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Full text of "Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft"

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Bayer. Staatsbibliothek * 



KULTURWISSENSCHAFT 
UND NATURWISSENSCHAFT 



H 



KULTURWISSENSCHAFT 
UND NATURWISSENSCHAFT 



VON 



HEINRICH RICKERT 



SECHSTE UND SJEBENTE DURCHGESEHENE 
UND ERGANZTE AUFLAGE 



1»II1X12:16 




VERLAG VON J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) 
TtJBINGEN 1926 



aAVBRlSCME 

fiTA^S- 



ALLE RECHTE VORBEHALTEN 



DEUCE VON H. LAUPP JK. IN TUBINGEN 



VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE 

Die Grundgedanken .d'e^s'.' idlgen'den ■ Versuches habe ich im 
Jahre 1898 in der ersten Sitaung der hiesigen „Kulturwissen- 
schaftlichen Gesellschaft" vorgetrageji; ^nd dann als Vortrag ver- 
bffentlicht. Langere Zeit hat diese kleine Schrift im Buchhandel 
gefehlt. Ich war zweifelhaft, ob ich sie Von neuem drucken lassen 
sollte, denn ihre erste Form konnte mir schon seit dem AbschluB 
meines Buches iiber die Grenzen der naturwissenschaftlichen Be- 
griffsbildung (1896 — 1902) nicht mehr genugen. Ein sehr wesent- 
licher Punkt, die Bedeutung der Werte fur die Kulturwissen- 
schaften, war in dem Vortrag noch nicht zu voller Klarheit heraus- 
gearbeitet. AuOerdem durfte auch die lebhafte Diskussion, die 
uber die hier behandelten Fragen z. T. im AnschluC an meine 
methodologischen Schriften entstanden ist, bei einer neuen Auf- 
lage nicht unberiicksichtigt bleiben. 

Nun lege ich diesen Versuch noch einmal in umgearbeiteter und 
erheblich vermehrter Gestalt vor, obwohl er auch jetzt nicht viel 
enthalt, was ich nicht an anderen Stellen ausfiihrlicher ausein- 
andergesetzt und eingehender begnindet habe. Er wird in seiner 
neuen Form hoffentlich geeigneter sein, den Zweck zu erfullen, 
den ich schon bei seiner ersten Verbffentlichung im Auge hatte. 
Er soil hauptsachlich Mannern der Einzelforschung dienen, die 
das Bediirfnis empfinden, uber das Wesen ihrer eigenen Tatigkeit 
ziim BewuBtsein zu kommen, und denen es an Neigung oder an 
Zeit zum Studium umfangreicher logischer Werke fehlt. Auch 
als Einfiihrung in mein Buch uber die Grenzen der naturwissen- 
schaftlichen Begriffsbildung ist diese kleine Schrift vielleicht 
brauchbar. Doch mehr als eine erste Einfiihrung kann sie natiir- 
lich nicht geben. Sie soil gerade zeigen, wie verwickelt das Pro- 



— VI — 

blem einer Gliederung der Wissenschaften ist, wie wenig die iib- 
licheri Schemata in ihrer scheinbaren Einfachheit zu seiner Be- 
handlung ausreichen, und sie mochte dadurch zu eingehenderen 
Studien auf diesem Gebiete reizen. 

Die im letzten Jahrzehnt stark angewachsene methodologische 
Literatur habe ich naturlich sorgfaltig beriicksichtigt, aber nur 
zum kleinen Teil ausdrucklich erwahnen konnen. Man wird daraus 
nicht den SchluB Ziehen, daB es mir an Dankbarkeit fur die vielen 
und eingehenden Kritiken fehlt, die meinen Ausfuhrungen ge- 
widmet worden sind. Besonders gerne hatte ich mich, um nur an 
einige Publikationen aus der jungsten Vergangenheit zu erinnern, 
auch mit den neuesten Arbeiten von Dilthey, Munsterberg, Rava, 
Xenopol u. a. ausdrucklich auseinandergesetzt, aber der Zweck 
dieser Schrift, die nur die Hauptsachen moglichst einfach geben 
will, verbot solche polemischen Darlegungen. Ein Verzeichnis der 
wichtigsten Literatur bis zum Jahre 1907 findet sich am Ende 
meiner Abhandlung iiber Geschichtsphilosophie, die ich in der 
Festschrift fur Kuno Fischer: Die Philosophie im Beginn des 
20. Jahrhunderts, 1905, 2. Aufl. 1907, veroffentlicht habe. 

Eine angenehme Pflicht erfttlle ich, wenn ich auch an dieser 
Stelle meinem sehr verehrten Verleger, Herrn Dr. Paul Siebeck, 
fur sein liebenswiirdiges Entgegenkommen bei der Neugestaltung 
dieses Buches meinen verbindlichsten Dank ausspreche. 

Freiburg i. B. Marz 1910. 

VORWORT ZUR SECHSTEN UND 
SIEBENTEN AUFLAGE 

Die Schrift ist fur die neue Auflage, ebenso wie Mr die dritte 
(1915) und die vierte und funfte (1921), sorgfaltig durchgesehen 
und durch einige Zusatze erganzt. Doch sind Inhalt und Umfang 
im wesentlichen unverandert geblieben. Das war notwendig, wenn 
dem kleinen Buch, das auch in russischer, spanischer und japa- 
nischer Uebersetzung erschienen ist, sein Charakter als Einfiihrung 
gewahrt bleiben sollte. Da seine letzte Doppelauflage wieder in 
wenigen Jahren vergriffen war, darf ich wohl annehmen, daB 



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„ VII — 

diese kurze zusammenfassende Darstellung von Gedanken, die ich 
an anderer Stelle ausfiihrlich etnwickelt habe, ihre Existenz- 
berechtigung besitzt. 

Aus den im Vorwort zur zweiten Auflage angegebenen Grunden 
muOte ich es auch diesmal unterlassen, mich im Text mit meinen 
Kritikern ausfiihrlicher auseinanderzusetzen. Ich bin, soweit es der 
Sache forderlich schien, auf kritische Ehrwande in der dritten 
und vierten Auflage meiner „Grenzen der naturwissenschaftlichen 
Begriffsbildung" (1921) eingegangen. Auf dies umfangreichere 
Buch muB ich auch sonst verweisen, falls jemand eine genauere 
Begriindung meiner Gedanken wiinscht, und besonders, falls er 
beabsichtigt, kritisch zu ihnen Stellung zu nehmen. Die vorliegende 
kurze Fassung enthalt durchaus nicht, wie behauptet worden ist, 
alles Wesentliche. 

Da ich im Text polemische Zusatze mbglichst vermieden habe, 
will ich wenigstens im Vorwort einige Bemerkungen machen, die 
MiBverstandnissen vorbeugen sollen, auf welche ich immer wieder 
stoBe. 

Oft muB ich lesen, daB nach meiner Ansicht die Naturwissen- 
schaften es nur mit Gesetzen, die Geschichtswissenschaften da- 
gegen es nur mit dem schlechthin Einmaligen, also mit dem 
denkbar grbBten Gegensatz des GesetzmaBigen zu tun haben. 
Derartiges ist von mir nie behauptet worden. Das MiBverstandnis 
kann auch nicht durch meine Schriften, sondern hochstens durch 
AVindelbands bekannte Rektoratsrede tiber „Geschichte und 
Naturwissenschaft" (1894) veranlaBt sein, die das „nomothetische" 
Verfahren als das naturwissenschaftliche dem „idiographischen" 
als dem geschichtlichen gegenuberstellt. Diese Terminologie habe 
ich nie ohne Vorbehalt gebraucht, weil durch sie in der Tat der 
Schein entstehen kann, als solle vom schlechthin Allgemeinen 
einerseits, vom schlechthin Besonderen andererseits in der "Wissen- 
schaft die Rede sein. Ich spreche vielmehr von einer generalisie- 
renden und ei^^ individualisierenden Methode und habe stets 
mit Nachdruck darauf hingewiesen, daB es sich dabei nicht um 
einen absoluten Gegensatz, sondern um einen relativen Un- 
terschied handelt. Zu Beginn auch dieses Buches schrieb ich schon 
1899, daB ich darin lediglich die beiden Extreme darstellen 



— VIII — 

wolle, zwischen deneti fast alle wissenschaftlic he Ar- 
beit in derMitte liegt. Wer das nicht beachtet, wird 
meine Absichten nie verstehen. 

Die notwendige Relativierung des logischen Unterschiedes von 
Naturwissenschaft und Geschichte habe ich dann in meinem Buch 
iiber die „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" 
ausfiihrlich dargelegt, und in besonderen Abschnitten „die histo- 
rischen Bestandteile in den Naturwissenschaften" ebenso wie 
„die naturwissenschaftlichen. Bestandteile in den historischen 
Wissenschaften" behandeit, Alle Einwande, die dahin gehen, daB 
auch die Naturwissenschaft Individuelles beriicksichtige, und daB 
umgekehrt die Geschichtswissenschaft auch allgemeine Begriffe 
bilde, sind daher keine Einwande gegen meine Theorie, und 
vollends ist es nicht gerechtfertigt, wenn man sagt, durch mich 
werde die „Einheit" der Wissenschaft in unhaltbarer Weise „zer- 
rissen." Es wird im Gegenteil gerade von mir gezeigt, wie trotz der 
Iogisch sehr verschiedenen. Tendenzen der wissenschaftlichen Be- 
griffsbildung sich die vielen Spezialdisziplinen methodologisch zu 
einem einheitlich gegliederten G a n z e n zusammenfiigen lassen, 
und wie zugleich allein auf diesem Wege es moglich ist, der Man- 
nigfaltigkeit des wissenschaftlichen Lebens voll gerecht zu 
werden, ohne es dadurch so zu „zerreiBen", daB es in unver- 
bundene Teile auseinanderfallt. 

Freilich darf die „Einheit" der Wissenschaft niemals Ein- 
formigkeit aller ihrer Glieder bedeuten, denn ebenso wie die 
Welt mannigfaltig ist, kann es auch der Wissenschaft erst dann 
gelingen, sich auf alle Teile dieser Welt zu erstrecken, wenn sie 
sich eine Mannigfaltigkeit von Zlelen setzt und mannigfaltige 
Methoden zu deren Erreichung ausbildet. Einheit und Mannig- 
faltigkeit sind eben, recht verstanden, in der Methodenlehre keine 
einander ausschlieBenden Gegensatze. Die beste Einheit der Wissen- 
schaft wird vielmehr die sein, welche die vielen mannigfaltigen 
Glieder zu einem in sich geschlossenen ,,Orgaiiismus" verbindet. 
In dieser Richtung bewegt sich die Tendenz auch der vorliegenden 
Schrift, und von dieser Absicht aus muB sie verstanden werden. 

Ferner bin ich, besonders in letzter Zeit, wiederholt dem Ein- 
wand begegnet, meine Wissenschaftslehre sei lediglich „formal", 



— IX — 

und wenn auch das, was ich sage, nicht falsch sei, so konne man 
sich damit wegen meines Formalismus doch nicht begnugen. Ich 
muB bekennen, daB ich den Sinn dieses Bedenkens nicht ganz 
verstehe. In einem gewissen Sinn „formal" wird j e d e allgemeine 
Methodenlehre sich gestalten miissen, denn mit dem besonderen 
Inhalt der einzelnen Disziplinen hat sie es nicht zu tun. Sic kann 
ihn hochstens als illustrierendes Beispiel heranziehen. Will man 
dagegen sagen, mein Verfahren sei e i n s e i t i g formal in dem 
Sinne, daB es nur rein logische Unterschiede wie den des AU- 
gemeinen und Besonderen berucksichtige, also das Material der 
verschiedenen Wissenschaften in seiner Eigenart vernachlassige 
und daher zu keiner Einsicht in den Zusammenhang von 
Form and Inhalt komme, dann sollte gerade die vorliegende kleine 
Schrift, welche die materialen Unterschiede sogar voranstellt, 
zeigen, daB von solchem Formalismus bei mir keine Rede sein 
darf. Ich lege hier den Schwerpunkt nicht so sehr auf die Unter- 
scheidung des generalisierenden und des individualisierenden Ver- 
fahrens. Zur Kennzeichnung der Geschichte ist dieser Unterschied 
ja schon oft, z. B. von Schopenhauer, hervorgehoben worden. Ich 
suche vielmehr die Grunde aufzuzeigen, aus denen das Kulturleben 
wegen seiner inhaltlichen Besonderheit nicht nur gene- 
ralisierend, sondern auch individualisierend, also geschichtlich 
dargestellt werden muB, falls die Wissenschaft seinem Gehalt in 
jeder Hinsicht gerecht werden will. Entscheidend fur eine Klarheit 
hieruber ist der Umstand, daB jede Kultur Werte verkorpert. 
Daraus ergibt sich dann die Einsicht in eine notwendige Ver- 
bindung des individualisierenden mit dem wertbeziehenden Ver- 
fahren. Ehe man diesen, nicht mehr rein logisch formalen Zu- 
sammenhang nicht verstanden hat, bleibt man dem Kernpunkt 
dessen, was ich eigentlich will, noch fern. Doch brauche ich das 
im Vorwort nicht weiter auszufuhren, denn ich habe diese Seite 
meiner Lehre im Text eingehend genug behandelt. Ich wollte nur 
von vorneherein die Aufmerksamkeit darauf lenken und mich so 
gegen den Vorwurf des einseitigen Formalismus schiitzen. 

Sodann noch ein paar Bemerkungen uber solche Fragen, die in 
dieser Schrift nur ganz kurz behandelt worden sind, dagegen in 
meinen „Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung" 



— X — 

eine ausfuhrliche Erorterung gefunden haben. Insbesondere konnte 
ich die Erganzung oder, wenn man will, Erweiterung meiner Ge- 
danken, die in der letzten Aaflage der „Grenzen" durch Hinzu- 
fiigung des Abschnittes iiber „die irrealen Sinngebilde und das 
historische Verstehen" (3. u. 4. Aufl. S. 404 — 465) vorgenommen 
ist, und die auch in der dritten Auflage meiner „Probleme der 
Geschichtsphilosophie" (1924) zum Ausdruck kommt, hier nur mit 
wenigen Satzen (vgl. besonders S. 19 ff.) beriihren. Doch wird 
hoff entlich schon das Gesagte geniigen, urn zu zeigen : meine Theorie 
der historischen Kulturwissenschaften hat nicht nur Platz fur die 
Bestrebungen, die vom Begriff des ,,Verstehens" und des versteh- 
baren „Sinnes" ausgehen, uin das Verfahren der „Geisteswissen' 
schaften" zu bestimmen, sondern sie kommt, wenigstens im ent- 
scheidenden Punkt, sachlich auf denselben Unterschied hinaus, 
den man in der neuesten Zeit wieder mit den alten Nanien 
,,Natur" und „Geist" bezeichnet. Nur ist dann unter Natur nicht 
allein die Korperwelt und unter Geist nicht allein das Seelen- 
leben der Individuen zu verstehen. Geist bedeutet vielmehr ein 
von allem blofi psychischen Sein prmzipiell verschiedenes, ja in 
hohem Matte davon unabhjingiges Gebilde, dem verwandt, was 
Hegel mit einer jetzt wieder aufgenommenen Terminologie ,,ob- 
jektiven Geist" im Gegensatz zum „subjektiven Geist" nannte. 
Das bloBe, noch „ungeistige*' Seelenleben kann man dann zur 
Natur rechnen. 

Sollte diese Terminologie, die Geist und Seele scharf ausein- 
anderhalt, sich durchsetzen, so ware der Ausdruck „Geisteswissen- 
scbaft**, der zuerst bei Mill (moral science) und auch bei Dilthey 
eine ganz andere, psychologische Bedeutung hatte, unbedenklich. 
Mit dem „Geist" hatten es dann die Wissenschaften zu tun, die 
sich nicht auf die Sinnenwelt als den Inbegriff aller physischen 
und psychischen Vorgange beschranken, sondern das in der 
Welt in Betracht Ziehen, was „Bedeutung" oder „Sinn" hat, und 
was weder durch „aufiere" noch durch ,,innere" sinnliche Wahr- 
nehmung erfai3t, sondern allein unsinnlich ,,verstanden" werden 
kann. Will man diese (weder korperliche noch seelische) Welt des 
Verstehbaren, die friiher die intelligible oder noetische genannt 
worden ist, im Gegensatz zu allem bloC Seelischen als „Geist" 



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— XI — 

bezeichnen, so mag man das tun. Um Worte braucht man nicht 
zu streiten. Die Frage, ob man besser Geisteswissenschaft oder 
Kulturwissenschaft sagt, ist d a n n aber nicht mebr von prin- 
zipieller Bedeutung, denn was die Kultur unter dieser Voraus- 
setzung von aller Natur unterscheidet, ist dann eben nicht ihr 
psychischer, sondern ihr objektiv ,,geistiger" Gehalt, d. h. der 
Inbegriff dessen, was nicht sinnlich wahrnehmbar, sondern nur 
unsinnlich verstehbar ist, und was dem Leben Bedeutung und 
Sinn verleiht. 

Vorlaufig jedoch denkt man bei dem Worte „Geist" in der 
Regel noch vor allem an seelisches Sein, und solange man das tut, 
kann der Terminus Geisteswissenschaft nur zu methodologischen 
Unklarheiten und "Verwirrungen fuhren. Denn nicht darauf kommt 
es an, daB die einen Wissenschaften Korper, die andern Seelen 
erforschen. Die Methodenlehre hat vielmehr darauf zu achten, 
daB die einen Disziplinen es mit der wert- und sinnfreien Natur 
zu tun haben, die sie unter allgemeine Begriffe bringen, die andern 
dagegen die sinnvolle und wertbezogene Kultur darstellen und 
sich deshalb mit dem generalisierenden Verfahren der Natur- 
wissenschaften nicht begniigen. Sie brauchen eine inclividuali- 
sierende Betrachtung, um der sachlichen Eigenart und Besonder- 
heit ihrer Gegenstande gerecht zu werden, die mehr als bloCe 
Exemplare allgemeiner Begriffe sind. Dieser Umstand wird durch 
die Bezeichnung: historische Ku3turwissenschaften viel besser 
zum Ausdruck gebracht als durch das vieldeutige und daher 
nichtssagende Wort Geisteswissehschaften. Deshalb sehe ich noch 
immer keinen Grund, die im Titel meiner Schrift benutzte Ter- 
minologie aufzugeben. 

Doch wichtiger als alle Terminologie ist selbstverstandlich die 
Sache, die hier behandelt wird, und in bezug auf sie kann ich 
zu meiner Freude konstatieren, daB seit dem Erscheinen der friihe- 
renAuflagen meiner methodologischen Arbeiten sich die Aussichten 
auf eine Verstandigung und auf eine Ueberbruckung derMeinungs- 
gegensatze wieder wesentlich giinstiger gestaltet haben. Immer 
haufiger wird zunachst das Negative anerkannt, daB der Unter- 
schied von physisch und psychisch nicht, wie man frtiher allgemein 
annahm, eine entscheidende method ologische Bedeutung 



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— XII — 

besitzt. Auch gesteht man ferner nicht allein den rein Iogischen 
oder formalen Unterschied des generalisierenden und indivi- 
dualisierenden Verfahrens als unvermeidlich zu, sondern es ringt 
sich allmahlich die Einsicht durch: die groBte sachliche und in- 
haltliche Differenz des einzelvissenschaftlichen Verfahrens hangt 
damit zusammen, daB die Wissenschaften auf der einen Seite 
wert- und sinnfreie, auf der andern Seite wert- und sinnvolle oder 
zum mindesten wertbezogene Gegenstande der Untersuchung 
vorfinden. Damit verbindet sich dann die Erkenntnis, daB, wo 
wertbehaftete Realitaten in Betracht kommen, das Verfahren der 
Naturwissenschaften, selbst wenn wir das Wort im denkbar weite- 
sten Sinne nehmen, nicht geniigt. 

Meine Ansicht, daB das Wertproblem auch in der Metho- 
denlehre ausschlaggebend sei, gait, als ich vor einem Menschen- 
alter den ersten Teil meines Buches iiber die Grenzen der natur- 
wissenschaftlichen Begriffsbildung veroffentlichte, im allgemeinen 
noch als paradox, ja man hat von einem „Fanatismus der Para- 
doxic" bei mir gesprochen. Das ist anders geworden im Lauf der 
Jahre. Heute erscheint die Wertbasis der Kultunvissenschaften 
vielen wohl schon als nahezu „selbstverstandlich". Es ist hier nicht 
der Ort, das durch Eingehen auf die methodologische Literatur 
der neuesten Zeit zu beweisen. Aber wenigstens zwei Autoren mbchte 
ich an dieser Stelle nennen, deren Schriften zu berucksichtigen, 
sich im Texte keine Gelegenheit fand. Hire unverkennbare Annahe- 
rung an den hier vertretenen Standpunkt ist fur mich um so be- 
deutsamer, als sie beide von Dilthey ausgegangen und stark von 
ihm beeinfluBtgebliebens ind, wahrend ich, bei aller Bewunderung 
fiir diesen groBen Historiker, mich in systematischer 
Hinsicht stets im Gegensatz zu ihm gefuhlt habe. Dilthey hat als 
Anreger gewirkt wie wenige. Was aus seinen Werken fiir die Me- 
thodenlehre zu lernen ist, hat Arthur Stein in seiner soeben in 
zweiter, wesentlich erweiterter Auflage erschienenen Schrift: ,,Der 
Begriff des Verstehens bei Dilthey" besonders eindringlich und 
Iehrreich dargestellt. Jedenfalls: Diltheys Gabe des historischen 
„NacherIebens" und „Einfuhlens", um das Wort „Verstehen" 
an dieser Stelle zu vermeiden, war iiberragend und in ihrer Zeit 
vielleicht einzigartig. Die Fahigkeit des streng begrifflichen Den- 



— XIII — 

kens dagegen wurde diesem bedeutenden Manne nicht in demselben 
MaBe zuteil. So muOte man allmahlich iiber seine begrifflichen 
Formulierungen hinauskomm&n, und das ist auch, ja gerade von 
solchen Mannern geleistet worden, die ihm urspriinglich nahe 
stand en. 

Unter ihnen ist an erster Stelle Eduard Spranger zu 
nennen. Er hat das Geistige scharf vom Seelischen getrennt und 
lehrt ausdriicklich, daB nicht schon im blofl Seelischen selbst die 
,,Einheit" steckt, die seine naturwissenschaftliche Erforschung un- 
moglich macht, sondern daB erst in seiner Beziehung auf etwas, 
das mehr als psychisch ist, der eigenartige Zusammenhang in das 
Seelische kommt, den wir verstehen. Zugleich hat Spranger in 
diesem Verstehbaren, das er „Geist" nennt, auch das Wertmoment 
klar erkannt und aufs scharfste in seiner Bedeutung hervorgehoben. 
Sein Werk tiber die ,,Lebensformen" (1921) ist sachlich eine Philo- 
sophic der Werte. Eine solche, nicht eine Lehre vom nur psychischen 
Sein muB daher als „Grundlegung" der ,,Geisteswissenschaften" 
gelten. Diese Meinung kommt, bei aller terminologischen Ver- 
schiedenheit, dem hier vertretenen Standpunkt im Prinzip sehr 
nahe, und Spranger hat denn auch zu meiner Freude im Vorwort 
zur dritten Auflage seiner ,,Lebensformen" auf die sachliche Ver- 
wandtschaft mit Nachdruck hingewiesen. 

Noch mehr tritt die Psychologie in dem kurzlich erschienenen, 
sehr kenntnisreichen und instruktiven Buche: ,,Logik und Syste- 
matik der Geisteswissenschaften" von Erich Rothacker 
zuruck. Daher kann ich hier in mancher Hinsicht auch noch mehr 
Uebereinstimmung als mit Spranger konstatieren. Freilich, Roth- 
ackers von ihm selbst sogenannten ,,Relativismus" vermag ich 
nicht mitzumachen. Die Behauptung, daB die im engen AnschluB an 
Dilthey aufgestellten Typen der Weltanschauung theoretisch 
alle drei gleich berechtigt oder auch nur gleich „m6glich" seien, 
halte ich fur falsch. Der „Naturalismus" laBt sich mit rein wissen- 
schaftlichen Grunden als undurchfuhrbar dartun, weil es unbe- 
zweifelbar unsinnliche Gebilde gibt, die niemals als Natur begriffen 
werden konnen. Aber solche Fragen sind fiir die Methodenlehre 
und insbesondere fiir die Struktur der Einzelwissenschaf- 
t e n nicht entscheidend. Die Hauptsache bleibt, daB auch Roth- 



— XIV — 

acker nicht allein den von mir entwickelten formal-logischen 
Apparat „groBenteiIs unverandert ubernehmen" will und eine 
psychologische Grundlegung der Geisteswissenschaften ablehnt, 
sondern ausdrucklich Wertvoraussetzungen als Fundament der 
nicht-naturwissenschaftlichen Disziplinen anerkennt. Damit tritt 
er, unbeschadet aller Abweichungen in Einzelheiten, fur das ein, 
wofur ich gegeniiber dem Psychologiamus seit Jahrzehnten kampfe. 
Angesichts solcher Kundgebungen darf ich wohl mehr noch als 
in den Vorreden zu den friiheren Auflagen dieser Schrift der Hoff- 
nung Ausdruck geben, daB meine Ansichten, nachdem sie jetzt seit 
einem Vierteljahrhundert vielfach erortert worden sind, auch 
bei den Philosophen allmahlich die Zustimmung finden werden, die 
ihnen bisher hauptsachlich in den Kreisen der Einzelforscher, be- 
sonders der Vertreter der Geschichtswissenschaften, zuteil gewor- 
den ist. 

Heidelberg, im Oktober 1926. 

Heinrich Rickert. 



INHALT 

Seite 

I. Die Aufgabe 1 

II. Die geschichtliche Situation . 5 

III. Der Hauptgegcnsatz 10 

IV. Natur und Kultur 17 

V. Begriff und Wirklichkeit 28 

VI. Die naturwissenschafLliche Methode 38 

VII. Natur und Geschichte 51 • 

VIII. Geschichte und Psychologic 60 

IX. Geschichte und Kunst 71 

X. Die historischen Kulturwissenschaften 78 

XI. Die Mittelgebiete 101 

XII. Die quantitative Individualitai 113 

XIII. Die wertindifferente Individualist 126 

XIV. Die Objektivitat der Kulturgeschichte 132 



iTAA*8- 

^ Tfim 



I. 

DIE AUFGABE 

Dariiber, daC die Spezialwissenschaften in zwei Hauptgruppen 
zerfallen, und dai3 die Theologen und Juristen, die Historiker 
und Philologen in ahnlicher Weise wie die Physiker und Chemlker, 
die Anatomen und Physiologen, die Biologen und Geologen durch 
gemeinsame Interessen untereinander verbunden sind, diirfte 
heute sowohl in der Einzelforschung als auch in der Philosophic 
Uebereinstimmung herrschen. Aber wahrend die Manner der Na- 
turwissenschaften niemals im Zweifel sein werden, wie das Band 
heiBen soil, das sie zusammenhalt, stellt sich bei der anderen 
Gruppe, wenigstens was die Meinung der Einzelforscher betrifft, 
nicht ohne weiteres auch eine Bezeichnung fur die gemeinsame 
Tatigkeit ein. 

Dieser Mangel eines allgemein ublichen und anerkannten 
N a m e n s legt die Frage nahe, ob ihm nicht der Mangel eines 
eindeutig bestimmten Begriffes entspricht. Daher habe ich 
mir in den folgenden Ausfuhrungen das Ziel gesteckt, den Be- 
griff zu entwickeln, der die gemeinsamen Interessen, Aufgaben 
und Methoden der nichtnaturwissenschaftlichen empirischen Dis- 
ziplinen zu bestimmen und gegen die der Naturforscher abzu- 
grenzen vermag. Ich glaube, daB das Wort Kulturwissen- 
schaft diesen Begriff am besten bezeichnet, und wir wollen 
uns daher die Frage vorlegen: was ist Kulturwissenschaft und 
in welchem Verhaltnis steht sie zur Naturforschurtg? 

Der Antwort auf diese Frage sind jedoch einige Bemerkungen 
dariiber vorauszuschicken, welchen Sinn ein solcher Versuch 
allein haben kann. Es handelt sich urn einen Teil der L o g i k , 
genauer der Wissenschaftslehre oder der Methodenlehre, und 

Rlekert, Kulturwiaaenschaft. 8,/7. Aufl. 1 



— 2 — 

mit dem besonderen Inhalt der verschiedenen natur- 
wissenschaftlichen und kulturwissenschaftlichen Disziplinen haben 
wir es daher nicht zu tun. Der geht allein die Manner der 
Einzelforschung etwas an. Die Philosophie darf es sich nicht zur 
Aufgabe machen, Stucke einer „bewuBten Halbbildung" zu 
geben, die doch das Beste bleiben miissen, zu dem sie bei der 
Fiille des Stoffes es heute noch bringen kann. Der ProzeB, durch 
den in der Wissenschaft das Material gefunden wird, 
und der dem Spezialforscher vielleicht mit Recht als die H a u p t- 
sache fur den Fortschritt der Wissenschaft erscheint, ist 
uberhaupt nicht das, worauf wir in erster Linie achten wollen. 
Denn alle Mittel und Wege, die nur irgendwie zur Entdeckung 
von neuen Tatsachen beitragcn kbnnen, sind in jeder Wissen- 
schaft g 1 e i c h berechtigt, und man wird daher nicht hoffen diir- 
fen, diese Mannigfalligkeit des Fors chens und S u c h e n s 
unter Formeln zu bringen, die einen wesentlichcn Gegensatz 
zwischen zwei Gruppen von wissenschaftlicher Arbeit hervortreten 
lassen. Alles, was nur als Materialsammlung angesehen 
werden kann, bleibt also hier ganz aus dem Spiel. 

Der Unterschied, auf den es uns ankommt, wird vielmehr 
erst deutlich, wo es sich um die Einordnung und Verarbeitung 
des Materials zum Zweck seiner wissenschaftlichen Dar- 
s t e 1 1 u n g handelt, und wo ein solcher ProzeB zum A b - 
schluB gelangt ist. Dieser Te.il der wissenschaftlichen Tatig- 
keit wird, weil er sich meist mit einer gewissen „Selbstverstand- 
lichkeit" vollzieht, von den Spezialforschern viel weniger be- 
achtet, und wenn seine Klarlegung die eigentlich p h i 1 o s o- 
p h i s c h e Aufgabe bildet, so liegt deren Schwerpunkt also 
nicht dort, wohin die Aufmerksamkeit der empirischen Unter- 
suchung fur gewohnlich gerichtet ist. 

Jedoch auch bei dem ProzeB der Materialverarbei- 
t u n g und bei dessen Ergebnissen handelt es sich fur die Logik 
nicht so sehr um eine analysierende Beschreibung, die sich alien 
Nuancen und Variationen, alien Zwischenformen und Ueber- 
gangen der einz el wissenschaftlichen Methoden liebevoll an- 
schmiegt, denn diese Aufgabe bleibt fur die verschiedenen 
Spezialgebiete, wie ich glaube, ebenfalls besser denen uberlassen, 



_ 3 — 

die in ihnen als Fachmanner zu Hause sind. Die Wissenschafts- 
lehre kann vielmehr, wenn ihre Untersuchungen eine selbstan- 
dige Bedeutung haben sollen, nur von allgemeinen und 
prinzipiellen Unterschieden des Denkens ausgehen, um 
mit den dadurch gewonnenen Begriffen dann allmahlich zur 
Anwendung auf das Besondere vorzudringen, und hier kommt 
es in der Hauptsache auf die Feststellung dieses Ausgangs- 
punktes, d. h. auf die Herausarbeitung von zwei Grund- 
formen der einzelwissenschaftlichen Darstellung an. 

Ich' will mich mit andern Worten hauptsachlich auf die Dar- 
legung der beiden Extreme beschranken, zwischen denen 
in gewisser Hinsicht fast alle empirische Wissenschaft in der 
Mitte liegt, und ich muB daher zur Klarlegung der Unterschiede 
begrifflich trennen, was in Wirklichkeit eng miteinander 
verkniipft ist, die vielen Faden dagegen, die zwischen den 
beiden Gruppen von Wissenschaften hin- und herlaufen, zu- 
nachst wenigstens, ganz in den Hintergrund treten lassen, oder 
sie nur soweit berucksichtigen, als aus ihnen Einwande gegen die 
Scheidung der beiden Grundformen hergeleitet werden konnen. 

Dem Manne der empirischen Forschung, der den Wert der 
vielseitigen Beziehungen der verschiedenen Arbeitsgebiete 
zueinander zu schatzen weiB, kann dieser Versuch, der absichtlich 
einmal alle Brucken zwischen ihnen abbrechen will, e i n s e i t i g 
oder gar gewaltsam erscheinen. Aber die L o g i k hat keinen an- 
dern Weg, wenn sie in der bunten Mannigfaltigkeit des wissen- 
schaftlichen Lebens uberhaupt Grenzen ziehen will. Daher 
IaJ3t sich das, was i m folgenden gewonnen wird, hochstens mit 
den Linien vergleichen, die der Geograph sich zur Orientierung 
auf unserer Erdkugel denkt, Linien, denen ja auch nirgends eine 
Wirklichkeit g e n a u entspricht, und nur der Unterschied ist vor- 
handen, daB der globus intellectualis der Spezialforschung keine 
Kugel ist, auf der die Pole und der Aequator sich sozusagen von 
selbst ergeben, sondern dafl es einer besonderen Untersuchung 
zu ihrer Feststellung bedarf 1 ). 



I) Obwohl die Salze schon in der ersten AufJage dieser Schrift 
stehen, ist der Sinn meines Versuches immer wieder dahin miliver- 
standen worden, als behaupte ich eine Trennung der Spezialwissen- 

1* 



_ 4 — 

Der theoretische Wert eines solchen schematischen 
Orientierungsversuches braucht keine Begriindung. "Wie groO 
der Vorteil ist, den die Einzelwissenscliaften bei ihrer Arbeit 
aus ihm Ziehen konnen, will ich nicht naher untersuchen, aber 
ganz iiberflussig erscheint er mir auch in ihrem Interesse nicht, 
und besonders den Kulturwissenschaften kann er 
mitzlich sein, denn hier werden in neuerer Zeit vielfach doch 
nicht n u r die wertvollen Beziehungen zu den Naturwissen- 
schaften gepflegt, sondern die Grenzen zwischen beiden Ge- 
bieten oft auch in unzulassiger Weise uberschritten. 

Der Grund dafiir ist nicht schwer zu sehen. Wer naturwissen- 
schaftlich tatig ist, findet heute auBer dem allgemein ublichen 
Namen in den meisten Fallen fur seine Spezialarbeit auch einen 
festen Platz in einem gegliederten Ganzen, in einem zusammen- 
hangenden System von mehr oder weniger scharf gesonderten 
Aufgaben vor. Nach einem solchen festen System haben die 
empirischen Kulturwissenschaften dagegen erst zu suchen, ja, 
die Unsicherheit geht bei ihnen so weit, daB sie sich vielfach 
sogar gegen die Proklamierung der naturwissenschaftlichen Me- 
thode als der a 1 1 e i n berechtigten wehren miissen. Sollte in 
diesem Kampfe nicht auch die Logik eine brauchbare Waffe 
werden konnen, zumal wenn sie sich von der einseitigen Beein- 
flussung durch die Naturwissenschaft frei zu machen strebt? 

Allerdings wird niemand behaupten, daB heute jeder Natur- 
forscher eine deutliche Einsicht in das logische Wesen seiner 



schaften in zwei Gruppen, die nach Form und Inhalt faktisch 
ganzlich auseinanderfallen oder real geschieden bleiben sollen. Das 
hat mir stets fern gelegen, und alle Einwande gegen eine Wissen- 
schaf tslehre von solcherArt treffen mich daher nicht. Eezeichnend in 
dicser Hinsicht sind z. B. die Ausfuhrungen von R. Wilbrandt, 
Die Reform der NationalOkonomie vom Standpunkt der „KuItur- 
wissenschaften". Eine AntikriLik. (Zeitschrift fQr die gesamte Staats- 
wissenschaft, 1917, S. 345 Ff.) Was die (nicht durchweg sachliche) 
Abhandlung an sachlichen Gedanken gegen mich vorbringt, ist ge- 
genstandslos. Wenn ich das wirtschaftliche Leben zur Kultur rechne 
und meine, daB es auch historisch zu behandeln ist, so habe ich 
doch nie behauptet, daJ3 „die Nationalokonomie" nur historische 
Kulturwissenschaft sei oder werden solle. Die Entscheidung daruber 
steht nicht der Logik zu. Sie hat nicht zu „reformieren", sondern 
zu verstehen, was die Spezialforschung tut. 



- 5 - 

Tiitigkeit besitzt und sich dadurch zum Vorteil von einem Ver- 
treter der Kulturwissenschaften unterscheidet. Wohl aber ist er 
durch die h i s t o r i s c h e Situation, in die er, oft ohne es 
zu wissen, hineinwachst, in einer sehr viel gliicklicheren Lage, und 
auch die Grtinde hierfur mochte ich, ehe ich zu meinem eigent- 
lichen Thema ubergehe, noch mit wenigen Worten andeuten. 



II. 

DIE GESCHICHTLICHE SITUATION 

Werfen wir einen Blick auf die Geschichte der Wissenschaft in 
den letzten Jahrhunderten, so sehen wir, daC fiir eine philoso- 
phische Grundlegung der Naturforschung bereits viel ge- 
tan ist, und zwar z. T. von den Mannern der Spezialwissenschaften 
selbst, z. T. von der Philosophie. Bei Kepler, bei Galilei, bei New- 
ton geht die empirische TJntersuchung Hand in Hand mit dem Be- 
miihen, sich das logische Wesen der eigenen Tiitigkeit zum deut- 
lichen Bewufttsein zu bringen, und dies Bestreben ist von dem 
schonsten Erfolge gekront. Die Philosophie des naturwissenschaft- 
lichen Zeitalters, womit ich selbstverstandlich das siebzehnte Jahr- 
hundert meine, laCt sich von der Naturwissenschaft kaum trennen. 
Sie arbeitet — man braucht nur an Descartes oder Leibniz zu 
erinnern — ebenfalls mit Erfolg an der Klarlegung der natur- 
wissenschaftlichen Methode. Und schlieClich hat schon gegen 
Ende des achtzehnten Jahrhunderts der groCte Denker der mo- 
dernen Welt den fiir dieMethodenlehre mai3gebenden B e- 
griffder Natur als des Daseins der Dinge, ,,sofern es nach 
allgemeinen Gesetzen bestimmt ist", und damit auch den a 1 1- 
gemeinsten Begriff der Naturwissenschaft wohl 
fur absehbare Zeit endgultig festgestellt x ). 

1) An dieser formalen Bestimmung ware in der Methodenlehre 
auch dann festzuhalten, wenn man wie von Weizsacker (Kri- 
tischer und spekulativer Naturbegriff. Logos, Bd. VI, 1916, S. 186) 
der Meinung sein sollte, dafl der Kantianisraus bei der'inhalt- 
lichen Ausgestaltung des Naturbegriffs zu sehr bei den Idealen 
der ma thema tischen Naturwissenschaft stehen geblieben sei, die 
im 18. Jahrhundert zentrale Bedeutung, aber schon im 19. Jaln> 



— 6 — 

Freilich durehbrach Kant durch sein „sofern es bestimmt ist" 
zugleich die Alleinherrschaft des Naturbegriffs, wenn 
auch nicht in den Einzehvissenschaften, so doch in der Philo- 
sophic, d. h. er setzte die naturwissenschaftliche „ Weltanschau- 
ung", die im Aufklarungszeitalter bei ihrer Anwendung auf das 
geschichtliche Kulturleben praktisch Schiffbruch leidenmuBte, 
auch theoretisch aus einer sich absolut diinkenden Auf- 
fassung zu einer relativ berechtigten herab und beschrankte da- 
mit die naturwissenschaftliche Methode auf die Spezialforschung. 
Aber der Begriff der Natur selbst konnte durch diese Ein- 
schrankung nur urn so fester begrenzt und um so deutlicher zum 
BewuBtsein gebracht werden, und das ist in so hohem MaJ3e ge- 
schehen, daB, selbst wenn eine etwas zuriickgebliebene Philosophic 
ihn wieder zur Alleinherrschaft zu bringen sucht, dadurch in den 
Einzelwissenschaften von der Natur nicht mehr viel 
Schaden entstehen. kann. Der Naturbegriff bleibt auch dabei im 
wesentlichen unverandert. 

Hochstens in der Ohnmacht, mit der mancher Naturwissen- 
schaftler gewissen Schwierigkeiten der allgemeinsten Tlieo- 
rien, z. B. der Atomistik oder der Energctik, gegentibersleht, 
racht sich diese Verengerung des Gesichtskreises, die an Stelle 
des erkcnntnistheoretischen Standpunktes wieder 
den alten metaphysischen Naturalismus setzt, und gewifi 
ist es nicht erfreulich, daB es noch immer Manner der Naturfor- 
schung gibt, die es wie eine Krankung zu empfinden scheinen, 
wenn jemand sagt, daB nicht sie a 1 1 e i n es sind, die Wissen- 
schaft treiben. Im ubrigen aber wird sogar ein nicht ganz begriin- 
deter G 1 a u b e an die Alleinberechtigung naturwissenschaftlichen 
Denkens dazu beitragen, der naturwissenschaftlichen Spezialfor- 
schung ein BewuBtsein ihrer hohen Bedeutung und damit Arbeits- 
freudigkeit und Schwung zu verleihen. 

Wohl dir, daB du ein Enkel bist, werden wir also bei einem 
Blick auf diese Vergangenheit dem Naturforscher von heute 
zurufen konnen. Er zehrt, soweit es sich um die allgemeinsten 
und grundlegenden Begriffe handelt, von den 2insen des Kapitals, 



hundert eine vollig veranderte Stellung im ganzen der Wissenschaft 
besaBen. 



- 7 - 

das seine Ahnen gesammelt haben. Es ist im Laufe der Zeit 
genug von ihren geistigen Schatzen so „selbstverstandlich" gewor- 
den, daB man sich urn ihre Herkunft und den Zusammenhang, aus 
dera sie stammen, nicht mehr zu kummern braucht. Man kann 
sie,.besitzen, auch ohne sie zu erwerben. Wenn wir von einem 
Teil der biologischen Forschung absehen, in dem die Un- 
klarheit iiber die naturwissenschaftliche Bedeutung des ursprung- 
lich durchaus historischen Entwicklungsprinzips einige Ver- 
■wirrung angerichtet hat, und in dem der mit dem Begriff des Or- 
ganismus verknupfte Zweckgedanke noch immer zu den hochst 
bedenklichen.metaphysisch-teleologischen Deutungen des „Vitalis- 
mus" fiihrt, so erfreuen sich also die Naturwissenschaften einer 
festen Tradition; sie haben vor allem in der Erkenntnis des 
Natur. ganzen auch ein gemeinsames Z i e 1 , zu dessen Errei- 
chung jeder besondere Zweig seinen Teil beitragt, und das ihnen 
Einheit und Zusammenhang gibt.> Deshalb treten sie geschlossen 
auf und imponieren durch diese Geschlossenheit, ganz abgesehen 
von den bewundernswerten Fortschritten, die sie in neuester Zeit, 
besonders in der allgemeinen Theorie der Materie, als wiirdige Enkel 
ihrer groCen Ahnen gemacht haben. 

DaB fiirdie Kulturwissenschaften etwas Aehnliches 
gilt, wird niemand behaupten wollen. Sie sind viel jtinger und des- 
halb unfertiger. Erst das neunzehnte Jahrhundert hat ihnen den 
groBen Aufschwung gebracht. Innerhalb einiger besonderer Ge- 
biete arbeiten zwar auch sie mit groOer Sicherheit, aber sie ver- 
danken das dann meist dem Umstande, daB sie sich nach diesem 
oder jenem genialen Forscher von exemplarischer Bedeutung 
richten konnen. Die Neigung zu methodologischen Un- 
tersuchungen, die bei den Begrundern der modernen Naturwissen- 
schaft so reichc Friichte getragen hat, ist bei ihnen gering, oder 
man findet wenigstens tiefer eindringende Forschungen iiber das 
Wesen des eigenen Tuns, wie sie z. B. fur die Sprachwissenschaft 
Hermann Paul l ), fiir die Nationalbkonomie Carl Menger 2 ) und in 

1) Prinzipien der Sprachgeschichte, 1880. 3. Aufl. 1898. Ferner: 
Methodenlehre der germanischen Philologie, Sonderabdruck aus der 
2. Aufl. von Pauls Grundrifi, 1897. Endlieh: Aufgabe und Methode 
der Geschichtswissenschaften, 1920. 

2) Untersuchungen fiber dieMethodenderSozialwissenschaf ten. 1883. 



_ 8 - 

neuester Zeit Max Weber J ) in so lehrreicher Weise angestellt haben, 
nur vereinzelt und auf besondere Gebiete beschrankt, und es ist 
kein Zufall, daB dies Gebiete sind, auf denen logisch stark vonein- 
ander abweichende Verfahrungsweisen sich in der wissenschaft- 
Iichen Praxis aufs engste miteinander verbinden, die logischen 
Probleme sich also geradezu aufdrangen muBten. Eine umfassen- 
dere philosophische Grundlegung ist fur die empirischen 
Kulturwissenschaften jedenfalls bisher nicht annahernd in dem 
MaBe wie fur die Naturwissenschaften gewonnen. 

Zwar lieBen sich auch fur eine Philosophic die im Zusammen- 
hange mit den empirischen Kulturwissenschaften arbeitet, von 
ihnen Anregungen empfangt und auf sie zuruckzuwirken vermag, 
bereits in der Vergangenheit erhebliche Ansatze finden. 
Kant hat ja zuerst mehr durch seine Untergrabung der naturalis- 
tischen Weltanschauung als durch seine erkenntnistheoretische 
Grundlegung der Naturwissenschaften gewirkt, und so einseitig 
sich die von ihm angeregten antinaturalistischen Bestrebungen z. T. 
auch gestalteten, so verstandnislos einige Jiinger Kants gerade 
den Naturwissenschaften und ihrer Bedeutung gegeniiberstanden, 
fur die ihr Meister die unerschutterliche Basis gegeben hatte, und 
so sehr sie gerade hierdurch dazu beigetragen haben, daB spater 
jede „idealistische" und antinaturalistische Philosophic in MiB- 
kredit kam, so wenig laBt sich doch andererseits leugnen, daB 
sie durch einen energischen Hinweis auf die Kehrseite der Medaille 
als A n r e g e r gewirkt haben wie wenige. 

Ja, bis zu einem gewissen Grade haben die Philosophen des 
deutschen Idealismus den Kulturwissenschaften grundlegende Be- 
griffe bereits geliefert. Insbesondere Hegel, der mit vollem Be- 
wuBtsein die Weltanschauung auf das geschichtliche Leben 
zu griinden unternahm, ist doch wohl noch in anderer Hinsicht 
merkwiirdig als dadurch, daB er nichts von Naturwissenschaften 
verstand, und da in weiteren Kreisen das Interesse fur die Philo- 
sophic des deutschen Idealismus bestandig im Wachsen ist, so 



1) Gesammelte Aufsatze zur Wissenschaftslehre, 1922. Die Ab- 
handlungen wurden einzeln in den Jahren 1903 — 20 veroffent- 
licht. Vgl. meinen Aufsatz: Max Weber und seine Stellung zur 
Wissenschaft. Logos, XV, 1926. S. 222 ff. 



- 9 - 

kann man hoffen, daI3 die Gegenwart, in der das Wort „Ent- 
wicklung" eine so groBe Rolle spielt, auch von dem groBen ide- 
alistischen Entwicklungsphilosophen wieder etwas lernt 1 ). 

Hegels System jedoch laBt sich, so wie es ist, nicht einfach 
aufnehmen, vor einer Galvanisierung des Hegelschen Buehsta- 
bens muB heute sogar gewarnt werden, und vorlaufig helfen auch 
die anderen wertvollen Ansatze aus friiherer Zeit den Kultur- 
wissenschaften zur Bestimmung und Klarlegung ihrer Aufgaben 
nicht viel. Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist die 
historische Kontinuitat in der Geschichte unseres Geisteslebens 
unterbrochen worden, und grade die fur ein Verstandnis des ge- 
schichtlichen Lebens wichtigen Elemente der deutschen Philoso- 
phic sind in weiteren Kreisen noch immer wenig bekannt. Auch 
wo man Hegels Kategorien benutzt, fehlt es an einem Bewufitsein 
ihrer Bedeutung und ihrer Tragweite. Denkt man doch z. B., wenn 
in den Kulturwissenschaften von ,,Entwicklung" die Rede ist, oft 
an einen als Spezialforscher gewiB im hochsten Grade bewunderungs- 
wurdigen, aber als Philosophen unbetrachtlichen Mann der Na- 
turwissenschaft, sieht alien Ernstes im „Darwinismus" die „neue" 
Geschichtsphilosophie und ruft dann infolge dieser und iihnlicher 
Begriffsverwirrungen fiir die Kulturwissenschaften nach „natur- 
wissenschaftlicher Methode". 

Nicht alle Disziplinen sind hiervon in gleicher Weise be- 
troffen, aber gerade in der Geschichtsforschung im 
engeren Sinne haben wir vor noch nicht langer Zeit einen leb- 
haften Streit um Wege und Ziele erlebt, der bei einem etwas 
innigeren Zusammenhang mit unserer philosophischen Vergangen- 
heit z. T. gar nicht hatte gefuhrt werden konnen 2 ). Daher will 



1) Ueber die Bedeutung des deutschen Idealismus fiir die Ge- 
schichte vgl. : E. Troeltsch, Das Historische in Kants Reli- 
gionsphilosophie, 1902 (Kantstudien Bd. 9), E. Lask, Fichtes 
Idealismus und die Geschichte, 1902, und W. Dilthey, Die 
Jugendgeschichte Hegels, 1905. Wie stark die Ideen der deutschen 
Philosophen auch auf solche Denker gewirkt haben, die man in 
einen prinzipiellen Gegensatz zu ihnen zu bringen pflegt, hat am 
eingehendsten G. M e h 1 i s , Die Geschichtsphilosophie A. Com- 
tes, 1909, nachgewiesen. 

2) Vgl. den in der Sache ganz ausgezeichneten Artikel von G. 
v. B e 1 o w fiber die „neue historische Methode" (Historische Zeit- 



_ 10 — 

auch ich hier, urn meinem Problem naherzukommen, nicht an 
das in der Vergangenheit bereits Geleistete, sondern an die heute 
am raeisten verbreitete Ansicht iiber die Gliederung der Einzel- 
wissenschaften ankniipfen, um mich dann auf eine rein syste- 
matische Darstellung meiner Auffassung zu beschranken. 

III. 

DER HAUPTGEGENSATZ 

Da die Wissenschaften sich sowohl mit Rucksicht auf die Ge- 
genstande, die sie behandeln, als auch mit Rucksicht auf 
die M e t h o d e , die sie anwenden, voneinander unterscheiden 
konnen, so ist ihre Gliederung sowohl unter materialen als 
auch unter forraalen Gesichtspunkten vorzunehmen, und es 

schrift Bd. 81, N. F. Bd. 45 S. 193 ff.)- Warum der Kampf, soweit er 
die Methode betrifft, von fast alien Seiten mit so grofier Hcftigkeit 
gefuhrt worden ist, vermag der Fernerstehende nicht einzusehen. 
Lamprechts Verdienst, die methodologischon Fragen wieder 
einmal in FluB gebracht zu haben, sollte man nicht bestreiten. Nur 
kann man freilich auf diesem Gebiete ohne logische Grundlegung 
nichts ausrichten, und wo daher Lamprecht mit seinen in ihrer lo- 
gischen Bedeutung vollig vagen Schlagworten wie individualpsycho- 
logische und sozialpsychologisehe Methode u. dgl. arbeitet, ist die 
Diskussion mit ihm unfruchtbar. Dal3 seine eigenen historischen 
Werke mit seiner ,, Methode" nicht ubereinstimmen, liegt auf der 
Hand. Er stellt einmalige historische Entwicklungen in ihrer Ein- 
maligkeit dar, wie jcder Historikcr, und verfahrt dabei nicht etwa 
„naturwissenschaftlich", sondern individualisierend und 
wertbeziehend in dem spater zu erorternden Sinne. Ein Mehr 
oder Weniger an allgemeinen Begriffen Oder Schlagworten wie Typis- 
mus, Reizsamkeit usw. ist fur den Iogischen Charakter der Methode 
nicht entscheidend. — GroGe Unklarheit in diesen Fragen zeigt auch 
das Buch von Oswald S p e n g 1 e r uber den „Untergang des Abend- 
landes", das es (ahnlich wie frOher ,, Rembrandt als Erzieher" und 
Chamberlains ,,GrundIagen des neunzehnten Jahrhunderts") in der 
Stimmung nach dem Weltkrieg aus naheliegenden GrQnden zu einem 
sensationellen Modeerfolg gebracht hat. Die Schrift ist in manchen 
Tcilen nicht uninteressant, aber wie in ihr der Gedanke einer ,,Mor- 
phologie der Weltgeschichte", d. h. einer generalisierenden Biologie 
des historischen Lebens, als n e u e Methode verkUndet wird, mufi 
jeden Kenner der Literatur einigermafien naiv anmuten. Die I o g i- 
sche Grundlegung dieser „Morphologie", die Spengler versucht, 
war langst widerlegt, als sie geschrieben wurde. 



„ 11 __ 

ist gar nieht selbstverstandlich, wie viele zu glauben scheinen, 
daB diese beiden Einteilungsprinzipien zusammenfallen. 
Ja, auf ihre sorgfaltige Trennung kommt es bei einer 1 o g i s c h e n 
Klarlegung vor allem an. 

Wenn man heute zwei Gruppen von Einzelwissenschaften als 
wesentlich voneinander verschieden anerkennt, ist es in der 
Philosophic noch fast allgemein iiblich, als materiales Ein- 
teilungsprinzip, die Begriffe von N a t u r und G e i s t zugrunde 
zu legen, wobei unter dem vieldeutigen Wort ,,Natur u meist das 
kbrperliche, unter dem noch vieldeutigeren Wort „Geist" ein 
seelisches Sein verstanden wird, und aus den inhaltlichen Be- 
sonderheiten des psychischen Lebens, die es im Gegen- 
satze zur physischen Welt zeigt, werden dann zugleich 
auch die f o r m a 1 e n Unterschiede der zwei MetKoden abgeleitet, 
nach denen Geisteswissenschaften und N a t u r - 
wissenschaften verfahren sollen. 

Als Konsequenz ergibt sich hieraus unter anderem, daB neben 
die M e c h a n i k , als die allgemeinste und grundlegende Kor- 
perwissenschaft, eine ihr entsprechende allgemeine Wissenschaft 
vom Seelenleben, d. h. die P s y c h o 1 o g i e , als grundlegende 
,,Geisteswissenschaft" gesetzt wird, und daB man dementsprechend 
prinzipielle Fortschritte auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften 
besonders von einer psychologischen Methode envartet. 
In der Geschichte hat man infolgedessen so etwas wie eine ange- 
wandte Psychologie gesehen, was mit dem gegenwiirtigen Zustand 
dieser Disziplin nicht ganz iibereinstimmt. 

Weichen in Einzelheiten die verschiedenen Auffassungen auch 
stark voneinander ab, so gilt doch in der Philosophie der Haupt- 
gedanke, daB bei einer Gliederung der Spezialwissenschaften es 
vor allem auf die Eigenart des psychischen Seins ankomme, 
selbst dort fur geradezu selbstverstandlich, wo, wie z, B. bei Dil- 
they, infolge eines stark ausgepragten historischen Sinnes die 
Unbrauchbarkeit der bisher vorhandenen Psychologie zu 
einer Grundlegung besonders der Geschichtswissenschaft sich her- 
ausgestellt hat. Es wird dann eine neue, erst zu schaffende „Psy- 
chologie" gefordert 1 ). 

1) Vgl, Dilthey, Ideen Ober eine beschreibende und zerglie- 



J: 



- 12 - 

DaB mit dem Worte Geisteswissenschaften die nichtnatur- 
wissenschaftlichen Einzeldisziplinen sehr ungentigend charakte- 
risiert sind, wird im Gegensatz zu den die Philosophic beherr- 
schenden Meinungen von Mannern der empirischen Forschung 
wohl immer deutlicher empfunden 1 ), und ich glaube in der Tat, 
daB die unter dem Gesichtspunkte des Gegensatzes von Natur 
und Geist unternommenen Einteilungsversuche, fails Natur das 
korperliche, Geist das seelische Sein bezeichnet, nicht dazu 
kommen kdnnen, die wirklich vorhandenen Unter- 
schiede der empirischen Wissenschaften zu verstehen, auf die es 
doch vor allem ankommt. Zunachst suche ich zur vorlaufigen 
Orientierung in kurzen Formeln meine Ansicht der ublichen 
und durch die Gewohnheit befestigten entgegenzustellen. 

Gewifl lafit sich nicht Ieugnen, daB die nicht naturwissen- 
schaftlichen empirischen Diszipiinen es vorwiegend mit 
psychischem Sein zu tun haben, und daB daher in dieser Hin- 
sicht ihre Bezeichnung als Geisteswissenschaften nicht direkt 
f a 1 s c h ist, aber — und darauf allein kommt es an — das fur 
die Wissenschaftslehre wesentliche Unterscheidungsmerk- 
mal ist dadurch nicht getroffen. Denn es wird mit Hilfe des 
Begriffs vom Psychischen weder der prinzipielle Unterschied der 
zwei verschiedenen Arten des wissenschaftlichen Interesses 
deutlich, der den materialen Unterschieden der Objekte 
entspricht und bewirkt, daB die Vertreter der einen Gruppe von 
Spezialwissenschaften sich miteinander enger verbunden betrachten 
als mit denen der andern, noch laBt sich vollends auf dem an- 
gegebenen Wege irgendein brauchbarer logischer, d. h. forma- 
ler Gegensatz zweier voneinander verschiedener Methoden 
der Einzelforschung ableiten. 

Es ist kein Zufall, daB auf dem Gebiete der Psychologie in 
neuerer Zeit neben den Philosophen hauptsachlich Manner der 



dernde Psychologie. Sitzungsberichte der konigl. preuB. Akademie 
der Wiss., 1894. S. 1399 ff. 

1) In dem Kreise von Gelehrten, denen ich 1898 den Inhalt die- 
ser Schrift zum erstenmal vortrug, fand sich sogar nieraand mehr, 
der fiir das in der Logik noch immer so beliebte Wort zur Abgren- 
zung gegen die Naturwissenschaft eingetreten ware, und in neuerer 
Zeit wird der Ausdruck Kulturwissenschaft immer haufiger gebraucht. 



- 13 — 

Naturwissenschaften gearbeitet haben, die Historiker und die 
Vertreter anderer „Geisteswissenschaften" dagegen sich um die 
moderne Psychologie meist gar nicht kummern. Das hat viel- 
mehr seine im Wesen der Sache liegenden Grunde, und eine 
Aenderung dieses Zustandes ist nicht wahrscheinlich, ja vielleicht 
nicht einmal wunschenswert. Die Bedeutung der Psychologie fur 
einige der sog. „ Geisteswissenschaf ten" wird, wie ich glaube, 
nicht nur von Psychologen, sondern auch von der Logik noch 
sehr iiberschatzt, und jedenfalls in der Art grundlegend, 
wie die Mechanik es fur die Naturwissenschaften ist, kann fur 
die andere Haifte des globus intellectuals der Einzelforschung 
weder die bereits vorhandene, noch irgendeine erst zu schaffende 
allgemeine Wissenschaft vom realen Seelenleben sein. Ja, die An- 
wendung der in der Psychologie heute iiblichen Methode muB 
in den Geschichts wissenschaften geradezu notwendig auf Irr- 
wege ieiten, und sie hat das auch bereits getan, wo an die Stelle 
historischer Darstellungen „sozialpsychologische" Theorien ge- 
treten sind. 

Noch wichtiger aber ist, daC mit einem e i n z i g e n Gegensatz, 
wie dem von Natur und Geist, dieMannigfaltigkeit der 
Einzel wissenschaften sich uberhaupt nicht methodologisch glie- 
dern IiiI3t, weil die Probleme, die hier vorliegen, viel koinplizierter 
sind, als man gewohnlich annimmt. An die Stelle des e i n e n 
Unterschiedes von Natur und Geist hat die Methodenlehre bei 
der Gliederung der Spezialdisziplinen meiner Ansicht nach die 
folgenden z w e i Paare von Grundbegriffen zu setzen. 

Zwei Gruppen von b j e k t e n , die sich mit Riicksicht auf 
die Art ihres realen Seins, d. h. in der Weise wie Korper und 
Seele, voneinander unterscheiden, sind fiir die Gliederung der Ein- 
zel wissenschaften uberhaupt nicht zu finden, weil es, wenigstens 
in der unmittelbar zuganglichen Wirklichkeit, n i c h t s gibt, das 
einer Untersuchung von der formalen Eigenart, wie die Natur- 
wissenschaft sie fiihrt, prinzipiell entzogen werden diirfte. So ver- 
standen ist der Satz, es konne nur eine empirische Wissenschaft 
geben, da es nur eine empirische Wirklichkeit gibt, berechtigt. 
Die Wirklichkeit in ihrer Totalitat, d. h. als Inbegriff alles korper- 
Iichen und seelischen Daseins, kann und muC man in der Tat als 



- 14 - 

em einheitliches Ganzes oder „monistisch", wie das beliebte Schlag- 
wort lautet, ansehen und dementsprechend auch in jedem ihrer 
Teile durch Einzeldisziplinen nach ein und derselben Methode be- 
handeln. Geschieht dies aber, so werden die Wissenschaften, welche 
die Korpervorgange, und die, welche das Seelenleben erforschen, 
auch durch gemeinsame Interessen eng miteinander verbunden sein. 

Ein materialer Gegensatz der Objekte ist der Einteilung 
der Einzelwissenschaften daher nur insofern zugrunde zu legen, 
als sich aus der Gesamtwirklichkeit eine Anzahl von Dingen und 
Vorgangen heraushebt, die fur uns eine besondere Bedeutung 
oder Wichtigkeit besitzen, und in denen wir daher noch etwas 
anderes sehen als bloGe „Natur". Ihnen gegeniiber genugt 
dann die im ubrigen durchaus_Jaerechtigte naturwissenschaftliche 
Darstellung Mr sich all ein noch nicht, sondern wir haben in 
bezug auf sie auBerdem noch ganz andere Fragen zu stellen, und 
zwar beziehen sich diese Fragen vor allem auf die Objekte, die 
wir am besten unter dem Namen. K u 1 1 u r zusammenfassen. 
Mit einer auf die besondere Bedeutung der Kulturobjekte ge- 
stiitzten Einteilung in Natur- und Kulturwissenschaften diirfte 
auch der Interessengegensatz am besten bezeichnet 
sein, der die Manner der Spezialforschung in zwei Gruppen son- 
dert, und der Unterschied von Naturwissenschaft und 
Kulturwissenschaft s,cheint mir daher geeignet, an die 
Stelle der iiblichen Einteilung in Natur- und Geisteswissenschaft 
zu treten. Wir haben also festzustcllen, was Kultur im Unter- 
schiede von Natur bedeutet. 

Damit allein aber reichen wir nicht aus. Zu dem materialen 
Einteilungsprinzip muB ein f o r m a 1 e s hinzukommen, und mit 
Rucksicht auf dieses gestalten die Begriffe sich dann komplizierter 
als bei der iiblichen Auffassung, die ubrigens ihre scheinbare Ein- 
fachheit nur der Vieldeutigkeit des Worte^ „Natur" verdankt. 

Ausirgendwelchen materialen EigentUmUchkeiten der als Kultur 
zu bezeichnenden Teile der Wirklichkeit lassen sich die grund- 
legenden formalen Gegensatze der spezialwissenschaftlichen Me- 
thoden selbstverstandlich ebensowenig ableiten wie aus dem 
Unterschiede von Natur und Geist, und wir kdnnen daher nicht 
ohne weiteres von ,,kulturwissenschaftlicher Methode" sprechen, 



- 15 - 

wie man von naturwissenschaftlicher Methode spricht und von 
psychologischer Methode sprechen zu diirfen glaubt. Aber wir 
mussen zugleich bemerken, daB auch der Ausdruck „naturwissen- 
schaftliche Methode" dann allein einen logischen Sinn hat, 
wenn das Wort „Natur" darin nicht nur Korperwelt heiBt, son- 
dern die angefuhrte kantische oder f o r m a 1 e Bedeutung besitzt, 
also jedenfalls nicht eine „korperwissenschaftliche Methode" ge- 
meint ist, obwohl dies allein doch der richtige Gegensatz zur 
g e i s t es wissenschaftlichen als der psychologischen Methode ware. 

Den Gegensatz zum logischen Begriff der Natur als des 
Daseins der Dinge, sofem es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt 
ist, kann vielmehr nur ein ebenfalls logischer Begriff bilden. 
Dieser aber ist, wie ich glaube, der Begriff der Geschichte 
im weitesten formalen Sinne des Wortes, d. h. der Begriff des 
einmaligen Geschehensin seiner Besonderheit und In- 
dividuality, der zum Begriff des allgemeinen Gesetzes in einem 
formalen Gegensatz steht, und wir werden daher bei der Gliede- 
rung der Einzelwissenschaften von einem Unterschiede der natur- 
wissenschaftlich en und der historischen Methode 
reden mussen. 

Die Gliederung, die wir hiermit nach formalen Gesichts- 
punkten vornehmen, fallt also gar nicht mit der nach materia* 8 
1 e n Gesichtspunkten zusammen, wie dies bei der ublichen Ein- 
teilung in Natur- und Geisteswissenschaften der Fall zu sein 
schien, und es darf daher auch keine Rede davon sein, daB der 
formale Unterschied von Natur und Geschichte an die S t e 1 1 e 
des materialen Unterschiedes von Natur und Geist zu treten 
hatte, wie man miBverstandlicherweise diese Einteilung aufge- 
faBt hat. Den Unterschied von Natur und Geist konnen wir 
nur durch den von Natur und Kultur verdrangen und ersetzen 
wollen. 

Wohl aber glaube ich, zeigen zu konnen, daB zwischen unsern 
beiden Einteilungsprinzipien ein Zusammenhang insofern 
besteht, als eine fur alle K u 1 1 u r objekte notwendige Betrach- 
tung eben ihre Darstellung nach historischer Methode ist, 
• und daB der Begriff dieser Methode sich zugleich aus einem spa- 
ter zu entwickelnden formalen Begriff der Kultur verstehen laBt. 



_ 16 — 

Freilich reicht auch die naturwissenschaftliche Methode bis weit 
in das Kulturgebiet hinein, und besonders darf man nicht sagen, 
daB es nur historische Kulturwissenschaften gibt. Umge- 
kehrt kann man sogar in gewisser Hinsicht von einem historischen 
Verfahren innerhalb der Naturwissenschaft sprechen, so daB also 
fiir die logische Betrachtung infolgedessen Mittelgebiete 
entstehen, auf denen einerseits inhaltlich kulturwissenschaft- 
liche und methodisch naturwissenschaftliche, andererseits 
inhaltlich naturwissenschaftliche und methodisch his- 
torische Untersuchungen eng miteinander verbunden sind. 

Aber dieser Zusammenhang ist doch auch wieder nicht von 
der Art, daB dadurch der Gegensatz von Naturwissenschaften 
und Kulturwissenschaften in der Einzelforschung iiberhaupt 
aufgehoben wurde. Wir konnen vielmehr mit Hilfe unserer 
Begriffe den gesuchten Grundgegensatz der empirischen 
Wissenschaften dadurch gewinnen, daB wir den Begriff der h i- 
storischen Kulturwissenschaften sowohl in ma- 
terialer wie in formaler Hinsicht, scharf gegen den Begriff der 
Naturwissenschaften abgrenzen und dann weiter zeigen, daB trotz 
aller Uebergange und Zwischenformen bei Erforschung des Natur- 
daseins hauptsachlich nach naturwissenschaftlicher, bei 
spezialwissenschaftlicher Erforschung des Kulturlebens haupt- 
sachlich nach historischer Methode verfahren wird. 

Meine Aufgabe besteht nun im folgenden darin, den im an- 
gegebenen Sinne materialen Gegensatz von Natur und 
Kultur und den formalen Gegensatz von naturwissenschaft- 
licher und historischer Methode so weit zu entwickeln, daB 
der Grund fiir die hier aufgestellten Thesen und damit die Be- 
rechtigung des von dem iiblichen abweichenden Einteilungsver- 
suchs der Einzelwissenschaften deutlich hervortritt. Dabei muB 
ich mich im wesentlichen jedoch, wie nochmals hervorgehoben 
sei, auf die Darlegung des schematischen Hau ptunterschiedes 
beschranken und kann die nahere Ausfiihrung nur andeuten. 
Ein vollstandiges System der Wissenschaftslehre zu geben, 
das a 1 1 e "Wissenschaften oder auch nur alle Einzelwissenschaften 
umfaBt, beabsichtigt dieser Versuch nicht. Von der Methode der- 
Philosophic sehen wir hier sogar vollstandig ab, und eben- 



— 17 — 

so kommt die Mathematik, aus Griinden, die sich bald ergeben 
werden, in ihrer logischen Struktur nicht in Betracht. Wir haben 
es nur mit den empirischen Disziplinen vom r e a 1 e n Sein der 
Sinnenwelt zu tun, und fur sie allein gilt es, die beiden 
einander entgegengesetzten Grundformen ihrer Darstellung 
zum BewuGtsein zu bringen, welche ihre Gliederung in Natur- 
wissenschaften und Kulturwissenschaften rechtfertigen. 



IV. 

NATUR UND KULTUR 

Eine streng systematische Untersuchung, welche die logischen 
Probleme voranstellt, miiBte von einer Reflexion auf die f o r- 
malen Unterschiede der Methoden ausgehen, also vom Begriff 
einer historischen Wissenschaft her den der Kultur- 
wissenschaft verstehen 1 ). Weil jedoch die Einzelwissenschaften 
zuerst ansachliche Unterschiede ankniipfen, und die Arbeits- 
t e i 1 u n g auch in ihrem weiteren Verlauf vor allem durch den 
materialen Unterschied von Natur und Kultur bestimmt wird, so 
beginne ich, urn mich nicht noch weiter, als es ohnehin schon 
notig ist, von den Interessen der Einzelforschung zu entfernen, 
mit dem sachlichen Gegensatz und schlieBe hieran eine Erorterung 
der formalen methodischen Unterschiede an, um dann erst die Be- 
ziehungen zwischen dem formalen und dem materialen Einteilungs- 
prinzip aufzuzeigen. 

Die Worte Natur und Kultur sind nicht eindeutig, und ins- 



I) Diesen Weg habe ich eingeschlagen in meinem Buch: Die 
Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische 
Einleitung in die hisLorischenWissenschaften, 1896 — 1902, 3. u. A. Anil. 
1921. Vgl. ferner meine Abhandlung: Geschichtsphilosophie in: Die 
Philosophic im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift fur Kuno 
Fischer, 1905. 3.Aufl. als besondcrs gedrucktes Buch unter dem Titel: 
Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine Einfuhrung. 1924. 
Ich mochte betonen, daC auch diese Schriften nicht beabsichtigcn, 
ein vollstandiges System der Wissenschaften zu entwickeln, 
und daB daher alle Einwande gegenstandslos sind, die darauf hin- 
auskommen, daI3 diese Oder jene Disziplin bei mir keinen Platz fande. 
Ein System derWissenschaftslehre habe ich bisher nicht publiziert. 

Kickert, Kuliurwissenscbaft. 6./7. Auf I. 2 



— 18 — 

besondere wird der Begriff der Natur immer erst durch den Be- 
griff naher bestimmt, zu dem man ihn in einen Gegensatz bringt. 
Den Schein der Willkiir werden wir hier am besten vermeiden, 
wenn wir uns zunachst an die ursprungliche Bedeutung 
halten. Naturprodukte sind es, die frei aus der Erde wachsen. 
Kulturprodukte bringt das Feld hervor, wenn der Mensch ge- 
ackert und gesat hat. Hiernach 1st Natur der Inbegriff des von 
selbst Entstandeneti, „Geborenen" und seinem eigenen ,,Wachs- 
tum" Ueberlassenen. Ihr steht die Kultur als dasvoneinem nach 
gewerteten Zwecken handelnden Menschen entweder direkt Her- 
vorgebrachte oder, wenn es schon vorhanden ist, so doch 
wenigstens um der daran haftenden Werte willen absichtlich 
Gepflegte^ gegeniiber. 

Mogen wir nun diesen Gegensatz so weit ausdehnen, wie wir nur 
wollen, immer hangt dam it notwendig zusammen, daB in alien 
Kulturvorgangen irgendein vom Menschen anerkannter Wert 
verkorpert ist, um dessentwillen sie entweder hervorgebracht 
oder, wenn sie schon, entstanden sind, gepflegt werden, daB da- 
gegen alles von selbst Entstandene und Gewachsene ohne Ruck- 
sicht auf Werle betrachtet werden kann und, falls es wirklich 
nichts anderes als Natur in dem angegebenen Sinne sein soil, 
auch belrachtet werden muB, 

An Kulturobjekten haften also stets Werte, und wir wollen sie 
deshalb Guter nennen, um sie damit zugleich als w e r t v o 1 1 e 
Wirklich keiten von den Werten selbst zu unterscheiden, 
die, fur sich betrachtet, keine Wirklichkeiten sind, und von 
denen man auch absehen kann. Die Wissenschaft denkt Natur- 
objekte nicht als Guter, sondern frei von der Verknupfung mit 
Werten, und lost man von einem Kulturobjekt in Gedanken je- 
den Wert ab, so darf man sagen, daB es dadurch ebenfalls zur 
bloBen Natur wird oder sich wissenschaftlich wie ein Naturobjekt 
behandeln IaBt. Durch dieBeziehung auf Werte, die ent- 
weder da ist oder nicht da ist, konnen wir demnach mit Sicher- 
heit zwei Arten der b j e k t e der Wissenschaften trennen, und 
wir diirfen es hier im methodologischen Interesse dadurch all ein ,. 
weil abgesehen von dem an ihm haftenden Wert ein jeder realer 
Kulturvorgang sich auch als im Zusammenhang mit der Natur 



— 19 — 

stehend und dann selbst als Natur ansehen lassen muC. Imvie- 
fern die Wertbeziehung der fur die 1 o g i s c h e Struktur der 
historischen Kulturwissenschaften entscheidende Punkt ist, 
wird sich spater zeigen. 

Allerdings laBt sich der materiale Unterschied der wissenschaft- 
lichen Objekte auch noch anders formulieren, und zwar so, daB 
der Wertbegriff dabei nicht sofort klar zutage tritt. Wir wollen 
diesen Umstand wenigstens kurz beriihren, da es sich dabei um 
einen Begriff handelt, den man neuerdings in method ologischen 
Untersuchungen in den Vordergrund zu stellen pflegt, namlich 
um den des Verstehens. 

Gewifi kann dieser Begriff in der Methodenlehre eine grofie 
Wichtigkeit erhalten. Aber das Wort ..Verstehen" ist sehr viel- 
deutig. Sein Begriff bedarf daher der genauen Bestimmung, und 
vor allem kommt es bei der Trennimg von Kultur- und Natur- 
wissenschaften darauf an, wozu man das Verstehen in einen 
Gegensatz bringt. Wir miissen es hicr vom W a h r n e h- 
memtrennen und dabei diesen Begriff so weit fassen, daB die 
gesamte Sinnenwelt, d. h, alle unmittelbar gegebenen physischen und 
psychischenVorgange, als Gegenstande derWahrnehmunggelten 1 ). 
Doch dtirfen wir auch dann im Interesse logischer Klarheit 
nicht bei den Akten des S u b j e k t s bleiben, das versteht, 
sondern es sind in unseremZusammenhangdie Ob j ekte wesent- 
lich, die verstanden werden, und wenn man nun die gesamte direkt 
zugangliche Sinnenwelt als Objekt des Wahrnehmcns bezeichnet, 
dann bleiben als Objekte des Verstehens, falls dies Wort einen 
pragnanten Sinn behalten soil, nur noch unsinnliche B e d e u- 
t u n g e n oder Sinngebilde iibrig. Sie allein werden u n- 
m i 1 1 e 1 b a r verstanden, und sie sind es in der Tat, die, wo sie 
vorkommen, von der Wissenschaft eine prinzipiell andere Art der 
Darstellung fordern als die nur wahrnehmbaren Gegenstande der 
physisdien und psychischen Realitat oder der Sinnenwelt. 

Mit dieser Unterscheidung von w : ahrnelimbaren und verstehbaren 
Objekten haben wir uns aber bereits wieder unserer friiheren Ent- 



I) Vgl. hierzu meine Abhandlung: Die Mcthode der Philosophie und 
das Unmittelbare. Eine Problemstellung. Logos Bd. 12, S. 235 il. Bcson- 
ders Abschnitt IV: Wahrnehmbare und verstehbare Zustande 

2* 



— 20 — 

gegensetzung von Natur und Kultur genahert. Weil namlich ver- 
stehbare Bedeutungen und Sinngebilde nur zusammen mit wahr- 
nehmbaren Objekten vorkommen, konnen. wir auch sagen: es gibt 
fiir die Wissenschaft einerseits Objekte, die wie die Kultur eine 
Bedeutung oder einen Sinn haben, und die wir um dieser Bedeu- 
tung und dieses Sinnes willen verstehen, und es gibt andererseits 
Objekte, die wie die Natur uns als vollig sinn- und bedeutungs- 
frei gelten und daher unverstandlich bleiben. Ohne Frage hat dann 
auch der so formulierte Unterschied fur die Wissenschaftslehre und 
zumal fiir dieMethode der Geschichte eine Wichtigkeit 1 ). Ja, man 
mag denken, dafl er noch umfassender als der zuerst angegebene 
Unterschied von Natur und Kultur sei und somit dazu dienen 
konne, unsere erste Unterscheidung in die Sphare einer hoheren 
Allgemeinheit zu bringen. Natur ware danach das bedeutungs- 
freie, nur wahrnehmbare, unverstandliche, Kultur dagegen das 
bedeutungsvolle, verstehbare Sein, und so ist es in der Tat. 

Trotzdem empfiehlt es sich, daB wir bei der Beschrankung auf 
die Spezialdisziplinen und bei dem Versuche, die empirischen 
Kulturwissenschaften gegen die Naturforschung abzugrenzen, den 
Wert gedanken in den Vordergrund rucken und uns zugleich 
dariiber klar werden, daB eine Wertbeziehung vorliegen mui3, falls 
empirisch realc Objekte fur uns einen Sinn oder eine Bedeutung 
bekommen sollen, wie umgekehrt ohne irgendeine Beziehung der 
Objekte auf Werte nichts vorhanden ware, was wir im pragnanten 
Sinne desWortesalsbedeutungs-undsinnvoll„verstehen" konnten. 
Wir diirfen sogar sagen, dafi Sinn und Bedeutung erst durch einen 
Wert in ihrer Eigenart konstituiert werden, und daB daher das 
Verstehen von Sinn und Bedeutung ohne Rucksicht auf Werte 
wissenschaftlich unbestimmt bleibt. 

Jedenfalls haben wir schon in der Unterscheidung von wertfreier 
Natur und wertbehafteter Kultur das in unserem Zusammen- 
hang wesentliche Moment, und wir konnen zeigen: erst wenn 
die methodologische Bedeutung der Wertbeziehung klar geworden 
ist, laBt sich dartun, welche Tragweite der Unterschied von sinn- 



1) Vgl. dazu in der 3. u. 4. Aufl. meiner „Grenzen" den neu hin- 
zugefttgten Abschnitt: Die irrcalen Sinngebilde und das geschicht- 
liche Verstehen, S. 404—464. 



— 21 — 

freien und sinnbehafteten odervon unverstandlichen und verstand- 
Iichen Gegenstanden fur die Iogische Struktur der spezialwissen- 
schaftlichen Methoden besitzt. 

Wir bleiben also in dieser einfiihrenden Darstellung bei der 
Trennung von wertfreier Natur und wertbehafteter Kullur stehen, 
ohne auf die Trennung von sinnfreien, nur wahmehmbaren, unver- 
standlichen und sinnvollen, verstehbaren Objekten weiter zu reflek- 
tieren, und lediglich uber die Arties Werles, der Wirklichkeiten 
zu Kulturgutern macht und sie dadurch als besondere Gegen- 
stande aus der Natur heraushebt, fiigen wir noch etwas hinzu. 

Bei Werten, die man fur sich betrachtet, kann man nicht 
fragen, ob sie w i r k 1 i c h sind, sondern nur, ob sie g e 1 1 e n. 
Ein Kulturwert ist nun entweder faktisch von alien Menschen als 
giiltig anerkannt, oder es wird seine Geltung und damit die mehr 
als rein individuelle Bedeutung der Objekte, an denen er haftet, 
wenigstens von einem Kulturmenschen postuliert, und ferner 
darf es sich bei Kuitur im hdchsten Sinne nicht um Gegenstande 
eiues bloCen Begehrens, sondern es muC sich um Guter handeln, 
zu deren Wertung und Pflege wir uns mit Rucksicht auf die Gesell- 
schaft, in der wir leben, oder aus einem anderen Grunde zugleich 
mehr oder weniger „verpflichtet" fuhlen, falls wir iiberhaupt auf 
die Geltung der Werte reflektieren. Doch ist dabei nicht nur an eine 
„moralische Notwendigkeit" zu denken, sondern es geniigt, daB 
sich mit dem Wert der Gedanke einer Norm oder einer gesollten 
Verwirklichung in einem Gute iiberhaupt verknupft. So grenzen 
wir die Kulturobjekte sowohl gegen das ab, was zwar von alien, 
aber nur triebartig gewertet und erstrebt wird, als auch gegen das, 
was zwar nicht einem bloBen Triebe, aber doch nur den Anwand- 
lungen einer individuellenLaune seine Wertung als Gut verdankt J ). 

DaB dieser Gegensatz von Natur und Kultuf, soweit es sich um 
einen Unterschied der beiden Gruppen von realen Objekten 

1) Auf die verschiedenen Arten der Wertgeltung, deren Trennung 
Vielen Schwierigkciten macht, braucht hier nicht naher eingegangen 
zu werden. Vgl. auch den letzten AbschniLt dieser Schrift uber die Ob- 
jektivitat der Kulturgeschichte. Dort wird der Begriff der Geltung 
des Kulturwertes so weit entwickelt, wie es fur das Verstandnis der 
empirischen Objektivitat der historischen Kulturwissenschaften not- 
wendig ist. 



— 22 — 

handelt, wirklich der Teilung der Einzelwissenschaften zugrunde 
liegt, ergibt sich leicht. 

Die Religion, die Kirche, das Recht, der Staat, die Sitten, die 
Wissenschaft, die Sprache, die Literatur, die Kunst, die Wirtschaft 
und auch die zu ihrem Betrieb notwendigen technischen Mittel sind, 
jedenfalls auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung, Kulturob- 
jekte oder G ii ter genau in dem Sinne, daB der an ihnen haftende 
Wert entweder von alien Gliedern einer Gemeinschaft als gultig 
anerkannt, oder seine Anerkennung ihnen zugemutet wird. 
Wir brauchen daher unsern Begriff der Kultur nur noch dahin 
zu erweitern, daB wir auch die Vorstufcn und die V e r f a 1 1 s- 
s t a d i e n der Kultur, sowie die kulturfordernden oder -hemmen- 
den Vorgange mit in Betracht ziehen, dann sehen wir, daB er alle 
Objekte der Rcligionswissenschaft, der Jurisprudenz, der Ge- 
schichte, der Philologie, der Nationalokonomie usw., also die Ge- 
genstande aller „Geisteswissenschaften" mit Ausnahme der Psycho- 
logie umfaBt, und daB daher der Ausdruck Kulturwissenschaft 
eine durchaus geeignete Bezeichnung fiir die nichtnatur- 
wissenschaftlichen Spezialdisziplinen ist. 

Der Umstand, daB man audi die Betriebsmittel der Landwirt- 
schaft, die Maschinen und die chemischen Hilfsmittel zur Kultur 
rechnet, ist gewiB kein Einwand gegen die Verwendung des Ter- 
minus Kulturwissenschaft, wie Wundt gemeint hat 1 ), sondern 
zeigt im Gegenteil, daB er auf die nichtnaturwissenschaftlichen 
Einzeldisziplinen viel besser paBt als das Wort Geisteswissen- 
schaft, fiir das Wundt eintritt. Die technischen Erfindungen werden 
zwar meist mit Hilfe der Naturwissenschaft gemacht, aber sie selbst 
gehoren doch nicht zu den b j e k t e n naturwissenschaftlicher 
Untersuchung, und in den ,,Gcistes\vissenschaften" sind sie eben- 
falls nicht unterzubringen. Nur in einer Kulturwissenschaft findet 
die Darstellung ihrer Entwicklung einen Platz, und welche Be- 
deutung sie auch fiir die„geistige", d. h. sinnvolle seelische Kultur 
haben k 6 n n e n , bedarf kernes Nachweises. 

Von einigen Disziplinen, wie Geographie 2 ) und E t h n o- 



1) Einleitung in die Philosophic, 1901. 

2) Vgl. Otto Graf, Vom Begriff der Geographie im Verhaltnis zu 
Geschichte und Naturwissenschaft. 1925. 



— 23 — 

graphie, kann es allerdings zweifelhaft sein, wohin sie gehoren. 
Aber die Entscheidung dariiber hangt bei ihnen nur davon ab, 
unter welchem Gesichtspunkt sie ihre Gegenstande bringen, 
d. h. ob sie sie als bloBe Natur ansehen oder sie zum Kulturleben 
in Beziehung setzen. Die Erdoberflache, an sich ein bloBes Natur- 
produkt, gewinnt als Schauplatz aller Kultur entwicklung noch 
ein anderes als bloft naturwissenschaftliches Interesse, und die 
primitiven Volker konnen einerseits als „Naturvolker" angesehen, 
andererseits aber auch daraufhin erforscht werden, wie weit sich 
bei ihnen schon „Anfange" der Kultur vorfinden. Diese Doppel- 
seitigkeit tragt also nur dazu bei, unsere Ansicht zu bestatigen, 
daB es nicht auf Unterschiede wie Natur und Geist im Sinne von 
Korper und Seele oder physisch und psychisch ankommt, und wir 
diirfen demnach die nichtnatunvissenschaftlichen Einzeldisziplinen 
unbedenklich als Kultur wissenschaften in der ange- 
gebenen Bedeutung bezeichnen. 

Bisweilen wird jedoch dieses Wort auch in einem anderen 
Sinne ■ gebraucht, und daher ist es vielleicht gut, wenn wir 
unsern Begriff noch ausdriicklich gegen verwandte Begriffe ab- 
grenzen, in denen der Ausdruck Kultur z. T. ein zu w e i t e s , 
z. T. aber auch ein zu e n g e s Gebiet umfai3t. Doch will ich 
mich dabei auf einige Beispiele beschranken. 

Als Typus fur eine zu weite Fassung wahle ich den Begriff 
der Kulturwissenschaft, wie er von Hermann Paul T ) aufgestellt 
worden ist. Eine kurze Auseinandersetzung mit seinen Ansichten 
liegt um so naher, als er durch seine tiberzeugenden Ausfuhrungen 
nicht nur dazu beigetragen hat, den Ausdruck Kulturwissen- 
schaften statt Geisteswissenschaften gebrauchlich zu machen, son- 
dern auch in neuerer Zeit zu den ersten gehort, die auf den fun- 
damentalen logischen Unterschied zwischen Gesetzes wissen- 
schaft und Geschichts wissenschaft hingewiesen haben, der 
uns spater beschaftigen wird. 

Trotzdem will auch Paul noch „als das charakteristische Kenn- 
zeichen der Kultur ... die Betatigung psychischer Faktoren 
bezeichnen", ja dies scheint ihm „die einzig mogliche exakte Ab- 
grenzung des Gebietes gegen die Objekte der reinen Naturwissen- 

1) Prinzipien der Sprachgeschichte. 3. Aufl. S. 6 ff. 



— 24 — 

schaf ten zu sein", und weil ihm „das psychische Element . . . 
der wesentlichste Faktor in aller Kulturbewegung" ist, „um den sich 
alles dreht", so wird auch ihm „die Psychologie... die vor- 
nehmste Basis aller in einem hoheren Sinne gefaBten Kulturwissen- 
schaft". Den Ausdruck Geisteswissenschaften meidet er nur des- 
halb, weil, „sowie wir das Gebiet der historischen Entwicklung 
betreten, . . . wir es neben den psychischen mit physischen Kraf- 
ten zu tun" haben. Pauls BegriKsbestimmung kommt also darauf 
hinaus, daB das Psychische, wo es allein auftritt, Objekt der 
reinen Geisteswissenschaft ist, daB alle Wirklichkeit aber, die sich 
aus physischem und psychischem Sein z u s am mensetzt, 
den Kulturwissenschaften gehort. 

In diesen Gedanken ist das zweifellos richLig, daB man die 
Kulturwissenschaften nicht auf die Erforschung seelischer Vorgange 
einschranken darf, und daB der Ausdruck Geisteswissenschaften, 
wenn man darunternur Erforschung von Seelenleben versteht, auch 
aus diesem Grunde wenig bezeichnend ist. Aber man wird doch 
weitergehen und fragen mussen, ob die empirischen Kulturwissen- 
schaften uberhaupt einen Grund haben, physisches und psyehi- 
sches Sein so zu trennen, wie die Psychologie es tut, und ob daher 
der Begriff des „Geistigen'\ den die Kulturwissenschaften 
brauchen, mit dem des „Psychischen" zusammenfallt, den die 
Psychologie bildet 1 ). Doch auch abgesehen hiervon ver- 
mag ich nicht einzusehen, wie Paul auf seinem Wege Naturwissen- 
schaft und Kulturwissenschaft ,,exakt" voneinander scheiden will. 
Er selbst zieht die Konsequenz, daB nach seiner Bestimmung auch 
eine tierische Kultur anerkannt werden musse, aber er 
wird doch nicht behaupten konnen, daB das tierische Leben bei 
Berucksichtigung der geistjgen Vorgange in jedem Falle den 
Kulturwissenschaften gehort. Nur dann wird das vielmehr der Fall 
sein, wenn wir es als Vorstufe nicht nur zum menschlichen 
Geistesleben uberhaupt, sondern zum menschlichen Kultur leben 



1} In neuererZeit 1st man immer mehr geneigt, das Geistige streng 
vom Seelischen zu trennen. Solange man jedoch dabei nicht den Unter- 
schied von wertbezogener und wertfreier Wirklichkeit als entscheidend 
verstanden hat, kommt man damit in der Methodenlehre nicht zu 
prinzipieller Klarheit. _ _ - 



— 25 — 

in dem von mir angegebenen Sinne betrachten. Fallt diese Bezie- 
hung auf Kultur werte fort, so haben wir es lediglich mit „Na- 
tur" zu tun, und „die einzig mogliche exakte Abgrenzung" des 
Gebietes versagt also hier vollstandig. 

Paul gibt das i m p 1 i c i t e zu, wenn er als Beispiel einer Kul- 
turwissenschaft vom tierischen Leben die Entwicklungsgeschichte 
der Kunsttriebc und gesellschaftlichen Organisation anfiihrt, denn 
von Kunsttrieben und gesellschaftlicher Organisation bei den 
T i e r e n zu reden, hat nur dann einen Sinn, wenn es sich da- 
bei um solche Vorgange handelt, die nach A n a 1 o g i e mit der 
menschlichen Kultur betrachtet werden konnen, dann 
jedoch Kulturvorgange auch in meinem Sinne sein wurden. Diese 
Betrachtung sber darf doch dem tierischen Leben gegenuber nicht 
als die einzig bcrechtigte angesehen werden, ja, es Iiefle sich 
wohl zeigen, daB die Uebertragung menschlicher Kulturbegriffe auf 
tierische Gemeinschaften in den meisten Fallen eine spielerische 
und verwirrende Analogie ist. Was soil man unter dem Worte 
,,Staat" verstehen, wenn es sowohl das Deutsche Reich als auch 
einen Bienenstock bezeichnet, was unter „Kunstwerk", wenn sowohl 
Michelangelos Mediceergraber als auch ein Vogelgezwitscher damit 
gemeint ist? Jedenfalls wird Pauls Begriff gerade dadurch, daft 
das Psych ische darin das w e s e n tl i c h e Merkmal sein 
soil, zur Abgrenzung der KulLur gegen die Natur untauglich, 
und seine weiteren Ausfuhrungen zeigen, dafi er selbst mit diesem 
Begriffe nicht auskommt. 

Doch gehe ich hierauf nicht weiter ein. Ich wollte nur an 
einem Beispiel noch einmal klarlegen, wie ohne einen Wert- 
gesichtspunkt, der G iX t e r von wertfreien Wirklich- 
k e i t e n trennt, keine scharfe Scheidung von sinnvoller Kultur 
und sinnfreier Natur zu finden ist, und ich mochte jetzt nur noch 
erklaren, waruni bei der Bestimmung des Kulturbegriffs so leicht 
an Stelle des Wert es der Begriff des Geistigen als der 
eines Seelischen tritt. 

Die Kulturvorgange werden wirklich nicht nur mit Ruck- 
sicht auf einen Wert, sondern zugleich auch immer mit Riick- 
sicht auf ein psychisches Wesen, das sie wertet, be- 
trachtet werden mussen, weil Werte nur von psychischen Wesen 



— 26 — 

gewertet werden, ein Umstand, der es mit sich bringt, daB das 
Psychische iiberhaupt als das Wertvollere und Sinnbehaftete im 
Vergleich zum Korperlichen angeseben wird. Es besteht also in 
der Tat -ein Zusammenhang zwischen dem Gegensatz von 
Natur und Kultur einerseits und dem von Natur und Geist oder 
Seele andererseits, insofern in den Kulturvorgangen, weil sie Giiter 
sind, stets eine Wertung und daher zugleich geistiges oder see- 
lisches Leben m i t s p i e 1 e n muB. 

So rictitig dies jedoch ist, so wenig laBt sich von hier aus eine 
Einteilung der Wissenschaften durch den Gegensatz von 
Natur und Geist oder Seele rechtfertigen, denn das bloBe Vor- 
handensein von Psycbischem macht, well seelisches Leben 
als solches auch als Natur zu betrachten ist, eben noch nicht 
das Kulturobjekt aus, und daher ist es zur Definition des 
Kulturbegriffs nicht zu verwenden. Das ginge vielmehr nur 
dann, wcnn in dem Psychischen, als der notwendigen Yorbe- 
dingung einer Wertung, immer auch der Wert selbst, und 
zwar als ein allgemeingiiltiger Wert mitzudenken ware. Dies 
mag in der Tat haufig geschehen, besonders wenn man das Wort 
,, Geist" braucht, und das erkliirL die von uns abzulehnenden Ver- 
suche. Zu solcher Identifizierung von Geist und Wertung eines 
allgemeingiiltigen Wertes aber besteht kein Recht, solange 
man unter Geist das Psychische versteht. Man sollte vielmehr 
das „geistige" Sein, d. h. die psychischen Akte der Wertung von 
den Werten selbst und ihrer Geltung ebenso begrifflich trennen, 
wie man die realen Giiter von den an ihnen haftenden Werten 
trennen muB, und sich klarmachen, daBes in den „geistigcn Werten" 
nicht auf das G e i s t i g e , sondern auf die W e r t e ankommt. 
Dann wird man auch das Psychische nicht mehr zur Abgrenzung 
der Kultur gegen die Natur beniitzen wollen. Nur als Akt der Wer- 
tung ist es mit der Kultur verknupft, und auch als Wertung Eallt 
es nicht mit dem Wert zusammen, der aus einer Wirklichkeit ein 
Kulturgut macht. 

Ganz kurz kann ich endlich die Bestimmungen behandeln, die 
den Begriff der Kultur auf eine zu e n g begrenzte Gruppe allge- 
mein gewerteter Objekte beschranken. 

Sie seien hauptsachlich deshalb erwahnt, weil durch einige von 



ihnen das Wort ,,Kultur" fur viele wohl einen geradezu fatalen 
Nebensinn bekommen hat, aus dem die Abneigung gegen den 
Terminus Kulturwissenschaften sich erklaren mag. Damit meine 
ich weniger Zusammensetzungen wie ,,Kulturkampf" und „ethi- 
sche Kultur", die mit Wissenschaft nichts zu tun haben, und ich 
denke auch nicht, daB man sich durch den von gewisser Seite 
getriebenen Mifibrauch der Sprache, der unter „Kultur" nur die 
Massenbewegungen verstehen oder die Kriege vergangener Zeiten 
als „unsittlich" nicht zur Kultur rechnen will, den Gebrauch 
dieses Wortes verleiden zu lassen braucht. Ich habe vielmehr die 
Gedanken im Auge, die insbesondere mit dem Begriff der beim 
groBen Publikum so beliebten „Kulturgeschichte" sich verkniipfen. 
Von den Gegensatzen namlich, die zwischen einer so benannten 
Wissenschaft und der politischen Geschichte z. B. aufgestellt 
worden sind, und die besondcrs in den Schriften von Dietrich 
Schafer *) und Gothein 2 ) cine interessante Beleuchtung erfahren 
haben, muI3 selbstverstandlich unser Begriff der Kultur, um fur 
die Einteilung der Wissenschaften in zwei Gruppen brauchbar zu 
sein, ganz f r e i gehalten werden. Einerseits ist nach unserer Be- 
stimmung der Staat ein Kulturgut ebenso wie die Volkswirtschaft 
oder die Kunst, und darin kann niemand eine willkiirliche Termi- 
nologie sehen. Andererseits geht es jedoch auch nicht an, das 
Kulturleben ohne weiteres mit dem staatlichen Leben zu identi- 
fizieren. Denn so richtig es sein mag, daB, wie besonders Schafer 
gezeigt hat, alle hohere Kultur sich nur i m Staate entwickelt, und 
daher vielleicht die Geschichtsforschung im Rechte ist, wenn sie 
das staatliche Leben in den Vordergrund stellt, so ist doch 
vieles, wie Sprache, Kunst und Wissenschaft, in seiner Entwick- 
lung z. T. vom Staat ganz unabhangig, und wir brauchen vollends 
nur an die Religion zu denken, um einzusehen, wie unmoglich es 
ist, alle Kulturguter dem staatlichen Leben und dementsprechend 
alle Kulturwerte den politischen Werten unterordnen zu 
wollen. 
Wir halten also an dem mit dem Sprachgebrauch durchaus 



1) Das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte, 1888, und: Ge- 
schichte und Kulturgeschichte, 1891. 

2) Die Aufgaben der Kulturgeschichte, 1889. 



— 28 — 

iibereinstimirienden Begriff der Kultur fest, d. h. wir verstehen 
darunter die Gesamtheit der realen Objekte, an denen allgemein 
anerkannte W e r t e oder durch sie konstituierte Sinngebilde 
haften, und diemitRucksicht auf dieseWerte g e p f 1 e g t werden. 
Ohne daB wir eine niihere inhaltliche Bestimmung hinzufugen, 
sehen wir nun zu, wie dieser Begriff der Kultur uns weiter zur 
Abgrenzung der zwei Gruppen von Einzelwissenschaften dienen 
kann. 



V. 

BEGRIFF UND WIRKLICHKEIT 

Ware der Unterschied zwischen Natur- und Kulturwissenschaften 
bereits damit erschopft, dafi immernach derselbenMethode 
hier Naturobjekte, dort Kulturvorgange untersucht werden, so 
hatte diese Feststellung 1 o g i s c h wenig zu bedeuten. Urn zu 
zeigen, welche andern tiefgehenden Unterschiede zwischen den 
beiden Gruppen von Einzelwissenschaften bestehen, wendeich mich 
jetzt vom rriaterialen zum f o r m a 1 e n Einteilungsprinzip, Urn 
dieses klarzulegen, sind aber zunachst einige Bemerkungen uber 
das spezialwissenschaftliche Erkennen imallgemeinen unent- 
behrlich, und zwar will ich dabei ausgehen von dem weitver- 
breiteten Begriff des Erkennens als eines A b b i 1 d e n s der 
Wirklichkeit. Bevor dieser Begriff namlich nicht, wenig- 
stens soweit es sich urn wissenschaitliche Erkenntnis 
handelt, als unhaltbar erkannt ist, darf man nicht hoffen, das 
Wesen irgendeiner wissenschaftlichen Methode zu verstehen, ja, 
der Begriff der wissenschaftlichen „Form" iiberhaupt kann vor- 
her nicht klar werden. 

Solange man unter der zu erkennenden Wirklichkeit eine andere 
Welt als die unmittelbar bekannte und zu erfahrende, also eine 
„transzendente" Welt sich denkt, die „hinter" der wahrgenom- 
menen liegt, scheint die Abbildtheorie einen guten Sinn zu haben. 
Die Aufgabe der Erkenntnis besteht dann darin, aus dem unmittel- 
bar gegebenen Material Vorstellungen oder Begriffe zu bilden, die 
mit jener transzendenten Welt ubereJnstimmen. Platons Erkennt- 



— 29 — 

nistheorie z. B. sieht — so darf ich in aller Kiirze hier wohl sagen 
— in den „Ideen" die wahrhaft wirkliche Wirklichkeit, und weil 
die Ideen allgemein sind im Gegensatz zur uberall beson- 
deren und individuellen und eigentlich nicht wirklichen Sinnen- 
welt, so sind auch nicht die individuellen, sondern nur die allge- 
meinen, also die Ideen abbildenden Vorstellungen wahr. Deswegen 
wird das Wesen des Begriffs in seiner Allgemeinheit ge- 
funden. Oder: ein moderner Physiker halt ebenfalls die gegebene 
Welt mit ihren qualitativen Bestimmungen fur nur „subjektiv", 
fiir objektiv dagegen die quantitativ bestimmte Welt der Atome, 
und die Aufgabe der Erkenntnis besteht dann darin, quantitativ 
bestimmte Vorstellungen oder Begriffe zu bilden, die ebenfalls 
wahr sind, weil sie die wahrhaft wirkliche Wirklichkeit abbilden. 

Aber selbst wenn diese kuhnen Voraussetzungen richtig sein 
sollten, wissen wir doch unmittelbar wenigstens von einer 
Welt „hinter" der gegebenen Wirklichkeit nichts, und die Ueberein-' 
stimmung der Vorstellungen oder Begriffe mit ihr, d. h. die Aehn- 
lichkeit des Abbildes mit dem Urbilde ist also auch niemals 
direkt zu konstatieren. Wir kbnnen daher, um das Wcsen der Er- 
kenntnis zu verstehen, nur damit beginnen, den ProzeB der U m - 
formung zu untersuchen, durch den die mit der transzenden- 
ten Welt ubereinstimmenden Vorstellungen oder Begriffe zu- 
standekommen. Es wird also jedenfalls auch beim transzendenten 
Wahrheitsbegriff das Erkennen von der Logik zunachst nicht 
als ein Abbilden, sondern nur als ein Umbilden des unmittelbar 
gegebenen Materials durch den B e g r i f f betrachtet werden 
miissen, denn dies allein ist der uns direkt zugangliche Vorgang, 
durch den das gesuchte Abbild der transzendenten Wirklichkeit 
entstehen soil. 

Vielleicht jedoch ist der transzendente Wahrheitsbegriff ganz 
unhaltbar, d. h. unsere einzelwissenschaftliche Erkenntnis ist auf 
die unmittelbar gegebene, immanente Sinnenwelt beschrankt, 
und allein diese abzubilden, ware dann ihre Aufgabe. Das scheint 
in der Tat weniger Voraussetzungen zu enthalten, insofern ja in 
diesem Falle die Uebereinstimmung von Abbild und Original sich 
direkt konstatieren lieBe. 

Aber wenn wir naher zusehen, so wird gerade hier die Abbild- 



— 30 — 

theorie erst recht bedenklich. Der Fortschritt in der Erkenntnis 
ware unter dieser Voraussetzung nur davon abhangig, in welchem 
Grade es gelingt, eine W i e d e r h o 1 u n g der Wirklichkeit zu 
geben. Der Spiegel wiirdc also am besten ..erkennen", oder ein 
farbiges Modell in hochster VoIIendung kame wenigstens mit Riick- 
sicht auf die Sichtbarkeit der Dinge der „Wahrheit" am nachsten. 
1st aber dem erkennenden Menschen wirklich mit einer solchen 
im Sinne des Abbildes mbglichst genauen Wiederholung oder Ver- 
doppelung der Wirklichkeit gedient ? Ein vollkommenes Ab- 
bild besitzt wissenschaft lichen Wert fur uns doch wohl nur dann, 
wenn das abgebildete Erfahrungsobjekt selbst uns nicht direkt zu- 
ganglich ist, Erkenntnis aber enthielte auc.h eine absolut voll- 
stiindige Verdoppelung als solche noch lange nicht. Stellt sich 
also das wissenschaftliclie Erkennen nicht auch hier vielmehr als 
ein U m b i 1 d e n heraus, und ist ohne die Annahme einer trans- 
zendenten Welt somit die Abbildtheorie nicht erst recht unhaltbar ? 

Freilich, es kbnnte jemanti sagen, daB er mit dem Erkennen 
nichts anderes als ein Abbilcl der Dinge erreichen wo lie: die 
Wissenschaft habe die Welt zu ,,beschreiben", so wie sie wirklich 
ist, und was nicht eine mit der Wirklichkeit genau iibereinstimmende 
Beschreibung sei, das habe iiberhaupt keinen wissenschaftlichen 
Wert, sondcrn bestehe lediglich aus „Konstruktionen". In der 
sog. Phanomenologie scheinen diese radikal ,,empiristischen" Ten- 
denzen wieder lebendig zu werden. 

Gegen die Kundgebung solchen Wollens liiGt sich naturlich nicht 
viel sagen. Aber man darf doch die Frage aufwerfen, ob die Aus- 
fiihrung dieses Willens auch moglich ist. Man versuche nur ein- 
mal, die Wirklichkeit genau zu „beschreiben", d. h. sie mit alien 
i lire n Einzelheiten, „so wie sie isl", in Begriffe aufzunehmen, um 
dadurch ein Abbild von ihr zu bekommen, und man wird wohl 
bald die Sinnlosigkeit eines derartigen Unternehmens einsehen. Die 
empirische Wirklichkeit namlich erweist sich als eine fur uns u n- 
iibersehbare Mannigfaltigkeit, die immer groOer zu 
werden scheint, je mehr wir uns in sie vertiefen und sie in ihre 
Einzelheiten aufzulosen beginnen, denn auch das „kleinste" Stuck 
enthalt mehr, als irgendein endlicher Mensch zu beschreiben ver- 
mag, ja, was er davon in seine Begriffe und damit in seine Er- 



— 31 — 

kenntnis aufnehmen kann, ist geradezu verschwindend gering gegen 
das, was er beiseite lassen muB 1 ). 

Hatten wir also die Wirklichkeit mit Begriffen abzubilden, 
so standen wir als Erkennende vor einer prinzipiell unlosbaren 
Aufgabe, und so wird es denn, wenn irgend etwas, das bisher ge- 
leistet ist, Uberhaupt den Anspruch machen darf, Erkenntnis zu 
sein, auch fur den immanenten Wahrheitsbegriff wohl dabei bleiben 
musseii, daB Erkennen nicht Abbilden durch Beschreibung der 
,,Phanomene", sondern Umbildcn, und zwar, wie wir hinzu- 
fiigen kbnnen, im Vergleich zum Wirklichen selbst, immer V e r - 
einfachen ist. 

Fur unsern Zusammenhang konnte es vielleicht bei dieser ebenso 
schlichten wie unwiderleglichen Zuriickweisung der Ansicht, daB 
die Wissenschaft ein Abbild der Wirklichkeit selbst zu geben hat, 
sein Bewenden haben. Aber da die Unmbglichkeit, die Wirklichkeit, 
„so wie sie ist", in BegriiTe aufzunehmen, zur Behauptung der 
„IrrationaIitat" der empirischen Wirklichkeit fiihrt, undweil dieser 
Gedanke auf entschiedenen Widerspruch gestoBen ist, so will ich 
hieriiber noch einiges hinzufugen und besonders sagen, in welchem 
Sinne die Wirklichkeit irrational, also unerkennbar, und in 
welchem Sinne sie rational, also erkennbar, genannt werden 
darf. 

Achten wir auf irgendein beliebiges, uns unmittelbar gegebenes 
Sein oder Geschehen, so konnen wir uns leicht zum BewuBtsein 
bringen, dali wir darin nirgends scharfe und absolute Grenzen, 
sondern durchweg allmahliche Uebergange finden. Es hangt 
dies mit der Anschaulichkeit jeder gegebenen Wirklichkeit 
zusammen. Die Natur macht keine Spriinge. Alles flieBt. Das sind 
alte Satze, und sie gelten in der Tat vom physischen Sein und 
seinen Eigenschaften ebenso wie vom psychischen, also von allem 
realen Sein, das wir unmittelbar kennen. Jedes raumlich ausge- 
breitete oder eine Zeitstrecke erfullende Gebilde tragt diesen 
Charakter der Stetigkeit. Das konnen wir kurz als Satz der 
Kontinuitat alles Wirklichen bezeichnen. 



1) In meinem Buch uber: Die Grenzen usw. 3. u. 4. Aufl. S. 24 ff., 
habe ich diesen zuerst vielleicht etwas paradox erscheinenden Ge- 
danken ausfiihrlich zu besrClnden versucht. 



— 32 — 

Dazu aber kommt noeh etwas anderes. Kein Ding und kein Vor- 
gang in der Welt g 1 e i c h t dem andern vollkommen, sondern ist 
ihm nur mehr oder weniger ahnlich, und innerhalb jedes Dinges 
und jedcs Vorganges unterscheidet sich wiederum jeder noch so 
kleine Teil von jedem beliebigen raumlich und zeitlich noch so 
nahen oder noch so fernen. Jede Realitat zeigt also, wie man auch 
sagen kann, ein besonderes, eigenartiges, individuelles 
Geprage. Es durfte wenigstens niemand behauptcn wollen, dafi er 
jemals auf etwas absolut Homogenes in der Wirklichkeit ge- 
stoBen ware. Alles ist anders. Das konnen wir als Satz der Hetero- 
geneitat alles Wirklichen formulieren. 

Selbstverstandlich gilt nun dieser Satz auch von den allmah- 
lichen kontinuierlichen Uebergangen, die jede Wirklichkeit zeigt, 
und gerade das ist wichtig fur die Frage nach der Begreiflich- 
keit der Realitat. Wohin wir den Blick richten, finden wir eine 
stetige Andersartigkeit, und eine solche Vereinigung 
von Heterogeneitat und Kontinuitat ist es, die der Wirklichkeit 
jenes eigentumlichc Geprage der „Irrationalitat" aufdriickt, d. h. 
weil sie in jedem ihrer Teile ein hetero genes Kontinuum 
ist, kann sie so, wie sie ist, in BegriEfe nicht aufgenommen werden. 
Stellt man daher der Wissenschaft die Aufgabe einer genauen 
Reproduktion des Wirklichen, so tritt nur die Olmmacht 
des Begriffes zutage, und ein absoluter Skeptizismus ist 
das einzige konsequente Ergebnis, wo die Abbildtheorie oder das 
Ideal der reinen Beschreibung die Wissenschaftslehre beherrscht 1 ). 

1) Ich bemerke ausdriicklich, dafl ich nicht von einer ,,UnendIich- 
keit" des Wirklichen rede, denn man konnte sagen, dafi damit schon 
eine begriffliche Umformung des Unmittelbaren vollzogen werde. Es 
kommt nur darauf an, die faktische Untibersehbarkeit der 
unmittelbar gegebenen Realitat zura ausdriicklichen BewuBtsein zu 
bringen und die Grunde zu zeigen, auf denen sie beruht. Selbstver- 
standlich kann auch das nur mit Hilfe von Begriffen geschehen, 
denn ohne sie laflt sich uberhaupt nichts aussagen, was verstandlich 
ist. Aber die Begriffe sollen hier nur Begriffe vom Unbegreif- 
lichen sein, d. h. klarstellen, was nie begriffen werden kann. Des- 
halb darf man nicht meinen, dadurch, daO wir einen B e g r i f f vom 
Wirklichen als demhcterogenen Kontinuum bilden konnen, zeige sich 
ja seine Erkennbarkeit, und es habe also keinen Sinn mehr, von dem 
Wirklichen als Unerkennbarem zu reden. Die Einzelwissenschaften 
erstreben eine Erkenntnis des I n h a 1 1 s der wirklichen Welt, und 



— 33 — 

Man darf also clem wissenschaftlichen Begriff eine solche Aufgabe 
nicht stellen, sondern mufi fxagen, wie er Macht fiber das 
Wirkliche bekommt, und auch die Antwort hierauf liegt 
nahe. Nur durch eine begriffliche Trennung von 
Andersartigkeit und Stetigkeit kann die Wirk- 
lichkeit „rational" werden. Das Kontinuum laflt sich begriff lich 
beherrschen, sobald cs homogen ist, und das Heterogene wird 
begreiflich, wenn wir darin Einschnitte machen konnen, also sein 
Kontinuum in ein D i s k r e t u m verwandeln. Damit erbffnen sich 
fiir die Wissenschaft sogar zwei einander geradezu entgegenge- 
setzte Wege der Begriffsbildung. Wir formen das in jeder Wirklich- 
keit steckende heterogene Kontinuum zu einem homogenen 
Kontinuum oder zu einem heterogenenDiskretum 
urn. Insofern als dies moglich ist, kann dann die Wirklich- 
keit auch selbst rational genannt werden. Irrational bleibt 
sie nur fiir die Erkenntnis, die sie abbilden will, o h n e sie umzu- 
formen. 

Den ersten Weg, der mit einer Beseitigung der Hejerogeneitat 
beginnt, geht die Mathematik. Z. T. kommt sie sogar zu 
einem homogenen Diskretum, wie es z. B. in der Reihe der ein- 
fachen Zahlen vorliegt, aber sie kann auch das Kontinuum begriff- 
lich beherrschen, sobald sie es homogen denkt, und sie feiert da- 
durch ihre hochsten Triumphe. Hire „Aprioritat" durfte an die 
Homogeneitat ihrer Gebilde^gebunden sein. Ein „Vorurleil" uber 
noch nicht Beobachtetes oder Erfahrenes ist moglich, wo man 
sicher sein kann, nie auf etwas prinzipiell Neues zu stoBen 1 ). 
Vom Standpunkte einer Wissenschaft jedoch, die die W i r k- 

uber diesen Inhalt sagt -uns der formale Begriff des heterogenen 
Kontinuums nichts anderes, als dafl er uns seine Unerschopflichkeit 
zum BewuGtscin bringt. So bleibt gerade nach Bildung dieses for- 
malen Begriffs das Wirkliche far die Einzelwissenschaften dasinhalt- 
lich Unbegreifliche oder die Grenze ihrer auf deft Inhalt gerichteten 
Begriffsbildung. Damit sind wdhl die Einwande erledigt, die Kurt 
Sternberg, Zur Logik der GeschichtswissenschafL, 1914, S. 45 
gegen raich vorgebracht hat. 

1) Vgl. hierzu meine Abhandlung: Das Eine, die Einheit und die 
Eins. Bemerkungen zur Logik des Zahlbegriffes. 1911. Logos, II, 
S. '26 ff. In zweiter, umgearbeiteter Aufl. ist diese Schrift als erstes 
Heft der „Heidelberger Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Ge- 
schichte" 1924 erschienen. 

Kickert, Kulturwisseunchaft. C./7. Aufl. 3 



— 34 — 

lichkeit erkennen will, sind diese Triumphe teuer erkauft. 
Die homogenen Gebilde, von denen die Mathematik redet, haben 
uberhaupt kein „reales" Sein mehr, sondern gehoren in eine Sphare, 
die man nur als die eines „idealen" Seins bezeichnen kann, wenn 
man von ihnen sagen will, daB sie sind. Die Welt der homogenen 
Kontinua ist fur die Mathematik die Welt der reinen Quan- 
tity t e n , und sie ist aus diesem Grunde absolut „unwirklich", 
denn wir kennen nur qualitativ bestimmte Wirklichkeiten in 
der Sinnenwelt. 

Will man also die Qualitaten und mit ihnen die W i r k I i c h- 
k e i t festhalten, so muB man bei ihrer Heterogeneitat bleiben, 
dann aber in ihrem Kontinuum Einschnitte machen. Audi hierbei 
geht vom Inhalt der Wirklichkeit alles verloren, was zwischen den 
durch die Begriffe gezogenen Grenzen liegt, und das ist nicht 
wenig. Denn auch wenn wir die Grenzen noch so nah aneinan- 
derlegcn, so flieBt doch immer die Wirklichkeit selbst mit ihrer 
kontinuierlichen und daher unerschopflichen Andersartigkeit zwi- 
schen ihnen unbegriffen hindurch. Wir kbnnen also mit den Be- 
griffen nur Briicken iiber den Strom der Realitat schlagen, mogen 
die einzelnen Bruckenbogen auch noch so klein sein. Daran wird 
k e i n e Wissenschaft vom realen Sein etwas andern. 

Trotzdem liegt der Gehalt der so entstehenden Begriffe der 
Wirklichkeit selbst prinzipiell naher als das Homogene und rein 
Quantitative, wie hier nicht weiter verfolgt zu werden braucht, 
da wir uns auf die Wissenschaften beschranken, die Begriffe von 
realen Objekten bilden wollen. JSur auf diese ist der Unter- 
schied von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft uberhaupt 
anwendbar. Die Wissenschaften vom idealen Sein, wie die Mathe- 
matik, gehoren weder zu den einen noch zu den andern und kommen 
. daher in diesem Zusammenhang nicht weiter in Betracht. 

Fiir unsern Zweck einer Gliederung der empirischen Wissenschaf- 
ten vom realen Sein der Objekte wird derNachweis, daB die Wirk- 
lichkeit, „so wie sie ist", in keinen Begriff eingeht, der ihren 
Inhalt erfassen will, wohl geniigen. Nur bei einer einzigen Wissen- 
schaft kann der Schein entstehen, daB sie trotzdem die Wirklich- 
keit restlos begreift, und das ist aus naheliegenden Grunden die 
mathem-atischePhysik, An sie hat daher der moderne 



— 35 — 

Rati onalismus, der das Wirkliche fur vollig begreiflich 
halt, hauptsachlich angeknuplt. Die Physik hat es namlich zweifel- 
los mit r e a 1 e m Sein zu tun, aber es sieht trotzdem so aus, 
als werde durch die Anwendung der Mathematik das Diskretum, 
in welches sie die heterogene Wirklichkeit zerlegen muB, wieder in 
ein stetiges Gebilde zuriickverwandelt, und als 
sei daher das heterogene Kontinuum der Wirklichkeit selbst in die 
Begriffe aufgenommen 1 ), Doch, wir lassen diesen einzigartigen 
Fall zunachstbeiseite, um ihn spater zu behandeln, und fassen nur 
die andern Wissenschaf ten von der Wirklichkeit ins Auge. Sie mussen 
sich unter alien Umstanden auf einen relativ kleinen T e i 1 des 
Wirklichen beschranken, und ihre Erkennlnis kann daher nur eine 
Vereinfachung, niemals aber ein Abbild des realen Inhalts sein. 

Hieraus ergibt sich dann eine fiir die Methodenlehre entschei- 
dende Einsicht. Die Wissenschaften bedurfen, falls ihr umbildendes 
Verfahren nicht willkurlich sein soil, eines ,,a priori", oder 
eines Vor-Urteils, dessen sie sich bei der Abgrenzung der Wirklich- 
keiten gegeneinander oder bei der Verwandlung des helerogenen 
Kontinuums in ein Diskretum bedienen konnen, d. h. sie, brauchen 
einPrinzip derAuswahl, mit Rucksicht auf das sie im 
gegebenen Stoffe, -\vie man sich ausdriickt, das Wesentliche 
vom Unwcsentlichen scheiden. Dieses Prinzip tragt dem 
Inhalt der Wirklichkeit gegenuber einen iormalen Charakter, 
und sowird der Begriff der wissenschaftlichen „Form" klar. Nur 
im Inbegriff des Wesentlichen, nicht in einem Ab- 
bild des Inhalts der Wirklichkeit haben wir die Erkenntnis nach 
der formalen Seite hin. Diesen Inbegriff, den wir mit Hilfe des for- 
malen Prinzips aus der Wirklichkeit herauslosen, konnen 
wir auch das „Wesen" der Dinge nennen, falls das Wort iiber- 
haupt einen fur die empirischen Wissenschaften bedeutsamen Sinn 
bekommen soil. Das Wesen lafit sich wissenschaftlich 
niemals „schauen" oder „inluitiv" erfassen, sondern ist lediglich 
dem „diskursiven" Denken oder einer begrifflichen „Konstruk- 
tion" zuganglich 2 ). 

1) DaB auch dies eine Tauschung isf, werden wir spater sehen. 

2) Die Unentbehrlichkeit der Anschauung bei der Gewinnung- des 
Ma terials der Erkenntnis wird darnit selbstvcrstandlich in keiner 
Weise in Frage gestellt. 

3* 



— 36 — 

Verhalt sich dies aber so, dann wird die Methodenlehre die 
Aufgabe haben, die bei der begrifflichen Wesensbildung maBge- 
benden Gesichtspunkte, von denen der Mann der Ein- 
zelwissenschaft, oft ohne es zu wissen, bei seiner Darstellung ab- 
hangt, ihrem f o r m a 1 e n Charakter nach zum ausdriicklichen 
Bewufitsein zu bringen, und auf das Ergebnis dieser Untersuchung 
kommt fur uns hier alles an. Denn von der Art, wie Einschnitte 
in den FluB der Wirklichkeit gemacht und diewesentlichen 
Bestandteile ausgewahlt werden, ist offenbar der Charakter 
der wissenschaftlichen Methode abhangig, und die Entscheidung 
der Frage, ob zwischen zwei Gruppen von Einzclwissenschaften, die 
dasWirkliche darstellen, auch mit Riicksicht auf ihre Methode 
prinzipielle Unterschiede bestehen, fallt dann mit der Entschei- 
dung daruber zusammen, ob es zwei auch in ihrem allgemeinsten 
formalen Charakter voneinander prinzipiell verschiedene Ge- 
sichtspunkte gibt, nach denen die Einzehvissenschaften in 
der Wirklichkeit das Wesentliche vom Unwesentlichen absondern 
und so den anschaulichen Inhalt der Wirklichkeit in die Form 
des B e g r i f f s bringen. 

Nur ein Wort sei noch, ehe wir diese Frage zu beantworten 
suchen, iiber die Vcrwcndung des Ausdruckes ,,Begriff" hinzuge- 
fugl. Wir verstehen hier, unserer Problemstellung entsprechend, 
darunter Produkte der Wissenschaft, und dagegen werden sich 
Bedenken nicht erheben lassen. Zugleich nennen wir jedoch auch 
■den Inbegriff alles dessen, was die Wissenschaft von einer Wirk- 
lichkeit in sich aufnimmt, um sie zu begreifen, den ,,Begriff" die- 
ser Wirklichkeit, so daB wir also zwischen dem Inhalte einer 
wissenschaftlichen Darstellung uberhaupt und dem Inhalte 
des B e g r i f f s keinen Unterschied machen, und das kann man 
als Willkiir bezeichnen. 

Diese Willkiir ware aber nur dann ungerechtfertigt, wenn eshier 
eine feste Tradition in der Terminologie gabe. Sie fehlt be- 
kanntlich gerade mit Rucksicht auf das Wort Begriff vollkommen. 
Manverwendet denAusdruck sowohl fur die „letzten", d. h. nicht 
weiter auflosbaren „Elemente" der wissenschaftlichen Urteile als 
auch fur hochst komplizierte Gebilde, in denen viele solche Ele- 
mente zusammengestellt sind. Das undefinierbare „Blau" oder 



— 37 — 

„Suf3", das Inhalte der unmiltelbaren Wahrnehmung bedeutet, 
wird als Begriff bezeichnet, und ebenso spricht man vom Begriff 
der Gravitation, der mit dem Gravitations g e s e t z identisch ist. 
"Wir wollen hier, weil dieser Unterschied fur die Methodenlehre 
wichtig ist, die ,,einfachen" Begriffe, die man nicht definieren 
kann, als Begriffselemente von den eigentlichen wissen- 
schaftlichen Begriffen trennen, die Komplexe solcher Ele- 
mente sind und erst durch die wissenschaftliche Arbeit ent- 
stehen. Dann laBt sich eine, prinzipielle Grenze zwischen „Begriff" 
und „Darstellung mit Begriffen" offenbar nicht mehr ziehen, 
und dann ist es also nur konsequent und gar nicht willkurlich, 
wenn wir auch den B e g r i f f sk o m p 1 e x , der die wissen- 
schaftliche Erkenntnis einer Wirklichkeit enthalt, als „Begriff" 
dieser Wirklichkeit bezeichnen. Wir brauchen durchaus einen g e- 
meinsamen Terminus fur a 1 1 e die Gebilde, die das ent- 
halten, was die Wissenschaft aus der anschaulichen 
Wirklichkeit in ihre Gedanken aufnimmt, und urn diesen Gegen- 
satz des Inhalts jeder wissenschaftlichen Erkenntnis zum Inhalt 
der unmittelbaren Anschatiung zu bezeichnen, ist gerade das Wort 
Begriff sehr geeignet. 

Wissenschaftliche Begriffe konnen also entweder Komplexe von 
nicht definierbaren Begriffselementen oder auch Komplexe von 
definierten wissenschaftlichen Begriffen sein, die im Vergleich zu 
dem komplizierteren Begriff, den sie bilden, dann als dessen Ele- 
roente zu gelt en haben. Das formale Prinzip der Begriffsbildung 
fur ein Objekt, daserkannt werden soil, kommt unter dieser Vor- 
aussetzung nur in der Art der Zusammenstellung der 
Begriffselemente zu dem Begriff des betreffenden Objektes zum 
Ausdruck, nicht schon in den Begriffselementen selbst, und dies 
Prinzip muB mit dem der wissenschaftlichen Darstellung 
dieses Objektes zusammenfallen. So allein gewinnen wir eine 
Problemstellung, welch e eine Vergleichung der verschie- 
denen Methoden mit Riicksicht auf ihre formale Struktur ermog- 
licht. In der Begriffsbildung, durch welche die Wirklich- 
keit in die Wissenschaft aufgenommen wird, muB der fur die Me- 
thode der Wissenschaft mafigebende formale Charakter stecken, 
und daher haben wir, urn die Methode einer Wissenschaft zu ver- 



— 38 — 

stehen, die Prinzipien ihrer Begriffsbildung kennen zu lernen. So 
ist unsere Terminologie verstandlich und zugleich auch gerecht- 
fertigt. Wenn Erkennen soviel wie Begreifen ist, dann steckt das 
Ergebnis der Erkenntnis im Begriff. 

Hiermit sind wohl die Bcdenken erledigt, die man gegen 
meine Verwendung des Ausdrucks Begriffs erhoben hat 1 ). DafJ 
es sich urn mehr als eine terminologische Frage handelt, ist 
nicht zutreffend. Unter Begriffsbildung ist stets die Zu- 
sammenfiigung von Elementen zu verstehen, gleichviel, ob diese 
Elemente selbst schon Begriffe sind oder nicht. Nur die Prin- 
zipien d i e s e r Begriffsbildung gilt es, aufzuzeigen, denn darin 
allein, nicht in den als „Elementen" verwendeten Begriffen, 
k o n n e n die wesentlichen logischen Unterschiede der empiri- 
schen Wissenschaften von der realen Welt zutage treten. Will man 
die Verwendung von Begriffen zur Bildung neuer Begriffe „Dar- 
stellung" nennen und daher nur Unterschiede in der ,,Methode", 
aber nicht in der „ Begriffsbildung" zugeben, dann darf man vom 
„Begriff" der Gravitation ebensowenig reden wie vom „Begriff" 
der italienischen Renaissance. Hier jedenfalls kommt es nur 
darauf an, welches Prinzip die Bestandteile oder Elemente eines 
wissenschaftlichen Begriffes zusammenschlieBt. 



VI. 

DIE NATURWISSENSCHAFTLICHE 
METHODE 

Fur die herkommliche Ansicht besteht nun das Wesen aller 
wissenschaftlichen Begriffsbildung oder Darstellung in erster 
Linie darin, daii man die Bildung allgemeiner Begriffe 
anstrebt, unter welche die verschiedenen Einzelgestaltungen sich 
als „Exemplare" unterordnen lassen. Das Wesentliche in den 
Dingen und Vorgangen ist dann das, was sie mit den unter 
denselben Begriff fallenden Objekten gemeinsam haben, und alles 

I) Vgl. M. Frischeisen-Kohler, Einige Bemerkungen zu 
Rickerts Geschichtslogik. Philosophische Wochenschrift und Litera- 
turzeitung, 1907, Bd. 8. 



— 39 — 

rein Individuelle geht als „unwesentlich" nicht mit in die 
Wissenschaft ein. Schon die vorwissenschaftlichen Wortbedeu- 
tungen, mit denen wir arbeiten, sind ja, von Eigennamen abge- 
sehen, alle mehr oder weniger allgemein, und die Wissenschaft 
kann gewissermaBen als eine Art Fortsetzung und bewufite Aus- 
bildung eines ohne unser Zutun begonnenen Begreifens der Wirk- 
lichkeit angesehen werden. 

Die Begriffe werden dann entweder durch Vergleichung empi- 
risch gegebener Objekte gewonnen, oder sie konnen auch 
eine so umfassende Allgemeinheit erreichen, daB sie weit iiber 
das unmittelbar Erfahrbare hinausgehen. Wie das moglich 
ist, kiimmert uns hier nicht. Es genugt zu sagen, daB in diesem 
Falle der Begriffsinhalt aus sogenannten Gesetzen besteht, 
d. h. u n b e d i n g t allgemeinen Urteilen iiber mehr oder minder 
umfassende Gebiete der Wirklichkeit, die niemand in ihrer Totalitat 
beobachtet hat. Die Begriffe sind also zwar bald von groBerer, 
bald von geringerer Allgemeinheit, stehen daher auch dem Be- 
sonderen und Individuellen mehr oder weniger fern und 
konnen ihm bisweilen so nahe kommen, daB nur ein kleiner Kreis 
von Objekten unter sie fallt, aber allgemein in dem Sinne, 
daB sie alles, was eine Wirklichkeit zu d i e s e r einen einmaligen 
und besonderen Wirklichkeit macht, fortlassen, sind sie immer. 
Die Wissenschaft steht dann nicht nur durch ihre Begrifflichkeit 
zuf'A nschaulichkeit, sondern auch durch ihre Allge- 
meinheit zur Individualitat der Wirklichkeit in K o n- 
t r a s t. 

Schon in der aristotelischen Logik, von der fast alle Unter- 
suchungen in diesem Punkte bis auf den heutigen Tag abhangig 
sind, wird die wissenschaftliche Begriffsbildung in der angegebenen 
Weise, und zwar nur so aufgefafJt, und so sehr sich auch der 
moderne Gesetzesbegriff von dem antiken Gattungs- 
be griff unterscheiden mag, so scheint-doch dies heute wie 
fruher zu gelten : es gibt keine Wissenschaft vom Einmaligen 
und Besonderen, die es mit Rucksicht auf seine Einmalig- 
keit und Besonderheit darstellt. Es gilt vielmehr, alle Objekte 
allgemeinen Begriffen, womoglich Gesetzesbegriff en, unter- 
zuordnen. 



— 40 — 

1st durch diese Art der Begi if fsbildung wirklich der formale 
Charakter aller Wissenschaft bestimmt? 

Die Frage miiBte bejaht werden, wenn man unter Begriff nur die 
„EIemente" verstehen wollte, aus denen die Wissenschaft ihre Be- 
griffe bildet, und wenn man ferner annahme, dafi aus allgemeinen 
Elementen sich nur allgemeine Begriffe bilden lassen. Die 1 e t z t e n 
Elemente der wissenschaftlichen Begriffe sind namlich unter alien 
Umstanden allgemein, und einen Begriff kann man schon des- 
wegen nur aus allgemeinen Elementen bilden, weil die Worte, 
deren die Wissenschaft sich bedient, urn alien verstandlich zu 
sein, allgemeine Bedeutungen haben miissen. In bezug auf die 
Begriffselemente konnen also keine formalen Unterschiede 
in den Methoden der Wissenschaften bestehen. 

Die Frage darf vielmehr nur lauten, ob auch die wissenschaft- 
lichen Begriffe, welche aus diesen allgemeinen Elementen ge- 
bildet werden, stets allgemein sind, und solange wir nur die 
naturwissenschaftliche Methode in Betracht Ziehen, 
ist auch diese Frage zu bejahen. Nur miissen wir das Wort ,,Natur" 
dann im Kantischen, also formalen oder logischen Sinne 
nehmen und nicht auf die Kbrperwelt beschranken. Die Natur 
erkennen heiBt unter dieser Voraussetzung in der Tat, aus all- 
gemeinen Elementen allgemeine Begriffe bilden und, wenn 
mbglich, unbedingt allgemeine Urteile iiber die Wirklichkeit fallen, 
d. h. Begriffe von Naturgesetzen entdecken, deren logisches 
Wesen es einschlieBt, daO sie nichts von dem enthalten, was sich 
n u r an diesem oder jenem einmaligen und individuellen Vorgang 
findet. 

Hochstens dann konnte man bestreiten, daB die Naturwissen- 
schaft so verfahrt, wenn man den Begriff des Allgemeinen zu 
e n g faCt oder nur an eine besondere Art der Verallgemeinerung 
denkt. Weil das geschehen ist und dadureh die sonderbarsten 
MiBverstandnisse der hier entwickelten Gedanken entstanden sind, 
will ich auf die ,,Allgemeinheit" der naturwissenschaftlichen Be- 
griffe noch mit ein paar Worten eingehen. 

Wir nennen jeden Begriff allgemein, in dem nichts von der 
Besonderheit und Individualitat dieser oder jener bestimmten 
einmaligen Wirklichkeit enthalten ist, und wir berucksichtigen 



— 41 — 

dabei nicht die Unterschiede in den Prozessen, durch welche all- 
gemeine Begriffe zustande kommen. Ebensowenig fragen wir 
danach, ob wir es mit Begriffen von Relationen oder von Dingen 
zu tun haben, so wichtig diese Unterschiede fiir die Logik auch 
sonst sein mogen. Wir miissen hier einen ganz allgemeinen 
Begriff vom allgemeinen Begriff zugrunde legen, weil es nur darauf 
ankommt, das a 1 1 e r Naturwissenschaft Gemeinsame zum 
BewuBtsein zu bringen. 

Man darf also nicht elwa nur an die Begriffsbildung denken, 
die als „vergleichende Abstraktion" das einer gegebenen Mehrheit 
von Exemplaren Gemeinsame zusammenfaBt. Diese klassifika- 
torische Form ist in der Tat nur auf einen T e i 1 der Naturwissen- 
schaften beschrankt, vie zu bestreiten niemand einfallen kann. 
Es gibt noch andere Arten, zu allgemeinen Begriffen zu kommen. 
So ist z. B, die Naturwissenschaft durch das Experiment in der 
Lage, a n einem einzigen Objekt den Begriff, ja eventuell das 
Gesetz zu f i n d e n , das sie sucht, und man kann diese Abstrak- 
tion als „isolierende" von der vergleichenden scheiden. Doch wiirde 
auch sie ihr Ziel vollkommen verfehlt zu haben glauben, wenn 
der a n dem einen Objekt gebildete Begriff nur f u r dieses eine 
Objekt g u 1 1 i g ware, und deswegen kommen diese Unterschiede 
hier nicht in Betracht. Der Begriff oder das Gesetz soil stets fiir 
eine beliebig grofie Anzahl von Objekten gelten, also durchaus 
allgemein sein. 

Selbstverstandlich schliefit ferner die verallgemeinernde natur- 
wissenschaftliche Erkenntnis eines Objektes keine noch so weit- 
gehende Versenkung in die E i n z e 1 h e i t e n und das Detail 
aus. Denkt man nur an die Zusammenfassung des Gemeinsamen 
aus einer Mehrheit gegebener Wirklichkeiten, so kbnnte der Schein 
erweckt werden, als nahme die Naturwissenschaft, die das Indi- 
viduelle wegliifit, in ihre Begriffe weniger von den Dingen auf, 
als wir bereits von ilmen w 7 issen, oder als bedeute das Verall- 
gemeinern geradezu eine ,,Flucht vor der Wirklichkeit". So ist 
der Satz, daB die Wissenschaft die Wirklichkeit zu verein- 
f a c h e n habe, nicht zu verstehen. J e d e Wissenschaft sucht 
vielmehr in die Wirklichkeit t i e f e r einzudringen und m e h r 
von ihr zum ausdrucklichen Bewufltsein zu bringen, als bereits 



_. 42 — 

bekannt ist. Das sollte man nicht ausdriicklich zu sagen brauchen- 
Die Verallgemeinerung darf daher auch nicht zur ^Analyse" in 
einen Gegensatz gebracht werden. Nur das ist gemeint, daG keine 
noch so eingehende Analyse die inhaltliche Mannigfaltigkeit des 
Wirklichen zu erschopfen vermag, und daB die Naturwissen- 
schaft aufierdem in der abschlieBenden Darstellung der Ergebnisse 
ihrer Analyse alles das unberiicksichtigt laCt, was allein an diesem 
oder jenem besonderen Objekte sich findet, daB sie also auch auf 
dem Wege der Analyse eines einzelnen Falles stets zu allgemeinen 
Begriffen kommt *). 

GewiB brauxht ferner die Natunvissenschaft sich nicht mit 
einem allgemeinen Begriff zu begniigen, um ihr Objekt zu er- 
kennen. Sie wendet sich oft auch dem fur den einen Begriff un~ 
wesentlichen ,,Rest" zu, um ihn unter neue Begriffe zu bringen, 
und wenn dies geschehen ist, kann sie wiederum das Bediirfnis 
haben, den bei der zweiten Analyse verbleibenden Rest einer 
dritten Untersuchung zu untenverfen. Unter formalen Gesichts- 
punkten laBt sich nicht angeben, wie weit sie in die inhaltliche 
Mannigfaltigkeit des Wirklichen eindringen muB, um die Begriffs- 
bildung zu E n d e zu fuhren, denn das hangt von den verschie- 
denen Zielen und Zwecken ab, welche die verschiedenen Teil- 
disziplinen sich setzen. Aber mag mit Hilfe noch so vieler Begriffe 
die Analyse noch so weit getrieben und mogen noch so viele, bisher 
unbekannte Einzelheiten der Wirklichkeit zutage gefordert 



1) Icli muG dies R i e h I und besonders Frischeise n-K 5hl e r 
gegenuber hervorheben, der meine „Grenzen der natunvissenschaft- 
lichen Begriff sbildung" in mehreren ebenso betiteltcn Abhandlungen 
(Archiv fur system a tische Philosophie, Bd. 12 und 13) und in seinem 
Buche: Wissenschaft und Wirklichkeit, 1912 einer sehr eingehenden 
Kritik unterzogen hat. DaH er mir zutraut, ich hatte die-Natunvissen- 
schaft alien Ernstes einer „Flucht vor der Wirklichkeit" gleichge- 
setzt, wundert mich etwas, denn seine AusfQhrungen sind im ub- 
rigen streng sachlich, und ich erkenne ihren Scharfsinn gerne an. 
Selbst seine MiQverstandnisse sind mir z. T. lehrreich gewesen, denn 
sie haben mich darauf aufmerksam gemacht, dafl ich in einigen Punk- 
ten auch fdr einen aufmerksamen Leser nicht ausfuhrlich genug ge- 
wesen bin. Im folgenden nehme ich daher noch einigemal auf seine 
Kritik Bezug, soweit das mit dem Charakter dieser Schrift verein- 
bar ist, die allzu eingehende logische Spezialuntersuchungen meidet. 
Vgl. auch meine Grenzen usw., 3. u. 4. Aufl. S. 145 ft. 



— 43 — 

werden, so kann die Naturwissenschaft hierbei erstens niemals 
a 1 1 e Eigentiimlichkeiten der untersuchten Objekte begrifflich 
darstellen, weil deren Menge in jedem heterogenen Kontinuum un- 
erschopflich ist, und zweitens wird sie selbst bei der detail- 
liertesten Kenntnis durch eine nocli so grofie Fulle von 
Begriffsbildungen stets das nur einem einzigen Objekt An- 
haftende als unwesentlich betrachten, so daB daher auch 
die Kombination samtlicher an individuellen Wirklichkeiten ge- 
bildeter naturwissenschaftlicher Begriffe niemals dieBesonder- 
h e i t und Individualitat auch nur eines einzigen realen 
Objektes wiederzugeben vermag. Wer das Gegenteil glaubt, mull 
mit Platon das AUgemeine fur das Wirkliche halten und im Beson- 
deren und Individuellen nur einen Komplex von Allge- 
meinheiten erblicken. Dieser „BegriffsreaIismus"giltaberheute 
fiir iiberwunden. Das Wirkliche haben wir im Besonde- 
r e n und Individuellen, und niemals la'Dt es sich aus all- 
gemeinen Elementen aufbauen. 

So entsteht zwischen dem Inhalt der Begriffe und dem der 
Wirklichkeit eine K 1 u f t , die so grof3 ist wie die Kluft zwischen 
dem Allgemeinen und dem Besonderen, und die sich nicht iiber- 
brucken laBt. 

DaB wir trotzdem die Ergebnisse der Naturwissenschaft auf 
die Wirklichkeit a n w e n d e n , d. h. uns mit ihrer Hilfe in 
unserer Umgebung zu orientieren, sie zu berechnen, ja durch die 
Technik zu beherrschen imstande sind, darf nicht wundernehmen 
oder gar als Einwand gegen unsere Ansicht gelten 1 ). Diese An- 
wendung erstreckt sich niemals auf das Individuelle und Be- 
sondere selbst. Nur das AUgemeine am Wirklichen konnen 
wir vorhersagen, und gerade dadurch vermogen wir uns 
in ihm zurechtzufinden. Ware die Welt nicht generalisierend v e r - 
einfacht, so wurde ihre Berechnung und Beherrschung nie 
gelingen. Die uniibersehbare Mannigfaltigkeit des Individuellen 
und Besonderen verwirrt uns, solange sie nicht durch die 
generalisierende Begriffsbildung iiberwunden ist. Mit einem Be- 
griff von individuellem Inhalt kamen wir niemals iiber 



1) Vgl. dagegen Frischeisen-KOhler, Wissenschaft und 
Wirklichkeit, S. 158 f. 



__ 44 — 

diese eine Stelle hinaus zu andern Orten und zu andern 
Zeiten, 

Also gerade die Ahgemeinheit des naturwissenschaftlichen Be- 
griffes und die Kluft zwischen ihm und dem einmaligen Wirk- 
lichen, worin wir sein theoretisches Wesen gefunden haben, 
ist die notwendige Vorbedingung audi fur seine p r a k - 
t i s c h e Verwendung. Beruft sich doch der ,,Pragniatismus" 
ebenfalls auf die begriffliche Vereinfachung, urn zu zeigen, daB 
das wissenschaftliche Denken nur im Dienste praktischer Inter- 
esscn steht. So verkehrt der Utilitarismus, der hierin steckt, auch 
sein mag, und so wenig die theoretische „Macht" des Begri[fes 
iiber das Wirkliche pragmatislisch verstanden werden darf, so bleibt 
es doch richtig, daJ3 t falls der Inhalt des Begriffs mit dem Indi- 
viduelien iibereinstimmte, wir ihn weder zum Aufbau naturwissen- 
schaftlicher Theorien noch im praktischen Leben gebrauchen 
konnten. 

Uebersehen kann man die Kluft zwischen der Nalurwissen- 
schaft und dem Wirklichen nur, wenn man auf dessen Individuali- 
st nicht achtet. Wer eimnal versucht, naturwissenschaftliche 
Begriffe auf das Individuelle selbst anzuwenden, mufi bald auf 
eine G r e n z e stoBen, die unuberwindlich ist. Gewifi stellt der 
Arzt auf Grund naturwissenschafllicher Kenntnisse die Diagnose 
und dient dadurch eventuell seinem individuellen Patienten. Er 
kann den besonderen ,,FaII" dem allgemeinen Krankheitsbegriff 
unterordnen und infolgedessen das tun, wovon er weiB, daB 
es im Allgemeinen zu helfen pflegt. Er braucht also not- 
wendig die Generalisation. Gerade dem klugen Arzte aber 
ist es andererseits nur zu wohl bekannt, dafi es in Wirklichkeit 
keine „Krankheiten", sondern lediglich krankelndividuen 
gibt, und daG er bei seiner Tatigkeit daher oft mit dem, was in 
naturwissenschaftlichen Buchern steht, a 1 1 e i n nicht auskommt. 
Er muft auch zu individualisieren verstehen, und das 
kann die Naturwissenschaft ihn nie Iehren. 

Kurz, es zeigt sowohl die Moglichkeit einer Anwendung der 
naturwissenschaftlichen Begriffe auf das wirkliche Leben als auch 
die Grenze, die ihrer Verwertung gesteckt ist, von neuem die 
Eigenart der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung als eines 



— 45 — 

generalisierenden Verfahrens. Die Naturwissenschaft bringt, 
urn einen gliicklichen Vergleich von Bergson zu gebrauchen, nur 
Konfektionskleider zustande, die Paul ebensogut 
wie Peter passen, weil sie die Gestalt k e i n e s von beiden nach- 
zeichnen. Wollte sie ,,nach MaB" arbeiten, so miiftte sie fiir jeden 
Gegenstand, den sie studiert, eine neue Arbeit liefcrn. Das aber 
widerstreitet ihrem Wesen als Natnrwissenschaft. Sie bleibt beim 
Individuellen nur so lange, bis sie an ihm das Allgemeine gefunden 
hat, dem es sich unterordnen lafit. Insofern muB man sagen, daB 
die Wirklichkeit in ihrer Besonderheit und Individ ualitat die 
Grenze fiir jede naturwissenschaftliche Be- 
griffsbildung ist. 

Auch der Umstand, daB es bisweilen nur ein einziges Exemplar 
faktisch gibt, a n dem die Naturwissenschaft ihre Begriffe bilden 
kann, darf uns nicht dariiber tauschen, daB diese Begriffe, mit 
einer cinzigen sogleich zu erwahnenden Ausnahme, nicht den 
Sinn haben konnen, nur fiir dieses eine Exemplar zu gelten. In 
diesen Fallen ist es namlich mit Rucksicht auf die logische Struktur 
des naturwissenschaftlichen Begriffes sozusagen „zufallig", daB 
sein empirischer Umfang nur aus einem Exemplar besteht, 
denn der Begriffsinhalt bleibt trotzdem auf beliebig viele 
Exemplare anwendbar, ist also ein allgemeiner Gattungs- 
begriff. Zu den Zeiten z. B., als man vom ..Urvogel" nur eine 
Feder kannte, war diese doch in erster Linie fur die Aufstellung 
einer Gattung bedeutsam, ebenso wie heute, scitdem man 
zwei Exemplare dieser Gattung gefunden hat. Also der Begriff 
„Archaopteryx" war schon logisch allgemein, als sein empi- 
rischer Umfang noch nicht einmal aus einem ganzen Exemplar 
bestand. 

Aus alien diesen Grunden konnen wir die naturwissen- 
schaftiiche Methode generalisierend nennen, urn damit 
den formalen Begriff der Natur hervortreten zu lassen. Natur- 
erkenntnis generalisiert. Darin besteht ihr logisches 
Wesen. 

Eine Ausnahme bilden allerdings die einzelnen Weltkorper in 
einigen Teilen der Astronomie; doch wiirde eine genauere 
Untersuchung zeigen, daB auch diese Ausnahme die allgemeine 



— 46 — 

Regel nicht aufheben kann, weil die RoIIe, die hier das Einmalige 
als solches in einer Gesetzes"wissenschaft spielt, durch ganz be- 
sondere Umstande bedingt und auf scharf abzugrenzende Gebiete 
beschrankt ist. Hier wird, wie in der Physik, wieder die M a t h e - 
matik wesentlich, und davon wollen wir spater sprechen. 

Sehen wir vorlaufig von diesen Fallen ab, so ergibt sich ferner 
auch, wie infolge dieser Art von Begriffsbildung die Gesamt- 
h e i t der im logischen Sinne naturwissenschaftlichen oder generali- 
sierenden Disziplinen sich gliedern und zu einem e i n h e i t - 
lichen Ganzen mit gemeinsamenZielen zusammen- 
fassen laflt, zu dessen Realisierung jede besondere Wissenschaft 
auf ihrem Gebiete beitragt. 

Die Wirklichkeit zerfallt fur die generalisierenden Wissenschaften 
zunachst in z w e i Artcn von Realitaten, in solche, die 
einen Raum erfiillen (wobei das Wort „erfullen" zu betonen ist, 
denn bloB ausgedehnte „K6rper" sind nicht wirklich), und solche, 
die dies nicht tun (wenn sie auch deswegen durchaus nicht uber- 
haupt „unraumlich" zu denken sind), und die generalisierenden 
Spezialforschungen halten, falls wir von materialistischen Vellei'- 
taten absehen, an der Trennung in p h y s i s c h e s und p s y c h i - 
s c h e s Sein streng fest. Sie miissen es im Interesse ihrer Begriifs- 
bildung tun, wenn auch diese Scheidung des Ausgedehnten und 
des nicht Ausgedehnten in gewisser Hinsicht selbst erst das Pro- 
dukt einer begrrfflichen und zwar generalisierenden Abstraktion 
ist 1 ). Sie konnen die zwei Arten von Objekten, deren Begriffe 
einander ausschlieBen, nicht in einem einheitlichen Begriffssystem 
unterbringen, sondern nur versuchen, die eine Reihe der andern 
eindeutig zuzuordnen, nachdem jede fur sich generalisierend be- 
griffen ist. 



1) Das Korperliche lafit sich vom Seelischen auch noch in anderer 
Weise trenncn, z. B. so, daft korperlich das genannt wird, was wir alle 
gemeinsam erleben, seelisch dagegen das, was jedes Individuum fiir 
sich a 1 1 e i n hat. Von diesem Unterschied sehen wir hier jedoch ab 
und bemerken nur, dafl er nicht mit dem im Text behandelten zu- 
sammenfallt. Ebensowenig- kommt ein dritter Unterschied in Bc- 
tracht, der das Verhaltnis des Physischen und des Psychischen zu 
We r ten betrifft. Er wird erst fur den Begriff des ,,Geistes" wich- 
tig, der von dem des Seelischen verschieden ist. 



. — 47 — 

Es gibt demnach fur die generalisierenden Wissenschaften zwei 
getrennte Gebiete der Untersuchung, und dementsprechend miissen 
auch zwei Systeme von generalisierenden Ein- 
zelwissenschaften aufgestellt werden, von denen die einen 
kbrperliehe, die andern seelische Wirklichkeiten behandeln. In 
ihrer logischen, also formalen Struktur aber g 1 e i c h e n die 
beiden Systeme einander durchaus, und jede Spezialuntersuchung 
korperlicher oder seelischer Yorgange findet in ihnen ihren 
Platz. 

Denken wir namlich die Systeme vollendet, so gibt es in 
den Korperwissenschaften ebenso wie in der Psychologie je eine 
Theorie, die das enthalt, was alien Korpern oder alien Seelen 
gemeinsam ist, die also mit den denkbar allgemeinsten 
Begriffen arbeitet, und es lassen sich dann die Wissenschaften 
gliedern, je nachdem ihre letzten Begriffe mehr oder w e n i g e r 
umfassend und allgemein sind. Innerhalb der betreffenden Gebiete 
ist je ein System von Begriffen oder Gesetzen zu gewinnen, das 
nur fur dies relativBesondere gilt, und zu dessen Bildung 
dann die bis in das feinste Detail eindringenden Beobachtungen 
anzustellen sind, Aber iiberall wird auch hier eine Auswahl des 
Wesentlichen mit Riicksicht auf einen im Vergleich zum rein 
Individuellen immer noch allgemeinen Begriff vorgenommen. 
Alle diese relativ besonderen Begriffsbildungen schlieBen sich ahn- 
lich wie die bekannte Begriffspyr amide zu einem einheitlichen 
Ganzen zusammen, denn die pyramidenartige logische Struktur 
ist unabhangig davon, ob es Gattungs- oder Gesetzesbegriffe, 
Ding- oder Relationsbegriffe sind, und die allgemeinste Theorie 
bestimmt in jedem System auch die Spezialarbeit insofern, als 
eine Einordnung des weniger Allgemeinen unter das Allgemeinste 
im Prinzip nicht ausgeschlossen sein darf. 

Deshalb widerspricht es z. B. dem Sinne jeder generalisierenden 
Wissenschaft, ein prinzipiell nicht gesetzma'Biges Geschehen anzu- 
nehmen, und fur die Korper wissenschaften haben sogar 
nur Begriffsbildungen Wert, die mit einer mechanischen 
Auffassung nicht prinzipiell unvereinbar sind, weshalb 
,,vitalistische" Theorien keine Problemlosungen, sondern nur 
Problemverdunkelungen geben konnen, obwohl die Biologie 



— 48 — 

ohne relativ besondere Begriffe vom „Leben" nicht aus- 
kommt J ). 

Die Psychologie hat es bisher zu einer aHgemein an- 
erkannten Theorie vom Seelenleben nicht gebracht und steht aus 
diesem Grunde hinter den Korperwissenschaften mit Riicksicht 
auf systematische Durchbildung noch weit zuruck, Doch ist der 
Unterschied nicht prinzipiell, sondern nur graduell, und wie sie 
im einzelnen sich auch logisch von den Korperwissenschaften unter- 
scheidert mag, so verwendet sie doch jedenfails eine generaiisierende, 
also im 1 o g i s c h e n Sinne naturwissenschaftliche 
Methode, solange sie das Psychische als nur Psychisches erforscht, 
sich also auf zeitlich ablaufende, sinnlich-empirische Realitiiten 
beschrankt. 

Selbstverstandlich soil hiermit nicht einer unkritischen Ueber- 
tragung des in den Korperwissenschaften erprobten Verfahrens 
auf die Psychologie das Wort geredet werden. Im einzelnen 
hat jede wissenschaftliche Untersuchungsmethode -sich nach den 
inhaltlichen Eigentiimlichkeiten ihrer Objekte zu richten. 
Hier kommt es nur darauf an, ob diese Eigcnarten eine derartige 
logisch e Bedeutung haben, daC sie eine generaiisierende Be- 
griffsbildung von der Art, wie die Naturwissenschaften sie voll- 
ziehen, ausschlieBen, und das diirfte aus dem Wesen des fur sich 
betrachteten seelischen Lebens nicht zu folgern sein, wie 
ich an einem besonderen Punkte noch zeigen mochte. 

Man hat oft auf den einheitlichen Zusammenhang hin- 
gewiesen, der das erlebte psychische Sein zum Unterschiede von 
der Korpenvelt charakterisiert, und daraus Schliisse auch auf die 
Methode seiner Darstellung gezogen. An der Tatsache einer solchen 
,,Einhcit" ist nicht zu zweifcln. Aber man wird doch genau an- 
geben miissen, worin diese Einheit besteht, und dann, falls sie 
wirklich der naturwissenschaftlichen Methode einen Widerstand 
entgegensetzt, priifen, ob dieser Widerstand auch dem Wesen des 
psychischen Seins entstammt oder nicht aus ganz anderen 
Faktoren Iierzuleiten ist, die entweder iiberhaupt nicht in eine 
empirieche Wissenschaft gehoren oder sich lediglich aus der Eigen- 

1) Vgl. hierzu: Richard Kroner, Zweck und Gesetz in der Bio- 
logic. Eine logische Untersuchung. 1913. 



— 49 — 

art des seelischen Kultur lebens begreifen lassen, das nicht 
n u r seelisch, sondern zugleich sinnvoll ist und daher in seiner 
„Einheit" belassen werden muB, wenn man den daran haftenden 
Sinn nicht seines realen „Tragers" berauben will. 

Man kann ferner auch von einer Einheit des „BewuBtseins" 
reden und sie der Viellieit der physischen Wirklichkeit entgegen- 
setzen. Handelt es sich jedoch dabei urn den erkenntnis- 
theoretischen Begriff, so schlieBt die bloB formale Ein- 
heiL "die psychische Mannigfaltigkeit nicht in prinzipiell anderer 
Weise zusammen als die physische, und diese Form kommt fur 
die Methode der Psychologie daher gar nicht in Betracht. 
Weil die psychologische Begriffsbildung sich ausschlieBlich auf 
den I n h a 1 1 der psychischen Wirklichkeiten bezieht, so kann 
die logische Einheit des BewuBtseins nie zu ihrem Objekt werden. 
Ja, mit dieser Form wird keine empirische Wissenschaft sich 
beschaftigen, weil sie zu den logischen Voraussetzungen 
jeder Empirie gehort. 

Doch ist dies in der Tat nicht die einzige „Einheit", die das 
Seelenleben zeigt. Man kann noch auf einen andern „Zusammen- 
hang" hinweisen, der es unmdglich macht, die psychischen Ele- 
mente in der Weise begrifflich zu isolieren wie die physischen,. der 
eine Atomisicrung des seelischen Seins ausschlieBt, und der daher 
prinzipiell wichtige logische Eigentumlichkeiten der Begriffsbildung 
bedingt. Doch auch dies ist noch nicht eindeutig. Die Einheit 
dieses Zusammenhanges kann namlich entweder darauf beruhen, 
daB es nicht moglich ist, das Seelenleben ohne jede Rucksicht auf 
den Korper zu erforschen, zu dem es gehort, und daB dabei dieser 
Korper als r g a n i s m u s in Betracht kommt, der seine Ein- 
heit auf das mit ihm verknupfte psychische Sein iibertragt. Oder 
die Einheit kommt daher, daB der Mensch W e r t e setzt, und 
daB sich mit Rucksicht auf diese Werte sein Seelenleben ebenfalls 
zu einer Einheit zusammenschlieBt. Diese beiden Arten des „Zu- 
sammenhanges" im Psychischen muB man sorgfaltig auseinander- 
halten, selbst wenn man annehmen sollte, daB die Auffassung eines 
Korpers als Organismus nur durch ein zwecksetzendes s e e 1 i - 
s c h e s Wesen moglich ist, und daB die „organische" Einheit des 
Seelenlebens also nur durch Ruckubertragung entsteht. 

Kickert, Kultur wissenschaft. 6/7. Auf 1. 4 



— 50 — 

Im ersten Fall der organischenEinheit.in dem Werte 
keine Rolle spielen, bildet diese Einheit, mag sie nun vom Korper 
auf das Seelenleben iibertragen sein oder im letzten Grunde aus 
dem Seelenleben selbst stammen, zweifellos ein wichtiges Problem 
der Methodenlehre der Psychologie, das vielleicht noch zu wenig 
beachtet worden ist, und dessen Losung in der Tat den Gedanken 
einer „Mechanik" oder Atomisierung des Seelenlebens in derselben 
Weise ausschlieBen kiinnte wie den einer reinen Mechanik der 
Organismen. Diese lassen sich nie als bloGe Mechanismen be- 
greifen, denn sie wtirden damit aufhoren, „Organismen" zu sein, 
und die Biologie wird daher stets besondere Prinzipien der 
Begriffsbildung zeigen, die sich nicht restlos auf die der rein physi- 
kalischen Betrachtung zuriiekfuhren lassen *). Dementsprechend 
konnte man dann sageti, daB eine der rein mechanischen Theorie 
analoge Auffassung vom Seelenleben unmoglich ist, und daB daher 
jeder psychische Vorgang nur im Zusammenhang mit der Einheit 
des Seelen g a n z e n erforscht werden kann. Aber so richtig das 
auch sein mag, so schlieCt dies doch eine im logischen oder 
formalen Sinne naturwissenschaftliche, d. h. generalisierende Me- 
thode der Psychologie im Prinzip ebensowenig aus, wie die Organis- 
men der naturwissenschaftlichen Behandlung entzogen sind, und 
diese „organische Einheit" des Seelenlebens wird daher fur unsern 
Zusammenhang nicht von Bedeutung. 

Erst wenn die Einheit mit Rucksicht auf Werte in Frage 
kommt, kann man vielleicht behaupten, daB die generalisierende 
Betrachtung diese Einheit zerstbren muB, und daher die einheitliche 
Seele nicht nur naturwissenschaftlich untersucht werden darf, 
weil damit ihre Beziehung auf die Werte aufgehoben werden 
wurde. Hierdurch aber ist in keiner Weise bewiesen, daC das 
s e e 1 i s c h e Leben als solches sich gegen eine naturwissenschaft- 
liche Auffassung straubt, oder daB die naturwissenschaftlich un- 
begreifliche Einheit aus dem Wesen des Psychischen stammt, 
sondern nur, daB bestimmte A r t e n des Seelenlebens wegen der 



1) Vgl. Grenzen usw., besonders S. 456 if., 3. u. 4. Aufl. S. 311 ff. 
Auf den Begriff der wertfreien TeLeologie kann ich hier nicht naher 
eingehen, und er ist auch fur das Verstandnis des folgenden nicht 
unentbehrlich. 



— 51 — 

an ihnen haftenden Bedeutungen oder Sinngebilden sich 
generalisierend nicht erschbpfend behandeln lassen. Und 
diese Mbglichkeit soil gar nicht bestritten werden. Hierin steckt 
vielmehr, wie wir sehen werden, das Problem der geschicht- 
lichen Kulturwissenschaft. 

Doch kbnnen wir diese Frage erst dann behandeln, weniL wir 
die rein logischen und f o r m a 1 e n Unterschiede der Methoden 
mit dem materialcn Einteilungsprinzip von Natur und Kultur 
verbinden. Vorlaufig kommt es nur darauf an, zu zeigen, daB 
die Wissenschaft, welche das seelische Leben ledigfich mit Riick- 
sicht darauf untersucht, daB es seelisch und nicht korperlich 
ist, also von alien Werten und Sinngebilden absieht, keinen Grund 
hat, sich einer andern als der im logischen Sinne naturwissen- 
schaftlichen, d. h. generalisierenden Methode zu bedienen. Es bleibt 
daher dabei, daB j e d c Wirklichkeit, also auch die psychische, 
generalisierend als Natur aufgefaBt werden kann und folglich 
auch naturwissenschaftlich begriffen werden m u B. Sonst ware 
ein die gesamte psychophysische Natur umfassender wissenschaft- 
licher Begriff iiberhaupt nicht zu bilden. 



VII. 

NATUR UND GESCHICHTE 

Fassen wir nun aber den Begriff der Naturwissenschaft 
so weit, daB er mit dem einer generalisierenden Wis- 
senschaft zusammenfallt, ist dann ein anderes als natur - 
wissenschaftliches Verfahren bei der Erkenntnis der realen Sinnen- 
welt iiberhaupt noch m 6 g 1 i c h ? 

Die Wissenschaft bedarf, wie wir gesehen haben, fur die Aus- 

wahl des Wesentlichen eines leitenden Prinzips. Die Zu- 

sammenfassung des Gemeinsamen durch empirische Vergleichung 

oder die Darstellung des Allgemeinen in der Form des Natur- 

gesetzes liefert es ihr. Wenn nun sowohl kbrperliches als auch 

seelisches Geschehen in dieser Weise erforscht werden kann und 

muB, und es ein drittes Gebiet des empirisch Wirklichen nicht 

gibt, was bleiben dann informaler Hinsicht noch fur wissen- 

4* 



— 52 — 

schaftliche Aufgaben iibrig? Der Begriff der Wissenschaft vom 
Wirklichen scheint dann mit dem Begriff der Naturwissen- 
s c h a f t im weitesten, formalen Sinne des Wortes zusammen- 
zufallen und a 1 1 e Wissenschaft, die das reale Sein behandelt, 
darauf ausgehen zu miissen, die allgemeinen Begriffe oder die 
Naturgesetze zu finden, unter denen ihre Objekte stehen. Man 
kann sich in gewisser Hinsicht fur diese Meinung auf Aristoteles 
berufen. Nicht nur die Naturwissenschaft, sondern die Wis- 
senschaft iiberhaupt generalisiert. 

Und in der Tat, wer zwei Gruppen von Einzelwissenschaften 
nach dem Gegensatz von Natur und G e i s t so scheiden will, 
daB Geist dabei nur das seelische oder psychische Sein bedeutet, wird 
dieser Ansicht gegeniiber kcine durchschlagenden Argumente fin- 
den. Wo man versucht, aus den Eigenschaften des seelischen 
Lebens Griinde abzuleiten, die seine Erforschung nach naturwissen- 
schaftlicher Methode unmoglich machen sollen, hat man entweder 
hdchstens logisch sekundare Unterschiede finden konnen, 
welche die Aufstellung eines prinzipiellen formalen Gegensatzes 
zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nicht rechtfertigen und 
den Begriff der Naturwissenschaft nicht im logischen Sinne netimen, 
oder man hat mit raetaphysischen Behauptungen operiert, 
die, audi wenn sie richtig sind, fur die Methodenlehre nichts be- 
deuten. Das seelische Leben soil z. B. „frei" sein im Gegensatz 
zur kausal bedingten Natur, und daher lasse es sich nicht Gesetzen 
unterordnen, weil der Begriff der GesetzmaBigkeit dem Begriffe 
der Freiheit widerspricht. 

Mit solchen Behauptungen kann man in der Wissenschaft s- 
lehre nur Verwirrung stiften. Mill *) hatte mit Becht triumphiert, 
daB es nur Naturwissenschaft gibt, wenn es wirklich auf die Alter- 
native Freiheit oder kausale Notwendigkeit bei dieser Frage an- 
kame, denn auf Grund eines metaphysischen Freiheitsbegriffes 
wird man niemals dem Versuche wehren konnen, das empirisch 
gegebene Seelenleben in derselben Weise als gesetzmaBig dar- 
zustellen wie die Korperwelt, und vollends kann die Freiheit das 



I) System der deduktiven und induktiven Logik. Deutsch von 
Schiel, 4. Aufl. 1877, Bd. 2, Buch 6: Von der Logik der Geisteswissen- 
schaften. 



— 53 — 

empirisch generalisierende Verfahren nicht stbren. Mag also die 
Psychologie im einzelnen sich noch so sehr von den Korperwissen- 
schaften unterscheiden, so ist doch ihr letzter Zweck immer der, 
die besonderen und individuellen Vorgange unter allgemeine Be- 
griffe zu bringen und womoglich Gesetze zu suchen. -Auch die 
Gesetze des psychischen Lebens miissen in logischer und 
formaler Hinsicht Naturgesetze sein. Die Psychologie ist 
also Iogisch betrachtet eine Naturwissenschaft, und zwar sowohl 
mit Rucksicht auf den Unterschied von Natur und Kultur, als 
audi mit Rucksicht auf ihre generalisierende Methode. Diese 
Fragen sind entschieden durch die Tatsache, daB die empirische 
Psychologie, die von alien Werten und Sinngebilden absieht, auf 
dem generalisierenden Wege der Naturwissenschaft allein bisher 
ihre ResuItaLe gewonnen hat. 

Soil es also noch eine von der naturwissenschaftlichen prinzipiell 
verschiedene Art der Begriffsbildung fiir die reale Welt innerhalb 
der Einzelforschung geben, so darf sie — das wird hier beim for- 
malen Einteilungsprinzip ebenso deutlich wie beim materialen — 
nicht auf die Eigenschaften des psychischen Lebens sich aufbauen. 
Nur d i e Logik kann vielmehr hoffen, zu einem Verstandnis der 
vorhandenen Spezialwissenschaften zu kommen, die das Seelen- 
leben der generalisierenden Naturwissenschaft ruhig uberlaBt, aber 
ebenso entschieden fragt, ob es nicht dennoch auBer dem fur die 
naturwissenschaftliche MeLhode maBgebenden Prinzip der gene- 
ralisierenden Begriffsbildung noch einen zweiten, von die- 
sem prinzipiell verschiedenen formal en Gesichlspunkt gibt, 
der in vollig anderer Weise Wesentliches vom Unwesentlichen im 
Wirklichen scheidet. Und wer nun seine logischen Theorien durch 
Beobachtung der wirklich vorhandenen Forschung zu kontrollieren 
sich bemuht, kann, wie mir scheint, zunachst die Tatsache 
eines in formaler Hinsicht andersartigen wissenschaftlichen Ver- 
fahrens gar nicht iibersehen. PaBt diese Tatsache in die traditio- 
nelle Logik nicht hinein — um so sehlimmer fiir die Logik. 

Es gibt Wissenschaften, die nicht auf die Aufstellung von 
Naturgesetzen, ja iiberhaupt nicht mir auf die Bildung allge- 
meiner Begriffe gerichtet sind, und das sind die histori- 
s c h e n Wissenschaften im weitesten Sinne des Wortes. Sie wol- 



— 54 — 

len nicht nur „Konfektionskleider" macfaen, die Paul ebensogut 
wie Peter passen, d. h. sie wollen die Wirklichkeit, die niemals 
allgemein, sondern stets individuell ist, in ihrer Individuali- 
ty t darstelien, und sobaid diese in Betracht kommt, muB der 
naturwissenschaftliche Begriff versagen, weil seine Bedeutung 
gerade darauf beruht, daB das Individuelle durch ihn als „un- 
wesentlich" ausgeschieden wird. 

Die Historiker werden mit Goethe vom Allgemeinen sagen: 
„\Vir benulzens, aber wir lieben es nicht, wir lieben nur das Indi- 
viduelle", und dies Individuelle selbst werden sie, jedenfalls soweit 
das zu untersuchende Objekt als Ganzes in Frage stent, auch 
wissenschaftlich darstelien wollen. Es kann demnach fur eine 
Logik, die die Wissenschaften nicht meistern, sondern ver- 
stehen will, kein Zweifel sein, daf3 die Meinung des Aristoteles, 
der sich fast die gesamte neuere Logik, ja sogar einige Historiker 
angeschlossen haben, die Meinung namlich, die das Besondere 
und Individuelle in die Begriffe der Wissenschaft nicht 
aufnehmen will, falsch sein muC. 

Wi e die Geschichtswissenschaft dieBesonderheitund Individuali- 
st des Wirklichen, das sie behandelt, d a r s t e 11 1 , sei zunachst 
dahingestellt. Weil die Wirklichkeit als solche wegen ihrer un- 
iibersehbaren Mannigfaltigkeit in kein en Begriff eingeht, und 
weil die ,,Elemente" a li e r Begriffe allgemein sind, muB der Ge- 
danke an eine individualisierende B e gri f f s bildung zunachst 
problematisch erscheinen. D a (3 aber die Geschichte in 
der Darstellung des Einmaligen, Besonderen und Individuellen 
selbst ihre A u f g a b e sieht, sollte man nicht bestreiten, und von 
dieser Aufgabe aus mufl man ihr formales Wesen darlegen. Denn 
alle Begriffe von Wissenschaften sind Begriffe von Aufgaben, und 
ihr logisches Verstandnis ist nur moglich, wenn man von 
dem Z i e 1 , das sie sich setzen, in die logische Struktur ihrer 
Methode eindringt. Diese ist der Weg, der zum Ziele fiihrt. Die 
Geschichte will als , , Geschichte" nicht in der Weise genera- 
1 i s i e r e n , wie die Naturwissenschaften es tun. Das ist der fiir 
die Logik entscheidende Punkt. 

In neuester Zeit ist denn auch der Gegensatz des naturwissen- 
schaftlichen, d. h. generalisierenden, und des historischen Ver- 



— 55 ~ 

fahrens wenigstens nach dieser einen, wenn auch gewisser- 
maBen nur negativen Seite hin klar geraacht. Die Unter- 
scheidung von Gesetzes- und Geschichtswissenschaften bei Paul 
habe ich bereits erwahnt. Ohne auf die ubrigen Beitrage zur Klar- 
legung dieses Punktes einzugehen, weise ich hier nur auf die Aus- 
fiihrungen Windelbands ') hin. Er stellt neben das „nomothetisehe" 
Verfahren der Naturwissenschaften das ,,idiographische" der Ge- 
schichte als dasjenige, welches auf die Darstellung des Einmaligen 
und Besonderen gerichtet ist, und mit der Einschrankung, daB 
das nomothetische Verfahren nicht nur auf die Auffindung von 
Gesetzen im strengsten Sinne, sondern auch auf die Bildung 
von e m p i r i s c h allgemeinen Begriffen bezogen werden muft, 
ist dies zweifellos richtig. 

Ich selbst habe, um zwei rein logische und damit 
rein for male Begriffe von Natur und Geschichte 
zu gewinnen, mit denen nicht zwei verschiedene Realitaten, 
sondern d i e s e 1 b e Wirklichkeit unter zwei verschiedenen 
Gesichtspunkten gemeint ist, das logische Fundamental- 
problem einer Gliederung der Wissenschaften nach ihren Methoden 
so zu formulieren versucht : Die Wirklichkeit wird Na- 
tur, wenn wir sie betrachten mit Rucksicht 
auf dasAllgemeine, sie wird Geschichte, wenn 
wir sie betrachten mit Rucksicht auf das Be- 
so ndere und Individuelle 2 ), und ich will dementspre- 
chend dem generalisierenden Verfahren der NaLurwissenschaft das 



1) Geschichte und Naturwissenschaft. 1894. Unveranderter Abdruck 
in: Praludien, 5. Aufl. 1915, Bd. II, S. 136 ff. Einer der ersten, der 
den allgemeinsten Iogischen Unterschied von Naturwissenschaft und 
Geschichte klar erkannte, war Schopenhauer. Doch benutzte 
er diese Einsicht nur dazu, der Geschichte den Charakter als Wissen- 
sehaft abzusprechen, wie das viele im Anschlufi an inn getan haben. 
In positiver Hinsicht wichUg sind: Harms, Die Philosophie in 
ihrer Geschichte I, Psychologie, 1878, Adrien Naville, De la 
classification des sciences, 1888, 3. sehr erweiterte und vOllig umge- 
arfaeitete Aufl. 1920, und Simrael, Die Probleme der Geschichts- 
philosophie, 1892, doch kommt erst in der 2. Aufl. dieser Schrift (1905) 
der entscheidende Punkt vollig klar heraus. Vgl. Genaueres in meinen 
Grenzen, 3. u. 4. Aufl. S. 205 ff. 

2) Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 1896, 
S. 255. 3. u. 4. Aufl., S. 173. 



— 56 — 

individualisierende Verfahren der Geschichte ge- 
geniiberstellen. 

In diesem Unterschiede besitzen wir dann das gesuchte for- 
mate Prinzip fur die Einteilung der Wissenschaften, und wer 
die Wissenschaftslehre wirklich 1 o g i s c h betreiben will, muB 
diesen formalen Unterschied zugrundelegen. Sonst wird er das 
I o g i s c h e Wesen der empirischen Wissenschaften nie verstehen. 
Es ist eine Tatsache, die man beklagen, aber dadurch nicht aus 
der Welt schaffen kann, daB die wirklich ausgeiibte 
wissenschaftliche Begriffsbildung der Einzelforschung sich spaltet 
in diese zwei Jogisch einander entgegengesetzten Richtungen, und 
d i e s e Spaltung, nicht i rg end welch e sachlichen Unterschiede, muB 
daher die Wissenschaftslehre zuerst beriicksichtigen *). 

Mit allgemeinen Redewendungen wie: alle Wissenschaft sei 
e i n h e i 1 1 i c h , es kbnne doch nicht mehrere W a h r - 
heiten geben, oder die Geschichte sei keine „Wissenschaft", 
weil sie nicht generalisiere, ist der Logik nicht geholfen. GewiB 
haben alle empirischen Wissenschaften das miteinander gemein- 
sam, daB sie wahre Urteile iiber das reale Sein der Sinnenwelt 
geben, d. h. nur wirklich vorhandene Objekte und nicht Produkte 
der Phantasie darstellen wollen. Insofern gibt es nur eine ein- 
heitliche Wissenschaft, die auf die eine Wirklichkeit gerichtet 
ist. Dies bezieht sich jedoch auf den Inhalt und nicht auf die Form 
der Wissenschaft, und es ist daher fur die Logik, welche sich auf 
die Formen beschrankt, nur eine stillschweigende Voraus- 
setzung, Ferner gibt es auch eine Reihe von Denkformen, die 
u b e r a 1 1 unentbehrlich sind, wo iiberhaupt eine empirische Wirk- 
lichkeit in wissenschaftliche Begriffe gebracht werden soli. Aber 
ebenso sicher setzen sich die Wissenschaften auch die formal 
voneinander verschiedenen Ziele des Generalisie- 
re n s und des Individualisierens, und deshalb muB es 



1) DaB die Voranstellung des formalen Unterschiedes eine spatere 
Berucksichtigung der sachlichen Verschiedenheiten nicht aus- 
schlieGt, ist selbstverstandlich. Daher sollte man nicht sagen, 
die Wissenschaften seien nicht nach formalen, sondern nach, sach- 
lichen Gesichtspunkten zu gliedern. Es ist beides gleich bereeh- 
tigt, je nach den Zielen, die man dabei im Auge hat. 



— 57 — 

auch formal voneinander verschiedene Arten der Be- 
griffsbildung geben, die zur Erreichung dieser Ziele dienen. 

Wer den Namen der .."Wissenschaft" nur fur die Produkte 
generalisierender Auffassung verwenden will, ist naturlich nicht 
zu widerlegen, weil solche terminologischen Festsetzungen iiber- 
haupt jenseits von wahr und falsch liegen. DaB es aber eine be- 
sonders g 1 u c k 1 i c h e Terminologie ist, die die Werke Rankes 
und aller grofien Historiker nicht zur ,,Wissenschaft" zu rechnen 
gestattet, wird man nicht behaupten konnen. Man sollte sich viel- 
mehr bemuhen, einen Begriff von Wissenschaft zu bilden, der das 
umfaBt, was allgemein "Wissenschaft g e n a n n t wird, und zu 
diesem Zwecke vor allem die Tatsache berucksichtigen, daB 
die Wissenschaften nicht uberall dieselbe Form des naturwissen- 
schaftlichen oder generalisierenden Verfahrens zeigen. 

Machen wir dies zunachst noch ausdrucklich an Beispielen klar, 
und vergleichen wir zu diesem Zweck die beruhmte Darstellung, 
die K. E. v. Baer von der Entwicklung des Huhnes im Ei gegeben 
hat, mit Rankes Romischen Papsten im 16. und 17. Jahrhun- 
dert. 

In dem einen Fall wird eine unubersehbare groBe Mehrheit von 
Objekten unter ein System von allgemeinen Begriffen ge- 
bracht, das den Zweck hat, fur jedes beliebige Exemplar dieser 
Mehrheit zu gelten und das darzustellen, was sich immer von 
neuem wiederholt. In dem andern Fall dagegen wird eine 
bestimmte einmalige Reihe von Wirklichkeiten so aufgefaBt, daB 
die Besonderheit und Individualitat jeder einzelnen zum 
Ausdruck kommen und das in die Darstellung aufgenommen 
werden soil, was nirgends noch einmalda war. Aus dieser 
Verschiedenheit der Aufgaben ergeben sich mit Notwendig- 
keit logisch verschiedene Denkmi ttel und Denkformen. Baer, 
wie jeder Mann der Naturwissenschaft, fafit das den verschiedenen 
Objekten Gemeinsame zusammen, und das Denkprodukt ist 
der a 1 1 g e m e i n e Gattungsbegriff. Ranke dagegen muB jeden 
seiner Papste unter einen besonderen Begriff bringen und 
hat zu diesem Zwecke Begriffe mit individuellem Inhalt 
zu bilden. Die Denkzwecke und Denkformen, die den beiden Dar- 
stellungen eigentiimlich sind, schlieBen einander geradezu aus, 



— 58 — 

so daB an der prinzipiellen logischen Verschiedenheit der ver- 
wendeten Methoden nicht gezweifelt werden kann. 

Ja, dieBeispiele sind so gewahlt, dai3 zugleich noch etwasanderes 
aus ihnen sich ersehen laBt. Wenn die eine Darstellung ihre Ob- 
jekte mit Rucksicht auf das Gemeinsame oder Allgemeine, 
die andere dagegen sie mit Rucksicht auf das Besondere und 
Individuelle betrachtet, so ist klar, daO hier der denkbar 
g r o t e logische Unterschied zum Ausdruck kommt, den es 
zwischen den Methoden der empirischen Wissenschaften geben 
kann. Ein drittes Ziel der Wissenschaft, das sich von den beiden 
genannten in logischer oder formaler Hinsicht so prinzipiell unter- 
scheidet, wie diese untereinander verschieden sind, ist bei der 
Darstellung empirischer Wirklichkeiten nicht moglich. Die Wissen- 
schaftslehre wird also bei einer Einteilung der Disziplinen, die 
das Wirkliche erforschen, den angegebenen Unterschied als den 
formalen H a u p t gegensatz aller wissenschaftlichen Begriffsbil- 
dung der Einzelforschung bezeichnen miissen, neben dem die 
anderen Unterschie.de logisch sekundar sind, und sie wird daher 
die empirischen Wissenschaften so einteilen, daB sie sagt: alle 
spezialwissenschaftliche Tatigkeit, die Wirkliches erkennen will, 
bildet entweder allgemeine oder individuelle Begriffe, oder sie 
enthalt ein Gemisch von beiden Arten. Da aber die Misch- 
f o r m e n erst verstanden werden konnen, wenn die reinen 
Fovmen verstanden sind, so hat die Wissenschaftslehre es zu- 
nachst mit den zwei Hauptarten der Begriffsbildung, der gene- 
ralisierenden und der individualisierenden, zu tun. 

Es ist nicht einzusehen, weshalb jemand gegen diese Satze 
etwas einwenden sollte. Hochstens das konnte man bezweifeln, 
ob die Gleichsetzung des angegebenen rein formalen Unter- 
schiedes mit dem Gegensatz des naturwissenschaftlichen und g e - 
schichtlichen Verfahrens berechtigt ist, oder ob nicht viel- 
mehr das Wort „Geschichte" nur in einer engeren Bedeutung 
gebraucht werden sollte. Doch ist audi, darauf die Antwort nicht 
schwer. 

Die Untersuchung von Baer nennt jeder naturwissen- 
schaftlich, und die Griinde fiir die Gleichsetzung der gene- 
ralisierenden Begriffsbildung mit der naturwissenschaftlichen ken- 



— 59 — 

nen wir bereits. DaO dieser logische Gebrauch des Wortes Natur 
im Einklang mit der Terminologie Kants steht, gibt ihm zugleich 
sein historisches Recht. Nicht minder gerechtfertigt ist aber auch 
der Ausdruck geschichtliche Methode zur Bezeichnung des 
auf die Besonderheit und Individualitat der Wirk- 
lichkeit gerichteten wissenschaftlichen Verfahrens. Wenn man 
Rankes Werk iiber die Papste eine historische Untersuchung 
nennt, so denkt man allerdings gewiB auch daran, daB hier g e i - 
s t i g e oder s e e 1 i s c h e Vorgange und insbesondere mensch- 
liches Kulturleben behandelt wird. Sieht man jedoch von 
diesen inhaltlichen Bestimmungen ab, was man tun muB, 
um einen Iogischen Begriff zu erhalten, so behalt das Wort „ge- 
schichtlich" noch immer eine bestimmte und allgemein verstand- 
liche Bedeutung, und das ist eben die hier verwendete. 

Freilich, der Sprachgebrauch ist nicht konsequent. Man spricht 
von „Naturgeschichte", und der Ausdruck „Entwicklungsge- 
schichte" ist gerade fur solche Untersuchungen iiblich geworden, 
an denen man sich, wie an Baers Darstellung der Entwicklung des 
Huhnes, das logische Wesen des naturwissenschaftlichen Ver- 
fahrens klarmachen kann. Aber das sind Ausnahmefalle. 
Wer von „Geschichte" schlechtweg redet, meint immer den e i n - 
maligen individuellen Verlauf einer Sache, und ge- 
rade in der Philosophie ist es iiblich, das Historische als das Be- 
sondere der Natur als dem Allgemeinen gegeniiberzustellen. Das 
„historische" Recht ist das einmalige individuelle Recht im Gegen- 
satz zum „Naturrecht", das alien gemeinsam ist oder sein soil. 
Die „historische" Religion ist die einmalige besondere Religion 
im Gegensatz zur ,,natiir lichen" Religion, von der man glaubt, 
daB sie jedem Menschen mit seiner allgemeinen Natur gegeben sei. 

"Wenn ferner der Rationalismus des achtzehnten Jahrhunderts, 
der die Dinge nur soweit berucksichtigt, als sie sich unter a 1 1 - 
g e m e i n e Begriffe bringen lassen, von dem „bloB" Historischen 
geringschatzig spricht, so identifiziert er dabei ebenfalls das Ge- 
schichtliche mit dem Einmaligen und Individuellen, und dieser 
Sprachgebrauch zieht sich auch noch weit in die Philosophie des 
deutschen Idealismus hinein. Dies aber kann nur ein neuer Grund 
sein, das Geschichtliche im Iogischen Sinne mit dem Ein- 



— 60 — 

maligen, Besonderen und Individuellen zu identifizieren. Wo Kant 
und seine Nachfolger namlich von dem bloB Historischen eben- 
falls geringschatzig reden, da zeigt sich, daB, so groCe Fortschritte 
sie im geschichtlichen Denken auch der Aufklarung gegenuber ge- 
macht haben, zu einer logischen Erfassung der Geschichte 
bei ihnen doch hochstens Ansatze vorhanden sind. 

Kurz, es ist nicht etwa Sache der Willkiir, die geschichtliche 
Methode als die individualisierende der naturwissenschaftlichen als 
der generalisierenden gegenuberzustellen. Wo man Kants logischen 
Begriff der Natur akzeptiert, ist vielmehr auch dieser logische 
Begriff der Geschichte gefordert, und jedeni'alls erhalten wir so 
allein einen brauchbaren Ausgangspunkt f iir eine logische 
Untersuchung der empirischen Wissenschaften. Die Logik hat die 
Aufgabe, zuerst aus dem wissenschaftlichen Ziel der Geschichte, 
das in der Darstellung des einmaligen und individuellen Ablaufs 
einer Wirklichkeit besteht, die hierbei verwendeten individuali- 
sierenden Denkformen als notwendige Mittel zur Erreichung dieses 
Zieles zu verstehen. Das kann niemand bestreiten, dem es um 
ein Verstandnis a 1 1 e r spezialwissenschafthchen Tatigkeit zu tun 
ist. Nur wer, wie die Vcrtreter des Naturalisnuis es tun, sich einen 
Begriff von ,,Wissenschaft" zurechtmacht, ohne sich dabei an den 
tatsachlich vorhandenen Wissenschaften zu orientieren, wird 
die Gleichsetzung des historischen Verfahrens mit dem individuali- 
sierenden anfechten. 



VIII. 

GESCHICHTE UND PSYCHOLOGIE 

Stellen wir also Naturwissenschaft und Geschichte als for- 
ma 1 e Gegensatze hin, so mussen wir sagen: wahrend die Natur- 
wissenschaft — von wenigen, bereits erwahnten Ausnahmen ab- 
gesehen — darauf ausgeht, mit ihren Begriffen eine Mehrheit, ja 
eventuell eine uniibersehbar groBe Vielheit von verschiedenen 
Gegenstanden zu umfassen, wird eine historische Wissenschaft es 
erstreben, daB ihre Darstellung nur auf das eine, von alien andern 
verschiedene Objekt paOt, das sie untersucht, sei dies eine Person- 



— 61 — 

lichkeit, ein Jahrhundert, eine soziale oder religiose Bewegung, 
ein Volk oder was auch immer. Sie will dadurch dem Horer oder 
Leser den einzigen Vorgang, den sie meint, moglichst nahe 
bringen. Die Naturwissenschaft dagegen hat ein Stuck Wirklich- 
keit um so besser „erklart", je allgemeiner derBegriff ist, durch den 
sie es darstellt, je deutlicher das zum Ausdruck kommt, was dem 
besonderen Teil mit dem Naturganzen gemein ist, und um so 
mehr der Inhalt des einmaligen Objektes in seiner Individuality 
und der Inhalt des allgemeinen Begriffes sich voneinander ent- 
fernen, 

Bereits aus diesem formalen Gegensatz von Natur und Ge- 
schichte lassen sich fiir die Methodenlehre mehrere wichtige Konse- 
quenzen Ziehen. Doch wollen wir uns hier auf einen Punkt be- 
schriinken, der besonders viel behandelt worden ist. 

Es muB schon aus dem bisher Gesagten hervorgehen, was die 
Wissenschaft vom Seelenleben im allgemeinen, also die generali- 
sierende Psychologie, fiir die Geschichtswissenschaft be- 
deuten kann, ein Punkt, iiber den eine Verstandigung zwischen 
denen, die nicht etwa aus der Geschichte eine gencralisierende 
Naturwissenschaft machen wollen, eigentlich leicht sein sollte, und 
der zugleich fiir die Frage, mit welchem Recht man die Wissen- 
schaften in Natur- und Geisteswissenschaften einteilt, von ent- 
scheidender Bedeutung ist, solange man unter Geist etwas Psy- 
chisches versteht. 

Wir wissen, daB die Geschichtswissenschaften, wenn sie Kultur- 
vorgange faehandeln, es fast immer auch mit seelischem Lebeu 
zu tun haben, und aus diesem Grunde ist die Bezeichnung der 
Geschichte als „Geisteswissenschaft" nicht direkt falsch. Dem- 
entsprechend pflegen wir von den Historikern zu sagen, daB sie 
gute „Psychologen" sein mussen. Um die wissenschaft- 
liche Psychologie des realen Seelenlebens aber kummern sie 
sich gewbhnlich nicht viel, und es scheint doch, daB sie um so 
bessere „Psychologen" werden wiirden, je mehr sie sich mit ihr 
beschaftigen. Ja, erst wenn die Historiker wissenschaftliche Psycho- 
logie treiben, werden sie die Geschichte zum Range einer Wissen- 
schaft erheben. 

Diese Argumentation klingt sehr iiberzeugend und tragt sicher 



— 62 — 

dazu bei, dafi die Meinung von der „grundlegenden" Bedeutung 
der Psychologie fur die Geschichte so weit verbreitet ist. Sobald 
wir aber naher zusehen, finden wir, daB, wie haufig bei besonders 
beliebten Theorien, die Ueberzeugungskraft auf einer V i e 1 - 
deutigkeit des gebrauchten Schlagwortes beruht. 

Wir nennen nicht nur Historiker, sondern auch Dichter und 
biidende Kiinstler „ Psychol ogen", denn wir meinen mit Recht, 
daB sie ,,Menschenkenner" sein miissen, um ihre Aufgabe zu 
erfulJen. Aber die „Psychologie", die Kiinstler treiben, hat mit der 
begrifflichen Wissenschaft vom Seelenleben nicht viel mehr 
als den Namen geniein, und niemand wird einem Dichter wissen- 
schaftliche psych ologische Studien empfehlen, damit er dadurch 
besser dichten lerne. Die Kunst will das Seelenleben nicht begriff- 
lich, sondern, soweit das moglich ist, intuitiv erfassen, um es 
dann mit ganz andern als wissenschaftlichen Mitteln in eine Sphare 
der allgemeinen Bedeutung zu heben, und die kiinstlerische 
Fahigkeit zum „psychologischen" Verstandnis der Menschen ist 
jedenfalls von Kenntnissen in der wissenschaftlichen Psychologie 
vollig unabhangig. 

Dasselbe gilt von der „Psychologie", welche die Historiker 
brauchen, so sehr sie sich auch von der des Kiinstlers sonst unter- 
scheiden mag. Ja, diese Psychologie steht der generalisierenden 
Wissenschaft vom Seelenleben womoglich noch ferner als die 
Psychologie des Kiinstlers, weil sie ganz auf das Einmalige und 
Besondere gerichtet ist. Daher ist es nicht wunderbar, daB wir 
bedeutende „Psychologen" unter den Historikern schon in Zeiten 
finden, in denen es noch gar keine wissenschaftliche Psychologie, 
ja noch nicht einmal den heutigen Begriff des Psychischen gab. 
Thukydides z. B. diirfen wir wohl zu den „Psychologen" in diesem 
Sinne rechnen. Wenn nun aber sogarWundt a ), der sonst vor alien 
die Psychologie zur Grundlage der „ Geisteswissenschaften" machen 
will, diesem Historiker das Zeugnis ausstellt, daB er ,,in der psycho- 
logischen Auffassung des historischen Geschehens noch spateren 
Zeiten als Vorbild dienen konnte", so ist dies doch eine recht 
nachdenkliche Tatsache. Ihr Gewicht kann durch den Hinweis 



1} Logik,3. Aufl. Bd. III. LogikderGeisteswissenschaften, 1908, S.2. 



— 63 — 

von Tdnnies x ), daC Geschichtsschreiber wie Polybius, Tacitus und 
unter den neueren Hume, Gibbon, J. v. Miiller, Thierry, Gervinus 
auf dem Standpunkt ihrer Zeit geschulte Psychologen waren, 
nicht abgeschwacht werden, denn falls dies richtig ist, so wiirde 
es doch nur zeigen, dafi diesen Historikern die Psychologie ihrer 
Zeit nichts geschadet hat. Die Psychologie dieser Manner 
gilt ja heute fur wissenschaftlich uberholt. Nicht wegen, sondern 
t r o t z ihrer Psychologie waren sie also bedeutende Historiker. 

Tatsachlich diirfte jedoch bei den meisten Historikern die 
psych ologische Theorie, die sie Mr richtig hielten, eine sehr ge- 
ringe Rolle bei ihrer historischen Arbeit gespielt haben, und auch 
abgesehen davon ware es, weil wirklich die meisten spateren 
Historiker sich in bezug auf ihre „psychologischen" Kenntnisse 
von Thukydides nicht p r i n z i p i e 1 1 unterscheiden, im methodo- 
logischen Interesse dringend wunschenswert, ihre „ Psychologie" 
des Einmaligen und Individuellen in dem Sinne, wie wir z. B. von 
einer Psychologie Friedrich Wilhelms IV. oder der Kreuzzuge 
sprechen, von der generalisierend verfahrenden wissenschaftlich en 
Psychologie auch durch einen Terminus sorgfaltig zu trennen, und 
sie, falls man das Wort Psychologie nicht aufgeben will, mit Riick- 
sicht auf den allgemeinsten Gegensatz von Natur und Geschichte 
etwa als „historische Psychologie" zu bezeichnen, worunter wir 
aber dann nicht eine besondere Wissenschaft zu verstehen 
hatten 2 ). 

Sachlich ergibt sich folgendes: Die Erklarung des Seelenlebens 
im allgemeinen ist Wissenschaft. Die „historische Psychologie", 
d.h. die Kenntnis einzelner Menschen oder bestimmter Massen 
zu bestimmten Zeiten, ist es fur sich allein noch nicht. Sie laflt sich 
vielleicht durch die wissenschaftliche Psychologie vervoll- 

1) Zur Theorie der Geschichte. 1902. Archiv fur systematische 
Philosophic, Bd. VIII. 

2) Das Problem scheint etwas komplizierter, seitdem man eine 
„verstehende" Psychologie der „erkliirenden" gegenuberstellt und im 
Verstehen die Grundlage der historischen Wissenschaften findet. Hat 
man jedoch eingesehen, daO unmittelbar „verstandlich" im prag- 
nanten Sinn nicht reale seeiische VorgSnge, sondern irreale Bedeu- 
tungen und Sinngebilde sind, so bleibt das im Text AusgefOhrte 
for die Psychologie als Realwissenschaft unanfechtbar. Vgl. Gren- 
zen 3. u. 4. Aufl. S. 424 ff. 



— 64 — 

kommnen, aber niemals durch irgendeine generalisierende 
Wissenschaft vom Seelenleben ersetzen. Denn selbst wenn 
irgendeine wie auch immer geartete psychologische Theorie alles 
wirkliche Seelenleben unter allgerneine Begriffe gebracht hatte, so 
ware dadurch eine Kenntnis der einmaligen individuellen Vorgange 
nicht gegeben. Psychologisch erklaren wollen wir die Natur 
des psychischen Seins, indem wir nach seinen allgemeinen Ge- 
setzen oder irgendwelchen andern allgemeinen Begriffen suchen. 
Das Seelenleben in der Geschichte aber wollen wir auf einem hier 
nicht weiter zu erorternden Wege, der durch das Verstehen von 
individuellen Sinngebilden hindurchfiihrt, „ psychologisch" dadurch 
kennen lernen, daft wir es in seinem individuellen Verlauf, soweit 
dies mdglich ist, nacherleben, und damit haben wir dann 
hochstens Material fur eine historische Darstellang gewonnen, 
aber noch kcinen historischen Be griff des betreffenden Ob- 
jektes. Das blofie „ErIebnis" ist keine Wissenschaft, und es kann 
zum Zwecke der historischen Erkenntnis auch nicht genera lisierend 
geformt werden. 

Macht man sich dies klar, so wird man es nicht mehr selbst- 
verstandlich finden, daQ der Historiker zur Ausbildung seines 
„psychologischen" Verstandnisses wissenschaftliche, d. h. generali- 
sierende Psychologic treiben musse, und man kann dann vollends 
in keiner Wissenschaft vom realen Seelenleben, die mit allgemeinen 
Begriffen arbeitet, dieGrundlage der Geschichtswissenschaften 
in dem Sinne erblicken, wie die Mechanik die Grundlage der 
Naturwissenschaften von der Korperwelt ist 1 ). 



1) Eine Ansicht, die auf dasselbe hinauskommt, finde ich auch bei 
einem Psyehologen. Karl M a r b e schreibt in seiner Bespreehung 
der „Prinzipien der Literaturwissenschaft" von Ernst Elster folgen- 
des: „Eben die Tatsache, daO es nicht moglich ist, diejenigen Gegen- 
stande, wclche den Literarhistoriker interessiercn, ohne Schwierig- 
keiten unter psychologische Titcl zu bringen, halte den Verfassei 
belehren kemnen, duB man in seinem Sinne wenigstens die Psycho- 
logie for die Literaturwissenschaft nicht fruchtbar machen kann. 
Der moderne Psychologe sucht das geistige Leben als einen Komplex 
einfacher Elemente und Tatsachen zu begreifen. Diese Zerlegung 
des Psychischen ist. fur den Literarhistoriker unbrauchbar. Er will 
einen bestimmten Teil des geistigen Lebens der Menschheit in seiner 
Kompliziertheit nachleben und verstehen." So kann man 



— 65 — 

Das soil nicht heiBen, daB es zwischen generalisierender wissen- 
schaftlicher Psychologie und Geschichtswissenschaft gar k e i n e 
Verbindung gibt, und ich mochte auch dies ausdriicklich hervor- 
heben, weil meine Ansichten wiederholt so aufgefafit worden sind, 
als hatte ich die Mbglichkeit bestritten, dai3 der Historiker 
von der wissenschaftlichen Psychologie etwas Urnen konne. 
Das ist mir nie in den Sinn gekommen. Ich habe im Gegenteil 
schon vorher ausdriicklich darauf hingewiesen, daB das „psycho- 
logische'* Verstandnis der Vergangenheit, genauer das Nacherleben 
seelischer Vorgange frtiherer Zeit auf Grund verstandlicher Sinn- 
gebilde, das meist ohne wissenschaftliche psychologische Kennt- 
nisse erfolgt, trotzdem durch die generalisierende Psychologie ver- 
vollkommnet werden kann. 

Wie weit das moglich ist, lafit sich unter logischen Gesichts- 
punkten nicht entscheiden, und es hat keinen Zweck, die ver- 
schiedenen Eventualitaten zu erwagen, bevor nicht faktisch die 
Geschichte mit der wissenschaftlichen Psychologie enger verknupft 
ist als bisher. Die 1 o g i s c h e Einsicht kann nur dadurch ge- 
fordert werden, daC wir ein M a x i m u m der Verwert ang wissen- 
schaftlich psychologischer Kenntnisse durch den Historiker voraus- 
setzen und zusehen, was dann die Psychologie fur die Geschichte 
leisten und nicht leisten kann. Doch mussen wir uns dabei auf 
Kenntnisse vora realen Seelenleben beschranken, denn diese allein 
verdienen den Namen psychologisch. Das Verstandnis irrealer Sinn- 
gebilde, die nicht psychisch sind, bleibt also ganz beiseite. 

Hat man den Unterschied des generalisierenden Verfahrens der 
Psychologie und des individuaiisierenden Verfahrens der Geschichte 
begriffen, so laBt sich das Maximum der Verbindung dieser beiden 
Wissenschaften nur noch so konstruieren. Auch die Darstellung 
des Individuellen kann der allgemeinen Begriffe oder wenigstens 



wohl sagen, und ich freue mich, daB Marbe, der in einer Rezension 
meiner „Grenzen der naturwissenschafLlichen Begrii'fsbildung" er- 
klart hatte, in „keinem wesentlichen Punkte" mit mir uberein- 
stimmen zu konnen, mir so viel naher gekommen ist, denn der seinen 
angefQhrten Satzen zugrunde liegende Unterschied ist doch in meinem 
Buche als ein schr „wesentlicher Punkt" auf das eingehendste dar- 
gelegt und ausdrQcklich auf das Verhaltnis der Psychologie zur Ge- 
schichtswissenschaft angewendet worden. 

Rickert, Kulturwissenacnaft. d.jl. Auil. 5 



— 66 — 

der allgemeinen Begriffselemente nicht entbehren: die Ietzten 
Bestandteile jeder wissenschaftlichen Darstellung mussen, wie 
wir gesehen haben, allgemein sein. Also ist auch der Begriff einer 
geschichtlichen Individualitat aus lauter allgemeinen Elementen 
zusammengesetzt, und zwar in einer Weise, die wir spater zu er- 
ortern haben werden. Das darf natiirlich nicht so verstanden 
werden, als ob die Individualitat der "Wirklichkei t selbst 
eine bloBe Kombination von Allgemeinheiten ware, denn das 
kame, wie wir ebenfalls bereits sahen, auf einen platonisierenden 
Begriffsrealismus hinaus. Lediglich um die Darstellung der 
Individualitat durch die Wissenschaft und die Benutzung des 
Allgemeinen zu diesem Zwecke handelt es sich, und diese wird 
nun deswegen wichtig, weil der Historiker dabei meist die all- 
gemeinen Wortbedeutungen gebraucht, die er vorfindet, und die 
wir uns mit dem Erlernen der Sprache aneignen, ehe wir Wissen- 
schaft treiben. Man konnte namlich sagen, diese v o r wissenschaft- 
lichen Begriffe sind u n g e n a u und unbestimmt, also 
eigentlich gar keine „Begriffe", und die Geschichtswissenschaft 
mufi daher in dem MaBe wissenschaftlicher werden, in dem es ihr 
gelingt, die vorwissenschaftlichen allgemeinen Wortbedeutungen* 
die sie zur Darstellung der individuellen historischen Vorgange 
braucht, durch wissenschaftliche Begriffe zu ersetzen. Diese aber 
hatte sie dann der Psychologie zu entnehmen. So bliebe der Gegen- 
satz der generalisierenden und der individualisierenden Begriffs- 
bildung unangetastet, und trotzdem ware an der Bedeutung 
der Psychologie fur die Geschichte als Wissenschaft nicht zu 
zweifeln. 

DaB die Psychologie zu einer Hilfswissenschaft der 
Geschichte werden k a n n , ist hierdurch in der Tat gezeigt, aber 
es ist notwendig, die Tragweite dieses Ergebnisses fur die Wissen- 
schaftslehre genau festzustellen. Zunachst wird man diese Be- 
trachtungen, wenn man konsequent sein will, noch etwas welter 
ausdehnen mussen. Der Historiker beschrankt sich, auch insofern 
er es nur mit wirklichem Sein zu tun hat, durchaus nicht auf die 
Darstellung des seelischen Lebens. Die Menschen, von denen 
er spricht, sind auch korperlich und werden daher durch den 
EinfluD ihrer korperlichen Umgebung bestimmt. Ohne die Be- 



— 67 — 

riicksichtigung der Korperwelt wiirde uns keine historische Dar- 
stellung geniigen, ja das Korperliche kann in seiner Individuality 
hislorisch sogar sehr wichtig werden. Daraus ergibt sich dann, 
daB die Psychologie nicht die einzige generalisierende Wissenschaft 
1st, von der sich sagen lafit, dafi sie zu einer Hilfswissenschaft der 
Geschichte zu werden vermag. 

Wenn wir z. B. in der Geschichte einer einmaligen besonderen 
Schlacht erfahren, daB die Soldaten, ehe es zum Kampf kam, 
tagelang Marsche machen muBten, dafi sie dadurch ermiidet und 
gegen die Angriffe kbrperlich frischer Truppen weniger widerstands- 
fahig waren, oder wenn berichtet wird, daB eine bestimmte be- 
lagerte Stadt, der jede Zufuhr von Nahrungsmitteln abgeschnitten 
war, sich nur eine bestimmte Zeitlang halten konnte, weil der 
Hunger die Menschen schwachte und schlieBlich eine wirksame 
Verteidigung unmoglich machte, so wird bei der Darstellung sol- 
cher Ereignisse der Historiker sich ebenfalls lauter a 1 1 g e m e i - 
n e r Wortbedeutungen bedienen, die sich auf Korpervorgange be- 
ziehen, und zwar sind es in den meisten Fallen wiederum Begriffe, 
die er besafl, ehe er Wissenschaft trieb. Man wird daher sagen 
miissen, daC er vom wissenschaftlich physiologischen 
Standpunkt aus bei der Verwendung seiner allgemeinen Begriffe, 
die er zur Darstellung der einmaligen Vorgange braucht, u n - 
g e n a u und unbestimmt verfahrt. Um wissenschaftlich 
„exakt" zu werden, miifite er auch die Physiologie der Ermudung 
und Erniihrung heranziehen, denn so allein kann er die vorwissen- 
schaftlichen Begriffe durch streng wissenschaftliche ersetzen. 

Im Prinzip ist diese Forderung von der vorher erorterten, daB 
psychologische Ergebnisse notwendig sind, um die Ge- 
schichte wissenschaftlich er zu machen, gewiB nicht verschieden. 
Und doch wird sie wahrscheinlich erheblich weniger plausibel 
klingen. Woran liegt das? Vielleicht daran, dafl die Physiologie 
als Wissenschaft so sehr viel weiter vorgeschritten ist als die Psycho- 
logie, und daB daher hier sogleich deutlich wird, wie w e n i g der 
Historiker durch die Begriffe der generalisierenden Wissenschaften 
in dem, worauf es ihm als Historiker ankommt, gefdrdert 
werden wiirde? ii 

Diese Begriffe sind fur ihn ja immer nur Mittel und niemals 

5* 



— 68 — 

Zweck der Darstellung. Daher liegt es nahe, zu meinen, daB der 
Zweck auch erreicht werden konne ohne „exakte" Mittel. In 
den soeben betrachteten Beispielen ist das zweifellos der Fall. 
Liefie sich dies verallgemeinern, dann konnte man glauben, die 
Hoffnungen, die man auf die Psychologie fur die Geschichte setzt, 
beruhten im wesentlichen darauf, daB diese Wissenschaft die 
meist von der Geschichte dargestellten Arten seelischer Vorgange 
bisher noch sehr wenig erforscht hat, und da!3 gerade das psycho- 
logische Dunkel, das uber ihnen liegt, der Phantasie Spielraum 
zur Ausmalung von allerlei Moglichkeiten gibt. Dann miiflten wir 
sagen: ware die generalisierende Psychologie des realen Seelen- 
lebens in der Erforschung der seelischen Gesetze, die fur das 
geschichtlich wesentliche Wirkliche gelten, schon so weit fort- 
geschritten wie die Physiologie in der Erkenntnis der Ermiidung 
und des Hungers, so wtirden ihre Ergebnisse fur die Geschichte 
vielleicht ebenso bedeutungslos erscheinen wie die der 
Physiologie. 

Wir kamen also dann zu dem folgenden Ergebnis: in den meisten 
Fallen genugt dem Historiker das allgemeinbegriffliche Wissen, 
das er schon im v o r wissenschaftlichen Stadium besitzt, voll- 
standig fiir die Erreichung seiner Zwecke, d. h. fur die Darstellung 
der Individuality und Besonderheit seines Objekts. Die natur- 
wissenschaftliche Exaktheit seiner Begriffs e 1 e m e n t e , die in 
einer generalisierenden Wissenschaft von ausschlaggebender Wich- 
tigkeit ist, bleibt fiir ihn, der andere Ziele verfolgt, bedeutungslos. 
Ja, er wird vielleicht finden, daC sein vorwissenschaftliches all- 
gemeines Wissen ihn sicherer leitet als irgendwelche psycho- 
logischen Theorien, weil es seine Darstellung alien, die dieses 
Wissen mit ihm teilen, leichter verstandlich macht, als die Ver- 
wendung wissenschaftlicher Begriffe das konnte. 

Aber, wie gesagt, die Moglichkeit, daB wissenschaftliche 
psychologische Theorien die Geschichte wissenschaftlich fordern, 
besteht, so gering auch bei den Historikern das Bedurfnis nach 
solcher Forderung ist. Sie besteht ebenso wie die Moglichkeit, daB 
Begriffe der Physiologie, der Chemie oder irgendeiner andern 
Naturwissenschaft zu einer exakteren Darstellung der geschicht- 
lichen Vorgange benutzt werden, ja es ware sogar vielleicht mog- 



— 69 — 

lich, bestimmte Gebiete aufzuzeigen, bei deren Darstellung die 
Geschichte ohne allgemeinbegriffliche wissenschaftliche Kenntnisse 
nicht auskammt. Dort besonders wird man namlich sich an die 
generalisierende Wissenschaft wenden, "wo das behandelte Objekt 
von dem, was wir aus dem vorwissenschaftlichen Leben kennen, 
auch seinem allgemeinen Gattungscharakter nach in einer uns 
unverstandlichen Richtung stark abweicht und uns daher die all- 
gemeinen Auffassungsscheniata dafiir fehlen. 

Aus diesem Grunde kann man z. B. mit Recht darauf hinweisen, 
daC der Historiker bei der Darstellung Friedrich Wilhelms IV. 
auch psychopath ologischer Kenntnisse bedarf, weil er 
das Seelenleben von Geisteskranken im allgemeinen zu wenig 
kennt, um es iiberhaupt nachzuerleben und als nacherlebbar dar- 
stellen zu konnen. Dann werden generalisierende Theorien even- 
tuell zu wichtigen Hilfswissenschaften der Geschichte. 
Eine Grenze laBt sich hier p r i n z i p i e 1 1 nicht ziehen. Daher 
ist es wohl moglich, daB in der Geschichtswissenschaft der Zukunft 
naturwissenschaftliche, d. h. wissenschaftlich-generalisierend ge- 
bildete Begriffe bei der Darstellung der einmaligen und indi- 
viduellen Vorgange eine groBere und auch eine gliicklichere Rolle 
spielen als jetzt, wo sie — man braucht nur an Lamprechts Unter- 
scheidungen von individual-psychologischer und sozial-psychologi- 
scher Methode zu denken — mehr Verwirrung angerichtet haben, 
als forderlich gewesen sind. 

Aber fur die logische Gliederung der Wissenschaft en, die nicht 
mit Riicksicht auf die Mittel, sondern auf die Ziele vorgenommen 
werden muB, hat dies alles keine prinzipielle Bedeutung. Es be- 
trifft nur die mehr oder "weniger groBe ,,Exaktheit" der Ele- 
ment e , aus denen die Geschichte ihre individualisierenden Dar- 
stellungen aufbaut, und wie weit auch der Historiker generali- 
sierende Wissenschaften benutzen mag, sie konnen nie fur 
ihn in der Weise grundlegend sein, wie es die Mechanik 
fur die generalisierenden Wissenschaften von der Korperwelt ist. 
Sie sagen ihm nicht das geringste uber das P r i n z i p seiner indi- 
vidualisierenden Begriffsbildung, d. h. uber die Art, wie er die 
Elemente auszuwahlen und zu den eigentlich historischen 
Begriffen zusammenzufugen hat. Die Geschichte als W i s - ■ 



— 70 — 

senschaft geht ja doch nicht darauf aus, von der Individuality 
irgendwelcher beliebiger Dinge und Vorgange als dercn bloBer 
Andersartigkeit zu erzahlen. Auch sie wird von bestimm- 
ten Gesichtspunkten geleitet, mit Riicksicht auf welche 
sie ihre vorwissenschaftlichen oder wissenschaftlich exakten Be- 
griffselemente benutzt, und diese Gesichtspunkte vermag sie weder 
der Psychologie des realen Seelenlebens noch irgendeiner anderen 
generalisierenden Wissenschaft vom wirklichen Sein zu entnehmen. 
Das ist der fur das 1 o g i s c h e Verhaltnis von Psychologie und 
Geschichte entscheidende Umstand. Alles andere ist logisch 
von sekundarer Bedeutung. 

Dies macht zugleich klar, daB wir bei dem Begriff des individuali- 
sierenden Verfahrens, den wir bisher als charakteristisch fur die 
Geschichte gewonnen haben, nicht s t e h e n bleiben konnen. Um 
die Wissenschaften in der angegebenen Art nach ihren logischen 
Grundrichtungen in zwei Gruppen einzuteilen, mussen wir mit 
den formalen die materialen Unterschiede v e r b i n d e n. 
Die Entgegensetzung der rein logischen Begriffe von Natur und 
Geschichte laBt nur die Unhaltbarkeit der herkommlichen An- 
sicht, daB a 1 1 e wissenschaftlichen Begriffe allgemein sind, und 
daB daher die Geschichte, wo sie Seelenleben darstellt, nichts als 
angewandte Psychologie ist, deutlich hervortreten. 

Im ubrigen gibt der Begriff des Individualisierens uns lediglich 
ein Problem und noch nicht den positiven Begriff der wissen- 
schaftlichen historischen Methode, wie dies durch den Begriff 
des Generalisierens fur die Naturwissenschaften geschieht. Nennen 
wir namlich die Natur die Wirklichkeit mit Rucksicht auf das 
Allgemeine, so wird damit zugleich das Prinzip der 
Begriffsbildung fur die Naturwissenschaft klar. Nennen 
wir dagegen die Geschichte die Wirklichkeit mit Rucksicht auf 
das Besondere, so geniigt das fur eine Einsicht in die logische 
Struktur ihrer Begriffsbildung noch nicht. Es scheint hiernach 
die Aufgabe der Geschichtswissenschaft darin bestehen zu mussen, 
daB sie oline ein Prinzip der Auswahl die von ihr zu behandelnde 
individuelle Wirklichkeit „so, wie sie ist", darstellt, und das kame 
darauf hinaus, daB sie ein A b b i 1 d der Wirklichkeit im strengen 



„ 71 — 

Sinne des Wortes zu geben habe. Diese Aufgabe aber ist, wie wir 
wissen, in sich widerspruchsvoll. 

Auch die Geschichte muB, urn Begriffe zu bilden und Erkenntnis 
zu geben, in dem kontinuierlichen Flufi des wirklichen Geschehens 
Grenzen ziehen und seine uniibersehbare Heterogeneitat in ein 
iibersehbares Diskretum verwandeln. Wie dabei trotz- 
dem die Individualitat gewahrt bleibt, wissen wir noch 
nicht. Ist eine individualisierende B e g r i f f s bildung iiberhaupt 
m o g 1 i c h ? Darin steckt das logische Problem der 
historischen Method e. So tritt gerade durch den Gegen- 
satz des generalisierenden und des individualisierenden Verfah- 
rens das Grundproblem unserer Betrachtung uns erst in seiner 
ganzen Schwierigkeit entgegen. Mit dem Unterschied von 
„nomothetisch" und „idiographisch" allein kommen wir nicht 
aus. 



IX. 

GESCHICHTE UND KUNST 

Freilich wird man eine geschichtliche Darstellung eher mit 
einem A b b i I d e der Wirklichkeit vergleichen konnen als eine 
naturwissenschaftliche, und wir wollen auch bei diesem Umstande, 
der sich schon aus dem rein formalen Begriff der Geschichte 
ergibt, etwas verweilen, bevor wir zur Darlegung des Prinzips der 
historischen Begriffsbildung ubergehen. Im Zusammenhang hiermit 
mufl namlich das vielbehandelte Problem des Verhaltnisses der 
Geschichte zur Kunst soweit klar werden, wie dies fur unsern 
Gedankengang wtinschenswert ist, und wir konnen dabei zugleich 
ersehen, welche Rolle die Anschauung in der Geschichts- 
wissenschaft spielt. 

In der wissenschaftlich noch unbearbeiteten Wirklichkeit, also 
in dem heterogenen Kontinuum, ist die Andersartigkeit jedes 
Objektes, die wir auch seine Individualitat nennen, mit der An- 
schaulichkeit verkniipft, ja sie ist uns nur i n einer Anschauung 
unmittelbar gegeben. Daher wird man meinen, daC, wenn es sich 
um die Darstellung der Individualitat handelt, diese am besten 



— 72 — 

durch eine Reproduktion der individuellen Anschauung zustande 
gebracht werde. 

Der Historiker sucht daher die Vergangenheit in ihrer Indi- 
vidualist uns anschaulich wieder zu vergegenwartigen, 
und das kann er nur dadurch tun, daG er es uns ermdglicht, das 
einmalige Geschehen in seinem individuellen Verlauf gewisser- 
maBen nachzuerleben.l Zwar ist er bei seiner Darstellung, 
wie alle Wissenschaft, auf Worte angewiesen, die a 1 1 g e m e i n e 
Bedeutungen haben, und durch die daher niemals direkt ein 
anschauliches B i 1 d der Wirklichkeit entsteht. Aber er wird 
in der Tat den Horer oder Leser bisweilen auffordern, durch seine 
Einbildungskraft sich etwas anschaulich vorzustellen, das iiber 
den Inbegriff des Inhalts der allgemeinen Wortbedeutungen auch 
inhaltlich weit hinausgeht, und deshalb durch eine besondere 
Kombination von Wortbedeutungen sich bemuhen, die 
Phantasie in die von ihm gewiinschten Bahnen zu Ienken, indem 
er ihr einen mbglichst kleinen Spielraum fur Variationen der zu 
reproduzierenden Bilder lafit.lDaD dies moglich ist, beweist jede 
Dichtung, die ja auch auf Worte mit allgemeinen Bedeutungen 
angewiesen ist, und die trotzdem die Phantasie zu anschaulichen 
Bildern anregt. 

Dieser Umstand, daC mit Hilfe eines anschaulichen Phantasie- 
bildes die Individualist einer Wirklichkeit zur Darstellung ge- 
bracht werden kann, erklart es nun zunachst, warum man so 
haufig die Geschichte in eine besonders nahe Beziehung zur Kunst 
gesetzt oder sie geradezu mit ihr hat identifizieren wollen. Denn 
in der Tat ist diese eine Seite der Geschichte mit der kiinst- 
lerischen Tatigkeit insofern verwandt, als beide darauf aus- 
gehen, unsere Einbildungskraft zur Produktion einer Anschauung 
anzuregen. Zugleich aber ist hiermit die Verwandtschaft zwischen 
Geschichte und Kunst erschopft, und eslafitsich zeigen, daB sie 
fxirdasAVesen der Geschichtswissenschaft nicht vielzu bedeu- 
ten hat, denn erstens unterscheidet auch die Anschauung, wenn sie 
rein kiinstlerisch ist, sich prinzipiell von der, die der Historiker her- 
vorbringt, und zweitens konnen die anschaulichen Elemente 
in der Geschichte als Wissenschaft unter logischen Gesichts- 
punkten iiberhaupt nur von sekundarer Bedeutung sein. 



— 73 — 

Um dies einzusehen, muB man zunachst iiber das Verhaltnis 
der Kunst zur anschaulichen und individuellen Wirklichkeit sich 
klar werden. So wenig wie die Wissenschaft kann die Kunst ab- 
bilden oder verdoppeln, wenn unsere „Realisten" auch manchmal 
vorgeben, es zu wollen. Sie bringt vielmehr entweder eine ganz 
neue "Welt hervor, oder sie formt wenigstens, wo sie die Wirklich- 
keit darstellt, diese um. Die Umformung aber beruht auf Pri n - 
z i p i e n , die nicht logischer, sondern a sthetischer Art 
sind. Fur die Geschichte wiirde also, weil der asthetische Faktor 
fur sich allein in einer "Wissenschaft nie der entscheidende 
sein kann, als Ziel einer Darstellung, die ohne asthetische Ge- 
staltung auf Anschauung ausgeht, nichts als eine b 1 o e W i e - 
dergabe der Wirklichkeit iibrig bleiben, und diese Aufgabe ist 
wegen der unubersehbaren und niemals zu erschopfenden Mannig- 
faltigkeit jedes heterogenen Kontinuums, also jedes noch so be- 
grenzten Teiles der Wirklichkeit, wie wir bereits wissen, ein logisch 
widersinniges Ziel. Mit der Behauptung, die Geschichte sei Kunst, 
weil sie Anschauung gibt, ist daher noch gar nichts iiber die M e - 
t h o d e der Geschichte gesagt. 

Dazu aber kommt noch etwas anderes. Die Kunst will, soweit 
sie nichts als Kunst ist, die Anschauung nicht in ihrer geschicht- 
lichen Individuaiitat ergreifen. Es bleibt ihr vbllig 
gleichgiiltig, ob ihr Werk dieser oder jener individuellen Wirklich- 
keit „ahnlich" ist oder nicht. Sie will vielmehr die Anschauung 
mit Mitteln, welche die Aesthetik festzustellen hat, in die Sphare 
einer hier nicht naher zu bestimmenden „Allgemeinheit" erheben, 
die sich selbstverstandlich von der Allgemeinheit des Begriffes 
prinzipiell unterscheidet. 

Man kann das Grundproblem der Aesthetik vielleicht als Frage 
nach der Moglichkeit allgemeiner Anschauung formu- 
lieren, um damit sein Verhaltnis zum Grundproblem der Ge- 
schichtslogik hervortreten zu lassen, das in der Frage nach der 
Moglichkeit individueller Begriffe besteht. In gewisser 
Hinsicht ist jedenfalls die kiinstlerische Tatigkeit dem individuali- 
sierenden Verfahren des Historikers direkt entgegengesetzt, 
und schon deswegen sollte man die Geschichte nicht eine Kunst 
nennen. Man darf nur, um hier klar zu sehen, nicht an Kunstwerke 



— 74 — 

wie Portrats, Bilder geographisch bestimmter Landschaften oder 
historische Romane denken, denn diese sind nicht nur Kunst- 
werke, und gerade das, was sie an Wiedergabe einmaliger i n d i - 
v i d u e 1 1 e r Wirklichkeiten enthalten, ist asthetisch u n - 
wesentlich. 

Wir konnen noch ganz davon absehen, daB die Kunst jedes Ob- 
jekt, das sie darstellt, i s o I i e r t und damit aus dem Z u- 
sammenhange der iibrigen Wirkiichkeit heraushebt, wahrend 
die Geschichte gerade umgekehrt die Zusammenhange ihrer Gegen- 
stande mit der Umwelt zu erforschen hat und insofern ebenfalls 
in einen Gegensatz zur Kunst zu bringen ist. Es geniigt, wenn wir 
darauf hinweisen, daB das spezifisch kunstlerische Wesen 
eines Portrats nicht in seiner Aehnlichkeit oder Iheoretischen 
Wahrheit und ebenso derasthetische Wert eines Romans 
nicht in seiner UcbereinstimmungmitgeschichtlichenTatsachen 
besteht. Ich kann beide als Kunstwerke beurteilen, ohne von ihren 
Beziehungen zu der individuellen geschichtlichen Wirkiichkeit, die 
sie darstellen, irgend etwas zu wissen. Wenn man daher solche 
Kunstwerke zur Vergleichung mit der Geschichte heranzieht und 
in ihnen das rein kunstlerische nicht von den kiinstlerisch indiffe- 
renten Elementen trennt, so wirkt das nur verwirrend. Ein Portrat 
gleicht allerdings einer geschichtlichen Darstellung, aber lediglich 
durch die Bestandteile, die nicht kiinstlerisch, sondern ge- 
schichtlich bedeutsam sind, und darin haben wir eine Ein- 
sicht, die doch allzu selbstverstandlich ist, um fur die Klarlegung 
des Verhaltnisses von Kunst und Geschichte fordernd zu sein. 

Hiermit soil nicht geleugnet werden, daB in der unmittelbaren 
einheitlichen Verkntipfung historischer und kunstlerischer 
Bestandteile, wie das Portrat sie bisweilen zeigt, ein Problem steckt, 
dessen Losung auch fiir die Klarlegung des Wesens der Geschichte 
nach einer Seite hin Bedeutung gewinnen kann. Sehr viele ge- 
schichtliche Darstellungen, und unter ihnen die am meisten be- 
wunderten, sind in der Tat Kunstwerke in dem Sinne wie kiinst- 
lerisch hochstehende und zugleich ahnliche Portrats. Aber wenn 
man iiber das Wesen des Verhaltnisses von Geschichte und Kunst 
Klarheit sucht, so muB man zunachst Kunstwerke zum Vergleich 
heranziehen, die k eine historisehen Bestandteile aufweisen, und 



— 75 — 

dann erst darf man fragen, wie es moglich ist, daB in einem Por- 
trat kiinstlerische Gestaltung und historische Treue, also asthetische 
nnd theoretische Werte, eine E i n h e i t bilden. 

Die Losung dieses Problems gehort nicht in unseren Zusammen- 
hang. Wir konnen uns mit folgendem Ergebnis begniigen, um den 
Gedanken, daB die Geschichte in 1 o g i s c h wesentlichen Punk- 
ten der Kunst verwandt sei, zuriickzuweisen. 

Denkt man daran, daB jede Wirklichkeit eine individuelle An- 
schauung gibt, so la'Bt sich das Verhaltnis, in dem die Wissen- 
schaften und die Kunst zu ihr stehen, auf die folgende Formel 
bringen. Die generalisierenden Wissenschaften vernichten in ihren 
Begriffen sowohl die Individualitat als auch die unmittel- 
bare Anschauung ihrer Objekte. Die Geschichte hebt, soweit 
sie Wissenschaft ist, ebenfalls die unmittelbare Anschauung auf 
und setzt sie in B e g r i f f e um, sucht dagegen die Individualitat 
zu bewahren. Die Kunst endlich, soweit sie nichts sein "will 
als Kunst, geht auf eine anschauliche Darstellung aus, welche die 
Individualitat der Wirklichkeit als solche ausloscht oder zu etwas 
Unwesentlichem herabsetzt. Geschichte und Kunst stehen also 
allerdings beide der Wirklichkeit naher als die Naturwissen- 
schaft, insofern als jede von ihnen nur eine Seite der individuel- 
len Anschauung vernichtet. Darin besteht das relative Recht 
der Bezeichnung der Geschichte als „Wirklichkeitswissenschaft" 
und der Behauptung, daB die Kunst mehr Realitat gebe als die 
Naturwissenschaft. Zueinander aber stehen Kunst und Ge- 
schichte in einem Gegensatz, da in der einen die Anschauung, 
in der andern der B e g r i f f das Wesentliche ist, und die Ver- 
bindung, die sie in'manchen historischen Darstellungen eingehen, 
gleicht nur einem Portrat, das dann aber nicht allein auf seine 
kunstlerischen Qualitaten, sondern auch auf seine Aeh nlic li- 
ke i t hin betrachtet werden muB. 

DaB derartige Verbindungen von Kunst und Wissenschaft sich 
in vielen geschichtlichen Werken fmden, steht, wie gesagt, aufier 
Frage.lDie Geschichte braucht unter Umstanden zur Darstellung 
der Individualitat die Anregung der Phantasie als Mittel zur Vor- 
stellung anschaulicher Bilder.lAber ebenso sicher ist, daB man auf 
Grund dieser Tatsache kein Recht hat, die Geschichtswissenschaft 



— 76 — 

eineKunst zu nennen. Der Historiker mag noch so viele individuelle 
Anschauungen mit kiinstlerischen Mitteln geben, so ist er doch 
schon dadurch, daB es stets individuelle Anschauungen sein 
mussen, vom Kiinstler prinzipiell geschieden. Seine Darstellung 
hat unter alien Umstanden tatsachlich wahr zu sein, und diesehisto- 
rische Wahrheit kommt gerade fiir dasKunstwerk nicht inBetracht. 

Viel eher kbnnte man sagen, daB der Kiinstler dort, wo er Wirk- 
lichkeiten darstellt, bis zu einem gewissen Grade an die Wahrheit 
der generalisierenden Wissenschaften gebunden ist.t Wir 
vertragen namlich dieUnvereinbarkeit kunstlerischer Ge- 
staltungen mit den allgemeinen Begriffen, unter die sie als Gattungs- 
exemplare fallen, nur bis zu einem gewissen Grade, sobald das 
Kunstwerk uns zwingt, an tins bekannte Wirklichkeiten zu denken. [ 
Doch wurde die Verfolgung dieses Gedankens uns ganz von unserm 
Zusammenhange wegfiihren. Es kam nur darauf an, auf die Un- 
gebundenheit des kiinstlerischen Schaffens mit Rucksicht auf die 
historische Tatsachlichkeit hinzuweisen. 

Noch grbBer aber erscheint der Abstand der Geschichte von der 
Kunst, wenn wir daran denken, daB die Anschauung der empiri- 
schen Wirklichkeit in jeder Wissenschaft iiberhaupt und damit 
auch in der Geschichte etwas Sekundares oder nur ein Mittel zum 
Zweck ist. Deshalb wird man auch Bedenken tragen mussen, mit 
Windelband den Unterschied von Naturwissenschaft und Ge- 
schichte so zu bestimmen, daB man sagt, die eine suche Gesetze, 
die andere Gestalten. Der 1 o g i s c h wesentiiche Unterschied 
wird hiermit nicht getroffen. Nahme man dies wbrtlich, so wiirde 
zum mindesten ein zu e n g e r Begriff der Geschichte entstehen 
und auBerdem der Schwerpunkt der Geschichte als "Wissen- 
schaft verschoben werden. Sehr oft sucht die Geschichte keine 
Gestalten, und auch wenn sie es wie in Biographien tut, so lSBt 
sich hieraus nicht ihr logisches Wesen verstehen. Ja, kein 
schlimmeres Mifiverstandnis des Satzes, daB die Geschichte indi- 
vidualisierend verfahrt, ist denkbar, als wenn man ihn der Behaup- 
tung gleichsetzt, sie sei eine",,Summe von Biographien" und habe 
kunstlerisch abgerundete Portrats zu liefern. Der wissen- 
schaftliche Charakter der Geschichte ist allein in der Art, 
wie sie ihre oft unanschaulichen B e g r i f f e bildet, zu finden, und 



— 77 — 

nur von dem Gesichtspunkt aus, wie sie die Anschauung in Be- 
griffe umsetzt, kann sie logisch verstanden werden. 

Das formale Prinzip der Geschichte, das sie zur Wissenschaft 
macht, hat also mit den Prinzipien der kunstlerischen Gestaltung 
nichts zu tun und kann auch nie der bloBen Anschauung entnom- 
men werden. Aus diesem Grunde ist der Ausdruck „Wirklichkeits- 
wissenschaft" mit groBer Vorsicht zu gebrauchen. Die alte Alter- 
native, daB die Geschichte entweder Individualitaten dar- 
stelle und dann zur K u n s t werde, oder Wissenschaft sei 
und dann generalisierend verfahren miisse, ist ganz falsch. 
Ehe die Geschichte mit dem Teil ihrer Tatigkeit beginnen kann, 
der dem Verfahren des Kunstlers in der angegebenen Weise ver- 
wandt ist, oder ehe sie ihre Begriffe uberhaupt mit Anschauung 
u m k I e i d e t , um so die Vergangenheit nacherlebbar zu machen 
und uns die Wirklichkeit moglichst nahe zu bringen, muB sie 
erstens wissen, w e 1 c h e von den uniibersehbar vielen Objekten, 
aus denen die Wirklichkeit besteht, sie darzusteilen hat, und 
zweitens, welche Teile aus der uniibersehbaren Mannigfaltigkeit 
jedes einzelnen Objektes fiir sie wesentlich sind. Dazu aber 
bedarf auch sie, wie die Naturwissenschaft, ihres „a priori", ihres 
Vorurteils. Nur mit seiner Hilfe kann sie das heterogene Kontinu- 
um des wirklichen Geschehens begrifflich beherrschen. 

Mag also in den Teilen, in denen die Geschichte sich an die Phan- 
tasie wendet, sie anschauliche Bilder hervorbringen — der Rah- 
men, innerhalb dessen sich diese Tatigkeit bewegt, die Gesichts- 
punkte, welche den Zusammenhan gund dieGliederung 
des Stoffes bedingen, die Entscheidung dariiber, was historisch 
bedeutsamist und was nicht, kurz das, was erst den wissen- 
schaftlichen Charakter der Geschichte ausmacht, ist in dem 
anschaulichen Material selbst nicht enthalten und hat vollends mit 
Kunst nicht das geringste zu tun. Der Historiker kann seine rein wis- 
senschaftlichenAufgabenrestlosauchohnekiinstlerischeMittel Ibsen, 
so erfreulich es sein mag, wenn etwas vom Kiinstler in ihm steckt. 

Daher mussen wir fragen, wie ist die Geschichte, wenn sie das 
Einmalige, Besondere und Individuelle darzusteilen hat, als 
Wissenschaft moglich ? 



78 



X. 

DIE HISTORISCHEN 
KULTURWISSENSCHAFTEN 

Das Problem, um das es sich jetzt handelt, bezeichnen wir als 
das der historischen Begriffsbildung, da wir ja 
unter „Begriff" mit einer Erweiterung des Sprachgebrauches 
j e d e Zusammenfassung der wissenschaftlich wesentlichen 
Bestandteile einer Wirklichkeit verstehen. Diese Erweiterung ist 
berechtigt, sobald man eingesehen hat, daB begreifen und gene- 
ralisieren nicht zusa mm enzuf alien brauchen. Es gilt also, das 
leitende Prinzip der Begriffe zu finden, deren Inhalt ein Beson- 
deres und Individuelles ist. 

Von der Antwort auf diese Frage aber hangt nicht nur die Ein- 
sicht in den formalen Charakter der Geschichtswissenschaft, son- 
dern schKeBHch auch die Rechtfertigung der materialen Ein- 
teilung in Natur- und Kultur wissenschaften ab. ( Die Gliede- 
rung namlich ist gerechtfertigt, wenn, wie ich glaube, sich zeigen 
laBt, daB eben dcrselbe Begriff der Kultur, als der einer sinn- 
und wertbehafteten Wirklichkeit, mit Hilfe dessen wir die beiden 
Gruppen von Objekten der Einzel wissenschaften gegenein- 
ander abgrenzen konnten, zugleich auch das Prinzip der histo- 
rischen oder der individualisierenden Begriffsbildung be- 
stimmt.iWir kommen also jetzt endlich dazu, den Z u s a m m e n- 
hang zwischen dem formalen und dem materialen Ein- 
teilungsprinzip aufzuzeigen und damit das Wesen der historischen 
Kulturwissenschaft zu verstehen. 

Dieser Zusammenhang ist im Grunde einfach und mufJ sofort 
deutlich werden, wenn wir nun fragen, welche Objekte es denn 
sind, die wir nicht allein naturwissenschaftlich begreifen, sondern 
auch historisch individualisierend kennenlernen und nacherleben 
w o 1 1 e n. 

Wir werden finden, daB wir an den Wirklichkeiten, mit denen 
keine Werte verkniipft sind, oder die keinen Sinn tragen, den wir 
verstehen, und die wir daher als bloBe „Natur" in dem zuerst an- 
gegebenen Sinne betrachten, in den meisten Fallen auch nur ein 



— 79 — 

im logischen Sinne naturwissenschaftliches Interesse haben, 
daB also bei ihnen fiir uns die einzelne Gestaltung n i c h t in ihrer 
Individualitat, sondern gewohnlich lediglich als E x e m- 
p 1 a r fiir einen mehr oder minder allgemeinen Begriff in Frage 
kommt. Mit den Kulturvorgangen dagegen, die sinn- und wert- 
behaftet sind, und den Ereignissen, die wir zur Kultur als Vor- 
stufen oder dgl. in Beziehung setzen, verhalt es sich anders, d. h. 
unser Interesse ist hier audi auf das Besondere und Individuelle 
und dessen einmaligen Verlauf gerichtet. Also wollen wir 
sie auch historisch individualisierend kennenlernen. 

Damit ist der allgemeinste Zusammenhang zwischen dem mate- 
rialen und dem formalen Einteilungsprinzip der speziaftvissen- 
schaftlichen Methoden gegeben, und auch den Grund dieses Zu- 
sammenhanges begreifen wir leicht. Die Kulturbedeutung 
eines Objektes, also der verstandliche Wert und Sinn, den es tragt, 
beru^t namlich, soweit es als G a n z e s in Betracht kommt, nicht 
auf dem, was ihm mit andern Wirklichkeiten gemeinsam ist, 
sondern gerade auf dem, was es von den andern unterscheidet, 
und. daher mufi die Wirklichkeit, die wir mit Riicksicht auf ihr 
Verhaltnis zu den Kulturwerten als deren realen Trager betrachten, 
auch auf das Besondere und Individuelle hin angesehen werden. 
I Ja, die Kulturbedeutung eines Vorganges wachst haufig in 
demselben Maf3e, je ausschlieBlicher mit seiner individuel- 
le n Gestaltung der betreffende Kulturwert oder das verstehbare 
Sinngebilde verkmipft ist.VNur die individualisierende historische 
Behandlung wird also dem Kulttfrvorgang gerecht, sobald er als 
Sinntrager oder in seiner Bedeutung fiir die Kulturwerte in Frage 
steht. Als Natur angesehen, d. h. unter allgemeine Begriffe 
oder G e s e t z e gebracht, wiirde er ein gleichgultiges Gattungs- 
exemplar werden, fur das ebensogut ein a n d e r e s der- 
selben Gattung eintreten konnte, und seine naturwissen- 
schaftliche oder generalisierende Behandlung kann uns daher fiir 
sich allein nicht b e f r i e d i g e n. Sie ist zwar auch moglich, ja 
eventuell notwendig, da j e d e Wirklichkeit generalisierend auf- 
zufassen ist, aber ihr Erfolg wiirde in diesem Falle der sein, daB 
sie das, „was nur gesondert ein Leben hat", um wieder mit Goethe 
zu reden, „in eine totende Allgemeinheit zusammen- 



— 80 — 

reiGt". Deshalb reicht eine naturwissenschaftliche Darstellung des 
Kulturlebens, so berechtigt sie sein mag, als die einzige nicht aus. 

Dieser Zusammenhang zwischen sinnvoller, wertbehafteter Kul- 
tur einerseits und individualisierender Geschichte andererseits fiihrt 
aber sogleich noch einen Schritt weiter. Er zeigt nicht nur, warum 
bei der Erforschung von Kulturvorgangen die naturwissenschaft- 
liche oder generalisierende Betrachtung fur sich allein nicht ge- 
niigt, sondern auch, wie der Begriff der Kultur die Geschichte als 
Wissenschaft mbglich macht, d. h. wie durch ihn eine 
individualisierende Begriffsbildung zustandekommt, welche aus 
der bloDen Andersartigkeit, die sich wissenschaftlich 
nicht darstellen laBt, eine darstellbare Individ ualitat 
heraushebt. 

Wohl hangt namlich die Bedeutung eines Kulturvorganges durch- 
aus von seiner individuellen Eigenart ab, und wir konnen daher 
in der historischen Kulturwissenschaft nicht seine allgemeine 
„Natur" feststellen wollen, sondern miissen individualisierend ver- 
fahren. Aber andererseits ist es doch auch wieder nicht die a 1 1 e r 
Wirklichkeit anhaftende und wegen ihrer Umibersehbarkeit nie- 
mals erkennbare und darstellbare individuelle Mannigfaltigkeit, 
auf der die Kulturbedeutung eines Objekts als eines realen Tragers 
von verstehbaren Sinngebilden beruht, sondern auch vom kultur- 
wissenschaftlichen Standpunkt aus kommt stets nur ein T e i 1 des 
individuellen realen Gegenstandes in Frage, ja nur in diesem Teile 
besteht das, wodurch er fiir die Kultur ein „Individuura" im 
Sinne des Einzigen, Eigenartigen und durch keine andere 
Wirklichkeit Ersetzbaren wird. Das, was er mit den iibrigen 
Exemplaren seiner Gattung im naturwissenschaftlichen Sinne, 
z. B. wenn es eine geschichtliche Persbnlichkeit ist, mit dem „homo 
sapiens", gemeinsam hat, und auBerdem die uniibersehbare 
Fiille seiner fiir die Kultur und ihren Sinn gleichgiiltigen 
individuellen Besonderheiten, das alles stellt der Historiker nicht dar. 

Daraus ergibt sich, wie auch fiir die historischen Wissenschaften 
von Kulturvorgangen die Wirklichkeit in wesentliche und unwe- 
sentliche Bestandteile, nSmlich in historisch bedeut- 
same, sinntragende Individualitaten und b 1 o- 
Bes Anderssein zerfallt, und das leitende Prinzip, das wir 



— 81 — 

fur die historische Begriffsbildung, d. h. fiir die Umformung des 
heterogenen Kontinuums der Wirklichkeit unter Beibehaltung ihrer 
Individualitat und Besonderheit suchten, haben wir somit wenig- 
stens in seiner allgemeinsten, wenn auch noch unbestimmten Ge- 
stalt gewonnen. Wir kbnnen jetzt zweiArten des Indi- 
vid u e 1 1 e n als bloBe Andersartigkeit und als Individualitat im 
engeren Sinne voneinander scheiden. Die eine Individualitat fallt 
mit der Eigenart des Wirklichen selbst zusammen und 
geht in k e i n e Wissenschaft ein. Die andere ist eine bestimmte 
Auffassung des Wirklichen und kann in Begriffe 
aufgenommen werden. Aus der unubersehbaren Fiille der indivi- 
duellen, d. h. andersartigen Objekte berucksichtigt der Historiker 
zunachst nur die, welch e in ihrer individuellen Eigenart entweder 
selbst als Trager von Sinngebilden Kulturwerte real verkorpern 
oder mit ihnen in Beziehung stehen, und aus der unubersehbaren 
Fiille, die jedes einzelne Objekt in seiner Andersartigkeit ihm dar- 
bietet, wahlt er sodann wiederum das aus, woran die Bedeutung 
des Sinntragers fiir die Kulturentwicklung hangt, und worin die 
geschichtliche Individualitat zum Unterschiede von der 
bloflen Andersartigkeit besteht. 

Fiir die historische Begriffsbildung liefert der Begriff der Kultur 
also das Prinzip zur A u s w a h 1 des Wesentlichen 
aus der Wirklichkeit ebenso, wie der Begriff der Natur als der 
Wirklichkeit mit Rucksicht auf das Allgemeine dies fiir die Natur- 
wissenschaften tut. Durch die Werte, die an der Kultur haften, 
und durch die Beziehung auf sie wird der Begriff einer darstell- 
baren historischen Individualitat als eines realen Tragers von Sinn- 
gebilden erst konstituiert. 

Die angegebene Art der Begriffsbildung ist ebenso wie die Schei- 
dung der beiden Arten des Individuellen bisher in der Logik nicht 
beachtet worden. Man kann sie leicht ubersehen, denn es treten, 
wie ich ausdriicklich hervorheben mochte, die historischen Begriffe, 
welche die historischen Individualitaten darstellen und sie aus der 
iiberall individuellen Wirklichkeit herauslosen, nicht so deutlich 
und klar zutage, wie das bei den naturwissenschaftlichen Begriffen 
der Fall ist. 

Den Grund dafur kennen wir bereits. Nur selten werden sie wie 

Kickert, Kulturwissenechaft. Q.{7. Anfl. 6 



— 82 — 

die allgemeinen Begriffe in abstrakten Formeln oder 
Definitionen dargestellt. Der Inhalt, aus dem sie bestehen, ist viel- 
mehr meist von der Geschichtswissenschaft mit einer Fiille von an- 
schaulichem Material sozusagen b e k I e i d e t. In einein anschau- 
lichen Bilde bisweilen geradezu versteckt lernen wir sie 
kennen, fiir dessen Entwerfung sie nur das Schema und den Leil- 
faden geben, und wir sind dann geneigt, das Bild fiir die Haupt- 
sache zu halten und in ihm ein Abbild der individuellen Wirklich- 
keit zu sehen. So konnte man sich dariiber tauschen, welches 1 o - 
gische Prinzip den zum Teil anschaulichen Darstellungen 
der Geschichte zugrunde liegt und iiber das, was historisch w e - 
s e n 1 1 i c h ist, entscheidet. Ja man konnte wohl gar denken, daB 
hier iiberhaupt kein Prinzip der Auswahl vorhanden sei, sondern 
die Geschichte einfach sage, was wirklich gewesen ist. Weil man 
dann mit Recht annahm, daB die bloBe „Beschreibung" des Ein- 
zelnen noch keine Wissenschaft gibt, kam man auf den Gedanken, 
die Geschichte miisse zum Range einer Wissenschaft erst er- 
hoben werden, und weil man nur das e i n e Prinzip der Be- 
griffsbildung kannte, empfahl man ihr die generalisiercnde Methode 
der Natunvissenschaft. Auf diesem Wege war es dann unmoglich, 
das Wesen der Geschichtswissenschaft zu verstehen. 

Zugleich erklart sich aus dem Uebersehen des indi- 
vidualisierenden Auswahlprinzips die auffal- 
lende Tatsache, daB vielfach den widersinnigen Versuchen, aus der 
Geschichte eine Naturwissenschaft zu machen, auch von logischer 
Seite, die nur das eine Prinzip der generalisierenden 
Auswahl herausgearbeitet hatte, zugestimmt worden ist. 

Freilich werden sogar viele Historiker nicht zugeben wollen, daB 
das hier entwickelte logische Prinzip das theoretische Wesen ihrer 
Tatigkeit in richtiger Weise zum Ausdruck bringt, d. h. erst die 
Scheidung der historischen Individualitat von der 
unwesentlichen Andersartigkeit ermSglicht, son- 
dern sie werden meinen, daB sie auBer einer Wiedergabe der Wirk- 
lichkeit nichts zu leisten hatten. Hat doch einer ihrer grofiten 
Meister ihnen ausdrucklich die Aufgabe zugewiesen, darzustellen, 
,,wie es eigentlich gewesen". 

Aber das beweist gegen die Richtigkeit meiner Ausfuhrungen 



— 83 — 

nichts. GewiB war gegenuber einer Darstellung, die entweder mit 
subjektiver Willkiir die Tatsachen falschie oder mit Lob und 
T a d e 1 ihre Erziihlung durchbrach, das Verlangen Rankes nach 
„Objektivitat" berechtigt, und besonders im Gegensatz zur will- 
kiirlichen Geschichtskonstruktion muBte auf den notwendigen 
Respekt vor den Tatsachen hingewiesen werden. Darum jedoch 
zu meinen, daC die historische Objektivitiit in einer bloGen Wieder- 
gabe der Tatsachen ohne ein leitendes Prinzip der Auswahl 
besteht, geht nicht an, selbst wenn Ranke es geglaubt haben sollte. 
In dem ,,wie es eigentlich gewesen" steckt ebenso wie in dem 
„i d i o graphischen" Verfahren ein Problem und keine 
Problem losung. 

Wir werden dabei an eine bekannte Formel fur die naturwissen- 
schaftliche Methode erinnert, die ein Gegenstiick zu Rankes Formel 
bildet. Wenn Kirchhoff es als Aufgabe der Mechanik bezeichnet, 
,,die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollstandig 
und auf die einfachste Weise zu beschreiben", so steht dieser 
Satz zwar gewiC hoher als das gedankenlose Gerede von der „rei- 
nen" Deskription, aber es ist damit ebenfalls methodolo- 
g i s c h noch nicht viel gesagt, denn das ist gerade die Frage, 
wodurch eine ,,Beschreibung" „voIlstandig" wird, und worin die 
„einfachste Weise" besteht. 

Solche Wendungen dienen dahcr nur zur Veideckung der melho- 
dologischen Probleme, nicht zu ihrer Losung, und so selir die Logik 
als Wissenschaftslehre sich an den Werken der groCen Forscher 
orientieren muC, so wenig braucht sie sich daher an deren W o r t e 
iiber das Wesen ihrer eigenen Tatigkeit zu halten. Mit Recht sagt 
Alfred Dove x ) von Ranke, daC er der einseitigen Teilnahme nicht 
durch Neutralitat, sondern durch Universalitat des Mitge- 
fiihls entgangen sei. Also selbst der Meister der „objektiven" 
Geschichte bleibt nach diesem Ausspruche seines besten Kenners 
auch als Forscher doch immer der mitfuhlende Mensch, und er ist 
dadurch vom Naturforscher, in dessen wissenschaftlicher Arbeit 
das „Mitgefuhl" keine Rolle spielen kann, prinzipiell verschieden. 
Fur den Historiker, dem es gelange, sein Selbst auszuloschen, wie 

] ) Ranke und Sybel in ihrem Verhaltnis zu K6nig Max, 1895. Ausge- 
wahlte Schriftchen, vornehmlich historischen Inhalts. 1898, S. 191 ff. 

6* 



— 84 — 

Ranke es sich gewiinscht hat, fur den gabe es keine wissenschaftliche 
Geschichte mehr, sondern nur ein sinnloses Gewimmel von lauter 
bloB andersartigen Gestaltungen, die alle gleich bedeu- 
tungsvoll oder bedeutungslos waren, und von denen keine ein 
historisches Interesse darbote. 

Seine ,, Geschichte", d, h. seinen einmaligen Werdegang hat, 
wenn wir alles Seiende als bedeutungsfrei und ohne Beziehung zu 
Werten ansehen, ein j e d e s Ding in der Welt, ebenso wie jedes 
seine ,, Natur" hat, d. h. unter allgemeine Begriffe oder Gesetze ge- 
bracht werden kann, und schon der Umstand, daB wir Geschichte 
meist nur von Menschen schreiben wollen und konnen, zeigt 
daher, daB "wir dabei von Werten geleitet sind, die sinnvolles 
von sinnfreiem Geschehen trennen, und daB es ohne leitende Werte 
keine Geschichtswissenschaft geben kdnnte. DaB hieruber iiber- 
haupt noch eine Tauschung herrscht, liegt nur daran: die Scheidung 
in Wesentliches und Unwesehtliches mit Rucksicht auf die Kultur- 
werte ist zum groBten Teil von den Autoren, die das historische 
Material iiberliefern, bereits vollzogen, oder sie vollzieht sich fur 
den Mann der empirischen Forschung als so „selbstverstandlich", 
daB er nicht bemerkt, was hier vorgeht. Daher verwechselt man 
eine Auffassung der Wirklichkeit, die das sinnvolle Wirk- 
liche heraushebt, mit der Wirklichkeit selbst. Das We- 
sen dieser Auffassung und damit das Selbstverstandliche zum aus- 
drucklichen BewuBtsein zu bringen, bleibt die Aufgabe der Logik, 
denn auf diesem Selbstverstandlichen beruht der Charakter der indi- 
vidualisierenden Kulturwissenschaft im Gegensatz zur generali- 
sierenden Auffassung der wertindifferenten und sinnfreien Natur. 

Wir sehen jetzt ein, warum es fniher wichtig war, hervorzuheben, 
daB durch den Wert gesichtspunkt die Kulturvorgange sich von 
der Natur mit Rucksicht auf ihre wissenschaftliche Behandlung 
unterscheiden. Nur daraus wird der vom Inhalt der allgemeinen 
Naturbegriffe abweichende Inhalt der individuellen „Kulturbe- 
griffe", wie wir jetzt vielleicht sagen durfen, begreiflich, nicht aber 
aus einer besonderen Art der Wirklichkeit, und um die Eigenart 
dieses Unterschiedes noch deutlicher hervortreten zu lassen, imissen 
wir daher im Gegensatz zur Naturwissenschaft, als einer auf den 
gesetzmaBigen oder allgemein begrifflichen Zusammenhang ge- 



— 85 — 

richteten Untersuchung, die sich um Kulturwerte und die Be- 
ziehung ihrer Objekte zu ihnen nicht kiimmert, das historisch- 
individualisierende Verfahren ausdrucklich als ein wertbe- 
ziehendes bezeichnen. 

Was dieses Wort bedeutet, ist leicht klarzumachen. Jeder Histo- 
riker muB es als Vorwurf gegen seine Wissenschaftlichkeit empfin- 
den, wenn man ihm sagt, daB er das Wesentliche nicht vom Un- 
wesentlichen unterscheiden kbnne. Er wird daher auch ohne wei- 
teres zugeben, dafi er nur das darzustellen hat, was „wichtig", 
„bedeutsam", „interessant" ist, oder wie man sonst sagen mag, und 
■er muB geringschatzig auf den blicken, der froh ist, wenn er Regen- 
wurmer findet. Das alles ist in d i e s e r Form so selbstver- 
standlich, daB man es nicht ausdrucklich zu sagen braucht. Trotz- 
dem steckt gerade darin ein Problem, und dies Problem kann 
dadurch allein gelbst werden, daB man die Beziehung der geschicht- 
lichen Objekte auf die W e r t e zum BewuBtsein bringt, die an den 
Gutern der Kultur haften. Wo diese Beziehung f e h 1 1 , da 
sind die Ereignisse eben ,,unwichtig", „bedeutungslos", „lang- 
weilig", ohne Sinn, den wir verstehen, und da gehoren sic nicht in 
die geschichtliche Darstellung hinein, wahrend es fur die Natur- 
wissenschaft Unwesentliches in d i e s e m Sinne nicht gibt. Es 
wird also durch das Prinzip der ,,Wertbeziehung" nur etwas aus- 
drucklich formuliert, das jeder implicite be- 
hauptet, wenn er sagt, daB der Historiker verstehen miisse, das 
„Wichtige" vom „Bedeutungslosen" zu s c h e i d e n. 

Trotzdem ist unser Begriff der Wertbeziehung noch nach 
einer anderen Seite hin klarzustellen und besonders als ein rein 
theoretisches Prinzip gegen solche Begriffe abzugrenzen, 
mit denen er verwechselt werden konnte. Sonst kann der Anschein 
entstehen, als wiirden hier der Geschichte Aufgaben gestellt, die sie 
als Wissenschaft von sich weisen diirfte und muBte. Es ist 
ja ein weit verbreitetes Dogma, daB jeder Wertgesichtspunkt 
wenigstens aus den Einzelwissschaften auszuschlieBen sei. I Man 
habe sich auf das zu beschranken, was w i r k 1 i c h ist. Ob die 
Dinge w e r t v o 1 1 sind oder nicht, gehe den Historiker nichts an.\ 
Was ist hierzu zu sagen? 

In gewissem Sinne ist dies vollkommen zutreffend. Der Historiker 



— 86 — 

hat in der Tat n i c h t zu entscheiden, ob die Dinge wertvoll 
sind oder nicht, sondern nur darzustellen, was wirklich g e - 
wesen ist, derm er ist ein theoretischer, nicht ein praktischer 
Mensch, und wir miissen daher noch zeigen, daC unser Begriff der 
Geschichte diesen Satzen, wenn sie richtig verstanden werden, in 
keiner Weise wider spricht. Zu diesem Zwecke wird es gut sein, das, 
was wir iiber We r t und Wirklichkeit und ihr Verhaltnis 
zueinander mit Riicksicht auf den Begriff der Kultur bistier aus- 
gefuhrt haben, zunachst noch einmal zusammenzufassen und vor 
MiBverstandnissen zu schiitzen. 

Werte sind keine Wirklichkeiten, weder physische noch psy- 
chische. Ihr Wesen besteht in ihrer Geltung, nicht in ihrer 
realen Tatsiichlichkeit. Doch sind Werte mit Wirklich- 
keiten verbunden, unci von diesen Verbindungen haben wir 
zwei schon friiher kennen gelernt. Der Wert kann erstens an einem 
Objekte so „haften", daO er es dadurch zum Gute macht, und 
er kann auBerdem mit dem A k t e eines Subjektes so ver- 
knupft sein, daB dieser dadurch zu einer Wertung wird. Die 
Giiter und die Wertungen lassen sich nun so ansehen, daB man nach 
der Geltung der mit ihnen verbundenen Werte fragt und dann 
festznstellen sucht, ob ein Gut den Namen des Gutes auch wirklich 
verdient, oder ob eine Wertung mit Recht vollzogen wird. 
Das tun wir, wenn wir praktisch zu den Gegenstanden 
Stellung nehmen wollen. 

Doch erwahne ich dies nur, um zu sagen, daC die historischen 
Kulturwissenschaften, wenn sie Guter und wertende Menschen unter- 
suchen, auf s o 1 c h e Fragen keine Antwort geben konnen. 
Hiermit wiirden sie zum Aussprechen von Wertungen kommen, und 
ein praktisches W e r t e n der Gegenstande kann nie ihre ge- 
schichtliche Auffassung sein. Ob und wie weit die Geltung der 
Werte ein theoretisches Problem ist, und welche Stellung die 
Philosophic zu den Werten einnimmt, brauchen wir an dieser 
Stelle nicht zu erortern. Ein geschichtliches Problem ist 
die Geltung der Werte nicht, und positives oder negatives Werten 
bildet nicht die Aufgabe des Historikers. Darin steckt das unbe- 
zweifelbare Recht der Meinung, welche Wertgesichtspunkte auch 
aus den geschichtlichen Wissenschaften entfernen will. 



— 87 — 

Das wertbeziehende Verfahren, von dem wir sprechen, 
ist also, wenn es das Wesen der Geschichte als einer theoretischen 
Wissenschaft zum Ausdruck bringen soil, auf das scharfste vom 
wertenden Verfahren zu trennen, und das heiflt: fur die Ge- 
schichte kommen die Werte nur insofern in Betracht, als sie f a k - 
t i s c h von Subjekten gewertet und daher faktisch gewisse 
Objekte als Guter bezeichnet werden. Auch wenn die Geschichte 
es also mit Werten zu tun hat, ist sie doch keine wertende 
Wissenschaft. Sie stellt vielmehr lediglich fest, was i s t. 

Es ist nicht richtig, daB, wie Riehl l ) einwendet, etwas „auf 
Werte beziehen" und es „bewerten" ein und der namliche unteil- 
bare Urteilsakt des Geistes sei. Im Gegenteil, es liegen in der prak- 
tischen Bewertung und der theoretischen Wertbeziehung zwei in 
ihrem logischen Wesen prinzipiell voneinander verse hiedene 
Akte vor, auf deren Verschiedenheit man bisher leider nicht genug 
geachtet hat. Die theoretische Wertbeziehung bleibt im 
Gebiet der Tatsachenfeststellung, die praktische 
Wertung dagegen nicht. Es ist eine Tatsache, daB Kulturmenschen 
bestimmte Werte als Werte anerkennen und danach streben, Guter 
hervorzubringen, an denen diese Werte haften, und die infolge- 
dessen sinnvoll werden. Nur mit Riicksicht auf diese Tatsache, 
die der Historiker meist stillschweigend voraussetzt und voraus- 
setzen muB, nicht etwa mit Riicksicht auf die Geltung der Werte, 
nach der er als Mann der empirischen AVissenschaft nicht zu fragen 
braucht, zerfalien fur die Geschichte die Wirklichkeiten in we- 
sentliche und unwesentliche Bestandteile. Selbst 
wenn keiner der von den Kulturmenschen gewerteten Werte unab- 
hangig von der Wertung g e 1 1 e n sollte, bleibt es doch auf jeden 
Fall richtig, daB fur die Verwirklichung der faktisch gewerteten 
Werte oder fur die Entstehung von Gutern, an denen diese Werte 
haften, nur eine bestimmte Auswahl von Objekten im All des 
Wirklichcn bedeutsam ist, und daB an jedem dieser Objekte 
wiederum nur ein bestimmter T e i 1 seines Inhalts dafiir in Be- 
tracht kommt, namlich der, welcher ihn zum Trager des durch den 
Wert konstituierten Sinngebildes macht. Also auch ohne Wertungen 

1) Logik und Erkenntnistheorie. Die Kultur der Gegenwart. I, 6, 
1907. S. 101. 



durch den Historiker entstehen auf Grund einer theoretischen Be- 
ziehung der Gegenstande auf Werte historische Individualitaten 
im Unterschied von den blofi andersartigen Objekten. 

Dabei wird selbstverstandlich nicht allein das historisch wichtig 
und bedeutsam, was die Realisierung von Kulturgtitern f ordert, 
sondern ebenso das, was sie hemmt. Auch das Wertfeindliche hat 
einen Sinn, den wir verstehen. Nur das blofi Andersartige, Wert- 
indifferente wird als unwesentlich ausgeschieden, und schon dieser 
Umstand sollte genugen, um zu zeigen, daB ein Objekt als be- 
deutsam fur die Werte und die Realisierung von Kulturgiitern 
bezeichnen, gar nicht heiGt, es werten, denn die Wertung muB 
imrner entweder positiv oder negativ sein. Ueber den 
positiven oder negativen Wert, den eine Wirklichkeit hat, kann 
Streit herrschen, auch wenn ihre auf der Wertbezieming be- 
ruhende Bedeutsamkeit aufier Frage steht. 

So vermag z. B. der Historiker als Historiker nicht zu 
entscheiden, ob die franzbsische Revolution Frankreich oder Europa 
gefbrdert oder geschadigt hat. Das ware eine Wer- 
tung. Dagegen wird kein Historiker im Zweifel daruber sein, 
daB die unter diesem Namen zusaminengefafiten Ereignisse fur die 
Kulturentwicklung Frankreichs und Europas bedeutsam und 
wichtig gewesen sind, und daB sie daher in ihrer Individualitat 
als wesentlich in die Darstellung der europaischen Geschichte 
aufgenommen werden miissen. Das ist keine praktische Wertung, 
sondern eine theoretische Beziehung auf Werte. Kurz, Werten muB 
immer Lob oder T a d e 1 sein, Auf Werte b e z i e h e n ist 
k ei n s von beiden. 

Also gerade dies ist unsere Meinung. Wenn die Geschichte Lob 
oder Tadel ausspricht, uberschreitet sie ihre Grenze als Wissen- 
schaft vom realen Sein, denn Lob oder Tadel laBt sich nur mit 
Hilfe eines MaBstabes von Werten begriinden, deren Geltung 
nachgewiesen ist, und das kann nicht Aufgabe der Geschichte sein. 
Darum wird freilich niemand dem Historiker verbieten 
wollen, auch wertend zu den Vorgangen Stellung zu nehmen, die er 
erforscht. Es gibt sogar vielleicht nicht ein einziges historisches 
Werk von Bedeutung, das g a n z frei von positiven oder negativen 
Wertungen ist. Nur das ist hervorzuheben, daB dies Werten nicht 



— 89 — 

zum B e g r i f f der historischen Begriffsbildung gehort, sondern 
daB durch die Beziehung auf den leitenden Kulturwert lediglich 
die historische Wichtigkeit oder Bedeutsamkeit der Vorgange zum 
Ausdruck gebracht wird, die gar nicht mit ihrem positiven oder 
negativen Wert zusammenfallt, fund daB also eine individualisie- 
rende Begriffsbildung zwar nicht ohne theoretische Wertbeziehung, 
wohl aber ohne praktische Wertung logisch moglich ist. 

Riehl hat daher vollig recht, wenn er sagt, ein und dieselbe ge- 
schichtliche Tatsache gewinne, je nach der Verschiedenheit des Zu- 
sammenhanges, in dem der Historiker sie betrachtet, sehr ver- 
schiedene Akzente, ihr objektiver Wert dagegen bleibe derselbe. 
Das spricht jedoch nicht etwa, wie Riehl meint, g e g e n die bier 
vorgetragene Ansicht, sondern dient nur zu ihrer Bestatigung. 
Der „objektive" Wert geht den Historiker, soweit er nur Historiker 
ist, nichts an, d. h. er hat nach seiner Geltung nicht zu fragen, und 
gerade deshalb kann mit der Verschiedenheit des Zusammenhangs, 
d. h. mit der Verschiedenheit der leitenden Wertgesichtspunkte, 
unter denen der Historiker das Objekt theoretisch betrachtet, 
auch der „Akzent", d. h. die Bedeutung des Objektes fur die ver- 
schiedenen, von verschiedenen Kulturwerten geleiteten Einzel- 
darstellungen verschieden sein. 

Ebenso dient ein Einwand von Ed. Meyer J ) nur dazu, meine An- 
sicht vora Wesen der historischen Begriffsbildung zu erlautern und 
zu befestigen. Ich habe, um zu zeigen, wie der Wertgesichts- 
punkt die Auswahl des Wesentlichen bedingt, darauf hingewiesen, 
dafi die Ablehnung der deutschen Kaiserkrone durch Friedrich 
Wilhelm IV. historisch wesentlich, der Schneider, der seine 
Rocke machte, dagegen, obwohl ebenso wirklich, historisch 
gleichgiil tig sei 2 ). Wenn Meyer dem entgegenstellt, daB 
freilich der betreffende Schneider fur die politische Ge- 
schichte wohl immer gleichgiiltig bleiben werde, wir uns aber sehr 
wohl vorstellen kbnnten, daB er in einer Geschichte der Moden oder 
des Schneidergewerbes oder der Preise historisch wesentlich werde, 
so ist das gewiB richtig, und insofern hatte ich statt des Schneiders 



1) Zur Theorie und Methodik der Geschichte. 1902. 

2) Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, S. 325. 3. u. 
4. Aufl. S. 224 f. 



— 90 — 

als Beispiel eine andere Wirklichkeit waJUen sollen, die fur k e i a e 
geschichtliche Darstellung wesentlich werden kann, oder die Un- 
wesentlichkeit des Schneiders fiir die politische Geschichte aus- 
driicklich hervorheben miissen. Abgesehen davon aber beweist doch 
gerade der Satz Meyers, daB mit dem Wechsel des leitenden Kul- 
turwertes auch der Inhalt der historischen Darstellung 
sich andert, und daB also die theoretische Beziehung auf den 
Kulturwert die historische Begriffsbildung bestimmt. Es zeigt sich 
zugleich von neuem, daB die BeurLetlung des objektiven 
Wertes ganz etwas anderes ist als die historische Beziehung 
auf den Wert, denn sonst konnten nicht dieselben Objekte fiir die 
eine Darstellung wesentlich, fiir die andere unwesentlich sein. 

Ist das Wesen der theoretischen Wertbeziehung und ihr Unter- 
schied von der „praktischen" Wertung einmal klar, so braucht nie- 
mand zu fiirchten, er komme, wenn er die Charybdis der alle Indi- 
vidnalilaten verschlingenden general] sierend en Methode vermeiden 
vrolle, in die Scylla der umvissenschafUichen Wertungen hinein und 
gehe dann als wissenschaftlicher Mensch ganz zugrunde. Diese 
Sorge hat wohl am meisten dazu beigetragen, daB die Historiker 
sich gegen die Anerkennung der Wertbeziehung als eines unent- 
behrlichen Faktors ihrer wissenschaftlichen Tatigkeit strauben, 
und dementsprechend glaubte andererseits Lamprecht triumphie- 
rend auf diese meine Schrift hinweisen zu diirfen. Er meinte, daB 
nach meiner „ehrlichen" Darlegung der historischen Methode auch 
der Uneingeweihteste den grellen Widerspruch zum virklichen wissen- 
schaftlichen Denken nicht mehr verkennen konne, und er wunschte 
darum meiner Schrift unter Historikern die allerwei teste Verbrei- 
tung, offenbar in der Meinung, sie wiirden, nachdem sie eingesehen 
haben, daB ihr Verfahren Wertbeziehungen voraussetzt, sich zu 
seinem „naturwissenschaftlichen" und angeblich wertfreien Ver- 
fahren bekehren 1 ). Es muB jetzt klar sein, warum die Scheu vor 
Wertgesichtspunkten in der Geschichte ebenso unberechtigt ist wie 

1) Literarisches Zentralblatt, 1899. Nr. 2. Bezeichnend fQr den 
Wandel der Ansichten uber Wertfragen in den Ietzten Jahrzehnten 
ist der Umstand, daB R. Wilbrandt gegen Max Weber den 
Vorwurf erhebt, er wolle auf Grund meiner Theorie der Kulturwissen- 
schaften die Wertungen aus der NalionaltJkonomie entfenien und n u r 
die theoretische Wertbeziehung anerkennen. 



— 91 — 

Lamprechts Triumph. Wertungen, die unwissenschaftlich waren, 
kann die individualisierende Geschichte so gut vermeiden wie die 
Naturforschung. Nur {lurch die theorctische Wertbeziehung steht 
sie zu ihr in Gegensatz, aber dadurch wird ihre Wissenschaftlich- 
keit nicht in Frage gestellt. 

Urn das Wesen und besonders die Bedeutung der Wertbeziehung fiir 
dieGeschichtswassenschaftklarzulegen, fugeichnochfolgendeshinzu. 

Zunachst eine terminologische Bemerkung. Da man 
sich daran gewohnt hat, j e d e Betrachtung unter Wertgesichts- 
punkten „teleologisch" zu nennen, so konnte man in der Geschichte 
statt von wertbeziehender auch von teleologischer Begriffsbildung 
sprechen, und ich selbst habe das fruher getan. Doch wird es besser 
sein, dies vieldeutige und daher miBverstandliche Wort entweder 
ganz zu vermeiden oder seine Bedeutung genau anzugeben und ab- 
zugrenzen J ). Es mufi namlich nicht nur die theoretische Wert- 
beziehung streng von der Wertung unterschieden werden, sondern 
es darf auch nicht der Anschein entstehen, als solle durch eine 
,,teleologische" Begriffsbildung in der Geschichte irgend etwas aus 
den bewuBten Zwecksetzungen der Personen, von denen sie handelt, 
erklart werden. Die Frage, ob dies moglich ist, geht uns in 
diesem Zusammenhange nichts an, denn sie bezieht sich auf den 
I n h a 1 1 der Geschichte. Hier ist nur der methodische Gesichts- 
punkt zum BewuBtsein zu bringen, mit Hilfe dessen die Geschichte 
das heterogene Kontinuum der Wirklichkeit so formt, daB sie indi- 
viduelle Gebilde unigrenzt. Worin der Inhalt dieser Gebilde be- 
steht, kann die Wissenschaftslehre nicht entscheiden. 

Vollends darf unter „Geschichtsteleologie" nichts verstanden 
werden, was mit der k a u s a 1 e n Auffassung der Wirklichkeit 
in Konflikt kommen konnte, und es ist daher irrefuhrend, die 
methodologischen Fragen, die hier erortert werden, unter die 
Alternative Kausalitat oder Teleologie zu bringen 3 ) 

1) Dies habe ich auch seit der zweiten Aufla^e der Grenzen der 
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung durchg-eftlhrt, und man sollte 
daher nicht mehr sagen, ich bezeichnc das historische Verfahren als 
„teleologisch". Zur Klarung der Sache kann das nicht beitragen, da 
ich das, was man fiir gewohnlich „ Geschichtsteleologie" nennt, ablehne. 

2) Vgl. M. Adier, Kausalitat und Teleologie im Streite um die 
Wissenschaft. 1904. Das Buch, das z. T. der Bekamplung meiner 
Ansichten dient, ist ubrigens besser als sein Titel. 



— 92 — 

Auch die individualisierende und wertbeziehende Geschichte hat die 
kausalen Zusammenhange zu untersuchen, die zwischen den von 
ihr behandelten einmaligen und individuellen Vorgangen bestehen, 
und die nicht mit den allgemeinen Natur gesetzen zusammen- 
fallen, so sehr man zur Darstellung der individuellen 
Kausalverhaltnisse 1 ) auch der allgemeinen Begriffe als 
Begriffs elemente historischer Begriffe hediirfen mag. Nur 
darauf komint es an, da(3 das methodische Prinzip der Auswahl 
des Wesentlichen in der Geschichte, auch bei der Frage 
nach den Ursachen, von Werten abhangig ist, insofern nur 
die in ihrer Eigenart fur die Realisierung der Guter bedeut- 
s a m e n Ursachen in Betracht kommen, und diese „Teleo- 
logie'' kann in keine Art von Gegensatz zur Kausalitat gestellt 
werden. 

Das Wesen der wertbezieh.cn den Begriffsbildung wird noch mehr 
zutage trelen, wenn wir daran erinnern, daB allein mit ihrer Hilfe 
die historischen Vorgange sich als die Stadien einer E n t w i c k - 
lungsreihe darstellen lassen. Der vieldeutige Begriff der ,, Ent- 
wicklung", der allgemein als die eigentlich historische Ka- 
tegorie anerkannt wird, ist namlich in der Geschichte durchaus 
von demselben Prinzip beherrscht, in dem wir den leitenden Ge- 
sichtspunkt der historischen Begriffsbildung uberhaupt gefunden 
haben. Wir kbnnen unter historischer Entwicklung erstens nicht 
das verstehen, was sich beliebig oft wiederholt, wie die 
Entwicklung des Huhnes im Ei, sondern es kommt dabei immer ein 
einmaliger Werdegang in seiner Besonderheit in Betracht, 
und zweitens konnen wir diesen Werdegang nicht als eine Reihe 
vollkommen wertindifferenter Veranderungsstadien auffassen, son- 
dern nur als eine Reihe von Stufen, die mit Riicksicht auf ein 
bedeutsames Ergebnis selbst bedeutsam werden, insofern der Ak- 
zent, den ein Ereignis durch Wertbeziehung erhalt, sich auf seine 
Vorbedingungen iibertragt. Es ist also lediglich ein urn- 
fassenderer Ausdruck, der zugleich auf das nie rastende Werden 



1) Vgl. Sergius Hess en, Individuelle Kausalitat. Studien zum 
transzendentalen Empirismus. 1909. Die Schrift knQpft an meinen 
Begriff der historischen Kausalitat an und bildet inn in interessan- 
ter Weise weiter. 



— 93 — 

der Wirklichkeit Riicksicht nimmt, "wenn wir sagen, daB nur durch 
die individualisierende und wertbeziehende Begriffsbildung eine 
Entwicklungsgeschichte der Kulturvorgange ent- 
steht. Genau ebenso wie der Kulturwert die Individuality im 
engeren Sinne, d. h. den Inbegriff des durch seine Eigenart Be- 
deutsamen, aus der bloBen Anders artigkeit eines wirklichen Ob- 
jektes heraushebt, so schlieBt er auch die geschichtlich wesent- 
licben Bestandteile eines zeitlich verlaufenden und kausal be- 
stimmten Werdeganges zu einer historisch wichtigen i n d i v i - 
duellen Entwicklung zusammen. 

Mit Hilfe dieses Begriffes der historischenEntwicklung lafit sich 
dann ferner beurteilen, was von der Behauptung zu halten ist, der 
Historiker treffe die Auswahl aus seinem Stoffe nach Graden 
historischer Wirksamkeit. An und fur sich . k a n n 
dieser Satz etwas Richtiges meinen, denn die historische Bedeutung 
vieler Ereignisse beruht in der Tat ausschlieBlich auf ihren. Wir- 
kungen, die sie auf Kulturguter ausuben, und so ist es oft nicht 
einzusehen, wie etwas historische Bedeutung erlangen soli, was sich 
nicht als wirkendes Glied in eine historisch bcdeutsame Entwick- 
lungsreihe einordnen laBt. Aber der Satz wird sofort falsch, wenn 
er sich gegen die Ansicht wendet, daB Wertgesichtspunkte fur die 
Auswahl des Stoffes mafigebend sind. Die historische Wirk- 
samkeit kann nicht mit der bloBen wertindifferenten Wirksamkeit 
uberhaupt zusammenf alien, d. h. die Wirksamkeit kann fur sich 
al 1 e i n niemals das Kriterium dafur abgeben, was geschichtlich 
wesentlich ist. I r g e n d welche Wirkungen ubt ja jeder belie- 
b i g e Vorgang aus. Wenn ich mit dem FuB aufstampfe, zittert 
der Sirius, hat man gesagt, und doch ist diese Wirkung, wie die 
meisten andern, historisch ganz unwesentlich. „Historisch wirk- 
sam" ist vielmehr nur das, was historisch bedeutsame Wir- 
kungen ausiibt, oder womit wir einen verstehbaren Sinn ver- 
binden, und das heiBt wieder nichts anderes, als daB ein Kultur- 
wert maBgebend ist fur die Auswahl des geschichtlich Wesent- 
lichen. Erst wenn auf Grund einer theoretischen Wertbeziehung 
bereits feststeht, was geschichtlich wesentlich ist, kann man 
riickwarts blickend nach den TJrsachen oder vorwartsblickend nach 
den Wirkungen fragen und dann das in die Darstellung aufnehmen, 



— 94 — 

was durch seine Eigenart das Zustandekommen des historisch 
wesentlichen Ereignisses bewirkt hat. 

Wenn man also, wie Ed. Meyer x ) und mit ihm Riehl 2 ) sagt, 
n i c h t nach Wertgesichtspunkten, sondern nach Graden histo- 
rischer Wirksamkeit werde die Auswahl des "Wesentlichen in der 
Geschichte getroffen, so ist das ein falscher Gegensatz, dessen Un- 
haltbarkeit nur durch die Zweideutigkeit des Ausdrucks 
„historisch wirksam" verdeckt wird. Der Satz, die Geschichte habe 
das historisch Wirksame darzustellen, ist, wenn er richtig 
sein soli, lediglich eine andere Formulierung dafiir, <IaG sie es mit 
den fur die Kulturwerte wesentlichen Wirkungen zu tun 
hat, und weil niemals das Prinzip der bloBen Wirksamkeit das 
Prinzip der Wertbeziehung ersetzen kann, so ziehen wir unsern 
Ausdruck vor, denn er allein bezeichnet das unzweideutig, 
worauf es ankommt. Wo der Wertgesichtspunkt fehlt, der dariiber 
entschcidet, w e 1 c h e Wirkungen geschichtlich wesentlich oder 
bedeutsam sind, ist mit dem Begriff der historischen Wirksamkeit 
als Auswahlprinzip noch gar nichts anzufangen. 

Der Begriff der historischen Entwicklung ist endlich, urn MiG- 
verstandnissen vorzubeugen, ausdriicklich von dem des Fort- 
schritteszu trennen, und dies hat wieder mit Hilfe des Unter- 
schiedes von Wertung und Wertbeziehung zu geschehen. 

Enthalt die bloBe Verandemngsreihe zu we nig, um mit der 
geschichtlichen Entwicklung gleichgesetzt zu werden, so 
enthalt die Fortschrittsreihe dafiir zu viel. ,, Fortschritt" meint, 
wenn das Wort uberhaupt eine pragnante Bedeutung haben soli, 
soviel wie Wertsteigerung, Erhohung des Wertes der 
Kulturguter, und jede Behauptung iiber Fortschritt oder Riick- 
schritt schliefit daher eine positive oder negative Wer- 
tung ein. Eine Reihe vonVeranderungen einen Fortschritt nennen, 
heifit oft sogar behaupten, daC jedes folgende Stadium in hoherem 
MaBe einen Wert realisiert als das vorangegangene, und eine solche 
Wertung kann nur der vollziehen, der zugleich etwas uber die 
Geltung des Wertes aussagt, an dem er tlen Fortschritt mi fit. 
Da aber die Geschichte nach der Geltung der Werte nicht zu fragen, 

1) Zur Theorie und Methodik der Geschichte. 1902. 

2) Logik und Erkenntmstfxeoriej a. a. O. S. 101. 



— 95 — 

hat, sondern lediglich darauf Rucksicht nimmt, dafi gewisse Werte 
faktisch gewertet werden, so kann sie auch niemals entscheiden, 
ob eine Veranderungsreihe ein Fortschritt oder ein Riickschritt ist. 

Der Begriff des Fortschritts gehort deswegen in die Geschichts- 
philosophie, die ausdrucklich den an dem realcn historischen 
Geschehen haftenden irrealen „Sinn'' mit Rucksicht auf die darin 
zum Ausdruck kommenden Werte deutet und dann die Ver- 
gangenheit als wertvoll oder wertfeindlich zu richten untcr- 
nimmt. Wie weit eine geschichtsphilosophischc Darstellung dieser 
Art als Wissenschaft moglich ist, kann hier dahingestellt bleiben. 
Die empirische GeschichtsdarsLellung halt sich von ihr fern. 
Jedes Richten ware „ungeschichtlich" in der spezialwissenschaft- 
lichen Bedeutung des Wortes Geschichte. 

Um die Ausfuhrungen iiber den Zusammenhang der individuali- 
sierenden Begriffsbildung mit der Wertbeziehung zum Abschluft 
zu bringen, ist jetzt nur noch ein Punkt hervorzuheben. 

Wir sahen: der Historiker hat als Historiker nicht nach der 
Geltung der Werte zu fragen, die seine Darstellung Ietten. Trotzdem 
wird er seine Objekte nicht auf irgendwelche b e 1 i e b i g e n 
Werte beziehen. Er setzt vielmehr voraus, daB diejenigen, on die 
er sich mit seiner Darstellung wendet, wenn auch nicht diese oder 
jene besonderen Giiter, so doch wie er selbst die allgemeinen Werte 
der Religion, des Staates, des Rechts, der Sitten, der Kunst, der 
Wissenschaft, mit Rucksicht auf welche das geschichtlich Dar- 
gestellte wesentlich ist, uberhaupt als Werte anerkennen 
oder doch wenigstens als Werte verstehen. Deshalb war es 
bei Bestimmung des Kulturbegriffes notig, nicht nur den Wert- 
begriff uberhaupt als entschezdend fiir die Abgrenzung der Kultur- 
vorgange gegen die Natur zu betonen, sondern zugleich hervor- 
zuheben, daB Kulturwerte entweder faktisch allgemein, d. h, von 
alien gewertet oder alien Gliedern der Kulturgemeinschaft als 
giiltig werugstens zugemutet werden. 

Diese Allgemeinheit der Kulturwerte erst ist 
es, welche die individuelle W i 1 1 k ii r der geschichtlichen Be- 
griffsbildung beseitigt, und auf der also ihre „Objektivitat" beruht. 
Das historisch Wesentliche darf nicht nur fiir dieses oder jenes 
einzelne Individuum, sondern es muQ fiir alle bedeutsam 



— 96 — 

sein. In dem Begriffe der historischen Objektivitat steckt unter 
pbilosophischen Gesichtspunkten freilich zugleich noch ein Pro- 
blem. Doch konnen wir davon in diesem Zusammenhange absehen. 
Wir haben es hier nur mit der empirischen Objektivitat der 
Geschichte zu tun, d. h. mit der Frage, ob der Historiker im Gebiet 
<Ies als Tatsache zu konstatierenden verbleibt, und da muB klar 
sein, daB auch mit Rucksicht auf die Allgemeinheit der Kultur- 
werte die empirische Objektivitat prinzipiell gesichert ist. 
DaB namlich bestimmte Guter innerhalb einer Kulturgemeinschaft 
allgemein gewertet werden, oder daB man den Gliedern der Ge- 
meinschaft zumutet, die Wirklichkeiten zu pflegen, an denen diese 
Werte haften, also die Kultur zu fordern, ist ein F a k t u m , das 
sich im Prinzip ebensogut wie jedes andere Faktum feststellen 
iaflt, und damit kann der Historiker sich begniigen. 

Nur eins ist zur Bestimmung des individualisierenden Ver- 
fahrens mit Rucksicht auf den Begriff des allgemeinen Kultur- 
wertes jetzt noch ausdriicklich hinzuzufiigen. Wenn die im an- 
gegebenen Sinne „objektive" historische Darstellung nur von a 1 1- 
gemein gewerteten Werten geleitet werden kann, so scheinen 
schlieGlich doch diejenigen recht zu haben, die sagen, daB es von 
dem Besonderen und Individuellen als solchem eigentlich keine 
Wissenschaft gibt, und das ist insofern in der Tat richtig, als das 
Besondere zugleich von allgemeiner Bedeutung sein 
mufi, um in die Wissenschaft einzugehen, und ferner nur das von 
ihr wissenschaftlich dargestellt wird, worauf diese seine allgemeine 
Bedeutung beruht. Ja, das ist sogar mit Nachdruck zu betonen, 
damit nicht der Schein entsteht, als bestehe die Geschichte in 
einer bloBen „Beschreibung" einzelner Tatsachen. Auch die Ge- 
schichte ordnet wie die Naturwissenschaft das Besondere einem 
„AJlgemeinen" unter. 

Aber ebenso gewiB bleibt trotzdem der Gegensatz des generali- 
sierenden Verfahrens der Naturwissenschaft zum individuali- 
sierenden Verfahren der Geschichte unberuhrt. Nicht das all- 
gemeine Naturgesetz oder der allgemeine Begriff, fur den 
jedes Besondere nur ein „Fall" unter beliebig vielen andern ist, 
sondern der Kultur wert ist das geschichth'ch „Allgemeine". 
und der kann nur a n dem Einmaligen und Individuellen allmah- 



— 97 — 

lich zum Ausdruck kommen, d. h. sich mit Wirklichkeiten so ver- 
binden, daB diese dadurch zu Kulturgiitern werden. Beziehe ich 
also eine individuelle Wirklichkeit auf einen allgemeinen Wert, so 
wird sie dadurch n i c h t zum Gattungsexemplar eines 
allgemeinen Begriffs, sondern sie bleibt in ihrer Individual i- 
t a it bedeutsam als individueller Trager eines individuellen Sinn- 
gebildes. 

Ich fasse noch einmal alles zusammen. Zwei Arten empirisch- 
wissenschaftlicher Arbeiten konnen wir begrifflich vonein- 
ander scheiden, ohne damit sagen zu wollen, daB sie f a k t i s c h 
iiberall getrennt sind. Nur die „reinen" Formen hebe ich heraus. 

Auf der einen Seite stehen die Naturwissenschaften. 
Das Wort „Natur" charakterisiert sie sowohl mit Rucksicht auf 
ihren Gegenstand als auch mit Rucksicht auf ihreM e t h o d e. 
Sie sehen in ihren Objekten ein von jeder Wertbeziehung freies 
Sein und Geschehen, und ihr Interesse ist darauf gerichtet, die 
allgemeinen begrifflichen Verhaltnisse, wenn moglich die Gesetze 
kennen zu lernen, welche fiir dieses Sein und Geschehen gelten. 
Das Besondere ist fiir sie nur ,, Exemplar". Dies gilt fur die P h y s i k 
ebenso wie fiir die Psychologic Beide machen mit Rucksicht 
auf Werte und Wertungen keinerlei Unterschied unter den ver- 
schiedenen Korpern und Seelen, beide lassen das Individuelle als 
unwesentlich beiseite, und beide nehmen in ihre Begriffe fur ge- 
wohnlich nur das einer Mehrzahl von Objekten G e m e i n- 
s a m e auf. Es gibt auch k e i n Objekt, das sich dieser im weite- 
sten Sinne des Wortes naturwissenschaftlichen Behandlung prin- 
zipiell entzieht. Natur ist die wertindifferent und generalisierend 
aufgefaBte seelisch-kbrperliche Gesamtwirklichkeit.l 

Auf der andern Seite stehen die historischen Kultur- 
wissenschaften. Zu ihrer Bezeichnung fehlt uns ein Wort, 
das dem Ausdruck „Natur" entsprechend sie zugleich sowohl mit 
Rucksicht auf ihren Gegenstand als auch mit Rucksicht auf ihre 
Methode charakterisieren konnte. Wir mussen daher zwei Aus- 
driicke wahlen, die den beiden Bedeutungen des Wortes Natur 
entsprechen. Als Kuitur wissenschaften handeln sie von den 
auf die allgemeinen Kuitur werte bezogenen und daher als sinn- 
voll verstandlichen Objekten, und als h ist oris che Wissen- 

Eickert, Kulturwiseenschaft. 6./?. Aufl. 7 

ntrtLiaTHfiH 



— 98 — 

schaften stellen sie deren einmalige Entwicklung in. ihrer 
Besonderheit und Individuality dar, wobei der Umstand, dafJ es 
Kulturvorgange sind, ihrer historischen Methode zugleich das 
Prinzip der Begriffsbildung liefert, denn wesentlich ist fur sie nur 
das, was als Sinntrager in seiner individuellen Eigenart fur den 
leitenden Kulturwert Bedeutung hat. Sie wahlen daher i n d i v i- 
dualisierendals „Kultur" etwas ganz anderes aus der Wirk- 
lichkeit aus, als die Naturwissenschaften es tun, wenn sie d i e- 
s e 1 b e Wirklichkeit generalisierend als ,,Natur" be- 
trachten, da in den meisten Fallen die Bedeutung eines Kultur- 
vorganges gerade auf der Eigenart beruht, die ihn von andern 
unterscheidet, wahrend umgekehrt das, was ihm mit andern ge- 
meinsam ist, also sein naturwissenschaftliches Wesen ausmacht, 
der historischen Kulturwissenschaft unwesentlich sein wird. 

Was endlich den Gegensatz von K o r p e r und G e i s t betrifft, 
so sind es zwar, wenn „geistig" so viel wie psychisch heiBen soil, 
meistens geistige Vorgange, mit denen die Kulturwissenschaften es 
zu tun haben, aber der Begriff der „Geisteswissenschaften" grenzt 
weder die b ] e k t e , noch die M e t h o d e gegen die der Natur- 
wissenschaften ab. Deshalb sollte man diescn vieldeutigen Ausdruck 
in der Methodenlehre ganz fallen lassen. Unter der Voraussetzung 
einer Gleichsetzung des Geistigen mit dem Psychischen hat 
er fur die l.ogische Einteilung der Wissenschaften in die zwei 
Hauptgruppen jede Bedeutung verloren. Ja, man kann geradezu 
sagen, dafi eine prinzipielle Scheidung von Geist und Kbrper, falls 
damit nur die von Psychisch und Physisch gemeint ist, allein 
i n n e r h a 1 b der Naturwissenschaften von Bedeutung 
ist. Die Physik erforscht nur das physische, die Psychologie nur das 
psychische Sein. Die historischen Kulturwissenschaften dagegen 
haben keine Vcranlassung, auf eine solche prinzipielle Scheidung 
iiberhaupt zu reflektieren. Sie nehmen in ihre Begriffe Psychisches 
und Physisches nebeneinander auf, ohne diesen Unterschied 
ausdriicklich zu beachten. Mit Rucksicht hierauf ist der Ausdruck 
,,Geisteswissenschaften" geradezu irrefuhrend, solange man den 
Begriff des Geistes nicht genau bestimmt hat. 

Nur wenn man mit dem Worte „ Geist" eine Bedeutung ver- 
bindet, die sich von der des Ausdrucks ,, psychisch" prinzipiell 



— 99 — 

unterscheidet, bekommt die Bezeichnung der nicht-natur- 
wissenschaftlichen Disziplinen als Geisteswissenschaften einen Sinn, 
und eine solche Bedeutung hat das Wort friiher gehabt. Aber da 
verstand man unter Geist etwas, wovon der Begriff eines Wertes 
unabtrennbar war, namlich das „hdher" entwickelte seelische 
Leben, das allgemein gewertete Formen und Eigenarten angenom- 
men hat, und diese konnen nur innerhalb der K u 1 1 u r entstehen. 
„Geistig" war also der Mensch zum Unterschied von bloB psychisch 
insofern, als er G u t e r wie die der Religion, der Sittlichkeit, des 
Rechts, der Wissenschaft usw. hochhielt und p f 1 e g t e , kurz 
insofern, als er nicht ein bloBes Naturwesen, sondern ein K u 1 1 u r- 
m e n s c li war. So kommt diese Bedeutung des Wortes „Geistes- 
wissenschaft" im Grunde auf dasselbe hinaus, was wir unter Kul- 
turwissenschaft verstehen, und die Streitfrage wird dann termino- 
logisch. Nur weil entweder die a 1 1 e Bedeutung von „ Geist" heute 
noch mitklingt, oder weil man neuerdings geneigt ist, Geist als 
Namen fur Sinngebilde zu brauchen, die uberhaupt nicht psychisch- 
real sind, halt man an dem Terminus Geisteswissenschaften in den 
Kreisen der Einzelforscher fest, was mandort nie tun wiirde, wenn 
man darunter die Wissenschaften vom Psychischen verstiinde. 
Dann ware die Unangemessenheit des Ausdrucks sofort klar. Es 
verdankt der h e u t i g e Gebrauch des Wortes Geisteswissenschaft 
bei denen, die nicht die Psychologie zur „Grundlage" der Kultur- 
wissenschaf ten machen wollen, somit nur seiner Vieldcutig- 
k e i t und damit zugleich einer prinzipiellen Unklarheit sein 
Dasein. - 

Auch folgendes muB man im Auge behalten. Was im neunzehn- 
ten Jahrhundert als etwas N e u e s groB geworden ist und seinem 
wissenschaftlichen Leben, im Gegensatz zu den vorangegangenen 
naturwissenschaftlichen Jahrhunderten, den Charakter aufpragt, 
sind nicht in erster Linie die Wissenschaften vom Psychi- 
schen gewesen. Das seelische Leben hatte man schon vorher 
erforscht, und die neuere Psychologie knupft, so erfreulich ihre 
Fortschritte auch sein mogen, zum groflten Teil an die Psycho- 
logie des naturwissenschaftlichen Zeitalters an. Es ist 
kein Zufall, daC die Psychophysik von einem Manne geschaffen ist, 
der als Philosoph einen dem Spinozismus nahe verwandten Pan- 

7* 



— 100 — 

psychismus und jedenfalls eine gar nicht an der Geschichte orien- 
tierte Weltanschauung vertrat. Prinzipiell neu auf dem einzel- 
wissenschaftlichen Gebiet sind im neunzehnten Jahrhundert vor 
allem die Leistungen der groBen Historiker gewesen, die das 
Kultur leben erforschten. Sie haben eine machtige Anregung 
von der Philosophie des deutschen Idealismus erhalten, die ihre 
Probleme hauptsachlich dem geschichtlichen Kulturleben ent- 
nahm und dementsprechend auch den Begriff des ,,Geistes" be- 
stimmte. Da dieser Sprachgebrauch veraltet ist, und das, was man 
friiher Geistesleben nannte, heute geschichtliches Kulturleben ge- 
nannt wird, so gewinnt der Terminus der historischen Kultur- 
wissenschaften, den wir systematisch begriindet haben, auch sein, 
der heutigen Situation angepaBtes, geschichtliches Recht. 

SchlieBlich fiihren diese Ueberlegungen wieder zu der friiher 
zuruckgeschobenen Frage, welche Art des Seelenlebens nach 
naturwissenschaftlicher Methode nicht erschbpfend behandelt wer- 
den kann, und welches relative Recht daher die Behauptung besitzt, 
die Kultur durfe auch wegen ihres g e i s t i g e n Charakters nicht 
der Alleinherrschaft der Naturwissenschaft unterworfen werden. 

In d e r Einheit, die dem Seelenleben zukommt, soweit es n u r 
Seelenleben ist, konnten wir den Grund dafiir nicht entdecken. 
Untersuchen wir dagegen das Seelenleben der historisch wesent- 
lichen Kulturpersonlichkeiten und bezeichnen dieses 
als geistig, so finden wir darin in der Tat eine „geistige" Einheit 
von eigentumlicher Art, die jeder Bewaltigung durch generali- 
sierend gebildete Begriffe spottet. Deshalb kann die Meinung ent- 
stehen, es gebe eine spezifisch geisteswissenschaftliche 
Methode, oder es miisse eine Psychologie geschaffen werden, 
die sich von der erklarenden, naturwissenschaftlich verfahrenden 
prinzipiell unterscheidet. Nachdem wir jedoch das Wesen dieser 
„geistigen" Einheit als beruhend auf W e rt beziehung verstanden 
haben, konnen wir diese Meinung als Tauschung durchschauen. . 

Wenn es gilt, das Seelenleben Goethes oder Napoleons darzu- 
stellen, so laBt sich dabei gewiB mit den Begriffen der generali- 
sierenden Psychologie nicht viel anfangen. Hier haben wir in der 
Tat eine Lebenseinheit, die nicht psychologisch zu „er- 
klaren" ist. Aber diese Einheit stammt nicht aus dem „Bewufit- 



— 101 — 

sein" als der logischen Einheit des Subjekts, sie stammt auch nicht 
aus der „organischen" Einheit der Seele, die j e d e s Ich zu einem 
geschlossenen Zusammenhang macht, sondern sie beruht darauf, 
dafi mit Rucksicht auf Kulturwerte bestimmte psychische Zu- 
sammenhlinge als Sinntrager zu individuellen Einheiten 
werden, die verschwinden wiirden, wenn man sie unter a 1 1 - 
gemeine psychologische Begriffe brachte. Die nicht zu gene- 
ralisierende „geistige" Lebenseinheit ist also die individuelle Ein- 
heit der Kulturpersonlichkeit, die sich mit Rucksicht auf ihre 
Kulturbedeutung zu einem nicht zu trennenden individuel- 
len Ganzen zusammenschlieBt. Nicht die Unteilbarkeit des 
realen Seelenlebens, sondern die des Sinngebildes ist dabei ent- 
scheidend. Mit dem heute ublichen Gegensatz von Natur und Geist 
als dem von Kbrper und Seele haben demnach diese „Lebensein- 
heiten" der Kulturpersonlichkeiten nichts zu tun, und darum muB 
die Meinung, als bediirften wir, urn solche Einheiten zu erforschen, 
einer „geisteswissenschaftlichen" Methode oder einer neuen Psy- 
chologie, verschwinden. Die geschichtlichen Einheiten sind nicht 
nur der heute schon vorhandenen naturwissenschaftlichen Psycho- 
logie, sondern j e d e r allgemeinen Theorie des seelischen Lebens 
entzogen. Solange man an der Einheit der Individualitat, die auf 
ihrer durch keine andere Individualitat ersetzbaren und insofern 
einzigartigen Kulturbedeutung beruht, festhalt, kann sich ihr Wesen 
nur dem individualisierenden historischen Verfahren erschlieCen. 



XL 

DIE MITTELGEBIETE 

Durch die Gegenuberstellung der Gesetze oder allgemeine Be- 
griffe suchenden Naturwissenschaften und der historischen Kultur- 
wissenschaften ist demnach, wie ich glaube, der maCgebende 
Untersehied gefunden, der die empirisch-wissenschaftliche Arbeit 
in zwei Gruppen teilt. Aber, wie ich bereits sagte, greift sowohl 
das historische Verfahren in das Gebiet der Naturwissenschaften 
als auch das naturwissenschaftliche Verfahren in das Gebiet der 
Kulturwissenschaften uber, und hierdurch wird unser Problem er- 



- 102 — 

heblich kompliziert. Es sei daher noch einmal mit allem Nachdruck 
hervorgehoben, daB wir hier nur die E x t r e m e aufzeigen wollten, 
zwischen denen die wissenschaftliche Arbeit sich in der Mitte 
bewegt, und damit vollkommen deutlich wird, was wir meinen, 
und was wir nicht meinen, wollen wir ausdrucklich auch einige 
Mischformen der wissenschaftlichen Begriffsbildung heran- 
ziehen. Doch muQ ich mich auf die Andeutung der allgemeinsten 
logischen Prinzipien beschriinken und kann damit lediglich auf 
weitere Aufgaben hinweisen, die eine eingehendere Untersuchung 
zu Idsen haben wiirde 1 ). 

Was die historischen Elemente in den Naturwis- 
senschaften betrifft, so kommt fiir die neuere Zeit haupt- 
sachlich die Biologie, und zwar die sogenannte phylogene- 
tische Biologie in Frage. Sie versucht bekanntlich, den 
einmaligen Werdegang der Lebewesen auf der Erde in seiner Be- 
sonderheit darzustellen, und ist deshalb auch schon wiederholt als 
eine historische Wissenschaft bezeichnet worden. 

Das ist insofern berechtigt, als sie zwar durchweg mit allgemeinen 
Begriffen arbeitet, diese Begriffe aber so zusammenfiigt, daB das 
G a n z e , welches sie untersucht, mit Riicksicht auf seine E i n - 
maligkeit und Besonderheit zum Ausdruck kommt. Hi- 
st orisch ist also diese Biologie nicht etw*, wie Tonnies dies 
mifiverstanden hat, deshalb, weil sie es mit „Entwicklung" iiber- 
haupt zu tun hat. Auch die Embryologie handelt von Entwicklung, 
aber sie bildet einen allgemeinen Begriff ihres Objekts, der 
nur das enthalt, was sich beliebig oft wiederholt, und daher ist es 



J) Diese Untersuchung findet sich in meinera Buche ttber die 
Grenzen der naturwissenschaUUchen Begriffsbildung. Vgl. besonders 
S. 264 ft'. und 480 ff., 3. u. 4. Aufl. S. 181 U. und S. 330 ff. Wer sich 
mit meinen Ansichlcn kritisch auseinandersetzen will, muB die dort 
entwickelten Gedankengange berttcksichtigen. Sie sind nicht etwa 
„Zugestandnisse", wie man sie oft genannt hat, sondern in ihneu 
liegt geradezu der Schwerpunkt filr eine wirklich logisch 
durchgefuhrte Methodenlehre der empirischen Einzelwissen- 
schaften. Wer das nicht beachtet und dann z. B. mcint, j e d o 
Untersuchung der Kulturobjcktc mUsse nach meiner Ansicht nur 
historisch verfahren, wird die hier entwickelten Gedanken miGver- 
stehen. Man sollte endlich die Meinung aufgeben, daB alle Einzel- 
wissenschaften sich in ein zweigliedriges Schema bringen Iassen, wie 
es das von Natur- und Geisteswissenschaften ist. 



— 103 — 

in der Tat noch niemanden in den Sinn gekommen, den Studien 
Harveys, Spallanzanis und Caspar Fr. Wolffs iiber die Entwicklung 
des Eis, der Spermatozoen und des menschlichen Foetus den natur- 
wissenschaftlichen Charakter abzusprechen. Ja, auch die a 1 1 - 
gemeine Deszendenztheorie, nach der jede beliebige Art all- 
mahlich entstanden ist und erne -Art in die andere iibergeht, ist 
durchaus nach generalisierender, also naturwissenschaftlicher Me- 
thode gebildet und hat rciit „Geschichte" auch im formalen oder 
logischen Sinne nichts zu tun. 

Sobald aber der Versuch gemacht wird, zu erzahlen, welch e 
besondern Lebewesen z u e r s t auf der Erde entstanden 
sind, welche darauf zeitlich f o 1 g t e n , und wie daraus in einem 
e i n m a I i g e n EntwicklungsprozeB allmahlich derMenschwurde, 
woruber uns die allgemeine Deszendenztheorie nur insofern 
etwas sagt, als sie die besondern Vorgange als Beispiele all- 
gemeiner Begriffe benutzt, dann ist die Darstellung unter 1 o - 
g i s c h e n Gesichtspunkten historisch, und da derartige 
Versuche der neueren Zeit angehoren, so muB man sagen, daB in 
ihnen die historische Idee der Entwicklung auf die Korperwelt, die 
man frtther nur naturwissenschaftlich zu behandeln pflegte, ange- 
wendet oder iibertragen wurde. Es ist wichtig, dies hervor- 
zuheben, weil nur so die logische Struktur dieser Kbrperwissen- 
schaften deutlich wird, und weil dann zugleich klar sein muB, daB 
aus dem Vorhandensein der phylogenetischen Biologie nichts ge- 
folgert werden darf, was fur die Anwendung der naturwissen- 
schaftlichen Methode in der Geschichte spricht. Man mag 
versuchen, die Geschichte der Kulturmenschheit darzustellen wie 
Hiickel die ,,Naturliche Schopfungsgeschichte", so wird man auch 
dabei niemals generalisierend, also naturwissenschaftlich im lo- 
gischen Sinne, sondern individualisierend, also historisch verfahren. 

Andererseits rechnet man die Untersuchungen der phylogene- 
tischen Biologie trotzdem zu den Naturwissenschaften, und da man 
bei dem Worte „Natur" nicht nur an den formalen Gegensatz zur 
Geschichte, sondern auch immer an den Gegensatz zur Kultur 
denkt, so ist das selbstverstandlich berechtigt. Insofern bekommt 
es einen Sinn, von „historischen Naturwissenschaften" zu reden. 
Doch fehlt es auch diesen biologischen Darstellungen nicht an dem 



— 104 — 

leitenden Wert gesichtspunkte, der den einmaligen Werdcgang 
zu einem im formalen Sinn geschichtlichen Ganzen zusammen- 
schh'eflt. Der Mensch gilt als der „H6hepunkt" der phylogenetischen 
Entwicklungsreihe. Es wird ihm damit ein Charakteristikum bei- 
gelegt, das durchaus nicht in dem Sinne „selbstverstandlich" ist, 
daJ3 es auch unabhangig von jeder Wertbeziehung 
ihm. zukommt, und nun kann man von diesem Hohepunkt aus 
ruckwartsblickend die „Vorgeschichte'* des Menschen schreiben 
und damit zugleich die Vorgeschichte der Kultur, die zwar 
selbst noch nicht Kultur, sondern nur Natur in der materialen Be- 
deutung des Wortes ist, aber zugleich zur Kultur in Beziehung ge- 
setzt wird. Deshalb sind hier naturwissenschaftliche und geschicht- 
liche Auffassungen notwendig aufs engste miteinander ver- 
k n u p f t , und dennoch wird man aus diesem Umstande keinen 
E i n w a n d gegen unsere Prinzipien fur die Gliederung der 
Wissenschaften herleiten konnen. Solche Mischformen werden viel- 
mehr gerade aus ihnen als Mischformen verstandlich, 
und daran zeigt sich von neuem, daC unsere Einteilung die we- 
sentlichen methodologischen Unterschiede zum Ausdruck bringt. 

Die Verkniipfung von Naturwissenschaft und Geschichte in der 
Biologie wird auch dann nicht mehr auf fallen, wenn man daran 
denkt, wie die Theorien Darwins, aus denen sie entsprungen ist, 
zustande gekommen sind. Es ist bekannt, daB dieser Biologe 
mehrere seiner gundlegenden Begriffe, wie Zuchtwahl, 
Auslese, Kampf urns Dasein, dem sinnvollen menschlichen Kul- 
t u r 1 e b e n entnommen hat. Deshalb diirfen wir nicht erwarten, 
daB die im AnschluB an Darwin entwickelten Gedanken sich ohne 
weiteres nur in einer der beiden hier dargestellten Haupt- 
gruppen der Wissenschaften unterbringen lassen. 

Wo man vollends die ganze Reihe der Organismen nicht allein 
alb Entwicklung im historischen Sinne, sondern zugleich auch als 
einen Fortschritt bezeichnet, also in ihr eine Wertstei- 
gerung erblickt, da kann man dies nur tun, wenn man die Kul- 
turmenschheit, zu der diese Stufenfolge hinfuhrt, als absolutes 
Gut setzt, und dann liegt sogar weniger eine wextbeziehende 
und historische als vielmehr eine geschichts philosophische 
Betrachtungsweise vor. Doch sind die grundlegenden P r i n z i - 



— 105 — 

p i e n dieser Geschichtsphilosophie nicht etwa der Natur und 
den Naturwissenschaften entnommen, wie man vielfach glaubt, 
sondern man hat Kulturwerte auf Naturvorgange ii b e r - 
tragen. 

Ein Urteil iiber den wissenschaftlichen Wert soldier geschichts- 
philosophischen Gedanken, die einen „Fortschritt" von den primi- 
tivsten Lebewesen bis zum Kulturmenschen hin konstatieren, ist 
hier nicht am Platz, Naturwissenschaftlich betrachtet ist diese 
Entwicklung weder ein Fortschritt noch ein Ruckschritt, sondern 
einfacheine wertindifferenteVeranderungsreihe, 
deren allgemeine, d. h. alle verschiedenen Stadien gleichmafiig 
beherrschenden Gesetze es zu erforschen gilt, und es scheint, 
als ob das Interesse an den angeblich naturwissenschaftlichen 
„Schbpfungsgeschichten", fur die Darwin selbst ubrigens keine 
Verantwortung tragt, audi in biologischen Kreisen immer mehr 
erlahmt. Es macht sich wohl die Einsicht geltend, dafl die Konse- 
quenzen, die man aus der modernen Entwicklungslehre fur die 
„ Weltanschauung" gezogen hat, nicht nur in der Philosophie zu 
den abenteuerlichsten Verhrungen gefiihrt haben, sondern auch 
fur die Bioiogie selbst nicht gerade forderlich gewesen sind. 

Das Interesse an der phylogenetischen Bioiogie scheint 
uberhaupt zuruckzutreten. GewiB hat das Eindringen des histori- 
schen Gedankens in die Wissenschaft von den Lebewesen dadurch 
ungemein befreiend gewirkt, daC die Realitaten, zu denen die Spe- 
ziesbegriffe sich verdichtet hatten, wohl fur alle Zeiten zertriim- 
mert wurden. Aber erstens hatte diese Einsicht auch auf Grund 
einer generalisierenden Theorie gewonnen werden kbnnen, und 
ferner sieht es so aus, als ob die Bioiogie, nachdem diese Arbeit 
einmal im Prinzip getan ist, nicht mehr so sehr in der historischen 
Konstruktion von „Stammbaumen'* und „Ahnengatferien" als 
vielmehr in der Feststellung allgemeinbegrifflicher Verhaltnisse 
innerhalb des organischen Lebens ihre eigentliche Aufgabe er- 
blickt, und je mehr diese Bestrebungen in den Vordergrund treten, 
um so mehr muB dann die Bioiogie nach einer Art von Krisis, die 
sie durchgemacht hat, wieder zu einer generalisierenden Wissen- 
schaft, also zu einer Naturwissenschaft auch im formalen und lo- 
gischen Sinne werden, was sie vor Darwin, solange sie nur „onto- 



— 106 — 

genetische" Entwicklungslehre sein wollte, wie z. B. bei K. E. von 
Baer, stets geblieben war. Die Struktur, durch die sie unserer Ent- 
gegensetzung von Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft zu 
widersprechen scheint, hat sie uberhaupt, auch abgesehen von den 
geschichtsphilosophischen Spekulationen, nicht so sehr durch Dar- 
win selbst als durch einige wenige ,.Darwinisten", besonders durch 
Hackel angenommen. Sogar bei ihm jedoch lassen sich die gene- 
ralisierenden und die wertbe2ieliend-historischen Bestandteile, so 
sehr sie durcheinander gehen, begrifflich scharf voneinander tren- 
nen, und Arbeiten anderer Nachfolger Darwins, wie z. B. die von 
Weismann, tragen einen vorwiegend general isieren den, also auch 
im Iogischen Sinne naturwissenschaftlichen Charakter, so daO sie 
sich restlos in unser Schema einfugen. 

Noch wichtiger fur unsern Zusammenhang sind vielleicht die 
methodisch -naturwissenschaftlichen, also genera- 
lisierenden Bestandteile in der Kulturwissenschaft. 
Bisher habe Jch absichtlich nur von den historischen Begriffs- 
bildungen gesprochen, die sich auf einen einzigen einmahgen Vor- 
gang im strengen Sinne des Wortes beziehen, und es geniigte dieses 
zur Klarlegung des fundamental Iogischen Prinzips, weil das 
G a n z e einer historischen Darstellung immer als einmaliges Ob- 
jekt in seiner nie wiederkehrenden Eigenart in Betracht kommt. 
Jetzt aber ist auch noch folgendes zu beobachten, damit die Dar- 
stellung nicht einseitig erscheint. 

Die Kulturbedeutung einer Wirklichkeit haftet zwar immer am 
Besonderen, aber zugleich sind die Begriffe des Besonderen und des 
Allgemeinen relativ. So ist z. B. der Begriff eines Deutschen 
wohl allgemein, wenn wir ihn in seinem Verhaltnis zu Friedrich 
dem GraBen oder Goethe oder Bismarck betrachten. Aber dieser 
Begriff ist zugleich etwas Besonderes, wenn wir ihn ansehen mit 
Rucksicht auf den Begriff eines Menschen uberhaupt, und wir 
konnen daher solche relativ besonderen Begriffe auch 
„relativ historische" nennen. Fiir die Kulturwissenschaften kommt 
nun nicht nur di e individuelle Eigenart in Betracht, die das Ein- 
zelne und Besondere im eigentlichen Sinne des Wortes besitzt, 
sondern, wenn es sich urn T e i 1 e des zu begreifenden historischen 
Ganzen handelt, auch die, welche sich an einer G r u p p e von 



— 107 — 

Objekten findet. Ja es gibt keine Kulturwissenschaft, die nicht 
mit vielen Gruppenbegriflen arbeitet, und in manchen 
Disziplinen treten sie ganz in den Vordergrund. Zwar braucht der 
Inhalt eines solchen relativ historischen Begriffs durchaus nicht 
immer mit dem Inhalt des betreffenden Allgemeinbegriffs zu- 
sammenzufallen, wie z. B. das, was man unter einem Deutschen ver- 
steht, weit entfernt ist, nur das zu enthalten, was a 1 1 e n die Masse 
des Volkes bildenden Individuen gemeinsam ist — eine Form der 
historischen Begriffsbildung, auf die ich hier nicht eingehe — , aber 
es konnen sich audi an einem recht allgemeinen Begrifl noch d i e 
Merkmale finden, die zugleich von Bedeutung fur den Kul- 
t u r w e r t sind, der die historische Begriffsbildung leitet, und 
zwar wird dies bei den meisten Begriffen der Fall sein, die sich 
auf Kulturvorgange in ihren friihesten Entwicklungs- 
stadien beziehen, oder auf diejenigen, fur welche die Inter- 
essen und Willensrichtungen grofJerer Massen von ausschlag- 
gebender Bedeutung sind. 

In solchen Fallen kann die wissenschaftliche Begriffsbildung, 
welche das einer Mehrheit von Objekten Gemeinsame zusammen- 
stellt, als wesentlich genau dasselbe betrachten, was an dieser 
Gruppe a u c h mit Riicksicht auf ihre Kulturbedeutung wesent- 
lich ist. Es entstehen dadurch dann Begriffe, die sowohl natur- 
wissenschaftliche als auch kulturwissenschaftliche Bedeutung be- 
sitzen, und die eventuell sowohl in einer generalisierenden als auch 
in einer individualisierenden Darstellung zu verwenden sind. Wegen 
dieser nicht selten vorkommenden Kongruenz der gene- 
ralisierend und der wer t b ez i eh e n d -h i s t o - 
risch gebildeten Begriffsinhalte wird dann von 
demselben Forscher sowohl nach naturwissenschaftlicher als auch 
nach historischer Methode gearbeitet, und daher enthalten die 
Untersuchungen der primitiven Kultur, die Sprachwissenschaft, die 
Nationalokonomie, die Rechtswissenschaft und andere Kultur- 
wissenschaften generalisierend gebildete Bestandteile, die mit der 
eigentlich historischen Arbeit so eng verknupft sind, daC sie sich 
nur begrifflich von ihr trennen lassen. 

In diesem Zusammenhang wird auch die Berechtigung und die 
Bedeutung der Untersuchungen verstandlich, fur die Hermann 



— 108 — 

Paul den Namen der „Prinzipienwissenschaft" vorgeschlagen hat. 
DaO fiir jeden Zweig der Geschichtswissenschaft in demselben 
MaBe eine Wissenschaft von Bedeutung sein kann, „welche sich 
mit den allgemeinen Lebensbedingungen des geschichtlich sich 
entwickelnden Objektes beschaftigt, welche die in allem Wechsel 
gleichmaBig vorhandenen Faktoren nach ihrer Natur und Wirk- 
samkeit untersucht", vermag ich freilich nicht zuzugeben. Denn 
wo das Einmalige und Besondere im strengsten Sinne des Wortes 
in Betracht komnit, wiirden sich die allgemeinen Begriffe einer 
Prinzipienwissenschaft hochstens als Begriffs e 1 e m e n t e an- 
wenden lassen. Den genannten Wissenschaften jedoch, die wie die 
Sprachwissenschaft besonders viele generalisierend gebildete Be- 
standteile enthalten, miissen solche Untersuchungen in der Tat 
von groBer Bedeutung sein. 

Auch die generalisierende Psychologie kann aus denselben 
Griinden in solchen Wissenschaften eine Rolle spielen, und in 
diesem Sinne sind daher die fruheren Ausfiihrungen zu e r g a n- 
z e n. Aber darum darf man diese Wissenschaft vom Seelenleben 
wiederum durchaus nicht als „die vornehmste Basis a 1 1 e r in 
einem hoheren Sinne gefaCten Kulturwissenschaft" bezeichnen, 
denn ihre Bedeutung nimmt in demselben Ma!3e a b , in dem die 
Kulturbedeutung des rein Individuellen sich s t e i g e :r t und dem- 
entsprechend die allgemein begrifflichen Untersuchungen iiber- 
haupt verschwinden. Das aber ist gerade bei den bedeutsamsten 
Kulturvorgangen der Fall. In einer Geschichte der Religion, des 
Staates, der Wissenschaft, der Kunst, kann das einmalige Indivi- 
duum n i e „un\vesentlich" sein. Hicr gehen die Impulse zur Schop- 
Eung neuer Kulturgiiter fast immer von einzelnen Personlich- 
k e i t e n aus, wie jeder weiB, der nicht irgendwelchen Theorien 
2uliebe sich vor den geschichtlichen Tatsachen absichtlich ver- 
schliefJen will. Die Personlichkeiten musscn daher auch historisch 
bedeutungsvoll werden, und bei ihrer Darstellung ist dann mit 
nur relativ historischen Begriffen nicht auszukommen. 

Diese Behauptung hat wiederum nichts mit der Tendenz zu tun, 
die Geschichte aus den Absichten und T a t e n groBer Manner 
zu „erklaren", oder gar die kausale Bedingtheit alles historischen 
Lebens zu bestreiten. Man liebt es, die geschichtlichen Personlich- 



— 109 — 

keiten als Marionetten zu bezeichnen und darauf hinzu- 
weisen, daB Napoleon oder Bismarck selbst ein BewuBtsein 
ihrer Marionetteneigenschaft gehabt haben. Ob das berechtigt ist, 
brauchen wir nicht zu fragen, denn davon hangt die Entscheidung 
iiber die Methode der Geschichte nicht ab. Auch Marionetten sind 
individuelle Wirklichkeiten, und ihre Geschichte kann 
daher nur mit individuellen Begriffen, niemals aber mit 
einem System allgemeiner Begriffe dargestellt werden. Auch die 
Drahte, welche die Marionetten in Bewegung setzen, sind individuell 
wie jede Wirklichkeit, und die Geschichte wiirde also, sogar wenn 
sie von lauter Marionetten liandelte, immer zu zeigen haben, durch 
welche individuellen und besonderen Drahte hier diese und dort jene 
historisch bedeutsamen Marionetten in Bewegung gesetzt worden 
sind. 

Im iibrigen ist der Vergleich mit Marionetten gerade im Sinne 
der Naturalisten wenig gliicklich, denn die Bewegung von Mario- 
netten muB ja in letzter Hinsicht immer auf Absich- 
t e n handelnder Menschen zuruckzufiihren sein, und man sollte 
daher ein besseres Bild wahlen, um die kausale Bedingtheit alles 
Geschehens zum Ausdruck zu bringen. Hier kam es nur darauf an, 
zu zeigen; daB selbst derjenige, der von der absoluten kausalen 
Bedingtheit aller geschichtlichen Vorgange fest uberzeugt ist, Ge- 
schichte nicht mit atlgemeinen G e s e t z e s begriffen darstellen 
kann, sondern sich klar machen muB, daB auch kausale Zusammen- 
hange keine allgemeinen Begriffe, sondern einmalige und indivi- 
duelle Realitaten sind, deren historische Darstellung individuelle 
Begriffe fordert. Hat man sich dies aber klar gemacht, so wird 
man zugleich einsehen, wievollig gegen stand slos alle dieArgumente 
der Naturalisten sind, die sich auf die kausale Bedingtheit alles 
Geschehens stiitzen, um die Unwichtigkeit einzelner Personlich- 
keiten fur die Geschichte darzutun. 

Doch ich verfolge dies nicht weiter, denn es mufl schon jetzt 
klar sein, daB durch die generalisierenden Kultur- 
wissenschaften unsere prinzipielle Scheidung wohl ein- 
geschrankt, aber nicht aufgehoben werden kann. Der Grund ist der, 
daB ein Kulturbegriff auch hier nicht nur die Auswahl der Objekte 
bestimmt, sondern in gewisser Hinsicht auch die Begriffsbildung 



— no — 

oder die Darstellung dieser Objekte wertbeziehend und historisch 
macht. Die AHgemeinheit der Begriffe in den Kulturwissenschaften 
namlich hat eine Grenze, und diese hangt von einem Kulturwert 
ab. So wichtig daher die Feststellung allgemeiner begrifflicher Ver- 
hattnisse im kulturwissenschaftlichen Interesse sein mag, so diirfen 
dabei doch immer nur Begriffe von einer relativ geringen AHgemein- 
heit verwendet werden, wenn die Untersuchung ihre kulturwissen- 
schaftliche Bedeutung nicht verlieren soil, und damit ist die Scheide- 
linie zwischen Naturwissenschaft und Kulturwissenschaft auch in 
dieser Hinsicht gegeben. 

Sie moglichst deutlich zu zeigen, ist um so notwendiger, als sie 
faktisch sehr haufig und durchaus zum Schaden der Kulturwissen- 
schaften uberschrittenwird.Esistheutebeliebt,Kulturerscheinungen 
in ihren primitivsten Stadienbei den sog. Naturvcilkern 
aufzusuchen, weil man glaubt, sie dort in ihrer „einfachsten" Ge- 
stalt kennenzulernen, und gewiB hat das seine Berechtigung. Soil 
aber dadurch auch ein Verstandnis fur die uns naher stehendcn 
Kulturvorgange gewonnen werden, so wird man sich hiiten miissen, 
daB man in die untersuchten Vorgange nicht etwas hineininter- 
pretiert, was tatsachlich gar nicht in ihnen liegt, und dadurch den 
historischen Begriff eines Kulturobjektes nicht auf Wirklichkeiten 
ausdehnt, die nicht mehc Kultur genannt werden sollten. 

Man wird z. B. ganz sicher sein miissen, ob eine Betatigung, die 
man fur „Kunst" halt, auch wirklich mit dem Kulturgut noch 
irgend etwas gemeinsam hat, was wir bei uns Kunst nennen, und 
das ist nur mit Hilfe eines historischen Kulturbegriffcs 
von Kunst moglich, der auf Grund eines asthetischen Wertbegriffes 
gebildet ist. SoJange man hieruber nichts weifi — und dies Wissen 
diirftc in vielen Fallen schwer zu erwerben sein — kann das Hin- 
einziehen von irgendwelchen beliebigen Produkten primitiver 
Volker, bei denen asthetische Werte fur ihre Erzeuger und Emp- 
fanger evenluell gar nicht in Frage kommen, in der Kunstwissen- 
schaft lediglich Verwirrung stiften, und unter alien Umstanden 
ist es grundverkehrt, in Untersuchungen der primitiven Kultur 
deshalb die eigentlich wissenschaftliche Forschung zu sehen, weil 
es dabei aus den angegebenen Griinden moglich ist, viel mit all- 
gemeinen Begriffen, also generalisierend zu arbeiten. Auch die so 



— Ill — 

gewonnene Allgemeinheit wirkt dann bei Betrachtung hoherer 
Kulturentwicklung „tbtend". 

Den groBten Raum werden die allgemeinen Begriffe in d e n 
Kulturwissenschaften einnehmen, welche das wirtschaft- 
1 i c h e Leben zum Gegenstande haben, denn soweit solche Be- 
wegungen sich iiberhaupt isolieren Iassen, kommen ja hier in der 
Tat sehr oft nur die M a s s e n in Betracht, und das fur diese 
Kulturwissenschaft Wesentliche wird daher meistens mit dem In- 
halt eines verhaItnis.maBig allgemeinen Begriffes zusammenfallen. 
So kann z. B. das historische Wesen des Bauern oder des Fabrik- 
arbeiters in einem bestimmten Volke zu einer bestimmten Zeit 
ziemlich genau das sein, was alien einzelnen Exemplaren gemein- 
sam ist und daher ihren naturwissenschaftlichen Begriff bilden 
wiirde. Da mag also das rein Individuelle zurticktreten und die 
Feststellung allgemeiner begrifflicher Verhaltnisse den breitesten 
Raum einnehmen *). Es ist hieraus ubrigens auch verstandlich, 
warum das Bestreben, aus der Geschichtswissenschaft eine gene- 
ralisierende Naturwissenschaft zu machen, so haufig mit der Be- 
hauptung Hand in Hand geht, daC alle Geschichte im Grunde ge- 
nommen Wirtschaftsgeschichte sei. 

Zugleich aber tritt gerade hier am deutlichsten hervor, wie un- 
gerechtfertigt diese Versuche sind, Geschichte n u r als Wirtschafts- 
geschichte und dann als Naturwissenschaft zu treiben. Sie be- 
ruhen namlich, wie sich leicht zeigen laBt, auf einem Prinzip zur 
Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen, das vollkommen 
w i 1 1 k ti r 1 i c h gewahlt ist, ja ursprunglich einer total unwissen- 
schaftlichen politischen Parteinahme seine Bevor- 



1} Da wiedcrholt im AnschluJJ an meine methodologischen Unter- 
suchungen die Frage erOrtert worden ist, ob die Nationalokonomie 
eine historisch-individualisiftrende oder eine generalisierende Wissen- 
schaft sei, bemerke ich ausdrucklich, daJ3 ich nicht beabsichtigen 
kann, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Sie mufi der Entschoi- 
dung der Einzelforscher Qbcrlassen bleiben. Unter logischen Gesichts- 
punkten ist eine generalisierende Darstellung des wirtschaftlichen 
Lebens cbenso berechtigt wie eine individualisierende. Lediglich die 
Meinung, daB die Nationalokonomie ausscbliefllich generali- 
sierend verfahren dQrfe, ist abzulehnen. Das ware eine schlechte Me- 
thodenlehre, die nicht fur die verschicdenen „Richtungen" 
der Einzelforschung Platz hatte. 



— 112 — 

zugung verdankt. Man kann das schon bei Condorcet verfolgen, 
und die sogenannte materialistische Geschichts- 
auffassung, die nur das Extrem der ganzen Richtung bildet, 
ist dafiir ein klassisches Beispiel. Sie hangt zum groBen Teil von 
spezifisch sozialdemokratischen Wiinschen ab. Weil das leitende 
Kulturideal demokratisch ist, besteht die Neigung, auch in der 
Vergangenheit die grofien Personlichkeiten als „unwesentlich" an- 
zusehen und nur das etwas gelten zu lassen, was von der Menge 
kommt. Daher wird die Geschichtsschreibung „kollektivistisch". 
Vom Standpunkte des Proletariats oder von dem Standpunkt, den 
die Theoretiker Eur den der Masse halten, komraen ferner haupt- 
sachlich die mehr animalischen Werte in Frage, folglich ist das 
allein „wesentlich", was zu ihnen in direkter Beziehung stent, 
namlich das wirtschaftliche Leben. Daher wird die Geschichte 
auch „materialistisch". Das ist dann keine empirische, nur theo- 
retisch wertbeziehende Geschichtswissenschaft, sondern eine prak- 
tisch wertende, gewaltsam und unkritisch konstruierende 
Geschichtsphilosophie. 

Ja, die absolut gesetzten Werte sind hier so maBgebend, daB 
das fur sie Bedeutsame in das allein wahrhaft S e i e n d e 
verwandelt und daher alle andere als die wirtschaftliche Kultur 
bloBer „RefIex" geworden ist. Es entsteht also dadurch eine durch- 
aus metaphysische Auffassung, die in formaler Hinsicht 
die Struktur des Platonischen Idealismus oder Begriffsrealis- 
raus zezgt. Die Werte werden zum wahrhaft und allein W i r k- 
lichen gemacht. Nur der Unterschied besteht, daB an die 
Stelle der Ideale des Kopfes und des Herzens die Ideale des Magens 
getreten sind. Empfiehlt doch sogar der „Ideologe" Lassalle den 
Arbeitern, ihr Wahlrecht als Magenfrage aufzufassen und daher 
auch mit der Magenwarme durch den ganzen nationalen Korper 
hin zu verbreiten, weil es keine Macht gibt, die sich dem lange 
widersetzen wurde a ). Man darf sich nicht daruber wundern, wenn 

1) Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung 
eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig. 1863. An 
<ien oben zitierten Satz von Lassalle habe ich gedacht, als ich in der 
ersten Auflage dieser Schrift den Ausdruek „Idea!e des Magens" ge- 
brauchte. T 6 n n i e s hatte das wohl vermuten konnen und jedenfalls 
nicht schreiben sollen, er sehe nicht, „aus welchem Sumpfe Rickert 



— 113 — 

von diesem Standpunkt aus die ganze menschliche Entwicklung 
schlietSlich als ein „Kampf um den Futterplatz" angesehen wird. 
Hat man sich die Wertgesichtspunkte, auf denen der „historische 
Materialismus" beruht, einmal klargemacht, so sieht man, was von 
der Objektivitat solcher Geschichtsschreibung zu halten ist. 
Sie ist viel mehr das Produkt der Parteipolitik als der Wissenschaft. 
DaB friiher das wirtschaftliche Leben von den Historikern viel- 
leicht allzu wenig beachtet wurde, soil nicht bestritten werden, 
und alserganzende Betrachtung hat die Wirtschaftsgeschichte 
gewiC ihren Wert. Jeder Versuch aber, alles auf sie als das e i n z i g 
Wesentliche zu beziehen, muB zu den willkiirlichsten 
Geschichtskonstruktionen gerechnet werden, die bis- 
her uberhaupt versucht worden sind. 

XII. 

DIE QUANTITATIVE INDIVIDUALITAT 

Nach diesen Einschrankungen kann der Sinn, in dem 
wir Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft einander entgegen- 
setzen, nicht mehr mifiverstanden werden, und die am Anfang 
gestellte Aufgabe, die empirischen Wissenschaften, soweit das 

die ihm eigentumliche Darstellung der materialistischen Geschichts- 
auffassung geschopft hat." {Archiv fQr systematische Philosophic, 
Bd. VIII, S. 38.) Wenn TOnnies spaler den ,,schrillen Klang" seiner 
Worte damit erklart, dafl er sich „persOnlich gereizt fand durch 
den hochfahrenden To n", (a. a. O. S. 408), so ist das nur 
ein neuer Beweis daftir, dafl gewisse naturalistische Geschichtsauf- 
fassungen mehr Sachc persOnlicher und meist leidenschaftlich ver- 
trctener ,,Ucberzeugung" als ruhiger wissensehaftlicher Begrtindung 
sind. Die Satze im Text sind gar nicht „hochfahrend", sondern su- 
chen lediglich die Tatsache festzustellen, dafl der ,,historische Ma- 
terialismus", wie jede Geschichtsphilosophie, auf bestimmten Wert- 
.setzungen beruht, und dafl seine ganze Verspottung des Idealis- 
mus auf eine Vertauschung der alten Ideale mit neuen, nicht etwa 
auf eine Beseitigung der „Ideale" Uberhaupt hinauskommt. Dies zu 
widerlegen, hat Tonnies leider nicht versucht. Dafl viele zu ciner natu- 
ralistischen GcschichUauffassung auch in ganz altmodischer Weise 
auf Grund von Idealen des Kopfes und des Herzens kommen, will ich 
gewifl nicht bestreiten. Aber das stellt diese Denker nur „mensch- 
lich" hOher, nicht wissenschaftlich, denn das ist eine Inkonsequenz 
und ein RUckfall in ,,Ideologie". 

Eifkert, KulturwisseDachaft. 6,/7. Aufl. 8' 



— 114 — 

durch Darlegung der beiden logisch einander entgegengesetzten 
Grundtendenzen moglich ist, in zwei Hauptgruppen ein- 
zuteilen, darf also als gelost gelten. Da jedoch der hier entwickelte 
Versuch von den herkommlichen Meinungen weit abweicht, hat er 
selbstverstandlich nicht nur Zustimmung gefunden, sondern ist 
auch von den verschiedensten Seiten angegriffen worden. In einer 
Darstellung, der es -wie dieser vor allem darauf ankommt, die 
Hauptsachen iibersichtlich zu geben, kann man nicht alien Ein- 
wanden begegnen. Ich habe deswegen ausdrucklich an einigen 
Stellen auf spatere Erganzungen hingewiesen, und ich will 
jetzt versuchen, wenigstens noch die wichtigsten Punkte klar- 
zustellen, an die vor allem sich Bedenken knupfen lassen. 

Erstens kann man bestreiten, daO das naturwissenschaftlich 
generalisierende Verfahren unter alien Umstanden un- 
fahig ist, das Individuelle und Besonderezu begreifen, 
und daher nicht zugeben wollen, daB der Begriff einer Geschichte 
nach naturwissenschaftlicher Methode logisch widersinnig sei. 

Zweitens kann man behaupten, daD auch ohne Wert- 
gesichtspunkte eine individualisierende Begriffsbildung 
moglich ist, und dafi es daher nicht angeht, den Begriff der Ge- 
schichte prinzipiell mit dem der Wertbeziehung zu verbinden. 

SchlieCIich kann man, auch wenn diese beiden Einwande er- 
ledigt sind, die Objektivitat der historischen Kulturwissen- 
schaften problematisch finden und ihr die Objektivitat der 
Naturwissenschaften als Muster gegemiberstellen, das sie nie zu 
erreichen vermogen. M T ir wollen diese drei Bedenken nacheinander 
durchgehen. 

Was die Erfassung des Besonderen und Individuellen durch 
naturwissenschaftlich verfahrende Disziplinen betrifft, so werden 
als Beispiele hierfur fast immer die P h y s i k und die Astro- 
noraie genannt. Das ist kein Zufall, und der Grund dafiir ist 
auch nicht schwer zu finden. Diese beiden Wissenschaften wenden 
die Mathematik auf ihre Objekte an, und wir brauchen nur 
an das zu erinnern, was wir uber die zwei Wege gesagt haben, die 
der Wissenschaft zur Ueberwindung des heterogenen Kontinuums 
jeder Wirklichkeit offenstehen 1 ), um zu begreifen, weshalb man 

1) Vgl. oben S. 33 f. 



— 115 — 

eine restlose Erfassung der individuellen Realitat durch die Be- 
griffe der Physik und der Astronomie fur moglich halt. Zugleich 
aber wird man unter diesem Gesichtspunkte am leichtesten ein- 
sehen, daB hier eine Tauschung vorliegt, d. h. daB die Wirklichkeit 
auch durch diese Wissenschaften nur in einer Weise begriff en wer- 
den kann, die unsern logischen Grundgegensatz von Natur und 
Geschichte nicht in Frage stellt. Wir brauchen zu diesem Zweck 
nur einen n e u e n Begriff der „ Individualitat" zu verstehen, der 
sich sowohl von der schlechthin unbegreiflichen bloBen Anders- 
artigkeit jeder Wirklichkeit als auch von der durch Wertbeziehung 
entstehenden Individualitat, die in die historischen Begriffe ein- 
geht, prinzipiell unterscheidet, und den man als Begriff der quan- 
titativenlndividualitatim Gegensatz zur stets q u a 1 i- 
tativen Individualitat der Wirklichkeit als der bloBen 
Andersartigkeit und der ebenfalls stets qualitativen histori- 
schen Individualitat bestimrnen kann. 

Die Naturwissenschaft beschrankt sich in einigen Disziplinen 
bei ihrer Begriffsbildung auf das an der Wirklichkeit, was sich 
zahlen und m e s s e n laBt, und in die a 1 1 g e m e i n s t e 
Theorie der Korperwelt gehen dann schlieftlich nur noch quanti- 
tative Bestimmungen ein. Eine rein mechanische Auffassung 
fallt mit einer rein quantitativen zusammen. Infolge der iiblichen 
Verwechslung von Begriff und Wirklichkeit entsteht nun 
die Meinung, die rein quantitative Welt der Physik, die lediglich 
einer begrifflichen Scheidung ihr Dasein verdankt, sei selbst eine 
Realitat wie die wirklichen Kbrper, ja es wird geradezu der 
SchluB gezpgen, daB das nur quantitativ Bestimmte die „wahre" 
kdrperliche Wirklichkeit sei und alle Qualitaten lediglich 
„im Subjekt" existieren, also zur bloBen „Erscheinung" gehoren. 

Wer von einer derartigen, bei aller Nuchternheit doch hochst 
phantastischen Metaphysik, auf die wir hier nicht niiher 
eingehen konnen 1 ), beherrscht ist, wird das Wesen der wissen- 
schaftlichen Begriffsbildung nie verstehen. TJnsere Wissenschafts- 
Iehre gilt in der Tat nur unter der Voraussetzung, daB die W i r k- 
lichkeit jenes qualitative heterogene Konti- 

1) Vgl. aber diesen physiologischen Idealismus mein Buch: Der 
Gegenstand der Erkenntnis, 1892, 4. u. 5. Aufl. 1921, S. 63 ff. 

8* 



— 116 — 

nuum ist, von dem fruher gesprochen wurde, und daB die empi- 
rischen Disziplinen den Sinn haben, diese empirische Wirk- 
lichkeit zu erkennen. Halt man hieran fest, dann fiigen sich die 
quantifizierenden Naturwissenschaften unserer Theorie 
leicht ein, ja es zeigt sich, daB gerade sie die Individualist der 
Wirklichkeit und der Geschichte, die stets qualitativ 
ist, niemals in ihre Begriffe aufnehmen konnen. 

Freilich, das muB man zugeben: jene rein quantitative ,,Welt" 
der Physik ist durch die generalisierende Begriffsbildung restlos 
erkennbar, und es liiBt sich ihre ,, Individualitat" sogar b e r c c h- 
n e n. Denn ihr Inhalt hat jede unubersehbare Heterogeneitat 
verloren, und die homogenen Kontinua sind mit Hilfe der Ma the- 
matik begrifflich vollkommen zu beherrschen. Jeden beliebigen 
Punkt des homogenen Raumes konnen wir mit Mitteln, auf die es 
hier nicht ankommt, genau bestimmen. Diejenigen, die in dieser 
rein quantitativen Welt eine Realitat sehen, brauchen daher 
nur eine Anzahl allgemeiner Formeln miteinander zu kombinieien, 
urn dadurch die Individualitat dieser ,, Wirklichkeit" zu erfassen. 
Es ist in der Tat diese Individualitat nichts anderes als der 
Schnittpunkt von Allgemeinheiten. Man versteht von hier aus 
auch, wie z. B. Schopenhauer dazu kam, Raum und Zeit geradezu 
als Prinzipien der Individuation zu bezeichnen, und so hegt wohl 
noch heute mancher den Glauben, die Angabe, w o und w a n n 
etwas ist, mache seine wirkliche Individualitat aus. 

Unter welcher Voraussetzung allein ist dies zutreffend ? Man 
muB mit der rationalistischen Metaphysik des siebzehn- 
ten Jahrhunderts die bloBe Ausdchnang, die extensio von 
Descartes und Spinoza, der korperlichcn Wirklichkeit gleichsetzen 
und dementsprechend die letzten Teiie dieser „ Wirklichkeit" oder 
die „Alome" sich so denken, daB aus ihnen der Korper besteht 
wie eine mathematische Lime aus Punkten. Dann kann man 
allerdings jeden Korperteil in seiner ^Individualitat" mit Hilfe der 
naturwissenschaftlichen Begriffe fxir restlos erkennbar halten. Be- 
darf es aber wirklich noch des Beweises, daB diese rein quanti- 
tative Welt der Physik keine Wirklichkeit ist in dem 
Sinne des Wortes, den wir alle damit verbinden ? Beruht die Er- 
kennbarkeit ihrer Individualitat nicht nur darauf, daB man aus 



_ 117 — 

ihr alles entf ernt hat, was sich nicht mit quantitativ bestimm- 
ten Begriflen erkennen laCt, und hat daher ihre rein quantitative 
,, Individualitat" mit dem, was wir unter der Individualist einer 
empirischen Wirklichkeit verstehen, und ebenso mit dem, was fur 
die Geschichte als Individualist in Betracht kommt, noch viel 
mehr als den Namen gemein? 

Das rein Quantitative ist, fur sich betrachtet, unwirklich. 
Die bloCe „Ausdehnung" enthalt noch keine korperliche Reali- 
t a it. Das homogene Kontinuum, das man allein begrifflich voll- 
kommen beherrscht, steht vielmehr in schroffstem Gegensatz 
zum heterogenen Kontinuum, das jede "Wirklichkeit uns 
zeigt, von deren Individualitat wir bisher gesprochen haben. Also 
ist die „Individualitat", die als Schnittpunkt von Allgemein- 
heiten zu denken ist, und die sich durch raumliche oder zeitliche, 
rein quantitative Bestimmungen festlegen laflt, durchaus nicht die 
Andersartigkeit, die wir die Individualitat der Wirklichkeit ge- 
nannt haben, und die fur das Problem der historischen Begriffs- 
bildung von Bedeutung ist. Man muB diese Begriffe streng aus- 
einanderhalten, auch um das Wesen der mathematischen Natur- 
wissenschaft zu verstehen. Die wirkliche Individualitat hat mit 
der durch die mathematische Physik beherrschbaren nur das e i n e 
gemein, daB sie sich auch immer an einer bestimmten Stelle des 
Raums oder der Zeit befindet. Aber dadurch a 1 1 e i n ist sie noch 
nicht als Individualitat, ja dadurch allein ist sie i n h a 1 1 1 i c h 
uberhaupt noch nicht bestimmt. Man mag also noch so viele All- 
gemeinheiten sich „schneiden" lassen, so wird man dadurch, ab- 
gesehen von den quantitativen Raum- und Zeitangaben, n i c h t s 
von dem erfassen, was einer einmaligen Wirklichkeit eigentumlich 
ist und sie zu diesem besondern, nie wiederkehrenden einen Indivi- 
duum macht. 

Dabei ist es gleichgultig, wie groB oder wne klein man sich das 
Wirklichkeitsstuck denkt, das in seiner Besonderheit und Indivi- 
dualitat in Betracht kommt. Solange man uberhaupt noch eine 
Wirklichkeit vor sich hat, die mit den uns bekannten Wirk- 
lichkeiten unter einen Begriff gebracht werden kann, muB man sie 
wie jede Wirklichkeit als heterogenes Kontinuum, also als durch. 
begriffliche Erkenntnis prinzipiell unerschbpflich voraussetzen. 



— 118 — 

Denken wir, um diesen Gedanken auf die Spitze zu treiben, an das 
Weltbild der Physik, die alle Korper als aus „Elektronen" be- 
stehend denkt. Wird durch sie etwa die korperliche Wirklichkeit 
restlos begriffen? GewiB nicht. Auch die Elektronen werden 
von der Physik nur als einfach und gleich angesehen, wie 
alle Exemplare eines allgemeinen Gattungsbegriffes. Wenn man 
darunter Wirklichkeiten versteht, so miissen sie den Raum e r- 
f till en. Haben wir ein Recht zu der Meiming, daC sie absolut 
homogen sind ? Wie kommen wir dazu, solche Realitaten an- 
zunehraen? Jeder uns bekannte Korper ist von jedem andern ver- 
schieden und jeder in seiner Eigenart so irrational wie das korper- 
liche Weltganze. So wird es also mit jedem korperlichen Ding 
sein, zu dem die Physik kommt. Wirklichkeiten konnen nie 
,,Atome", nie „letzte Dinge" im logischen Sinne des Wortes sein. 
Die wirklichen Atome sind immer noch mannigfaltig und indivi- 
duell. Wir k e n n e n keine anderen Wirklichkeiten, und wir haben 
daher kein Recht, sie als Wirklichkeiten anders zu denken, so 
unwesentlich ihre Individualitat fur die p h y s i k a 1 i- 
schen Theorien auch sein mag. 

Kurz, das heterogene Kontinuum der Wirklichkeit macht sich 
auch darin geltend, dafi die Physik mit ihrer Arbeit nie z u 
E n d e kommen kann. Was sie erreicht, ist immer nur das V o r- 
1 e t z t e , und wo es so aussieht, als ware sie zum L e t z t e n ge- 
kommen, da beruht das darauf, daB sie das, was noch nicht in ihre 
Regriffe eingegangen ist, ignoriert. Ein Korper, der in der 
Weise ein Teil eines groCeren Korpers ist wie ein Punkt ein Teil 
einer Linie, und der daher in seiner ganzen Wirklichkeit durch seine 
Stelle auf der Linie restlos bestimmt wird, ist eine begriffliche 
F i k t i o n. Es ist der Begriff eines theoretischen Wertes, 
einer „Idee", einer „Aufgabe", aber nicht der einer Realitat. 

Ja, man muB noch einen Schritt weiter gehen. Sogar das homo- 
gene Kontinuum einer mathematischen Linie ist 
etwas prinzipiell anderes als das homogene Diskretum von 
Punk ten, aus denen sie angeblich „besteht". In Wahrheit 
IaGt sich eine Linie nie aus Punkten zusammensetzen, und 
nun soil man gar das heterogene Kontinuum der Wirklichkeit als 
homogenes Diskretum von „Atomen" im. strengen Sinne des 



— 119 — 

Wortes, d. h. einfachen und einander gleichen Dingen denken 
und dann meinen, dies restlos erkennbare Gebilde sei eine Wirk- 
lichkeit? 

Man muB iiber den rein quantitativ bestimmten mechanischen 
Begriffen vollkommen vergessen haben, was man in jeder 
Sekunde seines wachen Daseins an Wirklichkeit e r 1 e b t , urn 
glauben zu konnen, es werde durch die Begriffe der mathematischen 
Physik irgendeine w i r k 1 i c h e Individuality erfaflt. Tatsach- 
lich bedeutet die scheinbare Individualists- und Wirklichkeits- 
nahe, welche durch Anwendung der Mathematik und durch Ein- 
fuhrung des homogenen Kontinuums in die Begriffe hervorgebracht 
wird, die groBte Wirklichkeitsferne, denn individuelle 
Wirklichkeiten sind nie homogen, und alles, was sich raathe- 
matisch „individualisieren" laftt, ist fur sich allein, wie alles 
rein Quantitative, irreal. Jedenfalls, die mathematisch bestimm- 
bare quantitative Indivdiualitat ist nicht die Individualitat der 
Wirklichkeit und ebensowenig die Individualitat, die in einen 
historischen Begriff eingeht, was wohl nicht erst bewiesen zu wer- 
den braucht. 

Hat man dies verstanden, so wird man auch in der Astro- 
n o m i e keine Gegeninstanz gegen die Behauptung erblicken, daB 
sich mit naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriffen keine wirk- 
lichen Individualitaten in die Wissenschaft aufnehmen lassen. Ge- 
wiB, die Astronomie kann fur die Vergangenheit und fur die Zu- 
kunft die Bahnen der einzelnen Weltkorper, die sie mit Eigen- 
namen bezeichnet, genau berechnen, sie kann Sonnen- und Mond- 
finsternisse bis auf Bruchteile einer Sekunde voraussagen, und eben- 
so die individuellen Zeitpunkte angeben, in denen sie fruher 
stattgefunden haben, so daB es moglich ist, damit auch historische 
Ereignisse chronologisch festzulegen. Schon oft hat man 
daher in der Astronomie die denkbar vollkommenste Erkenntnis 
erblickt, und von hier aus ist dann das Ideal einer „Weltformel" 
entwickelt worden, mit deren Hilfe es moglich sein miiBte, den 
gesamten Werdegang der Wirklichkeit in alien seinen individuellen 
Stadien restlos zu berechnen. Besonders du Bois-Reymond hat 
diese Gedanken popular gemacht und damit in weiten Kreisen 
die wunderlichsten Vorstellungen von den Zukunftsmoglichkeiten 



— 120 — 

der Naturwissenschaft genahrt, die merkwttrdigerweise auch in 
logischen Schriften ihr Unwesen treiben und zu der Behauptung 
gefiihrt haben, der gesamte geschichtliche Verlauf der Welt lasse 
sich im Prinzip naturwissenschaftlich voraussagen wie eine Pla- 
netenbahn. 

Es wurde zu weit fuhren, den Knauel von logischen Widersinnig- 
keiten, der in dem Gedanken einer solchen Weltformel steckt, 
vollstandig zu entwirren. Es geniigt fur unsere Zwecke, wenn wir 
zeigen, dafi schon der A n s a t z p u n k t fur diese Gedanken- 
gebilde falsch ist, also ihnen jede haltbare Grundlage fehlt. Wir 
brauchen nur zu fragen: was von den Weltkorper n kann die 
Astronomie berechnen, und was geht daber in ihre Gesetze ein? 
Die Antwort ist einfach. Die Astronomie begreift restlos und in 
ihrer Individualist lediglich die quantitativen Bestim- 
mungenihrer Objekte. DieZ eitpunktez. B. und die St ell en 
im Raum kann. sie in ihrer ^Individualist" angeben, wo die 
einzelnen Weltkorper waren, sind und sein werden. Wenn man 
daher aus den historischen Quellen bereits w e i 13 , dafi ein be- 
stimmtes geschichtliches Ereignis mit einer Sonnenfinsternis z c i t- 
1 i c h zusammenfiel, so vermag man auch den Tag zu berechnen, 
an dem es stattgefunden hat. Die zeitliche Koinzidenz mit der 
Sonnenfinsternis mufite aber schon vorher feststehen, und etwas 
anderes als das Datum, d. h. eine quantitative Bestimmung 
kann die Astronomie nicht angeben. 

Wird von der Astronomie also irgendeine wiikliche Indivi- 
dualist erfaCt? Wir haben bereits gezeigt, dal3 man die quanti- 
tativen Bestimmungen zwar ,,individuell" nennen kann, weil sie 
auch zur Individualist gehoren wie jede beliebige Bestimmung, 
daG aber diese raumzeitliche Individualist mit dem, was wir in der 
Geschichte unter der Individualist der Wirklichkeit verstehen, 
nie zusammenfallt. Mit Riicksicht auf die voile Besonderheit der 
Weltkorper sind die „individuellen" Raum- und Zeitangaben der 
Astronomie sogar durchaus allgemein. Denn anderselben 
Stelle des Raumes und der Zeit konnte sich jedes beliebige 
Exemplar eines Kbrpers mit denselben quantitativen Bestim- 
mungen finden, das darum noch nicht eine einzige der individuellen 
qualitativen Eigenschaften zu haben brauchte, die seine 



— 121 — 

Individualitat ausmachen, und die eventuell fur eine individuali- 
sierende Wissenschaft wesentlich sind. 1st doch der Zusammen- 
hang der individuellen qualitativen und der individuellen quanti- 
tativen Bestimmungen auch fur die Astronomie ganz „zufallig", 
ja, kein denkbarer Fortschritt der generalisierenden Wissenschaf- 
ten wird diese Kluft quantitativer und qualitativer Individualitat 
uberbriicken, denn sobald wir das Reich der reinen Quantitaten 
veriassen und zur qualitativen Wirklichkeit ubergehen, komraen 
wir aus dem homogenen ins heterogene Kontinuum, 
und damit hort jede Moglichkeit einer restloseri begrifflichen 
Beherrschung der Objekte auf. 

Deshalb andert auch die Moglichkeit einer Zuordnung der 
Konstruktionen der mathematischen Physik zu dem Qualitativen 
der Wirklichkeit an unserem Ergebnis nichts, wie man gemeint 
hat 1 ). GewiB ist die Zuordnung, welche die Psychophysik ver- 
sucht, nicht willkiirlich, aber sie liiQt sich niemals s o durch- 
fiihren, daB das qualitative Individuelle dem quantitativen 
„ Individuellen" genau und r e s 1 1 o s entspricht, und darauf allein 
kommt es in diesem Zusammenhang an. Von dem Qualitativen 
ist immer nur das, was davon in einen allgemeinen Begriff 
eingeht, einer quantitativen Bestimmung zugeordnet zu denken, 
und es wird daher auch auf dem Uimvege iiber die mathematische 
Physik niemals mbglich sein, mit Hilfe von Gesetzesbegriffen bis 
zur qualitativen Individualitat selbst vorzudringen. 

Wenn ich z. B. weiB, daB einer genau bestimmten Quantitat 
ein Ton von genau bestimmter Hohe, also von genau bestimmter 
Qualitat, entspricht, so ist dabei trotzdem an dem Ton nur das 
berucksichtigt, was sich beliebig oft wiederholt, namlich 
seine Hohe, die er mit zahllosen Tonen gemeinsam hat, und nicht 
etwa das, was diesen Ton zum einmaligen und individuellen Wirk- 
lichen macht. Oder will man etwa bezweifeln, daB jeder wirk- 
1 i c h e Ton wie jeder wirkliche Mensch nur einmai existiert, daB 
jede einzelne wirkliche Sinnesqualitat sich von alien andern 
unterscheidet ? 

Bei der Gewbhnung, lediglich in allgemeinen Begriffen zu denken 

I ) Vgl. Frischeisen-K&hler, Wissenschaft und Wirk- 
lichkeit, S. 150 f. 



— 122 — 

und auf die unwichtige Individualitat des Wirklichen nicht zu 
a c h t e n , also an dem Ton nur seine begrifflich bestimmbare 
Hohe in Betracht zu Ziehen, mag man tibersehen, was ein 
wirklicher Ton ist, und dann an seine restlose Zuordnung zu quanti- 
tativen Bestimmungen glauben. Aber diese Denkgewohnheit ist 
es gerade, die wir bekampfen. Nehmen wir andere wirkliche Ge- 
bilde als „einfache" Sinnesqualitaten, so tritt die Unbegreiflich- 
keit ihrer qualitativen Individualitat sofort zutage. Bei den Tonen 
sind ihre individuellen Unterschiede unwesentlich, gewiB, aber 
darum nicht weniger wirklich, und sie gehen mit ihrer qualitativen 
Individualitat in keinen Begriff der Naturwissenschaft ein. 

Es bleibt also dabei: das Qualitative ist von dem Quantitativen 
durch eine Kluft getrennt, liber die auch die Psychophysik der 
Zukunft keine Brucke schlagen wird. Der Rationalismus des sieb- 
zehnten Jahrhunderts mochte glauben, daB jedem „einfachen" 
und bloB „ausgedehnten" Korper eine ebenso einfache Sinnes- 
empfindung „parallel" zu setzen sei, und daB man daher die Wirk- 
lichkeit more geometrico behandeln konne. Wir solltcn heute end- 
lich gelernt haben, dafi die rationalen „Welten" erst Produkte der 
generalisierenden Abstraktion sind, und daB sie deshalb zwar gewifl 
nicht aufhoren, theoretisch und praktisch wertvoll zu sein, aber 
niemals mit individuellen Wirklichkeiten zusammenfallen. 

Aus diesen Grunden hat die Berufung auf Physik und Astrono- 
mie oder gar auf Psychophysik fttr unsere Probleme keine Bedeu- 
tung. Der Schritt vom Homogenen ins Heterogene, der uns vor 
eine prinzipiell unerschopHiche Mannigfaltigkeit fuhrt, ist stets der 
Schritt vom Unwirklichen zum Wirklichen, der auch mit dem vom 
Rationalen zum Irrationalen zusammenfallt. Wir konnen nur den 
Schritt von der irrationalen Wirklichkeit zu den rationalen Be- 
griffen machen, indem wir das nicht Quantifizierbare weglassen, 
die Ruckkehr zur qualitativen individuellen Wirklichkeit ist 
uns fur immer versagt. Denn wir werden aus den Begriffen nie 
mehr herausholen als das, was wir in sie hineingetan 
haben. Der S c h e i n , als fuhre ein Komplex von Allgemeinheiten 
zum Individuellen zuriick, entsteht dadurch allein, daB wir uns 
ein ideales Sein rein quantitativer Art aufbauen, in dem jeder be- 
liebige P u n k t beherrschbar ist, und daB wir dann diese begriff- 



— 123 — 

Iiche Welt mit der individuellen Wirklichkeit verwechseln, 
in der es keine „Punkte" gibt. 

Im Zusammenhang hiermit sei noch ein Einwand erwahnt, der 
sich an ein in neuerer Zeit auch in der Philosophie vielfach be- 
handeltes Naturgesetz knupft. Der sog. Entropiesatz, der 
lehrt, dai3 es in der Welt zu einem allgemeinen „Warmetod" kom- 
men muB, weil alle Bewegung allmahlich in Warme iibergeht und 
alle Intensitatsunterschiede sich immer mehr ausgleichen, ist offen- 
bar das Produkt einer generalisierenden Begriffsbildung, 
und doch scheint dadurch zugleich der einmalige Verl a u f 
der „Weltgeschichte" im umfassendsten Sinne des Wortes be- 
stimmt zu werden, ja man hat diese Lehre, wonach die Welt 
schlieBlich stillstehen muB wie ein Uhrwerk, das von niemandmehr 
aufgezogen wird, geradezu als das Entwicklungsgesetz der Welt 
bezeichnet. 

Selbstverstandlich haben Ueberlegungen dariiber, ob dies be- 
rechtigt ist, fur die Methode der historischen Kultur wissen- 
schaften keine Bedeutung, denn niemand wird behaupten, daB 
sich die Folgen dieses Gesetzes in dem uns bekannten Abschnitt 
der Menschheit'sgeschichte bemerkbar machen konnen. 
Aber im logischen Interesse ist es doch wichtig, zu zeigen, 
daB auch hier das allgemeine Prinzip des notwendigen Auseinander- 
fallens naturwissenschaftlich generalisierender und historisch indivi- 
dualisierender Betrachtungsweise nicht durchbrochen wird, und 
wir brauchen zu diesem Zwecke nur an einige Gedanken zu er- 
innern, die aus Kants Antinomienlehre jedem gelaufig 
sein sollten. 

Ware der Entropiesatz wirklich ein historisches Gesetz 
und nicht nur e,in allgemeiner Begriff, dem man jeden beliebigen 
Teil der Korperwelt als Gattungsexemplar unterordnen kann, so 
miiBte er auf das einmalige Weltganze im strengsten 
Sinne des Wortes anwendbar sein, denn nur dann konnte er etwas 
iiber die Geschichte dieses „historischen" Ganzen sagen. Gerade das 
aber ist unmoglich, sobald man an den allein zulassigen Begriff des 
korperlichen Welt ganzen denkt. Die Wirklichkeit ist nicht nur 
intensiv, sondern auch extensiv unerschopflich, d. h. ihr hetero- 
genes Kontinuum IaBt nicht nur im kleinen, wie wir bereits sahen, 



— 124 — 

sondern auch im groBen jede Grenze vermissen, und infolge- 
dessen ist die Anwendung eines Gesetzes, das begrenzte, erschbpf- 
bare Quantitaten voraussetzt, auf das Weltganze ausgeschlossen. 
Der Begriff des Warmetodes verliert dementsprechend sofort 
seinen Sinn, sobaid es sich nicht mehr urn ein begrenztes 
Quantum von Energie handelt. 

Mit Rucksicht auf den ersten Satz der Thermodynamik, wonach 
das Quantum der Energie konstant ist, hat man das schon 
oft bemerkt und sonderbarerweise daraus bisweilen den SchluB 
gezogen, es musse die Wirklichkeit begrenzt sein. Dieser 
SchiuB beruht jedoch wieder auf einer unzulassigen rationalisti- 
schen Verwechslung der Realitat mit unsern Begriffen, oder er 
setzt voraus, daB die Wirklichkeit sich auch mit Rucksicht auf 
ihre inhaltlichen Bestimmungen nach der Wissenschaft richte. 
Tatsachlich darf man nur den Schlufi Ziehen, daB die Welt der 
Physik nicht „die" "Wirklichkeit ist, und daB sowohl der erste 
als auch der zweite Hauptsatz der Thermodynamik ledigjich in 
dem Sinne auf das Weltganze anwendbar sind, daB jeder seiner 
Teile als Gattungsexeniplar darunter fallt. Der Teil ist 
dann aber zugleich als geschlossen und e n d 1 i c h , also in dieser 
Hinsicht als prinzipiell verschieden vom Weltganzen zu 
denken. Schon die Ausfiihrung dieses Gedankens in einer Richtung 
entscheidet: da man der Wirklichkeit keinen Anfang in der 
Z e i t setzen kann, muBte der Warmetod langst eingetreten sein, 
■wenn man das Quantum Warme oder kinetischer Energie als 
endlich annimmt, und wenn man es „unendlich" groB setzt, falls 
das uberhaupt einen Sinn hat, kann der Warmetod nie eintreten. 

Der Entropiesatz gilt also, falls er richtig ist, nur von jedem 
beliebigen als geschlossen gedachten Teil der Welt. 
Ueber den einmaligen Verlauf oder iiber die Geschichte des Welt- 
ganzen sagt er uns gar nichts, und deswegen sagt er uns im 
Grunde auch nichts mit naturgesetzlicher Notwendigkeit iiber die 
Geschichte irgendeines wirklichen Teiles der Welt, denn 
keiner dieser Teile istwirklichvollkommen geschlossen, so daB es in 
ihm einmal zu einem Stillstand kommen m u fi , "wie in einer Uhr, 
die niemand mehr aufzieht. Es bleibt vielmehr sehr wohl denkbar, 
daB jeder beliebige Teil in erne kausale Verbindung mit einem 



— 125 — 

andern Teil der Welt tritt, in dem ein grofieres MaB von 
Warme vorhanden ist, wodurch dann auch sein WarmemaB wieder 
zunimrat, er wie eine Uhr von neuem aufgezogen wird, also 
nicht zum Stillstand kommt, und dies kann sich wegen der prinzi- 
piellen Grenzenlosigkeit der Welt beliebig oft wieder holen, 
so dali die Geschichte eines Teiles sehr wohl auch inumgekehr- 
ter Richtung verlaufen kann, wie der Entropiesatz lehrt, 
oder daB sich in ihr ein Auf- und Abwogen in dem Warme quantum 
zeigt, wie wir das ja tatsachlich in den meisten uns bekannten Teilen 
der Welt beobachten. 

Selbstverstandlich sind dies nichts anderes als logische M 6 g- 
lichkeiten, aber sie genugen hier, wo es nur darauf ankommt, 
zu zeigen, daB es k e i n e n Fall gibt, in dem das a 1 1 g e m e i n e 
Gesetz zugleich den e i n m a 1 i g e n Verlauf eines historischen 
Ganzen mit Notwendigkeit bestimmt. Auch der Entropiesatz 
sagt uns nichts iiber den einmaligen Verlauf des Weltganzen, 
also iiber die „Weltgeschichte", sondern nur etwas iiber jeden 
beliebigen, aber zugleich geschlossenen Teil. Jeder dieser Teile 
ist dann dem allgemeinen Gesetz als Gattungsexemplar unterzu- 
ordnen, und gerade auf dieser Allgemeinheit bcruht die Bedeutung 
des Gesetzes. Es hat wie alle Naturgesetze die ,,hypothetische" 
Form: w e n n es ein geschlossenes Korperganzes gibt, dann 
muB es in ihm zum Warmetode kommen. Nun ist aber weder das 
Kbrperganze der Welt noch irgendein historisches Ganzes absolut 
geschlossen, also hat der Satz historisch gar keine Bedeu- 
tung. 

Irn ubrigen sei noch einmal bemerkt, daB diese Ausfiihrungen 
fur die Einteilung der empirischen Wissenschaften in die zwei 
Gruppen der generalisierenden Naturwissenschaften und der indivi- 
dualisierenden Kulturwissenschaften nicht wesentlich sind. Wir 
mbgen den Begriff der Kultur durch Uebertragung des Wert- 
gesichtspunktes auf ihre Vorstufen und ihre sonstigen, raumlichen 
Bedingungen noch so weit ausdehnen, wir werden doch niemals 
zu dem Begriff eines historischen Ganzen kommen, in dem das, 
was der Entropiesatz aussagt, von geschichtlicher Bedeutung 
werden kbnnte, selbst wenn wir dieses Ganze als geschlossen an- 
nahmen. Nur das prinzipielle und allgemeine logische Aus- 



— 126 — 

einanderfallen von Naturgesetzlichkeit und 
Geschichte sollte auch hier gezeigt werden. 

Da es sich dabei hauptsachlich um die Bekampfung einer fal- 
schen Auffassung der rein quantitativen Begriffsbildung und somit 
der Mathematik handelt, mochte ich diese Ausfuhrungen mit einem 
Wort von Goethe schlieGen, der zwar gewifi kein systematise!! 
wissenschaftHcher Philosoph war, dafiir aber einen eminenten Sinn 
fur das besafi, was wirklich ist. Riemer iiberliefert von ihm 
die folgenden Worte: „Die mathematischen Formeln auCer ihrer 
Sphare, d. h. dem Raumlichen, angewendet, sind vollig starr und 
leblos, und ein solches Verfahren ist hochst ungeschickt. Gleich- 
wohl herrscht in der Welt der von den Mathematikern unterhaltene 
Wahn, daJ3 in der Mathematik allein das Heil zu finden sei, da 
sie doch, wie jedes Organ unzulanglich gegen das All ist. Denn 
jedes Organ ist spezifisch und nur liir das Spezifische." 

XIII. 

DIE WERTINDIFFERENTE INDIVIDUALITAT 

Der Gedanke an die Uebertragung der Wertgesichtspunkte 
auf Wirklichkeiten, die nicht selbst Kulturvorgange sind, wohl 
aber die historische Kultur beeinflussen und daher auch durch ihre 
Individuality wichtig werden, fiihrt uns auf das, was fiber den 
zweiten oben erwahnten Einwand zu sagen ist. -Kami man auch 
ohne Kultur werte eine Wirklichkeit individuals 
sierend behandeln? Ehe wir jedoch diese Frage beantworten, 
miissen wir uns daruber klar werden, wie sie allein gestellt werden 
darf, wenn die Entscheidung von wesentlieher Bedeutung fur die 
Einteilung der Wissenscliaften sein soil. 

Da wir liber Worthed eutungen, die aus dem vorwisse&schaft- 
lichen Leben stammen, und ferner iiber wissenschaftliche Begriffe 
verfugen, so konnen wir selbst verstandlich von jeder b e 1 i e b i- 
g e n Wirklichkeit durch eine bestimmte Kombination von Begriffs- 
elementen eine Darstellung entwerfen, die nur auf s i e paBt, 
also von ihr einen Begriff mit individuellem Inhalt bilden. Es 
hangt das ganz von unserer Willkiir ab. Wir werden es zwar nur 



— 127 — 

claim tun, wenn a as das betreffende Objekt in irgendeiner Weise 
„interessant" oder „wichtig" ist, und das bedeutet, daB es zu 
Werten in Beziehung steht, oder daB ein verstandlicher Sinn an 
ihm haftet. Aber es ist zweifellos, daB wir audi vollig gleichgiiltige, 
sinnfreie Gegenstande ihrer Individualitat nach schildern k 6 n- 
nen, wenn wir es eben w o 1 1 e n. Der Willensakt macht dann 
diese Individualitat „wichtig" und stellt so die Wertbeziehung 
her. 

An der Mbglichkeit individualisierender Darstellung ohne Be- 
ziehung auf Kulturwerte ist also nicht zu zweifeln. Aber 
dies allein hat fiir die Einteilung der Wissenschaften noch 
keine Bedeutung. Denn solche individuellen Begriffe sind voll- 
kommen willkiirlich gebildet, und das gilt nicht nur fiir die Falle, 
in denen wir die Individualitat allein deswegen dargestellt haben, 
weil wir es wollten, sondern auch fiir die Falle, in denen sich, wegen 
der Verkniipfung mit den von uns gewerteten Werten, ohne unsere 
ausdruckliche Absicht individuelle Begriffe der betreffenden Ob- 
jekte bildeten. Jeder kennt Wirklichkeiten in ihrer Individualitat 
wegen der praktischen Bedeutung, die sie fiir ihn haben, 
und das hat mit wissenschaftlicher Begriffsbildung nichts zu tun. 
Die Frage darf daher nur so gestellt werden, ob eine w i s s e n- 
s c h a ft li ch e- f Darstellung der Individualitat eines Objektes 
denkbar ist, die nicht von allgemeinen Wertgesichtspunkten der 
Kultur geleitet wird. 

Doch auch diese Frage ist noch nicht bestimmt genug. Es ist 
hier namlich unter wissenschaftlicher Darstellung nur das zu ver- 
stehen, was in sich selbst zum wissenschaftlichen A b s c h 1 u B 
kommen kann, also nicht etwa bloB Material zur weiteren 
wissenschaftlichen Bearbeitung liefert. Wir haben ja von vorn- 
herein darauf hingewiesen, daB der ProzeB, durch den das Ma- 
terial gefunden wird, bei einer logischen Gliederung der Wissen- 
schaften aus dem Spiele bleiben muB, und daher ist der Begriff des 
wissenschaftlichen Abschlusses hier in einem logisch strengen 
Sinne zu nehmen. Es gibt namlich Forscher, die sich bisweilen 
mit Ergebnissen begniigen, welche fiir jede einen AbschluB erstre- 
bende wissenschaftliche Arbeit nur als weiter zn bearbeitendes 
Material anzusehen sind, und es ist von vornherein klar, daB die 



— 128 — 

Wissenschaftslehre zu einer systematischen GUederung der Wissen- 
schaften nie kommen wird, wenn sie das, was a u c h als bloGe 
Materialsammlung gelten kann, mit abgeschlossener 
wissenschaftlicher Begriffsbildung auf einer Linie behandelt. 

Fragen wir nun noch einmal, ob der wissenschaftliche A b- 
schlufi einer individualisierenden Begriffsbildung ohne Bezie- 
hung auf allgemeine Kulturwerte moglich ist, so muB die Antwort 
verneinend Iauten. An Beispielen laflt sich das am leichtesten 
zeigen. Wir erwahnten bereits friiher, daG man bei der Geo- 
graphic zweifelhaft sein kann, ob sie zu den Naturwissensebaf- 
ten oder den Kulturwissensrhaften gehort *). So wie sie faktisch be- 
Irieben wird, stellt sie meist ein Gemisch der beiden Arten von 
Begriffsbildung dar. Aber begrifflich konnen wir ihre Bestandteile 
scharf gegeneinander abgrenzen. Wird die Erdoberflache als 
Schauplatz der Kulturentwicklung angesehen, so 
ubertragen sich die Wertgesichtspunkte von der Kultur auf 
die fiir ihre Entstehung notwendigen und sie in ihrem Werdegange 
beeinflussenden geographischen Bedingungen, und die Erd- 
oberflache wird dann wegen des mit ihr verkniipften kulturwissen- 
schaftlichen Interesses durch ihre I n d i v i d u a 1 i t a t wesent- 
lich. Die individualisierende Begriffsbildung der Geographie ist 
also in diesem Falle durch allgemeine Kulturwerte geleitet und 
fiigt sich mindestens ebensogut wie die historische Biologie in den 
Rahmen unseres Schemas ein. AuBerdem werden dieselben 
Objekte wichtig, wenn es gilt, allgemeine Theorien zu bilden, 
die man nicht geograplrisch, sondern geologisch 
nennt. Hier liegen dann generalisierende Begriffsbildungen vor, und 
die einzelnen Formationen der FItisse, Meere, Gebirge usw., die fur 
die Geschichte der Kultur durch ihre Eigenart und Individualitat 
wesentlich sind, kommen nur als Gattungsexemplarein 
Betracht. Drittens gibt es nun aber in der Geographie allerdings 
auch individualisierende Darstellungen bestimmterTeile 
der Erdoberflache, die in keinem Zusammenhange mit der Kultur 
stehen, und diese scheinen in unserem Schema nicht unterzubringen 
zu sein. 



1) Vgl. oben S. 22 f. und: Olto Graf, Vom Begriff der Geographic 
im Verhaltnis zu Geschichte und Naturwissenschaft. 1925. 



— 129 — 

Solange ihnen jedoch j e d e Beziehung zur Geschichte im 
weitesten Sinne des Wortes oder j e d e Beziehung zu generalisieren- 
den Theorien fehlt, wird man in ihnen nur Materialsamm- 
lungen erblicken diirfen, die gemacht sind, weil die Feststellung 
dieser Tatsachen einmal geschichtlich oder naturwissenschaftlich 
wichtig werden k a n n. Der W i 1 1 e , Material zu sammeln, macht 
dann die betreffenden Objekte „wichtig" und stellt die Wertbezie- 
hung her, durch welche die Individualitat wesentlich wird. Solche 
Darstellungen aber wollen wir in eine Gliederung der Wissen- 
schaften, die an ihren Aufgaben und Z i e 1 e n orientiert ist, gar 
nicht einordnen. Sie konnen daher unsern methodologischen Haupt- 
gegensatz, dersich nur auf den AbschluB der Untersuchung be- 
zieht, auch nicht in Frage stellen. 

Dasselbe gilt von alien Darstellungen, die individualisieren, 
und bei denen trotzdem eine Beziehung ihrer Objekte auf Kultur- 
werte ganzlich zu fehlen scheint. Ihr Vorhandensein ist auf den Um- 
stand zuruckzufiihren, daB die dargestellten Objekte aus irgend- 
welchen Griinden besonders auffallend sind und dadurch, 
wie alles Auffallende, das Interesse aller Menschen erregen. 
Hiermit ist dann die Wertbeziehung gegeben, und daraus versteht 
man, daB das Bedurfnis, ein Objekt auch in seiner Individualitat 
kennenzulernen, sich geltend macht, obwohl es fur Kulturwerte 
keine Bedeutung hat. In sich geschlossene "Wissenschaft ist das 
jedoch nicht, ja, solange jede Beziehung zu naturwissenschaftlichen 
Theorien fehlt, sind solche rein tatsachlichen Kenntnisse 
uberhaupt nicht zur ausgefiihrten Wissenschaft zu rechnen. 

Zu den Objekten, deren Individualitat uns trotz der mangelnden 
Kulturbedeutung interessiert, gehort z. B. der Mond. Daher darf 
seine Darstellung als Beispiel bei einer logischen Gliederung der 
Wissenschaften nur mit Vorsicht gebraucht werden. In gewisser 
Hinsicht kommt er als Material fur die Bildung allgemeiner 
Theorien von Weltkorpern in Betracht, denn es gibt nicht nur 
diesen einen Mond, sondern auch andere Planeten haben „Monde". 
Oft aber wird er in der Tat auch in seiner Individualitat 
dargestellt, und das geschieht dann, o h n e daB ein kulturwissen- 
schaftlicher Gesichtspunkt vorhanden ist. Solche Darstellung ist 
entweder auf ein Interesse an unserm „guten Mond" zuruckzu- 

Kiekert, KuhurwiSBenschaft. 6/7. Aufl. 9 



— 130 — 

fuhren, der als Individuum in dem Leben der meisten Menschen 
„eine Rolle spielt", und dann ist dies Interesse uhd die daraus 
entstehende Wertbeziehung wieder unwissenschaftlich. 
Oder es liegt, wie in den detaillierten Mondkarten, ebenso wie in 
gewissen geographischen Darstellungen, lediglich ein wissenschafl- 
liches Material vor, das noch der weiteren begrifflichen V e r- 
arbeitung harrt, und nur der Gedanke an diese Verarbeitung 
hat die Individuality des Mondes w i c h t i g gemacht. Dann 
kennen wir bereits die Gninde, aus denen solche Darstellungen 
sich nicht in eine unserer Gruppen einordnen lassen. 

Diese Beispiele mussen genugen, um das Prinzip klarzulegen, auf 
das es ankommt. Es ist im Grunde eine Binsenwahrheit, daO man 
sich um die Individuality der Objekte nicht kummert, wenn sie 
nicht wichtig oder interessant sind, also zu Wert en in keiner 
Beziehung stehen. Wissenschaftlich aber kann die 
individualisierende Darstellung nur genannt werden, wenn es 
all gem eine Werte oder Kulturwerte sind, die sie leiten. Wo 
diese allgemeinen Werte fehlen, haben die Objekte nur als Gat- 
tungsexemplare eine wissenschaftliche Bedeutung. Endlich kann 
die Wertbeziehung durch den Gedanken an s p a t e r e wissen- 
schaftliche Bearbeitung hergestellt werden und so eine individuali- 
sierende Darstellung entstehen, die jedoch beim Fehlen jeder Be- 
ziehung auf allgemeine Kulturwerte nur als Materialsammlung zu 
betrachten ist. BloSe Tatsachenfeststellung ist fur 
sich allein noch keine Wissenschaft. 

Findet man diesen Begriff von Wissenschaft zu eng, so moge 
man bedenken, daB ohne einen Begriff, der die bloCe Vorarbeit 
und Materialsammlung beiseite lafJt, eine systematisch gegliederte 
Wissenschaftslehre iiberhaupt nicht moglich ist. Wissenschaft- 
liches Leben ist ja selbst geschichtliches Leben und geht, 
gerade nach unserer Theorie, in kein System allgemeiner Be- 
griffe restlos ein, sobald seine g a n z e Mannigfaltigkeit in Be- 
tracht kommt. Welch auBerordentliches Interesse nehmen z. B. 
viele Menschen an der Gestaltung des Nordpols. Ist dies Interesse 
wissenschaftlich? Bei den meisten Menschen gewiB nicht. Kommt 
fur wissenschaftliche Menschen die individuelle Gestaltung der 
Pole nur als Material fur die Bildung allgemeiner Theorien in Be- 



— 131 — 

tracht? Auf solche Fragen kann die L o g i k sich nicht einlassen, 
und Beispiele von solcher Art sollten daher auch nicht als logische 
Argumente benutzt werden. Es fehlt ihnen die allgemeine typische 
Bedeutung, die ihre Erorterung methodologisch fruchtbar macht. 
Eine Theorie der Wissenschaft, die ein System bilden will, 
darf nur hoffen, die Haupt- und Grund formen der Wissen- 
schaften einordnen zu konnen. 

Selbst dann aber, wenn man sich strauben sollte, die hier und da 
vorkommenden individualisierenden Darstellungen, fiir welche 
sich ein allgemeiner Wertgesichtspunkt als leitend nicht nach- 
weisen laBt, nur alsVorarbeiten anzuerkennen, konnen diese 
Ausnahmefalle doch nichts gegen einen Versuch beweisen, 
der von vornherein erkliirt hat, dafi den Linien, die er zur Orien- 
tierung ziehen will, ebensowenig eine Wirklichkeit genau entspricht, 
wie den Linien, welche der Geograph sich zur Orientierung auf 
unserer Erdkugel gezogen denkt. Deswegen verlieren solche Linien 
durchaus nicht ihren Wert, und besonders wird durch diese oder 
jene vereinzelte Ausnahme nichts daran geandert, dafi durch die 
Begriffe der generalisierenden Naturwissenschaften und der indivi- 
dualisierenden Kuiturwissenschaften die zwei Hauptten- 
d e n z e n der empiriseh wissenschaftlichen Arbeit sowohl 1 o- 
g i s c h als auch sachlichin viel tiefer gehender Weise charak- 
terisiert sind als durch die iibliche Gegenuberstellung der Natur- 
wissenschaften und der Geisteswissenschaften, die vollig nichts- 
sagend geworden ist, seitdem das Wort ,,Geist" seine alte pia- 
gnante Bedeutung verloren und eine neue allgemein anerkannte 
Bedeutung im Unterschied von der des Seejischen oder Psychi- 
schen noch nicht wiedergewonnen hat. 

Mehr kann in diesem Versuch, der auf eine eingehendere logische 
Erorterung der Detail probleme verzichten mutt, nicht erreicht 
werden. 



— 132 — 
XIV. 

DIE OBJEKTIVITAT DER KULTUR- 
GESCHICHTE 

Von den erwahnten Einwiinden bleibt daher jetzt nur noch 
einer iibrig. Er betrifft den Begriff der „objektiven" Darstellung 
der Kultur durch die Geschichte und fuhrt schliefilich zu einer 
bisher absichtlich zuriickgedrangten Frage, die ich beriihren muB, 
weil von ihrer Beantwortung fiir viele vielleicht mehr als von irgend 
etwas anderem die Entscheidung iiber das Verhaltnis der Natur- 
wissenschaften zu den Kulturwissenschaften abhiingt. Auch ist 
ihre Erorterung zur weiteren Rechtfertigung des Ausdrucks Kul- 
turwissenschaften wiinschenswert. 

Wenn W e r t e es sind, welche die Auswahl des historischen 
Stoffes und damit alle historische Begriffsbildung leiten, ist dann 
— so kann und muB man fragen — die Willkiir in den Ge- 
schichtswissenschaften jemals auszuschliefien? Allerdings, die Ob- 
jektivitat der Spezialuntersuchungen wird dadurch, soweit diese 
sich auf die t a t s a c h 1 i c h allgemeine Anerkennung ihrer leiten- 
den Werte berufen kbnnen und sich ferner streng an die t h e o r e- 
tische Wertbeziehung halten, nicht beruhrt, aber es 
liegt hier doch in der Tat, was nicht ubersehen werden darf, eine 
Objektivitat von eigentumlicher Art vor, die besonders einen 
Vergleich mit der Objektivitat der generalisierenden Natur- 
wissenschaften nicht auszuhalten scheint. 

Eine wertbeziehende Darstellung gilt immer nur fiir einen be- 
stimmten Kreis von Menschen, welche die leitenden Werte, wenn 
auch nicht direkt werten, so doch als Werte verstehen und dabei 
anerkennen, daB es sich um mehr als rein individuelle Wertungen 
handelt. Eine Uebereinstimmung hierin mag mit Riicksicht auf 
einen verhiiltnismaBig sehr groBen Kreis von Menschen zu erzielen 
sein. In Europa wird man gewiO, wo man uberhaupt geschichts- 
wissenschaftliche Werke liest, die fruher genannten Kulturwerte, 
die an Religion, Kirche, Recht, Staat, Wissenschaft, Sprache, 
Literatur, Kunst, wirtschaftlichen Organisationen usw. haften, 
als Werte verstehen und es daher nicht als Willkiir ansehen, wenn 



— 133 — 

diese Werte die Auswahl des Wesentlichen leiten, also die geschicht- 
liche Darstellung auf das beschranken, was mit Riicksicht auf sie 
wichtig oder bedeutsam ist. Aber falls die Objektivitat einer wert- 
beziehenden Darstellung immer nur fiir einen mehr oder weniger 
groBen Kreis von Kulturmenschen besteht, so ist sie eine g e - 
schichtlich beschrankte Objektivitat, und so 
wenig das vom s p e z i a 1 wissenschaftlichen Gesicbtspunkt aus 
zu bedeuten haben mag, so sehr kann man unter allgemeinen 
philosophischen Perspektiven und auch vom naturwissen- 
schaftlichen Standpunkt aus darin einen wissenschaftlichen Man- 
g e 1 erblicken. 

Beschriinkt man sich namlich prinzipiell auf die faktisch allge- 
meine Anerkennung der Kulturwerte, ohne irgendwie nach ihrer 
G e 1 1 u n g zu fragen, so muB man es fiir moglich, ja gerade 
als Historiker fiir wahrscheinlich halten, daB das Fundament der 
Geschichtswissenschaft ebenso, wie es entstanden ist, auch wieder 
vergehen wird, und damit haftet dann den historischen Darstel- 
lungen, die das Wesentliche vom Unwesentlichen scheiden, ein 
Charakter an, der es bedenklich erscheinen laBt, sie uberhaupt als 
,,Wahrheiten" zu bezeichnen. Eine wissenschaftliche Wahrheit 
muB zu dem, was theoretisch gilt, auch ohne daB es g e w u B t 
wird, ein bestimmtes Verhaltnis haben, d. h. ihm mehr oder weniger 
nahe stehen. Ohne diese Voraussetzung hat es keinen Sinn mehr, 
von Wahrheit zu reden. Sieht man nun grundsatzlich von der Gel- 
tung der Kulturwerte ab, welche die historische Darstellung leiten, 
so kommt als w a h r in der Geschichte n u r noch das rein Tat- 
sachlichein Betracht. Alle historischen B e g r i f f e dagegen 
gelten dann nur eine bestimmte Zeit, und das heiBt, sie gelten 
als Wahrheiten uberhaupt nicht, denn sie haben zu dem, was 
a b s o 1 u t oder zeitlos gilt, kein bestimmtes Verhaltnis 1 ). 

Freilich werden ja auch die Begriffe der generalisierenden Na- 
turwissenschaften, welche die eine Generation von Forschern 
gebildet hat, von der nachsten Generation wieder m o d i f i- 



1) Das ist die notwendige Konsequenz des Standpunktes der „histo- 
rischen Schule", wie ihn mit grofler Klarheit Erich Rothacker in seiner 
,,Logik und Systematik der Geisteswissenschaften", 1926 vertritt. Das 
Buch ist mir erst wahrend des Druckes bekannt geworden. 



— 133 — 

diese Werte die Auswahl des Wesentlichen leiten, also die geschicht- 
liche Darstellung auf das beschranken, was mit Rucksicht auf sie 
wichtig oder bedeutsam ist. Aber falls die Objektivitat einer wert- 
beziehenden Darstellung immer nur fur einen mehr oder weniger 
groBen Kreis von Kulturmenschen besteht, so ist sie eine g e - 
schichtlich beschrankte Objektivitat, und so 
wenig das vom s p e z i a 1 wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus 
zu bedeuten haben mag, so sehr kann man unter allgemeinen 
philosophischen Perspektiven und auch vom naturwissen- 
schaftlichen Standpunkt aus darin einen wissenschaftlichen M a n- 
g e 1 erblicken. 

Beschrankt man sich namlich prinzipiell auf die faktisch allge- 
meine Anerkennung der Kulturwerte, ohne irgendwie nach ihrer 
G e 1 1 u n g zu fragen, so muB man es fur moglich, ja gerade 
als Historiker fur wahrscheinlich halten, daO das Fundament der 
Geschichtswissenschaft ebenso, wie es entstanden ist, auch wieder 
vergehen wird, und damit haftet dann den historischen Darstel- 
lungen, die das Wesentliche vom Unwesentlichen scheiden, ein 
Charakter an, der es bedenklich erscheinen laBt, sie uberhaupt als 
,,Wahrheiten" zu bezeichnen. Eine wissenschaftliche Wahrheit 
muB zu dem, was theoretisch gilt, auch ohne daB es g e w u B t 
wird, ein bestimmtes Verhaltnis haben, d. h. ihm mehr oder weniger 
nahe stehen. Ohne diese Voraussetzung hat es keinen Sinn mehr, 
von Wahrheit zu reden. Sieht man nun grundsatzlich von der Gel- 
tung der Kulturwerte ab, welche die historische Darstellung leiten, 
so kommt als w a h r in der Geschichte nur noch das rein Tat- 
sachliche in Betracht. Alle historischen B e g r i f f e dagegen 
gelten dann nur eine bestimmte Zeit, und das heiBt, sie gelten 
als Wahrheiten uberhaupt nicht, denn sie haben zu dem, was 
a b s o I u t oder zeitlos gilt, kein bestimmtes Verhaltnis 1 ). 

Freilich werden ja auch die Begriffe der generalisierenden Xa- 
turwissenschaften, welche die eine Generation von Forschern 
gebildet hat, von der nachsten Generation wieder m o d i f i- 



1) Das ist die notwendige Konsequenz des Standpunktes der , .histo- 
rischen Schule", wie ihn mit groBer Klarheit Erich Rothacker in seiner 
,,Logik und Systematik der Geisteswissenschaften", 1926 vertritt. Das 
Buch ist mir erst wahrend des Druckes bekannt geworden. 



— 134 — 

z i e r t oder ganz aufgelost, und auch diese Generation mufi 
es sich gefallen lassen, daft man ihre Begriffe durch neue ersetzt. 
Es ist daher noch kein Einwand gegen die Wissenschaftlichkeit 
der Geschichte, daB sie immer "wieder von n e u e m geschrieben 
werden miisse, denn dies Schicksal teilt sie mit alien Wissenschaften. 
Aber von den Naturgesetzen nehmen wir doch an, daC sie u n b e- 
d i n g t gelten, selbst wenn noch keines uns b e k a n n t sein 
sollte, und daher durfen wir voraussetzen, daQ die verschiedenen 
Begriffe der generaHsierenden Wissenschaften einer absolut giilti- 
gen Wahrheit mehr oder weniger nahe stehen, wahrend die ge- 
schichtlichen Darstellungen iiberhaupt kein Verhaltnis zu einer 
absoluten Wahrheit besitzen, solange die leitenden Prinzipien 
ihrer Begriffsbildung lediglich die Werte der faktischen 
Wertungen sind, die kommen und gehen wie die Wellen im 
Meer. 

Abgesehen von den bloCen Tatsachen, gibt es dann so viel v e r- 
schiedene historische Wahrheiten, als es v e r- 
schiedene Kulturkreise gibt, und jede dieser Wahr- 
heiten ist, soweit sie die Auswahl des Wesentlichen betrifft, in 
gleicher Weise gultig oder ungiiltig. Damit scheint die Moglichkeit 
eines geschichtswissenschaftlichen Fortschritts, ja der Be- 
griff der historischen Wahrheit, soweit er sich nicht auf das rein 
Tatsachliche bezieht, iiberhaupt aufgehoben. Mtissen wir also 
nicht die G e 1 1 u n g von iibergeschichtlichen W e r t e n und durch 
sie konstituierte Sinngebilde voraussetzen, denen die faktisch 
anerkannten geschichtlichen Kulturwerte wenigstens naher oder 
f e r n e r stehen ? Wird nicht erst dadurch die Objektivitat der 
Geschichte der der Naturwissenschaft ebenbiirtig? 

Das Problem, das hier zugrunde liegt, tritt auch dann zutage, 
wenn man an den Versuch denkt, die Ergebnisse der geschichtlichen 
Einzeluntersuchungen zu einem einheitlichen G a n z e n zusam- 
menzufassen und so eine Universalgeschichte im 
strengen Sinne des Wortes zustande zu bringen, welche die Ent- 
wicklung der gesamtenMenschheit darstellt. Die Mensch- 
heitsgeschichte wird sich bei Beschrankung auf die rein faktische 
Anerkennung der Werte immer nur vom Standpunkt eines be- 
sonderen Kulturkreises aus schreiben lassen und daher niemals 



— 135 - ■ 

sowohl von alien Menschen als auch f ii r alle Menschen in dem 
Sinne gultig oder auch nur „verstandlich" sein, daB alle Menschen 
ihre leitenden Werte als Werte anerkennen. Es gibt also keine 
,,Weltgeschichte" von empirischer Objektivitat, denn eine 
solche miiBte nicht nur von der Menschheit, soweit sie bekannt 
ist, handeln, sondern auch das f ii r alle Menschen Wesentliche in 
sich aufnehmen, und das kann sie nicht. Auf dem universal- 
historischen Standpunkt besitzt der Historiker keine 
empirisch allgemeinen und faktisch uberall anerkannten Kultur- 
werte mehr. Universalgeschichte ist also nur auf Grund von leiten- 
den Werten zu schreiben, fur die eine Geltung behauptet wird, 
welche uber die rein faktisch e Anerkennung im Prinzip 
hinausgeht. 

Das heiBt nicht, daB der Universalhistoriker ein inhaltlich genau 
bestimmtes Wertsystem braucht, dessen Geltung er 
selbst zu begriinden vermag, aber er muB voraussetzen, daB 
irgend welche Werte a b s o 1 u t gelten, und daB daher die 
von ihm seiner wertbeziehenden Darstellung zugrunde gelegten 
Werte nicht ohne jede Beziehung zum absolut Gultigen sind, denn 
nur dann kann er andern Menschen zumuten, das, was er als 
wesentlich in seine Darstellung aufnimmt, auch als bedeutsam fur 
das, was absolut gilt, anzuerkennen. 

SchlieBlich hangt noch etwas anderes mit der Frage nach der 
Geltung der Kulturwerte auf das engste zusammen. Ich habe 
auf den Mangel an Einheitlichkeit und systemati- 
scher Gliederung der Kulturwissenschaften hingewiesen im 
Gegensatz zu den Naturwissenschaften, die insbesondere, soweit 
sie Korperwissenschaften sind, in der Mechanik eine feste Basis 
besitzen. DaB die Psychologie fur die Kulturwissenschaften zur 
Grundlegung nicht dienen kann, haben wir ebenfalls gesehen. 
Gibt es nun darum aber nichts anderes, das vielleicht an ihre 
Stelle zu treten vermochte? 

In gewisser Hinsicht miissen wir diese Frage., verneinen, denn 
grundlegende Disziplinen, wie die Mechanik eine ist, kann 
es nur fur die Wissenschaften geben, die generalisierend 
oder naturwissenschaftlich verfahren, und deren Gesamtgebiet 
von einem System in sich zusammenhangender Begriffe umfaBt 



— 136 — 

witd. Die allgemeinste Wissetischaft ist dann insofern „grund- 
legend", als sie, wie die Mechanik in den Korperwissenschafteri, 
in der angegebenen Weise fur die Begriffsbildung auf den ver- 
schiedenen Gebieten auch i n h a 1 1 1 i c h bedeutsara wird. Das 
geschichtliche Leben aber laBt sich ja gerade n i c h t in ein Sy- 
stem bringen, und deshalb ist f iir die Kulturwissenschaften, 
soweit sie historisch verfahren, auch keine grundlegende 
Wissenschaft von der Art, wie die Mechanik es ist, denkbar. 

Trotzdem jedoch fehlt ihnen darum, wie ich glaube, die Mog- 
liehkeit, sich im Lauf der Zeit immer mehr zu einem einheitlichen 
G a n z e n zusammenzuschliei3en, durchaus nicht, sondern der 
Begriff der Kultur, der ihre Objekte bestimmt und, soweit sie 
historisch verfahren, ihnen das leitende Prinzip der Begriffsbil- 
dung Hefert, kann schlieBlich ihnen auch den einheitlichen Z u- 
sam men hang verleihen. Aber das setzt freihch voraus, dafi 
wir einen Begriff von Kultur nicht nur nach seiner formalen 
Seite hin als des Inbegriffes der faktisch allgemein anerkannten 
Werte, sondern auch mit Rucksicht auf den G e h a 1 1 und den 
systematischen Zusammenhang dieser Werte besitzen. Von einer 
empirisch allgemeinen Anerkennung eines solchen Kulturwert- 
systems kann jedoch wiederum nicht die Rede sein, und damit kom- 
men wir von neuem zur Frage nach der G e 1 1 u n g der Kultur- 
werte, die ihnen, abgesehen von ihrer faktischen Wertung, gebiihrt. 

So fuhrt uns also die Frage nach der Objektivitat der 
Geschichte, der Begriff der Universalgeschichte und 
der Begriff eines Systems der empirischen Kultur- 
wissenschaften iiber das empirisch Gegebene der fakti- 
schen Wertungen hinaus, und wir miissen in der Tat, wenn 
auch nicht die Existenz einer definitiv bereits erreichten Kenntnis 
von dem, was als Wert gilt, so doch die Geltung objektiver Werte 
und die Mbglichkeit voraussetzen, daB wir uns ihrer Kenntnis 
wenigstens immer mehr annahern konnen. Ein prinzipieller 
Fortschritt in den Kulturwissenschaften mit Rucksicht auf 
ihre Objektivitat, ihre Universalitat und ihren 
systematischen Zusammenhang ist von dem Fort- 
schritt in der Herausbildung eines objektiven und systematisch 
gegliederten Begriffes der Kultur, und das heiGt von der 



— 137 — 

Annaherung an ein WertbewuBtsein abhangig, dem ein System 
giiltiger Werte zugrunde liegt. 

Kurz, die Einheit und Objektivitat der Kulturwissenschaften ist 
bedingt von der Einheit und Objektivitat unseres Kulturbegriffes 
und diese wiederum von der Einheit und Objektivitat der 
Werte, die wir werten. 

Ich bin mir vollkommen bewuBt, daC, indem ich diese Konse- 
quenz ziehe, ich auf nichts weniger als allgemeine Zustimmung 
rechnen darf, ja, wenn es wirklich eine Konsequenz ist, so wird 
man meinen, daC gerade durch sie der problematische 
Charakter eines systematischen Abschlusses der kulturwissen- 
schaftlichen Arbeit auf das deutlichste zutage trete. Denn so sehr 
auch das Verstandnis fur die Bedeutung der Wertprobleme zunimmt, 
dahin geht heute fast allgemein noch die Ueberzeugung, daC Aus- 
sagen uber mehr als subjektive Wertgeltungen mit der 
Wissenschaftlichkeit unvereinbar sind, weil sie sich 
objektiv nicht begriinden lassen. 

Noch einmal sei deshalb mit Nachdruck hervorgehoben:; die 
Objektivitat einer historischen S p e z i a 1 untersuchung wird durch 
den Umstand, daJ3 ein Kulturwert den leitenden Gesichtspunkt fur 
die Auswahl des Wesentlichen abgibt, in keiner Weise bedroht, 
denn der Historiker kann sich auf die allgemeine Anerkennung des 
Wertes, der den Sinn seiner Objekte konstituiert, als auf ein F a k- 
t u m berufen, und er erreicht dadurch das hochste MaB e m p i r i- 
s c h e r Objektivitat, das einer empirischen Wissenschaft zu 
erreichen uberhaupt moglich ist. Geht man jedoch uber die Spezial- 
untersuchungen hinaus, so entstehen in der Tat Schwierigkeiten, 
und man kann fragen: wenn die Gesamtheit der Kultur- 
wissenschaften ihrer Gliederung und ihrem Zusammen- 
h a n g e nach von einem System von Kulturwerten abhangig sein 
soil, heiCt das nicht, sie auf einen Komplex individueller Wunsche 
und Meinungen basieren? 

Ich darf nicht hoffen, in Kurze eine in jeder Hinsicht befriedi- 
gende Antwort auf diese Bedenken zu geben, denn das Verhaltnis 
der "Wissenschaft zur Geltung und Systematik der Werte enthalt 
schwierige Probleme 1 ), die weit uber die Frage nach einer Gliede- 

1) Den Versuch einer erkenntnistheoretischen Grundlegun? der im 



— 138 — 

rung der empirischen Wissenschaften hinausfiihren, aber ich wollte 
doch zeigen, worin allerdings die unumgangliche Voraus- 
setzung besteht, wenn man fur die Kulturwissenschaften „Ob- 
jektivitat" im m e h r als rein empirischen Sinne in Anspruch 
nimmt. Dem imbedingt allgemeingiiltigen G e s e t z der Natur, 
das die generalisierenden Wissenschaften suchen, mufi dann der 
unbedingt allgemeingiilt ige "Wert entsprechen, den unsere Kul- 
turgiiter als Trager individueller Sinngebilde mehr oder weniger 
realisieren, und wenigstens die Alternative, vor die wir 
so gestellt sind, kann dadurch klar werden. 

Wer Kultur wissenschaft treiben will im hochsten 
Sinne des Wortes, so dafi er die Auswahl des Wesentlichen als 
schlechthin g u 1 1 i g zu rechtfertigen unternimmt, wird auf die 
Notwendigkeit gefiihrt, sich auf seine leitenden Kulturwerte zu 
besinnen und ihre Geltung zu begrunden. Das Arbeiten mit 
unbegriindeten Wertsetzungen wiirde in der Tat der Wissenschaft 
widersprechen. So gibt es schliefilich, d. h. zwar nicht vom spezial- 
wissenschaftlichen, wohl aber vom universaltiistorischen 
Standpunkt aus, von dem alle historischen Einzeldarstellungen 
sich zu dem einheitlichen Ganzen einer Gesamtgeschichte aller 
Kultur entwicklung zusammenfassen lassen miissen, keine Ge- 
schichtswissenschaft ohne Geschichtsphilosophie 1 ). 



folgenden ausgesprochenen Ueberzeugung enthalt meineSchrift ttber 
den „Gegenstand der Erkenntnis", 1892, 4. u. 5. Aufl. 1921. Ich 
glaube, dort gezeigt zu haben, dafi die Annahme objektiv gultiger 
oder „transzendenter" Werte aus rein logischen Grunden unvermeid- 
lich ist- Vgl. auch mein Buch: „Allgemeine Grundlegung der Philo- 
sophic", welches als ersterTeil eines „Systcmsder Philosophie" 1921 
erschienen ist. 

1) Von dem Begriff und der Methode einer solchen philosophischen 
Disziplin kann hier nicht weiter die Rede sein. Diese Schrift be- 
schrankt sich auf die Gliederung der empirischen Wissenschaften. 
Fur eine philosophische Behandlung der Geschichte mufi 
ich auf meine Probleme der Geschichtsphilosophie, 3. Aufl. 1924, und 
meinen geschichtsphilosophischen Versuch: Kant als Philosoph der 
modernen Kultur, 1924 verweisen. Bemerken mochte idh mit Ruck- 
sicht auf kritische Einwande an dieser S telle- nur, dafi ich die Auf- 
gaben der Geschichtsphilosophie nicht allein in einer Geschichts- 
Jogik sehe und daher nicht zu den Vertretern einer bloI3 ,,for- 
malen" Geschichtsphilosophie gezahlt werden soilte. Ernst Troeltsch 
hat sich mehrfach in dankenswerter Weise mit meinen geschichts- 



— 139 — 

Will man dagegen von jeder Wertgeltung beim wissenschaft- 
lichen Denken absehen und der Kulturwelt uberhaupt keine 
andere Bedeutung zasprechen als irgendwelchen beliebigen andern 
Vorgangen, so mussen uns vom philosophischen und auch vom 
naturwissenschaftlichen Standpunkt die wenigen bekannten Jahr- 
tausende menschlicher Entwicklung, die doch nur in relativ kleinen 
Nuancen einer sich relativ gleichbleibenden Menschennatur besteht, 
ebenso unwesentlich erscheinen wie die Untersehiede der 
Steine auf der LandstraBe oder der Aehren in einem Kornfeld. 
DaB wir die Welt der Geschichte als sinnvoll und verstandlich 



philosophischen Ansichten auseinandergesetzt. (Moderne Geschichts- 
philosophie, Theologische Rundschau, VI, 1904, und Gesammelte 
Schriften II, 1913. Ferner: Ueber MaBstabe zur Beurteilung histori- 
scherDinge, 1916 und: Ueber den Begriff einer historischen Dialektik, 
Windelband, Rickert und Hegel, 1919, Historisehe Zcitschrift, 3. Folge, 
23. Bd.). Soweit diese Darlegungen meine Geschichts p h i I o s o- 
p h i e betreffen, scheinen sie mir einseitig. GewiB stelle ich in der Ge- 
schichtslogik die formalen Gesichtspunkte voran, aber auch ich 
zweifle nicht an der ,,gegenstandlichen Besonderheit des historischen 
Lebens" und lehne eine materiale Geschichtsphilosophie nicht ab. 
Vielmehr habe ich (Grenzen, 3. u. 4. Aufl. S. 362 — 465) ausftthrlich 
zu zeigen versucht, wie die formale Struktur der historischen Methode 
mit den materialen Besonderheiten des geschichtlichen Kulturlebens 
notwendig zusammenhangt. An den dabei entwickelten Begriff des 
historischen Zentrums muBte eine Kritik meiner Geschichts- 
philosophie vor allem ankniipfen. Geschichts metaphysik im 
a 1 1 e n Sinne scheint mir freilich als Wissenschaf t nicht mSglich, aber 
ich halte trotzdem die Annahme eines dritten Reiches (aufier 
der empirischen Realitat der Sinnenwelt und den irrcaien, geltenden 
Werten) fDr unentbehrlich, und auf dem Grunde meines Begriffes 
vom Weltall dGrften alle die Forderungen zu erfttllen sein, die 
Trocltsch mit Recht an eine materiale Philosophie der Geschichte 
stellt. Mit der heute beliebten Versicherung, es g a b e eine ubersinn- 
liche Welt und wir brauchten Metaphysik, ist es, wie Troeltsch 
selber weifl, nicht getan. Wissenschaftlich gefOrdert werden wir nur, 
wenn es gelingt, das Gebiet des Metaphysischen auch strong bc- 
grifflich zu bestimmen. Geschichts metaphysik braucht 
zeitliches reales Sein. LaSt eine Obersinnliche Welt sich zeit- 
lich fassen? Gibt es einen andern Wcg, um uber die Sinnenwelt 
hinauszukommen, als den, der uber die zeitlose Geltung von Werten 
und die von ihnen konstituierten Sinngebilde fQhrt? Sind die 
Ziele der Metaphysik ohne eine Philosophie der Werte erreichbar? 
Bleiben wir nicht grade ohne Reflexion auf die Werte des Kultur- 
lebens und seinen inhaltlich erfullten, individuellen Sinn, den wir 
verstehen, im „FormaIen" stecken? 



— 140 — 

ansehen, beruht dann nur darauf, daB wir in den ephemeren Wer- 
tungen eines begrenzten Kulturkreises befangen sind, und 
historische "Wissenschaft, die iiber Spezialuntersuchungen bestimm- 
ter Kulturkreise hinausgeht, gabe es dann uberhaupt nicht. Dies 
Entweder-Oder wenigstens sollte man sich klarmachen. 

Doch ich mochte noch einen Schritt weitergehen. Wenn ich hier 
von einer Alternative spreche, so ist das nicht so gemeint, 
als ob nun der wissenschaftliche Mensch den zweiten, wertfreien 
Standpunkt als den rein naturwiss'enschaftlichen 
einnehmen und ihn zugleich zu einer durchfuhrbaren naturwissen- 
schaftlichen ,, Weltanschauung" erweitern kOnnte, die sich durch 
groBere Voraussetzungslosigkeit vorteilhaft von dem 
kulturwissenschaftlichen Standpankte unterscheiden 
wiirde, well sie eben keinen WertmaBstab als giiltig vorauszusetzen 
braucht. Der Naturalismus glaubt zwar wohl, daB dies 
moglich ist, aber das ist nichts als eine Selbsttauschung. GewiB 
kann vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus alle Wirklich- 
keit, also auch die ganze Kultur, als shmfreie Natur angesehen 
werden, und die Suspendierung jedes Wertgesichtspunktes ist 
innerhalb einer solchen Betrachtung nicht nur moglich, sondern 
notwendig. Darf dieser Standpunkt aber als der e i n z i g berech- 
tigte philosophische Standpunkt gelten, so dafi jede historische 
Begriffsbildung von ihm aus willkurlich erscheint? Bedeutet nicht 
vielmehr das Absehen von jeder Wertgeltung innerhalb der Natur- 
wissenschaft gerade eine prinzipielle Beschrankung auf die natur- 
wissenschaftliche S p e z i a 1 forschung, und ist deswegen nicht die 
Erganzung durch eine universale Betrachtung in der Philo- 
sophic eine auch theoretisch- notwendige Forderung? 

Ich glaube, es gibt ein Stuck der Geschichte, fur welches sogar 
die Natunvissenschaft die von uns entwickelten logischen Prinzi- 
pien der Bearbeitung wohl als wissenschaftlich wird 
anerkennen mussen und zugeben, daB es sich dabei um sehr viel 
mehr als ein willkurliches Arrangement willkurlich aufgegriffener 
Tatsachen handelt, das nur fur den gilt, der in den Wertungen 
eines historischen Kulturkreises befangen ist. Dieser Teil der Ge- 
schichte ist nichts anderes als die Geschichte der Natur- 
wissenschaft selbst. Auch die Natunvissenschaft ist doch 



— 141 — 

ein 'sinnvolles historisches Kulturprodukt. Das mag sie 
selber als Speziahvissenschaft ignorieren. Richtet sie aber ihren 
Blick auch auf sich selbst und nicht nur auf die Naturobjekte, 
kann sie dann leugnen, daJ3 ihr eine historische Entwicklung im 
angegebenen Sinne vorangegangen ist, die notwendig in ihrem 
einmaligen und individuelien Verlauf unter dem Gesichtspunkt 
eines Wert maCstabes von objektiver Geltung betrachtet werden 
muB, namlich des theoretischen Wertes der vissen- 
schaitlichen Wahrheit, auf den wir die Ereignisse zu beziehen haben, 
urn in ihnen das fur die Geschichte der Naturwissenschaft Wesent- 
liche vom Unwesentlichen zu sondern? 

Erkennt sie aber eine historische Wissenschaft in diesem Sinne 
fur diesen T e i 1 der Kulturentwicklung an, wie kame sie dazu, 
die Geschichte der andern Teile nicht als Wissenschaft gelten zu 
Iassen ? Hat die Menschheif nur in dem natunvissenschaftlichen 
Gebiete es zu Kulturgiitern gebracht, an denen giiltige Werte 
haften ? Es fehll der Naturwissenschaft, die von alien Wertgeltungen 
absieht, jeder Gesichtspunkt, urn diese Frage zu entscheiden, und 
•wir haben dah,er von seiten der Naturwissenschaft im 
Kampf fur eine historische Auffassung der Dinge und das Recht 
der Geschichte nichts zu fiirchten. Der historisch-kulturwissen- 
schaftliche Gesichtspunkt ist vielmehr dem naturwissenschaft- 
lichen durchaus ubergeordnet, weil er der bei weitem 
umfassendere ist.- Nicht nur die Naturwissenschaft ist ein histori- 
sches Produkt der Kulturmenschheit, sondern auch die „Natur" 
selbst im logischen oder formalen Sinne ist nichts anderes als ein 
theoretisches Kulturgut, eine giiltige, d. h. objektiv wertvolle 
Auffassung der Wirklichkeit durch den menschlichen Intel- 
lekt, und die absolute Geltung des daran haftenden Wertes 
wie des von ihm konstituierten Sinngebildes muC gerade die Natur- 
wissenschaft immer voraussetzen. 

Freilich, es gibt noch einen andern ,,Standpunkt", und den 
konnte man dann vielleicht den „philosophischen" nennen und 
glauben, daft er gar nichts voraussetzt. Nietzsche hat eine 
kleine Fabel erfunden, die illustrieren soil, „wie klaglich, wie 
schattenhaft und fliichtig, wie zwecklos und beliebig sich der 
menschliche Intellekt inneihalb der Natur ausnimmt". Diese Fabel 



— 142- — 

aber lautet folgendermafien: „In irgendeinem abgelegenen Winkel 
des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls 
gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen er- 
fanden. Es war die hochmutigste und verlogenste Minute der 
.Weltgeschichte' : aber doch nur eine Minute. Nach wenigen 
Atemziigen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen-Tiere 
muSten sterben." So sind wir, wird man glauben, der Anerkennung 
j e d e r Wertgeltung gliicklich entronnen, wie es dem wissen- 
schaftlichen Menschen ziemt. 

Dieser Standpunkt ist, wenn man will, in der Tat konsequent, 
aber seine Konsequenz vernichtet dann die Objektivitat jeder 
Wissenschaft, also die von Kulturwissenschaft und Naturwissen- 
schaft in gleichem Mafle, und weil dieser „Standpunkt" nur 
nach einer langen naturwissenschaftlichen und kulturwissenschaft- 
lichen Entwicklungsreihe gewonnen werden konnte, also s e 1 b s t 
nichts als ein T e i 1 der „verlogensten Minute" der Weltgeschichte 
ist, so ist seine „Konsequenz" zugleich die grbftte aller Inkonse- 
quenzen oder ein sinnloserVersuch des wissenschaftlichen Menschen, 
iiber seinen eigenen Schatten zu springen. Gerade der w i s s e n- 
schaftliche Mensch muB die Geltung der theoretischen Werte 
als a b s o 1 u t voraussetzen, wenn er nicht aufhoren will, ein 
wissenschaftlicher Mensch zu sein. 

Der Geschichte den Charakter als Wissenschaft abzusprechen, 
weil sie, um das Bedeutungsvolle vom Bedeutungslosen zu scheiden, 
einer Beziehung auf Kulturwerte bedarf, scheint daher nichts als 
ein leerer und negativer Dogmatismus zu sein. Die 
mehr als individuelle Bedeutung des Kulturlebens, aus dem er selbst 
hervorgegangen ist, setzt vielmehr jeder Mensch, der irgendeine 
Wissenschaft treibt, implicite voraus, und es ware die groBte 
Willkiir, eine einzelne Reihe, wie etwa den Teil der intellektuellen 
Entwicklung, den wir die Naturwissenschaft nennen, aus der 
gesamten Kulturentwicklung loslosen zu wollen und ihm allein eine 
objektive Bedeutung mit Rucksicht auf die theoretischen Werte 
zuzuschreiben. Die Besinnung auf ein umfassendes System von 
objektiven Kulturwerten kann daher nicht gut als eine sinnlose 
Aufgabe bezeichnet werden. 

Freilich ist keine Philosophic inistande, ein solches System aus 



— 143 — 

bloBen Begriffen zu konstruieren. Sie bedarf vielmehr fur 
seine inhaltliche Bestimmung der engsten Fiihlung mit den ge* 
schichtlichen Kulturwissenschaften selbst, und sie kann nur 
hoff en, sich i m Historischen dem Ueberhistori- 
schen anzunahern, d. h. ein System der Kulturwerte, das 
auf Geltung Anspruch erhebt, kann nur a n dem sinnvollen ge- 
schichtlichen Leben gefunden und a u s ihm allmahlich heraus- 
gearbeitet werden, indem man die Frage stellt, welche allgemeinen 
und formaien Werte der inhaltlichen und fortwahrend wech- 
selnden Mannigfaltigkeit des historischen Kulturlebens und seiner 
individuellen Sinngebilde zugrunde liegen, und worin also die 
Wertvoraussetzungen der Kultur uberhaupt' 
bestehen, die zu erhalten und zu lordern, wir alle bemiiht sind. 
Ein naheres Eingehen auf das Wesen dieser Arbeit, welche der 
Philosophic zufallt, wurde jedoch unsern Versuch einer Gliederung 
der empirischen Wissenschaften weit uberschreiten. Nur auf ein 
Z i e 1 sollte hier hingewiesen werden 1 ). 

Mit Rucksicht auf die empirische Objektivitat der Kultur- 
wissenschaften, auf die, wir uns bei einer Gliederung der empirischen 
Wissenschaften beschranken diirfen, geniigt die Erinnerung: an 
objektive Werte, deren Geltung die Voraussetzung fur das Streben 
der Philosophie ebenso wie fur die Arbeit in den Kulturwissen- 
schaften selbst bildet, g 1 a u b e n wir im Grunde alle, auch wenn 
wir uns vielleicht unter dem EinfluB der wissenschaftlichen Mode 
einbilden, es nicht zu tun, denn: „Ohne ein Ideal uber sich zu 
haben, kann der Mensch im geistigen Sinne des Wortes nicht auf- 
recht gehen." Die Werte aber, aus denen dieses Ideal besteht, „\ver- 
den entdeckt und gteich wie die Sterne am Himmel treten sie nach 
und nach mit dem Fortschritte der Kultur in den Gesichtskreis 
des Menschen. Es sind nicht a 1 1 e Werte, nicht n e u e Werte, es 
sind die Werte". Ich fuhre diese schonen Worte Riehls 2 ) um so 



1) Naheres dartiber in meinem Buch: „Die Philosophie des Le- 
bens. Darstellung und Kritik der philosophischen ModestrOmungen 
unserer Zeit", 1920, 2. Aufl. 1922, und in dem schon erwahnten er- 
sten Teil meines ,, Systems der Philosophie", 1921. 

2) „Friedrich Nietzsche" in Frommanns Klassiker der Philosophie. 
Bd. 6, 1897, 3. Aufl. 1901, S. 170. 



— 144 — 

lieber an, als nzemand bei dem Verfasser des „philosophischen 
Kritizismus" unwissenschaftliche Schwarmerei voraussetzen wird. 
Sollen wir nun etwa das, was wir brauchen, um im geistigen 
Sinne aufrecht zu gehen, beiseite lassen, wenn wir Wissenschaft 
treiben? Ich denke, das wird kein Verstandiger von uns ver- 
langen. 



^BAYEHiSCHC 
STAATS* 
miiUIOTKCK 
MUSNCHEN, 

^■.'.i ■•>-* im ' i m t v tim li ft* — w 




Mil Scttfitoldla* 



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