrichtung hervorgehen, die der Öffentlichkeit — unter anderem —
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auch die Möglichkeit einer gewissen Mitwirkung an dem Rechtsschutze der in
Anstalten untergebrachten Geisteskranken sicherte.
Jedenfalls muß man aber sagen, daß die Verhältnisse schon heute so liegen,
daß es eine leere Phrase wäre, wenn gesagt würde, der Rechtsschutz der in den
Irrenanstalten Deutschösterreichs untergebrachten Geisteskranken sei unzu¬
reichend und es müsse diesem Übelstande durch Schutzgerichte oder eine ähnliche
Einrichtung abgeholfen werden.
Was nun aber Kolbs spezielle Vorschläge für die Schutzgerichte betrifft,
ist eine Stellungnahme meines Erachtens recht schwer. Die Bestimmungen,
welche Kolb für die Geschäftsordnung der Schutzgerichte vorschlägt, glaube
ich, da sie mir relativ nebensächlich erscheinen, in diesem Referate, das sich
auf das Wichtigste beschränken muß, übergehen zu können. Die bereits erw ähnten
Vorschläge Kolbs hinsichtlich der Zusammensetzung der Schutzgerichte
und der Umschreibung ihrer Aufgabe bedürfen dagegen bei ihrer fundamentalen
Bedeutung einer kritischen Betrachtung.
Daß dem Laienelement in einem Schutzgerichte nach Kolbs Idee ein
beträchtlicher Einfluß eingeräumt werden müßte, ist von vornherein klar; es
scheint mir aber doch des Guten zu viel zu sein, wenn Kolb daran denkt, im
Schutzgerichte einem einzigen Arzte vier Laien gegenüberzustellen — denn außer
den „drei gewählten Laien“ muß doch wohl auch der „ältere, vom Präsidenten
des für die Anstalt zuständigen Landesgerichtes bestimmte Richter als Vor¬
sitzender“ als Laie in psychiatrischen Dingen angesehen werden. Ist denn die
Sachvcrständigkeit wirklich Gift für den Rechtsschutz Geisteskranker? Und
wenn schon kein zweiter Arzt der Anstalt dem fünfgliedrigen Schutzgerichte
angehören soll, wäre es nicht am Platze, die ärztliche Position im Schutzgerichte
durch Zuziehung eines nicht der Anstalt und auch nicht der offenen Fürsorge des
Bezirkes angehörenden Arztes, am besten wohl Psychiaters, zu stärken? Auf¬
fallend ist es auch, daß Kolb den Direktor als den Arzt nennt, der dem Schutz¬
gericht angehören soll, wo er doch in der Begründung der Forderung eines besseren
Rechtsschutzes für Geisteskranke bemängelt, daß heute „die Entscheidung über
Behandlung und Entlassung schließlich allein beim Direktor liegt“ und „in den
auch komplizierten juridisch-psychiatrischen Grenzfragen eine der Ansicht des
sachverständigen Direktors widersprechende Vorbescheidung praktisch kaum
möglich ist“ usw. Warum gerade den Direktor ins Schutzgericht entsenden, in
welchem er doch wieder nur seine eigene sachverständige Meinung vertreten kann
und w T ird, wo es doch gilt, gegen die angebliche Allgewalt des Direktors anzu¬
kämpfen ?
Ungeteilten Beifall wird Kolb w T ohl auch nicht finden, wenn er einen
Richter als Vorsitzenden vorschlägt. Wenn dem Schutzgerichte auch die
„Anordnung und Aufhebung von Entmündigungen und Pflegschaften“ zufiele,
was Kolb für zweckmäßig hält, wäre der Richter als Vorsitzender allerdings
kaum zu umgehen. Daran ist meines Erachtens aber bei der vorgeschlagenen
Zusammensetzung des Schutzgerichtes (ein Richter, ein Arzt und drei Laien)
doch wohl überhaupt nicht zu denken. Die übrigen Funktionen des Schutz¬
gerichtes sind aber wieder durchwegs nicht von der Art, daß der Vorsitz eines
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Richters nötig wäre, man müßte denn von der ja recht verbreiteten Ansicht
ausgehen, der Jurist sei vor anderen auch zur Leitung solcher öffentlicher Ein¬
richtungen und Stellen berufen, die keine Agenden juristischen Charakters
haben 0 ).
Besonders gut überlegt werden muß Kolbs Vorschlag, daß drei Laien
in das Schutzgericht gewählt werden sollen. Mit der Zahl könnte man sich vielleicht
ohneweiters einverstanden erklären, wenn, wie bereits früher erwähnt wurde,
wenigstens die übrigen zwei Mitglieder des Schutzgerichtes Sachverständige
wären. Höchst bedenklich aber muß es erscheinen, daß Kolb keinerlei Ein¬
schränkungen hinsichtlich der Wählbarkeit der ins Schutzgericht aufzunehmenden
Laien anführt, sondern schlechtweg von Laien spricht. Man stelle sich nur ein
Schutzgericht vor, in dem drei Querulanten oder Degenerierte oder Psycho¬
pathen sonstiger Art als Laien Vertreter neben einem Arzt und einem Juristen
sitzen — und daß sich psychisch abnorme Personen in die Schutzgerichte geradezu
drängen werden, kann man von vornherein erwarten! Oder — man stelle sich
ein Schutzgericht vor, in dem drei Laien fungieren, die durchwegs einer, der
herrschenden, politischen Partei angehören! Kurzum, es müßte eine möglichst
sichere Gewähr dafür geboten sein, daß drei unbefangene, unvoreingenommene,
unparteiische, moralisch unbescholtene und geistig möglichst normale Laien in
das Schutzgericht gewählt werden. Davon, ob es möglich sein wird, diese
Gewähr zu bieten, wird es vor allem abhängig sein, ob das Schutzgericht zu einer
segensreichen Einrichtung oder einfach zu einer zwecklosen Plage werden wird.
Viel wird auch von der Funktionsdauer der Mitglieder des Schutz¬
gerichtes, über die sich Kolb übrigens gar nicht äußert, abhängen. Laien pflegen,
wenn sie an psychiatrische Dinge herantreten, im Anfänge ihrem sogenannten
Hausverstande sehr viel zuzutrauen und infolgedessen, wenn ihnen ein größerer
Einfluß eingeräumt ist, ziemlich viel Unheil zu stiften. Im Laufe der Zeit kommen
sie aber in der Regel zur Erkenntnis, daß es ohne eine gewisse Sachkenntnis
doch nicht recht gehe, werden daher mit ihrem Urteile und dessen Bewertung
vorsichtiger und der Belehrung durch die Psychiater zugänglicher. Ich möchte
daher glauben, daß die Laienmajorität im Schutzgerichte wohl besonders bedenk¬
lich wäre bei kurzer Funktionsdauer, daß sie aber umsomehr von ihrer Bedenk¬
lichkeit und Gefährlichkeit verlieren würde, je länger die Funktionsdauer an-
gesetzt würde, je mehr den Laienmitgliedern also Gelegenheit geboten würde,
in die Schwierigkeiten der psychiatrischen Sachverständigentätigkeit und in
die Kompliziertheit der Probleme der Irrenfürsorge Einblick zu nehmen.
Bezüglich der von Kolb in Aussicht genommenen Aufgaben der Schutz¬
gerichte wäre nach dem Gesagten nicht mehr viel vorzubringen.
Im allgemeinen geht die Kolbsche Fassung wohl etwas gar zu weit. Wenn
er dem Schutzgerichte z. B. ganz allgemein, ohne jede Einschränkung, die „Kon-
0 ) Sollte vielleicht die Bezeichnung Schutzgericht mit daran schuld sein?
Man könnte ja auch eine andere Bezeichnung wählen, z. B. Schutzkommission
oder Aufsichtsrat (vgl. Pelman, Erinnerungen eines alten Irrenarztes, Bonn,
1912, S. 94).
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Sitzungsberichte.
trolle der Anstaltsbetriebe“ überantwortet, so muß ihm entgegengehalten werden,
daß vom Gesichtspunkte des Rechtsschutzes der Geisteskranken aus -
und dieser ist es ja, um den es sich handelt — eine Kontrolle des Anstaltsbetriebes
durch das Schutzgericht doch nur, insoweit das Wohl und Wehe der Kranken
durch diesen berührt wird, nicht aber etwa, soweit es sich z. B. um den rein
ökonomischen Betrieb handelt, gefordert werden kann. Ebenso geht Kolb
zu weit, wenn er dem Schutzgerichte ohne jede Einschränkung „die rechtliche
Fürsorge für die Anstaltskranken“ zur Aufgabe gemacht wissen will. Immer
werden an der rechtlichen Fürsorge für die Anstaltskranken noch andere Fak¬
toren beteiligt bleiben müssen; ja dem Schutzgerichte wird im allgemeinen nur
wieder eine Kontrolle der rechtlichen Fürsorge, und auch diese nur innerhalb
gewisser Grenzen, zugeteilt werden können.
Ebenso weit, zu weit, wie die Aufgaben, legt Kolb auch die Rechte des
Schutzgerichtes an, u. a. hätte das Schutzgericht das Recht, „die Aufnahme
in die Anstalt oder die Entlassung aus der Anstalt“ — „anzuordnen“; und
Kolb sagt uns gar nicht, was zu geschehen hätte, wenn diese Anordnung gegen
das Wissen und Gewissen des leitenden Arztes und trotz seiner Gegenvorstellungen
zustande käme. Es stünde dem Schutzgerichte weiter z. B. frei, „Verpflegung
in besserer Verpflegsform“ — wieder „anzuordnen“; derlei könnte sich die
Landesverwaltung angesichts der dadurch bedingten höheren Ausgaben wohl
kaum bieten lassen, ganz abgesehen davon, daß eine solche Befugnis des Schutz*
gerichtes der Protektion Tür und Tor öffnen würde. Das Recht, „Begutachtung
durch das Ärztekollegium anzuordnen“ könnte leicht mißbraucht werden und zu
Unzukömmlichkeiten aller Art führen. — Das Recht dagegen, dem Landrat.
beziehungsweise dem Landtage „Vorschläge hinsichtlich der Anstalt oder der
Irrenfürsorge überhaupt“ vorzulegen, wie das, wahrgenommene Mißstände
nötigenfalls dem Landespsychiater zur Kenntnis zu bringen, wäre dem Schutz¬
gerichte zweifellos zuzusprechen. Daß ich es aber wieder nicht nur nicht für
zweckmäßig, sondern geradezu für untunlich halte, dem Schutzgerichte die ,,An-
ordnung und Aufhebung von Entmündigungen und Pflegschaften zu über¬
tragen“, habe ich bereits angedeutet.
Außer der Errichtung eigener Schutzgerichte sind zur Verbesserung d<>
Rechtsschutzes nach Kolb noch notwendig: Die Errichtung einer organisierten
Fürsorge außerhalb der Anstalt und die „Aufstellung“ einer über der Anstalt
stehenden fachärztlich autoritativen Persönlichkeit (Kreisirrenarzt, Landes¬
irrenarzt). Von diesen zwei Punkten war schon früher die Rede.
Für Punkt III möchte ich folgende Erledigung empfehlen:
1. Schutzgerichte im Sinne Kolbs wären zweifellos geeignet, zur Bekämpfung
des gegen die Irrenanstalten noch bestehenden Mißtrauens beizutragen.
2. Ein eigentliches Bedürfnis nach derartigen Schutzgerichten besteht aber
doch wohl nur für die der Hauptsache nach erst zu organisierende Fürsorge außer¬
halb der Anstalten.
3. Kolbs spezielle Vorschläge für die Einrichtung der „Irrenschutz¬
gerichte“ bedürfen, namentlich insoweit sie deren Zusammensetzung, Aufgaben
und Rechte betreffen, wesentlicher Abänderungen.
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V.
Die V. der „Forderungen“, mit denen nach Kolb zu rechnen wäre,
lautet: „Beseitigung der Vorrechte, welche Geburt und Geld bisher gaben.“
Als solche Vorrechte, beziehungsweise Vorzüge nennt Kolb „Verpflegung
in besseren Räumen bei besserer Verköstigung gegen Zahlung eines
höheren Verpflegsgeldes und die Bestellung von Privatpflegern gegen beson¬
dere Bezahlung“, ferner die „nur den bemittelten Kreisen gebotene Möglichkeit,
eine Privatanstalt aufzusuchen“, endlich „die den bemittelten Kreisen bisher
in größerem Umfange gebotene Möglichkeit, sich bei Konflikten mit dem Straf¬
gesetzbuche fachärztliche Begutachtung zu sichern“.
Was die teueren Verpflegskiassen betrifft, erklärt Kolb eine Einschränkung
als „mit dem Geist wahrer Freiheit unvereinbar“, hält aber andererseits folgende
Forderungen noch „für berechtigt und angängig“:
„Teuere Verpflegsformen, Abstellungen von Privatpflegepersonen dürfen
nur soweit durchgeführt werden, als sie der Allgemeinheit einen nennenswerten
finanziellen Nutzen abwerfen, der ihr die Durchführung und den Abbau der
Irrenfürsorge erleichtert.“
Es kann zweifellos manches zugunsten einer derartigen Regelung angeführt
werden. Ob und inwieweit sie durchgeführt werden wird, hängt wohl zum größten
Teile von der weiteren politischen Entwicklung ab. Einstweilen entspricht die.
Einrichtung teuerer Verpflegskiassen in den öffentlichen Irrenanstalten,
beziehungsweise von „Sanatorien“ für Geistes- und Nervenkranke im Zusammen¬
hänge mit den öffentlichen Irrenanstalten und als Bestandteil dieser, beiläufig
der in Rede stehenden Forderung. Weiter wäre dann noch, wie Kolb meint,
daran zu denken, „den bisher dem Unternehmer zufallenden Gewinn (aus dem
Betriebe der Privatanstalten) für Zwecke der öffentlichen Irrenfürsorge“ zu ver¬
wenden. Selbstverständlich könnte es sich nur um die Verwendung eines gewissen
Teiles dieses Gewinnes für letztere Zwecke handeln, wenn man die Privatanstalten
nicht überhaupt unmöglich machen will, wogegen, wie noch auszuführen sein
wird, gewichtige Gründe geltend zu machen sind.
Eine wesentliche Neuerung würde aus der Aufnahme folgender Neuerung
resultieren: „Auch den unbemittelten Kranken kann durch eine Entscheidung
des Schutzgerichtes auf Kosten der Allgemeinheit bis zur Dauer von sechs Monaten
die Verpflegung in einer teueren Verpflegsklasse und eine Privatpflegeperson
zugebilligt werden, wenn diese Maßnahmen einen günstigen Einfluß auf den
Krankheitsverlauf versprechen.“
Der Zweck ist zweifellos gut, der angegebene Weg aber meines Erachtens
schlecht. Wenn man sich die Dinge vorstellt, wie sie sich praktisch gestalten
würden, muß man sagen, daß kaum eine andere Bestimmung ausdenkbar ist,
die zu so vielen Unzukömmlichkeiten führen könnte wie gerade diese. Anderer¬
seits wird nicht zu bestreiten sein, daß der löbliche Zweck auch auf andere Weise
erreichbar und bisher auch nach Möglichkeit angestrebt und erreicht worden
ist, nämlich durch individualisierende Verschreibung einer reichlicheren und auch
qualitativ entsprechenderen Kost, durch Aufwendung größerer Sorgfalt bei der
Jahrbücber für Psychiatrie. XLI. Bd. 2, u. 8. Heft. 15
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Sitzungsberichte.
Behandlung und Pflege, durch Rücksichtnahme nicht nur auf den psychischen
Zustand sondern auch auf die gewohnten äußeren Verhältnisse bei der Unter¬
bringung, kurz also durch Rücksichten und Maßnahmen, auf welche unbemittelte
Kranke gerade so Anspruch haben, wie bemittelte.
Daß die Privatanstalten nur den bemittelten Kreisen zugänglich sind,
kann selbstverständlich nicht geändert werden; es könnte daher, meint Kolb,
von politischer Seite die Frage nach Beseitigung oder Beibehaltung der Privat¬
anstalten aufgeworfen werden. Er selbst lehnt nach Würdigung von pro und contra
die Beseitigung der Privatanstalten ab, da diese „einen tiefen Eingriff in die I
freie Willensbestimmung der Bevölkerung bedeuten würde“, meint aber doch,
daß „gegen den allmählichen Abbau der Privatanstalten.... fachärztliche
Gründe kaum vorgebracht werden können, vorausgesetzt, daß unsere öffentlichen
Irrenanstalten in die Lage versetzt werden, in größerem Umfange als bisher für
die individuelle Unterbringung und Behandlung zu sorgen“.
Ich glaube, man würde uns Psychiater, wenn wirklich einmal der Abbau
oder gar die Beseitigung der Privatanstalten aus politischen Gründen gefordert
werden sollte, nicht erst viel um unsere Meinung fragen. Wenn aber doch, mußten
wir wohl sagen, daß die Privatirrenanstalten gerade so wie die Privatsanatonen
anderer Art ihren Zweck haben und erfüllen, ferner, daß sie „unbeschadet der
öffentlichen Anstalten und der dort verpflegten Kranken fortbestehen können
(Schnopfhagen) und daß, da Privatanstalten nun einmal von den bemittelten
Kreisen verlangt werden, ihre Abschaffung „nur zur Abwanderung der zahlung-
kräftigen Kranken in das Ausland führen und nur finanzielle Verluste zur Fol#
haben würde“ (Dangl), während gut eingerichtete und geführte Priv&tanstalten,
wie die Erfahrung lehrt, Fremde ins Land ziehen und ihm finanziellen Nuttffl
bringen.
Ganz richtig sagt auch der Direktor der Salzburger Landes-Heilanstah
für Geisteskranke Dr. Dangl: „Ich sehe auch gar keinen Grund ein, warum man
in Anstalten Vorteile, die das Geld bietet, abschaffen will, während man die**
Vorteile außerhalb der Anstalten bestehen läßt. Man soll mit derartigen Sorisü-
sierungsversuchen bei Irrenanstalten nicht beginnen, sondern eher dort am
hören, da die Geisteskranken geänderten Lebensverhältnissen kein Verstände
entgegenzubringen in der Lage sind.“
Was den angeblichen dritten Vorzug der bemittelten Kreise betrifft, nämh^
daß ihnen „bisher in größerem Umfange die Möglichkeit geboten ist, sich bei
Konflikten mit dem Strafgesetzbuch fachärztliche Begutachtung zu sichern ,
glaube ich wohl sagen zu dürfen, daß kein Fall bekannt geworden ist, der darauf
weisen würde, daß sich bei uns aus diesem Umstande ein Unrecht ergeben hätte.
Meinfes Erachtens ist in durchaus zureichendem Maße dafür gesorgt, daß &&
Unbemittelte der fachärztlichen Begutachtung bei strafgerichtlichen Konflikte 0
teilhaftig werden. Direktor Dr. Sickinger schreibt mir zu diesem Punkte, die
von Kolb vorgebrachte Annahme widerstreite seinen siebenjährigen Erfahrung 611
als Landesgerichtspsychiater und dem, was er aus dem Studium der Gerichte*
saalrubrik der Zeitungen entnehme, durchaus; seiner Meinung nach werde „da
eher zuviel als zu wenig geleistet.“
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Orig inal from_ - ^
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Wenn Kolbs Vorschläge durchdringen sollten, wenn es also u. a. auch
zu einer entsprechenden Organisation der offenen Irrenfürsorge, zur Errichtung
von Schutzgerichten usw. kommen sollte, würde sich daraus übrigens, wie Kolb
anführt, eine weitere Sicherung der fachärztlichen Begutachtung Unbemittelter
ergeben. Direktor Sickinger fürchtet sogar, daß sich daraus eine „Erweiterung
der Möglichkeit, der strafgerichtlichen Ahndung eines Deliktes durch die psychi¬
atrische Gasse zu entwischen, ergeben könnte“, indem es möglich wäre, „daß
sich jemand »freiwillig 4 in Fürsorge eines Schutzgerichtes begibt, bevor er an die
Ausführung eines Deliktes schreitet.“ Diese Gefahr ist meines Erachtens nicht
gar groß; denn das Schutzgericht könnte — vielleicht — die Begutachtung des
Betreffenden herbeiführen, nicht aber auf deren Ergebnis Einfluß nehmen. Daß
es nicht gut wäre, das Gewicht der Laienmeinung im Schutzgerichte übermäßig
werden zu lassen, wie es nach der von Kolb vorgeschlagenen Zusammensetzung
der Scbutzgerichte der Fall wäre, geht übrigens auch aus dieser Überlegung
wieder hervor.
Für Punkt V schlage ich folgende Äußerung vor:
1. Ein dringender ärztlicher Grund kann für die Einschränkung der
Möglichkeit, gegen Zahlung eines höheren Verpflegsgeldes die Verpflegung in einer
besseren Klasse zu erreichen, also auch gegen die Beibehaltung gut geführter
Privatanstalten, nicht vorgebracht werden, ebensowenig aber auch gegen die
Verwendung eines Teiles des sich daraus ergebenden finanziellen Nutzens für
Zwecke der allgemeinen öffentlichen Irrenfürsorge.
2. Eine Benachteiligung der unbemittelten gegenüber den bemittelten
Kreisen in dem Sinne, daß ihnen die Möglichkeit, sich bei Konflikten mit dem
Strafgesetzbuch fachärztliche Begutachtung zu sichern, im Gegensätze zu letzteren
nur in unzureichendem Maße geboten Wäre, kann nicht konstatiert werden. Eine
entsprechende Organisation der offenen Irrenfürsorge wäre zweifellos geeignet,
auch die letzten Bedenken, die in dieser Beziehung noch bestehen mögen, aus
der Welt zu schaffen.
VI.
Gefordert werden könnte nach Kolb ferner die Zuziehung des An¬
staltspersonales in gewissen Fragen, besonders zu den „die Verhältnisse des
Personals berührenden Fragen.“
Dieser Forderung ist bei uns durch das Gesetz vom 15. Mai 1919, betreffend
die Errichtung von Betriebsräten bereits im vollsten Maße Rechnung getragen.
„Die Betriebsräte sind berufen, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Interessen der Arbeiter und Angestellten im Betriebe wahrzunehmen und zu
fördern.“ Unter die in diesem Gesetze angeführten Betriebe fallen auch die
Sanitätsanstalten jeder Art, also auch die öffentlichen und die privaten Irren¬
anstalten. Nach dem Wortlaut des Gesetzes war auch die Auslegung möglich,
daß die Betriebsräte befugt seien, den gesamten Betrieb, auch wo es nicht
gerade die Förderung ihrer Interessen gilt, in den Bereich ihrer Einflußnahme
zu ziehen. Ein Erlaß des Volksgesundheitsamtes im Staatsamt für soziale Ver¬
waltung vom 26. Juli 1919 stellt u. a. in dankenswerter Weise fest, daß sich der
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Wirkungskreis der Betriebsräte „lediglich auf die Wahrung der Interessen der
Arbeiter und Angestellten im Betriebe erstreckt, in keinem Falle also bei Kranken¬
anstalten auf die Krankenbehandlung, die vielmehr ihrem vollen Umfange nach
und nach jeder Richtung der Einflußnahme der Betriebsräte entzogen ist**.
Besonders betont Kolb noch, daß „eine stärkere Beteiligung der Ärzte
an verantwortlichen Dienstgeschäften erforderlich“ sei. In diesem Sinne
spricht er S. 146 von Kompetenzen, „die dem Ärztekollegium der Anstalt
übertragen sind“, beziehungsweise S. 169 davon, daß „die Kompetenzen des
stellvertretenden Direktors durch Schutzgericht und Ärztekollegium ein¬
geengt“ seien, führt aber nirgends genauer aus, welcher Art die Kompetenzen
des Ärztekollegiums eigentlich sein sollen. Gerade davon, w'ie der Inhalt und der
Umfang des Kompetenzbereiches des Ärztekollegiums etwa anzunehmen w'äre,
wird aber wieder unsere Stellungnahme abhängen müssen. S. 165 führt Kolb
an, daß das Schutzgericht u. a. berechtigt sei, „Begutachtung durch den behan¬
delnden Arzt oder das Ärztekollegium anzuordnen“; daraus wäre zu schließen,
daß das Ärztekollegium u. a. berufen wäre, an dem Rechtsschutze der Kranken
mitzuwirken. Was für sonstige „verantwortliche Dienstgeschäfte“ in seine
Kompetenz fallen sollen, ist gar nicht ersichtlich.
Was den gegenwärtigen Stand der Dinge betrifft, möchte ich erwähnen,
daß z. B. die Dienstvorschriften für die Ärzte der Landesanstalten „Am Stein¬
hof“ außerordentliche ärztliche und allgemeine (d. h. Ärzte- und Beamten-)
Konferenzen unter dem Vorsitz des Direktors vorsehen, deren Zweck die Erörte¬
rung wichtigerer ärztlicher, beziehungsweise allgemeiner Anstaltsangelegen¬
heiten ist. Früher war es nun allerdings dem Direktor völlig anheimgestellt, über
Einberufung und Tagesordnung dieser Konferenzen zu verfügen; auch hatten
die Beschlüsse dieser Konferenzen dem Direktor gegenüber keinerlei bindende
Kraft. Durch die Befugnisse des Betriebsrates der Angestellten ist aber dem Direk¬
tor zweifellos die Möglichkeit genommen, sich über berechtigte Wünsche nach
Einberufung der Konferenzen sowie nach Berücksichtigung der auf den Konferen¬
zen etwa im Interesse der Anstaltsärzte beziehungsweise -Beamten vorgebrachten
Anregungen willkürlich hinw T egzusetzen. Daß unter solchen Umständen noch
eine weitere Ausstattung des „Ärztekollegiums“ mit besonderen Befugnissen
notwendig sein sollte, kann ich nicht recht glauben. Wer aber doch daran denkt,
sei gebeten, sich einmal in die Lage des Direktors oder noch besser des besonders
bedauernswerten „stellvertretenden Direktors“ im Sinne Kolbs hineinzudenken.
Von oben wirkt auf ihn ein die Vorgesetzte Behörde, dann der Landesirrenarzt,
ferner der Kreisirrenarzt, von den Seiten und von unten her, außer den sonstigen
kompetenten Gerichtsstellen die Schlitzgerichte, dann die Betriebsräte (Betriebs¬
rat der Angestellten, Betriebsrat der Arbeiter), ferner die Personalkommission
als Vertreterin der einzelnen Standesgruppen der Beamtenschaft in Personal¬
angelegenheiten, weiters etwaige Vertrauensmänner- beziehungsweise gewerk¬
schaftliche Organisationen, ganz abgesehen von den Arbeiterräten usw. und
endlich das etwa im Sinne der Tendenz der Einengung der Kompetenzen des
leitenden Arztes ausgestattete Ärztekollegium! Von einem selbständigen Wirken
des leitenden Arztes ist, wenn man sich alle diese Faktoren tatsächlich wirksam
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vorstellt, überhaupt nicht mehr die Rede; seine Funktion erschöpft sich vielmehr
in der Vereinigung und in dem Ausgleiche aller auf ihn einwirkenden Einflüsse,
er ist sozusagen die personifizierte Resultante aus einer Summe von auf ihn
ein wirkenden Kräften. Unter solchen Umständen wäre es meines Erachtens eher
Aufgabe des Ärztekollegiums, zur Festigung des ärztlichen Standpunktes allen
anderen Faktoren gegenüber beizutragen, als eine weitere Einengung der Kom¬
petenzen des Direktors zu bewirken. Ein wohlberatener Direktor aber wird die
Mitarbeit der anderen Anstaltsärzte an besonders verantwortlichen Dienstgeschäf¬
ten gewiß zu schätzen wissen und sie daher auch immer wieder in Anspruch nehmen.
Wahrscheinlich hat Kolb auch die Forderung einer größeren Selbständig¬
keit der Anstaltsärzte, namentlich der älteren unter ihnen im Auge. Wie er
selbst in diesem Punkte denkt, geht aus Teil IV der Beilage 4 (S. 168) hervor.
Dort sagt er: „Die Kreisirrenanstalt zerfällt je nach ihrer Größe in eine Anzahl
von Abteilungen, die in medizinischer Hinsicht selbständig, in psychiatrischer
Hinsicht nach den allgemeinen Direktiven des stellvertretenden Direktors von
Anstaltsärzten geführt werden. 44 So scharf gegenüberstellen läßt sich die Selb¬
ständigkeit in medizinischen und die Abhängigkeit in psychiatrischen Dingen
wohl nicht, im ganzen wird aber Kolb beizupflichten sein. In manchen großen
Anstalten hat sich übrigens schon eine recht weitgehende Selbständigkeit wenig¬
stens der Abteilungsvorstände herausgebildet; in den Anstalten „Am Steinhof 44
geht sie so weit, daß in dieser Hinsicht nichts mehr zu wünschen übrig sein dürfte.
Was aber die Selbständigkeit der Neulinge im psychiatrischen Anstaltsdienste
betrifft, ist es schwer und meines Erachtens auch nicht sehr empfehlenswert,
den Grad in der Instruktion genau festzulegen, da in diesem Punkte wohl ein
Unterschied gemacht werden muß und der Grad der Selbständigkeit immer dem
Maße der Tüchtigkeit, Verwendbarkeit und Gewissenhaftigkeit des einzelnen ent¬
sprechen sollte. Jedenfalls wird man aber gut tun, sich auch in dieser Beziehung
von einer freieren Auffassung leiten zu lassen.
Folgende Stellungnahme schlage ich vor:
1. Der Forderung nach Zuziehung des Anstaltspersonales in gewissen,
besonders in den die Verhältnisse des Personales berührenden Fragen, ist bei uns
durch die Errichtung von Betriebsräten bereits voll Rechnung getragen.
2. Eine stärkere Beteiligung der Ärzte an verantwortlichen Dienstgeschäften
wäre von Vorteil; doch empfiehlt es sich nicht, das Ärztekollegium mit Rechten
auszustatten, die geradezu eine Einengung der Kompetenzen des leitenden
Arztes zum Zwecke haben.
VII.
Von großer Wichtigkeit ist es, hinsichtlich der Frage des Achtstunden¬
tages, dessen Einführung, wie Kolb annimmt, auch für das Pflegepersonal
gefordert werden könnte, zumal er für das administrative Hilfspersonal der An¬
stalten wohl schon allgemein eingeführt ist, zu einer möglichst klaren Stellung¬
nahme zu kommen.
Wie immer, wenn es sich um eine Abkürzung der Arbeitszeit irgend einer
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Personalskategorie handelt, stellen sich auch da vor allem die finanziellen und
nationalflkonomischen Bedenken ein. Kolb bringt zu diesem Punkt folgendes vor:
„Für die 120.000 anstaltsverpflegten Geisteskranken Deutschlands wären
nach dem Satz von 1:6 (ein Pfleger auf sechs Kranke) bei Schichtwechsel 20.000
Pfleger mehr notwendig; 20.000 Menschen im schaffenskräftigen Alter würden
der Produktion entzogen werden.
Der Jahresaufwand würde rund 40 Millionen Mark = den Zinsen einer
Milliarde Mark entsprechen. Dabei ist noch nicht berücksichtigt, daß auch
Oberpfleger- und Ärztepersonal in ähnlichem Prozentsatz erhöht werden müßten,
und daß dann auch die Pfleger bei körperlich Kranken ähnliche Ansprüche Vor¬
bringen würden.“
Dabei fällt nach Kolb noch ins Gewicht, daß „in der Industrie die sichere
Möglichkeit besteht, die geringere Arbeitszeit nationalökonomisch auszugleichen
durch erhöhte Arbeitsleistungen“, während diese Möglichkeit „im Pflegedienste
nationalökonomisch fehlt“. Ganz vorbehaltlos möchte ich gerade in diesem Punkte
allerdings nicht zustimmen; denn auch im Pflegedienste wäre eine erhöhte Arbeits¬
leistung immerhin möglich, nämlich in Form von intensiverer Pflichterfüllung
zum Nutzen der Kranken, eine erhöhte Arbeitsleistung, die freilich nationalökono¬
misch nicht direkt sozusagen in klingender Münze, sondern nur indirekt und
zunächst eben im besseren Erfolge der Tätigkeit des Pflegepersonales zum Aus¬
druck kommen könnte.
Groß sind jedenfalls die finanziellen und nationalökonomischen Bedenken;
groß waren sie aber sicherlich auch hinsichtlich des Achtstundentages bei all den
Personalkategorien, denen er dennoch bereits gewährt worden ist. Sprächen keine
anderen gewichtigen Gründe gegen seine Einführung beim Pflegepersonale, so
müßte der erforderliche Aufwand daher eben doch auch für dieses Personal trotz
aller Schwierigkeiten aufgebracht werden. Und vor allem wäre es zweifellos nicht
gerade Sache der Anstaltsärzte, das Odium der Betonung der finanziellen und
nationalökonomischen Bedenken auf sich zu nehmen.
Aber es sprechen auch gewichtige dienstliche, beziehungsweise ärztliche
Bedenken gegen die Einführung des Achtstundentages. Kolb führt darüber aus:
„Der mehrfache Schichtwechsel birgt, auch wenn die Schichten sich teilweise
überkreuzen, erhebliche Gefahren für die Pflege und Beaufsichtigung der
Kranken in sich; die Möglichkeit, für Dienstversäumnisse bestimmte Persön¬
lichkeiten verantwortlich zu machen, wird praktisch fast aufgehoben.“ Die Er¬
schwerung des Betriebes und die Gefährdung der Kranken durch einen Schicht¬
wechsel erscheint Kolb so beträchtlich, daß er persönlich „mit einem zu 75%
ungeschultcn Pflegepersonal, das alle paar Jahre wechselt, ohne Schichtwechsel
leichter die Verantwortung für den Anstaltsbetrieb übernehmen würde, als mit
Berufspersonal bei Schichtwechsel.“
Die öffentlichen Irrenanstalten Deutschösterreichs sind, soviel mir
bekannt ist, trotz der darauf zielenden Agitation einzelner radikaler Elemente
unter dem Pflegepersonale vom Achtstundentage verschont geblieben. In
Deutschland dagegen ist der Achtstundentag, wie mir Kolb schreibt, bereits
durchgeführt: in den Berliner Anstalten, in Hamburg, in den Münchener An-
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stalten Eglfing und Haar, in den hessischen Anstalten; probeweise in Vorbereitung
begriffen ist er in einer badischen Anstalt (Wiesloch). „Die Erfahrungen der
Ärzte lauten allgemein außerordentlich ungünstig; vor allem wird auch darauf
hingewiesen, daß das Pflegepersonal vielfach nicht ausgeruht, sondern ermüdet
in den Dienst kommt. In Hamburg trifft auf etwas über zwei Kranke bereits eine
Pflegeperson. Dabei wird überall betont, daß die Pflege wesentlich schlechter
geworden ist.“ — Die Bedenken gegen den Achtstundentag kamen u. a. auch in
den Beschlüssen der Direktorenkonferenz am 2. Juli 1919 in München gut zum
Ausdruck: „Bei der Eigenart der Geisteskranken, die nicht in der Lage sind,
für sich selbst zu sorgen, selbst über ihren Zustand zu berichten, gefährdet ein zu
häufiger Wechsel der pflegenden und beaufsichtigenden Personen die Sicherheit
und die Ehrlichkeit des Anstaltsbetriebes.... Diese Gefahr kann durch eine
noch so weitgehende Vermehrung des Pflegepersonales nicht vermieden werden,
da mit der Vermehrung des Pflegepersonales selbst wieder gewisse Gefahren un¬
trennbar verbunden sind (Unübersichtlichkeit, Wechsel, Zurücktreten der In¬
teressen der Kranken hinter den Interessen des Personales).“
Ähnliche Bedenken gegen den Achtstundentag sind übrigens auch von
Direktoren reichsdeutscher Kliniken und Krankenanstalten, namentlich von
Leitern chirurgischer Abteilungen, geltend gemacht worden. Prof. Dr. Kirschner,
Direktor der chirurgischen Universitätsklinik in Königsberg, äußert sich darüber
wie folgt: „Bei der Eigenart der Krankenpflege muß ein öfterer Wechsel des
Pflegepersonals für die Kranken mit Nachteilen und Unannehmlichkeiten ver¬
bunden sein. Alle acht Stunden eine neue Pflegeperson um sich zu haben, kann
auf das Gemütsleben höchst nachteilig einwirken. Viele ärztliche Verordnungen
mit ihren durch bestimmte Vorkommnisse gebotenen Abänderungen können vom
Arzte der Pflegeperson nur direkt und mündlich gegeben werden, schriftliche Über¬
mittlung oder Weitergabe durch eine Zwischenperson ist bei der Feinheit dieser
Anordnungen häufig unmöglich. Das gleiche gilt von den Berichten, die der Arzt
von dem Pflegepersonal über das Befinden und Verhalten der Kranken zu emp¬
fangen hat, zu deren Vervollständigung ein mündliches Ausfragen der Pflege¬
person durch den Arzt unerläßlich ist. Tatsächlich hören in den Anstalten, in
denen der Dreischichtenwechsel des Personals bereits eingeführt ist, die Klagen
über auf Mißverständnissen beruhende falsche Maßnahmen des Pflegepersonals
und über auf Grund irrtümlicher Berichterstattungen getroffene, unrichtige
ärztliche Verordnungen nicht auf.“
Außer diesen besonders gewichtigen Bedenken spricht gegen den Acht¬
stundentag noch, daß der Dienst in den meisten Abteilungen, wie Kolb an¬
führt*, „meist nur Anwesenheit, nur zeitweise Arbeit fordert,“ daß, wie ein
deutscher Kliniker sagt, im Anstaltsbetrieb „nicht wie in einer Fabrik stunden¬
lang durchgearbeitet wird, sondern Zeiten angestrengter Arbeit mit solchen
relativer Ruhe für das Pflegepersonal ab wechseln.“
Aus diesen Gründen wird sich der Anstaltspsychiater gegen die Ein¬
führung des Achtstundentages beim Pflegepersonal aussprechen müssen. Anderer¬
seits wird er aber auch für möglichst weitgehende Verbesserungen der Lage und
der Lebenshaltung des Pflegepersonales einzutreten haben, für Verbesserungen,
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die u. a. auch geeignet sind, das Pflegepersonal für den Nachteil, der ihm aus der
Ablehnung des Achtstundentages namentlich gegenüber dem administrativen
Hilfspersonale erwächst, zu entschädigen.
In dieser Hinsicht ist, was die niederösterreichische Landesheil- und Pflege¬
anstalten betrifft, schon sehr viel geschehen.
Zunächst fand, wie bereits erwähnt, eine ausgiebige Besoldungsreform
statt. Während man sich während des Krieges mit Teuerungszulagen für das
Pflegepersonal beholfen hatte, die namentlich gegen Ende 1918 der enormen
Zunahme der Teuerung entsprechend wesentlich erhöht werden mußten, wurde
mit der Wirksamkeit vom 1. Mai 1919 die Besoldung im ganzen auf eine neue
Basis gestellt. Während der Anfangslohn des Pflegers und der Pflegerin vor
dem Kriege und zu Beginn des Krieges noch 676 K, d. i. zwölfmal 48 K, betrug,
beträgt der Grundgehalt jeder Pflegeperson jetzt 2000 K. Er steigt jährlich um
70 K. Dazu erhält der Pfleger für die Gattin und für jedes Kind 750 K als soge¬
nannte Familienzulage und außerdem für jedes Kind, welches das zehnte Jahr
erreicht hat, 348 K jährlich als Erziehungsbeitrag. An Quartiergeld bezieht
er, während er früher nur einen Wohnungsgeldzuschuß von 180 K erhielt, vom
ersten bis zehnten Dienstjahre 1000 K, vom elften bis zwanzigsten Dienstjahre
1200 K, vom 21. bis 36. Dienstjahre 1600 K. Ist er dem Pflegepersonale eines
Pavillons als Oberpfleger vorgesetzt, erhält er außerdem eine jährliche Zulage
von 840 K, sein Stellvertreter die Hälfte. Eine entsprechende Erhöhung der
Barbezüge ist auch den Pflege Vorstehern, den früheren Oberpflegem, zuteil
geworden.
Was sich aus den genannten Ansätzen für Differenzen zwischen den früheren
und den jetzigen Barbezügen des Pflegepersonales ergeben, mögen folgende
Beispiele zeigen:
Ein Pflegevorsteher im 20. Dienstjahre:
früher:
jetzt:
Einkommen allein.
. 3096 K . . .
. . . 11.148 K
Mit Gattin (15 Dienstjahre)
. 4032 .
. . . 14.128 „
Ein Pflege vorsteh er
mit 25 Dienstjahren:
früher:
jetzt:
Einkommen allein.
.3216 K . . .
. . . 12.348 K
Mit Gattin (15 Dienstjahre)
. 4152 „ ...
. . . 15.328 „
Ein Pfleger im 11. Dienstjahre:
früher:
jetzt:
Einkommen allein.
. 1392 K . . .
. . . 7.458 K
Mit Gattin (6 Dienstjahren)
. 2088 „ ...
. . . 9.738 „
Ein Oberpfleger im
11. Dienstjahre:
früher:
jetzt:
Einkommen allein.
. 1972 K . . .
. . . 8.638 K
Mit Gattin (5 Dienstjahre)
. 2668 „ ...
. . . 10.818 „
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Ein Pfleger im 21. Dienstjahre:
früher: jetzt:
Einkommen allein.1512 K 8.458 K
Mit Gattin (16 Dienstjahre) . 2448 „ ...... 11.438 „
Ein Oberpfleger im 21. Dienstjahre:
Einkommen allein. 2092 K 9.538 K
Mit Gattin (15 Dienstjahre. 3028 „ 12.618 „
(Bei allen diesen Beispielen wurde ein Familienstand: verheiratet mit
zwei Kindern, davon eines mit über zehn Jahren, angenommen.)
Eine weitere wesentliche Besserung betrifft das Dienstverhältnis.
Während früher nur die Oberpfleger, jetzt Pflegevorsteher, und auch diese erst
nach dreijähriger Probe Verwendung in den bleibenden Landesdienst übernommen
wurden, während alle übrigen Pflegepersonen Anstaltsbedienstete mit gegenseitiger
achttägiger Kündigung waren und blieben, erlangen jetzt alle Pflegepersonen
nach zehnjähriger zufriedenstellender Dienstzeit das Definitivum. Kolb
deutet an, daß er die „Verleihung der Beamteneigenschaft“, wie er sich ausdrückt,
schon nach fünf Jahren für zweckmäßig hält. Dagegen möchte ich aber für die
gegenwärtige Zeit zu bedenken geben, daß infolge des Krieges viele Pfleger eine
große Reihe von Dienstjahren gesammelt haben, von denen sie den weitaus
geringeren Teil im Anstaltsdienste verbracht haben. Ein Pfleger, der z. B. zu
Beginn des Krieges eingerückt ist und jetzt aus der Gefangenschaft zurück¬
gekehrt ist, hat seinen Vorkriegsdienstjahren fünf und zweieinhalb, also sieben¬
einhalb Dienstjahre hinzugefügt, so daß er, wenn seine eigentliche Pfleger¬
dienstzeit vor dem Kriege auch nur zweieinhalb Jahre betragen hätte, selbst die
schon bei uns normierten zehn Jahre erreicht hätte. Nur die tatsächlich im
Pflegedienste zugebrachten Jahre für.das Definitivum in Anrechnung zu bringen,
wäre aber meines Erachtens eine grobe Ungerechtigkeit gegen diejenigen, die
militärischen Dienst zu leisten hatten.
Weiters brachte ein neues Normale eine beträchtliche Verlängerung
der Urlaube und eine bedeutende Vermehrung der freien Zeit. Jeden fünften
Tag hat jede Pflegeperson von acht Uhr abends bis sechs Uhr früh des zweit¬
nächsten Tages frei; außerdem steht es ihr frei, wenn sie nicht im Nachtdienst
steht oder „Bereitschaft“ hat, nach Übergabe des Dienstes an die Nachtdienst¬
pfleger die Abteilung zu verlassen, mit der Verpflichtung, um sechs Uhr früh
des nächsten Tages zum Dienstantritte anwesend zu sein.
Daß diese Veränderungen nicht möglich gewesen wären ohne eine namhafte
Vermehrung des Pflegepersonales, liegt auf der Hand. Sie betrug in den Anstalten
„Am Steinhof“ nicht ganz 10%. Damit ist in diesen Anstalten die Pflegerquote
ungefähr in dem Maße erhöht, wie es Kolb für die Durchführung der von ihm
vorgeschlagenen Verbesserungen als notwendig ansieht, nämlich beiläufig auf
1 : 6 Kranke.
Mit den genannten Verbesserungen sind aber die zur Hebung der Lage
des Pflegepersonales geplanten Maßnahmen noch nicht erschöpft. Der nieder-
österreichische Landesrat trachtet auch, die Wohnungsfrage für die Pfleger in
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durchgreifender Weise zu lösen; gegenwärtig steht dieser Lösung freilich die
exorbitante Höhe der Baukosten im Wege. Weiters werden Vorkehrungen
getroffen werden, die den Pflegern die Sorge um ihre Kinder erleichtern und zum
Teile abnehmen sollen usw.
Jedenfalls ist aber schon jetzt recht viel in dem von Kolb angedeuteten
Sinne geschehen und damit im großen und ganzen auch die Zufriedenstellung
des Pflegepersonales erreicht worden.
Zu Punkt VII beantrage ich somit folgende Stellungnahme:
1. Gegen die Einführung des Achtstundentages beim Pflegepersonal
sprechen so gewichtige ärztliche Bedenken, daß von psychiatrischer Seite davon
abgeraten werden muß.
2. Die dauernde Verzichtleistung des Pflegepersonales auf die Forderung
des Achtstundentages ist aber nur dann zu erwarten, wenn für eine durchgreifende
Verbesserung seiner Stellung und Lebensführung gesorgt wird.
VIII.
Endlich könnte, wie Kolb meint, „Aufklärung des Publikums durch
unentgeltliche, öffentliche Vorträge“ gefordert werden.
Kolb tritt für die Erfüllung dieser Forderung ein. Es ist, wie er sagt,
„zugegeben, daß wir unsere Ziele nur dann vollkommen erreichen werden, w f enn
wir verstehen, große Kreise des Volkes zum Verständnis und zur Mitarbeit zu
erziehen“. Das Publikum wäre daher seiner Meinung nach aufzuklären „über die
Ziele der Irrenfürsorge, über die Wege zu diesen Zielen, über die Irrenanstalton
und ähnliche Fragen, durch unentgeltliche Vorträge, die eine Erziehung zur
Mitarbeit anstreben“.
Über den Wert derartiger aufklärender Vorträge sind die Meinungen, wie
ich mich durch eine kleine Umfrage überzeugt habe, geteilt. Einige Kollegen ver¬
sprechen sich recht viel davon und führen als dafür sprechend gern den ziemlich
großen Zulauf an, den solche Vorträge in der Regel finden. Andere wieder, und
darunter sehr gewiegte Praktiker, halten nichts oder doch fast nichts davon.
Kollege Sickinger schreibt mir: „Ich halte diese Frage tatsächlich für eine recht
nebensächliche, das Aufklärungsbedürfnis des Publikums, das an solchen Vor¬
trägen höchstens Sensationen erwarten würde, für ein zu geringes, die Aufgabe
eines derartigen Vortragenden für eine zu undankbare, als daß ich der Inszenierung
solcher Vorträge das Wort reden möchte“. Direktor Schnopfhagen (Niedern¬
hart) erklärt: „Gegen die Aufklärung durch öffentliche Vorträge ist nichts einzu¬
wenden, doch verspreche ich mir davon keine wesentlichen Erfolge“. Und damit
deckt sich im ganzen auch meine eigene Meinung. Der große Zulauf, welchen solche
Vorträge, wie ich nicht bestreiten will, oft haben, beweist noch lange nicht, daß
mit. ihnen tatsächlich etwas erreicht wird. Die Leute, die der Aufklärung am
meisten bedürften — ich meine diejenigen, die ihr Urteil aus trüben Quellen
geschöpft haben — kommen ja doch nicht.
Nach Kolbs Ausführungen handelt es sich um Aufklärung des Publikums
zum Zw r ecke der Erziehung zur Mitarbeit. Diese Mitarbeit wird nun besonders
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notwendig sein, wenn wir tatsächlich an die Organisation der offenen Irren¬
fürsorge gehen werden, wie sie bisher besonders für die Familienpflege not¬
wendig war. Da hat sich nun aber auch gezeigt, daß die Aufklärung afh wirk¬
samsten erzielt wird durch die unermüdliche Kleinarbeit, die der Arzt, der mit
der Aufsicht der Familienpflege betraut ist, im Verkehre mit den Pflegeparteien
und mit denen, die es werden wollen, leistet. Vorträge, die der Arzt dem Kreise
der so für die Irrenfürsorge bereits Interessierten hält, sind dann allerdings, wie
die Erfahrung lehrt, von großem unterstützenden Werte. Und ähnlich wird sich
die Sache auch für die organisierte offene Irrenfürsorge größeren Stiles entwickeln.
An jeder Fürsorgestelle wird sich ein Kreis von Personen bilden, die ein wirkliches,
ernstes Interesse an der Sache haben; in diesem Kreise belehrend zu wirken, und
zwar nicht bloß in oberflächlicher, sondern in einer eingehenden und nachhaltigen
Weise, wird eine dankbare Aufgabe der Fürsorgeärzte sein. Vorträge, wie sie
Kolb will, werden dabei gewiß mit eine Rolle spielen können.
Jedenfalls sind aber öffentliche Vorträge nicht das einzige und nicht einmal
das wichtigste und beste Mittel der Aufklärung des Publikums, so daß eigentlich
nicht recht cinzusehen ist, warum Kolb gerade nur von ihnen spricht. Recht
dienlich sind diesem Zwecke u. a. auch Besichtigungen der Fürsorgeein¬
richtungen, namentlich der Irrenanstalten; möglichst großes Entgegenkommen
in dieser Hinsicht, Vorkehrungen zur Erleichterung der Besichtigungen, sowie
Vorsorge für richtige Belehrung des Publikums gelegentlich solcher sind daher
dringend zu empfehlen. Nicht zu vergessen ist auch die Presse. Viel, wenn
auch kaum so viel als sie schaden kann, kann die Presse auch nützen, durch
richtige Belehrung von sachverständiger Seite. Gemeint sind damit nicht so sehr
regelmäßige Berichtigungen unrichtiger Darstellungen, wie sie schon vor längerer
Zeit vorgeschlagen worden sind, als vielmehr ausführliche gemeinverständliche
Artikel beziehungsweise Artikelserien, die aber nicht etwa nur im Leibblatte des Au¬
tors, sondern vor allem in denam meisten gelesenen Tagblättern zu erscheinen hätten.
Für Punkt VIII schlage ich folgende Äußerung vor:
Die Aufklärung des Publikums ist auf jedem gangbaren Wege anzustreben.
Unentgeltliche, öffentliche Vorträge können unter Umständen diesem Zwecke
dienlich sein.
Wissenschaftliche Sitzung vom 28. Oktober 1919.
Vorsitzender: Berze.
Schriftführer: Pollak.
Zu Mitgliedern gewählt:
Dr. Otto Neumann,
Dr. Adalbert Fuchs.
I. Demonstrationen:
1. Pötzl-Herschmann demonstrieren einen Fall von polyglotter Aphasie
(erscheint ausführlich an anderer Stelle.)
2. Schilder-Gerstmann, demonstrieren einen 30 jährigen Mann mit einer
chronisch-progredienten Erkrankung des Zentralnervensystems. Fortschreitende
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Sitzungsberichte.
Demenz. Eigenartiges Symptomenbild, bestehend: 1. in hochgradigen diffusen
Muskelspannungen, mit besonderer Lokalisation im Bereiche der unteren Extre¬
mitäten. Die Spannungen betreffen die Agonisten wie die Antagonisten gleich¬
mäßig, wechseln etwas in der Intensität, steigern sich zwar einigermaßen bei brüsken
Bewegungen, nehmen aber nie einen federnden Charakter an. Es bestehen im de¬
monstrierten Falle wohl Pyramidensymptome wie (speziell links ausgeprägtes) posi¬
tives Babinskisches Symptom, mäßiger Patellar- und Fußklonus, die Spannungen
präsentieren sich jedoch in ihrem ganzen Verhalten nicht als Pyramidenspasmen.
Wenn auch nicht zu leugnen ist, daß sie zu einem Teil reflektorischer Natur sind,
so sind sie doch zum wesentlicheren Teil extrapyramidaler Art. Bauchdecken-
und Cremasterenreflexe sind lebhaft. Der linke Fuß ist nach Art eines soge¬
nannten „Friedreichschen Fußes“ deformiert.
2. In eigentümlichen, bei Zielbewegungen an den oberen Extremitäten
vor dem Erreichen des Zieles beziehungsweise am Ende der Intention auf tretenden,
hauptsächlich in den proximalen Gelenken angreifenden, regellosen, wild aus¬
fahrenden Zuck- und Rückbewegungen, mit einem Hin- und Herpendeln der
Extremität nach verschiedenen Richtungen, wobei die Hand zeitweise förmlich
im Kreise sich bewegt (teleokinetische Störungen). Bewegungsstörungen von
ähnlichem Typus, nur in viel größerer Ausprägung, zeigten sich beim Aufrichten,
Stehen und Gehen auch am Rumpfe, was zu einer schweren Beeinträchtigung
der Körperbalance führte, wobei ein Fehlen von Impulsen zwecks Ausgleichung
der Balancestörungen auffiel. 3. In primären Störungen des Körpergleichgewichtes,
mit deutlicher Falltendenz in der Richtung nach hinten, mit gleichzeitigem Aus¬
fall vestibulärer Reaktionen (so Fehlen der typischen Zeigereaktion bei Kalt¬
ausspülung des rechten Ohres, keine typische Fallrichtung bei Ausspülung links),
Unbeeinflußbarkeit der Fallrichtung durch Änderung der Kopfhaltung. Keine
nachweisliche Störung der Leberfunktion, kein Comealring.
Was die Deutung des Falles betrifft, so ist eine multiple Sklerose und eine
Lues cerebri (negative vier Reaktionen) ebenso auszuschließen, wie unbegründet
es wäre, den Fall in die Gruppe der Heredoataxie einzuordnen. Das ganze Sym¬
ptomenbild weist in pathologisch-anatomischer Hinsicht, nebst der sicheren Pyra¬
midenbahnläsion, auf eine chronische Affektion im Bereiche des Systems Klein-
hirn-Nucleus ruber-Linsenkem hin, wobei Veränderungen im Kleinhirn vor¬
nehmlich in Betracht kommen. Viele Ähnlichkeiten finden sich im Krankheits¬
bilde zur Atrophia olivo-ponto-cerebellaris wie auch zur Pseudosklerose und in
gewissen Punkten zur Paralysis agitans, ohne daß es jedoch irgendeiner dieser
Erkrankungen angegliedert werden könnte. Die Bedeutung des Falles liegt
darin, daß er geeignet ist, zu zeigen, welch Formenreichtum jenen chronisch-
progredienten Erkrankungen mit motorischer Symptomatologie anhaftet, die auf
pathologischen Veränderungen im Gebiete des Systems Cerebellum-Nucleus
ruber-Linsenkem beruhen. Bei aufmerksamer Beachtung müßten noch mannig¬
fache Erscheinungsformen derselben zur Beobachtung gelangen. (Eine ausführ¬
liche Veröffentlichung des Falles erfolgt an anderer Stelle.)
3. E. Redlich: Demonstration mikroskopischer Präparate.
Die Präparate entstammen einem 22 jährigen Manne, der im April 1919
Sitzungsberichte.
233
in die Nervenheilanstalt Maria Theresien-Schlößl aufgenommen wurde. Sep¬
tember 1918 Haemoptoe. Seit Anfang Jänner 1919 eine allmählich zunehmende
Parese der linken Hand, Schmerzen im linken Bein, Ende Jänner Pneumonie
und Pleuritis links. Später auch Schmerzen im rechten Bein, Atrophie der linken
oberen und unteren Extremität. Seit April Schwäche des linken Beines, wieder¬
holt Jackson-Zuckungen der linken oberen Extremität ohne Bewußtseinsverlust.
Zunahme der Schmerzen in beiden Beinen.
Der Status präsens (Mitte April) ergibt bei dem schwächlichen,, sehr ab¬
gemagerten Patienten an positiven Befunden: Chvostek-Phänomen, Zunge
weicht nach links ab. Parese der linken oberen und unteren Extremität mit
Atrophie. Steigerung der Sehnenreflexe der linken oberen Extremität und Ba-
binski links, der linke P. S. R.> rechts, A. S. R. rechts positiv, links 0. Sensibilität
erhalten. Über beiden Spitzen Rasselgeräusche, Zeichen rechtsseitiger Pleuritis.
Die Lumbalpunktion ergibt klaren Liquor, Druck 270, Queckenstedt negativ,
keine ZeU-, keine Eiweißvermehrung.
Im weiteren Verlauf gelegentlich Zuckungen in der linken Hand, Harn¬
verhaltung, leichte Temperatursteigerungen, Hypästhesie entsprechend den
unteren Sakralsegmenten, leichte Sensibilitätsstörung der linken Hand, Fehlen
beider A. S. R., Schmerzen über dem Kreuzbein. Bei einer im Juni vorgenom¬
menen neuerlichen Lumbalpunktion Queckenstedt, positiv, Eiweißvermehrung,
Nonne-Apelt +, keine Zellvermehrung. Zunahme der linksseitigen Lähmungs¬
erscheinungen. Mitte Juli 1919 starb Patient.
Unsere Diagnose lautete auf Lungentuberkulose mit Pleuritis tuberculosa,
Tuberkel in der rechten Hemisphäre und Karies des Kreuzbeines mit Affektion
der Cauda equina.
Die Obduktion brachte uns eine große Überraschung, indem sie als Aus¬
gangspunkt des ganzen Prozesses ein großes Hypernephrom der linken Niere
aufwies mit Metastasen in die Lunge, Pleura und die Leber und einen großen
Tumor im rechten Scheitellappen, der scharf abgegrenzt, im Innern zystisch ver¬
ändert war, außerdem, soweit makroskopisch zu beurteilen, Metastasen ins
Kreuzbein.
Es stimmte also die Lokalisation der angenommenen Affektion des Zentral¬
nervensystems (Gehirn und Cauda equina), nicht aber die Natur des Prozesses.
Die vorausgegangene Haemoptoe, die Pleuritis, das Fieber, der schlechte Er¬
nährungszustand des Pat. hatten uns die Annahme einer tuberkulösen Grundlage
des ganzen Prozesses, wie begreiflich, nahegelegt; den primären Tumor, der im
Anfang der Beobachtung selbstverständlich noch nicht die spätere Größe erreicht
hatte, hatten wir übersehen, wieder ein Hinweis dafür, daß bei Geschwülsten des
Zentralnervensystems stets mit der allergrößten Sorgfalt nach dem primären
Ausgangspunkt des Prozesses zu suchen ist.
Ich möchte nur kurz einige mikroskopische Präparate des Falles demon¬
strieren. Zunächst aus dem Gehirn. Auch mikroskopisch ist im allgemeinen der
Tumor scharf abgegrenzt, an einzelnen Stellen aber sieht man, daß die Ausbreitung
des Tumors in Form kleinster Nester beginnt, die in den Lymphspalten des
Gehirns liegen, zum Teil in der Nähe von Gefäßen, aber für gewöhnlich nicht peri-
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Sitzungsberichte.
vaskulär, sondern etwas abseits in den Lymphspalten. Der Tumor setzt sich
aus großen, dicht gedrängten, zylindrischen, manchmal geschwänzten oder
becherförmigen Zellen zusammen, die einen großen, hellen Kern enthalten. An
den Gefäßen ordnen sich diese Zellen palisadenförmig an, von der Gefäßwand
durch einen schmalen Zwischenraum getrennt. Stellenweise finden sich kleine
Lymphozytenanhäufungen.
Von Interesse sind die Befunde im Rückenmark. An Marchi-Präparaten
zeigt sich, daß (entsprechend der Affektion des Kreuzbeins) einzelne Sakral¬
wurzeln degeneriert sind. Im Hinterstrang des oberen Sakralmarks ist die Wurzel¬
zone von schwarzen Schollen erfüllt, während das dorso-mediale Bündel frei ist.
Sehr schön sind die degenerierten Kollateralen der hinteren Wurzelfasem bis in
das Vorderhorn zu verfolgen. Im untersten Brustmark, wo die degenerierte Zone
schon in die Mittelpartie des Hinterstrangs gerückt ist, sieht man auf der einen
Seite ein dünnes Bündelchen degenerierter Fasern in die Clarkesche Säule ein-
strahlen und sich hier an den Zellen der Clarkeschen Säule aufsplittem. Obwohl
schon die Befunde bei Tabes mit Sicherheit darauf hinweisen, daß das feine
Nervenfasernetz der Clarkeschen Zellen aus den hinteren Wurzeln der Sakral¬
wurzeln und des unteren Lendenmarks seinen Ursprung nimmt, respektive
Kollateralen derselben entspricht, so ist dieser Zusammenhang nicht leicht so
direkt nachzuweisen wie in dem demonstrierten Präparat. Dieser Umstand ist
nicht ohne Bedeutung für die Beurteilung der Funktion der Clarkeschen Säule,
respektive der Bedeutung des Ausfalles ihrer Nervenfasern für die Symptomato¬
logie der Tabes. Wie ich schon an anderer Stelle ausgeführt habe, treten die
Clarkeschen Säulen, die in das spino-cerebellare System eingeschaltet sind, beim
Stehen und Gehen in Funktion. Die Unterbrechung ihres Systems bei der Tabes
ist vor allem für die statisch-lokomotorische Ataxie von Bedeutung (Rom-
bergsches Phänomen); das zeigt sich auch darin, daß sie gerade mit den oberen
Sakral- und den unteren Lendenwurzeln (zentripetale Impulse von den distalen
Abschnitten, der unteren Extremitäten!) in Verbindung stehen.
II. Referat: Reg.-Rat Berze: Die Reform der Irrenfürsorge. (Siehe Sitzung
vom 11. November 1919.)
Diskussion: Stransky: Es wäre zweckmäßig, wenn der Mißbrauch,
der mit Privatgutachten in strafgerichtlich untersuchten Fällen möglich ist,
durch eine Resolution als solcher gekennzeichnet würde; Stransky weist auf
seine bekannte Stellungnahme in Sache des ärztlichen Zeugnisses hin; gerade
darum glaubt er betonen zu müssen, daß man gegen mögliche Mißbräuche auf
diesem Gebiete Vorkehrungen treffen müßte.
Marburg wendet sich entschieden gegen den Antrag Stranskys.
In einem freien Staate müsse jeder Rechtsschutz finden wo er ihn irgend haben
kann. Das Privatgutachten sei ja für den Gerichtsarzt belanglos, er ist dadurch
nach keiner Richtung gebunden, während es dem Rechtsvertreter des Angeklagten
wertvolle Information leisten kann. Auch sind in der Provinz die amtlichen
Gerichtsärzte nicht immer qualifizierte Psychiater und ts wurde durch Privat¬
gutachten schon oft eine irrige Auffassung richtig gestellt oder ein Fakultäts-
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Sitzungsberichte.
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gutachten veranlaßt, das eine gegensätzliche Meinung als das Gerichtsgutachten
aussprach.
Stransky bemerkt gegenüber Marburg ausdrücklich, daß er nur von
Privatgutachten, und zwar in strafgerichtlichen Fällen gesprochen habe; gegen
die allgemeine Information eines Anwalts hat er sich nie gewendet, auch niemals
gegen zivilgerichtliche Privatbegutachtung; in Straffällen aber ist ohne Akten¬
kenntnis ein wissenschaftlich einwandfreies Gutachten kaum je möglich.
Pötzl äußert gleichfalls seine Bedenken gegen die Anregung Stranskys:
sie würde den Facharzt, der nicht Gerichtspsychiater ist, seines Rechtes berauben,
zu einem Fall Stellung zu nehmen; sie würde das Individuum an seinem Recht
verhindern, sich von dem Facharzt überprüfen zu lassen, dem es vertraut. Wenn
ein Arzt Kunstfehler begeht, so hat er sie zu verantworten; Präventivkriege gegen
Kunstfehler aber waren weder modern noch fortschrittlich; sie würden die
forensische Psychiatrie einer Kaste überantworten. Es genügt vollkommen,
daß das Gericht an keines der Gutachten gebunden ist, am allerwenigsten an ein
Privatgutachten. Von den Gerichtspsychiatem allerdings könnte man fordern,
daß sie keine Privatgutachten machen, ähnlich wie man etwa von Spitalsärzten
verlangen kann, daß sie keine Privatpraxis ausüben.
Gemeint ist mit dem Bedenken Kolbs wohl etwas anderes: die Nuancierung
in der Beurteilung von Grenzfällen je nach Stand und Persönlichkeit des zu Begut¬
achtenden. Ob diese Bedenken den Tatsachen entsprechen oder nicht, sie bestehen
in der öffentlichen Meinung; das Volk hat die Besorgnis, daß etwa der Millionär
oder Graf X bei demselben Schwachsinnsgrad exkulpiert werden könnte, bei dem
der Eisendreher Y verurteilt wird. Es ist zweckmäßig, dem Volk hier die Möglich¬
keit einer vollwertigen Kontrolle zu geben, die allerdings Wissen und Gewissen
der Fachärzte niemals tyrannisieren darf. Geeignet dazu, die richtige Art der
Kontrolle zu schaffen, wäre die entsprechende Ausgestaltung eines Vorschlags,
den Berze schon vor einer Reihe von Jahren veröffentlicht hat: des kontra¬
diktorischen Verfahrens.
Diskussion: Herschmann wendet sich gleichfalls gegen das Verlangen
Stranskys, die Abgabe privatärztlicher psychiatrischer Gutachten im Straf¬
verfahren zu untersagen.
Die Entscheidung darüber, ob der Geisteszustand des Angeklagten unter¬
sucht werden soll oder nicht, liegt ausschließlich bei Nichtmedizinern und der
Widerstand gegen eine Untersuchung des Geisteszustandes des Angeklagten
ist bei einem großen Teil der Richter immer vorhanden. Unter diesen Umständen
hieße es die Rechte der Verteidigung ungebührlich einschränken, wenn man die
Möglichkeit der Herbeiholung privater und psychiatrischer Atteste gesetzlich
verbieten wollte. Vortragender erwähnt Fälle aus seiner eigenen Praxis, in welchen
Untersuchungsrichter und Staatsanwalt alle Anträge der Verteidigung und der
Angehörigen des Beschuldigten auf Untersuchung des Geisteszustandes so lange
ablehnten, bis das privatärztliche Gutachten vorlag, welches das anamnestische
Material und die entsprechende psychiatrische Beleuchtung des Falles enthielt.
Die hierauf eingeleitete psychiatrische Expertise durch die offiziellen Gerichts¬
psychiater führte dann zur Einstellung des Verfahrens. Es liegt eben auf der Hand,
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Sitzungsberichte.
daß der Verteidiger den Richter häufig nur dann von der Notwendigkeit einer
psychiatrischen Untersuchung des Angeklagten zu überzeugen imstande sein
wird, wenn ihm die Begründung für diesen Antrag vom Arzte geliefert wird.
Das Verlangen Stranskys würde auch zu einer ganz einseitigen Praxis¬
beschränkung bei den Psychiatern führen, da die übrigen Spezialistengruppen
kaum diesem Beispiel folgen dürften. Vortragender glaubt, daß Verbote wie das
vorgeschlagene das Mißtrauen der Bevölkerung gegen die Psychiater nur noch
vermehren würden.
Zum Schlüsse bittet Vortragender noch, in die Resolution einen Passus
aufzunehmen, der sich für eine bessere psychiatrische Vorbildung der Richter
ausspricht. Nur so kann verhütet werden, daß die psychiatrische Untersuchung
eines Angeklagten unterlassen wird, der dieser Überprüfung bedarf.
Marburg möchte nur betonen, daß das Recht JMvatgutachten vor¬
zulegen nicht nur von der besitzenden Klasse in Anspruch genommen wird. Er
hat wiederholt Advokaten auch für Patienten informiert, die Armenrecht hatten
— letzteres sogar häufiger als ersteres. Nochmals sei hervorgehoben, daß das
Privatgutachten den Gerichtsarzt nicht binde. Wenn ihm die Kenntnis der Akten
fehle, so sei dies wohl oft, aber nicht immer der Fall, da ja auch Informationen
seitens der Rechtsvertreter eingeholt werden können, die Einblick in die Akten
haben. Aber selbst ein subjektives Gutachten, d. h. eines, das nur die Krankheit,
nicht den Straffall berücksichtige, verschlage nichts, da auch ein solches gelegent¬
liche Aufklärungen bringen kann.
Pötzl beantragt zu V. 1 der Berzeschen Schlußsätze, den Punkt 1) un¬
verändert beizubehalten, bis „nicht vorgebracht werden“. An die Stelle des
Weiteren hätte zu treten: „Die Frage der Verwendung... ist nicht Gegenstand
einer ärztlichen Begutachtung.“
Schüller (Bericht nicht eingelangt.)
Berze empfiehlt die Annahme der vorgeschlagenen Punkte.
Stransky zieht seinen Antrag, da er Mißverständnisse aufkeimen sieht,
zurück.
Sitzung vom 11. November 1919.
Vorsitzender: Wagner-Jauregg.
Schriftführer: Pollak.
Zu Mitgliedern gewählt: Bernhard Dattner, Hans Müller.
Demonstration: Kogerer demonstriert eine 53jährige Pat. aus der
psychiatrischen Klinik, die in einer klimakterischen depressiven Psychose mit
Versündigungs- und Verfolgungswahn einen Selbstmordversuch durch Erhängen
unternahm und nachher eine auf etwa 30 Jahre zurückreichende Amnesie und
schwere Störung der Merkfähigkeit zeigte, die heute dreieinhalb Monate nach
dem Trauma ziemlich unverändert fortbestehen. Bemerkenswert sind an dem
Falle die große Ausdehnung des Defektes, die verhältnismäßig gute Einsicht für
diesen, das Fehlen der Konfabulationen und der in der letzten Zeit aufgetretene Er¬
klärungswahn. Im Gegensätze zu der vor der Suspension bestandenen Depression
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Sitzungsberichte.
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ist jetzt die Affektklage dauernd hypomanisch. (Ausführliche Mitteilung folgt
später.)
Diskussion: Gerstmann teilt mit, daß er eine ganz analoge Erkrankung,
wie sie Kogerer soeben demonstrierte, vor mehr als zwei Jahren längere Zeit
hindurch in einem Falle von Asphyxie nach Lawinenverschüttung zu beobachten
Gelegenheit hatte. Es lag in demselben ein ganz hochgradiger, destruktiver, tief¬
greifender retrograder Gedächtnisausfall vor, der sich über den bisherigen Er¬
fahrungsschatz und Erinnerungsinhalt des 24 jährigen Kranken in einer bis in
die frühen Volksschuljahre reichenden Ausdehnung erstreckte, anfangs nicht
nur die komplexen, sondern auch elementarere Erinnerungen umfaßte und ferner
mit schwersten Störungen der Merkfähigkeit beziehungsweise des anterograden
Gedächtnisses verknüpft war. Auch in diesem Falle fehlten Erinnerungsfäl¬
schungen und Konfabulationen und waren bis auf den hochgradigen Gedächtnis¬
defekt die sonstigen psychischen Funktionen primär so ziemlich ungestört, wenn
auch freilich die Merkfähigkeitsstörung und die retrograde Amnesie schwersten
Grades nicht ohne Einfluß blieben auf den gesamten geistigen Zustand des
Kranken und er dementsprechend Zeichen amnestischer Desorientiertheit, ein
fehlendes Situationsverständnis, ein ratloses Gehaben u. dgl. zeigte. Der Gedächt¬
nisdefekt war kein absoluter, denn es tauchten an manchen Tagen fragmentäre
Erinnerungen freilich ohne jeden zeitlichen Zusammenhang vorübergehend auf,
die an anderen Tagen ausgelöscht schienen. — Nach mehrwöchentlichem, im
wesentlichen unveränderten Bestände gingen die schweren Gedächtnisstörungen
— die Merkfähigkeitsschädigung sowohl wie die ausgedehnte retrograde Am¬
nesie — langsam und ganz allmählich zurück. Es blieb aber als Residualdefekt
ein vollständiger Erinnerungsausfall für das Ereignis der Verschüttung samt
den denselben unmittelbar vorausgegangenen Erlebnissen wie auch für den auf
die Verschüttung folgenden ereignisreichen Zeitraum von zirka acht Monaten
des Spitalsaufenthaltes, während welcher Zeit die schweren Störungen der Merk¬
fähigkeit vorhanden waren, dauernd bestehen. — Das von unserem Kranken
dargebotene Krankheitsbild der retro-anterograden Amnesie war in somatischer
Hinsicht noch mit einer Polyneuritis schweren Grades und mit einigen auf eine
Affektion im Bereiche der Kerne im Mittelhirn usw. im Pons hindeutenden Er¬
scheinungen vergesellschaftet. Die betreffenden Erscheinungen gingen dann im
Laufe der Monate zurück. — Bemerkenswert ist noch in unserem Falle, daß er
ungefähr sieben Jahre zuvor eine analoge Erkrankung nach einem in patho¬
genetischer Beziehung im wesentlichen gleichwertigen Unfall durchmachte,
und zwar nach einer Asphyxie durch Ertrinken. Auch diese Erkrankung hinter¬
ließ, nachdem sie sich bis zu einer gewissen Grenze zurückgebildet, eine auf einen
bestimmten Zeitraum sich erstreckende retro-anterograde Amnesie als Residual¬
defekt. Wahrscheinlich hat die durch die erstmalige Erkrankung geschaffene
Disposition eine entsprechende Grundlage für die Schwere du* jetzt durch¬
gemachten Erkrankung abgegeben.
Redlich (Bericht nicht eingelangt).
Pötzl: Die Kranke verhielt sich nicht nur erinnerungslos für die bezeich-
neten Daten ihres früheren Lebens, sondern sogar so, als ob sie der Kenntnisnahme
Jahrbücher für Psychiatrie. XLT. Bd. 9. n. 3. Heft. lg
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Sitzungsberichte.
dieser Daten Widerstand entgegensetzen würde, so z. B. benimmt sie sich bei
der jetzigen Vorstellung wie eine Hysterische, wenn sie in der Analyse Wider¬
stand hat. Dieses Verhalten findet sich nach Erfahrung des Diskutierenden
nicht so selten bei Strangulationspsychosen: die Erinnerungen kehren auch in der
Reihenfolge zurück, wie wenn sie eine Zensur im Sinne Freuds zu passieren
hätten.
Vielleicht lag in dieser sonderbaren Art dieser Kranken eines der Momente,
die seinerzeit Möbius den Eindruck gaben, es handle sich bei der Wagnerschen
Strangulationspsychose um einen hysterischen Zustand.
Heute wo wir sicher wissen, daß diese Meinung eine irrtümliche war, ist es
im Gegenteil von Interesse, diese Mechanismen, auf die Freud als erster hin¬
gewiesen hat, auch bei organischen Erkrankungen in einer gewissen Weise wieder¬
zufinden. Auch bei den Paraphasien der Aphasiker spielen ähnliche Momente mit.
Economo: Betreffs der Aetiologie derartiger retrograder Amnesien, die
ganze Lebensabschnitte umfassen, ist es der Beachtung wert, daß sie am häufigsten
nach Asphyxien oder nach Eklampsien oder Kohlenoxydgasvergiftungen u. ä.
Vorkommen. Die einfache durch keine encephalitisehen Prozesse komplizierte
Himerschütterung, die doch die häufigste Ursache der organisch bedingten Am¬
nesien ist, ruft so umfangreiche retrograde Störungen des Gedächtnisses scheinbar
nicht hervor.
Einen Fall retrograder Amnesie, bei dem sich der Ausfall auf den Zeitraum
des ganzen letzten Jahres vor der Erkrankung erstreckte, konnte ich bei einer
Eklampsie kürzlich beobachten. Die Patientin erkannte gar nicht die Personen,
die sie in diesem langen Zeitraum, für den sie überhaupt keine Erinnerung hatte,
kennen gelernt hatte.
Was den Inhalt des Gedächtnisausfalles bei solchen Amnesien anlangt,
muß man doch überlegen, daß das Gedächtnis in mehrere Partialgedächtnisse
zerfällt, z. B. Wortgedächtnis, Namengedächtnis, Zahlengedächtnis, musika¬
lisches Gedächtnis usw. Organisch bedingte Störungen dieser Teile der Gedächtnls-
funktion gehören in das Gebiet der Aphasien und ähnlichen Störungen. Hat
jemand nach einer nicht durch Encephalitis oder schwere Blutung komplizierten
Asphyxie eine retrograde organisch (nicht funktionell) bedingte Amnesie, die sich
z. B. über die letzten 20 Jahre seines Lebens erstreckt und hat er während dieser
Zeit französisch sprechen oder Klavierspielen gelernt oder sonst eine „Tätigkeit“
erworben, so bleibt ihm dieselbe erhalten; der Verlust betrifft in der Haupt¬
sache bloß die Erlebnisse, d. h. die zeitlich-historische Verkettung der Aufein¬
anderfolge des Bewußtseinsinhalts. Die Erlebnisfolge scheint also ebenso ein
Partialgedächtnis für sieh zu bilden wie das Wortgedächtnis oder das musikalische
Gedächtnis und kann ebenso wie dieses separat geschädigt und durch spezielle
Noxen gestört werden. Eine weitere Analogie mit aphasischen u. ä. Störungen
läßt sich auch darin erblicken, daß, wie auch Aphasiker Worte, die sie nicht finden,
doch singend z. B. in einem Lied aussprechen können, auch diese Kranken von
anderen Assoziationskomplexen aus sonst vergessene Dinge als inselförmige
Erinnerungen Vorbringen können. So kann z. B. die von K. vorgestellte Patientin
ihre letzte Wohnung (mit Hilfe ihres Raumgedächtnisses) ziemlich genau be-
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schreiben, wie man von einem Zimmer ins andere kommt, wo die Küche ist usw.
Diese Analogie, die man noch weiter ausführen könnte, legt den Gedanken nahe,
ob nicht das Gedächtnis für Erlebnisse, so unwahrscheinlich es vorerst anmutet,
doch auch eine bestimmte Lokalisation besitzt.
E. Redlich (Bericht nicht eingelangt).
Pilcz erinnert an Ergebnisse elektrischer Untersuchungen, die er publiziert
hat. Gerade bei reinen Bildern von Presbyophrenie lassen sich mehr oder minder
deutliche Erscheinungen peripherer Neuritis (träge Zuckung usw.) nachweisen,
nicht bei den übrigen Formen seniler Demenz, z. B. vom Typus Pick mit lokali¬
sierten Herd- und Ausfallserscheinungen u. dgl.
Wagner-Jauregg bemerkt bezüglich der Ausführungen Redlichs, daß die
Presbyophrenie mitunter mit einer typischen Neuritis einhergeht, die besonders
im Cruralis-Gebiet lokalisiert ist und die objektiv miskrokopisch nachweisbar ist.
Elzholz (Bericht nicht eingelangt).
Kogercr (Schlußwort): Auf die Bemerkung Pilczs habe ich zu erwidern,
daß solche Personenverkennungen, wie ich vorhin anzuführen unterließ, bei der
Patientin in der ersten Zeit öfters vorkamen. Interessant ist, daß in anderen
Fällen der Gatte der Patientin die Verwechslung durch Ähnlichkeit der betreffen¬
den Personen erklären konnte. Die Antwort der Patientin, die Herrn Economo
zu der Meinung führte, daß bei ihr das Ortsgedächtnis verhältnismäßig gut erhalten
sei, war nur eine zufällige. Die Patientin hat mir trotz wiederholter Fragen nie
vorher und nachher eine auch nur annähernd genaue Beschreibung ihrer Woh¬
nung geben können, so daß es sich damals wohl um eine der vorübergehend auf¬
tauchenden Erinnerungsinseln gehandelt haben dürfte.
Referat.Reg.-Rat Berze: Die Reform der Irrenfürsorge (Schluß).
Schlußsätze zum Referat über Kolbs Reform der Irrenfürsorge.
Ad I. (Unentgeltliche ärztliche Behandlung der Geisteskranken im wei¬
testen Sinne des Wortes.)
1. Gegen eine Preisermäßigung der Anstaltsverpflegung für Minderbemittelte,
etwa in der Art des Kolbschen Vorschlages, ist ärztlicherseits nichts einzu¬
wenden; die Feststellung der Notwendigkeit der Anstaltsvcrpflcgung aus Gründen
des Gemeinwohles oder aus dem Grunde des Wohles des Kranken, welche die
Gewährung einer solchen Ermäßigung zur Voraussetzung hätte, wäre dem Urteile
der Anstaltsärzte, beziehungsweise der ärztlichen Anstaltsleitung, zu überlassen.
2. Die Ausdehnung der psychiatrischen Behandlung auf alle geistig anomalen
Personen sowie der Ausbau einer organisierten Fürsorge außerhalb der Anstalten
für die Geisteskranken im weitesten Sinne des Wortes ist ein nicht nur im Interesse
der Kranken, sondern auch in dem der Allgemeinheit anzustrebendes Ziel.
Ad II. (Freiheitlicher Ausbau des Irrenwesens, besonders der Anstalten.)
und IV. (Fachleitung und Fachaufsicht in der Irrenfürsorge).
1. Kolbs Vorschläge bezüglich der Organisation der offenen Irrenpflege
entsprechen im ganzen dem Zwecke; doch erscheint es nicht empfehlenswert,
ein in die Einzelheiten gehendes Programm für diese Organisation mit dem An¬
sprüche auf allgemeine Geltung festzulegen, da dabei in vielen Punkten den
Verschiedenheiten der lokalen Verhältnisse Rechnung zu tragen sein wird.
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Sitzungsberichte.
2. Fachleitung und Fachaufsicht im eigentlichen Sinne sind wie für die
Irrenfürsorge überhaupt, so auch für die offene Irrenpflege dringend zu fordern.
Ad III . (Verbesserungen des Rechtsschutzes der Geisteskranken, besonder?
gegenüber der Anstaltsverwahrung.)
1. Schutzgerichte im Sinne Kolbs wären zweifellos geeignet, zur Bekämp¬
fung des gegen die Irrenanstalten noch bestehenden Mißtrauens boizutragen.
2. Ein eigentliches Bedürfnis nach derartigen Schutzgerichten besteht
aber doch wohl nur für die der Hauptsache nach erst zu organisierende Fürsorge
außerhalb der Anstalten.
3. Kolbs spezielle Vorschläge für die Einrichtung der „Irrenscbnti-
gerichte“ bedürfen, namentlich insoweit sie deren Zusammensetzung, Aufgaben
und Rechte betreffen, wesentlicher Abänderungen.
Ad. V . (Beseitigung der Vorrechte, welche Geburt und Geld bisher gaben.;
1. Ein dringender ärztlicher Grund kann für die Einschränkung der Mög¬
lichkeit, gegen Zahlung eines höheren Verpflegsgeldes die Verpflegung in einer
besseren Klasse zu erreichen, also auch gegen die Beibehaltung gut geführter
Privatanstalten, nicht vorgebracht werden, ebensowenig aber auch gegen die
Verwendung eines Teiles des sich daraus ergebenden finanziellen Nutzens für
Zwecke der allgemeinen öffentlichen Irrenfürsorge.
2. Eine Benachteiligung der unbemittelten gegenüber den bemittelten
Kreisen in dem Sinne, daß ihnen die Möglichkeit, sich bei Konflikten mit dem
Strafgesetzbuch fachärztliche Begutachtung zu sichern, im Gegensätze zu letzteren
nur in unzureichendem Maße geboten wäre, kann nicht konstatiert werden. Eine
entsprechende Organisation der offenen Irrenfürsorge wäre zweifellos geeignet
auch die letzten Bedenken, die in dieser Beziehung noch bestehen mögen, aus der
Welt zu schaffen.
Ad VI. (Zuziehung des Anstaltspersonals in gewissen Fragen, besonder?
zu den die Verhältnisse des Personals betreffenden Fragen.)
1. Der Forderung nach Zuziehung des Anstaltspersonales in gewissen.*
besonders in den die Verhältnisse des Personales berührenden Fragen, ist bei
uns durch die Errichtung von Betriebsräten bereits voll Rechnung getragen-
2. Eine stärkere Beteiligung der Ärzte an verantwortlichen Dienstgeschäften
wäre von Vorteil; doch empfiehlt es sich nicht, das Ärztekollegium mit Rechten
auszustatten, die geradezu eine Einengung der Kompetenzen des leitenden
Arztes zum Zwecke haben.
Ad VII. (Einführung des Achtstundentages.)
1. Gegen die Einführung des Achtstundentages beim Pflegepersonal
sprechen so gewichtige ärztliche Bedenken, daß von psychiatrischer Seite davon
abgeraten werden muß.
2. Die dauernde Verzichtleistung des Pflegepersonales auf die Forderung
des Achtstundentages ist aber nur dann zu erwarten, wenn für eine durchgreifend
Verbesserung seiner Stellung und Lebensführung gesorgt wird.
Ad VIII. (Aufklärung des Publikums durch unentgeltliche, öffentliche
Vorträge.)
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Sitzungsberichte.
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Die Aufklärung des Publikums ist auf jedem gangbaren Wege anzustreben.
Unentgeltliche, öffentliche Vorträge können unter Umständen diesem Zwecke
dienlich sein.
Sitzung vom 9. Dezember 1919.
Vorsitzender: Wagner-Jauregg.
Schriftführer: Pollak.
Der Vorsitzende verliest ein Schreiben der Gesellschaft für Kriminalistik und
Kriminalanthropologie, in welchem die Mitglieder des Vereines zu den Vorträgen
eingeladen werden.
Demonstrationen:
1. Falta:
Fall von Semiirritatio vegetativa.
Die 42 jährige Patientin,die sich seit 2. Jänner 1919 in der III. medizinischen
Abteilung des Kaiserin Elisabethspitals befindet, leidet seit längerer Zeit an einer
primär chronischen Polyarthritis. Daneben bietet sie folgenden Symptomen-
komplex.
1. Die Hauttemperatur an Stamm und Extremitäten ist ziemlich
konstant auf der linken Seite um 0*8 bis 1 Grad C tiefer als rechts (Messung
in der Axilla und Messung mit dem Hautthermometer an verschiedenen Körper¬
stellen). Die Haut fühlt sich kühler an, die Patientin klagt über Kältegefühl
daselbst. Die Temperatur auf der rechten Seite entspricht in entsprechendem
Abstande der Temperatur im Rektum und im Mund. Es besteht also links eine
gesteigerter Tonus der Gefäßkonstriktoren. Hingegen ist die Temperatur der
linken Kopfhälfte meist etwas höher als rechts, die Gefäße des Augenhinter¬
grundes sind links meist weiter. Gesteigerter Tonus der Vasodilatoren.
2. Auf der linken Seite umgekehrter Hornerscher Symptomen-
komplex.
3. Links vermehrte Schweiß-, Speichel- und Tränensekretion.
4. Kopfschmerzen im linken Hinterhaupt.
6. Zeitweise Vagusreizerscheinungen (Bradykardie, Erbrechen).
Zeitweise Anfälle von paroxysmaler Tachykardie (Accelerans-
reizung).
6. Drehschwindel von links nach rechts. Resultat der otiatrischen
Untersuchung (Dr. Fremel): Schädigung des linken Deiterschen Kerns.
Daneben auch Funktionsstörung des rechten Deiterschen Kerns, die aber als
rein funktionell durch die Schädigung des rechten Deiterschen Kerns anzu¬
sehen ist.
7. Erschwerung der Miktion und der Defäkation. (Vermehrter Tonus
der Sphinkteren?)
8. Leichte Ataxie der linken oberen Extremität.
9. PSRr>e, Andeutung von Babinski, vorübergehende Abschwächung
des linken Bauchdeckenreflexes.
Die Symptome lassen sich in zwei Hauptgruppen teilen:
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Sitzungsberichte.
I. Symptome von seiten der sensiblen sensorischen und motorischen
Nerven,
II. Symptome von seiten der sympathischen und par&symp&thischen
Nerven.
Was letztere anbelangt, so handelt es sich um Reizerscheinungen in
fast allen vegetativen Erfolgsorganen der linken Seite., um eine
Semiirritatio vegetativa**), dieses Syndrom ist in dieser Vollständigkeit
in der Literatur bisher nicht beschrieben.
Der ganze Symptomenkomplex läßt sich vielleicht durch einen Herd er¬
klären, der im linken Deiterschen Kern gelegen ist und von da einen Reiz auf
die in der Substantia reticularis verlaufenden vegetativen Bahnen, auf die daselbst
liegenden Kerne der Speichel- und Tränendrüsen und auf den dorsalen Vagus-
kem ausübt und auch die in den Tractus spino-cerebellares verlaufenden Klein¬
hirnbahnen in Mitleidenschaft zieht. Es könnte sich um einen Tuberkel oder um
eine Cyste handeln. Der Fall ist nicht uninteressant in Bezug auf die Frage, wo
die vegetativen Bahnen ihre Kreuzung erfahren. Die bisher in der menschlichen
Pathologie vorliegenden Beobachtungen lassen sich ungefähr in folgender Weise
formulieren:
1. Bei Erkrankungen des Großhirns liegen Lähmung oder Reizerscheinungen
der vegetativen Organe immer auf der kontralateralen Seite.
2. Bei den Fällen von Brown-S6quard, auch wenn sie das unterste
Halsmark betreffen, immer gleichseitig. Die Kreuzung muß daher irgendwo
zwischen Capsula interna und Halsmark erfolgen.
3. In diesem Abschnitt des C N S verhalten sich die vegetativen Nerven,
welche den Kopf versorgen, verschieden von denen, welche Stamm und Extremi¬
täten versorgen.
a) Die Beobachtungen bei Fällen von apoplektiformer Bulbärparalyse
zeigen, daß die Bahnen für das Auge und für die Vasomotoren und Schwei߬
drüsen des Kopfes im Pons und in der Mednlla oblongata schon gekreuzt sind,
da die betreffenden Störungen immer herdhomolateral liegen (Marburg und
Breuer), die Kreuzung liegt also kranialwärts vom Pons, wo, scheint noch nicht
ganz sicher.
b) Die vegetativen Bahnen für Stamm und Extremitäten müssen in den
oberen Partien der Medulla oblongata noch ungekreuzt sein. Dies zeigen die
Fälle von Senator (Hemiplegia vasomotoria cruciata). Auch die Fälle von
Thermasymraetrie d 4 origine bulbaire (Horn er scher Symptomenkomplex auf der
Herdseite, Vasomotorenreizung auf der herdkontralateralen Seite) wären in diesem
Sinne zu deuten, wofern es sicher gestellt werden könnte, daß in solchen Fällen
nur ein Herd vorliegt.
Hingegen müßten in unserem Falle von Semiirritatio vegetativa unilateralis
bulbären Ursprungs, wofern nur ein Herd vorliegt, die vegetativen Bahnen für
10 ) Daß die Reizerscheinungen an den unpaarigen Organen (Herz,
Magen, Blase und Mastdarm) durch einseitige Reizung bedingt sind, kann
allerdings nur vermutet werden.
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Sitzungsberichte.
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Stamm und Extremitäten nach ihrer Kreuzung getroffen sein. Mit diesen
Syndromen muß man jedenfalls rechnen; ihre Erzeugung durch einen Herd ist
nur für das Senatorsche Syndrom erwiesen. Würde es sich auch für die anderen
erweisen lassen, so würden auch sie topisch-diagnostische Bedeutung erlangen.
Diskussion:
Karplus: Mit Recht hält der Vortragende die klinischen Syndrome und
die anatomisch-physiologische Deutung auseinander. Was nun die linksseitige
Sympathikusreizung anlangt, so haben wir gegenüber Vasokonstriktion und
Kältersein auf Rumpf und Extremitäten, wenn ich richtig verstanden habe,
im Gesicht links neben Reizungserscheinungen auf oculopupillären Gebiet Vasodila¬
tation und Wärmersein. Es wäre da immerhin möglich, daß es sich um Lähmungs¬
erscheinungen des linken oder auch um Reizungserscheinungen des rechten
H&lssympathicus handelt.
ln Bezug auf die anatomischen Schemata der Leitungsbahnen' möchte ich
doch die Zurückhaltung empfehlen. Es ist keineswegs sichergestellt, daß beim
Sympathikus im Zentralnervensystem überhaupt lange Leitungsbahnen vorliegen.
Auf die Kreuzungsfrage einzugehen, ist im Rahmen einer Diskussionsbemerkung
nicht möglich.
Pappenheim erwähnt einen Fall von akuter Bulbärparalyse, den er hofft,
in der nächsten Sitzung zeigen zu können, in welchem die vasomotorischen
Störungen nach dem Gesamtbefunde eher auf einen gleichseitigen. Mcdullaherd
zu beziehen sein dürften. — Der im Jahre 1917 plötzlich erkrankte Mann bietet
gegenwärtig folgendes Bild: Linkes Hinterhaupt klopfempfindlich, Nystagmus,
stärker nach links als nach rechts, Gaumensegelparese links, zeitweise mit kloni¬
schen Zuckungen, Lähmung der rechten Kehlkopfhälfte und Sensibilitätsstörung
derselben, leichte atrophische Lähmung der linken Zungenhälfte, Gaumen- und
Rachenreflex links fehlend, Komeal- und Nasenkitzelreflex links stark herab¬
gesetzt, vorwiegend dissoziierte Sensibilitätsstörung im ganzen linken Trigeminus,
in der Mund- und Rachenschleimhaut links, Geschmack auf der ganzen linken
und auf der rechten vorderen Zungenhälfte fehlend, dissoziierte Sensibilitäts¬
störung in der Kopfhalszone, links stärker als rechts, dissoziierte Sensibilitäts¬
störung rechts von D 4 —D M> schwere Störung der Tiefensensibilität links, Astereo-
gnose'und leichte Ataxie links, ausgesprochene vasomotorische Störungen im
Bereiche des linken Armes: Zyanose, Haut kühler, Temperatur in der Achsel¬
höhle um Vt Grad niedriger als rechts.
Economo: (Bericht nicht eingelangt.)
Pötzl fragt, warum der Vestibularisbefund der’einen Seite als ein funk¬
tioneller aufgefaßt wurde?
Fremel: Ergänzend zum Ergebnis der Vestibularisprüfung möchte
ich folgendes bemerken. Ich habe die Patientin vor mehr als drei Monaten unter¬
sucht und konnte durch Kalorisieren links keinen Nystagmus hervorrufen, wohl
aber typische Zeigereaktionen. Vor kurzem hat Dr. Gatscher den Fall unter¬
sucht und konnte weder von der linken noch von der rechten Seite Nystagmus bei
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Sitzungsberichte.
typischen Zeigereaktionen hervorrufen, sprach sich mit Rücksicht auf meinen
Befund für Progredienz des Prozesses aus, da ich von der rechten Seite aus noch
Spuren eine Nystagmus auslösen konnte.
Depisch: (Bericht nicht eingelangt.)
Falta: (Schlußwort. Nicht eingelangt.)
2. Pichler berichtet: Kollege Marburg hat mich aufgefordert,
Ihnen einen jungen Mann zu zeigen, der zu mir auf die Kieferstation der Klinik
Eiseisberg gekommen ist, weil er nicht kauen kann. Er erzählt uns, daß er
vor 2 bis 3 Wochen heftige Zahnschmerzen und dabei Schwellung und Eiterung
im Unterkiefer rechts gehabt hat, die auf die Extraktion von zwei Mahlzähnen
hin, langsam zurückgegangen sind. Gleichzeitig traten Schmerzen und Bewegungs¬
störungen in der rechten Schulter, später auch im Knie und in beiden Ellenbogen
unter Fiebererscheinungen auf, die aber nur zwei Tage anhielten. Schwellungen
der Gelenke sollen nicht aufgetreten sein. Anfangs waren auch alle Kiefer-
bewegungen mit starken Schmerzen in den Kiefergelenken verbunden. Die ana¬
mnestischen Angaben sind übrigens recht unpräzis und widersprechen sich bei
wiederholtem Fragen, namentlich bezüglich der zeitlichen Aufeinanderfolge der Er¬
scheinungen. Es handelt sich um eine beiderseitige Lähmung der Kaumuskeln.
Wenn wir den Patienten auffordern, den Mund zu schließen, so bewegt er den
Kopf dem Unterkiefer entgegen, der im Hals unter dem Kinn einen Widerstand
findet. Wenn der Kopf festgehalten wird, so sieht man bei der Aufforderung zum
Zubeißen krampfhafte Bemühungen in der Halsmuskulatur, aber keinen Effekt.
Ich glaube, daß solche doppelseitige Kaumuskellähmungen ziemlich selten Vor¬
kommen. Ich selbst habe bisher einen einzigen Fall gesehen, bei dem Kinder¬
lähmung die Ursache war. Ich möchte Ihnen an dem Patienten vor allem ein
Symptom zeigen, das charakteristisch und kaum allgemein bekannt ist. Wenn
man die Zahnreihe weit öffnet, tritt bekanntlich das Unterkieferköpfchen aus
der Pfanne auf die Eminentia articularis nach vorne. Man kann diese Bewegung
des Köpfchens ganz deutlich fühlen. Bei unserem Patienten, bei dem wir aller¬
dings passive Bewegungen dazu ausführen müssen, weil er die Kiefer zwar
öffnen aber nicht schließen kann, fühlen Sie von dem Vorriicken des Köpfchens
nichts, es bleibt in der Pfanne liegen und die Bewegung ist daher eine einfache
Scharnierbewegung um die quer durch beide Kieferköpfchen verlaufende Achse.
Auch an der Leiche läßt sich diese einfache Scharnierbewegung ohneweiters aus¬
führen. Es scheint vielfach die irrige Meinung verbreitet zu sein, daß das zwangs¬
weise Vortreten beim öffnen irgendwie durch den Gelenksmechanismus bedingt
ist. Das ist aber nicht der Fall, der Zw^ang ist kein mechanischer, sondern ein
nervöser. Es besteht offenbar eine synergische Innervation der Zungenbein¬
muskeln, die den Kiefer öffnen, mit dem M. pter. ext., der vom Flügelfortsatz des
Keilbeines nach hinten zum collum mandib. zieht und bei der Kontraktion diesen
nach vorne bringt.
Noch hübscher und charakteristischer ist dieses Symptom, wenn es ein¬
st itig vorkommt, wie wir es Öfters bei der vollkommenen Lähmung des dritten
Trigem. Astes durch eine Alkoholinjektion wegen Neuralgie beobachten können.
Die einseitige Lähmung macht zwar keinen auffallenden Funktionsausfall, da
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die Muskeln der anderen Seite die Schließ- und Kaubewegungen besorgen, dafür
treten bei dieseh Fällen asymmetrische Erscheinungen auf. Beim öffnen des
Kiefers rutscht nur das Köpfchen der gesunden Seite nach vorne, der geöffnete
Kiefer weicht daher nach der gelähmten Seite ab. Dieselbe Lage der Köpfchen
finden wir beim willkürlichen Verschieben nach der gelähmten Seite. Dagegen
ist eine Verschiebung nach der gesunden Seite unmöglich, weil die Muskeln der
kranken Seite, die das Köpfchen nach vorne bringen wümen, nicht arbeiten.
Über die Ätiologie der Lähmung maße ich mir natürlich kein Urteil an.
Wie Sie bemerkt haben werden, besteht bei unserem Patienten nebenbei eine
auffallende Lähmung des linken Mundfazialis, während Augen- und Stimäste
frei sind. Elektrisch sind die Kaumuskeln bei mittlerer Stromstärke nicht an¬
sprechbar. Prof. Marburg hält eine nucleäre Erkrankung, und zwar eine Polio¬
encephalitis für das wahrscheinlichste.
Diskussion:
Schilder ist mit Rücksicht darauf, daß einzelne Muskeln aus dem Fazialis-
gebiet in regelloser Weise betroffen sind, der Ansicht, daß es sich um eine Neuritis
der motorischen Nervenendigungen handelt, welche offenbar durch ein lokal
wirkendes, fortkriechendes Toxin geschädigt wurden.
Economo: (Bericht nicht eingelangt.)
Marburg bemerkt, daß er, als er zum erstenmal den Patienten sah, die
Diagnose Arthritis der Kiefergelenke stellte. Erst später, vom Vortragenden
aufmerksam gemacht, daß hier doch nervöse Erscheinungen vorliegen, ergab die
Untersuchung eine bilaterale Kaumuskellähmung, sowie eine Mundfazialisparese
vom peripheren Typus. Anamnestisch ließ sich ertyeben, daß die Parese nach einer
kurzen Fieberattaque eingetreten sei, gleichzeitig mit allgemeiner Schwäche
und heftigen Gelenks- und Muskelschmerzen. Der Umstand der bilateralen
Affektion motorischer Hirnnerven legte den Gedanken an eine Poliocephalitis
nahe, der wahrscheinlicher schien als der einer Polyneuritis, resp. Neuritis des
motor. Trigeminus und Facialis, da eine solche Selektion wohl kaum je bekannt
wurde. Sicher ist jedenfalls der Sitz im peripheren Neuron, am wahrscheinlichsten
in dessen Kerngebiet.
Stransky weist darauf hin, daß an eine myositische Affektion gedacht
werden könnte, woraus sich auch — Nachbarschaftsbeziehung — die elektive
Art der Beteiligung der Fazialismuskulatur erklären ließe; die Infektion ließe
sich als Zwischenursache denken. (Nachsatz des Sprechers beim Autoreferat:
von der Myositis aus wäre natürlich eine Mitaffizierung der peripheren Muskel¬
nervenäste möglich.)
Schüller schließt die Polymyositis der Entartungsreaktion wegen diagnos¬
tisch aus.
Pichler (Schlußwort): Die gleichmäßige Beteiligung der beiden Seiten,
das Fehlen aller anderen Erscheinungen an den Muskeln außer der Lähmung
schienen eher für eine Nervenerkrankung zu sprechen.
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Sitzungsberichte.
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3. R. Lichtenstern.
Meine Herren!
Ich will Ihnen einen Fall von abnormen Geschlechtstrieb bei einem 44 Jahre
alten Mann vorstellen, dessen Krankheitsgeschichte recht interessante Details bietet:
Somatisch zeigt der Patient verschiedene rachitische Deformitäten des
Skelettes, insbesondere die Schädelbildung weist einen hohen Grad von Dolicho-
cephalus auf. Der Kranke war seit seiner frühesten Kindheit außerordentlich
sexuell erregbar; sein Wachzustand wie seine Träume .waren von erotischen
Vorstellungen erfüllt, zu denen sich schon einige Jahre vor der Pubertät ver¬
schiedene perverse Triebe gesellten, die sich hauptsächlich in sadistischer Richtung
bewegten. Seit seinem 20. Lebenjahr litt der Kranke an heftigen, anfallsweise
auftretenden Kopfschmerzen, wie an einem oft tagelang andauernden Druck
im Kopfe. Wegen aller dieser Beschwerden suchte der Patient nervenärztliche
Hilfe und neben vielen anderen Ratschlägen wurde ihm auch empfohlen, durch
einen Koitus zu versuchen, die dauernde sexuelle Erregung zu beeinflussen. Mit
24 Jahren hat der Kranke das erstemal einen Koitus ausgeführt, doch ohne jede
Befriedigung. Von diesem Momente an traten seine perversen und sadistischen
Triebe mit größerer Vehemenz auf und er setzte das, was bisher seine Phantasie
beschäftigt hatte, nun in die Wirklichkeit um. Die verschiedenen sadistischen
Akte wurden nun vor und während des Koitus ausgeführt, der sexuelle Trieb
beherrschte vollkommen sein Dasein. Sowohl sein Wachzustand wie seine Träume
waren nur von diesem Gedanken eingenommen. Im Laufe der Jahre nahmen seine
sadistischen Triebe immer exzessivere Formen an und in den letzten Jahren
bemächtigte sich seiner der Gedanke, durch Würgen beim Koitus endlich Be¬
friedigung zu erlangen. Nur eine gewisse noch bestehende Selbstbeherrschung
sowie die Angst vor Strafe hielten ihn von diesem Vorsätze ab.
Wegen seiner nervösen Beschwerden und wegen seiner abnormen geschlecht^
liehen Triebe, insbesondere wegen der heftigen Kopfschmerzen machte der
Kranke die verschiedenartigsten medikamentösen, suggestiven und chirurgischen
Behandlungen mit; es wurde an ihm im Jahre 1910 auf der Klinik Eiseisberg
eine Trepanation behufs Besserung der Kopfschmerzen ausgeführt, die resultatlos
blieb. Im Jahre 1912 wurde im kaufmännischen Spitale eine Hirnpunktion wegen
derselben Beschwerden gemacht, ebenfalls ohne Erfolg. Auch keine der nerven-
ärztlichen Behandlungen hatte auf seine sexuelle Veranlagung irgend einen
Einfluß.
Dieses dem Kranken unerträgliche Dasein, die Unfähigkeit, irgend welche
andere Gedanken außer sexuellen perverser Natur zu haben, veranlaßten ihn,
nach einem Mittel zu suchen, das ihn radikal von seinem Geschlechtstrieb be¬
freien könnte. Im Jahre 1917 wurde ihm von seinem damaligen Nervenarzt
(Dozent Elz holz) die beiderseitige Kastration empfohlen, und der Kranke,
der dem Patientenkreise des kaufmännischen Spitales angehörte, behufs Aus¬
führung des Eingriffes an mich gewiesen. Der qualvolle Zustand des Kranken,
die Aussichtslosigkeit aller bisher angewandten Methoden, wie endlich die
dringendste Bitte des Patienten, Befreiung von seiner abnormen Veranlagung
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Sitzungsberichte.
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wie seiner dauernden erotischen Erregung zu erlangen, veranlaßten mich, seinem
Wunsche zu willfahren. Ich hatte mich entschlossen, den Eingriff nicht beider¬
seitig in einer Sitzung auszuführen, um speziell diesen Kranken nicht dem
plötzlichen Trauma einer vollkommenen Sterilisation auszusetzen.
Es war naheliegend anzunehmen, daß die Geschlechtsdrüsen dieses Mannes
mit Rücksicht auf seine außerordentliche Potenz eine gut entwickelte Pubertäts¬
drüse enthalten müßten und ein brauchbares Objekt zu Transplantationszwecken
darstellen dürften. Nach exaktester Feststellung — auf klinischem und sero¬
logischem Wege — des Freiseins des Kranken von jeder Infektion habe ich im
Februar 1918 den einen Hoden entfernt und ihn sofort einem Homosexuellen
implantiert. Der Erfolg der Implantation war ein ausgezeichneter.
Die einseitige Kastration hatte auf das Allgemeinbefinden wie auf die per¬
versen Triebe des Mannes gar keinen Einfluß; trotz mehrmonatlicher Beobachtung
änderte sich nichts an seinem Zustand. Alle früher bestandenen perversen
sexuellen Triebe blieben in vollem Maße erhalten. Im Mai 1919 habe ich den
zweiten Hoden entfernt und nach ebenfalls genauester Voruntersuchung einem
Eunuchoiden implantiert. Auch diese Implantation hatte ausgezeichneten Erfolg.
Herr Prof. Steinach hatte die Güte, jedesmal kleine, von dem zur Implan¬
tation zu verwendenden Hoden entfernte Stückchen histologisch zu unter¬
suchen, und er konnte beide Male eine gut entwickelte Pubertätsdrüse nach-
weisen. Dieser anatomische Befund deckt sich mit den klinischen Annahmen.
Nach der zweiten Kastration änderte sich das sexuelle Leben des Kranken
in außerordentlichem Maße. Wir wissen, daß nach beiderseitigen Kastrationen in
diesem Alter der sexuelle Trieb oft viele Monate und auch manchmal mehr wie
ein Jahr erhalten bleiben kann. Auch bei unserem Patienten ist der Geschlechts¬
trieb nicht erloschen. Dagegen ist der Kranke seit der zweiten Kastration voll¬
kommen frei von allen perversen und sadistischen Trieben, die
Auto-Erotisierung ist vollkommen geschwunden, sein sexuelles Empfinden tritt
nur bei näherem Kontakt mit dem Weibe auf und stets nur in normaler Form.
Verschiedene provokatorische Maßnahmen, wie Lektüre, Film und endlich ein
auf meine Veranlassung ausgeführter Koitus haben stets ein normales sexuelles
Empfinden erwiesen. Es sind nie mehr, weder im Wachzustand, noch in seinen
Träumen, perverse Vorstellungen aufgetreten.
Die beiderseitige Kastration als Therapie schwerer perverser sexueller
Triebe kann wohl nur auf Wunsch des Kranken ausgeführt werden, oder nur dann,
wenn es gesetzliche Vorschriften gäbe, die bei derartigen sexuell abnormen
Menschen und bei deren Gemeingefährlichkeit die Anwendung dieser Operation
vorschreiben würden. Von verschiedenen Autoren, insbesondere von amerikani¬
scher Seite (H. Sharp u. a.), wurde bei schweren Verbrechern, Irrsinnigen und
sexuell abnormen Menschen die Durchtrennung der Samenstränge wie auch
Kastration behufs Unmöglichkeit der Fortpflanzung und Beeinflussung des
psychischen Zustandes empfohlen. Mit Rücksicht auf die tierexperimentellen
Ergebnisse, welche zeigen, daß die Unterbindung des Samenstranges beim Versuchs¬
tiere ein exzessives Wachstum der Pubertätsdrüse zur Folge hat und daß dadurch
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Sitzungsberichte.
die Erotisierung dieser Tiere eine umso stärkere wird, wäre bei sexuell abnormen
Menschen die Kastration zu empfehlen und nicht die Durchtrennung oder Unter¬
bindung der Samenstränge.
Diskussion:
Marburg führt aus, daß mit Rücksicht auf die Ergebnisse der Zirbel¬
forschung Versuche mit Epiglandol gegen sexuelle Störungen gemacht würden.
Führt die frühe Involution der Zirbel zur Macrogenitosomia praecox, so müsse
die Zufuhr von Zirbelsubstanz kalmierend auf den gesteigerten Geschlechtstrieb
wirken. In der Tat hat Hofstätter durch Injektion von Epiglandol bei ex¬
zessiver Libido Besserung gefunden, während in einem Falle von Hyperlibido
und Masturbation die Resultate bisher keine befriedigenden waren. Dana hat
bekanntlich versucht, bei Schwachsinnigen, die ja gelegentlich exzessiv mastur¬
bieren, durch Epiglandol Besserungen zu erzielen und weist auf befriedigende
Resultate hin. Auch diesbezüglich bin ich weniger glücklich, vielleicht, weil die
Versuche nicht lange genug fortgesetzt wurden. Demgegenüber sind die Erfolge
Lichtensterns weitaus schönere, so daß man sich in schweren Fällen vielleicht
zum chirurgischen Eingriff wird entscheiden müssen.
Pötzl: (Bericht nicht eingelangt.)
Stransky bemerkt, daß vor Jahren schon Tschisch an die Möglichkeit
einer relativen geschlechtlichen Überenergie bei der Dementia praecox gedacht
habe; Kräpelin und andere Kenner der Schizophrenie sind ihm aber auf dieser
Bahn nicht gefolgt. Die Anregung Pötzls, dessen Wertung der Organotherapie
er gleichfalls beipflichtet, verdient aber jedenfalls Beachtung und Prüfung.
Redner fragt dann noch den Vortragenden, warum, da doch der demonstrierte
Patient selber ein sexuell abnormes Individuum sei, gerade dessen Testikei
einem Homosexuellen implantiert worden und wie die vom Vortragenden be¬
richtete kurative Wirkung bei letzterem zu erklären sei, bzw. ob Vortragender
Grund hatte anzunehmen, daß der Testikei des Demonstrierten sich hinsichtlich
seiner „neutralen“ Elemente wie ein Leistenhoden verhalte.
Wagner-Jauregg: (Bericht nicht eingelangt.)
Meixner: (Bericht nicht eingelangt.)
Lichtenstern (Schlußwort):
Der weitere Ausbau der Transplantation, die Anwendung der Methode
auf verschiedene andere Gebiete der menschlichen Pathologie ist von uns beab¬
sichtigt und wurde auch anderweitig schon angedeutet. Dieses Bestreben findet
ein gewisses Hindernis in der Schwierigkeit der Beschaffung des Implantations¬
materiales; normale, verwendbare Hoden, wie die des vorgestellten Falles, sind
recht selten zu bekommen, auch brauchbare Leistenhoden sind bis jetzt nicht
in entsprechenden Mengen zur Verfügung gestanden. Die Wahl letzterer Organe
als besonders geeignetes Material ist aus biologischen und chirurgischen Gründen
geschehen. Der histologische Aufbau des gut entwickelten Leistenhodens beim
erwachsenen Manne zeigt eine Mißbildung in seinem generativen Abschnitte,
in seinem innersekretorischen Anteile normale Verhältnisse. Von verschiedenen
Autoren wurde auf den besonders stark entwickelten Geschlechtstrieb beiderseits
kryptorischer Pferde, der „Klopfhengste“ hingewiesen. Diese Tiere besitzen
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Sitzungsberichte.
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alle sekundären Geschlechtscharaktere im vollsten Maße aüsgebildet, sind steril,
aber deren Potenz ist eine überaus rege. Ähnliche Beobachtungen linden sich
auch beim Menschen, alle Autoren geben an, daß kryptorche Individuen die
volle Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale aufweisen. Die relative
Kleinheit des kryptorischen Hodens, die größere Widerstandsfähigkeit seines
histologischen Aufbaues gegen die Resorption, die Hoffnung der rascheren Vas¬
kularisation waren ein weiterer Grund für die Wahl dieser Organe als Implan¬
tationsmaterial. Es ist aber selbstverständlich, daß nur sehr gut entwickelte
Organe von erwachsenen, vollmännlichen Individuen verwendet werden dürfen.
Die Implantation wurde bisher bei Verlust beider Hoden zur Behebung
<ler Ausfallserscheinungen und Wiederentwicklung der sekundären Geschlechts¬
charaktere mit vollem Erfolge angewendet. Auch die Versuche beim erworbenen
oder angeborenen Eunuchoidismus gaben recht erfreuliche Resultate. Die
Therapie der Homosexualität, die ihre biologische Basis in den tierexperimentellen
Forschungen Steinachs über die künstliche Zwitterbildung, wie in seinen
histologischen Untersuchungen der Hoden homosexueller Menschen fand, gaben
ebenfalls ermunternde Erfolge. Es wurden bisher sechs Fälle operiert; in dem
ersten Fall, bei dem aus chirurgischen Gründen beide Hoden entfernt waren —
es handelte sich um eine beiderseitige Hodentuberkulose — der Kranke war
zur Implantation an mich gewiesen worden — kamen alle abnormen physischen
und psychischen Merkmale zur vollen Rückbildung, die Erotisierung ist bis
heute — mehr als drei Jahre nach der Operation — eine rein heterosexuelle
geblieben.
Bei den anderen Fällen habe ich mich zur sofortigen beiderseitigen Kastra¬
tion nicht entschließen können, da auch bei exaktester Durchführung der Methode
ein sicheres Anheilen des Implantates nicht ausnahmslos angenommen werden
kann, und bei einem eventuellen Mißerfolg der betreffende Kranke seine Eroti¬
sierung vollkommen verlieren würde. Es ist mir aber klar, daß die einseitige
Kastration nicht die vollkommene Methode darstellt, und daß bei einem Versagen
nach Einheilung des Inplantates der zweite Hoden entfernt werden müßte. Die
einseitig kastrierten Fälle zeigen alle ein viel selteneres und viel weniger intensives
Auftreten der homosexuellen Triebe, der heterosexuelle Trieb hat sich entwickelt,
der Ekel vor dem Weibe ist geschwunden.
Ich habe die beiderseitige Kastration bei sexuell abnormen Menschen als
ultima ratio der Durchtrennung oder Unterbindung der beiden Samenstränge
vorgezogen, weil alle bisher gemachten Beobachtungen im Tierexperiment ein
Wachsen der Zwischensubstanz nach Unterbindung der Vasa deferentia ergeben
haben, und ich annehmen muß, daß ähnliche Verhältnisse sich auch beim Menschen
entwickeln könnten.
4. M. Pappenheim demonstriert eitlen 28jährigen Mann mit rechts¬
seitiger Hemiatrophia facialis progressiva, welcher zur Feststellung
seiner Kriegsbeschädigung auf der Nervenabteilung des Garnisonsspitales Nr. 1
(Dozent Dr. Mattauschek) erschien. Der Kranke will den Muskelschwund
im Jahre 1915, nach einmonatigem Aufenthalt im Felde, bemerkt haben. Er
bringt auch eine Anzahl von subjektiven Beschwerden: Schwindelgefühl, nament-
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Sitzungsberichte.
lieh beim Böcken, Schmerzen im ganzen Kopfe, etwas stärker auf der rechten
Seite, mit diesem Muskelschwunde in Zusammenhang.
Objektiv findet sich eine beträchtliche Atrophie der rechten Wange in der
Oberkiefergegend, die sich namentlich auch beim Zähnezeigen in einer sehr
auffallenden Verlängerung der Falten am Lidwinkel, der sogenannten „Krähen¬
füße“, nach abwärts äußert. Sonst finden sich nirgends Atrophien, kein Haar¬
ausfall u. dgl. Die rechte Wange ist wesentlich blässer als die linke und schwitzt
nach Angabe des Kranken bei der Arbeit auch weniger. Druckpunkte oder
Sensibilitätsstörungen im Bereiche des Trigeminus fehlen. Der Röntgenbefund
von Dr. Seltraacher ergibt nach dessen Ansicht eine Aufhellung im Bereiche
der Knochen des Gesichtes und der medialen Partien der mittleren Schädelgrube
rechts, während Prof. Schüller, der die Freundlichkeit hatte, die Platten zu
begutachten, keine Differenz findet. Der Puls des Patienten ist etwas be¬
schleunigt, zeigt deutliche Verlangsamung beim Bücken.
Ein ursächlicher Zusammenhang des Leidens mit der Felddienstleistung
kann nach den anamnestischen Angaben des Kranken wohl nicht angenommen
werden. Auch die von ihm angegebenen Beschwerden sind offenbar nur eine
zufällige nervöse Komplikation.
5. Lauterbach demonstriert einen Fall von Myoclonus-Epilepsie. (Bericht
nicht eingelangt.)
Sitzung vom 18. Jänner 1920.
Vorsitzender: Wagner-Jauregg.
Schriftführer: Pollak.
Vortrag: Prof. J. Kyrie: Latente Lues und Liquorbefunde.
Untersuchungen an Prostituierten.
(Erschien ausführlich in der Wiener klin. Wochenschrift 1920.)
Diskussion:
Marburg bemerkt, daß der Liquor vornehmlich aus dem Subarachnoidal¬
raum gewonnen wird, seine pathologischen Veränderungen also hauptsächlich
Ausdruck einer Veränderung im Gebiete dieses Raumes sind. Man kann in der
Mehrzahl akuter Entzündungen, die das Nervensystem treffen, die Erscheinungen
sich zuerst in diesem Raum abspielen sehen. Das beweist aber noch keinesfalls
eine Affektion des Nervensystems selbst. Dieses schützt die mächtige Barriere
der Pia mater, die oft den Veränderungen der das zentrale Nervensystem um¬
spülenden Flüssigkeit stand hält. Freilich darf man nicht vergessen, daß eine
Verbindung dieses großen Lymphraumes mit den Zentralorganen besteht, und
zwar durch die Gefäße. Aber auch diese haben im Gehirn eine Schutzhülle in
dem perivaskulären Lvmphraum. 'Solange die gliöse Hülle standhält, bleibt das
Gewebe geschont. All das spricht dafür, daß wir im positiven Liquorbefund
der Luetiker höchstens — um ganz allgemein zu sprechen — den Ausdruck
einer pathologischen Reaktion im Gebiete des Subarachnoidealraumes vor uns
haben. Deshalb erscheint es belanglos, ob eine solche Reaktion 4 oder 20 Jahre
nach der stattgehabten Infektion nachweisbar ist.
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Sitzungsberichte.
251
Wie es nun zur Erkrankung des Nervensystems selbst kommt, dafür sind
die therapeutischen Maßnahmen mit Fieber erzeugenden Mitteln, wie sie Hofrat
Wagner inauguriert hat, ein Hinweis. Es wurde neuerdings von französischer
Seite gezeigt, daß die Pia nach Anwendung solcher Mittel für therapeutische
Agentien besser durchgängig wird als ohne solche. Vielleicht daher die geringen
Wirkungen der Therapie, wie sie der Vortragende soeben ausführte. Jedenfalls
zeigt es, daß der Durchlässigkeit der Meningen in jedem Falle eine besondere
Bedeutung zukomme.
Wagner-Jauregg weist auf das große Interesse hin, das die von Kyrie
an diesem eigenartigen Materiale ausgeführten Untersuchungen für den Neurologen
bieten. Die Eigenart liegt darin begründet, daß diese vielen hundert Fälle nicht
wegen luetischer Erkrankungen des Nervensystems, sondern wegen anderer
Erkrankungen ins Spital kamen; ferner aber darin, daß es lauter Prostituierte
waren, von denen wir wissen, daß sie sehr selten an progressiver Paralyse er¬
kranken. Dafür sprechen auch die Zahlen Kyrles. Denn die 398 Prostituierten
zwischen 20 und 30 Jahren und die 157 zwischen 30 und 40 Jahren hätten schon
reichlich Zeit gehabt, an Paralyse zu erkranken. Wenn also von den 390 Fällen
alter Lues 191 einen positiven Liquorbefund haben, so können sie nicht als die
Kandidaten der Paralyse angesehen werden, denn von den 117 neurologisch
genau untersuchten Fällen hatten nur zwei Paralyse und auch in diesen Fällen
müssen gegen die Diagnose Bedenken erhoben werden. Die geringfügigen Sym¬
ptome von seiten des Nervensystems, die 69 von den Untersuchten boten, sind
mit Wahrscheinlichkeit als Überreste einer luetischen Erkrankung des Nerven¬
systems in der Sekundärperiode anzusehen.
Es scheint übrigens, daß die Häufigkeit der positiven Liquorbefunde nach
der Sekundärperiode noch zunimmt. Denn + Befunde kommen in der Rezidiv¬
zeit bei 44-5% vor; bei alter Lues in 48*9°/ 0 . Komplett + Befunde in der Rezidiv¬
zeit bei 23‘6°/o, bei alter Lues in 32*3%.
Die Befunde Kyrles bestärken Redner in einer gewissen Skepsis bei Beur¬
teilung der Liquorbefunde. Positive Liquorbefunde kommen oft vor bei Menschen,
die trotz langen Bestehens der Lues keinerlei Symptome von seiten des Nerven¬
systems, auch bei langer Beobachtung, zeigen und bei denen auch die ausgiebigste
Behandlung an dem Liquorbefund nichts ändert. Ferner kamen + Liquorbefunde
vor in einer Anzahl von Fällen, in denen zwar Erkrankungen des Nervensystems
oder der Psyche vorhanden waren, aber weder nach Symptomenbild noch Verlauf
als luetische anzusprechen sind. Endlich findet man vollkommen positiven Liquor¬
befund häufig in Fällen von Remission der Paralyse, in denen die Krankheits¬
erscheinungen auf das vollständigste und dauernd zurückgegangen waren. Es
scheint also Menschen zu geben, bei denen der positive Liquorbefund die Bedeu¬
tung eines harmlosen ungefährlichen chronischen Katarrhs der Meningen hat.
Herschmann möchte im Anschlüsse an den Vortrag Kyrles über acht
Fälle von Geistesstörung bei spätlatenten Syphilitikern berichten, welche im
Verlaufe des letzten Jahres an der Klinik des Hofrates Wagner-Jauregg beob¬
achtetwurden. Diese Fälle liefern einen bemerkenswerten Beitrag zur Beurteilung
des differentialdiagnostischen Wertes der sogenannten vier Reaktionen in der
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252
Sitzungsberichte.
Spätlatenz des Syphilis. — Die Liquoruntersuchung hatte nämlich in allen aeht
Fällen ein stark positives Resultat ergeben (die W. R. im Liquor war gewöhnlich
schon bei 0*1, einmal sogar bereits bei 0*05 positiv!) ohne daß die Symptomatologie
der Fälle oder ihr weiterer Verlauf die Diagnose einer syphilitischen Geistesstörung
rechtfertigt hätten. Klinisch-diagnostisch gehörten die Fälle verschiedenen
Gruppen an. Es fanden sich darunter teils funktionelle Bilder, teils rekurrierende
Katatonien, teils epileptische Geistesstörungen. In den letzteren Fällen waren
die konvulsiven Anfälle bereits vor erfolgter luetischer Infektion aufgetreten,
standen also mit dieser in keinem ätiologischen Zusammenhang. Die luetische
Infektion hatte bei den Kranken durchschnittlich etw r a 10 Jahre vor dem Aus¬
bruche der Psychose stattgefunden. Körperliche Symptome einer luetischen
Affektion des Z. N. S. fehlten zunächst völlig, vereinzelt konnte träge Licht¬
reaktion der Pupillen konstatiert werden. Weitere einschlägige Fälle befinden
sich noch in Beobachtung der Klinik.
Redner warnt daher, eine während der Spätlatenz der Lues auftretende
Psychose bloß auf Grund des positiven Ausfalles der Liquordiagnostik als „syphi¬
litische Geistesstörung“ zu erklären. Er verweist an der Hand der Literatur darauf,
daß dieser Fehler von einigen namhaften Autoren begangen wurde.
Auf die Frage, ob in den mitgeteilten Fällen aus dem positiven Ergebnis
der Liquordiagnostik auf einen latenten syphilitischen Prozeß im Z. N. S. ge¬
schlossen werden darf, will Redner hier nicht näher eingehen, da es sich bei der
Beurteilung des Wertes der vier Reaktionen vom praktischen Standpunkte doch
wohl ausschließlich darum handelt, was sie für die Differentialdiagnose und damit
für die Prognose zu leisten vermögen. In dieser Hinsicht hat die Liquordiagnostik
in den mitgeteilten Fällen allerdings versagt.
Redner verweist auf die Übereinstimmung seiner Befunde mit den Er¬
gebnissen der Kyrleschen Untersuchungen. Die genauen Krankheitsgeschichten
der acht Fälle werden in einer demnächst erscheinenden Publikation mitgeteilt
werden.
Sitzung vom 27. Jänner 1920.
Vorsitzender: Wagner-Jauregg.
Schriftführer: Pollak.
Fortsetzung der Aussprache zum Vortrage Kyrie: Latente Lues und Liquor¬
befunde. Untersuchungen an Prostituierten.
Hans Königstein: Äußere Umstände haben es mit sich gebracht, daß
bisher größere Serien von Lumbalpunktionen durchwegs an Männern ausgeführt
wurden. Kyrie hat mit seinen Beobachtungen an Frauen diese Lücke nicht
nur ausgefüllt, sondern noch außerdem dadurch, daß seine Lumbalpunktionen
an Prostituierten gemacht wurden, ein eigenartiges, für die Dauerbeobachtung
besonders geeignetes Material verwendet. Aus dieser Bezeichnung seines Materials
erklärt sich auch der Umstand, daß eine direkte Erwiderung auf seine Mitteilungen
aus Mangel an gleichartigen Beobachtungen nicht erfolgen kann.
Ich möchte mich auf einige Bemerkungen über Lues latens und Liquor¬
befunde beschränken, die an meinem Männermaterial erhoben wurden, da dieses
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Sitzungsberichte. 253
Kapitel, auch soweit Männer in Betracht kommen, noch nicht erschöpfend
behandelt wurde.
Zunächst einige Bemerkungen zur Begriffsbestimmung der latenten Lues.
Unter Lues latens versteht man jenes Stadium der Syphilis, in welchem Zeichen
eines aktiven Krankheitsprozesses fehlen, eine Heilung des Leidens jedoch noch
nicht eingetreten ist. Unsere fortschreitenden Erkenntnisse über die Pathologie
der Syphilis haben die großen Schwierigkeiten aufgedeckt, welche der Erkennung
eines aktiven luetischen Prozesses im Wege stehen, und damit auch die Bewertung
negativer Befunde in ein anderes Licht gerückt. Sektionsbefunde lehren nämlich,
daß Erkrankungen innerer Organe unseren Untersuchungsmethoden nicht selten
entgehen. Überdies muß noch zugegeben werden, daß wir nicht in der Lage sind,
die komplizierten Untersuchungsverfahren bei der Mehrzahl unserer Fälle in
Anwendung zu bringen.
Fälle mit sicheren Erkennungszeichen eines progredienten Nervenleidens
gehören zweifellos nicht in die Gruppe der Lues latens, über die Einteilung jener
Luetiker jedoch, bei denen bloß ein positiver Liquorbefund auf Infektion des
Nervenbefundes hinweist, ist die Diskussion noch im Gang, nach meinem Er¬
messen zählen sie gleichfalls bei Aufrechterhaltung der alten Definition nicht
in diese Gruppe.
Aus den angeführten Gründen können wir uns für praktische Zwecke der
eng gefaßten Definition des Begriffes Lues latens nicht bedienen. Es wird an¬
gezeigt sein, nicht von Lues latens schlechtweg, sondern von der Symptomfreiheit
einzelner Organe oder Organgruppen zu sprechen. In diesem Sinne haben wir den
Begriff Lues latens aufgefaßt und bei unseren Untersuchungen jene Luetiker,
welche auf Haut, Schleimhaut und Knochen keine luetischen Symptome auf¬
wiesen und deren innere Organe keine gröberen Veränderungen zeigten, als latente
Luetiker bezeichnet.
Mit einigen Worten sei noch einer bestimmten Variante gedacht, unter der
die Invasion der Spirochaetcn ins Nervensystem verlaufen kann, da auch hier
Beziehungen zur Lues latens zu bestehen scheinen. Es ist bereits eine Reihe von
Fällen bekannt geworden, bei denen die Anwesenheit vollvirulenter Spirochaetcn
in der Zerebrospinalflüssigkeit durch das Tierexperiment nachgewiesen wurde,
ohne daß andere Veränderungen des Lumbalpunktates auf die Infektion hin¬
gewiesen hätten. Ob hier die Affinität der Spirochaeten zum Nervensystem fehlt,
oder ob nur gerade meningitische Veränderungen nicht zur Ausbildung gelangten,
auf welche allein der positive Ausfall der jetzt gebräuchlichen Untersuchungs¬
methoden des Lumbalpunktates zurückzuführen ist, bleibt noch zu entscheiden.
Jedenfalls wird man sich künftig bei Besprechung der Lues latens speziell des
Nervensystems auch mit dieser Gruppe befassen müssen.
Ich verfüge über 291 Fälle von Lues latens mit 43% positiven Befunden.
Ich habe diese Fälle in Frühlatenz und Spätlatenz insofeme eingeteilt, als ich zur
ersten Gruppe alle Fälle bis zur Vollendung des Jahres, alle anderen zur zweiten
Gruppe gezählt habe. Dabei fanden sich in der ersten Gruppe 38’2, in der zweiten
Gruppe 29*1% positive Befunde. Bei der Absonderung in einzelne Gruppen nach
aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten ergaben sich bis zum ersten Jahre 38*4,
Jahrbücher für Psychiatrie. XLT. Bd. 2. u. 3. Heft. \ 7
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bis l Jahr
bis 2 Jahre j bis 8 Jahre j bis 5 Jahre j SnVdarflSer
unbestimmt
47 75
13
22 4
17 1 16 14
14
49
i
5 ! 15
122
35 21 30
, 1
1 1
63 |
20
i
38-4*/«
87-1 ®/ 0 ( 19°/ 0 53-3 %
22-2 °/ c
25°/o
60_
97
!
39
95
167
134
382%
o
Prozentsätze der Nervenfälle. Ia.
7 "■ '
bis l Jahr > bis 2 Jahre
■
bis 8 Jahre
bis 5 Jahre
1
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9
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3
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5
57°/
0
8-5o/o
9-5«/o
16-ßO/o
14-20/ #
Ohne Nervenfälle.
Ib.
9
bis 1 Jahr bis 2 Jahre
1
bis 8 Jahre
bis 5 Jahre
bis
10 Jahro
37 - 3°/ 0 ’
34-3o/o
10 - 50/0
44*/o
92»/ 0
Vorbehandlung: 861
Fälle.
11.
lila. 1
ui b. | nie.
i
1 III d.
1 I
IV.
1 V.
418
38
53
12 j 47
128
155
30
, 49-1%
4‘4°/ 0
6’2°/ 0 1
1-4 o/ 0 Ö-Ö'»,
0 15°/«
18-2o/„
3 - 50/0
160 258
17 21
23 , 30
7 5 24
23 50 78
78 77
11 | 19
38-3«/ 0
445 •/„
43-4 o/ 0 :
58-3°/ 0 , 51-1"
io 39-lo/o
50-So/o
1 36-7o/ 0 ;
Gesamtdurchschnitt: 43*4° 0 .
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Sitzungsberichte.
255
bis zum zweiten Jahre 37*1, bis zum dritten Jahre 19%, bis zum fünften 63*3%»
bei den Fällen bis zum 30. Jahr 22-2%. Wenn wir diese Zahlen überblicken, so
fällt uns ein Hinaufschnellen der positiven Werte bei den latenten Lue¬
tikern zwischen dem dritten und fünften Jahpbesonders auf; während
bei den anderen Spätluetikem die positiven Werte um 20 herum schwanken,
werden in dieser Altersstufe 50% überschritten. In den einzelnen Gruppen fanden
sich in den folgenden Perzentsätzen Fälle mit klinisch nachweisbaren Nerven-
veränderungen höherer oder geringerer Grade. 6*7% bis zum ersten Jahr, 8*5 bis
zum zweiten Jahr, 9’5 bis zum dritten Jahr, 16*6 bis zum fünften Jahr und 14%
bei den älteren Fällen. Lassen wir diese Luetiker mit nachweisbaren Veränderungen
am Nervensystem weg, so verändert sich die Zahl der positiven Liquorbefunde
in den ersten zwei Jahren nur unwesentlich. In der Zeit vom zweiten bis zum
dritten Jahr geht sie von 19 auf 10*5 herab, in der Zeit vom dritten bis zum
fünften Jahr auf 44, bei den restlichen Fällen auf 9*2. Wir sehen auch bei dieser
Einteilung ein Ansteigen der Befunde zwischen dem dritten und fünften Jahr.
Die Feststellung dieser Tatsache scheint mir für die Diskussion der folgenden
Frage von Belang zu sein. Sind die Liquorveränderungen vom Beginne der
Erkrankung an konstant vorhanden oder können dieselben in späteren Jahren
zum erstenmal auftreten? Die Entscheidung dieser Frage erscheint, von theo¬
retischen Erwägungen abgesehen, auch für die prognostische Beurteilung eines
Falles von besonderer Wichtigkeit zu sein. Wenn diese Beobachtungen auch
von anderer Seite bestätigt werden, und ich glaube, aus den von Kyrie mitgeteilten
Zahlen ein ähnliches Verhalten herauslesen zu können, dann müßten wir daran
denken, daß auch nach Abschluß des zweiten Jahres bis dahin fehlende Liquor¬
veränderungen auftreten können. In der Reihe meiner Repunktionen befindet
sich ein Patient, bei dem ein derartiges Verhalten durch wiederholte Punktion
festgestellt werden konnte.
Ich habe noch zu bemerken, daß nicht nur im Spätstadium nicht selten
der Liquor bei negativem Blut-Wassermann positiven Ausfall zeigt. Besonders
beachtenswert ist dies für die Beurteilung abortiv behandelter Kranker. Zweimal
konnte ich nach regelrecht durchgeführter abortiver Behandlung bei Fehlen
aller klinischen Erscheinungen und negativer Seroreaktion im Blut Veränderungen
in der Zerebrospinalflüssigkeit nachweisen.
Ich habe ferner versucht, den Einfluß, den unsere antiluetische Therapie
auf das Auftreten pathologischer Veränderungen im Liquor ausübt, aus statisti¬
schem Wege kennen zu lernen. 861 Fälle wurden bisher zu diesem Zwecke ver¬
wertet und nach dem Grade und nach der Art der Behandlung in acht Gruppen
geteilt, dabei wurden nur Fälle verwendet, bei denen die Infektion mindestens
sechs Monate zurücklag. In der ersten Gruppe sind gänzlich unbehandelte Fälle.
In den nächsten sechs Gruppen sind die Fälle je nach der Anzahl der Kuren und
Kombination von Quecksilber und Salvarsan mit Berücksichtigung der Intervalle
zwischen den einzelnen Behandlungsterminen voneinander getrennt. In der
letzten Rubrik sind die Patienten verzeichnet, bei denen unmittelbar vor der
Punktion eine Behandlung durchgeführt wurde.
Bemerkenswert ist zunächst, daß 49% aller Kranken, die unser Spital
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256
Sitzungsberichte.
aufsuchten, trotz aller Verordnungen über sachgemäfie Durchführung anti¬
luetischer Behandlungen unbehandelt waren, nur bei 4*4% ließ sich eine unseren
jetzigen Anschauungen entsprechende Behandlung der ersten Sekundärperiode
anamnestisch erheben. Der Vergleich der einzelnen Gruppen mit einander ergabt
nun, daß die behandelten Patienten keineswegs seltener, sondern im Gegenteil
eher häufiger Veränderungen der Zerebrospinalflüssigkeit auf weisen als die un¬
behandelten. Ich habe diese Tabelle vor ihrer Mitteilung immer und immer
wieder durchgearbeitet und bin zu dem gleichen Resultat gekommen. Ich habe
bereits hier über diese Verhältnisse im Anschluß an den Vortrag von Schacherl
im März vorigen Jahres an der Hand dieser Tabelle berichtet, da diese Befunde
jedoch nicht im Protokoll verzeichnet wurden, konnte Kyrie von denselben
keine Kenntnis haben und ich erlaube mir zu Vergleichszwecken mit seinen
Ergebnissen nochmals auf diese Statistik hinzuweisen. Auch bei Berücksichtigung
nur einzelner Symptome, wie der Alopezie und des Leukoderms hat sich keines¬
wegs ein günstigeres Verhalten der behandelten Fälle gegenüber den unbehandelten
ergeben.
Diese Tabelle läßt bloß Schlüsse über die Wirkung unserer allgemein ge¬
bräuchlichen Therapie auf die Ausbildung der Liquorveränderungen zu. Diese
Liquorveränderungen sind mit der Ausbildung eines klassischen Nervenleidens
nicht identisch. Wir müssen uns jedoch an den Gedanken gewöhnen, daß Luetiker
nicht bloß in dem bisher bekannten Ausmaße an klassisch ausgebildeten Nerven-
affektionen erkranken, sondern ausserdem in einer w’eit höheren Anzahl eine
Infektion des Nervensystems durchmachen, die nach unseren bisherigen Kennt¬
nissen hauptsächlich durch den Liquorbefund angezeigt wird. Wenn unsere
Therapie auf die Ausbildung dieser Liquorveränderungen auch keinen Einfluß
ausübt, so zeigen diese pathologischen Prozesse doch, wie aus statistischen Auf¬
stellungen von Königstein und Goldberger hervorgeht, eine deutliche Neigung
zur Spontanheilung. Wir wissen seit langem, daß die luetischen Symptome der
verschiedenen Organe deutlichste Heilungstendenz aufweisen, und es liegt kein
Grund vor, eine prinzipiell andere Verlaufsart des luetischen Prozesses am Nerven¬
system anzunehmen. Mit diesen Feststellungen wird auch ein Gegensatz be¬
seitigt, den viele Neurologen zwischen der großen Anzahl positiver Befunde im
Sekundärstadium und der relativ kleinen Anzahl typischer syphilogener Nerven¬
erkrankungen späterer Jahre erblicken. Ein Teil dieser Nervenaffektionen heilt
spontan, ein Teil erlangt nur eine geringe Ausbildung und ein kleiner Rest reift
zu den typischen Krankheitsbildern aus.
Die Tabellen von Kyrie und mir erlauben bloß eine Schlußfolgerung über
Beziehungen der Therapie zu den Liquorveränderungen, und es wäre immerhin
denkbar, daß unsere Therapie zwar die Invasion der Spirochaetcn ins Nerven¬
system und die Ausbildung einer geringgradigen Meningitis, deren Ausdruck
die positiven Liquorbefunde sind, nicht verhindern kann, daß dieselbe jedoch auf
die Ausdehnung des Prozesses einen Einfluß ausübt und daß behandelte Fälle
seltener von klassisch ausgebildeten Nervenleiden befallen werden. Doch haben
sich führende Neurologen in dieser Richtung skeptisch geäußert, so erwähnt
Nonne, daß er wiederholt intensiv behandelte Fälle, die es als ihre Lebensauf-
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Sitzungsberichte.
257
gäbe betrachteten, sich der Behandlung ihrer Lues zu widmen, an syphilitischen
oder metasyphilitischen Affektionen des Nervensystems erkranken sah.
Ich habe diese klinischen Ergebnisse nur herangezogen, um nachzuweisen,
daß der anfänglich befremdende Eindruck, den das Studium meiner Tabellen
macht, unbegründet ist, und daß meine Resultate zu bereits bekannten Tat¬
sachen nicht in Widerspruch stehen.
Ich möchte noch hervorheben, daß in meine Aufstellung abortiv behandelte
Fälle nicht aufgenommen wurden und daß sich daher aus dieser Tabelle kein
Urteil über diese Behandlungsmethode erschließen läßt. Auch die Wirkung
der Therapie auf ausgebildete Nervensymptome bleibt durch diese Ausführung
natürlich unberührt.
Über die unmittelbare Wirkung der gebräuchlichen Behandlungsmethoden
auf die Liquorveränderungen suchten wir uns durch Repunktion ein Urteil zu
verschaffen. Bei 52 Fällen wurde die Spinalflüssigkeit zwei- und mehrmals unter¬
sucht, in fünf Fällen war eine vollkommene Rückbildung der Erscheinungen zu
verzeichnen, zwei Fälle wurden gebessert, 17mal trat trotz gelegentlich intensiver
Behandlung ein Umschlag von negativ in positiv auf und llmal blieben die
Veränderungen bestehen.
Noch eine Bemerkung über die Bewertung der einzelnen Liquorreaktionen.
Es scheint mir derzeit noch nicht angezeigt, einer bestimmten Reaktion
den Vorzug zu geben. Wenn es auch sehr verlockend ist, der Wassermann-
Reaktion eine führende Rolle zuzubilligen, so ist doch dagegen einzuwenden,
daß diese Reaktion bei ausgebildeten luetischen Nervenleiden negativ sein kann
und daß sie bei Durchgängigkeit der Meningen positiv ausfallen kann, ohne daß
das Nervensystem von dem luetischen Prozeß berührt ist.
Wir werden uns daher zunächst von weitgehenden Schlußfolgerungen fern¬
halten und uns um die Aufdeckung weiterer Tatsachen, wie das auch Kyrie
tut, bemühen müssen.
E. Redlich betont, daß er als bedeutsam nur stark positive Befunde hält
und von diesen nur die Wassermannsche und Kolloidreaktion für spezifisch,
für einen Beweis für die Anwesenheit von Spirochaeten im Zentralnervensystem.
Von den Fällen von Kyrie hat ein wenn auch kleiner Teil Tabes und Paralyse,
ein anderer Teil doch nicht zu vernachlässigende Symptome. Die Fälle müssen
weiter verfolgt werden. Übrigens handelt es sich um ein eigenartiges Material.
Bei anderen Fällen von Lues latens ist die Zahl der positiven Liquorbefunde
wesentlich geringer, was sich auch am eigenen Materiale ergibt. Über Psychosen
mit Liquor-positivem Befund, aber ohne syphilogene Bedeutung hat Redner
keine Erfahrung; bei der Epilepsie von Syphilitikern ist es bekannt, daß sie selbst
nach jahrelangem Bestände in progressive Paralyse übergehen kann. Redner
weist dann noch an der Hand seines eigenen Materiales auf die diagnostische
und prognostische Bedeutung der Liquorbefunde bei der Lues cerebrospinalis,
bei der Tabes dorsalis und bei der progressiven Paralyse hin. Bei letzterer sehen
wir oft eine deutliche Disproportion zwischen klinischen Befunden bei Remis¬
sionen und dem Verhalten des Liquors dabei. Daß der Wassermann trotz Remission
positiv bleibt, zeigt, daß doch Spirochaeten im Gehirn zurückgeblieben sind.
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Sitzungsberichte.
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und daher die häufigen Exazerbationen des Prozesses. DaB die Liquorbefunde
bei Kyrie bei vorbehandelter und nicht behandelter Lues latens eigentlich die
gleichen sind, daß wir trotz Behandlung der Lues die spätere Entwicklung von
Tabes und Paralyse nicht mit Sicherheit verhüten können, zeigt, daß uns die
richtige Behandlung der Lues, speziell der sogenannten Metalues des Nerven¬
systems noch fehlt.
Stransky hat bei seinem mehrere tausend Fälle umfassenden Materiale
im Frieden und Krieg die von Wagner-Jauregg betonte relative Disparat-
heit zwischen „krimineller“ und „paralytischer“ Veranlagung (wie schon
an anderem Orte ausgeführt) nur bestätigen können. Dieses Beispiel tut
immer wieder dar, welche Bedeutung dem Momente der angeborenen Anlage
insonderheit und dem Belange zukommt, ob eine spätluetische Erkrankung des
Zentralnervensystems global oder generell wird. Die Erfahrungen bei den Prosti¬
tuierten weisen, wie Wagner-Jauregg gleichfalls von ehedem betont hat, in
dieselbe Richtung; von Interesse ist da nur, daß nicht allenthalben die nämliche
Meinung hinsichtlich der Seltenheit der Paralyse bei Prostituierten herrscht,
so z. B. in Norddeutschland, wo Redner oftmals abweichende Stimmen vernahm;
freilich scheint dies damit im Zusammenhang zu stehen, daß nicht allenthalben
die sozialpsychologischen Voraussetzungen der Prostitution die gleichen sind;
gerade in vielen Gegenden Norddeutschlands z. B. gilt ein Mädchen auch in den
unteren Schichten nicht mehr als ehefähig, wenn sie extramatrimoniell defloriert
wurde oder gar entbunden hat; nicht wenige dieser so Deklassierten ergeben sich
dann der Prostitution aus Motiven, die mit Anlageminderwertigkeit nichts zu
zun haben; indes dort, wo die soziale Auslese minder streng ist, wie gerade in
Österreich, werden naturgemäß wesentlich die Anlageminderwertigen als Grund¬
stock der Prostitution Zurückbleiben; daher wohl die Seltenheit der Paralyse
bei den Prostituierten hierzulande, die höhere Frequenz anderwärts. — Stransky
möchte übrigens eines wieder mehr betont wissen, was Kräpelin seit ehedem
mit Recht vertritt und was durch die Befunde von Pilcz an inneren Organen
und von Stransky, Sciuti u. a. an peripheren Nerven Paralytischer seine
Bestätigung findet: die Natur der progressiven Paralyse als einer Allgemein¬
erkrankung, von der jene der Hirnrinde, des Zentralnervensystems überhaupt nur
einen, sei es auch signifikanten Teil bildet. Das Schw’anken in der Sicherheit
der Liquorbefunde, wodurch die in den letzten Jahren scheinbar gewonnene
diagnostische Eindeutigkeit neuestens wieder ins Wanken geraten ist, erklärt
sich auch zwangloser, w r enn man den der Paralyse zugrunde liegenden Krankheits¬
prozeß nicht als einen rein oder primär cerebro-meningealen wertet; denn in
letzterem Falle müßte man eine viel größere Konstanz des Liquorbefundes er¬
warten. — Zu dieser Auffassung des paralytischen und der metaluetischen Krank¬
heitsprozesse überhaupt stimmt auch das in den letzten Jahren von so vielen
Seiten gemeldete „Milderwerden“ der Paralyse und auch der Tabes; Redner kann
auch letzteres aus eigener Erfahrung bestätigen, in seiner Nervenambulanz und
ihrer hohen Frequenz mehren sich sichtlich die Fälle leichter, abortiver Tabes
und treten die schweren Fälle zusehends in den Hintergrund.
Finger: Die Frage, wie man latente von geheilter Syphilis unterscheiden
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Sitzungsberichte.
259
könne, ist zu allen Zeiten eine aktuelle gewesen. Nachdem auf rein klinischem
Boden diese Frage nicht zu entscheiden ist, hofften wir zunächst in der Wasser-
mann-Reaktion ein Mittel gefunden zu haben. Die Beobachtung hat uns nun
Fälle in nicht geringer Zahl zugeführt, in denen Patienten mit 30 und 40 Jahre
alter Lues, bei denen auch die sorgfältige Untersuchung nicht das geringste
Krankhafte nachzuweisen vermag, die auch dem Alter ihrer Lues nach schon
über alle kritischen Zeiten längst hinaus sind, doch einen positiven Wasser¬
mann zeigen. Herr Kyrie hat bei einem großen Material über 10 Jahre alter
latenter Lues, bei einem Material, das, wie die Erfahrung und Statistik lehrt,
zu Tabes, Paralyse, cerebrospinaler Lues sehr wenig neigt, einen positiven Liquor¬
befund mit einer Häufigkeit gefunden, welche die Häufigkeit dieser Erkrankungen
bei dem für dieselben sehr geneigten Material von Mattauschek und Pilcz um
das Doppelte übertrifft, also nicht für eine latente Tabes oder Paralyse zu ver¬
werten ist. Diese Beobachtungen müssen uns die Frage nahelegen, ob positiver
Wassermann und positiver Liquor nicht für eine geringe Zahl von Fällen nicht
mehr auf noch vorhandene Lues zurückzuführen, sondern als Produkt gewisser
habituell gewordener Veränderungen nach Ablauf derselben zu beziehen sind.
Die schwere therapeutische Beeinflußbarkeit dieser Erscheinungen würde so
verständlich.
Mehrere in der Diskussion gefallene Bemerkungen sind Veranlassung, die
Frage aufzuwerfen und zu beantworten, von welchen Momenten im allgemeinen
das Zustandekommen einer syphilitischen Veränderung und der Effekt der Be¬
handlung abhängt. Die Erkrankung eines Organes an Syphilis hat zur Voraus¬
setzung, daß Syphilisvirus in das Organ eingeschleppt wird und in demselben
haftet. Die Syphilisspirochaete ist ein Bindegewebsparasit, ein Parasit des
Mesoderms, der in den perivaskulären Lymphspalten am besten gedeiht und
hier die krankhaften Erscheinungen bedingt. Das Blut benützt dieselbe nur
vorübergehend, als Transportmittel. Es kann aber durch ein Organ so lange
reichlich mit Spirochäten durchsetztes Blut kreisen, so hat dieses für das Organ so
lange keine Bedeutung, als die Spirochaete das Blut nicht zu verlassen, nicht in das
perivaskuläre Bindegewebe einzudringen vermag. Dies kann nur geschehen, wenn
eine Verlangsamung des Blutstromes, also entzündliche Hyperämie, Stase eintritt.
Aber wenn auch ein Bindegewebsparasit, so haftet die Spirochäte doch
nicht im Bindegewebe jeden Organes; die Dignität des Bindegewebes ver¬
schiedener Organe und Organteile ist diesbezüglich verschieden. So haftet bei
niederen Affen die Syphilisimpfung nur bei Einbringung des Virus in die Cutis
der Augenbrauen und des Genitale, nicht aber an anderen Stellen. Ist also die
Syphilisspirochaete in das perivaskuläre Gewebe gelangt, dann gibt es für deren
weiteres Verhalten drei Möglichkeiten: a) sie paßt sich an und ruft durch ihre
Vermehrung eine Reaktion, ein Syphilom hervor; b) sie bleibt inaktiv, aber fakul¬
tativ pathogen liegen, wie man dies in manchen Organen bei kongenitaler Lues
im Liquor cerebrospinalis mancher Luetiker in Milz, Mark, Hoden niederer Affen
sieht, oder endlich c) sie stirbt ab. Die Frage ist non, Vas geschieht mit den toten
Spirochaetenleibern, werden sie rein chemisch aufgelöst oder rufen sie rasch vorüber¬
gehende, spontan ablaufende Krankheitserscheinungen hervor, wie die toten
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Sitzungsberichte.
Erreger bei Tuberkulose, Trichophytien. So könnten manche sogenannte in¬
komplette Erkrankungen, Pupillenstarre, frustrane Tabes etc. ihre Erklärung
finden.
Aber auch die Abwehrerscheinungen gegenüber der Spirochäte gehen vom
Mesoderm aus. Wohl kann die Spirochäte auch in ektodermale Gebilde (Epidermis,
Talg- und Schweißdrüsen, Haarbalg), kann in die Parenchymzellen der Leber,
Nieren, Nebennieren eindringen, aber diese Gebilde lassen die Invasion wehrlos
über sich ergehen, zeigen höchstens einen formativen Reiz (Akanthose in Sklerose,
Papel) oder eine Funktionsstörung (Leukoderm, Alopezie, Verhornung bei Psoriasis
plantae et palmae), aber die Abwehr geht vom Bindegewebe aus, das den voraus¬
eilenden Spirochäten nachhinkt. Am schönsten sieht man das an der Kornea
in deren Gewebe sich die Spirochaete schrankenlos vermehrt, bis vom Limbus in
dieselbe eindringende Gefäße den Kampf aufnehmen. Der Kornea analog, aber
am ungünstigsten sind die Verhältnisse beim Gehirn, bei dem eine große Masse
von relativ wenig Bindegewebe und Gefäßen durchsetzt wird.
Der Erfolg der Behandlung hängt nun davon ab, ob 1. genügend Heilmittel
mit dem Blute dem kranken Organ zugeführt werden. Auch hier sind die Ver¬
hältnisse für das Gehirn ungünstig, indem demselben nur wenig Blut zuströmt,
daß zudem in der Leber, Niere, rasch entgiftet wird, daher der Vorschlag, dem
Gehirn Medikamente durch Einspritzung in die Karotis zuzuführen, gewiß be¬
achtenswert. 2. Von der Affinität des Medikamentes zum betreffenden Organ,
das eine Speicherung ermöglicht, aber auch diese ist, wie chemische Untersuchungen
beweisen, für das Gehirn gering.
Sträußler: Ich habe mich eingehender mit der Histopathologie der lueti¬
schen und metaluetischen Erkrankungen des Zentralnervensystems beschäftigt
und möchte von diesem Standpunkte zu den Ausführungen des Herrn Kyrie
Stellung nehmen.
Bei Berücksichtigung der Histopathologie bieten die Resultate der Liquor¬
untersuchung, nach welchen im spät latenten Stadium der Lues ein positiver
Liquor in einem viel höheren Prozentsatz nachzuweisen ist, als es der prozentuellen
Häufigkeit der progressiven Paralyse und der Tabes im Verhältnis zur Lu»
entspricht, nichts Auffälliges. Trotz der Ergebnisse der Wasser mann sehen
Reaktion und der Spirochsetenbefunde bei der progressiven Paralyse muß man
daran festhalten, daß histopathologisch ein wesentlicher Unterschied zwischen
den spezifisch luetischen und den sogenannten metaluetischen Erkrankungen
besteht. Die spezifisch luetischen Prozesse im Zentralnervensystemspielen sich im
mesodermalen Gewebe ab, in Form der gut charakterisierten Gefäßerkrankungen,
der gummösen Neubildungen und der Meningoencephalitis. Das ektodermale
Gewebe und insbesondere das nervöse Parenchym wird nur sekundär in Mitleiden¬
schaft gezogen, sei es, daß ein Übergreifen des Prozesses von luetischen Herden
aus stattfindet, oder daß durch die Gefäßerkrankung und die damit verbundene
Zirkulationsstörung das nervöse Gewebe geschädigt wird. Bei den sogenannten
metaluetischen Erkrankungen gesellt sich dagegen zu den entzündlichen Vor¬
gängen an den Meningen und den Gefäßen eine von diesen unabhängige Er¬
krankung des ektodermalen Gewebes, ein progredienter Degenerationsprozeft
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Sitzungsberichte.
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des nervösen Gewebes. Das Gemeinsame der beiden Prozesse vom pathologisch¬
anatomischen Standpunkte ist die Erkrankung des mesodermalen Gewebes und
was uns in Anbetracht der Liquoruntersuchung besonders interessiert, — der
Meningen. Bekanntlich gibt es eine ganze Anzahl von nichtluetischen Er¬
krankungen des Zentralnervensystems verscheidener Art, welche einen positiven
Liquorbefund — mit Ausschluß der Wassermannreaktion — also Pleozytose
und Eiweißvermehrung darbieten. Auch diesen Prozessen ist als gemeinsames
Merkmal die Meningealerkrankung eigen. Wenn wir weiter bedenken, daß z. B.
eine endarteriitische Erkrankung sich bezüglich des Liquorbefundes häufig
negativ erweist, daß auch bei Tabes, bei welcher die entzündliche Affektion der
Meningen nicht selten ganz in den Hintergrund tritt, negative Befunde Vor¬
kommen können, die Meningoencephalitis luetica dagegen ausnahmslos einen
positiven Liquorbefund darbietet, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß
der pathologische Befund im Liquor der Ausdruck der Meningealerkrankung ist.
Der Liquorbefund gibt bloß Kunde vom Zustande der Meningen, aber nicht des
Gehirns, beziehungsweise des Rückenmarks selbst.
Was für die Pleozytose und Eiweißvermehrung gilt, scheint auch bezüglich
der Wassermannreaktion insofeme zuzutreffen, als das Auftreten der Wasser¬
mannreaktion im Liquor an eine meningeale Erkrankung gebunden ist. Die
Änderung der Permeabilitätsverhältnisse dürfte da maßgebend sein, wie ja auch
für chemische Stoffe der Übertritt in den Liquor durch Erkrankung der Meningen
begünstigt wird.
Wenn wir zu den Befunden des Herrn Kyrie zurückkehren, so ergibt sich:
der positive Liquorbefund stellt nur einen Indikator dafür dar, daß die Meningen
durch die luetische Erkrankung affiziert sind. Über den Zustand des Gehirnes
selbst und insbesondere darüber, ob der selbständige, chronisch progrediente
Degenerationsprozeß, durch welchen die progressive Paralyse gegenüber den spezi¬
fisch luetischen Erkrankungen charakterisiert ist, vorliegt, erhalten wir keine
Auskunft. Es ist also selbstverständlich, daß in der großen Zahl der positiven
Befunde sowohl die beginnenden und ausgebildeten Paralysen als auch die
prognostisch relativ harmlosen luetischen Erkrankungen des Mesoderms ent¬
halten sind. In einer alten Arbeit habe ich bereits auf Narben hingewiesen,
welche als Residuen ausgeheilter miliarer Gummen und anderer luetischer Pro¬
zesse anzusehen waren.
Man gab sich eine Zeitlang der Hoffnung hin, aus dem 'Liquorbefund
differentialdiagnostische Merkmale zwischen den spezifisch luetischen Prozessen
und den sogenannten metaluetischen Erkrankungen schöpfen zu können und
vertraute insbesondere auf die Haupt mann sehe Auswertungsmethode. Die
gehegten Hoffnungen gingen aber nicht in Erfüllung. Es ist bekannt, daß die
Meningoencephalitis luetica ohne Auswertung einen hochpositiven Wassermann
darbietet.
Die pathologische Bedeutung der Liquorbefunde kann nur durch systema¬
tische histologische Untersuchungen geklärt werden. Das dazu geeignete Material
wäre vornehmlich außerhalb der psychiatrischen Kliniken, beziehungsweise
Anstalten zu suchen. Man müßte interne Kliniken und Abteilungen in Anspruch
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262
Sitzungsberichte.
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nehmen und Kranke auswählen, welche luetische Erkrankungen ohne Affek¬
tionen des Nervensystems, wie z. B. Aortenerkrankungen, darbieten. Der Unter¬
suchung des Liquors müßte im gegebenen Falle die histologische Untersuchung
des Zentralnervensystems folgen. Auch ein zweiter Weg wäre noch gangbar.
Da kurze Zeit nach dem Tode noch brauchbare Resultate der Liquoruntersuchung
zu erzielen sind, könnten auch in pathologisch-anatomischen Instituten Parallel¬
untersuchungen zwischen Liquor und Zentralnervensystem an geeigneten Fällen
vorgenommen und voraussichtlich eine Lösung dieser wichtigen Fragen erreicht
werden.
Rudolf Müller: Die Tabelle zeigt, daß die darin enthaltenen Fälle un¬
behandelter Syphilis eine ebenso große Anzahl positiver Ausfälle aufweist als
die behandelten Fälle; dadurch kommt man zu einer förmlichen nihilistischen
Anschauung bezüglich des Wertes der Therapie oder des Wertes der Punktat¬
untersuchung. Die Resultate werden in dieser Richtung noch drastischer, w'enn
man die Fälle auf gleiche Basis stellt, was in der Tabelle nicht geschehen ist.
Es gibt folgende Möglichkeiten:
1. positives Blut, positiver Liquor,
2. positives Blut, negativer Liquor,
3. negatives Blut, positiver Liquor,
4. negatives Blut, negativer Liquor.
In der Rubrik behandelter Luesfälle sind Fälle allet 4 Kategorien ent¬
halten. Da behandelte Luesfälle durchschnittlich mindestens 50% negative
Serumausfälle haben und von diesen 50% wieder ein großer Teil auch negativen
Liquorbefund hat, so dürfte im ganzen jedenfalls mehr als der vierte Teil zu der
Gruppe 4, negatives Blut, negativer Liquor, gehören. Von dieser Gruppe kann
ein Teil als geheilt angesehen werden, und der andere Teil ist latent luetisch,
ohne irgend welche Symptome zu zeigen. Diese Gruppe, also zirka ein Viertel der
Fälle, muß in der ersten Rubrik, in der die unbehandelten latentenLuesfäile
subsumiert sind, naturgemäß fehlen. Denn woher rekrutieren sich diese Fälle ?
Daß ein Patient Lues hat, kann er wohl nur vom Arzte erfahren, und dann wird
er eine Behandlung beginnen. Ausnahmen könnten ja wohl Vorkommen, doch
ist es kaum wahrscheinlich, daß besonders die Patientinnen, die hier in Betracht
kommen, zugeben werden, luetisch infiziert gewesen zu sein und die Behandlung
verweigert zu haben. Sicher objektive klinische Abhaltspunkte für stattgehabte
Infektion gibt es gleichfalls im latenten Stadium, wie wir alle wissen, nur aus¬
nahmsweise. Es bleibt also nur die Blutuntersuchung und die Liquorunter¬
suchung, um unbehandelte Luesfälle zu eruieren. Jene in der Gruppe 4 zusammen¬
gefaßten Fälle mit negativem Liquor und negativem Blutbefund fallen demnach
bei den unbehandelten Fällen so ziemlich zur Gänze weg. Will man aber auf
gleicher Basis Vergleiche ziehen, so müßte man nach dem Gesagten entweder von
den behandelten Luesfällen im betreffenden Abschnitte der Tabelle alle die mit
negativem Blut und Liquorbefund weglassen, oder man müßte bei den unbehan¬
delten Luesfällen zu der Endsumme etwa den vierten Teil dazugeben: jedenfalls
wird das Resultat sein, daß bei den unbehandelten Luesfällen in einem
ganz erheblichen Prozentsatz häufiger negative -Liquorbefunde
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Siizungsberichte.
263
zu erheben sindals bei behandelten Fällen. Da statistisch mitSalvarsan und
Quecksilber behandelte Fälle häufiger negatives Blut geben als nur mit Queck¬
silber behandelte Fälle, so wäre bei der Rubrik der mit Quecksilber behandelten
ein geringerer Prozentsatz abzuziehen. Wenn dieses Resultat kein zufälliges ist
(was trotz der relativ großen Zahl der Fälle nicht ganz auszuschließen ist), kommt
man also zu dem Schluß, daß durch Behandlung, und zwar besonders durch
kombinierte Salvarsanbehandlung, das Positivwerden der Liquorbefunde be¬
günstigt wird. Für dieses Verhalten müßte man eine Erklärung suchen, me immer
man über den Wert des positiven Liquorbefundes denkt. Ich möchte erinnern
an das besonders bei ungenügender Salvarsanbehandlung nicht zu seltene Vor¬
kommen von Neurorezidiven, die ja als Hinweis dafür gelten können, daß die
Luesbehandlung Ursache von menigQfdcn Erscheinungen sein kann. Es liegt
durchaus im Bereiche der Möglichkeit, daß solche Neurorezidiven manchmal
fast symptomlos verlaufen, dagegen als bleibendes Resultat dann positiven
Liquor geben. Näheres werden erst die genaueren Angaben erschließen lassen,
in welcher Art und in welchem Stadium behandelt wurde. Denn das wissen
wir alle, daß speziell bei der Salvarsanbehandlung ganz gewaltige Unterschiede
bestehen, je nach dem Stadium, in dem die Behandlung einsetzte. Es scheint
sich jedenfalls zu ergeben, daß die im allgemeinen üblichen Behandlungsarten
des sekundären Stadiums durchschnittlich ungenügend sind, und cs würden die
Resultate der vorliegenden Tabelle dadurch bis zu einem gewissen Grade er¬
klärlich sein. Es wurde die Frage aufgeworfen, wiß weit die Liquorbefunde
prognostisch verwertbar sind. Meiner Meinung nach sind die einzelnen Reaktionen
nicht gleichwertig. Während die Eiweißfällungsreaktionen kaum notwendig an
die Anwesenheit von Spirochäten gebunden sind, glaube ich dies bei der echten
positiven Wassermannschen Reaktion vorraussetzen zu müssen. Ich betone,
daß dies nur für echte Reaktionen gilt, und meine damit, daß es manchmal Aus¬
fälle unter demselben Bild gibt, die ebenso wie bei Serumuntersuchungen jedoch
nur Pseudoreaktionen vorstellen, die auch z. B. mit Alkohol als Antigen zu er¬
zielen sind oder durch Eigenhemmung entstehen. Ich kann ein Punktat z. B.
experimentell so verändern, daß nach der gewöhnlichen Versuchsordnung ein
positiver Wassermann entsteht, der sich aber als Pseudoreaktion erweist. Klinger
und Hirschfeld haben im Laufe ausgezeichneter serologischer Untersuchungen
auch nachweisen zu können geglaubt, daß die W. R. im Serum auf einer
rein physikalischen Änderung beruht und daß sie bei Normalserum positiven
Wassermann erzeugen können, wenn es in geeigneter Kochsalzverdünnung im
Schüttelapparat durch einige Zeit geschüttelt wird. Ich könnte wohl feststellen,
daß auf diese Weise der optische Effekt einer positiven W. R. entsteht, daß es
sich dabei aber nur um Pseudoreaktion handelt, die sich von der echten W. R.
deutlich und einfach differenzieren läßt. Ich habe nun mit Liquor ähnliche Ver¬
suche mit prinzipiell gleichem Resultate angestellt. Ähnliche wie die künstlich
erzeugten Pseudoreaktionen kommen auch, wie ich allerdings erst in letzter
Zeit sehen konnte, natürlicherweise vor. Es ist jedoch bei den Punktionen besonders
schwierig, entsprechende Kontrolluntersuchungen zu machen, weil man mit hohen
Liquordosen die Untersuchung ausführen muß und dann für die in ebenso hohen
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Dosen auszuführenden Kontrollen nicht genug Material vorhanden ist. Wir
kämpfen außerdem derzeit mit besonderen Schwierigkeiten bei Beschaffung von
entsprechenden guten und reichlichen Komplementen und anderen Reagenzien.
Die in der Tabelle enthaltenen Wassermannresultate wurden daher noch nach
den bisher üblichen Verfahren gearbeitet. Ich versuche jedoch in der letzten
Zeit ein Verfahren auszuarbeiten, das die Reaktion in verkleinertem Maßstabe
wiedergibt, so daß genügend Punktat für alle Kontrollen übcrbleibt, und ich sah
schon jetzt, daß bei dieser auf Ausschließung der Pseudoreaktion bedachten
Methode so manche positive Reaktion wegfällt. Es gilt dies speziell für das
Resultat „Spuren“ und „schwach positiv“. Die Differenz gegenüber anderen
Reaktionen, besonders gegenüber der Goldsolreaktion wird dadurch allerdings
eine noch größere. Dies gilt aber nur für, das latente Stadium, während sich bei
Tabes und Paralyse nur eine ganz geringe Differenz zwischen den Ergebnissen
dieser beiden Reaktionen findet.
Ich werde von nun an die weiteren mir zur Verfügung gestellten Punktionen
mit allen diesen angedeuteten Kontrollen untersuchen und es ist die Frage, ob
die übrigbleibenden wirklich Wassermann- positiven Fälle, von denen ja einige
auch mit schon vorhandenen Erscheinungen des Nervensystems zusammenfallen,
noch in einem besonderen Mißverhältnis zu dem bekannten Perzentsatz zu
erwartender Tabes und Paralyse stehen. Damit ergibt sich wieder die Frage,
ob die Lange sehe und die Wassermann sehe Reaktion wirklich auf derselben
physikalischen Ursache beruhen, wie dies meist behauptet wird. Heute möchte
ich mich beinahe der Meinung zuneigen, daß dies nicht der Fall ist. Die Autoren
Mrass und Brandt fanden kürzlich in 28 von ihnen untersuchten Fällen von
Leichenliquores Nichtluetischer immer mehr oder minder deutliche
positive Langesche Reaktionen, während die Wassermannreaktion immer negativ
ausfiel. Trotzdem glauben die Autoren, daß beide Reaktionen gleicher Natur
sind. Ich glaube, man könnte aus demselben Resultat eher zum gegenteiligen
Schluß berechtigt sein. Ich erwähne hier auch die Differenz der beiden Reaktionen,
z. B. bei multipler Sklerose. Während ich die Überzeugung habe, daß die echte
W. R. das Vorhandensein von Spirochäten im Zentralnervensystem zur strikten
Voraussetzung hat, muß dieses nach meiner Meinung bei der Langeschen Reaktion
nicht der Fall sein. Es könnte sich z. B. hier vielleicht um eine physikalische Liquor¬
änderung handeln, die durch einen geringgradigen Gewebezerfall im Zentral¬
nervensystem entsteht. Dafür spricht der angeführte positive Ausfall bei Leichen¬
liquores und bei anderen nichtluetischen Nervenerkrankungen, wo sich keine
echte W. R. findet. Tatsächlich kann man Kurven mit einem bestimmten Opti¬
mum mit Goldsol erzeugen, wenn man Hirnextrakt nach Lange untersucht, wie
ich mich zusammen mit Hans Müller überzeugen konnte. Es stünde nach dieser
Anschauung die W. R. als Spirochätenreaktion der Langeschen Reaktion als
Gewebsrcaktion gegenüber. Daß diese Reaktionen bei wirklich luetischen Er¬
scheinungen des Nervensystems ungemein häufig miteinander parallel gehen
würden, kann weiter nicht wundernehmen und ebenso wären dann vorhandene
Differenzen zu erklären, wenn es sich um keinen Spirochätenprozeß des Zentral¬
nervensystems handelt. In bin mir des hypothetischen Charakters dieser Aus-
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führung bewußt und habe sie nur vorgetragen, um eine von den vielen Möglich¬
keiten zu diskutieren und zu zeigen, wie kompliziert das in Frage stehende Gebiet
ist und wie schwer es ist, heute schon irgendwelche prognostische Schlüsse
aus den Liquorresultaten zu ziehen.
Ich möchte mich nur kurz noch mit einer Diskussionsbemerkung des Herrn
Marburg befassen. Herr Marburg fand in der französischen Literatur eine
Arbeit, in welcher der Autor eine Erhöhung der Wirksamkeit des Salvarsan-
behandlung durch gleichzeitige Fiebererzeugung findet und dies darauf bezieht,
daß durch die infolge des Fiebers entstandene Erweiterung der Hirngefäße das
Salvarsan leichter zu dem Orte seiner Wirksamkeit gelangt. Ich möchte daran
erinnern, daß ich vor etwa drei Jahren zu einer ganz ähnlichen Schlußfolgerung
in einem Vortrag in der hiesigen Neurologischen Gesellschaft gelangte, der sich
betitelte: „Über den Wirkungsmechanismus der parenteralen Proteinkörper¬
therapie bei lokalen Entzündungsherden, mit besonderer Berücksichtigung der
v. Wagnerschen Paralyse-Behandlung“. Ich sagte damals: Wenn wir nun
nach v. Wagner den Paralytiker tuberkulinisieren oder nach Fischer und
Donat mit nichtbakteriellem artfremden Eiweiß behandeln, so muß nach meinen
Beobachtungen in beiden Fällen eine Vasodilation eintreten, die an den Ent¬
zündungsherden des Körpers — in unserem Falle also Gehirn — eine vermehrte
Hyperämie und Transsudation im Gefolge hat. Und weiter: das Quecksilber
enthaltende und teilweise das Hirnparenchym durchsetzende Transsudat wird
zu den im Parenchym gelegenen Erregern gelangen und hier seine spezifische
Wirkung entfalten.
Mattauschek: Mit Rücksicht auf die Ausführungen der Vorredner kann
und will ich mich ganz kurz fassen, da diese bereits eine Reihe für meine Be¬
merkungen belangreiche Punkte erörtert haben. Meine Absicht war nur, der
Frage näherzutreten, ob und welche Schlüsse nach den mitgeteilten Beobachtungen
Kyrles, die sich mit den Erfahrungen an neurologischem Materiale der Spät-
und Metalues im allgemeinen decken, für die Indikation und Bewertung der
modernen Therapie syphilogener Nervenkrankheiten gezogen werden können.
Ich gehe dabei von dem Eindruck aus, der durch die Untersuchungsergeb¬
nisse Kyrles entstanden zu sein scheint, daß die Wirksamkeit auch der intensiven
antiluetischen Kuren auf das miterkrankte Nervensystem nun wieder recht
fraglich geworden sei.
Es erübrigt sich, die große Bedeutung der von Kyrie erhobenen Tat¬
sachen für eine Reihe noch schwebender Fragen erst zu betonen und festzustellen,
daß Kyrie in seinen Ausführungen den Schluß einer therapeutischen Resignation
auch nicht angedeutet hat.
Auf Grund der neurologischen Erfahrung wäre ein solcher Schluß auch
durchaus nicht begründet. Anderseits muß aber auch erklärt vrerden, daß eine
Oberwertung der Liquorbefunde hinsichtlich Indikation und Beurteilung der
Therapie unstatthaft wäre. Unsere Kenntnisse über die Dignität der verschiedenen
auf chemischem, zytologischem und serologischem Wege im Liquor festgestellten
Veränderungen sind noch keineswegs zureichend. Sicher kommt den serologisch
und kolloidchemisch nachweisbaren Veränderungen eine wesentlich andere
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Bedeutung zu, als z. B. der Zell- und Eiweißvermehrung, worauf heute schon
Redlich hingewiesen hat.
So wie die Bewertung des Resultates des serologischen Blutbefundes bereits
eine Korrektur erfahren hat, so darf auch den Ergebnissen der Liquorunter¬
suchung eine allein ausschlaggebende Bedeutung für unser therapeutisches
Handeln nicht beigemessen werden.
In dieser Hinsicht möchte ich nur in Schlagworten einige Momente an¬
führen:
1. In der Spätlatenz 30% positive Liquorbefunde, statistisch nur rund
12% schwere Späterkrankungen (Lues cerebrospinalis, Tabes, Paralyse), also
mehr als 50% der Fälle trotz positiven Liquorbefundes ohne Entwicklung der
schweren Spätformen.
2. Bei entsprechender kombinierter Therapie (Hg, Salvarsan, Fieberbehand¬
lung) nachgewiesener Einfluß auf den Liquor bei Lues und Tabes.
3. Überwiegen der mangelhaft behandelten „leichten Lues“ bei den
späteren Metaluctikern.
4. Effektive klinische Besserungen und durch die Behandlung erreichte
Stillstände auch ohne wesentliche Änderung des Liquor- und Blutbefundes.
Es muß wohl nach wie vor daran festgehalten werden, daß in der Neurologie eine
schematisierende Therapie der syphilogenen Erkrankungen ebenso unhaltbar ist,
wie eine ausschließlich auf die Laboratoriumsergebnisse eingestellte. Erfahrungs¬
sache ist es, bei den diagnostischen und therapeutischen Erwägungen und
Entschlüssen unter Berücksichtigung aller Einzelheiten des gesamten klinischen
Befundes, der Konstitution des Individuums, der Art und Intensität der Vorbe¬
handlung die therapeutischen Maßnahmen dem Einzelfalle sorgfältig anzupassen.
Die vielseitigen Liquorfragen und deren Zusammenhänge werden erst
durch weitere, systematisch fortgesetzte Beobachtungen und Untersuchungen,
die über die Spätperiode hinausreichen müssen, einer Klärung zugeführt werden
können.
Sitzung vom 10. Februar 1920.
Vorsitzender: Wagner-Jauregg.
Schriftführer: Pollak.
Zum Mitgliede gewählt: Dir. Dr. Schnopfhagen (Gugging).
I. Vorläufige Mitteilung: Prof. Dr. E. Sträußler und Prof. Dr. A.
Schüller:
Über Versuche der röntgenologischenDarstellung der Subarachnoideal-
räume und der Hirn Ventrikel.
1. Sträußler: Die von Rubritius im vorigen Jahre in der Gesellschaft der
Ärzte abgehaltene Demonstration, bei welcher er sehr schöne Röntgenaufnahmen
der Harnwege unter Benutzung von Jodkalilösungen als Kontrastmittel vor¬
führte, gab uns die Anregung zu einem Versuche, die Subarachnoidalräume
röntgenologisch darzustellen.
Nach Key und Rctzius gelingt es, vom Subarachnoidalraum des Rücken¬
marks aus auch den Subarachnoidalraum des Gehirns samt den beiden großen
Zisternen, sowie auch die Hirnventrikel zu injizieren, welche bekanntlich durch
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das Foramen Magendi und die Aperturae laterales ventriculi quarti mit dem
Subarachoidalraum kommunizieren.
Diese anatomischen Verhältnisse berechtigten zu der Hoffnung, daß die
Injektion eines Kontrastmittels von entsprechendem spezifischen Gewicht
und einer das Eindringen in alle Nischen, Buchten und Maschen gewährleistenden
Dünnflüssigkeit in den Lumbalsack, nach Entleerung einer entsprechenden Menge
Liquors, die Röntgcnographie der früher genannten Räume ermöglichen würde.
Die intralumbale Injektion einer 10% Jodkalilösung bei einer Kindesleiche
— die Röntgenaufnahme wird Herr Schüller demonstrieren — ergab tatsächlich
Resultate, welche zu Hoffnungen bezüglich der Möglichkeit der Verwertung
dieser Methode zu anatomischen, pathologisch-anatomischen und vielleicht
auch zu physiologischen und diagnostischen Zwecken berechtigen.
Da infolge der Ungunst der Verhältnisse die Fortsetzung der Versuche
vorläufig zurückgestellt werden mußte, sollen nur im allgemeinen die Aussichten,
welche die röntgenologische Darstellung der Subarachnoidalräume und der
Himventrikel eröffnet, beleuchtet und die Wege der notwendigen weiteren
Untersuchung, sozusagen der zukünftige Arbeitsplan angedeutet werden.
Während bisher der Röntgenographie bezüglich des Zentralnervensystems
infolge der hier gegebenen besonderen Verhältnisse enge Grenzen gezogen
waren, wäre es auf dem von uns beschrittenen Wege möglich, röntgenographisch
nicht nur ein vollkommen getreues Negativ der Oberflächenkonturen des Gehirns
und Rückenmarkes, sondern auch ein Negativ der Ventrikel zu gewinnen und
außerdem über die Ausdehnung und Wegsamkeit, sowie die Kommunikations¬
verhältnisse zwischen Subarachnoidalräumen und Ventrikel zu studieren.
Die Verwendung einer entsprechend konzentrierten Lösung läßt erwarten,
daß auf dem Röntgenschirm das Einströmen und unter entsprechender Versuchs¬
anordnung auch das Ausströmen der Flüssigkeit kontrolliert, und die Stromrichtung
bei verschiedener Wahl der Injektionsstelle: Subarachnoidalräume des Gehirns,
Ligamentum atlanto-occipitale, Lumbalgegend beobachtet werden konnte.
Vielleicht sind dann vorsichtige Schlüsse auf die physiologischen Verhältnisse
der Richtung der Liquorbewegung möglich, vielleicht kann auch eine Grund¬
lage für die Beurteilung gewonnen werden, aus welchem Bereiche des Subarach¬
noidalraumes der bei der Lumbalpunktion gewonnene Liquor stammt, wobei
jedenfalls die Menge der entleerten Flüssigkeit von maßgebendem Einfluß ist,
und man wird insbesondere auch sehen können, wohin bei therapeutischen Ver¬
suchen auf intralumbalcm Wege das therapeutische Agens gelangt.
Die Verwertbarkeit der Methode für pathologisch-anatomische Zwecke
erscheint durch den Ausfall unseres Versuches bereits gewährleistet. Raum¬
beschränkende Prozesse im Wirbelkanal, mögen sie nun von der Wirbelsäule
oder vom Rückenmark selber ausgehen, werden auf der Röntgenplatte zur Dar¬
stellung gelangen, am leichtesten jedenfalls die Tumoren am Mudellarende und
an der Cauda equina, wo sich klinisch nicht selten besondere differentialdiagnosti¬
sche Schwierigkeiten ergeben. Vielleicht kommen auch Tumoren in der Brücken¬
gegend und im übrigen Bereiche der subarachnoidalen Zisternen im Röntgen¬
bilde zum Ausdruck.
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Das Studium der Größen- und Formanomalien der Seitenventrikel, besonders
der sekundären asymmetrischen Erweiterungen, wie sie bei auf ein beschränktes
Gebiet des Großhirns lokalisierten atrophischen Prozessen zustande kommen,
an und für sich und in ihren Beziehungen zu der Lokalisation der Atrophien wird
durch die Methode sehr erleichtert. Massenzunahmen einer Gehirnhälfte durch
Tumoren oder andere Prozesse, sowie Verlagerungen werden sich im Röntgen¬
bilde insofeme darstellen, als sie Formverhältnisse der Ventrikel, Verzerrungen,
Verschiebungen, Verschmälerungen zur Folge haben.
Man könnte sich auch des Verfahrens insbesondere dort bedienen, wo eine
Autopsie infolge Nichtzulassung einer Obduktion vereitelt ist.
Diese Verwendungsmöglichkeiten der Methode ließen sich noch weiter aus¬
spinnen. Es soll aber nun die wichtige Frage zur Erörterung gelangen: Können
wir hoffen, uns das Verfahren zu diagnostischen Zwecken nutzbar machen zu
können ?
Wertvolle Grundlagen für die positive Beantwortung der Frage sind in
den Erfahrungen gegeben, welche bei den therapeutischen Versuchen mittels
intralumbaler Injektionen gewonnen wurden: "Wir wissen, daß große Mengen
von Liquor ohne Schaden entleert und daß medikamentöse Flüssigkeiten, selbst
bis zu einer Menge von 70 ccm, in den Subarachnoidalraum gebracht werden
können; wurden doch auch schon Durchwaschungen des Subarachnoidalraumes
vorgenommen. Die verschiedensten medikamentösen Lösungen kamen dabei
zur Anwendung, Sublimat, kolloidales Silber, Argochrom, Jodnatrium, Karbol-
lösungen, Magnesiumsulfat, darunter also auch Stoffe, welche als Kontraststoffe
zu verwenden sind.
Es handelt sich nun darum, das röntgenologisch und physiologisch passendste
Mittel ausfindig zu machen, um mit einer möglichst geringen Flüssigkeitsmenge,
in einem für das Zentralnervensystem unschädlichen Konzen trat ionsgTade eine
Kontrastwirkung zu erzielen und anderseits die Röntgentechnik diesem Spezial¬
gebiet anzupassen. Die geringsten Gefahren wären natürlich mit dem Versuche,
bei pathologischen Prozessen des unteren Wirbelkanals das Verfahren zwecks
lokalisatorischer Diagnose anzuwenden, zumal man die Möglichkeit hat, das
Vordringen der injizierten Flüssigkeit gegen die Schädelhöhle zu verhindern.
2. Schüller demonstriert zwei Röntgenbilder einer Kindesleiche, bei welcher
die von Herrn Sträußler beschriebene intralumbale Injektion von 60 cm einer
10% Jodkaliumlösung ausgeführt worden war. Das erste Bild, die dorso-ventrale
Aufnahme der horizontal auf der photographischen Platte gelagerten Wirbel¬
säule zeigt ein Schattenband, welches seine größte Breite von 2 cm entsprechend
der Höhe des zweiten Lendenwirbels hat. Von hier aus verschmälert sich das
Schattenband allmählich, wobei es auch an Dichte stetig abnimmt, so zwar, daß
es entsprechend dem dritten Brustwirbel nicht mehr wahrnehmbar ist. In der
Höhe des vierten Brustwirbels beträgt seine Breite nur mehr 1 cm. Vom zweiten
Lendenwirbel nach abwärts verschmälert sich das Schattenband rasch und läßt
sich mit seinem zugeschärften Ende bis gegen den ersten Kreuzwirbel verfolgen.
Der zentrale Teil des Schattenbandes ist von der Höhe des zweiten Lendenwirbels
nach aufwärts aufgehellt; die Form der Aufhellung entspricht der Kontur des
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Rückenmarks. Das Bild gibt somit eine gute Vorstellung von den Form- und
das Größenverhältnissen des spinalen Subarachnoidalraumes. Da die Füllung
mit der schattengebenden Flüssigkeit ohne abnorme Druckanwendung erfolgte,
vielmehr bloß zum Ersatz des abgeflossenen Liquors nötige Flüssigkeitsquantum
eingespritzt wurde, gibt das Bild wohl ziemlich getreu die Verteilungsverhältnisse
des Liquors am Lebenden wieder, und zwar entsprechend jener Körperlage, in
der die Röntgenaufnahme gemacht wurde.
Das zweite Bild, eine Profilaufnahme des Kopfes, zeigt die Füllung der
Seitenventrikel. Man erkennt die bogenförmige Gestalt derselben, gebildet von
der Cella media mit dem Vorder- und Unterhorn. An dem Scheitelpunkt der
Krümmung setzt sich fortsatzähnlich das Hinterhom an.
Recht undeutlich erkennt man ferner die Umrisse eines Schattenbezirkes,
der dem gefüllten dritten Ventrikel entspricht.
Der spinale Subarachnoidalraum vom vierten Brustwirbel aufwärts, der
vierte Ventrikel und Aquädukt, die Zisternen an der Basis des Gehirns und
der Subarachnoidalraum an der Konvexität des Großhirns sind auf den Bildern
nicht erkennbar. Sie sind offenbar nicht umfangreich genug, um sich im
Röntgenbild zu präsentieren. Daß sie tatsächlich mit der durch Zusatz von
Methylenblau gefärbten Injektionsflüssigkeit gefüllt waren, ergab die Sektion
des Falles, wobei die Seitenventrikel leicht hydrocephal erweitert sich präsen¬
tierten.
In Amerika wurden in den letzten Jahren die Hirnventrikel nach Füllung
mit Luft röntgenographisch dargestellt (Aerographie); jüngst wurde die Luft¬
füllung der Seitenventrikel bei Fällen von Meningitis von einem amerikanischen
Autor auch intra vitam ausgeführt.
Diskussion:
Hitzenberger-Stern: Als durch die Demonstration des Herrn Rubritius
in der Gesellschaft der Ärzte am 17. November 1919 die Kontrastwirkung der
Jodlösung bekannt geworden war, gingen Stern und ich daran, Versuche über
die Radiographie des Lumbalsackes zu machen. Der eine von uns (Stern) regte
an, daß wir bei Fällen von Meningitis nach interner Joddarreichung, wobei das
Jod in die Zerebrospinalflüssigkeit übergehen soll, Radiogramrae des Wirbel¬
kanals fertigen sollten, nicht so sehr um ausfindig zu machen, sondern auszu¬
schließen, daß schon so geringe Mengen Jod ein charakteristisches Bild geben.
Wir machten Photogramme bei zwei Fällen von Meningitis, einer eitrigen
und einer tuberkulösen, bei beiden mit negativem Resultat.
Es ergab sich zunächst die Frage, wie das normale Bild des kontrastgefüllten
Lumbalsackes aussche. %
ln der Überzeugung, daß die Vorfrage zunächst am Tiere zu studieren sei,
machten wir unsere ersten Versuche am mit Morphin narkotisierten Hund.
Dieser äußerte aber schon nach Injektion von 1 ccm einer 10°/ o Jodkalilösung so
heftige Schmerzen, daß wir ihn töten mußten. Nach Paul Jakob (Berl. klin.
Wo., 1898) treten nachher auch Lähmungserscheinungen auf. Lewandowsky
hat in seiner Arbeit: „Über einige Grundlagen einer direkten Pharmakotherapie
Jahrbücher für Psychiatrie. XLI. Bd. 2. u. 3. Heft. 18
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des Nervensystems 4 ' 1916 gezeigt, daß bei den intralumb&len Jodinjektionen die
Verbindung des Jod von ausschlaggebender Bedeutung ist, daß die stürmischen
Erscheinungen nur nach Injektionen von Jodkalilösungen auftreten, daß
Jodnatriumlösungen harmlos sind. Diese Tatsache wäre bei weiteren Unter¬
suchungen zu berücksichtigen.
In der Folgezeit machten wir unsere Erfahrungen an toten Hunden. Wir
machten die betrübende Erfahrung, daß weder eine 10%ige Jodlösung, noch
Kollargol, noch kolloidales Eisen und auch nicht Luft geeignet sind zur Kontrast¬
darstellung des Lumbalsackes, wohlgemerkt, beim Hunde. Das hat seinen
Grund in der Tatsache, daß der Hund einen sehr kleinen liquorgefüllten Raum
hat; dieser ist im Verhältnis etwa neunmal kleiner als beim Menschen. Eine
Vorstellung davon können Sie sich machen, wenn Sie die Röntgenbilder be¬
trachten, die wir mit Hilfe eines der stärksten Kontrastmittel angefertigt haben,
nämlich mit der Aufschwemmung eines Baryumsalzes (BaSO*). Sie sehen den
Rückenmarkskanal in der Seitenansicht von zwei scharfen, zirka 1 mm breiten,
parallelverlaufenden Linien begrenzt, die dem sonst mit Liquor gefüllten Raum
entsprechen; Sie sehen die beiden Linien gegen das Kreuzbein konvergieren und
sich schließlich vereinigen. In der Aufsicht sehen wir nicht zwei, sondern drei
solche Linien; die mittlere dürfte dem angefüllten vorderen Längsspalt ent¬
sprechen. Ich kann mir nur gut vorstellen, daß bei einem raumbeengenden Prozeß
diese Begleitlinien z. B. ausgebuchtet werden, oder bei einem Verschluß plötzlich
aufhören.
Da beim Menschen ganz andere Größenmaße herrschen, nicht nur absolut,
sondern was wichtiger ist, auch relativ, so war noch immer zu hoffen, daß di©
Versuche, die beim Hunde ein negatives Resultat ergaben, beim Menschen positiv
ausfallen könnten. Daß es mit Jodlösung möglich ist, haben Ihnen heute die
Herren Sträußler und Schüller gezeigt, obwohl man einwenden könnte, daß
sie unter zu günstigen Versuchsbedingungen gearbeitet haben (eventrierte Leiche,
Kindesleiche, große Jodmengen). Wir hatten bisher nur eine Leiche zur Ver¬
fügung und versuchten Kollargol. Wie die Herren Sträußler und Schüller
erwähnten, wurde- von Demmer 2%ige Kollargollösung in einer Menge von
10 ccm intralumbal injiziert. Wir fanden, daß diese Menge nicht zur Erzeugung
von Kontrasten ausreicht. Man müßte also mehr oder höhere Konzentrationen
dieses Präparates injizieren, eine sicher beim Lebenden nicht mögliche und nicht
ungefährliche Maßnahme. Daß 10 ccm von Baryumsulfat nicht einmal ausreichen,
zeigt Ihnen die nächste Platte; man sieht wohl einige Schatten, aber es kam zu
keiner zusammenhängenden Füllung. Es verteilt sich die Kontrastmittel menge
so sehr, daß die Verdünnung eine zu große wird.
Um zu zeigen, wie schön es wäre, wenn es doch gelänge, haben wir den
Lumbalsack mit 30 ccm BaS0 4 gefüllt; es kam dieses Bild zustande. Weitere
Versuche sind im Gange.
Obersteiner bemerkt zu den Ausführungen Sträußlers und Schüllers,
daß der Versuch der röntgenologischen Darstellung der Hirn Ventrikel bereits
vor Jahren von Simington und Heberlin durchgeführt wurde. Bei diesem
Verfahren zeigte sich auch die Schwierigkeit der Füllung des Unterhorns, dessen
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Füllung aus anatomischen Gründen häufig großen Schwierigkeiten begegne, so
daß die Darstellung dieses Ventrikelabschnittes selbst bei Untersuchungen an
der Leiche auf große Hindernisse stoß*.
II. Fortsetzung der Aussprache zum Vortrag* Prof. Kyrles:
„Latente Lues und Liquorbefunde.“
Pappenheim: Meine Herren! Ich möchte mir erlauben, einige Punkte,
die zum Teil schon in der Diskussion zur Sprache kamen, nach einmal scharf
herauszuheben. Es sind ja die Probleme und Fragestellungen, die sich aus den
Befunden des Herrn Vortragenden ergeben, in der Literatur der letiten Jahre
Schon vielfach erörtert worden, ohne daß es in mancher Hinsicht zu eine* Ent¬
scheidung gekommen wäre.
Daß sich Veränderungen im Liquor luetisch Infizierter in den verschiedensten
Zeiten nach der Infektion auch beim Fehlen nervöser Krankheitserscheinungen
mannigfach finden, ist genugsam bekannt. Ich möchte nur nebenbei auf Grund
meiner Erfahrungen, im Einklänge mit manchen Angaben in der Literatur und
im Widerspruch zu Stern hervorheben, daß sich in den Frühstadien der Lues
Veränderungen im Liquor viel häufiger bei Kranken finden, welche über subjek¬
tive nervöse Beschwerden klagen, als bei Kranken ohne solche Beschwerden.
Wichtig ist für uns nun die Frage, was aus den Fällen wird, die solche Liquor¬
veränderungen zeigen, und zwar in zweifacher Hinsicht: erstens in Bezug auf
die Frage, wie sich die früh erworbenen Liquorveränderungen im weiteren Ver¬
laufe verhalten, zweitens in Bezug auf die Frage des Zusammenhanges dieser
Liquorveränderungen mit später auftretenden Erkrankungen des Zentralnerven¬
systems.
*In bezug auf die erste Frage haben wir gehört, daß die Liquorbefunde
durch die Behandlung nicht gebessert, ja daß sie sogar, wie Herr Müller mit
Recht aus den Tabellen des Herrn Vortragenden schloß und wie auch Herr
Königstein in seinen Tabellen zeigte, verschlimmert werden. Diese Ergebnisse
bilden vielleicht eine Stütze der Anschauung von Gennerich, daß die gewöhnlich
geübte Allgemeinbehandlung der Lues zu einer häufigeren Affektion der Meningen
führt, während nach seinen Angaben nur die endolumbale Behandlung imstande
ist, diese Veränderungen der Meningen hintanzuhalten. Leider stehen uns hier
in Wien nennenswerte Erfahrungen über die endolumbale Behandlung nicht
zur Verfügung; doch wird man sich wohl einer eingehenderen Nachprüfung
dieser Frage kaum auf die Dauer verschließen können.
Auch die zweite Frage, ob sich unter den Fällen mit pathologischen Liquor¬
befunden die Anwärter auf eine Erkrankung des Zentralnervensystems befinden,
oder ob sich trotz früher negativer Befunde Erkrankungen des Zentralnerven¬
systems und mit ihnen früher nicht vorhandene Liquorveränderungen einstellen,
ist noch ungeklärt. Eine Verfolgung des Materials in dieser Richtung ist nicht
sehr leicht. Das Material des Herrn Vortragenden wird eine solche Verfolgung,
von der wir uns wertvolle Aufschlüsse versprechen dürften, hoffentlich er¬
möglichen. Ich meine aber, daß es bei einer Bearbeitung dieser Frage unerläßlich
ist, daß alle Fälle, deren Verlauf verfolgt werden soll, von Anfang an neurologisch
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eingehend untersucht werden. Wir sehen ja aus der Tabelle des Herrn Vor¬
tragenden selbst, daß Erkrankungen des Zentralnervensystems in seinem
Materiale gar nicht selten gefunden wurden.
Auch die Frage, ob den schwachen Veränderungen in bezug auf künftige
Erkrankungen des Zentralnervensystems eine geringere Bedeutung zukommt,
als den stark positiven Befunden, ist nicht geklärt. Eine Trennung der Fälle
nach der Schwere der Veränderungen, wie sie der Herr Vortragende vorgenommen
hat, ist für die weitere Verfolgung der Fälle sehr zu begrüßen. Daß leichte Eiwei߬
vermehrungen bei alter Lues praktisch anscheinend ohne Bedeutung sind, wurde
von den Franzosen Bloch und Vernes (Comptes rendus, Bd. 76,1914) behauptet.
Ich kann diese Angabe in bezug auf zwei Fälle, die ich längere Zeit beobachtet
und wiederholt punktiert habe, bestätigen.
Ein sehr wichtiger Punkt scheint mir die Trennung der Fälle nach dem
Alter der Lues zu sein. Ich verweise diesbezüglich nur auf eine Diskussions¬
bemerkung des Herrn Königstein, der im dritten bis fünften Jahre nach der
Infektion eine Zunahme der pathologischen Liquorbefunde gesehen hat. Nach
meinen zum Teil gemeinsam mit Herrn Grosz gemachten Untersuchungen,
und ein gleiches kann man der Literatur entnehmen — sind pathologische Liquor¬
befunde bei alter Lues wesentlich seltener als in den ersten Jahren nach der In¬
fektion. Es müssen also die pathologischen Befunde, wenn man der Behandlung
in dieser Richtung eine Wirksamkeit aberkennt, von selbst in einer beträchtlichen
Zahl von Fällen schwinden. Nach meinem allerdings geringen Material betragen
die positiven Befunde tyei luetischen Infektionen, die mehr als fünf Jahre zurück¬
liegen, wenn keine objektiven Erscheinungen am Zentralnervensystem vor¬
handen sind, nur etwa 16%. Aus einer vom Herrn Vortragenden und seinen
Mitarbeitern jüngst erschienenen Arbeit über die Goldsolreaktion aber habe
ich mir ausgerechnet, daß er in Fällen, bei welchen seit der Infektion mehr als
drei Jahre verstrichen sind, noch sehr hohe Prozentzahlen pathologischer Liquor¬
veränderungen findet, höhere sogar als in den ersten Jahren nach der Infektion.
Und zwar finden sich nach dieser Arbeit — w'obei ich von der positiven Goldsol¬
reaktion, die noch viel häufiger ist, absche und nur die Befunde der Zell- und
Eiweißuntersuchung und der Wassermanschen Reaktion berücksichtige — unter
den seropositiven Fällen etwa 57%, unter den seronegativen Fällen etwa 60%
pathologische Liquorbefunde. Diese Befunde, meine Herren, sind höchst er¬
staunlich. Sie werden aber leichter verständlich, w T enn man berücksichtigt, daß
sich nach einer Angabe der Autoren in der ersten Gruppe unter 132 Fällen 13,
in der zweiten Gruppe unter 86 Fällen 9 Todesfälle fanden. Dieser Umstand
legt die Vermutung nahe, daß in Analogie mit der hier demonstrierten Tabelle
sich eine noch weit größere Zahl von Fällen mit organischen Veränderungen des
Zentralnervensystems ohne ausgesprochene tabische Erscheinungen finden. Eine
Abtrennung dieser Fälle ist bei der Verwertung der Liquorbefunde notwendig;
denn überall, wo wir luetische Veränderungen im Zentralnervensystem finden,
kommen Liquorveränderungen in überaus großer Zahl vor. Ich erwähne nur,
daß bei der reflektorischen Pupillenstarre ohne sonstige Veränderungen des
Nervensystems in 80% der Fälle pathologische Liquorerscheinungen vorhanden
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sind. Dadurch wird aber die Statistik der Liquorveränderungen sehr wesentlich
beeinträchtigt. Daß solche Erscheinungen im Zentralnervensystem im Material
des Herrn Vortragenden in nicht unbeträchtlicher Zahl vorhanden sind, geht
aus der hier demonstrierten Tabelle deutlich hervor. Von den Fällen mit schwereren
Liquorveränderungen wurden nach dieser Tabelle 93 neurologisch untersucht,
davon zeigten 28, also fast ein Drittel der Fälle, ausgesprochene Zeichen einer
organischen Veränderung des Zentralnervensystems.
Eine Bemerkung möchte ich auch über die Wassermann sehe und die
Goldsolreaktion einfügen. Auch die Prozentzahl der positiven Wassermann sehen
Reaktionen im Liquor ist in der erwähnten Arbeit von Kyrie und seinen Mit¬
arbeitern viel höher als es den sonstigen Erfahrungen entspricht, selbst wenn man
für organische Erkrankungen einen gewissen Abzug macht. Eine positive Wasser¬
mann sehe Reaktion wurde nämlich nicht viel weniger häufig gefunden als eine
Zell- und Eiweißvermehrung. Man wird sich kaum des Gedankens erwehren
können, daß sich unter diesen Befunden manche der von Herrn Müller er¬
wähnten Pseudoreaktionen finden. Was die Goldsolreaktion betrifft, so möchte
ich mich Herrn Müller in der Meinung anschließen, daß man nicht berechtigt
ist, sie als eine spezifisch luetische Reaktion anzusprechen. Über ihren prak¬
tischen Wert — nach den Untersuchungen von Kyrie und seinen Mitarbeitern
findet sie sich in durchschnittlich zw T ei Dritteln aller Fälle, also außerordentlich
häufig — kann man vorläufig noch gar nichts sagen.
Der Ansicht Herrn Professor Sträußlers, daß uns die Liquorbefunde
nur über die Erkrankung der Meningen und nicht über die des Zentralorgans
Aufschluß geben, und daß ein gewisser Nichtparallelismus zwischen den Ver¬
änderungen im Liquor und dem klinischen Bilde daraus verständlich ist, möchte
ich mich vollkommen anschließen mit der weiteren Einschränkung sogar, daß
wegen der komplizierten Verhältnisse die Veränderungen im Liquor auch denen
der Meningen nicht ganz parallel gehen.
Es ist deshalb einerseits durchaus richtig, daß man aus dem pathologischen
Liquorbefund allein keinen sicheren prognostischen Schluß in bezug auf eine
Erkrankung des Zentralnervensystems ziehen kann. Der Herr Vortragende
selbst hat Ihnen ja eine diesbezügliche Bemerkung Nonnes zitiert, welcher
bei der Besprechung der zumeist positiven Liquorbefunde bei der reflektorischen
Pupillenstarre äußert: Man dürfe die Prognose bei der isolierten Pupillenstörung
nicht lediglich nach dem Ausfall der vier Reaktionen stellen und man müsse
sich deshalb hüten, den prognostischen Wert positiver Liquorreaktionen im
ungünstigen Sinne zu überschätzen. Ähnlich habe ich in einem Vortrage über
die Lumbalpunktion im Oktober 1918 (Wiener Med. Wochenschr. 1919, Nr. 22
u. 23) hervorgehoben, daß man trotz des Vorhandenseins selbst erheblicher
Liquorveränderungen bei den Pupillenstörungen die Entwicklung eines schweren
Leidens des Zentralnervensystems nicht voraussehen könne. Anderseits aber
kann man auch aus einem negativen Liquorbefunde nicht absolut auf die Heilung
eines vorhandenen Prozesses im Zentralnervensystem schließen. Es gibt vielmehr
zweifellos progrediente Fälle von Tabes und sogar vereinzelte Fälle von progressiver
Paralyse, bei denen der Liquor vollkommen negativ ist.
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Sitzungsberichte.
Aber trotz all dieser Erwägungen, meine Herren, und damit komme ich
zu dem, was ich besonders unterstreichen möchte, erscheint es mir unberechtigt,
der Lumbalpunktion ihren hohen diagnostischen Wert absprechen zu wollen.
Die Widersprüche und Nichtübereinstimmungen nämlich sind nur Ausnahmen.
Gewiß wird sich niemand darüber wundern, wenn sich unter einem so großen
Material wie dem der hiesigen Klinik Fälle finden, wie sie Herr Herschmann
angeführt hat, in denen Psychosen mit Liquorveränderungen als nicht luetische
Psychosen erkannt werden. Wie wäre das denn anders möglich? Die Häufigkeit
von Liquorveränderungen bei der Lues auch ohne Erkrankung des Zentral¬
nervensystems ist uns ja allen bekannt. Warum sollte nicht hie und da einer
dieser Fälle eine zirkuläre Psychose, eine Haftpsychose, eine Epilepsie bekommen,
ohne daß diese Erkrankungen mit der stattgehabten Lues ursächlich Zusammen¬
hängen? Auch ich verfüge über einige Fälle aus meiner Kriegserfahrung, wo ich
mich beim Bestehen psychischer Veränderungen trotz positiven Liquorbefundes
nicht zur Diagnose einer Paralyse entschließen konnte. Den Befund der Lumbal¬
punktion in solchen Fällen als Enttäuschung zu bezeichnen, geht nur an, wenn
man der Lumbalpunktion etwas zumutet, was jene, die ihre Bedeutung kennen,
von ihren Leistungen nicht behaupten. Ein positiver Liquorbefund aber spricht
in solchen Fällen, da differentialdiagnostisch hauptsächlich Fälle in Betracht
kommen, deren Infektion lange zurückliegt, und die nach dem früher Gesagten
nur verhältnismäßig selten Liquorveränderungen aufweisen, wenn das Zentral¬
organ nicht erkrankt ist — mit großer Wahrscheinlichkeit für eine meta¬
luetische Erkrankung, und das ist doch gewiß von Bedeutung. Das ganze Material
mit der Fragestellung zu untersuchen, in welcher prozentuellen Häufigkeit in
solchen Krankheitsfällen das Ergebnis der Lumbalpunktion mit dem klinischen
Verlaufe der Erkrankung im Widerspruch steht, würde sicher von Wert sein.
Eventuell müßten in solchen Fällen auch andere als die üblichen Untersuchungs¬
methoden herangezogen werden. Ich habe die bestimmte Überzeugung, daß man
den diagnostischen Wert der Lumbalpunktion nach solchen Untersuchungen
sehr hoch wird einschätzen dürfen.
Schüller: Überblickt man die Ergebnisse des Diskussion, so gewinnt
man den Eindruck, daß man in Hinkunft gegenüber den Patienten mit Lues latens
und Lues nervosa zurückhaltender in der Empfehlung der diagnostischen Lumbal¬
punktion wird sein müssen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt, allerdings
von anderen Gesichtspunkten ausgehend, auch Ravaut, der bekanntlich nebst
Widal zu den Begründern der Liquordiagnostik gehört. Er konstatiert in einer
vor kurzem publizierten Arbeit auf Grund seiner Erfahrungen an tausend Fällen,
daß der Luetiker sich nur ein-, höchstens zweimal zur Vornahme einer diagnosti¬
schen Lumbalpunktion entschließt. Aus diesem Grunde müßte man bestimmte
Vorschriften über die Indikationsstellung für die Vornahme der Punktion und
bezüglich des Zeitpunktes, welcher für die Liquorentnahme am meisten zu em¬
pfehlen sei, berücksichtigen. Luetiker mit unklaren nervösen und psychischen
Störungen kommen für die Punktion in allererster Linie in Betracht; vor dem
vierten und nach dem zehnten Jahr post infectionem sei meist eine Punktion nicht
notwendig.
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Sitzungsberichte.
275
Im Gegensatz zur diagnostischen Liquorentnahme wird im Auslande die
therapeutische Lumbalpunktion und intralumbale Injektionsbehandlung bei
Lues nervosa in ausgiebigstem Masse angewendet. Die vor zwei Jahren erschienene
Publikation Schacherls und die Ergebnisse der gegenwärtigen Diskussion
müssen dazu anregen, der intraduralen Salvarsan-Therapie auch bei uns ein
größeres Augenmerk zuzuwenden, und zwar in der Form der lokalen, dem Sitze
der klinischen Symptome entsprechenden Intraduralinjektion.
Frau Dr. Stross berichtet über die von ihr an Patienten der Klinik Finger
angestellten Augenuntersuchungen; im ganzen wurden bei 72 Patienten, und
zwar bei 38 Frauen und 34Männern, die an sicherer Lues erkrankt waren und
die alle einen positiven Liquor hatten, genaue Befunde vorgenommen.
Von den 72 Patienten mit positivem Liquor handelte es sich bei 41 um
frische Lues, bei der die Infektion weniger als zwei Jahre zurück lag, und bei
31 um alte Syphilis; bei den 41 frischen Fällen wurden in 18 Fällen positive
Augenbefunde erhoben, und zwar bei 12Frauen und 6Männern. Von Pupillen¬
veränderungen wurden gefunden 6 mal Anisokorie, 1 mal träge Reaktion auf
Licht, 1 mal absolute Starre.
Augenmuskelstörungen beträfen einmal den rectus superior, zweimal
den rectus lateralis und einmal den obliquus inferior. Am auffallendsten war die
außerordentlich große Beteiligung des Sehnerven, indem bei 10 Frauen und zwei
Männern Papillitis gefunden wurde. Es handelt sich in diesen Fällen nur je
einmal um schwere Veränderungen mit starker Sehstörung; die anderen Fälle
waren leichterer Natur und hatten normale Sehschärfe.
Es wurde ausdrücklich hervorgehoben, daß nur wirklich ausgesprochene
Veränderungen hier mitgezählt wurden, und alle diejenigen Erscheinungen
am Sehnerven, die noch in physiologischer Grenze sich befanden, wurden nicht
mitgerechnet. Es handelt sich dabei um die schon bekannten, im frühen Sekundär¬
stadium der Lues auftretenden Papillitiden, die aber nach den mitgeteilten
Untersuchungen 1. bei positiven Liquorpatienten besonders häufig zu sein und
offenbar mit den meningealen Entzündungserscheinungen im Zusammenhang
zu stehen scheinen, und 2. bei Frauen besonders häufig sich vorfinden, nachdem
von zwölf Frauen mit Augensymptomen zehn Sehnervenentzündungen hatten.
Da die Papillitiden zumeist ohne Sehstörungen einhergehen, so ist anzunehmen,
daß es sich um perineuritische Prozesse handelt, die auf diese Weise im Auge
manifest werden.
Bei 31 Fällen alter Lues wurden 16 positive Augenbefunde erhoben; vor
allem wurden viele Pupillenstörungen gefunden, und zwar 7 mal Anisokorie,
9 mal Argyll-Robertson sches Symptom, das nur in drei Fällen beiderseitig bestand,
3 mal absolute Starre, die 1 mal beide Augen betraf, während in den zwei anderen
Fällen die zweiten Augen eine reflektorische Starre zeigten. In drei Fällen wurde
Miosis gefunden, einmal eine leichte Ptosis.
An Veränderungen am Augenhintergrunde wurde bei zwei Männern Chorio¬
retinitis paracentralis mit starker Sehstörung, zweimal Atrophie des Sehnerven
und einmal schwere Neuroretinitis mit obsoleter Iritis und schwerster Beein¬
trächtigung des Sehvermögens beobachtet.
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Sitzungsberichte.
Schacherl: Herr Professor Sträußler hat darauf hingewiesen, daß wir
im Liquorbefund eine Kontrolle der Meninx und nicht des nervösen Parenchyms
zu suchen haben. Wenn wir diesen Gesichtspunkt festhalten, so werden wir
Differenzen zwischen Liquorbefund und übrigem klinischen Befund als Differenz
zwischen dem Zustand der Meninx und dem des nervösen Parenchyms aufzufassen
haben. Wir werden aber von diesem Gesichtspunkte aus bezüglich der Fälle von
Herrn Kollegen Herschmann gewiß zu anderen Schlüssen kommen als dieser
selbst. Zeigt uns der positive Liquorbefund auch bei einer nicht luetischen
Psychose oder Neurose eines Luetikers positiven Befund, so werden wir darauf
schließen können, daß in diesem Falle eine Beteiligung der Meninx vorliegt.
Wir gewinnen dadurch einen Anhaltspunkt für die sonst so im argen liegende
Anatomie der Psychosen und können aus der Annahme eines vorliegenden
meningealen Prozesses auch erklären, daß die Liquoruntersuchung trotz der
nicht spezifischen Psychose oder Neurose Luesreaktion zeigt. Wir brauchen dabei
nur der Befunde von Wolf Gärtner in Jena zu gedenken, der nachwies, daß
bei an Luetikern ablaufenden, nicht spezifischen meningealen Erkrankungen
die Luesreagine auf Dauer der meningealen Reizung in den Liquor übergehen.
Was das scheinbare Versagen unserer Therapie anbelangt, so sei darauf
hingewiesen, daß es nicht unsere Therapie dem entwickelten Prozeß gegenüber,
sondern unsere Prophylaxe ist, die versagt. Es zeigt dies die Richtigkeit des
Genneri chschen Satzes, daß, wenn ein Luetiker nach soundso vielen Kuren
wieder in seinen Reaktionen positiv wird, die Sache praktisch so liegt, als wäre
überhaupt niemals eine Kur vorgenommen worden.
Ist es nun möglich, das Wieder-positiv-werden im Einzelfalle zu verhindern ?
Für die Frühlues kann ich diese Frage nicht beantworten, ich habe diesbezüglich
nicht die nötige Erfahrung. Bezüglich der nervösen Spätlues aber möchte ich in
Erinnerung bringen, daß ich bereits vor zwei Jahren auf das Voranzeigen der
Kolloidreaktionen hingewiesen habe. Ich habe es damals nur für die Goldsol-
reaktion festgestellt, ich kann es heute auch für die Mastixreaktion behaupten.
Wenn nun die Kolloidreaktionen Voranzeigen, so muß es bei entsprechender Liquor¬
kontrolle immer gelingen, ein Positivwerden zu verhindern. Das wäre bei der
Frühlues auch zu versuchen.
Zugleich kennzeichnet die Beachtung dieser Reaktion meine Ansicht
bezüglich der Behandlung der „wassermannfesten“ Fälle: es ist durchaus unnötig,
blind darauf los zu behandeln, wenn man bei entsprechender Liquorkontrolle
ein Ruhen des Prozesses feststellen kann. Das setzt allerdings ein Vertrauen
auf die Güte unserer Kolloidlösungen voraus, das in der letzten Zeit durch nichts
gerechtfertigt erscheint. Aber es wird ja auch das hoffentlich wieder anders
werden. Sieht man nun eine Verstärkung der Kolloidreaktion auch bei sonst
unveränderten Reaktionen, so ist es Zeit, die entsprechende Therapie einzuleiten.
Ob zur Erzielung negativer Reaktionen die endolumbale Behandlung
nötig ist, ist nach diesen Ausführungen eigentlich auch zu erörtern überflüssig,
da das Negativ werden nicht immer erreicht werden muß. Daß wir auf endolum-
balem Wege diesbezüglich leichter zum Ziele kommen, wissen wir ja bereits seit
längerer Zeit.
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Sitzungsberichte.
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Immerhin glaube ich aber, daß meine Indikationsstellung bezüglich der
endolumbalen Therapie wird geändert werden müssen. Ich habe seinerzeit ledig¬
lich die Atrophia optici, also jene Erkrankung, bei der wir den raschesten Still¬
stand zü erzielen gezwungen sind, als Indikation für die endolumbale Therapie
aufgestellt; heute steht die Sache einigermaßen anders. Durch die vor etwa
vier Wochen erschienene Arbeit von Baumann in Tübingen wurden wir darüber
neuerdings in einwandfreier Weise belehrt, daß Farbstoffe, wie Methylenblau,
Neutralrot u. dgl., intravenös einverleibt den Plexus chorioideus nicht passieren,
der Plexus vielmehr farblosen Liquor ausscheidet; daß dagegen die Farbstoffe,
in den Liquor subdural eingebracht, später im nervösen Parenchym nachgewiesen
werden können.
Damit fällt natürlich der wiederholt gemachte Einwand, daß es physio¬
logisch falsch gedacht ist, ein Medikament in den Liquor, das Sekretionsprodukt
des Zentralnervensystems, einzubringen, weil es nicht mehr in das Nervensystem
zurückgelangen könne. Es ist im Gegenteil damit der Beweis erbracht, daß
liquorgelöste Arzneimittel ins Parenchym des Zentralnervensystems cindringen
können. Daraus geht aber klar hervor, daß die endolumbale Methode für den
Neurologen gewiß die Methode der Wahl sein muß und meine enge Indikations¬
begrenzung zu ändern ist.
R. Bauer: Die positive Wassermann sehe Reaktion im Liquor wird ganz
allgemein als Zeichen einer luetischen Erkrankung des Zentralnervensystems
gedeutet, von vielen wird daraus auch direkt auf die Anwesenheit von Spiro¬
chäten in der Nervensubstanz geschlossen. Eine sichere Vorstellung über die
Vorgänge, die zur positiven Reaktion im Liquor führen, existiert derzeit nicht.
Es scheinen sich manche Autoren vorzustellen, daß, wie eine Erkrankung eines
Organs zur positiven Reaktion im Blutserum, so auch die syphilitische Erkrankung
des Nervensystems zur positiven Reaktion im Liquor führen muß.
Ich möchte nur daran erinnern, daß uns für die W. R. im Liquor ein Anologie-
beispiel vorliegt: die W. R. im Harne.
Die W. R. im Harne seropositiver und negativer Syphilitischer ist, wie ich
exakt nachweisen konnte (Wiener klin. Wochensehr., 1910, Nr. 1), regelmäßig
negativ. Sobald aber größere Mengen Eiweiß, besonders Globuline im Harne er¬
scheinen, tritt die positive Reaktion auch im Harne auf und ist auch dort an die
Globuline gebunden. Ist der Globulingehalt des Harnes unter zirka 2%»
(= zirka 6 bis 8%o Gesamteiweiß), dann ist die Reaktion im nativen Ham negativ,
kann aber noch mit den aus dem Harne isolierten Globulinen erzielt werden.
Da die syphilitischen Nierenerkrankungen besonders die syphilitischen
Amyloidose gerade zu hohen Eiweißausscheidungen führen, so ist, klinisch
gesprochen, die positive Hamrcaktion ein ziemlich sicheres Zeichen einer syphiliti¬
schen Erkrankung der Nieren. Würde jedoch ein seropositiver Syphilitiker
an einer nichtsyphilitischen Nierenerkrankung, z. B. infolge einer Grippe, einer
akuten Nephrose mit hoher Albuminurie erkranken, so würde er gewiß in dieser
Zeit auch positive Hamreaktion zeigen, die mit der Nephrose wieder verschwinden
würde. Die positive Wassermannreaktion im Ham ist also ,»sensu strictiori“
kein Zeichen von Nierensyphilis, resp. Ansiedelung von Spirochäten in der Niere,
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Sitzungsberichte.
sondern nur ein Abklatsch der positiven Seroreaktion, h cn wr gc rufen durch Über¬
tritt der positiven Globuline aus dem R h rtmram in den Ham infolge irgend
einer nicht syphilitischen oder auch durch Syphilis bedingten Nierenschädigung.
Zn dieser Auffassung mußte ich auf Grund vieler Versuche und Autopsiebefunde
gelangen (Wiener klin. Wochenschr., 1910, Nr. 1, 1911, Nr. 42, 1912, Nr. 4, 1913,
Nr. 27).
Diese Schilderung des Mechanismus der Hamreaktion muß unwillkürlich
den Verdacht erwecken, ob nicht auch bei der Liquorreaktion ähnliche Verhält¬
nisse bestehen. Theoretisch bietet diese Auffassung keine prinzipielle Schwierig¬
keit. Wenn auch Ham und Liquor keine gleichartigen Produkte darstellen, so
herrscht momentan doch die Auffassung, daß beide durch Ultrafiltration
aus dem Blute entstehen, der Liquor aus dem Plexus chorioideus, der Ham aus
den Glomeruli. Man könnte also annehmen, daß auch die positive Wassermann¬
reaktion im Liquor ein Abklatsch der positiven Seroreaktion ist. Solange die
Liquorabsonderung normal bleibt, kann die Seroreaktion nicht in den Liquor
übertreten. Sobald aber das Nervensystem, resp. die liquorproduzierenden Teile
desselben irgendwie erkrankt sind, treten die positiven Seroglobuline aus dem
Blut in den Liquor über und verursachen auch dort positive Wassermann-
reaktion. Ähnlich wie beim seropositiven Syphilitiker die positive Hamreaktion
nur irgend eine Nierenaffektion beweist, beweist also bei ihm die positive Liquor¬
reaktion nur irgend eine Affektion des Zentralnervensystems, keineswegs aber
eine luetische Affektion desselben, resp. nicht eine Ansiedelung der Spirochäten
im Zentralnervensystem.
Damit stimmt gut überein die beinahe konstante Vermehrung der
Globuline im positiv reagierenden Liquor.
Ich habe mir auch die Mühe genommen, die Sache experimentell zu prüfen.
Durch Dialyse aus positivem Liquor gewonnene Globuline geben in exakter
Weise wie die Haraglobuline sehr starke Wassermannreaktion; auch die quantita¬
tiven Verhältnisse gleichen denen der Haraglobuline.
Bis daher besteht also voller Parallelismus zwischen Ham- und Liquor¬
reaktion.
Nur ein auf den ersten Blick schwerwiegender Einwand scheint zu bestehen.
Es gibt nämlich, wie bekannt, auch positive Liquorreaktion trotz negativer
Seroreaktion. Diese Fälle scheinen dieser Auffassung zu widersprechen. Ich
glaube aber diesen Widerspruch leicht aufklären zu können. Es scheint sich nämlich
hier nicht um qualitative, sondern um quantitative Unterschiede zu handeln.
Im allgemeinen entsprechen bei Erkrankungen des Zentralnervensystems
die stärksten Liquorreaktionen auch sehr starken Seroreaktionen,
wie z. B. bei der Paralyse. Bei der Tabes z. B. liegen die Verhältnisse folgender¬
maßen: Solange man den Liquor nur in Dosis 02 untersuchte, fand man bei
negativer Seroreaktion fast regelmäßig negative Liquorreaktion. Erst als man
mit Dosis 10 zu arbeiten anfing, fand man bei negativer Seroreaktion den Liquor
positiv. Das heißt, daß bei negativer Seroreaktion die Liquorreaktion nie sehr
stark positiv ist, wovon ich mich in mehreren Fällen durch Titration überzeugen
konnte.
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Ist nun die Liquorreaktion in diesen FUhaiiich t so stark, wie es dem Kliniker
scheint, so ist meist auch die Seroreaktion nicht so negativ^ wie es nach dem sero¬
logischen Befund dem Kliniker dünken mag. Diese z. B. Tabikersera Toa g i an m
wiederholten Versuchen bald negativ, bald mit schleppender Lösung und werden
nur in Unkenntnis der vorliegenden Erkrankung aus prinzipiellen Gründen als
negativ bezeichnet; ich habe darüber vor zehn Jahren in dieser Gesellschaft
gesprochen. Ein solches Serum von einem Patienten mit Ophtalmoplegia totalis
dextra habe ich vor kurzem untersucht: Das erste Mal war es nahezu negativ,
das zweite mal konnte es eben noch als positiv gelten. Der Liquor war beide Male
complett positiv, aber nur weil er in der hohen Dosis 10 untersucht wurde. Bei
dem Serum konnte ich aber die positive Reaktion auf folgende Webe aufdecken:
Nach einer in einer früheren Arbeit geschilderten Methodik werden die Globuline
aus dem Serum boliert und diese Globuline gaben nun einwandfrei komplette
positive Reaktion. Sie ersehen -aus diesen Versuchen, daß also in diesem Falle
der Gegensatz „Serum negativ“ „Liquor positiv“ kein prinzipieller ist;
in Wirklichkeit reagieren Serum und Liquor positiv, der Unterschied liegt nur in
den quantitativen Verhältnissen.
Daß man mit den Seroglobulinen noch positive Reaktion erzielen kann,
wo das Serum negativ reagiert, habe ich schon im Jahre 1910 an einem Fall von
Tabes gezeigt.
Man darf nicht vergessen, daß im Serum Faktoren bestehen, welche die
Seroreaktion hemmend und fördernd beeinflussen und daß die Versuchs¬
anordnung der W. R. auf beides Rücksicht nehmen muß, weshalb ihr gewbse enge
Grenzen besonders in bezug auf positive Resultate gesetzt sind.
Im Liquor scheinen diese Verhältnbse günstiger zu liegen, man kann durch
Steigerung der Gebrauchsdosb leichter ein deutlich positives Resultat erzielen.
Nach diesen Erfahrungen scheint es mir gar nicht auffallend, wenn in
manchen Fällen das Serum negativ, der Liquor aber positiv gefunden wird. Die
im Serum in Dosb 0*2 nicht genügend vorhandenen oder reagierenden positiven
Globuline können aber im Liquor in Dosb TO noch nachgewiesen werden.
Nach allen diesen Versuchen und Erwägungen scheint mir daher gegenwärtig
folgende Auffassung über die Liquorreaktion nach unseren Kenntnbsen möglich:
Die positive W. R. im Liquor stammt aus dem Blutserum, d. h. ist sozusagen
ein Abklatsch derselben. Sie ist wie die Serumreaktion an die Globulinfraktion
des Liquor gebunden. Treten beim seropositiven Luetiker gewisse Verände¬
rungen an den den Liquor beeinflussenden Teilen des Zentralnervensystems
auf, so treten die positiven Globuline aus dem Serum in den Liquor über und er¬
zeugen die positive Reaktion im Liquor.
Man könnte aus der positiven Liquorreaktion des Syphilitikers nur den
Schluß ziehen, daß irgendwelche Veränderungen am liquorproduzierenden Teil
des Nervensystems bestehen, aber nicht, daß dieselben sicher durch Lues bedingt
sind, noch weniger, daß eine Ansiedlung der Spirochäten daselbst besteht.
Praktisch gesprochen werden diese Veränderungen wohl mebt durch die
luetische Infektion, vielleicht toxbch bedingt sein. Aber es dünkt mir wahr¬
scheinlich, daß, wenn ein Syphilitiker von irgendeiner nichtsyphilitbchen Er-
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krankung des Zentralnervensystems befallen wird, z. B. von Meningitis oder
Encephalitis, daß auch dann eine Wassermann-positive Liquorreaktion auftreten
wird.
Von diesem Gesichtspunkt erscheint es auch gar nicht auffallend, daß so
viele Syphilitiker Wassermannreaktion im Liquor zeigen, ohne später Tabes oder
Paralyse zu bekommen. Die luetische Infektion setzt vielleicht toxisch irgend¬
welche Veränderungen im Nervensystem, die den Durchtritt der Serumglobuline
in den Liquor gestatten, Veränderungen, die sich wieder rückbilden oder aus-
gleichen können und vielleicht gar nicht auf Ansiedlung von Spirochäten beruhen
Weitere Versuche müssen lehren, ob diese Auffassung richtig ist, ob sie
für alle Fälle von Wassermann-positivem Liquor gilt, oder ob vielleicht zwei
Gruppen existieren, deren eine die Fälle repräsentiert, wo die positive Liquor¬
reaktion ein Abklatsch der positiven Seroreaktion ist, deren andere aber jene
Fälle umfaßt, wo die Reaktion im Liquor selbst entsteht.
Wesentlich komplizierter als bei der W. R. scheinen mir die Verhältnisse
bei der Goldsolreaktion zu liegen. Diese Reaktion sollte ursprünglich eine An¬
wendung der Zigmondyschen Goldzahlmethode auf den Liquor darstellen zur
Bestimmung kleinster Eiweißmengen im Liquor. Da dies aber nicht möglich war,
so wurde durch Probieren eine Versuchsanordnung geschaffen, die zwar praktisch
gute Resultate gibt, aber mit der Goldzahlmethode kaum mehr etwas zu tun
hat und theoretisch durchaus ungeklärt ist. Sie verhält sich zur Zigmondyschen
Methode ungefähr so wie die Wassermannreaktion zur Bordet-Gengoux sehen
Methode. Im wesentlichen scheint sie aber doch von den Schutzkolloiden, ins¬
besondere den Globulinen bedingt zu sein. Wenigstens gelang es mir im Verein
mit Steiger, mit den aus dem Liquor dargestellten Globulinlösungen dieselbe
Goldsolreaktion wie mit dem Liquor selbst zu erzielen. Auch ist nach Versuchen,
die Steiger an unserer Abteilung angestellt hat, in der überwiegenden Anzahl
von luetischen Nervenerkrankungen ein Parallelismus beider Reaktionen zu
beobachten, nur ausnahmsweise sehen wir bei schwacher Wassermannreaktion
die Goldsolreaktion stärker positiv, was vielleicht weniger auf qualitative als
quantitative Unterschiede zwischen deji beiden Reaktionen zurückzuführen ist.
Anderseits ist die Goldsolreaktion nicht gerade für die luetischen Erkrankungen
des Zentralnervensystems charakteristisch, sondern wird auch, wie Steigers
und andere Versuche lehren, bei multipler Sklerose und manchen Fällen von
Meningitis positiv gefunden.
Bei dieser Sachlage erscheint mir in Bezug auf die Dignität der Goldsol¬
reaktion größte Reserve geboten, bis die praktischen Erfahrungen größer und
die theoretischen Grundlagen dieser Reaktion mehr erforscht sind.
K. Ullmann: Das im Vortrag sowie in dem vorgebrachten Tatsachen¬
material, sowie in der dem Vortrag folgenden Aussprache hat allem Anscheine
nach für die Praxis weder für die Diagnose noch insbesondere für die Luestherapie
leider jene sicheren Handhaben gebracht, die die wissenschaftlich arbeitenden
Ärzte seit langem erhoffen.
Der Patient hat ja gewiß den Anspruch, wenigstens vom erfahrenen Fach¬
arzte eine rationelle, dem Stande der Forschung entsprechende Behandlung zu
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Sitzungsberichte.
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erhalten, aber für uns alle, die wir gewissenhaft Vorgehen wollen, die großen
Opfer und Mühen einer längeren Behandlung würdigen und in ein angemessenes
Verhältnis zu letzterer zu bringen bemüht sind, hat sich diesmal noch leider kein
neuer Gesichtspunkt ergeben; im Gegenteil, einzelne Tatsachen könnten fast
entmutigend und verwirrend auf uns wirken, wie insbesondere die behauptete
Wirkungslosigkeit der Therapie auf den pathologisch veränderten Liquor u. a.
Dies wäre vielleicht der Fall, wofeme wir nicht doch einen sicheren Halt für unser
Vorgehen in der Praxis noch aus den früheren, langjährigen Erfahrungen zu
finden vermöchten. Wir dürfen eben vor den vorläufigen Ergebnissen einer
wohl exakten, aber doch noch neuen Forschung nicht ohne weiteres kapitulieren
und insbesondere nicht durch diese Tatsachen unsere langjährigen klinischen
Erfahrungen beeinträchtigen lassen.
Die hohen Prozentzahlen der pathologischen Liquorveränderungen ver¬
schiedenen Grades, wue sie seit Ravauts ersten Befunden durch zahlreiche
Forscher, Dermatologen und Neurologen, hier durch Königstein, Kyrie, für
die Lues, selbst auch für deren Frühstadien erbracht wurden, konnten uns —
zumal im Anfang — sehr überraschen; aber wir dürfen diesen Zahlen sozusagen
nicht aufsitzen und bis zu einem gewissen Grade der vis medicalis naturae ver¬
trauen.
Schon zu dem Vortrage Königstein über dasselbe Thema in der Gesell¬
schaft der Ärzte vor mehr als einem Jahre habe ich mich in diesem selbigen Sinne
geäußert, nämlich dahin, daß die große statistisch erhebbare Zahl der Liquor¬
veränderungen zusammengehalten mit den relativ kleinen, klinisch symptoma¬
tisch, bzw. grob anatomisch feststellbaren Schädigungen und Erkrankungen
des Zentralnervensystems durch die luetische Allgemeininfektion doch eigent¬
lich eher etwas Tröstliches als etwas deprimierendes für uns haben müßte. Denn
schon in der Vorsalvarsanperiode betrugen ja die Höchstziffem der Nerven¬
kranken und Spätstadien bei Zivil- und Militärpersonen nur zwischen 4, höchstens
10% (Befunde von Pilcz und Mattauschek u. a.).
Seit den zehn bis zwölf Jahren der Salvarsanbehandlung ist es ja vor allem
der stetig zunehmende Wegfall der durch Abortion jetzt heilbaren und größten¬
teils auch geheilten frischen primären Fälle, welcher die Gesamtzahl der luetischen
Nervenläsionen bei den einmal sichergestellten luetisch Infizierten noch erheblich
verringert hat.
Anders liegt die Frage für die bereits seropositiv gewordenen primären,
sekundären und gar spätluetischen Fälle. Hier liegt der Einfluß, ihr Nutzen
eventuell sogar Schaden der intensiven Therapie auf die Beteiligung des Zentral¬
nervensystems noch durchaus nicht klar genug. Es wäre auch noch die Zeit der
Beobachtung als vergleichende, z. B. für die Statistik der Tabes dorsalis noch
etwas zu kurz. Wir finden heute noch alle Auffassungen vertreten, optimistische,
überaus skeptische, welche sogar behaupten, die intensive Frühtherapie jage
die Spirochäten förmlich in das Zentralnervensystem und die Auffassung,
die Therapie beeinflusse den Gang der nervösen Komplikationen überhaupt
nicht wesentlich. — Auch abgesehen von den früher leicht übersehbaren, heute
leicht erkennbaren und auch heilbaren Neurorezidiven in der ersten Zeit der
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Sekundärperiode ist die Zahl der Gehirn- und Rückenmarkserkrankungen noch
immer sehr groß, ja vielleicht im Steigen begriffen. Inwieferne hier die allgemeinen
Ernährungs-, die Kriegs- und sonstigen Verhältnisse auch eine ätiologische Rolle
spielen, vermag ich nicht zu beurteilen, doch auch ein häufigeres Befallen werden
in späteren Stadien des Zentralnervensystems durch Ausfall der natürlichen
Abwehrstoffe, Immunkörper durch die wohl ziemlich weitgehende, aber doch
nur unvollkommene Sterilisierung des Organismus im ersten, jetzt durch die
fortgesetzte energische Therapie fast immer symptomfreien Sekundärstadium
schwebt dem nüchtern denkenden Arzte gewiß manchmal vor. Ein sicherer
statistischer Hinweis, der diesen Zusammenhang erweisen oder widerlegen
könnte, ist meines Wissens seit und für die Salvarsanperiode noch nicht erfolgt.
Es fehlen auch noch die entsprechenden diagnostischen Kenntnisse für die Früh¬
diagnose der Nervenlues beim praktischen Arzte, und erst seit wenigen Jahren
beginnt das hier so notwendige Zusammenwirken der Neurologen mit den Dermato¬
logen.
Wenn hier nun heute wieder betont wurde, daß Pleozytose und Globulin¬
vermehrung an sich nur den Ausdruck meningealer Reizung, durchaus nicht
immer aber den einer Erkrankung des Nervenapparates selbst bedeuten, so hat
dies auch klinisch alle Wahrscheinlichkeit für sich. Diese histologischen Meningo¬
rezidiven Gennerichs sind offenbar teils vorübergehende katarrhalische Reizungen,
gewissermaßen Exantheme, analog etwa den normalen, makulösen Exanthemen
der Haut, die oft genug auch spontan schwinden. Diese alle endolumbal zu
behandeln, ohne daß auch ausgesprochene Herderscheinungen am Nerven¬
system vorhanden sind, wäre wohl sicher nicht gerechtfertigt, technisch undurch¬
führbar, selbst dann, wenn der Optimismus der Amerikaner wirklich gerecht¬
fertigt wäre. Nach dem, was ich tatsächlich von der endolumbalen Therapie
gesehen habe, glaube ich nicht an bleibende, gute Erfolge, abgesehen von den
theoretischen Gegengründen, über die ich mich schon einmal früher hier geäußert
habe. Ebensowenig wie parenchymatöse Injektionen in das Zerebrum oder unter
die Hirnhäute, glaube ich an die genügende und bleibende Heilwirkung einer
Lokalbehandlung des gesamten Zentralnervensystems vom Lumbalsack aus.
Mehr erhoffe ich mir von dem systematischen Ausbau und Forschritt der
Chemotherapie, die es vielleicht gestatten wird, schon in der ersten Zeit post
infectionem die Sterilisierung des Organismus zu erzielen, ohne durch die Intensität
der Behandlung die Organe toxisch zu schädigen.
Einen weiteren Schritt auf diesem Gebiete hat jüngst Professor Koile
durch die Herstellung einer neuen organischen Arsenquecksilberverbindung,
das Silbersalvarsan-Natrium, getan sowie durch ein weiteres Präparat, das
Sulfoxylatsalvarsan. Die beträchtliche Verringerung der Toxizität, Herab¬
setzung des Arsengehaltes auf ein Drittel bei gleicher Spirülozidie ist gleichfalls
ein großer Fortschritt. Es wird von Nervenkranken, z. B. Tabikern, sehr gut
vertragen, ebenso bei Lucs cerebrospinalis u. a.; ohne jedoch ein Spezifikum für
Nervenkranke darzustellen. In Fällen von schweren Neurorezidiven und Er¬
krankungen der Sinnesorgane, Auge und Ohr, in den ersten Jahren nach der
Infektion und bei jungen Leuten habe ich es auch mit Ausschluß des Quecksilbers
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ebenso wie mit leicht löslichen Hg-Präparaten kombiniert, als sehr wirksam
gefunden. Irgendwelche erhebliche Schädigungen im Verlaufe ganzen Jahres habe
ich nie von diesem Präparate gesehen. Bei luetischen Veränderungen der großen
Gefäße ist allerdings große Vorsicht geboten wegen der vasomotorischen Neben¬
wirkungen des Präparates. Hingegen ist das zweite Präparat, das Sulfoxylat-
salvarsan, noch nicht reif für die praktische Anwendung an Kranken. Es wirkt
ähnlich wie die im Körper schwer aufschließbaren Kakodylpräparate, stellt
einen sehr remanenten, lange im Kreislauf zirkulierenden Körper dar, der schlie߬
lich offenbar den Körper größtenteils unzersetzt wieder verläßt. Früher oder
später wird das derzeitige Ziel der Chemotherapie, durch organische Arsenpräpa¬
rate allein und ohne Schädigung der Organe die Spirochäten auch im Binde¬
gewebe aufzusuchen und auf bequemere Weise zu vernichten, hoffentlich doch
zu erreichen sein.
Die Kombination einer solchen quecksilberfreien Therapie aber mit Fieber
erregenden Proteinsubstanzen, subkutane Milchinjektionen, wie sie ja gerade
von Vertretern der Wiener Schule begonnen und angeregt und schon mit Erfolg
versucht wurden, aber auch schon systematisch im ersten Jahre als prophylak¬
tische Behandlung bei allen seropositiv gewordenen Fällen im Sinne Kyrles
durchgeführt, das Erscheint mir als ein aussichtsreicher, jedenfalls für die Praxis
gangbarer Weg. Freilich müssen auch darüber erst Erfahrungen von Jahren
gesammelt werden.
Ich habe diesem Ziele zuliebe vorläufig die seit 30 Jahren von Lang und
mir begründete Graue-Öl-Therapie beiseite gestellt, umsomehr als die Bereitung
dieses Präparates wegen Paraffinmangels auf Schwierigkeiten stößt, aber durch¬
aus nicht etwa, weil ich mein 20% graues öl als ein gefährliches Präparat
betrachten mußte, als wie es von mancher Seite, offenbar nur auf Grund falscher
Technik, hingestellt wird.
Kyrie (Schlußwort): Im Verlaufe der Aussprache sind eine Reihe inter¬
essanter Mitteilungen erfolgt, die aber zum allergrößten Teil nicht als direkte
Kritik meiner Ausführungen anzusehen sind, sondern gewissermaßen nur als
Illustrationsdaten dafür, wie kompliziert die Liquorfrage im ganzen ist und wie
weit wir uns eigentlich noch vom Ziele, alle Vorkommnisse hiebei restlos zu
verstehen, befinden. Es würde zuweit führen, auf alle in der Diskussion gebrachten
Einzelheiten einzugehen, ich will darauf nur insoweit reflektieren, als sie mir
eine Handhabe bieten, gewisse Ergänzungen zu meinen früheren Ausführungen
zu bringen.
Ich knüpfe an die Bemerkungen des Herrn Kollegen Redlich an und
stelle zunächst die Übereinstimmung zwischen seiner und meiner Auffassung
hinsichtlich Bewertung der einzelnen Liquorreaktionen fest. Ich glaube ebenso
wie Herr Redlich, daß uns die verschiedenen Liquorreaktionen verschiedenes
sagen, daß man insbesondere zwischen Eiweiß-Globulin-Reaktionen und Lympho¬
zytose einerseits, Wassermannreaktion und kolloidchemischen Proben anderseits
unterscheiden muß, daß beide verschiedenes anzeigen. Wie die Verhältnisse
im Detail liegen, darüber läßt sich dermalen allerdings nichts Sicheres aussagen,
inwieweit der Sitz der Spirochäten inner- oder außerhalb des Parenchyms für das
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Vorhandensein der einen oder anderen Reaktion maßgebend ist, werden erst
entsprechende pathologisch-anatomische Befunde aufzuklären vermögen. Und
diesbezüglich wird uns meiner Meinung nach Zufallsmaterial aus dem Sekundär-
stadium eher die Zusammenhänge erkennen lassen, als solches aus späteren
Perioden der Erkrankung; denn dort, wo der pathologische Zustand im Heranreifen
begriffen ist, sind die Aussichten, die Geschehnisse richtig beurteilen zu können,
größer, als wenn schon mehr oder weniger fixe Verhältnisse gegeben sind. Der¬
malen verfügen wir nun eigentlich noch kaum über genügend anatomische Be¬
funde, um bezüglich des kausalen Verhältnisses zwischen Liquor Veränderungen
bei frischer Sckundärlues und Ansiedelung der Spirochäten in den verschiedenen
Regionen des Zentralnervensystems, bzw. der Meningen auch nur einigermaßen
sichere Orientierung gewinnen zu können; alles, was hierüber gelehrt und gesagt
wird, beruht mehr weniger auf hypothetischer Grundlage. Die „Meningitis 1 *,
die wir zur Erklärung für die so oft ohne jedes klinische Symptom verlaufenden
Liquorveränderungen während des Sekundärstadiums heranziehen, ihren Sitz
und ihre Ausdehnung, hat im anatomischen Präparat bisher niemand so recht
gesehen, ebenso wenig wissen wir eigentlich auch über das Verhalten der Spiro¬
chäten hiebei — kurz, hier bedürfen die Dinge vielfach noch durchaus einer
Klärung. Klinische Beobachtung und auch noch so objektive Kritik allein
werden uns in diesen Fragen kaum zu dem gewünschten Ziele bringen; patho¬
logisch-anatomische Befunde brauchen wir, welche uns die oft so außerordentlich
kompliziert liegenden Verhältnisse erklären helfen.
Zur Illustration dafür, wie schwierig sich die Deutung von Liquorverände¬
rungen gelegentlich gestaltet und wie wenig man unter Umstanden durch die
Annahme einer spezifischen Meningitis befriedigt werden kann, will ich einen
Fall mitteilen, den ich durch mehrere Jahre beobachten konnte.
Im Juli 1917 wurde eine Patientin — es handelte sich um eine kräftige
junge Person — mit ganz jungen Sklerosen in Behandlung genommen. Spiro¬
chätenbefund positiv, W. R. negativ. Es wird eine Abortivkur durchgeführt:
2 g Neosalvarsan, 14 Hg-Injektionen. Die W. R., im Verlaufe der Kur wiederholt
kontrolliert, zeigt ein einziges Mal, und zwar nach der zweiten Salvarsaninjektion
(0*60) „Spur“ positiven, sonst immer negativen Befund. Wir hielten den Fall
für einen „echten“ Primärfall. Am Ende der Kur wird lumbalpunktiert; vöDig
normale Verhältnisse bezüglich Eiweiß-Globuline und Lymphozyten, das 'Wasser¬
manninstitut meldet: Liquor „Spur“ positiv. Damals glaube ich, solchen „Spuren“
im Liquor eine gewisse Bedeutung beimessen zu müssen, und entschloß mich zur
Weiterbehandlung. Patientin bekam noch zwei Neosalvarsaninjektionen zu
je 0*60, ferner ließ ich sie durch wiederholte Vakzineinjektionen (ich verwendete
Arthigon) neunmal fiebern (Temperatur bis 39°). Nachher neuerliche Lumbal¬
punktion. Zu meiner Überraschung fanden sich jetzt komplett positive Eiweiß-
Globulin-Reaktionen und ein Lymphozytengehalt von 102 Zellen. Die W. R. im
Liquor war jetzt negativ. Mit diesem Befund wußte ich nun, offen gesagt, nichts
Rechtes anzufangen — die Patientin zeigte, wie ausdrücklich festgestellt sein
soll, klinisch keinerlei Symptome irgendeiner Erkrankung — neigte aber doch
mehr der Auffassung zu, daß die Lues hierfür verantwortlich zu machen sei und
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entschloß mich zu noch weiterer Behandlung. Patientin erhielt während der
nächsten vier Wochen noch drei Neosalvarsaninjektionen ä 0*60, gleichzeitig
intensive Fiebertherapie. Die nachher ausgeführte dritte Punktion ergab wieder
negative W. R. im Liquor, die Eiweiß-Globulin-Befunde waren aber ebenso wie
das zweitemal positiv, wohl ein wenig schwächer, die Lymphozytenzahl betrug
jetzt 76. Nun habe ich die Patientin aus der Kur entlassen. Ein Jahr später
konnte ich bei ihr die Liquorkontrolle durchführen und dabei völlig normalen
Befund erheben. Was den Fall noch besonders interessant gestaltet, ist der
Umstand, daß sich die Patientin etwa dreiviertel Jahre nach der letzten Kontroll¬
punktion mit sicherer Reinfektion einstellte. Auch jetzt war der Liquor normal
und blieb es auch während und nach der Kur. Hier liegen nun doch recht merk¬
würdige Verhältnisse vor! Eine ganz frische Luesinfektion mit negativem Wasser¬
mann, am Ende einer Kur, die durchwegs genügt, um solche Fälle abortiv zur
Heilung zu bringen, normale Liquorverhältnisse (die „Spuren“ W. R. dürfen
wohl kaum zu hoch gewertet werden); im Anschlüsse an fortgeführte Behandlung
wird nun der Liquor plötzlich nach der Eiweiß-Globulin- und Lymphozyten¬
seite hin komplett positiv. Weitere intensive Behandlung vermag daran so gut
wie nichts zu ändern. Schließlich verschwinden diese Veränderungen spontan,
die Patientin reinfiziert sich, der beste Beweis dafür, daß sie von ihrer ersten
Erkrankung geheilt war. Hier wird man doch unwillkürlich zur Vorstellung
gedrängt, daß die Liquorveränderungen vielleicht überhaupt nicht spezifischer
Natur waren! Zum mindesten greift man mit einem gewissen Widerstreben zur
Vorstellung, daß bei dieser jungen Infektion am Ende der eigentlichen Kur
während weiterbchandelt wird, eine spezifische Meningitis zur Entwicklung
kommt, die sich gegenüber weiterer energischer Therapie so außerordentlich
refraktär verhält, ganz im Gegensatz zu den Erfahrungen, wie man sie sonst
in solchen Fällen macht. Meiner Meinung nach liegt es hier näher, auf die Therapie
als Agens für die erwähnten Vorkommnisse zu rekurrieren; allerdings läßt sich
über die intimeren Zusammenhänge nichts Näheres aussagen*. Daß unter Salvarsan-
therapie Liquorveränderungen manifest werden können, ist ja bekannt; Genne-
rich spricht diesbezüglich geradezu von Gesetzmäßigkeiten, er meint bekanntlich,
daß ruhende Spirochätenherde irritiert werden und baut darauf seine Provokations¬
methode bei latenten Fällen auf. Ob alle seine Annahmen zutreffend sind, soll
hier nicht erörtert werden, eigene Erfahrungen bestimmen mich nach mancher
Richtung zu einer gewissen Skepsis. Darüber aber kann kein Zweifel sein, daß
wir bei Salvarsantherapie während der Sekundärperiode gar nicht so selten mit
einer gewissen irritativen Komponente, die in dem Hervortreten von Liquor¬
veränderungen zum Ausdruck kommt, zu rechnen haben; die Statistik, die Herr
Kollege Königstein bezüglich behandelter und imbehandelter Fälle hier mit¬
geteilt hat, spricht ganz in diesem Sinne. Die Frage der sogenannten Neurorezidive
steht ja damit im innigen Zusammenhang. Wie die Dinge im einzelnen miteinander
verknüpft sind, das wissen wir allerdings noch nicht, trotz der reichen Literatur,
die vorliegt und der mannigfachen Behauptungen, daß das Rätsel der Neuro¬
rezidive gelöst sei. Es fehlen eben auch hier noch die entsprechenden pathologisch¬
anatomischen Grundlagen. Ohne im Detail auf die Frage der Neurorezidive
Jahrbücher für Psychiatrie. XLI. Bd. 3. n. 3. Heft. 19
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eingehen zu wollen, möchte ich nur auf einen Punkt verweisen, aus dem sich so
recht erkennen läßt, daß wir bezüglich der Frage: Salvarsantherapie und Auf¬
treten von Liquorveränderungen noch durchaus nicht den Weg ins Freie gefunden
haben. Es ist Ihnen bekannt, daß, als sich bald nach Einführung des S&lvarsans
in die Praxis die Zahl der Neurorezidiven auffällig häufte, die Art der Behandlung
hiefür verantwortlich gemacht wurde. Die Fälle seien durchwegs zu wenig intensiv
behandelt worden, statt der Sterilisation hätte man die Irritation erreicht, beide
Extreme lägen sehr nahe nebeneinander, Ehrlich sprach von Konträreffekt.
Nun wurde allerorts intensiv behandelt, tatsächlich sank daraufhin die Zahl
der Neurorezidiven, aber von einem absolut sicheren Ausschalten dieser Gefahr
kann auch bei noch so intensiver Behandlung nach den üblichen Methoden nicht
die Rede sein. Je mehr man sich mit der Liquordiagnostik im Sekundärstadium
der Lues beschäftigt, je reicher die Erfahrungen werden, die man zu sammeln
Gelegenheit hat, um so skeptischer muß man, es darf dies nicht verschwiegen
werden, bezüglich Beurteilung unseres therapeutischen Könnens werden. Wenn
man Fälle sieht, und jedem, der sich mit systematischen Liquorstudien beschäftigt,
müssen solche Unterkommen, wie bei relativ* frischer sekundärer Lues — ich
könnte Ihnen die Krankengeschichten einer ganzen Reihe von solchen Patienten
demonstrieren — auch die intensivste Therapie nicht ausreicht, um den Liquor
in Ordung zu bringen, wie einige Wochen später die Befunde genau so, ja gelegent¬
lich noch schlechter sein können als vor der Therapie, wenn man auf Fälle trifft,
die bei Eintritt in die Kur negativen Liquor zeigten, intensivst behandelt werden,
bis der Serum-Wassermann auf Minus gebracht ist und gelegentlich darüber — und
nach drei Monaten kommt der Kranke mit komplett positivem Liquor; wenn man
solche Vorfälle in den verschiedensten Kombinationen miterlebt — ich habe hier
nur ein paar Beispiele angeführt — so kann man ab und zu förmlich mutlos werden.
Meine Herren, ich habe bis auf die endolumbale Behandlung alles versucht, was
an Behandlungsmethoden zur Verfügung steht. Ich bin bezüglich Intensität der
Salvarsan-Therapie bis an die Grenze des überhaupt Möglichen gegangen, und
wenn Sie mich heute, nachdem ich mich nun mehrere Jahre mit diesen Dingen
abgemüht und durch die verschiedenen Behandlungsphasen durchgerungen habe,
fragen, wie man diesen Liquorverhältnissen am besten beikommt, mit welcher
Methode die besten Resultate erzielt werden, so kann ich darauf eigentlich keine
sichere Antwort geben. Völlig Befriedigendes habe ich dort und da nicht gesehen.
Es gibt ja natürlich Fälle, wo die Dinge ganz nach Wunsch verlaufen, aber die,
wo es nicht glatt geht, sind es, die unsere besondere Aufmerksamkeit verdienen.
Ich möchte nicht mißverstanden werden, ich bin weit davon entfernt, das Salvarsan
gering einzuschätzen und den großen Fortschritt, den wir der Einführung desselben
besonders durch die glänzende Wirkung im Primärstadium zu danken haben,
zu verkennen; aber es ist noch nicht alles getan; wir sind in der Salvarsantherapie
noch nicht über den Berg, das, was wir jetzt zu leisten imstande sind, kann
meiner Meinung nach noch nicht das Letzte sein; gerade dadurch, daß man
Vorkommnisse der Art, wie sie uns beim Studium der Liquorverhältnisse ent¬
gegentreten, entsprechend berücksichtigt, daß wir uns bezüglich Suffizienz der
heute üblichen Therapie in dieser Richtung keiner Täuschung hingeben, wird
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Sitzungsberichte.
287 .
vielleicht wieder rascher ein neuer Weg gefunden, der bessere Erfolge bringt.
Ansätze dazu sind ja da. Ich erinnere beispielsweise an die Vorschläge Gennerichs
bezüglich Behandlung der sekundären Lues, der zu seinen radikalen Maßnahmen
offenbar auch nur deshalb gegriffen hat, weil er bei der usuellen Hg-Salvarsan-
therapie auf dieselben ungünstigen Liquorverhältnisse gestoßen ist, wie ich sie
früher kurz skizziert habe. Ob die Vorschläge Gennerichs in der Praxis Ver¬
wirklichung finden werden, ob insbesondere die endolumbale Behandlung während
des Sekundärstadiums in jenem Maße wird durchführbar sein, wie es Gennerich
für nötig hält, muß dahingestellt bleiben. Sollten die Erfolge tatsächlich um so
viel bessere sein, dann wird man sich zu diesem Vorgehen entschließen müssen.
Denn das muß doch das Hauptstreben unserer Therapie im Sekundärstadium
sein, neben allen anderen auch die zerebralen und meningcalen Lokalisationen
der Spirochäten sicher zu treffen, um so jene Herde zu beseitigen, von denen wir
alle glauben, daß sie den Ausgangspunkt für die später auf tretenden syphilogenen
Nervenerkrankungen darstellen. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob man aus der
Statistik über latente Lues, wie ich sie gebracht habe, ablesen will, jeder Träger
eines positiven Liquors muß als Kandidat für Tabes, Paralyse oder Lues cerebri
angesehen werden, oder eine Reihe von derartig stigmatisierten Individuen wird
diesem Schicksale nicht verfallen, weil wir aus solchen Feststellungen für unser
Handeln während des Sekundärstadiums nichts Rechtes ableiten können. Wir
wissen.nicht, bei welchem Patienten, der sich beispielsweise ein Jahr nach der
Infektion befindet und positiven Liquor trägt, dies ein Anzeichen für spätere
Paralyse darstellt, und bei welchem nicht. Darum müssen wir in der Sekundär¬
periode, wollen wir die Tabes, Paralyse und Lues cerebri treffen, bestrebt sein,
jeden positiven Liquor in Ordnung zu bringen. Ganz anders liegen meiner Meinung
nach die Verhältnisse in den späteren Stadien der Lues, besonders in der Spät¬
latenz. Ich habe meinen Standpunkt diesbezüglich im Vortrag genau präzisiert.
Tatsächlich glaube ich, und hierin befinde ich mich in einem gewissen Gegensatz
zu Herrn Redlich, in Übereinstimmung mit Herrn Wagner-Jaurcgg, Finger
und noch einigen anderen Diskussionsrednern, daß unter den von mir festgestellten
positiven Liquorfällen nicht alle jene schweren Krankheitszustände bekommen
werden, die wir mit solchen Liquorverhältnissen sonst verbinden. Ich glaube, daß
für einen Großteil der Fälle der pathologische Liquor nicht sehr viel bedeuten wird.
Ich habe dies in meinem Vortrage ja schon motiviert, und will hier noch betonen —
damit beant Worte ich auch zugleich eine Anfrage der Herrn Kollegen Redlich —
daß ich in der Auswahl der Fälle bezüglich Alter der Infektion möglichst kritisch
zu sein trachtete; wo wir nur halbwegs feststellen konnten, daß es sich erst um ein
paar Jahre alte Lues gehandelt hat, haben wir sie aus der Latenzstatistik aus¬
geschaltet. Das Gros der Fälle, die wir zu Schlüssen heranzogen, stand gewiß
um das zehnte oder jenseits des zehnten Jahres nach der Infektion. In der aus¬
führlichen Bearbeitung des Materiales, die durch die Herren Brandt und Mras
erfolgen wird, wird selbstverständlich auf das Alter der einzelnen Kategorien
genau Rücksicht genommen werden. Natürlich bleibt es immer nur Mutmaßung,
wenn man das Alter der Erkrankung zu bestimmten Schlußfolgerungen im nega¬
tiven Sinne heranzieht. Herrn Redlich ist durchaus zuzustimmen, wenn er sagt.
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man könne erst in ein paar Jahren sicher entscheiden, was die positiven Liquores
bei unseren Kranken bedeuten, wenn man eben sehen wird, was aus den Patienten
geworden ist. Nun, einiges kann ich diesbezüglich schon sagen. Ich kenne jetzt
doch schon eine Reihe von solchen Patienten durch mehr als drei Jahre; im
Laufe dieser Zeit konnten noch bei keinem ingendwelche auffällige Veränderungen
beobachtet werden, trotzdem der Liquor unverändert positiv geblieben ist — bei
an und für sich alten Fällen doch immerliin schon eine beachtenswerte Kontroll-
zeitl Weitere Beobachtungen werden uns hier schließlich das Richtige bringen.
Dermalen kam es mir nur darauf an, daß Tatsachenmaterial aufzuzeigen und an
der Hand desselben, die Liquorfrage aufzurollen. Die ausführliche Diskussion,
welche sich an den Vortrag angeschlossen hat, zeigt, daß es hier noch tatsächlich
der Dinge genug gibt, die einer Besprechung bedürfen, daß wir uns hier noch durch¬
aus nicht in einem dem Abschlüsse nahen Gebiete befinden. Wenn meine Unter¬
suchungen dazu beitragen sollten, die ganze Frage zu fördern, so wäre ihr Zweck
damit vollauf erreicht.
Sitzung vom 24. Februar 1920.
Vorsitzender: Wagner-Jauregg.
Schriftführer: Pollak.
Zu Mitgliedern gewählt: Prof. J. Meller, Frau Dr. Stroß, Dir. Dr. F. Kohn.
Demonstrationen:
Ko ge rer zeigt Präparate von Ammonshornveränderungen bei Status
epilepticus. (Erschien in der Zeitschr. f. d. g. Neur. u. Psych.)
Gerstmann und Schilder demonstrieren eine 30jährige Patientin,
welche Haltung und Aussehen einer Paralysis agitans-Kranken hat. Doch ist
der Tremor etwas unregelmäßiger. Die Bauchdeckenreflexe fehlen. Eine Pupille
reagiert träger. Es bestehen Blasenstörungen. Die Tonusstörung ist besonders
eigenartig. Wiederholte passive Bewegungen rufen eine exzessive Tonussteigerung
hervor. Dieses Verhalten und das Fehlen der Fixierung passiv gegebener Stellungen
durch den Hypertonus scheiden diese Hypertonie von der typischen der Paralysis
agitans-Fälle. Die Vortragenden erinnern daran, daß bei Pseudosklerosefällen
Hypertonus reflektorisch ausgelöst, respektive verstärkt werden kann. Doch
gelingt in diesen Fällen die Auslösung des Hypertonus auch durch aktive Bewe¬
gungen, Hautreize, einzelne passive Bewegungen. Die Tonusstörung hält also
die Mitte zwischen der Tonusstörung der Pseudosklerose und der der Paralysis
agitans. Eine weitere klinische Diagnose kann derzeit nicht gestellt werden.
Wassermann im Blut und Liquor negativ. Leber intakt. Die Erkrankung besteht
erst seit vier Monaten und ist progredient.
(Erschien ausführlich in der Zeitschr. f. d. g. Neur. u. Psych.)
Vorläufige Mitteilung: E. Freund: Zur Physiologie der Schwei߬
sekretion. (Erschien ausführlich in der Wiener klin. Wochenschrift.)
Diskussion:
Karplus: Der Vortragende hat den Adrenalinversuch Diedens erwähnt.
Ich möchte darauf hinweisen, daß dieser Versuch in den Rahmen einer Reihe von
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Sitzungsberichte.
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Überlegungen und Untersuchungen hineingehört, die dieser Autor über die
doppelte Innervation der Schweißdrüsen angestellt hat. Er hatte
schon früher einen interessanten Pilokarpinversuch mitgeteilt. Er durchschnitt
einer Katze den Ischiadicus und wartete, bis Reizung des peripheren Stumpfes
keine Schweißsekretion mehr hervorrief; nun spritzte er dem Tiere Pilokarpin
ein und sah, sobald er den Ischiadicusstumpf elektrisch reizte, die auf Pilokarpin
eingetretene Schweißsekretion aussetzen. Er schloß, daß zwar die schweißerregen¬
den Fasern im Nervenstamm schon degeneriert waren, nicht aber die schwei߬
hemmenden; in ähnlicher Weise gehen nach Nervendurchschneidung die Vaso-
constriktoren früher zugrunde als die Vasodilatatoren. Später berichtete Dieden
über Adrenalinversuche mit positivem Erfolg nach Durchschneidung des Ischia¬
dicus oder der hinteren Wurzeln, und er sah auch in diesem Ergebnis einen Hin¬
weis auf die Existenz von Fasern, welche die Schweißsekretion hemmen.
J. Bauer bemerkt, daß er schon vor Jahren auf die Schweißwirkung des
Adrenalins aufmerksam gemacht hat. Diesen Befunden dürfe nur keine allzu
große Bedeutung beigemessen werden, da das Adrenalin eben nicht nur das
sympathische, sondern auch das autonome Nervensystem reize.
Freund (Schlußwort): Zu den Ausführungen des Herrn Karplus möchte
ich erwähnen, daß ich die Arbeiten Diedens zitiert habe, und auch auf seine
Schlußfolgerungen bezüglich der hemmenden Fasern hingewiesen habe.
Was die Bemerkung des Herrn Bauer anlangt, so decken sich seine Beobach¬
tungen mit den zitierten Angaben von R. Schmidt. Immerhin glaube ich,
daß es sich bei diesen allgemeinen Wirkungen des Adrenalins um einen anderen
Mechanismus handelt, da bei der von mir beschriebenen örtlichen Einwirkung
beider auch die Wärme eine Rolle spielt.
Aussprache zur Grippe-Encephalitis.
Referent: L. Dimitz. (Bericht nicht eingelangt.)
Diskussion:
Pal glaubt, daß diese Fälle doch in engstem Zusammenhang mit der Grippe
stehen dürften. Er beobachte jetzt das Auftreten einer Singultuserkrankung,
bei der sich immer eine intensive Rötung des Rachens und Gaumens finde, die
man auch immer bei der Grippe beobachten könne.
Stransky konnte bis vor wenigen Tagen unter den Fällen, die durch seine
Ambulanz hindurchgegangen sind, gleichfalls nicht ganz selten solche finden,
die den Aspekt epidemischer Encephalitis boten, und zwar von den verschiedenen
Typen, wie sie Dimitz hier dargestellt hat, auch solche, welche dem „lethar¬
gischen“ Typus nahekamen, beziehungsweise sein Bild darzubieten schienen.
Natürlich ist (in Ansehung der Anzeigepflicht kein ganz unwesentliches Moment)
nicht außer Acht zu lassen, daß bei der Beurteilung von Ambulanz- (und Sprech¬
stunden-) Material auch Trugurteile unterlaufen können. Stransky demonstriert
einen vor wenigen Tagen durch seine Ambulanz hindurchgegangenen und durch
ihn der Klinik des Hofrates Wagner-Jauregg zugeführten Fall, eine 18 jährige
Bankbeamtin betreffend, die Ende Dezember an einer übrigens recht fraglichen
Grippe erkrankt ist, wesentlich unter gastrointestinalen Störungen, auch einer
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Art „Aulstoßen“; nach Ablauf dieser Symptome Doppeltsehen; 14 Tage später
„Krämpfe“ in der rechten Hand, etliche Tage später auch solche im rechten
Bein; die Patientin ist derzeit vollkommen klar, psychisch absolut frei, afebril;
sie hat eine linksseitige Abduzensparese, eine leichtergradige Kontraktur in der
rechten Oberextremität mit deutlichen athetoiden Bewegungen in den Fingern,
Beeinträchtigung der Diadochokinese, Hemiataxie der rechten Hand, mäßigen
Rigor der rechten Unterextremität, die beim Gehen ein wenig nachgeschleppt
wird, Kniesehnenreflexe beiderseits, zumal rechts erhöht, Störung der Tiefen¬
sensibilität im Bereiche der rechten Hand, sonst subjektiv und objektiv keine
belangreichen positiven Symptome (Facialisphänomen bestand beiderseits durch
mehrere Tage, ist seither wieder verschwunden), Fundus normal; serodiagnosti¬
scher Befund, Blut und Liquor negativ. Dagegen im Röntgenbilde Hyperostose
des Schädels; Zeichen intercranieller Drucksteigerung, Impressiones digitatae
deutlich verstärkt, Sella-Gegend ohne Besonderheiten. Fälle lenterierender
Entwicklung von Herdsymptomen insonderheit von Hirnstammsymptomen bei
Grippe beziehungsweise in Fällen, die als epidemische Encephalitiden aufzufassen
gewesen wären, sind gewiß nicht unbekannt (z. B. von Economo und von Grosz
beobachtet); allein im vorliegenden Falle ist dieAnnamnese trotz des vagen Hin¬
weises auf eine angebliche Grippeerkrankung nicht eindeutig, der Status praesens
ist es erst recht nicht, wenigstens nicht für den Augenblick. Natürlich haben aber
Fälle solcher Art lediglich den Wert vielleicht notwendiger Ergänzungen nach der
negativen oder arbiträren Seite hin zu den so sehr wertvollen Beobachtungen
Economos und des Vortragenden. Stransky möchte schließlich, zumal
angesichts der jüngsten Mitteilung Massaris (aus der Abteilung Exners),
Beobachtungen, wie sie ja irgendwie fast jeder, der mit derlei Fällen zu tun
hatte, machen konnte, darauf hinweisen, daß auch eine nähere histologische
Untersuchung der in Frage kommenden Hirnnervenstämme in ihrem peripheren
Verlaufe vielleicht positive Ergebnisse liefern könnte.
Spiegel weist darauf hin, daß sich die Abgrenzung eigener Erkrankungen
nur dann rechtfertigen lasse, wenn man nachweisen könne, daß diese Erkrankungen
durch einen besonderen pathologischen Prozeß, sei es seiner Natur oder seiner
Lokalisation nach, bedingt seien. Das vorläufige Ergebnis der histologischen
Untersuchung, welche Redner gemeinsam mit Frau Dr. Adolf bisher in fünf
Fällen durchführte, zeigt, daß den Fällen von Encephalitis epidemica, die jetzt
beobachtet werden, Hyperämie, Blutung und Infiltration zugrunde liegen.
Die Hyperämie ist in allen Fällen hochgradig. Schon makroskopisch zeigt sich
die Schnittfläche von zahlreichen Blutpunkten durchsetzt, respektive flecken¬
förmig, violett gesprenkelt, so daß schwerere Veränderungen an Stellen vor-
ge täuscht werden, die sich histologisch nur hyperämisch erweisen. Die Blutung
ist in der Regel auf den adventitiellen Lymphraum beschränkt, in einem Falle
fanden sich auch über stecknadelkopfgroße Hämorrhagien in Mark der Hemi¬
sphären. Die Infiltration ist vorwiegend mononucleär, meist perivasculär an¬
geordnet; sie tritt meist gegenüber der Hyperämie und Blutung ganz in den
Hintergrund. Es handelt sich also in den meisten Fällen um eine anscheinend
toxisch bedingte Purpura, welche in manchen Fällen mit einer Entzündung
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verbunden sein kann. Die Stärke der histologischen Veränderung entspricht
keineswegs der Schwere der Erkrankung und der hochgradigen Prostration der
Patienten, die vielmehr auf eine allgemeine Intoxikation zurückgefühlrt werden
müssen.
Der geschilderte Prozeß kann alle Teile des Zentralnervensystems befaHen,
bevorzugt aber die graue Substanz insbesondere der Stammganglien. Dies läßt
uns einen Teil der Symptomatologie verstehen. Besonders interessant war der
Befund eines Falles, bei dem choreiforme Bewegungen das Bild beherrschten.
Es fanden sich Hyperämien in der Rinde, außerdem im Putamen kleine Blutungen
und Infiltrationen. Der Zusammenhang der choreatisch-athetotischen Bewe¬
gungen mit den Läsionen im Bereich des Linsenkems ist ja seit Anton, Oppen¬
heim, Vogt usw. bekannt und durch die Beziehungen dieses Ganglions zum
Rubersystem verständlich. Das Auftreten choreatischer Bewegungen scheint
aber nichts für diese Fälle Charakteristisches zu sein, da man ja solche Bewegungs¬
störungen nach Rubeolen, Scarlatina, Erysipel, selbst im Sekundärstadium
der Lues (Dej6rine) beobachtet hat. Das Betroffensein des Putamens macht viel¬
leicht auch das Auftreten des merkwürdigen Rigors verständlich, welcher der
Starre des Morbus Wilson nahezustehen scheint (vgl. Economo, Reinhart,
Nonne).
Das Symptom der Schlafsucht kann heute noch nicht mit Sicherheit
auf eine bestimmte Lokalisation bezogen werden. Die Fälle von Polioencephalitis
superior Wernicke können wegen der diffusen Ausdehnung der Veränderungen,
die Fälle von Tumoren im zentralen Höhlengrau wegen der Druckwirkung auf
die Hirnbasis für eine genauere Lokalisation des „Schlafzentrums“ nicht in
Betracht kommen. Die Ptose ist bei der Ausdehnung der Veränderungen bei
Polioencephalitis superior leicht verständlich und beweist noch nicht, daß
gerade in der Umgebung des Aquaeductus Sylvii das fragliche Zentrum zu suchen
sei. Auch ist unverständlich, warum bei gleicher Lokalisation um den Aquädukt
nur in einem Teil der Fälle von Polioencephalitis super. Schlafsucht vorkommt.
Andererseits zeigt sich in der Klinik der Thalamuserkrankungen, also in Fällen,
welche eine Leitungsunterbrechung zwischen Peripherie und Cortex aufweisen,
wie es die Mauthnersche und etwas modifiziert die Trömnersche Hypothese
fordern, in der Regel keine Schlafsucht. Die Bedeutung, welche der Hirnrinde,
wenigstens beim Menschen, auch für das Zustandekommen des Schlafes zukommt,
ist nicht zu übersehen, finden sich doch bei der Nelanane der Neger die Ver¬
änderungen vorwiegend im Kortex. Der Mechanismus, der zum Schlafe führt,
scheint ein sehr komplexer, auch innersekretorische Einflüsse (Hypophyse!)
dürften eine Rolle spielen. An welchem Punkte bei den beobachteten Encephalitis-
Fällen die Störung einsetzt, läßt sich bei der diffusen Ausbreitung der Verän¬
derungen nicht sagen. Die histopathologische Untersuchung beweist nur die
enge Zusammengehörigkeit der Fälle, welche unter dem Bilde choreatischer
Bewegungsstörungen, und jener, die mit Schlafsucht verlaufen. Sie müssen in
ihrer Pathologie und Genese gemeinsam betrachtet werden.
H. Schlesinger bringt Beiträge, welche für die ätiologische Rolle der
Urippe bei Encephalitis sprechen. Eine Saalepidemie, welche von einem Kranken
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mit Grippe-Pneumonie ausging, zog bei drei Nachbarn Encephalitis, darunter
eine mit Pneumonie nach sich. Eine Pflegerin auf einem Grippezimmer er¬
krankte unter hohem Fieber, Lungenerscheinungen und Zuckungen der Ober¬
schenkelmuskulatur.
Die Zahl der Erkrankungen scheint sehr groß zu sein. Sch. hat über zwei
Dutzend Fälle gesehen. Viele rudimentäre und atypische Formen dürften leicht
übersehen werden. So hat Redner eine unter hohem Fieber aufgetretene Fazialis¬
lähmung bei einer Pflegerin im Beginn der Epidemie beobachtet, welche erat
später richtig gedeutet werden konnte. Isolierte Neuritiden von Extremitäten¬
nerven, Neuralgien, vom Fieber begleitet, Zuckungen einzelner Muskelgruppen
können solche Formes frustes der nervösen Grippe sein.
Die Encephalitis lethargica Economos und die choreiformis gingen in den
beobachteten Fällen mehrmals ineinander über. Manche der Kranken boten
Züge von beiden Typen dar. Da auch beiden Typen die gleiche Ätiologie — Grippe
zukommt, dürfte es sich um dieselbe Krankheit mit verschiedener Lokalisation
handeln.
In letzter Zeit hat Redner foudroyante Formen gesehen. Bei einem
Kranken verlief die Encephalitis in 36 Stunden letal.
Auffallend ist der Parallelismus der Affektion mit der Heine-Medinschen
Erkrankung. Wie bei der letzteren ist bald ein großer Teil des Nervensystems,
bald ein kleiner Abschnitt desselben betroffen. Einmal sind es isolierte Neuritiden
oder Neuralgien, dann wieder Neuritiden oder Meningitiden, Encephalitiden oder
Eneephalo-myelitis. Dimitz hat heute demonstriert, daß auch die Vorderhorn-
Lokalisation der Grippe-Erkrankung zukommen kann. Allerdings sind lethar¬
gische und choreiforme Encephalitiden bei Heine-Medinscher Erkrankung bisher
nicht gehäuft beobachtet worden.
Economo: Die jetzige Encephalitis-Epidemie ist dasselbe wie die Ence¬
phalitis lethargica. Das geht daraus hervor, daß viele Fälle, ohne das hyper-
kinetische Stadium durchzumachen, direkt die Augenmuskellähmimgen und
Schlafsucht bekommen; andere Fälle haben das somnolente und hyperkinetische
Stadium nacheinander. Es ist ein Fehler, eine „Encephalitis choreiformis“
daraus machen zu wollen, denn bei dem Polymorphismus der Encephalitis
lethargica könnte jeder Autor, der ein neues Symptom beobachtet, eine eigene
Krankheit „konstruieren“. Man könnte z. B. bei der heurigen Epidemie eine
Encephalitis tabiformis beschreiben, da nicht weniger als 60 bis 60% der Fälle
Pupillenstörungen auf weisen, und zwar von Anisokorie und Reaktion» trägheit
bis zum echten einwandfreien Argyll-Robertson; auch das Fehlen der Sehnen¬
reflexe ist nicht selten. Solche Fälle haben während anderer Epidemien schon
Naef und Nonne beobachtet. Auch die hyperkinetische Form ist schon von
Siemerling vor einem Jahre in Kiel und vor einem Monat in Italien beobachtet
worden, woher sie wahrscheinlich der Mitte Jänner herrschende Südwind her¬
geführt haben dürfte. Merkwürdigerweise ist aber in Italien bei sonstiger Gleich¬
heit aller Symptome keine solche Regelmäßigkeit der Pupillenstörungen beob¬
achtet worden. Überhaupt ist es sonderbar, wie die Symptomatologie von Epi¬
demie zu Epidemie sich ändert ; jede Epidemie von Encephalitis lethargica ist
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durch die Häufigkeit einer bestimmten Gruppe von Fällen ausgezeichnet, die ihr
ein bestimmtes Gepräge geben und die in anderen Epidemien nur sporadisch
Vorkommen. So z. B. ist die heurige Epidemie von Encephalitis lethargica epi¬
demica durch die Hyperkinese ausgezeichnet; aber noch etwas unterscheidet
die jetzige Epidemie von demfrüheren, und das ist ein wichtigeres Symptom, als
die gelegentlich auch schon 1916/17 von mir gesehene Hyperkinese, und zwar
die viel schwerere allgemeintoxische Erkrankung, die der Herr Vorredner nicht
erwähnt hat. Die Kranken fiebern meist, haben herpes labialis, sie zeigen eine
schwere Prostration und eine rapide Abmagerung und Verfall; hinter diesen
Symptomen treten die nervösen Symptome oft sogar in den Hintergrund; während
bei der Epidemie 1916/17 die Patienten meist nur insofern krank waren, als Sym¬
ptome von Seiten des Z. N. S. vorhanden waren, hat man jetzt den deutlichen
Eindruck, daß zwei Dinge nebeneinander laufen, eine schwere toxische Störung
und eine relativ geringere durch die Lokalisation der encephalitischen Herde.
Dem entspricht auch das histologische Bild. Während man bei der Epidemie
1916/17 das ganze obere Zentralnervensystem von Herden übersät fand, findet
man jetzt zwar dieselben encephalitischen Herde, aber man muß danach aufmerk¬
sam suchen! Dagegen sieht man mehr ödem, blasse Färbung der Zellen und
bloße Vermehrung der Gliakerne ziemlich diffus wie bei anderen toxischen Pro¬
zessen. Wiesner hat auch bei den jetzigen Fällen den Diplostreptococcus pleo-
morphus wiedergefunden, was wohl beweist, daß es sich um dieselbe Erkrankung
handelt; doch scheint heuer die allgemeininfektiöse Wirkung des Kokkus vorzu¬
herrschen und diese „grippeartigen 14 Erkrankungen zu erzeugen, die wir heuer
gleichzeitig mit der Encephalitis auftreten und abnehmen sehen und bei der die
Internisten wiederholt den Diplostreptococcus pleomorphus gefunden haben.
Wiesner: Da die Frage nach der Ätiologie der Encephalitis mehrfach
angeschnitten wurde, besonders von Herrn Dimitz, möchte ich doch auch
einige Worte Vorbringen. Im Jahre 1917 habe ich bei den Schlafsuchtsfällen
Economos einen Diplostreptococcus nachgewiesen, den ich später auf Grund
eingehender biologischer Untersuchungen als Streptococcus pleomorphus bezeich¬
net habe und als eine besondere Streptococcusform auffaßte. Auf Grund meiner
kulturellen und tierexperimentellen Untersuchungen bin ich zur Überzeugung
gelangt, daß dieser Kokkus der Erreger der Encephalitis lethargica ist, worin ich
später noch bestärkt wurde, insofeme ich auch bei einer Reihe von einschlägigen
Fällen nach meiner Mitteilung konstant den gleichen Erreger nachweisen konnte.
In diese Zeit fällt auch ein Tierexperiment, welches ich Ihnen kurz mitteilen
muß. Es handelte sich um einen Affen, der intrazerebral mit bakterienfreier
Gehimemulsion eines Encephalitisfalles geimpft wurde und die Infektion voll¬
kommen symptomlos vertrug, d. h. anscheinend nicht erkrankte. Sieben Tage
später wurde derselbe Affe mit einer Reinkultur von Streptococcus pleomorphus
wiedergeimpft, mit einer Kultur, die bereits durch mehrere Generationsimpfungen
weitergezüchtet wurde, daher wohl als eine von vielleicht nicht erkennbaren
Beimengungen freie Kultur angesehen werden konnte. Vier Stunden nach der
Impfung ging das Tier unter Konvulsionen zugrunde; die Sektion ergab akute
Lungenblähung, frische Ecchymosen in den serösen Häuten und den Faszien
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der Nackenmuskulatur, so daß ich den Tod als im anaphylaktischen Shok ein-
tretend annehmen mußte. Dieses Experiment beweist aufs neue zumindest die
Pathogenität beziehungsweise hohe Toxizität des Streptococcus pleomorphus.
In der Folgezeit hatte ich dann keine Gelegenheit, an geeignetem Material meine
Untersuchungen fortzusetzen, bis ich im Jänner dieses Jahres ein Lumbalpunktat
einer Enc. lethargica zugesandt bekam, in welchem der Streptococcus pleomorphus
in Reinkultur nachgewiesen wurde. Es gelang also, auch den Kokkus aus dem
Material des Lebenden reinzuzüchten, so daß der Einwand der Streptococcus
pleomorphus wäre eine postmortale Verunreinigung des Gehirns mit dem Blute
widerlegt ist. Nebenbei möchte ich wohl bemerken, daß wir nicht darauf rechnen
können, den Streptococcus pleomorphus stets aus dem Lumbalpunktat nachzu¬
weisen. Von der ätiologischen Bedeutung des Streptococcus pleomorphus für
die Entstehung der Enc. lethargica bin ich für meinen Teil somit vollkommen
überzeugt.
Nun zu den Fällen des heurigen Jahres. Von 33 obduzierten Fällen soge¬
nannter Encephalitis choreiphormis habe ich fünf wenige Stunden nach dem Tode
obduzierte Fälle nach der von mir im Jahre 1917 angegebenen Methode- bak¬
teriologisch untersuchen lassen. Das Ergebnis ist, daß in vier Fällen zum Teil
in Reinkultur wieder der Streptococcus pleomorphus nachgewiesen wurde. Der
fünfte Fall war stark verunreinigt; aus ihm konnten die Streptokokken nicht
nachgewiesen werden. Es könnte dies etwa darauf zurückzuführen sein, daß
der immerhin zartwüchsige Streptococcus pleomorphus durch das konkurrierende
Wachstum der Verunreinigungen in seiner Entwicklung unterdrückt worden ist.
Wenn wir uns auf den Standpunkt stellen, daß der Streptococcus pleomorphus
tatsächlich der Erreger der Encephalitis lethargica ist, so würden diese neuerlichen
Befunde besagen, daß ätiologisch die Encephalitis lethargica und die Ence-,
phalitisfälle von 1920 identisch sind, daß diese sich lediglich durch Variation
der hauptsächlichen histologischen Veränderungen unterscheiden, daß wir also
eine unitäre Erkrankung vor uns hätten. Ich glaube in Ruhe eine berechtigte und
begreifliche Kritik meiner Befunde abwarten zu können, die meine derzeitige
Auffassung der Bedeutung des Streptococcus pleomorphus endlich doch bestätigen
dürfte. Sollte mit stichhältigen* Argumenten die Unrichtigkeit meiner Unter¬
suchungen dargetan werden, so würde ich mich sofort den neuen Tatsachen
fügen. Die Beglaubigung neuer Befunde braucht zumeist Zeit; ich erinnere nur
an das Schicksal des Weichselbaumschen Meningococcus, der sich trotz aller
anfänglichen Anfechtungen heute wohl zu allgemeiner Anerkennung durch¬
gerungen hat, und ich nehme an, daß ein gleiches sich auch hinsichtlich des
Streptococcus pleomorphus ereignen wird.
Sitzung vom 9. März 1920.
Vorsitzender: Wagner-Jauregg.
Schriftführer: Pollak.
I. Demonstration:
E. Redlich demonstriert einen 24jährigen Mann mit Myoklonusepi¬
lepsie. Vater und Mutter blutsverwandt. Beginn der myoklonischen Zuckungen
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mit acht Jahren beim Sehen in die Sonne, zuerst in der Nackenmuskulatur,
danri sich^allmählich ausbreitend und heftiger werdend. Mit zwölf Jahren nach
einem Schädeltrauma Auftreten von Zuckungen in der Nacht unter Andauem
derselben und Bewußtlosigkeit. Seitdem ähnliche Anfälle in Zwischenräumen
von drei bis vier Monaten; gelegentlich auch bei Tag Übergang der Zuckungen
in einen epileptischen Anfall. Ein beobachteter Anfall ergab Bewußtlosigkeit,
starre Pupillen, nach demselben beiderseitiges Babinski. Psychische Erregungen
verstärken die myoklonischen Zuckungen; sie werden unter Umständen so heftig,
daß Patient beim Gehen hinstürzt. Luminal hat günstigen Einfluß. Der Fall
unterscheidet sich von den Unverricht-Lundborgschen Fällen durch den Mangel
der Heredität und dadurch, daß hier zuerst die myoklonischen Zuckungen und
dann erst — unter Verstärkung derselben — die epileptischen Anfälle auftraten.
Vorläufige Mitteilung: H. Brunner: Über experimentelle Versuche
über den Einfluß der Röntgenstrahlen auf das reifende Gehirn. (Erschien aus¬
führlich an anderer Stelle.)
Diskussion:
A. Schüller: Im Röntgen-Institute Holzknecht hat Herr Kollege Lenk
einige Epileptiker mit Röntgenstrahlen behandelt; nach vorübergehender Besse¬
rung trat eine yresentliche Verschlimmerung auf, so daß die Behandlungsversuche
wieder bald aufgegeben wurden.
Economo erinnert daran, daß seinerzeit von Moebius schon allgemeine
Wachstumsstörungen nach Großhimoperationen an jungen Tieren verzeichnet
wurden; ob trophische Funktionen des Großhirns für den wachsenden Organismus
bestehen, sei allerdings nicht nachgewiesen, doch zeigen die Versuche Brunners,
daß man an solche Beziehungen denken könne. Ferner fragt Econo mo, ob dem
Vortragenden die Wirkung der Röntgenstrahlen auf die Centrosomen bekannt sei
und ob eine solche Wirkung histologisch nachgewiesen sei (spezif. Färbungs¬
methoden der Centrosomen könnten hier Aufklärung schaffen); denn es sei
immerhin auffallend, daß die x-Strahlen hauptsächlich auf die Regeneration der
Zellen deletär wirken, mehr als auf die ruhende Zelle.
Allers verweist auf die Veröffentlichungen von Ceni und seinen Mit¬
arbeitern, welche bei experimentellen Hirnläsionen Wachstumstörungen und
andere Veränderungen des Körpers beschrieben und auf von ihnen beschriebene
Alterationen der Keimdrüsen bezogen haben.
Fortsetzung der Aussprache zur „Grippe-Encephalitis“.
F. Deutsch weist darauf hin, daß die bakteriologische Untersuchung der
Nasenschleimhaut bei der Encephalitis epidemica und Grippe, die bei beiden
Prozessen zuerst erkrankt, möglicherweise Aufschluß über die ätiologische
Identität dieser beiden Krankheiten geben könnte. Es würde sich darum handeln,
vor allem Frühfälle zur Untersuchung zu bekommen, bei denen, abgesehen von
der trockenen Entzündung der Nasenschleimhaut, keine Krankheitslokalisation
vorhanden ist.
Es wird über einen Fall berichtet, bei dem am ersten Tag der Erkrankung
ein Diplococcus in Reinkultur aus der Nasenschleimhaut gewonnen wurde, bevor
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noch irgend welche andere Krankheitssymptome außer Fieber vorhanden waren.
Als kurt darauf eine Pneunomie sich ausbildete, war dieser Diplococcus bereits
von anderen Bakterien derart überwuchert, daß er auf der Nasenschleimhaut
nicht mehr gefunden wurde. Dieser Fall beweist, wie wichtig die rechtzeitige
Untersuchung der Nasenschleimhaut sein kann.
A. Weiß: M. H. Herr Prof. Wiesner hat in der letzten Sitzung darauf hin¬
gewiesen, daß weitere bakteriologische Befunde die Frage der Einheit der ver¬
schiedenen Grippe-Encephalitisformen lösen könnten. Ich kann Ihnen einen
Beitrag hiezu liefern. Ein 31 jähriger Eisendreher erkrankte anfangs Jänner unter
leichtem Fieber, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Unruhe, Rededrang und
heftigen Schmerzen im rechten Bein und wurde einige Tage später mit der Diagnose
Grippe auf meine Abteilung in das allgemeine Krankenhaus Klosterneuburg
gebracht. Er bot damals das Bild einer schweren Chorea, indem sich an Zuckungen
im rechten Bein, die unter heftigen neuralgischen Schmerzen auftraten, lebhafte
Mitbewegungen in Form von Jaktationen anschlossen. Der Rededrang wurde
durch singultusartige Kontraktionen des Zwerchfelles häufig unterbrochen. Auf¬
fällig war der aufgeregte Zustand des Kranken, der Tag und Nacht seine Umgebung
mit umständlichen Schilderungen und Erklärungsversuchen seines Zustaudes
belästigte. Trotz der Anwendung narkotischer Mittel war der Patient tagelang
nicht zum Schlafen zu bringen. Der Nervenstatus ergab damals bis auf herab¬
gesetzte P. S. R. nichts Auffälliges, namentlich waren keine deutlichen Zeichen
einer Ischias nachweisbar. Etwa neun Tage nach dem Krankheitsbeginn hörten
die Schmerzen des Kranken ebenso wie seine Zuckungen auf. Wenige Tage später
und es trat ein deliranter Zustand ein, der alsbald von einer schweren Schlafsucht
abgelöst wurde. In diesem Stadium fieberte der Patient zwischen 37 und 38 Grad,
die anfänglich niedrige Pulsfrequenz stieg auf 120, der Puls wurde klein und un¬
regelmäßig und der Patient verfiel trotz regelmäßiger Nahrungsaufnahme. Die
Pupillen waren eng, träge reagierend, Ptosis beiderseits, rechts mehr als links,
rechtsseitige Fazialis- und Abduzensparese, leichter Nystagmus des Auges,
vorübergehend leichte Nackensteifigkeit. P. S. R. fehlend. Die Schlafsucht
war dadurch gekennzeichnet, daß der Kranke mit nicht erhobener Stimme an
ihn gerichtete Fragen sofort beantwortete, wobei nie der Eindruck entstand,
daß der Übergang aus dem Schlafzustand in den wachen eine auch nur kurze
Latenz benötigt, wie wir es vom normalen Schlaf her kennen. Auffällig war auch
das Schlafen mit halb offenen Augen und der äußerst seltene Lidschlag im wachen
Zustande, der bei dem durch die geringere Ptosis weniger geschützten linken
Auge zu einer Konjunktivitis, beziehungsweise Keratitis e lagophthalmo führte.
Dieser Schlafzustand, teilweise durch mussitierende Delirien unterbrochen, nahm
langsam an Intensität ab, und derzeit befindet sich der Patient, der durch seine
Erkrankung sehr heruntergekommen war, nur noch in einem leicht schläfrigen
Zustand. Ein während des Verlaufes aufgetretenes Erysipel des Unterschenkels,
von einer Kratzwunde ausgehend, schien keinen Einfluß auf den Verlauf zu
nehmen. Die am 14. Tage vorgenommene Lumbalpunktion ergab unter erhöhtem
Druck ausfließenden, anscheinend klaren Liquor, dessen durch Herrn Wiesner
vorgenommene Untersuchung eine Reinkultur von Streptococcus pleomorphus
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ergab. Die Krankengeschichte ergibt mit Klarheit, daß ein vollausgebildeter
Fall von choretischer Encephalitis in einen Fall übergehen kann, der alle Sym¬
ptome der von Economo beschriebenen Fälle von Encephalitis lethargica aul¬
weist, so daß wohl kein Zweifel an der ätiologischen Einheit dieser zwei Formen
auftauchen kann. — Ein etwas später von mir beobachteter Fall von choretischer
Encephalitis, der einen 45 jährigen Beamten betraf und vor wenigen Tagen im
Krankenhause Klosterneuburg ad exitum kam, und vollständig den von Dimitz
beschriebenen Fällen glich, zeigte während seines durch lebhafte Beschäftigungs¬
delirien ausgezeichneten Verlauf einzelne Tage, an denen er mit seiner aus¬
gesprochenen Ptosis und Schlafsucht ein den lethargischen Fällen ähnliches Bild
bot. Leider erlitt sein durch Lumbalpunktion gewonnener Liquor auf dem Trans¬
port Verunreinigungen, so daß das Untersuchungsresultat nicht verwertbar Ist.
Sein Gehirn wird von Herrn Wiesner untersucht werden.
M. Weiß: Bei der Differenzialdiagnose zwischen tuberkulöser Meningitis
und Encephalitis hat sich uns auf der ersten medizinischen Abteilung die Unter¬
suchung des Harnes auf die Permanganat- oder Urochromogenprobe bewährt.
Ebenso wie diese Probe bei der überwiegenden Mehrzahl der Grippefälle negativ
ist, so fehlte sie auch in den von mir beobachteten Fällen von Encephalitis. In
ihrem Aspekt kann ja eine tuberkulöse Meningitis und eine Encephalitis außer¬
ordentlich ähnlich sein. Es dürfte daher von Nutzen sein, wenn man eine zu¬
mindest grob orientierende Probe besitzt, welche einen Hinweis in einer gewissen
Richtung gewährt. Herr Kollege Klaften, welcher auch seine Aufmerksamkeit
diesem Punkte zuwendete, hatte die Freundlichkeit, mir mitzuteilen, daß er auch
bei Untersuchung von zehn Encephalitisfällen die Permanganatprobe immer
negativ fand. Nehme ich dazu meine eigenen zehn Fälle, so dürften wir wohl
berechtigt sein, diese Hamprobe zur Differentialdiagnose heranzuziehen. Für
diejenigen, welche mit der Technik der Probe weniger vertraut sind, erlaube
ich mir, sie zu demonstrieren.
Es dürfte in diesem Kreise ferner von Interesse sein, die Ergebnisse der
Untersuchung der Urochromogenprobe bei Geisteskrankheiten zu erfahren.
Demole hat in der Revue neurologique vom Jänner 1914 seine diesbezüglichen
Erfahrungen niedergelegt in seiner Arbeit: ,,La r6action de Moriz Weiß dans
les maladics mentales“. Geisteskrankheiten geben an sich keinen Anlaß zur Uro-
chromogenbildung. Erst durch andere Krankheiten bewirkte Schädigungen des
Stoffwechsels tun dies. Das Erscheinen dieser Reaktion im Verlaufe der Psychosen
ist ein alarmierendes Symptom nach Demole und seine Persistenz ist das Zeichen
eines sehr prekären Zustandes, welches zu einer äußerst reservierten Prognose
zwingt. An einigen Beispielen zeigt Demole, wie die Permanganatprobe eine
interkurrente Tuberkulose aufdecken half. Sehr lehrreich ist eine Mortalitäts¬
statistik von D. Unter 139 Psychosen waren 118 in Bezug auf die Urochromogen-
ausscheidung völlig negativ; ihre Mortalität betrug bloß 2*5%. Unter den vor¬
übergehend positiven elf Fällen war schon 27% Mortalität und bei den zehn
permanent Positiven 60% für eine Dauer von bloß 2% Monaten berechnet. Die
Überlebenden der letzten Gruppe waren aber alle als prognostisch infaust zu
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betrachten. Die zahlreichen negativen Fälle beweisen D., daß ausgesprochene
Geisteskrankheit mit körperlicher Gesundheit einhergehen kann.
Infeld: In Bezug auf die Neigung zu Erkrankung ist es bemerkens¬
wert, daß im Gegensatz zu allen anderen Altersstufen unter den Greisen eines
Altersversorgungsheimes keine Erkrankung vorgekommen ist, während bei den
epidemisch auftretenden Erkrankungen der letzten Jahre den verschiedenen
Dysenterien und jenen Krankheiten, deren auffällige Symptome auch sonst bei
Greisen häufig sind, der Ödemkrankheit und der mit Häutblutungen einher¬
gehenden Krankheit, Greise häufig befallen wurden und obgleich diesmal mehrere
jüngere Hausgenossen, Pflegerinnen und Diener erkrankten.
Einige Beobachtungen beziehen sich auf einzelne Symptome. Eine 34 jährige
Pflegerin, die an Encephalitis erkrankt war, bekam nach dem Ablauf der
schweren Symptome und als das Fieber fast geschwunden war, Hautblutungen;
diese traten durch 14 Tage auf, waren linsengroß, etwas erhaben, schmerzhaft
und erschienen teils einzeln, teils und vorwiegend in Gruppen von gestreckt
elliptischer Form, teilweise symmetrisch an den Gliedmaßen und am Rumpf.
Bei einer 40 jährigen Frau mit Encephalitis (Beschäftigungsdelirien, Hirn¬
nervenlähmung, stdßartige Zuckungen) bestand mitten in dem ausgedehnten
Verlauf der Krankheit durch einige Tage neben mäßiger Nackensteifigkeit
Detrusorlähmung.
Bei einem Neuropathischen mit Gripperezidiv (45jährig, erste Erkrankung
Ende Dezember ohne geistige Störung, zweite Mitte Februar), der nach wenigen
Tagen an plötzlichem Kollaps starb und bei dem die Obduktion eine ganz frische
Grippepneumonie ergab, bestand die geistige Störung, während sie bei dieser
Krankheit so häufig die Form von Besehäftigunsgdelirien hat, in zunehmender
Angst und unaufhörlichem Rededrang bei Schlaflosigkeit.
Nicht alle während einer Epidemie auftretenden Erkrankungen wird man
jener zurechnen; so wäre es wenig begründet, die Fälle von peripherer Fazialis¬
lähmung auf die Epidemie zu beziehen, wie es vielfach versucht wurde.
Gerstmann macht zur Frage der Symptomatologie und der Benennung der
jetzt epidemisch auftretenden Encephalitis — auf sonstige einschlägige Fragen
geht er wegen der vorgerückten Zeit nicht ein — kurz und zusammenfassend
folgende Bemerkungen:
Was die erstere betrifft, so meint er auf Grund der von ihm an einem großen
Material angestellten Beobachtungen, daß das Prägnanteste an der klinischen
Symptomatologie der Fälle der jetzigen Encephalitisepidemie im wesentlichen
in zwei charakteristischen Momenten gegeben erscheint: Einerseits stehen wir
vor einer bunten Mannigfaltigkeit von Krankheitserscheinungen entsprechend
der offenbar disseminierten Lokalisation des pathologischen Prozesses an ver¬
schiedenen Abschnitten des Z. N. S. Wir finden bei den jeweiligen Fällen in dem
momentan gegebenen Zustandsbilde bald eine wohl charakterisierte Psychose mit
vorwiegenden ausgesprochenen Beschäftigungsdelirien ganz von der Art des
Delirium tremens vorherrschend, bald stehen im Vordergründe desselben eigen¬
artige motorische Reizerscheinungen teils nach Art choreatischer Bewegungs¬
störungen, teils vom Typus der psychomotorischen Unruhe oder der Jaktationen,
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sehr oft auch noch kombiniert mit kurz dauernden psychischen Störungen, die
sich entweder im Sinne einer maniak&lischen Erregung oder eines gewissen Grades
von Desorientiertheit und Unbesinnlichkeit mit Neigung zu illusionärer Auf¬
fassung der Umgebung äußern, bald wieder dominiert eine mehr oder minder
ausgesprochene krankhafte Schlafsucht, die sich in manchen Fällen bis zu einem
tiefen Sopor steigern kann, verbunden mit Herderscheinungen in Form von
Augenmuskelstörungen und sonstigen Himnervenaffektionen, welche Lethargie
in der Regel erst auf das Stadium der motorischen Unruhe folgt, oder aber es
liegen schließlich schwere bulbäre und pontine Erscheinungen als hervor¬
stechendste Störungen vor, wobei zwischen den einzelnen klinischen Erschei¬
nungstypen fließende Übergänge bestehen. Dazu kommt noch das eigentümliche
Verhalten der Temperatur, die bei den verschiedenen Fällen und auch bei einem
und demselben Fall zu verschiedenen Zeiten stark variiert, zumeist einen sub-
febrilen Charakter zeigt, nicht selten gar nicht über 37 Grad kommt, manchmal
bis 39 Grad und auch darüber hinausgeht, wobei die interne Untersuchung eine
adäquate Grundlage für eine derartige Temperatur sehr oft nicht aufzudecken
vermag und eine Parallelität zwischen dem Verhalten der Temperatur und der
Schwere des Krankheitsbildes sich gar nicht feststellen läßt.
Aus dieser symptomatologischen Mannigfaltigkeit heben sich anderer¬
seits einzelne bestimmte Symptome hervor, die — wie es sich zeigt — mit einer
derartigen Häufigkeit nachzuweisen sind, daß sie fast als konstante, typische
Zeichen gewertet werden können. Hierher gehören eigenartige lokalisierte, in
ihrer Intensität und in ihrer Erscheinungsweise wechselnde, im wesentlichen
klonische Zuckungen, hauptsächlich im Bereiche der Zwerchfell- und der Bauch¬
muskulatur, Zuckungen, die manchmal nur Isoliert und einseitig, zumeist aber
beiderseits in unregelmäßiger Aufeinanderfolge und asymmetrischer Weise auf-
treten, im Schlafe nicht sistieren, öfters mit schmerzhaften Sensationen an den
betreffenden Stellen vergesellschaftet sind und je nach ihrer Ausprägung zu ver¬
schiedenen lokomotorischen Effekten im Bereiche des Rumpfes führen. Hieher
gehören ferner Pupillenstörungen, die in verschiedenen Intensitätsgraden auf-
treten, von nur unausgiebiger Pupillenreaktion bis zur völligen absoluten oder
auch reflektorischen Pupillenstarre. Weiters eigentümliche, unregelmäßig lokali¬
sierte, zumeist flüchtige neuralgiforme Schmerzen zu Beginn der Erkrankung.
Schließlich vorübergehendes Doppeltsehen in den ersten Phasen derselben.
Diese Mannigfaltigkeiten der Symptomatologie und Flüchtigkeit der Krank¬
heitserscheinungen einerseits, die relativ konstante Nachweisbarkeit der letzt¬
genannten Symptome andererseits verleihen dem Zustandsbilde der jetzigen
Encephalitisepidemie ein besonderes Gepräge.
Zur Frage der Benennung möchte ich nun kurz meinen, daß es dem tat¬
sächlichen Sachverhalte am ehesten entsprechen würde, die hierhergehörigen
Fälle lediglich mit der Bezeichnung „Encephalitis epidemica“ zu belegen. Es
liegen wirklich keine zwingenden objektiven Gründe vor, dieser unpräjudizier-
lichen Bezeichnung noch irgend einen Namen hinzuzufügen. Wir können bei der
jetzigen Encephalitisepidemie von einer Encephalitis choreiformis ebensowenig
sprechen, wie wenig wir bei derselben von einer Encephalitis lethargica oder von
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einer Encephalitis psychotica oder von einer Encephalitis mvoclonica u. dgl.
reden können. Denn die choreatischen Bewegungsstörungen waren ja nur in
einem Bruchteil der Fälle dominierend, und sie waren ferner in denjenigen Fällen,
in denen sie zur Beobachtung gelangten, nur vorübergehender Natur, öfters auch
mit psychotischen Störungen obengenannter Art kombiniert, die nicht selten
überhaupt sehr bald das Krankheitsbild beherrschten, und wurden schließlich
von einer langanhaltenden Schlafsucht abgelöst. Eine Erkrankung, in der wohl
umschriebene psychische Störungen, verschiedenartige motorische Reizer¬
scheinungen, wie psychomotorische Spontanäußerungen, Jaktationen, choreatische
Bewegungsstörungen, isolierte oder universelle klonische Zuckungen und sonstige
Unruhebew T egungen, ferner eine krankhafte Schlafsucht von verschiedener Inten¬
sität und verschiedener zeitlicher Ausdehnung, schließlich allerlei Herderschei¬
nungen in wechselnder Kombination und verschiedenen Nach- und Nebenein¬
ander zur Beobachtung gelangen, wobei noch schwere Störungen des Allgemein¬
befindens im Sinne einer zunehmenden körperlichen und geistigen Pros trat ion
bestehen, kann doch w'ohl kaum nach einem klinischen Symptom ihre Benennung
bekommen. Es ist nach allem, w r as wdr in der uns hier interessierenden Frage zu
sehen und zu hören Gelegenheit bekommen wohl am naheliegendsten, anzunehmen,
daß die von Economo beschriebene Encephalitis lethargica des Jahres 1917
wie auch die in den folgenden Jahren hierorts und in anderen Ländern beob¬
achteten einschlägigen Fälle, ferner die Fälle von Bulbärmyelitis und Encephalitis
des Hirnstammes, wie sie Nonne unlängst veröffentlicht hat, wie auch von anderen
Autoren publizierte analoge Fälle, schließlich die zahlreichen Fälle der jetzigen
Encephalitisepidemie eine gemeinsame Krankheitsgruppe darstellen, wenn auch
die Einheitlichkeit der Aetiologie und die Identität des pathologisch-anato¬
mischen Prozesses bisher noch nicht mit Bestimmtheit erwiesen ist. Es gebe
demnach nur eine Encephalitis epidemica mit verschiedenen Krankheitsäuße-
rungen und verschiedenen Verlaufsformen — offenbar einer wechselnden Lokali¬
sation des pathologischen Prozesses und vielleicht auch einer wechselnden biolo¬
gischen Beschaffenheit des Erregers entsprechend.
Sträußler: Unter Hinweis auf die Ergebnisse der bisherigen Aussprache,
nach welchen die Zusammengehörigkeit der Encephalitis lethargica und chorei-
formls und die engen Beziehungen dieser Erkrankungen zur Grippe nicht mehr
bezweifelt werden können, beschäftigt sich Str. mit der Histologie dieser Er¬
krankungen und erklärt, daß auch von diesem Standpunkte aus die Identität
der Encephalitis lethargica und der Encephalitis choreiformis sowie der Influenza¬
encephalitis bei der Epidemie 1889 bis 1892 außer Zweifel steht. Es handelt sich
um einen Prozeß, welcher allen Anforderungen, die für die Diagnose einer Ent¬
zündung maßgebend sind, entspricht.
Zwischen der Encephalitis lethargica und Encephalitis choreiformis gibt
es histologisch keine wesentliehen Differenzen. Innerhalb der gegenwärtig zur
Beobachtung gelangten Erkrankungen finden sich zwischen den einzelnen Fällen,
was die Intensität und die Lokalisation der Veränderungen betrifft, Unterschiede,
welche mitunter größer sind, als die Differenzen zwischen dieser Gruppe und
der Gruppe der Encephalitis lethargica. Man kann in dem einen Falle von Ence-
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phalitis chorciformis diffus über das ganze Zentralnervensystem sich erstreckende
relativ geringfügige Veränderungen finden, in dem anderen Falle auf ein kleines
Gebiet beschränkte, hochgradige Entzündungserscheinungen nachweisen. Die
Neuronophagie kommt auch bei der Encephalitis choreiformis vor, und zwar mit¬
unter in einer so exquisiten Entwicklung und Häufigkeit, wie es nicht einmal
bei der Encephalitis lethargica beobachtet wurde.
Die Beziehungen zwischen Blutung und Entzündung sind noch nicht
geklärt. Sicher ist nur, daß die Blutungen im histologischen Bilde der gegen¬
wärtigen Erkrankung eine relativ geringe Rolle spielen, eine geringere Rolle als
bei den Encephalitiden in den Jahren 1917, 1918 und 1919, wo aber auch die
allgemeine Neigung der Grippekranken zu Blutungen, außerhalb des Zentral¬
nervensystems, eine viel größere war, als in der gegenwärtigen Epidemie.
Für den Wechsel im klinischen Verlaufe haben die histologischen Unter¬
suchungen noch keine genügende Klärung gebracht. Die elementaren Herd¬
erscheinungen, wie insbesondere die Augenmuskelstörungen finden wohl in stärkeren
Entzündungserscheinungen in der Gegend der Augenmuskelkerne ihren Aus’*
druck, während sich hinsichtlich der Schlafsucht und pathologischen motorischen
Erscheinungen ein Parallelismus zwischen histologischem Befunde und dem
klinischen Bilde in lokalisatorischer Beziehung nicht ergibt. Man muß annehmen,
daß hier toxische Einflüsse eine Rolle spielen, welche im histologischen Befunde
nicht zum Ausdruck kommen, wofür auch der oft rasche Übergang von einem
Zustandsbilde in das andere im Verlaufe einer und derselben Erkrankung sprechen
dürfte. Sträußler erwartet von der histologischen Untersuchung von Grippe¬
fällen ohne nervöse Komplikationen eine Klärung dieser Fragen.
Schilder: Es ist daran zu erinnern, daß die Bewegungsstörung der Chorea
minor nicht nur durch die Zuckungen charakterisiert ist. Sehr wesentliche Sym¬
ptome sind die Mitbewegungen, die bei jeder Bewegungsintention in dem nicht un¬
mittelbar innervierten Gebiet auftreten (auch die Zuckungen verbreiten sich nach
dem gleichen Typus) und die Adiadochokinese. Die Mitbewegungen (und Mit-
zuckungcn) treten beim Gang und beim Sprechen besonders lebhaft auf. Beim
Aufrichten aus liegender Stellung ist die flexion combin6e von Babinski fast
regelmäßig zu beobachten: die Beine schnellen von der Unterlage in die Höhe.
Ein kleiner Teil der Fälle von Encephalitis epidemica entspricht diesem Bilde
wenigstens in den wesentlichen Zügen. Ein anderer Teil der Fälle ist klinisch
symptomatologisch ganz anders zu werten. Hier ist das Bild beherrscht von
Wälz- und Unruhebewegungen, die einerseits an die psychische Unruhe erinnern,
andererseits doch einen zwangsmäßig neurologischen Charakter tragen, und von
klonischen Zuckungen, welche von denen der Chorea minor verschieden sind.
Es ist beachtenswert, daß in diesen Fällen Mitbewegungen fehlen (auch die flexion
combinöe) und die Diadochokinese gut ist. Es können Mischungen dieser beiden
Typen Vorkommen, doch sind beide Motilitätssyndrome klinisch symptomatologisch
zu sondern. Die Frage der Lokalisation wird für beide Syndrome getrennt aufzu¬
werfen sein.
Pilcz: Redner hat den Eindruck, daß die Beschäftigungsdelirien bei der
choreiformen Encephalitis in folgenden Punkten sich von denen des Alkohol-
Jahrbücher für Psychiatrie. XLI. Bd. S. u. 8 . Heft. 20
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deliriums unterscheiden: Überwiegen der Beschäftigungsdelirien bei Zurück¬
treten der optischen und taktilen Halluzinationen (Zoopsien), mangelnde Sug-
gestibilität, häufig Fehlen der feinwelligen, schnellschlägigen Zungen- und Hände¬
tremores und der profusen Schweißausbrüche auf der Höhe der kräftigen Delirien.
A. Fuchs: Nachdem die Encephalitis choreiformis nach allen bisherigen
Erfahrungen als eine durch pathogene Mikroorganismen hervorgerufene In¬
fektion, als Grippe mit besonderer Lokalisation anzusehen ist, darf man wohl der
Vorstellung Raum geben, daß ein von pathogenen Mikroben erzeugtes Gift im
Organismus kreist. Ich möchte daran erinnern, daß wir im Guanidin ein solches
Gift kennen, mittels dessen im Tierexperiment ein choreatisches Krankheitsbild
hervorgerufen werden kann und welches auch als Methylguanidin bei Tieren
nachgewiesen wurde, die mit Septikämiebakterien geimpft worden waren. Ich
habe auf diese Zusammenhänge im Jahre 1914 in einer Experimentalarbeit hin-
gewiesen (Jahrb. f. Psych., Bd. 36, 1914) und die damaligen Untersuchungen
vom Gesichtspunkte der jetzigen Grippeepidemie aus wieder aufgenommen.
Während bei der chronischen Guanidin Vergiftung der Tiere die muskulären
Phänomene der Chorea experimentell erzeugbar sind, gelangten bei den damaligen
Versuchen einzelne Erscheinungen der tierischen Toxikose über den Rahmen auch
schwerer Choreaerscheinungen hinaus, Erscheinungen, welche jedoch jetzt bei der
Encephalitis gripposa choreatica in höchst merkwürdiger und auffallender Weise
anzutreffen sind.
Die Guanidinvergiftung äußert sich einigermaßen verschieden bei Kalt-
und bei Warmblütern. Da die älteren Versuche meist an Fröschen gemacht
wurden, wurde das Guanidin auf Grund dieser Experimente als ein an der Peri¬
pherie angreifendes Gift angesehen, etwa als Gegenstück des Curare. Die an
Warmblütern, speziell an Katzen, später wiederholten Experiment« zeigen jedoch,
daß außer der peripheren noch eine sehr wesentliche zentrale zerebrale und
medulläre Einwirkung besteht. Man kann mit dem Gifte bei Katzen alle Grade
choreatischer Unruhe hervorrufen, von einzelnen klonischen Zuckungen der
Bauch- und Rückenmuskeln oder der Gesichts- oder Extremitätenmuskeln an¬
gefangen bis zur schwersten universellen Chorea. In diesen Fällen schwerer
Vergiftung kommt es nun zu eigentümlichen Zerebralsymptomen — hochgradiger
psychomotorischer Unruhe oder Tobsucht, Schlaflosigkeit, aber gelegentlich auch
anhaltenden schlafähnlichen torporösen Zuständen. Bei der Obduktion fand sich
hochgradige Hyperämie der Organe, mehrfach fand ich zweifellose Pneumonien
und bei der seinerzeit im neurologischen Institut vorgenommenen Untersuchung
ließen sich regelmäßig Blutungen in der Hirnrinde und im Rückenmark nach-
weisen.
Diese Befunde konnte ich mir damals nicht erklären. Sowohl Herr Biedl,
unter dessen Leitung ich im Jahre 1914 im pathologischen Institut die Experi¬
mente vomahm, als Herr Marburg, welcher die Güte hatte, die mikroskopischen
Präparate des Gehirns und Rückenmarks anfertigen zu lassen und anzusehen,
waren der Ansicht, daß man bezüglich der Blutungen an Erstickungsphänomene
denken könne, obwohl ich durch die klinische Beobachtung nichts dafür Sprechen¬
des beobachten konnte. Unter den Gesichtspunkten der jetzigen Grippeerfah-
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Sitzungsberichte.
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rangen gewinnen auch diese Beobachtungen eine andere Beleuchtung. Denn es
ist jedenfalls bemerkenswert, daß durch das Tierexperiment auf toxikologischem
Wege die gleiche Symptomengruppierung erzeugt werden kann, wie sie durch die
Grippe hervorgerufen wird. Dazu kommt, daß das Guanidin und seine Stamm¬
körper, beziehungsweise Derivate dem Organismus durchaus nicht fremd sind
und daß als eine der Hauptstätten für die chemischen Umsetzungen dieser Körper
die Leber anzusehen ist, also ein Organ, in welchem bei einzelnen Hirnerkran¬
kungen, die mit muskulären Phänomenen einhergehen, Veränderungen nach¬
gewiesen wurden. Alle diese Momente lassen es indizierterscheinen, der chronischen
Guanidinvergiftung beim Tiere neuerlich näherzutreten und vferde ich über die
weiteren Versuche seinerzeit berichten.
E. Redlich bespricht die Beziehungen der Encephalitis epidemica zu
anderen Affektionen. Ein im vorigen Jahre beobachteter Fall abortiver Ence¬
phalitis lethargica zeigte klinisch — freilich akut und vorübergehend — das Bild
der echten Narkolepsie. R. weist weiter darauf hin, daß jetzt in Wien auch
Poliomyelitis, zurzeit von atypischem Verlaufe mit protrahiertem Fieber, vor¬
kommt. Zusammenhang mit der Encephalitis? Vermutlich dürften Aggluti-
nierungsversuche Entscheidung bringen. Er streift dann die Pathogenese des
Delirium tremens mit dem manche Fälle von Encephalitis epidemica große
Ähnlichkeit haben und meint, daß die Beobachtungen bei Encephalitis vielleicht
für erstere Bedeutung haben könnten.
Sitzung vom 23. März 1920.
Vorsitzender: Wagner-Jauregg.
Schriftführer: Schacherl.
Zum Mitglied gewählt: Hans Kurz-Goldenstein.
Demonstration:
Gerstmann stellt zwei Fälle von Encephalitis epidemica vor. (Bericht
nicht eingelangt.)
Diskussion:
Wexberg erwähnt den Fall eines 54 jährigen Mannes, der eine ganz ähn¬
liche halbseitige motorische Reizerscheinung wie der erste der beiden demon¬
strierten Fälle neben anderen, an Paralysis agitans erinnernden Symptomen
auf wies.
Economo erwähnt bezüglich seiner letzthin im Psychiatrischen Verein
gemachten Bemerkung über die Häufigkeit des Vorkommens von Pupillen¬
störungen (auch echten Argyll-Robertson) bei der heurigen Epidemie von Ence¬
phalitis lethargica, daß bei allen Fällen, die er bisher nach Ablauf der Krankheit
noch zu untersuchen Gelegenheit gehabt hat, dieses Symptom wieder ver¬
schwunden war.
Kar plus: Könnten die vorübergehenden Augensymptome vielleicht
toxischer Natur sein? Econo mo wird darüber vielleicht Aufklärung geben
können.
Economo: Auf eine Anfrage Karplus\ ob man diese Pupillenstörungen
nicht als toxisch auffassen könnte und nicht durch Herde hervorgerafen, er-
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Sitzungsberichte.
widert Economo, daß man recht wohl an peripher neuritisch toxische Vor¬
gänge denken könne. Auffallend sei es jedenfalls, daß die Fälle des Jahres 1916/17,
die viel mehr Okulomotoriusstörungen aufwiesen als die heurigen, nur sehr seltene
und sehr geringfügige Störungen von seiten Pupillen und Akkommodation aufwiesen,
zum Unterschiede von den heurigen, obwohl anatomisch die III. Kerne 1916/17
stark infiltriert waren. Eventuell könnte man auch an eine herdspinale Ursache
der Pupillenstörungen denken, zumal die pathologische Anatomie der heurigen
Epidemie eine viel größere Beteiligung des Rückenmarkes als die früheren
Epidemien zeige.
Vortrag: .0. Pötzl: Die zentralen Vorgänge bei den Farben Wahrneh¬
mungen. (Erschien ausführlich an anderer Stelle.)
Sitzung vom 13. April 1920.
Vorsitzender: Wagner-Jauregg.
Schriftführer: Pollak.
Vorläufige Mitteilung: P. Löwy und R. Lcidler: Über die Bezie¬
hungen des Baranyschen Zeige Versuches zur Psyche, zum Kortex
und zu den subkortikalen Ganglien.
Seit etwa einem Jahre sind Leidler und ich daran, an dem großen
klinischen Material der Nervenheilanstalt Maria Theresien-Schlössel, das mein
Chef Prof. Redlich die Güte hatte, uns zur Verfügung zu stellen, die Probleme
des Schwindels sowohl in seinen objektiven Ausdrucks- als auch in seinen sub¬
jektiven Eindrucksformen vom otologischen, neurologischen und psychologischen
Standpunkte aus zu studieren. Wir werden uns im gegebenen Augenblick erlauben,
darüber ausführlich zu berichten.
Die heutigen Ausführungen sollen daher nur einen ganz kurzen Ausschnitt
aus einem Teilproblem darstellen, über das ich hoffe, mich in kurzer Zeit gesondert
ausführlicher aussprechen zu können.
Angeregt wurden diese meine Versuche und Betrachtungen durch die uns
für die vorliegenden Probleme hochbedeutsam erscheinenden hypnotischen
Schwindel- und Zeige versuche, deren Ergebnisse Bauer und Schilder vor
kurzem unter dem Titel „Über einige psychophysiologische Mechanismen funk¬
tioneller Neurosen“ erscheinen ließen.
Bauer und Schilder untersuchten neun Fälle in folgender Weise: Sie
suggerierten ihnen in Hypnose eine Drehung der Umgebung nach einer bestimmten
Richtung an und ließen sie dann den Zeigeversuch ausführen.
Drei Fälle zeigten in der Hypnose nach entsprechender Suggestion normal.
Drei Fälle zeigten in der Richtung der suggerierten Scheindrehung vorbei.
Zwei Fälle aber zeigten entgegengesetzt der suggerierten Scheindrehung
vorbei; „sie verhielten sich also wie normale Menschen, bei welchen eben dieser
Drehschwindel auf dem Wege der Labyrinthreizung zustande kommt“.
Hinzuzufügen wäre noch, daß in diesen zwei Fällen durch Neigung des
Kopfes um 90 Grad nach vorne das Vorbeizeigen aufgehoben oder wenigstens
abgeschwächt wurde, und daß der der Abweichung entsprechende Arm stärker
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Sitzungsberichte.
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vorbeizeigte als der andere, sowohl bei Pronations- als auch bei Supinations-
stellung der Hand.
Bauer und Schilder deuteten den Ausfall der beiden letzten Versuche
derart, „daß es gelungen ist, einen der Willkür entzogenen nervösen Mechanismus
durch eine bloße Suggestion zu beeinflussen, beziehungsweise subkortikale, cere-
bellare Reaktionen hervorzurufen. Die Idee, an Schwindel zu leiden, kann tat¬
sächlich Anomalien in der Reaktionsweise subkortikaler Apparate, vor allem des
Kleinhirns, hervorrufen“.
Meine eigenen Untersuchungen betrachte ich noch nicht als abgeschlossen,
denn gerade die letzt beobachteten Fälle ergaben wieder neue, des näheren
Studiums bedürftige Resultate; es handelt sich ja um eine vorläufige Mitteilung
und ich muß etwaige Modifikationen Vorbehalten.
Im ganzen wurden zwölf Fälle untersucht.
Zwei von diesen zwölf scheiden im vorhinein vorläufig aus; denn es gelang
bei dem einen nicht, eine Schwindelsuggestion hervorzubringen, während der
andere trotz deutlicher Schwindelsuggestion konstant richtig zeigte.
Es wurden nun mehrere Versuchsreihen angesetzt.
In der ersten Versuchsreihe erhielten alle Versuchspersonen die Suggestion
der Drehung des eigenen Körpers nach rechts oder nach links. Darauf wurde mit
ihnen der Zeigeversuch ausgeführt.
Das Resultat war, daß alle im Sinne der suggerierten Eigendrehung vor¬
beizeigten.
Die zweite Versuchsreihe brachte Suggestion einer Drehung der Umgebung
nach rechts oder nach links mit dem Resultat, daß acht der Vp. stets prompt
nach der Richtung der suggerierten Umgebungsdrehung vorbeizeigten; sie
reagierten also, wie sich Bauer und Schilder ausdrückten, „bloß auf Grund der
durch die Suggestion geänderten kortikalen Richtungsempfindung ohne Ein¬
greifen des zerebellaren Mechanismus in entsprechendem Maße.
In dem Antagonismus zwischen Kortex und Subkortex, Groß- und Klein¬
hirn wäre also das Großhirn Sieger geblieben. Dies erscheint mir wenig erstaun¬
lich; ist doch die gegebene Suggestion „alles dreht sich ganz rasch um Sie“, eine
optische Suggestion, die dann natürlich auch die corticale optische Reaktions¬
bewegung (im Sinne der gesehenen Bewegung) auslöst, wie es Barany ge¬
funden hat.
Warum schließt sich aber, wie in den zwei Fällen von Bauer und Schilder
und in den weiteren zwei Fällen meiner eigenen Beobachtung, auf die ich bald zu
sprechen kommen werde, an eine optische Suggestion ein scheinbar labyrinthärer
Reaktionstypus an ?
Es wird überhaupt noch näher zu beleuchten sein, ob es sich auch tat¬
sächlich um einen labyrinthären Typus gehandelt hat, zumindest bei meinen Vp.
Der neunten meiner Vp., die nämlich infolge Mangels jeder otischen oder
statisch-vestibulären Beschwerden nie einer Ohrenuntersuchung unterzogen
worden war, die nie gedreht oder kalorisiert worden war und sowohl im Normal¬
zustand als auch in der Hypnose ohne Suggestion stets richtig zeigte, wurde in der
Hypnose eine Umgebungsdrehung von links nach rechts suggeriert. Nach etwa
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Sitzungsberichte.
20 Sekunden langem Bestand der Suggestion sagte Patient plötzlich spontan:
„Jetzt fühle ich mich selbst gedreht, aber von rechts nach links.“ — Jetzt wurde
der Zeige versuch ausgeführt, wobei Patient nach links, also im Sinne von Bauer
und Schilder labyrinthär vorbeizeigte, entgegengesetzt der Richtung der ur¬
sprünglich suggerierten Umgebungsdrehung.
Hier ist zu bedenken, daß sich hier an die suggerierte optische Bewegungs-
halluzination spontan und sekundär eine Halluzination des vestibulären Bewe¬
gungsempfindens angeschlossen hatte.
Es erscheint mir daher zumindest sehr wahrscheinlich, daß auch die Halluzi¬
nation der Körperdrehempfindung, die ja, wie Bauer und Schilder mit Barany
behaupten, im Großhirn als Empfindungstatsache, als Bewußtseinsinhalt, zu¬
stande kommt, gerade zufolge ihrer Eigenschaft als Bewußtseinstatsachc ebenso
imstande sein kann, den Reaktionstypus zu beeinflussen, wie es die optische
Wahrnehmung oder die optische Halluzination imstande ist. Zumindest müssen
wir die Parität der Wirkungssphären dieser beiden Vorstellungsgruppen bean¬
spruchen; daß überhaupt eine sekundäre Eigendrehempfindung auf trat, könnte
als Beweis aufgefaßt werden, daß Vp. eine ganz klare Vorstellung von den sub¬
jektiven Komponenten des Schwindels hatte, was bei relativ wenigen Menschen
der Fall ist; von meinen zwölf Vp. tat nur eine noch eine Spontanäußerung, die
ihre vollkommen richtige Erinnerung an die Komponenten des Drehempfin¬
dungskomplexes bewies.
Wir wollen also hier vorläufig nichts weiter konstatieren, als daß es eine
zweite Erklärungsmöglichkeit für die Reaktion dieses Falles gibt, eine kortikale,
eine psychologische, die die subkortikalen Zentren nicht zu Hilfe zu ziehen braucht.
Wir wollen aber gleich betonen, daß wir die Bauer- und Schildersche
Deutung nicht widerlegen wollen und auch bis jetzt noch keine unbedingte Ver¬
anlassung dazu haben.
Bemerken wir aber hier vorläufig in Parenthesi, daß Patient mitunter an
Migräne litt; — wir werden auf dieses Thema zurückkommen müssen.
Ebenso wollen wir uns die Besprechung der zweiten Vp., die im Sinne
von Bauer und Schilder reagierte (unserer Zählung nach der zehnten), auf
später aufheben.
Wir wollen jetzt eine dritte Versuchsreihe besprechen: Es wurde hier den
Versuchspersonen die Suggestion von Progressivbewegungsvorstellungen sowohl
des eigenen Körpers als auch der Umgebung, nach rechts, nach links, nach oben
und unten gegeben. Zehn Vp. wurden daraufhin geprüft. Neun von ihnen zeigten
stets in der Richtung der suggerierten Bewegung vorbei, gleichgültig, ob es sich
um Progressivbewegungen des eigenen Körpers oder der Umgebung handelte. Eine
von ihnen zeigte am ersten Versuchstag konstant entgegengesetzt der suggerierten
Bewegung vorbei. An anderen Tagen stets im selben Sinne.
Diese Versuche beweisen:
1. Das Vorbeizeigen in Hypnose ist nicht an Drehbewegungssuggestion
gebunden; Suggestion von Progressivbewegungen tut denselben Dienst.
2. Auch bei suggerierten Progressivbewegungen kann entgegengesetzt der
suggerierten Richtung vorbeigezeigt werden.
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Sitzungsberichte.
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Die Literatur über Progressivbewegungen, beziehungsweise über deren
Reaktionstypus ist relativ gering (Mach, Abels). Es sind also Versuche in dieser
Richtung noch dringend notwendig.
Immerhin müssen wir bei der Gleichartigkeit der Versuchsausfälle im
Falle von Umgebungs- und Eigenbewegungssuggestion an ein Dominieren psy¬
chischer, beziehungsweise kortikaler Momente denken.
Der einmalige gegenteilige Ausfall, d. h. das Vorbeizeigen entgegen der
suggerierten Bewegung, ließe sich mit einer Kompensationstendenz mit vor¬
wiegend auf das zu berührende Ziel beim Zeigeversuch gerichteter Aufmerk¬
samkeit deuten. Leider wurde die Patientin während der Ausführung des Ver¬
suches nicht auf das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit hin untersucht.
Ich will mich daher nur auf die einfache Konstatierung beschränken, daß
es auch bei der suggerierten Progressivbewegung ein entgegengesetztes Vorbei¬
zeigen geben kann.
Die jetzt zu besprechende Versuchsreihe, die vierte, erscheint uns für die
zu erörternden Probleme die bedeutungsvollste zu sein.
Es sollte nun untersucht werden, wie sich die suggerierte Reaktions¬
bewegung verhalten würde, wenn plötzlich ein realer Labyrinthreiz, Drehung
oder Kalorisierung, hinzutreten würde.
Dies wurde folgendermaßin untersucht: Sechs von den 10 Vp. wurden in
Hypnose eine Drehrichtung suggeriert und dann wurden sie unter konstanten
Fortbestehen der Suggestion im Drehstuhl zehnmal so gedreht, daß im normalem
nicht hypnotisierten Zustand ein typisches Vorbeizeigen hätte erscheinen müssen.
Es wurde z. B. eine Eigendrehung der Umgebungsdrehung nach rechts
suggeriert, dann nach links real gedreht, so daß die Vp. im suggestionsfreien
Zustand nach Aufhören der Drehung nach links hätte vorbeizeigen müssen.
Eine von diesen sechs Vp. wurde in Hypnose nach entsprechender Dreh¬
suggestion kalorisiert, und zwar auch derart, daß im hypnosefreien Zustand ein der
suggerierten Drehrichtung entgegengesetzter Zeigetypus hätte resultieren müssen.
Kurz zusammengefaßt war das Resultat all dieser Versuche folgendes:
Weder die sechs nach Bewegungssuggestion gedrehten, noch die eine kalori-
sierte von den Vp. wurden in ihrem durch die Suggestion veranlaßten Reaktions¬
typus durch die reale Vestibulärreizung beeinflußt.
Das heißt: fünf von den Vp., denen eine Eigen- oder Umgebungsdrehung
suggeriert wurde und die ohne reale Drehung sämtlich stets nach der Richtung
der suggerierten Richtung vorbeizeigten, wiesen nach zehnmaliger Drehung auf
dem Drehstuhl unter Fortdauer der entgegengesetzt gerichteten Suggestion,
unbeirrt durch die Vestibularreizung stets ein Vorbeizeigen im Sinne der Sug¬
gestion auf, nicht aber ein Vorbeizeigen im Sinne der realen Vestibulärreizung.
Dieselben Vp. hatten im hypnosefreien Zustand, gedreht oder kalorisiert, stets
ein vollkommen typisches Vorbeizeigen.
In Hypnose mit Richtungssuggestion zeigten sie aber trotz realer Labyrinth¬
reizung stets in die Richtung der suggerierten Bewegung, also ganz atypisch,
während der durch die reale Labyrinthreizung hervorgerufene Nystagmus un¬
entwegt und typisch weiterschlug.
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Sitzungsberichte.
Es war also hier das Gegenteil davon geschehen, was Bauer und Schilder
von ihren zwei Fällen berichteten:
Während nach diesen beiden Autoren eine Richtungssug¬
gestion imstande war, eine subkortikale, zerebellare Reaktion
auszulösen, hat bei meinen Vp. eine Richtungssuggestion den
Reaktionstypus einer realen Labyrinth- beziehungsweise Zere¬
bellarreizung unterdrückt, ja sogar ausgeschaltet.
Es soll hier gleich erwähnt werden, daß die Zeigeversuche sowohl von oben
als auch von unten in Pronations- und Supinationsstellung dasselbe Resultat
ergaben. Ferner daß auch wir gefunden haben, daß der der suggerierten Richtung
näherliegende Arm in stärkerem Ausmaß vorbeizeigte, als der femerliegende.
Eine Beeinflussung der Reaktion durch die Kopfstellung konnten wir bei keinem
unserer Fälle beobachten.
Als besonders wichtig wollen wir hinzufügen, daß mitunter bei schwacher
Richtungssuggestion nach entgegengesetzter Drehung korrekt gezeigt,
manchmal auch entsprechend der realen Drehung typisch vorbeigezeigt
wurde, und zwar besonders mit dem der suggerierten Drehrichtung entfern¬
teren Arm.
Dies muß wohl als ein Zeichen eines Antagonismus zweier verschiedener
Reaktionstypen aufgefaßt werden, wovon die eine demsubkortikalen, beziehungs¬
weise zerebellaren Eigenapparat angehört, die andere hingegen in naher Beziehung
zur suggerierten Vorstellung zu stehen scheint, also vermutlich psychischen,
kortikalen Ursprunges ist.
Das Ergebnis der eben geschilderten Versuchsreihe erinnert nun lebhaft
an die Fälle von ganz atypischem, auch durch den Drehstuhl unbeeinflußtem
Vorbeizeigen bei Kriegsneurotikern, die Bauer seinerzeit publiziert hat. Ja
wir können behaupten, daß es durch unsere Versuche gelungen ist, experimentell,
synthetisch Modelle für die Bauerschen Fälle zu erzeugen.
Bauer faßte dieses atypische Vorbeizeigen als „Indikator einer anormalen
Funktion der Kleinhirnhemisphären“ auf, „als ideogene Entstehung zerebellarer
Störungen. Die autosuggestive Vorstellung, an Schwindel zu leiden, verursacht
Änderungen im Funktionszustand jener Abschnitte des Nervensystems, welche
zur Schwindelempfindung in Beziehung stehen“.
Dieser Ansicht Bauers können wir, gestützt auf unsere Experimente und
ein großes klinisches Material, das wir hier nur streifen wollen, voll beipflichten.
Bauer hat allerdings damals nicht behauptet, daß eine autosuggestive
Vorstellung typische echte Zerebellarsymptome hervorrufen könnte, wie er sie
jetzt von seinen und Schilders zwei Vp. behauptet. Sein damaliges Material
hat auch für diese Behauptung keine weitere Veranlassung geboten.
Die sechste Vp. ist einer von den beiden Fällen, die nach Drehrichtungs¬
suggestion entgegengesetzt der suggerierten Richtung, also im Sinne von Bauer
und Schilder vorbeigezeigt hat.
Es handelt sich um ein 19 jähriges Mädchen, das seit einer Grippe im
Oktober 1918 migräneartigen Kopfschmerz hat und eine beiderseitige funktionelle
Stimmbandparese. Überdies hat sie einen ungemein wechselnden horizontalen
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Sitzungsberichte.
309
Nystagmus, besonders an Tagen mit Migräneanfällen. In den ersten Wochen der
Spitalsbehandlung zeigte sie beim Romberg-Versuch ein Schwanken nach links
hinten und außer dem ein spontanes Vorbeizeigen mit dem rechten Arm nach innen
und mit dem linken Arm nach außen. Die Ohrenuntersuchung ergab ganz geringe
Erkrankung des inneren Ohres links mit zirka 8 m Flüstersprache, leichter Ver¬
kürzung der Knochenleitung links und der hohen und tiefen Töne besonders
links (Leidler). Die Dreh- und kalorische Reaktion war sowohl was Nystagmus
als auch was Zeigeversuch betraf typisch, auch zur Zeit, als Patientin noch spontan
vorbeizeigte. In der Anamnese ein sogenannter Schwindel, d. h. Sehen von
Lichtkreisen an Tagen mit Migräne. Nach psychoanalytisch-hypnotischer Be¬
handlung und statischer Übungstherapie verlor sie innerhalb kurzer Zeit das
Schwanken beim Romberg und das Vorbeizeigen. Der Nystagmus verschwand
zeitweise ganz, besteht jetzt in wechselnder Stärke mitunter nur in einzelnen
Zuckungen in Extrcmstellung der Augen. Die Diagnose wurde hier auf Migräne
und Hysterie gestellt. Bei suggerierter Umgebungsdrehung nach links zeigte sie
mit beiden Armen auch nach rechts.
Bei Patientin waren nicht alle Richtungssuggestionen zu realisieren, und
zwar war nicht auszulösen: eine Eigendrehsuggestion nach links, eine Um¬
gebungsdrehsuggestion nach rechts und Umgebungsprogressivbewegung nach
links. Dagegen waren zu realisieren eine Progressivbewegung nach links, eine
Progressivbewegung nach rechts (beide des eigenen Körpers), eine Umgebungs¬
progressivbewegung nach rechts, eine Eigendrehung nach rechts und eine Um¬
gebungsdrehung nach links.
Bei Suggestion von Progressivbewegung des eigenen Körpers nach rechts
zeigte sie mit beiden Armen nach rechts.
Bei suggerierter Umgebungsprogressivbewegung nach rechts zeigte sie eben¬
falls mit beiden Armen nach rechts.
Bei suggerierter Eigenprogressivbewegung nach links zeigte sie mit dem
rechten Arm erst richtig, dann nach links, mit dem linken nach rechts.
Bei suggerierter Eigendrehung nach rechts zeigte sie mit beiden Armen
nach* rechts.
Sie reagierte also bei Suggestivdrehung nach dem von Bauer und Schilder
postulierten zerebellaren Typus.
Es war nun interessant, zu untersuchen, wie sich diese Patientin verhalten
würde, wenn sie in der Hypnose nach Umgebungsdrehsuggestion im Drehstuhl
so gedreht würde, daß die entgegengesetzte Zeigereaktion hätte resultieren
müssen. — Denn wenn schon eine Suggestion tatsächlich ein subkortikales Zentrum
im Sinne seines Eigenapparates zu reizen imstande ist, muß dieser Reizzustand,
den eine bloße Vorstellung hervorbringt, wenn dieselbe auch von halluzinatorischer
Kraft sein sollte, zweifellos durch eine reale entgegengesetzte Reizung desselben
Eigenapparates aufgehoben oder sogar überkompensiert werden.
Ich habe nun die Patientin hypnotisiert, habe ihr eine Umgebungsdreh¬
suggestion nach links beigebracht und habe sie dann zeigen lassen, wobei sie
scheinbar labyrinthär, also nach rechts vorbeigezeigt hat. Dann habe ich sie im
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Sitzungsberichte.
Drehstuhl im Zustande ihrer Suggestion nach links gedreht, so daß sie ein typisches
Vorbeizeigen nach links hätte bekommen müssen. Patientin zeigte aber trotz¬
dem nach rechts vorbei, also im Sinne der Suggestion und nicht im Sinne
der realen Labyrinthreizung, obwohl das Vorbeizeigen im Sinne der
Suggestion dem von Bauer und Schilder als labyrinthär An¬
gesprochenen entsprach.
Die Patientin hat also nach zehnmaliger mehrmals wieder¬
holter Drehung im Drehstuhl unter ihrer Richtungssuggestion
stehend genau so entgegengesetzt der suggerierten Umgebungs¬
drehung und nicht entgegengesetzt der durch die reale Drehung
erzeugten Scheinbewegung der Umgebung vorbeigezeigt. Der
Nystagmus war dabei immer typisch.
Wir können aus dem vorhergegangenen Versuch dreierlei Schlüsse auswählen:
1. Entweder ist die Wirkung einer Vorstellung, die einen nervösen Eigen¬
apparat in der für ihn charakteristischen Weise, frei von Regulierungen höherer
Ordnung reizen soll, wirklich stärker als die reale Reizung dieser Eigenapparate
selbst. Dies erscheint uns aber wenig wahrscheinlich.
2. Oder aber wir schließen aus der Unbeeinflußbarkeit einer als zerebellar
behaupteten Reaktion durch eine sichere Reizmethode des Zerebellums auf eine
Schädigung desselben; dagegen spricht aber der normale Dreh- und Kalorisierungs-
befund im hypnosefreien Zustand.
3. Können wir den Schluß wählen, das scheinbar zerebellare Vorbei¬
zeigen wäre ein pseudozerebellares, genau so wie in früheren Fällen, über welches
nicht die Gesetze des zerebellaren Eigenapparates allein herrschend dominieren,
sondern andere Apparate, andere Mechanismen tatsächlich richtunggebend,
mitbestimmen; nur eben im entgegengesetzten Sinne der suggerierten Drehung,
wie dies ja auch bei der suggerierten Progressivbewegung Vorkommen kann.
Man wird mir bei diesem Falle vermutlich einwenden: Dieser Fall eignet
sich nicht zum Studium dieser Frage; er hat einmal vorbeigezeigt, und hat noch
jetzt mitunter Nystagmus. Ich werde darauf antworten: Der objektive Vesti-
bularbefund war stets normal, die pathologischen Reaktionsbewegungen waren
der psychischen Beeinflussung ungemein leicht zugänglich, sie können sicher als
hysterisch gedeutet werden. Sie bieten also weder der normalen Zerebellarerregung,
noch der Suggestibilität große Schwierigkeiten. Der Nystagmus aber hängt mit
der Migräne zusammen und braucht bei Neurosen überhaupt kein Zeichen einer
ernsten Funktionsschädigung zu sein, wie meine mit Leidler gemeinsame Arbeit
noch ergeben wird.
Welchen Standpunkt gestatten uns nun die vorgebrachten Resultate
einzunehmen?
Die Diskussion anläßlich der Bauer und Schilderschen Versuche schied
die Meinungen in eine Kleinhirnpartei, die sich um Bauer und Schilder
gruppierte, und eine Großhirnpartei, die von Brunner vertreten wurde.
Brunner vertrat, gestützt auf seine Befunde an Epileptikern, die Ansicht,
daß die Reaktionsbewegungen abhängig sind vom Auftreten des Schwindels
und daß infolge der Interferenz von Schwindelempfindung und Kleinhirnimpuls
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Sitzungsberichte.
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im Großhirn die Reaktionsbewegung überhaupt und der Zeigeversuch im beson¬
deren eine vorwiegend kortikale Funktion sei.
Bauer und Schilder hingegen lassen nur für die Fälle, die in der Richtung
der suggerierten Drehrichtung vorbeigezeigt haben, einen kortikalen Mechanismus
gelten, hervorgerufen durch die „suggestiv veränderte Richtungsempfindung“,
ebenso wie im Falle des optischen Vorbeizeigens von Bar an y. Gestützt auf
die Baranyschen Befunde und Theorien, die als Interferenzzone der Bogengangs¬
und der kortikalen Willkürbewegungsimpulse das Kleinhirn annehmen, erklären
sie jeden anderen Reaktionstypus mit Ausnahme des optischen als zerebellar.
Wir können uns nach unseren vorläufigen Versuchsergebnissen der Bauer-
Schilderschen Auffassung nur zum Teil, der Brunnerschen Auffassung aber
noch weniger anschließen, obwohl eine isolierte und oberflächliche Betrachtung
unserer Versuchsergebnisse dieselben leicht mit der Brunnerschen Theorie
in Übereinstimmung bringen könnte. Wir haben nämlich sowohl bei der Sug¬
gestion von Dreh- als auch bei der Suggestion von Progressivbewegungen sowohl
des eigenen Körpers als auch der Umgebung die Beobachtung gemacht, daß
Reaktionsbewegungen mit dem Kopf oder Oberleib, d. h. ein Zucken oder Neigen
nach der suggerierten Neigung hin auftrat, bevor noch überhaupt eine Bewegung,
beziehungsweise Schwindelempfindung angegeben wurde. In einem Falle, bei
dem jede Bewegungssuggestion stets sehr langsam realisiert werden konnte,
aber einmal erzeugt, lange anhielt, wurde während der Verbalsuggestion wieder¬
holt gefragt, ob die Vp. schon eine Bewegung fühle, beziehungsweise sehe. Vp.
antwortete dabei jedesmal mit nein, leugnete also jegliche Bewegungsempfindung
ab. Dabei sank sie mit dem Oberkörper schon beträchtlich naeh der suggerierten
Richtung; erst als sie schon halb auf der Seite lag, gab sie plötzlich das Auftreten
des Bewegungsgefühles an, mit allen Zeichen der Überraschung.
Diese Beobachtungen zeigen, daß die Reaktionsbewegung der Bewegungs¬
empfindung um ein bedeutendes vorauseilen kann. Sie stimmen im übrigen
mit Beobachtungen überein, die ich anläßlich der mit Leidler im Zuge befind¬
lichen Schwindelstudien bei galvanischer Vestibularreizung machte. Es zeigte
sich nämlich, daß die Reaktionsbewegung bei niedrigerer Zahl von M. A. und
immer früher eintrat als das Schwindelgefühl; sie stimmen vor allem mit den
wunderbar exakten Befunden von Hans Gertz in Stockholm überein, der ver¬
mittelst galvanischer und nystagmographischer Versuche zu dem Resultat kam,
daß „der nächste Effekt der Vestibularreizung die motorische Reaktion wäre,
worauf die muskuläre Zustandsänderung durch die sensiblen propriozeptiven
Muskelnerven zentralwärts geleitet, erst die vestibuläre Sensation veranlaßt.
Was Gertz und ich bei galvanischer Vestibularreizung gefunden haben,
das konnte ich jetzt bei den suggestiven Bewegungsversuchen wieder finden,
auch ohne Vestibularerregung: Die Reaktionsbewegungen eilen dem
Bewegungsempfinden voraus.
Dies genügt, um die Brunn ersehe Ansicht, daß die Schwindelempfindung
eine Notwendigkeit für das Auftreten der Reaktionsbewegung sei, zu widerlegen;
abgesehen davon, daß jeder, der sich längere Zeit mit Dreh- oder kalorischen Reak¬
tionen befaßt hat, wiederholt die Beobachtung gemacht haben wird, daß Leute
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Sitzungsberichte.
mit ganz atypischen subjektiven Drehschwindelangaben, Leute ohne alle Dreh¬
schwindelempfindung, nur mit einem minimalen unsicheren Taumelgefühl,
typisch vorbeizeigen.
Aber diese Befunde widersprechen auch der Bauer und Schilderschen
Auffassung, daß eine suggestiv geänderte Richtungsempfindung den optischen
Reaktionstypus hervorruft; denn die Reaktionsbewegung auch vom optischen
Typus kann auftreten bevor eine sogenannte suggestiv veränderte Richtungs¬
empfindung vorhanden ist. Es verläuft eben auch der optische Reaktionstypus
häufig vor aller Richtungsempfindung und vollkommen unbewußt, wird gleichsam
später erst vom Bewußtsein aufgefaßt, weiterverarbeitet und gedeutet.
Es scheint, daß das Wortverständnis „Sie drehen sich nach links, Sie fahren
nach links oder rechts, die Umgebung dreht sich oder fährt nach links oder
rechts“, „imstande ist, eine objektiv wahrnehmbare Bewegung auszulösen,
bevor eine subjektiv wahrnehmbare Bewegungsempfindung, geschweige denn
eine gerichtete Bewegungsempfindung vorhanden ist.
Es besteht also in den Fällen vom einfachen optischen Reaktionstypus
eine Verbindung zwischen der optischen Vorstellung, Bewegung nach rechts
oder nach links, vielleicht auch nur eine Verbindung zwischen dem Wortklang¬
bild „Bewegung nach rechts oder nach links“, bevor dasselbe noch zur Vorstellung
geworden ist oder bevor die Vorstellung sich in eine halluzinatorische Empfindung
umgesetzt hat. Die gelockerten Hemmungen des hypnotischen Zustandes sind
die Vorbedingung für diese unbewußt eintretende psychomotorische Reaktion.
Es kommt hier etwas zustande, was ich als Richtungsvorstellungs-
mitbewegung bezeichnen möchte, die von optischen, akustischen, taktilen
und statischen Vorstellungen herrühren kann, bevor diese noch suggestiv¬
halluzinatorische Kraft bekommen haben.
Ich möchte diese durch bloße Bewegungsvorstellungen her¬
vorgerufenen Reaktionen als motoideogene Richtungsreaktionen
bezeichnen. Es genügt aber vielleicht schon das einfache Wortklangbild,
Rechts- oder Linksbewegung ohne alle klare Vorstellung. In diesem Falle möchte
ich die Reaktion als reine logogene Richtungsreaktion bezeichnen. Wir
denken uns in Analogie mit unseren galvanischen Befunden und der Auffassung
von Gertz diese motoideogene, beziehungsweise logogene Richtungsreaktion
als eine Tonisierung der Motilität im Sinne der Vorstellung, beziehungsweise
Wortbedeutung selbst. Wir fassen sie mit Rücksicht auf unsere weiteren Er¬
örterungen als die primäre motoideogene Reaktion auf. Sie tritt entweder früher
auf oder auch gleichzeitig mit der klaren Umgebungsbewegungsvorstellung,
mitunter aber auch erst mit der Bewegungshalluzination selbst. In diesem Falle
aber wäre sie natürlich von einer mit Bewußtsein als Folge einer real aufgefaßten
Sensation auftretenden Reaktionsbewegung nicht zu unterscheiden.
Ist aber die Bewegungsvorstellung in der Hypnose zu halluzinatorischer
Kraft gediehen, so sind verschiedene Möglichkeiten vorhanden:
1. Es kann sich die gleichgerichtete motoideogene Mitbewegung parallel
der Zunahme der sinnlichen Lebhaftigkeit der Bewegungsrichtungshalluzination
verstärken.
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Sitzungsberichte.
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2. Es können sich an die primäre Drehhalluzination, beziehungsweise Vor¬
stellungen die korrelativen Eigendrehhalluzinationen, beziehungsweise Vor¬
stellungen anschließen und ihrerseits wieder motoideogene Richtungsreaktionen
erzeugen, die natürlich den primären entgegengesetzt sind. Wir bezeichnen
die auf diese Art zustande gekommene Reaktion als sekundäre
motoideogene Richtungsreaktion.
3. Ist es denkbar, daß die primäre motoideogene Tonisierung, die primäre
Bewegungsvorstellung oder Halluzination vielleicht auch das richtungangebende
Wortklangbild allein genügt, um einen kompensatorischen Gegenbewegungs¬
automatismus auszulösen.
Letzteres erinnert an die bedingten Reflexe Pawlows.
Letzterer Reaktionstypus ist es auch, der die meiste Ähnlichkeit mit einem
subkortikalen haben kann. Er steht aber streng unter der motoideogenen, also
vermutlich kortikalen Dominante, worauf seine Unablenkbarkeit durch reale
Labyrinth- beziehungsweise Zerebellarreizung hinweist. Er sieht der subkorti¬
kalen zerebellaren Reaktion ähnlich, er ist pseudozerebellar, er ist aber etwas
prinzipiell anderes als der Reaktionstypus des direkt gereizten subkortikalen
Eigenapparates.
Trotzdem wollen wir aber durchaus nicht ausschließen, daß die Bauer
und Schildersche Auffassung für manche Fälle gelten kann, daß also doch Sug¬
gestionen subkortikale Zentren im Sinne ihres Eigenapparates reizen können.
Und wir wollen auch sofort mitteilen, für welche Fälle wir uns dies möglich denken.
Im Laufe der Untersuchungen, die Leidler und ich Vornahmen, waren
wir dazu gekommen, die großen und vielgestaltigen Störungen des statischen
Allgemeinzustandes bei der Migräne kennen zu lernen.
Wir konnten besonders im Migräneanfall Nystagmus und allerhand patho¬
logische statische Reaktionsbewegungen konstatieren. Diese waren zwar selten
rein, sie waren gewöhnlich hysterisch transformiert; trotzdem ist, wie der Nystag¬
mus beweist, stets ein Kern vorhanden, der auf eine funktionelle Übererregbarkeit
der statorczeptiven und statomotorischen Eigenapparate schließen ließ. Wir
bringen diese Zustände in Zusammenhang mit der Vasomotilität: Wir wissen nicht,
in welchen Abschnitten des gesamten statischen Apparates die vasomotorische
Wirkung zum Ausdruck kommt. Wir wissen nur, daß sie imstande ist, Reiz¬
zustände zu setzen. Wir können uns nun vorstellen, daß die Suggestion des
Schwindels mit gleichzeitiger Vasomotorenerregung einhergehend, vestibular-
zerebellare Reizzustände setzt, die vielleicht mitunter auch rein, ohne hysterische
Transformation auftreten können und vielleicht auch vestibular-zerebellare Reiz¬
bilder mit allem Zubehör erzeugen können.
Hier würde also die Vasomotilität die Brücke herstellcn,
zwischen einer psychischen Ursache, einer Suggestion und einem
vorwiegenden Reizzustand eines subkortikalen Apparates.
Obwohl noch sehr vieles näher zu erörtern übrig bliebe, wollen wir trotzdem,
um dem Charakter einer vorläufigen Mitteilung wenigstens halbwegs gerecht zu
werden, nunmehr unsere Schlußfolgerungen ableiten. Sie lauten:
1. Wir konnten in keinem der zehn von uns untersuchten Fälle zu der
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Auffassung gelangen, daß die durch Suggestion einer Richtungsvorstellung her¬
vorgerufene Reaktionsbewegung eine rein labyrinthäre, beziehungsweise zere¬
bellare subkortikale wäre.
Acht von den untersuchten Fällen zeigten unter Richtungssuggestion den
optischen Reaktionstypus, zwei Fälle konnten als pseudozerebellar angesprochen
werden; der eine wegen des Auftretens entgegengesetzt gerichteter Eigendreh¬
vorstellungen, der zweite wegen seiner vollkommenen Unbeeinflußbarkeit durch
reale Labyrinthreizung trotz normaler Reaktionsbewegung im suggestionsfreien
Zustand.
2. Die Reaktionsbewegung kann vor jedem Schwindel- beziehungsweise
Richtungsempfinden auftreten.
Entsprechend den Befunden ai^ galvanisch gereizten Vestibularapparaten
konnte gezeigt werden, daß die Reaktionsbewegungen nicht an Schwindel oder
gar Richtungsempfindung gebunden sein müssen.
3. Wir fassen alle auf BewegungsVorstellungen hin unwillkürlich erfolgenden
Reaktionsbewegungen als Bewegungsvorstellungs-Mitbewegungen auf; wir
schlagen für diesen Begriff den technischen Ausdruck motoideogene Rich¬
tungsreaktionen vor.
4. Wir unterscheiden zwei Gruppen von motoideogenen Richtungsreaktionen,
die primären und die sekundären.
a) Die primären umfassen alle Reaktionen, die im Sinne der Richtungs¬
vorstellung ablaufen.
b) Die sekundären umfassen die Reaktionen, die entgegengesetzt der Rich¬
tungsvorstellung ablaufen.
Letztere können wieder verursacht sein:
a) durch sekundäre Eigendrehvorstellungen;
ß) durch kompensatorische Gegenbewegung.
5. Die sekundäre motoideogene Richtungsreaktion und die kompensatorische
Gegenbewegung sind pseudozerebellar, pseudosubkortikal; sie sind etwas prin¬
zipiell anderes als die vorwiegende Erregung des zerebellaren Eigenapparates.
Sie unterstehen der Beherrschung und Fixation durch die Psyche, beziehungs¬
weise den Kortex.
6. Bei vasomotorischer Reizung der statischen Apparate im weitesten
Sinne des Wortes ist entsprechend den Migränebefunden ein echter Zerebellar¬
typus, wie ihn Bauer und Schilder postulieren, angeregt durch Suggestion,
denkbar. Hier bildet die Vasomotilität vielleicht die psychophysiologische
Brücke. Unsere jetzigen Untersuchungen haben allerdings für diese Auffassung
kein Material geliefert.
Auch wir haben aus diesen Befunden unsere Schlüsse auf dem psycho¬
physiologischen Mechanismus der Neurosen gezogen. Insbesondere hat uns dabei
jener Typus interessiert, den wir als Vcstibulameurose aufzustellen gedenken.
Hier wollen wir abschließend darüber nur kurz bemerken, daß unsere An¬
sichten über den psychophysiologischen Mechanismus der Neurosen, insbesondere
über die Beziehnngen zwischen organischen Kernen und deren psychischer Ver¬
arbeitung, sich vielfach mit den Anschauungen Pötzls decken.
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Sitzungsberichte.
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Wir werden uns erlauben, uns im gegebenen Augenblick darüber näher aus¬
zudrücken.
J. Bauer (Bericht nicht eingelangt).
Wagner-Jauregg fragt, ob es den Vortragenden bei ihren Versuchen
auch gelungen ist, durch Suggestion Nystagmus hervorzurufen, was weit bewei¬
sender in dieser Frage wäre.
Pappenheim (Bericht nicht eingelangt).
J. Bauer (Bericht nicht eingelangt).
H. Brunner: Zu den Ausführungen des Herrn Bauer erlaube ich mir
folgende Bemerkungen: 1. Daß das normale Vorbeizeigen nach vestibulärer
Reizung eine rein zerebellare Funktion darstellt, ist durchaus nicht erwiesen.
Es haben im Gegenteil in letzter Zeit Magnus und de Kleijn Versuche publiziert,
aus denen hervorgeht, daß die vestibulären Reaktionsbewegungen beim Tiere
erhalten bleiben, auch wenn man das Kleinhirn in toto abträgt (histologisch
kontrolliert). Wenn nun schon beim Tiere, bei dem bekanntlich die anatomischen
Beziehungen zwischen Vestibularis und Kleinhirn viel inniger sind als beim
Menschen, die vestibulären Reaktionsbewegungen eine so geringe Abhängigkeit
vom Kleinhirn zeigen, so muß das auf Grund unserer anatomischen Kenntnisse
in noch viel höherem Maße für den Menschen zutreffen. 2. Bezüglich des von
Schilder ausgeführten Versuches, wonach der Ausfall der Zeigereaktion durch
Suggestion beeinflußt werden kann, muß bemerkt werden, daß ich bereits in meiner
Arbeit gezeigt habe, daß es beim gesunden Menschen gelingt, die Zeigereaktion
zu beeinflussen, wenn man ihn nur auffordert, nach dem Drehen auf sein Zeigen
achtzugeben. Eine Hypnose ist dazu gar nicht nötig.
Schilder bezweifelt es, daß es gelingt, durch bloßen Befehl aufzumerken
das Vorbeizeigen bei Personen zu unterdrücken, die von den Baranyschen
Methoden keine Kenntnis haben.
Daß das Vorbeizeigen, nicht aber der Nystagmus durch die Suggestion
des Drehschwindels hervorgerufen wird, beruht wohl darauf, daß das Vorbei¬
zeigen an und für sich auf einem Zusammenarbeiten von Kleinhirn und Gro߬
hirn beruht.
H. Brunner: Es ist selbstverständlich, daß ich bei meinen Drehversuchen
an Normalen erstlich nur Personen gewählt habe, die über den Ausfall der Zeige¬
reaktionen nicht imformiert waren, zweitens nur die Resultate verwendet habe,
wie sie sich nach ein- beziehungsweise zweimaliger Drehung ergaben.
Daß sich durch die Hypnose nie Nystagmus erzeugen läßt, beruht, wie ich
glaube, darauf, daß der Nystagmus eben wirklich ein subkortikal verlaufender
Reflex ist, dessen Bahnen uns in allen Einzelheiten bekannt sind, was eben für
den Zeige versuch nicht gilt.
P. Löwy (Schlußwort nicht eingelangt).
Vortrag: P. Schilder: Über Gedankenentwicklung.
Die Gedankenentwicklung geht über assoziativ verwandte Materialien.
Diese werden vermischt, affektiv umgebildet und zu symbolischen Bildern
gestaltet. Bei der Schizophrenie und Paraphrenie wird die Gedankenentwicklung
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häufig frühzeitig unterbrochen, so daß die Zwischenstufen als Endprodukt er¬
scheinen. Das Weltbild primitiver Völker ähnelt dem Weltbild, das der Schizo¬
phrene aus unentwickelten Gedanken auf baut. Zwischen den Entwicklungsphasen
des einzelnen Denkaktes und den früheren Stufen der phylogenetischen Ent¬
wicklung des Denkens bestehen weitgehende Analogien. (Erschien ausführlich,
Z. f. d. g. N. u. P.).
Diskussion:
Allers (Bericht nicht eingelangt).
Stransky schließt sich bezüglich der tatsächlichen Feststellungen dem
Vortragenden an. Die Kontamination ist, wie Stransky seinerzeit gezeigt hat,
sicherlich auch bei der Hervorbringung von schizophrenischen Wortneubildungen
hervorragend mitbeteiligt; sie scheint aber auch darüber hinaus sprachschöpferisch
zu wirken, z. B. bei dem Eindeutschungsvorgange von Fremdwörtern, ferner bei
der Schaffung von Kose- und selbst schriftsprachlichen Eigennamen, die vielfach
aus dem kontaminatorisch arbeitenden sprachlichen Denken des Kindes auch
herleiten. Lehrreich ist auch Freuds Arbeit über den Gegensinn der Urworte,
auch für uns Nichtpsychoanalytiker. Mit Recht hat auch Vortragender auf das
fraktionierte Einfallen von Vorstellungen hingewiesen; bei Musikstücken fällt
oft der Rhythmus vor der Melodie ein. Ablehnen muß Stransky eine zu weit¬
gehende Homologisierung des schizophrenischen mit dem primitiven Denken,
wenngleich natürlich unbestreitbar die Affektkomponente im primitiven Denken
überwiegt; aber das ist nicht das Hauptcharakteristikum des schizophrenischen
Denkens.
Pötzl (Bericht nicht eingelangt).
Stransky bemerkt gegenüber Pötzl, daß „Kontamination“ beziehungs¬
weise „Verdichtung“ klar umschriebene Bezeichnungen für psychophysiologische
Vorgänge seien, die empirisch erhärtet sind. Diese Feststellung könne aber un¬
möglich dazu verpflichten, darum, weil u. a. auch Freud den formalen Vorgang
der Verdichtung gewürdigt hat, um alle Deutungen der psychoanalytischen
Richtung zu akzeptieren.
Schilder (Schlußwort): Zwischen den Bildern bei der Entwicklung des
Gedankens und deren Sinn besteht doch wohl ein innerer Zusammenhang, ein
Beschlossensein des Sinnes und nicht nur ein zufälliges Nebeneinander, so daß
also nioht, wie Allers meint, die Bilder mit dem Sinn gar nichts zu tun hätten.
Es wäre ungerechtfertigt, mit Stransky nur die Kontamination zu werten und
an den symbolähnlichen und symbolischen Bildern vorbeizugehen. Es scheint,
daß Bilder besonders dann sinnfällig werden, wenn ein Trieb oder eine Intention
gebremst wird.
Sitzung vom 8. Mai 1920.
Vorsitzender: Wagncr-Jauregg.
Schriftführer: Pollak.
A. Administrative Sitzung: Bericht des Schriftführers:
Im abgelaufenen Vereinsjahre fanden 3 Ausschußsitzungen und 15 wissen¬
schaftliche Sitzungen statt.
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Sitzungsberichte.
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Es fanden bei letzteren 24 Demonstrationen statt (Albrecht, Falta,
Fröschels, Gerstmann (2), Herrschmann (2), Jellinek, Kogerer (2),
Lauterbach, Lichtenstern, P. Löwy, Pappenheim (2), Pichler, Pötzl,
Redlich (2), Schilder (3), Somer, Wexberg).
6 Mitteilungen:
1. H. Brunner: Über experimentelle Versuche über den Einfluß der
Röntgenstrahlen auf das reifende Gehirn.
2. P. Federn: Über Einschlafen und Einschläfem.
3. L. Freund: Zur Physiologie der Schweißsekretion.
4. P. Löwy: Über die Beziehungen des Baranyschen Zeigeversuches zur
Psyche, zum Kortex und den subkortikalen Zentren.
5. E. Spiegel: Zur Anatomie der Amygdala.
6. Sträußler-Schüller: Über Versuche der röntgenologischen Darstellung
der Subarachnoidalräume und der Hirnventrikel.
6 Vorträge:
1. Kyrie: Latente Lues und Liquorbefunde: Untersuchungen an Pro¬
stituierten.
2. Pollak: Anlage und Epilepsie.
3. Pötzl: Die zentralen Vorgänge bei den Farbenwahrnehmungen.
4. F. Schulhof: Assoziation und Aktivität.
5. Schilder: Über Halluzinationen.
6. Schilder: Über Gedankenentwicklung.
Zwei Referate:
1. Berze: Die Reform der Irrenfürsorge.
2. Dimitz: Über Encephalitis choreiformis.
Bericht des Ökonomen.
Wiederwahl des Ausschusses per acclamationem.
B. Wissenschaftliche Sitzung:
Demonstrationen:
Erben stellt einen Kranken mit rechtsseitiger Gehstörung vor, der zugleich
bulbäre Symptome aufweist.
1886 litt derselbe an Bluthusten, 1905 an einer Iritis. Im März 1914 merkte
er Parästhesien an der rechten Gesichtshälfte und eine Überempfindlichkeit
-heim Rasieren. Später kam Schmerz in den rechten Arm und die rechten Finger
stumpften sich ab. Am 17. Jänner 1916 wurde er heiser und es kam beim Trinken
Flüssigkeit zur Nase heraus. Einige Zeit nachher rückte das rechte Auge zum
inneren Lidwinkel und das Schielen blieb dauernd. Zu dieser Zeit verschlechterte
sich sein Gang, aber das Schlingen wurde besser. Bei Nacht hatte er viel Speichel¬
fluß. Gelähmt ist jetzt der rechte Rekurrens, welcher die charakteristische Heiser¬
keit erzeugt. Rechts sind weicher Gaumen und die Rachenwand atonisch, sie
werden bei der Phonation nach links gezogen. Es bestehen keine vasomotorischen
Symptome, kein Spontannystagmus, der Vestibularapparat ist normal ansprech-
Jahrbücher für Psychiatrie. XLI. Bd. 2. u. 8. Heft. 21
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bar, das Gehör intakt, ebenso die Pupillarreflexe. Nie hatte er Kopfschmerz,
Brechreiz, Schwindel oder andere Himdruckerscheinungen. Nur die rechte
Kornea ist anästhetisch, die Tastempfindung der rechten Wange und Wangen¬
schleimhaut ist unverändert, der motorische Trigeminus normal. Die Tastemp¬
findung am Stamme, den Beinen und Armen ungestört, nur an den rechten
Fingern besteht ein Ausfall (dorsal sind die Finger bis zum Handgelenk stumpf,
palmar bloß bis zu den Grundgelenken, die rechte Handfläche ist frei.)
Die Empfindung für Wärme ist am ganzen Körper normal, hingegen der
Kältesinn an der rechten Gesichtshälfte und der rechten oberen Rumpfhälfte
herabgesetzt. An den Armen und Beinen ist die Kälteempfindung beiderseits
gleich gut.
Die Schmerzempfindlichkeit scheint am rechten Arm dorsalwärts in einem
breiten Längsstreifen herabgesetzt; unterempfindlich gegen Schmerz ist die rechte
Rumpfhälfte bis zur Taille, indeß Gesicht und rechtes Bein Schmerz empfinden.
Die rechtsseitige Gangstörung hat den Anschein einer spastischen, aber
es fehlt Reflexsteigerung, der Babinski ist negativ, die Bewegungen der einzelnen
Gelenke sind kraftvoll und nicht verlangsamt. Dafür kann er weder mit dem
rechten Bein aufgetragene Einstellungen festhalten; die einzelnen Gelenke zeigen
Unruhe und verlassen die anfängliche Einstellung. Die unfreiwilligen Bewe¬
gungen haben Ähnlichkeit mit Athetose und den Hyperkinesen bei Störungen
des Bindearmsystems, sie sind aber hiervon zu differenzieren, weil unsere Bewe¬
gungen nicht allein auf Hand- und Fingergelenke sich beschränken, sondern
auch Ellbogen- und Schultergelenk betreffen. Weiters treten sie ausschließlich
als Mitbewegungen auf und fehlen in der Ruhe. Ich kenne diese Form der
Mitbewegungen als Folge des Ausfalls von Lagegefühl, gleichgültig, ob dieser
Ausfall peripher, spinal oder zerebral bedingt ist. Seine Gangstörung ist demnach
als Ataxie aufzufassen, als Folge der fehlenden tiefen Sensibilität, wodurch die
Regulation der Bewegung beeinträchtigt wird. Die Beobachtung beabsichtigter
Gelenkshaltungen orientiert am einfachsten über das Verhalten des Lagegefühls,
es ist eine zu w'enig geübte Untersuchungsmethode.
Durch den Rombergschen Versuch läßt sich eine Hemiataxie nicht deutlich
erkennen, da die Nachrichten des normal empfindenden Beines die fehlenden
Impulse des ataktischen auszugleichen pflegen. Doch beim einbeinigen Stehen
zeigt sich ein Unterschied zwischen rechtem und linkem Bein deutlich; das rechte
Bein zeigt in allen Gelenken Unruhe und das Sehnentanzen — ein Bild der
tabischen Ataxie, der sensorischen Ataxie. Wegen der gleichzeitigen bulbären
Symptome ist unsere Hemiataxie als eine bulbär bedingte anzusprechen. Seit^^
Kahler wird die bulbäre Ataxie meist als eine zerebellare bezeichnet, Oppen
heim hebt bereits hervor, daß sie eine Kombination von zerebellarer und spinaler
darstellt. In unserem Falle hat die Ataxie ausschließlich den Charakter der
spinalen, auch fehlen Hemiasynergie, Adiadochokinese, LateropuLsion oder
Nystagmus, durch welche Symptome Babinski und Xageotte (1902) den
Symptomcnkomplex der bulbären Hemiataxie erweitert haben.
Die topische Diagnose des Krankheitsherdes innerhalb der üblongata
versuchte ich auf Grund folgender Momente. Es fand sich eine Dissoziation der
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Sitzungsberichte.
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Empfindungen für die einzelnen Qualitäten wie auch bezüglich der einzelnen
Körperteile. Eine solche Dissoziation ist hauptsächlich in der unteren Hälfte
der Medulla oblongata möglich, denn weiter oralwärts und gar im Bereich der
Brücke sind die sensiblen Bahnen nicht mehr so auseinanderliegend, daß der¬
artig geteilte Empfindungsstörungen Vorkommen. Weiters sind die Empfindungs¬
ausfälle herdgleichseitig, die Krankheit kann darum nur in ein tiefes Niveau
der Medulla oblongata verlegt werden, wo die fibrae arcuatae internae noch nicht
die Raphe erreicht und diese gekreuzt haben. In dem Ursprung der fibrae arcuatae
internae ist der Krankheitssitz zu suchen, nur so erklärten sich bei einem rechts¬
seitigen Herde rechtsseitige Empfindungsausfälle. Zur Voraussetzung nehme
ich im Einklang mit unseren experimentellen Forschem an, daß es neben
gekreuzten Bahnen für Tasten, Schmerz und Temperatur auch ungekreuzte
gibt, die erst innerhalb der Medulla oblongata auf die andere Seite übergehen.
Der Herd substituiert teilweise den Nucleus ambiguus, was aus der gleichseitigen
Lähmung des Kehlkopfes und des weichen Gaumens hervorgeht. Da nicht alle
Vagusfunktionen getroffen sind, ist eine Affektion des Kerns wahrscheinlicher
als die Läsion der austretenden Vaguswurzeln. Der Herd erreicht lateralwärts
nicht die Peripherie der Medulla, sonst hätten wir infolge der Zerstörung der
Rückenmarks-Sehhügelbahn sensible Ausfälle an der linken Körperhälfte,
denn dorthin verlegen wir den Teil der Tast-, Schmerz- und Temperaturbahnen,
welche bereits eine spinale Kreuzung eingegangen sind. Allerdings hat der
Herd nach der Seite eine solche Ausdehnung, daß er die aufsteigenden Wurzeln
des Trigeminus erreicht, vielleicht auch die zerebellopetalen Bahnen (Corpus
restiforme). Bezüglich der Länge des Herdes könnte man erschließen, daß sie bis
zum Abduzenskern im Bereiche des kaudalen Teiles der Brücke reicht, wenn der
Kranke Fazialissymptome hätte; die Fazialisbündel umgeben den Abduzens-
kem mit einer Schleife. Wahrscheinlich ist mir, daß der rechte Abduzenskern
von einem zweiten Herde substituiert ist, so klein, daß derselbe keine Nach¬
barschaftssymptome an der Fazialisschleife hervorruft.
Auf Grund der Anamnese bestehen zwei Möglichkeiten für das Entstehen
dieses, in Schüben aufgetretenen, seit zwei Jahren stationär gebliebenen Leidens:
Solitärtuberkel oder Gefäßverschluß; für beide Möglichkeiten gibt es Anhalts-
S punkte. Die Stichreaktion ist positiv, aber eine Herdreaktion ist selbst bei
0-002 Alttuberkulin ausgeblieben; weitere Steigerung der Dosis versagte ich mir,
■5 da eine stürmische Herdreaktion im Bereiche der Medulla oblongata gefährlich
werden kann. Ich neige mehr zur Annahme eines Gefäßverschlusses, der die
$ gleiche Ätiologie hat die wie Iritis vor 15 Jahren. Da die Affektion mehr lateralen
Sitz hat, wird es sich um den Verschluß der Arteria cerebelli inferior posterior
handeln und den gleichzeitigen Verschluß in der Radikulararterie für den Abdu-
» zenskem. Die Symptome decken sich nicht ganz mit dem durch die Autopsie
* bestätigten Fällen, doch ist durch die Untersuchungen von Wallenberg
1 festgestellt, daß es sich hier nicht um Endarterien handelt, weshalb Vikariate
1 durch die A. spinalis ventralis die Folgen des Verschlusses wettmachen können.
,;D Marburg spricht über die Reflexautomatismen im Rückenmark. (Erschien
ausführlich in den Jahrb. f. Psych.).
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Sitzungsberichte.
E. Spiegel: Zur Anatomie und Pathologie des vegetativen
Nervensystems.
I. Schon die Ganglien des Grenzstranges und seiner Verzweigungen (Gangl.
cerv. suprem., Gangl. solare) zeigen untereinander Verschiedenheiten in der
Stärke der im Senium und bei kachektischen Zuständen auf tretenden regressiven
Zellveränderungen. Viel auffallender sind Differenzen im Aufbau und der Reak¬
tionsweise dieser Ganglien einerseits, der in den viscera eingelagerten peripheren
Ganglien andererseits. So erweisen sich die Ganglien des Herzens, des Darms
nicht nur im Durchschnitt kleiner als die Zellen des Grenzstranges, sie haben auch
eine viel weniger entwickelte Nisslstniktur, es kommt nicht zur Entwicklung
einer so ausgesprochenen Kapsel um jede einzelne Zelle wie dort. Vor allem muß
aber im Gegensatz zu der auffallend starken Pigmentation z. B. des Gangl. cerv.
supr. die ganz geringe Pigmententwicklung dieser peripheren Zellen auffallen,
die ja (insbesondere die Ganglien des Herzens) während des ganzen Lebens in
Tätigkeit sind. Vortragender glaubt, daß die Verschiedenheiten der Innervation
als Erklärung dieses gegensätzlichen Verhaltens heranzuziehen seien. Während die
Ganglien des Grenzstranges und seiner Verzweigungen die efferenten Fasern des
thorakalen autonomen Systems umschalten, finden an den Ganglien des Herzens
und den Darmganglien nach der heute gangbaren Vorstellung die Verzweigungen
des N. vagus ihr Ende. Ein ganz ähnlicher Gegensatz findet sich auch im Bau
der Halsganglien einerseits, des G. ciliare andererseits (Marina), welches ja die
Unterbrechung des N. III besorgt. Es besteht also ein Gegensatz im Bau der
Ganglien des thorakalen und des kranialen autonomen Systems; inwieweit diese
Differenzen im Aufbau mit dem bekannten funktionellen und pharmakodyna-
mischen Antagonismus der beiden Systeme Zusammenhängen, sei vorderhand
unerörtert. Über das sakrale autonome System soll später berichtet werden.
II. Aus den im Gange befindlichen pathologischen Untersuchungen soll nur
die Beteiligung des autonomen Nervensystems in der Genese des Morbus Basedow
erörtert werden. Für das Zustandekommen dieser Krankheit müssen verschiedene
Momente herangezogen werden. Neben primären Veränderungen der Schilddrüse
kommen extrathyreoidale Faktoren, Störungen der Innervation dieser Drüse
und ihre Beziehungen zu den übrigen Blutdrüsen, vielleicht auch eine abnorme
Konstitution in Betracht. Von zwei untersuchten Fällen zeigt der eine im Hals-
sympathikus deutliche Rundzelleninfiltration, sowohl perivaskulär, als auch
diffus im Gewebe. An etwa 80 Fällen der verschiedensten Todesursachen ohne
klinische Symptome von seiten des vegetativen Nervensystems, welche Vor¬
tragender gemeinsam mit M. Adolf untersuchte, konnte keine Infiltration von
dieser Stärke beobachtet werden, sie wreit über das Maß jener Infiltration reicht,
die bei Kachexien und im Senium beobachtet wird, und muß als entzündlich
gedeutet worden. Ein ähnlicher Befund wurde in einem zweiten Fall erhoben,
nur hatte hier die Rundzelleninfiltration zum Teil schon einer Wucherung der
Bindegewobszellen Platz gemacht. Dadurch gewinnt die Vermutung (Cassirer,
Curschmann, Oppenheim, Oswald u. a.), daß primäre Veränderungen im
Nervensystem der Funktionsstörung der Thyreoidea zugrunde liegen können,
an Stütze. Es ist aber klar, daß die histologische Untersuchung im Sympathikus
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die verschiedensten Resultate auffinden kann. Sie wird in jenen Fällen, wo die
primäre Ursache in der Thyreoidea selbst oder in anderen Blutdrüsen liegt-,
negativ ausfallen, sie kann alle Stadien und Formen der Entzündung ebenso
wie deren Ausgangsformen (Atrophie) nachweisen. In welchem Punkte die
Störung des komplizierten Incinanderspielens von Nervensystem, Blutdrüsen
und Erfolgsorgan einsetzt, muß nicht nur beim Basedow, sondern beispielsweise
auch bei der Addisonschen Krankheit in jedem Falle erst entschieden werden.
Es geht aber nicht an, diese Erkrankungen schematisch immer auf Läsionen eines
bestimmten Organes allein zu beziehen.
Vortrag: Pollak: Anlage und Epilepsie. (Erschien ausführlich in
den Arb. a. d. Neurol. Instit., Wien).
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