FESTSCHRIFT
.ij^"
FÜR
JOHANNES OVERBECK
AUFSÄTZE SEINER SCHÜLEfi
ZUR FEIER SEINES
40JÄHEIGEN PROFESSOREN-JUBILÄUMS
DARGEBRACHT.
MIT 6 TÄFELN IN LICHTDRUCK UND 29 FIGUREN IM TEXT.
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1893.
iF?^
Alle Keohte vorbehalten.
244216
mHALT.
Soito
Gustav Hirschfeld, Athenische Pinakes im Berliner Museum. (Mit Taf. I in Licht-
druck und 1 Abbildung im Text) 1
Paul Hartwig, Phrixos und eine Kentauromachie auf einer Schale der Mitte des
V. Jahrhunderts. (Mit Taf. II in Lichtdruck und 2 Textfiguren) 14
Konrad Seeliger, Alkathoos und die megarische Königsliste. Eine Pausaniasstudie . 27
E. Kroker, Die linke Hand der Aphrodite von Melos. (Mit 1 Textfigur) 45
Wilh. H. Röscher, Pan als Allgott. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung. (Mit
3 Textfiguren) • • ■ 56
Bruno Sauer, Zwei Fragmente vom Parthenon. (Mit Taf. III in Lichtdr. u. 2 Textfig.) 73
Eduard Anthes, Athletenkopf in Erbach. (Mit Taf. IV in Lichtdruck) 79
Arthur Schneider, Zum Hermes des Praxiteles. (Mit Taf. V in Lichtdr. u. 7 Textfig.) 85
Paul Arndt, Ueber einen Koratypus praxitelischer Zeit 96
O. Crusius, Spliinx und Silen. (Mit 2 Textfiguren) 102
Richard Meister, Das Gemälde des Apelles im Asklepieion zu Kos 109
Julius Ziehen, Archäologische Miscellen. (Mit 1 Textflgur) 116
Alfred Meyer, Zur Geschichte der Renaissance -Herme 125
Konrad Lange, Dürer-Studien. (Mit Taf. VI in Lichtdruck) 136
Karl Tümpel, Der mykenisohe Polyp und die Hydra. (Mit 8 Textfiguren) 144
Felix Hettner, Zur römischen Keramik in Gallien und Germanien 165
Ad. Michaelis, Peplos und Priestermantel 178
Theodor Schreiber, Die Nekyia des Polygnotos in Delphi. Rekonstruktionsversuch.
(Mit 2 Textfiguren) 184
Athenische Pinakes im Berliner Museum
von
Gustav Hirschfeld.
Mit Tafel I in Lichtdruck und einer Abbildung im Text.
Die durch Grösse, Darstellung und Ausführung gleich hervorragenden Thon-
tafeln wurden, in viele Stücke gebrochen, angeblich im Jahre 1872 hinter dem
Waisenhause an der Peiraieusstrasse gefunden, ungefähr 200 — 300 m nördlich vom
IDipylon, also im äussern Kerameikos und etwa an einer directen Strasse nach dem
Kolonos. Nähere Fundumstände sind nicht bekannt geworden. Aus zahlreichen
Bruchstücken ergaben sich alsbald zwei mehr oder weniger vollständige Platten
(PI. II u. XII), aus den übrigen sind mindestens weitere zehn Platten erkennbar,
aber noch mehre wahrscheinlich; sie sind ausführlich beschrieben von Furtwängler,
Berliner Vasensammlung unter Nr. 1811 — 1826, und grossentheils veröffentlicht in
den Denkmälern des Archäolog. Instituts. Bd. II, Tal 9, 10, 11 (letztere farbig)
mit einem kurzen Texte vom Schreiber dieser Zeilen. Umrisszeichnungen in halber
Grösse von PL II und dem Kopfe des klagenden Mannes von PI. III hat M. Collignon
in der Gazette Archeologique 1888, S. 228 f. kurz erläutert. Eine Zeichnung fast
aller einigermaassen deutlichen Bruchstücke und ein Versuch der Anordnung wird
hier zum ersten Male vorgelegt. Leider erwies sich eine bedeutende Reduction der
Vorlagen (auf etwa ein Siebentel) als unumgänglich.
Die mächtigen Tafeln sind rechteckig, 37 cm hoch und 43 cm breit; ihre Stärke
schwankt von 2V2 bis 3 cm; sie bestehen aus schönem rothen Thon, auf den un-
mittelbar gemalt istj ebenso sind einige verwandte Bruchstücke behandelt, die neuer-
dings in Athen gefunden wurden, während andere aus gröberem Thon bestehen und
nur an ihrer Oberfläche zur Bemalung mit einer feineren Thonschicht belegt sind
[Woltei-s, y.I()xuioL 'E(pi]jii. 1888, S. 184 f.). Der Stil ist derjenige der schwarzfigurigen
Festsclirift fiir OverbüL'l'. 1
2 Gustav Hirschfeld.
Vasen, den man wohl den mittleren nennt. Die Verwandtschaft mit den sorgfältigsten
Meisterwerken dieser Art drängt sich auf, zumal soweit sie gegenständlich einander
berühren, doch gehen ja, noch ganz abgesehen von der einzigen Grösse, diese Platten
in so Manchem über alles bisher Bekannte hinaus: sie theilen mit den attischen
Vasen dieses Stiles, dass die ganze Darstellung zunächst in schwarzem Firniss an-
gelegt war, der z. B. auf PL III unter der weissen Farbe des Frauenarmes, PI. IV
unter der gelben der Säule zum Vorschein kommt, der ferner als dünne Linie den
Frauenarm von PL IV begrenzt. Doch sind schon die verwendeten Deckfarben nicht
ganz so beschränkt, wie auf den stilverwandten Vasen: gelblich weiss sind die
nackten Theile der meisten Frauen, doch ist nicht bloss das Antlitz der Todten,
PL IV hell weiss, sondern auch die eine Klagende PL III, in offenbarem Streben,
sie gegen die Nachbarin deutlich abzugrenzen ; gelblich sind die Säulen, unter denen
die Prothesis stattfindet PL IV. Gelblichweiss ist ausserdem die Volute am Bein
der Kline, wie dessen Palmetten, dann die hinter dem Knaben PL VI befindliche
Masse; hellweiss ausser mannigfachen Verzierungen der Gewänder natürlich die
Schimmel PL XI, XII, dann die ofi'enbar aus Holz gemeinten Pfähle PL V, VI und
der Stab PL VI, ebenso der untere Theil vom Halsringe der Maulthiere PL V,
der Hing und die Schnalle an ihrem Zaumzeug. Aus dem hier Aufgezählten folgt
schon, dass unter der gleichen Farbe keineswegs auch immer das gleiche Material
verstanden werden muss, oder auch umgekehrt: Gleichartiges ist nicht immer auf
eben dieselbe Weise ausgedrückt, es waltet darin ofi'enbar mehr ein künstlerisches
als ein realistisches Princip: bei den Klappstühlen PL II ist der Ring an der Ver-
bindung von Sitz und Bein einmal roth, das andere Mal weiss; die I^otosblüthen-
verzierung am Brustband eines Pferdes — , dem nsqidtQqaiov (Plut. Mor. 1453) — ist
einmal weiss aufgemalt (PL X), während sie auf der besonders sorgfältigen PL XI
eingravirt ist; die Mähnen und Schwänze, sowie das Brustband der Pferde von
PL XII sind gemalt, eingeritzt auf PL VIII, XI und bei den Maulthieren PL V;
die Mähne des Schimmels PL XII war roth mit feinen weissen parallelen Linien,
die Mähne des andern Schimmels PL XI besteht abwechselnd aus weissen und
schwarzen, von eingeritzten Linien begrenzten Haarsträngen. Ueberall bei aller Be-
schränktheit der Mittel und Farben ein Streben nach Abwechslung und Mannig-
faltigkeit. Braunroth sind vor Allem breite Streifen und mannigfache Verzierung
der Gewänder wie Kreuzchen, Tupfen u. a. , die Brustbänder und theilweise die
Mähnen der Pferde, das Zau.mzeug der Maulthiere PL V und das der Rosse von
PL XI vom Kopf bis zum Joch, während der Rest wie sonst schwarz gelassen ist;
Athenische Pinakes im Berliner Museum. 3
braunroth sind ferner zumeist die Barte der Männer und ein Haarwulst über der
Stirn, doch vergleiche auch PI. VIII und besonders PI. IV. Ein helleres Iloth zeigt
das Kissen unter dem Kopf der Todten PI. IV.
Endlich ist vielerlei, was auch sonst in diesem Stile so üblich, durch einge-
ritzte Linien angegeben: an den Gewändern die Falten und die meisten Mu.sterungen,
diese nicht selten noch mit braunroth combiniert, — auch die zahlreichen Halsbänder
und der Blattkranz der Todten; an den Körpern die Innencontouren der Glieder,
doch auch die äusseren Umrisse, wenn Unklarheit zu vermeiden war, also überall,
wo gleiche oder ähnliche Parben an einander stossen, wie bei den Armen der
Frauen und dem einen Gesicht PI. IV, bei den Gesichtern und den Füssen PI. I,
dann bei den Köpfen und Körpern der Männer, soweit sie von schwarzem Grunde
sich abheben, wie PL V, VI, VIII, und auch ohne diese Complication bei dem
grandiosen Kopfe PL IV, , bei dem das wohl seinen besondern Grund hatte (s. unten),
und an dem auch Bart und Haare eingraviert sind; sonst pflegt auf solche Weise
nur der Umriss des männlichen Haares und Bartes umgrenzt zu sein, wobei der
Lippenbart nicht wie der andre mit braunroth gefüllt wird. Von dem Wulst über
der Stirn fallen wohl einzelne gravierte Härchen herab (PL VII, vgl. PL V), eine
Darstellung, welche an eine gewisse ältere Mode erinnert, die auch Sculpturwerke
zeigen (vgL Schreiber, Athen. Mitth. VIII, S. 251). Auch der äussere Contour
des Haupthaares der Frauen ist umrissen; es ist nicht uninteressant zu sehen, wie
dann einmal der Maler über die ursprüngliche Absicht hinausgegangen ist, PL III,
ein andres Mal sogar nur der eingeritzte Umriss das Richtige festhält (PL II die Frau
mit dem aufgebundenen Haarschopf). Von der Umreissung der Gesammtcontouren
gilt dasselbe wie von der der Gliedmaassen, das heisst, sie findet sich zunächst überall
da, wo Unklarheit zu vermeiden waren, z. B. PL V, doch auch sonst, und wie sich
denken lässt, keineswegs mit pedantischer Consequenz.
Schliesslich sei noch der Inschriften gedacht. Diese bezeichnen offenbar
bestimmte Individuen, also sind die Platten ad hoc angefertigt, konnten demnach
erst eine gewisse Zeit nach dem Begängniss verwerthet werden, und zwar, dann
sicherlich an irgend einer mit dem Grabe zusammenhängenden Anlage. Die In-
schriften sind . zum grösseren Theile in der üblichen Weise schwarz aufgetragen, doch
bietet PL IV insofern mehrere Abweichungen, als zwei Namen ganz, ein dritter zum
Theil eingraviert sind. Am wenigsten Anstoss erregen die Buchstaben an der Säule,
für die anderweitig kein Platz sein mochte, und die schwarz ausgeführt — von
technischen Bedenken abgesehen — leicht störend wirken konnten. Aber schwer
1*
4 Gustav Hirschfeld.
zti glauben ist es, dass die rücksichtslos über den Arm gravierten Buchstaben vor
der Frau auch so in der ursprünglichen Absicht des Malers gelegen haben sollten;
sie scheinen vielmehr nachträglich hinzugefügt und erinnern mit ihren etwas un-
sicheren Umrissen an gewisse hinzugesetzte Namen auf Marmorstelen, z. B. auch bei
der liagia Triada, die erst eingraviert worden sind, als die Stele schon errichtet war, und
die daher mit einiger Vorsicht eingestemmt werden mussten. Im vorliegenden Falle
mag der Name ebenfalls neu hinzugefügt worden sein, oder auch einen irgendwie be-
schädigten ersetzt haben. Zu dieser Alternative veranlasst der Name vor dem Männer-
kopfe, dessen dritter Buchstabe, ein E, gelitten zu haben und daher mit der gesammten
Fortsetzung des Namens um eine Stelle weiter eingraviert worden zu sein scheint
(s. unten zu der PI. IV). Aus den zwei letzten Fällen darf man wohl schliessen,
dass die Platten irgendwo in erreichbarer Höhe angebracht waren. —
Unsere Gesammtanordnung kann nur hypothetisch sein: die Theilung in zwei
Reihen beruht auf der schon in Athen bemerkten gegensätzlichen Richtung des
Maeander am oberen Rande der Platten. Da nun aber die Bewegung auf beiden
Reihen, trotz einzelner retardierender, künstlerisch wirksamer Momente nach einer
Richtung, von links nach rechts geht, so darf man wohl schliessen, dass wir es mit
einer fortlaufenden Entwickelung desselben Vorganges zu thun haben, und dass der
Maeander nur enger aneinander Gehöriges zusammenhielt. Sollte seine Verschieden-
heit aber nicht stören und zugleich unerklärlich werden, so durften die beiden
Reihen von keinem Punkte auf einmal übersehen werden können, mit
andern Worten, die Darstellung musste an verschiedenen Seiten einer
Anlage angebracht sein.
Alle bisher aus rein äusserlichen Kriterien gezogenen Schlüsse wird die Betrach-
tung des Inhalts bestätigen und näher bestimmen.
Wir beginnen mit der Prothesis PL IV, der bezeichnendsten Scene, wie sie
in Attika von den Dipylonvasen an bis zu den weissen Lekythen als Schmuck von
Grabgefässen gebräuchlich war (Wolters, Athen. Mitth. XVI, S. 378 ff.; Pottier,
Les Ucythes Mancs S. 12), und deren ältere, schwarzfigurige Reihe in vielen Einzel-
heiten, den Säulen, der Kline, der Darstellung der Klagenden mit unserm Pinax
sich berührt. Im Innern eines Gemaches, das zwei schlanke, stark verjüngte dorische
Säulen andeuten, auf deren Abakos der Maeander wie ein Epistylion aufliegt, ist die
Todte auf die Kline gebettet, deren Fuss {Gcp7]v67vovg der Keischen Inschrift? Dittenb.
8i/U. 468) auf piner dreistufigen Erhöhung ruht, v%p?]X6g ngöxsiTui y.al ^itTtwQog (Lu-
cian, de luctu 12). Die Richtung des Leichnams ist auf allen bis jetzt bekannten
Athenische Pinakes im Berliner Museum. 5
Darstellungen die gleiche, von rechts nach links ; das Haupt weiblicher und unbärtiger
Todten ist wohl auch sonst gekränzt, mit einer Binde, oder einem Diadem um-
schlungen. Das Haupt ruht, wie gewöhnlich in der älteren Reihe, auf zwei Kissen,
einem hohen und einem länglichen, welches der Todten auch hier anscheinend
gerade unter den Kopf geschoben wird; es ist das Kissen, welches mit bestattet wird,
Lysias geg. Erat. 18; also wird hier wohl ausgedrückt, dass dieser Moment
eben bevorsteht. Die unmittelbare Umgebung der Todten besteht aus den näch-
sten Anverwandten, vergleiche die generellen Namen auf dem kleinen Pinax bei
Benndorf, Griech. und Sicil. Vasenbilder Taf. 1, vollständiger bei Rayet-Collignon,
S. 143 u. ff.] xaqi? steht hinter der Säule auf dem Unterbau der Kline und einem
Schemel und schiebt mit natürlicher leichter Biegung des Oberkörpers das Kissen
unter ; die hohe weibliche Gestalt hinter ihr hat den linken. Arm im Mantel gesenkt
und erhebt den Rechten! zur Klage. Die unter der Kline sichtbaren Buchstaben
gehören möglicherweise zu einem weiblichen Namen auf lOa ;. doch kann schon die
für Jota genommene Hasta zu jenem weiter nach links sichtbaren Reste gehören,
der von einem Tische übrig sein mag (vgl. Berlin. Vasen Nr. 1887 — 1889), wie solche
die mit Wohlgerüchen angefüllten Gefässe trugen, vergleiche z. B. die Archemorosvase.
Zwischen diesem Stück und der linken Ecke des Pinax fehlt etwa ein Drittel
der Platte, ohne Zweifel auch dies mit ein paar klagenden Gestalten. Erauen pflegen
dabei zu überwiegen, und der Rest eines Erauenarmes wird auch an der Armbiegung
des Mannes sichtbar. Dann pflegt, und auch schon bei den Dipylonvasen, ein Kind
oder auch ein paar in der Nähe der Kline auf der älteren Vasenreihe kaum jemals
zu fehlen, während solche auf den weissen Lekythen bisher nicht nachgewiesen sind.
Doch ist auf unserer so viel ausführlicheren Reihe dem Kinde ja eine besondere
Scene gewidmet. Der Knabe von PL VI, der klagend den rechten Arm erhebt, ist
wegen der um ihn befindlichen Reste kaum auf dem Prothesispinax unterzubringen,
PL IV zeigt endlich in dem Kopfe eines klagenden Mannes — 'yJ^£aia[ag oder
./i^£a[jcco»' ? — dessen Haupthaar und Bart zum Zeichen der Trauer kurz abgeschnitten
sind, eine besonders ausgezeichnete Leistung. Die Vorzeichnung des Antlitzes und
das individuelle Profil legen nahe, dass ein Porträt beabsichtigt ist. Der Ausdruck
lauter Verzweiflung ist so packend, dass selbst der gewöhnliche Verstoss in der
Zeichnung des Auges kaum auffällt, eher durch seine Starrheit den beabsichtigten
Ausdruck verstärkt. Hinter der Säule bildete wiederum eine hohe stehende weib-
liche Figur den Abschluss, die Rechte greift Wange und herabhängende Haarsträhnen,
die Linke liegt auf dem Kopfe; ihr Name begann mit (ßu\ . . PL III gehört
6 Gustav Hirschfeld.
bestimmt nicht zum eben besprochenen Pinax, wohl aber zu einem solchen, Avelcher
die Todtenklage, und zwar nach links hin fortsetzte. Der Mund der Frau ist etwas
mehr geöffnet, als unsere Tafel zeigt; mit den Haarsträhnen ist der Maler über
die ursprüngliche Absicht hinausgegangen (s. oben S. 3). An sich könnte dies
Fragment auch von Frauen neben Viergespannen herrühren, vgl. PI. XII, doch ist
dort die Aeusserung des Schmerzes durchgehends gehaltener, die Gewandung sehr viel
weniger reich. Auch scheint zur gleichen Tafel ein kleines Bruchstück mit rechtem
Rande vom Kopf eines wehklagenden Mannes zu gehören (Furtwängler 1812a
Gas. Ärcheol. 1888, 227), der seinen linken Arm zum Kopf erhebt, während er die
Rechte mit der Haltung vorstreckt, welche für Todtenldagen aus Euripides (Alkestis 783,
Suppl. 782) tind aus Monumenten (z. B. 'Etpiii^t. 'j/Iq^aioloy. 1888, Ta£ 11, Berl. Vasen
1888 l 3999) bekannt ist.
PI. II. In einem Gemache sind acht Frauen versammelt; fünf sitzen im Vor-
dergrunde auf Sesseln, deren zwei äussere sich je entsprechen; der mittlere ist be-
sonders gestaltet, wie auch die Frau in der Mitte durch den reicheren Mantel, die
Verhüllung des Hinterhauptes , die Haarbehandlung vor allen andern ausgezeichnet
ist. Sicherlich bedeutungsvoll, wenn auch für uns noch nicht fassbar, ist die ver-
schiedene Anordnung der Haare auch bei den Uebrigen: der aufgebundene Schopf
(s. Schreiber, Athen. Mitth. VIII, S. 250) des jungen Mädchens, das der Frau in
der Mitte gegenüber sitzt, und deren Füsse nicht den Boden erreichen: sie soll wohl be-
sonders jugendlich erscheinen; die noch im Nacken sichtbaren Haare beruhen nach dem
vorgeritzten Contour auf einem späteren Irrthum (s. oben S 3) ; die hinter ihr Sitzende
hat einen einfachen herabhängenden Haarschopf; die zwei andern Sitzenden, deren
Bedeutung durch die abgewendete Haltung der mittleren Frau etwas herabgedrückt
zu werden scheint, haben wie die drei Stehenden jene auf Schulter und Brust herab-
fallenden Flechten alterthümlicher Mode. Elie Bewegung des einen Armes drückt
bei allen Sitzenden einen mehr oder weniger tiefen Antheil aus. Der Symmetrie
dient auch, dass die zwei der mittleren näheren Frauen etwas nach vorn gebeugt,
die an den Enden aber gerade aufgerichtet sitzen. Die Singularität einer Trauer-
versammlung, die man gerügt hat, erscheint nicht anstössig: haben wir doch hier
überhaupt zum ersten Male auf griechischem Boden eine ausführliche Darstellung
von Bestattungsscenen vor uns. Der Vorgang im Hintergrunde berührt sich wenig-
stens insofern mit Bekanntem (s. auch oben), als Sorge für hinterbliebene Kinder,
wenn auch in anderer Weise, doch auch auf Grabreliefs zum Ausdruck kommt.
Aber deshalb in . der verschleierten sitzenden Frau die verstorbene Mutter zu sehen,
Athenische Pinakes im Berliner Museum. 7
wie auf den Reliefs (so W. G. Mueller im American Journ. 1891, S. 445), geht nicht
an, da die Todte auf dem Lager liegt und hier nicht einzelne , von einander unab-
hängige Episoden vor Augen geführt werden. Das Hinterhaupt tragen hier auch
andre weibliche Wesen verhüllt, s. PI. I u. XI, es wird das Frauen von Mädchen
unterscheiden, die ja von der Bestattung keineswegs ausgeschlossen waren (s. De-
mosthen. geg. Makart 62). Und drei Mädchen werden es auch sein, die im Hinter-
grunde der Platte stehen, und deren mittlere der rechts stehenden einen Knaben
behutsam vom Arm nimmt (zur Armhaltung vgl. die Kinder tragenden Frauen Ger-
hard A. V. LV, LXIX), um ihn der andern zu reichen, die ihn schon mit empor-
gehobenem Mantel erwartet. Der Knabe hat im Original eine etwas gekrümmte Nase.
Ein Zusammenhang mit den andern Scenen wäre etwa so zu construiren, dass das
Mädchen den Knaben abgiebt, um sich der dann rechts daran stossenden Todten-
Idage oder auch dem. Zuge; klagender Frauen (s. PL I) anzuschliessen. Doch spricht
die Bedeutsamkeit der Platte, der Vorgang im Innern des Hauses mehr für die Nähe
bei der Todtenklage.
Die eben genannten durch mehrere Fragmente gesicherten Frauenzüge (PI. I)
müssen des Maeanders wegen von dem Zuge der Reiter und Viergespanne getrennt
werden; andererseits lassen sie sich auch nicht gut mit den Scenen im Hause ver-
binden, und sie dem Männerchor PI. VI voranzustellen, scheint die attische Bestat-
tungsordnung zu verbieten (Demosthen. a. O.), die gewiss uralt ist vgl. die Dipylon-
vasen. Der Schwierigkeiten würde man am besten überhoben, wenn die voraus-
zusetzende Grabanlage ausser Langseiten auch ausgedehntere Kurzseiten
gehabt hätte; hier würden die Frauenzüge wohl angebracht sein (vgl. das Denkmal
von Lamptrai Athen. Mitth. XII, Taf. II) und nicht die Verbindung nach irgend einer
Seite hin herausfordern. Wahrscheinlich haben sie mehr als eine Platte bedeckt.
In Ermangelung einer andern Stelle ist zu PL I ein oberes rechtes Eckstück mit
einem fliegenden Vogel gesetzt worden , das nach seinem Maeander in diese Reihe
gehört. Ein solcher Vogel kommt auch auf einem der in Athen befindlichen Frag-
mente vor (E(prj[.t.. aqxuioX. 1888, S. 185); er begleitet die txcpogcc auf einem Etrus-
kischen Monumente (Martha, l'art Etrusque S. 360, Fig. 249). Diese Beigabe ist
möglicherweise aus der Typik der Dipylonvasen in diese Darstellungen sowohl, wie
überhaupt in die schwarzfigurigen Vasen gedrungen, wo fliegende Vögel Gespanne
und Reiter begleiten, wohl zunächst in der Absicht, den Vorgang augenfällig ins
Freie zu verlegen.
PL V. Etwa ein Drittel von der rechten Seite einer Platte, ausnahmsweise mit einer
8 Gustav Hirschfeld.
Doppellinie unter dem Maeander. Vorzüglicli gezeichnet sind die Köpfe des Maulthier-
gespannes, welche ein Zaumzeug tragen, wie es sonst bei noch nicht angeschirrten Zug-
thieren vorkommt, vgl. Wien. Vorl. 1888, Taf. IV 3 d, Scherbe des Nearchos Gerhard
A. V. CCL und was Berl. Vas. zu. N. 1890 citirt ist. Zu dem eigenthümlichen Halsring
ist vielleicht das alterthümliche unteritalische Relief bei Daremberg und Saglio
S. 1636 no. 2205 zu vergleichen, während die Münzen von Bhegion und Messana (s.
Skizze) einen Plalsring überhaupt beim Maulthiergespann bestätigen ; er scheint bei der
aniiDTj für das Joch eingetreten zu sein; zu vergleichen ist auch
das rothfig. Vasenbild Gerh. A. V. CCXVII — München 903
und die man hier für ältere griechische Kunstwerke in gewissen
Grenzen doch wohl heranziehen darf — die Etruskischen Reliefs
Mon. VIII, Taf. XIX c, Mi call, Monum. p. serv. Taf LVII 1
(=: Martha, Hart Etrusque, Fig. 246 und 249). Es ist da überall
Messana nach 490 v. Chr. mit einer besondern Art des Fahrens verbunden, d. h. sitzend
Catalogue Coins Brit. Mus. i,r , ., . .,,.,>, ,
Sieilv S 100 16 '^'^™' Wagen aiis, also wiederum wie meist bei der ämjvrj, und
in den Etruskischen Fällen ist es zugleich als Gespann für die
Verstorbenen gemeint. Dass man auch in Griechenland die Todten mit Maulthieren zu
Grabe fuhr, erweist eine schwarztigurige Vase (Micali Wlon. 96, 1 = Schreiber, kultur-
liistor. Bilderatlas XCIV, 4; das Thonrelief bei Rayet, Monuments Ant.: Convoi funebre =
Schreiber a. O.XCIV, 5 ist danach gearbeitet, aber kaum im Alterthum !) Es war wohl
immer etwas Vornehmes und zugleich vielleicht Alter thümliches, — auch der Ausdruck
a'Aipoqä spricht dagegen, dass es die Regel war. In besondern Fällen mag es auch
später noch vorgekommen sein, vgl. den Sarkophage des Pleureuses von Sidon ; doch ist
fraglich, ob es sich hier um die Fahrt zur Bestattung handelt, und ob die Maulthiere
nicht einfach als Zugthiere überhaupt zu verstehen sind wie beim Transport der
Leiche Alexanders des Grossen (Diodot XVIII, 27). Jene Halsringe mögen die a. O.
erwähnten %hSmvsg sein, vgl. Plut. Mar. 145 B. Der durch den Raumzwang klein
gerathene Mann »Mylios« vor dem Gespann, der zum Hantiren sich des Mäntelchens
fast entledigt hat, stellt ein oder zieht mit beiden Händen den oben als Gabel zu
denkenden Pfahl vor, durch den man Wagendeichsel und Joch bezw. Halsring hob
zum Anspannen, aber gewiss auch bei Ruhepausen, wodurch dann zugleich die Thiere
erleichtert wie am Fortgehen verhindert wurden. Der Pfahl ist das Griigiy/iia (auch
vnoaTcki]e) bei Plut. Coriol. 24. Phot. 538, 12; auch gtiiqiy^ Lysias Frg. 327. Plut.
Quaest. Rom. 70 (p. 280 E), oder äxTf^^k Poll. X, 157. Am Rande wieder eine hohe,
hier wie beaufsichtigende Frauengestalt, »Sime«, ein nicht gerade häufig überlieferter
Athenische Pinakes im Berliner Museum. 9
Name (Heydemann, Satyr- u. Bakchennaraen S. 44, 234), und doch oiFenbar nicht
ungewöhnlich (Herondas, Mimiamb. I, 89). Von den Maulthieren, hinter denen noch
einige Baum Lorbeer-? — Zweige sichtbar werden — Bäume vor den gewaltigen
Grabmalen auf den Bestattungsvasen bei Rayet a. O. — heisst das eine (ßrdiog wie ein
Pferd auf einer Amphora des Exekias (Berl. Vas. 1720), das andere 7'v%]<g? Gerhard
A. V. CXC. Auch der schon einmal erwähnte Knabe PL VI mag zu der Platte ge-
hören, wenn sie wirklich die Vorbereitung zur ixcpo^d darstellt. Dies letztere wird aber
unsicher, wenn, wie es scheint, das Bruchstück links den hintern Theil der Maul-
thiere enthält, also zu dieser Platte gehört; auch ist der Wagen, wie in den oben
angeführten Fällen, Avirklich zum Sitzen eingerichtet, also doch wohl auch eine dmjvi];
darauf sitzt eine weibliche Gestalt <ße. .. mit einem Stabe — oder der Geissei ? — in der
Linken. So, d. h. mit Maulthieren, fuhren auch vornehme athenische Frauen zur
Eleusinischen Festfeier, s. Vita X orr. p. 842; Demosthen. geg. Midias 158, mit
schol. ; vgl. Aristoph. Plut. 1014. Dass der "Wagen noch nicht fertig oder besser
nicht in der gewöhnlichen Weise angespannt war, geht auch daraus hervor,
dass nirgends über oder unter dem Verbindungsstrange zwischen Wagenstuhl und
Deichselende die Zügel sichtbar werden. Es spricht also nicht Weniges für den Zu-
sammenhang von Wagen und Maulthieren; und auch ohne das würde hinter den
letzteren ein Wagen zur Aufnahme der Kline kaum noch Platz gefunden haben,
und von der Seite war er wohl hier so wenig dargestellt, wie er auf dem Sarko-
phage des Pleureuses aus Sidon (Hamdi-Bei- Reinach Taf. IX und XI) so gemeint
sein wird. Dennoch haben wir diese Platte wegen der namentlich bezeichneten Per-
sonen, die also doch wohl Familienmitglieder sind, der Hauptscene nahe gerückt, frei-
lich ohne bis jetzt einen bestimmten Zusammenhang nachweisen zu können.
PI. VI. Rechte obere Ecke und ein nicht unmittelbar daran passendes unteres
Stück. Ein Zug von Männern und Jünglingen, der aber vielleicht bis auf den Kna-
ben mit dem weissen Stabe (?) in der Rechten noch still zu stehen scheint ; wartend
ist auch die Haltung des von vorn gezeichneten Zugführers. Auch würden wohl
sonst schon die rechten Arme zur Trauerbewegung erhoben sein, Avie auf den in
Athen befindlichen Bruchstücken, s. !£V/)?/^t. yl()%. 1888, Taf. 11, wo übrigens sicher
der Männerzug zahlreicher war, als ihn diese eine Platte fassen würde, auf der noch
drei weitere Paare Platz hätten. Auch erscheint die bisher nachweisbare oder zu
sichernde Anzahl von Männern auf unsern Platten, 20 — 30, gegenüber der doppelten
Anzahl von Frauen doch zu gering, wenn auch bei der Prothesis Frauen stets sehr
überwiegen. Auf eine anstossende Kurzseite herumgeführt würden diese Männerzüge
Fostsclu-irt für Overbouk. 2
J Gustav Hiischfeld.
den oben vermutheten Fratienzügen gut entsprechen. Zwischen und hinter dem ersten
Paare auf PI. VI wird eine — hölzerne? — Stange sichtbar, die Einer von ihnen
trägt; zum Abheben der Kline vom Wagen?
Der nach rechts gerichtete Maeander scheint der andern Reihe nur Viergespanne
mit ihrer Begleitung und Reiter zuzuweisen; wie solche bei Prothesisvasen, von den
ältesten an, immer nur an Nebenstellen erscheinen, so denkt man sich den Zug auch
hier gern an der abgeAvandten Seite, ohne dass er deshalb bedeutungslos würde.
Vier Viergespanne sind gesichert, PI. IX — XII. Der rechte Rand aller Platten
ist wieder durch eine hohe weibliche Gestalt abgeschlossen, deren linker Arm ge-
senkt, deren rechter wohl überall erhoben gewesen sein mag. Auch im Uebrigen
scheinen die Platten einander sehr ähnlich gewesen zu sein, doch so, dass je zwei
einander entsprachen: Avenigstens sind auf PL XII die drei Frauen nach rechts, auf
den beiden andern nach links gerichtet; auch ist die erhaltene Frau PL XI mit ver-
hülltem Hinterhaupt sicher nicht klagend dargestellt. Gewandung und Bewegung
der drei Frauen sind verschieden, soweit das der Klarheit dient. Den gleichen Zweck
hat es, dass überall ■ — wie auch sonst s. Gerhard A. V. IV, S. 22 — das dritte Ross
weiss ist, und dass — sogar abweichend von der Wirklichkeit — das vorgesetzte
Vorderbein des Schimmels vor dem zurückgesetzten Bein des zweiten Pferdes er-
scheiait. Feine Köpfe haben die Thiere von PL XII, die Körper aller sind voll und
rund, die Beine gracil, etwa wie auf dem Fragment des Nearchos und den Gefässen
des Exekias ; dieser letztere gebraucht auch die gleichen Pferdenamen wie hier PL XI
KaXXicpÖQug (Berl. Vas. 1720 u. Gerhard A. V. CVII, vgl. auch Millingen XXI) und
Siii-ioii (Gerh. A. V. a. O. , Sü^tog heisst das Pferd eines Viergespanns, das OL 66
siegte, Paus. VI 10, 7). Benenaumg der Pferde ist sonst überhaupt selten: es dürfte
kaum viel über ein Dutzend derartiger attischer Vasen geben, daneben noch ein
paar korinthische, vgl. F. Jeschonnek, De nominibus, qiiae Graeci pecudihiis domestids
indiderunt, Diss. Regim. 1885.
Wie Viergespanne im Leichenzuge, so werden auch Reiter nur durch Denk-
mäler, ein schwarzfiguriges Thongefäss (Archäol. Anz. 1850, S. 211, Rayet a. O.),
und unsre PL VII, VIII gesichert ; denn wie weit die ideale Bestattung des Priesters bei
Plato, Gesetze XII, 947 mit der Wirklichkeit zu thun habe, wäre von vorn herein
nicht auszumachen gewesen. Doch kann hier von militärischer Reiterei, wie das
dort der Fall, noch keine Rede sein, vgl. Holwerda, Archäolog. Jahrb. IV, S. 30 f.
Dem Versuche, Pferde von vorn darzustellen (PL VII), ist die schwarzfigurige Vasen-
malerei wie die älteste Kunst überhaupt bekanntlich nicht abgeneigt.
Athenische Pinakes im Berliner Museum. '[ 1
Wie die nach, links gewendeten Frauen bei den Viergespannen und die davor
stehenden darauf zu deuten scheinen, dass die Anordnung oder Aufstellung noch im
Werden begriifen ist, so kann in gleichem Verhältnisse zum Reiterzuge die Scene
auf PI. VII stehen. Wir haben schon bei der Knabenübergabe daran gedacht, dass
da ein Vorgang im Werden dargestellt sei. Für die künstlerische Beurtheilung
unserer Plattenreihe würde das natürlich von Bedeutung sein, aber auch die Absicht
äusserer wie innerer Einheitlichkeit würde dadurch nur noch deutlicher. In der
That ordnet sich die ganze Darstellung anscheinend einem Momente unter, dem-
jenigen vor der Wegführung der Leiche aus dem Plause: draussen steht, freilich
noch in Ruhe, schon Alles bereit, um so höher steigt drinnen noch einmal die ver-
zweifelte Klage.
Unsere Platten stehen nicht mehr einzig da: Bruchstücke von wenigstens zwei
analogen Reihen in gleicher Technik sind neuerdings in Athen, ebenfalls im äusseren
Kerameikos gefunden ; also war es in der blühenden Zeit des schwarzfigurigen Stiles
einmal Sitte, grosse Darstellungen von. Bestattungsscenen auf Pinakes zu malen
(Wolters, 'Ecpri^i. yj^xaiol 1888, S. 187).
Verschieden beantwortet ist nur die Frage nach der ursprünglichen Verwen-
dung, für welche der äussere Zustand der Platten durchaus keinen Anhalt giebt.
Nun ist einerseits jede Platte, soweit wir sehen, als ein abgeschlossenes Ganzes com-
ponirt und gegen ein unmittelbares Aneinanderstossen sprechen die theilweise abge-
schnittenen Figuren an den Rändern, die sich doch auf keiner andern Platte fort-
setzen; auf der andern Seite verlangt äusserlich der fortlaufende Maeander, dann
besonders der nun einmal vorhandene Zusammenhang, dass die Platten nicht gar
weit von einander getrennt waren. Eine metopenartige Anordnung würde jede Wir-
kung aufheben. Man hat daher wohl mit Recht an eine enge Zusammenrückung
der Platten in Holzrahmen gedacht. Diese könnte an sich auch das Innere eines
Grabes friesartig umzogen haben, wie die bunten Thonplatten von Cervetri 3Ion. VI,
Taf. 30; Martha S. 428. Doch ist darauf hingewiesen worden, dass Attika Grab-
gemächer, wie sie dazu vorauszusetzen wären, nicht kenne (I:J(pri/.i. yj^x- 1888, S. 191);
und ich finde schon diesen Einwand gewichtig, so sehr ich überzeugt bin, dass trotz
der Funde und Forschungen der letzten Jahre wir uns von der Mannigfaltigkeit
attischer Grabdenkmäler in archaischer Zeit immer noch keine ganz zureichende
Vorstellung machen. Doch scheint auch die an dem Athener Pinax 'Ecprij-i. \4q%uioX.
1888, Taf 11 befindliche Inschrift . . . cri^m tÖiY toTi .* . . nur die Annahme zuzu-
lassen, dass solche Pinakes aussen am Denkmal sichtbar waren. Wolters hat für
\2 Gustav Hirsclifelcl.
den Gesammtaufbau hingewiesen auf das oft angezogene tempelartige Grab auf einer
schwarzfigurigen Vase Amiali 1835, Taf. D 1 (vgl. auch Gerh. A. V. 241); und
gegen dieses, das freilich mehr einem Grabgebäude gleicht (Athen. Mitth. XII,
S. 112), lässt sich wenigstens kein Bedenken mehr aus der weiten Entfernung der
Anten entnehmen (Brückner, Ornament und Form S. 77), seit wir den combinirten
Holz- und Lehmziegelbau gerade der älteren Zeit kennen, den auch Wolters für die
von ihm vorausgesetzten Anlagen herangezogen hat.
Indessen ist oben aus der Darstellung selber abgeleitet worden, dass diese wohl
von keinem Punkte auf einmal übersehbar, aber in leicht erreichbarer Höhe ange-
bracht gewesen sei, und dass sie besonders geeignet für die Schmückung von Lang-
und Kurzseiten erscheine. Diesen Forderungen würde eine Anlage, wie das aufge-
mauerte Familiengrab von Vurva mit seinen 4 m Länge, 2V2 m Breite und IV2 ni
Höhe wohl entsprechen {Jdrlov 1890, S. 106; Athen. Mitth. XV, S. 319, Taf.
IX, XIII); und ganz neuerdings sind gerade in Athen und sehr nahe der Fundstätte
unserer Pinakes Gräber gefunden worden, die anders geformt, aber doch auch aus
einem getünchten Lehmziegelbau bestanden [JeXrlov 1891, S. 19, 33), während die
oben angeführten Vasen mit der Ekphora ganz gewaltige rechteckige weisse Grab-
male zeigen, und vielleicht darf man für das VI. Jahrhundert auch auf den Ausdruck
für das Grab Solons hinweisen ntgiorMdo/.i7jTO ccvtco ö rätpog Ael. V. H. VII 16.
Aus solchen Anlagen, gleichsam monumental gewordenen Grabhügeln, mögen jene
wohlbekannten späteren würfelartigen rQÜne^ut, hervorgegangen sein, die gewiss auch
nicht immer ganz niedrig waren. Denn diejenige des Isokrates war mit einem offen-
bar zusammenhängenden Reliefschmuck versehen [Vita X orr. p. 838 C), was keines-
Avegs wie etwas ganz Aussergewöhnliches beschrieben wird. Auch zeigt z. B. der
unzweifelhaft attische Sarcopliage des Pleureuses aus Sidon, der in seinen Umrissen
einer TQÜniCf. nicht fern steht, an den Deckelrändern einen Fries von Bestattungs-
und Trauerscenen, wie er für einen Sarkophag schwerlich erdacht ist. Es ist daher
wohl nicht zu gewagt, ältere Vorbilder vorauszusetzen, wobei denn der bildliche
Schmuck, wie ja z. B. auch bei den Stelen und sonst in der Architektur von male-
rischer Ausführung zu sculpierter allmählich sich entwickelt hätte. Schwerlich waren
aber dabei Thonplatten das Ursprüngliche : sie sind an sich nicht das geeignete Sub-
strat für zusammenhängende längere Darstellungen und sind, durch ihre Dauerhaf-
tigkeit empfohlen, Avohl nur für eine Bemalung des blossen Bewurfes eingetreten:
sepukrum opcre tectorio exornari, gewiss nicht das blosse Tünchen verbot ein nach-
solonisches Gesetz (Cic. de legg. II, 26, 65, vgl. auch ad Q.fr. III 3, 1. ad Att. I 10, 3);
Athenische Pinakes im Berliner Museum. 13
und eine grosse Schlange ist dem Bau auf der Ekphoravase bei Kayet aufgemalt.
Die Rücksicht auf den Lehmbau, aber auch auf die Tarben hat dann jene über-
ragende Bedeckung veranlasst, wie sie schon das Mal von Vurva zeigt, und welche
die Trapezai auch später noch festhalten. Als leicht zerstörbar sind jene Anlagen
in neuerer Zeit gewiss oft unbemerkt verschwunden (vgl. Arch. Jahrb. VI, S. 198),
aber gewiss auch schon im Alterthum, z. B. beim Bau der Themistokleischen Mauer.
Denn soweit wir bis jetzt sehen, sind diese Prachtdenkmäler beträchtlich älter; zwar
Selon fand noch keinen Anlass, gegen den Luxus der Grabmäler einzuschreiten (Cic.
de legg. II 26, 24); das geschah erst post aUqiianto , gewiss nachdem auch die Be-
schränkung des Leichengefolges durch Selon wieder in Vergessenheit gekommen war
(Cic. a. O.) : aal yaQ Gvvsßtj rovs juev ^'ökovög v6f.iovg dcpaviaa/, ti)v rvQavvida öiu lö (.n)
X^rjaOcii {^yld-f\v. noX. 23). In der That zeugt noch Anderes dafür, dass auch der Grä-
berluxus unter den Peisistratiden hoch entwickelt war, vgl. z. B. Loeschcke, Athen.
Mitth. IV, S. 289 f Au.f des Kleisthenes Zeit wird jenes jjost aliquanto gehen. In
der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts entstanden demnach jene amiüiUtdines
sepulcronim im Kerameikos (Cic. a. O.), wo ja auch unsere Platten gefunden sind,
deren Stil zugleich der Mitte eben jenes Jahrhunderts wohl zukommt. Unter allem
Gebliebenen scheint ihnen das Bruchstück des Nearchos am nächsten zu stehen.
Sicher war Vasen- und Pinaxmaler oft dieselbe Person, aber in der älteren Zeit zu-
gleich vom Künstler kaum verschieden (vgl. Studniczka, Arch. Jahrb. II, 154). Das
begründet den Hauptwerth unserer Pinakes für die Malerei, zumal die attische des
VI. Jahrb., wie ihn die polychromen attischen Lekythen in Berlin (N. 2684 f.) für
das nächste Jahrhundert haben, wenn auch bei der damaligen Entwickelung der
Malerei nicht mehr in gleichem Maasse haben können.
Wenn Darstellungen der besprochenen Art häufig waren, so wird wohl Man-
cherlei, was sich gerade bei ihnen natürlich ergab, von hier aus in die Typik der
schwarzfigurigen Vasen gedrungen sein: die so beliebten und doch so auffälligen,
von Fussgängern begleiteten Viergespanne, z. B. auch auf der Francoisvase, vielleicht
auch die Anschirrungen und einiges oben Bemerkte. Und auf der andern Seite
würde noch in neuem Sinne wahr, was von der Existenz älterer Vorbilder für den
Parthenonfries mit Eecht gesagt worden ist (Holwerda, Arch. Jahrb. I, 30). Es war
aber wohl an der Zeit einzuschreiten gegen Begängnisse, die sich von Aufzügen an
Götterfesten nicht mehr unterschieden. AVenn literarisch von solchem Schaugepränge
nichts überliefert ist, so beweist das wohl auch, dass es vom Beginn des V. Jahr-
hundert an damit vorbei war.
Phrixos und eine Kentauromachie
auf einer Schale der Mitte des V. Jahrhunderts
von
Paul Hartwig.
Mit Tafel II in Lichtdruck und 2 Textfiguren.
Als Welcker in den 40er Jahren den Text zu den Ternite'schen Wandgemälden
von Herculaneum tind Pompeji schrieb (separat gedruckt im 4. Bande seiner Alten
Denkmäler), konnte er bei der Besprechung einer Anzahl von Gemälden mit der
Darstellung des Phrixos und der Helle auf dem Widder kein Vasenbild noch auch
ein anderes antikes Monument nennen, welches diesen Gegenstand zum Vorwurf hat
(vgl. a. a. O. S. 106).
Im Jahre 1859 veröffentlichte Minervini im BuUettino Napolitano (VII Taf 3, 4)
die erste Phrixosdarstellung auf einer griechisch -unteritalischen Vase, dem be-
kannten Krater der Assteas (abgeb., ausser am oben genannten Orte, in den Wiener
Vorlegeblättern, Serie B Taf. 2 und öfters). Beide Geschwister, Phrixos und lielle,
reiten auf dem Bücken des Widders über das Meer, welches durch Fische und
phantastische Meerwesen angedeutet ist. Von links winkt ihre Mutter Nephele ihnen
mit einem Schleier zu oder breitet ihn gleichsam schützend über sie aus, zur Rechten
befindet sich Dionysos auf einem Panther und ein Silen; die Anwesenheit dieser
letzteren Figuren wird durch eine bei Hygin Fab. 3 erhaltene Version der Sage er-
klärt. Einige Jahre später (1867) brachte Jahn in den Annali deltlstituto tav. C
eine zweite Phrixosdarstellung auf einer Nolanischen Amphora attischer Fabrik aus der
Zeit des entwickelten schönen Stiles bei. Das Gefass ging aus der Sammlung Ales-
sandro Castellani's in das Museo Nazionale in Neapel über [Santangelo Nr. 270], Wir
sehen hier den Widder, mit einer Opferbinde geschmückt, über die Fluthen eilen.
Phrixos und eine Kentauromacliie auf einer Schale der Mitte des V. Jahrhunderts. 15
Phrixos, als Ephebe gebildet, eine Chlamys und den Petasos im Nacken und zwei
Speere in der Eechten, schwebt neben dem Widder, sich mit der Linken am Hörne
des Thieres festhaltend. Seine Blicke sind rückwärts gewendet auf eine ihn verfol-
gende Frau, welche ein Doppelbeil in der erhobenen Eechten schwingt und mit
weiten Schritten ihn über die Wellen hin verfolgt. Jahn erkannte in dieser Frauen-
gestalt, gewiss mit Eecht, die Stiefmutter des Phrixos, deren Verfolgungswuth gegen
die Kinder der Nephele, gleichviel ob aus verschmähter Liebe von Seiten des Phrixos
[Hygin, astron I, 20], oder aus anderen Motiven hervorgegangen, vom Maler der
Nolaner Amphora in der angegebenen Weise versinnbildlicht worden ist. Anderen
vermeintlichen Phrixosdarstellungen auf Vasen gegenüber verhält sich Jahn sehr
skeptisch: das spätattische Schaleninnenbild (Berlin Nr. 2727), welches einst Gerhard
im 2. Berliner Winckelmannsprogramm auf Phrixos, den Flerold, bezogen hatte,
lehnt er entschieden ab und deutet es auf Flermes, welcher auf dem ihm geheiligten
Thiere, dem Widder, reitet; ein weiteres, gleich dem vorigen in der Berliner Vasen-
sammlung (Nr. 3345) befindliches Schaleninnenbild apulischen Stiles zweifelt er
ebenfalls als Phrixosdarstellung an mit den Worten: -nnon evvi altra ragione di no-
minarlo Frisso, che la circostanza di non trovarsi nella tradismie milica altro fersonaggio^
che meglio vi comhini.v. Im Compte rendti von 1869, S. 109 ff. prüfte Stephani das
ihm bekannte Material der Phrixosdarstellungen durch und erkannte ebenfalls neben
dem Krater des Assteas nur die Neapler Amphora als nicht zu bezweifelnde Dar-
stellung der Phrixossage auf griechischen Vasen an^). Unveröffentlicht und, so viel
ich sehe, unbemerkt blieb ein »Phrixos mit dem Widder cf auf einem kleinen, aus
Grossgriechenland stammenden Skyphos, einst bei E. Eochette (Verkaufs -Katalog
Nr. 46), den nachmals Fröhner besass und dessen eine Seite mit einer von demselben
auf die Anodos der Köre gedeuteten Darstellung in den Annali 1884 tav. N
1) Die für unseren Zusammenhang wichtigsten Phrixosdarstellungen auf Monumenten anderer Art
sind die folgenden: 1) Melisches Thonrelief in Athen abgeb. Schoene, Griech. Reliefs, Taf. 30 Nr. 124.
2) Melisches Thonrelief, einst in der Collection Laborde in Paris abgeb. Annali 1867 tav. B.
3) Marmorrelief, Schildbild des sog. Eperastos, aus Olympia abgeb. Olympia V, Taf. 19. 4) Münzen
von Halos in Thessalien abgeb. Berl. Monatsberichte 1878 Taf. I, 12; Millingen, syllogc of ancient mied,
coins PL ir, Nr. 25; Panoska, Einfluss der Gottheiten auf die Ortsnamen Taf. I Nr. 20; ein etwas
anderer Typus bei Cadahenc, reoueil de midailhs grecques PI. III Nr. 8. — Die Münztypen von Gela
bei Torremuzza, Num. Sicil. Taf. 33 Nr. 5 und 6 sind wohl sicherlich mit Unrecht von Welcker A. D.
IV, S. 109 für Phrixos erklärt worden: das Schwert in der Hand des auf einem Widder reitenden
Jünglings erscheint für Phrixos zu befremdlich. Bei Nr. 3 und 4 könnte allenfalls das Opfern des
Widders in Kolchis dargestellt sein (vgl. auch Head, Jiist. num. S. 124, und Num. Chron. Ser. III Vol.
VII, Taf. III Nr. 22 Greenwell).
16 Paul Hartwig.
abgebildet ist. Somit hatte die Phrixossage bisher als ein auf Thongefässen sehr
selten und nur in den jüngeren Epochen der griechischen Vasenmalerei dargestellter
Mythus zu gelten.
Die Ausgrabungen in der Nähe des alten Falerii, welche in den letzten Jahren
eine so reiche, zum grössten Theile in dem Museo Villa di Papa Giulio bei B,om
niedergelegte Ausbeute ergeben haben, brachten auch eine neue und zwar die älteste
der uns bisher bekannten Phrixosdarstellungen auf Vasen im Innenbilde einer attischen
Schale zvi Tage. Dieselbe befindet sich jetzt in der Sammlung des Kgl. Museums
zu Berlin. Die Höhe des Gefässes beträgt 7,8, der Durchmesser 22,5 cm.
Die niedrige, etwas gedrückte Form der Schale, die Technik und der Charakter
der Zeichnung, auf welchen unten näher einzugehen sein wird, verweisen das Gefäss
in die Mitte des 5. Jahrhunderts, in diejenige Epoche, welche auf die Zeit der
grossen Meister der Blüthe der attischen Schale folgt. Unsere Abbildung (Fig. 1)
giebt das Innenbild der Schale in voller, die Aussenbilder in halber Grösse des
Originals wieder. Wir betrachten zunächst, gesondert von den Aussenbildern, das
Innenbild.
Von einem Mäander der eintheiligen , ineinandergreifenden Form, welchen
Kreuzplatten unterbrechen, umschlossen, erblicken wir hier Phrixos, ein kurzes
liimation um die Schultern, bekränzt, von sehr jugendlicher Bildung. Aehnlich wie
auf der Neapler Amphora schwebt er in schräger Stellung seitlich neben dem Wid-
der. Mit der Linken hält er sich am Hörne des Thieres fest, die Rechte streckt
er weit nach rückwärts ab — er hält sich nicht damit am Schwänze an,
sonst müssten die Finger geschlossen sein. Unterhalb der Gruppe ist felsiges
Terrain, thongrundig, angedeutet und über demselben gewahrt man, am Originale
mit stark verblichener, rother Farbe gemalt, wellige Linien, welche unzweifelhaft die
Wogen des Meeres darstellen sollen. Die Inschrift unter dem Widder, ein dop-
peltes, zweizeilig geschriebenes ;t«/l6g , steht in keinem Zusammenhange mit der
Darstellung.
Derselbe eigenthümliche Typus, welchen die Gruppe des Phrixos mit dem
AVidder auf der Neapler Amphora und auf unserer Schale zeigt, findet sich auch
bei den in der Anmerkung 1 genannten Melischen Thonreliefs und bei dem unter
Nr. 3 an erster Stelle aufgeführten Münztypus von Halos in Thessalien. Jahn
lässt uns in den Annali 1867 S. 89 die Wahl, wie wir uns die Haltung des Jüng-
lings neben dem Widder vorstellen wollen. Er sagt von der Figur der Münzen von
Ilalos: imuota accanto aW ariete, ovvero si Ja portare dal medesimo in aria.u Die Stelking
Phrixos und eine Kentauromachie auf einer Schale der Mitte des V. Jahrhunderts.
17
des Phrixos auf der Neapler Amphora nennt er »quasi volando«, worin ihm
Heydemann, Beschreibung der Vasensammlung des Museo Nazionale in Neapel
(S. A. 270) gefolgt ist: »ein Jüngling (Phrixos), welcher, mit der Linken am Hörn
eines laufenden Widders sich haltend, dahinschwebt.« Das Schalenbild aus Falerii
giebt uns eine entschiedene Erklärung der Stellung des Phrixos neben dem Widder
an die Hand; der Widder rudert durch die Wogen des Meeres, Phrixos hält sich
Fig. 1.
mit der einen Hand an dem Hörne fest, neben dem Thiere schwimmend, wie es
noch heut zu Tage unsere Cavallerie bei Flussübergängen thut, um den Pferden
die Last zu erleichtern. So erklärt sich auch ohne Weiteres der Gestus der
rechten Hand des Knaben: er ist eine Schwimmbewegung und die Schrägstellung
seiner Beine: er wird von der Fluth getragen. Man beachte, dass die Füsse des
Festschrift für Overlieck. 3
18 Paul Hartwig.
Widders nirgends das rothgrundig dargestellte Felsenterrain (die Küste) berühren,
ja, wo aus Raumbedingungen ein Zusammenstossen von Widderhuf und Terrain
leicht hätte stattfinden können, unter dem linken Vorderbein des Widders, hat sich
der Maler sorgfältig durch ein Zurückziehen des felsigen Bodens davor gehütet, eine
falsche Vorstellung zu erwecken. Ausserdem sind auch die Füsse des Widders in einer
Weise gekrümmt, die nicht für ein Schreiten auf festem Lande, wohl aber für ein
Schwimmen in den Fluthen passt. Dass die Andeutung der Wellen nur eine be-
scheidene ist und dass dieselben nicht bis zur Mitte der Gruppe hinaufreichen,
dieselbe überschneidend, wie es eine naturalistische Darstellung erfordern würde, er-
klärt sich einestheils aus dem gesammten Wesen der Vasenmalerei, welche in solchen
Dingen immer nur andeutungsweise verfährt, und anderntheils aus ihren technischen
Bedingungen, da sie nur über Deckfarben und nicht über Lasuren im eigentlichen
Sinne des Wortes verfügt.
Die^ Erklärung unseres Schalenbildes lässt sich ohne Weiteres auf die oben
genannten Melischen Thonreliefs und auf die Münzen des thessalischen Halos über-
tragen, nur hält sich dort Phrixos mit beiden Händen an den Hörnern des
Widders fest; die Schwimmbewegung seines rechten Armes ist aufgegeben. Der
Neapler Amphorendarstellung liegt ebenfalls ursprünglich der Schwimmtypus zu
Grunde, doch ist er nicht mehr in der klaren, naiven Weise vorgetragen, wie
auf der Schale aus Falerii. Schon der Umstand , dass die den Phrixos verfolgende
Stiefmutter, die Meergöttin Ino, über die Wellen dahineilt, erweckt die Vorstellung,
dass Phrixos mit seinem Widder oberhalb der Wellen schwebt. Auch könnten
die beiden Lanzen, welche der Jüngling in der Rechten hält, beim Schwimmen im
Meer schwerlich in dieser Weise gehalten werden.
Die erhaltenen schriftlichen Quellen, welche uns von der Flucht der Helle und
des Phrixos erzählen, — es sind deren nur späte: Pausanias, Apollodoros, Philostratos
u. s. w. — drücken sich über die Art, wie der Widder die Kinder der Nephele in
die Ferne trug, theils in unbestimmter Weise aus, theils sprechen sie allerdings von
einer Reise durch den Luftraum, so z. B.' Apollodor 1, 9, 4: fxp ov {rov hqiov) cps^ö-
fievo/. dl ovQavov yfjv imeQt'ßijaav '/au {)äXaaGav. Wie alte Quellen, das Epos und.
die Lyriker, die Art der Beförderung beschrieben haben, wissen wir nicht, jedoch
scheint es mir nicht unwahrscheinlich, dass dem Schwimm-Typus auf den Monumenten
irgend welche alte, epische Vorstellung zu Grunde liegt. Gleichviel ob der Widder
mit dem goldenen Vliesse ein Symbol der leuchtenden Wolken des Luftraums ist, deren
Reich Nephele, die Mutter des Phrixos und der Helle, angehört, war der epische
Phrixos und eine Kentauromachie auf einer Schale der Mitte des V. Jahrhunderts. 19
Dichter doch vielleicht nicht phantastisch genug, sich vorzustellen, dass ein Thier
ohne Flügel, mit einer schweren Last auf dem Rücken, durch den Luftraum sich
dahinbewegen könne, anders verhält es. sich mit dem Greif, dem Pegasos und den
von der Natur in Wahrheit mit Flügeln versehenen Thieren. In rüstigem Laufe das
Land durcheilend und die Fluthen durchschwimmend, wobei Helle ertrinkt, bringt
der Widder in einer seiner Natur entsprechenden Weise — Schafe schwimmen vor-
trefflich — den Phrixos ans Ziel, in das ferne Kolchis.
Wenn es auch die ältesten hier behandelten Monumente des Phrixos mit dem
Widder sind, die Melischen Reliefs und unser Schalenbild, welche den neben dem
Widder schwimmenden Phrixos zeigen, so behaupte ich doch keineswegs, dass dieses
überhaupt die ältere Art der Phrixos darstellung sei. Das schöne Relief auf dem
Schilde des sogenannten Eperastos in Olympia (Olympia V, Taf. XIX) zeigt uns ja
Phrixos auf dem Rücken des Widders reitend; nur lässt sich bei dem trümmer-
haften Zustande des Monuments nicht mehr entscheiden, ob der Künstler den
Widder auf einer Bodenlinie laufend oder den Weg durch die Lüfte nehmend
darstellte.
Der Widder, _ welcher Phrixos und Helle auf dem Neapolitaner Krater des
Assteas trägt, schwimmt, der Stellung seiner Hinterfüsse nach, sicher nicht, sondern
schreitet aus. Der späte, unteritalische Maler dachte sich ihn wohl durch die Luft
schwebend.
. Das Gleiche gilt von der auf Tafel II in Vo Grösse des Originales zum ersten
Male abgebildeten apulischen Schale im Berliner Museum Nr. 3345, deren enge Zu-
sammengehörigkeit mit der Darstellung des Kraters des Assteas (man beachte die
völlig übereinstimmende Haltung der Hände des Phrixos auf dem Kopfe des Wid-
ders) nicht bezweifelt werden kann'). Als ein der Darstellung des Assteas entlehnter
Zug erscheint auch der, dass Phrixos sich umwendet, dort seiner hinter ihm sitzen-
den Schwester zu, in reiner Profilansicht des Kopfes, hier in recht wohlgelungener
Dreiviertelansicht, den Blick rückwärts in die Weite richtend, was, wie mir scheint,
in geschickter Weise den Gedanken an den Unfall der Helle, die der Bruder nun
hinter sich lassen muss, erweckt. Der sentimentale Gesichtsausdruck, welchen
1) Die auf der Abbildung punktirten Linien umgrenzen weisse Farbe, die Doppellinion innerhalb
des Widders sind am Originale gelblichroth. Die beiden Muscheln rechts sind weiss, ebenso der Widder,
doch lässt sich bei diesem die weisse Farbe leicht abschaben, während sie an den übrigen Stellen, bei
den Musehein u. s; w.- glasartig hart ist. — Die Aussenbilder der Schale stellen Liebesscenen in flüch-
tiger Ausführung dar; vgl. Furtwängler, Vasensamralung S. 937.
3*
20 Paul Hartwig.
der Phrixos unserer apulischen Schale zeigt, ist jedoch vielmehr eine gemeinsame
Eigenthümlichkeit der Köpfe der Vasenmalerei jener Zeit, als ein von dem Maler
beabsichtigter Zug, um die Trauer des Bruders über den Tod der Schwester zum Aus-
druck zu bringen.
Dass Phrixos, auf den bisher bekannten Monumenten — die Pompejänischen
"Wandgemälde lassen -wir hier bei Seite — fast immer allein, neben dem Widder
schwimmend oder auf dem Widder reitend, dargestellt worden ist, erscheint eigen-
thümlich, aber einmal ist er ja die Hauptperson des Mythos und andererseits kann
man sich leicht vorstellen, dass die Verfertiger der betreffenden Monumente den
Sohn der Nephele darstellen wollten, nachdem die Schwester bereits in den Wogen
des nachmals nach ihr benannten Meeres versunken ist. Erscheint aber eine
weibliche Figur allein auf einem Widder reitend, oder, ähnlich wie Phrixos, seit-
lich an einem Widder hängend, so hat die Kritik allen Grund, mit der Be-
nennung der Pigur vorsichtig zu Werke zu gehen. In einzelnen Fällen mag Unver-
stand der betreffenden alten Künstler die Ursache dieser Vertauschung sein: so sehen
wir doch auch zum Beispiel auf einer späten Terracottagruppe bei Furtwängler,
Sammlung Sabouroff, Vignette zu Tafel 147, einen Adler ein Mädchen rauben,
genau in demselben Schema, wie auf einer griechischen Spiegelkapsel (a. a. O. Taf.
147) der Eaub des Ganymed durch den Adler dargestellt ist^).
Es scheint, dass der Sagenkreis der Argonauten in der attischen Kunst, zumal
in der früheren Zeit, relativ wenig- Wurzel geschlagen hat. . Für die statuarische
Gruppe auf der Akropolis von Athen, welche nach der Angabe des Pausanias
(1, 24, 2) den Phrixos nach glücklicher Ankunft in Kolchis beim Opfern des
Widders darstellte, haben wir keinen zeitlichen Anhalt. Sicher ist aber, dass
durch die attischen Tragiker die Argonautensage, speciell auch die Geschichte des
Athamas und Phrixos, in Athen durchaus populär geworden sein muss. Zugleich
ein neues attisches Monument, welches die Phrixossage behandelt und ein
Denkmal, welches, Avie mir scheint, das neue, durch die Tragiker herbeigeführte
1) Die Literatur über diese weiblichen Figuren auf oder neben dem Widder ist eine ziemlich.
grosse. Schon Minervini [Bullet. Nap. VII S. 36) zweifelt, dass hier Helle zu erkennen sei, vgl. u. a.
Stephani, C. R. 1869 S. Hl; Flasch, angebl. Argonautenbilder S. 1 ff . ; Seeliger bei Röscher,
Lexicon unter Helle; Bethe im Arch. Anzeiger 1890 S. 27 f. In einigen Fällen, wie auf Münzen von
Kypros, ist sicher Aphrodite zu erkennen (Luynes , num. et inscr, Cypr. Taf. V, 3; VI, 5). Wenn
auf Münztypen von Halos eine Frau auf dem Widder vorkommt (Head, hist. »mot. S, 251), ist die
Deutung auf Helle allerdings zweifellos.
Phrixos und eine Kentautomachie auf einer Schale der Mitte des V. Jahrhunderts. 21
Interesse an der Athamas-Phrixoslegende bestätigt, ist eine weissgrundige Schale im
Besitze des Grafen Tyszkiewicz in Rom, im Stile der einst in der Sammlung van
Branteghem befindlichen, jetzt zum grössten Theile im British Museum aufbewahrten
vveissgtundigen Schalen des Sotades und Hegesibulos. Die Schale, welche ich nur
aus einer photographischen Aufnahme kenne, zeigt Ino, Athamas, Phrixos und
Helle, sämmtlich durch Inschriften beglaubigt, in einer nach dem ersten Eindrucke,
welchen ich von dem Bilde gewann, entschieden an eine Tragödienscene erinnernden
Gruppirung. Doch es soll hier der Veröffentlichung dieses wichtigen Monu-
mentes, welche, wie ich höre, durch Fröhner in den antiken Denkmälern des In-
stituts erfolgen wird, in keiner Weise vorgegriffen werden. Nur als eine neue Num-
mer einer Phrixosdarstellung auf attischen Vasen mag die Sehale hier aufgeführt
werden. Es sind deren jetzt im Ganzen drei: die Schale aus Falerii, die Amphora
in Neapel und die Schale beim Grafen Tyszkiewicz. Diesen Erzeugnissen des atti-
schen Kunsthandwerkes reihen sich drei unteritalische Darstellungen an: der Skyphos
bei Fröhner, der Krater des Assteas in Neapel und die von irns publicirte Schale
in Berlin.
Die Bilder der Aussenseite der Schale aus Falerii (Fig. 2) stehen in keinem
ideellen Zusammenhange mit dem Phrixosbilde im Innern. Sie stellen auf beiden
Seiten in sehr geringer zeichnerischer Ausführung "einen Kentaurenkampf dar, welcher,
trotz der trennenden Palmetten unter den Henkeln, als ein Ganzes zu betrachten sein
wird. Die Inschriften im Felde sind auch hier ohne Bedeutung: ein zweimal wieder-
holtes itwAog auf der einen und der Rest eines solchen, n . . , auf der anderen Seite.
Kentauromachien sind auf der attischen Schale der Blüthezeit des strengen
rothfigurigen Stiles kein seltenes Thema. Onesimos war derjenige Meister, welcher
mit Vorliebe diesen Vorgang behandelt hat (vgl. Griech. Meisterschalen S. 542 ff.) ;
ihm ist dann der Meister mit dem Liebling Laches gefolgt (a. a. O. S. 568). Die
Kentaurenkämpfe des erstgenannten Malers sind grössten Stiles und gehören zu den
lebendigsten und interessantesten Darstellungen der attischen Schalenmalerei über-
haupt; in dem Kentaurenbilde des letztgenannten Meisters im Vatican (Mus. Gregor.
IL Taf. 85, 1) macht sich bereits ein Abnehmen der künstlerischen Kraft bemerkbar.
Während die Kentaurenschalen des Onesimos eine Fülle einzelner Kampfmotive
zwischen Kentauren und Lapithen zeigen, ist auf der Schale des Meisters mit dem
Liebling Laches nur ein Lapith im Kampfe mit zwei Kentauren dargestellt, der
übrige Raum des Schalenfrieses ist durch herbeieilende Kentauren ausgefüllt.
In dieser letzteren Beziehung schliesst sich unsere Schale aus Falerii eng an
22
Paul Hartwig.
die vaticanische Schale des Meisters mit dem Liebling Laehes an: auch hier nur
ein Bewaffneter, ein Kämpfender und im Ganzen vier herbeieilende Kentauren. Wie
die vaticanische Schale in der Composition und in einzelnen Motiven an die Schalen
des Onesimos anklingt, so hat auch die Schale aus Falerii Motive aus den Werken
dieses Schalenmalers der Blüthezeit des strengen Stiles bewahrt. Der baumschwin-
gende Kentaur auf Seite b der Schale findet sich sowohl auf der Schale des Onesimos
Fig.
im Vatican (Mus. Gregor. II, Taf. 72), als auch auf derjenigen der Sammlung Faina
in Orvieto (Meisterschalen S. 551), der steinwerfende Kentaur auf dem gleichen
Gefässe Aviederholt sich auf unserer Schale ebenfalls, auf Seite b. ^)
Doch auch neue Motive bietet die Schale aus Falerii oder , vorsichtiger aus-
1) An sich sind diese Motive auch auf den Schalen des Onesimos nicht neu : beide kommen be-
reits auf der Franeoisvase bei Kentauren vor (W. Bl. 1888, Taf. I), der Typus des steinwerfenden
Kentauren auf der schwarzfigurigen Schale in Berlin 1654, der Typus des banmschwingenden Kentauren
auf der schwarzfigurigen Vase bei Gerhard, Etrusk. und Camp. Vasenbilder Taf. XIII.
Phrixos und eine Kentauromacliie auf einer Schale der Mitte des V. Jahrhunderts. 23
gedrückt, Motive, welche wir auf den bis jetzt bekannten älteren Darstellungen der
Kentauromachie auf attischen Schalen nicht nachweisen können. liier ist zunächst
der in Verkürzung von hinten gesehene Kentaur auf Seite b zu nennen. Das
Problem an sich ist an dem Körper eines Pferdes zuerst von Euphronios gelöst
worden (Meisterschalen Taf. X, S. 108 f.). Vielleicht nur auf Zufall beruht es, dass
wir auf den erhaltenen Kentaurenschalen des Onesimos das Motiv nicht finden.
Onesimos, der sonst die Verkürzungen, gerade auch am Thierkörper, mit Vorliebe
aufsucht (Meisterschalen Taf. LIX, 2; S. 539), wird es sich schwerlich haben entgehen
lassen. Dagegen findet sich der in Verkürzung von hinten gesehene Kentaur
auf einer Spitzamphora im Stile der späteren Entwicklungsperiode des Duris in
Brüssel (abgeb. No'el des Vergers, VEtrurie Taf. 3.4) und auf drei Krateren des ent-
wickelten schönen Stiles in Harrow at Hill Nr. 50, im Museo Tarquiniese zu Corneto
(Zeichnung im Apparate des Römischen Instituts, Mappe XII) und im Museum zu
Genf (Mittheilung von Furtwängler). Die Figur auf der Spitzamphora in Brüssel theilt
das Schicksal der unseren: sie ist in ihrem, oberen Theile verloren gegangen; die
Zeichnung ist in ähnlicher Weise hart, wie auf unserer Schale. Die anderen Ge-
fässe zeigen die ganze Gestalt und eine meisterhafte Beherrschung des Problems.
'Die mehrfache Wiederholung des von hinten gesehenen Kentauren innerhalb der
Kentauromachie auf Vasen führt darauf, dass diese Figur ein integrirender Theil
eines malerischen Vorbildes war, welches fortgesetzt zur Nachbildung reizte. Es muss
dahingestellt bleiben, ob dasselbe innerhalb der Vasenmalerei (Onesimos?) oder in
der grossen Kunst zu suchen ist').
Auf der Aussenseite a der Schale erregt zunächst die unter den Kentauren
platt am Boden liegende Figur unser Interesse. Auch auf anderen Darstellungen
der Kentauromachie auf Vasen tritt ein ähnliches Motiv auf, so auf der Spitzamphora
in Brüssel ein zu Boden gesunkener Lapith, und auf dem im III. Hallischen Winckel-
mannsprogramm (1878) auf Tafel III, 1 abgebildeten Krater eine Frauengestalt.
Der nackte Knabe unseres Vasenbildes erweckt den Gedanken an den ebenfalls
ganz nackten Knaben im Olympischen Westgiebel, welcher von einem Kentauren
bedrängt wird. Wir können ihn aber, wie ich glaube, noch bestimmter benennen:
es ist der junge Schenke, welcher auf der Wiener Kentaurenvase [Arch. Ztg. 1883
1) Der Esel des Polygnot in dem Iliupersisbilde der Lesche in Delphi war in voller Vor-
deransicht gezeichnet tiivciVTicos sneatQaf.i(.ievog«. : Hesych. vgl. Benndorf und Niemann, Das Heroen
von Gjölbaschi, Abdruck aus dem Jahrbuche der Kunstsammlungen des österr. Kaiserhauses S. 241
Anmerkung 5.
24 Paul Hartwig.
Taf. 18] innerhalb des Kentaurenkampfes fliehend dargestellt ist. Auch noch ein
weiteres Motiv der Seite a unserer Schale findet in der Wiener Kentauromachie
eine Parallele, ich meine dasjenige des vorderen Kentauren, welcher dem gewapp-
neten Lapithen von unten eine schneidende Waffe in den Leib zu stossen sucht.
Auf der Wiener Kentaurenvase ist die Waffe durch den geraden Griff und das
Fehlen der Parirstange deutlich als ein Opfer- oder Speisemesser charakterisirt
[vgl. das Messer auf der Epidromos-Schale des Chachrylion, Griech. Meisterschalen
Taf. III, 2], wie auch im Westgiebel von Olympia [Jahrb. 1891 S. 90 und S. 105];
die Ausführung unseres Vasenbildes erscheint aher zu oberflächlich, um auch hier
unwiderleglich ein Messer zu constatiren. Dass es in unserem Falle ein Kentaur
wäre, welcher dasselbe von dem vorhergegangenem Hochzeitsmahle als Waffe er-
griffen hätte, und nicht, wie in den beiden oben herangezogenen Fällen ein Lapith,
ist kein wesentlicher Unterschied: ein Schwert in der Hand eines Kentauren ist
noch viel mehr befremdlich. Das Vorhandensein des jungen Schenken und die
schneidende Waffe in der Hand des Kentauren führen uns aber mit Sicherheit
darauf hin, dass der Maler unseres Gefässes auf der Aussenseite a Keminiscenzen
einer Kentauromachie nach der jüngeren Version der Sage wiedergiebt , nach
welcher der Kampf sich unmittelbar nach dem Hochzeitsmahle entspann. Mög-
licherweise schwang atich der rechte, verloren gegangene Arm des zweiten Ken-
tauren des Schalenfrieses a einen Gegenstand, der an das Mahl erinnerte, irgend
ein Gefäss, einen Kandelaber oder defgleichen.
Wenden wir unsere Blicke auf die Aussenseite b unserer Schale zurück,
so treffen wir dort keinerlei Andeutungen der jüngeren Version der Kentaurensage
an, vielmehr spricht der Felsblock am Boden, die Steine und der Fichtenstamm,
welchen die Kentauren schwingen, dafür, dass der Kampf hier im Freien vor sich geht.
Es liegt die ältere Version der Sage vor, die auf den Gefässen des Onesimos und des
Meisters mit dem Liebling Laches sich durchgehends findet, wonach ein Eachezug der
Kentauren gegen die Lapithen wegen des verstümmelten Eurytos erst geraume Zeit
nach der Vermählung des Peirithoos stattfand. So stellt ja auch auf dem Friese von
Gjölbaschi eine lieihe von Reliefplatten den situationslosen Kampf der Kentauren
und Lapithen, ohne Frauen und ohne Geräthe, eine andere Reihe den Kampf bei
der Hochzeit des Peirithoos dar. Die eklektische Weise des Malers unserer Schale, der,
wie wir oben bereits angaben, ein Nachfolger der grossen Meister der Blüthezeit der
attischen Schale ist, tritt in diesem Nebeneinandersetzen zweier verschiedenen Sche-
mata der Kentauromachie und auch in der Wahl ganz verschiedener mythologischer
Phrixos und eine Kentauromachie auf einer Schale der Mitte des V. Jahrhunderts. 25
Stoffe für die Darstellung der Aussenbilder und des Innenbildes recht deutlich
zu Tage.
Eine grosse Anzahl von Schalen der Mitte des fünften Jahrhu.nderts zeigt die
gleichen Erscheinungen, wie die unsere. Man kann die Maler dieser Schalengruppe
als Nachzügler der grossen Meister bezeichnen: die von den talentvolleren Malern
der ersten Jahrzehnte des fünften Jahrhunderts angewendeten Motive werden mit
geringerer Kraft und geringerem Verständniss wiedergegeben, die Technik, obwohl
im Wesentlichen noch die gleiche, wie in jener früheren Epoche, verschlechtert sich:
die scharfen Relief linien verschwinden, die Innenzeichnung mit verdünntem Firniss
wird vernachlässigt, auch die Behandlung des Thones selbst ist minder sorgfältig; er
erscheint weicher, mürber. Holwerda hat im Jahrbuche 1889 S. 24 if. eine Anzahl
attischer Schalen unserer Art behandelt und sie treffend als Vasen der XJebergangszeit
vom strengen zum schönen Style bezeichnet. Aber freilich ist der Charakter der Schalen
der mittleren Dezennien des fünften Jahrhunderts nicht durchgängig derjenige, den wir
oben schilderten. Auch in dieser Zeit gehen grundverschiedene Richtungen neben
einander her: ganz gleichzeitig mit Schalen der Art unserer Phrixos-Schale sind Gefässe
von der höchsten Präcision und Feinheit der Zeichnung, in denen die Technik der
älteren Meister noch überboten erscheint, wenn auch der intensive künstlerische Geist
der frühern Generationen in diesen Werken nicht mehr athmet [z. ß. Mus. Gregor.
II, Taf. 79, 1,2; Taf. 87, 1, 2]. Der hauptsächlichste Vertreter dieser Richtung ist
vielleicht Hegias [Klein, Meistersign. S, 186]. Als eine besondere Künstlergruppe
sind hier die erst seit Kurzem bekannt gewordenen Maler weissgrundiger Schalen,
Sotades und Hegesibulos, zu nennen [Meisterschalen S. 501 Anm.], zu denen sich noch
ein dritter Malername, Kotys, auf der weissgrundigen Athamas-Phrixos-Schale beim
Grafen Tyszkiewicz in Rom gesellt. Xenotimos, der Maler einer einst bei van Branteghem
befindlichen Schale [abgeb. Ant. Denkm. I, Taf. 59]^), verfolgt ebenfalls eigene Bahnen
und in Aristophanes [Klein, Meistersign. S. 184 ff.] stellt sich uns ein Künstler dar,
der innerhalb der Entwicklung der attischen Schale nach gewissen Richtungen hin
noch einen entschiedenen Fortschritt bedeutet. Der Umstand, dass Maler- und Lieb-
lingsnamen auf den Schalen der Mitte und der zweiten Hälfte des fünften Jahrhun-
derts verhältnissmässig seltener sind, als auf denjenigen der älteren Epochen
1) Die Schale (mit Ledadarstellung) befindet sich jetzt beim Grafen Tj'szkiewicz in Rom; die andere
a. a. O. abgebildete napfartige Schale ist im Museum zu Berlin. Von einer Künstlerinschrift ist keine
Spur auf derselben zu erblicken.
Füstseliril't für Ovoi-bedi. 4
26 Taul Hartwig. Phrixos und eine Kentauromachie auf einer Schale der Mitte etc.
den Epiktetischen und den Euplironischen, darf uns nicht von vorn herein ent-
muthigen, auch hier eine genauere Sichtung nach Kichtungen und Individualitäten
vorzunehmen: es gilt aus diesem jetzt scheinbar vs^irr durcheinander geschossenen
Gewebe durch stilistische Vergleichung die Fäden der Kette herauszufinden. Klein
hat auch auf diesem Gebiete durch seine Lieblingsinschriften trefflich vorgearbeitet;
ausserdem tauchen ja noch immer bisher unbekannte Vasenmalernamen gerade dieser
späteren Epochen auf: so neuerdings yliawv auf einer Schale im Nationalmuseum zu
Madrid (Ant. Denkm. II Taf. 1), ähnlich den Werken des Aristophanes, und !/lyadwv
auf einer Pyxis in der Art derjenigen des Megakles.
Rom, Februar 1893.
Alkathoos und die megarische Königsliste.
Eine Pausaniasstudie
von
Konrad Seeliger.
JJer Telamonier Aias ist in der echten Ilias heimath- und mutterlos. Der
dorische Adel hat sich seiner bemächtigt und ihm die Heimath (Aigina-Salamis) und
die Mutter (Eriboia: Pind. Isth. 6, 45) gegeben. Seit die Megarer und die Athener
um Salamis stritten, stritten sie auch um diesen Helden; den Namen Periboia hat
die Atthis zur Anerkennung gebracht, aber nicht ihre attische Abkunft*) : sie blieb
die Tochter des Alkathoos und damit eine Megarerin. Denn in diesem Punkte haben
die armen Megarer, die sonst allenthalben den stolzen Athenern weichen mussten,
einmal Recht behalten: niemand hat im Ernst bestritten, dass des Telamoniers
mütterlicher Grossvater Alkathoos sei; dieser aber ist der (dorische) Nationalheld der
Megarer, der ihnen ganz gehört.
Von Alkathoos hatte die westliche Burg von Megara ihren Namen (Paus. 1,
42, 1), sein Heroon am Markte wurde als städtisches Archiv benutzt (c. 43, 4), am
nisäischen Hafen wurden ihm zu Ehren Spiele, die ^Almdoia (Pind. Nem. 5, 46 und
Schol. [v. 84] Isth. 7, 68) gefeiert: dies genügt die Ansprüche der Megarer auf ihren
1) Sophokles im Aias 569: TeXafXÜvot dei^ei /.irj-VQi. t, 'EQißoi.(jc leyco — vielleicht eine Auf-
merksamkeit gegen die damals noch (vor 446) mit Athen verbündeten Megarer. Dagegen Xenoph. Kyn.
1,9: Tslai.uüv de ■coaovtog eyevero, cooTe £>t /.lev Ttölecog Tfje i.ieyiaTt]g rjv avvbg eßoHero yrn-iuL
Ueqißoiav vrjv lAXyiädov. (Diod. 4,72: eyr]f.isv s§ yldtjviöv ^EQi,ßoiav ti]V yJl'/iccS-ov). Alle übrigen
Abweichungen, insbesondere die Namen im Katalog der Theseusfrauen (Athenae. 13,557"'' und Plut.
Thes. 29) übergehe ich hier und unterlasse auch den Sohn des Porthaon (Apollod. I, 7, 10) — Eriboia
T. des Porthaon bei Tzetz. Lyk. 454 — und die Minyastoohter Alkithoe von Orchomenos bei Ov.
Met. 4, 1 (vgl. Ael. v. L. 3, 42) in grundlose Combinationen hineinzuziehen.
28 Konrad Seeliger.
Heros zu begründen. Aber auch mehrere Sagen knüpfen sich an diesen Namen,
und es wäre begreiflich, wenn man seine Geschichte auch noch im Bilde entdecken
würde. Der dorische Nationalgott ist sein Gott: mit Apollons Beistand hat er die
Stadtmauer gegründet (Paus. 1, 42, 1); der klingende Stein an der Burg (ebendas.),
der Apollontempel auf der Höhe (c. 42, 5), das Heiligthum des ApoUon Agraios auf
dem Wege nach B,hus (c. 41, 3) stehen mit unserem Helden im engen Zusammenhang.
Die dorische Sage, bestrebt ihre Helden mit dem Eponymen der Plalbinsel zu ver-
binden, hat ihn zu einem Sohne des Pelops gemacht (Theogn. 774, vgl. Schol. Find.
Ol. 1, 144); um seine Umsiedlung von Pisa nach Megara und seine Erhebung zum
Herrscher dieser Stadt zu begründen, diente folgende Erzählung, die uns zwar nicht
in ursprünglicher Fassung vorzuliegen scheint, aber doch noch ein altes Märchen-
motiv erhalten hat, das durch die Tristansage — ■ vgl. den 13. Abschnitt von Gott-
frieds Tristan — hinlänglich bekannt ist: Alkathoos, des Pelops Sohn, musste
wegen der Ermordung seines Bruders Chrysippos die Heimath meiden und wandte
sich nach Megara. Von dort — vielleicht auf eine Botschaft des Pelops hin —
aufs neue ins Elend getrieben, zieht er aus, sich eine neue Heimath zu su.chen').
Da trifft er auf den kithäronischen Löwen, der schon lange die Umgebung von
Megara heimgesucht und unter anderen den zweiten Sohn des Königs Megareus,
Euippos, getödtet hatte; da auch der ältere, Timalkos, schon früher gefallen war,
hatte der König dem Sieger die Hand seiner Tochter Euaichme und die Nachfolge
in der Plerrschaft zugesagt. Alkathoos tödtete den Löwen, mit dessen ausgeschnittener
Zunge im Ranzen er nach Megara zurückkehrte. Als hier bereits andre Helden,
die auf das Abenteuer ausgezogen waren, prahlten, dass sie den Löwen erlegt
hätten, konnte er sie durch das Zeugniss jener Trophäe widerlegen. So wurde er
des Königs Schwiegersohn und Nachfolger (Schol. Ap. Rhod. 1, 517 und Paus. 1, 41,
3). Dieser Aristeia tritt die Tragödie von des Helden Missgeschick in seinem Hause
1) Nur so wie oben lassen sich die Worte im Scliol. Ap. Rhod. 1, 517 erklären: ^t,ev'/,i8ag ev
rolg BlsyaQi-/.ols latOQel Ute yll-m-O-ovs o UsloTtog dicc tov XQvaiTtrcov (pövov (pvqaÖEvdelg
(vgl. Paus. 1,41, 6 : a(ßLY.6f^ievog . . . l'^ "liliöog) 1% BIsyäQcov anriq%ero •AUTOLtirjaLov hg eveqav
TCÖXiv. Dass dies in der That die spätere Fassung der Sage war, gelit auch daraus hervor, dass in
Megara das Grab der Pyrgo, mit der Alkathoos vor der Tochter des Megareus vermählt gewesen sein
sollte, gezeigt wurde (Paus. 1, 43, 4). Ursprünglich mag man erzählt haben, dass der Held als unbe-
kannter Flüchtling mit seinem Siegeszeichen in die Stadt eingezogen sei: vielleicht noch Dieuchidas ;
denn ob die tuTOQia des Soholions unmittelbar aus der oitirten Quelle stammt, ist trotz der bestimmten
Fassung zweifelhaft. Auch glaube ich nicht, dass die Geschichte, die im Scholion zur Erklärung eines
Opferbrauchs benutzt wird, ätiologischen Ursprungs ist; ich halte sie für ein Stück echter Heldensage.
Alkathoos und die megarische Königsliste. 29
gegenüber. Seine Tochter Iphinoe starb als Jungfrau, an ihrem Grabe neben dem
väterlichen Pleroon (c. 43, 4) opferten die megarischen Bräute vor der Hochzeit eine
Locke. Der ältere Sohn Ischepolis fiel als Theilnehmer an der kalydonischen Jagd ;
die Botschaft dem Vater zu überbringen eilt der jüngere Kallipolis zur Burg hinauf,
wo jener gerade dem Apollon opferte, und warf zum Zeichen der Trauer das Holz
vom Altar. Der Vater, ergrimmt in dem Glauben, der Jüngling störe das Opfer in
gottloser Absicht, erschlug ihn mit einem Holzscheit: so verlor er zugleich seine
beiden Söhne (c. 42, 6).
Dies die Sagen von Alkathoos, deren Kenntniss sich auf die engere Heimath
beschränkt zu haben scheint; sorgte doch keine attische Tragödie für ihre Verbreitung.
So haben sie denn auch in der gemeingriechischen Sagenerzählung nicht Platz ge-
funden. Nur in zwei Eigenschaften gehört unser Held ihr an: als Grossvater des
Aias (ApoUod. 3, 12, 7) und als Erbauer der megarischen Mauer (vgl. auch Eur.
lierakl. v. 278) , als solcher in der alexandrinischen Fassung der Nisos-Skyllasage
(Ov. Met. 8, 14 if. — vgl. 7, 443 Alcathoe — und Ciris v. 104 ff. in Verbindung mit
dem Oavf.i.a vom klingenden Stein). Was wir sonst von ihm wissen, ist uns aus der
Ortssage erhalten: in dem Dieuchidasbruchstück (Schol. Ap. Rhod. 1, 517) und dem
megarischen Abschnitt des Pausanias, hier im engen Anschluss an die Beschreibung
der lieiligthümer und Denkmäler: c. 41, 3 die Erzählung vom kithäronischen Löwen
in Verbindung mit dem Heiligthum des Apollon Agraios und der Artemis Agrotera,
c. 42, 1 der Mauerbau mit dem Herde der Prodomeis, c. 42, 6 das Schicksal der
Söhne mit dem Grab des Kallipolis; vgl. noch das Grab des Timalkos im Buleu-
terion c. 42, 4 und die Gräber der Pyrgo und Iphinoe c. 43, 4. Pausanias entnahm
also, was er über Alkathoos und sein Haus mittheilt, einer megarischen Quelle.
In dem Dieuchidasbru.chstück ist der Name des Königs, unter dem Alkathoos
seine Heldenthat ausführt, nicht genannt; Pausanias nennt ihn Megareus und ver-
steht darunter den Onchestier (c. 39, 5, 6), bei ihm wohl zu unterscheiden von dem
c. 40, 1 angeführten Zeussohn Megaros, der der deukalionischen Flut entronnen auf
dem Gipfel der Gerania Rettung fand. Mit Recht hat Kalkmann (Pausanias der
Perieget S. 152) diese Legende auf Dieuchidas zurückgeführt; nur darf dabei, Avie
sich aus der folgenden Untersuchung ergeben wird, nicht an directe Benutzung ge-
dacht werden. Ob bei Dieuchidas der Name Megaros oder Megareus (nach Et. Magn.
s. V. rsgavEta) gelautet hat, ist gleichgültig ; so viel aber ist wahrscheinlich, dass bei
ihm der Vorgänger des Alkathoos eben dieser Zeussohn Megareus gewesen ist.
Wir wissen aus Clem. Alex. Strom. 6, 2 (Dieuch. fr. 1 bei Müller fr. h. 4, 388), dass
30 Koni'iul Seeliger.
Dieuchidas die Gescliiclite Megaras mit der deukalionischen Flut begonnen hat; er
wird also seinen Megareus zum Stammvater der Megarer und bei der Armuth der
megarischen Ueberlieferung zu seinem unmittelbaren Nachfolger den Pelopiden
Alkathoos gemacht haben, hierin wohl nach guter Ueberlieferung. Darum galt dieser
auch als der Gründer der Stadtmauer; noch in der alexandrinischen Erzählung von
Nisos und Skylla (s. oben) wird die Mauer des Alkathoos als bestehend zur Zeit des
Nisos vorausgesetzt — im Widerspruch mit der megarischen Ueberlieferung bei Pau-
sanias. Denn die spätere Geschichtsschreibung konnte sich mit dieser dürftigen Vor-
geschichte nicht begnügen, sei es auch nur aus chronologischen Gründen, da der
Pelopidenherrschaft eine Reihe von Generationen vorausgegangen sein musste. Es
lässt sich beweisen, dass die von Pausanias benutzte megarische Königsliste von der
argivischen (2, 15, 5. 16, 1, 2. 18, 4, 5) abhängt. Wie an der Spitze dieser, so
steht auch an der ihrigen »der erste Mensch« (Akusilaos fr. 14) Phoroneus; wie in
dieser, so ist auch in jener ein Dynastiewechsel durch ägyptische Einwanderung —
Danaos: Lelex — angenommen. Ob auch in der Quelle des Periegeten die Glieder
zwischen Kar und Lelex gefehlt haben oder Pausanias diese Namen weggelassen
hat, weil er noch nicht, wie in den späteren Abschnitten, Vollständigkeit in den
Königslisten anstrebte, wissen wir nicht; so viel aber ergiebt sich aus der Bemer-
kung: dmdsyMT7-j ö's vütsqov ^istcc Käqa rov (Poqmvmg yevsa (c. 39, 6), dass in der me-
garischen Liste der Pelopide Alkathoos der 1 8. Generation nach Phoroneus angehört,
Avenn wir Pylas und Pandion einer Generation zurechnen; derselben Generation,
der 18. nach Phoroneus, gehört in der argivischen Liste Sthenelos an, der in der
Zeit dem Pelopiden Atreus gleichzusetzen ist, da sein Sohn Kylarabes als Zeitgenosse
des trojanischen Kriegs, also des Atriden Agamemnon gilt (2, 18, 5) '). Um das
Verständniss zu erleichtern, stelle ich die megarische Liste mit den Belegstellen hier
zusammen :
1) Der Schluss würde nicht ersoluUtert werden, auch wenn etwa der Unterschied von einer Ge-
neration sich herausstellen würde; vgl. z. B. Paus. 2, 18, 4: arch f.ihv drj BiavTog ßaaiXeöovai, icivTs
(ivögeg hvi yei'sc<g zeatyaqag ig Kvdvi7C7tov tov ^lytalecog. Uebrigens könnten wir auch in der
argivischen Liste 19 Generationen herausrechnen, wenn wir ca. 16, 1 nach Jlei-Qaaog ylverai -neu eine
Lücke annehmen und diese mit den Worten : Kqiaaog, KQU<aov öe ausfüllen würden. Die Liste wäre
dann in Uebereinstimmung mit Schol. Eur. Or. 932 und Euseb. chron. I, 178 Seh. (Kastor) gebracht,
über Kriasos vgl. auch Apd. 2, 1, 2 und bes. Pherekydes Fr. 22 aus Sohol. Eur. Phoen. 1116.
2
12
13
14
15
16
17
Alkathoos und die megarische Königsliste.
Phoroneus c. 39,5,
Kar 39,5. 40,G. 44,6.
10 Generationen.
Leiex 39,6. 44,3.
31
Kleson 39,6. 42,7.
Kleso 42,7 Tauropolis
Pylas 39, 4.6.
Pandion 39,4. 41,6.
Skiron 39,6. 44,6.
dvyärrjQ 39,6^""^
(Pylia bei Apd. 3,15,5)
dvyävYjq 39,6.
Nisos 39,4.6. 41,5.
Megareus aus Onchestos r^j Ijjhinoe 39,6.
39,5.6. 41,3. 42,1. 43,2.
Der Pelopide
18 Pyrgo r^ Alkathoos r\j Euaichme 41,3. 43,4,
43,4, 41,3 u, a.
Timallcos 41,3. 42,4.
Euippos 41,3. 43,2.
19 Isoliepolis Kallipolis IpHnoe Periboia
42,6. 43,2. 42,6. 43,5, 43,4. 43,2.4.
Wenn wir von dem argivischen Phoroneus absehen, steht als Begründer der
megarischen Dynastie an der Spitze Kar, nach dem die Burg Karia, die östliche der
Stadt, benannt sein sollte (die Notiz bei Steph. Byz. Kaqia äno Ku()6s tov (Po^copt'cog
stammt — durch Herodian? — aus Pausanias) ; er galt zur Zeit des Periegeten (c. 40,6)
als Stifter des Megaron der Demeter, von dem der Name Megara abgeleitet wurde
(c. 39, 5). Gewiss noch nicht damals, als Dieuchidas schrieb; denn wenn dieser,
wie es wahrscheinlich ist, den Zeussohn Megaros an die Spitze der Dynastie stellte,
so versteht es sich, dass er ihn auch für den Eponymen der Stadt gehalten hat,
ebenso wie die c. 39, 5 als boiotisch bezeichnete Ueberlieferung den Namen vom
Onchestier Megareus ableitete. In Wirklichkeit dürfte der Name die »Herrenburg«
bedeuten ; die Burg, die ein dorischer Fürst inmitten der heimischen Dorfbevölkerung
errichtete, wird sich allmählich zu der Stadt Megara entwickelt haben. Was aber
den Namen Kar betrifft, so will ich zwar unentschieden lassen, ob der Name der
Burg Kr/.Qi'u nicht vielmehr von der Wurzel zaf)
Gipfel abzuleiten ist oder wirklich
32 Konrad Sceligor.
eine Erinnerung an die Karer bewahrt, die «nirgends greifbarere Spuren hinterlassen«
liaben sollen, »als im Umkreis des saronischen Golfs«'); so viel aber erscheint mir
sicher, dass aus ihm erst der Name des Stammvaters abgeleitet ist. Auch das ^.mj^m
Kcc(}6s (c. 44, 6) darf nicht verleiten, die Ueb erlief erung für älter zu halten: derartige
Denkmäler sind noch in spätester Zeit benannt und umgenannt worden, mussten sich
dies nach dem jeweiligen Stand der Ortssage gefallen lassen. Aber Kar erscheint
ja auch als der Stifter des Demeterdienstes; denn das Megaron auf der Karia dürfen
wir wohl für älter halten als das lieiligthum der Demeter Thesmophoros am östlichen
Burghügel (c. 42, 6). Hier ist der Ort, an den zweiten Nationalhelden der Megarer
zu erinnern, den ich geneigt bin der unterworfenen (ionischen?) Bevölkerung zuzu-
theilen: an Diokles. In den Acharnern schwört der megarische Bauer, der seine
Mädel als %otQlu /LivaTijQtm nach Athen zu Markte bringt: vul rov //tovXia (v. 774);
diesem Heros zu Ehren feierten die Megarer die JigkIsiu, deren Einsetzung auch
dem Alkathoos zugeschrieben wurde (Schol. Ar. Ach. 774) ; der Name JionXsiöag scheint
in Megara beliebt gewesen zu sein (Dialectinschriften III, n. 3020. 3021. 3025. 3102,
vielleicht auch n. 3022, Z. 21). Einen eigenthümlichen Wettkampf im Küssen, der
im Frühling an seinem Grabe gefeiert wurde, erwähnt Theokrit (id. 12, 27 ff.) und
nennt ihn den knabenliebenden attischen Fremdling; dazu geben die Schollen die
Erklärung, dass Diokles aus Athen nach Megara geflohen und in einer Schlacht
seinen Liebling mit dem Schilde gedeckt, während er selbst den Tod gefunden habe.
Aus Athen: soll heissen aus Eleusis. Denn wichtiger ist, was wir bei Plut. Thes. 10 aus
megarischer Ueb erlief erung lesen: ©tjata 'JEhvaivd tb Xaßslv Mtyaqtav 6%6vTmv,
7ic'.QuY.qovaä^U6Vov ^loaXm rov aQxovra, nai ^miQavu dnonreivu/. Wir haben hier nicht
die megarischen Ansprüche auf Eleusis zu prüfen, genug, die Notiz schlägt uns die
Brücke zu dem eleusinischen Diokles, der im Demeterhymnus (v. 475. 153) als Zög-
ling der Demeter angeführt wird. Der eleusinische und megarische Diokles sind
1) Die citirten Worte von M. Mayer im Herraes 28, 504, vgl. Thraemer, Pergamon S. 357 u. a.
In erster Linie beruft man sich auf das Zeugniss des Aristoteles: darnach waren Hermione und Epi-
dauros ehemals karische Niederlassungen (Strab. p. 374). Für Megara wird wohl auch der Ort liLf.uo'Kia
angeführt (Diod. 11, 79), womit man den Inselnamen Kiraolos und- den Namen der paphlagonischen
Stadt Kificülig [KtvcüXlg) vergleicht, wozu man noch Ki/.iaQog (kretisches Vorgebirge Strab. p. 474)
fügen könnte. Da Wurzel und Bildung indogermanisch sind (C. Angermann in den Jahrb. f. klass.
Philol. 1888, S. 6 f.), muss man dabei von der Voraussetzung ausgehen, dass die Karer diesem Stamme
angehören. Den mit Recht bezweifelten Beinamen KuQivög (des Apollon c. 44, 2) wird wohl Niemand
zum Beweis anführen. Unwahrscheinlich wäre es ja nicht, dass karische Seefahrer eine Zeit lang sich
auf dem östlichen Hügel der si)äteren Stadt niedergelassen hätten, beweisen lässt es sich durch den
blossen Namen Karia nicht ; mehr Zeugnisse werden aber auch die Alten nicht gehabt haben.
Alkatlioos und die mcgavischc Königsliste. 33
identiscli: wie die Phliasier von Dysaules erzählten, dass er aus Eleusis vertrieben
in ihrem Lande die Mysterien eingeführt habe (Paus. 2, 14, 2), so wohl ähnlich die
Mcgarer von Diokles: dem apollinischen Heros auf dem westlichen Burghügel tritt
der eleusinische auf dem östlichen gegenüber, symbolisch für die zwei tiefsten Rich-
tungen hellenischer Frömmigkeit. Zur Zeit des Pausanias scheint Diokles vergessen,
verdrängt durch den farblosen Eponymen der Karia.
Zu den Karern gesellen sich wie auch anderwärts die Leleger, zu Kar Eelcx:
dad'exÜTij dt vgtsqov /.htu Ä'.ufjfc yuvtü Abkty<(, äfpixöfttvov i^ y:iiyvnTOV ßicaihvaui y.ai roi'g
uvOqmnovQ x).ijOijvai. ylileyag (c. 39, 6). Leleger in Megara kennt Aristoteles (bei Strab.
p. 322); darnach werden wir sie auch bei Dieuchidas anzunehmen haben, ja es ist
wahrscheinlich, dass er seinen Megaros zum Leleger gemacht hat ; denn die Fluthsage
haftet an dem Lelegernamen (Hes. fr. 141 ßz.). Aber wir haben an diesem Orte nicht
die schwierige Lelegerfrage zu prüfen, sondern die Rechte des Megarerfürsten ]jelex.
Aristoteles (a. a. O.) scheint nur den leukadischen Autochthonen Lelex gekannt zu
haben, Pausanias nennt an der Sjntze der lakonischen Königsliste ebenfalls als
Airtochthonen Lelex (3, 1, 1 = Apd. 3, 10, 3); in der megarischen, in der der erste
Platz durch Kar besetzt war, wird er zum ägyptischen Einwanderer gemacht; mit
dem argivischen Danaos hat er aber nicht nur die Heimath, sondern auch die Ab-
stammung (c. 44, 3) gemein'). Das ist durchsichtig genug: eine ältere, heimische
Ueberlieferung liegt dieser Construction gewiss nicht zu Grunde.
Am saronischen Golf ist die Sage von Nisos, Skylla und Minos zu Hause ; zu
ihrer Erklärung genügt es, von den Ortsnamen Nisaia, Minoa und Skyllaion auszu-
gehen und mit ihren Eponymen das bekannte Märchenmotiv von der im Locken-
schmuck ruhenden Pleldenkraft zu verbinden. Auch Skiron, der Eponym der 2'y./QC(g
(Salamis) und der nhqui 2'x£i(jmiHd'6e, und wohl auch Pandion, der Genosse der Aithyia
(c. 41, 6) und Vater der TJavd'iovlg %ehöwv (Hes. op. 568, Sappli. fr. 88 vgl. mit c.
41, 8) sind Gestalten, die in das megarische Gebiet und seine Nachbarschaft gehören,
was uns um so mehr einleuchtet, wenn wir annehmen, dass die Bewohner der mega-
1) c. 44, 3 : Lelex der Solin des Poseidon und der Libya, Danaos der Enkel. Freilich wird da-
durch die chronologische Uehereinstimmung der argivischen und mogarischen Liste gestört; denn der
Enkel gehört der 9., der Sohn der 13. Generation nach Phoroneus an. Der Grund mag in den Be-
ziehungen der Leleger zu Poseidon, vielleicht sogar in dem Einfluss der Amphiktyonie von Onchestos,
wovon später zu reden sein wird, zu suchen sein. Vgl. über das Material G. Vogt, de rebus Megaren-
sitim iisqite ad bella Pcrslca. Diss. Marburg 1857, S. 10 ff. 28. — Beiläufig sei auf eine Analogie auf-
merksam gemacht : Karer und Leleger werden in Megara von den Joniern abgelöst wie in Kleinasien
(Pherekydes bei Strab. p. 632).
Festschrift für Overbeck. 5
34 Konrad Sceligor.
Tischen Dörfer lonier gewesen sind. Dagegen ist die Stellung, die Pandion und Nisos
in unsrer Königsliste einnehmen, durch die attische Pseudohistorie beeinflusst. Zu
der Zeit, als Peisistratos über die Megarer siegreich war, mag das attische Dogma
entstanden sein, dass Megara iirsprünglich zu Attika gehört habe; damals hat sich
die Üebeiiieferung von den attischen Vierfürsten, den Pandioniden, gebildet, die von
Sophokles im Aigeus (fr. 19) vorgetragen und von den attischen Chronisten einstim-
mig (Strab. p. 392) angenommen wurde. Später aber trat an ihre Stelle die vermit-
telnde Erzählung, dass Pandion von den Metioniden vertrieben, von seinem Schwie-
gervater Pylas aufgenommen und, als dieser durch Blutschuld zur Auswanderung
genöthigt sich nach Messenien begeben, zum Nachfolger in der Herrschaft ernannt
worden sei. Sie ist in die y.oivri übergegangen (Apd. 3, 15, 5. Schol. Ar. Lys. 58),
Avie es sclieint, aus der Atthis; die Namen Pylas und Blas (Oheim des P.) w^eisen
airf das messenische Pylos hin, mit dem Athen durch die Neliden, vielleicht aber
auch Megara durch Sagengemeinschaft verknüpft war').
Die Megarer haben, als sie ihre spärliche Königsgeschichte ausbauten, diese
vermittelnde üebeiiieferung, die ihre ursprüngliche Selbständigkeit nicht antastete,
um so williger angenommen, da die Namen Pandion und Nisos bei ihnen heimisch
Avaren; dazu war auch der Einfluss der Atthis auf die '/.otvi] im alexandrinischen
Zeitalter stark genug, selbst den Widerwillen der Megarer zu überwinden. Zwischen
Jjelex und Pylas schob man den Namen des Kleson ein, der vielleicht jünger ist
als der seiner Tochter Kleso, die in Megara mit der Inosage verbunden war (c. 42,
7) ; der y.oivi] scheint er unbekannt zu sein.
Skiron gehört zwar nicht in die Reihe der megarischen Fürsten, darf abon*
hier um so weniger übergangen werden, da seine Gestalt die litterarische Fehde der
1) So mochte die Gerania an den Gerenier Nestor erinnern (vgl. Hes. fr. 34 f. Hz. — Die ge-
wöhnliche Deutung leitete den Beinamen von dem lakonischen Gerenia am messenischen Meerbusen ab),
l'edasos unter den Städten 'i/i'ar«i Hvlov i'j/.iadvsvros (Hom. I 152 f.), das später mit Methone (Paus. 4,
35, 1) oder auch Koronc (Strab. p. 3G0) identificirt wurde, legte die Gleichung mit der Lolegerstadt
Pcdasos in Troas (Hom. Y 92. 9ü u. a. St.) nahe. Wir müssen uns gegenwärtig halten, dass die historisch-
geographische Forschung der Griechen die homerische Dichtung in erster, die hesiodeische Stammessage
in zweiter Linie zur Grundlage hat. Uebrigens kann ja auch der Name Pylas bei den Megarern heimisch
gewesen sein und sein Name die Sage von der Auswanderung nach Pylos veranlasst haben. Da die drei
darauf bezüglichen Stellen bei Pausanias 1, 39, 4. ß. 4, 3G, 1. U, 22, 5 in offenbarer Beziehung zu ein-
ander stehen, so ist bei einem Schriftsteller, der auf die llebereinstimmung und Widersjjrüche der Uober-
liRfevung zu aoliton pflegt, nicht wahrscheinlich, dass er unbeanstandet den Namen in dreifacher Form
übovlicrert habe; ich bin daher geneigt, die auch bei Apollodor stehende Form Uvlcig in 4, 3ü, 1 und
6, 22, 5 herzustellen.
Alkathoos und die mcgavische Königsliste. 35
Athener und Megarer besonders beschäftigt hat. Während die Athener den Epo-
nyrnen der Kalkfelsen zu einem Unhold machten, galt er den Megarern als der
Stammvater grosser Heroen (Plut. Thes. 10) und Wohlthäter des Landes (Paus. 1,
44, 6); während jene (Philochoros fr. 41) von dem megarischen Skiron den salamini-
schen Skiros unterschieden und von einem Seher aus Dodona erzählten, der den
Eleusiniern gegen Erechtheus zu Elilfe gekommen sei und das Heiligthum der Skiras
in Phaleron gegründet habe (Paus. 1, 36, 4 vgl. Philochoros fr. 42), betrachteten diese
(Praxion iv ß' MtyuQiYMV aus Harpokr. s. v. ^-/.i\)ov) ihren Skiron nicht nur als Be-
siedler von Salamis, sondern auch als Gründer des phalerischen Pleiligthums und
erzählten, dass er bei der Vertheidigung von Eleusis gegen Theseus gefallen sei
(Plut. Thes. 10). Darin stimmten beide Theile überein, dass Skiron ein Zeitgenosse
des Theseus gewesen sei. Während eine attische Ueb erlief er ung (Plut. Thes. 25) ihn,
wie Theseus, zu einem Enkel des Pittheus machte — die Notiz; yllyiu ^-/.v^lov kivui
liyovGiv bei Apd. 3,15,5 wage ich nicht heranzuziehen — , verbindet ihn die megarische
(Paus. 1, 39, 0) mit der Tochter des Pandion; dadurch ergab sich für den Redaotor
der megarischen Königsliste seine genealogische Einordnung; wie gut diese zugleich
mit dem Zeitalter des troischen Kriegs stimmte, zeigt das Stemma;
Pylas Fandion
Skiron Aigeus Nisos
1 1 I
Endeis Theseus Iphinoe r\j Megareus Pelojjs
Telamon Euaiclime ru Alkatlioos Atreus
I I
Aias Agamemnon.
Freilich will der Synchronismus dieser Tabelle, in der Pelops und Theseus der-
selben Generation angehören, nicht zu der gemeingriechischen Ueberlieferung passen,
nach der Theseus ein Urenkel des Pelops sein sollte — diesen Widerspruch hat
Pausanias c. 41, 5 in Bezug auf des Megareus Sohn Timalkos richtig erkannt — ;
aber diese Uebereinstimmung zu erzielen war dem Chronologen unmöglich, da The-
seus mindestens eine Generation vor den troischen Krieg gehörte, Agamemnon aber,
des Pelops Enkel — • die hesiodeische Genealogie, die Pleisthenes zwischen Atreus
und Agamemnon einschob (fr, 121 11z.), ist nicht volksthüralich geworden — ■ durch
seine Führerschaft im Zeitalter des troischen Kriegs üxirt war. Und hier gilt es
36 Konracl Seeliger.
nur zu beweisen, class die megarische Liste in sich und mit der argivischen über-
einstimmt.
Da Skiron in der Reihe der Könige keinen Platz finden konnte, musste er
sich mit dem Feldherrntitel begnügen. Auch in historischer Zeit finden wir zu Me-
gara neben dem eponymcn Beamten, der wegen seiner priesterlicheia Befugnisse den
Titel ßaaiXiiig fortführte, die Strategen als die höchste Behörde des Staats, an ihrer
Stelle aber während der Jahre, in denen Megara zu der Amphiktyonie von Onchestos
gehörte (223 — 192 v. Clir.), die Polemarchen, gleichwie der Archon den Basileus er-
setzte (Griecliische Dialectinschriften III S. 14. G. Gilbert, Gr. Staatsalterth . 2, 61 f.).
Während Pausanias c. 39, 6 mit dem ihm geläufigen Ausdruck berichtet: ^'xi'qcopi
ip/e/Liofiai' fii'ai 7vo?Jf(ov — denn iiyslaOai. ist bei ihm das gebräuchlichste Wort für
das Feldherrnamt — fällt c. 44, 6 die Wendung auf: -i'iviYM (sc. 2,''Ai()av) BltyuQtvaiP
67io).Efi('(^X^'- (auch I, 15, 3 correct von Kallimachos; 6g '^J-dijvai'o/e no^.ij.iaqxtJv ijqijTo).
Vielleicht ist dies ebensowenig zufällig, wie wenn bei Plut. Tlies. 10 neben dem Feld-
herrn Skeiron der Archon Diokles von Eleusis steht'). Allerdings noch ein unsicherer
Anhalt in der Frage, in Avelcher Zeit etwa die megarische Königsliste entstanden
sein mag. Da tritt uns nun unmittelbar nach Nisos der Onchestier Megareus ent-
gegen, der zweite, der durch Verheirathung mit einer Königstochter zur Plerrschaft
gelangt sein soll. Es ist kein Zufall oder gar eine Eigenthümlichkeit unsers Perie-
geten, dass Pausanias eine »Vorliebe für Abstammung in der weiblichen Linie« hat
(W. Gurlitt, Ueber Pausanias S. 27) ; sie war eine Nothwendigkeit für die Genealogen,
die den Ileroenmangel einer Stadt durch Fremde zu ergänzen hatten — lehrreich
ist in dieser Beziehung namentlich die sikyonische Liste. Ein Megareus gehörte kraft
seines Namens in die Reihe der megarischen Fürsten oder vielmehr an ihre Spitze:
der Zeussohn, der sich aus der Fluth auf die Gerania rettete, ist der Eponym der
Stadt und der natürliche Stammvater ihrer lierrscher. Aber das Bestreben, die
1) Noch ein Beispiel: Paus. 1, 31, 3 "hüvog de roti SovOw — '/.al yctq ovrog ('iix)]ae ycaqa
^Iihi]vc(loig y.al IrlOip'ctkov htl tov itoXEf.wv rov iCQog EXevaiviovs i:TColei.idQxi]ae vgl.
mit 7, 1, 5 Tcoksi-irjamninv i-IOijvcäoig 'Elevaivküv -Acd Adfjvaküv "Icova hcayayof.iivwv hcl rjye-
/.loi'iq TOV jto}Ji.iov. Dass an der ersten Stelle der. Ausdruck ijcolEf.iciQyj]aE nicht zufällig ist, ergiebt
sich nicht nur aus Schol. Ar. av. 1527, wo ' hov der 7Tolei.iaQyog ^ü)]VCckov genannt wird, sondern
vor allem aus des Aristoteles 7VoXi'i:ek( ^ilOip'aküV c. 3, wo der Ursprung der }CoXei.iaQyJa in Athen
i'olgendermaassen erklärt wird: öia ro yevtaduL tivag rCov ßaaiMiov ra 7CoXs(.ii'/.a /.lalcr/.ovg, rcqüxov
dh TOV "fwi'ce f.iETeJtef.iXpCiVTO yQsktg >ictT;c(Xaßovai]g. (Herodot 8, 44 nennt "icov den arqac&qyt^g
der Athener.) Wir sehen auch hier, wie die Zustände der historischen Zeit auf die Sage üher-
tragen werden.
Alkathoos und die megarische Königsliste. 37
Fürstenreihe um viele Generationen in die Urzeit zurückzuführen, hat den Heros,
den die Sage als Vorgänger des Pelopiden Alkathoos befestigt hatte, zu einem ein-
gewanderten Fremdling gemacht. Attische Ueberlieferung, wie es scheint, verband
ihn mit dem attischen Königshause; wenigstens lesen wir bei Steph. Byz. s. v. ßlt'ya()a:
MeyaQt'iog . . . . ij tov Aiymg rov Havöiovog; aber bedeutsamer wurde diejenige, welche
von Pausanias (c. 39, 5) als die boiotische bezeichnet wird ; sie knüpfte au die Nisos-
Skyllasage und die Eroberung von Nisaia durch Minos an; BohotoI ds iv 'Oy/j^arro
Mtyagt'u top JIoGeidmfog olxovVTa utp/xioOcti (jtqutiÜ Uoimrav (paotv Ä'iaro tov nqoq Mi'vco
n6hf.iov GVpd'toißoVTa, TteaovTu de uvrbv iv ttj /^iccxil TMpijval ts uvtov Hai rij noXet I\'Ityuqa
öpofia und tovrov yfvta&at, ngöri^ov Ni'aq '/.a?,ov/i(t'v)]. Vgl. Apd. 3,15,8: {Mi'vok)
y.ul MtyuQa sils JS'i'gov ßaaihvoprog tov Ilapöiovog %al Miyaqiu top 'iTtno/LitPovc t^
'OyxijGTOv Niao) ßoijdop eXdöpTa aniifTsiVE. Diese in die ttoivi] übergegangene Ueber-
lieferung lässt sich bis auf Hellanikos zurückführen, wenn Steph. Byz. s. v. JS'laaia in
der That ein Bruchstück von ihm enthält (n. 47 bei Müller): JSlaaia inipstov Dhya-
Qi'ö'og xal avTij i] Meyaq'ig anb Niaov tov flavötovog 'EUMPiv.og iv 'leqsiwv a. Kai ip
T)j ß'' 'zal ÄiGa/äv t6 alls zai. NiGOV top Havölopog xai 3ieyaQta top Oy%ijGTiop^) . Die
Megarer aber Avollten von der Eroberung ihrer Stadt durch Minos nichts wissen
(c. 39 am Schluss), ohne zu dem einfachsten Mittel zu greifen, das Schicksal Nisaias
von dem der späteren Hauptstadt zu trennen, also auch nichts davon, dass der On-
chestier Megareus ihr zu Hülfe gekommen und für sie gefallen sei. In der älteren
Fassung der Alkathoossage galt Megareus sicher als der einheimische, lange regie-
rende König, der nach dem Verlust seiner Söhne Tochter und Nachfolge dem Helden
Alkathoos übergiebt; aber auch später haben die Megarer vorgezogen, den Namen
ihrer Stadt anders abzuleiten als von diesem Onchestier. Und doch haben sie ihn
als Schwiegersohn des Nisos und Schwiegervater des alten Stammhelden Alkathoos
in ihre Königsliste aufgenommen, ebenso wie sie sich die attische Herkunft des
Pandion und Nisos gefallen Hessen, und zwar ohne dass die herrschende Ueberliefe-
rung sie in diesem Falle gezwungen hätte, da diese nur von seinem Tode, nicht von
1) Ov. Met. 10, G05 : Megareus Onchestius. Megareus aus ünchestos oder der Sohn dos On-
chestos? Der Poseidonsolm ünckestos findet sich bei Paus. 9, 20, 5, Stepli. Byz. s. v. Kw/vai und
Plut. quacst. gr, IG, wo seine mit Nisos verkeiratliete Tochter Abroto erscheint. Jiei Ovid wird Megareus
ein Enkel des Poseidon und Vater des Hippomenes (Atalantosage) genannt, bei ApoUodor der Sohn des
liippomenes, bei Pausanias Sohn des Poseidon. Wenn, wir Onchestius als Bürgernamen fassen, lässt sich
Ovid mit Apollodor in Uebereinstimmung bringen durch die Annahme der Linie : Poseidon, Hippomenes,
Megareus, Hippomenes.
38 Konrad Seeligcr.
seiner Herrschaft in Megura berichtete. Sollte nicht auch dies unter dem Einfluss
der Amphiktyonie von Onchestos, deren ich bereits oben gedacht habe, geschehen
sein? Es wäre niclit der einzige Fall, dass in hellenistischer Zeit die Politik mit
der Legende Hand in Hand ginge. Ist meine Vermuthung richtig, so ist damit die
Zeit gegeben, in der die megarische Königsliste entstanden ist: etwa 200 v. Chr.
Dagegen wird sich schwerlich etwas anführen lassen. Mit ihr scheint die megarische
Geschichtsschreibung abgeschlossen: bei Pausanias finden wir nichts, was von ihr ab-
weicht. Nur noch den letzten König selbstherrlicher Gewalt im Bereich der Sage
linden wie bei ihm c. 43, 3 verzeichnet: ELyperion den Sohn Agamemnons. Wahr-
scheinlich nahm man an, dass die Herrschaft des Alkathoos, der seine Söhne über-
lebt haben sollte, auf die Pelopiden von Mykenai übergegangen sei, und suchte sich
dadurch zu erklären, dass bei Homer der Stadt Nisaia-Megara nicht gedacht Avird;
denn die von den Megarern gedichteten Verse: Aiac. b' iv, ^'aXaf.uvog äysv vtag, iz
Öt no)J%vric h % yliyeiQovaaijg Nioahig re TQmöäcov ts betrachtete man nur als Parodie
auf die Einschaltung der Athener (Strab. p. 394). Immerhin beweist die Erzählung
davon, dass man im 4. Jahrhundert, als sie aufgezeichnet wurde, Megara zu dem
Herrschaftsgebiet des Aias, d. h. diesen unter die megarischen Heroen rechnete; auch
dieser Umstand nöthigt die Redaction der Königsliste, in die Aias nicht aufgenommen
war — wie sich indirect aus c. 42, 4 ergiebt — , in eine spätere Zeit zu setzen. Mit
Hyperion schloss die megarische Geschichtsschreibung das Königthum ab und datirte
von seinem gewaltsamen Tod die Wahlherrschaft : ä()xovTsg ai^trol c. 43, 3. Wir
brauchen nicht erst darauf hinzuweisen, dass Megara unter dorischer Herrschaft noch
lange Könige gehabt hat, deren Titel sich in der rej)ublikanischen Zeit erhielt —
der Königstitel des Klytios in der Bakchiadenzeit (Zenob. 5, 8) ist kein Anachronis-
mus — ; doch erinnern wir uns, dass in der Zeit, in die wir die Abfassung der leiste
verlegen, der eponyme Beamte der Stadt den Titel ÜQymi) führte. Aisymnos, dem
die Verfassungsänderuiig zugeschrieben wurde, ist natürlich nichts weiter als der Ver-
treter der Aisymneten: so hiess zu Megara der Eathsausschuss noch in achäischer
Zeit (üialectinschr. III n. 3016).
Aus vorstehenden Ausführungen ergiebt sich, dass die megarische Königsliste
auf Grund der argivischen aus Namen zusammengestellt ist, die zwar zum Tlieil der
einheimischen Sage angehören, aber unter dem Einfluss auswärtiger Ansprüche und
der Gelehrsamkeit hellenistischer Zeit; ihre Entstehung scheint in jene kurze Epoche
zu fallen, in der Megara der Amphiktyonie von Onchestos angehörte. Auch dürfte
schon aus dem bisher Gesagten der Unbefangene die Ueberzeugung gewonnen haben,
Alkathoos und die mogarischo Künigslislc. 39
dass bei Pausanias zwischen dem Abschnitt c. 39, 5, 6, in dem die Liste vorangestellt
wird, und der Periegese selbst kein Widerspruch besteht. Doch bedarf dies noch
eines kurzen Nachweises, zumal da Kalkmann in seinem Buch über Pausanias
(S. 270) zu dem entgegengesetzten Schluss kommt; zugleich wird er uns Gelegenheit
geben, die Arbeitsweise imsres Schriftstellers in einem Abschnitt, in dem sie durch-
sichtiger als in jedem andern ist, kennen zu lernen; Andeutungen hat darüber be-
reits der um Pausanias so verdiente Gurlitt (S. 99 f.) gemacht, doch ohne im Ein-
. zelnen die Folgerungen zu ziehen.
Wie aus den unsrer Königsliste beigegebenen Belegstellen (S. 31) zu ersehen
ist, werden die Denkmäler der Stadt in der Periegese auf die in jene aufgenommenen
Namen gedeutet und die daran haftenden Sagen in Uebereinstimmung mit ihr er-
zählt : ich nenne das /npijfia Kaqog auf dem Weg von Megara nach Korinth c. 44, G,
das /.ivt^iu ylshyog c. 44, 3, das ijQmov Flavölovog c. 41 , 6. An Kleson werden wir
durch die Kleso der megarischen Inosage c. 42, 7 erinnert, Skiron wird nicht nur
c. 39, G, sondern auch c. 44, G und zwar hier mit dem quellemnässigen Titel als
Feldherr der Megarer bezeichnet; die entschiedene Ablehnung der Minossage durch
die Megarer c. 39, G wird c. 41, 5 wiederholt; der Onchestier Megareus ist wie in
c. 39, 6 so auch in c. 41, 3 und c. 43, 2 als megarischer König verstanden. Alka-
thoos, der in der Königsliste selbst nicht erwähnt ist, wird in der Periegese in sie
an der Stelle eingereiht, wohin er gehörte, nachdem der Onchestier an den Platz des
Zeussohns getreten war. In Uebereinstimmung mit dem, was c. 39, 5 über die Ein-
führung des Demeterdienstes durch Kar gesagt ist, steht c. 40, G, wo das Megaron,
dem die Stadt ihren Namen verdanken sollte, angeführt Avird. Allerdings wird am
Anfang der Periegese c. 40, 1. die Legende von dem Zeussohn Megareus erzählt, aber
mir in Verbindung mit Gerania, um diesen Namen, nicht den der Stadt zu deuten,
also ohne Widerspruch mit dem genealogischen Eingaaig. Nur eine Stelle kann dem
Unaufmerksamen Zweifel erregen, in c. 42, 1 die Bemerkung: Mf/agi-'cos /(vijfiu, ög
y.uTu T>jv tjiiaTQaTEi'av rmv KqijtcSv ^vfifiaxog acp/a/v ykOfi' ti 'Oy%tjr,Tov. Wie können die-
selben Megarer, die die Eroberung ihrer Stadt leugnen, dieses Denkmal so erklären?
Wer aber will behaupten, dass Pausanias den Relativsatz aus seiner Quelle abgeschrieben
hat? Dann würde er seiner Gewohnheit nach das Xtyova/ sicher nicht weggelassen
haben ; so aber schrieb er ijXfhv. Das Grab des Megareus haben die Megarer als das
il)rcs Königs gewiss anerkannt; die dazu gefügte Bemerkung stammt aus der Feder
des' Periegeten, der, wie er wiederholt versichert, an die Eroberung der Stadt durch
Minos glaubt und darum auch annimmt, dass Alkatlioos die alte Mauer durch die
40 Konvad Sceligev.
soinigc ersetzt habe (c. 41, 6), was natürlich die Megarer nimmer geglaubt haben.
Muss nicht jeder der den Abschnitt über Megara liest erkennen, dass sein Verfasser
fortgesetzt gegen die einheimische Ucberlieferung polemisirt, wie es überhaupt seine
Gewohnheit ist die Ortslegende zu verdächtigen? Gerade in diesem Punkte zeigt
sich am besten die Individualität des Periegeten, der weit entfernt ist, alles was er
in seinen Quellen gelesen hat gläubig aufzunehmen und gedankenlos weiter zu geben.
Pausanias kommt nach Megara von Athen, voll der Atthis die ihm wie anderen
kanonisch ist; gleich an der Grenze verzeichnet er das attische Dogma, dass Megara
ursprünglich zu Attika gehört habe. Die Beweisführung ist ihm freilich missglückt,
da die zur noivij gewordene jüngere Fassung (s. S. 34), dass der megarische König
Pylas dem attischen Pandion die Herrschaft abgetreten habe, nicht mehr beweisen
kann, als dass Megara eine Zeit lang von attischen Fürsten regiert worden ist. (Ganz
anders Strabon p. 392 f., mit dessen Ausführung nur der Schlusssatz von der Dori-
sirung der Stadt in c. 39, 4 übereinstimmt.) Weiter erklärt er den Namen Megara
zwar zunächst aus megarischer (Quelle, fügt aber mit Wohlgefallen die Ueberlieferung
von dem Onchestier Megareus hinzu, der der Stadt in ihrer Kriegsnoth zu Hülfe
gekommen sei (c, 39, 5 — er bezeichnet sie in seiner Weise als boiotisch, wird sie
aber wohl der megarischen Quelle, die ihr widersprach, entlehnt haben); auch später
(c. 41, 5, (')) findet er noch einmal Gelegenheit darauf zurückzukommen und zu be-
weisen, dass Megara in der That von Minos erobert und von Alkathoos wieder her-
gestellt sei; darum glaubt er auch an den Tod des Megareus bei dieser Gelegenheit
(c. 42, 1) und lässt von der Sage über Alkathoos zwar diesen selbst, nicht aber die
Nebenumstände, die sich auf Megareus und seine Söhne beziehen, gelten: man
beachte die wiederholten (paai unä Xbyovai (c. 41, 3. 42, 4. 43, 2), die Polemik gegen
die Sage, dass Timalkos, des Megareus Sohn, gegen Theseus gefallen sei, und die
Worte in c. 41, 4: tuvtu (.ih oiv yevsaOat MyovGiv. iyw dt yQaipsiv f.ih iütho Msya-
QiiHiiv öfioXoyovvTCi, ovx &%io d's onag av/iKpsQa/iiu/. (etwa für sv^tofiat) navTa acpi'atv, alK
anoöuPiJv /LUV h'ovra ev rrß KiOatQwvi. vno yJh/Aöov mlOoftai .... § 6 (paiverat äs t6-
?,ti'Tij(>c<VTO? Äi'aov zui Tav 7T()Ciy/iaTcov MsyuQsvaiv scpOa^ftt'vcov, vno tovtov ^y./kxäi)ovg
u(p/y.öftavog tov w.iqov 6| "JJhSog. Megareus wird also von ihm nach der in die 'aoivi'j
übergegangenen Ueberlieferung (s. S. 37) , dass er im Kriege gegen Minos gefallen
sei, aus der megarischen Königsliste gestrichen. Noch einmal werden die attischen
Rechte auf Megara dadurch begründet, dass Periboia, die Tochter des Alkathoos,
den Jungfrauen zugezählt wird, die mit Tlieseus nach Kreta geschickt Avurden (c. 42, 2
vergleiche c. 17, 3 nacli attischem Bericht); ja aus dem Beinamen der Athene
Alkathoos und die megarische Königsliste. ' 41
Aiantis^) wird von dem PeriQgeten selbständig geschlossen, dass Aias, natürlich als atti-
scher Heros im Sinne der attischen Interpolation bei Strab. p. 394, des Alkathoos Nach-
folger in der Regierung gewesen sei (c. 42, 4) : es wird also von ihm ein neuer König-
in die megarische Liste eingesetzt und damit auch dem attischen Anspruch genügt,
dass die Megarer im troischen Kriege den Athenern Gefolgschaft geleistet hätten.
Auch in der Frage des Salaminischen Streits scheint Pausanias auf die Seite der
Athener zu treten, wenn er auch die Megarer zu Worte kommen lässt (c. 40, 5 vgl.
c. 35, 2 — die Uebereinstimmung des Wortlauts in dem attischen Zugeständniss mit
Aristeides I p. 474, 10 lebb kann höchstens beweisen, dass die beiden gleichzeitigen
Schriftsteller eine damals besonders gelesene Atthis benutzten — ). Unter Wider-
spruch, Ausdruck von Zweifel, nirgends mit ausdrücklicher Zustimmung werden die
megarischen Sagen vom Tod der Hippolyte (c. 41, 1), von Tereus (c. 41, 8), von Ino
(c. 42, 7), Iphigeneia (c. 43, 1) und Adrastos (c. 43, 1) vorgetragen, und während
für die Ueberlieferung vom Wegbau des Skiron (c. 44, 6) die Megarer verantwortlich
gemacht werden, wird die Sage von der Bestrafung des Unholds durch Theseus als
Thatsache berichtet: nsqiril&sv i] dmj ^xiQcova aipsdivra is dälaGGuv rijv uvttjv vnö
0t]asmg (c. 44, 12 vgl. zu dem Ausdruck c. 9, 3).
Wer nun Pausanias durchaus zu einem Abschreiber machen wollte, müsste
aus dem Gesagten schliessen, dass er eine attisch gefärbte Periegese von Megara
benutzt habe; wir aber gewinnen daraus die Erkenntniss, dass er seine Quellen nicht
unverständig, unbekümmert um Widersprüche ausgeschrieben, sondern nach seinem
Urtheil, mag dieses richtig sein oder nicht, geprüft hat — freilich ein Resultat, das
dem von Kalkmann S. 269 gezeichneten Bild entgegengesetzt ist. Mithin haben wir
den Abschnitt über Megara in zwei Elemente zu zerlegen: den Stoff, den die Stadt
in ihren Denkmälern und ihrer Ueberlieferung dem Periegeten bot, und die kritischen
1) Der Vermuthung Mayers a. a, O., S. 485, dass in diesem Beinamen der Lokrer Aias stecken
könne, bin ich geneigt beizutreten: er scheint mir vornehmlich der Träger der Lelegersage xn sein.
Die hesiodeische Genealogie (Fr. 142 Rz.) verweist ihn nach Troas. [Die aristarchische Erklärung der Ent-
stehung der Form 'Ileig, die A. Ludwich in den Jahrb. f. klass. Philol. 1889, S. 252 ff. zu der seinigen
macht, genügt nicht; mindestens ist so viel sicher, dass man schon frühzeitig aus dieser von Hesiod,
Stesichoros (Fr. 84) und Pindar in Ol. 9, 112 gebrauchten Form auf Beziehungen des Aias zu Troas
geschlossen hat.] Bekannt ist das Sühnopfer, das die Lokrer jährlich der troischen Pallas sandten
(s. Fleischer in Roschers Lexikon I S. 136 ff.). Die Feindschaft der Athene beweist nichts dagegen;
man lese im Proklosexc. der Iliupersis: 6 de (s. c. A'ictg) enl thv %fig 'AS-iqvccg ßco^iov -/.axufpBvyiii. Bei
unsrer Erklärung des Beinamens wird es begreiflich, dass die Megarer über diese Aiantis nichts zu sagen
wussten (c. 42, 4); hätten sie irgend eine Beziehung zu dem Telamonier herausfinden können, würden
sie das nicht dem Periegeten Pausanias überlassen haben.
Festsolirift für Overtock. 6
42 Konvad Seeliger.
oder ergänzenden Bemerkungen, die er darüber macht. So stammt z. B. die Er-
zählung von der lieldenthat des Alkathoos (c. 41, 3) aus megarischer Quelle, die
darauf folgende Polemik (§ 4 — 6) zum Theil aus des Periegeten eignem Kopf, zum
Theil aus Büchern (dies gegen Gurlitts Auffassung S. 100). Von dieser Grundlage
hat man auszugehen, wenn man seinen Quellen nachspüren will. Was nun die
megarische Quelle betrifft, so haben wir keinen Grund 'daran zu zweifeln, dass
Pausanias den Ort selbst besucht, sich an die Denkmäler hat führen lassen und
eigne Aufzeichnungen verwerthet hat. Gerade in unserem Abschnitt finden wir die
ausdrückliche Bemerkung: tvrtvdsv ö twv iniywQaov ij/iiiv i^iiyijTrii i'jyiiro ig %ioqlov
'Povv, MS l'ipuaxsv, 6vo/iia^6/iisvov (c. 41, 2). Aus dem Munde des Führers mag
u. a. stammen , was c. 40, 4 über das nicht vollendete Zeusbild im Olympieion
erzählt wird; denn die hinter dem Tempel liegenden Holzstücke werden wohl sehr
jungen Alters gewesen sein. Ferner daraus, dass der tönende Stein am Herde der
Prodomeis (c. 42, 2) auch von römischen Dichtern erwähnt wird, ist kein Grund zu
schliessen, dass er nicht auch dem Pausanias bei seiner Wanderung durch die Stadt
gezeigt worden sein kann. Anders dagegen ist, wie ich glaube, c. 42, 4 der Aus-
druck ilff7«()ico?^ jr«^f/T«/ ro7g 6g?^;'//Tß/g aufzufassen; hier scheint er an eine schriftliche
Quelle zu denken oder vielmehr an die einzige schriftliche Lokalquelle, die Pausa-
nias benutzt hat; denn alles, was er aus megarischer Quelle berichtet, stimmt, wie
oben gezeigt, mit sich und den Denkmälern aufs genaueste überein. An Dieuchidas
ist nicht zu denken; wenn einzelne Notizen, wie die über Megaros (c. 40, 1) oder
über das Grabmal des Adrastos (c. 43, 1 vgl. mit Schol. Pind. Nem. 9, 30) bis auf
den Vater der megarischen Geschichtsschreibung zurückgeführt werden können, so
ist das nicht auffällig, das Gegentheil wäre es mehr. Auch Hereas, der noch dem
4. Jahrhundert angehören mag, ist nicht nur durch sein Zeitalter ausgeschlossen:
nach ihm (fr. 3 aus Plut. Sol. 32) soll des Skeiron Sohn Alykos, nicht Timalkos, Sohn
des Megareus (Paus. 1, 41, 3), an dem Zuge der Dioskuren gegen Aphidna theilge-
nommen haben; Megareus ist ja, -wie wir gesehen, erst um 200 in die megarische
Königsliste eingereiht worden, eher lassen sich die Namen Alykos und Timalkos
identificiren. Auch andere Namen helfen wenig; so viel scheint mir gesichert, dass
die Quelle des Pausanias nach 200 v. Chr. verfasst ist; doch bin ich geneigt, sie näher
an sein Zeitalter heranzurücken, weil sonst Widersprüche zwischen ihr und den Denk-
mälern wahrscheinlicher wären ^). In römischer Zeit wird durch das Bedürfniss der
1) Ein lehrreiches Zeugniss, wie auch in später Zeit die lokale Legende geschäftig ^var, scheint
mir die Ueherliefernng von dem megarischen Artemistempel c. 43, 1 zu hieten : y.al u^QTifiiöos leqhv
Alkathoos und die megarische Königsliste. 43
Eeisenden und den Lokalstolz der griechischen Städte eine Literatur gefördert worden
sein, die aus älteren Quellen sammelte, was zur Erläuterung der erhaltenen Denk-
mäler dienen konnte, Sammelschriften, wie sie bei Plut. Thes. 10 durch den Ausdruck
Ol MeyccQÖOsv avyypaipsig bezeichnet werden. (Die literarische Fehde zwischen Athen
und Megara ruhte auch im Zeitalter Hadrians noch nicht.) Aus dieser Quelle
schöpften natürlich auch die Fremdenführer ihre Weisheit, so dass Pausanias nicht
auseinander zu halten brauchte, was er gesehen, gehört oder gelesen hatte. Bei
Plutarch, quaest. conv. 5, 3, 1, tritt ein Perieget, Praxiteles, wie es scheint ein Me-
garer, auf mit der Sage, dass die Leiche des Melikertes vom Meere ausgeworfen
und an einer Fichte hängen geblieben sei ; »die Megarer sind die einzigen liellenenc,
sagt Pausanias c. 42, 7, »die behaupten, dass die Leiche der Ino an ihre Küste ge-
trieben worden sei«. Plutarch spricht auch sonst noch von Periegeten seiner i^eit;
Praxiteles könnte als Beispiel dafür dienen, dass Fremdenführer in Person oder
Bücherform auch damals noch selbst in Megara vorhanden waren.
Zu dem, was er aus megarischer Quelle erfahren hatte, fügte Pausanias seine
zum grössten Theil kritischen Bemerkungen. Woher entnahm er diese? Eine ge-
gewisse Klasse von Quellenforschern ist ohne Weiteres zu der Annahme bereit, dass
er nichts seinem Kopfe, alles seiner kleinen Bibliothek verdanke, und dürfte es in
diesem Falle um so mehr sein, da sich eine ähnliche Polemik auch bei anderen
Schriftstellern findet und leicht auf die Atthis zurückgeführt werden kann. So haben
wir bereits den letzten Satz in c. 39, 4 mit einer ähnlichen Stelle bei Strab. p. 393,
das Zugeständniss der Athener von der zeitweiligen Abtretung der Inseh Salamis in
yi(yai.ce/.ivcüv eTtoiijaev, 'rjflKa fjld-e KäX%c<vca ohovpTa ev Sleyäqoig ig "llwv sirsad-ai Ttslaiop.
Sie geht auf Theognis v, 11 f. zurück: ylQrsi.li dr]Qorp6vr], diyateq Ji6g, fiv. ^4ya!.iEf.iv(.ov eloai)-
OT ig TQolrjv enles inqval ■&oalg. Die Megarer verstanden unter der von ihrem Dichter angerufenen
Artemis die heimische, während in der That nur die von Amarynthos in Euboia, wo der Dichter eine
Zeit lang lebte, gemeint sein kann, vgl. Kallimachos bei Schol. Ar. av. 873. Wahrscheinlich lag den
Megarern Theognis bereits in ähnlicher Redaction wie der gegenwärtigen vor; um aber die Anwesenheit
des Agamemnon in ihrer Stadt zu begründen, Hessen sie ihn den Kalchas herbeiholen. Wie dieser
nach Megara gekommen ist, hat E. Maass im Hermes 23, 619 gezeigt. Wenn freilich Maas s bemerkt:
»Bei Paus. 1, 43, 9 behaupten die Megarer, bei ihnen sei Iphigeneia geopfert«, so steht dies im Wider-
spruch mit der Erzählung, Agamemnon sei nach Megara nur gekommen, um Kalohas zu holen. In
Wahrheit sagt Pausanias a. a. O. : Jliyovai öe uva.i xat 'Icpifsveiag fjQ(Tiov aTtodavelv yttQ "/«t
■vaiivtjV SV MeyÖQOig. Sie werden erzählt haben, wie die Bewohner von Brauron (Paus. 1, 33, 1) und
Sparta (Paus. 3, 16, 7) und Argos (indirect aus dem attischen Bericht bei Paus. 1, 33, 1 zu erschliessen) ,
dass Iphigeneia mit dem Bilde der taurischen Göttin nach Megara gekommen und als ihre Priesterin hier
gestorben sei. Vgl. mein Programm: Die Ueberlieferung der griechischen Heldensage bei Stesichoros,
Meissen 1886.
ü*
44 Konrad Seeliger. Alkathoos und. die megarische Königsliste.
c. 40, 5 mit dem gleichen Wortlaut bei Aristeides verglichen; wir könnten noch hin-
zufügen, dass der megarische Bericht über das Schicksal des Timalkos von Pausanias
in c. 41, 4 mit ähnlicher, wenn auch ausführlicherer Begründung zurückgewiesen
wird, wie eine Notiz des liereas von Plutarch Sol. c. 32. An Polemon als Gewährs-
mann im letzten Beispiel zu denken — etwa um der Parallelstelle im Schol. Hom.
r 242 (Alkman fr. 13) Avillen — haben wir keinen Grund mehr; eher könnte die
Widerlegung der Atthis entstammen, die Pausanias für die Beschreibung von Athen
benutzt hat. Aber dem wohlunterrichteten Mann standen gewiss auch andre Bücher
zu Gebote, um etwa die Citate aus Alkman oder den hesiodeischen Katalogen finden
und benutzen zu können, ganz abgesehen von den allgemeinen Kenntnissen, die er
dem eignen Wissen verdankte, oder gar den selbständigen Vermuthungen, wie der
Erklärung des Beinamens Aiantis (c. 42, 4) u. a. m. Die xoivij der griechischen Sage
war ihm wohl in vielen Fällen geläufig, so dass er nicht bei jedem Namen genöthigt
war, das »mythologische Plandbuch« aufzurollen, dessen Benutzung mir gerade bei
Pausanias immer zweifelhafter geworden ist. U. Plöfer, der in seinem »Konon« S.
38 ff. u. a. die Sage über die Entstehung des Ortes Tripodiskoi in c. 43, 7 mit der
19. Erzählung des Konon verglichen hat, ist dabei zu dem Schluss gelangt, dass
beide Erzähler aus gemeinsamer Quelle, nämlich dem »mythologischen Compendium«
geschöpft haben. Ich Avill hier nicht einmal betonen, wie gross die Abweichungen
beider Erzählungen von einander sind, sondern nur auf folgende Punkte aufmerksam
machen, die die Frage für Pausanias entscheiden sollten: die Legende knüpft sich
an den Namen eines megarischen Ortes; was also ist wahrscheinlicher, als dass sie
im megarischen Gebiet entstanden, aus megarischer Quelle in die allgemeine Literatur
übergegangen, von Pausanias in seiner megärischen Periegese aus megarischer
Quelle entlehnt w'orden ist? Die Geschichte der Psamathe und des Koroibos stand
auf dem Grabe des letzteren in elegischen Versen verfasst; wenn der Perieget sie
nicht gar aus dieser Inschrift entnommen hat, so verbietet uns doch diese Angabe
an etwas anderes als periegetische Literatur zu denken, zumal da auch der Ort, wo
das Grab des Koroibos gezeigt wurde, genau angegeben wird: der Marktplatz; eine
indirecte Bestätigung dafür finde ich in den allerdings unklaren Worten bei Strab.
p. 394: TQinoölßyaov, y.uO' o ■>] vvv äyo^h. räv Mtyaqav Kslrai-. Wo solche Möglich-
keiten vorliegen, sollen wir da noch das mythologische Handbuch bemühen? Man
mag sich doch wieder gewöhnen, bei Quellenforschungen im Pausanias zuerst an die
Ortskunde zu denken und im Uebrigen seiner Zuverlässigkeit und Einsicht ein wenig
mehr Vertrauen zu schenken.
Die linke Hand der Aphrodite von Melos
E. Kroker.
Mit 1 Textfigur.
J_)ie mit der melischen Aphrodite zusammen gefundene linke Hand mit dem
Apfel') zeigt in der Haltung der Finger eine Eigenthümlichkeit, die lange Zeit
überhaupt nicht beachtet und bisher noch nicht in genügender Weise erklärt wor-
den ist.
Die nicht eben kleine Frucht wird nicht von allen Fingern gleichmässig
umschlossen und gegen die innere Handfläche gedrückt, wie es bei einem derben
Ztifassen natürlich wäre; sie wird auch nicht von den Spitzen der drei oder vier
vorderen Finger gehalten, wie es einem zierlicheren Fassen entspräche: sondern die
haltenden Finger sind der Daumen, der Goldfinger und der kleine Finger; der Apfel
wird von ihnen fest in die Höhlung der Hand gedrückt; der Mittelfinger und der
Zeigefinger dagegen, deren vordere Glieder abgebrochen sind, waren, wie noch deut-
lich zu erkennen ist, mehr oder weniger gerade ausgestreckt, ohne die Frucht weiter
zu berühren. Daher sind eben auch diese beiden Finger abgebrochen.
Bei einer solchen Haltung der Finger darf man weder an ein »abwehrendes«
Ausstrecken des Mittelfingers noch an ein »kokettes« Fassen des Apfels »mit los-
gelöstem Mittelfinger« denken^). N¥er in aller Welt fasst einen Apfel, den er jemand
geben oder zeigen will, mit Daumen, Goldfinger und kleinem Finger und streckt
dabei die beiden anderen Finger mehr oder weniger gerade aus? Oder wer wird
mit einer Hand, in der er schon etwas hält, noch zu drohen oder abzuwehren
1) Abgebildet nach einem Gipsabguss in der Arcliäologisohen Zeitung von 1874," Tafel 16; nach
dem Original z. B. bei Goeler von Ravensburg »Die Venus von Milo», Tafel 3.
2) V. Valentin »Kunst, Künstler und Kunstwerke«, Seite 242 und 324.
46 E- Kroker.
versuchen"? Man nehme nur selbst einmal einen Apfel in die Hand, und man wird
empfinden, wie unnatürlich eine solche Haltung der Finger ist. Richtiger ist die
Bemerkung, dass sich bei einer gesenkten Hand, die einen runden Gegenstand leicht
gefasst hält, der Zeigefinger und der Mittelfinger am Fassen nicht betheiligen'); der
gefasste Gegenstand ruht dann locker zwischen den Spitzen des Daumens, des Gold-
fingers und des kleinen Fingers. Für die Deutung unseres Bruchstücks hilft aber
auch diese Bemerkung nicht weiter, denn der Apfel wird von dieser linken Hand
keineswegs locker gefasst, er wird vielmehr von den drei haltenden Fingern voll in
die Handfläche gedrückt. Die Hand kann also nicht gesenkt gewesen sein. Es giebt
wohl überhaupt nur eine einzige Erklärung für die Fingerhaltung, die wir an unserem
Bruchstück sehen: wenn man nämlich mit einer Hand, die einen runden, mittel-
grossen Gegenstand fest gefasst und in die Handfläche gedrückt hält, noch etwas
anderes fassen, berühren oder bewegen will, dann ist es naturgemäss, dass sich der
Zeigefinger und der Mittelfinger, die bei einem derartigen Fassen am wenigsten
betheiligt sind, von dem gefassten Gegenstand ablösen und nach vorn strecken. Mit
einer Kugel, einem Garnknäuel oder auch einer Frucht kann jeder den Versuch an
sich selbst anstellen. Man wird auf diese Weise leicht ein Messer oder eine Schere
an sich ziehen, einen Gegenstand von sich schieben oder einen anderen Gegenstand,
wie einen Spiegel, auf einer Unterlage in die gewünschte Richtving bringen^).
Dies ist genati die Fingerhaltung, die wir an dem Bruchstück der linken Hand
mit dem Apfel beobachten können. Die Statue, zu der diese Hand gehörte, hielt
also nicht nur den Apfel in der Linken, sondern berührte mit den beiden vorge-
streckten mittleren Fingern dieser linken Hand noch einen anderen Gegenstand.
Wo ist nun aber diese Statue? Kann es die melische Aphrodite sein, mit der zu-
sammen die Marraorhand gefunden worden ist? Der Fundbericht ebenso^) wie die
Behauptung, der Marmor der Hand sei derselbe wie der der Statue*), und die
1) Kekule in der Areliäologisclien Zeitung von 1874, Seite 136 f. In Jlhnliclier Weise denkt
sich Heydemann >Pai'iser Antiken« (XII. Hallisclies Winclielmannsprogramm) , Seite 6 die linke Hand
auf einem Gegenstand aufliegend und herabhängend.
2) In einer Besprechung von Heydemann' s »Pariser Antiken« in der Berliner Philologischen
Wochenschrift von 1889, Nr. 10 habe ich bereits meine Bemerkung kurz ausgesj)rochen, doch scheint
der Vorschlag, die Aphrodite von Melos in dieser Weise zu ergänzen, bisher unbeachtet geblieben
zu sein.
3) Vgl. z. B. bei Loewy »Inschriften griechischer Künstler«, Seite 213 f.
4) Vgl. Overbeck, »Geschichte der griechischen Plastik«, 113 Seite 334, und Heydemann a.
a. 0., Seite 6 und Anmerkung 11.
Die linke Hand der Aphrodite von Melos. 47
Thatsache, dass die Hand in der Grösse zu der Statue passt, sprechen für die
Zugehörigkeit des Bruchstückes zur Aphrodite von Melos, und eine Ergänzung der
Statue mit dieser linken Hand ist in allen wesentlichen Punkten klar: der Gegen-
stand, auf dem die Göttin die beiden vorgestreckten Finger der linken Hand
ruhen Hess, kann schwerlich etwas anderes gewesen sein, als ein Schild, den sie auf
den linken Oberschenkel oder auf einen niedrigen Pfeiler (oder eine Herme) zu ihrer
Linken aufsetzte, ein Schild, in dem sie Kopf und Büste spiegelte und auf dessen
schmalen obern Rand sie den Mittelfinger und den Zeigefinger der linken Hand
legte, um die spiegelnde Fläche in die rechte Lage zu rücken, während der vom
Daumen und von den beiden letzten Fingern gefasste Apfel dicht an die Fläche des
Schildes zu liegen kam. Dabei können von der Hand nur die Handwurzel, die
Fingerspitzen und der fest in die Handfläche gedrückte, ursprünglich gewiss ver-
goldete oder bemalte Apfel für den Beschauer sichtbar gewesen sein.
Das einzige, was man bisher dagegen geltend gemacht hat, dass diese linke
Hand zur melischen Aphrodite gehöre, ist die geringe, oberflächliche Arbeit des
Bruchstückes; Kekule vergleicht es sogar mit einem »mit Sand gefüllten Handschuh«'),
und er hat nicht ganz ixnrecht, wenn man das Bruckstück eben nur in seiner Ver-
stümmelung und in seiner Vereinzelung betrachtet^). Das Urtheil Heydemann's,
der nur von einer »ein wenig lebloseren Arbeit« spricht, ist entschieden zu mild.
Die Arbeit ist wirklich gering, geradezu roh, sie zeigt etwas unbestimmtes und flaues
und giebt — wenigstens im Handrücken — gewissermassen nur die allgemeinen
Formen einer Hand ohne jede feinere Andeutung der Muskeln und Sehnen und der
zarten Haut. Sonst aber zeugt, wie schon erwähnt, alles dafür, dass das Bruchstück
Avirklich zur Statue gehört habe: vor allem der Fundbericht, ferner die Grössenver-
hältnisse, endlich auch die Gleichartigkeit des Marmors; das letztere wäre zudem
nicht einmal nöthig, da der linke Arm bekanntlich aus einem besonderen Stück
Marmor gearbeitet und angesetzt war und das Korn des Marmors nach einer
Behauptung von Des Cloiseaux auch an der oberen und der unteren Hälfte der
Statue, die aus verschiedenen Stücken gearbeitet sind, verschieden ist^). Am schwer-
1) In der Deutschen Literaturzeitung von 1880, Spalte 19.
2) Als Analogon möchte ich auf das Urtheil Brunn' s (Hermes des Praxiteles, Seite' 197) über
das Dionysosköpfchen verweisen: »Wäre das Köpfchen (des Dionysoskindes) nicht innerhalb der Altis
gefunden worden, .... so würde schwerlich jemand gewagt haben, bloss nach dem künstlerischen
Charakter Kopf und Gruppe mit einander in Verbindung i^u bringen, um so viel erseheint er
geringer, als diese«.
3) Vgl. Overbeck a. a. O., Seite 332 und Anmerkung 141.
48 E. Kroker.
sten aber scheint mir ins Gewicht zu fallen, dass die hier vorgeschlagene Ergänzung
der melischen Aphrodite die eigenthümliche Fingerhaltung der mit der Statue zu-
sammen gefundenen linken Hand wirklich erklärt und den Schild mit der den Apfel
fassenden Hand in verständlicher Weise vereinigt. Die Einwände, die man bisher
gegen die Zugehörigkeit der linken Hand erhoben hat, sind ja hauptsächlich der
Verlegenheit entsprungen, mit diesem Bruchstück etwas anzufangen. Denn das muss
allerdings zugegeben werden, dass eine Ergänzung, die der Göttin wirklich den Apfel
und nur diesen in die erhobene liinke giebt, nicht zum Ziele geführt hat. Ganz
abgesehen von dem wenig erfreulichen Eindruck, den die Statue in dieser Ergänzung
macht, so kann die energische Bewegung der Gestalt nur aus einer Handlung hervor-
gegangen sein, die eine gewisse Anspannung der Kraft erheischt, und eine solche
ergiebt sich weder aus dem blossen Erheben des Apfels noch aus dem ruhigen Auf-
legen der Hand auf einen feststehenden Gegenstand, wie es Heydemann wollte.
Und bei beiden Ergänzungen bleibt die eigenthümliche Fingerhaltung der linken Hand
unberücksichtigt. Sollen wir nun trotzdem, dass wir jetzt für diese Haltung der
Finger eine Erklärung gefunden zu haben glauben und für die Bewegung der Statue
einem früheren Ergänzungs verschlag folgen können, an der flauen Arbeit des Bruch-
stückes so starken Anstoss nehmen, dass wir es trotz allem, was für die Zugehörigkeit
spricht, als nicht zugehörig betrachten sollen? Wiegt diese Nachlässigkeit in der
Arbeit wirklich so schwer? Die Statue zeigt doch auch, wie von allen zugegeben
wird, an der linken Seite des Gewandes Eohheiten und Nachlässigkeiten in der
Arbeit, die nur dadurch entschuldigt werden können, dass diese Seite — sei es in
Folge der Aufstellung der Statue oder wegen eines Gegenstandes, der zur Linken
der Göttin stand — wahrscheinlich nie recht sichtbar gewesen ist. Man vergleiche
ferner auch die Rückseite des Gewandes der melischen Aphrodite: wie sorgfältig ist
das Gewand an der rechten Seite gearbeitet, wie flau und oberflächlich auf der
Rückseite! Wäre die untere Hälfte der Statue zersplittert, man würde diese roh
behandelte Rückseite kaum demselben Künstler zuschreiben mögen, der das Gewand
an den Hüften und an der rechten Seite so vortrefflich zu behandeln gewusst hat.
Wir müssen eben einfach anerkennen, dass der Künstler sich die Arbeit da, wo sie
nicht gesehen werden konnte, leicht gemacht hat. Lässt sich nun nicht die rohe
Arbeit der Hand eben dadurch entschuldigen, dass sie zum grössten Theile dem
Auge des Beschauers entzogen war? Ihr Handrücken war gewiss niemals sichtbar,
und die Finger, soweit sie jetzt noch erhalten sind, waren es auch nicht, da sie
gegen die Fläche des Schildes zu liegen kamen.
Die linke Hand der Aphrodite von Melos. 49
Man könnte aus diesen Schwierigkeiten zwar leicht einen Ausweg finden in
der Behauptung, die erhaltene linke Hand gehöre einer antiken Restauration der
melischen Aphrodite an*) und die geringe Arbeit des Bruchstückes sei eben dem
Restaurator zuzuschreiben. Aber gerade diesen Ausweg möchte ich des Principes
wegen nicht beschreiten. Man zweifelt im Allgemeinen nicht daran, dass die ebenfalls
mit der melischen Aphrodite zusammen gefundenen Bruchstücke eines linken und
eines rechten Armes zur Statue gehört haben, obgleich das linke Armstück in seiner
Vereinzelung und Verstümmelung recht flau aussieht; auch die Zugehörigkeit der
bald nach der Auffindung wieder verloren gegangenen rechten Hand hat noch nie-
mand bestritten. Diesen drei Bruchstücken wird aber das vierte, das der linken
Hand mit dem Apfel, folgen müssen, vor allem deshalb, weil diese vier Bruchstücke
nicht im freien Felde da und dort verzettelt aufgefunden worden sind, sie lagen
vielmehr mit den beiden Hälften der Statue zusammen in einer Grotte, wo alle diese
Bruchstücke irgend einmal absichtlich verborgen worden sein müssen. Sollen wir
nun annehmen, man habe zu den beiden Hälften der Statue und zu den drei Bruch-
. stücken, die dazu gehörten, die linke Hand irgend einer andern, bis auf diese linke
fland spurlos verschwundenen Statue hinzugelegt? Diese Annahme wäre gewiss sehr
unwahrscheinlich. Wir werden vielmehr zu der Folgerung gezwungen, dass auch diese
linke Hand mit dem Apfel zu der Statue gehörte, und Avenn die Arbeit dieses Bruch-
stückes flau ist, so wird zunächst zu berücksichtigen sein, dass auch an der Statue
selbst manches flauer und geringer gearbeitet ist, und man wird für diese auffällige
Thatsache in der Statue selbst eine Erklärung suchen müssen. Erst wenn diese nicht
zu finden ist, dann darf man an die Möglichkeit denken, dass die Statue schon im
Alterthum einmal von einem Unfall betrofi'en und von einem Handwerker in stümper-
hafter Weise wieder hergestellt worden sei. Es müsste freilich ein rechter Stümper
gewesen sein! • — Durch die Annahme einer antiken Restauration würde übrigens
meine Ergänzung der melischen Aphrodite nicht weiter beeinflu.sst werden. Wäre
die Statue wirklich einmal schon im Alterthum beschädigt worden, so hätte natürlich
den Besitzern daran liegen müssen, die Restauration völlig im Sinne des ihnen wohl
bekannten ursprünglichen Motivs vornehmen zu lassen. Wir würden also auch für
die originale Hand jene eigenthümliche Fingerhaltung und den Apfel voraussetzen
müssen. Die Annahme einer antiken Restauration könnte vielleicht sogar eine
gewisse Stütze darin finden, dass der ganze linke Arm aus einem besonderen Stück
1) Vgl. V. Valentin a. a. O., Seite 240.
Postsclirift für Ovorbock.
50 E. Krokei'.
Marmor gearbeitet und angesetzt gewesen ist und dass auch das erhaltene Bruchstück
des linken Armes in seiner Vereinzelung eine etwas flaue Arbeit zu zeigen scheint.
Da aber auch der Oberkörper und der Unterkörper der melischen Aphrodite aus
zwei verschiedenen Blöcken gearbeitet sind, so darf man aus der Anstückung des
linken Armes wohl keine weitere Folgerung ziehen; und da auch an sicher ursprüng-
lichen Theilen der Statue eine flauere Arbeit sichtbar ist, so wird man auch für die
flaue Arbeit der linken Hand eine Entschuldigung suchen müssen. Eine solche
glaube ich bei meiner Ergänzung der melischen Aphrodite darin gefunden zu haben, dass
die Hand in Folge ihrer Haltung und wegen des Schildes zum grössten Theile nicht
sichtbar gewesen sein kann, und ich möchte hier noch hinzufügen, dass die untere
Seite der Hand, also gerade der Theil, der bei unserer Ergänzung für den Beschauer
allein sichtbar gewesen sein kann, entschieden sorgfältiger und genauer gearbeitet
ist. Während auf dem Handrücken überhaupt keine Einzelheiten angegeben sind^),
sehen wir an der unteren Seite dieser Hand, so weit sie nicht vom Apfel verdeckt
wird, die Hautfalte am Ansatz des kleinen Fingers und die grössere Falte, die den
Handteller durchschneidet. Diese Kleinigkeit, die bisher ebenfalls nicht genügend
betont worden ist, scheint mir nicht ganz ohne Gewicht zu sein, und ich meine eine
gewisse Berechtigung zu haben zu der Behauptung, dass die theilweis flaue Arbeit
der linken Hand mit dem Apfel nicht schwer genug wiege, das Bruchstück deshalb
der melischen Aphrodite abzusprechen.
Trifft meine Ergänzung, die in wesentlichen Punkten den Vorschlägen Over-
beck's^) folgt, das Rechte, so dürfte sie vielleicht auch die Unsicherheit über die
Bewegung der rechten Hand beseitigen und für die Zugehörigkeit des Trägerblocks
mit der Inschrift und dem Einsatzloch eine neue Stütze beibringen. Denn da die
beiden Mittelfinger der linken Hand zwar im Stande sind, einen auf irgend eine
Unterlage gestützten Schild zu richten, aber nicht, ihn zu halten oder vor dem
Ausgleiten auf dieser Unterlage zu bewahren, so müssen wir wohl auch die rechte
Hand der Göttin nach dem Schildrand hinüberfassen lassen. Dieser Annahme wider-
sprechen auch nicht die Worte, die Dumont d'Urville unmittelbar nach der Auf-
findung der Statue schrieb : » eile representait ime femme nue dont la main gauche relevee
tencdt une pomme et la droite soutenait une ceinture habilement drapee et tomhant negli-
geamment des reins jusqiHaiix piedsn^). Der Widerspruch, der in diesen Worten liegt.
1) Ein Stümper hätte doch wenigstens die Knöchel anzugeben versucht I
2) »Geschichte der griechischen Plastik«, Seite 336 fF.
3) Z. B. bei Loewy a. a. O., Seite 213.
Die linke Hand der Aphrodite von Melos. 51
ist nur ein scheinbarer, ja man darf es fast als sicher hinstellen, dass die rechte Hand
mit dem Gewände nichts zu thun hatte. Die Aussage Dumont's über diese rechte
Hand kann für uns nicht die gleiche Geltung haben, wie das, was er über die linke
sagt: in dieser war und ist noch jetzt der Apfel sichtbar, in jener konnte ein Stück
des von den Fingern angeblich gefassten Gewandes nicht zurückgeblieben sein, weil
Ober- und Unterkörper der Statue aus zwei verschiedenen Blöcken gearbeitet sind.
Zudem waren beide Hände nach Dumont's eigener Aussage schon bei der Auffindung-
abgebrochen und verstümmelt^), das heisst wie an der linken Hand die beiden durch
den Apfel nicht geschützten Finger abgestossen sind, so waren an der rechten Hand
wahrscheinlich alle Finger verloren. Dumont konnte also auch aus der Finger-
haltung dieser Hand nichts weiter schliessen, als dass sie irgend etwas gefasst hielt.
Nach seiner Meinung hätte sie das Gewand gehalten. Aber gerade der Umstand,
dass der nackte Oberkörper mit dem rechten Arm und der rechten Hand aus einem
Block, der bekleidete Unterkörper aus einem andern Block Marmor gearbeitet sind,
lässt ein Fassen des Gewandes durch die rechte Hand fast unmöglich erscheinen.
Sollten die Finger dieser Hand wirklich in die Gewandfalten hineingreifen — ein
blosses Hinfassen darf wohl nicht angenommen werden^) — , so mussten fast noth-
wendiger Weise die zarten Finger bei der Zusammenfügung der beiden Hälften der
Statue absplittern. Diese Gefahr bestand nicht, wenn nach der Vollendung der
Statue nur der Rand eines dünnen Bronceschildes zwischen die fassenden Finger der
rechten und die haltenden Finger der linken Hand einzuschieben war.
Aber auch mit beiden Händen kann ein Schild wohl nicht in dieser Weise frei
uind ohne jede Unterstützung gehalten werden, wie es die Aphrodite von Melos thun
würde, wenn sie nicht entweder den Schild auf ihren linken Oberschenkel aufsetzte
oder neben sich zur Linken einen Gegenstand hatte, auf dem sie den immerhin nicht
1) 'i)elles ont ete l'une et VaiUre mutiUcs , et sont actuellement detaoMes du oorpsa. Bei Loewy
a. a. O.
2) Mit einer nur hinfassenden, nicht wirklich fassenden rechten Hand scheint V. Valentin in
dem schon angeführten Buche »Kunst, Künstler und Kunstwerke« die melische Aphrodite zu ergänzen.
Die Abbildung, die er seinem Aufsatze beigiebt, zeigt aber, wie unklar das Motiv bei dieser Ergänzung
ist. Die Hand fasst dabei nach einer ganz falschen Stelle : wenn das Gewand der Aphrodite von Melos
wirklich schon gleitet, dann gleitet es offenbar zuerst nicht an der linken, sondern an der rechten Hüfte ;
liier also oder im Schoss musste die Hand zufassen, wenn sie eine weitere Entblüssung verhindern wollte.
Die Lage des Gewandes ist allerdings bis an die Grenze der Möglichkeit ausgeklügelt, um das Hervor-
blühen des nackten Oberkörpers möglichst reizvoll zu gestalten. Man beachte in dieser Hinsicht auch
die in Wirklichkeit ganz unmöglichen, sicher am Modell zurecht gelegten Steckfalten unter der
rechten Hüfte.
7*
52 E. Kroker.
ganz leichten Schild mit dem unteren Kand aufruhen lassen konnte. Gegen die
Ergänzung, die den Schild auf den linken Oberschenkel aufsetzt, spricht vor allem
eine Vergleichung der melischen Aphrodite mit der Venus von Capua. Bei dieser
sehen wir über dem linken Knie noch die eckig gebrochene Falte, die dem unteren
Schildrand als Stütze diente. Bei der melischen Aphrodite ist nun zwar das Gewand
auf dem linken Oberschenkel sehr beschädigt, aber das kann man als sicher hin-
stellen, dass sich nirgends eine Stelle findet, wo der Schild fest aufruhen konnte.
Auch hat wohl V. Valentin richtig bemerkt*), dass man ein Bein, das etwas tragen
soll, im Knie nicht einwärts, sondern auswärts biegt oder gerade vor sich hinstellt.
Die einwärts gehende Bewegung des linken Knies der melischen Aphrodite hat mit
dem Schilde direct nichts zu thun, dient vielmehr nur indirect als Gegengewicht
gegen die zur linken Seite gerichtete Bewegung des Oberkörpers. Es muss also wohl zur
Linken der Statue ein Gegenstand gewesen sein, auf dem der Schild aufruhen konnte.
Overbeck hat einen kurzen Pfeiler angenommen^). Man könnte indess auch mit
ihm an eine Herme denken, etwa an die 1,2 m hohe Herme des Hermes, die mit
der Statue zusammen gefunden worden ist und deren Schaft nach Clarac's Angabe
»leidlich genau«^) in das Einsatzloch des verschwundenen Trägerblocks passte. Eine
Herme des Götterboten, . der die Göttinnen auf den Ida geleitete, ist neben dieser
»Aphrodite -Nike« nicht unverständlich.
Als Siegerin wird die melische Aphrodite durch den Apfel bezeichnet. Dieser
ist hier kein blosses Abzeichen der Göttin und auch nicht das Wappenzeichen der Insel
Melos, es ist vielmehr der Parisapfel, der Erisapfel, den sie hält. Ein Künstler des
zweiten oder dritten vorchristlichen Jahrhunderts — in eine noch frühere Zeit darf
die melische Aphrodite wegen der raffinirten und am Modell geradezu ausgeklügelten
Anordnung des Gewandes "*) nicht versetzt werden — kann wohl die Sage vom Eris-
apfel gekannt und dadurch den Anstoss zu einem Motive seines Kunstwerkes erhalten
haben. Zwar wird diese Sagenwendung in der alten Literatur erst sehr spät erwähnt^),
aber auf pompejanischen Wandbildern, also im ersten nachchristlichen Jahrhundert,
kommt der Parisapfel doch schon vor, und diese Wandbilder sind ja keine neuen,
selbständigen Schöpfungen campanischer Künstler oder Nachahmungen römischer
1) A. a. O., Seite 317.
2) »Geschichte der griechischen Plastik«, IP, Seite 336.
3) Vgl. Heydemann a. a. O., Seite 6 und Anmerkung 20.
4) Vgl. Seite 51, Anmerkung 15.
5) Vgl. Fränkel in der Archäologischen Zeitung von 1874, Seite 38 und Anmerkung 13.
Die linke Hand der Aphrodite von Melos, 53
Kunstwerke, sondern sie sind in Abhängigkeit von griechischen Vorbildern geschaffen
worden; ihre Anregungen stammen wahrscheinlich aus der hellenistischen Zeit. Ganz
ähnlich wie mit dem Parisapfel, steht es mit der Wendung der Sage, nach der die
Göttinnen sich vor Paris entkleidet hätten. Properz^) ist der erste, der davon
spricht, aus seinen Worten geht aber hervor, dass die Sage damals schon allgemein
bekannt gewesen sein muss. Bei seinen römischen Vorgängern kann Properz die
Sagenwendung natürlich nicht gefunden haben, er wird sie bei alexandrinischen
Dichtern gelesen haben. Die Möglichkeit, dass der Meister der melischen Aphrodite
die Sage vom Parisapfel gekannt habe, darf wohl nicht bezweifelt werden, ja viel-
leicht sind die beiden wichtigsten Motive der Statue — die Bespiegelung im Schilde
und die Entblössung des Oberkörpers — einer litterarischen Anregung entsprungen.
Durch die Beigabe des Apfels hat der Künstler die Situation, in der er seine Göttin
aufgefasst haben will, näher bestimmt. Wir haben nicht eine einfache Toiletten-
scene vor uns, bei der ein Schild als Spiegel dient, nicht die naive Freude an der
eignen Schönheit, sondern den Triumph der Schönheit, die eben einen Sieg errungen
hat, dessen Zeichen die linke Hand noch fest umschliesst: Aphrodite erfreut sich
ihrer Schönheit nach dem Sieg über Hera und Athena. Nach dieser Richtung hin
wird wohl auch der »ruhige und stolze« Gesichtsausdruck der Statue zu deuten sein.
Nicht mit Unrecht hat man in der ganzen Stellung und in dem Antlitz der Göttin
etwas abweisendes, selbstbewusstes und siegesfrohes gesehen, besonders in den schönen
Zügen spricht sich die Stimmung der Siegerin deutlich aus: Genugthuung, Freude
und Stolz bewegen sie. Dieser ihrer Stimmung scheint mir auch die energische
Bewegung und das stolze Aufblicken von dem Schild, in dem sie sich betrachtet hat,
angemessen zu sein. Es verdeutlicht uns die tiefe, noch nicht völlig geschwundene
Gemüthserregung der Göttin über den Streit, dessen Siegeszeichen ihre Hand noch
hält. — Dass der Apfel ausserdem eine Anspielung auf die »Apfelinsel« enthalten
kann^), ist zuzugeben. Griechische Künstler haben auch sonst dergleichen mehr
oder weniger sinnvolle Anspielungen nicht gescheut, sei es aus eigner Neigung, sei
es der Neigung des Bestellers folgend. Nur müssten wir in diesem Fall annehmen,
dass der Künstler seine Statue wirklich auf besondere Bestellung hin für die Insel
Melos gearbeitet habe und dass auch die Anregung zu dem Motiv der Statue in
wesentlichen Punkten von dem Besteller ausgegangen sei. Der Schild endlich muss
wohl der des Ares sein. An den Schild der im Schönheitskampf unterlegenen Athena
1) 2. Buch, am Schluss der 2. Elegie. 2j Heydemann a. a. O., Seite 6 ff.
54
E. Kroker.
ZU denken, verbietet sich von selbst, und eine »gewafFnete« Aphrodite ist wohl eben-
falls ausgeschlossen. Wie kommt aber der Schild des Ares in diesem Augenblicke,
nach dem Sieg über Hera und Athena, in die Hand der Aphrodite? Wir müssen
doch w^ohl annehmen, dass die Göttin unterdessen vom Ida nach dem Olymp zurück-
gekehrt ist. Auch die eigenthümliche Gestalt des Trägers und die Stufe, auf die der
linke Fuss der Göttin auftritt, veeisen darauf hin, dass die Scene nicht im Freien,
sondern in einem Innenraume vor sich geht. Aber hält Aphrodite in ihrer goldnen
Wohnung immer noch den Apfel fest? Und wo hat sie da den Schild des Ares '
gefunden? Auf diese Fragen giebt uns die Statue von Melos keine ganz deutliche
Antwort. Es liegt aber in ihnen vielleicht zugleich ein Hinweis auf die Stellung,
die unsere Statue in der Reihe der sich
in einem Schilde spiegelnden Aphro-
dite-Gestalten einnimmt. Man hat
aus ApoUonios ßhodios und mehreren
Wiederholungen, an denen auch der
Oberkörper bekleidet ist, den Schluss
gezogen, dass die Aphrodite von Melos
keine völlig neue Schöpfung, sondern
die Weiterentwickelung eines älteren
Typus sei^). War- vielleicht jener uns
sonst unbekannte Meister aus Antio-
cheia am Mäander der erste, der
diesem älteren, voll bekleideten Typus
den Chiton nahm? Und suchte er diese
Entblössung durch den Schönheitsapfel
besser zu rechtfertigen, als seine Nach-
folger, die die Göttin zu einer blossen
Toilettenscene entkleideten?
Ein kleines Curiosum ist die hier abgebildete Gruppe. Die Tafel, der das Bild
entnommen ist, scheint bisher unbekannt geblieben zu sein, auch V. Valentin erwähnt
sie nicht. Nach seiner Ansicht ist die melische Aphrodite durch die » unerwünschte
nähere oder fernere Gegenwart eines Mannes bedroht«^). Der »Frevler«, der der
1) Vgl. Furtwängler in Roschers »Mythologischem Lexikon«, Seite 415.
2) V. Valentin a. a. O., Seite 233 und 246.
Die linke Hand der Aphrodite von Melos. 55
Göttin ZU nahen wagt, wird in dieser Gruppe freilich etwas sehr handgreiflich, er
kommt auch von einer ganz andern Seite her, als V. Valentin wünscht, aber die
Gruppe ist trotzdem keineswegs eine Carricatur seiner Vorschläge. Der Künstler,
dem sie verdankt wird, hat V. Valentin's Schriften gar nicht gekannt, ja was das
eigenthümlichste ist, er hat die melische Aphrodite selbst niemals gesehen, weder
im Original, noch in Abgüssen oder in Abbildungen. Er heisst nämlich Nicolaus
Raymond La Fage und ist schon im Jahre 1684, also fast hundertundfünfzig Jahre
vor der Auffindung der Aphrodite von Melos, zu Lyon gestorben. Das Buch, in
dem die Tafel mit dieser Gruppe enthalten ist, hat den Titel: »Eecueil des meilleurs
desseins de Raymond la Fage Grave jj«r cinq des plus hdbiles graveurs. Et mis en lu-
miere ^?ar les soins de Vander-Bruggen. (Paris), 1689«, La Fage benutzt auch sonst
Motive antiker Kunstwerke.
Pan als Ällgott.
Eine religionsgescliiclitliche Untersuchung
von
Willi. H. Boscher.
Mit 3 Abbildungen im Text.
Jbis ist, SO viel ich weiss, eine noch ungelöste Frage, wie, wann und wo Pan
(= nämv, d. i. »der Weidende, Hüter der Heerden«), der ursprünglich nur als »der
göttliche oder dämonische Typus eines altgriechischen Schaf- und Ziegenhirten, gewis-
sermaassen als die Verkörperung des gesammten antiken Hirtenlebens mit allen seinen
Erfahrungen, Eigenthümlichkeiten, Freuden und Sorgen« anzusehen ist*), zuletzt die
Bedeutung eines Ur- und Allgottes, oder des personificirten Weltalls im Sinne eines
Makrokosmos erlangt hat (vgl. Lob eck, Agl. p. 908 ff.). Gewöhnlich nimmt man
nach dem Vorgange Preller's und Welcker's^) an, dass diese Umdeutung des Hirten-
gottes lediglich der zufälligen lautlichen Uebereinstimmung von [6]IIdv und [t6] näv
entsprungen sei; aber so gewiss diese Thatsache zu der Deutung als Allgott beige-
tragen hat, genügt sie doch noch lange nicht, um jene auffallende und plötzliche
Umwandlung des von Haus aus so bescheidenen Hirtengottes in einen Gott des Welt-
alls zu erklären, zumal da gerade in der Zeit, der wir jene Umdeutung zuschreiben
müssen, dank der bukolischen Poesie, welche die uralten Hirtenkulte Pans neu be-
lebte, und infolge des lebhaften Interesses der Grossstädter für das Land- und Hirten-
leben das Charakterbild des alterthümlichen Hirtengottes keineswegs verwischt, son-
dern vielmehr in die hellste Beleuchtung und in den Vordergrund des allgemeinen
1) Das Nähere s. in meiner Schrift »Ueber Selene und Verwandtes«. Leipzig 1890. S. 149 fF.
2) Vgl. Preller, Gr. Mythol.'-^ 1 S. 586. Welcker, Götterlehre 2 S. 669,
Pan als Allgott. 57
Interesses, auch der Gebildeten, gerückt war. Der Uebergang des Hirtengotts in einen
pantheistischen Allgott ist eben ein so schroffer und sonderbarer, dass die falsche
Ableitung des Namens Tläv vom Adjectivum jräg — die übrigens schon längst zieni-
lich populär war'), ohne dass sie vermocht hätte, die volksmässige Auffassung des
Hirtenpan irgendwie zu trüben ■ — durchaus nicht ausreicht, um eine so fundamentale
Wandlung begreiflich zu machen, dass wir vielmehr nach weiteren und wirksameren
Erklärungsgründen dafür forschen müssen.
Im Folgenden soll nun vor Allem die Identificirung des griechischen Pan mit
gewissen schon in sehr alter Zeit pantheistisch gefassten Göttern der Aegypter als
die eigentliche Hauptursache jener allegorischen Umdeutung und Umwandlung des
altarkadischen Hirtengottes nachgewiesen werden; ehe wir aber diesen Nachweis
unternehmen, müssen wir uns über die hier in Frage kommenden thatsächlichen
Zeugnisse der Griechen selbst einigermassen klar zu werden suchen.
Das erste und wichtigste historisch beglaubigte Zeugniss für die Auffassung
des nüv als to tt«?^ findet sich bei Cornutus, einem Zeitgenossen des Nero und
1) Hom. hy. in Pan. v. 47 : Tläva öe ^nv '/.alesayiov [adävccvoi], ort, rpQsva tcüolv sreqxpe.
Plato Kratyl. 4ü8^ 2£i. Kai rö ys thv Jlciva tov "Eqf.iov eivai vlov öicpv!] exEi to evAÖg, u
sTaiQB .... Ola&a o-vi b löyog to itav m^iaifsi ■kciI -/.vkIsI -/.al nolel aei, '/.al ecrrt öi7clovg,
älrj-d-ifjg ve "/.al ipevdrjg .... Odzovv to fisv ah]Seg avtov Xslov v.al SsZov y,ai uvio oh.ovv Iv
■volg S-eolg, tb öe ipevöog -/.ctTto Iv tolg TtoXXolg rüv avd-qwjtiov %al rqayv v.al rQayux.6v evvav&a
yaq TtlelOTOi ol (.ivd-oL Te yial tu ipsvöt] kaxi, rteql tbv ■TQayizbv ßiov .... ^Oqd-üg üqu b jtäv
/.irjvvcüv zal ael tvoIiuv TLav aljcolog sYrj, öupvrjg '^Eq/.iov vlog, ta f.iEV livwd-EV Xslog, tcc öe
■Aatw&ev TQayjbg Kai TQayoeiörjg. '/.al eariv r'jToi löyog rj iSyov aöelcpbg b Häv, eirteQ 'Eqi-iov viSg
eOTiv' döeXcpqi öe eoiKevai aöeXcpbv ovöev ■davj^iaaTÖv. Dies ist, soviel wir wissen, die erste i^hilo-
sophisch-allegorische Deutung des Ilav, die, wie es scheint, später auf den Stoicismus nicht ohne Ein-
fluss gewesen ist (s. unten). Schliesslich brachte man den Namen Ilav auch mit der zuerst von Duris
(b. Tzetz. z. Lykoplir. 772) und Lykophron (a. a. O.) bezeugten Sage zusammen, dass P. der Sohn der
Penelope und aller Freier [jtctwiov tüv f^ivrjat^Qtüv) gewesen sei. Vgl. Schol. Theoer. 1,3 rbv
Häva . . . Xeyovaiv vlbv ürjveXÖTCrjg [== dor. TLaveXÖTtag] y.al itäv%iov 'cCov [.ivrjavrjQCüv zal
öm TOVTo Xeysa&ai -Aal Iläva. Ebenso Schol. z. Theoer. 7, 109. Schol. Opp. Hai. 15. Et. M. 554,
44. Gregor. Naz. or. III t. 1 p. 8 ed. Par. 1609. Serv. z. Verg. A. 2, 44. Eustathios Od. p. 1435,
50. — Wahrscheinlich hängt dieser Mythus mit der von Paus. 8, 12, 5 f. berichteten Lokalsage von
Mantineia zusammen. In der Räthselsprache der Theokriteischen Syrinx (v. 5) wird JJäv durch olov er-
setzt ; vgl. auch Sext. Emp. adv. grnmm. § 314.
Postaclirift ITir Ovorlieck. 8
58 Wilh. H. Roschev.
eifrigem Stoiker, der sich in dem Kapitel über Pan (27), wie auch in andern Ab-
schnitten seines Werkes, an die schon von früheren Stoikern, namentlich von Chry-
sippos in dem Buche nsijl -Oecav, ausgesprochenen Ansichten angeschlossen haben
wird'). Nach Cornutus ist Pan identisch mit dem All (tm navrl o uvrög Eart"^). Seine
untern Extremitäten sind rauhhaarig [läaia) und bocksgestaltig [TQayädif), weil sie die
Eauhheit oder Unebenheit der Erdoberfläche (t?}*- t?/s p^g äuami^ra) bedeuten'*); sein
Oberleib dagegen ist menschlich («7^i9()Cö7r6/fo^of/)os), weil der Aether, d. i. der oberste
1) Vgl. Osann-Villoison in der praefatio zu seiner Ausgabe des Cornutus p. XXXIX und
Zeller, Philos. d. Griechen2 III, 1 S. 300 ff. Susemihl, Gesch. d. gr. Lit. in d. Alexandrinerzeit I S. 80
Anm. 336. Diels, Doxogr. S. 545. Dass in dem Abschnitte über Pan (o. 27) in der That Ansichten
älterer Stoiker mitgetheilt werden, geht schon aus der indirecten Hede zu Anfang des Kapitels deutlich
hervor; vgl. die Ausgabe von Osann S. 144 und 148. Ausserdem wissen wir aus dem unverdächtigen
Zeugniss des Mythogr. Vat. III 8, 2 (p. 200 ed. Bode), dass bereits Varro, der bekanntlich dem stoi-
schen Pantheismus huldigte (s. Zeller a. a. O. S. 301, 3 und Preller-Jordan, Rom. Myth. l
S. 35 f.), Pan als deus naturäe und als onine deutete: vgl. Mythogr. Vat. III. a. a. O. : Pan igitiir^ ut
dicil Varro, qui denruni tractat i}otosiatcs et naturas , deus est naiurae^ et interpretatiir oinne u. s. w.
(s. unten !).
2) Vgl. dazu folgende Parallelstellen: [Aristot.] probl. ined. 1, 17: aKOve de 'Aal TteQi tov Uao'dg
üri, ßoiilovvai avrhv eivat. th jcäv tov y.öa^iov. Varro b. Mythogr. Vat. III (oben Anm. 4 ; vgl. auch
Serv. z. Verg. Ecl. 2, 31 u. z. Geo. 1, 16 ed.Lion. Probus ebenda II p. 357. Mythogr. Vat. 1, 127.
Isid. or. 8, 11, 83. Albric. de deor. imag. 9). Schol. Opp. Hai. 3, 15: leyszai Ilav ällrjyoQiy.üig
fCUQcc To EOizevat tio -Maf^ut}. Schol. Theoer. 1, 3 oi öh Xeyovat, öia tovro Tlav, oxi Tfjg wqag [?]
lax). arji.iElov, TowiaTo tov itavTog. odsv "/.VQicog ixqoaayoQE'iJE-rab Häv. Hier ist wohl mit Dübner
(zu der Stelle) statt des unverständlichen wqag zu lesen acpaiqag [oder (poqäg oder vh]g oder (pvaEwgi\.
Vgl. [Aristot.] probl. ined. 1, 17: jrscptlrjKsvai ds ■vtjv 'li%üy tcoSeZ yaq jj ovqavLa acpalqa vrjv
Evaq[.ioviOV v.itn]aLV', ebenda wird von der ■/.ivovj.iivt] acpalqa und von der äEi-/.ivrjaia T/^g (poqäg
gesprochen. Porphyr, b. Euseb. praep. ev. 3, 11, 27 : tov öh jcavTog vbv Jläva avj.ißoXov edevTo. Vgl.
ebenda kurz vorher: Eq(.i6icav öh b hv rtp Ttavtl [aivderog Xöyog; s. Plat. Kratyl. ob. Anm. 3].
KaTcc 7tC(VTCüv yaq b aTCEqf.icciiv.bg ticd 7ton]Tiyi6g. Macrob. S. 1, 22, 3: /nmc deum Arcades colunt
appellantes tov Trjg vXiqg v.iqiov non silvarmn dominum sed universae substantiae niaterüdis dominatorem
significari volcntes.
3) Zeller a. a. O. S. 310 versteht (wohl unrichtig) unter öaaiiTrjg die »Dichtigkeit« der Erde.
Vgl. übrigens auch die ähnliche allegorische Deutung bei Piaton im Krat)'los (oben Anm. 3). Parallel-
stellen: Varro b. Mythogr. Vati III, 8, 2 (vgl. I, 127 und Serv. V. Ecl. 2, 31): Inferior eins pars Mspida
propter arbores , virgulta, feras [herbas?] vgl. Serv. z. V. Geö. 1, 16 ed. Lion. Schol. Opp. Hai. 3, 15
MyETCii Ilav eoizevai, wp y.6ai.i(i) . . . y.ciTcc de va a-/.eh] t^ yfj öia ro öaah füv 'cqiyfov. Schol.
Theoer. 1, 3: tu öh zäru Xäaia [aicoiiif.ii'ii.uc] twv ifjg yfjg f^tsq&v \dqCüi>T\ xal tüv Iv avTfj 7tE-
(pvaoTLüv . . . '/.al T« 'aÜtio, rovriarL -voitg j.ii]qovg öaaelg , arii.iaivovTag Tovg vXwÖEig TOTtovg' y.al
%a y.ÜTio tqayßa ari^iaivovTa tüv öqiüv ta tqayja. Albricus de deor. im. 9: femora . . habebat de-
nudata cum herbis et arborilus jj^'odeuntihis ex eo. Etwas anders [Aristot.] probl. ined. 1, 17: E%Et öh
y.al TU aCüj.iu . . . %o . . y.mio 'jrqoßaTOEiöeg, öiöti '/.al tov -/cavTog . . to . . y.äTU) [/.lEqog /rsqiExsc
övvcci.iEi.g] aXoyovg. Vgl. Zeller a. a. O. S. 170 f. und die einigermaassen ähnliche Auffassung bei
Piaton Krat. a. a. O. (oben Anm. 3).
Pan als Allgott. 59
Theil des Alls, als der Sitz des leitenden Princips, der Vernunft (to iiymovimv roxi
y.6a/.iov, ö dij Ioyiy.öv tOTi) gefasst wird'). Die Geilheit und der Zeugungstrieb Pans
wird aus der Unmasse von GTreQ/naTixoi loyoi, und der aus der Mischung dieser her-
vorgehenden Dinge im All abgeleitet^). Der Aufenthalt des Gottes in Einöden (to
Iv TUii- i^jj/ioie d'iuTQißeiv) erklärt sich aus der Einheit oder Einzigkeit [(.lovotrig) des
Weltalls, denn ausser dem All existirt nichts''). "Wenn Pan den Nymphen nach-
stellt [rag. Ä'v/iiq)ug öicöaei), so wird dadurch allegorisch die Thatsache ausgesprochen,
dass das All nur mittelst der feuchten Ausdünstungen der Erde {ratg sa yfjg vyqalg
ccvadvf.udGeGiv , cop %mQh ovd' oiöv t iarip ainov mivtoTävai) bestehen kann*); das
fortwährende Tanzen und Springen (to o-Mqtrfci'mv vmI Tnjdijriitöv) des Gottes dagegen
bedeutet die ewige Bewegung des Weltalls"^). Die Buntheit des Sternenhimmels
(v) noiKiXiu Tcov aGTQwv) und die Farbenpracht des Alls (»J noiziUa riov äXlwv %()oi[.iaT:(.ov)
wii'd durch die bunte Nebris oder das Pardelfell bezeichnet, welches Pan zu tragen
pflegt**). Als Syrinxbläser [GVQmtriQ) wird er gedacht mit Bezug auf die verschie-
denen Winde, welche das All durchwehen {dm to vno tüccptoicov dvejimv öianvsiGd-cu'').
1) Parallelstelle: [Aristot.] probl. ined. 1, 17: 'i'/^ei de "Acd 1:0 a(x)f.ia öupveg, vb f.iev cevu) äv&Qco-
rrosideg . . . di6%'t Kai tov Ttavros to .(.lev avco jieQog 7teQie%ei, loyixovg [-ag] dvväf.iEig. Vgl.
Zeller a. a. O. III, 1 S. 124, 4.
2) Hinsichtlich dieser echt stoischen Anschauung vgl. Zell er a. a. O. S. 146 f. Eine Parallelstelle
hierfür habe ich bis jetzt nicht finden können.
3) und 4) Parallelstellen kenne ich nicht.
5) Vgl. [Aristot.] 2^robl. ined. 1, 17: i-irj ■^Qej.ieZv de Tfj at&aet ödx rrjv aEi-/.ivrjalc(v T/Jg rpoqäg
zat tijv Qevartjv (pvaiv Tfjg vltjg.
6) Macrob. Sat. 1, 18, 22: iieni Or^iheus Liberum atque soleni ummi esse deimi eundemque de-
monstrans de ornatic vestituque eius in sacris Liboralihus ita scribit (vgl. Abel, Orphica fr. 152. Lobeck,
Aglaoph, 1 p. 371 f.) : v. 5 avtaq VTCeqdE veßqolo TtavaLolov evQh yiad-äipai |J öeQfia TtolvatUrov
drjqbg yia^a öe^ibv iOf.iov \^ (iarqav öaiöalstov i.d(.irj(.i leqov te n 6X0 10. Varro b. Mythogr.
Vat. III, 8, 2 (= I, 127, Serv. V. Ecl. 2, 31): in pcciore nebridem habet stellatam ad stellanmi imaginem.
Vgl. auch Isid. or. 8, 11, 83. Prob. u. Serv. z. Verg. Geo. 1, 16 Lion und Albricus de deor. imag. 9.
Sehol. Theoer. 1, 3: rb de itäqdaXuv ivficp&ai vfjg yrjg [affrQiKfjs Dübner] cpavtaaiag slvs'Aa. Por-
phyr, b. Euseb. pr. ev. 3, 11,27: tj^v de veßqiäa [o'O^ißoXov] vciv zwv ovqavbv aareoiov 1) tfjg
■tov Ttavtbg TtoL-uUag. Diod. S. 1, il cpctal de viveg xat tb evcc^i(.ia avtüj [tili JiO'viacj] rb Tfjg
veßqldog a7cb Tjjg twv aatqiov TtoiKiliag TtsqtfjcpHat.
7) Schol, Theoer. 1, 3 : Tip' öe avqiyya twv ev t(Ji ■/.öai.Ki) nvevf.idtiov fiifii^aiv eivai. ib. xfi
ö^ aXh] [xsl-ql exet] vrjv G'itqiyya ar]f.iaLvovaav to'hg avej.iovg. Macrob. S. 1, 21,9 (vgl. 1, 22, 4):
fistula ordinem spiritus inaequalis ostendit. Serv. V. A. 1, 16 Lion. Anders Varro a. a. O, fisiulas habet
sejjtcm oalämorum jiropter harmoniam caeli in qua sejjtem soni sunt. Nach Anderen (vgl. Macrob. S. 1, 22, 7.
[Aristot.] probl. ined. 1, 17) bezieht sich die Sage von der Liebe Pans zur Echo auf die Sphärenharmonie.
Einer verwandten Vorstellung begegnen wir beim Schol. Theoer. 1, 3 (vgl. Schol. Opp. Hai. 3, 15), der
.8*
60 Wilh. H. Röscher.
"Wenn Pan endlich mit zwei Hörnern {y.f(JC(GTiig) und mit gespaltenen Ziegenhufen
{dlxijlog) dargestellt wird, so bezieht sich dies theils auf seine Eigenschaft als ml-
oxoTTog Tcov äyslukov Ogifi/LiäTaiv, theils soll dadurch (d. h. durch die beiden Hörnei')
die Zweiheit der beiden Plauptgestirne , d. i. Sonne und Mond, angedeutet werden
(Tüf%« Ö£ rö diTTOV rmi' s^£%6vtiov avtm [cod. Par. 4 sv avtif] (pmrmv [die Hdschr. bieten
hier das mir unverständliche cotcop] aifiTTÖ/nsvoi) ^) . Zu diesen allegorischen Deutungen
bei Cornutus kommen noch einige andere wahrscheinlich direct oder indirect auf
stoischen Einfluss zurückzuführende, welche sich auf die %cdavQoyj des Pan^) oder
auf sein rothgeschminktes Gesicht'') oder auf die Legende von seinem Ringkampf
mit Eros beziehen*). Endlich ist noch auf zweierlei aufmerksam zu machen, erstens
darauf, dass die Stoiker auch Eros, Atlas, Priapos und vor allem Zeus ebenso wie
Pan als ö},og 'Aoa/iiog gedeutet haben (vgl. Cornutus ed. Osann p. 143. 144 ff.
152 f. Zeller a. a. ü. S. 303, 1 ff.), zweitens dass der Stoiker Kleanthes, welcher
die Sonne als Sitz der weltbeherrschenden Kraft fasste^), demgeraäss Pan als Sonne
erklärt zu haben scheint. Wahrscheinlich ist die genauere Ausführung dieser Allegorie
bei Macrobius (Sat. 1, 22, 1 ff.), die durchaus stoischen Geist athmet, nur eine
üebersetzung aus Kleanthes. Die Absicht, welche die Stoiker bei ihren allegorischen
Auslegungen altmythischer Göttergestalten leitete, war natürlich keine andere, als
die y.aTa ty iö eg und alle plötzlichen Luftveränderungen in der Wolkenregion, wie es scheint, zu den
Bocksbeinen des Pan in Beziehung setzen will.
1) Dass meine durch Conjectur gewonnene Lesart cpcovcov richtig ist, scheint mir aus folgenden
Parallelstellen hervorzugehen : Varro a. a. 0. /labet . . . cornua radionmi soUs et cornuum liinae similia
(vgl. Isid. or. 8, 11, 83). Schol. Opp. Hai. 3, 15 XifSTai, Tlav äll')]yoQi,y.ä)g Ttaqa to eor/.ei'at. 'cqi
y,6af.i(i) y.ara (.lev rh neqaTU rjXLoj y,al aElrjv>]. Porphyr, b. Euseb. pr. ev. 3, 11, 27: Ta (.lev zsQara
ööweg O'dj.ißoXa tjHov '/.al aeXrjvrig. Serv. z. V. Geo. 1, 16 Lion. Schol. Theoer. id. 1, 3: yial th
(.iEV Tiüv xBqätcov tt7tof.di.irji.ia rjliov y.al ßeXrjvrjg. Etwas anderes [Aristot.] probl. ined. 1, 17. Dass
(jptüg und h^e%etv oft von Sonne, Mond und Sternen gebraucht werden, lehren die Lexika. Das hand-
schriftlich überlieferte lonov giebt m. E. weder einen vernünftigen Sinn noch lässt es sich meines
Wissens durch irgend eine Parallelstelle rechtfertigen.
2) Varro a. a. O. curvam ergo y.aXavQOTCa hahet, id est jiedtmi, quia annits intra se recurrit. Wenn
Schol. Theoer. 1, 3 sagt: e%ei de zat tfj fiiif %Eiql th ÖQETtavov \f\, .arjj.ialvov t»;v EQyaalav, so hat
dafür wohl ursprünglich qöjtaXov in der Vorlage gestanden. Vielleicht hat auch das öqhtavov in der
Hand des ebenfalls als Allgott gedeuteten Priapos (Cornut. p. 154 ed. Osann) hier eingewirkt. .
3) Varro a. a. O.; vgl. Serv. Verg, Ecl. 10, 27.
4) Varro a. a. O.; vgl. Albricus de deor. im. 9.
5) Zeller a. a. O. S. 125, 1. Susemihl, Gesch. d. gr. Lit. in d. Alexandrinerzeit I S. 64
Anm. 224. Vgl. über die hervorragende Stellung des Helios in der älteren (orphischen?) Poesie Gruppe,
Die rhapsod. Theogonie. Jahrb. f. cl. Philol. Suppl. Bd. XVII (1890) S. 707.
Pan als Allgott. 61
die Kluft zwischen der älteren und einer von ihr wesentlich abweichenden neuen
Bildungsform zu überbrücken, indem man die eigenen Ueberzeugungen für den eigent-
lichen Sinn des Volksglaubens ausgab und dabei im Allgemeinen voraussetzte, die
ersten Urheber des letzteren hätten auch für ihre Person diesen Sinn hineingelegt
(Zeller a. a. O. S. 300 Anm. 1).
II.
Aber nicht bloss bei den Stoikern finden wir die pantheistische Auffassung
Pans als Allgott deutlich ausgesprochen, sondern ebenso auch in den Orphischen
Gedichten. Diese Thatsache ist für uns deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil
sie uns lehrt, dass die pantheistische Ausdeutung des ursprünglichen Hirtengottes
keineswegs auf den engeren Kreis der philosophisch Gebildeten beschränkt geblieben,
sondern auch in eine breitere Volksschicht, auf welche die orphischen Gedichte un-
zweifelhaft berechnet waren, eingedrungen ist. Ohne uns zunächst auf die Frage
nach der Herkunft der orphischen Auffassung des Pan als Gott einzulassen, be-
ginnen wir auch hier wieder mit der Aufzählung und Interpretation der überlieferten
Zeugnisse.
a) Nach Orph. fr. 36 und 48 ed. Abel (=; Damascius, Qiiaest. de jmm. princ.
p. 381) stimmte die »rhapsodische« Theogonie mit der sogen. Theogonie des Hellani-
kos und Hieronymos in folgendem Gedanken überein:
ravTijg dt Trjg T^h^jq TQidd'og tov tqItov ütov zai {jös i] dtokoyi'u r/^coröyo-
vov avvj.ivsl aal /IIa '/.aXtl nccvTav d laruxroQa zal Ökov tov z6a/.iov, äio
nal IJava %aXel aOai^),
wozu Damascius hinzufügt: Toaavrij y.ai avri] ntfl rcov voijTmv üqxwv ?} ytrialoyla
naQiGTiiGiv.
Wir ersehen aus diesen Worten, dass der pantheistische Zeus oder Protogonos
der orphischen Theogonie, der nach den unmittelbar vorausgehenden Worten eine
gewaltige, in mannigfache Thiergestalten sich verwandelnde Schlange auf dem Haupte,
1) Derselben Identificirung von Zeus und Pan begegnen wir noch im Hy. 11 v. 12 (s. unten!) und
wohl auch in Fragm. 161 Abel: Zehg 6s re 7cäi>Tiov eaxl -dsog Ttävtiov ts y.EQaaT"qg, || nve'ijf.iaa l
avQitiüV x«i cptovaig rjEqoi.iiy.TOis (vgl. hinsichtlich des in jTVBVi.iaat avQ. enthaltenen Gedankens hy.
34, 25 und die Allegorie der Stoiker oben Anm. 13).
62 Wilh. H. Röscher.
goldene Elügel aji den Schultern und Stierköpfe an den Hüften gehabt haben soll'),
als Ordner des Alis auch Pan genannt worden ist.
b) Ein zweites wichtiges Zeugniss für die pantheistische Deutung des Pan ent-
hält der elfte Hymnus, in welchem die volksthümliche Auffassung des Gottes mit
der pantheistischen in so merkwürdiger Weise gemischt erscheint, dass wir ihn voll-
ständig hierher setzen müssen, doch so dass die pantheistischen Stellen im Drucke
deutlich hervortreten.
Iluva KuXS) K()aTi:()6v, vofuop, zöoftoto ro av/.inuv,
ovQavov i]()ii Odkaaaai' id't %0ov(', irrc^tßaaiXeiav
zal nvQ ä-DävaTOV ■ Triöu yä() (.il/ki sarl ra Ilavög"^).
sldt, f.iäyM.p, G'MQTijtä, 7T6gi'd'QOfi6^^), GvvOqovoc, "Hquii;,
5 aiyof.ifXi'c, ßaK^ivrä, (pdt'vdsog, claTpodiuiTt'^),
c(()/ii,ovi7jV nöa/ioio KQiicav'^) cpiXonalyj.iovi, jiioliifj,
(pavTaaicov tnaQOjys cpößcov r tannyXe ßpoTeiav^) ,
uiyov6f.ioig %uIqo}V ava TTi'danag ijdt re ßovrui.g,
tvGüonn, ■OijQijTi^q, H%ovg (pih, Gvyxo^e vvpxpav,
1) Schon hier mache ich darauf aufmerksam, dass dieses unnatürliche und plastisch oder malerisch
überaus schwer darstellbare Bild schwerlich echtgriechischer, sondern wahrscheinlich ägyptisch-orien-
talischer Phantasie entsprungen ist, Uebrigens vgl. auch die orphische Theogonie des Athenagoras
(c. 18 p. 84 f. Otto), welche nach Gruppe, Die griech. Culte etc. S. 635 mit der Theogonie des Hel-
lanikos und Hieronymos identisch ist: tjv yccQ vÖcüq aQyri . . . TOig oloig, aftb de tov vdatog iliig
■/.aveav)], £■/ öe hy.wveqiov lyEVvqd-rj tdov ÖQccy.ioo', tc Qoaitscpv/.vlav e%iüv -/.ecpahrjv leowog
[zal allrjv lavQov], öia /.leaov öe avxCov deov TtqöaioTtov, ovo[.ia 'liQCi-/.?S]g zal Xqdvog [= Kqövog].
Ottog ö '^Hqay.XfjS eyevvrjaev VTCEQf.ieyeS-eg loöv u. s. w. Vgl. die Parallelstelle bei Dieterich,
Abraxas S. 132 f. Die Schlange auf dem Haupte u. s. w. erinnert an ägyptische Göttergestalten; siehe
Brugsch, E.el. d. alt. Aeg. S. 519. S. jetzt auch Maxim. Mayers Art. Kronos in Roschers Lex. d.
Myth. 2 Sp. 14Ü5 f.
2) Hinsichtlich der orphischen Lehre von der Vierzahl der Elemente, die wahrscheinlich aus den
religiösen Systemen des Orients (und Aegyptens?) stammt, s. Gruppe a. a. O. G51. 6G0.
2b) Vgl. Hom. hy. in Pan. v. 8 ff. Theoer. 1, 123 ff. 7, 111 ff. etc. Freilich könnte sich
7CeQldQO/.iog in diesem Falle auch auf die Identificirung des Pan mit Helios (Orph.hy. 8, 14 -/.daf-iov
ro 7teqLdQO(.iov oi.ii.ia) beziehen; vgl. auch Orph. Frgm. 7, 26 lierm. u. oben hy. 11 v. 11.
3) So die Handschriften; Hermann und Abel schreiben statt, dessen avxQOÖiatte-, wogegen
schon aVTqo%aqeg v. 12 spricht, was dann eine lästige und auffallende Wiederholung desselben Ge-
dankens sein würde. Oder sollte v. 5 avTQoöiaize, v. 12 aorQO%aQeg zu lesen sein? Zum Verständniss
von aargoötaiTe vgl. meine Bemerkung in den Jahrb. f. class. Philol. 1892, S. 474, Anm. 21.
4) Dieselbe Vorstellung von der Sphären- oder Weltharmonie kehrt wieder Orph. hy. 34, 16 ff.
Herm. Vgl. auch oben Anm. 13.
5) Dies bezieht sich offenbar auf Pan als Sender des panischen Schreckens; s. unten v. 22 f.
und Röscher, Selene und Verwandtes S. 157 f.
Pan als Allgott. 63
10 navTOcpvtQ, yeviroQ iraVTcov, noXvwvvfie da'ij.iov,
noa/LtoHpccTroQ, civ^ijTcc, (pusafpögs, aä^nifie üaiüv^),
üvTQoxaqtQ^ ßaQvf.iijvig, c(X7]{)->jc Zsvg 6 5«£()«gt?/' g^).
aol yuQ üneiQt'aiov yahjg ntöop sanj^/xTui,
ei'y.ti d' äy^uficc-rov n.övTOV ro ßadvQQOov vd'o^Q
15 'JizsavÖQ TS TTSQis ivl vdaai- yaiav ifJaooov,
ijt^i.öv rs /.it'^'iafiu t^o^)?/?, ^woigiv avccva ua,
Kai zo()V(pi]Q iipvTTtQOev sXaipQOTÜTOV nvQog ofifia'^).
ßalvti yäq tkö's Qtia noXvy,()iTa ai]Giv t(p£T /ii a?g'
uXXu(>r>£ic. dt (pvGf/g ttuvtwv ruig aya/- jiQovoluig
20 ßöazav dvd qwtkov ysvsfjv hkt' ansl^ova kÖgjliov.
«AA« f-iäzuQ, ßay.%tVTu, (pilbvdes, ßaiv ml loißa'ig
ivieqoig, dya&rjv ()' onaGov ßiOTOio TiXiVTijV
riaviKov £X7rtf.t7i(ov oIgtqov inl TSQf.taTu yuhjg*).
c) Wir fügen hierzu noch v. 24 ff. aus dem 34. orph. Hymnus, in dem Apollon
als kosmischer Sonnengott (vgl. cpcoGcpö^s v. 5, TiavdeQyJg tyrnv (pf(eGi'f.ißQOToi> öfifia u. s. w.)
gepriesen wird:
i'i'Osv imo'fv/iii'ijv Ge ß^OTol Y.hj^ovGiv ävaxTa,
flava, Oeov d'/xtQon, dväfiwv GVQiy/iiaß' livra''').
ovvey.a nuvrog tysig y.oG/iov G(pQi]yida TvnmTiv^].
1) cpaeacpüQe •jICIqtcii-IS U. erklärt sich wohl am besten aus der Gleichsetzung mit Helios (==:
Horus?); vgl. hy. 8, 12 und oben Anm. 18. In Betreff der Gleichsetzung von Chnum (::= Pan) und
Horus s. Drexler im Lex. d. Myth. 2, 1258.
2) Vgl. über Zeus als Mischer des Weltalls Gruppe, D. rhapsod. Theogonle. Jahrb. f. cl. Philol.
Suppl. Bd. XVII S. 734 f. und Frgm. 161 Abel. KsqccaT)]g würde sich natürlich auf den gehörnten
Ammon beziehen.
3) Man beachte auch v. 13 — 17 die Aufzählung der vier Elemente: yala (v. 13), vöioQ (v. 14 f.),
ctTjQ (v. 16), 7CVQ = aid-'ljq (v. 17). Offenbar ist oi.ii.ia rcvqüg soviel wie o^ifia ald-eqog (Aristoph.
nub. 285) und ähnliche Ausdrücke; mehr bei Rapp unter Helios im Ausf. Lex. d. Mythol. I 1997.
4) Das «gute Lebensende« schenkt Pan insofern, als er den panischen Schrecken, d. h. hier die
Schrecken des Todes, die Epilepsie, schreckhafte Hallucinationen u. s. w. von dem Sterbenden fernhält; vgl.
Röscher, Selene u. Verw. S. 158 f. Anm. 656; s. auch d. Hymnus auf Zeus XX (19) v. 6 ed. Herm.
und III (2) V. 14. Mehr bei Crusius im Ausführl. Lex. d. griech. u. röm. Mythol. II Sp. 1153
(Artikel Keren) .
5) Ueber Pan als kosmischen Windgott s. oben Anm. 13.
6) Vgl. zu acpi]ylöa 'CVTrCoviv Aristobul v. 8 (Orph.fr. 2, S Herm.) j.iovvov ö" saÖQa •AÖa/.iow %v-
jctüiijv und Gruppe, Jahrb. f. cl. Philol. 1890 Suppl. Bd. XVII S. 744. S. auch hy. 64 (63) 2 ovqäviov
Nü^uov, äatQod£Ti]V, acpQ)jyiöa ör/.aii]v jcövtov % eiva}dov v.al yfjg. Erinnert der Ausdruck acpQijylg
64
Wilh. H. Rosclaer.
d) Endlich scheinen hierher noch zu gehören diejenigen Monumente, welche
den griechisclien Pan flötenblasend inmitten der zwölf Zeichen des Zodiacus darstellen,
z. B. der geschnittene Stein bei MüUer-Wiesele.r Denkm, a. K. IT T. 44 Nr. 554
= Hirt, Bilderb. Taf. XXI Nr. 5: »Vor Pan ein Stern und, am Boden, ein Altar mit
brennendem Feuer, an welchem ein Ziegenbock hinaufspringt« u. s. w. Siehe auch
Müller, lidb. d. Arch. § 387, 8. Wieseler erblickt in dem Flötenspiel des Pan eine
Anspielung auf die Sphärenharmonie und verweist dazu auf v. 6 des 11. Orphischen
Hymnus (vgl. ob. Anm. 13 u. 19), eine Erklärung, die mir viel für sich zu haben
scheint. — Aehnlich ist auch die Gemme bei Tölken, Erklär. Verz. d. antiken ver-
tieft geschn. Steine Nr. 1113 (Pan in menschlicher Gestalt neben einem Baum die
Doppelflöte blasend, in der Mitte des Zodiacus) und Nr. 1114 (dieselbe Darstellung,
um den Zodiacus 7 Götterwagen als Symbole der 7 Plane-
ten). Freilich könnte, da Helios oft vom Zodiacus umgeben
dargestellt wird, in diesen Fällen auch an die oben (Anm.
18) erwähnte Identificirung des Pan mit dem Sonnengott
gedacht werden, doch scheint allerdings gegen diese An-
nahme der Umstand zu sprechen, dass auf dem zuletzt er-
wähnten Stein der Zodiacus noch von den Darstellungen der
sieben Planeten, zu denen ja auch die Sonne gehört, um-
geben ist, so dass man, wenn Pan auch hier die Sonne
bedeutete, eine unwahrscheinliche Tautologie annehmen
müsste. Uebrigens geht aus denjenigen Zodiacus-Darstel-
lungen, welche einen rein menschlich gebildeten Pan
umgeben, mit grosser Wahrscheinlichkeit deren völlige Un-
abhängigkeit von der stoischen Lehre hervor, welche stets
nur den Ziegenpan voraussetzt.
Wie schon eine oberflächliche Vergieichung der stoischen und der orphischen
Auffassung des Pan als Allgott lehrt, ist trotz einzelner Anklänge und Berührungen
(s. d. Anmerkungen!) der Standpunkt der Stoiker durchaus verschieden von dem der
orphischen Gedichte. Während die Stoiker die echtgriechische, volksthümliche
Gestalt des alten Hirtengottes zu Grunde legen und die an dieser hervortretenden
1) Pan inmitten des Zodiacus
(nach Müller-Wieseler D.
d. a. IC. 2, 44, 554).
TVTCwzig nicht an die Formen des Weltenskulptors Chnum, d. i. des ägyptischen Pan, die dieser braucht
um damit die verschiedenen Wesen zu formen? Vgl. Brugscli, Rel. u. Myth. d. alt. Aegypter
S. 504: »Der, dessen Werke die eines nach dem Leben modellirenden Bildhauers sind« u. s.w.
Pan als Allgott. 65
Eigenschaften, die Attribute u. s. w. im Sinne des stoischen Pantheismus, d. h. alle-
gorisch, zu eridären suchen, wissen die orphischen Gedichte, namentlich die flymnen,
wie es scheint, gar nichts von einer solchen allegorischen Deutung, sondern stellen
vielmehr zwei ursprünglich völlig verschiedene Auffassungen des Pan, die altgriechische
des Hirtengottes und die pantheistisch-kosmische in geradezu auffallender Weise
nebeneinander, und zwar so, dass öfters ein und derselbe Vers beide Anschauungen
unvermittelt nebeneinander stehend zeigt. Schon dieser eigenthümliche Sachverhalt
macht nicht den Eindruck, als wenn die orphischen Gedichte in diesem Falle von dem
Stoicismus abhängig wären, sondern lässt vielmehr eher das umgekehrte Verhältniss
oder wenigstens beiderseitige Selbständigkeit vermuthen. Zwar nehmen die meisten
neueren Forscher nach dem Vorgange von Petersen an, dass der Pantheismus der
Orphiker jünger sei als der der Stoiker., und dass demnach die pantheistischen
Stellen der orphischen Gedichte entweder aus dem Stoicismus entlehnt oder von
Stoikern in dieselben hineininterpolirt seien'), doch hat neuerdings Gruppe in
seinem höchst gelehrten und durch kritischen Scharfsinn ausgezeichneten Werke
»Die griech. Culte und Mythen I S. 651 ff.« dem gegenüber auf verschiedene That-
sachen aufmerksam gemacht, die allerdings, namentlich in Verbindung mit dem soeben
geltend gemachten Grunde, eine Abhängigkeit des orphischen Pantheismus von dem
stoischen als höchst zweifelhaft erscheinen lassen. Diese sind:
a) der Nachweis entschieden nichtstoischer Elemente in den Gedichten der
1) Vgl. Petersen im Philolog. 1868 (27) S. 384 ff. — 431 und dagegen Gruppe, D. griech.
Culte I S. 555 Anm. 43; Schuster, De veleris Orph. tlieog. indole atque orig. Leipzig 1869 S. 81 ff.
und dagegen Gruppe a. a. 0. S. 652 Anm. 41; Kern, De Orplm, Ephnenidis, Pherec. theogonüs
(juaest. crit. Berlin 1888 und im Hermes 1889 (24) S. 498 ff. und die Kritik von Gruppe, D. rhapsod.
Theog. etc. in d. Jahrb. f. class. Philol. 1890, 17. Suppl. Bd. S. 728 ff. u. S. 738: »Dass der Kern [der
orph. Hymnen] stoisch sei, dass ein Mythos in specifisoh stoischem- Sinn umgewandelt oder gar erfunden
worden sei, hat bisher Niemand auch nur zu behaupten gewagt. 'Uebereinstimmungen mit der stoischen
Lehre finden sich zahlreich, aber immer nur da, wo die. Stoa sich an die Lehren des siebenten
und sechsten Jahrhunderts anschloss«. Nichtsdestoweniger behauptet noch Dieterich, Abraxas
Leipzig 1891 S. 82 ff. u. 84, 1 erhebliche stoische Einflüsse in den orphischen Gedichten nachweisen zu
können; vgl. auch dessen Schrift De Orph. hymn. cap. Y. Marburg 1891 (mir unzugänglich), worin
nach Lud wich (Berl. Philol. Wochenschr. 1892 S. 1384) der Nachweis versucht wird, dass das orphische
Hymnenbuch an der Küste Kleinasiens undAegyptens [»prope Alexandriamif p. 24) im 2. oder 1. Jahr-
hundert V. Chr. entstanden oder redigirt sei; (Vgl. auch Gruppe, D. gr, Culte etc. S. 554 Anm. 43. S. 556,
der darauf hinweist, dass auch gewisse ägyptische Hymnen ebenso wie manche orphische aus lauter
Gottesnamen bestehen. S. 556 Anm. 44, 557). Weitere Literaturangaben s. b. Susemihl, Gesch. d.
griech. Litt, in der Alexandrinerzeit I S. 375 ff. u. 896 f. S. auch Zeller, Philos. d. Gr. P S. 51 f.
und 81 ff.
PestBclirift für Overbock. 9
66 Wiih. H. Rosclier.
jüngeren Orphiker, z. B. die Vorstellung von den aus dem ürfeuer in die gesonderte
Welt herabträui'elnden Seelen, der Gedanke, dass sämmtliche Gestirne unserer Erde
analoge Weltkörper seien u. s. w. (Gruppe a. a. O. S. 652 f.; vgl. S. 555);
b) die vielfache Uebereinstimmung orphischer Ideen mit ägyptischen') (und
orientalischen) Vorstellungen, z. B. hinsichtlich eines primitiven Pantheismus (Gruppe
S. 491 ff., Brugsch, Eel. u. Mythol. d. alt. Aeg. S. 95ff.), hinsichtlich des Mythus von
der Zerreissung eines Gottes (Zagreus, Osiris, Horus) , die in der orphischen Mystik
dieselbe Kolle spielt wie in der ägyptischen Religion (Gruppe a. a. O. 639 u. 659),
hinsichtlich der Theorie von der Entstehung des Alls aus Schlamm und Wasser (a. a.
O. 658 ff.), der Lehren vom Weltei (Wiedemann, Herod. 2. Buch S. 397; v. Strauss,
D. altägypt. Götterglaube I S. 371; Brugsch, Eel. d. Aegypt. S. 101, 161, 168 ff.),
von der Vierzahl der Elemente (Gruppe a. a. O. 660, Brugsch, S. 28 f., 198 ff.), von
der Wiedergeburt des Menscheai und des Weltalls (Gruppe a. a. O. 661) u. s. w.
III.
Wir sind nunmehr an dem Punkte angelangt, von dem aus es möglich ist,
den pantheistischen Pan der Orphiker mit den beiden seit Pindar und Herodot mit
dem griechischen Pan identificirten ägyptischen Göttern Mendes und Chnum in
Verbindung zu setzen.
Die Ansätze zu einer pantheistischen Auffassung einzelner Götter in der ägyp-
tischen Religion reichen in eine unvordenkliche Zeit zurück. So sagt z. B. der
vorsichtige A. Wiedemann, D. Rel. d. alt. Aegypter S. 167: »Vorstellungen von
dem Aufgehen des Gottes im All oder richtiger vom Aufgehen des Alls im Gotte
sind in Aegypten uralt'^), sie finden sich bereits in den Pyramidentexten auf den ver-
götterten Todten übertragen und in der allermateriellsten Weise ausgeschmückt« u.s. w.
1) Schon die Alten scheinen den Zusammenhang der orphischen und der ägyptischen Religion
klar erkannt zu haben, wie sich aus der sehr verbreiteten Tradition ergiebt, dass Orpheus in Aegypten
gewesen sei (Lobeck, Agl. 239 ff.).
2) Vgl. auch Ed. Meyer im Lexikon der Mythol. I Sp. 285 unter Ammon: »Erst als die Dyna-
stien der Pyramidenbauer ins Grab gesunken waren, etwa gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr., mit
dem Regierungsantritt der 12. Dynastie, wurde Theben die Hauptstadt des Landes. Damals waren
die religiösen Anschauungen bereits völlig von der monotheistischen [= pantheistischen]
Geheimlehre beherrscht, nach der alle Götter nur Namen oder Formen des Einen uranfäng-
lichen und ewigen Sonnengottes waren. S. auch Wiedemann, Rel. d. alt. Aeg. S. 62.
Pan als Allgott. 67
Unterstützt wurde diese pantheistische Ausdeutung der einzelnen bedeutenderen Götter
durch die, wie es scheint, ziemlich alte Vorstellung von dem unbekannten, hinter
den sämmtlichen Naturerscheinungen verborgenen Weltgeiste, ,dem einzigen Gott',
dessen Glieder die Welt sind', dem , Vater aller Götter', dessen Emanationen oder
Offenbarungen die Einzelgötter sind, die daher leicht mit dem grossen unbekannten
Gott identificirt wurden^). Ganz besonders häufig sind nun Amon und die beiden
anderen Widdergötter (= Pan) Chnum und Mendes mit diesem Weltgeist identifi-
cirt worden. Von Amon bezeugt das auf das Unzweideutigste liekataios von
Abdera, der Zeitgenosse Alexanders d. Gr. (bei Plut. de Is. et Os. p. 354) mit den
Worten: rbv ngcorov dsov Tm navri top avrov vof.iiSovGiv, eine Nachricht, die durch
verschiedene Hieroglypheninschriften, namentlich durch einen aus der Perserzeit
stammenden Hymnus an den Wänden des Tempels der Oase El-Chargeh (Wiede-
mann, D. Rel. d. Aeg. S. 167) bestätigt wird. Hier werden den sogenannten Ele-
mentargottheiten u. A. folgende Worte in den Mund gelegt: »Die Götter grüssen
seine königliche Majestät als ihren Herrn, der sich in allem, was da ist, offen-
bart, und dessen Name in allem ist, im Berge wie im Strome. Das was in
allen Dingen bleibt, ist Amon. Dieser königliche Gott war von Anfang an; er
ist Ptah, der grösste unter den Göttern .... Du bist der Herr, Dein ist das König-
reich des Himmels, und die Erde gehorcht Deinem Willen. Die Götter sind in
Deiner Hand, und die Menschen liegen zu Deinen Füssen. Welcher Gott ist Dir
gleich? . . . Su, Tefnut, Nut und Xunsu sind Gestalten, die Du annimmst, sie wohnen
in Deinem Heiligthume . . . Du bist Mentu-Ra, Du bist Sokaris, Du verwandelst
1) S. den Nachweis des primitiven Pantheismus in der ägyptischen Religion bei O. Gruppe,
Die gr. Culte und Mythen etc. I S. 491 Anm. 8 und S. 492 — 494, bei Ed. Meyer, Gesch. d. Alt. I
§ 92. 93. 94. 115 und bei Brugsoh, Rel. u. Myth. d. alt. Aeg. S. 95 ff. namentlich S. 98 f. : »Gott
ist das Sein er selber«, — • »das Beständige (Bleibende) in Allem«, — »das Bleibende von. Allem«, —
»das Bleibende, das sich mehrt ohne vernichtet zu werden«, — «der Eine, der sich millionenfach ver-
vielfältigt«, — »vielgestaltig«, — »vielgegliedert«, — »Gott hat das All gemacht« u. s. w., — »Der
Himmel ruht auf seinem Haupt und die Erde trägt seine Füsse«. — »Der Himmel birgt seinen Geist,
die Erde seine Gestalt, und die Tiefe verschliesst sein Geheimniss.« — Sein Leib ist
als [?] Luft, der Himmel ruht auf seinem Haupte und die neue Fluth enthält seine Ge-
stalt«, u. s. w. Mit diesen Aeusserungen vergleiche man die vielfach damit übereinstimmenden Stellen
orphischer Gedichte (fr. 6 Herm. == 121 ff. Abel; Zeller a. a. O. S. 51) und das Sarapisorakel bei
Macrob. S. 1, 20, 16 f. (aus der Zeit Alexanders d. Gr.):
ovQÜviog v.da^iog -/iecpalrj, yaarijQ de -d-alaGaa,
yala 6e (.lOi nödeg slal, ra d^ ovav Iv aideqi Y.ElTai.
oiif.ia TS Trjlavysg Xaf.iuqhv cpcxos rjslioio.
9*
68
Willi. H. Röscher.
Dich in den Nil, Du bist Jugend und Alter, Du verleihest Leben der Erde durch
Deinen Strom, Du bist der Himmel, Du bist die Erde und alles was in
diesen ist«. Bekanntlich wurde Amon von den Griechen ihrem Zeus gleichgesetzt,
und so erklärt sich die Rolle, welche Zeus als Urgott (Protogonos) tmd Welten-
schöpfer in der orphischen Theogonie spielt, einfach aus der Bedeutung Amons in
der ägyptischen Kosmogonie. Aber wir können noch weiter gehen und diejenigen,
welche unsere Ableitung orphischer Ideen aus dem Aegyptischen anzweifeln
.'s/sAi'VS
2) Chnum an der Töpferscheibe (nach
Lanzone, Diz. di mitol. egiz. Tav.
336, 2).
3) Ohnum mit der Henkelvase auf dem
Haupte (nach Lanzone a. a. 0. Tav.
337, 3).
möchten, auf eine weitere höchst merkwürdige IJebereinstimmung, die kaum eine
zufallige ist, aufmerksam machen. Wie wir oben sahen, wurde der göttliche Welt-
ordner oder Weltschöpfer in der orphischen Theogonie Protogonos, Zeus und
Pan genannt. Eine einfache Erklärung dieser höchst merkwürdigen und sonst
unerhörten Identificirung von Zeus und Pan als Weltordner und Urgötter erblicke
ich in der Thatsache, dass diese Gleichsetzung von Zeus und Pan schon lange vor
der Entstehung der orphischen Gedichte in der ägyptischen Religion vollzogen worden
ist, indem Amon (= Zeus) und der Widdergott oder, wie die Griechen ihn aufzu-
. Pan als Allgott. 69
fassen pflegen, Bocksgott (vgl. Jahrb. f. cl. Phil. 1892 S. 471 ff'.) Chnum-Mendes')
(= Pan) als Weltenschöpfer und Urgötter einander gleichgesetzt werden^).. Ich gehe
jetzt daran, die Function des ägyptischen Pan (Chnum-Mendes) als Urgott und Welten-
schöpfer aus Uebersetzungen altägyptischer Inschriften und Papyri nachzuweisen, die
ich grösstentheils dem wichtigen Werke von Brugsch, Rel. u. Myth. d. alt. Aegypter
Leipz. 188,8 ff. entnehme. Vor Allem kommen hier die Inschriften eines noch
erhaltenen Chnumtempels in Esne (Ijatopolis) in Betracht, dessen Wände mit zahl-
reichen Abbildungen des widder-(bocks-)köpfigen Gottes bedeckt sind. Danach ist
Chnum »der Himmelsträger, welcher das Himmelsgewölbe mit seinen Händen aufge-
richtet hat«, — »auf dessen Haupte der Himmel ruht« »und dessen Füsse die Erde
trägt«, — »der den Himmel gemacht und das was in ihm ist«, — »der Schöpfer der
Wesen, der erste Neuner, welcher die Enneas geschaffen hat, der Bildner aller Men-
schen auf seiner Töpferscheibe (s. Fig. 2), der eine Gott, der Ursprung des Aethers,
der Baumeister am Anfang«^), — »der Bildner der Sterne, der Schöpfer der Götter,
1) Dass der in Oberägypten verehrte Widdergott Chnum-Chnubis mit dem unterägyptischen Widder-
gott Mendes identisch sei, scheint mir Brugsch, Rel. u. Myth. d. alt. Aeg. S. 191 f., 193 f., 242, 293,
308 f. klar erwiesen zu haben. Aber auch wenn die ursprüngliche Identität der beiden Götter unhaltbar
sein soUte, haben doch wenigstens die Griechen die beiden widdergestaltigen (bocksgestaltigen) Gottheiten ihrem
Pan gleich gesetzt und für identisch gehalten. Auf den oberägyptischen Pan (= Chnum oder Chem.?) be-
ziehen sich mehrere griechische Inschriften von Chemmis, Koptos und Apollinopolis magna, die ihn Iläv
S-ebg {.tsyiavog und ■aiiQtog Iläv nennen und mit der Göttin Tqupig zusammenstellen (C. I. Gr. 4714;
add. 4716 '""j a^^, 4716 ''i; 4716 ^i" u. s. w. ; mehr in meinem Aufsatze über die Legende vom Tode
des grossen (d. i. des ägyptischen) Pan in den Jahrb. f. cl. Philol. 1892 S. 473 f., wo auch die übrigen
■Nachrichten über den Pan der Aegypter zu finden sind. Vgl. jedoch auch Wie demann, Her. 2. Buch
S.-366f. , der den Pan von Chemmis (Panopolis) mit Chem identificirt, obwohl dieser Gott, so viel
wir wissen, in der Regel volle Menschengestalt (a. a. O. 367) hatte, während nach Schol. German.
S. 409 Teubn. der Pan von Panopolis (== Aigipan) sich in eine Ziege (capra), d. h. in dasjenige Thier
verwandelte , das auch sonst als Incarnation des Mendes angesehen wurde. Das deutet bei der son-
stigen regelmässigen Verwechselung von Widder und Bock [rqäyog] bei den Griechen (s. Jahrb. f. cl.
Philol. 1892 S. 472) entschieden mehr auf Chnum und Mendes als auf Chem. S. auch Diod. 1, 18.
Hygin p. astr. II, 28. Jahrb. f. cl. Phil. a. a. O. S. 471 Anm. 12.
2) Vgl. Wiedemann, Herodots 2. Buch S. 197: »Die zweite Spielart [von Widdern, d. h. die
mit bocksartig ausgestreckten Hörnern] war dem. Gotte Chnum heilig (vgl. Z. 7 7, 10 fi'.), der seit der
18. Dynastie . häufig mit Amon identificirt ward, eine Gleichsetzung, die sich noch in dem Proskynema
Xvovßet Tqi Kai ^/.if-icüvt (C. I. Gr. 4893) geltend macht (vgl. Orelli 1243; lovi Hammoni C/iimbich)n.
Mehr in Drexlers Artikel Knuphis im Lex. d. Mythol. II Sp. 1250 ff.
3) Vgl. Orph. fr. 36 u. 48 Abel: jtävTwv öiaTäznüQ xat blov rov ■AÖa/.iov (= Pan oder Zeus)
= 6r]f.i(,0VQy6g h. Euseb. Praep. ev. 3, 11, 28 f.: rbv ör]i.itovQybv , ov Kvqfp oi AlyÖTttioi TtQog-
äyoQe'Oovaiv, av-d-QcoTtoeiöfj .... tov de -d-ebv rovrov en tov atöf-iatog TtQoiead-aL cpaaiv cobf,
e^ oi yevvaaSai S-ebv, ov av-vol Tcqoaayoqeijovat, Wd-ä, ol de "ElXrjveg "Hcpaiavov, eQi.tT]veveiv öe
To lobv rbv v.6a(.iov. AcpiiqwTaL de t(T) S-ei^ TovTq) rtqößa-vov v..x.X.
70 Wilh. H, Röscher.
sein eigener Ursprung, der Ungeborene, dessen Wesen niemand erkennt, dem niemand
vorangeht. Das ist der Vater, der ihren Leib entstehen liess. Er hat die Götter
gebaut und die Göttinnen gemodelt, er hat erschaffen Mann und Weib, die Vögel,
die Fische, das Wild, die Hausthiere und das Gewürm, gleich wie er ihr Vater ist.
Er schuf sie am Anfang, und sie gingen in ihrer Gesammtheit aus ihm hervor,
denn er ist die Enneas, die das All erschaffen und was da ist erzeugt hat. Er hing
den Himmel auf und gründete die Erde, er machte das Wasser und schuf die
grosse Wasserfülle (die Kuh Mehituerit) , aus welcher alles , was entstanden ist,
gemacht ward'). Heil Dir im Frieden, Du König der Sterne des Himmels^), der
Du Eins bist mit dem Himmelsgewölbe« (Brugsch S. 504). In einer anderen
Inschrift von Esne (b. Brugsch S. 504 f.) wird Chnum gepriesen als der Bildner der
Bildner (vgl. oben Anm. 30), die Säule des Windes, welche unter dem Himmel
und über die Erde dahinfährt, der Urheber der den Himmel tragenden Kraft . . .,
der oberste der Widder, der gutthätige Sculptor der ganzen Welt, der Vorsteher
des Windes . . ."), der Former und Sculptor des Lichtgottes Eä aus dem Feuchten u. s. w.,
woraus ersichtlich ist, dass er auch als Luftgott verehrt wurde. Ganz besonders
deutlich erhellt die pantheistische Bedeutung Chnums aus einer von Brugsch S. 139
mitgeth eilten Inschrift: »Er geht auf als Sonnenstrahl und leuchtet als Mond (vgl. ob.
Anm. 14), kommt als Wind und tritt hervor als Nil nach seinem Belieben, er trägt
den Himmel auf seinen vier Säulen, indem er ihn als Luft stützt«. Um seine Be-
ziehung zu den vier Elementen auszudrücken, wurde Chnum-Mendes als vierköpfiger
Widder aufgefasst, d. h. als Einheit der die vier Elemente darstellenden Götter Ra,
Schu, Queb und Osiris ; vgl. namentlich die Stele von Mendes (die auch für die Identität
des Mendes, d. i. des Pan von Mendes, mit Chnum wichtig ist) und die von Brugsch
S. 292 f. mitgetheilte Inschrift von Latopolis. Endlich ist noch bedeutsam, dass Chnum
als »Schöpfer des Eies, das aus dem Chaos hervorging« (Brugsch S. 168 ff.)
1) Gerade so wie Chnum die vier Elemente (Himmel = Aether, Erde, Wasser, Luft; s. unten!)
schafft und ordnet, so gilt im 11. orphischen Hymnus der kosmische Pan als Herr der vier Elemente
{yala, vdcoQ, arjQ und 7tvQ = ctl&rjQ) ; s. oben Anm. 27.
2) Aehnlich heisst Pan im 11. orph. Hymnus v. 5 davQOÖiaizog', s. oben Anm. 12 u. 22. Freilich
könnte man in diesem Falle auch an das mit Pan identificirte Sternbild des Steinbocks (Aigokeros,
Aigipan) denken.
3) Auch der orphische Pan gilt als Windgott: vgl. Orph. hy. 34,25: liäva, d-ebv Öiksqiüt,
avef-iiiiv avQiyi.ia-0^ levva. Vgl. auch Cornut. de nat. deor. 27: avqi'Arriv de sivat . . . dta zb mcb
TtavTOUov ävef^itüV diartvelad-ai. Daher tritt beim Tode des grossen Pan in der plutarchischen Le-
gende, in der ich den ägyptischen Pan nachgewiesen habe, eine auffallende Windstille ein (vgl. Jahrb.
f. cl. Philol. 1892 S. 475 f.). Vgl. über Chnum als Luftgott auch Brugsch a. a. O. S. 146. 304.
Pan als Allgott. 71
gepriesen wurde (s. ob. Anm. 20), eine Vorstellung, die uns bekanntlich auch in der
älteren orphischen Lehre begegnet. Schliesslich mache ich auf die merkwürdige That-
sache aufmerksam, dass wie nach ägyptischer Lehre »alle Dinge die Glieder Gottes«
sind (Grui^pe a. a. O. S. 4), so in dem oben angeführten orphischen Hymnus die
vier Elemente [.itlta tu Tlavöc, genannt werden^).
Haben wir somit gesehen, dass der pantheistische Pan der orphischen Gedichte
höchst wahrscheinlich der ägyptischen Religion, nicht aber der stoischen Philosophie
entstammt, so erhebt sich naturgemäss die Frage, ob sich nicht der Zeitpunkt, wo
der ägyptische Pan in die orphische Lehre eingedrungen ist, genauer bestimmen
lasse. Ich bedauere auf dieses nicht unwichtige Problem an diesem Orte nicht näher
eingehen zu können, weil eine wissenschaftliche Lösung desselben mit der Frage
nach der Entstehung der orphischen Gedichte und deren Geschichte untrennbar
verbunden ist, benutze jedoch die hier gebotene Gelegenheit dazu als meine Ansicht
auszusprechen, dass die erste Beeinflussung der Orphiker durch die ägyptische Reli-
gion wahrscheinlich in dieselbe Zeit fällt, in der die Griechen durch Gründung von
Colonien im Nildelta (Naukratis) ^) und in dem Aegypten benachbarten Barke (Kyrene)
mit den Aegyptern in nähere culturelle Berührung kamen, also im 6. u. 7. Jahr-
hundert (vgl. Busolt, Griech. Gesch. I S. 340 ff.). Vor allem mussten sie um diese
Zeit die Bekanntschaft mit dem Hauptgott von Unterägypten, dem bocksgestaltigen
Gott von Mendes, machen, den sie wegen seiner Bocks-(d. i. Widder-) Gestalt als-
bald mit ihrem eigenen Hirtengott Pan identificirten (die Erklärung der Thatsache,
dass der ägyptische Widder von den Griechen als Bock (t^k^os) aufgefasst wurde,
s. in meinem Aufsatze in den Jahrbb. f. cl. Phil-. 1892 S. 472). Schon Pindar^) und
Herodot reden von Mendes als von einer den Griechen wohlbekannten Gottheit.
Die sämmtlichen mir bekannt gewordenen Stellen griechischer Schriftsteller, die sich
auf diesen ägyptischen Pan beziehen, habe ich bereits in meinem Aufsatze über die
1) Vielleicht ist mit Chnum, dem vorzugsweise in Oberägypten verehrten, nach Einigen aus dem
benachbarten Aithiopien stammenden Gott (v. Strauss, D. altägypt. Götterglanbe I S. 367) der aithio-
pische Pan identisch, von dem Strab. 822, Diod. 3, 9, Ptolem. 4, 8 [7], 38, Steph. Byz. s. v.'^AöovliS
berichten.
2) Es scheint beachtenswerth , dass gerade in Naukratis ein sehlangenköpfiger Gott verehrt
wurde (Froehner, Le Nome sur les monn. d'Egypte , Extr. de l'aniiuaire de la Soc. de Num. Paris
1890 S. 20), was an den orphischen Protogonos (a. oben Anm. 20) erinnert. Vgl. Brugsch a. a. O.
S. 158 f.
3) Bekanntlich finden sich bei Pindar auch mehrere Anklänge an orphische Gedanken ; Nägelsbach,
Nachhom. Theol. S. 406. Maxim. Mayer im Ausf. Lex. d. gr. u. röm. Myth. II, Sp. 1458.
72 Wilh. H. Röscher. Pan als Allgott.
Legende vom Tode des grossen Pan in den Jahrbüchern für cl. Philol. 1892 S. 470 fF.
behandelt, daher ich hier darauf verzichten darf, mich nochmals mit ihnen zu
beschäftigen.
Das Resultat unserer kleinen religionsgeschichtlichen Untersuchung lautet also:
Die Auffassung des altgriechischen Hirtengottes Pan als Ur- und Allgott ent-
stammt höchst wahrscheinlich der ägyptischen Religion, deren bocks- oder widder-
gestaltiger Ur- und Allgott Chnum-Mendes schon von den Griechen des 7. und
6. Jahrhunderts mit ihrem Pan identificirt v?urde. Durch diese Identificirung gelangte
der Begriff eines Ur- und Allgottes Pan zuerst in die orphische und später in die
stoische Lehre. Unterstützt wurde diese Entwickelung des Hirtengottes zum Ur- und
Allgott durch eine falsche Etymologie (/7«V = rb nüv).
Zwei Fragmente vom Parthenon.
von
Bruno Sauer.
Mit Tafel III in Liclitdruck und 2 Textfiguren.
1. Frauentorso aus den mittleren Südmetopen.
ixus den Metopen des Parthenon sind uns nur wenige und nicht eben erfreu-
liche Frauenfiguren erhalten, die sich mit den edlen Gebilden iii den Giebelgruppen
und im Fries in keinem Sinne vergleichen lassen.
Ein einziges Fragment hat der Zufall gerettet, das
auch neben diesen höchsten Leistungen sich mit Ehren
behauptet, und in ihm schenkt er uns ein Stück aus
der gänzlich zerstörten mittleren Metopenreihe der
Südseite wieder. Ich fand es 1889 im kleinen Akro-
polismuseum, wo es zwar nicht unbeachtet geblieben,
jedoch als Fragment eines Hochreliefs nicht erkannt
worden war. Sobald die Thatsache feststand, dass es
zu einer Reliefdarstellung gehört habe, Hess Stil,
Material und Verwitterung kaum eine Wahl mehr,
und ein Blick auf Carrey's Zeichnungen genügte,
um einen bescheidenen Rest der rechten Figur der
19. Südmetope (Michaelis Taf. 3, 19) in dem Torso
wiederzufinden. Die hier wiedergegebene Zeichnung
Gillieron's ist wie die Carrey's genau von vorn, nur, um entstellende Verkürzung
zu vermeiden, von einem bedeutend höheren Gesichtspunkte aufgenommen; so er-
klärt es sich, dass der von links oben nach rechts unten laufende Saum des von
FestBülii-irt für Ovorbeck. 10
74 Bruno Sauer.
den Hüften herabfallenden Himationzipfels bei Carrey viel weniger steil verläuft.
Bewegung und Bedeutung der Figur lässt das wiedergefundene Stück leider nicht
besser erkennen als die alte Zeichnung.
lieber den Stil des Fragments brauche ich nur wenig zu sagen, zumal da es gerade
aus stilistischen Gründen in einen grösseren Kreis wohlbekannter Monumente schon
eingeordnet ist. Robert von Schneider hat in einem Aufsatz über attische Kore-
darstellungen des 5. Jahrh.') aiich unser Stück herangezogen, und seinen Darlegungen
habe ich nur hinzuzufügen, dass sie durch die Zuweisung des Fragmentes an die Par-
thenonskulpturen noch sicherer begründet werden. Wie die Mädchenstatuette aus
dem Peiraieus^) und der öfter wiederholte statuarische Typus, dessen bekannteste Ver-
treterin die albanische »Sappho«'') ist, steht dieses Parthenonfragment völlig diesseits der
Gährungsepoche, der die theils noch alterthümlich ungelenken, theils derb naturalisti-
schen Frauenfiguren anderer Metopen entstammen, und ist nicht merklich mehr ver-
schieden von den Giebel- und Friesskulpturen, die in Pheidias' Greisenalter unter
seinen Augen und mit seiner Billigung entstanden. Sogar eine gewisse Flüchtigkeit
kann man an dem Fragment wahrnehmen und daraus schliessen, dass sein Meister in
dem neuen Stil schon längere Zeit zu arbeiten gewohnt war. Viel vor 440 kann die
Metope, von der es als einziger Rest sich erhalten hat, kaum entstanden sein.
2. Fragment vom Kopfe einer Göttin aus dem Ostgiebel.
Ebenfalls im kleinen Akropolismuseura befindet sich das auf Tafel III abge-
bildete Fragment eines kolossalen Frauenkopfes, dessen Bedeutung mir, als ich meine
Studien über die Giebelgruppen des Parthenon') veröffentlichte, noch nicht ganz auf-
gegangen war. Das Fragment umfasst etwa das rechte obere Viertel des Kopfes und
greift irur oben auf die linke Kopfhälfte über; vom Gesicht ist nur der rechte Schlaf
mit dem äusseren Winkel des Auges erhalten, vom (^hr die obere Hälfte der Muschel,
die im Lichtdruck leider ganz überschattet erscheint. Das Stück ist 0,31 m hoch,
0,40 breit, 0,27 dick; die Structur des pentelischen Marmors lässt für den Kundigen
selbst der Lichtdruck erkennen. Die Zuweisung zum Parthenon gründet sich ausser
1] Jahrb. d. Kunstsamml. des allerh. Kaiserhauses 1891, S. 72 fF.
2) Athen. Mittheil. XIV. (1SS9) Taf. 4.
3) Overbeck, Atlas Taf. 14,11. Brunn-Bnr ckmann , Denkmäler 255.
4) Athen. Mittheil. XVI. (1891) S. 59 fr.
Zwei Fragmente vom Parthenon.
/D
auf eine technische Einzelheit, von der sogleich die Rede sein wird, auf den Stil,
das Material und die bekannte Art der Verwitterung, Merkmale, die in ihrer Ge-
sammtheit ausreichen, aus den Skulpturentrümmern der Burg jedes Parthenonfrag-
ment mit untrüglicher Sicherheit herauszufinden. Der Beweis wird dadurch vervoll-
ständigt, dass die etwa doppelt lebensgrosse Figur, von der das Fragment herrührt,
nicht frei stand, sondern, wie das im Lichtdruck links unten eben noch erkennbare,
roh eingearbeitete Loch beweist, vermittelst eines starken x\nkers an einer "Wand
befestigt war. War die Figur demnach besonders labil aufgestellt, so ist sie kaum
anders denn als Giebelfigur verständlich , die man schon der Masse wegen nur am
Parthenon unterbringen kann.
Dargestellt war eine stattliche Frau mit einer fast ganz von Bronze gearbeiteten,
reichen Krone; der schmale aus dem Marmor selbst gearbeitete Reif scheint kaum
mehr als die Unterlage dieses metallenen Schmuckes zu bedeuten. Zahlreiche
Ijöcher, deren Grösse und Anordnung die Abbildung deutlich erkennen lässt, ver-
theilen sich auf Reif und Haar. Am Reif stehen sie zu Paaren, sodass stets einem
Loch auf der Oberfläche ein eben so grosses an seiner Vorderfläche entspricht;
nur bei dem — von links gezählt — zweiten und fünften der neun Paare kommt
ein drittes Loch hinzu. Abwechselnd mit diesen neun Paaren stehen dicht über
dem Reif neun bedeutend grössere Löcher, weiter oben wieder elf kleinere, die letz-
teren mit Ausnahme des siebenten von links noch mit Bronzestiftchen gefüllt. Ein
besonders grosses Loch (dm. 0,018, t. 0,03 m), das sich mitten im Scheitel befindet,
darf man wohl auf die bekannte Vogelabwehr beziehen.
Näheres über die Form des Kopfschmuckes festzustellen,
ist nicht möglich ; doch genügt das Erhaltene und die Ver-
gleichung mit dem Cultbilde der Nemesis von Rhamnus,
den Kopf einer königlichen Göttin zuzusprechen, deren
feierliche Erscheinung durch den Schleier, Avelcher den
Hinterkopf und den hier unverziert gedachten Reif über-
mmmmmämmääiMM ^
•idid-
■aml.
deckt, noch gehoben wurde.
Aber das unscheinbare Fragment verräth uns noch
mehr. Das Ankerloch dringt schräg von hinten in den
Kopf ein; daraus folgt, dass dieser schräg zur Giebelwand
stand. Da nun der Winkel zwischen der Axe des Ankerlochs, die natürlich der
Tempelaxe parallel lief, und der Längsaxe des Kopfes etwa 30" beträgt, so ist zu-
nächst gesichert, dass der Kopf sich dem Beschauer nicht ganz von vorn, sondern
76 Bruno Sauer.
in VirPi'ofil von seiner linken, nicht erhaltenen Seite zeigte. Ferner ergiebt sich aus
der Grösse des Kopfes'), dass er nur in nächster Nähe der Giebelmitte unterzu-bringen
ist. Er gehört also nicht in den Westgiebel, mit dessen Hauptgruppe er nichts zu
thun haben kann und dessen nächstbenachbarte Gestalten schon viel zu klein für ihn sind.
Ehe Avir weitergehen, erinnern wir uns der wenigen sicheren Thatsachen, die
uns über die Mittelgruppe des Ostgiebels bekannt sind^). Sie wurde rechts und
links abgeschlossen durch sitzende, natürlich der Mitte zugewandte Figuren; die
liauptgruppe , der die Aufmerksamkeit jener Sitzenden galt, bestand aus dem nach
rechts thronenden Zeus und der rechts von ihm stehenden Athena; in dem knappen
ZAvischenraum endlich befand sich je eine stehende Figur. Erhalten sind von diesen
sechs Figuren nur drei Fragmente, der Torso einer männlichen Figur, unser Kox>f-
fragment und eine Aveibliche Hand mit Fackelrest, die Overbeck mit zwingenden
Gründen der Mittelgruppe zugesprochen hat^). Diese Hand wird durch die Vernach-
lässigung des Fackelschaftes und durch die Eegencorrosion einer nach links gewandten,
wahrscheinlicher stehenden als sitzenden"'), Figur von der rechten Giebelseite zuge-
wiesen; das Kopffragment liesse sich der linken Seite nur unter der Voraussetzung
geben, dass eine der nächstbetheiligten Personen von der Hauptscene weg und nach
aussen blickte, auch dieses Fragment also ist rechts von der Mitte unterzubringen.
Lassen wir den männlichen Torso vorläufig bei Seite, so bleiben für Kopf- und Hand-
fragment im äussersten Falle vier Möglichkeiten der Vertheilung. Entweder gehören
beide der rechts Sitzenden, dann bliebe für diese nur der Name Demeter übrig,
Avährend die zwischen ihr und Athena stehende Figur nicht zu benennen wäre. Oder
sie gehören beide einer neben Athena stehenden Demeter. Oder es gehört der Sitzenden
die Fackel, der Stehenden das Kopffragment mit Krone und Schleier; Avir hätten
also ausser der thronenden Demeter eine zwischen ihr und Athena stehende könig-
1) Das der Breite des Fragments (0,40 m) am "Weber'sclien Kopf entsprechende Maass beträgt
nur 0,34 m.
2) Athen. Mittheil. XVI. (1891) S. 87.
3) Ber. d. sächs. Gesellsch. 1880 Taf. III 4, S. 172ff. Auf Grund erneuter Prüfung des Ab-
gusses kann ich Overbeck's Darlegungen in allem Wesentlichen bestätigen; nur stellte sich nach meinen
Messungen der Grössenunterschied zwischen der fackelhaltenden Hand und der Rechten von E als noch
bedeutender heraus. Am sichersten vergleichbar ist die Breite der 4 letzten Finger, die an ihrer Wurzel
gemessen bei E höchstens 0,11, bei dem Fragment mindestens 0,15 beträgt. Angenommen das Frag-
ment gehörte einer sitzenden Figur von ähnlich gedrückter Haltung wie E, so würde schon deren Höhe
sich auf etwa 2,30 bemessen, d. h. gleich der Giebelhöhe über Block 9 und 18 sein; nur von einer
der Mitte näher sitzenden oder noch näher stehenden Figur kann also das Fragment herrühren.
Zwei Fragmente vom Parthenon. 77
liehe, aber an Wuchs etwas kleinere Göttin anzunehmen. Oder endlich die Sitzende
trug Krone und Schleier, die Stehende eine Fackel, die königliche Göttin thronte
also lind zwischen ihr und Athena stand Artemis oder Demeter ') als Eileithyia. Er-
wägt man, wie schlecht zu einer Demeter, besonders in dieser Scene, die königliche
Erscheinung passt, wie nachdrücklich die äussere Beschaffenheit der Hand auf eine
stehende und die mächtigen Proportionen des Kopffragmentes auf eine sitzende Figur
hinweisen, so wird man sich für die letzte der vier Möglichkeiten entscheiden müssen.
Statt einer bequemen und einleuchtenden Reconstruction der Giebelmitte wird
damit eine neue Schwierigkeit geschaffen; denn die Stelle unserer Fackelträgerin hat
bisher der heftig bewegte Gott eingenommen, dessen Torso (H) von Ross an einer
nicht genau bezeichneten Stelle unter dem Ostgiebel gefunden wurde. Ihm seinen
Platz zu sichern, indem man die Fackelträgerin links von Zeus aufstellt, giebt der
Zustand jenes Fragmentes, man mag die Figur denken wie man will, durchaus keine
Berechtigung. Stellt man dagegen den Gott links von Zeus auf, so ergiebt sich zwar
eine nicht unwichtige Uebereinstimmung mit der Composition des madrider Puteais,
aber mit der bedenklichen Zugabe, dass die Figur ganz oder zum Theil vom Rücken
erscheint. Leider lässt sich aus dem Torso selbst wenig Sicheres scliliessen ; ich
wage deshalb kein abschliessendes Wort und begnüge mich, auf das neue Problem
nachdrücklich hinzuweisen.
Für die rechts thronende, mit Krone und Schleier geschmückte Göttin liegt
kein Name so nahe wie der der Hera; höchstens könnte nach Analogie des Pariser
Vasenbildes Mon. deW Inst. VI 56, 3 Leto in Betracht kommen, die auch sonst und
gerade in bedeutenden rothfigurigen Vasenbildern mit diesem Kopfschmuck erscheint.
Die Göttin sass der Mitte und der seltsamen Wundererscheinung zugewendet; mü-
den Kopf drehte sie dem Beschauer zu nach ihrer linken Seite. Im übrigen lässt
sich nur vermuthen, dass die 1. Hand nicht beschäftigt war den Schleier zu lüften,
der auch am Bruch sich noch nicht vom Schädel löst^).
Wie über Composition und Gestalt der Ostgiebelgruppe giebt das Fragment
auch über Stilfragen neuen Aufschluss. Wer etwa noch zweifelt, dass der Web er-
sehe Kopf in einen der Parthenongiebel gehöre, wird durch das neue Stück wohl
überzeugt werden. Wir kenneir dann aus den Giebeln vier genügend deutliche Bei-
spiele^) des langschädeligen Kopftypus, für den der sog. Theseus lange Zeit das ein-
1) Vgl. Löschcke, Aroh. Zeit. 1876, S. 111.
2) Nach freundlicher Mittheilung Brückners.
3) Michaelis Taf. 8, 9 zeigt trotz starker Zerstörung der Einzelformen deutlich die gleiche Anlage.
78 Bruno Sauer. Zwei Fragmente vom Parthenon.
ziye sichere darbot. Diese Eigentliümlichkeit und der bei aller Grossartiykeit milde
Ausdruck der Gesichter stellt die Giebelfiguren in einen entschiedenen Gegensatz zu
der jetzt ziemlich allgemein') dem Alkamenes zugeschriebenen Aphrodite und demMün-
cliener Enchriomenos , den Klein auf Grund einer für mich völlig überzeugenden
Conjectar für den encrinomenos des Alkamenes eingesetzt hat^). Dagegen findet sich
gerade die Schädelform der Giebelfiguren an dem Kopffragment der Nemesis des
Agorakritos '') wieder, das auch in der Technik unserem Fragment und dem Web er-
sehen Kopf aufs engste verwandt ist. Und fragt man weiter, welche der genannten
Werke die deutlicheren Anklänge an Pheidiassche Art aufweisen, so wird man
wiederum die Parthenonfiguren und das Nemesisfragment, nicht jene dem Alkamenes
zugewiesenen Werke zu nennen haben.
Alkamenes und Agorakritos sind die Namen, die heute wohl den meisten For-
schern sich auf die Lippen drängen, wenn sie den Meister der Giebel- und Fries-
skulpturen des Parthenon zu nennen versuchen. Unser Fragment scheint mir geeignet,
die Aussichten des Alkamenes zu. verringern, zu steigern die des Agorakritos, der
seines Meisters Pheidias Liebling war.
1) Widersproclien haben Winter (50. Berl. Winckelmannsprogramm S. 121) und neuerdings Heisch
(Eranos Vindobonenais S. 18 f.). Für mich ist die Aehnlichkeit der Köpfe des Miinchener Athleten
und der Aphrodite ein neuer Grund, an der lierrschenden Ansicht festzuhalten.
2) Arch.-epigraph. Mittheil, aus Oesterreich XIV. (1891) S. 6 ff. Beweise hat Klein freilich
nur für seine Emendation der Pliniusstelle beigebracht, die Identität des Münchener Werkes mit dem
des Alkamenes nur behauptet.
3) Athen. Mittheil. XV. (1890) 8. 64.
Athletenkopf in Erbach
von
Eduard Anthes.
Mit Tafel IV in Lichtdruck,
JL)ie Antikensamnilung im Schloss zu Erbach im Odenwald enthält als ältestes
und neben dem sogenannten Alexanderkopf wohl bedeutendstes Stück den Jünglings-
kopf, der auf Tafel IV in Vorder- und Seitenansicht mitgetheilt wird^). Leider ist
der Fundort des Werks nicht bekannt; da aber Graf Franz zu Erbach, der Gründer
der Sammlung, von 1774 an theils bei einem längeren Aufenthalt in Rom, theils nach
1) Stark, Festschrift zur 50jährigen Stiftungsfeier des Arch. Instit. in Rom 1879, S. 11; vgl.
Anthes, Die Antiken der Grilfl. Erbachischen Sammlung, Nr. 1. Schäfer, Kunstdenkmäler des Qrossh.
Hessen, Kreis Erbach, Fig. 43.
Die wichtigsten Maasse sind folgende :
Erbacher Kopf: Londoner Kopf;
Scheitel — Kinn 0,265 .... 0,250.
Haaransatz (d. h. unterer Rand der Binde) — Kinn . . . 0,178 . . . . 0,176.
Haaransatz — Nasenflügelrand 0,106 .... 0,106.
Haaransatz — Mundspalte 0,130 .... 0,125.
Innerer Augenwinkel — Kinn .. ... ... .0,116.... 0,1 10.
Nasenansatz — Kinn .... 0,131 .... 0,127.
Augenbrauenhühe — unterer Rand der Binde 0,041 . . . .0,040.
Ohrlänge 0,068 .... 0,069 (rechts).
Mundbreite 0,048 .... 0,046.
Aeussere Augenweite (ohne Lider) 0,098 .... 0,095.
Innere Augenweite (ohne Drüsen) 0,039 .... 0,033.
Augapfellänge (ohne Drüsen) 0,029 .... 0,028.
Augapfellänge (mit Drüsen) 0,033 ... . 0,031.
Augapfelhöhe (ohne Lid) 0,012 .... 0,012.
' Die Maasse des Londoner Exemplars wie überhaupt die Notizen darüber verdanke ich B. Sauer,
der die Güte hatte, den Kopf an Ort und Stelle für mich nachzusehen.
80 Eduard Anthes.
seiner Kückreise durch Vermittlung von E. Q. Visconti, Albani, Reiffenstein,
Venuti und Hamilton seine Sammlung von 34 Marmorwerken aus Italien, beson-
ders aus der Umgebung von Rom, zusammenbrachte, so dürfen wir annehmen, dass
auch der Athletenkopf auf italischem Boden zum Vorschein gekommen ist. Die vor
wenigen Monaten bei einem Brand zu Grunde gegangenen Sammlungsakten haben
dem Verfasser dieser Zeilen noch vorgelegen, boten aber für die Bestimmung des
Fundorts nicht den geringsten Anhalt.
Wie alle in seinen Besitz übergegangenen antiken Bildwerke, Hess der Graf in
Rom auch diesen Kopf in seinen beschädigten Theilen ergänzen; doch ist glück-
licherweise dadurch kein Unheil angerichtet worden, da nur wenige Partien des
Gesichts und zwar von verschiedenfarbigem Marmor ergänzt sind^). Neu ist die
Nasenspitze mit dem linken Nasenflügel, ein kleines Stück auf der linken Seite des
Kinns, endlich die Hermenbasis mit den über die Schultern herabfallenden Enden
der Kopf binde. Ob der Kopf zu einer Statue gehörte, ist nicht mehr festzustellen.
Alle Ergänzungen lassen sich an dem Lichtdruck wohl erkennen. Eine Ueberarbei-
tung, wie wir sie bei vielen Stücken der Sammlung finden, wurde bei diesem Kopf
nicht vorgenommen.
Eiii zweites Exemplar desselben Werkes ist der sogenannte Capranesische Kopt
im Britischen Museum, der 1846 angekauft wurde^) und etwas weniger gelitten hat
als der Erbacher; ein Vorzug des letzteren ist aber die Erhaltu.ng eines grösseren
Theils der Nase. Beide Male ist das Original mit grosser Sorgfalt nachgebildet worden.
Der Hauptunterschied der zwei Exemplare ist, dass das Erbacher einen steileren Ge-
sichtswinkel und ein etwas volleres Untergesicht hat; dadurch wirkt der Kopf im
Profil strenger und alterthümlicher als der Capranesische. Gering sind die Abweich-
ungen in den Locken um Stirn und Schläfen ; etwas mehr Verschiedenheit findet
sich im Haar über der Binde und hinter den Ohren. Vollständig ist die Ueberein-
stimmung in der Anordnung der Binde und des Haarabschlusses im Nacken. Hier
wie dort ist die Binde an der tiefsten Stelle geknüpft, und die Enden dann, um ihre
Länge zu vermindern, nochmals nach den Ohren zu zwischen Binde und Haar durch-
gesteckt, aber gleich wieder heruntergezogen, sodass über der Binde eine Schleife ent-
stellt. Ergänzt ist bei dem Londoner Exemplar die Nasenspitze bis zur halben Höhe
des Nasenrückens; beide Flügel sind unverletzt. Bestossen ist die rechte und linke
1) Der Marmor des Kopfes sclicint penteliscli, der der Ergiln/.ungen italisch zu sein.
2) Synopsis nf tlie. Contents, cd. 63, 1856, S. 97.
Athletenkopf' in Erbach. 81
Ohrmuschel sowie das Band an der rechten Seite des Hinterkopfs. Die Büste bis
zum Beginn des Kinns ist ergänzt; die Grenze zwischen alt und neu verläuft hier
fast durchweg horizontal.
Der Denkmälerkreis, dem beide Köpfe angehören, zählt nicht allzuviele Num-
mern^). Am nächsten verwandt sind die beiden Apollonköpfe aus Rom, die Peter-
sen^) veröffentlicht und mit Recht der Periode unmittelbar vor der Blüthezeit der
Kunst des Pheidias zugewiesen hat. Die grosse Uebereinstimmung im Allgemeinen
schliesst indessen manche bedeutungsvolle Unterschiede im Einzelnen nicht aus. Die
römischen Köpfe ApoUone zu nennen verbietet nichts; der Erbacher Kopf und seine
Wiederholung dagegen stellt einen Athleten dar mit breiter Binde, die den Kopf
umspannt und mit ihren Enden über die Schultern fällt, während dort ein schmaler
Reif das in Locken über den Nacken herabhängende Haar umgiebt. Was den Erbacher
Athleten den annähernd gleichaltrigen Köpfen, sowohl den beiden römischen als
auch z. B. dem des Diskobolen Lancelotti ähnlich macht, ist das ziemlich spitz zu-
laufende Untergesicht. In Folge der Haartracht ist die Stirn bei den ApoUonen
und dem Athleten gleich gebildet; fast ohne Einziehung setzt sich ihre Linie in der
kräftigen Nase fort. Die Durchbildung der einzelnen Gesichtstheile lässt überall
noch die Strenge der archaischen Kunstübung durchblicken. Von hohem Werth
für die Beurtheilung des Stils ist die Haarbehandlung. Organisches Leben zeigt das
Haar bei den drei Köpfen noch nicht; wie eine leichte dünne Hülle umgiebt es den
Schädel, dessen Formen es deutlich hervortreten lässt. Dadurch scheidet sich der
Erbacher Kopf von den nicht allzuviel späteren Parthenonskulpturen, bei denen
das Haar, wenn auch noch dem Schädel untergeordnet, sich doch schon mehr vom
Kopf ablöst; besonders deutlich wird dies, wenn man noch den Diadumenos Farnese
in den Kreis der Vergieichung mit aufnimmt.
Gegenüber den stilverwandten römischen Köpfen weist der Erbacher einen niclit
unbedeu.tenden Fortschritt in der Haarbehandlung auf. Allen drei Köpfen ist gemein-
sam, dass die das Haupt umgebende Binde die gesammte Haarmasse in zwei deut-
lich von einander geschiedene Partien theilt, das mehr flächenhaft behandelte und
sozusagen in den Kopf hineingearbeitete Haar auf Scheitel und Hinterkopf, und die
Lockenreihe, die nach dem sorgfältigen Anlegen der Stirnbinde unter dieser her-
vorkommt.
1) Dass von einer Aehnlichkeit des Kopfes mit den sogen. Jubaköpfen (v. Dulm, West-Deutsche
Zeitschrift 1886, S. 199) keine Rede sein kann, zeigt eine einfache Vergieichung.
2) Rom. Mittheil. VI. 1891, Taf. XI, XII.
Fostschi-if't für Ovorbeclt. 1]
82 Eduard Anthes.
Hierbei zeigt sich der Unterschied: die römischen Köpfe bilden die Haare so,
dass die beiden durch die Binde geschiedenen Haarmassen völlig verschieden behan-
delt sind und ohne Zusammenhang mit einander zu sein scheinen. Das ELaar ober-
halb der Binde ist vom Wirbel auf der Mitte des Hinterkopfs ausgehend in
flache wellenförmige Strähne gegliedert, die durch den Reifen scharf abgeschlossen
sind. Anders beim Erbacher Kopf und dem gerade in diesen Theilen mit ihm genau
übereinstimmenden Londoner. Hier zeigt sich das erfolgreiche Bestreben, der Natur
gemäss eine reichere Gestaltung des Haares durchzuführen; es wird in einzelne
Löckchen aufgelöst, die sich auch unterhalb der Binde organisch fortsetzten. Zeigt
sich hierin ein Fortschritt, so sind andrerseits die Stirnlöckchen des Erbacher Athleten
eher noch schematischer gebildet als bei jenen Apollonköpfen ; doch sind sie ohne
Benutzung des Bohrers hergestellt. An der Seite des Kopfs, nach den freibleibenden
regelmässig gebildeten Ohren zu, sind es nicht spiralförmige Löckchen, sondern flach
anliegende Ausläufer des Haupthaars. Im Nacken fehlen dem Athleten die lang
herabwallenden Haarmassen, die beide römische Köpfe aufweisen. Die Art, wie die
einzelnen Locken des Oberkopfes nochmals durch drei bis vier gleichlaufende Linien
gegliedert sind, findet sich auch sonst, und zwar bei Kunstwerken aus zwar ziemlich
gleicher Zeit aber sehr verschiedener Stilgattung. So genau entsprechend auf dem
Kopf einer fragmentirten Sabouroif'schen Grabstele'); die »etwas ängstliche und harte
Sorgfalt«, mit der dort die Haarbüschel gebildet sind, findet sich auch auf dem Er-
bacher Kopf'-*). Aber auch ein älteres Kunstwerk, der weibliche Bronzekopf von der
Akropolis ■') , zeigt dieselbe Anordnung, wie auch der Dresdener Kopf"*) aus Perinth,
in dem wir ein echt attisches Werk zu erkennen haben. Von sj)äteren seien die
Phaonhermen als verwandt wenigstens angeführt. Da diese Haarbehandlung sich bei
einer E.eihe von stilistisch auseinander liegenden Köpfen findet, wird man sie nicht
als sicheres Kriterium auf den Stil eines bestimmten Meisters ansehen dürfen, sondern
sagen müssen, dass man in verschiedenen Schulen eine derartige Belebung des Haares
versucht hat. —
Zur Vergleichung mit dem Erbacher Athletenkopf eignet sich ganz besonders
der schon erwähnte attische Kopf aus Perinth''). Zunächst zeigt sich eine bedeu-
1) Sammlung Sabouroff I, Taf. 5.
2) Furt wängler glaubt in der Haarbeliandlung des angeblich aus Megara stammenden Reliefs
die Art erkennen zu können, in der Myron seine Haare bildete.
3) Musoes (V Äthanes IG.
4) Athen. Mittheil. XVI, Tai'. 4, ü.
5) A. a. O. S. 313 ff.
Athletenkopf in Erbach. 83
tende Verschiedenheit in der Form des Schädels. Wenn auch die Umrisslinie des
Ober- und Hinterhauptes, von vorn gesehen, an beiden Köpfen ziemlich gieichmässig
verläuft, so besteht doch ein gewichtiger Unterschied darin, dass bei dem attischen
Kopf die grösste Breite an der Schläfe liegt; der Erbacher Athlet aber weist eine
bedeutende Ausladung des Schädels über den Ohren auf, wenn auch nicht in dem
Grade, wie wir sie bei den Köpfen der polykletischen Kunst zu treffen gewohnt sind.
Damit hängt zusammen, dass das ganze Gesicht bei dem Erbacher und den verwandten
römischen Köpfen wesentlich schmäler erscheint und nach unten spitzer zuläuft als
bei dem attischen, der von vorn gesehen ein viel regelmässigeres Oval zeigt. In
jenen Köpfen dürfen wir im Keim schon die eigenthümliche Kopfbildung der spä-
teren peloponnesischen Werke erkennen.
Auch in der Profillinie unterscheiden sich beide Köpfe, besonders in der Stellung
der Nase zur Stirn; beim Erbacher Athleten trennt die beiden eine leise Einziehung;
der attische Künstler bildete die Nase in direkter gradliniger Fortsetzung der Stirn.
Auch springt dort das Untergesicht viel kräftiger hervor, als hier.
Nicht geringer sind die Abweichungen in den Einzelheiten der Gesichtsbildung.
Der Künstler des Erbacher Athleten arbeitete die Augen grösser, anatomisch richtiger
und auch lebensvoller als der attische Meister. Die grösste Verschiedenheit macht sich
aber in der Wiedergabe des Mundes geltend. Auf den Lippen des attischen Kopfes
schwebt »als Nachhall eben überwundener archaischer Darstellungsweise noch der
leise, kaum merkliche Hauch eines Lächelns « (Herrmann), hier dagegen sehen wir
den festgeschlossenen Mund schon mit feiner Beobachtung der natürlichen Form in
schöngeschwungener Linie dargestellt, freilich ohne dass es der Künstler vermeiden
konnte, seinem Werk den Ausdruck eines fast mürrischen Ernstes aufzudrücken, der
sich ähnlich, aber in geringerem Grad, auch bei den römischen ApoUonen zeigt.
Aus alledem geht eine scharf ausgesprochene stilistische Verschiedenheit der
beiden Köpfe hervor, die in anderem Sinne sich im Ausdruck beider kundgiebt. In
dem attischen Kopf herrscht trotz aller Gebundenheit in den einzelnen Formen und der
Strenge in ihrer Darstellung doch schon lebensvollere Frische und ein bedeutenderer
geistiger Ausdruck als im Erbacher Athleten und in den ihm verwandten Köpfen,
denen eine gewisse Trockenheit und Leere gegenüber dem Werk des athenischen
Künstlers nicht abgesprochen werden kann. Formensprache und Ausdruck weisen
darauf hin , dass wir den Ursprung des Erbacher Kopfes nicht in Attika zu suchen
haben. Berücksichtigt man ferner die Eigenthümlichkeiten, die er mit späteren
peloponnesischen Werken gemein hat, so wird die Vermuthung wahrscheinlich, dass
11*
84 Eduard Anthes. Athletenkopf in Brbach.
der Atlilet auf dem Gebiet oder doch wenigstens unter dem Einfluss peloponnesischer
Kunst entstanden ist. Dies gewinnt noch an Wahrscheinlichkeit, wenn man den aller-
dings älteren Bronzekopf von der Akropolis^) zum Vergleich heranzieht, in dem
man mit Eecht ein Werk der argivisch-sikyonischen Schule erkannt hat^). So glaube
ich, in dem Erbacher Athleten im Gegensatz zu dem aus Perinth ein unter dem Ein-
fluss der peloponnesischen Kunstübung entstandenes Werk erkennen zu dürfen.
Auf einen bestimmten Künstler als Urheber dieses Athletentypus zu rathen,
halte ich für verfrüht, so lange nicht eine grössere Zahl von Denkmälern dieser
Gruppe erkannt und genauer Vergleichung zugänglich gemacht ist^). üas Verdienst
dieser Zeilen möge sein, auf eins der weniger bekannten unter diesen Monumenten
hingewiesen zu haben.
1) Musees d'Athcncs Nr. 16.
•2) Studniczka, Athen. Mittheil. XVII, 1887 S. 372.
3) Verwandt ist der Ephebe vom athenischen Olympieion im Saal der archaischen Skulpturen des
Nationalmuscums in Athen ; da mir nur eine kleine Photographie des Kopl's zur Verfügung steht, muss
ich mich darauf beschränken, die Achnlichkeit hervorzuheben.
Zum Hermes des Praxiteles
von
Arthur Sclmeider.
Mit Tafel V in Lichtdruck und 7 Figuren im Text.
JL/ie auf Tafel V gegebene Abbildung einer Wiederholung des Hermes des
Praxiteles in pompejanischer Wandmalerei führt kein bisher imbekanntes Denkmal
vor Augen, ist aber bestimmt, eine bessere Vorstellung von einem solchen zu geben,
als die bisher einzige Abbildung darbot. Ich fand das als 373 von Heibig ver-
zeichnete 0,23 m hohe Bild 1888 in der Casa di Sallustio in dem Zustande vor, wie
ihn die unter mechanischer Unterstützung gemachte sehr genaue Zeichnung Eichler's
darbietet. Ich liess sie anfertigen, weil mir eine neue Wiederholung des Hermes
vorzuliegen schien, da die Publication, die das Bild erfahren hatte, mir als beträcht-
lich abweichend vorschwebte. Sie ist von Furtwängler, der Satyr von Pergamon
Taf. III Fig. 6 gegeben worden, der auch das Verhältniss des Bildes zur praxitelischen
Gruppe richtig erkannt hat. Obwohl er lediglich das Schema wiedergeben wollte,
so ist doch selbst hierfür eines wenigstens störend, das ist die Wendung des Ko]ifes
des Satyrs. Genau war sie freilich ebensowenig, wie die Züge des Gesichtes —
vor fünf Jahren wenigstens nicht mehr — zu bestimmen, eines aber ist klar, dass sie
nicht nach der Traube gerichtet war, sondern eher nach Art des Bildes der Casa di
Navigiio') zu ergänzen ist. Schwerlich wären sonst auf der rechten Kopfseite die
Blätter des Kranzes erkennbar, die bei Furtwängler auch thatsächlich weggelassen
sind. Weiter ist der seltsame liaarschopf dort irrthümlich gezeichnet. Ferner ist
an Stelle der unmöglichen Schärpe, die im Oberkörper geradezu verschwindet, ein
etwas phantastisch umgeworfenes dünnes Gewand zu erkennen, das unter dem linken
1) V. llohden, Jahrbuch 1887, Taf. VI, S. 60.
S6 ArÜmr Schneider.
Arme hindurcligezogeu im llücken herabhängt. Wesentlich anders ist auch die linke
Scluilter, die Aveit weniger gehoben erscheint; das rechte Aermchen des Kindes ver-
schwindet z. Th. hinter dem Oberarm des Trägers.. Der rechte Fuss erscheint mehr
schreitend, als in Tanzbewegung, auch die Hand mit der Traube ist mehr nach vorn
gewendet, als die Tublication vermuthen Hess. Alles zusammengenommen ist der
Anschluss an den Hermes demnach in dem Wandgemälde thatsächlich weit enger —
wenn auch natürlich der Abweichungen viele übrig bleiben. Die Umwandlung der
Gruppe ins Idyllische — mythologisches Genre darf man es, wie Heibig') darlegt,
kaum mehr nennen — hat für diese Zeit nichts Verwunderliches, stehen wir doch
in der Periode der Decadence; ebensowenig die Ei'otenvoiiiebe, für die Helbig^)
Belege und Begründung anführt. Nur ist es nicht unwichtig, dass trotz dieser Um-
wandlung die Traube beibehalten ist, zu der sich Eros nicht eben hingezogen
fühlen niusste, wohl aber Dionysos. Ich glaube deshalb Reinach's^) rtLa restau-
ration du hras d' Hermes est toujours ohscurev- ist erledigt, kein anderer Grund als die
xinlehnung an das Vorbild kann bei unserem Bilde für die Traube bestimmend
gewesen sein. Je weniger der Verfertiger verstand, was er abschrieb, um so unver-
dächtiger ist seine Lesart. Zweifellos gehört die Darstellung jener ersten Gruppe
»gemeinsamen Eigenthums der griechisch-römischen Welt« Helbig's'') an, die er
bereits durch Nachweis statuarischer Vorbilder zu erweitern versucht haf*), von der
V. E,ohden die Vermuthung ausspricht, dass sie noch manche Spiegelung berühmter
Meisterwerke enthalten möge. Dass gerade »nicht die vollständigen Gemälde, sondern
jene zahlreich decorativ angewandten einzelnen Figuren und Gruppen, welche theils
auf einfarbigem Grunde stehen, theiis zur Belebung der gemalten Architektur dienen,
den unmittelbarsten und ungestörtesten Eindruck griechischen Geistes machen«, hatte
schon Burckhardt erkannt. Gerade die Thatsache aber, dass die Architektur dieser
Bilder sich immer mehr verzierlichte, verflüchtigte, ja schliesslich verschwand, sodass
die Figuren auf dem einfarbigen Grunde nicht stehen, sondern vielmehr schweben,
ist bestimmend geworden für die Verwendung der Vorbilder. Diese absolute Existenz,
zu der auch auf gewissen Vasen die Gestalten, selbst unter Verzicht auf den Basis-
1) Untersuchungen u. camp. Wandm. S. 85.
2) Ebenda S. 223, das Eindringen dieses Zuges in unsere Gruppe, im ersten Jahrh., also früher
als Heydemann noch annahm, wird hierdurch gesichert.
3) Rev. archeol. 1888. S. 1—4.
4) S. 71.
5) S. 82.
Zum Hermes des Praxiteles. 87
strich, gelangen, verträgt nur die Menschenfigur — die übrigens auch gern als
schwebend, fliegend gekennzeichnet wird, nichts organisch mit dem Boden Ver-
bundenes. Der Baum, selbst in seiner Andeutung, muss wurzeln ; kann er das nicht,
muss er wegfallen. Damit erklärt sich, dass das künstlerische Motiv verloren gegangen
ist, erklären sich alle Abweichungen vom Vorbilde, so der v. Rohden'schein, wie
noch mehr unserer Gruppe. Doppelte Unterstützung des Oberkörpers ist gerade das
Kennzeichen praxitelischer Kunst, wo sie aufgegeben ist, geht der herrliche Schwung
der Körperlinie, der reizvolle Wechsel von tragender und getragener Hälfte verloren.
Der Grad dieser Unterstützung, die Freiheit ihrer Verwendung ist deshalb benutzt
worden als Massstab für die Entwickelung des künstlerischen Vermögens des Praxi-
teles, d. h. für die historische Anordnung seiner Werke'). Da erst in jüngster Zeit
wieder diese Frage von dem Lehrer angeregt worden ist, dem diese Beiträge ein
Zeichen dankbarer Verehrung sein sollen, scheint es nicht unangemessen, sie mit
kurzen Worten hier zu streifen, zumal da diese Erwägung die ausschlaggebende bei der
Frage nach der Entstehungszeit des Originals bleiben wird. Sind doch Brunn's, so-
wie Reinach's sonstige Gründe für die Annahme, der Hermes sei ein Jugendwerk
des Künstlers, zu subjectiv, um eine Entscheidung herbeizu.führen. Denn wenn
geltend gemacht wird, die höchste Vollendung fehle dem Werke, so möchte ich
dagegen bemerken, dass gerade die unbestrittene Thatsache, dass der Rücken der
Hauptfigur, da er schwer sichtbar war, bewusst vernachlässigt, nicht polirt worden
ist, hier wichtig wird. Ich glaube, dass eine solche Mühersparniss, so sehr sie durch
die Anfstellungsumstände gerechtfertigt erscheint, eher bei einem vielbegehrten, seiner
Wirkung und der Anerkennung seiner Schöpfung sicheren Meister verständlich ist,
als bei einem werdenden. Rein Technisches wird demnach nicht entscheiden. Geht
man vom Kopfe aus, so ist ein Anschluss an Früheres, den Kekule zuerst darlegte,
unbestreitbar. Allein die Thatsache, dass immer mehr Vertreter dieses Typus bekannt
werden (ich erinnere an die Constantinopolitaner Bronce) , die doch nicht geradezu
von einander abgeleitet werden können, lassen mehr an eine zoivtj denken, eine
organische Weiterentwickelung ganz im Sinne antiker Kunstanschauung. Was weiter
den Umstand nicht hinreichender Ausreifung des Charakters des Kopfes anlangt, so
muss bei einem Vergleiche mit dem andrischen Standbild daran erinnert werden, dass
es Grab-, nicht reines Idealbild ist. Jedenfalls aber, dass gerade der Zug des harm-
los scherzenden Listgottes nur in der Gruppe hervortritt. Denn er »scherzt« in
1) Sachs. Ber. d. W. 1893. 23. April ist die Literatur verzeichnet.
88 Ai-tluiT Schneider.
der That. Er zeigt dem kleinen Dionysos die Traube, seine, des "Weingottes Traube,
und da dieser begebrlich darnach verlangt, entzieht er sie ihm mit neckischer List.
Schmeichelnd legt ihm der Kleine die Hand auf die Schulter, zappelnd strebt er
empor, während Hermes, das Spiel mechanisch wiederholend, sinnend an dem Kinde
vorbeiblickt. So »wartet« er des Schützlings tändelnd ihn täuschend; er kann die
Schalkheit nicht lassen, — aber nicht Verschlagenheit eignet dem Gotte jetzt, sondern
er erhöht durch Zaudern die Lust des Kleinen an der Gabe, die er ihm bestimmt
hat. Mir ist sehr fraglich, ob nur oder gerade ein jugendliches Gemüth zu solch
bewusster Harmlosigkeit durchdringt. Uebercultur gebar das Idyll. Der jugendliche
Schiller schilderte einen Franz Moor, während der gereifte den Teil schrieb. Also
auch aus diesen Erwägungen scheint mir ein bündiger Schluss im Sinne Brunn's
unmöglich. — Die Ueb erlief erung hilft uns wenig. Geringe Berühmtheit folgt nicht
aus ihrem Schweigen, sie hat auch sonst zuweilen übergangen, was höchster Beachtung
werth erscheint. Wollte man auf sie achten, so möchte es scheinen, dass Erzwerke
der Jugend des Künstlers vorwiegend gehörten, seine Marmofarbeiten höher geschätzt
waren. Positiven Anhalt gewährt uns nur eines, dass des Künstlers Vater den gleichen
Vorwurf behandelt hat. Der nächstliegende Gedanke ist, eine gewisse Anlehnung
an dieses Vorbild anzunehmen, wie wir von Daippos ein gleiches Verhältniss zum
Apoxyomenos seines Vaters Lysipp kennen. Nur muss man sich hüten, eine einfache
Abwandlung des geschaffenen Typus vorauszusetzen, vielmehr zeigt die Antike, wie
der dichtende wie bildende Künstler einen Eeiz empfand, mehrfach behandelte The-
mata mit seinem eigenartigen Geiste zu erfüllen. Dabei ist ein Anlehnen an einmal
gefundene, glückliche Lösungen sowohl bei dem reifen, wie bei dem beginnenden
Künstler möglich, ja wahrscheinlich, da eine Sucht nach überraschender Originalität
des Motivs dem Alterthum fremd ist. Die Anregung zu der Aufgabe wird also der
Künstler von seinem Vater empfangen haben und deshalb ist, glau.be ich, Reinach's
Vermuthung, die Gruppe als eine Fru.cht eines politischen Ereignisses des Jahres 363
zu betrachten, zurückzuweisen. In wie weit er sich formal an des Vaters Werk
anschloss, ist nicht direct zu ermitteln, da das Verhältniss- der Gruppe des Giardino
Boboli zu ihm ganz unsicher ist. Indirect hat man deshalb an die Eirene angeknüpft,
die eine verwandte Aufgabe gelöst zeigt. Die Innigkeit der Beziehung der Figuren zu
einander, d. h. der Grad der geistigen Bedeutung des Kindes für die Gruppe, der Grad
der Bekleidung des Kindes und die Vollkommenheit seiner Darstellung sind als Ver-
gleichspunkte verwendet Avorden; die Wendung des Antlitzes der Eirene zum Kind
scheint eine engere Verbindung als beim Hermes anzudeuten, allein sie war nöthig, da
Zum Hermes des Praxiteles. 89
sie der einzige Ausdruck ihres Verhältnisses zu ihm ist, während in unserer Gruppe
eine Handlung vorliegt, die in Begehren und Zurückhalten beide Figuren hinlänglich
verbindet. Gerade sie schliesst aber den Gedanken an attributive Behandlung des
Kindes aus. Das Attribut kann sich auf die Hauptfigur handelnd beziehen, sobald
aber eine auf das »Attribut« bezügliche Handlung der Hauptfigur das Motiv der
Composition inhaltlich bestimmt, bilden beide eine Gruppe. Eine bew^usste Ver-
nachlässigung des Kindeskörpers oder absichtliche Kleinheit kann also nicht vorliegen.
Dass das Kind in dem Verhältnisse zum Plermes, v^'ie in seinen eignen Proportionen
nicht glücklich ist, muss zugegeben werden. Nur lässt sich auch hieraus kein Schluss
auf frühere oder spätere Entstehungszeit ziehen. Sind doch die Söhne an der
Laokoongruppe gleichfalls in den Proportionen Erwachsenen gleich, nicht Knaben,
und hier haben wir doch höchste künstlerische Entwickelung vor uns. Was schliess-
lich die Verwendung des Gewandes beim Kinde anlangt, so kann weder sein Vor-
handensein, noch sein Fehlen nach der einen oder anderen Seite hin entscheiden.
Eirene ist würdig bekleidet; das Kind würde nackt auffallen. Hermes hat sein
Gewand nur augenblicklich abgelegt; der Silen hingegen, der das Kind trägt, ist im
Naturzustand und ebenso das Kind. Doch glaube ich, dass hier lediglich künstlerische
Rücksichten vorlagen. Das Dionysoskind musste auf dem Arme des Trägers ebenso
mit den Beinchen sich zappelnd mühen, wie es das Händchen ausstreckt. Wie wenig-
sicher es dann sässe, zeigen die Wandgemälde, die deshalb beide das Kind halten
lassen. In der Gruppe soll Hermes das Kerykeion führen, deshalb war es nöthig,
den Unterkörper des Kindes zu verhüllen, ganz abgesehen von dem unschönen,
flächenhaften Zusammenstossen zweier nackter, menschlicher Körper, das vermieden
wird. Demnach versagen alle Beweismittel für eine »Jugendarbeit« bis auf die aus
der Entwickelung des Standmotivs, des compositionellen Charakters der Gruppe,
abgeleiteten. Allerseits ist als bestimmend angesehen worden, dass aus dem in sich
selbst ruhenden Gleichgewichte Polyklets, das z. B. die Eirene noch bewahrt, ein
Uebergang zu dem elastisch unruhigen Stande Lysipps von Praxiteles gefunden wurde
in der Verwendung der Stütze zur theilweisen Entlastung der Figur. Brunn meint,
die grössere oder geringere Freiheit, mit der dieses neue Hilfsmittel verwendet Avorden
sei, könne als Gradmesser der Entwickelung des Künstlers dienen. Dies zeige sich
schon in der wachsenden Unbefangenheit, den Baum als Stütze einzuführen, während
er im Hermes noch »verschämt« durch das Gewand verhüllt werde. Overbeck hat
mit Recht darauf hingewiesen, dass beim Sauroktonos der nackte Stamm für die
Handlung nöthig ist, beim Silen ein Gewand, das ihn verliüllen könnte, fehlt.
Fostrtclii'il'i l'iir Ovorbcclc. i2
90 Arthuv Schneider.
Aber auch das möchte ich hervorheben, dass am Hermes sogar die verbindende
Zwischenstütze stehen geblieben und einfach als solche belassen ist, ja Brunn ihr
gewisse compositionelle Wirkung zuschreibt, sodass ein absichtliches Verhüllen des
Stammes nicht der Grund wurde, das Gewand darzustellen, sondern künstlerische
Gesichtspunkte. Wenn also die Unbefangenheit der Stütze schwerlich als Gradmesser
betrachtet werden kann, so meint doch Brunn, die Entwickelung in ihrer Aus-
nutzung dadurch finden zu können, dass Eirene keine bedarf, Hermes mehr für das
Kind als für sich sie braucht, während sie beim Sauroktonos kaum noch als solche
empfunden wird, beim Silen aber der eigentliche Träger ist, ohne den er fallen
müsste. Ov erb eck legt dagegen Verwahrung ein, den Grad des Aufstützens zu
chronologischer Anordnung zu verwenden, und weist darauf hin, dass er sich bei
den verschiedenen Gestalten aus ihrer Situation erkläre und dementsprechend ver-
schieden sei. Zweifellos ist beides richtig, und doch finden wir gcAvisse Motive z. B,
das des aufgestützten Fusses bei Lysipp modificirt, aber in langer Verwendung, und
werden aus der Art dieser Verwendung gewisse kunstgeschichtliche Schlüsse ziehen
können. Nur scheint mir die Stellung des Problems, wie Brunn sie gefasst hat,
keine glückliche. Die Anwendung der Stütze hat nicht sowohl den Zweck, den
Körper möglichst völlig, sondern möglichst schön zu entlasten. Ich möchte des
Praxiteles Eigenart dahin kennzeichnen, dass er, wie Myron den Rhythmus der Be-
wegung fand, den Rhythmus der Ruhe im. Contrast von Tragen und Ge-
tragensein findet, woraus ein Chiasmu.s der Bewegung hervorgeht, gegrün-
det auf genaueste Symmetrie. Dies ist nur möglich dadurch, dass er seine
Gestalten nicht wie Polyklet und noch Kephisodot in der Eirene in sich selbst, son-
dern ausser sich selbst beruhen lässt. Der Grad, in dem es gelungen ist, dieser
Aufgabe die Stütze dienstbar zu machen, mag für ihn und seine Nachfolger aller-
dings in gewissem Sinne zum Massstab der künstlerischen Entwickelung werden. Dieser
Contrast entsteht durch seitliches Verrücken des Schwerpunktes des Oberkörpers, wo-
durch eine Neigung der tragenden Axen im Körper gegeneinander erfolgt, die in den
oberen und unteren Körpertheilen die gleiche Richtung, nur seitlich verschoben, auf-
nehmen, die untere Hälfte des Oberkörpers schräg stellen. Dadurch entsteht der schöne
Ausschwung der Hüfte, der namentlich bei männlichen Figuren nirr auf diesem Wege
zu erreichen ist, während bei weiblichen Körpern der natürliche Schwung der Hüfte
dem künstlerischen Bedürfnisse mehr entgegenkommt. Meine Untersuchung beschränkt
sich deshalb auf männliche Körper und sucht nachzuweisen, dass ein Rhythmus des
Contrastes von Lasten und Schweben der Muskeln, ein Chiasmus der Ponderation in
Zum Hermes des Praxiteles,
91
der Ruhe bedingt ist durch möglichsten Parallelismus bez. Rechtwinkligkeit der
tragenden Axen, da der getragene Theil stets der Richtung der entgegengesetzten
tragenden Axe folgt. Die Zeichnung mag dem Worte zu Hilfe kommen. Bei einem
durchaus gerade stehenden Menschenkörper stehen die Axen loth-
recht zum Boden, der Unterstützungspunkt liegt zwischen den
Beinen. Bei jedem Versuch der Betheiligung einer zweiten seit-
lichen Stütze wird zunächst die Axe des Rumpfes mit dem Loth
der tragenden Beine und hängenden Arme einen Winkel bilden.
Sobald aber der Arm die Function des Stutzens thatsächlich auf-
nimmt, wird dadurch die betreffende Schulter emporgedrängt.
Dadurch erfolgt eine weitere Verschiebung des Winkels des
Rumpfes und der Schulterlinie. Bei ruhigem Herabhängen des
anderen Armes tritt diese Brechung nicht in der directen Verlän-
gerung der Neigungsaxe ein, d. h. nicht der ganze Rumpf ist an
ihr betheiligt, vielmehr werden die Brustmuskeln an der be-
beth eiligt,
treffenden Schultererhebung betheiligt ,
T
-(
Ks. .1.
sodass hier eine Vermit-
telung stattfindet, im Sinne der tragenden Axe. Als erläuterndes
Beispiel der Anwendung der Methode wähle ich Clarac III, 484,
932. Hier stützt der linke Arm, aber nicht gerade, sondern etwas
seitlich geneigt. Der Künstler hat nun — und hier beginnt das
Gewollte neben dem Nothwendigen — den an sich frei beweg-
lichen Kopf, sowie den rechten Unterarm absichtlich jener Axe
folgen lassen, wie auch das Standbein etwas nach innen steht, das
Spielbein im Oberschenkel derselben Richtung folgt, während der
Unterschenkel wenigstens für die beim Componiren begünstigte
Vorderansicht etwa der Neigungsaxe des Körpers folgt. Der
Wechsel / bewahrt vor zu grossem Einerlei. Den Grad des Er-
füllens und Abweichens von der Regel giebt das eingezeichnete
Schema. Ganz fällt der rechte Oberarm aus der Composition. Der
rechte Winkel von linkem Arm und Schulterlinie, den der rechte
Unterarm wieder aufnimmt, wirkt zwar sehr regelrecht, aber etwas
eckig und langweilig. Das Ganze macht den Eindruck etwas
inhaltsleerer Pose. Wenn es nun ganz gewiss wahr ist, dass
alle jene Figuren, die ihres Motivs halber herangezogen worden sind, der Apollino,
der ausruhende Satyr, der »Meleagertypus«, der Sauroktonos oder auch der Silen mit
92
Arthur Schneider.
dem Kinde sich je nach ihrer Situation, ihrer Belastung stützen, und also verschieden
unter sich wie vom Praxiteleshermes stützen, so ist doch nicht zu verkennen, dass
es sich um die Lösung desselben künstlerischen Problems handelt, wenigstens bei
den ersten. Denn der Silen mit dem Kinde scheidet von vorn herein hier aus.
Gerade der Wechsel in den Functionen der Körperhälften, der Sch\Vung der Hüfte
fehlt ihm, 'idas nicht anmuthig aber natürlich vorgesetzte Bein« bringt eine schräge
Richtung auch in die Axe der Beine, sodass zwar die Neuerung der Stütze eine
Vorbedingung für die Stellung ist, diese aber keineswegs die directe Fortbildung
noch ■ — wie sich zeigen wird — gar die vollkommenste Lösung des Problems, wie man
nach Brunn glauben sollte. Näher steht diesem der Sau-
roktonos, nur ist der principielle Unterschied zum Hermes-
motiv, dass die Stütze hier nicht den Körper trägt, sondern
seitlich unterstützt. Dadurch ist das Motiv völlig verändert.
An Stelle des Stutzens ist ein Lehnen an einer erhöhten
Stelle getreten, ein Auflegen, das dem Auflegen des Ge-
wehres zum Zweck sicheren Schusses entspricht. Der Pfeil
ist das Projectil, dem um die Axe der zwei Unterstützungs-
punkte des rechten Beines und linken Arms rotirenden
Körper soll lediglich ein Widerlager gegeben werden, die
Bahn des rechten Arms zu sichern. Demnach ist die Ge-
sichtslinie rechtwinkelig zu der sehr schrägen Schulterlinie
gesenkt, während letztere zu keiner sonstigen Linie in Be-
ziehung steht. Nur der Schwung der Hüftlinie ist geblie-
ben, während das Spielbein die Drehbewegung unterstützt.
Demnach ist nicht mehr der Rhythmus der Ruhe ge-
geben, sondern höchst kühn der Uebergangsmoment zu einer ganz vorübergehen-
den Bewegung. Wenn also auch der Inhalt ein neuer, die Composition dement-
sprechend neu geworden ist, so werden wir doch auch die in verwandter Art lehnen-
den, wie die ApoUone z. B. M. W. H 12, 131, nicht als völlig glückliche Lösungen
des Problems ansehen. Erstens bleibt das Wandelbare, Unsichere, zweitens trägt der
linke Arm nicht eigentlich, sondern hebt die Musculatur der linken Seite empor,
die dadurch ihre Contrastwirkung verliert. Auch der den Körper überschneidende
Arm ist keine Verbesserung. Recht eigentlich aber erscheint der ausruhende Satyr
als Erfüllung dessen, Avas wir als die vom Motiv gestellte Aufgabe ansahen. In der
That ist hier das Stützen des Armes, wie die Axe des Standbeins fast lothrecht; die
Fis. -i.
Zum Hermes des Praxiteles.
93
Schulteiiinie ist rechtwinklig hierzu dadurch geworden, dass der in die Hüfte gestützte
Arm die Schulter etwas empordrängt. Andrerseits erhöht der Umstand, dass Hand
und Arm wieder am Körper einen Stützpunkt finden, das Gefühl absoluten Euhens,
das verstärkt wird durch eine leise seitliche Neigung des Kopfes — der dadurch
freilich aus der Axe herausfällt, während ein Festhalten an dem Schema unerträg-
liche Steifheit ergeben würde. Hieraus ergiebt sich, dass ein senkrechtes Herab-
führen der tragenden Axen allerdings geeignet ist, völlige, sichere Ruhe zu kenn-
zeichnen, sich aber nicht völlig durchführen lässt, ohne gezwungen, unnatürlich zu
wirken. — Dieselbe Schwierigkeit, den Kopf mit einer der Axen in Uebereinstim-
Fig. 4.
Ti"-. 5.
FiK. 0.
mung zu bringen, zeigt sich beim Apollino, der sonst mit grosser Sorgfalt auf Wahrung
des angedeuteten Verhältnisses der Linien unter einander hält. Hier ist zum ersten
Male eine Neuerung eingeführt, die sich als eine compositionell höchst glückliche
bezeichnen lässt. Der stark erhobene rechte Arm hebt die rechte Brusthälfte so
stark, dass die Neigungslinie fast bis zur Halsgrube durchführbar ist. der Uebergang in
der Brust gemildert wird, während der rechte Oberarm wieder die Richtungstendenz der
entgegengesetzten Axe aufnimmt. -Der rechte Unterarm geht freilich leer aus und
fällt, wie die Kopflinie, aus dem Rhythmus heraus. An der Belvedere'schen Statue
endlich, die ich als Vertreter der unmittelbar an das Motiv unsres Hermes mit dem
Kinde anschliessenden Standbilder herausgreife, ist es gelungen die Kopflinie mit der
94
Arthur Schneider.
einen der llauptaxen in Einklang zu bringen, doch ist der Vortheil des stark gehobenen
rechten Arms aufgegeben worden. Welche Wirkung das compositionell hervorbringt,
veranschaulicht die Skizze. Ueber die Arme lässt sich nicht sicher urtheilen, doch
genügt es, diese Abwandelung des Motivs
neben ihr Vorbild zu stellen, neben die
praxitelische Gruppe. Betrachten wir als
eine der Hauptlinien die Gesichtslinie der
Hauptfigur, die gewiss für die Vorderansicht
bedeutend genug ist, um als massgebend
angesehen zu werden, als die andere die
Neigungslinie von der Halsgrube des Hermes
bis zum Mittelpunkt des Unterleibes, die
Linie, die sich ungezwungen als die für
den von Brunn hervorgehobenen Grad
der Unterstützung massgebend darbietet, so
lässt sich ein bis ins Kleinste genau durch-
geführter. Parallelismus der Hauptlinien,
eine vollendete Symmetrie der getragenen
und freischwebenden Körperhälften und
ein Chiasmus dieser Functionen wahrneh-
men, den man schwerlich für Zufall halten
wird. Der Vortheil, den Kopf -in Bezie-
hung zur einen Axe zu bringen, verbindet
sich mit dem des stark gehobenen Armes,
der die Richtung der entgegengesetzten
Axe aufnimmt, wodurch beide gleichsam
in Stufen gebrochen zur Spitze der Com-
position emporgeführt werden, wo die her-
abhängende Traube und der rechte Unter-
arm die Spitze des Winkels bildeten, ver-
mittelt durch die feine Biegung der Hand.
Denn ich glaube, es ist geradezu eine ästhetische Forderung, Arm und Traube so
zu ergänzen, wie die Axen es andeuten, was durch die Wandbilder eine Bestätigung
erfährt. Die Lösung des Problems liegt darin, dass die beiden Bewegungsaxen in
einem Punkte — der Halsgrube — (auf der Zeichnung ist dies weniger augenfällig,
Zum Hermes des Praxiteles, 95
weil die Gesichtslinie vor der Halsaxe perspectivisch hervortritt) um gerade '/2 rechten
Winkel gedreht, d. h. auch unter einander rhythmisch in Verbindung gesetzt sind.
Ich zweifle nicht, dass neben den von Michaelis angeführten Gründen der Wunsch,
im Rhythmus zu bleiben, Mitschuld trägt an dem »Vorbeisehen« am Kinde, wie dieses
selbst durch Rücken und Gesichtslinie aufs engste in die Composition verflochten ist,
während das GeM'and den linken Unterarm verschwinden macht. Dass derartige
künstlerische Rücksichten auch für die Kleinheit des Kindes massgebend gewesen
sein können, sei hier nur angedeutet. Jedenfalls möchte ich in unserer Gruppe
die denkbar glücklichste Lösung des oben aufgestellten künstlerischen Problems er-
blicken, die trotz aller Gesetzmässigkeit jede Steifheit vermeidet und um so höher
anzuschlagen ist, da es sich hier nicht nur um einen willkürlich gestellten Act handelt,
sondern um eine bestimmte künstlerische Aufgabe, die auch inhaltlich meisterhaft
durchgeführt worden ist. Ich weiss wohl, dass die Bildhauerkunst überhaupt, nament-
lich aber bei einer Gruppe, nicht auf eine Ansicht hin arbeitet, ebenso bin ich über-
zeugt, dass die angestellten theoretischen Erwägungen sowohl den Schöpfern der
sonstigen herangezogenen Bildwerke, wie dem Praxiteles ferne gelegen haben werden,
es ist aber zu allen Zeiten das Recht und die Pflicht der Kunstgeschichte gewesen,
die Gesetze, die der schöpferische Genius des Künstlers unbewusst befolgt hat, als
solche zu erkennen und in gemeingiltige Sätze zu fassen. Nur um sinnlich zu ver-
deutlichen, was sich mit Worten schwerer erläutern lässt, habe ich Skizzen gezeichnet,
die dem Auge die gleichen Richtungstendenzen fühlbar machen sollen, ohne zu be-
anspruchen, die zu diesem Zwecke pinzig möglichen zu sein. Ohne vorläufig über
die Frage nach dem Alter der Gruppe des Praxiteles innerhalb seiner Werke ab-
sprechen zu wollen, möchten diese Zeilen wenigstens die Fragestellung betrefi"s der
Lösung des in der Gruppe gestellten Problems in etwas andere Bahnen lenken , als
bisher geschehen.
Ueber einen Koratypus praxitelischer Zeit
Paul Arndt.
IJer schöne weibliche Kopf Nr. 89 der Münchener Glyptothek, in weiteren
Kreisen auch unter dem Namen »der Brunn'sche Kopf« bekannt, da durch diesen
Gelehrten zuerst der hervorragende künstlerische Werth des Stückes als eines der
vorzüglichsten uns erhaltenen Originale griechischen Meisseis in helles Licht gesetzt
worden ist, hat hinsichtlich seiner Deutung wie seiner Datii'ung die verschiedenartigste
Beurtheilung erfahren. Denn während die Benennung des Kopfes zwischen Poly-
hymnia, der Muse des ernsten Gesanges, oder Kora, der jungfräulichen Göttin, auf
der einen, und Phryne, der verkörperten Verneinung aller Jungfrauschaft, auf der
andern Seite sich schwankend bewegt, gehen die Ansichten über die Entstehungszeit
des Kopfes um fast zwei Jahrhunderte auseinander, indem ihn die Einen der Kunst-
blüthe zur Zeit des l'hidias. Andere dem Beginn der alexandrinischen Epoche
zutheilen.
Den Versuch, zu grösserer Gewissheit in beiden Fragen zu gelangen, recht-
fertigt die ausserordentliche, stets von Neuem mit stiller Gewalt fesselnde Schönheit
des Kopfes, die den Meissel eines der ersten griechischen Meister verbürgt. Zu
vollem Ausdrucke allerdings gelangen die künstlerischen Vorzüge des Werkes nicht
in dem originalen Marmor, wie er zur Zeit dem Beschauer in der Sammlung ent-
gegentritt, sondern erst in der vor einigen Jahren auf Brunn's Anregung hin am
Gipse vorgenommenen Eestauration des Kopfes, die durch den von der Verlagsanstalt
Bruckmann zur Münchner Philologenversammlung 1891 gespendeten wohlgelungenen
Lichtdruck auch in weiteren Kreisen bekannt geworden ist. Die wesentlichste
Aenderung dieser neuen Ergänzung besteht in der Umgestaltung des Verhältnisses
von Kopf zu Hals, in einer leisen Abwärts- und Seitwärts-Neigung des Kopfes.
Uebor einen Koratypus praxitelischer Zeit. 97
Durch diese einfache Manipulation ist, wie Brnnn dies bereits in den Verhandkingen
der Münchner Phil.-Vers. S. 249 ausgesprochen hat, das ganze Grundwesen, die
Stimnuing des Kopfes verändert worden. Die kühle, formale, äusserliche Schönheit
ist von seelischem, innerlichem Leben durchdrungen und vergeistigt worden. Konnten
wir früher den Kopf nur bewundern, so können wir ihn jetzt lieben, mit ihm
fühlen, ein freundschaftliches Verhältniss zu ihm gewinnen.
Diese Freude an der neuentdeckten Schönheit wird gesteigert, da wir nunmehr
auch in den Stand gesetzt worden sind, das in dem Kopfe dargestellte Wesen, wenn
schon noch nicht mit völliger Sicherheit, so doch mit grosser Wahrscheinlichkeit,
bestimmter als bisher zu benennen. Denn mir scheint, dass die bereits früher in
Vorschlag gebrachte und jetzt auch von Brunn angenommene u.nd vertretene
Bezeichnung des Kopfes als Kora besser als irgend eine andere dem innern geistigen
Charakter des Werkes entspricht. Unter allen den Wesen, die überhaupt für die
Benennung in Frage kommen können, Aphrodite, Artemis, Demeter, Hestia, Hygieia,
eine der Musen, Persephone, eignet keinem so wie der letztgenannten Göttin der
leise Zug wehmüthig sinnender, verhaltener Trauer, der durch die Abwärtsneigung
des Kopfes in der unteren Hälfte des Gesichtes zum Vorschein gekommen ist. Vor
allem ist derselbe dem Wesen der Aphrodite fremd, und ich kann deshalb der von
Heibig vorgeschlagenen Benennung des Kopfes als Phryne, der menschgewordenen
Aphrodite, durchaus nicht zustimmen. Von einem Reize weiblich-sinnlicher Schönheit,
wie ihn Phryne besessen hat, finde ich in dem Kopfe keine Spur. Nichts von feuchter
Liebessehnsucht in Auge und Mund; keine verlangende Wendung des Kopfes nach
aussen; der ganze Eindruck ein jungfräulicher, von der Sprödigkeit der Artemis wie
der Koketterie der Aphrodite gleichweit entfernter, ganz in sich beschlossener. Die
echte Tochter der Demeter von Knidos: wie sich im Antlitz der Demeter die trauernde
Sehnsucht um die verlorene Tochter ausspricht, so tragen die Züge der Kora den
Ausdruck des wehmüthigen Schmerzes der der Mutter beraubten Jungfrau. Wir
dürfen hoffen, dass es in Zukunft gelingen wird, für die Benennung Kora auch den
positiven Beweis aus Thatsachen zu liefern, der mit den jetzigen Hilfsmitteln (das
Nähere bei Heibig, Führer I, 379) noch nicht erbringiich scheint.
Ein weiteres wichtiges Ergebniss der neuen Restauration ist die Möglichkeit,
den Kopf jetzt auch stilistisch, zeitlich genauer zu fixiren. Brunn hat ihn, wie
gesagt, früher der Periode des Phidias zugewiesen, neiierdings ihn bis in den Anfang
des 4. Jahrh. hinabgerückt und mit der Kunst des Damophon von Messene in
Verbindung zu bringen gesucht. Aber Damophon ist, soweit man nach den
Festsi'ln-U't fiir Ovprljock. i.'J
98 Paul Arndt.
Abbildungen der neuen Funde von Lykosura urtheilen kann, ein Künstler nicht vom
Beginn des 4., sondern frühestens vom Anfange des 3. Jahrh. gev^^esen, und bis in
diese Zeit, den Beginn der hellenistischen Per jode, die Entstehung des Münchner
Kopfes hinabzurücken, wie Einige dies v^ollen, halte ich unbedingt für unstatthaft.
Denn bei aller Weichheit der Meisselführung, die an den äusseren Augenwinkeln
z. B. und am Haaransatz ganz bewundernswerthe Sicherheit und Frische zeigt, domi-
nirt doch in der ganzen Anlage des Kopfes das Knochengerüst und das bedeckende
Fleisch, und die feinen Reize der beweglichen Haut sind noch nicht, wie dies die
alexandrinische Periode liebt, zur Erzielung malerischen Eindruckes zur Verwendung
gelangt. Es ermangelt ferner die technische Behandlung des Marmors noch jener
Abneigung gegen festumgrenzte Flächen, die meines "Wissens auch erst in nach-
praxitelischer Zeit sich Geltung verschafft. Ein Vergleich mit einem ebenfalls der
Münchner Glyptothek angehörigen griechischen Originalkopfe, der sog. Methe Nr. 134
(Brunn-Bruckmann Tafel 125), wird das Letztgesagte yerdeiitlichen. Im Contur
der Formen ist dieser Kopf spröde, herb, knapp, auf Aelteres zurückweisend, und
erinnert insofern an den Kopf 89. Im Detail, in der Einzelform hingegen ist der
Künstler der »Methe« bestrebt gewesen, präcise Begrenzungen, durch welche sich
die Formen von einander absetzen, nach Kräften zu verreiben, zu verschleifen, zur
Erzielung eines dem »Sfumato« der Malerei analogen Eindruckes*). Nahe verwandt
in der Behandlung des Marmors ist der unlängst erworbene schöne Selene(?)kopf aus
Kyzikos im Dresdner Museum, den ich aus eben diesen Gründen nicht mehr in die
Periode des Praxiteles hinaufzurücken im Stande bin. Am schärfsten ist dieses
Princip der malerischen Auflösung der Form in dem bekannten weiblichen Kopfe
aus Pergamon (Bruinn-Bruckmann Tafel 159) ausgesprochen.
Muss ich mich so auf der einen Seite einer Ilinabdatirung des Kopfes 89 in
hellenistische Zeit widersetzen (näheres Eingehen auf die falschen Schlüsse, die man
aus der Haartracht des Kopfes für seine späte Datirung hat ziehen wollen, halte ich
für überflüssig), so kann ich mich ebensowenig mit seiner Fixirung in den Kunstkreis
des Phidias einverstanden erklären. Aus Gründen der äusseren Form wie der geistigen
Stimmung, die aus dem Kopfe spricht. Denn wenn auch das Vergleichungsmaterial
mit originalen, sicher der Periode des Phidias zugehörigen Marmorköpfen ein sehr
1) Ein der ))Methe(c formal sehr iihnli dies weibliches Köpfchen, das in Gipsabgüssen verbreitet ist,
bei Dr. Naue in München, griechisches Original, stammt aus Memphis. Ein weiteres verwandtes Stück,
ein weiblicher lleliefkopf in Dresdner Privatbesitz (Aroli. Anz. 1891, p. 25, Fig. 12), aus Gizeh.
Genügt dies, um auf ägyptisch-hellenistischen Ursprung dieser Denkmäler schliesscn zu lassen?
Ueber einen Koratypus ju'axitelischer Zeit. 99
geringes ist, so lehrt doch schon die blosse Nebeneinanderstellung der Münchner
Kora und des sog. Web er 'sehen Kopfes (im Besitze des Marquis de Laborde in Paris;
durch Abgüsse bekannt), an dessen Zugehörigkeit zu den Parthenongiebeln auch
Michaelis keinen Zweifel aus.spricht, wie viel noch herber und alter thümlich er in den
Formen, um wie vieles seelisch kühler und sinnlich reizloser jenes Werk aus der
Zeit des Phidias gearbeitet ist. Ich glaube, dass Brunn's ehemalige Datirung in
erster Linie durch die falsche Restauration des Originalkopfes bedingt worden ist,
die von der Fülle innerlichen Lebens, das den Kopf durchdringt, keine Ahnung giebt.
Aber auch in der Periode des Kephisodot, in welche Brunn neuerdings den
Münchner Kopf versetzt, scheint mir noch nicht der geeignete Platz für denselben
zu sein. Ich gehe dabei von der Ansicht aus, die an anderer Stelle eingehender zu
begründen sein wird, dass die bisherige Ansetzung der Eirene des Kephisodot in die
Nähe des Jahres 375 unhaltbar ist, dass die Statue vielmehr, wenn nicht mehr in
dem 5. Jahrhundert, so in den ersten Jahren des 4. entstanden ist. Eine derartig-
strenge Gewandbehandlung sowie dieser Kopftypus sind nach meinen Beobachtungen
im dritten Decennium des 4. Jahrhunderts nicht mehr üblich gewesen. Die äusseren
Gründe widersprechen nicht dieser früheren Ansetzung des Kephisodot. Um das
Jahr 400 aber, d. h. ungefähr gleichzeitig mit den Karyatiden vom Erechtheion, die
vielleicht in näherer Beziehung zu Kephisodot stehen, als es die litterarische Tra-
dition vermuthen lässt (vgl. Arndt-Bruckmann, Einzelverkauf, zu No. 9), oder dem
den Karyatiden nahe verwandten neugefundenen sog. Herakopfe vom Heraion von
Argos — auch diese Zeit arbeitet noch einfacher und anspruchsloser, als der Künstler
der Münchner Kora, der in geistiger wie technischer Hinsicht einer jüngeren Periode
angehören muss.
Alles weist vielmehr meines Erachtens auf die Epoche des Praxiteles als
Entstehungszeit des Kopfes hin, und mit diesem Künstler ist derselbe in enge
Beziehung zu setzen. Ich wähle zur Vergieichung zunächst nicht den originalen
Kopf des Hermes, sondern, des übereinstimmenden Geschlechtes halber, den der
knidischen Aphrodite. Es ist eine Reihe von Zügen und Einzelformen, die beiden
Köpfen gemeinsam ist. In der ganzen Anlage das zarte, schmale Oval des Gesichtes,
das, zur Wiedergabe jugendlich-weiblichen Liebreizes besonders geeignet, ein Neues
gegenüber den volleren und breiteren Formen der Frauenköpfe vorpraxitelischer Zeit
ist. Die nämliche Bildung ferner der Augen mit den etwas eingesunkenen Partien
an den äusseren Winkeln und dem überhängenden Lidwulste, wie ihn auch der
Hermes von Olympia zeigt, die gleiche schön geschwungene Linie, in welcher der
100 Paul Arndt.
obere Augenhöhleurancl in den Nasenrücken übergeht und die bei praxitelischen
Köpfen immer wiederkehrt.
Ganz besonders charakteristisch für Praxiteles ist aber die Bildung der Stirn.
Die Stirn der Knidierin ist im Umrisse ein fast halbkreisförmiges Segment, leise nach
vorn vorgewölbt, von den Haaren, die sich in gewellten Linien von ihr loslösen,
nicht verdeckt noch beengt. Das nämliche Bildungsprincip der weiblichen Stirn
kehrt an andern Werken des Praxiteles und seiner Schule wieder: am Sauroktonos
und am liypnos, die, beide zarte Knaben, noch nicht ausgeprägte männliche Pormen
haben; am Sardanapal, der, der Gott des weichen Lebensgenusses, weiblicher Art in
seinem Wesen verwandt ist'); an der Dresdner Artemis Augusteuni Taf. 45 (dem
einzigen Exemplare dieses Typus mit erhaltenem Kopfe); an der Aphrodite von Arles,
welche mit einer der vielen von Praxiteles uns überlieferten Aphroditen zu combiniren
ich keinen Anstand nehme; an der Artemis von Gabii und dem ihr nahestehenden
Bronzekopfe der »Berenike« in Neapel (Comparetti e de Petra, la Villa Ercolanese
tav. X, 3); an den Köpfen der Niobiden, die ich gleichfalls mit Praxiteles in Ver-
bindung bringen zu müssen glaube; an der Demeter von Knidos, welche überhaupt
in einer Keihe von Einzelzügen die auffälligste Verwandtschaft mit unserem Kopfe
zeigt. Ich führe absichtlich eine grössere Zahl paralleler Monumente zur Vergleichung
an, da ich mir wohl bewusst bin, dass in Worten nicht völlig oder nicht entsprechend
dasjenige sich ausdrücken lässt, was Auge und fühlende Hand am Gipse mit Leichtig-
keit erkennen oder was sich durch eine Reihe von Abbildungen, so zu sagen, schwarz
auf weiss beweisen lässt. Wer sich etwa die Mühe nehmen will, das von mir Vor-
getragene auf diese Weise genauer auf seine Dichtigkeit zu prüfen, wird, hoffe ich,
meiner zeitlichen Ansetzung des Kopfes seine Zustimmung nicht versagen. —
Eine erwünschte — ich will nicht sagen: Bestätigung, aber Bekräftigung meiner
Ansicht über den Namen wie über den Stil des Münchner Kopfes giebt eine Notiz,
die mir zufällig bei Durchblättern des Pleftchens: »Beiträge zur Geschichte der Glyp-
tothek« von L. von Urlichs, Würzburg 1889, in die Plände gerieth. Bisher konnte
man die Herkunft des Kopfes bis nach Neapel zurückverfolgen, wo derselbe im
Anfang der zwanziger Jahre von Stiglmayer erworben worden sein sollte. Man
durfte also mit grosser Wahrscheinlichkeit Italien als Pundland des Kopfes betrachten.
1) Diese Statue hat, ähnlich wie die Münchner Kora, Irrfahrten von der Epoche des Phidias bis
/AI hellenistischer Zeit durchgemacht, während ihre, wie ich glaube, unwiderlegliche Zuiveisung an Praxi-
teles, die Treu vor Längerem ausgesprochen hat, nicht die gebührende Berücksichtigung gefunden hat.
Ueber einsn Konitypus praxitelischer Zeit. 101
Aus eigenhändigen Aufzeichnungen König Ludwigs I. (Urlichs p. 21) geht aber
hervor, dass der Kopf im Jahre 1816 in Paris erworben wurde, und als Fundort
wird in besonderer Beischrift Knidos genannt. Aus Knidos also, das als ange-
sehene Kultstätte der Demeter und Kora durch Newton's ergebnissreiche Ausgrabungen
erwiesen worden ist! und vom nämlichen Orte, an welchem die schöne Demeter-
statue des britischen Museums ans Licht gekommen ist, auf deren enge künstlerische
Verwandtschaft mit dem Münchner Kopfe wir oben hingewiesen wurden! Fern
davon, irgend einen Beweis in dieser Thatsache erblicken zu wollen, meine ich
doch, dass sowohl die Benennung des Kopfes als Kora als seine stilistische Zusammen-
stellung mit der Londoner Demeterstatue durch diese Combination an Wahrschein-
lichkeit wesentlich gewinnen, dass dieselbe geeignet ist, einen Stein in die Wagschale
für meine Ansicht zu werfen. Worauf die Vermuthung Weil's (in Baumeister's
Denkmälern des klass. Alterthums s. v. Praxiteles p. 1404) sich gründet, die Demeter
sei als Mittelpunkt einer Gruppe gedacht, so dass ihr zur Seite wohl Kora und Flades
gestanden haben könnten, wie sie in Knidos als deoi avvvaoi verehrt wurden, ist mir
nicht bekannt. Sollte sie sich durch thatsächliche Verhältnisse zur Gewissheit er-
heben lassen, so würden meine Ausführungen wesentlich festeren Boden gewinnen.
Ich würde dann nicht zögern, zu behaupten: die Londoner Statue und der Münchner
Kopf sind Theile einer Gruppe, welche, wenn nicht in der Werkstatt des Praxiteles
selbst — was ich sehr wohl für möglich halte — , so in seiner Umgebung durch
die Hand eines seiner nächsten Schüler ihre Entstehung gefunden hat.
Sphinx und Silen ^)
von
O. Crusins.
Mit 2 Abbildungen im Text.
Üine vor mehreren Jahren bei Castelvetrano gefundene Thonlampe, abge-
bildet in den Notisie degli Scavi dl antkhitcl 1885 p. 272 (A), zeigt auf dem kreis-
runden Deckelfelde eine Relief-Darstellung, welche der Herausgeber, Prof. Salinas,
folgendermaassen beschreibt: Figura in jnedi con w\! asta a sinistra, avanti diwna sfinge;
mtorno, tralci con grappoli e foglie. Von einer Lanze vermag ich auf der Abbildung
des anscheinend sehr schlecht erhaltenen Reliefs nichts wahrzunehmen; Die erho-
bene Rechte führt keineswegs mit Noth wendigkeit auf diese Annahme; sicher ist
nur, dass sie ein etwa handgrosses, nicht mehr recht erkennbares Etwas hält, zu
dem die Sphinx ihren Blick emporrichtet. Die starke Umrisslinie des Kinnes
lässt vermuthen, dass der Kopf der stehenden Eigur bärtig sein sollte ; dagegen wird
man die Haltung der linken, Hand, sowie die wunderlichen Linien zu beiden Seiten
des Beines ohne erneute Besichtigung des Originals kaum deuten können. Die
Sphinx kauert mit ausgebreiteten Flügeln und aufrechten Vorderfüssen links auf
einer wohl als Felsen gedachten Erhöhung.
1) Der Haiii)ttheil der naolil'olg'i.'nden Aust'ülu'ungün ist noch während der Leipziger Lehrzeit,
1879/80 entstanden; ich erinnere mich, dem verehrten Manne, für den diese Gabe bestimmt ist,
von dem kleinen Funde damals erzählt zu haben. 1887 hat der Aufsatz, so wie er ist, der lledaction
des Rheinischen Museums vorgelegen ; ich zog ihn zurück, um ihn umzuformen und in eine Reihe von
Untersuchungen über die griechische Tragödie einzuschieben, die über anderen Arbeiten vorläufig zurück-
gestellt sind. Der besondere Anlass mag es erklären, dass ich jetzt gerade diese alte Schülerarbeit noch
an's Licht ziehe.
Sphinx und Silen.
103
Trotz der mangelhaften Erhaltung wird man bei der frappanten Aehnlichkeit
der Gesammtanlage kaum fehlgehen, wenn man das Relief als eine Replik des viel
besprochenen, aber noch nicht ganz erklärten liauptbildes eines apulischen Kraters
(in Heidemaun's Katalog Nr. 2846) auffasst, welches nach dem Stiche im Museo
Borhomco (XII 9) zuletzt von Overbeck (»Gallerie heroischer Bildwerke« Taf 11 3
p. 46) und Schreiber (»Bilderatlas« V 12) veröffentlicht ist (B). Ein alter bärtiger
Silen hält einer geflügelten Sphinx, die links mit aufrechten Vorderfüssen auf einem
Felsen sitzt, auf der hoch ei'hobenen, flach geöffneten Rechten einen auf dem Rücken
liegenden Vogel entgegen; in der Linken trägt er den täniengeschmückten Thyrsos-
stab; um die Lenden und den linken Oberarm hängt ein schürz- oder mantelartiges
Gewandstück'). Zwischen beiden ringelt sich, unten am Fusse des Felsens, eine
Schlange empor. Der leere Raum, welcher bei dem höheren Standpunkte der Sphinx
zu Häupten des Silen entsteht, wird durch eine AVeinlanbguirlande mit Tänien aus-
gefüllt. Wenn es noch einer Bestätigung für die Gleichsetzung der beiden Bildwerke
bedarf, so können als solche die tralci con (jrappoli e foglie auf dem Rande der Thon-
lampe dienen. Durch sie wird die Darstellung als dionysisch bezeiclmct; wir finden
in ihr die Guirlande des Vasenbildes wieder.
1) Spuren davon glaube ich auf dem Lampenreliof wiederzuerkennen.
104 O. Crusius.
Der Darstellung liegt ein bekanntes Mytliologem zu Grunde, sonst würde sie
sich nicht auf diese Producte der Kleinkunst verirrt haben. Was bedeutet aber die
wunderliche Procedur, welche wir den Silen vornehmen sehen? Schon der erste
Herausgeber, Quaranta, Museo Borhon. XII 9, fasste das Bild parodisch^) und ver-
muthete, dass im Gegensatze zu dem überlieferten Mythus hier der Satyr die Sphinx
frage nach der Natur des Vogels, welcher Art er angehöre, ob er todt oder Ipbendig
sei u. s. w. Anders meinte O. Jahn (»Archäol. Aufs.« S. 144), der Silen halte den
Vogel zur Besänftigung hin^) ; ähnlich Wieseler (»Bühnengeb.« S. 48), der Vogel
sei, gut griechischem Brauche gemäss, Zeichen einer I^iebeserklärung (vgl. jetzt
Rohde, »d. gr. Kom.« 163^). Was diese Deutungen besonders zu empfehlen scheint,
ist eine interessante Parallele, ein Vasenbild freien Stils, auf welchem (1.) ein Silen,
ein Körbchen in der Rechten, mit der Linken einen Vogel hält, den Dionysos (r.)
mit Weinbeeren füttert. Aber obgleich unsere Darstellung nach ihrem allgemeinen
Schema unleugbar verwandt ist, so ist in ihr doch das Verhältniss zwischen den
beiden Figuren, die Lage des Vogels und die höchst eigen thümliche Haltung der
Hand bei dem Silen durchaus verschieden-'*). Panofka (»Archäol. Zeitung« 1848,
S. 287) vermuthete dann gar, der Satyr vertrete Tiresias in seiner Verbindung mit
dem »Sphinxorakel« und der Vogel bezeichne ihn als ö^v/doaxcTTOc: wobei aber —
zugestanden, dass ein solches Attribut nachweisbar oder wenigstens passend wäre —
nicht gerechtfertigt wird, warum dieser Satyr-Tiresias den Vogel der Sphinx ent-
gegenhält. Ein zweiter Einfall Panofka's (»Berliner Terracotten « S. 20) — ß(piyt
sei ■=: cpi'i = picus , d. i. der orakelgebende Vogel, und hiermit stehe das Bild im
Zusammenhange - — ist zu unklar, um der Widerlegung zu bedürfen.
1) Aehnlich Bmio, Giornalo dcgli sccwi di Poynpei, n, s. II 55.
2) Vgl. auch »Beitr.« S. 1G2''-, »Ber. d. sächs. Gesellsoh. d. Wissensch.« I 294 f. Heydemann,
Ann. delV Instit. XXXIX (18G7) S. 381: -nDavanti alla Sfinffc un Papp(.süc7io, che ccrca raddolcire il mostro
offrendo(jli im ooooUo; älmlicli im Katalog zu Nr. 2846.
3) Eine andere Parallele, auf die mich Th. Schreiber aufmerksam machte, bietet die Vase Betti
der Sammlung Castellani, früher in Neapel, jetzt wohl im British Museum. Heydemann hatte die Güte,
mir die Notizen, die er sich vor dem Originale niederschrieb, auf meine Bitte mitzutheilen : Amphora:
Tl. 0,24. Vmf. 0,50; archaistisch schtvarzfiffurif/. A. Vor Sphinx, ivelche die l. Vordnrtatze hebt, steht
ein Satyr, cifrifj Trompete hlasend, er ist unhürtig. B. Vor Sp>hinx, tvclche die l. Tatzi heht, steht ein Mann
mit Affengesicht, mit der l. Frucht emporhebend, timüchtest Du ivohl haben'hi. [Dieselbe Vase Jcurz erwähnt
von Panofka, itArchilol. Zeitimgii 1848, 248** 287 und »Parodienm 18, G9). »Das tortium comparalionisct,
meinte Heydemann in einem nicht lange vor seinem Heimgange geschriebenen Briefe, »liegt in der Frage,
die mir der Mann zu thun schien», und nähert sich damit der Quaranta'sohen Auffassung.
Sphinx und Silen. 105
Ov erb eck (a. a. O. S. 48) kehrt im Wesentlichen zu der Deutung Quaranta's
zurück, gesteht aber, dass er jene Umkehrung im Aufgeben und Lösen des Käthsels
für sehr bedenklich halte. Mir scheint der Quaranta'sche Gedanke doch schon aus
dem Bilde heraus mit hoher Wahrscheinlichkeit erschlossen werden zu können.
Besonders betonen möchte ich dabei die BEaltung der rechten Hand des Silen: Die
vier Finger sind zusammengeschlossen u.nd langgestreckt, der Daumen
nach der anderen Seite gerichtet: eine solche Haltung kommt im Leben schwer-
lich je anders vor, als wenn die Hand vorher geschlossen war. Das zweite Mo-
ment, worauf schon Quaranta aufmerksam machte, ist sodann, dass der Vogel steif
in der flachen Hand liegt; er kann also nicht mehr lebendig sein. Beides zu-
sammengenommen lässt die letzte Erklärung des Italiäners höchst ansprechend er-
scheinen.
Dennoch würde ich kaum abzuurtheilen wagen, wenn nicht eine bisher unbe-
achtete, in den Winkel einer Byzantinischen Fabelsammlung versprengte Erzählung
dieselbe Deutung an die Hand gäbe. Aesop. 55 Halm (= 32 Flor. Furia) lautet:
ccvTj^ '/MnoTtgay/iicov GvvoQiaäf.ievog nqög tiva ipsvdeg sntdsi^eiv t6 tv ^elcpolg /iiavTeiov,
(og evtGTij 1] TTQodsa/iiici, Xaßmv gtqovOIov slg ttjv %siQa nal tovto ra i/uccria Gnenä-
Gug, i^jicsv sig ro Isqov kcci arag ävTia^vg enijgwTa, nötaqöv 1 1 s/httvovv s%ei [.lera
%slQag ij anvovv, ßovXö/iievog, säv /iiev a\pv%ov si'mj ^wv t6 otqov&iov STTidsi^ai, iäv^
de t'/LiTtvovv, änonvi^ag TiQOEVsyitstv. nul 6 ■dsög avvslg avtov rijv na^OTE^viav slnsv
aXX CO ovTog, nsnavao' ev aoi yocQ eari, tovto o e%eig rj vsagov sivat. i] e/.irpvxov.' 6 Ibyog
(h]XoT, ort, TÖ Ssiov anaqsyxtiQipöv eoti^). Der Schluss kann für uns nicht in Frage
kommen, wenn wir die Haltung der Figur richtig auf ein Oeifnen der Hand ge-
deutet haben : Silen triumphirt über die Sphinx.
Das Hauptmotiv der Darstellung ist hiermit wohl gesichert. Doch eine kleine
■Schwierigkeit bleibt noch rückständig: was hat es mit der Schlange für eine Be-
wandtniss, die, höchst wunderbar, nur mit der Schwanzspitze den Boden berührt?
Panofka sah in ihr »eine Beschützerin der Orakel, vielleicht in Bezug auf die My-
sterien«; Wieseler fasste sie als »Symbol des Unheils«, wodurch der Künstler den
Übeln Ausgang der Bemühungen des Silens angedeutet habe — aber beide Ver-
muthungen passen wenig zu dem harmlosen Geiste des Bildwerkes. Jahn und Over-
beck verzichten auf eine Erklärung. In der That wird die Schlange, wie die Wein-
ij Aehnlich nach Tendenz und Anlage ist die Anekdote vom Ende des Grammatikers Daphidas
bei Suidas s. v. Uebrigens habe ich die oben ausgeführte Vermuthung schon in meiner Dissertation de
Bahr. aet. p. 203^ kurz angedeutet.
Fostschrift für Ovorbock. 14
106 O. Crusius.
guirlancle, zunächst dem Zwecke der RaiimausfüUung dienen; so erklärt es sich auch,
dass sie gewissermaassen in der Luft schwebt'). Dabei liegt hier wie dort eine Be-
ziehung auf den bakchischen Charakter der Darstellung nahe genügt). Doch treten
Vogel und Schlange in der Folklore wie auf Bildwerken so oft nebeneinander auf''),
dass der Künstler beide Thiere auch hier in Verbindung gesetzt haben könnte :
die Schlange lauerte dann lediglich auf ihre Beute.
Doch mag man über diesen Nebenpunkt denken, wie man will: die Haupt-
sache — die Geberde des Silen — ist wohl endgiltig erledigt. Freilich kann man
gerade bei unserer Deutung dem Bilde den Vorwurf nicht ersparen, dass es etwas
darstellen Avill, was streng genommen durch die Mittel der bildenden Kunst nicht
darstellbar ist: die Pointe einer Anekdote oder eines Räthsels. Aber gerade in der
Spätzeit, der dieser Typus angehört, finden sich solche Versuche häufiger. Dahin
gehören z. B. einige Fabeldarstellungen auf Thonlampen und Wandgemälden und
ganz besonders die von Dilthey (Annali XLVIII [1876] 294 fi".) behandelten pompe-
janischen Illustrationen griechischer Eäthsel und Epigramme.
Wie und an welcher Stelle unsere Scene in die thebische Sage eingeschoben
war, lässt sich begreiflicher Weise nicht mit Sicherheit feststellen. Die von Panofka
versuchte parodische Beziehung auf Tiresias steht und fällt mit seiner sonstigen Deu-
tung. Jahn sagt sehr unbestimmt »Seilenopappos steht, ein anderer Oedipus, vor
der Sphinx« — eine Ansicht, die Overbeck dahin präcisirt, dass der Satyr »nicht
als Hauptperson, als Oedipus-Silen c, aufzufassen sei, sondern dass vielmehr, nachdem
Oedipus das Sphinxräthsel auf irgend eine heitere Weise gelöst habe, nun der Satyr
sich parodisch nachahmend an der Sphinx versuchen wolle. Aber selbst im Satyr-
drama wird man schwerlich so weit gegangen sein, den Mythus geradezu auf den
Kopf zu stellen und für den Tod der Sphinx einen heiteren Ausgang einzuschwärzen ;
um so weniger, als gerade das Strafgericht über solche fabelhaften Ungeheuer, wel-
ches keine tragische Theilnahme aufkommen Hess, für das Satyrspiel einen passenden
1) Ganz ähnlich z. B. auf einem, kyrenäischen Vasenbilde, Arcliäol. Zeitung 1881, T. 12, 2.
2) Vgl. Rapp Rhein. Mus. XXVII 572; Gerhard, Myth. § 450, le; 453, 6a; Crusius, Rhein.
Mus. XLV. 271.
3) Aesop. Halm. 92. 120; Aristot. liist. an. IX 10, Plin. n. hist. X 17, XXXV 28; eine Zu-
sammenstellung hierhergehöriger Münzen und Vasenbilder bei Stephani Compte-rend. 1865 p. 99. Vgl.
neuerdings noch Head Hist. num. p. 727. Arch. Zeitung 1881, Taf. 12.
Sphinx und Silen. 107
und herkömmlichen Vorwurf darbot'). Auch müssten sich von einem so auffälligen
Mythologem irgendwelche Spuren in unserer literarischen Ueb erlief erung erhalten
haben. Wahrscheinlich mass sich die Sphinx im Satyrspiel mit dem Seilenos, der
ja in andern Legenden selbst als Seher und Weiser auftritt^), in friedlichem Wett-
kampfe. Die Scene würde dann die harmlos heitere Exposition des Dramas aus-
machen und dem Auftreten des Oedipus vorangehn: wie der Euripideische Kyklops
durch Seilenos mit seiner Schaar eröffnet wird und Odysseus erst V. 96 auf der
Bühne erscheint.
Wenn wir annehmen, dass die Sphinx und der dionysische Schwärm auf ka-
meradschaftlichem Eusse standen, können wir an mythographische Ueb erlief er ungen
erinnern, die sie mit dem Gotte in Zusammenhang bringen. Nach einer, meines
Wissens noch nicht auf ihre Quelle zurückgeführten Scholiennotiz war sie ursprüng-
lich eine von den Erauen, die mit den Kadmostöchtern in bakchische Raserei versetzt
wurden'^): eine merkwürdige, in dem elbischen . Wesen der Sphinx, dieser Doppel-
gängerin der Gellen und Stringen, wohlbegründete Auffassung. Euripides führte in
der Antigone geradezu aus, dass die Sphinx von Dionysos geschickt sei'*), der Lokal-
schriftsteller Lykos und Andre'') vertreten dieselbe Ueb erlief erung. Nach der kano-
nischen Sagenform hat freilich die Ehewalterin Hera das Scheusal gesandt als Strafe
für das Vergehen des Laios gegen Chrysippos °) . Es ist aber sehr wohl möglich, dass
schon die alte Tragödie beide Ueberlieferungen ausglich und Dionysos im Auftrage
der Hera handeln liess.
1) Das klassische Beispiel ist der Rixlioip des Euripides. Vgl. auch die Fragmente und Titel
der Satyrdramen Atd-wv (^ Erysichthon ?) , 'Jduvxog, AvToXvMg, BoiiaiQig, ^ecuv, ylirveqatjs^ Mio-
fiog, 2-AEiqcov, ^vXeiig.
2) Vgl. E. Rohde, »der gr. Roman« S. 204. F. A. Voigt, 'Dionysos', in Roscher's mythol.
Lexikon Sp. 1066. 1068.
3) Scholl. Eurip. Phoen. 45 p. 256 Schw.; Ttj/eg de cpaaiv ort /.ila twv ovv talg Kädf.iov ■d-vya-
vQciat {.laveiacüv (.lETeßXrjd-rj elg th t(^ov -vrjv ^cpiyycc.
4) Schol. Eurip. Phoen. 934 p. 349 Schw.: allaxov öe cprjai (Euripides) tavTci vico äiovvaov
7tBTC0vd-evai, vt\v ttöXiv, und zwar nach dem von Unger Theb. Par. p. 386 überüeugend verbesserten
Scholion zu 1031, yAwLyovr] (fr. 178 p. 410 N.2).
5) Schol. Hes. Theog. 326 p. 247 FL, vgl. p. 117. FHG. Add., IV p. 657.
6) ApoUod. III 5, 8. [Nach E. Bethe »Theban. Heldenlieder« 9 fF. gehört dieser Zug schon in
die alte Oedipodie.] Wenn es bei Euripides Phoen. 810 heisst, dass die Sphinx ö xar« yßovog"Ai6ag
mtiTCE^iTCti^ so ist das eine rein dichterische Umschreibung ihres Wesens. Isoliert steht die Notiz des
Scholiasten zu den Phoenissen 1064, wonach Ares nach der Tödtung seines Drachen die Sphinx sendet.
Beim Aufarbeiten des Materials zur Kadmossage habe ich keine verwandten Züge gefunden. Doch hätte
das merkwürdige aica^ lEyöfisvop im Mythol. Lex. II Sp. 829 ff. erwähnt werden sollen.
tos O. Crusius. 8phinx und Silen.
kSeinem Gehaben nach ist der Silen durchaus ein Theatersatyr. Dass wirklich
ein Satyrspiel als Grundlage der Darstellung zu vermuthen ist, darüber ist man sich
schon seit O. Jahn so ziemlich einig. Und wir wissen ja von einem hochberühmten
Satyi-drama, das die Sphinxsage behandelte: es ist die zur thebischen Tetralogie des
A^eschylos gehörige ^(piy^ GccTVQimy). Die Reste (Trag. fr. p. 76 N.^) sind leider sehr
spärlich. Fr. 236 nennt der Chor die Sphinx dvauf.ieQiav n^vtaviv %vva. Fr. 235 lässt
Jemand rro giVro einen Kranz reichten, doch wohl beim Gelage; man könnte an eine
Scene zwischen Silen und Oedipus denken. Wenn 6 tcov nodcÖp yjocpoe fr. 237 nvovg
genannt wird, wie sonst ö ix rov ü^ovog tjxo?:, so mag der Chor von der heran-
nahenden Sphinx sprechen. Das sind freilich keine Anhaltspunkte, an die wir direct
anknüpfen könnten. Immerhin ist eine gewisse allgemeine Wahrscheinlichkeit dafür
vorhanden, dass das Stück des Aeschylus mittelbar oder unmittelbar hinter den be-
handelten Kunstwerken steht. Dass uns das Hauptmotiv in einer Fabelsammlung
wieder begegnet, kann einer solchen Vermuthung nur zur Stütze dienen; denn in
dem bunten Allerlei der Aesopea sind vielfach Reminiscenzen aus klassischen Dich-
tern verarbeitet, einmal unverkennbar ein Nachklang aus der Hauptscene eines andern
aeschyleischen Satyrdramas, des fliJOf-itjüevs IJvQzaevg'^).
1) Vgl. Schneidewin, Philol. III S. 369.
2) Aesop. 64 H. (Babr. paraphr. Bodl. 145 Kn. [von Gitlbauer Babr. 183 misshandelt] Avian.
XXIX); Der Mensch und der 2äTVQog (von dem Spätling Babrius zum craTi/^og = Affen, gemacht, ovg
'/Jyovai Ttaiy.tug) am Feuer: Plut. De inhnic. iitil. 2 = Aesch. fr. 207 sq. p. 69 Nck., vgl. Welcker,
»Die aeschyl. Trilogie« 120, Westphal, »Proleg. zu Aeschylus« 207 ff. Auch dies mit grosser Wahr-
scheinlichkeit dem Aeschylus zugesprochene Fragment, welches mit den aesopischen Fabeln nicht das ge-
ringste zu thun hat, ist thörichterweise in den Anhang der Aesopea (Furia 398, Corais 340) aufgenommen;
Halm hat es dann alphabetisch eingereiht (Aes. 387), und Gitlbauer, ohne sich um den Ursprung irgend
wie zu bekümmern, eine »Fabel« (»Babr.« 264) in den entsetzlichsten »Jamben« daraus zusammen ge-
schmiedet und dabei ohne es zu wissen und zu wollen ein paar aeschyleische Versfragmente mit ver-
arbeitet (ausser dem in die Fragmente aufgenommenen Verse vielleicht das Kolon TExvrjg arcäarje earlv
öfjyavov] .
Das Gemälde des Apelles im Asklepieion zu Kos
Ricliard Meister.
JJie Mimiamben des Her o das, in denen der griechischen Alterthumswissenschaft
eine ergiebige Fundgrube neuer Erkenntnisse erschlossen worden ist, haben Ausbeute
auch der Archäologie geliefert. Vier Marmorwerke, die sich c. 280 v. Chr. im As-
klepieion zu Kos befanden, nennt uns das vierte Gedicht: 1. Die Cultgruppe des
Tempels, den Asklepios und seine Familie — neun Figuren — darstellend, von Ti-
marchos und Kephisodotos , den Söhnen des Praxiteles. 2. Eine Genregruppe: ein
kleines Mädchen, sehnsüchtig nach einem Apfel, den Jemand scherzend in die Höhe
hält, emporblickend. 3. Die Genregruppe des Gänsewürgers von Boethos. 4. Por-
trätstatue der Hetäre Batale. Noch mehr als diese Marmorwerke nimmt unser Inter-
esse ein in demselben Gedichte behandeltes Gemälde des Apelles in Anspruch, das
gleichfalls damals im Asklepieion zu Kos war und zwar im naaröe des Tempels, ge-
malt auf eine in die Wand des Gemaches eingelassene Tafel {aaviGKi]). Die Verse,
die es betreffen, lauten so:
KTNNJl.
avTij ai!, i.i.\_e\lvov rj dvqri yuQ mxrai, 55
icäv£i[T\' nuaros.
01 AH.
ov\v\ ogijig, ipilri Kvvvo7,
Ol t'()ya} aoivrjV -ravT iQ[e\iS l-d/StjVai'tjv
yKvipcci ta v,aXä. %aiQET(ä ds ö'sanoiva.
110 Richard Meister.
TOP nalSa äi) \t6v\ yv^ivov ijv avlaw romov,
60 ov[yJ] k'Xzog et[t]i; Kvvvw^ TtQog yäg ot )([«]/>Ta/.
al GaQueg ola deQ/Liä, ■OeQ/iia Tii^daaai
£V TTJi Gavlaar]!.. TaqyvQtvv de TviiQuargov
ovK, i]v WffJ] MvelloQ ^ naTamoiiog
Ö Aui.l7lQLWV0C, eKßakeVGt TOS KOVQag,
65 doaevvTEq ovrag aqyvQtvv TtiJtoiijG&ai. ;
ßovg de [ii]ö äymv uvtov i\ [t]' äficiQTSvaa,
[jtjcö y()VTt6g ovTog am [dv\äai./,tog avdgwnog,
ov%i ^oriv ßXinovGiv i]/.t£Q7]V nävieg',
el /.iTj id6i([e'\vv ri, /lu'Cov ij yvvi] itQi'^Ga[e]iv,
70 ävriläXa^ av, /lü] ^C 6 ßovg ri n7](.itjvt]r
ovTOi enilo^o'i, Kvvvi, rfjc eTtQi]i zovqiji.
KTNNJ2.
dXij'OtPat, (pthj, yaq ui Efpsalov %\ß]l()sg
ig %uvT ylne'k'km yQÜf.i^.ia'i ^ ovo' i:q\s^ig »x[£]/>os
mv-Oqmnog tv fisv [s\id£V, sv ö' änijqvi'jd-i^V;
75 ulK mi ini vovv yevoiro aal Semv ■\jjav[t^iv,
ijn[s]i'yi[Tj ' dg de y.[«]/>o^ ij ' Qya tu iaeivov
f.iri 7ia/.i(pahjaag ea dimjg ÖQ(ÖQi]xtv,
nodog aqsf.iai'r ixeivog iv yvucpiiog oiacoi.
Ich habe in meiner Ausgabe der Mimiamben in den Abhandlungen der K. S.
Ges. d. "Wiss. XXX 611 ff. gezeigt, dass der naarög eines griechischen Tempels nichts
anderes sei als ein Nebengemach, das zu einem Sanctuarium der alexandrinischen
•Götter Isis und ihres Kreises eingerichtet worden ist, wie naaTotpoQoi, von den Griechen
keine anderen Priester genannt wurden als die Priester derselben alexandrinischen
Gottheiten, und wie naaTocpoqiov in demselben Sinne, in dem bei Herodas itaGtög
steht, durch mehrere griechische Inschriften bezeugt ist. Von dieser Bedeutung des
Wortes JTßffTos ausgehend habe ich a. O. das Gemälde des Apelles als eine Dar-
stellung der alexandrinischen Götter zu erklären unternommen, und in der d'eanoiva
die Isis, in dem nackten Knaben den Harpokrates, in dem silbernen nvqaargov die
silberne Sonnenscheibe über seinem 'Haupt (oder dem der Isis) , in dem Stier mit
Das Gemälde des Apelles im Asklepieion zu Kos. 111
seinem Führer und seiner Begleiterin den Apis mit »Wärter« und »Amme«, in dem
greifennasigen und dem stulpnasigen Manne zwei weitere Gottheiten dieses Kreises,
Horos und Anubis, angedeutet gefunden. Indem ich für die Begründung dieser ein-
zelnen Erklärungen auf die angegebene Stelle in den Abhandlungen verweise, möchte
ich hier eine Vorstellung von der Ausführung des Gemäldes zu geben und die Frage zu
beantworten versuchen, wie das Bild zu dem Kunst charakt er des Apelles stimme.
Ich beginne mit dem dargestellten Gegenstand. Ist es wirklich von Apelles
zu glauben, dass er seine Kunst in den Dienst eines' fremden Cultes gestellt, ein
Sanctuarium mit den Bildern ägyptischer Götter geschmückt habe? Zeigt nicht der,
der solches thu.t, dass sein Verhältniss zur eigenen Religion ein lockeres und rein
äusserliches geworden ist, und darf eine solche Stellung zur Religion bereits dem
Apelles zugetraut werden? Wir werden diese Frage zu bejahen haben. Apelles, der
letzte Maler der klassischen Zeit, ist zugleich der erste Maler des Hellenismus ge-
worden, der in seiner Kunst die hellenistischen Züge bereits voll entwickelt zeigt —
das sehen wir an seinen mythologischen Bildern besonders klar. In den Götterge-
stalten seiner Religion sieht er nicht mehr Realitäten mit festen Formen, sondern
künstlerischer Gestaltung entsprungene Personificationen von Begriffen und Kräften;
er scheut sich darum nicht, diese Personificationen lediglich nach künstlerischen Rück-
sichten zu gestalten und umzugestalten, oder, da absolute Gültigkeit ja nicht den
Gestaltungen, sondern lediglich den ihnen zu Grunde liegenden Begriffen zukomme,
diese Begriffe in anderen Formen darzustellen oder für solche, die bisher noch gar
nicht dargestellt worden waren, neue Formen zu erfinden: ^ypinxit et quae pingi non
possunt, tonitrua, fulgetra, fulgura, quae Bronten, Astrapen, Ceraunoibolian appellantv. (Over-
beck, Schriftqu. 1873). So ist er der erste griechische Maler, der Menschen als
Götter dargestellt hat: dem Alexander gab er den Blitz des Zeus in die Hand
(Schriftqu. 1875-1878), gesellte ihm auf einem andern Bilde die Dioskuren und die
Siegesgöttin zu (ebd. 1879. 1880), auf einem andern wiederum den gefesselten Kriegs-
gott (ebd.). Einem fremden Culte hat er den Gegenstand entnommen auch in seinem
Festzuge des Megabyzos, des Oberpriesters der ephesischen Artemis (ebd. 1887). In
der Anerkennung des ägyptischen Cultes war Alexander Allen vorangegangen, der
dem Apis und den übrigen ägyptischen Göttern selbst geopfert und die Stelle be-
zeichnet hatte, auf der sich in der neuen nach ihm benannten Stadt Aegyptens der
Isistempel erheben sollte. Und als dann seinem Vorbilde folgend die ersten Ptolemäer
es erreichten, das altägyptische Wesen von hellenischem Geiste durchdringen zu lassen,
da nahm auch Hellas die alexandrinischen, d. h. die hellenisirten ägyptischen Götter
112 Richard Meister.
als den ihrigen nächstverwandte willig atif. Aber wenn schon in Alexandreia eine
TJmschaffung der ägyptischen Göttertypen durch den griechischen Geist vor sich
ging, so gebrauchte die griechische Kunst in Hellas selbst im weitesten Umfange ihr
gutes Kecht, die aufgenommenen fremdnationalen Typen mit Entlehnung und Fest-
l.altung gewisser charakteristischer Zöge aus ihnen durchaus hellenisch zu gestalten.
Es bedarf darnach kaum der Erwähnung, dass, wenn wir uns von dem Bilde des
Apelles eine Vorstellung machen wollen, jeder Gedanke an den Stil der ägyptischen
Wandgemälde fern zu halten ist; nicht nach Aegypten haben wir unsern Blick zu
richten, sondern nach Griechenland: Muster und Maassstab unserer Vorstellung dürfen
uns nur griechische Werke bieten.
Denkmäler der griechisch-römischen Kunst, die Isis und Harpokrat es dar-
stellen, sind in grösster Menge erhalten (ich verweise auf die Zusammenstellungen
von Lafaye, Histoire du culte des dwinites d' Alexandrie, Serapis, Isis. Harpocrate et Aniibis
hors de TEgypte, BiUioth. des ecoles d'Athenes et de Rome XXXIII und von Drexler in
Roschers Ausf. Lex., Artikel »Isis«) in Statuen und Statuetten, Reliefs, Architectur-
theilen, Münzen, Gemmen, Amuletten, Lampen, Vasen, Wandgemälden — wenige
von ihnen älter als die römische Kaiserzeit, in den meisten ihrer Typen aber zurück-
weisend auf die Gestaltung ägyptischer Motive durch die griechische Kunst. Cha-
rakteristisch für Isis ist in ihnen die königliche Erscheinung, der kronenähnliche
Kopfschmuck , zu dem die Sonnenscheibe geflügelt oder zwischen den Kuhhörnern,
später mit Vorliebe die Lotosblume verwendet wird, endlich das reiche, vor der Brust
zusammengeknotete Fransengewand. Ihre Gruppirung mit Harpokrates liegt in drei
Typen vor: 1. Isis sitzend mit Harpokrates, der an ihrer Brust trinkt, auf dem
Schooss. 2. Isis thronend und Harpokrates neben ihr stehend. 3. Isis und Harpo-
krates, beide stehend. Wo Harpokrates auf dem Schooss der Isis sitzt, ist er immer
nackt und meist ohne Attribute gebildet; der stehende Harpokrates ist nackt oder
mit einer kurzen Chlamys um die Schultern bekleidet, hat meist den Zeigefinger an
den Lippen als »Gott des Schweigens«, in der andern Hand oft das Füllhorn, auf
dem Haupte bald die Lotosblume, bald einen Epheukranz, in stärker ägyptisirenden
Darstellungen den Pschent. lieber die Gruppirung im Gemälde des Apelles giebt
das Gedicht keine directe Andeutung; doch wenn wir erwägen, dass bei dem »nackten
Knaben« Herodas das zarte, warm pulsirende Fleisch hervorheben lässt, so werden
wir eher an den zarten Säugling an der Mutter Brust denken als an den kräftiger
entwickelten Knaben, der neben der Mutter steht.
Die zweite Gruppe des Gemäldes ist der Apisstier mit Wärter und War-
Das Gemälde des AjDelles im Asklepieion zu Kos. 113
terin. In den erhaltenen Darstellungen des alexandrinischen Götterkreises treffen
wir den Apisstier nicht selten, so in Basreliefs bei Lafaye no. 105, 106, 108, 116,
117, von seinem Wärter geführt ebd. no. 107. »Auf den Denkmälern wird er in
Uebereinstimmung mit den griechischen Angaben als schwarzer Stier mit einzelnen
weissen Flecken dargestellt; auf dem Rücken trägt er gewöhnlich eiir rothes Tuch«
(Eduard Meyer in Roschers Ausf Lex, I Sp. 420); als Symbol hat er die Sonnen-
scheibe zwischen den Hörnern, vgl. die Zeichnung in Eoschers Ausf. Lex. a. O.
nach einer der Skizzen auf den Säulen des Serapeums.
Die dritte Gruppe wird von dem geiernasigen und dem stulpnasigen
Manne gebildet. Dass auch sie zu den Gestalten des Isiskreises gehören, geht aus
dem Charakter des naoTog und seines bildlichen Schmuckes hervor; welche Bedeutung
sie haben, können wir nur aus dem einzigen zu ihrer Charakterisirung hervorge-
hobenen Moment erschliessen , aus der besonderen und mit einander contrastirenden
Bildung ihrer Nasen. Wenn wir die ägyptischen Darstellungen des Isiskreises uns
vergegenwärtigen, so tritt uns dieser Contrast auffallend entgegen in den beiden häufig
neben einander stehenden Göttern, dem sperberköpfigen Horos und dem schakal-
köpfigen Anubis. — Anubis wurde in Griechenland vereint mit Isis, Sarapis und
Harpokrates aufgenommen ; in dem delischen naaroipögiov wurde nach Ausweis der
erhaltenen Weihinschriften (CIG 2297 = Bull, de corr. VI 318 f. no. 4; Bull, de
corr. a. O. 323 nr. 12) der Götterverein Sarapis, Isis, Anubis, Harpokrates verehrt;
derselbe in Chios (CIG 2230) und Ambrakia (CIG 1800); die Dreiheit Sarapis, Isis,
Anubis mit Weglassung des Harpokrates in mehreren Städten Böotiens (Theben Inscr.
Gr. sept. I 2482, Orchomenos ebd. 3215, Chäroneia ebd. 3308, 3347, 3375, 3380)
u. s. w. ; Horos »der Alte« dagegen kommt zwar auf ägyptischen Denkmälern der
Ptolemäerzeit neben dem Horoskinde häufig vor, in Griechenland aber nicht. Das
Gemälde des Apelles gehört in die erste Zeit der Ueberführung des Isiscults nach
Griechenland — ist vielleicht zuerst unter den göttlichen Begleitern der Isis auch
Horos der Alte nach Griechenland gekommen, später aber unterdrückt worden ? Oder
Hegen locale Verschiedenheiten in der Gestaltung des Göttervereins vor? Hat auf
Kos anfangs ein engerer Anschluss an den alexandrinischen Cult stattgefunden? Auf
Unterschiede in der Auffassung des Cults in Griechenland weist doch auch der Umstand,
dass Harpokrates, Anubis, Sarapis, Osiris sich in dem Götterkreis der Isis an dem
einen Orte Griechenlands befinden, an dem andern nicht; auch dass in dem kölschen
naaroQ im Kreis der Isis nicht Sarapis, sondern Apis verehrt wird. Keinesfalls dürfen
wir dogmatische Bestimmtheit und Abgeschlossenheit der Formen des alexandrinischen
FostscLvift für OvorbocTc. |5
114 llioliard Meister.
Cults in Grieclienland voraussetzen. — Wenn wir demnach daran festhalten die beiden
Gestalten Horos und Anubis zu nennen, so entsteht die weitere Frage, in welcher
Weise sie von Ai^elles aufgefasst zu denken seien. Unsere Monumente der griechisch-
römischen Kunst geben uns in diesem Punkte keine Auskunft. Darstellungen des
Horos und Anubis sind wohl unter ihnen vorhanden, auf einen griechischen Typus
geht aber keine derselben zurück; sie stammen aus der Zeit, als man in ßom stärker
ägyptisirte und die Absonderlichkeiten des ägyptischen Cultes ohne Vermittlung der
griechischen Kunst direct aus Aegypten bezog. Der sperberköpfige Horos kommt im
Isiskreise ausserhalb Aegyptens überhaupt nicht vor, wohl aber als Einzelgestalt ; so
erscheint er in der Rüstung eines römischen Kriegers oder im Gewand eines römischen
Feldherrn zu Ross (Abbildung in Roschers Ausf Lex. I. Sp. 2749. 2750). Anubis
mit Hundekopf (der durch Missverständniss an die Stelle des Schakalkopfes getreten
war) findet sich in römischer Zeit innerhalb des Isiskreises auf Basreliefs, Gemmen,
Münzen, Amuletten, Wandgemälden (bei Lafaye no. 102, 103, 112, 168, 201, 207,
216, 229), als Einzelfigur in der römischen Marmörstatue bei Clarac pl. 983 no. 256S
(Lafaye no. 76), auf Gemmen, Münzen (Lafaye no. 158, 193) u. s. w. Dass die
griechische Kunst jemals sperberköpfige oder schakalköjifige Menschen gebildet
habe, ist weder an sich ihrem Charakter nach glaublich, noch durch irgend ein Mo-
nument oder eine schriftliche Ueberlieferung wahrscheinlich zu machen. Wie sie
Mischgestalten bildete, kann man am Zeus-Ammon-Typus sehen, in dem sie die zur
Charakterisirung seiner besonderen Natur und Herkunft beibehaltenen Widderhörner
organisch mit dem menschlich gebildeten Haupt des Gottes verbunden hat. Apelles
scheint bei der Wiedergabe des Horos und Anubis ähnlich verfahren zu sein: er be-
hielt von dem Sperberkopf die Sperbernase, von dem Schakalkopf die Stulpnase bei
und erinnerte damit an die ägyptischen Typen ohne sie doch nachzuahmen. Gerade
an die Nennung dieser beiden Figuren knüpft Herodas das Lob der frischen und le-
bendigen, naturwahren Darstellung, als ob dem Maler hier die Lösung eines besonders
schwierigen Problems gelungen sei, indem er die leblose Steifheit und unnatürliche
Zerrbildting der ägyptischen Auffassung in eine deutlich charakterisirte und doch le-
bensvolle verwandelte.
Die Composition des Bildes können wir uns nicht anders denken, als dass
die drei Gruppen in der Breite neben einander gereiht waren: Isis mit dem Horos-
kinde auf ihrem Schooss entweder in der Mitte, so dass die beiden anderen Gruppen
rechts und links sich befanden oder an der einen Seite des Bildes, dann die Apis-
gruppe, dann die beiden neben einander stehenden Gestalten. Diese Aneinander-
Das Gemälde des Apelles im Asklepieion zu Kos. 115
reihung in der Fläche scheint in allen figurenreicheren Gemälden des Ai^elles das
Compositionsprincip gewesen zu sein: »die Pompa des Megabyzos ist ein Festzug;
Alexander mit dem Kriegsdämon ein Triumphzug; der König mit Nike und den
Dioskuren ein Seitenstück dazu. In der Verläumdung bewegt sich alles wie in einem
Zuge auf die Hauptfigur, den sitzenden Mann zu; und endlich Diana, wie sie mit
ihren Nymphen durch die Wälder streift, ordnet sich am einfachsten in derselben
Weise. Nirgends wird eine besondere Tiefe des Bildes verlangt, für welche ein tieferes
Verständniss der mathematischen Bedingungen des Eaumes mit Nothwendigkeit er-
forderlich gewesen wäre« (Brunn, Artikel »Apelles« in Meyers Allg. Kstl. Lex. II 170).
In Bezug auf das Colorit wird besonders die Wiedergabe des Fleisches bei
dem nackten Knaben gerühmt, das im Ton so zart gewesen sei, dass man das Gefühl
gehabt hätte, schon ein Ritzen mit dem Fingernagel würde es verwunden, und dass
man gemeint hätte, das Pulsiren auf dem Bild zu sehen. Diese vorzügliche Technik
des Apelles im Malen des Fleisches rühmt Lucian (Schriftqu. 1885) an dem Porträt
der Pankaste, deren Hau.tfarbe nicht allzu weiss, sondern wie von dem durchschim-
mernden Blute leicht geröthet gewesen sei. Die oft gepriesene Lebens Wahrheit
der Kunst des Apelles (z. B. Schriftqu. 1852, 1859) wird noch einmal am Schluss
der Betrachtung des Bildes in epigrammatischer Weise hervorgehoben, indem der
Dichter die Frau sagen lässt, der Stier schiele sie so tückisch an, dass sie aufschreien
möchte vor Furcht, dass er sie stossen könne.
Ich hoffe gezeigt zu haben, dass alles, was der Dichter sagt, zu dem Kunst-
charakter des Apelles stimmt, und dass sich meine Erklärung des vom Dichter mehr
angedeuteten als beschriebenen Gegenstandes des Bildes mit dem, was wir bisher von
dem Maler wussten, wohl verträgt.
15»
Archäologische Miscellen
Julius Ziehen.
Mit 1 Textfigur.
1) Ziu den unsicheren oder fälschlich herangezogenen Bildwerken der Sage von
Zeus' Liebe zu Antiope ist durch das von Overbeck veröffentlichte') Palermitaner
Mosaik eine Darstellung hinzugekommen, deren Beziehung auf die Antiopesage vi^ohl
von niemand mehr bestritten wird. Die Gruppe des Satyrs, der die Nymphe um-
armt, begegnet uns freilich sonst stets als einfache Genredarstellung aus dem Leben
des dionysischen Kreises — allein auf dem Mosaik von Palermo zwingt die Zusammen-
stellung mit Leda und Danae ganz unzweifelhaft, in dem verwandelten Satyr des
dritten Bildes den Göttervater und in der Nymphe die Tochter des Nykteus zu er-
kennen"). Ich glaube, dass nach demselben Princip der Deutung des Einzelbildes nach
Maassgabe des Bildercyclus sich noch ein anderes Bildwerk zur Antiopesage gewinnen
lässt. In dem pompejanischen Hause Ins. IX 5 no. 1 1 finden wir in ein und dem-
selben Gemache sicherlich als Gegenstücke einmal die Darstellung der Entführung
des Ganymed (Sogliano no. 86), und ihr gegenüber das Bild (Sogiiano no. 239) eines
jugendlichen Satyrs der Hn atteggiamento dt ammirazione c stupore scopre con la sin. una
Baccante adclormentata, dipinta dl spalte allo spettatore. Accanto le giace tcn tamhiirelld' .
Es ist ja gewiss mit der Verwerthung derartiger Responsion zu mythologischer
1) Berichte der Sachs. Gesellsch. der Wissensch. Hist.-Phil. Cl. 1873 Taf. 2, vgl. S. 105ff.
lieber die pompej an. Darstellungen von Satyrn und Bacchanten vgl. neuerdings Rossbach Arch. Jahrbuch VIII
(1893) S. 51 f.
2) Das Fragment der eiiripideischen Antiope (fr. 209 Nauck) scheint eine rationalistische Deu-
tung des Antiopemythos vorauszusetzen ; leider lilsst sich die Stelle, aus dem Zusammenhange losge-
rissen wie sie ist, wenig verwerthen.
Archäologische Miscellen. 117
Deutung mancher Missbrauch getrieben worden, und gerade aus dem Kreise der
Metamorphosen-Denkmäler kann das angebliche Theophanobild der Casa di Salhistio
als warnendes Beispiel dienen'). Man wird bei diesem letzteren Bilde die Responsion
gewiss nicht bis auf die innere Parallele ausdehnen dürfen. Immerhin liegt die Sache
bei dem Theophanobild anders wie bei dem hier in Frage stehenden. Auch wenn
wir in der vom Widder getragenen Gestalt ruhig Phrixos erkennen, so bleibt nach
Verzicht auf die mythologische Parallele doch genug der äusseren Parallele — zwei-
mal ein von einem Thier übers Meer getragenes menschliches Wesen — , um dem
gewiss vorhandenen Uesponsionsbedürfniss des pompejanischen Malers zu genügen.
Bei unserem Bilde ist ähnliches nicht der Fall: wer nicht annehmen will, dass
der Künstler ganz willkürlich zwei gänzlich der Beziehung zu einander ermangelnde
Bilder in einem Raum einander gegenübergestellt hat, der muss eine Beziehung der
beiden Darstellungen durch die Deutung der einen auf Antiope, der anderen auf
Ganymed herzustellen suchen. Nicht nur das Palermitaner Mosaik sondern auch das
Silbergefäss von Valence^) zeigt, dass wir dem antiken Künstler wohl zutrauen dürfen,
durch den Zusammenhang eine an sich nicht ganz klare Darstellung für genügend
verdeutlicht zu halten. Freilich hat der Verfertiger des Gefässes von Valence durch
Zufügung eines Eroten den Beschauer auf den Charakter des Vorganges aufmerksam
gemacht ; auch mag bei der Kallistodarstellung des Pariser Gefässes in der Liebes-
umarmung der beiden Frauengestalten an sich ein Hinweis auf einen aussergewöhn-
lichen Vorgang vorliegen. Bei den beiden Antiopebildern liegt eine merkwürdig
kühne und naive Typenübertragung vor, die der Künstler durch keine Zuthat zu er-
leichtern sich bemüht hat, und es ist interessant zu sehen, wie zwei verschiedene
Typen der Vergewaltigung von Bacchantinnen durch Satyrn unabhängig von einander
auf zwei so verschiedenartigen Bildwerken im Dienst eines anderen Mythos verwandt
sind; mochte dem Beschauer seine Sagenkenntniss weiterhelfen, wenn ihn erst der
Zusammenhang des Bilderkreises auf die vorliegende Sonderbeziehung aufmerksam
gemacht hat.
Versagt doch bei gar manchem, gewiss auf Antiope zu deutenden Bilde der
neueren Kunst auch dieses, an sich recht kümmerliche Erkennungszeichen^).
1) Ovei-beck Poseidon S. 346 f.
2) Zuletzt besprochen von Bolte, de mon. ad Odyss. pertmcndbus S. 40, vgl. auch RML. II
Sp. 933 f.
3) Ein Bild des Neapler Museums, wohl aus der Schule des Lionardo da Vinci stammend, No. 28
S. 189 der Guida v. J. 1892, zeigt neben einem Satyrn, der eine schlafende Bacchantin betrachtet.
[18 Julius Ziehen.
2) Das zuletzt bei Engelmann Bilderatlas zur Odyssee no. 22 reproducirte Vasen-
bild Mus. Borb. XIII T. 58 stellt, wie schwerlich irgend welchem Zweifel unterliegen
kann, und wie auch der neuste Herau.sgeber ohne irgend welches Bedenken erklärt,
den Meergott dar, wie er »sich mit einer Keule gegen zwei Krieger (Menelaos und
Genoss) vertheidigt, die mit Schwert und Speer auf ihn losgehen.« Die Darstellung
entspricht, was übrigens durchaus nicht auffallend ist, der homerischen Erzählung
(Odyss. 4, 382 ft'.) nur ungefähr: statt dreier Gefährten, die Menelaos bei Homer mit
sich nimmt, finden wir auf dem Vasenbilde nur einen; auch ist im Epos nicht von
einem Kampfe die Rede, vielmehr wird Proteus durch die Helden überlistet ; endlich
stimmen die Verwandlungen nicht überein : Homer erwähnt (V. 456 ff.) die in einen
.Löwen, in einen Drachen, Panther und ein Wildschwein, sowie in Wasser und in
einen Baum; auf dem Vasenbilde begegnet uns der Meergott mit Fisch (?) leib er n,
die in Krebsscheeren ausgehen, und mit dem Vordertheil von Hunden, die aus seinem
Unterleibe hervorgehen. Doch abgesehen von diesen Verschiedenheiten, auch die
Art, wie die Verwandlungen des Proteus dargestellt sind, ist sehr sonderbar und legt
den Gedanken nahe, dass wir es mit einem durch einfache Uebertragung von einer
anderen mythologischen Figur gewonnenen Typus zu. thun haben. Es existirt meines
Wissens keine andere antike Darstellung der Metamorphosen des Proteus') aus ver-
wandtem Kunstkreise; am nächsten steht unserem Vasenbilde die gewiss fälschlich
auf den Gigantenkampf der Götter bezogene Vase DAK II 67, 850, auf der in den
beiden Kriegern, die den geflügelten, stark ornamental gehaltenen Dämon in der
Mitte angreifen, niemand irgend welche Götter erkennen wird. Im übrigen
erinnert die ganze Bildung unserer Proteusfigur am ehesten an die der zahlreichen
2 Eroten; obwohl sonst nichts auf Antiope hindeutet, werden wir die Darstellung doch auf sie beziehen
müssen, da der Künstler schwerlich für einen gewöhnlichen Satyr 2 Eroten bemüht hätte. Auf die Bei-
gabe eines pfeilschiessenden Eroten hat sich Tizian in dem Antiopebild des Louvre, das unter dem Namen
Venus von Pardo bekannt ist, beschränkt (s. Crowe-Cavalcas. Tizian II 6l8if.); dem gleichen Zusatz
eines Eroten verdankt Correggio's Antiopebild im Louvre den Namen »Schlafende Venus mit Amor und
einem Satyr». Watteau , um noch eine der berühmtesten Kunstdarstellungen der AntiojDe aus neuerer
Zeit heranzuziehen (s. Hannover, Antoine Watteau S. 85 f.), giebt nur die beiden Gestalten der schlum-
mernden Jungfrau und des ihr nahenden Satyrs ; vielleicht hat er durch die gewaltige Grösse des letzteren
andeuten wollen, dass wir es mit dem verwandelten Zeus zu thun haben.
1) Vgl. über Proteus ausser PRE. v. Proteus noch Preller, Griechische Mythologie I"* 500. Von
der Bull. 1839 S. 47 citirten Gemme steht mir leider hier weder ein Abdruck noch eine Abbildung
zur Verfügung. Als Schildzeichen erscheint die Figur des Proteus bei Pindarus Tliebanus V. 872. —
Sil. VII 421 ff. erwähnt von den variao formao , in die sich Proteus verwandelt, die des Drachen und
des Löwen.
Archäologische Miscellen. 119
Seedämonen der griechischen Kunst, vor Allem an die Gestalt der Skylla. Für diese
lag, wie das neuerdings Bolte a. a. O. S. 48 wieder richtig hervorgehoben hat, eine
Verwandlungssage in dem alten Epos nicht vor, sondern ist erst aus den Kunstdar-
stellungen, ähnlich wie bei den Sirenen, herausgesponnen worden. Wann die
Kunstdarstellung der Skylla zu der in den erhaltenen Denkmälern durchgängigen
Form gekommen ist, scheint noch nicht festgestellt; die bezeugten Kunstwerke be-
stimmter antiker Künstler (s. Baumeister Denkm. III 1682) fallen sämmtlich in die
nachskopasische Zeit; doch wird man die Annahme nicht zu kühn findeir, dass die
Darstellung der Skylla bereits vor Skopas !feste Form zu bekommen begann, und
vielleicht ist in der offenbaren Entlehnung unseres Vasenbildes aus einem skyllaähn-
lichen Typus ein Argument für das höhere Alter eben dieses Typus zu gewinnen.
Wir hätten dann den eigenthümlichen Fall, dass zur Kunstdarstellung einer Meta-
morphose durch Typenübertragung eine Darstellung benutzt wurde, aus der ihrerseits
wieder die Sage eine Metamorphosentradition herausspann.
3) Pervanoglu hat in den Nuove Memorie deW Istiiuto (auf Taf VI no. 4, vgl.
S. 75 f.) das Fragment eines kleinen Thonreliefs aus Tegea veröffentlicht, auf dem,
wie er sich ausdrückt, vi troviamo raj^presentato mi giierriero molto Jranimentato, il quäle
Uli ])iccolo ragazzino pare voglia fare attento a qiialche cosa, forse Aurora che mostra a
Paride Venere. Das Fragment befindet sich jetzt im Saal der Terracotten und Broncen
des Polytechnikums in Athen; seine richtige Deutung — denn mit der von Perva-
noglu vorgeschlagenen wird man sich kaum auseinanderzusetzen haben — hat das
Bruchstück, wie es scheint, noch immer nicht gefunden. Und doch liegt die Erklärung
nahe genug: eine genauere Betrachtung auch nur der Abbildung in den Nuove
Memorie macht es unzweifelhaft, dass der Krieger im Begriff ist, vorstürzend sein
Schwert zu ziehen, und dass er daran von einem eilig herangeflogenen Eroten gehindert
wird. Der Rest einer zweiten Figur vor dem Krieger ist meiner Erinnerung nach
auch vor dem Originale zu undeutlich, um mit Bestimmtheit gedeutet zu werden;
doch genügen die vorhandenen Elemente der Darstellung vollkommen, um das Ganze
nicht nur ergänzend herzustellen, sondern auch zu deuten. Wir haben Menelaos
vor uns, der im Begriffe ist, die wiedereroberte Helena zu bestrafen, dessen Zorn
aber durch die Anmuth seines Weibes besänftigt wird — ein Erot fällt dem Helden
in den Arm, ihn am Herausziehen des Schwertes zu hindern.
Unter den zahlreichen Darstellungen der Wiedergewinnung der Helena in der
alten Kunst steht der hier behandelten wohl am nächsten das von Dilthey A. Ztg.
37 Taf. 7, 2 veröffentlichte Thonrelief — auch dort ist die Macht des Liebreizes
120 Julius Ziehen.
der Helena in der Gestalt von diesmal zwei Eroten symbolisirt. Aehnlich wie dort
wird auch bei dem Thonrelief von Tegea vor Menelaos die knieende Figur der
Helena zu ergänzen sein, die freilich hier ihre Hand nicht bis zum Kinn des Helden
erhoben haben kann. Der wohl mehr rohen als burlesk gedachten^) Darstellung des
spätrömischen Reliefs gegenüber zeigt das Fragment von Tegea entschieden die reinere
Formgebung der griechischen Kunst. Die zahlreichen Variationen, die uns selbst für
die eine Version des Mythos von Helenas Wiedergewinnung in der antiken Kunst
begegnen, sind oft genug dargelegt worden, um hier nicht weiter berührt werden
zu müssen^).
4) Das Vasenbild, das zu Anfang dieser Zeilen nach einer s. Z. vor dem Original
mit freundlicher Erlaubniss des Herrn Generalephoros Kabbadias angefertigten Skizze
wiedergegeben ist, stammt von einer rothfigurigen Lekythos, die mit einer ganzen
Eeihe von Gefässen ähnlicher Art durch Schenkung des Herrn Andropulos in Eretria
vor Kurzem ins Athenische Nationalmuseum gekommen ist. Höhe des Gefässes
18,5 cm; Bildhöhe 6 cm; Umfang des Gefiisses in der Mitte der Bildhöhe 22 cm.
Der Raum zwischen den Figuren ist mit .schwarzer Farbe nur flüchtig ausgefüllt, so
dass der rothe Thongrund an vielen Stellen deutlich durchschimmert; die Zeichnung
der Figuren ist wenig sorgfältig, aber flott und gewandt.
Wir sehen einen Raum, der wie eine Felsengrotte aussieht, hinter der auf beiden
Seiten die Zweige völlig entblätterter Bäume ^) hervorragen. Innerhalb dieser Höhle
erscheinen zwei Gestalten, die in völlig gleicher Weise auf menschlichem Leibe
einen Schweinekopf zeigen. Die eine derselben kriecht von links her doch wohl
aus dem Innern der Höhle hervor, indes die andere auf der rechten Seite des Ein-
1) Auch dem Vasenbilde Monum. XI 20 ist ein komischer Charakter schwerlich zuzuschreiben;
die Bewegungen der eilenden Gestalten sind mit Uebertreibung dargestellt, aber gewiss ernst gemeint. Dass
an Stelle des Götterbildes die Göttin — diesmal sitzend — selbst erscheint, hat an zahlreichen ver-
wandten Darstellungen, z. B. der Kassandravase EML. II Sp. 979 f., seine Analogie.
2j Vgl. der Kürze halber über die Kunstdarstellungen von Helena's Wiedergewinnung RML. unter
d. W. Helena. Was die s. Z. von mir veröifentlichte Schmalseite des Pester Sarkophages Arch.-epi-
graph. Mitt. Bd. XII S. 65 F. 19 betrifft, so kann ich auch nach dem Bekanntwerden der ähnlichen
Darstellung am Nympheum von Side (s. Lanckoronski Städte Pamphyliens u. s. w. I S. 147 F. 102)
nur an der Deutung des Pester Reliefs auf Menelaos und Helena festhalten ; wenn die von Lanckoronski
veröffentlichte Skizze des Reliefs von Side das offenbar stark zerstörte Bildwerk genau wiedergiebt, so
liegt eben eine eigenthümliche Typenübertragung vor ; das Pester Relief wird man keinesfalls auf Ares
und Aphrodite deuten dürfen.
3) Vgl. die Philoktetvase Castellani No. G4 und die Vase Mus. Gregoriano no. 133 (Heibig II
S. 2G8).
Archäologische Miscellcn. 121
ganges der Grotte hockt und den Kopf rückwärts, vielleicht ihrem Genossen zu-
gewendet hat.
Die Deutung des Bildes kann kaum fraglich sein: wir sehen zwei der von
Kirke verwandelten Gefährten des Odysseus vor uns ; auch der Maler iinserer Lekythos
hat das atis anderen Kirkedenkmälern ja allbekannte Verfahren angewandt, durch
die Mischfigur das Resultat der Verwandlung mit der Darstellung des Zustandes vor
der Metamorphose zu verbinden.
Wenn das Gefäss demnach in der Darstellung der Metamorphose nichts Merk-
würdiges bietet, so ist es doch in anderer Hinsicht von Interesse : wie haben wir die
dargestellte Scene zu verstehen, für die sich in der homerischen Erzählung kein An-
haltspunkt findet und die auch auf den bisher bekannten Kirkedenkmälern meines
Wissens nicht ihres Gleichen hat? Es giebt für die Erklärung dieser auf zwei
Nebenfiguren des Mythos, beschränkten Darstellung nur zwei Möglichkeiten : entweder
hat der Vasenmaler das Bild als selbständiges Ganzes beabsichtigt und ein Genrebild
aus dem Schweinedasein der Odysseusgefährten geben wollen, oder das" Bild der
Eretrienser Lekythos ist das Bruchstück einer grösseren Origiualcomposition, von der
der Vasenmaler aus sonderbarer Laune wie aus Raummangel nur eben diese Neben-
gruppe aufgenommen hätte. Abzuweisen ist keine dieser beiden Möglichkeiten: wir
begegnen in der attischen Vasenmalerei ja schon früh der Tendenz, neben einzelnen
liauptmomenten der Sage genreartig einzelne Momente aus dem Nebenwerk der
Sagenvorgänge darzustellen; wenn wir statt des Oedipus der thebanischen Sphinx
einen der namenlosen Jünglinge finden, die dem Ungeheuer zum Opfer gefallen sind,
wenn uns Athena dargestellt ist, wie sie am Epeiospferde beschäftigt ist — in solchen
und ähnlichen Fällen zeigt die Kunst schon früh die Neigung, an Stelle der präg-
nanten Hauptmomente des Mythos mehr situationslose Nebenvorgänge zur Dar-
stellung, zu wählen. Unmöglich Avürde diese Deutung auch bei unserer Vase
nicht sein.
Immerhin ist es wahrscheinlicher, dass wir es bei dem Bilde der Lekytlios aus
Eretria mit dem Bruchstück einer grösseren Darstellung zu thun haben. Man kann
zu Gunsten dieser Ansicht vor Allem anführen, dass der aus der Höhle heraus-
kriechende Odysseusgefährte doch wohl durch einen aussen sich abspielenden Vor-
gang in Bewegung gesetzt ist. Die Gefährten würden dann ähnlich an dem Haupt-
vorgange, sicher der. Begegnung des Odysseus mit der Zauberin, ihre Theilnahme
bezeugen , wie das der eine am Boden liegende Gefährte des Vasenbildes Overbeck
Heroen gallerie Taf. 32, 2 in unzweifelhafter Weise thut. Freilich würde bei dem
Festschrift füi- Ovcvbcfl,-. \(\
122 Julius Ziehen.
Vorbilde unserer Lekythos die Gesammtdarstellung nicht so eng geschlossen gewesen
sein können, wie sie es auf dem Vasenbilde bei Overbeck ist; Odysseus und Kirke
bildeten neben der Höhle eine Gruppe für sich und die beiden Bildhälften mögen
auf anderen Vasen ähnlich vertheilt gewesen sein, wie etwa die beiden Bildtheile
der Klytämnestravase Monum. VIII 15 (= Engelmann Atlas z. Odyss. no. 3 auf Taf. 1).
Für das Vorkommen einzelner, offenbar aus einem grösseren Ganzen herausgenommener
Figuren, die sicher nur Nebenfiguren der ursprünglichen Gesammtdarstellung gewesen
sind, ist der fliehende Perser der Vase Arch. Jahrbuch 1891 S. 24 ein interessantes
Beispiel. Nachweisbar ist eine grössere Darstellung der Art, wie sie das Original des
Vasenbildes von Eretria bilden könnte, im Kreise der bisher bekannten Kirkedenk-
mäler meines Wissens nicht.
5) Sehr mit Recht hat Heibig Führer durch die Samml. Roms II no. 717 die
Deutung des bekannten und oft publicirten Reliefs der Sammlung Albani mit der
Darstellung des zusammenbrechenden schildtragenden Mannes auf Kapaneus unter
Hinweis auf die mangelnde kriegerische Ausrüstung des Dargestellten abgelehnt.
Freilich, was Heibig an die Stelle der bisher üblichen Deutung setzt, wird nur zum
Theil auf Sicherheit Anspruch machen können. Dass die Einzelfigur des Albanischen
Reliefs durch die breite Binde als König oder Priester bezeichnet ist, wird schwerlich
anzufechten sein, vielmehr den Ausgangspunkt jeder weiteren Interpretation des Bild-
werkes zu bilden haben. Sehr fraglich aber sind die weiteren Ausführungen Helbig's:
»vielmehr scheint es, dass der dargestellte Mann, während er ungerüstet war, wider
Erwarten von Feinden überfallen worden ist, und nur eben Zeit gefunden hat einen
Schild zu ergreifen. Man könnte beispielshalber an die Ermordung Agamemnons
denken«. Was die Deutung des Reliefs erschwert, ist die vollständige Isolirtheit der
Figur, zu der wir eine den dargestellten Vorgang bedingende Umgebung ja sicher
hinzuzudenken haben; nur wird es darauf ankommen, die Ergänzung so zu wählen,
dass ihr Fehlen in der vorliegenden, auf die Einzelfigur beschränkten Darstellung
am ehesten zu erklären ist. Dies letztere ist nun bei der von Heibig vorgeschlagenen
Deutung wenig der Fall. Eine Darstellung der Ermordung Agamemnon's lässt sich
schwerlich ohne die handelnden Personen, ohne 'Zum mindesten Agisthos oder Klytä-
mnestra, denken. In diesem Betracht bot die alte Erklärung auf Kapaneus, den der
Blitz des unsichtbaren Himmelsgottes trifi't, weniger Bedenken. Lassen wir uns diesen
Vorzug der älteren Deutung nicht entgehen und machen von Helbig's Hinweis auf
die Binde als Abzeichen eines Priesters oder Königs Gebrauch, so bietet sich ziemlich
iingezwungen die Deutung auf Salmoneus, den schon in der homerischen Dichtung
Archäologische Miscellen. 123
(Odyss. 11,235) bekannten König von Elis, der sich dem Zeus gleichzustellen sucht
und deshalb von diesem mit dem Blitze getroffen und in der Unterwelt der Strafe
überliefert vi'ard').
Ein Epigramm der griechischen Anthologie (II 255, 3 SQ. 1064) bezeugt uns,
dass von Polygnot ein Bild des vom Zeus bestraften Salmoneus existirt hat; die
Situation, auf die der Dichter mit seiner epigrammatischen Wendung abzielt, ist nicht
mit Sicherheit zu bestimmen^). Es ist eigenthümlich , dass ein anderes Werk des-
selben Polygnot nach der Beschreibung des Plinius (s. SQ. 1063), wie das von Urlichs
geschehen ist, auf Kapaneus gedeutet werden konnte. Ziemlich sicher ist, dass so-
wohl die in der Anthologie beschriebene Figur wie die des plinianischen Bild-
werkes, in qua duUtafur an ascendentem cum clipeo pinxerit an descendentem, Einzel-
figuren waren.
6) Mit Staunen liest man bei dem von Vielen gar nicht mehr zur antiken
lateinischen Litteratur gerechneten Byzantiner Corippus, dem sonderbaren Epigonen
der grossen römischen Epiker, dem man — nicht ganz mit Recht — so sehr übel
nimmt, dass er acht Regierungstage seines Beschützers, des Kaisers Justin, in nicht
Aveniger als drei Büchern seines Lobgedichtes behandelt hat, an einer Stelle seiner
Johannis (IV 320 ff.) folgenden Vergleich : ,
cursu rapido Maurusia turha
confluit, et nigrae fades tentoria complent.
ul quondam Ditem mottirum proelia divis
concilium fecisse ferunt et milk per amplas
monstra vias venisse, Hydram tristemque Megaeram,
325 atque Charona senem deserta currere cymba,
Tisiphonen validam flammis et pondere pinum
quassantem, Alecto tortis saevisse chelydris,
quaeqiie suh ingenti facies monslranttir Averno.
1) Vgl. über Salmoneus Verg. Aen. VI 585 ff. mit Schol. ; Manil., Astronom. V 91 fF. Hygin.
f. 60; 61 und 250. Appollod. I 9, 7. Lukian Timon. 2; Philopatr. 4. Es iso wahrscheinlich, dass
die römische Sage vom Tode des Tullus Hostilius (s. Cic. de re pitbl. 2, 17; Dion. Hai. III 35) unter
dem Einflüsse des Salmoneusmythos entstanden ist. Uebrigens kommt das Motiv, dass ein irdischer
König sich so weit überhebt, dem Götterkönig sich gleichzustellen, auch sonst in der griechischen Mytho-
logie gelegentlich vor.
2) Brunn K. G. I 217 lässt das Epigramm des Tullius Geminus 'von einer Darstellung des noch
in der Unterwelt vom Blitze des Zeus heimgesuchten Salmoneus handeln'; eine fortwährende Bestrafung
dieser Art in der Unterwelt ist nirgends bezeugt und schwerlich anzunehmen ; der Epigrammatiker wird
wohl nur die in der Kunstdarstellung verewigte Tödtung meinen.
l(i*
124 Julius ziehen. Archiiologisohe Miscellen.
Die mythologische Anspielung, die dieser Vergleich enthält, wird schwerlich
aus der classischen Mythologie sonstwie zu belegen sein; von Kämpfen, die Hades
im Verein mit den Göttern gegen Herakles besteht, weiss die geographisch ausdeutende
Version des Streites um Pylos zu erzählen'); von einer Auflehnung und einem
Kriege des Unterweltgottes gegen die Himmelsgötter ist meines Wissens in der antiken
Litteratur sonst nirgends die Rede. Die Ausführlichkeit, mit der Corippus den Vor-
gang zu schildern weiss, giebt uns vielleicht einen Fingerzeig, wo wir die Quelle des
sicher nicht von ihm selbst erfundenen Mythos zu suchen haben; das Wahrschein-
lichste scheint mir, dass ein Epiker aus der Schule des Nonnos in einem uns verloren
gegangenen Gedicht diesen gewiss erst in spätgriechischer Zeit entstandenen Sagenstoff
behandelt hat. Dass die ganze Art, der Darstellung des byzantinischen Dichters auf
eine anderweit vorliegende genaue Erzählung von des Hades Empörung schliessen
lässt, scheint mir unzweifelhaft.
1) Prellei- Griech. Myth. II 240. Welcker Bulletino. 1831, S, 132ff. hat das Münchener Mar-
pessavasenbild Jahn No. 745 auf den Kampf des Hades mit den Göttern hei Pylos gedeutet und bei
dieser Gelegenheit über diese Sago die nöthigen Auseinandersetzungen gegeben ; Spuren einer alten
Sage von einem Kampfe zwischen Hades und Ajas hat Usener de carminc quodam Phocaico nachgewiesen.
Zur Geschichte der Renaissance - Herme
Alfred Meyer.
Jbjs war ein Lieblingsgedanke der Renaissance, in ihren grossen Bildhauern
einen neuen Phidias oder Lysipp, in ihren Malern einen zweiten Zeuxis oder Apelles
zu begvüssen. — Kaum minder illegitim, als diese vermeintliche Nachkommenschaft
der antiken Künstler, muss innerhalb einer Reihe streng archäologischer Unter-
suchungen die folgende kunsthistorische Studie erscheinen, sowohl in ihrem Gegen-
stand, wie in ihrer Methode! Die Gestalten weit, der sie gewidmet ist, trägt im
Hinblick auf das Stoffgebiet der classischen Archäologie ihren Geschlechtsnamen mit
Unrecht, ja ihre »antikische Art« ist für den Alterthumsforscher eine ununterbrochene
Kette archäologischer Irrthümer, und die im Folgenden angewandte kunsthistorische
»Methode« kann sich innerhalb der eng bemessenen Grenzen, in welche hier ein
kaum zu erschöpfendes Thema zu bannen ist, nicht wohl derjenigen Gründlichkeit
beffeissigen, in der die kunstgeschichtliche Disciplin die ältere Schwesterwissenschaft
so gern als Meisterin anerkennt. Aber gerade die »archäologischen Irrthümer« bilden
in der Geschichte jener gewaltigen Cultur- und Kunstepoche, die man als eine
»Wiedergeburt der Antike« bezeichnet, vielleicht das grösste und lehrreichste Capitel,
in welchem vorerst auch noch ein unvollkommener Beitrag eine Stätte erbitten
kann.
An die Entstehung der Hermen knüpft sich bekanntlich eine Streitfrage,
welche die Urgeschichte alles künstlerischen Schaffens berührt. Die Thätigkeit des
Bildners bleibt bei der antiken Herme im wesentlichen auf die Wiedergabe des
menschlichen Kopfes beschränkt. War dies in der Genesis der griechischen Kunst
ein Gebot des Cultus, oder eine Folge künstlerischer Unbeholfenheit, welche der
126 Alfred Meyer.
Nachbildung einer ganzen Figur noch auswich und sich mit der Darstellung des
Bezeichnendsten und Wichtigsten an ihr begnügte? Ging die Darstellung in Hermen-
form dem Götterbild in voller Gestalt als Vorstufe voran, oder als Abkürzung
parallel? —
Allzu scharf zugespitzt, dürfte sich diese Frage wohl niemals endgiltig beant-
worten lassen. In der rein künstlerischen Entwickelung können der Pfeiler mit
menschlichem Kopf und das Idol, welches die ganze Gestalt verkörpern will, neben-
einander bestanden haben, ohne von einander abhängig zu sein, obgleich hier wie
dort « das Haupt für den Künstler auch das Hauptstück war « . Ein Bildner, welcher
den Kopf erkennbar darzustellen vermochte, durfte auch vor der Andeutung der
Arme und Beine nicht zurückschrecken. Verzichtete er auf diese , sojgeschah es
nicht unter dem Zwang künstlerischen Unvermögens, sondern lediglich unter dem
Einfluss religiöser Tradition oder aber tektonisch gegebener Bedingungen, jedenfalls
in dem vollen Bewusstsein, etwas zu schaffen, wofür die Natur kein unmittelbares
Vorbild gewährt. In diesem Sinne ist die Herme eine von der Entwickelung der
Statue völlig zu trennende selbständige plastische Kunstform, deren orga-
nischer Bestandtheil sich zu dem anorganischen ähnlich verhält, wie etwa das Capital
zum Säulenschaft.
Dies ist wenigstens der Gesichtspunkt, für welchen es allein möglich wird, die
Geschichte der Herme kunsthistorisch zu verfolgen, wobei freilich auch ihre Defi-
nition weiter gefasst werden muss, als bei Winckelmann : ihr Wesen besteht dann
in der Vereinigung eines menschlichen oder thierischen Oberkörpers mit einem
tektonischen pfeiler- oder consolenartigen Gebilde.
Schon für die Theorie lässt diese Aufgabe eine kaum übersehbare Fülle von
Varianten zu. Der Oberkörper kann an sich vollständig oder, besonders durch Aus-
schluss der Arme, unvollständig sein, er kann den Kopf,! das Bruststück, die Halb-
oder die Dreiviertel-Figur zeigen, in allen Phasen zwischen statuarischer Kühe und
malerischer Bewegung; der tektonische Theil ist allen Stilwandlungen pfeiler- und
consolenartiger Stützen und ornamentaler »freier Endigungen« zugänglich; die Junctur
darf gänzlich fehlen, oder aber durch das Gewand oder selbständige Schmuckformen,
wie Tuchgehänge, Blattwerk, Guirlanden, Masken u. s. w. nur verdeckt werden, sie
vermag aber auch einen gleichsam organischen Process zu spiegeln, indem der
menschliche Körper in das pfeilevartige Gebilde wie bei allmählicher Versteinerung
hinüberwächst. Die letzte Consequenz dieser Vorstellung ist es, wenn der Pfeiler
unten wiederum in Menschen- oder Thierfüsse ausgeht: eine Zwischenstufe zwischen
Zur Geschichte der Renaissance-Herme. 127
Herme und Statue, auf welcher die erstere ihr eigentliches Wesen der obigen Defi-
nition gemäss bereits einbüsst und nur noch als Spielart der freien künstlerischen
Phantasie erscheint. —
Schon in ihrer Heimath, auf griechischem Boden, begann die Herme dieses
gestaltenreiche Leben, denn die Verlockung zu demselben war vorhanden, sobald
der strenge Grundtypus des unverjüngten, oben in einen Kopf ausgehenden Pfeilers
mit seinen zum Aufhängen von Kranzspenden bestimmten seitlichen Vorsprüngen
verlassen wurde, sobald der Kopf dem ganzen Oberkörper zu weichen begann, der
Pfeiler zusammenschrumpfte und unter dem herabhängenden Gewand für den Ge-
sammteindruck nur etwa noch wie ein höheres Postament wirkte. Dies erfolgte
schon früh in Griechenland selbst. Pausanias berichtet aus Phigalia^): »'ßV d'i ro)
YV{.i.vaGUp 70 üya)if.i(x rov 'JEqjliov a^mtxopäva f.itv i'o/ntv ijnäriov, iiaTah]y{i de om eg
Ttödac, äAAß ig rö Tsrgäyoivov GXTJf-ia«, und so zeigen es — um nur einige Beispiele aus
der ersten Blüthezeit anzuführen — die Hermen der Athena ^) , des Hermes und des
Bacchus (?) in der Villa Ludovisi. Auch unter den zahlreich erhaltenen Nach-
bildungen archaischer Formen in den Hermen spätgriechischer und römischer Arbeit
ist neben dem strengen Grundtypus des y) TSTQÜyavqv ax^/ncc« auch die obige Abwand-
lung gut vertreten, zuweilen selbst schon mit einem leisen Anklang an die Stil-
richtung der Grottesken. Im Ganzen aber können sich diese Bildungen mit der
Gestaltenfülle der Renaissance-Herme doch auch nicht annähernd messen.
Die Herme zählt auch nicht zu denjenigen Kunstformen der Antike, deren
»Wiedergeburt« in der Renaissancezeit ein wenn auch kümmerliches, so doch unver-
kennbares »Nachleben« im Mittelalter voranging. Wohl zeigen die mittelalter-
lichen Fabelgestalten die Glieder der verschiedenartigsten Lebewesen unter sich und
mit rein ornamentalen Formen verbunden, aber diese formalen Analogien führten
hier meines Wissens nirgends zu einer der Herme entsprechenden Bildung, und auch
die häufig so seltsamen Gesellen, welche in der Architektur und im Kunstgewerbe
des Mittelalters an Stelle der Säule die Function des Tragens ausüben, erscheinen
fast durchgängig in ganzer Gestalt und können ihren Stammbaum demgemäss wohl
bis zu den antiken Atlanten, nicht aber bis zu den Hermen und Termini zurück-
führen.
1) Lib. VIII. 39, 4. vgl. Diog. L. V, 82.
2) Schreiber, Ant. Bildwerke d. Villa Ludovisi. Lpzg. 1880. Nr. GO, 55,3, vgl. Abbild. Mou.
iJeir Insl. H. tv. 56, 3; 5G, 4; 56, 2. Heibig, Führer d. d. öffentl. Samml. Roms: Musco Boiwompar/iii
Nr. 856; 857; 858.
128 Alfred Meyer.
Um so überraschender ist die Rolle, welche die Herme in der decorativen
Kunst der Eenaissance spielt. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts ist sie in Italien,
in Deutschland, in Frankreich, in Spanien gleichmässig heimisch, zählt in der Archi-
tektur, in der Sculptur, ja selbst auch in der decorativen Malerei, besonders aber
auf fast allen Gebieten des Kunstgewerbes, zu den beliebtesten und häufigsten
Schmuckmotiven, und ist in so zahllosen Variationen vertreten, dass der Versuch,
dieselben auch nur irgend erschöpfend zu classificiren, müssig und wohl auch un-
durchführbar wäre. Es ist nur möglich, einerseits einzelne grosse stilistische Plaüpt-
gruppen zu sondern, und andererseits einzelne völlig individuelle Schöpfungen nach-
zuweisen, welche in ihrer Eigenart für die Beurth eilung ähnlich willkürlicher
Phantasiespiele einen kunsthistorischen Anhalt gewähren.
Einen verhältnissmässig sicheren Weg hierzu zeigen die Nachbildungen und
Entwürfe von Hermen im Holzschnitt und im Kupferstich , und sie geben auch
über die schwierige Frage, wie die Vorstellung von der antiken Herme in der
Renaissance allmählich gewachsen ist und zu Neubildungen führte, zwar nicht voll-
ständigen aber doch beachtenswerthen Aufschluss. —
Das neu.e Leben, welches die Herme im sechzehnten Jahrhundert beginnt,
fliesst aus dreifacher Quelle. Vielleicht am wenigsten ergiebig ist ihre rein
archäologische Wiederbelebung als Symbol der Gottheit, wesentlicher erscheint ihre
Bedeutung in der decorativen Formensprache der Plastik und Architektur . als eine
der Karyatide verwandte Stütze, am fruchtbarsten vielleicht wurde für sie diejenige
Richtung der lediglich ornamentalen Phantasie, welche in den Grottesken zum
Siege gelangt.
Bei der Knappheit des hier zu Gebote stehenden Raumes mögen hier für jede
dieser drei Sphären des künstlerischen Schaffens nur einzelne bezeichnende Beispiele
genügen !
In dem archäologischen Traumbild, welches die nach 1485 von dem Dominicaner
Francesco Colonna verfasste, 1499 in Venedig gedruckte Hypnerotomachia
Poliphili entwirft,, fehlen auch Hermen nicht. Bei der Gestalt des nhortiäam
custodeu mochte dem Verfasser ein antiker Pan vorgeschwebt haben, und die Illu-
stration seiner Worte: nSopra la plana della . . . ueneranda Ära rigidamente rigorose
fromineua el rüde simidacro del hortidano ciistode, cum tutti gli sid decenti ^- propriati
isigniia zeigt über einem nach unten verjüngten Pfeiler den nackten Oberkörper eines
bärtigen Mannes, welcher in der erhobenen Rechten einen Stab, in der Linken eine
Schale hält. Bezeichnender noch ist der Holzschnitt, welcher das beim Festzug von
Zur Geschichte der Kenaissance-Herme. 129
den Panisken und Satyrn {■>■> aec/ipani ^S- procaci satj/n^<.) im Wagen emporgehaltene
Götterbild im wörtlichen Anschluss an die Beschreibung darstellt: »um monstro rude-
mente eccciso in ligno, s,- inaiirato, effigiato humano iiestisto. Dal tricapo fino alla dia-
phragma solamente il residuo in quadrato acuminatisce alla j)arte infernate demigrana in
Ulla gxdatura hasicile, cum uno latastrello, cum und antiqua foliatura nel sito brachiale,
cum uno pomo al pecto. Et nel medio dil quadrato nella parte piit lata appareua lo
ithyphallio signov..
Ein zweites Beispiel für diese archäologische, auf das Symbol als solches be-
schränkte Auferstehung der antiken Herme sei der deutschen Kunst entlehnt! Der
römische Terminus war im Kreis der nordischen Humanisten heimisch. Im Anschluss
an die Sage, welche sich an den Tempel des Jupiter Optimus Maximus auf dem
Kapitol knüpft, hatte Erasmus von Rotterdam den Terminus mit dem Wahlspruch
y)Cedo nonntdli« zu seinem Zeichen erkoren, und Holbein stellte ihn in den Mittel-
punkt seines herrlichen Titelholzschnittes für die Gesammtausgabe der Werke des
Freundes, sowie des ebenfalls für diesen bestimmten Entwurfes eines Glasgemäldes,
welcher in Basel bewahrt wird'). Der armlose Oberkörper geht hier in ein kurzes,
sich verbreiterndes Pfeilerstück über, welches die Inschrift » re»mm<5 « trägt. Im
Holzschnitt liegt dem jugendlichen Kopf wohl ■ eine Eeminiscenz an einen antiken
Satyrtypus zu Grunde, aber dieselbe verschwindet unter dem frischen Hauch selb-
ständigen Lebens : die Augen blitzen, das lockige Haar fliegt wie vom Wind bewegt,
der breite Mund scheint nicht zum Grinsen, sondern zu sarkastischer Bemerkung
geöffnet. Klug ist auch der Ausdruck des unbärtigen Profilkopfes beim Terminus
auf der Baseler Zeichnung, der, nicht mehr antikisirendj porträthafte Züge trägt.
Jener berühmte Holzschnitt gewährt in der Geschichte der Herme auch für
die beiden anderen oben aufgestellten Gesichtspunkte Anhalt. Der »Terminus« in
der, Mitte ist lediglich das Attribut des Erasmus, ein Symbol ohne tektonische
Function. Anders die beiden Hermen am »Gehäus«. Sie sind Vertreter jenes zweiten
Gestaltenkreises, aus welchem die Renaissance bei der Bildung ihrer Hermen Nahrung
schöpfte, Träger des Gebälkes, Nachkommen antiker Telamonen. Und unten, als
seitliche Einfassung der Schrifttafel, dienen zwei jener seltsamen Zwittergeschöpfe,
deren Zusammensetzung aus einem weiblichen Oberkörper, geschupptem Fischleib
und Akanthusblättern im Anschluss an antike Nereiden der Welt der Grottesken
entnommen ist.
1) Dessins d' ornwnents de Hans Holbein. Texte par Edouard His. Paris. 1886. PI. IV.
Fostachrift für Overteck. 17
130 Alfred Meyer.
Dieses Blatt ist in den dreissiger Jahren des 16. Jahrhunderts entwoi'fen. Eine
lange, reichhaltige Entwickelungsphase der Renaissancedecoration trennt es von den
Holzschnitten der Hypnerotomachia, und in dieser Entwickelung vollzog sich auch
diejenige der Herme als tektonisches Glied und als Grotteskenornament, für welche
Holbein 's Titelblatt schon das Stadium der Eeife vor Augen führt.
Die Ausbildung der tektonisch fungirenden Herme spiegeln besonders die Illu-
strationen zu den theoretischen Schriften über die Baukunst. Die von Vitruv aus-
gesprochene antike Anschauung, welche die Säulenordnungen mit dem Menschen in
Parallele setzt, fordert eine anthropomorphe Bildung geradezu heraus, zu welcher ja
die Antike in ihren Karyatiden und Telamonen auch schon selbst gelangt war. Die
bildlichen Erläuterungen zu Vitruv's Angaben hierüber verdienen hier freilich meist
nur soweit Beachtung, als sie zeigen, welche Vorstellungen die Renaissance mit
einzelnen den Hermen analogen Gestaltenkreisen des Alterthums verband. Die erste
Ausgabe Fra Giocondo's von 1511 (Venedig) sucht sich dabei offenbar auf antiken
Boden zu stellen. Ihre Frauen in durchscheinendem Chiton , mit gelöstem Haar,
sind als Karyatiden antiker empfunden, als ihre in überreiches Renaissancekostüm
gehüllten Schwestern im Komasker Vitruv von 1521, und auch die »Perser« stehen bei
Fra Giocondo trotz ihrer seltsamen Tracht der Antike doch noch näher als die wüsten
Gesellen bei Cesare Cesariano. In dessen Ausgabe gesellt sich zu den Illustrationen
der Karyatiden selbst ferner bereits eine Abbildung, welche äusseiiich schon eine
nähere Beziehung zur Herme besitzt: eine canellirte Säule, die statt des Capitäles
einen weiblichen Koj)f trägt, die ncariatum colünarum cömutatioK. Auch Caporalis
Vitruv von 1536 (Perugia) zeigt neben den noch störrischer gewordenen Karyatiden
und Atlanten diese Figui", aber schon in einer bezeichnenden Modification : es ist
nicht mehr nur, wie 1521, der Hals, sondern bereits auch ein Theil der Büste dar-
gestellt. Hermen selbst finden sich im Anschluss an diese Textstelle jedoch erst in
der deutschen Vitruvausgabe des Rivius^) von 1548. Dessen »fürmalung künst-
licher Seulen von bildwerck, wie solche diser Zeit bey den Welschen im brauch«,
ist lediglich eine Uebersichtstafel über Hermenformen. Auf Originalität haben die-
selben freilich keinen Anspruch. Schon Reimers*) hat darauf aufmerksam gemacht,
dass im Vitru.v des Rivius bei der bildlichen Erläuterung der Karyatiden die Holz-
1) Vitruvius Teutsch . . . durch Gualth. H. Kivium. Nürnberg; J. Petrejus 1548.
2) J. Reimers, Peter Flötner nach seinen Handzeiclmungen und Holzschnitten. München und
Leipzig. 1890. S. 42.
Zur Geschichte der Renaissance-Herme. 131
schnitte der italienischen Vitruvausgaben benutzt sind. Auch diese Hermen gehen
auf italienische Muster, auf Stiche Agostino Veneziano's und Sebastiano Serlio's,
zurück. Aus der Hermensuite des ersteren von 1536 ist das bei Bartsch Nr. 304,
Passav. 72, verzeichnete Paar wiedergegeben: die eine in Profilansicht, zusammen-
gesetzt aus dem nackten, armlosen Oberkörper eines Jünglings und dem Stamm einer
Palme'), die andere, en face, der völlig in einen Mantel gehüllte Oberkörper eines mit
Turban geschmückten Mannes, verbunden mit einem starken Baumstamm. Vier weitere
Hermen konnte Rivius den 1537 in Venedig edirten nRegole generali di architeturau
Serlio's entnehmen. Zwei finden sich^) auf dem dortigen Titelblatt: ein männlicher
und ein weiblicher Oberkörper ohne Arme, durch ein symmetrisch gelegtes Akanthus-
blatt mit dem Pfeiler vereinigt, die beiden anderen sind Serlio's Entwürfen zu den
Kaminen »jonischer« und »korinthischer« Ordnung entlehnt, die »jonische« eine schon
monströse Bildung: eine schön geschwungene Stütze mit weiblichem Kopf und
Krallenfüssen, von einem unterhalb der Brust beginnenden, unten umschnürten, sack-
artigen Gewandstück ummantelt; die »korinthische« mit deutlichem Anklang an die
ephesische Diana, oben mit weiblichem Haupt und vier Brüsten, aber ohne Arme,
unten mit nackten Füssen, am Körper mumienartig verhüllt und von kreuzweis ge-
legten Bändern umwunden. Bereits Serlio selbst war seinem Text zufolge bei diesen
Entwürfen von der »matronalen« Bildung der jonischen und der »jungfräulichen«
Erscheinung der korinthischen Säule ausgegangen. In diesem Zusammenhang sind
sie auch bei Rivius als Illustrationen zu den Vitruvianischen Säulenordnungen ver-
werthet. — Zweifellos liegen einigen der Karyatiden und Atlanten in den Vitruv-
ausgaben und einzelnen Hermen Agostino Veneziano's unmittelbar antike Vorbilder
zu Grunde. Für die Herculeshermen des letzteren [Bartsch 301, Passav. 69] und
für seine von Rivius entlehnte beturbante Herme hat schon Thode^) auf die Hermen
der Villa Ludovisi und auf zwei Neapeler Antiken') hingewiesen, für die übrigen aber,
wie auch für die Karyatidenfassade'*) Marcanton's [Bartsch 538, Passav, 279], glaubt
1) Diese Herme ist zweifellos einer Antike nachgebildet. Sie findet sich auch auf einer Feder-
zeichnung des Polidoro da Caravaggio in der Samml. Morelli, vgl. Collcz. di quar. disegn. scelt. di Morelli.
ed. Frizzoni, Milano 1886. Tav. XXI. rechts unten.
2) Im Gegensinn.
3) Tliode, Die Antiken in den Stichen Marcanton's, Agostino Veneziano's und Marco Dente's.
Leipzig. 1881. a) »Stiche, welche antike Werke mit Absicht auf Treue wiedergeben.« 2. Agostino
Veneziano Nr. 16a — d.
4) Gerh. u. Panofli. Neapels A. B. I. Nr. 113; Gerh. A.B. 102, 6. Neap. Mus. vgl. Clarac
PI. 874A. Nr. 2223B. 5) Thode a. a. O. Marcanton Nr. 4.
17*
132 Alfred Meyer. •
er im Gegensatz zu Passavant auf die Entdeckung des antiken Musters verzichten
zu müssen^). So möge auch hier der HiiiAveis auf die drei Specimina genügen,'
welche bereits Rivius als Erläuterung der Vitruvianischen Stelle anführt^), und welche,
obgleich selbst nicht unmittelbar den Hermen zuzuzählen, auf die Hermenbildungen
der Renaissance nachweislich einen grossen Einfluss geübt haben. Am meisten gilt
dies wohl von den »zwen Satyri im hauss Bartholomei a Valla, die fruchtkörb für
Kapiteel tragen«, den beiden so häufig gezeichneten Panstatuen, welche aus dem
Hof des Hauses Valle in den des capitolinischen Museums gelangt sind^). An die
jetzt beim Eingang der »Sala rotonda« im Museum des Vaticans aufgestellten Tela-
monen'*) , welche Rivius als »zweyer Juden bossen bildnuss« anführt, gemahnt bei
den Renaissancehermen nur der nicht selten verwerthete ägyptische Kopfschmuck.
Die »zwey bildt alter Gefangener im Palast der Columneser« (Palazza Colonna''))
haben mit den ihnen verwandten Gestalten der Triumphbögen auf die Renaissance-
,1) Eine Aufzählung der antiken Karyatiden, Atlanten und Hermen, welche um 1530 das Auge
der Renaissancekünstler auf sich ziehen konnten, würde den Rahmen dieser Studie wesentlich über-
schreiten. Der Aufschluss, welchen hierüber etwa die Publicationen des Aldrövandi, des Vaccarius,
des J. B. de Cavalleriis, des Lafreri und der Codex Pighius gewähren, dürfte keineswegs ausreichen,
wie schon das Ergebniss der Forschungen von Michaelis bezeugt. Vgl. Römische Skizzenbücher Märten
van Heemskerok's und anderer nordischer Künstler des XVI. Jahrhunderts. Jahrb. d. Kais, archäol.'
Inst". 1891 S. 125ff. u. S. 2l8ff. 1892 S. 83ff. .
2) a. a. O. S. "XVIII. Rivius sagt: »Nach der meinung solcher Seulen sind nit weniger andere
bildwerck von den Römern nachgemacht worden, dann wie vor von der Caryatischen Seulen gemeldet
worden, dann solche auch noch biss aufF dise Zeit unter andern Römischen antiquiteten gefunden wer-
den, als zu Rom im Pallast der Columneser stend noch heutiges tags zwey bildt alter gefangener
augenscheinlicher Gestalt, dessgleichen zu Tyburt zweyer Juden bossen bildnuss, yeder zwelif werck-,
schuch hoch. Dise achten wir für zwen Pfosten eins thuer gestels, sind umb das haubt mit Egyptiachen
bundt geziert, so werden auch im hauss Bartholomei a Valla zwen Satyri gesehen, die Fruchtkörb
für Kapiteel tragen«.
3) Seit 1734. Hof Nr. 523. Vgl. über die von ihnen genommenen Skizzen und ihre Nachbil-
dungen: Michaelis, a. a. O. Jahrb. 1891. Nr. IL S. 237. Nr. 175. — J. B. de Cavalleriis (a. a. 0.
I. II, 87) bemerkt zu ihnen: »similos uarij in Urhe conspichmturn. Einen ähnlichen Satyr giebt ein
Kupferstich von Com. Bos. (vgl. Nagler, Monogr. I. Nr. 2316, 14) Dessen von Guilmard,
Maitres Onieman., Ecole allemande S. 476 angeführte Hermenfolge zeigt, wie Herr Dr. Peter Jessen in-
Berlin mir nach den im Dresdener Cabinet befindlichen Exemplaren gütigst mittheilt, neben den beiden
Panisken noch den nackten Atlanten sowie vier Hermen aus der Uebersiclitstafel der Vitruvausgabe des
Rivius. Die beiden Satyrn im Gegensinne auch in der mit dem Monogramm ^ (p. s.) versehenen Her-
menfolge (1535—38); vgl. R. Dumesnil. P. gr. f. VIII, S. 1 Nr. 4.
4) Vgl. Heibig Nr. 312. Abb. Visconli, Mus. Pio Clement. II, 18. Clarac, V. pl. 985. Nr. 2565;
5) Plattner-Bunsen, Beschr. d. St. Rom. III, 3 S. 163: »Auf der Treppe sieht man eine antike
Bildsäule eines gefangenen Barbaren, dessen Kopf neu ist.«
Zur Geschichte der Kenaissance-Herme. 133
Icünstler offenbar eine besondere Anziehungskraft ausgeübt, wie aus ihren häufigen
Nachbildungen erhellt^).
Während einzelne Formenelemente dieser tektonisch fungirenden Gestalten in
zahlreiche Hermenbildungen der Renaissance übergegangen sind, hat sich die letztere
gegen die edle Form der weiblichen Karyatiden, wie sie Marcanton nachbildet, im
ganzen spröde verhalten, und ebenso auch gegen den strengen antiken Grundtypus
der Herme selbst, mit Pfeiler, Kopf und Inschrift, obgleich derselbe im sechzehnten
Jahrhundert in römischen Antiken sehr zahlreich vertreten^) war. Unter den
Renaissance-Hermen begegnet man ihm nur ausnahmsweise, wie in der über Tro-
phäen aufragenden Pansherme des »Meisters von 1515« (Bartsch XHI. 7), welche
aus Brustbild und leicht verjüngtem Pfeiler gebildet ist, wobei ein über die rechte
Schulter herabhängendes Tuch und ein Lorbeerkranz nicht sowohl als Junctur, denn
als malerische Beigabe dienen'*).
Mehr als die strenge Gebundenheit hat den Renaissancekünstler zweifellos das
phantastische Formenspiel angezogen, zu welchem die Herme bei der Zusammen-
setzung aus heterogenen Gebilden Anlass giebt: der Kreis der Grottesken offenbart
die Ergiebigkeit der Hermenformen weitaus am reichsten und glänzendsten. In den
Decorationen der Loggien des Vatican spielen sie sowohl als selbständige Schmuck-
figuren, wie als Glieder der graziösen Linienarchitektonik eine grosse Rolle. Mit
dem nackten menschlichen Oberkörper, dem fast stets die Arme fehlen — dieselben
sind entweder scharf abgeschnitten, oder durch Flügel oder Voluten ersetzt — ver-
binden sich hier die mannigfachsten ornamentalen Endigungen. Trägt die Figur ein
Gewand, so bedingt dasselbe meist deren Bewegungsmotiv: neckisch hüllt sich der
Paniske in seinen Mantel, ja er zieht ihn wohl auch ganz über das Köpfchen.
Bisweilen ersetzt das Gewand in ornamentalem Spiel sogar den Pfeiler selbst, indem
es nach unten, einem Sacke gleich, verlängert wird. Jene nadelartig zugespitzten
Endigungen, welche noch einzelne Hermen der antiken Grotteske zeigen, erfreuen
1) Solche finden sich besonders in der decorativen. Plastik, so an den Ecken der prächtigen
Niobidentruhe im Kgl. Kunstgewerbemuseum zu Berlin (nach dem Constantinsbogen) und an einer ähn-
lichen Truhe in der Sammlung Botkin in Petersburg.
2) Boissardus [Antiquit. Romanar. (1602) Pars VI Bl. 33, 34, 4I-— 49] allein giebt davon zwanzig
Beispiele.
3) Am unmittelbarsten schliesst sich vielleicht die neben der »Kleopatra« des gleichen Meisters
[Bartsch a. a. O. 12] stehende Priapusherme einem antiken Muster an: ein unverjiingter Rundpfeiler,
von einem Fell umschlungen — oben, unvermittelt, das noch vor der Schulter durchschnittene Brustbild.
Diese Notiz verdanke ich Herrn Dr. Ludwig Kämmerer in Berlin.
134 Alfred Meyer.
sich auch in der Renaissance -Grotteske besonderer Beliebtheit. Die Zahl der so
entstehenden Combinationen spottet jeder Classificirung. Pinsel und Zeichenstift
folgen der Phantasie hier in traumhafte Regionen, in denen Spukgebilde ihr Wesen
treiben. —
Wie aber, wo die Phantasie selbst gebunden war, gebunden noch nicht an
die Gesetze materieller Schwere und strenger Statik , wohl aber an die unumgäng-
lichen Satzungen eines architektonisch angeordneten Entwurfes?
Antwort hierauf ertheilt der gleiche Meister, welcher durch seine Stiche der
Grotteskendecoration die weiteste Verbreitung schuf) :EneaVico. Hermenbildungen
sind die Lieblinge auch seiner eigenen Ornamentik. Er mag sie selbst bei seinen
pseudoantiken Gefässentwürfen^) nicht entbehren, bei den Umrahmungen seiner Bild-
nisse römischer Kaiser und Kaiserinnen vollends verwendet er sie fast durchgängig.
Der architektonische Grundtypus von Pfeiler und Kopf, den er selbst auf einer der
von ihm abgebildeten Münzen vorfand, genügt ihm nirgends. Schon bei den vlmagini. .
degV Imperatorin [s. 1. 1548]^), bei deren Rahmen er von den Hermen immerhin
nur massvollen Gebrauch macht, lässt er den menschlichen Körper in Schlangen-
windungen ausgehen, die unten wiederum in menschliche Füsse endigen''), und setzt
gehörnte Faunsmasken auf spitze Pfeiler^). Stärker zeigt sich die Neigung zur
Grotteske jedoch erst in den Rahmen seiner nimagini delle donne Auguste . . etc.«
(Venezia. 1557")). Die oben mit Menschenköpfen abgeschlossenen Vasen des ersten
Blattes eröffnen dort eine Reihe grottesker Bildungen, bei denen Voluten die Beine
und Arme der Menschenleiber ersetzen, und grosse Masken eine mit Schnecken ver-
zierte Wölbung unvermittelt bekrönen'). Tücher mit Quasten und Fruchtguirlanden
sind als Junctur und Schmuck verwerthet. Der Anschluss an die Antike ist zu-
1) Leviores et [ut videliir) extemporaneae picturae , quas grotteschas vulgo vocant quilus Romani Uli
antiqui ad triclinia aliaq. seoretiora aedium looa exornanda titebantw etc. (1541) Bartsch. XV. S. 361
Nr. 467 ff. Ueber Hermen in gemalten Renaissancegrottesken vgl. besonders auch, das Sammelwerk von
Carlo Lasinio, yiOrnati 2)'>'esi da Graffiti e Pitture anticJie esistenti in Firenze. Firenze. 1789. Poccetti
[Bernardino di GrottescJd) hat für Hermen eine Vorliebe.
2) 18 Vasen t^Bomac ah antiquo repertwni MDXXXXIII.n. Bartsch, a. a. O. 420 ff.
3) Le imagini con ttitti i riversi trovati et le vite degli imperatori iratte dalle medaglie e dalle historie
degli antiehi. lihio primo. Enea Vioo Farm. F. l'anno 1548.
4) Tiberius.
5) Servius Galba.
6) Le imagini delle donne Auguste inagliate in istampa di rame; con le vite, et ispositioni di Enea
Vico sopra i riversi delle loro medaglie antiohe. Libro primo. Vinezia. 1557.
7) S. 70 Antonia, Mutter des Claudius.
Zur Geschichte der Renaissance-Herme. 135
weilen kaum noch nachweisbar, obgleich ihn einzelne dieser Hermen, wie diejenige
mit ägyptischem Schurz und Kopfschmuck^), die Doppelherme S. 178'''), und die
Nachbildung der ephesischen Diana ^), deutlich genug bekunden, und das prächtige
Paar, welches das Medaillon der »Giulia, Figliuola di Cornelia et di Cesare') trägt,
die classische Schulung verräth. Aus etwa gleichzeitigen Holzschnitten und Kupfer-
stichen Hessen sich noch zahlreiche Beispiele von italienischen Grottesken-Hermen
beibringen, im Ganzen aber wird diese Ausbeute durch die Entwürfe Enea Vico's an
Eeichhaltigkeit weit übertroffen. —
Jener dreifache Nährboden der Hermenentwickelung , zu dessen Charakteristik
die angeführten Belege wohl ausreichen, ist selbstverständlich nur für die prag-
matische, nicht aber für die rein historische Betrachtungsweise von Werth.
Thatsächlich haben sich die für die Herme als Symbol, als Stütze und als
Grotteske nebeneinander entstandenen Formen wechselseitig beeinflusst, und über
dem künstlerischen Zeugungsprocess, welchem diese unerschöpfliche Gestaltenwelt
entstammt, schwebt als einzige kunsthistorisch entscheidende Macht die allgemeine
und locale Stilrichtung der Entstehungszeit. Nur in diesem Sinne sind die phan-
tastischen Hermenentwürfe eines Du Cerceau und Vreedeman de Vries, und vollends
eines Hugues Sarabin und Boillot — in der That die denkbar ärgsten «archäo-
logischen Irrthümer«! — mit den gleichnamigen Gebilden der Frührenaissance in
Verbindung zu bringen.
1) S. 38, Scribonia, Gattin des Augustus.
2) Sestilia, Mutter des Vitellius.
3) S. 98, Agrippina, Gattin des Claudius.
4) S. 20.
Dürer -Studien
von
Konrad Lange.
Mit Tafel VI in Licttdruck.
iJei Gelegenheit der Dürer -Ausgabe, die ich zusammen mit einem Freunde
und früheren Schüler kürzlich publicirt habe'), sind mir ein paar kritische Fragen
entgegengetreten, die in den dort beigegebenen Anmerkungen gar keine oder nur
eine kurze Behandlung finden konnten. Ich möchte deshalb hier etwas- ausführ-
licher darauf eingehen.
Zuerst handelt es sich dabei um eine Vermuthung betreffs der weiblichen
Bekanntschaften Pirkheimer's. Diese werden nämlich von Dürer in seinen Briefen aus
Venedig vom Jahre 1506 in verschiedener Form, aber nur andeutungsweise, erwähnt,
einmal (vgl. Dürer's schriftlichen Nachlass S. 23, 3 ff.) in Form von rebusartigen
Zeichen, ein andermal (39, 13) in Form von Abkürzungen. Die rebusartigen Zeichen,
die Dürer in flüchtigen Federskizzen dem Text seines einen Briefes hinzufügt (vgl.
die unserer Dürerausgabe und diesem Aufsatz beigegebene Lichtdrucktafel) stellen
dar: 1) eine Rose, 2) einen Staubbesen, 3) einen laufenden Hund. Dazu kommt
ein Rebus, den Dürer offenbar nicht bildlich darstellen konnte und den er deshalb
durch die Worte : » etwas schier beim Wasser « ersetzt hat. lieber die Bedeutung
von Nr. 2 kann meines Erachtens kein Zweifel bestehen. Wie Thausing in diesem
Gegenstande, der offenbar aus einem Stil oder Griff und daran angesetzten Haaren
besteht, eine Gerte sehen konnte, ist mir nicht klar geworden. Offenbar ist es eine
1) Dürers schriftlicher Nachlass, auf Grund der Originalhandschriften und theilweise neu ent-
deckter alter Abschriften herausgegeben von Dr. K. Lange und Dr. F. Fuhse, Halle a. S. Max Nie-
meyer 1893.
Dürer-Studien. 137
Art Staubbesen, eine Bürste in Form eines grossen Borstenpinsels oder etwas der-
gleichen. Genau in derselben Gestalt, nur sorgfältiger ausgeführt, kommt das Geräth
viermal in Dürer's Werk vor, einmal auf dem Kupferstich Hieronymus im Gehäus
(hinten an der Wand), zweimal auf dem Holzschnitt Geburt der Maria (links vorn
auf der Truhe und links hinten an der Wand) und einmal aiif der Zeichnung des
Frauenbades in der Kunsthalle zu Bremen (Lippmann 101).
Eine theilweise Erklärung finden diese rebusartigen Zeichen durch die zweite
citirte Stelle in den venezianischen Briefen (39, 13), wo diese Freundinnen des
lebenslustigen Humanisten unter den Abkürzungen : »Rech., Ros., Gart., Schutz, und
Por.« aufgezählt sind. Dass die »Ros. « mit der in dem anderen Briefe unter dem
Bilde der Rose gemeinten Dame identisch sei, und dass man unter ihr die »Rosen-
thalerin« zu verstehen habe, die unmittelbar vorher (39, 2) als Gegenstand von
Pirkheimer's Bewerbungen genannt wird, erkannte schon von Murr. Die »Rech.tf
wollte Thausing mit dem Rebus »etwas schier beim Wasser« zusammenbringen, in-
dem er dabei an den »Wasserrechen« erinnerte. Doch bliebe alsdann vollkommen
unklar, warum Dürer den Wasserrechen nicht ebenso wie die anderen zum Rebus
benutzten Gegenstände bildlich dargestellt hätte — ganz abgesehen davon, dass man
bei »Rechen« doch nicht gerade zuerst an »Wasserrechen« denkt, und dass überdies
ein Wasserrechen sich nicht schier (d. h. nahe) beim, sondern im Wasser zu be-
finden pflegt. Ich kann also für die » Rech. « unter den Rebussen der zuerst erwähnten
Briefstelle keine Parallele finden, was auch gar nichts schadet, da wir diese Dame
ohnehin aus zwei anderen Erwähnungen Dürer's (32, 2 und 35, 5) als »Rechen-
meisterin«, d. h. als ein Glied der Nürnberger Familie Rechenmeister kennen. Da-
gegen glaube ich für die dritte unter den oben genannten Abkürzungen »Gart.« eine
Parallele in den erwähnten Worten »etwas schier beim Wasser« zu finden. Denn
offenbar ist unter » Gart. « eine Dame aus der Familie Gärtner gemeint , und bei
Gärtner, Gärtner konnte man leicht an Gerte denken. Da nun eine Gerte als solche
in Federzeichnung schwer zu charakterisiren ist, die Gerte, Weidengerte aber nahe
beim Wasser wächst, so würde es sich ja wohl erklären, dass Dürer hier den
Bilderrebus durch die erwähnten Worte ersetzte. Endlich findet auch die mit »Por.«
abgekürzte Dame ihre Parallele unter den Rebussen. Ihr voller Name dürfte Forscht
oder Borsch gelautet haben, was um so wahrscheinlicher ist, als Dürer sowohl wie
Pirkheimer mit einem Nürnberger dieses Namens bekannt war (35, 3 : Grüsst mir
den Forscht u. s. w.). Dann aber ergiebt sich von selbst, dass diese Person auch
unter der Skizze des Besens oder besenartigen Geräthes in dem erstgenannten Briefe
Postscliritt für Ovcrboclc. 18
138 Konrad Lange.
verstanden werden muss. Denn es ist sehr wahrscheinlich, dass man dieses Geräth in
Dürer's Zeit, »Borst« oder »Borst« (bezw. porst oder in Dürer's Schreibweise porscht)
nannte. (Vgl. Grimm's Wörterbuch II, 551, und die Erwähnung der Börster, d. h. Bür-
sten oder Borstpinsel in Dürer's niederländischem Tagebuch 172,7 u. 19.) Ueber die
»Schutz.« und den laufenden Hund wage ich keine Vermuthung zu äussern^).
Besondere Schwierigkeiten hat von jeher die Stelle im 8. Briefe (35, 3) gemacht:
»Grüsst mir .... und dankt mir Eurer Stuben, das mich grüsst hat. Sprecht, sie
sei ein Unflot. Ich hab ihr olbaumen Holz lassen führen von Fenedich gen Awgs-
purg, do lass ichs liegen, wol 10 Centner schwer. Und sprecht, sie hab sein nit
wollen erwarten, pertzo el sjsutzo (perciö il puzzo, daher der Gestank)«. Offenbar
hängt diese Stelle eng mit der des folgenden Briefes (38, 9) zusammen: Aber geren
w(ürd) ich sehen, was Euer Stuben künn, dass sie sich als hoch bricht (sich so hoch
überhebt)«. Die Frage ist die, was man hier unter »Stube« zu verstehen habe. Es
würde zu weit führen, wenn ich alle die scharfsinnigen Erklärungen, die bisher für
diese beiden Stellen vorgeschlagen worden sind, ausführlich wiederholen und kriti-
siren wollte^). Genug, dass der eine Gelehrte unter Stube die Stubenmagd Pirk-
heimer's, der andere sein Wohnzimmer, der dritte seinen Kopf oder Hirnkasten ver-
steht, Vorschläge, die theilweise schon sprachlich unmöglich, theilweise im höchsten
Grade gesucht, jedenfalls aber nicht geeignet sind, den Sinn der beiden Stellen irgend-
wie aufzuhellen.
Da von der Stube das eine Mal gesagt wird, dass sie Dürern gegrüsst hat, das
andere Mal, dass sie sich (wegen irgend einer Sache) überhebt, so liegt die Vermu-
thung nahe, dass darunter irgend ein lebendes Wesen oder eine Gesellschaft von
solchen zu verstehen sei, die man auch wohl als Stube bezeichnen konnte. Wir
müssen also nach einer Erklärung des Wortes suchen, bei der sowohl sein ursprüng-
licher — räumlich materieller — Sinn als auch sein übertragener — persönlicher —
zur Geltung kommt.
Unter » Stuben « verstand man im späteren Mittelalter besonders die Trink- und
Versammlungsstuben der Corporationen und Geschlechter. In allen deutschen
1) "Während des Druckes geht mir ein Brief meines Mitarbeiters an der Dürer-Ausgabe, Dr. Fuhse,
zu, der »Schutz.« und »schier beim Wasser« mit einander in Verbindung bringen möchte, indem er bei
»Schutz.«, was in Schutzin oder Schützin aufzulösen wäre, an die Insel Schutt in Nürnberg erinnert.
2) Vgl. besonders v. Eye, Leben und Wirken A. Dürers (1860) S. 234. Waagen, Rezen-
sionen über bildende Kunst III (1864) S. 145. Grimm, Künstler und Kunstwerke I (1865) S. 168. Thausing,
Zeitschr. f. bild. Kunst IV (1869) 40. Derselbe, Briefe, Tagebücher und Reime Dürers (1871) S. 194f.
Schmidt, Zahns Jahrb. f. Kunstwissensch. V (1872) S. 254. Springer, Zeitschr. f. b. K. VIII (1873), S. 179.
Dürer-Studien. 139
Städten jener Zeit gab es Herrenstuben, Geschlechterstuben, Bürgerstuben, Kaufleut-
stuben, Handwerkerstuben u. s. w. So berichtet z. B. Dürer selbst — um nur an
das Nächstliegende zu erinnern — in seinem niederländischen Tagebuche, dass er in
Gent von den Malern auf ihre »Stabe« geführt worden sei (S. 157, 2). In diesen
Stuben versammelte man sich regelmässig sowohl zu geschäftlichen Zwecken wie
auch zu geselliger Vereinigung. Von ihnen erhielten nicht selten die betreffenden
Gesellschaften geradezu ihre Namen. Nach dem Hause oder der Stube, wo die Pa-
trizier zusammenkamen, benannte man vielfach, ihre Clubs oder politischen Parteien.
Die Stube in Nürnberg, in welcher Pirkheimer verkehrte, war natürlich die
Herrenstube. Sie befand sich seit 1498 in der früheren Frohnwage, dem jetzigen
städtischen Tuchhause, wo sie sich noch, wenn auch ohne Mobiliar, erhalten hat.
Wir haben Nachrichten, aus denen hervorgeht, dass es bei den regelmässigen Zu-
sammenkünften, die dort stattfanden, nicht immer sehr fein hergingt). Bei dem
derben Ton, der damals selbst in den besseren Kreisen herrschte, bei der Freiheit,
mit der man insbesondere geschlechtliche Angelegenheiten behandelte , dürfen wir
annehmen, dass dort mit Bezug auf Dürer's langes Ausbleiben in Venedig mancher
nicht gerade feine Witz gefallen ist. Scheint es doch, dass Agnes Dürer keines-
wegs mit dieser langen Abwesenheit ihres Gatten einverstanden war (vgl. 31, 15),
und wenn Pirkheimer selbst es wagte, seinem Freunde zu schreiben, er solle schleu-
nigst nach Hause kommen, sonst werde er ihm »das Weib klystiren« (40, 8), so
können wir uns ungefähr einen Begriff davon machen, wie man dort Abends beim
Wein über den jungen Ehemann und die trauernde Strohwittwe hergezogen sein
mag. Einen dieser Spässe oder eine unfläthige Bestellung der lustigen Gesellschaft an
Dürer, so nehme ich an, hatte Pirkheimer dem Freunde brieflich mitgetheilt. Und
dieser antwortet nun in entsprechender Weise, indem er der ganzen Gesellschaft
einen »Unflath« anhängt und sich über den Gestank lustig macht, der — natürlich
in Folge der unanständigen Witze — in der Herrenstube herrschen müsse. Er habe
ja — was natürlich nur Fiction ist — Ölbaumholz zum Ausräuchern derselben
schicken wollen, da er die Atmosphäre dieser Gesellschaft schon kenne, aber es sei
nun einmal zu spät und könne nichts mehr nützen, darum lasse er es in Augsburg
— Dürer hätte jede andere Stadt ebensogut nennen können — liegen. Darauf
Hessen ihm dann die jungen Nürnberger Herren durch Pirkheimer irgend eine hoch-
trabende Antwort zukommen, und so lässt er ihnen denn im nächsten Briefe erwidern.
1) Lochner, Personennamen in Dürers Briefen 40.
18*
140 Konrad. Lange.
sie hätten gar keinen Grund, sich zu überheben, sie sollten erst einmal zeigen,
was sie könnten.
Ein zweiter Punkt, den ich eingehender behandeln möchte, bezieht sich auf die
Kritik des niederländischen Tagebuches. Bekanntlich ist uns die Urschrift dieser
wichtigen Quelle nicht erhalten und die einzige Abschrift, die wir bisher davon be-
sassen, stammt erst aus dem 17. Jahrhundert. Es ist die von Kinkel und Leitschuh
unter dem Heller'schen Nachlass in der Bamberger Bibliothek aufgefundene, die der
letztere mit ausführlichen Anmerkungen in einer besonderen Ausgabe publicirt hat^).
Durch unsere Dürer-Ausgabe ist nun für die Beurtheilung des niederländischen
Tagebiiches insofern eine neue kritische Grundlage gewonnen worden, als es meinem
Mitarbeiter gelungen ist, eine bisher nicht bekannte Abschrift desselben im König-
lichen Kreisarchiv zu Nürnberg aufzufinden. Sie stammt aus dem Ende des 17. oder
Anfang des 18. Jahrhunderts, ist also jünger als die schon bekannte Handschrift. Ausser-
dem steht sie insofern hinter derselben zurück, als sie flüchtiger geschrieben ist und
eine grosse Lücke in ihrer zweiten Hälfte aufweist. Dennoch hat sie neben jener eine
selbständige Bedeutung, insofern sie, wie sich bestimmt nachweisen lässt, nicht von
ihr abgeschrieben ist, sondern vielmehr auf die gleiche Quelle zurückgeht. Freilich
ist dies nicht die verlorene Urschrift Dürers, sondern, wie man aus der Ueberein-
stimmung in gewissen Verschreibungen schliessen kann, ein vorauszusetzender, selbst
erst wieder mit gewissen Zwischenstufen aiif diese zurückgehender Codex.
Durch diesen etwas complicirten, im Einzelnen nicht genauer nachweisbaren
Stammbaum wird nun die auf einer Notiz v. Derschau's beruhende Angabe, dass die
Bamberger Handschrift nach dem im Besitz der Imhoff befindlichen Original abge-
schrieben sei, hinfällig. Ja es lässt sich sogar die bisher allgemein angenommene
Angabe, dass der Nürnberger Maler und Dürerforscher Johann Hauer sie 1620
geschrieben habe, nach Vergieichung der Handschrift mit authentischen Schriftproben
Hauers nicht mehr aufrecht erhalten. Der Werth der neugefundenen Handschrift
beruht nun darin, dass sie trotz ungefährer Uebereinstimmung mit der schon be-
kannten doch zahlreiche stilistische Abweichungen und kleine Zusätze enthält, die
sich ■ — neben vielen Irrthümern und üngenauigkeiten , die ihr allerdings anhaften
— als dem Original angehörig erweisen. Wir können deshalb erst jetzt be-
stimmt behaupten, dass wir den Text des niederländischen Tagebuches in annähernder
Treue besitzen, da man wohl nicht annehmen kann, dass der Schreiber der gemein-
1) Albrecht Dürers Tagebuch der Reise in die Niederlande herausgeg. von Dr. F. Leitschuh,
Leipzig 18S4.
Dürer-Studien. 141
Samen Quelle der beiden erhaltenen Abschriften sich wesentliche Auslassungen habe
zu Schulden kommen lassen.
Unter diesen Umständen wird es sich lohnen, eine kritische Frage von Neuem
aufzuwerfen, die von Thausing angeregt, aber von seinen Nachfolgern bisher wenig
beachtet worden ist. Thausing (Dürer 1X2 174) und nach ihm Leitschuh (a. a. O. S. 17)
sind nämlich der Ansicht, Dürer habe sein Tagebuch zu Hause noch einer Eedaction
unterzogen, ohne dass es indessen dabei neu abgeschrieben worden wäre. Der letztere
Zusatz kann nur so verstanden werden, dass Dürer nach Thausing's Ansicht direct in
das Reiseexemplar seines Tagebuches Correcturen, eventuell (an leeren Stellen) Zusätze
eingetragen habe. Worauf sich diese Zusätze bezogen haben müssten, kann nicht
zweifelhaft sein. Das Tagebuch enthält zwei Arten von Notizen : Erstens ganz kurze
sachliche Angaben über die Orte, die auf der Eeise berührt wurden, über Abfahrt, An-
kunft, Besuche, Ausgaben, künstlerische Arbeiten u. s. w., zweitens ausführlichere Schii-
derungen, Gefühlsergüsse u. s. w., wie die berühmte Klage über Luthers Gefangen-
nehmung. Selbstverständlich könnten, wenn von einer nachträglichen Eedaction die
Rede ist, nur diese letzteren als spätere Zusätze in Betracht kommen. Es ist klar,
wie sehr die Glaubwürdigkeit des Tagebuches durch eine solche Annahme verringert
werden würde. Es war nur eine einfache Consequenz dieser Hypothese, wenn
in meinen Göttinger Uebungen ein junger scharfsinniger Historiker allen Ernstes die
Behauptung durchzuführen suchte, dass der ganze Passus über Luther, der bisher als
Hauptquelle für Dürers lutherische Gesinnung betrachtet worden war, eine spätere
Interpolation sei, mit der Dürer nicht das Mindeste zu thun habe.
Indessen sind die Beweise, die Thausing für seine flypothese beibringt, ohne jede
Beweiskraft. Er geht dabei von zwei Stellen des Tagebuches aus, die seiner Ansicht
nach erst in Nürnberg geschrieben sein können. Die erste ist die (153, 10 ff.), wo
Dürer von den Geschenken für seine Nürnberger Freunde und deren Frauen spricht:
»Die 6 Borten hab ich geschenkt der Caspar Nüzlin, Hensin Imhoif, Sträubin,
zwu Spenglerin, Löffelhölzin, und jeglicher ein guts Paar Handschuh. Dem Pirck-
hamer hab ich geschenkt ein gross Barett u. s. w.« Thausing schliesst offenbar
aus der Formulirung des Satzes, dass Dürer diese Worte erst nach der Ueb ergäbe
der Geschenke, d. h. in Nürnberg geschrieben habe. Aber unter »schenken«
kann man auch verstehen: »zum Geschenk schicken«, und dass dies hier die richtige
Auffassung sei, geht daraus hervor, dass Dürer seine Abreise aus Antwerpen viel
später erwähnt als das Beschenken seiner Nürnberger Freunde. Am 16. März 1521
schickt er einen kleinen Ballen, in dem oifenbar die kiirz nachher erwähnten Geschenke
142 Konrad Lange.
enthalten waren, an die Adresse Hans Imhoffs des Aelteren in Nürnberg ab (152, 7 ff.).
Erst am 5. Juni, also beinahe drei Monate später, bereitet er seine eigene Abreise
aus Antwerpen vor, indem er (168, 24 fF.) seinen »grossen Ballen« nach Nürnberg
an dieselbe Adresse aufgiebt. Am 8. Juni lässt er dann seine Truhe (170, 16 fF.)
folgen. Aber erst einen vollen Monat später, d. h. am 3. Juli, folgt er selbst, und
zwar über Brüssel nach (176, 16). Dürer hat also ganz offenbar die Geschenke nicht
zu der Zeit notirt, wo er sie überreichte — wenn er sie überhaupt persönlich
überreicht und die Ueberreichung nicht vielmehr dem Hans Imhoff überlassen hat
— sondern zu der Zeit, wo er sie in Antwerpen kaufte und nach Nürnberg
expedirte.
Die zweite Stelle, die Thausing zu der Annahme einer nachträglichen Redaction
verführt hat, ist die, wo Dürer von der Krankheit spricht, die ihn bei seinem Ab-
stecher nach Seeland ergriffen habe (158, 2ü ff.): »Item in der dritten Wochen nach
Ostern stiess mich ein heiss Füber an mit einer grossen Ohnmacht, Unlust und
Hauptwehe. Und do ich vormals in Seeland war, do überkam ich eine wunder-
liche Krankheit, von derer ich nie von keinem Mann gehört, und diese Krankheit
hab ich noch.« Allein auch diese Worte sind nicht in Nürnberg, sondern noch in
Antwerpen geschrieben, und zwar in der dritten Woche nach Ostern (14. — 20. April)
des Jahres 1521, während Dürer sich die Ansteckting in Seeland zu Anfang December
des vorhergehenden Jahres geholt hatte. Offenbar gab ihm ein neuer Anfall dieser
vor beinahe fünf Monaten zuerst aufgetretenen Krankheit die Veranlassung, die Ur-
sache der letzteren an dieser Stelle zu erwähnen.
Nein, das ganze Tagebuch ist, so wie es uns jetzt vorliegt — kleine Ab-
weichungen formeller Art vorbehalten — auf der Reise selbst niedergeschrieben
worden, und sein grosser Werth als historische Quelle beruht eben darauf, dass es
in allen seinen Theilen ein unmittelbarer Niederschlag der unterwegs erlebten Ereig-
nisse und Stimmungen ist. Allerdings ist das nicht so zu verstehen, als ob Dürer
jede Ausgabe und Einnahme, jede Begegnung und jedes Ereigniss sofort und a tempo
notirt hätte. Im Gegentheil, man kann bestimmt nachweisen, dass er seine Ein-
tragungen rtickweise machte, wie man das ja überhaupt auf Reisen thut, indem er
zuweilen mehrere Tage hingehen Hess, ohne sich Notizen zu machen, und die so
entstandene Verspätung dann, wenn er Zeit hatte, auf ein Mal nachholte. Nur so
erklären sich gewisse Unregelmässigkeiten in der Reihenfolge der notirten Ereignisse,
Wiederholungen schon erwähnter Dinge, Nachträge vergessener Ausgaben u. s. w.
Aber gerade diese holprige Form der Darstellung, wenn sie auch Irrthümer im Ein-
Dürer-Studien. 143
zelnen nicht ausschliesst, ist ein Beweis gegen die nachträgliche lledaction, also für
die Glaubwürdigkeit unserer Quelle.
Der beschränkte Raum erlaubt mir nicht, andere wissenschaftliche Resultate
unserer Dürer-Ausgabe hier zu besprechen. Besonders reich ist das neue Material,
das sie für Dürers dichterische Thätigkeit beibringt. Durch Auffindung einer bisher
unbekannten Abschrift der Eeime ist es meinem Mitarbeiter gelungen, die Zahl der
bekannten Reime Dürers um nicht weniger als 225 zu vermehren. Ferner haben
wir uns bemüht, die theoretischen Schriften Dürers zum ersten Mal durch voll-
ständige Ausnutzung des Handschriftenmaterials und Auszüge aus den gedruckten
Büchern weiteren Kreisen zugänglich zu machen. Die Nachforschungen nach den
Briefen an Jacob Heller endlich führten zu einem genaueren Nachweise über die Ent-
stehung der Harrichschen Copie des Hellerschen Altarbildes.
Der mykenische Polyp und die Hydra
von
Karl Tümpel.
Mit 8 Figuren im Text.
_L)ie tirynthisch-mykenische Culturwelt hat der liellenischen Kunstmytliologie
manches neue Problem gestellt; sie verspricht aber auch umgekehrt Lösung für
manches Eäthsel. Den Versuch einer solchen macht die folgende Untersuchung^).
Seitdem auch zu Troizen mykenische Grabanlagen ans Tageslicht getreten
sind, darf man auch in den alten IJeberlieferungen dieser Stadt Beziehungen zu
Tiryns und Mykenai erwarten, und wo solche sich darbieten, wechselseitig Aufldä-
rung über problematische Erscheinungen erhoffen. Die alte als Tloasid'wviag dem
Meergotte geheiligte Seestadt hielt es nicht nur für verboten, die Meerschildkröte
und den dort KanrjXäTijg novXvnovg genannten Nautilos zu fangen und (offenbar zu
Genusszwecken) anzutasten, sondern auch den s. g. »Heiligen Polypen«, und zwar tö
nalaiöv, also doch wohl schon in Troizens » Mykenischer « Urzeit. Das erzählt
Klearchos (von Soloi) tv rm negl tcov iv vyQm II Frg. 47 bei Athenaios VII p. 317 A,
FHG. II 318 f."). Dieser eigenthümliche, ein correctes religiöses Tabu aussprechende
Fischerbrauch allein nun würde noch nicht dazu berechtigen, die merkwürdige Vor-
liebe der älteren »mykenischen« Kunst für Darstellungen von Polypen heranzuziehen.
Dieselbe könnte ja unabhängig von jener Heilighaltung, lediglich durch das Wohl-
gefallen der Mykenier am Spiralmotive dictirt sein, welchem die Schlangenwindungen
der 8 Arme dieses Thieres so bereitwillig entgegen kamen; obgleich es schAver fiele,
1) Sie ist das Gegenstück zu einer im Philologus NF. V, 1892, 385 — 402 erschienenen: 'Die
Muschel der Aphrodite' (mit einer Figurentafel; Darstellungen des Nautilos in der mykenischen Kunst).
2) Ueql 8e TQOiCrjva tö 7taXaiöv, rpi]ah' b aviog K., ovte tov le^hv y.aXov(.ievov novkb-
Tcovv . . . v6f.U{.iov -fiv ^tjQHveii', äX?.' anehiov zovtiov ts y.at rrjg d-aXar-rlag xeXiüvrjg /.irj ajtTea-d-ai.
Der mykenische Polyp und die Hydra. 145
ZU glauben, dass beispielsweise der bei Schliemann (Mykenae, S. 307, Fig. 424) abge-
bildete Typus aus dem IV. Grabe in den bis jetzt aufgefundenen 53 Exemplaren von
Goldplättchen lediglich zu decorativem Zwecke wiederholt worden sei. Man hat daher
mit Fug und Kecht an Amulette gedacht. Aber auch diese mykenischen Amulette
und sonstigen Polypendarstellungen dürften, wie gesagt, immer noch nicht mit dem
»Heiligen Polypen« des mykenischen Txoizen combinirt werden, wenn nicht eben
Klearchos im weiteren Verlaufe seines Cultzeugnisses abermals an eine Oertlichkeit
verwiese, die als Zufluchtsort der alten Tirynthier urkundlich bezeugt ist: H alieis').
Nachdem Klearchos constatirt hat , wie der Polyp vor seinen Verfolgern —
aus Dummheit — nicht einmal zurückweiche, sondern sich auf sie zu bewege und
somit leicht fangen lasse, erzählt er die auch von Aristoteles, Oppianos, Ailianos und
Plinius^) verbürgte Thatsache, dass die Polypen aufs Land gehen, und setzt hinzu,
dass sie Oel- und Feigenbäume umschlingen und ausplündern^). Und hierfür werden
von Ailianos an einer dritten Stelle (I 37) als Bürgen die Halieis genannt. Denn in
'Alish ist das ühsTq. der Texte wegen des fehlenden Artikels nach einer von v. Wi-
lamowitz*) und Maass") für Athenaios III 88 und Hesych. o?'s^y9)^ot)'/T?^fc- verwertheten
Beobachtung zu ändern. Jtyovoi dk '/Ihelg, fährt also Ailianos nach Erzählung einiger
anderen Geschichten von Polypen und anderen Thieren, sichtlich in Unterscheidung
von dem früheren Tig löyoii über die nokvTtodtg mit Berufung auf eine speciellere
Autorität, in seinem Bericht fort: xai TtoXvnod'ag elg tijv yijv iiQoUvai iXuiug dällov ini,
uijg i]6vog ntt/Lit'vov. Es klingt so, als lege man wohl gar absichtlich solche Oelzweige
hin, um sie zum Landbesuche zu veranlassen. Jedenfalls wird von den Halieis weder
gesagt, dass sie den Polypen als Käuber ihrer Vorräthe fürchteten, noch gar, dass sie
ihn als solchen etwa bestraft hätten, eine Unterlassung, deren Bedeutung (Anm. 77)
noch erhellen wird. Für die Tirynthier aber (denn aus Tiryns stammten bekanntlich
1] Seit ihrer Vertreibung aus Tiryns durch die Argeier 468: Herodot. VII 137, Ephoros bei
Strabon VIII p. 373 § 11 nach der Lesung Philol. NF II 1889, 668, Steph. Byz. s. 'itXielg.
2) Arist. HA IX 25, 9; Opp. Hai. I 305ff.; Ailian. NA IX 45; XIII 5; Hin. NH IX 85, 92.
3) 'EiüQä-9-rjaaf öe nove [ol 7tovX'i)Jtoöeg) -/.cd htl to ^riqhv e^iövrsg, /.lähorcc öe JCQog tu
TQa%ea tCov y^oiqkov . ■ . '/.cd xaiQovai öe %Cov (pvxCov zal Talg sXalaig, y.cd Ttollc'r/iig evqißy.ovvat
talg TtXs-ATÜvaig TteQieürjcpövEg rh avelexog- 6(piüqcidrjaav öe '/.al avxsaig 7tQog7Cscpv/.viaig vfj
d-aXccrv)] 7tqos7tXEY.6(.iBVOi -acu tüv avyiiov eadLoweg, wg cpi]ai KleccQxog y-'^X. Die nun folgende Be-
strafung der Olivenräuber wird charakteristischer Weise von den Halieis (bei Ailian. NA 137) nicht
berichtet.
4) Antigonos v. Karystos 174.
5) De Lenaeo et Delphinio Ind. lect. Gryph. 1891, p. XI.
Festsclirift l'ür Overbeck. 19
146 K^rl Tümpel.
die später s. g. Halieis)^) entnehmen wir die auch sonst feststehende Thatsache, dass
sie doch wohl auch schon vor ihrer Vertreibung nach Halieis (468) sorgfältige und
nicht unfreundliche Beobachter des Polypen und seiner Lebensgewohnheiten waren.
Wichtig ist aber doch des weiteren auch, dass zu ihrem Vorstellungskreise gerade
die Landbesuche des Polypen und seine Vorliebe für gewisse Bäume ge-
hörten. Denn diese Vorstellung deckt sich in bemerkenswerther Weise mit einer
in mythischer Form überlieferten Anschauung, welche im nächsten Herrschaftsbe-
reich der alten Tiryns und deren wenig jüngeren Schwesterstadt Mykenai festsitzt
und nirgends sonst in ihrer eigenthümlichen Gestalt Wurzel gefasst hat.
Tiryns umfasste zu König Proitos' Zeit nicht bloss Midea und das Heraion,
sondern auch die Fxoitiden- &ä?ta/.io/, am Strande und überhaupt oaa nQoe ■daXäaai]
TTJg lä^ysiag (Paus. H J6, 2; 25,8), also jedenfalls auch Lerna; wenigstens ist der
Dionysos, dem dort, in der äßvaaog ^luvtj, Polymnos oder Prosymnos, der Eponymos
der Strandstelle Prosymna, den Eingang zur Unterwelt zeigte, jener aus dem Proitiden-
mythos Hesiods berühmte Gott von Tiryns, den die Tirynthier auch mit nach Halike
nahmen. Lerna aber ist in der Sage von dem tirynthischen Könige Eurystheus auch
der Ort, wo in einem Strandsumpfe ein schreckliches, das Land besuchendes,
mit Schlangenarmen drohendes Wasserungethüm haust, die räthselvoUe Hydra des
Herakleskampfes. Und je mehr man auf die in der Ueb erlief erung festgehaltenen
Sonderzüge dieses Geschöpfes eingeht, desto völliger deckt es sich mit dem Polypen
der tirynthischen Halieis, der »mykenischen« Troizenier. Das ahnte schon lange, bevor
der argolische Boden seine Polypenblättchen hergab, und ohne die obigen Schrift-
zeugnisse zu berücksichtigen, Miliin, freilich nur hinsichtlich des kunstmythologischen
Typus der Hydra ^) ; wie genau auch ihr Mythos den Polypencharakter deckt, ahnte
er nicht. Ohne Eingehen auf naturwissenschaftliche Einzelheiten wird freilich der
Nachweis unten sich nicht führen lassen.
Zunächst wehrt sich allerdings gegen solche Auffassung die aus dem Alterthum
überkommene Vorstellung von der Hydra: sie soll eine Schlange gewesen sein. Pau-
sanias (H 37, 4) ist »für seine Person« der Ansicht, dass sie nur einen einzigen Kopf
hatte und von »andern Nattern«^) sich nur durch die Grösse unterschied. Schon
1) Vgl. Philol. NF II 1889, 699 mit i'), 691 22).
2) Description des Vases S. 119 t'. •*) : la forme la phis ordinaire du corps (de l'Hydre) paroit
derivcr de celle du poulpie, donl les tentacides representent les tetes; niais les artistes ont donne ä la peau de
cet animal fantastiqiie des ecailles de poisson. Im Text steht durch Versehen poidpe, dont les totes represen-
tent les icntacxdes!
3) E'/ii) öh To di]Qcov 7CBLd-oj.iaL TovTO vxu f-ieyed-EL öisveyyielv iiÖQcov lilkcüv . . . Y.ecpaXrji>
Der mykenisohe Polyp und die Hydra.
147
vor ihm nannten sie Diodoros (IV 38) und Ovid (Met. IX 69) i%iiSva, wozu Euripides
(Phoin. 1134 ff.) den Anstoss gegeben hatte, wenn er das Wappen des Adrastosschildes
von lüttTÖv s%idvai.q erfüllt sein lässt. Freilich schliessen diese '100 Schlangen', genau
genommen, die »eine Schlange« der Späteren aus. Aber an der Schlangenartigkeit
der Hydra hält darum doch das ganze Alterthum fest. Auch in den Darstellungen
1. Polypua vulgaris : Fe-
russac- d'Orbigny,
Cephalopodes pl. 2.
2. Eledone moscliata;
ebenda, G. Eledone
pl. 1. 2. 3.
2. Mykenisches Steinge-
fäss mit Kelief : ^Erprm.
&qX. 1888 T. VIII.
4, Mykeniaeher Becher von
lalysos: Heibig, Ho-
mer. Epos Fig. 106.
5. Sohw.-fig. boiot. Vase
CoUignon n. 211:
Heydemann , Gr.
VB. T. VI 1.
6. Schw. - flg. voleent.
Amphora Berlin n.
1854: M. d. I. III
T. 46, 1.
7. Porosgiebelrelief Athen.
'JSrpTl/^. ccQx. 1884, T.
7; 1885, S. 234 ff.
8. Schw. -flg. aiginet. V.
Breslau: M. d. I. III
T. 4Ü, 2.
Polypen.
H y d r a - T y p e n.
der bildenden Kunst zeigt sich die Neigung, durch Eintragung von Elecken, Punkten
und Schuppen in die Hydrazeichnung die an der Tropidonotus natrix gemachten
Beobachtungen') für das Hydrabild zu verwerten.
öe El%ev, sj-iol doKslv, /.liav -/.al oii jtXeiovag. So las man früher richtig; jetzt ist die falsche Be-
tonung vÖQCüV in die Texte gekommen, obgleich^ wie gleich (S. 148) gezeigt werden wird, von einer
naturgeschichtlichen Gattung vÖQai (statt vÖQOi) ernstlich nie die Rede gewesen ist.
1) Imhoof-Blumer und Keller, Thier- und Pflanzenbilder auf Münzen und Gemmen d. kl. Alt.
1889, 69 (zu T. XI 39).
19*
148 Karl Tümpel.
Lässt doch schon das unlängst gefundene archaische Porosgiebekelief der Akro-
jjolis*) die 9 Köpfe aus 3 vollständig parallel sich entwickelnden Schlangenleibern
hervorwachsen, wie der altkorinthische Skyphos von Argos^) aus zweien. Freilich
sind das eben Ausnahmen, denen gegenüber die Regel: ein einheitlicher Leib, aus
dem die Schlangen hervorwachsen, um so schärfer hervortritt. Immerhin hat auch
dieser eine Leib stets die Schlangenform, und dass diese die Vorstellung der bilden-
den Künstler bei der vÖQa beherrschte, ist sicher. Um so bemerkenswerther ist der
Widerstand der festen mythischen Ueberlieferung , der dabei fortwährend zu über-
winden war: die an sich logische Consequenz, bei welcher Pausanias im Verfolg
dieser Angleichung schliesslich angelangt ist: die Hydra könne als echter vd^og auch
nur einen Kopf gehabt haben, deckt das Fehlerhafte dieser Gleichung vdga = vd^og
auf. Thatsächlich hat die Kunst auch nie gewagt, durch Darstellung nur eines einzigen
Halses und Kopfes die Hydra zur Unkenntlichkeit zu entstellen. Prüfen wir also
zunächst diese verdächtige Gleichung unbeirrt von der am Eingang gestellten These!
Die Griechen haben für die Ringelnatter (natrix) zum Unterschied von den
Lateinern consequent am männlichen Geschlecht des vö'qoc festgehalten: so Aristoteles
bei Ailianos NA. IV 57, vgl. XII 15, XVI 8. Und Aratos, der sonst das Sternbild
i'ÖQa nennt, braucht doch, sowie er von wirklichen Wasser- Schlangen redet, die
männliche Form vd'^oi (946); die scheinbare Ausnahme bei Ailianos NA. VIII 13,
wo von den kei'kyräischen vd^at die Hede ist, bestätigt die Regel: denn diese Wesen,
welche beschrieben werden als (fvaijöuGai, nvsv/Lia äroTiov, erinnern an den tödtlichen
afflatus Hydras bei Hygin (F. 30) und sind sichtlich fabelhafter Natur, also wohl
nur eine durch die Korinther nach der westlichen Insel übertragene selbständige
Weiterbildung dieses argolischen Mythengebildes. Zu der sonstigen fundamentalen
Wesensverschiedenheit von vd'()og und vdga kommt also noch der standhaft festge-
haltene Unterschied des Geschlechtes. Nur die Gleichartigkeit des Wortstammes im
Namen beider » W asser thiere« bleibt bestehen. Aber auch diese findet nicht den zu
erwartenden Rückhalt im Wesen beider Geschöpfe: ihre Beziehung zum Wasser ist
eine ganz ungleichartige. Der Hydros hat seinen Namen davon, dass er, obgleich
Landthier, ausnahmsweise und in Abweichung von allen übrigen Schlangenarten, das
Land verlässt und schwimmend die Fluthen durchmisst, um an einer anderen Stelle
doch wieder das Trockene, sein eigenstes Element, aufzusuchen. Die Hydra dagegen
1) 'Ecpi]i.i. ctQy,. 1884, T. 7, S. 147fF.; 1885, S. 234ff. Athen. Mitt. X, 1885, 237fF. 322ff.
2) Arch. Zeit. 1859. T. 125.
Der mykenische Polyp und die Hydra. 149
lebt umgekehrt in dem Sumpf von Lerna und geht ausnahmsweise aufs Trockene:
avTi] de (i] vö^a) sv reo rije ^leQVijg t?,si. enT^acpsiaa i^eßatveTO tig to nediov (Apd. Bibl.
II 5, 2). Das ist eine diametrale Verschiedenheit. Umgekehrt aber entspricht dieses
sKßalvsiv der Hydra aus dem Strandgewässer, in dem sie aufwächst, */g ti)v yijv über-
raschend getreu der von Klearchos und Ailianos') berichteten GepfLogenheit der
noXvnoösg, ei'g ri/V p]V nQoiivui. oder i^tsvat snl ro ^ijqöv. Und so sehen wir uns zu
der These zurückgeführt, bei der wir schon vorher von anderer Seite her angelangt
waren: dass mit der vöga ein Polyp gemeint sein müsse. Sie hat, das ist nicht zu
leugnen, keinen sehr vertrauenerweckenden Charakter. Denn das Wunderbare eines
Mythos zu eliminiren dadurch, dass man etwas ganz Reales an die Stelle setzt, das zu
jenem Wunder nur entstellt sei, das scheint nichts anderes zu sein, als was man unter
der Methode des Euhemeros versteht. Wirklich hat diese im Alterthum sich an der
Hydrasage versucht^), und es dürfte lehrreich sein, diese charakteristische Probe ins
Auge zu fassen, um den Unterschied zu dem hier eingeschlagenen Verfahren Avahr-
zunehmen. Jenem Euhemeros, der einen »König Lernos« und eine »Festung Lerna«
mit »50 Bogenschützen« (= Schlangenköpfen) erfand, von denen jeder nach seinem
Tode zwei andere zum Ersatz hinter sich hatte, und mit einem Thurm, welchen
lolaos mit seinen Brandfackeln einäscherte: jenem Manne erschien es gerade als
reizvoll, seine erklärende Geschichte aus dem Nichts frei zu erfinden und durch die
Neuheit seiner »Novelle« zu überraschen. Ihm würde eine so schlichte Combination,
wie die der mythischen Hydra mit dem heiligen Polypen mykenischer Amulette und
mykenisch-troizenischen Fischercults, eine Combination, die ohne jegliche Voraussetzung
einer poetischen Allegorie einfach an eine allgemein zugängliche Thatsache anknüpft,
als viel zu naheliegend und darum reizlos erschienen sein. Immerhin ist diese vor-
geschlagene Combination im Einzelnen nicht so selbstverständlich, dass sie einer ein-
gehenden Nachprüfung entrathen könnte.
So scheint gleich derselbe Unterscheidungsgrund, welcher gegen die antike
Angleichung der vöqu an den vÖQog ins Gewicht fiel, auch den noXvnovg von der
vÖQa zu trennen: das verschiedene Geschlecht des Namens. Aber wenn Ailianos
(N.A. IX 45) als land- und baumsteigend nolvTtodäg ts vmi oa/LivXovg nennt, so werden
doch die letztgenannten Polypen, die nur eine Spielart der vorgenannten Gattung
1) Vgl. auch Aristot. IX 25, 9: elg ös tb ^rjQov l^SQ%e'ca(, ^lövog tCov fta}.ay.uov u TtoXv-
'jcovg. Ailian. NA. IX 45 (aus Oppian. Hai. I 305 ff.): h. ■vCöv -/.vj-iäTiov ^QogsXd-öwag [TtoXvjtodäg
re Y.ai da(.ivXovg).
2) Palaipliat. 39.
150 Karl TümiDel.
sind, von Aristoteles und Speusippos (bei Athenaios VII p. 329) vielmehr mit weib-
licher Endung als ÖGf^iiXai bezeichnet; und weiblich sind auch die anderen Namen dieser
Polypenärt') : ßo?JTutva, ßolßnmj, ö^uiva, o^ohi. Eine zweite weiblich benannte
Polypenart ist die i^sdävtj. Es gab also zwei, erst von Aristoteles unterschiedene
Polypenarten, die man ebenso weiblich benannte wie die vÖQa.
Dazu kommt, dass von diesen weiblich benannten Gattungen gerade die eine ihre
mannigfaltigen Namen von einem moschusartigen starken Gerüche hat, der ihr in der
neueren Wissenschaft den Namen Eledone moschata eingetragen hat, eine Zusammen-
fassung beider antiken Artbezeichnungen^). Vergebens würde man diese Eigenschaft
bei der Natter oder ihrem Gifte suchen. Wohl verbreiteten die Wunden, die durch
das Gift des i'id^og hervorgebracht wurden, nach Aristoteles **), wie die des Philoktetes,
einen argen Geruch ; aber nicht das Gift selbst. Wenn dagegen die mythographische
Quelle des Pausanias (V 5, 8) die övG%sqij ög/lii]V des eleischen Anigrosflusses erklären
will, so zieht sie u. a.'^) den dnö rijg vÖQcie log selbst heran, dessen jrA?/^?/ nicht übel-
riechend, sondern nur avlarog heisst^). Man. erwartet, dieses ahiov nicht beim
eleischen "ylviyQog, sondern bei dem '^Iviyqam genannten Hohlweg südlich von Lerna
zu lesen, wo eine Anknüpfung an den Hydrakampf wirklich nahe lag. Dort, bei
den Oelbäumen am Pass nach der südlicher gelegenen Stadt 'E?.aiovg, war es, wo
Herakles den letzten «unsterblichen« Kopf der Hydra durch Belastung mit einem
Felsblock unschädlich machte"). Hat Pausanias bei der Einreihung seiner Notiz
'Aviyqog und 'Aviyqma verwechselt? Sei dem, wie ihm wolle: Das Gift der Hydra
hatte »einen unerträglichen Geruch«: ein vdqog kann sie schon darum nicht sein.
1) Hesych. dafiyh]- al ßolßi'vlvat, S-aXäaaiac (vgl. Athen. VII 318 E); Kallimachos frg. 38 Sclin.
bei Athen. VII 329 A (vgl. Plin. NH IX 89) otaivcx öaiivliov eovqior, Aristot. HA IV 1, 15: rjv
y.aXovat ol f.iEV ßoXlvaiyav , ol de 'ötoXiv, als eines der TtoXvjcödiov yevrj, und daneben die ver-
wandte y.aXov(,iEi>i] eXeöüvr] (.iriv,et, öiacpeQOvaa tujv TtodöJv, auch eine Unterart des Polypen (vgl.
Ailianos bei Suidas iXeöcbvr] sldog TtoXiirtodog) .
2) Brehms Thierleben VI 768; vgl. den oai-ivXog i.ioayniqg Oppians, Hai. I 307 mit Schol.
3) Bei Ailianos NA IV 57.
4) Auch die vorausgeschickten anderen ditia (Cheiron und Pylenor) führen mittelbar auf das
Hydragift zurück, mit dem Herakles seine Pfeile netzte zur Besiegung dieser Kentauren.
5) Soph. Trach. 573 f.; Diodor. IV 11; Apollod. Bibl. II 5, 2 (vgl. Anm. 4); Hygin. F. 30.
6) Paus. II 38, 4: eaxL de r/ yIsQvijg y.al exeqa 7taq av%\]v böbg inl . . . Teveaiov . . .
evrevS-ev öieXdovaiv ^Viyqala zaXovf.ievr]')' odbv xal arevriv y.al aXXcog öxjaßa'cdv iaxiv . . .
öevÖQCc eXaiag /.idXuava y.%X. Es ist, wie auch Bursian (Geogr. v. Griech. II 68) versteht, der über
das Genesion führende (wohl versumpfte) Hohlweg nach Elaius (Steph. Byz.) oder ^EXeovg. Tijv adä-
vtttov a7toy.6xpC(g [y.BcpaXip') y.axioqv^s 'liQayXTJg y.al ßaqelav Irted-rjy.e Tterqav Ttaqa T7]V öSbv TtjV
cpeqovaav ey. ylEqvi]g Eig 'EXeowto: ApoUod. Bibl. II 5, 2 = Pediasimos a. O.
Der mykenische Polyp und die Hydra. 151
An Bäumen'), besonders Oliven, treffen die Küstenbewohner öfter die Polypen
(s. o. S. 145 Anm. 2, 3); und an oder bei einem Baume stellen öfters die Vasenmaler die
vöga"^) dar. Auch der Apollodorische Bericht, der auf eine ausführliche alte Dichtung
zurückgehen wird (nach Furtwängler bei Röscher ML. I 2199), erwähnt eine eyyvq
vlfj am Hohlweg nach Eleus, wo Herakles unter einem noch später gezeigten Felsblock
das letzte »unsterbliche« Hydrahaupt begrub. Das ist der Olivenhain, den Pausanias
hier erwähnt (s. o. S. 150 Anm. 6). Ganz nahe dabei ist die von ihm und ApoUodoros
übereinstimmend genannte Amymonequelle mit dem Lager der Hydra, das ApoUodoros
auf einen Hügel, Pausanias unter eine Platane verlegt^). Diese gehört zu dem
»heiligen Platanenhain«, den der Perieget, offenbar nach einheimischen Zeugnissen,
uixter Asqvtt versteht^) . Die Zwiespältigkeit dieser beiden durch die Hydrasage berühmt
gewordenen Haine, des Platanen- und des Olivenwäldchens, erklärt das Schwanken
der Ueberlieferung über die Art des Baumes. Gerade die Verk:r).üpfung der Hydra
mit einem Baume kam aber jener Fehldeutung des Thieres auf eine Schlangenart,
wie die Natter, sehr entgegen: das kann man noch aus Schilderungen des Polypen
wie der Ailianischen entnehmen, wo (IX 45) die Worte nolvnodsg [diä nQe/.iväi')
avaQTidaavTsg aal roig xKädoig TtsQmsaövreg (um die Zweige) unwillkürlich die Vor-
stellung einer um Stamm und Zweige eines Baumes sich ringelnden Schlange in der
Phantasie hervorrufen.
Ein weiteres Kennzeichen, das die Hydra ebenso vom Hydros trennt, wie dem
Polypen nähert, ist die grosse Anzahl von Hälsen und Köpfen; gerade diese
1) Z. B. Ailian. ]SA. IX 45: ayqov yeiTViüvvog d-aXüaGf] y.ai (pvrCov JtaqsatLotmv eymqjtiov
ysiüQyol irolMy.ig v.ciTaXaj.ißavovatv Iv wQa ■^■e^etV^ Ttoliircodäg te -auI öa/.iiiXovg vi-vl. vgl. S. 149, Anm. 1.
2) Heydemann Griech. Vasenb. T. 4 a. b. (zweimal auf 2 spät-sf. Bildern aus Boiotien) ; streng-rf.
V. Casuccini Gerhard A. VB. 148 (Baum hinter Herakles). M. d. I. III T. 4C, 3. (Zweige, die Scene
durchkreuzend); Mus. Etr. no. 1709; Arch. Zeit. 1859 T. 125 (ein Baum mit langen schmalen Blättern
unweit der Hydra) ; vgl. die Albanische Marmorvase.
3) Apollodor. : -vrjv vöqav evqwv sv tlvl Xorpc^ jvccqcc rag rci]yag Tfig '4i.iVj.uovrig^ otcov b
rpcülsbg avTfjg VTtfJQxs. Paus.: srtl vf] nrjyfj TiXäravog' Viru taiv]] Ti]v vöqav TqacpfjvaL rf] nXa-
räviii (paaLv.
4) II 36, 6 — 37, liF.: fi -/.arh yleqvav ■ddlaaaa . . . fj de yIsQva latLv . . . nqhg -S-aXciaa}],
v.al 'veliTi]V yleqvai^ ayovaiv evTCcvd-a ^ifjf.irjVQt. eOTi öe cilaog leqhv aQ%6i.ievov i-isv arto oQovg . . .
37: aTth de tov oqovg tovtov to aXaog aQxöfievov Ttlarctviov rb 7Colv hcl Tt]V -S-ctlaaaav y.adrjzei.
Vgl. Buttmann (SB. d. Berl. Akad. d. Wiss. 1821 = Mythologos II 93 f. 94 ff.), der auch die Iden-
tität der ylXv.vovLa li^ivrj des Pausanias mit dem h' yIsQVj] sXog Apollo dors und dem Strabonisohen
%Loqiov Öl Oll QSl Tto-cai-ihg fj yleqvi] bi.ubvvj.iog tfj Jdf.ivi] nachweist. Der sonst auch Amymone ge-
nannte Zufluss des Sum^ifs trennt den nördlichen Platanenhain von dem südlichen Olivenhain am Ein-
gang des Passes nach Elaius.
152 '^ ai"l '-lii m p el ,
sclieint freilich auch einer Gleichstelkmg mit dem Moschuspolypen eher hinderlich
im Wege zu stehen. Denn dieser hat acht schlangenartige Arme, die Hydra aber
auf den Kunstdarstellungen oft 12,11,10 — 7,6 Hälse^), wenn auch die 9- und 8-Zahl
die Regel bildet. Und doch sind diese Durchschnittszahlen gerade charakteristisch.
Den festesten Anhaltspunkt gewinnt man durch eine Prüfung der schriftlichen Ueber-
lieferung. Sie zeigt nämlich bei aller Vielstimmigkeit doch eine augenscheinliche
innere Folgerichtigkeit, die zu denken giebt und auf den richtigen Weg führt.
Euripides ist im Herakles Mainomenos 419 f. bei einer «ungemessenen« Zahl von
10000 Köpfen angekommen'-), während er in den Phoinissen 1134 ff. der Hydra nur
100 gab^), Simonides kannte nur 50^), der abermals ältere Alkaios'') nur 9. Und
wenn nach Pausanias' ungenauem Zeugniss (H 37, 4) der alte Peisandros von Kameiros
(Frg. 2 Ki.) in seiner Herakleia der Hydra statt des einen Kopfes, den ihr der
Perieget auf eigene Faust, um der Analogie der ȊX?.o/u vdqot, willen, zu geben ge-
sonnen ist, ras y.HfaXag iiioitjae rij vöqu Tag Ttollde (oder vorher 7rA«WßS statt /.liap),
so hätten wir freie Wahl, ob wir in Fortsetzung der beobachteten Progression von
«unzähhgen« oder 10000 und 100 über 50 und 9 für Peisandros eine abermalige Vermin-
derung auf 8 annehmen oder ihm die 9-Zahl des Alkaios geben wollen. Im ersteren
Falle könnte man sich für die 8-Zahl auf die Berliner Amphora aus Vulci") berufen;
auf die Vase des Anakies \ind Nikosthenes ebenda') aus Orvieto; die Lekythos aus
1) So 12 auf der streng-rf. Vase Casuccini in Chiusi : Gerhard Ant. Vasenb. 148 (B. d. I. 1840,
128. 14S), "Welcker AD. III 259 ^) und der Amphora Candelori; Mtoali tllalki av. ü donin. di Roma,
2. ediz. T. 99, 7, Welcker AD. IH 266. — 11; Kelief Sabouroff aus Tenea: Berlin 2882. — 10: Napf
von Argos: Arch. Zeit. 1859 T. 125, 3a (jetzt verloren: vgl. Conze, A. Z. 1880, 74f.). Geschnittener
Stein Berlin: Tölken Verzeichn. S. 263, Welcker a. 0. III 266 2s). _ 7. Sardonyx des Britt. Mus.
inach berühmtem statuarischem Vorbild: Imhoof-Blumer und Keller Thier- und Pflanzenbilder T. XXVI 12,
S. 156, lind Mus. Pio Clement. IV 41, Preuves A 6 (restaurirt) ; Vase Canino Mus. Etrusq. no. 1709.
Welcker a. O. 258. 267. — 6. rf. V. Mus. Naz. Neapel no. 2586 Heydemann. Imhoof a. O. T. XI,
no. 38 und Kylix im Neapeler Mus. Welcker a. O. 266.
2) ruv TB LiVQu'jv.Quvov . . . ylEQvag vöqav.
3) h.uTüv iyjövciLQ uajcid" ly.TtlrjQOVV yQcttpfj vÖQag . . . Idqyüov avp^c' . . . = Diodor
IV 11: ly.axhv uvyßVcC, h/ovxEO, v.EfpaXaq ocpecof.
4) Frg. 2ü3, Bergk PLG III 4 p. 525 aus Schol. Hes. Theog. 313 t}]v vdqav . . . (pr]al
^t.u(.ijviöi]e 7cevT)Y/.owc(yJ(pa)MV = Palaiphat. 39 p. 301 Westerm. ocpig syiov Ttevtri'AOVTa yecpaläs =
Eudokia p. 103 (c bei Westermann) zov TtevTfjyoway.ecpcelov 6 (.ivdog.
5) Frg. 118 Bergk PLG. HI p. 185 aus Schol. Hes. Th. 313 xrjv vöqav de Idlyalos j^iev
ivvECiyMpuLöv cprjOi.
6) 1854, M. d. I. III T. 46, 1; Welcker AD. III 285, no. 2, vgl. o. S. 147, Fig. 6.
7) No. 1801. B. d. I. 1879, S. 4.
Der mykenisclie Polyp und die Hydra. 153
Agrigent'); den Borgia'schen Marmor Neapel (Welcker AD. III 2GG); dazu wohl auch das
altkorinthische Kugelgefässchen aus Aigina^), obgleich auf diesem sich auch 9 flälse
herauszählen lassen. Im zweiten Falle könnte man sich für die 9-Zahl berufen auf das
athenische Porosgiebelrelief (s. o. S. 148 mit Anm. 1 ; Fig. 7, S. 147) und die sf. Amphora
Politi'''), ferner auf die sf. Schale aus Etrurien Heydemann Vasensamml. in Neapel, Mus.
naz. No. 2761, die spät-sf. attische Darstellung Heydemann Griech. Vasenb. T. 4 (vgl.
oben S. 147, Fig. 5), die Amphora Vulci M. d. I. III T. 4G, 6'), die Albanische Marmor-
vase (Zoega Bassiril. Fig. 62), die von Welcker AD. III 266 citirte Darstellung des
Museo Gregoriano und vielleicht die sf. Nolaner Amphora M. d. I. III T. 46, 5''),
die wiederum kein ganz sicheres Resultat ergiebt. Aber eine derartige wechselseitige
Verwerthung von Dichtung und Kunstwerk ohne die Bürgschaft, dass eins das andere
wirklich beeinflusste, wäre an sich schon misslich und unmethodisch. Thatsache ist,
dass keine Schriftquelle, eine 8-Zahl von Hydraköpfen auch nur ein einziges Mal
nennt, wodurch diese allein schon für Peisandros unwahrscheinlich wird. Thatsache
ist ferner, dass Pausanias den Peisandrostext, wenn auch ungenau wiedergegeben, so
doch dem Sinne nach richtig erfasst hat: wirklich sind jene lawinenartig aiaschwel-
lenden Zahlen 9, 50, 100, 10000 (unzählige?) nichts als immer vollere Umschreibungen
der noXlal xscpcdal mit dem Nebensinn einer erstaunlichen, nicht genau zählbaren, nur
allgemein abschätzbaren Menge. Das hvmxt^paXog des Alkaios steht auf gleicher Stufe
mit dem homerischen hvvscmijxvg. [oqi-ioq ElXeidvlaeY), den svviaQoi, aal ivveamjxes?, ftijzog
ivviöqyvioi, l^yJXaimg itutösg, l 311), dem Tqh svvta (pcörag {titscpvsv "yJgi^g, FI 785), den
1) M. d. I. III 46, 3, Welcker AD. III 2581) no. 5; vgl. auch die spätere Ampliora Chiusi B.
d. I. 1840, S. 55. 124, Welcker a. O. S. 259 no. 6.
2) M. d. I. III 46, 2, A. d. I. XIV 1842, S. 103—111; Welcker AD. III 251, no. 1 zählt
S. 263. 266 »7 Köpfe«. Es sind aber 8: 3 herabhängend (davon 1 todt, 2 ins Schwert beissend, 3
gegen Herakles anzischend, 1 desgl. gegen lolaos, 1 in dessen linker Hand). Eher könnte man ver-
sucht sein, sich noch einen 9ten Hals zu construiren aus dem rechts vor Herakles und dem Krebs auf-
strebenden Stück Windung zusammen mit dem zwischen dieser und seinem vorsohreitenden 1. Bein
parallel diesem abfallenden (kopflosen) Stück; vgl. o. S. 147, Fig. 8. Eine Erklärung verlangen beide Stücke.
3) M. d. I. III T. 46, 4. Welcker S. 258, no. 4 zählt S. 266 fälschlich »7 Köpfe«!
4) Welcker a. O. no. 3, S. 206 f., 264; ähnlich das daselbst S. 259*) citirte, aus dem Cabinet
des Prinzen Canino, wo »der Mann mit Krone und 1 Pferd« vielmehr eine Nike mit Kranz und 2 Pferden ist.
5) Miliin Vases T. II S. 75. Welcker a. O. S. 259, no. 7 zählt nur »8 Köpfe«. Aber man zählt
am Leibe ansitzend allein schon 8 lockenartige Ringel, aus denen sich ebenso viel Hälse entwickeln: die
beiden äussersten über's Kreuz r. u. 1. unten von der Schwanzspitze ohne Kopf verlaufend. Ein 9ter Kopf
mit Hals ohne Ansatzringel kommt genau aus der Mitte des Leibes hervor.
6) H. Hymn. Ap. 104.
Poatsi'hrift für Ovorbock. 2U
154 Karl Tümpel.
evvta nt'hüga, die Tityos deckt (A 577)'). Correct erklären alte Glossen ivveäK()OGaov
durch nokKoiic; y.^oaaove ixot'"^) und die evvsadeajLiot acpövd'vXoi des Scorpions als jroAw-
dta/iioi^) ))ini 7tX->jdovg«, weil sogar die 7 Gelenkgiieder schon zu viel Mühe machten
beim genauen Auszählen; ferner entsprechend n6VTi])iovTo/ittaod/j.og = jroAiioTf/os;
tzarov [Gi]ftui'v6i t6] Gf/iiv6v, noKv, fuya (Hesych.) ; und ebenso entspricht dem ixa-
TÖjtinvkog (Homers / 383) das nolinvlog (Diodors I 45); dem iaaTÖ^vyog ['P 247):
noXv^vyog (Schol. V z. d. St.); endlich dem /liv^ioh ßvqloi.
Somit ist ii>v£axi'(paXog nichts anderes als nolvKtipaXog. Fiel es dem Nikandros
schon schwer, die 7 Gelenkglieder des Scorpions auszuzählen, so dass er kurz und
bündig die runde Zahl 9 einsetzte, genau wie wir mit unserem Neuntödter, neunklug,
neunhäutig und im mhd. neunherzig''), so war bei den 8-armigen Kopffüsslern die
Schwierigkeit eine noch grössere, schon wegen der verwirrenden Beweglichkeit dieser
Arme. Erst die moderne Wissenschaft zählt genau und nennt das Thier Octopus;
die Alten haben sich mit noXvnovg begnügt. Sogar einem mykenischen Toreuten,
einem jener sonst so sicheren Beobachter, ist es passirt, dass er dem Thiere bloss
7 Arme gab auf dem Formsteine, von dem jene 53 bis jetzt gefundenen Goldplätt-
chen-Amulette abgeformt wurden"') ; anderer noch auffälligerer Beispiele zu ge-
schweigen"). Welche Bedenken hatte es da für den alten Epiker, den Mythen-
erzähler, wenn er dem Ungeheuer, das er schildern wollte, die anschauliche runde
9-Zahl von Füssen (ApoUodoros) oder Schlangenhälsen gab : denn auf Plasticität des
sprachlichen Ausdruckes kommt es dem Künstler der Sprache in erster Linie an.
Und ebensowenig peinlich war des Epikers primäre Quelle, das Fischer- und Strand-
1) Abgesehen von den auch andere Auffassung zulassenden Zeitbestimmungen [evvfji.iccQ , ev-
vasrrjQ) und von evvsaßoiog.
2) Lobeck Path. I 212. 3) Schol. Nikandr. Ther. 780.
4) Der durch alle romanischen und germanischen Sprachen gehende Gleichklang der Worte für 9 und
»neu« brachte schon J. Grimm auf die Vermutung (Gesch. d. deutsch. Spr. I 1848, 244; kl. Schrift. III
137), dass in dieser Zahl die Vorstellung der Neuheit ausgedrückt sei, zusammenhängend mit alter Tetraden-
rechnung, wie sie F. Müller (Grundriss d. Sprachw. II 1, 389; II 2, 183; III 1, 130) für einige noch
lebende Sprachen nachweist. G. Curtius verwies auf die im Scr., Griech. und Latein, einhellig er-
scheinende Dualform des Zahlworts für 8 (Gr. Etym. ^ S. 163, 98). Vgl. auch Benfey Wurzellexikon
II 51, Savelsberg in Kuhn's Zeitschr. XVI 60, Ebeling-Capelle Homerlexikon unter evvea; Grimms
Wörterbuch unter Neun, neundrähtig, -gescheid, -gleich, -heil, -knie, -kraft u. a.
5) Schliemann Mykenai S. 307, Fig. 424.
6) 6 TtlexTävaL hat der Polyp auf dem Jaspis der Archäol. Gesellschaft zu Athen Imhoof-Blumer
und Keller Thier- und Pflanzenbilder S. 148, T. XXIV, 44 (sehr a,lterthümlich) ; 4 derjenige des o.
S. 147, Fig. 4 abgebildeten mykenischen Bechers; gar nur 2 der auf dem Steatit des Britt. Museums
a. O. T. XXIV 46.
Der mykenische Polyp und die Hydra. 155
Volk, das den Mythos gestaltete. Die Fischer sind, darüber klagen die Gelehrten,
die schlechtesten Naturforscher. Ohne das Eingreifen des gelehrten Forschers wäre
die Thierkunde auf der Stufe des Märchens stehen geblieben. Und nun versetze
man sich von dem kritischen Standpunkte eines Aristoteles, der scharf darco nXsa-
TCfj'as oder TTofes unterscheidet, auf den naiven des tirynthischen Fischers oder. Strand-
bewohners, der sich plötzlich auf dem Lande einem Geschöpfe gegenüber sieht, wie
es in Brehms Thierleben VI 759 treffend beschrieben ist: »Das Spiel der den Mund
umgebenden Arme gleicht bei den grösseren Arten der Mittelmeerkephalopoden den
Windungen eines Haufens mit einander verflochtener Schlangen«. 766: »Mit-
unter führen die Oktopoden ein eigenthümliches Manöver aus, indem sie ihre Arme
heftig im Kreise schütteln, wodurch sie sich rollen und verflechten«. Wird ihm
nicht, auch im wiederholten Falle, das Zählen vergehen? Und wie ungesucht stellt
sich auch bei einem modernen Beobachter, wie Schmidt- Brehm, dem Polypen gegen-
über die Vorstellung von Schlangen*) ein, seien es 9, 50, beliebig viele, —
»ein Haufen«! Es braucht wohl nicht erst noch hervorgehoben zu werden, dass der
Verfasser dieses Bandes von Brehms Werk völlig ahnungslos und unbefangen gegen-
über einer These ist, welche aus der Beobachtung dieses Thieres die Hydravorstellung
hervorgegangen sein lässt. Ich lasse ihm noch weiter das Wort. S. 764: »Die
Oktopoden leben zumeist in der Nähe des Gestades« (nach Aristoteles^) gerade die
grösste Art). — 769: »Die Moschus-Eledone (d. h. die oa/iivX?]) verlässt besonders
bei Nacht^) mitunter das Wasser und dauert dann mehrere Stunden im Trocknen
aus«; 767: »Die Heftigkeit und Geschwindigkeit, womit die Oktopoden ihre Opfer
ergreifen und an . sich reissen, verleiht ihnen ein wahrhaft wildes Aussehen; ihre
Opfer scheinen wie unter einem Zauberbanne zu stehen«; 759: »Die Arme sind bei
allen lebenden Kopffüsslern mit Saugwarzen besetzt, wodurch ihr Zweck, die Beute
festzuhalten, in ausgezeichneter Weise erfüllt wird«''); 766: »sie sind bis 9' lang und
1) Wie Tiel mehr die Schlangenarme gegenüber dem schlauchartigen Leib ins Auge fallen, zeigt
schon Aristoteles IV 1, 8: riov f.isv yixQ TCoXvTtööwv 1:0 f.iev %vros j.iiv,Q6v, ol öe ^ööeg j-iaKQüi. elaiv.
Ganz entsprechend betont Diodoros (IV 11), dass £^ eybg aioj.iaroq s'Aarbv av%m'eg . . . öievunovvTO,
von der Hydra !
2) IV 1, 15: eoTi öh yeviq rcXeuo tüv nolvTtööcov ev j-ikv uo /.täliar' acm'oM^ov v.ai
f^ieyiavov mnCov • eial de Ttolv /.isiKovg TtQÖgysioi twv rtelaylcov; vgl. Brehm VI 767.
3) mmiOQ: Ailian. NA. XIII 6; noctu: Plin. NH. IX 92.
4) Arist. IV 1,6: o (.lev 7Volvjcovg xal wg jtoal y.al ing %EQal xqfitai. valg Tcleyivdi'ccig. Ailian.
NA. I 27: sari yccQ kuI cpayslv dsivog -/«< hcißovXevoai acpöÖQa nxtvovQyog • to de akiov ' 7Ca(.i-
ßoQwrarog ^rjQÜov d-aXattkov eavL Vgl. u. S. 164 Anm. 2.
20*
i5t) Karl Tümpel.
50 Pfd. schwer.« Zu diesen Thieren gehören aber auch die gefürchteten Kraken des
Oceans, die sich bisweilen an die Mittelmeerküsten verirren. Trebius Niger') giebt
dem räuberischen, einem Monstrum ähnlichen Polypen, der bei Carteja einst mittels
überhängender Bäume bei Nacht sogar Mauern überkletterte und kaum bezwingbar
war, eine magnitudo inaudita, 30' lange Arme, einen Leib von 50 Amphoren Gehalt,
Saugnäpfe an den Armen, je 1 Urne "Wasser fassend. Und der Polyp von Dikai-
archia in Italien war so gross , dass ein gewappneter Wächter sich ihm nicht
gewachsen fühlte, und erst eine Mehrzahl von Männern den Räuber »mühsam nach
langer Anstrengung« überwältigte, durch scharfgeschlifFene Schlachtmesser, mit denen
sie die dicken Arme zerhieben^).
Ganz entsprechend holt Herakles sich den lolaos zu Hülfe; ja der Nachtzeit,
in der diese Ungethüme regelmässig ihre Landbesuche machen, entsprechen im
BEydramythos in überraschender "Weise die Fackeln, die dem lolaos eigenthüm-
licher "Weise als "Waffe dienen und auch gerade zur Hand sind. Auch Messer- und
Sichelschwert begegnen uns in den bildlichen Darstellungen des Mythos regelmässig
als Waffe des Herakles"') wieder, der auch von der Hydra Aveiss, dass sie — ganz
wie die räuberischen, Vorräthe plündernden Polypen — nqo'kov rro nsäm näv öti
TtQogTvxoi (ht(pO£/Q£P (Apollod. Bibl. II 5, 2 = Pediasimos 2). Ja, sie umklammert
den Herakles (ß/nnXaxeiaa Eveixtro) wie ein Polyp, und tantam vim veneni hahdt, ut
afflatii homines necaret (liygin. F. 30). Das erinnert stark an den afflatus terriUlis
1) Bei Plin. NH. IX 92: [Polypus] aclstieius exire e mari . . . saepes transcendehat per arhorem . . .
concitiqiw custodes expavcro novitcUe . cum monstro sibi diviiearo videhantitr. Namqite et afflatu
tcrrihili (mittels der siphones] cancs agchat . . . aegrcqiie nuiltis tridentibus conßei 2'ohiit.
2) Ailian. NA. XIII 6: oi TtoXiiTtoösg •acu avvol XQuvq) yivovvat /.isyiOTOi -/.al elg joyriy
7tqoa%ioqovöL . . . a'Aovio oiiv iv tfj jLy.aiaq%ia tjj itaXi-Af] TtoliiTtovv eis oyyiov aco /.cavog V7te-
Q fj cpavov 7tQoeXi}-üv%c( . . . jtqofiEL öh aqu oiirog ymI elg tijv yriv 'Aal sh]lCsTo . . . vixTioQ . . . ö öe
(der gewappnete Wächter) ov'a sTtexsiQSi [.lövog öeiaag tov d?\qa' y.c<l y ctQ /.löv ov /.lelKcov
rjv ü e%üqög ... Er holt sich Hilfe; elta saitsQag b cpCog hcupocrä . . . ol öh wicXL^ovto
hcl tov TtoXi'i.iiov 'Aal 'Aonim -/.al ^vqolg zsdi]yi.ievoig amov öü'Aorccov tag jtke-ATävag, cog ÖQvbg
•/.Xäöovg aöqoTa-rovg äi.iTce?MVQyoi -/.al SQvot6j.iOi . 'Aal tqv al-/.rjv avrov Jteqiv.öipavreg -Aadsllov
Olpe 'Aal /.löyig ov'a oliya Ttovrjaavceg.
3) Auf dem Aiginetischen Kugelgefässchen (M. d. I. III T. 46, 2) und der Volcenter Amphora
(a. O. No. 6) auch des lolaos. Nur auf den beiden Bildern der boiotischen Vase Collignon (211) greift
Herakles einmal mit Steinen, das andere Mal mit der Keule an , die er auf der Vase Casuccini (Ger-
hard A. VB. 148) eben hat fallen lassen und im apollodorischen Berichte nach Verschiessung der
fCETCVQiofih'a ßehrj ausschliesslich braucht. Mit xqvaiaLg aqicatg versieht Euripides im Ion (190 ^^
Qu. Smyrn. Paral. VI 208) den Herakles im Hydrakampfe.
Der mykenische Polj'p und die Hydra. 157
siphonum (der plinianischen Fistiüae IX 85^)), durch den jener I'olyp von Carteja die
Hunde schreckte (vgl. o. S. 156 Anm. 1), und die Gewohnheit dieser «Tintenfische«, in
Angst oder Noth den ätzenden, dunklen Tintensaft auszuspritzen.
Andererseits legten diese Eigenthümlichkeiten gerade auch die Verwechselung
mit einer ihren Gegner umschlingenden, anzischenden und angeifernden Natter nahe,
wenn die Sage einmal aus dem Munde ihrer seekundigen, tirynthisch-mykenischen
Erfinder in denjenigen binnenländischer Hellenen überging, die das fremde See-
geschöpf durch ein ihnen vertrauteres ähnliches Landthier ersetzten. Nun glaubte
man Schlangenköpfe zu finden in den Schwellungen am Ende der Polypenarme^) ;
der eine^) Saugnapf jedes Armes der Eledone konnte als Mundöffnung gelten. Der
Schlauchleib des Polypen machte schon auf die »mykenischen« Künstler den Eindruck,
dass er spitz zulaufe; ja er hat mitunter geradezu unter ihrer Hand auf den Abbil-
dungen die Form eines Schlangenleibes angenommen'). Die an den Armen zahl-
reich verstreuten runden Saugwarzen, vrelche am Polypen die alten Künstler immer
gewissenhaft darstellen, kamen einer Umdeutung auf die punktartigen Flecken mancher
Schlangenhaut bereitwillig entgegen^). Aber treuer doch als die bildlichen Darstel-
lungen hat die mythische Ueb erlief er ung echte Züge bewahrt.
An welcher Schlangenart könnte jene sonderbare Eigenschaft der Hydra
beobachtet sein, dass i^iiag {i(£(pa).ijg) jtoTTTO/tm^^g ovo avstpvovTo (Apollodor., Pedias.)?
Oder gar, dass sie ein unsterbliches Haupt hatte, das Herakles nach Absengung
der übrigen, weil es Leben und Widerstand nicht aufgeben wollte, noch besonders
mit einem schweren Felsblock belasten musste, um es zu tödten (vgl. o. S. 150 Anm. 6)?
Gerade aus Beobachtungen, die man an der Natur des Polypen machte, erklären sich
aber diese beiden wunderlichsten Angaben ganz zwanglos. Dass der Polyp verlorene
1) Sie dienen beim RückwäYtsschwimmen des Tkiers zur Fortbewegung , indem durob sie einge-
sogenes Wasser gewaltsam ausgestossen wird.
2) Vgl. Schliemann Myk. S. 211, Fig. 271; S. 123, Fig. 166.
3) Aristoteles NA. IV 1, 15: eleöibvt] . . . öiafpsQOvaa . . T(Tt ^wvoYMVvhi) eivat, ^lövov;
Ailianos bei Suidas ikeöwv)] . . . E%Et, f.iiav ■A0vvh]d6va.
4) Einer langen, schmalen, spitzen Dolchklinge gleicht der Leib des Polypen auf einem thönernen
Becher von Jalysos : Heibig Homerisches Epos 1. Aufl. S. 268. Fig. 106; s. o. S. 147, Fig. 4. Spitz
laufen überhaupt die Polypenleiber auf sämmtlichen mykenischen Darstellungen aus, während die helle-
nische Kunst das Hintertheil fast durchweg abrundet. Man vgl. die Münz- und Gemmenbilder bei Imhoof-
Blumev und O. Keller a. O.
5) So z. B. bei der Hydra der Volcenter Amphora Mon. d. Inst. III 46, 6; und des Sardonyx
des Britt. Museums Imhoof-Bl. u. Keller a. 0. 156, T. XXVI 12 (vorzügliche Arbeit des besten Stils;
vgl. o. S. 152 A. 1).
158 Karl Tümpel.
Arme neu wachsen lässt, ist eine von Aristoteles') bekämpfte, aber somit gerade be-
stätigte populäre Anschauung des Alterthums gewesen; wenn man nun die vd^a nach
Verlust einer Schlangenwindung nicht bloss »eine zweite«, sondern geradezu »zwei«
solche neu treiben Hess, so war das nur eine leichte Steigerung ins Wunderbare;
diese hätte bei einem mythischen Geschöpf ohnehin nichts Auffallendes, auch wenn
sie nicht eine ganz naturgemässe Folge des nqwrov \psvdoc, der missverständlichen
Auffassung einer Polypen-i!(^p« als eines Schlangen-Ungethüms wäre.
Und vollends das Eäthsel »des unsterblichen Schlangenkopfes« (und -halses)
löst sich leicht, wenn man sich erinnert, dass die eine nlsKidvii des männlichen Polypen
zu einem Zeugungsglied umgestaltet zu sein pflegt und mit dieser Function einen
ganz besonderen Grad von Beweglichkeit und Lebenszähigkeit erhält. »Die scheinbare
Selbständigkeit und Individualität dieses Armes ist so täuschend, dass ihn einige
der berühmtesten Naturforscher für einen Schmarotzerwurm hielten. Selbst abge-
rissen bleibt er noch längere Zeit in voller Frische und Beweglichkeit«,
(Brehm 778); und gerade abgeschnitten machte der letzte wurm- oder schlangenartige
Hals der Hydra auf Herakles den imheimlichen Eindruck der »Unsterblichkeit«, den
Eindruck einer vom todten übrigen Hydraleibe zwar getrennten, aber dessen unge-
achtet selbständig herumschnellenden letzten Einzel-»Schlange«, die aller Tödtungsver-
suche spottete. Erst Belastung mittels eines Felsblockes und Begräbnis vermochte sie
zu bannen, wenn auch »die Unsterbliche« nicht zu tödten.
Von diesem Punkte aus fällt zugleich auf die ganze Entwicklung der polypischen
Plydra-Eledone zu einer »neunfachen Schlange« alles nur wünschenswerthe Licht.
Der Gedanke an die Erklärung dieses Phänomens durch Annahme eines »Schmarotzer-
wurms«, so naheliegend dieser Vergleich dem modernen Forscher liegen mag, lag
der populären Thierkunde der Alten ja vollständig fern. Wollte der alte Mythen-
erzähler jenen letzten Act des Kampfes mit dem . schnellenden, »unsterblichen« Theil
des Ungeheuers schildern, so stand ihm zur Veranschaulichung dieses unheimlichen,
nach Tödtung der 7 übrigen Theile und des Ganzen noch immer lebendig bleibenden
Restes jenes Geschöpfes kaum eine andere Bezeichnung zu Gebote, als die einer
»Schlange«. Dass auch die früher getödteten 7 gleichen Theile eben solche
Schlangen gewesen sein mussten, war nur eine noth wendige Folgerung. So bietet
gerade der »unsterbliche letzte Schlangenhals « des Polypen zugleich Brücke und
1) Trjv G'jvüvLV TTJg a-/.Qag rj-Aeaa-vo' elta ävatpuei rh ellehcov, HA. VIII 3, 5 = Plin. Nli.
IX 87.
Der mykenische Polyp und die Hydra. 159
Schlüssel zu der sonst schwer erklärlichen, hellenischen Vorstellung der neunköpfigen
Schlangenhydra.
Ein Einwand ist dabei noch zu erledigen: mit dem weiblichen Geschlecht der
vdga contrastirt dieses männliche Genitale. Aber dann müsste man auch die weib-
liche Bezeichnung des männlichen Moschuspolypen als dfoA/g, ö^a/vu, oöfivh], ßoll-
Taiva, ßoXßiTi'vi] beanstanden. Ueberhaupt ist die Function des jetzt s.g. liektokoty-
lusarms als männlichen Genitales bis auf die moderne Wissenschaft herab unbekannt
gewesen') mit alleiniger Ausnahme einer dahin deutenden kurzen Nachricht des
genialsten der alten Beobachter, des Aristoteles^); dem übrigen Alterthum galt er
als einfacher Arm. Nur jene Vorzeit und jenes altargolische Seevolk, das den
»heiligen Polypen« beobachtete und wohl auch schon von ihm den späteren »Hydra-
mythos« erzählte, beobachtete die eigenartige Selbständigkeit und »Unsterblichkeit«
jenes Gliedes, freilich ohne seine Fu.nction zu durchschauen. Es erübrigt noch Klar-
heit Zugewinnen über die auffällige Angabe des Aristonikos von TaxenV^): .ti]v f.iEGfjv
itscpahjv (das unsterbliche) rijs vdgae %qvgovv elvui. Dieser charakteristische Zug
erklärt sich ebensowenig wie alle früheren aus jenem von Preller (G. M. 11^ 193),
B,oss (Eeisen in Griechenland 1 100) und E. Curtius (Peloponn. II 368) weiter ent-
wickelten Deutungsversuche des Servius (Verg. Aen. VI 287), nach welchem die
9 nfcpaXal der Hydra 9 Quellenhäupter'') des Amymoneflüsschens sein sollen.
1) Das zeigt, richtig verstanden^ schon allein die von Aristoteles erfolglos bekämpfte Fabel: Der
Polyp fresse in der Noth seine eigenen 7tXoy.cci.i0i auf (Hesiod Theog. 524, Plutarch. de communi notit. adv.
Stoic. II 4, p. 1059 E, Sollert. anim. IX 2, 965F, Ailian. NA. I 27; XIV 26; vgl. S. 158 Anm. 1.
Dagegen Arist. HA. VIII 3, 7 = Plin. NH. IX 87). Man hat offenbar oft im Leibe des Weibchens,
das man als solches natürlich nicht erkannte, den Hektokotylosarm des Männchens, der beim Begattungs-
act abzureissen und zurückzubleiben pflegt, vorgefunden und ihn für einen abgebissenen, längst ergänzten
eigenen neunten Arm des Thiers gehalten: eine Annahme, durch die allein schon man zu jener
»Neunzahk von Schlangenarmen gelangen konnte.
2) NA. IV 1, 6, Brehm Tierl. VI 778 f. Die Aristotelesstelle lautet: tfj 8' effxäTfj twv 7cXs-
xTavätv, 1] sart d^VTd-vrj re xcä (.lövrj TtaqalevAOS aiiviöv xat 1^ anqov öiKQoa . . . ■vctvv)] de rf]
TtlEKrävt] yiqrjaat, ev Talg ö%siaig = Plin. IX, 85 (missverständlich): utuntur [polypi) cauch (1), qiiac
est hisulca et acuta, in co'itu.
3) Frg. 2 aus Ptolem. Heph. I p. 183 West., FHG. IV 337.
4) Vgl. auch Welcker Gr. Götterlehre II, 757. Dessen Hinweis auf die moderne Bezeichnung
Kephalari deckt den Grundirrthum dieser Erklärung auf. Dieser Name bezeichnet die jetzt von einer Kapelle
eingenommene Quellgrotte des Erasinos, dessen Wasser die Alten (bei Pausanias) aus dem arkadischen
Stymphalischen See herleiten. Dem Vergleich mit dem »unsterblichen Quellhaupt der Hydra« zu Liebe
hat Gell (Argolis S. 79) den Erasinos mit den Zuflüssen des Sumpfs von Lerna zu identificiren gesucht
(so auch auf der Karte) : ein Ivrthum, den Buttmann in seiner Vorlesung »Uebev Lerna« vor der Berliner
160 Karl Tümpel.
lolaos hätte sie mit seinen Feuerbränden ausgesengt, nachdem des Herakles Eingriffe
nur eine Zweitheilung der bekämpften Wasserschlangen zu erzielen vermocht hätten,
während die »unsterbliche Quelle« unter Herakles' Steine unversiegt perennirend
fortquelle. Wieso soll sie »golden« genannt worden sein?
Der lebenszähe, unsterblich scheinende Hektokotylosarm des Polypen dagegen
hat nicht bloss wirklich eine hellere Färbung als die übrigen: nach Aristoteles (IV
1,6) ist gerade diese jthzruvjj /liövi] naqülev^og avTiov; sondern wenn der ganze
Polyp in der Erregung gerade ein Farbenspiel zu entfalten pflegt, dem thatsächlich
keine Färbung fremd ist'), warum soll nicht bei diesem abgeschnittenen lebendigsten
aller Glieder, die »weissliche« Färbung in eine goldgelbe haben übergehen können?
Ich denke: die dargelegten Uebereinstimmungen zwischen Moschus-Eledone
(Polyp) und vcf^a sind stark genug, um in ihrer Geltung durch einige Abweichungen
nicht wesentlich abgeschwächt zu werden. Eine solche liegt in der Art des Bisses und
Giftes beider. Wenn Ailianos (NA. V 44) erzählt: t^v d' uqu dijuTiahv %al og^ivXoc, %ai ö
TtoXvTtovc, y.ul dänoi. av oiirog G7j7viaQ ßicuöregov, rov ö' lov /.isOlijaip i'jttov (nachdem es vorher
hiess: l'xsi öi öTjy/Lia i) aiinm iadaQ), so ist damit einerseits der Biss des schnabelförmigen
Mundes des Polypen gemeint (denn mit dem einzigen Saugnapf jedes Armes vermag
die Moschus-Eledone wie überhaupt der Polyp, nur sich festzusaugen), anderseits mit
dem Gifte die scharfe Schwefelsäure, mit der der Polyp sogar die kalkigen Hüllen der
Schalthiere erweicht. Die Herkunft dieses Giftes vermochte man so wenig sicher zu
bestimmen, dass man es in dem scharfriechenden dunklen Safte der Tintenblase des
Tintenfisches wiederfand. Dagegen soll die vdqa mit ihren »Schlangenköpfen« gebissen
haben. Die Abweichung ist ohne Belang. Denn der Hydramythos widerspricht
sich selbst. War das Thier wirklich eine Schlange, so musste das Gift im Giftzahn
und in seiner Giftdrüse sitzen. Der alte epische Bericht dagegen, den die apollodorische
Bibliothek (II 5, 2 = Pediasimos 2 p. 350 West.) aufbewahrt hat, erzählt, unbeschadet
seiner sonst ganz von der Schlangenvorstellung beherrschten Darstellung , ganz naiv,
dass ITerakles, um zum Gifte der Ilydra zu gelangen, ihr den Leib aufschlitzen und
die Galle öffnen musste^); und diese »Galle« der Flydra enthielt »schwarzen« Saft ^)
nach Sophokles; also den ätzenden schwarzen Tintensaft des Tintenfisches. Auch sind die
Academie d. Wiss. 1821 (Mythologus II 104 ff.) an der Hand der alten Zeugnisse und des eigenen Iti-
nerariums von Gell schlagend widerlegt hat. Vgl. o. S. 150, Anm. 6; S. 151, Anm. 3. 4.
1) Brehm TL. VI 764.
2) To öh acü^ia Tfjg vÖQag avaa^laag Tfj %ohfi 'vohg öIgtovs sßaipsv.
3) Trach. 573 /.leXayxölovs eßaipev iovg d-Qs^i^ia ylsqvaiag vöqag.
Der mykenische Polyp und die Hydra. 161
durch den Biss der Hydra verursachten Wunden, wie schon Miliin (Descr. d. Vases
IIS. 117 zu PI. 75) gut bemerkt hat, auffallender Weise nicht unheilbar*). Und
doch pflegen sonst die Schlangenbisse des Mythos unheilbar, wo nicht gar tödtlich zu
verlaufen.
Am naivsten aber verräth sich die alte Polypennatur der Hydra an einer anderen
Stelle des alten Berichtes in der Bibliothek. Das Ungethüm umschlingt nämlich den
Herakles nicht etwa, wie man nach A.em. dsiQOTo^ielv des Pediasimos (Apollodori bibl.
plenior?) erwarten sollte, d-ariqu rwv deiqwv , sondern därsqfp tcov nod'üiv ejUTtka^ieiau
evti%kTo ^) . Die »Schlangengestalt« ist vergessen oder noch nicht durchgeführt : die /.lax^ol
nöösg noXvnoömv (Aristot. IV 1, 8) treten mitten im Hydramythos in Kraft. Freilich
sitzen an den Füssen »Schlangenköpfe«! Diese Schlangenfüsse mit ihren daran-
sitzenden Köpfen, wie jene »schwarze giftige Schlangengalle« sind wohl neben der
Neunfältigkeit der angeblichen Schlange die wunderlichsten Consequenzen der antiken
Auffassung der mythischen vdqa als einer Schlange.
Hat demnach die mündliche und epische Ueb erlief erung eine Fülle von Zügen
treu bewahrt, die, der Umdeutung auf eine Natter zum Trotz, den polypodischen
Urtypus der Hydra noch sicher erkennen lassen, so ist es um so auffälliger,
dass die bildliche Ueberlieferung in dieser Richtung versagt. Die Bildwerke geben
über die Hydra selbst nirgends ein Mehr gegenüber dem Mythos, sondern durchavxs
weniger^). Schon das Schwanken in der Zahl der Arme zeigt die Unsicherheit der
Künstler, und noch mehr tappen sie im Ungewissen umher bei der Darstellung des
Leibes. Um so eifriger sind sie in der Ausnutzung des Schlangentypus für die Dar-
stellung des Geschöpfes, zu der ihnen somit keine bildliche, sondern nur eine mythische
Vorlage zu Gebote gestanden haben wird. Ein Zusammenhang mit den trefflichen
Polypendarstellungen der mykenischen Kunst ist hier entweder nie vorhanden ge-
wesen oder doch zerrissen. Die ältesten bezeugten hellenischen Darstellungen des
Mythos sind zwar verloren: die der Kypsele und die des Amykläischen Thrones.
1) Die eine Ausnahme Nikanders Ther. 685 ff. , der des lolaos Verletzung durcli giftiges Hydra blut
von ApoUon mittels cpXsyvalov geheilt werden lässt, bestätigt die Regel.
2) ApoUodoros = Pediasimos ; vgl. o. S. 15. Sonst hat Pediasimos mancherlei weniger genau: TOlv
icodolv (Dual!) im Widerspruch zu seiner eigenen sonstigen Beschreibung; vgl. auch das gleich wunder-
liche Y.ÜQ'qvov EVVSa'AEcpaXov. Ferner fehlt bei ihm Apollodors genaue Ortsbestimmung über den Pass
nach Elaius , und den Hummer lässt er gar erst nach der Herbeirufung des lolaos durch Herakles zer-
treten werden.
Postsclirift für Ovoi-l)eck. 21
162 Karl Tümpel.
Sie müssen aber im Wesentlichen sich mit den zwei Typen gedeckt haben, um die
sich die erhaltenen ältesten Darstellungen gruppiren lassen').
Es bleibt somit die Frage bestehen, ob der Mythos seinerseits, dessen älteste
ausführliche Gestalt uns wiederum nur in dem Referat der apollodorischen Bibliothek
erhalten ist, direct aus dem Munde jener argolischen Ureinwohner schöpfte, welchen
Polypencult und -mythos gehörte, oder ob er nur an eine stumme, auf Herakles
gedeutete, mykenische Kunstdarstellung anknüpfte^). Im ersteren Falle müsste eine ge-
wisse sprachliche Continuität zwischen »Mykeniern« und Hellenen angenommen werden.
Wer gegen solche Annahme aber sich sträubte, müsste hoffen, dass einmal eine
originale »mykenische« Darstellung des Kampfes zwischen Mann und Polypen sich
irgendwo im Tiefenschutte finde ^). Freilich würde eine solche Darstellung gerade
den gesuchten Sinn einer »Ueberwindung des heiligen Polypen (von Lerna, Mykenai,
oder Troizen) durch einen göttlichen Helden« nicht haben können, aus zwei Gründen.
Dass die mykenische Kunst dramatische Vorgänge religiösen Inhalts dargestellt
habe, ist zunächst eine nur von wenigen getheilte Annahme Einzelner; Ferner wäre
die Erlegung des »heiligen Thieres« für einen irdischen Angehörigen des Stammes,
der es heilig hält und ehrfürchtig schont, eine Todsünde gewesen, also auch die Ab-
bildung solchen Frevels unmöglich. Denkbar ist beides nur für den Gott oder An-
gehörigen eines fremden, etwa jüngeren hellenischen Stammes.
Welchem Stammcult gehörte der »heilige Polyp« aber an? Dicht bei Lerna,
unweit des Felsblockes, unter dem Herakles das »unsterbliche« Hydrahaupt begrub,
da wo von Elaius her der Engpass am Olivenhain des Mythos vorbei den Strand
1) Für den amyldäischen Thron nimmt Purgold ^jEijDJ^ft. aQX- 1885, 236 f. den Typus in Anspruch,
welcher das Gespann des lolaos weglässt und die Hydra mehr von vorn, zwischen Herakles und seinem
Freunde, abbildet: M. d. I. III T. 46. 1 u. 3, Welcker AD. III 259, no. 6. Berlin 1881 (Nikosthenes
und Anakies). Heydemann Gr. VB. T. 4. Vgl. M. d. I. III T. 46, 5; für die Kypsele: Die er-
weiterte Darstellung mit dem Wagen und Profilstellung der Hydra: M. d. I. III T. 46, 4; das
Porosgiebelrelief zu Athen; M. d. I. a. O. 2 u. 6. Im Einzelnen finden sich natürlich allerlei Ab-
weichungen.
2) "Wenn die Bildwerke (z. B. in Betrefl^ der Bewaffnung) .von der mythographischen Tradition
unabhängige Züge aufweisen, so steht als mögliche verantwortliche Vorlage zunächst noch jenes ältere
vorpeisandrische Epos über den Dodekathlos zur Verfügung, das v. Wilamowitz über das Jahr 700 hin-
aufrückt (Herakles I 307f.; 299 "j^ 295 'i'J), 312). Er möchte eventuell an einen Dorier aus My-
kenai als Verfasser denken (S. 308).
3) Etwa so, wie in jenem Münztypus von Katana die Darstellung des tirynthischen Wandgemäldes:
aus dem Stier ist ein Flussgott in Gestalt eines Stiers mit Mannesantlitz gemacht, aus der Darstellung
eines Zugs aus dem täglichen Leben eine mythologische.
Der mykenische Polyp und die Hydra. 163
erreicht, liegt das Feviatop, genannt nach dem Poseidon /«fiG/os'). Damit combinirte
schon richtig S. Wide^) das troizenische Fsvid-hov, die Geburtsstätte des (Poseidon-)
Aigeussohnes Theseus% das, wie er richtig sieht, identisch ist mit dem später @7]Gtoyg
nhqa, früher Sd-tviov Jiög ßwfioq genannten Cultobject, einem Felsblock, unter dem
Theseus die j'vwQiö/.iara seines Vaters (Aigeus) hervorgeholt hatte''). Dass dieses Fs-
vt-Ohov einem Poseidon Feve&koe gehöre, hat Wide erkannt, und schon vorher hatte
Vfr.^) aus anderen Gründen hier einen auf Zeus umgedeuteten Poseidon SQ-hiog. er-
schlossen, der dem Poseidonheros Aigeus, dem Vater des Theseus, ursprünglich wesen-
gleich ist. Die von "Wide betonte und durch Parallelen gesicherte (S. 93) üeber-
einstimmung zwischen lernäischem und troizenischem Poseidoncult ") läuft parallel jener
anderen, die den mykenisch-lernäischen mit dem troizenischen heiligen Polyp verbindet.
Es liegt nahe genug, das "Wassergeschöpf dem Wassergotte zuzuertheilen ; um so
näher, als der einheimische Heros, der mittels seines -iJfJ^xz-Polypen den fremden Herakles
verderben wül, gerade einen poseidonischen Namen trägt:' EvQvaOsvg = EvQVGÖevijg (vgl.
Anm. 5 dieser Seite). Der Volksstamm, dem dieser Cult eignet, ist der ionische, der
sich südlich über Lerna und Elaius in die Kynuria, östlich über Troizen bis Halikarnassos
verbreitete, und zwar von Tiryns aus'). Bei diesen lonern war es, dass der Hydra-
1) Paus. II 38, 4: ea^i de 1% yleqvrjg nal etsqa jtaq aiirrjv ööbg rrjv d-äXaaaav enl y^ojoiov,
reveatov övo^id^ovai • Ttqbg ■d-aXaaarj de. tov reveatov IIoasiÖMvog Ieqöv eariv ov /.leya . toi-
Tov de e%e%av xioqLov allo J^Ttößa-d-j-iot . . . evtevd-ev öieXdovaiv ^4vtyqala -/iaXov^ieva böhv -Aal
avevriv -Aal allcog diiaßarov %tI.; vgl. das Weitere o. S. 150 Anm. 6. Es ist der Poseidon der Sage
von Amymone, die = Lerna ist.
2) Sacra Troezeniorum cet. DD. Upsala 1888. p. 12 f.
3) Paus. II 32, 9 : JTQog rf] KeXevöiqeL xaXovf.ievrj . . . '/^toQLOv earLv, o reved-liov övo^iä'Covai
Tex^fjvai @i]aea evcavd-a leyovveg.
4) Paus. II 34, 6 : "/«rä 'vi]V TterQttV, '^ Tcqöteqov fiev exaXel-vo 2d-£vlov ^log ßcofiög, j-ieta
öe Qrjüea aVEX6(.iEVOV na yvojqLai.iava dvoi.iälI,ovaiv ol vvv Qrjaeag avrrjv.
5) Edqvcclfj , 2-d-eviü, Medovaa sind Zerlegungen der alten atlantischen Poseidongattin
Gorgo-Medusa. Und diese ist in Argolis eine Schwester des Evqv-a&e'ig, eines hypokoristisch ver-
kürzten Evqv-O&evrjg, der in seiner volleren Namensform in das lakonische Königsstemma Auf-
nahme fand. Der Vater der Blsöovacc {^-S^evio) und des Eurystheus heisst ja selbst wieder ^d-evelog
(Apd. Bibl. II 4. 5). In diesen Kreis, nicht in den des Zeus, gehört die «^ibg« 2%)-evlov nexqa bei
der alten Iloaeidcüviceg Tqot^rjv. Man sollte Aiyewg TCetqa erwarten, da dessen Eeliquien unter dem
Fels liegen. Die Wunderlichkeit verschwindet, sowie man sich erinnert, dass Alyevg ebensogut ein
Poseidonheros ist, wie Id-eviog ein Poseidon-Beiname; vgl. Fleckeisen Jahrb. Suppl. XVI 1887, S. 212
Anm. 224; vgl. 203 f.
6) Der heilige Fels des Poseidon Sd'ivwg Aiyevg wivA. auch beschrieben von Dionysodoros (von
Troizen?) jceql notai-mv, FHG. II 84: rceql -vrjv TqoiCrjviav zig lati TzeTqa, e§ fig ■Aatacpeqbf.ievov
vöcoq ßccTtrei tag vöqiag.
7) Mit Salmakides; vgl. Kaibel, Hermes XXV 1890, lÜO; Philologus NF. V. 1842, 402 mit 52).
21*
164 Karl Tümpel. Der mykenische Polyp und die Hydra.
Polyp im Poseidondienst ^) abergläubische Verehrung genoss. Wenn man bedenkt,
wie diese Höllenschläuche noch heute manchen Schwammtaucher des Mittelmeeres
in Lebensgefahr bringen^), so findet man es erklärlich, wie der mörderische Tiefen-
räuber als todbringendes, lebenraubendes Wesen selbst zum Sitze der geraubten
Todtenseelen und, zu einer »nach zehrenden« Spukgestalt werden konnte, die man im
Interessse der Nachlebenden bekämpfen möchte, aber aus Furcht verehrt. Auch von
diesem Herakles-Kampfe gilt, was Crusius von dem gegen die Stymphalischen Vögel
und die sonstigen Ungeheuer sagt: sie sind Prototypen des Seelenaustreibens'').
Zu Tiryns gehört auch der am Strande nach Lerna zu gelegene Poseidontempel von Temenion : Paus.
II 38, 1.
1) Der weibliche Hydra-Polyp von Tiryns-Mykenai kann natürlich nur einer weiblichen Gottheit
der Poseidonreligion als thierische Erscheinungsform gehört haben. Aber auch für männliche Wesen
dieses Kreises ist daselbst die Polypengestalt nachweisbar, nämlich in den tirynthischen XeiQoydaroQEg,
den überseeischen Baukünstlern (vgl. Anm. 3 a. E.). Dadurch wird die üebereinstimmung mit Troizen
noch vollständiger.
2) Lenz, Zoologie der alten Griechen und Römer. 620 2i49j. Trebius Niger (bei Plin. NH. IX
91) ncffat ullum atrocius esse anitnal ad conßciendum hominem in aqua, luotatur enim complexw et sorhet ace-
tahidis ac numeroso sucu trahit, cum in naufragos urinantesque impetum faoit. Vgl. o. S. 155, Anm. 4.
3) Koscher Myth. Lex. II 1153*). Dadurch, dass Herakles, der stammfremde Eindringling, die
Hauptrolle in dieser Cultlegende übernahm, erhielt sie einen historischen Hintergrund. Denn nun ward
der (später dorisirte) Aioler ein dauernder Erlöser von dem Todesschrecken, der von der unversöhnlichen
alten Gottheit des verdrängten autochthonen Cults ausging. Bei den versprengten Theilen tirynthischer
Joner, die in Halike und Troizen ihre Selbständigkeit retteten, ist das Verhältniss zum heiligen Thiere
ihrer Gottheit ein wesentlich anderes geblieben, ein zutraulicheres, weniger einseitig feindliches, wie das
ja auch bei Stammgenossen ihrer alt-angestammten Ahnengottheit gegenüber zu erwarten ist (vgl. o.
S. 145). — Ein weiterer Aufsatz, der im Philologus 1894 erscheinen soll, wird die Polypennatur der
tirynthischen Xeiqoy&aroqeg oder raaTSQÖxeigeg, sowie der 'EyxeiQoyäatOQes oder 'Eyfaorqö^ELQes
von Kyzikos-Artakia, überhaupt der '^Etf.aröyxei.Qeg und den südthessalischen Ursprung dieses Anschau-
ungscomplexes behandeln, dazu den heiligen Meerkrebs des Perseus von Seriphos und Lerna. Vgl. einst-
weilen Pauly-Wissowa Realencyclopädie d. kl. Alt. I 945 fr. (Aigaion) und Röscher, Myth. Lex. I
142, 4 ff.
Zur römischen Keramik in Gallien und Germanien.
von
Felix Hettner.
JOiine geschichtliche Darstellung der römischen Keramik mit genügenden Ab-
bildungen versehen ist eines der dringendsten Bedürfnisse der römischen Archäologie ;
sie wird weder dem Autor noch dem Leser den Keiz gewähren können, welchen
die griechische Vasenkimde bietet, da die Formen weniger abwechslungsvoll und
weniger elegant sind und figürliche Darstellungen mit Ausnahme derjenigen der
Sigillatagefässe fast vollständig mangeln, aber wie es immerhin von Interesse sein
wird, den "Wechsel der Formen tind Techniken zu verfolgen, den verschiedenen Fa-
briken nachzugehen und nachzuspähen, ob und in wie weit in den einzelnen Provinzen
einheimische Ornamente und Techniken verwendet worden sind, so würde eine solche
Darstelkmg namentlich als Mittel für die Datirung von Bauwerken im hohen Grade
schätzenswerth sein; Münzen behalten bisweilen Jahrhunderte ihren Kurs, Metall-
gegenstände können wegen der Festigkeit des Materials lange im Gebrauch ge-
blieben sein, Thon- und Glasgefasse sind dagegen wegen ihrer Zerbrechlichkeit von
weit geringerer Dauer und deshalb, wenn sie selbst chronologisch fixirt sind, die
sichersten archäologischen Chronometer. Die Thonscherben bieten überdies den
Vortheil, dass sie massenhaft auf jeder römischen Culturstätte gefunden werden, weit
zahlreicher als Münzen, Bronzen, ja selbst Eisengegenstände.
Hier soll ein kurzer Ueberblick über die Keramik auf gallisch-germanischem
Gebiet gegeben werden.
An Vorarbeiten fehlt es nicht. Der Abbe Cochet hat in mehreren seiner
Werke gerade der Chronologie der Thongefässe seine Aufmerksamkeit gewidmet,
sowohl in '■La Normandie souterraine' (2. edit. Paris 1855) wie in deren Fort-
setzung 'Sejmlfyires gauloises, romaines, ß-anques et normandes' (Paris 1857). Er hat
166 Felix Hettner.
alsdann in seinem Werkchen ArcMologie ceramique et sepulcrale ou Vart de cfasser les
sepultures andennes a Taide de la ceramique (Paris 1860), welches sich übrigens nicht
nur auf die römische Zeit bezieht, sondern die Keramik, so weit sie im Dienste
der Gräberbestattung steht, bis ins 17. Jahrhundert verfolgt, kurz sein keramisches
Wissen wiederholt; aber Cochet geht in seinen Arbeiten nirgends auf Einzelzeiten
ein und begnügt sich mit sehr weitgesteckten Perioden. — Ein sonderbares fran-
zösisches Werk verdient ausserdem erwähnt zu werden: Henri du Cleuziou, De la
poterie Gauloise, ettide sur la collection Charvet (Paris 1872); der Text handelt über alles
mögliche, nur nicht über Keramik, aber eingestellt sind in den Text über 200 aus-
gezeichnete Abbildungen mit kurzen — Provenienz und Technik betreffenden — , treff-
lichen Unterschriften; dieses Bilderbuch sollte um so mehr bei ims sich einbürgern,
als es nicht nur die charakteristischen Formen der französischen Gefässe, sondern
auch eine grosse Anzahl Gefässe aus Mainz und Köln enthält.
Nützlicher sind die ausführlichen Bearbeitungen, welche einzelnen Gräberfeldern
zu.Theil geworden sind, so das Werk von van Bastelaer, Le cimetiere helgo-romano-
franc de Stree (Mons 1877), welches Gräber zumeist des 2. Jahrhunderts eingehend
und nach der keramisch-technischen Seite mustergültig behandelt; ferner das Buch
vom Canonikus A. Straub, Le cimetiere gallo-romain de Strasbourg (Strassburg 1881), in
welchem ein Gräberfeld des 3. und 4. Jahrhunderts mit sehr guten Abbildungen
veröffentlicht ist, und schliesslich die ausführliche Abhandlung von K. Koenen, Die
vorrömischen, römischen und fränkischen Gräber in Andernach, veröffentlicht im
86. Hefte der Bonner Jahrbücher, Das Andernacher Gräberfeld enthielt Gräber
einerseits des 1. Jahrhunderts, andererseits des 3. und 4. Jahrhunderts und war
überaus reich an Münzbeigaben, wodurch für eine grosse Anzahl von Gefässsorten,
da die Untersuchungen offenbar sehr sorgfältig geführt worden sind, chronologische
Anhaltepunkte gewonnen wurden. Zu bedauern ist, dass Koenen sich bei seiner Ver-
öffentlichung auf so wenig genügende Skizzen beschränken . musste und es unter-
liess, der Beschreibung der einzelnen Gräber einen chronologischen Index folgen zu
lassen; er würde auf diese Weise die keramischen Studien wesentlich erleichtert haben.
Die hauptsächliche Unterlage für die Chronologie der Keramik bilden natur-
gemäss die Gräberfelder. Zu den genannten treten in unseren Gegenden namentlich
die Gräberfelder von Trier hinzu, die ich durch Jahre beobachten und theilweise
systematisch ausgraben konnte, sowohl das Gräberfeld von Maar-Paulin mit Gräbern
aus allen Perioden der römischen Herrschaft wie das Gräberfeld an der neuen Ka-
serne auf dem linken Moselufer mit Gräbern der letzten Jahrhunderte. Auch die
Zur römischen Keramik in Gallien und Germanien. 167
Gräberfunde von Regensburg, deren Entdeckvmg und kurze Beschreibung man dem
Pfarrer J. Dahlem (Das mittelalterlich-römische Lapidarium und die vorgeschichtlich-
römische Sammlung zu St. Ulrich in Regensburg. Nebst Anhang: Erklärung der
beigegebenen Pläne der Castra Regina und der römischen Nekropole auf dem Grunde
der Staatsbahn, Regensburg 1881) verdankt, habe ich eingehend studiren können.
Freilich das Thongeschirr des täglichen Gebrauches, namentlich die unendlich
verschiedenartigen Näpfe mit ihren Deckeln, ist unter dem Grabinventar zu selten
vertreten, als dass dieses allein die chronologische Unterlage bieten könnte. Hier
werden gewiss die im Gange befindlichen Reichslimesgrabungen einigen Anhalt bieten
können; wenn man im Allgemeinen sagen kann, dass die Limeskastelle nur von
100 — 250 n. Chr. benutzt wurden, so muss der Vergleich der dort gefundenen Formen
mit den linksrheinischen, welche 100 Jahre früher beginnen und anderthalb Jahrhun-
derte länger dauern, Aufklärung bringen.
Ordinäres Geschirr wird meist nicht weit transportirt worden sein, das Material
ist in Folge dessen in den verschiedenen Gegenden ein verschiedenes. Im Allge-
meinen lässt sich nur sagen, dass der Thon etwa bis zu.r Mitte des dritten Jahr-
hunderts sorgfältig geschlemmt worden ist; bis zu jenem Termin sind die Gefässe
dünnwandig, von da ab werden sie dicker und rauher.
In der Farbe ist starker Wechsel. Die Hervorhebung einiger Einzelheiten
kann vielleicht einige Dienste leisten.
Die gelbliche oder grauweisse oder röthliche natürliche Farbe des Thones tritt
namentlich an allen Geschirren des täglichen Gebrauches entgegen und hält sich
bei diesen durch die ganze hier zu besprechende Zeit. Aus diesem Thon, ohne
irgend welchen Farbenzusatz, werden schon früh die Henkelkrügelchen fabricirt,
welche zur Aufnahme der Spenden an Wein, Milch und Honig dem Grabe beige-
geben werden und auch im Hausgebrauch massenhafte Verwendung finden; von der
Zeit der Skelettgräber ab verschwinden sie im Grabgebrauch, und für den täglichen
Gebrauch treten andere Formen an ihre Stelle. — Graburnen scheinen bis etwa auf
Nero aus weissem oder röthlichem Thon aaicht angefertigt worden zu sein.
Ein weisser, gieichmässiger Farbenüberzug kommt vielfach vor bei den kelch-
förmigen, henkellosen Vasen von der Art wie ITefner, Westerndorf, Taf. III, Fig. 3,
falls diese nicht aus reinem Pfeifenthon hergestellt sind. Ein solches Gefäss wurde
in Trier in einem Grabe mit einer Münze Domitians gefunden und scheint zu
den frühesten dieser Gattung zu gehören. Sehr zahlreich finden sich dieselben im
Grabfeld von Regensburg und werden von Dahlem als Räucherschalen bezeichnet.
168 Felix Hettner.
Schwarze Näpfe mit steilen Eänclern und schwarze flache Teller finden sich
schon von Augustus ab in den Grabfeldern von Andernach und Trier, vielfach mit
Stempeln und vielfach mit sinnlos zusammengestellten Zeichen versehen, mit denen
germanische Töpfer römische Töpferstempel imitirten. Der schwarze Napf scheint
sich in den Donaugegenden länger gehalten zu haben als am Rhein, weil er z. B.
massenhaft im Castell zu Pfünz auftritt, während er mir aus Gräbern des zweiten
Jahrhunderts am Rhein nicht bekannt ist. — Intensiv schwarze Graburnen (vgl.
Koenen S. 221 zu Taf. V, Fig. 32) oder graue Graburnen mit schwarzem Eand und
schwarzem Fuss finden sich häufig im ersten Jahrhundert. Vom Beginn des zweiten
Jahrhunderts ab bildete Schwarz die beliebte Farbe für die Trinkbecher, zunächst
für die mit den eingedrückteai Bäuchen und die mit der gekörnten Oberfläche, später
für die Trinkbecher mit Aufschriften.
Graue Urnen grösseren und kleineren Formats, schlanke urnenförmige Becher,
Krügelchen mit Kugelbauch und elegantem, henkellosem Hals, sämmtlich dünnwandig
und aus feinem festem Thon, finden sich häufig im ersten Jahrhundert und nament-
lich in der ersten Hälfte desselben. Etwas roher hergestellt erscheinen die grauen
Gefässe auch in den Skelettgräbern, die im Anfang des dritten Jahrhunderts be-
ginnen und seit dessen Mitte häufiger werden. Von da ab tritt eine hellgelb-graue
Naturfarbe des Thons ausserordentlich häufig an grösseren Urnen und kleineren
Henkelurnen entgegen.
Iloth ist die Farbe der Sigillata, die massenhaft in den germanisch-gallischen
Gegenden gebraucht wurde und selbst in den Grenzkastellen eine sehr umfangreiche
Verwendung gefunden hat. Die festgebrannte, hellklingende, im Firniss treffliche
Sorte hält sich bis zur Mitte des dritten Jahrhunderts, weil sie fast ausschliesslich,
nicht die schlechte Sorte in den Grenzkastellen vorkommt, in den Skelettgräbern
herrscht dagegen die schlechtere Sorte vor, man vgl. z. B. die Taf. X bei Straub und
die Gefässe des Trierer Gräberfeldes vom linken Moselufer. Näher soll indess auf
das umfangreiche Thema der Geschichte der römischen Sigillatagefässe nicht ein-
gegangen werden. — Hellrothe, ziegelfarbene Gefässe, nicht mit dem Firniss der
Sigillatagefässe versehen, sondern nur an der Oberfläche geglättet, finden sich mehr-
fach in der ersten Kaiserzeit ; ein derartiger Trinkbecher mit steiler Wandung wurde
in Trier zugleich mit Scheibenfibeln gefunden. Mehrfach kommen kleine rothe
Uerrichen vor, und auch unter den sg. Gefässen gallo-römischer Art ist diese Färbung
des Thones häufig. ■ — Ein leichter Auftrag von dunkelrother Farbe erscheint häufig
bei ganz spätzeitlichen Henkelkrügen.
Zur römischen Keramik in Gallien und Germanien. 169
Gefässe mit citronengelber und grüner Glasur bilden neben den Sigillatagefässen
das Feinste, was nordische Keramik hervorgebracht hat. Zur gelben Sorte gehören
die Gefässe bei Koenen S. 168, Grab 17,2; S. 174, Gr. 4, 2; S. 174 e, i; S. 173 Brand-
stätte 4, i und einige schöne Stücke der Trierer Sammlung, zur grünen Sorte die
Herstatt'sche Vase (Bonner Jahrb. 84, S. 117) und die von aus'm Weerth, Bonner
Jahrb. 74 S. 147 besprochenen Gefässe. Das hervorragendste Stück dieser Sorte
ist aber eine 25 cm hohe Henkelkanne des Trierer Museums, welche in der Form
offenbar eine Bronzekanne nachahmt'); es wurde im Jahre 1880 in einem Grabe
mit einer Münze Hadrians gefunden. Ein bei Koenen S. 168, Gr. 17, 2 erwähntes
Andernacher Gefäss ist gleichzeitig mit einem anderen, welches mit der weiter unten
als No. 4 verzeichneten Ornamentation versehen ist, gefunden worden.
Die Formen wechseln erheblich. In der besseren Zeit ist der Fuss des Ge-
fässes sorgfältig geglättet und durch Abdrehen des Bodens ein kleiner Standreif er-
zielt worden, während in der späteren Zeit der Boden in dem Zustande gelassen ist,
welcher sich ergiebt, wenn das Gefäss mit einem Seilchen von der Drehscheibe
abgeschnitten wird; man gewahrt alsdann eine grosse Anzahl ungefähr paralleler
und hufeisenförmiger Riefen. — Stark sind auch die Unterschiede in der Bildung des
Randes bei den Urnen; im ersten Jahrhundert ist der Rand dünn und spitz zulaufend,
später ist er, so sehr er im Einzelnen verschieden ist, immer dick und auf der
Aussenseite gebogen. — Bei den Näpfen, von denen sich Randstücke massenhaft in
allen römischen Bauten, namentlich in den Limeskastellen finden, scheidet sich das
Randprofil deutlich, je nachdem der Napf einen Deckel hatte oder nicht; inner-
halb beider Classen bestehen aber noch eine grosse Anzahl Variationen, für die es
noch gilt, die zeitliche Abfolge zu gewinnen, wenn auch die Entwicklung bei
diesen lediglich für den Gebrauch bestimmten Gefässen eine sehr langsame gewesen
sein wird.
Am augenfälligsten wechselt bei den Bechern in der Wende vom ersten zum
zweiten Jahrhundert die Form. Während das erste Jahrhundert sich für diesen
Zweck kleiner Uernchen und Schalen bediente und überdies nur Becher kannte,
deren Rand breiter war als der Bauch (z. B. Koenen Taf. VI, Fig. 9 und 1 0) oder die
mit vollkommen gradlinigem Bauch sich etwas nach oben verengen (z. B. Koenen,
Taf. VII, Fig.. 11, 12, 19), so treten mit dem zweiten Jahrhundert die rundbauchigen
1) Auf zwei andere Henkelkannen aus Thon, welche durchaus die Formen von Bronzegefässen
imitiren, sei hier hingewiesen; die eine ist abgehildet bei Cleuziou Fig. 125, die andere befindet sich in
der Sammlung zu Augsburg; beide sind unglasirt.
Festschrift tur Overbeck. •>■)
170 l^elix Hettner.
Becher mit eingezogenem Halse auf. Verschiedene Formen dieser Becher kennen
wir ans dem reichen Grabfelde von Dieppe {Neuville le Pollet), welches ;Cochet in
La Normandie soiiterraine p. 71 fg. besprochen hat; dieses Grabfeld gehört nach den
Münzen, die ausschliesslich aus solchen Hadrians bis Commodus bestehen, durchaus
in das zweite Jahrhundert. Die verschiedenen Becherformen sind pl. II Fig. 33,
35, 38, 39, 40 zusammengestellt. No. 40 zeigt ein geschweiftes Becherchen mit der
unten zu erwähnenden Bossiertechnik. Ein besonderes Interesse bieten die Trink-
becher mit den Eindrücken, sie finden sich ausserordentlich häufig durch Frankreich,
die Rheinlande und die Donaugegenden; in Süddeutschland (Jagsthausen, Eegensburg)
sind die Eindrücke sehr tief und am Eande pflegen drei oder vier Riefen über ein-
ander angebracht zu sein. Diese Geßlsssorte hält sich übrigens lange, wie das
Skelettgräberfeld vom linken Moselufer bei Trier und auch das Andernacher Gefäss
bei Koenen Taf. X, 46, Grab 140, 2 zeigen.
Die letztgenannten Trinkbecher mit den tiefen Eindrücken, welche ein bequemes
Anfassen ermöglichen sollen, bieten einen interessanten Vergleich mit den gleich-
zeitigen Glasgefässen, sowohl mit den in der Form gepressten Glasschalen des zweiten
Jahrhimderts mit ihren nach aussen stark vortretenden Rippen, wie auch mit den
ganz entsprechenden Glasbechern mit den tiefen Eindrücken, die im zweiten Jahr-
hundert schon zu entstehen beginnen. — Ein weiterer Vergleich besteht zwischen
der für die Skelettgräber charakteristischen Glasflasche mit Kugelbauch und nach
oben sich erweiterndem Halse (vgl. z. B. Straub, Taf. VII, Fig. 1 und 2), und ander-
seits der derselben Zeit angehörigen Form der schwarzen Trinkbecher mit Auf-
schriften.
Auffallend unrömisch sind ihrer Form nach die Gefässe, welche seit Linden-
schmit (Alterthümer unserer heidnischen Vorzeit Band I, Heft 6, Taf. 6 und
Band III, Heft 6, Taf. 4) als romano-germanische bezeichnet werden; sie führen die
Formen der La-Tenegefässe fort, und wie sie schon deshalb in den Anfang der gallisch-
römischen Keramik gestellt werden müssen, so bieten hierfür au.ch die beiden mit
Münzen von Tiberius gefundenen Andernacher Gefässe bei Koenen S. 165, Grab 11, 4
und S. 166, Grab 13, 9 einen Beweis; sie sind in den frühen Gräbern des Maar-
Pauliner Gräberfeldes bei Trier sehr häufig. Sie bestehen immer aus hellrothem
oder schwarzem Thon.
Eine kurze Erwähnung verdienen auch die papierdünnen, glänzend schwarzen
kleinen Uernchen, die immer das gleiche stark und kantig ausgebauchte Profil zeigen.
Ein Andernacher Gefäss dieser Art ist bei Koenen, Taf. VI, 24 abgebildet und wird
Zur römischen Keramik in Gallien und Germanien. 171
von ihm ohne Angabe des Grundes S. 223 in die Zeit iim Nero gesetzt. Ein Bruch-
stück dieser Art wurde in Stree mit einer Münze Marc Aureis gefunden (vgl. van
Bastelaer p. 100 A^^ 12' und p. 66 [wo Y' 21 zu lesen ist, wie sich aus S. 249 er-
giebt]. Ein vollkommen erhaltenes Gefäss befindet sich in Trier, zahlreich sollen
sie in England gefunden werden und werden deshalb als britisches Fabricat ange-
sprochen. Mit Recht sagt Bastelaer: Cette tenuiU de moins d'mt miUimetre, excessive
pour la terre ciäte, est wi fait qui merite la plus gründe attention et en dit plus que de
longiies pages sur la j^ei'fection de Vart du potier antique.
Die Betrachtung der Ornamentation wird zweckmässig begonnen:
1) mit einer Technik, welche der La-Tenetöpferei entnommen ist. Mit einem
Holz- oder Hornglätter sind auf den betreffenden Gefässen in leberweichem Zustande
lineare Ornamente durch Glättung der Oberfläche hergestellt. Die Linien laufen
entweder senkrecht vom Hals zum Fuss des Gefässes oder bedecken dasselbe mit
rautenförmigen Maschen. Die so ornamentirten Gefässe sind meist rundbauchige
oder auch schlankere, birnenförmige Urnen. Die Farbe derselben ist eine blau-
schwarze, graue, braune oder auch die röthliche Naturfarbe des Thones. In Andernach
sind diese Gefässe mehrfach in Gräbern mit Münzbeigaben gefunden , man vgl.
Koenen Taf. VH, 25, Grab 16, 6; S. 161, Grab 3, 4 mit Münzen von Augustus,
Taf. VH, 14, Grab 31, 1; Grab 31, 3 mit Münzen vo^ Claudius; Taf. VH, 16,
Grab 19, 7 mit Münzen Nero's. Auch in den frühen Gräbern Triers kommt diese
Ornamentik sehr zahlreich vor. Zu vergleichen ist auch Cleuziou Fig. 37 und 38.
Vereinzelt kommen auch andere Ornamente vor, so ein Wechsel von senkrechten
Strichen mit Kreuzen auf den nicht datirbaren Gefässen bei Koenen S. 174 e 6.
Diese Ornamentik scheint ausschliesslich dem ersten Jahrhundert anzugehören und
zwar besonders der ersten Hälfte.
2) Die Ijinien werden mit einem scharfen Instrvimente in das leberweiche Ge-
fäss tief eingeritzt. Die Ornamentation findet sich zunächst an den s.g. gallo-römischen
Gefässen; auf diesen stehen in Abständen Gruppen von zwei, drei, vier oder mehr
senkrechten Strichen parallel neben einander, und aus der Art der Linienführung ist
es deutlich ersichtlich, dass man sich zu ihrer Herstellung zwei-, drei- oder mehr-
zinkiger Instrumente bediente, vgl. z. B. Cleuziou Fig. 39 aus Clermont Ferrand,
Koenen Taf. VI, 9, S. 165 mit Münze von Tiberius. Diese Ornamentation findet sich
au.ch vielfach an jenen festgebrannten becherförmigen Urnen (vgl. Koenen Taf. V,
Fig. 15, S. 156 und viele Trierer Gefässe), wo zu den senkrechten Strichen auch
kreuzweis gestellte hinzutreten, vgl. Koenen Taf. V, Fig. 36 S. 158 (mit Münze von
172 Felix Hettner.
Augustus). Eine schöne 30 cm hohe Urne dieser Art aus Heddernheim (Hamme-
ransche Sammlung), auf welcher sich drei Bänder von Zickzackstrichen, senkrechten
Strichen und Kreuzstrichen befinden, bewahrt das Frankfurter Museum. — Oder es
wurden auf diese Weise Dreiecke hergestellt, wie Cleuziou Fig. 31 (Köln), oder
Wellenlinien oder ganz unregelmässig gegeneinander gestellte Strichpaare, Avie zwei
Scherben aus Rottweil zeigen, oder auch sonstige Ornamente (Cleuziou Fig. 57 aus
Bavay) . Diese Ornamentik tritt jedenfalls früh auf, ihre Dauer scheint aber zur Zeit
noch nicht bestimmbar.
3) Das Gefäss ist von einem oder mehreren Bändern umgeben, welche mittels
Rädchen ornamentirt sind. Das Ornament besteht aus übereinander gestellten Zick-
zacklinien, welche aus lauter kleinen, scharf eingeritzten Strichelchen gebildet werden.
Bei diesen Zickzacklinien sind entweder die Spitzen alle nach oben gerichtet, oder
die Zacken der einen Linie sind nach oben, die der anderen nach unten gerichtet,
wodurch ein rautenförmiges Muster entsteht (vgl. Koenen Taf. VI, Fig. 32). Dieses
Ornament erscheint häufig auf graublauen und grauen Gefässen der ersten Kaiserzeit;
in Andernach kommt es mit Münzen von Augustus bis Nero vor, vgl. Koenen S. 161,
Grab 3, 1, Grab 4, 3, Grab 7, 1 mit Münzen von Augustus; Grab 11, 3 mit Münze
von Tiberius; Taf. VII, 13, Grab 31,6 mit Münze von Claudius; Taf VII, 24,
Grab 19, 6 mit Münze von Nero, ebenso findet es sich sehr häufig auf den frühen
Trierer Gefässen, während es im Limesgebiet nicht vorzukommen scheint.
4) Das Gefäss ist, wie bei No. 3, mit einem oder mehreren Bändern umgeben,
welche mittels Rädchen ornamentirt sind. Das Ornament aber besteht aus kleinen
Quadraten, welche mit diagonal gestellten Strichen geziert sind, und zwar ist den
Strichen zweier auf einander folgender Quadrate immer eine verschiedene Richtung-
gegeben; zwischen jedem Quadrate befindet sich ein Steg (Koenen, Taf. VI, Fig. 31).
Auch diese Gefässe fanden sich häufig in Andernach mit Münzen von Augustus bis
Tiberius, vgl. Koenen, Taf. V, Fig 1, S. 160 und S. 161, Grab 3, No. 7 mit Münzen
von Augustus und S. 170, Grab 24, 4 mit Münzen von Tiberius. EtAvas roher, aber
von derselben Art ist das Ornament Koenen S. 169, Grab 21, 1 mit Münze Tiber's.
Dieselben Gefässe kommen auch in Trier zahlreich vor und finden sich auch ver-
einzelt in Wiesbaden, der Saalburg und Heddernheim. Während die Trierer Gefässe
allem Anschein nach meist frühen Gräbern angehörten, so fand sich eines derselben
als Beigabe zu einem Kindergrabe mit Münze Hadrians. Und dass es sich in diesem
Falle nicht um ein durch mehrere Jahrzehnte aufbewahrtes Gefäss handelt, wird durch
eine im Frankfurter Museum befindliche Graburne (Fellnersche Sammlung X, 6151)
Zur römischen Keramik in Gallien und Germanien. 173
bewiesen, welche mit einer innen liegenden Münze Trajans im J. 1820 in Praunheim
gefunden wurde. Auch das Vorkommen der gleichen oder ganz ähnlichen Ornamentik
auf Gefässen in Rottweil und Jagsthausen beweist das Fortleben dieser Ornamentik
bis in den Anfang des zweiten Jahrhunderts. Zwei ähnliche Gefässe, bei denen aber
statt der quadratischen Felder Dreiecke gebildet sind, befinden sich in der Regens-
burger Sammlung, ohne dass die Provenienz genau angegeben werden könnte. Vgl.
auch Cleuziou Fig. 60 aus Bavay.
5) Eine sehr verbreitete Ornamentation wurde hergestellt durch Anhalten des
hölzernen oder metallenen Bossierstäbchens an das auf der Drehscheibe rotirende
Gefäss; es sind auf diese Weise entweder nur eine oder mehrere horizontale Linien um
den Bauch gelegt, so schon bei Gefässen des ersten Jahrhunderts bis zu den Trink-
bechern der spätesten Zeit, oder es ist das Gefäss durch Untereinanderstellung meh-
rerer derartig hergestellter Linien bandweise oder über den ganzen Bauch decorirt.
Das Ornament macht mehrfach den Eindruck von Kerbholzschnitzerei. Vgl. Cleuziou,
Fig. 59, Fig. 61 (aus Köln und Bavay), 69 (Gand), 70 und 73 (Köln). Die um-
fangreichste Anwendung dieser Ornamentation findet sich an den Bechern des zweiten
Jahrhunderts.
6) Nahe verwandt sind Ornamente, bei denen anstatt des einfachen Bossier-
stäbchens Stäbchen mit rundem oder dreieckigem oder quadratischem oder rauten-
förmigem Ende an das in langsamer Eotation befindliche Gefäss angehalten wurden;
dadurch entstanden Linien oder Bänder mit derartigen Eindrücken. — Bänder mit
runden Eindrücken finden sich mehrfach auf grauen Gefässen früherer Zeit, quadra-
tische Eindrücke auf gelben Uernchen mit schwarz gemaltem Band. Für die Gefässe
mit rautenförmigen Eindrücken sei auf Cleuziou Fig. 66 [de la Manie) und 67 (Köln)
verwiesen, für die mit dreieckigen Eindrücken auf Koenen Taf. V, Fig. 42, S. 158,
gefunden mit einer Münze von Augustus, und auf S. 165, Grab 11, 1, gefunden mit
einer Münze von Tiberius. Von letztgenannter Ornamentation ist atich ein hervor-
ragend feines, 9 cm hohes Uernchen. der Bottweiler Altexthumssammlung , dessen
Rand und oberster Theil des Bauches mit einem feinen glänzend schwarzen Firniss,
der über eine weisse Deckfarbe gelegt ist, bemalt ist, während der übrige Theil eine
gelbbraune Färbung zeigt und mit Ausnahme des alleruntersten Stückes mit kleinen
vertieften Dreiecken geziert ist.
7) Durch Ein- und Ausdrücken werden eine weitere Anzahl von Ornamenten
an den Gefässen in leberweichem Zustand hervorgebracht. Hierher gehören die
Trinkbecher mit den tiefen Eindrücken, deren schon mehrfach gedacht wurde. Bei
174 Felix Hettner.
anderen Gefässen , wie Cleuziou, Fig. 153 (Köln), wird der Eindruck nur riiit der
Oberseite des Daumens hervorgebracht, eine Verzierung, die sich bis in die späteste
Zeit hielt. Oder es werden mit einem kleinen Stäbchen von Innen heraus viele
Buckelchen in parallelen Linien herausgetrieben, wie dies mehrere nicht datirte feine
gelbrothe Urnen des Trierer Museums zeigen.
S) Die Verzierungen sind aufgelegt. Die in der Form angepressten Verzierungen
werden hier ausser Acht gelassen, weil diese fast ausschliesslich an Sigillatagefässen
vorkommen, dagegen sind die aus freier Hand angebrachten zu erwähnen. Der Thon
wird in leberweichem Zustand zu kleinen Würstchen verarbeitet, welche an den Bauch
des Gefässes angeheftet werden. Diese Würstchen gleichen entweder Accenten, die in der
einen Linie von rechts nach links, in der darauf folgenden von links nach rechts
gerichtet sind, so bei einer Classe von Urnen aus hellgelbem Thon, deren Eand und
oberster Theil des Bauches braungelb bemalt ist; sie kommen häufig in Trier vor,
in Andernach wurde ein solches Gefäss (vgl. Koenen S. 169, Grab 21, 9) mit einer
Münze von Tiberius gefunden. Oder diese Würstchen werden in Hufeisenform an-
gebracht, wie dies massenhaft bei den Trinkbechern des zweiten Jahrhunderts vor-
kommt, sei es nun, dass aus den Hufeisen parallele Reihen gebildet sind, sei es, dass
sie vertical die zwischen den Eindrücken erhabenen Rippen zieren. Oder es werden
halbkreisförmige Thonblättchen angebracht und diese mit dem Daumen angedrückt
und bearbeitet, so dass das Gefäss einer blätterreichen Blume gleicht; vgl. Cleuziou
Fig. 112 (Arles) und 132 (Köln); Koenen Taf. VII, Fig. 4, S. 169 mit Münze von
Tiberius und Taf VI, Fig. 13, S. 174 mit Münze Nero's. — Oder der Thon wird
flüssiger gemacht und mittels eines Malhorns aufgetröpfelt [en barbotine), wie der
Conditor den Zuckerguss auf die Torten bringt. Diese Verzierungen bestehen bald
nur aus einzelnen Tropfen, die z. B. in einzelne Linien zusammengestellt sind an
den Gefässen bei Cleuziou Fig. 131 (Etaples), Fig. 137 (Köln), oder thierähnliche
Ornamente bilden wie bei Koenen Taf. VI, 7, S. 168 (mit Münze von Nero), bald
wie kleine Stachelchen das ganze Gefäss umspannen. Oder es sind zusammenhängende
Linien aufgezogen, wie bei den Gefässen Cleuziou Fig. 62. — Sehr häufig ist, wie
bei den Sigillatagefässen, eine ausführlichere Verzierung beliebt, z. B. Lotosblätter mit
wellenförmig gewundenen Stielen oder auch figürliche Darstellungen, meist Hasen
und Hunde. Vgl. Cleuziou Fig. 73, 127—129 (Köln); 130; 173 (Köln). Die s.g.
gemalten Becher mit Inschriften, deren Verzierung theilweise auch mittels Barbotine
hergestellt ist, werden zweckmässiger unter No. 1 1 behandelt.
9) Nach einer sehr verbreiteten Technik wurde die Oberfläche der Gefässe in
Zur vomiBchen Keramik in Gallien und Germanien. 175
leberweichem Zustande mit grösseren oder kleineren Sandkörnern bestreut, vermuth-
lich. nicht nur als Decoration, sondern um ein Ausgleiten des Gefässes aus der Hand
zu. vermeiden. Diese Technik findet sich schon frühzeitig an Urnen, so in Ander-
nach Koenen S. 161 Grab 3, 3 gi;au, mit Münze von Augusttis, S. 167 Grab 16, 8 röth-
lich mit Münze von Augustus, S. 170 Grab 24, 1 gelblich, mit Münze von Tiberivis; in
Trier (PM. 3732) ist an einer grauen Urne mit schwarzem Hals der mittlere Theil
des Bauches gekörnt; sie stammt aus einem Grabe mit einer Münze Vespasians.
Zahlreich findet sich alsdann diese Technik an kleinen Trinkbechern und Schalen,
die wohl zumeist dem zweiten Jahrhundert angehören, vgl. Cleuziou Fig. 61 [petit
vase fruste, sabU aus Köln), Fig. 139 (Bavay), Fig. 172 (Köln).
10) Mehrfach sind an einem und demselben Gefässe verschiedene Ornamenti-
rungsarten angewendet, und Einiges davon soll auch hier erwähnt werden. Auf den
schwarzen Trinkbechern elegantester Art findet sich häufig, besonders in Süddeutsch-
land (Rottweil, Augsburg, Regensburg, Uuterböbingen) , zugleich die Einritzung von
Linien in den feuchten Thon (No. 2), die Verwendung von Barbotinemalerei (No. 8)
und des Bossirstäbchens (No. 5). Auf dem Bauch dieser Gefässe sind mehrere ein-
geritzte Linien kreuzweise gestellt, auf den Schnittpunkten derselben sind immer
Punkte aufgeträufelt, und zwischen je einem Paar der kreuzweise gestellten Linien
befindet sich ein hufeisenartiges Ornament en barbotine. — Oder es ist an den
Trinkbechern — u.nd besonders häufig wieder in Süddeutschland — der Bauch des
Gefässes durch Anhalten des Bossirstäbchens geziert und vielleicht, wie die ausser-
ordentliche Exactheit und Tiefe des Ornamentes wahrscheinlich macht, meist mit der,
Hand nachgearbeitet worden. — Ueber diese Grundirung sind die Hufeisenornamente
en barbotine gelegt. — Von dieser Art finden sich ausgezeichnete Stücke in Eottweil
und Regensburg.
11) Bemalung ist bis zur Mitte des 3. Jahrhunderts nur in sehr beschränktem Um-
fange angewandt worden. Das Gefäss ist zwar vielfach mit einer Farbe bestrichen, oder
es ist bei grauen Urnen der Rand und Fuss schwarz, bei weissen verzierten Uernchen
der Rand gelb oder schwarz gestrichen.
Vereinzelt stehen in dieser Zeit Gefässe wie das aus Geisenheim, abgebildet
bei Lindenschmit, die Alterthümer unserer heidnischen Vorzeit I, lieft VI, Taf. 6,
Fig. 5 und ein zweites aus Alzei, abgebildet ebenda HI, Heft VI, Taf. 4, Fig. 4.
Das eine ist eine schlanke Urne aus lichtrothem Thon; die obere Hälfte ist mit
einem weissen Anstrich versehen, welcher unter dem Plals und auf der Mitte des
Bauches mit je einem Bande von hochrother Farbe und grauen Rändern eingefasst
176 Felix Hettner.
ist. Zwischen diesen Bändern liegen in zwei Streifen in bestimmten Zwischenräumen
quadratische, mit dunkelgrauen Streifen schachbrettartig bemalte, Flächen. Aehnlich
decorirt ist das andere Gefäss, welches auf weissem Gb.-unde rautenförmige — theils
rothbraun, theils ockergelb bemalte — Muster zeigt.. — In E.ottweil befindet sich eine
in der Form den vorigen Gefässen ungefähr gleiche Urne von 40 cm Höhe, um
deren Bauch zwei in Weiss aufgemalte Streifen laufen. —
In diesem Zusammenhange muss auch einer Sorte marmorartig bemalter Gefässe
gedacht werden, die zur Zeit noch zu den grössten Seltenheiten gehören; sie bestehen
aus einem festgebrannten, der Sigillata ähnlichen Thon, sind aber mit einer gelben
Firnissfarbe überzogen, welche mit Eoth marmorartig übermalt ist. Von dieser Art
bewahrt das Trierer Museum aus einem im Jahre 1864 in Paulin gemachten schönen
Grabfund, welcher überdies aus einem eisernen Rost und zwei Bronzevasen besteht,
5 Schalen und 3 Teller durchaus in den Formen der Sigillatagefässe und vermuth-
lich noch dem 1. Jahrhundert angehörig; hiervon hat eine Schale den Stempel
PRIMI, die drei Teller haben den Stempel BOLLVSFIC. Von genau derselben
Technik ist eine Schale mit steilem Rand (gleichfalls durchaus der Sigillataform
entsprechend) in der Alterthurassammlung zu Mannheim. — Zwei Scherben des
Frankfurter Museums X, 5368 aus Heddernheim und X, 6045 sind in der Technik
mit den genannten Gefässen aufs nächste verwandt, ohne genau zu entsprechen; bei
beiden ist die gelbe Farbe weniger intensiv und glänzend, bei der ersteren ist sie
überdies nur auf der Aussenseite angebracht.
Mit Beginn der Skelettgräber, namentlich aber seit Mitte des 3. Jahrhunderts,
wird die Bemalung häufiger. In Trier waren in dieser Zeit massenhaft Gefässe vor-
handen, die auf weissem Thon mit gelber und rother Farbe, oft auch unter Anwen-
dung von Schwarz marmorartig oder auch holzmaserartig bemalt sind. Diese Malerei
kommt namentlich häufig an einhenkligen, mit Schnabel versehenen Krügen vor,
aber auch an doppelhenkligen Kelchbechern und ähnlich an Schüsseln mit weit um-
gestülptem Rand. Ein entsprechender Krug aus der Gegend von Worms ist abge-
bildet bei Lindenschmit, Band 4, Taf. 4, Fig. 3, ähnliche Schüsseln mit umgestülptem
Rand ebenda Band 4, Taf. 4, Fig. 1 und 2. — Am Niederrhein, namentlich Köln,
sind die Gefässe der gleichen Zeit entweder weiss und am Bauch mit rothbraunen
breiten Horizontalstreifen versehen, vgl. Cleuziou Fig. 161 (Köln), Koenen Taf. X,
Fig. 42, S. 193, Gr. 101,2 (Andernach), oder sie sind ziegelroth bemalt und am Bauch
mit einer Reihe Aveisser Punkte geziert. Vereinzelt kommen Gefässe der letzteren
Art auch im Trierer Gebiet vor.
Zur römischen Keramik in Gallien und Germanien. 177
In diese der Bemalung zugeneigte Zeit gehören auch die Trinkbecher mit
au.fgemalten Inschriften; sie zerfallen der Form nach .in mehrere Sorten, von denen
die 1., schon oben erwähnt, einen Kugelbauch und trichterförmigen Hals besitzt
und wohl mehr als Krug als als Becher gedient hat, abgebildet Lindenschmit
Band 4, Taf. 4, Nr. 8 (doch ist das Gefäss nicht sehr charakteristisch, meist ist der
Hals unten enger). Die 2. hat gleichfalls einen Kugelbauch, aber der Hals setzt
an breiter Stelle des Bauches an und verengt sich nach oben nur wenig, sie wird
als Becher gedient haben. Die 3. Sorte wird aus Henkelkrügen gebildet, deren
Bauch birnenförmig ist, ein Ausgu.ss ist nicht vorhanden, vgl. Birch, liistori/ of an-
cient pottery, Fig. 205 in der Mitte. Die 4. Sorte gleicht kleinen IJernchen. Diese
Gefasse bestehen meist aus gelbem oder rothem Thon, immer sind sie innen
und aussen mit einem schwarzen Firniss überzogen; auf diesem sind mit weissem
Schlickerthon horizontale Linien am Hals- und Fussansatz aufgetragen und zwischen
diesen Eanken, meist mit gelben Punkten, Avelche letztere ursprünglich wohl Wein-
trauben darstellten. Heber oder anstatt dieser Eankenverzierung ist der Trinkspruch
— meist ein Spruch des Trinkers an sein Fläschchen oder u.mgekehrt, vgl. Maxe-
AVerly in Memoires de la societe nationale des antiquaires de France 18S8 p. 336—376
— gleichfalls in diesem Schlickerthone aufgemalt. Für die bei weitem grösste Masse
dieser Gefässe, die zumeist in Skelettgräbern zu Tage treten, kann die Entstehung von
der Mitte des 3. Jahrhunderts ab nicht zweifelhaft sein. Zwei derartige Gefässe,
zur Sorte 2 gehörig, sind auf der Saalbui'g gefunden und müssen deshalb zu den
ersten Fabricaten dieser Art gehören.
Eestsclirift filr Ovorbock. 23
Peplos und Priestermantel
Ad. Micliaelis.
„Flieidiiia' Spriiclio iat, a« weit ivjr öiu küuiiou, iininer Itlar uiul bustiinmt,
und nur dum Mangel an oigononi Vorständjiiss, üer TJuvcrtrautlioil mit doii
Ee^'olu Iciinstlorisülior DarstoUimg liaboii wir oa zuzuHübi-eiben, wonn wir
ibn nicbt unmifctülbar genug voratollon." J^Uasuli.
feeit Brunn vor bald zwanzig Jahren den Zweifeln von Bötticher und Frie-
derichs, ob in der Mittelgruppe des östlichen Parthenonfrieses der panathenäische
Peplos dargestellt sei, bestimmteren Ausdruck gegeben und die Ansicht an die Stelle
gesetzt hat, dass es sich dort um den Mantel des Priesters handle '), wogt der Streit
der Meinungen um diesen für die Erklärung des ganzen Prieses in der That sehr
wichtigen Punkt. Namentlich hat Flasch's Auffassung (1877), dass der Priester seinen
von ihm selbst eben zusammengefalteten Mantel dem jugendlichen Diener übergebe
und sich so für das unmittelbar bevorstehende Opfer bereit mache, wie sie mit un-
gewöhnlich lebhafter Rhetorik vorgetragen war, so auch grossen Beifall gefunden'^).
Wer mochte sich denn auch gern dazu bekennen, dass ihm » der Panathenäenpeplos
den Blick getrübt habe« (S. 88), dass er ein Anhänger »jener geschraubten Peplos-
idee sei, die nichts anderes ist als eine Verleumdung des Pheidias, ein Hohn auf
die Athener« (S. 98), dass er ein Vertreter «moderner Superweisheit« (S. 98), ein
Verehrer »eines schönen Unsinns« (S. 94) sei? Wer mochte es auf sich nehmen, als
Bekenner dieses »Evangeliums der Archäologie« (S. 92) ein moralisch verächtlicher
Mensch zu sein, indem er »so eigensinnig sich jeder besseren Erkenntniss verschliesse«
1) Bvunn in den Sitzungsber. der Münchner Akademie 1874, 11, S. 4 1 ff . des Sonderabüuges.
chs, Bausteine S. 1G7 f.
2) Flascli, Zum Farthenon-Fries, Würzburg 1877, S. 83 ff.
Peplos und Priestermantel. 179
(S. 102)?^) So viele Bannstrahlen waren in der Archäologie wohl noch nie auf
einmal geschleudert worden; wie hätten sie nicht wirken sollen? Man fühlte sich
ganz in der zerknirschten Stimmung wie die Tischgenossen Trimalchios nach dessen
kräftiger Aussprache : post hoc fulmen rogare cocpenmt ut iam desineret irasci, et 'nemo'
inquiunt '■nostnim non peccat. homines suirnis, non dV.
Indessen waren es sicherlich weniger solche Empfindungen als das Bestechende
von Flasch's Beweisführung, was Overbeck in der dritten Auflage seiner Geschichte
der Plastik (1881) bewog, die Peploserklärung aufzugeben imd sich Flasch's Auffas-
sung anzuschliessen^) . Ihm folgte 1882 Thomas Davidson. Mit ausführlicher Be-
gründung sprachen 1885 Wolters und Waldstein, kürzer im folgenden Jahre Collig-
non und Ileydemann ihre Zustimmung aus'') . Ja vor Kurzem ist W. Watkiss Lloyd*)
auf Brunn's von Flasch beseitigte Annahme, dass der Priester seinen Mantel erst an-
legen wolle, zurückgekommen, nur dass er in diesem ungewöhnlich grossen Gewände
das TT.^oröi^toi' erblickt, ein i^iaTlöiov b •)] iiqftn dfnpit'vvvTur mnUyerai. di- and rijg is^siac
rrp mparTovTi''). Offenbar passt nichts in diesen Worten zu der Darstellung des
Frieses. Immerhin schien es fast, als ob der Peplos in die Kleiderkamraer gehängt
werden dürfte, etwa in jenes wundersame Gerumpel der brauronischen Artemis.
Indessen fehlte es doch auch nicht an »eigensinnigen« Bekennern der älteren Er-
klärung. Newton (1880), Murray (1883), Sybel (1888) sind der Deutung auf den
Peplos treu geblieben"). Namentlich hat Murray das Verdienst, zuerst auf den ein-
1) Wie gei'ährlicli es ist einen solchen Ton anziiachlagen, kann das bald darauf erschienene Buch
von Davidson (Anm. 3) beweisen. Als im Berliner philologischen Seminar einmal ein Recensent seinem
Commilitonen in der Hitze der Opposition den Vorwurf machte, er habe das Richtige entweder nicht
erkennen können oder nicht erkennen wollen, verwies ihm der alte Böckh auf das ernsteste diese Art
der Polemik und setzte ihm in seiner Weise auseinander, wenn der Gegner die Wahrheit nicht einsehen
könne, so müsse man ihn bedauern aber ihn schonen; anzunehmen, dass er eine erkannte Wahrheit nicht
anerkennen wolle, heisse, ihm einen sittlichen Makel anheften, »und weiter, warum wollen Sie an-
nehmen, dass er dummer zu erscheinen wünsche als er ist?«
2) I^, S. 331 »mit den überzeugendsten, ja wie ich glaube mit unwiderleglichen Gründen«.
3) Thom. Davidson, The Parthenon Frieze and othcr essays , London 1882, S. 56 ff. Friederichs-
Wolters, Gipsabgüsse ant. Bildw. 1885, S. 277 ff. Waldstein, Essays on the art of Pheiclias, C'ambr.
1885, S. 240 ff. Collignon, Phidias, Paris 1886, S. 78. Heydemann in der Neuen philol. Rundschau
1886, S. 283. Ich kann für diese Zusammenstellung keine Vollständigkeit beanspruchen.
4) Lloyd in den Transactions of the R. Soc. of Literature, XVI, 1, 1893, S. 21 des Sonder-
abzuges.
5) Photios und Suidas unter TtqoTOViOV.
6) Newton, Guide to the Sculpttires of the Parthenon, London 1880, S. 70 f. Murray, History
of Greek Sculpture, 11, London 1883, S. 42 ff., besonders S. 40. L. v. Sybel, Weltgeschichte der Kunst,
Marburg 1888, S. 181.
TA*
180 Ad. Michaelis.
leuchtenden Widerspruch hingewiesen zu haben, der zwischen dem Ablegen des
Mantels als Zeichen der Opferbereitschaft und dem Pieranbringen der Stühle besteht,
wenn diese wirklich, wie Brunn und Hasch behaupten, dem Priester und der
Priesterin als Ehrensitze dienen sollen. Ich selbst habe mich mehrfach in gleichem
Sinne ausgesprochen und die Gründe angedeutet, weshalb ich an der alten Erklärung
festhalten muss'). In der That scheint das von Flasch gegen den Peplos heraufbe-
schworene Gewitter allmählich abzuziehen. Overbeck ist in der neuesten Auflage
seines Buches zur Peplosdeutung zurückgekehrt^); dass auch CoUignon nunmehr
ebenso denkt, weiss ich aus seinem eigenen Munde. Ich würde somit auf die Frage
nicht zurückkommen, wenn ich nicht glaubte einen entscheidenden thatsächlichen
Grund vorbringen zu können. Alle subjectiven Erwägungen sollen bei Seite bleiben.
Zunächst die Frage: ist der Panathenäenzug dargestellt? Ausser der von
Overbeck (S. 442) hervorgehobenen Anwesenheit der Schafe im Nordfries, die aus-
schliesslich für die grossen Panathenäen als Nebengabe der attischen Kleruchen neben
den Kühen bezeugt sind, gilt das Gleiche von der Apobatensitte, auf die der Fries
so deutlich hinweist: auch sie ist aufs engste mit den Panathenäen verknüpft. Ferner
werden die Skaphephoren in einer ßeihe von Zeugnissen auf das Panathenäenfest
beschränkt, wenn auch andere sie sv rcxig iro/iTraig überhaujjt auftreten lassen. Eine
Besonderheit der Panathenäen ist endlich der tvuvÖQtac. äyorv, dessen Vertreter man
allgemein in den gedrängten Schaaren von Männern und Jünglingen auf beiden
Langseiten erkennt. Brunn hatte also keinen Grund specielle Hinweise auf das
Panathenäenfest zu vermissen, wenn es auch durchaus consequent von ihm war mit
dem Peplos zugleich den Panathenäenzug zu leugnen. Anders Flasch, der seine
1) In dev Academy 1880, S. 281 (Anzeige von Newton's Guide) und in einer Besprechung von
Wolters' Gipsabgüssen in der Deutschen Litt. -Ztg. 188G, S. 159: »Es ist unbezeugt und schwer glaub-
lich, dass Priester und Priesterin überhaupt beim Opfer gesessen haben sollten ; ihnen sollen ferner be-
queme Polsterstühle zukommen, wie sie nicht einmal den Göttern, in deren Mitte sie Platz nehmen
würden, zu Theil geworden sind; die Stühle werden sodann in demselben Moment gebracht, wo der
Priester sich zum Opfer anschickt, also sich gar nicht setzen kann : gewiss eine höchst empfindliche
Störung der Einheit der Scene ; dass weiter zum Ornat eines Opferpriesters ausser dem langen Chiton
ein Mantel gehöre, vollends ein ungewöhnlich grosser Mantel von dickem Stoff, ist eine unbewiesene
Behauptung ; wenn endlich der Priester in diesem feierlichen Moment das feinsäuberliche Zusammenfalten
seines Mantels in ordnungsmässigen Lagen mit der Geschicklichkeit eines erprobten Ladendieners ange-
sichts der göttlichen und menschlichen Festversammlung selbst besorgen soll, anstatt es seinem Diener
zu überlassen, so scheint mir dies ebenso sehr an sich wie für die hervorragendste Stelle des ganzen
Frieses unschicklich«.
2) Gesch. d. griech. Plastik !', Leipzig 1893, S. 441.
Peplos lind Priestei-mantel. 1 8 I
Schrift mit dem Satze schliesst: »Ich leugne also das Panathenäenfest? — Nur den
Peplos/Aig, und dadurch wächst Pheidias' Groesse «. Sollte wirklich ein Athener Pheidias
für grösser gehalten, ja es ihm auch nur verziehen haben, wenn er den panathenäischen
Festzug seiner Spitze, seiner Hauptsache beraubt hätte ? Ein Opfer, auf das Flasch Alles
zuspitzen möchte, gehörte zu jedem, eine Hekatombe zu manchem Feste: die Dar-
bringung des Peplos war das hervorragendste Merkmal der grossen Panathenäen,
diese ohne jene nicht denkbar. Der aristophanische Epops bewährt sich als echten
Athener, wenn er nach eben erfolgter Taufe von Wolkenkukuksheim gleich die
Frage stellt: Ti'g dal Otoc. nohov%oq l-ara/ ; rm ^avovjLUP tov ntnlov; ohne Peplos keine
Polias: wie sollte das Panathenäenfest ohne Peplos bestehen können?
Ist also der panathenäische Festzug wirklich am Parthenon dargestellt, so kann
der Peplos nur an der hervorragendsten Stelle, in der Mittelgruppe gesucht werden.
Da wo man ihn gewöhnlich findet, soll er aber nicht sein können, weil der Priester
zur vollständigen Tracht ausser seinem langen Talar »natürlich« eines Mantels be-
dürfe. Warum dies gerade so natürlich ist, warum es nicht genügen sollte, wenn er
zum Feste in der officiellen Tracht des Opferers, wie wir sie aus attischen Grab-
steinen kennen, d. h. im blossen Talar, erschiene, dürfte schwer zu sagen sein. Der
alterthümliche steife ^itlov noörJQjjg des Priesters auf dem Friese ist schon an sich
eine feierliche Tracht. Gewöhnlich trägt der Priester bloss den Mantel, den er beim
Opfer zurückschlägt oder um die Lenden gürtet. Ein sicheres attisches Beispiel, das
Talar und Mantel als Priestertracht vereinigt zeigte, i?': mir nicht bekannt. Das
Berliner Relief n. 881, in dem Flasch (S. 101, Anm. 2) jene priesterliche Doppel-
kleidung erkennen möchte, stellt, wie die Bartlosigkeit noch deutlicher als die Kör-
performen beweist, sicher eine Frau dar, die Athenapriesterin als xXn'd'ovxog Tijg Oiug.
Das einzige mir erinnerliche Beispiel eines Priesters, der den langen Chiton mit
dem um die Hüften geschlungenen Mantel vereinigt, und zwar unmittelbar vor dem
Opfer, zu dem das Messer bereits aus der Scheide gezogen ist, bietet das berühmte
pompeianische Bild mit dem Opfer der Iphigeneia') dar, das man in letzter Instanz
auf Timanthes zurückführen darf. Ob dies BeisiDiel für Athen zugkräftig ist, lässt
sich bezweifeln. Indessen will ich es gelten lassen und einmal zugeben, dass zur
Vollständigkeit der priesterlichen Tracht auch in Athen ausser dem langen Chiton
das Himation gehöre. Ich thue dies um so bereitwilliger, als ich in der That den
1) Heibig n. 1304. Denkm. d. alten Kunst I, 44, 206. Overbeck, Bildwerke Taf. 14, 10. Am
besten bei R. Roohette, Choix de peint. Taf. 15. Ein vortreffliches Facsimilo, von O. Donner-v. Ricliter
angefertigt, befindet sich im archäologischen Museum zu Strassburg.
182 Ad. Michaelis.
Mantel des Priesters auf dem Friese dargestellt finde, nur nicht in dem zusammen-
gefalteten Tuch.
Ganz nahe dem Richtigen war Wolters, als er (S. 280) eine Schwierigkeit, die
bei seiner Auffassung des Nichtpeplos bestehen bleibe, nicht verschwieg. «Das frag-
liche Gewand ist, wie es scheint, ziemlich gross und dabei so regelmässig zusammen-
gelegt, dass man unwillkürlich sich vorstellt, dass es so gefaltet in der Eegel auf-
bewahrt werde, was für den Mantel des Priesters nicht recht passt. Diesen würde
man sich doch eher etwas leichter denken, wie das Gewand, das der Knabe schon
über der Schulter hängen hat, und bei dem man auch schwanken kann, ob es sein
eigen sei, oder ihm nur zum Aufheben übergeben«. Ich halte dies Schwanken für
kaum berechtigt. Dem jugendlichen Diener kommt ein Himation, vollends ein so
langes und weites, nicht zu. Was dem Triptolemos des eleusinischen Reliefs, was
den freigeborenen Knaben in der Schulstube des Duris oder auf anderen rothfigurigen
Vasen wohl ansteht, das schickt sich nicht für den dienenden nceig. Für diesen ist
Nacktheit die Regel, z. B. auf rothfigurigen Vasen bei Gerhard, A. V. B. 267. 269,
oder auf zahlreichen Grabreliefs, sei es dass der Knabe als Mundschenk dient, sei
es dass er am Boden zu den Füssen seines Herrn schläft'), oder auf dem Parthenon-
friese selbst (Westfr. 6). Allenfalls kommt dem Diener ein kurzer Chiton zu. Trägt
der Diener einen Mantel, so ist es der Mantel seines Gebieters, den dieser auf ihn abgeladen
hat, wie z. B. der kleine Diener des Polydeukes auf der ficoronischen Cista fast ganz unter
dem Mantel des Dioskuren verschwindet. Ebenso ist es auch in unserer Gruppe :
der stark hervorgehobene reiche Faltenwurf, wie ihn der Abguss oder die gute Ab-
bildung in den Ancient Marlies VIII, 3 vor Augen führt, lässt nicht daran zweifeln,
dass es der Mantel des Priesters ist, den dieser abgelegt und dem Diener übergeben
hat, ehe er sich an sein doppeltes Amt, die Ordnung [uTv^at %ul daKijmu Odyssee «
439) des Peplos und die Vollziehung des Opfers, macht. Die schlagendste Parallele
bietet der Diener am rechten Ende des Nordfrieses (S. 134). Noch ist er beschäftigt
den Chiton seines Herrn unter dem Gürtel zu lockern, und hat so lange dessen
Mantel über die linke Schulter geworfen; ist jenes Geschäft beendigt, so wird
der Herr den — bedeutend kleineren ■ — Mantel, vermuthlich eine Chlamys, an-
legen. Auch der Diener Westfr. 24 lässt sich vergleichen, obschon es nicht ganz
sicher ist, wem dort der Mantel gehört, wie bekanntlich in jenem Theile des noch
1) Mundschenk auf den sog. Todtenmahlen ; sitzend '/,. B. auf den beiden Grabveliefs skopaaiseher
Art im Nationalmuseum zu Athen n. 869 (» Grabrelief vom Ilisos(C, Sybel, Weltgesch. S. 251) und n.
871 (Stephani, Ausr. Herakles Taf. C, 1).
Peplos und Priestermantel. 183
gelockerten Zuges manche ähnliche Unsicherheit herrscht; dass der Mantel nicht
den Anzug des Knaben bildet, zeigt schon die Art, wie er über dessen Schulter ge-
worfen ist.
Ist nun der Mantel des Priesters bereits der Obhut des Dieners übergeben und
uns so vor Augen gestellt, so kann das grosse, steife, in vielen Lagen regelrecht
gefaltete Gewand, das der Priester in den Händen hält, nicht sein Mantel sein.
Man wird getrost eine Belehrung abwarten dürfen, was es nun wohl anders sein
soll, als der Peplos, den der Priester eben noch mit liilfe seines Dieners ordnet,
um ihn dann nach antikem Brauch*) auf die Stühle mit den schwellenden Polstern
zu legen, die die Priesterin den Trägerinnen eben abzunehmen im Begriff ist. Aber
diesen Punkten weiter nachzugehen; eine früher vorgeschlagene Deutung des Ge-
räthes in der Hand der zweiten Sesselträgerin-) zu begründen; den Zusammenhang
unserer Gruppe mit der Gesammtheit des ganzen Frieses zu erörtern ; von neuem
auf die Frage nach dem Ort der heiligen Handlung — Parthenon? Poliastempel?
oder ideales Athenaheiligthum ? — ■ einzugehen; endlich Flasch's Grundfehler in der
Deutung des ganzen Frieses darzulegen, das Verkennen der erzählenden, im lang-
hingezogenen Kaume die allmähliche zeitliche Entwickelung des Zuges von seinem
losen Beginn bis zu seinem Plöhepunkt verfolgenden Schilderung, die kein einheit-
liches Momentbild sondern ein vielgestaltiges Wandelbild zu geben trachtet — all
dies auszuführen mu.ss ich mir hier versagen, wo ich nur durch die Freundlichkeit der
Veranstalter dieser Festschrift noch im letzten Augenblick die G elegenheit erhalten habe,
dem Manne meine dankbare Verehrung zu bezeugen, bei dem ich vor vierzig Jahren
in seinen ersten Leipziger Lehrersemestern meine ersten archäologischen Collegien
gehört habe.
1) Um nur einige Beispiele anzui'üliren, verweise ich auf den formelhaften homerischen Vers
'jlXaLvag [.ilv '/.azi^etno '/.ara y{.Xi(S(.iovg te OQÖvovg ts, ehe man ins Bad steigt oder sich zum Opfer
begiebt [q. 86. 179. v. 249). HAi^hr. 164 Ivae de ol 'C(.bi/i]v löe elj.iara aLyaküevra exövs -/.cd xce-
■ciürj-Aev hd Oqövov aQyvQorjlov. Gerhard A. V. B. 281, 2. 301. Arch. Anz. 1893, S. 90. Durch-
weg sind Stühle, nicht Tische, für das Ablegen von Kleidern gebräuchlich. Uebrigens rührt der Ge-
danke, Peplos und Stühle so zu einer Handlung zu verbinden, von Matz her, Gott. gel. Anz. 1871,
S. 1957 f.; ich war dessen nicht eingedenk, als ich in der Aoadmmj 1880, S. 281 denselben Vor-
schlag machte.
2) Acadeniy 1880, S. 281, Sp. 3.
Die Nekyia des Polygnotos in Delphi.
R e k o n s t r u k t i o n s V e r s u c h
von
Theodor Schreiber.
Mit 2 Figuren im Text.
{.lüvütg ytVo i)/.ity iJAio?
y.al (pi-^yog llanöv loiiv.
Ju ür die Kekonstruktion der beiden grossen, die Unterwelt und Trojas Ende
darstellenden Wandbilder, mit denen Polygnot die Lesche der Knidier in Delphi
schmückte, giebt es nur zwei Hülfsmittel: verständige Benutzung der gewissenhaften,
sachgemässen Beschreibung des Pausanias (Buch 10, Kap. 28 — 31), welcher den Standort
jeder einzelnen Figur durch Anreihung an eine benachbarte deutlich zu machen
sucht, und Einordnung dieser Figuren nach den Gesetzen und Bedingungen zeitge-
nössischer Kunst. Pausanias, der trockene pedantische Pausanias (oder derjenige, den
er avisschreibt) interessirt sich auch hier für alles an den Figuren äusseiiich Auffällige,
für Beischriften und Attribute, für Kleidung und Plautfarbe, hat aber kein Verständniss
für den künstlerischen Organismus des Bildes, für den Wechselbezug der Figuren
und die kompositionellen Einschnitte, deren ein so ausgedehntes Bild schon der Ueber-
sichtlichkeit wegen nicht entbehren konnte.
Die Leschenbilder des Polygnot waren die Schöpfungen eines grossen Künstlers
und als solche in sich eurhythmisch gegliedert, mit Rechts und Links, mit scharf
betonter Mitte, mit vollkommener formeller und geistiger Entsprechung der Gruppen
und Einzelfiguren, wie es die strengen Gesetze hellenischer Kunst, nicht bloss der
bildenden, sondern in verwandter Weise auch der Poesie, verlangten. Sie waren als
Schmuck einer Hallenwand in rechtwinkligem Eahmen eingeschlossen und in diesem
llahmen nach dem Princip der Raumfüllung gieichmässig ausgebreitet.
Die Nekyia des Polygnotos in Delphi. 185
Diese Voraussetzungen können als sicher gelten, denn sie sind durch die Ent-
wicklung der klassischen Kunst und den Durchschnittscharakter der überlieferten
Denkmäler erwiesen. Für den Einzelfall der Untersuchung geben die letzteren keinen
verlässlichen Anhalt, mögen auch die Vorstellungen von dem polygnotischen Stil ge-
wisser Vasenbilder jetzt bestimmter und glaubwürdiger geworden sein, als sie es
früher waren. Alles Argumentiren mit Gruppen und Figuren erhaltener Monumente
— dies sollte nicht vergessen werden — - beruht doch nur auf Zirkelschlüssen.
Nur ein Wegweiser ausser den genannten darf in der Beschreibung noch ge-
sucht werden: das innere Gefüge eines sinnreichen Gedankenbezugs, welcher jede
Figur mit ihrem Gegenüber verband und in die Vereinigung so vieler, durch Sage
und Dichtung verklärter, hier aber neu zusammen geführter Heldengestalten Einheit
und Bedeutung brachte.
Lesen wir aufmerksam in der Beschreibung des zweiten der beiden Wandbilder,
der grossen Unterweltsdarstellung, so finden wir in ihr folgende thatsächliche Angaben:
(Cap. 28.) >^Die andere Hälfte des Gemäldes, nämlich die zur linken Hand, stellt
Odysseus dar, wie er in den Hades hinabgestiegen, um des Teiresias
Seele wegen der glücklichen Heimkehr zu befragen. Es sind aber die Gegen-
stände des Gemäldes also beschaffen:
Wasser scheint ein Fluss zu sein, offenbar der Ach er on, und Schilfrohr ist
darin gewachsen, und so undeutlich sind die Gestalten der Fische, dass man
sie eher für Schatten als für Fische hält.
(Gruppe 1.) Und ein Schiff ist auf dem Fluss und der Fährmann an dem Ruder. Die
Personen im Schiff'e sind der greiseiihafte Tellis imd die noch mädchen-
hafte Kleoboia, ivelche auf den Knieen einen Kasten von der Art der im
Demeterkidt üblichen hält.
(2.) An dem Ufer des Acheron, unter Charons Schiff', wird eben ein Mensch,
der seine Kindespflichten verletzt hat, von dem Va te r eriuilrgt.
(3.) Nahe bei dem Menschen aber, der sich an seinem Vater versündigte und des-
halb im Hades Missen muss, leidet ein Tempelräuher Strafe. Das Weib
aber, das ihn straft, ist als Giftmischerin char akter isirt.
(4.) Es ist aber höher, als die Aufgezählten, Etiri/nonios. Die delphischen
Führer sagen, er sei einer der Dämonen in der Unterwelt und fresse das
Fleisch der Todten bis auf die Knochen. Seine Farbe ist zwischen stahl-
Festsclirift für Overbeek. 24
186
Theodor Schreiber.
blau und schwär s, tvie die der Schmeissfliegen. Er sitzt auf einer Geierhaut ^)
imd fletscht die Zähne.
(5.) Es folgt aber auf Eiiri/nomos Auge aus Arkadien tmd Iphimedeia.a
Es soll an anderem Orte nachgewiesen werden, dass das Iliupersisbild in zwei
Haiipttheile — eine Darstellung der Zerstörung Troias und eine andere des Schiffs-
lagers — zerfiel, nach links aber in ein kleineres Bild auslief, dessen Anordnung —
schematisch dargestellt — die folgende war:
Kind
.V Kmio Alltenor ,
Atttenors Haus
iua>j— Tciaukos j
Euryiua-
ICind
Laome-
l don I
= = 126) \____^ ^ (21)
Nehmen wir für Iliupersis und Nekyia den gleichen Rahmen an, wodurch sie
tektonisch Hälften eines gemeinsamen "Wandschmuckes werden, so lässt sich auch für
das Unterweltsbild — und zwar der Entsprechung halber für den Anfang desselben —
eine ähnliche Einziehung der Komposition voraussetzen, ein kleineres Eingangsbild
als Gegenstück zu jenem Endbilde.
"Wodurch diese ansehnliche Einziehung des Eahmens in der Mitte der Wand
nothw endig wurde, ist ohne Weiteres klar. Sie ist durch die von Plutarch^] erwähnte
Thür verursacht, die aus dem langen Bilderstreifen . ein Mittelstück, von jedem Bilde
eine Ecke herausschnitt; ein Raumzwang, den Polygnot im Trojagemälde höchst sinn-
reich zu einem Sonderbilde — Airszug der Troer, gegenüber demjenigen der Griechen —
verwendet hat. Wie gelang ihm die Ausfüllung des anderen Kurzbildes?
1) Robert's Aenderung (Die Nekyia des Polygnot. 16. Hallisches Winckelmannsprogramm. Halle
1892 p. 8 u. 61) kvy'/.6g statt yvfcög ist unnöthig und schiebt an Stelle eines bedeutungsvollen Attributs
(der Geier als Leichenvogel) ein unerklärliches unter. Es waren nicht blos Federn oder Flügel, son-
dern der ganze Geierbalg dargestellt.
2) De defect orcio. c. 6. rj8i] eis 7Cwg unh tov veco jtqolovves ertl raZg dvqaiQ rris Kvtdkov
XiayjjS lyByovELf-iEv ■ jcaqeXdövTsg ovv eXaco, tovg cpllovg — icoQwi.isv y.a&rjj.ievovg y,vl. c. 7 ex.
eydi fi£V ovv vüvt' elniot' togovtov di.E7TqaS,ü^i)]v, oaov cuteldelv öia ^vqiov auoTtj] tov üXavrj-
Tiüör'V /.tl.
Die Nekyia des Polygnotos in Delphi. 187
Pausanias nennt zuerst den Nachen des Acheron mit drei Insassen: Tellis und
Kleoboia einerseits und vorn am Ruder den Fährmann Charon. »Darunter«, also
noch am rechten Eande der Darstellung, befand sich die Gruppe des von seinem
Vater gewürgten Gottlosen. Mit der dritten Gruppe wendet sich Paiisanias vom
Rande weg nach links, da sonst statt der allgemeinen Bestimmung TrhjGtov rov dvdgog,
og T(p TtaTgl eXv/iialv6T0 wohl kaum die genauere »unter dem Vater Verächter « fehlen
würde, besonders aber weil die Ortsangabe bei Eurynomos [avzoTtqm rüiv 'AaT€/l{yi.i£viov)
offenbar Gruppe 2 und 3 als neben einander befindlich zusammenfasst. Dieses Neben-
einander wird auch durch die Bedeutung beider Gruppen empfohlen : sie veranschau-
lichen die Strafen für die beiden Todsünden des Alterthiims , die nie und nirgends
vergeben werden können: Tempelraub und Elternverachtung'). Mit ihnen und dem
über ihnen befindlichen Eurynomos beginnt die Unterwelt. Ein furchtbarer Dämon ^),
ein sonst nicht weiter bekannter Todesgott wohl von örtlich begrenzter Geltung,
daher der Literatur fremd geblieben, Eurynomos » der Weitwaltende«, empfängt die
über den Acheron gesetzten Ankömmlinge und macht sie zu dem, was sie alle werden
müssen, zu unkörperlichen, blut- und fieischlosen Schatten. Er ist naturgemäss der
Mittelpunkt des Eingangsbildes, zu dessen Vervollständigung uns nur noch eine
Gruppe von zwei Figuren als Gegengewicht zu Tellis und Kleoboia fehlt. Pausanias
beschreibt sie, ohne sich mit näherer Ortsbezeichnung aufzuhalten: »auf Eurynomos
folgen Auge und Iphimedeia«.
Das Bild der Vorhölle ist damit abgeschlossen. Es gleicht im Schema der
Anlage — nicht aber in feinerer Durchführung — durchaus dem Seitenbild, der
Schlussabtheilung des Iliupersisgemäldes. Beide Male sind in die vier Ecken gleich-
figurige Gruppen gestellt, die Mitte enthält die Hauptdarstellung: hier Eurynomos
mit der Ergänzungsfigur des Charon, dort das Haus des Antenor mit der Leiche des
Eresos, als Zeichen, dass der Auszug dieser Verschonten in drohendster Gefahr des
Unterganges erfolgt.
Da , wo beide Kurzbilder und mit ihnen Nekyia- und Iliupersisdarstellung zu-
1) na-cqaXoLag und firjTQalolas als Todsünder, vgl. die Stellen bei Leist, Graeco-italische Rechts-
gesohiohte p. 14.
2) Vergleichbar ist nicht nur der in Aristophanes Fröschen 195 erwähnte Dämon jlvaivog , den
Robert p. 61 Anm. 43 anführt, sondern auch die in Lykophrons Alex. 49 erwähnte Persephone yHit-
zvvig, sogenannt olov lertzvvovaa t« ailj-ia-cix %U)V ajtod-i»](J'/.6vviov of. Tzetzcs ad loc. xmd Et. M.
p. 560. 52.
24*
188
Theodor Schreiber.
sammenstossen, mitten über der Eingangsthür, also an der am meisten ins- Auge fal-
lenden Stelle^) befand sich die Künstlerinschrift
r^üijjs UoXvyvmTog, 0c<a/og yt'vog, yJykuocfcovrog
viög, neQdo^ibVuv IXiov ay,(i6noXiv.
Wie seltsam verkennt man doch die Einfachheit, die Klarheit der Disposition
und der Gedanken, welche allen altgriechischen Kunstwerken zu Grunde liegt, wenn
ll'JliI Il9bl
l'rotcsi-
V laoK j
Xfc.1^^ Agnmcro- A
l noii A lo(
llil |2ü] im Folscu
.Olynipfs-— Marsyas
Uaura
Spiclcj-
I Klytia I Kamei
ii'i
PI Tantalos r^
01y™,.o. Marsyas _ _. Orpheus i-. "„„ ri
Uneiiieeweibcle Pcntlit-
'^- - silc
Sarjic- Mcm- Kiki-
doli jjon ^bti
. ^m I . «'Iciü, l^aris don j,on bt; . Mcktor , Thamyris , , PoHas , , Sühedios ,
1) Eine ganz gleiche Disposition ist für die Gemälde vorauszusetzen, auf welche sich die alte,
jetzt von Benndorf, Das Heroon von Gjölbaschi-Trysa i). 151 Anm. 2 so scharfsinnig erklärte Künstlerin-
schrift bezieht: Klj-uop eyQCcipe ttjv dvqav r^v Öe^l&v, (Benndorf vriv diQadsv öe^uiv, seil, yqacprjv) ztjv
d'i^iowiov öe^ihv /twvbaiOQ. Anthol. Pal. IX, 758. Benndorf vermuthet mit Recht dieselbe Anord-
nung auch in anderen Fällen : bei dem Bilderschmucke des Cerestempels, den die Zeitgenossen Polygnots,
Damophilos und Gorgasos, »zur Rechten und Linken« nämlich von der Thür, ausgeführt hatten. Auch
die beiden Wandgemälde im Pronaos der Athena Areia in Theben (oder Freiermordtt von Polygnot und
»die Sieben gegen Theben« von Onasias), desgleichen die beiden Gemälde des Polygnot und Mikon im
Anakeion in Athen werden rechterhand und linkerhand der Thür anzunehmen sein, wie die Friesstreifen
im Thetideion der Franooisvase und diejenigen im Pronaos des Tempelgrabes der Haterier (Mon. dell'
Inst. V, 8).
Die Nekyia des Polygnotos in Delphi.
189
man sich — vorgefassten Meinungen zu Liebe und allen erhaltenen Stoen zum
Trotz — die Halle der Knidier als einen geschlossenen Raum mit zwei, einander
gegenüber liegenden Wänden vorstellt, deren eine in der Ecke versteckt den Namen
des grossen Malers getragen hätte'), wenn man den figurenreichen Bilderfries dieser
langen Flächen mit einander in Bezug setzen will und eine Symmetrie herausklügelt,
welche ohne Anstrengung, ein fortwährendes Bewegen des Kopfes nach rechts
Tcircsi-
OdyGseiiB . Elpenor
Eury- • Pen-
klachos AmcdcsJ
^J^^
Thc-
Eriphyle 'üyro
Phaidra . Ariadiie
PI Tityos J-j
^ V3A^ K^J^y ^^:=^
I 'deia I l '^"'^'^ I 1 Charoil . ■ rcllis l l Klcoboia l
ID- lllir
ri Eurraomos rj
O Tempel-
— V niuber /
131 X^^
1 Vater • » Gottloser i
%#%//,,#%///(lllli^^^^^^^^^^^^
und links, ein Hin- und Hergehen und die Beihülfe des Gedächtnisses nicht wahr-
genommen werden kann. Die Möglichkeit eines künstlerischen Gesammteindruckes
hört mit den Grenzen einer normalen Blickfläche auf und was sich nicht gleich-
zeitig mit einem Blick übersehen lässt, wird auch nie einheitlich, als Kunsteinheit
empfunden. Daher kann eine engere Korresponsion in Figuren imd Gruppen zwischen
den beiden grossen Leschenbildern ebensowenig vorhanden gewesen sein, wie sie
1) So nach Robert a. a. O. p. 45.
190 Theodor Schreiber.
beispielsweise nicht besteht zwischen den Wandgemälden der Vorhalle des Berliner
alten Museums. Ja nicht einmal innerhalb des einzelnen, langgestreckten Gemäldes
konnte Polygnot, ohne dem Beschauer eine mühsame Spüraufgabe, ein Eechenexempel
nach Gebhardt'scher Weise zu stellen, die Figuren einer linken und rechten Hälfte
einheitlich verbinden. In dieser Beziehung haben KafFael und Kaulbach in ihren
grössten Wandbildern nicht anders gedacht, als — wie sich zeigen wird — der alte
Meister von Thasos.
Folgen wir nun der weiteren Beschreibung des Pausanias.
(Cap. 29. Gruppe 6.) n Höher aber, als die schon von mir Aufgezählten, sind
die Gefährten des Odi/sseus Perimedes und Euri/lochos, ivelche Opfer-
thiere tragen. Die Opferthiere sind schwarze Widder.
(7.) Nach ihnen ist ein sitzender Mann, und eine Beischrift sagt, dass der Mann
Jen OS sei; er ist gebildet ivie er ein Seil flicht. Daneben aber steht eine
Eselin, ivelche das, tvas von dem Seile geflochten ist, immer heimlich
aiiffrisst.
(S.) Gemalt ist auch Tityos, nicht als einer, der noch gestraft wird, sondern
als von der langen Strafe ganz aufgezehrt, ein tmdeutliches und nicht mehr
völliges Schattenbild^).
(9.) Verfolgt man die Bilder in dem Gemälde der Reihe nach weiter, so ist ganz
nahe bei dem, der das Seil dreht: Ariadne. Sie sitzt auf einem Felsen
und blickt aif ihre Schivester Phaidra, die auf einer Schaukel in der
Luft schtüebt und mit den Händen zu beiden Seiten sich an dem Seile hält.
(10.) Unter der Phaidra ist Chloris [gemalt], angelehnt auf dem Schoosse der
Thyia.
(11.) Neben der Thyia steht Prokris und nach ihr Klymene, welche jener den
Rücken zimendet.
(12.) Weiter eimvärts von der Klymene aber ivirst du die Megara von Theben
sehen.
1) Robert's Aenderung (p. 10) b [yriysvrjg\ xola'Coi.ievog exi ist unnöthig und die Lesart oii
jiolaCöi.i£VOg ETb beibehalten, denn gerade das Fehlen des Geiers fand man auffällig, ebenso die Ver-
fallenheit der Gestalt, die unmöglich ursprünglich vorhanden war. Kobert (p. 63) bemerkt ganz richtig,
»der hier zu Grunde liegende Gedanke, dass die Höllenstrafen den I'revler schliesslich ganz verzehren
und dann aufhören, ist ohne Beleg und an sich absurd, da es gerade auf die Ewigkeit der Pein an-
kommt«. Die Absurdität fällt aber nicht dem Künstler, sondern dem Periegeten zur Last, der eine ver-
blasste, oder sonstwie beschädigte Stelle des Bildes sicfti in seiner Weise zurechtlegte.
Die Nekyia des Polygnotos in Delplii. 191
(13.) Den genannten Frauen über dem Kopfe sitzt des Salmoneus Tochter [ Tyro\
auf einem Stein und neben ihr steht Erijjhi/le^), indem sie mit den Finger-
spitzen der einen Hand den Zipfel ihres Geivandes bis zum Nacken empor-
zieht; in dem Bausch des Geivandes aber meint man, halte sie mit der anderen
Hand das bekannte Halsband.
(14.) Ueber die Eriphyle aber malte Folygnotos den Elpenor und Odgsseus,
luie er sich auf die Füsse kauert %ind über die Grube das Schivert hält.
(15.) Und der Seher Teiresias schreitet zur Grube vor. Nach dem Teiresias aber
sitzt auf einem Felsen Antikleia, die Mutter des Odgsseus.
(16.) Weiter unterhalb des Odysseus aber sind, auf Thronen sitzend, Theseus,
der des Peirithoos und sein eigenes Schivert in beiden Händen hält, und
Peirithoos, der auf die Schiverter blickt. Man könnte ivohl meinen, er
sei unwillig über die unnützen Schiverter, da sie ihnen bei ihrem Wagniss
nichts genützt haben. <■<■
Aus verschiedenen Erwägungen ergiebt sich, dass mit Gruppe 6 eine neue
Abtheilung beginnt. Einmal, weil Pausanias, das bisher Beschriebene wie ein Ganzes
zusammenfassend, die Woite gebraucht: »Höher als die schon von mir Aufgezählten sind
u. s. w.«. Zweitens, weil sich, nachdem die beiden Kurzbilder auf gleiches Niveau
über die Thür zu versetzen waren, über ihnen keine weiteren DarstelUmgen erwarten
lassen. Drittens, weil die beiden Gefährten des Odysseus (der auf jeden Fall seitlich
nach links zu vom Eingangsbilde stehen musste) von diesem nicht getrennt werden
können, denn sie tragen die Widder für Odysseus' Opfer und würden isolirt und bei
Seite stehend (etwa wie bei Gebhardt und Robert in der Ecke hinter Eurynomos Oknos
und Tityos versteckt), nicht zu erklären sein. Dies hatte schon Welcker eingesehen,
er hatte aber die Widder tragenden Gefährten nicht neben Odysseus zu bringen
vermocht, und sich begnügt, sie in einiger Entfernung von einander, durch einen
leeren Raum getrennt, auf dieselbe Linie zu stellen.
Die Beschreibung rückt also mit Gruppe 6 seitwärts nach links vor und
begimrt offenbar am oberen rechten Rande der neuen Abtheilung mit der Eckgruppe
der dritten Reihe, denn dreifach müssen die Gruppen über einander geordnet gewesen
sein, nach der Ortsbestimmung von Gruppe 10, 13 und 14 zu schliessen. Da nun
die folgende Gruppe (7) weder noch höher als 6 , noch seitwärts davon aufgestellt
1) Nach der Aenderung Robert's (lav (.lev rov %Lriopog avi^ovaa a-/,qoig Ttaqa tov 'CQc<yj])MV
rolg dazTiiloig. Den Zusatz T'^ iveqah.&t schon Kaysev (Zeitschv. f. A. W. 1850 Nr. 49) vorgesclilagen.
192 Theodor Schreiber.
gewesen sein kann — weil 5 und 6 nach der anschliessenden Aufzählung und
6 und 14 aus angegebenen Gründen an einander grenzen — so bleibt für sie
nur der Platz unter Gruppe 6, am Rande der. neuen Abtheilung übrig.
Aixch für die Figur des Tityos Avird der Standort nicht angegeben. Diesmal
hilft wieder ein Blick auf die »geistige Konstruktion« des Bildes.
Es finden sich unter den Figuren der Nekyia nur wenige, welche durch eine
energische Handlung vor der grossel^ Masse der in ruhiger Haltung einander
gegenüber gestellten Heroen und Heroinen ausgezeichnet sind. Dies sind ausser den
beiden Eingangsgruppen 2 und 3 die drei grossen Büsser der Unterwelt, die auch
sonst immer zusammen genannt werden: Tityos, Tantalos und Sisyphos, denen noch
ein vierter in der Gestalt des Oknos beigesellt ist. Es ist nicht zu verkennen, dass
diese vier Figuren der Komposition mit der bestimmten Absicht eingefügt sind, zu
den langen Reihen der Stammväter und Stammmütter in Kontrast zu treten. Sie
nur sind es, die den eigentlichen Charakter der Unterwelt deutlich und klar aus-
sprechen, indem sie hier in derselben Bedeutung, wie in anderen Darstellungen die
Ortsgottheiten, erscheinen. Während die übrigen Figuren in dem Bilde ganz ebenso
auftreten, wie sie einst im Leben zu schauen waren, tritt uns allein in den Gestalten
dieser rastlos Gepeinigten die trostlose Bestimmung der Unterwelt entgegen. In dieser
ihrer Eigenschaft können sie aber nicht in den Mittelpiinkt der Komposition,
mitten zwischen die Reihen der aktionslosen Heroen tind Heroinen gesetzt werden,
sie müssen vielmehr als lokalbezeichnende Figuren ebenso an den Enden der Dar-
stellung gestanden haben, wie man gewöhnt war, die Ortsgottheiten auf Gemälden
an die Seiten, in Giebelgruppen in die Ecken zu stellen.
Für die Unterweltsdarstellungen kam aber noch ein wichtiges Moment dazu.
Je mehr sich im Volksglauben unter dem Einfluss der Mysterien die Vorstellungen
von dem Glück der Seligen und der Pein der Verdammten im Jenseits ausbildeten,
um so deutlicher und bewusster wurden auch Elysion und Tartaros von einander
geschieden, jenes als Gefilde der seligen Mysten, dieser als Aufenthaltsort der Ver-
dammten, der Ungeweihten. In der Dichtung verlegte man diese Hölle mit den drei
Hauptbüssern in die unterste Tiefe und den finstersten Abgrund der Unterwelt. In
den Gemälden aber, die eine einheitliche Darstellung beider Unterweltsabtheilungen
verlangten, wurde sie in die Ecken des Bildes verwiesen, wie die Unterweltsbilder
auf Vasen (Wiener Vorlegeblätter Serie E. 1886, Tafel 1—3) beweisen. So erscheinen
Sisyphos und Tantalos z. B. auf dem Unterweltsbilde der Münchener Amphora aus
Canosa in den beiden unteren Ecken, und mehrere andere Vasenbilder, welche das-
Die Nekyia des Polygnotos in Delphi. 193
selbe Motiv wiederholen, beweisen uns, dass diese Anordnung nicht vereinzelt angewendet,
sondern der Kunst geläufig war. Nun lässt die Beschreibung des Pausanias deutlich
erkennen, dass auch auf dem Gemälde Polygnot's die Büsser Sisyphos und Tantalos
in den linken Ecken angebracht waren, denn sie werden erst am Ende der Figuren-
aufzählung erwähnt. "Wir werden also .von verschiedenen Seiten her veranlasst, auch
die beiden anderen Büsserfiguren Oknos und Tityos in die Ecken, die gegenüber-
liegenden der rechten Seite, zu versetzen'). In dieser Anordnung waren sie in den
Winkeln der Unterwelt sichtbar abgetrennt von den Reihen der ruhmvollen Vorfahren
des Griechenvolkes, und brachten den Lokalunter.schied von Elysion tind Tartaros
wenigstens so weit zur Anschauung, als es ohne Aufhebung der räumlichen Einheit
des Bildes möglich war.
Nach diesen Voruntersuchungen kehren wir zur Beschreibung zurück. Ob
Oknos' bereits festgestellter Standort unserer Annahme entspricht, werden wir später
prüfen. Die Figur des Tityos aber sind wir jetzt berechtigt in die untere Ecke der
neu begonnenen Abtheilung des Nekyiagemäldes zu setzen. Pausanias sprang also von
einer in den obersten Theilen des Bildes befindlichen Figur auf eine weit unten
angebrachte über, ofi'enbar, weil ihre Bezüglichkeit auf einander, ihre Zusammen-
gehörigkeit 'ihm in die Augen fiel^). So wird auch erklärlich, dass er die
folgende Gruppe (9) wieder bei Oknos anknüpft. Es geschieht, um die unter-
brochene Reihenfolge der Aufzählung wieder aufzunehmen.
Die ausdrückliche Angabe, dass, »wenn man weiter das Anschliessende im
Bilde verfolge, ganz nahe (ß^ywÜTco) bei Oknos sich Ariadne befinde«, lässt keinen
Zweifel, dass Pausanias fortfährt von oben nach unten zu beschreiben, dass also
Ariadne ihre Stelle dicht unter Oknos hatte. Derselben Richtung folgend, langt
Pausanias dann bei Gruppe 10 an. Aber diese steht nicht direct unter Gruppe 9,
sondern etwas nach links eingerückt, Chloris nicht unter Ariadne, sondern unter der
links neben dieser befindlichen Phaidra, offenbar weil Tityos rechts neben ihnen
seinen Platz verlangte.
1) Schon K. O. Müller (Kl. deutsche Sehr. II, 403) kam auf diesen Gedanken, dass »die Ver-
dammten ganz in die Ecken gehörten« , doch hlieb es bei der Vermuthung. In den folgenden Unter-
svichungen wurde sie nicht wieder aufgenommen.
2) Vermuthlich ragten Oknos imd Tityos seitlich etwas über die drei Eeihen des Bildes hervor,
und wenn die mittlere Reihe etwas eingezogen war, lag es dem Beschauer nahe, beide Büssergestalten
zusammenzufassen : ihre Bedeutung für das Gesammtbild liess sich dann schon in der Komposition er-
kennen, ganz abgesehen von der Hervorhebung durch abstechende Gestalt, Handlung und Beiwerk,
gegenüber den ruhig stehenden und sitzenden Heroen.
FeatpvlivU't tuv OvovbeeTt 25
194 Theodor Schreiber.
Die Anordnung der nun folgenden Gruppen bietet keine Schwierigkeiten.
Pausanias beschreibt genau, und ganz der Regel gemäss: erst das in der untersten Reihe
nach links zu an Gruppe 10 Anschliessende (Gruppe 11 und die Einzelfigur der
Megara), dann wieder aufwärts steigend die in der Mittelreihe darüber befindliche
Gruppe 13 (welche also an Gruppe 9 angrenzt) und endlich über dieser die Gruppe
des Odysseus (No. 14), womit er in der oberen Reihe den Anschluss an Gruppe 6,
den Avir obcjn als nothwendig voraussetzt,en, erreicht hat. Mit der Erwähnung der
links anschliessenden Gruppe 15 und der Anführung von Theseus und Peirithoos (16)
aus der Mittelreihe ist die Beschreibung dieser Abtheilung abgeschlossen.
Die Komposition ist derart geordnet, dass in der obersten Reihe die Mittel-
gruppe des Odysseus mit Elpenor links von der Gruppe der widdertragenden Gefährten,
rechts von der des Teiresias mit Antikleia eingefasst wird; eine Zusammenstellung,
zu der wir keinen Zusatz weiter erwarten dürfen und auch nicht finden werden.
Genau ebenso, wie die obere Reihe, ist auch die mittlere geordnet; und wie in jener
die beiden Seitengruppen (6 und 15) nach der Mitte zu streben, so sind auch in
der mittleren Reihe Gruppe 9 und 16 (Ariadne — Theseus) inhaltlich auf einander
bezogen. Ebenso weist die Einzelfigur der Megara (No. 12) auf ihr Gegenüber Tityos
zurück und bezeugt damit den Abschluss der Gemäldeabtheilung nach dieser Seite
zu. Dass dieser Bezug in der Komposition deutlich dargestellt war, dass Megara,
wie Tityos, sich durch isolirte Stellung auszeichneten, lässt sich noch aus der eigen-
thümlichen Ausdrucksweise des Pausanias erkennen, »weiter einwärts von der Klymene
wirst du die Megara schauen«.
Ich unterlasse es, in dieser vorläufigen Skizze ausführlicher auf den Ideengehalt
des Bildes einzugehen. Aber einige Worte der Erläuterung verdient diese Einzel-
figur, die in der Nähe so vieler Gruppen auffällig allein steht und in der Gestalt
des Tityos ein so bedeutsames Gegenüber erhalten hat. Ich meine, es ist jene Megara,
die zu den Büssern der Unterwelt ein nächstes Verhältniss hatte, die Mutter des von
Polygnot vielleicht nur aus Kompositionsgründen') weggelassenen Ixion^) ^ — desselben,
der nach Homer'*) der vermeintliche, ursprünglich (wie Mannhardt richtig voraussetzt)
der wirkliche Vater des gerade über Megara befindlichen Peirithoos war.
1) Es gab eben nur vier Ecken für die grossen Büsser, und Oknos mochte dem Maler aus lokalen
Gründen unentbehrlich erscheinen.
2) Nach der von Jacobs in den Erlfiuterungen der kyzikenischen Reliefs Animadv. in Antliol.
Gr. II, 3 p. 362 nachgewiesenen Version.
3) Ilias 14, 318 vgl. Mannhardt, Wald- und Feldkulte H p. 84.
Die Nekyia des Polygnotos in Uelphi. 195
Auch der Standort des Oknos bedarf einer kurzen Erklärung, die eine regsame
Phantasie freilich auch aus dem trockenen Schema der Rekonstruktion herauslesen
könnte, üebersetzen wir die starren, nur den Rhythmus der Komposition verdeut-
lichenden Zeichen des Uebersichtsbildes in die charakteristischen Figuren polygnotischer
Kunst, stellen wir uns eine räumliche Wirkung des Bildes, die in Terrainlinien und
dürftigem Beiwerk nur angedeutet war, so lebhaft vor, wie es die Zeitgenossen des
Malers vermochten, so erscheint Odysseus am oberen Rande der Bildfläche, in die wir
hineinschauen und die wir uns als Ebene oder ansteigend denken mögen ; er ist also
nicht im Innern der Unterwelt, sondern am Rande derselben, nahe am Eingang.
Seine Gefährten, Eurylochos und Perimedes, sind hinter ihm — vielleicht als aus
der Oberwelt herankommend noch halb von einer Terrainfalte verborgen. Vor dieser,
wie in den Ecken des Bildes überhaupt — bei Sisyphos und Tantalos war es noch
zu sehen, bei Tityos später undeutlich geworden — vor den beiden Ankömmlingen,
die zu Odysseus die Opferthiere hintragen, versuchte wohl Polygnot die sich regende
Kraft landschaftlicher Charakteristik, um die Schauer des Tartaros anzudeuten. Erst
von hier an nach unten und in die Tiefe des Bildes hinein erstreckt sich die Unter-
welt, und aus ihr kommen die Schatten heran zur Grube vor Odysseus, zuvörderst
Teiresias und die Mutter des Laertiaden, denen die anderen folgen werden.
Mit Cap. 30 beginnt Pausanias eine neue Abtheilung des Bildes zu beschreiben:
(/7.) )) Weiterhin anschliessend hat Polygnotos die Töchter des Pandareos gemalt,
als blumenhekränste Mädchen und mit Knöchehvürfeln spielend. Ihre Namen
sind Kameiro und Klytie.
[ISa.) Nach den Töchtern des Pandareos steht Antilochos tmd ztvar mit einem
Fuss auf einem Stein, Gesicht und Kopf in den beiden Händen bergend.
Agamemnon aber ist nach Antilochos [gemalt), er stützt sich mit dem
Scepter unter die linke Achsel und hält in den Händen einen Stab, (b.) Dann
Protesilaos sitzend, er blickt atf Achilleus, und zivar hat Protesilaos die
Haltung eines Nachdenkendeti^) . (c.) lieber den Achilleus hinaus {^vntQ
de Tov 'yt%illm) steht Patroklos. Diese alle ausser Agamemnon sind
bartlos.
1) Im Text haben mehrere Handschriften bei den Worten xai IlQiüTBaiXaoQ *** naQi%evai
a%fi!.ia eine Lücke, welche in den codd. La u. Vb mit toiovTOV ausgefüllt ist. Beide Handschriften
haben auch das Richtige yiaOe^ö[.ievog. Aber TOiovrov giebt eine selbst für Pausanias unerträgliche
Breite des Ausdruckes. Kayser's Verbesserungsvorschläge (Zft. f. A. W. 1850 Nr. 4t)) gehen von falschen
Voraussetzungen aus. Ansprechend ist die Vermuthung Schubart's IlqiüTeaLXaog voovvvog Jtaqe%Erai
axwa.
25*
j^96 Theador Schreiber.
[19a.) Ueber diese hinaus [iniQ avTovg) ist gemalt Pholcos im Jünf/lingsalter ,
und Jaseus; der hat aber einen tüchtigen Bart^) und ist im Begriff' aus der
Unken Hand des Pholcos einen Ring zu nehmen, [b.) Ueber diese hinaus
{intt() TovTove) ist Maira auf einem Stein sitzend zu sehen, (c.) Auf die
Maira folgt Aktaion und seine Mutter [Ä2itonoe], beide halten ein
Hirschkalb in den Händen und sitzen auf einer Hirschhaul. Ein Jagdhund
liegt neben ihnen.
(20.) Blickt man aber wieder nach den imteren Theilen des Gemäldes hin, so
schliesst sich an Patroklos Orphetis an. Er sitzt auf einer Art von
Hügel, greift auch mit der Linken in eine Leier und fasst mit der anderen
Hand eine Weide; er berührt nämlich die Ziveige und lehnt sich an den
Stamm der Weide. Als Hellene ist er aufgefasst und iveder Kleidung noch
Kopfbedeckung ist thrakisch. An die andere Seite der Weide aber ist
Promedon angelehnt.
[21.) An dieser Stelle des Gemäldes ist auch Schedios dargestellt, ivelcher der
Führer der Phoker nach Troja ivar, und nach diesem Pelias, auf einem
Throne sitzend, mit grauem Hau2)t und Bart. Er blickt atif Orpheus hin.
Schedios hält ein Schwert und ist mit Wegekraut bekränzt. Thamyris ,
der nahe bei Pelias sitzt, ist des Augenlichtes beraubt und sein ganzes Aus-
sehen jämnwlich. Grau ist sein Haar am Kopf und grau auch am Kinn^).
Die Lyra hat er zu Füssen geworfen. Hie Arme daran sind zerbrochen
und die Saiten zerrissen.
[22.) Ueber diesem sitzt Marsgas auf eitlem Felsen, und Olympos ist neben
ihm, als blühender Knabe gebildet, der im Flötenspiel unterrichtet wird.
Cap. 31. [23.) Wenn du ivieder nach den oberen Theilen des Gemäldes hinsiehest,
so folgen hinter einander auf Aktaion [a) Aias von Salamis, [b) Pala-
medes und [c) Thersites, beschäftigt mit dem Würfelspiel, der Erfindung
des Palamedes. Der andere Aias [d) abersieht den Spielenden zu. Dieser
1) So nach Schubart's Vorschlag yeveliov üös ev £'/,£}■ Robert's Textänderungen (p. 14) sind
von ihm selbst p. 66 zurückgenommen worden.
2) Die Lesart der Handschriften -/ßi /)' xo/(»j TCO?<,lij /.lev hcl zqg •/.S(paXfjg, -/coWj de avv(T)
•/.cd EV tolg yeveioig ist in mancherlei Beziehung anstössig (cl". Solmbart Zft. f. A. W. 1856 S. 340.)
Offenbar schrieb Pausanias q -/.öf-irj Tto?uu j-ihv hvl rqg y.ecpaXi'jg, -JVoXui öe ZT/l. Denn dass sie beide
(Thamyris und Pelias) grauhäuptig iind graubärtig sind , soll ausser andern Gründen ihre Zusammen-
stellung in der Komposition rechtfertigen.
Die Nekyia des Polygnotos in Delphi. 197
Aias hat eine Farhe, ivie etwa ein scMffhrüchiger Mann, dem noch der
Meerschaum auf der Haut sitzt. Meleagros (e) aber, des Oineus Sohn,
ist höher auf dem Gemälde als Aias, des Oileus Sohn. Er scheint auf den
Aias zu blicken. Diese alle bis auf Palamedes haben Barte ^i..
Pausanias knüpft bei dem Ueb ergang zu einer neuen, äusserlich natürlich nicht
als solche gekennzeichneten und ihm daher nicht auffallenden Abtheilung des Bildes
mit dem AVorte icps^ijg an der zuletzt erwähnten Seitengruppe 16 der Mittelreihe der
vorigen Abtheilung an. Wir setzen daher Gruppe 17 links neben 16 oder besser
etwas höher, weil die Beschreibung erst mit Gru.ppe 20 sich den unteren Theilen
des Bildes zuwendet. Wiederum anschliessend zählt Pausanias dann von Antilochos
bis zu Patroklos eine Anzahl griechischer Helden auf, welche Polygnot zusammen-
gestellt hat, wie sie auch als Waffenbrüder gemeinsam zum troischen Kampfe aus-
gezogen waren, und welche deshalb und "weil sie mit einander in geistigen Rapport
gesetzt sind, wahrscheinlich in einer Reihe neben einander — wenn auch vermuthlich
nicht in steifer Regelmässigkeit, sondern nach Art der lockeren Reihung auf den
»polygnotischen« Vasen, die überhaupt für beide Gemälde vorauszusetzen ist,
— zu sehen waren. Sie bilden zusammen eine Gruppe, weshalb sie von Pausanias
am Schluss der Aufzählung mit den Worten zusammengefasst werden: «diese alle
ausser Agamemnon sind bartlos«. Als besondere Gruppe mussten sie also auch in
der Darstellung erkennbar, d. h. von der vorher erwähnten Gruppe der Pandareos-
töchter räumlich getrennt sein, was sich im Folgenden bestätigen wird.
Nach dieser fünftheiligen Gruppe nennt die Beschreibung abermals fünf Figuren
und bricht darauf die Aufzählung ab, um den Beschauer in die unteren Theile des
Gemäldes zu, weisen. Das bisher Aufgezählte muss sich demnach im oberen Theile
des Bildes befinden, aber nicht in dreifacher Uebereinanderordnung, wie man aus
der dreimaligen Anwendung von vntQ schliessen könnte — denn dies würde die Höhe
des Bildes über das mögliche Maass hinaus ausdehnen ■^— vielmehr in einfacher
Nebeneinanderstellung, so dass vnfQ c. acc. hier wie so oft^) im Sinne von »darüber
hinaus« angewandt ist. Pausanias hielt also eine konstante Richtung in der Be-
schreibung inne und liess sich durch den formellen und inhaltlichen Zusammenhang
zweier sich entsprechender Grupjjen verleiten, einmal in horizontaler Richtung ein-
seitig weit vorzugehen. Eben deshalb muss er abbrechen, um die in den unteren
Theilen des Bildes übergangenen Figuren nachzuholen. Ein klares Zeugniss dafür.
1) Vgl. A. liüger, Die Präpositionen bei Pausanias (Bamberg 1889) p. 52 f.
198 Theodor Schreiber.
class alle Figuren von Antilochos an bis auf die Mutter des Aktaion eine einzige
Reihe bilden, liefert die strenge Eesponsion, welche die erstgenannten fünf Figuren
mit den folgenden fünf inhaltlich und also auch räumlich verbindet. Denn ebenso, wie
die Gesammtgruppe 18 ungezwungen in drei Theile zerfällt — zwei Heldenpaare ge-
trennt durch die allein sitzende Figur des Protesilaos — , theilt sich die entsprechende
Fünfgruppe 19 in zwei eng verbundene Paare (Phokos — Jaseus und Aktaion —
Autonoe), zwischen denen einsam Maira sitzt. Protesilaos und Maira sind aber Schick-
salsgenossen, frühzeitige Opfer des Todes, der diesem die Früchte einer jäh getrennten
Ehe, jener einen Gatten versagte. In ähnlicher Gedankenverbindung scheinen Aktaion
und Antilochos sich gegenübergestellt, und inmitten der ganzen Eeihe treten zwei
auserwählte Freundespaare neben einander:. Achill und Patroklos auf der einen Seite
und als Huldigung für den Ahnenstolz der Delpher und ihrer engeren Landsleute :
Phokos, der eponyme Held von Phokis, mit seinem Freunde Jaseus auf der anderen.
Nun greift Pausanias in die übergangenen unteren Theile des Bildes zurück,
und zwar holt er, wie natürlich, zuerst die untere rechte Hälfte desselben nach,
indem er bei der linken Endfigur der rechten Hälfte der oberen Reihe (Patroklos)
anknüpft und an diese das unterwärts Befindliche anreiht. Unterhalb des Patroklos,
in den mittleren Th eilen des Bildes, ist also Orpheus anzusetzen, neben ihm auf der
anderen Seite der Weide Promedon. Man erkennt, wie die Beschreibung von der
mittleren Scheidelinie der Komposition dieser Gemäldeabtheilung aus sich der rechten
freigebliebeuen Seite zuwendet. Was hier neben und unter Orpheus an Raum übrig
geblieben, ist das Terrain für die Figuren Promedon, Schedios und Pelias, von denen
Promedons Standpunkt durch die Beschreibung fixirt ist, während für Schedios die
ganze rechte untere Ecke der Abtheilung zu beliebiger Aufstellung frei bleibt. Doch
wird sich der letztere noch bestimmter lokalisiren lassen, sobald wir den Standort der
mit ihm korrespondirenden Figur des Hektor gefunden haben werden. Mit Pelias
wendet sich die Beschreibung wieder der Mittellinie der Komposition zu, und zwar
gelangt sie nun in die unterste Region des Bildes, weil der an Pelias angrenzende
Thamyris die der Orpheusgruppe entsprechende Gruppe Marsyas — Olympos über
sich hat. Denn es kann jetzt nicht mehr zweifelhaft sein, dass die Zweitheilung
und Responsion der oberen Reihe (Gruppe 18 und 19) sich in der Orpheus- und
Marsyasgruppe und unter ihnen in den Figuren von Pelias und Thamyris wieder-
holt. Wir dürfen daher die Lokalbestimmungen der einen Seite der Komposition
für die fehlenden der anderen einsetzen, Für das Aneinandergrenzen der Marsyas-
und Orpheusgruppe spricht also folgendes: Gleichartigkeit in Form und Inhalt;
Die Nekyia des Polygnotos in Delphi. 199
Parallelstellung zu Thamyris — Pelias, welche aneinander grenzen, Parallelstellung zur
Patroklos- und Phokosgruppe, welche ebenfalls aneinander grenzen, und das bestimmte
Zeugniss, dass Orpheus unterhalb Patroklos steht, wie andererseits Marsyas über
Thamyris. Noch ist aber die Komposition dieser Abtheilung nicht vollständig, wir
suchen zunächst die fehlenden Glieder.
Nach Beschreibung der Marsyasgruppe 22 wendet sich Pausanias mit den
Worten « ds aTTidoiQ nähv eg to uvm TTJg y^acpij? wieder den oberen Theilen des Bildes
zu — abermals ein Beweis, dass die letztgenannte Gruppe 22 noch den unteren Ge-
mäldetheilen angehörte, wie wir aiis anderen Gründen geschlossen hatten — , und
zwar knüpft er an die in der oberen Reihe zuletzt erwähnte Gruppe des Aktaion
an. lieber dieser ist innerhalb des Rahmens des Gemäldes kein Raum mehr, wohl
aber unter derselben. Ja, unterhalb der Aktaiongruppe müssen wir noch Figuren
erwarten, da Gruppe 17 noch nicht ihr Gegenüber erhalten hat. Wir finden es in
den ersten Figuren von Gruppe 23, wie sich zunächst aus der Gleichheit des Gegen-
standes beider Darstellungen ergiebt: eine Spielergruppe ist jene, wie diese, und in
reizvoller Weise hat Polygnot die Jugend blühender, unschuldiger Mädchen der herben
Männlichkeit jener Heroen gegenübergestellt. Zur weiteren Bestätigung dient folgendes:
Pausanias knüpft die spielenden Krieger an Aktaion, nicht an Autonoe
an; und da er, der Regel gemäss, von rechts nach links beschreibt, so können
von den in Gruppe 23 aufgezählten Figuren eben nur zwei in die jetzt
besprochene Abtheilung der Nekyia gehören, nämlich die unter Aktaion
und Autonoe befindlichen des Aias und Palamedes. Dass alle diese Helden,
von dem älteren Aias an bis zum Oiliden, in einer Reihe standen, ergiebt sich aus
ihrer gemeinsamen Beschäftigung und daraus, dass erst von Meleager bestimmt an-
gegeben wird, er sei höher als Aias, der Oilide. Dadurch wird Meleagros in die
oberste Reihe des Gemäldes hinaufgerückt. Er gehört sammt den zwei vor ihm
genannten Heroen — Aias des Oileus Sohn und Thersites — bereits einer neuen
Abtheilung des Nekyiagemäldes an, welche Pausanias mit diesen Worten beschreibt:
[24.) ^^In den tmteren Theilen des Gemäldes folgt auf den Thraker Thamyris
Heictor, sitzend: er hat beide Hände um das Knie geschlungen und zeigt
die Stellung eines Trauernden.
[25.) Auf ihn folgt Memnon, auf einem Felsen sitzend, und an ihn schliesst sich
Sarpedon an. Sarpedon stützt das Antlitz auf beide Hände. Die eine
Hand des Memnon aber ruht auf Sarpedons Schulter. Barte haben sie
alle, und auf Memnons Mantel sind auch Vögel, die sogenannten Memnons-
200 Theodor Schreiber.
Vögel, gebildet. Neben dem Memnon ist auch ein nackter aithiopischer
Knabe dargestellt, weil Memnon König des aithioinschen Volkes war. .
[26.) Ueber Sarpedon und 3Iemnon kinazis [vntQ di top ^'uQmjdöva ts neu MtjLivova)
da ist Paris, noch ohne Bart. Er Matscht mit den Händen, ivie etiva
ein Landmann thun ivürde. Man meint, er will dadurch die Penthesileia an
sich heranrufen. Es ist auch Penthesileia (gemalt), ivie sie auf Paris
hinsieht. Ihrer Miene nach aber scheint sie ihn von oben herab und mit
Verachtung anzusehen. Sie ist als Jungfrau dargestellt mit einem dem
skythischen ähnlichen Bogen und einem Pantherfell um die Schidtem.
{27.) Die über die Penthesileia hinaus [vni-Q tijv IlsvdsaiXsiav) tragen Wasser in
zerbrochenen Scherben. Dargestellt ist die eine in noch blühender Oesta.lt, die
andere schon Vorgerückteren Alters. Eine besondere Beischrift ist bei keiner
der beiden Frauen, doch steht bei beiden gemeinsam, dass sie zu den Un-
eingeweihten gehören.
[28.) Höher als diese Frauen befindet sich Lgkaons Tochter Kallisto, und Nomia
mit der Tochter des Neleus Pero. Kallisto hat zum Lager eine Bärenhaut,
und ihre Füsse riihen auf den Knieen der Nomia.
[29.) Nach der Kallisto und den Frauen bei ihr sind die Umrisse eines steilen
Hügels, und Sisgphos des Aiolos Sohn strengt sich an das Felsstück den
Hügel hinaufzuwälzen.
(30.) Es ist aber auch ein Fass auf dem Gemälde und ein alter Mann, dazu ein
ICnabe und [zwei) Weiber, ein junges Mädchen^) bei dem Felsen, neben dem
Alten aber ein Weib von gleichem Alter. Die Uebrigen nun tragen noch
Wasser, der Alten aber meint man sei der Krug zerbrochen. Und soviel
noch Wasser in der Scherbe geblieben ist, schüttet sie in das Fass.
[31) Unter diesem Fasse ist Tantalos dargestellt, der nicht mir alles das Schreck-
liche dtddet, ivas Homer auf ihn gedichtet hat, solidem zudem noch von der
Furcht vor dem über ihm hängenden Stein gepeinigt wird.
So viel umfassend und von so hoher Vortrefflichkeit ist das Gemälde des
Thasiers.v
Paiisanias war durch die Zusammengehörigkeit, die inhaltliche Verknüpfung der
Figuren in Gruppe 23 abermals zu einseitigem Vorrücken in seiner Beschreibung
1) Nach der unzweifelhaft richtigen Verbesserung von Siebeiis und Welclcer (Gompos. d. polygn.
Gem. S. 124 Anm. 53 cf. Alte Denkmäler III, 113, Anm. 5): via f.iev statt eav fisv. Dem Sinne
nach gleich, doch zu wortreich ist die Emendation von Kaj'ser Zft. f. A. W. 1850 Nr. 49.
Die Nekyia des Polygnotos in Delphi. 201
veranlasst worden. Darum bricht er bei der letzten Figur (Meleagros) ab, um das
in den unteren Theilen des Gemäldes Zurückgelassene nachzuholen. Dass er nicht
an Olympos, sondern an Thamyris anknüpft, liefert den Beweis, dass Hektor sich in
der untersten Keihe befindet. Auf derselben Höhe steht auch die engverbundene
Gruppe Memnon — Sarpedon, dann nach links anschliessend die etwas gelockerte Paris —
P.enthesileia, endlich die Gruppe der beiden ungeweihten Frauen: alle im untersten
Theile des Gemäldes ; denn die 26. und 27. lokalisirende Präposition inag kann hier
wiederum nur die Bedeutung von »in derselben Eichtung darüber hinaus« haben,
weil eine dreifache Uebereinanderstellung von 25, 26 und 27 wegen der bereits
gesicherten Besetzung des obersten Gemäldetheiles durch Gruppe 23 nicht zulässig ist.
Ausserdem bewährt sich hier — wie auch schon vorher und ebenso in der Beschrei-
bung der Iliupersis — die Beobachtung, dass die Wiederholung des ortsbestimmenden
VTiig dicht hintereinander stets auf Aufzählung einer nebeneinander aufgestellten
Figurenreihe schliessen lässt. Auch die inhaltliche Zusammengehörigkeit von Hektor
und Memnon — Sarpedon spricht dafür, dass diese drei Figuren sich auf einer und der-
selben Terrainhöhe befanden. Doch muss der Abschnitt der Komposition
zwischen Hektor und Memnon bemerklich genug gewesen sein, denn
Pausanias lokalisirt Gruppe 26 nicht nach allen drei Figuren, sondern
nur nach den beiden letzten (Sarpedon und Memnon).
Es springt nun in die Augen, dass Hektor die gesuchte, mit Schedios korre-
spondirende Figur ist. Nicht bloss ihr Standort neben Thamyris und ihre Einzel-
stellung in der Komposition beweisen dies, sondern auch der inhaltliche Wechselbezug,
der zwischen beiden Figuren besteht. Es sind die Vertreter des troischen und grie-
chischen Heeres, die einander am unteren Eande dieses Mittelbildes des Nekyiage-
mäldes gegenüber treten, Hektor, der Inbegriff troischer "Wehrhaftigkeit, und Schedios,
der Anführer der Phoker vor Troia, ausgewählt unter den griechischen Heerführern
als derjenige, der den Delphern als Lokalheros am nächsten stand.
Es darf nicht auffallen, dass in dieser und der vorigen Abtheilung die Grenzen
der Komposition nicht auch der Beschreibung den Weg vorzeichnen, wie dies bisher
durchgängig der Fall gewesen ist. Während Pausanias in der Iliupersis und in den
beiden ersten Abschnitten der Nekyia abtheilungsweise vorgeht und immer erst die
Figuren der einen »Section« aufzählt, ehe er mit denen der folgenden beginnt —
freilich ohne den Rhythmus der Figurenordnung zu empfinden — , greift er in den
beiden letzten Bildabschnitten zwei Mal über die ideale Trennungslinie hinüber, weil
ihn, den nüchternen Buchstabenmenschen, eben nicht das Kunstwerk im Gemälde,
PeGtsdivift für Ovorljeulc. 2()
202 Theodor Schreiber.
sondern Bedeutung und realer Zusammenhang der Figuren allein interessiren. Zum
Glück für uns , denn ein ästhetisches Raisonnement wäre schwerlich so klar ausge-
fallen, wie diese trockene Aufzählung, die uns noch einen merkwürdig freien Zug
des sonst so streng gefügten Aufbaues der Komposition enthüllt.
Wir dürfen uns Polygnot als einen kühnen Neuerer in allen den Zügen vor-
stellen, die noch spätere Jahrhunderte an ihm bewunderten, in der Ei-findung bedeut-
samer Charaktertypen, in der ausdrucksvollen Belebung der Köpfe, in der scharfen
und reineren Führung der Konturen. Aber folgenreicher war die erstmalige An-
wendung rhythmischer Gesetze in einem figurenreichen, auf breiter Bildfläche in
Länge und Tiefe entwickelten Gemälde. Hier hat Polygnot, wie das Schema zeigt,
bereits mit Glück versucht das alte, ihm überlieferte Princip der friesartigen Figuren-
reihung energisch zu durchbrechen, die Figuren auf bewegten Terrainlinien nach Art
der Vasenbilder, die seinen Stil Aviderspiegeln , freier zu ordnen — was in dem
Schema der Rekonstruktion natürlich nur unvollkommen anzudeuten war — , ja er
hat sich nicht gescheut, wenigstens an einer Stelle die noch immer in alter Strenge
geltende Rhythmik der künstlerischen Responsion mit der inhaltlichen in Kontrast zu
setzen und zwei Abschnitte der Komposition durch üebergreifen der Gruppen in ein-
ander zu verzapfen. Es sind die ersten Vorahnungen der künftigen Freiheit des
malerischen Stils.
Noch haben wir aber das Eckbild der Nekyia nicht vollständig übersehen.
Mit Gruppe 28 wendet sich Pausanias aufwärts zur obersten Reihe, um die an
Meleagros (23) angrenzenden Figuren aufzuzählen. Dies ergiebt sich aus der An-
ordnung von Gruppe 28, welche die umgekehrte der Gruppe Meleagros — Aias — Ther-
sites ist: wie Kallisto über Nomia, so befindet sich Meleagros über Aias, und wie
Aias neben sich Thersites, hat Nomia Pero zur Seite. Die so gewonnene rhythmisch
im Gegensinne sich bewegende Figurenreihe von Thersites bis Pero besteht demnach
aus sechs Figuren, und ebensoviel enthielt die entsprechende darunter befindliche von
Memnon bis zu den yJf.ivT]Toi (25 — 27). "Warum Pausanias von der letzteren (27) auf
28 überging, mochte vor dem Gemälde leichter begreiflich sein, als jetzt aus der
einsilbigen Beschreibung zu erkennen ist. Doch fand wohl das Auge des Betrachters
von der Gruppe ruhig stehender Frauen in 27 einen passenderen Uebergang zu der-
jenigen in 28, als zu der völlig disparaten Gruppe 30.
Die an Pero (28) anschliessende Figur des Sisyphos (29) erhält nun ihren
natürlichen Standpunkt links neben derselben, sie muss, da von hier an die Beschrei-
bung abwärts geht, die das Gemälde abschliessende obere Eckfigur sein. Die fol-
Die Nekyia des Polygnotos in Delphi. 203
gende Gruppe 30 fügt sich ungezwungen in den zwischen den bereits festgestellten
Reihen übrig gebliebenen Raum und tritt dadurch in engen Zusammenhang zu den
benachbarten Büssern und Verdammten, denen ausser Sisypho's und dem noch zu er-
wähnenden Tantalos auch die 'Afxvriroi angehören. Es wäre freilich ein directes
Zeugniss für die Richtigkeit dieser Ansetzung, wenn die Aenderung Welckers vnö
Tjj mrQci^) irgendwelche Gewähr für sich hätte. Doch entspricht die Lesart der Hand-
schriften inl rf] nhqu in der Bedeutung »an, bei dem Felsen« dem gewöhnlichen
Sprachgebrauch des Pausanias^), sie verträgt sich auch recht wohl mit unserer An-
setzung. In welcher Weise die Figuren in dieser Gruppe geordnet waren, ist nicht
sicher zu bestimmen. Pausanias zählt unverkennbar nicht der Reihe nach auf, son-
dern nach inhaltlicher Zugehörigkeit, erst die männlichen, dann die weiblichen Figuren.
Daher das Bedürfniss, die zuletzt genannten (das junge Mädchen und den Alten) ge-
nauer zu lokalisiren. Für die wahrscheinlichste Anordnung halte ich die im Schema
gegebene. So ist Tantalos noch immer unter, wenn auch seitlich unter dem Fass —
denn man darf die Bezeichnung »unter«, »über« und ähnliche bei Pausanias nicht all
zu eng fassen — , andererseits wird dadurch die Verbindung zwischen Tantalos und
Sisyphos freier.
Nun bildet Gruppe 30 den natürlichen Uebergang zur letzten Figur, der des
Tantalos (31), welche unterhalb des Fasses in 30 und zugleich unter der Figur des
Sisyphos, also in der linken unteren Ecke des Bildes zu stehen kommt. Die beiden
Büsser, welche zu den in den rechten Ecken befindlichen die augenfälligste Ergän-
zung bilden, schliessen das Bild nach links ab. Tantalos »unter dem Fasse« füllt die
linke untere Ecke der Nekyia.
Ueberblicken wir jetzt nochmals den reichgegliederten und doch so übersichtlichen
Aufbau des langgestreckten Bildes, so fällt der Gegensatz der Darstellungen in den
Ecken zu denen in der Mitte am meisten in die Augen. Wir fragen unwillkürlich,
welche Grundstimmung Polygnot in diese feierliche Vereinigung der Heldenschaaren
1) Welcker, Compos. d. polygn. Gem. S. 124 Anm. 53, gebilligt von Schubart Arch. Ztg. XX.
(1862) S. 234, Gebhardt S. 41 und Robert S. 20. Eine andere Aenderung schlägt Kayser, Münchener
Gel. Anzeig. 1849 S. 800, vor.
2) In dieser allgemeinen Bedeutung »an, bei« kann sowohl der Sinn von »unter« (so hier), als
»neben« und »über« liegen. Dies ist zu beachten für Stellen des Pausanias wie X, 15, 4 tov de (poiviv.a
aved-eoav Ldd-^ivaloi koi ayali.ia Id&iqvas ervl rq) cpolviM, wo ebenfalls nichts zu ändern ist (auch
Plutarch, Nie. 13, 4 gebraucht bei Erwähnung dieses Kunstwerks die Präposition STtl) , obgleich
natürlich mit E. Curtius, Gott. gel. Anz. 1861 p. 371, zu erklären ist »unter dem Baume«. Vgl. U. Scliaar-
schraidt, de hti pranpos. ap. Paus, vi et iisu p. 48.
26*
204 Theodor Schreiber.
griechischer Vorzeit gelegt hat, welche Situation er vergegenwärtigen wollte. War
es nur ein schön gemalter, in Figuren umgesetzter ituraloyog der Urväter und Mütter
des Volkes, vorsichtig ausgevvählt aus alten Liedern und Sagen ? War Orpheus nur hin-
zugefügt worden, »weil auch er einst aus frommem Antrieb, wie jetzt Odysseus, lebend
zur Unterwelt hinabgestiegen, um seine Gattin wieder zu gewinnen«? Die letzte
Untersuchung über das räthselhafte Bild, der auch die eben angeführte Vermuthung
entnommen ist^), schliesst mit den Worten: »Polygnots Heroen treiben, was sie im
Leben erfreut, auch im Schattenreich, sie spielen und jagen und Orpheus singt ihnen
das hohe Lied von der Unsterblichkeit«.
Aber wo ist Orion, der wilde Jäger auf der Asphodeloswiese, oder Minos, der
unter den Schatten noch Recht spricht, oder ein anderer Held — ausser Orpheus — ,
der die Thätigkeit seines Erdenlebens hier im Hades fortsetzt, und warum tritt der
Silen Marsyas so anspruchsvoll in den Heldeni'eigen ein?
Ich meine in dem Gemälde einen höheren Geistesflug zu erkennen, zu dem
Polygnot sich aufschwang über die Bilder, die Erzählungen und Namen der Ueber-
lieferung hinweg, selbst dichtend in der sinnreichen Verbindung seiner Gestalten, vor
Allem in dem Hinweis auf die erhabensten Vorstellungen, die den frommen Griechen
erfüllen konnten.
Es sind die Hoffnungen des Mysteriengiaubens auf ein glückliches, seiiges
Leben, welches den Eingeweihten im Jenseits beschieden ist, wo Kithar- und Flöten-
töne — bacchische und apollinische Musik, die den Delphern von dem Doppelcult
im Apolltempel her als verschwistert galten^) — das Ohr des Helden erfreuen, wo er
mit Brettspiel, wie einst im Heerlager, sich vergnügen wird, die Frauen und Mädchen
aber mit dem Spiel der Knöchel; es sind die Höllenstrafen der Uneingeweihten, die
ewig währenden Qualen der grossen Büsser, die nie endende. Schöpfarbeit der
namenlosen Verdammten, welche Polygnot in einem ergreifenden Gesammtbild ver-
anschaulicht hat. Dreimal selig, ruft Sophokles (Fragm. 753 ed. Nauck), sind jene
Sterblichen
1) Kobert a. a. O. p, 83 f.
2) Die Stellen bei Stephani, Compte-rendu 1861 p. 58 f. Curtius, Griech. Gesch. I, 446 giebt
eine kurze , treffende Charakteristik. »Apollon und Dionysos hatten an Delphi gleichen Antheil ; sie
theilten sich in den Besitz des Parnasses, in das delphische Festjahr, in die Giebelfelder des delphischen
Tempels. Der Musensohn Orpheus war ein Yon Apollon wie von Dionysos begeisterter Sänger. Die
Instrumente der beiden Götter, Cither und Flöte, sind in Delphi für alle Zeiten mit einander verbunden
worden als die Grundlagen griechischer Musik. «
Die Nekyia des Polygnotos in Delphi. 205
cög TQis olßtoi,
Keivot ßQOTWV, Ol Tavra ösQxßivreg rektj
fxöXwd es "yläov TOtade yaQ /itövois ixsi
Q)jv eoTi, TOig d' aXlotat nüvr exei kukÜ.
und bei Aristophanes (Frösche 454 ff. ) ruft der Chor der Mysten
/Liövoig yag i']f.iiv ijlios
y,al cpsyyos i^a()6v iariv
asßij TS dt7]yo^iev
TQOTtov nsQi Tovg ie'povQ
y.ai tovg i'd'icoTac.
Ihrer warten in der Unterwelt » Flötentöne, Myrtenhaine und ein glückselig fröhliches
Leben« (v. 154 ff.). »Wer die Mysterien geschaut, sagt Pindar (frgm. p. 625 Boeckh),
der weiss des Lebens Ausgang und zugleich den von Zeus verheissenen Anfang«
oldsv f.dv ßtOTOv tiXavTav,
o'iÖEV öl dioadorov aqiüv.
Von den Qualen und Strafen der Uneingeweihten aber, die Sophokles nur leise
andeutet, reden andere so unverhohlen, wie die Bildersprache des Polygnotos. Sie,
die Uneingeweihten, sind im Hades verdammt, in ein durchlöchertes Fass Wasser zu
tragen (Plat. Gorg. p. 493 b. c), sie wandeln in Koth und Finsterniss — jene (die
Mysten) in ewigem Lichte^).
Mit diesen Vorstellungen vom Wirken der Mysterien ist die Erinnerung an den
Sänger Orpheus eng verbunden. An seinen Namen wurden damals allerlei Phan-
tasien und Speculationen über das jenseitige Leben geknüpft^). So erscheint er hier
als Führer im Thiasos der Mysten, die im mythischen Gleichniss durch die Stamm-
väter xmd Mütter vertreten werden, und nur als erster aller Flötenbläser hat Marsyas
neben ihm seinen Platz erhalten.
Nun erst verstehen wir die Ankunft der Demeterpriesterin Kleoboia mit der
heiligen vÄgii] auf dem Schoosse, die Gegenwart der yli.tvi}Tot und der bei ihnen
1) Die Stellen bei Welcker, GriecMsche Götterlelire II p. 527 f. vgl. O. Müller, Kleine deutsche
Schriften II p. 305 u. 284.
2) So 0. Müller a. a. 0. II p. 401, der die Grundstimmung des Nekyiabildes schon richtig
herausfühlte, wenn auch ohne den Faden der Komposition aufzufinden.
206 Theodor Schreiber. Die Nekyia des Polygnotos in Delphi.
stehenden Wasserträger — ein aussermythisches Element, dessen Aufnahme nur aus
dem angegebenen Gedanken zu erklären ist.
»Wem jene Weihen zu Theil geworden, der wird selig werden und
den Strafen im Tartaros entrinnen.« Diese Mahnung klang dem griechischen
Beschauer aus dem Nekyiabilde vernehmlich entgegen, und war es ein Eingeweihter,
so durfte er mit dem Dichter fröhlich ausrufen:
phvoiQ )j/.uv ij/.iog xai cps'yyog iXuqov eariv.
Druck von Ei-oitkopf »t Härlel in Leipzig.
Festschrift, für Overbeck.
</äk
A
^
A
I.
= Furtw. 1816 (Köpfe), 1817 (Untertheile) u. = Furtw. 1813. Denkm. Taf. 9, 2. Gazette
aus 1826 (Mittelstück u. Füsse an rechter Ecke Archeol. 1888 S. 228.
unten u. Vogel). Denkm. Taf. 10, 7. 8.
III.
Furtw. 1812 a, b, c, u. aus 1816 (Seh
Frauen). Denkm. Taf. 11, 1.
VII.
Furtw. aus 1822 (Pferd von vorn) u. 1826
(Schreitende Frauen).
VIII.
Furtw. 1824 u. aus 1822. Denkm.
Taf. 10, ß.
= Furtw. 1821 u. aus 1822 (Pferd(
Verlag von Wilhelm Engelmann, Leipzig.
Taf. I.
IV.
Furtw. 1811. Denkm. Taf. 11, 2-4.
«ns»
V.
Furtw. 1814, 1823. Denkm. Taf. 10, 3. 4.
VI.
Furtw. 1818 a, b, u. 1815 (Knabe). Denkm.
Taf. 10, 1. 2. 5.
^gie^ w
X.
^r- gtTi'aiaiaaiFjEjaiaiaajefaafagg.CTaa^
XI.
Furtw. 1822 u. aus 1821 (Wagenstubl). = Furtw. 1820. Denkm. Taf. 10, 9. 10.
XII.
= Furtw. 1819. Denkm. Taf. 9, l.
Lichtdruck von Julius Klinkhardt, Leipzig.
Festschrift für Overbeck.
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1
-A'M
I.
= Furtw. 1816 (Köpfe), 1817 (Unterlheile) u.
aus 1826 (Mittel Stück u. Füsse an rechter Ecke
unten u. Vogel). Denkm. Taf. 10, 7. 8.
IL
Furtw. 1813. Denkm. Taf. 9, 2. Gazette
Arclieol. 1888 S. 228.
III.
^=. Furtw. 1812 a, b, c, u. aus 1816 (Sclire
Frauen). Denkm. Taf. 11, l.
^^cr
VII.
1
= Furtw. aus 1822 (Pferd von vorn) u. 1826
(Schreitende Frauen).
VIII.
Furtw. 1824 u. aus 1822. Denkn
Taf. 10, (i.
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Furtw. 1821 u. aus 1822 (Pferdel
\'iil.i^r von AViliielm En^'clmann, Lcipzij^.
Taf. I.
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IV.
Furtw. 1811. Denkm. Taf. 11, 2-4.
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VI.
Furtw. 1814, 1823. Denkm. Taf. 10, 3. t. = Furtw. 1818 a, b, u. 1815 (Knabe). Denl;m.
Taf. 10, 1. 2. .-).
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XI.
Furtw. 1822 u. aus 1821 (Wagcnstulil). = Furtw. 1820. Denkm. Taf. 10, n. 10.
XII.
Furtw. 1819. Denkm. Taf. 0, 1.
Liclltdruck von Julius Ivlinkhardt, Leipzifj,
Festschrift für Overbeck.
Taf. IL
Lichtdruck von Julius Kliukhardt, Leip««.
■Verhiü von
AVilhelm Engelrannn, Lcip/is.
Festschrift für Overbeck.
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