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Full text of "Das Buch Koheleth [microform]. Ein Deutungsversuch"

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DRS BUCH 
KOHELETH 






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The University of Chicago 
Library 




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DAS BUCH 
KOHELETH 

EIN DEUTUNGSVERSUCH 

VON 

OBERRABBINER 

DR. JOSEPH CARLEBACH 



FRANKFÜRT A. M. 1936 
HERMON-VBRLAG 






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der Judenfraga 
Fi'aaMürt a. M, 



L. C. Oo-op Furob. 



1656604 



MEINEM FRIJHVOIiLBNDETEN FREUNDE 

DR. LEO DEUTSCHLINDER S.A. 

ZUM GEDÄCHTNIS 

DEM GENIALEN LEHREB UND ERZIEHER, 

DEM AUEOPEERUNGSVOIiliEN GRÜNDER 

UND LEITER DES KEREN HATORA UND DBS 

BETH JAKOB SCHULWERKS 



I N H A LT S A N G A B E 

Seite 

Einleitung 7—11 

Erster Teil 

I. Es bleibt doch alles beim Alten (Kap. 1.2-11) 13—15 

II. Wie Koheleth zum Pessimisten wurde 

(Kap. 1,12-2,26) • ... .15—21 

m. Alles hat seine Zeit (Kap. 3, 1-15) . . . .21—23 

IV. Die Weltschau (Kap. 3, 16-6. 12) 24-32 

Anmerkungen 33 — 35 

Zweiter Teil 

V. Besinnung (Kap. 7) 36—42 

VI. Des Lebens Widersprüche (Kap. 8-9.3) . . 42—46 
VII. Du lebst ja nochl (Kap. 9, 4-10, 20) ... 46-52 

VIIL Nutze geschäftig die Stundel (Kap. 11, 1-8) 52—53 

IX. Freue dich der Tage der Kraft ! 

(Kap. 11,9-12,8) 53—56 

X. Nachwort (Kap. 12.9-14) 57—59 

Anmerkungen 60 

Koheleth im wechselnden Urteil der Zeiten . . . 61—77 



EINLEITUNG 



Es gibt wohl niemanden, der sich je mit 
unserem T'oaah bescshäftigt hat, den nicht das 
Rätsel 'buch Koiheletih dauernd in seinen 
Bann zieht. Immer wieder fragen wir von neuem: 
was bat i^eser große „König von Jerusalem", 
dieser tiefe Kenner des Menschenlebens, der 
Vielerfahrene, der alles Glück und Leid der 
Menschen an seinem Leib verspürt hat, was hat 
er mit seinem Buche gemeint und uns sagen 
wollen? 

Ist es wirklich ein Buch der Resignation, der 
Verzweiflung, die über alle Menschendinge den 
Stab bricht, mit dem schauerlichen Verdikt: ^d,t 
^Sil' iiCs ist doch alles nichtig, eitel tmd unbedeu- 
tend"? Ist Koheleth wirklich das Buch des Pes- 
simismus, des Mißtrauens und der Abwertimg 
aller Menschen dinge? 

Wir wollen erneut einen Versuch machen, 
dem Geheimnis des Buches auf die Spur zu kom- 
men. Wir wollen in freier Uebersetzung 
durch Einsohaltung einiger Verbindimigsbrücken*) 
den Gedankengang des Ganzen leicht verständ- 
lich machen. Wir werden dabei auch vor derber 
Wiedergabe der Einzelwendung nicht zxirück- 
scheuen. 

Nur wenige Worte soUen über das Ziel des 
Buches vorausgeschickt werden. 

Es gibt zweierlei Pessimismus: den der Selbst- 
zerfleisohung und den der Selbstbefreiung; einen 



*) Angedeutet durch eckige Klammern []. 



solchen, der uns jeden Augenblick des G 1 ü k - 
k e s verbittert und vergällt, und einen andern, 
der tuxs unabhängig vom Unglück macht, jeder 
noch so großen Enttäuschung des Lebens ihren 
Stachel nimmt. 

Von dieser zweiten Art ist das Buch Kohe- 
leth. Es will dich lehren: komme dir in dei- 
nem Leide nicht als ausgesuchter 
Unglückspinsel vor. 

Nimm dein Leid nicht für allzu wichtig, 
Schicksalsschläge sind nun einmal ein Teil des 
Menschenloses. 

Menschenleben erhebt sich erst auf dem 
Bewußtsein sieiner Fragwürdigkeit. 
Man darf auf die Dauer und Absolutheit und 
Folgeniohtigkeit in .Mensohendingen nicht rech- 
nen. Würde alles im Leben so verlaufen, wie 
wir es wünschten, wir stets von den Wellen des 
Schicksals leicht und sicher dahingetragen wer- 
den, dann würde eine Frage vom Optimismus 
oder Pessimismus nicht auftauchen. Erst in den 
widerspruchsvollen Verwicklungen des Daseins 
erhebt sich das große Fragezeichen, das Prob- 
lem vom Sinn und von der Bedeutung des Einzel- 
nen, Da ist es dann wichtig, die Dinge richtig ein- 
zuschätzen und vor dem Mißerfolg nicht zu ver- 
zagen und zu erbeben. Wir übertreiben 
die Bedeutung alles Einzelnen und 
kennen seinen wirklichen Rang nicht. Darum 
soll man der Waihnheit Max ins Auge sehen, 
damit man an ihr nicht zerbreche, 

Koheleth ist das Buch gedämpf- 
ter Lebensfreude, der um die Tra- 
gik des Seins wissenden Freude. Es 



ist das Buch der Demut, des sich nicht selbst- 
vergöttemdcn und verabsolutierenden Menschen, 
Sein Sinn ist, dich zu lehren; nichts in der Welt 
kann dich verführen, im Materiellen, in Vermö- 
gen und Besitz, in Ehre und Anerkennung, in 
Macht und Erfolg den Inhalt des Lebens zu sehen. 
Sein unverrückbarer Sinn liegt jen- 
seits, in Gott und Seinen Geboten, 

Des Lebens Glück ist zwar der Augen- 
blick, aber ohne Prätension, ohne Gewähr sei- 
ner Dauer, ohne Anspruch aaif seinen Bestand; 
ja, in der Gewißheit seiner Vergänglichkeit, sei- 
ner Unzuverlässigkeit, Freude ist gut, ist Ge- 
winn, aber nur, weim sie unter genügender Re- 
serve uns erfüllt. Und gerade angesichts des 
Todes wind der Augenblick ohne Enttäuschung 
zum glücklichen Besitz. 

Wenn du die wahre Lage der Weltdinge, ihre 
Einförmigkeit, ihre Relativität dir ganz klar 
machst, so wird dir das zum Trost gereichen. 
Kennst du das Leben, wie es wirklich ist, so 
kann dir die frohe Stimmung der Stunde nicht 
geraubt werden. 

Koheleth ist kein Buch des falschen Op- 
timismus, nicht ein Opium der Seele, dem 
schlimmes Erwachen folgt, des Selbstvergessens 
und der Selbsttäuschung, sondern das Buch des 
wachen Weisen, der jedes Glück, das ihn be- 
sonders trifft, als ein Geschenk des Schicksals 
dankbar hinnimmt, der aber das Unglück, weil 
es ja nicht ihn besonders trifft, mit Gleichmut 
zu ertragen weiß. 

Auch die Form des Buches entspricht der 
Unstetigkeit und Zerrissenheit alles Menschen- 



lebens. Es ist in Aphorismen geschrieben; 
es ist jede Erfahrung wie eine eigne Ueber- 
raschtmg dargestellt, als ein Plötzliches, das 
den vorurteilslosen Beschauer des Lebens über- 
kommt: roi'ßi, nißißi, jodati, ponißi, ich habe ge- 
sehen, erprobt, in Erfahrong gebracht, mich zu- 
gewandt, so gibt der Weise seine Erfaihrungen 
wieder. Und das Widerspruchsvolle, die be- 
grenzte Bedeutung jeder Lebenserfahrung spie- 
gelt sich in einem Sckzack, in einem Hin und 
Her der Linienführung. Keine Lebenserfahrung 
gilt für alle Fälle; nie darf vom Einzelnen ein 
falscher Aaialogieschliuß auf das Ganze hergelei- 
tet werden. 

So führt uns der Weise durch alle Stadien 
des Lebens hindurch. Solange das liebe Ich im 
Vordergrunde steht, wird die letzte Lebenssumme 
doch immer ein Unbefriedigtsein bleiben, ja sie 
kann sich bis zum Lebenshaß steigern. 

Der Blick auf die große Welt, ihr Auf 
und Ab, ihr Hin und Her, ihre Wandlungen und 
Schwankungen zeigen uns dann, daß kein Mensch 
mit seinem Unglück alleinsteht, daß alle Men- 
schen seine Leidensgenossen sind. 

Und dann kommt der Tod als der große 
Wegweiser des Lebens, Er allein lehrt 
dich, was Ewigkeitswert haben kann und welche 
Stimmung uns auf dieser Erde beseelen soll. Und 
er gibt uns die große Geduld, den Ernst des 
Lebensgefühls, die Bescheidenheit und Weisheit 
zum Gehorsam gegen Gottes Gesetz und Gottes 
Fügungen, Der Tod gerade zeigt dir, 
wie unendlich wertvoll der Augen- 
blick zum guten Wirken ist. Heut' 



10 



schaffen, das ist recht getan. Nutze die Stunde, 
keine kehrt wieder. Jede kannst du mit Glücks- 
gehalt erfüllen, ehe es zu spät ist und Alters- 
schwäche und Tod deinem Wirken ein Halt 
setzen. 

Aus dem Ernst des Todes nimmt die Seele 
den Schwung, über alle Fragwürdigkeit des 
Menschseins sich durch Gott und Sein Gebot 
emporzuschwingen. 



11 



E R S T ERTE I T, 



Worte des Koheleth, 
eineis Nachkommea Davids, 
Königs in Jenisalem. 

ES BLEIBT DOCH ALLES BEIM ALTEN. 

(Kap, 1, 2—11.) 

2 Eitelkeit der Eitelkeiten, spricht Koheleth, 
Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist eitel. 
Was hat der Mensch von all seiner Müh', 
Daß er sich müht hier -unter der Sonne? 
Ein Geschlecht geht, ein Gesohlecht kommt, 
Die Erde bleibt immer auf dem gleichen Fleck, 

S Aufstrahlt die Sonne tmd wieder untergeht die 
Sonne 
Und strebt dorthin, wo erneut sie aufgeht. 
Zum Süden geht, nach Norden dreht. 
Es 'dreht imd dreht xmd geht der Wind, 
Und in seine Kreise kehrt wieder der Wind. 
Alle Bäche gehen ins Meer, 
Und das Meer wird nicht voll. 
Und dorthin, wohin die Bäche gehen. 
Werden sie immer weiterhin gehen. 
So sind alle Dinge ohn' Rast und Ruh'. 
Kein Mensch kann's zu Ende reden. 
Kein Auge kann je satt sich sehen. 
Kein Ohr kann jemals voll sich hören. 
Was war, wird weiter sein. 
Und was geschehen ist, wird weiter gesohehn, 
Es gilbt nichts Neuics unter der 
Sonne. 



13 



10 Und ist da einmal etwas, daß man denkt: 
ach, sieth ein Nieues! 

Es war schon in den Ewigkeiten, die vor uns 
waren- 

Nur bleibt die Erinnrung an die Frühren nicht, 

Und auch die Spätren werden nimmer im Ge- 
dächtnis bleiben 

Bei denen, die nach ihnen kommen. 

Dieser erste Abschnitt des Buches bildet wie 
alle folgenden jeder in sich ein geschlossenes 
Ganze, Der 'Leitsatz des 'hakaiul hewel; alles in 
der Welt ist zu unbedeutetnid, um davon viel 
Wesens zu machen, wird eben von verschiede- 
nen Gesichtspimkten hergeleitet. 

Die erste Betrachtung mündet in den Satz: 
alles ist schon dagewesen, Sie baut sich mit Recht 
vor allem auf den großen Kreislauf der Dinge 
in der Natur, auf das ewige Gleichmaß, das un- 
ter dem wechselnden Mond herrscht, Sic be- 
trachtet auch das Menschengeschehen als ein- 
gereiht in diesen großen Kreislauf, und trotz 
aller Entwicklungen auf Erden hleibt das Men- 
schenganze in den gleichen Rahmen einge- 
spaimt. Und wenn daher die kleinen Weltstür- 
mer aufstehen und glauben, sie ha'ben die Welt 
auf den Kopf gestellt, sie hätten eine Gestal- 
tung herbeigeführt, die die Menschheit „erlöst"« 
die eine unerhörte, noch nie dagewesene Neu- 
formung der Dinge im Gefolge bat, so wird doch 
immer die überlegene Kraft des dem Menschen 
gegebenen Naturgefüges, aus dem wir nicht ent- 
rinnen können, sich geltend machen, und nach- 
dem der erste Rausch des Neuen verrauscht ist, 



14 



sich herausstellen, daß alles auf demselben Fleck 
geblieben ist wie vorher. Darum ist auch das 
Scheitern deiner großen Pläne solch Unglück 
nicht; es geht dir eben nicht anders als all 
denen, die sich darum gemüht, das perpetuum 
mobile zu entdecken. 



IL 

WIE KOHELETH ZUM PESSIMISTEN WURDE. 

(Kap. 1, 12—2, 26.) 

1,12 Ich, Koheleth, war König über Israel in Je- 
rusalem, Da verlegte ich mich idarauf, mit Weis- 
heit allem, was imter dem Himmel geschieht, 
forschend nachzugehen, eine böse Leidenschaft, 
die Gott den Menschenkindern gegeben hat, da- 
ran sich abzuquälen. So habe ich alles Gesche- 
hen mitangesehen, das sich unter der Sonne ab- 
spielt. Ach, siehe da, alles ist nichtig, eine Jagd 
15 nach Wind! Alles krumm, das man nicht ge- 
rade machen kann, mangelhaft, das man nicht als 
voll zählen kann. Da mußte ich mir bekennen: 
Ich habe doch mehr und tiefere Weisheit be- 
sessen als alle vor mir in Jerusalem, und mein 
Herz hatte so tiefen Einblick in alles Erkenn- 
bare. Ich hatte es doch darauf angelegt, Weis- 



15 



hcit und Torheit, Erkenntnis und Narrhciti alles 
zu erforschen, und sehe nun ein, daß dies nur 
ein sinnloses Bestreben ist. Je mehr Weisheit 
man hat, desto uniglüciklicher ist man; je tiefer 
man eindringt in die Erkenntnis, desto leidvoller 
ist das Leben. 
2j Da sagte ttdh mir; ach, weg diamit! Ich werde 
es mit der Flreude versuchen, einmal die guten 
Seiten des Lebens zu sehen. Ach, gar bald sah 
ich: es ist umsonst. Zum Lachen sage ich: du 
bist toll, zur Freude: was kannst du leisten? 
3 Aber da sann ich in meinem Herzen aus: 
vielleiciht ibeides zusammea. Mit 
Wein mir den Leib traktieren umd Weis- 
heit pflegen, zugleich aber auch ein biß- 
chen den leichten Narreteien sich hingeben, 
bis daß ich sehe, was das Beste für die 
Menschenkinder ist, was sie hier tmter dem 
Himmel tun könnten in ihren paar Lebens- 
tagen. Ich fing's großzügig an, baute mir Häu- 
ser, pflanzte mir Weinberge, schuf mir Gärten 
und Parks und pflanzte darin alle möglichen 
Fruchtarten, machte mir kunstvolle Wjisser- 
werke, um die Wälder und Bäume zu tränken, 
kaufte mir Sklaven, Mägde, hatte ein großes 
Gesinde; Herden von Rindern imd Schafen in 
großer Zahl gehörten mir, mehr als allen, die vor 
mir waren in Jerusalem. Ich sammelte mir auch 
Silber und Gold, »die Kostbattkeiten der Könige 



16 



und Länder, verschaffte mir Sänger und Sän- 
gerinnen unid, was Menschen Freude macht, Kut- 
schen und Sänften, Es wiar eine Pracht größer als 
alles, iwas je vor mir in Jeriusalem gewesen ist, 
10 Und meine Weisheit blieb mir dabei treu. Nichts, 
was meine Augen verlangten, versagte ich ihnen, 
entzog meinem Herzen keine Freude, Denn 
mein Herz hatte wirklich Freude an all meiner 
Mühe, und das war ija mein Ziel bei all meiner 
Mühe, 

ii [Und als nun alles fertig war], und ich mich 
meinen Werken, die ich mit meinen Händen 
geschaffen hatte, zuwandte, die Mühe schaute, 
die ich auf die Vollendung gewandt, siehe da: 
alles war eitel, vergebliches Wollen, es gibt 
nichts Wertvolles unter der Sonne, 

j2 Nun überlegte ich mir aber gar, kluger 
und närrischer Weise zugleich: was wird das für 
ein Mensch sein, der mir einst als König nach- 
folgt, und mit was für Eigenschaften wird er 
ausgestattet .sein? — Es ist natürlich nicht gleich- 
gültig, ob er klug oder ein Narr ist, denn immer- 
hin ist Weisheit soviel besser als Torheit, wie 
das Liöht höher steht als die Finsternis, Der 
Weise hat die Augen im Kopfe, der Narr, der 
tappt immer im Finstern, Und einmal werde ich 
doch sterben müssen, denn ein Schicksal trdfft 

]5 uns alle. Genau wie jeder Narr werde ich auch 
ins Gras beißen, was nützt mir da alle meine 



17 



Weisheit? Und der Weise ist ibei deni Narren der 
Zuktöift für immer vergessen. Ja, schon in den 
allemäohsten Tagen denkt keiner mehr an ihn. 
Es ist schrecklich, wie ein gleiches Todessohick- 
sal den Weisen wie den Narren trifft, D a 
haßte ich das Leben. Da ward mir 
widerlich alles Geschehen, das unter der Sonne 

20 geschieht, das sinnlose, windige Treiben! Da 
haßte ich meinen Sohaffensdünkel, alle meine 
Mühe, mit der ich mich gemüht unter der Sonne, 
denn ich muß sie ja einem Menschen lassen, der 
einmal nach mir kommt, von dem ich nicht weiß, 
ob er weise oder närrisch ist. Und er wird dann 
schalten und walten über alle meine Mühe, die 
ich so klug aufgewandt unter der Sonine, Ach, es 
ist sinnlos! Da packte mich Gleichgültigkeit und 
Verzweiflung wegen all der Mühe, die ich mich 
gemüht unter der Sonne, daß ein Mensch, der 
mit Weisheit und Fähigkeit und Klugheit sich 
gemüht, dem lachenden Erbea., der nichts dafür 
getan, alles in den Schoß werfen muß. Das ist 
sinnlos und ein schlimmes Uebel. Denn was hat 
der Mensch von all seiner Mühe, von all dem 
Sinnen tmd Klügeln, mit dem er sich müht imter 
der Sonne, daß er sein Leben lang Leiden gedul- 
det, Verdruß und Aerger gehaibt, auch in der 
Nacht nicht hat Ruihe finden können? Ach, es 
ist alles eitel, 

24 Es gibt nur ein Gutes für den Mensohcn; jetzt 



18 



essen und trinken und Freude liaben von sedner 
Mühe. Nur mußte auch hier ich einsehen, daß 
das von einer höheren Macht abhängt, denn wer 
könnte wohl besser und schneller zum Genuß 
kommen als ich? Nein, auch ihierin ist der Mensch 
nicht unabhängig- Wem Gott gut sein will, dem 
gibt Er zu seiner Weisheit auch noch die Freude 
dazu, aber dem Pechvogel gibt Er eine Leiden- 
schaft zu sammeln und einzuheimsen, um es dann 
dem zu überlassen, der Gott gefällt. Ist djis nicht 
Unsinn und ein Jagen nach Wind? 

Der zweite Abschnitt ist die erschütternde 
Selbstbiographie des Koheleth, Sie ist das 
große Gegenstück zur Fanstdichtumg, Hier wie 
dort strebt ein Mensch von ungeheurer Begabung, 
von größten inneren Ausmaßen und von unbe- 
grenzten materiellen Möglichkeiten nach einem 
bißchen Glück, nach dem Augenblick, zu dem er 
sagen möchte: verweile doch, du bist so schön. 
Hier wie dort die schmerzhafte Erkenntnis, daß 
wir nichts wissen können, daß die ewige Frage 
nach dem Was und Wie der Welt, nach dem 
Wesen der Dinge immer nur zu neuem tragi- 
schem ignorabimus führt, daß der Dumme mit 
seinen Illusionen glücklicher ist als der Weise, 
der dem Medusenhaupt der Wahrheit ins Ange- 
sicht sieht- 

Dann folgt der verzweifelte Versuch, durch 
leichte Freuden dem Leben Sinn zu geben, der 
bei Koheleth viel schneller zum iScheitem kommt, 
weil sich die Seele mit Ekel von der Tollheit 
ausgelassenen Lebensgenusses abwendet. End- 



19 



lioh die packende Schilderung, wie Koheleth 
durch großartige Schöpfungen seinem Tage In- 
halt geben will. Solange seine Pläne nicht ver- 
wirklicht, solange ihre Vollendung ihn in Span- 
nung erihält, er die Freude des Wachsens und 
des allmählichen Aufbaues seiner Unternehmun- 
gen mitansohaut, solange ist es tatsächlich in ihm 
ruhig. Aber als nun alles vollendet ist, das Ziel 
erreicht vor ihm liegt, da überkommt ihn die- 
selbe Leere wie zu Anfang, da ist auch wieder 
alles hewel, eine große Selbsttäuschung gewe- 
sen. Das ist eigentlich die tiefste Lebenserfah- 
rung, Alle Wünsche, alle Pläne haben nur so- 
lange Bedeutung, als sie nicht erreicht sind. Die 
erreichte Million macht den Bettler nicht rei- 
cher. Und diese Erfahrung wirkt so verbitternd, 
daß jetzt über den Weisen alle idie zerstörerischen 
Gedanken und Sorgen über die Zuktmft kommen j 
was wird einst mit all meinen Schöpfungen wer- 
den, wenn ich nicht mehr da bin imid der lachende 
Erbe mit ihnen skrupellos schalten tmd walten 
kann? Jetzt steigert sich sein Widerwille zu 
Resignation und Lebenshaß. Gerade diese Stelle 
des Buches ergreift uns am gewaltigsten. Wer 
alles besitzt, wem alles gelungen, wem alles zur 
Verfügung steht, gerade den schüttelt die Krank- 
heit vollständigsten Lebensüberdrusses. Die 
Meisten wissen gar nicht, wie dankbar sie sein 
müssen, idaß die kleinen und großen Sorgen des 
Alltags sie noch Etwas für das Morgen wün- 
schen lassen, daß sie die schale Blasiertheit 
dessen nicht kennen lernen, der alle seine 
Wünsche und Strebungen hat vollenden können. 



* * 
* 



20 



m, 

ALLES HAT SEINE ZEIT 

(Kap. 3, 1—15.) 

3j Jeder Mensch ist zeitgebimden, mtd. alles 

Geschäft unter dem Himmel hat seine Stunde. 

Zur bestimmten Stunde wirst du geboren, 
zur bestimmten Stunde wirst du sterben. Was 
zu bestimmter Zeit du gepflanzt, wird zur 
bestimmten Zeit man wieder aus dem Boden 
reißen. Zu fester Stunde mußt du Wunden 
schlagen, um sie zu andrer Frist wieder zu 
heilen. Jetzt einreißen, dann bauen, jetzt wei- 
nen, dann lachen, jetzt klagen, dann tanzen. 
5 Manchmal muß man Steine fortwerfen, manch- 
mal muß man sie wieder sammeln. Manchmal 
darf man küssen, und manchmal muß man sich 
davon fernhalten. Heute suchen, morgen weg- 
werfen, heute hüten, morgen preisgeben; jetzt 
zerreißen, dann wieder zusammennäh^i, erst 
schweigen, dann reden. Es gibt eine Zeit zu 
lieben und gibt eine Zeit zu hassen, eine zum 
Krieg, eine zum Frieden. 

9 Was hat man also faleibend von dem, was 

man mit soviel Mühe vollbringt? Es ist 
schließlich weiter nicihts als ein Trieb, den 
Gott dem Menschen gegeben, sich damit ab- 
zuquälen. Alles hat Er zwar für die rechte 



21 



Zeit schön gemacht, hat auch die große Sicht 
auf Welt und Ewigkeit ims eingepflanzt. Und 
doch wird nimmer der Mensch des großen 
Gotteswerkes von Anfang ibis Ende Herr, 

12 So erkannte ich, daß bei allem nichts Gu- 

tes ist als nur, sich zu freuen und sich in sei- 
nem Leben eine gute Stunde zu bereiten. Aller- 
dings ist für jedermann essen, trinken tmd 
Freude haben können auch nur ein Geschenk, 
dcis von Gott abhängt. Denn wie Er's da oben 
macht, das ist nun ein für alle Mal, so wie es 
ist. Man kann nichts dazutun, nichts davonneh- 
men, kann nur sich in Ehrfurcht davor beu- 
gen, wie Er's bestimmt hat. An dem, was ver- 
gangen, ist doch gewiß nichts zu ändern, aber 
selbst was sein wird, ist schon festgelegt. Gott 
weiß schon, es durchzuführen. 

Dieser dritte Abschnitt behandelt das Ge- 
setz von der Relativität aller Dinge. 
Er will den ewig Trägen und Unwandelbaren 
eine kleine Lehre geben, denen, die immer am 
Gleichen kleben und nicht sehen wollen, daß 
die Welt sich unter ihnen geändert hat, denen, 
die meinen, was einmal gültig war, werde immer 
in Geltung bleiben; die, weil sie einmal das Rechte 
der Stunde getroffen haben, ntm vermeinen, das 
müßte in allen Stunden recht sein. Aber die 
Welt hat verschiedene Zeitsttmden, Und wenn 
die Uhr vorgerückt ist, gilt ein andres Rezept 
als gestern. Diesen Menschen der Beharrung 



22 



führt der Weise mit einer gemssen Ironie eine 
Tabelle vor Augen, die scheinbar Trivialitäten 
sagt wie die, daß man bei der Geburt nicht ge- 
storben ist und beim Sterben nicht geboren 
wird. Wenn aber der Mensch tmd sein Ttm 
in allem von der Zeit abhängt, dann gehörte ein 
weltumfassender Verstand dazu, immer zur rich- 
tigen Zeit das Richtige zu tun, tmd da dieser ims 
Menschenkindern fehlt, so tappen wir meist im 
Dunklen, und es ist nur ein Glückszu£all, daß 
wir auf die richtige Karte gesetzt haben. 

Hast Du aber solchen Glückstreffer gezogen, 
d^m nimm die Freude darüber dankbar als eine 
Gabe Gottes wahr. 



* * 
* 



IV. 

DIE WELT SCHAU. 

(Kap, 3, 16—6, 12.) 

3,J6 Schau ich mich mm um hier unter der 

Sonne, was habe ich da noch gesehen! Wo 
Recht gesprochen werden sollte, da herrscht's 
Verbrechen, wo Menschlichkeit herrschen 
sollte, da herrscht's Verbrechen, Und weiß ich 
tausendmal im Herzen, daß Gott einst sie alle 
richten wird, den Bösen wie den Guten, daß 
es für alles Wollen und Ttm dort drüben 
noch einmal eine Stunde gibt; aber hier auf 



23 



Erden da muß ich mir über die Menschen be- 
kennen, die Gott von allen Wesen auserlesen 
hat, daß sie in ihrer Eigenherrlichkeit wie die 
Tiere aussehen. Alles 2^all, beim Menschen 
wie beim Tiere! Ein Zufall für sie alle; wie 
die sterben, sterben ■Jene, Ein Lebensodem bei 
ihnen allen; ein Vorzug des Menschen vor dem 

20 Tier ist nicht da, denn alles ist eitel. Alles 
igeht zu einem Ort, war von Staub, wird 
wieder zu Staub, Wer kennt den Unterschied 
zwischen den Lebensgeistern der Menschen, 
die einst nach oben steigen, und denen der 
Tiere, die mit ihnen in die Gruft der Erde 
versinken? Ach, es ist doch das einzig Gute, 
sich seines Tuns zu freuen, denn sonst hat der 
Mensch nichts. Wer kann ihn das sehen lassen, 
was einmal in allem Jenseits «ein wird? 

4j Seh ich mich aber gar um und erblicke all 

das Unrecht, das unter der Sonne geschieht, 
wie die Unterdrückten weinen und keiner sie 
tröstet, dann lobe ich mir die Toten, die längst 
tot sind, gegenüber den Lebenden, die immer 
noch leben, und denke: besser als beide ist 
der Niegeborene, der all das böse Tun nicht 
mitansehen muß, das unter der Sonne ge- 
schieht, 
4 Da sehe ich ferner all das Mühen der Men- 

schen, all ihre Fähigkeiten, die sie bei ihrem 
Tun entfalten, was ist es? Neid und Miß- 



24 



gunst des einen gegen den atidem. Nichts 
sonst. Alles ist eitel tind ein Jagen nach 
Wind, Dort ist ein fauler Narr, der die 
Hände verschränkt und sein eigen Fleisch auf- 
frißt; dort wieder ein Uebereifriger, der nie 
genug haben kann, nicht weiß, daß besser eine 
Handvoll mit Freude, als beide Hände voll mit 
Mühen und Jagen nach Wind, 

Und wieder so eine Torheit unter der 
Sonne, Der ewig Einsame, der alleinsteht, 
ohne Genossen, hat nicht Sohn, noch Bruder 
und müht sich tot und kann sich nicht reich 
genug sehen. Aber für wen mühst du dich und 
entziehst deiner Seele jedes Glück? Das ist 
doch Unsinn und böser Drang, 

Da sind doch besser zwei zusammen daran 
als so ein Einsamer. Die haben doch wenig- 
stens von ihrer Mühe einen guten Lohn, So- 
gar wenn sie beide fallen, kann einer den 
andern aufrichten, während der Einsame, wenn 
er stürzt, niemanden hat, der ihn aufrichtet. 
Ja, wenn sogar die zwei am Boden liegen 
bleiben, so ist's ihnen doch warm ums Herz, 
Der Einsame aber, wie sollte ihm warm wer- 
den? Und wenn einer gegen die zwei Gewalt 
anwenden wollte, die zwei vereint können 
schon dem Gegner standhalten. Und wenn's 
gar drei sind, ein dreifacher Faden wird nicht 
so schnell reißen. 



25 



13 [Hat es einer einmal zu etwas gebracht], ist 

wie ein König, dann wird er alt und dumm 
und versteht sich nicht mehr zurechtzufinden, 
weiß nicht, daß auch er aus Ketten zur Größe 
gelangt ist, daß auch er bei all seiner könig- 
lichen Macht als Armer geboren ist. Und da 
kommt denn ein junger, armer, aber kluger 
Kerl und stellt sich an seine Stelle, und alles 
läuft ihm nach. Er, der jtmge, ist gut daran, 
hat den Erfolg, Wie sie vorher dem Alten 
gebuhlt, so machen sie es jetzt mit dem Jtm- 
gen. Ach, aber einige Zeit später, dann werden 
sie auch an ihm keine Freude mehr haben. 
Denn auch der Erfolg ist eitel und Jagen nach 
Wind, 

17 [Und weiter. Das Frömmeln, der Leichtsinn 

■in den göttlichen Dingen!] Du, solltest dich doch 
hüten, mit grobem Fuß ins Gotteshaus zu ge- 
hen. Weißt du nicht, daß es besser ist, zu ge- 
horchen als wie Narren Opfer zu bringen? 
Aber sie wissen gar nicht, wie schlecht sie 

5,/ handeln. Nicht den Mimd so voreilig voll neh- 
men, eins, zwei, drei, unüberlegten Sinnes vor 
Gott Versprechungen machen. Denn Gott ist im 
Himmel tmd du auf der Erde, und deshalb sei 
sparsam mit deinen Worten. Wie die Phan- 
tasten träumen, so jene Narren mit ihren al- 
bernen Gebeten und Versprechungen. Wenn 
du Gott etwas gelobst, dann solltest du es 



26 



■doch erfüllen. Meinst du, Er hat an den Nar- 
ren Freude? Was du gelobt hast, zahle, sonst 
gelobe doch lieber nicht, als daß du gelobst 
und nicht bezahlst. Laß dich doch nicht von 
deinem Plappermund stets neu in Sünde ver- 
stricken; iwas willst du nachher vor Seinen; 
fordernden Boten zitternd sagen: es war nur 
aus Versehen gesagt. Wariun soll Gott über 
dein Wortgeklingel zürnen und dafür deiner 
Hände Werk strafen? Laß doch die Trätime- 
reien, den Unsimi imd die \äelen Worte xmd 
fürchte lieber Gott! 

[Und wie sieht es in der Gesellschaft aus!] 
Du wirst Unterdrückung des Armen, Raub an 
Recht und an Menschlichkeit gewahren. Man 
braucht zwar nicht viel darüber zu staunen 
imd zu reden. Es gibt noch höhere Instanzen. 
Ueber dem Hohen ist noch ein Höherer tmd 
über diesem noch Allerhöchste. Und dann, 
auch ein König hat seine Grenzen, auch er 
braucht das Stück Brot; die Erde hat über 
Alle Gewalt, und der König ist an den schlich- 
ten Bauersmann gewiesen, 

[Umd die Geldgierigen!] Wer das Geld liebt, 
wird nie satt des Geldes, Wer nur die Fülle 
liebt, er kommt nie zur Ernte. Was soll ihm 
alles! Je mehr Güter er häuft, desto mehr Mit- 
esser stellen sich ein. Was hat der Besitzer 
mehr davon als den trügerischen Anblick! Ein 



27 



einfacher Arbeiter k^inn süß schlafen, ab er 
viel oder wenig ißt; aber er, der Reiche, sein 
voller Bauch läßt ihn nicht schlafen, 

]2 Und noch schlimmer geht's manchmsJ mit 

dem 'Geld hier unter der Sonne. Schon manch- 
mal ist der Reichtum den Besitzern wie eine 
böse Krankheit zum Unglück geworden; ver- 
loren geht der Reichtum auf schlimme Weise, 
und dann steht er nüt seinen Kindern da tmd 
hat nichts in der Hand, Nackt, wie er aus dem 
Mutterleibe gekommen, kehrt er wieder zu- 
rück, und von all seinen Mühen nimmt er 
nichts mit, Ist es nicht überhaupt wie eine 
böse Krankheit, daß, wie man gekommen, man 
gehen muß? Daß man gar nichts hat von all 
der Mühe, daß man sein Leben lang sein Brot 
verdüstert gegessen, in ewiger Aufregunig und 
Leid und Zorn! Dann sag ich mir doch: da 
ist's doch gut imd schön: man ißt und trinkt 
und sucht ein bißchen Glück von all der Mühe 
unter der Sonne in den gezählten Tagen, die 
einem Gott gibt. Das ist idoch das Einzige, 
was uns bleibt. Ja, für jedermann, dem Gott 
Reichtum und Güter gegeben und die Macht 
dazu, sie zu genießen, für sich dadurch etwas 
Glück davonzutragen und sich zu freuen an 
seiner Mühe, äst das eine besondre Gabe Got- 
tes, die man schnell engreifen muß. Denn lange 
geht's sicher nicht, wenn man an die wenigen 



28 



Tage denkt, die man zu leben (hat; so freue 
■dich, daß eine höhere Macht deiner Herzens- 
freude zustimmt, 
6,1 Es ist ein Böses hier unter der Sonne und 

trifft die Menschen gar häufig, daß einem 
Gott Reichtum und Güter unid Ehren gibt, man 
sich nichts versagen muß, was man begehrt, 
und doch läßt eine höhere Macht einen nichts 
davon genießen. Ein fremder Mann ißt's auf. 
Das ist ein Widersinn xmd eine böse Krank- 
heit, Und hätte einer hundert Kinder und 
lebte viele Jahre und hätte der Tage reich- 
lich, aber zuletzt kann er seine Seele doch 
nicht satt machen mit all dem Gut, stirbt 
arm, hat nicht einmal ein rechtes Begräbnis, 
ich sag', da wär's besser; nicht geboren. Mit 
nichts zu kommen und in Finsternis zu gehen 
und seinen Ruhm mit Finsternis bedeckt zu 
5 sehen, da ist's noch immer besser: die Sonne 
nie gesehen uad gekannt zu haben. Und hätte 
jemand tausend mal tausend Jahre gelebt, und 
am Schluß hat er doch das Glück nicht ge- 
sehen, was soll's? Dann geht's ja doch zu 
jenem Ort da draußen, wo alles hingehen muß. 
Und schließlich geht's uns allen so. Alle 
mühen wir uns für unseren iMund, und doch 
wird nie der Lebcnsdrang gesättigt. Ganz 
gleich, ob ich weise oder dumm, ob ich 
Aermster noch so geschickt durchs Leben zu 



29 



steuern wußte. IDie Augen spiegeln uns immer 
Schöneres vor, als nachher wirklich der Seele 
zukommt; ach, es ist Täuschung, Jagen nach 
18 Wind, Alles ist vorausbestimmt, iMensch bleibt 
Mensch, man kann nicht rechten mit den hö- 
heren Gewalten, Und tausend Dinge ver- 
schlimmern noch des Lebens Widersinn, zumal 
uns armen Menschen. Wer weiß, was dem 
Menschen im Leben gut tut in seines elenden 
Lebens gezählten Tagen, die er wie ein Schat- 
ten verbringt? Und was nachher unter der 
Sonne sein wird, wer kanns ihm sagen? 

Ntm folgt im vierten Abschnitt die große 
W e 1 1 « n s c b a u, Lose aneinandergereiht, wer- 
den vereinzelte, aber typische Erfahrungen des 
Lebens vor uns gestellt, wie wenn uns der Weise 
plötzlich über die Erde emporhübe xmd aus der 
Vogelsperspektive Umschau halten ließe über 
alles das, was sich dort unten abspielt. Da sehen 
wir die Einrichtungen, die moralischer Kultur 
dienen sollten, in ihr Gegenteil verkehrt, und 
das viele Leid, das über die Menschen kommt, 
weil an den Stätten des Gerichts das Unrecht 
herrscht. Wir schauen in das geschäftige Treiben 
der Menschen tmd sehen, wie bei den meisten 
nur Neid imd Eifersucht die Triebfeder ihres 
Handelns ist; wir sehen die große Torheit der 
Hagestolzen und Egoisten, die immer nur für 
das liebe Ich sorgen; wir sehen die Laune der 
Menge, die wetterwendisch bald diesem, bald 
jenem zujubelt; wir sehen den Leichtsinn selbst 



30 



in religiösen Dingen, in Gebet und Gelübde; 
wir sehen den vielen Mißbrauch der Gewalt und 
Macht und erfahren besonders eindringlich die 
Nutzlosigkeit, ja Verderblioh'keit von Besitz imd 
Reichtum, Der Weise registriert nicht nur diese 
Erfahrungen, er bringt auch oft seine bessere 
Einsicht für das Verhalten des Lebens zum Aus- 
druck. Dadurch ist der Gedankengang nicht ge- 
radlinig, es fällt bei aller negativen Erfahrung 
auch manches Sprüchlein der Weisheit ab. Aber 
es bleibt doch die Grundeinsioht: nur selten hat 
die äußere Kidtur den Menschen zufrieden ge- 
macht; nur selten kann die Bilanz eines Men- 
schendaseins lauten: es war glücklich gewesen. 
Vor allem darf man keinen vor dem Tode glück- 
lich preisen. Es ist das Schlimmste des Sohlim- 
men, wenn auf ein Leben des Glückes und der 
Zufriedenheit am Schlüsse ein Ende des Schrek- 
kens folgt. Da wäre es besser nicht geboren. 

Auch diese Weltsohau alber ist voll der 
Warnung tmd der Mahnung. Aus allen Verirrun- 
gen und Mißerfolgen müssen wir lernen, vor fal- 
scher Einschätztmg der Verhältnisse auf der Hut 
zu sein, vor allem nicht das Leben unnötig zu 
belasten mit Entbehrlichem und Wertlosem, 
woran wir alkuleicht zu Fall kommen, „Denn 
es gibt viele Dinge, die marbim hewel sind, die 
die Eitelkeit des Daseins nur noch steigern." 
Wie der Wind desto stärker treibt, Je größer die 
Angriffsfläche des Segels ist, so wächst die Ge- 
fahr eines verfehlten Lebens mit dem Mehr an 
Entbehrlichem, das wir vom Leben fordern. Das 
ist der große Betrug des Materiellen, das uns 
Freuden vorgaukelt, das uns in der Begierde nach 



31 



Genuß und im Genuß nach Begierde verschmach- 
ten läßt, das ist es, was allzuoft das .Menschen- 
leben in Sinnlosigkeit enden läßt. 

Wie schon beim Abschnitt IL u. III, wird aber 
im Hiniblick auf Eitelkeit und Fraglidhkeit aller 
Menschendinge jedem gesagt; sei darum froh 
und dankbar mit jeder glücklichen Stunde, die 
dir zuteil wird. Wenn das Leben so rätselhaft 
ist, so verlange nicht zuviel, und wenn dich in 
diesem Augenblick Glück und Freude treffen, 
so danke Gott und sei zufrieden. Durch diese 
Folgerung allein rückt Koheleth ab von all den 
Philosophen des Trübsinns und der Verneinung, 
Und wenn seine Worte auch manchmal den 
ihren ähnlich klingen, wenn zwei dasselbe sagen, 
ist es nicht dasselbe. 



32 



ANMERKUNGEN. 

Beachte im 1, 5 — 7 enst den Kredslaiif der Sonne, 
dann den des Windes, dann den des Wassers, denn 
nur durch die Sonnenstrahlung wird der Wind und 
werden alle Niederschläge bewirkt. Fein ist auch in 
Vers 6 das nachgestellte Subjekt horuach, wodurch 
das Subjekt des vorhergehenden Satzes noch nach- 
wirkt und auch auf die Wanderung der Sonne in der 
Ekliptik angespielt wird, andererseits angedeutet ist, 
daß der Wind erst durch die Luft Strömung spür- 
bar ist. 

1, 17. Erst wer voll/gehaltig an Wissen und 
Kenntnis, der darf darangehen, das Wesen der Weis- 
heit zu ergründen. 

1, 13. Das laanaius in feiner Doppeldeutigkeit: 
dadurch unglücklich zu sein (wie Ps. 116, 10, ani 
onissi) und: sich damit aibzugeben, darauf eine Ant- 
wort zu suchen. 

2, 12, Konstruktion des Verses schwer; seine Deu- 
tung ergibt sich jedoch aus Vers 18 eindeutig durch 
die Worte: loodom schejih'je acharoj, auf den Nach- 
folger, der hier alsi Nachfolger eines Königs beson- 
ders unter die Lupe genommen werden muß. Diese 
Frage nach dem Nachfolger kann wohl als töricht 
bezeichnet werden, wie der Takomd dem Chiskija 
sagen läßt; was gehen dich die Geheimnisse Gottes 
an! Dieser Thronerbe kommt zu seiner Stellung nicht 
aus eigner Kraft, sondern es ascher kwor oßuhu, mit 
allem ausgestattet, wozu die Früheren ihn schon ge- 
macht haben. Der Vers wäre also zu übersetzen: nun 
wandte ich mich dazu, mir vor Augen zu stellen in 
Weisheit, aiber in vollkommener Torheit zugleich: 
wais ist das für ein Mensch, der dem König nachfolgt 
mit allem, wozu man ihn gemacht hat? 

2, 13. Die Stelle ist typisch für den Zickzack der 
Gedanken, Obwohl vorher die Weisheit abgewertet 
war, heißt es, daß doch die Weisheit nicht zu ver- 
achten ist, aiber dennoch gleich wieder, daß das 
Schicksal den Narren gleich behandelt mit den 
Weisen, im Guten wie im Bösen, ihm einen Thron 
schenkt und ihn nachher begräbt. 



33 



2, 26, Das laohaute miuß u. E. nicht durchaus 
dem Sünder heißen, somdem heißt dem P«chvogel, 
dem Unglücklichen, Gerad« idie Zweddieutigkeit der 
Begriffe von tauw lefonow und chaute rechtfertigt 
die ganze Verzweiflung des Weisen. 

3, 14, elaukim jewakesch es nirdof = Er nimmt 
das Verjagte wieder auf. Nie 'geht das göttliche Ziel 
verloren, Er nimmt's wieder auf und bringt's zur 
Durchführung, 

3, 15, Der plötzliche Uebergang durch das weaud 
heißt: „und noch Schlimmeres omd noch Schreck- 
licheres habe ich gesehn". Nicht nur unzeitgemäß, zur 
unrechten Stunde sind des Menschen Schöpfungen, 
sondern sinnwidrig, es wird ihr Äel in ihr Gegenteil 
verkehrt, 

3, 17. Das l'worom elaukim entweder nach Ibn 
Esra zu deuten: Ich sagte mir betreff der Menschen- 
kinider, däe Gott ihat auserwählen, höherstellen wollen 
(zu ergänzen; ascher chof ez l'woromjji; oder nach 
Raschi: sie z\i belehren, zu prüfen, 

4, 5. Auch ein interessantes Beispiel für den Zick- 
zackweg der Gedaxiken. Alles Tun ist Neid. Soll man 
deshalb nichts tun? Nein, es ist ein Narr, der die 
Hände verschränkt, Soll man im Tun sich verzehren? 
Nein, besser eine Hand voll mit Freude . , . 

4, 13 — 16, Wir haben die Verse sehr frei über- 
setzt, um sie in das sonst bei der Weltschau geübte 
Schema einzufügen. Die Verse zeigen deutlich, wie 
die einzelnen Erfahrungen für sich allein niederge- 
schrieben und erst nachher wie Perlen an einer Kette 
aufgereiht sind, 

5, 8 etwas breit übersetzt. Bei melech l'ssode nee- 
wod ist ein isch zu ergänzen; melech l'isch ssode 
neewo<d (wie in Daniel 9, 23 ki chamudaus atto, statt 
isch chamudaus), 

5, 17, tauw ascher jofe. An diese Worte hat man 
ganz unmögliche Konsequenzen geknüpft. Es soll in 
ihnen eine Anspielung an die Kalagathia der Grie- 
chen liegen, und der Verfasser wird daher in die 



34 



hellenistische Epoche versetzt. In Wirklichkeit ist 
die Wendung nichts anderes als das hine ma tauw 
luna naim des Psalms 133. Die Fretide der Stunde 
ist ein Gut, sie ist gleichzeitig auch li«b und schön. 
Gerad« das aischer dazwischen z«igt, daß nicht eine 
feste Wendung als Vorbild ihr zu Grunde liegt, 

5, 19. maa'ne, wie ani ee'ne es haschomajlm 
(Hos. 2, 23) freiwillig anrufen, willfahren, ziu Willen 
sein. 

6, 4 — 5, Vers» 4 beziehen wir aiuf den Enttäusch- 
ten, Vers 5 auf den Ungeborenen. „Und hätte man 
die Sonne nie gesehen, man hätte mehr der Freude 
als Jener", 



35 



ZWEITER TEIL 

V. 

BESINNUNG. 

(Kap. 7.) 

[Laß -den holden Duft der Dinge, der alles 
7,1 Lebende trügerisch umikleidet,] Der Name, der 
bleibt, ist besser als duft'gcs Oel; der Todestag 
kann mehr dir sagen als der Tag der Geburt. 
Besser ist's, ins Traiierhaus zu gehen als zum 
Gelage, denn dort wird man an das Ende alles 
iMenschliohen erinnert, und der Lebende kommt 
zur Besinnung. Der Ernst ist besser als Lachen, 
denn bei ernstem Gesicht kommt man erst zu 
Verstand, Die Weisen denken ans Trauerhaus, 

5 die Narren an das der Freuden. Und besser 
ist's, das Schelten des Weisen zu hören als 
die süßen Melodien der Narren. Denn ihr La- 
chen ist nur wie Feuergeknister der Dornen 
unter einem Topfe, ist eitles Nichts. Ihr Ge- 
quengel kaim einen Weisen von Sinnen brin- 
gen und alle ihm verliehene Klugheit zunichte 
machen. Nein, lieber ans Ende der Dinge den- 
ken als an den Anfang; das lehrt Geduld, und 
der Geduldige sieht tiefer als der Hochfahrende. 

9 Darum sollst du aber in deinem Siime noch 

lange nicht griesgrämig werden. Weltschmerz 
ruht nur in der Narren Schöße, Sag nicht: wie 
kommt's, daß die Tage früher soviel besser 



36 



waren als heute? So fragt man nicht in Weis- 
heit. 

11 Freue dich aller Gaben, der Weisheit und 

deines Erbteiles an Gütern, die -du hast. Alles 
ist gut für uns Erdenwandler. (Manchmal hilft 
Weisiheit, manchmal das Geld, wenn die erstere 
auch höher steht, denn nur die Weisheit kann 
uns das Leben erhalten. Füg' dich in Gottes 
Walten, Wer kann gerade machen das, was Er 
dir krumm gemacht? Am Tag der Freude sei 
freudig, am Tag des Unglüöks füge dich! Beide 
hat sie Gott gemacht, diesen und jenen, so daß 
der Mensch hinter Sein Geheimnis nicht kom- 
men kann, 

15 Ich, der ich alles in meinen schlimmen Ta- 

gen beobachtet habe, sah es vorkommen, daß 
ein Frommer an seiner Frömmigkeit zugrunde 
ging, und daß ein Egoist sidh durch seine Selbst- 
sucht das Leben verlängerte. Wolle eben nicht 
zu fromm sein und klügle in. deinem Gewissen 
nicht zuviel. Warum willst du irre werden? 
Handle auch nicht zu selbstsüchtig imid sei 
nicht engstirnig ! Warum willst du vorzeitig dein 
Leben verscherzen? iSelbst^atäußenmg oder 
Selbstsucht? Ergreife das eine und laß vom 
anderen auch nicht ganz idie Hand. Wer Gott 
fürchtet, findet schon den richtigen Weg, Um 
so mehr, wenn man mit richtiger Weisheit 
alles überlegt, denn die Weisiheit gibt dem 



37 



Weisen mehr Kraft als den zehn Stärksten 
im Staat. Und kein Mensch ist so fromm auf 
Erden, daß er das Gute täte und nicht sündigte. 

^^ Dein Sinn sei nur nicht überempfindlich 

gegen all die Worte, die and'ere Leute reden; 
wenn du wirklich einmal deinen Diener auf 
dich losfliuohen hörst, im Herzen weißt du 
doch, wie oft auch du anderen geflucht. 

23 All >dies ihabe ich in Weisheit erprobt; und 

dennoch, so oft ich dachte, ich möchte des 
Welträtsels Herr werden, es blieb mir weit 
entrückt. Entrückt, was es immer sei, und tief, 
tief, wer kann es finden? 

25 Jetzt WcUidte ich mich in meinem Sinn, der 

stets forschend und weisheitsuchend sich Rech- 
nung legte, vor allem der Frage zu; woher 
stammt die Verirmng des ßösen, die Torheit, 
die Tollheit? Da finde ich immer wieder: bit- 
terer als der Tod ist das Weib- Ihr Herz ist 
voll Ränken und Tücken, sie legt dir Fesseln 
an die Hände. Wer vor Gott als gut bestehen 
will, der wird vor ihr davonlaufen, der Sünder 
kommt durch sie zu Fall, Denn sieh! Das habe 
ich gefunden, sagt Koheleth, einmal ums 
andere mal, als ich die Lebensreohniung 
machte: unter Tausend fand ich, soviel meine 
Seele immer wieder suchte, wohl einen Mann, 
aber ein Weib fand ich auch tmter sovielen 
nicht. Außerdem habe ich folgendes gefunden: 



38 



G Ott hatdenMenscihen gerade und 
richtig gemacht, Sie aber, die 
Menschen selbst, sie suchen sich 
der Künsteleien viele. 

Die große Besinnung, der der zweite Teil un- 
seres Buches gewidmet ist, beginnt mit Kapitel 7, 
Der Tod wird der Lehrmeister des 
Lebens. 

Hier liegt die große Zäsur des Buches, Hier 
schlägt die Stimmung völlig um. Galt es bisher, 
sowohl dem Jubilo des Lebens entgegenzutreten 
als all den Jammerseligen, die wegen ihres aus- 
gesuchten Pechs im Leben zu klagen nicht auf- 
hören, die in ihrer verhärmten iSeele eine Stunde 
des Glückes nicht auskosten wollen, die ihnen 
zuteil wird; galt es kurz Leistung und Leiden 
des Lebens beide als nicht so wichtig und be- 
deutend in die richtigen Grenzen zu weisen, so 
soll der zweite Teil gerade den großenWert 
des Lebens, jeder Stunde und ijedes Augen- 
blickes für das Wirken des Menschen heraus- 
stellen. 

Diesen Umschwung bewirkt derGedanke 
des Todes, Auch in neueren philosophischen 
Betrachtungen ist wieder der Tod in das Zen- 
trum aller Lebensbesinnung gerückt. Das Sein des 
Menschen, sagt Heidegger, ist ein Sein zum Tode, 
Die Lebensangst, die Sorge sei daher die eigent- 
liche existenzielle Weise des iMenschseins. 
Franz Rosenzweig wiederum begründet 
mit dem Tod die Notwendigkeit emer Offen- 
barung. Weil der Tod als das letzte Wort 
der Schöpfung inioht das letzte Wort für den 



Menschen überhaupt sein kann, darum müsse 
die Natur über sich selbst hinausweisen auf 
etwas, was den Tod überwindet, auf die in der 
Offenbanmg sich zeigende Liebe Gottes, die stär- 
ker ist als der Tod. 

Auch Koheleth macht den Tod als solchen 
zum eigentlichen Ausgangsptmkt für die Bedeu- 
tung des Lebens. Gerade weil allem Menschen- 
wirken mit dem Tode die imabweisbare Grenze 
gesetzt ist, weil seinem Wollen und Vollbringen 
nur beschränkte Zeit zur Verfügung steht, ge- 
rade darum darf das Leben nicht spielerisch 
vertan werden, wird jeder Stunde unendlicher 
Wert zuteil. Die Gewißheit des Todes stößt ge- 
wissermaßen den Menschen ins Leben zurück. 
Ob der Gewißheit des Todes darf die Stunde 
auch nicht vertrauert werden, denn nur die 
Freude ist der Flügel zum Wirken und Tun, 

Die Urmenschheit bis zur Sintflut war durch 
die lange Lebensdauer, die ihr gewährt war, ver- 
dorben worden. Der Termin des Todes war so- 
weit hinausgerückt, daß der Gedanke vom Wert 
des Lebens, von der Kostbarkeit einer Stunde 
ihr nicht kam. So mußte sie verfallen. Der neue 
Bund, den Gott mit der Menschheit schloß, der 
ihr zusicherte, daß eine allgemeine Vernich- 
tungskatastrophe nicht wieder eintreten solle, 
hatte zur Voraussetzung, daß das Menschenleben 
verkürzt wird. „Nicht soll Mein Geist im Men- 
schen allzulange walten, da. er doch ein fleisch- 
lich Wesen ist, so sollen seine Tage nur 120 
Jaihre währen," Je kürzer die Spanne des Le- 
bens, um so gewisser, daß der Tod den Men- 
schen zur Besinnung bringt. 



40 



Allerdings ist auch die Lebensdauer kein me- 
chanisches Rechenexempel. Vom Mensohenstand- 
punkt aus gesehen, hat nur allzuoft Gott die Lose 
der Lebensdauer fedsch verteilt. An der Länge 
des Lebens gemessen, müßte mancher Verbrecher 
sich als ider besondere Liebling Gottes fühlen 
können. Ueber das letzte Geheimnis der Ver- 
teilung der Lebenslose muß Koheleth bekennen, 
daß es ewig dem Menschen vorenthalten bleibe. 

Aber daraus darf keine Resignation folgen. 
Dein Leben allein und der Gedanke an d e i - 
n e n Tod müssen dich bestimmen, mit jeder dir 
verliehenen Kraft dein Lebenswerk anzupacken; 
bald mit inneren Fähigkeiten, bald mit Geld und 
Gut. Dabei fällt das köstliche Wort: ihü t e dich 
vor allen Verstiegenheiten. Auch 
religiöse Ideale führen in ihrer Uebertreibiung 
zum Wahnsinn; auch ein gesunder Egoismus ist 
Lebensnotwendigkeit, 

Nur zwei Warnungen werden dem an seine 
Lebensarbeit Herantretenden gesagt: erstens sei 
nicht so empfindlich gegen das Urteil der Welt. 
Auch der von dir Abhängige wird oft dir fluchen. 
Und zweitens: hüte dich vor dem Weibe! All- 
zuoft hat es in großer Menschen Leben eine ge- 
fährliche iRoUe gespielt und ihre Lebenslinie ab- 
gebogen, daß sie in den Abgrund führte. Man 
hat aus diesem Letzten einen Stoßseufzer S a - 
1 o m o s herausgehört, dessen große Weisheit 
und ruhmvolle Regierung am Weibe Schiffbruch 
erlitten haben, 

Gerade an dieser Stelle folgt daim ein Wort, 
das den Inbegriff aller Weisheit darstellt: 
„schlicht und grade hat Gott den Menschen ge- 



41 



macht, sie aber in ihrer Aufgeblasenheit 
(w'hemo) suchen der Berechnungen imd Künste- 
leien viele," 

Hat nicht Gott das Weib geschaffen, ihr den 
Zauber des Wesens, Reiz und Schönheit gegeben, 
den Mann zu beglücken? Und statt diese ihre 
Fähigkeiten zur Beseligung des Mannes zu be- 
nutzen, wird sie oft sein Verderben. 

So ist's mit allem. Die zivilisatorische Verfei- 
nerung und Hypertrophie, die lauter unnütze Be- 
dürfnisse erzeugt, den Menschen immer an- 
spruchsvoller macht, hat ihn seiner schlichten 
Natürlichkeit, Einfachheit und Unkompliziert- 
heit verlustig gehen lassen. In seiner geistigen 
Ueberlegenheit, die ihm zum Segen werden, kul- 
turschöpfcrisch ihn beglücken sollte, ist er im 
Getriebe der Maschinen und im Steinmeer der 
Paläste zum Sklaven der Umwelt geworden. 
Sehnsuchtsvoll schreit es in ihm nach Rückkehr 
zur Natur, 

So steht der arme Kulturmensch vor all den 
unzählbaren Hindernissen und Hemmungen einer 
graden Lebensbahn, die er sich selbst aufgetürmt 
hat. Die ,, gesellschaftlichen Ansprüche" erdrük- 
ken ihn. Wie glücklich könnte er sein, wenn er 
so schlicht und grade wandelte, wie Gott ihn ge- 
schaffen! 

* * 
* 

VI, 
DES LEBENS WIDERSPRÜCHE, 

(Kap. 8—9, 3.) 
gj Wer ist wohl weise genug, daß alle Wider- 

sprüche er zum Ausgleich bringen könnte? 



42 



Solche Weisheit würde ihm das Angesicht 
strahlen lassen; vor allen Andern wäre er 
durch seine Gedankenmacht ausgezeichnet. 
Ich kann dir nur sagen: erfülle treu des Wel- 
tenkönigs Gebot, dem wir in heiligem Eid Ge- 
horsam geschworen. Nur nicht voreilig sich 
Ihm entziehen wollen, nicht in etwas Schlech- 
tem Ihm gegenüber verharren, der tun kann, 
was Er will, dessen Königswort allgewaltig 
ist, dem keiner sagen kann; was tust du! Wer 
aber seine Pflicht getan, der braucht um keine 
böse Folge sich zu sorgen, und ein weises Herz 
muß wissen: für alles schlägt die Stunde des 
Gerichts, Denn noch immer kam die Stunde 
des Gerichts, wenn des Menschen Schlech- 
tigkeit zu groß war. 

[Die Menschen denken zwar nie daran.] Man 
weiß aber nicht, was sein wird, wer könnte es 
uns sagen? Aber wie noch nie ein Mensch den 
Wind hat einfangen können, um ihn zu lenken, 
so kann der Mensch auch an des Todes Tage 
nicht mehr den Herrn spielen, kann, wenn ihm 
Gott den Krieg erklärt, Ihm nicht entrinnen, 
und alle Tücken können ihn nicht retten. 

Das alles habe ich über das Geschehen 
hier unter der Sonne erfahren und beherzigt, 
in einer Zeit, da gewalttätig ein Mensch über 
den andren zu seinem Unglück herrschte. Da- 
mals sah ich Verbrecher, zum Verscharren reif. 



43 



an heiliger Stätte einherwandeln, während die 
Braven in der Stadt dauernd vergessen blieben. 
Welch Widersinn! 

11 [Und <doch lasse diclh nioht täuschen!] 

Weil idas böse Ttm nicht so schnell seinen 
Richtspruch findet, darum ist das Herz der 
Menschen selbstsicher und davon erfüllt, das 
Böse zu tun. Gewiß, mancher Sünder hat 
hundert Jahre lang das Böse geübt und Gott 
ihm geduldig zugesehen. Trotzdem weiß ich, 
daß das letzte Glück nur den Gottesfürchti- 
gen, die in Fxu"cht vor Ihm wandeln, zuteil 
wird, (Dem Schlechten bleibt das Glück ver- 
sagt, und nur wie ein Schatten lebt er lange 
dahin, weil er keine Furcht vor Gott kennt. 
Doch ist's auf lEndcn schlimm, daß manche 
Fromme ein iSdhicksail 'haben wie Verbrecher 
und daß es Böse gibt, denen es ergeht, als ob 
sie 'Wer weiß wie fromm sind, loh muß be- 
kennen, das ist schrecklich. 

15 Aber dennoch lobe ich mir die Freude. 

Denn hier unter der Soime gibt's nichts Bes- 
seres als essen, trinken und froh sein. Es ist 
gewissermaßen für all sein Mühsal ein Vor- 
schuß, den ihm Gott unter der Sonne in sei- 
nem Leben gibt. Denn wollte ich in erkennender 
Sicht dies täuschende Durcheinander auf Er- 
den durchschauen wie so mancher, dessen 
Auge bei Tag und Nacht keinen Schlaf findet 



44 



über all diesen Widersprüchen, dann mußte 
ich einsehen: es ist ja Gottes Werk, da kann 
kein iMensch ihindtirchfinden durch all das Ge- 
schehen unter der Sonne, Und soviel der 
Mensch sich auch müht, es zu finden, es ge- 
lingt ihm nicht, und wollte der Weise sich an- 
maßen, es zu erkennen, er kann's nicht er- 
reichen. 

i>l So mußte ich es beherzigen und mir klar 

machen, daß die Frommen und die Weisen, 
und wer ihnen dient, in einer höheren Hand 
sind, daß ihnen manchmal mit Liebe, manch- 
mal mit Haß begegnet wird, kein Mensch ver- 
steht, was alles ihrer wartet. Aussehen tut's, 
als hätte alles ein Schicksal, als wenn der Zu- 
fall hinraffe den Frommen wie den Schlechten, 
den Guten und Reinen wie den Unreinen, den 
Opferfreudigen wie den, der niemals opfert; 
den Frommen wie den Sünder, den leichtsinnig 
Schwörenden wie den, der den Schwur fürch- 
tet. Ja, es ist etwas Schlimmes bei allem, was 
unter der Sonne geschieht, daß scheinbar alles 
Schicksal Zufall ist und so der Menschen 
Herzen voll Sünde imd Tollheit sind, solange 
sie leben, und denken: nachher ist man tot. 

Noch einmal kehrt der Weise zu den großen 
Widersprüchen des Lebens zurück. Es ist, als 
sehe er den iMenschen, der nun beschlossen hat, 



45 



den Tag und seine Aufgaben ernst zu nehmen, 
immer wieder zurückgeschreckt durch die ver- 
wirrende Irrationalität der Erlebnisse, Es gibt da 
eben keinen anderen Rat, als in Gottergebenheit 
und Gottesfurcht 'die Dinge hinziunehmen und mit 
dem Bewußtsein erfüllter Pflicht die Verantwor- 
tung Gott zu überlassen. 

Nur das Eine wird erklärend igesagt, daß die 
göttliche Geduld gegen den Sünder eine Prü- 
fung für den Guten ist, daß er geraide seine 
Gottergebeniheit auch mit dem Opfer d«s Ver- 
standes 'beweisen muß, der sich durch alle Un- 
gereimtheiten von der Bahn des gottgewollten 
Leibens nicht abschrecken läßt. Es liegt darin 
eine Hindeutung auf das alte Problem der 
Theodizee, der Gereöhtigkeit Gottes in 
der Erdenwal tung. Mache es dir doch kW, 
daß diese soheimbare Ungerechtigkeit Gottes eine 
Notwendigkeit zur Erhaltung der menschlichen 
Wahlfreiheit bilde. Wer würde noch zu 
eigner Entscheidung zwischen Gut und Böse den 
Mut haben, wenn der „Spruch über alles 
Schlechte schnell erfolgen" würde, oder wenn 
uns nicht der Dämon des Herzens einredete, daß 
„das Grab uns eine sichere Zuflucht vor dem Zu- 
griff Gottes gäbe?" 



VII, 
DU LEBST JA NOCH! 
(Kap, 9, 4—10, 20). 
g^4 Aber, solang man noch im Leben veran- 

kert ist, hat man noch Hoffnung, Einem leben- 



46 



den Hund gebührt der Vorrang vor einem toten 
Löwen. Die Lebendigen im sorgenden Wissen 
vom Tode können noch etwas Rechtes scshaffen, 
aber die Toten, sie ikönnen für nichts mehr sor- 
gen, können sioh kein Verdienst mehr erwerben, 
Ihr Andenken ist vergessen, auoh ihre Liebe, 
auch ihr Haß, auch ihr Eifer, alles ist vorbei; sie 
haben keinen Anteil mehr an allem, was unter 
der Sonne geschieht. Du aber lebst ja noch! 
Geh und iß i n F r e u d e d e i n B r o t und 
trinke in Froihsino deinen Wein, 
denn Gott hat noch an deinem Tun 
Gefallen, In jedem Augenblick seien 
deine Kleider rein, fehle das Oel auf dei- 
nem Haupte nicht. Richte dir das Leben ein 
mit einem Weibe, das du liebst, die wenigen 
flüchtigen Tage, die dir Gott unter der Sonne 
gegeben hat. Es ist dein einziger Anteil am 
Leben und an deiner Mühe, mit der du dich 
unter der Sonne mühst. Was du nur immer er- 
reichen kannst mit deiner Kraft, das tue. Denn 
es gibt kein Leisten und kein Klügeln und 
keine Weisheit mehr dort unten im Grabe, wo- 
hin du gehst, 
11 [Nur glaube nicht, daß auch alles dir gelin- 

gen müsse,] Immer wieder habe ich unter der 
Sonne gesehen; nicht gerade die Schnellen ka- 
men vorwärts und nicht gerade die Starken er- 
rangen den Sieg. Kluge hatten kein Brot, Be- 



47 



gabte keinen Reichtum und Wissende kein 
Glück, als ob Gelingen und Mißlingen bei allen 
nur ein Zufall wäre. Und niemand weiß, wann 
ihm die Stimde schlägt. Wie die Fische im 
bösen Netz gefangen werden und wie die Vö- 
gel auf der Leimrute kleben, ebenso werden 
auch die Menschlein gepackt in der Unglücks- 
stunde, die plötzlich über sie herfällt, 

1^ Oft sah ich auch, wie die Weisheit hier auf 

Erden, und wenn sie mir noch so groß erschien, 
nicht zur Anerkennimg kommt. Da ist z. B. 
eine kleine Stadt mit wenig Menschen, tmd 
gegen sie zieht ein großer König, umzingelt 
sie, baut wider sie große Bollwerke. Und 
drinnen findet sich ein armer Mann, aber ein 
Weiser, der rettet die Stadt durch seine Weis- 
heit, und doch kümmert sich kein Mensch um 
diesen Armen, Da war doch wirklich die Weis- 
heit besser als Körperkraft, Aber wenn einer 
arm ist, dann ist seine Weisheit nichts wert 
und seine Worte werden nicht gehört, Worte 
der Weisen klingen eben sanft imd leise; 
schreien tut nur, wer über Narren herrscht, 
Weisheit ist besser als Waffen des Krieges. 
Sie kann eine ganze Stadt retten, und ein Lump 

/O^/ kann alles Glück der Welt zerstören. Wie 
Schmeißfliegen das kostbarste Oel verderben, 
so ein bißchen Narrheit die herrlichste, ehr- 
würdigste Weisheit, Der Weise hat sein Herz 



auf dem rechten Fleck, der Narr wendet es 
immer verkehrt an. Bei allem, was er tut, 
fehlt ihm der Verstand, Aber von allen andern 
sagt er; sie sind närrisch, 

[Füg' dich aiuch ins Leben ^draußen, wie es 

^ immer gehen mag,] Wenn der Zorn des Herr- 
schers dich trifft, bleibe du dir treu in deinem 
Standpunkte, Geduld verhütet viel Unglück, 
Denn hier imter der Sonne da sieht's unglück- 
licherweise manchmal aus, als hätte sich der 
Allgewaltige geirrt. Die Narrheit thront hoch 
oben, und die Vornehmen sitzen ganz unten 
in der Niedertmg. Sklavengesindel stolziert zu 
Pferd, und Fürsten gehen wie Knechte auf der 
Erde, Und doch lehne dich nicht auf. Wer eine 
Grube gräbt, fällt selbst hinein. Wer den Zaun 
einreißt, den beißt die Schlange, Wer Steine 
wälzen will, kommt daran zu Schaden, und 
wer Bäume umhackt, ist von ihrem Falle selbst 

10 bedroht. Ist gar das Eisen zu stumpf, weil 
man es nicht genügend geschärft, so wird man 
vergebens die Kräfte anstrengen; bessere Vor- 
bereitung wäre Klugheit gewesen. Und wenn 
eine Schlange beißt trotz aller Beschwörungs- 
künste, was hast du großer Schlangenbeschwö- 
rer erreicht? Mit weisem Wort allerdings 
ist manches zu erlangen. Denn den Mund des 
Weisen umspielt die Huld, die Lippen des Nar- 
ren führen ihn ins Verderben, Mit Narrheit 



49 



fängt sein Mund an und verstrickt sich nach- 
her in böse Tollheit, Der Narr häuft Reden 
ohne Ende, er redet von der Zukunft, als 
wüßte er Bescheid, wer aber hat es ihm vor- 
ausgesagt, was später sein wird? So mühen 
die Narren sich ohne Erfolg, weil sie nicht 
Weg noch Steg im iStaat kennen, 

15 Zähme dich also, ohne Zucht gehst du zu- 

grunde. Wehe dir Land, wenn ein Knabe in dir 
herrscht, wenn deine Fürsten von früh an beim 
Mahle sitzen; heil einem Land, wo freie Män- 
ner herrschen, wo Fürsten zur rechten Zeit 
genießen, kraftvoll, nicht mit Leidenschaft, 
Sonst verfällt durch Faulheit der Balken, durch 
Nichtstun träuft das Dach, Zur Belustigung 
macht man Gastmähler, Wein muß das Leben 
fröhlich machen, Geld muß alles zur Stelle 
schaffen. Aber wenn du das auch weißt, 

20 schweig! Selbst in deinen Gedanken fluche 
einem König nicht und in deinem vertraulichen 
Schlaf gemach fluche keinem großen Herrn! Es 
gibt immer einen Vogel des Himmels, der die 
Stimme weiterträgt, und etwas Befiedertes, 
was dein Wort ausplaudern kann. 

Hier nimmt das Buch einen freudigen An- 
lauf, es klingt aus einem anderen Ton, Wenn der 
Tod ims als die Grenzsetzung unserer Arbeit 
täglich bevorsteht, damn ist ja die Tatsache, daß 
wir noch leben, selbst ein Beweis, daß unser 



50 



Wollen und Wirken Gott willkommen ist. Und da- 
rum können wir unsere Lebensarbeit mit Freude 
angreifen und sollen sehen, daß dem bescheide- 
nen stillen Familienglücke auch in unserer Hütte 
Einlaß gewährt wird. 

Wohl werden wir das Maß des Glüokes 
nicht im Verhältnis zu Verdienst und Tugend 
stehen sehen; werden erleben, daß oft die Retter 
der Gesamtheit, die mit ihrer Weisheit die 
Menschheit vor Untergang bewahren, verkannt 
werden oder unbeachtet bleiben. Aber das ist 
einmal untrennbar vom Wirken des Edlen; es 
vollzieht sich im Stillen, es tritt nicht prahlerisch 
auf die Gasse, selbst auf die Gefahr, dann immer 
im Verborgenen zu bleiben. Es trägt eben sei- 
nen Lahn in sich selbst. Solche B e s c fe ei d e n- 
heit und Zurück ihaltung ist echtes 
Kennzeichen des Weisen und Edlen. 

Darum endet dieser Abschnitt mit einer 
Warnung vor allem Gewalttäti- 
gen, UmstürzlerisChen, Revolutionären. Ern- 
stes Wirken und verantwortungsvolles Schaf- 
fen ist ein Aufbau, nicht ein Einreißen^ 
Und diejenigen, die mit Gewalt das Gute 
herbeiführen wollen, die nicht anders als 
mit einer großen Revolution die verkehrte Ord- 
nung der Welt gerade rücken zu können glau- 
ben, sie wissen nicht, wieviele tausend sittliche 
Gefahren mit jeder Verletzung der geltenden 
Ordnimg verbimden sind, wie die Schlangen un- 
beachtet nisten in den Lücken der Steinzäune, 
der Grenzmarken, idie bisher gegolten haben. 
Mit dies-er Zoirückihalttmig des Weisen verträgt 
sich auch alles Schreierische nicht, all das viele 



51 



Reden, mit dem der Narren Mund sich selbst 
benebelt. Nur durch stilles, ruhiges Wirken 
schaffst du dir das Glück des Weisen, 

Der Schluß des Abschnittes wirft noch einen 
Blick auf die Großen der Welt, auf jene Herren, 
die in Wirklichkeit nur Sklaven des Sinnenge- 
nusses sind, „Heil dir Land, wenn dein König 
ein freier Mann ist." Aber ein Herrscher im 
Kleinen ist jeder Mensohl in dem ihm selbst 
gewiesenen Bezirk. Jedem ist also ins Stamm- 
buch geschrieben; sei nicht kindisch nasch- 
haft in deinem eigenen Hause, genieße wie ein 
freier Mann, sei fleißig, und glaube nicht, daß 
dein Geld jede Verschwendung rechtfertige. Sei 
auch zurückhaltend in der Kritik, Du wirst dich 
sonst baß verwundern, wie deine geheimsten Ge- 
danken und Reden bald auf allen Straßen her- 
umgetragen werden, 



VIII, 

NUTZE GESCHÄFTIG DIE STUNDE! 

(Kap, 11, 1—8,) 
11,1 Wirf dein Brot aufs Wasser, Im Laufe der 

Tage wirst du es wiederfinden, Fang sieben- 
erlei und achterlei an. Du weißt ja nicht, was 
davon mißlingt auf der Erde. Und guck nicht 
zuviel aus! Sind die Wolken voll, deuin werden 
sie Regen auf die Erde ausgießen, und ob der 
Baum nach Süden oder nach Norden fällt, 
wohin er fällt, da liegt er. Wer immer nach 



52 



dem Wind ausschaut, kommt nicht zum Säen; 
wer immer nach den Wolken späht, kommt 
nicht zum Ernten, Wie du nicht weißt, welchen 
Weg der Wind geht, und nicht weißt, was sich 
im mütterlichen Schöße im Geheimen vollen- 
det, so kennst du auch das Werk Gottes nicht, 
der das All gestaltet. Am Morgen säe deine 
Saat, doch auüh am Abend laß deine Hand 
nicht feiern. Du weißt nicht, was gelingt, die- 
ses oder jenes, oder ob beides zugleich gut 
wird. 

Und süß ist das Licht; es ist so lieb für die 
Augen, die Sonne zu sehen. Und wenn ein 
Mensch auch viele Jahre lebt, er freue sich 
mit allen und denke daran: es kommen noch 
finstere Tage, deren wird es genug geben, wo 
alles, was kommt, leidvoll ist, 

* * 
* 

IX, 

FREUE DICH DER TAGE DER KRAFT! 

(Kap. 11, 9—12, 8.) 

Freue dich, Jüngling, deiner Jugendzeit, 
laß dein Herz froh sein in den Tagen deiner 
Freiheit, leb dich aus in allem, was dein Herz 
begehrt und was deine Augen sehen; doch 
wisse, daß für alles dieses Gott einmal von dir 
Rechenschaft fordert. Darum halte das 



53 



Gemeine fern aus deinem Herzen, das Böse 
nimm <w&g von deinem 'Leib! Auch Jugend und 
12,1 dunkles Lookenihaar vergehen. 

Darum denke deines Schöpfers 
in den Tagen deiner Jugend tm:d 
freien Wahl. Nachher kommen Tage, die 
sind häßlich, da kommen Jahre, wo du 
sagst: ich mag sie nicht. Dann verfin- 
stert sich die Sonne und ihr Licht, der 
Mond und die Sterne, Immer sieht es wolken- 
grau aus, wenn auch eben der Regen vorüber 
ist. Dann werden zittrig die Glieder, die dein 
Häuschen hüteten, es zittern all die starken 
Helden deines Leibes, Still steht die Mühle 
deiner Zähne, der wenigen, die du noch hast, 
und dunkel wird's da oben in der Augen Lu- 
ken, Es schließen sich des Leibes Pforten nach 
draußen, wenn das Klappern der Mühle still 
geworden. Es flieht der Schlaf beim leisen 
Vogelschrei, es verstummen all die freund- 
5 liehen Sänger der Kehle, Immer hat man Angst: 
das ist zu hoch, da kann man nicht hinaufge- 
langen; auf jedem Weg ist Schrecken, Wie 
ein Mandelbaüm wird man weiß, es schleppt 
sich die Hüfte, die einst wie die Heuschrecke 
springen konnte, die Willenskraft ist zerstört, 
und langsam geht der Mensch zu seiner ewigen 
Ruhestätte, wo die Totenkläger umgehen auf 
der Gasse, Da reißt der silberne Strick des 



54 



Rückenmarks, da zerbirst die Goldschale des 
Hirns, da zerbricht der Krug, der speisefüh- 
rende, am Magenxandj wie ein Rad, so rollt 
er in die Grube, Dann kehrt der Staub zur 
Erde zurück, der er entstammte, und der Geist 
kehrt zurück zu Gott, der ihn gegeben. Ja, so 
vergeht alles, alles, sagt iKoheleth, alles ist 
vergänglich , , , 

In diesen Abschnitten steigert sich das Buch 
zum Fortissimo, Mit Eindringlichkeit wird der 
Mensch hier aus der Lethargie und aus der 
Gleichgültigkeit herausgerissen und an seine Le- 
bensarbeit gemahnt. Wirke in der Weite und in 
der Nähe, am Abend und am Morgen, frage nicht 
lange, ergreife alles, damit etwas davon wenig- 
stens gelinge. 

Dann kommt der große Aufruf zur 
Freude, zur verantwortungsbewußten Freude, 
zum glücklichen Siohbewußtwerden, daß man 
die Hände und die Augen rühren kann, 
daß die Welt so schön und das Licht so süß ist, 
daß man jede Kraft nützen tmd fruchtbar ma- 
chen darf, wenn man sich nur vor Augen hält, 
daß man für die Verwendimg eines jeden Split- 
ters der eigenen Kraft einmal Rechnung legen 
soll lund muß. 

Noch einmal wiederholt der Weise diesen 
Appell zu freudvoller Ausnutzung der Jahre der 
Kraft im HinbUcik auch atif die Tage des Alters, 
des Vorboten baüdiigen Todes, Wie dieser den 
Menschen ins Leben getrieben, so soll uns auch 



55 



der Gedanke an das Schwinden der Kräfte die 
Zeit der vollen persönlichen Entfaltung au einer 
noch wertvolleren Lebensepoche machen, die 
reiche Jugend nicht zu vertändeln, die größte 
Möglichkeit iadividuellen Wirkens nicht unge- 
nützt verstreichen zu lassen. 

Erschütternd ist dann die Schilderung des 
Alters; für jedes Glied des Leibes findet der 
Weise einen neuen passenden Vergleich, Noch 
einmal wird damit der ganze Leib des Menschen 
in seiner Schönheit uns vorgeführt. Jedes Organ 
ist eine neue Gottesgalbe; jede ermöglicht volle- 
res Wirken und höhere Lebensfreude; um jedes 
einzelnen willen haben wir eine größere Ver- 
pflichtung gegen das Leben, 

Aber sie alle sind vergänglich, nichts bleibt. 
Leise hat der Begriff des hakaul hewel eine 
Wandlung erfahren. War es beim Beginn mehr 
der Sinn; alles ist unwichtig, unbedeutend, darf 
dich weder traurig noch übermütig machen, so 
ist es jetzt der Sinn; alles ist vergänglich, 
aiUes nur geliehen, alles nur zu vorübergehender 
Nutznießung dir anvertraut. Alles, weil vergäng- 
lich, muß dich zur schnellen Erfüllung deiner 
Lebensaufgabe führen, zur dankbaren Bejahung 
der Stunde, da du dich dieser Güter noch freuen 
kannst. 



56 



X. 

NACHWORT. 
(Kap. 12, 9— Ende.) 

J2,9 Koheleth war auch sonst wohl weise, wußte 

immer neu dem Volk Erkenntnis zu lehren. Mit 
feinem Ohr, mit tiefer Forschung hat er man- 
cherlei Sprüche verfaßt. 
JO Wie gern hätte Koheleth dir liebere Worte 

gesagt, aber wer redlich schreibt, der muß die 
bittere Wahrheit aussprechen. Der Weisen 
Worte tun oft weh wie die Stacheln und 
pflanzen sich wie Pflöcke in das Fleisch; aber 
sie sind haltekräftig, sie stammen von dem 
einen großen Menschheitshirten. Beachte sie 
wohl, mein Sohn. Aber außer diesen wozu tau- 
senderlei Bücher schaffen ohne Ende mit un- 
endlichem Studium und Aufwand der Kräfte? 
Es bleibt der Weisheit letzter Schluß, drin 
alles enthalten: fürchte Gott und übe 
S e i n e G '6 fo o t e , d a s i s t id e s M e n s c h- 
s e i n s g a n z e r S i n n. Denn alles Tnn, Gott 
bringt es ins Gericht, und sei es noch so ge- 
heim, das Gute wie das Böse. 

Wie entschuldigend für die bitteren Worte, 
die er gesprochen, fügt der Weise noch ein Nach- 
wort hinzu. War es nicht hart, daß er uns aus 
allen Illusionen gerissen, daß «r dem Sohluck 



57 



und Jau den Traum zerstört, Könige zu sein? Die 
Feder hat ihn fast wider Willen dazu geführt, 
so bittere Wahrheit zu sagen, wie eben der Wei- 
sen Wort nicht unseren Neigungen schmeichelt, 
sondern, wie der Stachel das störrische Tier auf 
den richtigen Weg führt, so uns von allen Irr- 
tümern und Irrgängen des Lebens befreit, 

AU die henbe Weisheit läßt wenigstens das 
Eine in vollendeter Leuohtkreift vor uns er- 
strahlen: ider Gedanke 'an Gott und an, idie Ver- 
antwortlichkeit des Lebens ist das Einzige, was 
dem vergänglichen Menschendasein seinen Sinn 
gibt. 



Ueb erblickt man den Gesamtinhalt des Bu- 
ches, so ergibt sich für die Disposition eine deut- 
lich erkennbare Zweiteilung des Ganzen; der 
Teil mehr negativen Inhaltes von Kapitel 
1 — 6, der positive von 7 bis Ende, 

Der erste Teil spricht mehr zu den Lebens- 
sicheren, die die Wandelbarkeit des Schick- 
sals noch nicht kennen gelernt haben, die im 
glücklichen Genuß einer freundlichen, sonnen- 
beschienenen Gegenwart sich und ihre Leistun- 
gen überschätzen. 

Der zweite Teil wendet sich vor allem an die 
Kleinmütigen und Verzweifelten, 
die sich in die bequeme Philosophie hineinreden 
wollen, daß der Mensch ja doch nur ein Staub- 
korn, ein vergängliches Nichts ist, tm.d deshalb 
mit Achselzucken jede Leistung ablehnen, die 
dem Augenblick Bedeutung geben könnte. 



58 



Beide Abschnitte aber erfüllt die gleiche 
Tendenz, das gleiche Ziel; wie führt der 
Pessimismus zur Lebensbejahung? 

Schopenhauer hat einmal den Optimismus 
eine ruchlose Weltanschauung genaimt, weil er 
sich über alles Leid imd alle Tränen der Welt, 
über alle Unvollkommenheit, Halbheit und Wi- 
dersprüche leichten Sinnes hinwegsetzt- Der Jude 
ist kein Optimist des Heute, er kennt alles 
edle und unedle Unglück; er ist nur Optimist des 
Morgen, der Messiaszeit, 

Jedem Augenblick des Jetzt ist alle Bitterkeit 
einer unvollkommenen Erdenwelt beigemischt. 
Dieses Weltleid soll man nie vergessen; es darf 
nicht mit Lachen voll sein der Mund in dieser 
Welt. 

Der Augenblick muß ver-ewigt, mit der Ewig- 
keit des Gottesreiohes in Verbimdimg gesetzt 
werden. Darum hat iMensohsein mir «inen Sinn, 
wenn der Augenblick durch den Gedanken an 
Gott und durch seine Erfüllung mit den Gottes- 
geboten eine Vorwegnahme des Morgen ist, ein 
tätiger Beitrag zur kommenden, zur messiani- 
schen Welt. 



59 



A N M E RK U N G E N. 

7, 14. Der Schluß 'des Verses schwer, weil unklar, 
worauf sich das acharow bezieht. EHe meisten Erklä- 
rer beziehen es auf das vorhergehende eladkim, weil 
nun einmal der Mensch Ihm in nichts nachspüren 

kann. 

8, 2. <anii pi melech schmaur! Nach dem aoi zu er- 
;gän'zen: siage dir, rate dir. oder wie uns scheint, das 
ani schmaur auseinandergezogen aus der Futuralform 
eschmaur. Ich, ich werde immer den Befehl des Königs 
befolgen. 

8, 10. Das kwurim entweder (wie Rasclu{)i: wert, 
verscharrt zu werden, so wie jumas hamesj der dem 
Tod Verfallene, oder aber wie das talmudische ki- 
bura = Knäuel = Häufung, dann im Sinne von; ich 
sah die Bösen z u h a u 1 Nach Ibn Esra soll der 
Stamm k w r auch Palast bedeuten, dann würde der 
feine Sinn herauskommen: in Paläste eingetan. 



60 



KOHELETH IM WECHSELNDEN URTEIL 
DER ZEITEN. 

Koheleth ist ein Buch sui generis, ganz be- 
sonderer Art, ein Einzelgänger inoenhalb der 
biblischen Literatur, Es bildet mit dem Spruch- 
buch Misohle ein Werk der Chochmah, der 
Weisheit; aber selbst von diesem hebt es sich 
in Sprache und Methode völlig ab. Es klingt beim 
ersten Eindruck wie aus einer anderen Welt; 
als stamme es nicht aus den heiligen Hallen 
gotterfüllter Weltbetraohtung; es läßt scheinbar 
einen kalten Windzug aius den Bereichen kühler, 
skeptischer, blasierter Vernünftelei in die Glau- 
bensglut der andren Bibelteile strömen. Darin 
liegt sein Reiz, sein eigenartiger Zauber, 

Wie es unter den religiösen Menschen ver- 
schiedene Typen gibt, Schwärmer imd Kritiker, 
Männer religiöser Begeisterung und solche ru- 
higen Verstandes; Lehrer selbstgewisser apodik- 
tischer Ueberzeugung und solche, die niemals 
mit den Problemen zu Ende kommen und in stil- 
ler Selbstbesoheidiung „wir wissen nicht" spre- 
chen, so sind auch die Einzelbücher der Bibel 
aus verschiedenartiger Glaubenshaltimg, von 
Gottesmännern höchst lindividueller Prägimg ge- 
sohrieben. Darum kann keines entbehrt werden, 
bilden erst die 24 Bücher der heiligen Schrift 
vereint die Bibel, die vollständige Offenbarung 
Gottes, 

Aber ein Buch so originaler Besonderheit wie 
Koheleth gab und gibt leichter Anlaß, ihm das 
Bürgerrecht in der biblischen Welt, sein« Behei- 
matung auf den heiligen Bergen Israels streitig 



61 



zu machen, mit einem gewissen Behagen festzu- 
stellen, daß Koheleths Auffassung gar nicht die 
jüdische sei, daß sie von fernher geholt und durch 
launische Zufälle sich im Kanon eingenistet haibe. 

Zunächst kann sich die Kritik nioht genug 
darin tun, das Buch möglichst spät anzusetzen, 
,,Dde vollständig aramäisch diurohsetzte Sprache, 
die Gräzismen (?) und die Vertrautheit mit Ideen 
griechischer Philosophie" sollen zeigen, daß das 
Buch nicht vor 300 v, tmserer Zeitrechnung ge- 
schrieben sein kann. Als Begründung heißt es: 
die Schrift setze eine Zeit völliger Anarchie im 
Lande voraus, z, B, 4, 13 — 16; 10, 16 — ^20; in 
3, 13 — 18 liege eine Anspielung auf die Belage- 
rung von Syrakus durch die Römer im Jahre 212 
und ihre Verteidigung durch Archimedes. Auf 
Koheleth ihabe epikuräische, stoische und he- 
raklitische Weisheit in wirrem Durcheinander 
eingewirkt; man vergleiche dazu besonders „den 
ganz unjüdischen Gedanken vom ewigen, gleich- 
mäßigen Wechsel alles Geschehenden und die 
Verherrlichung der Freude," Aber „ein -Philosoph 
sei er doch nicht. Die Konfusion stecke in des 
Verfassers Kopf, der im übrigen ein gründlicher 
Kenner und unbestechlicher Beurteiler des wirk- 
lichen Lebens war," (ScUin; Einl, ins alte Testa- 
ment, S, 156—57,) 

Wir finden in den angezogenen Stellen keine 
Spur einer Anarchie im Lande, Koheleth spricht 
dort vom wechselnden Beifall der Menschen und 
von dem wilden Sinnengenuß xmfreier Fürsten, 
und was sich angeblich auf Archimedes bezieht, 
redet von einer „kleinen Stadt mit wenig Men- 
schen, in der nachher niemand des weisen Ret- 



62 



ters gedacht" hatte. Alle Einzelheiten passen auf 
Archimedes ganz und gar nicht, der in höchster 
Achtung bei Freund tuid Feind stand imd eine 
gewaltige Stadt gegen den Römer verteidigte, 
jedoch nicht zu retten vermochte. Aber, gibt 
es nicht auch sonst Beispiele, daß Weise eine 
Stadt zu schützen wußten? Hat nicht Simon der 
Gerechte Jerusalem von Alexander dem Großen 
durch seine Weisheit errettet? Hat nicht Rabbi 
Jochanan ben Sakkai vom Kaiser Vespasian die 
Rettung Jawnes erlangt? Warum kann jener 
Weise nicht Joseph gewesen .sein, der das Aegyp- 
terland durch seine Weisheit vor dem Verhun- 
gern bewahrte und von dem es nachher in dar 
Bibel heißt; es stand ein neuer König auf, der 
Joseph nicht kannte? Der Tübinger Theologe P. 
V o 1 z , der offenbar etwas vorsichtiger ist, ur- 
teilt; „Jedenfalls möchten wir uns hüten, zeit- 
geschichtliche Ereignisse, wie Koheleth sie in 
4, 13 — 16 imd 9, 13—16 erzählt, mit bestimmten, 
uns zufällig ibekannten Ereignissen gleichzuset- 
zen; das erlaubt unsre geri.nge Einzelkenntnis 
der Geschichte nicht. Neuerdings will man Ko- 
heleth zum Parteigänger der Sadduzäer machen, 
mit denen er sich in manchem berührt. Die Par- 
tei ist aber erst nach den Makkabäerkämpfen 
im Gegensatz zu den Pharisäern entstanden; 
zudem ist Koheleth mehr als ein Partedmann ge- 



Griechisohe Wendungen kommen im Buche 
überhaupt nicht vor. Die falsche Deutung von 
tauw ascher jofe (5, 17) in Richtung einer grie- 
chischen Entlehntmg haben wir bereits gekenn- 
zeichnet. Auch aramäische Anklänge können wir 



63 



in dem Buche nicht entdecken. Wir sehen viel- 
mehr im Stil des Buches die echte, zu allen Zei- 
ten im jüdischen Volke gängige Volks- 
sprache, Das Buch lehnt mit Bewußtsein den 
klassischen Stil der Poesie imd das Pathos der 
Propheten ab. Es ist nicht in edelgewählter Fas- 
sung gehalten, sondern in der „Sprache der Wei- 
sen", die immer das volkstümliche Idiom bevor- 
zugten. Dieses aber klang seit altersher viel stär- 
ker an das Aramäische an. 

Zu unserer Ueberraschung aber mußten wir 
hören, daß der Gedanke vom gleichmäßigen 
Wechsel und die Verherrlichung der Freude ganz 
unjüdische Gedanken sind. Sind etwa auch der 
Satz in der Genesis von dem ewigen gleichmäßi- 
gen Wechsel von Sommer und Winter, Kälte und 
Hitze, Tag und Nacht; oder das jesajanische herr- 
liche Wort: die Blume verwelkt, das Gras ver- 
dorrt, nur das Wort unseres Gottes besteht ewig; 
oder die vielen Schilderungen in Hiob von der 
Vergänglichkeit des Glücks, von den Großen 
und Reichen, die, wenn sie verschwunden sind, 
ihr Ort nicht wiedererkennt, w lau jakirenu aud 
mekaumau ganz unjüdisch? Sind femer die Worte: 
dienet Gott mit Freude; der vielfache Befehl des 
Deuteronomiums : du sollst dich freuen vor dei- 
nem Gott, du sollst nur freudig sein, ganz unjü- 
disch? Das Spruohbuch des Jescihua ben 
Sira, von welchem angeblich Koheleth ,,eine 
ganze Welt trenne", sagt: 
Kap. 14, 14: 

Laß dir nicht einen guten Tag entgehen und den 
dir zukommenden Anteil an einem erlaubten 
Genüsse laß nicht an dir vorübergehen. 



64 



Kap, 30, 21—23; 

Gib dich nicht der Traurigkeit hin und plage 

dich nicht selbst dadurch, daß du dir Sorge 

machst. 
Frohsinn im Herzen ist Leben für den Menschen, 

und Freude schafft jedem langes Leben, 
Emmntre dich selbst und rede deinem Herzen zu, 

und Traurigkeit wisse weit weg von dir zu 

halten. 
Denn viele hat schon die Traurigkeit getötet, 

und es liegt kein Nutzen in ihr. 

Kap. 14, 15—19: 

Alles Fleisch wird alt wie ein Gewand; 

denn von Urzeit her besteht das Gesetz: 

„Du wirst sterben"! 
Wie die grünen Blätter eim dichtbelaubten 

Baume — 

die einen wirft er ab, die anderen aber läßt er 

wieder wachsen: 
Ebenso ist's mit dem Geschlechte von Fleisch 

und Blut, 

dcis eine stirbt, das andere aiber wird geboren. 
Jedes Werk, das irdisch ist, nimmt ein Ende, 

-und der, der es herstellt, geht mit ihm dahin. 

Er hat mithin auch diese „ganz unjüdischen" 
Gedanken von der Freude und vom ewigen 
Wechsel. 

So ist die gesamte Behauptung von Entleh- 
nungen aus griechischer Philosophie unhaltbar. 
Es sind nur idie selbstverständlichen Anklänge, 
die sich infolge der gleichen ernsten oder freu- 
digen Lebensbetrachtung bei allen Denkern fin- 



65 



den werden. War etwa Schiller ein Epikuräer, 
weil er das Lied an die Freude gesxmgen? 

Daß Koheleth kein Stoiker ist, liegt au£ 
der Hand, Nirgends wird bei ihm die Apathie, 
die Unbeweglichkeit der Seele durch die Ereig- 
nisse als Ideal hingestellt, „Am Tage des Glük- 
kes sei froh — aber nicht etwa innerlich unbe- 
wegt' — und am Tage des Unglücks bedenke, 
daß auch diesen Gott geschaffen," Vor U e b e r- 
schätzung der Ereignisse des Lebens wird 
von ihm gewarnt, doch nicht etwa vor innerer 
Teilnahme .und Ergriffenlheit, 

Aber es ist eben so wenig im Koheleth Ge- 
dankengut des Epikur zu finden. Nirgends 
ist im Koheleth igesagt, 'daß die Lust das 
einzsige Ziel des Lebens sei, daß Tugenden nur 
Wert haben, weil sie zur Lust führen. 

Wir wollen die Frage jedoch einer gründ- 
licheren Darlegung unter ziiehen; sind in Ko- 
heleth epikurädschc Elemente enthalten? Oder 
richtiger formuliert: ist die Auffassung des Ko- 
heleth der des Epikur imd seiner Schule ver- 
wandt? Für Epikur ist die Lust das einzig wahre 
und höchste Gut, denn jedes Wesen strebe na- 
türlicherweise nach Lust, Keine Art von Lust sei 
an sich selbst zu verwerfen, manche aber um der 
Folgen willen zu meiden, Lust sei vor allem 
Freisein von Schmerzen, ja, die Austilgung des 
Schmerzes sei der Gipfel der Lust. Es gibt aber 
auch positiv Gefühle der Lust, imd wo sie 
herrscht, da habe Traurigkeit keine Stätte. 
Einen Wertunterschied in der Qualität der Lust, 
wonach die eine als edel, die andere als minder 
edel und unedel zu bezeichnen wäre, kennt das 



66 



epikuräische System nicht. „Prinzipiell ist die 
epikuräische Ethik ein System des Egoismus, 
denn der eigene Vorteil, der auf die eigene Lust 
hinatisläuft, soll überall maßgebend sein. Eine 
Pflichtenlehre und eine autoritative Ethik haben 
in der epikuräischen Lehre keinen Platz" 
(Ueberweg-Heinze, Grundriß der Geschichte der 
PbÜosophie 1903, L S, 316 ff,). 

Allerdings kann man nach Epikur nicht an- 
genehm leben, ohne einsichtig, wohlanständig und 
gerecht zu leben, und umgekehrt: dies nicht, 
ohne daß ein angenehmes Leben die Folge ist. 
Dem Weisen ist ein Leben der Lus t 
gesichert. 

Man braucht nur diese Sätze sich einmal vor 
Augen zu führen, um einzusehen, daß Koheleth 
mit diesen Gedankengängen auch nicht 'die Spur 
einer Aehnlichkeit aufweist. Was Koheleth er- 
strebt, ist Freude, nicht Lust, die echte 
Freude, micht gemeine Freude am bloßen sinn- 
lichen Genuß, die er als toll gleich am Anlang 
(2, 2) zurückweist. Der Selbstsucht erklärt er den 
Krieg. Fem er; eine Gewäihr, sich die Freuide zu 
schaffen, gibt es nach Koheleth durchaus nicht. 
Sie ist ein Geschenk Gottes, das man dankbar 
hinnehmen soll, nicht der sichere Preis philoso- 
phischer Leibenskunst, 

Der wesentlichste Unterschied zwischen 
beiden aber liegt in der Bewertung des Todes. 
„Wenn der Tod da ist, sind wir nicht mehr daj 
und solang wir sind, ist der Tod nicht da, so 
daß der Tod uns nichts angeht," sagt Epikur. 
Gerade hier aber geht Koheleth andere Wege. 



67 



Für ihn ist der Tod eine der entscheidenden 
Tatsachen alles Menschenlebens. Stets soll 
unsere iHinfälÜgkeit und unser Ende uns vor 
Augen stehen, soll die Stunde des Sterbens 
uns an die Pflichten der Gegenwart erinnern. 
Und wenn von einer Eitelkeit des Lebens ge-^ 
sprochen wird, so liegt sie nur in dem Mühen 
unter der Sonne, in der Verstrickung 
des bloß Irdischen, Dieses Wort: „unter der 
Sonne" zieht sich wie ein roter Faden durch 
das ganze Buch, und es weist auf eine höhere 
Welt hin, eine Ueberwelt über der Sonne, eine 
Welt des Geistigen und Ethischen, in der es 
nichts Eitles imd Vergängliches gibt. Der Tod 
aber wird zur großen Gerichtsstunde, zum 
Augenblick der Rechntmgslegung vor Gott, Da- 
her kann nur eine verantwortungsbe- 
wußte Freude gelten, eine solche, vor der 
man sich dereinst nicht vor Gott zu schämen 
bat. Daher ist auch für Koheleth jeder Genuß 
nur ein Mittel, um freudiger Stimmung sich 
seiner Aufgabe zu widmen, „Geh und iß in 
Freude dein Brot und trink frohen Herzens 
deinen Wcdn, denn Gott bat Wohlgefallen an 
deinem Tun," 

Mit Recht ist der Epikuräismus 
die verachtetste Form einer Philo- 
sophie im Judentum geworden. Ko- 
heleths Worte können zwar, wenn man einzelne 
aus dem Zxisammenhange herausgreift, mißver- 
standen werden, aber nur die Oberflächlichkeit, 
die nicht den Sinn des Ganzen erfassen will und 
kemn, wird das Buch mißdeuten. Diese Gefahr 
besteht allerdings. Schon im Midrasch lesen wir: 



68 



es wollten die Weisen das Buch Koheleth aus der 
Bibel entfernen, weil sich darin Worte finden, 
die sich wie Leugntmg und heidnische Lebensge- 
sinnung anhören, (nautim lezaid minus), als wäre 
jede Bindung aufgehoben und kein Richter und 
kein Gericht vorhanden, (hutro hor'zuo wies din 
wies daijin,)^) Sohon der Talmud klagt: ,iSa- 
lomo, dein Buch scheint voll innerer Wider- 
sprüche zu sein!" Die Weisen stellten es daher 
ausidrücklich fest, daß bei tieferem Nachdenken 
sich die Anklänge ans Heidnische als Schein er- 
weisen und alle Widersprüche bei gründlicher 
Einsicht verschwinden.-) 

Das Buch des Predigers hatte kein anderes 
Schicksal als in unseren Tagen wohl alle Werke 
der heiligen Literatur. Man reißt Einzelnes aus 
dem Zusammenhang und knüpft an dessen falsche 
Deuttmg die unmöglichsten Folgerxmgen, Um 
wieviel mehr, daß Koheleth Mißdeutungen aus- 
gesetzt werden konnte. Wir können tms vor- 
stellen, daß in leichtsinnigen Zeiten, ewa im Be- 
ginn des ^Hellenismus, als Ausgelassenheit und 
roher Sinnesgenuß ins heilige Land eindrangen, 
mancher Jüngling mit Worten des Koheleth auf 
den Lippen sich seines flatterhaften Tims rühmte, 
In solchen Zeiten mag das Sanhedrin darüber be- 
raten haben, ob es nicht besser wäre, ein sol- 
ches Buch zu apokryphieren, ehe es der laxen 
Moral Vorschubdienste leiste. Sic haben es 
nicht getan, denn es ist ja klar, daß nicht, weil 



^) Wajikra rabba 28. 
'') Sabbat 30b, 



69 



das Buch epikuräisolie Gesinnung einflößte, der 
Einzelne von der Baihn der Sittenstrenge abging, 
Sandern umgekehrt; weil seine Lüsternheit an 
Leichtlebigkeit Gefallen fand, versuchte er zy- 
nisch und frivol seinen Abfall mit dem Feigen- 
blatt herajusgegriffener Koheleth-Verse zu ver- 
decken, Koheieth ist eben ein Buch 
für Denker, es ist ein Buch der Weisheit, 
es führt bis an .die Grenze. Es will den 
Menschen in seiner ircüsohen Selbstsicherheit 
irre machen, es folgt ihm auf dem Pfad seiner 
menschlichen Schwäche, aller Entartungen sei- 
ner Selbstsucht, der Hybris seiner Gewalttaten, 
der Unersättlichkeit seines Besitzstrebens, um 
ihn am Ende sehen zu lassen, daß er Phantomen 
sich verschriebeai, daß alles dies eitel ist. 
Aber es will auch eben so sehr jener Skepsis 
entgegentreten, der das Schicksal ein sinnloses 
Glücksspiel ist und die deshalb den Mut zum 
großen Glauben nicht finden kann. Beiden will 
das Buch den rechten Weg weisen: den Erden- 
sioheren 'und den Zweiflern, den Stolzen und den 
Kleinmütigen, Zu beiden spricht iKoheleth offen, 
ernst, ungeschminkt und unverblümt; und übt 
seine WiAung grade als ein Buch der 
W a h r ih a f ti g k e i t , der d e n k e r i s c h e n 
Ehrlichkeit, 

So richtet sich von selbst auch jene einsei- 
tige Beurteilung, die in dem Buche Glaubens- 
haltungen vermissen will, die erst den vollen 
religiösen Menschen ausmachen, „An Glaube, 
Hoffnung, Liebe ist Koheieth arm gewesen, in 
der Wahrheit war er groß", urteilt Volz, 
„Koheieth hat Glauben gehabt, aber ihm fehlte 



70 



die Liebe und Hoffnung," sagt Sellin, Beide Ur- 
teile sind gleich falsch, aus Voreingenommenheit 
erwachsen. Wer zum Denker als Denker spricht, 
wer aus der Kraft der Lebenserfahrung Beweise 
erbringen, den Widerstrebenden durch die 
Ueberlegenheit seiner Erkeimtnis überzeugen 
will, der kann und darf nicht an Gefühle appel- 
lieren, die dem Partner nur als eine Schwäche, 
als Mangel an Fähigkeit, seinen Gedankengang 
mit geistigen Waffen zu Ende zu führen, erschei- 
nen müssen. Es ist eine Ungerechtig- 
keit.einemSchriftsteUernichtauf 
seinen Standort zu folgen, von dem 
aus er sein Thema behandeln will, Koheleth ist 
kein Buch der Prophetie unid kein Psalter, kein 
Buch glaubensseligen Schwärmens, sondern nüch- 
ternen Ernstes. Wer aber tiefer zu sehen, zwi- 
schen den Zeilen zu lesen versteht, dem klingt 
grade aus diesem Buche das wärmste Mitgefühl 
mit dem Leid der Welt, ein Herz, das blutet 
ob all der Entartungen und Mißbräuche, ob der 
falschen Lebensauffassung und törichten Ver- 
zweiflung entgegen. Dieses Buch ist voll 
der Liebe, weil es den Lieb es armen 
zur Liebe hinführen will; dieses 
Buch ist voll der Hoffnung, weil es 
das Tor des Hoffens dem öffnet, für 
den es bisher verschlossen war, 
Grade dieses Buch hat, wie vielfache Erfahrung 
bestätigt. Unzähligen in Zeiten innerer Verar- 
mung imd der Untröstlichkeit zum Herzen ge- 
sprochen; die bittere Wahrheit hat Unglückliche 
aufgerichtet, weil es ihr eigenstes letztes Sor- 
gen und Empfinden aussprach, Weil sie sich selbst 



71 



erst an der Offenheit dieses Buches verstehen 
gelernt haben. Durch dieses Buch haben diejeni- 
gen die Welt wieder werten gelernt, denen sie 
in der Tat als völlig eitel vorgekommen ist. 

Das gilt vor allem auch für einen Punkt, in 
dem die voreilige Kritik an Koheleth zu nörgeln 
nicht unterlassen kann; in Bezug auf seinen 
Glauben an die Unsterblichkeit, ein 
das Jenseits. Grade idie Zurückhaltung, mit wel- 
cher Koheleth dieses heilige Geheimnis des gläu- 
bigen Menschen behandelt, ist bewundernswert 
und von 'höchstem Eindruck. Er hätte es billig 
gehabt, mit der Waffe des Unsterbliohkeitsglau- 
bens dem Diesseits auf den Leib zu rücken. Dann 
aber hätte das ganze Buch seine Wirkung ver- 
fehlt. Erst dadurch, daß es scheinbar sich ganz 
einstellt auf die Erdenwelt und durch diese 
Blickstarre die Einseitigkeit des Irdischen ad 
absurdum führt, grade dadurch gewinnt der Satz 
von der „Eitelkeit der Eitelkeiten" solche Ein- 
dringlichkeit, wird der Mensch mit /all seinen ir- 
dischen Schätzen so arm, wird der Tod solch 
ernster Mahner, wird die Verantwortlichkeit des 
Lebens zum höchsten Gedanken und zum wich- 
tigsten Impuls für die Erfüllung der Stunde, Und 
der Unsterblichkeitsgedanke wird nicht zmn 
Quietiv, zu einem Gedanken der Beseligung und 
Beglückung, sondern zur Vollendung des Ver- 
antwortungsbewußtseins, zum Ge- 
danken des Gerichts. „Dort drüben ist nichts 
mehr gutzumachen. Alles noch so Verborgene 
bringt Gott ins Gericht, wenn der Geist zu Ihm 
zurückkehrt, der ihn gegeben," 

Koheleth ist ein männliches Buch; es ist 



72 



ein Arzt der Seele, dem wir luns um so lieber 
anvertrauen, dessen bittere Medizin wir desto 
williger nehmem, als wir in iiim den aufrichtigen 
und aufrechten, aller Grenzen seiner Kirnst und 
unserer Natur bewußten Weisen verebren. 

Wer war nun dieser Weise, der 
große Lebenskenner, der in 'diesem Buche 
spricht? Daß Koheleth nur eine Umsohrei- 
bung ist, liegt schon dn dem Namen selbst. 
Ein Feminiftuan seiner Form nach, bedeutet 
es offenbar die Versammlung, in der die 
Weisheit verkündet wurde. Im Buch tritt 
Koheleth entweder als Femkiium (oder bes- 
ser als Neutrum) auf oder sonst als Mas- 
culinum, wo ein Baal zu ergänzen ist, ,,der 
Lehrer der Volksversammlung". Mit Bestimmt- 
heit nennt er sich einen Nachkommen Davids, 
einen König von Jerusalem, Esistganzaus- 
gesc blossen, daß irgend ein Weiser 
e s g ew agt hätte, sich als Koni g von 
Jerusalem uns vorzustellen, wenn 
es nicht der Wirklichkeit entspro- 
chen hätte. Solch plumpe Anmaßung ist un- 
ausdenkbar. Da bleibt keine Wahl als die Ueber- 
lieferung, die .als den Verfasser S a 1 o m o , den 
weisen König, hinstellt. Die Meimmg, als könne 
ein Verfasser aus der hellenistischen Zeit über- 
haupt in Frage kommen, ist schon deshalb ab- 
wegig, weil kein Buch aus ijener Epoche mehr in 
die Reihe der heiligen Schriften aufgenommen 
werden konnte. Wenn wir wohl auch aus späte- 
rer Zeit eine Diskussion darüber hören, ob be- 
stimmte Bücher im Kanon verbleiben sollen 
oder nicht, wenn es auch denkbar gewesen wäre, 



73 



daß ein späteres Sanhedrin einem Buch die Zuge- 
hörigkeit zu der Reihe der 24 heiligen Schriften 
verwehrt hätte, weil es zu Irrtümern und Miß- 
deutungen Anlaß gegeben, aber niemals ist in so 
später Epoche eine neu aiuftauohende Schrift für 
wert befunden, in die Bibel aufgenommen zu 
werden. Und wir 'haben griade an. dem späten 
Spruchbuch des S i r a c h den vollsten Beweis, 
daß der Kanon abgeschlossen beim Beginn der hel- 
lenistischen Zeit vorlag, so daß alle anderen Mei- 
nungen als Lufthypothesen anzusehen sind. Das 
Sanhedrin in Jerusalem hat vom Beginn der hel- 
lenistischen Epoche an mit Leidenschaft gegen 
das Eindringen des griechischen Denkens und der 
griechischen Lebensauffassimg in dem jüdischen 
Daseinsbezirk gekämpft. Es ist einfach undenk- 
bar, daß ein Buch, in der damaligen Zeit ge- 
schrieben, das auch nur im Leisesten an stoische 
oder epikuräische Philosophie anklingt, je wür- 
dig befunden wäre, in die Bibel aufgenommen zu 
werden. Die Mitglieder des Sanhedrin, die wegen 
ihrer Feindschaft gegen ^ede griechische Assi- 
milation fast alle mit ihrem Blute haben büßen 
müssen, hätten vielleicht ein Buch, das wie Ko- 
heleth mit der befehdeten fremden Auffassung 
Verwandtschaft zeigt, verbieten können; nie 
und nimmer aiber würiden siic es in den Kanon 
neu aufgenommen haben. 

Köstlich klingt es, wenn V o l z schreibt: 
die Weite des Horizonts und die Stim- 
mting des ganzen Büchleins lassen vermuten, 
daß der Verfasser in einer Großstadt lebte, aber 
schwerlich „in der engen und bürgerlich nüch- 
ternen Luft Jerusalems"; er entscheide sich da- 



74 



her für Alexandrien, Wir wissen diemgegenüber, 
daß in der Zeit Salomos „g^nz Israel aß und 
trank und fröhlich war" (Kön, 4, 20), daß „man 
von allen Völkern kam, von allen Königen; der 
Erde, um die Weisheit Salomos zu hören," (das. 
5, 14), daß Jesajas (22, 2) Jerusalem die frohe, 
lebenerfüllte Feste nennt, daß Nebukadnezar jü- 
dische Knaben, klug in jeder Weisheit, voll Er- 
kenntnis und Wissen (Dan, 1, 4) an seinen Hof 
fesseln wollte. Können wir da noch an eine enge 
und bürgerlich nüchterne Luft Jerusalems glau- 
ben? Für uns, für die ein jüdischer Weiser nicht 
bei den Epikuräern Scheinweisheit zu borgen 
braucht, denen es selbstverständlich ist, daß die 
Quelle des Geistes in Israel reich genug spru- 
delte, um nicht von Fremden etwas entlehnen zu 
müssen, wird Koheleth grade dadiirch so be- 
deutsam, weil es die Lebenssiumme und das er- 
schütternde Lebensbekenntnis eines der Größ- 
ten unsres Volkes ist, dem aiber seine Macht und 
seine Weisheit in den Tagen des Alters zum 
Verhängnis geworden. Wir hören aus diesem 
Buche den Widerhall aller der Schwierigkeiten, 
die sich wie düstere Wolken über .dem Ende der 
Regierungszeit Salomos zusammenzogen. Die 
Unzufriedenheit im Volk, die nur miühsam unter- 
drückte Auflehnung der Nordstämme, der Hoch- 
mut im Herzen seines Sohnes ituid Erbnachfol- 
gers, die viele Gewalt, die die Beeunten Salomos 
in seinem eignen N/amen übten imd der zu steu- 
ern er schon nicht mehr fähig war, seine Ver- 
strickung in die Gewalt fremder Weiber, gegen 
die er, der mächtige König, zu schwach sich 
fühlte, die Sinnlosigkeit all des Prunkes und 



75 



der ätißeren Größe, für die er in seiner Regie- 
rung gestrebt hatte, alles das klingt aus diesem 
Buche zwischen den Zeilen 'hervor. Man kann die 
Anspielungen gradezu mit Händen greifen, wie 
auch der T a r g u m des Buches immer wieder auf 
die Ereignisse laus Sailomos eignem Leben als 
Illustration der Worte verweist. Die Angst, daß 
alle Uebersteigerimg von Prunk und iMacht sich 
einst bitter rächen werde, daß das Gericht nicht 
ausbleiben könne, durchzittert dieses Buch, Man 
macht sich künstlich blind, wenn man es dem 
Salomo abspricht und in andere Zeiten vertagen 
will. Nein, die großartigste Illustration des Bu- 
ches ist der Hintergrund der ausgehenden salo- 
monischen Zeit mit ihrem satten Reichtum, mit 
ihrer Veräußerlichung, mit ihren Enttäuschun- 
gen, mit ihrem drohenden Zusammenbruch. Ko- 
beleih ist gewissermaßen ein Testament der 
Warnung, an die Adresse dessen gerichtet, der 
nachher sprach: hat mein Vater euch mit Ruten 
gezüchtigt, werde ich euch mit Skorpionen züch- 
tigen. 

Allerdings ist dieses Buch so gehalten, daß 
jede Epoche des Ztiisammenbruchs einer Kultur 
in ihm ihren Spiegel findet. Es vermeidet mit 
Absicht jede eindeutige Anspielung auf irgend- 
welche speziellen Verhältnisse. Es paßt in jedes 
Leben der Unruhe und in jede Zeit der Krisen, 
es ist rein menschlich, es spricht nicht nur zu 
Juden, es spricht zu jedem, dem Gott und Sein 
Gebot als der Sinn alles Lebens über den Trüm- 
mern der Erdenherrlichkeit aufgeht. Es ist ein 
Buch zeitloser Geltung, wemi aiuoh be- 
stimmte Epochen besonders es zu ergründen und 



76 



zu verstehen fähig sein werden. Ich glaube, 
daß auch unsere Zeit einen ge- 
schärften Blick für die Kraft und 
die Wahrheit dieses Buches gewon- 
nen hat. 



77 



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